ASHES DIE ENDZEIT-SAGA VON WILLIAM W. JOHNSTONE
Band 1
Die Stunde Null von William W. Johnstone
Aus dem Amerikanisch...
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ASHES DIE ENDZEIT-SAGA VON WILLIAM W. JOHNSTONE
Band 1
Die Stunde Null von William W. Johnstone
Aus dem Amerikanischen von Kim Kerry
Zaubermond-Verlag Schwelm
1. Auflage Originaltitel: Out of the Ashes © 1983 by William W. Johnstone © dieser Ausgabe 2001 by Zaubermond-Verlag und Festa-Verlag www.Zaubermond-Verlag.de / www.Festa-Verlag.de
Umschlaggestaltung: Günther Nawrath Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen Druck und Bindung: Wiener Verlag, A-2325 Himberg Alle Rechte vorbehalten ISBN 3-931 407-69-1
Washington, D. C, 1988. Eine Schar von Rebellen innerhalb des US-amerikanischen Militärs löst den Atomkrieg aus. Nukleare und biologische Waffen vernichten Milliarden, Leben innerhalb weniger Stunden. Doch die Menschheit hat nichts aus der Katastrophe gelernt. Bald breitet sich von Chicago ein neues, faschistisches Machtsystem über das verwüstete Land aus… William W. Johnstones kontroverse Post-Doomsday-Saga mit ihrer Mischung aus Action, Science Fiction und Sozialkritik fand ungewöhnlich viele Fans: Allein in den USA wurden über 10 Millionen Exemplare verkauft.
Für Danielle Dubois
Dieses Land mit all seinen Institutionen gehört dem Volk, das darin lebt. Wann auch immer es der gegenwärtigen Regierung überdrüssig wird, kann es sein Verfassungsrecht ausüben, um sie zu ändern, oder sein Revolutionsrecht, um sie zu zersplittern oder umzustürzen. Abe Lincoln
PROLOG
Louisiana, 1984 »Sind Sie verrückt?«, fragte Ben Raines und unterdrückte den Wunsch, dem Mann ins Gesicht zu lachen. »Mal ehrlich, Kumpel, haben Sie wirklich noch alle Tassen im Schrank?« Der Sarkasmus in seiner Stimme wurde von dem Besucher gar nicht wahrgenommen. »Ich versichere Ihnen, Mr. Raines, dass ich im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte bin. Sie sind mir wärmstens empfohlen worden – uns.« »Von wem?« »Dazu kann ich nichts sagen, jetzt zumindest noch nicht. Tut mir leid.« »Und woher wollen Sie wissen, dass ich dem FBI nicht im nächsten Moment von Ihrem kleinen Plan erzähle?« Der Mann deutete mit dem Finger quer durch den Raum. »Da steht das Telefon. Rufen Sie an. Sie haben nichts in der Hand.« Er lächelte süffisant. »Aber wir haben Informationen… über Sie.« »Das FBI weiß ganz genau, dass ich ‘69 und ‘70 ein Söldner war. Dem Außenministerium ist das auch bekannt. Ich habe das sehr deutlich in einigen meiner Romane beschrieben. Sie können mich nicht erpressen.« Der Mann zuckte die Achseln. »Es wäre einen Versuch wert.« »Hören Sie«, sagte Ben. »Ob Sie es glauben oder nicht – aber mir gefällt auch nicht, was mit diesem Land geschieht. Nur ist ein gewalttätiger Aufstand nicht mein Ding, abgesehen davon, dass Sie ohnehin nicht die Männer und die Ausrüstung dafür haben.«
»Die haben wir, Mr. Raines.« »Wie Sie meinen, aber ich will damit nichts zu tun haben.« »Sind Sie sicher?« »So sicher, wie die Sonne im Osten aufgeht.« »Dann haben wir Sie falsch eingeschätzt, Mr. Raines.« Ben schüttelte den Kopf. »Ganz im Gegenteil. Wenn Sie mich vor ein paar Jahren gefragt hätten, vielleicht ‘80 oder ‘82, dann wäre ich vermutlich auf Ihrer Seite gewesen. Aber jetzt? Nein danke.« »Darf ich fragen, warum nicht?« »Weil es mir in den letzten Jahren sehr gut gegangen ist. Und weil ich immer fetter geworden bin. Meine Bücher verkaufen sich sehr gut, es stehen nicht ständig irgendwelche Gläubiger vor der Tür. Was Sie hier sehen – und damit meine ich auch das Haus –, ist komplett bezahlt. Ich habe keinen Grund, das alles aufs Spiel zu setzen.« »Wenn Sie so glücklich sind, warum betrinken Sie sich dann jeden Abend bis zur Besinnungslosigkeit?« Ben lächelte. »Sie haben gut recherchiert, wie? Ich habe nicht gesagt, dass ich glücklich bin. Mir geht es gut, das habe ich gesagt.« »Ist es Ihnen noch nie in den Sinn gekommen, dass wir Zugriff auf Informationen über Vorgänge haben könnten, die den Zustand unserer Welt betreffen und von denen Sie nichts wissen? Ich möchte Sie bitten, Ihre Haltung noch einmal zu überdenken.« Ben schüttelte nachdrücklich den Kopf. Der Mann seufzte. »Naja… wir werden Sie nicht wieder belästigen, Mr. Raines. Ich danke Ihnen für Ihre Zeit.« Er zögerte, dann fügte er hinzu: »Vielleicht mache ich einen Fehler, Mr. Raines, aber jeder Mensch hat das Recht darauf, seine Entscheidungen selbst zu treffen. Bull Dean und Carl Adams leben noch. Sie halten die Fäden in der Hand.«
Ben sprang aus seinem Sessel auf und starrte den Mann an. »Das glaube ich nicht – Freundchen, ich habe ihre Leichen gesehen.« Der Mann verzog keine Miene. »Wenn Sie Ihre Meinung ändern, Mr. Raines, geben Sie in der Lokalzeitung eine Anzeige auf, dass Sie einen russischen Wolfshund kaufen möchten. Wir nehmen dann Verbindung mit Ihnen auf.« Er drehte sich um und verschwand in die Nacht, während hinter ihm leise die Tür ins Schloss fiel. Ben setzte sich wieder und betrachtete das Glas Bourbon mit Wasser, das zur Hälfte gefüllt auf dem Tisch stand. Er griff danach und trank es in einem Zug aus. Bull und Adams sollten noch leben? Unmöglich. Ben Raines lachte und verdrängte den mysteriösen Besucher. Er legte eine Sinfonie auf und betrank sich, während er der Musik lauschte. Am nächsten Morgen konnte er sich nur noch verschwommen an den Mann erinnern, und nach einer Woche hatte er ihn völlig vergessen.
ERSTER TEIL
EINS
Washington, D. C. 1988 »Vielleicht werden die Historiker mich besser beurteilen, als es die Medien in den letzten acht Jahren gemacht haben«, sagte Präsident Fayers zu seiner Frau. »Aber manchmal bezweifle ich das.« »Du hast in all den Jahren viel Gutes getan.« Sie lächelte ihn an und strich über seine Hand. »SALT 5 war nur ein Teil davon. Das alles hat Zeit gekostet, und du konntest nicht jede Schlacht gewinnen. Aber den Krieg hast du ganz sicher nicht verloren.« »Und warum habe ich dann seit Monaten dieses komische Gefühl im Magen, dass… ach, verdammt, Liebling, ich weiß nicht. Ich bin mein Leben lang Politiker gewesen, und ich weiß, dass irgendetwas im Gange ist. Was es ist, kann ich nicht sagen, aber irgendetwas schleicht in den Gossen der Stadt umher. Irgendeine… Art Geheimnis, von dem ich etwas wissen sollte.« Seine Frau betrachtete ihn eindringlich. Sie kannte den sechsten Sinn nur zu gut, den Karrierepolitiker über die Jahre hinweg entwickeln, und sie wusste, dass man deren Bedenken nicht auf die leichte Schulter nehmen durfte. Ihr Mann hatte seit mehr als vierzig Jahren den Finger am Puls der Zeit gehabt, er hatte acht US-Präsidenten im Amt erlebt, und wenn er glaubte, dass etwas nicht stimmte, dann hatte er damit auch Recht. »Ed, dieses – wie sagtest du – Geheimnis… belastet es dich wirklich so sehr?« »Ja, Liebling. Seit dieses Waffenkontrollgesetz abgesegnet worden ist, sind die Unruhen im Land immer massiver
geworden. Schatz, Bürger in diesem Land – keine Kriminellen – sind geschlagen, inhaftiert und sogar getötet worden, weil sie für ihre Überzeugung einstanden, dass sie das Recht besitzen, eine Waffe zu tragen. Eine rechtschaffene Überzeugung, das möchte ich dazu sagen. Gott verdamme diesen Hurensohn von Hilton Logan! Er und seine liberalen Bastarde haben mit diesem verfluchten Gesetz nur Unruhe über uns gebracht.« »Du hast es nicht unterzeichnet, Ed. Vergiss das nicht.« »Es ist trotzdem verabschiedet worden.« »Es ist das Gesetz des Landes, Ed«, erinnerte sie ihn. Der Präsident sah seine Frau durchdringend an. Seit mehr als fünfzig Jahren waren sie verheiratet, und sie war für ihn mehr als nur seine Frau – sie war seine Freundin, seine Vertraute. »Ist es das wirklich? Ein Gesetz vom Volk für das Volk? Ist es verfassungsgemäß? « »Der Oberste Gerichtshof sieht das so.« »Fünf zu vier«, knurrte Präsident Fayers. »Nicht gerade eine überwältigende Mehrheit.« Er trat zum Fenster und starrte hinaus in die Nacht. »Ich kann die Nachrichtensendung über diesen armen Kerl in South Carolina nicht vergessen, der noch nie in seinem Leben einen Strafzettel für falsches Parken bekommen hatte. Polizisten, deren Gehalt er von seinen Steuergeldern finanziert hatte, haben ihn einfach abgeknallt! Und warum? Nur weil er seine 38er behalten wollte. Ach, zum Teufel!« Der Präsident machte seinem Abscheu mit einer Handbewegung Luft. »Es wird dem Land wieder besser gehen«, sagte sie in einem Versuch, das Thema zu wechseln. »Was ist los?« Er grinste sie an. »Machst du dir Sorgen um meinen Blutdruck?« »Irgendjemand muss das ja tun, wenn du es selbst schon nicht tust.«
»Nach all diesen sozialen Fehlschlägen der sechziger und siebziger Jahre würde es mich nicht wundern, wenn wir wieder den gleichen alten Weg einschlagen. Sieh dir doch nur dieses neue liberale Pack im Kongress an.« »Das ist der Wille des Volkes, Ed.« »Nein«, erwiderte er und schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein, Liebling, das ist ja das Schlimme: Genau das ist es nämlich nicht. Das ist der Wille einzelner Gruppen, die Druck machen, Lobbyisten, sogenannte Christen.« Er goss sich einen Drink ein, während seine Frau ihm mit sorgenvoller Miene zusah. »Das stinkt ganz gewaltig, ich weiß bloß noch nicht, was es ist.« Er setzte sich hin. »Gott, ich bin so müde. Ich bin fünfundsiebzig, ich bin müde, und ich möchte das alles einfach hinter mir lassen.«
Ben Raines saß auf der Veranda seines Hauses in Louisiana. Zum ersten Mal seit langer Zeit dachte er an Vietnam und wie er, während der ruhigen Augenblicke nach einem Patrouillengang – wenn er sich zwar entspannte, aber immer noch zu aufgedreht war, um einschlafen zu können – mit seinen Kameraden zusammengesessen hatte, um über die Heimat, über Frauen, Filme, Politik und tausend andere Dinge zu reden. Zwei Jahrzehnte waren seitdem vergangen, seit diese Übung in Zwecklosigkeit für Ben ihr Ende genommen hatte. Er dachte nicht oft daran zurück. Aus den Alpträumen waren gelegentliche Träume geworden, die substanzlos waren, in denen das Blut nicht länger rot und dick und echt wirkte. Die Schreie in der Nacht hatten keine Bedeutung mehr, und der Rauch der niedergebrannten Dörfer brannte nicht mehr in den Augen und hinterließ auf der Zunge keinen bitteren Geschmack mehr. Es war eine verblassende Erinnerung, mehr nicht.
Die Pläne des SALT 5 waren inzwischen zwei Jahre alt, und die Zahl der Kernwaffen war überall auf der Welt – zumindest in den wichtigeren Staaten – drastisch reduziert worden. Dennoch fragte er sich, ob es einen weiteren Krieg geben würde. Er hatte so ein Gefühl, als ob die Welt noch nicht den letzten großen Krieg erlebt habe. Auch fragte er sich, ob Russland und Amerika tatsächlich den Wortlaut des Abkommens befolgten. Jede Seite hatte noch irgendwo Raketen versteckt, die startbereit und auf ein Ziel ausgerichtet waren. Jede Seite wusste das nur zu gut. Nur ein Haufen naiver Friedenspolitiker in Amerika glaubte an die Umsetzung aller Bedingungen von SALT 5. Ben überlegte, ob die Waffen, die Amerika und Russland aufeinander gerichtet hielten, nuklearer oder biologischer Art waren. Vermutlich war Letzteres der Fall, da bakteriologische Sprengköpfe nicht unter die SALT-Vereinbarungen fielen. Sie wurden in einem gesonderten Abkommen behandelt. »Komm schon, Ben«, murmelte er. »Warum trägst du dich heute Nacht mit solchen Gedanken?« Er versuchte, an den neuen Roman zu denken, den er in Planung hatte, doch seine Gedanken wollten sich nicht in diese Richtung lenken lassen. Aus heiterem Himmel erinnerte er sich an die Worte eines vor langer Zeit gestorbenen Kameraden, die dieser so viele Jahre zuvor, während einer dieser langen Bull-Sitzungen, zu ihm gesagt hatte: »Was würdest du an unserem Regierungssystem ändern, Ben? Ich meine, wir wissen alle, dass das System nicht funktioniert. Aber was würdest du ändern, wenn du es könntest?« Dieser Frage war eine stundenlange Diskussion gefolgt, die zeitweise zu hitzigen Wortgefechten geführt hatte, welche schließlich sogar in Schlägereien ausgeartet waren. Die Debatten hatten sich noch Tage hingezogen.
Er erinnerte sich daran, wie der legendäre Colonel Bull Dean den Streit und die Diskussion seiner Männer verfolgt hatte. Er hatte nur gelächelt, und als er später mit Ben allein gewesen war, hatte er zu ihm gesagt: »Halten Sie an Ihren Träumen fest, mein Sohn. Für jemanden, der noch so jung ist, haben Sie gute Ansichten. Falls Sie sie pflegen und bewahren, könnten Sie schneller eine Möglichkeit bekommen, ihre Ideen Wirklichkeit werden zu lassen, als Sie glauben. Vielleicht schreiben Sie sogar einmal ein Buch!« Ben hatte gelächelt und gedacht, Bull wolle ihn auf den Arm nehmen. In dieser milden Nacht in Louisiana erinnerte sich Ben an Bulls Worte, während sie darauf gewartet hatten, von Rocket City mit dem Ziel Nordvietnam abzuheben. Dort angekommen, sprangen sie bei zwanzigtausend Fuß ab. Ihre Fallschirme hatten sie erst geöffnet, als sie nicht mehr vom Radar erfasst werden konnten. »Wir verlieren diesen Krieg, mein Sohn«, hatte Bull gesagt. »Und daran kann keiner von uns etwas ändern. Wir können ihn nur in die Länge ziehen. Und zu Hause wird es noch schlimmer werden, viel schlimmer sogar. Patriotismus wird nicht mehr gefragt sein. Vaterlandsliebe ist ein Relikt der Vergangenheit. In den Schulen gibt es keine Disziplin mehr, dafür haben die Gerichte gesorgt. Amerika wird in den nächsten zehn Jahren Prügel beziehen, vielleicht sogar noch länger, und es wird an Boden verlieren. Es wird sein Gesicht nicht länger wahren können, und der Glaube wird verloren gehen. Dann wird das Militär gezwungen sein, einzuschreiten und die Macht zu übernehmen. Und Gott stehe uns allen bei, wenn das geschieht.« »Warum sagen Sie das, Sir?« »Erinnern Sie sich an den Satz von der absoluten Macht?« »Ja, Sir.«
»Die Militärführer – und damit meine ich die richtigen Führungspersönlichkeiten, die wir haben –, wissen, wie wahr dieser Satz ist. Sie werden vielleicht das Land nicht übernehmen wollen, aber sie werden dazu gezwungen werden. Zumindest eine Zeitlang. Es wird für euch alle eine schlimme Zeit werden.« »Für uns alle? Schließen Sie sich dabei aus, Colonel?« Bull hatte milde gelächelt. »Sir? Warum erzählen Sie mir das alles? Und warum jetzt?« Bull schüttelte den Kopf. »Ich habe Ihnen nicht soviel erzählt, wie Sie vielleicht glauben. Aber in einigen Jahren, ich würde sagen, irgendwann in den nächsten zwanzig Jahren, werden Sie es schon verstehen.« Ben lief unruhig auf der Veranda auf und ab. Es waren jetzt fast zwei Jahrzehnte vergangen. Der sonderbare Besucher, der vor einigen Jahren aufgekreuzt war, kam ihm in Erinnerung. Er verscheuchte diese Gedanken. Und unmittelbar vor dem Sprung in die tosende Nacht vor so vielen Jahren hatte Bull in der Luke des Flugzeugs gestanden und Ben zugerufen: »›Bold Strike‹, mein Sohn. Vergessen Sie das nicht. ›Bold Strike‹. Und sprechen Sie mit niemandem darüber.« Einige Wochen später kam Colonel William »Bull« Dean angeblich ums Leben. Nach mehreren Tagen entdeckte ein Suchtrupp seinen verstümmelten und nicht zu identifizierenden Leichnam. Danach wurde Adams als vermisst gemeldet, schließlich wurde er für tot erklärt.
Einen Monat später wurde Ben verwundet und nach Hause geschickt. Nachdem er sich von seinen Kriegsverletzungen erholt hatte, musste er feststellen, dass er die in Amerika herrschende
Einstellung gegenüber den Vietnamveteranen nicht begreifen konnte. Er war rastlos und ihm fehlte die Aufregung, die er hatte zurücklassen müssen. Man hatte ihn nach Hause geschickt in ein Land voller langhaariger, gottloser junger Männer, die sich die amerikanische Flagge auf den Hosenboden ihrer verdreckten Jeans nähten und die durch die Straßen marschierten, um hässliche Beschimpfungen zu rufen. Das alles geschah im Namen der Freiheit – ihrer Auffassung von Freiheit. Ben verließ das Land und reiste nach Afrika, um sich für jeden als Söldner zu verdingen, der erfahrene Kämpfer brauchte und zu schätzen wusste. Zwei Jahre lang hatte er in Dutzenden namenloser kleiner Kriege gekämpft, hatte sich einfach treiben lassen, während er allmählich unempfindlich gegen Tod, Blut und Leiden wurde. Eines Tages erzählte er einem amerikanischen Autor, dem er in einer Bar begegnet war, er wolle vielleicht ein Buch schreiben. Der Autor stellte Ben viele Fragen; am Ende riet er ihm, seine Idee zu verwirklichen. Er selbst würde das Manuskript seinem Literaturagenten ankündigen. Je länger Ben darüber nachdachte, um so besser gefiel ihm der Gedanke. Er kehrte zurück nach Illinois ins Haus seiner Eltern und schrieb das Buch. Seitdem hatte er immer weitergeschrieben, und jetzt lebte er seit fast fünfzehn Jahren in Louisiana. Er löste sich von seinen Erinnerungen; im Arbeitszimmer klingelte das Telefon. Er verließ die kühle Veranda und nahm den Hörer ab. Er hörte zwei Worte, die sein Herz zum Rasen brachten und ihn schwindlig werden ließen. »Bold Strike.« Dann wurde wieder aufgelegt. Ben ließ sich in einen Sessel fallen. Seit Jahren hatte er diese Worte nicht mehr gehört. Was zum Teufel bedeuteten sie
überhaupt? Waren sie eine Warnung? Eine Aufforderung zum Handeln? Was hatte Bull bloß damit gemeint? Ben schaltete den Fernseher ein und bekam den Rest der Nachrichten mit. In Newark und Detroit war es erneut zu Rassenunruhen gekommen. Die Regierung sorgte sich wegen des Wiederauftauchens des Ku-Klux-Klan und der amerikanischen Nazi-Partei – und wegen der Tatsache, dass sie sich zusammengeschlossen hatten, um ihren Hass gemeinsam zu verbreiten. Weiße Roben und schwarze Uniformen. »Bold Strike«, murmelte Ben. »Was bedeutet das? Bull Dean ist tot. Carl Adams auch. Ich habe die Leichen gesehen.« Nein, berichtigte er sich. Du hast eine Leiche gesehen. Jemand hat gesagt, dass es sich um Colonel Dean handelte. Und später – viel später hast du Bilder gesehen, von denen jemand sagte, darauf sei Adams zu sehen. Dann ließen ihn die Worte des Nachrichtensprechers erstarren. »Einige Einheiten des Militärs sind in Alarmbereitschaft versetzt worden. Ein Grund dafür wurde nicht genannt, aber es besteht kein Anlass zur Sorge, so das Pentagon. Es werde lediglich die Einsatzbereitschaft getestet.« »Was denn für Einheiten, du Hurensohn?«, brüllte Ben den Sprecher an. Ein Werbespot für ein Frauen-Hygienespray war die Reaktion auf seine Frage. Er schaltete den Fernseher aus. Etwas Dunkles, Flüchtiges bewegte sich in den entlegensten Winkeln seines Verstandes. Er goss sich noch einen Drink ein und setzte sich neben das Telefon. Nach einer Weile riss er den Hörer hoch und wählte die Nummer eines Freundes in Fort Stewart, Georgia. Dessen Frau nahm den Hörer ab. »Nein, Ben, er ist nicht hier. Ich kann dir nicht sagen, wo er ist, weil ich es nicht weiß. Seit der Sache im Iran ist es hier nicht mehr so geheim zugegangen.«
Sie unterhielten sich noch eine Weile über andere Dinge, dann wünschte Ben ihr eine gute Nacht. Die Mauer der Verschwiegenheit zog sich immer weiter zu, Ben spürte das nur zu gut. Er versuchte seine alte Truppe, die Hell-Hounds, zu erreichen. Vermutlich weniger als fünf Prozent der Kongressmitglieder wussten von ihrer Existenz, eher noch weniger. In den Medien wusste niemand von ihnen. Wenn es zu Unruhen kommen sollte, würden sie sich in Utah auf einer alten AEC-Basis sammeln. Die Hell-Hounds hatten keine feste Basis, sie waren ständig in Bewegung. Der abgelegene, menschenleere Flecken in Utah kam dabei einem Zuhause noch am nächsten. Colonel Sam Cooper, CO. der Hell-Hounds, war kurz angebunden, aber nicht unfreundlich. Er hatte seine Befehle, weiter nichts. »Ich weiß nicht, was los ist, Ben. Aber es freut mich, von dir zu hören. Dein letztes Buch hat mir richtig gut gefallen. Gute Arbeit.« »Tatsächlich, Sam? Du weißt tatsächlich nicht, was da vor sich geht?« »Ich will ehrlich zu dir sein, Ben. Um die Wahrheit zu sagen, ich kann niemanden finden, der eine Ahnung hat oder der überhaupt etwas sagen will.« Ben fühlte, wie sich sein Magen verkrampfte. »Pass auf dich auf, Sam.« »Mach ich, Partner«, erwiderte Cooper. »Halte dich bedeckt.« Er beendete das Gespräch. Oder jemand unterbrach für ihn die Verbindung.
»Ja, es ist absolut sicher, Hilton«, sagte der Chefberater des Senators. »Das Militär hat irgendetwas vor. Zahlreiche Truppenbewegungen und leises Reden. Ich komme nicht mal
ins Vorzimmer von Langley. Einige Einheiten sind in Alarmbereitschaft versetzt worden.« »Warum?«, wollte der Senator wissen. »Ich weiß es nicht.« »Und Präsident Fayers?« »Der ist fett, dumm und selbstzufrieden.« »Ahnt er nicht, was da vor sich geht?« »So sieht es aus.« »Jesus Christus!«
ZWEI
Eine große Anglerhütte in den Missouri Oaks Aus dem Bankettsaal der großzügig angelegten Hütte hatte man alles Mobiliar fortgeräumt, das für das Treffen entbehrlich war. Das Gebäude war elektronisch nach Wanzen aller Art abgesucht worden, lange Tische waren so zusammengestellt, dass sie ein großes Quadrat bildeten und fünfzig Personen bequem Platz boten. Wasserkrüge, Gläser, Blocks und Stifte sowie Instruktionshandbücher waren auf der dunkelblauen Decke arrangiert worden. Alles stand ordentlich an seinem zugewiesenen Platz. In einer Ecke wartete ein Reißwolf auf seinen Einsatz. Männer traten in Zweier- und Dreiergruppen ein. Es waren zwar keine Namensschilder aufgestellt worden, dennoch entstand keine Verwirrung. Jeder der Männer schien genau zu wissen, wo sein Platz war. Eine gewaltige Anspannung beherrschte den Raum. Es wurde nur das Nötigste gesprochen, ein paar Höflichkeiten ausgetauscht. Die Männer sahen sich kurz an, nickten und nahmen dann Platz. Alle der Anwesenden waren Militärs, was auch jedem aufgefallen wäre, der mit dem militärischem Auftreten nicht vertraut war. Auf altmodische Weise sorgfältig geschnittene Haare; Augen, die nichts verrieten; aufrechte Haltung, keine überflüssige Bewegung. Für den geschulten Beobachter waren die Männer Line Officers und kampferfahrene Sergeants und Chiefs – allesamt Männer, die im Militär Karriere gemacht hatten.
Im Verlauf der letzten vierundzwanzig Stunden waren die Männer, die alle in der Nacht eingetroffen waren, auf verschiedenen Routen zur Anglerhütte gereist. Der Makler, der die Hütte vermietet hatte, wusste nur, dass sich dort eine hochkarätige Gruppe zusammenfand, die wohl ein Brainstorming durchführen wollte. »Sie halten den Mund über das, was hier abläuft, und wir kommen nächstes Jahr wieder. Für Sie ist ein guter Bonus drin. Und stören Sie uns nicht«, hatte ihm ein Mann gesagt, der aussah wie sein alter Ausbilder beim Militär. »Jawohl, Sir«, hatte der Makler intuitiv geantwortet. Wachen waren über ein Gelände von achtzig Hektar verteilt. Sie trugen Zivilkleidung und hielten ihre Waffen versteckt. Der Qualm von Zigarren, Pfeifen und Zigaretten erfüllte den Raum, während die Männer darauf warteten, dass jemand die Versammlung eröffnete. »Wer hat diese Alarmbereitschaft angeordnet, von der in den Medien die Rede ist?«, fragte jemand in die Runde. »Die kam von den Joint Chiefs. Hat eine ganze Menge Einheiten in Verwirrung gestürzt. Außerdem wurden einige hunderttausend Männer von ihren üblichen Standorten woandershin verlegt. Herrgott, das dauert Tage, ehe da wieder Normalität einkehrt. Wir wissen weder, wer den Befehl ausgegeben hat, noch warum es dazu gekommen ist!« »Will man uns für den großen Schlag aus dem Weg haben?« »Ich dachte, wir hätten noch Monate Zeit.« »Irgendetwas ist passiert, dass sie ihren Zeitplan geändert haben«, sagte Army-General Vern Saunders. »Das bedeutet, dass wir uns sehr beeilen müssen.« »Teufel auch, Vern«, erwiderte General Tom Driskill vom Marine Corps. »Was können wir denn wirklich machen? Wir glauben alle zu wissen, wo ›es‹ ist, aber sicher sind wir nicht.
Wagen wir es, einzuschreiten? Und wenn ja, welche Konsequenzen erwarten uns dann?« Admiral Mullens von der Navy blickte sich um und sah jedem von ihnen in die Augen. »Ich glaube nicht, dass wir es wagen können.« Sergeant Major Parley starrte nervös in die Runde. »Wenn Ihnen etwas auf der Seele brennt, Sergeant Major«, sagte der Admiral, »dann sprechen Sie es aus. Wir sind hier alle gleichberechtigt.« »Himmel, bloß nicht!« rief ein Sergeant Major der Marine. Gelächter machte sich breit. »Ich glaube nicht«, sagte Parley, »dass wir es uns leisten können, einzugreifen. Aber was sollen wir statt dessen tun? Däumchen drehend auf den Krieg warten?« »Ich schätze, die Entscheidung liegt nicht in unseren Händen«, meinte Coast Guard Admiral Newcomb. »Wir sind so oder so angeschmiert. Wenn wir den Standort des U-Boots bekanntgeben – jedenfalls die Stelle, von der wir glauben, dass es der Standort ist – dann ist die Möglichkeit für einen Krieg groß. Sehr groß sogar. Ich schätze, wir stecken in der Klemme. Wenn wir die Verräter bloßstellen, werden sie sie trotzdem abfeuern. Wir dürften gar nicht über diesen Raketentyp verfügen.« »Was ein schlechter Scherz ist«, setzte Sergeant Major Rogers vom Marine Corps angewidert hinzu. »Russland verfügt noch immer über doppelt so viele konventionelle Kernwaffen wie wir. Ich möchte nicht wissen, wie viele bakteriologische Sprengköpfe sie besitzen.« Er grinste gequält. »Natürlich haben wir von denen auch ein paar.« Er schüttelte den Kopf. »Jesus! Dreißig verdammte Kerle entscheiden über das Schicksal der gesamten Welt. Und wenn unsere Geheimdienstinformationen stimmen, dann ist es noch schlimmer. Dann ist es ein doppeltes falsches Spiel.«
Franklin, Master Chief Petty Officer der Navy, blickte ihn über den Tisch hinweg mit Abscheu in den Augen an. »Admiral, wissen Sie oder weiß sonst jemand hier zuverlässig, wem wir wirklich vertrauen können?« »Nein, nicht wirklich«, entgegnete Rogers kopfschüttelnd. »Wir wissen nicht, wie viele von unseren eigenen Leuten an dieser… Sache beteiligt sind.« »Wollen Sie sagen, Sir, einer von uns könnte daran beteiligt sein?«, warf ein Colonel ein. »Ich würde sagen, die Chancen dafür stehen ziemlich gut.« »Ich hab mich schon gewundert, warum ich so schnell aus Italien zurückgeholt wurde, dass ich nicht mal Zeit hatte, den Reißverschluss meiner Hose zu schließen«, sagte der Ranger Colonel lächelnd. »Mach das lieber, Pete«, rief ein SEAL lachend. »Soviel gibts ja nicht, mit dem du angeben könntest.« »Woher willst du das denn wissen?«, meinte ein Angehöriger der Marine amüsiert. »Steht ihr beide aufeinander?« »Ich bin zwar nicht frei, aber für Vorschläge offen«, gab der Ranger zurück. Ein Kommandant der Luftwaffe lachte. »Wenn er unter der Dusche steht, dann beugt er sich auffallend oft nach vorne, um nach der Seife zu suchen.« Der raue Humor sprach alle anwesenden Männer an. Nachdem das Lachen wieder verstummt war, wirkte ihre Unterhaltung entspannter und freier. »General«, fragte ein Colonel der Special Forces, »glauben Sie, einige meiner Leute sind in die Sache verwickelt?« »Nein«, antwortete General Saunders. »Unsere Leute vom Geheimdienst« – er machte eine ausholende Geste – »aus allen Zweigen scheinen sich in einem Punkt einig zu sein. Es sind keine Spezialtruppen daran beteiligt.« Er hob warnend einen Finger. »Aber das betrifft alle Zweige des Militärs, nicht nur in
unserem Land, sondern in allen Ländern, Russland eingeschlossen.« Er lächelte grimmig. »Das ist für mich eine gewisse Genugtuung. Die Männer in diesem U-Boot haben überall auf der Welt Freunde, darum haben sie sich so lange vor uns verstecken können.« »Bull und Adams leben wirklich noch?« »Ja, ich habe mit Bull gesprochen. War ein ziemlicher Schock für mich.« »Ich verstehe einfach nicht, was sie mit dieser… Operation zu tun haben«, sagte ein Master Chief mehr zu sich selbst. »Wir auch nicht«, erwiderte ein Admiral. »Aber wir kennen die Tatsachen, von denen eine offensichtlich ist: Bull und Adams haben vor Jahren ihren Tod vorgetäuscht. Wir wissen, dass sie beide fanatische Patrioten sind, Adams sogar noch mehr als Bull, wenn es um den Hass auf Liberale geht. Nun gut. Wir haben diese Hypothese aufgestellt: Adams und Bull hatten einen Plan, die Regierung notfalls zu stürzen und dabei Zivilisten einzusetzen… na ja, besser gesagt: Rebellen. Zusammen mit ausgesuchten Einheiten des Militärs. Es hat Jahre gedauert, das aufzubauen. Aber… der Einsatz von zivilen Rebellen war ein Fehlschlag, weil nicht genügend von ihnen rechtzeitig mobilisiert werden konnten. Wir wissen sicher, dass viele ehemalige Mitglieder der Hell-Hounds sie haben abblitzen lassen.« »Wie viele Männer haben sie?« »Höchstens fünf- bis sechstausend.« »Das ist nicht gerade wenig. Und so wie wir Bull und Adams kennen, sind das ausgebildete Guerillakämpfer. Wie haben sie es geschafft, die Bereitschaft von so vielen Leute über so lange Zeit geheim zu halten?« Der Admiral ließ sich zu einem knappen Lächeln verleiten. »Sie haben Bull nie kennen gelernt, oder?« »Nein, Sir.«
»Sonst hätten Sie diese Frage auch nicht gestellt.« »Ich kannte beide«, sagte ein Colonel der Rangers. »Wenn sie ein Mitglied in einer ihrer Einheiten für einen Verräter hielten, haben sie ihn sofort getötet – im Krieg ebenso wie in Friedenszeiten.« »Verstehe«, sagte der Mann leise. »Dann hat sich Bull den Plan mit dem U-Boot ausgedacht?« General Saunders schüttelte den Kopf. »Nein, wir glauben, dass Adams die Idee dazu hatte. Aber darüber konnte ich mit Bull nicht sprechen, weil ich nur zwei Minuten Zeit hatte. Außerdem waren er und Adams seit fünfundzwanzig Jahren Freunde. Aber es ist mir gelungen, Misstrauen in seinem Kopf keimen zu lassen. Wir glauben, dass Adams die Kontrolle verloren hat, er ist geistig weggetreten. Mr. Kelly vom CIA teilt unsere Ansicht.« »Es gibt da etwas, das ich nicht verstehe«, warf ein Coast Guard Officer ein. »Dieser Plan, die Regierung zu stürzen, der existiert doch schon seit langem. Warum haben sie so lange gewartet?« »Das ist genau das, was wir nicht wissen. Im Moment arbeiten Dutzende von Computern an diesem Problem.« Der General rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. »Ich hatte keine Gelegenheit, Bull zu fragen. Es gab so viele Fragen, die ich ihm stellen wollte. Leute, ich glaube, wir können nicht mal beten, um diese Männer auf dem U-Boot zu stoppen. Ich glaube, dass wir kurz vor einem Krieg mit nuklearen und biologischen Waffen stehen und nichts dagegen tun können.« »Ich darf annehmen«, sagte ein Marine Officer, »dass die Joint Chiefs davon wissen?« »Das ist uns nicht bekannt«, erwiderte Admiral Mullens. »Aber wir können sie nicht darauf ansprechen, weil wir nicht wissen, ob einer von ihnen beteiligt ist.« »Einer oder sogar mehrere. Und wenn ja, welche?«
»Dieser Punkt darf auch nicht außer Acht gelassen werden.« »Und wir können mit ihnen nicht das machen, was wir gleich an uns vornehmen werden«, sagte General Driskill, während ein Berater wie auf ein Stichwort hin einen Wagen mit einer Maschine darauf in den Raum fuhr. Niemand musste fragen, um was es sich handelte. Alle Anwesenden besaßen die höchste Sicherheitsstufe der Vereinigten Staaten. Jeder von ihnen kannte diese Art Test. Das Gerät war der am höchsten entwickelte psychologische Stress-Evaluator, PSE. Von der gleichen Art, die Bull und Adams einsetzten, um Informanten zu entlarven. »Jeder von uns wird sich einem PSE-Test unterziehen.« General Driskill legte lächelnd seine Waffe vor sich auf den Tisch. »Es dauert nicht lange.« Ein paar Sekunden verstrichen, ohne dass etwas geschah. Ein Colonel der Luftwaffe versuchte sich eine Zigarette anzuzünden, musste es aber aufgeben, da seine Hände zu sehr zitterten. Er begegnete dem unerbittlichen Blick des Marine-Generals. »Sparen Sie sich die Mühe, General. Ich weiß nicht, wo das U-Boot ist. Ich weiß auch nicht, wer von den Joint Chiefs an dieser Operation beteiligt ist, wenn überhaupt. Und ich kenne niemand, der es wissen könnte.« »Sie verdammter Narr!« herrschte General Driskill ihn an. »Verstehen Sie nicht, dass Sie die Welt an den Rand eines Holocausts bringen? Oder interessiert Sie das nicht?« »Ach, zur Hölle damit!« gab der Colonel zurück. »Sollen sich Russland und China doch gegenseitig die Köpfe einschlagen. Wir sammeln die Überreste ein und stehen dann wieder ganz oben.« »Darum geht es also«, murmelte jemand. Der Air Force Colonel lächelte.
»Ich glaube nicht, dass es darum geht«, sagte General Crowe von der Air Force. Er zog eine Pistole aus dem Hosenbund und richtete sie auf den Colonel. »Sie hinterhältiger Hurensohn. Welcher von den Joint Chiefs ist es?« Mit einem Mal wurde der Air Force Colonel ruhig, da er erkannt hatte, dass er den Raum nicht lebend verlassen sollte. Er würde den anderen nicht das Vergnügen gönnen, dass er um sein Leben bettelte. Der Reihe nach blickte er jedem der Männer in die Augen, dann zündete er sich endlich eine Zigarette an. »Ich weiß es nicht. Und das ist die Wahrheit. Ich glaube, es ist ein Berater, aber ich bin nicht sicher. Sie können mich testen, ich werde mich der Maschine nicht widersetzen.« Er wurde getestet. Er kannte den Namen des Mannes bei den Joint Chiefs nicht, und seine Behauptung, dass er vermute, es könne ein Berater sein, wurde durch den Test bestätigt. Er wusste nicht, wo sich das U-Boot befand, und er konnte auch, weiter nichts dazu sagen. »Sagen Sie alles, was Sie wissen!« fuhr General Crowe ihn an. »Es ist nicht das erste Mal, dass ich zusehe, wie ein Mann gefoltert wird, mein Kleiner.« In seiner Rechten hielt er noch immer die 38er. »General, ich weiß nicht viel über die Operation. Das war von dem oder den obersten Personen so beabsichtigt. Nicht mal die Leute im U-Boot wissen, wer dahintersteckt. Jedenfalls glaube ich das.« Niemand ihm Raum nahm ihm diese Worte ab. »Mein Befehl lautet, das zu berichten, was ich hier erfahren habe, weiter nichts.« »Er lügt!« rief ein Master Chief. »Colonel, machen Sie es sich nicht unnötig schwer«, sagte General Crowe. »Wir können verschiedene Wege gehen. Wir sind keine Barbaren, aber es könnte sein, dass das Schicksal der Erde in diesem Raum entschieden wird.«
Der Air Force Colonel sah auf seine Armbanduhr. Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel, als er dem General eine Telefonnummer in Washington, D. C. gab. »Machen Sie ausfindig, um was für eine Nummer es sich handelt«, wies Driskill Sergeant Major Rogers an. Der Blick des Colonels wurde härter. »Wollen wir doch mal all die offenen Fragen in Angriff nehmen, Colonel. Da ist nämlich noch zu vieles ungeklärt.« Er sah wieder auf seine Uhr, lächelte flüchtig und atmete so tief durch, dass es sich nach einem erleichterten Seufzer anhörte. Dann sagte er: »Wir – also diejenigen, die an der Operation beteiligt sind – wussten, dass Brady früher oder später zwei und zwei zusammenzählen und zu Fayers gehen würde.« »Harold Brady vom CIA?« »Ja. Wir hatten gehofft, dass das erst nach den Wahlen der Fall sein würde.« Wieder ein Blick auf die Uhr. »Warum sehen Sie immer auf Ihre gottverdammte Uhr?«, fragte einer vom Air Force Commando. »Müssen Sie irgendwelche Tabletten schlucken?« »Er will Zeit gewinnen!« sagte ein SEAL. Der Army Ranger verpasste dem Colonel einen schnellen, harten Schlag gegen den Kiefer, der ihn von seinem Stuhl rutschen ließ. General Driskill riss den Mann hoch und wuchtete ihn zurück auf den Stuhl. »Reden Sie endlich!« brüllte der General. Der Air Force Colonel schüttelte den Kopf, um sich von der Benommenheit zu befreien, dann wischte er das Blut von seinem Mundwinkel. Er lächelte. »Was amüsiert Sie an dem Ganzen so sehr?«, fragte Admiral Mullens. Das Lächeln wurde noch breiter.
»Weil…«, sagte Admiral Newcomb leise, »… weil es keine Wahlen geben wird, nicht wahr, Colonel?« Er hörte auf zu lächeln. »Das stimmt, Admiral.« »Warum?« »Weil es 12:07 Uhr ist. Darum.« »Was?«, rief Driskill. »Was hat die Uhrzeit damit zu tun?« »Brady ist viel schneller dahinter gekommen, als wir es erwartet hatten. Ich hätte vor 11:45 Uhr einen Anruf erhalten müssen, aber das ist nicht geschehen. Das bedeutet, dass unsere Computer zu dem Schluss gekommen sind, dass niemand Hilton Logan bei den Wahlen im Herbst schlagen kann. Sie waren zu der Ansicht gekommen, wenn es zu knapp ausfällt, also ohne eine deutliche Mehrheit, dann wird das Parlament eingeschaltet. Logan wird siegen, und dieser liberale Hurensohn kommt dahinter, dass wir neue Kernwaffen gebaut haben. Er wird befehlen, dass sie zerstört werden.« »Mein Sohn« – General Saunders lehnte sich vor – »machen Sie das nicht. Tun Sie das Ihrem Land nicht an. Logan ist nur ein Mann, auch wenn er nichts von einem Mann hat.« Er zog eine Grimasse. »Trotz allem ist er ein Mensch. Er wird die Nation nicht zerstören, dafür werden wir sorgen.« »Nein, General, das werden wir nicht. Dieses Land hat es satt.« Er sprach mit gedämpfter Stimme, seine Augen blickten traurig. »Wir hatten acht Jahre Konservatismus, aber allem, was Fayers durchgesetzt hat, war ein Kampf vorausgegangen. Die Leute interessieren sich nicht für langfristige Resultate. Sie interessieren sich nur für das Jetzt. Das hat die Rechtsprechung zu den Waffen gezeigt. Wir bewegen uns wieder nach links, und das können wir nicht zulassen. Nur auf diesem Weg kommen wir wieder ganz nach oben. China wird auf Russland jede verfügbare Rakete abfeuern, die die Regierung irgendwo versteckt hat, und dann marschieren fünfhundert Millionen Soldaten über die Grenze. Die beiden Länder werden sich
gegenseitig von der Landkarte radieren, sobald wir den Tanz eröffnen. Afrika wird wie ein Pulverfass hochgehen, und der Nahe Osten gleich mit.« Seine weit aufgerissenen Augen ließen seinen Fanatismus erkennen. »Und Amerika? Was ist denn mit Amerika, Colonel?«, fragte General Crowe. »Oh, wir werden natürlich auch Verluste hinnehmen müssen«, räumte er ein. »Irgendetwas zwischen fünfundsiebzig und neunzig Millionen. Sie kennen ja die Berechnungen. Aber wir werden viel besser dastehen als jede andere Supermacht. Und wenn wir diesmal an die Spitze zurückkehren, dann werden wir bei Gott auch dort bleiben.« »Sie sind verrückt!« platzte Sergeant Major Parley heraus. »Mein Gott, denken Sie doch mal an all die unschuldigen Menschen, die Sie umbringen. Ihr Leute habt doch völlig den Verstand verloren!« Rogers kam wieder ins Zimmer. »Ich habe das Autotelefon benutzt, General, für den Fall, dass das Telefon hier abgehört wird. Die Telefongesellschaft in D. C. hat den Auftrag erhalten, die Nummer abzumelden, die er uns gegeben hat. Das war vor knapp zwei Stunden.« Er sah sich um. »Was ist hier los?« »Ein Holocaust«, ließ ihn ein Kamerad wissen. Driskill sah den Colonel an. »Ich vermute, der Colonel ist jetzt bereit, uns in alle Einzelheiten einzuweihen, nicht wahr, Sie Superpatriot?« Der Air Force-Mann lachte ihm ins Gesicht. »Klar, warum auch nicht? Es gibt ja sowieso nichts, was Sie dagegen unternehmen könnten.« Außer dir deinen elenden Kopf wegzupusten, wenn du gesungen hast, dachte General Crowe, dessen Hand den Griff der 38er fester umschloss. »Es wird keine Wahlen geben«, sagte der Colonel. »Es wird sogar sehr lange Zeit keine Wahlen geben. Das Militär wird
gezwungen werden, die Kontrolle über das Land zu übernehmen. Die Verfassung wird außer Kraft gesetzt, das Kriegsrecht wird verhängt. Das ist genau das, was wir schon immer machen wollten. Als wir erfuhren, dass Brady uns auf der Spur war, mussten wir Zeit schinden. Wir mussten alles vorbereiten. Wir sind fünf Tage vom Abschuss entfernt.« Alle bis auf einen der Anwesenden hielten die Luft an. Hundertzwanzig Stunden bis zur Hölle. »Ich hätte mich an den Präsidenten wenden sollen, als meine Geheimdienstleute zum ersten Mal auf diesen Verrat gestoßen sind!« sagte General Saunders. Der Air Force Colonel lachte. Er zündete eine weitere Zigarette an, seine letzte. »Ach, General, ich werde Ihnen Ihr Gewissen ein wenig erleichtern. Es hätte keinen Unterschied gemacht. Sie hätten uns nicht aufhalten können, denn Sie wussten bis heute nicht, was sich wirklich abspielte. Sie hätten den Chinesen nicht sagen können, dass die Russen Raketen auf sie abschießen werden. Es gab keine Beweise. Sie hätten nur international für viel Wirbel gesorgt. Bei den Russen wäre es nicht anders verlaufen. Es läuft alles darauf hinaus: Ein amerikanisches U-Boot wird die Fernlenkwaffen abfeuern – amerikanische Fernlenkwaffen. Beide Länder hätten sich gegen Sie gewendet. Außerdem glaube ich, dass die meisten von Ihnen wissen, welche Art Raketen wir abfeuern werden. Raketen, die so geheim sind, dass nicht mal der Präsident von ihrer Existenz wusste. Ihr cleveren Jungs seid einfach ein bisschen zu clever geworden, das ist alles. Wir haben eure eigene Raffinesse gegen euch eingesetzt.« »Welche Art von Fernlenkwaffen setzen Sie ein?«, fragte ein Master Chief. »Supersnoops«, antwortete Admiral Mullens. »Thunderstrikes. Wir haben begonnen, sie zu bauen, als uns klar wurde, dass SALT 5 Wirklichkeit werden würde. Die Russen
wussten, dass wir sie bauen wollten, bevor SALT 5 unterzeichnet wurde. Das ist auch der Hauptgrund, warum sie sich überhaupt mit SALT 5 einverstanden erklärten.« »Wusste der Präsident das?«, fragte jemand. »Nein. Und der Kongress hatte auch keine Ahnung.« »Der Deckel wird langsam auf unseren Sarg genagelt«, sagte ein Navy Officer. Er sah zum Air Force Colonel. »Was geschieht mit ihm?« General nahm seine 38er und schoss dem Colonel ohne Vorwarnung zwischen die Augen. Dieser wurde von der Wucht des Treffers nach hinten geschleudert und von seinem Stuhl gerissen. »Guter Schuss, Turner«, bemerkte General Driskill beiläufig.
DREI
Samstag – fünf Tage bis zum Abschuss General C. H. Travee, Vorsitzender der Joint Chiefs of Staff, saß am Schreibtisch in seinem Büro. Lange Zeit saß er nur still da und dachte nach, während seine Finger auf der polierten Schreibtischplatte einen Rhythmus trommelten. Zu viele Gerüchte kursierten in der Stadt. Zu viele, um sie ignorieren zu können. Gerüchte über einen Machtkampf. In den Reihen des Militärs? Fast nicht zu glauben. Fast… Travee hatte am Morgen versucht, seinen alten Freund Vern Saunders zu erreichen. Das war einige Stunden, nachdem Vern nicht wie sonst samstags morgens üblich zur gemeinsamen Golfpartie erschienen war. Travee hatte versucht, ihn ausfindig zu machen, war aber überall nur gegen Mauern des Schweigens gelaufen. Sonderbar. Dann hörte er Gerüchte, General Crowe sei in das Cockpit eines Düsenjägers geklettert, um mit unbekanntem Ziel abzufliegen. Sonderbar. Crowe war entschieden zu alt, um wie ein junger Spund ins Blaue abzuheben und Löcher in den Himmel zu schneiden. Und General Driskill arbeitete samstags immer einige Stunden lang in seinem Büro. Auch er war nicht da. Travee betätigte eine Taste auf seinem Schreibtisch. »Ja, Sir?« »Holen Sie mir Major Bass vom ASA her. Sagen Sie ihm, ich will ihn in dreißig Minuten in meinem Büro sehen.« »Ja, Sir.«
Der Major der Army Security Agency stand exakt neunundzwanzig Minuten später vor dem Schreibtisch des Generals. Fragen waren in seinen ruhigen Augen zu lesen. »Was geht hier vor, Major?« »Sir?« »Kommen Sie schon, Major, Sie wissen, was ich meine. Sie wissen, was in der Stadt geredet wird. Und jetzt verraten Sie es mir.« »Ich… ich weiß nicht, Sir. Wir können nicht einmal feststellen, wer diesen Befehl zur Alarmbereitschaft gegeben hat.« »Er kam aber von den Joint Chiefs?« »Ja, Sir. Sir? Wir glauben, es war ein Berater. Aber der eine, an den wir gedacht haben, ist… verschwunden.« »Ich werde Sie nicht fragen, wen Sie im Verdacht haben. Nur soviel: Warum sollte er so einen Unsinn machen?« »Ich weiß nicht, Sir.« Travee nickte, dann sagte er: »Ich möchte Sie um einen persönlichen Gefallen bitten, Major. Finden Sie heraus, wo General Vern Saunders heute Morgen war. Und zwar schnell. Was Sie herausfinden, melden Sie aber nur mir.« »Jawohl, Sir.« Samstag – vier Tage bis zum Abschuss Präsident Fayers sah aus dem Fenster seines Büros und fragte sich, warum irgendjemand den undankbaren Job des Präsidenten der Vereinigten Staaten haben wollte. »Es ist ein mieser Job«, sagte er zu seinem Chefberater und guten Freund. »Es ist ganz egal, was man macht, man ist immer der Dumme. Die Verantwortung für ein Land von dieser Größe
sollte nicht einem einzelnen Mann aufgebürdet werden. Das ist einfach zu viel.« »Ja, Sir«, stimmte der Berater zu, ohne zu wissen, wovon sein Boss eigentlich sprach. Der Präsident war in letzter Zeit nicht ganz er selbst gewesen. Er war depressiv, er klagte über Schlaflosigkeit, und der Berater war besorgt, dass die Medien davon Wind bekommen und es der ganzen Nation weitertratschen würden. Es ging sie zwar verdammt noch mal nichts an, aber vom Präsidenten erwartete man, dass er vollkommen war. Er durfte nicht mal krank sein. Er sollte kein menschliches Wesen sein. Nein, der Präsident musste ein Supermann sein. »Ed«, fragte der Berater, »geht es Ihnen gut?« »Ja, natürlich… nein, eigentlich nicht. Verdammt, ich weiß es nicht. Ich werde einfach nur alt.« Er seufzte schwer. »Was steht für heute Nachmittag auf dem Terminkalender?« »Das Treffen mit dem Chef für Analyse und Statistik der geheimdienstlichen Tätigkeiten des CIA in Übersee.« »Meinen Sie Hal Brady?« »Ja, Sir.« »Titel – jeder muss einen Titel tragen«, murmelte Fayers. »Um wieviel Uhr?« »Jetzt gleich.« »Schicken Sie ihn herein.« Harold Brady humpelte ins Oval Office und trug eine Aktentasche, die randvoll mit Unterlagen war. Dass er humpelte, war eine Folge seiner Zeit mit der alten OSS während des Zweiten Weltkriegs. Ein Beinbruch beim Absprung über Frankreich, der nie richtig ausgeheilt war. Brady warf dem Berater einen Blick zu. »Unter vier Augen«, sagte er in seiner üblichen knappen Manier. Er klang unwirsch, wenn man ihn nicht näher kannte. Der Berater verließ den Raum.
»Sie sehen erschöpft aus, Mr. President«, sagte Brady. »Ich möchte Ihnen dafür danken, dass Sie sich an einem Sonntag Nachmittag für mich Zeit nehmen. Ich weiß, dass Sie sich an diesem Tag gerne ausruhen. Fühlen Sie sich gut, Sir?« »Den Umständen entsprechend«, erwiderte Fayers und schenkte zwei Tassen Kaffee ein. »Hilton Logan erklärt privat, dass er nicht zu schlagen sei. Er ist unser nächster Präsident. Gott stehe uns allen bei, weil er wahrscheinlich Recht hat. Die Gewerkschaften meckern und streiken wie üblich. Jede Minderheitengruppe in diesem Land beklagt sich lautstark, ich würde sie diskriminieren. Und meine Frau hat seit drei Wochen Kopfschmerzen. Immer nachts. Sie nennt mich einen geilen alten Bock.« Fayers lächelte. »Und da glauben Sie, dass Sie Probleme haben.« Brady erwiderte das Lächeln. »Nun, Sir, zumindest haben Sie Ihren Sinn für Humor nicht verloren.« »Nur mit Mühe, Hal. Und indem ich daran denke, dass ich in ein paar Monaten hier raus bin. Aber was für gute Neuigkeiten haben Sie zu bieten?« Er hob seine Tasse, um einen Schluck zu trinken. »Ich glaube, bestimmte Gruppierungen in den USA bereiten einen Krieg zwischen Russland und China vor.« Fayers ließ die Kaffeetasse auf den Teppichboden fallen. »Das ist ein verdammt mieser Scherz, Hal!« Er kniete sich hin, um die Scherben aufzusammeln. »Es ist kein Scherz«, sagte der CIA-Mann, öffnete seine Aktentasche und breitete verschiedene Papiere auf dem Schreibtisch des Präsidenten aus. »Sie sollten sich besser setzen, Sir.« »Wann… wann soll das alles stattfinden?«, fragte Fayers schließlich, als er mit aschfahlem Gesicht und schweißnasser Stirn Platz nahm.
Brady hob die Schultern. »Ich weiß es nicht, aber ich schätze, innerhalb der nächsten Woche, vielleicht sogar noch eher. Ich habe heute Morgen die letzten Beweise und Vermutungen zusammen getragen.« »Wollen Sie das mitschreiben lassen?« »Noch nicht, Sie sollten sich das erst einmal anhören, Sir.« Eine halbe Stunde später sagte Präsident Fayers zu seinem Berater: »Ich möchte für den Rest des Abends nicht gestört werden. Ich werde mich in Camp David ausruhen und dort die Nacht verbringen. Mehr muss niemand wissen.« Sonntagabend – Camp David »Entschuldigen Sie, Mr. Präsident«, sagte General Travee, nachdem er sich vom ersten Schock erholt hatte, »aber das kann ich nicht glauben.« »Sie sollten es aber glauben, C. H.«, erwiderte Brady. »Ich habe seit Monaten daran gearbeitet. In totaler Geheimhaltung. Ich wusste nur nicht, wem ich vertrauen konnte – nicht einmal Ihnen. Aber als die Computer diesen neuen Beweis lieferten, musste ich mich einfach an den Präsidenten wenden.« »Warum sind Sie nicht früher zu mir gekommen, Hal?« »Weil ich glaube, dass ein Teil Ihres Mitarbeiterstabs darin verstrickt ist. Ich weiß aber nicht, wer es ist. Und beim Geheimdienst sieht es nicht anders aus.« Staatssekretär Rees war mit Fayers nach Camp David geflogen. Die Joint Chiefs waren eine Stunde später per Auto angereist. Barry Ringold, Chef des FBI, war hergefahren worden, gefolgt von Kelly vom CIA, sowie Hal Brady. »Mir gefällt die Tatsache nicht, dass Sie mit dieser Information nicht zu mir gekommen sind«, sagte Kelly.
