DIE SCHLANGEN DES DOKTOR LAVANE
1. KAPITEL Meggy Daton schaute niedergeschlagen aus dem Seitenfenster des Autos und hör...
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DIE SCHLANGEN DES DOKTOR LAVANE
1. KAPITEL Meggy Daton schaute niedergeschlagen aus dem Seitenfenster des Autos und hörte den eindringlichen Worten ihrer Mutter nur halb zu. „Es ist ja nicht so, dass Tante Dora für immer bettlägerig ist", beschwichtigte Mrs. Daton sie. „Sie ist nur für eine Woche oder so auf Hilfe angewiesen. Das hat der Arzt mir jedenfalls versichert. Glaub mir, Schatz, wenn sie einen wirklich ernsten Herzanfall gehabt hätte, dann hätte er sie doch nicht nach Hause gelassen, sondern im Krankenhaus behalten. Ich würde mich ja selbst um sie kümmern, aber ich kann mir unmöglich frei nehmen, nicht gerade jetzt. Von dieser Geschäftsreise hängt so viel ab." „Also hat das Los mich getroffen." Meggy nickte mürrisch. „Ich muss mal wieder in den sauren Apfel beißen, verpasse die erste richtig tolle Fete in diesem Sommer, auf der ich alle Leute treffen könnte, mit denen ich sonst immer zusammen bin. Dabei kenne ich die Frau nicht einmal." „Ach, Meggy, es wird noch reichlich andere Feten geben, und Joan hat bestimmt Verständnis dafür, dass du absagst. Schließlich ist sie deine beste Freundin." „Ja." Meggy ließ sich tiefer in den Beifahrersitz sinken und blickte nach draußen. „Wenn Jack nicht so sauer deswegen gewesen wäre, würde ich's wohl auch nicht so schlimm finden." Sie sah, wie ihre Mutter die Lippen zusammenpresste, und wurde wütend. Dass ihre Mutter Jack nicht besonders mochte und es missbilligte, dass Meggy sich seit drei Mo-
naten regelmäßig mit ihm traf, wusste sie wohl. Mrs. Daton hielt nichts mehr vom männlichen Geschlecht, seit Meggys Vater sie vor zehn Jahren verlassen hatte. Meggy verstand zwar nicht, warum ihre Mutter glaubte, dass jeder Mann notgedrungen genauso sein müsse wie ihr Vater, aber im Augenblick konnte sie ihr die Wut auf Jack nicht einmal zum Vorwurf machen. Es war gemein von ihm gewesen, so sauer zu reagieren, bloß weil Meggy nicht mit ihm zu Joans Fete gehen konnte. „Vielleicht ist es sogar ganz gut für dich, wenn du mal für ein Weilchen Abstand gewinnst", fing Mrs. Daton behutsam an, ohne ihren konzentrierten Blick dabei von der Straße zu wenden. Unwillkürlich verzog Meggy das Gesicht. Tante Doras plötzliche Krankheit lieferte ihrer Mutter natürlich eine willkommene Entschuldigung, Meggy und Jack zumindest eine Zeit lang auseinander zu bringen. „Übrigens", fuhr Mrs. Daton fort, „bist du Tante Dora schon begegnet. Aber es ist einfach schon zu lange her, dass du sie gesehen hast. Früher, wenn wir zu Großmutter gefahren sind, haben wir sie auf dem Wege manchmal besucht. Sie wohnt nur etwa eine Meile von Großmutter entfernt. Doch damals warst du noch so klein. Das war ja noch, bevor ..." Meggy verstand sogleich, dass ihre Mutter von der Zeit sprach, bevor ihr Mann sie verlassen hatte. Deshalb fiel sie ihr rasch ins Wort. „Wie ist Tante Dora denn so?" „Hm, sie ist eigentlich gar nicht deine Tante, aber alle Welt nennt sie ,Tante'. Sie war wohl schon immer ein bisschen überkandidelt. Verheiratet war sie nie, und ich möchte wetten, dass sie schon seit mindestens fünfzig Jahren in jenem Haus wohnt. Dein Vater hat gesagt, dass sie als junges Mädchen unglaublich schön war. Als ich sie zum ersten Mal gesehen hab, war sie natürlich schon lange kein junges Mädchen mehr, aber sie gab. sich größte Mühe, ihr Alter zu verbergen. Ich fand es, ehrlich gesagt, beinah albern, wie sie sich zurechtmachte, um jünger auszuse-
hen. Und dazu ihr jugendliches Getue! Ich glaube, sie h a t t e Angst vorm Altwerden. Inzwischen kann ich d a s beinahe verstehen." Sie zwinkerte ihrer Tochter zu. „Aber im Grunde ist sie einfach eine ungeheuer n e t t e alte Dame, Meggy. Du m a g s t sie bestimmt, da bin ich mir ganz sicher." „Wie alt ist sie jetzt?" Mrs. Daton lachte auf. „Das kann ich beim b e s t e n Willen nicht schätzen! Uralt, nehme ich an." Meggy lächelte und beugte sich vor. Die grelle Sonne von Louisiana blendete so, d a s s sie kaum e t w a s erkennen konnte. „Na, wo auch immer sie wohnen mag, ich kann mir nicht vorstellen, d a s s sie viel mit Leuten zu tun hat." „Stimmt, sie lebt sehr abgeschieden", pflichtete ihre Mutter ihr bei. „Wir haben nie verstanden, warum sie so einsam, so weit entfernt von der Stadt leben wollte. Zwar hatten wir immer den Eindruck, d a s s sie sich freute, wenn wir zu Besuch kamen, aber ich glaube, sie war heilfroh, wenn wir wieder aufbrachen und sie ihre Ruhe h a t t e . Keine zehn Pferde hätten sie a u s der Sumpfgegend fortschleppen können. Großmutter hat oft genug versucht, sie zu überreden, zu ihr zu ziehen. Dein Vater hat sich immer sehr um sie gesorgt. Aber die Menschen vom Bayou sind eigenwillig, weißt du. Ihr Leben hat sich seit Jahrzehnten nicht verändert, und sie mögen keine Neuerungen. Ich glaube, je älter Tante Dora wurde, d e s t o nervöser macht e n sie fremde Leute, die zu Besuch kamen. Sie w a r wohl lieber allein." „Warum haben wir sie so lange nicht besucht?" Meggy fächelte sich mit der Straßenkarte Kühlung zu. „Nachdem Großmutter nach New Orleans umgezogen war, sind wir gar nicht mehr in die Gegend gekommen", erklärte Mrs. Daton. „Großmutter h a t t e noch eine Zeit lang Briefkontakt mit Tante Dora, hat sie aber nach ihrem Um-
zug nicht mehr besucht. Und nachdem Großmutter gestorben war und Dad und ich uns haben scheiden lassen ..." Sie zuckte die Achseln, als wollte sie die alten Erinnerungen abschütteln. „Na ja, Menschen leben sich irgendwann einfach auseinander. Das ist nun mal so." „Warum hat der Arzt nach all den Jahren dann ausgerechnet uns angerufen?" „Wer weiß, mein Schatz"? Vielleicht ist dein Dad der einzige Verwandte, den Tante Dora noch hat. Wahrscheinlich hat sie gehofft, dass er noch in der Gegend wohnt und ihr helfen könnte." „Bestimmt ist sie schrullig und verkalkt", murmelte Meggy vor sich hin und verschränkte missmutig die Arme vor der Brust. „Bitte, Meggy, keine vorschnellen Urteile", wies ihre Mutter sie sanft zurecht. „Als dein Vater noch ein Kind war, hat sie ihn immer besonders lieb gehabt, und er hatte immer das Bedürfnis, sich um sie zu kümmern, so gut er konnte." „Warum fährt er dann nicht zu ihr und pflegt sie?" In dem Augenblick, als sie die Worte ausgesprochen hatte, wünschte Meggy, sie nie geäußert zu haben. „Weil er in Europa ist und Flitterwochen macht, mit seiner vierten Frau!" brauste Mrs. Daton auf. '„Und irgendjemand muss nun mal die Verantwortung für die arme alte Frau auf sich nehmen!" Der Wagen geriet heftig ins Schleudern, als ihre Mutter vor Anspannung ruckartig das Lenkrad herumriss. Meggy hielt es für besser, den Mund zu halten und nichts mehr zu diesem heiklen Thema zu sagen. Sicher, es war keineswegs leicht für ihre Mutter gewesen, für sie beide ein glückliches, gesichertes Leben aufzubauen, denn von Meggys Vater erhielt sie kaum Unterstützung. Hin und wieder rief er wohl an, um sich lahm dafür zu entschuldigen, dass er wieder mal das vereinbarte monatliche Geld nicht überwiesen hatte. Ihre Mutter plagte sich wirklich schwer genug ab, und jetzt fing Meggy auch noch an, zi-
ckig zu werden. Schuldbewusst schwieg sie und betrachtete die Landschaft, die in der Sonne flimmernd und verschwommen an ihr vorüberglitt. Schon vor einer Stunde hatten Meggy und Mrs. Daton die Autobahn verlassen und waren auf eine Straße abgebogen, die immer schmaler und unwegsamer wurde. Offenbar hatte sich seit vielen Jahren keine Gemeinde die Mühe gemacht, diese Straße auch nur halbwegs in Schuss zu halten. Der schadhafte Asphalt ging nach einer Weile in Kies und Muschelkalk über, bis aus dem holprigen Weg schließlich sogar eine Art primitiver Trampelpfad wurde, der sich zwischen dichtem Gestrüpp hindurchschlängelte. Die Zweige streiften die Autofenster, und die Äste der Bäume hingen so tief, dass sie über das Wagendach scharrten. Meggy konnte nur hoffen, dass ihnen kein anderer Wagen entgegenkam, denn zum Ausweichen war nirgends Platz. „Bist du ganz sicher, dass wir hier richtig sind?" fragte Meggy. „Dieser Weg sieht so aus, als hätte er noch nie ein Auto gesehen." Mrs. Daton nickte und fuhr entschlossen weiter. Es war drückend heiß an diesem Nachmittag. Bei geschlossenen Wagenfenstern war die Hitze in den Südstaaten der USA ohne Klimaanlage nicht zu ertragen. Meggy rutschte voller Unbehagen auf ihrem Sitz herum. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn, ihr lockiges kastanienbraunes Haar wurde feucht. Die Luft kam ihr vor wie eine nasse, warme Wolldecke, die sie einhüllte. Sie war klamm am ganzen Körper. Gereizt schlug sie nach einem Moskito von der Größe einer mittleren Münze und kratzte die rote Schwellung, die der Stich hervorgerufen hatte. Der Wagen drosselte die Geschwindigkeit, rollte vorsichtig über ein tiefes Schlagloch hinweg und durchdrang ein Geflecht von dicken Lianen, die den Weg überwuchert hatten. „Also wirklich!" rief Mrs. Daton entrüstet aus. „Ihr Grundstück macht wahrhaftig keinen gepflegten Eindruck, wie?"
Eine Antwort hielt Meggy nicht für nötig. Außerdem war sie viel zu beschäftigt damit, durch die Windschutzscheibe hindurch den ungeheuerlichen Anblick in sich aufzusaugen, der sich vor ihren Augen ausbreitete. Vor langer Zeit musste das Haus wunderschön gewesen sein. Es war ein Gebäude aus Holz, das auf einem steinernen Fundament errichtet war. Man dachte unwillkürlich an das Herrenhaus einer einstmals reichen, blühenden Plantage, wenn es auch etwas kleiner war. Vor dem Hintergrund vermooster Eichen und des träge dahinfließenden, moorigen Flusses, der am Haus vorbeifloss, wirkte es fast wie die Kulisse für einen alten Film, der in den Südstaaten spielte. Durch das Alter und mangelnde Pflege waren die Säulen am Eingangsportal verwittert und dunkel und die Mauern schütter und fleckig von abbröckelndem Putz. Aus den Ritzen der teilweise geborstenen Treppenstufen, die zur Haustür führten, spross Unkraut. Wo einst ein duftendes Geranke von Azaleen und Kamelien gewesen sein mochte, kroch jetzt ein unentwirrbares Gestrüpp von toten, trockenen Stängeln und Blättern an den Wänden empor. An der rechten Vorderseite des Hauses erhob sich eine mächtige Eiche, deren Äste sich schützend über das Dach breiteten. Graues Moos hing in Strähnen über die verdunkelten Fenster des Obergeschosses herab wie ergraute Haare über trübe, unsehende alte Augen. Trotz der Hitze fröstelte Meggy, und sie warf ihrer Mutter einen Blick zu. Ihrem Gesicht sah sie eindeutig an, dass ihre Mutter sich überlegte, ob ihr Entschluss wohl richtig war, Meggy hier zu lassen. „Also ..." Noch bevor sie ihren Satz begonnen hatte, schluckte Mrs. Daton. Ihre Hände fielen schlaff vom Steuer herab. „Wollen wir reingehen"?" flüsterte Meggy. Ganz unvermittelt bellte ein Hund, und Meggy fuhr zusammen. Dann kicherte sie nervös. „Na, immerhin ein lebendiges Wesen in dieser Einöde",
s a g t e ihre Mutter beklommen und versuchte zu lächeln. „Wollen wir reingehen?" „Nach dir", s a g t e Meggy, und beide m u s s t e n lachen. Als sie a u s dem Auto stiegen, kam plötzlich ein Collie hinter dem Haus hervorgerannt und näherte sich ihnen mit Schwanzwedeln und vorsichtiger Freundlichkeit. Meggy lockte ihn, und der Hund warf sie beinah um, als er sie ansprang, um sich streicheln zu lassen. Zögernd näherten sie sich dem Haus und w a r t e t e n auf ein Lebenszeichen. Mrs. Daton legte die Hände wie einen Trichter vor den Mund und rief Tante Doras Namen, aber sie erhielt keine Antwort. Als der Collie d a s liebevolle Kraulen hinter seinen Ohren spürte, wurde er richtig zutraulich und t r o t t e t e neben Meggy her, als h ä t t e er sein ganzes Leben an ihrer Seite verbracht. „Tante Dora!" rief Mrs. Daton wieder. Sie ü b e r s c h a t t e t e mit der Hand die Augen zum Schutz gegen die flimmernde Sonne und schaute sich besorgt um. Ein weicher Luftzug strich wie w a r m e r Atem über Meggys Haut hinweg. Sie blieb s t e h e n und b e t r a c h t e t e staunend den seltsamen Wald hinter dem Haus. So e t w a s n a n n t e man also einen t o t e n Wald. Er b e s t a n d a u s dichten, leblosen Baumstümpfen mit Asten, die wie verkrümmte, verstümmelte Leichen in der Bewegung erstarrt zu sein schienen. Ihre verzerrten Schatten vertieften noch den Eindruck trostlosester Düsterkeit. Das sind nur Schatten, weiter nichts, e r m a h n t e Meggy sich und hob den Blick zu den Fenstern im Obergeschoss, zu den schmutzigen, schlierigen Scheiben in den abblätternden Holzrahmen. Davor hingen verwitterte Blumenk ä s t e n schief in ihren Halterungen. Hinter den Fenstern lag alles im Schatten. Aber warum h a t t e sie dann da oben eine Bewegung gesehen? Meggy zwinkerte und riss die braunen Augen auf. Er-
schrocken hielt sie den Atem an. Da bewegte sich was! Wie ein altmodischer schwarzer Scherenschnitt in einem zerbrochenen Rahmen schaute zwischen den vorsichtig geteilten Spitzengardinen eine schmale, dunkle Gestalt hinaus. Meggy kniff die Augen zusammen und versuchte, Einzelheiten zu erkennen. Der schlanke, gerade Rücken und der sanft gewölbte Oberkörper verrieten, dass es sich um eine Frau handeln musste, aber die Figur war zu undeutlich, so dass Meggy nichts Näheres unterscheiden konnte. „Meggy? Ist was?" „Wie bitte?" Meggy fuhr zusammen, brachte aber ein Lächeln zu Stande. „Nein, nein, Mom. Das Haus wirkt richtig unheimlich, nicht wahr?" Sie blickte noch einmal zum Fenster hinauf, sah aber nichts mehr. Oder hatte sie sich getäuscht? Meggy schüttelte sich und holte geschwind ihre Mutter ein. „Ja", stimmte Mrs. Daton ihr zu. „Es ist tatsächlich unheimlich, und ich finde, wir sollten schnellstens zurück ..." „Hallo! Hallo! Wusste ich doch, dass ich ein Auto gehört habe!" Beide zuckten zusammen, als die Fliegentür mit lautem Knall aufflog. Eine kleine, pummelige Frau schlurfte auf die Treppenstufen hinaus. „Nun, Sie sind sicher Mrs. Daton und Meggy. Ich heiße Esther! Tut mir Leid, dass ich nicht sofort heruntergekommen bin, aber ich habe gerade Tante Dora etwas zu essen gebracht, und es dauert immer ein Weilchen, bis ich die Treppe geschafft habe." Meggy sagte sich, dass diese Frau mit ihrer leicht gebeugten Haltung und den breiten Schultern niemals die Gestalt am Fenster gewesen sein konnte. Sie lächelte ihre Mutter an, während Esther auf sie zuhumpelte, um sie richtig zu begrüßen. Sie hatte ein freundliches, angenehmes Gesicht und trug eine leuchtend rote Schürze über ihrem zerknit-
terten, mit Blumen bedruckten Kleid. Als Meggy sie genauer musterte, fiel ihr auf, dass ein Schuh eine dicke Sohle hatte, ein Hinweis darauf, dass das eine Bein der Frau kürzer sein musste. „Kommen Sie, hier draußen ist es heiß wie in einem Backofen." Esther führte sie in die dunkle, kühle Eingangshalle und schlug die Tür hinter ihnen zu. Durch das Insektengitter hindurch sah der Hund sie flehend an. „Nein, Beau, du kommst nicht rein. Wir fahren gleich nach Hause." „Gehört der Hund Ihnen?" wollte Meggy wissen. „Meinem Sohn. Er treibt sich irgendwo hier herum. Alex? Alex? Wo steckst du?" Aus dem Obergeschoss ertönte eine gedämpfte Antwort, und Esther lächelte, wobei sie eine Zahnlücke zeigte. „Er erledigt noch was für Tante Dora. Dann kommt er gleich runter." „Wie gehts Tante Dora?" fragte Mrs. Daton besorgt. „Nun ja, sie hält sich tapfer, die gute, alte Seele!" antwortete Esther fröhlich. „Aber ich war heilfroh, als ich hörte, dass Sie kommen. Es ist besser für sie, wenn jemand dauernd bei ihr ist." „Sie sind die Nachbarin?" fragte Meggy. „So kann man es nennen, obwohl wir ungefähr drei Meilen weiter den Fluss hinauf wohnen." „Kommen Sie etwa zu Fuß hierher?" Meggy konnte sich nicht erinnern, draußen ein Auto gesehen zu haben. „Liebe Güte, nein. Wir haben ein Boot." Esther nickte. „Damit kommt man in dieser Gegend viel schneller vorwärts als mit dem Auto, wo doch die Straße so schlecht ist. Wenn man überhaupt von einer Straße reden kann! Ich selbst kann auch gar nicht fahren. Dazu hatte ich nie Lust, und ich will es auch nicht mehr lernen. Hier gibt es weit und breit keine einzige vernünftige Straße, wenn ich's mir recht überlege." „Das habe ich gemerkt." Mrs. Daton verzog abschätzig das Gesicht.
„So haben wir Tante Dora auch nach Hause gebracht, m ü s s e n Sie wissen. Im Boot, meine ich." „Nein, d a s w u s s t e ich nicht." „Wir haben weiter oben einen kleinen Laden und eine kleine Verladerampe. Die meisten Fischer hier aus der Gegend kaufen ihre Lebensmittel bei uns. Und wir haben Tante Dora mit unserem Boot von Doc direkt nach Haus gebracht." „Von Doc?" „Klar. Doc hat Sie doch auch angerufen." Esther ging den Flur entlang und forderte Mrs. Daton und Meggy auf, ihr zu folgen. Mrs. Daton sah überrascht aus. „Ich dachte, Tante Dora wäre im Krankenhaus gewesen." Esther w a n d t e sich mit einem nachsichtigen Lächeln zu ihr um. „Tja, so sind die Leute a u s der Stadt nun mal. Sie kommen a u s New Orleans, nicht wahr? Hier gibts kein Krankenhaus. Doc nimmt alles selbst in die Hand» vom kleinsten Wehwehchen bis zum Herzinfarkt. Er ist der beste Arzt, den man sich vorstellen kann. Wenn ich zwischen dem Krankenhaus und Doc wählen m ü s s t e , würde ich mich j e d e s Mal für Doc entscheiden." Sie öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Meggy s e t z t e sich mit beklommenem Gefühl in einen Rohrstuhl und sah sich in dem düsteren Zimmer um. In dunklen Ecken standen altertümliche Möbel a u s längst vergangenen Zeiten, und die fadenscheinigen Teppiche unter ihren Füßen konnten die zerkratzten, staubigen Fußbodendielen nicht verbergen. Vor den Fenstern hingen Spitzengardinen, die den Blick auf den träge fließenden, sumpfigen Fluss frei ließen. Neben ihrem Stuhl stand eine geschmacklose Stehlampe mit Fransen. Auf kleinen Beistelltischchen sah sie eine Anzahl abgestorbener Topfpflanzen. Kein Fernsehgerät. Keine Stereoanlage. Nicht mal ein Radio. Das kann ja heiter werden, dachte sie mürrisch. „Ich hab selbst Ihren Namen und Ihre Nummer aus d e m
Telefonbuch rausgesucht", berichtete Esther stolz. „Ich hah nicht schlecht gestaunt darüber, dass Tante Dora überhaupt Verwandte hat. Sicher, sie lebte schon immer sehr zurückgezogen, und keiner weiß viel über sie. Sie hat wirklich ein Riesengiück gehabt, dass Alex gerade an dem Tag gekommen war." „Wieso?" Mrs. Daton legte die Stirn in Falten. „Das war so, Mrs. Daton. Bevor es passierte, hab ich Tante Dora noch nie gesehen. Sie lebte wie ein Einsiedler. Schon seit Jahren, sagt Doc. Er ist der Einzige, der sie hin und wieder besucht, zumindest der einzige, den ich kenne. Natürlich reden die Leute aus der Umgebung über sie, und ein paar von den ganz Alten sagen, dass sie sie vor Jahren gekannt haben. Einmal in der Woche bringt mein Junge ihr Lebensmittel. Sie hängt immer eine Liste der Sachen, die sie in der nächsten Woche braucht, an die Hintertür. Aber beim letzten Mal hat Alex keinen Zettel gefunden, und da hatte er Angst, dass ihr was passiert sein könnte. Die Türen waren verschlossen, und er konnte nicht ins Haus, um selbst nach dem Rechten zu sehen. Als er mir davon erzählte, hab ich Doc angerufen." Mit selbstzufriedenem Blick schob sie eine Haarsträhne unter ihr Kopftuch zurück. „Tja, Doc hat sich dann um alles gekümmert, und den Rest der Geschichte kennen Sie ja. Seit wir Tante Dora gesagt haben, dass Sie kommen, scheint es ihr schon ein bisschen besser zu gehen. Sie mag Sie und das Mädchen sehr gern." Mrs. Daton lachte höflich. „Mich wundert, dass sie uns überhaupt noch kennt, besonders Meggy. Sie hat uns so lange nicht gesehen." „Aber sie erinnert sich ausgezeichnet an Sie. Doc hat gesagt, dass sie ihm auch vorher schon oft von Ihnen erzählt hat. Sie meinte immer, Meggy müsste inzwischen zu einem hübschen jungen Mädchen herangewachsen sein. Und damit hat sie Recht, wie ich das so sehe." Meggy bedankte sich verlegen für das Kompliment.
„Wir sehen so oft nach Tante Dora, wie wir können", fuhr Esther fort. „Aber wir müssen uns ja auch noch um den Laden kümmern. Sie braucht jemanden, der immer bei ihr ist, den sie rufen kann, wenn sie etwas braucht. Rufen kann sie im Moment allerdings noch nicht, wissen Sie. Nach dem Herzanfall kann sie kaum noch reden ..." „Das wusste ich gar nicht!" Mrs. Daton bekam einen Schrecken. „Der Arzt sagte, es wäre nicht so ernst ..." „Aber, aber." Esther beugte sich vor und strich ihr beruhigend über die Hand. „Es ist auch nicht kritisch. Doc weiß schon, worüber er redet. Sie ist bei vollem Verstand und sogar ziemlich guter Stimmung, besonders, seit sie weiß, dass Meggy kommt und bei ihr bleibt. Doc hat gesagt, es sei die beste Medizin für sie, wenn Meggy ihr Gesellschaft leistet. Sie braucht frisches Blut, verstehen Sie! Es ist immer gut, junge Leute um sich zu haben, finde ich. Sie wird schon gesund werden, keine Sorge." „Ich hab sie vorhin gesehen", meldete sich Meggy zu Wort. „Als wir vor dem Haus standen, hat sie oben aus dem Fenster geschaut." Esther lächelte geduldig. „Da musst du dich getäuscht haben, liebes Kind. Sie kann ja gar nicht aufstehen." „Aber der Arzt hat gesagt ...", fing Mrs. Daton an. Meggy fiel ihr ins Wort. „Ich hab sie aber gesehen!"" „Unmöglich, Liebes! Ach, das lag an dieser grellen Sonne!" beharrte Esther. „Sie ruft die seltsamsten Erscheinungen hervor. Oft sieht man Dinge, Luftspiegelungen oder was auch immer, die in Wirklichkeit gar nicht da sind." Sie stand auf. „Ich hole Ihnen rasch eine Limonade, und dann gehen wir hinauf zu Tante Dora." Esther schlurfte aus dem Zimmer, und Meggy seufzte bekümmert auf. „Vielleicht bin ich nur müde von der langen Fahrt." Sie blickte ihrer Mutter in die Augen und konnte deutlich darin sehen, was sie dachte. „Nein, Mom, mitnehmen können Wir Tante Dora nicht. Wir haben nicht genug Platz im
Auto, um eine Kranke zu transportieren." Mrs. Daton sank in sich zusammen. „Du hast Recht, Schatz. Und zu Hause haben wir auch keinen Platz für sie." Meggy dachte an die enge Wohnung und wünschte sich sehnlichst dorthin zurück. „ich würde viel ruhiger auf diese Geschäftsreise gehen, wenn ich wüsste, dass du zu Hause bist. Wenn ich Tante Dora doch wenigstens in einem Krankenhaus in der Stadt unterbringen könnte!" Mrs. Daton schlug ratlos mit der Faust auf die Sessellehne. „Das will sie vielleicht gerade nicht." Meggy stand auf und legte den Arm um die Schultern ihrer Mutter. Sie wusste, wie sehr es ihre Mutter bekümmerte, dass sie nicht besser für Tante Dora sorgen konnte. Schon zu zweit kamen sie kaum mit dem Geld aus, das Mrs. Daton verdiente. Aber wenn diese Geschäftsreise erfolgreich verlief, dann hatte sie vielleicht Aussicht auf ein bedeutend höheres Gehalt. Meggy machte sich Vorwürfe, weil sie so selbstsüchtig gewesen war und sich gesträubt hatte, bei Tante Dora zu bleiben und sie zu pflegen. „Ach, Mom", sagte sie leise. „Es wird schon alles gut. Mir macht es nichts aus, hier zu bleiben, und es dauert ja nur ..." Sie brach den Satz unvermittelt ab, als ein Schatten durch die offene Tür fiel. Ohne jede Vorwarnung bekam sie eine Gänsehaut. Und dann hob sie den Blick und sah in die dunkelsten, stechendsten Augen, die sie je gesehen hatte.
2. KAPITEL „Du bist also Meggy." Als die tiefe, weiche Stimme diese Worte aussprach, klangen sie nicht wie eine Begrüßung, sondern eher wie ein Vorwurf . Meggy richtete sich kampfbereit auf. „Und ich bin ihre Mutter." Mrs. Daton beugte sich herausfordernd in ihrem Sessel vor. Meggy wünschte sich, ihre Mutter würde sie nicht dauernd wie ein kleines Kind in Schutz nehmen. Sie konnte sehr gut für sich selbst einstehen. „Guten Tag, Mrs. Daton." Der Tonfall des Jungen war höflich, aber sein durchdringender Blick war unverwandt auf Meggys Gesicht gerichtet. Wie der Unbekannte dort so im Halbdunkel der offenen Tür stand, wirkte er bedrohlich. Sein Gesicht und seine Figur waren nicht deutlich zu erkennen. Doch als er langsam ins Zimmer trat, konnte Meggy ihn richtig sehen, und ihr Puls beschleunigte sich. Er war auf eine düstere Art schön, hoch gewachsen und schlank, und er bewegte sich geschmeidig und zielstrebig wie ein stolzes Tier. Als das Licht auf seine hohen Wangenknochen fiel, wurden die markanten Gesichtszüge, die gerade Nase und das energische Kinn hervorgehoben. Er trug enge, ausgewaschene Jeans und ein offenes Hemd, das seine sonnengebräunte Brust frei ließ. Meggy schätzte ihn auf etwa achtzehn oder neunzehn Jahre. Er sah sie immer noch schweigend an, und ihr fiel auf, dass sie ihn wie gebannt anstarrte. Sie wurde rot und
senkte verlegen den Blick. Ein klimperndes Geräusch zerriss das Schweigen, und Meggy war froh, als Esther mit einem Tablett kühler, beschlagener Gläser hereinkam. „Ach!" rief Esther fröhlich. „Da bist du ja. Ich nehme an, ihr habt euch schon bekannt gemacht. Alex, das sind Mrs. Daton und Meggy. Mein Sohn Alex." „Angenehm", sagte er, aber es klang nicht sehr überzeugend. Er ging zum Fenster und blickte nach draußen. „Hast du da oben alles erledigt?" fragte Esther und reichte die Gläser mit Limonade herum. „Braucht sie noch was, oder können wir aufbrechen"?" Ohne sich umzudrehen, schüttelte er den Kopf. „Schön. Na gut." Esther warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und deutete dann mit einer Handbewegung auf den Flur. „Wollen wir jetzt zu Tante Dora hinaufgehen? Alex und ich müssen nämlich bald nach Hause. Um drei machen wir den Laden wieder auf." Während sie Esther die enge, schmale Treppe hinauffolgten, ließ Meggy ihre Blicke über die Porträts wandern, die die Wand schmückten. Aus den zahlreichen ovalen Rahmen blickte ihr immer nur ein einziges Gesicht entgegen, das Gesicht eines wunderschönen jungen Mädchens mit großen, heiteren Augen und einem süßen, geheimnisvollen Lächeln. Ihr blasser, schlanker Hals steckte in einem hohen Kragen aus feiner Spitze, und volles lockiges Haar fiel wie ein Wasserfall auf ihre Schultern herab. „Was für ein schönes Mädchen!" flüsterte Meggy andachtsvoll. „Ist das Tante Dora?" Alex brummte bejahend. „Weißt du, wie alt sie auf diesen Bildern ist?" forschte Meggy weiter. „Sechzehn." „So alt wie ich." Meggy nickte. Die schlichte Schönheit des unschuldigen Gesichts hatte sie ganz in ihren Bann gezogen. Zwar waren sämtliche Fotos schwarzweiß, aber je län-
ger sie sie betrachtete, desto deutlicher gewann sie den Eindruck, dass die Bilder mit Farbe, Bewegung und Stimmen erfüllt waren. Sie sah windzerzaustes blondes Haar, blitzende braune Augen, volle rote Lippen, und ein mädchenhaftes, unbeschwertes Lachen klang in ihren Ohren. Meggy legte den Kopf in den Nacken, um auch die Bilder, die höher hingen, besser sehen zu können. Das sanfte Gelächter des Mädchens auf den Fotos schien ihren Kopf zu erfüllen, in ihrem gesamten Körper zu schwingen. Es war ein leises, betörendes Lachen. Um Meggy herum drehte sich alles, drehte sich, drehte sich unaufhörlich im Kreis. Meggy stolperte und fiel aufs Knie, bevor sie sich am Geländer festhalten konnte. Erschrocken fuhren Esther und Mrs. Daton herum, aber Alex hatte sie bereits aufgefangen. „Ist alles in Ordnung mit dir?" fragte er fürsorglich. Er hatte einen Arm um ihre Taille gelegt. „Ja, ja ... Ich weiß nicht, wie das passiert ist." Meggy sah noch einmal zu den Fotos auf und schüttelte den Kopf, um wieder klar denken zu können. Das Lachen war verstummt, und die Gesichter waren wieder schwarzweif3 und reglos wie zuvor. „Das ist die Sonne", bemerkte Esther aufseufzend. „Hab ich's dir nicht gesagt?" Alex' Augen verengten sich und folgten Meggys verwirrten Blicken auf die Wand mit den Bildern. „Schon gut. Danke. Das war ungeschickt von mir." Voller Unbehagen bemerkte Meggy den missbilligenden Blick ihrer Mutter, als Alex ihr auf die Füße half. Unter seinem warmen, kräftigen Griff ging ein seltsames Kribbeln durch ihren Körper. Es brachte sie so durcheinander, dass sie beinah zum zweiten Mal gestolpert wäre, und sie versuchte, sich möglichst unauffällig von ihm frei zu machen. Doch bevor er sie losließ, blitzten seine dunklen Augen belustigt auf, und das entging ihr nicht.
