M.Vázquez Montalbán
Die Rose von Alexandria
A Faint Cold Fear Thrills Through My Veins William Shakespeare Zu diesem ...
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M.Vázquez Montalbán
Die Rose von Alexandria
A Faint Cold Fear Thrills Through My Veins William Shakespeare Zu diesem Buch «Biscuter, du hast den Gipfel der ‹Nouvelle Cuisine› erreicht.» «So neu kann die gar nicht sein, das Rezept hat mir nämlich die Frau vom Hähnchenstand in der Markthalle gegeben. Entschuldigen Sie, Chef, aber ich habe mir diesen Krimi genommen, der dort lag, und ihn auf die Büchse für die kalten Speisen gelegt, beim Abkühlen muß man sie be-schweren.» «Beim nächstenmal kochst du das Buch mit!» Diesen vielversprechenden Dialog führt der Privatdetektiv José Pepe Carvalho während der vielversprechenden ersten Jahrestage 98 mit seinem Gehilfen Biscuter. Nur die Idylle ist trügerisch: Ein Mord von bestialischem Ausmaß schlägt Carvalho aufs Gemüt. Er muß diesen Mord aufklären. Gezwungenermaßen. Familiäre Verpflichtungen, denn das Opfer ist die Cousine seiner Geliebten Charo. Mordfälle, sozusagen im Familienkreis, haben es in sich, bringen immer Ärger und Verdruß, das weiß Pepe Carvalho genau. Aber es ist nicht das erste Mal, daß er wider besseres Wissen handelt. Und daß Carvalho nach der Aufklärung des Falles endlich auch an sich denkt und die verdiente Kur in der renommierten Klinik Faber & Faber antreten wird, steht außer Frage. Nur bis dahin ist es noch ein langer und steiniger Weg. Und es ist ein weiter Weg der Erkenntnis, bis Carvalho sagen kann: «Am Ende weiß ich fast immer genausoviel wie der Mörder, und das erzähle ich meinen Klienten. In diesem Fall wußte mein Klient allerdings mehr als ich, und er wird immer mehr wissen, er weiß sogar mehr als der Mörder, aber das spielt keine Rolle mehr.» Von Manuel Vázquez Montalban, Jahrgang , liegen in der rororo thriller-Reihe bereits vor: Carvalho und der tote Manager (Nr. 6), Tahiti liegt in Barcelona (Nr. ), Carvalho und der Mord im Zentralkomitee (Nr. ), Carvalho und die tätowierte Leiche (Nr. ) und Die Vögel von Bangkok (Nr. 77).
Manuel Vázquez Montalbán
Die Rose von Alexandria Deutsch von Bernhard Straub
Rowohlt
rororo thriller Herausgegeben von Bernd Jost
Deutsche Erstausgabe Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, September Die Originalausgabe erschien bei Editorial Planeta, Barcelona, unter dem Titel «La Rosa de Alejandría» Copyright © 7 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Copyright © 4 by Manuel Vázquez Montalbán Redaktion Peter Hetzel Umschlagentwurf Manfred Waller Umschlagbild Ulrich Mack Satz Bembo (Linotron ) Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany -ISBN 816 4
Die Hauptpersonen
Wenn ein Verbrechen im Familienkreis geschieht, dann ist dies für José Pepe Carvalho, Privatdetektiv und Gourmet, schon ein trifftiger Grund, mürrisch zu werden. Wenn allerdings alle und jeder in diesem Mordfall über eine Doppelidentität und mehr verfügen, dann muß sich selbst der weltgewandte Privatdetektiv wundern: Weiß er, daß Ginés Larios Pérez, Seemann, sich nach einer neuen, von allem Unglück befreiten Identität sehnt? oder, daß Tourón, sein Kapitän, sich von mindestens einer Identität lösen müßte? während Narcís Pons Puig als Autodidakt und Katalane sein Leben fast ein wenig zu perfekt meistert; dagegen rettet Encarnación Rodríguez de Montiel auch der so prägnante Deckname Carol nicht vor dem Verderben, durch das La Morocha, auch unter dem Namen Carmen bekannt, profitieren wird und El Lebrijano, der wiederum auch Animeo heißt, seine Verwandlungskünste immer gewinnbringend verwerten kann; nur für Bromuro, dem Schuhputzer, hat es sich noch nie ausgezahlt, daß er einmal der legendäre Francisco Melgar war. Charo, Carvalhos Geliebte, und Biscuter, Carvalhos Gehilfe, müssen zwar ohne eine eindrucksvolle Doppelidentität auskommen, aber Ausnahmen bestätigen die Regel.
Du bist wie die Rose von Alexandria, bei Nacht bist du farbig und weiß bei Tag! Volkslied
Er machte nur ein Auge auf, als fürchte er, daß alle beide ihm nur allzu deutlich die graue Farbe des Himmels bestätigen würden, die Obszönität dieser zähen und grauen Wolkenhaut, die die tropische Luxuslandschaft beschmutzte und Palmen und Bananenstauden zu bleigrauen Silhouetten werden ließ. Im Nordosten zeigte sich wie eine Hoffnung ein Stückchen blaugrauer Himmel. Maracas Bay, dachte er resigniert, während er sich aufraffte, aus dem Bett zu steigen. Er blieb aber am Bettrand sitzen, erstaunt über seine eigenen Beine, die auf Befehle warteten. Aber sie zeigten nur auf den offenen, halbvollen Koffer, der schon seit Tagen auf einem kleinen Sessel balancierte. Er stützte die Ellbogen auf die Schenkel, legte das Gesicht in die Handflächen, und ein Gesicht in Nahaufnahme sonnte sich in seinem schweren Kopf aus, das Gesicht eines Mäd chens in einem Reisebüro in San Francisco. «Buchen Sie Trinidad und Tobago, beide gehören zusammen. Sie werden es nicht bereuen!» «Es kommt mir nicht darauf an, welche Insel, die Hauptsache sind Sonne und Palmen. Aruba, Curaçao oder Bonaire!» «Trinidad und Tobago, Sie werden es nicht bereuen!» Er hatte nicht einmal mehr die Energie, um es zu bereuen. Tag für Tag betrachtete er den Himmel durch das Zimmer seines Fensters im Holiday Inn, und die grauen Wolken waren ebenso da wie das Stückchen Blau, zu dem seine Augen ein ums andere Mal wander ten, um mit einer tuberkulösen und übellaunigen Sonne Versteck zu spielen. Maracas Bay. Alles, nur nicht eingesperrt bleiben in Port of Spain, schon wieder durch das langweilige Netz von Straßen gehen, zu einer Savannah, die auf allen Inseln der Karibik gleich aussah – Heimweh nach Afrika, in eine parkartige Plaza Mayor verwandelt. Vielleicht war keine so riesig wie die von Port of Spain, aber von ihm aus konnten sie sich ihre Savannah in den Arsch stecken, den Botanischen Garten
dazu, ebenso die Kolonialarchitektur des Woodford Square und die großspurigen Herrenhäuser der Maraval Road. «Haben Sie die sieben Herrenhäuser in der Maraval Road schon gesehen?» würde ihn der indische Taxifahrer wieder einmal fragen. «Sie haben sie mir schon gezeigt.» «Tatsächlich.» Eine Hand blieb am Steuer, die andere streckte einen dunklen Finger aus und zeigte damit auf die Häuser, die den wichtigsten Teil des architektonischen Erbes von Port of Spain bildeten. «Stollmeyer’s Castle, White Hall, Roodal’s Residence …» Die Dunkelheit, die die ganze Insel einhüllte, kündete das Ende des Jahres und vielleicht der Welt an. Der Taxifahrer reckte den dunklen, zigeunerhaften Finger zum Himmel. «Alles fing damit an, daß die da oben waren.» «Wer war dort oben?» «Die Russen und die Amerikaner. Seit die dort oben waren, ist der Sommer Winter und der Winter Sommer. Vorjahren, bevor sie dort hinaufgeflogen sind, regnete es im Dezember nie.» Selbst das Hotel war dunkel, gebaut in dem blinden Vertrauen, daß die Sonne niemals aufhören würde zu scheinen. Seine Dunkel heit wurde noch verstärkt durch den Bummelstreik des Personals. Eier, Schinken, Fruchtsalate, Haferflocken, Melasse, Butter – all das wirkte verdächtig wie ein vergilbtes Foto aus normalen Zeiten, jenen Zeiten glücklicher Kellner. Es war ein archäologischer Fund, das Selbstbedienungsbuffet für Gäste, die den sozialen Forderungen der Bedienung skeptisch gegenüberstanden. Und trotzdem zwinkerte ihnen eine Dame mit Pappe und Purpur am randlosen Hut zu und lud sie zum Neujahrsfest ein, Happy New Year 194, fünfzig Dollars alles inklusive. «Freies Büffet, Orchester und Tanz. Die Getränke extra», erklärte ihm die Mulattin mit dem blutroten Mund, ohne von ihrer Registrierkasse aufzublicken. «Alleine.» «Ja.» Er mußte ihr seinen Vor- und Zunamen buchstabieren. «Gino Larrose?» «Ginés Larios.» «Gi … nés La … rios.» «Zimmer 312.» «Es wird bar bezahlt. Es kommt nicht auf die Rechnung.» Das
Gesicht der Mulattin leuchtete zufrieden über die Rückkehr zu Geld, das man in der Hand hat. Der Taxifahrer verfolgte die Ver handlungen aus einiger Entfernung, sein Lächeln galt zum Teil seinen eigenen Gedanken über die Begierde des Ausländers, an einem Fest teilzunehmen, zum Teil war es die Begrüßung seines allmorgendlichen Fahrgastes. «Nicht gut, nicht gut», verkündete der Inder, hob die Arme zum Himmel und legte sie dann über seinen Bauch. «Maracas Bay?» «Gibt es keinen anderen Strand auf dieser Insel?» «Die Chagaruamas Bay ist auch bewölkt, auf der anderen Seite der Insel stürmt und regnet es. Manzanilla Bay ist sehr schön, aber es stürmt und regnet dort auch.» Der Taxifahrer wiegte den Kopf hin und her, es war ihm peinlich, Tag für Tag dieselbe Information geben zu müssen. Er sah diesem japanischen Wissenschaftler ähnlich, der in einem Film dem kleinen Jungen erklärt, daß man den Riesendinosaurier nur mit einer Atombombe vernichten könnte. Ginés blickte noch einmal zur Re zeption des Hotels hinüber, wo die Mulattin in dem erfolgreichen Versuch, das Rot des Lippenstifts auf ihren Lippen zu verteilen, sich selbst küßte, in jenem Dämmerlicht, das auch eine trübe morgend liche Lampe nicht aufhellen konnte. Sollte er etwa zurückgehen auf sein Zimmer und in dieser grauen Einsamkeit untergehen, während er auf die wunderbare Rückkehr der Sonne wartete, oder durch eine Stadt gehen, die er schon viel zu gut kannte und wo es nichts anderes zu sehen gab als die Ergebnisse der Paarung von Schwarzen und Indern, Indern und Holländern, Holländern und Negerinnen, Spaniern und Indern, Mulattinen und Indern und Holländerinnen und Mulatten- alle denkbaren Kombinationen, die laut Prospekt Trinidad in ein Schaufenster der Rassenvermischung verwandelt hatten, mindestens so reichhaltig wie der Strand von Copacabana. «Wird an der Maracas Bay die Sonne scheinen?» «Wenn sie hinter den Wolken hervorkommt, dann ganz bestimmt an der Maracas Bay!» «Also zur Maracas Bay!» Und er ließ sich ins Taxi fallen, um sich auf dem Rücksitz auszu- strecken. Er wollte nichts von dieser Stadt sehen, die zu ewigem Zwielicht verdammt war. «Wir fahren durch die Maraval Road.» «Kaum zu glauben.»
«Wollen Sie sich nicht noch einmal die sieben Herrenhäuser anse hen?» Er wartete die Antwort nicht ab. «Sie werden die ‹Sieben Herrlichkeiten› genannt und sind am Anfang des Jahrhunderts von den sieben reichsten Familien der Stadt erbaut worden.» Der Taxifahrer setzte seinen ebenso ehrfürchtigen wie routinier ten Vortrag fort. «Gibt es irgend etwas auf der Welt, das so schön ist wie Trinidad?» Die Frage zwang Gines, sich aufzurichten, um beim Anblick der Savannah zurückzuzucken, die hinter den Scheiben des Taxis vorbeiflog. «Ja.» Ohne Zweifel biß sich der Taxifahrer auf die Lippen und betrach tete im Rückspiegel das verstörte und sehnsüchtige Gesicht seines Fahrgastes. «Der Bosporus.» «Ist das eine Insel?» «Nein, eine Meerenge, die das Mittelmeer mit dem Schwarzen Meer verbindet.» «Das ist in Europa, stimmt’s?» «Ich glaube schon.» Aber das ist nicht wichtig, dachte er bei sich, als er sich wieder auf den Rücken fallen ließ. Der Bosporus verbindet meine Kindheit mit meinem Tod, dachte er und wiederholte diese Worte im Geist, während er sich an den Blick auf den Bosporus vom Topkapi-Palast aus erinnerte. «Dort scheint immer die Sonne. Am Bosporus scheint immer die Sonne.» «Hier schien früher auch immer die Sonne.» Der Zigeunerfinger deutete wieder zum Himmel hinauf. «Aber seitdem die dort oben waren …» «Was meinen Sie, was die dort oben gemacht haben?» «Sie brachten die Sonne dorthin, wo sie sie haben wollten, und verteilten Wind und Regen neu, wie es ihnen gerade paßte.» «Bevor ich hierher kam, war ich auf Curaçao und hatte den herr lichsten Sonnenschein.» «Sehen Sie?» Und der Inder wandte ihm sein altes, weises, in seiner Traurig keit lächelndes Gesicht zu. Hinter den Scheiben flogen nun Palmen vorbei, Bananenstauden, Mangos, Vanilleranken, Jacarandas, Sil10
houetten vor dem Alptraum des grauen Himmels. Das Schaukeln des starken und gut gepflegten Autos machte ihn schläfrig. Es diente der Ausübung eines Berufes, den der Taxifahrer aufzuwerten versuchte, indem er die Reize Trinidads anspries. «Haben Sie schon ein Calypso-Konzert besucht? Ich sah, wie Sie die Eintrittskarte für das Neujahrsbankett lösten. Das Bankett im Holiday Inn ist fast genauso elegant wie das im Hilton. Aber lassen Sie sich nicht das Ambiente der Stadt und der Calypsoproben des Karnevals entgehen!» Nach den Yankees von der Trinidad sind die Mädchen ganz verrückt. Sie sind so nett, sagen sie, bezahlen so gut, die Häßlichen und die Hübschen, trinken Rum und Coca-Cola und fahren zum Point Cumama. Alle, Mütter wie Töchter, wollen ‹arbeiten› für ein paar Dollars. Der Inder zwinkerte ihm zu, nachdem er den berühmtesten Calypso aller Zeiten geträllert hatte. «Der Calypso ist die schönste Musik der ganzen Karibik, und er ist sehr alt, älter als der Rock’n Roll.» Dann summte der Inder monotone Calypsos, genauso eintönig wie der weiterhin bedeckte Himmel. «Der Stausee.» Verkündete er wie jeden Morgen, als wäre Ginés immer noch zum erstenmal hier an diesem See, an dem er täglich vorbeikam auf seiner Jagd nach den vereinzelten Sonnenstrahlen an der Maracas Bay. Die Warnung vor Steinschlag bezog sich wohl auf die kaputten Arbusen, die auf der Straße herumlagen, sozusagen weiche Steine, aus dem lockeren Erdreich des Dschungels. Ab und zu richtete sich Ginés auf, um den Himmel zu betrachten und zu kontrollieren, ob das Stück im Nordosten immer noch wolkenlos war. Die graue Wolkendecke schien jenes Fenster des Lichtes und der Wärme zu respektieren, aber sie hielt sich in unmittelbarer Nähe, wie eine geballte Drohung, wie ein Heer, an einer Grenze zusammengezogen und jederzeit bereit, das einzige schöne und freie Land zu überfallen, das es auf der Erde noch gab. Plötzlich wurde es heller, und ein rotgoldener Sonnenstrahl wärmte sein Ge11
sicht. Aufgeregt setzte er sich auf. Das Auto war auf einer Anhöhe angelangt, und man sah unten in der Ferne die majestätische Bucht im Schaum der stetig heranrollenden Wellen. «Starker Wind. Mindestens sechzig Stundenkilometer.» Der Fahrer blickte seinen Fahrgast an. War es das Gesicht eines dicken, leberkranken Zigeuners? «Sie kennen sich aus mit dem Wind. Besitzen Sie eine Jacht?» «Ich bin Seemann.» «Seemann!» rief der Inder begeistert aus. «Ich bin nie von Trinidad weggekommen. Ich war nicht einmal in Tobago. Aber in meiner Jugend wäre ich gerne Seemann geworden, um durch den Panamakanal zu fahren. Es gibt ein Schiff, das von Vancouver durch den Panamakanal nach Jamaika fährt. Sind Sie Matrose auf diesem Schiff?» «Die Welt ist voller Schiffe.» «Ich weiß, ich weiß.» «Mein Schiff ist wie eine Fabrik. Drückt man einen Knopf, fährt man nach Norden. Drückt man einen anderen Knopf, dann fährt man nach Süden.» «Eines Tages werden sie noch Taxis ohne Fahrer bauen.» Diese melancholische Bemerkung stand im Kontrast zu der zer brechlichen Schönheit der Maracas Bay. Das Auto hielt neben den Schuppen mit den Umkleidekabinen und Duschen an. «Nutzen Sie die Sonne aus und machen Sie sich meinetwegen keine Gedanken. Ich warte, wenn es nötig ist.» Mit der Gier eines Nachtmenschen, dem die Sonne fehlt, sprang Ginés aus dem Auto und ging zum Tisch am Eingang des Umklei deschuppens. Eine Inderin gab ihm seine Eintrittskarte und zeigte ihm die kleinen Spinde, wo man die Kleidung aufbewahrte. Zu nächst zog er sich im feuchten Halbdunkel einer Bretterkabine um, die wegen des ewigen Schattens noch trister war, zu der sie die hohen Palmen verdammt hatten. Die Duschen vermoderten in tropfender Feuchtigkeit. Hier und dort schienen die perlenden Wassertropfen lebendig zu sein und sich zu vermehren. Er verließ die Kabine, stopfte Kleider und Schuhe hastig in den Schrank und rannte zum Meer, in die brüllende Brandung aus Indigo und Weiß. Drei träge junge Neger stiegen in ein Häuschen aus Holz und Palm blättern hinauf, um von dort oben die Schwimmer zu beobachten, in diesem Fall den einzigen Schwimmer, der sich kräftig paddelnd 12
gegen die Gewalt des Wasser vorwärtskämpfte. Brave Körper, die sich da dem Hüttenkäfig anpaßten. Die Augen wachten über die Distanz des Schwimmers zu Untiefen und Strudeln. Im Sand steck ten Schilder, die die verbotenen Zonen anzeigten, aber die Kraft der Wellen trieb den Schwimmer ein ums andere Mal auf die gefährlichen Regionen zu. Dann hatten die jungen, gleichgültigen Körper plötzlich eine Aufgabe. Die verchromte Trillerpfeife eines Verkehrs polizisten erschien zwischen den wulstigen Lippen, und die Pfiffe übertönten das Getöse des Meeres, um den Schwimmer zu warnen. Ginés vernahm die Warnung und strengte sich an, um sich der Versuchung des Todes zu entziehen. Er schlug blind mit den Armen auf das aufgewühlte Meer ein und lachte bis zum Stöhnen, wenn er den höchsten Wellen die Fäuste ins geifernde Gesicht schlug. Sie machten sich über seine Anstrengungen lustig, lösten ihn von der schwankenden Festigkeit des Grundes aus weißem Sand und weißen Muscheln, hoben ihn mit trügerischer Sanftheit hoch und zogen ihn aufs offene Meer hinaus. Oder sie trieben ihn schräg seitlich ab, als wollten sie ihn ins Gully des Todes hinunterziehen. Er schwamm zu einer Stelle, wo die Wellen schwächer waren, um eine Atempause einzulegen und wieder sicheren Boden unter die Füße zu bekommen. Als er aber zum Himmel aufblickte, mußte er feststellen, daß dieser den Kampf gegen die Wolken verloren hatte. Die ganze Welt schien sich gegen ihn verschworen zu haben, und er war hinter einer grauen, hoffnungslosen Markise verschwunden. Dazu krachte ein Donner wie eine Warnung aus dem Osten und ging fast nahtlos in einen warmen Regen über, zuerst weich, dann wütend, wie Nadeln, die Ginés aufspießen wollten, um ihn in seinem aussichtslosen Kampf gegen die Elemente auf sich selbst zurückzuwerfen. Hier bleiben, bis zur Brust im Wasser, die Sintflut aufsein Haupt niedergehen lassen, das Wasser des Himmels vermischen mit den Tränenströmen aus seinen Augen. Er schluchzte immer hemmungsloser. Hinter dem Vorhang von Regen und Tränen lag das Meer und stellte ihn vor eine Entscheidung: entweder er stieß zu den endgültigen Tiefen vor und versenkte den dunklen Stein für immer, der sein Gehirn ausfüllte, oder er kehrte an den Strand zurück und tauchte wieder ein in die Dämmerung seiner vergeblichen Flucht. Trotz allem schenkte ihm das warme Meer Geborgenheit, wie eine Decke, der Körper einer Frau oder das Gefühl, an einem Herbsttag zu Hause zu sitzen, während draußen der Regen prasselt. Aus den Regionen der Erinnerung tauchte 13
das Gesicht auf, es wuchs und wuchs, bis es mit der Größe seines eigenen Kopfes übereinstimmte, um dann darüber hinauszuwachsen, bis es das ganze Gesichtsfeld ausfüllte und seine Züge von den Wellen verwischt wurden. «Encarna», murmelte er und brach vollends in Tränen aus, als hätte er sich plötzlich damit abgefunden, daß er sich in einer versun kenen Stadt verirrt hatte.
«Wenn Sie das mir überlassen hätten, Chef, wären Sie bestimmt billiger weggekommen.» Carvalho war gerade ins Büro gekommen, er fror bis in die Knochen und hatte das unbestimmte Gefühl, sich im Tag oder im Jahr geirrt zu haben. Biscuters Stimme war eine uninteressante Geräuschkulisse, und es dauerte eine ganze Weile, bis er bemerkte, daß dieser nicht locker ließ. «Sagen Sie mir jetzt nicht, ein Festtag ist ein Festtag! Wir hätten genausogut bei Ihnen zu Hause in Vallvidrera oder hier im Büro feiern können. Ich habe ein paar Kerzen gekauft, es war ein Sonder angebot. Das macht alles intimer, persönlicher!» «Was gibt’s denn zu feiern?» «Aber Chef, wo sind Sie bloß mit Ihren Gedanken? Heute ist Silvester, und gerade kam ein Anruf von La Odisea. Sie haben uns einen Tisch reserviert.» «Silvester!» «Einen Tisch für drei Personen: Sie, Señorita Charo und ich. Ich werde mir eine Krawatte umbinden müssen.» «Du bist doch ein begeisterter Krawattenträger.» «Eine Krawatte ist für mich wie ein Henkersstrick. Sehen Sie sich doch meinen Hals an!» Sein Hals sah tatsächlich aus, als hätte ihn ein langsamer und gründlicher Henker nach allen Regeln der Kunst stranguliert. «Au ßerdem habe ich noch Kerzen gekauft, die die Mücken töten.» «Hier gibt es keine Mücken.» «Nur für alle Fälle. Sie waren im Preis sehr günstig. Das mit dem Restaurant, Chef, also damit bin ich nicht einverstanden. Es wird verdammt teuer, und wer weiß, was wir dort für Schweinereien serviert bekommen!» 14
«La Odisea ist ein erstklassiges Restaurant. Der Chef ist ein Dich ter!» «Na so was! Dichter sind doch immer Hungerleider!» Carvalho sah die Telefonanrufe durch, die Biscuter notiert hatte. «Wer ist dieser Gálvez?» «Er sagte, er sei Journalist; er habe schon oft Schwierigkeiten mit der Polizei gehabt, die Leute von der ETA hätten ihn wegen irgendwelcher Geschichten entführt, und außerdem will er ihnen die ganze Wahrheit über den Panamakanal erzählen.» «Über den Panamakanal weiß ich genug.» «Er sagte, er würde wieder anrufen.» «Wenn er wieder anruft, dann sag ihm, er soll sich mit dem Fundbüro der PSOE in Verbindung setzen. Und was ist mit diesem Federico III. von Kastilien-León?» «Ein Verrückter, Chef. Er behauptet, er sei der legitime König von Kastilien und León und die Ultrarechten wollten ihn entfüh ren, Juan Carlos absetzen und ihn zum König machen. Aber er will nicht, weil er Republikaner ist. Ich meine, ich habe Ihnen alles so aufgeschrieben, wie er es mir sagte.» «Heute vormittag haben sie anscheinend alle Verrückten freige lassen. Mach mir was zum Frühstück!» «Soll ich Ihnen die Crèpes mit Schweinsfüßen und Aioli aufwär men, die von gestern übrig sind?» «Ich möchte lieber ein Bocadillo mit gebratenem Fisch, kalt, mit Auberginen und Paprika. Und das Brot mit Tomate eingerieben!» Biscuter imitierte das Geräusch eines Rennmotors, der beim Grand Prix in die Zielgerade von Monte Carlo einbiegt, und lief in die Küche. Carvalho knallte das Notizbuch in eine Ecke des Schreibtisches, wo noch etwas Platz war in dieser Mustermesse verschiedener, meist vergilbter Papierwaren. Er wußte, daß sich irgendwo unter diesen Papieren ein Abschnitt befinden mußte, der ihn berechtigte, zwei geänderte Anzüge bei einem Schneider in Sarriá abzuholen, aber sie zu suchen war eine Aufgabe für 194. «Mor gen ist auch noch ein Tag!» Trotzdem beeilte er sich, eine Nummer zu wählen, die er sich auf einer Streichholzschachtel notiert hatte. Señora Valdez war zu Hause. «Ja bitte, wer ist da?» «Ich bin Privatdetektiv und habe Sie im Auftrag Ihres Mannes überwacht. Gerade komme ich vom Flughafen. Ihr Gatte hatte 15
mich dorthin bestellt, um mich zu bezahlen und sich zu verabschie den.» «Sich verabschieden? Aber das ist unmöglich! Gerade heute abend geben wir ein Essen!» «Verschieben Sie es. Ihr Mann ist mit der Schwägerin auf die Malediven geflogen.» «Mit welcher Schwägerin? Mit meiner?» «Nein, mit seiner.» «Mit meiner Schwester?» «Es gäbe noch andere Möglichkeiten, aber ich furchte, ja. Ich teile Ihnen das alles mit, weil es in der Bezahlung inbegriffen war. Ihr Mann ist eine seltsame Mischung aus Sadist und Masochist. Als ich ihm über Ihr Verhalten berichtete, gab er mir noch fünfzigtausend Pesetas mehr, unter der Bedingung, daß ich diesen Anruf tätige.» Sie schwieg, weinte aber nicht. «Was haben Sie ihm erzählt?» «Von Ihren Rendezvous mit Don Carlos Prats Gasolí in dem Stun denhotel an der Avenida del Hospital Militär, bekannter unter dem Namen Das Grüne Häuschen.» «Waren Sie dort?» «Zwei- oder dreimal hatte ich das Glück, Zeuge zu sein, wie sie es betreten haben.» «Ihr Beruf ist zum Kotzen.» «Schuld daran ist die herrschende Moral. Die haben Sie doch gemacht, Sie, die Reichen! Worüber beklagen Sie sich? Ändern Sie sie, und niemand wird mehr einen Privatdetektiv brauchen. Aber in der Zwischenzeit bin ich einfach ein Profi, der seine Arbeit erledigt. – Ihr Mann bleibt bis Epiphanias auf den Malediven. Danach will er sich in der Dominikanischen Republik niederlassen. Das Konto bei Banco Hispano Americano steht weiterhin zu Ihrer Verfügung; dafür hat er die Konten bei Banco Central und Banco Catalana aufgelöst.» «Ausgerechnet die besten.» «So ist das nun mal. Zuerst vergeht die Leidenschaft, dann die Liebe, sogar die Zärtlichkeit und die Gewohnheit, einander zu sehen, und schließlich verschwindet eben das Geld vom Konto.» «Und warum hat er mir das alles nicht selbst mitgeteilt, mündlich oder schriftlich?» «Schriftlich wäre es ein rechtskräftiger Beweis gewesen und 16
mündlich eine Anstrengung, die sich nicht bezahlt gemacht hätte. Während der kurzen Zeit, in der Ihr Mann mein Klient war, habe ich festgestellt, daß er es haßt, sich Konflikten zu stellen.» «Ich will Ihre ekelhafte Stimme nie wieder hören.» «Keine Sorge, es ist nicht meine Art, umsonst zu arbeiten. Mein Auftrag ist erledigt.» Er legte auf und sagte zu sich selbst: «Scheiße.» Biscuter schleppte ein solides Bocadillo an und legte es ihm vor wie eine Opfergabe. «Ich hatte dich um ein Fisch-Bocadillo gebeten, nicht um einen ganzen Seehecht.» «Nach allem, was ich gehört habe, sind Sie früh aufgestanden, und Sie brauchen etwas Aufbauendes, etwas, das Kraft gibt. Fisch enthält eine Menge Phosphor, das ist gut für das Gedächtnis.» «Mein Gedächtnis ist viel zu gut, Biscuter. Eines Tages mache ich das Büro zu, und wir beide gehen als Siedler nach Australien.» «Und Señorita Charo?» «Charo lebt ihr eigenes Leben.» Aber da war sie schon, Charo, sie stand an der Tür, mit roten Flecken auf den Wangen und keuchendem Atem. «Ein Glück, daß du da bist, Pepe. Ich habe versucht, dich zu Hause zu erreichen, aber du warst nicht da.» «Das Essen ist erst heute abend.» «Komm mir jetzt nicht mit irgendwelchen Essen. Ich brauche deine Hilfe, bitte, sei still! Laß mich erst mal erklären! Also, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.» Charo stand mit einem Fuß im Büro, mit dem anderen hielt sie die Tür offen. «Ich wollte eigentlich gerade dieses Bocadillo genießen.» «Wir sprachen eben von Ihnen.» «Bitte, Pepe, bitte. Biscuter, nimm das Bocadillo wieder mit in die Küche. Wartet auf mich, ich bin gleich wieder hier. Ich bringe noch jemanden mit. Pepe, ich hab dir doch schon von meiner Cou sine Mariquita erzählt. Die Tochter einer Schwester meiner Mutter aus Águilas, ich muß dir von ihr erzählt haben, ganz bestimmt. Du mußt dich um ihren Fall kümmern. Etwas ganz Schreckliches ist ihr zugestoßen! Nicht ihr selbst, einer anderen Cousine von mir, Encarnación. Von ihr habe ich dir auch schon erzählt. Die aus Albacete. Rühr dich ja nicht vom Fleck! Ich bin sofort zurück.» Ihr Gabardinemantel wirbelte herum und weg war sie. Carvalho 17
bestand darauf, daß Biscuter das Bocadillo mitnahm und starrte auf die Tür seines eigenen Büros wie auf den Vorhang einer Bühne. Es klingelte. Die Lichter gingen aus. Die Vorstellung begann.
«Wir werden dich nicht lange aufhalten, nur für einen Moment.» Charo kam als erste herein und lächelte, sah aber Carvalho dabei nicht an, um das Gewitter oder den Ärger auf seinem Gesicht nicht sehen zu müssen. Die Frau, die sich hinter ihr versteckte, war offensichtlich die Cousine Mariquita, eine Frau um die fünfzig, korpulent, dunkelhäutig und zu früh gealtert, mit Dauerwelle und schönen, großflächigen Gesichtszügen. Als sie hereinkamen, wurden die beiden Frauen rechts und links überholt von zwei jun gen Männern. Der eine sah aus wie ein Konzertcellist neuen Typs, mit Kraushaar und einer winzigen Brille, der andere sah eher aus wie ein Buchhalter einer Bank, mit Fliege, kurzsichtig und blond, mit schütterem Haar und bleich wie ein Vollmond. Der Cellist sah sich im Raum um und studierte die Gegenstände, als wolle er sie inventarisieren; Carvalho überging er dafür, als sei er überflüssig. Der Buchhalter dagegen holte sich einen Stuhl, stellte ihn in eine Ecke des Zimmers und setzte sich mit übergeschlagenen Beinen darauf. Er sah überallhin, nur nicht dorthin, wo Carvalho saß. Der Detektiv war gerade dabei, ihn zu betrachten, als Charo zu erläutern begann, wie es zu dieser Zusammenkunft gekommen war. «Meine Cousine Mariquita, Mariquita Abellán, würde dich nicht belästigen, wenn die Sache nicht so ernst wäre. Das ist Andrés, ihr Sohn, und Narcís Pons, ein Freund, der ihnen in dieser Angelegenheit sehr geholfen hat.» Der Junge, der wie ein Buchhalter aussah, grinste, indem er sei nen schmalen Mund auseinanderzog – eine Kerbe in einem Gesicht aus fettigem Marmor. «Die Jungen sind mitgekommen, weil man auf meinen Mann nicht zählen kann.» «Auf ihren Mann kann man nicht zählen.» Offensichtlich konnte man auf Mariquitas Mann nicht zählen. Carvalho war nicht bereit, ihnen entgegenzukommen, und blieb 18
bei der mäßig interessierten Betrachtung dessen, was sich da jenseits seines Schreibtisches abspielte. Charo holte Stühle herbei, und Mariquita biß sich auf die Lippen. Andrés schaute ihn jetzt an, und sein enormer Adamsapfel hüpfte im Rhythmus seiner Gedanken auf und ab. Der Buchhalter strich sein Hosenbein glatt, um die dünne, weiße, unbehaarte, von Adern durchzogene Wade zu bedecken, die zwischen dem Aufschlag der marengoweißen Hose und den enganliegenden, undefinierbar braunen Socken zum Vorschein gekommen war. «Diesen Schritt hätte eigentlich mein Mann unternehmen müs sen», erklärte Charos Cousine plötzlich, als werfe sie dem Abwe senden sein Verhalten vor. «Allmählich werde ich neugierig auf ihn, er muß ein bemer kenswerter Mensch sein», bemerkte Carvalho, als spreche er mit den Papieren, die er auf der Schreibtischplatte hin und her schob. «Es geht ihm nicht gut. Meinem Mann geht es gar nicht gut.» Dabei legte sich Mariquita einen Finger an die Schläfe. «Er grü belt zu viel. Und es ist nicht gut, so viel zu grübeln, vor allem, wenn man zuviel Zeit hat, mein Mann ist nämlich arbeitslos.» «Wer ihn früher erlebt hat, erkennt ihn kaum wieder.» Charo hatte einen Stuhl ergattert und sich näher zu Carvalho gesetzt als zu ihren Begleitern. «Wenn du ihn vor ein paar Jahren kennengelernt hättest, Pepe, also, er war eine Wucht. Lustig, lebenssprühend, stark … Daß er keine Arbeit mehr hat, hat ihn total fertiggemacht.» Mariquita hatte irgendwo ein Taschentuch herausgeholt und wischte sich mit einer Spitze davon die Augenwinkel. Ihrem Sohn mißfiel dies offenbar sehr, er schüttelte den Kopf und blickte zur Seite, als könne er den Gefühlsausbruch seiner Mutter nicht ertra gen. «Ich hab dir schon von der Sache erzählt, Pepe. Es geht um eine andere Cousine von mir, Mariquitas Schwester, meine Cousine Encarnación. Ich hatte dir irgendwann schon einmal von ihr er zählt.» Carvalho war nicht bereit, dies zu bestätigen, aber Charo ließ sich nicht aufhalten. «Es war die kleine Schwester von Mariquita, du weißt doch, die hatte immer andere Dinge im Kopf. Sie hatte in Albacete eine gute Partie gemacht, obwohl ihre Familie aus 19
Águilas stammte. Encarnita heiratete jedenfalls einen Gutsbesitzer aus Albacete und lebte auch dort. Die beiden Schwestern hatten nicht viel miteinander zu tun.» «Fast nichts. Das verletzt mich sehr», warf Mariquita ein, deren Augen von zurückgehaltenen Tränen gefüllt waren. «Gut, aber darum geht es jetzt nicht. Es geht darum, daß sie seit einigen Monaten … Aber erzähl du es ihm, du weißt besser Be scheid.» Mariquita seufzte und wandte sich mit erstickter Stimme an ihren Sohn. «Willst du es ihm nicht erklären, Kind?» «Du weißt ganz genau, daß ich von dem ganzen Mist nichts wis sen will.» «Der Herr will von dem ganzen Mist nichts wissen», wiederholte sie ironisch, zu Carvalho gewandt, als bitte sie ihn um Verständnis, daß ihr Sohn sie in keiner Weise unterstützte. «Mir wurde beigebracht, vor den Toten Respekt zu haben», schrie sie seinen Rücken an. Der Junge beschränkte sich darauf, mit dem Kopf zu nicken, drehte sich aber nicht um. «Seit es geschehen ist, kann ich nicht mehr schlafen. Nacht für Nacht erscheint mir meine tote Schwester und sagt: ‹Mariquita, Mariquita, hilf mir! Laß mich Frieden finden, Mariquita!›» Sie brach in Tränen aus und stammelnd und dem Ersticken nahe beklagte sie ihr Los, als Frau allein, fast allein einer so schrecklichen Sache gegenüberzustehen. «Die Ärmste! Und wie sie sie zugerichtet haben! Madre mía, wie haben sie sie zugerichtet! Die Ärmste!» Biscuter erschien, als er das rückhaltlose Weinen der Frau hörte, in der Tür, die das Büro mit der Kochnische verband. Er rieb sich die Hände trocken und blickte von einem zum anderen, ohne zu wissen, wer der Urheber von so viel Verzweiflung war. «Also, Pepe, es war einfach furchtbar …» schaltete sich Charo ein und schloß die Augen. In dem nun folgenden Schweigen wirkte das hilflose Weinen der Frau noch kläglicher. Der Sohn hatte sich wieder umgedreht und sah seine Mutter voller Mitleid und Hilflosigkeit an. Der Buchhal ter schien darauf zu warten, bis ihm jemand das Zeichen für seinen Einsatz gab, und bereitete sich darauf vor, die Situation zu retten. Er holte Luft, strich sich mit der Hand über den Rest seiner Haare, so daß sie glatt am Schädel anlagen, und fuhr sich mit einem Finger 20
zwischen Hemdkragen und Hals, um die Versorgung des Gehirns mit Sauerstoff zu gewährleisten. Aber es war der Sohn, der das Wort ergriff und sich an Carvalho wandte. «Wissen Sie, meine Tante wurde grauenhaft zugerichtet. Das reinste Schlachtfest. Die Leiche war kaum noch zu erkennen. Es sah grauenhaft aus, grauenhaft. Ich ging mit meiner Mutter hin, um sie zu identifizieren, und, was soll ich sagen, ich werde den Anblick nie vergessen. Das war kein menschliches Wesen mehr. Die Leiche war grauenhaft zugerichtet.» Charo und Mariquita nickten zustimmend, im Vertrauen darauf, daß Andrés genügend Mut fassen würde, um den Bericht zu Ende zu bringen. Aber der Junge schien mit seinem Auftritt zufrieden zu sein und verlegte sich wieder darauf, die rechte Wand des Büros anzustarren, wo es außer Biscuter nichts zu sehen gab – Stilleben mit zerbrochener Puppe. «Wenn Sie gestatten, also, es handelt sich ja um eine Familienan gelegenheit, aber in Anbetracht der Schwierigkeiten, die es allen bereitet, logischerweise, die Frage erschöpfend zu klären, bitte ich ums Wort.» Das Bleichgesicht hatte gesprochen, und Carvalho war immer noch im Zweifel, ob seine Augen lächelten oder ob sie lediglich versuchten, aus den ozeanischen Tiefen seiner Dioptrien aufzutau chen. Die Familie Abellán gab die Hauptrolle ab, in schweigendem Einverständnis damit, daß dieses weiße, verglaste Gesicht nach vorn trat. «Haben Sie eine Vorstellung davon, was sie Ihnen zu erklären versuchten?» Carvalho schüttelte den Kopf. «Das dachte ich mir. Sie haben mit dem Herzen gesprochen. Ich werde es mit dem Kopf tun. Wenn sie sagen, daß die Leiche grauen haft aussah, dann heißt das, daß sie zerstückelt und von den Kno chen gelöst aufgefunden wurde. Man fand zuerst nur den Thorax und das Abdomen auf freiem Feld in einer Tonne. Der Rest war nachlässig verscharrt, in der Nähe der Colonia Güell. Auch diese Teile waren nicht unversehrt. Die Genitalien fehlten, und zwar die inneren und die äußeren, das heißt, man hatte sozusagen eine Total operation vorgenommen, ich wiederhole, eine Totaloperation der Sexual- und Fortpflanzungsorgane.» Er hatte jetzt das Lächeln eines geduldigen Chinesen, der darauf 21
wartet, daß sein Gesprächspartner ohnmächtig wird. Carvalhos Blick irrte von Zimmerecke zu Zimmerecke, um die Starrheit nicht sehen zu müssen, die Biscuters Körper befallen hatte, auch nicht die Anstrengung, die es Mariquita kostete, nicht zu weinen, und das unerwartete Interesse, das Andrés für die Ameisen zeigte. «Aber das ist noch nicht alles. Sie hatten auch ihre Wut am Thorax und am Abdomen ausgelassen, und man kann sagen, daß lediglich das Herz, ein Lungenflügel, die Speiseröhre, Magen, Leber, Nieren und Pankreas als Organe erkennbar waren.» «Das ist ja gar nicht so schlecht», bemerkte Carvalho nach einem Räuspern. «Aber ich wiederhole noch einmal, das Fleisch war von den Kno chen getrennt worden, mit einer merkwürdigen Sachkenntnis, mit der Erfahrung eines Anatomen. Sie werden sich bestimmt fragen, wie man mit so wenigen und dazuhin noch verstümmelten Einzelteilen zu dem Schluß kommen konnte, daß es die Leiche von Encarnación Abellán war.» Er machte eine Pause und wartete darauf, daß Carvalho die Frage bejahte. Carvalho wollte ihn nicht enttäuschen und schloß kurz die Augen. «Passen Sie auf, es ist eine ganz eigenartige Geschichte. Ich habe mit einem Gerichtsmediziner gesprochen, da ich mich schon immer für Kriminologie interessiert habe. Ich will mich nicht selbst loben, aber die Hinzuziehung eines Experten ist vor allem meinem Rat zu verdanken, der von der Familie Abellán wohlwollend auf genommen wurde. Nun gut, der Gerichtsmediziner untersuchte die Reste und entdeckte eine Narbe auf einem Stück Fleisch, das zum Abdomen zu gehören schien. Dann sagte er sich, daß es keine Narbe sein konnte, da an den Rändern keine Nadelstiche zu sehen waren, wie das bei Narben normalerweise der Fall ist. Schließlich kam er durch eine genauere Untersuchung zu dem Schluß, daß es doch eine Narbe war, verursacht durch eine Hysterektomie, und damit wurde es möglich, die Leiche zu identifizieren: bei Encarnación Abellán war die Gebärmutter operativ entfernt worden.» «Sind Sie Mediziner oder Medizinstudent?» «Nein», antwortete der Buchhalter, schloß die Augen und grinste genüßlich über das Interesse, das er bei Carvalho erregt hatte. 22
«Akademiker?» «Nein.» «Aber Sie scheinen ein gebildeter Junge zu sein.» «Ich bemühe mich, einer zu werden. Ich bin Autodidakt.» Er steckte seine kleine, schmale, weiße Hand in die Innentasche seines Jacketts und zog sie mit einer Visitenkarte wieder heraus, die er Carvalho überreichte. NARCÍS PONS PUIG Autodidakt Ronda de Sant Pere, 17 Carvalho spielte mit der Karte und sah den Autodidakten scharf an. «Wir haben also eine zerstückelte, identifizierte Leiche. Was noch?» «Die Leiche tauchte vor drei Monaten auf. Die Polizei hat den Mörder bis heute nicht gefunden. Ich kann Ihnen in aller Beschei denheit versichern, daß ich ein paar Ideen habe, die diesen Fall betreffen. Als Freund der Familie habe ich ihn von Anfang an ver folgt.» «Und welche Rolle spiele ich bei dem Ganzen?» Charo war schneller als ihre heftig gestikulierende Cousine. Sie sagte: «Wir wollen, daß du Ordnung in dieses Durcheinander bringst.» «Ich kann euch gratis ein paar Tips geben, aber dann will ich nichts mehr von der Sache wissen, ich habe dann nichts mehr damit zu tun.» «Wir brauchen keine Tips. Wir wollen, daß du den Fall über nimmst.» «Zwei Cousinen, ein aufmüpfiger Sohn, ein Autodidakt … Es fehlt nur noch ein Klient.» «Der Klient bin ich», sagte Charo entschlossen und nahm dabei ihre Handtasche zur Hand, als sei sie bereit, jede Summe zu bezah len, die Carvalho verlangen würde. Sie fixierten einander. Charos Blick war eine Herausforderung, der von Carvalho eher sehr skep tisch.
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«Meine Mutter, Pepe, erzählte mir oft von einer Schiffsreise, die sie als Kind nach Águilas gemacht hatte. Mein Großvater war bei der Bereitschaftspolizei und wollte, daß seine älteste Tochter das Dorf kennenlernte, in dem er geboren war. Vor dem Bürgerkrieg verkehrten regelmäßig Schiffe zwischen Barcelona und Águilas, denn Águilas war ein wichtiger Hafen oder was auch immer, je denfalls gab mein Großvater meine Mutter in die Obhut eines Ju gendfreundes, der auf der Maria Ramos fuhr, welche Funktion er hatte, weiß ich nicht, jammerschade, daß meine Mutter nicht mehr lebt, denn manchmal erinnere ich mich nicht mehr an Dinge, die sie noch wußte, und es tut weh, daß die Erinnerungen der Menschen, die einen lieb hatten, in Vergessenheit geraten. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich die Erinnerungen meiner Mutter vergesse, denn ich bin sicher, sie hat sie mir erzählt, damit ich sie behalte. Meine Mutter fuhr also nach Águilas und war dort einen Sommer lang im Elternhaus von Mariquita und Encarnación. Sie hatten noch andere Geschwister, aber ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist. Sie waren damals schon erwachsen. Einer ist in Deutschland, glaube ich, der andere war Vorjahren Schrotthändler in Torre Baró, er hieß … nun ja. Mariquita war damals ein kleines Mädchen und Encarnación noch gar nicht auf der Welt. Für meine Mutter war es der schönste Sommer ihres Lebens. Es gibt Namen, die mit jenem Sommer verbunden sind und an die ich mich erinnern kann, als hätten sie etwas mit meinem eigenen Leben zu tun: Playa del Hornillo, die kleine Plaza von Águilas, das Grüne Häuschen, die Stierkampfarena, die Calle Cañería Alta, Eiscafé Sirvent, ein Palmfä cher mit Werbung für ‹Sloan›, ein Mittel zum Einreiben, der Foto graf Matrán. Den Palmfächer habe ich zu Hause gesehen, dort, wo wir früher gewohnt haben. In Águilas hatte meine Mutter ihren ersten Verehrer, einen Friseur, und Mariquita mußte als Aufpasser mitgehen, wenn sie am Hafen spazierengingen. Obwohl sie noch ein Kind war, arbeitete Mariquita damals schon bei der Espartoernte oder in den Pökelfabriken oder in den Feigentrocknereien, ich weiß es nicht mehr genau, vielleicht war es auch eine Fabrik, in der Kapern in Dosen abgepackt wurden. Es kam der Krieg, und als er vorbei war, gab es dort unten viel Not und Elend, und fast die ganze Familie meines Großvaters siedelte nach Barcelona über. Mein Vater und meine Mutter wohnten im Haus meiner Großeltern, und 24
ich erinnere mich an dieses Haus als einer großen, provisorischen Lagerhalle für Emigranten. In manchen Nächten konnte ich nicht einmal bei meiner Großmutter schlafen, also improvisierten sie ein Bett aus zwei Stühlen und dem Zuschneidebrett meiner Mutter. Ich war sehr klein, aber ich kann mich noch genau an die Ankunft von Mariquita erinnern, mit ihren Eltern und einem kleinen Mädchen, fast noch ein Baby, das war ihre Schwester Encarnación. Sie war sehr krank, sie hatte eine starke Mittelohrentzündung, und der Kas senarzt verschrieb ihr Penizillin, stell dir vor – das war damals wie ein Zaubermittel, diese kleinen Spielzeugfläschchen, und das Ver mischen des weißen Pulvers mit destilliertem Wasser war auch wie ein Spiel. Sie blieben mehrere Monate bei uns, bis der älteste Sohn eine Hütte in Torre Baró aufgetan hatte. Sie hatten nicht viel Glück. Mariquita fand Arbeit bei Aismalíbar, heiratete dann und bekam Kinder; der, den du heute gesehen hast, ist der mittlere. Aber die Alten hatten kein Glück, er starb an Tuberkulose, und sie ging mit der kleinen Tochter Encarnación zurück nach Águilas, um eine rei che alte Tante zu versorgen, ich glaube, sie war die einzige Reiche, die es je in unserer Familie gegeben hatte. Von da an verlief das Leben der beiden Schwestern getrennt und sehr unterschiedlich. Mariquita heiratete einen sehr guten Jungen, sehr fleißig, den sie bei Aismalíbar kennengelernt hatte. Encarnación arbeitete zuerst als Dienstmädchen in einem Arzthaushalt in Cartagena, dann in den Fabriken von Muñoz Calero, noch ein Name, der mir plötzlich ein gefallen ist, in Águilas. Dort wurden Feigen getrocknet oder Kapern eingelegt. Bis plötzlich das Unerwartete geschah: Sie lernte einen piekfeinen Sommergast kennen, einen Gutsbesitzer aus Albacete, der sich auf die Auswahlprüfung für das Notariat vorberei tete, aber seine Familie hatte so viel Geld, daß er es gar nicht nötig gehabt hätte, Notar oder sonst etwas zu werden. Keiner aus der Familie hat je erfahren, wie das alles zustande kam. Verliebt, verlobt, verheiratet. Und mit der Hochzeit zog sich Encarnación total von der Familie zurück. Nur ab und zu kam sie nach Águilas, um ihre Mutter zu besuchen, und sie hat sie nur ein einziges Mal zu sich nach Albacete eingeladen, über Weihnachten. Meine Tante wurde krank, Mariquita holte sie nach Montcada, Mariquita wohnte in Montcada, und als sich ihr Zustand verschlechterte, blieb nichts anderes mehr übrig, als sie in die Mundet-Altersheime zu geben, damit sie gepflegt werden konnte. Als die alte Frau starb, kam En25
carnación zur Beerdigung, aber ohne ihren Mann, und so vornehm, daß sie Grace Kelly glatt in den Schatten gestellt hätte, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie vornehm sie war. Das, was eines von ihren Kleidern gekostet hatte, mußte für meine Kleidung das ganze Jahr lang reichen, ich will mich nicht beklagen, aber stell dir Mariquita vor und die ganzen anderen armen Verwandten. Sie standen alle da, als wäre sie eine außerirdische Erscheinung. Zu allem anderen hatte sie sich ein Auto mit Chauffeur gemietet! Sie war es, das Mädchen, das immer geweint hatte, das bei uns zu Hause gewesen war, mit einer so schlimmen Mittelohrentzündung, daß man stechen mußte, um den Eiter abfließen zu lassen. Ich sprach mit ihr, ich erzählte ihr alles, aber ich hatte den Eindruck, daß sie sich nicht gerne an jene Jahre erinnerte. Sehr liebenswürdig, das war sie schon, aber kälter als meine Füße im Winter, Pepe, kalt wie eine Botschafterin vom Nordpol. Lach nicht, Pepe, ich hatte sehr viel Mitleid mit ihr, denn sie wirkte, als hätte sie ihre Stöckelschuhe nötig, um über uns zu stehen. Das übrige weiß ich, weil Mariquita es mir erzählt hat. Man fand die Leiche, also die einzelnen Stücke, von denen dir dieses Sie benmonatskind erzählt hat, zum Teil in einer Tonne, zum Teil in Sant Boi, hinter der Colonia Güell. Ein Hund witterte sie, begann zu scharren und dann kam alles zum Vorschein. Als es gelungen war, dieses Schlachtfest zu identifizieren, wurde der Ehemann gerufen, und von ihm erfuhr die Familie, was geschehen war. Keiner weiß, was diese Frau in Barcelona tat, auch wenn ihr Mann erklärte, sie sei ab und zu nach Barcelona gefahren, um sich untersuchen zu lassen, mal waren es die Nieren, mal die Augen, sie hatten keine Kinder und man sieht, daß Encarna sehr neurotisch war. So wie es aussieht, wurde sie erschlagen und dann zerstückelt, um sie un kenntlich zu machen. Ich weiß nicht, das ist alles sehr durcheinan der, und niemand weiß genau Bescheid. Der Ehemann stellte keine Nachforschungen an, für ihn war die Sache erledigt, kaum hatte er sie gesehen. Er fuhr nach Albacete zurück, und niemand hat gese hen, ob er eine Träne vergoß. Die arme Mariquita ließ er total am Boden zerstört zurück, Pepe, sie kann nicht einmal mehr schlafen, weil sie darüber nachgrübelt, was sie für ihre Schwester noch tun könnte. Und das, obwohl ich ihr sage, sie soll damit aufhören, denn die Tante war reichlich hochnäsig, und sie machte den Eindruck, als hätte sie alles und brauche nichts und niemanden. Trotzdem läßt sich Mariquita nicht überzeugen, und, als wäre das noch nicht ge26
nug, dann kommt dieses Siebenmonatskind oder der Autodidakt, wie du sagst, also der kommt und hat den ganzen Tag offenbar nichts anderes zu tun, als in den Resten dieser Geschichte herumzu stochern. Er ist fest davon überzeugt, daß bei der ganzen Geschichte irgend etwas nicht stimmt, daß dieses Verbrechen etwas Dunkles, Unheimliches umgibt und daß man es nicht einfach einem in Panik geratenen Vergewaltiger zuschreiben kann, der sich die Leiche vom Hals schaffen wollte. Das war ein Racheakt, be hauptet die Frühgeburt, und darauf hat Mariquita nur gewartet. Sie grübelt und grübelt und lebt gar nicht mehr richtig – als ob sie nicht schon genug Probleme hätte mit ihrem arbeitslosen Mann, der halb übergeschnappt ist, ihrem einen Sohn beim Militär, ihrem anderen Sohn, der untertauchen mußte, weil die Polizei wegen Drogen hin ter ihm her ist, mit den zwei Kleinen, die den Eltern noch auf der Tasche liegen, und dem Jungen, den du kennengelernt hast – er will studieren und Journalist werden –, kurz und gut, alles bleibt an ihr hängen. Sie tut mir sehr leid, und ich will ihr helfen, außerdem ist es die einzige Verwandte, die mir noch geblieben ist, und ich weiß, meiner Mutter würde es gefallen, wenn ich ihr helfe. Bis zu ihrem Tod hat meine Mutter immer an die Geburtstage und Namenstage der ganzen Verwandtschaft gedacht. Ich bezahle dir, was du ver langst, und die Frühgeburt hat gesagt, er würde auch seinen Teil beisteuern, warum, weiß ich nicht; aber der Kerl ist sehr an der Geschichte interessiert, er ist mit Andrés befreundet, dem Sohn von Mariquita. Vielleicht würde der Ehemann auch noch etwas dazu beitragen, wenn er erfährt, daß der Fall noch nicht abgeschlossen ist. Was meinst du dazu?» Charos Gesicht bestand fast nur aus zwei Augen, die im Halb dunkel glänzten. Ein gelber Lichtstrahl fiel aus dem Türspalt, der das Büro mit dem kleinen Reich verband, wo Biscuter schlief und die Küche regierte. Er stand gerade unter der Dusche, man hörte das Plätschern und das gutgelaunte, zarte Pfeifen von ‹C’est si bon›. «Entschuldige, Pepe, es war beinahe ein Überfall, aber Mariquita hatte mich gestern angerufen, und ich wußte außer dir niemanden, der uns helfen könnte.» Auf den Ramblas brannten inzwischen die letzten Lichter von 983. Morgen würden sie ein neues Jahr erleuchten. Ein Peitschen schlag der Zeit traf Carvalhos Herz, vielleicht war es auch nur ein 27
verspätetes Herzklopfen, eine Spätfolge der Geschichte, die Charo erzählt hatte. Es war sieben Uhr abends. Jemand hatte die Nacht zur richtigen Zeit herbeigerufen und ‹Singing Bells› aufgelegt, das aus einem Plattengeschäft in der Nähe erklang. Biscuter nahm die Me lodie pfeifend auf, voller Vorfreude auf das schöne Erlebnis, das Jahr in einem Luxusrestaurant zu beschließen, in vertrauter Runde mit Carvalho und Charo. Die Gefühle streuen Zucker ins Blut, dachte Carvalho. «Hast du irgendein Foto von der Toten?» Charo wühlte in den Tiefen ihrer Handtasche und brachte schließlich einen blauen Umschlag zum Vorschein, den sie Carvalho übergab. Er knipste die Schreibtischlampe an und hielt das Foto, das er aus dem Umschlag herauszog, wie einen gefangenen Vogel in der hohlen Hand unter das harte, weiße Licht. «Das war sie als Kind.» «Das ist das Foto, das Mariquita noch hatte. Damals war sie sech zehn.» Sie war ein zartes, dunkelhäutiges Mädchen mit großen schwarzen Augen und einem Mund, den man sinnlich nennen konnte, ob wohl sie zuviel Lippenstift aufgetragen hatte. Im Hintergrund sah man ein tanzendes Paar und den Teil eines Orchesters, des ‹Orquesta Fascinación›. Auf der Rückseite stand ‹Águilas, August 95, beim Tanz zu La Niña de Puerto Rico, Küßchen›. Darunter die Un terschrift einer Schülerin, die wenig Lust zu schreiben hatte, ein ‹Encarna› so dick wie eine Kartoffel dahingeschmiert, von einem Schnörkel eingekreist, der wie eine Grenzlinie zwischen dem Na menszug und dem Rest der Welt wirkte. Noch einmal besah er sich das Gesicht im Schein der Lampe, und trotz des Alters der Blitz lichtaufnahme, die von einem Dorffotografen stammen mußte, war da ein gewisses Etwas in ihrer Erscheinung, das Carvalhos Blick fesselte. Etwas zwischen Anwesend- und Abwesendsein, zwischen Lächeln und nicht Lächeln, ein Foto ‹Zur Erinnerung›. Sicher hatte ihre Mutter sie zum Fotografen geschickt, um das Bild ihrer Schwester zu schicken, ‹damit sie dich in dem neuen Kleid sieht› – aber das Mädchen war nicht bei der Sache gewesen. «Sie war hübsch.» «Sehr hübsch und sehr zart. Meine Tante war auch sehr hübsch, Mariquita ist auch kein Monster, auch wenn sie sehr gealtert ist bei dem Leben, das sie führt, die Arme.» 28
«Gibt es keine neueren Fotos? Oder Briefe?» Charo schüttelte den Kopf, und Carvalho wiederholte das Nein, als spreche er mit sich selbst. «Weißt du, was du da von mir verlangst? Ich soll etwas exhumie ren, das nach Verwesung stinkt, Stück für Stück, ohne Hilfe der Polizei, ohne das geringste Interesse von Seiten des Ehemannes, lediglich mit dem Interesse, das deine Cousine hat, du und dieser verdammte Autodidakt, den ich absichtlich nicht gefragt habe, in welcher Fachrichtung er Autodidakt ist.» «Er hat ein Geschäft für elektrische Haushaltsgeräte in Montcada.» «Ein solventer Klient.» Biscuter unterbrach die beiden und ergriff Besitz von dem Zim mer, indem er die Deckenbeleuchtung einschaltete. «Na, wie gefalle ich euch?» Er trug ein schwarzes Cordsamtjackett, eine graue Hose, ein blaues Hemd mit silbernen Manschettenknöpfen und eine karme sinrote Krawatte auf dem haarlosen Froschkörper, mit dem ihn die Natur ausgestattet hatte. Charo applaudierte, Carvalho meinte nur: «Du wirst bestimmt Ballkönigin!» Biscuter drehte sich einmal um sich selbst und erklärte: «Wenn man sich schon fein machen muß … wenn schon, denn schon, Chef! Ich kann doch meine Freunde nicht blamieren.»