»Woher sollte ich wissen, wem ich vertrauen konnte?«, erwiderte Brady. Die beiden Männer sahen sich an, doch nach wenigen Sekunden wandte Kelly seinen Blick ab. Kelly war in sein politisches Amt gewählt worden. Brady dagegen war ein Karrierehai, der sein Leben lang im Schatten anderer gestanden hatte. Kelly hatte ein wenig Angst vor diesem Mann. »Ich möchte das jetzt mal klarstellen«, sagte Ringold. »Sie wollen uns erzählen, dass fünf- bis sechstausend organisierte und bewaffnete Rebellen in den Vereinigten Staaten bereit sind, sich gegen die Regierung zu stellen?« »Das ist korrekt«, entgegnete Brady. »Und die sollen mit einzelnen abtrünnigen Einheiten der Streitkräfte zusammenarbeiten?« »Das ist auch korrekt, Sir, soweit es uns bekannt ist. Aber vergessen Sie dabei bitte nicht, dass viele dieser Einheiten – vielleicht sogar jede einzelne von ihnen – keine Verräter sind, sondern falsche Informationen erhalten haben. Sie kennen nicht die ganze Wahrheit, sondern nur ein paar Brocken. Das ist jedenfalls meine Theorie.« Ringold nickte. »Also gut. Und Bull Dean und Colonel Adams sind beide wohlauf und arbeiten mit den Rebellen und den abtrünnigen Militäreinheiten zusammen? Verdammt, Harold! Dean und Adams sind draußen in Arlington begraben. Was soll dieses Märchen? Haben Sie irgendwas geraucht?« Brady lief rot an und öffnete den Mund, um dem FBI-Chef zu sagen, er könne ihn am Arsch lecken, entschied sich dann aber dagegen. »Und China wird Russland den Krieg erklären, sagen Sie«, fuhr Ringold fort. »Aber Sie haben noch immer nicht erklärt, wie sich das abspielen soll.« Brady hatte seine Fassung wiedererlangt und meinte: »Vielleicht darf ich das ja jetzt machen?«
»Mit Vergnügen, Sir«, erwiderte Ringold mit übertriebener Höflichkeit. Die beiden Männer konnten sich nicht ausstehen. Sie hatten sich noch nie leiden können, und für den Rest ihres Lebens würde sich daran auch nichts ändern. Brady sah jeden im Raum an, bevor er antwortete. »Weil ich glaube, dass Agenten, die sich als rote Agenten ausgeben, ein Attentat auf den chinesischen Premierminister und alle Mitglieder seiner Partei verüben werden, wenn er nächste Woche die Stadt Fuchin besucht.« »Und Sie glauben, das wird eine Atomkrieg zwischen den beiden Ländern auslösen?«, fragte Kelly. »Das wird nur der Anfang sein. Dann wird eine Rakete von einem U-Boot aus abgefeuert, das vor der russischen Küste liegt.« Er humpelte zu einer riesigen Weltkarte und deutete auf einen Punkt. »Genau von hier aus. Das U-Boot wird seine Rakete – oder wohl eher seine Raketen – von der Küste vor Zapovednyy aus abfeuern. Ich habe Grund zu der Annahme, dass es sich um mehrere Marschflugkörper mit je einem oder auch mehrere Sprengköpfen handelt. Und ich glaube, dass die Städte Harbin, Mutanchiang und Haokang zerstört werden sollen.« »Warum sollte Russland China mit Kernwaffen angreifen?«, wollte Ringold wissen. »Die halbe Welt könnte dabei mit draufgehen.« »Es gibt viele Gründe, die dafür sprechen«, sagte Brady. »Aber so, wie es keine russischen Agenten sein werden, die das Attentat auf den Premierminister verüben, sondern Amerikaner, werden die Russen auch keine Raketen abfeuern. Es wird sich um amerikanische Raketen handeln, die von einem amerikanischen U-Boot abgefeuert werden.« General Travee hatte aufmerksam die Landkarte betrachtet. »Von einem im Geheimen ausgerüsteten U-Boot, das so nahe
vor der Küste liegt, dass es so aussieht, als seien sie von russischem Boden aus gestartet.« Brady setzte sich hin. »Korrekt.« Admiral Divico war ungewöhnlich ruhig gewesen, während er die Karte studiert hatte. »Wir stecken in der Klemme«, sagte er schließlich, »und wir können nichts dagegen tun.« »Wie meinen Sie das, Max?«, fragte Sekretär Rees. Ringold warf dem Admiral einen wütenden Blick zu. Brady lächelte grimmig. »Das kleine, experimentelle U-Boot, das angeblich im letzten Jahr bei einer Testfahrt gesunken ist«, sagte der Admiral. »Was ist damit?«, fragte der Präsident. »Das war eines unserer bestgehüteten Geheimnisse. Nur Zivilisten an Bord. Hoch bezahlte Freiwillige ohne Familie, ausgesucht von…«, er hielt inne. »Wer hat die Crew ausgewählt?« »Wir«, sagte Kelly bedrückt. »Mehrere Angehörige der betroffenen Dienststelle«, sagte Brady, »haben die Stadt in den letzten sechsunddreißig Stunden klammheimlich und unter mysteriösen Umständen verlassen. Bei ihnen zu Hause meldet sich niemand.« »Das beantwortet nicht meine Frage«, warf Fayers ein. Die Blicke des Admirals trafen sich mit denen von Brady. »Ich glaube, Mr. Brady will uns als Nächstes erzählen, dass das U-Boot nicht gesunken sei.« »Stimmt, Admiral. Es wurde letzten Monat von einem unserer Spione gesichtet. Er war sich nicht hundertprozentig sicher, aber sicher genug, um mir eine Meldung zu machen. Ich bin von Anfang an misstrauisch gewesen. Wenige Stunden, nachdem ich seinen Bericht erhalten hatte, wurde der Agent ermordet. Das U-Boot nahm Vorräte von einem Schiff an Bord, das zu einer – so wörtlich – uns freundlich gesinnten Nation gehörte.« »Verdammt!« sagte der Admiral. »Von welchem kleinen, experimentellen U-Boot ist hier die Rede?«
»Es war streng geheim«, sagte der Admiral. »Nur wenige wussten etwas davon.« »Na, dann herzlichen Dank, dass ich auch mal etwas davon erfahre!« schnaubte Ringold. Der Admiral deutete mit einem Schulterzucken an, wie wenig es ihn interessierte, was Ringold dachte. »Sie mussten davon nichts wissen.« Dann fügte er hinzu: »Scheiße!« Er ließ er eine Reihe von Flüchen folgen, welche die Watergate-Bänder wie ein Kinderlied dastehen ließen. »Wo um alles in der Welt sollte sich ein U-Boot so lange verstecken können?«, fragte Ringold. »Praktisch überall«, sagte Travee. »Es ist unsichtbar. Kein Sonar kann es entdecken. Aber es war bei Gott eine kostspielige Konstruktion. Es war die großartigste Waffe der letzten fünfzig Jahre. Sie war viel schneller fertig als der Bomber. Auch wenn uns das jetzt nicht mehr hilft.« »Also gut«, sagte Rees. »Setzen wir die Russen und die Chinesen davon in Kenntnis? Sagen wir ihnen, was wir wissen… was wir vermuten? Gehen wir das Risiko ein?« »Was können wir davon beweisen?«, wollte General Dowling vom Marine Corps wissen. »Wir haben keinerlei Beweise«, sagte Brady leise. »Die andere Frage ist, ob wir noch Zeit genug haben. Nach meiner persönlichen Einschätzung würde ich sagen, dass sich die Chinesen anständig verhalten würden. Den Russen würde ich nicht mal so weit trauen, wie ich spucken kann. Sie werden folgendermaßen denken: Das ist ein amerikanisches U-Boot mit amerikanischen Raketen und einer amerikanischen Crew. Also ist es unser Fehler. Sie würden uns direkt in einen Krieg hineinziehen. Wir wissen nicht, wo das U-Boot ist, wir können es nicht aufhalten.« Er seufzte. »Ich glaube, wir müssen es darauf ankommen lassen und hoffen, dass unsere Verluste minimal ausfallen. Und
das amerikanische Volk darf davon nichts erfahren. In dem Moment, in dem wir öffentlich eine Verteidigungshaltung einnehmen, wird das U-Boot die Raketen abfeuern. Unser Volk wird keine Zeit haben, um irgendetwas zu unternehmen. Außerdem wissen wir nicht, wie viele Raketen es durch unseren Abwehrschild schaffen.« »Das ist eine verdammt kaltblütige Einstellung!« sagte Ringold. »Aber sie ist notwendig«, verteidigte Brady seine Ansicht. »Wenn es wirklich dazu kommt, dann ist es besser, wenn die Menschen davon überrascht werden, anstatt sie tagelang in völlige Panik zu versetzen. Außerdem« – er hob einen Finger – »verfügen die Russen über ein sehr gutes Zivilschutzsystem: Bunker, Nahrungsmittel, Wasser. Die Vereinigten Staaten haben nichts dergleichen zu bieten. Die Russen sollen es im gleichen Augenblick erfahren wie unsere Leute. Mehr tote Russen und weniger amerikanische Opfer.« »Dem schließe ich mich an«, sagte Divico. Die anderen Mitglieder der Joint Chiefs nickten kurz und zustimmend. »Ich möchte eines sagen«, erklärte Fayers. »Mr. Brady glaubt, dass es keine Woche mehr bis zum Abschuss dauert. Bleiben wir bei dieser Hypothese. Wir wissen nicht, wo das U-Boot ist, aber wir nehmen an, dass es sich in einer Position befindet, um das Feuer zu eröffnen. Laut Ringold hat seine Dienststelle noch nie von diesen Rebellen gehört. Gut. Was mich angeht, sind diese Rebellen im Moment bedeutungslos – sofern es sie überhaupt gibt. Ich weiß nicht, wie wir uns mit einer Gruppe befassen sollen, von deren Existenz wir vor wenigen Stunden noch nichts wussten. Wir wissen weder, ob militärische Einheiten darin verstrickt sind, noch können wir sagen, wo diese Gruppe sich aufhält. Wir wissen nicht, welchen Commandern wir vertrauen können. Ich weiß nicht, ob ich
meinem Mitarbeiterstab vertrauen kann, und niemand von Ihnen weiß, ob er mir vertrauen kann. Genauso wenig kann ich beurteilen, ob ich einem von Ihnen trauen kann!« Fayers’ Blick streifte alle Anwesenden. Jeder von ihnen wollte protestieren, sagte dann aber doch nichts. Sie alle wussten, dass sie keinen der anderen von ihrer eigenen Unschuld würden überzeugen können. »Wir müssen also davon ausgehen, dass wir uns gegenseitig vertrauen können«, fuhr er fort. »Das ist die einzige Möglichkeit, wie wir mit dieser Situation umgehen können.« »Wie ist das U-Boot bewaffnet?«, fragte Ringold, der sich ein wenig vernachlässigt vorkam. Der Admiral seufzte und sah zu General Travee. »Mit Thunderstrikes«, sagte er. »Scheiße!« riefen Hyde von der Air Force und Dowling vom Marine Corps gleichzeitig. »Was ist eine Thunderstrike?«, wollte Ringold wissen, der sich noch ausgeschlossener fühlte. »Ja«, sagte der Präsident und beugte sich vor. »Das würde ich auch gerne wissen. Ich habe noch nie von einer Thunderstrike gehört.« Er sah zu jedem der Joint Chiefs. General Hyde antwortete schließlich: »Ihr… ähm… Vorgänger im Weißen Haus hat ihn… ähm… genehmigt, Sir. Übrigens auch vor unserer Zeit als Joint Chiefs, darf ich hinzufügen«, sagte er ein wenig hilflos. »Der Codename ist ›Supersnoop‹. Es ist keine große Rakete, aber sie ist sehr wirkungsvoll. Und praktisch nicht aufzuhalten. Sie ist genauso getarnt wie das U-Boot. Man kann sie nicht entdecken, ehe es zu spät ist. Sie bleibt dicht über dem Boden.« »Sehr interessant«, sagte Präsident Fayers trocken. »Und sehr aufschlussreich. Ich darf annehmen, dass der Bau auch noch weiterging, nachdem das letzte Abkommen unterzeichnet worden war?«
Divico räusperte sich. »Ja, Sir.« »Und sie wurden nicht in die Abrüstungsvereinbarungen für Kernwaffen einbezogen.« »Das ist korrekt, Sir«, gab Divico zu. »Na, das ist doch wunderbar. Das dürfte ja wohl ausschließen, dass wir den Russen auch nur ein Sterbenswörtchen davon erzählen, oder?« Niemand wandte etwas dagegen ein. »Wie viele dieser Thunderstrikes besitzen wir?«, fragte Fayers scharf. »Einhundertfünfzig«, erwiderte General Dowling. Fayers sah die Angehörigen der Marine an. »Sie haben alle von diesen Raketen gewusst?« »Ja, Sir.« »Diese Waffe ist sehr leistungsfähig?« »Ja, Sir, einige von ihnen sind mit bakteriologischen Sprengköpfen ausgerüstet.« Fayers schlug mit der Hand auf den Tisch, was die Männer zusammenzucken ließ. »Das ist doch einfach grandios. Das ist ja verdammt wundervoll!« Der Präsident fluchte nur selten. »Wir mussten etwas in petto haben, Sir«, verteidigte Divico seine Raketen. »Wir mussten den Russen ein Stück voraus sein. Hätten sie etwas von diesen Raketen gewusst, hätten die niemals das neue SALT-Abkommen unterzeichnet. Wir haben darüber beraten, es Ihnen zu sagen, aber…« Er ließ den Satz unvollendet. »Wo werden diese Thunderstrikes gelagert?«, fragte Fayers. »In Kalifornien.« Fayers zeigte auf Divico: »Admiral, Sie werden sich noch heute Nacht persönlich zu diesem Depot begeben und sie werden jede Thunderstrike zählen. Erstatten Sie mir umgehend Bericht, in den nächsten Stunden. Verstanden?«
»Jawohl, Sir.« »Ich bin sicher, dass sich nicht alle einhundertundfünfzig dort befinden werden«, äußerte Rees. »Aber werden wir die, die noch dort sind, startklar machen?« »Ja«, sagte Fayers. »Ich darf das als einen direkten Befehl betrachten, Sir?«, fragte Divico. »Ja«, antwortete Fayers. »Großer Gott!« flüsterte Ringold.
VIER
Montagmorgen – drei Tage vor dem Abschuss »Sind Sie sicher?«, fragte der Russe. »Ich bin absolut sicher.« Der Mann blieb im Schatten stehen, während er redete. »Die Chinesen haben eine Rakete entwickelt, die so tief fliegen kann, dass sie unentdeckt durch unsere Verteidigungslinien hindurchkommt?« »Das ist die Wahrheit, Sir. Unser Maulwurf im Pentagon hat mir das berichtet.« »Es fällt mir schwer, das zu glauben«, erwiderte der russische Agent. »Ich finde es unvorstellbar, dass die Chinesen auf dem Gebiet der Kernwaffen unsere Technologie und die der Amerikaner überholt haben sollen.« »Sie arbeiten zusammen.« »Wer? China und Amerika?« »Ja.« »Das kann ich mir allerdings gut vorstellen. Das heißt, alle Meldungen und Gerüchte, die uns in den letzten Monaten zu Ohren gekommen sind, entsprechen der Wahrheit…« »Ich fürchte, ja, Sir.« »Diese Raketen… diese Thunderstrikes… wir dachten, sie seien eine rein amerikanische Entwicklung. Über wie viele davon verfügen die Chinesen?« »Hunderte.« »Tatsächlich? Hunderte?« »Ja, Sir. Unser Maulwurf spricht von einigen hundert – mindestens. Alle startklar und ausgerichtet – auf uns.«
»Und davon sind viele mit bakteriologischen Sprengköpfen ausgerüstet?« »Ja, Sir.« »Davon möchte ich eine sehen.« »Ich weiß, wo eine von ihnen für den Transport nach China zwischengelagert wird.«
»Ein Gespräch für Sie, Sir«, informierte ein Berater den Präsidenten. Fayers riss den Hörer hoch. »Sprechen Sie!« Admiral Divicos Stimme war ruhig. »Sie wollten die Zahl der Raketen, Sir?« »Ich habe Sie nicht losgeschickt, um Melonen zu zählen!« Fayers war wütend, und seine Stimmung wurde durch den Schwindel verstärkt, unter dem er die ganze Nacht und den Morgen gelitten hatte. Sein Kopf tat ihm weh, pochte vor Schmerz. Er hatte kein Wort darüber verloren. »Einhundert, Sir.« »Einhundert? Sie haben gesagt, wir hätten einhundertfünfzig!« »Einhundert.« »Wie viele befinden sich auf dem U-Boot?« »Zwölf, Sir.« »Danke, Admiral«, sagte Fayers und kämpfte gegen den Kopfschmerz an. »Dann fehlen uns ja nur noch achtunddreißig.« Er unterbrach die Verbindung.
Major Bess stand vor Travees Schreibtisch. Er fand, dass der General müde und abgespannt aussah. Vielleicht sorgte er sich um etwas. »General Saunders war an dem fraglichen Morgen mit dem General von Fort Leonard Wood zum Angeln, Sir.«
»Angeln? Vern hasst Angeln. Wo waren sie denn?« »Missouri, Sir.« »Vern fliegt fast tausendfünfhundert Kilometer, um angeln zu gehen?« So ein Schwachsinn, dachte er. »Sind Sie sicher, Major? Kein Zweifel möglich?« »Nein, Sir. Dafür würde ich mein Leben geben.« Oder meines, dachte Travee. Oder das aller Menschen. »Da ist noch etwas, Sir.« »Sagen Sie schon, Major.« »Driskill vom Marine Corps und einige seiner Senior-Sergeants waren ebenfalls in Missouri. Außerdem Admiral Newcomb, einige Commander von Spezialtruppen und Senior-Sergeants, und General Crowe mit einigen seiner Leute.« »Ich muss Sie das fragen, Major: Sind Sie ganz sicher?« »Ja, Sir.« »Danke, Major.« »Jawohl, Sir.« Der ASA-Mann drehte sich auf dem Absatz um und verließ das Büro. Travee rief General Fowler an, den Chef des Geheimdiensts der Army. Sie verabredeten sich zum Mittagessen. Die beiden Männer hatten gemeinsam ihren Abschluss an der Point gemacht, und obwohl sie danach unterschiedliche Richtungen eingeschlagen hatten, waren sie Freunde geblieben. Jedenfalls hatte Travee das geglaubt. Bis heute. Wem kann ich trauen? fragte er sich.
»Du stocherst in deinem Essen herum, C. H.«, bemerkte General Fowler. »Geht es dir nicht gut? Beschäftigt dich irgendwas?«
Wie wäre es mit Holocaust? Travee betrachtete das Essen auf seinem Teller. Oder Verrat? Langsam blickte er zu seinem Freund auf. Die Männer saßen im hinteren Teil des vornehmen Restaurants Washington, in einem abgeschotteten Bereich, in dem man sie weder beobachten noch belauschen konnte. »Monk«, sagte Travee und benutzte den Spitznamen des Generals. »Ich möchte, dass du mir etwas sagst.« »Sicher, C. H. wenn ich das kann. Schieß los.« Travee nahm einen Schluck Kaffee, sah sich kurz um und kam dann ohne Umschweife zum Thema. Zwei Minuten lang redete er wie ein Wasserfall auf Monk Fowler ein, der seine Gabel fallen ließ und ihn mit kreidebleichem Gesicht ansah. Er wollte einen Schluck Wasser trinken, aber er zitterte so sehr, dass er einen Teil des Wassers auf sein Hemd schüttete. Travee endete mit den Worten: »Sag mir nicht, dass du die Gerüchte nicht gehört hast, Monk. Beleidige nicht meinen Intellekt, indem du mir erzählst, du hättest nicht hier und da in den Berichten und Meldungen irgendwas mitbekommen. Und erzähl mir nicht, dass du nicht zwei und zwei zusammengezählt hast – und dass du nicht ein Teil davon bist. Rede, Monk, und lass es überzeugend klingen.« »C. H.! Ich… ähm… ich weiß nicht, was du…« Fowler hörte das fast nicht wahrzunehmende Klicken einer 45er Automatik, die unter dem Tisch entsichert wurde. Er sah seinem Freund in die Augen. Eiseskälte. »Mein Gott, C. H.! Tu das nicht!« »Ich sollte dich auf der Stelle töten, Monk. Du bist eine falsche Schlange! Verdammt noch mal, Monk, du warst mein Freund! Warst! Als Chef des Geheimdienstes der Army musst du bis zum Hals in dieser Scheiße stecken!« »Steck die Pistole bitte weg, C. H.« »Du gehörst dazu, nicht wahr, Fowler?«
General Fowlers Augen waren vor Angst weit aufgerissen. »Ich will nicht sterben, C. H.« »In ein paar Tagen werden wir alle sterben, du Hurensohn! Mein Gott – wem kann ich eigentlich noch vertrauen?« Travee stand auf und stecke die Waffe zurück in das Halfter. »Steh auf, du Stück Dreck, und komm nicht auf dumme Gedanken, sonst bist du ein toter Mann. Ich werde dir in den Bauch schießen, Monk, damit du langsamer und schmerzvoller krepieren kannst.« Er legte das Geld für das Essen auf den Tisch und schob Fowler in Richtung zur Hintertür. »Beweg dich!« »W… wohin gehen wir?« »Zum Weißen Haus.« Hinter ihnen saßen die Gäste des Washington beim Mittagessen zusammen, erzählten und flirteten, ohne zu ahnen, dass der nukleare und bakteriologische Horror nur noch Stunden von ihnen entfernt war.
»Und mehr wissen Sie nicht?«, fragte Fayers, der noch immer von Kopfschmerzen geplagt wurde. »Nein, Sir«, erwiderte Fowler. »Ich kenne nicht alle Einzelheiten, aber ich habe so meine Vermutungen.« »Bull Dean?« Er schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Ich habe in den letzten Tagen nicht mehr mit ihm sprechen können, aber Bull führt die Rebellen an, sonst nichts. Adams hat gesagt, er würde bei einer solchen Sache niemals mitmachen.« »Spielt sich das weltweit ab, Fowler?«, fragte Travee. Fowler zögerte. »Ich… ich kann das nicht sagen, C. H.« »Für Sie heißt das General Travee, Fowler. Mit einem Sir dabei. Verwenden Sie ein Sir, wenn Sie mit mir sprechen.« »Ja, Sir. Ich kann es nicht sagen, Sir.« »O doch, Monk – das werden Sie.«
»Ich kann zumindest sagen, dass ich froh bin, dass es vorbei ist.« »Es ist noch nicht vorbei, Fowler«, sagte Travee und verpasste dem General einen heftigen rechten Haken, der ihn vom Stuhl kippen ließ. »Sie werden uns alles sagen, was Sie wissen, sonst wird es ein schmerzhafter Tod werden.« Er wandte sich an General Hyde. »Richten Sie Ihre Waffe auf den Warrant Officer im Flur. Er darf uns mit diesen Codes nicht entkommen. Wir müssen ein wenig Zeit gewinnen… wenn das noch möglich ist.« »Großer Gott, General!« rief Fayers. Da war ein sonderbarer Blick in seinen Augen. Der Präsident lachte laut auf. Hyde blieb an der Tür stehen und sah den Präsidenten an, dann blickte er zu Travee. Der schüttelte langsam und traurig den Kopf. »Gott, diese Kopfschmerzen!« Fayers rieb sich die Schläfen. General Hyde ging nach draußen in den Flur und winkte den jungen Warrant Officer zu sich. Der riss erstaunt den Mund auf, als er sah, wie Fowler mit blutigem Mund versuchte, sich wieder aufzurichten. »Was ist… Sir?« Der Warrant Officer starrte seinen Vorgesetzten an. Travee streckte seine Hand aus. »Geben Sie mir die Codes, Mr. Anderson. Und bedenken Sie bitte, dass General Hyde eine 45er auf Ihren Rücken gerichtet hat.« Der W. O. zögerte keine Sekunde. Er trat vor und händigte General Travee den Koffer aus. »Ist es passiert, Sir?« »Ja, mein Sohn«, erwiderte der General. »So sieht es aus.« Fowler saß auf seinem Stuhl und hatte den Kopf in seine Hände gestützt. »Tu mir nichts, C. H. Du weißt, dass ich Schmerzen nicht gut ertragen kann.« Travee lächelte boshaft. »Ich werde es nicht vergessen – Verräter.«
Montagnachmittag In einem Lagerhaus im Hafen von New York City betrachtete der russische Agent die schimmernde Form der Thunderstrike, die in einer langen Kiste mit der Aufschrift AXLES verpackt war. Der Russe schüttelte den Kopf. Typisch Amerikaner, dachte er. Die geheimste Waffe der Welt, und diese Kerle packen sie in eine Holzkiste und schreiben AXLES drauf, um sie dann in ein frei zugängliches Lagerhaus zu stellen. Die Rakete sah nicht bedrohlich aus, eher hübsch und elegant. Sie war winzig im Vergleich zu der gewaltigen ICBM. Aber falls der Sprengkopf in ihrer Spitze platziert worden war, dann wurde aus ihr die höchstentwickelte Rakete der Welt. Selbst Gott – wenn Er existierte, dachte der Russe – würde eine Erlaubnis benötigen, um einen Blick auf diese Waffe zu werfen. Der Agent wusste, dass er hier den Grund vor sich hatte, warum sein Land SALT 5 unterzeichnet hatte. Mit einem Mal wirkte die Thunderstrike sehr bedrohlich auf ihn. Der Russe begann zu schwitzen, denn er wusste, dass er das Objekt ansah, das ihn höchstwahrscheinlich töten würde. Und das in allernächster Zeit. Er nagelte den Deckel auf die Kiste und seufzte, als er deren Beschriftung las. BESTIMMUNGSORT: CHINA. »Kleine gelbe Bastarde!« murmelte er. »Hey, Sie!« Der Russe drehte sich um. Ein Mann in Jeans und mit Schutzhelm auf dem Kopf stand da und starrte ihn an, die Hände in die Hüften gestützt. »Was zum Teufel machen Sie hier?« »Ich warte auf jemanden.«
»Ja? Dann warten Sie gefälligst woanders. Sie haben keine Berechtigung, sich hier aufzuhalten. Also raus hier!« Der Arbeiter hatte offensichtlich nicht mitbekommen, wie er den Hammer zurück auf die Werkbank gelegt hatte. »Natürlich. Ich bitte um Entschuldigung. Kann ich hier irgendwo in der Nähe warten?« »Yeah, gleich unten am Pier gibts eine Imbissbude. Und jetzt Bewegung!« Als der Russe gegangen war, begab sich der Mann zu einem Telefon, wählte eine Nummer und sagte: »Er hat es mir abgekauft. Alles ist soweit.«
Präsident Fayers starrte ungläubig auf General Fowlers Körper. Er war tot! Fayers konnte nicht fassen, dass sich so etwas zutrug. Nicht hier! Nicht im Oval Office! Sein Kopf schmerzte. Er hatte das Gefühl, dass ihm die Realität entglitt, während er die schlimmsten Schmerzen ertrug, die er je erlebt hatte. Durch seinen Schmerz hindurch konnte er die Männer vom Militär reden hören, aber ihre Worte ergaben keinen Sinn. Er wusste nicht einmal, wer diese Männer überhaupt waren. Er begann sehr leise zu summen. »Wenn herauskommt, dass Fowler gesungen hat«, sagte General Hyde, »bleibt uns nicht mehr viel Zeit.« Fayers sah auf und verstummte einen Moment lang. Wer waren diese Männer? Wo kamen sie her? »Weltweit«, sagte Dowling. »Fowler hat über ein Dutzend Länder genannt, Russland eingeschlossen. Ich kann nicht fassen, dass sie eine bewaffnete Revolte in Russland planen.« »C. H.«, warf Admiral Divico ein, »wir können nicht einfach eine Leiche aus dem Haus tragen. Draußen treiben sich ständig irgendwelche Journalisten rum.«
»Hat irgendjemand gesehen oder gehört, was Sie mit Captain Bingham gemacht haben?«, fragte Travee ihn. »Nein«, entgegnete der Admiral. Der Geschmack des Verrats brannte bitter in seinem Mund. »Ein Verräter in meinen eigenen Reihen. Ich habe diesen Dreckskerl auf seinem Stuhl sitzen lassen, an seinem Schreibtisch, mit halb weggeschossenem Kopf.« Er hatte die Tür abgeschlossen und ein »Bitte nicht stören «-Schild an den Türgriff gehängt, mit dem Bingham üblicherweise signalisierte, dass er allein sein wollte. »Das Ganze wuchert wie ein Krebsgeschwür«, sagte Travee. »Es greift auf alle Zweige über. Ich habe mit Saunders gesprochen, der mir bestätigt hat, dass sie sich am Samstag getroffen haben – alle Zweige! –, und versucht haben, zu entscheiden, ob wir hinter diesem Schlamassel stecken. Unsere eigenen Leute vertrauen uns nicht mehr. Mein Gott!« »Können Sie ihnen das verübeln?«, fragte Dowling. »Zur Hölle, C. H. denken Sie jetzt nicht daran. Wir müssen Zeit schinden, die wird nämlich verdammt knapp.« Fayers’ Sprechanlage summte. Der Präsident sah auf, dann begann er zu kichern. »Er hat abgehoben«, sagte Hyde mit Blick auf Fayers. »Wieso beneide ich ihn bloß um seine Seligkeit?« Travee betätigte die Sprechtaste. »Ja?« »Ed? Sie klingen so komisch. Hören Sie, ich muss den Leuten von der Presse irgendwas sagen. Die wollen wissen, warum die ganzen hohen Tiere hier sind.« Sag ihnen, dass es sie einen feuchten Dreck zu kümmern hat, dachte er und sah zu den Joint Chiefs. »Kommen Sie rein.« »Wer spricht da?«, fragte der Berater. »Bewegen Sie Ihren Arsch hier rein!« herrschte Travee ihn an. Der Berater, James Benning, trat ein und blieb abrupt stehen, als er General Fowlers Leichnam sah. Die Finger des Toten
waren gebrochen und grotesk verdreht. Benning sah zum Präsidenten, der ihn mit leeren Augen anstarrte. Im Raum stank es nach Schweiß und nach Urin aus einer plötzlich entleerten Blase. »Dieser Mann ist gefoltert worden«, sagte der Berater ungläubig. »Er hat einen Knebel im Mund, er ist… o Gott… er ist tot!« Er rüttelte Fayers vorsichtig an der Schulter. »Ed?« »Er bekommt nichts mehr mit, James«, sagte Dowling. »Holen Sie den Vizepräsidenten.« »Ich… äh…« Der Berater schüttelte den Kopf und sah auf seine Uhr. »Das geht nicht. In diesem Augenblick ist er auf dem Weg in den Nahen Osten zu einer Konferenz. Der Termin steht schon seit Monaten fest.« »Verdammt!« fluchte Dowling. »Wo ist der Speaker?« »Der Speaker ist auf einer angeblichen Dienstreise. Der stellvertretende Senatspräsident ist im Krankenhaus und erholt sich von einer Operation.« »Herrgott!« brüllte Travee. »Dann soll Minister Rees herkommen.« Der Berater nahm den Hörer ab, dann sah er Travee an. »Haben Sie General Fowler das angetan? Sie sind ein amerikanischer General, Sir. Was ist hier los?« »Holen Sie mir Rees, verdammt noch mal!« »Ja, Sir!« erwiderte der Berater knapp und tippte die Nummer. Fayers saß in einem Sessel in einer Ecke, fernab von allem. Er summte leise seine alte Collegehymne vor sich hin. »Rees ist unterwegs«, sagte James. »Ich hole den Geheimdienst, Sir. General, was geht hier vor sich?« »Hier spielt sich ein Putsch ab… unter anderem. Können wir dem Geheimdienst vertrauen?« »Das müssen wir«, sagte Dowling. Travee wandte sich dem jungen W. O. zu. »Von wem werden Sie abgelöst?«
»Myers, Sir.« »Kennen Sie ihn gut?« »Ich kenne ihn überhaupt nicht, Sir. Sir? Das hier ist Amerika, so etwas kann sich hier doch nicht ereignen!« »Das tut es gerade, und nicht nur hier. Warum kennen Sie diesen Myers nicht?« »Er ist gerade erst auf diesen Posten versetzt worden.« Der W. O. dachte kurz nach. »Das ist auch seltsam, Sir. Die Leute, die normalerweise auf diesem Posten sind, hat man in den letzten Monaten alle ausgetauscht. Ich bin der Einzige, der von der ursprünglichen Truppe verblieben ist. Der Befehl kam jedesmal überraschend, und es gab nie irgendeine Begründung.« Travee gab ihm die Aktentasche mit den Kriegscodes. »Setzen Sie sich, mein Sohn. Irgendwo in ein ruhiges Eckchen. Wenn irgendjemand außer den Männern in diesem Zimmer versucht, Ihnen den Koffer abzunehmen, dann erschießen Sie ihn. Sie sind bewaffnet. Haben Sie verstanden?« »Jawohl, Sir.« Der Chef des Geheimdienstes des Weißen Hauses kam herein und blieb ein paar Sekunden lang wie erstarrt stehen. »Was zum Teufel ist hier los?« Travee erklärte es ihm ohne Umschweife. »Holen Sie alle Ihre Leute her. Es interessiert mich nicht, wo sie sind und was sie gerade machen. Holen Sie sie einfach her.« »Ich nehme von Ihnen keine Befehle entgegen.« Travee hob seine 45er, spannte den Hahn und richtete sie auf den Kopf des Mannes. »Sie haben fünf Sekunden Zeit, um den Befehl auszuführen.« »Ja, Sir«, entgegnete der Geheimdienstchef und ging steif zum Telefon. Travee sah zu Benning. »Wo ist Mrs. Fayers?« »In Kalifornien, Sir. Sie hält dort einen Vortrag.«
»Gut. Holen Sie den Arzt.« Auf einer anderen Leitung rief er das Pentagon an. »Hier spricht General Travee. Das Codewort ist Blue Tango. Ich werde das nur einmal sagen, also sollten Sie gut zuhören. Ich möchte, dass folgende Befehle sofort mit höchster Priorität verschlüsselt ausgesendet werden: Jede Militärbasis in diesem Land wird sofort dichtgemacht. Dicht! Jeder Urlaub ist hiermit aufgehoben. Holen Sie das komplette Personal zurück auf die Basis. Haben Sie verstanden?« »Blue Tango, Sir?«, Papier raschelte. »Blue Tango! Das ist… verdammt, das ist ein Aufstand in unseren Grenzen, Sir.« »Dessen bin ich mir vollauf bewusst, Colonel. Führen Sie die Befehle einfach nur aus.« »Das kann ich nicht, Sir. Ich benötige weitere Codes.« »Red Fox!« »Das muss vom Präsidenten kommen, Sir!« »Verdammt, meinen Sie, ich wüsste das nicht. Der Präsident ist… verhindert.« »Dann vom Vizepräsidenten, Sir.« »Der Vizepräsident ist außer Landes. Tun Sie, was ich Ihnen sage!« »Sir«, widersprach der Colonel. »Ich befolge nur meine Anweisungen… die Befehlskette…« »Zum Teufel mit Ihnen, Colonel! Ich gebe Ihnen einen direkten Befehl!« Aus dem Hörer drang ein gleichmäßiges Summen an Travees Ohr. Er sah sich erstaunt um. »Dieser Hurensohn hat einfach aufgelegt«, sagte er.
FÜNF
Montagabend »Ich kann nicht glauben, dass die Amerikaner das tun«, meinte der russische Botschafter. »Es sei denn… es sei denn, sie nehmen die Gerüchte, die in unserem Land umgehen, für bare Münze. Ja, so muss es sein.« Der russische Agent saß ihm gegenüber in der Botschaft. »Ich habe die Thunderstrike mit eigenen Augen gesehen. Im Moment ist sie auf dem Weg zum chinesischen Festland, zu den mehr als hundert anderen, über die sie verfügen.« »Auf Russland gerichtet«, sagte der Botschafter. »Alles lief so gut – dachten wir.« Seine Hände zitterten. Seine Sekretärin meldete sich über die Sprechanlage. »Sir, Präsident Fayers wurde gerade ins Bethesda Hospital gebracht. Er hatte einen schweren Schlaganfall, und es wird nicht erwartet, dass er überlebt. Der Vizepräsident kann nicht aufgefunden werden. Sein Flugzeug und alle an Bord sind irgendwo im Mittleren Osten verschwunden. Es wird befürchtet, dass Fayers Frau entführt wurde.« »Danke. Halten Sie mich auf dem Laufenden. Schicken Sie eine Beileidsbekundung zum Weißen Haus.« Er erzählte dem Agenten, was ihm soeben übermittelt worden war. Mit zitternden Händen zündete er sich eine Zigarette an. »Zu vieles passiert zu schnell, um reiner Zufall zu sein. Ich glaube, dass uns bald der Boden unter den Füßen einstürzen wird. Es gibt viel zu tun, Fyodor. Packen wir es an.«
Premierminister Su hörte dem Colonel vom chinesischen Geheimdienst zu. Sein Gesicht blieb unbeweglich, als der Colonel redete… und redete. Schließlich unterbrach Su ihn. »Sie haben diese Raketen gesehen?« »Mit meinen eigenen Augen, Premierminister.« Su seufzte. »Mit was denn sonst – denen einer Ziege? Wir haben nichts in unserem Arsenal, um sie zu stoppen?« »Nein, Premierminister. Nichts.« »Die Russen wollten mich in Fuchin ermorden?« »Und Ihre Frau.« »Barbaren! Was ist mit den Amerikanern?« »Unser Geheimdienst berichtet, dass sie nichts damit zu tun haben. Es stimmt zwar, dass die Thunderstrike ihnen gehört, aber die Pläne wurden ihnen gestohlen – von den Russen. Natürlich durfte keine Seite irgendetwas davon bei den Abrüstungsgesprächen erwähnen.« »Natürlich. Dass es nicht ganz aufrichtig zugeht, das war zu erwarten. Auf beiden Seiten des Tisches.« »Der Fuchs erzählt dem Hund nichts von seinem Höhlenausgang«, meinte der Colonel. Premier Su seufzte schwer. »Colonel, bitte ersparen Sie mir Ihre Perlen aus dem Orient. Ich war noch nie ein Charlie Chan-Verehrer.« »Ja, Sir. Es geht auch etwas innerhalb der amerikanischen Grenzen vor.« »Ich weiß, ich weiß. Präsident Fayers ist ziemlich krank. Ich habe Genesungswünsche geschickt.« »Es gibt noch mehr, Sir. Der Vizepräsident wird vermisst, ebenso die Frau des Präsidenten. Das militärische System ist… hm… verwirrt.« »Verwirrt? Soll das etwa Fachvokabular sein – verwirrt?«
»Es tut mir leid, Premierminister. Das gesamte System ist in Unordnung geraten. Bis jetzt haben wir noch nicht herausgefunden, was genau los ist.« »Versuchen Sie es weiter.« Su lächelte. »Beharrlichkeit erhält den Glanz der Ehre.« Das Gesicht des jungen Colonels erhellte sich. »Konfuzius, Sir?« »Nein, Shakespeare.« Premier Su bedeckte seinen Mund, um das leise Lächeln über den niedergeschlagenen Ausdruck im Gesicht des Colonels zu verbergen. »Oh«, entschlüpfte es dem Colonel. Su fragte: »Sie und Ihre Leute sind sicher, dass die Russen uns angreifen werden – ohne jeden Zweifel?« »Ja, Premierminister. Wir haben einige ihrer codierten Nachrichten von der Basis in Zapovednyy entschlüsselt. Diese eine bestätigte es.« Su sah ihn an, seufzte und sagte: »Ich warte, Colonel.« »Sir?« »Lesen Sie die Nachricht vor!« »Ja, Sir. ›Operation Drache-Stirb zur Ausführung am Montag 2359. Wischt die Gelben vom Angesicht der Erde.‹« »Drache-Stirb.« Su schüttelte angeekelt den Kopf. »Wie malerisch. Wie typisch für die Russen. Barbaren! Vier Tage«, murmelte er. »Zur Hölle!« fügte der Colonel hinzu. »Wenn es eine gibt, meine ich.« General Sun, Kommandant der chinesischen Armee, sprach zum ersten Mal während des Meetings. »Wann greifen wir an, Sir?« »Morgen.« Premier Su warf ihm einen Seitenblick zu, dann dem Colonel. »Mittags.« Er lächelte. »Der frühe Vogel fängt den Wurm, wissen Sie.«
Das Weiße Haus ähnelte einem belagerten Gefechtsstand. Draußen war alles ruhig, aber drinnen herrschte kontrolliertes Chaos. Die Presse rief nach Informationen, erhielt aber sehr wenige. Travee war darüber in Kenntnis gesetzt worden, dass der Präsident, nachdem er von der Tragödie in Amerika gehört hatte, einen leichten Herzanfall erlitten und seine Nachfolge dem Außenminister Rees übergeben hatte. Außenminister Rees, nun amtierender Präsident Rees, zeigte Anzeichen von Niedergeschlagenheit. Die Präsidentschaft war der letzte Job auf der Welt, den er sich wünschte. Bevor er Außenminister geworden war, war er Präsident einer Bank in Des Moines gewesen. Nach der Neuigkeit, dass Ed Fayers nach einer schweren Gehirnschwellung auf dem Operationstisch gestorben war, kam die Nachricht herein, dass das Flugzeug des Vizepräsidenten und das Presseflugzeug über dem Mittelmeer abgeschossen worden waren. Keine Überlebenden. Die Berichte darüber, was den zwei Flugzeugen zugestoßen war, widersprachen sich. Die Sprecherin der israelischen Luftwaffe teilte mit, ein amerikanischer Jagdbomber habe die Flugzeuge abgeschossen. Wo war der Jagdbomber hergekommen? Man wusste es nicht. Die PLO schrie, sie habe es nicht getan, Libyen ließ verlauten, es sei entzückt, dass es passiert sei. Die übrigen Länder aus dem Mittleren Osten teilten mit, sie hätten es ganz sicher nicht getan. Nichts war aus der russischen Botschaft zu vernehmen. Der chinesische Botschafter drückte tiefstes Bedauern aus. »Mr. President«, sagte Senator Hilton Logan zu dem verstörten Rees, »ich finde, wir sollten sofort etwas unternehmen.«
Hilton Logan war noch nie für sein Taktgefühl – oder auch für irgend etwas anderes – bekannt gewesen. Rees warf ihm einen eisigen Blick zu. »Nun, Senator… das ist einfach brillant. Die UN-Diplomaten springen im Dreieck und schreien sich gegenseitig an. Die Welt geht stündlich mehr den Bach runter. Es wird eine Panik in den Straßen von Amerika geben, wenn die Presse erst erfährt, dass all dies passiert – und aller Wahrscheinlichkeit nach passieren wird. Ungefähr zwanzig Prozent des Militärs gehorcht General Travees Befehlen nicht – oder meinen Befehlen, wie ich hinzufügen darf. Also, Senator, mit all diesen Dingen im Hinterkopf, was möchten Sie, dass ich tue, was nicht schon getan wird? Und übrigens: Wie zur Hölle sind Sie hier hereingekommen? Sie waren ganz sicher nicht eingeladen.« »Mr. Präsident, ich wollte nicht unverschämt sein. Aber ich darf hinzufügen, dass ich wiederholt darüber gesprochen habe, dass diese Spezialtruppen übertrainiert und nur noch Tiere sind. Ich…« »Oh, Scheiße, Logan«, fiel ihm General Travee ins Wort. »Halten Sie den Mund. Die Spezialeinheiten sind in Ordnung. Gottseidank«, fügte er hinzu. »Sie befolgen alle meine Befehle. Ich habe angeordnet, dass SEALs von Camp A P Hill in die Stadt kommen, nur für den Fall, dass die Polizei Hilfe braucht. Aber das ist nicht das unmittelbare Problem.« Er schwenkte ein Blatt Papier in der Hand, das ihm gerade von einem Berater gereicht worden war. »Das ist das Problem.« »Was ist das?«, fragte Rees. »China hat angeordnet, dass alle Truppen für einen regelrechten Krieg bereit sein sollen. Entlang der russischen Grenze wird massiv aufgerüstet. Unsere Schnüffler sagen, Russland rüste sich für einen Krieg. Raketenabschussrampen sind bereit. Und«, sagte er, mit einem direkten Blick zu Logan, »ich habe den Befehl, das Gleiche zu tun.«
»Ich muss gegen diesen Befehl protestieren!« erwiderte Logan. »Ich möchte eine Versammlung des Kongresses einberufen, um das zu diskutieren.« »Ja, das brauchen wir wirklich dringend«, brummte Dowling. »Dann hatte Brady also Recht«, meinte Rees. »Brady wer?« Logan wedelte mit den Armen. »Sir?« Ein Berater sprach Travee an. »Die Presse schreit nach Informationen. Sie senden schon einen Haufen Mist aus Überseebüros. Was soll ich ihnen sagen?« »Wo ist Fayers Pressesprecher?«, fragte Logan. »Weg«, antwortete Dowling. »Er war einer von der anderen Seite.« »Welche andere Seite?« Logan schrie die Worte fast. Er wurde ignoriert. Der General lächelte. »Erzählen Sie ihnen…« Sein Lächeln wurde breiter. »Erzählen Sie ihnen mit aller tiefen Aufrichtigkeit, die Sie aufbieten können, dass General Travee sich auf einer Ebene mit den Mitgliedern des vierten Standes befindet, wenn er sagt: ›FICKT EUCH DOCH INS KNIE.‹« Er brüllte. Die Militärs im Raum grinsten – alle bis auf eine Person. Jemand unter ihnen musste schließlich der Presse vermitteln, was sie wirklich über sie dachten. »Wir müssen dem amerikanischen Volk erzählen, was los ist«, meinte Logan. »Wir müssen.« »Zeit«, sagte Präsident Rees. »Wir müssen uns ein bisschen mehr Zeit erkaufen.« »Warum?«, fragte Logan. »Damit das Militär sich in eine Verteidigungsstellung begeben kann«, erwiderte Travee. »Die Stützpunkte müssen von allen Männern befreit werden, die der Regierung gegenüber nicht loyal sind.«
Ein Colonel in Zivil betrat das Oval Office. »Sir, ich habe General Graham von Fort Campbell am Apparat.« Travee nahm den Telefonhörer ab. »Was ist los, Mike?« »Es gibt hier ein bisschen Ärger, C. H.« Das Geräusch von Gewehrfeuer war schwach im Hintergrund zu hören. »Aber es ist so gut wie unter Kontrolle. Es sind nicht allzu viele Männer in die Rebellion verwickelt. Ich habe gerade mit Harrison unten in Bragg gesprochen und mit Huval draußen in Carson. Sie sind in Sicherheit. Das Gleiche mit Lewis und Stewart. Fort Knox ist ein Krisenherd, C. H. – da sieht es nicht gut aus. Möchten Sie, dass meine Jungs dort erscheinen?« »Berauben Sie sich nicht selbst Ihres Schutzes, Mike. Sie haben meine Nachricht erhalten. Sie wissen, dass der Ballon steigt.« »Ja, ich weiß. O. K. wir werden Knox sichern. Ich kriege einige Green Bennies von Bragg und die Rangers von der Ersten, 75ste. Passen Sie auf sich auf, C. H.« »Viel Glück, Mike.« Travee legte auf. Er fragte sich, ob er seinen Freund je Wiedersehen würde. Admiral Divico sagte: »Ich habe einen Flugzeugträger und mehrere Zerstörer bereit, C. H. Oh, wir wissen, wo sie sind – sie reagieren bloß nicht mehr auf Befehle.« »Ich hatte auch einigen Ärger«, sagte General Dowling mit einem grimmigen Blick. Sein Kinn wirkte wie ein Granitblock. »Meine Männer haben ihn niedergeschlagen – sicherheitshalber. Ich habe angeordnet, dass jeder Überlebende der Rebellen erschossen wird. Gottverdammte verräterische Marine!« »Bei mir werden einige Piloten vermisst«, sagte General Hyde. »Und ihre Flugzeuge. Von ein paar Raketenabschussrampen kommt keine Antwort.« »Sind die Flugzeuge mit Waffen bestückt?«, fragte Rees.
»Ja, Sir, komplett. Ich habe Befehl gegeben, dass sie zerstört werden, wenn sie sich nicht ergeben.« »Die Abschussrampen?« General Hyde schüttelte den Kopf. »Wir können nur hoffen, dass sie der Stimme der Vernunft gehorchen und es sich anders überlegen.« Logan ergriff das Wort. »General Dowling? Habe ich richtig verstanden, dass Sie gesagt haben, Sie hätten Ihren Leuten befohlen, jeden Angehörigen der Marine zu erschießen, der in diesen Aufstand verwickelt ist?« »Sie haben es verdammt richtig verstanden, Senator.« »Aber das ist verfassungswidrig, Sir! Diese Männer verdienen ein Gerichtsverfahren.« »Oh, sie werden ein Verfahren bekommen, Logan«, versicherte ihm der Marineangehörige. »Das kürzeste Gerichtsverfahren in der Geschichte.« Er drehte dem Senator den Rücken zu. Präsident Rees warf einen Seitenblick auf Divico. »Admiral, waren es… Ihre Leute, die das Flugzeug des Vizepräsidenten zum Absturz gebracht haben?« Das Gesicht des Admirals war grau vor Erschöpfung und verkniffen vor Ärger. »Ja, es sieht so aus, Sir. Von dem abtrünnigen Träger.« »Und…?«, drängte Rees. »Ich habe den Kapitänen eine Stunde gegeben, um meinen Befehl auszuführen und sich schleunigst in den nächsten Hafen zu begeben.« Er seufzte. »Oder ich lasse die Schiffe aus dem Wasser sprengen.« »Es kann doch sein, dass nicht alle Männer auf diesen Schiffen Teil des Putschversuches sind«, gab Logan zu bedenken. »Ja, Senator.« Divicos Blick war hart. »Sie können mir glauben, mir ist das viel klarer als Ihnen.«
»General Travee?«, machte ein Berater auf sich aufmerksam. »Wir haben endlich herausgefunden, warum kein Minister auf unsere Anrufe reagiert hat.« »Sagen Sie es mir.« Travee wirbelte herum. »Sie sind tot, Sir. Alle erschossen.« »Der Verteidigungsminister?« »Immer noch keine Nachricht, Sir.« Eine weitere Beraterin kam in das Oval Office. »Die Presse hat sich einen Teil der Geschichte zusammengereimt, Mr. Präsident. CBN hat gerade die Nachricht einer Revolte innerhalb des Militärs gebracht. Eine andere Sendergruppe hat ein Stückchen hinzugefügt und Gerüchte über einen Atomkrieg aufgebracht. Verschwundene Raketen usw. Es wird immer schlimmer…« »Wie reagiert das amerikanische Volk?« »Genau wie wir erwartet haben, Sir. Mit Panik. In verschiedenen Städten brach Aufruhr aus, viele versuchen aus den Städten zu fliehen.« »Wohin zum Teufel wollen die denn?« Die Beraterin schüttelte den Kopf. »Sie wissen es nicht, Sir. Sie rennen bloß verängstigt davon.« Präsident Rees schüttelte frustriert den Kopf. Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Ist der Geheimdienst jetzt sauber?« »Ja, Sir. Das ist positiv.« »Dann ist das Weiße Haus gesichert?«, fragte er. »Bis die Vögel fliegen«, wurde ihm mitgeteilt. Da übergab sich Präsident Rees über den ganzen Teppich.
Ben Raines saß in seinem Arbeitszimmer und sah sich die TV-Nachrichten an. Das reguläre Programm war aufgegeben worden. Ben trank seinen Whiskey und amüsierte sich bitter über die Panik, die sich in den USA entwickelte.
Arrogant prostete er der Nachrichtensprecherin im Fernseher mit seinem Whiskeyglas zu und sagte: »Ich wollte dich schon immer mal vögeln, Honey.« Dann erhob er sich aus seinem Stuhl, schaltete das Fernsehgerät aus und legte eine klassische Sinfonie auf. Die Pistole in Bull Deans Hand wackelte niemals. Der Abzug war gespannt, die Mündung zeigte auf Adams’ Bauch. »Ich hätte es mir schon vor Monaten zusammenreimen sollen, Carl«, sagte er zu seinem langjährigen Freund. »Du hast mich zum Narren gehalten. Was noch schlimmer ist, Carl: Du hast Gott gespielt.« »Das stimmt nicht, Bull!« protestierte Adams. Er behielt seine Hände bei sich und bewegte sich sehr langsam – er kannte Bull zu gut, als dass er versucht hätte, ihn anzuspringen. Bull war ein alter Mann, aber immer noch so tödlich wie eine schwarze Mamba. »Jetzt oder nie, Bull. Der einzige Weg.« »Du hast diesen Einheiten die Befehle zur Revolte gegeben – mit dem Wissen, dass sie getötet werden würden.« »Ich musste die Sache ins Rollen bringen, Bull!« »Du hast die Befehle gegeben, das Flugzeug des Vizepräsidenten abzuschießen; du hast das mit den Thunderstrikes an die Presse durchsickern lassen.« »Ich musste es tun!« Bull Dean schüttelte den Kopf. »Du Dummkopf – du armer, fehlgeleiteter Dummkopf. Du hättest wirklich nicht gedacht, dass die Spezialeinheiten umfallen würden, oder? Einen Hochverrat begehen?« Er zuckte mit den Schultern, aber die Pistole schwankte zu keiner Zeit. »Nun, es ist vorbei. Nur noch ein paar Stunden. Du bist schlimmer als ein Dummkopf, Carl, du bist ein Verräter. Seit drei Uhr heute Nachmittag habe ich Kontakt zu mehr als fünfundneunzig Prozent der Rebellenführer aufgenommen. Sie sind raus aus alledem, haben einen kühlen Kopf behalten.«
»Sie werden meinen Befehlen gehorchen!« schrie Carl. Bull schüttelte seinen grauhaarigen Kopf. »Nein, das werden sie nicht, Carl. Sie sind Amerikaner, keine Verräter. Sie rebellieren, um ihrer Nation zu helfen, das ist ihr einziger Grund. Sie tun es für ihr Land, nicht für dich oder mich. Du hast keine Armee.« »Vielleicht hast du Recht, Bull. O. K. du hast Recht. Aber ich habe gewonnen, Bull. Obwohl ich nur Sekunden vom Tod entfernt bin – ich habe schließlich doch gewonnen.« »Wie kommst du darauf, Carl? Wir waren achtzehn Jahre im Untergrund, haben unsere Familien verloren, alles. Wie kannst du gewonnen haben?« »Aus der Asche, Bull. Diese Nation wird stärker werden, als sie in ihrer Geschichte je gewesen ist. Die Überlebenden werden zäh sein. Sie werden niemals zulassen, dass wir wieder nach links abdriften, nie mehr zu zahm mit Kriminellen und Ganoven umgehen. Die Disziplin wird wiederhergestellt, und die Bürger werden wieder bewaffnet sein, und sie werden nie – nie! – wieder ihre Waffen aufgeben.« »Es könnte auch genau in die andere Richtung gehen, Carl. Hast Du jemals daran gedacht?« »Niemals!« Bull lächelte traurig. »Wir haben einen Weltkrieg begonnen, Carl. Einen schrecklichen Krieg – den schlimmsten, den die Welt je gesehen hat. Aber vielleicht können wir ihn aufhalten. Sag mir, wie wir die Männer auf diesem U-Boot davon abhalten können, den Knopf zu drücken.« Adams schüttelte den Kopf. »Man kann sie nicht davon abhalten.« Er lächelte. »Nicht mit verbalen Befehlen. Sie haben ihre einzige Verbindung zu Außenwelt abgebrochen. Sie sind bereit, für ihr Vaterland zu sterben, Bull. Es ist zu spät.« »Ja«, entgegnete der alte Seemann mit einem Seufzen. »Ich vermute, das stimmt.«
Er drückte ab, und die schwere 45er Automatik bäumte sich in seiner Hand auf, während die Kugel ein Loch in Carls Brust riss. Die Kugel durchschlug sein Herz. Der Mann wurde nach hinten geschleudert und fiel tot zu Boden. Bull Dean stand über der auskühlenden Leiche des Mannes, den er über dreißig Jahre als Freund und Kampfgenossen bezeichnet hatte. Er schüttelte den Kopf. Das Telefon klingelte. Bull nahm den Hörer ab. Es war der Kommandant der Rebellen von den östlichen Stützpunkten. »Ich habe meine Leute in Position, Sir, bereit, sich in ihre Unterstände zu begeben. Die anderen sind ebenfalls soweit. Ich frage mich, was die Zivilisten tun werden!« »Wenn sie intelligent sind«, sagte der alte Soldat mit grimmigem Lächeln, »legen sie ihre Köpfe zwischen ihre Beine und küssen ihre Ärsche zum Abschied.« Er legte auf. Bull setzte sich auf einen Stuhl neben dem Telefon und dachte daran, Ben Raines in Louisiana anzurufen. Er schüttelte den Kopf. Kürzlich hatte er gehört, Ben sei ein Säufer. Der beste verdammte Guerillakämpfer, den Bull je gesehen hatte, war ein Säufer. Was für eine Schande. Er ließ die Fakten im Kopf Revue passieren. Carl hatte die Adirondacks im vergangenen Monat zweimal verlassen und war nach New York City gereist. Bull war ihm gefolgt und hatte allmählich die Puzzleteile zusammengesetzt. Carl hatte sowohl mit den Russen als auch mit den Chinesen heimlich zusammengearbeitet, wobei er die Thunderstrikes als Köder verwendet hatte. Ein doppelt falsches Spiel, das funktioniert hatte. Dann hatte Carl seine Leute bei der NATO instruiert, den Festlandchinesen eine falsche Nachricht in die Hände zu spielen, die sie über einen geplanten Militärschlag gegen sie informierte. Und er hatte die Russen in eine Falle gelockt. Alles
hatte perfekt geklappt. Nun war es zu spät um noch etwas anderes zu tun, als zu beten. »Wir hätten beide in Nam sterben sollen«, sagte er laut. »Wir waren zwei gute Soldaten, die vom Wege abgekommen sind.« Nein. Er schüttelte den Kopf. Wir waren nicht auf dem falschen Weg. Nicht von Anfang an. Grundsätzlich war es ein guter Plan, Amerika zu den Wurzeln seiner Verfassung zurückzuführen. Er seufzte, als er die starre Leiche von Adams betrachtete. Du bist zu groß für deine Stiefel geworden, Partner. Du hast die Grenze überschritten. Ich glaube, am Ende warst du verrückt. Er nahm den Hörer ab und sagte zu der Vermittlerin: »Geben Sie mir das Weiße Haus, Miss. Sagen Sie demjenigen, der sich meldet, dass Colonel Bull Dean mit Crazy Horse Travee sprechen möchte.« Er lachte. »Das sollte seine Aufmerksamkeit erregen.«
Nur Stunden, bevor die Presse die Gerüchte über einen drohenden Atomkrieg verbreitete, verschwanden in fast jedem Staat Amerikas Leute, die wussten, wie man überlebt, die bereit waren für einen Krieg. Professor Steven Miller verschwand vom Campus der USC. Der stille Geschichtsprofessor mit der weichen Stimme, ein Junggeselle, konnte nicht aufgefunden werden. Seine Wohnung war unverschlossen, nichts schien zu fehlen oder auch nur an einem falschen Platz zu sein. Allerdings schien es einem befreundeten Professor merkwürdig, dass ein Kästchen mit Munition des Kalibers 223 in einer Büroschublade gefunden wurde. »M-16-Munition«, stellte ein Polizist fest. »Aber Steven mochte keine Waffen«, erklärte sein Kollege. »Wenigstens behauptete er, er möge sie nicht. Wenn ich darüber
nachdenke, hat er nie an irgendwelchen unserer Aktivitäten zur Waffenkontrolle teilgenommen.« Der Polizist zuckte die Achseln. Eine Stunde später war auch der Polizist verschwunden.
Jimmy Deluce, ein Schädlingsbekämpfer aus dem Cajun-Land Louisiana, und ein Dutzend seiner Freunde meldeten sich nicht zur Arbeit. Niemand schien zu wissen, wohin sie gegangen waren.
Nora Rodelo und zwei ihrer Freundinnen wurden zuletzt beim Einkaufen in Dodge City, Kansas, gesehen. Dann verschwanden sie aus dem Blickfeld.
Anne Flood, eine College-Studentin im letzten Semester, und ein halbes Dutzend ihrer Freunde, männlich und weiblich, stiegen in ihre Autos und Wohnmobile und fuhren weg.
Ein Nachbar sagte zu seiner Frau, sie solle schnell herkommen und sich das ansehen. »Die Kinder tragen Waffen, Mutter. Die sehen aus wie Maschinengewehre. Übertrifft das nicht alles?«
James Riverson, ein riesenhafter Lastwagenfahrer vom Stiefelabsatz Missouris, und seine Frau Belle wurden zuletzt gesehen, wie sie in James’ Sattelschlepper stiegen und in Richtung Westen fuhren. Ein Nachbar hatte ihm zugerufen: »Was transportierst du auf dieser Fahrt, James?«
James hatte gelächelt und geantwortet: »Eine Ladung M-16 und Munition.« Sein Nachbar hatte gelacht. »M-16! James, mein Sohn, du bist vielleicht ‘ne Marke!«
Linda Jennings, Reporterin für eine Wochenzeitschrift einer kleinen Stadt in Nebraska, erschien nicht zur Arbeit. Niemand hatte sie seit dem vorigen Tag gesehen. Sie hatte einen Telefonanruf bekommen und sofort mit Packen begonnen. »Ach, die junge Leute!« hatte ihr Chef geschnaubt.
Al Holloway, ein Musiker in einer Country- und Western-Band, erschien nicht zur Probe. Ein Freund berichtete, er habe ihn in sein Auto einsteigen und wegfahren sehen. Er behauptete, es habe ausgesehen, als ob er eine Maschinenpistole trug.
Jane Dolbeau, eine Frankokanadierin, die in New York lebte und arbeitete, wurde gesehen, wie sie ihre Wohnung verließ. Ein junger Mann, mit dem sie einmal verabredet gewesen war, hatte ihr zugewinkt, aber Jane hatte den Gruß nicht erwidert. Sie habe anderweitig beschäftigt gewirkt.
Ken Amato sowie seine Frau und Tochter schlossen ihr Haus in Skokie, außerhalb von Chicago, ab und fuhren weg.
Ben Raines saß in seinem Arbeitszimmer, hörte sich klassische Musik an und betrank sich immer mehr. Er hatte keine Ahnung, dass die Götter wild lachten und sein Schicksal planten.