Meggy lief rasch die Treppe hinauf und fand sich in einem schmucklosen, stickigen Flur wieder. Die schwüle Luft roch staubig, und wieder spürte sie, wie sich Schweißperion auf ihrer Oberlippe bildeten. Esther ging auf eine verschlossene Tür ganz am Ende des Korridors zu, klopfte an, öffnete sie und winkte die anderen ins Zimmer. Meggy hielt den Atem an, nahm dann all ihren Mut zusammen und trat entschlossen über die Schwelle. Die Zeit schien stillzustehen in diesem Raum. Einen Augenblick lang fühlte Meggy sich so fehl am Platze, als wäre sie ohne Einladung und angemessene Kleidung in einen feierlichen Empfang hineingeraten. Durch die vergilbte Spitzengardine fiel Sonne ins Zimmer und malte helle Flecke auf das Rosenmuster der Tapete. Direkt gegenüber erhob sich ein riesiges, geschnitztes Himmelbett, das mit Moskitonetz verhängt war. Vor einem der Fenster stand ein Frisiertischchen, dessen Volants dieselbe Farbe und dasselbe Muster hatten wie die Tapete. Darauf standen unzählige Fläschchen, Töpfchen und Tiegel. Außerdem lagen dort eine vergoldete Haarbürste und ein Handspiegel sowie ein ganzes Sortiment von Perlmuttkämmen. An einer anderen Wand erhob sich ein mächtiger, kunstvoll geschnitzter massiver Eichenschrank. Ein Schaukelstuhl stand neben einem kleinen, runden Tischchen mit einer rosenverzierten Porzellanlampe und einem Porzellankrug, und auf der anderen Seite des Tischchens erstreckte sich ein altersschwaches Sofa mit verblichenem rosa Satinbezug, auf dem ein zartes, cremefarbenes Schultertuch nachlässig hingeworfen lag. Meggy sah sich staunend um, dann heftete sie den Blick auf das riesige Bett. Zunächst dachte sie, es sei leer, doch dann spürte sie, dass jemand dort war. Jemand, der sie beobachtete, jemand, der geduldig auf sie wartete. „Tante Dora? Deine Freunde sind angekommen, meine Liebe." Esther ging ans Bett und zog das weiße Moskito-
netz zurück. Meggy hätte beinah laut aufgeschrien. Zwischen Bergen von weißen Spitzenkissen lag eine ausgemergelte Gestalt. Ihr langes, spitzes Gesicht starrte den Neuankömmlingen mit leeren Augen entgegen. Ihre Haut war total verschrumpelt und gelblich. Doch auf ihren Wangen glühten zwei grelle rote Rougeflecken, und ihre eingefallenen Lippen hatten dieselbe schreiende Farbe. Den totenkopfähnlichen Schädel bedeckten graue, dünne Haarsträhnen. Meggy betrachtete Tante Dora mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu. Vor ihren Augen tanzten die Fotos des jungen Mädchens Dora, als wollten sie sich über sie lustig machen. Schließlich brach Mrs. Daton das entsetzte Schweigen. Sie ging nervös zum Bett und ergriff eine der krallenartigen alten Hände. „Tante Dora." Ihre Stimme zitterte, aber sie zwang sich zu einem Lächeln. „Ich bin so froh, dass man uns zu dir gerufen hat." „K... Ka... Kaaaa." Der eingesunkene Mund der alten Frau bemühte sich vergeblich, den Namen von Mrs. Daton zu formen, und große Tränen der Verzweiflung traten ihr in die Augen und rannen die runzligen Wangen hinab. Meggy hätte vor Mitleid heulen können und ließ den Kopf hängen. „Ja, ich bin Katherine. Und schau, ich habe Meggy mitgebracht." Mrs. Daton setzte sich behutsam auf die Bettkante. „Du erinnerst dich doch noch an Meggy, nicht wahr?" „Mmmmmmm ..." Die dünne Stimme versagte. Mrs. Daton streichelte den mageren Arm der Schwerkranken, während Meggy ebenfalls näher ans Bett kam. „Fi... Fi... Fillll ..." Als das Wort ihr wieder nicht gelingen wollte, fuhr Tante Dora sich mit der spitzen Zunge über den lippenstiftverschmierten Mund. Meggy musste unwillkürlich an eine Eidechse denken, als sie das sah. „Ich glaube, sie will nach Dad fragen*', sagte Meggy leise.
Mrs. Datons Gesicht verschloss sich. „Phillip geht es gut, Tante Dora", sagte sie mit erzwungener Heiterkeit. „Er hat wieder geheiratet und ist jetzt in Europa." Meggy war nicht sicher, ob Tante Dora alles begriffen hatte, denn ihre tief liegenden Augen irrten durch das Zimmer. Ihr Blick blieb an Alex hängen. Sie starrte ihn an, ohne mit der Wimper zu zucken, und er erwiderte den kalten Blick furchtlos. Da griff Esther ein. „Wir müssen jetzt gehen, Tante Dora. Das Geschäft wartet." Aufgeschreckt sah Mrs. Daton auf ihre Uhr. Ein sorgenvoller Schatten fiel über ihr Gesicht, und sie warf Meggy einen ratlosen Blick zu. Arme Mom! dachte Meggy. Sie spürte ihre Angst und nahm ihr die Entscheidung ab. „Weißt du schon, dass ich hei dir bleibe, Tante Dora?" fragte sie heiter. „Ich bleibe liier, bis du wieder ganz gesund bist." Die teeren Augen starrten sie unverwandt an. Meggy spürte, dass ihre Mutter sie forschend ansah, und es gelang ihr, trotz allem zuversichtlich dreinzuschauen. „Wir werden prima zurechtkommen, nicht wahr, Tante Dora?" Tante Dora fing lautlos an zu weinen, und Esther wischte ihr müdes Gesicht mit einem Taschentuch ab, das sie aus der Schürzentasche zog. „Natürlich kommt ihr gut zurecht." Esther nickte zufrieden. „Und Alex wird jeden Tag bei euch hereinschauen, wenn er seine Lieferungen ausfährt. Außerdem kommt ja auch Doc regelmäßig vorbei." Mrs. Daton musterte Alex aus dem Augenwinkel. Meggy wusste, dass sie immer noch Zweifel hatte, ob ihre Entscheidung richtig war. „Vielleicht lernst du hier in der Gegend ja ein paar nette junge Leute kennen", bemerkte ihre Mutter zaghaft. „In dieser verlassenen Einöde!" Esther lachte. „Meilenweit gibt es hier keine Nachbarn, und die wenigen Familien hier am Bayou bleiben völlig unter sich. Sie wollen nicht,
dass Fremde mit ihnen in Kontakt kommen. Wir leben seit Jahren hier, und nichts hat sich je verändert. Wenn mein Mann nicht gewesen wäre - Gott hab ihn selig - dann hätte man mich hier nie gelten lassen. Na, wie auch immer junge Mädchen in deinem Alter gibt es weit und breit nicht, Meggy. Seit fünf Jahren ist mir keines unter die Augen gekommen. Nicht ein einziges." „A... Aaaaa... naaa..." Mit gespenstischem Lächeln blickte Tante Dora zu Esther hinüber. Dabei öffnete und schloss sie den Mund wie ein Fisch auf dem Trocknen. Meggy erschrak über die plötzliche Veränderung, die mit Esther vorging. Alle Farbe wich aus dem Gesicht der Frau, und ein kleiner, erstickter Laut rang sich aus ihrer Kehle. Sie lehnte sich wie unter einem Schwächeanfall an die Wand und umklammerte Alex' Arm. Im ersten Moment dachte Meggy, Esther würde zusammenbrechen, aber dann fand sie ihre Stimme wieder und flüsterte: „Nein, Tante Dora. Anna ist fort." Alex stützte seine Mutter und mahnte mit scharfer Stimme: „Es wird Zeit." „Ja." Esther warf noch einen hilflosen Blick auf Tante Dora. Dann wandte sie sich ab. „Meggy, dein Zimmer ist am anderen Ende des Flurs. Komm mit nach unten, ich zeig dir, wo du alles findest, was du brauchst." Meggy ließ ihre Mutter und Tante Dora allein, und Esther erklärte ihr, wie die Küche organisiert war. Der Raum war geräumig und altmodisch eingerichtet, der Linoleumboden total schäbig. Zu Meggys Erleichterung gab es jedoch fließendes Wasser und sogar einen winzigen Kühlschrank. Auch die Küchenschränke mit ihren Glasscheiben schienen zufriedenstellend gefüllt zu sein. In einer Ecke stand ein Tisch mit zwei einfachen Stühlen, über der Spüle ließ ein Fenster Sonnenlicht herein. Von dort aus überblickte man den abgestorbenen Wald und einen Teil des Sumpfgebietes am Fluss, der sich links am äußersten Ende des Gartens vorbeischlängelte.
„In diesem Haus findet man sich leicht zurecht", bemerkte Esther. „Es gibt fünf Zimmer: deins, Tante Doras und das Bad liegen im Obergeschoss. Hier unten sind nur die Küche und das Wohnzimmer. Dein Zimmer ist direkt über uns. Und du hast nichts weiter zu tun, als Tante Dora zu füttern und aufzupassen, wenn sie ruft. Für alles andere wird Doc schon sorgen, wenn er vorbeikommt. Er hat einen Schlüssel, du brauchst also keine Angst zu haben, dass du sein Klopfen überhören könntest." Dann war der Zeitpunkt des Abschieds gekommen. Meggy lächelte tapfer, als sie ihrer Mutter einen Abschiedskuss gab. Esther und Alex begleiteten beide nach draußen und winkten, während Mrs. Daton ins Auto stieg und den Motor anließ. „Falls du mich brauchst...", rief sie ihrer Tochter noch zu. „ich komme schon zurecht!" Meggy musste sich zusammenreißen, um nicht dem plötzlichen Drang nachzugeben, ihrer Mutter hinterherzulaufen. Am liebsten wäre sie zu ihr ins Auto gestiegen. „Sie wird es schon schaffen." Esther lächelte und legte Meggy ermutigend die Hand auf die Schulter. „Und wir wohnen ja auch nicht allzu weit entfernt." „Machs gut, mein Schatz!" Mrs. Daton lenkte den Wagen zurück auf den holprigen Weg. „Tschüs, Mom", flüsterte Meggy und fühlte heiße Tränen in ihren Augen aufsteigen. „Bis bald ..." Esther legte den Arm um sie und forderte sie auf, sie ums Haus herum zum Boot zu begleiten. „Keine Angst. Alex kommt jeden Tag vorbei und schaut nach, ob alles in Ordnung ist, und ich selbst komme auch, sooft ich kann. Wenn du irgendwas Besonderes zu essen haben möchtest, brauchst du es nur Alex zu sagen, dann sorg ich schon dafür, dass du es bekommst. Ich habe einen Speiseplan für Tante Dora aufgestellt. Er liegt in der Küche auf der Arbeitsplatte neben dem Herd. Du wirst es schon schaffen." „Danke, Esther." Meggy stand am Ufer des Flusses
und wünschte sich inständig, nicht allein zurückbleiben zu müssen. Esthers freundliches Lächeln fehlte ihr jetzt schon. Um die Hausecke herum kann Beau angestürmt und sprang mit freudigem Bellen ins Boot. Alex stieß vom Anlegesteg ab und ruderte um die erste Kurve herum. Plötzlich winkte Meggy ihnen wild mit beiden Armen zu. „Moment! Ich brauche Ihre Telefonnummer, falls mal etwas ist." Aus dem Schatten einer überhängenden Weide blitzten Alex' Augen hart und kalt wie Stahl zu ihr herüber. „Das hat keinen Sinn. Tante Dora hat kein Telefon." Kein Telefon! Meggys Mut sank. Zaghaft wandte sie sich zum Haus um. Wenn nun etwas Unvorhergesehenes geschah? Sei doch nicht albern, wies sie sich selbst zurecht und schritt mit einer Entschlossenheit aufs Haus zu, die sie leider keineswegs fühlte. •Esther hatte versprochen, dass täglich jemand kommen würde. Außerdem musste sie ja nur eine kurze Zeit bleiben, tröstete Meggy sich. Vielleicht nicht mal länger als eine Woche. Dann endlich konnte sie wieder nach Haus und Joan und die Clique treffen, vielleicht sogar Jack, wenn seine Wut bis dahin verraucht war. Bis zum Schulbeginn blieb ihnen noch der ganze Sommer, und sie würde nicht eine einzige kostbare Minute davon verschwenden. Meggy seufzte, hob den Blick und erstarrte. Hatten sich die Gardinen bewegt? Sie war ganz sicher, dass sich am Fenster im Obergeschoss etwas gerührt hatte, so, als ob sich ein heimlicher Beobachter rasch von seinem Posten zurückgezogen hätte, um nicht gesehen zu werden. Allerdings hatte sie niemanden gesehen, nur die Gardinen bewegten sich sacht. Meggys Gedanken rasten. Sie kam zu dem Schluss, dass das betreffende Fenster in Tante Doras Zimmer sein musste, denn ihr eigenes Zimmer befand sich links davon.
Wieder fragte sie sich, wer die Gestalt gewesen war, die sie bei ihrer Ankunft am Fenster gesehen hatte. Ob es doch Esther gewesen war? Aber nein, Esther hatte eine ganz andere Statur. Tante Dora? Esther hatte es ausgeschlossen, und Meggy konnte ihr nur zustimmen, seit sie die alte Dame so schwach und hilflos im Bett gesehen hatte. Aber wer war es dann"? „Vielleicht ist es nur meine Einbildung", sagte Meggy laut zu sich selbst. Es tat gut, eine Stimme zu hören, selbst wenn es nur ihre eigene war. Sie lief ins Haus zurück und die Treppe hinauf in Tante Doras Zimmer. „Kann ich irgendetwas für dich tun?" fragte Meggy von der Tür aus. Tante Dora warf den Kopf in den Kissen herum und zupfte geistesabwesend an der Bettdecke. Meggy konnte nicht begreifen, wie sie es unter all den Decken aushalten konnte, denn obwohl die Fenster weit offen standen, war es drückend heiß in dem Zimmer. Meggy lächelte freundlich. „Hast du Wirklich keinen Hunger?" Der Kopf bewegte sich von einer Seite zur anderen. „Okay, dann werd ich mich draußen mal ein bisschen umsehen." Langsam wandte sich das alte Gesicht ihr zu, und Meggy glaubte, dass die Augen für einen Moment streng wurden. „Nnn ... nich ... so ... www ... weit." Die Stimme zitterte, aber die bemalten Lippen kämpften weiter um Worte. „Schschsch ... Schlangen ..." Meggy verstand nur mit großer Mühe, was sie sagen wollte. Doch als Tante Dora das Wort herausgebracht hatte, lief ihr ein Schauer über den Rücken. „Schlangen! Nein, ich werde nicht sehr weit fortgehen. Ich geb schon Acht." Wie rührend, dachte Meggy zärtlich. Kaum vorzustellen, aber Tante Dora versuchte tatsächlich, auf sie aufzupassen! Sie zog die Tür hinter sich zu und ging in ihr Zimmer.
Meggys Zimmer war ein winziger Raum, der offenbar nie benutzt wurde, wie der muffige Geruch verriet. Die Einrichtung bestand aus einem einfachen Bett, einer Kommode mit einem gehäkelten Deckchen und einem kleinen Schaukelstuhl. Alles wirkte sehr düster und hässlich. Ein Vorhang in einer Ecke ersetzte eine Schranktür, und Meggy begann, ihre wenigen Blusen auf Kleiderbügel zu hängen. Ihre Jeans und T-Shirts steckte sie in eine Schublade der Kommode, und zuletzt hängte sie ihren Bademantel an einen Haken neben dem Bett. Sie ging an das Fenster, das nach hinten hinaus lag, und ließ den Blick über den Garten hinter dem Haus und den toten Wald schweifen. Rechts erstreckte sich ein undurchdringliches Gestrüpp aus Unterholz und Bäumen. Als sie an Tante Doras Warnung dachte, schüttelte sie sich. Sie hatte entsetzliche Angst vor Schlangen, und hier mitten in den Wäldern des Sumpfgebietes fanden Mokassinschlangen mit Sicherheit die besten Lebensbedingungen vor. Ihr wäre es weit lieber gewesen, wenn die Fenster richtige Läden statt der leichten Vorhänge gehabt hätten. Doch dann schüttelte sie über sich selbst den Kopf. Wer hätte schon in ihr Zimmer hineinschauen sollen"? Sie befand sich doch praktisch am Ende der Welt. Meggy begutachtete noch das Bad und rümpfte beim Anblick des kleinen, fleckigen Waschbeckens mit den zwei getrennten Warm- und Kaltwasserhähnen angewidert die Nase. Die Toilettenspülung wurde mit einer altmodischen Zug kette betätigt. Die Badewanne war riesengroß und ruhte auf vier verschnörkelten Klauenfüßen wie ein vorsintflutliches Ungeheuer. Wie Tante Dora. Hör sofort auf! rief Meggy sich zur Ordnung. Tante Dora kann nichts dafür, dass sie so alt und krank und hässlich ist. Plötzlich verspürte sie Hunger. Sie ging hinunter in die Küche und durchsuchte die Schränke,bis sie Brot und Erdnussbutter fand. Esther schien zu wissen, was Jugendliche am liebsten aßen. Oder hatte Alex vielleicht da-
für gesorgt? Meggy setzte sich auf einen Küchenstuhl und strich ge~ dankenverloren Erdnussbutter auf ihr Brot. Alex sah so unwahrscheinlich gut aus, dass es kaum zu glauben war. Wenn Joan ihn zu Gesicht bekäme, würde sie völlig ausflippen. Aber er hatte auch etwas Unheimliches an sich; und das war so stark, dass Meggy in seiner Gegenwart geradezu Beklemmungen bekam. Seine Augen waren unglaublich stechend. Sein Blick schien in ihr innerstes einzudringen. Meggy klappte ihr Sandwich zusammen, biss herzhaft hinein und ging zur Haustür. Sie hüpfte über ein paar knarrende Treppenstufen hinunter in den Garten. Ein überwältigender süßer Duft schlug ihr entgegen, überflutete sie in warmen, feuchten Wogen. Gardenien. Meggy erkannte den Geruch auf Anhieb und beugte sich über die Büsche. Behutsam pflückte sie eine zarte Blüte ab und strich mit dem Finger sanft über die weichen, duf-enden Blütenblätter, bevor sie sie schließlich hinter dem Ohr ins Haar steckte. Als sie weiterging, begleitete sie der Duft. Sie holte tief Luft und lächelte versonnen. Wenn sie heute Nacht ihr Schlafzimmerfenster offen ließ, würde der ganze Raum am nächsten Morgen wie ein Hochzeitsstrauß duften. Zwischen ihr und dem träge dahinfließenden Fluss stand eine Reihe vorgebeugter Erlen, deren Blätter und herabhängendes Moos die hohen Binsen streiften. Meggy betrat vorsichtig den toten Wald und achtete nervös auf jede Bewegung im Gras, wo sich eine Schlange versteckt halten könnte. Im Stillen nahm sie sich vor, niemals in der Dunkelheit hierher zu kommen. Sie biss in ihr Sandwich, blieb stehen und betrachtete die grauen, schorfigen Baumstämme, die wie verfallende Wachposten vor ihr standen. Vergeblich versuchte sie sich vorzustellen, wie sie ausgesehen haben mochten, als sie noch frisch und grün und lebendig waren. Nicht einmal ein Vogelschrei ertönte aus dem Dickicht, als ob selbst die
Vögel diesen Hain toter Bäume mieden. Plötzlich hörte Meggy etwas rascheln und fuhr instinktiv zurück. Während sie angestrengt ihre Umgebung betrachtete und darauf wartete, dass etwas zum Vorschein kam oder sich bewegte, fiel ihr etwas auf, was sie vorher noch nicht bemerkt hatte. Es war ein schmaler Pfad. Selbst jetzt konnte sie ihn nur schwer erkennen, denn er verschwand beinah völlig unter dem Gewirr \/on trockenem, rostfarbenem Gestrüpp, das ihn überwucherte. Langsam ging Meggy näher und schob einen überhängenden Ast zur Seite. Sie versuchte, die Dunkelheit mit den Augen zu durchdringen. Es handelte sich eindeutig um einen ausgetretenen Weg, der, wie sie nun erkannte, sogar etwas breiter wurde, bevor er in den tiefen Schatten des Waldes verschwand. Wohin mochte er führen'? Meggy tastete sich zögernd vor, sprang aber gleich darauf mit einem Aufschrei zurück, als etwas ihren Arm streifte. Sie schlug wild um sich. Eine Spinne fiel von ihrem Arm herab ins Gras und huschte rasch ins Unterholz, Meggy schnappte nach Luft und rannte zurück zum Haus, so schnell sie konnte.
3. KAPITEL „Willst du wirklich keine Suppe?" fragte Meggy wohl zum dritten Mal. „Du musst doch zu Kräften kommen, Tante Dora, und schnellstens wieder gesund werden. Jetzt habe ich die Verantwortung für dich." Die alte Frau schloss die Augen und drehte den Kopf zur Meggy hob hilflos die Schultern und trug das Tablett zurück in die Küche. Dass Tante Dora sehr krank war, hatte sie zwar gewusst, aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihre Pflege so schwierig sein würde. Meggy hatte sich größte Mühe gegeben, die Schonkost für Tante Dora genauestens nach Esthers Anweisungen zuzubereiten. Wenn es Tante Dora plötzlich wieder schlechter gehen sollte, wusste sie nicht, wie sie Hilfe holen könnte. Meggy goss die Suppe zurück in den Topf. Vielleicht bekam Tante Dora später doch noch Hunger. Für ihre eigene Mahlzeit nahm Meggy zunächst einmal eine Büchse Thunfisch aus dem Regal, um sich einen Salat zuzubereiten. Während sie den Salat auf der Arbeitsplatte neben der Spüle anrichtete, blickte sie immer wieder durch die Gardinen nach draußen in die zunehmende Dämmerung. Sie hatte das Gefühl, dass es nachts ganz schön unheimlich werden konnte in dieser Einöde, und der Gedanke, hier in der hell erleuchteten Küche allen Blicken von draußen so deutlich ausgesetzt zu sein, gefiel ihr nicht. Meggy kehrte dem Fenster den Rücken zu und seufzte. Sie belegte sich ein Sandwich und ging ins Wohnzimmer.
Vögel diesen Hain toter Bäume mieden. Plötzlich hörte Meggy etwas rascheln und fuhr instinktiv zurück. Während sie angestrengt ihre Umgebung betrachtete und darauf wartete, dass etwas zum Vorschein kam oder sich bewegte, fiel ihr etwas auf, was sie vorher noch nicht bemerkt hatte. Es war ein schmaler Pfad. Selbst jetzt konnte sie ihn nur schwer erkennen, denn er verschwand beinah völlig unter dem Gewirr von trockenem, rostfarbenem Gestrüpp, das ihn überwucherte. Langsam ging Meggy näher und schob einen überhängenden Ast zur Seite. Sie versuchte, die Dunkelheit mit den Augen zu durchdringen. Es handelte sich eindeutig um einen ausgetretenen Weg, der, wie sie nun erkannte, sogar etwas breiter wurde, bevor er in den tiefen Schatten des Waldes verschwand. Wohin mochte er führen? Meggy tastete sich zögernd vor, sprang aber gleich darauf mit einem Aufschrei zurück, als etwas ihren Arm streifte. Sie schlug wild um sich. Eine Spinne fiel von ihrem Arm herab ins Gras und huschte rasch ins Unterholz, Meggy schnappte nach Luft und rannte zurück zum Haus, so schnell sie konnte.
3. KAPITEL „Willst du wirklich keine Suppe?" fragte Meggy wohl zum dritten Mal. „Du musst doch zu Kräften kommen, Tante Dora, und schnellstens wieder gesund werden. Jetzt habe ich die Verantwortung für dich." Die alte Frau schloss die Augen und drehte den Kopf zur Seite. Meggy hob hilflos die Schultern und trug das Tablett zurück in die Küche. Dass Tante Dora sehr krank war, hatte sie zwar gewusst, aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihre Pflege so schwierig sein würde. Meggy hatte sich größte Mühe gegeben, die Schonkost für Tante Dora genauestens nach Esthers Anweisungen zuzubereiten. Wenn es Tante Dora plötzlich wieder schlechter gehen sollte, wusste sie nicht, wie sie Hilfe holen könnte. Meggy goss die Suppe zurück in den Topf. Vielleicht bekam Tante Dora später doch noch Hunger. Für ihre eigene Mahlzeit nahm Meggy zunächst einmal eine Büchse Thunfisch aus dem Regal, um sich einen Salat zuzubereiten. Während sie den Salat auf der Arbeitsplatte neben der Spüle anrichtete, blickte sie immer wieder durch die Gardinen nach draußen in die zunehmende Dämmerung. Sie hatte das Gefühl, dass es nachts ganz schön unheimlich werden konnte in dieser Einöde, und der Gedanke, hier in der hell erleuchteten Küche allen Blicken von draußen so deutlich ausgesetzt zu sein, gefiel ihr nicht. Meggy kehrte dem Fenster den Rücken zu und seufzte. Sie belegte sich ein Sandwich und ging ins Wohnzimmer.