Vielleicht im Vertrauen auf die unerschöpfliche Helligkeit der Tro pen hatten die Architekten es versäumt, den Garten mit genügend Lichtquellen auszustatten, um die Nacht, besonders die letzte Nacht des Jahres, im Sternenhimmel verschwinden zu lassen. Aber es gab keine Sterne mehr, oder sie waren in der Finsternis der Wol ken gefangen, und eine kalte Brise schaukelte die bunten Glühbir nen, die unruhige Schatten warfen. Unter dem Hin und Her von Licht und Schatten dominierte die einstudierte Steifheit der fest lichen Paare, die allmählich mit der Ruhe, die das im voraus Genos sene und das im voraus Bezahlte verleiht, an den Tischen im Freien Platz nahmen. Abseits an einem kleinen Tisch, weit entfernt von dem Orchester am schlafenden Swimmingpool, beobachtete Ginés den Rhythmus der ankommenden Paare, die manchmal einfach, 29
manchmal doppelt oder drei- oder vierfach, immer jedoch als Paare auftraten. Einige schleppten gelangweilte Kinder oder Jugendliche mit, die sich auf das Abenteuer der langen Nacht freuten. Es kamen hellhäutige Paare, die wegen des schlechten Wetters im Holiday Inn festsaßen und keinen Platz in einer Fokker nach Tobago bekommen hatten, aber vor allem gutbetuchte schwarze und indische Paare aus Port of Spain, die sich die Karte für das Bankett im Holiday Inn leisten konnten, das zweitbeste in der Stadt nach dem vielgepriese nen Bankett im Hilton. Dunkelhäutiger Mittelstand, Besitzer der Geschäfte dieser Hafenstadt, Vorarbeiter in der Asphalt- und Kopraverarbeitung und Vertreter ausländischer Firmen, die Port of Spain das alltägliche Aussehen eines Popgemäldes verliehen hatten, gemalt von einem Naiven, dessen Augen die Fülle der Collagen aus Steelbandfässern und Coca-Cola, Volkswagen und Leguanen kaum fassen konnten. Die Weißen waren Nordamerikaner in gelbkarier ten Anzügen à la Prince of Wales oder schmachtende Venezuelaner, in deren Venen ein Erdölderivat zirkulierte. Sie wurden bedient von schwarzen oder farbigen Streikbreche rinnen, die mit gezücktem Holiday-Inn-Kugelschreiber die Zauber tränke zum Jahreswechsel notierten. Ihre Indifferenz gegenüber Coca-Cola, Bier oder Matheus Rosé konnte sich schlagartig än dern, wenn jemand, wie Ginés, ausnahmsweise einen normalen Moët Chandon oder gar einen Elsäßer bestellte und dafür einen Preis bezahlte, der den Preisen auf einer Weltraumstation entspro chen hätte. In diesem Falle studierte die Bedienung den Gast mit prüfendem Blick, als sehe er aus wie eine Fünfzigdollarnote, als Trinkgeld zu den fünfzig Dollars gedacht, die er schon für das kalte Büfett bezahlt hatte. Dort gab es gedünstete Maiskolben, Fischcurrys, geschmorten Schweinerücken, gekochte Linsen, Roastbeef, süße Bohnen, Reis, tropische Fruchtsalate, Kuchen mit Meringen aus steinhartem Karton und Konfitüren in optimistischen Traumfarben für die tropisch eleganten Paare, die brav davor Schlange standen. Man hätte sie für Schweizer halten können, ob wohl sie sich aus Angst vor der Meinung der Leute noch neutraler verhielten. Die meisten von ihnen waren um die dreißig und gaben sich große Mühe, die entsprechende Rolle in dieser Imitation nord amerikanischer Fernsehfilme über Banketts an Bord eines Vergnü gungsdampfers in der Karibik einzunehmen. «Wollen Sie ihn ganz alleine trinken?» 30
Das war das erste Anzeichen menschlichen Zweifels einer Kell nerin, eingebracht in das einfache Protokoll des Warentauschs. «Vielleicht will ich ihn mir auch nur ansehen. Möchten Sie auch ein Glas?» «Das ist strikt verboten.» ‹Wofür halten Sie mich eigentlich?› entgegneten ihre plötzlich eis kalt gewordenen Augen. Ginés schob den kaum berührten Teller zurück, schenkte sich ein Glas ein und prostete den Paaren zu, die sich allmählich auf die Tanzfläche wagten und sich mit der Vorsicht von Sklaven bewegten, die zeigen wollten, daß sie ihre Lektion gelernt haben. Die einzigen, die obszön mit dem Arsch wackelten und lauthals lachten, waren die weißen Nordamerikaner, die sich entschlossen einredeten, sie seien heute ungeheuer happy. Die Kellnerin stellte ihm die Champagnerflasche auf den Tisch, dazu ein großes Glas mit Fruchtsalat. In diesem Moment dröhnte ein Donnerschlag, ohne weitere Vorwarnung prasselte der Regen los, schwarz wie die Wolkennacht, und die Leute legten ihre Steifheit ab, um ihre Kleidung in Sicherheit zu bringen, flohen unter die Vordächer oder in die Salons, und die Musiker des Orchesters deckten ihre elektronischen Instrumente mit Plastik ab, bevor sie flüchteten, wobei ihre tropisch leichten Bolerojäckchen in den gedämpften Farben von gnadenlosen Fluten aufgeweicht wurden. Diese Flucht war das einzigartige Abenteuer, das die Nacht bereit hielt, und die Menschen waren aufgeregt von dieser Abwechslung, sie sprachen mehr und lauter, die Kinder streiften das Korsett des Man-darf-nicht ab und die Erwachsenen ihre Komplexe wegen der Exklusivität des Empfangs. Ein Musiker hockte sich vor ein Bongo und entlockte dem ge spannten Fell Töne und Rhythmen mit Händen, die aus einem sel tenen schwarzen Metall zu sein schienen. Schließlich antworteten die Leiber der geheimen Botschaft seiner Musik und scharten sich um den Percussionisten, gaben sich mehr und mehr einem intimen Rhythmus hin und verwandelten sich nach kurzer Zeit in eine menschliche Sturzflut, die ekstatisch hin und her wogte. Ginés hatte das Bedürfnis, sich von innen zu erleuchten, und lief durch den Regen, um seine Champagnerflasche zu holen. Sie ent hielt mehr Wasser als Champagner, und angesichts dieser Tatsache blieb er bei dem gesunkenen Schiff. Die einzige Rettung war der 31
zum zweiten Mal gewaschene Fruchtsalat, den er in kleinen Happen verwaschener Buntheit aufaß. Vor sich das Bild der an chinesi sche Schattenspieler erinnernden Tänzer hinter den Scheiben. An seinem Körper perlte der Regen ab, als sei er zu nichts anderem geschaffen. Er empfing ihn mit dem Kopf, dann flossen ihm die Bäche über Gesicht und Schultern, durchnäßten sein Hemd und vermittelten ihm eine Lust am Wasser, wie sie nur der Flüchtling aus einem Land der Dürre empfinden kann. Er sah sich selbst in den trockenen Flußbetten von Águilas, wie er Espartogras zog, die Nase erfüllt von dem Geruch des scharfen, festen Staubes. In der Nähe sah er die Silhouette des Grünen Häuschens und unmittelbar vor sich die Straße nach Terreros, zu den Salinen, nach Almería. Damals war das Wasser ein Fest und auch ein Kampf gewe sen. Er erinnerte sich an die Wasserverkäufer mit ihren Eseln und an die Frauen, die an den Brunnen Schlange gestanden hatten. Um fünf Uhr nachmittags, pünktlich, wenn die Beschränkung aufgehoben wurde, waren sie mit ihren Wasserkrügen auf die Straße gestürzt, um mit immer denselben Gesten einer Verpflichtung nachzugehen, mit der sie zur Welt gekommen waren. «Mach dir ja nicht die Füße naß! Die Verstopfung kommt durch die Füße in den Körper.» Wer hatte ihm das zum erstenmal gesagt? Wann? Aber was sollte das, in dieser verlorenen Nacht zwischen zwei grauenhaften Jahren, so grauenhaft wie jedes andere seiner vierzig Lebensjahre. Er war ein Fremder im Regen dieses tropischen Landes, das keinerlei Attraktionen besaß außer einem Asphaltsee und zweimal fünfzig Prozent Indern und Schwarzen, die einander im Kampf um die Hegemonie von geschmortem Schweinerücken oder Fischcurry von Zeit zu Zeit umbrachten. Diese Insel existiert überhaupt nicht. Ist das nicht genau das, was ich suche? Wozu im ewig gleichen Kielwasser zurückfahren und sich selbst betrügen mit der Möglichkeit, hinter dem Bosporus unterzutauchen? Zwischen den Türmen von Rumeli Hissar hindurchfahren, vorgewarnt von den Blicken von Seglern, die nicht weiter konnten: Dort beginnt der Abgrund, hinter den Burgen von Murat IV. hört die Welt auf, das Schwarze Meer ist ein Schlund ohne Wiederkehr. So hatte es ihm einmal ein Matrose erzählt, inspiriert von Alkohol und Mythologie. «Man muß einen Ort bestimmen, an dem die Welt zu Ende ist. 32
Andernfalls müßten wir uns ewig und immer wieder im Kreis dre hen. Von allen Meeren, die ich kenne, eignet sich das Schwarze Meer am besten dazu, das Ende der Welt zu sein.» Fieberschauer schüttelten ihn wie Elektroschocks. Der Regen hatte nachgelassen, und ein paar vorwitzige Köpfe lugten in den verlassenen Garten hinaus. Er machte sich auf den Weg ins Hotelin nere. Sollte er auf die Straße hinausgehen, in die Nacht von Port of Spain mit ihren durchnäßten Calypsos, oder ins Bett? Die Zeiger der Uhr an der Rezeption zeigten das Alter des neuen Jahres an: zwanzig Minuten. Mit seinem Zimmerschlüssel bekam er ein Tele gramm ausgehändigt, das sein Herz stocken ließ: «Was hast du vor? Die Rosa de Alejandría liegt immer noch in La Guayra. Bis zum . Januar. Germán.»
Der schnurrbärtige Wirt des Restaurants La Odisea, zugleich Maître und Chefkoch, war von einer hohen, weißen Mütze gekrönt, so daß er aussah wie ein Musketier, der sich als Koch verkleidet hatte, um Kardinal Richelieu zu entkommen. Er sprach nicht in Versen, obwohl er ein Dichter war, aber er folgte einem geheimen Rhyth mus, als er die Speisenfolge des Silvesterbanketts vortrug. Das Restaurant lag, hundert Meter von der Kathedrale und ebenso weit von der Jefatura SupeRíor de Policía entfernt, in einer Gasse mit dem schönen Namen ‹Copons› – Hostienkelche. Der Name erinnerte Carvalho an die koffeinfreien Blasphemien seines Vaters, sein ‹Ich scheiße auf den Coupon›, das sich aber nie zu einem ‹Ich scheiße auf den ‹copon›› gesteigert hatte. «Vorspeise: Miesmuscheln mit Knoblauchmousse, Anchovis in Blätterteig, kleine Leckerbissen, dazu Wein aus der eigenen Kellerei Cava Odisea.» Ohne mit der Wimper zu zucken, erklärte der Gastronom, daß auch noch ein Mas-Via de Mestres, Jahrgang 97, zur Verfügung stehe. «Endiviensalat mit Entenleber in Essig aus eigenen Weinen, Pa stete mit Pilzen ‹aux fines herbes›, Wolfsbarsch mit Austern und schwarzen Oliven, Wildschweinpfeffer mit Kastanienpüree, Sorbet von Kakifrüchten, panierter Camembert mit Tomatenkonfitüre, Mokka-Blätterteig, Gebäck nach Wahl und Kaffee.» 33
Zum Hauptgang gab es einen weißen Reserve Chardonay Raimat und einen roten Odisea, Jahrgang 78. Der Maître wahrte Distanz zu ihnen, obwohl Carvalho wegen seiner Gänseleber-Spe zialitäten häufig bei ihm zu Gast war, aber er kannte Charo und Biscuter noch nicht. Dieser Fötus flößte mit seiner aufgesetzten Großtuerei wenig Respekt ein, Charo dagegen wußte sich zu be nehmen, und ihre Schönheit kam vorteilhaft zur Geltung durch ein weißes Make-up und Lidschatten wie die Kameliendame in der letzten Etappe ihrer Rolle und ihres Lebens. «Für fünftausend Piepen können Sie das schon alles herausrükken, Chef!» Das ‹Chef› galt dem Maître, dem Carvalho entschuldigend zu zwinkerte. «Antonio, mein Freund ist nämlich ein Konkurrent von dir.» «Besitzt er ein Restaurant?» «Es ist eher ein Klo mit Küche als ein Restaurant, aber dort voll bringt er wahre Wunder.» «Also, wenn ich die nötigen Voraussetzungen hätte, Chef, wenn ich die technischen Mittel hätte …!» Das vorzügliche Menü ließ Biscuters kritische Reserviertheit im mer mehr dahinschmelzen, so daß er schließlich jedesmal, wenn sich der Besitzer näherte, die Gelegenheit wahrnahm, um ihn zu loben. Als sie beim überbackenen Camembert mit Tomatenkonfi türe angelangt waren, ging er sogar so weit, dem Maître die Hand zu drücken und so laut, daß es im halben Restaurant zu hören war, auszurufen: «Ich gratuliere Ihnen! Nur ein Genie kann auf den Ge danken kommen, einen Camembert zu überbacken!» Der Wein und die Kalorien hatten sein Gesicht gerötet, und als er wieder am Tisch saß, gab er Charo ein Küßchen und erklärte: «Ich mußte das einfach sagen, weil es ein verdammt gutes Abendessen war, Chef, einfach großartig, und ich und Sie, Chef, wir beide können das beurteilen, weil wir etwas davon verstehen! Und Sie, Señorita Charo, müssen durch den Umgang mit uns auch schon eine Expertin sein. Uns führt man nicht so einfach mit ein paar Tricks hinters Licht. Wir wissen es zu schätzen, wenn gute Ideen gut aus geführt sind. Korrekte Arbeit, stimmt’s, Chef?» «Laß mich aus dem Spiel, Biscuter, ich hab keine Ahnung vom Kochen. Mir schmeckt es gut und damit basta. Ihr seid die Experten, du und Pepe!» 34
Antonio kam, setzte sich zu dem Trio an den Tisch und plauderte mit ihnen darüber, was sie gerade gegessen hatten. Biscuter lobte ihn rückhaltlos. «Das Korrekteste von allem war der überbackene Camembert, Chef, und das sage ich nicht nur wegen des Geschmacks, sondern wegen der Idee! Auf die Idee kommt es an!» Unentschieden, ob er sich beleidigt oder geschmeichelt fühlen sollte, unterhielt sich der Besitzer mit Biscuter wie mit der Puppe eines Bauchredners oder einem altklugen Kind. Aber Carvalhos Schildknappe war begeistert von seiner Rolle und seiner Krawatte und schloß die kleinen Äuglein, um sie vor dem Rauch der ‹Chur chill Romeo und Julia› zu schützen, aber auch, um sich nichts von all den wissenschaftlichen Ausführungen entgehen zu lassen, die aus dem Munde des Besitzers kamen. Charo lauschte dieser dialek tischen Begegnung mit offenem Mund, und Carvalho betrachtete Biscuter voll Staunen und mit einer gewissen Besorgtheit; von Zeit zu Zeit empfing er auch skeptische Blicke von seinem Schüler, der Aufmerksamkeit und Bestätigung für seine Ausführungen suchte. Biscuter legte seinen kleinen, kurzen und durchsichtigen Finger an seine gewölbte, umnebelte Stirn. «Mein Lehrmeister, Señor Carvalho, hat hundertmal zu mir ge sagt: Zuerst erscheint das Bild, dann die Idee dieses Bildes, und wenn du es verwirklichst, stützt sich ununterbrochen eins auf das andere. Das heißt also, man hat die Vorstellung von einem Stock fisch mit Honig, man sieht ihn vor sich, genau wie auf einer Post karte oder einem Rezept in einer Modezeitung, aber dabei bleibt es nicht. Außerdem, diese Vorstellung bleibt so lange unvollständig, bis sie in die Tat umgesetzt wird, so lange fehlt ihr etwas, gerade als sei sie nicht damit zufrieden, nur ein Bild zu sein. Und was den Wolfsbarsch mit Austern angeht, Chef, ein phantastisches Essen, sehr, sehr lecker, und ebenfalls eine gute Idee! Man merkt gleich, daß Sie sich etwas dabei denken, wenn Sie kochen!» Als er von Biscuters Weisheiten genug hatte, entschuldigte sich Antonio und ging, um mit anderen Gästen zu plaudern. Carvalho blieb die vergnügliche Aufgabe, Biscuter zu gratulieren, während ihnen ein Marc de Champagne serviert wurde, eine Aufmerksamkeit des Wirtes, der Biscuter aus der Ferne zuprostete. Dieser wollte sich revanchieren, er erhob sich, obwohl Charo ihn von hinten am Jackett zog, und rief mit geschwollenen Augen, die beinahe aus den 35
Höhlen sprangen: «Ein Prosit auf diesen großartigen Kerl, der uns das Essen gemacht hat!» Nach der anfänglichen Befremdung derer, die in der Nähe saßen, wurden hier und dort Gläser erhoben, aus Jux oder aus alkoholisierter Solidarität. Antonio nahm die improvi sierte Hauptrolle gern an, und die Flasche Marc de Champagne blieb für die halbe Stunde, die noch bis Mitternacht und zum rituellen Glockenläuten fehlte, auf dem Tisch bei Biscuter, Carvalho und Charo. Die Gäste hatten Tellerchen mit Weintrauben vor sich stehen, und als die Glocken klangen, stopften sie sie sich mit der Pünktlichkeit einer Digitaluhr unter Husten und Tränen der Hoffnung und des Verschluckens in den Mund. Beim letzten Glokkenschlag umarmte und küßte man sich an jedem Tisch, einige machten auch den Versuch und schafften es manchmal sogar, wild fremden Menschen die Hand zu drücken, verbunden im gemeinsa men Erlebnis des Banketts und des Jahreswechsels. «Wie schön, Chef, wie schön!» sagte Biscuter mit Tränen in den Augen. «Ich muß gerade an eine andere Silvesternacht denken, Chef, im Gefängnis von Lerida. Ich glaube, Sie waren auch dabei. Antonio ‹El Cachas Negras› sang mit viel Temperament, und die Beamten waren so nett in dieser Nacht, nicht wahr, Chef? Erinnern Sie sich noch an diese Tortilla aus fünf Kilo Kartoffeln, die ich für euch Politische gemacht hatte? Wir aßen sie mit den Aluminiumlöf feln, sie war ausgezeichnet. Alle waren betrunken, und die Beamten tanzten Cancan auf dem Flur.» Draußen auf der Straße sang Biscuter, aber er war nicht der ein zige. Charo schlug vor, zur Plaza del Rey zu gehen und den Fleck anzusehen, der dort seit Jahrhunderten auf den Stufen des Palacio del Tinell zu sehen war. «Sie rissen einem Caballero das Herz aus der Brust, und dort fiel es zu Boden. Der Fleck konnte nie entfernt werden.» Biscuter hatte eine Taschenlampe mitgenommen, um auf der Treppe zu seinem Zimmerchen nicht zu stolpern, und damit machte er sich nun auf die Suche nach dem Blutfleck. «Hier! Hier!» Es konnte ein jahrhundertealter Blutfleck sein, aber genausogut das letzte Überbleibsel eines der armen Straßenköter, die den Jah reswechsel miterlebt hatten, ohne daß sich ihre Lage geändert hätte oder bessere Zeiten in Sicht gekommen wären. Aus der Manteltasche zog Biscuter die Flasche mit dem restlichen Marc de Cham36
pagne und kam Carvalhos Frage gleich mit einer passenden Antwort zuvor: «Er hat sie uns geschenkt, und es wäre eine Beleidigung gewesen, sie nicht auszutrinken – aber andererseits wäre es zu weit gegangen, die ganze Nacht dort sitzen zu bleiben, bis sie leer gewesen wäre.»»Sie tranken sie nun auf der Straße aus, und Carvalho stieg auf einen Ford Sierra, um ein Gedicht vorzutragen, das in seinem Kopf aus einem vergessenen Friedhof von Worten aufgetaucht war: Es gibt schon so viele Leichen, begraben oder unbegraben quasi lebendig in tödlichen Konzentrationen … Es gibt so viele Gefangene und Erniedrigte, die im Unrecht ersticken … Es gibt so viele Vaterländer, die zum Grab geworden, daß man ausrufen kann den Frieden. Der Kreuzzug * ist zu Ende, es lebe der Führer! Für Biscuter war der letzte Satz ein Hoch auf Carvalho. Er schrie mit der schrillen Stimme eines Spatzen, der plötzlich die Größe eines Kondors erreicht hat. Für Charo war es ein trauriges Gedicht, das sie zu Tränen rührte. «Sehr schön, Pepiño, sehr schön. Aber erzähle uns lieber etwas Fröhliches, komm, heute ist eine besondere Nacht!» Biscuter war schon außer Rand und Band. Er tanzte alleine eine Jota, einen Tanz aus Navarra, und störte die Nachtruhe, indem er mit sich überschlagender Stimme das Lied grölte: «Der Wein von Asunción ist nicht weiß und nicht rot, er hat keine Farbe …»
Er erwachte am Nachmittag des . Januar 98, nackt und ohne Decke auf dem Bett liegend, und fror, war aber zufrieden, daß er fast den ganzen Tag verschlafen hatte. Der . Januar müßte eigent lich verboten sein, der . ebenso. Das Jahr sollte erst am . März * Anspielung auf Bürgerkrieg und Franco (A. d. Ü.)
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beginnen. Er war überrascht, daß sein Kopf klar genug war, um derart tiefsinnige Überlegungen anzustellen, und schlief wieder ein. Als er dann um neun Uhr wieder erwachte und drei warnende Stiche in der Lebergegend spürte, wurde ihm erst richtig bewußt, wieviel er in der vergangenen Nacht getrunken hatte – und daß in dem Moment, als er auf ein Auto stieg, sein Film gerissen sein mußte. Was war wohl aus Charo und Biscuter geworden? Er tappte wie ein Fremder durch das ganze Haus und rief sie mit lauter Stimme, falls sie sich vor ihm versteckt hielten oder ihren Rausch in einem abgelegenen Winkel ausschliefen. Keine Spur von den beiden. Vielleicht hatte er sie im Straßengraben sitzen lassen, und sie waren im Schnee erfroren. Unmöglich. Es hatte nicht geschneit. Aus den immer noch vollen Regalen nahm er «Landschaft in klarem Licht» von Carlos Fuentes, einem mexikanischen Schriftsteller, den er in seiner Zeit als CIA-Agent in New York kennengelernt hatte. Er hatte auf ihn den Eindruck eines Intellektuellen gemacht, der viel Profil hatte, zumindest hatte er ihm bei der Begrüßung sein Profil gezeigt – er hatte nach Osten geblickt, als er ihm die Hand gab. Carvalho war von ihm derart unhöflich behandelt worden, ohne daß dieser mexikanische Bauer eine Ahnung davon gehabt hätte, daß ein CIA-Mann vor ihm stand. Dieses Wissen hätte immerhin sein Verhalten ideologisch gerechtfertigt. Aber Carlos Fuentes hatte keinen Grund gehabt, ihm so verächtlich die Hand zu geben und dabei nach Osten zu blicken. Sie waren sich im Haus einer jüdischen Hispanistin und Schriftstellerin namens Barbara begegnet. Er hatte sie im Auftrag des State Department überwacht, denn es bestand der Verdacht, daß in ihrem Haus eine heimliche Landung in Spanien vorbereitet wurde mit dem Ziel, Franco zu entführen und durch Juan Goytisolo zu ersetzen. Der Kulturbeauftragte der spanischen Botschaft hatte ihm hinter vorgehaltener Hand erzählt, welche Sorte Mensch er auf dieser Party treffen würde. «Kein einziger von den roten Francogegnern fehlt! Die Frau fühlt sich als Witwe ‹in pectore› von diesem Roten – Dashiell Hammett.» Carvalho hatte später einen Bericht für den CIA verfaßt, in dem er zu zeigen versuchte, daß es harmlose Leute waren, die Zuwen dung brauchten, wie die meisten Menschen. Vielleicht war es auch nicht ganz so gewesen, auf jeden Fall hatte Carlos Fuentes ihn ohne jede Berechtigung so respektlos behandelt, und sein Roman würde nun als Grundlage für das Kaminfeuer dienen, das ihm Haus und 38
Seele etwas anwärmen sollte. Er schlachtete das Buch, riß die Seiten heraus und errichtete darüber den Holzstoß. Das brennende Streichholz wurde zum Epizentrum einer Flamme, die literarisch begann und sich in eine gespenstische Spitze aus Rauch und Verlangen ausbreitete. Während das Feuer größer wurde, schätzte er aus dem Augenwinkel ab, wie viele Bücher ihm noch blieben. Es reichte, um weiterhin Stück für Stück zu verbrennen – Bücher, die er einmal gebraucht, sogar geliebt hatte in einer Zeit, als er noch der Meinung gewesen war, Wörter hätten etwas mit der Wirklich keit und dem Leben zu tun. Genügend Heizmaterial für die Zeit, die er noch lebte und bei Kräften war, um seinen eigenen Kamin anzu zünden. Eines Tages würde er auf der Straße stürzen, vielleicht auch genau in diesem Zimmer hier, und dann würde man ihn zu einer Sammelstelle für alte Menschen bringen, zur Strafe dafür, daß er nichts gegen das Altwerden unternommen hatte. Der Kampf der Leber mit dem Alkohol, den sie zu absorbieren hatte, setzte in sei nem Innern titanische Zellprozesse in Gang, die ihn dazu zwangen, sich auf dem Sofa auszustrecken und nichts anderes mehr zu tun, als die Risse an der Decke zu betrachten. In den nächsten Tagen würde das Haus zusammenbrechen. Entweder das Haus oder er oder beide. Wenn das Haus zusammenbrechen würde, wären die Bücher gerettet, sie hatten weder Knochen noch Muskeln noch Gehirne, weder Leber noch Herz – Produkte eines Präparators, toter als tot. «Aber ich werde unter dem Schutt abkratzen! Wenn es wenigstens einen Brand geben würde! Mir würde es gefallen, eingeäschert zu werden.» Dieser Satz war auch nicht sein eigener, er stammte von einem schweizerischen Schriftsteller mit antischweizerischer Ge sinnung, der zwischen den Weltkriegen oder zwischen zwei Bür gerkriegen – welche, war egal – in Mode gewesen war. Ein schwei zerischer Schriftsteller, der sich abends Paellas gemacht hatte, denn er war mit den Internationalen Brigaden in Spanien gewesen. Die Küche verbindet die Völker. Der bloße Gedanke an das Wort Küche brachte seine tiefsten Gedärme in Aufruhr, und ein Wirbelsturm von Übelkeit setzte sich vom Magen aus in Bewegung – ein unmiß verständlicher Hinweis darauf, daß es sich nicht lohnte, aufzustehen. Das Beste war, diesen überflüssigen Tag verstreichen zu lassen und den ersten Arbeitstag des Jahres in besserer Verfassung anzutreten. Er schlief ein, und sofort legte sich ihm eine Hand auf die Schulter und rüttelte ihn sanft. Der Mann legte einen neutralen 39
Eifer an den Tag, wie jemand, der einem Unbekannten sein Beileid ausdrückt oder einem aufhilft, der auf der Straße gefallen ist. «Heute ist es soweit. Sie müssen ihre Gefängnisstrafe antreten!» «Aber ich habe sie schon vor Jahren abgesessen.» «Wir haben uns bei der Berechnung Ihres Strafmaßes geirrt. Es fehlen noch drei Monate.» «Drei Monate!» Und ohne Übergang war das Gefängnis da, mit malerischen, vorbildlichen Gittern, vielleicht aus Aluminium oder aus versilber tem Eisen, das im Schein einer fernen Sonne glänzte. Eine Horde grüner Beamten machte ihm klar, daß er nur noch ein Häftling war. «Wie lange muß ich noch sitzen?» «Wir sagten es schon. Drei Monate.» «Aber ich habe meine Strafe schon verbüßt, vor Jahren! Wir haben jetzt Demokratie! Es gibt keine politischen Gefangenen mehr.» «Es war ein Irrtum. Gesetz ist Gesetz!» «In der Zwischenzeit wurden Amnestien erlassen, und ich war bei der CIA.» «Die sozialistische Regierung muß das Gesetz genauer beachten als jede andere!» Der Beamte war ein aufgeblasener Wichtigtuer. Ein Beamter mit Befehlsgewalt. Seine Uniform aus dem großen Schlußverkauf des Corte Inglés hatte Ermenegildo Zegna speziell für Beamte mit Be fehlsgewalt entworfen. «Ich würde Sie ja freilassen. Aber die Opposition würde mich beschuldigen, Ihr Komplize zu sein. Ein Roter! Ich bin vorbestraft.» «Sie auch!» «Wir alle sind vorbestraft. Aber ich habe ein Attentat auf Franco vorbereitet, das nie zur Ausführung kam. Später war ich einer der Gründer der Cuadernos para el Diálogo, einer politischen Zeit schrift.» Jetzt war ihm alles klar. Der Beamte war ein Typ wie Carlos Fuentes, aber er zeigte ihm nicht sein Profil, sondern sah ihm ins Ge sicht, und Carvalhos Angst sprang auf ihn über. «Drei Monate sind schnell vorbei.» «Lassen Sie mich meine Frau und meine Kinder benachrichti gen!» «Sie haben weder Frau noch Kinder.» 40
«Stimmt.» «Aber Sie können benachrichtigen, wen Sie wollen. Spielen Sie Gitarre?» «Nein. Aber ich lerne schnell.» «Wir brauchen einen Gitarrenspieler für die lateinamerikanische Messe am Sonntag.» «Wieso lateinamerikanisch?» «Das sind die besten. Haben Sie noch nie eine miterlebt? Es gibt sogar eine lateinamerikanische Bibel. Hier! Ich schenke Ihnen eine. Sie finden darin Bildchen von Helder Camara und Fidel Castro. Die Sozialistische Internationale empfiehlt sie zwar nicht, aber ich bin sowieso nicht linientreu.» Dann kamen lange Korridore, das Geräusch der Riegel hinter ihm, wie Messer, die auf überraschten Knochen knirschen, eine Reihe metallischer Schritte, seine eigenen Schritte und eine bunte Glaskuppel, von feinen Rissen durchzogen, die immer größer wur den, und aus denen ein feiner Regen von Glassplittern in seine Au gen rieselte. Er mußte seine Augen öffnen, um nachzuprüfen, ob er noch sehen konnte, und da war die Zimmerdecke mit ihren Rissen, die Fotos seiner Toten auf dem Kaminsims, das fast erloschene Feuer, die Bücher, die Hausbar und die Uhr, die ein Uhr morgens anzeigte. 2. Januar 8. ‹Haushaltsgeräte Amperi› hatte alles von der Lampe bis zum Vi deogerät, alle denkbaren häuslichen Kaffeekannen, Schirmständer aus Messing mit eingravierten Szenen aus ‹Schwanensee›, Lampen für lebenslängliche Schlafzimmer oder für Wohnzimmer mit Fern seher und der Enzyklopädie Larousse, Radiowecker mit und ohne Alarmton, Kühlschränke mit fünf Gefrierzonen, vom Treibhaus für Kardenpilze bis zum Tiefkühlfach für Vorgefrostetes, Batterien für die Mikrokamera japanischer Spione und Kassettenrekorder mit Stereoverstärker für Wiederholungen der Mitschnitte des Weltuntergangs, Videobänder und Videofilme: «Kaspar», «Das Gespenst mit dem Zylinder», «Die heiße Julia», «Citizen Kane», «Tom und Jerry». Frauen aus der Nachbarschaft mit dem Weih nachtsgeld im Kopf und den Geschenken zum Dreikönigstag im Herzen, Hausfrauen ohne Arbeitslose in der Familie, die gerade vom Einkaufen kamen und die Festessen der ganzen Feiertage noch kaum verdaut hatten, aber schon wieder an die Cannelloni zum Dreikönigstag dachten oder vielleicht an das Experiment, ein Hähnchen 41
mit Weintrauben zu machen, wie es die Fleischerin im Supermarkt empfohlen hatte – ‹denn wenn es zum Hähnchen keine Beilage gibt, wer ißt dann überhaupt Hähnchen?›. Die Chefin von ‹Haushaltsge räte Amperi› war ein wuchtiges Möbel, reif und elegant, mit Haaren von reinstem Silber und einer blutroten, teuren Maniküre. Sie tat so, als wäre sie überfordert von den komplizierten Wünschen der Kundschaft, und rief nach Narcís. «Narcís! Narcís! Surt a la botiga que no sé que volen!»* Und Narcís kam in einem blauen Arbeitskittel, aber mit Fliege. Sein schütteres blondes Haar war etwas in Unordnung. Die Brille, hinter der er sich verschanzte, war auf die Nasenspitze gerutscht, und sein Gesicht zeigte das eiskalte Lächeln eines dünnen, kleinen, weißen Tieres. Damit war er wohl schon zur Welt gekommen. Er wußte Bescheid, was vorrätig war und was nicht. Und obwohl er sich nichts anmerken ließ, hatte er Carvalho bemerkt, der in einer Ecke des Geschäftes stand und wie in Trance einen Kühlschrank auf und zu machte, in den alle Teile einer Leiche passen würden, je nach Bedarf und Kältegrad sortiert. Die Mutter von Narcís, die stabile Dame, stand an der elektronischen Registrierkasse, klick klick, Peseten, klick klick, Peseten, die Rate für den Farbfernse her, klick klick, Pesetas, die Batterien, oder sie steckte eine Kreditkarte von ‹Visa› in den Schlitz, nicht ohne vorher in der Liste der gesperrten Karten nachgesehen zu haben, «denn die Leute von ‹Visa› sind Halsabschneider. Sobald man den Spielraum um ein paar Peseten überschreitet, kommen sie schon an und machen Ärger; das machen nämlich alles die Maschinen, wissen Sie, die machen keinen Unterschied, sie sagen ja oder nein, ohne sich nach Ihrem Vor- und Zunamen zu erkundigen.» Früher waren Kreditkarten in diesem trotz seines hohen Arbei teranteils kleinbürgerlichen Viertels selten gewesen. Plötzlich wa ren sie in den unsicheren Händen der Männer aufgetaucht, die am Samstagnachmittag einkaufen gingen und skeptisch waren, ob es funktionierte, ob es wirklich genügte, eine Karte zu zeigen, um so teure Sachen zu bekommen. «Mit der Zeit wird das Bargeld vollends verschwinden», meinte Señora Pons in einem Spanisch mit ungewöhnlichen Vokalen, einem Zugeständnis an ihre Kundschaft, die in der Mehrheit aus zugewanderten Südspaniern bestand. * «Narcís! Narcís! Komm in den Laden, ich weiß nicht, was sie wollen!»
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Carvalho war an Narcís herangetreten. «Wir sollten uns mitein ander unterhalten.» «Hier oder anderswo?» «Gleich hier, wenn es einen geeigneten Ort gibt.» «Kommen Sie mit!» Narcís ging quer durch das neonbeleuchtete Geschäft, öffnete eine Tür und winkte Carvalho ins Halbdunkel eines Hinterzim mers, das als Lagerraum diente und vollgestopft war mit Regalen und Kartons, die in einer geheimnisvollen, aber zweifellos zweck mäßigen Ordnung aufgestellt waren. Dahinter erschien plötzlich eine hellerleuchtete Zone, ein schöner Nußbaumtisch stand dort, ein ledergepolsterter Bürosessel und ein großes, brechend volles Bücherregal, das die ganze Höhe der Rückwand einnahm. Parallel zu dem Regal lief auf einer Metallschiene eine Leiter mit Rollen, die es erlaubte, in den Büchern zu stöbern. Davor auf dem Fußboden stand eine mächtige HiFi-Anlage mit Plattenspieler, Receiver und Kassettenrekorder. «Das hier ist mein Reich, meine Heimat. Hier verbringe ich Stunden, Tage, die ganze Freizeit, die mir meine Mutter mit ihren Hilferufen übrigläßt. Ist Ihnen das Lämpchen über der Tür aufge fallen, die zum Laden führt? Wenn es nicht brennt, darf meine Mut ter nach mir rufen. Wenn es brennt, dann nicht. Dann weiß sie genau, daß sie es nicht tun darf. Ich habe es ihr strikt verboten.» «Haben Sie das alles gelesen?» Narcís nickte. «Ich habe sogar ganze Abschnitte auswendig ge lernt. Ich kann fast alles von Carner auswendig. Wissen Sie, wer Carner war?» «Der Name kommt mir bekannt vor.» «Einer der größten Dichter unseres Jahrhunderts, bedeutender als Eliot, Saint-John Perse, Majakovskij … aber er war Katalane, und dafür muß man bezahlen.» «Was kostet es denn, Katalane zu sein?» «Der Preis dafür ist, daß man quasi nicht existiert. Es steht nicht einmal im Personalausweis, daß man es ist. Geschweige denn im Paß.» «Sie müssen sich in dieser Gegend sehr unwohl fühlen, die von Zugewanderten wimmelt.» «Meine Familie hat schon hier gewohnt, bevor sie kamen. Mein Großvater hatte ein Milchgeschäft am Bahnhof. Mit der Zeit wurde 43
das alte Haus abgerissen und das neue hier gebaut. Mein Vater be hielt die unteren Räume und baute dieses Geschäft auf.» «Aber Sie verkehren auch mit Zugewanderten. Sie sind ein Freund der Familie Abellán!» «Eine sehr interessante Familie, sozusagen soziologisches Mate rial für mich. Sie befinden sich mitten in der Entwicklung von Spa niern zu Katalanen. Bei Andrés wird das am deutlichsten sichtbar. Er denkt wie ein Katalane, spricht sehr gut katalanisch und kappt nach und nach die Wurzeln, die ihn mit der Welt seiner Mutter, seiner Eltern verbinden. Gut. Sein Vater zählt nicht. Er ist ein Versager. Er ist dazu verdammt, in einer Ecke zugrunde zu gehen. Er hörte auf zu sein, was er war, als die Fabrik zumachte, in der er zwanzig Jahre lang gearbeitet hatte. Ich gab ihnen den Rat, ihn in die Psychiatrie zu schicken, und Andrés war einverstanden, aber für seine Mutter war es beinahe eine Beleidigung. ‹Mein Mann ist nicht verrückt, mein Luis ist einfach nur traurig.›» «Wie haben Sie sie kennengelernt?» «Es waren Kunden. Schon als Kind ist Andrés immer gekom men, um irgend etwas zu kaufen, Kaffeefilter, Glühbirnen und so weiter. Er ist etwas jünger als ich, und wir sind befreundet, seit wir Kinder waren. Er war etwas Besonderes. Er hatte etwas eigenartig Aristokratisches … Haltung, Rasse. Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen erklären soll. Doch, ich wüßte es schon, aber das könnte ich nur schriftlich ausdrücken.» «Nicht nötig. Andrés studiert, während Sie Autodidakt sind. Andrés ist Arbeitersohn, Sie dagegen kommen aus dem Bürger tum.» «Aus dem Kleinbürgertum, wie man es früher nannte. Aber Sie haben recht, und es ist auch ganz logisch. Wenn Andrés nicht stu diert, bleibt er sein Leben lang ein mittelloser Arbeiter, während ich, auch wenn ich nicht studiere, das heißt, wenn ich keine akademische Berufsausbildung habe, immer noch über dieses Geschäft verfüge, und das verleiht mir die Sicherheit, um auf eigene Faust zu lernen. Mein Vater tat mir einen Gefallen damit, daß er mich zwang, nach dem Abitur zu arbeiten. Ich mache mein Studium im Hinterzimmer dieses Ladens. Ab und zu blicke ich auf und sehe mich selbst sozusagen in der Tiefe eines Tresors sitzen. Mehr Sicherheit gibt es nicht. Andrés dagegen muß sich abstrampeln, damit er sich einschreiben und recht und schlecht seine Informatikse44
minare besuchen kann. Er gibt Privatunterricht, arbeitet in einer Diskothek in Masrampinyo, oder er geht zur Weinlese wie letztes Jahr. Er ist sehr intelligent und hat eine gute Auffassungsgabe, aber er bekommt immer mehr Angst.» «Wovor?» «Davor, daß seine ganzen Bemühungen umsonst sind. Er kann sich nicht wie ich den Luxus leisten, Bildung eher sportlich zu se hen.» Das Grinsen verschwand nie von seinem Gesicht. Er setzte es auf, wenn er erwachte, und legte es ab, wenn er schlafen ging, wie ein künstliches Gebiß. Diese Maske ersparte es ihm, andere aufzusetzen. Er war ein praktisch denkender Mensch. «Nach dem, was Sie neulich sagten, kam der Vorschlag von Ihnen, daß ich im Fall Encarnación Abellán zu Rate gezogen wurde.» «Eigentlich erfuhren sie von Ihnen durch Ihre Freundin, ich glaube, es ist Ihre Freundin, Charo, wenn ich nicht irre.» «Wir frühstücken ab und zu zusammen.» «Es ist tatsächlich so, daß ich ihnen von jenem Tag an geraten habe, sich an Sie zu wenden. Aber ich möchte klarstellen, daß mein Interesse an Ihrer Arbeit ein ganz anderes ist als das ihre. Natürlich will Andrés’ Mutter erfahren, was mit ihrer Schwester geschehen ist, und daß Sie es herausfinden. Ich dagegen habe vor, das selbst herauszufinden, und Sie liefern mir lediglich Anhaltspunkte.» «Ich bin Profi.» «Ich bezahle einen bedeutenden Anteil, genau 5 % der Kosten.» «Warum genau 5, und nicht 8 oder ?» «Ich habe die fragliche Summe in vier Teile geteilt und über nehme drei davon. Einen, weil es mein Vorschlag war, weil ich dafür verantwortlich bin; den zweiten, weil Sie, ohne es zu wollen, mir bei meinen eigenen Nachforschungen helfen werden, und den dritten, weil ich der Ansicht bin, wer arbeitet, soll auch kassieren.» «Kennen Sie meine Tarife?» «Es ist alles mit Charo abgesprochen.» Während er die Augen schloß, ging er im Geist alles noch einmal durch, was Carvalho gesagt hatte oder sagen würde. Sie sahen ein ander an, vielleicht um sich gegenseitig einzuschätzen, vielleicht auch, weil sie nicht wußten, welches der richtige Anfang war, um weiter zureden. Narcís seufzte und sagte: «Also gut. Ich nehme an, es wird sie interessieren, die Familie kennenzulernen und über die Tote zu reden. Ich habe Zeit. Ich kann Sie begleiten.» 45
Er erhob sich, zog den Arbeitsmantel aus, hängte ihn an eine Stange, die an eines der Lagerregale angeschraubt war, und nahm aus einem Schrank dasselbe Jackett, das er in Carvalhos Büro getra gen hatte. Der Detektiv ging voraus, zurück in den Laden. «Nein, nicht dort hinaus, das ist nicht nötig.» Narcís drückte auf einen Knopf, und Carvalho nahm an, daß jetzt das Signallicht über der Tür zum Laden eingeschaltet war. Darauf ging der Autodidakt zum Bücherregal und drückte mit den Fingern auf eine runde Metall scheibe, die ins Holz eingelassen war. Das Regal schwenkte aus, bis es den Durchgang zu einem Zimmer freigab, in das Tageslicht ein dringen konnte. «Bitte.» Carvalho ging hinaus in das nackte, kleine Zimmer, das keinen anderen Ausgang hatte als eine eiserne Tür. Narcís folgte ihm und sein Finger veranlaßte, daß die Wand wieder an ihren Platz rückte. Durch die eiserne Tür gelangten sie auf einen Innenhof und von dort aus auf die Straße. Carvalho wollte ihm nicht den Gefallen tun und nach dem Zweck seiner Geheimtür fragen, aber als er ihn genau beobachtete, kam ihm der Verdacht, daß Narcís sich gerade an der nicht gestellten Frage erfreute. Carvalho nahm an, daß er es genoß, weil er immer noch grinste.
«Wo geht es denn zum Bahndamm? In Richtung auf die Berge der Mitja Costa gab es früher einen Feldweg und ein Milchgeschäft. Es gehörte einem Ziegenhirten aus Aragonien, er hieß Joaquín. Seine Tochter hieß Aurora, und seinen Bruder hatte der Blitz erschlagen, als er im Flußbett des Ripollet Sand auflud.» Der Autodidakt nickte zu den Worten Carvalhos, aber er hörte nicht zu. «Ein Blitz? Der Ripollet?» «Was ich erzähle, ist schon vierzig Jahre her. Ich kam jeden Som mer nach Montcada zu einem Ziegenhirten, einem Freund meiner Eltern.» «Ach ja?» Er interessierte sich nicht für Carvalhos Erinnerungen. «Sommerferien in Montcada, wie interessant!» «Es gab Leute, die den Sommer noch näher bei Barcelona verbrachten, in Tres Torres oder Vallvidrera.» «Schon möglich.» 46
Nichts war von der Landschaft seiner Kindheit übriggeblieben. Alles sah so aus wie am Stadtrand jeder anderen Großstadt, und Carvalho ärgerte sich über die Zerstörung dieser Landschaft. «Die Ausflüge in die Berge von Mitja Costa waren aufregend, weil in den Steinbrüchen oft gesprengt wurde, und als Kind wartet man darauf, daß Supermann die Felsbrocken auffängt.» Von Wohnblock zu Wohnblock, Straßenzug um Straßenzug waren Architektur und Menschen bunt zusammengewürfelt wie Strandgut. Der Autodidakt hatte ihn zu einem Eingang gebracht, hinter dem eine graue Eingangshalle mit grauen Plastikstühlen und grünen Metallbriefkästen lag. Die antiseptische Geometrie der Treppe schien entweiht zu werden durch den Lärm prallen, plebeji schen Lebens. Frauen, die sich über ihre Kinder beklagten, über ihre Nachbarinnen oder über ihr Schicksal, und Kinder, die sich beklagten, weil sie noch nicht erwachsen waren, während dessen Türenschlagen, viele Radios und Faustschläge gegen die Tür des Aufzuges, der immer viel zu lange brauchte. «Es ist im vierten Stock.» Mit Elan stieg er vor Carvalho her die Treppe hinauf, als sei Bergsteigen eine seiner täglichen Übungen, und horchte aufmerksam auf Anzeichen von Atemnot bei Carvalho, den er für ein Schreibtisch- und Bürotier hielt. Aber Carvalho ließ ihm aus Höflichkeit gerade eine Stufe Vorsprung und erlaubte sich während des Aufstieges, eine Zigarette anzuzünden. «Rauchen während des Trainings ist eine Barbarei.» «Der Mensch ist nur teilweise ein vernunftbegabtes Tier.» Die Wohnungstür wurde von einem ungekämmten Mann um die fünfzig geöffnet, der schlecht rasiert war und dem das Hemd über die Cordsamthose hing. «Ach, du bist’s.» Er ließ die Tür offen, damit sie in den langen Korridor eintreten konnten. Er wirkte mehr untapeziert als tapeziert, mit vielen Türen zu geschlossenen Zimmern. Im Hintergrund sah man ein Eßzim mer mit Espartomatten auf dem Boden und einem alten Fernseher, der schon Reden von weltgeschichtlicher Bedeutung miterlebt hatte, als Franco noch war, was er einmal war. «Ist Mariquita nicht da?» «Nein, Andrés auch nicht. Er ist von Mercabarna gekommen, hat sich ein Weilchen aufs Ohr gelegt und ist gerade eben zur Uni versität gegangen.» 47
«Hat er bei Mercabarna Arbeit gefunden?» «Für ein paar Tage. Er bringt den Kunden ihre Pakete nach Hause. Sie stellen lieber Aushilfen ein, als erwachsene Männer zu nehmen, die die Eier an der richtigen Stelle haben.» Damit führte er sich die Hand an die Hoden, setzte sich dann und starrte mit einem Kugelschreiber in der Hand nachdenklich auf ein Blatt Papier voller Notizen. «Ich kann diese Buchstaben nicht lesen. Verdammt, ich verstehe nicht, was das heißen soll!» Seine Stimme klang so weinerlich, daß der Autodidakt das Papier zur Hand nahm und es sich ansah. «Was ist das?» «Der Einkaufszettel. Maria hat ihn mir geschrieben, bevor sie zur Arbeit ging. Was steht da?» «Mutschelmehl, glaube ich.» Narcís gab Carvalho das Papier mit hilfesuchendem Blick, und dieser nickte zustimmend. «Ist das dasselbe wie Semmelbrösel?» «Fast dasselbe. Man nimmt es zum Panieren.» Der Mann setzte das Studium des Zettels fort und ließ die beiden in stummer Erwartung sitzen. «Und das hier?» «‹Mamella›. Wie merkwürdig. Wissen Sie, was ‹mamella› ist?» «Nicht nötig, ich weiß schon, was es ist. Etwas zum Essen.» Aber die Neugier des Autodidakten ging weiter als das Interesse dieses Proviantverwalters, und er blickte Carvalho weiter fragend an. «Zu meiner Zeit waren es Streifen von Kuheuter, sie wurden schon gekocht verkauft und paniert gegessen. Es war billig und ersetzte mit etwas Phantasie das Fleisch.» «‹Mamella› schmeckt gut», erklärte der Versorgungsbeauftragte herausfordernd. «Das bestreite ich gar nicht.» «Besser ‹mamella›, als Scheiße fressen!» Carvalho nickte zu dem großmäuligen Urteil des Mannes, der den Zettel nun fertig studiert hatte, sich erhob, eine Plastiktasche von einem Haken am Türrahmen nahm und sich brummend verab schiedete. «Ganz schön empfindlich, der Mann.» «Und um diese Tageszeit ist er noch gut aufgelegt. Wenn er zu48
rückkommt, hat er ein paar Gläser Wein intus. Dann ißt er kaum etwas, weil er sagt, er verdient sein eigenes Brot nicht, und am Abend säuft er wieder. Heute Nacht kann diese Wohnung die Hölle sein. Nein, er ist nicht aggressiv, er ist depressiv. Er schließt sich nächtelang ins Klo ein und weint. Zuerst bekam er ja noch Unter stützung aus dem Sozialfonds, aber dann wurde er ein ganz norma ler Arbeitsloser. Die Familie lebt jetzt von Schwarzarbeit: sie geht putzen und Andrés nimmt, was er bekommt. Die Jüngeren gehen auf die höhere Schule. Es ist kein Leben, das sie führen. Er macht die Hausarbeit, wenn er gut gelaunt ist. Dann fängt er plötzlich an zu schreien: ‹Ein Mann ist ein Mann!› und leert den Eimer mit dem Dreckwasser in der Wohnung aus oder wirft den Besen zum Fenster hinaus.» «Schlechte Zeiten.» «Und sie werden nicht besser werden. Wir müssen eine andere Einstellung zur Arbeit finden. Arbeit ist Mangelware.» «Was Sie nicht sagen, ich habe mir diese Einstellung schon lange zu eigen gemacht.» «Aber Sie sind ein unproduktiver Arbeiter, Sie können die ka putte Mentalität dieser Leute gar nicht verstehen, die durch eben diese Arbeit jemand waren und sich jetzt wie Schmarotzer fühlen. Darunter leidet zum Beispiel immer noch Andrés. Seine jüngeren Brüder gehören zu einer anderen Generation. Für sie wird die Arbeit eine ganz andere Bedeutung haben.» «Aber auch sie werden etwas essen müssen.» «In Zukunft wird man weniger essen als heute.» Er sagte es ganz ohne Ironie, einfach aufgrund einer gesicherten Information, die er in einer Windung seines Gehirnes versteckt hielt. «Viele Ökonomen denunzieren die Schwarzarbeit als Rückkehr zu den Anfängen des Arbeitsmarktes, verstehen Sie? Als eine Rück kehr zu einer freien Ausbeutung des Menschen durch den Men schen, als seien die Kämpfe der Arbeiter in den letzten hundertfünf zig Jahren völlig umsonst gewesen. Aber in Wirklichkeit stehen wir vor einem ganz neuen Phänomen, nämlich daß Arbeiter und Un ternehmer gemeinsam die Verantwortung tragen für die Rettung eines Systems in der Krise. Es ist die Arbeiterklasse, die den Kapita lismus rettet, sie ist sogar bereit, arbeitslos zu sein oder unter Bedin gungen zu arbeiten, die schlimmer sind als in den Zeiten der Sklave rei.» 49
«Aus welchem Grund?» «Um von der Verpflichtung befreit zu sein, Revolutionen auslö sen zu müssen oder es wenigstens zu versuchen. Natürlich wäre es ein vergeblicher Versuch. Von den Datenspeichern bis zu den Hub schraubern hat sich alles gegen die Möglichkeit einer Revolution verschworen. Revolution kann man nur noch in den Urwäldern machen, und auch dort nur unter bestimmten Voraussetzungen, denn es gibt das weltweite Gleichgewicht, das Gleichgewicht des Schreckens, und sobald die Revolution oder die Konterrevolution gepredigt wird, läuft man Gefahr, daß nur noch ein Atomkrieg die Entscheidung bringen kann. Wir befinden uns in einem Patt, einem historischen Patt. Im Moment können Sie auf Ihrem Tipschein ein X einsetzen!» Er hatte klare Vorstellungen, dieser Hinterzimmerphilosoph, aber Carvalho hatte allmählich genug von der Soziologievorlesung. «Warten wir eigentlich darauf, daß das Symposium beginnt?» «Nein, sondern daß der maßgebliche Gesprächspartner der Fa milie kommt, Mariquita oder Andrés. Sie kommt normalerweise im Lauf des Vormittags nach Hause, setzt das Essen auf und erledigt dann kleine Nebenjobs. Zum Beispiel putzt sie bei uns den Laden.» «Haben Sie sie auch versichert?» «Sie bezahlt ihre Versicherung selbst, als Gegenleistung dafür, daß ich sie als versichert führe.» «Also eine ‹schwarze› Sozialversicherung.» «Eine gemischte Sozialversicherung. Besser als nichts.» Die Tür ging auf und Mariquita kam herein. Sie lächelte wegen des überraschenden Besuchs, aber ihre Augen blickten erschrokken, weil ihr Ehemann nicht da war. «Ist er noch nicht vom Einkau fen zurück?» «Er ist gerade eben erst gegangen.» «Und was soll ich jetzt kochen? Diese Männer! Taugen nicht mal zum Pissen!»
«Die Sardinen sollten ziemlich klein sein, aber nicht zu klein. Zuerst muß man sie gut putzen, das heißt, wirklich gründlich, also nicht einfach nur den Kopf und die Eingeweide wegmachen, sondern auch schuppen. Wenn sie sauber sind, legt man sie in einen Topf, am 50
besten einen Tontopf, mit ziemlich viel Öl und ein oder zwei Knobl auchzehen, je nachdem, wie viele Leute da sind, und wenn der Knoblauch gut geröstet ist, goldbraun, aber nicht verbrannt, nimmt man den Topf vom Feuer. In diesem Öl, das noch schön heiß ist, brät man die Sardinen schnell an, sie dürfen aber nicht durchgaren, dann nimmt man sie heraus und macht in demselben Öl ein ‹sofrito›, ganz normal, mit ein klein wenig Zwiebeln, manche lassen sie lieber ganz weg, dann Tomaten, einen halben Eßlöffel Paprika und etwas Gemüse, zum Beispiel ein paar Erbsen oder auch ein paar zarte Böhnchen, die schon gekocht sind. Wenn das alles heiß ist, gibt man den Reis dazu und läßt ihn schmoren, bis er sich verfärbt, dann, wie man will, entweder Wasser dazu, oder Wasser und einen Brühwürfel, damit das Ganze mehr Geschmack be kommt. Wenn man einen Brühwürfel nimmt, muß man mit dem Salz vorsichtig sein, die Brühwürfel sind nämlich schon gesalzen. Kurz bevor der Reis fertig ist, legt man die Sardinen, die roten, gebratenen Paprikaschoten, die gehackten Knoblauch und Peter silie darauf. Es muß alles schön köcheln, aber nicht lange, damit die Sardinen ganz bleiben und nicht zerfallen. Statt rotem Paprika kann man auch gerösteten Safran nehmen. Das ist alles.» Dies sagte und tat Mariquita unter Carvalhos aufmerksamen Blicken. «So hat also Ihre Großmutter den Sardinenreis gemacht!» «Fast genau so. Manchmal nahm sie noch eine fritierte Kartoffel, schnitt sie in Scheiben und kochte sie mit. Auch Mangoldblätter nahm sie dazu.» «Es geht alles, wenn es muß. Sehen Sie, aus welcher Klemme mich diese Sardinen gerettet haben! Da komme ich heim und denke, alles ist gemacht, und dann kann dieser Mann nicht mal für mich einkaufen! So, jetzt lasse ich das ‹sofrito› und die Sardinen stehen, und wenn Essenszeit ist, habe ich in zwanzig Minuten alles fertig.» Der Autodidakt verzog angewidert das Gesicht. Er hatte zwar Fragen gestellt, aber mehr aus Wißbegier als um seinen Gaumen anzuregen. Als Mariquita mit den Vorbereitungen fertig war, sich die Hände an einem Küchentuch abgewischt hatte und alle wieder im Eßzimmer saßen, dozierte der Neunmalkluge: «Das Faszinie rende ist die ernährungswissenschaftliche Weisheit dieses Gerichts. Wir haben soeben an einer praktischen Unterrichtsstunde in Ernäh51
rungslehre für Schwarzarbeiter teilgenommen. Rekapitulieren Sie noch einmal die Zutaten! Sardinen gleich Protein, und zwar das billigste, Gemüse gleich Vitamine und Reis gleich Kohlehydrate. Alles, was der menschliche Körper für seine Aktivität braucht, ist in diesem einfachen und billigen Gericht enthalten. Unangenehm daran ist nur die toxische Ladung, die der blaue Fisch enthält. Ich vermute allerdings, daß ein Organismus, der daran gewöhnt ist, diese mit größerer Leichtigkeit ausscheidet als einer, für den es un gewohnt ist. Sardinen sind Gift für Personen mit Leber- und Gal lenbeschwerden.» Mariquita folgte dem Vortrag über ihre eigene Kochkunst mit wissender Miene und in dem Bewußtsein, daß sie die Mutter dieser Wissenschaft war. «Das alles und ein Apfel dazu, dann stimmt die Sache.» «Ich würde Ihnen eher zu einer Orange raten, da sie mehr Vit amin C enthält als ein Apfel, obwohl Äpfel wiederum viel Vitamin A enthalten.» Mariquita dachte über die Möglichkeit einer Änderung nach. «Aber das sind doch gar keine Orangen, das taugt ja überhaupt nichts, was man in diesen Supermärkten bekommt. Alles aus dem Kühlhaus, alles!» Carvalho hörte den ernährungswissenschaftlichen Ausführungen des Autodidakten und der wißbegierigen Frau nicht mehr zu, und als Lehrer und Schülerin ihre Debatte beendet hatten, stellten sie fest, daß Carvalho hemmungslos gähnte. «Es wäre vielleicht angebracht, zur Sache zu kommen.» Carvalho schloß zustimmend die Augen und die beiden anderen schickten sich an, ihm zuzuhören. «Ich kann Ihnen gleich sagen, daß ich den Fall annehme, aber ich habe vorher noch ein paar Fragen. Ihre Schwester kam häufig nach Barcelona, meldete sich aber nicht bei Ihnen. Erstens, wo wohnte sie in dieser Zeit? Zweitens, die Ärzte bestätigen, sie untersucht zu haben, aber sie sagen, daß sie nicht ernsthaft krank war, und trotzdem fuhr sie fort, in regelmäßigen Abständen diese Ärzte aufzusuchen. Warum? Drittens wurde sie auf bestialische Weise umge bracht, und ich nehme an, daß die Polizei und der Ehemann dann hier aufgetaucht sind und versuchten, etwas von Ihnen zu erfahren, weil es das Nächstliegende war und weil sie annehmen konnten, daß Sie etwas über ihr Kommen und Gehen in Barcelona wüßten.» 52
Die Frau wartete darauf, daß der Autodidakt etwas sagte, und als er zögerte, forderte sie ihn mit einer Handbewegung dazu auf. «Gut, ich spreche wieder einmal, ohne zuständig zu sein. Erstens, nach Aussage der Polizei stieg sie anfangs immer in der Ho telpension Tres Torres ab, im oberen Teil der Stadt. Aber später ist selbst ihre Unterkunft ein Rätsel. Niemand weiß, wo sie gewohnt hat.» «Unmöglich, daß sie nicht eine Adresse hinterlassen hat, damit ihr Mann oder sonst jemand sie im Notfall erreichen konnte.» «Das schon. Offiziell stieg sie weiterhin in demselben Hotel ab, und dort wurde auch ihre Post entgegengenommen. Aber in Wirk lichkeit wohnte sie nicht dort. Die Polizei tappt, wie sie sagt, in dieser Frage immer noch im Dunkeln. Zweitens, sie hat ein und denselben Arzt nur wenige Male aufgesucht und im Laufe von drei Jahren alle größeren Praxen der Stadt durchlaufen, von Dexeus bis Puigvert, von Barraquer bis Poal.» «Vielleicht sammelte sie Material für eine Gesundheitsenzyklo pädie.» «Drittens, der Gatte hat sich nicht mit uns in Verbindung gesetzt, also mit seiner Schwägerin. Er beschränkte sich darauf, die zwei oder drei Briefe mit sehr wenigen Worten zu beantworten, die Andrés ihm im Namen seiner Mutter schickte. Nach Auskunft der Polizei gab er ihnen alle Vollmachten und zeigte kaum Interesse an dem Fall. Sie hatten keine Kinder. Die Tote hatte keine andere direkte Verwandte als ihre Schwester. Das ist alles.» «Hatten Sie viel mit der Polizei zu tun?» «Als wir davon erfuhren, war schon Gras über die Sache gewach sen, verstehen Sie? Mein Sohn glaubt sich zu erinnern, die Nachricht in der Zeitung gelesen zu haben, aber das war nicht lange. Zuerst kam es in großer Aufmachung heraus, aber bald war der Fall nicht mehr interessant – oder ich weiß nicht, was sonst los war. Die Leute von Interviú hatten von der Sache Wind bekommen und interessierten sich dafür, aber die Familie in Albacete griff ein und erreichte, daß nicht einmal ein Foto gebracht wurde. Ich sprach mit einem Inspektor namens Contreras, einem sehr ernsten Mann, der immer aussieht, als sei er sauer.» «Ich kenne ihn.» «Eigentlich war er immer korrekt, aber er hatte wenig Lust, mit uns zu reden, als würden wir ihn stören.» 53
«Sobald ihm klargeworden war, daß er aus Ihnen nichts heraus holen konnte, verlor er das Interesse. Womit soll ich überhaupt an fangen?» «Das ist Ihre Sache.» «Ich weiß.» Die Tür ging auf, diesmal kam der Mann herein, keuchend, als sei er auf dem Weg nach Golgatha, beide Hände mit Taschen behängt und Brotstangen unter den Armen. «Entweder mir hilft jemand oder ich schmeiße alles hin.» Seine Frau kam ihm zu Hilfe, näherte dabei ihre Nase seinem Mund und zog sie wieder zurück, sah die Besucher an und zwin kerte ihnen komplizenhaft zu. «Ich glaubte, ich würde nie drankommen. Ich weiß nicht, wo diese Unmengen von Frauen herkommen. Ich weiß es wirklich nicht. Die ganzen Geschäfte sind voll von denen. Sie schmuggeln sich an dir vorbei und verarschen dich noch! ‹Die nächste, bitte! Wer ist die nächste? Sind Sie die nächste?› ‹Señora, ich bin auf jeden Fall der nächste.› Habt ihr kapiert? Die sind wie die Maultiere, schlei chen sich an einem vorbei, stoßen einen herum, und wehe du sagst etwas zu ihnen, dann kriegst du was zu hören, daß du glatt rot wirst. Ich glaube, ich werde krank!» Und tatsächlich, er ließ sich in einen Sessel fallen und keuchte. «Ich glaube, mein Asthma fängt wieder an!» «Halte den Kopf zum Fenster hinaus und atme tief durch!» «Es regnet aber.» «Dann laß es sein.» «Aber es ist doch mein Asthma.» «Wenn du runtergehst und an deinem Bierglas nuckelst, merkt man auch nichts von deinem Asthma.» «Am Bierglas, ich?» Der Mann war aufgestanden und brachte nun sein Gesicht ganz nahe an das seiner Frau. «Dauernd kommst du mir damit! Ich hab die Schnauze voll von deinen Frechheiten!» «No li facin cas que està mamat!»* Das hatte sie zu den Besuchern gesagt, aber ihr Versuch, sich von ihrem Mann abzuwenden, scheiterte, denn er hielt sie am Arm fest und zwang sie, ihn anzusehen. * «Nehmt ihn nicht ernst, denn er hat getrunken!»