SECHS
»General Travee? Da ist ein Mann am Telefon, der behauptet, Col. Bull Dean zu sein. Er sagt, er will mit Crazy Horse Travee sprechen. Ich bitte um Entschuldigung, Sir.« Travee lachte. »Also ist der störrische alte Bull noch am Leben.« Er riss den Hörer hoch. »Sprechen Sie, Sie Schlangenfresser!« Bull lachte. »Es war Adams, Sir, nicht ich. Die Rebellen sind draußen. Ich kann Ihnen nicht sagen, was Adams alles getan hat, weil ich das nicht alles weiß. Aber ich werde Ihnen sagen, was ich weiß.« »Sagen Sie es mir schnell, Bull. Ich glaube nicht, dass wir viel Zeit haben.« Travee hörte einige Minuten lang zu. Ab und zu nickte und brummte er. Schließlich sagte er: »Was werden Sie tun, Bull?« »Ich werde genau hier auf der Veranda vor meinem Haus sitzen und die ICBMs hereinkommen und hinausgehen sehen. Fort Drum wird sicherlich am Ball bleiben. Deshalb werde ich hier einfach still sitzen bleiben, bis meine Zeit kommt. Ich kann mir für einen ausgedienten Soldaten keine bessere Art zu sterben vorstellen. Machen Sie ihnen die Hölle heiß, Crazy Horse.« Er warf den Telefonhörer auf die Gabel. Travee stand für einen kostbaren Moment nur da. Seine Gedanken eilten Jahre zurück, seine Erinnerungen an einen wilden jungen Ranger namens Bull – den am höchsten dekorierten Mann in der Geschichte Amerikas. »Das hörte sich so an, General«, meinte Logan, »als ob Sie ernsthaft froh gewesen seien, mit dem Verräter zu sprechen.«
Travee starrte ihn an. »Halten Sie Ihr gottverdammtes liberales Maul, Sie Arschloch! Bull Dean ist zehnmal mehr Mann als Sie jemals sein werden. Jetzt setzen Sie sich, halten die Klappe und bleiben mir vom Leib, oder ich reiße Ihnen den Kopf ab.« Logan setzte sich in eine Ecke, schlug affektiert die Beine übereinander und schloss den Mund. »Die Frau von Vizepräsident Mills ist tot«, erklärte General Hyde, indem er den Raum betrat. »Die Patrouille des California Highway hat gerade ihre Leiche gefunden.« »Wie ist sie gestorben?«, fragte Rees. »Und warum? Ruth zu töten war unnötig.« »Sie wurde in den Kopf geschossen.« General Hyde zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich werden wir wohl nie wissen, wer sie getötet hat. Wir haben nicht mehr viel Zeit.« »Sir.« Ein Berater sprach mit Präsident Rees, sein Gesicht weiß vor Anstrengung und Erschöpfung. »Die Russen haben gerade formell ihre diplomatischen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten abgebrochen. Ihre Botschaft ist geschlossen, und sie nehmen Flugzeuge Richtung Heimat.« »Ihr UN-Botschafter?« »Der ist schon in der Luft. Die meisten Botschafter der sowjetischen Blockstaaten sind auch abgereist.« »Haben wir Kontakt zu unserer Botschaft in Moskau?« »Nein, Sir. Alles wird von den Russen blockiert.« »Verdammt«, fluchte Rees. »Haben Sie mit den Chinesen gesprochen?« »Ja, Sir. Die Chinesen waren ungewöhnlich barsch. Sie sagten, wir sollten uns für eine Seite entscheiden, und zwar schnell.« »Haben Sie ihnen unsere Antwort mitgeteilt?« »Ja, Sir. Sie schienen befriedigt zu sein.« Brady schleppte sich in den Raum. »Wir haben Berichte von massiven Aufständen in der Türkei, Indien, dem Iran und einem
Dutzend anderer Länder. Drei Botschaften sind niedergebrannt worden und unsere Botschafter getötet.« »Meine Männer?«, fragte General Dowling. »Alle tot, Sir. Diesmal sind sie im Kampf gestorben.« »Gut«, sagte Dowling, die Fäuste geballt. Er und General Travee blickten sich für ein paar Sekunden in die Augen. »Es ist Zeit, C. H.«, sagte der Kommandant des Marinekorps. Travee nickte. Dowling wandte sich an einen Berater. »Tim, geben Sie Befehl an alle Marines: Höchste Alarmstufe. Kampfausrüstung. Sagen Sie ihnen, sie sollen sich bereithalten. Ich will verdammt sein, wenn ich da locker rausgehe.« Jeder Mann der Joint Chiefs zog mit seiner Truppengattung nach. Rees wurde nicht konsultiert, und sein Gesicht spiegelte seine immense Erleichterung. Senator Logan sprang auf die Beine. »Niemand von Ihnen kann diese Befehle erteilen, ohne zuvor den Kongress zu konsultieren.« Hilton Logan fürchtete sich. Das Militär ängstigte ihn, Gewehre ganz besonders. Gewalt löste Übelkeit bei ihm aus. Er wurde ignoriert. General Travee sprach mit seinem Präsidenten. »Sir, ich erkläre einen nationalen Ausnahmezustand – Kriegsrecht. Die Verfassung der Vereinigten Staaten wird hiermit außer Kraft gesetzt. Ich übernehme die volle Kontrolle.«
ZWEITER TEIL
EINS
Krieg ist ansteckend. Franklin Roosevelt Mitternacht – zwölf Stunden vor dem Abschuss Schüsse, schwach und weit entfernt, drangen an das Ohr der Männer, die auf der Parkbank im Central Park von New York saßen. Eine harte Gewehrfeuerexplosion aus automatischen Waffen folgte. Autos und Lastwagen standen in Kilometer langen Staus auf den Schnellstraßen um die City: ein Massenexodus. »Es ist nicht mehr sicher in der Stadt.« Der Albaner grinste. Der Chinese lachte über ihn. »Wie viele Sprengköpfe und von welcher Art? Nicht dass es für mein Land irgendeinen Vorteil bedeuten würde. Ich kann dort niemanden erreichen.« »Zu viele Sprengköpfe. Das Gas ist eine Tabun-Form, jetzt hoch raffiniert, in einer gasförmigen Konsistenz. Ein winziger Tropfen auf der bloßen Haut löst innerhalb von ein paar Sekunden den Tod aus.« »Tabun. Ein weiteres von Hitlers wahnsinnigen Produkten.« »Das stimmt.« »Kennen die Amerikaner diese Tabun-Art?« »Einige wenige.« »Wie lange wissen sie es schon?« »Jahre. Ihr Nervengas ist ähnlich.«
Der Chinese kicherte ohne Fröhlichkeit. »Sie müssten dann ja wissen, dass Russland die meisten ihrer Raketen für uns aufspart.« »Das ist wahr, aber sie wissen, dass Russland ein Dutzend mit Tabun bestückte ICBMs auf Amerika gerichtet hat. Ganz zu schweigen von den ganzen anderen Raketentypen.« »So wie ich das verstehe, hat Amerika für die anstehende Konfrontation eine Seite gewählt.« »Alle ihre Raketen werden auf Russland und die Ostblockstaaten gerichtet sein, habe ich gehört.« Der Chinese stand auf. Kurz bevor er wegging, sagte er: »Ich wünsche Ihnen viel Glück.« Miami – elf Stunden vor dem Abschuss »Ein öffentliches Treffen ist gefährlich«, sagte der Russe zu dem Kubaner. Der Kubaner zuckte mit den Schultern. »Über die Straße gehen auch – sogar in normalen Zeiten. Der Chinese wusste von Ihrem Tabun.« »Also werden sie jetzt vermutlich vor Angst mit den Zähnen klappern.« Der Kubaner blickte über das Wasser. So hübsch und ruhig. Er dachte an seine Familie in Kuba, die er niemals Wiedersehen würde. »Wieviel werden überleben?« »Was für einen Unterschied macht das?«, sagte der Russe, indem er aufstand. »Wir werden nicht hier sein, um es zu sehen.« »Ich teile Ihre gleichgültige Sichtweise nicht… Genosse. Der KGB wusste seit Monaten von diesem Putschversuch und auch von dem falschen Spiel der Amerikaner – falls es so ist. Ich
verstehe nicht, warum sich nicht alle involvierten Parteien einfach gemeinsam hinsetzen und überlegen, wie die Krise zu bewältigen ist – bevor die Welt explodiert.« Der Russe lachte. »Weil es zu spät ist, deshalb. Wenn die Raketen fliegen, Saul, schließen Sie einfach Ihre Augen und beten Sie zu Gott, an welchen auch immer sie glauben. Sie haben wahrscheinlich noch etwa achtzehn Minuten, um sich die Unterhose nass zu machen.« Der Kubaner sah den Russen an, Verachtung in den Augen. »Ich habe wenigstens einen Gott, Peter.« »Lassen Sie das besser nicht Castro hören«, antwortete dieser mit einem Kichern. Er ging. Saul zündete sich mit zitternden Fingern eine Zigarre an. Er betrachtete den sich entfernenden Rücken des Russen. Alles war… in Bewegung. Er konnte es nicht aufhalten. Niemand konnte das.
Die Männer im U-Boot warteten. Sie hatten keine Angst, entdeckt zu werden, denn sie wussten, wie der Russe in Miami, dass es im Grunde keinen Unterschied machte, wer die erste Rakete abschoss. Es war Zeit für einen Krieg. Sie wussten durch das Abhören des russischen Rundfunks, dass der Rote Bär sich ihrer Absicht bewusst war, die Thunderstrikes abzufeuern. Schon seit Monaten wussten sie es; einige politische Führer hatten fast ein Jahr lang mit dem Putschversuch gerechnet, hatten jedoch geschwiegen. Der Kommunismus funktionierte in Russland nicht; immer mehr Bürger waren unzufrieden und grollten. Sie wussten, dass ein Aufstand im Mutterland erfolgen würde, hatten seit Monaten von den Plänen gewusst. General Malelov hatte gesagt, dass es an der Zeit für einen Krieg sei. General Travee wusste, dass es an der Zeit für einen
Krieg war. Premierminister Su wusste, dass es an der Zeit für einen Krieg war. Also lasst ihn beginnen.
Brady saß mit den Joint Chiefs zusammen. Man trank eine letzte Tasse Kaffee, rauchte und redete. Die Zeit wurde langsam knapp; es waren nur noch Stunden, Minuten. Man sprach über die Panik in Amerika und auf der Welt und über die Unvermeidlichkeit eines bewaffneten Konfliktes. Man sprach über die Brände, die Plünderungen, die Barbarei. »ICBMs werden aus allen Richtungen auf uns zukommen«, sagte Travee, indem er auf die Uhr blickte. »Sehr bald.« Er zündete sich eine Zigarette an, und die Männer sahen ihn überrascht an. Brady sagte: »Ich dachte, Sie hätten schon Vorjahren mit dem Rauchen aufgehört?« »Hatte ich auch«, antwortete er lächelnd, indem er befriedigenden Rauch tief in seine Lungen sog. »Aber zum Henker, was für einen Unterschied macht das jetzt?« Er lachte. Die Männer lachten mit ihm und beobachteten, wie er rauchte und mit offensichtlicher Befriedigung aufseufzte. »Also, Jungs, was ist denn nun?« »Ich breche in einer Stunde nach Gitmo auf«, antwortete General Dowling. »Ich werde mir mit meinen Marines einen fünfundzwanzig Jahre alten Traum erfüllen. Ich werde nach Kuba gehen, Castro finden und ihm in die Eier treten.« Er sah Admiral Divico an. »Und Sie, Ed?« Navy lächelte und seufzte dann. »Ich habe mich von meiner Frau verabschiedet. Sie versteht, warum ich das, was ich tue, tun muss. Sie ist ebenso diszipliniert wie ich. Ich fliege in ein paar Minuten von Ewards ab. Ich will auf einem Flaggschiff sein. Aber wissen Sie was? Gott, ich wünschte nur, ich könnte meine
Füße auf das Deck der alten Missouri setzen, wenn der Stein ins Rollen kommt.« Er blickte den Vertreter der Luftwaffe an. »Und Sie, Paul?« General Hyde spuckte auf den Boden. »Ich breche jetzt auf. Ich werde auf dem letzten Platz in einer unserer schwerfälligen, antiquierten, alten B-52 sitzen und versuchen, in den russischen Luftraum einzudringen, während ich hoffe, dass keine gottverdammte Tragfläche aus Altersschwäche abfällt.« Er warf einen Seitenblick auf Travee. »Also, alter Krieger, sieht so aus, als ob das Land in Ihren Händen liege.« »Ich danke Ihnen allen vielmals«, erwiderte Travee trocken. »Da das fliegende Weiße Haus sabotiert wurde, werde ich in Weather Mountain sein und unseren Angriff leiten.« Er hustete. »Brady wird bei mir sein.« Er hustete erneut. »Die gottverdammten Zigaretten werden mich noch umbringen!« Die Männer lachten, erhoben sich, um sich die Hände zu schütteln, und gingen dann auseinander, jeder auf seinem eigenen Weg, um dem Feind zu begegnen. Sie sprachen kein weiteres Wort. Es gab nichts mehr zu sagen. Weniger als zehn Stunden vor dem Abschuss geriet die Welt in blinde Panik. In Amerika gab es nicht genug Polizisten und Soldaten, um den verängstigten Mob, der zu flüchten versuchte, zu kontrollieren. Wilde Gerüchte, dass Hunderttausende Feindestruppen auf dem Weg seien, wurden über den Äther verbreitet. Es gab Truppenbewegungen, aber bei den Truppen handelte es sich um russische und chinesische, die sich aufeinander zu bewegten, nicht in Richtung der Vereinigten Staaten. Erst langsam begannen Aufruhr und Plünderungen in den amerikanischen Städten, und als die Nacht über die Straßen hereinbrach, nahmen sie an Intensität und Rohheit zu. In den U-Bahn-Tunneln drängten sich verängstigte Leute, die
blindlings davonrannten, einige wenige Besitztümer fest umklammert. Die Schnellstraßen waren verstopft, der Verkehr wurde langsamer, was in ein hoffnungsloses Chaos ausartete, als Autos und Lastwagen ihren Geist aufgaben und zurückgelassen wurden. Die meisten Versuche, die Autobahnen zu räumen, schlugen fehl, da die Zivilisten sich weigerten, militärischen Befehlen zu gehorchen. Zivilschutz und Evakuationspläne glichen einen schlechten Scherz; führerlos waren die Leute ihren eigenen panischen Vorstellungen überlassen und drehten durch. Das Militär hatte das Kriegsrecht verhängt, aber die Nachricht darüber diente nur dazu, die Leute noch mehr zu verängstigen. Das amerikanische Volk folgerte, dass, wenn das Militär das Kriegsrecht verhängt hatte, man unter Beschuss sein müsse – durch irgend jemanden. Wegen der verstopften Highways musste das Militär Truppen über eine Luftbrücke befördern, und in der Nacht sahen Truppen in Kampfkleidung alle gleich aus. Wer konnte sie schon auseinander halten? Autos wurden nutzlos; der Tod wütete wahllos. Die älteren Leute waren die ersten Opfer – die meisten hatten keinen Platz, wo sie hingehen konnten, und andere kamen nie dort an, wo sie hinwollten. Die Alten vermochten sich nicht rasch genug zu bewegen; also wurden sie niedergetrampelt und zurückgelassen, wurden ausgeraubt, überfallen und getötet. Kinder wurden von ihren Eltern getrennt. Sie saßen auf den Bordsteinen, heulten vor Angst und wurden von panikgetriebenen Erwachsenen überrannt. Einige liefen auf die Straße und wurden von rasenden Autos zermalmt. Andere irrten zurückgelassen durch die Straßen, blind vor Schrecken und Verwirrung. Ältere Kinder griffen sich Steine und Stöcke, mit denen sie Fenster zerbrachen
und dann Süßigkeiten und Essen stahlen. Mädchen wurden in Gassen gezerrt und vergewaltigt. Es ist eine Tatsache, dass in Zeiten großer Krisen menschliche Tiere die Straßen in weitaus größeren Zahlen durchstreifen als normalerweise. Ohne Waffen hatten die meisten Leute keine Mittel, um sich zu verteidigen. Kriminelle jedoch lassen ihre Waffen niemals registrieren und scheinen nie ein Problem zu haben, sie zu bekommen. Schüsse wurden abgefeuert, Feuer entzündet. Die Flammen, das Gewehrfeuer und das Geschrei steigerten die nahezu unmögliche Situation noch. Und das Schlimmste sollte noch kommen. Eine Nachrichtenagentur berichtete, dass Amerika durch fremde Länder unter Beschuss stand. Kurzmeldung. Rundfunk-DJs sendeten die News. Noch mehr Panik. Und genau wie Amerika Agenten in jedem Land rund um den Globus hatte, die Informationen sammelten und darauf warteten, im Falle offener Feindseligkeiten zuzuschlagen, hatten die meisten anderen Länder Agenten in Amerika, die auf das Gleiche warteten. Sie alle hatten ihre Befehle: Im Falle eines Angriffes schaltet die Kommunikation aus und verbreitet Panik und Verwirrung. Und das taten sie. Sie konnten ihre Heimatländer nicht erreichen, und die meisten ihrer Botschaften waren geschlossen. Also folgten sie den vorher gegebenen Befehlen. Die Vereinigten Staaten hatten begonnen, die Frequenzen zu stören – so viele, wie sie konnten, und das erzeugte noch mehr Probleme und Konfusion. Das Emergency Action Notification System – ENS – wurde in Kraft gesetzt. Es erwies sich als völlig wirr und nutzlos, und viele (wenn nicht die meisten) Rundfunkmoderatoren hatten nicht die blasseste Ahnung, was zu tun war, wenn die Glocken anfingen zu klingeln, die Summer plötzlich summten und die Warnsignale anfingen zu heulen und zu pfeifen.
Noch mehr Panik. Dann wurde die erste Rakete abgeschossen. Es war nicht klar (und sollte nie geklärt werden), wer den Tanz mit wem begann, oder warum, aber Indien und Pakistan explodierten, und dieser Teil der Welt ging in Flammen auf. In Südamerika brach Krieg aus, wie auch im Mittleren Osten und Afrika. Die Welt hatte jahrelang an der Grenze zum Wahnsinn gestanden. Der Tanz auf dem Drahtseil war zum Absturz gekommen, und die Welt lief Amok. General Travee versuchte, vernünftig mit dem stellvertretenden russischen Premier Malelov, eigentlich einem General, zu reden. In Russland war das Militär, ebenso wie in Amerika, gezwungen gewesen, die Kontrolle zu übernehmen. Premierminister Larousse von Kanada hörte mit. Die Satellitenverbindung summte – zum letzten Mal. »Raketen wurden abgeschossen, Travee«, sagte Malelov, »aus Ihrem Untergrund. Auf uns.« Seine Stimme klang müde und angespannt. »China hat unsere Grenzen überschritten, die Bastarde sind hereingeströmt wie Ameisen zum Honig. Traurig genug – oder soll ich besser sagen: ironisch? – es scheint, dass viele meiner eigenen Landsleute sich entschieden haben, auf den Kommunismus zu verzichten. Wir haben hier eine kleine Revolte. Was für eine ungünstige Zeit dafür, denn es scheint, als ob Demokratie ebenfalls nicht funktioniert, in keinem Ihrer Länder, da? Also gut.« Er seufzte, was man über die Entfernung sehr gut hören konnte. »Vielleicht ist es Zeit dafür. Ja, ich glaube, dass es so ist, und ich glaube, Sie glauben dies auch, Travee.« »Zeit wofür?«, fragte Travee, der sehr gut wusste, was der russische General meinte. Malelov lachte. »Zeit, die ganzen hübschen Gebäude und Spielzeugsoldaten und redegewandten Diplomaten und alle
Formen von Regierungen umzustoßen – von denen nichts zu funktionieren scheint.« »Was sollen wir denn tun?«, fragte Larousse. »Wir werden gar nichts tun, Kanadier. Wir werden tot sein.« Malelov lachte in sich hinein. »Aber… vielleicht auferstehen aus der Asche, eh?« »Fatalistischer Hurensohn!« verfluchte ihn Larousse. »Sie könnten – wir könnten – all dies stoppen, bevor es beginnt.« »Genau das Gleiche erzählten mir die Engländer gerade eben.« Malelov lachte, und sein schwarzer Humor durchstreifte Meilen kalten Raumes. »Ich habe ihnen gesagt, sie sollen einen Schluck Wodka in ihren Tee gießen.« »Wir dringen nicht in Ihre Grenzgebiete ein«, erinnerte Travee den Russen. »Oh, zur Hölle, Travee!« gab Malelov ungeduldig zurück. »Seien Sie nicht so naiv. Sie wissen sehr gut – genau wie ich – dass es an der Zeit ist. Wir haben über vierzig Jahre mit den Säbeln gerasselt und uns gegenseitig angeknurrt. Stimmt das nicht, Crazy Horse?« Er gluckste. »Ich beneide euch Amerikaner um eure Spitznamen. Wir Russen müssen so verdammt förmlich sein. Ich war früher bekannt als der Wolf, aber das Zentralkomitee missbilligte diesen Spitznamen.« »Sie liebten die Frauen, wie?«, fragte Travee. »O ja, Crazy Horse. Aber wie Sie werde ich alt. Zufrieden mit nur einer Frau, auch wenn sie aussieht wie eine gebackene Kartoffel.« Travee musste über den Mann lachen. »Gerade genug Zeit für ein kleines Schwätzchen, oder, Malelov?« »Gerade so, Travee«, erwiderte der Russe. »Ja, ich schätze, das ist gut gesagt. Keine Zeit mehr für ernsthafte Gespräche… Na gut, vielleicht ein kleines Gespräch, bevor wir den langen Schlaf antreten. Larousse, Sie alberner Franzose, ich habe ein paar Feuerwerkskörper für Sie. Die werden schon bald zu Ihnen
kommen. Was halten Sie davon, Sie, der immer solche Angst davor hat – oder hatte – ihrem südlichen Nachbarn in Zeiten der Bedrängnis zu helfen. Kanadische Feiglinge.« Ein Moment des Schweigens und der Empörung, dann sprach der Premierminister. »Bastard!« Er spuckte das Wort aus, mit aller Gehässigkeit, die er aufbringen konnte. Malelov lachte, und das heulende Echo war über die weite Entfernung zu hören. »Also bin ich ein Bastard, wie? Das wäre ein bedenklicher Schock für meine arme Mutter.« Daraufhin sagte der Russe etwas, das weder der Amerikaner noch der Kanadier verstehen konnten. Dann: »Ich bin froh, dass meine Mutter im Grab liegt, so dass sie nicht mit ansehen muss, wie Russe gegen Russe kämpft.« Nachdem der Russe etwas in seiner Muttersprache gesagt hatte, spürte Travee, dass Malelov etwas beabsichtigte, Zeit schinden wollte. Der Soldat in ihm kam zum Vorschein. »Führen wir Krieg, oder gründen wir einen Debattierclub?« »Ah, Amerikaner.« Malelov sprach sanft. »Können wir uns nicht ein paar Momente der Kameraderie gönnen, bevor wir die Welt explodieren lassen? Sind Sie so begierig darauf, zu sterben? Ich nicht.« »Nein.« Travees Stimme war emotionsgeladen, als er an seine fünfunddreißigjährige Frau dachte und an seine Söhne, Töchter und Enkel. Er hatte sie alle zu seinem Geburtsort geschickt – wo er Land besaß, ganz oben im hohen Norden von Wisconsin. Vielleicht würden sie dort sicher sein, aber er bezweifelte das. »Nein, ich bin nicht so begierig darauf, zu sterben. Malelov, Sie scheinen von philosophischen Gedanken übermannt zu sein… Vielleicht können Sie uns erzählen, was die Welt an diesen Punkt gebracht hat?« »Aber natürlich«, antwortete Malelov. »General Travee… oh, entschuldigen Sie, Sie sind jetzt Präsident Travee, oder?« Er lachte. »So wie ich nun Premier bin. Was den Grund dafür
betrifft… die Welt ist dabei, uns Unglück zu bringen – oder haben wir es gebracht? Oh… Ärger, Frustration, Hilflosigkeit, Gier. Nicht ein Grund alleine. Es war unser Land, das sich in Ihre Angelegenheiten eingemischt hat; Ihr Land, das sich in die Angelegenheiten aller anderen eingemischt hat. Und… vielleicht war es die Tatsache, dass unsere beiden Regierungen einen Mittelweg abgelehnt haben: etwas zwischen den Extremen. Weder Kommunismus noch Sozialismus oder Demokratie – aber, nun, ich weiß es einfach nicht. Ich gebe jetzt zu, dass ich ernsthafte Zweifel über meine eigenen politischen Ansichten habe. Jemand kann ein Volk nur für eine bestimmte Zeit versklaven, sei es physisch, mental, sozial oder ökonomisch; dann revoltiert es.« Er lachte leise. »Ist das nicht wahr, Mr. President-General? « »Das ist wahr«, antwortete Travee. »Ihre Verfassung ist ein höchst interessantes Dokument«, sagte der Russe. »Ich habe es viele Male gelesen. Interessant, aber vage. Und völlig undurchführbar, um alle Leute zufrieden zu stellen, die es betrifft. Ich glaube, Travee, dass aus der Asche, die wir beide mit unseren Raketen hinterlassen werden, eine große Anzahl kleiner Nationen hervorgehen wird – einschließlich vieler innerhalb der Vereinigten Staaten. Das glaube ich. Kleine Nationen, die ihren eigenen Völkern dienen werden – denen, die bereit sind, unter den jeweiligen Gesetzen dieser Nation zu leben. Alle werden mehr oder weniger einer bestimmten Flagge folgen, hauptsächlich, aber nicht insgesamt. Ja, das glaube ich. Haben Sie je einen Gedanken daran verschwendet, Travee?« »Ja«, gab Travee zu. »Das habe ich. Aber es wird nicht funktionieren, Malelov.« »Woher wollen wir das wissen?«, forderte ihn der Russe heraus. »Hat irgendeines unserer Länder es je ausprobiert?«
»Könnten wir es jetzt ausprobieren?«, schlug Premierminister Larousse hoffnungsvoll vor. »Nein«, antwortete Malelov schnell und resigniert. »Es ist zu spät. Zu spät für uns. Ah! Genug Smalltalk.« Travee befand sich in ständiger Kommunikation mit seinen nördlichsten Bodenstationen. Bisher waren noch keine Echosignale aufgetaucht. »Nein«, sagte Malelov mit Traurigkeit in der Stimme. »Es ist zu spät. Crazy Horse weiß das. Wir sind beide Soldaten. Wir wissen, was wir zu tun haben. Unsere Generation hat all dies verursacht, in unseren beiden Ländern: In Ihrem Land, Travee, mit Ihrem Labyrinth aus sich widersprechenden Gesetzen und Regeln, meins mit seiner Unterdrückung – ich gebe es zu. Es schließt unsere gesamte Welt mit ein. Wie denn auch immer«, er seufzte, »aus der Asche… und all dieser Nonsens.« Die Männer schwiegen für eine Weile. Ihre Atemzüge klangen schwer durch die Leitung. Plötzlich lachte Malelov, ein lautes, dröhnendes Lachen. »Okay, Sie alberner Franzose. Ein Geschenk von mir ist auf dem Weg zu Ihnen. Nicht viele, aber genug.« Der Premierminister verfluchte den General. »Und Sie, Präsident-General der Vereinigten Staaten. Ein guter Witz, wie? Vereinigte Staaten? Mit Ihrer kleinen Geheimarmee von Rebellen. Nun, haben Sie Angst, Travee? Können Sie Ihr Wasser noch halten? Zittern Sie vor Furcht?« »Ich habe vor nichts Angst!« wetterte Travee, indem sich der Soldat in ihm rührte. »Gut, gut!« erwiderte der Russe. »Wir müssen alle tapfere Männer sein, bis zum Ende, da}«, Er lachte, aber es war ein trauriges Lachen. »Also, Amerikaner, Kanadier – es scheint nichts mehr zu geben, was gesagt werden müsste… außer, und so seltsam es scheint, ich meine es wirklich so: Viel Glück, Crazy Horse.«
»Viel Glück, Wolf.« Die Verbindung war unterbrochen. »Möge Gott unseren Ländern gnädig sein«, sagte Larousse und hängte ein. Travee legte den Telefonhörer ganz sanft auf die Gabel. Er wandte sich an einen Colonel, der in der Nähe stand. »Codes aktiviert?« »Ja, Sir. Die Bänder zeichnen auf, alle Systeme laufen. Die Raketen sind bereit zum Start.« »Geben Sie mir General Hyde.« Nach ein paar Sekunden schallte die kratzige Stimmer von Paul Hyde durch den Raum. »Wir haben es geschafft, C. H. Der alte Vogel hat gehalten, und wir sind durch die russischen Abwehrsysteme. Ich werde Ihnen diese Sprengladung geradewegs in ihre Hälse stopfen.« »Viel Glück, Paul.« »Danke, Charlie.« Der Lautsprecher verstummte. Echosignale tauchten überall auf dem Bildschirm von Alaska auf. »Russland hat den Knopf gedrückt, General. Wir werden ein paar mitnehmen. Achtzehn Minuten bis zum Einschlag auf amerikanischem Boden. Gott! China wird wirklich alt aussehen.« Travee nickte. »Erster Raketenstart. Jetzt! Jetzt!« Die Männer befanden sich tief in den Eingeweiden von Weather Mountain, nur wenige Meilen von Washington, D. C. entfernt. Travee sagte: »Alarmstufe Rot-Angriff. Kein Rückzug. Keine verbalen Befehle werden nach diesem Punkt befolgt. Geben Sie mir General Divico.« Divicos Stimme hallte durch den Raum, klar und deutlich von seinem Flaggschiff aus. »Es ist immer noch wundervoll
anzusehen, Charlie, der Start dieser Jets. Es ist das letzte Mal, dass ich das sehe, soviel ist sicher.« »Wie sieht es aus, Ed?« »Eindrucksvoll.« Er war sehr ruhig. »General Malelov sah die Situation sehr philosophisch«, meinte Travee. »Er sollte es so sehen, wie ich es sehe«, antwortete Divico. »Das würde seine Stimmung sicherlich ändern. Also, Charlie, hier kommen sie und wollen mich abschießen. Ich…« Der Lautsprecher kreischte in elektronischer Empörung. Travee wusste, dass das Flaggschiff getroffen worden war. »Sir?«, fragte ein Berater. »Aus Kuba kommt ein Bericht herein, dass General Dowlings Marines auf der Insel eine wahre Hölle veranstalten. Sie treten kubanische Ärsche, wo sie nur können.« Travee grinste. »Wobei Dowling höchstpersönlich Aufsicht führt, da bin ich sicher.« »MIGs im Nahkampf mit unseren Leuten über den Keys, Sir.« Travee nickte. »Befehlen Sie den U-Booten, sich auf den Grund sinken zu lassen und dort zu bleiben. Sie sollen ihre Anweisungstonbänder abspielen und sich still verhalten. Befehlen Sie den Raketenabschussrampen, ihre Anweisungstonbänder für den Tag der Vernichtung laufen zu lassen und abzuwarten.« Er blickte den Berater an. »Möge Gott mir vergeben für das, was ich tue. Raketen bereitmachen! Feuer! Feuer! Feuer!«
ZWEI
Ben erwachte ein paar Minuten vor zwölf Uhr mittags. Sein Mund war staubtrocken. Er stolperte in die Küche, trank ein Glas Wasser und nahm zwei Aspirin. Er sah aus dem Fenster und grinste. »Die Welt ist immer noch ganz«, murmelte er. »Vermute, es war falscher Alarm.« Er öffnete die Hintertür und machte ein paar Schritte auf die Veranda, während die Gittertür hinter ihm zuschlug. Ein ärgerliches Summen folgte. Ben blickte sich um und sah gerade rechtzeitig, wie ein Dutzend oder mehr Wespen aus ihrem Nest kamen, die Waffen luden und anlegten – auf ihn. Er hob die Hand, und eine Wespe stach ihn mitten in die Handfläche. Unter dem plötzlichen Schmerz zuckte Ben zusammen und kämpfte mit der Tür, um zurück ins Haus zu gelangen. Die verdammte Tür neigte dazu, zu klemmen und suchte sich diesen Moment aus, um störrisch zu sein. Weitere Wespen trafen ihn in den Hals und ins Gesicht. Eine stach ihn genau unter das linke Auge. Die Welt begann sich zu drehen. In dem Moment, als er die Tür aufbekam, vergrub eine Wespe ihren Stachel hinter Bens rechtem Ohr. Ben sackte auf dem Küchenboden zusammen. Seine Füße hingen zur Tür heraus und hielten sie offen. Wespen umschwärmten ihn und stachen ihn in die Arme, ins Gesicht und in den Hals. Mit den letzten seiner schwindenden Kräfte zog Ben die Füße ein, und die Tür schloss sich. Er schlug sich ins Gesicht und brachte damit mehrere Wespen ins Taumeln. Er kroch im Zimmer umher und fiel in einer Ecke bewusstlos zu Boden. Sein Gesicht schwoll sehr schnell an. Er
erzitterte, als sich das Gift in seinem Organismus ausbreitete; sein Atem wurde flach und seine Haut klamm. Bens Bewusstlosigkeit wurde tiefer. Auf den Boden der Vereinigten Staaten gingen viele Nuklear-Raketen nieder. Die meisten der feindlichen Raketen kamen nicht durch die Abschirmungsschilde. Aber einige schon. Washington, D. C. bekam den ersten Treffer ab, und die Einwohner wurden zu Asche. Verschiedene andere Städte erlitten das gleiche Schicksal. Die atomare Kriegsführung hatte während des gerade vergangenen Jahrzehnts beachtliche Fortschritte erzielt. Fast alle Raketen, die in Amerika niedergingen, gehörten dem so genannten ›sauberen‹ Typ an. Das bedeutete, dass ihr Einschlag nicht viel zerstörte und dabei nur wenige Menschen getötet wurden. Aber die meisten Raketen, die auf amerikanischem Boden landeten, trugen Sprengköpfe mit bakteriellem Kampfstoff, die alles Leben innerhalb eines Radius’ von Meilen vernichtete – abhängig von den vorherrschenden Winden. Dieser Vorgang war innerhalb kurzer Zeit abgeschlossen, danach starben die Bakterien ab. Los Angeles, San Francisco, Seattle, Chicago, Detroit, Miami, Omaha, Boston, Philadelphia, Memphis und etwa fünfzig andere Städte fielen diesem ersten Angriff zum Opfer. Einige von ihnen wurden in gefährliche rauchende Ruinen verwandelt. In den meisten Städten taumelten die Bürger herum und starben urplötzlich, entweder an einer Seuche oder durch das Tabun-Gas. New York City existierte nicht mehr. Die berühmte Dame mit ihrer zur Begrüßung erhobenen Freiheitsfackel war nur noch eine Erinnerung – und würde es für immer sein. Die Insel Kuba schwamm noch im Meer, aber der größte Teil ihres Volkes, einschließlich des Flottenkontingents und der Marine in Gitmo, wurden auf sehr kleine Haufen Staub reduziert.
Montreal, Toronto, Ottawa – verschwunden. U-Boote berühren die Meere der Welt: chinesische, russische, amerikanische, australische, englische – um nur ein paar zu nennen. Jetzt, wo der Kriegspfropfen herausgezogen worden war und niemand von ihnen wusste, ob es eine Heimatbasis für ihre Rückkehr gab, erfüllten sie alle ihre Aufgabe auf die richtige Weise – danke schön. Melbourne, Sidney und Brisbane waren verschwunden. Mexico City explodierte und starb in einem rasenden Hagel aus nuklearem Feuer. Lissabon und Rom, sowie die für Gerechtigkeit, Wahrheit und Philosophie stehenden Monumente in Athen gab es nicht mehr. Ebenso zerstört wurden Karachi, Bombay, Madras, Kalkutta, Rangoon, Bangkok, Hanoi und Onkel Hos Stadt, besser bekannt als Saigon. Es gab keinen wirklichen Grund, diese Städte explodieren zu lassen, aber wofür soll Gewinn gut sein, wenn es keinen Sieger gibt? Europa wurde hinweggefegt, darunter London, Dublin, Paris, Berlin, Warschau und Brüssel. Die größeren Städte Russlands brachen unter der Gewalt chinesischer und amerikanischer Raketen zusammen. Truppen trafen aufeinander, kämpften und starben, weil es zur Natur von Truppen gehört, genau das zu tun und Befehlen zu gehorchen. Montevideo, Buenos Aires, Rio, Santiago, die Kanalzone. Warum nicht? Die Piloten und die Kapitäne, die das Knöpfedrücken anordneten, hatten keine Gelegenheit, die Sache zu stoppen. Es gab viele Städte rund um den Globus, die ungeschoren davonkamen – für diesmal. Die erste Welle von Raketen tötete ungefähr eine Dreiviertelmilliarde Menschen. Aber Regierungen – alle Regierungen, egal, wie edel zu sein sie behaupten – sind rachsüchtig. Und die Anweisungstonbänder wurden im Stillen abgespielt.
Ben wusste nicht, wie lange er ohnmächtig gewesen war, wie lange er auf dem Zimmerfußboden gelegen hatte, aber es war völlig dunkel, als er erwachte. Er ertastete einen Lichtschalter und knipste ihn an. Als erstes blickte er auf seine Hände: Sie waren grotesk angeschwollen. Ein Auge ließ sich nicht öffnen, und als er mit den Händen sein Gesicht berührte, fühlte er eine Masse aus Schwielen und geschwollenem Fleisch. Er versuchte zum Badezimmer zu kriechen, wo er sein Benadryl aufbewahrte – er war allergisch gegen jede Art von Wespen- oder Bienenstichen – aber seine Kraft verließ ihn, und er brach wieder auf dem Boden zusammen. In seinen Träumen, seinen Albträumen, dachte er, er sei zurück in Nam. Und während der Schweiß von seinem Körper tropfte, wiederholte er jeden Kampf ein dutzend Mal von neuem, ab und zu schreiend.
Es dämmerte, als Ben wieder erwachte, sich aufrichtete und ins Bad torkelte. Dort nahm er mehrere Benadryl-Tabletten und überlegte, in die Stadt ins Krankenhaus zu fahren. Aber er wusste, er würde es niemals schaffen. Das Telefon! Er stolperte zum Telefon, um seinen Arzt anzurufen. Im Halbdunkel des Raumes stieß er mit einem Fuß gegen einen Schaukelstuhl, stürzte auf den Boden und schlug sich dort den Kopf an. Umherschwirrende Farben wurden zu Schwärze, als er taumelnd in die Dunkelheit der Bewusstlosigkeit fiel. Die Air Force hatte fast fünfundsiebzig Prozent ihrer Flugzeuge und mehr als die Hälfte ihrer Männer verloren. Das Marine Corps war fast völlig ausgelöscht. Die Army zählte
Verluste von mehr als sechzig Prozent und die Navy um mehr als fünfzig Prozent. Es gab kaum noch Schiffe und Flugzeuge. Die Regierung der Vereinigten Staaten hatte praktisch aufgehört zu existieren. Weather Mountain war tödlich getroffen worden. Travee war tot. Vierundzwanzig Stunden nach der ersten Bombenwelle wussten viele Bürger Amerikas immer noch nicht, was wirklich mit ihnen passiert war. Sie wussten nicht, was sie tun oder wohin sie gehen sollten. Sie wanderten benommen umher. Dies war Amerika, dachten sie, und Dinge wie diese passierten einfach nicht in Amerika. Oder? Hatte der Große Bruder nicht versprochen, auf uns aufzupassen? Was passierte hier? Da gab es diejenigen, die am Randbezirk der atomaren Winde lebten. Sie waren schrecklich verbrannt und warteten darauf zu sterben – wollten sterben. Da gab es diejenigen, die nahe an den Explosionen gewesen waren und instinktiv die Köpfe gedreht hatten, um in die hellen Blitze zu blicken. Sie hatten gespürt, wie ihre Augen flüssig wurden und ihnen die Wangen hinunterliefen, um nur leere Augenhöhlen und unglaubliche Schmerzen zu hinterlassen. Diese Leute starben; sie wurden von anderen getötet, die in Panik gerieten und sie rücksichtslos niedertrampelten. Frauen jeden Alters wurden vergewaltigt, gefoltert und leidend zurückgelassen, sterbend in leeren Häusern, Schuppen, Gassen oder im Rinnstein. Kinder, verwundet, missbraucht und entsetzt, liefen, ihr Elend hinausschreiend, durch die Gegend, allein und voller Angst. Viele von ihnen wurden schließlich Opfer von herumstreunenden Hundemeuten. In den Gefängnissen waren Männer und Frauen eingesperrt, die nun vergessen waren, dem Tod durch Erfrieren und Verhungern ausgesetzt. Die, die in den Laufgängen und Umläufen umherstreiften, verübten unaussprechliche Akte an ihren Mitgefangenen; dann, in einem letzten Moment der
Verzweiflung, hängten sie sich auf, hackten ihre Handgelenke auf oder schlugen sich das Hirn an Stahlstangen oder Zellenwänden heraus. In den Pflegeheimen und Nervenkliniken starben die Geisteskranken und die Alten, ohne zu begreifen, was mit ihnen geschah – allein gelassen, als die erste Panik die Nation traf. Für viele war dies eigentlich das zweite Mal, dass sie verlassen worden waren: Das erste Mal hatten ihre Kinder entschieden, dass sie keine alten Leute um sich haben wollten, die ihr Leben durcheinander brachten. Die alten Leute und die Geisteskranken starben ebenso schrecklich, wie sie zu leben gezwungen gewesen waren. Zwei Tage, nachdem die Welt in nuklearem und bakteriologischem Irrsinn explodiert war, begann der zweite Akt, als die Anweisungstonbänder den Einsatz gaben, mit dem Overkill zu beginnen. Aus der Tiefe unterirdischer Abschussbasen brausten die Raketen auf ihre neuen Ziele zu. U-Boote aus Russland, China, Amerika und einem Dutzend anderer Länder kamen an die Oberfläche und schleuderten ihre Sprengladungen. Als es keine Städte oder Militärbasen mehr zu bombardieren gab oder sie unbrauchbar waren, feuerten die Kapitäne ihre letzten Raketen ab und ließen sie niedergehen, wie es gerade kam. Es war ein scheinbar brutaler, sinnloser Akt, den die meisten Zivilisten nicht verstanden. Aber Männer und Frauen des Militärs, die ihr Leben lang ihren jeweiligen Ländern gedient hatten, verstanden es nur zu gut. Der Tod war überall. Chaos und Panik griffen weltweit um sich. Lebe jetzt! Wer weiß, ob morgen die Sonne aufgeht. Sicherlich gibt es keinen Gott, denn Er hätte dies nicht zugelassen.
Vergewaltige, stiehl, töte – es gibt kein Gelobtes Land. Dies ist alles, was es gibt oder jemals geben wird. Nachdem die Sprengladungen erschöpft waren, kamen die U-Boote an die Oberfläche und hissten die Flaggen ihrer Länder. Die Kapitäne standen still und stoisch auf ihren Kommandotürmen und salutierten vor den Piloten, die sie in den Tod beförderten. Viele der amerikanischen Piloten, die keinen Treibstoff mehr hatten, deren Träger und Basen verschwunden oder unbrauchbar waren, verfluchten den Feind und rammten ihre Jets in seine U-Boote, um so gemeinsam mit ihm unterzugehen. Die frühere Welt, in der die Menschen fähig gewesen waren, konstruktive Ergebnisse zu erarbeiten, existierte nicht länger.
DREI
Er erinnerte sich daran, von dem kalten Boden aufgestanden und in seinem eigenen Blut ausgerutscht zu sein. Sein Kopf war eine riesige Masse aus Schmerz. Er stolperte ins Badezimmer, wusch die Wunde aus und behandelte sie antiseptisch, wobei er mit dem gesunden Auge verkniffen in den Spiegel linste. Bereits diese Anstrengung erschöpfte ihn. Er streckte sich auf der Couch aus und schlief ein. Irgendwann während der Nacht – welcher Nacht, darüber war er sich nicht im klaren – erhob Ben sich steif und unter Schmerzen, um sich eine Schüssel Fertigsuppe zu machen. Er behielt die Suppe für fünf Minuten bei sich, bevor er ins Bad schwankte und sich erbrach. Dann schwankte er zur Couch zurück und fiel in einen tiefen, fast komaähnlichen Schlaf. An einem anderem Morgen schaffte Ben es, etwas Suppe und Milch bei sich zu behalten und eine Dusche zu nehmen, bevor seine Schwäche ihn wieder ins Bett zwang. Er hatte einen Blick aus dem Fenster geworfen und einen perfekten, schönen Tag gesehen. Er meinte, er habe irgendwann während der vergangenen Nacht wildes Hupen gehört, aber er war sich nicht sicher. Sein Gesicht war immer noch geschwollen, und er fieberte und konnte nur aus einem Auge sehen, aber er fühlte sich ein bisschen besser. Er wusste, dass er extremes Glück gehabt hatte: Er hatte so viele der Wespenstiche gezählt, wie er sehen oder fühlen konnte, und schloss, dass er über dreißigmal gestochen worden war – vielleicht sogar fünfzigmal. So allergisch, wie er auf Stiche reagierte, hätte ihn diese Anzahl eigentlich töten müssen.
Er taumelte zurück ins Bett und zog sich die Decke über den Kopf. Er öffnete die Augen und wusste, dass er heute wieder okay sein würde – endlich wieder. Also, dachte Ben, ich hätte wahrscheinlich sterben sollen. Ich bin ein glücklicher Mann. Gott, war ich krank. Er rollte sich im Bett auf die andere Seite und starrte die roten Ziffern auf seinem Radiowecker an. Die Ziffern starrten zurück. Er dachte, in einer Mischung aus stummer Arroganz und Anklage: Die Ziffern scheinen zu sagen: Steh auf! Steh auf! Du bist nicht krank. Du fühlst dich gut. Also steh auf und geh zur Arbeit. Er schlug die Decke zurück und schwang langsam seine Füße auf den Teppich. Er war zwar ein wenig benommen und zitterig, aber seine Stirn fühlte sich kühl an, und die Schwellungen im Gesicht und an den Händen waren abgeklungen. Er vermochte aus beiden Augen zu sehen. Und er war hungrig – hatte einen Bärenhunger. Ben lächelte. Er bezweifelte, dass ein Sterbender aus dem Bett aufstehen würde, um etwas zu essen. Die Zahlen der Uhr zeigten 5:33 Uhr. Er fragte sich, welcher Tag es wohl sei. Er nahm seine Armbanduhr vom Nachttisch auf und sah nach, welcher Wochentag und welches Datum es war. Er konnte es nicht glauben. »Verdammt!« sagte er leise. »Ich war zehn Tage lang weg!« Es schien nicht möglich. Ben hatte das Gefühl, dass dieses Datum irgendwie wichtig sei, aber er konnte die Bedeutung nicht einordnen. Also, dachte er, ich vermute, es wird mir schon wieder einfallen. Er ging langsam in die Küche, setzte etwas Wasser auf und ging dann ins Bad, um eine lange, heiße Dusche zu nehmen. Das dampfende Wasser half seine Lebensgeister wieder zu
erwecken. Er rasierte sich, zog sich an und trank eine Tasse Kaffee, während er das Frühstück zubereitete: Rührei mit Speck. Das aß er zuerst und machte sich dann eine Schüssel Frühstücksflocken. Nach zwei weiteren Eiern auf Toast war sein Hunger gestillt. Er blickte aus dem Küchenfenster und dachte wieder, wie glücklich er sein konnte, lebend davongekommen zu sein. Der Tag war hell und wunderschön. Er zwang seine Erinnerung den Fieberdunst der letzten zehn Tage zu durchdringen. Er erinnerte sich daran, viel Wasser getrunken zu haben, da das Fieber ihn austrocknete, und einige Schalen Suppe sowie einige Cracker gegessen und etwas Milch getrunken zu haben. Einmal, fiel ihm ein, hatte er sich ein Schälchen mit Frühstücksflocken gemacht. Das, dachte er, war alles an Nahrung, die er in zehn Tagen zu sich genommen hatte. Er schüttelte den Kopf. Nun, das lag alles hinter ihm. Bei Gott, er würde noch einige von diesen Dosen Wespenspray kaufen, von der Sorte, die einen Strahl von zwanzig Fuß herausschossen, und die kleinen Bastarde aus der Nähe seines Hauses vertreiben. Aber jetzt war es erst einmal Zeit zum Arbeiten. Normalerweise stand Ben von Montag bis Samstag um halb sechs auf; Sonntags versuchte er auszuschlafen. Aber außer wenn er lange aufgeblieben war, was ungewöhnlich für ihn war, schlug er die Augen fast immer um fünf Uhr dreißig auf, mit oder ohne Radiowecker. Ben goss sich eine zweite Tasse Kaffee ein und machte sich ein Glas mit Eiswasser zurecht. Dann ging er in sein kleines Büro und zog die Abdeckung von seiner Schreibmaschine. Sonntag war ein weiterer Arbeitstag für ihn. Ein weiterer Tag, um die Schreibmaschine zu beackern und zu hoffen, dass die Musen ihm wohl gesonnen sein würden. Er gehörte keiner Kirche an – keiner organisierten Religion. Als Kind und als
junger Mann hatte er zwar die Kirche besucht, aber schon früh in seinem Leben als Erwachsener war ein Widerwillen gegen Religionen in ihm gewachsen. Massenheuchelei widerte ihn an. Ben hatte leichte Kopfschmerzen, also nahm er zwei Aspirin und spannte dann ein neues Blatt Papier in die Schreibmaschine. Yeah, er erinnerte sich, er wollte mit einem neuen Buch beginnen. Trotz der stattlichen Anzahl der Bücher, die er unter unterschiedlichen Namen bereits veröffentlicht hatte, blickte er diesem Moment jedesmal mit einiger Erwartung und auch ein bisschen Furcht entgegen. Der Anfang eines neuen Romans. Würde er funktionieren? Würde der Text Gestalt annehmen? Wer zum Teufel sollte das wissen? Sein Agent sagte, er möge alles, was Ben schrieb, aber Agenten müssen diese Dinge sagen. Was denn sonst? »Ben, du bist ein furchtbarer Schriftsteller. Warum gibst du es nicht auf und wirst Klempner?« Und in einem solchen Job würde ich wahrscheinlich genauso viel Geld verdienen. Ben lächelte. Er warf einen Blick auf seinen letzten, gerade fertigen Roman, der zum Versenden eingepackt war. Ich sollte ihn am Morgen zur Post bringen, dachte Ben. Seine Bücher brachten ihm normalerweise dreieinhalb- bis viertausend Dollar im Voraus ein, ein paar Tausend Tantiemen, vielleicht ein paar künftige Überseeverkäufe… und das wars. Alle Jubeljahre einmal vielleicht ein Filmvertrag. Ein warmer Regen. Er war ein Taschenbuchautor, hatte schon vor langer Zeit die gebundenen Ausgaben aufgegeben. Alle vier bis sechs Wochen kam ein neues Buch von ihm heraus. Dabei schrieb er alles mögliche, von Action-Büchern bis hin zu Liebesgeschichten. Er hatte eine ziemlich gute Abenteuerserie für Männer laufen und baute sich bei den Verlagen einen guten Ruf als beständiger, produktiver Schriftsteller auf – nichts Überwältigendes, nichts Welterschütterndes. Die Art von Schriftsteller, deren Bücher in
Supermärkten, Kiosken, Drogerien und anderen Absatzmärkten für Taschenbücher verkauft wurden. Ben würde niemals den Literaturnobelpreis gewinnen, denn er schrieb nicht, um den ›schlimmen‹ Lauf der Welt zu verändern, sondern um zu unterhalten. »Die Welt«, sagte Ben einmal zu seinem Agenten, »ist das Spezialgebiet anderer Leute, nicht meins. Wie im Gesetzesvollzug bekommen die Leute das, was sie wollen, ob sie es nun zugeben oder nicht. Ich…«, er lachte über den Gesichtsausdruck seines Agenten, »… ich bin nur ein Junge vom Land, der versucht, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen.« Diese Erinnerung amüsierte ihn. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und lächelte. Junge vom Land. Yeah, er nickte zustimmend, ich bin ein Junge vom Land. Vielleicht mit einem mehr als durchschnittlichen Grad an Urbanität als die meisten Jungs vom Land, aber dennoch immer noch… bloß ein Junge vom Land. Er mochte gefleckte Erbsen, Bohnen, Maisbrot, gebratene Gumboschoten und Sandwiches mit Pökelfleisch. Aber er mochte auch die guten Weine und die feine Küche in den gehobenen Restaurants dieser Welt. Und er wusste, dass er ein Snob war, wenn es um Musik ging: Er hatte eine Sammlung aller möglichen Stilrichtungen. Sie war lückenhaft… bis auf den klassischen Bereich. Aber er liebte den Süden – insbesondere Louisiana mit seinem reichen Erbe und der Vielfalt an Menschen. Davon gab es nicht viel in der Gegend, in der Ben lebte. Eigentlich, so erzählte er seinen Freunden aus dem Süden oft, gab es dort, wo er lebte, in Wirklichkeit gar keine Kultur: kein kleines Theater, keine Konzerte, kein Ballett. Ben hatte einem Bekannten gegenüber einmal Zubin Mehta erwähnt, und dieser hatte geglaubt, er spreche über eine neue Kautabakmarke.
Aber Ben mochte die Leute im Delta – größtenteils. Er hatte hier Freunde, gute Freunde. Es gab ein paar wirkliche Arschlöcher diesseits und jenseits der Rassenschranke, aber es hatte nie wirklichen Ärger in diesem Teil des Staates gegeben. Und verdammt wenig Vermischung, erinnerte er sich selbst. Du bleibst auf deiner Seite der Stadt und ich auf meiner. Ich mag dich nicht besonders, und ich weiß, dass du mich nicht magst, aber die Regierung sagt, dass wir miteinander auskommen müssen, also lass uns das Beste daraus machen. So weit, so gut. Wie dieses schwarze Stadtratsmitglied einmal sagte: »Es ist hier besser als an vielen anderen Orten. Wenigstens haben wir noch nicht angefangen, uns gegenseitig umzubringen – noch nicht.« Eine weise Einschränkung seinerseits, dachte Ben. Er glaubte, dass es wahrscheinlich zum Krieg zwischen den Rassen kommen würde – eines Tages. Wahrscheinlich bald. Und er vertrat diese Ansicht nicht allein. Nie verheiratet, hatte Ben mehrere intensive Liebesaffären erlebt, die schließlich alle schief gegangen waren, wodurch er den Glauben an die immer währende Liebe aufgegeben hatte. Er traute Frauen nicht wirklich. Und dass er ein hoffnungsloser Romantiker war, half seinen Roman-Manuskripten auch nicht: Die Bücher gipfelten fast nie in einem Happy-End, etwas, worüber sein Agent ständig meckerte. Aber der Mann aus New York City akzeptierte es schließlich als Teil von Bens Stil und nahm an, dass Ben sich nicht ändern könne. Ben konzentrierte seine Aufmerksamkeit wieder auf die Schreibmaschine und das leere Papier, das ihn anstarrte. Aber nichts floss. Er schaltete die Schreibmaschine aus, schaltete sie dann wieder an und lauschte ihrem Brummen. Muttermilch erzeugt Schreibblockaden, wie er sich erinnerte, einmal gelesen zu haben. Oder der Mangel daran.
Ich war verdammt noch mal krank von diesen Wespenstichen. »Los, Ben!« schalt er sich selbst. »Jetzt fang endlich an!« Er seufzte, tippte ein paar Worte, zog das Papier aus der Maschine und spannte ein neues Blatt ein. Er musste diese Prozedur noch mehrere Male wiederholen, bevor er schließlich in Schwung kam. (Er hatte gewusst, dass es irgendwann so weit sein würde.) Er arbeitete ohne Entwurf und wusste nie, in welche Richtung sich das Manuskript entwickeln würde. Er ließ seine Charaktere sich selbst entfalten. Ben machte sich ans Schreiben. Alle Musen schienen zu arbeiten, und die Worte gingen ihm gut von der Hand; es war keine Anstrengung. Er schrieb drei Stunden lang, war zufrieden mit dem Beginn seines Romans und machte dann, mit Kaffeegeschmack im Mund und leichten Kopfschmerzen (er nahm an, dass sie vom Kettenrauchen kamen – er hatte eine ganze Packung geleert), Schluss für den Vormittag. Jeden Sonntagvormittag gegen elf fuhr Ben in die Stadt, um einen Freund zu besuchen, der eine Tankstelle führte. Jeden Sonntagvormittag. Routine – fast nie abgeändert. Ben blieb immer für eine Stunde, nahm die Sonntagszeitungen mit (drei Stück) und fuhr nach Hause zurück, wo er sich in den Schlaf las, und arbeitete dann noch einmal mehrere Stunden am Nachmittag. Ben zog sich seine Cowboystiefel an, schlüpfte in ein langärmeliges Hemd, da der Tag ungewöhnlich kühl war, und sah noch einmal auf den Kalender. Schließlich fiel ihm die Bedeutung des Datums ein. »Mensch, ich will verdammt sein!« Er lächelte. »Es ist mein Geburtstag. Ich bin vierundvierzig Jahre alt.« Er lachte, glücklich darüber, sich gut zu fühlen nach seinem Kampf mit den Wespen. »Alles Gute zum Geburtstag, Ben Raines – und häng noch viele weitere dran, Partner.«
Dann wunderte er sich, dass seine Eltern nicht angerufen hatten. Sie riefen an seinen Geburtstagen immer am frühen Morgen an. Er blickte sich in dem leeren, stillen Haus um. Die Freude des Moments wurde ein klein wenig geschmälert, da er niemanden hatte, mit dem er diesen seinen Feiertag begehen konnte. Mit einem Achselzucken ging er darüber hinweg und schloss das Haus ab. Der Ausdruck ›Junge vom Land‹ kam ihm wieder in den Sinn, als er über den Hof zu seinem Pickup ging. Er summte einen alten Country-Song, einen der wenigen Country-Songs, die er mochte: ›A Country Boy Will Survive‹. Welche Ironie, dachte er, denn er begann gerade mit einem Katastrophenroman – ›Armageddon. Das Ende der Welt‹. Als er in den Lieferwagen stieg, erinnerte er sich, dass sowohl sein Vater als auch seine Mutter ihn damit aufgezogen hatten, dass er zum Lastwagen zurückgekehrt sei. Sein Vater hatte gesagt: »Junge, du hast mit ‘nem LKW angefangen, als du erst vierzehn warst. Die verdammte alte Klapperkiste wurde mit Spucke, Gebeten und Maschendraht zusammengehalten. Zur Hölle, Sohn – das weißt du doch noch. Sie hatte nicht mal Türen! Aber du hattest die ersten Anschnallgurte in Illinois, denn du musstest dich mit ‘nem Seil festbinden, damit du in den Kurven nicht rausgefallen bist. Der Teufel soll mich holen: Jetzt, wo du ‘n großer Autor bist, bist du zu den Lastwagen zurückgekehrt. Du bist im Herzen ein Farmerjunge, Ben. Man kann das Land nicht aus dem Jungen holen, was, Ben?« Und sein Dad hatte gelacht, sein gutmütiges, großherziges Lachen. Die guten, soliden Landleute. Ben vermisste seine Eltern. Er wusste, dass er sich eine Auszeit nehmen und sie besuchen musste – bald. Sie kamen
langsam in die Jahre. Beide waren bei guter Gesundheit – aber man wusste ja nie, wann die Hände der Zeit zu schwer würden und ihr Griff nachließ. Ben mochte es überhaupt nicht, darüber nachzudenken. Er schaute sich die Landschaft und die Häuser an, an denen er vorbeifuhr. Irgendetwas an ihnen schien… nun, seltsam. Sie sahen… verlassen aus, wenn das die richtige Wortwahl war. Er schüttelte den Kopf. »Meine Phantasie geht mit mir durch«, sagte er sich. Ben war kein reicher Mann – weit davon entfernt. Aber er hatte durch harte Arbeit genug Geld verdient, um komfortabel zu leben. Sein Haus war bezahlt, er besaß schöne Möbel, einen dicken, flauschigen Teppich und all die anderen Annehmlichkeiten, die das Leben zu etwas mehr als bloßer Existenz machen. Ben Raines trank jeden Abend der Woche so lange, bis er sich in einem stillen Betäubungszustand befand. Einschließlich der Sonntage. Aber er war einer der wenigen Menschen, die niemals an einem Kater litten. Er konnte sich nicht erinnert, je einen gehabt zu haben. Und wann immer er sich selbst fragte, warum er soviel trank, blockte er diesen Gedanken sogleich ab. Er würde niemals zugeben, dass sein Leben verdammt einsam war. Schriftsteller trinken, pflegte er zu sagen. Schwachsinn, pflegte sein Verstand zu antworten. Es war nie ein sehr anregendes oder produktives Selbstgespräch. Das Radioprogramm am Sonntagvormittag ist in den meisten Teilen des ländlichen Südens bestenfalls grässlich – abwechselnd (abhängig von den Sendern, die man wählt) zwischen Hinterwäldlern, die Gelobet sei Gott jodeln, schwarzen Gospelchören, die Gelobet sei Gott schreien und
trampeln, und nasalen Priestern, die Gelobet sei Gott drucksen und schlucken. Einige von ihnen reden doppelzüngig. Ben schaltete an Sonntagvormittagen niemals sein Radio ein. Und das Fernsehen war genauso schlimm. Einer seiner ständigen Gründe zum Nörgeln war die Tatsache, dass der öffentliche Rundfunk nicht bis in die Gegend, in der er lebte, vordrang. Ben lebte buchstäblich auf dem Land. Ungefähr zehn Meilen außerhalb von Morriston, einer kleinen Stadt am unteren Ende des Louisiana-Deltas. Die Stadt wurde bevölkert von achttausend Menschen: fünfzig Prozent schwarz, fünfzig Prozent weiß. Keine Industrie. Unmengen an Bars, schwarze und weiße – die zwei Gruppen sollen sich niemals treffen. Bei der Musik in den Bars handelte es sich um Soul oder Country. Das wars. Also, Pavarotti, verschwende deine Zeit nicht damit, zum Delta zu kommen; es sei denn, du erscheinst zuerst jodelnd im Barbed-Wire Hoedown oder im Boogie Funky Wagon am Schlagzeug. Das war das angenehme Leben im Süden auf seine beste und schlechteste Art. Häuser für eine halbe Million Dollar und zweihundert-Dollar-Hütten. Cadillacs und Essensmarken. Baumwolle, Reis, Sojabohnen und Weizen. Und Football. Bens Blick fiel auf den Graben an der Seite der Straße, und seine Gedanken gehörten abrupt wieder der Gegenwart. Er machte eine Vollbremsung, und der Wagen hielt schlingernd an. Da im Graben lag ein Körper. Er stieg aus dem Lastwagen, sprang über das Wasser im Graben (wann hatte es geregnet?) und kniete sich neben den Mann. Dieser war schon mindestens eine Woche tot; die Leiche war schwärzlich verfärbt und stank.