Wie sollte sie sich die Zeit vertreiben, solange sie auf Tante Dora Acht geben musste? Sie hatte ein paar Bücher mitgenommen, aber sie war nicht sicher, ob sie Ruhe zum Lesen finden würde. Wenn doch Joan bei ihr wäre! Immer wieder musste sie an die Gestalt am Fenster denken. Es war keine Lichtspiegelung gewesen, die die Sonne hervorgerufen hatte. Meggy war absolut sicher, dass sie sie wirklich gesehen hatte. Und was hatte Esthers seltsames Verhalten zu bedeuten, als Tante Dora Anna erwähnte? Vielleicht würde sie etwas aus Alex herausbekommen, wenn er das nächste Mal kam. Der Gedanke an Alex half ihr schließlich, einen Entschluss zu fassen. Sie wollte alles, was sie gesehen und erlebt hatte, in ihr Tagebuch eintragen, damit sie später, wenn sie wieder zu Hause war, in allen Einzelheiten mit Joan über ihre Erfahrungen sprechen konnte. Joan würde sich bestimmt besonders über alles freuen, was mit Alex zu tun hatte. Meggy wollte sofort nach oben gehen, um ihr Tagebuch und einen Kuli zu holen. Auf dem Weg die Treppe hinauf hatte Meggy das unangenehme Gefühl, von den großen, ruhigen Augen der Porträts an der Wand beobachtet zu werden. Die Bilder waren so unglaublich schön. Es war schwer zu glauben, dass sie alle die Frau darstellten, die jetzt so alt, krank und verhutzelt oben in ihrem Bett lag. Meggy blieb stehen, stützte sich leicht aufs Treppengeländer, legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die Fotos ganz genau, eines nach dem anderen. Der Gesichtsausdruck, das geheimnisvolle Lächeln waren auf allen Bildern gleich, und die Kleider waren einander so ähnlich, dass man glauben konnte, sämtliche Fotos wären Abzüge eines einzigen Originals. Wie seltsam, dachte Meggy. Als ob das eine Jahr, ihr. sechzehntes, der Höhepunkt ihres Lebens gewesen wäre, als ob es alle Reichtümer und Hoffnungen der Jugend enthalten hätte, als ob dieses Jahr festgehalten, eingefangen worden wäre aus Angst, dass keines der kommenden an-
nähernd so schön und glücklich sein würde! Wie mit lautlosen Schritten schlich die Dämmerung die Treppe hinauf. Geistesabwesend tastete Meggy nach einem Lichtschalter, während sie noch immer wie gebannt die Fotos betrachtete. Aus großer Ferne drang das leise Wispern des Sommerwinds an ihr Ohr, wehte durch die Fenster und die zarten Spitzengardinen, die langen Flure hinab und brachte alte, verstreute Erinnerungen mit sich. Doch dann bemerkte Meggy, dass es gar nicht das Flüstern des Windes war, sondern ein leises Mädchenlachen, das Lachen eines jungen, unbeschwerten Wesens. Meggy hob den Kopf und öffnete den Mund. Das Lachen hüllte sie ein, und es machte ihr nichts aus, dass es sich einen Weg in ihr Rewusstsein suchte, in ihrer Kehle kitzelte. Aus halb geschlossenen Augen sah sie die Blicke der Porträts auf sich ruhen. Das seltsame Lächeln wurde zu ihrem eigenen, und sie selbst begann zu lachen, zuerst leise, dann immer lauter. Sie fühlte sich unbeschwert und herrlich frei. Sie wiegte ihren Körper im Takt des Lachens, das wie Musik in ihrem Kopf sirrte, und als sie die Hand ausstreckte, um eines dieser freundlichen, unschuldigen Gesichter zu berühren, hätte sie schwören können, dass es ihren Namen flüsterte. Immer und immer wieder, unter perlendem Gelächter. Meggy ... Meggy ... Meggy ... Ein Klopfen an der Tür hallte durchs Haus. Eines der Bilder fiel klirrend vor Meggys Füßen zu Boden, winzige Glasscherben sprühten in alle Richtungen, und sie schrie erschrocken auf. Ängstlich, dicht an die Wand gedrängt, tastete Meggy sich langsam nach unten und fragte sich, wer wohl zu so später Stunde noch zu Besuch kam. Mom vielleicht? Hatte sie es sich anders überlegt und war zurückgekommen, um sie abzuholen? Voller Hoffnung, das Gesicht ihrer Mutter zu sehen, lugte Meggy in der Dämmerung durch das kleine Fenster in der Haustür. Während sie noch versuchte, etwas zu erkennen, schlug
jemand mit der Faust gegen die Holzbohlen der Tür, und vor Schreck presste sie sich flach an die Wand. Womit konnte sie sich verteidigen, falls jemand die Tür aufbrach"? Schon wollte sie ins Obergeschoss flüchten, als sie die Stimme erkannte, die ruhig aus der Dunkelheit kam. „Ich bin's, Alex. Mach die Tür auf." Erleichtert ging Meggy auf die Tür zu, blieb aber unvermittelt wieder stehen. Was wollte Alex denn um diese Zeit noch? Sie hatte ihm von Anfang an nicht über den Weg getraut, und das hatte sich kein bisschen geändert. Sie beugte sich leicht vor und fragte ihn, durch die geschlossene Tür: „Was willst du?" „Esther schickt dir ein paar Sachen. Komm schon, mach auf." Meggy biss sich auf die Unterlippe und versuchte, ihrer Stimme einen entschiedenen Klang zu geben. „Ich glaube, das tu ich lieber nicht." Einen Augenblick lang herrschte Stille, bevor Alex sagte: „Ich habe einen Schlüssel." Meggy mühte sich mit dem Schloss ab, öffnete schließlich die Tür und sah Alex mit einem Karton auf seiner breiten Schulter am Pfosten lehnen. „Hast du wirklich einen Schlüssel?" fragte sie ihn misstrauisch. „Warum hast du ihn dann nicht benutzt?" „Ich wollte nicht einfach so hereinkommen", antwortete er kühl. „Ich glaube ... Ich glaube, es ist besser, du gibst mir den Schlüssel", verlangte Meggy. „Soso, glaubst du." Alex schob sich an ihr vorbei und ging in die Küche, wo er den Karton auf dem Tisch abstellte. „Wie kommst du zurecht?" „Gut." Meggy fühlte sich verunsichert und hoffte, dass er rasch wieder ging. Seit er ins Haus gekommen war, wirkte der Raum plötzlich eng und bedrohlich. „Du bist nicht gerade gern, hier geblieben, oder?" bemerkte er, lehnte sich an die Schranktür und sah Meggy
herausfordernd an. Schon wollte Meggy es abstreiten, aber dann schüttelte sie doch zögernd den Kopf. „Stimmt." „Wie gehts Tante Dora?" Alex ging zur Hintertür und prüfte das Schloss. Meggy ließ ihn nicht aus den Augen. „Sie will nichts essen." „Wenn sie Hunger bekommt, wird sie schon essen." „Was ist da drin?" Meggy deutete auf den Karton. „Esther fiel plötzlich ein, dass sie vergessen hatte, dir Mineralwasser zu schicken. Ich glaube, sie hat dir auch ein paar Zeitschriften eingepackt." „Warum nennst du deine Mutter Esther?" „Sie ist nicht meine richtige Mutter. Sie hat mich adoptiert." „Ach so." „Brauchst du noch was? Dann gehe ich jetzt." „Nein, danke." „Gut. Dann bis morgen." Meggy folgte ihm bis an die Tür und sah ihm nach. Aber als er auf sein Boot zuging, überkam sie für den Bruchteil einer Sekunde Panik. „Alex!" Er drehte sich um. „Hast du keine Angst hier draußen, wenn es dunkel ist?" „Warum sollte ich?" Die Frage wunderte ihn offensichtlich. „Hast du etwa Angst?" „Nein. Natürlich nicht." Meggy wartete noch, bis sie das leise Plätschern des Paddels im Wasser hörte und das Boot sich, entfernte. Dann schloss sie die Haustür von innen ab und stieg die Treppe hinauf. Die Glasscherben riefen Meggy wieder das zerbrochene Bild ins Gedächtnis. Sie bückte sich, um die Scherben aufzuheben. Ihre Gedanken überstürzten sich nur so. Warum war Alex heute Abend noch einmal zurückgekommen? Hatte Esther ihn wirklich geschickt, oder war es nur ein Vorwand für Alex gewesen, um ins Haus zu kommen? Auf großartige Gegenwehr wäre er bestimmt nicht gestoßen!
Er hatte es ja nur mit einer alten, kranken Frau zu tun und mit einem Mädchen, das halb wahnsinnig war vor Angst. „Das ist doch kindisch!" wies Meggy sich ärgerlich zurecht. „Tante Dora kennt ihn schließlich. Wovor habe ich also Angst"? Dass er uns in den Betten ermordet"? Autsch!" Sie biss die Zähne zusammen und zog den Glassplitter aus ihrem Finger. Es blutete leicht. Als sie sich aufrichtete, tropfte etwas Blut auf das Foto von Tante Dora, das ohne den Schutz der Glasscheibe auf dem Boden lag. Meggy erschrak und wollte das Bild in Sicherheit bringen, bevor es vollständig ruiniert war. Plötzlich wurde sie starr vor Schreck. Als das Blut sich auf dem Foto ausbreitete, erblühten die hellgrauen Lippen zu voller Röte, und auf die blassen Wangen traten zwei rosige Flecken. Und wieder hörte Meggy dieses Lachen ... Ein leises, bezauberndes Lachen. Die Lippen auf dem Foto fingen an, sich zu bewegen, begannen Laute zu formen, Die Laute kamen aus Tante Doras Schlafzimmer. Meggy stürmte in das Schlafzimmer hinauf und suchte mit den Augen die dunklen Winkel und Ecken ab - wonach"? Im Bett raschelten die Kissen, als Tante Dora mühsam den Kopf hob und unverständliche Silben von sich gab. Meggy hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie die alte Dame erschreckt haben musste, und sie eilte ans Bett, um sie zu beruhigen. „Ich bin's doch nur, Tante Dora", sagte sie leise, schaltete die Nachttischlampe an und riss sich zusammen, um nicht vor dem angemalten, maskenhaften Gesicht zurückzuschrecken. Früher am Abend hatte Meggy ihr angeboten, das grauenhafte Make-up zu entfernen, aber Tante Dora hatte voller Nachdruck den Kopf geschüttelt. Im trüben Lampenlicht sah das Gesicht der alten Frau nun aus wie das eines traurigen Clowns. „Ich bin's nur", wiederholte Meggy und zog sanft die
Bettdecke bis unter Tante Doras Kinn. Sie fühlte sich ungeheuer erleichtert. Also war es doch kein Lachen gewesen, das sie auf der Treppe gehört hatte. Tante Dora hatte nur versucht, nach ihr zu rufen, und dabei ziemlich seltsame Laute herausgebracht. „Ich hab dich rufen gehört, Tante Dora." Meggy lächelte. „Möchtest du vielleicht jetzt etwas essen?" Die Frau schüttelte unerwartet energisch den Kopf. „Aber du hast mich doch gerufen! Was kann ich für dich tun?" forschte Meggy geduldig weiter. Wieder bewegte sich der Kopf der Alten von einer Seite zur anderen. Meggy fröstelte. „Dann hast du mich gar nicht gerufen? Wirklich nicht?" Glasige Augen sahen sie an. „Aber ich bin sicher, dass ich dich gehört habe, Tante Dora. Vielleicht hast du geträumt?" fragte Meggy hoffnungsvoll. Sie hatte den Eindruck, dass das Gesicht der alten Frau misstrauisch wurde. „Ach ..." Meggy lächelte unsicher. „Ach, dann ... dann hab ich wohl ... ich muss mich ..." Verwirrt sah sie, wie Tante Doras knochige Hände an ihrem Ärmel zupften, um Meggy näher heranzuziehen. Widerwillig beugte Meggy sich über sie, und Ekel stieg in ihr auf, als Tante Dora ihr mit feuchten Lippen einen schwachen Kuss auf die Wange drückte. Sie hasste sich selbst dafür, dass die alte Frau so einen Abscheu in ihr weckte. Mit geschlossenen Augen streichelte sie Tante Doras Hände und stand rasch auf. „Du solltest jetzt versuchen zu schlafen, Tante Dora. Ich gehe auch zu Bett. Falls du etwas brauchst, läute einfach mit der kleinen Glocke, die Esther hier auf dem Nachttisch bereitgestellt hat." An der Tür blieb Meggy noch einmal stehen. „Ach ja, eines der Bilder im Treppenhaus ist mir heruntergefallen und zerbrochen. Das tut mir Leid. Aber keine Sorge, ich bringe das schon wieder in Ordnung. Natürlich werde ich auch einen neuen Rahmen besorgen."
Der Kopf mit dem filzigen grauen Haar bewegte sich langsam von Seite zu Seite. Meggy schloss die Tür hinter sich und blieb zitternd stehen. Sie war beinah sicher, dass Tante Dora gelächelt hatte. Im Treppenhaus zögerte Meggy. Sie wagte nicht, das Foto anzusehen, das sich so seltsam verändert hatte. Es war einfach nicht möglich. Einfach nicht möglich! Und doch hatte sie mit eigenen Augen gesehen, wie es sich verwandelte. Meggy tastete die Wand nach dem Lichtschalter ab, knipste die Lampe an, kniete sich hin und griff mit Tränen in den Augen nach dem unheimlichen Bild. Sie hob es auf und hielt es in das Licht. Es war ein einfaches Schwarzweißfoto! Das Mädchengesicht blickte sie heiter an, genauso wie die übrigen Bilder an der Wand, Bilder in abgestuften Schwarzweißschattierungen. Von Blut war keine Spur zu sehen. Das Foto war in erstklassigem Zustand. Meggy musterte ihren verletzten Finger. Der Schnitt war \/on trockenem Blut überkrustet. Und die Fingerkuppe klopfte. Zumindest ihre Verletzung war Wirklichkeit. Es muss an der Dämmerung gelegen haben ... und ich war müde und aufgeregt ... Ja. Sehr müde. Meggy war völlig erschöpft. Mit schleppendem Gang ging sie in ihr Zimmer, warf das Foto achtlos auf die Kommode und nahm ihren Bademantel vom Haken an der Wand. Dann ließ sie warmes Wasser in die Wanne laufen, fand eine Flasche mit Schaumbad und gab einen Messbecher voll ins Badewasser. Die ungeschützten Fenster machten sie nervös. Sie kam sich vor wie auf einem Präsentierteller, aber die Vorstellung, im Dunkeln zu baden, war noch schlimmer. Sie redete sich beschwichtigend zu, dass weit und breit kein Mensch da sein konnte, um sie zu beobachten.
Im warmen Bad entspannte sie sich endlich. Sie blieb lange darin liegen. Zusammen mit dem Staub und denn Schweiß löste sich ihre nervliche Anspannung in nichts auf. Schläfrig überlegte sie, ob ihre Mutter jetzt wohl schon schlief oder noch an sie dachte. Nichts wünschte sie sich sehnlicher, als schon am nächsten Tag nach Hause fahren zu können. Schließlich ging sie zurück in ihr Zimmer. Erst nachdem sie das Licht ausgeschaltet hatte, öffnete sie ihr Fenster und ließ die duftende Nachtluft ins Zimmer. Sie war so müde ... Sofort kroch sie ins Bett und blieb ganz still liegen. Sie war so erschöpft, dass sie sich nicht rühren mochte. Der betörende Duft von Gardenien umgab sie wie ein schweres Parfüm. In" der Ferne quakten Frösche, und hin und wieder wisperte der sanfte Wind in den Bäumen. Seltsame, unbekannte Schreie kamen vom Bayou her, mal aus der Nähe, dann wieder von weither. Ein pulsierendes Zirpen, so laut, dass es nicht von Grillen stammen konnte, rief die Erinnerung an das abgestorbene Dickicht und den toten Wald hinter dem Haus in ihr wach. Es hörte sich an, als rieben sich all die dürren Äste verzweifelt aneinander, um einen Funken Leben, ein kleines bisschen Wärme voneinander zu bekommen ... Wärme. Es war entsetzlich heiß im Zimmer. Meggy wälzte sich auf die andere Seite. Das pulsierende Zirpen verwandelte sich in ein Stöhnen. Tote Pflanzen ... tote Bäume ... Das ganze Haus schien von toten Dingen umgeben zu sein. Endlich löschte der Schlaf Meggys Gedanken aus und verwandelte ihre Erschöpfung und Angst in verschwommene Bilder, verblichene Fotografien, körperloses Lachen und dunkle Augen, die sie aus tiefen, schweigenden Schatten heraus beobachteten.
4. KAPITEL Ein Klingeln riss Meggy aus denn Schlaf. „Ich geh schon ran", murmelte sie und war schon aufgestanden, bevor ihr einfiel, dass es nicht das Telefon gewesen sein konnte und dass sie nicht zu Hause war. Sie blinzelte im Sonnenlicht, das grell durch die Fenster fiel. Jemand klopfte an die Haustür. Schnell schlüpfte sie in ihre Kleidung. Bevor sie nach unten lief, warf sie einen Blick in Tante Doras Zimmer und sah die alte Dame zu ihrer Verwunderung aufrecht im Bett sitzen. „Ja, hallo, guten Morgen!" rief Meggy fröhlich. Mühsam rang Tante Dora nach Worten. „Tüüür", brachte sie schließlich hervor. „Das geht ja schon prima!" lobte Meggy, während die alte Frau das Glöckchen auf der Bettdecke ablegte. „Ich mache rasch auf, dann komme ich gleich zurück." Im Sonnenschein wirkte das Haus gar nicht mehr so unheimlich, und Meggy dachte nicht einmal daran, zuerst nachzusehen, wer der Besucher war, bevor sie die Tür öffnete. Überrascht sah sie einen hoch gewachsenen Mann mit. beginnender Glatze vor sich. Sie hatte eigentlich Alex erwartet. „Miss Daton?" Der Besucher lächelte sie höflich an und zeigte dabei vollkommen regelmäßige, strahlend weiße Zähne. „Ich bin Dr. LaVane. Oder Doc, wie man mich hier gewöhnlich nennt. Ich wollte mal nachsehen, wie es Dora
geht. Hoffentlich hat sich ihr Zustand inzwischen ein wenig gebessert." „Oh, kommen Sie doch bitte herein." Meggy trat zur Seite und musterte den Doktor, als er vorbeiging. Ihrer Schätzung nach war er etwa fünfzig Jahre alt, braun gebrannt, und er sprach eindeutig mit französischem Akzent. Außerdem wirkte er sehr vornehm mit seiner rahmenlosen Brille und dem blütenweißen Hemd. Er trug es am Hals offen. Deshalb war ein flacher, weißer Stein an einem kurzen Goldkettchen zu sehen. In einer Hand hielt er sein schwarzes Arztköfferchen, die andere steckte lässig in der Tasche seiner Khakihose. „Wie sieht Doras Gesundheitszustand aus?" fragte Doc und schob seine Brille höher auf die Nase. „Na ja", sagte Meggy zögernd. „Eben gerade hat sie ,Tür' gesagt, und es klang ganz normal." „Das hört sich viel versprechend an." Er nickte zufrieden. „Aber sie will nichts essen." „Nein?" „Nein. Gestern Abend hab ich ihr genau nach Esthers Anweisungen eine Suppe gekocht, aber sie hat sie nicht angerührt." „Das ist nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, wie elend sie sich fühlt." „Aber sie muss doch wieder zu Kräften kommen", wandte Meggy ein. Seine herablassende Art ging ihr auf die Nerven. Nachdem Dr. LaVane sie eingehend von Kopf bis Fuß gemustert hatte, blieb sein Blick wieder an ihrem Gesicht haften, und ein Ausdruck größter Zufriedenheit trat auf seine Züge. Meggy kam sich vor, als hätte sie eben eine rätselhafte Prüfung bestanden. „Ich kann Ihnen versichern, dass Ihre Anwesenheit die denkbar beste Medizin für Dora ist." Meggy fühlte sich unbehaglich unter seinem abschätzenden Blick. Sie hob das Kinn und sagte trotzig: „Ich ma-
che mir nur Sorgen um sie, das ist alles." „Aber natürlich. Das ist jedoch nicht nötig, denn ich bin ja ihr Arzt. Sehen Sie", fuhr Doc fort, während er eine große Spritze aus seiner Tasche zog. „Ich ergänze ihre Ernährung - oder ihren Mangel an Nahrung - mit diesen Injektionen. Es besteht überhaupt kein Grund zur Besorgnis." „Sie hatten mich nach meiner Meinung gefragt", beharrte Meggy mürrisch. „Ja, das hab ich." Ein spöttisches Lächeln spielte um seine Lippen. „Danke, dass Sie sie mir gesagt haben." Als Meggy ihm unaufgefordert hinauf zu Tante Dora folgen wollte, drehte er sich um. Seine Stimme klang so übertrieben höflich, dass es schon widerwärtig war. „Machen Sie sich nicht die Mühe, mich zu begleiten, Miss Daton. Falls ich Sie brauche, werde ich Sie rufen." Meggy blickte Ihm wütend nach, bis er oben auf der Treppe angelangt war. Sie hörte, wie er Tante Doras Zimmertür hinter sich zuzog und abschloss. Warum schloss er sich mit der Kranken ein? Meggy hätte gern gewusst, warum der Arzt für seine Behandlung so übertriebene Vorsorgemaßnahmen traf. Was hatte diese Geheimniskrämerei zu bedeuten? Ach was, sagte sie sich, es geht mich ja nichts an. Je rascher Tante Dora sich erholte, desto früher konnte sie selbst zurück nach Hause. Die Küche war in grelles Licht getaucht. Meggy zog zusätzlich noch alle Gardinen von den Fenstern zurück. Heute sah sogar der Bayou freundlicher aus, und die Bäume wirkten nicht mehr so bedrohlich. Sie öffnete die Hintertür und sog den Duft der Gardenien tief ein, der schwer in der heißen Sommerluft lag. Dann bereitete sie sich Cornflakes mit Milch und setzte sich damit draußen auf die Treppenstufen, um zu frühstücken. Der Himmel war tiefblau, kein Wölkchen war zu sehen, und im Gras schimmerten noch letzte Tautropfen. Der Tag versprach wieder unerträglich heiß zu werden. Bisher hatte sie nicht geahnt, wie sehr sich ein Mensch an Klimaanla-
gen gewöhnen konnte. Als Meggy hinter sich schwere Schritte hörte, sprang sie auf. Doc war mit seiner Visite fertig und wollte sich verabschieden. „Sie hatten Recht, es geht ihr schon etwas besser." Er machte einen äußerst zufriedenen Eindruck und betastete den weißen Stein in seinem Hemdausschnitt. „Hab ich nicht gesagt, dass Ihr Besuch ihr gut tun würde?" „Ich bin froh, wenn ich ihr helfen kann." „Ach ja, und noch etwas." Er hob einen langen dünnen Finger und legte den Kopf auf die Seite. „Vielleicht könnten Sie sich von Zeit zu Zeit ein wenig zu ihr ans Bett setzen. Selbst wenn sie nicht reden kann oder will, ich bin doch sicher, dass Ihre Nähe sich fördernd auf den Genesungsprozess auswirkt. Sprechen Sie mit ihr. Auf die Art und Weise bleiben ihre Sinne wach." „Ich werde tun, was ich kann", versprach Meggy und fügte hinzu, ohne selbst zu wissen, warum: „Es ist ja nur für ein paar Tage." Doc sah sie sonderbar an. Viel zu lange, dachte Meggy und fühlte sich verunsichert. „Ja", sagte er schließlich gedehnt. „Wir werden sehen." Meggy war froh, als er ins Boot stieg und davonfuhr. Irgendetwas an seiner aalglatten Art verursachte ihr eine Gänsehaut. Sie zwang sich zu einem heiteren Lächeln und ging nach oben, um nach Tante Dora zu sehen. Die Wangen und Lippen der Kranken waren frisch geschminkt, und Meggy musste sich große Mühe geben, sie nicht anzustarren, während sie die Kissen aufschüttelte. „Doc hat dir wohl beim Schminken geholfen", sagte sie so beiläufig wie möglich. „Wenn du willst, kann ich das in Zukunft machen. Ich tu es gern." Tante Dora berührte mit zitternder Hand ihre Wange. „Heute ist ein ausgesprochen schöner Tag." Meggy zog das Laken glatt. Und Doc hat gesagt, dir geht es schon viel besser."
Gesellschaft zu haben. Meggy nickte entschlossen. Jetzt gleich wollte sie Tante Dora fragen, ob sie ein Boot hatte ... Ohne jede Vorwarnung packte sie eine kalte Angst. Unwillkürlich blickte Meggy hoch und hielt den Atem an. Die Gestalt am Fenster! Es war die schon bekannte Silhouette hinter den Gardinen in Tante Doras Zimmer. Sie beobachtete jede von Meggys Bewegungen! Nur einen kurzen Moment lang blieb Meggy wie gelähmt stehen, dann stürmte sie zur Haustür, rannte die Treppe hinauf und riss atemlos die Tür zu Tante Doras Zimmer auf. Die alte Frau lag in ihre Decken gewickelt da und sah Meggy aus erschrockenen, wässerigen Augen entgegen. „Oh!" Mit einem Blick hatte Meggy das ganze Zimmer erfasst und stellte beruhigt fest, dass sie allein waren. „Tut mir Leid, Tante Dora ... ich dachte nur ..." Um die alte Dame nicht noch mehr zu verängstigen, sagte sie mit fester Stimme: „Ich dachte, du hättest mich gerufen." „Nein." Meggy konnte die Augen nicht von den hässlichen, knallroten Lippen wenden. „Gibts hier irgendwo ein Boot, Tante Dora?" „Nein." Bildete Meggy es sich nur ein, oder klang die Stimme der Kranken wirklich schon bedeutend kräftiger als noch vor einer Stunde? Sprachlos und völlig verwirrt schloss Meggy die Tür hinter sich und ging in ihr Zimmer. Sie war doch nicht verrückt! Sie hatte wirklich jemanden am Fenster gesehen! „Das alles ergibt doch keinen Sinn", sagte sie mit einem Seufzer zu sich selbst und ließ sich auf ihr Bett fallen. Wieder fühlte sie sich unglaublich müde, obwohl sie den ganzen Vormittag über nichts getan hatte. Sie schlug eines von den Büchern auf, die sie mitgebracht hatte, und fing an zu lesen. Es war so heiß ... und dieser schwere Duft der Gardenien ... Meggy war zum Umfallen müde ...
Plötzlich schreckte Meggy a u s dem Schlaf hoch. Draußen d ä m m e r t e es bereits. Ihr Herz klopfte, als wollte es zerspringen. Was w a r das?
Benommen erinnerte sie sich, e t w a s leise rascheln gehört zu haben, e t w a s wie ein kaum hörbares Scharren. Eine Schlange? Meggy zog die Knie an und rollte sich zu einer Kugel zusammen. Der Schweiß brach ihr a u s allen Poren, und sie zitterte am ganzen Körper. Als ihre Augen sich an d a s trübe Licht gewöhnt hatten, konnte sie sich überzeugen, d a s s auf dem Fußboden und an den Wänden nichts Besorgniserregendes zu sehen war. Vielleicht unter dem B e t t ? Warum stellte sie sich so kindisch a n ? Warum m u s s t e sie dauernd an Schlangen denken? Sie war doch im Haus, und hier war sie in Sicherheit. Hier konnte keine Schlange eindringen. Aber dieses Rascheln, w a s w a r es dann g e w e s e n ? Meggy zerbrach sich den Kopf über die Ursache d e s seltsamen Geräusches, an d a s sie sich mit aller Deutlichkeit erinnern konnte. Ja, es h a t t e wie ein sanftes, heiseres Flüstern geklungen ... ein Windhauch ... ein trockenes Blatt., d a s über den Steinboden getrieben wurde ... d a s Rascheln eines langen Rocks ... Ein Rock. Mit einem Satz sprang Meggy vom Bett herunter und blieb mitten im Zimmer stehen. Nichts huschte, schlüpfte oder ringelte sich unter den Möbeln hervor. Erleichtert a t m e t e sie auf und stolperte hinaus in den Flur. Das merkwürdige Geräusch klang ihr noch immer in den Ohren. Ein knisterndes Rascheln. Wie Seide. Oder gestärkte Unterröcke. Oder lange Röcke, die über den Fußboden schleiften. Mit a u s g e s t r e c k t e m Arm blieb sie vor Tante Doras Tür stehen. Plötzlich hielt sie inne und w a g t e es nicht mehr, die Klinke herunterzudrücken.
Aber die Tür war gar nicht verschlossen! Meggy war ganz sicher, dass sie sie fest geschlossen hatte, dass das Schloss eingeschnappt war, als sie Tante Doras Zimmer zuletzt verlassen hatte. Sie hatte doch das Klicken gehört! War es möglich, dass die Tür trotzdem nicht richtig ins Schloss gefallen war? Tief im Innern wusste sie jedoch genau, dass die Tür fest und sicher geschlossen gewesen war. Wer hatte sie dann geöffnet"? Voller Angst schob sie sie einen kleinen Spalt auf und lugte ins Zimmer. Alles schien in Ordnung zu sein. Hinter dem Moskitonetz regte sich etwas im Bett. Tante Dora drehte sich im Schlaf auf die andere Seite. Diesmal vergewisserte Meggy sich, dass die Tür wirklich fest hinter ihr geschlossen war. Das Zwielicht tauchte den Flur in ein unheimliches Licht. Meggy schlich vorsichtig die Treppen hinab und blickte nervös zu den Fotos an der Wand. Die Gesichter sahen in dem unwirklichen Licht seltsam lebendig aus. Meggy rannte in die Küche und knipste das Licht an. Als sie den Teekessel mit lautem Klappern auf den Herd stellte, bemerkte sie, dass ihre Hände zitterten. Die Uhr an der Wand zeigte halb neun abends. Sie konnte nicht glauben, dass sie so lange geschlafen hatte. Es waren fast zehn Stunden vergangen! Sie nahm einen Teebeutel aus der Packung und stellte eine Tasse auf den Tisch. Wovon war sie wach geworden? Hatte sie geträumt? Meggy glaubte es nicht. Das Geräusch, das sie geweckt hatte, war zu deutlich gewesen. Und sie konnte sich immernoch keinen Reim darauf machen, wieso Tante Doras Zimmertür offen gestanden hatte. Das Pfeifen des Kessels zerriss die Stille so plötzlich, dass Meggy zusammenzuckte. Diese Nervosität kannte sie sonst gar nicht. Heute Abend schien sie einfach nicht ganz sie selbst zu sein. Sie setzte sich an den Tisch und umschloss ihre Teetas-
se mit beiden Händen. Die Wärme tat ihr gut. Trotz der dumpfig heißen Abendluft war ihr kalt. Außerdem hatte sie Hunger. Sollte sie Tante Dora wecken und ihr etwas zu essen anbieten? Sie entschied sich dagegen. Zunächst einmal wollte sie ein bisschen Ruhe haben. Sie trank ihren Tee in hastigen Zügen und entspannte sich ein wenig, als eine angenehme Wärme sie durchrieselte. Doch gleich darauf verkrampfte sich jeder einzelne Muskel in ihrem Körper. Hatte sie an der Hintertür nicht ein Geräusch gehört? Mit aufgerissenen Augen sah sie zu, wie die Klinke von außen herabgedrückt wurde und die Tür sich langsam öffnete. Im Türspalt wurde die blitzende Stahlklinge eines Messers sichtbar, dann die Hand, die die Waffe hielt. Meggy schrie, sprang auf und riss den Stuhl um. Und dann blickte sie in Alex' finstere Augen.
5. KAPITEL „Du!" Meggy war so durcheinander, dass sie nicht wusste, ob sie weglaufen oder laut lachen sollte. „Hast du jemand anders erwartet"?" „Ich habe überhaupt niemanden erwartet! Warum hast du nicht angeklopft?" „Hab ich ja, aber du hast nicht darauf geantwortet." Langsam steckte er das bedrohliche Messer in seinen Gürtel. „Ich hab Licht in der Küche gesehen. Als du dich auf mein Klopfen hin nicht gemeldet hast, dachte ich, dir könnte etwas zugestoßen sein." „Etwas zugestoßen"?" wiederholte Meggy mit unnatürlich schriller Stimme. „Was sollte mir schon zugestoßen sein?" Sie hätte ihm so gern alles erzählt, was sie beunruhigte, aber irgendetwas in ihr sträubte sich dagegen. Konnte sie ihm trauen"? Sie wusste es nicht. Schon gar nicht, wenn er Leute mit einem Messer erschreckte! „Du zitterst ja." Meggy setzte sich rasch und hielt sich an ihrer Teetasse fest. „Ich hab dich erschreckt. Das tut mir Leid." Alex' Gesicht war völlig ausdruckslos, aber an seiner Stimme erkannte Meggy, dass er seine Entschuldigung ernst meinte. „Draußen hab ich einen Karton mit Lebensmitteln abgestellt. Ich hol ihn schnell." Meggy spürte, dass ihr Tränen in die Augen stiegen, aber sie kämpfte tapfer dagegen an. Sie brachte es sogar
fertig zu lächeln, als Alex zurück in die Küche kam. „Hast du schon Abendbrot gegessen?" fragte sie. „Nein." „Ich auch nicht. Wollen wir zusammen essen?" Warum sie ihn das fragte, wusste sie selbst nicht. Eigentlich legte sie keinen großen Wert auf seine Gesellschaft, aber der Gedanke daran, jetzt allein zurückzubleiben, war noch viel schlimmer. Alex ließ sie nicht aus den Augen. „Wenn es dir nicht zu viel Umstände macht?" „Nein. Im Kühlschrank sind Steaks. Wie möchtest du das Fleisch?" „Nicht ganz durchgebraten." . Meggy schaltete eine Herdplatte ein und suchte nach einer Pfanne, während Alex sich an den Tisch setzte. „Warum ... warum hast du ein Messer bei dir?" Es hatte möglichst gleichgültig klingen sollen, aber Meggy ahnte, dass Alex den besorgten Unterton trotzdem herausgehört hatte. „Mein Jagdmesser. Außerdem brauche ich es zu meiner Verteidigung." „Verteidigung? Wogegen?" „In Gegenden wie dieser gelten bestimmte Regeln, wenn man überleben will, und ich richte mich danach." Meggy fröstelte. „Magst du eine Cola?" „Ja, danke." Meggy goss zwei Gläser ein und reichte Alex eines davon. „Heute hab ich Doc kennen gelernt." Alex' Augen blitzten interessiert auf. „Ach ja?" „Er hat nach Tante Dora gesehen. Ich hab ihm gesagt, dass sie nichts isst, aber das schien ihm keine Sorgen zu machen." Sie schob ein Blech mit tiefgefrorenen Pommes frites in den Backofen. „Was hältst du von ihm?" Alex drehte sein Glas zwischen seinen langen, schlanken Fingern. „Warum fragst du?" „Aus reiner Neugier."