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«Du sprichst nur katalanisch, um mich verrückt zu machen!» «Narcís ist Katalane, ich spreche katalanisch, mit wem ich will.» «No li fachin cas, no le fachin cas … Ja, du hältst mich auch für einen Pantoffelhelden, wie der Mann deiner Schwester oder deine Nichte, die Nutte?» Diese Nutte von Nichte war Charo, aber Carvalho fühlte sich nicht beleidigt, es war eine objektive Tatsache. «Señor Luis, wir wollen doch nicht streiten. Ruhen Sie sich aus und nehmen Sie sich nicht alles so zu Herzen, das schadet Ihnen nur.» Der Mann war dankbar für das Ablenkungsmanöver des Autodi dakten, setzte sich in den Sessel und versank langsam in seinem Selbstmitleid, bis ihm die Tränen kamen. «Wenn sie schon keine Achtung vor mir hat, wie sollen mich dann meine Kinder achten?» «Hier hat jeder Achtung vor Ihnen.» «Hör schon auf damit! Hier, nimm deine Tabletten!» Die Frau stellte ein Schächtelchen vor ihn auf den Tisch und strei chelte ihm im Vorbeigehen über das Haar, als sie zur Küche ging, um ein Glas Wasser zu holen. Als sie zurückkam, hatte sie auch Tränen in den Augen, und Carvalho fand es obszön, sich wie ein Zuschauer diese Szene angehäufter Traurigkeit in ihrer ganzen All täglichkeit und Ausweglosigkeit anzusehen. Der Autodidakt fühlte sich auch nicht wohl dabei, er erhob sich, murmelte etwas von drin genden Sachen, die er erledigen mußte, und nahm Carvalho mit, um das Ehepaar ihrem gewohnten, qualvollen Schweigen zu über lassen. «Was halten Sie davon? Sind sie unglücklich oder wissen sie, daß sie einen unglücklichen Eindruck machen müssen?» Carvalho war sprachlos über den Gedankengang dieses Unge heuers. «Sie wissen, daß sie einen unglücklichen Eindruck machen müs sen, damit ihnen ihr Versagen verziehen wird. Sehr interessant!» Dieser Autodidakt war eine Mischung aus Sozialhelfer und Kotz brocken.
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Halb Port of Spain war auf die Savannah gegangen, um einem Pfer derennen zuzusehen, und dadurch wirkte der Rest der Stadt noch verlassener. Er gehörte den Straßenhändlern und den Einzelgängern mit den direkt ans Ohr angeschlossenen Radiorekordern. Aber es fanden sich noch genügend Leute, um auf dem Woodford Square der Predigt eines schwarzen Priesters zu lauschen. Er war gekleidet wie ein Kalif und wurde von acht Nonnen in rosafarbenen Gewändern begleitet, eine singende, tanzende Sekte, deren Beine dauernd in Bewegung waren. «Christus war schwarz!» riefen die Nonnen mit schriller Stimme. Es waren Alte oder Kinder, ohne erkennbare Zwischen stufe. Das Red House im Hintergrund strahlte eine abschreckende Macht aus, die Festigkeit der unbestrittenen Macht, enthaltsam ge genüber den phantastischen Exzessen dieser Mystiker, die mit ihrer insularen Verrücktheit die Stadt unsicher machten. Um diese Zeit des Abends waren die wunderbaren Geschäfte der Frederick Street geschlossen, in den einförmigen Fenstern hing das Schild ‹Closed›. Vielleicht stammten sie von demselben Zeichenstift, der die ganze nichtssagende Stadt entworfen hatte. Ab und zu, in Gruppen von vier oder fünf, gingen junge Neger vorbei, die sich im Rhythmus einer Musik bewegten, die ihnen der Kopfhörer des Walkman in die Venen jagte oder die sie in einem Kofferradio transportierten, um sich mit Träumen zu versorgen. Die Stadt wurde immer häßlicher und desolater, je mehr er sich den Schuppen am Hafen näherte. Er sah noch die heiße und zähflüssige Schwere des Pechsees vor sich, eines Naturwunders, wie es die Verkäufer dieses halbdunklen Para dieses anpriesen, Tonnen und Tonnen von Asphalt, konzentriert in einem natürlichen See, einem grauen, elefantenhäutigen Meer, zu dem ein Tunnel durch den Dschungel führte, und das die Taxifahrer als die größte und einzigartigste Sehenswürdigkeit der Insel anprie sen. «Damit sind die Straßen in New York und Paris asphaltiert, dort in Europa», erklärte ihm der indische Taxifahrer mit ehrfürchtigem Respekt. Ginés gratulierte ihm dazu, an der Asphaltierung der Welt mitgewirkt zu haben. Während er diesen Asphaltsee betrachtete, der in der Mitte über neunzig Meter tief war, erinnerte sich Ginés an jenes nicht einzuordnende Frachtgut in den Laderäumen der alten, schrottreifen Tanker. Diese zähflüssige Masse, die er immer als Teil eines Ur-Ganzen gesehen hatte, stammte also aus diesem dicken 56
Morast, bei dessen bloßem Anblick er schon Angst bekam, im Schleim der Erde unterzugehen. Nach dem Pechsee gab es für ihn auf Trinidad nichts Geheimnisvolles mehr zu entdecken. «Sie könnten noch den Vogelpark besuchen. Er ist einmalig auf der Welt. Ein Reservat für alle Vögel, die es gibt. Abends ist es schön, wenn alle zu ihrem Nest heimkommen. Sie können ihn auch vom Schiff aus besichtigen.» Er war gerade vom Pechsee zurückgekommen und hatte be schlossen, Port of Spain wie eine Strafe über sich ergehen zu lassen, ohne ein bestimmtes Ziel zu haben. Er schlenderte durch die Stadt, auf der Suche nach etwas, das ihn mehr reizte als der Anblick der Schatten in seinem Zimmer oder der gewohnheitsmäßigen Ar beitswut des Inders, der Stunde um Stunde, Tag für Tag den verlas senen Swimmingpool des Hotels säuberte, wie ein Geisteskranker, der eine tote Geliebte schmückt. Er ließ sich von den Calypsorhythmen anlocken, die in den Lagerhallen neben der alten Angosturafabrik geprobt wurden. Junge Männer und Frauen begannen die träge Präzision des Calypsos, hörten wieder auf, probten andere Tonarten und korrigierten einander gegenseitig. In einer anderen Ecke der Halle kostümierten sich die Teilnehmer des Karnevalsumzuges als Krokodile oder Seerosen, und ein schwarzes Mädchen verwandelte sich in einen Vollmond. Die Glühbirnen, die ihn zum Strahlen brachten, konnte sie mit einem Schalter an und aus knip sen, den sie in der Handfläche verborgen hielt. Alles war genau wie bei den Vorbereitungen der großen Fiesta in Calahorra oder Chiclana, nur die Form war unterschiedlich, aber die jungen Leute schienen stolz darauf zu sein, bei etwas mitzuwirken, das der Insel Charakter verlieh. Ihr Stolz wurde noch verstärkt durch die Anwe senheit von zwei oder drei ausländischen Zuschauern, die angesichts ihrer funkelnden Exotik wohl in Verzückung geraten würden. Was könnt ihr mir schon Neues bieten, dachte Ginés. Ich komme aus dem Land der Jota und der Kälber, die mit Knüppeln getötet werden, der Kapuzenmänner der Semana Santa und der Büßer, die für ihre Sünden ausgepeitscht werden. Daneben seid ihr eine armselige Rasselbande. Er war zufrieden, nachdem er sich so innerlich Luft gemacht hatte, und kehrte ins Hotel zurück. Die Einsamkeit seines Zimmers ängstigte ihn. Sie war voller Gespenster und wiederkehrender Erinne rungen. Lieber setzte er sich unter die Markise auf der Gartenterrasse neben dem Swimmingpool, den der Inder einbalsamierte. Das 57
Personal befand sich immer noch im Streik, er hatte einen ganzen Rosenkranz beten können, bevor sie fertig gegähnt hatten und je mand zu ihm kam, um ihn nach seinen Wünschen zu fragen. Seine Unentschlossenheit gab den Leuten am Nebentisch Gelegenheit, ihn zu beraten. «Versuchen Sie einen peach!» Der korpulente, dunkelhäutige, ölige Mann mit den großen Mandelaugen eines Libanesen zwinkerte ihm zu. Die sommer sprossige Rothaarige an seiner Seite betrachtete ihn neugierig. Ihre Wangen waren ein wenig welk, und auf ihrer Haut glänzte Makeup. Er bestellte einen peach und bekam einen Longdrink, der nach Dosenpfirsichen schmeckte. «Schmeckt gut, stimmt’s?» Sie hatten Lust zu plaudern. Die Frau konnte sich nicht entscheiden, ob sie ihn lieber mit offenen oder halbgeschlossenen Augen anschauen sollte, sie blinzelte un aufhörlich – was Ginés ihren Kontaktlinsen zuschrieb. «Wissen Sie, wie er gemacht wird?» Der Mann kam an seinen Tisch, setzte sich rittlings auf einen Stuhl und gab ihm die vollständige Formel des Getränks. «Leichter Rum, Pfirsich und Limonensaft und ein paar Tropfen Maraschino.» Er schnalzte mit der Zunge und begleitete Ginés beim Trinken mit einer aufmunternden Kopfbewegung, als wolle er der Flüssigkeit helfen, seine Kehle hinunterzurinnen. «Ich habe verlangt, daß er mit Rum aus Puerto Rico gemacht wird, das ist der leichteste. Manchmal achten sie nicht auf die Sorte. Der aus Martínique ist schlecht. Die Rumsorten, die im dunder-Verfahren hergestellt werden, passen nicht zu Cocktails mit Früchten. Ich habe eine Bar zu Hause, in Seattle.» Die Pranke des Mannes drückte die Hand von Ginés, der sie kaum ausgestreckt hatte, und er erhob sich sofort, um die Rothaa rige an den Tisch zu holen. «Das ist Gladys, meine Frau. Sie ist nicht aus USA, sondern aus Kanada. Sind Sie Venezuelaner? Spanier? Spanier aus Spanien? Whow!» Es war eine orgastische Begeisterung, in die der Barbesitzer aus Seattle ausbrach. Mit der einen Pranke schlug er der Rothaarigen auf die Schulter, mit der anderen Ginés. «Ein echter spanish! Was hat Sie auf diese beschissene Insel ver schlagen, mein Freund? Ich hatte einen ganzen Koffer voll mit Rei58
seprospekten. Ich hatte nämlich Gladys versprochen, daß wir ein paar Wochen Urlaub in der Karibik machen, wenn die Raten mei ner Bar abbezahlt sein würden. Karibik! Sonne! Musik! Ich wollte nach Aruba fahren, dort garantieren sie dir sogar nachts noch Sonne. Und wo bin ich gelandet! Ich habe schon fünf Kilo zuge nommen, weil ich die ganze Zeit verschlafe!» Er tätschelte seinen Bauch und zwickte sich in die Fettpolster, die über seinem Gürtel hervorquollen. «Ich lade Sie zu einem Planter’s Punch ein, zur Feier unserer Bekanntschaft!» Dem Kellner blieb nichts anderes übrig, als seinen Streik zu unterbrechen oder aus seiner Lethargie zu erwachen, da der Ameri kaner ihn mit einer Art Rodeogeschrei bedachte. Die Sommer sprossige konnte ein entschuldigendes kleines Lachen nicht unter drücken. Der Kellner war beleidigt über die Art und Weise, in der er herbeigerufen wurde, auch weil er nicht wußte, was ein Planter’s Punch war. Der Mann aus Seattle erhob sich, nahm den widerstre benden Kellner am Arm und schleppte ihn ins Innere des Hotels. Das Lachen der Sommersprossigen hatte sich mittlerweile zur Ek stase gesteigert, und ihre kleine Faust trommelte auf Ginés Brust, um ihm ihre ungeheure Begeisterung mitzuteilen. «Wenn Mickey etwas nicht schafft, dann schafft es keiner!» In den warmen Augen der Frau glänzte der Alkohol. «Sind Sie alleine unterwegs?» «Ja, allein.» «Geschäftlich?» «Nein.» «Aha, Tourist.» «Auch nicht. Ich bin einfach unterwegs.» «Ich bin einfach unterwegs!» wiederholte die Frau, wobei sie seine Stimme nachahmte, und brach wieder in Gelächter aus. Dabei legte sie ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm. «Da ist er schon, mein Robert Redford!» Robert Redford kam mit einem Shaker in der Hand zurück und schüttelte ihn, während er im Rhythmus einer Rumba auf sie zutän zelte, die nur er allein hörte. Ein Elixier von orange getöntem Bern steingelb wurde in hohe Gläser gegossen. «Jetzt probieren Sie Mickey’s Spezialrezept: Jamaika-Rum, Zi trone, Orange, Soda und Zucker.» Ginés Magen war so viel Flüssigkeit kaum gewachsen, dafür 59
trank er langsam, denn im Grunde war er dankbar für die Gratisun terhaltung, die ihm das Paar bot. «Bloß weg von dieser Insel, und wenn es nur für einen Tag ist! Auf Tobago soll das Wetter besser sein, und es ist mit der Fokker nur eine halbe Flugstunde von hier entfernt. Wir nehmen die Fok ker, fliegen über den Dschungel und knallen mit unserem Maschi nengewehr – rattatattata – die ganzen Affen ab. Mickey und Gladys werden gleich morgen den ganzen Tag nach Tobago fahren, und Sie sind eingeladen.» Ginés winkte ab, aber die Entschlossenheit des Amerikaners ließ keine Ablehnung zu. Er flüsterte seiner Begleite rin etwas ins Ohr, und sie lachten wieder los, um dann ihren neuen Freund mit etwas dümmlichem Frohsinn zu betrachten. Mickey gab vor, etwas Wichtiges vergessen zu haben, und die Frau blieb allein mit Ginés. Konversation war weder ihre noch seine starke Seite, und der Barkeeper kam nicht zurück. Gladys neigte ihren Kopf zu ihm. «Er kommt nicht wieder. Er hat uns allein gelassen.» «Warum?» «Er hat etwas vor. Als er ging, sagte er zu mir: ‹Gladys, ich weiß, du bist in guten Händen.› Bin ich das?» Ginés stellte sich vor, was seine Hände mit diesem langen, schlacksigen, vielversprechenden Körper und seinen unerforschten Winkeln anstellen könnten. Aber am verheißungsvollsten war ihr Gesicht, das Gesicht einer unschuldigen, sommersprossigen Nutte. Er zeigte ihr seine Hände. «Das sind meine Hände. Andere hab ich nicht.» Gladys’ Lippen kamen näher und küßten seine Handflächen. Sie saugten sich an seiner Haut fest und öffneten sich, um einer kräfti gen, rauhen Zunge Platz zu machen, die sehnsüchtig die Nacht lieb koste, die Ginés in seinen Händen hielt. Dann hob sie den Kopf. «Ich brauche einen Mann und ein Bett.» Ginés war schon dabei, ihr mit der begierigen Nervosität des er sten Mals zu folgen, und als sie das Zimmer betraten, hätte er es kaum als sein eigenes erkannt, wenn nicht Gladys begonnen hätte, seinen offenstehenden Koffer mit den Sachen zuzudecken, die sie Stück für Stück auszog, um sich langbeinig, nackt und feuchtglän zend auf seinem Bett auszustrecken. Dann schickte sie eine Hand aus, die dem erstarrten Mann den Hosenschlitz öffnete, seinen Pe nis herausholte, der sich im zunehmenden Stadium befand, und zu 60
ihren Lippen führte, als sei er ein Hot Dog mit dem besten Senf dieser Welt. «Mmmh, lecker!» Sie schob ihn in den Mund wie in das Maul einer ausgehungerten Python.
«Reg dich nicht auf! Es ist nur der Cocktail.» Gladys küßte ihn auf die Wange, nahm sein Gesicht in beide Hände und drehte es so, daß er sie ansehen mußte. Das Verhalten der weiblichen Hominiden richtet sich anscheinend nach universell gültigen Mustern. Nach dem mißglückten Liebesakt nimmt das kaukasische Hominidenweibchen normalerweise das Gesicht sei nes insuffizienten Partners in die Hände, um ihm mit zivilisierter Zärtlichkeit in die Augen zu sehen und großzügiges Verständnis zu zeigen. «Ich sehe mal nach, was Mickey treibt, und komme später wie der.» «Hat Mickey gewußt, daß du bei mir bist?» «Ja. Er ist mit zwei Negerinnen weggegangen, die er irgendwo in einer Bar angeheuert hat, beim Central Market. Ihm steht er nur bei Negerinnen, und wenn sie zu zweit sind. Das hat er hier in Trinidad entdeckt. Ich bin nicht seine Frau, ich arbeite in seiner Bar.» Sie zog sich an, während sie sprach. Dann öffnete sie die Tür und trat hinaus ins Licht des Korridors. Im Gegenlicht drohte sie ihm mit dem Finger, der, wie Ginés bemerkte, direkt auf seinen Penis gerichtet war. «Bleib, wo du bist, und rühr dich nicht von der Stelle, denn Gladys kommt gleich wieder zurück!» Nachdem sie weggegangen war, fühlte er sich wieder wohl und geborgen in seinem Refugium, das er nun ganz für sich hatte. Er nickte ein und erwachte Stunden später, als er bemerkte, daß je mand neben dem Bett stand. Gladys war wieder da und zog sich im Stehen neben dem Koffer aus, der beharrlich offenstand. Er hörte das leichte Rascheln der übereinanderfallenden Kleidungsstücke. Sie beugte sich über das Nachttischlämpchen am Kopfende und knipste es an. «Bist du wach?» Sie war dabei, die enge Kette abzunehmen, die sie um den Hals trug, und bewegte ihre Zunge zwischen den Lippen 61
mit dem Versprechen, jetzt perfekte Arbeit zu leisten. «Hm, bist du müde? Dieses Schwein von Mickey ist noch nicht zurück. Laß Gladys nur machen! Gladys schafft es, die Toten wieder zum Leben zu erwecken.» Nun begann ein Ritual der Besitzergreifung im golde nen Licht des Lämpchens mit dem plissierten Schirm, das Gladys die Umrisse einer Zauberin verlieh, die das Geschlecht des Mannes suchte und das Tier in ihren Mund steckte, wo sie es überall her umführte, aber es daran hinderte, seinem feuchten Gefängnis zu entfliehen. Das Kissen unter seinem Kopf war doppelt gefaltet, so daß Ginés beobachten konnte, wie sein Penis versuchte, aus dieser Höhle zu entweichen, wie seine Spitze das Gewebe der linken oder rechten Wange der Frau durchstoßen wollte, dann in den Tiefen der Kehle verschwand, dann wieder drauf und dran war, wie ein gut geschmierter Kolben zu entwischen, um von neuem von den erbar mungslosen Lippen eingesaugt zu werden. Er konnte ihn beobach ten wie einen Gegenstand, der nicht zu ihm gehörte, als trennte ihn eine seltsame lokale Betäubung von diesem toten Muskel, den die Frau wieder zum Leben erwecken wollte. Hingebungsvoll wie eine konzentrierte Schülerin blätterte die stumme Gladys im Geist ihre Notizen über Sexualität durch. Zu einem gegebenen Zeitpunkt hielt sie das Ziel der oralen Stimulierung für erreicht, denn sie ließ das entgleiten, was wie ein appetitliches Stangenbrot aussah, um sich vor dem liegenden Mann hinzuknien, die Knie vorwärts zu schieben und mit ihren Hinterbacken den Sitz zwischen den Schen keln des Mannes einzunehmen. Mit einer Hand griff sie in die Dun kelheit, wo sie sich berührten, nahm den Penis zart in die Hand und führte ihn trotz seiner relativen Schlaffheit wie ein Zäpfchen vor sichtig und antiseptisch in ihre Vagina ein. Sie bewegte sich auf und nieder, um festzustellen, ob der Penis den Hin- und Herbewegun gen gewachsen war, und legte ihm die Hände flach auf die braune Brust. Dann warf sie den Kopf in den Nacken und begann die Aufund Abbewegungen, träge, genüßlich, mit Pausen, um dann den Rhythmus nach und nach zu beschleunigen. Dabei begleitete sie sich selbst mit Stöhnen und kurzen Ausrufen, wie ‹Mein Leben› über ‹Geliebter› bis zu ‹Fick mich›, was Ginés an den professionellen Jargon der Hafenbordelle auf der ganzen Welt erinnerte. Gladys’ steigende Erregung rief bei ihm eine nicht weniger steigende Frigi dität hervor; das ging so weit, daß seine Extremität auf dem Prüf stand ihre minimale Festigkeit verlor, so daß sie die Behandlung 62
von oben nach unten nicht weiter mitmachen konnte. Es dauerte eine Weile, bis Gladys bemerkte – oder dem ins Auge sehen wollte, was sie bemerkte –, nämlich, daß sie den physischen Kontakt mit dem Vergnügen verloren hatte, und schließlich konnte sie es nicht mehr übersehen, senkte den Kopf mit geschlossenen Augen und einem neuerlich konzentrierten Ausdruck, dem Ausdruck eines Menschen, der den Faden verloren hat und nun nachdenkt, wo er stehengeblieben war. Sie ermutigte sich selbst mit einem Lächeln, immer noch mit geschlossenen Augen, und öffnete sie schließlich, um ihren Partner strahlend anzusehen. «Baby, mein Baby! Gefalle ich dir denn nicht?» Sie ließ sich plötz lich mit der Präzision eines astronomischen Gerätes fallen, und ihr Mund suchte den von Ginés, um ihn zu verschlingen, mit brutalen Bissen und zärtlichen Zähnen, die dafür geschaffen waren, in ab wechselndem Spiel zu zerfleischen oder zu knabbern. Die Worte der erotischen Stimulation gehorchtem einem Rhythmus parallel zu den Liebkosungen, aber ab und zu entfernte sie sich, um nachzuse hen, wie sich der Erregungszustand ihres Partners entwickelte, und ob die Hauptsache wuchs oder nicht. Sie legte sich an seine Seite und flüsterte ihm ins Ohr: «Wie magst du es? Sag mir, was du gern hast, und Gladys macht es dir. Gladys hat fünfzehn Tage mit zwei Kerzen hinter sich, Baby. Sag mal, gefällt es dir, wenn du geschlagen wirst? Stehst du auf Schlagen? Oder Geschlagenwerden?» Ginés’ schweigende Verneinung entmutigte sie nicht. Sie ließ sich wieder auf alle Viere nieder, diesmal mit dem Arsch direkt vor Ginés’ Augen und schwenkte ihn hin und her wie ein Bonbon, das verzehrt werden wollte und auch wieder nicht. «Hast du meine kleine Muschi gut gesehen, Baby? Meine kleine Muschi … Es ist eine ganz weiche Kuschelmuschi. Nur für dich, alles nur für dich, Baby!» Ginés drehte sein Gesicht weg und suchte in einer Zimmerecke eine Quelle der Inspiration, irgendeinen bedingten Reiz, einen Rest einfacher Wohlerzogenheit, dann erhob er sich wie eine geile Bestie, die sich selbst mit keuchenden Atemzügen animierte, während sich seine Hände vervielfältigten, um das Fleisch der Frau durchzukne ten. «Ja, so!» rief die Rothaarige mit erwachendem Vergnügen und reckte ihren Körper der blinden Massage des Mannes entgegen, der sich in seinem Bestreben, nicht anzusehen, was er nicht begehrte, manchmal in der Stoßrichtung irrte und dann auf die Matratze ins 63
Leere fiel, wo ihn die Frau hartnäckig wieder einholte, damit er in seiner Wiederbelebung nicht nachließ. Das Ritual zeitigte Erfolg, denn Ginés fühlte sich imstande, den anderen Körper zu besteigen, und er tat es mit der Rücksichtslosigkeit eines Eroberers, die mit Begeisterung aufgenommen wurde. Es gelang ihm sogar, dort ein zudringen, wo er so sehnsüchtig erwartet wurde, und einen wilden Galopp zu beginnen. Dieser endete in einem plötzlichen Sturz von einem Pferd, das nach und nach das Elend des Reiters einsehen mußte. Ginés blieb so liegen, eiskalt war ihm die Endgültigkeit sei ner Niederlage bewußt, es war, als betrachte er sein besiegtes An hängsel aus der Vogelperspektive, das sich beschämt zu verstecken versuchte in den Falten seiner eigenen Haut. Die Frau keuchte nicht mehr, sie schnaufte, und das Schnaufen der Müdigkeit steigerte sich bald zu einem Schnaufen des Protestes. «Schon fertig? War das alles, Baby?» «Heute ist nicht mein Tag.» «Meiner noch weniger, das ganze Jahr ist versaut. Ha! Was ist denn mit euch los in den Tropen? Ist es meine Schuld? Gefalle ich dir denn nicht?» «Doch, du gefällst mir sehr gut.» «Ja, ja, es ist nicht zu übersehen!» Damit gab sie ihm einen Stoß, daß er aus dem Bett fiel, und machte sich über die schwingende Matratze auf die Suche nach einem Ausweg aus der Situation. Sie raffte ihre Kleider zusammen und ging damit ins Badezimmer, damit Ginés nicht zusah, wie sie sich geschlagen wieder ankleidete. Ginés in seiner gescheiterten Männlichkeit hörte die Geräusche einer sorgfältigen Prophylaxe: Toilette, Gurgeln, endlich Wasser, um die schmutzige Erniedrigung dem Müllschlucker zu übergeben. Die Tür öffnete sich, Gladys verließ fluchtartig das Zimmer und spuckte ihm dabei die Worte ins Gesicht: «Schwule Sau!» Am Boden liegend hob Ginés in einer titanischen Anstrengung die Arme, um eine beschämende Heiterkeit loszuwerden, seine Lippen grinsten, und als er sich aufs Bett legte, preßte er den Mund ins Kissen, um sein eigenes Gelächter nicht hören zu müssen, während er sich an die vergeblichen Anstrengungen der Frau erinnerte. Am meisten belustigte ihn die mütterliche Ernsthaftigkeit, mit der sie sich das menschliche Fleisch in den Mund gestopft hatte. Er fand seine gute Laune wieder, und sein Lachen ging in Mitleid mit 64
der Frau über, die soviel gegeben und nichts dafür bekommen hatte. Durch das Fenster drang eine unbestimmte Helligkeit ins Zimmer. Er stand auf und schaute nach, ob sich der neue Tag schon ankün digte. Er war da. Heuchlerisch deutete er an, daß möglicherweise die Sonne scheinen würde. Die oberen Ränder der Wolken im Osten waren orange getönt. Sie schickten sich an, den Himmel nach und nach wieder in Besitz zu nehmen. «Maracas Bay, Maraval Road, Savannah, Pitch Lake», rezitierte er, als sei es eine für alle Zeiten gültige Litanei, und fugte noch hinzu: «Der Bosporus!» Plötzlich hatte er es eilig, eine Vorahnung nachzuprüfen. Er duschte, so schnell er nur konnte, zog sich an, nahm den Aufzug und ging zum Ausgang des Hotels. Dort wartete auch schon die gewohnte Taxikarawane. Sein Inder stand da und beobachtete den Himmel, er hielt Ausschau nach den Zerstörern von Zeit und Raum. Ginés sah ihm aus seinem Versteck heraus lange zu, einen Fuß noch im Aufzug, den anderen draußen. Das Hotel erwachte allmählich, aber keiner von den Gästen war zu sehen. Männer und Frauen der Putzkolonne kamen aus verbotenen Türen heraus, langsam wie dunkle Schnecken, die der neue Tag überrascht hatte. Der Inder hatte immer noch den Kopf in den Nakken gelegt, und sein Blick schweifte von Horizont zu Horizont, um schließlich dort innezuhalten, wo Maracas Bay lag. «Ja, Mensch, ja, Maracas Bay», sagte Ginés mit lauter Stimme. Ein kleiner Junge, der hinter einem Zinkeimer und einem Scheu erbesen herlief, sah sich nach ihm um, um herauszufinden, zu wel cher Art von Verrückten dieser Weise gehörte, der mit einem Bein immer noch im Aufzug stand. Er war fast vollständig angezogen, aber barfuß.
«Aber wenn ich dir doch sage, Biscuter, daß mir die ganze Sache nicht gefällt, daß mir kein einziger von denen gefällt!» «Dann lassen Sie es doch, Chef!» «Ja, ich hätte jedesmal die Finger davon lassen sollen, wenn ein Fall mir nicht gefiel! Aber dann, so ganz allmählich bekommt man Geschmack an der Sache. Man verliebt sich in jemanden. Ich zum Beispiel fast immer in die Leiche. Ich tendiere immer dazu, den Toten recht zu geben.» 65
«Also, das nützt denen wenig, Chef. Ich habe eine kalte Platte vorbereitet, Kalbsrouladen mit Trüffeln und Estragon und einer Sauce mit Creme fraîche.» «Biscuter, du hast den Gipfel der ‹Nouvelle Cuisine› erreicht.» «So neu kann die gar nicht sein, das Rezept hat mir nämlich die Frau vom Hähnchenstand in der Markthalle gegeben. Entschuldi gen Sie, Chef, aber ich habe mir diesen Krimi genommen, der dort lag, und ihn auf die Büchse für die kalten Speisen gelegt, beim Ab kühlen muß man sie beschweren.» «Beim nächstenmal kochst du das Buch mit!» Carvalho aß, und Biscuter saß ihm am Schreibtisch gegenüber. Das Männchen verschwand beinahe hinter einem Küchenhand tuch, das als Serviette über seiner mageren Hühnerbrust hing. Der Detektiv zündete sich eine Condal Nr. an, eine nicht im Handel erhältliche Zigarre, die ihm ein anhänglicher Klient aus Teneriffa schickte. Er war ihm dankbar, denn er hatte die Untreue seiner Frau bewiesen, und jetzt hatte er sie über den Atlantik mitgenommen. Jedesmal, wenn sich Carvalho eine Condal Nr. anzündete, dachte er über das seltsame Wesen des Menschen nach, der so tut, als fürchte er den Verlust dessen, was er nicht liebt, und sogar dafür kämpfen kann, etwas zu behalten, was er nicht liebt. «Biscuter, was weißt du über Albacete?» «Daß es zusammen mit Murcia eine Region bildet.» «Das war früher. Jetzt gehört es zu der autonomen Comunidad von Castilla-La Mancha.» «Was weißt du sonst noch?» «Daß es dort kalt ist, und daß dort Klappmesser hergestellt wer den. Mehr weiß ich nicht.» «Ich sehe, du kannst mir auch nicht weiterhelfen.» Er hatte sich mit Charo für die Nachmittagsvorstellung im Kino verabredet. Sie wollte ‹Under Fire› sehen, weil darin der Arme aus der Fernsehserie ‹Reicher Mann, armer Mann› mitspielte. Der Film war derart prosandinistisch, daß es sogar Charo auffiel. «Hör mal, die Revolutionäre sind immer die besseren. Würdest du es gut finden, wenn es eine Revolution geben würde?» Wenn Charo ihm solche Fragen stellte, hängte sie sich bei ihm ein und preßte sich an ihn, damit er nicht weitergehen konnte. Sie wollte ihm bei wichtigen Antworten ins Gesicht sehen können. «Eine Revolution? Wo?» – «Hier, in Barcelona.» 66
«Die Panzer würden ausrücken und die Straßen blockieren, der ganze Verkehr wäre lahmgelegt.» «Mensch, schieß in’n Wind! Ich habe es ernst gemeint. Hör mal, dieser Nolte und Gene Hackman sind ja toll, aber Trintignan hat mir am besten gefallen. Es wäre toll, wenn du wie Trintignan ausse hen würdest. Erinnerst du dich noch an ihn in ‹Ein Mann und eine Frau!›?» Und sie begann, die Melodie des Filmes zu trällern, laut genug, daß sich Carvalho nach links und rechts umsah, ob sie keinen An stoß erregte. «Was weißt du über Albacete, Charo?» «Dort kommen doch die besten Klappmesser her!» «Sonst noch was?» – «Nein.» «Weißt du nichts über die Familie deiner Cousine, der Toten? Wie ihr Mann ist, wie sie dort gelebt hat?»- «Nein.» «Es bleibt mir nichts anderes übrig, als hinzufahren.» Charo mußte lachen. «Was gibt es da zu lachen?» «Ich weiß auch nicht, es gibt Sachen, über die ich einfach lachen muß. Manche Wörter zum Beispiel. Kopfsalat! Das Wort Kopfsalat bringt mich immer zum Lachen. Genauso La Coruña. Und ich könnte dir nicht erklären, warum!» Bei der Boquería verabschiedete er sich von ihr. Sie ging nach Hause, um auf die ersten verabredeten Termine zu warten, oder auf Anrufe ihrer Stammkunden. Er holte sein Auto von dem Parkplatz auf der Plaza de la Gardunya, er wollte zeitig nach Hause kommen, um etwas ebenso Wichtiges wie Unbekanntes zu tun – aber anstatt die Straße zu nehmen, die in die Berge nach Vallvidrera hinaufführte, fuhr er plötzlich auf der Avenida de la Meridiana in Richtung Montcada, und eine halbe Stunde später suchte er einen Parkplatz bei ‹Haushaltsgeräte Amperi›. Das Geschäft war geschlossen und hatte keine andere Beleuchtung als das Licht der Fernsehschirme, die unter den kritischen Blicken professioneller Schaufenstervoyeure simultan alle drei Programme zeigten. Er ging um den Wohnblock herum zum Hinterausgang des Hinterzimmers, und als er um die Ecke bog, sah er den Autodidakten aus der Gasse herauskommen. Carvalho blieb stehen und folgte ihm in einiger Entfernung. Er ging rasch und schien einem wichtigen Ziel zuzustreben. Zwei Blöcke weiter betrat er eine kleine Snackbar voller 67
Jugendlicher, die an ihrem Hot Dog lutschten, in dem eine Plastikwurst steckte. Auf die Straße drang der Geruch von ranzigen Frankfurtern aus der Fabrik, kombiniert mit dem Gestank eines Senfs, der auf der Basis von Harnsäure hergestellt war. Die meisten Gäste drängelten sich an der Theke, wo Mädchen in blauer Uniform bedienten. Sie trugen weiße Schiffchen wie Matrosen aus einer Revue. Es gab auch Zweiertische mit Stühlen, die aber selbst für den Arsch einer klassischen Ballerina mit einem Bandwurm noch zu klein waren. Carvalhos Haß auf derartige Etablissements, die seiner Meinung nach für die Jugend genauso schädlich waren wie Rauschgift oder dumme Eltern, übertrug sich auf den geistigen Filter zwischen dem, was seine Augen sahen und dem, was sein Gehirn ihm zubilligte. Aber da war Andrés, der auf seinen Freund wartete, und die beiden begannen, miteinander zu tuscheln, der Autodidakt eher überredend und der andere eher abwehrend. Carvalho beobachtete das Gespräch von weitem, bis er sich entschloß, überraschend aufzutauchen. «Spielt ihr Lotto?» Es war fast ein Knurren, was aus der Kehle von Andrés kam, und der Autodidakt konnte nicht verhindern, daß er eine Zehntelse kunde lang erschrocken wirkte, bis er Carvalho vollends erkannt hatte. Vergeblich sah sich der Detektiv nach einem freien Stuhl um, es gab keinen, und selbst wenn es einen gegeben hätte, hätte es die Einrichtung des Lokals nicht erlaubt, zu dritt an einem Tisch zu sitzen. Der Mittelgang wäre versperrt gewesen, auf dem die Ver dammten sich jenes unsaubere Nahrungsmittel abholten, das ohne Zweifel von Astronauten mit verkümmertem Geschmackssinn erf unden worden war, um die Konsumenten langsam, aber sicher umzubringen. Es war eine unmögliche Situation entstanden. Ent weder verzichtete Carvalho darauf, mit ihnen zusammen zu sein, oder die drei wechselten das Lokal. Es war der Autodidakt, der den Vorschlag machte, in sein Laden- und Studierzimmer zurückzu kehren. «Aber du mußt ja bald zu Mercabarna fahren.» «Wohin?» «Zu Mercabarna. Arbeitest du nicht zur Zeit dort?» Andrés zögerte zu lange, bis er die Frage bejahte, und als sein lautes ‹Ach so, natürlich!› kam, beobachtete er besorgt, ob Carvalho ihm glaubte. Aber der Detektiv war entschlossen, ihm einen Schreck einzujagen, und der Blick, mit dem er den Studenten an68
sah, funkelte voller Ironie. Verunsichert wandte sich Andrés ab und ging auf die Frage des Autodidakten ein. «Ich habe noch Zeit. Ich bin erst mit der zweiten Nachtschicht dran.» Der Autodidakt benutzte nicht die hintere Tür. Sie traten durch den Haupteingang ein und gingen durch den neonbeleuchteten Be reich, wo die Haushaltsgeräte ihr weißes Fleisch darboten, darunter auch einige kleinere Computer, die die Voyeure anstarrten, wie sei nerzeit die Indianer im Wilden Westen die ersten Telegrafendrähte vor dem Hintergrund der Rocky Mountains. Der Autodidakt machte sparsame, aber gezielte Handbewegungen, in kürzester Zeit erfüllte Mozarts Streichquartett in B-Dur den Raum, und die Hände der drei Männer hielten Whiskygläser mit Eiswürfeln. Der Gastgeber hatte sie aus einem kleinen Kühlschrank genommen, den Carvalho schon einmal im Büro eines ermordeten oder mordenden Managers gesehen hatte. «Schießen Sie los!» «Ich will mich kurz fassen. Ich kam zufällig hier vorbei, oder wenn Ihnen das lieber ist, ich kam hierher, um mich mit der Umge bung vertraut zu machen. Ich schnuppere gerne die Luft, die meine Klienten atmen.» «Die Luft von Montcada ist durch den Zementstaub der AslandWerke verschmutzt.» «Schon damals, als ich hier die Sommerferien verbrachte, war hier alles voller Staub.» «Was soll das mit den Sommerferien? Wer kommt denn auf die Idee, in diesem Loch seine Sommerferien zu verbringen?» «Señor Carvalho war neulich hier, als er deine Eltern besucht hatte, und erzählte mir Geschichten aus seiner Kindheit.» «Der Ziegenhirte hatte einen kleinen Bock, ein sehr intelligentes Tier. Es hatte immer noch ein Stück Nabelschnur am Bauch hängen und machte die verrücktesten Sprünge. Ich mochte ihn sehr gerne, aber eines Tages holten sie ihn ab. Ich sah, wie sie ihn mitnahmen, wahrscheinlich zum Schlachthof, denn ich sah ihn nie wieder. Manchmal, wenn ich eine Ziegenherde sehe, schaue ich nach, ob der kleine Bock von damals nicht dabei ist.» «Was redet der Typ da? Tickt der nicht ganz richtig?» «Laß ihn reden, irgend etwas will er uns sagen.» «Nein, ich will überhaupt nichts sagen. In Wirklichkeit weiß ich 69
gar nicht, ob ich Ihretwegen hierher gekommen bin, oder einfach um mir selbst klar zu machen, daß die Gegend hier nicht mehr das ist, was sie einmal war.» «Ein Spaziergang der Gefühle zwischen Liebe und Tod», bemerkte Andrés mit verklemmtem Zynismus. «Was wissen Sie über Albacete? Und sagen Sie mir ja nicht, daß dort ausgezeichnete Klappmesser hergestellt werden!» «Nein, nein, das werde ich bestimmt nicht tun! Es ist eine der bestentwickelten Provinzen dank der allmählichen Umstellung auf neue Produkte und ein neues Bewässerungssystem. Die Provinz besitzt große unterirdische Wasservorräte, und man hat ein Bewäs serungssystem aufgebaut, das von einer zentralen Tiefbohrung ausgeht. Hinzu kommt, daß die dortige Grundbesitzerklasse nicht ge schlafen, sondern es verstanden hat, mit der Entwicklung Schritt zu halten.» So will ich dich hören, dachte Carvalho. Aber der Autodidakt setzte seine enzyklopädischen Ausführungen fort. Es war eigentlich keine besondere Leistung, es genügte schon, ein Lexikon auswendig ge lernt zu haben, wo unter A das Stichwort ‹Albacete› stand.
Andrés war verstimmt. Er wollte nicht glauben, daß die Situation wirklich so surrealistisch war, er glaubte eher, daß es zwischen Narcís und Carvalho eine geheime Verständigungsebene gab, von der er ausgeschlossen war. «Warum interessieren Sie sich für Albacete?» «Sie haben mich in die Sache hineingezogen. An die Polizei kann ich mich nicht wenden, Sie beide wissen nichts, und der Mann von Encarnación befindet sich allem Anschein nach in Albacete. Diese Frau ist entweder durch Zufall ums Leben gekommen, oder weil sie ein Doppelleben führte, von dem Sie nichts wissen.» «Wer führt heutzutage kein Doppelleben?» «Ich zum Beispiel. Ich verbringe meine Zeit damit, mich in das Leben anderer Leute einzumischen, also habe ich gar keine Zeit für ein Doppelleben. Das wäre schon unmoralisch. Aber Sie führen ganz sicher ein Doppelleben. Zum Beispiel dieses Ladenzimmer: Es ist der Schauplatz eines Lebens, das mit dem Geschäft hier nebenan über haupt nichts zu tun hat. Und du, wie sieht dein Doppelleben aus?» 70
Das Du war ihm herausgerutscht, weil Andrés wie ein Kind aus sah, das vorzeitig gealtert und etwas müde war. «Ich führe drei verschiedene Leben, eins schlechter als das andere. Mein Zuhause, mein nutzloses Studium und meine Jobs. Mich können Sie nicht mitrechnen. Ich werde es nie zu etwas bringen. Seinerzeit konnte ein Junge wie ich zum Bankdirektor aufsteigen, wenn er als Liftboy anfing. Heute kann man nicht einmal mehr Liftboy werden. Es gibt keine Liftboys mehr.» «Laut Statistik gibt es in diesem Land mehr Leute, die einen Ar beitsplatz haben, als Arbeitslose.» «Ich würde sie gern mal einzeln durchzählen!» «Ich bin eigentlich eher durch Zufall hierhergekommen, außer dem wollte ich Ihnen sagen, daß dieser Fall zu den langweiligsten gehört, die ich je untersucht habe, trotz des spannenden Anfangs mit der zerstückelten Leiche. Aber können Sie mir mal verraten, welche Faszination eine Geschichte haben kann, die sich zum Teil in Albacete abspielt?» «Stellen Sie sich mal vor, ein Franzose hätte die Geschichte er zählt. Albacete kann für ihn so faszinierend klingen wie für uns Poitiers, wo sich die Verbrechen von Marie Bernard abgespielt ha ben, der ‹Schwarzen Witwe›. Was hat Poitiers vor Albacete voraus? Oder Eastbourne, wo ein hochinteressantes Verbrechen be gangen wurde, bekannt als das ‹Verbrechen im Bungalow›. Die Po lizei entdeckte dort zweiundvierzig Teile eines menschlichen Kör pers. Was sagt Ihnen der Name Eastbourne? Es liegt in Ihrer Hand, Albacete unsterblich zu machen, das allerdings seit dem Bürgerkrieg berühmt ist für die Grausamkeiten, die Andre Marty zuge schrieben werden, einem Anführer der Internationalen Brigaden. Albacete wartet auf Sie!» «Ich muß zugeben, das ist ein Gesichtspunkt!» «Ich gehe.» Andrés ging, gefolgt von einem prüfenden Blick seines Freun des. Das folgende Schweigen nutzte der Autodidakt, um mit dem Finger das in der Schallplatte verborgene Orchester zu dirigieren. Carvalho, der in einem alten Sofa mit abgeschabtem Bezug beinahe versank, hatte zu seiner Rechten die intellektuelle Intimsphäre des Monsters, einen Tisch, eine Hifi-Anlage, Bücherregale, und zu seiner Linken, hinter einer imaginären Linie, einen ganzen Urwald von Metallregalen voller Haushaltsgeräte, Kaffeemühlen, Kaffee71
maschinen, Büchsenöffner und Schleifgeräte. Es war die doppelte Dekoration einer Drehbühne oder eines Kino- oder Fernsehstudios, die darauf wartete, in einem Theaterstück benutzt zu werden, das auf der anderen Seite der Wand aufgeführt wurde. «Er geht nicht zu Mercabarna.» «Nein.» «Aber seinen Eltern erzählt er, daß er dort arbeitet.» «Er ist ein guter Sohn, im Sinne der klassischen Vorstellung da von, wie ein guter Sohn zu sein hat. Die unteren Klassen konservie ren kulturelle Vorstellungen aus den pädagogischen Handbüchern der Jahrhundertwende. Bücher über den Guten Ton werden nur von armen Leuten respektiert, wenn sie zeigen wollen, daß sie fein sind.» «Was arbeitet er denn?» «Was soll’s. Ich lade Sie zum Abendessen ein.» Er deckte seine geliebten Sachen zu, und in der Art, wie er das Licht löschte und den Auslöser der automatischen Tür drückte, lag die Wärme eines zärtlichen Abschieds bis zum folgenden Tag. Carvalho folgte ihm in seinem Auto bis zum Paseo del Colón und suchte neben dem Börsengebäude einen Parkplatz, nicht weit von der Stelle, wo Narcís seinen neuen Volkswagen gelassen hatte. Das Restaurant, in das er ihn führte, wirkte wie die Filiale einer Spar kasse, und man betrat es über einen Korridor, der direkt zur Straße führte. An der mit Schnörkeln verzierten Glastür prangte das Schild Racó d’en Pep. Dahinter lag ein kleines, L-förmiges Lokal, mit einer nicht weniger kleinen Küche zur Linken, in der die Köche praktisch unter den Augen der Gäste schufteten.
Der Mann, der Narcís so familiär begrüßte, war jung und trug einen gepflegten Bart. Obwohl das Lokal voll war, kam er sofort an ihren Tisch, trug ihnen vor, was es alles gab, und kommentierte die einzelnen Speisen. Sobald er bemerkt hatte, daß Narcís mit Car valho Spanisch sprach, ging er auch dazu über. Seinen Empfehlun gen folgend bestellten sie grüne Bohnen mit Venusmuscheln und Seehechtrücken mit geröstetem Knoblauch. Der Inhaber des Re staurants erwies sich auch als guter Weinkenner und unterstützte Narcís’ PatRíotismus, als er einen Weißwein aus dem Penedès be72
stellte. War es Sinn für Humor oder für das Geschäft – das Essen jedenfalls besaß das gewisse Etwas, das nur durch die Kombination von Einfachheit der Zubereitung und erster Qualität der Zutaten erreicht wird. Narcís war stolz auf die zuvorkommende Behand lung, die er als Stammkunde genoß, und lobte die Vorzüge dieser familiären Küche. «An dem Tisch dort drüben sitzt oft der Gouverneur von Barce lona, vor allem mittags.» «Halten Sie das für einen Beweis, daß hier gut gekocht wird?» «Zivile Gouverneure haben schon immer besser gespeist als die Minister. Ihre Ansichten von gutem Geschmack sind konservati ver. Mir gefällt dieses Lokal wegen seiner Überschaubarkeit, weil es sich im schönsten Teil Barcelonas befindet und weil der Name katalanisch ist. Katalonien hat nur die Macht über die Namen zu rückerobert. Ich glaube nicht, daß es jemals mehr zurückerobern wird.» Trotz des Weines und der phantastischen ‹Cohiba›, die Narcís mit einer Verbeugung vor der spanischen Politikerkaste bestellt hatte, die ‹Cohibas› zu rauchen pflegen, blieb der Autodidakt bei seinem historischen Pessimismus, den er als Sozialentomologe pflegte. «Ist das Ihr Doppelleben?» «Meinen Sie das gute Essen? Nein. Gut zu essen ist bei mir eigentlich die Ausnahme. Ich schätze es, so zuvorkommend bedient zu werden. Das erreicht man durch eine gewisse Regelmäßigkeit. Aber im allgemeinen esse ich irgend etwas im Hinterzimmer des Geschäftes meiner Mutter oder in der Würstchenbude, wo wir uns getroffen haben.» Nicht damit zufrieden, das Verhalten anderer zu analysieren, studierte der Autodidakt anscheinend auch sein eige nes, und zwar von morgens bis abends. Ohne Zweifel hatte er auch eine komplette Theorie über sich selbst parat. «Und jetzt gehen wir zusammen in den Puff!.» Carvalho war nicht darauf vorbereitet, daß sein Nachdenken zu einem derartigen Ergebnis führen würde. «Wie bitte?» «Wir sollten jetzt in ein Bordell gehen», erklärte der kränkliche Nachtschwärmer. Dank der beiden Flaschen Weißwein und des Himbeerlikörs war er auf Touren gekommen. «Steht es mir frei, den Vorschlag anzunehmen oder abzulehnen?» «Ich rate Ihnen, ihn anzunehmen, denn wir gehen an einen Ort, 73
wo Sie eine Überraschung erwartet. Die Prostitution ist ein Spie gelbild dieser Gesellschaft. Wir befinden uns mitten im Spannungs feld zwischen staatlicher Subventionierung und Schwarzarbeit, in dustrieller Umstrukturierung und individueller Armut. Wenn wir nun die Nutten klassifizieren, die auf dem Markt sind, erfahren Sie mehr über Soziologie, als wenn Sie einen Kurs an der Autonomen Universität belegen würden, wie ich das vor einiger Zeit tat. Fan gen wir mal an. Die traditionelle Nutte auf dem Straßenstrich, in einer Bar oder im Nuttenviertel, gehört zu einer Spezies, die im Aussterben begriffen ist, aber neuerdings wieder belebt wird durch frisches Blut aus der Arbeitslosengeneration. Es ist die primitivste und daher anspruchsloseste Spezies, also sucht man besser höhere Niveaus der Prostitution. Dessenungeachtet stößt man bei gründ licher Suche auf echte Billigangebote zu unglaublichen Preisen, vor allem im unteren Teil der Ramblas oder an der Kreuzung der Calle del Hospital und der Calle de la Puerta Ferrissa. Dann kommen traditionelle Spezies, die sich kaum verändert haben, wie die Nutte der Cafés, die ihren historischen Ursprung in der Carretera de Sarriá› hat, aber unter der Konkurrenz des Callgirls leidet, die unter der Rubrik ‹Massage und Kontakte› in der Vanguardia und El Periódico annonciert. Haben Sie die Literatur gelesen, die diese Angebote lan ciert? Das sollten Sie sich nicht entgehen lassen! Es geht weiter mit der angeblichen Gelegenheitsprostituierten, die von einer Kupplerin vermittelt wird, heimlich, damit der Ehemann nichts davon erfährt, weil sie gerade schwierige Zeiten durchmacht, Arbeitslosigkeit und so weiter, oder weil Drogenabhängigkeit oder eine religiöse Sekte sie zur Prostitution zwingen. Es ist alles vertreten. Es würde zu weit führen, dies genauer zu erläutern, jedenfalls be vorzuge ich die Massagesalons, aber erkundigen Sie sich vorher, bevor Sie hingehen, denn nicht alle verstehen ihr Handwerk gleich gut. Das Beste ist, man geht in ein Etablissement von einer gewissen Tradition, das den kompletten klassischen Service bietet, von der Sauna bis zum Fick mit allen Extras, über eine gekonnte Mas sage, trocken oder feucht, mit oder ohne japanische Algen, Whisky ‹Black Label› und Videofilmen, wo immer derselbe Neger mit einem langen Schwanz auftritt und dieselbe Blondine, die ihm einen bläst.» Die Augen und die Lippen des Autodidakten glänzten. «Wir gehen in einen klassischen Massagesalon. Es ist das, was 74
dem römischen Reich am nächsten kommt, in einer Zeit des Verfalls, in der Katalonien als Nation untergeht, obwohl es den Anschein hat, als sei gerade das Gegenteil der Fall. Aber Spanien und Europa müssen gut achtgeben, denn die Barbaren stehen vor den Toren.» Welche Barbaren er meinte, erläuterte er nicht näher. War es, um herauszufinden, an welcher Krankheit er sterben würde, oder hatte ihn diese Sickergrube der Wissenschaft überzeugt, jedenfalls fand sich Carvalho an der Seite eines halb betrunkenen, gefährlichen Fahrers wieder, ging dann die Stufen zu einer sogenannten Sauna hinunter und wurde von zwei Jünglingen in leichten weißen Bade mänteln begrüßt und aufgefordert, sich zu entkleiden. «Du kennst dich schon aus, mein Lieber. Dein Freund auch?» «Mein Freund kennt alles», erklärte der Autodidakt, um weite ren Fragen zuvorzukommen, und schob Carvalho vorwärts zum Umkleideraum. Dort sah er sich nach allen Seiten um, als vermisse er etwas oder jemanden, aber dann formte sich das spärliche Fleisch seines Gesichtes zu einem Grinsen, denn Andrés kam auf sie zu, in weißem Hemd und weißer Hose. Er errötete doppelt, durch die rosige Deckenbeleuchtung und wegen der unangenehmen Überra schung. Auf dem Arm trug er einen Stapel Handtücher und ging langsam auf die beiden Kunden zu, die er hier am wenigsten zu sehen wünschte. «Da ist sie, die Überraschung?» Carvalho wußte nicht, ob er seine Wut gegen den Autodidakten oder gegen sich selbst richten sollte. Andrés legte die Handtücher auf einen Tisch in der Mitte des Umkleideraums und ging wieder hinaus, ohne sie noch eines Blickes zu würdigen. «Zimmermädchen im Puff, von neun Uhr abends bis drei Uhr morgens. Machen Sie sich keine falschen Vorstellungen! Es ist die gefährlichste Schicht. Manchmal wird der Laden überfallen.» Später in der Sauna sah Carvalho dem Schweiß nach, der in Strömen an ihm hinunterrann und den im Übermaß genossenen sauren Wein hinunterspülte auf den Lattenrost am Boden. Im Dampf war der Autodidakt ein kleiner, nackter Körper mit ver schwommenen Umrissen, der auf der obersten Stufe in der Ecke hockte. «Wenn Sie nach Albacete fahren, biegen Sie am besten in Valencia in Richtung Játiva und Almansa ab.» 75
Carvalho schloß die Lider, vielleicht als Zustimmung, vielleicht aber auch nur, weil ihm der Schweiß über die Augenbrauen rann und die Säure wie Nadeln in die Augen stach.
«Ein Ausflug zur Manzanilla Bay wäre schöner.» Der Taxifahrer versuchte, ihn von seinem Vorhaben, zum Flugha fen zu fahren und nach Tobago zu fliegen, abzubringen, aber er hatte gelernt, Ginés’ Schweigen richtig zu deuten, und brachte ihn gehor sam zu dem Flughafen, den die Zivilbevölkerung in wilder Flucht besetzt zu halten schien, als sei der Dritte Weltkrieg ausgebrochen. Alle Neger und Inder der Karibik hatten sich versammelt, um die Räume des Flughafens von Trinidad im Sturm zu nehmen. Um zur Gepäckabfertigung zu gelangen, mußte man sich entscheiden zwi schen Schieben und Geschobenwerden, und wenn man einmal nach vorne vorgedrungen war, wurde man von zwei schizoiden Ange stellten mit hektischen Bewegungen und gereizter Stimme aufgefor dert zu warten, bis man an der Reihe war, und mußte sich in eine mysteriöse Warteschlange für den Flug nach Tobago anstellen. Am ungeduldigsten waren die Europäer und Nordamerikaner, Schiff brüchige in einem Meer von resignierten Eingeborenen, die dem karibischen Winter entsprechend gekleidet waren, im Gegensatz zu den unvermeidlichen Einzelgängern mit Walkman, die den Stil von Haarlem imitierten, Pullis mit zerrissenen Ärmeln trugen, um ihre muskulösen Arme zur Geltung zu bringen, und Armbänder, die sie auf gut Glück auf irgendeinem Markt der Internationale der Nippes erstanden hatten. Ginés glaubte dreimal, er sei aufgerufen worden, als er sah, wie sich die Massen auf den Schalter stürzten und die dahinter verschanzten Angestellten die Namen der Auserwählten für den nächsten Flug vorlasen. Aber er war nie dabei, und als er es geschafft hatte, zum Schalter vorzudringen – er hatte Kinder, Alte und dicke Matronen übergangen, sie hatten nicht einmal protestiert gegen seine Rippenstöße, ebensowenig gegen die Löcher im Dach, durch die der unaufhörliche Regen in die Schalterhalle floß –, nahm der Angestellte seinen Kopfhörer ab, zu dessen Musik sein sitzendes Skelett schlotterte, um ihm mitzuteilen: «Ich weiß es nicht. Vielleicht heute, vielleicht morgen.» «Morgen?» 76
«Ich weiß auch nicht. Vielleicht wird heute abend ein größeres Flugzeug eingesetzt.» «Aber dann müßte ich ja in Tobago übernachten.» Sein Gegenüber zuckte die Achseln und setzte seinen Kopfhörer wieder auf. Ginés zog sich unter den immer frecher werdenden Re genspritzern durch einen dichten, schwarzen Korridor vom Schal ter zurück, er dachte dabei an das wenige Geld, das er noch hatte, und daran, daß er bald seine Kreditkarte einsetzen mußte. Draußen nichts als Regen und Leute, die wartend unter Eternitdächern stan den. Er nahm wieder ein Taxi, tat während der ganzen Fahrt nichts anderes als beunruhigt seine restlichen Dollars zu zählen, und als sie nach Port of Spain hineinfuhren, hatte er mehr denn je das Ge fühl, sich freiwillig in ein Grab zu legen, das sich über ihm schloß. Am Hoteleingang vernahm er einen Ruf, den er zunächst für seine innere Stimme hielt, aber dann als das Geräusch einer Sirene identi fizierte, die von der anderen Seite der Gebäude und Lagerschuppen von King’s Wharf herübertönte. Die Drehtür bewegte sich, Gladys und der Barkeeper kamen heraus. Sie ging wortlos an ihm vorbei, der Barkeeper zwinkerte ihm zu, aber seine gerümpfte Nase drückte eine gewisse Geringschätzung aus. Ginés begab sich in die Empfangshalle, um einem Gespräch mit dem Paar aus dem Weg zu gehen, aber sobald er sah, daß sie in ein Taxi stiegen, ging er wieder hinaus, schlug das Angebot Maracas Bay seines persönlichen Taxi chauffeurs aus, überquerte die Dock Road und ging zum Eingang des Hafengeländes. Über den Dächern sah man in Zeitlupe die Be wegungen der Kräne und den plötzlichen Fall des Hakens, der sich in die Laderäume oder auf die Fracht stürzte, als wolle er einer mög lichen Flucht seiner Beute zuvorkommen. Ein liberianischer Tanker versperrte den Ausblick auf die weite Hafeneinfahrt, und bevor er ihn umging, warf er noch einen Blick auf die Armbanduhr: es war der 21. Januar. Nachdem er das Datum nachgeprüft hatte, rannte er, um so schnell wie möglich freie Sicht zu haben, und da war sie, die Rosa de Alejandría. Sie waren gerade dabei, nach Backbord zu wenden, um das Anlegemanöver zu beginnen. Ihm war, als komme er nach Hause zurück. In seine eigenen vier Wände, seine Heimat. Er musterte die Physiognomie des Schiffes, als betrachte er den Körper der Geliebten nach einer langen Abwesenheit oder nach einem vergeblichen Versuch, sie zu vergessen, und blieb stehen und wartete, bis sie anlegte. Er war fast allein, bis auf die gleichgültigen 77
Hafenarbeiter, die mit langsamen, aber präzisen Bewegungen das Schiff vertäuten. Kipplaster kamen herbeigefahren, um die Schätze aus dem Schiff abzuholen, weiter weg warteten andere Lastwagen mit der Fracht, die verstaut werden sollte, es war ein genau festge legter Ritus des Austauschs, den er bei anderen Gelegenheiten von Deck oder von der Kommandobrücke aus beobachtet hatte. Dort würden jetzt seine Kollegen sein, Germán, Juan, Martín, Kapitän Tourón und andere, deren Familiennamen überflüssig waren, weil ihre Gesichter oder Gesten eine Identität erkennen ließen, die in der langen Einsamkeit von Fahrten über das Meer oder gegen das Meer erworben war. Die Anwesenheit der Rosa de Alejandría vergegen wärtigte ihm die Existenz und den Ruf des Meeres mit größerer Intensität, als wenn er sich in der Maracas Bay mit den Wellen her umschlug. Ohne Schiffe würde das Meer für ihn nicht existieren, und er breitete die Arme aus, wie um die weiße, schon zum Still stand gekommene Masse an sich zu drücken, aber in Wirklichkeit, um sich selbst zu umarmen und seine innere Gefühlsbewegung zu rückzuhalten. Es würden mindestens noch zwei bis drei Stunden vergehen, bevor die Seeleute an Land gehen würden, und er ging über die Molen auf und ab und achtete darauf, daß er das Schiff im Auge behielt, ohne von dort aus gesehen zu werden. Die Entladeund Lademanöver kamen in Gang, und sobald sie richtig angelau fen sein würden, würde Germán an Land kommen, denn das war sein erster Impuls, sobald das Schiff irgendwo in einem Hafen lag, außerdem würde er versuchen wollen, ihn aufzuspüren. Und er sah ihn, zuerst stand er auf der obersten Stufe des Landungsstegs, um dann in sicherem Trab herabzukommen und eher zu laufen als zu gehen, sobald seine Füße den Boden des Kais berührt hatten. Der Offizier zögerte, besprach etwas mit einem der Ladearbeiter und ging dann zur Stadt. Ginés folgte ihm und wartete, bis er den Weg zum Holiday Inn eingeschlagen hatte, um ihn dann einen Block vor dem Hotel mit lauten Rufen auf sich aufmerksam zu machen. Germán drehte sich um und wartete auf ihn, als er ihn erkannt hatte. «Du lebst also noch.» «Wenn man das leben nennen kann. Du siehst ja, so ein Scheiß wetter!» «Also, wenn du gesehen hättest, wie schön überall an der Küste von Venezuela die Sonne scheint!» «Ausgerechnet mir mußte das passieren!» 78
Sie gingen weiter zum Hotel und tauschten die Neuigkeiten der letzten Wochen aus. Germán war immer noch nicht entschlossen, zum Thema zu kommen und das Gespräch auf seinen seltsamen Landurlaub zu bringen. Erst als sie vor zwei Daiquiris saßen, die Ginés an der Bar bestellt hatte, begann er: «Das gefällt mir, der tropische Garten und der Swimmingpool mit Sitzgelegenheit, damit man im Wasser einen hinter die Binde kippen kann.» «Es könnte schön sein, wenn die Sonne scheinen würde. Schau dir bloß diesen Inder an! Den ganzen Tag tut er nichts anderes, als den Swimmingpool zu schrubben. Vielleicht kannst du mir erklä ren, warum!» «Das soll einer verstehen. Und du? Wie?» «Ich weiß nicht.» «Kommst du oder kommst du nicht?» «Weiß nicht. Was hat Tourón gesagt?» «Zuerst hat er dich zur Hölle gewünscht. Zum Glück hat ihm Juan die Leviten gelesen, und weil er unsicherer ist als eine einbei nige Taube, mußte er das Maul halten. Du weißt ja, wie Juan ist. Aber dabei kann es nicht bleiben, und wenn du jetzt nicht wieder an Bord kommst, muß er der Schiffahrtsgesellschaft Bericht erstatten. Im Moment hat er ihnen gemeldet, daß du aus gesundheitlichen Gründen Urlaub genommen hast. Und das ist nicht gelogen, denn du siehst wirklich nicht gut aus.» «Wann legt ihr ab?» «Morgen. Eigentlich könnte es diese Nacht schon losgehen, aber Tourón hat die Hosen voll, der spinnt noch mehr als du, den ganzen Tag erzählt er von nichts anderem, als daß in diesen Breiten jeder zeit ein Krieg ausbrechen könnte, und er behauptet, daß sich wegen geheimen Atomversuchen der Meeresgrund täglich verändert. Wenn ich wieder in Spanien bin, spreche ich sofort mit denen von der Gewerkschaft über den Alten, mal sehen, ob sich da nicht etwas machen läßt.» Ginés betrachtete die Reste des grünlichgelben Getränks und die aufgespießte Kirsche, die ihren feuchten Glanz allmählich verlor, wie ein Blutstropfen, der noch zögert, sich zu öffnen und zu fallen. «Ich sollte zurückfahren. Ich habe wohl keine andere Wahl.» «Was hindert dich daran, verdammte Scheiße? Ich verstehe dich überhaupt nicht mehr. Hör mal, ich kann nicht zum Mittagessen bleiben, weil ich zusehen muß, daß die sich mit dem Laden beeilen. 79
Eigentlich bin ich nur an Land gekommen, weil ich nach dir sehen wollte, du hättest auch an Bord kommen können. Du hast einen Heuervertrag, hast du das vergessen? Heute abend kann ich an Land kommen, und dann machen wir ᾽ne Sause. Na, was sagst du dazu?» «Ich kenne mich nicht aus.» «Was soll das heißen, du kennst dich nicht aus?» «Ich weiß nicht recht, wo etwas los ist – das Wetter ist schlecht, und die Touristen haben sich nach Tobago oder Aruba oder Curaçao verzogen. Die hören hier nur noch Musik auf den Straßen, mit diesen Musik-Kühlschränken, die sie sich umhängen, oder sie gehen in leere Lagerhäuser und proben die Fallas.» «Welche Fallas?» «Calypso für den Karneval. Ist ja auch egal.» «Also, soll ich jetzt kommen oder nicht?» «Ich kann dich mit einer Kanadierin bekannt machen, die kannst du vögeln und den guten Ruf der Spanier retten. Ich habe es vor ein paar Tagen versucht und nicht geschafft.» «Hat sie Aussatz. Oder keine Beine?» «Nein. Ihr fehlt nichts. Sie hat auch keine Hemmungen, sie kommt direkt zur Sache.» «Alter Schwerenöter! Ich müßte sie mir mal ansehen, aber ich habe es mir in Maracaibo und La Guayra so gut gehen lassen, daß mein Körper dringend Ruhe braucht. Allerdings, wenn die Alte sehr gut aussieht …» «Das auch wieder nicht.» «Dann bleibe ich auf dem Schiff. Geh, pack deine Koffer und komm heute nachmittag an Bord! In einer Stunde kannst du das alles erledigt haben.» «Laß es mich noch einmal überschlafen. Ein einziges Mal!» «Wir stechen im Morgengrauen in See. Wenn du hierbleibst, komm wenigstens und verabschiede dich, und hol deine Sachen ab, die noch an Bord sind!» Ginés sah ihm nach und hätte ihn gern zurückgehalten. Aber er tat es nicht, trank sein Glas leer, kaute auf der Kirsche herum, die bitter schmeckte, und spuckte sie wieder ins Glas. Der offenstehende und seit dem Tag seiner Ankunft nur halb ausgepackte Koffer in seinem Zimmer war eine Aufforderung, der er sich immer weniger entziehen konnte, je länger er von dem Aus80
schnitt der Stadt und der fernen Kais, den ihm das Balkonfenster bot, bis zur Tür ging, die sich garantiert nie für einen Menschen, den er liebte, öffnen würde. Im Badezimmer zeigte ihm der Spiegel ein Gesicht, das von den abstrakten oder konkreten Schrecken und Ängsten gezeichnet war, die er sich selbst nicht eingestehen wollte, nicht einmal, als er die Lippen dem Glas näherte, sich selbst küßte und erst seinen eigenen Namen sagte, und dann den von Encarna wie eine Klage aus dem Abgrund des Grauens. Sein Gesicht ver schwamm, und in der Tiefe des Spiegels tauchte das ‹Goldene Horn› auf, wie man es von den Balkonen des Topkapi-Palastes aus sieht, mit kleinen Schiffen, die die Route zum Bosporus verließen und in Istanbul Zuflucht suchten. Noch nie war er am Schwarzen Meer gewesen. Er hatte es nur bei Kilyos oder Anadolufenieri vom Strand aus gesehen. Irgend jemand hatte einmal zu ihm gesagt: «Wenn du ins Schwarze Meer hineinfährst, dann ist es, als sei es für immer. Der Bosporus ist wie eine letzte Prüfung oder ein letztes Tor. Man könnte meinen, genau das sei sein Zweck. Er ist wie eine Warnung!»