Ben ging zum Lastwagen zurück und schaltete den CB-Funk ein. »Geben Sie mir einen Montgomery Parish Deputy oder einen Staatspolizisten.« Nichts. Er wiederholte seinen Ruf und erhielt die gleiche kratzige Leere aus dem Lautsprecher wie zuvor. Sein CB-Gerät war kein schlechtes, und es war zuletzt gelaufen… ein paar Tage vor den Wespen. »Break-eins-neun für einen Funkcheck«, sagte er. Nichts. Er überprüfte alle Kanäle und empfing auf allen das Gleiche. Nichts. Für einen Moment blieb er in seinem Lastwagen sitzen und vergegenwärtigte sich das, woran er sich von letzter Woche noch erinnern konnte, bevor er gestochen worden war. Er war einkaufen gewesen, war es am Mittwoch oder Donnerstag? Hatte er seitdem Radio gehört oder Fernsehen gesehen? Nein, nicht seit dem Abend, an dem er sich betrunken hatte, während er den Nachrichtensprechern zugehört hatte, die von einem Atomkrieg gesprochen hatten. Ben blickte sich um und sah den klaren Tag, sonnig und hell. Ganz offensichtlich hatte kein Atomkrieg stattgefunden. Plötzlich fühlte er sich unruhig. Oder etwa doch? Wann hatte er dieses wilde Hupen gehört? Er schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich Jugendliche, die irgendwelchen Unsinn getrieben hatten. Er warf einen Blick auf die Leiche im Graben und dann auf seine Uhr. Es war fast Mittag. »Also, das ist albern!« sagte er. »Da stimmt was nicht mit meinem Funkgerät, das ist alles.« Dann kam ihm der Gedanke an das Radio in seinem Lastwagen. Er schaltete es an und stellte es zuerst auf den lokalen Sender ein.
Nichts. Er drückte alle Knöpfe für die voreingestellten Sender. Nichts. Er drehte den Lautstärkeregler von links nach rechts und dann langsam wieder zurück. Nichts. Etwas, das fast als Furcht zu bezeichnen war, berührte ihn. Er schüttelte es ab. Aber etwas tief in ihm, ein… inneres Alarmsignal veranlasste ihn, das Handschuhfach zu öffnen und die 38er Special herauszunehmen, die er immer bei sich trug. Ben hatte die Anordnung der Regierung, alle Handfeuerwaffen abzugeben, hartnäckig ignoriert, wie es, so vermutete er, einige Millionen andere auch getan hatten. Ben verachtete Senator Hilton Logan und alles, wofür er stand. Logan war eine Taube, Ben war ein Falke. Logan war ein Liberaler, Ben war ein Konservativer. Ein Konservativer im größten Teil seines Denkens. Er überprüfte die Trommel der 38er. Sie war voll. Er schob die Pistole hinter seinen Gürtel und setzte den Lastwagen in Bewegung. Den toten Mann hatte er nicht gekannt. Eine Meile weiter bog er in die Straße ein, die schon innerhalb der Stadtgrenzen lag. Eine halbe Meile weiter, am Rande der Stadt, hielt Ben an, um mehrere große Vögel auf einem offenen Feld zu beobachten. Es waren Geier, die vom Geräusch seines Lastwagens aufgeschreckt vom Boden aufstiegen. Schwerfällig flatterten sie davon, satt und schwer. Ben musste nur kurz hinsehen um festzustellen, wovon sie gefressen hatten: Leichen. Dieses Mal ergriff ihn Furcht – deutliche, nackte Angst. »Ist der Ballon geplatzt?«, fragte er laut. »Wenn ja, warum bin ich verschont geblieben?« Er konnte seine Frage nicht beantworten.
Er fuhr, bis er nicht mehr weiterkam. Zwei Autos blockierten die Straße. Ben musste nicht aussteigen, um zu sehen, dass die Leichen der Insassen schwarz verfärbt waren und verwesten. Er fuhr zurück, drehte um und raste eine Seitenstraße hinunter, bis er in eine Wohngegend kam. Er sah keine Zeichen menschlichen Lebens, aber ebenso wenig fand er Leichen. Er bahnte sich seinen Weg zur Tankstelle und fuhr in die Einfahrt hinein. Dort blieb Ben betäubt sitzen und starrte die Fenster der Exxon-Station an. Die Fenster waren zerschmettert, zerbrochen; Glas war über die Einfahrt zerstreut. Die Leiche seines Freundes lag ausgestreckt da, halb innerhalb, halb außerhalb der Tür. Ben stieg langsam aus seinem Lastwagen. Er glaubte nicht wirklich, dass all dies passierte – passiert war. Dann korrigierte er seinen Gedanken. Er kniete hier wirklich neben dem Mann. Mr. Harnack war steif, schwarz verfärbt und stank. Hunde hatten ihn angeknabbert. Ben stieg über die Leiche und ging zum Telefon. Er suchte die Nummer des Polizeipräsidiums heraus und ließ das Telefon zwanzigmal klingeln. Keine Antwort. Er rief das Büro des Sheriffs an, mit dem gleichen Ergebnis. Ben spürte den Kolben der 38er, und die Berührung des Holzes war beruhigend. Er stand in der Türöffnung und lauschte angestrengt. Nicht einen einzigen menschlichen Laut konnte er aus der Stadt vernehmen. Er trat zur Kasse und schaltete das kleine Fernsehgerät ein. Auf jedem Kanal bekam er das gleiche Ergebnis. Und hier wurden die Kabelsender von Chicago und Atlanta empfangen. Nichts aus Chicago, ein leerer Bildschirm. Bei den anderen war das Zivilschutzemblem auf dem Bildschirm zu sehen, aber es gab nichts, das erklärt hätte, warum. Bold Strike. Die Worte kehrten in sein Gedächtnis zurück. Lochen Sie den Ball ein, Partner. »Ich träume«, sagte Ben.
Seine Stimme klang fremd inmitten von Stille und Tod. »Was zum Teufel ist passiert? Es muss ein Traum sein.« Aber er wusste, er träumte nicht. Er dachte: Dies betrifft die ganze Nation – die ganze Welt. Diese Gedanken jagten ihm einen Schauder über den Rücken und trieben ihm Schweißperlen auf die Stirn. »Jesus, bin ich der letzte Mensch auf Erden?« Dann erinnerte Ben sich an die Worte eines grauhaarigen Sergeants, als er im Türrahmen stand und auf die stummen Zapfsäulen hinausgeschaut hatte. »Überleben ist der Name des Spiels, Männer. Zur Hölle mit den sesselfurzenden Zivilisten. Wenn der Ballon platzt – und er wird platzen, verlasst euch darauf – werden die meisten Zivilisten es nicht schaffen, denn sie können ihren Arsch nicht von Erdnussbutter unterscheiden. Die haben null Ahnung, wie man am Leben bleibt. Und was mich richtig krank macht, ist, dass die das auch gar nicht wissen wollen. Die sind zufrieden. Die haben ihre hübschen Häuschen, zwei Autos in der Garage, die Mitgliedschaft im Country Club, und denken, ein Footballspiel wäre hart. Soweit es sie betrifft, ist alles im grünen Bereich. Aber die kennen nicht die Bedeutung von hart. Die werden die Opfer in jedem Holocaust sein. Aber ich werde euch beibringen, was hart ist – mental und physisch. Und wenn ich mit euch durch bin, werdet ihr überleben. Wenn ihr Männer es durch die erste Welle schafft, wenn ihr eure Nase nicht rausstreckt, werden die meisten von euch überleben.« Ben nickte und bewegte sich instinktiv von der Tür weg in die Dunkelheit des Arbeitsbereichs der Tankstelle. Er hockte sich hin. Seine ganze Ausbildung kehrte in sein Gedächtnis zurück. Der Sergeant hatte gesagt: »Vielleicht werden die meisten von euch das Militär nicht zu ihrer Lebensaufgabe machen; ganz sicher werden die meisten von euch die Notbremse ziehen und aussteigen. Aber das spielt keine Rolle, denn was ihr hier in
dieser Schule lernt, und an den anderen Schulen, die ihr besucht, nun«, er lächelte, »das wird euch bleiben. Ihr habt es bis hierher geschafft, und das beweist mir, dass ihr die Bedeutung des Überlebens lernen wollt. Also, selbst wenn ihr wieder geht, werdet ihr dieses Training weit in die Tiefe eures Bewusstseins verdrängen – einige von euch werden sogar versuchen, es zu vergessen, weil es hässlich und schmutzig und entmenschlichend ist. Aber ihr werdet es nicht vergessen, und wenn ihr es jemals braucht, wird es da sein. Jetzt stellt euch auf eure gottverdammten Füße und macht euch fertig, um herauszufinden, aus welchem Material ihr wirklich gemacht seid.« Ben kauerte im Schatten der Garage, bis seine Beine vor Anstrengung zu protestieren begannen. Als er aufstand und ein wenig herumlief, um seine Beinmuskeln zu lockern, hatte er sich wieder erinnert, was ihm beigebracht worden war… vor Jahren. Und eines wusste er ganz sicher: Er würde überleben.
VIER
Er fuhr seinen Lastwagen zu den Zapfsäulen und füllte die Tanks, wobei er auch die Reservetanks bis obenhin volltankte. Er fand vier Benzinkanister à fünf Gallonen, füllte sie und stellte sie auf die Ladefläche seines Lastwagens. Er blickte sich zu Mr. Harnack um, nickte dem Toten zu und fuhr davon. Sein Ziel war die Polizeistation, die nur ein paar Blocks entfernt lag. Der Leiter der Station war tot, aber unversehrt. Auf den Notizblock, der auf dem Tisch lag, waren folgende Worte gekritzelt: »Ich bin der letzte Überlebende. Werde schwächer. Keine Hilfe. Atombomben trafen einige Städte. Irgendwelche Krankheitserreger haben den Rest von uns geholt. Gott habe…« Er war nie dazu gekommen den Satz zu vollenden. »Atombomben?«, sagte Ben laut, seine Stimme klang hohl und hallte im Raum wider. »Krankheitserreger?« Es ist wirklich passiert, dachte er. Ich habe einen gottverdammten Krieg verschlafen! »Vielleicht war es gut so«, murmelte er. Er wollte das Mikrofon aufheben, um zu überprüfen, ob jemand seinen Ruf beantworten würde, aber dann zog er seine Hand zurück. »Ja – es könnte jemand antworten. Aber es könnte jemand sein, den ich nicht sehen möchte.« Ben sah sich in dem kleinen Stationshaus um – warum riechen die immer nach Pisse? –, fand aber nichts, das er gebrauchen konnte. Dann fuhr er zum Büro des Sheriffs. Es war dieselbe Szene. Alle tot. Das Büro war ein einziges Chaos: Gasmasken lagen überall herum, Bücher über tödliche
Gase und Evakuierungspläne für die Gemeinde waren auf dem Boden verstreut. Die Leichen waren steif und schwarz verfärbt. Und stanken. Ben öffnete die Fenster und streifte dann durch das Büro, bis er das fand, wonach er gesucht hatte: die Waffenkammer. Er suchte sich zwei 45er-Pistolen aus und untersuchte sie sorgfältig, dann fand er Pistolentaschen für sie und zusätzliche Patronenrahmen. Ruhig füllte er zwei zusätzliche Patronenrahmen für jede Pistole. Er zertrümmerte das Glas eines abgeschlossenen Waffenschrankes und nahm eine alte Thompson-Maschinenpistole heraus. Sie war fast unbeschädigt. Er hatte gehört, dass der Sheriff ein Waffensammler sei – gewesen war. Er überprüfte die MP und stellte fest, dass sie dringend geölt werden musste, suchte herum, bis er eine Kanne mit Öl fand. Als er fertig war und das Holz glänzte, ließ sich der Bolzen mühelos zurückziehen. Er fand eine Trommel für die Waffe und drei Patronenrahmen, einige Kästchen mit 45-kalibriger Munition und eine Patronentasche aus Segeltuch. Es gab nichts, was Ben für die Toten hätte tun können, also trug er die Ausrüstung nach draußen an die frische Luft und setzte sich auf die Stufen. Er füllte die Trommel, dann die Ladestreifen und setzte einen Ladestreifen in den Bauch des alten 1921er Chicago-Pianos ein, wie die Thompson genannt wurde. Diese hier war eine moderne Version, aber trotzdem über dreißig Jahre alt. Es war eine schwere Waffe, und ihre Effektivität hatte ihre Grenzen. Aber bis zu zweihundert Metern war ihre Durchschlagkraft Furcht einflößend. Ben ging zu seinem Lastwagen zurück und legte die 38er ins Handschuhfach. Eine 45er schnallte er sich um die Hüfte. Wieder schaltete er das Radio ein und schob den Regler hin und her. Nichts. Er fuhr zu einem Geschäft für Angel- und Jagdbedarf. Ein Mann und eine Frau lagen tot in den Trümmern.
Der Laden war geplündert worden, aber in Hast, ohne an das Lebensnotwendige zu denken. Ben verbrachte eine Stunde in dem Geschäft, wühlte sich durch den Schutt und suchte sich das aus, wovon er das Gefühl hatte, dass er es gebrauchen könnte: sämtliche 45er-Munition, die er finden konnte – davon gab es nicht viele – ein tragbarer Ofen, eine Laterne, ein Schlafsack, eine Axt, ein gutes Messer, ein Zelt, eine Plane, ein Seil und zwei Dutzend andere Gegenstände. Dann fuhr er zu einem Supermarkt im Ort und machte sich daran, weitere Dinge zu sammeln. Der Supermarkt war, wie das Jagdgeschäft, geplündert worden, aber auch hier ohne großes Nachdenken. Wenn alle tot sind, dachte Ben, als er sich durch die Gänge bewegte und sich ein bisschen dumm vorkam, weil er einen Einkaufswagen schob, wo sind dann all die Leichen? Und wenn alle tot sind, wer hat dann geplündert? Vom Supermarkt fuhr er weiter zu einer Drogerie. Die war ebenfalls geplündert worden, aber nichts von wahrem Wert war genommen worden. Drogen zum Aufpushen, Drogen zum Beruhigen. Eine vorgegaukelte glückliche Zeit. Ben wählte einige Medikamente aus und nahm dann Bandagen, Jod und Heftpflaster mit. Er kam an der Kosmetiktheke vorbei (er war amüsiert, dass auch sie geplündert worden war) und hielt inne, als ihn aus einem Kosmetikspiegel sein Spiegelbild anstarrte. Er hatte sich niemals als gut aussehend betrachtet, nicht einmal als Teenager – sein Gesicht war eher vertrauenswürdig als gut aussehend gewesen. Sein Haar war dunkelbraun, mittlerweile schon leicht graumeliert. Seine Augen waren blau. Er war nur eine Idee über einsachtzig groß, bei hundertachtzig Pfund. Auch wenn er mehr trank, als er sollte, war er gut in Form und trainierte täglich. Er wandte sich von seinem Spiegelbild ab.
Er fuhr an mehreren Spirituosengeschäften vorbei und lachte über ihren Zustand: Sie waren die meistgeplünderten von allen Geschäften. »Partyzeit«, sagte er ohne Fröhlichkeit in der Stimme. »Esst, trinkt und seid glücklich. Denn morgen könnten wir sterben.« Anschließend fuhr er zu seinem Haus zurück und lud seine Ausrüstung aus. Ich bin ein Plünderer, dachte er. Ben zündete im Kamin ein kleines Feuer an und machte sich einen Drink. Er befreite seinen Kopf von den Dingen, die er an diesem Tag gesehen hatte – er war so weise, nicht weiter darüber nachzugrübeln. Er ließ den Schock nach und nach auf sich wirken. Als die Dunkelheit vollständig hereingebrochen war und die großen Fünfzigtausend-Watt-Glühbirnen angingen, verbrachte Ben eine Stunde damit, sorgfältig alle Frequenzen abzuhören. Nichts. Morgen, so schwor er sich, werde ich wieder in die Stadt fahren und eins dieser Radios mit weltweitem Empfang suchen. Jemand ist dort draußen in der Welt. Und ich muss die Stadt nach Überlebenden absuchen. Er beschränkte sich auf ein paar Drinks und bereitete sich ein gutes Abendessen. Um neun forderten die Anstrengungen des Tages ihren Tribut. Er ging zu Bett und war in drei Minuten eingeschlafen.
Er hatte das Telefon vergessen! Ben saß aufrecht im Bett und verfluchte seine Dummheit. Er warf einen Blick auf seinen Wecker: Sieben Uhr dreißig. Er sah auf seine Armbanduhr. Halb acht. Der gestrige Tag war offensichtlich doch nicht so spurlos an ihm vorbeigegangen, wie er geglaubt hatte. Der Schock vielleicht. Also, Strom gab es zumindest für einige Zeit. Dann würde auch das Telefonsystem funktionieren. Wenigstens noch für eine kleine Weile.
Ben duschte, rasierte sich sorgfältig, zog sich an und aß einen Happen. Er trank seinen Kaffee im Freien, wo er eine Weile stehen blieb und die nahezu stille Szene betrachtete. Die Vögel sangen immer noch, und das verwirrte ihn. Irgendwo bellte ein Hund, und auch das verwirrte ihn. Welches Gas tötete Menschen, aber nicht die Tiere? Er blickte durch die offene Vordertür ins Haus. Er zögerte, mit dem Telefonieren anzufangen, aber er wusste, dass er es tun musste. Er musste versuchen, Kontakt zu seinen Eltern aufzunehmen, zu seinen Brüdern, zu seinen Schwestern. Er ging zurück ins Haus. Mit einer frischen Tasse Kaffee in der Hand begann Ben die Nummern für Ferngespräche herauszusuchen. Zuerst rief er bei seinen Eltern an, dann seinen ältesten Bruder in Chicago. Jedesmal ließ er das Telefon zwanzigmal klingeln. Keine Antwort. Aber um ehrlich zu sein, hatte er auch keine erwartet. Er probierte die ganze Liste durch bis hin zu seiner jüngsten Schwester in Cairo, Illinois. Nichts. Mit einem Seufzen legte er den Hörer auf. Ben nahm seine Waffen und fuhr in die Stadt. Zuerst ging er zu dem örtlichen Radiogeschäft Shack (es war nicht geplündert worden) und holte sich ein riesiges Gerät für den weltweiten Empfang. Er setzte sich auf den Bordstein vor dem Laden und las die Betriebsanleitung durch. Dann schaltete er das große Radio ein. Es funktionierte nicht – keine Batterien. »Wundervoll, Ben«, murmelte er. »Gut mitgedacht.« Er fand Batterien für das Radio und schaltete es ein. Langsam drehte er den Regler und probierte es zunächst mit einer Frequenz, dann mit der nächsten. Der Schweiß brach ihm aus, als er plötzlich aus den Lautsprechern eine Stimme hörte. Die Stimme sprach eine Zeitlang französisch und wechselte dann ins Deutsche und schließlich ins Englische: »Wir haben die ganze Geschichte zusammengesetzt.« Die Stimme sprach langsam. »Endlich. Ein russischer Pilot erzählte uns, dass es
dies sei, was passiert ist – aus seiner Sicht, natürlich. Sie – die Russen – hatten eine Art Virus entwickelt, der Menschen töten, aber Tiere, Pflanzen und das Wasser verschonen würde. Das war vor drei Jahren. Wollten es diesen Herbst gegen uns verwenden. Man kann sich leicht denken, warum. Dann erfuhren sie von dem doppelten Spiel. Die heimlich aufgerüsteten U-Boote. Das ließ ihren Plan von einer leichten Übernahme zur Hölle gehen. Alles wurde total verworren. Wenn wir versucht hätten, mit ihnen zu reden, oder sie mit uns, oder mit den Chinesen, hätte dies alles vielleicht verhindert werden können. Vielleicht auch nicht. Dafür ist es nun zu spät. Es gibt einige Überlebende weltweit. Habe mit einigen Amateurfunkern gesprochen. Millionen tot. Keine Ahnung, wie viele. Über eine Milliarde, wahrscheinlich. Vielleicht mehr. Es ist schlimm. Gott im Himmel – es ist schlimm.« Die Nachricht wurde wiederholt, wieder und wieder, in vier Sprachen. »Gottverdammte Bandaufzeichnung!« fluchte Ben. Aber er fühlte sich ein bisschen besser. Wenigstens wusste er nun, was passiert war. Doch ein Teil der Nachricht verwirrte ihn: »Man kann sich leicht denken, warum.« Ein wütendes Knurren ließ ihn aufspringen. Er zog die 45er. Eine Hundemeute stand ein paar Meter von ihm entfernt. Sie wirkte kein bisschen freundlich. Ben sprang auf die Motorhaube seines Lastwagens, gerade als ein großer deutscher Schäferhund sich mit entblößten Lefzen auf ihn stürzte. Ben kletterte auf das Dach des Fahrerhauses, als der Hund auf die Motorhaube sprang, und schoss ihm in den Kopf. Die Wucht des schweren Geschosses schleuderte das Tier nach hinten. Die Hunde erinnerten sich an Gewehrfeuer. Sie rannten davon, die Straße hinunter, stoppten an der Ecke und drehten sich um, den Mann auf dem Fahrerhaus seines Lastwagens anknurrend
und -bellend. Ben entleerte seine 45er in die Meute, wobei er einige so traf, dass sie zu Boden geschleudert wurden. Der Rest rannte weg. Ben legte einen neuen Ladestreifen in die 45er ein und kletterte herunter. Für einen Moment stand er einfach nur da und wartete, dass das Zittern aufhörte. Vorsichtig sah er sich um. »Von nun an, Ben«, sagte er laut, »wird diese Thompson ein Teil von dir sein. Wie dein Arm.« Er hob das Radio auf und stieg wieder in den Lastwagen. »Tollwut hätte mir gerade noch gefehlt«, sagte er. »Ich überlebe eine weltweite Katastrophe, und ein verdammter Köter erledigt mich…« Er hielt seine Hände vor sich. Sie waren ruhig. Er wusste, er musste in der Stadt nach Überlebenden suchen, und er war nicht gerade scharf darauf. Er begann die Straßen der Stadt abzufahren und entdeckte die Leichen. Eine große Anzahl von Leuten hatten sich bei Freunden versammelt. Viele Häuser enthielten fünfzehn oder mehr Tote. Jetzt fuhr er zum Haus seines engsten Freundes, während er sich innerlich zu wappnen versuchte. Sein Freund war tot, ebenso seine Frau und seine Kinder. Es schien, als sei Ben alleine in der Stadt. Er fuhr zurück zum Büro des Sheriffs und nahm eine Gasmaske an sich. Der Tag schien warm zu werden, und er vermutete, dass der Gestank sich nur verschlimmern konnte. An einem Zeitungskasten nahm Ben eine Zeitung mit und lächelte, als er automatisch das Geld einwarf. Die Zeitung war zehn Tage alt, ungefähr von der Zeit, in der er gestochen worden war. Er blieb eine Weile stehen, um zu lesen, dann erinnerte er sich an die Hundemeute und ging schnell zu seinem Lastwagen zurück.
Es hatte eine Nachrichtensperre gegeben, und in der Zeitung stand nicht viel Neues. Ein Krieg stand nahe bevor, darum ging es. Er wusste nicht, wie viele Städte zerstört waren oder ob dies durch Atomsprengköpfe oder Krankheitserreger passiert war. Er warf die Zeitung auf die mit Unrat übersäte Straße und blickte sich dann instinktiv um, um zu überprüfen, ob ein Polizist ihn gesehen hatte. Traurig schüttelte er den Kopf und startete den Lastwagen. Er berührte die Thompson auf dem Sitz neben sich. Er würde jede Straße in Morriston absuchen und dann die Gemeinde. Jemand war am Leben… irgendwo, und Ben hatte vor, diese Person zu finden.
Aber seine Suche blieb ohne Erfolg. Und die Hunde wurden bösartig und viel unerschrockener. »Ein Virus, der Menschen, aber keine Tiere tötet«, überlegte Ben. Mit der Handfläche schlug er auf das Steuerrad. »Natürlich!« meinte er und schämte sich für seine Dummheit. Die Stimme auf dem Band hatte gesagt: »Man kann sich leicht denken, warum.« Und das konnte man wirklich. Einfach reinkommen und das Land übernehmen, das unbewohnt von Menschen war, aber mit reichhaltigem, gesundem und glücklichem lebenden Inventar. Eine direkte Nahrungsquelle für die Siegerarmee. Aber diese Armee würde sich beeilen müssen… Ben lächelte grimmig, als sein Schriftstellergehirn zu summen begann. Nicht, wenn sie von innen kamen. Er fragte sich, wie lange an dem Plan gearbeitet worden war. Wie viele Leute – wenn seine Theorie korrekt war, was er wahrscheinlich niemals erfahren würde – in diesem Land rekrutiert worden waren. Zumindest Hunderte – vielleicht Tausende.
Fallschirmjäger hätten bereit gestanden, um einzufallen und etwaige Widerstandsnester zu zerschmettern. Mit einem Crashkurs in Ackerbaukunde hätten sie das Vieh und das Land in guter Verfassung gehalten, bis die Bauern eingetroffen wären. Was nicht lange gedauert hätte. Ein sofortiger Sieg mit einem Minimum an Blutvergießen. Für sie. Aber der Schuss ging nach hinten los. Ben fragte sich, wie viele falsche Spiele betrieben worden waren. Er fragte sich, ob er das jemals erfahren werde, und entschied, dass es kaum möglich war. Sein Verstand begann zu rasen – was für eine Geschichte das gegeben hätte! »Bastarde!« sagte er. Dann sah er sie. Er bremste den Lastwagen, hielt an und fluchte. Von allen Leuten auf der Welt hatte sich der Herr für diese Schlange entschieden… warum sie? Und er schämte sich nicht im Mindesten für seine Gedanken. Ben stieg aus dem Lastwagen und verbeugte sich spöttisch vor ihr, indem er seine Hacken in preußischem Stil zusammenschlug. »Nanu, guten Morgen, Mrs. Piper«, sagte er säuerlich. »Was für eine Überraschung, Sie zu sehen. Kein Vergnügen, aber eine Überraschung, und ich meine das aufrichtig.« Sogar unter den gegebenen Umständen drückte der Blick, den er erhielt, intensive Abneigung aus. »Mr. Raines«, sagte sie mit ebenso viel Säure in der Stimme wie vorher in seiner. »Sie sind bewaffnet! Ich hatte angenommen, Pistolen seien vor einiger Zeit für gesetzeswidrig erklärt worden.« Fran Piper sah aus, als sei sie gerade in diesem Moment aus den Seiten eines Modemagazins gestiegen: jedes dunkle Haar lag an seinem Platz, eng anliegende modische Jeans hoben ihre
weiblichen Reize hervor – wovon es viele gab. Ein modisches Hemd – Cowgirl, Uptown-Schönheit, alle Details stimmten. »Ja, Ma’am. Pistolen wurden vor einigen Jahren für gesetzeswidrig erklärt – vor drei Jahren, glaube ich. Dank Hilton Logan und seinem Haufen irregeleiteter Liberaler. Aber sei es drum, Ma’am. Hier bin ich, Ben Raines, zu Ihren Diensten. Dieser trashige Yankee-Autor all dieser dreckiger, gewalttätiger Porno-Bücher kam, ›um Ihren aristokratischen Arsch davor zu retten, von all den geifernden Hinternwäldlern gepoppt zu werden, die sicherlich durch die Gemeinde streifen und danach gieren, es einmal mit Ihnen zu treiben‹. Ma’am.« »Raines«, sagte sie mit blitzenden Augen, »Sie müssen einfach das verachtenswerteste menschliche Wesen sein, dem jemals zu begegnen ich das Unglück hatte. Und wenn das ein Zitat von Rhett Butler sein sollte, haben Sie ganz sicher das Schiff verpasst.« »Schaufelraddampfer, sicherlich.« Er lächelte. »Bitte?« »Ach, nichts. Eigentlich…« Ben blickte sich um. Keine Hunde in Sicht. »Das war von Claude Raines. Er war mein Onkel.« Sie drückte ihr perfektes Haar an. »Claude Raines, der Schauspieler, war Ihr Onkel? Also, das haben Sie uns nie erzählt…« Dann sah sie sein Lächeln und wusste, dass er sie auf den Arm nahm. »Sie Bastard!« Ihr gegenseitiger Hass dauerte seit über einem Jahrzehnt an. Leute aus dem mittleren Westen waren schwer zu beeindrucken. Daher beeindruckte sie auch ererbtes Geld nicht – jedenfalls nicht, wenn sie mit einem Minimum an Verstand gesegnet waren. Fran Lantier Piper hatte haufenweise Geld aufgehäuft… von beiden Seiten ihrer Familie und der Familie, in die sie hineingeheiratet hatte, aber in den vergangenen hundert Jahren hatten weder sie noch irgendein Verwandter von ihr auch nur für einen Penny davon gearbeitet.
Bens fünfter Roman – er hatte sogar einen Verfilmungsvertrag dafür unterschrieben – hatte von verwöhnten Gören aus dem Süden und ererbtem Geld und Arroganz gehandelt. Fran hatte zu ihm gesagt – als sie sich einmal in der öffentlichen Bibliothek getroffen hatten (für Ben war es ein Schock gewesen, zu entdecken, dass Fran lesen konnte) – sie fand, er solle dafür aus der Stadt gejagt werden, dass er solche hässlichen, dreckigen Lügen über gute, anständige, nette Leute verbreite. Ben hatte sie ausgelacht. Wütend war sie nach Hause gelaufen und hatte ihrem großen Bruder Lance, einem Football-Helden, alles über ihre Begegnung mit diesem Yankee-Rüpel erzählt, wobei sie die Geschichte bedeutend ausschmückte – mit viel Augengeblinzel, Tränen und Posen. Lance hatte Ben angerufen und ihm gesagt, er solle sich auf einen Kampf vorbereiten. Ben hatte gelacht. »Du willst wirklich ihre Ehre verteidigen?« »Ich werd dich in den Boden stampfen«, hatte Lance schleppend geantwortet. Als Lance aus dem Krankenhaus kam, nach einem kurzen Aufenthalt im ICU, hatte die Lantier-Familie – in bester Tradition der Südstaatler – versucht, Ben aus der Stadt zu jagen. Ben hatte dem kurzen, aber wilden Sturm der Emotionen getrotzt, und die Situation hatte sich über die Jahre wieder etwas beruhigt. Aber böses Blut blieb. »Sie sehen heute absolut ent-zü-ckend aus, Miss Fran.« Ben legte soviel Sirup in seine Stimme, dass darin eine Katze ertrinken konnte. Er lehnte sich gegen den Lastwagen. »Sind Sie hier, um einen kleinen Spaziergang zu unternehmen – zwischen all den Leichen?« »Ihr Humor ist einfach grauenhaft, Raines.« »Also« – Ben öffnete die Tür zum Lastwagen – »ich schätze, wir sehen uns irgendwann, Baby.«
»Warten Sie!« Sie schrie ihn an. »Sie können mich nicht einfach allein lassen!« Ben sah sie an. »Warum nicht, zum Teufel? Sie sind nicht gerade scharf auf meine Gesellschaft, und ich habe verflucht noch mal nicht die geringste Lust, einer Zicke wie Ihnen den ganzen Tag zuzuhören.« »Weil… weil…« Sie sah ihn an und fühlte, dass er jedes Wort so meinte, wie sie es gerade gehört hatte. Und das tat er ganz sicher. »Was für ein Mann sind Sie eigentlich?« »Die Art Mann, die verwöhnte Gören nicht mag, die nach Hause rennen und Lügen über andere Leute verbreiten. Erinnert Sie das an was, Fran?« »Nun… Sie haben ihn verprügelt, oder? Obwohl, wahrscheinlich haben Sie unfair gekämpft.« »Fran?« »Was?« »Lecken Sie mich am Arsch!« Tränen begannen ihre Wangen hinunterzulaufen. Ben war sich nicht sicher, ob es sich um echte handelte oder ob es Krokodilstränen speziell für diesen Auftritt waren. Er schloss die Tür des Lastwagens und wartete. Er vermutete, dass die nächsten paar Momente interessant werden würden – wenigstens. Er blickte sich um, auf der Suche nach Hunden. Keine in Sicht. »Mein Mann ist tot, dort im Haus.« Sie deutete auf ein großes Haus auf der anderen Straßenseite. Ben erinnerte sie daran, dass nur ein Stück die Straße herunter zwei ältere Leute gestorben waren, als sie das Geld für ihre Stromrechnung nicht aufbringen konnten und die Elektrizitätsgesellschaft den Strom abgeschaltet hatte. Sie waren erfroren. Er berichtete ihr davon. Sie schüttelte den Kopf. »Ich hatte damit nichts zu tun.«
»Sie hatten auch nichts zu essen im Haus, Fran. Sie waren Ihre Nachbarn.« »Diese Leute? Meine Nachbarn?« »Lassen Sie’s gut sein, Fran. Leute wie Sie werden es nie verstehen.« »Warum haben Sie Ihnen denn nicht geholfen, wenn Sie so ein wohltätiger Mensch sind?« »Ich wusste nichts über ihre Lebensumstände.« Wieder schüttelte sie den Kopf. »Ich weiß nicht, ob meine Schwester noch lebt oder nicht. Sie ist nach Orleans gefahren an dem Tag… an dem es passierte. Meine Mutter und mein Vater sind tot. Ich weiß nicht, wo Lance ist…« »Mir ist es scheißegal, wo er ist«, sagte Ben zu ihr und meinte es auch so. »… und Sie machen es mir auch nicht gerade leicht!« schrie sie ihn an. »Warum sollte ich?« Ben blickte sie an. »Ich mag Leute von Ihrer Sorte einfach nicht. Und ich will verdammt sein, wenn ich mitten auf der Straße stehen bleibe und mit Ihnen darüber diskutiere.« Sie stampfte mit dem Fuß auf. »Also… dann bringen Sie mich wenigstens nach Natchez. Ich habe dort Freunde. Ich… also… ich habe Angst alleine zu gehen, Ben.« »Sie nach Natchez bringen?« Ben ließ sich gegen den Lastwagen fallen und lachte. »Meinen Sie das ernst, Fran?« »Absolut.« Ihr Kinn hob sich hochmütig. »Fran, wissen Sie, was passiert ist?« »Nein. Es kommt nichts im Fernsehen oder Radio. Aber es war irgendeine Art Katastrophe, kann ich mir vorstellen.« »Und es wird bald alles besser?« »Ganz bestimmt. Die Regierung wird einschreiten und alles in Ordnung bringen.« Der Große Bruder wird schon auf mich aufpassen.
»Fran, soll ich Sie statt nach Natchez lieber nach Tara bringen?« »Jetzt fangen Sie schon wieder an.« Sie weiß es wirklich nicht, dachte Ben, während er sie ansah. Obwohl – sie ist eine wunderschöne Frau. Das arme reiche isolierte kleine Mädchen hat nicht die Spur einer Ahnung, was passiert ist. Er griff in den Lastwagen und nahm das Radio mit dem weltweiten Empfang heraus. »Fran, hören Sie sich das an. Versuchen Sie zu verstehen, was passiert ist.« Er schaltete das Radio ein, das bereits auf die Frequenz des Amateursenders eingestellt war, und beobachtete ihr Gesicht, als das Band ins Englische wechselte. »Ich… ich verstehe nicht«, sagte sie schließlich, ihr Gesicht vor Schock kreideweiß. »Es bedeutet, Fran, dass die Zivilisation, wie wir sie kennen, wahrscheinlich für eine ganze Weile vorbei ist. Millionen, ein paar Milliarden – tot. Und was Natchez betrifft – vergessen Sie’s. Vergessen Sie das alles, Honey.« Seine Stimme nahm einen harscheren Ton an. »Es ist vorbei. Wenn in dieser Gemeinde nur zwei Leute am Leben geblieben sind – um dies als Vergleich zu verwenden – zwei von fünfzehntausend. Das ist…« Er rechnete schnell im Kopf. »Sagen wir, hundertfünfundzwanzig Leute von jeder Million sind auf der Welt noch am Leben. Vielleicht sogar etwas mehr.« Aber, dachte er, was ist, wenn dieses Zeug den Verstand der Menschen beeinträchtigt hat – und vielleicht ihre Körper? Mutanten? Möglich. Die genialste Geschichte, die ich jemals schreiben könnte, und niemand da, der sie liest. Scheiße! »Meinen Sie das ernst, Ben?« Große Augen, weit geöffnet. Schöne Augen. »Ich betrachte den Tod als sehr ernst, Fran.«
»Nun… was soll das genau heißen?« »Es heißt«, sagte Ben langsam, »dass Sie mit mir hier festsitzen, und ich vermute, dass ich mit Ihnen hier festsitze.« »O Gott!« sagte sie, dann rollte sie mit den Augen und wurde ohnmächtig. Ben fing sie gerade rechtzeitig auf, bevor sie mit dem Kopf auf dem Asphalt aufschlug. »Was für eine fabelhafte Art, eine Beziehung zu beginnen«, murmelte er.
FÜNF
Sie öffnete ihre blauen Augen und sah ihn an, als sie die Kreisstraße entlangrollten. »Wohin bringen Sie mich?« »Wohin möchten Sie, Miss Fran?« Sie schloss die Augen. »Ich weiß es nicht.« »Dann halten Sie den Mund, und helfen Sie mir suchen, bis Sie sich entschieden haben. Und öffnen Sie die Augen. Suchen Sie nach Menschen – lebendigen. Es muss welche geben.« »Ich schätze, das wahrscheinlich genau die falschen überlebt haben.« Da könntest du Recht haben, dachte Ben. »Gucken Sie nur, Baby, und behalten Sie Ihre Gedanken für sich.« »Was ist das für ein großes, hässliches Ding?« Ben blickte an sich hinunter, um nachzusehen, ob sein Hosenstall offen war. »Dies hier!« Sie berührte die Thompson. »Das ist eine Maschinenpistole.« Sie sah Ben an, sah die MP an, rollte mit den Augen und blickte dann aus dem Fenster auf ihrer Seite des Lastwagens. Sie schüttelte den Kopf. »Es ist real, Fran. Ich versichere es Ihnen.« »Ich beginne es zu glauben, Ben. Sehen Sie dort. Da kommt Rauch aus diesem Haus dort drüben.« Sie zeigte hin. Ihre Stimme klang uninteressiert – als feilsche sie um den Preis von Kaugummi im Supermarkt. Der Tag war kühl, die Temperatur lag bei etwas über sechzig Grad Fahrenheit. Aber nicht kühl genug für ein Feuer, schätzte Ben. Er fuhr in die Einfahrt und hielt Ausschau nach Hunden.
Es waren keine da. »Bleiben Sie im Lastwagen«, sagte er zu Fran. »Das werde ich ganz sicher nicht tun! Und wagen Sie es ja nicht, mich herumzukommandieren, Ben Raines.« Ben nickte und fragte sich, wann bei ihr der Schock kommen werde. Wahrscheinlich, so vermutete er, wenn wir durch die Stadt fahren und sie all die Leichen sieht… mit Vögeln, Hunden und Schweinen, die von ihnen fressen. »Dann kommen Sie mit«, sagte er. Sie öffnete die Tür. »Darin könnten fünfzehn Kerle sein, die alle darauf warten, Sie zu vergewaltigen.« Sie schloss die Tür und verriegelte sie. Ben prüfte, ob er die Schlüssel aus der Zündung gezogen hatte. Das hatte er. Es sähe Fran ähnlich, wegzufahren und ihn allein zu lassen. Er ging den steinernen Gehweg hinauf und pochte an die Tür. Die Thompson hielt er in der rechten Hand. Langsam schwang die Tür auf. Ben kannte den Mann nicht, aber hatte ihn verschiedene Male in der Stadt gesehen. Er schien Mitte Sechzig und in guter Verfassung zu sein. »Guten Tag«, sagte Ben durch die Gittertür. »Ich bin Ben Raines.« »Der Herr gibt und der Herr nimmt«, antwortete der Mann. »Wie bitte?« »Armageddon. Die Schlacht wurde geschlagen. Das sagt der Herr.« Obwohl kein Bibelschüler, hatte Ben die Bibel gelesen. Er fragte: »Wer hat gewonnen – Gut oder Böse?« Die Frage schien den Mann zu verwirren. Er stammelte etwas, dann schloss er seinen Mund und schüttelte den Kopf. »Ist Ihnen klar, was passiert ist?«, fragte Ben.
»Armageddon.« Ben seufzte und blickte an dem Mann vorbei ins Wohnzimmer des Hauses. Ein Feuer wütete im Kamin und eine Frau saß in einem Sessel. Sie war tot. Ben konnte sie von der Veranda aus riechen. »Möchten Sie mit uns kommen?«, fragte Ben. »Können wir Ihnen irgendwie helfen?« Der Mann schlug ihm die Tür vor der Nase zu. Ben ging zurück zum Lastwagen und entriegelte die Tür. Als sie wegfuhren, fragte Fran: »Wer war das?« »Ich weiß es nicht.« Dann erzählte er ihr, was er gesehen hatte. »Das ist ja schrecklich. Was werden Sie tun?« »Nichts.« Ben schüttelte den Kopf. »Es gibt nichts, was ich tun könnte. Ich bin kein Psychiater. Aber ich würde sagen, dieser Mann hat die Grenze überschritten – er wurde hinübergestoßen durch das, was passiert ist. Vielleicht schafft er es zurück – vielleicht auch nicht.« »Das ist ja eine ziemlich gefühllose Einstellung, Ben. Der arme alte Mann.« »Diese armen alten Leute, die erfroren sind«, konterte Ben. Sie starrte ihn an, während Ben sich fragte, ob er Zeuge ihrer besseren Seite wurde oder ob sie nur schauspielerte. »Sie reiten ganz schön darauf herum, Ben Raines. Was hätte ich denn für sie tun sollen? – Nicht dass es jetzt noch von Belang wäre.« »Ihnen helfen.« Seine Antwort war kurz und bündig. »Ich verstehe. Also… ich hätte gedacht – durch die Lektüre Ihrer Bücher – nicht dass ich viele von ihnen gelesen hätte, verstehen Sie – dass Sie die letzte Person auf der Welt wären, die eine Güterumverteilung befürworten würde. Ich dachte, dass Sie ein Konservativer seien.« »Ich bin ein Konservativer, Fran, im Großteil meines Denkens. Und ich mag es nicht, unschuldige Menschen unnötig
leiden zu sehen. Nicht, wenn enormer Reichtum überall um sie herum herrscht – herrschte. Was Güterumverteilung betrifft… das hätte sich entwickelt, Fran. Es wäre noch vor dem Ende des Jahrhunderts Realität geworden.« »Mein Daddy sagte, das sei Kommunismus.« »Während er dasaß, an seinem hundertjährigen Cognac nippte und seine Antiquitäten bewunderte, in einem Haus, das etwa eine Million Dollar wert ist. Er hat persönlich keinen Finger gerührt, um irgendetwas davon zu verdienen. Das glaube ich einfach nicht, Fran. Aber das ist jetzt alles egal, nicht? Wir sind alle gleich.« Sie schauderte bei dem Gedanken, nichts Besonderes mehr zu sein. Wie… unfair!
Sie fuhren noch ein paar Stunden weiter, sahen aber im ganzen Bezirk kein Lebenszeichen. Ben lenkte die Schnauze des Lastwagens in die Richtung von Frans Haus. Fran war ungewöhnlich still. »Ich werde Sie nach Hause zurück bringen, Fran – Sie können einige Kleidungsstücke mitnehmen. Dann werden wir zu mir fahren. Keine Sorge, Sie werden dort sicher sein.« »In Ordnung«, flüsterte sie. Ben wartete im Arbeitszimmer, während Fran einige Koffer packte. Er hatte noch nie in seinem Leben einen solchen Reichtum gesehen. Er lachte leise, als ihm bewusst wurde, dass Fran damit jetzt verdammt wenig damit anfangen konnte. Ich glaube, wenn ich soviel besäße, würde ich auch darum kämpfen, um es zu behalten. Oder etwa nicht? fragte er sich. Ich hätte nie auch nur davon geträumt, so zu leben. Er hatte nie so großartige Träume gehabt. Er war nicht dazu erzogen worden, davon zu träumen, in großem Luxus zu leben.
Er half Fran mit ihrem Gepäck. Zurück auf der Straße fragte sie ihn: »Was werden wir tun, Ben?« »Zuallererst – sehen Sie nicht zu den Leichen auf dem Feld gleich da vorn. Da sind zwar nicht so viele, wie ich annahm, aber genug.« Natürlich sah sie hin, und ihr wurde sofort schlecht. Ben hielt den Lastwagen an und ließ sie aussteigen, damit sie sich am Rand der Straße erleichtern konnte. Er stellte sich neben den Lastwagen, mit der Thompson im Anschlag, und hielt Ausschau nach Hunden. »Ich hasse es, wenn mir schlecht wird!« sagte sie, indem sie ihren Mund mit dem Taschentuch abputzte, das Ben ihr angeboten hatte. »Sie werden sich an die Leichen gewöhnen. Ich erinnere mich, wie ich in der Ausbildung zum ersten Mal Hundefleisch gegessen habe. Ich…« Sie beugte sich vornüber und übergab sich von neuem. Es dauerte nicht lange und sie richtete sich wieder auf, wischte ihren Mund ab, warf das Taschentuch in den Graben und sagte: »Zur Hölle mit Ihnen!« »Tut mir leid«, sagte Ben und winkte sie zurück in den Lastwagen. »Und ich meine das ehrlich, Fran. Fran?« Sie sah ihn an. »Da klebt noch etwas am Ihren Ärmel.« Sie nickte, rieb darüber und schwenkte ihre Hand. »Head ‘em up and move ‘em out«, murmelte Ben. »Wie bitte?« »Wie alt sind Sie, Fran?« »Achtundzwanzig.« »Dann werden Sie sich wahrscheinlich nicht an die Fernsehsendung erinnern.« »Ich bin sicher, sie war gewalttätig und hässlich.« Ben seufzte.
Sie schwieg, bis sie die kleine Stadt durchquert und den Geruch des Todes hinter sich gelassen hatten. Dann sagte sie: »Lassen Sie uns ehrlich zueinander sein, Ben. Ich mag Sie nicht und werde Sie wahrscheinlich niemals mögen.« »Geht mir nicht anders.« »Aber wir sitzen hier gemeinsam fest.« »Wie wahr.« »Also dann. Für wie lange auch immer wir gezwungen sind, uns Gesellschaft zu leisten – und ich versichere Ihnen, es wird nicht für lange sein – lassen Sie uns versuchen, höflich zu sein, wenn nicht sogar Freunde.« Ben grinste. »Okay, Fran.« »Ich koche nicht gern, ich werde nicht kochen. Ich hasse jede Art von Hausarbeit, weigere mich, hinter mir aufzuräumen, und ich jammere, wenn ich nicht meinen Willen bekomme.« Ben lachte über ihre Ehrlichkeit. »Putzt du Fenster?« Sie lachte, zum ersten Mal an diesem Tag. »Nein! Aber« – sie sah ihn an und taxierte ihn mit einem deutlichen Blick – »ich schlafe nicht gern allein.« »Ich glaube, wir werden gut miteinander auskommen«, sagte Ben. Fran trank nicht; sie bekomme Ausschlag davon, sagte sie. Also blieb Ben an diesem Abend nüchtern. Das erste Mal seit Jahren, abgesehen von den Fällen, wenn er krank gewesen war oder seine Eltern besucht hatte, ging er vollkommen nüchtern zu Bett und war froh darüber. Fran kam zu ihm, in sein Bett, nach feinem Parfüm duftend und nackt, ihr dunkles Haar auf dem Kissen neben ihm ausgebreitet. Als seine Hände sie fanden, streichelten, und seine Lippen ihre Brüste liebkosten, stöhnte sie auf. Sie fand ihn und brachte seinen Penis dazu, sich aufzurichten. Sie setzte sich rittlings auf ihn, führte ihn in ihre feuchten Tiefen ein und nahm ihn mit einer einzigen harten Bewegung.
In der nächsten halben Stunde wurde Fran zu das, was ein Junge in der guten alten Zeit vor seinen Kumpels »einen Hammerfick« genannt hätte. Sie mochte für nichts anderes besonders viel taugen, überlegte Ben, aber sie wusste, was sie wollte, wenn es um Sex ging, und wie sie alles mobilisierte, was in ihm steckte. Ben ließ sie schlafen, stellte sich ans Fenster seines Arbeitszimmers und starrte in die Dunkelheit hinaus. Er ahnte, dass die vollen Auswirkungen dessen, was geschehen war, ihn noch nicht getroffen hatten – nicht in ihrer schrecklichen Gänze, in ihrer grauenhaften Endgültigkeit. Ganz sicher hatte Fran die Situation noch nicht vollständig realisiert. Von insgesamt hundert Prozent ließ sie höchstens zehn Prozent der entsetzlichen Fakten, die sie umgaben, zu. Schließlich traf Ben eine Entscheidung: Es gab keinen Grund, hier zu bleiben. Er wollte sehen, was im Land passiert war. Er wollte seine Eltern, Bruder und Schwestern… begraben. Sein Verstand hatte das Wort schließlich akzeptiert. Wenn er sie finden konnte. Außerdem war er als Schriftsteller naturgemäß neugierig. Er wünschte, er könne Jahre in die Zukunft blicken und nur das sehen, was sich aus dieser Tragödie heraus entwickeln würde. Aus der Asche. Etwas sehr viel Besseres als das, was wir gerade zerstört haben, hoffte er. Er ging zurück ins Schlafzimmer und schlüpfte leise ins Bett. Fran schmiegte sich an ihn und murmelte etwas Unverständliches. Ungeachtet seiner Gefühle ihr gegenüber verspürte Ben eine leichte Sorge um sie. Ihr Menschentyp hatte schon immer seinen Weg in der Welt gefunden. Was würde nun mit diesen Leuten passieren? Ben wusste, dass die meisten von ihnen nicht überlebt hatten.
Er nahm sie in die Arme. Ihr nackter Körper fühlte sich warm an, und trotz der Erregung, die sich in ihm ausbreitete, als er die Dämmerung erwartete, schlief er schließlich doch noch ein.
»Ich verstehe immer noch nicht, warum wir gehen müssen.« Fran schmollte und blickte zu Bens Haus zurück, als sie abfuhren. »Bist du nicht neugierig, Fran? Bist du nicht ein winziges bisschen neugierig darauf, zu sehen, was passiert ist?« »Ich wünschte bloß, dass alles wieder so wäre wie früher. So wie immer.« Die Reichen werden reicher, und die Armen denken über Revolution nach, dachte Ben. »Es könnte eines Tages wieder so werden, Fran. Aber das wird Jahre dauern.« »Ich möchte nicht darüber reden«. »Ich werde morgen darüber nachdenken.« Ben grinste. Sie drehte ihren Kopf weg und sah aus dem Fenster. Ben fuhr in die Stadt zurück und hielt am Büro des Sheriffs, wo er eine weitere Gasmaske holte. Er hatte das Gefühl, sie würden auf dem Weg Masken brauchen. Sie fuhren über die Brücke über den Mississippi nach Natchez, wobei Ben dreimal anhalten musste, um Fahrzeuge wegzuschieben. Dabei war die Gasmaske nützlich, denn die Insassen der stecken gebliebenen Autos und Lastwagen waren dadurch, dass sie im Inneren der Fahrzeuge praktisch hermetisch abgeschlossen waren, in einem ausgesprochen schlimmen Zustand. Er beschloss, sich ein neues Fahrzeug zu besorgen, wenn er nach Natchez kam. Er brauchte eins mit einer Winde an der Vorderseite und strapazierfähigen Sprungfedern, denn es gab noch andere Dinge, die er auf dem Weg mitnehmen wollte.
In einem Autohaus ging Ben um die Lastwagen herum und wählte schließlich ein Vorführmodell, das die ganze Ausrüstung hatte, die er brauchte, inklusive CB-Funk. »Ich verstehe immer noch nicht, warum wir keinen Cadillac oder Lincoln nehmen können«, meckerte Fran, als sie die Habseligkeiten umzuräumen half. »Dann könnten wir mit einigem Komfort reisen, anstatt in einem dummen Lieferwagen herumzueiern wie ein paar Zigeuner.« Ben wurde klar, dass es keinen Sinn machen würde, es ihr zu erklären, deshalb hielt er den Mund. Der Gestank in Natchez war furchtbar. Ben, der die Keime in der Luft fürchtete, brachte Fran dazu, ihre Gasmaske aufzusetzen. Er fuhr schnell durch die kleine Stadt, in Richtung Osten, wo die Straße auf die Interstate 55 traf. »Es ist so heiß unter dieser Maske!« nörgelte Fran mit gedämpfter Stimme. Ben sagte nichts, und als sie die Maske abnahm, bevor sie die Stadtgrenze erreicht hatten, hinderte er sie nicht daran. Als der Gestank ihre Nasenlöcher traf, setzte sie die Maske schnell wieder auf, das Gesicht bleich. Sie sahen keine lebenden Menschen während ihrer sechzig Meilen-Fahrt zur Autobahn westlich von Brookhaven, nur verwesendes Fleisch und Hunde, die sich daran labten. »Richte deine Blicke einfach geradeaus«, riet Ben ihr. Das musste er ihr nicht zweimal sagen. Sie schloss ihre Augen und öffnete sie auch nicht wieder. Der gesunde Menschenverstand riet Ben, Jackson zu umfahren, aber seine naturgegebene Neugierde übertraf die Vorsicht, und er fuhr von der Interstate ab, in die Innenstadt von Jackson. »O Gott!« schrie Fran auf, als sie die Leichen sah, die auf den Straßen lagen. »Ben, lass uns von hier verschwinden.«
»Würdest du nicht gerne zum Metrocenter fahren und ein bisschen einkaufen, Honey? Denk doch bloß an all die hübschen Dinge, die du da mitnehmen könntest!« Ihr Blick sagte ihm, dass sie alles andere als begeistert war. Als sie umdrehten, schlug eine Kugel durch die Windschutzscheibe, und Fran schrie auf. Wir sind nicht so weit von den Höhlenmenschen entfernt, dass wir nicht um unser Revier, Essen, Frauen oder unser Überleben kämpfen würden. Und wenn nur der kleinste Anflug von Kampfeslust in uns ist, werden wir uns ganz schnell zu Barbaren zurückentwickeln. Während Fran schrie und Ben sie auf den Boden stieß, riss er das Lenkrad hart herum und schlitterte hinter einen umgekippten Müllwagen, der den kleinen Lastwagen wirkungsvoll verbarg und ihnen Schutz bot. »Bleib unten!« befahl er ihr. Diesmal widersprach sie nicht. Sie nickte mit dem Kopf, die Augen weit geöffnet. Alles, was Ben bis dahin verdrängt hatte, kehrte jetzt in einer Flut von brutalen Erinnerungen zurück: das entmenschlichende Training im Dschungel, in den Bergen, in der Wüste, im tiefen Wald. Die Monate in Nam. Die schnellen, fieberhaften Feuergefechte. Überleben. »Hey!« brüllte Ben über die müllübersäte Straße. »Wir wollen dir nichts tun. Warum schießt du auf uns?« Aber die Gedanken in seinem Kopf waren nicht gerade friedlich. Komm nur raus, du Hurensohn. Gib mir die Möglichkeit, auf etwas zu schießen. »Sag der Fotze, sie soll aus dem Lastwagen steigen!« brüllte eine Stimme. »Gib uns die Frau, und du kannst deinen Arsch hier heil rausbringen.«
Die Stimme kam von oben, aus dem zweiten Stock des Gebäudes gegenüber dem Lastwagen. Lass dich hier nur nicht niederschlagen, dachte Ben. Da gibt es wahrscheinlich mehrere von denen. Er rutschte hinter dem kleinen Lastwagen hervor und bewegte sich vorsichtig an dem umgestürzten Müllwagen entlang. Die Worte seines kampferprobten Ausbilders klangen ihm im Ohr: »Niemals über ein Objekt hinweg blicken – blickt drum herum, von einem Ende, und ganz vorsichtig.« Ben schob seinen Kopf langsam vor, bis er durch die Lücke zwischen Ladefläche und Unterbau des Lastwagens sehen konnte. Er sah sie, zwei von ihnen, aus Fenstern des zweiten Stockwerks des Gebäudes schauen. Es waren weiße Männer, die reich verzierte Cowboyhüte mit Federn und Ornamenten trugen. Städtische Cowboys. Ungefähr sechzig Meter, Maximum, vermutete Ben. Langsam, ohne unruhige Bewegung, schob Ben die Mündung der MP in die Lücke und visierte sie an. Er machte sich gefasst auf den Knall und das Aufbäumen der Mündung. Da Ben wusste, dass die Waffe von links nach rechts ›klettern‹ würde, begann er mit dem linken Fenster, unten, und drückte ab, indem er den Abzug zurückhielt und gegen den Drall der schweren Waffe ankämpfte. Dreißig Schuss 45er-Munition schlugen Steine vom Gebäude und zerschmetterten Fenster, wobei der Klang durch die Straßenschlucht widerhallte. Ein Mann wurde aus dem Fenster geschleudert. Er prallte auf dem Bürgersteig auf und lag still. Ben konnte den anderen Mann stöhnen und weinen hören. Er versuchte etwas zu rufen. Seine Worte klangen verzerrt und unverständlich. Da wusste Ben, dass er ihn im Gesicht und am Kinn getroffen hatte.