„Na ja", fing Meggy zurückhaltend an, „er w a r nicht bes o n d e r s lange hier, und ich glaube nicht, d a s s ich ..." „Was hältst du von ihm"? Ganz ehrlich?" „Ehrlich? Also gut. Ich m a g ihn nicht b e s o n d e r s " , platzte Meggy h e r a u s und hoffte im n ä c h s t e n Augenblick, d a s s sie nicht zu weit g e g a n g e n war. „Ich a u c h nicht", pflichtete Alex ihr bei. Meggy s a h ihn v e r d u t z t an. „Im Ernst"? Warum nicht"?" Alex d a c h t e nach. „Er ist so glatt. Zu höflich. Zu perfekt." Alex h a t t e g e n a u d a s a u s g e d r ü c k t , w a s Meggy e m p fand, a b e r bisher nicht h a t t e auf den Punkt bringen können. Es s t i m m t e , Doc w a r einfach zu perfekt. „Er wirkt so ... hm ... wie a u s einer a n d e r e n Welt", v e r s u c h t e sie, ihre Gedanken in Worte zu f a s s e n . „Ganz genau." Zahlreiche Fragen, die auf eine A n t w o r t w a r t e t e n , hingen zwischen ihnen in der Luft. Schließlich w a g t e Meggy e s . „Ist er s e h r beliebt bei seinen P a t i e n t e n ? " „Ja. Man s a g t ihm nach, er h a b e übernatürliche Kräfte. Er kann alles heilen, von Schlangenbissen ü b e r Fieberanfälle bis z u m Herzinfarkt. Wirklich unglaublich. In dieser Gegend ist er s e h r berühmt." Alex' Lippen verzogen sich zu einem höhnischen Grinsen. ' „Wie ein Wunderheiler?" „Nein, m e h r wie ein Zauberdoktor." „Wie? Meinst du Hexerei und Voodoozauber?" Plötzlich stieg wieder eine panische A n g s t in Meggy auf. „Das ist hier nichts Außergewöhnliches", b e m e r k t e Alex nüchtern. „Am Bayou gibt es j e d e Menge Aberglauben und Geheimwissenschaften." „Und glaubst du auch, d a s s Doc übernatürliche Kräfte hat?" „Ich w a r mal bei ihm zu H a u s e . Mit E s t h e r und Anna." Anna! Der Name, der E s t h e r derartig in Verwirrung ge-
stürzt hatte! Meggy wollte Alex nicht offen ausfragen, war über ungeheuer neugierig und fragte leise: „Und was geschah dort?" „Während er Anna untersuchte, hab ich mir seine Bibliothek angesehen. Zufällig ging ich in das Zimmer neben seiner Praxis. Es war voll gestopft mit Büchern über alles Mögliche, was mit Zauberei zu tun hatte.Ein regelrechtes Forschungszentrum der Schwarzen Magie." „Aber wenn er Leuten damit hilft, ist es vielleicht gar keine Schwarze Magie. Vielleicht ist er doch nicht so schlecht, wie du denkst." Alex' Augen wurden finster und zornig. „Anna hat er nicht geholfen. Ich weiß, dass er schon vorher viele Fälle geheilt hat, die als hoffnungslos galten, aber Anna hat er nicht geholfen. Er hats nicht einmal versucht." „Woher weißt du das so genau"?" Alex' Stimme klang bitter. „Ich weiß es eben." Seine Hand fuhr an das Messer in seinem Gürtel, und die Finger fuhren sacht, beinah zärtlich über die Klinge. „Wer ist Anna?" fragte Meggy mit erstickter Stimme, in der Hoffnung, seine Gedanken von dem Messer abzulenken. „Meine Schwester. Sie war meine Schwester", antwortete er leise. Meggy warf ihm einen bestürzten Blick zu. Dann wandte sie sich ab und legte die Steaks in die Pfanne. Das Fett zischte, und ein würziger Duft breitete sich aus. „Wie alt war sie?" „Ungefähr so alt wie du." „Was fehlte ihr denn?" fragte Meggy nach einer Weile behutsam. Alex hob die Schultern und starrte an die Decke. „Sie wurde einfach immer schwächer. Verwelkte geradezu. Jeden Tag starb sie ein bisschen mehr, direkt vor unseren Augen, und keiner konnte ihr helfen." „Das muss furchtbar für dich gewesen sein", sagte Meggy voller aufrichtigem Mitleid.
Alex blickte sie trotzig an. „Ich werde nie im Leben glauben, dass Doc überhaupt versucht hat, ihr zu helfen." Als Meggy einen Teller mit dem Steak und Pommes frites vor ihn auf den Tisch stellte, beugte er sich vor. „Esther hat es nie ganz verwunden. Sie konnte selbst keine Kinder bekommen." „Dann war Anna also auch adoptiert worden?" Er nickte. „War sie deine richtige Schwester?" Wieder nickte er. „Und ihr habt sehr aneinander gehangen?" Als er erneut nickte, blickte Meggy versonnen in die Ferne. „Du hattest Anna wenigstens für eine Weile. Ich hab mir immer so sehnsüchtig Geschwister gewünscht." „Du lebst in New Orleans?" Wieder dieser Vorwurfs volle Tonfall. „Ja." Meggy ging zum Schrank, um Besteck zu holen. „Deine Eltern sind geschieden?" „Ja, schon seit zehn Jahren. Mein Vater lässt sich nicht mehr bei uns blicken. Es ist sehr schwer für Mom." Warum erzählte sie ihm all das? Meggy betrachtete Alex' dunkles Haar. Vielleicht tat er ihr auf einmal Leid. Womöglich tat sie selbst sich aber auch Leid und brauchte jemanden, dem sie sich anvertrauen konnte, mit dem sie reden konnte. Hungrig verdrückte Alex sein Steak. Meggy sah ihm fasziniert zu und vergaß darüber fast das Essen. „Was ist?" Alex blickte sie prüfend an. Meggy holte tief Luft. „Nichts. Ich bin nur ziemlich müde." Warum sie so müde war, begriff sie nicht. Schließlich hatte sie den ganzen Tag geschlafen. „Das liegt an der Hitze. Hier ist es anders als in der Stadt." „Warst du mal in New Orleans?" „Klar. Aber ich fühlte mich dort nicht wohl. Überhaupt in keiner Stadt." „Mom und ich träumen auch davon, eines Tages ein
Haus auf dem Lande zu haben", erzählte Meggy. „Sie muss so hart arbeiten." „Ihr wohnt zur Miete"?" „Ja. In einer winzigen Wohnung, ich hab nicht einmal Platz, meine Freunde zu mir einzuladen!" Alex nahm einen Schluck Cola. „Sie fehlen dir hier." Meggy lächelte wehmütig. „Morgen Abend steigt eine Fete, und Jack ..." Sie brach unvermittelt ab und wurde rot. „Dein Freund." Es war eine Feststellung, keine Frage. Meggy kaute an einem Bissen Fleisch und wünschte, Alex würde aufhören, sie so anzustarren. „Hm, im Moment ist er wohl ziemlich sauer auf mich", sagte sie leise. „Weil du weggefahren bist." Meggy lachte verlegen auf. „Hör endlich auf damit, meine Gedanken zu lesen!" Alex senkte schweigend den Blick. „Das war nämlich so. Wir haben uns gestritten", gab Meggy zu. Sie verstand beim besten Willen nicht, warum sie Alex so viel über sich erzählte. Vielleicht lag es daran, dass sich all das schon seit einiger Zeit in ihr aufgestaut hatte. Jedenfalls tat es gut, darüber zu reden. „Ihr seid also fest zusammen? Jack und du"?" stieß Alex mit ausdrucksvoller Miene hervor, während er sich mit einer Serviette über die Lippen wischte. „Nein, ich ... ich glaube, so kann man es nicht nennen." Meggy sprach so leise, dass sie kaum zu verstehen war. „Und du?" „Was soll mit mir sein?" Alex' dunkle Augen forderten sie heraus, obwohl sein Gesichtsausdruck sich kein bisschen verändert hatte. „Du weißt schon. Hast du eine Freundin?" Meggy fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. Hoffentlich glaubte Alex nicht, dass sie scharf auf ihn war. Mädchen, die sich plump an Jungens heranmachten, konnte sie nicht ausstehen. „Hier gibts keine Mädchen." Alex rückte seinen Stuhl
vom Tisch fort und sah sie ruhig an. „Das hat Esther gestern auch gesagt. Wie kommt d a s ? " Alex schüttelte den Kopf. „Ich möchte w e t t e n , dafür gibt es einen tiefen, düsteren Grund." „Nein, im Ernst!" w e h r t e Meggy ihn ab. „Das ist mein Ernst." Sie stocherte mit der Gabel auf ihrem Teller herum. „Wie lange lebst du schon hier?" „Seit fünf Jahren. Seit Esther zum zweiten Mal geheirat e t hat. Der Laden am Bayou gehörte ihrem Mann. Er ist schon bald nach der Hochzeit gestorben, und dann hat Esther d a s Geschäft übernommen. Sie ist wie geschaffen dafür, und die Leute mögen sie." „Ist sie hier glücklich?" „So glücklich, wie sie sein kann." „Und du?" „Und du?" wiederholte er spöttisch. „Wer, ich? Hm, ich glaube, ich hab ein bisschen Heimweh", wich Meggy seiner Frage aus. Sie brachte es nicht fertig, ihm von ihren Ängsten zu erzählen. Alex seufzte. „Ach, das h ä t t e ich beinah vergessen. Deine Mutter hat Doc angerufen, weil du ja hier nicht zu erreichen bist. Sie hat wohl nicht gewusst, d a s s es in diesem Haus kein Telefon gibt. Doc hat ihr unsere Nummer gegeben, und morgen Abend will sie bei uns anrufen und mit dir sprechen. Ich hole dich dann gegen acht Uhr ab." „Und w a s wird aus Tante Dora?" „Esther bleibt bei ihr, solange du w e g bist." „Das ist n e t t von euch. Danke." „So." Alex stand auf und streckte seinen schlanken, sehnigen Körper. „Ich m u s s nach Hause. Danke für das Steak. Hat prima geschmeckt." „Freut mich", s a g t e Meggy und sie meinte es ehrlich. Alex t a s t e t e nach seinem Messer und blieb noch ein Weilchen unschlüssig stehen, als wollte er e t w a s sagen und w ü s s t e nicht recht, w a s . Schließlich nickte er nur knapp und ging nach draußen.
Meggy wartete, bis er ins Boot gestiegen war, dann schloss sie die Tür ab. Der Abend war wider Erwarten richtig nett gewesen, und sie musste sich eingestehen, dass sie sich wirklich über Alex' Besuch gefreut hatte. Nachdem er ihr ein bisschen über sich selbst erzählt hatte, fand sie ihn überhaupt nicht mehr so angsteinflößend. Sie beschloss, das Geschirr erst am nächsten Morgen abzuwaschen, und ging nach oben. Bevor sie sich aufs Schlafengehen vorbereitete, schaute sie noch kurz in Tante Doras Zimmer. Doras Tür war verschlossen, wie Meggy sie zurückgelassen hatte. Als sie die Klinke drückte, hörte sie von innen ein schwaches Rufen. „Was gibts, Tante Dora?" flüsterte Meggy. Voller Sorge sah sie, dass die alte Frau verzweifelt versuchte, sich aufrecht hinzusetzen. Die mageren Arme fuhren, hilflos durch die Luft, und die rot bemalten Lippen rangen nach Worten. „Aber, Tante Dora, was hast du denn?" Meggy lief verstört an ihr Bett, stützte unbeholfen den dürren Körper der Kranken und half ihr in eine bequemere Stellung. Als sie ihr die Bettdecke bis unter das spitze Kinn zog, packte eine kalte, knochige Hand plötzlich ihren Arm. Meggy fuhr verblüfft zurück. Tante Dora war unerwartet stark. „Www ... wer?" Ächzend brachte sie nur dieses eine Wort über die Lippen, und Meggy drückte sie sanft zurück in die Kissen. „Wer? Alex war hier, Tante Dora. Bloß Alex. Er hat Lebensmittel gebracht. Hast du Angst gekriegt, als du unsere Stimmen von unten gehört hast?" Die dünnen Finger umspannten ihren Arm mit unglaublicher Kraft. Meggy versuchte sich loszumachen und redete dabei beschwichtigend auf die aufgeregte Alte ein. „Tut mir Leid, Tante Dora. Ich wusste nicht, dass du wach warst. Wir wollten dir keine Angst einjagen." Ihre Verblüffung über Doras eisernen Griff nahm zu, aber endlich glückte es ihr, sich zu befreien. Auf ihrem Arm blie-
ben tiefrote Druckstellen von den Fingern der Kranken zurück. Meggy w u s s t e nicht, wie sie sich d a s erklären sollte. Seit zwei Tagen h a t t e Tante Dora keinen Bissen zu sich genommen. Wie war es nur möglich, d a s s sie trotzdem so unglaublich stark w a r ? „Mmmmmm ..." Tante Dora riss den Mund auf und stieß einen gurgelnden Laut hervor. Ihre Augen schimmerten feucht. „Haaa... halt dich ... fff... fern!" Meggy wich bestürzt zur Tür zurück. „Warum? Was hab ich dir getan, Tante Dora"? Wie meinst du d a s ? " Die gespenstische Gestalt b e d e u t e t e ihr mit einer Geste näher zu kommen und s t a m m e l t e heiser: „Fffern ... von Aaa... Alex!" , Sie sollte sich von Alex fern halten? Meggy schluckte und kämpfte gegen das Zittern in ihrer Stimme an. „Ist ja schon gut, Tante Dora. Er ist nach Haus gegangen. Du m u s s t jetzt ein bisschen schlafen, j a ? Wir sehen uns morgen früh." Tante Dora wimmerte und schloss die Augen. Meggy beobachtete sie noch ein kleines Weilchen, bevor sie lautlos aus dem Zimmer schlüpfte. Was h a t t e das nun wieder zu b e d e u t e n ? Erst gestern w a r Alex, hier im Haus g e w e s e n . Alle z u s a m m e n hatten sie in Tante Doras Zimmer gestanden, und da schien doch alles in Ordnung g e w e s e n zu sein. Aber Moment mal ... Tante Dora h a t t e Alex schon gestern so seltsam angesehen. Wusste sie e t w a s über ihn, wovon kein anderer eine Ahnung h a t t e ? Warum h a t t e sie Meggy vor ihm gewarnt? Meggy lehnte den Kopf an die Wand. Ihr w a r zum Heulen zu Mute. Sie w a r so schrecklich durcheinander. Gerade fing sie an, Alex zu vertrauen, und h a t t e es sogar schön gefunden, mit ihm zusammen zu sein. Und jetzt so e t w a s ! So eine seltsame, unerklärliche Warnung vor ihm! Was sollte sie t u n ? Schlafen sollte sie. Das wird das B e s t e sein, redete sie
sich zu. Am nächsten Morgen würde alles wieder ganz anders aussehen. Und vielleicht ... Wer konnte wissen, ob Tante Dora nicht bloß schlecht geträumt hatte und überhaupt noch wusste, was sie redete? Vielleicht war sie gar nicht richtig wach gewesen und hatte ihren Albtraum einfach weitergesponnen? Meggy ging ins Bett und fürchtete, dass sie nicht schlafen konnte, nach dem sie den ganzen Tag lang ausgeruht hatte. Aber kaum hatte ihr Kopf das Kissen berührt, als sie auch schon eingeschlafen war. Meggy wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, als sie aufwachte. Es war stockfinster im Zimmer. Der schwere Duft der Gardenien machte sie so benommen, dass sie die Augen kaum aufhalten konnte, aber sie kämpfte erfolgreich gegen die Mattigkeit an. Es war heiß, furchtbar heiß, und sie schlug die Bettdecke zurück und setzte sich auf. Durch die Spitzengardinen fiel das Mondlicht ins Zimmer, malte silberne Flecken an die Wand und beleuchtete matt das Foto auf der Kommode. Meggy starrte es wie gebannt an, als die lange lockige Haarmähne auf dem Foto plötzlich mit echtem Glanz zu schimmern begann. Die Augen strahlten viel lebhafter als vorher. Ein seltsamer Schein lag auf dem Schwarzweißbild, ein Schein, der pulsierte, der an- und abschwoll wie das Pochen eines Herzens. Wie das Pochen ihres eigenen Herzens. Meggys Herzschlag dröhnte unnatürlich laut in ihren Ohren. Mit jedem kräftigen Schlag nahm der Schimmer auf dem Foto zu, um wieder abzuschwellen, bis der nächste Herzschlag einsetzte. Und plötzlich war dieser pulsierende Schimmer eins mit ihrem Herzschlag. Meggy sank rückwärts aufs Bett, schwebte wie auf Wolken, eingehüllt in perlendes, liebliches Mädchenlachen, das nicht ihr eigenes war, aber trotzdem von ihren Lippen kam.
6. KAPITEL Meggy hatte rasende Kopfschmerzen. Sie wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser und betrachtete ihr Spiegelbild im Badezimmerspiegel. Irgendwie sah sie viel älter aus als sonst. Total kaputt. „Das kommt davon, dass du so viel schläfst", schimpfte sie mit sich selbst. Verschwommene Erinnerungen an die Nacht rührten sich in ihrem Unterbewusstsein, ohne richtig an die Oberfläche zu gelangen. Sie erinnerte sich undeutlich an ein rätselhaftes Leuchten und an ein stetiges, regelmäßiges Pochen - aber was war das gewesen"? An diesem Morgen konnte sie überhaupt keinen klaren Gedanken fassen. Das Einzige, was ihr im Gedächtnis haften geblieben war, war Tante Doras Schrecken wegen Alex' Besuch. Doch warum hatte sie sich deswegen Sorgen gemacht? Wütend warf Meggy das Handtuch über die Stange. Sie wollte es wissen, und zwar sofort ...
Wollte sie es wirklich w i s s e n ? Zaghaft klopfte sie an Tante Doras Zimmertür, bevor sie eintrat. Vor Verblüffung blieb ihr der Mund offen stehen. Tante Dora saß aufrecht im Bett und lächelte sie durchs Moskitonetz hindurch freundlich an. „Meggy ..." Die Stimme der alten Frau klang zwar noch ein bisschen schwach, aber ungewöhnlich klar. „Ja, Tante Dora!" rief Meggy begeistert. „Das hört sich schon so viel besser an! Wie fühlst du dich?" Sie glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Zwar war Tante Doras Ge-
sicht wie immer mit Make-up beschmiert, aber es wirkte voller, und die Augen hatten einen hellwachen Glanz angenommen. Sogar die Falten schienen sich ein wenig geglättet zu haben, als wären die vielen Jahre, die das Gesicht gezeichnet hatten, über Nacht vermindert worden. Tante Dora hatte sich eindeutig verjüngt. Sie wies mit einer matten Geste auf den Schaukelstuhl. „Komm." Völlig überrumpelt von der unerwarteten Verwandlung, setzte Meggy sich, ohne ein Wort zu sagen. Sie blickte Tante Dora forschend ins Gesicht, und die alte Frau starrte unverhohlen zurück. „So ... hübsch ... So ... hübsch." Tante Dora hob eine zitternde Hand und streichelte sanft über Meggys Wange. Innerlich wand sich Meggy bei der Berührung der alten Frau, aber sie ließ sich ihren Apscheu nicht anmerken. Es war ihr peinlich, dass Tante Dora ihr Aussehen so bewunderte, besonders deshalb, weil sie noch vor wenigen Minuten ihr abgehärmtes Gesicht im Spiegel gesehen hatte. Wahrscheinlich wollte Tante Dora ihr nur etwas Nettes sagen. Doch immer schreckte sie, ohne zu wissen, warum, vor den Berührungen der knochigen Hände zurück. „Ich ... war ... auch einmal jung", flüsterte Tante Dora. Aber jetzt ..." Ihre Finger glitten an Meggys Hals hinab, fuhren über ihre Schultern und flatterten dann wie aufgescheuchte Nachtfalter zurück auf die Bettdecke. Tränen traten in die farblosen Augen, und Meggys Herz krampfte sich vor Mitleid zusammen. „Ach, Tante Dora ..." „Alt. Jetzt ... bin ich ... alt." „Sag das doch nicht", tadelte Meggy sie sanft, aber doch mit Nachdruck, nahm ihre zerbrechliche Hand und rieb sie zwischen ihren kräftigen Händen, als wollte sie sie zu neuem Leben erwecken. „Schau dich doch an! Du machst enorme Fortschritte, und wir alle sind so froh, dass du ..." Sie hielt inne und wurde rot.
„Noch lebst", ergänzte die Kranke und nickte. „So froh, d a s s ich noch ..." Sie sah Meggy an, und ein seltsames, geheimnisvolles Lächeln t r a t langsam auf ihr Gesicht. Meggy hielt den Atem an. Dieses Lächeln! Dasselbe Lächeln, d a s sie auf all den Fotos im Treppenhaus gesehen h a t t e . Für den Bruchteil einer Sekunde erkannte Meggy beinah das junge Mädchen in der schwachen Frau, die da in den Kissen lag. Die Vorstellung war so stark, d a s s Meggy schwindlig wurde. Sie ließ sich im Schaukelstuhl zurücksinken und schloss die Augen. „Bleib ... bei ... mir", wimmerte die alte Frau wie ein kleines Kind. „Ja", murmelte Meggy, ohne die Augen zu öffnen. „Ja, Tante Dora, ich bleib bei dir." Sie holte tief Luft, umklammerte die Armlehnen d e s Schaukelstuhls und h a t t e trotzdem d a s Gefühl, d a s s d a s ganze Zimmer sich um sie drehte. Solche Schwächeanfälle war sie überhaupt nicht gewohnt, und d a s Sirren in ihrem Kopf machte ihr schwer zu schaffen. Schweißperlen t r a t e n ihr auf die Stirn. Langsam schaukelte sie und versuchte, sich auf d a s leise Quietschen d e s Schaukelstuhls zu konzentrieren. Es ging hin und her, hin und her, und sie p a s s t e ihren Atemrhythmus der gleichmäßigen Schaukelbewegung an. Der Kopf wurde ihr schwer, wie benebelt vor Verwirrung, ihrer Kehle entrang sich ein leiser Ton, aber sie h a t t e nicht die Kraft, die Augen zu öffnen. Ihr Körper e n t s p a n n t e sich völlig, und der Kopf sank ihr auf die Brust. So friedlich, dachte sie. Wie schön, sich einfach fallen zu lassen und in die Dunkelheit zu sinken ... zu schlafen ... schlafen ... „Miss Daton?" Wie aus großer Ferne drang eine Stimme, glatt und weich wie Seide, in Meggys Bewusstsein. „Miss Daton? Bitte, wachen Sie jetzt auf." Meggy stöhnte und schlug blinzelnd die Augen auf. Lan-
ge Schatten füllten das Zimmer. Ihr Rücken schmerzte von den Sprossen der Schaukelstuhllehne, und sie rieb sich den verkrampften Nacken. Jemand beugte sich über sie. „Miss Daton, fühlen Sie sich nicht gut?" „Was?" fragte Meggy. Eine ungewisse Angst ergriff sie, als sie sich indem dämmerigen Raum umsah. War es denn schon Abend? Das konnte doch nicht wahr sein! Sie war ja eben erst aufgestanden! Abrupt sprang sie aus dem Schaukelstuhl hoch und wurde im selben Moment von kräftigen, äußerst gepflegten Händen festgehalten. Sie hob den Blick und sah in Dr. LaVanes Augen. „Beruhigen Sie sich, Miss Daton. Alles ist in Ordnung. Ich bin ja bei Ihnen. Sie haben nur ein wenig geschlafen, weiter nichts." „Aber das ist doch ganz unmöglich!" platzte Meggy heraus und drehte sich zum Fenster um. Die letzten Sonnenstrahlen drangen gerade noch durch die dünnen Gardinen, „Ich bin doch ... ich bin doch eben erst aufgestanden!" Doc musterte sie eine Weile wortlos, dann legte er sanft die Hand auf ihre Stirn. „Offensichtlich sind Ihre Nerven etwas angegriffen. Am Besten gehen Sie zunächst einmal in die Küche und machen sich etwas zu essen." „Aber verstehen Sie doch!" beharrte Meggy eindringlich. „Eben erst bin ich in Tante Doras Zimmer gekommen, und es war früh am Morgen, und jetzt ..." „Und jetzt ist es Abend", ergänzte Doc geduldig und befühlte den weißen Stein in seinem Hemdausschnitt. „Also, warum machen Sie sich nicht rasch etwas zu essen?" „Aber ich hab ja nicht mal das Frühstück für Tante Dora bereitet!" Meggy schrie beinah, und Doc hob einen Finger an die Lippen, um sie zur Ruhe zu mahnen. „Schauen Sie sich Dora an, Miss Daton. Sieht sie etwa aus, als wäre sie vernachlässigt worden? Machen Sie sich keine Vorwürfe. Sie sieht wider alle Erwartungen gut erholt aus, finden Sie nicht auch?" Meggy betrachtete die schlafende Gestalt in dem riesi-
gen Himmelbett. Tante Dora lächelte im Schlaf, und unter den verschmierten Rougeflecken zeigte sich ein natürlicher, rosiger Schimmer. Meggy konnte den Blick nicht von dem völlig veränderten Gesicht lösen, bis Doc sie schließlich sanft an den Schultern fasste und zu sich umdrehte. „Gehen Sie jetzt und kümmern Sie sich um Ihr eigenes leibliches Wohl, Miss Daton. Dora können Sie unbesorgt mir überlassen. Aber Sie selbst sehen erschreckend blass aus. Bevor ich gehe, werde ich Ihre Temperatur messen." „Nein", wehrte Meggy leise ab. „Nein, nicht nötig, mir fehlt nichts." Aber sie konnte sich kaum aus denn Zimmer in den Flur hinausschleppen, so schwach fühlte sie sich. Doc sah ihr teilnahmslos nach. „Es liegt an der Hitze, wissen Sie. Nur an der ungewohnten Hitze." Als Meggy die Treppe hinunterging, hörte sie noch, wie Doc hinter ihr die Tür zu Doras Zimmer zuschlug und von innen abschloss. Meggy blieb stehen und lauschte ein paar Sekunden. An ihr Ohr drang leise das Rascheln des Moskitonetzes, das zurückgezogen wurde, und dann Docs tiefe Stimme: „Ich bin sehr zufrieden, Dora. Wirklich, ich bin überaus zufrieden mit deinen Fortschritten." Meggy spitzte die Ohren. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Hatte jemand gelacht? Sie hätte schwören können, dass sie ein leises Frauenlachen gehört hatte, ein Lachen, das sie inzwischen gut kannte. Verstört glitt ihr Blick über die Bilder an der Wand, dann rannte sie in die Küche. Im Kühlschrank fand sie einige Packungen mit Fertiggerichten. Als sie die verschlossene Aluminiumpackung mit Putensteak in Soße herausnahm, glitt sie ihr aus den Händen. Sie bückte sich, um sie aufzuheben, ließ sie aber ein zweites Mal fallen. Was war nur los mit ihr? Sogar ihre Finger waren so schlaff und kraftlos, dass ihr alles aus den Händen rutschte. Ihr Rücken, ihre Schultern, ihr Kopf, alles tat weh. Ob sie etwa die Grippe bekam? Na herrlich, dachte Meggy. Das fehlt mir gerade noch.
Soll ich Tante Dora vielleicht meinen Bazillen aussetzen? Vielleicht sollte sie sich doch lieber von Doc untersuchen lassen. Sie schob die Aluminiumpackung in den Backofen und ließ sich erschöpft auf einen Stuhl fallen. Als Doc in der Tür auftauchte und ein Fieberthermometer aus seinem Köfferchen holte, rührte sie sich nicht einmal. „Na, dann wollen wir mal sehen, was Ihnen fehlt. Tut Ihnen irgendwas weh?" „Alles tut mir weh", antwortete Meggy. „Was meinen Sie, ob ich die Grippe bekomme? Wenn ich krank werde, kann ich wohl nicht länger bei Tante Dora bleiben." Doc hob eine Augenbraue und schob ihr das Thermometer unter die Zunge. „Ich glaube nicht, dass ein Grund zur Beunruhigung besteht." „Aber wenn ich nun wirklich krank bin ..." „Ich bin hier der Arzt", erinnerte Doc sie teilnahmslos. „Reden Sie jetzt nicht. Entspannen Sie sich." Meggy nickte. Wieder wollten ihr die Tränen kommen. „Sie nehmen sich Ihre Verantwortung viel zu sehr zu Herzen", schalt Doc leise und kramte in seinem Arztkoffer herum. „Ich hab Ihnen doch gesagt, dass Sie sich wegen Doras Ernährung keine Gedanken zu machen brauchen. Die Spritzen, die ich ihr gebe, versorgen sie mehr als reichlich, mit Nährstoffen, selbst wenn sie überhaupt nichts zu sich nimmt. Im Moment ist das Wichtigste für sie, dass sie möglichst häufig und lange bei ihr sind." Meggy nickte nur halbherzig. „Und ich bin froh, dass ich Gelegenheit habe, mal ein Wörtchen mit Ihnen zu reden", fuhr Doc fort, schlenderte lässig zur Arbeitsplatte und las die Aufschrift auf der Schachtel des Fertiggerichts. „Dora hat mir zu verstehen gegeben, dass der Junge aus dem Laden hier war. Stimmt das?" Meggy straffte wie zu ihrer Verteidigung die Schultern. Sie hatte Tante Dora selbst nach dem Grund für ihre Aufregung am Vorabend fragen wollen, ohne dass sich jemand
anders einmischte, schon gar nicht Doc. „Er bringt uns Lebensmittel", sagte Meggy undeutlich, da sie noch das Thermometer im Mund hatte. „Schließlich müssen wir hin und wieder etwas essen." Sie staunte selbst über ihren frechen Ton. Gewöhnlich ließ sie sich nicht so rasch zu Unhöflichkeiten hinreißen, aber Doc wirkte irgendwie so überlegen und arrogant, dass es sie reizte. „Sprechen Sie bitte nicht, solange Sie das Thermometer im Mund haben. Dora kann den Jungen nicht besonders leiden, und ich ebenfalls nicht." Meggy fragte sich, was Doc wohl sagen würde, wenn er wüsste, dass Alex ihn genauso wenig ausstehen konnte. „Aber ich brauche was zu essen", entgegnete sie starrköpfig. „Der Junge ist gefährlich." Doc wartete gespannt auf ihre Reaktion. Als er ihre Überraschung sah, war er zufrieden und fuhr fort: „Verstehen Sie, Miss Daton? Der Junge ist gefährlich, weil er unberechenbar ist." Meggy verlor allen Mut. „Vor zwei Jahren hat dieser Junge seine Schwester verloren." Doc schüttelte den Kopf. „Anna hatte sich eine seltene, schmerzhafte und tödliche Krankheit zugezogen. Es tat uns allen Leid um sie. Sie war ein ungewöhnlich hübsches Mädchen. Ich hab für sie getan, was in meiner Macht stand, aber ich konnte ihr nicht helfen." Hatte er wirklich alles getan? Meggy war so verwirrt, dass sie keinen klaren Gedanken fassen konnte. Alex hatte gesagt, dass Doc nicht einmal versucht hätte, der unglücklichen Anna zu helfen. Ob ihr erster Eindruck von Alex doch nicht getäuscht hatte"? Hatte er sie angelogen? Doc schaute auf seine Armbanduhr und schritt zwischen Meggy und dem Herd auf und ab. Seine Finger fuhren mit gleichmäßigen, streichelnden Bewegungen über den glatten weißen Stein an dem Goldkettchen, das er um den Hals trug.