Wohl weil ihm das Netz von Telefonen und Signalen nicht aus reichte, über das er auf der Kommandobrücke verfügte, um das Ablegemanöver der Rosa de Alejandría zu dirigieren, beugte sich Kapitän Tourón mit dem Oberkörper über das Metallgeländer, um Germán oder Basora mit Zurufen zu bombardieren, als wüßten sie nicht mehr, was sie zu tun hatten. Dadurch stach einem die Gestalt des Kapitäns eher als alle anderen ins Auge. Ginés ging im letzten Augenblick an Bord, als Martín schon oben an der Gangway stand und den Matrosen den Befehl gab, sie einzuziehen. Es war das aller letzte Kommando, und Ginés nahm immer zwei Stufen auf einmal, bis er atemlos vor Martín stand. Dieser starrte ihn mit offenem Mund an, und seine Hand mit der Signalpfeife war wie gelähmt. «Verdammte Scheiße! Himmelsakrament!» Damit machte er seiner Überraschung Luft, und er folgte Ginés, wobei er auf ihn einredete und ihm tausend Fragen stellte. «Weiß Germán Bescheid? Und der Kapitän? Weiß es Tourón?» Der Oberkörper des Kapitäns tauchte wieder auf dem Weg von oder zu der Kommandobrücke auf. Sein Gesicht war fast unsicht81
bar hinter den beiden Brillengläsern, die eher aus einem opaken Stein als aus Glas zu sein schienen und seine Augen in einem milchi gen Meer verschwimmen ließen. Sein ergrauter Bart war bis auf die Wurzeln abgeschabt, hatte aber eine Nebelspur auf dem Gesicht hinterlassen, das endgültig in nichtssagender, milchweißer Haut untergegangen war. Sie war so weiß, daß man ihm nicht einmal ansah, wenn er sich ärgerte. Dafür war seine gereizte Stimme unüberhörbar. Sie zeigte Ginés, wohin er gehen mußte; er stellte sei nen Koffer ab und überlegte sich Antworten auf Fragen, die gar nicht kamen. Er meldete sich zurück, und Tourón empfing ihn mit einem beiläufigen ‹Ach, Sie sind’s›. Mit einer Handbewegung for derte er ihn auf, sich der hektischen Betriebsamkeit anzuschließen, die das Ablegemanöver mit sich brachte. Als hätte er nur darauf gewartet, lief er aufs Achterdeck, um seine Kabine wieder in Besitz zu nehmen, den Koffer zu öffnen und seine Seemannskleidung an zuziehen. Sekunden später stand er schon an der Ankerwinde und kontrollierte sie für den Moment, wenn der Anker gelichtet werden mußte. Mit gesenktem Kopf, wie brave, tüchtige Ameisen, über prüften die Männer den Lauf der Kette, schlossen die Ladeluken und nahmen Kreiselkompaß, Logleinen, Logscheite, Scheinwerfer und Radargeräte in Betrieb. In seiner Funktion als Obermaat war Germán überall gleichzeitig, schaute grimmig drein und erteilte in schneidendem Ton Befehle, während er alles festzurrte, was in Be wegung geraten konnte. Nachdem er den Anker kontrolliert hatte, ging Ginés zu den Navigationsgeräten, aber dort war Tourón be reits mit der Überprüfung der Maschinentelegrafen, des Telefons, der Sirene, der Lenzpumpen und der Feuerspritze beschäftigt, so daß Ginés nur noch die Ruderketten und die Servomotoren der Schrauben zu kontrollieren hatte, und als er in den Maschinenraum kam, gab ihm Martín ein Zeichen, daß er alles unter Kontrolle habe. Die Vorräte an Treibstoff, Maschinenöl, Trinkwasser, Ersatztei len und Lebensmitteln waren ausreichend. Er hörte, wie Tourón nach Schiffspapieren und Frachtbriefen schrie, die einer der Subal ternen irgendwo abgelegt hatte, wo sie nicht hingehörten. Dann machte der Kapitän Anstalten, das Ablegemanöver einzuleiten, griff zum Telefon und befahl mit einer Stimme, mit der Napoleon seine siegreichen Rückzüge eingeleitet hätte, den Hauptlandesteg einzuholen. Germán hatte am Bug seinen Platz eingenommen und 82
Juan Basora am Heck, um das Ablegen der Leinen zu dirigieren. Ohne Sturm und ohne daß ein anderes Schiff vor dem Bug ankerte, gab es keine weiteren Komplikationen außer der Übernervosität Touróns, der ins Telefon schrie, als sei er der Kapitän der Titanic und der Eisberg bohre sich in sein Schiff. Basora ließ die Heckleinen losmachen, während der Anker eingeholt wurde, und das Schiff sich, gehalten durch die Bugvertäuung, nach Backbord drehte. Als die Drehung vollendet und die Leinen losgemacht waren, nahm es Fahrt zum Hafenausgang auf, der durch eine Boje gekennzeichnet war. Sie war praktisch überflüssig, denn kaum hatten sie Queen’s Wharf hinter sich gelassen und die Schuppen von King’s Wharf er reicht, lag das offene Meer vor ihnen. Im Hintergrund sah man das Holiday Inn, von dem sich Ginés mit einer gewissen Erleichterung verabschiedete, und die eintönigen, rechteckigen Wohnblöcke, die sich strahlenförmig vom Hafen bis zur Savannah ausbreiteten. Sie passierten die Mündung des Maraval River, und nach wenigen Mi nuten war Port of Spain eine Stadt von vielen, die sie hinter sich gelassen hatten. Eine erste Kursabweichung war angesagt, um die Inseln im Nordosten zu umfahren und zwischen der venezolani schen Insel Paria und der Insel Cacachacare so schnell wie möglich den Drachensund zu passieren. Nachdem Port of Spain hinter ihnen lag, teilte Tourón den Dienst auf See und die Wachen ein, ohne den Sarkasmus zu bemerken, mit dem Basora jede seiner Anweisungen mit einem ‹Zu Befehl, Kapitän› quittierte, während die andern sich nur mit größter Mühe das Lachen verbeißen konnten. «Im Drachensund wird es Nebel geben», wiederholte Tourón ein ums andere Mal und schwenkte den Wetterbericht vor den Nasen seiner Offiziere. «Lassen Sie kein Auge vom Radarschirm, bis wir die Nebelwand hinter uns gelassen haben. Verlangsamen Sie die Fahrt auf der Höhe von Cacachacare, Sirene voraus, ein Fernglas an den Bug, eins ans Heck, eins nach Steuerbord und eins nach Back bord! Diese Fahrt macht mir ein ganz ungutes Gefühl, und es fehlte nur noch, daß wir von oben Schwierigkeiten kriegen. In der Nähe von Barbados wird das Wetter besser, aber dann geht der Ärger los.» «Was meint er mit Ärger?» erkundigte sich Ginés bei Germán. «Die Amerikaner fahren dort Patrouille.» Touróns Rufe waren wie ein lästiges Summen im Hintergrund, es zwang die Köpfe zu nicken, während ihre Gedanken ganz woan83
ders waren. Ginés kniff in Gedanken die Augen zusammen, um einen letzten Blick auf das weiterhin vom schlechten Wetter geplagte Trinidad zu werfen, das im Regen und in der Abenddämmer ung verschwand. Sobald Touróns Lamentieren verstummte, wußten alle, daß er nun das Kommando zum Ablegen gegeben hatte, und sie überließen ihn dem ruhigen und etwas melancholischen Schweigen, in das er immer verfiel, wenn er sich ausgetobt hatte. Um nicht mit Germán zusammensein und seine Fragen beantworten zu müssen, entschuldigte Ginés sich schnell und sagte, er müsse auf seine Kabine gehen und seine Sachen in Ordnung bringen. Auf dem Achterdeck schloß er sich in seiner Kabine ein, machte seinen Koffer auf, betrachtete den Inhalt, als habe er ihn noch nie gesehen, und ließ sich, ohne etwas angefaßt zu haben, in einen Sessel fallen. Er stand wieder auf, um die Klappen vor den Bullaugen zu öffnen und so subjektiv den Spritzern des Meeres näher zu sein, die er vor dem Hintergrund eines bleiernen Himmels zu sehen erwartete. Er setzte sich wieder und schloß die Lider über seinen schmerzenden Augen. Dieser Schmerz quälte ihn seit Monaten, sobald die Personen und Dinge seine Aufmerksamkeit nicht mehr beanspruchten und er zum Nachdenken kam. Mit unterdrücktem Stöhnen stand er wieder auf und begann, um den Sessel herum im Kreis zu gehen. Jemand klopfte an die Tür, er schob den Riegel zurück, und Germán stand draußen. «Stör ich?» fragte er erstaunt. «Fühl dich wie zu Hause!» Erst nachdem er sich gesetzt hatte und ihn ansah, entdeckte Ginés, daß Germáns Hände kaum ausreichten, um das alles zu tragen, was er mitgebracht hatte: ein Mixgerät, eine Tüte Bananen, Eiswürfel und eine Flasche Rum. «Alter Rum aus Martínique!» Er stellte zwei Gläser in Augenhöhe vor Ginés auf den Tisch und schwenkte das Büschel Bananen. «Es sind die kleinen, das sind die besten.» Er begann sie zu schälen und im Mixgefäß in Stücke zu schneiden, um sie dann mit dem Mixer zu pürieren. Zu dem Püree goß er die gleiche Menge Rum und gab Eiswürfel dazu. In die Glä ser floß ein dickflüssiges, marmorfarbenes Gemisch, das nur darauf wartete, daß Ginés sich einen Ruck gab und Germán es sich in sei nem Sessel seinem Gastgeber gegenüber bequem gemacht hatte. «Und was ist das?» 84
«Daiquiri mit Banane. Macht munter und gibt Kraft!» Ginés leerte das Glas in zwei Zügen und hielt inne, um die festen Reste der Bananen zu kauen und die süße und saure Kraft der Arznei zuerst im Mund und dann im Körper zu spüren. Als sie am Ziel war, durchströmte eine wohlige Wärme seinen ganzen Körper, und im Mund blieb eine angenehme Frische. Germán beobachtete die Wir kung seiner Mixtur und grinste dabei in seinen nikotingefärbten Bart. Er schenkte seinem Freund noch ein Glas ein und, sobald es leer war, noch eins und noch eins, während er selbst noch am ersten nippte, als sollte es das einzige bleiben. «Tourón geht mir auf die Nerven», entschuldigte sich Ginés, ohne zu wissen wofür. «Du brauchst keinen Tourón, um genervt zu sein.» Germán hatte sich mit dem Glas in der Hand vorgebeugt. Er beobachtete, wie sich das Gesicht seines Gegenübers immer mehr entspannte, ein Gesicht, das nur aus dunklen Ringen um die Augen und grauen Haaren zu bestehen schien, die von Feuchtigkeit und Salz verklebt in die Stirn hingen. «Fühlst du dich jetzt wohl?» «Jawohl.» «Zufrieden?» «Ja.» «Erklärst du mir dann endlich, was zum Teufel eigentlich mit dir los ist?» Er sah das Entsetzen in der Tiefe des Blickes, der ihn traf. «Red keinen Blödsinn!» Mit verächtlich herabgezogenen Mund winkeln spuckte Ginés diese Antwort aus, fast tonlos, mit mehr Wut als Überzeugungskraft. «Glaubst du, das ist normal, der Schreck, den du uns in Maracaibo eingejagt hast, und daß du uns wochenlang täglich Tele gramme schickst und Tourón auf die Nerven gehst, bloß daß er der Gesellschaft keine Meldung macht?» «Ich hatte noch ein paar Urlaubstage gut.» «Aber du weißt genau, daß man so etwas vorher ankündigt und abspricht!» «Ich hab die Schnauze gestrichen voll.» «Von der Seefahrt?» «Von diesem Schiff.» «Es ist nicht besser und nicht schlechter alt jedes andere.» 85
«Von Tourón, vom Atlantik, von diesem ewigen Hin und Her zwischen Häfen, die immer dieselben sind.» «Was hast du vor?» «Ich wollte hier in der Gegend bleiben, in der Karibik. Sie brau chen hier immer Offiziere für Frachtschiffe, die aus diesem Tümpel nie herauskommen. Oder vielleicht ans Mittelmeer, an den Bospo rus.» «An den Bosporus? Was hast du am Bosporus verloren?» «Eine Reise ist immer die letzte. Aber zuerst muß ich noch mal nach Barcelona.» «Also, wenn ich dich richtig verstanden habe, willst du an den Bosporus, aber vorher mußt du noch nach Barcelona. Sag mir, um was es geht, vielleicht habe ich auch Lust dazu.» «Der Bosporus ist eine letzte Reise, aber es gibt noch eine Mög lichkeit. Ich muß wissen, ob ich irgendwann zurückkehren kann.» «Wohin?» «Nach Barcelona, auf dieses Schiff, zu allem.» Ginés’ Glas verlangte nach mehr Daiquiri mit Bananen, und Germán schenkte ihm nach. «Encarna?» «Encarna», gab Ginés zu und wandte sich ab.
Das Schiff nahm Kurs auf den Korridor zwischen Barbados und den Kleinen Antillen. Kaum hatten sie den Drachensund hinter sich gelassen, waren die Winde abgeflaut, bis sich kein Lüftchen mehr regte, gerade, als hätte ihr unaufhörliches Peitschen aus schließlich Trinidad oder Ginés gegolten. Als er den Kurs über prüfte, den der Kapitän ausgegeben hatte, war er sich zwar darüber im Klaren, daß seine Aufmerksamkeit und seine Bewegungen mehr einem Ritual gehorchten als einer Notwendigkeit, aber dafür konnte er sich von Tourón und Germán entfernen, die über die Nähe der Insel Grenada sprachen und die Wahrscheinlichkeit, auf patrouillierende nordamerikanische Kriegsschiffe zu treffen. Als der Kapitän die Kommandobrücke verließ, um etwas zu kontrollie ren, das gar nicht kontrolliert werden mußte, sang Germán mit theatralischen Gesten und kreischender Stimme: 86
Adios Granaaaaaaada Gra – na – da miaaaaaaa! Er versuchte, sich mit ihm über die Ereignisse in der großen Lag une der Karibik zu unterhalten, aber sobald Barbados die Sicht nicht mehr behinderte, sah Ginés nach Steuerbord, als nehme der Atlantik seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch, und Germán redete ins Leere, denn er blickte nach Backbord zu den Kleinen Antillen. «Interessiert dich die Karte wirklich so sehr? Im Januar passiert in diesen Breiten nie etwas. Das einzige, was passiert, ist, daß du nach dem . Breitengrad deinen Pullover anziehst.» Er versenkte sich in die nutzlose Betrachtung des aufgezeichneten Kurses, um die geringe Aufmerksamkeit zu rechtfertigen, die er für Germáns Worte übrig hatte. «In der Sargassosee werden wir schweren Seegang bekommen.» «Wie üblich, mach dir nicht ins Hemd. Wir weichen ein wenig vom Kurs ab, dann ist alles in Butter. Hast du deinen Beruf verlernt? Nimm die Pilot Chart für Januar, und guten Appetit!» Germán ließ ihn allein vor einem Ozean aus Papier, kariert und in molekülgroße Karos unterteilt, die fünf Grad Länge oder Breite entsprachen. Mindestens bis über die Breite der Bermudas hinaus, wo der Kurs sich dann der Kurve des Golfstroms anglich, würden sie keinen Sturm, kein Tief und keinen Nebel haben. Sobald er allein war, machte er sich keine Gedanken mehr über Dinge, die ihn nicht interessierten, und peilte mit dem Fernglas die Nordspitze der Hauptinsel von Barbados an. Das Meer kräuselte sich mit einer trügerischen Freiheit, die am Horizont endete. Es war eine Grenze, einfach eine trügerische Grenze, eine Linie ohne Hoffnung. Sanfte Passatwinde trieben sie auf den Wendekreis des Krebses zu, die reale Grenze des Winters. Er verließ die Steuerkajüte und stieg bedächtig die Treppe hinunter auf das einsame Oberdeck. Er ging zwischen den geöffneten Luken, durch die man einen Blick auf die verborgene Mühe und Arbeit des Schiffes werfen konnte, zu dem anmaßenden, kompromißlosen Bug des Schiffes. Währenddessen stellte er sich vor, wie er selbst als leichter Gegenstand auf Wellen schaukelte und auf ein Gully zutrieb – genau das, was vor einigen Tagen geschehen wäre, wenn er die 87
warnenden Pfiffe der Wächter nicht beachtet hätte. Wenn er dem Meer den Rücken zuwandte und sich auf den erhöhten Metalldeckel der Bugluke stützte, wirkte die Kommandobrücke hinter dem nächsten Ladebaum wie der Kopf eines Tieres, der den Körper dahinter versteckt, wie das Ende der Welt. Es war sein Arbeitsplatz, sein Büro, das Ziel seines täglichen Ganges, der ihn vom Jenseits des Achterdecks, wo er schlief, über das Mittelschiff führte, von Ladebaum zu Ladebaum, von Luke zu Luke, bis zum Büro, den Papieren, den Knöpfen und geradlinigen elektronischen Schalttafeln, den selbstgenügsamen Computern mit ihren perfekten Rechen- und Arbeitsprozessoren, mit denen die Offiziere nichts mehr zu tun hatten. Sie waren reduziert auf die Rolle von Wärtern dieses autonomen elektronischen Ungeheuers. «Es wird noch soweit kommen, daß die Schiffe von Land aus mit einem zentralen Elektronengehirn ferngesteuert werden, ein einzi ges für alle Schiffe auf dem Ozean.» «Und wenn dieses Gehirn kaputt geht, sinken alle Schiffe auf der ganzen Welt. Sie stoßen miteinander zusammen oder zerschellen an den Wellenbrechern und Steilküsten. Das Beknackteste daran ist, daß das ganze Meer dann nur noch ein ungeheurer Teich Scheiße sein wird. Es wird keine Abenteuer mehr geben. Ein widerliches Ende für ein schönes Abenteuer, das vor Jahrhunderten das Sprich wort inspirierte: Die Seefahrt zählt, das Leben nicht!» Der Pessimismus von Juan Basora, dem Steuermann und Schrift steller, widersprach Germán. Er zeigte zum Himmel hinauf wie der indische Taxifahrer in Port of Spain. «Dort oben gibt es noch Aben teuer!» «Was für Abenteuer?» «Die Raumfahrt.» «Ein schönes Abenteuer, diese computergesteuerte Reise mit den komischen Typen in ihren Taucheranzügen, die den Pimmel nicht mal zum Pissen rausholen!» «Du würdest dich nicht trauen, dort oben mit dem Kopf nach unten zu hängen!» «In einem Hurrikan steckt viel mehr Risiko, wenn er mit über achtzig daherkommt und dich in einem Fischerboot auf Sardinen fang erwischt!» «Und wann bitte warst du schon mal in einem Fischerboot hinter Sardinen her?» 88
«Was weißt du schon von mir, Alter! Sind wir verheiratet?» «Die einzigen Sardinen, die du in deinem Leben je gesehen hast, waren aus einer Büchse, schön in Öl eingelegt.» Eine Überfahrt war gut für Hunderte derartiger Dialoge, die sich in seiner Erinnerung abspielten, als wäre es heute morgen in der Offiziersmesse gewesen, unter dem Fernseher und dem Videoge rät, die ihnen die Reederei geschenkt hatte. Vielleicht hatte das Ge spräch auch schon vor vier Monaten stattgefunden, oder überhaupt noch nicht. Es konnte aber jeden Moment beginnen, sobald man der Wahrheit des Atlantik ins Auge sah, und das Meer war Tag für Tag ein opaker Kristall unter einer Decke von Stratokumuli, die von den Bermudas bis zu den Azoren die Sterne zum Schweigen brachten, und die Hände waren müde vom Kartenspielen oder weil sie zu oft über die Augen streichen mußten, um die Schatten der Langeweile und der Migräne zu vertreiben. «Ringsum nichts als Gischt, in der Luft, im Wasser. Gischt, den der Wind wütend zerfetzt über einem Meer, weiß wie ein schmutzi ges Laken. Dort möchte ich diese Weltraumpisser mal sehen!» Er glaubt, Steuerbord die Schatten von St. Lucia zu erkennen, aber es war unwahrscheinlich, daß die Insel im schwächlichen Licht des Morgengrauens aus der Entfernung, in der sie sich befanden, sichtbar gewesen wäre. Er hing seinem Traum nach von dem weiß gekleideten Mann mit Panamahut und Stoppelbart, der von Insel zu Insel springt, als könne er sie mit seiner Barkasse wie Perlen auf eine Schnur aufziehen und von der Reling aus die Spur seines Kielwas sers im Meer mit der Hand verwischen. «Ein kleiner Spaziergang?» Kapitän Tourón war hinter dem Bugladebaum aufgetaucht. Ohne auf eine Antwort zu warten, ging er voraus, überzeugt, daß Ginés ihm folgen würde. «Haben Sie immer noch nicht genug von Ihren Spaziergängen? Wir hatten schon Angst, Sie würden uns im Stich lassen. Germán sagte etwas davon, daß Sie hierbleiben möchten und einen kleinen Frachter suchen, auf dem Sie Kapitän werden könnten.» «Ich habe die Rosa de Alejandría ein wenig satt. Es ist immer das gleiche.» «Und dabei sind Sie Junggeselle! Für einen verheirateten See mann ist es noch viel schlimmer. Einem Verheirateten geht es wirk lich beschissen, Larios, wirklich beschissen.» 89
Der vertrauliche Tonfall des Kapitäns war Ginés zuwider. Fast genauso zuwider wie die periodischen hysterischen Anfälle, die er bekam, je länger man unterwegs war. Von einem gewissen Punkt an, noch weit entfernt von den Azoren, verwandelte sich Tourón end gültig in einen unausstehlichen Kläffer, dem außer Juan Basora kei ner zu widersprechen wagte. «Aber dafür hält man sich dann schadlos, wenn das Schiff im Hafen liegt. Ich habe gesehen, wie gut Sie es sich gehen ließen.» «Wo?» «In Barcelona, zum Beispiel!» «Kann sein.» «Ein Scheißberuf», murmelte Tourón und musterte den Ozean wie einen Feind. «Also, ich habe Sie gesehen, als Sie es sich wirklich gut gehen ließen, Larios, und zwar in Barcelona!» Und dann lachte er, wie nur ein Schwachsinniger lachen kann, der Mitwisser irgend eines ausgemachten Schwachsinns geworden ist. Plötzlich legte er Ginés eine Hand auf die rechte Schulter und dämpfte seine Stimme, als ob die Fische und die Albatrosse nicht hören sollten, was er Ginés anvertrauen wollte. « Solange wir die Antillen nicht hinter uns gelas sen haben, ist mir nicht wohl in meiner Haut. Wenn die Amerikaner es darauf ankommen lassen, ist hier die Hölle los, und je weiter man weg ist, wenn es kracht, desto besser. Ich mußte den Krieg zwischen Juden und Ägyptern von der Kommandobrücke meines Tankers aus miterleben, der gerade ins Rote Meer eingelaufen war. So etwas wünsche ich nicht einmal meinem Schwager, und Sie können mir glauben, den kann ich absolut nicht ausstehen! Die Angst schnürte mir derart die Kehle zu, daß ich keinen Bissen mehr zu mir nehmen konnte, bis ich den Rückwärtsgang einlegte und mit Volldampf nach Djibuti fuhr. Für den Fall der Fälle habe ich Pons auf den Ausguck geschickt. Er hat Befehl, mir jeden kleinsten Moskito zu melden, den er entdeckt. Und die Jungs dürfen kein Auge vom Radarschirm lassen, bis wir unsere Pullover anziehen. Außerdem ist die Flagge gehißt, denn es wäre nicht das erste Mal, daß sie einem eine Bombe aufs Haupt werfen und sich hinterher dafür entschuldigen. In diesem Meer hier werden mehr Waffen als Erdnüsse geschmuggelt.» Er lachte über seinen eigenen Witz, während die Nacht dunkler wurde und Ginés von der Verpflichtung befreite, zu grinsen. «Stellen Sie sich mal vor …» Tourón sprach ihn an, aber eigentlich war es ein Selbstgespräch. 90
«Stellen Sie sich vor …» «Was?» Nun sah ihn Tourón an, um zunächst sein Begriffsvermögen ein zuschätzen, oder aber fasziniert von der Tragweite dessen, was er sich vorstellte. «Stellen Sie sich vor, es fällt eine Atombombe.» «Wo denn?» «Hier in dieser Gegend. Eines Tages wird es soweit sein. Die Situation ist kurz vor dem Siedepunkt. Ich habe ein paar Berech nungen angestellt, und falls die Bombe weniger als zwei Seemeilen von uns entfernt niedergeht, bleibt von uns nicht einmal für die Fische etwas übrig. Zwischen zwei und vier Seemeilen sieht es ganz schlecht aus für uns, und wir müssen zusehen, was von uns übrig bleibt. Vergessen Sie nicht, was ich Ihnen sage, ich habe es Germán schon mitgeteilt und teile es jetzt Ihnen mit, denn wenn mir und Germán etwas zustößt, dann fällt die Verantwortung für das Schiff an Sie, vergessen Sie das nicht! Falls die Bombe in einer nicht von vornherein katastrophalen Entfernung fallen sollte, wobei dann na türlich der Hitzeblitz eine enorme Druck- und Flutwelle erzeugt, muß das Heck auf den Punkt Null ausgerichtet werden, also auf den Punkt der Explosion. Bei einer Bombe von zehn Kilotonnen er reicht die erste Flutwelle nach zwölf Sekunden in sechshundert Me tern Entfernung eine Höhe von dreiundfünfzig Metern, und nach dieser Welle kommen andere, jedesmal kleinere, aber Vorsicht! Denn wer weiß, wie das Schiff nach der ersten zugerichtet ist. Zweieinhalb Minuten nach der Explosion beträgt die mittlere Höhe der Wellen noch sechs Meter. Vergessen Sie das nicht, Larios, sobald Sie mitgekriegt haben, daß die Bombe niedergegangen ist, Heck zur Einschlagstelle ausrichten und dann den Wellen ins Auge sehen!»
Bei Almansa brach der Sturm los, und während der Fahrt nach Albacete und in die Mancha sausten vor Carvalhos Wagen trockene Dornenbüsche kreuz und quer über die Straße, hilflos jeder Laune der Sturmböen ausgeliefert. Der zinkgraue Winterhimmel und die Erde versprachen Kälte und die Notwendigkeit von Wärme, Ge borgenheit, Schlaf und schwerem Wein. Die Landschaft schien sich 91
ganz darauf eingestellt zu haben, das Wunder des noch weit entfern ten Frühlings zu erwarten, aber der Blick des Fremden wurde zu rückgewiesen, als der in ihr eine Spur von Zartheit suchte. Ein paar nackte Bäume, erstarrte Hecken, fröstelnde Erde zwischen Grau und Ocker, graubraune Dächer, weiße Mauern, grau getönt im winterlichen Licht – eine lange Reihe von Aussichten, die einander aufs Haar glichen, bis Albacete vielversprechend auftauchte, unter einem bewölkten Himmel in der viel zu früh einbrechenden Däm merung. Das Bristol Gran Hotel hatte ein Zimmer frei und bot ihm außerdem ein Restaurant, das der Besitzer selbst führte. El Rincón de Ortega war das Laboratorium der Nouvelle Cuisine in der Mancha, wie er irgendwann zufällig im Radio gehört hatte. An der Rezept ion kaufte ein Gast, der wie ein Vertreter aussah, hastig Eintrittskarten für ein Fußballspiel. Es war Sonntag. Sonntag in Albacete! warnte er sich selbst, als er die vier Wände seines Einzelzimmers in Besitz nahm. Es hatte ein Fenster mit Blick auf einen Innenhof und ein Kopfkissen mit Blick auf die Zimmerdecke. Dort füllten sich Carvalhos Augen mit Melancholie und dem Bedürfnis, hinauszurennen, egal wohin. «Wer spielt?» Es dauerte ein paar Sekunden, bis sich der Portier von seiner Überraschung erholt hatte und in schweigendem Nachdenken her ausfand, daß Albacete gegen Jerez spielte. «Meine Eintrittskarten sind ausverkauft. Aber wenn Sie sich be eilen, können Sie im Stadion noch eine bekommen.» Er folgte der Beschreibung des Portiers, ging die Calle Marqués de Molins hinauf und holte im Parque de los Mártires die eilende Nachhut der Schlachtenbummler von Albacete ein. Sie waren, dem Abend entsprechend, eingemummt wie Samojeden und anschei nend die einzigen Überlebenden einer Stadt, die sich geteilt hatte in Anhänger des Fernsehabends am Ofen und Anhänger des Fußballs live. Es war ein Spiel der zweiten Gruppe der zweiten B-Liga. Lag es nun an der Größe des Spielfeldes oder an der unmittelbaren Nähe der Zuschauertribüne zum Spielfeld, jedenfalls hatte Carvalho den Eindruck, ein Fußballspiel aus seinen Kindertagen mitzuerleben, eines jener Spiele, bei denen auf jeder Seite dreißig Spieler einem Ball aus Zeitungspapier oder Gummi nachjagten, der von den blechverstärkten Kappen der Nachkriegsschuhe schon total ruiniert war. Von der zweiten Liga abwärts gehen die Spieler viel mehr 92
an den Ball, zu dieser Erkenntnis kam er, als er sah, wie viele Beine hinter dem Ball herjagten, der hierhin und dorthin rollte, als wollte er der muskulösen Meute entfliehen. Man hörte das Rennen der Spieler, ihre Tritte gegen das runde Leder oder die gegnerischen Beine, das Keuchen der Außenspieler und die Verwünschungen bei Fouls oder Fehlpässen. Einmal hörte man sogar: «Ich scheiße auf deine Toten», aber Carvalho konnte nicht genau ausmachen, aus welcher Ecke das kam, anscheinend aus den Reihen von Jerez. Die Haupttribüne war in zwei Zonen aufgeteilt. Die eine davon, mehr in der Mitte, war nur spärlich besetzt. Dort standen die Honoratio ren der Stadt, lustlos und wenig begeistert von dem Spektakel. Auf der anderen drängte sich der bauchige Mittelstand mit bäuerlicher Stämmigkeit und der vielgerühmten Reserviertheit der Mancha. Unter den Reklametafeln am Rand des Spielfeldes blieb Carvalho ein Schild besonders im Gedächtnis: ‹Informática Albacete›. Ohne Zweifel gab es schon Computer, die die genaue Menge Milch abmaßen, die nötig war, damit der Manchakäse seine runde Form erhielt. «Mansilla ist nicht in Form.» Die Stimme kam hinter einem Halstuch hervor, der Besitzer rieb sich die Hände und stampfte mit den Füßen auf den Zementboden der Tribüne, als erhoffe er Wärme aus der Tiefe der Erde als Ant wort. «Nein, der ist nicht in Form.» «Aber wenn er will, dann kann er.» «Kann schon sein.» Der Schiedsrichter pfiff, die erste Halbzeit war zu Ende. Carvalho verließ die Tribüne und den Platz. Die Stadt lag wie ausgestorben, der Wind zerrte an Markisen und zerrissenen Plakaten, aber er konnte nichts ausrichten gegen die stacheligen Skelette der leichenstarren Bäume. Die Stadt sah aus, als sei sie erst in den letzten Jahrzehnten ent standen. Dem Abriß waren jedoch einige Gebäude eines späten und pompösen Jugendstils entgangen, mit dem geliehenen Charme des Obsoleten, das einen zähen Überlebenswillen entwickelt hatte. Es war der graue Jugendstil einer ernsten Stadt, nur aufgelockert in den bunten Farben eines Militärgebäudes. Daneben erhob sich die lokale Version eines Wolkenkratzers, der einer valencianischen Sparkasse gehörte. Die ganze Welt ist Disneyland oder Disneyland 93
ist schon die ganze Welt. ‹Lieber eine marxistische Kugel als eine faschistische Umarmung!› hatte ein jugendlicher Pessimist an eine der tristen Häuserfronten geschrieben. An der Ecke gab es gebra tene Kastanien aus einer Straßenküche, die wie eine Lokomotive dampfte, daneben ein schönes klassizistisches Gebäude, mit einem Blumenfries verziert, verlassen, baufällig und von alten und neuen Kinoplakaten barmherzig in ein Leichentuch gehüllt. Der Hang der Stadt zu Zitaten aus «Don Quijote» prägte sich in sein Gedächtnis ein: Aldonza Bar, ‹Pastelería Dulcinea›. Auf dem Weg zum Hotel gab es das Geschäft ‹Albacete Religioso: Folkloristische Bücher, Bücher der ‹Editorial Planeta›, Universalheilige aus Gips, Gitarren, Lauten und Lebensbilder von Heiligen und Nonnen. Fast Tür an Tür damit hing das Schild: ‹Wir stechen Ohrlöcher! Garantiert antiallergische Ohrringe! Auskunft im Laden!› Angewandt wurde angeblich die Methode ‹Stesi Quick›: ‹Absolut steril, schnell und sicher!› Carvalho fragte sich, ob die Punkwelle Albacete schon erreicht hatte, gelangte aber zu der Überzeugung, daß der Hinweis auf die Ohrlöcher vor allem den im Moment unsichtbaren Frauen von Albacete galt. Er ging am Hoteleingang vorbei, ohne der Versuchung des war men Zimmers mit der einschläfernden Zimmerdecke zu erliegen. Er ging über die ehemalige Plaza del Caudillo, sah mit eigenen Au gen, daß die Firma ‹Informática Albacete› wirklich existierte, und bog in eine Allee ein, deren Anfang zwei auf ewig vereinte Wind mühlen bildeten, die anscheinend eine Art siamesische Mühle dar stellen sollten. Die Bars waren belebt, es waren die Leute aus der Nachbarschaft, die sich mit Käsestücken im Mund unterhielten und Hardrock aus der Musikbox hörten. Als er sich erkundigte, wie das Spiel Albacete – Jerez ausgegangen war, hieß es: drei zu eins. Die Mannschaft von Albacete hatte gewonnen, nachdem sie ihre Überlegenheit im Mittelfeld bewiesen hatte. «Die von Jerez hatten überhaupt kein Mittelfeld», urteilte einer der Gäste, und keiner wi dersprach ihm, vielleicht, weil alle damit beschäftigt waren, den Fremden anzustarren, der da ein Gespräch anzuknüpfen versuchte und einen Wein aus Estola bestellt hatte, sich also außergewöhnlich gut unter den Weinen der Mancha auskennen mußte. «Ich bin heute angekommen und fremd in der Gegend. Sonntags scheint hier nicht viel los zu sein.» «Es ist noch zu früh und es ist kalt. Gehen Sie mal in einer halben 94
Stunde durch die Fußgängerzone. Calle Mayor … Concepción … oder Marqués de Molins, und Sie werden kaum vorwärts kom men!» «Ich bin auf der Suche nach Señor Rodríguez de Montiel. Ich habe seine Adresse von früher, aber er wohnt anscheinend nicht mehr da. Kennen Sie ihn?» «Es gibt viele Rodríguez de Montiel. Diese Familie kennt hier jeder.» Es waren etwas behäbige Männer um dreißig, die Carvalho prü fend ansahen und überlegten, was man ihm sagen konnte und was nicht. «Luis Rodríguez de Montiel.» Sie sahen einander an. «Ja, Mensch, der gehört zu denen aus Bonillo», «der mit der Frau …», und als das Wort Frau gefallen war, wußten alle, was sie sagen wollten. Sie schauten Carvalho fragend an, ob er Bescheid wüßte. «Genau, der, dessen Frau dieses Unglück zugestoßen ist.» «Seither läßt er sich hier nicht mehr oft blicken. Hast du ihn mal gesehen?» «Nein, ich hab ihn nicht gesehen.» «Also, wenn du ihn nicht gesehen hast … Er arbeitet nämlich bei Banco Central, und die Rodríguez de Montiel haben viel mit denen zu tun.» «Sehr viel. Eine ganze Menge! Also, Don Luis war oder ist sogar noch im Aufsichtsrat.» «Und er kommt nicht in die Bank?» «Seit Monaten habe ich ihn nicht gesehen. Es heißt, seine Ge sundheit sei angegriffen. Aber wer will das wissen! Er war sowieso mehr in Madrid als in Albacete, wie alle von der Sorte, ehrlich ge sagt.» «Was heißt ‹von der Sorte›?» «Was soll es schon heißen? Die Leute mit dem dicken Geld. Die das halbe Jahr über in Madrid in Saus und Braus leben und das an dere halbe Jahr in Albacete sind und das einsacken, was ihr Land hergibt, oder ein wenig in ihrem Jagdrevier herumballern und die Puffs in der Umgebung unsicher machen.» «Ja, ja, ich weiß schon, worauf du hinaus willst!» «Was soll das heißen? Stimmt es vielleicht nicht, was ich sage? Weil sie jetzt das Gefühl haben, daß die Stadt den Roten gehört, seit 95
die Sozialisten im Rathaus sitzen, deshalb sieht man sie jetzt noch seltener.» «Was redest du da! So ein Quatsch, Mensch! Geh mal ins Casino Primitivo oder ins Tito del Pichón oder El Cantábrico, dort sitzen sie alle schön beisammen, da fehlt kein einziger! Hat sie denn jemand rausgeworfen?» «Und ich sage dir, seit die PSOE gewonnen hat, lassen die sich kaum mehr blicken.» «Ach komm, Mensch, du bist voreingenommen. Ich weiß, wor auf du hinaus willst. Hören Sie nicht auf ihn! Es stimmt nicht, was er sagt. Die großen Familien von hier sind oft in Madrid, das stimmt, aber sie lassen das Huhn mit den goldenen Eiern nicht aus den Augen. Sie kümmern sich um ihren Besitz. Fahren Sie mal durch die Kornfelder und Weingärten! Inzwischen wird alles be wässert, weil es in der ganzen Provinz große unterirdische Wasser vorkommen gibt, und diejenigen, die den Anschluß an die neue Zeit nicht verpaßt haben, haben das mit der zirkulierenden Bewäs serung aufgebaut, von einer zentralen Wasserstelle aus, und es fließt in Mengen. Mit oder ohne Franco, keiner hat ihnen eine Pesete weggenommen, und sie leben, wie sie schon immer gelebt haben. Der Junge hier träumt. Er bildet sich ein, daß diese Leute sich über etwas ärgern.» «Sind die Rodríguez de Montiel sehr reich?» «Das sind sie.» «Das waren sie mal.» Sie waren es immer noch, darüber waren sich die meisten kopf nickend einig. Die Rodríguez de Montiel legten viel zu viel Wert auf ihre Wappenschilder, es gab unter ihnen kaum Leute der neuen Ge neration, die bereit waren, die alten Zöpfe abzuschneiden. Sie hat ten die neue Zeit verschlafen und lebten nun vom Verkauf dessen, was ihnen geblieben war. Aber das war noch eine ganze Menge. «Hier gibt es helle Köpfe, die sogar einen Privathubschrauber haben und damit über ihr Gebiet fliegen», bemerkte der schwam mige Bankangestellte. «Aber sie leben ihr Leben und legen sich mit keinem an.» «Planen Sie keinen Umsturz? Ich habe sehr viele rechtsextreme Parolen in der Stadt gesehen.» «Ach, das waren ein paar Hanswürste, die gerne Wände be schmieren. Aber sehen Sie, die PSOE sitzt im Rathaus.» 96
Eigentlich hatte er sagen wollen: «Wir sitzen im Rathaus», sich dann aber für eine bescheidenere Form der Identifikation entschie den. «Und wie haben ‹sie› darauf reagiert?» «Überhaupt nicht. Sie haben sich nie direkt in die Politik einge mischt. Früher hatten sie Schlägertrupps, heute beobachten sie die Sozialisten aus der Distanz. Sie unternehmen nichts dagegen, aber sie arbeiten auch nicht mit ihnen zusammen.» «Was können Sie mir über Luis Rodríguez de Montiel erzählen?» «Man sieht ihn nur noch selten, und das ist komisch, denn er hat schon oft genug für Gesprächsstoff gesorgt! Der hat die Bordelltür erst am frühen Morgen zugemacht.» «Und zwar von innen!» Alle lachten. Carvalho bedankte sich und ging durch das dunkle Albacete zu seinem Hotel zurück. Die Straßen waren jetzt belebter, es herrschte sogar eine gewisse Hektik, eine Aufgekratztheit wie in den letzten Stunden einer Fiesta. Als er an dem sozialistischen Rathaus vorbeikam, sah er über einer mächtigen Freitreppe ein buntes, vertrauenerweckendes Bild, das Herz Jesu, riesengroß und blutüberströmt.
Im Radio hatte er irgendwann einmal gehört, daß der Besitzer des Rincón de Ortega sich zum Don Quijote der alten und neuen Küche der Mancha entwickelt hatte. Er erklärte jedem, der sie nicht kannte, die Vorzüge der Schlachtesuppe mit Knoblauch, der atascaburras und Gazpachos. Die Gäste waren nicht zahlreich, aber sie sahen wie Stammgäste aus, ihrer Unterhaltung nach gehörten sie zur lokalen Elite oder waren gutbetuchte Vertreter mit gastronomi schen Ambitionen. Carvalho ließ sich vom Chef beraten, der seine Fragen lebhaft beantwortete, als er sein Interesse an den Geheimnissen der einheimischen Küche bekundete. Ortega verlieh ihr das Prädikat ‹wohlschmeckend und solide›. Auf dem Teller vor Car valho dampfte ein dunkles, tiefsinniges Gericht, ein Gericht, das seine eigenen Erinnerungen besaß, und das Bewußtsein, ein an thropologisches Indiz zu sein. Stücke von Fladen und Kaninchen fleisch lagen in einem gehaltvollen Sud, der mit Pfeffer, Rosmarin und Thymian gewürzt war. Auf Empfehlung des Restaurateurs 97
nahm er zum Essen einen Estola de Villarobledo, dreizehn Grad, der eher zu den Weinen der äußeren Mancha gehörte als zu den leichten Weinen des kastilischen Teils. Versunken in die Sensationen der Nase und des Gaumens, dau erte es eine ganze Weile, bis Carvalho bemerkte, daß ein alter Mann mit einer Bandurria an seinen Tisch getreten war und ihn mit offe nem Mund angrinste. Dabei konnte man sehen, wie sein Zäpfchen im Hintergrund einer mit gelben, spitzen, wackligen Zähnen be stückten Höhle zitterte. «Ist das Ihre Gitarre?» «Das will ich meinen! Ich trage sie den ganzen Tag mit mir herum. Aber es wäre besser, sie ‹requinto› zu nennen, so heißt hier die kleine, sechsseitige Gitarre.» «Was für Lieder singen Sie?» «Maiständchen und Lieder für die armen Seelen. Ich bin ein Animero›. Und Sie essen Gazpacho und trinken Villarobledo, gratu liere!» «Möchten Sie etwas probieren?» «Ich würde gerne, aber mein Blutdruck ist zu hoch, und wenn ich wählen darf, nehme ich lieber etwas Wein.» Carvalho ließ ihm von dem Kellner noch ein Glas bringen, der die Szene aufmerksam beobachtet und dem alten Musikanten einen Stuhl gebracht hatte. «So einen Wein trinkt man nicht im Stehen.» «Sie wissen, was gut ist!» lobte der Alte, und sein runzliges Ge sicht drückte Begeisterung aus, als er das erste halbe Glas leerte und es im Mund behielt, bis das Gehirn die Genehmigung erteilt hatte, es die Kehle hinabrinnen zu lassen. «Entschuldigen Sie meine Neugier, aber ich wüßte gerne, wer mir den Wein spendiert. Sind Sie aus Madrid?» «Aus Barcelona.» «Vertreter?» «In gewissem Sinne.» Der Mann nahm noch einen Schluck und deklamierte, ohne zu stocken: En la Francia soy francés, en Valencia valenciano, en Aragón aragonés, en Cataluña catalano. 98
«Sehr interessant. Ist das von Ihnen?» «Viel älter. Das gab es schon, als ich noch ein Kind war. Ich trug es Ihnen vor, um mich für Ihre Liebenswürdigkeit erkenntlich zu zeigen. Wie ich sehe, haben Sie zwei Spezialitäten des Landes bestellt, atascaburras und Gazpacho. Kannten Sie das vorher schon?» «Ja, die atascaburras, aber der Gazpacho hat heute Premiere.» «Essen Sie in Ruhe, in diesem Hause kann man ihm trauen. Ob wohl er jetzt in Mode gekommen ist, machen sie ihn immer noch gut.» «In Mode?» «Mit der Autonomie ist er in Mode gekommen, und das einzige Geheimnis des Gazpachos der Mancha ist seine Ehrlichkeit.» Er bedankte sich für das nächste Glas Wein, das ihm Carvalho einschenkte, nahm einen Schluck und holte Atem, um den Fremden darüber aufzuklären, was man kochte und was man aß. «Für die Gazpacho-Fladen, die heutzutage in den Restaurants gemacht wer den, würde ich nicht die Hand ins Feuer legen, seit der Autonomie bazillus den Gazpacho Manchego zu einem Kennzeichen der regionalen Identität erhoben hat. Aber ich will Ihnen erzählen, wie die Hirten früher den Gazpacho zubereitet haben und wie er heute noch von den alten Frauen gemacht wird, in Bonete, Elche de la Sierra, Villarobledo, Montalegre, Higueruela, Pozohondo, Mahora, La Herrera, Liétor, Corrar Rubio und Alpera. Es wäre über trieben, wie die Hirten ein gegerbtes Ziegenfell zu benutzen, um den Teig darin zu kneten, eine bemalte Tonschüssel genügt, um einen Haufen Mehl hineinzuschütten und in der Mitte ein Loch zu machen für das Salz und das heiße Wasser, das man nach und nach hinzugießt. Dann muß der Teig gut durchgeknetet werden, bis er richtig ist, daß er sich von Hand formen läßt, ohne zu kleben oder zäh zu werden. Man formt ihn zu kleinen Klößen, um sie zu Fladen von drei bis vier Handbreit Durchmesser und einem Zentimeter Dicke auszurollen. Jeder Fladen wird geviertelt zusammengelegt, bis er auf einem Holzkohlenfeuer gebacken wird, gut bedeckt mit glühender Holzkohle in einer eisernen Backform mit Holzstiel. Wenn sie fertig sind, hält man sie im Backofen warm, und von die sem Moment an kann man sie nehmen, um die verschiedensten Gerichte in Gazpacho Manchego zu verwandeln, Schnecken mit weißem Leinkraut, alle Arten von Wild, vor allem aber Wildkanin chen und Hasen, ferner Lende, Chorizo, dann orugas, Kartoffeln 99
oder auch den typischen Hirtengazpacho von El Bonillo mit Kar toffeln, Schinken, frischen Knoblauchzehen, Spargel, Tomaten und Paprika, außerdem Pilzgazpachos und Eintöpfe wie den be kannten Dreschergazpacho.» «Der Name klingt interessant!» «Elementar, einfach, ein Armeleutegazpacho. Die Drescher wa ren immer sehr arm. Kürbis, Kartoffeln, junger Knoblauch, Pa prika, Tomaten, Wasser und Salz, und wenn alles eine Zeitlang ge kocht hat, die Fladen in kleinen Stücken dazu. Es gibt eine leckere Brühe, schön dick und saftig. Bevor die Kartoffel aus Amerika kam, müssen ihn die Drescher nur mit Kürbis, jungem Knoblauch, Paprika etc. angerichtet haben. Kurz und gut, ich sage es Ihnen, auch wenn es nicht nötig ist, das besonders zu betonen – die Fladen sind Magenpflaster, die zusammen mit jeder Phantasie kombination die Mägen gefüllt haben, bevor der Reis und die Kartoffel hier waren. Wohlgemerkt, ich spreche von ganz alten Zeiten!» «Vor Christi Geburt!» «Vor der Geburt des Vaters unseres Herrn Jesu Christus selbst!» Der Musikant zwinkerte Carvalho zu und leerte noch ein halbes Glas Rotwein. «Denken Sie immer daran: zu dunklen Gerichten, dunkle Weine.» «Sagen Sie, gibt es auch Gazpacho mit oruga?» «Jawohl, mein Herr, das gibt es. Außerdem gibt es kein besseres Gewürzkraut für Salate. Früher machte man damit auch eine sehr gute Soße, zusammen mit Honig, Essig und Röstbrot. In den Großstädten hat man die Kräuter am Wegrand vergessen, aber auf dem Lande gibt es noch mehr Wissen, und in der heutigen Zeit auch wieder mehr Hunger. Die unvergleichliche Carmina Useros berichtet in «Tausend Rezepte aus Albacete und seiner Provinz», daß die Hirten den Gazpacho mit oruga aus dem auf Steinen lie genden Fladengebäck aßen, und es ist immer noch üblich, daß der Gazpacho oft mit Fladen gegessen wird, die direkt auf dem rusti kalen Küchentisch angerichtet sind. Alles, was ich nicht mit eige nen Augen gesehen habe, weiß ich aus dem Buch von Señora Use ros, ein schwer zu findendes Buch, eine numerierte Edition. Sie hat es mir selbst geschenkt, denn sie kennt meine große Leidenschaft, zu erforschen, wie die Leute essen. Ich stelle Ihnen mein 100
Exemplar gern zur Verfugung, das Doña Carmina mir freund licherweise persönlich signiert hat.» «Ich kann es mir in einer Buchhandlung besorgen.» «Sie werden es nicht bekommen.» «Welchen Käse aus der Gegend können Sie mir empfehlen? Wel chem kann man trauen?» «Es gibt keinen besseren Käse nach Hausmacherart als den aus Bonillo oder aus Monera, aber sie gehören schon beinahe der Ge schichte an. Und was den industriell hergestellten Käse aus der Mancha angeht, so gibt es solche und solche. Ich empfehle Ihnen den Villarobledo.» «Kennen Sie El Bonillo? Das ganze Dorf gehört anscheinend der Familie Rodríguez de Montiel!» «Eine alte Familie mit viel Land vor der Haustür. Sie sind ein wenig verarmt, aber ich würde immer noch sofort mit dem Ärm sten unter ihnen tauschen.» «Sie kennen sie?» «Ich habe oft auf ihren Festen gesungen, auf Taufen und Hoch zeiten, es ist eine Familie, die nicht ausstirbt.» «Kennen Sie Luis Rodríguez de Montiel?» «Er ist der bekannteste von allen.» «Weshalb?» «Wegen seinem Hang zum Luxus und dem Unglück seiner Frau, die in Barcelona ein schlimmes Ende gefunden hat. Ein grauenhaftes Verbrechen, von dem hier jeder spricht, aber nur hinter vorgehaltener Hand, denn die Familie ist mächtiger als die ganzen Abgeordneten der Alianza Popular und der PSOE zusam men. Sie hatten hier schon zu Zeiten der Katholischen Könige die Macht, sie hatten sie unter Franco und haben sie heute noch. Ken nen Sie den Herrn Luis Miguel?» «Vom Hörensagen.» «Vom Hörensagen kennt ihn ganz Spanien, denn er hat in Ma drid und Albacete solche Orgien gefeiert, daß man über die des Marqués de Cuevas nur lachen kann. Wissen Sie, wer der Marqués de Cuevas war?» «Ein großer Lebemann.» «Und ein Künstler! In jedem Lebemann steckt ein Künstler. Ich war auch ein Lebemann in meiner Jugend, und Sie sehen, was ich jetzt bin.» 101
Er deutete auf die Bandurria, die auf einem Stuhl ruhte wie eine müde alte Dame, die nicht gestört werden will. «Wetten, daß Sie nicht wissen, warum ich den Marqués de Cuevas nie vergessen werde?» Carvalho gab seine Unwissenheit zu mit einer Geste der Kapitu lation vor dem Musikanten, der ihm so großzügig sein Wissen mit teilte. «Weil ich irgendwann in einer Ausgabe von Siete Fechas las, daß er, um irgend etwas zu feiern, in seinem Haus einen Springbrunnen mit Champagner aufbauen ließ. Wetten, daß Sie nicht wissen, was Siete Fechas war?» Carvalho war schon zu dem Schluß gekommen, daß dieser Mu sikant zu aufdringlich wurde, und verlor allmählich das Interesse an ihm, als er plötzlich hörte: «Sie sind also extra so weit gereist, um Don Luis zu besuchen.» Die Augen des Alten glänzten mißtrauisch und hellwach. «Woher wissen Sie, daß ich ihn suche?» «Ganz einfach. Neuigkeiten verbreiten sich hier in Windeseile. Aber Sie sind zum falschen Zeitpunkt gekommen. Don Luis Mi guel ist nicht in Albacete.» «In Madrid?» «Nein, ich glaube nicht. Es heißt, er sei im Ausland.» «Kennen Sie seinen Wohnsitz in Albacete?» «Er wohnte früher über der Lodares-Passage, aber das Haus ist jetzt verschlossen.» «Seit wann?» «Seit jenem Vorfall. Tut mir leid, aber Sie haben die Reise um sonst gemacht. Worum geht es denn, wenn man fragen darf?» «Familienangelegenheiten, es betrifft die Familie seiner Frau.» «Pech!» «Gibt es denn hier in Albacete niemand, der sich um seine Angelegenheiten kümmert? Hat er hier keine Verwandten oder Kinder?» «Nein, er hat keine Kinder.» Es war nur wenig übriggeblieben von dem unterhaltsamen alten Musikanten mit den heimatkundlichen Kenntnissen. Sein unbe wegliches Gesicht war zur Maske des Pokerspielers erstarrt. «Lebt sein Vater oder seine Mutter noch?» «Der Vater ist tot, und die Mutter so gut wie. Sie ist so alt, daß sie nicht einmal mehr die Kraft hat, die Augen zu öffnen.» 102
«Ich werde wieder nach Hause fahren müssen.» «Kaufen Sie Käse und Wein! Damit keiner sagen kann, Sie seien umsonst gefahren!» «Ist es wirklich nicht möglich, die Mutter zu sprechen?» «Mehr als unmöglich, zwecklos.» «Wohnt sie in Albacete?» «Ich weiß es nicht genau. Sie könnte auch in El Bonillo sein. Dort befinden sich die großen Ländereien der Rodríguez de Montiel.» «Wer kann mir Auskunft geben?» «Alle und keiner.» Der Musikant vermied es jetzt, Carvalho direkt anzusehen. Da für schaute er ab und zu zu einem Tisch hinüber, wo vier kräftige Burschen stur beim Essen saßen, ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Dann nahm er seine kleine Gitarre an sich, verbeugte sich umständlich vor Carvalho und verschwand genauso geheim nisvoll, wie er aufgetaucht war. «Singt der Alte hier?» «Ach wo, das ist hier nicht üblich.» «Hat er die Gitarre immer dabei?» «Nein, auch nicht.» «Er kam direkt zu meinem Tisch. Hat er Sie irgend etwas ge fragt?» Der Kellner räumte Carvalhos Tisch ab und lächelte still. «Der Schein trügt. Dieser Musikant ist ein ganz übler Bursche. Ein Spitzel, vor dem man sich in acht nehmen muß!»