»Starte den Lastwagen!« rief Ben Fran zu. »Fahr ihn hier rüber. Du musst fahren. Ich halte die Waffe im Anschlag, bis wir zurück auf der Hauptstraße sind.« »Der Mann ist verletzt, Ben«, sagte sie. »Zum Teufel mit ihm! Er hat diesen Tanz angefangen, nicht ich.« Er schlich um den Lastwagen herum und stieg ein. »Lass uns fahren, in Richtung der Interstate, nach Norden. Wenn du zu diesem Einkaufszentrum zur Rechten kommst, fahr auf die Straße parallel zur Schnellstraße und halt an der ersten Telefonzelle an.« »Willst du jemanden anrufen?« »Nein. Ich möchte die nächstgelegene Waffenkammer finden. Am liebsten eine Infanterieeinheit.« »Es ist ein bisschen spät, um sich als Soldat zu melden, oder?« Sie überraschte ihn mit ihren Humor. Mutiges Mädchen, dachte er. »Nein. Ich möchte ihre Bestände durchstöbern.« »Warum?« »Fahr, Fran. Fahr einfach.« An der Waffenkammer angekommen, war Ben erleichtert, einen großen Teil der Ausrüstung unangetastet an ihrem Platz vorzufinden. Viele Männer waren entweder zu krank gewesen, um sich zu melden oder hatten sich gesagt, zur Hölle mit allem, und sich nicht gemeldet. Wahrscheinlich eine Kombination aus beidem, dachte Ben. Er propfte das kleine, durch die Kugel entstandene Loch oben in der Windschutzscheibe zu und begann dann die Waffenkammer zu durchforsten. Er fand den Waffenraum, aber der Stahltresor war verschlossen und sah beeindruckend aus. Er sagte zu Fran, sie solle acht geben, und ging dann auf die Suche nach einem Hammer und Meißel. Er machte sich daran, die Außenwand des aus Betonblöcken erbauten Gebäudes zu bearbeiten. Als er ein ansehnliches Loch in die Blöcke gehauen
hatte, fuhr er einen Lastwagen zur Wand, machte ein Stahlkabel daran fest und riss die Wand fort. Auf die innere, aus Stahl bestehende Wand hämmerte er so lange ein, bis er ein Loch hineingeschlagen hatte, hängte dann ein Doppelkabel ein und riss den Tresor weit genug auf, dass er hineinschlüpfen konnte. »Bist du sicher, dass du kein Tresorknacker warst, bevor du Autor geworden bist?« Als er nicht antwortete, fragte Fran: »Wonach um alles in der Welt suchst du denn, Ben?« »Ha!« brüllte Ben. »Ich hab’s!« Er hatte die M-16s entdeckt, aber – wie viele Veteranen – mochte Ben diese Waffe nicht, hasste sie schon beinahe. Er hätte es wunderbar gefunden, eine alte BAR zu finden, aber die wurden immer seltener. Er gab Fran eine Kiste, dann noch eine weitere. Er stapelte noch einige Kisten mehr draußen auf, dann kletterte er heraus, um ihr zu helfen. »Ben – was ist das für Zeug?« »Granatwerfer, hochexplosive 40-mm-Patronen, und drei Kisten mit Handgranaten, gemischt. Weißer Phosphor und Tarnnebel.« »Danke«, sagte sie trocken. »Ich erinnere mich nicht, jemals so beeindruckt von einer Antwort gewesen zu sein. Was zum Henker willst du mit dieser… Scheiße anfangen?« »Überleben. Ich wünschte, sie hätten hier einige Claymores.« Sie seufzte. »Ben, ich weiß nicht einmal, was das ist.« »Es ist eine Mine. Zum Teufel! Die haben hier noch nicht mal Zündschnüre. Was für eine Ausrüstung soll denn das sein?« »Ich wusste nicht, dass du so eingestellt bist, Ben. Ich dachte, Schriftsteller seien sensible Menschen.« Sie sah ihn an. »Naja… bei dir hätte ich das wissen sollen.« Er klopfte auf den Kasten, der den Granatwerfer enthielt. »Ich wünschte, ich könnte zu diesem Ding eine Gebrauchsanweisung finden. Fran? Durchwühl doch mal die Dateien und sieh nach,
ob du ein Informationsblatt über den Granatwerfer M203 finden kannst.« »Ben, du bist unmöglich!« Er nahm sie bei den Schultern und schüttelte sie rüde. Das erschreckte sie. Als er sprach, waren seine Worte hart und seine Stimme roh. »Fran? Lass mich dir sagen, wie es ist, Baby.« Sie blickte zu ihm auf und sah die Ernsthaftigkeit in seinen Augen. »Also, du hast gehört, wie dieser Hinterwäldler dich vorhin genannt hat, oder?« Sie nickte. »Frauen, Fran, egal, welche Farbe, jung oder alt, werden hoch im Kurs stehen, denke ich. Und eine gut aussehende Frau wird ein echt guter Fang werden, wert, dafür zu töten, und mehr. Und du bist eine gut aussehende Frau. Du bist flink wie eine Viper und dazu so stur wie ein Maulesel, aber du bist eine wunderschöne Frau. Jetzt hör mir zu. Es gibt kein Recht und keine Ordnung. Keine! Du kannst keinen Polizisten mehr rufen, Fran. Was passiert ist, ist ein totaler, kompletter Zusammenbruch von Gesetz und Ordnung und Zivilisation und Regeln und Ethik und Anstand. Wir sind zurück in der Zeit des Dschungels und der Höhlen, Honey. Hunde fressen Hunde, und der stärkste Mann gewinnt die Frau. So wird es für eine ganze Weile sein. Glaube es. Du bist keine dumme Frau, Fran, also muss ich dir nicht erzählen, was eine Gruppenvergewaltigung ist, oder?« Sie schüttelte den Kopf. »Yeah? Also, dann gib die Hoffnung nicht auf, Baby, denn viele Kerle lieben das. Und ohne mich und die Feuerkraft, die ich aufbieten kann, bist du für solche Kerle Freiwild. Und du hast auch einen hübschen Popo, Fran…« »Das ist ekelhaft, Ben Raines. Hör damit auf. Du… du erzählst mir all das, um mich einzuschüchtern, um mich abhängig von
dir zu machen, damit du jemanden hast, mit dem du schlafen kannst, das ist alles. Stimmt das nicht, Ben?« »Honey«, sagte Ben geduldig, »falls, oder wenn, ich eine Gemeinschaft oder eine Gruppe von anständigen, zivilisierten Menschen finde, werde ich dich dort schneller absetzen, als ich ein Stinktier losmachen würde. Weil es Dinge gibt, die ich tun will, Orte, zu denen ich gehen will, und Ereignisse, die ich aufschreiben will. Ich hoffe, wir finden einige Leute in Memphis – ich dachte, vielleicht in Jackson. Ich glaube, dass es hier Menschen gibt, gute Menschen, aber sie verstecken sich, sie haben Angst, und sie haben gute Gründe dafür. Also, wenn nicht hier, dann in Memphis. Und wenn auch nicht dort, dann eben ein anderer Ort, wo du sicher sein wirst, und ich werde einen sicheren Ort für dich finden. Aber bis dahin haben wir uns gegenseitig am Hals. Ich weiß nicht, warum, aber ich fühle eine Verpflichtung, mich um dich zu kümmern. Also tust du, was ich dir sage, Fran – und wann ich es dir sage – und ich werde dich am Leben halten. Aber gerade jetzt wirst du deinen Hintern in das Büro bewegen und für mich dieses Informationsblatt suchen.« Sie starrte ihn eine halbe Minute lang an. Beide schwiegen. Ihr Gesicht zeigte eine Mischung aus Furcht und Respekt für den Mann, der vor ihr stand. »In Ordnung«, sagte sie. »Du bist ein echter Kerl, Ben Raines.« »Ich bin ein Überlebender.« »Ich bin… froh, dass du es warst, der mich gefunden hat.« Er nickte langsam. Er wusste, das war so nah, wie er einem Dankeschön oder einem Kompliment aus ihrem Munde nur kommen konnte. »Ich werde dir dieses Blatt besorgen«, sagte sie. Die erste Nacht unterwegs verbrachten sie in einem Haus nahe bei der Interstate, ein paar Meilen südlich von Winona,
Mississippi. Das Haus war angenehm, gut gepflegt und frei von Leichen. Fran pflückte ein paar spät blühende Blumen, um den Tisch zu dekorieren, während Ben das Essen machte. »Ich frage mich, was mit den Leuten passiert ist«, sagte sie. »Wahrscheinlich wird es niemand je erfahren. Vielleicht haben sie Freunde besucht, als… es passierte. Vielleicht sind sie in Panik geraten und weggerannt.« Sie sah Ben an, sah ihn an, als hätte sie noch nie zuvor in ihrem Leben jemanden genauer angesehen. Er ging niemals ohne Gewehr, und sein Gang war der einer Raubkatze auf der Jagd. Sein Gesicht und seine Augen sahen verändert aus, hart und kalt. Und sie dachte, sie hätte diesen Mann nicht gerne zum Feind, denn er war anders als die anderen Männer, die sie in ihrem Leben gekannt hatte. Sie fragte sich, wie sein Leben beim Militär gewesen war, denn sie hatte viele Männer gekannt, die gedient hatten, aber keinen wie diesen. Ben Raines war… ein Raubtier. Und sie gab zu – vor sich selbst – dass sie ein bisschen Angst vor ihm hatte. Sie wusste ebenfalls, dass sie Glück gehabt hatte, dass es gerade Ben gewesen war, der sie gefunden hatte. Als es Nacht wurde, verlangte er, dass die Lichter ausgemacht wurden. »Die zweibeinigen Tiere werden umherstreifen«, sagte er zu ihr. »So ist es sicherer.« Dann schloss er das Garagentor und verriegelte es. »Wenn wir morgen nach Memphis kommen«, sagte er, als sie in seinen Armen lag, während der Schweiß nach dem Sex auf ihren Körpern abkühlte und trocknete, »werden wir den CB-Funk noch viel genauer kontrollieren. Alle Kanäle. Wir werden schon einen Ort für uns finden, wo wir uns verstecken können und unsere Augen und Ohren offen halten – wir werden sehen, wer zu uns kommt. Vielleicht hast du Glück, und einige anständige Leute haben sich zu einer Gruppe zusammengefunden.« »Du willst mich wirklich loswerden, oder, Ben?«
»Nein«, antwortete er ehrlich, und seine Antwort überraschte ihn. »Nun«, fügte er hinzu, »ja. Irgendwie.« »Das ist merkwürdige Antwort, Liebling.« »Du bist eine Überlebende, Fran – aber nicht von der gleichen Art wie ich. Aber« – er lachte leise – »allmählich mag ich dich richtig gern. Irgendwie.« »Ja«, sagte sie mit einem bitteren Unterton in der Stimme. »Wir sind uns nahe gekommen, oder? Und weiter, Ben.« »Ich möchte dieses Land sehen – soviel davon, wie ich kann. Vom Atlantik bis zum Pazifik, von Grenze zu Grenze. Ich möchte sehen, was zerstört wurde, und warum. Ich möchte dieses Ereignis und seine Folgen aufzeichnen, und das wird ein paar Jahre dauern – vielleicht mehr. Ich werde sehen, dass ich einen guten Kassettenrecorder und eine Million Meilen Tonband finde, und mit den Leuten reden. Und dann werde ich mir eine abgenutzte, alte, tragbare Schreibmaschine suchen, die Bänder in irgendeine Reihenfolge bringen und mir für ein paar Jahre ein Versteck in den Bergen oder am Meer suchen, zehn Stunden täglich arbeiten, an jedem Tag in der Woche, und es aufschreiben, genauso, wie es passiert ist.« »Ben? Wer, wenn ich fragen darf, soll das verdammte Ding denn überhaupt lesen?« Er lachte und wölbte die Hand um ihre warme, runde Brust, wobei er seine Handfläche gegen die Brustwarze rieb. Sie drückte sich gegen ihn, ihre Hand suchte und fand seinen Penis und umschloss ihn mit den Fingern, wobei sie spürte, das er sich aufrichtete. Fran rieb ihn langsam mit der Hand, während ihr Atem flach und dann heiß wurde. »Wir werden wieder eine Zivilisation haben, Fran«, sagte er und ließ seine Hand über ihren weichen Bauch nach unten gleiten, um die Feuchtigkeit zwischen ihrem Schamhaar zu berühren. Seine Finger fanden und teilten die Vagina, wanderten hinein und heraus, sein Daumen auf ihrer
geschwollenen Klitoris. »Eine Zivilisation… eines Tages. Und die Menschen werden genau wissen wollen, was passiert ist. Und sie werden mein Werk lesen.« Ben wusste, dass sie keine Geschichtsstudentin oder auch nur eine große Leserin war, als sie fragte: »Aber du wirst dann lange tot sein, Baby – also, wen kümmert’s? Na und?« Er küsste sie und teilte ihre schönen Beine, glitt zwischen sie. Er wusste, er würde sie vermissen, wenn sie sich trennen würden. »Ben?«, fragte sie, griff nach seinem Penis und führte die Spitze in sich ein. »Ja, Fran?« »Fick mich, Ben!«
Kurz außerhalb von Memphis, im Süden des Flughafens, fand Ben ein Haus, das frei von Leichen war und ein Stück von der Straße entfernt lag, inmitten einer großen Anzahl von Bäumen. Er und Fran richteten sich dort ein. Einmal sahen sie ein Auto langsam vorbeifahren und ein anderes Mal einen kleinen Lastwagen, aber er machte keine Anstalten, sie anzurufen, denn die Wagen waren voll von Männern mit hartem Blick, die schwer bewaffnet waren und nicht aussahen, als gehörten sie zum Typ der Kirchgänger. Wenn der Wind entsprechend stand, wehte der furchtbare Gestank von der Stadt herüber. Indem er den CB-Funk abhörte, erfuhr Ben, dass in Memphis einige Tausend Menschen am Leben waren, zumindest behauptete das eine Gruppe von ihnen, und es war diese Gruppe, die Ben interessierte. Es stellte sich heraus, dass diese Leute ein Gebiet von ungefähr zehn Häuserblöcken besetzt hatten und etwa einen Block am Tag in Ordnung brachten. Auch sandten sie
Kundschafter aus, die nach Überlebenden suchen sollten. Ihre Konversation über CB war sehr sachlich, und von allen Gruppen, die Ben abhörte, waren sie die einzigen, die keine Flüche verwendeten. Die Basisstation verwendete Kanal 25 und die Kennung Genesis. Ben entschied sich, es zu riskieren. An dem Morgen ihres dritten Tages in Memphis benutzte Ben das CB-Funkgerät in seinem Lastwagen, um sie zu kontaktieren. »Break-zwei-fünf an Genesis«, rief er. »Hier ist Genesis. Wer sind Sie?« »Ich bin freundlich gesonnen«, antwortete Ben. »Aber ich habe definitiv auch schon unfreundliche Typen gesehen.« Genesis kicherte. »Ja, es scheinen immer noch einige durch die Stadt zu streifen.« »Ich bin aus Louisiana und ich habe eine Frau bei mir. Ich muss sie an einem sicheren Ort lassen. Ich… komme vielleicht nicht zurück.« »Wir sind Christen, mein Freund. Sie wird bei uns sicher sein. Sie scheinen nicht allzu weit weg zu sein, aber zu uns zu gelangen, mag sich als gefährlich erweisen. Wir werfen die kriminellen Elemente und Plünderer zwar täglich hinaus, aber immer noch sind sie uns zahlenmäßig weit überlegen. Wir sind nur besser bewaffnet und haben einige Leute vom Militär bei uns. Auch der U. S.-Senator Hilton Logan ist hier. Dies ist eine Art Kommandoposten, könnte man sagen.« »Logan«, murmelte Ben, das Mikrofon ausgeschaltet. »Von allen Leuten, die verschont werden konnten, musste es ausgerechnet diesen Bastard treffen.« »Das ist ein Sakrileg, Ben«, meinte Fran. »Nein, das ist nur gesunder Menschenverstand, Fran.« Er nahm das Mikrofon wieder auf. »Ich fahre einen dunkelblauen, kleinen Lastwagen. Ich werde in Kürze bei ihnen sein.« »Wir werden Sie abholen und schützen. Viel Glück.«
Ben drehte sich zu Fran um. »Ich vermute, es sind gute Menschen, Fran. Abgesehen von der Tatsache, dass sie Hilton Logan aufgenommen haben. Du wirst dort sicher sein. Wenn ich glaube, dass du dort nicht sicher bist, werde ich dich nicht bei ihnen lassen.« Sie lächelte. »Hilton Logan wäre der nächste Präsident geworden«, sagte sie. »Er ist sein ganzes Leben lang Junggeselle gewesen. Vielleicht ist es Zeit, das zu ändern.« Ben lachte. Er glaube inzwischen zu wissen, dass Fran eine Überlebenskünstlerin war. »Sind Sie nicht furchtbar nervös zwischen all diesen großen Waffen überall?«, reizte Ben Logan. »Wie oft haben Sie sich in die Hosen gepinkelt, seit Sie hier sind, wenn Sie nur über all diese Waffen nachgedacht haben?« Die Männer standen allein da. Fran war sofort von den Frauen mit hineingenommen worden. »Daraus schließe ich, dass Sie mein Waffenkontrollgesetz nicht gutheißen, Mr. Raines.« »Ich glaube, dass meine ersten Worte, als ich davon hörte, ›dieser gottverdammte Hundesohn‹ waren. Natürlich meinte ich Sie damit, Logan.« Der Senator errötete. »Wie konnte eine attraktive, reizende Frau wie Mrs. Piper nur in eine Gesellschaft wie die Ihre geraten?« »Einfach Glück gehabt, schätze ich.« Ben lächelte ihn an. »Waren Sie kürzlich schwimmen, Senator?« Blut stieg dem Senator ins Gesicht. Logan war vor der Küste von Florida schwimmen gewesen, als er plötzlich zu schreien begonnen hatte, dass er von Haien angegriffen würde und einer ihn gerade ins Bein gebissen hatte. Nachdem er sich von seiner Ohnmacht erholt hatte und an Land gezogen worden war, wurde festgestellt, dass sich eine alte
Angelschnur um seinen Knöchel und Schenkel gewickelt hatte. Hilton Logan war nicht berühmt für seine Würde. »Sie sind verabscheuungswürdig, Raines!« Er spuckte die Worte aus. »Und Sie sind ein Feigling.« Ben ging davon, indem er dem Mann demonstrativ den Rücken zuwandte. Das war der Beginn des Hasses zwischen den beiden Männern. Er würde sich in den bevorstehenden Jahren noch steigern. Ben fuhr eine Stunde, nachdem er Fran abgeliefert hatte. Die Leute baten ihn zu bleiben, warnten ihn vor den schrecklichen Dingen, die sie gehört hatten, und erzählten ihm von den Gefahren. Aber Ben blieb bei seinem Vorhaben. »Ich bin Schriftsteller«, erzählte er einem Colonel der U. S. Army. »Vielleicht kein sehr guter, aber ich frage mich, wie viele von uns den… Holocaust überlebt haben. Was wäre, wenn ich der Einzige wäre, der noch übrig ist? Und bitte denken Sie nicht, dass ich anmaßend sei, weil ich das gesagt habe. Jemand muss dieses Land bereisen, alles, was passiert ist, aufzeichnen, und ich werde das tun.« Der Colonel schüttelte ihm die Hand. »Acht Städte sind Atombomben zum Opfer gefallen. Detroit, Washington, New York, Miami, Omaha, Houston, der gesamte westliche Teil von Missouri, Baltimore und San Francisco. Soweit der Bericht, den ich bisher habe. Ich vermute, es gibt noch viel mehr. Die Ostküste von New Jersey bis hin zur Grenze von Maine ist komplett weg, wurde mir erzählt. Die restlichen Städte haben bakteriologische Sprengköpfe abgekriegt.« Ben erzählte ihm von der Nachricht auf Band und auf welcher Frequenz sie zu finden war. Der Colonel schüttelte den Kopf. »Ich will verdammt sein. Ich wusste von dem falschen Spiel – und nun sieht es so aus, als
wurden gleich mehrere davon gespielt.« Er erzählte Ben alles, was er von den Ereignissen wusste, die zum Krieg geführt hatten, und klopfte ihm dann auf die Schulter. »Mr. Raines, ich wünsche Ihnen viel Glück.« »Sie sind es, der Glück braucht, Colonel«, meinte Ben. »Wenn sie planen, mit dem Bastard Logan hierzubleiben.« »Ich habe das vernommen… Es wird davon gesprochen, dass das Militär – das, was von uns übrig ist – ihn als amtierenden Präsidenten einsetzen will.« »Mein Gott!« »Genau meine Worte, als ich davon gehört habe. Sehen Sie, Mr. Raines…« Der Colonel sprach so leise, dass nur Ben ihn hören konnte. »Was machen Sie mit Ihren Rebellen?« »Meinen was?« Ben war sprachlos. »Ihren Rebellen, Sir. General Travee erzählte General MacPeters, dass Colonel Bull Dean seine Rebellencommander im letzten Moment zusammengerufen hat und Ihnen die Befehlsgewalt über sie gegeben hat. Ungefähr fünftausend von ihnen. Er sagte, er habe zu Travee gesagt, ›das sollte reichen, um den besoffenen Hurensohn nüchtern zu machen‹. Entschuldigung, Sir.« »Das ist mir neu, Colonel.« »Nun, es ist wahr, Sir. Die Rebellen sind wahrscheinlich besser davongekommen als irgendjemand sonst – sie wussten, was runterkommen würde, hatten vorher festgelegte Verstecke mit Essen, Wasser, Luft in Flaschen und Schutzausrüstung.« »Wo sind sie jetzt?« Der Colonel zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung, Sir.« Fran kam zu ihm und küsste ihn sanft und sehr damenhaft auf die Wange, während Hilton Logan im Hintergrund stand und Ben finster anblickte. Die bestaussehende Frau in der Gegend – soweit Ben das beurteilen konnte – wurde von Logan
angezogen wie ein Magnet. Der Senator war scheinbar ein Frauenheld. Wenn, dachte Ben, dann bei Frauen, die gefallen an Scheiße fanden. »Dank Ehnen veelmals, Mr. Raines.« Sie übergoss ihn nur so mit Zuckersirup, extra für Logan. Ben lächelte. »Ech habe Ehre Gesellschaft ebenfalls sehr genossen, Ma’am.« Er gab ihr ein großzügiges Maß an Zuckerrohrsirup zurück. »Sie waren mir ein Licht in der Wildnis.« Sie lehnte sich näher zu ihm. Während ihr Körper die Bewegung ihrer rechten Hand verbarg, drückte sie sanft Bens Schritt. »Trag nicht zu dick auf, du verdammter Yankee – er denkt noch, wir seien beide verrückt!«
SECHS
Also war Ben nun allein. Er fühlte ihre Abwesenheit mehr, als er je gedacht hätte, obwohl er wusste, dass sie sich schließlich mit ihren widersprüchlichen Persönlichkeiten verschlungen hätten. Aber er vermisste sie trotzdem. Standfeste Muschi; er lächelte beim Fahren. Aber er wusste, dass es mehr war als das. Er kam ohne Zwischenfall durch Memphis und fuhr auf der Interstate Richtung Norden, Cairo zu. Die Nacht verbrachte er in New Madrid, Missouri, einer kleinen Stadt an der Ferse des Stiefels. Und als die Nacht ihre Decke der Dunkelheit über ihn ausbreitete, vermisste er Fran am meisten. Am nächsten Morgen fuhr Ben ein paar Meilen nördlich von New Madrid in Sikeston, Missouri, zu einem Einkaufszentrum, wo er einen guten Recorder und einige Kassetten von bester Qualität fand. Er nahm auch eine kleine, tragbare Schreibmaschine mit. Als er ein leises Geräusch hörte, drehte Ben sich um und sah einen kleinen Jungen, nicht älter als neun oder zehn, aus dem Geschäft stürmen. Er rief ihn an, aber der Junge weigerte sich stehenzubleiben. Ben überlegte, ob er ihm nachrennen solle, entschied sich dann aber dagegen. Hier gab es Hunderte, Tausende von Orten, an denen man sich verstecken konnte. Er hoffte nur, dass der Junge nicht auf sich allein gestellt war, denn die Straßen von Sikeston waren übersät mit Toten, die steif waren und stanken. Er fuhr in der Stadt herum und sah noch einige lebende Menschen, aber niemand von ihnen reagierte auf seinen Ruf. Schließlich gab er es auf und fuhr auf die Interstate zurück, wo er sich in Richtung Norden wandte.
Während er fuhr, experimentierte er mit dem Recorder herum und zeichnete die erste von schließlich Tausenden von mündlichen Beobachtungen und Kommentaren auf. Er dachte darüber nach, was der Colonel zu ihm gesagt hatte, und schüttelte ungläubig den Kopf. »Kommandant einer Armee von Rebellen!« Er lachte. »Scheiße!« Und während er weiterfuhr, merkte er, wie die Erinnerung an Fran bereits schwächer wurde, während die Aufregung angesichts dessen, was vor ihm lag, intensiver wurde, sich in seinem Kopf ausbreitete und ihm mental die Folgen und historischen Aspekte seiner Ein-Mann-Odyssee enthüllte. »Vielleicht bin ich in hundert Jahren berühmt.« Ben grinste, während er diese Worte laut aussprach. Er würde tatsächlich berühmt werden, aber für etwas anderes als sein Schreiben. Als er den Fluss nach Cairo überquerte, wurde Ben langsamer und wachsamer. Er suchte die Kanäle seines CB-Funks nach weiteren Geschwätz ab. Eine Stimme tauchte plötzlich auf. »Lastwagen kommt über die Brücke.« Ben schaltete den Recorder ein, die Lautstärke ganz hoch eingestellt, um alle Worte mitzubekommen. »Wie viele?«, fragte eine andere Stimme. »Nur der eine Kerl.« »Keine Muschi bei ihm?« »Nee.« »‘dammt! Ich glaub nich’, dass in dieser Stadt eine einzige gottverdammte Möse übrig is’. Wie alt is’ dieser Kerl? Wenn er jung und niedlich is’, können wir uns abwechseln und ihn rannehmen.« »Keine Ahnung. Seh ihn nich’ mehr. Fährt ab auf die 51.« »Wir folgen ihm, ‘n Stückchen später. Hörste, Ralphie?« »Yeah«, antwortete Ralphie.
»Du und Tarver, nehmt den Lastwagen und versperrt diese Seite der 51, drüben an dem alten Bierladen, wo wir immer rumgehangen haben – weißte?« »Klar, machen wir. Wenn er zu hässlich zum Vögeln ist, können wir auch so ‘n bisschen Spaß mit ihm haben, bevor wir ihn killen.« Bens Lächeln war böse und verwandelte sich in ein Zähnefletschen. »Tut mir leid, euch den Spaß zu verderben, Jungs«, murmelte er. »Aber ich werde sehen, ob ich die Welt nicht von etwas Abschaum befreien kann.« Wie kommt es eigentlich, dachte er, dass der Abschaum immer jede Tragödie zu überleben scheint? Er tat die uralte Frage mit einem Achselzucken ab und lächelte grimmig. Was dieser Auswurf nicht wusste, war, dass Ben Cairo wahrscheinlich besser kannte als sie. Er hatte seinen ersten Sex – mit einer Hure – in Cairo gehabt, damals, als noch Stripperinnen in verschiedenen Clubs mit den Hüften gewackelt hatten. Ben fuhr eine Seitenstraße hinunter, sprang aus dem Lastwagen und ging zum Heck des Wagens. Schnell baute er die Panzerbüchse zusammen. Es war eine zum einmaligen Gebrauch bestimmte Waffe. Ben hatte nie verstanden, warum die Army die Bazooka durch sie ersetzt hatte, denn die Bazooka konnte immer wieder verwendet werden. Aber er erinnerte sich nicht, dass die Army je nach seiner Meinung gefragt hätte. Er machte die Panzerbüchse fertig und legte sie unten in den Lastwagen; dann entsicherte er die Thompson. Bald hörte er das Geräusch eines sich nähernden Autos und lächelte, als er das Fahrzeug sah: einen neuen Cadillac. Da wusste er, mit wem er es zu tun hatte: ›Weißer Abfall‹ nannten die Leute aus dem Süden solche Menschen, und damit lagen sie genau richtig.
Er hörte noch einmal den CB-Funk ab, um sicher zu sein, dass er die richtigen Männer abknallen würde. Der Lautsprecher rasselte, als die Lautstärke mit dem Näherkommen des Caddy anwuchs. Ben wartete noch einen Moment, dann kam er aus der schmalen Gasse hervor und gab den Männern eine volle Dosis 45er-Kaliber-Medizin. Dreißig Schüsse. Der Cadillac drehte sich, die Windschutzscheibe ein einziges Gewirr von Spinnennetzen aus gesplittertem Glas. Der Wagen rollte den Bordstein entlang, krachte in eine Ladenfront und der Motor erstarb. Eine Dampfwolke stieg aus dem geborstenen Kühler. Ben blickte ins Innere, um nachzusehen, ob er die beiden erwischt hatte – sie waren tot – und ging langsam zu seinem Lastwagen zurück, wo er einen neuen Ladestreifen einlegte. Er spürte nichts, als er auf die Straße hinausfuhr. Er fühlte sich nicht als Racheengel, hatte nicht das Gefühl, dass er, er allein, dazu berufen sei, das Land von Ungeziefer zu befreien. Er fühlte nicht einmal besonders viel Genugtuung. Sollte jemand Genugtuung fühlen, wenn er auf eine Kakerlake getreten ist? Aber er hatte das Gefühl, dass sich diese Szene aller Wahrscheinlichkeit nach auf seiner Reise noch viele Male wiederholen würde – wenn er überlebte. Ben fuhr aus der Stadt hinaus und in Richtung Norden auf der 51. Er hielt an, bevor er eine Straßenbiegung erreichte, und schlich hinter ein Haus, die leichte Panzerbüchse im Arm. Er hatte sich für die Panzerbüchse entschieden und nicht für den Granatwerfer, da er sie für genauer hielt. Er hatte fünf dieser Waffen aus der Waffenkammer geholt – alle, die vorhanden gewesen waren. Er blickte um die Ecke des Hauses. Der Lastwagen, in dessen Fahrerhaus zwei Männer saßen, parkte etwa fünfundsiebzig Meter entfernt. Er klappte die Panzerbüchse auf ihre volle Länge auf, ließ das vordere und das rückwärtige Visier
hochschnappen und lud die Waffe. Dann ließ er sich auf das eine Knie fallen und spähte in den Lastwagen. Er nahm verschiedene Anpassungen vor, bevor er zufrieden gestellt war, und feuerte das 66-mm-Geschoss ab. Es war tödlich genau. Nach der lärmenden Erschütterung, als der heiße Regen von Glas und Metall aufgehört hatte, war die Gegend ruhig. Ben warf die Panzerbüchse beiseite und ging zurück zu seinem Lastwagen. Plötzlich spürte er, dass Blicke auf ihn gerichtet waren. Er drehte sich um, die Pistole in der Hand. Einige ältere Männer und Frauen standen am Straßenrand. Einer der Männer hielt eine Hand hoch, in einer Geste der Ergebenheit. »Friede, mein Freund«, sagte er. »Wir wollen dir nichts Böses. Du hast diese Stadt von Dreck befreit, und wir danken dir dafür. Wir haben diese Heiden über unsere CB-Funkgeräte gehört.« Die Männer trugen dunkle Kleidung und Hüte mit flacher Krempe, die Frauen lange, dunkle Kleider und Hauben. »Warum habt ihr Männer euch nicht selbst bewaffnet und es getan?«, fragte Ben. »Warum warten und jemand anders sein Leben riskieren lassen?« »Unsere Religion verbietet es, menschliches Leben zu nehmen«, antwortete der ältere Mann. »Dann seid ihr Dummköpfe!« meinte Ben. Er hatte keine Geduld mit einem Volk, das sich oder sein Land nicht verteidigte. »Der Herr hat dich geschickt«, sagte der Mann, der keinen Anstoß an Bens heftiger Äußerung nahm. »Dieses Mal«, konterte Ben. »Das nächste Mal könnte ganz anders ausgehen.« Der Mann zuckte mit den Schultern. »Der Herr wird für uns sorgen.«
»Wundervoll«, sagte Ben voller Sarkasmus. Er öffnete die Tür zu seinem Lastwagen. »Ich muss gehen, um meine Schwester und ihre Familie zu finden.« Der Kassettenrecorder lief und nahm alles auf. »Ich möchte, dass sie ein christliches Begräbnis bekommen, wenn möglich.« »Wir tun das«, sagte der Wortführer. »Straße für Straße. Aus gesundheitlichen Gründen ebenso wie aus Anstand. Wo hat deine Schwester gelebt?« Ben sagte es ihm. Der Mann schlug in einem Notizbuch nach. »Wir haben uns darum gekümmert.« »Danke.« »Wir sind es, die dir etwas schulden, Bruder.« »Weißt du, was passiert ist?«, fragte Ben. »Irgendeine Idee, wer all dies verursacht hat?« Der Mann zuckte erneut mit den Schultern. »Der Wille des Herrn.« »Yeah«, sagte Ben trocken. »Genau. Die Antwort ist so gut wie jede andere, glaube ich.« Der Mann lächelte. Ben stieg in seinen Lastwagen und fuhr los, die 51 hoch, in Richtung der Verbindungsstraße zum Highway 37. Die dunkel gekleideten Leute waren deutlich im Rückspiegel zu erkennen und verblassten schnell. Sie sahen so verletzlich aus, wie sie so dastanden. Aber, dachte Ben, sie hatten überlebt.
An einem Farmhaus ein paar Meilen südlich von Marion fuhr Ben die Auffahrt hoch. Eine lange Zeit sah er den Ort seiner Geburt, seiner Jugend und seines Erwachsenwerdens an – die guten Jahre, einschließlich der Abreibungen, die er erhalten und mehr als verdient hatte, jede einzelne davon. Er wollte wirklich
nicht das Innere des alten Hauses betreten. Aber er wusste, er musste es tun. Widerstrebend fuhr er zum Haus hoch und stieg aus. Er blieb für eine Weile stehen und blickte sich um. Alle Erinnerungen kamen zurück, trübten sein Gemüt und füllten seine Augen mit Tränen. Er betrachtete das Land, das zu bewirtschaften er seinem Vater geholfen hatte. Die Tränen zurückdrängend, stieg er die Stufen hinauf und öffnete die Vordertür. Seine Eltern saßen auf dem Sofa. Eine offene Bibel lag auf dem Kaffeetisch vor ihnen. Bens Dad hatte seinen Arm so viele Jahre lang um seine Frau gelegt und tröstete sie jetzt sogar im Tod. Sie waren bereits einige Zeit tot und boten keinen schönen Anblick. Ben ging durch das Haus, berührte ein Foto der Familie, das vor Jahren aufgenommen worden war, als das Leben noch einfacher war. Jäh drehte er sich um und verließ das Haus, seine Eltern so zurücklassend, wie er sie gefunden hatte. Sorgfältig schloss er die Vordertür ab und blieb eine Weile stehen, indem er durch das Fenster seine Eltern ansah. Durch das staubige Fenster schien es, als säßen sie auf dem Sofa und würden irgendeinen Punkt in der Bibel diskutieren. Ben hätte sich gewünscht, dass es so war. Er verließ die Veranda, stieg in seinen Lastwagen und fuhr weg. Er blickte nicht zurück. Die Nacht verbrachte er am Rande von Mt. Vernon und kämpfte gegen die große Traurigkeit an. Dann aber, kurz bevor ihn der Schlaf umfing, fühlte er, wie sich ein starker neuer Vorsatz in ihm aufbaute. Was er tat, seine Reise, war richtig und angemessen; es musste getan werden. Ben wollte herausfinden, warum er verschont geblieben war, während so viele andere gestorben waren.
Hatten die Wespenstiche damit etwas zu tun? Warum hatten die tödlichen Gase, die über das Land gezogen waren, einige getötet und andere nicht? Und er hatte das Recht, die zu töten, die Jagd auf andere machten: auf die Schwachen, die nicht in der Lage waren, sich selbst zu verteidigen. Ben überkam das Gefühl, dass er nicht allein war mit seinem Ein-Mann-Kampf für die Gerechtigkeit, sondern dass es andere wie ihn gab, überall im Land – auf der Welt. Auch sie empfanden Empörung, wenn sie Zeuge wurden, wie der Abschaum, der durch das Land reiste, vergewaltigte, tötete und quälte, wie es ihm gerade passte. Vielleicht hatten viele, die diese Empörung empfanden, keine automatischen Waffen, oder was sonst noch an moderner Technologie zur Verfügung stand; vielleicht benutzten sie Keulen und Steinäxte, aber dennoch waren sie mit ihm verbunden. Er bewegte sich auf dem Bett und schüttelte seine sich ziellos schlängelnden philosophischen Gedanken ab. Schließlich schlief er ein und träumte von seinen Eltern und von einer Armee von Rebellen ohne Kommandanten, ohne Befehlshaber, ohne Richtung. Er wachte müde auf.
Das Haus seines Bruders in Mt. Vernon war bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Er hatte keine Ahnung, wo er sonst nachsehen sollte, also fuhr er weg, mit dem CB-Funkgerät eingeschaltet. Es gab Menschen in der Stadt, aber sie rannten fort, als Ben sich ihnen näherte. Er bog Richtung Nordwesten ab, bis er auf den Highway 127 traf und darauf blieb. Er passierte ein halbes Dutzend kleiner Städtchen und hielt in jeder, um sich umzusehen und Aufzeichnungen zu machen. Überall gab es Überlebende, aber sie schienen in einer Art Schock zu sein und nicht zu wissen, was sie tun sollten. Es kam Ben so vor, als ob sie auf jemanden
warteten, der ihnen sagte, was sie tun sollten. Der Geruch von verrottendem menschlichem Fleisch war fast überwältigend. »Warum räumen Sie diese Leichen nicht weg?«, fragte Ben sie. »Was wollen Sie tun, sie einfach dort liegen und verrotten lassen?« »Was geht Sie das an?«, wurde er gefragt. Ben zuckte mit den Schultern und fuhr davon. »Zur Hölle mit euch«, murmelte er. Er sah schätzungsweise hundert lebende Menschen in Springfield, aber sie waren nicht aufnahmefähig für Bens Fragen. Die meisten rannten davon, wenn er sich ihnen näherte. Er fand eine Gruppe, die nicht ganz so orientierungslos zu sein schien. Sie waren nicht gerade übermäßig freundlich, aber auch nicht offen feindselig. Neun Weiße und drei Schwarze; zwei Frauen, zehn Männer. Er stellte ihnen ein paar Fragen, aber die Antworten, die er erhielt, waren einsilbig. »Was werdet ihr tun?«, fragte er eine der Frauen. Sie schien die Anführerin der Gruppe zu sein. Sie sah ihn an und verschwand dann, ohne zu antworten. Ende des Interviews. Ben hatte das starke Gefühl, dass sie alle nur wünschten, er möge verschwinden.
Ben begrub seinen zweiten Bruder und dessen Familie in einem flachen Gemeinschaftsgrab. Nachdem er den ganzen Nachmittag gearbeitet hatte, wurde ihm schließlich klar, wie sinnlos das alles war. Millionen, Milliarden von Leuten waren tot, überall auf der Welt, ohne Würde gestorben. (Gibt es beim Sterben überhaupt jemals Würde?) Warum sollte es seiner Familie anders ergehen? Was, zur Hölle, war der Sinn und Zweck all dessen?
Ben warf die Schaufel ins Gras und ging fort, als die kühlen Herbstwinde über den Garten strichen. Und das berührte ein anderes Thema: Er wollte nicht im Norden vom Winter überrascht werden. Der Winter war rau in Illinois, sogar unter den besten Bedingungen. Nein, er würde nach Normal weiterfahren und nach seiner Schwester suchen, dann in die Vorstadt von Chicago und nach seinem Bruder suchen, und dann würde er sich in den tiefen Süden begeben oder die Wüsten des Westens. Nein – er schüttelte den Kopf – machen wirs anders. Wenn wir den ganzen Weg hinter uns bringen wollen: So weit wie möglich rüber in den Süden, dann die Südküste runter, ganz bis Florida. Dann geht es langsam zurück während der letzten Winterwochen, und dann Richtung Westen. Machen wir es richtig oder überhaupt nicht. Er fand seine Schwester – oder was von ihr übrig war – im Garten hinter ihrem Haus in Normal. Hunde oder andere Tiere hatten an ihr gefressen. Er konnte sie trotz seiner Gefühle, dass es alles sinnlos sei, nicht so liegen lassen. Er scharrte im Garten ein enges Grab aus und zog seine Schwester dann hinein, wobei er einen Würgereiz verspürte. Das Loch bedeckte er mit Erde, Steinen und Betonklötzen. Ihren Mann ließ er im Haus. Im Bett. Dieser Hurensohn hatte wahrscheinlich ein Nickerchen gemacht, während seine Frau den Rasen mähte. Ben hätte ihn noch nicht einmal dann begraben, wenn er ihn draußen gefunden hätte. Ihr Mann war an einer örtlichen Institution College-Professor (gewesen) – ein politisch links orientierter Typ, der völlig begeistert von Leuten wie Hilton Logan war, der jedesmal weinte, wenn ein Massenmörder in die Gaskammer oder auf den Grillstuhl kam.
Ben verachtete ihn, und dieses Gefühl hatte auf Gegenseitigkeit beruht. Ben fuhr weiter in die Vorstadt von Chicago. Er passte sehr genau auf das Geschwätz auf, das der CB-Funk – auf fast jeder Frequenz – aufschnappte, wobei alle seine Sinne arbeiteten. Ein großer Teil davon war unfreundlich. Der Hass, den Ben zwischen den Rassen gespürt hatte, war nach der Katastrophe an die Oberfläche gestiegen. Er hörte eine Menge über ›Motherfuckers‹ und die ›Scheißweißen‹ über CB und vieles, was Ben ›Jargongequatsche‹ nannte. Auch hörte er oft etwas über ›Negerbastarde‹, ›Nigger‹ und drogensüchtige Schweine^ Der Hass brach aus. Ben hatte nicht vor, nach Chicago hineinzufahren. Hinter dieser Entscheidung stand weniger Furcht, sondern vielmehr eine Menge gesunder Menschenverstand. Ben war kein Rassist, aber er glaubte nicht an Programme, die bloß Geld verschwendeten, ohne soziale Missstände zu lösen. Er war ein Befürworter der Maßnahme, Menschen zum Arbeiten zu zwingen, aber nur als letzte Möglichkeit. Er hatte es immer so empfunden, dass harte Arbeit, einige Anpassung und ein paar Zugeständnisse von beiden Seiten der Rassenschranke nötig waren. Natürlich, dachte er, ist das alles jetzt müßig. Er regelte die Lautstärke seines Recorders, um all den Hass, der dem Lautsprecher seines CB-Funkgerätes entsprang, aufzunehmen. Er schloss, dass sich ein Rassenkrieg zwischen den Schwarzen in der City und den Weißen in den Vorstädten anbahnte. Und er vermutete durch all das Geschnatter, das er hörte, dass fünfzehn- oder zwanzigtausend Leute in und um die Stadt herum am Leben waren. Also würde es einen furchtbaren Kampf geben.
Was für eine Dummheit, dachte Ben. Wir sollten alle zusammenarbeiten, um eine wundervolle neue Welt aus der Asche, all diesem Elend, aufzubauen. Wir sollten Hass und Misstrauen hinter uns lassen, aber stattdessen fangen wir wieder an; nichts hat sich geändert. Dummköpfe! »Zur Hölle mit euch allen!« murmelte Ben. »Los, macht weiter, tötet euch gegenseitig. Aber ihr werdet es im Dezember alle bereuen, in der Stadt geblieben zu sein, wenn Kälte und Schnee zuschlagen.« Es gab keinen Ärger, bis er die Stadt erreichte, wo sein Bruder lebte. Die Straßen waren abgesperrt, und bewaffnete weiße Männer patrouillierten durch die Gegend. Ben musste bei diesem Anblick lächeln. Es war ein trauriges Lächeln. Zurück in dem Dschungel, dachte er. »Ich versuche meinen Bruder zu finden, zu sehen, ob er noch lebt«, sagte Ben zu einer Gruppe von Männern. »Er heißt Carl Raines.« »Ich kenne ihn. Er lebt noch. Was wollen Sie von ihm?« »Verdammt noch mal!« Ben schrie die Worte fast. »Er ist mein Bruder. Was, zum Teufel, glauben Sie denn, dass ich von ihm will?« »Ganz ruhig, Mister«, sagte der Mann in gedämpfterem Ton und mit einem schwachen Lächeln. »Klar, Sie können ihn sehen, aber wenn Sie einmal drin sind, können Sie nicht mehr raus.« »Was? « »Wir brauchen jedes Gewehr und jeden weißen Mann, den wir in diesem Kampf kriegen können. Wir werden diese verdammten Nigger ein für allemal auslöschen. Dann können wir eine anständige Gesellschaft aufbauen.« Ich kann nicht glauben, dass ich das wirklich höre, dachte Ben. Er starrte den Mann an.
»Lass ihn rein, seinen Bruder sehen.« Die Stimme erklang hinter Ben. Ben drehte sich um und sah einem älteren, ordentlich gekleideten Mann ins Gesicht. Er war in den späten Fünfzigern oder frühen Sechzigern, schätzte er. »Ich danke Ihnen, Mister«, sagte Ben. »Wir sind hier alle etwas angespannt, fürchte ich. Wir sind in der Minderheit, verstehen Sie. Ich werde hier auf Sie warten und dafür Sorge tragen, dass Sie wieder herauskommen. Wir haben kein Recht, Sie hierzubehalten. Dies ist nicht Ihr Kampf.« Ben nickte zum Dank. Auf dem Weg zum Haus seines Bruders durchquerte er etwas, das wie ein bewaffnetes Militärlager aussah. Sein Bruder wartete im Vorgarten auf ihn, ein tragbares Funksprechgerät am Gürtel. Er war bei Bens Ankunft alarmiert worden. Es war acht Jahre her, dass sie sich gesehen hatten. Als sie sich die Hände geschüttelt hatten, gab es einen Moment des verlegenen Schweigens. Ben eröffnete das Gespräch. »Nun, hol Mary und die Kinder, Carl… lass uns hier so schnell wie möglich verschwinden.« Sein Bruder schüttelte den Kopf. »Nein. Mary lebt noch – gottseidank. Alice, die Älteste, wie du weißt… sie ist okay. Der Rest ist tot oder nahe dran, so weit wir das sagen können. Es ist nicht sicher, in die Stadt zu gehen. Ich kann nicht nach ihnen suchen. Ich hoffe, sie sind tot. Das wäre jedenfalls besser, als von den Negern vergewaltigt zu werden.« »Es tut mir leid, Carl. Ich habe unsere Geschwister gesehen, Mom und Dad. Alle tot.« Der ältere Mann nickte. »Hab ich mir gedacht. Eine Menge anderer sitzen im selben Boot. Schlimme Sache. Nein, ich gehe nicht, Ben. Ich bleibe hier und schütze mein Heim vor
Plünderern. Die Nigger machen die Stadt kaputt, vergewaltigen und töten.« »Dein Heim schützen! Zum Teufel, Carl, es muss eine Million Häuser in diesem Land geben, die leer stehen. Such dir eins aus – du kannst im Haus des Gouverneurs leben, wenn du willst.« »Da gibts Nigger, die gebratene Hähnchen essen und sich ihre dicken Lippen lecken. Die lassen im Büro des Gouverneurs die Sau raus.« Ben starrte ihn einen Moment lang an und schüttelte dann den Kopf. »Was hat dich so verändert, Carl? So hast du nie gefühlt. Wir kommen aus einer konservativen Familie, ja, aber du wurdest nicht zu einem Rassisten erzogen.« Der Blick seines Bruders war knapp davor, unfreundlich zu sein. »Bist du jetzt zu einem Niggerfreund geworden, Ben? Liegt das an all den Worten, die du geschrieben hast?« »Darauf gebe ich noch nicht einmal eine Antwort, Carl.« Sein Bruder weigerte sich, das Thema fallen zu lassen. »Du warst doch früher kein Niggerfreund, Ben.« »Carl, ich glaube, dass einige der Dinge, die mit dieser Nation nicht stimmen – das heißt, die früher nicht stimmten, als wir noch eine Nation hatten – den Schwarzen angelastet werden konnten, und wahrscheinlich auch sollten; sie werden von Historikern wahrscheinlich auch den Schwarzen angelastet werden. Von mir, zum Beispiel. Die Gebt-mir-, Gebt-mir-mehr-Programme. Aber du kannst doch wohl nicht allen Ernstes die schwarze Rasse verantwortlich machen für diesen« – er winkte mit der rechten Hand – »Horror.« »Das sag ich ja auch gar nich’, Ben. Ich sage nur, dass es jetzt die richtige Zeit is’, die entweder loszuwerden oder auf ihren Platz zu verweisen.« »Eine ganze Rasse loswerden! Carl, das ist Völkermord. Das kann nicht dein Ernst sein. Ihr Platz? Wo, zum Teufel, soll denn das sein?«
»Verdammt sicher nicht neben mir, Bruder. Ben, ich werde nicht hier stehen bleiben und mit dir die Rassenfrage diskutieren. Du warst schon immer zu gut mit Worten, ich bin nur ein Arbeiter. Außerdem, was wir hier tun… also, es ist das Prinzip davon.« »Das Prinzip davon…!« Die Worte rollten Ben aus dem Mund. Er lachte seinem Bruder ins Gesicht. »Was ist mit den schwarzen Kindern, Carl – wirst du sie auch töten?« Sein Bruder zuckte mit den Schultern. »Kleine Nigger werden zu großen Niggern, Ben. Denen wird allen von Geburt an beigebracht zu lügen, zu stehlen und weißen Frauen hinterherzuhecheln.« Ben war schockiert. Sein Gesicht war verkniffen vor Ärger. »Carl… du kannst das nicht so meinen. Also, ich gebe zu, ich habe nicht viele schwarze Freunde.« Er schnitt eine Grimasse. »Aber du kannst doch wohl nicht daran glauben, dass alle schwarzen Menschen so sind, wie du sie beschreibst.« Er sah seinen Bruder an. »Carl«, fragte er langsam, »gibt es Juden hier in dieser… Gruppe?« Sein Bruder schüttelte den Kopf. »Nein. Die sind bloß ein Verein von Niggerfreunden. Genau wie die gottverdammte ACLU. Zum Teufel, die Juden und die Nigger unterstützen die. Du bist derjenige, der sich verändert hat, Ben – nich’ ich. Also ist es wahrscheinlich besser, wenn du deinen Arsch hier rausträgst. Du passt hier nicht rein.« »Da hast du allerdings Recht, Carl. Wenigstens darüber sind wir uns einig. Carl? Wie willst du diesen Winter überleben? Es gibt keinen Strom. Hast du einen Kamin? Und was ist mit Nahrung?« »Wir werden zurecht kommen. Wir haben Unmengen an Heizöl auf Lager. Die Nahrung kriegen wir aus Warenhäusern.« Ben lächelte. »Durch Plündern, Carl? Ist das nicht das, was die Schwarzen in der Stadt machen?«
»Warum schaffst du nicht deinen judenfreundlichen, niggerfreundlichen Arsch hier raus?«, schnappte eine Stimme hinter ihm. Ben drehte sich um. Seine Augen weiteten sich ungläubig. Der kleine, drahtig aussehende Mann war in eine Nazi-SA-Uniform gekleidet. Er hatte ein Hakenkreuz auf dem Ärmel. Ben blickte sich um. Eine Menschenmenge hatte sich versammelt. Die Gesichter der Leute waren feindselig. Dies war das gediegene Mittelklasse-Amerika, das ihn anstarrte. Ben wandte sich zu seinem Bruder. »Ah… nein, Carl – nicht das. Du bist ein Kriegsveteran. Du hast gegen das gekämpft, was dieser« – er wies mit der Hand auf den Nazi – »Scheißkerl repräsentiert.« »Vielleicht, kleiner Bruder«, sagte Carl, »hatten wir damals, ‘44, Unrecht. George hier hat mich überzeugt, dass wir hätten abwarten sollen, bis Hitler die Juden völlig auslöscht hätte. Dann hätten wir uns mit ihm verbünden und nach Afrika gehen sollen, wo wir mit den Dschungelaffen aufgeräumt hätten. Ich bin froh, dass ich zu jung für den Zweiten Weltkrieg war, Ben. Ich denke, ich hätte mich geschämt zuzugeben, dass ich ein Teil davon war. Juden und Nigger – Ben, sie sind alle gleich. Und wir werden jetzt tun, was wir schon vor langer Zeit hätten tun sollen.« Ben stand ein paar Sekunden lang einfach nur da und sah seinen Bruder an. »Ich kenne dich nicht mehr, Carl.« »Verschwinde, Ben. Jetzt sofort. Bevor ein paar meiner Freunde sich berufen fühlen, deinen negerfreundlichen Arsch zu verprügeln.« »Ich gehe mit Freuden, Carl. Ich bin bloß froh, dass Mamma und Dad dies nicht sehen müssen.« Die Brüder gaben sich nicht die Hand. Ben ging an ihm und dem Naziverehrer vorbei, während er den starken Drang
bekämpfen musste, den SA-Mann aus seinen Stiefeln zu schlagen.
SIEBEN
Ben fuhr schnell, während der Ärger an ihm fraß. Er konnte einfach nicht glauben, dass sein Bruder sich so verändert hatte, und er fragte sich, wie viele Männer und Frauen dieser George kommandierte. Zu viele, das war sicher. Einer wäre schon zuviel gewesen. Ben fuhr zuerst nach Süden, aus der Vorstadt heraus, und wandte sich dann Richtung Osten, wo er hinüber nach Indiana fuhr. Kurz bevor es dunkel wurde, machte er Halt bei einem Motel in der Nähe der Interstate 65. Mit der Thompson in der Hand durchstreifte er das Motel. Wie er feststellen konnte, waren die Räume in einem Flügel besetzt gewesen und enthielten nun stinkende, steif werdende Tote. Aber der gesamte Ostflügel war sauber und ohne Leichen. Ben suchte sich einen Raum aus, suchte nach der Wäschekammer und holte sich Betttücher, Kissenbezüge und Decken. Als er zu seinem Zimmer zurückging, sah er die dunklen Gestalten, die im Parkbereich standen. Es waren ungefähr ein halbes Dutzend schwarzer Männer und Frauen. Nein, er sah genauer hin, eine der Frauen war weiß – glaubte er zumindest. Ben machte keine Bewegung, um die Maschinenpistole hochzuheben, aber das Klicken beim Entsichern war in der Stille sehr gut hörbar. »Sie lassen Ihre Freunde in der Vorstadt allein?«, fragte ein großer schwarzer Mann. Ben konnte keine Feindseligkeit in seiner Stimme entdecken. »Ich könnte Sie das Gleiche fragen«, meinte Ben.
Der Mann lachte. »Ein guter Punkt… es scheint, dass wir beide dieses Motel ausgewählt haben, um hier die Nacht zu verbringen. Aber wir waren zuerst hier – eine ganze Weile vorher. Wir haben Sie beobachtet. Also: Wer von uns verschwindet?« »Niemand«, sagte Ben. »Wenn Sie mir nicht trauen, schließen Sie Ihre Türen ab.« Der Mann lachte wieder. »Mein Name ist Cecil Jeffreys.« »Ben Raines.« »Ben Raines? Wo habe ich diesen Namen schon gehört? Der Schriftsteller?« »Ah… der Preis des Ruhms…« Ben lächelte. »Ja. Entschuldigung, ich wollte nicht respektlos sein.« »Ich habe es auch nicht so verstanden. Wir sind im selben Flügel, nur über Ihnen. Meine Frau macht gerade Abendessen, in der Motelküche. Möchten Sie uns Gesellschaft leisten?« »Ja, sehr gern sogar. Ich habe mein eigenes Kochen satt.« »Nun, in dem Fall… wenn Sie die Thompson runternehmen, werde ich Ihnen mit Ihrer Bettwäsche helfen.« Ben zögerte nicht, denn er empfand die Bitte und das Angebot als Test. Er sicherte die MP und hängte sie um, dann gab er dem Mann seine Kissen. »Kennen Sie sich mit der Thompson aus?« »O ja. Ich habe eine in Vietnam getragen. Green Beret. Und Sie?« »Hell-Hound.« »Ah! Die wirklich schlimmen Jungs. Colonel Deans Haufen. Ihr Kumpels war Kopfjäger.« »Wir haben ein paar Ohren mitgenommen.« Sie gingen Schulter an Schulter den Gehweg entlang, Cecils Freunde liefen hinterher. Ben widerstand einem starken Impuls, sich umzublicken. Cecil lächelte. »Wenn Sie sich dann besser fühlen, sehen Sie sich einfach um.«
»Können Sie Gedanken lesen?«, lachte Ben. »Nein, ich kenne nur die Weißen, das ist alles.« »Wie Sie uns sehen«, konterte Ben. »Guter Punkt. Wir werden viel Spaß beim Diskutieren haben, ich sehe das schon.« Sie kamen zu Bens Zimmer. »Wir sehen uns im Esszimmer, Ben Raines. Aber ich muss Sie warnen…« Ben wurde starr. Er war eingekesselt, und es gab keine Möglichkeit, eine Bewegung zu machen. »… das Wasser ist eiskalt. Beeilen Sie sich mit dem Baden.«
Wie viele, wenn nicht die meisten Weißen hatte Ben nie gesellschaftlich mit Schwarzen verkehrt, niemals mit einem schwarzen Menschen an einem Tisch gesessen, um Abendbrot zu essen – außer in seiner Zeit beim Militär, und es waren nicht viele Schwarze in seiner Einheit gewesen. In Wahrheit kannte Ben Schwarze nicht wirklich und er traute ihnen nicht. Warum er ihnen nicht traute, wusste er nicht. Er war einfach so. Ben verachtete den Ku-Klux-Klan, die Nazi-Partei – Gruppen wie diese – und er würde nie, niemals einen schwarzen Menschen verletzen, wenn dieser Mensch nicht versuchte, ihn zu verletzen; aber, das musste er zugeben, während er – sehr rasch – ein Bad im kalten Wasser nahm… Ich glaube, ich mag Schwarze einfach nicht. Aber warum?, fragte er sich selbst. Hast du je versucht, einen schwarzen Menschen kennen zu lernen oder zu mögen? Nein, schloss er. Nun, du bist gerade dabei, genau das zu tun.
Er ging durch einen ganz leichten Nebel zum Esszimmer. Der Geruch des Todes hing in der klammen Luft, aber das war ein Geruch, den Ben kaum noch wahrnahm. »Mr. Raines«, grüßte ihn Cecil im von Kerzenlicht erhellten Essbereich. »Wie wäre es mit einem Martini? Natürlich haben wir kein Eis, aber ich mache einen raffinierten Martini.« »Das wäre toll.« Ein Martini-trinkender Schwarzer? Er hatte gedacht, die meisten Schwarzen tränken Ripple und Thunderbird. Schluss damit, Raines! Du denkst wie ein ignoranter Frömmler. Er setzte sich an den Tisch. Der Moment der Wahrheit. Er lächelte insgeheim. »Gibt es was Lustiges, Mr. Raines?«, fragte ein schlanker Mann, der rechts von ihm saß. »Nicht unbedingt. Alles ist ziemlich traurig.« »Haben Sie jemals mit Farbigen zusammengesessen und gegessen?«, erkundigte sich eine Frau. Ihr Ton war weder freundlich noch feindselig, nur neugierig. Zum Teufel, dachte Ben – die sind ja genauso neugierig auf mich wie ich auf sie. »Nein – nur beim Militär.« »Nun, ich kann Ihnen versprechen, dass wir weder Haxen noch Maismehl haben werden«, sagte sie mit einem Lächeln. »Um die Wahrheit zu sagen« – Ben sah sie an – »ich mag beides.« Einige lachten laut; der Rest lächelte. Ein ungemütliches Schweigen senkte sich über sie. Es wurde noch betont durch Füßescharren und Räuspern. Die meisten blickten auf den Tisch oder an die Wände. Es schien, als habe niemand etwas zu sagen oder, was wahrscheinlicher war, wusste, wie er es zu sagen hatte. »Kann ich jemandem helfen?«, fragte Ben. »Beim Essenmachen«, fügte er hinzu.
»Wir dachten, wir servieren es als Büffet«, sagte Cecil. »So ist es einfacher. Entschuldigen Sie meine Neugier, Mr. Raines…« »Ben. Nennen Sie mich einfach Ben.« »Ben. Gut. Ich bin Cecil. Aber ich glaube, ich habe irgendwo gelesen, dass Sie in Louisiana leben.« »Das ist wahr.« »Dann sind Sie ja weit von zu Hause fort.« »Ich begrabe meine Familie: Brüder, Schwestern, Eltern. Cairo, Mt. Vernon, Springfield, Normal, dann die Vorstadt von Chicago.« Die Frau, von der Ben gedacht hatte, sie sei weiß – er war sich immer noch nicht sicher – fragte: »Sie sind alle tot?« »Alle bis auf den Bruder in Chicago.« Er sah sie an. Sie sah sehr gut aus. Es waren keine negroiden Züge bei ihr zu erkennen, aber Ben hatte das Gefühl, dass sie schwarz sei, zumindest zu einem bestimmten Grad. »Was ist mit Ihrer Familie?«, fragte er sie. »Alle tot. Cecil und seine Frau haben mich gefunden, als ich umherwanderte… aus Chicago hinaus… machte, dass ich wegkam, als ich noch konnte. Sie nahmen mich auf.« Cecils Frau betrat den Raum und verkündete, dass das Essen fertig sei. Ben wurde ihr vorgestellt. Lila. Sie war freundlich und sprach, als sei sie hochgebildet. Cecil erzählte ihm, dass sie eine College-Professorin gewesen war. Diese Neuigkeit war nicht weiter überraschend. Das Essen schmeckte sehr gut. Alle aßen langsam und genossen den Luxus eines hervorragenden Essens und guter Konversation. Niemand erwähnte den schwachen Leichengeruch, der über allem hing. »Hat jemand von Ihnen etwas über die Strahlungspegel in und um die Städte gehört, die von Atombomben getroffen wurden?«, fragte Ben.