„Ein tragischer Fall, m u s s ich leider zugeben. Der Junge gab natürlich mir die Schuld an ihrem Tod, aber Menschen wie er sind nun mal so. Sie m ü s s e n immer ihren Zorn an jemand anders auslassen. Als seine S c h w e s t e r starb, ging eine unübersehbare Veränderung mit dem Jungen vor. Er wurde sehr verschlossen und unzugänglich, ja geradezu feindselig. Noch h e u t e verschwindet er manchmal wochenlang und durchstreift den Bayou, ohne daran zu denken, d a s s Esther Angst um ihn hat. Er ist wild und ungezügelt, sowohl in seinem Denken als auch in seinem Handeln. Viele Menschen sind auf rätselhafte Weise in den Sümpfen ums Leben gekommen. Manche verschwinden einfach, man sieht sie nie wieder. Und dieser Junge mit seinem großen Messer ... Na ja." Doc zuckte die Achseln und seufzte. „Er ist hoffnungslos gestört. Ein Verrückter." Ein Verrückter! Meggy riss ungläubig die Augen auf. Sie spürte einen Kloß im Hals. „Aber ... aber d a s ist doch unmöglich!" fuhr sie auf. Doc hob beschwichtigend die Hand, „ich weiß, w a s Sie denken, und Sie haben natürlich Recht. Er wirkt vollkommen normal, manchmal sogar nett und freundlich. Aber die psychisch Gestörten sind oft gerissen und haben manchmal Phasen, in denen sie völlig klar und wirklichkeitsgetreu denken können. Wie lange solche lichten Momente andauern können, kann niemand voraussagen. Eine winzige Kleinigkeit kann eine solche Gefühlsaufwallung zur Folge haben, d a s s sie unvermittelt in ihre krankhaften Zwangsvorstellungen zurückfallen." Meggy lauschte seiner unbeteiligten, sonoren Stimme. Doc kehrte ihr den Rücken zu und blickte durchs Fenster in die Nacht hinaus. „Sie wissen doch, wie Anna gestorben ist, nicht wahr?" Als Meggy nicht antwortete, senkte er die Stimme und drehte sich wieder zu ihr um. „Sie ist ertrunken. Das s a g t man zumindest. Sie w a r mit ihrem Bruder im Boot hinausgefahren, aber er kam allein nach Hause zurück. Ihm war
nichts passiert:, er hatte nicht einmal einen Kratzer abbekommen. Er behauptete, dass er sie sicher an Land gebracht habe, dort, wohin sie wollte. Das Mädchen sei dann einfach verschwunden. Sie kam nicht nach Hause. Drei Tage lang haben ein paar Männer den ganzen Sumpf nach ihr abgesucht, und als sie ihre Leiche schließlich fanden, war ihr ganzer Körper ..." Er machte eine abwehrende Handbewegung und überließ es Meggy, sich die grauenhaften Einzelheiten auszumalen. „Es war einfach ein trauriger Unfall." Er lächelte kalt. „Das sagt man zumindest." Eine Träne rollte über Meggys Wange, aber sie machte keine Anstalten, sie abzuwischen. „Esther redet sich ein, es sei nichts als ein Unfall gewesen",-'fuhr Doc fort. „Sie glaubt, dass Anna ertrunken ist, nachdem ihr Bruder sie allein gelassen hat. Manche meinen auch, dass Anna Selbstmord begangen hat, weil sie es nicht ertragen konnte, langsam dahinzusiechen, bis der Tod sie endlich erlöste. Aber woher will man das wissen? Der Junge konnte ihr qualvolles Verwelken auch nicht mit ansehen. Oft genug hat Anna ihn sogar in meiner Gegenwart angefleht, ihr diesen schleichenden, hässlichen Tod zu ersparen." Doc machte eine Pause, bevor er fortfuhr: „Nun überlegen Sie, Miss Daton. Sie sind genauso alt wie seine unglückliche Schwester zu dem Zeitpunkt Ihres Todes. Alex denkt, dass Annas Tod ungerecht war, dass sie durch eine seltene, gnadenlose, hinterhältige Krankheit auf gemeine Weise umgebracht worden ist, und er sucht Rache. Warum, wird er sich fragen, soll irgendein anderes junges, hübsches Mädchen leben dürfen, während Anna sterben musste?" Behutsam nahm er das Thermometer aus Meggys Mund und lächelte sie seltsam an. „Ich persönlich finde es auffällig, dass in dieser Gegend weit und breit kein einziges junges Mädchen lebt. Finden Sie das nicht auch seltsam? Geben Sie also bitte Acht, Miss Daton. Seien Sie freundlich zu ihm, wenn es sich, schon nicht vermeiden lässt, dass er
hierher kommt. Aber lassen Sie ihn nicht ins Haus. Schicken Sie ihn fort. Bringen Sie sich und Dora nicht in Gefahr. Er ist unberechenbar. Hüten Sie sich vor ihm." Meggy sah mit ausdruckslosen Augen zu, wie Doc seine Tasche verschloss. „Ihnen fehlt nichts, Miss Daton. Sie sind völlig gesund. Gute Nacht." Ein paar Minuten lang konnte Meggy sich nicht vom Fleck rühren. Ihr Schwindelgefühl und die Muskelschmerzen waren vergessen. Docs Worte hallten immer wieder in ihrem Gedächtnis nach. Sie hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen verloren zu haben und unaufhaltsam ins Nichts zu stürzen. Tränen liefen ihr über die Wangen. Konnte es denn wirklich wahr sein? War Alex verrückt? Aber gestern Abend war er so nett gewesen, dachte Meggy. Er hat so menschlich, liebevoll und ganz normal über seine Schwester und ihren Tod erzählt. Und Meggy war so erleichtert gewesen, als er sagte, dass er Doc auch nicht ausstehen konnte. Jetzt war es ihr sonnenklar, warum er den Mann nicht mochte. Doc wusste, dass Alex psychisch gestört war. Von dem Bootsunfall hatte Alex kein Wort gesagt. Natürlich nicht, sonst hätte er sich ja verdächtig gemacht. Und seine Augen! Seine Augen hatten Meggy von Anfang an beunruhigt, und jetzt wusste sie auch, warum. Sie waren so wachsam, hintergründig, schienen ein schlimmes Geheimnis zu verbergen ... Sie wollte nach Hause. Vielleicht konnte sie heute Abend, wenn sie mit ihrer Mutter telefonierte, einen Zeitpunkt absprechen, damit sie abgeholt wurde. Doc hatte schließlich selbst gesagt, dass es Tante Dora schon viel besser ging, also konnte ihre Mutter sie doch ... Erschrocken fuhr Meggy auf. Sie hatte beinah vergessen, dass Alex sie abholen wollte. Plötzlich wurde ihr eiskalt. Ob es eine Falle war? Ein Trick, um sie allein zum Laden zu locken? Er köderte sie unter dem Vorwand, ihre
Mutter wolle anrufen, und dann, wenn er aliein mit ihr war ... Meggy sprang auf. Warum hatte sie nicht daran gedacht, Doc zu fragen, ob ihre Mutter ihn wirklich am Abend vorher angerufen hatte"? Doc hätte ihr die Wahrheit gesagt. Doch was sollte sie jetzt machen? Wenn Alex kam, um sie abzuholen, und sie verhielt sich auffällig, geriet er womöglich in Wut. Doc hatte ja gesagt, dass jede Kleinigkeit ihn zum Ausrasten bringen konnte. Damit würde sie womöglich noch Tante Dora in Gefahr bringen. Nein, sie musste an Tante Doras Sicherheit denken. Gleichgültig, ob sie verrückt wurde vor Angst oder nicht, sie musste in allererster Linie Tante Doras Wohl im Auge behalten. Tief in ihre angstvollen Gedanken versunken, nahm Meggy das Fertiggericht aus dem Ofen und ließ es unberührt auf dem Tisch stehen. Auf Zehenspitzen schlich sie nach oben. Tante Dora schlief ganz friedlich. Ein Mondstrahl fiel durch das Moskitonetz und überzog die Bettdecke mit einem blassen silbernen Schimmer. Meggy schlüpfte lautlos hinaus. In der Küche ging sie zum Spülbecken und starrte angestrengt hinaus in die Dunkelheit. Bei jedem Atemzug krampfte sich ihr Magen zusammen. Schweiß rann ihr den Nacken hinunter. Schließlich hörte sie, wie das Boot am Anlegesteg festmachte, dann folgten flüsternde Stimmen und das leise Winseln eines Hundes. Meggy schluckte ihre Angst hinunter und ging zur Tür. Sogleich schloss Esther sie in die Arme und zog sie an ihre mütterliche Brust. „Meggy! Aber Kind, du bist ja ganz blass! Haben wir dich erschreckt? Hat Alex dir denn nicht gesagt, dass wir heute Abend kommen? Ich passe solange auf Dora auf, während du telefonieren fährst." Vor Erleichterung wurden Meggy beinah die Knie weich, und sie erwiderte Esthers Umarmung stürmisch. Das
Konnte kein Trick sein. Esther wusste Bescheid, und Esther war schließlich nicht verrückt. Der Anruf ihrer Mutter war also keine Erfindung. Meggy würde mit ihr reden, und dann konnte sie schon bald zurück nach Hause. „Du hast überhaupt nichts gegessen." Esther sah das Fertiggericht auf dem Tisch stehen und schüttelte den Kopf. „Wir haben dich gestört ..." „Nein, wirklich nicht. Ich hatte nur keinen Hunger", wehrte Meggy ab. „Wenn Sie möchten, können Sie sich gern bedienen." „Das Mittagessen liegt auch schon eine ganze Weile zurück, wenn ich mir's recht überlege." Esther schmunzelte. „Ihr zwei macht euch am Besten gleich auf den Weg, damit ihr nicht zu spät kommt." „Tante Dora schläft", sagte Meggy. Wie ein lautloser Schatten war Alex zur Tür hereingeglitten. Beau folgte ihm leise jaulend und kratzte am Insektengitter, das Alex ihm vor der Nase zugeschlagen hatte. „Mach dir keine Gedanken um sie. Ich bin ja bei ihr", sagte Esther und winkte ihr zu. „Geht jetzt. Und grüß deine Mutter ganz herzlich von mir, Meggy." Meggy zögerte noch immer. Am liebsten wäre sie zu Esther gelaufen und hätte sich in ihre schützenden Arme geworfen. Schließlich konnte sie sich nicht mehr zurückhalten und platzte heraus: „Hat Mom wirklich gesagt, dass sie heute anrufen will?" Esther blickte erstaunt auf. „Ja, freilich! Doc hats mir gesagt. Oder glaubst du, ich würde meine Lieblingssendung im Fernsehen ohne jeden Grund verpassen"? Macht euch jetzt endlich auf den Weg, sonst kommt ihr wirklich noch zu spät." Meggy drückte sich an Alex vorbei und spürte seine finsteren Blicke in ihrem Rücken, als er ihr geräuschlos die Treppe hinunterfolgte. Unten angekommen, blieb sie stehen. „Ob es hier Schlangen gibt?" „Schon möglich. Aber sie sind scheu, sie machen sich
aus dem Staub, wenn sie dich hören." Meggy nagte an ihrer Unterlippe, während Alex weiterging. Als er merkte, dass sie ihm nicht folgte, drehte er sich um und schaltete seine Taschenlampe an. „Komm", sagte er und streckte ihr die Hand entgegen. „Ich gehe voran." Ihr blieb nichts anderes übrig, als seine Hand zu nehmen. Seine kräftigen, langen Finger umschlossen ihre und gaben ihr trotz allem ein unerwartetes Gefühl der Sicherheit. Wortlos gingen sie zum Flussufer. Beau rannte zwischen ihnen und dem Boot hin und her und versuchte, Nachtfalter zu fangen. Der Duft der Gardenien lag schwer in der Luft. Je näher sie an den Fluss kamen, desto stärker wurde der Modergeruch des Sumpfes. Alex setzte einen Fuß aufs Boot und half Meggy vorsichtig hinein. Als er selbst einstieg, hörte sie ein scharrendes Geräusch zu ihren Füßen. Entsetzt schrie sie auf, sprang zurück und verlor das Gleichgewicht. Im nächsten Moment hielt Alex sie in den Armen. Ihr Kopf ruhte an seiner Brust, und sie schnappte nach Luft. „Es ist nichts", sagte er und hielt sie an den Schultern fest. „Beruhige dich." „Aber ich hab es gehört! Es hat sich bewegt und ..." Meggy blickte zu ihm hoch und konnte unter seinem durchdringenden Blick nicht weiterreden. Sie fürchtete, im nächsten Moment zusammenzubrechen. Alex spürte, wie sie zitterte, und half ihr auf die hölzerne Sitzbank. Er selbst setzte sich ebenfalls und ergriff die Ruder. Beau sprang ins Boot und ließ sich an Meggys Seite nieder. Sie kraulte ihn hinter den Ohren, und er legte schützend die Schnauze auf ihren Unterarm. Eine derartige völlige Dunkelheit hatte Meggy noch nicht erlebt. Erst nach einigen Minuten gewöhnten sich ihre Augen an die Schwärze ihrer Umgebung. Vor ihnen schlängelte sich der sumpfige Fluss träge dahin, die Ufer waren kaum zu erkennen, und das trübe Wasser plätscherte leise
gegen die Bootsplanken. Alex steuerte das Boot in die Flussmitte. Riesige, überhängende Bäume griffen mit ihren Ästen nach ihnen, dicke, verunstaltete Stümpfe ragten plötzlich vor ihnen aus dem Wasser, wie vergessene Geschöpfe der Nacht. Ein unheimliches Stöhnen und gespenstische Schreie erfüllten die Stille. Jeder Schatten schien ein Eigenleben zu führen. Meggy schlang die Arme um ihren Oberkörper und dachte voller Grauen an die Leute, die nach Docs Worten auf geheimnisvolle Weise im Sumpf verschwunden waren. Waren die körperlosen Schreie, die von allen Seiten auf sie eindrangen, die flehenden Stimmen verlorener Seelen, die Gerechtigkeit verlangten? Oder wollten sie Meggy warnen, warnen vor dem Verrückten, der sie in seinem Boot gefangen hielt? Während Alex mit geschickten Ruderstößen das Boot vorantrieb, fühlte sie seine Blicke in ihrem Rücken. Ob Anna wirklich völlig arglos gewesen war, als der Unfall passierte? Vielleicht war das Boot auf irgendein unsichtbares Hindernis geprallt und hatte beide in das modrige Sumpfwasser geschleudert. War Alex allein wieder an die Oberfläche gekommen und hatte verzweifelt nach seiner schwachen, hilflosen Schwester gesucht? Oder hatte Anna ihrem furchtbaren Leiden vorsätzlich ein Ende machen wollen? Womöglich kam auch noch eine weitere Möglichkeit in Betracht, etwas, das Doc nicht direkt in Worte gefasst hatte, das aber trotzdem nicht auszuschließen war. Hatte Alex einen Unfall vorgetäuscht, um seine Schwester umzubringen? Es mochte in seinen Augen Sterbehilfe gewesen sein. Aber trotzdem war es Mord, kaltblütiger Mord, wenn jemand einem anderen Menschen in voller Absicht das Leben nahm, gleichgültig, ob er vielleicht sogar einen edlen Beweggrund dafür hatte. Saß Meggy nun auf dem Platz, den damals Anna eingenommen hatte? War das Boot vielleicht sogar gerade jetzt an dem Ort, wo das Schreckliche geschehen war? Hatte Anna einen Verdacht gehabt, so wie Meggy jetzt?
H a t t e Anna ihren Bruder im Auge behalten und sich gefragt, w a n n es wohl so w e i t sein m o c h t e ... wie er es t u n w ü r d e ... ob sie sich r e t t e n könnte, so geschwächt, w i e sie | durch die Krankheit w a r ? Als plötzlich das Mondlicht das Boot überflutete, blickte Meggy sich u m . Alex sprach kein Wort, aber das Messer an seinem Gürtel blitzte metallisch auf. Sollte Meggy auch verschwinden, w i e so viele andere? Die Zeit schlich unendlich langsam dahin, noch langsamer, als das Boot übers Wasser glitt. Meggy schloss die Augen und schlang die A r m e um Beaus Hals. Er w a r wenigstens w a r m und wirklich, vermittelte ihr ein Gefühl der Geborgenheit ... „Wir sind da." Meggy zuckte zusammen, als sie Alex' Stimme hörte. Er beugte sich über die Seite des Bootes. Vor ihnen drang t r ü b e s Licht durch den dichten Vorhang aus Lianen und w a r f verzerrte Schatten auf das Boot, das unter Alex' Bew e g u n g e n leicht s c h w a n k t e . Langsam glitt es auf einen hölzernen Anlegesteg zu, der von einer Laterne direkt am Wasser beleuchtet w u r d e . Was dann passierte, konnte Meggy hinterher nicht m e h r genau sagen. Sie hörte, wie Alex sich hinter ihr b e w e g t e , dann sah sie plötzlich seinen bedrohlichen Schatten über sich, als er sich zu seiner vollen Größe aufrichtete. Schlagartig w u r d e ihr b e w u s s t , dass es um ihr Leben ging. Sie sprang auf, verlor das Gleichgewicht, das Boot kippte, und sie stürzte ins Wasser. Ihr blieb nicht einmal Zeit zum Schreien. Das Letzte, w a s sie noch w a h r n a h m , bevor sie ins schwarze Sumpfwasser eintauchte, w a r eine Stimme, die wie aus w e i t e r Ferne ihren Namen rief.
7. KAPITEL lch bin tot ... er hat mich umgebracht ... alles ist so pechschwarz ... Meggy schwebte, spürte ihren Körper nicht mehr, und eine friedliche Stille umgab sie. Sie ließ sich einfach fallen, fühlte nichts mehr. „Meggy!" Der Schrei riss sie aus ihrer Benommenheit. Sie zuckte zusammen, wollte Luft holen. Modriges Wasser drang in ihren Mund. Erst jetzt fing sie an zu kämpfen, schlug mit den Armen um sich und wehrte die Gestalt ab, die sich verschwommen ganz in ihrer Nähe bewegte. Ihre Hand traf auf einen festen Körper. Ein Schmerz durchzuckte sie, der ihren Kopf zu zersprengen schien. Sie keuchte, würgte und hustete, um das Stechen in ihrer Lunge loszuwerden. „Hör auf!" befahl eine strenge Stimme, und plötzlich wurde sie von jemandem gepackt und in die Wirklichkeit zurückgeholt. „Hör auf, um dich zu schlagen!" schrie die Stimme sie an. „Ich halte dich fest. Keine Angst." Meggy schlug noch immer hilflos um sich, bis ihr bewusst wurde, dass jemand sie sicher in seinen starken Armen hielt. Da erst gab sie das Kämpfen auf und ließ sich völlig erschöpft aus dem Wasser an Land ziehen. Sie wurde mit dem Gesicht nach unten auf den Boden gelegt. Geschickte Hände fingen an, ihren Rücken zu bearbeiten, drückten, gaben nach, drückten, gaben nach, so lange, bis endlich ein Schwall von Flusswasser aus ihrem Mund kam.
Alex drehte sie behutsam um und stützte ihren Kopf, während sie gierig nach Atem rang. Irgendetwas schnürte ihr den Hais zu. Mit einem Schreckensschrei fuhr sie hoch. Vor ihren Augen tanzten Tausende von Sternen. „Ganz ruhig." Alex nahm sie in die Arme und hob sie ohne jede Anstrengung hoch. Beau folgte ihm mit leisem Jaulen zu einem niedrigen Holzhaus. An der Veranda zögerte der Hund und ließ sich dann auf der untersten Treppenstufe nieder. Alex drückte die Klinke herunter und stieß die Tür mit dem Knie auf. Behutsam trug er Meggy in das schwach beleuchtete Wohnzimmer, wo er sie auf ein Sofa legte. Meggy blinzelte in die Lampe. Ihr Kopf schmerzte so entsetzlich, dass sie sonst nichts in dem Raum erkennen konnte. Ein Duft von gekochten Krabben zog durchs Haus, und ihr Magen wollte sich umdrehen. Alex ging zum offenen Fenster hinüber und schaltete einen kleinen Ventilator ein, den er so aufstellte, dass der Luftstrom Meggys Gesicht traf. Es war unerträglich heiß. Trotzdem zitterte sie am ganzen Körper. Sie bat Alex um' eine Wolldecke, und er ging hinaus. Warum hatte er sie nicht umgebracht? Es wäre doch so einfach für ihn gewesen. Es hätte ausgesehen wie ein weiterer Bootsunfall. Niemand hätte sich etwas anderes dabei gedacht. Alex hätte behaupten können, dass Meggy von der Strömung mitgerissen worden sei wie Anna. Vielleicht spielte er mit ihr. Quälte sie. Gab ihr einen Vorgeschmack auf das Sterben, bevor er den letzten Schritt machte. Doc hatte Recht. Alex war gerissen, oh ja, er war unglaublich gerissen. Und Meggy sollte leiden, bevor sie starb. Sie sollte eine lange, kriechende, schmerzhafte Angst verspüren, bevor der Tod kam ... genau wie Anna ... ' Alex kam zurück und deckte eine leichte Wolldecke über Meggy.
„Ich will nach Hause!" Ihre Stimme klang unnatürlich laut undd schrill. „Und wenn deine Mutter anruft?" „Wie spät ist es denn? Müsste sie nicht längst angerufen haben?" Meggy stand kurz vor einem hysterischen Anfall. Alex musterte sie besorgt. „Warte noch eine Viertelstunde. Wie gehts deinem Kopf?" „Alles in Ordnung." Meggy holte tief Luft. Sie musste sich wieder unter Kontrolle bekommen. Alex durfte keinen Verdacht schöpfen, dass sie über ihn und seine Pläne Bescheid wusste. „Vielleicht solltest du lieber zum Arzt gehen", meinte Alex. „Ja!" antwortete Meggy rasch. „Ruf Doc an und ..." „Doc?" Alex' Augen verengten sich misstrauisch. „Ich dachte, du kannst Doc nicht leiden." „Nein, ich kann ihn nicht ausstehen, aber er wohnt hier in der Nähe, nicht wahr?" redete Meggy sich heraus. „Bevor ich dich Doc überlasse, bringe ich dich lieber in die nächste Stadt", erklärte Alex mit Nachdruck. Meggy drehte das Gesicht fort. Sie kämpfte mit Tränen der Angst. Sie wollte nicht hier bleiben, sie konnte nicht! „Oh, mein Kopf!" stöhnte sie. Ihre Bemühungen, nicht zu weinen, hatten die Kopfschmerzen noch verschlimmert. Aber um nichts in der Welt durfte Alex merken, wie verängstigt sie war. Der Schmerz war beinahe unerträglich. Sie ballte die Fäuste und sah, wie Alex sich neben sie auf die Sofakante setzte. „Hier. Trink das." „Nein!" Meggy schrie ihn geradezu an. „Du kannst mir vertrauen. Es ist eines von Esthers Hausmittelchen. Wenn du's getrunken hast, gehts dir bestimmt gleich besser." „ Nein ... nein ..." Meggy wehrte die Tasse ab, die Alex ihr an die Lippen hielt, aber sie war zu schwach. Eine angenehm schmeckende Flüssigkeit rann ihr durch die Kehle,
und das Zimmer begann sich um sie zu drehen. Jetzt hat er mich vergiftet, dachte sie verzweifelt und spürte noch undeutlich, dass Alex ihre Hand hielt. Er hat mich vergiftet ... jetzt kommt also das Ende ... und er sitzt dabei und sieht zu, bis er ganz sicher ist, dass ich wirklich tot bin ... Sie sah ihm voll panischer Angst in die Augen und war überrascht von der tiefen Traurigkeit, die sie darin erkannte. Es tut ihm Leid, dass er es tun muss, dachte sie benommen. Es tut ihm Leid. Sie hatte das Gefühl, wie ein Blütenblatt oder ein Schmetterling ohne Ziel durch die Luft zu schweben. Sie war wie eine Wolke, leicht und luftig, hoch oben am blassblauen Himmel, wo es keine Angst und keine Sorgen gab. Über sich sah sie den endlosen Himmel und unter sich die üppigen grünen Wiesen, die im Sonnenlicht funkelten. Und dann schlich der Abend herbei, brachte lange Schatten mit sich, und im silbernen Mondglanz schimmerten Sterne auf. Alles war so friedlich ... Meggy schlug die Augen auf. Sie blieb ganz still liegen und genoss den süßen, tiefen Frieden, der sie einhüllte. Eine herrliche Ruhe erfüllte sie. Es war ein unglaublich schönes Gefühl. . . Dann fiel ihr wieder ein, wo sie war. Halb aufgerichtet, blinzelte sie in die Dämmerung und sah einen Schatten, der ihr gegenübersaß. „Alex?" flüsterte sie ängstlich. „Ja. Ich bin bei dir." Wieder breitete sich Angst in ihr aus. Also hatte er sie doch nicht vergiftet. Was würde er jetzt mit ihr machen? „Wie spät ist es?" fragte sie. „Schon nach elf." „Elf! Dann hab ich also den Anruf ..." „Nein, hast du nicht", sagte Alex leise, „Deine Mutter hat überhaupt nicht angerufen."
Meggys Gedanken überschlugen sich. Ihre Mutter hatte nicht angerufen! Dann war es doch eine Lüge gewesen! Ein Trick, um Meggy allein ins Haus zu locken! „Vielleicht hat sie es einfach vergessen", versuchte Alex sie zu beschwichtigen. Meggy schüttelte den Kopf. Die Schmerzen waren verflogen. Sie fühlte sich wieder völlig klar. „Nein, das würde sie nie vergessen." „Aber ist sie nicht auf einer Geschäftsreise?" „Schon, aber wenn sie gesagt hat, sie würde mich anrufen, dann hätte sie es auch getan." Meggys Stimme zitterte. „Bist du ganz sicher, dass Doc gesagt hat, sie würde anrufen?" „Ganz sicher", antwortete Alex kalt. „Und er hat gesagt, sie wolle hier bei euch im Haus mit mir sprechen? Vielleicht hast du ihn nicht richtig verstanden ..." „Ich hab ihn richtig verstanden." Alex' Tonfall wirkte jetzt last feindselig. „Aber es ist so gar nicht ihre Art ..." „Hör zu", fiel Alex ihr zornig ins Wort, „wenn du so sicher bist, dass ich dich anlüge, kannst du Doc ja selbst fragen." „Ja!" Meggy schöpfte neuen Mut. „Ich meine, ich glaube nicht, dass du gelogen hast, aber ich möchte trotzdem selbst mit Doc reden. Nur ... nur für den Fall, dass es ein Missverständnis gegeben hat. Ich will jetzt gleich mit ihm reden. Ruf ihn bitte an." Gespannt sah sie Alex an. Sein Gesicht war wie versteinert. Jetzt ist es passiert, dachte sie. Jetzt bin ich zu weit gegangen und habe ihn mir zum Feind gemacht. Jetzt bringt er mich mit Sicherheit um ... Aber das tat er nicht. „Ich will ihn nicht hier im Haus sehen." Zu ihrer Verblüffung ging Alex zur Tür, öffnete sie und hielt sie weit auf. „Kannst du gehen?" „Ja, ich glaube schon." Ihr Herz hämmerte gegen die
Rippen. Sie musste hier raus. Raus hier und fort von Alex. Sie musste zu Doc. Doc würde schon wissen, was nun zu tun war ... Meggy erstarrte, als Alex zum Fluss hinunterging. „Wo willst du hin?" „Zum Boot." „Können wir nicht mit dem Auto fahren? Ich meine ..." „Wir haben kein Auto", erinnerte Alex sie. „Entweder fahren wir mit dem Boot, oder wir gehen zu Fuß. Und in deinem Zustand würdest du einen langen Fußmarsch kaum schaffen." „Ist es weit bis zu Doc?" Meggy wollte Zeit gewinnen, wollte die Kraft finden, zu Fuß zu gehen. Wenn Doc hier in der Nähe wohnte ... „Etwa eine Meile." Ihre Pläne stürzten in sich zusammen. Jetzt blieb ihr nichts anderes übrig, als mit Alex im Boot zu Doc zu fahren. Aber bestimmt war Alex nicht so dumm, am selben Abend noch einmal zu versuchen, sie umzubringen. Hatte Doc nicht gesagt, dass gerade psychisch Gestörte oft unglaublich gerissen sind? Schweigend folgte Meggy Alex zum Boot und stieg ein. Während das Boot langsam über das dunkle Wasser glitt, klammerte Meggy sich an der schmalen Sitzbank fest und schrak bei jeder Bewegung, bei jedem Geräusch zusammen. Der ganze Bayou schien sich mit Alex verbündet zu haben, wartete auf sie, wollte sie packen, umzingelte sie in immer engerem Kreise. Alex brauchte nur ein Wort zu sagen, und sie wäre verloren. Er lügt ... er fährt in die falsche Richtung ... Doc wohnt überhaupt nicht in dieser Gegend ... wie einfach es ist, sein Messer zu zücken und eine Leiche hier in den tiefen Schatten verschwinden zu lassen ... Da erblickte sie etwas zwischen den Bäumen. Ein gutes Stück vom Wasser entfernt stand ein großes Haus. Nur aus einem einzigen Fenster im Erdgeschoss fiel
ein giftig gelbes Licht durch die Bäume. „Sein Arbeitszimmer", sagte Alex leise, „Sieht so aus, als ob er heute bis tief in die Nacht hinein mit seinen üblen Machenschaften beschäftigt ist ..." „Hör auf!" fiel Meggy ihm heftig ins Wort. „Das ist nicht witzig!" „Es war auch nicht witzig gemeint." Alex legte am Ufer an und machte eine einladende Handbewegung. „Bitte schön." „Kommst du nicht mit'?" fragte Meggy zögernd. „Nein. Was du mit Doc zu besprechen hast, geht mich nichts an. Du willst ihn doch offensichtlich bitten, dich vor mir zu beschützen. Ich warte hier. Lass dir ruhig Zeit," Voller Angst stand Meggy auf. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Alex ahnte also längst, weichen Verdacht sie hatte, aber er ließ sie gewähren. Doc würde sie vor ihm schützen. Um zu ihm zu gelangen, musste sie sich jedoch ihren Weg durch dieses düstere Dickicht bahnen, durch Unterholz, Lianen und vielleicht Schlangen. Sie biss sich auf die Lippe und warf einen Blick auf Alex, der ihr den Rücken zukehrte. Er hatte alles geplant. Von vorn bis hinten. Er wusste, dass sie nie im Leben den Mut aufbringen würde, sich allein durch das dunkle Gestrüpp zu Doc durchzuschlagen. Aber sie würde es ihm zeigen. Sie würde gehen. Sie wollte einfach aus dem Boot springen, sich ins Unterholz stürzen und direkt zu Docs Tür rennen, um ihm zu sagen, dass Alex versucht hatte, sie umzubringen. „Gut, ich gehe", sagte sie und setzte einen Fuß auf den Boden. Doch im selben Augenblick erstarrte sie. Durch die Bäume hindurch drangen eintönige, dumpfe Trommelschläge an ihr Ohr ... immer ein betonter, kräftiger Schlag, regelmäßig und eindringlich, Atemzug für Atemzug. Es war ihr eigener Atemrhythmus! Es war das Schlagen
ihres Herzens, aber es kam von den Bäumen, vom Hause her, lauter und lauter, lauter und lauter, und ihr eigenes Herz pochte ebenfalls lauter und lauter, lauter und lauter. Sie presste die Hände auf ihre Brust. „Meggy, was hast du?" Alex tastete sich am Bootsrand entlang zu ihr. „... ich ... bekomme keine ... Luft ... mehr!" Wie gebannt starrte sie auf das schweflig gelbe Licht im einzig erleuchteten Fenster. Plötzlich schien es sich zu einer glühenden Kugel zu verdichten, die lautlos, aber unaufhaltsam durch die Bäume aufs Boot zukam, sich auf ihrer Brust ausbreitete ... Meggy schlug mit den Händen danach, schrie und weinte und hatte das Gefühl, dass das Blut in ihren Adern zu Eis gefror. Aus dem Fenster im Erdgeschoss, das jetzt dunkel war, erklang ein leises, teuflisches Lachen und eine geflüsterte Warnung. Sie hallte in der feuchtwarmen Luft wider. „Ich weiß, dass du da draußen bist, Alex. Aber hüte dich! Hier hast du keine Macht!" „Alles in Ordnung?" Meggy lag auf dem Boden des Bootes und blickte benommen zu Alex empor. Er sah sie bestürzt an, und sie merkte, dass sie noch immer die Hand aufs Herz gepresst hielt. „Was ist geschehen?" flüsterte sie. „Das weißt du nicht mehr? Du hast gesagt, du kriegst keine Luft mehr, und dann bist du hingefallen ..." Meggy unterbrach ihn. „Hast du ihn gehört?" „Oh ja, ich hab ihn gehört", antwortete Alex finster. „Und hast du's auch gesehen?" „Was gesehen?" „Dieses Licht ... Es kam vom Fenster, und plötzlich war es auf meiner Brust." „Das Licht im Fenster hab ich gesehen", stimmte Alex zu. „Aber an dir hab ich nichts bemerkt," „Aber da war was! Direkt auf mir! Und das Trommeln!"