La Mora, La Herradura, La Cabana. Alle diese Straßen, die Alba cete mit der Welt verbanden, boten, kaum hatte man den Stadt rand erreicht, das erotisierende Versprechen der Leuchtreklamen mit rotem und grünem Neonlicht, Whisky mit Soda und Eiswür feln, Mädchen, die zu einem Schwätzchen aufgelegt waren und bereitwillig mit ins obere Stockwerk hinaufgehen würden. Er trank drei lange Whiskys in jeder Bar und führte Gespräche mit verdeckten Absichten, die sich um so deutlicher in einem Aus schnitt abzeichneten, und dann ließ er schließlich den Namen Luis Rodríguez de Montiel fallen. «Ein Freund, der mir früher mal die103
ses Haus hier empfohlen hat, und jetzt suche ich ihn, denn ich bin gerade angekommen und weiß nicht, wo zum Teufel ich seine Adresse hingesteckt habe.» Die Mädchen, die neu waren, erinner ten sich nicht an diese Person, und es dauerte lange, bis eine Vete ranin auftauchte, die Bescheid wußte. «Aber ja, klar! Früher kam Don Luis oft hierher, aber man kann nicht behaupten, daß er Stammkunde war.» Schließlich fand er in der Bar La Cabana, als er neun Whiskys intus hatte, ein Mädchen aus Bilbao, wie sie behauptete. Sie gab ihm bereitwillig Auskunft, daß Don Luis früher hauptsächlich die Bar El Corral besucht hatte. «Und mehr als die Bar noch La Morocha.» «Ein Mädchen?» «Bestimmt kein Fernfahrer, Süßer! Und du, willst du wirklich nur deinen Freund finden? Willst du nicht ein wenig mit mir nach oben kommen?» «Arbeitet La Morocha dort?» «Ja, sie arbeitet dort. Sie hat nichts anderes gelernt, genau wie ich. Oder glaubst du, wenn ich etwas anderes könnte, wäre ich noch hier?» El Corral sah aus wie ein zur Festung ausgebautes Motel: Ein würfelförmiges Haus, grünrot im Neonlicht wie alle andern, aber umgeben von einer hohen Lehmmauer mit einem gewaltigen Tor, das wie die Einfahrt zu einem Gutshof aussah. Die meisten Autos kamen aus Albacete, aber es waren auch Kennzeichen aus Madrid und Valencia darunter. Das Haus hatte zwei Stockwerke. Durch einen schlecht geschlossenen Fensterladen konnte man in einem Zimmer des oberen Stockwerks Bilder aus der Sendung ‹Estudio Estadio› sehen. Die übrigen machten den Eindruck, als seien sie schon immer und für immer geschlossen. Das ganze Haus wirkte wie versiegelt – typisch für Bordelle. Carvalho betrat einen großen, schummrigen Raum mit einem lan gen Tresen in Zickzackform, dort saßen sieben oder acht Mädchen und eine Kassiererin, die die Mutter von allen hätte sein können. Nur zwei oder drei der Mädchen plauderten mit potentiellen Kun den, eine andere schimpfte mit einem Verrückten, der wie wild auf die Maschine mit den Marsmännchen einhämmerte, als stehe er kurz vor einem elektronischen Orgasmus. Zwei junge Mädchen, die sich der Wölbung ihrer Pullover nach als Ammen geeignet hät ten, schwatzten mit der Frau an der Kasse über die Schädlichkeit der 104
feuchten Nachtluft in der Mancha, und die eine, die noch übrig war, kam zu Carvalho und pflanzte ihre Ellbogen auf den Tresen, entschlossen, sich den Fremden mit ihrem Valladolider Kleinmäd chengesicht an Land zu ziehen. «Bist du aus Valladolid?» «Witzbold! Also, das ist vielleicht ‚ne Masche, eine Unterhaltung anzufangen! Seh ich denn aus wie eine aus Valladolid?» «Du siehst einem Mädchen sehr ähnlich, das ich kenne, und sie ist aus Valladolid!» «Also ich bin nicht aus Valladolid, mein Engel, ich bin aus Sinarcas.» «Aus Simancas?» «Aus Sinarcas. Und so wie du aussiehst, kommst du aus Valen cia.» «Das hat noch keine zu mir gesagt!» «Was willst du trinken, Schätzchen? Ich unterhalte mich gerne mit dir, über alles was du willst, aber man muß etwas trinken, Herz chen.» «Einen Whisky mit Eiswürfeln!» «Welche Marke?» «Die erstbeste, die du findest.» «Hör mal, Süßer, niemand zwingt dich, Whisky zu trinken, wenn du ihn nicht magst.» «In solchen Lokalen trinkt man Whisky.» «Witzig! Weißt du, was du bist? Ein scharfer Typ! So gefallen mir die Männer. Ich geb dir den besten Whisky, den ich habe!» Der Whisky schien für Carvalho nur ein Kompromiß zu sein, und der Whisky wußte das auch, denn er floß durch den Mund des Detektivs, ohne sich dort unnötig aufzuhalten, im vollen Bewußt sein dessen, daß er nicht allzu willkommen war. Das Mädchen aus Sinarcas plauderte gerne und gab zu, daß an diesem Abend nicht gerade viel los war. «Wenn du gestern gekommen wärst, Schätz chen, oder wenn du neulich die Jäger getroffen hättest, hör mal, das war hier alles voll, und dort drüben ist noch ein Salon für Jagdessen oder Jägertreffen, der war bis auf den letzten Platz besetzt. Aber sonntags ist es schlecht. Die Leute haben keinen Bock, weil morgen Montag ist, und es kommen nur solche wie du, Vertreter. Du bist doch Vertreter?» Carvalho nickte. 105
«Und aus Valencia. Was verkaufst du den Leuten eigentlich? Orangen oder was?» Dabei lachte die kleine Blonde mit den hohen Brüsten und zeigte ihre Rattenzähnchen. «Willst du nicht mit mir nach oben gehen?» «Im Moment gefällt es mir ganz gut hier unten.» «Nur siebentausend Peseten für alles, was du willst und solange du willst.» «Also hier ist doch eine ganze Menge los!» «Pah!» Carvalhos Blick blieb an einer eckigen Brünetten hängen, die sich mit einem massigen Mann unterhielt. Sein Gesicht war eher rot als braun, und sein gewaltiger Körper steckte in einer Wildleder jacke mit Schaffellaufschlägen. Sein Blick ruhte ausgiebig auf dieser Frau mit den vielen Ecken und den ausgewogenen Kurven. Sie be saß die schönen Wangenknochen eines fotogenes Tieres, das gefiel ihm am besten, und ihre Arschbacken in den Jeans hatten genau die richtige Rundung. «Gefällt sie dir?» «Wer?» «Na, die dort, die du dauernd anstarrst!» «Sie sieht nicht schlecht aus. Wie heißt sie?» «Carmen. Aber alle nennen sie La Morocha.» «Ich habe schon viel von ihr gehört.» «Von wem denn?» «Von einem Freund, der mir empfohlen hat hierherzukommen. Don Luis Rodríguez de Montiel. Kennst du ihn?» Die kleine Blonde war ernst geworden. Sie warf einen Blick auf La Morocha und schloß kurz die Augen. «Es ist eine Ewigkeit her, seit ich ihn zum letztenmal sah. Früher kam er manchmal hierher. Aber in letzter Zeit nicht.» Carvalho schaute wieder hinüber zu der Brünetten und ihrem Gegenüber, der keine Eile zu haben schien. «Ist das einer von denen, die mit nach oben gehen?» «Meinst du den, der sich mit La Morocha unterhält?» «Ja.» «Ja, das ist einer von denen. Aber heute wohl nicht, er ist schon sehr lange am Plaudern. Warum interessiert dich das? Willst du mit ihr nach oben?» 106
«Ich weiß nicht recht.» «Ich seh schon.» «Gib mir noch einen Whisky, ja?» «Für mich auch noch einen?» «Das hätte gerade noch gefehlt.» Ein erhöhtes Trinkgeld schien die Blonde zu versöhnen, denn sie lehnte sich wieder bei Carvalho an die Bar, diesmal mehr mit der Absicht zu erzählen, als anzubändeln. «Sie ist sehr hübsch, das gebe ich zu. Vornehm, nicht? Sie gefällt sehr, aber nicht jedem. Und in letzter Zeit arbeitet sie nicht mehr so oft hier wie früher. Sie taucht manchmal tagelang, sogar wochen lang nicht auf. Kennst du Don Luis gut?» «Wir waren zusammen beim Militär.» «Sehr gut, sehr gut. Also Don Luis war ganz schön scharf auf La Morocha.» Die Frau schien Carvalhos Blicksignale empfangen zu haben, sie wandte ab und zu den Kopf. «Bist du sicher, daß der Typ mit ihr nach oben will?» «Willst du?» «Ja.» «Soll ich ihr Bescheid sagen?» «Ja.» Die kleine Blonde ging zu La Morocha hinüber, und aus der Entfernung konnte Carvalho die Figur seiner Gesprächspartnerin sehen. Mächtige Hüften wölbten sich über den Beinen einer Prin zessin, die selten davon Gebrauch gemacht hatte, Beine eines unter ernährten Kranichs. Die Botin erreichte, daß sich die Brünette von ihrem Bekannten trennte und kurz aufblickte, um Carvalho direkt anzusehen. In ihrem Blick lag weder Aufforderung noch Wider wille, es waren die gleichgültigen Augen eines Tieres, die ihn in einem Fach prüften, das anscheinend weder mit Sex noch mit Öko nomie etwas zu tun hatte. «Sie sagt, du sollst nach oben gehen und auf sie warten. Sie will sehen, daß sie diesen Typ hier los wird.» «Gefalle ich ihr besser?» «Es sieht so aus, Schätzchen. Und dabei gefällst du mir so gut! Aber anscheinend bin ich nicht dein Typ.» «Brünette gefallen mir am Montag, Mittwoch und Freitag, Blondinen am Dienstag, Donnerstag und Samstag.» 107
«Heute ist aber Sonntag!» «Sonntage sind eben Sonntage.» «Du bezahlst mich doch, Herzchen, dann gehe ich mit dir nach oben, damit sie dich reinlassen.» Carvalho bezahlte und gab ihr ein Trinkgeld, das ihm einen Kuß über den Tresen einbrachte. «Danke, Süßer. Ich wußte doch gleich, daß du ein dufter Typ bist.» Lächelnd winkte sie ihn zu einer Seitentür, hinter der wieder normales elektrisches Licht brannte. In einem kalten Treppenhaus führte eine Granittreppe zum oberen Stockwerk. Sie kamen in einen Empfangsraum, wo zwei alte Frauen vor sich hin dösten und mit einem Auge das Hin und Her auf dem Fernsehschirm beobachteten, wo sich der Moderator von ‹Estudio Estadio› gerade verabschiedete. «Ein Tag mit neuen Millionären und der erneuten Niederlage von Barcelonas Mannschaft, diesmal auf dem eigenen Spielfeld, gegen die Elf aus Mallorca, und ohne daß die Superasse Schuster und MaraDoña etwas ausrichten konnten.» Die kleine Blonde beugte sich zu einer der Alten, die den schla fenden Kater auf ihrem Schoß streichelte, und flüsterte ihr ein paar magische Worte ins Ohr. Zwei runde, prüfende Augen richteten sich auf Carvalho, während ihr Kopf nickte. Nun forderte ihn die Blondine auf, ihr über einen Flur zu folgen, der in jedem x-beliebi gen neugebauten billigen Hotel hätte sein können. Sie öffnete eine der Türen und ließ Carvalho in ein Zimmer eintreten, das ärmlich wirkte, obwohl darin die antiseptische Sauberkeit des Neuen herrschte. «Warte hier, Herzchen, La Morocha kommt gleich.» Carvalho setzte sich auf eine karierte Decke am Rand des Bettes und betrachtete eine Landschaft mit dem Wasserfall und der Unter schrift ‹Los Chorros. Ursprung des Río Mundo.› Langsam öffnete sich die Tür, und wo er die Umrisse von La Morocha erwartet hatte, tauchte der alte Musikant aus dem Restau rant auf. Er war nicht allein. Im düsteren Flur waren zwei kräftige dunkle Gestalten zu erkennen, denen der Alte befahl, zu warten, während er zu Carvalho ins Zimmer trat.
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«Sie haben sofort den richtigen Riecher gehabt!» Der Alte lachte, nahm einen Plastikstuhl, der an der Wand stand und setzte sich vor Carvalho in den Lichtkegel der Bettlampe. In dieser Beleuchtung hatte sein Gesicht keinerlei Ähnlichkeit mehr mit dem, das Carvalho aus der Perspektive des Feinschmeckers ge sehen hatte, der sich mit einem originellen Einheimischen unter hält. Die schwache Beleuchtung ließ seine Haut straffer wirken und betonte die rhombischen harten Augen und den grausamen alten Mund, dessen Zunge gleichsam die Wörter, die aus dem Gehirn kamen, ableckte. «Sie hatten mich nicht erwartet. Und um ehrlich zu sein, es ist mir sehr unangenehm, Señor, denn Sie kümmern sich um Ihre Angelegenheiten und ich um die meinen. Und es ist ein Jammer, daß ein so sympathischer Mensch, der mir so gut gefällt und mich im Restaurant so liebenswürdig bewirtet hat, also daß Sie sich für Dinge interessieren, die Sie nichts angehen. Nehmen Sie mir meine Offenheit bitte nicht übel, aber je schneller wir die Dinge klarstel len, desto besser.» «Hat Sie der Herr Pfarrer geschickt?» «Warum sollte mich der Herr Pfarrer schicken?» «Ich dachte schon, Sie wären von der Bordellmission. Es gibt ja Verrückte, die in die Puffs gehen und die Sünder auffordern, Buße zu tun.» «Willst du mich verarschen?» Gleichzeitig mit dem Wort ‹verarschen› schnappte die Klinge eines automatischen Stiletts vor Carvalho auf, zwei Zentimeter vor seinem Gesicht, die Knie des Alten drückten gegen seine Knie und sein Körper war in der weichen Polsterung des Bettes gefangen. Carvalho saß in der Falle, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu lächeln und etwas unschuldige Verwunderung in den Gesichts ausdruck zu legen, den er dem Alten anbot in der Hoffnung, daß er bereit war, ihm zu glauben. Die Laune des Musikanten besserte sich etwas, er zog das Stilett zurück, schüttelte den Kopf, als müsse er sich selbst tadeln, und redete Carvalho wieder respektvoll mit ‹Sie› an. «Zwingen Sie mich nicht zu Dingen, die ich weder tun will noch tun darf. Sie haben hier eine Menge Staub aufgewirbelt. Sie können nicht von Puff zu Puff gehen und überall nach Don Luis fragen. In zwei Stunden haben Sie das gesamte Personal in Aufregung ver109
setzt. Wir dachten zuerst, Sie kämen von der Polizei, aber Sie sind kein Polizist und auch kein Vertreter!» «Das kommt ganz darauf an.» «Ihre Papiere, bitte!» «Wieso sollte ich sie Ihnen geben?» «Sie gehen nicht von hier weg, ohne sie mir gezeigt zu haben, freiwillig oder…» Das Stilett zeigte auf die Tür. Dort konnten noch mehr Stilette auftauchen. Die rhombischen Äuglein überwachten angespannt Carvalhos Hand, die in die Innentasche seines Jacketts fuhr und ihm die Brieftasche mit den Papieren übergab. Mit einem Schnalzen verschwand die stählerne Klinge, und der Alte hatte die Hände frei, um das durchzublättern, was Carvalho ihm gegeben hatte. «Ein Privatdetektiv. Hombre, das wird ja interessant!» «Oh, Sie wissen, was das ist? Gehen Sie ins Kino?» «Also, dort war ich nicht mehr, seit der Film mit den Römern gespielt wurde, mit Nero.» «Quo vadis?» «Genau. Darf man fragen, was ein Privatdetektiv in Albacete sucht?» Jetzt sage ich ihm, daß ich hinter der Geheimformel des Manchakäses her bin. Aber der Alte hatte im Moment keinen Sinn für Humor, das war offensichtlich. «Luis Rodríguez de Montiel.» «Warum?» «Das gehört schon nicht mehr zu meinem Auftrag. Meine Klien ten haben mich nur dafür engagiert, um ihn zu finden, mehr nicht. Was sie mit dieser Information vorhaben, weiß ich nicht.» «Wer sind Ihre Klienten?» «Verwandte von Encarnación, der Frau von Don Luis.» «Und was wollen sie von Don Luis?» «Ich nehme an, es geht um eine Erbschaft oder eine Versiche rung. Ich habe keine Ahnung.» «Da gibt es überhaupt keine Erbschaft und auch keine Versiche rung. Die hatte nicht das Schwarze unter dem Fingernagel!» Dieses ‹die› hatte er mit einem Groll ausgesprochen, der älter war als er selbst. «Gut, ich gehe davon aus, daß Sie mir die Wahrheit gesagt haben, und ich werde es Ihnen endgültig glauben, wenn Sie sich morgen 110
auf den Heimweg machen. Don Luis ist weder in Albacete noch in Madrid, er ist nicht mehr in Spanien. Er ist auf eine lange Reise gegangen, denn er war am Boden zerstört. Versuchen Sie, ihn zu verstehen!» «Ich verstehe ihn voll und ganz. An seiner Stelle hätte ich dasselbe getan.» «Das nenne ich vernünftig. Also morgen carretera palante y hasta Alicante.»* Der Alte lachte über seinen Reim, erhob sich, rückte den Stuhl an seinen Platz und ging zur Tür. Dort drehte er sich um. «Ich sage es noch einmal: Ruhen Sie sich aus, schlafen Sie in Frieden, und mor gen fahren Sie schön nach Hause.» «Soll ich daraus schließen, daß La Morocha nicht mehr kommt?» Der Alte preßte die Lippen zusammen. «Machen Sie keinen Är ger!» Und damit verschwand er. Auf dem Flur hallten die Schritte seines Rollkommandos, das sich allmählich entfernte. Carvalho ließ sich aufs Bett fallen. Der Widerschein der kleinen Lampe an der Zim merdecke sah aus wie ein abnehmender Mond hinter Käfigstäben. Vor der Tür war nichts mehr zu hören. Er stand auf und schaute auf dem Flur nach, ob die Stille auch Alleinsein bedeutete. Die alten Frauen im Empfangsraum waren verschwunden, ebenso der Kater. Nur der ausgeschaltete Fernseher bestätigte die Szene, die er vor wenigen Sekunden hier erlebt hatte. Die Granittreppe war verlas sen, und hinter der Holztür, die von der Absteige in die Bar führte, wartete das halbleere Lokal auf ihn. Die Kassiererin unterwies im mer noch ihre beiden Schülerinnen, eine andere plauderte mit dem letzten Gast, und der Elektroniksüchtige holte sich immer noch an der Maschine mit den Marsmännchen einen runter. Keine Spur von der kleinen Blonden, von La Morocha oder dem Alten und seinen bedrohlichen Schatten. «Haben Sie den Gitarrenonkel gesehen?» Die Frau an der Kasse und ihre Zuhörerinnen blickten erstaunt auf und sahen einander fragend an. «Von wem reden Sie?» «Ich weiß seinen Familiennamen nicht. Aber es ist ein Señor, der immer eine kleine Gitarre bei sich hat, Maiständchen singt und mir erzählt hat, daß er in den Gebirgsdörfern Animero war.» «Ah, El Lebrijano. Sie nennen ihn El Lebrijano, er wohnt zwar * «Straße voraus und auf nach Alicante.»
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hier in der Gegend, er ist auch hier aufgewachsen, aber er stammt aus Lebrija, und ich weiß gar nicht genau, wo Lebrija liegt. Er ist Animero.» «Das ist nicht so wichtig. Aber ich glaubte, ihn oben auf dem Flur gesehen zu haben, und als ich nachsah, war er schon weg.» «Hier ist er nicht vorbeigekommen. Vielleicht ging er direkt nach oben.» «Und was ist ein Animero, könnten Sie mir das bitte erklären?» «El Lebrijano ist, glaube ich zumindest, der Leiter eines Chores von Animeros, dort oben in den Bergen – aber ich weiß nicht genau, ob in der Gegend von Yeste oder Elche de la Sierra oder Molinicos, jedenfalls irgendwo dort oben. Ein Chor von Animeros, also, das ist eben ein Chor von Animeros, acht bis zehn Personen, die die neun Messen in den Weihnachtsfeiertagen mit Gesang be gleiten. Es beginnt mit der Christmette. Stimmt’s, oder was meinst du?» «Wie soll ich das wissen. Ich bin aus Villarobledo und außerdem noch ziemlich jung.» «Was glaubst du wohl, was ich bin, vielleicht ein vertrockneter Thunfisch? Aber es geht nicht nur um Messen und Chorgesang. Sie gehen auch durch die Dörfer und auf die Höfe, dabei läuten sie eine Glocke und rufen ‹Ave María Purísima›. Die Leute im Haus müssen fragen: ‹Wer ist da?›, und ein Chorsänger muß antworten: ‹Die See len der Seligen! Sollen wir singen oder beten?›. Wenn das Jahr über alles gut gegangen ist, antwortet der Hausherr ‹Singen!›, und wenn ein Unglück geschehen ist, sagt er: ‹Beten!›. Das ist alles sehr hübsch, da siehst du, was ich noch aus meiner Kindheit weiß. Mir kommen glatt die Tränen!» «Wo finde ich den Animero?» «Das ist schwierig, denn er kommt immer nach Albacete, erle digt ein paar Dinge und geht dann wieder dort hinauf. Er hat kein Sitzfleisch. Da, hören Sie mal, was mir gerade einfällt! Das ist ein Liedchen, das mein Vater immer gesungen hat: Den Seelen der Seligen verschließt man nicht die Tür, man bittet sie um Vergebung, dann gehen sie und sind froh.» 112
Tourón warf seine Serviette weg und durchbohrte den braunen Fleck auf der weißen Weste des Stewards mit seinem Blick. Dann ließ er ihn weiter nach oben wandern, bis er dem des Stewards be gegnete, und ein Augenkampf begann, so daß der andere seinen Dienst unterbrach. «Finden Sie, daß es gut aussieht, wenn Sie mit einer Weste bedie nen, die gerade aus einer Kloake gezogen wurde?» «Entschuldigen Sie, aber ich hatte einfach keine Zeit, um sie …» «Ziehen Sie das Ding sofort aus! Das ist eine Offiziersmesse und kein Kameltreiberpuff!» Der Steward zog seine weiße Weste aus und warf sie auf einen Hocker. Seine Ärmel waren aufgekrempelt, und der Kapitän mu sterte seine bloßen Unterarme kritisch. «Knöpfen Sie sich die Man schetten zu!» Der Steward sah die übrigen Offiziere hilfesuchend an, aber nur Juan Basora rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her, als wolle er sich gleich einschalten. Der Steward knöpfte seine Manschetten zu und servierte den Bohneneintopf mit Chorizo. Der Kapitän nahm den Teller in beide Hände und hob ihn hoch, um daran zu schnüffeln. «Bestimmt haben Sie wieder diesen asturianischen Chorizo ge nommen, der einem immer aufstößt.» Aber er setzte den Teller wieder ab und griff nach dem Löffel. Als jeder seine Portion hatte und der Steward gegangen war, begann Basora: «Ich habe nichts gesagt, weil ich nicht will, daß einem Sub alternen auf hoher See der Kamm schwillt, aber es ist nicht gut, daß Sie ihn hier in aller Öffentlichkeit herunterputzen!» «Es war eine Schande, wie er aussah!» «Ich hab’s gesehen. Aber da nimmt man ihn beiseite, oder Sie sagen es Germán, dafür ist er ja da, er ist für das Personal verant wortlich.» «Flecken widern mich einfach an.» Damit beschäftigte er sich nur noch mit seinem Eintopf, der nach einhelliger Meinung gut war, ein Jammer nur, daß sie ihn ununter brochen schon seit drei, sechs, neun Tagen gegessen hatten. «Mach dir mal Gedanken über die Versorgung, Germán, wir es sen schon immer ein und dasselbe.» Der Kapitän lächelte, aber er hörte ihnen nicht zu, er war in Gedanken weit weg von dieser Offi ziersmesse und kehrte erst zurück, um zu bemerken: «Korrigieren 113
Sie den Kurs, sobald wir die Sargassosee erreicht haben, ich will sie umfahren.» «Und wir verstopfen uns die Ohren, um den Gesang der Sirenen nicht zu hören, und tragen ein Klappmesserchen bei uns, damit wir den Riesenkraken die Eier abschneiden können, im Falle eines Falles. Alles Klar, keine Gefahr.» «Lassen Sie Ihre Witze, Basora. In der Sargassosee gibt es andere, weniger legendäre Gefahren. Wußten Sie, daß die sowjetische Flotte dort immer präsent ist? Sie liegen auf der Lauer, studieren die Beschaffenheit der Algen und ihre Herkunft, und warten auf eine Gelegenheit, um in der Karibik zu intervenieren. Wir müssen den Golfstrom ansteuern und die Nordatlantikströmung erreichen, bis die Azoren in Sicht kommen. Und wenn Algenbänke auftauchen, seien Sie vorsichtig, sie könnten mit Minen gespickt sein.» «Was mir viel mehr Angst macht, sind die malaiischen Piraten! Es wimmelt hier davon. Neulich sah ich einen, mit einem Dolch zwischen den Zähnen, der uns schwimmend verfolgte, aber ich schüttete ihm einen Eimer verfaulte Fische ins Gesicht und sah ihn nie wieder.» Germán stieß Juan Basora den Ellbogen in die Rippen. Entweder hatte der Kapitän wirklich nicht zugehört, oder er tat nur so. Jetzt brachte der Steward in einer frischen Weste panierte Fischfilets. «So gefallen Sie mir! Sehen Sie, wieviel das ausmacht? Mit einer frischen, sauberen Weste sieht die Welt ganz anders aus. Den ersten Gang habe ich voller Abscheu gegessen, wegen dieses Flecks, wis sen Sie. Diesen Gang esse ich dafür um so lieber, mit um so mehr Appetit, weil Sie so eine hinreißende Weste tragen.» Dieses ‹hinreißend› hätte eher zu einem Philharmoniekonzert gepaßt, es wirkte angesichts des Stewards, der sich in eine Art Pyja majacke gezwängt hatte, total übertrieben. Genauso übertrieben war das Lächeln und die wohlwollende Herablassung in der Hal tung des Kapitäns, mit der er das Wunder der frischen Weste begut achtete. «Sehen Sie? Ein gepflegtes Äußeres ist eine Tugend, und das um so mehr in einer Welt, die so klein ist wie diese hier!» Ginés behauptete, keinen Hunger mehr zu haben, und ging hin aus auf die Brücke, um sich am Geländer auszuruhen. Kurz darauf hörte er, wie jemand die Stufen herabkam und Germán trat seuf zend neben ihn. «Verdammte Scheiße, der Alte hat ja wieder eine Laune! Der ist 114
gaga, komplett verrückt! Jetzt hat er mit dem Kellner ein Gespräch angefangen. Er erzählt ihm seine Lebensgeschichte. Den müssen wir eines Tages in der Zwangsjacke von Bord schaffen! Er ist noch schlimmer als Cojoncitos, der Heizer. Der soff sich zwischen Maracaibo und La Guayra einen Bombenrausch an, weil er, wie er sagte, eine Frau an Bord gesehen hatte, eine Frau mit Fächer, um es genau zu sagen, und das auf offener See! Und der reine Trieb kann das nicht gewesen sein, wir waren gerade erst aus Maracaibo ausgelau fen. Ich gehe mal und sehe nach der Ladung. Er liegt mir dauernd in den Ohren, weil er meint, wir bekommen rauhe See nach den Ber mudas, und wundere dich nicht, wenn er das Kommando gibt, Sand aufs Deck zu streuen. Er hat mehr Schiß als Schamgefühl.» Ginés blieb allein, aber er sah nicht aufs Meer hinaus. Es war wie immer auf einer langen Fahrt, das Schiff war für ihn die Welt, und das Meer hatte er völlig vergessen, wie einen Vorhang im Hinter grund, das nur seine Aufmerksamkeit erforderte, wenn es zu toben begann, und auch dann war es allein das Schiff, was zählte. Er ging, um die meteorologischen Meßgeräte routinemäßig durchzuchekken, und als er gerade dabei war, die Luftfeuchtigkeitswerte zu überprüfen, erhielt er Anweisung vom Kapitän, zu ihm aufs Vor schiff zu kommen. Er ging unter den Ladebäumen durch und ent deckte Tourón an der Spitze des Schiffes, wo er sich an der Treppe festhielt. «Hat Ihnen Germán schon gesagt, daß wir rauhe See bekom men?» «Das wußte ich schon. Es stand im Tagesrapport.» «Warum haben Sie mir nicht Bescheid gegeben?» «Ich habe jemand mit dem Bericht zu Ihnen geschickt.» «Sie hätten ihn mir persönlich überbringen sollen, um ihn mit mir zu besprechen. Es ist nicht so wichtig. Aber Sie machen mir in letzter Zeit einen sehr zerstreuten Eindruck. Wir sollten einmal mit einander reden. Cherchez la femme! Wer ist die Dame?» Die Tatsache, daß Ginés keine Antwort gab, hinderte den Kapi tän nicht daran, ihm einen Vortrag zu halten, während dessen er ihm kaum Beachtung schenkte. «Ich habe Sie mit einer Dame in Barcelona gesehen. Das ist schon einige Zeit her. Ich glaube, es war während des letzten Landaufent haltes oder während des ersten 2, denn es war tiefster Winter, daran glaube ich mich zu erinnern. Ich hatte mir einen sehr hüb115
schen Mantel gekauft, bei den Sonderangeboten im Corte Inglés, einen marineblauen Mantel aus dicker Wolle mit kariertem Futter. Es lohnt sich, nach Sonderangeboten Ausschau zu halten, vor allem, wenn man praktisch alleine lebt wie unsereins. Wir müssen selbst für uns sorgen, stimmt’s, Ginés? Die Häfen sind voller Frauen, die bleiben. Wir fahren wieder weg. Wir selbst sind es, die zählen. Keine Frau ist es wert, leidenschaftlich geliebt zu werden. Ich sage das für mich selbst und für Sie. Ich spreche zu Ihnen wie ein Vater, besser gesagt wie ein älterer Bruder. Ich sah Ihre Freundin, also Ihre Bekannte, damals in Barcelona, und sie ist eine sehr hübsche Frau, sehr spanisch, ja, sehr spanisch. Und auch wenn Sie es nicht wissen, ich sah Sie beide wieder, es ist noch gar nicht lange her. Ach doch, doch, es ist schon ziemlich lange her! Es war während des Aufenthalts im Sommer . Ich habe Sie noch öfter gesehen, Sie haben sich nämlich hemmungslos zur Schau gestellt, auf den Ramblas, in den Restaurants, hier und dort, und ich entdeckte Sie zufällig und ging schnell weiter, denn ich sagte mir, was mache ich jetzt, soll ich Sie grüßen oder nicht? Eine delikate Situation. Deshalb lebe ich so gern auf einem Schiff. Hier gibt es keine Überraschungen. Man sieht immer dieselben Gesichter und weiß, woran man ist. Und dabei langweile ich mich nicht. Alle Welten habe ich hier in dieser Welt!» Dabei zeigte er auf seine Stirn. «Und meine Augen sehen alles, was mein Gehirn sehen will. Sehen Sie sich das Meer an! Was sehen Sie? Denken Sie daran, daß wir uns über einer schauerlichen Gebirgskette befinden, die von Norden nach Süden unter dem Atlantik durchläuft wie das Rückgrat einer Schlange. Das hat etwas zu bedeuten! Genau wie die Wolken. Sehen Sie mal, Kumuluswolken, nichts Beunruhi gendes. Am schlimmsten sind die Zirruswolken. Ich kann sie nicht ausstehen. Und Sie werden sich fragen, warum? Denn zu allem gibt es einen Schlüssel und gleichzeitig steckt in allem eine Drohung, wenn man den Schlüssel nicht rechtzeitig findet.» Nach einem Schweigen, während dessen Ginés versuchte, den verborgenen Schlüssel zu den scheinbar unschuldigen Kumuluswolken zu finden, hatte er den Eindruck, daß der Kapitän fertig war, und wollte sich zurückziehen. «Wie hieß diese Frau?» «Encarna.» «Encarnación! Sehr passend. Sie hatte reizende Ringe unter den Augen. Die Frauen mit Ringen unter den Augen sind in der Regel 116
aufregend, aber sie sterben früh, sie haben verborgene, tiefsitzende Krankheiten.» Das war sein letztes Wort. Er verstummte und kehrte ihm den Rücken zu. Ginés ging zum Achterdeck und begeg nete Juan Basora, der ihn militärisch grüßte. «Fang an zu üben! Die-ser Wahnsinnige will uns militärisch organisieren. Worüber sprach er mit dir?» «Über Sonderangebote im Corte Inglés, Wolken und Frauen mit dunklen Ringen um die Augen.» «Ein Jammer, daß er kein Talent zum Dichter hat, denn das ist der Stoff, aus dem Gedichte gemacht werden. Dafür ist er musikalisch. Hast du ihn schon mal gehört?» «Nein.» «Gut. Du und Germán, ihr habt eben eure Kabine auf dem Ach terdeck. Aber meine liegt neben seiner, und was soll ich dir viel erzählen? Er singt stundenlang Lieder, die noch altmodischer sind als die von Conchita Piquer. Eins davon singt er den ganzen Tag, ‹La bien pagá›. Und das Tollste ist, daß er es einmal im Bariton singt, so, mit Bruststimme, und ein anderes Mal singt er es im So pran, wie ein schwindsüchtiges Revuegirl.» Basora setzte seine leichte, goldgefaßte Brille auf und ging in die Richtung des Kapitäns. «Mich hat er auch zur Audienz bestellt. Er will sich mit mir über die Gesundheit an Bord unterhalten. Es sieht so aus, als hätte er mal Medizin studiert oder eine Gesundheitsenzyklopädie gelesen. Das ist das Schlimmste, was uns passieren konnte! Außerdem befürch tet er eine Skorbutepidemie an Bord. Wenn er sich doch ein paar ordentliche Filzläuse holen würde, oder eine anständige Syphilis, dann würden ihm diese Ideen vergehen!» Einsam lagen der Himmel und das Meer. Sie entfernten sich von den Routen der Fliegenden Fische, und für Zugvögel war nicht die richtige Jahreszeit. Es war lange her, daß die Vögel nach Süden ge zogen waren, und sie hatten den Himmel seiner schicksalhaften Reglosigkeit überlassen. Ginés zog sich in seine Kabine zurück, um sein Logbuch auf den neuesten Stand zu bringen, besonders die me teorologischen Beobachtungen, für die er zuständig war, aber er wurde seine Unzufriedenheit darüber nicht los, daß Tourón von seiner Beziehung zu Encarna wußte. Er hatte sich wie ein Schatten zwischen sie gedrängt, der sich sogar auf die Vergegenwärtigung der Erinnerung legte. Er und Encarna, aber auch der Schatten des 117
Kapitäns. Auf den Straßen, in den Cafes, in den Restaurants und den Hotelzimmern. Nur einen Ort hatte er nicht mit seinem Blick beschmutzt. Oder etwa doch? Ein nicht zu unterdrückendes Schau dern befiel ihn, schmerzhaft wie ein Stich in die Wirbelsäule.
«Die Karten sind nagelneu, und es macht Spaß, neue Karten einzu weihen. Hört mal, wie das klingt!» Basora mischte, und die anderen warteten darauf, daß er aus teilte, wobei sie mit einem Auge auf die Uhr und mit dem anderen auf die nachtverhangenen Bullaugen schielten. «Also, mir reicht’s für heute.» «Mensch, das Spiel ist doch ganz neu. Das ist wie ein neuer An fang!» «Hör endlich auf.» Germán schenkte Rum aus Martínique ein und sie tranken. «Ich geh mal nachsehen.» «Nach den Maschinen?» «Nein, nach dem Käpt’n, falls es ihm plötzlich einfällt, eine Runde zu drehen, und er mich vermißt.» Martín, der für die Maschinen zuständig war, wollte aufstehen, aber Basora hielt ihn am Arm zurück. «Wir lassen uns von diesem Irren noch alle verrückt machen! Sind Mendoza und El Palique, ‹das Schwätzchen›, nicht unten?» «Doch.» «Na also.» Er warf die Karten auf den Tisch und streckte sich. «Scheiße. Jetzt geht die Fahrt erst richtig los. Wir haben die Ber mudas hinter uns, und so geht es jetzt weiter bis nach Hause. Das Schiff fährt von alleine, und ich habe die Schnauze voll von Schiffen wie diesem und Kapitänen wie diesem. Ich darf euch mitteilen, daß dies meine letzte Fahrt ist.» «Du ziehst dich wohl auf deine Landgüter zurück?» «Meine Güter, genau, meine Güter. Dabei besitze ich nicht mal einen Blumentopf. Aber die Routine hier halte ich nicht mehr aus. Ich könnte einen Frachter bekommen, in Maputo, Mosambik. Dort gibt es mehr Abwechslung, und es wird noch auf Sicht und von Hand navigiert, das ist etwas anderes als hier.» 118
«Weil es Neger sind, werden sie dir ein Schiff geben, mit dem du nicht mal Badegäste transportieren kannst!» «Es ist ein deutscher Frachter, circa dreißig Jahre alt. Sieht gar nicht schlecht aus.» «Dann wird es also ernst.» «Es wird ernst.» Alle drei Mitspieler waren sofort neugierig, aber Basora hielt die Hände im Nacken verschränkt, als wollte er sich noch ein wenig recken und strecken, und sah sie grinsend und distanziert an. «Dort wird fast alles auf dem Meer oder auf den Flüssen transpor tiert. Ich werde die Küste entlang schippern und manchmal in na türliche Flußmündungen hineinfahren. Wenn alles klar ist, dann rufe ich euch. Es ist ein Zweijahresvertrag. Verlängerbar. Und in den zwei Jahren spare ich das, was ich hier in zehn Jahren nicht sparen könnte; außerdem fahren wir eine Route, die nicht gerade zum Sparen ermuntert. Wer spart schon in Spanien? In Mosambik dagegen gibt es nichts oder fast nichts zu kaufen. Ideal!» «Du könntest noch mehr sparen, wenn du auf einem Bohrschiff oder auf einer Bohrinsel anheuern würdest, dort brauchen sie See leute, Männer, die sich bei Seegang nicht gleich in die Hosen ma chen. Colomo, unser alter Chefmaschinist, arbeitet jetzt auf einem schwimmenden Bohrturm vor Trinidad, ja ja, Ginés. Ich habe ganz vergessen, dich zu fragen, ob du nicht Lust hättest, ihn zu besuchen. Er fährt nicht zur See, aber er kontrolliert die Position. Das sagte er mir neulich über Funk und lachte dabei. Weil er einer von den weni gen ist, die zur See gefahren sind, weiß er, wie der Hase läuft. Ginés wollte einmal als Kapitän mit einem kleinen Frachter die Karibik unsicher machen.» «Irgendwas muß man versuchen, denn auf einem Schiff wie der Rosa de Alejandría zu fahren ist, als ob man in einem Fiat vögelt, aber auf hoher See.» «Dann geht also hier bald alles zum Teufel!» Martín sah Basora verblüfft an. «Du haust ab, der da möchte gern abhauen, und der Kapitän spinnt. Am besten bewerbe ich mich gleich als Taucher in meinem Heimatdorf. Das liegt auch am Meer.» «Aber du kannst doch gar nicht schwimmen!» «Wozu zum Teufel braucht ein Taucher schwimmen zu können? Du gehst mit einem Atemschlauch runter und läßt dich wieder hochziehen. Ein Taucher arbeitet sicherer als ein Kilometerfresser.» 119
«Daß wir zur Marine gegangen sind, daran sind eigentlich die Bücher schuld, die wir als Kinder gelesen haben, und dann steht man da und alles ist ferngesteuert. Der Fernschreiber sagt dir, was passieren wird und was du zu tun hast. Du drückst einen Knopf, und schon dreht das Schiff nach Backbord, noch einen Knopf, und es dreht sich nach Steuerbord.» «Ich habe als Kind nichts gelesen. Ich bin Seemann geworden, weil ich einen Film gesehen habe. Er hieß ‹Sherezade› und darin kam ein russischer Musiker vor, er hieß Korsakov, war Seemann und duellierte sich mit einem anderen mit der Peitsche. Es war das einzige Peitschenduell, das ich in meinem Leben gesehen habe. Junge, Junge! Das gab vielleicht Narben bei Korsakov und dem anderen, einem dunklen Typ mit Backenbart.» «Und du, Ginés, was ist mit dir? Machst du weiter?» «Er will zum Bosporus abhauen. Hat er mir neulich erzählt!» «Und was hat der Kerl am Bosporus verloren?» Martín verstand nichts und niemanden mehr, aber Basora war wieder Herr der Lage, stützte die Ellbogen auf den Tisch und be faßte sich mit Ginés’ Wunsch. «Wieso zum Bosporus?» «Ich war mal dort. Wir fuhren durch die Dardanellen nach Istanbul, waren zwei oder drei Tage in der Stadt, und das habe ich ausgenutzt und bin beide Bosporusufer entlanggefahren, bis das Schwarze Meer in Sicht kam. Der Gedanke daran geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich glaube, du verstehst schon. Und wenn nicht, ist es auch egal. Mir gefällt der Gedanke, daß etwas irgendwo zu Ende ist. Irgendwann macht es dich wütend zu denken, daß die Erde rund ist, daß alles immer wieder von vorne beginnt.» Basora zeigte auf Ginés, als sei er der Beweis für seine eigenen Überlegungen. «Habt ihr es gehört? Das ist dasselbe, was ich in Mosambik su che. Eine Grenze! Und an der Grenze wartet das Abenteuer. Ich pfeife auf die fortschrittlichen Schiffe, denn dieser Fortschritt ist eine Lüge. Er bedeutet nur, daß die Maschinen immer komplizier ter werden – eines Tages werden sie noch fliegen können und zu sammenklappbar sein. Ihr werdet schon sehen, eines Tages fliegt ein Schiff in den Weltraum, ihr braucht gar nicht so zu lachen, ver dammt! Kurz und gut, ich ziehe einen Schlußstrich und klappere auf dem alten, deutschen Frachter die Küste ab, in einem Land am 120
Arsch der Welt. Und der da will ans Ende des Meeres, denn hinter dem Bosporus hört das Meer auf, es ist der einzige echte cul de sac* von allen Meeren. Ist euch das etwa noch nie aufgefallen?» «Ist ja gut, ist ja gut, Kollege, quatsch nicht so geschwollen daher. Mir raucht schon der Kopf!» Germán beschwichtigte das Fieber der ironischen oder transzen dentalen Phantasien seiner Kollegen mit den Händen, wie man einen ohrenbetäubenden Lärm dämpft. «Einer nach dem andern. Du, Herr Baron, komm mir nicht mit Grenzen, Technologiefeindlichkeit oder anderen Spinnereien. Du haust ab nach Mosambik und sparst für deine alten Tage.» «Wieso meine alten Tage? Du bist zehn Jährchen älter als ich!» «Und du, Flüchtling, Verrückter, jawohl, das bist du, du hast sie nicht mehr alle, als wäre Tourón nicht schon genug, aber gegen die Verrücktheit von Herrn Larios verblassen alle anderen. Also gut, du machst dich ab zum Bosporus, der Bosporus mündet ins Schwarze Meer, wenn ich nicht irre, kommt man über das Schwarze Meer direkt in die UdSSR, das heißt also, du fährst in die UdSSR. So, und nun verrate mir mal, was du in der UdSSR zu suchen hast!» «Er will doch ans Ende des Meeres!» «Einen Scheißdreck! Er will in die UdSSR, das steht fest. Aber da steckt noch mehr dahinter. Ich war mal in Odessa und kann dir sagen, in Odessa gibt es nichts, was du nicht auch in Barcelona oder Genua haben kannst. Es gibt dort sogar weniger, und diese Russin nen sind alles Nonnen in Klausur, also, wenn du wirklich dorthin willst, dann geh mit Gott, aber ohne mich!» Nun redeten alle drei auf einmal durcheinander, während Ginés sich in sich selbst zurückzog oder versuchte, in seinem Innern Zu flucht zu finden vor diesem Gewirr von Worten und Wünschen. «Das mit dem Bosporus ist eine Metapher, genau wie das mit Mosambik!» «Was ist das, eine Metapher?» «Das ist, wenn man ein Wort im übertragenen Sinn gebraucht.» «Ist ja gut, du Schlaumeier, alles klar. Kurz und gut, der Bospo rus ist eine Metapher, weil der da sich ich-weiß-nicht-was-für einen Schwachsinn vorstellt, den er dort machen will, aber Mosambik ist keine Metapher: Mir kannst du nichts vormachen, auf so was falle * Frz. Sackgasse.
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ich nicht rein! Mosambik ist ein Schiff und ein Vertrag und eine Route und ein paar Ersparnisse, nicht wahr, Alter? Ein Pölsterchen!» Dabei zog Germán mit einem Finger komplizenhaft sein unteres Augenlid herab. «Mit Leuten ohne Sinn für Metaphern kann man sich einfach nicht unterhalten.» Basora lachte über seine eigene Pedanterie, Martín und Germán stimmten in das Gelächter mit Erstickungsanfällen ein und waren so von der Verpflichtung befreit, ihn zu verstehen. Sie leerten den Rest der Flasche, und Basora schlug vor, einen Spähtrupp zur Tür des Kapitäns zu schicken für den Fall, daß er in Sängerlaune war und sie ein Konzert zu hören bekommen würden. «Hast du ihn schon mal singen gehört?» «Ja, ‹La Zarzamora›. Mit diesen beiden Ohren habe ich ihn ge hört.» «Vorsicht! Wenn er böse wird, hängt er uns in Barcelona einen Bericht an, nach dem uns keiner mehr haben will!» «Der und uns etwas anhängen! Dankbar kann er uns sein, daß wir ihn nicht in die Pfanne hauen, daß wir ihn seinen Quatsch verzapfen und seinen Blödsinn machen lassen. Wir tun so, als gingen wir zu meiner Kabine, die ist nebendran.» Sie verließen Germáns Kabine. Basora mahnte sie mit einem Fin ger auf den Lippen, leise zu sein, und ihre Neugier, etwas zu hören, ließ sie die Stimme des Kapitäns erkennen, der wie in Ekstase aus voller Kehle sang. Sie mußten aber das Ohr an die kalte Stahltür legen und es dem Türschlitz nähern, damit aus der Stimme Worte wurden. Liebe mich nicht so sehr und weine auch nicht um mich! Es ist nicht der Mühe wert, daß du so leidest für einen schlechten Geliebten … Martín schlug sich die Hand vor den Mund, um nicht laut loszula chen; die anderen befürchteten, daß er es nicht lange aushalten würde, und gingen schnell in Basoras Kabine, wo sie ihrer Lachlust freien Lauf lassen konnten. 122
«Was ist das für ein schlechter Witz, was er da singt?» «Ein Lied von anno dazumal!» «Und der Typ singt wie ein Andalusier.» Darauf folgte ein befreiendes Lachen durch die Nase, das aber nicht wagte, sich zum offenen Gelächter zu steigern. «Ich möchte gern zusehen, wie er singt. Wahrscheinlich bewegt er sich und wiegt sich in den Hüften wie die Sängerinnen von frü her.» «Das dürfen wir uns nicht entgehen lassen!» Die Idee war genial. Basora hatte Feuer gefangen, er schnippte mit den Fingern in der Luft, als wolle er die technische Lösung der Sache herbeizaubern. «Der Alte schließt von innen ab, aber dagegen muß man etwas tun können.» «Wenn er nicht will, kriegt keiner die Kajüte von außen auf.» «Das ist klar. Aber es muß eine Lösung geben. Ich sehe keine andere Möglichkeit, als uns mit dem Steward zu verbünden. Er soll so tun, als müßte er ihm etwas bringen, und dann muß er die Tür angelehnt lassen.» «So geht das nicht.» Es war Germán, der die Frage abschnitt und einen radikalen Rückzug von dem Projekt und aus der Kabine einleitete. «Wieso?» «Weil das bedeuten würde, seine Autorität bei der Mannschaft total zu untergraben.» «Du hast recht», stimmte ihm Basora zu, um dann Germán bos haft zu betrachten. «Du machst es selbst. In einer der nächsten Nächte gehst du in seine Kabine, wenn er singt. Vorher kündigst du dich telefonisch an, damit er nicht böse wird. Du besuchst ihn unter irgendeinem Vorwand und läßt die Tür hinterher angelehnt.»
Die Mauern von Albacete hielten immer neue Überraschungen für Carvalho bereit: ‹Ich habe Mortimer EL COJO umgebracht›, ‹Calvo Sotelo = Sadat = NATO›. Vielleicht lag es an dem Kontrast zwischen der Untergrundpoesie und der Sturheit der Frühaufsteher auf der Straße, deren junge Gebäude schon alt geboren waren. Sie 123
standen auf den Grundmauern ansehnlicher Palazzi, was man aus den wenigen Überlebenden dieser Gattung erschließen konnte. Die alte Señora Rodríguez de Montiel wohnte nicht mehr in ihrer abge schiedenen Wohnung in der Lodares-Passage, die ein gutes Büh nenbild für italienisches Renaissancetheater abgegeben hätte, mit ihren beunruhigenden grauen Säulen unter einem klassizistischen Gewölbe aus kaltem Glas. In der Dunkelheit der Passage war noch etwas von dem Geheimnis der Stadt spürbar, etwas von dem weni gen, was von der Physiognomie der Vergangenheit übriggeblieben war, traurige Geschäfte und angelehnte Portale mit mächtigen Treppen zu Wohnungen, wo heute nicht mehr die jungen Reichen wohnten, sondern junge Freiberufler in wichtigen Positionen mit einer zentral gelegenen Praxis. Die Lodares-Passage liegt am zentralsten, wurde ihm in einem Geschäft für Überseewaren versichert, wo er sich nach Manchakäse und nach der alten Dame erkundigt hatte. «Soviel ich weiß, hat sie sich nach El Bonillo zurückgezogen. Sie haben dort eine Menge Land. Ehrlich gesagt, ich habe sie seit Jahren nicht gesehen und auch nichts von ihr gehört.» «Und der Sohn?» «Na, das ist etwas anderes! Von ihm ist in letzter Zeit viel gespro chen worden, wegen des Unglücks. Aber ich habe ihn auch schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen.» Wieder die Kargheit der Mancha. Man wußte nicht, wer ur sprünglich damit angefangen hatte, den anderen zu langweilen, die Erde oder der Himmel. Die trockenen Dornbüsche waren immer noch gefangen in ihrer fluchbeladenen Verrücktheit, blindlings vom Wind hin und her getrieben. Ab und zu ließen sie sich in selbstmörderischer Absicht von Autos überfahren. An der Straße nach Barrax und Munera gab es kleine Dörfer an den Kreuzungen, manchmal sah man sie auch in der Ferne, um einen noblen Gutshof in Ocker und Weiß geschart, inmitten der Monotonie winterlicher Felder. Das Leben kauerte unter den Schollen und an den grau grünen Wegrändern, die der Winter kahlgeschoren hatte. Zwischen Munera und El Bonillo begann die Straße ausnahmsweise Hügel hinaufzuklettern und spielerisch kleine Berge zu umrunden, um dann den Blick des Reisenden wieder mit der Fatalität der Ebene zu konfrontieren. Sein Auto brachte ihn schließlich zu einer Plaza vor einer klassizistischen Kirche, außen ocker, innen grün. Carvalho 124
ging hinein, um nachzuprüfen, ob die Einsamkeit des Innern der des Äußeren entsprach. Die Statuen erlebten diesen langweiligen Montag allein, stuckverzierte Darsteller von Selbstmitleid und Ge borgenheit, die niemand rührten. Als er wieder draußen stand, am Fuß eines Marmorkreuzes, stellte er fest, wie desolat dieser Vormit tag war, trotz des Sonnenscheines. Den nur ein paar Männer auf der Galerie eines noblen und dominierenden Wohnblocks zu genießen verstanden. Von ihrer Warte aus versuchten sie die Herkunft des Autos herauszufinden und die Absichten des verunsicherten Frem den auf der labyrinthischen Netzhaut der Mancha. Müde Frauen gingen vorbei, gegen die Kälte drei oder vier Kleidungsstücke übereinander drapiert. Seinem Versuch, ein Gespräch anzuknüp fen, begegneten sie mit vorsichtigen Blicken, verwirrt durch eine Sprechweise, die nicht die ihre war. «Das Haus der Rodríguez de Montiel? Welches?» «Das, in dem die alte Dame wohnt.» «Also, das ist nicht hier. Sie müssen fast bis Lezuza fahren, auf der Straße nach Balazote, Sie können es nicht verfehlen. Zehn Kilome ter vor El Bonillo sehen Sie es dann schon. Es ist ein Herrenhaus, das größte in dieser Gegend, mit Umfassungsmauern und einem steinernen Portal an der Straßeneinfahrt. Sie können es nicht verfehlen.» Die Landschaft wurde allmählich sanft hügelig, Bäume sammel ten sich in ausgetrockneten Bachbetten zu grünen Bächen, und bald kündigte ein Weg das Anwesen der Familie Rodríguez de Montiel an. Carvalho folgte ihm, fuhr durch das große Tor und gelangte auf einen ungepflasterten Innenhof, wo zwei Traktoren und ein alter Jeep ausruhten und zwei blonde Kinder mit einem Hündchen um hertollten. Die Kinder erstarrten, als sie den Fremden aus dem Auto steigen sahen; dafür tauchte eine nervöse Frau auf, die ihre roten Hände an der Schürze abtrocknete. «Das ist hier Privatgelände. Die Straße geht nach Balazote, man darf nicht abbiegen.» «Ich habe mich nicht verirrt, ich suche die Witwe Rodríguez de Montiel.» «Was wünschen Sie?» Das sagte eine Männerstimme, die weder der Frau noch den Kindern gehörte. Hinter ihm stand ein Hüne in einer Trenchcoat jacke mit fellbesetzten Aufschlägen, Bauernstiefeln, Baskenmütze, 125
Hornbrille und einer Hakennase über dem dünnen Schnurrbärtchen. «Er fragte nach der Señora, Don Martín!» Jetzt standen sie einander gegenüber. «Stimmt. Ich bin gekommen, um mich mit der Witwe Rodríguez de Montiel zu unterhalten.» «Es ist schon seltsam, denn das ist wohl seit mindestens zehn Jahren der erste Besuch, den die Señora bekommt. Verzeihen Sie, aber wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich Sie begleiten. Die arme Frau ist nicht unbedingt in der Lage, Besuche zu empfangen. Worum geht es?» «Zuerst muß ich mich vorstellen, bitte, entschuldigen Sie, daß ich es nicht gleich zu Anfang getan habe!» «Dasselbe gilt für mich, denn ich habe mich Ihnen nicht vorge stellt.» «Ich hätte den Anfang machen sollen.» «Nehmen Sie nicht die Schuld auf sich!» Der Hüne war zerknirscht und sagte schnell: «Martín Cerdán Samaniego, zu Ihren Diensten. Ich bin der Verwalter der Finca.» «Mein Name ist José Carvalho. Ich bin eine Art Versicherungs agent und muß dringend mit den Rodríguez de Montiel sprechen. Es steht im Zusammenhang mit dem Unglück, das die Schwieger tochter der Señora getroffen hat.» «Ich wußte gar nicht, daß da noch etwas unternommen wurde.» «Hat Ihnen Don Luis Miguel nichts erzählt?» «Der sagt mir nicht mal Guten Tag!» Mit einer Handbewegung forderte er Carvalho auf, ihm zu dem Portal zu folgen, dessen hölzerne Flügel in besseren Zeiten von einem guten Handwerker angefertigt wurden und seither Wind und Wetter ausgesetzt gewesen waren. Das kühle Halbdunkel eines mit Steinplatten gefliesten Flures, dann ein Büro, in dem nichts außer einem verschnörkelten Tisch mit schmiedeeisernen Beinen stand, und metallene Karteikästen, anscheinend aus einer Wache der Guardia Civil. Ein Kruzifix über dem Tisch schaute auf die geord neten Papiere herab, und an der Wand hing ein Plakat für gemisch tes Viehfutter. In der Ecke qualmte ein eiserner Kanonenofen, aber er ließ der Kälte noch viel Raum, die sich seit dem Herbst in diesem Zimmer eingenistet hatte. «Sie werden verstehen, daß ich meine geschäftlichen Angelegen126
heiten nicht jedermann anvertrauen kann. Eigentlich möchte ich zu Don Luis selbst, aber er ist nicht in Albacete, und niemand kann mir sagen, wo ich ihn finden kann.» «Mir brauchen Sie auch nichts von ihm zu erzählen, denn seine Angelegenheiten gehen mich nichts an. Ich verwalte die Finca hier, sie ist Alleineigentum von Doña Dolores, und mit dem, was ihr Sohn noch besitzt, habe ich nichts zu tun. Wenn ich Sie hereingebe ten habe, dann deshalb, weil ich das alles nicht vor dem Personal besprechen will – obwohl ich den Leuten vertraue. Die Zeiten ha ben sich geändert, und die Treue von früher gibt es nicht mehr. Ich weiß nicht, wo das alles enden soll.» «Können Sie mir einen Tip geben, wo ich Don Luis finden kann? Vielleicht weiß es seine Mutter.» «Nein, das glaube ich nicht.» Die Miene des Verwalters hatte sich verfinstert. Er ging zum Ofen, um nach dem Feuer zu sehen. Aus einem Espartokorb nahm er vier Holzscheite. Sie waren so frisch gesägt, daß auf dem kurzen Weg zum feurigen Maul des Ofens weißer Staub von ihnen abfiel. «Außerdem ist sie eine kranke Frau, verstehen Sie? Wenn es ihr gutginge, dann hätte ich nichts dagegen. Aber an manchen Tagen kann sie nicht klar denken; sie erinnert sich dann nicht einmal daran, daß sie einen Sohn hat – was heißt einen, sie hat sieben, aber vor allem diesen, der ihr soviel Ärger gemacht hat. Mir hat sie natürlich nicht gesagt, wo er sich aufhält. Aber ich frage auch nicht dauernd nach diesem Dummkopf. Ich weiß schon, es ist nicht in Ordnung, daß ich von dem jungen Herrn so rede, aber, also, er hat sie alle fertiggemacht. Seinen Vater, seine Mutter und seine Frau, die mehr als alle andern unter ihm zu leiden hatte, da kann mir einer sagen, was er will.» «Meinen Sie die Tote?» «Genau die meine ich. Sie war fast noch ein Mädchen, als sie in dieses Haus kam, und sie hat es schlecht getroffen.» «Wohnten sie hier?» «Wer? Don Luis und seine Frau? Nein, Hombre, nein. Der Schnösel kam nur her, um abzusahnen. Hier war jahrelang niemand außer uns, meinem Vater, er ruhe in Frieden, und mir, und wir sorgten dafür, daß die Henne mit den goldenen Eiern am Leben blieb. Sie lebten dabei wie Fürsten in Albacete, in Madrid oder in der Mongolei. Aber dann, als es nötig war, sich hier um den Betrieb zu 127
kümmern, weil alles kurz vor dem Bankrott stand, also da kam kein Wort des Dankes. Die Söhne sind alle versorgt, auf die eine oder andere Art, wer keine Berufsausbildung hat, hat ein kleines Geschäft, nur der junge Herr nicht, von dem wir da reden. Er sollte Notar werden, eine Eminenz, und war doch nur ein Windhund. Nein. Erzählen Sie mir nichts! Ich will von dem Schnösel nichts wissen.» «Ich muß dringend mit der Mutter sprechen.» «Ist das so wichtig?» «Äußerst wichtig.» «Gehen Sie vorsichtig mit der alten Dame um. Manchmal ver steht sie, was man ihr sagt, und manchmal nicht. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie nur das versteht, was sie kann oder was sie will. Aber es ist mir auch egal», schloß der Verwalter und ließ zornig den runden Deckel des Ofens zufallen. Der Mann rannte eher, als er ging, über die großen, versiegelten Fliesen des Korridors und nahm immer zwei der großen Stufen auf einmal, auf die die Ahnherren aus ihren staub- und dunkelgesättigten Bildern herabschauten. Er schlug mit den Fingerknöcheln auf eine große, solide dunkelbraune Tür ein, drehte, ohne eine Antwort ab zuwarten, den Türgriff, und vor ihnen lag ein Salon, wo Damast stoffe und Teppiche im bleichen Winterlicht alterten, das durch eine Balkontür hereinfiel. Neben der Balkontür stand ein Tisch und darunter ein Kohlebecken, wohl als Heizsonne für die alte Frau in dem zerknautschten Ledersessel gedacht. Überall stand in den Vitrinen Keramik, feines Porzellan und getriebenes Silber. Auf einer Empirekonsole jagte eine Diana aus Alabaster. Die Konsole war nur dank des einsichtigen Mitleids eines Holzwurmes erhalten, der sie liebgewonnen hatte. Stimmen und Musik kamen aus einem ultramodernen Radiorekorder, mit aerodynamischem Design frisch aus Japan importiert, dem Glanzstück dieser Antiquitätensammlung. «Glaubst du, daß Caroline einen Jungen oder ein Mädchen zur Welt bringen wird?» «Sie bekommt bestimmt Zwillinge, Silvia, im Liebesleben der Prinzessin haben schon immer die simultanen Verhältnisse überwogen.» «Pfui, wie boshaft du bist!» Die alte Dame lachte und winkte den beiden Männern, näher zu treten. 128
«Señora Dolores, dieser Herr möchte Sie besuchen.» «Warten Sie, warten Sie, es ist Silvia Arlet … warten Sie!» Ihre ganze Aufmerksamkeit war auf den Dialog gerichtet, den die Mo deratorin mit einem Studiogast über das Leben an den Fürstenhöfen führte. «Caroline von Monaco erwartet ein Kind!» verkündete sie Car valho, der mit einer gewissen Überzeugungskraft nickte. Die Sprecherin und der Studiogast setzten ihren scharfzüngigen Dialog fort, und der nervöse Verwalter ging, die Arme hinter den Rücken verschränkt, im Zimmer umher und besah sich mit merk würdiger Hartnäckigkeit seine Stiefelspitzen. Carvalho hatte sich einen Stuhl geholt, rückte ihn an den Tisch mit dem Kohlebecken, setzte sich und spürte sofort die Wärme der Holzkohlen. Die alte Dame saß auf der anderen Seite des Tisches, und ihr Lächeln war die Aufforderung, der boshaften Radiosendung zuzuhören. Als das Geplauder über den Jet Set beendet war, beugte sie sich über den Apparat, drehte an den Knöpfen und suchte einen anderen Sender. «Jetzt höre ich ‹Protagonistas› von Luis del Olmo, heute kommt ein sehr sympathischer und sehr hübscher Junge namens Tito B. Diagonal. Er ist sehr reich und ein vorbildlicher Sohn. Er spricht immer gut von seinem Vater. Hören Sie gern Radio?» «Nur sehr selten.» «Ich weiß nicht, was ich ohne Radio machen sollte. Früher gefiel mir auch das Fernsehen, jetzt nicht mehr so sehr. Ich sah es immer gern, wenn dieser Spieler aus Zaragoza auftrat, Lapetra. Erinnern Sie sich an Lapetra?» «Nein.» «Und Sie, Martín?» Der Verwalter unterbrach sein beständiges Hinundhergehen und blickte zur Zimmerdecke. «Ja, Señora, ‹Die Fünf Asse›: CanaRío, Santos, Marcelino, Villa und Lapetra. – Er gefiel ihr wegen der Haare», erklärte er Carvalho. «Er hatte sehr schönes Haar. Damals war das Fernsehen noch in Schwarz-Weiß, aber ich ahnte immer, das Lapetra rothaarig war. ‹Der Käfig der Bestien› gefiel mir auch sehr gut, es war eine Sen dung von ‹Protagonistas›. Vier Mädchen stritten sich mit einer be kannten Persönlichkeit. Jetzt suche ich etwas anderes, ‹Spanien um acht›. Dort spricht ein Junge mit sehr angenehmer Stimme, er heißt Aberasturi, ein Baske dem Namen nach. Und Silvia Arlet, Luis del 129
Olmo und Tito B. Diagonal. Nachmittags kommt dann ‹Beliebte Klassiker›. Früher verstand ich überhaupt nichts von Musik, ob wohl ich als junges Mädchen Klavierunterricht hatte. Aber ich wußte beispielsweise nicht, wer Smetana ist. Kennen Sie Smetana? Es gibt eine sehr hübsche Platte von ihm, sie heißt ‹Die Moldau›. Legen Sie sie auf, Martín!» Die alte Frau wühlte in einem Haufen von Kassetten, holte eine davon heraus und reichte sie nun Martín. Mit starrer Miene, aber geduldig, stellte der Verwalter den Apparat ein. Er schob die Mu sikkapsel hinein und nahm seinen Spaziergang wieder auf. Eine ma-jestätische, lyrische Musik von Flüssen und Tälern erfüllte das ein-balsamierte Zimmer. «Nachher kommt ‹Directo – Directo›, der Sportbericht und ‹Der Verrückte vom Berg›. Hören Sie die Fortsetzungen von ‹Der Ver rückte vom Berg›?» «Nein.» «Es ist wunderschön. Ein zarter Junge, auch ein sehr guter Junge. Alle Jungen im Radio sind sehr gut. Aber ‹Der Verrückte vom Berg› ist der beste. Er lebt allein auf einem Berg, umgeben von Schallplatten und Gedichtbänden. Manchmal lädt er auch Leute ein, und sie unterhalten sich ruhig und mit leiser Stimme. Es hört sehr spät auf, und deshalb schlafe ich ein, aber ich wache pünktlich zu ‹Spanien um acht› wieder auf, als hätte ich eine Uhr im Leib. Neulich nachts hörte ich auch einmal diesen schlimmen Kerl, den, der immer mit allen Streit anfängt, García. Der hätte es verdient, daß ihm mal jemand gehörig die Meinung sagt! Er ist immer böse. Ich wollte ihn schon einmal anrufen, aber wie es der Zufall wollte, waren die Leitungen unterbrochen. Stimmt es nicht, Martín? Sie sagten mir doch, daß die Verbindung unterbrochen war.» «Ich habe es selbst nachgeprüft», und er fügte nur für Carvalho hörbar hinzu: «Um ein Uhr nachts!» «Das Radio und der Gekreuzigte, das sind meine beiden Tröster. Haben Sie den Gekreuzigten gesehen?» «Nein.» «Er hängt in El Bonillo und stammt von einem sehr bedeutenden Maler.» «Von El Greco», bemerkte der Verwalter in einem Tonfall, der nur eins bedeuten konnte: Machen Sie es nicht so spannend! « Und Ihre Familie?» 130
«Ach, die Familie…» «Wie viele Kinder haben Sie, Doña Dolores?» Der Verwalter zwinkerte Carvalho zu, damit er sich auf eine überraschende Antwort gefaßt machte. «Sieben, wie die sieben Todsünden.» «Sehr gut!» pflichtete ihr Don Martín bei. «Der Señor hier ist mit einem ihrer Söhne befreundet und sucht ihn. Don Luis Miguel!» «Ah, Luis Miguel!» Die alte Dame versank in den geheimen Landschaften ihrer Erin nerung. «Luis Miguel, Luis Miguel. Auch er war sehr gut, ein sehr guter Sohn, aber vom Unglück verfolgt. Mein armer Junge! Er war der hübscheste von allen meinen Söhnen; der hübscheste Junge von El Bonillo, von ganz Albacete. Es war ein herrlicher Anblick, wenn er mit seinen Brüdern, seinem Vater und den Freunden seines Vaters zur Rebhuhnjagd auszog. Er kommt nie, um mich zu besu chen. Warum kommt er nie, Martín?» «Aber er schreibt Ihnen. Ganz bestimmt schreibt er Ihnen, Doña Dolores.» «Ach ja, die Briefe.» Die kleinen Augen der alten Frau glitten über einen Stapel Briefe hinter dem Glas einer Vitrine. Die Gier in Carvalhos Augen entging dem Verwalter nicht. «Auf dem Umschlag steht kein Absender.» Das war eine War nung an die Adresse des Detektivs. «Wo ist denn Ihr Sohn, Doña Dolores?» Die alte Frau ignorierte Carvalhos Frage. «Welche Mühe würde es ihm kosten, mich einmal zu besuchen? Ich hatte immer Verständnis für ihn und stellte mich mehr als einmal zwischen ihn und seinen Vater. Mein Mann war sehr geradlinig, sehr korrekt. Manchmal zu korrekt, obwohl ein Mann eigentlich nie korrekt genug sein kann! Damals, als unser Haus in Tesifonte Gallego noch stand, bevor wir in diese Wohnung in die Lodares-Passage zogen, war es immer eine Freude, im Garten Feste zu feiern, im Frühling oder im Herbst, im Frühherbst, denn dann kommt hier der Winter, und keiner ver treibt ihn mehr. Das waren damals die besten Jahre von Luis Mi guel. Dann, eines Tages, brachte er sie mit nach Hause, und alles war anders. Sein Vater sagte zu ihm: ‹Zuerst beendest du dein Stu dium!›, aber er hörte nicht auf ihn. Er hatte vier oder fünf Jahre lang 131
wie ein Mönch gelebt, um sein Studium abzuschließen und Notar zu werden, und dann gab er ihretwegen alles auf. Und was kam dabei heraus! Eine Frau bringt entweder Glück oder Unglück in das Leben eines Mannes. Und dabei haben wir ihn doch gut erzogen! Wir haben ihm sogar gezeigt, wie man eine Gabel richtig hält! Wo ist Encarnita, Martín?» «Sie ist tot, Señora Dolores, das wissen Sie doch!» «Tot, ja, die Ärmste. Gott sei ihr gnädig!» «Und Ihr Sohn, Doña Dolores, wo ist er?» Die alte Dame zuckte die Schultern, aber ihre kleinen Augen wa ren prüfend auf Carvalho gerichtet. «Ich muß ihn unbedingt sprechen, es geht um eine Sache, die für ihn von größtem Interesse ist!» «Wollen Sie ihm etwas verkaufen?» «Nein, nein, das ist es nicht.» «Es ist nämlich so, wenn Sie ihm etwas verkaufen wollen, ver geuden Sie Ihre Zeit, denn er besitzt nichts mehr. Er ist das ärmste von allen meinen Kindern. Doch, etwas besitzt er noch, ein paar Dinge, die ihm sein Vater hinterlassen hat, seinen Anteil an dem Ertrag dieses Gutes hier und La Casica.» «Ich muß mit ihm reden. Die Angelegenheit steht im Zusam menhang mit dem Ableben seiner Frau. Versicherungen, Familien angelegenheiten, es ist sehr dringend!» «Seit dem letzten Weihnachtsfest habe ich meinen Luis Miguel nicht mehr gesehen. Warum war er dieses Jahr an Weihnachten nicht hier? Meine Kinder kommen immer seltener. In diesem Jahr fehlten vier von ihnen. Einer fuhr zu irgendwelchen Inseln, wo es das ganze Jahr über heiß ist. Warum müssen sie ausgerechnet wäh rend der Festtage wegfahren? Wo es mir doch so viel Freude macht, sie alle bei mir zu haben. Wer weiß, ob es im nächsten Jahr noch möglich ist! Luis Miguel war auch nicht da. Er konnte nicht kom men.» Sie respektierten ihre Lust daran, ihnen Rätsel aufzugeben, und ihr Spiel, von einem zum anderen zu schauen und zu zweifeln, ob sie fähig waren, ihr Geheimnis zu erraten. «Er ist in La Casica. Wenn Sie ihn sehen, sagen Sie ihm, daß ich ihn erwarte, daß er mich besuchen soll, denn was vergangen ist, ist vergangen. Und was Encarnita angeht … sie ist für mich wie eine Tochter. 132
«Encarnita ist tot, Señora Dolores!« «Ja, sie ist tot, die Ärmste!» Aber sie hatte bereits das Interesse an diesem Thema verloren und das Radio wieder eingeschaltet. Sie entspannte sich, als ein Sprecher und eine Sprecherin im Wechsel über das politische und kulturelle Leben der Region berichteten. An diesem Vormittag hatte sich die autonome Regierung von Castilla-La Mancha versammelt. Der Verwalter und Carvalho verließen den Salon, und kaum hat ten sie die Tür hinter sich zugemacht, murmelte der Verwalter: «Wie eine Tochter! Wenn sie nicht so alt wäre, hätte ich ihr ordent lich die Meinung gegeigt. Sie haben ihr das Leben schwer gemacht, bis sie eine reife Frau war und sie in die Schranken wies. Wie eine Tochter!» «Anscheinend ist der Sohn in La Casica!» «Wer soll das wissen! Ich glaube es nicht.» «Wo ist das?» «Es ist ein alter Besitz, den Luis Miguel direkt von seiner Groß mutter geerbt hat. Es ist am Arsch der Welt, entschuldigen Sie den Ausdruck. Dort, wo der Río Mundo entspringt.» Das Bild des Wasserfalls, den er im Zimmer von El Corral gese hen hatte, legte sich über das mißtrauische Gesicht des Mannes. «Ich weiß nicht, was er dort zu suchen hat. Aber er ist hoffnungslos verrückt, und wahrscheinlich hat ihn seine Verrücktheit dorthin getrieben.» «Kann man das feststellen? Gibt es dort ein Telefon?» «Nein. Es ist ein altes Landhaus direkt an der Quelle des Río Mundo. Los Chorros heißt der Ort, es ist bei Calar del Mundo, vor der Sierra del Alcaraz. Am besten, Sie fahren bis Elche de la Sierra und biegen dann rechts ab nach Ríopar. Von Ríopar bis zur Fluß quelle ist es nur ein Katzensprung. Aber fragen Sie dort zur Sicher heit noch einmal nach. Wie kann man nur an so einem Ort wohnen? Aber machen Sie sich nicht allzuviel Hoffnung, ihn zu finden. Der Kerl ist wie immer überall, das heißt nirgends.»