»Am schlimmsten ist es an der oberen Ostküste«, antwortete Cecil. »Die Bombenkonzentration in der Städten dort war sehr hoch, wobei die meisten Bomben Nuklearwaffen waren. San Francisco hat einen weniger schlimmen Treffer abbekommen. Wie hieß das noch…? Ich kann mich nicht erinnern. Tötet die Menschen, aber lasst die Gebäude unversehrt. Die Vereinigten Staaten haben in dieser Hinsicht noch Glück gehabt. Ich habe gehört, Russland und China seien komplett verschwunden.« »Was ist mit Winden, die die Strahlung verbreiten?« Cecil zuckte die Achseln. »Auch da hat die atomare Kriegsführung deutliche Fortschritte gemacht… zu unseren Gunsten. Ich habe gehört, es bestehe keine Gefahr. Aber… wer weiß. Ich bin kein Wissenschaftler.« Ben begann den Gesichtern Namen zuzuordnen. Die Frau, die nach seiner Familie gefragt hatte, hieß Salina. Salina Franklin. Da gab es Jake und Nora, Clint und Jane Helms und Anwar Ali Kasim. Ben empfand sofort Antipathie für Kasim und fühlte, dass von diesem eine ähnlich negative Ausstrahlung ausging. Kasim bestätigte diese Gefühle mit seinen Worten. »Wie kommt es, dass Sie nicht bei Ihrem Bruder und seinen Kumpels geblieben sind und geholfen haben, alle Nigger in der Stadt umzubringen?«, fragte Kasim, seine Augen lebhaft vor Hass. Salina rollte mit den Augen und schüttelte angewidert den Kopf. Lila seufzte und sah ihren Ehemann an. Cecil sagte: »Kasim, du bist ein Blödmann!« »Und er ist ein Weißer!« Kasim spuckte Ben seinen Hass ins Gesicht. »Macht mich das automatisch schlecht?«, fragte Ben. »Soweit es mich betrifft, ja«, entgegnete Kasim. »Und ich traue Ihnen nicht.«
»Vielleicht«, sagte Salina mit ruhiger Stimme, »ist er bloß ein einfacher Mann, der sich hier hingesetzt hat, um ein ruhiges Abendessen zu sich zu nehmen. Er hat keine Menschenseele gestört, Bruder.« »Ich verstehe«, sagte Kasim. Seine Worte waren zwar sanft in der Aussprache, aber dennoch hasserfüllt. »Also, dann… Das Zebra sehnt sich wohl nach einem weißen Schwanz?« Sie schlug ihn hart, traf ihn am Mund mit ihrem Handrücken und brachte seine Lippen zum Bluten. Kasim zog seine Hand zurück, um sie zu schlagen, und fand sich Auge in Auge mit der Mündung einer 44er Magnum wieder. Cecil spannte den Hahn und sagte ruhig: »Ich würde dieses großartige Essen nur äußerst ungern unterbrechen, Kasim, denn rohe Gehirne waren noch nie mein Geschmack. Aber wenn du sie schlägst, blase ich dir deinen verdammten Kopf weg!« Kasim sah den Mann ungläubig an. Er nickte bedächtig, als er den Blick in Cecils Augen sah. »Du würdest mich töten… für ihn?« Er wies mit dem Kopf auf Ben. »Du reißt Worte aus dem Zusammenhang, Kasim«, sagte Cecil, wobei die Mündung der 44er schwankte. »Aber du bist gut darin.« Kasim legte beide Hände auf den Tisch, eine auf jede Seite des Tellers. »Du weißt, was diese weißen Bastarde mit meiner Schwester gemacht haben.« »Ich weiß. Aber es war nicht Ben Raines, der das getan hat.« »Trotzdem ist er ein Weißer!« Ben stand vom Tisch auf. »Ich glaube, ich gehe besser.« »Ja.« Cecil überraschte ihm, indem er das sagte. »Ich glaube, es wäre das Beste. Und es tut mir leid, dass ich das sagen muss. Ich hatte mich auf eine intelligente Unterhaltung gefreut.« »Vielleicht treffen wir uns später wieder«, schlug Ben vor.
»Wenn du deinen weißen Arsch nach Neu-Afrika bewegst, Motherfucker«, sagte Kasim, »wird er dort begraben.« »Ich werde jede Anstrengung auf mich nehmen, Neu-Afrika zu umgehen«, versprach Ben. »Wo auch immer das sein mag.« »Mississippi, Alabama und Louisiana«, sagte Kasim. »Eine schwarze Nation. Alle schwarz.« Ben lächelte. »Mein Zuhause ist in Louisiana, Kasim, oder wie auch immer Ihr gottverdammter Name lautet. Und ich gebe Ihnen einen Rat. Ich gehe zurück in mein Zimmer und lege mich schlafen. Ich werde morgen gleich nach Tagesanbruch losfahren. In diesem Motel wird es keinen Ärger geben. Das heißt keinen, den ich anfange. Aber wenn ich Sie je Wiedersehen sollte… töte ich Sie!« »Worte.« Kasim grinste ihn höhnisch an. »Große Worte. Wie wäre es mit einem kleinen Versuch jetzt gleich? Nur du und ich?« »Beweg deinen Arsch aus dem Stuhl, Sportskanone«, lächelte Ben. »Ganz cool bleiben, Kasim«, warnte ihn Cecil. »Ben ist dir weit überlegen. Lass es bleiben.« Kasims Blick traf einen langen Moment auf Bens. Dann senkte er die Augen. Ben ging, in Richtung Tür. Dort blieb er stehen und drehte sich um. »Es war ein leckeres Essen, Mrs. Jeffreys. Ich danke Ihnen.« Sie lächelte und nickte. Bens Augen trafen auf die Salinas. Sie lächelte ihn an. Er ging hinaus in die regnerische Nacht und ließ damit, wie er hoffte, den Hass hinter sich.
Bei Tagesanbruch lud er seine Utensilien in den Lastwagen und war gerade dabei, die Plane festzuzurren, als er Schritte hörte.
Er drehte sich um, die rechte Hand am Kolben seiner 45er, die er am Gürtel hatte. Salina. »Wir alle haben ein sehr schlechtes Gefühl wegen gestern Abend, Mr. Raines. Das heißt, alle außer Willie Washington.« »Wer?« Sie lächelte in der nebligen Dämmerung. Eine wunderschöne Frau. »Kasim. Wir sind zusammen aufgewachsen… im selben Block in Chicago. Er wird für mich immer Willie sein.« Im trüben Licht konnte er sehen, dass ihre Haut rehbraun war. »Hasst er Weiße wirklich so sehr, wie es scheint? Alle Weißen?« »Hasst der Ku-Klux-Klan Schwarze?« »Sie sagen, nein.« »Genau. Und Schweine können fliegen.« Sie lachten gemeinsam und lautlos in der feuchten Dämmerung. »Kasims Schwester wurde ziemlich schlimm… missbraucht, als er jung war. Vergewaltigt, auch anal. Er wurde verprügelt und gezwungen, zuzusehen. Die Männer wurden niemals gefasst. Sie kennen die Geschichte; es passiert auf beiden Seiten der Rassenschranke. Er ist halb verrückt, Ben.« »Das habe ich mir auch schon zusammengereimt.« »Es gibt Unmengen von Unterschieden zwischen den Rassen, Ben. Kulturelle Unterschiede, emotionale Unterschiede. Die Brücke ist weit.« »Ich stimme nicht mit dem überein, was mein Bruder und seine Freunde tun, Salina. Ich möchte, dass Sie das wissen.« »Ich wusste das schon gestern Abend, Ben. Ich glaube… wir brauchen mehr Männer wie Sie und Cecil, weniger wie Jeb Fargo und Ihren Bruder.« »Wer, zum Teufel, ist Jeb Fargo?« »Sein wirklicher Name ist George, aber er wird am liebsten Jeb genannt. Er kam vor ungefähr fünf Jahren nach Chicago, glaube ich. Der Anführer der Nazi-Partei.«
»Ja… ich habe ihn getroffen. Ich mochte ihn nicht. Ich stimme mit Ihnen überein, Salina. Ich hoffe, diese… Mentalität schlägt keine Wurzeln.« »Sie wird«, sagte sie kategorisch. »Wie sind Ihre Pläne, Ben?« Er erzählte ihr davon, während er im kühlen Morgennebel stand. Er erzählte ihr von all seinen Plänen, seinem Zeitplan, den er im Kopf ausgearbeitet hatte, während er in der Nacht zuvor auf den Schlaf gewartet hatte. Er erzählte ihr von seinem Zuhause in Morriston und wie er den Horror buchstäblich verschlafen hatte, nachdem er von den Wespen gestochen worden war. »Das hat Ihnen wahrscheinlich das Leben gerettet.« »Was sind denn Ihre Pläne, Salina?« Sie hob die schmalen Schultern. »Ich bin mit Cecil und Lila zusammen. Wohin sie gehen, dahin gehe ich auch, schätze ich.« »Letzte Nacht, im Esszimmer, hat Kasim Sie ein Zebra genannt. Was sollte das heißen?« Sie lachte, aber es war ein jämmerliches Lachen. »Ich bin zur Hälfte weiß, zur Hälfte schwarz. Meine Mutter war eine hellhäutige Frau, gut aussehend. Mein Vater war ein schöner Mann. Ja, sie waren verheiratet.« »Ich dachte nicht, dass Sie…« »Pure Negerin«, schnitt sie ihm brüsk das Wort ab, aber sie lächelte. »Das war nicht meine Wortwahl, Salina.« Sie sah ihn an, dann legte sie abrupt ihre Hände auf seine Schultern und küsste ihn auf den Mund. Sie drehte sich um und ging davon. Ben schaute ihr hinterher, als sie fortging, sah alles an ihr fortgehen, von den Knöcheln an aufwärts. Sie war sehr wohlgeformt. Er berührte seine Lippen mit den Fingerspitzen und rief dann hinter ihr her: »Denk dran, mein Haus ist in Morriston.«
Ihre Antwort bestand aus einem Winken; dann ging sie um die Ecke des Motels. Ben fühlte Augen auf sich ruhen. Er sah sich um und warf dann einen Blick nach oben. Das Gesicht von Kasim starrte ihn aus dem zweiten Stock des Motels an, puren animalischen Hass in den Augen. Sein Mund war geschwollen durch den Schlag von Salinas Handrücken. »Gottverdammt, nicht gut, weißhäutiger Motherfucker!« zischte er. »Ich dachte, Muslime sollten keine unanständigen Ausdrücke benutzen.« »Ich töte dich eines Tages«, versprach Kasim. »Das bezweifle ich.« Ben stieg in seinen Lastwagen, ließ den Motor an und fuhr weg. Er konnte immer noch die Wärme von Salinas Lippen auf den seinen spüren – und Kasims wilden Hass. Es war verwirrend.
Ben wandte sich Richtung Süden und fuhr, bis er zum Highway 14 kam, von dem er wusste, dass er nur durch ein paar Kleinstädte und schließlich nach Fort Wayne führte. In jeder Stadt hielt er an und fand überall zwei oder drei Überlebende. In fast jedem Fall waren sie orientierungslos, hatten keine Führung und brachten nichts zustande: Weder begruben sie die Toten, noch räumten sie den Unrat weg – nichts. Sie warteten nur. Worauf, das wusste Ben nicht, deshalb fragte er. »Hilfe«, antwortete ein Mann. »Von wem?«, fragte Ben. »Der Regierung, von wem sonst?«
»Mensch… es gibt keine Regierung mehr. Ich bezweifle, dass es irgendwo auf der Welt eine stabile Regierung gibt. Verstehen Sie nicht, was passiert ist?« Der Mann sah ihn an und ging davon. Er rief über seine Schulter: »Die Regierung wird uns helfen. Sie irren sich, Mister. Wenn die Regierung uns nicht helfen würde, hätten sie nicht alle so von sich abhängig gemacht. Sie irren sich.« »Und Sie sind ein Dummkopf«, murmelte Ben. Er fuhr weiter. In Rochester fand er ein Dutzend Leute, die noch lebten, die meisten Mitte bis Ende dreißig, dazu ein paar Kinder. Sie schienen wirklich aufgeregt zu sein, ihn zu sehen, fragten ihn, wo er gewesen sei, was er gesehen habe, was er tat. Und wo war die Hilfe von der Regierung? Hier waren die Frauen den Männern zahlenmäßig zwei zu eins überlegen. Eine Frau machte sehr deutlich, dass sie mit Ben gehen würde, er brauchte nur zu fragen. Er fragte nicht, obwohl sie eine hübsche Frau war und Ben spürte, wie sein Geschlechtstrieb sich rührte. Er sagte zu ihnen, sie sollten vorsichtig sein, und erzählte ihnen, was in Chicago passierte. Nachdem er ihnen ein paar Fragen gestellt hatte – was sie glaubten, warum sie überlebt hätten, während andere gestorben waren (niemand von ihnen hatte eine Ahnung) –, fuhr er weiter. In einer kleinen Stadt fand er drei überlebende Männer. Sie feierten eine Party – eine lange. Sie waren betrunken, und das schon seit Tagen. Nein, sie kamen nicht aus dieser Stadt; sie kamen aus Marion und waren hergewandert. Ob Ben irgendwelche Weiber gesehen hätte? Er schickte sie nach Rochester. Ben nahm eine Abkürzung über die 14 und fuhr dann auf eine Kreisstraße nach Osten auf die US 24, wodurch er sich Fort
Wayne von Südosten näherte. Am Rande dieser Stadt brachte ihn ein Reklameschild dazu, mit quietschenden Reifen anzuhalten. BEN RAINES – WENN SIE AM LEBEN SIND UND DIES HIER LESEN, ODER WENN JEMAND WEIß, WO BEN RAINES SICH AUFHÄLT, SAGEN SIE IHM, ER MÖGE KONTAKT MIT UNS AUF DER MILITÄRFREQUENZ 39,2 AUFNEHMEN. VERSUCHEN SIE ES IMMER WIEDER; WIR HÖREN ZU. WIR BENÖTIGEN BEFEHLE. »Befehle?«, sagte Ben. »Was für beschissene Befehle? Von mir?« Dann traf es ihn wie der Blitz: die Rebellen. Der Colonel hatte ihn nicht auf den Arm genommen, Bull hatte es wirklich getan. »Also…« murmelte Ben. »Ich bin nicht euer kommandierender Offizier. Viel Glück, Jungs.« In den Randbezirken von Fort Wayne versteckte er den Lastwagen hinter einem Motel und blieb dort die Nacht über, sein Schlaf unterbrochen von sporadischem Gewehrfeuer. Er entschloss sich, Fort Wayne denen mit der größten Feuerkraft zu überlassen, wer auch immer das war. Bei Morgengrauen, nach einem kalten Frühstück, füllte Ben, ein wenig deprimiert, die Benzintanks des Wagens auf. Schon lange hatte er es aufgegeben, die Zapfsäulen auszuprobieren; es gab an fast jedem Ort, wo er Halt machte, keinen Strom, und die Zapfsäulen waren nutzlos. Aber Tankwagen waren reichlich vorhanden und umfangreiche Anlagen waren gefüllt. Feuer oder Verrückte könnten die Lagerbereiche schließlich zerstören, aber im Moment machte er sich keine Sorgen um Treibstoff. Ben entschied sich, die Großstädte auszulassen, bis sich die Dinge zu beruhigen begannen – und er hatte das Gefühl, sie würden das mit der Zeit tun – und die Menschen akzeptiert
hätten, was passiert war, und mit dem Wiederaufbau beginnen würden. Aber er würde so nahe wie möglich heranfahren – in Reichweite seines CB-Funks, wenn er konnte – und versuchen mitzubekommen, was passierte. Das Wetter war rau, als er losfuhr, nach Ohio hinüber, und dann folgte er dem Highway 24. Bevor er Louisiana verlassen hatte (es schien schon so lange her zu sein), hatte Ben angenommen, dass die Highways und Interstates mit stecken gebliebenen Fahrzeugen verstopft seien, aber das war nicht der Fall gewesen, und nun sah er, warum. Auf den Autobahnen waren die Ausfahrten und Auffahrtsrampen hoffnungslos verstopft. Es gab Rückstaus im Verkehr, in vielen Fällen über zwei, drei Kilometer oder mehr. Es war harte Arbeit, da heraus und in das Autobahnsystem hinein zu gelangen. Ben wusste, dass er bald einen Wagen mit Vierradantrieb und einer verdammt guten Winde auf der Vorderseite finden musste. Er machte Halt an einem Ohio-State-Polizeigebäude und suchte herum, bis er einen Geigerzähler fand. Er war nicht weit von dem Gebiet entfernt, das die meisten Atombomben abbekommen hatte, und er wollte etwas haben, mit dem er die Gegend überprüfen konnte. Er wollte Toledo nicht zu nahe kommen, aus Furcht, dass die Brücken blockiert seien und er sich in Gefahr begeben mochte. Er überquerte den Maumee River und fuhr auf der östlichen Seite der Straße, die am Fluss entlang führte, nach Perrysburg. Näher wollte er nicht an Toledo herankommen. Und das erwies sich schon fast als zu nah. Vertieft in das Geschwätz, das aus dem CB-Funkgerät drang, bemerkte er die Motorräder nicht, bis es fast zu spät war. Er tankte auf, während der Motor immer noch lief. Er hatte eine fast perverse Freude daran – kindisch, das war ihm klar –, Benzin zu vergeuden, seit das Tanken einem nicht mehr die Haare vom Kopf fraß. Er hoffte, dass die Araber, die die Welt
seit Jahren übervorteilt hatten, alle in ihren ölgetränkten Betten verrotteten, während sich in ihrem importierten französischen Wasser Insektenlarven tummelten. Es war amerikanisches Know-How, das ihnen ihr verdammtes Öl überhaupt eingebracht hatte. Ben fuhr gerade auf den Highway, als er das Röhren hörte, das auf ihn zukam. Eine Pistole bellte, und ein Geschoss verwandelte die Windschutzscheibe in ein Spinnennetz. Er raste auf die Ohio 199, als ein weiteres Geschoss durch das Rückfenster einschlug. Ben warf einen Blick in den Seitenspiegel. Die Motorradfahrer holten auf, schwenkten Gewehre und brüllten. Zwei versuchten auf den Wagen zu gelangen. Ben lächelte grimmig und stieg auf die Bremse. Es gab ein markerschütterndes Quietschen, als die Motorradfahrer mit ihrem Hintern auf dem Lastwagen landeten. Einer wurde über das Fahrerhaus geschleudert und landete mit dem Kopf mitten auf der Straße. Ben ließ die Räder durchdrehen, fing den Wagen wieder und hielt mitten auf dem Highway. Er nahm die Thompson, öffnete die Tür und befreite den Highway vom zweirädrigen Ungeziefer. Die Übrigen wollten nichts mehr von Ben Raines. Brüllend und Flüche ausstoßend zogen sie den Schwanz ein und verschwanden, indem sie ihre Verwundeten zurückließen. Ben ignorierte das Flehen der Motorradfahrer, die blutend und in Schmerzen auf dem Asphalt lagen. Er nahm nicht an, dass sie ihm geholfen hätten, wäre die Situation umgekehrt. Ben inspizierte seinen Lastwagen auf Schäden. Die Rückseite war eingedrückt, aber die Räder drehten sich noch, ohne am Metall zu kratzen. Eine Feder war herausgesprungen, und eine Seite ragte in die Luft. Aber der Motor lief noch.
Der Lastwagen schleppte sich mehrere Meilen lang den Highway entlang, während Ben nach einer Nationalgarde- oder Reservewaffenkammer Ausschau hielt. Schließlich fand er eine und fuhr hin. Er wählte einen Schwerlastkraftwagen, einen Dreieinvierteltonner, der erst ein paar Tausend Kilometer auf dem Buckel hatte, und begann damit, seine Ausrüstung umzuräumen und seinen CB-Funk zu installieren. Der Lastwagen verfügte über Militärfunk, den Ben auf 39,2 einstellte. Er wechselte das Öl und die Filter im Lastwagen, warf zwei Ersatzreifen in den Fond und durchstreifte dann die Waffenkammer, um zu sehen, ob er etwas Brauchbares finden könne. Er nahm ein paar Kisten mit C-Rationen mit und einige Trockenrationen. Das war alles, von dem er dachte, dass er es gebrauchen könne. Er sicherte den Platz für die Nacht, machte sich etwas zu essen und ging ins Bett. »Wieder mal Glück gehabt, Ben«, murmelte er, kurz bevor der Schlaf ihn übermannte.
ACHT
Mitte Oktober war Ben so weit nach Osten gereist, wie er es wagte. Die Übertragungen im CB-Funk hatten immer weiter abgenommen, und kürzlich hatte er einige frische Leichen gesehen, alle mit den typischen Anzeichen von Verstrahlung. Er wusste, dass sie einen grausamen Tod gestorben waren. Er fuhr auf den kürzesten Weg nach Süden, als er plötzlich eine heftige Sehnsucht verspürte. Leise lachend nahm er sein Verlangen nach frischer, süßer Milch auf Band auf. Er begann nach Vieh Ausschau zu halten. Während er weiterfuhr, bog er die Finger. Es war schon lange her, dass er eine Kuh gemolken hatte – Jahre. Vor langer Zeit, als er seinem Vater auf der Farm geholfen hatte. Als die Bomben einschlugen, hätten diese Kühe gemolken werden müssen; möglicherweise waren sie zu der Zeit gerade an den Melkmaschinen angeschlossen gewesen… Todeskampf, langsames Sterben in Agonie. Dann traf ihn ein anderer Gedanke wie ein Keulenschlag und wischte die Sehnsucht nach Milch völlig beiseite – die Gefängnisse; die Institutionen, in denen die Alten, die Kranken und die Wahnsinnigen lebten. Oh, mein Gott! Hatte jemand daran gedacht, nach ihnen zu sehen? Warum nicht ich? fragte er sich. Er wendete und fuhr durch Pennsylvania in Richtung Südwesten. Er ließ die Großstädte aus und überprüfte die kleinen Städte, die Gefängnisse und Krankenhäuser. Langsam arbeitete er sich durch West Virginia weiter nach Südwesten vor. Dann wandte er sich nach Virginia und machte dabei einen großen Bogen um die heiklen Gegenden von Washington und Baltimore.
Schließlich gab er die Gefängnisse, die Krankenhäuser, die Institutionen auf: Sie waren stinkende Pestlöcher – verrottende Leichen, von denen viele auf furchtbarste Art ums Leben gekommen waren. Er fuhr weiter. Dann, nur einige Meilen nördlich von Charlottesville, sah er eine Gestalt, die sich mühsam die Straße entlang schleppte. Beim Geräusch des Lastwagens wirbelte sie herum, sprang in den Graben und versuchte es in den Wald zu schaffen. Doch der Sprung war zu kurz, und die Gestalt fiel hart zu Boden und griff nach ihrem Knöchel. Jetzt war Ben zur Stelle. Er stieg aus und drehte sich um – und fand sich Auge in Auge mit dem Lauf einer kleinen Automatikpistole wieder, die von einer sehr hübschen jungen Dame gehalten wurde. »Ich will Ihnen nichts Böses, Miss«, versuchte Ben sie zu beruhigen. »Ach ja? Das sagte auch die Bande von Mistkerlen, während sie mir die Kleider vom Leib zu reißen versuchten.« »Wie sind Sie entkommen?« »Ich hab einem von denen in die Eier getreten und bin abgehauen, Mann!« »Möchten Sie, dass ich mal einen Blick auf den Knöchel werfe?« »Nicht unbedingt. Wieso gehen Sie nicht einfach? Ich bin okay.« »Ich will Ihnen wirklich nichts Böses, Miss. Bitte glauben Sie mir. Wie heißen Sie?« »Das geht Sie einen Dreck an.« »Okay, Das-Geht-Sie-einen-Dreck-an, mein Name ist Ben Raines.« »Na und. Wen kümmerts? Ben Raines. Klingt irgendwie vertraut.« »Ich bin Autor. Wie alt sind Sie, siebzehn?«
»Ich bin neunzehn, wenn Sie das was angeht – was es nicht tut.« Sie richtete den forschenden Blick ihrer dunkelblauen Augen auf ihn. »Okay, Sie können sich meinen Knöchel ansehen, wenn Ihnen das soviel bedeutet, aber ich hab die ganze Zeit diese Kanone auf Sie gerichtet. Eine komische Bewegung, und ich erschieße Sie.« »In Ordnung, abgemacht.« Ben hatte nicht das Herz, ihr zu sagen, dass sie bei einer Automatikwaffe dieses Typs zuerst den Hahn spannen musste, bevor sie damit schießen konnte. Sie hatte ihn nicht gespannt. Ben kniete sich neben sie und sah sich ihren Knöchel an. Er schwoll böse an – nur verstaucht, hoffte er, und nicht gebrochen. Sie trug Tennisschuhe. Genau das, was sie bei einem Geländemarsch nicht hätte tragen sollen – keine Unterstützung für die Knöchel. »Er ist verstaucht, Das-geht-Sie-einen-Dreck-an. Wir müssen einen Bach mit kaltem Wasser finden und ihn für eine Stunde oder so reinhalten.« »Mein Name ist Jerre. J-e-r-r-e.« Sie buchstabierte den Namen langsam. »Jerre Hunter.« Sie sah zu ihrem Knöchel hinunter. »Er sieht dick aus.« »Ja, und es wird eher noch schlimmer, als besser. Kommen Sie, Jerre, legen Sie den Arm um meine Schultern, und entlasten Sie damit den Knöchel.« Sie sah ihn einen Moment lang prüfend an und zuckte dann die Achseln. »Was soll’s. Sie könnten mich vergewaltigen, aber das würde nicht so weh tun wie mein Knöchel.« Ben lachte über sie. »Sie können diese Pistole auch weglegen, Jerre. Sie können damit nicht schießen, bevor Sie nicht den Hahn gespannt haben.« Sie lachte mit ihm. »Da sind sowieso keine Kugeln drin. Glaube ich zumindest. Ich habe keine Ahnung, wie man sie lädt.« Sie warf die Pistole in den Graben.
Die Automatik prallte von einem großen Stein ab, ging los und schoss ein Stück Holz aus einem Baum. Ben sah Jerre an und schüttelte langsam den Kopf.
Ben fand einen kleinen, schnell fließenden Bach, dessen Wasser kalt genug war, um einem die Finger beim bloßen Ausprobieren blau zu färben. Für eine Stunde saßen die beiden auf einer Bank und redeten, während sie ihren Knöchel ins Wasser hielt und sich über die Wassertemperatur beschwerte und darüber, dass sie wahrscheinlich eine Lungenentzündung bekam oder dass ihr Fuß womöglich durch die Verstrahlung abfaulen werde. Sie erzählte ihm, dass sie gerade mit ihrem zweiten Collegejahr in Maryland begonnen hatte, als das Gerede über den Krieg anfing. Dann schlug der Schrecken zu. Sie war für etwa eine Woche krank gewesen, während andere um sie herum gestorben waren. »Heftig«, nannte sie die Erfahrung. »Die absolute Härte, Mann. Und weißt du noch was, Ben? Ich denke, durch diesem ganzen schwachsinnigen Krieg gibt es keine neue Musik.« »Mit ›Musik‹ meinst du Rock and Roll?« »Gibts noch eine andere Art von Musik?« »Mir war nicht klar, dass Rock and Roll Musik ist.« Sie hob herausfordernd den Kopf, wobei eine blonde Strähne über ihr eines Auge fiel, und starrte ihn eine Weile an. »Ich schätze, Ben Raines, wenn wir Freunde werden wollen, diskutieren wir besser nicht über unseren Musikgeschmack.« »Wenigstens, bis du erwachsen wirst.« Er lächelte sie an. »Was auch immer.« Als Ben sie fragte, warum sie zu Fuß gehe und nicht mit dem Auto fahre, zuckte sie die Achseln und antwortete, sie fühle sich nach Wandern, deshalb. Immerhin gebe es Unmengen von
Autos und jede Menge Zeit, sollte sie sich entschließen, mit dem Auto zu fahren. Ben wusste es besser, aber was sollte er mit ihr diskutieren? Also ließ er das auf sich beruhen. »Wie kommt das, Ben«, fragte sie, »dass wir nicht alle durch die Strahlung tot umfallen? Ich meine, ich dachte, dass riesige Wolken mit diesem Zeug überall herumziehen würden.« »Saubere Bomben«, antwortete er. »Saubere Bomben?« Sie sah ihn an. »Was für ein Schwachsinn soll das sein? Hört sich für mich wie ein Widerspruch an.« »Ist es auch, einigermaßen.« Dann erzählte er ihr von dem Band, das er gehört hatte, von den Rebellen und von dem dreifach falschen Spiel. »Das ist alles so verwirrend für mich. Staatsstreiche. Machtübernahme. Rebellen. Du bist wirklich der Kommandant einer Rebellenarmee, Ben Raines?« »Ich vermute, ja.« Er lachte leise. »Wo sind sie?« »Ich habe keine Ahnung, Jerre. Das war nicht meine Idee.« »Ich habe Gerüchte über die Rebellen gehört. Nur ganz wenige. Sind das Radikale?« »Ich glaube nicht. Typen, die für Recht und Ordnung stehen, da bin ich sicher. Bull Dean war kein Radikaler.« »Aber er hat den Umsturz der Regierung befürwortet, Ben. Das ist doch ganz schön radikal, findest du nicht?« Ben bewegte langsam den Kopf auf und ab. »Ja… ja, das ist wahr. Aber man muss Bull kennen, um zu wissen, was ihn auf die Palme bringt. Er hätte die Macht nicht für längere Zeit übernommen. Was Bull wollte, war eine Rückkehr zu Gesetz und Ordnung und Moral und Disziplin. Er war kein Castro oder irgendein unbedeutender Diktator, nur ein Mann, der sehr stark
an eine Regierung des Volkes für das Volk, und viel wichtiger, durch das Volk, geglaubt hat.« »Ich glaube nicht, dass wir diese Art von Regierung hatten – seit langer Zeit. Du, Ben?« »Nein«, erwiderte er schnell und kategorisch. »Die Regierung war zu groß, zu mächtig. Behörden wie die IRS hatten viel zuviel Macht. Das Gleiche galt für die meisten Ämter der Regierung. Nun, das ist jetzt alles egal.« »Aber… was ist mit dieser Textzeile, Ben, über die Asche?« »Hmm, ›Von den Toten auferstanden, kalte Asche, neues Leben ‹.« »Vorschnelles Urteil, Ben Raines.« Sie sah ihn an, ihr Blick war ernst. »Ich finde, du bist ein ganz guter Mann – anständiger Kerl. Ich schätze, du wirst dich wahrscheinlich mit den Rebellen in Verbindung setzen.« »Auf keinen Fall, Jerre.« »Yeah, ich glaube, du wirst das tun, Ben. Du musst zuerst deinen Kram zusammen haben. Aber dann…ja, du wirst das bestimmt tun! Ich habe ein paar von deinen Büchern gelesen. Du bist ein Träumer und ein Romantiker, und du würdest am liebsten hundert Jahre zurückgehen – diese Art von Gesetzen haben. Zum Teufel, Ben, vielleicht hast du Recht. Vielleicht ist es das, was das Land braucht. Es würde ja nichts kosten, das mal zu probieren, oder?« Sie blinzelte ihm zu. »General.« »Du spinnst.« Er lächelte ihr zu. »Aber ich bin hübsch.« »Yeah«, sagte er weich. »Ja, das bist du ganz sicher.« »Es wird bald dunkel, Ben.« »Ja.« Er sah sich ihren Knöchel an. Die Schwellung war nicht mehr so schlimm. »Wir werden uns einen Schlafplatz suchen, ein Stück die Straße runter. Es ist alles okay – du wirst in Sicherheit sein.«
»Ich weiß.« Sie sprach die Worte aus, als vertraue sie ihm. »Aber ich habe Angst vor der Dunkelheit«, gab sie zu. »Ich habe mich davor nicht gefürchtet, bis…« Ihr Satz verklang, und sie verstummte linkisch. Sie saß einfach da und starrte in das rauschende Wasser. »Deine Eltern?« »Es… es war dunkel, als ich zurück nach Hause kam, zurück nach Cumberland. Ich habe sie hinten im Garten gefunden, ganz geschwollen und aufgedunsen. Ich konnte nur im Zimmer sitzen und heulen und schreien. Ich habe mich noch nie in meinem Leben so allein gefühlt. Dann kam der Typ von nebenan rüber – er hat überlebt, ist nicht krank geworden oder so. Er hatte seine ganze Familie verloren, und es schien ihn überhaupt nicht zu belasten – zuerst. Er sagte, er würde sich um mich kümmern, so als ob ich seine Tochter sei. Ich glaubte ihm, also ging ich mit ihm.« Sie trat etwas Erde in den Bach. »Später in dieser Nacht versuchte er mich betrunken zu machen; er sagte, dann würde ich mich besser fühlen. Da wusste ich, worum es ihm ging. Kerle denken, sie sind so cool, aber nach einiger Zeit können die meisten Mädels sie durchschauen. Wenn das Mädchen ein bisschen Verstand hat. Also wusste ich, was kommen würde. Später – ich dachte, er sei zu Bett gegangen – habe ich versucht, aus dem Haus zu schleichen, aber er hat mich überwacht. Wir hatten einen heftigen Kampf; ich habe ihm ganz schön was verpasst.« Sie richtete den Blick ihrer verblüffend preußisch-blauen Augen auf Ben. Ehrliche Augen. »Ich bin keine Jungfrau mehr, Ben Raines, aber ich mache es auch nicht wahllos mit jedem. Und dieser Bastard hat mich wirklich angekotzt. Ich kann mir vorstellen, hätte er es richtig angefangen, wäre ich wahrscheinlich mit ihm ins Bett gegangen. Er sah nicht schlecht
aus, und ich hatte immer angenommen, dass er ein netter Mensch sei. Nicht dass er mir etwas bedeutet hätte, aber… es wäre jemand gewesen, der… also, jemand, der dich festgehalten hätte – du verstehst schon. Ich meine, alles war völlig durcheinander, total daneben. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll.« Ben wusste es, aber er blieb stumm und ließ es Jerre auf ihre Art erzählen. »Schließlich schlug er mich. Mann, hat der mir eine geknallt! Als ich wieder zu mir kam, riss er mir den Slip vom Leib und redete wirres Zeug. Er sagte, ich sei seine private Möse. All so’n Zeug. Da habe ich wirklich Angst bekommen. Nicht nur, weil er mich vergewaltigen wollte, sondern auch, weil ich da wusste, dass er wirklich einen an der Waffel hatte. Wir waren vor dem Kamin, auf dem Teppich, und als er aufstand, um seine Hose auszuziehen, bin ich weggerollt und habe nach einem Schürhaken gegriffen.« Wieder sah sie Ben an. »Ich glaube, ich habe ihn getötet. Irgendwas ist geplatzt, als ich ihn getroffen habe. Ich glaube, dass er nicht mehr geatmet hat. Aber mir war nicht danach, da zu bleiben und Krankenpflege zu betreiben, das sage ich dir! Ich bin einfach abgehauen. Hab mir den Wagen von meinem Dad geschnappt und bin verschwunden. Und weißt du, wohin ich gefahren bin? Wo die verdammte Karre mich im Stich gelassen hat? Ich doofe Nuss! Ausgerechnet nach Wheeling. Wie konnte ich nur so blöd sein? Da war ein Mob von Schlägertypen unterwegs. Und du weißt, dass die mich entdeckt haben. Hast du je ein kleines, blondes Mädchen gesehen, das versucht hat, den Rekord von vier Minuten auf eine Meile zu brechen, während es von fünfzig Kerlen verfolgt wurde, die alle ihre Schwänze raushängen hatten?«
Trotz der schlimmen Erlebnisse, die sie durchgemacht haben musste, der Panik, die sie zu der Zeit verspürt haben musste, konnte Ben nicht anders als über die Art zu lachen, in der sie ihre Geschichte erzählte. »Und einer dieser Typen war riesig, Mann! Warum sind Männer so, Ben Raines? Ich meine, Sex ist gut – fantastisch, wenn alles stimmt – aber ich laufe nicht herum und denke die ganze Zeit daran. Aber Männer schon, oder? Sicher tun sie das.« »Ich weiß nicht, ob wir die ganze Zeit daran denken«, erwiderte Ben langsam. »Aber ein Mann ist verdammt schnell dazu bereit.« Er schämte sich ein bisschen, denn er hatte Jerre bereits mental ausgezogen. Er stand von der Bank auf und streckte seine Hand aus. Sie nahm sie, ihre kleine Hand war weich in der seinen. Er zog sie auf die Beine. »Wir machen uns besser auf den Weg, Jerre, und suchen uns einen Ort, wo wir die Nacht verbringen und uns was zu essen machen können.« »In Ordnung«, sagte sie leise, wobei sie ihn prüfend ansah.
Ben hatte eine Wanne mit Wasser fertig gemacht, in der sie ihren Knöchel baden konnte, und hatte sich dann an das Abendessen gemacht. Sie aß, als habe sie schon seit Tagen keinen Bissen mehr zu sich genommen. Dann hatte Ben sie ins Bett gesteckt. In dieser Nacht lag er in seinem Bett und musste lächeln über all das, was Jerre an diesem Tag und Abend gesagt hatte. Sie hatte, schloss Ben, noch einen Teenager-Charakter. Von einer ganz eigenen Art, mit der offenen Aufrichtigkeit, die Ben an Menschen mochte. Er erinnerte sich daran, wie sie zuerst seine Waffen angesehen hatte und dann ihn.
»Weißt du wirklich, wie man mit all diesen Dingern schießt?«, hatte sie gefragt. Ben gab zu, dass er das nicht nur wusste, sondern es auch schon getan hatte, und er erzählte ihr von all den Dingen, die ihm zugestoßen waren, seit er Louisiana verlassen hatte. Ihr schauderte, als Ben ihr von den Männern in Cairo erzählte und was sie mit ihm vorgehabt hatten. »Das ist heftig, Ben!« Er berichtete eingehend von der Suche nach seiner Familie, beschrieb die Männer und Frauen in Cairo, die nicht um ihr Leben oder Eigentum kämpfen wollten, und das Erlebnis mit seinem Bruder in Chicago und davon, was er und seine Freunde planten. Sie hatte geantwortet: »Es waren nicht nur Schwarze, die mich in Wheeling gejagt haben; einige von diesen Kerlen sahen ziemlich anständig aus. Aber ich glaube, ich kann verstehen, was dein Bruder und seine Freunde empfinden.« »Oh?« »Sicher. Das soll nicht heißen, dass ich mit ihnen übereinstimme – das tue ich nicht; ich denke, sie sind im Unrecht. Aber ich glaube nicht, dass Schwarze und Weiße jemals miteinander klarkommen werden. Ich meine, jetzt ist es zu spät. Aber so empfinde ich es.« Ben dachte an Kasim und stimmte ihr zu. Dann dachte er an Cecil, Lila und Salina und widersprach ihr insgeheim. »Warum glaubst du das, Jerre?« »Dass wir nicht miteinander klarkommen werden? Weil wir zwei verschiedene Völker sind, deshalb. Das ist der Hauptgrund. Hey! Ich bin nicht intolerant, Ben Raines. Denk das nicht, denn damit hättest du Unrecht. Lass mich dir was erzählen, Ben. Meine beste Freundin – und ich meine, meine allerbeste Freundin – auf der Highschool war eine Chinesin namens Sue Ling. Seit der Grundschule bis hin zum Abschluss der Highschool waren wir unzertrennlich. Dann gingen wir auf
verschiedene Unis, aber wir blieben in Kontakt. Ich habe versucht, sie zu finden, nachdem… nachdem das passierte. Aber ich konnte sie nicht finden. Auf dem College dann hatte ich Freunde unterschiedlichster Nationalitäten, viele von ihnen: Inder, Thailänder, Vietnamesen, Araber, Indianer… oh, du weißt, was ich meine… eine Menge verschiedener Leute. Aber ich hatte nie einen schwarzen Freund. Weißt du, was das soll, Ben Raines, großer-Autor-von-einiger-Bedeutung? Und General, noch dazu.« Er lachte. »Du wirst es mir sagen, Jerre Hunter, Mädchen-das-den-Rekord-von-vier-Minuten-auf-eine-Meile-g ebrochen-hat-während-es-von-fünfzig-Kerlen-verfolgt-wurdedie-alle-ihre-Schwänze-raushängen-hatten.« Sie kicherte und lachte, dann legte sie ihre Hand auf seinen Unterarm. Sie wurde wieder ernst. »Ich bin offen zu dir, Ben – ich weiß es nicht. Da gibts haufenweise Gründe, vermute ich. Erstens: Ich mag es nicht, durch die Räume meiner Uni zu laufen und ein halbes Dutzend schwarzer Jungs sagen zu hören: ›Hey, Baby! Willst du ficken?‹ Und das ist passiert, Ben. Überall in diesem Land. Aber die Nachrichtenreporter – oh, sie würden niemals sowas bringen. Oder wenn jemand von uns von einem schwarzen Typen nach einem Date gefragt wird und wir nein sagen, werden wir automatisch beschuldigt, rassistisch zu sein. Eine solche Kleinigkeit reicht. Denken die Leute auch mal daran, dass die Wahl eines Dates von der Person abhängt, die gefragt wird? Dass die Chemie damit eine Menge zu tun hat? Ben, ich habe schwarze Jungs gesehen, mit denen ich gerne ausgegangen wäre – aber die haben mich nie gefragt. Das ist wie bei dem einen faulen Apfel. Ich glaube nicht, dass du ein Rassist bist, aber was ich gesagt habe, lässt mich wie eine Rassistin
aussehen, und ich bin keine. Es ist nur so… ich mag es nicht, gedrängt zu werden. Ich wähle meine Freunde aus – sie wählen mich nicht aus.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann das nicht richtig ausdrücken.« »Nein, Jerre, ich finde nicht, dass du eine Rassistin bist. Du bist nicht der Typ dafür.« Gibt es da denn einen Typ?, fragte er sich selbst im Stillen. »Mein Daddy war kein Rassist, und auch meine Mutter nicht. Sie haben beide mit schwarzen Leuten zusammen gearbeitet, und das Wort ›Nigger‹ gehörte nicht zu ihrem Vokabular. Ich habe es einmal ausgesprochen und habe dafür einen Klaps bekommen. Also war es nicht mein Leben zu Hause, das mich dazu gebracht hat, zu empfinden… was auch immer ich empfinde.« »Erzähl mir von deinen Freunden anderer Nationalitäten, Jerre. Macht es dir was aus, wenn ich das auf Band aufnehme? Gut.« »Also… Sue war genau wie ich – wie du – was die Art zu denken betrifft. Nein, das stimmt nicht ganz: Was die Art zu handeln betrifft. Rajah und Mark Little Bear waren genauso. Sie waren… waren…« Sie sah Ben Hilfe suchend an. »Westlich ausgerichtet?« »Yeah! Das ist es – etwas in der Art, aber nicht ganz. Sie handelten…« Wieder sah sie Ben an. »Wie wir?« »Irgendwie. Sie hatten immer noch ihre eigene Identität, aber sie versuchten nicht, mir ihre Kultur aufzudrängen. Was versuche ich zu sagen, General?« »Wahrscheinlich, dass sie sich angepasst hatten, dass sie von uns akzeptiert wurden, aber immer noch ihre eigene Kultur bewahrt haben. Wir denken auf die gleiche Art, Jerre.«
Sie sah ihn mit ernstem Blick an. »Aber denken wir auch richtig, Ben? Korrekt?« »Ich weiß es nicht, Kleines.« »Ich glaube, wir sind eine ziemlich intolerante Nation.« Ben dachte an seinen Bruder in Chicago und an Kasims Hass. »Immer noch«, entgegnete er. »Auf beiden Seiten.«
Er öffnete seine Augen beim Klang ihrer Schritte und sah sie an, als sie in der offenen Tür zu seinem Schlafzimmer stand. »Du bist anders als jeder Mann, den ich bisher getroffen habe, General-Autor Ben Raines. Ich glaube, du bist ein zäher Mann, und ich glaube auch, du bist ein sensibler Mann. Komische Kombination. Ich vermute, du bist ein Krieger. Aber ein guter. Diese Frau, damals im Motel – diejenige, die dich geküsst hat. Sie war eine Schwarze, oder?« »Halb und halb.« Ben sprach vom Bett aus. »Kasim nannte sie ein Zebra.« »Zur Hölle mit Kasim.« Sie hatte sich nicht von der Türöffnung weg bewegt. »Mir hat die Art gefallen, in der du Cecil und seine Frau Lila beschrieben hast. Sie hören sich nach netten Leuten an. Schätze, du mochtest sie. Wahrscheinlich würde ich das auch. Aber genau wie es in unserer Rasse Hinterwäldler und Abschaum gibt, gibt es das bei den Schwarzen eben auch. Das macht Kasim zu einem Nigger. Aber nicht Cecil und seine Frau und diese andere Frau. Das wollte ich heute Nachmittag sagen, Ben. Es spielt keine Rolle, zu welcher Rasse ein Mensch gehört, es gibt verschiedene Kategorien. Gute Menschen und schlechte Menschen. Ich glaube einfach nicht, dass alle Menschen gleich sind, Ben. Ich denke, dass die Menschen – alle Menschen – Bildung nötig haben. Ich glaube, dass Bildung der Schlüssel zur Lösung für fast jedes Problem ist.«
»Das glaube ich auch, Jerre.« Sie trat näher zum Bett. Ben konnte den sauberen, frischen Seifenduft an ihr riechen. »Ich bin verwirrt, Ben. Wenn der Krieg nicht stattgefunden hätte, wäre das Rassenproblem dann jemals gelöst worden?« »Nicht zu unseren Lebzeiten.« »Du klingst so sicher.« Sie hinkte zum Bett und setzte sich. »Ich glaube, ich bin sicher.« »Ich habe gesagt, Bildung ist der Schlüssel, um Probleme zu lösen, Ben. Aber… ich glaube nicht, dass man eine Reihe von Regeln für einige Leute haben kann, und eine andere Reihe für andere Leute.« »Wie ich schon sagte, Jerre, wir sind einer Meinung.« »Aber wie kann man jemanden dazu bringen, zu lernen?« »Nicht mit Hilfe der Verfassung, das versichere ich dir. Nun, lass mich dich Folgendes fragen: Wenn ein Säugling nicht essen will und verhungern würde, wenn nichts unternommen wird, was würde ein Arzt tun?« »Also… ich denke… zum Teufel, er würde ihn zwangsernähren. Aber, Ben, niemand kann einen Menschen zwingen, sich Bildung anzueignen, wenn er nicht lernen will.« »Man kann, wenn man Zugang zu seinem Heim hat.« »Möchtest du, dass das passiert, Ben?« »Nein. Das wäre die ultimative totalitäre Gesellschaft.« Sie legte ihre Hand auf seine Brust und spürte seinen Herzschlag an ihrer Handfläche. »Ich würde gerne mit dir schlafen, Ben. Aber ich möchte auf keinen Fall schwanger werden.« »Ich werde mein Bestes tun, damit das nicht passiert, Jerre.« Und so legte sie sich zu ihm, weich und jung, voller Feuer und Erregung und mit sehr wenig sexueller Erfahrung. Ben öffnete das Hemd, das sie zum Schlafen trug, und küsste ihre Brüste. Seine Zunge ließ ihre Brustwarzen hart werden,
während seine Hand ihren Bauch streichelte und weiter nach unten glitt, zum Zentrum ihrer Lust. Seine Finger fanden sie feucht und bereit, ihn zu empfangen. Junge, schlanke Arme legten sich um seinen Hals. Sie schrie auf, als er in sie eindrang, und sie begegnete seinen Stößen kraftvoll, als ihre enge Hitze seine geschwollene Männlichkeit umgab. Sie schrie, als ihr erster Orgasmus sie schüttelte, und dann tauchten sie gemeinsam ein in den zeitlosen Rhythmus des Spiels, das Sieger nur kannte. Und während die Welt um sie herum im Chaos versank, gab es zwei, die nicht allein waren.
NEUN
Sie verbrachten zwei Tage in dem Haus, um Jerres Knöchel Zeit zum Heilen zu geben und über vieles zu reden, wobei sie voneinander lernten. Sie machten kleine Sexspiele, die Ben Gelegenheit gaben, zu erfahren, wann sie bereit war, ihn aufzunehmen: ihre halbgeschlossenen Augen, verklärt von Leidenschaft, das flache Atmen, das sich in Schnaufer der freudigen Erwartung verwandelte. »Du bist wirklich ein scharfer kleiner Käfer«, zog Ben sie auf. »Du musst während der Kindheit unterdrückt worden sein.« »Entweder das, oder ich mags einfach zu vögeln.« Sie lächelte. »Du dreckiger alter Mann.« Als sie über die Straße, die neben dem Haus lag, davonfuhren, sagte Jerre, sie wolle Chesapeake Bay sehen. So wandte Ben sich nach Osten und fuhr nach Tappahannock und daraufhin nach Reedville. Da spazierten sie wie zwei Jugendliche – eine war wirklich in dem Alter – am Strand entlang, umtost von Wind und Meer, hielten Händchen und spielten. Sie bauten eine Sandburg – keine sehr gute, denn der Wind blies sie bald auseinander – und verbrachten die Nacht, zusammengekuschelt in einem großen Doppelschlafsack, am Strand. Kurz vor Tagesanbruch scheuchte sie ein harter Regen in eine kleine Strandhütte. Dort vergaßen sie für die nächsten drei Tage die Welt, die um sie existierte. Jerre machte Ben ein Kompliment, das seine Brust vor Stolz schwellen ließ, als sie ihm sagte, er sei mit einem großen Penis ausgestattet – sie habe noch niemals einen so großen gesehen. Dann teilte sie ihm kichernd mit, sie habe überhaupt erst zwei gesehen, und er jagte sie aus der Hütte an den Strand.
Nachdem er sie gefangen hatte und sie lüstern übereinander herfielen, meinte Jerre, wenn er noch mehr in dieser… speziellen Abteilung versteckt habe, wäre sie wahrscheinlich nicht in der Lage, dies alles aufzunehmen. Dann erzählte sie ihm, sie lüge viel, wenn der Tag lang sei, und rannte mit ihm um die Wette zurück in die Hütte.
Die Winde wurden kalt, und Ben blickte sorgenvoll auf ihre Umgebung. »Diese Hütte ist nicht zum Überwintern gedacht, Honey. Ich bin überzeugt, es ist das Beste, weiter zu ziehen.« »Ziehst du den Schwanz ein, Mistkerl?«, fragte sie mit einem Lächeln. Sie gingen nicht ohne Traurigkeit. Es war wie bei einem Reisebericht, dachte Ben: ›Und so, Freunde, verlassen wir nun mit traurigem Herzen und schönen Erinnerungen das malerische Dorf auf der tropischen Insel Bonda-Bonda‹. Er erinnerte sich an die Reiseberichte im Samstagnachmittagsfernsehen. Jerre war noch nicht einmal geboren gewesen, als diese abgesetzt wurden. Ben seufzte, weil er sein Alter spürte.
Mittlerweile war ein großer Teil des Totengeruchs verschwunden. Mehr als ein Monat war vergangen, und der Regen, der Wind und die Zeit hatten den Gestank gemildert. Aber ein schwacher, unangenehm süßlicher Geruch haftete der Erde immer noch an. Hundemeuten streiften über das Land, verwilderten schnell und ließen sich von ihrem Überlebensinstinkt leiten, der ihnen nie ganz weggezüchtet worden war: deutsche Schäferhunde, Huskys, Eskimohunde, Pitbulls, Boxer, Chow-Chows. Kleinere
Züchtungen starben größtenteils aus: die kleinen Pudel, die Chihuahuas, bestimmte Colliearten – fast alle Schoßhunde gab es nicht mehr. Die Starken überlebten.
»Wenn du herumlaufen willst, sei bitte vorsichtig, und entferne dich nicht zu weit von mir oder dem Lastwagen«, warnte Ben Jerre. »Die Hundemeuten werden wild.« »Was bleibt ihnen sonst übrig?«, fragte sie in ihrer typischen Art. »Nichts. Sie müssen überleben. Ich möchte bloß nicht, dass sie durch uns überleben.« Für einen Moment war sie in Gedanken versunken. Ihre Augen schauten blicklos auf die vorüberziehende Landschaft, als sie von der Küste weg ins Inland fuhren. Es lag eine Eintönigkeit, eine Leere auf dem Land. »Willst du jeden Hund, den du siehst, mit deinem Gewehr erschießen?« fragte sie ihn mit streitlustig vorgeschobenem Kinn. »Nein, Jerre – natürlich nicht. Aber ich werde jedes tollwütige Tier erschießen, das wir sehen, und ich werde schießen, damit wir überleben.« Er erzählte ihr von dem Zwischenfall in Morriston. »In ein paar Monaten wird die Tollwut zu einem Problem werden. Einige Wochen später wird es sich aber allmählich wieder normalisieren, wie mit den meisten Tierkrankheiten.« »Ich würde gerne dein Zuhause in Louisiana sehen, Ben Raines. Aber ich glaube nicht, dass ich es zu sehen bekommen werde.« Er sah sie an, nicht bloß ein kurzer Seitenblick, denn er konnte sich an ihr nicht sattsehen: die Form ihres Gesichtes, die Weichheit ihrer Haut, das Gewirr ihrer blonden Haare.
»Wenn ich das Gefühl habe, dass ich mich zu sehr an dich hänge, dann werde ich gehen, Ben. Ich werde fortgehen und nicht zurückblicken, auch wenn ich nicht gehen möchte. Ich werde überleben, General – denn du wirst mir das beibringen. Wenn ich ein bisschen Verstand hätte, würde ich bei dir bleiben, trotz unseres Altersunterschiedes. Aber die Zeiten ändern sich. Jetzt bin ich noch süß für dich. Ich spreche anders als du, und ich bin jung und habe eine große Klappe. Süß. Aber dieses ›Süße‹ wäre ziemlich bald abgenutzt.« Kluges Kind, dachte er. »Also möchte ich von dir, General, dass du mir beibringst zu überleben. Weil… also, ich habe mir für die nächste Zeit einiges vorgenommen. Lass uns jetzt nicht darüber reden. Lass uns nur irgendwo anhalten, und du besorgst mir eine Waffe und bringst mir bei, damit zu schießen. Zeig mir, wie ich die erkennen kann, die mir weh tun wollen – wenn du das kannst, und ich schätze, du hast dafür einen eingebauten Instinkt. Und dann… wenn die Zeit kommt, gehe ich. Ich werde es dir sagen, Ben – wenn es soweit ist.« Ben fragte sich, was sie im Schilde führte; er hatte immer gespürt, dass sie etwas vor ihm verborgen hielt. »In Ordnung, Jerre. Ich werde dich lehren, was ich kann, in der Zeit, die uns bleibt. Aber ich bin ehrlich. Ich werde dich vermissen.« Sie nickte. »Ich werde dich auch vermissen, General. Das kannst du mir glauben.« Sie berührte seinen Arm. »Du hast letzte Nacht geträumt – schon seit einigen Nächten. Wovon?« »Das waren merkwürdige Träume, Baby. Du würdest wahrscheinlich glauben, ich sei ein Idiot.« »Nein, Ben. Das würde ich niemals. Aber ich glaube, du hast eine Bestimmung.« Besorgnis überschattete für ein paar Sekunden seine Züge. Er seufzte. »Komisch, dass du das sagst. Darum geht es nämlich in
den Träumen. Ich habe von einem Land mit Bergen und Tälern und wunderschönen Ebenen geträumt, von Vieh und Getreide und einem Volk, das frei lebt, mit einfachen Gesetzen, einer Regierung, die vom Volk gebildet – wirklich gebildet – wurde und vom Volk geführt wird. Die Träume haben mich beunruhigt.« »Ich glaube, dass du etwas Feines und Gutes tun wirst, Ben. Ich glaube das wirklich.« Er lächelte. »Woran denkst du?« »Daran, dass ich diesen Lastwagen anhalte, wir beide zu diesem Picknicktisch rübergehen und gemütlich vögeln.« »Worauf zum Teufel wartest du dann noch, General?« In einem Jagd- und Angelgeschäft außerhalb von Richmond fand Ben ein geheimes Lager mit illegalen Pistolen, wie er es in jedem Jagdgeschäft gefunden hatte, bei dem er gehalten hatte. Offensichtlich hatten nicht allzu viele Leute dem Waffenkontrollgesetz von Hilton Logan Beachtung geschenkt. Das hätte man leicht vorhersehen können. Er suchte einen 22er Magnum-Revolver mit neun Schuss sowie einen Gurt und ein Pistolenhalfter für sie aus und gab ihr die Ausrüstung. »Du musst ein Gefühl dafür bekommen. Richte sie aus, entsichere sie, übe Zielen damit und mache bumm-bumm. Wenn du mit dem Finger auf etwas zeigen kannst, kannst du eine Pistole abfeuern. Ich werde ein Paket für dich zusammenstellen: Zeltboden, leichtes Zelt, Schlafsack. Einen Vorrat an Trockenrationen werde ich dir später fertig machen… wenn ich das Gefühl habe, dass du bereit bist zu gehen.« Er ließ sie ›bumm-bumm‹ machen und durchsuchte den Laden. Er nahm sämtliche 45er-Munition mit – wovon es nicht viel gab – und öffnete dann ein Fach im Waffenschrank, trat einen Schritt zurück und lächelte über seine Entdeckung.
»Also«, murmelte er. »Jetzt sieh sich das einer an. Ich könnte wetten, dass dieser alte Junge keine Lizenz dafür hatte.« Ein Paar Ingram-Maschinenpistolen, M-10er, 9 mm. Es gab Extra-Ladestreifen für beide, 32-Schuss-Ladestreifen. Ben sah sich im Laden um und lächelte fröhlich, als er, versteckt unter einem Ladentisch, zwei Kästen mit 9-mm-Munition fand. Aus demselben Fach im Waffenschrank nahm er zwei Browning-9-mm-Automatikpistolen mit und die dazugehörigen Ledergurte. Er sagte nichts zu Jerre, sondern trug die Ausrüstung zum Lastwagen und verstaute sie. Zurück im Geschäft, wählte er ein 7-mm-Bolzenschussgewehr, das für große Reichweiten gedacht war, und suchte nach Munition. »Hey, willst du einen Krieg beginnen, Ben Raines?«, fragte Jerre. »Nein.« Er lachte über ihr ernstes Gesicht. »Aber mir kam gerade ein Gedanke: Wann hast du zuletzt ein frisches Steak gegessen?« Sie lächelte und leckte sich die Lippen. »Nicht, seit all dieser Mist begonnen hat.« »Heute Abend werden wir eins essen«, versprach er ihr. Sie fuhren an Richmond vorbei und hörten die Frequenzen des CB-Funkgerätes ab. Die Sprache war rau: Nigger killen, Scheißweiße killen, Fotzen suchen. »Das ist so traurig«, kommentierte Jerre. »Die ganze Welt ist in einem Zustand von Chaos; gar nicht davon zu reden, wie viele Millionen Menschen tot sind. Wir haben keine Regierung, nichts, und all diese… Dummköpfe haben nichts Besseres zu tun, als an alten Hass und Vorurteile und Vergewaltigen und Plündern zu denken.« »Das sind die schlechten Menschen, Jerre; die gab es schon immer. Sie tauchen immer nach einer Katastrophe auf. Aber es
gibt auch viele gute Menschen, die überlebt haben, davon bin ich überzeugt.« »Wo sind sie dann?« »Sie bleiben unten, außer Sichtweite, und warten darauf, dass der Abschaum sich gegenseitig killt.« »Ich hoffe, sie tun es!« rief sie heftig, mit mehr Leidenschaft in der Stimme, als Ben je gehört hatte. »Das werden sie nicht«, gab er zurück. »Zum Teufel, das haben sie noch nie getan.«
»Bist du sicher, dass du das mit ansehen willst?«, fragte Ben. Sie standen auf Weideland zwischen Hopewell und Richmond. Weideland mit muhenden Kühen. »Ja«, antwortete sie. »Wenn ich lernen will zu überleben, muss ich das alles kennen. Die Tage, in denen ich in den Supermarkt gegangen bin, um mir Rippchen zu kaufen, sind vorbei. Und sie werden so schnell nicht wiederkommen, nicht wahr, General?« Vielleicht nie, dachte er. »Nein, wohl nicht.« Er sah zur Herde hinüber. »Such dir dein Abendessen aus, Jerre.« Sie zeigte auf ein Tier. »Nein, das ist ein Stier. Lassen wir ihn seine Arbeit erledigen.« Eine Kuh kam zu ihnen herüber, muhte sanft und blickte sie aus weichen, flüssig aussehenden Augen an. Ben lud seine 45er und erschoss das Tier. Die Beine der Kuh gaben nach, und sie fiel zu Boden, zitternd und sterbend. »Du Hurensohn!« verfluchte Jesse ihn. Als Ben antwortete, klang seine Stimme kühl. »Willkommen im Supermarkt, Liebes.« Sie stand da und starrte ihn an, Zorn in den Augen.