„Was für ein Trommeln?" „Ein Klopfen ... wie mein Herzschlag! Ich hab es gehört, als ..." Plötzlich sprangen ihr die undeutlichen, schleierhaften Eindrücke aus ihren Albträumen wieder ins Gedächtnis. Das regelmäßige, pulsierende Klopfen. Der tanzende Schimmer. „Wann hast du das gehört?" „Du würdest mir doch nicht glauben. Du glaubst mir ja auch jetzt nicht." Meggy war wütend und erschöpft. „Meggy, hör mir zu." Alex beugte sich über sie und ergriff ihren Arm. Als sie ihn heftig zurückzog, verzog er betroffen das Gesicht. „Wenn wir kein Vertrauen zueinander haben, können wir uns auch nicht gegenseitig helfen. Ich weiß zwar nicht, warum du so abweisend zu mir bist, aber ich möchte wetten, dass Doc dir irgendwas über mich erzählt hat. Und ich bin sicher, dass es ein Haufen von Lügen war. Hab ich Recht"? Hat Doc mit dir über mich geredet?" Meggy presste die Lippen aufeinander und antwortete nicht. Alex war wütend. „Dachte ich's mir doch. Und jetzt, nach diesem dummen Unfall, glaubst du womöglich, dass alles, was er gesagt hat, die reine Wahrheit ist. Aber das eine sag ich dir: An denn Unfall warst du schuld, wenn überhaupt jemand. Und ich muss dir noch was sagen: Doc ist ein Lügner und ein Schuft, und es wäre besser für dich, wenn du mir vertrauen würdest, bevor es zu spät ist." „Zu spät wozu?" brauste Meggy auf. „Du hast doch gehört, was er eben gerade gesagt hat!" „Ja, und das sollte eigentlich Beweis genug für dich sein, dass er kein gewöhnlicher Mensch ist. Was meinst du wohl, woher er wusste, dass ich hier draußen bin, so weit entfernt vom Haus und in völliger Dunkelheit?" Meggy war verwirrt. „Wahrscheinlich hat er ein Fernglas oder so was Ähnliches." „Das ist doch Unsinn! Nicht mal mit einem hoch entwickelten Teleskop kann man in dieser Dunkelheit etwas sehen. Schau dich doch um. Zwischen uns und dem Haus
stehen Bäume. Er kann uns unmöglich gesehen haben." Meggy hatte das Gefühl, in einer.Falle zu sitzen. Sie war so sicher gewesen, dass sie bei Doc Schutz finden könnte, so sicher, dass Alex verrückt sein müsste. Und seine logische Argumentation konnte durchaus einem dieser lichten Momente entstammen, vor denen Doc sie gewarnt hatte. Aber warum schämte sie sich dann plötzlich so vor ihm, als sie die Verachtung und Enttäuschung in seinem Blick las? Wenn er es wirklich ernst meinte, hatte sie ihn mit ihren Verdächtigungen tief gekränkt, und sie hätte ihm gern gesagt, dass es ihr Leid tat. Trotzdem, es hatte diesen Unfall gegeben. Und wenn Doc wirklich Alex' Feind war, musste man davon ausgehen, dass Alex hemmungslos Lügen über Doc und seine angeblichen übernatürlichen Kräfte verbreiten würde, um Meggys Vertrauen zu gewinnen. Und wieso hatte Alex das Licht nicht gesehen, die Trommel nicht gehört? Es blieb noch eine dritte Möglichkeit. Vielleicht war es Meggy selbst, die langsam, aber sicher verrückt wurde. „Ich weiß nicht mehr, was ich noch glauben soll." Ihre Stimme klang plötzlich matt und hohl. „Bring mich nach Hause." Alex schüttelte ratlos den Kopf und nahm seinen Platz auf der Ruderbank wieder ein. „Na gut. Wie du willst." Den Heimweg legten sie schweigend zurück. Als sie schließlich bei Tante Doras Haus angekommen waren, ging Alex voran in die Küche, wo Esther sogleich auf sie zustürzte. „Ich hab mir schon Sorgen gemacht!" Sie nahm Meggy in die Arme. „Was ist passiert? Habt ihr Schwierigkeiten gehabt? Alex?" „Meggy hat das Boot zum Kentern gebracht", sagte Alex. „Aber ihr ist nichts passiert." „Es war nicht meine Schuld!" widersprach Meggy heftig. Doch sie hütete sich, ihren Verdacht auszusprechen.
Esther schien sich aufrichtig Sorgen zu machen. „Und wie gehts deiner Mutter? Ist alles in Ordnung?" „Sie hat gar nicht angerufen", antwortete Alex und warf seiner Mutter einen viel sagenden Blick zu. Esther nestelte nervös an ihrer Schürze herum. „Wahrscheinlich hat sie so viel zu tun, dass sie es einfach vergessen hat", sagte sie mit schlecht gespielter Überzeugung. „Ich hole rasch meine Sachen." Meggy ließ den Kopf sinken. Plötzlich war ihr alles völlig gleichgültig. Als Alex ihren Ellbogen nahm und sie zu sich umdrehte, schrak sie zusammen. War die Besorgnis auf seinem Gesicht nicht vielleicht doch echt? „Hast du ..." Er suchte nach den richtigen Worten, doch dann redete er einfach drauflos. „Ist dir in der letzten Zeit eine Veränderung an dir aufgefallen? An deinem Gesicht vielleicht?" Meggy sah ihn verständnislos an. „Wie meinst du das?" „Hast du dich selbst mal im Spiegel betrachtet? Du siehst ... anders aus." „Was soll das heißen?" Ihre Nerven waren zum Zerreißen angespannt. „Schrecklich. Du siehst einfach schrecklich aus. Nicht mehr so wie am ersten Tag hier." „Wie kannst du so etwas sagen? Was fällt dir ein?" Alex drehte sie um, so dass sie ihr Spiegelbild im dunklen Küchenfenster ansehen musste. Das fremde Mädchen, das ihr da gegenüberstand, jagte ihr einen Schrecken ein. „Schau dich nur an", flüsterte Alex eindringlich und hielt sie an den Schultern fest. „Diese schwarzen Ringe unter den Augen. Und wie blass du bist! Abgenommen hast du auch." „Lass mich los!" Ruckartig befreite sich Meggy aus seinem festen Griff. Sie wusste, dass er Recht hatte, und das machte ihr noch mehr Angst. Ihr Spiegelbild im Fenster zeigte allzu deutlich,wie sehr sie sich verändert hatte. „Erwartest du etwa, dass ich blühend und taufrisch aussehe,
nachdem du gerade versucht hast, mich zu ertränken?" Die Worte w a r e n ungewollt aus ihr herausgesprudelt, und sie wich einen Schritt zurück. Alex' Gesicht verdüsterte sich. „Du t r a u s t mir immer noch nicht." Er sprach leise. „Du denkst, ich h ä t t e das Boot zum Kentern gebracht, mit Absicht, um ..." Er sprach den Satz nicht zu Ende. Als Esther zurück in die Küche k a m , presste er die Lippen zusammen und ging wortlos nach draußen. Durch den Schleier ihrer Tränen hindurch nahm Meggy undeutlich wahr, wie Esther ihr einen Abschiedskuss gab, die Tür sich hinter ihr schloss und sie mutterseelenallein zurückblieb. Aus d e m Fenster blickte sie ihr eigenes m ü des, hageres, tränenüberströmtes Spiegelbild an.
8. KAPITEL Meggy bekam keinen Bissen hinunter. Sie stocherte lustlos inn Rührei auf ihrem Teller herum und kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit an. Angewidert schob sie ihren Teller weit von sich. Früher hatte sie zum Frühstück be~ sonders gern Rührei gegessen, aber jetzt wurde ihr schon schlecht, wenn sie nur daran dachte. Ein Donnergrollen hallte durch das Haus. Meggy fuhr zusammen. Schon am Mittag, als sie endlich aufgewacht war, hatte der Himmel angefangen, sich zu bewölken. Mit mürrischem Gesicht sah Meggy auf die Uhr, um sich zu vergewissern, dass sie nicht unbemerkt eingeschlafen war, während sie versuchte zu essen. Sie fühlte sich so müde, so kraftlos und schlaff wie das Moos, das lang von den Bäumen im Garten herabhing. Es fiel ihr schwer, überhaupt an etwas zu denken. Nur schlafen wollte sie, immerzu schlafen. Sie hörte Doc in die Küche kommen, aber sie fand nicht die Kraft, ihn zu begrüßen. Stattdessen heftete sie den Blick auf eine fette Mücke, die auf der Hintertür saß und versuchte, durch ein Loch im Insektengitter nach draußen zu entwischen. Die Luft war so drückend und schwül, dass sogar das Atmen unsagbar schwer fiel. Ein unheimliches Schweigen hing über dem Bayou, denn Garten, dem Haus. Nicht der geringste Luftzug störte die Totenstille ringsum. „Sie haben wieder nichts gegessen", tadelte Doc Meggy. „Ich habe keinen Hunger."
„Nun verlangen Sie bitte nicht, dass ich auch Ihnen mit meinen Spritzen auf die Beine helfe." „Ich bin bloß müde, das ist alles." „Haben Sie denn schlecht geschlafen?" Meggy seufzte und presste die Fäuste gegen die Schläfen. Da war etwas gewesen in der letzten Nacht. Ein Licht, ein beständiges, regelmäßiges Klopfen von ... von was nur? War es ein Albtraum gewesen? Oder die Erinnerung an das Trommeln und das schimmernde Licht bei Docs Haus? Alles war wie weggewischt. Gerade als sie ganz nah daran war, sich zu erinnern, löste sich alles in nichts auf. „Mir fehlt nichts", sagte sie mit tonloser Stimme. Doc ließ unbekümmert seine Tasche zuschnappen. „Wie ich hörte, waren Sie gestern Abend nicht zu Hause. Sie waren mit diesem Jungen unterwegs. Obwohl ich Sie vor ihm gewarnt habe." „Wie sonst hätte ich denn zum Laden kommen sollen?" widersprach Meggy unwillig. „Sie selbst haben mir doch ausrichten lassen, dass meine Mutter mich dort anrufen wollte. Sie hat sich allerdings nicht gemeldet." Meggy hielt es für besser, nichts davon zu erwähnen, dass sie auch bei Docs Haus gewesen waren. Es wäre klüger, wenn sie abwartete, was und wie viel Doc freiwillig zugab. „Ich?" Doc hob eine Augenbraue. „Ich hab Ihnen nichts dergleichen bestellen lassen. Mit Ihrer Mutter hab ich kein Wort mehr gewechselt, seit ..." „Soll das heißen ...?" Meggy sah ihn sekundenlang verdutzt an, zu verwirrt, um die passenden Worte zu finden. „Aber sie haben doch gesagt ..." „Wen meinen Sie?" „Alex und Esther." „Das war wohl ein weiterer von den üblen Tricks des Jungen. Und Sie waren so dumm, mit ihm zu gehen. Wissen Sie denn immer noch nicht, in welche Gefahr Sie sich dadurch begeben haben?"
„Wir hatten einen Unfall", s a g t e Meggy mit tonloser Stimme. Doc sah geradezu zufrieden aus. Er griff sich an den Hals und strich mit zärtlicher Gebärde über den weißen Stein an seinem Goldkettchen. „Betrachten Sie d a s als Warnung. Wenn Sie nicht auf mich hören wollen, dann weiß ich nicht, wie ich Sie schützen soll." Ein Donnerschlag krachte, und gleich daraufging ein heftiger Wolkenbruch nieder. An der Tür blieb Doc noch einmal stehen. „Es wäre n e t t von Ihnen, wenn Sie h e u t e ein Weilchen bei Dora blieben. Sie möchte nicht so allein sein." Meggy nickte m a t t und nahm kaum war, d a s s der Wind den Regen in die Küche trieb, bevor die Tür hinter Doc ins Schloss fiel. Meggy schleppte sich zum Fenster und s c h a u t e nach draußen. Der Wind nahm zu, die Bäume schwankten. Das Moos an ihnen flatterte im Sturm wie modrige, zerfetzte Leichentücher. Der Himmel w a r schiefergrau, obwohl es noch früh am Nachmittag war, und der Sumpf gurgelte und schäumte unter den schweren Regentropfen wie ein Kessel voller trübem, kochendem Schlamm. Meggy seufzte und stieg die Treppe zu Tante Doras Zinrv mer hinauf. Die Fotos an der Wand waren im Schatten nicht zu sehen, aber jeder Blitz, der d a s Fenster in der Haustür erhellte, e r w e c k t e sie unvermittelt zu kurzem Le-en. Meggy nahm sich Zeit, j e d e s einzelne Bild genau zu betrachten, j e d e s der hübschen Gesichter in allen Einzelheiten zu erforschen. Sie w ü n s c h t e sich, selbst so hübsch und frisch zu sein wie d a s Mädchen auf den Bildern, selbst so lieblich lächeln zu können. Wie gern h ä t t e sie sich jung und unbeschwert und glücklich gefühlt! Augenblick mal, wies sie sich selbst verdutzt zurecht. Ich bin jung und unbeschwert und glücklich, oder vielmehr, vor ein paar Tagen w a r ich es noch. Dass die Gesichter auf den Fotos von einem glücklichen
jungen Mädchen stammten, war offensichtlich. Dieses Mädchen wusste ganz genau, wie es war, jung zu sein und nur einen Wunsch zu haben, nämlich frei und lebendig zu sein. Es wusste dagegen nicht, wie es war, in einem alten Haus mit einer kranken, abstoßenden, bettlägerigen alten Frau eingesperrt zu sein. Meggy lächelte, als ein weiterer Blitz die Bilder kurz aufleuchten ließ. Es konnte nicht nur Einbildung sein, dass die Fotos immer lebensechter aussahen, je länger und je öfter Meggy sie betrachtete. Zu Anfang hatte sie sie nur als mehr oder weniger deutliche Umrisse aus Licht und Schatten wahrgenommen, aber inzwischen hatten die Bilder an Tiefe gewonnen. An Tiefe und an Form. Die feinporige Haut, der Glanz des dichten Haars, der gesunde Schimmer auf den Wangen des Mädchens, alles war klar und deutlich zu erkennen. Und jetzt, in diesem Augenblick, spürte Meggy sogar den Hauch eines Parfüms. Es duftete nach ... nach ... Meggy überlegte angestrengt und seufzte auf, als sie den Duft erkannte. Natürlich. Es roch nach Gardenien. Es war der schwere, verlockende, verwirrende Duft von Gardenien. Sie legte den Kopf in den Nacken, und ihr Puls begann zu rasen. War es Einbildung? Nein, da war es wieder. Dieses leise Mädchenlachen. Dieses Lachen, das in ihrem eigenen Hals kitzelte und das die freie, unbeschwerte Lebensfreude ausdrückte, die sie so gern gespürte hätte. Das melodische Lachen der Erinnerung an lang verflossene Zeiten. Und all die Gesichter blickten auf sie herab und hüteten ein Geheimnis, das sie selbst so gern gekannt hätte - das Geheimnis der Jugend. Das Lachen erfüllte Meggy ganz, durchrieselte sie vom Kopf bis zu den Zehenspitzen und zog sie hinauf ... bis vor Tante Doras Zimmertür. Es tanzte auf der Klinke und drückte sie wie mit Zauberhand herab. Dann führte es Meggy an Tante Doras Bett, wo sie schon sehnsüchtig erwartet wurde.
Die alte Frau hatte sich noch mehr verändert. Über Nacht. Von Falten war beinah keine Spur mehr festzustellen, ihre Haut schimmerte rosig, und ihr langes silbergraues Haar fiel weich und bedeutend voller auf ihre Schultern. Die schwarzen Ringe unter den Augen waren verschwunden. Ihr Kinn war rundlicher, die Wangen nicht mehr so hohl, sondern von zarter Fülle. Zwar trug sie immer noch Rouge und einen kräftig roten Lippenstift, aber die Schminke wirkte nun nicht mehr so grell. Allmählich gewöhne ich mich wohl daran, dachte Meggy und lächelte. „Meggy", flüsterte Tante Dora, „bleibst du bei mir?" Meggy ließ sich in dem Schaukelstuhl nieder, lehnte sich zurück und schloss die Augen. „Ich bin so müde, Tante Dora." „Ich weiß, ich weiß", antwortete die Stimme, und aus weiter Ferne ertönte nachhallendes, leises Lachen. „Ich weiß..." „Hast du es auch gehört?" flüsterte Meggy. Sie richtete sich verstört ein wenig auf, öffnete aber nicht die Augen. „Ich höre es ständig, Tante Dora. Du auch?" Ob Tante Dora antwortete, bekam sie nicht mehr mit, weil sie schon tief und fest eingeschlummert war. Lautes Bellen weckte Meggy auf. Zuerst glaubte sie, dass es zu ihrem Traum gehörte, aber als die Wirklichkeit langsam wieder in ihr Bewusstsein drang, verstummte das Bellen immernoch nicht. Es wurde vielmehr noch lauter. War es Beau? Meggy richtete sich mühsam auf. Ihre Glieder waren schlaff, ihr Kopf fühlte sich bleiern an. Sie mochte sich nicht rühren. Nur noch schlafen. Das Bellen wurde immer aufgeregter. Es schien ganz aus der Nähe zu kommen. Beau musste direkt unter dem -Schlafzimmerfenster sein. Meggy stand auf und sah nach. Tante Dora schlief friedlich, mit einem verträumten La-
cheln auf den Lippen. Sie sah aus wie ein ältliches, schlafendes Dornröschen. Was für Erinnerungen mochten im Traumland des Schlafes in ihr aufsteigen? Dachte sie an eine lang vergangene Jugendliebe? An ihre frühere Schönheit? Sie sah so glücklich aus, dass Meggy sie fast beneidete. Der Regen hatte für eine Weile aufgehört, aber Meggy wusste, dass das Unwetter noch nicht endgültig vorüber war. Während sich die Dämmerung auf den Bayou senkte, grollte und rumpelte der Donner noch immer, und die Blätter der Bäume schauderten. Der Wind fegte abgerissene Zweige durch den Garten. Die ganze Landschaft war in ein gespenstisches Licht getaucht. Sie sah irgendwie unwirklich aus wie ein ... Wie ein Foto, dachte Meggy. Wie ein altes, verblichenes Schwarzweißfoto. Mit den Augen suchte Meggy den Garten, das Gebüsch und den Bayou nach dem Hund ab. Ganz bestimmt hatte sie ihn bellen hören, aber entdecken konnte sie ihn nirgends. Doch dann hörte sie ihn wieder. Diesmal kam das Bellen von weither und verriet Todesangst. Meggy stützte sich an den Wänden ab, um nicht zu taumeln, und schleppte sich, so schnell sie konnte, nach unten. Ihre Bewegungen waren unsicher, Sie kam nur langsam vorwärts. Ich darf nicht mehr so viel schlafen, ermahnte sie sich, als sie die Hintertreppe hinabstolperte. Aber sie wusste, dass sie nicht anders konnte. Diese übermächtige Müdigkeit konnte sie einfach nicht überwinden. Im Garten war es hell genug, so dass sie ihren Weg fand, obwohl ihr die windgepeitschten Bäume zuckende Schatten vor die Füße warfen. „Beau!" Sie legte die Hände wie einen Trichter \/or den Mund und rief nach ihm. Dann pfiff sie. „Beau, bist du da draußen?Komm her!"
Er bellte. Sie glaubte zumindest, ein Bellen zu hören. Das Geräusch war so schwach und so weit entfernt, dass sie es kaum noch vernahm. Meggy versuchte, ihre Schritte zu beschleunigen, aber die huschenden Schatten brachten sie durcheinander, und sie stolperte immer wieder. Sie rief aus Leibeskräften nach dem Hund und spitzte die Ohren gegen den Wind, um sein Antwortbellen zu hören oder überhaupt irgendein Geräusch ... Am Rande des toten Waldes blieb Meggy unvermittelt stehen. Die Bäume knisterten und knarrten, und der Wind heulte so dumpf zwischen den morschen Ästen, als käme er aus einer tiefen, schwarzen Höhle. Ja, der gesamte Wald erinnerte sie an eine finstere Höhle aus Baumrinde und Moos und zeitlosem Zerfall. Eine Höhle von bedrohlicher Fremdartigkeit. Eine Höhle ohne Wiederkehr. Dann hörte sie es wieder, und diesmal ließ es ihr beinah das Blut in den Adern gefrieren. Es war ein Heulen, ein langes, klägliches Aufheulen voller Schrecken und Schmerz. „Beau!" schrie Meggy. Ohne zu überlegen, rannte sie in den toten Wald hinein und stieß auf den verborgenen Pfad, der tiefer in die Dunkelheit hineinführte. Sie schob die schuppigen Äste aus dem Weg, die an ihren Haaren zerrten und ihr das Gesicht zerkratzten, und schrie immer wieder Beaus Namen. Doch so flehentlich sie auch nach ihm rief, der Hund antwortete nicht mehr. Sie stolperte und wäre beinah gestürzt. Ihr Atem ging keuchend, und nur mit äußerster Kraftanstrengung konnte sie sich zum Weiterlaufen zwingen. Plötzlich stach etwas in ihren Arm. Feuchtes Moos schlang sich um ihren Hals. Sie riss es fort und schleuderte es zu Boden. Hastig stürzte sie vorwärts und flehte innerlich, dass es noch ein wenig hell blieb und sie nicht in der fürchterlichen Dunkelheit verloren wäre.
schreien hörte. Du bist ohnmächtig geworden, und ich hab dich hierher gebracht." Jetzt erst fiel Meggy auf, dass sie sich in Esthers Wohnzimmer befand. Dann aber schauderte sie und versuchte, sich aus Alex' Armen zu befreien. „Du lügst. Du hast versucht, mich umzubringen." Inzwischen wares ihr gleichgültig, ob er erfuhr, dass sie alles über ihn wusste. Sollte er tun, was er wollte. Sie war zu müde, um sich weiterhin gegen ihn zu wehren. Alex seufzte bekümmert auf und hielt sie auf Armeslänge von sich. „Glaubst du das allen Ernstes?" „Was sonst sollte ich denn glauben"? Warum hast du mich hierher gebracht? Warum bin ich nicht in Tante Doras Haus?" „Meggy, hör mir gut zu." Alex schüttelte sie sanft. „Hier geht etwas Furchtbares vor, und wir müssen schnellstens herausfinden, was es ist, bevor es dich umbringt." „Mich umbringt? Wer? Was redest du da?" „Hier", sagte er widerstrebend. „Schau dich doch an." Meggy blickte ihm misstrauisch nach, als er etwas vom Tisch holte. Es war ein Handspiegel. Er hielt ihn ihr mit entschlossener Miene hin. „Mach schon", wiederholte er. „Schau dich an." Langsam nahm Meggy den Spiegel entgegen und hielt ihn sich vors Gesicht. Als sie ihr Spiegelbild sah, weiteten sich ihre Augen vor Entsetzen. „Oh nein!" schrie sie auf. „Alex! Mein Gott, Alex, was ist mit mir?" Das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegensah, hatte sie noch nie gesehen, und dennoch war es ihr erschreckend vertraut. Es war ein müdes, abgehärmtes, hoffnungsloses Gesicht mit glanzlosen Augen, eingefallenen Wangen und deutlichen Falten. Es war das Gesicht einer viel, viel älteren Meggy, einer Meggy, die kraftlos dahinsiechte ... „Das glaube ich einfach nicht!" schrie sie. „Alles Schwindel! Das ist doch nur ein gemeiner Trick von dir.
Nimm das weg!" Wutentbrannt warf sie den Spiegel nach ihm. Alex duckte sich rechtzeitig, und das Glas zersplitterte an der gegenüberliegenden Wand. „Meggy! Meggy, sei doch vernünftig, und hör mir zu!" Alex packte ihre Hände und hielt sie ihr vors Gesicht, so dass sie gezwungen war, die blauen, knotigen Adern unter ihrer seltsam wachsartigen Haut zu betrachten, die dünnen, knochigen Finger und die stumpfen Fingernägel. Ihre Hände waren eiskalt. Meggy schrie wieder auf und stieß Alex mit aller Macht von sich. „Schau mich nicht an! Du Mörder!" „Meggy!" Alex warf sie auf das Sofa und hielt sie mit eiserner Umklammerung fest. Schließlich gab sie den Kampf auf und ließ ihren Tränen der Verzweiflung freien Lauf. „Meggy, du musst mir endlich glauben", sagte Alex leise und streckte die Hand aus, um ihre Wange zu streicheln. Meggy drehte heftig den Kopf zur Seite. „Meggy, du hast Recht. Es ist wirklich ein übles Spiel, aber es stammt nicht von mir. Bitte. Du musst mir glauben. Wenn du das nicht tust, kommen wir niemals heraus aus dieser Falle. Das, was jetzt mit dir geschieht, hat mit Doc zu tun, das könnte ich beschwören!" „Woher willst du das wissen"?" schluchzte Meggy. „Wie kannst du so sicher sein?" „Ich weiß es eben." Seine Stimme wurde leise und eindringlich, und er schlug die Augen nieder. „Ich weiß es, weil Anna ... Sie hat genau das Gleiche durchgemacht wie du jetzt." Seine Worte versetzten Meggy einen tiefen Schock. Flehentlich drang er weiter in sie: „Ich brauche deine Hilfe! Bitte, Meggy, vertrau mir doch!" Als er sie so bittend und beschwörend ansah, schlug Meggy beide Hände vors Gesicht. In seinen Augen hatte sie tiefes Mitgefühl gesehen, aber war es echt? Durfte sie ihm vertrauen?
Mit einem entsetzten Aufschrei zerrte sie eine verdorrte Ranke von sich, die sich um ihre Hüfte geschlungen hatte. Um ein Haar wäre sie dabei gefallen, wenn sie sich nicht in letzter Sekunde an einem morschen Baumstamm hätte festhalten können. Sie hatte Seitenstiche vom Laufen, und ihre Augen brannten vom Schweiß und von Tränen der Verzweiflung. Wenn er nur bellen würde! „Beau!" schrie Meggy. „Bitte, Beau, wo steckst du?" Ganz in der Nähe hörte sie Geräusche. Ein Zischeln ... Sie kämpfte sich so mühsam durch das Gestrüpp, dass sie beinah darauf getreten hätte. Ihr Fuß stieß gegen etwas. Sie blickte zu Boden. Vor ihr lag Beau, regungslos ausgestreckt, fast vollständig bedeckt von einer sich windenden, schlängelnden Masse von Mokassinschlangen. Meggy schrie, schrie und taumelte zurück, stützte sich an einem Baum ab und bemerkte zu spät die lautlose, sich windende Bewegung ganz dicht an ihrer Wange. Als sie die Schlange schließlich entdeckte, die sich neben ihr von einem Ast herabgelassen hatte, sah sie bereits das weit aufgerissene Maul, das im nächsten Augenblick nach ihrem Hals schnappen würde. Die Schlange stieß nach vorn, vor Meggys Augen verschwamm alles, sie spürte nur noch, wie der schlüpfrige Körper sie streifte. Dann verlor sie das Bewusstsein.