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Er hatte vorgehabt, sein Gepäck aus dem Hotel zu holen und schnurstracks nach Ríopar zu fahren, aber zusammen mit der Rechnung gab ihm der Portier einen Zettel mit einer Verabredung: Lodares-Passage, acht Uhr. Obwohl keine Unterschrift dabeistand, lag der Schatten des Musikanten auf dem karierten Papier und auf der altertümlich verschnörkelten Schrift mit den betonten Abstrichen, wie man es früher in der Schule gelernt hatte. Es sah aus, als sei es mit einem alten Federhalter geschrieben worden. Ein endloser, grauer Abend wölbte sich über dem Hoteleingang, und wieder war der Wind seltsam ohnmächtig gegen ein paar hart näckige Wolken. Er brachte das Gepäck zurück auf sein Zimmer und schlenderte ein wenig durch die Calle Tejares, wo noch Überbleibsel der traditionellen Architektur Albacetes zu sehen waren. Es war ein museales Zugeständnis an die Geschichte des Wohnungs baus im Rahmen einer Stadt, die mit ihrer physischen Vergangen heit gnadenlos gebrochen hatte. Der Wind hatte mit Geheul die Alleinherrschaft in den Straßen an sich gerissen, die zur Peripherie führten. Die Lichter der Geschäfte wurden immer spärlicher, je weiter man sich vom Zentrum entfernte, und die Bars waren um diese Zeit noch leer. «Sind Sie am Rathaus vorbeigekommen?» «Das ist schon einige Zeit her.» «War keine Menschenmenge vor dem Eingang?» «Darauf habe ich nicht besonders geachtet.» «Sie gehen nämlich hin und besuchen diesen Kerl, der dort streikt.» «Wer?» «Ein Arbeitsloser, der sich im Rathaus eingeschlossen hat und nichts mehr ißt und sagt, daß er dort nicht weggeht, bevor er Arbeit hat.» Er war allein mit dem Barbesitzer. «Und das, wo sich die Arbeitslosigkeit hier weniger bemerkbar macht als in anderen Landesteilen, so erzählen mir zumindest die Gäste. Aber was soll denn ein Familienvater tun, der jeden Abend mit leeren Händen heimkommt?» Carvalho trat auf die Straße hinaus, wo die hereinbrechende Dunkelheit seine Sehnsucht verstärkte, nach Hause zu fahren zu Biscuters Gerichten, zu der ewig nörgelnden Charo und dem ruhigen oder wenigstens etwas ruhigeren Leben, jedenfalls zurück in 134
eine vertraute Umgebung, wo sein Leben einen gewissen Sinn hatte. Es war noch eine lange Stunde bis acht Uhr, und er befand sich auf der Avenida Rodríguez Acosta in Höhe der sogenannten Calle Alférez Provisional, beim Parque de los Mártires. «Wenn Sie die Altstadt noch gekannt hätten, dort oben auf dem ‹Alto de la Villa›, da war immer etwas los! Aber die lassen keinen Stein auf dem andern, Sie sehen ja selbst, der Fortschritt! Albacete ist das New York der Mancha oder so etwas! Ich weiß nicht, wer das gesagt hat, eine wichtige Persönlichkeit aus Madrid.» Der Mann hinter der Bar schimpfte und war gleichzeitig stolz darauf, daß Albacete soviel Gesprächsstoff bot. Carvalho fiel auf, daß er seit mehreren Tagen der erste war, mit dem er sich außer dienstlich unterhielt. Das Schlimmste an solchen Reisen ist das Schweigen. Du wirst alt. War die Stadt etwa nicht wie ein graues Meer ohne Ufer, wie ein Meer innerhalb eines anderen? Die winterliche Mancha war wie ein steinernes Meer, aber ein Meer anderer Art, und das Leben un wirklich – trotzdem erwachten um diese Zeit Jungen und Mädchen in den Diskotheken wieder zum Leben, mit Getuschel und Ge schrei, sie, Bewohner dieser Steppe, die für einen verrückten Aske ten erfunden worden war.* Als er die Lodares-Passage betrat, über wältigte ihn die theatralische Stille der Architektur, die spärliche Beleuchtung und die trüben Glasscheiben der Überdachung. Wie Theaterlogen hingen verglaste Balkone über der Passage, einer an jedem Ende. Hier konnten sich in früheren Zeiten zwei mächtige Familien aus der Entfernung gegenseitig beobachten. Heute waren es Logen für ein Schauspiel, das vor dem Hintergrund der verlasse nen Passage fast nicht mehr gespielt wurde. In dieser Verlassenheit ging er einsam hin und her und wartete auf den Auftritt des Ange kündigten, vielleicht auch des Todes, von vorn oder von hinten, und der bloße Gedanke daran bewirkte schon, daß Carvalho sich beim Gehen halb umwandte, um dem Tod nicht den ganzen Rükken zu bieten und ihn kommen zu sehen. Aber was er sah, war die verschwommene Gestalt eines Einbeinigen. Aus der Nähe betrach tet hatte er weinrote Wangen und die verschwollenen Augen ver gangener Alkoholexzesse. «Sind Sie Pepe Carvalho, mein Herr?» «Jawohl, mein Herr.» * Anspielung auf «Don Quijote» (Anm. d. Ü.)
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«Don Martín schickt mich, der Verwalter von El Bonillo. Sie sollen nicht nach Ríopar fahren, denn dort ist niemand. Sobald Sie weg waren, nahm die Señora alles zurück, was sie gesagt hatte, und bestätigte, was wir alle schon wußten, nämlich daß der junge Herr Don Luis im Ausland ist.» Der Bote hatte entweder einen stumpfsinnigen Blick oder er konnte durch Carvalho hindurchsehen. Tatsächlich waren dort hinter seinem Rücken in sicherer Entfernung zwei dunkle Gestal ten zu sehen, die in der Dunkelheit rauchten und gelegentlich nach oben oder nach unten schauten, als hätten sie nichts anderes zu tun. «Don Martín hat die Alte sehr schnell dazu gebracht, mit der Wahrheit herauszurücken. Ich habe von El Bonillo bis hier kaum eine Stunde gebraucht, und bei meiner Ankunft wartete schon Ihre Nachricht auf mich.» «Kurz nachdem Sie weggefahren waren, telefonierte Señor Martín mit mir.» Die Fensterläden waren fast alle geschlossen, durch die Ritzen drang das Licht eines verborgenen Lebens, das sich nicht darum kümmerte, was in der Passage geschah. «Dann fahren Sie also zurück nach Hause, nicht wahr, guter Mann?» «Mir wird wohl nichts anderes übrigbleiben, obwohl ich gehört habe, daß der Ursprung des Río Mundo sehr schön sein soll. Viel leicht fahre ich doch noch hin, um ihn mir anzusehen.» «Kaum was zu sehen und schlechte Straßen. Das ist was für Früh ling oder Sommer.» «Ich habe auch von seltsamen Sitten und Gebräuchen gehört, zum Beispiel von den Animeros. Kennen Sie nicht einen Animero, er ist sehr bekannt in den Bergen?» «Einen Animero?» Endgültig starrten die entzündeten und wenig intelligenten Au gen durch Carvalho hindurch und riefen die anderen beiden Män ner herbei, die sich einen Ruck gaben und sich in Bewegung setz ten. «Ein Animero, jawohl, er hat immer eine kleine Gitarre bei sich.» «Also ich kann mich nicht erinnern, daß ich ihn gesehen hätte.» «Er nennt sich El Lebrijano, sieht aus wie der Sohn einer Nutte und ist ein ganz linker Vogel.» 136
Der Einbeinige nahm ihm die Beleidigung des Musikanten übel und trat zurück, um Distanz zu bekommen und auszuholen. Im gleichen Moment rannten die Männer hinter Carvalho los. Der De tektiv stürzte sich auf den Einbeinigen und dachte, er könnte ihn mit einem beidhändigen Stoß zu Boden werfen, aber sein Gewicht verlieh dem Krüppel unerwartete Standfestigkeit und er schwankte zwar, hielt sich aber auf den Beinen und wirbelte seinen Stock wie Windmühlenflügel vor Carvalho herum, streifte damit seine Nase und versperrte ihm gerade in dem Moment den Weg, als die beiden anderen ankamen. Jetzt versetzte Carvalho dem Einbeinigen einen heftigen Fußtritt in die Weichteile, so daß er aufbrüllte, als hätte er den Gnadenstoß bekommen, und sich zusammenkrümmte. Dabei hatte er das Pech, daß das eine Bein sein Gewicht nicht tragen konnte, und er ging zu Boden. Carvalho war mit einem Satz über ihn weg und floh, den schnaubenden Atem der Verfolger im Nakken, der sich zu keuchenden Drohungen und Beschimpfungen formte. Auch rennend erreichte er den Ausgang der Passage viel langsamer, als ihm lieb war. Keiner trat auf den gleichgültigen und nutzlosen Balkon hinaus, um das Schauspiel mitzuerleben. Noch während des Laufens, als er schon weit von der engen Passage ent fernt war, erinnerte er sich an die soeben erlebte Szene wie an die zuschauerlose Generalprobe eines Werkes, wahrscheinlich eines Klassikers, in dem sich das Opfer dem vorbestimmten Tod verwei gert. Er mischte sich unter die relativ zahlreichen Menschen auf der Calle Mayor und betrat eine Kneipe, wo einheimische Tapas ange boten wurden, nahrhaft, fettig, schmackhaft und pikant. Zum Aufwärmen nahm der Wirt die Portionen und schob sie durch ein Fensterchen zu seiner Frau, die in der Küche wie in einem Käfig gefangen saß, einer Küche, die schmutzig aussah, aber anregend duftete. Fotos der beiden Mannschaften ‹Barcelona FC› und ‹Real Madrid› zeugten von der Neutralität des Hauses, und Carvalho, immer noch keuchend und mit angespannten Nerven, bestellte sich eine Flasche Estola zur Aufmunterung und begleitete sie mit einer endlosen Reihe von Tapas, Ochsenmaul in Safran und Öl, die auf seinen Geist wie Vaseline wirkten. Eine tiefe Müdigkeit saß ihm in den Knochen und sank in seinem Körper immer tiefer, als strebe sie zum Erdmittelpunkt. Als er zum Hotel zurückkehrte, waren seine Füße schwer wie Blei. Die beiden Flaschen Estola und die fünf Ochsenmaultapas hatten in seinem Kopf und seinem Bauch ebenfalls 137
Bleigewichte verteilt. Er schloß die Zimmertür von innen ab und legte sich rücklings aufs Bett, tief überzeugt davon, eine neue Art des Selbstmordes entdeckt zu haben.
Man hatte ihm geraten, die Straße nach Hellín zu nehmen und dann rechts auf die Landstraße nach Elche de la Sierra abzubiegen. Die Mancha begleitete ihn beinahe schlafend, bis ihm der kleine Río Mundo hinter Elche de la Sierra die Täler zeigte, die sein Strom im Lauf der Jahrhunderte geformt hatte. Als er sich dem Ursprung des Flüßchens näherte, ließ eine zarte Sonne mit winterlicher Sparsam keit die lebhaften Kontraste der Berglandschaft noch klarer hervor treten, die ländliche Vegetation am davoneilenden Wasser, Wachol der, Pinien, Steineichen, Zistrosen und Rosmarin, aber auch die nackten, fleischigen Kronen der Nußbäume, die auf den Frühling warteten. An der Kreuzung bei Molinicos hielt er an. Dabei kam ihm der Gedanke, daß er in einem Hinterhalt landen könnte, ohne die Krümel ausgestreut zu haben, die dem Däumling den Weg nach Hause gezeigt hatten. Molinicos lag in einer Senke, in die eine Ne benstraße hinabführte, und er beschloß, ins Dorf zu fahren und sich bei der ersten Frau, die ihm begegnen würde, nach dem Bürgermei ster zu erkundigen. Die Frau meinte, der Bürgermeister wäre wohl nicht zu Hause, er reise in letzter Zeit oft in die Hauptstadt. «Nach Madrid?» «Doch nicht nach Madrid, Toledo ist die Hauptstadt!» Ohne Zweifel hatte sich die politische Geographie Spaniens verän dert, und Carvalho war nicht mehr auf dem laufenden. «Versuchen Sie es selbst. Der Bürgermeister wohnt im ersten Haus am Ortseingang. Es ist ein Neubau. Ich weiß nicht mehr, in welchem Stock, aber das wird man Ihnen schon sagen.» Carvalho, der Fremde, hielt vor dem Haus an, und sofort er schien eine junge Frau im Fenster, die wissen wollte, was er wollte. «Ich möchte zum Herrn Bürgermeister.» «Mein Mann ist nicht da, aber ich helfe Ihnen gern, wenn ich kann.» Die Bürgermeisterin sah sehr mediterran aus, sie hatte große Au gen und eine resolute Art zu reden. Ein Heizungsinstallateur war gerade in der Wohnung. 138
«In diesen neuen Häusern ist es nämlich so kalt, daß man es kaum aushält. Luis Miguel Rodríguez de Montiel sagten Sie? Mein Mann und ich sind ja nicht von hier. Wir haben in Valencia studiert, dort geheiratet, und eines Tages beschloß er, hierherzuziehen und ein altes Haus zu renovieren, das seiner Mutter in den Bergen gehörte. Ich kam mit. Als Franco starb, erwachten alle diese Dörfer hier aus einem politischen Tiefschlaf, und mein Mann und ich tragen dazu bei, daß die Leute bewußt werden und daß die ihre Macht abgeben, die hier schon immer das Sagen hatten.» «Gehören Sie zur PSOE?» «Ja. Hier werden keine feinen Unterschiede gemacht: entweder PSOE oder die andern. Jetzt erinnere ich mich an diesen Namen. Es ist eine Familie aus Albacete, aber ich dachte, dieses Haus sei nicht bewohnt. Es ist ein Herrenhaus, auch wenn es La Casica heißt, das Häuschen, genau an der Quelle des Río Mundo, hinter Calar del Mundo und vor der Sierra de Alcaraz.» «Sagt Ihnen der Name El Lebrijano etwas?» «Wer kennt ihn nicht! Der Kerl war ein Schläger im Dienst der Kaziken in den Bergen, und ein Spitzel. Mehr als einmal wurden Leute zusammengeschlagen, die er verpfiffen hatte. Sobald jemand rebellierte, egal um was es ging, verpfiff ihn El Lebrijano, sie gingen hin und machten ihn fertig.» «Heute haben sich die Dinge geändert.» «Sie haben sich geändert, und zum Guten. Diese Barbarei und die Angst der Nachkriegszeit gibt es nicht mehr.» Carvalho klagte, wie schwierig es für ihn sein würde, allein den Weg zur Quelle des Río Mundo zu finden. Die Bürgermeisterin bat ihn, zu warten, bis sie dem Heizungsmonteur Bescheid gesagt hätte, was er machen sollte, dann würde sie ihn gern begleiten, denn ihr Mann sei in der Hauptstadt als Mitglied der autonomen Regierung von Castilla-La Mancha. Eine halbe Stunde später saß sie in seinem Auto, und sie fuhren nach Riopar. Sie hieß Elena. Nein, nein, sie vermisse das Licht des Mittelmeeres nicht, obwohl es ihr nicht leicht gefallen sei, sich an das Leben im Binnenland zu gewöhnen, und an die Kälte in den Bergen, wo sie mit ihrem Mann zu Anfang gewohnt habe, in einem Haus, das sie noch renovierten und wo sie eines Tages für immer leben würden. Sie sah diese Berge nicht mehr als Vergangenheit und Gegenwart an, sondern als Zu kunft. 139
«Wissen Sie, was das bedeutet, daß hier in Molinicos jetzt Musik unterricht gegeben wird? Der Gemeinderat hat eine Lehrerin für die Kinder angestellt!» Von Riopar aus führte die Straße zur Sierra de Alcaraz, und plötzlich war die Abzweigung nach Los Chorros da, zur Quelle des Río Mundo. Dort, wo der asphaltierte Weg aufhörte, begann in der Kühle des Hochgebirges ein breiter Schotterweg, und Tannen säumten die erste flache Stelle des Flusses, wo man schon das Rau schen des Wasserfalls hörte. Nach einer Kurve tauchte plötzlich eine Steilwand auf, von der das Wasser in einem scharfen Strahl herab stürzte, das ein paar Kilometer weiter unten den Río Mundo bilden würde. «Warum heißt er Mundo, die Welt? Wissen Sie das?» «Nein.» «Fließt er ins Meer?» «Zunächst fließt er in den Stausee von Caramillas, an der Grenze zu Murcia, und dann muß er in den Segura münden, das ist ein großer Fluß.» Die Bürgermeisterin zeigte auf den Vorhang des Wasserfalls. «Hinter dem Wasser ist der Eingang zu einer Höhle. Man weiß, wo sie beginnt, aber nicht, wo sie endet. Vor Jahren stieg ein Franzose hinein und kam nie wieder heraus. Dabei haben mehrere Expeditio nen nach ihm gesucht und keine Spur von ihm gefunden. Auf dem Weg dort oben kommt man zu La Casica, Sie sehen es dann, ein paar Gitterstäbe und eine Kette, die den Durchgang versperrt. Sie müs sen das Auto hier stehen lassen. Soll ich Sie begleiten?» «Das ist nicht nötig. Der Besuch wird nicht lange dauern. Wenn ich länger als eine halbe Stunde wegbleiben sollte, drücken Sie mal auf die Hupe, dann habe ich eine gute Entschuldigung, um zu ge hen.» «Lassen Sie sich Zeit bei Ihrer Arbeit, ich habe keine Eile!» Während des Gehens konnte er nicht aufhören, das Wunder der Quelle zu bestaunen. Sie entsprang in einer Spalte zwischen den hohen Felsen, die diese paradiesische Szenerie mit dem Himmel verband; alles in den Dimensionen eines Landes, das weder Luft noch Raum besaß, um sich den Luxus von Victoria- oder auch nur Niagarafällen leisten zu können. Weiter oben war der Weg zu Ende: zwischen zwei Steinpfeilern hing eine eiserne Tür und ein lackiertes und abgeblättertes Metallschild mit der Aufschrift: 140
La Casica. Hinter der mit einem eingerosteten Vorhängeschloß schlecht gesicherten Tür überraschte ihn die in sich gekehrte Schön heit eines quadratischen Innenhofs, Zuflucht vor Hitze und grellem Licht für eine magische Vegetation aus Lorbeer, wilden Orangen und dem unvermeidlichen Nußbaum in seinem nackten Alter. Es war ein Kreuzgang, dessen vier Ecken auf steinernen Säulen mit korinthischen Kapitellen ruhten. Balken aus ewigem Holz bildeten den umlaufenden Balkon unter einem schartigen Ziegelvordach, eine Galerie, auf die sich breite, spitzbogige Türen eher schlossen als öffneten. Ab und zu eine vielverzweigte Glyzinienlaube und die Allmacht des Lichts im Gebirge, das die Augen zwang, die Dinge in ihren schärfsten Umrissen aufzunehmen. Außer dem Zauber des Ortes selbst gab es nichts, was Carvalho zögern ließ, in eine offene Seitentür einzutreten. Dort begann eine breite steinerne Treppe, die sich in den dunklen Höhen des Herrenhauses verlor. Carvalho räus perte sich und rief, was man in Büchern bei solchen Gelegenheiten zu rufen pflegt. Als er keine Antwort erhielt, stieg er mit bescheide ner Zurückhaltung die Stufen hinauf, damit ein möglicher Beob achter ihm das freche Eindringen verzeihen sollte, das er gar nicht vorgehabt hatte. Am Ende der Treppe sah er, als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, eine Diele mit gefliestem Bo den, eine trapezförmige, mit Nägeln beschlagene Truhe und einen bemalten Engel, dessen Farbe halb abgeblättert und halb zu Staub zerfallen war. Die Tür neben dem Engel führte zu einem Salon. In dem Kamin aus behauenem Stein brannten große Scheite, in der Mitte stand ein Tisch mit dunklen Stühlen, und im Gegenlicht vor einem Fenster, in dem man in der Ferne die Sierra de Alcaraz liegen sah, saßen zwei Männer und eine Frau. Die Frau war La Morocha, einer der Männer war der Animero mit der Gitarre, und der andere im Hintergrund, mit einer Flinte in den Händen, war ein kräftiger Bursche mit Wachhundgesicht, der von Carvalho zu dem Animero blickte, als warte er auf den Befehl zu schießen.
«Kommen Sie, mein Lieber, treten Sie näher! Fühlen Sie sich hier ganz wie zu Hause!» «Es sieht eher so aus, als ob Sie hier zu Hause wären.» «Darf man wissen, was Sie hier zu schnüffeln haben?» fauchte La 141
Morocha, und der Animero hielt sie am Arm fest, damit sie nicht auf Carvalho losging. «Also, ich bin hergekommen, um einen Freund zu besuchen, den Bürgermeister von Molinicos, und dann sagte ich mir, mal se hen, ob Don Luis Miguel nicht zu Hause ist. Die Bürgermeisterin hat mich begleitet, sie ist unten am Wasserfall und wartet auf mich.» Der Bursche und der Alte sahen einander an. Sie brauchten keine Worte. Der Junge stieß sich von der Wand ab, ging an Car valho vorbei und verließ das Zimmer. Der Alte strich sich mit einer Hand über das Gesicht und seufzte resigniert. «Mein Gott, dabei ist alles so einfach. Und wie kompliziert machen wir es uns manchmal! Sie machen sich selbst das Leben schwer und uns ande ren mit.» «Ich will nur eine Person sehen, und Sie setzen alle Hebel in Be wegung, damit das nicht geschieht.» «Wenn Sie doch Vernunft annehmen würden! Wenn Sie sagen würden, ‹Lebrijano, sehen Sie mal her, es geht um das und das›, und ich würde Ihnen antworten, ‹also gut, mein Lieber, das eine ja, das andere nicht, aber das und das auch›. Verstehen Sie mich?» «Hör auf, Papa, das ist ein ganz falscher Hund!» Das Wort Papa aus dem Mund von La Morocha, der Braunhäu tigen, verlieh El Lebrijano eine neue Dimension. Hinter Carvalhos Rücken war der Junge wieder hereingekommen, er keuchte noch vom Laufen, bevor er sagte: «Ja, da ist eine Frau, wo der Weg an fängt. Und ein Auto.» «Warum haben Sie sie nicht mitgebracht? Warum lassen Sie sie bei dieser Kälte draußen warten?» Carvalho zuckte die Achseln. Blanker Haß sprühte aus den schwarzen Augen von La Morocha, und der Animero ging im Kreis herum, als drehe er sich um sich selbst. «Don Luis Miguel ist hier. Ich will ihn sehen!» «Du kannst ihn nicht sehen, weil er nicht in meiner Fotze steckt», zischte La Morocha und legte sich dabei die Hand zwischen die Schenkel. Die braune Zartheit ihres Körpers stand in einem Kontrast zu der ordinären Stimme der wütenden Frau. «Wir wollen doch mal sehen, mein Lieber, ob Sie uns die Sache nicht erklären können, denn eigentlich könnte alles ganz einfach sein, ganz einfach. Was wollen Sie von Don Luis Miguel?» 142
«Er soll mir von seiner Frau erzählen.» «Von welcher Frau, du Kanaille? Von welcher Frau sprichst du? Von diesem widerlichen Weib, der ganz recht geschehen ist? War das seine Frau?» «Carmen, reg dich nicht so auf!» La Morocha hieß also Carmen, das notierte sich Carvalho im Geist als eine völlig überflüssige Hintergrundinformation. «Ich will nicht. Was bildet sich der Kerl eigentlich ein? Er glaubt, er kann hier einfach kommen und uns alle aufs Kreuz legen – das ist es, was er will. Hier gibt es keine Frau von Luis Miguel außer mir.» Der Animero trat vor und gab Carvalho ein Zeichen, ihm zu folgen. Die beiden Männer verließen das Zimmer, gefolgt von dem hysterischen Schimpfen der Frau, bei dem auf alle vier Wörter ein Kraftausdruck kam, der dem Fremden oder dem Leben im allge meinen galt. Nebenan war ein kleines Eßzimmer, dann kam die Küche, die man hinter einer Durchreiche mit Marmoranrichte ver muten konnte. «Unterhalten wir uns von Mann zu Mann!» Der Animero setzte sich rittlings auf einen Stuhl und nahm einen gebrauchten Zahnstocher aus der Brusttasche seiner Cordsamt jacke. Er ließ das Stöckchen zwischen seinen Lippen tanzen, wäh rend er über die Möglichkeiten der Situation und der Zukunft sprach. «Stellen Sie sich vor, Sie sehen Don Luis Miguel. Und dann? Was nützt Ihnen das? Was vergangen ist, ist vergangen, und es ist besser, nicht in der Scheiße herumzustochern. Die Polizei hat getan, was sie konnte, damals, vor ein paar Monaten, und die Dinge sind nun einmal so, wie sie sind. Eines schönen Tages werden sie den Mörder finden. Pech für ihn! Wer das Schwert nimmt, wird durch das Schwert umkommen, und wieder endet eine unselige Geschichte, die niemals hätte beginnen sollen. Die beiden führten eine unglück liche Ehe. Das arme Mädchen wurde mit der Zeit zu einem üblen Drachen, wahrscheinlich gegen ihren eigenen Willen, wer kann das wissen, jedenfalls machte sie dem Mann das Leben zur Hölle, mit dem sie lebte. Aber er war doch ein Lebemann, und das gefällt einer Jungverheirateten nun mal nicht! Gut, darüber kann man streiten. Aber daß sie ihn schließlich wie einen Hund behandelt hat, daran ist nicht zu rütteln, und daß es schließlich meine Tochter war, die sich um den Sterbenden kümmern mußte, das war nicht in Ordnung; 143
und sie hat es genossen, uns mit Worten zu beschmutzen, wenn wir ihr in die Quere kamen, besonders mich, und ohne jede Rück sicht auf das Kind … ja, ja, es gibt ein Kind mit allen Papieren, Gott ist mein Zeuge. Wußten Sie das nicht?» Der Alte holte seine Brieftasche aus der Hose, nahm das Gum miband ab, das sie zusammenhielt, und zog aus ihren Fächern das Foto eines Jungen heraus, der zur Erstkommunion wie ein Admiral gekleidet war. «Mein Luisito ist der Sohn meiner Tochter, mein Enkel. Er ist das Kind von meiner Tochter und Don Luis Miguel. Sie sehen, ich bin ganz offen zu Ihnen. Von Mann zu Mann werden wir uns doch einig!» Es war ein dunkelhäutiger Junge mit traurigen Augen. Er hatte etwas von der Schönheit seiner Mutter. «Wir hatten den Ärmsten in Hellín untergebracht, denn in Albacete wäre die Geschichte in aller Munde gewesen, und mein kleiner Engel hätte vor Scham nicht den Kopf heben können. Sie sehen, mein Lieber, so ist das Leben. Ich in meinem Alter würde mich umbringen lassen und selbst zum Mörder werden, nur um diesem kleinen Engel seine Zukunft zu sichern, denn er trägt keine Schuld daran, daß seine Mutter ist, was sie ist, und daß sein Vater in dem Zustand ist, in dem er sich befindet. Ich werde alles beseiti gen, was diesem Kind ein normales Leben verwehrt, jetzt, wo es keine legalen Hindernisse mehr gibt. Ich muß Ihnen mitteilen, daß der junge Herr Luis Miguel und meine Tochter kurz vor der Hochzeit stehen, eine schnelle Zeremonie nur vor den Augen Got tes. Ein Vetter von mir wird sie trauen, er ist ein Äsculapiuspater aus Albacete.» «Und der junge Herr Luis Miguel, wie Sie ihn nennen, weiß er, daß seine Braut weiterhin in El Corral arbeitet?» «Der Schein muß gewahrt werden, bis alles geregelt ist. Die Hochzeit muß überraschend kommen, ohne daß irgendein Mit glied der Familie Wind davon bekommt, vor allem seine Brüder nicht, denn sie sind hauptsächlich betroffen.» «Wie haben Sie es erfahren, daß die alte Dame mir erzählt hat, wo ihr Sohn steckt?» «Wir mußten jeden Ihrer Schritte überwachen, und in El Bonillo genügten ein paar Ohrfeigen, daß der Verwalter sang, sobald Sie weg waren. Der mit der Flinte ist mein Sohn, der Einbeinige 144
von der Lodares-Passage mein Bruder, und die beiden anderen, die noch dabei waren, sind meine Neffen.» «Sie haben ein richtiges Familienunternehmen gegründet!» «In unserer Familie war das immer so. Einer für alle und alle für einen!» «Und das Geschäft besteht darin, den jungen Herrn vor den Traualtar zu bringen.» «Ein großes Geschäft ist es nicht mehr, denn er hat nicht mehr viel, aber das wenige, was er noch hat, wird in guten Händen und mit fleißigen Leuten wie uns wieder aufblühen. Das Wichtigste ist das Kind. Es hat mir den Schlaf geraubt, seit es vor zehn Jahren zur Welt kam. Als die Señora starb, sie ruhe in Frieden, denn ich habe ihr schon mehr als einmal Böses gewünscht, aber Gott ist mein Zeuge, und ich will auf der Stelle tot umfallen, wenn ich lüge, ich habe niemals auch nur einen Finger krumm gemacht, um ihr etwas anzutun. Also, es war die Vorsehung, die ihren Weg kreuzte und für Gerechtigkeit gesorgt hat.» Der Alte kreuzte zwei Finger und küßte sie, als seien sie das Kreuz Christi. «Was wissen Sie über den Mord an Encarna?» «Nur das, was in der Zeitung stand, es war ja dank der Familie hier in der Provinz nur wenig, und das, was die Leute erzählten. Aber es war schon seit einiger Zeit abzusehen, daß es mit ihr ein schlimmes Ende nehmen würde, denn es war nicht normal, wie oft sie nach Barcelona fuhr. Es ist hier in der Gegend schon bekannt, daß es in Barcelona gute Ärzte gibt, aber sie hatte alle drei Monate irgendein Wehwehchen, und auf ging’s nach Barcelona, mal waren es die Eierstöcke, mal die Nieren, mal die Leber, und Reisen über Reisen und Rechnungen über Rechnungen! Wir haben nämlich alles aufgelistet, und ich habe mir selbst die Buchführung angesehen, um zu retten, was noch zu retten ist.» «Gibt es Rechnungen, die diese Reisen belegen?» «Es gibt sie.» «Dann kann das mit den Krankheiten also stimmen?» «Ihre Leber war etwas empfindlich, und sie war an irgend etwas operiert worden, aber als die Polizei nachforschte, sagten diese Doktoren aus Barcelona, sie hätten nichts Ernstes gefunden, sie hielten sie für die klassische Hysterikerin, die sich Krankheiten ein bildet. Aber das eine stimmt, sie fuhr alle drei Monate von Albacete 145
nach Barcelona, als ob ihre Krankheiten regelmäßig gekommen wären, als ob sie alle drei Monate ihre Regel bekommen hätte.» «Und was sagte der Mann dazu?» «Anfangs war es ihm egal, weil er sich freier fühlte, denn diese Besuche in Barcelona dauerten gut und gern vierzehn Tage, und das ist noch ein Grund, erklären Sie mir mal, wieso jemand zum Arzt fährt und dann vierzehn Tage in einer Stadt bleibt, in der er nicht zu Hause ist?» Und wo sie nicht einmal ihre Verwandten besucht hat, dachte Carvalho, nicht einmal ihre Schwester. Sie war nur bei der Beerdi gung ihrer Mutter und trat auf wie eine reiche Ausländerin, wie eine Reisende aus dem Land des Chics und des Reichtums. «Es war ihm egal, denn auf diese Weise konnte er in der Zwi schenzeit seinen eigenen Interessen nachgehen. Aber dann änderte sich das alles, und sie behandelte ihn wie ein Stück Dreck.» «Warum änderte sich alles?» Der Alte grinste in sich hinein, und sein stummer Zynismus konnte Carvalho gelten, ihm selbst oder vielleicht etwas anderem, das noch nicht erwähnt worden war, etwas, das er bis zum richtigen Zeitpunkt zurückhielt, und in seinen ironisch funkelnden Augen sah man die Überlegung, ob nun dieser Zeitpunkt gekommen war oder nicht. «Kommen Sie mit!» Es war die Einleitung eines Abgangs, aber nicht das Ende einer effektvollen Szene, sondern der Auftakt zu einer neuen. Carvalho folgte dem Alten aus dem Zimmer, sie gingen über die Galerie des Innenhofes, und der Führer stieß ein wuchtiges Portal auf, hinter dem ein Schlafzimmer im Halbdunkel lag. In der Mitte eines hohes Bettes mit doppelter Matratze lag unter den Decken ein langer dün ner Körper, zu dem ein violettes, bärtiges Gesicht gehörte, das auf den Kissen ruhte. «Lieber Herr Luis Miguel, ich bin’s, El Lebrijano und hier bringe ich Ihnen einen Freund, der Sie begrüßen möchte.»
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Der Aufgebahrte schien die Worte des Alten nicht zu hören, der mit leiser Stimme und halb versteckten Gesten Carvalho aufforderte, ans Bett zu treten. Er zeigte ihm den Halbtoten in seiner ganzen Länge. «Da haben Sie ihn! Er ist seit langer Zeit krank, nicht wahr, Don Luis Miguel? Es ist seit Monaten so und wird immer schlimmer. Vor drei Jahren fing es an. Es sind die Knochen.» Also die Knochen. Anstelle von Augen hatte er nur noch Joch beine, die Augäpfel waren in dunklen Tiefen versunken und zeigten die Verwirrung eines Mannes, der dazu verdammt ist, dauernd die Decke anzustarren. «Er kann aufstehen und aufbleiben, seine Kraft reicht für eine Stunde, viel mehr nicht. Dann hat er überall Schmerzen und fällt um. Wenn meine Tochter da ist, kümmert sie sich um ihn, sonst tun es meine Schwiegertöchter. Er will unbedingt seine Mutter besu chen, manchmal schreibt er ihr, aber nur wenig, weil ihn alles an strengt, sogar das Essen, und ein Arm ist wie leblos, der linke – ich weiß nicht, ob er keine Stimme mehr hat, um sich zu beklagen, oder was sonst los ist, sehen Sie selbst!» Der Alte nahm den Zahnstocher aus dem Mund und piekte damit den linken Arm des Kranken, der keinerlei Reaktion zeigte. «Haben Sie so etwas schon einmal gesehen? Hier versuchen Sie es selbst mal!» Damit hielt ihm der Alte den Zahnstocher hin und steckte ihn, als er ihn nicht nahm, wieder zwischen die Lippen, wo er im geheimen Rhythmus der Gedanken des Animeros weitertanzte. «Welch ein Wunder ist der menschliche Körper: manch einer fällt aus dem siebenten Stockwerk und ist frisch und munter, mancher andere kann nicht mal einen Furz lassen, ohne sich etwas dabei zu brechen.» Der Kopf des Skeletts bewegte sich, als wolle er den Ursprung der Geräusche erkunden, die in sein Schattenreich eindrangen. «Ich bin’s, lieber Don Luis Miguel, El Lebrijano. Soll ich La Morocha holen? Sie ist aus Albacete gekommen, um nach Ihnen zu sehen.» Der Kopf besaß noch Kraft genug, um sich zwischen die Schul terblätter zurückzuziehen – oder hatten sich die Schultern gehoben, um die Geste der Gleichgültigkeit zu unterstützen, die der Kopf machen wollte? 147
«Was wollen Sie, junger Herr? Ihr Wunsch ist mir Befehl.» Der Alte brachte sein Ohr ganz nahe an die Lippen des Kranken und richtete sich dann kopfschüttelnd wieder auf. «Sehen Sie denn nicht ein, daß das für die Ärmste unangenehm wäre? Das ist etwas für später, wenn es Ihnen besser geht. Nach der Hochzeit gehen wir und besuchen die Señora, und Sie werden se hen, wie sie sich freut!» Er wandte sich zu Carvalho und fuhr fort; «Er will nämlich unbedingt seine Mutter besuchen, der Ärmste. Da sehen Sie, wie wir sind und was wir sind. Wenn wir nackt vor unserem Schicksal stehen, denken wir an unsere Mutter. Wenn ich in den Zeitungen etwas davon lese, daß Kinder in der Retorte großgezogen werden, wie in Barcelona, also, das stand vor kurzem in der Zeitung, und einen von diesen Ärzten hatte die Señora auch aufgesucht, wie die Rechnung bestätigt, also, kurz und gut, diese Retortenbabies, rufen die auch nach ihrer Mutter, wenn sie in Not sind?» Er ließ Carvalho keine Zeit, um nachzudenken oder eine Ant wort zu geben. Zu dem Kranken gewandt sagte er: «Wir gehen jetzt, aber gleich kommt La Morocha, und dann geht es Ihnen wie der viel besser!» Dann ging er entschlossen zur Tür, so daß Carvalho nichts ande res übrigblieb, als ihm zu folgen. Draußen auf dem Korridor nahm er ihn am Arm und zwang ihn, ihm ins Gesicht zu sehen. «Ist er seit Monaten an dieses Bett gefesselt?» «Zuerst war er in Albacete, aber nachdem er in Barcelona gewe sen war und seine Frau identifiziert hatte, holten wir ihn uns hier her. Seitdem geht es immer mehr bergab mit ihm.» «Und die Familie weiß nichts davon?» «Anfangs sorgte er selbst dafür, solange er noch konnte, daß niemand etwas bemerkte, und jetzt sind wir es. Wir lassen unsere Beute nicht los. Die Familie würde sich nur einmischen und Ärger machen.» «Wollen Sie ihn im Bett trauen lassen?» «Ab und zu kann er aufstehen. Er bekommt eine Spritze, die uns der Arzt gegeben hat, dann steht er auf und bewegt sich sogar ein wenig. Aber nicht lange.» Dem Alten gefiel es gar nicht, was in Carvalhos Augen zu lesen war. «Was tun wir denn Schlechtes? Der junge Herr hat kein Jahr mehr 148
zu leben, das liegt auf der Hand, und wenn wir es nicht so arrangie ren, hinterläßt er eine Waise, die am Hungertuch nagt und ein Huren sohn ist, klare Sache, sie ist meine Tochter, aber sie ist nun mal, was sie ist. Mein Antonio, mein Sohn, ist arbeitslos, und hier gibt es Arbeit für alle, einen Platz für meine Tochter und eine Zukunft für meinen Enkel. Wen schädigen wir denn? Ich bin überall herumge kommen und habe den Clown aus den Bergen dargestellt und Gi tarre für ein paar Gutsbesitzer aus Albacete gespielt. In meinem Alter habe ich Ruhe verdient, und hier fühle ich mich wohl. Dieses Haus gehört mir mehr als dem da!» Der da war der Todkranke, den sie gerade verlassen hatten. In dem Zimmer ihrer ersten Begegnung hatte sich La Morocha anscheinend beruhigt und blickte erst auf, als die Bürgermeisterin wie verabredet die Hupe drückte. «Das ist für mich. Ich muß gehen, meine Begleiterin erinnert mich daran.» «Und?» La Morocha wollte das Urteil des Alten hören. «Dieser Herr ist ein Caballero und hat vollstes Verständnis für uns.» «Wer könnte etwas darüber wissen, was Encarna hinter dem Rükken ihres Mannes tat oder nicht tat? Hatte sie eine gute Freundin hier in Albacete? Jemand, dem sie sich anvertrauen konnte?» «Nein, sie wurde nie richtig akzeptiert, und obwohl die besseren Familien von Albacete wie Pech und Schwefel zusammenhalten, also sich untereinander besuchen, miteinander reden und nur mit ihresgleichen verkehren, und obwohl sie so lange hier gelebt hatte, war sie immer eine Außenseiterin. Mit der Zeit hatte sie zwar ge lernt, Empfänge zu geben und mit den Señoras Schokolade zu trin ken, aber mehr auch nicht. Im Grunde war sie das schüchterne Mäd chen geblieben, das sich der junge Herr aus einem Dorf bei Murcia mitgebracht hatte, ich glaube, aus Mazarrón oder Cartagena.» «Aus Águilas», verkündete La Morocha in einem Tonfall, der zeigte, daß Ihr kein einziges Detail des Feindes entgangen war. «Und in Águilas?» «Sie schrieb sich mit einer Paca, die immer noch dort wohnt.» «Haben Sie die Adresse? Irgendeinen Briefumschlag?» «Nein, ich habe alles weggeworfen. Ihre Wäsche, ihre Briefe, ihre Bilder, alles, was ich finden konnte.» 149
«Das war ein großer Fehler, Carmencita. Du siehst ja, es hätte diesem Senor hier von Nutzen sein können. Ich habe es tausendmal zu dir gesagt, euch beiden habe ich es von klein auf gepredigt, daß man zweimal überlegt, bevor man etwas wegwirft. Schon morgen kann dir fehlen, was du heute weggeworfen hast! Die Vorsicht lehrt einen das Leben, da kann man sagen, was man will. Sie sehen, lieber Freund, was wir sind. Man kann anderen Menschen seine Erfah rungen einbläuen, bis sie ihnen zu den Ohren herauskommen, und doch wird jeder nur aus dem eigenen Schaden klug!» «Der Typ rennt jetzt sofort zur Señora und holt sich die Erlaubnis für seine Geschichte ab.» «Quatsch, er rennt nicht zur Señora, außerdem ist ja fast schon alles perfekt. Übermorgen ist die Hochzeit, mein Freund. Wenn Sie hierbleiben und mit uns feiern wollen, sind Sie herzlich eingela den!» «Von welchem Fest redest du da, Vater?» «Von dem, das wir im Familienkreis feiern werden. Wir haben ein wenig Fröhlichkeit verdient!» Der Alte begleitete den Gast hinaus, vorbei an dem schießwüti gen Sohn, der den Fremden nicht nach seinem Geschmack verab schieden konnte. Das verhinderte die Autorität des Vaters. Sie tra ten auf den Innenhof hinaus, über dessen harmonische Schönheit sich in Carvalhos Augen der Schmutz dieser Geschichte gelegt hatte. Der Alte war guter Dinge und sang vor sich hin. Sie überquerten sieben Sierras, einen Fluß und einen Berg, und fanden das Lamm, schon mit durchschnittener Kehle. Das brachten sie ihrem Herrn zum Osterfest. Dabei waren die Augen des Alten starr auf einen Punkt jenseits der Gipfel der Sierra gerichtet. «Es ist eine alte Romanze aus der Sierra de Alcaraz, und mit Ihnen ist es ganz ähnlich: Man muß das Lamm holen, solange es noch lebt, nicht, wenn es schon geschlachtet ist! Die Toten in die Grube und den Lebendigen den Kuchen!» Carvalho drehte sich nicht um, um sich vom Chef dieses Clans von Leichenfledderern zu verabschieden. 150
Vielleicht war es ja der Mühe wert, die Zukunft eines zehnjähri gen Hurensohnes zu sichern, dachte er, als die Bürgermeisterin auftauchte. Sie rieb sich neben dem Auto die Hände und ging auf und ab, um nicht zu einem Eiszapfen zu erstarren. Carvalho entschuldigte sich für die Verspätung, sagte zur Erklärung etwas über den schlechten Gesundheitszustands des Hausherrn und erzählte ihr von seiner bevorstehenden Hochzeit mit der Tochter des Animeros. «Das hat dieser alte Gauner gut eingefädelt. Früher war er eine feste Institution für eine Handvoll Kaziken, heute kann ihn keiner mehr ausstehen. Das mit den Animeros war ja etwas Spontanes, etwas aus dem Volk, wie die Musikkapellen in meiner Heimat. Der Alte wurde im Grunde immer als Fremder betrachtet, er machte sich unentbehrlich, indem er die elende Feigheit der andern aus nützte.» Die Bürgermeisterin war bestimmt nicht die beste Freundin des Alten. «Und dabei läßt er sich in Molinicos nicht blicken. Aber man hat von ihm gehört. Und Sie, was haben Sie vor? Wenn Sie bleiben, sind Sie herzlich zum Essen eingeladen.» Ja, was hatte er vor? «Gibt es eine gute Straße von Elche de la Sierra nach Murcia?» «Es gibt eine Straße bis Caravaca und von dort nach Lorca. Wie es dann weitergeht, weiß ich nicht, weil ich kaum aus diesen Bergen herauskomme. Manchmal denke ich: ‹Du hast schon ein komisches Leben, da gehst du aus Valencia in die Berge von Albacete und hast noch kaum ein paar Straßen gesehen, in deinem Alter!›» Sie hatte noch kein Alter, die Bürgermeisterin, die mit Begeiste rung erzählte, was sie und ihr Mann unternahmen, um diesen Win kel aus dem Schlaf zu wecken, in dem er seit Jahrhunderten unter dem Franquismus dahingedämmert hatte. «Den Franquismus hat es hier schon jahrhundertelang gegeben, bevor Franco an die Macht kam!» «Der Franquismus ist fast so alt wie Spanien selbst», pflichtete ihr Carvalho bei, angesteckt von dem politischen Enthusiasmus der Frau Bürgermeisterin.
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Jahre später waren sie zurückgekommen, nachdem ihre Mutter verwitwet war, und Ginés hatte sie zum erstenmal auf der Glorieta gesehen, einer kleinen Plaza. Sie stand vor dem Eiscafé Sirvent mit einem Vanilleeis zwischen ihren Negerlippen und einem jungen, gutgebauten Körper unter dem ausgeschnittenen, ärmellosen Kleid mit dem Cancanrock, aus dem ihre braunen, runden Tänzerinnen beine hervorschauten. «Mein Vetter Ginés ist Seemann», sagte die dumme Paca zu ihr, sie lachte und zeigte ein Gebiß, das er nie vergessen würde. Es waren die schönsten Zähne, die er je gesehen hatte. Sie paßten wunderbar zu dem leuchtenden Weiß ihrer Man delaugen. Sie konnte einem nicht direkt in die Augen sehen, ihr Blick wich nach rechts und nach links aus, wenn sie den Blicken der dicken älteren Herren mit den flachen Strohhüten begegnete, die auf Korbstühlen unter den Palmen der Glorieta saßen, oder den Blicken der Jungen, die hier die Sommerferien verbrachten, ihre ersten Nylonhemden zu weißen oder gestreiften Hosen trugen und dazu zweifarbige Schuhe, weiß und braun oder schwarz und weiß. «Seemann? Sind Sie beim Militär?» «Ich studiere Nautik.» «Oh, Sie studieren Nautik!» Das Wort Nautik klang aus ihrem Mund wie etwas grotesk Exo tisches, ihre Augen glänzten dabei spöttisch und doch beeindruckt von dem Jungen, der da vor ihr stand, Paquitas Vetter, ‹diesem Langweiler›, wie ihn Paquita genannt hatte. «Aber er ist gar nicht so langweilig, wie du gesagt hast!» Paquita drückte ihre Entrüstung durch einen angedeuteten Klaps aus. Sie erbot sich, sie zum Hafen zu begleiten, und unterwegs ver abredeten sie, ins Freilichtkino in der Stierkampfarena zu gehen und sich ‹Die fünftausend Finger des Doktor T.› anzusehen. «Der ist bestimmt langweilig.» «Ein Kind spielt mit!» verteidigte ihn Paquita, und es war allge mein bekannt, daß sie für Kinder schwärmte und selbst mindestens sechs haben wollte. Die Paare gingen in gebotenem Abstand auf den Straßen spazie ren, die Hände auf den Rücken gelegt und ohne andere Erotik als die des Sprechens und des Geruchs der Algen, der vom Meer her kam. «Und wozu ist die Nautik gut?» fragte sie ihn, als sie zum ersten mal ungestört waren. Paquita war zurückgeblieben, denn sie hatte 152
Tante Dolores getroffen und beide hatten sich vergnügt Küßchen gege ben, um sich dann eifrig daranzumachen, die gesamte Verwandt schaft durchzuhecheln – wer was getan hatte, wer noch lebte, wer emigriert war etc. «Ich will Kapitän werden.» «Kapitän? Auf einem Kriegsschiff?» «Nein, bei der Handelsmarine.» «Jetzt ist doch irgendwo Krieg, nicht?» «Ja, in Ägypten. Die Franzosen und die Engländer sind dort ge landet.» «Ist es bei der Kriegsmarine nicht besser?» «So viele Kriege gibt es nun auch wieder nicht.» «Das stimmt.» Es interessierte sie gar nicht, ob das mit den Kriegen stimmte oder nicht. Was sie interessierte, war Ginés’ Verwirrung, in die er durch ihre bloße Anwesenheit geriet, oder wenn ihn ein Hauch ih rer Wärme streifte, wenn sich ihre Körper einander näherten, die sich in einem ziellosen, trägen Schlendern wiegten. Sie hatten kein anderes erkennbares Ziel als die letzten Häuser am Strand und das Eukalyptuswäldchen, das genauso verrostet wirkte wie die Eisen hütten am Bahnhof. Sie kamen aber nicht einmal bis dorthin, wo die Bäume begannen. Encarna machte kehrt mit dem plötzlichen Ernst einer Jungfrau, die nichts für Bäume übrig hat und ihrem Begleiter die verborgene Tugendhaftigkeit ihrer Absichten zu ver stehen geben will. Ginés schloß die Augen und gab damit sein Ein verständnis zu der ganzen Schwere des Ungesagten, dem Gelübde der Reinheit, das in der einfachen Tatsache lag, daß sie einem lich ten, aber einsamen Wald den Rücken gekehrt hatte. «Kommst du ins Kino?» «Das ist doch was für Kinder.» «Was kann man abends schon anfangen? Ich gehe mit meiner Mutter zum Tanz, aber ich bleibe nicht sehr lange. Morgen um sechs muß ich in der Fabrik sein.» Die Klappstühle des improvisierten Freiluftkinos in der Stier kampfarena von Águilas bohrten sich in die Körper in proportiona lem Verhältnis zu der Langeweile bei diesem «blöden, saublöden» Film, wie das Publikum unter Gähnen und Kopfschütteln kom mentierte. Encarna hatte gegen die Nachtkühle eine blaue Strick jacke übergezogen und wirkte noch zerbrechlicher, angekuschelt an 153
ihre dösende Mutter. Neben ihr auf der anderen Seite saß Paquita, die nette Witzchen über die Langatmigkeit des Films machte. Es erregte Ginés, unauffällig die warme, nächtliche Silhouette Encarnas zu betrachten, die in der kühlen Nachtluft und in der Geborgenheit bei ihrer Mutter besonders zart wirkte. Trotz der relativen Helligkeit der sternklaren Nacht ging von ihrem Körper ein besonderes Licht aus, als sei sie das einzige lebende Wesen weit und breit. Er ging sofort zu ihr, als die drei Frauen aufstanden, und Paqui schenkte ihrem Cousin einen vielsagenden Blick, der ebenso gleichgültig wie abwesend erwidert wurde. Er war aufgestanden, um Encarnas Nähe keine Sekunde lang zu missen, und drängelte sich am Ausgang vor, um sie zum Tanz einzuladen. Encarnas Mut ter lehnte dreimal ab, bevor sie annahm, ganz wie es das Protokoll der Wohlerzogenheit vorschrieb. Unter dem Sonnendach trumpfte ein kleines Orchester mit den Erfolgen des Sommers auf, obwohl die Stimme des heruntergekommenen Sängers eine Katastrophe war und sein Adamsapfel sich lockerer bewegte als die Rumbaku geln in seinen Händen. La Niña de Puerto Rico, für wen seufzt sie so sehr? Es scheint, daß sie mich küßt, wenn sie mich ansieht. Es gab japanische Laternen aus buntem Papier und Glühbirnen in verschiedenen häßlichen Farben. Trotz allem leuchteten sie und be saßen die Macht der Verzauberung über den abgeschabten Tischen und den unvermeidlichen Klappstühlen. Sie waren zu hölzernen Logen zusammengestellt, von wo aus die Familien von Águilas wie kritische Polypen die Tanzfläche überwachten. Sie tratschten über die Bewegungen, Kleidung oder Herkunft der Tänzer, und ob sie die Tochter von dem oder er der Sohn von jenem sei usw., und mittendrin wiegte sich die dunkelhäutige, blühende Encarna in den Hüften, umkreist von Ginés, dem Langweiler, dem Sohn des Schiffszimmermanns. «Schiffszimmermann? Wo denn?» – «Aber ja doch, Frau, Schiffszimmermann in Cartagena, wo sollte er denn hier arbeiten?» – «Und seine Frau?» – «Die ist hiergeblie ben, es war schon lange her, daß die beiden nicht mehr miteinan der… und da hat er sich aus dem Staub gemacht.» Mit dem ‹er› 154
verwandelte sich der Oberkörper in eine ansteigende Kurve, bei der die Köpfe dem Hals zu entfliehen versuchen, um mimisch den Höhenflug der Geschichte einer gescheiterten Ehe darzustellen. Als dann die Bierfaßpolka dröhnte, nutzte Ginés das Getümmel auf der Tanzfläche, um ein mögliches Treffen am nächsten Tag vorzuschlagen. Während der «Niña de Puerto Rico» hatte er das nicht gewagt, es war ihm schon beim einfachen Zuhören zu traurig erschienen. «Ich arbeite.» «Bis wann?» «Bis um sechs.» «Wir könnten schwimmen gehen.» «Am Dorfstrand? Willst du, daß wir ins Gerede kommen?» «Bei El Hornillo oder beim Grünen Häuschen.» «Das ist zu weit, meine Mutter läßt mich nicht alleine gehen.» «Dann soll Paqui mitkommen.» «Mit der lassen sie mich nur ins Dorf, aber so weit weg nicht.» Er brachte sie bis zu ihrem Haus auf der Cañería Alta, und, kaum an der Haustür, drängte sich Encarnas Mutter auch schon mit einem schneidenden ‹Gute Nacht› zwischen ihre Tochter und ihn, so schneidend wie Encarnas nachmittägliche Kehrtwendung vor dem Wäldchen. Er wartete, bis sich die schwere Tür über seinem Traum geschlossen hatte, und ging dann die Straße hinunter zur Puerta de Lorca. Gegenüber der Konservenfabrik, in der Encarna arbeitete, suchte er sich eine Ecke aus, die für ihn monatelang ein Ort täglicher be klemmender Erwartung werden sollte und im Lauf der Jahre zu einer Erinnerung wurde, die ihm auf den Leib geschrieben war, als sei es gar keine Erinnerung, sondern als warte er immer noch in jener Ecke, ganz egal, an welchen Ort der Welt ihn Wind und Schiffe gebracht hatten. «Encarna», flüsterte er und wischte sich mit einer Hand mögliche Tränen aus den Augen. Von jener Ecke aus hatte er auch Luis Mi guel Rodríguez de Montiel zum erstenmal gesehen, der mit einem Biscuter auf Encarna wartete, der wie ein Aluminiumpantoffel aus sah. In jener Nacht hatte er sich mit einem Vetter verabredet, einem Eisenbahner, der in der Mannschaft von Cartagena als Mittelstür mer spielte, und mit zwei Nachbarn, die vom Militär Urlaub hat155
ten, hoben sie den Biscuter dieses feinen Pinkels hoch und ließen ihn außerhalb der Ortschaft eine steile Böschung hinuntersausen. Am nächsten Tag kamen zwei Zivilgardisten und holten ihn von zu Hause ab. Auf der Wache bekam er Schläge für das, was er angestellt hatte. «Und noch ein paar, damit du es nicht noch mal tust!» Es klopfte an der Tür seiner Kabine, und die Stimme von Basora dröhnte: «Alles klar zum Gefecht! Piraten von Backbord und Hur rikan von Steuerbord! Die Kriegerwitwen zuerst und dann die Ab geordneten der ‹Alianza Popular›!»