»Kannst du einen Traktor fahren?«, fragte Ben. Keine Antwort. »In Ordnung, dann bleib hier. Ich muss einen der Traktoren im Stall anlassen.« »Warum?«, fragte sie mit schwankender Stimme. »Um die Kuh da rüber zu ziehen.« Er zeigte in die Richtung. »Wir müssen sie hochziehen, ihren Hals aufschneiden, sie ausbluten lassen und dann auseinander schneiden.« »Heftig«, sagte sie. »Die absolute Megahärte, Mann!«
Die heftige absolute Megahärte hinterließ ihre Spuren bei Jerre an diesem Nachmittag, während Ben die dicken Steaks grillte. »Meins bitte blutig, Ben«, sagte sie. »Und ich meine, wirklich blutig. Das riecht so gut!« Dann, als sie sah, dass er lächelte, lachte sie. »Okay, also habe ich meine erste Lektion gelernt, über das, was mir bevorsteht. Aber, Ben, ich habe noch nie vorher so etwas gesehen. Gott, ich habe ganz bestimmt noch nie die Innenseite einer Kuh gesehen!« Sie grillten die Steaks im Garten hinter einem Farmhaus. Hier gab es überhaupt keine Leichen, keine Anzeichen für irgendein Problem – wie in so vielen Häusern, die Ben zwischen Louisiana und Chicago, in Richtung Osten und dann nach unten durch das Land nach Virginia, betreten hatte. »Das geht den meisten Menschen so«, sagte er zu ihr. »Du wärst erstaunt über die Anzahl von Leuten – erwachsene Männer und Frauen – die nicht das kleinste bisschen Ahnung haben, wie man auch nur ein Hähnchen zum Braten aufschneidet.« »Ich habe gebratenes Hähnchen und Kartoffelpüree mit Soße immer geliebt. Mama hat immer…« Sie sah Ben nicht an, plötzlich Tränen in ihren jungen Augen.
Augen, die, das fühlte Ben, sehr schnell viel älter werden würden, wenn sie auf der Straße überleben würde. »Glaubst du an Gott, Jerre?« Sie wischte ihre Augen ab und nickte. »Ja, sicher. Aber nach alledem« – sie machte eine Handbewegung – »bekommt man Zweifel.« »Vielleicht hat Er beschlossen, uns eine zweite Chance zu geben.« »Das verstehe ich nicht, Ben. Wenn das der Fall ist, warum hat er dann so viele schlechte Menschen am Leben gelassen?« »Das kann ich nicht beantworten. Ich habe bloß eine Theorie entwickelt, das ist alles. Es gibt keinen Beweis, der sie stützen könnte – überhaupt keinen.« »Wie werden Menschen wie ich überleben, Ben? Ich meine, du hast mir erzählt, dass du seit Jahren nicht mehr zum Sport gejagt hast… und doch scheint all dies für dich so natürlich zu sein wie Atmen. Das liegt wohl an dem Training, das du beim Militär bekommen hast. Aber… Menschen wie ich, die noch nie eine Kanone abgefeuert haben, nie ein Tier geschlachtet haben, wie werden wir in einer Welt durchkommen, die soweit heruntergekommen ist: Einer kämpft gegen den anderen, und nur die Stärksten überleben? Ich habe Glück gehabt, und das wird mir von Tag zu Tag klarer. Ich habe dich gefunden, und du wirst mir soviel beibringen, wie du kannst. Aber die anderen, was ist mit ihnen?« »Die Menschen sind zäher, als sie selbst auch nur vermuten«, antwortete Ben. »Ich glaube, wir alle haben… verborgene Reserven in uns; eine Quelle der Stärke, die nur bei Katastrophen zum Vorschein kommt. Außerdem glaube ich, dass letztlich das Gute das Böse besiegen wird.« Sie dachte eine Weile darüber nach. »Du meinst, sogar wenn wir für einige Zeit in die Höhlen zurückkehren müssen?«
»Man könnte das so sagen. Sicher. Das ist das, was wir tatsächlich getan haben, im wesentlichen.« Er grinste, um sie ein wenig aufzuheitern. »Dad hat uns dazu erzogen, einfallsreich zu sein, dabei aber nett zu den weniger Glücklichen und nicht gemein zu anderen.« Er dachte an seinen Bruder in Chicago. »Vielleicht hat Carl vergessen, was Dad uns beigebracht hat.« Er drehte die Steaks um und verlor sich seinerseits in Gedanken. Wie immer war der Recorder eingeschaltet. Zuerst hatte es Jerre davor gegruselt, dass jedes Wort von ihr aufgenommen werden sollte. Aber sie hatte sich schnell daran gewöhnt. Sie hatte gemeint: »Ich vermute, alle Autoren sind irgendwie verrückt.« Sie holte ihn zurück in die Gegenwart. »Vielleicht hat dein Bruder das wirklich. Vergessen, meine ich. Aber du siehst nur all das Schlechte, was er tut oder überlegt zu tun. Ich stimme dem, was er tut, nicht zu, aber jede Münze hat zwei Seiten. Betrachte mal die andere Seite. Vielleicht ist dein Bruder es müde geworden, nachts nicht mehr die Straße hinuntergehen zu können, ohne Angst zu haben, überfallen zu werden oder dass seine Frau und seine Tochter vergewaltigt werden. Vielleicht ist er es müde geworden, Kriminelle, Verbrecher, Ganoven so behandelt zu sehen, als seien sie etwas Besonderes, anstatt zu registrieren, was sie wirklich sind: nur erbärmliche Bastarde. Vielleicht ist er es müde geworden zu sehen, wie mit seinen Steuergeldern Kriminelle unterstützt werden, anstelle ihrer Opfer. Es ist eine lange Liste, Ben, und du kennst sie so gut wie ich. Kriminelle, die Zugang zu ausführlichen Gesetzesbibliotheken haben, damit sie nach einer Gesetzeslücke suchen können, um aus dem Gefängnis herauszukommen. Das ist einfach falsch. Ich bin keine tolle Liberale, Ben. Ich finde,
wenn man ein Verbrechen begeht, muss man auch damit rechnen, dafür im Knast zu landen. Wir hatten am College einen Professor, der viel mit uns diskutiert hat. Er war Professor für Geschichte, und er hatte wirklich was auf dem Kasten. Ich hatte nicht mehr an ihn gedacht, bis du mir vor ein paar Tagen deine politische Philosophie erklärt hast. Weißt du noch, als ich dich gefragt habe, ob du Demokrat oder Republikaner bist, und du gesagt hast, du seiest zu vierzig Prozent Konservativer, zu dreißig Prozent Liberaler, zu zehn Prozent Evolutionsanarchist und zu zwanzig Prozent Revolutionsanarchist? Das ist ungefähr das, was Professor Hawkins immer sagte. Er glaubte, wenn die Gerichtshöfe nicht aufhören würden, die Kriminellen zu verhätscheln, und der Öffentlichkeit nicht das Recht zugestehen würden, sich selbst zu verteidigen, dass dann die Bürger die Angelegenheit bald in ihre eigenen Hände nehmen würden und anfangen, mit Verbrechern auf eine sehr rasche und harte Art und Weise fertig zu werden, und das Rechtssystem zur Hölle zu schicken. Er sagte, das fing damals in den späten Siebzigern mit den ›Wachsamer Nachbar‹-Programmen und Bürgerpatrouillen und was weiß ich an. Und er meinte, es sei eine Schande, dass die Gerichte mit den gesetzestreuen Bürgern, die ihre Steuern bezahlten, so rüde und, wie er sagte, so arrogant umgegangen seien. Ich habe ihn gefragt, was er mit ›arrogant‹ meinte, und er antwortete: ›Das Recht der Kriminellen wurde vor das Recht der gesetzestreuen Bürger gestellt.‹ Er sagte noch vieles mehr, aber ich konnte diesen Teil nie vergessen.« Sie ist ziemlich weit für ihr Alter, dachte Ben. »Oh, noch eins: Er sagte, für Reiche und Arme müssten die Gesetze gleich sein, damit unser Rechtssystem funktionieren könne. Und er meinte, dass wahrscheinlich eine Revolution
nötig sei, um das zu erreichen. Außerdem sagte er, wir hätten zu viele Gesetze auf dem Papier und zu viele Gesetzeslücken.« »Stimmst du dem zu, Jerre?« »Ja. Ich habe damals nicht aus tiefstem Herzen zugestimmt, aber jetzt schon.« »Ich glaube, du wirst es schaffen, Jerre.« Sie sah ihn im Licht der Laterne an, dann berührte sie seinen Arm. »Yeah, das glaube ich auch, Ben.« Sie erhob sich, um in die Küche zu gehen, wo sie Kartoffeln auf dem Butanofen zubereitete. Ben sah ihr nach und dachte: Nicht mehr lange. Ein paar weitere Tage, vielleicht eine Woche, dann wird sie verschwunden sein. Wir werden eine Gruppe junger Leute finden, und es wird ein gut aussehender junger Kerl dabei sein, und sie wird mit ihm gehen. Und wirst du eifersüchtig sein? fragte er sich selbst, mit einem matten Lächeln auf den Lippen. »Ja«, sprach er leise in die Nacht. »Ja, das werde ich.«
Beim erste Mal, als Ben Jerre erlaubte, das 22er-Mehrladegewehr abzufeuern, hatte er einen Abstand von fünfundzwanzig Fuß von einem Pappkarton abgemessen und ihr gesagt, sie solle darauf ballern. Sie verpasste den Karton mit allen neun Schüssen. »Es könnte helfen«, meinte Ben trocken, »wenn du deine Augen aufmachen würdest.« »Dieses Ding ist so laut!« »Neu laden«, ordnete er an. Während des Nachladens ließ sie die Pistole dreimal fallen. Ben sagte nichts; er ließ sie es auf ihre eigene Art tun. Sie konnte gar nicht anders als besser werden – todsicher konnte sie nicht schlechter werden. Jedesmal, wenn sie die Waffe fallen
ließ, hob Ben sie auf und überprüfte sie auf eine Blockierung in der Trommel. Was er nicht gebrauchen konnte, war eine junge Dame mit einigen weggepusteten Fingern. Oder einer Hand. Jerre übte am ersten Tag eine Stunde lang. Am Ende dieser Zeit konnte sie den Karton von neunmal insgesamt fünfmal treffen. »Es ist hoffnungslos.« Enttäuschung stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Ich finde, du hast es sehr gut gemacht. Du wirst noch besser werden.«
Sie fuhren durch die Außenbezirke von Petersburg. Dort fand Ben die erste Organisation, die auf den Wiederaufbau ausgerichtet war. Aber weder Ben noch Jerre mochten irgendjemanden dieser Gruppe. Der Anführer war ein fundamentalistischer Prediger (Ben fragte nicht, wovon), der Ben an ein bestimmtes Mitglied der alten Moral-Mehrheit erinnerte. Dieser Kerl war zu glatt, zu schlagfertig, er lächelte zu oft – und er hatte eine Antwort auf alles. »Der Typ verursacht mir eine Gänsehaut«, bemerkte Jerre. »Lass uns verdammt noch mal von hier verschwinden.« Viele Mitglieder der Gruppe hatten schon von Ben gehört. Einige baten ihn sogar, zu bleiben. Aber die Proteste des Predigers, Ben solle sie nicht verlassen, waren schwach und ohne aufrichtiges Gefühl. Ben beurteilte ihn als einen Mann, der herrschen wollte und keine Störung von außen wünschte. »Er hatte Angst vor dir, Ben«, meinte Jerre. »Er wird sich nicht lange halten«, sagte Ben voraus. Sie fuhren auf der Route 460 nach Südosten, auf Norfolk zu – oder was davon übrig war. Saboteure hatten die Stadt so gut wie zerstört.
»Es wird ein paar Blödmänner geben, die ihm bis zum Ende folgen, aber die meisten dieser Leute sind zu intelligent, um sich seinem Schwachsinn länger als nötig anzuhören.« »Er klingt dumm«, sagte Jerre mit der schonungslosen Ehrlichkeit der Jugend. »Und ich glaube nicht, dass er sehr aufrichtig ist. Um dir die Wahrheit zu sagen, ich finde, er ist ein Arschloch.« Ben lachte über sie. Sie fuhren so nahe an das Gebiet um Norfolk/Portsmouth/Virginia Beach heran, wie Ben das Gefühl hatte, dass es sicher sei. Rauch lag noch immer über der Gegend und brannte in ihren Augen. Sie fuhren noch ein paar Meilen zurück und verbrachten die Nacht in einem Motel. »Warum ist es immer so«, fragte Jerre, »dass die meisten schlechten Menschen in den Städten, den größeren Orten zu finden sind – konzentriert, meine ich?« Interessante Frage, dachte Ben. Aber er wich aus und sagte nur: »Erinnere dich daran, wenn du deine eigenen Wege gehst.« »Mach dir keine Gedanken.« Sie lächelte ihn breit über ihr aus C-Rationen bestehendes Abendessen hinweg an. »Ich habe lebhafte Erinnerungen an Wheeling.« »Und die Meile in vier Minuten.« »Und fünfzig Schwänze«, setzte sie dem Ganzen die Krone auf. In dieser Nacht war ihr Sex langsam und sehr zärtlich, da beide spürten, dass ihre gemeinsame Zeit bald zu Ende sein würde. Ben wappnete sich für den Augenblick, in dem Jerre ihn verlassen würde. Es war mehr als bloßes Gernhaben, was er für Jerre empfand, und obwohl er das vor ihr zu verbergen versuchte, fühlte er, dass sie das wusste.
Sie fuhren nach Suffolk zurück und wandten sich dann nach Süden, indem sie Highway 32 nach Edenton nahmen. Ben hielt in jeder Stadt am Weg an und suchte nach Überlebenden… aber eigentlich wollte er nur Zeit schinden und wusste das auch. Und was noch schlimmer war: Er hatte das Gefühl, Jerre wusste es auch. Während dieser letzten Tage saß sie die meiste Zeit sehr nahe bei ihm und hatte ihre Hand auf seinem Schenkel liegen. Sie sprach nur wenig, als sie durch North Carolina reisten, durch die toten und stillen, mit Unrat übersäten Städte. Sie beobachteten, wie die Hundemeuten sich bei ihrer An- und Abreise zähnefletschend fortstahlen. Sie fuhren schließlich hinüber zur Küste und hinab nach Nags Head. Ben hatte eine Polaroidkamera mitgenommen und hundert Bilder von Jerre gemacht, und sie von ihm. Sie wanderten am Strand entlang und sammelten Treibholzstücke und Muscheln. Ben spürte, dass es etwas gab, das sie ihm sagen wollte, aber er drängte sie nicht. Sie würde es ihm schon von selbst erzählen, wenn die Zeit gekommen war. Sie verbrachten eine Woche am Strand, und Ben brachte ihr bei, was immer er sie übers Überleben lehren konnte. Sie lernte ganz gut mit der Pistole umzugehen, vermochte ein Zelt aufzubauen und mit einem Graben zu umgeben, ein Feuer zu machen und darüber zu kochen. Aber Ben hatte nicht die Zeit, sie den sechsten Sinn zu vermitteln, ihn ihr einzuimpfen, damit sie erkennen würde, wann Gefahr im Anzug war und wem sie vertrauen konnte. Und wie konnte er ihr in so kurzer Zeit beibringen, zuerst zu schießen und erst dann Fragen zu stellen? Das musste sie auf die harte Tour lernen. Ben hoffte, sie würde es schaffen.
An einem Morgen erwachte Ben und merkte, dass Jerre nicht mehr neben ihm lag. Er rief nach ihr, und sie kehrte schnell zurück in die Hütte. Sie sah ihn mit ernsten Augen an. »Lass uns packen, Ben, und nach Westen fahren. Okay?« »Okay, Jerre. Wie weit nach Westen, und gibt es einen besonderen Grund für diese Richtung?« Sie nickte. »Es ist Zeit, offen mit dir zu reden, General.« Sie versuchte zu lächeln, aber es misslang. »Ich habe auf der Straße gehört, dass sich Jugendliche in der ersten und zweiten Novemberwoche an der Universität von Chapel Hill treffen wollten. Diese Nachricht war überall entlang der Strecke zu hören. Der Grund…? Ben, ich möchte deine Gefühle nicht verletzen, und bekomm das bitte nicht in den falschen Hals, aber…« »Aber die Erwachsenen haben die Welt zum Teufel gehen lassen, und vielleicht könnt ihr jungen Leute es besser machen«, beendete Ben den Satz für sie. »Du bist ein weiser Mann, Ben Raines.« »Ich bin ein Überlebender, Jerre.« »Und ich, Ben?« »Ich glaube, du wirst es schaffen, Baby.«
Ben fuhr an Raleigh vorbei, und sie verbrachten ihre letzte gemeinsame Nacht in Pittsboro, ein paar Meilen südlich von Chapel Hill. Sie liebten sich langsam, dann weinte sie sich selbst in den Schlaf, während sie in seinen Armen lag. In den frühen Morgenstunden, kurz vor der Dämmerung, fühlte Ben, wie sie sich neben ihm erhob und sich leise in der Dunkelheit des Hauses anzog. Sie legte eine Notiz auf das Kissen und küsste ihn sanft auf die Wange. Er stellte sich schlafend.
Jerre öffnete die Tür und blickte zu ihm zurück. Dann ging sie leise aus seinem Leben und schloss die Tür hinter sich. Ben lauschte dem Klang ihrer Schritte, die sich allmählich entfernten. Er stand aus dem Bett auf und stellte sich ans Fenster. Er sah hinaus in das schwache Licht und beobachtete, wie sie den Highway hinaufging, hin zu dem Treffen hoffnungsvoller junger Menschen. Als sie sich der kleinen Stadt genähert hatten, hatte Ben immer mehr junge Leute gesehen, die alle in Richtung Chapel Hill unterwegs waren. Sie hatten gelächelt und Jerre zugewinkt. Ben hatten sie kategorisch ignoriert. Als Jerre aus seinem Sichtfeld verschwunden war, schaltete Ben die batteriebetriebene Laterne an und las den Zettel, den sie zurückgelassen hatte. Lieber Ben, ich mache es kurz, denn wenn ich zuviel schreibe, zerreiße ich es bloß und bleibe bei dir, und ich denke, das wäre schlecht für uns beide – im Moment. Vielleicht ist das, was ich tue, dumm. Ich weiß es nicht. Aber ich habe das Gefühl, ich muss das tun. Die Welt ist in so einem furchtbaren Zustand, dass ich einfach etwas tun muss, um dabei zu helfen, sie wieder in Ordnung zu bringen. Vielleicht können wir junge Leute das. Ich weiß es nicht. In meinem Herzen bezweifle ich das irgendwie, aber wir müssen es versuchen – stimmts? Die Stimmung, die von den Jugendlichen rüberkommt, mit denen ich geredet habe, ist so, dass sie die Erwachsenen für das Durcheinander verantwortlich machen, in dem wir uns befinden. Ich persönlich finde das unfair. Du bist ein guter Mensch, und es muss andere wie dich geben. Aber gib uns eine Chance, ja? Ich kann meine Gefühle dir gegenüber nicht beschreiben, Ben. Ich mag dich wirklich sehr, wahrscheinlich liebe ich dich sogar ein bisschen.
Das ist ein Scherz – ich glaube, ich liebe dich wahrscheinlich sehr. Das ist einer der Gründe für mein Verschwinden. Es gibt noch andere, natürlich, aber meine Gefühle dir gegenüber stehen ganz oben auf der Liste. Du hast Orte, die du aufsuchen musst, und Dinge, die du tun musst, bevor du deine Aufgabe – dein Ziel, das vorherbestimmt ist, wie ich glaube – erfüllen kannst. Und du wirstes schaffen, Ben. Du wirst. Ich hoffe, ich sehe dich wieder, General. Jerre Ben faltete den Zettel sorgfältig zusammen und legte ihn in einen wasserdichten Beutel, in dem er andere wertvolle, stille Erinnerungen aufbewahrte: ein Bild seiner Mutter und seines Vaters, von seinen Brüdern und Schwestern, von einem Mädchen, das er einst geliebt hatte. Und nun – Jerre. Er legte die Bilder von Jerre zusammen mit ihrem Abschiedsbrief hinein, schloss die Lasche und befestigte sie. Für einige Zeit blieb er auf der Ecke des Bettes sitzen. Ihr Duft schwebte noch in der Luft, auf dem Kopfkissen, dem Bettlaken. »Auf Wiedersehen, Jerre«, sagte Ben laut. Er packte seine Sachen zusammen und fuhr los. Wäre er statt nach Süden in Richtung Norden gefahren, hätte er sie an der Straße gefunden – weinend und die leere Straße hinunter blickend. Nach Süden.
ZEHN
Ben war für einige Zeit gefühlsduselig, seine Gedanken düster und voller Bedauern und Selbstmitleid. Aber während er weiterfuhr, hob sich seine Stimmung wieder, als ihm klar wurde, dass Jerre in ihrer jungen Weisheit Recht gehabt hatte: Sie musste mit ihresgleichen Zusammensein, mit Leuten ihres Alters – wenigstens für eine Weile. Er wünschte den jungen Leuten viel Glück, glaubte aber nicht, dass sie etwas zustande bringen würden. Außer getötet zu werden. Damals, 1960, als Ben selbst erst sechzehn Jahre alt gewesen war, hatte er an Camelot geglaubt. Aber die Jahre im Kampf, in denen er das Schweigen der Toten, die Schreie der Verwundeten und das Verhungern der Menschen in Teilen von Afrika gesehen hatte, hatten ihn überzeugt, dass nur die Zähesten überleben; es gibt – nein: Es gab keinen Ort wie Camelot. Aber, dachte er, indem er ein erzwungenes Lächeln aufsetzte, lass es die jungen Leute probieren; vielleicht schaffen sie es ja wirklich, eine bessere Welt aufzubauen. Gott weiß, dass die letzten beiden Generationen diese hier jedenfalls total versaut haben. Er fuhr hinunter nach Sanford und hangelte sich dann weiter, bis er die Interstate erreichte. Die Auffahrt war blockiert, also schaltete Ben in den Vierradantrieb und fuhr die Böschung entlang, fuhr weiter, bis er eine Stelle entdeckte, von der er fand, hier könne er gut auf den Highway gelangen. Er fuhr hinunter nach Dillon und verbrachte den Rest des Tages damit, mit der M-10 zu üben und ein Gefühl für die 9-mm-Pistole zu bekommen. Ben fand heraus, dass die kleine Maschinenpistole
nicht die Durchschlagkraft oder die Reichweite der schweren alten Thompson hatte, aber sie war leichter und einfacher zu handhaben. Er beschloss, dabei zu bleiben. Der Schalldämpfer erhöhte die Reichweite um ein wenig – um maximal achtzig Meter – und bewirkte, das sich die Waffe leichter kontrollieren ließ, denn der Schalldämpfer wirkte wie der Lauf eines Gewehres. Ohne ihn verursachte die Ingram einen Höllenlärm. Sogar mit ihm klang sie wie eine schnell quakende Ente mit einem Sprachfehler. Ben bereitete sich ein Abendessen und stieg ins Bett. Er hatte intensive Träume, die ihn mehrmals aufwachen ließen. Sie waren gemischt – über seine Eltern, seine Geschwister, Fran – und ständig Jerre. Und der Traum über ein freies Land, das vom Volk geleitet wurde, mischte sich immer wieder darunter. Die Rebellen… führerlos… wartend. Beim ersten Tageslicht fuhr er zur Shaw Air Force Base, da er glaubte, dass von allen Orten hier am ehesten Leben zu finden sei – eine militärisch organisierte, disziplinierte Ordnung der Dinge. Niemand stellte sich ihm am Haupteingang in den Weg. Die Tür zum Wachhäuschen schlug, von Windstößen bewegt, hin und her; das Schloss war aufgebrochen. Die Basis war unheimlich still, aber es waren keine Leichen zu sehen. Ben fuhr um den riesigen Komplex herum und hielt aufs Geratewohl an, um die Gebäude und Barracken zu untersuchen. Nichts. Schließlich fand Ben in einem Soldatenclub vier Männer, die Karten spielten: einen General, einen Captain und zwei Sergeants. Sie schienen überhaupt nicht erstaunt zu sein, ihn zu sehen. Sie warfen den Pack Spielkarten auf den Tisch, schüttelten ihm die Hand und stellten sich vor. Dann luden sie Ben ein, sich hinzusetzen und etwas mit ihnen zu trinken – freies Besäufnis.
Als sein Drink vor ihm stand, mit dem ersten Eis, das Ben gesehen hatte, seit er Louisiana verlassen hatte, fragte er: »Ist das alles?« »Meinen Sie, alles, was es an Leben auf der Basis gibt?«, fragte der General. »Yep. What you see is what you get.« Ben erzählte ihm, was er tat – zu tun versuchte. »Ein hehres Ziel, das sie sich da gesetzt haben«, erwiderte der Captain. »Aber wer zum Teufel wird das lesen?« »Es sind noch Menschen am Leben. Wahrscheinlich viel mehr, als wir wissen.« »Oh, sicher«, entgegnete der General. »Ich könnte mir vorstellen, vielleicht zwanzig bis dreißig Millionen hier in den Staaten. Zum Teufel, ich und Jake hier« – er zeigte mit dem Daumen auf den Captain – »sind in den letzten sechs Wochen überall durch die Staaten geflogen und haben Sprechkontakt zu hunderten von Menschen aufgebaut. Wissen Sie, dass die Rebellen nach Ihnen suchen?« Ben nickte. »Ich habe davon gehört.« »Sie möchten wohl nicht deren Kommandant sein, wie?« Ben zögerte. »Ich… weiß nicht.« »Sie müssen wohl was ganz Besonderes sein, wenn Bull Ihnen die Verantwortung für den ganzen Kram überträgt.« Ben antwortete nicht. Der General brummte. »Wissen Sie, falls das Militär das nicht bald alles hinkriegt – ich schätze noch neunzig bis hundertzwanzig Tage – wird dieses Arschloch Logan wahrscheinlich zum Präsidenten ernannt.« »Das habe ich gehört. Mir fällt nichts ein, was für das Land entsetzlicher wäre.« »Dem stimme ich zu.« »Dann…?« Ben blickte den General an. »Warum Logan? Zum Teufel, das ist ein Scherz, Raines. Ein hässlicher, gottloser Scherz. Er ist der Einzige, der übrig ist –
das ist der Grund, vermute ich. Er ist wie ein aufgescheuchtes Kaninchen weggerannt und hat sich in einem Loch versteckt. Die anderen sind mit Washington und den Vorstädten hochgegangen. Ich bin über die Reste dieser nutzlosen Gegend geflogen. Es ist schrecklich, Mann, schrecklich.« »Oh, kommen Sie schon, General! Es muss doch noch einen anderen Senator oder Abgeordneten geben… irgendwo!« »Oh, sicher. Natürlich. Lassen Sie mich überlegen.« Er lächelte und begann an den Fingern abzuzählen. »Da hätten wir diesen jungen Kerl von Iowa…« »Senator Billing«, erwiderte Ben. »Es ist seine erste Amtszeit. Okay, General, der Punkt geht an mich. Logan ist ranghöher.« »Das ist es. Alle Minister sind weg – alle, bis auf den letzten.« »Oberstes Gericht?« »Alle weg… soweit wir wissen. Wir können sie nicht finden.« »General« – Ben lehnte sich vor – »jemand von Ihren Leuten muss es übernehmen; überlassen Sie es nicht Logan.« Der General schüttelte den Kopf. »Auf gar keinen Fall, Raines. Auf gar keinen Fall. Wir haben ausführlich darüber gesprochen. Es gibt… sechsundzwanzig Generäle und vier Admiräle, die überlebt haben – von allen Truppengattungen. Und das schließt die außer Dienst mit ein. Zum Teufel, wir haben einen, der so alt ist, dass er wirklich glaubt, er sei auf Corregidor, und warte auf die Rückkehr von McArthur. Niemand hat das Herz, ihm zu sagen, dass das schon fast fünfzig Jahre her ist. Ich war damals zwei Jahre alt! Auf gar keinen Fall, Raines.« Der General lächelte. »Abgesehen davon habe ich gehört, dass Logan einen Plan hat, die Vereinigten Staaten nach dieser Katastrophe an die Spitze zu bringen.« »Lassen Sie mich raten, General.« Bens Ton war eisig. »Hatte ich mir schon gedacht, dass Sie das wollen, Bursche.«
Ben widerstand dem Drang, dem General zu sagen, dass er kein ›Bursche‹ sei. Der General war gerade mal sechs Jahre älter als Ben. Aber ein höherer Rang führt bei manchen Männern dazu, dass sie so mit anderen umgehen. »Es war nicht bloß ein doppelt oder dreifach falsches Spiel, das Adams zuwege gebracht hat – es war mehr als das.« »Reden Sie weiter.« »Ich habe immer gedacht, dass Logan etwas verbirgt. Ich habe diesen Mann nie gemocht oder ihm vertraut. Er ist ein Pseudo-Liberaler, oder?« Der General grinste. »Bull hat schließlich doch gewonnen.« »Nein, Adams hat gewonnen«, meinte der General. »Bull hat ihn getötet, irgendwo im Staat New Nork, habe ich gehört. Logan war der Kopf der ganzen Sache. Das Problem begann, als die Rebellen von Logan erfuhren und Logan erfuhr, dass die Rebellen ihn erschießen würden, wenn sie ihn je in die Finger bekommen würden. Er ist bei den Konservativen kein sehr beliebter Mann, mein Sohn.« »Einen Moment bitte.« Ben hielt die Hand hoch. »Das wird langsam ein bisschen kompliziert. Die Rebellen wussten nicht, dass Logan wirklich hinter alledem steckte?« »Das ist das, was ich gehört habe. Colonel Dean auch nicht… bis zu den letzten acht oder zehn Tagen, bevor der Ball ins Rollen kam.« »Aber… warum sollte Logan seine wahren Ansichten so lange Jahre verborgen haben? Zu welchem Zweck?« »Um der beliebteste Liberale der Welt zu werden, Raines. Zum Teufel, die Minderheiten haben ihn geliebt. Er war ein aussichtsreicher Kandidat für das Weiße Haus. Die Rebellen hatte er bloß für den Fall, dass er verlieren würde, in der Hinterhand. Aber alles geriet völlig durcheinander:
Staatsstreiche überall auf der Welt, eine kleine Revolte in Russland, die Thunderstrikes, die Rebellen im Untergrund.« »Ich verstehe«, sagte Ben langsam. »Wenn… er erst einmal im Weißen Haus ist, kann er seine wahre Gesinnung zeigen, und mit dem Militär hinter ihm – und etwas sagt mir, dass sie ihn unterstützen würden – wäre er mehr als nur Präsident, nicht wahr, General?« »Er wäre der König.« »Logan wird sich sogar um das Ausland kümmern, sobald er das Militär hinter sich hat – oder, General?« »Es wird… oh… vier bis sechs Jahre dauern. Vielleicht acht.« »Er wird Kolonien bilden.« »Ein hässliches Wort, Raines.« »So ist die Wahrheit manchmal, Junge.« Der General lachte leise. »Adams konnte seine Leute nicht davon überzeugen, dass Logan wirklich ein guter Kerl war. Sie haben es ihm nicht abgekauft«, mutmaßte Ben. »Und als Adams ihnen die Wahrheit über Logan gesagt hat, weigerten sie sich, Adams und Logan zu unterstützen.« Der General nickte knapp. »Sie gehörten zu den Rebellen, nicht wahr, General?« Erneutes Nicken. »Aber… warum?« »Oh, zum Teufel, Raines. Niemand mag Nigger oder Juden oder Latinos wirklich. Das ist doch alles nur Gesindel. Sie sind nicht gleichwertig. Wir werden sie benutzen, damit sie uns dienen, für uns arbeiten, aber nicht Seite an Seite. Und das ist nicht mein Plan, sondern Logans.« »Getrennt, aber nicht gleich, wie?« »Mehr oder weniger.« »Das wird niemals funktionieren, General.«
Das Gesicht des Generals erhellte sich. »Natürlich wird es das, Junge. Sie kennen das amerikanische Volk nicht so wie ich. Tief in unserem Inneren, Junge, wissen wir, dass wir die Herrenrasse sind. Außerdem haben wir die Waffen – die meisten davon. Und das Militär wird in unserer Gesellschaft verehrt werden – anders als früher. Logan plant, das Volk wieder anzusiedeln, es umzuerziehen, es irgendwie neu zu programmieren, um es so zu sagen. Gleichzeitig reicht er den Dschungelaffen in Afrika in guter Kameradschaft die Hand.« »Um vorübergehend das Thema zu wechseln, General – es macht Ihnen doch nichts aus, wenn ich noch ein bisschen Zeit schinde?« »Überhaupt nicht, da Sie diesen Club nicht lebend verlassen werden.« Die Augen des Generals waren hart. Das hatte Ben bereits selbst herausgefunden. Unter dem Tisch entsicherte er die M-10, während er ein wenig lauter sprach, um das metallische Klicken zu übertönen. »Wie kommt es, General, dass wir überlebt haben und so viele andere nicht?« Der Kassettenrecorder lief und nahm alles auf. »Gute Frage, Raines. Ich habe schon viel darüber nachgedacht und kam zu folgendem Ergebnis: Das interessiert mich einen Scheißdreck.« »Sagen Sie mir die Wahrheit, General: Russland und China?« »Weg. Zum Teufel, Junge – Sie denken doch nicht etwa, dass wir diese Atombomben tatsächlich zerstört hätten, damals, als der letzte Abrüstungsvertrag unterzeichnet war? Auf gar keinen Fall. Da ist nichts übrig, mein Söhnchen. Kein Mensch, meine ich.« »Was ist mit radioaktivem Niederschlag?« »Es wird einigen geben – aber machen Sie sich keine Sorgen, Sie werden davon nichts abbekommen. Es gibt nicht viel. Zu viele saubere Bomben wurden verwendet.«
»Und ihr«, wandte Ben sich an das Trio,»seid ihr etwa alle auf Seiten des Generals?« »Absolut, Partner«, antwortete der Captain. Die Sergeants nickten. Ben drückte ab und beseitigte, indem er sich mit der M-10 von links nach rechts arbeitete, alles Leben vor seiner keckernden Mündung. Er stand aus seiner halbgebückten Stellung auf, um sich das Blutbad anzusehen, das er angerichtet hatte. Alle waren tot. Er stieg in seinen Lastwagen und fuhr zum Kommunikationszentrum der Basis. Für einen Moment hielt er an, um sich die verwirrende elektronische Ausrüstung anzuschauen. Nichts davon sah vertraut aus. Schließlich gelang es ihm, etwas einzuschalten, von dem er hoffte, dass es ein Funksender sei, und stellte ihn auf 39,2 ein. Er richtete das Mikrofon aus und beobachtete, wie die Nadel des VU-Messers ausschlug. »Hier kommt gar nichts«, murmelte er. Dann holte er tief Luft. »Hier spricht Ben Raines«, sagte er langsam. »Ich habe gehört, ihr Leute habt mich gesucht.« »Woher sollen wir wissen, dass Sie wirklich Ben Raines sind?«, erklang eine Stimme. »Wir hatten täglich zwei Dutzend Anrufe von Spinnern.« »Und woher weiß ich, dass Sie diejenigen sind, die Sie vorgeben zu sein?« »Bull hat uns von dem letzten Mal erzählt, dass er Sie gesehen hat. Er hat ihnen etwas zugerufen, als er in der Tür stand. Wir wissen, was er gesagt hat. Und wenn Sie Ben Raines sind, wissen Sie es auch. Erinnern Sie sich an die beiden Wörter?« »Bold Strike«, erwiderte Ben. »Entschuldigen Sie, General Raines, Sir. Aber wir mussten sichergehen. Es gibt eine Menge Schnüffelei.« »General!« stieß Ben hervor. »Mensch, ich bin kein General.«
»Doch, sind Sie, Sir. Entschuldigen Sie.« »Ich möchte wissen, wer zum Teufel Ihnen das erzählt hat!« »Colonel Dean, Sir.« »Ein Colonel kann niemanden zu einem General machen.« »Bull kann das – und hat es auch getan, General.« Ben ließ den Knopf des Mikrofons los. »Scheiße!« sagte er. »Was nun?« Er drückte den Knopf erneut. »Wie… äh… codiere ich mit diesem Ding?« »Wie ist die Zahl auf dem Funksender vor Ihnen?« Ben suchte und fand ungefähr achtundvierzig verschiedene Zahlen. Er konzentrierte sich auf die größte, die permanent zu leuchten schien. »Sehen Sie zu Ihrer Linken, Sir«, sagte ihm die Stimme. »Da muss ein Schalter sein, über dem das Wort ›Codieren‹ zu lesen ist. Legen Sie den Schalter um.« Ben sah nach. Da war er. Er fühlte sich wie ein Idiot. »Toller General bin ich«, murmelte er. Er richtete das Mikrofon aus und fragte: »Ist die Übertragung codiert?« »Wiederholen Sie, Sir.« Ben wiederholte es. »Jetzt ist die Übertragung codiert, Sir.« Ben informierte die Stimme über das, was in dem Soldatenclub ans Licht gekommen war. »Ja, Sir. Wir wissen, dass Logan ein weltweites Machtspiel unter dem Deckmantel einer Politik der guten Nachbarschaft plant. Aber was sollen wir dagegen tun?« »Sind eure Leute weltweit aktiv?« »Ja, Sir.« »Könnt ihr mit Sprengstoff umgehen?« »Wir können mit Sprengstoff umgehen, General.« »Ich bin nicht Ihr General!«
»Ja, Sir.« Ben seufzte. Er wartete. »General Raines? Sind Sie noch da?« »Oh, um Gottes willen!« Ben schlug auf den Mikrofonknopf. »Wollen Sie wissen, was Sie tun sollen? Ich sage es Ihnen: Sie können Ihren Leuten befehlen, in jede Militärbasis in diesem Land hineinzuschlüpfen und jedes gottverdammte Flugzeug zu zerstören, das sie finden.« »Ja, Sir, sehr gut, Sir. Das wird Logan daran hindern, uns zuvorzukommen. Wir haben Männer unter uns, die diese Flugzeuge fliegen können, Sir. Sollen wir davon einige für unsere Zwecke mitnehmen?« »Welche Zwecke?«, schrie Ben. »Für die Verteidigung unserer Nation, Sir.« »Welche verdammte Nation?«, brüllte Ben. »Die, von der Bull uns erzählte, dass Sie sie geplant hätten. Die, von der Sie in ‘Nam immer gesprochen haben.« Bens Seufzer war lang und frustriert. »Auf alle Fälle… äh… mit wem spreche ich?« »Lieutenant Conger, Sir.« »Nun gut. Okay, Lieutenant Conger. Wenn ihr Stellungen in… äh,…« Er schaltete das Mikrofon ab und überlegte ein paar Sekunden und sagte dann: »… Idaho oder Montana habt, bringt sie dorthin. Nehmt alles mit, von dem ihr denkt, ihr könntet es irgendwie gebrauchen. Verstanden?« »Ja, Sir!« Bei abgeschaltetem Mikrofon sagte Ben: »Gottverdammter Idiot. Das sollte sie beschäftigt halten.« »General Raines?« Die Stimme schallte laut und heftig über den Äther. »Was?«
»Wo sind Sie, Sir? Ich brauche Ihren Standort, damit ich einige Mannschaften schicken kann, die Sie schützen, bis Sie mit uns zusammentreffen.« »Mich schützen? Verdammt noch mal, ich brauche niemanden, der mich beschützt!« Die Stimme war für ein paar Sekunden still, und Ben war sicher, dass die Übertragung unterbrochen worden war. »Ja, Sir. Sie sagten, General Ruther, Sir? Das wäre der Shaw-Stützpunkt. Unser Kontingent in South Carolina wird Sie so bald wie möglich abholen. Ich…« Ben begann ins Mikrofon zu schreien. Er wusste nicht, ob der Mann namens Conger nicht mehr auf Sendung war und zuhörte oder immer noch seinen Nonsens plapperte. »Hören Sie mir jetzt mal zu!« brüllte Ben. »Ich bin nicht – ich wiederhole – NICHT Ihr Commander. Hiermit ernenne ich Sie, Conger, zum kommandierenden Offizier der Armee der Rebellen, oder wie zum Teufel Sie sich nennen. Haben Sie das verstanden?« »Bestätigt, Sir. Aber Sie können mich nicht zum Kommandanten ernennen.« »Warum nicht, zum Teufel?« »Weil Bull Dean mein Onkel war. Er gab sein Leben für dieses Land, und er sagte, dass Sie nach seinem Tod das Kommando übernehmen sollten. Und damit basta, Sir.« Ben wusste, wann er sich geschlagen geben musste. »Gut, Lieutenant, bestens. Sie haben meine Befehle. Führen Sie sie aus. Ich werde wieder Kontakt mit Ihnen aufnehmen… irgendwann.« Er unterbrach die Verbindung, bevor Conger Zeit hatte zu widersprechen. Er blickte auf das Funkgerät und sagte: »Ich bin nicht Ihr kommandierender Offizier, mein Sohn. Punkt. Auf Wiedersehen. Viel Glück.« Ben durchstreifte die Basis, bis er die Hütte für das Feldzeugmaterial gefunden hatte. Er brach das Gebäude auf und
begann den Sprengstoff durchzusehen. Seine Kenntnisse waren zu eingerostet, um darauf zu vertrauen, und so benutzte er keinen Zünder, sondern nahm einige Kisten mit Brandbomben und füllte eine Reihe von Fünf-Gallonen-Kanistern mit Jet-Kraftstoff, der eine hohe Oktanzahl hatte, und vergoss einiges davon um die Flugzeuge auf dem Hallenvorfeld herum. Dann begann er damit, die Flugzeuge zu zerstören. Als er fertig war, war er bedeckt mit Ruß und schwerhörig von den Explosionen. Es würde lange dauern, diese Rollbahn aufzuräumen und zu reparieren. Danach fuhr er um die Basis herum, warf Granaten in jedes andere Gebäude und steckte die Basis in Brand. Er fuhr lächelnd durch das Haupttor und sagte: »Leck mich doch, Logan.« Ben nahm den Highway 601 nach Orangeburg und fuhr dort auf den Highway 21 auf. Er verbrachte die Nacht in einem Haus nahe der Interstate 95, ungefähr fünfzig Meilen nördlich von Savannah. Am Morgen würde er nahe genug sein, um dem CB-Funk-Geschwätz lauschen zu können und dann zu entscheiden, ob er in die Stadt hineinfahren würde. Am nächsten Morgen, nachdem er den CB-Funk abgehört hatte, entschied er, dass er auf keinen Fall in die Stadt hineinfahren würde. Er fuhr um die Stadt herum und zwischen Savannah und Fort Stewart auf die Interstate 95 auf. Südlich der Stadt nahm er den Highway 82 und begann wieder einmal, die kleineren Städte auf dem Weg zu überprüfen. Er machte Notizen auf seinem Recorder, und allmählich verschwand der Gedanke an Conger und seine reaktionäre Bande aus seinem Gedächtnis. Ein paar Meilen außerhalb von Jessup, in einem Picknickbereich neben der Straße, wo er angehalten hatte, um etwas von der C-Ration zu essen, vernahm er ein Knurren. Er erstarrte für einen Moment und griff mit der rechten Hand vorsichtig die M-10.
Zuerst dachte er, es sei ein Wolf, der auf der Ladefläche des Lastwagens saß, auf einer mit einer Plane bedeckten Kiste, und ihn von der Seite anblickte. Ben sah genauer hin und erkannte seinen nach oben gebogenen Schwanz. Dies war kein Husky, schloss er, sondern ein Eskimohund, einer der größeren Rasse. Der Hund sah aus, als sei er über einen Meter groß und achtzig bis neunzig Pfund schwer. Er war grau wie ein Wolf, und das Fell um seine mandelförmigen Augen bildete eine schwarze Maske. Das Tier gähnte und entblößte dabei Zähne, die einen Mann sehr schnell in winzige Brocken Fleisch zerlegen konnten. Dann schloss der Eskimohund sein Maul und blickte Ben an. Er wirkte weder freundlich noch feindselig, sondern nur neugierig. Ben warf das, was von seiner C-Ration noch übrig war, auf ein Stück Papier und legte es vor sich auf den Boden. »Na, komm«, forderte er den Hund auf. Dieser sprang vom Lastwagen und lief zu dem Essen, das er in zwei Bissen verschlang. Er sah Ben an, als ob er ihn um weiteres Futter bitte, allerdings nicht anbettelte. Ben öffnete noch eine Dose und kippte den Inhalt auf das Papier. Das Tier aß und lief dann zum Graben neben dem kleinen Park, wo es geräuschvoll Wasser trank. Als sein Durst gestillt war, kam es zum Lastwagen zurück, sprang zurück auf die Ladefläche und legte sich hin, indem es seine Augen schloss – als ob es das auf diesem Lastwagen schon sein ganzes Leben lang getan hätte. Hat wahrscheinlich jemandem gehört, der ihn mit einem kleinen Lastwagen herumgefahren hat, dachte Ben. »Also, wenn du mitfahren willst, soll es mir verdammt noch mal recht sein. Ich werde dir nicht sagen, dass du verschwinden sollst.« Der Hund öffnete seine Augen und sah Ben an, dann schlief er wieder ein.
Ben kontrollierte die Gegend, warf seinen Abfall in einen Container und stieg in den Lastwagen. Er öffnete das rückwärtige Schiebefenster, machte sich bereit und fuhr los. Nach einigen Meilen steckte das Tier seinen Kopf durch das Fenster, sah Ben an, der den Atem anhielt, und leckte ihm dann über die Wange. Ben streichelte den Kopf des Tieres, und der Hund bellte glücklich und machte es sich dann wieder auf der Zeltleinwand gemütlich. »Sieht so aus, als hätte ich einen Freund gefunden.« Ben grinste. So verbrachten Ben und sein neuer Freund, dessen Name, wie Ben entdeckte, als er auf der Hundemarke nachschaute, Juno war (wahrscheinlich eine Abkürzung von Juneau, Alaska, vermutete Ben), den Tag und den Abend damit, sich miteinander vertraut zu machen. Und sie passten gut zusammen. Er hatte seit seinen Kindertagen in Illinois kein Haustier gehabt. Nach einer kurzen Zeit mit Juno fragte er sich, warum. Er bemerkte, dass Juno wachsam war, wohl nicht mehr als drei Jahre alt, und intelligent, wie es schien. In dieser Nacht schlief Ben tief und sicher, denn das Tier lauschte aufmerksam auf jedes nächtliche Geräusch. Während der Nacht hatte Juno sich an Bens Schlafsack gekuschelt, und die Wärme und Nähe war tröstlich für Mensch und Tier. Eine Freundin verloren und einen Hund gewonnen. Ben lächelte, als er einschlief. Am nächsten Morgen entdeckte er allerdings, dass Flöhe auf ihm herumkrabbelten. Juno begegnete dem vorwurfsvollen Gekratze seines neuen Herrn mit verächtlichem Hundeblick, der zu sagen schien: »Zum Teufel! Wenn du dich mit Hunden hinlegst, was erwartest du dann?«
In der ersten Stadt, die sie an diesem Morgen erreichten, nahm Ben einen Vorrat an Flohpuder und -spray mit sowie verschiedene Flohhalsbänder. Dann badete er Juno und sich selbst und verteilte das Puder, was das Flohproblem löste. Ben fuhr aus Callahan hinaus, in Richtung Südosten. Er hatte kein Bedürfnis danach, durch Jacksonville zu fahren. Einige wenige Menschen hatte er gesehen. Diese waren größtenteils still und in sich gekehrt, aber einige zeigten sich offen feindselig. Er hatte Gerede über sein CB-Funkgerät aufgeschnappt, aber nichts davon war freundlich. Verschiedene Male hatte er entlang des Highway angehalten, um nach Leichen zu sehen. Alle von ihnen waren nicht länger als zwei oder drei Tage tot, und sie waren erschossen worden. Einige Meilen den Highway hinunter fand Ben eine Leiche, die an einem Baum neben der Straße hing. Ein plump beschriftetes Schild hing ihr um den Hals, auf dem stand: NIGGER. Etwas später fand er die Leiche eines weißen Mannes, die ebenfalls an einem Baum hing. Auf dem Schild um den Hals des Mannes stand: DIE GERECHTIGKEIT WIRD OBSIEGEN. »Wundervoll«, bemerkte Ben. »Ich bin so glücklich zu sehen, dass unser Rechtssystem – so unzulänglich es war – immer noch Bestand hat.« Schnell ließ er diesen Teil des Staates hinter sich. Selbst Juno schien erleichtert zu sein, dass sie weiterfuhren. In Raiford folgte Ben den Schildern zu dem großen Gefängnis, aber schon lange bevor er den Stacheldraht und die Mauern sah, roch er den Tod, drehte um und fuhr zurück. Ein riesiger Schwarm Geier kreiste am Himmel. Er wanderte durch den nördlichen Teil des Staates, ganz bis Hampton Springs, und fand ein paar Menschen, einige freundlich, einige feindselig. Überall, wohin er sich wandte, sah er Anzeichen von Plünderei und Gewalt.
Dann, als er an dem Regler seines Kofferradios drehte, hörte er die Musik. Er war so überrascht, dass er an den Straßenrand fuhr und das Radio voll aufdrehte. Die Musik verstummte, und eine Stimme erklang. »Ja, Sir, Leute, es ist ein heller, schöner Tag hier in der City mit den Titties. Die Temperatur liegt bei fünfunddreißig Grad, und ihr hört SEAL mit Gefühl, und Ike McGowen, der aufpasst, dass die Platten sich drehen. Hörst du zu, Bruder? Falls ja, und du zum freundlichen Teil gehörst, dann fahr runter zur Küste nach Yankeetown und sei herzlich willkommen. Aber falls du feindselig bist, dann trag deinen Arsch weiter, Bruder.« Ben lachte und fragte sich, ob SEAL etwas bedeuten sollte oder bloß ein Spitzname war. Er entschloss sich, das herauszufinden. Während er weiterfuhr, suchte er fortwährend nach einem Funkturm. Er fand ihn erst, als er zum Rand des Wassers kam, und es war der am baufälligsten aussehende Turm, den er je gesehen hatte – er neigte sich bedenklich nach einer Seite und sah aus, als könne er jeden Moment umstürzen. Ben fuhr in die Einfahrt eines großen Hauses am Ozean und stieg aus. Eine schnatternde Schar junger Damen im Bikini stürmte springend und wackelnd heraus, auf ihn zu. Alle waren mit Automatikwaffen ausgerüstet, die ihnen etwas von ihrer Schönheit nahmen. Ein Mann mit einer CAR-15 folgte ihnen. »Ich komme in friedlicher Absicht«, rief Ben. »Für den Hund kann ich nicht unbedingt sprechen – ich kenne ihn erst seit ein paar Tagen, aber ich glaube, er ist gutmütig.« »Wie lautet Ihr Name, mein Freund?«, rief der Mann. »Ben Raines.« »Ich bin Ike McGowen. Wie heißt der Hund?« »Juno.«
»Also, Ben und Juno, kommt mit in die Radiostation MOSE, und bleibt eine Weile.« Ben lachte. »MOSE?« Ike erwiderte das Lachen. »Yeah – es ist ein bisschen feucht in den Ecken, aber wunderbar, Mann. Wunderbar.« In dem unregelmäßig gebauten Haus stellte Ike Ben den Frauen vor. »Diese hier ist Tatter, und das ist June-Bug, die da drüben ist Space-Baby, und dies ist Angel-Face. Die Blonde ist Honey-Poo. Die Dunkelhaarige, die sich da auf dem Boden räkelt und zu faul ist, um aufzustehen, ist Beil-Ringer. Sie behauptet, eine Angehörige der negriden Rasse zu sein, aber ich glaube, sie war bloß zu lange in der Sonne.« Beil-Ringer lächelte und zeigte ihm den Mittelfinger. Sie lächelte Ben an und vertiefte sich dann wieder in ihr Buch. Ike sagte: »Wir haben alle Annehmlichkeiten, mein Freund. Einen Generator, der Licht, Musik und heißes Wasser erzeugt. Also machen Sie sich einen Drink, und lassen Sie uns reden. Und dann stimmen wir ab.« »Abstimmen? Worüber?« Ike grinste. »Ob Sie für eine Weile bei uns bleiben – oder uns wieder verlassen.« »Nun, ich hatte nicht geplant, hierzubleiben, aber ich werde ihr Angebot, einen Drink mit Ihnen zu nehmen, gerne annehmen.« Ike wischte Bens Gedanken, wieder zu gehen, mit einer Handbewegung weg. »Sie sehen aus wie ein Typ, der okay ist. Zum Teufel, bleiben Sie eine Weile. Erzählen Sie uns Ihre Geschichte, und dann stimmen wir ab.« Während er einen Bourbon mit Wasser trank, erzählte Ben, was er tat – und getan hatte. Er erzählte ihnen von dem General auf dem Shaw-Stützpunkt, von Logan, den Rebellen. »Ich hatte mich schon gefragt, ob Sie der Schriftsteller sind. Yeah, ich habe von den Rebellen gehört; habe schon ein paar
Mal auf 39,2 mit ihnen gesprochen. Ich weiß nicht viel über sie, aber sie klingen ziemlich anständig. Zum Teufel, Ben, wir können keinen General hier rauswerfen.« Ben schnitt eine Grimasse, und alle lachten. »Sie kommen mir nicht gerade wie der typische DJ vor«, sagte Ben zu Ike. Ike grinste, wobei seine Jungenhaftigkeit durchkam. »Eigentlich bin ich das auch nicht. Aber ich wollte es immer sein. Nein«, sagte er seufzend, »ich bin – war – in der Navy. SEAL. Wir haben gerade bei Fort Walton Beach Training abgehalten, als alles ins Rollen kam. Das war vielleicht ein Chaos, Mann. Jesus! Niemand konnte seinen Arsch von Erdnussbutter unterscheiden. Mir gings hundeelend.« Er sah Juno an. »War nicht als Beleidigung gedacht, Köter. Ich bin für ungefähr eine Woche völlig benommen durch die Gegend gelaufen. Dann stieß ich auf Beil-Ringer, als sie gerade von einer Bande Hinterwäldler vergewaltigt wurde – also bin ich dazwischengegangen und habe für sie meine kleine Lebensrettungsrolle gespielt, denn sie hatte die Schnauze voll, um es mal so auszudrücken.« Beil-Ringer zeigte ihm einen Vogel. »Sie haben sie getötet.« Bens Bemerkung war keine Frage, sondern eine Feststellung. »Ja, das habe ich getan.« Ike grinste. »Ich und meine kleine alte CAR-15. Am nächsten Tag begegneten wir Tatter und June-Bug, und irgendwie haben wir uns alle hier niedergelassen. Die anderen sind später hereingeschneit, als ich mit der Station auf Sendung war.« Er blickte die Damen an. »Lasst uns abstimmen. Alle, die dafür sind, dass General Ben Raines bleibt, hebt eure Hand, oder euren Fuß, oder hebt eine Titte hoch – irgendwas.« Alle Hände gingen nach oben.
Das Grinsen von Ike wurde noch breiter. »Sie sind zu Hause, General. Wir helfen Ihnen beim Ausladen.« Juno kuschelte sich an June-Bug. Er hatte sich bereits entschieden zu bleiben. Ben konnte es ihm nicht verübeln.
ELF
»Waren schon viele Besucher hier?«, fragte Ben. An der Küste wurde es langsam dunkel, und die Bucht war so wunderschön wie die preußisch-blauen Augen von Jerre; sie leuchtete sanft und legte ein friedliches Glühen über den Sand. Einen Moment lang dachte Ben an Jerre und war traurig. Honey-Poo hörte die Sanftheit in seiner Stimme und war bewegt. Ben war sich der Ausstrahlung, die sie auf ihn hatte, wohl bewusst, so wie sie umgekehrt auch. Ike blickte die beiden an und grinste wissend. »Yeah, schon manche haben versucht, hier reinzukommen und das alles zu übernehmen, haben sich aufgespielt und ‘ne dicke Lippe riskiert. Aber ich hab all diesen Mädchen den Umgang mit Waffen beigebracht, und sie zögern nicht, einem Unruhestifter den Arsch wegzublasen. Diese Kerle sind hier nicht alt geworden. Wir haben sie dort drüben begraben.« Er zeigte hin. »Jenseits des Hauses. Ich vermute, nach der letzten Schießerei hat sich das rumgesprochen, denn seitdem sind keine Hinterwäldler und kein Abschaum mehr aufgetaucht. Aber wir haben gehört, dass es im nördlichen Teil des Staates ziemlich schlimm sein soll, und ganz besonders in Jax und Tampa. Auch noch in ein paar anderen Städten.« Ben erzählte von den Leichen, die er neben der Straße an Bäumen hängen gesehen hatte, und er berichtete, was in Chicago und einigen der anderen Städte im ganzen Land passieren würde – falls es nicht schon passiert war. »Richtiges und Falsches auf beiden Seiten«, sagte Beil-Ringer, stand dann von ihrem Stuhl auf und ging hinein. Ike folgte ihr.