9.KAPITEL
„Sprich j e t z t nicht. Bleib g a n z still liegen." E n t s e t z t riss Meggy die Augen auf. Ihre Hände fuhren an ihren Hals, als ob sie sich von einer Schlinge befreien wollt e , die gar nicht v o r h a n d e n war. Alex p a c k t e ihre Hände und hielt sie fest. Meggy w u r d e überwältigt von ihrer Verzweiflung, der Einsamkeit, der Angst, d e r Verwirrung d e r v e r g a n g e n e n T a g e , und sie schluchzte und schluchzte, als k ö n n t e sie nie wieder aufhören. „Dir ist nichts g e s c h e h e n , Meggy. Ich bin ja bei dir." Alex nahm sie in die Arme und w i e g t e sie wie ein kleines Kind, d a s Trost s u c h t e . „Beau!" b r a c h t e Meggy u n t e r Tränen hervor. Bei der Erinnerung an d e n g r a u e n h a f t e n Anblick versteifte sich ihr Körper. „Ich weiß." Alex strich ihr t r ö s t e n d ü b e r s Haar. Seine S t i m m e verriet, wie s e h r ihm d e r Hund Leid t a t . „Und die Schlange! Sie h a t mich gebissen! M u s s ich j e t z t s t e r b e n ? " Meggy k o n n t e ihre S t i m m e vor Panik und Ekel k a u m kontrollieren. Alex legte d e n Kopf an ihren. „Schschsch .... Sie h a t dich nicht g e b i s s e n . Ich h a b sie g e t ö t e t . " „Du ..." Meggys Schluchzen w u r d e ruhiger. Zögernd blickte sie zu Alex auf. „Du h a s t sie g e t ö t e t ? " „Hiermit." Er w i e s mit einer Kopfbewegung z u m Tisch, auf d e m sein großes M e s s e r lag. Die Schneide w a r noch blutbefleckt. „Ich w a r auf d e r S u c h e nach Beau, als ich dich
schreien hörte. Du bist ohnmächtig geworden, und ich hab dich hierher gebracht." Jetzt erst fiel Meggy auf, dass sie sich in Esthers Wohnzimmer befand. Dann aber schauderte sie und versuchte, sich aus Alex' Armen zu befreien. „Du lügst. Du hast versucht, mich umzubringen." Inzwischen wares ihr gleichgültig, ob er erfuhr, dass sie alles über ihn wusste. Sollte er tun, was er wollte. Sie war zu müde, um 'sich weiterhin gegen ihn zu wehren. Alex seufzte bekümmert auf und hielt sie auf Armeslänge von sich. „Glaubst du das allen Ernstes?" „Was sonst sollte ich denn glauben? Warum hast du mich hierher gebracht? Warum bin ich nicht in Tante Doras Haus?" „Meggy, hör mir gut zu." Alex schüttelte sie sanft. „Hier geht, etwas Furchtbares vor, und wir müssen schnellstens herausfinden, was es ist, bevor es dich umbringt." „Mich umbringt? Wer? Was redest du da?" „Hier", sagte er widerstrebend. „Schau dich doch an." Meggy blickte ihm misstrauisch nach, als er etwas vom Tisch holte. Es war ein Handspiegel. Er hielt ihn ihr mit entschlossener Miene hin. „Mach schon", wiederholte er. „Schau dich an." Langsam nahm Meggy den Spiegel entgegen und hielt ihn sich vors Gesicht. Als sie ihr Spiegelbild sah, weiteten sich ihre Augen vor Entsetzen. „Oh nein!" schrie sie auf. „Alex! Mein Gott, Alex, was ist mit mir?" Das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegensah, hatte sie noch nie gesehen, und dennoch war es ihr erschreckend vertraut. Es war ein müdes, abgehärmtes, hoffnungsloses Gesicht mit glanzlosen Augen, eingefallenen Wangen und deutlichen Falten. Es war das Gesicht einer viel, viel älteren Meggy, einer Meggy, die kraftlos dahinsiechte ... „Das glaube ich einfach nicht!" schrie sie. „Alles Schwindel! Das ist doch nur ein gemeiner Trick von dir.
Nimm das weg!" Wutentbrannt warf sie den Spiegel nach ihm. Alex duckte sich rechtzeitig, und das Glas zersplitterte an der gegenüberliegenden Wand. „Meggy! Meggy, sei doch vernünftig, und hör mir zu!" Alex packte ihre Hände und hielt sie ihr vors Gesicht, so dass sie gezwungen war, die blauen, knotigen Adern unter ihrer seltsam wachsartigen Haut zu betrachten, die dünnen, knochigen Finger und die stumpfen Fingernägel. Ihre Hände waren eiskalt. Meggy schrie wieder auf und stieß Alex mit aller Macht von sich. „Schau mich nicht an! Du Mörder!" „Meggy!" Alex warf sie auf das Sofa und hielt sie mit eiserner Umklammerung fest. Schließlich gab sie den Kampf auf und ließ ihren Tränen der Verzweiflung freien Lauf. „Meggy, du musst mir endlich glauben", sagte Alex leise und streckte die Hand aus, um ihre Wange zu streicheln. Meggy drehte heftig den Kopf zur Seite. „Meggy, du hast Recht. Es ist wirklich ein übles Spiel, aber es stammt nicht von mir. Bitte. Du musst mir glauben. Wenn du das nicht tust, kommen wir niemals heraus aus dieser Falle. Das, was jetzt mit dir geschieht, hat mit Doc zu tun, das könnte ich beschwören!" „Woher willst du das wissen?" schluchzte Meggy. „Wie kannst du so sicher sein?" „Ich weiß es eben." Seine Stimme wurde leise und eindringlich, und er schlug die Augen nieder. „Ich weiß es, weil Anna ... Sie hat genau das Gleiche durchgemacht wie du jetzt." Seine Worte versetzten Meggy einen tiefen Schock. Flehentlich drang er weiter in sie: „Ich brauche deine Hilfe! Mitte, Meggy, vertrau mir doch!" Als er sie so bittend und beschwörend ansah, schlug Meggy beide Hände vors Gesicht. In seinen Augen hatte sie tiefes Mitgefühl gesehen, aber war es echt? Durfte sie ihm vertrauen?
„Das bedeutet also, dass ich sterben muss", sagte sie heiser. „Wie hältst du es überhaupt aus, mich anzusehen?" „Was ich jetzt vor mir sehe, ist ja nicht die wahre Meggy. Die wahre Meggy steckt in dir drin. Auf Äußerlichkeiten lege ich sowieso keinen großen Wert. Und die wahre Meggy habe ich sehr, sehr gern." Eine lange Weile herrschte tiefstes Schweigen. Meggy zitterte \/or Angst am ganzen Körper, und unablässig flossen Tränen über ihre Wangen. Mit ihnen zerfloss der letzte Rest von Widerstand in ihr. „Ich möchte ... ich möchte dir gern glauben", stieß sie unter heftigem Schluchzen hervor. „Dann tu's! Hab Vertrauen zu mir!" „Ach, Alex, ich will nicht sterben!" „Du wirst nicht sterben ... nicht wenn ich es irgendwie verhindern kann!" „Aber Anna konntest du auch nicht retten!" „Damals wusste ich noch nicht, was ich heute weiß. Ich konnte mir nicht erklären, was mit Anna geschah. Glaub mir, bitte, Meggy!" Sie war so unsagbar müde. Und sie schämte sich. Von Anfang an hatte sie Alex misstraut. Er jedoch blieb bei ihr, obwohl sie so hässlich aussah, und versprach ihr seine Hilfe. Sie verbarg das Gesicht in den Händen. „ich verstehe das nicht." Meggy schüttelte den Kopf. „Ich begreife überhaupt nichts mehr. Das ist doch alles unmöglich. Bin ich ... bin ich denn verrückt?" „Nein. Schau mich an, Meggy. Wenn es dir lieber ist, mache ich auch das Licht aus." Sie nickte und nahm zögernd die Hände vom Gesicht. „Wo ist Esther?" fragte sie. „Sie kauft frische Vorräte ein. Es dauert mindestens noch eine Stunde, bis sie zurückkommt." „Aber ich kann nicht hier bleiben. Tante Dora ..." „Oh ja, Tante Dora!" brauste Alex wütend auf. „Glaub mir, deine Tante Dora kann dich ruhig ein Weilchen entbehren!"
„Nein, Alex, sie ist noch so schwach. Sie braucht mich." „Eben, sie braucht dich", wiederholte er höhnisch. „Sie braucht dich wahrhaftig, und zwar dringender, als du ahnst." „Wie meinst du das?" „Ich hätte es von Anfang an wissen müssen. Ich hätte die Zusammenhänge erkennen müssen, denn all das ist ja schon einmal passiert ." „Alex, sag mir endlich, wovon du redest!" „Nun sei bitte ganz ehrlich, Meggy. Ist in Tante Doras Haus etwas Ungewöhnliches vorgefallen, seit du dort bist?" Meggy zögerte und fing erneut an zu weinen, als all die fürchterlichen Erinnerungen mit neuer Macht auf sie einströmten. „Ich hätte es wirklich keinem Menschen sagen können ... ich dachte, es läge an mir", sprudelte es schließlich aus ihr hervor. „Ich dachte, ich wäre verrückt, und Doc sagte, es läge an der Hitze, und ich dürfte dir nicht trauen, weil du psychisch gestört wärest ... und mir hätte sowieso keiner geglaubt ... oh, ich hatte solche Angst!" Alex nahm sie in die Arme. Er unterbrach sie nicht, sondern ließ sie reden, bis sie nicht mehr weiterwusste. Sie erzählte ihm alles, was sie erlebt hatte, alles über die Gestalt am Fenster, über die Fotos, über das leise Lachen, darüber, wie sie sich in den Finger geschnitten hatte und ihr Blut auf das Bild getropft war, wie sie mit eigenen Augen die Veränderung gesehen hatte, die daraufhin mit dem Foto vorgegangen war, von dem gespenstischen Schirmt ner und Pulsieren in den Nächten, und sogar von den Warnungen vor Alex' angeblichem Geisteszustand, die Doc ausgesprochen hatte. „Deshalb hatte ich auch solche Angst vor dir. Doc hat gesagt, du wärst verrückt - und ein Mörder. Er deutete an, dass du selbst deine Schwester umgebracht hättest. Und als Mom dann an denn verabredeten Abend nicht anrief, dachte ich, ich wäre dir in die Falle gegangen. Du wolltest mich allein auf den Bayou hinauslocken, und dann kam der
Bootsunfall dazu ..." „Natürlich." Alex seufzte und streichelte unentwegt ihren Rücken. „Aber verstehst du jetzt endlich? Ich möchte wetten, dass deine Mutter Doc überhaupt nicht angerufen hat. Er wollte, dass ich es dir sage, damit ich mich verdächtig machte, wenn dann gar kein Anruf kam." „Warum sollte er so etwas tun?" wunderte sich Meggy. „Weil er weiß, dass ich ihm auf die Schliche kommen will, und weil er mich deshalb zum Schweigen bringen muss", erklärte Alex. „Oder er muss mich ganz aus dem Weg räumen. Seit wann fühlst du dich so schlapp?" Meggy berichtete ausführlich über ihre unerklärlichen Erschöpfungszustände und ihre Appetitlosigkeit. Sie gab sogar zu, dass die Veränderung in ihrem Gesicht ihr schon früher aufgefallen war. „Aber als ich heute Morgen aufstand, sah ich noch nicht so furchtbar aus!" versicherte sie. „Du glaubst mir das doch, nicht wahr?" „Und wie gehts Tante Dora?" „Ihr Zustand hat sich derartig gebessert, dass es schon an ein Wunder grenzt. Alex, sie sieht auf einmal so unglaublich ... verjüngt aus!" „Genau das hat Anna auch gesagt. Dass sie sich plötzlich über Nacht verjüngt hätte. Anna wurde dagegen immer schwächer und schwächer." „Wie?" „Augenblick, ich will dir was zeigen." Er ging wieder zum Tisch, kramte in einer kleinen Schublade an der Seite, holte ein Foto heraus und reichte es Meggy. Sie starrte es ungläubig mit offenem Mund an. „Oh nein! Das ist ja grauenhaft!" „Nicht wahr?" sagte Alex bitter. „Wie du. Nur noch schlimmer. Wie eine uralte Frau." Meggy starrte unverwandt das Foto an, das ein Mädchen auf den Treppenstufen zu Tante Doras Haus zeigte. Wenn sie nicht gewusst hätte, dass es ein Bild von Anna war,
hätte sie nie geglaubt, dass das alte, verhutzelte Gesicht einer Sechzehnjährigen gehören sollte. Es war runzlig und übersät von Altersflecken, die Hände waren knotig von Gicht, die Haare schlohweiß. „Sie war so alt wie du", sagte Alex. „Sechzehn." . Meggy betrachtete ihre Hände. Noch waren sie nicht so verkrümmt. Sie drehte sich zum Wandspiegel um, nahm eine Locke von ihrem Haar zwischen die Finger und untersuchte sie genauestens. Zwar war ihr Haar noch braun, aber zu ihrem Schrecken fand sie auch schon ein paar silbergraue Fäden. Sie griff wieder nach dem Foto. „Zu welchem Zeitpunkt ist Anna fotografiert worden"?" „Am Tag vor ihrem Verschwinden. Sie war furchtbar müde und wollte nur noch schlafen. Und jedes Mal, wenn sie wach wurde, war sie ein bisschen älter geworden, ein bisschen kraftloser, ein bisschen hässlicher." Seine Stimme versagte, und er senkte den Kopf. „Was machte sie in Tante Doras Haus?" fragte Meggy leise. „Sie arbeitete dort." Alex blickte ihr offen in die Augen. „Tante Dora hatte einen Herzanfall, und Anna hat sich um sie gekümmert, solange sie krank war." Ein eisiger Schauer überlief Meggy. Das Foto zitterte in ihrer verkrampften Hand. „Es war Docs Vorschlag. Er hat alles geregelt." Alex lachte bitter. „Tante Dora war ein richtiger Menschenfeind. Doc war der Einzige, den sie in ihrer Nähe duldete. Aber weil Doc ja nicht rund um die Uhr bei ihr sein konnte, stimmte sie schließlich seinem Vorschlag zu und nahm Anna ins Haus. Außerdem brauchte Anna Geld. Sie träumte schon lange davon, eines Tages in die Stadt zu ziehen und zu studieren. Doc behauptete, Anna wäre die beste Medizin für Tante Dora. Wir hatten die Frau noch nie gesehen. Kein Mensch bekam sie je zu Gesicht. Aber Esther vertraute Doc blindlings und gab Anna die Erlaubnis, zu Tante Dora zu ziehen."
Ein angespanntes, gequältes Schweigen hing für eine Weile zwischen ihnen. „Damals ahnte ich schon, dass irgendwas nicht mit rechten Dingen zuging, aber ich konnte nichts beweisen", fuhr Alex schließlich verbittert fort. „Ich wusste, dass Doc etwas Böses im Schilde führte. Er hat nicht einen einzigen Versuch unternommen, Anna zu helfen. Nachdemi er sie in seine Gewalt bekommen hatte, hat er sie langsam umgebracht." Urplötzlich überkam Meggy ein wilder, unerklärlicher Drang, laut aufzulachen. Das alles konnte doch nur ein lächerliches Hirngespinst sein! „Nein, das ist doch einfach Unsinn ..." Alex drehte sich ruckartig zu ihr um. „Du hast dich im Spiegel gesehen. Ergibt es etwa einen Sinn, dass du von einem Tag auf den anderen zu einer alten Frau geworden bist? Das hat Doc dir angetan. Es geht dir genauso wie Anna. Wir müssen Doc das Handwerk legen, bevor alles zu spät ist. Wie lange bist du jetzt schon hier?" Meggy dachte nach. Die Zeit am Bayou kam ihr vor wie eine Ewigkeit, aber sie wusste, dass es sich lediglich um wenige Tage handelte. „Hm, seit vier Tagen." „Anna hat etwa drei Wochen bei Tante Dora gearbeitet, bevor sie' verschwand. Sie war nach Hause gekommen, um ein paar Sachen zu holen, und ich hab sie mit dem Boot zurückgebracht. Am Anleger vor Doras Haus hab ich sie abgesetzt, und ich sehe sie noch vor mir, wie sie mir nachwinkte. Danach hab ich sie nicht mehr lebend gesehen." „Doc sagte, dass man sie im Fluss gefunden hat." Alex nickte. „Ja, drei Tage später. Es stimmt, ich bin an jenem Tag allein nach Hause zurückgekommen. Aber es war kein Unfall. Anna war eine ausgezeichnete Schwimmerin, und sie kannte den Bayou in- und auswendig. Allerdings war sie natürlich schon sehr, sehr schwach, und ich weiß nicht, ob sie in ihrem Zustand noch schwimmen konnte," „Es tut mit so Leid." „Hat Doc dir auch alles erzählt"?" Alex' Stimme klang hart
und hasserfüllt. „Hat er dir erzählt, wie ihre Leiche aussah, als sie sie endlich gefunden und in ihren schlammigen Netzen an Land gezogen hatten? Hat er dir gesagt, dass sie über und über von Schlangenbissen bedeckt war und so aufgetrieben und verquollen und entstellt, dass wir sie kaum ..." „Bitte nicht, Alex!" Diesmal streckte Meggy die Arme nach ihm aus und umschlang ihn tröstend, während er ein paar Mal tief Luft holte und die Hände zu Fausten ballte. Die Vorstellung von Annas Tod war so grauenhaft, dass Meggy die Augen schloss und ihren Kopf an Alex' Rücken lehnte. Erst Anna, und jetzt Beau. Sie wünschte sich sehnlichst, aufwachen zu können und festzustellen, dass alles nur ein fürchterlicher Albtraum gewesen war. „Tante Dora hat sich nicht einmal bei uns gemeldet, nachdem man Anna gefunden hatte." Alex rieb sich müde die Augen. „Doc sagte uns, dass Annas Tod ein schlimmer Schock für sie war. Zum Begräbnis kam Doc in Begleitung einer Frau. Sie standen sehr weit von uns entfernt, und außerdem trug die Frau einen dichten schwarzen Schleier vorm Gesicht. Vielleicht war es Tante Dora, aber das kann ich nicht mit Sicherheit sagen." Meggy nickte nur. Sie wusste nicht, was sie darauf saqen sollte. „Hast du Doc und Tante Dora je miteinander reden hören, seit du hier bist?" Alex sprach nun wieder ganz ruhig und hatte sich aufgerichtet. „Nein. Doc hat sich immer mit ihr eingeschlossen." Zögernd fuhr Meggy mit der Hand über ihre Wange. „Alex, was meinst du? Gibt es noch Hoffnung für mich? Kann ich geheilt werden? Ich will nicht sterben, und ich will nicht mein Leben lang so alt aussehen. Ach, Alex, ich kann ein-ach nicht glauben, dass all das wirklich geschieht! Es ist zu furchtbar!" „Du wirst es glauben, wenn ich dir etwas zeige", sagte er sehr ernst. „Fühlst du dich kräftig genug für einen kurzen Fußmarsch?"
,,Ja,aber...."
„Dann lass uns zurückrudern zu Tante Doras Haus. Ich werde dich davon überzeugen, dass hier etwas Teuflisches vor sich geht." Mit schleppendem Gang folgte Meggy Alex zum Anlegesteg und ließ sich von ihm ins Boot helfen. Lange Zeit sprach keiner von beiden ein Wort. Das Wasser des Bayous war ungewöhnlich aufgewühlt. Noch immer zuckten Blitze über den düsteren Himmel, und jenseits des schwarzen Horizonts grollte der Donner. Als sie bei Doras Haus am Ufer anlegten, nahm Alex Meggys Hand, warf einen besorgten Blick auf das Haus und führte sie dann zum toten Wald. Meggy fröstelte. Kalte Angst stieg in ihr auf. „Nein, Alex, nein! Das kann ich nicht! Ich kann nicht noch einmal in den Wald ..." „Du musst. Du musst es mit eigenen Augen sehen, damit du ..." „Nein! Nein, ich geh nicht mit!" Wieder sah sie im Geiste Beaus Leiche unter dem Gewimmel von Schlangen vor sich. Sie warf Alex einen wilden Blick zu. „Nicht nach allem, was hier passiert ist!" „Ich will doch gerade verhindern, dass noch mehr passiert!" Alex legte schützend den Arm um sie. „Ich pass auf, dass dir nichts geschieht. Ich verspreche dir ..." „Aber die Schlangen!" „Sie tun dir nichts, solange sie sich nicht bedroht fühlen. Hör mir zu, Meggy. Ich weiß, wo sie jetzt sind, und ich weiß auch, warum sie da sind." „Warum sie da sind?" Meggy sah verblüfft zu ihm hoch. „Komm mit, ich zeig es dir. Beau hat die Schlangenhöhle entdeckt und mir damit wahrscheinlich das Leben gerettet." „Ich verstehe kein Wort." „Hier im Wald gibt es etwas, wovon anscheinend kein Mensch wissen soll, außer einem ganz bestimmten. Und
der Betreffende hat dafür gesorgt, dass keiner, der zufällig auf sein Geheimnis stößt, lebend aus dem Wald herauskommt." „Meinst du ..."?" „Ich meine, dass die Schlangen in voller Absicht von jemandem hier angesiedelt worden sind. Auch wenn man sich hier nicht auskennt, muss man unweigerlich früher oder später auf die Viecher treffen. Dieser Pfad hier führt direkt zu ihnen. Ich war auf dem Weg zu dir, um dir Lebensmittel zu bringen, als Beau etwas hörte und von Bord sprang. Da hab ich rasch das Boot festgemacht und bin ihm nachgelaufen. Als ich gerade in den Wald hineinkam, hätte ich schwören können, dass ich jemanden gesehen habe. Kurz vor mir ist er im Gebüsch untergetaucht, und ich konnte nicht mehr erkennen, wer es war." Er zog düster die Augenbrauen zusammen. „Beau ist in diesen Wäldern aufgewachsen. Er kennt sich aus ... kannte sich aus." „Und du meinst, jemand hat ihn ... mit Absicht?" „Ich meine, dass dieser Jemand nach einem genau festgelegten Plan vorgeht. Und ich bin fest davon überzeugt, dass es sich um Doc handelt. Beau war verloren, sobald er den Weg entdeckt hatte. Komm, ich zeig dir, warum." „Aber du hast doch gesagt, dass der Weg direkt zu ..." „Sicher, aber wir bleiben nicht auf dem Weg, jedenfalls nicht bis zum Schluss." Meggy zitterte so heftig, dass sie kaum einen Fuß vor den anderen setzen konnte. Alex ging voran und führte sie nach einer Weile vom Pfad fort in den dichten Wald hinein. Erst jetzt schaltete er seine Taschenlampe an und schwang sie in weitem Bogen vor sich hin und her. Verkrümmte Äste versperrten den Weg, das filzige Moos, das von den Bäumen herabhing, blieb wie eine Schar hungriger Blutegel an ihren Armen kleben. „Bleib ganz dicht hinter mir", befahl Alex, und Meggy griff nach seiner Hand. Ihr Herz klopfte so heftig, als wolle es zerspringen. Sie war sicher, dass Alex es pochen hörte. Das Zirpen der Grillen klang wie das Kreischen einer weit
entfernten Säge aus dem Dunkel. Oben in den Bäumen schlüpften unsichtbare Beobachter heimlich von Ast zu Ast. Ein lauter Donnerknall ließ den Boden erzittern, und vom Bayou her drangen übel riechende, graue Nebelschwaden in den toten Wald hinein. Meggy hatte das Gefühl, dem Wahnsinn nahe zu sein. Keinen Augenblick länger konnte sie die Spannung ertragen. Bei jeder Bewegung, jedem Geräusch zuckte sie zusammen. Ein Schrei steckte in ihrer Kehle, der jeden Moment losbrechen konnte, ob sie es wollte oder nicht. Da blieb Alex stehen. Behutsam, unendlich behutsam trat er zur Seite und zog Meggy leise nach rechts mit sich fort. Und dann sah Meggy, was er ihr hatte zeigen wollen. An dieser Stelle sah der Weg auf den ersten Blick so aus, als sei er über und über von Lianen und Ranken überwuchert. Doch als das Licht der Taschenlampe auf den Boden fiel, bemerkte Meggy, dass sich dort etwas regte, zuerst nur eine der Ranken, dann noch eine und noch eine, als wäre ein Windstoß in das Gewirr gefahren, den sie selbst nicht gespürt hatte. Es waren keine Ranken, sondern Schlangen, zwanzig, dreißig ... Meggy konnte nicht sagen, wie viele es waren, weil sie in einem unentwirrbaren Knäuel in Knöchelhöhe durcheinander wimmelten und wie ein unregelmäßiges Gewebe aus schlüpfrigen Leibern vor dem Lichtstrahl in den Schatten flüchteten. Meggy presste die Hand vor den Mund, um den Schrei zu ersticken, der in ihr hochstieg. Sie wagte nicht, auch nur einen Laut von sich zu geben. Sie standen auf einer kleinen Lichtung von kaum zehn Metern im Durchmesser, die von dichten Bäumen umgeben war. Die dunklen Stämme mit schuppiger Borke verliehen dem Platz den Anschein eines finsteren Raumes, der von allen Seiten von Vorhängen aus Moos verhangen war. Es war so totenstill, dass Meggy den Atem anhielt. Das unheimliche Gefühl, einen verbotenen Ort betreten zu ha-
ben, beschlich sie. Sie fühlte sich wie in einem vergessenen, zerfallenen Heiligtum grausamer, unbekannter Götzen. Sie sah sich um und entdeckte noch etwas. Genau in der Mitte der Lichtung, dort, wo der verschlungene Pfad unvermittelt aufhörte, stand ein Grabmal. Meggy schnappte entsetzt nach Luft. Sie hatte die Friedhöfe von New Orleans gesehen, wo die Toten respektvoll in überirdischen, steinernen Grabkammern beigesetzt wurden. Diese Art der Bestattung war notwendig, weil das Land teilweise tiefer als der Meeresspiegel lag. Wenn man Gräber in die Erde schaufelte, füllten sie sich sogleich mit Grundwasser. Dieses Grab war jedoch nicht zu vergleichen mit den gepflegten, blumengeschmückten Gedenkstätten, die sie damals mit ihrer Mutter in der Stadt gesehen hatte. Die Grabkammer zerfiel schon, neigte sich zu einer Seite und war überwuchert von Lianen und verfaulenden Schlingpflanzen. Und Schlangen. Einige lagen zusammengerollt neben den steinernen Wänden, andere hoben aufgestört die Köpfe und blickten den Störenfrieden aus kalten Augen entgegen. Wieder andere hingen wie dicke Seile von den Mauern der Grabstätte herab und lauerten. Unwillkürlich musste Meggy beim Anblick dieser Szene an die grässlichsten Horrorfilme, die unheimlichsten Gruselromane denken. Doch das hier war kein Horrorfilm. Es war Wirklichkeit. „Komm", flüsterte Alex. Bevor Meggy sich widersetzen konnte, hatte er sie schon näher zu sich herangezogen und ließ den Lichtstrahl über das Grab gleiten, so dass die Schlangen verstört und wütend zurückwichen. An der einen Seite der Grabkammer klaffte ein schwarzes Loch - der Eingang zum Tode -, durch das der Sarg zur letzten Ruhe in die Kammer geschoben wurde, bevor man die Öffnung auf immer verschloss.
Doch diese Öffnung war nicht versiegelt. „Nein ... bitte nicht ..." Meggys Augen in ihrem alten Gesicht wurden riesengroß. Doch als der Strahl der Taschenlampe über das gähnende Loch fuhr, entdeckte sie keine menschlichen Überreste im Innern der Kammer, nicht einmal den kleinsten Splitter eines Sarges. Nichts außer einem wimmelnden Gewirr von Schlangen. Erst nach einer Weile wurde Meggy bewusst, dass Alex sie sanft angestoßen hatte. Sie blickte hoch und folgte der Richtung, in die sein Finger deutete. Oberhalb der Graböffhung erkannte sie eine schlichte Holztafel. Die eingravierten Buchstaben darauf waren zwar verwittert, aber dennoch mit erschreckender Deutlichkeit zu entziffern, als ein weiterer Blitz vom Himmel zuckte und sekundenlang die tiefe Schwärze unter den Bäumen durchdrang. „Dora Monroe", flüsterte Meggy. Ihre Knie drohten nachzugeben, und sie klammerte sich Halt suchend an Alex. Er nickte. „Sie ist vor zwanzig Jahren gestorben."