Er kontrollierte Barometer und Windmesser. Wind aus Nordost mit Stärke sieben. Dann griff er zum Telefon und teilte es Tourón mit, wie er es gewünscht hatte. «Wovon sprechen Sie?» «Von der mittleren Windgeschwindigkeit.» «Ich habe Ihnen doch schon immer gesagt, Sie sollten auf eine korrekte Ausdrucksweise achten! Auf dem Meer heißt das Turbu lenzfaktor. Wiederholen Sie das, Ginés!» Ginés wiederholte: «Turbulenzfaktor.» «Außerdem, schwere See. Windstärke sieben, schwere See. Be stätigen Sie das!» «Bestätigt!» «Der Wind wird Stärke neun erreichen, es wird Sturzseen geben. Wenn nicht jetzt, dann später. Wir werden tanzen! Ende.» Nichts sprach für einen ernsthaften Alarm, aber die Besatzung war auf dem Schiff verteilt, als sei ein Hurrikan im Anzug. Germán überprüfte die Verzurrung der Ladung im Schiffsbauch und die Si cherheit der Luken. Ginés kümmerte sich um die Vertauung der Rettungsbote und kontrollierte die Speigatten, damit das Wasser rasch abfließen konnte, falls Brecher das Deck überschwemmen würden. Jeder einzelne der Verantwortlichen erstattete beim Kapi tän Meldung, der wegen der Vorhersage dieses Tages außer sich war. Im Lauf des Abends bäumte sich das Meer auf, stärker als die Männer erwartet hatten. Die Maschinen liefen mit halber Kraft, und als nach Stunden die Dunkelheit einbrach, hatten sie immer noch schwere See. Die Situation war aber so gut unter Kontrolle, 156
daß Tourón sie auf ein Glas in seine Kajüte einlud. Er war ent spannt, wie befreit von einer Nervosität, die er selbst geschürt hatte, und warf mit jovialen Bemerkungen um sich, was auch die ältesten Besatzungsmitglieder noch nie erlebt hatten. Selbst Basora war verblüfft, wieviel Charme der Kapitän entfalten konnte. Man hätte ihn plötzlich für einen ganz anderen Kapitän halten können, vielleicht eine legendäre Figur aus einem Seefahrerroman. Basora rechnete fest damit, daß der Kapitän plötzlich ein Holzbein bekom men und zwischen seinen Händen ein Schifferklavier auftauchen lassen würde, während aus seinem Mund ein altes Lied von Piraten, Papageien und Fässern voll Rum erklang. Die Kommentare, die er Martín, Ginés oder Germán zuflüsterte, störten allerdings den gu ten Willen der Offiziere, mit dem sie die Veränderung des Kapitäns aufnahmen. «Rosa de Alejandría, was für ein schöner Name für ein Schiff! Ich hatte Gelegenheit, die Reeder nach dem Grund dieses Namens zu fragen, und sie antworteten ganz ehrlich, jawohl, offen und ehrlich. Der eine wollte es zu Ehren seiner Mutter Rosa nennen, und der andere Alexandria, weil ihm der Name dieser Stadt gefiel. Irgend jemand hatte sich dann daran erinnert, daß es eine Rose von Alexan dria gibt, und schon war der Name fertig. Manchmal vermitteln uns die banalsten Dinge die geheimnisvolle Logik des Schicksals, verstehen Sie? Vor allem Sie, Ginés, Sie sind doch verliebt! Ich glaube nicht, daß ich hier ein Geheimnis ausplaudere, und wenn doch, so bitte ich Sie, mir zu verzeihen, und die übrigen, so zu tun, als hätte ich nichts gesagt.» «Warum soll gerade ich den Sinn unseres Schiffnamens verste hen?» «Die Rose symbolisiert die Frau als Ideal der romantischen und platonischen Liebe, denn sie verkörpert die Idee der Vollkommen heit. Ich habe ein wenig darüber nachgelesen, sie wird das mysti sche Zentrum genannt, als Metapher für das Herz gebraucht, für die geliebte Frau, sie ist das Dantesche Paradies und das Emblem der Venus. Auch ihre Farben haben symbolische Bedeutung, ebenso die Anzahl ihrer Blütenblätter. Die weiße und die rote Rose sind Gegensätze. Die blaue Rose ist das Symbol des Unmöglichen, die goldene Rose das des Absoluten. Die mit sieben Blütenblättern gehört ihrer Bedeutung nach zur Sieben als kabbalistische Zahl: die sieben Dimensionen des Raumes, die sieben Tage der Woche, die 157
sieben Planeten und die sieben Stufen der Vervollkommnung. Aber vielleicht interessieren Sie sich mehr für die symbolische Verwen dung der Rose im Mythos von der Schönen und der Bestie. Eine schöne Parabel über das Unbefriedigtsein der Frau. Aber vielleicht interessiert Sie die Geschichte gar nicht.» «Ginés interessiert sich dafür. Er muß wissen, wer die Schöne und wer die Bestie ist», meinte Basora. «Interessiert es Sie wirklich?» «Ja.» «Also gut, dann mal los. Ein Vater hatte vier Töchter, und die jüngste von ihnen war die schönste, die beste und sein Liebling. Der gute Mann wollte ihr etwas schenken, und sie nannte ihm einen scheinbar leicht zu erfüllenden Wunsch: eine weiße Rose. Aber die weiße Rose wuchs im Garten der Bestie, und als der Vater sie raubte, zog er sich den Zorn des Ungeheuers zu, das drohte, ihn zu töten, wenn er die Rose nicht innerhalb von drei Monaten zurück geben würde. Diese Drohung machte den alten Mann krank. Aber die Tochter opferte sich auf und ging zum Schloß des Ungeheuers. Dieses verliebte sich in sie, und als die junge Frau eines Tages zu ihrem Vater zurückkehrte, da er sehr krank war, fühlte sich das Ungeheuer dem Tode nahe, denn es konnte ohne die Liebe der Schönen nicht mehr leben. Die Jungfrau kehrte zu ihm zurück, pflegte die Bestie und verliebte sich schließlich in sie. Auch sie konnte ohne das Ungeheuer nicht mehr leben und gestand ihm ihre Liebe. Sobald sie die Worte ausgesprochen hatte, gab es eine gewaltige, leuchtende Explosion, und das Ungeheuer wurde ein schöner Prinz, der der Schönen sein Geheimnis erzählte: Er hatte so lange unter dem Banne eines bösen Zaubers gestanden, bis eine Jungfrau sich wegen seiner Güte in ihn verlieben würde. Die Psychoanalytiker haben sich viele Spitzfindigkeiten zu dieser elementaren Fabel ausgedacht. Die weiße Rose ist das Symbol der Güte und wächst ausgerechnet im Garten des Ungeheuers. Ihr Besitz wird auf lange Sicht zum Triumph der Liebe und der Verwandlung.» «Die Rose von Alexandria ist also weiß?» «Damit kommen wir zu einem neuen Rätsel. Nein, sie ist nicht weiß. Man nimmt an, daß die Rose von Alexandria auch Rose von Damaskus heißt, weil sie über den Mittleren Orient aus Ostasien zu uns gekommen ist. Und nach einem viele Hundert Jahre alten spa nischen Volkslied ist die Rose von Alexandria farbig bei Nacht und 158
weiß bei Tag. Ich würde Ihnen das Lied vortragen, aber ich singe sehr schlecht.» Hände wurden vor den Mund geschlagen, um das Grinsen zu verdecken. Nur Ginés hatte dem Vortrag des Kapitäns aufmerksam zugehört, als wolle er versuchen, die verborgene Lösung des Rät sels zu finden. «Stellen Sie sich vor: farbig bei Nacht, weiß bei Tag. Dieser Wi derspruch! Die weiße Rose ist der Inbegriff der Vollkommenheit, der in sich geschlossene Kreis, die entrückte Schönheit in den Mandalas.» Der Kapitän sprach zu sich selbst oder streifte mit flüchtigen Blicken die Bücher, die seinen Worten Rückhalt boten, eine Mauer von Büchern, übereinander getürmt an einer Wand der Kajüte, und seine Hände schienen zu ihnen eilen zu wollen, um Unterstützung oder Bestätigung zu finden. «Aber vielleicht führt das zu weit, von der Mandala zu sprechen. Die Mandala und ihr Bezug zu den Rosetten der Kathedralen und der Aura von Jesus Christus sagt Ihnen nichts, oder?» «Fast nichts.» «Fahren wir fort mit der geheimnisvollen Rose von Alexandria, die in verschiedenen spanischen Volksliedern aus verschiedenen Regionen auftaucht. Es gibt sie in Asturien, das ist die bekannteste, aber auch in Kastilien und Extremadura. Vielleicht wurde sie von den wandernden Hirten mitgebracht. Zurück zu der Rose von Alexandria oder von Damaskus. Wissen Sie, daß diese Rose eine Zeitlang verlorengegangen war? Es ist die dritte der drei berühmten Rosen des Altertums. Die anderen beiden sind die Zentifolie oder Moschusrose und die Gallische oder Kastilische Rose. Die Rose von Alexandria wurde auch Damaszenerrose genannt. Die Griechen brachten sie nach Marseille, Cartagena oder Paestum, und die Rö mer übernahmen sie, obwohl ihr Ursprungsort nichts weniger als Südostasien sein soll. Sie versetzte die Römer in Erstaunen, weil sie zweimal im Jahr blühte, und deshalb hieß sie auch bei ihnen ‹rosa bifera› wie die Zunge der Schlangen. ‹Rose der Vier Jahreszeiten› hieß sie bei den alten Spaniern. Kurz und gut, diese vor allem im römischen Italien verbreitete Rose wurde von der Lava des Vesuvs vernichtet, und nur die Araber kultivierten sie weiter, bis sie im XVI. Jahrhundert in den Westen zurückkehrte, wahrscheinlich über Spanien.» 159
«Ist sie wirklich nachts farbig und tags weiß?» «Die symbolische Rose von Alexandria schon, denn das Volks lied ist weise und versteht sie symbolisch. Die wirkliche Rose von Alexandria oder Damaskus natürlich nicht. Wenigstens nicht die, die wir heute kennen. Es gibt eine mehrfarbige Variante, rot mit weißen Streifen, sie ist auch als Rose von York und Lancaster be kannt, aber dabei handelt es sich eher um einen historischen Scherz der Engländer. Denken Sie einmal an den Volksdichter, der das Symbol der zweifachen Farbe ein und derselben Rose aufnahm, die doppelte Persönlichkeit, und das in Beziehung zu einer Frau setzte, ausgerechnet einer Frau. Jetzt, wo uns keine von ihnen zuhört – in jeder Frau stecken die Schöne und die Bestie, die Liebe und der Haß, die Reinheit und die Lüsternheit!» «Also ich habe sie anders kennengelernt. Vielleicht hatte ich Pech.» Der Kapitän blinzelte, als Juan Basora sich einmischte. «Wie waren denn die Frauen, die Sie kennengelernt haben?» «Gute Mädchen, normal, mit guten und schlechten Momenten, wie ich, wie wir alle.» «Sie haben großes Glück gehabt.» Der Kapitän gab zu verstehen, daß er die Audienz als beendet betrachtete, denn er wandte sich seiner unordentlichen Bibliothek zu, als müsse er unbedingt ein verstecktes Buch finden. Die Offi ziere schickten sich an, hinauszugehen, als Tourón ihnen die Hand drückte. «Bitte, bleiben Sie noch, Ginés.» «Jetzt hat es dich erwischt, Mann. Viel Glück.» «Mal sehen, was er dir vorsingt.» «Mut!» Sie sagten es mit fast unhörbarer Stimme, und Ginés hatte keine Lust mehr, sie zurückzuweisen, denn die Situation überforderte ihn. Sein Kopf war schwer. Das Meer, das Schrillen des Telefons und die idiotischen Worte des Kapitäns. Er fühlte sich jetzt besudelt von der schleimigen Komplizenschaft, die wie ein Aasgeruch von Tourón ausging. «Die Geschichte interessiert Sie, ich habe es wohl bemerkt. Jetzt ist nicht die richtige Zeit, denn der Tag war besonders anstrengend, wir müssen uns ein andermal unterhalten. Der verborgene Sinn hinter den Dingen ist das einzig Interessante. Hinter den Dingen 160
und hinter dem Verhalten der Menschen. Der Schein trügt immer! Und je mehr etwas Wirkliches von diesem Schein abhängt, desto mehr trügt er. Deshalb sind die Frauen unberechenbar, nicht faßbar für uns. Sie selbst haben alles perfekt kalkuliert. Sie können Repti lien sein, wenn es nötig ist. Einmal werden wir uns über all das unterhalten, auch über den Grund Ihres Weggehens, Ihres wochen langen Verschwindens. Ich habe so getan, als würde ich mich mit Germáns Erklärungen zufriedengeben, aber ich bin nicht dumm.» Die anderen erwarteten ihn in Germáns Kabine. Sie brannten darauf, die letzten Worte des Orakels zu erfahren, wie es Basora nannte, fasziniert von der Prahlerei mit seinem Wissen über die Schöne und die Bestie. «Von jetzt an nennen wir ihn alle die Schöne und die Bestie.» Ginés verabschiedete sich mit einer Entschuldigung. Er ging in seine Kabine und schloß hinter sich ab. Es war dumm, sich einzu schließen, und er wollte den Riegel wieder zurückschieben, aber dann hielt er inne und tat es doch nicht, denn trotz der Einsamkeit der Rosa de Alejandría, die sich mitten im Golfstrom befand und von den Westwinden schon auf die Azoren zugetrieben wurde, konnten Besucher kommen, keine Besucher aus Fleisch und Blut, sondern Geister – und er versuchte, ihre Namen nicht zu nennen. Er kämpfte lange gegen die Wörter, denn er fürchtete sich davor, zu hören, wie er sie aussprach. Oder der Besucher war Tourón.
Die Berge begleiteten ihn bis zur Grenze der Provinz Murcia am Ortseingang von Moratalla. Die Straße hatte die Ausläufer des Gebirges vermieden, und als das Hindernis der Sierra del Cerezo hinter ihm lag, begann die graue, baumlose Landschaft zwischen Murcia und Lorca. Dort gab es, das wußte er genau, ein gutes Re staurant, Los Naranjos, wo er hinfuhr, nachdem er sich bei einem Tankwart noch einmal erkundigt hatte. «Man ißt dort nicht schlecht, nein. Aber haben Sie schon einmal das Essen von Doña Mariquita in Totana probiert?» «Ich kann keinen Umweg machen.» «Sie müssen selbst wissen, wie eilig Sie es haben. Aber wenn Sie mal durch Totana fahren, vergessen Sie es nicht!» 161
Los Naranjos war ein Restaurant für Vertreter und reiche Leute oder Kenner der Gegend, die in nächster Nachbarschaft der Huertas und des Meeres ihre typischen Gemüse- und Fischgerichte genießen wollten. Es gab dort unter anderem einen Reis mit Gemüse und Hähnchen und einen Zackenbarsch ‹a la murciana›, den Carvalho bestellte, nachdem er die Karte studiert hatte. Dabei ließ er sich nicht durch die seltsame Schreibweise durch ‹vishisua› abschrekken, ursprünglich die Bezeichnung für eine kalte Suppe, jetzt der geheimnisvolle Name einer schwarzen Gottheit. Der Reis gehörte zum Menü, obwohl er nicht auf der Karte stand. Carvalho wagte, ihn zu probieren, es war ein schmackhafter Reis, in der typischen Art des Binnenlandes zubereitet und mit gebratenen Auberginen garniert, einem Element, das Carvalho bis zu diesem Augenblick noch niemals mit Reis in Verbindung gebracht hatte, sich aber har monisch einfügte. Carvalho bestellte autonome Weine des autono men Gebietes und bekam einen vorzüglichen Carrascalejo. Er kannte ihn schon aus der Zeit, als er regelmäßig Ausflüge zum Mar Menor unternommen hatte, wenn ihn in Barcelona die Sehnsucht nach dem Duft der Orangenblüten überfiel und sein Körper sich nach dem Süden sehnte. Aber jetzt reiste er mit einem genauen Zeitplan wie ein Vertreter, er hatte ein Auge auf seine Diät gerichtet und das andere auf die Uhr, die gegen den unmittelbar bevorstehen den Abend ankämpfte. Er wollte Águilas noch bei Tageslicht errei chen, kannte aber die Strecke nicht. «Die Straße ist nicht schlecht. Jeder nimmt sie, der nach Águilas will. Die andere Strecke über Cartagena und Mazarrón ist endlos, über die Sierra del Cantal. Man kommt um vor lauter Kurven.» Die Landschaft, durch die er fuhr, änderte sich nach der Kreu zung mit der Straße nach Mazarrón. Hinter Los Estrechos zeigte sie den geologischen Reichtum kabylischer Länder oder wenigstens das, was sich die Phantasie aufgrund ihrer Erziehung unter Afrika vorstellt, von einem scharfen Oxid zerfressene Felsen und plötz liche Talsohlen mit Palmenhainen oder die einsame Palme im Gegenlicht auf einer Anhöhe, im Licht der untergehenden Sonne posierend, und kilometerlange Reihen von Tomatenstauden unter einem Plastikdach, so lang und breit wie die Rambla del Charcón. An manchen Stellen hatte eine Laune der Erde Gußformen für die salzige Luft hervorgebracht, eine Kaprize von phantastischen Pro tuberanzen wie Mahnmale verborgener Krankheiten einer von der 162
Zeit besiegten Erde. Nach einer Kurve tauchten eine dreifache Mondsichel von Buchten und die weißen Flanken einer ans Meer geschmiegten Stadt auf. Von Lorca kommend erreichte er die Straßen der Neubauviertel von Águilas. Schilder führten ihn über die Calle Carlos III und eine kleine Plaza mit Palmen zum Hafen, dessen Mole in der ersten Blindheit der hereinbrechenden Nacht vor Anker lag. Er war bei einer von Charos Wurzeln angelangt, in einer der Sackgassen Spaniens und parkte seiner Freundin zu Ehren das Auto auf dem großen Platz am Hafen und ging zu Fuß los, in der Absicht, sich die geborgten Erinnerungen der armen Charo anzueignen. Dort war die Glorieta, die kleine Plaza mit ihrem Springbrunnen im tiefsten Winterschlaf und ihrer erstarrten Vegetation. Aber wo war die Stierkampfarena? «Die Stierkampfarena? Also Sie sind wirklich nicht auf dem lau fenden. Sie wurde vor über zwanzig Jahren abgerissen, sie war in der Nähe des Hafens, jetzt nimmt eine andere kleine Plaza einen Teil des Geländes ein. Cañería Alta? Also das ist ganz, ganz oben. Sie müssen die Calle Sagasto hinaufgehen und dann immer weiter, auf die Windmühle zu, und dann sehen Sie es schon, es ist eine gerade und sehr lange Gasse, die im Zickzack läuft wie ein Z.» Die sommerliche Bräune des Alten fiel auf, obwohl es Winter und Nacht war. «Die Abelláns? Von denen sind nur noch wenige hier. Sie sind weggezogen, und ich glaube nicht, daß die, die noch hier sind… Aber wir reden ja von Leuten aus meiner Jugend! Ken nen Sie sie denn? Sind Sie aus Barcelona? Dorthin sind einige gegan gen, andere sind hiergeblieben oder woanders hingezogen. Lassen Sie sich von mir nicht verwirren, früher gab es hier nicht so viele Leute, aber jetzt im Sommer ist das hier das reinste Irrenhaus, und in meinem Alter bringt man einiges durcheinander. Haben Sie die neuen Häuser gesehen, die überall gebaut worden sind? Águilas sieht aus wie eine Hauptstadt, und dabei hat uns keiner geholfen, Murcia hat uns auf dem Kieker, sie übergehen uns einfach, und es macht mich so wütend, wenn mich einer fragt, ob ich aus Murcia bin! Manchmal antworte ich: ‹Nein, ich bin Andalusier!› Ja, ja, denn das, was die aus Murcia mit uns gemacht haben, dafür fehlen mir einfach die Worte. Es ist, als ob wir aussätzig wären, wissen Sie? Aber wie kommen Sie dazu, im Winter hierher zu fahren, wo doch schon ab März hier alles so schön wird! Also, die haben uns schon 163
immer gehaßt, und zum Glück haben wir seit die Eisenbahn, andernfalls würde es Águilas gar nicht geben. Haben Sie das Eisen bahndenkmal schon gesehen? Lassen Sie sich das nicht entgehen, es ist sehenswert, obwohl, wenn Sie aus Barcelona kommen, werden Sie hier wenig Gutes finden. Das Klima, ja, aber heute nicht.» Der Alte war bekümmert, weil Águilas sich dem Fremden nicht gerade von der besten Seite zeigte. Carvalho verabschiedete sich von ihm, als er anfing, irgend etwas von einer Mole für ein be stimmtes Mineral zu erzählen. Er folgte der Beschreibung des Alten und war bald am Fuß einer echten Kasbah angelangt; auf dem weißen Kalk der Häuserwände Flecken vom Licht der Glühbirnen, die im Wind schaukelten, in einer Nacht, die stockdunkel zu werden versprach. Die Gäßchen liefen labyrinthartig durcheinander und stiegen gepflastert und mit Treppen zu einem rätselhaften Gipfel. Es gab Häuschen mit einem einzigen Stockwerk, mit alten Frauen in Trauerkleidung, die dem Fremden reserviert, aber mit freiem und fragendem Blick begegne ten. Schließlich erreichte er die Cañería Alta, das Schaufenster auf die Altstadt, oben auf dem Hügel, der über der Stadt thronte, mit freiem Blick auf den Strand nach Osten und nach Westen und auf die Spitze eines Kaps, die von einem Schloß gekrönt war. «Die Abelláns? Tja, die Abelláns! Also erzählen Sie mir nichts von alten Zeiten! Wer weiß, wo das hinführt! Encarna? Tantchen! Erinnern Sie sich an Encarna Abellán, die Tochter von Señora Josepha? Wenn mein Tantchen sich nicht erinnert, dann weiß es nie mand mehr, denn sie hat so viel im Gedächtnis wie Jahre auf dem Buckel!» Die kleine Alte wurde vom Gewicht ihres wollenen Schultertu ches beinahe erdrückt, aber ihre Augen glänzten vor Vergnügen, daß sie ihnen mit dem einzigen, was in ihr noch lebendig war, ihrem Gedächtnis, von Nutzen sein konnte. «Encarnita, ja, Encarnita! Sie heiratete einen feinen Herrn aus Albacete. Sie ist sehr gut verheiratet in Albacete.» «Sehen Sie? Ich hab’s Ihnen ja gesagt. Woran mein Tantchen sich nicht alles erinnert…» «Diese Encarna Abellán war sehr eng mit einer Paca befreundet, wohl einer Altersgenossin. Sie müßte jetzt um die vierzig sein.» «Tantchen, erinnern Sie sich noch an eine Freundin von En carna?» 164
Die alte Frau kaute mit zahnlosen Kiefern, und ihre Augen ließen die Länge der Reise in die Tiefen ihres Gedächtnisses ahnen. Ihre Umgebung schwieg erwartungsvoll, ihre sechzigjährige Tochter war am wenigsten aufgeregt, dafür sagte die auch nicht mehr taufri sche Nichte ein ums andere Mal: «Ach, lieber Gott, was hat sie für ein Gedächtnis! Was doch in diesen Kopf alles reinpaßt!» – Und die Fünfzigjährige neben Carvalho war die Tochter der Nichte. Sie hatte den mächtigen Fernseher leiser gestellt, der das Zimmer be herrschte, ein Zimmer, das gleichzeitig als Empfangs- und Eßzim mer diente, mit Möbeln von einer längst vergangenen Hochzeit. An diese erinnerte eine riesige Fotografie, die ein ländliches, braves Paar zeigte. Sie grinsten wie englische Lords, wenn ihr Pferd das große Derby gewonnen hat. «Die Paquita Larios! Es kann keine andere sein.» «Sehen Sie? Sehen Sie, was sie für ein prima Gedächtnis hat?» Die Information, die die Gedächtnismaschine der alten Frau aus gespuckt hatte, führte zu einer Woge von Emotionen und Küßchen auf die weißen, welken Wangen der Alten, die sich zwar zum Schein dagegen sträubte, aber dabei triumphierend lächelte wie ein Torero nach dem Sieg. «Klar. Es muß die Paquita Larios sein.» «Die mit den beiden schlimmen blonden Jungen, die ihrer Groß mutter das Klo mit einer toten Katze verstopft haben.» «Eigentlich kannten wir sie nicht sehr gut, Señor, aber ich glaube, das Mädchen arbeitete in der alten Konservenfabrik an der Puerta de Lorca, mit Encarnita und vielen anderen zusammen, ich habe selbst zehn Jahre dort gearbeitet, und jetzt, Sie sehen ja, jetzt gibt es sie nicht mehr. Sie ist abgerissen worden, um Wohnhäuser zu bauen.» «Und dann hat sie doch diesen Friseur geheiratet.» «Ja, und die beiden machten einen Herren- und Damensalon auf, im Neubauviertel am Bahnhof.» «Sie haben sich sogar vier oder fünf Wohnungen gekauft. Im Sommer fehlt es hier nie an Arbeit.» «Ja, genau, Mensch, die Paca, diese eingebildete Kuh, die als Kind jeder für doof hielt. Ich erinnere mich noch, wie sie mit einer Kaffeekanne aus Porzellan in der Hand in die Bar in der Calle Esparteros kam und für zehn Centimos Kaffee haben wollte.» «Man glaubte, sie sei dumm, aber sie war alles, nur das nicht. 165
Wer dumm war, war ihr Vater, der Ärmste, sein Spitzname war Juan Pelón, Glatzkopf, weil keiner je auch nur ein einziges Haar auf seinem Kopf gesehen hat.» So spannen die Frauen untereinander die Geschichte von Paca Larios weiter und hatten den Fremden ganz vergessen, der benom men diesem erstaunlichen, hochtourigen Informationsabtausch lauschte. «Als Kind mußte sie oft hungern!» «Wer mußte das damals nicht!» «Also, bei uns zu Hause fehlte alles mögliche, aber hungern muß ten wir nie.» «Ach, das ist doch klar. Wenn man nichts anderes hatte, mußte man eben ‚nen Morgenmantel aus Percal anziehen. Aber die Fisch suppe stand jeden Tag auf dem Tisch.» Sie waren alle sehr stolz auf ihre Vergangenheit, die Frauen des Clans, aber soviel sie über Jugend und Aufstieg von Paca Larios wußten, sowenig wußten sie über ihr jetziges Leben. «Also hören Sie, sie hat sich seit Jahren nicht hier blicken lassen.» «Etwas muß passiert sein. Sie zog nach Jaravía.» «Aber sie hatte Verwandte im Hafenviertel, bei dem Haus, wo die Alten zum Kartenspielen hingehen. Das können Sie nicht ver fehlen. Fragen Sie nach dem Haus für die Senioren, das kennt je der.» Carvalho hatte zu viele Kilometer auf dem unbequemen Autositz hinter sich. Als er die Glorieta erreicht hatte, holte er sein Auto und fuhr zu einem Hotel in der Calle Carlos III, das man ihm empfohlen hatte. Er hatte nicht einmal Appetit auf ein Abendessen. Bruchstücke von Bildern und Gedanken hielten sein Gehirn blockiert, und die Blockade beeinflußte die feinen, verborgenen Leitungswege, die die Intelligenz mit dem Gaumen verbinden.
Der Schrei seines höchst persönlichen und nicht übertragbaren in neren Hahnes weckte ihn auf, und seine offenen Augen meldeten, daß es noch früh am Morgen war. Aber nichts in diesem blitzsauberen, kalten Doppelzimmer lud zum Bleiben ein. Er ging hinunter in die Cafeteria des Hotels, um das Gefühl der Einsamkeit zu besänfti166
gen, das er im Magen spürte. Zwei oder drei Vertreter aus Valen cia beobachteten den Kellner, der sich wie ein Kaffeehausdirektor bewegte. Der Hektik ihrer Blicke und Bewegungen nach mußten sie schon viele Stunden unterwegs gewesen sein. Als er auf den Gehweg hinaustrat, mußte er sofort einem rothaarigen Jungen ausweichen. Er führte einen Blinden, der hinter ihm ging und die Hände auf seine Schultern gelegt hatte. «Der neue ‹Torero›», rief der Alte und sah aus wie ein Waggon, der an die ernsthafte Kinder lokomotive angehängt war. Rentner standen vor dem Eingang einer Bank, dem einzigen Stilbruch in der Harmonie der Glorieta mit ihren verschnörkelten, baufälligen Häusern und den abblät ternden Aufschriften in der Stille eines beinahe warmen Vormit tags, der zum Spazierengehen einlud und Carvalho in die Nähe des Marktes führte. ‹Lebensmittel El Azafranero›, ‹Bäckerei La Balsica›, ‹Lady Pepa›, Safran, Trödel und Berge ungetrockneter Peperonischoten auf einem Tisch des menschenleeren Marktes. Sonne und Meer lockten ihn auf die Hafenpromenade, die an schlafenden, algenüberzogenen Muschelfeldern entlangführte. Nur die Einsamkeit war schon wach, ein paar Kinder und Frauen waren unterwegs zu ihrer täglichen Arbeit, und die Lokomotive war zum Eisenbahndenkmal erstarrt, auf dessen Sockel zu lesen war: Denkmal für die Eisenbahn, , Grundlage des Reichtums dieser Ortschaft. Jetzt im Winter wirkte dieses Nest am Meer wie eine alte Ansichtskarte, verblaßt und vergessen zwischen den Seiten eines selten gelesenen Buches. Allerdings wurden hier und dort recht eckige Wohnblocks gebaut, die auf den Sommer warteten. Manche Dinge bestätigten die Erinnerungen, die Charo von ihrer Mut ter geerbt hatte. Die sonnenbeschienene Intimität dieses Winkels mit seinen Palmen öffnete sich einem stillen Meer, und verwitterte Felsvorsprünge wie das Cabo Cope oder die Peña de la Aguilica rahmten das Blickfeld ein. Etwas fiel ihm ein, von dem Charo ihm erzählt hatte, das Schaufenster des Fotografen Matrán, und er suchte danach, bis ihm ein Einheimischer die Vergeblichkeit seiner Suche klarmachte. «Das Fotohaus Matrán ist geschlossen. Schon seit Jahren.» «Im Schaufenster sollen Fotos von Paco Rabal zu Pferd ausge stellt gewesen sein.» «Die gab es. Aber jetzt können Sie diese Persönlichkeit selbst sehen. Er besitzt ein Haus in Calabardina, es ist nicht zu verfehlen, 167
mit ein paar Rundbögen, so, und so. Er kommt nicht nur im Sommer, manchmal bleibt er für längere Zeit hier. Erst neulich war er da, zu einer Preis Verleihung. Ein wichtiger Preis für ganz Spanien, also, ein Nationalpreis. Da war was los!» Er stand in einem kleinen Laden mit Zeitungen, Zeitschriften, Büchern, Comics und Plastikspielzeug. Vielleicht würde er hier für Charo etwas bekommen, das ihr zeigte, was sie nie mit eigenen Augen gesehen hatte, und er erkundigte sich nach einem Buch mit Abbildungen der Orte, wie sie ihre Mutter gekannt hatte. «Es gibt ein Buch, ‹Águilas im Lauf der Jahrhunderte›, von einem hier ansässigen Autor – Don Antonio Cerdán, um es genau zu sagen –, aber ich glaube nicht, daß sie es bekommen. Es ist ver griffen. Vielleicht haben sie es noch im Rathaus oder im Fremden verkehrsbüro.» Im Rathaus gab es nur einen Plan des alten Stadtkerns, für den man ein Elektronenmikroskop gebraucht hätte, und einen topografischen Plan, auf dem das Stadtgebiet eine einzige Suppe von Ortsnamen war, die imaginäre gepunktete Linien voneinander trennten. Besser als gar nichts, dachte er, vielleicht würde es Charo gelingen, ein paar der vielen Bezeichnungen mit einem menschlichen Wesen oder einer Erinnerung in Verbindung zu bringen. Auf dem Fremdenverkehrsbüro hatten sie zwar das Buch, aber nur ein Exemplar, falls jemand danach fragte. Carvalho blätterte es durch und las, daß die ältesten Fischer des Dorfes behaupteten, ihre Großväter hätten auf dem Meeresgrund in west licher Richtung geheimnisvolle versunkene Gebäude entdeckt, die sie ‹Die Mauern› genannt hatten, eventuelle Reste des antiken Urci, der Vorläuferin von Águilas. Carvalho gab das Buch zurück und machte sich wieder auf die Suche nach Paca Larios, getrieben von der Müdigkeit einer Reise, die dabei war, sich in sich selbst zu erschöpfen, im Nichts zu enden. Eine dunkelblonde Frau mit blauen Augen und einem Kind an jeder Hand sagte ihm, daß ihre Tante Paquita nicht mehr in Águilas wohnte. «Sie haben in Richtung Terreros ein Hotel gekauft und wohnen im Winter in Jaravía. Aber nicht direkt in Jaravía, sondern auf der Finca La Rosa de Azafrán.»
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Am nächsten Tag folgte er der Straße nach Almería bis Terreros und zu der Abzweigung nach Jaravía und Pulpí. Die Außenbezirke von Águilas sahen aus wie in jedem anderen Ort, der von seinem eige nen Wachstum aufgebläht ist, aber Carvalho glaubte das Grüne Häuschen zu erkennen, dort, wo der Strand begann, ein Haus mit einem Satteldach, das launisch abseits stand, als sei es ein Denkmal der Nostalgie der Einwohner von Águilas. Daneben begann sofort das freie Feld zwischen Ödland und Palmen, zur Rechten wieder die Aussicht auf rostrote oder gelbbraune Erde, die sich bis zu den Ber gen erstreckte, und links dunkle kleine Buchten für ein sanftes Meer und parkende Wohnwagen, denen leichtbekleidete Ausländer ent stiegen, meist pensionierte alte Menschen aus dem reichen Europa, die unterwegs waren zu den billigen letzten Sonnen und Meeren ihres Lebens. Nach dem Grünen Häuschen begannen die Plakate das Hotel Verdemar anzukündigen, und unterhalb der Abzweigung nach Jaravía und Pulpí tauchte der Appartementblock auf, alle Fenster wa ren geschlossen und eine Kolonne von Bauarbeitern war dabei, die Zufahrt neu zu asphaltieren. «Es ist geschlossen und wird erst im April wieder geöffnet.» «Kommen die Besitzer hierher, um nach den Bauarbeiten zu se hen?» «Der Besitzer kommt jeden Tag, aber erst später.» Er fuhr nach Jaravía, einer palmenbestandenen Oase, die am Horizont auftauchte vor einem gelbrötlichen Berg, der spielerisch näher zu kommen und sich zur Seite zu neigen schien. Je mehr die Straße anstieg, desto besser überblickte man Águilas und seine Buchten. Dort, wo das Wachstum der Siedlungen aufhörte, begann ein Strand mit einer eisernen Mole, die ihm den einzigartigen Cha rakter eines Schauplatzes vergangenen Fortschritts verlieh. Rechts wich die Straße nach Almería einer wilden und verlassenen Küste aus. «Zwischen Los Jurados und Pilar de Jaravía, Sie können es nicht verfehlen», hatten die Bauarbeiter zu ihm gesagt. «Sie sehen dort einen Weg mit dem Schild ‹Durchfahrt verboten, Privateigen tum› und weiter oben einen grünen Fleck und ein Haus, so groß wie ein Palast.» Gewächshäuser säumten die Straße und Oasenvegetation be stimmte das Bild einer Landschaft, die von erbarmungsloser Karg heit war. Das Auto zielte auf die verbotene Einfahrt und fuhr über 169
den rissigen Asphalt hinauf bis zu einem Gittertor, dessen Farbe auf einen neuen Anstrich wartete. Zwei junge Nonnen, die gerade aus dem Garten herausgekommen waren, traten beiseite, um das Auto vorbeizulassen, dabei wandten sie die Gesichter ab, als wären sie überhaupt nicht neugierig auf den Fahrer. Hinter dem Gitter lag ein kiesbestreuter Hof, in dessen Mitte wölbte sich ein Gummibaum massiv über einen kleinen Teich, der mit Kieseln eingefaßt war, und dahinter begann eine Granittreppe am Fuß einer Hausfront, an der noch Bougainvillea blühte. «Señora, Señora! Da ist ein Auto gekommen!» rief ein junges Hausmädchen mit dunklem Schnurrbartanflug, wobei sie das Ge sicht dem Haus zuwandte und ihren Körper anspannte, weil eine Bulldogge kräftig daran zerrte und gegen den Neuankömmling ein wildes Gebell ausstieß. «Kommen Sie nicht näher, Señor, er beißt! Er hat die Nonnen gebissen, die um ein Almosen baten!» «Beißt er dich denn auch?» «Nein, mich nicht, weil ich ihn füttere. Aber alle, die ihn nicht füttern, beißt er.» «Dieser Hund weiß, was sich gehört!» Als erstes hörte er ihre Stimme. «Also, dieses Mädchen! Hast du denn noch nie ein Auto gesehen?» Dann tauchte die Hausherrin auf, achtzig Kilo breit und vierzig Jahre hoch, und ihre dunklen Augen brauen waren dermaßen zum Nordpol des Gesichtes hin hochgezogen, daß sie drohten, zu entgleisen. «Wir haben drei Autos im Haus, und du machst so einen Aufstand, wenn noch eins ankommt!» «Ich konnte doch den Hund nicht allein lassen!» «Jetzt weiß ich ja Bescheid.» Die Neugier ließ ihre großen Augen mit den falschen Wimpern noch größer werden. «Was kann ich für Sie tun?» «Ich habe in Águilas mit Ihren Verwandten gesprochen, sie haben mich hierhergeschickt.» «Ihr Auto ist ja total verdreckt», sagte die Frau mit einem mißbilligenden Blick auf Carvalhos Ford Fiesta, der wie ein altes, müdes Pferd dastand. «Lucita, wisch mal mit dem Lappen über das Auto, das kann man ja nicht mit ansehen.» 170
«Machen Sie bitte keine Umstände!» Aber das nützte nichts. «Also, das ist ein Staub auf diesen Wegen hier! Seit Monaten hat es nicht mehr ordentlich geregnet, nur ein paar Tropfen, die den Staub verkrusten und mehr schaden als nützen. Sie sind nicht aus Águilas?» Die großen Augen waren am Autokennzeichen hängengeblie ben. «Ich komme aus Barcelona. Es geht um eine Sache, die mit Encarna zu tun hat. Encarna Abellán!» «Encarna, meine Encarna! Es ist auch höchste Zeit, daß sie etwas von sich hören läßt! So ein verrücktes Weib! Manchmal überhäuft sie mich mit Briefen, so daß ich sie kaum zu Ende lesen kann, und dann läßt sie einen ganzen Monat lang kein Sterbenswörtchen verlauten. Kommen Sie herein, und du, Mädchen, laß Bronco los, nimm Wasser und einen Lappen und geh damit über das Auto. Vor allem über die Windschutzscheibe! Ich kann dreckige Autos nicht ausstehen, außerdem sind sie eine Gefahr für den Fahrer und für die andern.» Während er ihr in ein Empfangszimmer folgte, in dem alles über trieben wirkte – ein Salon mit Piano und einem enormen Fernseher, so groß, daß die Sprecher bequem darin schlafen konnten –, und sie in einem mit Zinnen gekrönten Sessel Platz nahm, überlegte er, wie er der Kastilierin die Nachricht vom Tod ihrer Freundin beibringen sollte. «Wo steckt sie denn, diese Undankbare?» «Ich dachte, Sie wüßten es schon.» «Was soll ich wissen? Was ist denn passiert?» Carvalho hatte irgendwann in seinem Leben erkannt, daß der einfachste und angemessenste Gesichtsausdruck, um jemand einen Todesfall mitzuteilen, darin bestand, den Blick zu senken und zu Boden zu blicken, als sei man unfähig, ihn wieder zu heben. Genau das tat er. «Sie wollen doch nicht sagen, daß Encarna…?» Sein Blick blieb hartnäckig gesenkt, erst als sie in Schluchzen aus brach, hob er ihn wieder, und sah mit Mitgefühl die unkontrollier ten Zuckungen dieses Gesichts, in dem Tränen, Blinzeln, Schneu zen und gnadenloses Reiben der Fingerspitzen die Verwüstungen eines verzweifelten Kummers hervorriefen. 171
«Meine Encarna! Ach, Encarnita, mein Herzchen! Meine Encarna!» Die Rufe ließen das junge Hausmädchen mit erstauntem Gesicht und dem schmutzigen Lappen in der Hand herbeieilen, und einen stabilen Glatzkopf in Pantoffeln und einem samtenen Schlaf rock, der noch die Frage stellen konnte ‹Was geht hier vor?›, bevor sich die Dame mit solcher Wucht in seine Arme stürzte, daß er das Gleichgewicht und den linken Hausschuh verlor.
Das abgerissene Schluchzen war allmählich verstummt, im Zim mer roch es nach Karmelitergeist und Tränen. Der Schlafrock, das Hemd und das Unterhemd des Mannes, das man unterhalb einer optischen Verlängerung seines Ausschnittes ahnen konnte, waren von den Tränen seiner Frau aufgeweicht. «Geht es dir jetzt besser, Paquita?» «Besser! Wie kann es mir besser gehen?» «Es mußte soweit kommen.» «Warum mußte es soweit kommen?» «Encarnita hatte den Kopf in den Wolken!» «Woher willst du das wissen, du hast sie doch überhaupt nicht gekannt!» «Señora, das Auto ist sauber. Ich habe sogar Autoshampoo be nutzt.» Carvalho tat es leid, was das arme Tier über sich ergehen lassen mußte, das ihn nach Hause bringen sollte. Die Meldung des Hausmädchens brachte Señora Paca wieder zur Besinnung. Sie lö ste sich von ihrem Mann und sah Carvalho an. «Ich nehme an, Sie wollen mit mir sprechen. Sind Sie Inspektor?» «Nein. Ich komme im Auftrag der Verwandtschaft von Encarna!» «Mariquita?» «Genau.» Die Frau winkte ihrem Mann, sie allein zu lassen. «Geh, Manolo, es gibt Dinge unter Frauen, die man nur unter Frauen besprechen kann.» Der Mann starrte verblüfft auf Carvalho, aber dessen männliches Aussehen ließ keine Zweifel aufkommen. Carvalho zuckte die Achseln und machte ihm ein Zeichen der Komplizenschaft. ‹Heute erwischt es dich, morgen mich.› 172
«Wenn du mich brauchst, ruf mich. Möchten Sie etwas trinken?» «Nein, vielen Dank.» «Ein Gläschen Marie Brizard, das nimmt den Appetit.» «Ich habe nichts gegen ein wenig Appetit. Ich möchte ihn nicht einfach so niederschlagen!» Der Mann grinste, ohne zu wissen warum, und verließ das Zim mer. Der Blick der Hausherrin war eindringlich auf Carvalho ge richtet, als suche sie andere Wahrheiten hinter dem, was er gesagt hatte. «Weiß man, wer sie so kannibalisch zugerichtet hat?» «Nein, deshalb bin ich hier.» «Woher wußten Sie, daß Sie mich hier finden würden?» «Ich wußte nicht, daß Sie hier wohnen. Ich dachte, Sie lebten wohl immer noch in Águilas. Die Familie des Ehemannes von Encarna brachte mich auf Ihre Spur.» «Dieses Schwein! Er ist schuld an allem!» Nach ihrer Hochzeit kam Encarna kaum noch nach Águilas. Zwei- oder dreimal im Sommer. Nein, sie war nicht mehr dieselbe. Sie war eine Señora geworden, hatte aber einen hohen Preis dafür bezahlt. «Neulich schrieb eine Frau an Elena Francis. Ihre Geschichte war dem Leben von Encarna sehr, sehr ähnlich. Ich dachte sogar einen Moment lang: ‹Sieh mal an, Encarna macht sich Luft!› Aber nein, es paßte nicht zu ihrem Charakter, an die Francis zu schreiben. Sie war sehr verschlossen, sehr eigen. Aber die Geschichte war dieselbe.» «Was für eine Geschichte?» «Die eines Mädchens, das einen Mann heiratet, um aus ihrer Ar mut herauszukommen, und dann ein Inferno erlebt. Der Mann war ein verantwortungsloser Lebemann, ein ganz falscher Fuffziger, und sie stand allein, ohne Kinder da, in einer Stadt, in der sie keinem vertrauen konnte, umgeben von Freunden, die eigentlich die Freunde ihres Mannes waren. Sie vereinsamte und bereute immer mehr. Verflucht sei der Tag, an dem dieser Lackaffe ihren Weg kreuzte! Aber was hätte sie machen sollen? Ihr Leben lang Feigen pressen oder Kapern einlegen? Das wäre in Águilas ihre Zukunft gewesen. Oder auch meine. Aber ich hatte Geduld und wartete bes sere Zeiten ab. In den letzten zwanzig, fünfundzwanzig Jahren hat sich hier alles verändert, und wer Courage hatte, nicht arbeitsscheu war und keine Angst hatte, konnte es zu etwas bringen, und wer 173
nicht wollte, also, der legte sich in die Sonne, denn Sonne gibt es hier genug. Die, die von hier weggezogen sind, haben einen Fehler gemacht, vor allem die nach Katalonien gingen und dachten, daß sie dort an den Metroschaltern die Zwanzigpesetenscheine ge schenkt bekommen. Glauben Sie ja nicht, ich wüßte nicht Be scheid. Ich war ein paar Wochen dort, im Haus meines Onkels. Einen Monat dort zu verbringen, war gut, aber es reicht nicht aus, um dort zu leben. Mein Manolo und ich, wir hatten das Glück, die guten Zeiten des Tourismus zu erleben, und hier kann man im Sommer gutes Geld verdienen, wenn man bereit ist, im Sommer zu arbeiten; wenn man allerdings in der Sonne liegen will, dann nicht. Jetzt haben wir genug Zeit, um in der Sonne zu liegen.» «Aber Sie sind auch von Águilas weggezogen.» «Ja, wir sind hier in der Nähe des Hotels, und intensive Gewächs hauskulturen haben hier gute Zukunftsaussichten. Wir haben eine Menge investiert, um hier auch Avocados und Chirimoyas zu züchten, wie in Almería und Málaga.» «Hat sich Encarna mit Ihnen getroffen, bei den seltenen Gelegen heiten, wenn sie hier war?» «Mit wem denn sonst? Aber vor allem hat sie mir immer ge schrieben, und ich schrieb ihr wieder, nach Albacete und nach Bar celona.» «Nach Barcelona?» «Ja, wenn sie dort war, um zum Arzt zu gehen, denn sie war anfällig, oder glaubte es zumindest. Ist Ihnen aufgefallen, daß Men schen, die eine unglückliche Ehe führen, mehr klagen und heute dies, morgen das Wehwehchen haben? Arme, arme Encarna. Es war das Schicksal, es war ihr vorherbestimmt. Sie sollte so einen grauenhaften Tod finden. Dabei fühlte sie sich so glücklich in Bar celona!» «Als junges Mädchen?» «Nein, jetzt.» «Glücklich, weil sie zum Arzt ging?» «Sie ging nicht nur zum Arzt.» Die ausweichende Antwort der Frau war nur ein Versuch, die Enthüllung hinauszuzögern, die sie ihm gerne machen wollte. «So viel sie sich auch um ihre Gesundheit kümmerte, sie wäre nicht alle drei Monate nach Barcelona gefahren, nur um sich verschiedene Organe untersuchen zu lassen. Die Leber läßt man ein- oder zwei174
mal untersuchen, aber nicht alle drei Monate, glauben Sie nicht auch?» «Der menschliche Körper ist voller Organe.» «Und vor allem der weibliche. Haben Sie sich einmal überlegt, was alles in den Bauch einer Frau paßt? Denken Sie mal nach.» Sie begann, an den Fingern aufzuzählen: «Die Kutteln, also, die Einge weide, die Leber, die Nieren, die Appendizitis, die Eierstöcke, die Gebärmutter, die Plazenta und sogar ein Kind, oder zwei oder fünf, es gab ja Fälle von Fünflingen. Das alles paßt in den Bauch einer Frau!» «Das habe ich mir noch nie überlegt.» «Wir Frauen denken eben mehr über solche Dinge nach. Weil es uns betrifft, ist ja logisch.» «Was tat Encarna in Barcelona?« «Sie traf sich mit meinem Cousin, mit Ginés. Ein Cousin von mir, der zur See fährt. Er ist Offizier, stammt auch aus Águilas, und er war ihr Verlobter, also, er wollte sie heiraten, bis der junge Herr aus Albacete auftauchte. Es war eine schöne Liebesgeschichte. In einem Roman oder im Kino hätte man sie nicht geglaubt. Auch darin glich die Geschichte dem Brief an Señora Francis: Auch die Schreiberin hatte plötzlich ihre alte Liebe wiedergetroffen, auf der Straße, genau zu der Zeit, als sie sich am unglücklichsten fühlte. – Genau in dieser Zeit ging Encarna über die Ramblas, und jemand rief ihren Namen. Sie sah sich um, und wer war es? Ginés, nach zwanzig Jahren. Er war nicht mehr der schüchterne Junge, der rot wurde, wenn er sie sah, sondern ein Offizier der Handelsmarine. Er bot ihr an, ihr die Stadt zu zeigen, die er sehr gut kennt. Er fuhr zwischen Amerika und Europa mit einem Frachter hin und her, der Rosa de Alejandría, die alle drei Monate in Barcelona anlegte.» «Ist das der Name des Schiffes?» «Ja, so heißt das Schiff, auf dem er fährt.» «Ist das Schiff aus Ägypten, Griechenland oder der Türkei?» «Nein, das glaube ich nicht. Es ist ein spanisches Schiff, die See leute sind auf jeden Fall Spanier. Zum Beispiel Germán, ein Freund meines Cousins aus Lorca. Mein Cousin kam manchmal nach Águilas zurück, und German begleitete ihn.» «Sie begegneten sich also nach zwanzig Jahren auf den Ramblas. Was geschah dann?» «Sie verabredeten sich für das nächste Mal, wenn sein Schiff nach 175
Barcelona kommen würde, und von diesem Zeitpunkt an dachte sich Encarna alle möglichen Entschuldigungen aus, um zu dem Rendezvous zu fahren. Sie erzählte mir davon in einem Brief, und sie erzählte es mit dieser Natürlichkeit, dieser Hartnäckigkeit, die sie in diesen Sachen hatte, denn Encarna ist immer auf dem direktesten Weg auf ihr Ziel losgegangen.» «Und der Ehemann schöpfte keinen Verdacht?» «Der Mann führte sein eigenes Leben. Er ist ein Windbeutel. Er hat die Hälfte seiner Ehejahre zwischen Madrid und was weiß ich wo verbracht, aber selten genug bei Encarna.» «Und der Seemann kam ab und zu?» «Und ob er kam! Er hatte nie aufgehört, von Encarna zu träu men. Mein Cousin ist ein Mensch, der aus der Reihe tanzt. Zu ge fühlvoll für meinen Geschmack, denn man kann nicht mit dem Herzen in der Hand durch die Welt gehen. Ich hatte ihn schon da mals gewarnt, als wir noch Kinder waren: ‹Paß auf mit Encarna, die hat ihren eigenen Kopf!› Und dabei liebte ich Encarna, nur ihre Mutter hat sie mehr geliebt. Aber mein Cousin tat mir sehr leid.» «Und sie hatten nicht vor, alles hinter sich zu lassen und zusam menzuleben?» «Nein, Encarna nicht, aber mein Cousin.» «Und Encarna wollte nicht?» «Sie hat alles durchprobiert. Zuerst nein, dann ja, und in letzter Zeit bat sie ihn, ihr Zeit zu lassen.» Um der Zeit Zeit zu lassen, die Knochen eines Mannes vollends zu zerstören, der endgültig ruiniert war. «Plötzlich kamen keine Briefe mehr.» «Ja. Aber das war kein Grund zur Besorgnis, denn Encarna war sehr launisch. Manchmal kamen in einer Woche zwei Briefe, und manchmal vergingen Monate, bis sie schrieb. Ich wartete immer, bis sie mir schrieb oder mich anrief, obwohl sie selten telefonierte, denn sie sagte immer, Wände haben Ohren.» «Schrieben Sie ihr nach Albacete?» «Hauptsächlich nach Barcelona.» «An welche Adresse in Barcelona?» Die Frau überlegte. Schließlich kam sie zu einem Entschluß und bedachte Carvalho mit einem Blick, mit dem sie ohne Zweifel ihren Mann angesehen hatte, als sie das erste Mal mit ihm ins Bett ging. 176
Sie verließ das Zimmer, und Carvalho blieb zurück mit dem Na men der Rosa de Alejandría auf den schweigenden Lippen der Erin nerung: Du bist wie die Rose von Alexandria, feurige Schwarzhaarige, von Alexandria, bei Nacht bist du farbig und weiß am Tag, feurige Schwarzhaarige, weiß bist du am Tag. Eine kindliche Stimme hatte es damals gesungen, und dann setzte ein Chor ein, der dem Lied einen dunklen Hintergrund von seltsa mer Traurigkeit verlieh, obwohl es offensichtlich ein Liebeslied war. Aber schon kam Doña Paca zurück und hielt ein Papier in der Hand, das sie ihm reichte. «Diese Adresse gab sie mir, um ihr nach Barcelona zu schreiben. Auf dem Umschlag sollte stehen: Für Carol persönlich.» «Immer dieselbe Adresse?» «Von Anfang an, ja. Es war etwa vor zwei Jahren. Ein Jahr, nach dem sie angefangen hatte, sich alle drei Monate mit meinem Cousin zu treffen.» «Ist das alles?» «Jawohl.» Die Frau wollte gerne Einzelheiten erfahren, und sie wandte den Kopf mit geschlossenen Augen ab, als Carvalho ihr von der Zer stückelung des Opfers erzählte. «Die Ärmste, die Ärmste.» «Und weiß es mein Cousin? Weiß es mein Cousin?» Carvalho zuckte die Achseln, er war schon an der Tür und blickte über das Meer, das träge unter einer alles tröstenden Sonne lag. «Wird jetzt die Polizei kommen und mich verhören?» «Das ist nicht mein Problem.» Die Frau erfuhr nicht, wessen Problem es nun war, ihres oder das der Polizei. «Haben Sie ein neueres Foto von ihr?» «Es wurde vor drei oder vier Monaten aufgenommen.» Endlich bekam Encarnación das Gesicht zur Zeit ihres Todes. Die Gesichtszüge des jungen Mädchens waren gewachsen, ihr Körper gereift zu einer herausfordernden Erscheinung. Es war unmöglich, 177
die Reife und aggressive Schönheit der Frau zu übersehen, die auf dieser Fotografie ohne ein Lächeln immer noch wie abwesend wirkte.