»Zwischen denen läuft was«, meinte Honey-Poo. »Ich glaube, die werden bald heiraten.« Plötzlich, ohne Vorwarnung, dachte Ben an Salina. »Beil-Ringer ist eine wunderschöne Frau.« Das war sie wirklich. »Und auch intelligent. Sie ging in Gainesville zum College, und war dabei, ihren Dr. Phil, in irgendwas zu machen. Aber sie redet nicht viel darüber. Der Typ, mit dem sie ging – nichts Festes oder Ernstes – wurde zwei oder drei Tage nach dem Krieg getötet, oder was zum Teufel das war, was da passiert ist.« Ben erzählte ihr von dem Tonband, das er gehört hatte, als er vor dem Radiogeschäft Shack in Morriston gesessen hatte – vor tausend Jahren, wie es schien. »Yeah, Ike hat dasselbe Band gehört.« »Der Freund von Beil-Ringer – wie wurde er getötet?« »Sie erzählt nicht viel darüber, aber ich vermute, er war irgendwie militant. Er hatte keine großartige Bildung, aber versuchte auf seine eigene Art das Richtige zu tun – ihre Worte. Ich weiß nicht, wer mit der Schießerei begann, an dem Tag, an dem er getötet wurde – sie denkt wohl, er – aber, wie auch immer, er ist tot. Sie wanderte für einen Tag oder so ziellos umher, bis diese Hinterwäldler sie schnappten und sie abwechselnd vergewaltigten. Das ist alles, was ich weiß.« »Und du?« Ben sah sie an. Sie war ungefähr fünfundzwanzig und in der Blüte ihrer Schönheit. Hohe, volle Brüste, lange, schlanke Beine, langes, dichtes Haar. »Ich habe in einer Bank in St. Pete gearbeitet.« »Kein Freund?« »Nur jemanden zum Reden, nichts Ernstes. Weißt du, was ich meine?« Ben nickte. »Ja.«
»Tatter war Lehrerin.« Sie lachte. »Wirklich! June-Bug war ein Mädchen vom College. Space-Baby arbeitete für die Regierung, unten am Kap. Und Angel-Face war Hausfrau. Sie wachte eines Morgens auf, und ihr Mann lag tot neben ihr. Sie sagte, es war schrecklich. Das machte sie eine Zeitlang ganz schön fertig.« Von der Decke auf der langsam dunkler werdenden Sonnenveranda sah sie zu Ben auf. »Du reist wirklich durch das Land, siehst dir an, was passiert ist, und redest mit den Leuten?« »Ja, das tue ich.« »Aber ernsthaft, Ben, wir haben gehört, dass du der Kommandant dieser Rebellenarmee bist. Wirklich!« »Da habt ihr was Falsches gehört. Ich bin kein Kommandant von irgendeiner Armee. Ich bin Schriftsteller. Das war’s.« »Hmmm«, sagte sie. »Nun, was schätzt du, wie lange wirst du für das Projekt brauchen?« »Mehrere Jahre, wahrscheinlich.« Wenn mir nichts dazwischen kommt. Verdammt, Bull! Sie seufzte. »Das macht bestimmt Spaß, könnte ich mir denken. Irgendwie abenteuerlich. Wie die Pioniere, irgendwie.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber ich bin nicht sehr abenteuerlustig. Ich bin ein Feigling.« »Nun, ich werde wohl hier überwintern, denke ich. Zumindest jedenfalls ein paar Monate. Vielleicht drei. Ich denke, ich werde morgen mal die Küste abklappern und nach einem Ort suchen, an dem ich bleiben kann.« »Möchtest du Gesellschaft?«, fragte sie sanft. Ihre Stimme war wie eine Einladung. Eindeutig. »Sicher. Ich glaube, wir passen zusammen.« Sie grinste ihn an. »Das könnte ich mir auch vorstellen. Du würdest mich gern vögeln, oder?«
Ben und Honey-Poo passten sehr gut zusammen. Sie erzählte ihm in der ersten Nacht, dass sie gerne bei einem Mann sein wolle, nicht allein schlafen wolle, für einen Mann sorgen wolle. Aber… »Vertrau mir nicht zu sehr, Ben. Ich meine, ich bin für eine Weile treu wie ein Hündchen, aber dann kriege ich Hummeln im Hintern. Ich werde dir nicht absichtlich weh tun, aber ich werde gehen, wenn mir danach ist. Also verliebe dich nicht in mich, okay?« »Ich werde mein Bestes tun«, antwortete Ben, indem er seine Hand über ihren Bauch wandern ließ und dann zu dem Gewirr aus Schamhaaren. Sie bewegte sich unter seinen Liebkosungen und seufzte, als sein Finger ihre Feuchtigkeit fand und in sie eindrang. »Wie lautet dein richtiger Name, Honey-Poo?« Sie stieß vergnügte Zischlaute aus und bog ihre Hüften nach oben, seinem drängenden Finger entgegen. Ihre Hand fand seine Härte und begann langsam, ihn zu bearbeiten. »Prudence.« »Ich bleibe bei Honey-Poo.« »Zuerst machst du es mir, Ben.«
Weihnachten Es war ein raues Wetter für diesen Streifen von Florida. Die Temperatur bewegte sich um die fünfzehn Grad, und der Wind war kühl genug, um die Leute dazu zu bringen, Pullover und Jacken anzuziehen. Ein großes Feuer prasselte in Ikes Arbeitszimmer. Es war ein Hochzeitstag. Ike saß mit Ben im Arbeitszimmer; Beil-Ringer war mit den Mädchen im Schlafzimmer und machte sich fertig.
Ausnahmsweise (das erste und einzige Mal, seit Ben angekommen war) war Ike in halbwegs ernster Stimmung. »Los, komm schon, ich weiß, dass es in deinem Kopf herumschwirrt. Also bring es hinter dich.« Ben trank seinen Kaffee aus. Da er als ›Pfarrer‹ fungieren sollte, erschien es ihm nur recht und billig, nüchtern zu sein. Um die Wahrheit zu sagen: Niemand sonst war es. »Bist du dir sicher, was diese Entscheidung angeht, Ike? Bist du sicher, dass du das Richtige tust?« »So sicher wie nur irgendwie.« »Wie stehen die Chancen, dass es mit euch klappen wird?« »Es hat schon geklappt, Ben. Unzählige Male.« Ike grinste ihn an. »Im Ernst, Ike!« »Okay.« Er wurde ernst. »Ich schätze, wir haben vielleicht eine neunzig- bis fünfundneunzigprozentige Chance, zusammen glücklich zu werden. Und ich glaube, das ist eine tausendmal bessere Chance als in den meisten Ehen. Zitat: Sogar als die Zeiten noch normal waren, Zitat Ende.« Ben musste ihm da zustimmen. Er warf einen Blick auf die Uhr. Noch eine halbe Stunde. »Woher kommst du, Ike?« Ike lächelte sein jungenhaftes Lächeln. »North Mississippi.« »Machst du Witze?« »Im Ernst, Ben. Also, yeah, ich weiß, was ich tue.« Er öffnete eine neue Bierdose. »Mein Daddy war ein Mitglied des Klans, daher bin ich erzogen worden, Nigger zu hassen. Nun, ich mag immer noch keine Nigger, Ben Raines, genauso wenig, wie ich weißen Abschaum oder erbärmliche Mexikaner oder schlechte Norweger mag. Wenn ich so darüber nachdenke, Ben, gibt es eine verdammt große Menge von Texanern, mit denen ich nie klarkam, aber das heißt nicht, dass es in diesem Staat nicht auch ‘ne ganze Menge guter Leute gab. Verstehst du, was ich sage?
Beil-Ringer ist ein wirklich toller Mensch, der eine schöne braune Haut hat, das ist alles.« »Aber sie ist trotz allem eine Schwarze.« »Ja, sicher. Na und?« »Ich musste nur sichergehen, dass dir das klar ist, Ike. Ich muss ihren wirklichen Namen wissen, Ike.« »Megan Ann Green. Und mein Name ist Ignatius Victor McGowen. Und wenn du mich während der Zeremonie Ignatius nennst, haue ich dir eins aufs Maul.« Ben lachte laut. »Ich bleibe bei Ike.« »Mein Daddy war ein Banker«, sagte Ike weich. »Ein guter. Er hat ‘ne Menge Geld verdient. Aber er träumte von dem alten Süden, wie er früher einmal war: Baumwollfelder, die im Herbst weiß leuchteten, Plantagen, Minzjulep – er war dafür, dass die Schwarzen wieder versklavt würden. Das hielt er für rechtens und er sprach oft darüber. Er hasste Schwarze. Er versuchte, mich ebenfalls dazu zu bringen, sie zu hassen, aber das hat nicht hingehauen – nicht wirklich. Ich hatte irgendwie immer Schuldgefühle deswegen. Nun« – er seufzte – »wir hatten eine schwere Auseinandersetzung in meinem letzten Schuljahr. Das war 1970.« Ben schenkte ihm einen überraschten Blick. »So alt siehst du gar nicht aus, Ike. Dann wärest du… Mitte dreißig.« »Das liegt alles an meinem soliden Lebenswandel.« Ike lächelte. »Wie auch immer, ich bin an dem Tag, oder besser, der Nacht, von zu Hause weggegangen, an dem ich mit der Schule fertig war. Ich ging zur Navy, zur UDT und dann zu den SEALs. Und da bin ich seitdem geblieben.« »Bist du je nach Hause zurückgekehrt?« »Oh, sicher. Ich war ein paar Mal da. Dad und ich versöhnten uns wieder, auf unsere eigene, seltsame Art. Dad starb… lass mich mal überlegen… 1980. Mom folgte ihm ‘81. Zum Teufel, Ben, ich bin ein reicher Mann – denk nur an all die Besitztümer,
die Dad mir vererbt hat. Ich wollte die Navy einfach nicht verlassen.« Eine Warnglocke begann in Bens Hirn zu läuten. »Was wirst du tun, Ike? Nach der Hochzeit, meine ich.« Ike lächelte. »Ich gehe zurück nach North Mississippi, Ben, und bewirtschafte mein Land.« »Das ist Wahnsinn, Kumpel, und du weißt es. Du beschwörst ‘ne ganze Menge Ärger herauf – nicht nur für dich, sondern auch einigen Kummer für Megan.« Ike schüttelte den Kopf. »Ben, wenn die anfängliche Welle des Hasses erst einmal abgeflaut ist – falls sie das tut« – er setzte diese Einschränkung hinzu – »werden die Leute beginnen, anders über sie zu denken. Das war zumindest mein ursprünglicher Gedanke. Aber wenn Logan der nächste Präsident wird; nach allem, was du mir über ihn erzählt hast… ich weiß es nicht. Ich habe viel darüber nachgedacht, und auch über eins dieser Bücher, die du geschrieben hast – das über eine Nation innerhalb einer Nation, eine Regierung, die wirklich für das Volk und durch das Volk besteht. Und ich habe auch über deine Rebellen nachgedacht.« »Es sind nicht meine Rebellen, Ike.« »Doch, ich finde schon, Ben.« Wieder dieses Lächeln. »Verstehst du… ich bin einer von ihnen.« Ben sah ihn an und nickte dann langsam. »Okay, das passt zusammen. Conger hat dich informiert, oder?« »Yep.« »Und jetzt?« Ike zuckte die Achseln. »Jetzt… nichts. Zum Teufel, General, ich werde dich nicht drängen. Mach eine Weile so weiter, sieh dir das Land an, schreibe dein Journal. Deine Pflicht wird dich nach einiger Zeit einholen.« »Meine Pflicht?«
»Ja, Ben. Pflicht. Der alte Bull hat dich ausgewählt, um seine Kinder zu führen. Conger hat mir erzählt, dass du zu ihm gesagt hast, sie sollten alle Flugzeuge zerstören, die sie in die Finger kriegen, und so weiter. Gute Idee. Aber was sollte das mit Idaho und Montana?« Ben erzählte ihm von seinen Träumen, von einem Land mit Bergen und Tälern und Vieh und Getreide und zufriedenen Menschen, die alle unter Gesetzen lebten, die sie ausschließlich selbst beschlossen und verabschiedet hatten. »So wie du es in deinem Buch geschildert hast?«, fragte Ike sanft. Ben seufzte und schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, mein Freund. Ich glaube. Aber ich muss trotzdem noch eine Weile darüber nachdenken.« »Mach das, Kumpel. Wir haben Zeit. Weißt du, Ben… weißt du, was das Problem des Großen Bruders war?« »Nein«, gab Ben zurück, der nicht verstand, worauf Ike hinauswollte. »Nun… Der Große Bruder sagte zu uns – befahl uns – dass wir jeden mögen müssten, den wir treffen. Einfach so war das irgendwie dumm. Ich schwöre dir, Ben, dass seit dem Anbeginn der Zeit, bis zurück zu den Höhlen, schon immer eine Art Kastensystem bestanden hat und auch immer bestehen wird. Keine Regierung kann einem Menschen befehlen, einen anderen Menschen zu mögen; zum Teufel, die persönliche Chemie zwischen den beiden stimmt vielleicht überhaupt nicht…« Jerres Worte, dachte Ben. »… Es würde einfach nicht funktionieren. Da gab es einen Philosophen, Franzose, glaube ich, ich kann mich nicht an seinen Namen erinnern, aber ich habe etwas von ihm gelesen, das bei mir haften geblieben ist. Ein Typ fragte diesen Mann nach seinen Neigungen und Abneigungen: Magst du Deutsche? Nein. Magst du Italiener? Nein. Magst du Juden?
Nein. Magst du Neger? Nein. Magst du Katholiken? Nein. Protestanten? Nein. Schließlich wurde der Mann ärgerlich und fragte, wen er denn möge? Der Philosoph sah ihn an und sagte: ›Ich mag meine Freunde‹.« Ike grinste, als er eine weitere Dose Bier öffnete. »So muss es sein, Ben Raines. Denk darüber nach. Wir bleiben in Verbindung.« »Du bist selber ein ganz schöner Philosoph, Ignatius Victor McGowen«, meinte Ben. Ike goss Ben eine Dose Bier über den Kopf.
Ein paar Wochen nach der Hochzeit sendete die Radiostation nicht mehr (der Turm fiel eines Nachts um), und die Gruppe löste sich auf. Jedes Mitglied ging seinen eigenen Weg. Tatter und June-Bug fuhren mit Ike und Megan nach Mississippi; Space-Baby und Angel-Face schlichen sich eines Nachts davon, ohne auch nur Auf Wiedersehen zu sagen. »Da läuft was zwischen denen«, erklärte Honey-Poo. »Was ist mit dir?«, fragte Ben. »Nun, Ben Raines« – sie lächelte – »ich denke auch darüber nach, die Segel zu streichen. Neulich sprach ein Amateurfunker über die große Party, die drüben in St. Augustine stattfinden soll. Ich könnte mir vorstellen, dass Space-Baby und Angel-Face dorthin gegangen sind oder schließlich dort landen werden.« »Wann wolltest du aufbrechen?« »Oh… irgendwie hatte ich gedacht, dass ich heute aufbreche. Ich habe schon gepackt. Ich glaube, du und ich haben unseren gemeinsamen Weg hinter uns, meinst du nicht auch, Ben?« Ben gab zu, dass er das ebenfalls glaubte. Sie war auf dem besten Wege, ihn zu Tode zu vögeln.
»Du hast Dinge, über die du schreiben kannst, Ben. Und ich? Nun… ich werde Partys feiern bis zu dem Tag, an dem ich sterbe. Ich wünsche dir viel Glück, Ben Raines.« »Das Gleiche für dich, Prudence.« Sie küsste ihn auf die Wange, gab Juno einen Klaps auf den Kopf und ging federnd durch die Tür, auf der Suche nach einer immer währenden schönen Zeit im Wahnsinn einer Welt, die nur noch ein Schatten ihrer eigenen Erinnerung war. Sie winkte zum Abschied, als sie in einen rosa angemalten Jeep sprang. Und Ben war wieder einmal allein. Juno legte seine Schnauze in Bens Hand und winselte leise. Nun, nicht ganz allein.
Ben holte seine tragbare Schreibmaschine heraus und begann mit seinem Tagebuch. Er wusste, dass er sich wahrlich viel vorgenommen hatte, und er fragte sich, ob er es jemals beenden könnte oder wollte, denn er hatte immer die Rebellen und seinen Traum von einem freien Land mit guten Gesetzen und einer guten Regierung im Hinterkopf. Er konnte ihn einfach nicht abschütteln. Im März, als das Wetter warm, die Sonne hell und die Bucht blaugrün waren, befiel ihn eine Zeit der Rastlosigkeit. Er fuhr nach Tampa, obwohl er wusste, dass es Unsinn war. Die Stadt war ein von Unrat übersätes, verschandeltes Schlachtfeld. Noch immer verunstalteten rauchende Feuer ihre frühere Schönheit. Ben machte einen kleinen Abstecher auf der Interstate 75, wandte sich dann nach Osten auf der Interstate 4 und fuhr zur Universität von South Florida. Es schien, als habe er einen Schritt von einer Welt in die andere gemacht. Der Campus war friedlich, fast heiter. Er parkte seinen Lastwagen, schloss ihn ab und ging über den Campus. Ein Gefühl der Verlassenheit lag
über dem Ort, aber größtenteils war er von Plünderern verschont geblieben. Natürlich, dachte Ben; Ignoranten plündern keine Bibliotheken. Er folgte einer Kurve des Gehsteiges und blieb abrupt stehen. Ein älterer Herr saß auf einer Bank, las ein Buch und aß dabei ein Sandwich. Der Mann war in einen dunklen Anzug und ein weißes Hemd gekleidet und trug eine dunkle Krawatte. Seine Schuhe waren frisch geputzt, und er war frisch rasiert. Er blickte auf. »Ah! Ich hasse es, der Überbringer schlechter Nachrichten zu sein, junger Mann, aber wir halten keinen Unterricht ab. Ich kann Ihnen wirklich nicht sagen, wann diese Institution ihre Tore wieder öffnen wird, um die jungen Leute willkommen zu heißen, die nach Wissen dürsten.« »Wir kommen als Idealisten und gehen, indem wir Geld als unser einziges Ziel im Auge haben.« »Ganz genau.« »Sie wird eines Tages wieder ihre Türen öffnen«, sagte Ben. »Hoffentlich«, fügte er hinzu. »Ich bin froh, dass Sie diese Einschränkung machen«, meinte der Mann. »Ich wünschte, ich könnte Ihren Optimismus teilen.« Seine Augen schweiften zu Bens M-10 und dem Leinenbeutel mit den Ladestreifen, der um seine Hüfte gegürteten 9-mm-Waffe und dem Messer, das an seiner linken Seite hing. Er sah Juno an, der ihn ansah. »Hübsches Tier. Ist er freundlich?« »Er war es bis jetzt, Sir.« »Bitte.« Der Mann deutete auf die leere Bank neben sich. »Kommen Sie – setzen Sie sich. Trotz Ihres ziemlich wilden Erscheinungsbildes und Ihres eindrucksvollen Waffenarsenals benehmen Sie sich, als hätten Sie mehr als bloß einen Funken Verstand. Leisten Sie mir Gesellschaft, und lassen Sie uns ein wenig plaudern.«
»Passen Sie auf Juno auf«, warnte Ben den Mann. »Er stiehlt Essen.« Er setzte sich hin und sah sich das Buch an, das der Mann gelesen hatte: Ausgewählte Werke von Wadsworth. »Interessanter Lesestoff, aber sollten Sie nicht lieber etwas über das Überleben lesen?« Der Mann lachte leise und gab Juno einen Klaps auf seinen großen Kopf. Juno schnappte sich sein Sandwich und fraß es in zwei Bissen. »Sehen Sie, was ich meine?«, sagte Ben. »Ich habe genügend zu essen bekommen, mein Sohn. Solange ich lebe – was hoffentlich nicht mehr lange sein wird.« »Warum hoffen Sie das?« »Dies hier« – der Mann machte eine Geste mit der Hand – »ist – war – mein ganzes Leben. Ich habe hier gelehrt seit dem Tag der Eröffnung. Vorher war ich an der Universität von Florida in Gainesville. Ich war mein gesamtes Erwachsenenleben lang Professor. Ich kenne nichts anderes. Und ich bin fünfundsiebzig Jahre alt. Was gibt es denn noch für mich?« »Das Leben.« »Aber ein Leben ohne Würze. Wie lautet Ihr Name, junger Mann?« Ben sagte es ihm. »Und was haben Sie gemacht, bevor alle weggingen?« Weggingen? Ben warf ihm einen Blick zu. »Ich war Schriftsteller. Aber ich bezweifle, dass Sie je eins meiner Bücher gelesen haben.« »Ich fürchte, Sie haben Recht, Mr. Raines. Aber ich bin so froh, dass Sie hergekommen sind. Erzählen Sie mir von sich, was für Pläne Sie haben. Erleuchten Sie mich.« Ben hatte das Gefühl, dass der ältere Herr nicht alle Tassen im Schrank habe; wahrscheinlich war die Katastrophe zuviel für ihn gewesen, und er war ein wenig weggetreten. Ben erzählte es
ihm ausführlich, und sei es nur, um jemanden zu haben, mit dem er eine Weile reden konnte. Der Professor klatschte in die Hände und kicherte. »Oh, wundervoll!« rief er. »Nun kann ich gehen, ohne Schuldgefühle zu haben, dass ich sie verlasse.« »Gehen?«, fragte Ben. »Wohin gehen? Sie verlassen? Sie – wer?« »Wen, mein Sohn.« »Sind Sie sicher?« »Ich bin ein Professorjunger Mann.« »Ja, Sir.« »Mich meinen Freunden in dem großen Klassenraum am Himmel anschließen, wo die Diskussionen endlos sind und die wesentlichen Gesichtspunkte von Wadsworth und Tennyson und all der Großen mit dem Respekt und der Bewunderung diskutiert werden, die sie verdienen. Und Kipling kann sich mit Gunga Kin zusammentun, und beide können sich auf die Kohlen hocken, bis ihre Nüsse geröstet sind.« Nun war Ben sicher, dass der Mann einen an der Waffel hatte. »Ich mag Kipling«, sagte Ben. »Ich werde diesen Frevel ignorieren. Sehen Sie! Sehen Sie dort!« Der Mann zeigte hin. »Sehen Sie das Gebäude dort drüben? Sehen Sie’s, sehen Sie’s?« Ben antwortete, dass er es sehe. »Da lebe ich. Mit April.« »April ist Ihre Frau?« »Großer Gott, nein! Meine Frau ist tot seit… äh… nun, eine lange Zeit – ich habe sie lange nicht gesehen. Nein, verstehen Sie, April war eine meiner Studentinnen – letztes Jahr. Sie überlebte das… äh, was ist passiert, mein Sohn?« Ben erzählte ihm, was er wusste und was er vermutete. »Stimmt das? Nun, ich habe mich das oft gefragt.«
»Da gab es niemanden, den Sie fragen konnten? Niemand kam hierher?« »Nur diese ziemlich großen, ungehobelten Typen. Sehr feindselig. Aber Sie haben mich ja nun informiert, also werde ich mir weiter keine Gedanken mehr machen.« Er schaute Ben durch seine dicken Brillengläser an. »Worüber haben wir gerade gesprochen?« »April.« »April? Es ist noch nicht April, oder?« »Nein, Sir«, erwiderte Ben geduldig. »Es ist März. April war eine Ihrer Studentinnen.« »Ach ja! Nun erinnere ich mich. Ja, also… April nahm es auf sich, sich um mich zu kümmern. Nicht dass ich es nötig hätte, dass jemand sich um mich kümmert, um Gottes willen. Und sie fängt an, mich aufzuregen mit all ihrer Hektik. Sie ist überhaupt nicht mein Typ Frau. Überhaupt nicht. Sie gehört… eher… zum Typ Klette. Nicht dass daran etwas falsch wäre – überhaupt nicht. Sie hat bloß keine großen Brüste. Ich mag Frauen mit großen Brüsten. Meine Frau – Gott hab sie selig, wo auch immer sie ist – hatte sehr große. Ich habe es geliebt, mit ihren Dingern zu spielen. Mögen Sie nicht auch große Brüste?« Ben nickte zustimmend. Sogar Juno sah den Mann ziemlich sonderbar an. »Nun…« Der Professor nahm eine Pille aus einer winzigen Pillendose. Eine weiße Pille. Er schluckte sie. »Nun, da es April gut gehen wird, kann ich ohne Schuldgefühle gehen.« »Was haben Sie gelehrt, Professor?« »Chemie.« »Und was war das, was Sie gerade genommen haben?« »KCN.« »Und das ist?« »Zyankali.«
Der Mann stand auf, lächelte, winkte Ben und Juno zum Abschied zu; dann griff er sich an die Brust und fiel unter Zuckungen zu Boden. Einen Moment später war er tot. »Scheiße!« fluchte Ben. Er ging hinüber zu dem Wohnheim, auf das der Mann hingewiesen hatte, und betrat die kühle Halle. »April!« rief er. »April! Sind Sie hier?« »Nein! Gehen Sie weg.« »April, mein Name ist Ben Raines. Ich hatte das… äh… Pech, Ihrem Freund, dem Professor, zu begegnen. Er erzählte mir von Ihnen, und dann nahm der alte Dummkopf Zyankali. Er ist tot.« Schritte auf der Treppe, und ein herzförmiges Gesicht spähte um die Ecke. Ein sehr hübsches Gesicht mit großen, dunklen Augen. Eine riesige Brille vor den Augen. »Er ist wirklich tot?« »Ja. Es tut mir leid.« »Yeah, mir auch.« Sie stieg die Stufen herunter und kam um die Ecke des Treppenschachtes. »Aber dieser Hurensohn war auf dem besten Wege, mich zu Tode zu ärgern. Er hat sich ständig über meine Titten beschwert.« Sie kam ein bisschen näher. Sie trug Jeans und ein Hemd. Vielleicht waren ihre Titten nicht groß genug, um dem Professor zu gefallen, aber die vorlaute kleine Lady war unverkennbar weiblich und gut genug ausgestattet, um Ben zu gefallen. »Er hat mir erzählt, Sie seien eine seiner Studentinnen gewesen – letztes Jahr.« Sie lachte. »Yeah, das pflegte er zu sagen. Zum Teufel, Mister, er war kein Professor. Das war nur sein Spitzname. Er war ein Dealer.« »Wie bitte?« »Ein Dealer, Mann. Rauschgift. Zum Teufel, jeder Jugendliche auf diesem Campus kannte den alten ›Professor‹.«
Ben schüttelte den Kopf. »Nun, jeder Mensch hat ein Anrecht darauf, sich hin und wieder lächerlich zu machen. Er hat mich jedenfalls ganz schön reingelegt.« »Oh, er war tatsächlich hochgebildet. Und er war mal Professor. Aber das ist schon lange her. Er ließ sich ständig mit Studentinnen ein. Keine Ahnung, wie viele er geschwängert hat. Schließlich wurde ihm untersagt, in diesem Staat zu unterrichten.« Ben trat näher. Sie schien keine Angst vor ihm zu haben. »Er machte sich ernsthafte Sorgen um Sie.« »Ja, ich glaube das, auf seine eigene merkwürdige Art. Bis vor zwei Monaten war er in Ordnung. Dann starb seine Frau.« »Er hat mir erzählt, dass seine Frau schon lange tot sei!« »Wirklich? Nun, er hat oft Unsinn erzählt. Seine Frau liegt oben in einer Kiste.« »Jesus!« »Yeah, das kann man wohl sagen. Da ist er dann abgedreht. Ganz schön schnell. In einem Moment hat er mich seine Tochter genannt, und dann wollte er wieder, dass ich es ihm mit der Hand besorge. Als ob er ihn hochgekriegt hätte.« Ben konnte nur den Kopf schütteln. Ihre Augen wanderten von Ben zu Juno. »Das ist aber ein hübscher Hund. Beißt er?« »Ich vermute, er würde beißen, wenn Sie ihn ärgern würden. April… wie?« »Simpson. Ich vermute, der Professor hat gesagt, du sollst dich um mich kümmern, stimmts?« »Er hat etwas in der Art erwähnt, ja.« »Also… du siehst nicht aus, als wärst du zu alt. Kriegst du ihn hoch?« »Wie bitte?« »Ob du einen Steifen kriegst. Mann, bin ich geil!« »Ich werde mein Bestes tun«, meinte Ben trocken.
»Ich hole meine Sachen. Was wirst du mit dem Professor machen?« »Was willst du denn, dass mit ihm getan wird?« Sie zuckte die Achseln. »Er hat den Campus geliebt. Ich würde ihn da lassen, wo er ist.« »Okay.« »Ben Raines, richtig?« »Ja.« »Ich bin in einer Sekunde bei dir, Ben Raines.«
ZWÖLF
Auf dem Weg zurück zu seinem Haus, nur eine Meile südlich von Ikes Haus, das nun verlassen war, beantwortete Ben der jungen Frau ihren scheinbar endlosen Strom an Fragen und stellte ihr auch seinerseits einige. »Warum hast du den Campus nicht verlassen, April? Wenn der Professor dir das Leben da so schwer gemacht hat?« »Wohin sollte ich gehen? Wohin konnte ich schon? Und was sollte ich tun?« Sie heftete ihre dunklen Blicke auf ihn. »Ich bin einmal nach Hause gegangen, direkt nachdem… es passiert ist, nachdem es mir wieder besser ging, denn es ging mir einige Zeit sehr schlecht. Ich war also zurück in Orlando, fand meine Eltern, tot. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, also bin ich einfach in meine mir bekannte Umgebung zurückgekehrt: auf den Campus. Ich habe vier Jahre dort verbracht; all meine Freunde waren dort. Aber ich sage dir was: Der Professor hat vielleicht nicht alle Tassen im Schrank gehabt, aber er hatte Menschenkenntnis, und er hat was in dir gesehen, dem er vertrauen konnte. Jede Menge Typen waren schon da, bevor du kamst – alle haben sie nach Frauen gesucht. Aber er sagte nie was über mich.« »Wie oft hast du den Campus verlassen?« »Nur einmal, nachdem ich von Orlando zurückkam. Das war, als Penny zu uns ins Wohnheim gekommen war. Penny Butler, aus Miami. Siebzehn Jahre alt. Die Dinge hatten sich ein bisschen beruhigt, und wir sind spazieren gegangen, nur um uns ein wenig umzusehen, verstehst du? Da haben ein paar Typen angefangen, uns zu verfolgen – alle betrunken und gemein aussehend. Sie haben sich Penny geschnappt. Ich kann immer
noch ihre Schreie hören, als sie sie in ein Kaufhaus zerrten. Ich habe mich in einem Lebensmittelgeschäft nebenan versteckt. Ich hatte Angst, mich zu bewegen – ich war so verängstigt, dass ich dachte, ich würde sterben. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich fand eine Pistole unter der Kasse, aber ich wusste nicht, was ich damit anfangen sollte. Es war so eine ähnliche, wie du an deinem Gürtel hast. Wie kannst du mit dem verdammten Ding umgehen? Ich habe in meinem Leben noch nie eine Pistole abgefeuert – überhaupt keine einzige Kanone. Sie haben sich abgewechselt, sie zu vergewaltigen; und es war nicht nur das. Sie haben… hässliche Dinge mit ihr gemacht. Ich konnte sie durch die Wand lachen und schreien hören. Sie schlugen sie, als sie… ihnen keinen blasen wollte. Ich nehme an, sie hat eingewilligt, denn die Schläge hörten auf. Ich habe gehört, dass sie darüber gesprochen haben, dass drei Typen sie auf einmal nehmen wollten. Weißt du, einer in den Mund, einer in den Arsch, und einer… auf die normale Art. Einer von denen muss wirklich groß gewesen sein, denn Penny hörte nicht auf, vor Schmerzen zu schreien, und dann haben sie sie wieder geschlagen.« Sie seufzte. »Ich… glaube, sie haben sie zuviel geschlagen. Ganz plötzlich wurde es ganz still. Sie schrie nicht mehr. Die Typen lachten noch ein bisschen und verließen dann das Gebäude, gingen die Straße hoch. Ich bin aus der Hintertür des einen Gebäudes geschlichen und dann durch die Hintertür in das Kaufhaus hinein. Sie lag da auf dem Boden, nackt, mit offenen Augen, und sie war tot. Ihr Kopf stand in einem unnatürlichen Winkel ab, ich vermute, ihr Genick war gebrochen. Ich habe ihren Puls gefühlt, am Handgelenk und am Hals, aber sie war tot. Ben?« »Hm?«
»Wie kommt das, dass es so viele Scheißkerle auf der Welt gibt? Wie kommt es, dass sie überlebt haben und die guten Menschen sterben mussten?« Jerre hatte so ziemlich die gleiche Frage gestellt. Alles, was Ben tun konnte, war, den Kopf zu schütteln.
April blieb ziemlich für sich in dem großen Haus am Strand. Sie war beeindruckt von Bens Entschlossenheit, eine Chronik der Katastrophe zu schreiben, und sie half, wo sie konnte. Aber wenn es um das tatsächliche Schreiben ging, sagte Ben zu ihr, sie solle spazieren gehen; er arbeitete allein. Sie nahm daran keinen Anstoß, schien es zu verstehen. Also ging sie an dem einsamen Strand spazieren, sammelte Treibholz, Seeigel und Muscheln. Ben hatte gespürt, dass ihre gemeinsame Zeit nicht lang andauern würde, denn in ihren Gesprächen hatte April ihn laut, eindeutig und stolz wissen lassen, dass sie eine Liberale sei; sie war gegen die Todesstrafe, glaubte an Waffenkontrolle, liebte die ACLU, war begeistert von Hilton Logan, hasste das Militär und so fort. Ben hatte ihrem Geschwätz und Geplapper zugehört und dann gesagt, falls sie Hilton Logan oder die ACLU noch einmal in seiner Gegenwart erwähnen würde, werde sie sich auf der Straße wiederfinden – allein. Sie verstand die Botschaft. Am ersten April 1989 sagte Ben zu ihr, sie solle ihr Zeug zusammensuchen, sie würden wegfahren. Sie stellte keine Fragen.
Sie fuhren nach Perry und nahmen dann den Highway 221 nach Georgia. Sie sahen niemanden entlang der Strecke, aber Ben
hatte das Gefühl, dass jemand sie verfolge. Seine Sinne machten Überstunden, und er konnte das Gefühl nicht abschütteln, beobachtet… belauert zu werden. April überraschte ihn, indem sie sagte: »Ich glaube, wir werden verfolgt, Ben.« »Wann hast du das gemerkt?« »Als wir in Georgia eingefahren sind.« Einige Meilen südlich von Moultrie fuhr Ben von der Straße ab und versteckte den Lieferwagen hinter einer Tankstelle. Er überprüfte die M-10 und seine 9-mm-Pistole, dann hängte er ein paar Granaten an seinen Gurt. »Bleib zurück und verhalte dich still«, befahl er April. »Behalte Juno bei dir.« Er hatte ein sehr schlechtes Gefühl – vielleicht eine Vorahnung. Dann hörte er Motorengeräusch von der Straße aus dem Süden. Die Motoren liefen holperig, als ob mit ihnen hart umgegangen worden und sie nicht richtig gewartet worden seien. Zwei Militärlastwagen kamen in Sicht, angemalt in Tarnfarben. Zwei Männer in jedem Lastwagen – d. h. er konnte je zwei sehen. Ben hatte das Gefühl, dass sich vielleicht noch Männer im hinteren Teil jedes Lastwagens befanden. Er entsicherte die M-10 und bezog Position neben der Tankstelle. Er zog den Stift aus einer Granate und hielt die Führungsschaufel mit der linken Hand unten. Die Lastwagen verlangsamten die Fahrt, als die Fahrer ihn erblickten. Die Lastwagen fuhren in den Parkbereich ein und hielten an, die Motoren wurden abgeschaltet. Der Morgen war sehr ruhig. Als die Männer aus den Fahrerhäuschen stiegen, musste Ben gegen ein Lachen ankämpfen. Sie waren in ein Mischmasch aus Uniformen des Militärs und der Georgia Highway-Patrouille
gekleidet und waren lebende Karikaturen der Hell’s Angels. Trotzdem strahlten sie Gefahr aus. »Wir sind ein Teil der Miliz von Georgia«, sagte ein von Eiterbläschen übersäter, unrasierter Mann. »Es ist unsere Pflicht, zu kontrollieren, dass kein Gesindel in diesen Staat eindringt.« »Was machen Sie dann hier?« »Häh?« Ben sagte nichts, sondern sah die Männer nur an. »Sind Sie freundlich gesinnt?« »Meinen Freunden gegenüber.« »Das ist keine richtige Antwort, Mister.« »Das war auch keine richtige Frage.« »Mit wem reisen Sie?« Der Mann leckte sich seine dicken, weichen Lippen. Dass er nach Frauen fragte, war offensichtlich. »Ich finde, dass sie das verdammt noch mal nichts angeht«, sagte Ben offen. Die M-10 war entsichert und auf Vollautomatik eingestellt. »Mir gefällt Ihre Haltung nicht, Mister.« »Eine der kleinen Tragödien im Leben, da bin ich sicher.« »Sie gefallen mir auch nicht besonders.« »Wo sind Ihr Bettlaken und Ihr brennendes Kreuz, Hinterwäldler?« »Soso.« Der Mann lächelte. »Wir haben hier ‘nen Niggerfreund. Aber das is’ okay. Ich hatte schon lange kein Rauchfleisch mehr. Du hast ‘n Niggermädchen dabei, wie? Geh zur Seite.« »Leck mich am Arsch!« Ben hob die M-10 und schoss dem Mann auf seine Eiterstellen; gleichzeitig warf er die Granate gegen die anderen. Ben duckte sich zum Schutz hinter ein verlassenes Auto. Die Splittergranate explodierte und ließ einen Toten und zwei Verwundete zurück.
Bevor die Erschütterungen nachgelassen hatten, schleuderte Ben eine weitere Granate in den rückwärtigen Bereich des ersten Lastwagens und warf sich zu Boden. Die Splittergranate explodierte und schleuderte einen Mann durch die Stangen des Lastwagenaufbaus und über die Seite des Wagens. Jemand schrie im hinteren Teil des Lastwagens. Ben kniete sich hin und feuerte auf den hinteren Teil des zweiten Lastwagens, wechselte den Ladestreifen und wartete. Ein Mann sprang heraus und versuchte wegzurennen. Ben schoss ihn in den Rücken, so dass er mit dem Gesicht nach unten auf den Asphalt schlug. Es war vorbei. Es war still. Der Geruch nach Schießpulver lag in der Luft und mischte sich mit dem schweren Blutgeruch. Bens Beine waren wackelig, und seine Hände zitterten. Aber er und April waren am Leben. Juno war an seiner Seite, die Haare an Rücken und Hals aufgestellt, die Zähne entblößt. April kam um die Ecke des Gebäudes und schlug eine Hand vor den Mund, als sie das Blutbad sah und die Scheiße und Pisse aus den plötzlich entleerten Blasen und Därmen roch. Für einen Moment wurde ihr schlecht, und sie übergab sich auf den Kies. Ben wechselte die Patronen in der M-10 und hängte sie sich über die Schulter. Er zog die Pistole und ging zur Ladefläche des einen Lastwagens. Alle tot. Er ging zum anderen Lastwagen und sah hinein. Ein Mann war noch am Leben, aber kaum noch. »Hilf mir«, flehte er. »Okay«, sagte Ben, zog dann die 9-mm und schoss den Mann zwischen die Augen. Er ging zurück zu April. Ihr Gesicht war blass, die Lippen blutleer. »Ich kann nicht glauben, dass du das getan hast, Ben.« Ben drehte ihr den Rücken zu und ging weg.
In Moultrie stieß Ben auf eine ziemlich große Gruppe von Leuten, mehr als hundert, schätzte er, die sich in einer örtlichen Kirche versammelt hatten. Er musste sein Grinsen krampfhaft verbergen. Es war eine weltweite Katastrophe nötig, um Schwarze und Weiße zusammenzubringen – wenigstens hier in Moultrie. Er erzählte der Menge, was unten an der Straße vorgefallen war. Sie schienen alle gleichzeitig vor Erleichterung aufzuseufzen. »Es gibt keine Miliz von Georgia, Mr. Raines«, sagte ein Mann. »Das waren Luther Pitrie und seine dreckige Bande. Wir sind Christen hier, oder versuchen es zu sein; auf keinen Fall würden wir diese Art von Menschen unter uns dulden.« »Er versuchte Ihnen Schwierigkeiten zu machen?« »Vor ungefähr drei Monaten. Er hatte etwa dreißig oder vierzig der schlimmsten Typen, die Sie sich vorstellen können, um sich versammelt. Sträflinge, Tunichtgute, Degenerierte. Sie stolzierten herein, gerade als wir unser Leben wieder aufnahmen und versuchten, Dinge wiederherzustellen, die für uns wichtig waren. Er tötete einen Mann. Da überkam uns der Zorn. Wir begruben elf von denen, die mit ihm gekommen waren. Der Rest ist nicht wiedergekommen.« »Gut für Sie«, sagte Ben, der sich des entsetzten Blicks von April bewusst war. »Bitte bleiben Sie und essen zu Abend mit uns, Mr. Raines. Bleiben Sie über Nacht. Ich weiß, dass das, was heute passiert ist, eine schreckliche Erfahrung war – doppelt schlimm für Miss Simpson. Ruhen Sie sich eine Weile aus. Sie sind hier in Sicherheit und wirklich sehr willkommen.« Gute Menschen, dachte Ben. Ich hoffe, es gibt noch mehr Gruppen von Leuten wie diesen.
»Haben Sie gehört, was in Chicago passiert ist?« fragte der Anführer der kleinen Schar in Moultrie. Ben schüttelte den Kopf. »Nein.« Aber er hatte einen raschen Anflug von Déjà-vu. Carl. »Nun, die Übermittlungen sind, bestenfalls, uneinheitlich – wir müssen uns größtenteils auf Amateurfunker verlassen, und das können wir nicht sehr oft.« Der Mann machte eine Pause, um eine Scheibe selbstgebackenes Brot mit Butter zu bestreichen. Echte hausgemachte Butter vom Land. Ben sagte: »Ich war letzten Herbst in Chicago – ein paar Wochen nach dem Krieg. In der Vorstadt, um genau zu sein. Mir gefiel das, was ich sich da zusammenbrauen sah, nicht gerade besonders.« »Das Gebräu ist explodiert, fürchte ich. Da hat eine Art Bewegung begonnen. Neonazis, Faschisten – etwas in der Art.« »Vergiss nicht den Klan«, sagte eine Frau mit Bitterkeit in der Stimme. »Mein Bruder ist ein Teil dieser bösen Geschichte in Chicago. Er fuhr hin, als er hörte, was sie taten. Er konnte es nicht abwarten, sich mitten hinein zu stürzen.« »Mein Bruder auch«, sagte Ben leise. Das Klicken von Messern und Gabeln hörte auf; die Gespräche verstummten für einen Augenblick. »Das tut mir leid zu hören, Mr. Raines. Ja« – der Mann schüttelte den Kopf – »ein Raines wurde in einer Übertragung erwähnt, die wir mitgehört haben. Ein Carl Raines ist einer der Anführer.« »Der verdammte Dummkopf!« murmelte Ben. »Ich habe das Gleiche gesagt, Mr. Raines«, meinte eine schwarze Frau. »Mein Cousin war auf der anderen Seite. Schrecklich, was dort oben passiert ist.« Ben sah sie an. »Was ist denn passiert?«
»Es gab den ganzen Winter über vereinzelte Ausbrüche von Gewalt. Die Weißen kontrollierten die Vorstädte, die Schwarzen kontrollierten die Innenstadt. Die Weißen riegelten die Innenstadt ab und wollten die Schwarzen nicht herauslassen. Und der letzte Winter war ein besonders grausamer. Viele sind erfroren. Die Schnellstraßen waren blockiert und überwacht, ebenso die Brücken und Straßen. Die weiße Gruppe plünderte Waffenkammern der Nationalgarde und Reserve-Waffenkammern, holten sich Granatwerfer und Kanonen und begannen die Innenstadt zu beschießen. Es war ein regelrechter Krieg. Dann, das war vor ein paar Monaten, fand eine groß angelegte militärische Invasion statt. Nicht das reguläre Militär, sondern die Weißen. Es wurden keine Gefangenen gemacht… auf keiner Seite. Nach dem, was wir gehört haben, war es sinnlos und brutal.« »Und wer hat gewonnen?«, fragte Ben mit einem üblen Geschmack im Mund. Er dachte an Cecil und Lila. Und an Salina. »Nun«, meinte ein Geistlicher des Ortes, »wenn das wirklich Sieg genannt werden kann, dann haben die Weißen gewonnen. Dann wandten sie sich gegen die Juden, die Lateinamerikaner, die Orientalen. Jeder, der kein… wie war der alte Begriff? WASP – weiße angelsächsische Protestanten, nicht wahr?« »Ja«, sagte Ben. »Es musste so kommen. Früher oder später. Ich habe geschrieben, dass es so kommen werde.« »Ich habe dieses Buch von Ihnen gelesen, Mr. Raines«, sagte eine schwarze Frau Mitte dreißig. Sie saß Ben am Tisch gegenüber. »Es gefiel mir nicht, als ich es gelesen habe – ich dachte, Sie seien ganz sicher ein Rassist. Dann las ich es noch einmal und änderte meine Meinung über Sie. Sie sind ein komplexer Mann, Mr. Raines, aber ich denke, Sie wollen etwas Gutes… für diejenigen, die nach Ihrer Sicht der Dinge das Gute verdienen.«
»Danke.« Ben zeigte sich erkenntlich für das entschieden zweifelhafte Kompliment. Der Geistliche sagte: »Die Partei scheint über die Monate an Stärke zugenommen zu haben. Bisher ist sie noch größtenteils im Gebiet um Chicago und dem zentralen Bereich von Illinois konzentriert, aber sie breitet sich aus. Und« – der Mann klopfte mit den Finger auf den Tisch – »sie setzt sich nicht nur aus Abschaum wie diesem Einzeltäter Pitrie und Leuten seiner Sorte zusammen. Nach dem, was wir uns durch das Abhören der Funkübertragungen zusammenreimen können, treten auch ziemlich… früher zumindest… vernünftige Männer und Frauen bei. Das sind diejenigen, die ich nicht verstehe.« »Ich schon«, meinte Ben. »Und ich kann Ihnen sagen, wer sie sind: Geschäftsmänner und Geschäftsfrauen, die ihre Geschäfte durch Boykotte oder Aufstände verloren haben; Männer, deren Ehefrauen oder Töchter von Latinos oder Schwarzen überfallen oder angegriffen oder vergewaltigt wurden und die dann zusehen mussten, wie unsere Gerichtshöfe die Täter freiließen – wenn es überhaupt zu einem Gerichtsverfahren kam – wegen des Plädoyers irgend so eines liberalen Anwalts, der über eine schlimme Vergangenheit greint, die absolut nichts mit dem Verbrechen zu tun hat; Ladenbesitzer, die wiederholt ausgeraubt wurden und nicht imstande waren, etwas dagegen zu tun oder die erlebt haben, wie Kriminelle wegen technischer Förmlichkeiten freigesprochen wurden; Leute, die ihre Arbeitsstelle verloren haben, weil sie irgendwelche Einstellungskriterien plötzlich nicht mehr erfüllt haben. Es ist eine lange Liste mit Richtig und Falsch auf beiden Seiten. Aber der Hass explodierte schließlich und wurde zu Gewalt – Hass, der sich auf die Minderheiten richtete. Viele von uns, Angehörige aller Hautfarben, haben es kommen sehen und darüber geschrieben. Niemand schenkte uns Beachtung. Nun…jetzt ist es soweit.«
»Das ist der Teil Ihres Buches, der mir nicht passte«, meinte die schwarze Frau. »Zweimal falsch ergibt nicht einmal richtig.« Ben verteidigte das, was er vor so vielen Jahren geschrieben hatte. »Aber verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin total und unumstößlich gegen das, was in Chicago passiert. Ich habe es bloß kommen sehen, das ist alles.« »Seien Sie unterwegs vorsichtig, Mr. Raines«, warnte ihn der Geistliche. »Ich fürchte, es wird eher noch viel schlimmer, als dass es besser wird.« Die schwarze Lady sah Ben an. »Ich nehme an, das haben Sie auch geschrieben, oder, Mr. Raines?«
»Ben, es ist einfach dumm, nach Atlanta zu gehen!« meinte April. »Da könnte das Gleiche los sein wie in Chicago.« »Wir werden nicht richtig in die Innenstadt hineinfahren«, versicherte er ihr. »Aber ich möchte nahe genug heran, damit ich hören kann, was los ist.« Sie befanden sich auf der Interstate 75, auf dem Weg nach Atlanta. Vor einer Stunde waren sie in Moultrie losgefahren. Ein paar Meilen weiter sah Ben die erste bemannte Straßensperre auf einer Interstate. »Verdammt, Ben!« sagte April, ihre Finger in sein Bein gekrallt. »Entspann dich.« Ben tätschelte ihre Hand. »Lass uns nur mal nachsehen, was los ist. Halte das Lenkrad für einen Moment.« Er nahm eine Granate aus der Tasche, die auf dem Boden neben seinen Füßen stand, und zog den Stift heraus, während er die Führungsschaufel mit der linken Hand nach unten hielt, so wie er es an der Tankstelle bei der so genannten Miliz von Georgia gemacht hatte.
Ben fuhr näher heran, hielt an und drehte sein Fenster herunter, wobei seine linke Hand versteckt blieb. »Hallo Jungs – was ist das Problem?« »Wir wollen nur sehen, wer nach Cordele reinfährt und wer rausfährt, Mister. Kein wirkliches Problem.« »Aha«, meinte Ben. »Ich sehe Ihre rechte Hand, Kumpel. Aber ich kann Ihre linke Hand nicht sehen. Sie haben doch bestimmt keine Kanone auf mich gerichtet, oder? Ein Wort von mir, und dieser Haufen da drüben«, er wies mit dem Kopf dorthin, »würde diesen Lastwagen durchlöchern.« »Sie erschießen Fremde, die Ihnen nichts Böses wollen?« Die Augen des Mannes verengten sich. »Das ist eine ziemlich dumme Frage, Mister.« »Mein Humor«, sagte Ben, aber es war kein Humor in seiner Stimme zu erkennen. Der Mann spuckte einen braunen Strahl Kautabaksaft auf den Highway. »Sie sind ‘n ziemlicher Klugscheißer, oder?« »Mag sein. Vielleicht mag ich es aber einfach nicht, ohne bestimmten Grund angehalten zu werden. Haben Sie schon mal daran gedacht?« »Nicht oft. Steigen Sie aus dem verdammten Lastwagen aus. Beide.« Ben lächelte und hob seine linke Hand. Der Mann verschluckte fast seinen Kautabak. »Nein. Kommen Sie aufs Trittbrett. Meine Finger werden müde. Ich könnte mich dazu entschließen, dieses Ding aus dem Fenster zu werfen.« »Mann, sind Sie verrückt? Das Ding hat keinen Stift mehr drin! Jesus Christus!« brüllte er. »Niemand schießt! Dieser wahnsinnige Hurensohn hält ‘ne scharfe Granate!« »Splittergranate. Verstehen Sie das richtig.« »Das ist ‘ne Splittergranate. Himmel!«
Als Ben sprach, war seine Stimme so laut, dass ihn alle hören konnten. »Hört mir alle gut zu, Männer. Es ist nicht meine Absicht, eine Menschenseele zu ärgern – es sei denn, der Mensch ärgert mich zuerst. Und ihr Leute ärgert mich. Jetzt steigen Sie auf das verdammte Trittbrett und befehlen Ihren Kumpels, diese gottverdammte Straßensperre zu öffnen.« »Ich ärgere Sie nicht, Mister. Gott, nein – ich ärgere Sie nicht. REISST DIE VERDAMMTE STRASSENSPERRE AB!« schrie er. Die Blockade wurde abgebaut. Der Mann stieg auf das Trittbrett. Das brachte sein Gesicht auf gleiche Höhe mit Junos Schnauze und seinen gefletschten Zähnen. »O Gott!« brüllte der Mann. Ben stieg aufs Gas und fuhr die Interstate hoch, bis er außer Schussweite war, und hielt mitten auf dem Highway an. »Steigen Sie ab«, befahl er dem Mann. Das tat dieser auch, glücklich. »Mister«, sagte er zu Ben, »Sie würden doch das scharfe Ding nicht hochgehen lassen.« »Ach ja? Ich habe das zum ersten Mal gehört, als ich beim Überlebenstraining eine Schlange aß.« Der Mann erbleichte. »Jetzt hören Sie mir zu«, sagte Ben zu ihm. »Ich weiß nicht, was für Ärger Ihr Leute mit Verbrechern und Ganoven habt, und ihr habt definitiv das Recht, diesen Menschenschlag aus eurer Stadt rauszuhalten. Aber ihr habt kein Recht, die Leute davon abzuhalten, über diese Interstate zu fahren.« Der Mann nickte als Zeichen seiner Zustimmung ruckartig mit dem Kopf und beobachtete mit großer Erleichterung, wie Ben den Stift zurück in die Granate schob. »Ja, Sir.« »Wenn ich Sie wäre, würde ich diese Blockade völlig niederreißen. Wahrscheinlich kommt sonst jemand vorbei, der wirklich Anstoß daran nimmt, angehalten und ausgefragt zu werden.«
»Noch mehr als Sie?« »Zum Teufel, mein Freund.« Ben lächelte ihn an. »Ich bin ein Heiliger, verglichen mit einigen Typen, die hier so rumstreifen.« Ben startete den Lastwagen und fuhr los, wobei er den Mann mitten auf der Interstate stehen ließ, der seinen Kopf schüttelte und vor sich hin murmelte. »Ben?«, fragte April. »Warum hat die Straßenblockade dich so aufgeregt?« »Ich weiß es wirklich nicht«, gab er zu. »Vielleicht war es die Anmaßung der Leute dahinter – bei einigen von ihnen – die mich immer irritiert hat. Und die Struktur selbst irgendwie. Aber die Gründe dafür haben mich wirklich immer geärgert: Der Führerschein wird kontrolliert, um sicherzustellen, dass es sich um den richtigen Führerschein für den Staat handelt, in dem du lebst. Zum Henker, was für einen Unterschied macht denn das? Wenn du in Kalifornien Auto fahren kannst, dann kannst du mit Sicherheit auch in Utah Auto fahren. Oder wenn du in Hartford fahren kannst, kannst du es auch in Dallas. Das Land sollte einen nationalen Führerschein haben, und damit gut.« Er lächelte. »Das ist einer von den sehr wenigen Gründen, über die ich mich immer wieder aufregen kann, April.« »Und die anderen?« Ben grinste. »Die Leute, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, anderen zu sagen, was sie lesen sollen oder was sie sich im Fernsehen oder Kino ansehen sollen. Oder in einer Gemeinde von hundert Leuten trinken einundfünfzig keinen Alkohol, also sagen sie zu den neunundvierzig anderen, dass sie zu Hause keinen trinken oder auch keinen Sechserpack oder keine Flasche kaufen dürfen. Was jemand bei sich zu Hause tut, geht niemand anders was an. Aber betrunkene Fahrer kann ich nicht ertragen, April. Ich habe schon immer gedacht, wenn ein betrunkener Fahrer jemanden totfährt, sollte die Anklage Mord
und nicht Totschlag lauten. Und« – jetzt grinste er – »niemand auf Gottes Erde liebt einen Whiskey mehr als meine Wenigkeit. Aber ich setze mich nicht ans Steuer, wenn ich betrunken bin. Was das betrifft: Da trinke ich nur wenig. Ich habe früher viel getrunken – bis zu jener Nacht, als ich fast einen Jugendlichen auf einem Fahrrad überfahren hätte. Das war vor ungefähr zehn Jahren. Für mich war das ein klarer Schlussstrich. Fordere mich nicht heraus, April. Meine Überzeugungen sind stark.« »Du bist ein komplizierter Mann, Ben Raines.« »Vielleicht. Und vielleicht bin ich bloß ein Mann, der sich nicht zu weit von den Grundgedanken des Lebens entfernen möchte.« »Was wäre, wenn ein betrunkener Fahrer einen der Menschen, die du liebst, überfahren und töten würde, Ben – was würdest du tun?« »Jetzt?« »Nein. Ich meine, damals, als die Dinge noch normal waren.« »Zuerst wäre ich geneigt, ihn zu töten. Aber das wäre aus verschiedenen Gründen falsch. Unsere Gesetze – damals, als die Dinge noch normal waren, wie du es genannt hast – waren viel zu nachsichtig gegenüber den meisten Kriminellen, ganz besonders betrunkenen Fahrern gegenüber, die in schwere Unfälle verwickelt waren. Also, wie kann man den Typen fürs Trinken verantwortlich machen, wenn die Strafe, falls man sich dabei erwischen lässt, den betrunkenen Fahrer fast darin bestärkt? Nein, Bildung und strenge Gesetze sind die Antwort. Dann allmählich, nach einigen Jahren, gewöhnen sich die Leute an diese Gesetze. Und wenn dann eine Generation mit ihnen aufwächst, kann man die, die sie missachten, streng bestrafen. Nicht plötzlich. Nicht bevor jeder in diesem Staat, und ich meine damit nicht einundfünfzig Prozent der Bevölkerung, sondern neunzig Prozent der Bevölkerung, mit diesen harten Gesetzen einverstanden ist. Diese
einundfünfzig-neunundvierzig-Mehrheit ist, meiner Meinung nach, jetzt, und war schon immer, ein Haufen Scheiße.« »Was ist mit den, um deine Zahlen zu benutzen, übrigen zehn Prozent – was passiert mit denen? Mit denen, die nicht einverstanden sind?« »Die können damit leben oder verschwinden.« »Das ist hart, Ben.« »Ja.« April schwieg einige Meilen lang; Meilen, die in Stille vorbeigingen, wobei nur das Summen der Reifen auf dem Asphalt und das Rauschen des Windes zu hören war. »All dies…« Sie machte eine Handbewegung, die die Leere des Highway und die Stille des Landes überall um sie herum einschloss. »All dies belastet dich nicht besonders, oder? Ich habe das Gefühl, du freust dich auf den Wiederaufbau.« Ben dachte über diese Frage nach. »Ich glaube ja, ich freue mich auf den Wiederaufbau, April. Ob es mich belastet? Nein, das tut es wirklich nicht. Nicht so sehr wie es sollte, vermute ich.« »Warum?«, Sie blickte ihn an. »Du glaubst nicht, dass all dies Gottes Wille ist oder irgend so ein Hokuspokus, oder?« »Hokuspokus? Nun, ja. Ich muss zugeben, dass ich mir schon Gedanken gemacht habe, inwieweit die Hand Gottes bei alledem im Spiel ist. Du nicht?« »Ich glaube nicht an Gott«, antwortete sie kategorisch. »Das ist ein Mythos. Ich glaube, wenn man tot ist, ist man tot. Und das war’s.« »Das ist sicherlich dein Recht.« »Du hältst mir keinen Vortrag darüber?« »Ich nicht. Glaube, was du glauben willst. Das ist dein gutes Recht.« »Was ist mit dem Gebet in den öffentlichen Schulen?« Er lachte laut auf. »Du ziehst wirklich alle Register, oder?
Okay, April. Gut, für die, die beten möchten. Die, die das nicht wollen, können einen Dixie pfeifen, wenn sie das unbedingt wollen.« »Und auch jede Menge Beschimpfungen und Beleidigungen von den Kindern und Lehrern über sich ergeben lassen, oder?« »Die Wurzel des Übels, Honey.« »Wie bitte?« »Die Wurzel des Übels. Ignoranz, Vorurteile, Gedankenlosigkeit, all diese Dinge werden nie ausgemerzt werden, wenn wir nicht das Übel an der Wurzel packen. Und die liegt im Zuhause.« »Die totale Kontrolle des Staates, Ben? Das erinnert ein wenig an Orwell, findest du nicht?« »Ja, das tut es. Aber wenn unsere jetzige Erziehungsmethode nicht die Ungerechtigkeiten ausmerzt, oder ausgemerzt hat, was würdest du dann als Maßnahme vorschlagen?« »Was für Ungerechtigkeiten? Gib mir ein Beispiel.« »Ein Kind will Sport treiben, ein anderes sich mit Musik beschäftigen: Klavier spielen, Geige spielen. Jedes Kind sollte in der Lage sein, das zu tun, was es möchte, ohne ausgelacht zu werden, weil es eine bestimmte Wahl trifft. Aber es hat auf diese Art nicht funktioniert. Das Kind, das sich entschließt, sein Leben der Musik zu widmen, wird oft – in neunundneunzig Prozent der Fälle – Opfer von Hohn und Spott wegen seiner Wahl, während das Kind, das Sport treiben möchte, bewundert und geehrt wird. Das Traurige daran, April, ist Folgendes: Die Kinder, die verhöhnen und verspotten, müssen das zu Hause gelernt haben; ihre Eltern müssen das wohl billigen. Vielleicht nicht bewusst, aber sie billigen es trotzdem. Wenn sie nichts anderes tun als sich zu weigern, ihren intellektuellen Horizont zu erweitern, billigen sie die Ignoranz und geben sie an ihre Kinder weiter.« »Ben… willst du eine perfekte Gesellschaft?«
»Nein. Nur eine gerechte.« Und Ben dachte an die Berge. Und an die Rebellen. Sie warteten. Etwas regte sich tief in ihm. April sah den Mann an und betrachtete seine prägnante Wildheit. Wie schnell er war, wenn es darum ging, auf eine lebensgefährliche Situation zu reagieren. Er hatte etwas… Gefährliches an sich. Sie sagte zu ihm: »Du siehst wie der Typ aus, der die Sonntagnachmittage vor dem Fernseher verbringt und Football schaut.« »Das habe ich jahrelang getan«, gab Ben zu. »Ich finde immer noch, das ist ein großartiger Sport. Ich habe ihn an der Highschool gespielt. Aber das ist vorbei. Ich begann, meine Augen und meinen Geist zu öffnen und alles, was um mich herum passierte, zu beobachten und anzuhören; bei meinen Freunden und anderen – was sie ihren Kindern beibrachten. Einmal abends war ich bei einem Freund und habe mit ihm Football angesehen. Da hörte ich meinen Freund zu seinen Kindern sagen, dass jeder, der keinen Sport treibe, ein Weichling und wahrscheinlich schwul sei. Ich dachte, wie schrecklich, so etwas zu einem Kind zu sagen, und sagte das auch zu meinem Freund – vor seinen Kindern. Dieser Mann hat seitdem nicht mehr mit mir gesprochen.« »Und wird es auch nie wieder tun«, betonte April. Ben blickte sie an. »Ich betrachte seinen Tod nicht als großen Verlust für die Welt.«