10. KAPITEL „Was machen wir jetzt?" fragte Meggy in panischer Angst. „Du musst so schnell wie möglich fort von hier. Komm." Während sie Alex' sicheren Schritten folgte, versuchte Meggy mit aller Kraft, das Schreien der Stimme in ihrem Kopf zum Schweigen zu bringen. Nein! Das ist alles nicht wahr! dachte sie. Dann rannten beide, rannten, so schnell ihre Füße sie tragen konnten, durch den dunstigen Wald, durch den schlimmsten Albtraum, obwohl es keiner war, rannten zurück zum Boot. Es war nicht mehr da. Alex blieb wie angewurzelt am Anleger stehen und fluchte leise. Hinter ihnen knackte ein Zweig, und gleichzeitig fuhren beide herum, um ihrem Schicksal ins Auge zu blicken. „Ihr wollt schon aufbrechen"?" Doc lächelte süßlich. „In einer so unfreundlichen Nacht wie heute"? Natürlich denke ich nicht einmal im Traum daran, euch jetzt noch gehen zu lassen." Gedankenverloren fuhr seine Hand an seinen Hals, und er streichelte den weißen Stein. „Denn wenn euch etwas zustoßen sollte, könnte ich es mir nie verzeihen. Auch Dora würde es mir ihr Leben lang übel nehmen." Meggy blickte verzweifelt an ihm vorbei und suchte einen Fluchtweg. Sie unterdrückte einen angstvollen Aufschrei. Da, am Fenster im Obergeschoss, war sie wieder. Die Gestalt, die sie beobachtete. Auf sie wartete. Docs Augen folgten ihrer Blickrichtung zum Fenster. Ein
hinterhältiges Lächeln trat auf sein Gesicht. „Ja, sie wartet. Sie wartet auf dich. Schon seit dem Tag deiner Ankunft wartet sie auf dich." Alex machte verstohlen einen Schritt nach vorn, aber Doc hob die Hand. Eine Pistole blitzte auf. „Keine Zauberkräfte, Doc?" spottete Alex. Docs Augen wurden hart und böse, seine Stimme eisig. „Ihr habt noch nicht mal angefangen, dass Ausmaß meiner Kräfte kennen zu lernen! Oder sollte ich besser sagen: zu erleiden? Doch nun werdet ihr teuer für eure Dummheit bezahlen müssen." Er winkte mit der Pistole. „Wollen wir nicht lieber hineingehen? Es sieht nach Regen aus." Schweigend gingen sie zum Haus. Sie wussten, dass ihnen keine Fluchtmöglichkeit blieb. Als sie in den Hausflur traten, klammerte sich Meggy in panischer Angst an Alex fest. Das Lachen! Es kam aus dem Obergeschoss, und Meggy wusste, bevor sie noch einen Blick auf die Wand im Treppenhaus geworfen hatte, dass all die Gesichter auf den Fotos noch wirklichkeitsgetreuer aussehen würden als beim letzten Mal, da sie sie betrachtet hatte. Das Lächeln würde noch geheimnisvoller sein als vorher, denn jetzt wusste sie, dass die Gesichter sie auslachten. „Ich hatte den Eindruck, Dora", sagte Doc unerträglich heiter und freundlich, während er die Tür zu Tante Doras Zimmer öffnete und seine Gefangenen hineinschob, „dass Meggy sich ein wenig überstürzt aus dem Staub machen wollte. Und dieser junge Mann wollte ihr helfen." Das Bett war leer. Das Zimmer war erfüllt von Schatten, und nur die kleine Lampe auf dem Nachttisch verbreitete ein trübes Licht. Draußen vor den Fenstern nahm der Sommersturm an Macht zu und wehte die Vorhänge ins Zimmer, wie spitzenbedeckte Hände, die nach etwas griffen ... Plötzlich bewegte sich ein Schatten am Fenster. Eine Gestalt drehte sich um, und das Licht der Lampe beleuch-
tete ein eindeutig menschliches Gesicht. „Ja, Meggy, ich brauche dich dringend", sagte die schattenhafte Gestalt leise. „Ohne dich lässt sich der Kreis nicht schließen." Als die Gestalt in die Mitte des Zimmers vortrat, dachte Meggy, sie müsste ohnmächtig werden. Es war die Frau, deren Umriss sie gleich am Tage ihrer Ankunft gesehen hatte. Aber das war noch nicht alles. Das Gesicht war das des Mädchens auf den Fotos, das Gesicht, das Meggy im Treppenhaus ständig ansah mit seinem geheimnisvollen Lächeln, das Gesicht, das große Geheimnisse kannte und glücklich war, lebendig und jung zu sein. Denn die Frau, die vor Meggy stand, war sehr, sehr jung. Sie war ein Mädchen von sechzehn Jahren. Dora, wie sie früher ausgesehen haben musste. Bis auf das Haar. Das dichte Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel, war von grauweißen Strähnen durchzogen und bildete einen hässlichen Kontrast zur frischen Farbe des Gesichts und zu den vollen, blühenden Lippen. Den blassen, schlanken Hals umschloss ein zarter Spitzenkragen. „Ja, das Haar frischt sich immer erst zuletzt auf", sagte das junge Mädchen Dora freundlich. „Das Haar und die Körperkraft. Du bist so viel stärker als Anna. Und wenn deine Muskeln endlich nachgeben, wird es nicht allmählich geschehen wie bei ihr. Du Wirst einfach hinfallen und die Kontrolle über deine Bewegungen verlieren. Du wirst hinfallen und nie wieder aufstehen." „Hör auf!" schrie Meggy. Das ruhige, schöne Gesicht verschwamm vor ihren tränenvollen Augen. „Das kannst du mir nicht antun! Was hab ich dir denn getan?" „Was du mir getan hast, Meggy?" gurrte Tante Dora und schritt mit raschelnden Röcken zurück zum Fenster. Und plötzlich wusste Meggy, wovon sie in jener Nacht aufgewacht war, warum Tante Doras Zimmertür offen gestan-
den hatte. „Was du mir getan hast, Meggy?" wiederholte Tante Dora ihre Frage. Dann wirbelte sie herum und blitzte das Mädchen aus hasserfüllten Augen an. „Du warst so jung!" Meggy sah in ungläubigem Entsetzen, wie die Frau langsam und bedrohlich auf sie zukam. Ihre Schritte betonten jedes einzelne Wort. „Du hattest alles, was ich mir wünschte, und du wusstest es nicht einmal. So ist es immer! Diese jungen Mädchen mit ihrer Schönheit und ihren strahlenden Träumen, sie wissen nicht, was ich weiß, sie wissen nicht, wie es ist, wenn man alles hat und alles wieder verliert, für immer und ewig. Ich hab ihnen allen einen Gefallen getan, verstehst du? Auf meine Art ging es sehr schnell. Ich habe ihnen die jahrelange Angst erspart, sie mussten nicht mit ansehen, wie ihr Gesicht von Tag zu Tag mehr verfiel, wie ihr Körper steif und unbeholfen wurde, bis er schließlich völlig hilflos war, wie ihr Verstand anfing zu schrumpfen und das Gedächtnis nachließ ..." Alex zog Meggy an sich, während die schöne, alterslose Gestalt sich ihr näherte. „Du wirst es erleben, Meggy. Zuerst kommt die Müdigkeit, bis du denkst, du kannst nicht mehr, bis du dich einfach hinlegen und zu Staub werden möchtest, anstatt noch die Kraft für eine einzige, unbedeutende Bewegung aufzubringen. Zuerst verlässt dich deine Kraft, und ich sauge sie in meine Adern auf. Stück für Stück. Bald möchtest du nur noch schlafen, um nie wieder aufzuwachen. Anna hat sich nicht dagegen gewehrt. Zum Schluss hat sie sich den Tod herbeigewünscht ..." „Nein!" schrie Alex mit blitzenden Augen. „Du hast sie umgebracht. Du und Doc!" „Aber auf diese Art und Weise ist es doch völlig schmerzlos", versuchte Tante Dora ihn zu beschwichtigen und strich über die seidenweiche, glatte Haut ihres Arms. „Sie hat an meinem Bett gesessen, so wie Meggy bei mir gesessen hat. Und während sie schlief, hab ich sie in mich
aufgenommen, ihre Lebenskraft, ihren Geist! Ich war immer bei ihr. Sie konnte mir nicht entkommen. Auch meine Fotos haben sie in sich aufgenommen, jedes Mal, wenn sie die Treppe hinauf- oder hinunterging. Eines meiner Fotos hatte sie in ihrem Zimmer, genauso wie Meggy ... Und ich werde immer stärker und kräftiger, während dir das fürchterliche Gefühl erspart bleibt, in jahrelangem Verfall immer älter und älter zu werden." Doc lehnte an der Wand und strich mit den Fingern über den weißen Stein, während er ständig zur Bestätigung ihrer Worte leicht mit dem Kopf nickte. „Und dann dein Gesicht", fuhr Tante Dora fort. „Du kannst nicht mehr klar sehen. Du weißt nicht mehr, ob das, was du siehst, Wirklichkeit oder nur die Einbildung deines altersschwachen Hirns ist. Danach kommen die Falten und Runzeln, die über deine Haut kriechen wie Moos über die Bäume, bis sie welk und verrottet ist ..." „Hör auf!" Meggy schluchzte und verbarg das Gesicht in den Händen. „Hör auf!" „Ich kann dafür sorgen, dass es aufhört", sagte Doc sanft. Er hielt die Pistole nach wie vor fest in der Hand. „Ewige Jugend für deine ewige Seele - das ist doch ein kleiner Preis für dein Glück." Aiex nickte. Endlich konnte er die fehlenden Puzzlestücke einsetzen und das Bild vervollständigen. „Aber Anna wollte nicht. Deshalb haben Sie dafür gesorgt, dass sie unendlich leiden musste." „Sie hatte die Wahl." Doc hob gleichgültig die Schultern. „Sie war die Auserwählte." „Außer ihr gab es ja auch gar keine Mädchen mehr in der Gegend!" schrie Alex ihn an. „Beruhige dich doch." Doc schien belustigt. „Alle zwei Jahre kommt die Zeit zur Erneuerung. Diesmal ist Meggy die Auserwählte. Sie kann ewig leben, oder aber..." Das Zimmer fing an, sich zu drehen, und Alex konnte Meggy gerade noch auffangen, ehe sie zusammenbrach. „Es ist doch so einfach, eine von uns zu werden." Doc
lächelte nachsichtig. „Ich verstehe nicht, warum du überhaupt zögerst. Du weißt doch sicher, dass niemand ein so verunstaltetes, vorzeitig vergreistes Wesen wie dich jemals lieben könnte." „Ich will nicht!" schluchzte Meggy. Sie spürte Alex' Arme, die sie fest umschlungen hielten und stützten. „Ich will nicht eine von euch werden, und ich will nicht leben wie ihr! Ihr seid doch überhaupt nicht lebendig! Lieber will ich sterben!" „So soll es dann sein!" zischte Doc. Er wies mit einer Kopfbewegung auf die Treppe. „Wollen wir gehen? Das Ende lässt nun nicht mehr lange auf sich warten, Meggy.. Wir müssen nur noch eine kleine Formalität hinter uns bringen, und dann, das versichere ich dir, wirst du den Tod als sehnlich erwartete Erlösung sehen." „Nein!" Während sie zurückwich, stürzte Alex sich auf gen Arzt. Sie hörte den Schuss und sah Alex zu Boden stürzen. Das alles spielte sich im Bruchteil einer Sekunde ab. „Alex!" Bevor sie bei ihm war, umklammerte Doc ihre Arme wie mit Schraubstöcken und zerrte sie zur Treppe. Es hatte keinen Sinn mehr, sich zu wehren, denn wie sie sich auch bemühte, sich wand und schrie, sie war ihm hilflos ausgeliefert. Als sie durch den Garten gingen, spürte Meggy den feinen Regen auf ihrer Haut und sah einen Blitz, der den Himmel zerriss wie eine zackige Wunde. Doc schob und zerrte sie durch die Dunkelheit in den Wald hinein, wo er dem schmalen Weg sicher folgte, ohne eine Lampe, die ihm leuchtete. Hinter ihnen raschelten die Röcke eines jungen Mädchens. Um sie herum regten sich Nachttiere, die Vorboten des Todes. Während Meggy vorwärts geschleift wurde, strich der feuchtwarme Nebel über ihr Gesicht, nistete in ihrem Haar und legte klamme Fühler um ihren Hals. Meggy hoffte nur noch auf einen schnellen Tod. Alles war besser als der unfassbare Schrecken, den sie jetzt durchleben musste.
„Was ist mit dem Jungen?" fragte Tante Dora in ihrem Rücken. Sie war nicht einmal außer Atem, trotz des hastigen Fußmarsches. „Wir überlassen ihn später dem Bayou", sagte Doc ohne die geringste Spur einer Gefühlsregung. Meggys Kehle schnürte sich zusammen. Sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Durch ihre Schuld war Alex in diese Geschichte hineingeraten, durch ihre Schuld hatte er sterben müssen. Und sie musste nun ebenfalls sterben. Schließlich waren sie am Ziel angekommen. Obwohl Meggy nichts sehen konnte, wusste sie, dass die von Schlangen wimmelnde, giftige Gruft direkt vor ihr lauerte. Der Ort des Todes. Der Ort ihres Todes. „Mach dir keine Gedanken wegen deiner Mutter, Meggy", tröstete Tante Dora sie auf ihre trockene Art. „Wir werden ihr einfach sagen, dass ihr zwei, der Junge und du, im Wald verunglückt seid. Das kommt in dieser Gegend häufig genug vor." n
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Der Gedanke an ihre Mutter trieb Meggy erneut die Tränen in die Augen. „Bitte, Tante Dora!" schluchzte sie. „Bitte, lass mich doch gehen!" „Ach, Meggy!" Zu Meggys Bestürzung befreite die Frau sie aus Docs Umklammerung und zog sie an sich. Verwundert erblickte Meggy Tränen in den sanften, stillen Augen. Tante Dora legte eine weiche, kühle Hand auf Meggys eingefallene Wange. „Wir hätten so gute Freundinnen sein können, wir zwei. Aber jetzt geht es nicht mehr anders, verstehst du das nicht? Es muss sein. Es tut mir so Leid." Doc riss Meggy unsanft von Dora los und schob sie vor sich her. Sie schrie auf, als sie das Gewimmel vor ihren Füßen mehr spürte als sah. „Ich würde sie an deiner Stelle nicht so reizen, meine Liebe. Sie lassen sich so leicht aus der Fassung bringen." Doc lachte leise. Er schob die Pistole in seine Tasche, griff
dann in einen der Bäume über seinenn Kopf und brach einen dicken Ast ab. Er hielt ihn mit einer Hand fest, zog mit der anderen sein Feuerzeug aus der Tasche und zündete das moosüberzogene morsche Holz damit an. Als die Flamme aufflackerte, konnte Meggy die kleine Lichtung sehen, das verfallene Grab, die schwarze Öffnung darin ... und die lebende, wimmelnde Masse vor ihren Füßen. „Ah, meine Schönen", flötete Doc und nickte den ineinander verschlungenen Kriechtieren zufrieden zu. „Hab keine Angst, Meggy. Sie können dir nichts tun, solange ich es nicht will." Er rieb den Stein an seinem Hals, der blass im zuckenden Schein der Fackel schimmerte. „Sie sind jetzt schrecklich müde, so müde und erschöpft, wie du selbst es warst, und sie haben keine Lust, irgendwem Schwierigkeiten zu machen. Aber", fuhr er fort und zeigte die Zähne in einem höhnischen Grinsen, „wenn ich es wagen sollte, sie aufzuwecken, werden sie sehr, sehr böse sein." Mit Abscheu sah Meggy zu, wie er mitten unter die sich windenden Schlangen trat und sie mit siegessicherem Lächeln ins Auge fasste. „Siehst du, sie wissen, dass ich ihnen nichts tun will. Von mir erwarten sie nur Gutes. Und sie wissen, was ich von ihnen erwarte. Sie wissen, dass sie unser Geheimnis immer gut gehütet haben und ihre Belohnung dafür empfangen werden." „Also hat Alex Sie gestern hier gesehen." Meggys Stimme zitterte. „Sie haben die Schlangen aufgestört, damit sie über Beau herfielen." „Aufgestört? Ich hab sie nur aus ihrer Schläfrigkeit geweckt", berichtigte Doc leise. „Ich konnte doch nicht zulassen, dass der Hund unseren Plan verriet, bevor er ausgeführt war. Das musst du verstehen." „Sie ... Sie haben die Schlangen hypnotisiert!" Meggy starrte die verschlungenen Schlangenkörper an und schüttelte den Kopf. „Und deshalb hat Tante Dora mich davor gewarnt, zu weit hinauszugehen. Deshalb hat sie mich \/or
den Schlangen gewarnt. Sie hatte Angst, dass ich das Geheimnis entdecken könnte." In diesem Moment dachte Meggy, dass sie nie im Leben einen Menschen so hassen würde wie Tante Dora und Doc. „Du lässt dich hinreißen. Man sieht dir deine Verachtung nur allzu deutlich an", höhnte Doc. Unbeschadet schritt er durch die wimmelnde Masse von Schlangen und breitete die Arme aus. „Sieh nur, Meggy, die Symbole des Lebens! Die Symbole der Kraft und Energie, so schlicht und einfach! Die Wächter der Unsterblichkeit! Die Hüter aller großen Geheimnisse!" Als ein Blitz Doc für einen kurzen Moment in grelles Licht hüllte, sah Meggy, dass er lachte. „Spürst du ihre Macht? Schau sie an und fühl dich geehrt, einer solchen Macht geopfert zu werden!" Meggys Herz krampfte sich vor Angst zusammen. „Ja, Meggy", führ Doc aufgeräumt fort und wies mit der brennenden Fackel auf das Grab. „Jetzt soll das abschließende Ritual stattfinden. Das endgültige große Geschenk. Dein Leben für Doras Leben." Er hielt inne und musterte sie spöttisch und belustigt. „Was soll denn das betrübte Gesicht, Meggy"? Es wird einfach so sein, als ob du einschläfst, nichts weiter. Als ob du einschläfst in der Gesellschaft von ein paar höchst giftigen Freunden." Sein Lachen gellte über die Lichtung und vermischte sich mit dem Donnergrollen und dem Heulen des Windes, der durch die Bäume fuhr. „Soll ich dir hineinhelfen?" Seine Augen waren starr und kalt, seine Stimme gleichmütig und ungerührt. „Du wirst mir doch nicht etwa Schwierigkeiten machen?" „Nein!" Meggy fuhr zurück und stieß gegen Tante Dora. Diese packte jedoch Meggys Arme und drehte sie ihr auf den Rücken, so dass Meggy sich kaum noch rühren konnte. Meggy wunderte sich über die ungeheure Kraft des jungen Mädchens. Sie hielt ihre Arme umklammert wie in einem Schraubstock. „So haben Sie es also mit Anna gemacht! Deshalb sah
sie so aus, als man sie gefunden hat!" schrie Meggy. „Und genauso wird man deine Leiche finden, wenn alles erledigt ist!" Plötzlich stand Doc ganz dicht vor ihr. Mit einer Hand hielt er die Fackel hoch über seinen Kopf, mit der anderen strich er über den schimmernden Stein in seinem Hemdausschnitt. „Meggy, muss ich die Tiere etwa aufwecken, bevor wir dich sicher zur Ruhe gebettet haben?" „Es ist ja gleich vorbei, Meggy." Tante Dora sah denn verängstigten Mädchen flehend in die Augen. „Du wirst gar nichts spüren, höchstens zwei, drei kleine Piekser ..." „Hilfe!" schrie Meggy aus Leibeskräften, riss sich mit einer gewaltigen Kraftanstrengung los und schlug wild auf Doc ein. Sie fühlte, wie sein Goldkettchen in ihrer Hand zerriss, und sah den Stein zu Boden fallen. Doc fluchte und versuchte wild, ihn aufzufangen. „Meggy, sei doch vernünftig! Du darfst nicht so ..." Tante Dora konnte den Satz nicht mehr zu Ende bringen, denn plötzlich erklang ein Schrei. Der Schrei war so dicht in der Nähe, dass Doc gerade noch Zeit hatte, verwundert aufzublicken und die Fackel fallen zu lassen, bevor sich ein Schatten auf ihn stürzte und ihn niederschlug. Doc fiel rücklings zu Boden. Mitten in das Knäuel von schuppigen Leibern. Das Gewimmel war zu wütendem Leben erwacht, und zwar im selben Augenblick, als Meggy das Kettchen mit dem Stein von Docs Hals gerissen hatte. Und während ein Blitz die Lichtung grell und zuckend erhellte, hörte Meggy Docs Schmerzens- und Schreckensschreie, als er von einem Augenblick auf den anderen unter den schlüpfrigen, zischenden, sich windenden Tierleibern verschwunden war. Meggy schrie, schrie und schrie. Doc erhob sich schwankend, heulte auf wie ein Wahnsinniger und stürzte sich, wild um sich schlagend, in den toten Walfei. An seinem Körper wanden sich die Schlangen und hingen herab wie Lum-
p e n an einer w i n d g e s c h ü t t e l t e n Vogelscheuche. Man h ö r t e ein Klatschen, einen e r s t i c k t e n Schrei, d e r in einem Gurgeln unterging, dann h e r r s c h t e Stille. Meggy s c h l o t t e r t e vor E n t s e t z e n . Ihr Blick traf T a n t e Doras glasige, s t a r r e Augen im selben Moment, als ein Schlag von hinten auf ihren Schädel n i e d e r s a u s t e . Der d u m p f e Schlag zerriss die plötzliche Totenstille. T a n t e Dora s a c k t e in sich z u s a m m e n und s a n k zu Boden. „Alex!" Meggy warf sich in Alex' A r m e und w e i n t e an seiner Brust, bis sie e t w a s W a r m e s , Klebriges an s e i n e m Arm fühlte. „Alex, du b l u t e s t ja!" Er w a r schlimm verletzt, d a s w a r ihr sofort klar. Als er sich von ihr l o s m a c h t e , z u c k t e er vor S c h m e r z z u s a m m e n . Der s c h w e r e Ast, d e n er gehalten h a t t e , fiel ihm a u s d e r Hand. „Es ist nicht so schlimm. Aber beeil dich, k o m m , du m u s s t mir helfen." „Sie wollten mich dort hineinstecken!" schluchzte Meggy. „Ich weiß. Ich h a b alles mit angehört." „Was sollen wir j e t z t ..." „Hilf mir." Seine Stimme, die gewöhnlich so ruhig und g e f a s s t klang, verriet eine panische Angst, und Meggy nickte, o h n e es s e l b s t zu merken. „Hilf mir, sie fortzuschaffen. Wir m ü s s e n u n s beeilen." „Alex, ich ..." „Zum Teufel, Meggy, Dora m a g ja zur Hälfte ein Geist sein, a b e r zur a n d e r e n Hälfte ist sie Wirklichkeit! Sie lebt von deiner Kraft! Und dazu braucht sie deine Nähe, damit sie dir d a s Leben a u s s a u g e n kann!" „Deshalb h a b e n Doc und sie also immer verlangt, d a s s ich ihr Gesellschaft leiste ..." „Los, Meggy, f a s s mit an!" „Ach, Alex, ich v e r s u c h es ja!" Noch immer s t a r r vor Angst, zog und zerrte Meggy Dor a s leblosen Körper mit Alex' Hilfe v o m Weg fort. Alex hatte die Fackel a u f g e h o b e n und schlug die Richtung zum Grab ein.
„Nein!" Meggy ließ die Leiche los. „Meggy..." „Nein, Alex! Die Schlangen!" Alex hielt die Fackel in die Dunkelheit hinein. „Bleib dicht hinter mir. Du schiebst, und ich ziehe, aber bleib immer hinter mir und dem Feuer. Solange wir das Feuer haben, tun sie uns nichts." „Aber die Flamme geht jeden Moment aus!" schrie Meggy. Bitte, bitte, flehte sie im Stillen. Die Flamme muss nur noch ein kleines Weilchen länger brennen! Wohl tausend starre, hungrige Augen schienen sie anzufunkeln, während Alex und Meggy Doras Leiche immer näher an das Grab heranzerrten, näher und näher. „Kannst du sie zusammen mit mir hochheben?" Alex' Gesicht verriet wilde Entschlossenheit. In weitem Bogen schwang er die Fackel, während er mit dem anderen Arm Doras Beine hielt.
„Ich will es v e r s u c h e n . " Meggy mühte sich mit der leblosen Last ab. Ihre geschwächten Muskeln schmerzten von der ungeheuren Anstrengung. Sie packte Doras Schultern, hob sie hoch, und der Kopf fiel haltlos zur Seite. Meggy keuchte und stöhnte, dann ließ sie den Körper fallen. „Es ist sinnlos!" Ihre Stimme klang angespannt und schrill. „Ich schaffe es nicht!" „Dann nimm das hier!" Alex drückte ihr die Fackel in die zitternde Hand. „Du musst sie immer hin und her schwingen", befahl er und beugte sich zu der toten Tante Dora herab. „Schneller, Meggy, schneller!" Jetzt konnte Meggy sie deutlich erkennen, all die langen, dunklen Leiber, die vor dem Feuer zurückschreckten und nur darauf warteten, dass ihr ein Fehler unterlief. „Hierher!" keuchte Alex. „Hierher, Meggy!" Sie schob die Fackel in die Graböffnung und sah die Schlangen an den Innenwänden zurückweichen. Zwei la-
gen zusammengerollt direkt zu beiden Seiten der Öffnung und zischten drohend. Unter Aufbietung aller Kräfte hob Alex Doras Leiche bis in Schulterhöhe hoch und schob sie mit verzweifelter Entschlossenheit in die düstere Öffnung mitten zwischen die Schlangen. Die Röcke raschelten, die Gliedmaßen schleiften über den harten Boden, und dann ertönte ein widerlicheres, unheimliches Geräusch: Das leise, nicht enden wollende Geräusch von zahllosen Giftzähnen, die sich in menschliches Fleisch schlugen. Meggy schrie auf, als eine Mokassinschlange vor ihren Augen die Zähne in das schöne Gesicht der Toten schlug, dann noch eine, und noch eine. Alex war aschfahl im Gesicht, er atmete keuchend. Bestürzt sah Meggy, wie er schwankte und taumelte und beinah stürzte. „Alex!" Ihr Aufschrei brachte ihn wieder zu sich. Als sie heftig die Fackel schwang, um die Schlangen in ihrer Nähe abzuwehren, zuckte die Flamme hell auf und erlosch dann fast. „Weg hier, rasch!" Alex nahm ihren Arm, und sie rannten um ihr Leben, brachen durch das Unterholz und zerrten an Moossträngen und Lianen, die ihnen den Weg versperrten. Als sie den Waldrand erreicht hatten, drehte Alex sich beim Laufen um und schleuderte die glimmende Fackel zwischen die morschen Bäume. Für einen Augenblick schien die Zeit stillzustehen. Dann sahen sie es. Eine dünne Rauchsäule stieg kräuselnd zum Himmel auf. „Wir müssen versuchen, die Straße zu erreichen!" rief Alex. „Schaffst du das?" Meggy sah ihm besorgt in die Augen. Hinter ihnen züngelte knisternd eine Flamme auf und ließ siezusammenzucken. „Klar." Er lächelte schwach. „Und du? Schaffst du's?" Sie wusste nicht, ob sie ihrer Stimme trauen durfte. Als sie tief Atem holte, stieg eine Kraft in ihr auf, die sie schon seit Tagen nicht mehr gespürt hatte. In ihren Augen brann-
ten Tränen. Alex nahm ihre Hand und führte sie zu ihrem Gesicht. „Deine Hand ist ganz warm", sagte er leise. Langsam, zögernd, als hätte sie Angst, es zu glauben, fuhr Meggy sich mit der Hand über die Wange. Alex nickte bekräftigend. „Komm jetzt", sagte er. „Du musst nach Hause."
1 1 . KAPITEL „Ich kann es immer noch nicht fassen", sagte Mrs. Daton sichtlich erschüttert. „Wenn es nicht so gegossen hätte, wäre das gesamte Haus abgebrannt." Esther schüttelte den Kopf und lehnte sich an den Wagen. „Die arme Tante Dora." Mrs. Daton wischte sich mit ihrem Taschentuch die Augen und betrachtete voller Dankbarkeit ihre Tochter. „Ach, Meggy, wenn ich nur daran denke, was dir hätte zustoßen können!" ihre Stimme versagte, und Meggy umarmte sie. „Aber mir ist nichts passiert, Mom." „Und darüber wollen wir trotz allem froh sein, nicht wahr?" Esther tätschelte Meggys Arm und blinzelte in die grelle Nachmittagssonne. „Ich bin nie auf die Idee gekommen, dass so etwas hier passieren könnte. Dass der Blitz in den toten Wald einschlägt! In dieser Gegend hat sich seit hundert Jahren nichts verändert, und ich war sicher, dass es immer so bleiben würde!" Meggy presste die Lippen aufeinander und betrachtete die Überreste von Tante Doras Haus. Fast die Hälfte war ein Raub der Flammen geworden, bevor der Regenguss eingesetzt hatte. Wo früher die Küche und Meggys Zimmer gewesen waren, stand jetzt nur noch ein rauchendes Skelett aus verkohltem Bauholz und Mauerwerk. Die Gardenien waren fort, statt ihres schweren Dufts hing nun der stechende Gestank von Schwefel und nasser Asche in der Luft und vermischte sich mit dem Nebel, der
vom Bayou herkam. Auch das Treppenhaus war zu Schutt und Asche zerfallen, die Fotos hatten sich in nichts aufgelöst. „Wenn Dr. LaVane nicht gerade an diesem Abend darauf bestanden hätte, dass du dir frei nimmst und Tante Dora ihm überlässt..." Mrs. Daton sprach ihre Ängste nicht vollständig aus. „Ja, Meggy hatte einen Schutzengel", bestätigte Esther. „Dass er dich gerade an diesem Abend weggeschickt hat, Meggy! Und ich war auf dem Bayou unterwegs, gar nicht so weit entfernt, und hatte von all dem keine Ahnung!" „Es muss ein furchtbarer Schock für dich gewesen sein." Mrs. Daton forschte besorgt im Gesicht ihrer Tochter. „Das glaub ich auch!" Esther seufzte. „Sie und Alex saßen an dem Abend seelenruhig bei uns zu Haus beim Abendbrot und wussten von nichts. Um Doc tut es mir wirklich Leid. Wahrscheinlich hat er versucht, Tante Dora nach draußen zu schaffen, und ist nicht mehr rechtzeitig aus dem Haus gekommen." Meggy wandte sich ab. „Ich mag nicht mehr darüber reden." „Ach, Schatz, entschuldige bitte!" Mrs. Daton zwang sich zu einem Lächeln. „Du hast Recht. Kein Wort mehr darüber. Nicht einmal ein Gedanke daran! Nie mehr!" Meggy nickte und sah zum ersten Mal seit Beginn des unangenehmen Gesprächs zu Alex hinüber. Er wirkte müde, aber sein Blick blieb lange und in stillem Einvernehmen auf ihr haften. „Sei bloß vorsichtig mit deinem Arm, Alex", riet Mrs. Daton ihm und schloss die Autotür auf. „Ich will nie wieder was von so einem dummen Jagdunfall hören." „Also wirklich, seit sich diese wild gewordenen Möchtegernjäger hier herumtreiben, ist man seines Lebens nicht mehr sicher!" ereiferte sich Esther. „Da geht man seelenruhig spazieren und denkt an nichts Böses, und
aus heiterem Himmel fliegen einem die Kugeln um die Ohren! Man muss schon direkt Angst haben, überhaupt noch aus dem Haus zu gehen!" Mrs. Daton stieg ins Auto, und Esther stützte die Ellbogen ins offene Fenster. „Vielen Dank für alles, Esther." Mrs. Daton schüttelte herzlich die Hand der Frau. „Und wir nehmen euch beide beim Wort. Im nächsten Monat kommt ihr uns besuchen. Wir wohnen nur zwanzig Minuten entfernt von der Bushaltestelle." Alex zog eine Augenbraue hoch und sah Meggy an. „Ich dachte, du hast zu Hause nicht einmal Platz, um deine Freunde einzuladen!" „Ach", antwortete Meggy grinsend. „Dann werden wir wohl umziehen müssen." „Aber was wird Jack dazu sagen?" Meggy blickte ihn zuerst verständnislos an. Wann hatte sie zum letzten Mal an Jack gedacht? „Ich glaube kaum, dass er ein Recht hat, überhaupt was dazu zu sagen." Sie lachte. Als Alex ihr über die Wange strich, fragte sie zärtlich und ganz leise: „Schreibst du mir?" „Ich versprech's dir." Er sah ihr tief in die Augen, und Me'ggys Knie wurden weich. Langsam und mit zärtlichem Blick beugte er sich zu ihr herab und küsste sie unendlich sanft. „Du wirst mir fehlen, Meggy." Lange konnte sie sich nicht von ihm lösen, aber als der Motor stotternd ansprang, drehte sie sich widerstrebend um. „Bis dann, Esther!" Sie winkte und stieg ins Auto. „Bis dann! Wir sehen uns ja bald wieder. Ein Monat vergeht so schnell." Als der Wagen wendete und in den überwucherten Pfad einbog, drehte Meggy sich ein letztes Mal nach Alex um. Nur mit Mühe konnte sie die Tränen zurückhalten. Er sollte nicht sehen, dass sie weinte. Noch einmal fiel ihr Blick auf Esther, auf die verkohlten Stämme des Waldes, auf die angesengte Eiche, deren Ast-
s t ü m p f e sich noch immer nach den Fensterlöchern im Obergeschoss reckten ... Sie erstarrte. Jemand stand am Fenster. Jemand stand hinter der rußigen Spitzengardine und sah ihr nach, w a r t e t e . Und lachte, lachte leise und melodisch, lachte, wie nur ein unbeschwertes junges Mädchen lachen kann. -ENDE-