Er hörte vertraute Stimmen, die über sein Fieber sprachen, darunter auch die des Kapitäns, die sich für Frenol und viel Wärme aussprach. «Damit er es ausschwitzt!» Vor seinen Augen tauchten Germán oder Basora auf, gelegent lich auch Tourón, der ihn in seiner Eigenschaft als Kapitän mit me dizinischen Kenntnissen bedachte. «Sie sind in guten Händen. Es ist eine ausgewachsene Erkältung. Man kommt in Hemdsärmeln aus den Tropen, und dann passiert, was passieren muß.» Seine Gelenke schmerzten, und er genoß es, sich in die Decken zu kuscheln. «Fleischbrühe, viel Orangensaft und Fisch a la plancha», bestellte Tourón beim Steward, der sich alles aufschrieb. «Und wenig den ken!» fügte er hinzu. «Verpesten Sie ihm hier nicht die Luft!» Die drei Offiziere hatten neben seiner Koje gesessen und Karten gespielt. Tourón warf sie hinaus wie Zocker aus einer Spelunke. «Wir leisten ihm Gesellschaft!» «Rauchen Sie nicht, und lassen Sie die Tür offen, man sieht ja die Viren umherschwirren! Es hätte gerade noch gefehlt, daß wir uns alle anstecken!» «Machen Sie sich keine Sorgen, Kapitän, wir stricken jetzt eine Weile Strümpfe und singen Volkslieder. Ich habe meiner Freundin einer Sweater versprochen!» Der Kapitän überhörte Basoras Ironie und nutzte dann den Um stand, daß der Kranke allein war, um häufiger ins Zimmer zu kom men und wortlos nach ihm zu sehen, aber Ginés hielt die Augen fest geschlossen, um kein Gespräch aufkommen zu lassen. «Schlafen Sie? Larios, schlafen Sie? Er schläft immer.» Durch einen Spalt zwischen seinen Lidern sah Ginés, wie das weiße Gesicht näher kam, mit diesen dicken Linsen wie aus Quarz, in deren Tiefe Unterwasseraugen schimmerten. Nach dem dritten Tag war es unmöglich, sich weiter schlafend zu 178
stellen, und der Kapitän verbrachte nun jede freie Minute an seinem Bett, umgekehrt auf dem Stuhl sitzend, die Arme über der Lehne gekreuzt, und blickte umher oder starrte wie gebannt auf einen be stimmten Punkt der Kabine. «Ihre Farbe ist besser geworden.» «Kann sein.» «Die Gesichtsfarbe sagt alles über den Gesundheitszustand. Ein gutes Funktionieren des Organismus zeigt sich an der Färbung der Haut, vor allem im Gesicht. Bei dunkelhäutigen Leuten wie Ihnen fällt es weniger auf, aber bei hellhäutigen ist es exakt festzustellen, wie im Lehrbuch. Ich glaube, es war nur eine Grippe, und alles übrige haben Sie sich selbst zuzuschreiben. Ihr Körper war in schlechter Verfassung. Die Ferien auf Trinidad sind Ihnen nicht gut bekommen.» «Offensichtlich!» Er hatte Germán gebeten, ihn nicht mit dem Kapitän allein zu lassen, und sein Gefährte tat, was er konnte, um Touróns Kommen und Gehen auf dem Schiff zu beobachten und aufzupassen, wann er die Kabine von Ginés betrat. Germáns Auftauchen machte den Ka pitän nervös, er ging dann sofort oder versuchte, ihn mit Aufträgen wegzuschicken, die schon längst erledigt waren. «Er ist wie eine Glucke. Er fühlt sich gerne gebraucht, und sobald er mit seinen Medizinkenntnissen glänzen kann, rennt er. Aber um Frenol und Orangensaft zu verschreiben, braucht man nicht einmal Tierarzt zu sein.» Am vierten Tag ging Ginés an Deck, denn die Sonne schien. Die Matrosen waren gerade dabei, vom Bug zum Heck eine besondere Halteleine zu spannen. «Was machen sie da?» «Alles dir zu Ehren! Tourón hat es angeordnet. Damit du nicht fällst!» «Das ist doch nicht dein Ernst!» «Doch. Die See ist spiegelglatt, wir haben Windstärke drei und nur leichten Seegang. Aber die Leine ist für dich, alles nur für dich! So was nennt man Liebe! Er verwöhnt dich wie eine Königin!» Sein Körper war für Sonne und Wind besonders empfänglich ge worden, und er bemerkte, daß neue Lebenslust in ihm erwachte, Lust, sich zu bewegen und mit den anderen zusammen zu sein. Die Überfahrt war laut Basora im besten Stadium, in der Phase, wo der 179
größte Teil der Strecke zurückgelegt ist und die Aussicht auf die Ankunft im Hafen den Appetit anregt. Außerdem war es ein herrlicher Tag, und die unschuldigen Kumuluswolken, die Schön wetterpropheten, schwebten vorbei wie furchtsame Schäfchen, die sich in der Einsamkeit der Himmelkuppel über dem Atlantik fürch teten. An diesem Nachmittag hatte er Lust, die Sendung ‹Directo-Directo› von Radio Nacional España zu hören, dann ging er hinüber in den Salon, wo Martín alle Vorbereitungen getroffen hatte, um ein Video «Vom Winde verweht» zu zeigen. «Mensch, war die hübsch, diese Vivien Leigh! Aber die andere, Olivia de Havilland, die war ja überhaupt nichts.» «Sie lebt doch noch!» «Also, dann stell dir mal vor, wie sie jetzt wohl aussieht! Mir hat Olivia de Havilland noch nie gefallen. Sie sah immer aus wie ein Kind oder wie eine Mutter. Du triffst sie auf einer einsamen Insel, nackt, und du vögelst sie nicht, weil du vor ihr Respekt hast oder so was, ich weiß auch nicht.» «Auf einer einsamen Insel würdest du sogar die Thatcher vö geln!» «Für ihr Alter sieht die gar nicht schlecht aus!» «Man muß schon ein ganz Rechter sein, wenn man behauptet, daß die Thatcher sexy ist!» «Ich habe nicht gesagt, daß sie sexy ist, sondern daß sie für ihr Alter nicht schlecht aussieht. Zieh sie mal aus und bring sie in ein Altersheim für Fernfahrer, die machen sie dir zur Mutter!» «Kannibale!» «Aber diese alte Nutte, diese Vivien, die ist wirklich nicht schlecht! Heute nacht denke ich an sie und locke mir einen aus der Palme!» «Du Tier!» Martín hatte es gern, wenn er als geiles Tier beschimpft wurde. «Heute nacht ist sie dran!» «Dreckschwein!» «Ich gieße eine Büchse Kondensmilch über ihr aus, dann lecke ich sie von oben bis unten ab. Und ich lasse kein Eckchen aus dabei!» «Hör schon auf, Mann, man könnte ja meinen, du hättest seit der letzten Eiszeit nicht mehr gebumst.» Ginés schlief ein, als Leslie Howard, der kühle Ashley Wilkes, 180
mit einer Schußverletzung nach Hause kam und den Betrunkenen spielte, ebenso wie Clark Gable als Ret Butler. Er wurde geweckt, damit er in seine Kabine ging. Müde ließ er sich in die Koje fallen, es war sein erster aktiver Genesungstag ge wesen. Er schlief ein und träumte, er sei in einem riesigen Zimmer in einem Krankenhaus, so blendend weiß, daß man kaum die Kon turen der Gestalten erkennen konnte, die dort umhergingen, bis auf Tourón, der zu ihm kam und ihm übers Haar strich. ‹Larios, der Ärmste! Er schläft, immer schläft er!› Eine Hand weckte ihn, ener gischer als die des Kapitäns im Traum. Es war Basora, der wisperte: «Kannst du aufstehen?» «Was ist los?» «Jetzt ist es soweit! Der Kapitän singt, und Germán hat die Tür offen gelassen. Wir gehen und sehen uns mal an, was passiert. Bist du fit? Es kann lange dauern, bis diese Gelegenheit wiederkommt!» «Ich komme.» «Zieh dir was über!» Basora nahm eine Decke vom Bett und legte sie ihm um die Schultern. Ginés folgte seinem Kollegen über den halbdunklen Korridor, der zur Tür der Kapitänskajüte führte, wo schon Germán und Martín auf der Lauer lagen. Basora öffnete mit enervierender Langsamkeit die Tür mit den Fingerspitzen, bis der Spalt groß ge nug war, damit er und Martín sehen konnten, was drinnen geschah. Basora zog den Kopf sofort wieder zurück, Martín schaute etwas länger hinein. Da die Tür etwas geöffnet war, konnte man das Lied des Kapitäns deutlich hören. Wer dich zu seiner Erlöserin erwählt hat, wie wenig kannte er dich! Denn wer sich in dich verliebt, verliert sich für das ganze Leben. Germán und Ginés nahmen nun den Platz ein, den die anderen ih nen geräumt hatten, und sie hatten ein rechteckiges Bild vor sich, in dem seltsamerweise die Gestalt ganz zu sehen war, zu der sich der Kapitän verwandelt hatte. Er trug ein langes, dekolletiertes Kleid aus Silberlame, dazu Handschuhe bis zu den Ellbogen, eine platin blonde Perücke und eine Stoffblume im Ausschnitt. Er hatte sich Lidschatten und blutrote Lippen gemalt, seine Arme bewegten sich wie Schlangen zu den gefühlvollen Ausbrüchen des Liedes, und der 181
Rauch einer goldenen Zigarette kräuselte sich über den Fingern der linken Hand. Du bist so schön wie das Firmament. Warum nur sind deine Gefühle so schlecht! Der Kapitän tauchte auf und verschwand wieder, er ging hin und her auf einer Varietebühne im Licht von Scheinwerfern, die nur er allein sah. Sein Gesicht hatte die Züge einer ordinären, abgetakelten Hure angenommen, und der geschlitzte Rock gab den Blick auf ein altes, muskulöses Bein voller Haare frei, das die Erde mit einem roten Lackschühchen betrat. Germán ging von der Tür weg, nahm Ginés bei den Schultern und zog ihn mit einem gewissen Nachdruck mit sich. Die vier gin gen in Basoras Kabine, und jeder schaute in eine der vier Ecken, um den anderen nicht ins Gesicht sehen und nichts sagen zu müssen. Es war, als müßten sie sich untereinander für etwas entschuldigen, das sie getan hatten und dessen sie sich schämten. «Scheiße», sagte Juan Basora. «Armer Mensch», meinte Germán. Ginés fühlte nichts als Angst, eine unerklärliche Angst, als hätte er ein unbekanntes Haus betreten, und alle Türen hätten sich hinter ihm geschlossen. «Also war das, was Cojoncitos der Heizer, gesehen hat, doch keine Einbildung! Dieser Typ wagt es tatsächlich, in Weiberklei dern übers Deck zu gehen!» «Ein Kapitän, der sich als Frau anzieht, kann an Deck spazieren gehen, solange er Lust hat. Aus irgendeinem Grund ist er ja Kapi tän. Eines schönen Tages zieht er den Tanzausweis hervor und for dert dich zu einer Polka auf!» Martín lachte hysterisch über den Witz von Basora, aber bei den anderen überwog das Gefühl von Ärger und Verunsicherung. «Und morgen? Wenn er morgen anfängt, Kommandos zu geben, oder wenn wir in der Messe sitzen, was dann? Betrachten wir ihn immer noch als Kapitän oder als Revuegirl?» Martíns Lachen, das nicht durch den Mund herauskommen durfte, brach durch die Nase aus, und diesmal steckte er Basora und Germán damit an. Ginés blieb bei einem halben, unentschlossenen Grinsen, während die anderen sich die Brust oder den Bauch hielten 182
und sich vor Lachen beinahe bepißten, das schon in einen hysteri schen Erstickungsanfall übergegangen war, in dem sie sich auf dem Bett oder am Boden wälzten. «Wißt ihr, was ich morgen zu ihm sage, wenn ich ihn sehe?» fragte Martín mit Tränen in den Augen. Germán und Basora lachten ebenfalls Tränen, aber sie hielten beides zurück, denn sie wußten, daß Martín Öl ins Feuer ihrer Lachlust gießen würde. «Zu Befehl, gnädige Frau!» Der Kapitän hörte das Gelächter von seiner Kajüte aus, die sich in eine Künstlergarderobe verwandelt hatte.
Am nächsten Tag behauptete Ginés, er sei völlig wiederhergestellt, und überredete Germán dazu, ihn seinen alltäglichen Aufga ben nachgehen zu lassen. Ihm graute vor der Aussicht, in seiner Kabine eingesperrt zu bleiben, Tourón ausgeliefert zu sein und ihm gegenüber so tun zu müssen, als sei nichts geschehen. Er trieb sich in den Ecken des Schiffes herum, wo ihn der Kapitän am we nigsten sehen konnte, er ging sogar in den Maschinenraum hinun ter, wo die Maschinisten überrascht aufblickten, ebenso Martín, der ihm gestand, daß er ebenfalls Versteck spielte. Als die Zeit zum Mittagessen kam, blieb ihm nichts anderes übrig, als zur Of fiziersmesse zu gehen. Mit Verspätung und im Vertrauen darauf, daß seine Kollegen ihre Plätze schon eingenommen und das erste Gespräch mit Tourón begonnen hatten. Er betrat die Messe fast gleichzeitig mit Germán, Basora und Martín saßen schon da. «Und der Kapitän?» «Er läßt sich das Mittagessen auf die Kajüte bringen.» «Hat ihn schon jemand von euch gesehen?» «Ich nicht. Ich habe mit ihm telefoniert, weil er nicht auf die Kommandobrücke kam.» «Ich auch nicht.» «Ich auch nicht.» «Das heißt, er hat seine Kajüte nicht verlassen.» «Er hat gestern abend alles bemerkt.» «Oder er ist krank und hat keine Lust. Also laßt uns essen und fröhlich sein!» 183
Basora und Martín verzehrten das Tagesmenü mit gutem Appetit. Es gab Stockfischreis und Braten nach Gärtnerin Art. Germán war geistig abwesend, und Ginés probierte kaum von seinem gekochten Zwiebelreis und der Seezunge ‹a la plancha›. «Er wird schon wieder aus seinem Schneckenhaus herauskom men», meinte Basora, als sie vom Essen aufstanden. Während des ganzen Nachmittags und Abends verfolgte der Ka pitän die Arbeiten auf dem Schiff von seiner Kajüte aus. Er lehnte Germáns Angebot ab, ihn zu besuchen, und beteuerte, er habe eine kleine Hautallergie, die ihm verbiete, an die frische Luft zu gehen. Die Offiziere aßen schweigend zu Abend und gähnten beim zweiten Teil von ‹Vom Winde verweht›, denn Martín hatte den Konsum der drei neuen Videofilme eingeteilt, und der dritte durfte nicht eher gespielt werden, bevor sie die Azoren erreicht hatten und Kurs auf die Straße nach Gibraltar nahmen. Am nächsten Tag wiederholte sich die Abwesenheit des Kapitäns, und am dritten Tag kam er in einem Moment auf die Kommandobrücke, als keiner dort war. Aber von Deck aus sahen sie ihn hinter den Scheiben, wie er mit einem Fernglas den Horizont absuchte, und am Abend erschien er aufgeräumt und redselig in der Messe, als komme er von einer langen Reise zurück und bringe Anekdoten und Geschenke seiner Phantasie mit. Nach kurzer Zeit hatten die Offiziere zu ihrem üblichen Gesprächs ton gefunden, und der Kapitän zeigte sich bester Laune. Er küm merte sich immer noch ganz besonders um Ginés und seine Gesundheit. «Kommen Sie nach dem Essen in meine Kajüte. Ich habe noch ein paar Vitamintabletten, die Ihren Appetit anregen werden. Mit diesem Aussehen können Sie in Barcelona nicht von Bord gehen.» Die Aussicht auf ein Treffen unter vier Augen zwischen dem Kapi tän und Ginés gab den Offizieren ihre Boshaftigkeit zurück, und Ginés seine Angst, so daß er behauptete, der gesündeste Mensch der Welt zu sein, nur um diese Begegnung zu vermeiden. Er hatte nicht mit der Solidarität seiner Kollegen gerechnet, die sich nun mit dem Kapitän verbündeten und betonten, wie schlecht es ihm gehe. «Deine Gesundheit ist ein wesentlicher Bestandteil des reibungs losen Funktionierens des ganzen Schiffes. Wie Kapitän Tourón schon so oft gesagt hat, jeder von uns ist ein Teil eines Ganzen, und wenn ein Teil ausfällt, funktioniert das Ganze nicht.» Obwohl Tourón sich nicht genau daran erinnerte, wann er das gesagt hatte, was ihm Basora in den Mund legte, nickte er überzeugt, 184
und Ginés ging sofort nach dem Essen zu ihm, er ging hinter ihm her über den Flur, der zur Kapitänskajüte führte. «Wenn Sie gestatten, möchte ich früh zu Bett gehen und Sie nicht lange aufhalten.» «Sie halten mich nicht auf, Ginés. Nehmen Sie Platz. Ich gebe Ihnen gleich die Vitamine, aber ich muß gestehen, es war nur ein Vorwand, um mich mit Ihnen allein unterhalten zu können. Es gibt dreierlei Ansammlungen von Menschen: Personen, Leute und Pack. Ich befürchte, Ihre Kollegen sind Pack von der übelsten Sorte. Und Sie sind anders, das habe ich bemerkt.» Tourón fühlte sich in einem Kampf besiegt, den er nicht enthül len wollte, aber er breitete die Reste der Niederlage von Ginés aus. «Ich bin ein einsamer Mann, Ginés, meine Frau hatte keine Lust mehr, von Fahrt zu Fahrt auf mich zu warten, ich weiß nicht einmal, wo sie sich jetzt aufhält. Meine Kinder sind erwachsen und leben ihr eigenes Leben. Sie melden sich nur bei mir, wenn sie Geld brauchen oder sonst in Schwierigkeiten stecken, wie zum Beispiel meine jüngste Tochter. Letztes Mal mußte ich sie aus dem Gefängnis her ausholen, weil sie mit Rauschgift gehandelt hatte. Zum Glück habe ich noch ein paar gute Freunde in guter Position. Aber von meiner Familie kann ich überhaupt nichts erwarten. Unter diesen Umständen ist die Einsamkeit eine schiere Last, es ist so sinnlos, einen Ha fen zu erreichen. Ich bin schon fünfundfünfzig Jahre alt, bald werde ich ein alter Mann sein, ich fühle mich schon alt. Ich merke es, wenn wir einen Hafen erreichen, Sie alle haben etwas, das Sie lockt. Ich fühle nicht meine eigene Erwartung, Ginés, ich fühle die Ihrige. Deshalb freute ich mich, als ich Sie so glücklich sah, damals auf den Ramblas, glaube ich, in Begleitung dieser so, so offensichtlich interessanten Frau, das ist das Wort, interessant. Aber die interessan ten Frauen sind die schlimmsten, stimmt es nicht, Ginés?» Er hatte ihn zum Sprechen aufgefordert, aber aus Ginés Mund kam nichts. Seine Lungen und sein Gehirn gaben nichts her, keine Idee, keine Vorstellung, kein einziges Wort, nicht einmal Luft. «Haben Sie mir nichts zu sagen, Ginés?» Er schüttelte den Kopf. «Nichts Besonderes.» «Sind Sie ganz sicher?» «Ich glaube schon.» «Manchmal ist es besser zu reden, solange noch Zeit ist. Was er wartet Sie in Barcelona? Wer?» 185
«Also, … ich hoffe, dasselbe wie immer. Dieselbe Person wie immer.» «Sicher?» «Wer kann schon sicher sein!» «Sie! Sie sind genau derjenige, der sicher sein kann.» Die Hand des Kapitäns flatterte über dem Offizier, und Ginés schloß die Augen, als er sie auf seinem Knie spürte. «Ich kann eine Havarie simulieren und die Azoren anlaufen. Manchmal ist es möglich, einem bösen Schicksal zu entfliehen.» Die Hand des Kapitäns war eine schleimige Gegenwart, sie rief ein innerliches Zittern bei ihm hervor, aber er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. «In Barcelona erwartet Sie nichts Gutes.» «Ich habe keine andere Wahl, ich muß zurück. Was erwartet mich Ihrer Meinung nach?» «Eine Frau, nicht wahr? Ist es nicht das, was Sie erwartet?» «Genau. Es handelt sich um mein Privatleben. Ich habe das Recht, mich zu irren.» «Wenn Sie über Bord springen würden, würde ich versuchen, Sie daran zu hindern.» Er hielt die Situation nicht mehr aus, stand auf, nahm die Schach tel mit den Vitamintabletten und murmelte etwas von wichtigen Dingen, die er vergessen hatte. Der Kapitän hörte ihm mit wissen den Augen zu, mit der Ruhe eines Tieres, das sich seiner Beute überlegen weiß. «Wir sind an einem Punkt, wo es noch möglich wäre, den Kurs zu ändern und die Azoren anzusteuern.» «Was sollte ich auf den Azoren? Mein Leben spielt sich in Barce lona ab.» «Morgen wird es zu spät sein.» Ginés hielt dem Blick des Kapitäns stand, aber er wußte, keiner von ihnen beiden würde die Dinge beim Namen nennen. Die Ge reiztheit der Beute angesichts der unbezweifelbaren Übermacht des Raubtieres packte ihn, und er sah sich selbst dabei zu, wie er mit einer langsamen, traumwandlerischen Bewegung dem Kapitän die Tabletten ins Gesicht schleuderte, dann sah er in der Tiefe eines Korridors der Gewalt das erschrockene Gesicht des Revuegirls. Er kehrte ihm den Rücken zu, um hinauszugehen und zu versuchen, den sarkastischen Bemerkungen seiner Kollegen zu entgehen, die in 186
der Tür zu Basoras Kabine lehnten. Er wollte in seinem eigenen Schlupfwinkel wieder einen normalen Puls erreichen und den vernünftigen Sinn für das, was geschehen war und geschehen sollte, wiederfinden. Aber seine Kabine schien auf ein Ausmaß geschrumpft, in dem er nicht mehr atmen konnte, so daß er an Deck ging, um die Abmessungen seines Gefängnisses nachzuprüfen. Das Meer war nicht wichtig. Der Himmel war die Nacht, und die Sterne schwindelten die Möglichkeit einer Flucht vor. Das schwimmende Gefängnis fuhr weiter, und als er versuchte, dem Schicksal die Vorstellung einer paradiesischen Vergangenheit entgegenzusetzen, tauchte die tropische Dumpfheit Trinidads auf, das mangelnde Mitgefühl von Gladys und die armselige Gier des indischen Taxifahrers, der ihn wie eine dumme, ausländische Kuh gemolken hatte. Und das war die einzig mögliche Vergangenheit, an die er denken konnte. Was unmittelbar davor lag, ekelte ihn an bis zum Erbrechen. Und davor gab es nur noch die Erlebnisse einer vergeblichen Jugend, von der er schon gewußt hatte, daß sie zum Scheitern verurteilt war. Was wußte Tourón? Hatte er es selbst herausgefunden, oder war sein Name, Ginés Larios Prez, schon eine telegrafische Nach richt? Ich will mich nur von dir verabschieden, Encarna. Vielleicht nur das. Er bemerkte, daß sein Selbstmitleid erwachte. Er lächelte sich selbst zu und schrie über das brüllende Meer: «Ruhe, ich komme ja schon!»
Das Auto vor dem Haus stehenlassen, die Reisetasche in die Kam mer werfen, wo die Anzüge auf den Sommer warteten, eine Du sche nehmen und sich auf dem Bett ausstrecken, um die Starre zu lösen, die sich in seinen Gelenken eingenistet hatte – von diesem Gedanken war er besessen, seit er in Valencia die letzte Autobahn gebühr bezahlt und die imaginäre Grenzlinie der katalanischen Au tobahn überquert hatte. Er war schläfrig geworden und hatte zwei mal anhalten müssen, um Kaffee zu trinken und Atemübungen zu machen. Aber dann war er endlich in der Lage zu schlafen, nachdem er freudig überrascht seine vertraute Umgebung wieder in Besitz genommen und kurz überlegt hatte, wen er anrufen wollte – die wenigen Bande, die ihn an seinen kleinen Privathafen fesselten. Ein 187
Regen von zerbröckelnden Bildern erfüllte seine Augen mit Schlaf, aber er erwachte lange vor Tagesanbruch mit dem Kopf voller Dinge, die dringend erledigt werden mußten, und einer Nervosität, die ihn aus dem Bett trieb. Den Manchakäse und die Fladen legte er beiseite für den Gazpacho, den er irgendwann machen würde, wenn er in der richtigen Stimmung war und Fuster bereit sein würde, den ersten Gazpacho Carvalhiano zu probieren. Fuster! Er mußte ihn un bedingt anrufen, um ihm zu berichten, welchen Eindruck der Ur sprung des Río Mundo auf ihn gemacht hatte, von der Magie eines Augenblicks, die vielleicht nur dem mit Bedeutung überfrachteten Namen des Flusses zu verdanken war. Aber zuvor mußte es Tag werden, und er legte fest, in welcher Reihenfolge die Anrufe am neuen Tag erfolgen sollten: Mariquita, der Autodidakt, Biscuter und schließlich Charo, direkt vom Büro aus. Er hörte Radio, durchstö berte die Küche und ging schließlich in den Garten hinaus, wo ihn eine feuchte Kälte empfing und wieder in die schützende Schale des Hauses zurücktrieb. Er versuchte, noch einmal einzuschlafen, aber die tanzenden Bilderfetzen oder der Kaffee, der von der gestrigen Gewalttour noch in seiner Blutbahn kreiste, hielten seine Augen offen, als seien sie der natürliche Ausgang für den Kaffee. Zuerst tauchten die beiden Nonnen auf. Wieso waren es gerade zwei Nonnen gewesen? In weiter Ferne tauchte ein Phantasieschiff auf, groß, aber mit nur einem einzigen Mann an Bord, Ginés Larios, der Geliebte Encarnas, den sie bei einer Begegnung mitten in Barcelona wieder in Besitz genommen hatte. Vielleicht wußte er noch gar nicht, was ihr zugestoßen war. Er mußte sich mit ihm in Verbindung setzen oder mindestens in Erfahrung bringen, wann er in Barcelona erwartet wurde. Sobald die Sonne in der linken Ecke seines der Stadt zugewandten Fensters auftauchte, als steige sie vom Grund des Mit telmeeres auf, setzte sich Carvalho wieder ins Auto, fuhr zum Hafen hinunter und wartete, bis das Büro der Hafenaufsicht geöffnet wurde, um sich nach der Rosa de Alejandría zu erkundigen. «Die Ankunft der Rosa de Alejandría, Mehrzweckfrachter der Reederei Obregón, ist für den . Februar vorgesehen. Kapitän Luis Tourón.» «Sehen Sie bitte nach, ob Sie die Namen der Besatzung haben.» «Sicher, es ist ja ein Schiff, das regelmäßig hier anlegt. Wie war noch der Name? Ginés Larios, jawohl. Erster Offizier.» Er dachte kurz daran, ihm eine Nachricht zukommen zu lassen, unterließ es 188
aber; er mußte erst selbst weiterkommen, denn im Moment war er gerade vom Ursprungsort der Tat zurückgekehrt, mit leeren oder fast leeren Händen, mit der Geschichte der Wiederbegegnung zweier Liebender und einer Adresse, bei der Encarna ‹Carol› die Briefe von Paquita abgeholt hatte. Er traf Biscuter auf der Treppe zum Büro. Der Kleine war noch verschlafen, und er brauchte die halbe Treppe, bis ihm bewußt wurde, daß er soeben einem Carvalho ‹Guten Tag› gesagt hatte, der nach mehrtägiger Abwesenheit zurückgekehrt war. «Mensch, Chef, ich habe Sie gar nicht richtig begrüßt!» «Laß dich nicht aufhalten, Biscuter, ich bin noch eine Weile hier.» «Ich bringe frische Croissants mit!» Mariquita war zu Hause. Sie war gerührt über den Bericht aus Águilas, fast das einzige, was ihr Carvalho über die Erinnerungen von Paca Larios hinaus mitteilte. Als sie den Namen Ginés hörte, war sie überrascht. «Du lieber Himmel, von wem erzählen Sie mir da! Ich habe nichts mehr von ihm gehört, als er noch ein Junge war.» «Wußten Sie, daß ihre Schwester und er sich später wieder ge troffen haben?» «Wie sollten sie sich denn treffen, sie in Albacete und er auf dem Schiff?» «Barcelona hat einen Hafen, in einem Hafen legen Schiffe an, und Ihre Schwester kam, soweit wir wissen, häufig hierher.» «Aber sie war eine verheiratete Frau!» «Ach ja, stimmt.» Das Gespräch mit dem Autodidakten verlief nichtssagend. Car valho sprach, wie man mit einem Klienten spricht, und berichtete Einzelheiten, die später die Rechnung rechtfertigen würden. Der Autodidakt sagte zu allem ‹ja, ja, gut, gut›, als sei das, was er ihm berichtete, zweitklassiges Material oder nur Stufen einer Treppe nach oben oder unten, die zu den wirklichen entscheidenden Fakten führten. Erst als Carvalho von Águilas anfing und von seiner Suche nach Paca Larios erzählte, horchte der unsichtbare Gesprächspart ner auf, und sein Schweigen zeigte, wie wichtig ihm Carvalhos Be richt war. «Ginés Larios, sagten Sie, ihr Verlobter?» «Zur Verlobung ist es nie gekommen. Er war ihr Verehrer. ‹Sie sprachen miteinander›, wie die Cousine sagte. Aber später trafen sie 189
sich in Barcelona wieder, zufällig zuerst, und dann regelmäßig, wenn der Seemann hier anlegte. In der Tat müssen Encarnas Besu che, die sogenannten Arztbesuche, von einem bestimmten Datum ab mit der Ankunft der Rosa de Alejandría übereinstimmen.» «Die Rose von Alexandria, ein vielsagender Name!» «Wenn Sie meinen.» «Und was nun?» «Ich habe diese Adresse, an die Paca Larios ihre Briefe schickte, und diesen Namen, ‹Carol›. Ach so, und eine neuere Fotografie.» «Die Sache wird immer besser. Der Name Carol ist nicht ohne! Sie müssen zugeben, das klingt aufregender als etwa Conchita.» «Unbestreitbar. Ich bin gespannt, was ich unter dieser Adresse finde.» «Sehr gut.» «Die Sache mit Albacete ist reichlich schäbig und entlastet den Ehemann. Ich wundere mich, wie er überhaupt imstande war, auf zustehen, um nach Barcelona zu fahren und die Leiche zu identifi zieren.» «Er war nur wenige Stunden hier. Die Polizei hatte der Familie schon gesagt, daß seine Gesundheit nicht die beste sei, wir hielten es für eine vorübergehende Krankheit. Sehr gut, Carvalho, machen Sie weiter so! Je schneller Sie die Sache abschließen, desto billiger wird es für uns!» «Ich denke nur an die Interessen meiner Klienten. Damit sie wie derkommen!» «Statistisch gesehen ist es fast unmöglich, daß sich solche Dinge in einer Familie oder Personengruppe in ein und derselben Genera tion wiederholen!» «Aus Ihrem Munde spricht die Logik.» Charo gegenüber wäre es eine Grausamkeit gewesen, sie um diese Tageszeit anzurufen, und er verbrachte den Hauptteil des Vor mittags damit, die drei knusprigen Croissants zu verzehren, die ihm Biscuter gebracht hatte, und zwei Tassen leichten Kakao zu trinken, mit dem sein Gehilfe seine Rückkehr feiern und den Ein druck seiner Fehlleistung auf der Treppe zu mildern bemüht war. Dann gab sich Charo aber nicht mit telefonischen Erklärungen zu frieden, sondern bat ihn, ihr zwei Minuten Zeit zu lassen, um sich zurechtzumachen und in sein Büro zu kommen. «Wenn du willst, komme ich zu dir.» 190
«Nein, hier ist es zu unordentlich.» Bestimmt waren noch Spuren ihrer nächtlichen Arbeit vorhan den, oder ein verspäteter, ausdauernder oder einfach noch schlafen der Kunde. Aus den zwei Minuten wurde eine Stunde, und Charo war entschlossen, die Geschichte der Reise von A bis Z zu hören, vor allem aber die Besichtigung von Águilas, und versuchte, durch Fragen die geistigen Postkarten, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte, mit denen zu vergleichen, die Carvalho von seiner Reise mitgebracht hatte. Daß vieles abgerissen oder verschwunden war, stimmte sie traurig, und das, was es noch gab, mußte ihr Carvalho in allen Einzelheiten schildern, damit sie die Bilder vergleichen konnte. «Ich wollte dir ein Buch mitbringen, aber es war vergriffen.» «Wie mich das gefreut hätte, es wäre toll gewesen! Und das Grüne Häuschen, wie sieht das aus?» «Es ist ein ganz besonderes Haus, wie ein Spielzeug, es steht alleine, am Meer, aber die Wohnblocks rücken ihm immer näher. Ich weiß nicht, wie lange es sich noch halten wird.» «Und Terreros? Und die Salinen?» «Es gibt keine Salinen mehr.» «Keine Salinen!» Wozu brauchte Charo wohl die Salinen von Terreros? Nur um eine geborgte Erinnerung an der Sonne ausgesetzter Dünen von erdigem Salz zu bewahren? «Das mit dem Seemann ist so schön! Der arme Junge. Wenn er zurückkommt, bricht alles über ihn herein.» Carvalho fielen die Augen zu. Biscuter bot ihm seine Liege an, um den Ruf des Schlafs und der aufgeschobenen Müdigkeit Folge zu leisten, und Carvalho betrat zum erstenmal seit vielen Jahren das kleine Reich seines Assistenten, fünf oder sechs Meter im Quadrat, mit einer Pritsche, einem alten türkischen Bett, das Biscuter auf der Plaza de las Glorias erstanden hatte. «In dem Jahr, als das Attentat auf Carrero war, Chef, erinnern Sie sich!» Ein blauer Plastikschrank mit Reißverschluß, ein Poster mit der nackten Sydne Rome, ein Sparkassenkalender für . Ein kleines Bild von einem Straßenfotografen mit einem kannellierten Rand zeigte eine Frau in einem auffälligen Ausgehkleid, die mit einem etwas gemeinen Gesicht in die Kamera guckte. Das Adjektiv ‹ge191
mein› störte Carvalho, obwohl er es nur im Geist ausgesprochen hatte, und er bereute es. Schließlich war die Frau Biscuters Mutter gewesen, und er hatte vor über einem Jahr bei ihr Totenwache ge halten, zusammen mit ihrem Sohn. Das Lotterbett war wahr scheinlich für Biscuters Dimensionen gebaut, und Carvalho spürte seinen eisernen Kern an jedem Körpervorsprung, aber der Anfall von Müdigkeit war so umwerfend, daß er wie tot schlief und die Augen erst wieder öffnete, als es Abend war. Seine innere Uhr erin nerte ihn daran, daß er sich dringend auf die Suche machen mußte. Ein abrupter Satz aus dem Bett, um sich räumlich zu orientieren, dann ging er ins Büro, wo Biscuter im Licht der Schreibtischlampe auf ihn wartete, die Hände im Schoß übereinander gelegt, und sei nen Gedanken nachhing oder einer kleinen Erinnerung, klein wie sein Kopf, wie er selbst. Carvalho trat auf die Straße hinaus, ging aber nicht zu seinem Auto. Er nahm ein Taxi und fuhr zu der Adresse, die ihm Paqui aufgeschrieben hatte. Es war eins der typischen alten Häuser im Ensanche mit alteingesessenen Bewohnern, einer Portiersloge mit trüber Beleuchtung und einer Concierge, die seit dem letzten Krieg nicht mehr draußen gewesen zu sein schien und ihm übellaunig ant wortete. «Hier wohnt keine Carol. Es gibt die Señora Nisa, aber, na ja, manchmal kam ein Brief mit diesem Namen an, das stimmt. Spre chen Sie mit ihr. Ich weiß überhaupt nichts. Und ich will auch gar nichts wissen!» Das Verhältnis der Concierge zur Señora oder Señorita Nisa schien nicht das beste zu sein. Er ging die Stufen hinauf zum Hoch parterre. Ein gepflegter alter Mann in Trauerkleidung, der nach solidem, fetten Essen roch, öffnete die Tür. «Kommen Sie wegen der Annonce?» «Kann schon sein.» Er ließ ihn in einen kaum beleuchteten Empfangsraum eintreten und ging in ein winziges Büro mit wenig Licht, wo zwei Frauen miteinander tuschelten. Der Alte sagte etwas, kam zurück, beschnüffelte Carvalho flüchtig und verzog sich in ein altmodisches Eßzimmer mit Mosaikornamenten auf dem Fußboden. Eine der beiden Klatschtanten, die dem Alter und ihren Bewegungen nach zu dem alten Mann zu gehören schien, kam aus dem Büro heraus und ging ihm hinterher. Carvalho blieb sitzen mit einem gebrummten 192
Gruß und einer lächelnden, dunkelhäutigen Dicken, die ihn mit der Förmlichkeit eines tri- oder quatrolateralen Gipfeltreffens begrüßte und ihn ins Büro bat. Es war beherrscht von einer Mauernische mit einer Madonna in der Tracht einer Region, die nicht genau bestimm bar war. «Du kommst wegen der Annonce in der Zeitung, stimmt’s, Hübscher?»
Er hatte ein Bild vor Augen, das mehr der Erinnerung als der Gegen wart angehörte. Es war eine Altstadtwohnung, vielleicht in einem älteren Stadtteil als diese Wohnung, aber die sparsame Beleuchtung war dieselbe, es war dasselbe geheimnisvolle Halbdunkel, auch das Flüstern oder die gedämpfte Stimme, mit der die Frau sprach, die ihn empfing, die Priesterin einer unbekannten Macht. Damals war es eine Santera gewesen, eine Gesundbeterin, mit der Fähigkeit, einen von den Schmerzen eines kranken Auges oder der Eifersucht zu befreien, und Eifersucht war es, wovon Carvalhos Mutter ihren Sohn befreien wollte, eine Eifersucht, die Melancholie in sein Wesen gebracht hatte, und eine Appetitlosigkeit, die die gute Frau nicht dem Nachkriegsbrei mit ranzigem Schinken zuschreiben konnte oder wollte, denn das hätte bedeutet, eine gewisse Verantwortung für das alltägliche Scheitern der Hoffnung auf sich zu nehmen. Carvalho konnte sich nicht genau erinnern, wem oder was diese Eifer sucht angeblich gegolten hatte, wahrscheinlich einem anderen Kind aus der Verwandtschaft, dessen Familie besser gestellt war, das ein Fahrrad gehabt hatte, in einer Zeit und als Angehöriger einer sozialen Klasse, in der praktisch niemand etwas besaß. Die Santera betete vor einer überdimensionalen Heiligen Jungfrau in einer Nische, schlug eine Menge Kreuze über dem Kind und umnebelte es mit dem besonderen Duft einer Hausfrau, die eben aus der Küche kommt, wo sie ganz sicher etwas mit Lorbeer und Wein gekocht hatte, denn die Santera duftete nach Lorbeer und Wein. Erinnerungen besitzen Ge rüche und Klänge wie eine musikalische Landschaft. Mit der Zeit und der Bildung, als er beides noch hatte, fand Carvalho heraus, daß er auf seinen Vater eifersüchtig gewesen war, diesen Vater, den er kaum gekannt hatte. Er war vor kurzem aus dem Gefängnis entlas sen worden und hatte sich in ein Ehebett gelegt, das jahrelang ein 193
Hort der Geborgenheit und des Vertrauens für Carvalho und seine Mutter gewesen war. Jetzt stand eine andere, kleine und dicke Santera vor ihm, die nicht alt war, und an der Wand hing ein Bild der Heiligen Jungfrau in einer Ecke dieses postindustriellen Kupplerne stes, an der Schwelle der Jahrhundert-, der Jahrtausendwende. «Du kommst wegen der Annonce, stimmt’s, Schätzchen?» hatte sie ihn gefragt. «Was willst du? Du mußt mir genau sagen, was du willst!» «Das, was jeder will, der hierherkommt.» «Erster Fehler. Nicht alle, die hierherkommen, wollen dasselbe.» Es war der Triumph der Expertin über den Laien, der in ihren Augen aufleuchtete. Die kleine, dicke Zauberin lächelte. «Jeder Mann ist ein Fall für sich, und genauso jede von den Frauen, die ich dir verschaffen kann. Fangen wir mal an. Wie heißt du?» «Ricardo. Ich habe mich schon immer gerne Ricardo genannt.» «Sehr gut, Ricardo. Bist du verheiratet oder ledig?» «Verheiratet.» «Legst du Wert auf Diskretion oder nicht?» «Jede nur mögliche Diskretion. Meine Frau haßt mich und will mich nicht verlieren.» «Ich glaube, das wird kompliziert. Du bist sehr kompliziert.» Vielleicht hatte er ein zu kompliziertes Denkmodell ausgearbeitet. Er dachte kurz daran, er könnte ihr mit einem Vers helfen, den er damals gelernt hatte, als er noch Gedichte las: ‹Wer fürchtet nicht zu verlieren, was er nicht liebt?›, aber dann glaubte er, es würde die Santera noch mehr alarmieren. «Ich weiß nicht, ich weiß nicht. Ich möchte meine Zeit nicht um sonst opfern.» «Was verlangst du für deine Information?» «Sechstausendfünfhundert Peseten. Ich gebe dir dafür Namen und Adressen von Frauen oder vermittle dir Kontakte hier, ich wie derhole, nur Kontakte, für die Zeit von zwei Monaten.» Carvalho legte zwei Fünftausender auf den Tisch, die Santera nahm sie mit Effizienz und dem richtigen Tempo, nicht zu schnell und nicht zu langsam, und gab ihm das Wechselgeld wie ein groß zügiger Bankkassierer. «Das ändert die Sache. Jetzt weiß ich, daß ich meine Zeit nicht verliere. Denk nicht schlecht von mir, es kommen nämlich viele 194
hierher und spielen sich auf. Man opfert seine Zeit und guckt hin terher in die Röhre. Zurück zu dir! Verheiratet, diskrete Kontakte. Also kommen für dich verheiratete Frauen in Frage, die ebenfalls diskret sein müssen. Ich will dir ehrlich sagen, ich kann dir Frauen verschaffen, die sich aus Geldmangel auf diese Sache einlassen, oder aus Mangel an Zuneigung, nicht aus Lasterhaftigkeit. Ehefrauen, deren Männer zuwenig verdienen oder arbeitslos sind. Die eine oder andere tut es auch, weil ihr Mann sie nicht befriedigt oder weil sie Streit haben. Aber diese wollen dann eine stabile Beziehung, was ihnen ein verheirateter Mann wie du nicht bieten kann. Du wirst deine Frau an Wochenenden nicht allein lassen.» «Das kommt nicht in Frage: Wir haben ein Häuschen in einer Siedlung in Montserrat und fahren jedes Wochenende hin, um nach dem Garten zu sehen und Paella zu machen.» «Siehst du? Für dich kommen also nur Frauen in Frage, die ge nauso auf Diskretion angewiesen sind!» Sie stand auf, weil es geklingelt hatte, schloß die Tür hinter sich, sprach mit jemand, der gerade gekommen war, und kehrte zu Car valho zurück mit einem Gesicht, das noch zufriedener aussah als vorher. «Gerade kam ein Mädchen, die dich vielleicht interessiert. Schau sie dir mal an und sag mir, wie sie dir gefällt.» Carvalho erhob sich unter den Blicken der Heiligen Jungfrau und der Santera und schaute mit einem Auge durch den Türspalt. Es war eine Schlanke mit Stiefeln, die aussah, als verkaufe sie Enzyklo pädien an der Wohnungstür. Sie saß da und blickte auf den Türspalt, sie wußte, daß sie begutachtet wurde. «Sie ist sehr schlank.» «Gefallen dir die Schlanken nicht?» «Es gibt solche und solche. Aber immerhin ist es eine Möglichkeit. Du hast bestimmt noch mehr!» Die Santera schrieb eine Menge Zahlen auf einen Umschlag, als ob sie ein Rezept ausstellen würde. «Mit dieser hier bitte die äußerste Diskretion. Nur abends!» Es waren Telefonnummern und Namen von Frauen. «Wohin kann ich mit ihnen gehen, wenn wir uns treffen?» «Ich vermittle nur den Kontakt.» «Können wir denn nicht hierherkommen? Gibt es hier keine Möglichkeit?» 195
«Das ist ein Kontaktbüro, kein Stundenhotel! In deinem Alter solltest du eigentlich wissen, wo du mit einer Frau hingehen kannst.» «Ich sehe älter aus, als ich bin!» «Ganz in der Nähe von hier gibt es ein Stundenhotel, das Magoria. Wenn du willst, kannst du mit der hingehen, die gerade gekom men ist. Aber geh zuerst etwas trinken mit ihr, man muß mit einem gewissen Taktgefühl vorgehen.» «Wird sie sehr viel verlangen? Ich habe fast kein Geld bei mir. Nur das Wechselgeld, das du mir herausgegeben hast. Und wenn ich dann noch das Zimmer bezahlen muß …» «Das Zimmer kostet dich etwa siebenhundert Peseten, und der Rest reicht völlig. Dieses Mädchen ist sehr darauf angewiesen.» «Eigentlich kam ich ja hierher, weil du mir von einem Freund empfohlen wurdest.» «Wie heißt denn der Freund?» «Ich habe ihn in einer Sauna kennengelernt. So gut kenne ich ihn eigentlich auch nicht. Aber du weißt ja, worüber sich Männer un terhalten. Über Frauen. Wir sprachen immer über Frauen. Ich er zählte ihm meine Geschichte, und er riet mir, dich aufzusuchen und nach einer Carol zu fragen. Eine, die du ihm vermittelt hattest, und die sehr hübsch war.» Sie hatte sich in ihrem Stuhl zurückgelehnt, die Hände auf die Tischplatte gestützt und die Arme ausgestreckt, um Distanz zu schaffen. Die Santera hatte aufgehört zu lächeln. Ihre Augen taxier ten genau, wieviel Lüge und wieviel Wahrheit die Geschichte des Klienten enthielt. «Ich kenne keine Carol.» «Es ist ein Name, den man nicht so schnell vergißt. Mein Freund, nun ja, mein Informant, gab mir sogar ein Foto, das sie ihm ge schenkt hatte.» Er legte das Foto, das er von Paca bekommen hatte, vor der Frau auf den Tisch in den gelben Lichtkreis einer schwachen Lampe, die es häßlich machte. Die Santera sah es nur mit einem Auge an, mit dem anderen fixierte sie Carvalho. «Es gefällt mir gar nicht, daß meine Klienten untereinander die Mädchen weiter reichen. Ich finde es taktlos, und außerdem verliere ich meine Kommision.» «Er tat es nur, weil er nicht mehr an ihr interessiert war. Er zog 196
weg aus Barcelona, oder aus Spanien, ich weiß es nicht mehr genau. Tatsächlich habe ich lange gebraucht, bis ich mich entschieden hatte. Ich trage das Bild schon seit über drei Monaten bei mir, und er sagte mir, daß diese Frau nicht immer erreichbar sei.» «Ich habe viele solche Klientinnen. Sie machen es zu gewissen Zeiten, wenn sie es nötig haben.» «Sie wohnt offensichtlich nicht hier, oder sie war zwischendurch lange verschwunden und ist dann wiedergekommen.» «Stimmt.» «Hast du sie ihm vermittelt?» «Kann sein. Natürlich ist sie hier gewesen. Sie verschwand und tauchte alle drei oder vier Monate wieder auf. Warum, hat sie mir nie gesagt. Vielleicht mußte sie Wechsel bezahlen, die alle neunzig Tage fällig waren, oder sie brauchte eine finanzielle Aufbesserung.» «Wo kann ich sie erreichen?» «Ich habe eine Telefonnummer.» Die Augen musterten Carvalho und hielten dem Blick stand, mit dem er den ihren erwiderte. «Gibst du sie mir?» «Es ist keine billige Frau!» «Nicht, daß ich viel Geld hätte, aber trotzdem, es reicht für ein Abenteuer, wenn die Frau es wert ist.» Eine Hand legte sich auf den Tisch und kritzelte eine Telefon nummer auf das Papier neben die anderen, die sie vorher schon aufgeschrieben hatte. «Vielleicht wirst du sie nicht antreffen. Sie rief mich zum letzten mal vor drei oder vier Monaten an. Aber jetzt müßte sie wieder hier sein. Seit zwei Jahren war sie immer zur richtigen Zeit zur Stelle. Ich wiederhole es noch einmal, das hier ist eine Art Heiratsinstitut. Ich bringe Personen zusammen, die das wollen. Was sie hinterher treiben, ist ihre Sache, nicht meine, damit das ganz klar ist.» «Sonnenklar.» «Ich weiß nicht, ich weiß nicht, du bist ein komplizierter Kunde. Gehst du mit der, die draußen wartet?» «Gut, ich lade sie erst mal zu einem Glas Wein ein.» «Das ist gut. Man muß die Form wahren. Es kommen viele hier her, die sich einbilden, daß sie möglichst schnell zur Sache kommen müßten, und ab auf die Matratze. Ruf mich in zwei oder drei Tagen an, wenn dir die Kontakte nicht zusagen, die ich dir gegeben habe. 197
Du weißt ja, was du bezahlt hast, gibt dir ein Anrecht auf zwei Monate Information.» Sie betrachtete die Sprechstunde als beendet, stand auf und kam Carvalho zuvor, indem sie dem Mädchen erklärte, daß dieser Señor mit ihr weggehen wollte. Sie ging mit einer gewissen Eleganz in den Bewegungen ihres jungen Skeletts vor dem Detektiv die Treppe hinunter und ließ sich auf einen Kaffee in die Bar an der Ecke einladen. Sie erzählte Carvalho, daß sie von Haus zu Haus gehe und Apparate zur Herstellung von Sorbets verkaufte. «Ich wußte gar nicht, daß Sorbets so beliebt sind.» «Naja, mit dem Apparat kann man auch Mayonnaisen machen und Teig kneten, man kann sogar Wurst machen, und wenn es dir Spaß macht, kannst du eine Reihe von Zusatzgeräten verwenden, die die ganzen Elektrogeräte in der Küche überflüssig machen.» «Ist das Gerät sehr teuer?» «Früher war es unverschämt teuer. Der Apparat, den ich verkaufe, ist jetzt neu auf dem Markt und kostet etwa dreißigtausend.» «Verkaufst du viel davon?» «Nein, ich habe erst damit angefangen. Deshalb komme ich im mer noch hierher. A propos, sollen wir irgendwo hingehen?» Es würde darauf hinauslaufen, daß sie sich über ihr Kind ohne Vater oder mit einem schlechten Vater oder mit einem arbeitslosen Vater unterhalten würden, das zu Hause auf sie wartete, und er würde ihre vom erotischen Licht des muffigen Stundenhotels gerö teten Rippen zählen. Er ließ zweitausend Peseten in ihre halboffene Tasche fallen, aus der sie den Katalog des elektrischen Zaubergerä tes genommen hatte. «Ich habe heute keine Lust, vielleicht ein andermal. Gib mir einen Katalog, ich glaube der Apparat ist sehr praktisch!» «Das ist er, wirklich!» Ihr schwarzer Kaffee wurde kalt, während sie die Vorzüge des Mixgerätes pries. Carvalhos Frage, wie er sich mit der Kupplerin in Verbindung setzen könne, fand eine einleuchtende Antwort. Per Telefon. Als Orientierungshilfe dienten die Seiten mit den Kontaktund Massageanzeigen von El Periódico oder La Vanguardia. Als er den Katalog in der Tasche hatte und schon gehen wollte, war es das Mädchen, das darauf bestand, das Gespräch über die Arbeit und das Leben fortzusetzen. In einem passenden Zeitpunkt steckte sie die Hand in ihre Tasche und nahm eine Broschüre heraus. 198
«Hast du das schon gelesen?» «Der Weg zu dir selbst» von Yogi Madhasharti. Die Schlangenaugen des Mädchens wollten kein Geld mehr, auch kein Gespräch, sie verlangten nach der Gemeinschaft der Heiligen.
«Ich sehe schon gar nicht mehr wie ein Schuhputzer aus, Pepe. Ich sehe aus wie ein Bettler, wie ein moderner Bettler, Pepe. Die Bettler sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Weißt du noch, wie fürchterlich die Bettler nach dem Krieg aussahen? Einarmig, ein beinig, ohne Beine, blind oder einäugig – aber aus einem Guß, Pepe, und nicht diese Scheißbettler, die es jetzt gibt, die sich dafür entschuldigen, daß sie dich um ein Almosen bitten, indem sie so tun, als würden sie dir die Windschutzscheibe saubermachen, oder sie erzählen dir, daß sie arbeitslos und ihre Kinder zu Hause am Verhungern sind. Das sind keine Bettler, diese neuzeitlichen Typen. Ich bin noch vom alten Schlag, Pepe, und wenn die Leute mich sehen, mit meinem Schuhputzkasten in der Hand, dann meinen sie, ich komme geradewegs aus einem Museum. Alle Welt hat zu Hause eines von diesen Deodorants zum Schuheputzen, und keiner legt mehr Wert darauf, daß die Schuhe sauber und gepflegt aussehen, heute achtet keiner mehr darauf. Hast du gesehen, was die jungen Leute für Schuhe tragen? ‹Wambas› oder wie die Dinger heißen. Wie putzt man so was, Pepe?» «Kannst du eine Adresse ausfindig machen, wenn du nur die Te lefonnummer hast?» Bromuros Bürste, die wie ein Geigenbogen hin und her sauste, blieb in der Luft stehen. Er konfrontierte Carvalho mit dem be drohlichen Anblick seines fauligen, lückenhaften Gebisses, seiner gelben, tiefliegenden, wässrigen Augen und seiner Glatze, die in Folge der Luftverschmutzung voller Eiterpickel und Mitesser war, die sich in die Kopfhaut hineingefressen hatten. «So will ich dich hören, Mann! Das ist eine Frage wie in alten Zeiten. So kommt man zur Sache. Vielleicht kann ich das für dich erledigen, denn ich habe immer noch meine Kontakte, und für ein paar Leute, sehr wenige, ist der Legionär Francisco Melgar immer noch ein Begriff.» «Und wer ist das?» – «Ich.» 199
«Ich wußte gar nicht, daß du dir einen anderen Namen zugelegt hast.» «Ja, glaubst du denn, ich sei mit dem Namen Bromuro zur Welt gekommen? Glaubst du denn, mein Vater und mein Großvater hät ten auch schon Bromuro geheißen? Willst du mich auf den Arm nehmen, Pepe? Los, gib schon diese Nummer her!» Carvalho gab ihm einen Zettel, den Bromuro vorsichtig in Emp fang nahm, um ihn mit seinen schmierigen Händen nicht allzusehr zu beschmutzen. Er hielt ihn weit von sich, um die Zahlen lesen zu können. «Hast du eine Brille dabei, Pepe?» – «Nein.» «Ich habe nämlich meine verloren, die ich mir vor Jahren gekauft hatte, und jetzt sehe ich nichts mehr. Ich muß mir eine neue kaufen, aber ich habe nie Zeit, um zum Flohmarkt auf der Plaza de la Gloria zu gehen; dort gibt es haufenweise Brillen. Man muß nur Geduld haben und eine nach der anderen ausprobieren, bis man die richtige gefunden hat. Sie sind erstklassig, ganz billig und du sparst den Augenarzt.» Carvalho legte zweitausend Peseten auf den dunklen hölzernen Kasten, der vor Alter glänzte und dem vorletzten Schuhputzer der südlichen Ramblas als Stütze für sein Knie und seine Lebensgeister diente. «Spendabel! Du bist ein großzügiger Mensch. Solche Herren wie dich gibt es nicht mehr, Pepe. Du bist ein Gentleman. Es ist ein Vergnügen, dir einen Gefallen zu tun. Du und ein paar Schuhe, das ist alles, was mir noch geblieben ist. Das ist besser, als eine Flasche Wein und eine Tapa mit karbidverseuchten Calamares.» «Warum kümmerst du dich nicht darum, daß du Rente be kommst?» «Ich habe als Schuhputzer nichts einbezahlt.» «Und als Legionär? Als Soldat der Blauen Division?» «Als Legionär war ich unter dem Namen eines Onkels eingeschrieben. Als Divisionskämpfer glaube ich nicht, daß man Rente bekommt, und außerdem gibt es mich gar nicht.» «Wie, dich gibt es gar nicht?» «Nein, Pepe! Ich war doch vor zwei Jahren dort und wollte einen Personalausweis beantragen, und da sagten sie mir, ich sei gefallen, als wir einen russischen Fluß überquerten. Und das, wo ich über haupt nicht schwimmen kann! Wenn ich nicht schwimmen kann, 200
wie soll ich mich dann in einen russischen Fluß wagen? Du siehst das ein, aber dieser Typ auf dem Amt nicht. ‹Genau deshalb sind Sie ja ertrunken, weil Sie nicht schwimmen konnten!› So sagte er wort wörtlich, diese Frechheit besaß der Kerl! Hören Sie mal, sagte ich zu ihm, meinen Sie eigentlich, daß ich wie ein Toter aussehe? Glauben Sie, wenn ich ertrunken wäre, würde ich hier vor Ihnen stehen? Nein, offensichtlich nicht. Und wenn ich schon mal hier bin, dann deshalb, weil mich keiner je dazu gebracht hat, einen Fluß zu über queren, schon gar nicht einen russischen, nicht mal der General Muñoz Grandes selbst hätte das fertiggebracht, bei allem Respekt, den ich vor ihm hatte, denn er war der größte General in Spanien seit Napoleon. Du verstehst mich. Aber dieser Federfuchser blieb dabei, daß ich ertrunken sei, weil ich nicht schwimmen konnte. Vielleicht können das die Sozialisten für mich regeln. Was halten die Sozialisten wohl von einem ehemaligen Kämpfer der Blauen Divi sion, Pepe?» «Sehr viel. Sie wollen sich mit dir aussöhnen.» «Ich habe ihnen nichts getan. Ich schreibe an Alfonso Guerra, das ist derjenige, der mir am besten gefällt. Ja, ja, Pepe, dieser Guerra erinnert mich manchmal sehr an General Muñoz Grandes.» Carvalho hatte sich von Bromuro abgewandt und ging am Restaurant Amaya vorbei zum Hafen hinunter. Bromuro rief hinter ihm her und versprach, ihn zu benachrichtigen, sobald er selbst Bescheid hätte. Es war die Stunde des Angelusläutens. ‹Und der Engel verkün dete Maria …› würde es im Radio heißen. Auch an diesem Vormit tag standen auf den Gehwegen der Ramblas schon die ersten Nut ten, jung wie ihre Lust zu essen und zu leben, und Mädchen, die wie billige Huren gekleidet waren, vielleicht waren sie es auch, zu ha ben für ungeduldige Freier, gehetzte Besucher der Stadt, die das schützende Dunkel des Abends nicht abwarten konnten. Auf dem Gesicht hatte sie eine Maske aus weißem Make-up und über die Haare hatte sie ein Handtuch geknotet. Im Ausguß standen einige Whiskygläser mit zerflossenen Eiswürfeln, ein Aschenbecher voller Kippen, im Zimmer roch es muffig, der Rauch einer schlech ten Zigarre hing noch in der Luft, ein Geruch, der sich über den Innenhof in der Nachbarschaft verbreitete, als Carvalho die Läden aufstieß und eine schwache Sonne lustlos ins Zimmer scheinen ließ. «Mach ruhig auf, es stinkt wie in einem Saustall. Hier im Hafen201
viertel ist alles so feucht, daß es immer muffelt, obwohl ich dauernd die Fenster aufmache.» Carvalhos Besuche waren nicht allzu häufig, deshalb hatte seine Erklärung, er würde zwischen dem Gespräch mit Bromuro und einer Aufgabe, die er nicht näher erklären wollte, Zeit gewinnen, Charos Mißtrauen nicht gedämpft. Ihre Finger steckten in einem Töpfchen und während ihrer Maniküre warf sie immer wieder einen Blick auf den schweigsamen Carvalho, der mit kleinen Schlucken eine große Tasse Kaffee schlürfte und Gebäck dazu aß. «Ich verstehe nicht, wie du am frühen Morgen so was runter kriegst.» Carvalho wollte nicht mit ihr über seine Arbeit reden, trotzdem drängten sich ihm bei der Betrachtung der vier Zimmerwände lau fend Fragen auf, die mit seiner Arbeit zusammenhingen und die er hinunterschluckte, bevor er sie aussprach. «Weißt du Bescheid über diese Häuser, die Kontakte vermitteln?» «Heiratsinstitute?» «Das nicht gerade.» «Ach so, die meist du! Also hör mal, du redest mit den Gehenkten über den Strick! Gerade die sind eine Konkurrenz, gegen die nichts zu machen ist. Ich weiß nicht, was plötzlich in die Männer gefahren ist, sie gehen denen auf den Leim wie die Fliegen. Nimm mal die Zeitungsseiten dort, die ich gesammelt habe. Schau dir die Spalten ‹Kontakte› und ‹Massagen› an, das sagt alles, und dann er zähl mir, ob es noch eine Gerechtigkeit gibt, bei den Preisen heutzu tage! Die haben vor nichts mehr Respekt!» «Mädchen, zweiundzwanzig Jahre, hübsch, nicht professionell. Hostessen, Modelle und junge Begleiterinnen, Universitätsni veau …» «Nein, wenn ich mich schon in die Spalte für die über fünfund zwanzig Jahre einschreiben müßte …» «Private Luxusappartements, auch Haus- und Hotelbesuche auf Kreditkarte.» «Hättest du das geglaubt, daß es Kunden gibt, die mit Scheck karte zahlen wollen? Nur wegen diesen Weibern, die alles wie im Supermarkt machen!» «María, vierundzwanzig Jahre, Boutiqueverkäuferin, Metro , mit Nivau.» «Niveau ohne e!» 202
«Niveau schreibt man mit e? Das ist ja noch schöner. Sieh mal an, eine Riesenannonce, aber sie können nicht mal richtig schreiben! Nein, nein, Pepe, diese ganze Konkurrenz mit den Anzeigen scha det uns ungeheuer. Sieh mal nach, da gibt es sogar eine Anzeige: Mutter und Tochter, mehrtägig. Glaubst du, daß es noch eine Ge rechtigkeit gibt? Ein Kunde von mir ging hin und verlangte von beiden den Personalausweis, und sie waren tatsächlich Mutter und Tochter. Dann diese ganzen Geschichten mit dem lesbischen Dop pel, dem Griechen, dem Thai, dem schwarzen Kuß, wo soll das denn alles enden? Ich sage immer zu meinen Klienten: ‹Wenn ihr euch einbildet, daß ich diese ganzen neuen Schweinereien mitma che, die jetzt modern sind, dann seid ihr auf dem Holzweg! Ich mache es auf die gute alte Art. Ich fühle es so, und so wird es auch bleiben, bis ich in Rente gehe oder sterbe. Alles übrige ist Aufgeilerei oder krankhaft. Es ist schön und gut, wenn ein Mann Dinge sucht und findet, die ihm seine Frau nicht bietet, aber erkläre mir mal diese Scharfmacherei mit Mutter und Tochter oder mit der Ta bakhändlerin aus ‹Amarcord›, also erklär mir mal, was diese Tussi wohl zu bieten hat, die als Tabakhändlerin aus ‹Amarcord› annon ciert!» «Mich interessieren vor allem die Kontakte, wie das funktioniert, wer das in der Hand hat.» «Also, da gibt es eine Menge verrückter Sachen. Normalerweise macht es eine schlaue Alte, die ihre Wohnung schon für heimliche Rendezvous zur Verfügung gestellt und sich nach und nach einen Stamm von Mädchen aufgebaut hat. Sie vermittelt sie als Haus frauen, die in der Klemme sind und es nur für ein paar Wochen machen, oder weil sie, naja, kurz und gut, weil sie eben in Not sind. Aber es gibt dabei auch eine Menge organisierter Prostitution. Und dann kommt, was kommen muß, weil es den Männern so hübsch serviert wird und sie so scharf darauf sind. Aber ein Kunde von mir, ein ganz temperamentvoller Typ, der Arme, er stammt hier aus der Gegend, aus Tarragona, also er ging zu so einem Weibsbild hin, weil er ein wenig seine Hüften bewegen wollte, und bekam ein paar Adressen. Aber jedes Rendezvous war ein Reinfall, weil da welche dabei waren, die Theater machten, um mehr Kohle locker zu ma chen, und bis er mit denen im Bett war, das war schwieriger als die Rätsel des Fu Man-chu.» Man merkte, daß Charo aus einer anderen Zeit stammte. Eine 203
jüngere Frau hätte ‹Starwars› als Beispiel genommen, aber Charo blieb bei ‹Fu Man-chu› und verstand nicht, wie ihr Pepiño, der doch sonst immer so ernst war, dazu kam, sie mit einem leichten Grinsen anzulächeln. «Lachst du mich aus? Glaubst du, ich lüge dich an?» «Das heißt also, eine Frau, die eine gewisse Zeit lang diese Kon takte will, so lange sie eben daran interessiert ist, kann jederzeit wieder aussteigen?» «Das kommt darauf an. Wenn noch kein Lude von der Sache Wind gekriegt hat, dann ja. Wenn sie dahintergekommen sind und ihren Namen kennen, dann wird sie unter Druck gesetzt, daß sie weitermacht. Es kommt auch darauf an, wie schlau die Alte ist.» «Das heißt also, es kann auch Abrechnungen geben.» «Das wird wohl mehr als einmal vorkommen.» «Aber du weißt es nicht genau?» «Nein, ich weiß es wirklich nicht genau, weil ich meine Nase nicht in die Angelegenheiten anderer Leute stecke. Als meine Freundinnen mir den Vorschlag machten, mich auf so was umzu stellen, weil es mehr Geld bringt und weil man sogar besser behan delt wird – weil es so aussieht, als sei man gar nicht das, was man ist –, also damals sagte ich nein, weil ich mich nicht wohlfühlen würde, wenn ich dauernd so ein Theater spielen müßte – daß wir uns erst dann und dann treffen können, weil mein Mann um sieben Uhr nach Hause kommt, oder daß ich Verkäuferin bin und erst nach neun Uhr kann. Oder ‹ruf mich im Büro an, aber nur zwischen zwei und drei, weil dann der Chef beim Essen ist›. Das ist Theater, das ist nichts Seriöses.»
Bromuro war nicht an seinem Arbeitsplatz an der Ecke der Calle Escudellers, auch nicht in den Bars und Nepplokalen der Gegend, und im Büro hatte er ihm auch keine Nachricht hinterlassen. In einer Bar in der Calle Are de Teatre deutete man ihm an, daß er möglicherweise bei der Razzia der vergangenen Nacht mitgenom men worden sei, aber Bromuro war bei der Polizei eine bekannte Persönlichkeit und würde auf dem Kommissariat nicht länger fest gehalten werden, als sie für die Feststellung der Personalien brauch ten. In der Pension, wo er wohnte, war er seit Tagen nicht gesehen 204
worden, obwohl die Wirtin vorbeugend sagte, sie könne nicht Be scheid wissen, wann dieser alte Herumtreiber und Tagedieb zu Hause sei und wann nicht. Er schulde ihr mal wieder fünf Monats mieten und würde eines Tages beim Nachhausekommen seinen Pappkarton auf der Treppe vorfinden. Wie sich herausstellte, war es der Pappkarton, in dem ihr Farbfernseher geliefert worden war, und Bromuro hatte sie darum gebeten, seine Habseligkeiten darin unterzubringen. Auf den Ramblas gingen schon die Lichter an, als Bromuro an Carvalhos Bürotür anklopfte und etwas Starkes ver langte, um die Sprache und die Selbstachtung wiederzufinden. «In einer einzigen Nacht habe ich alles verloren, Pepe. Es wird Zeit, daß ich mich zum Sterben hinlege.» Biscuter war mehr als Carvalho besorgt über den plötzlichen Pessimismus des bärtigen, verdreckten Schuhputzers, dessen Haare, oder was von seiner schmierigen Hinterhauptstolle noch übrig war, nach allen Seiten abstanden. «Letzte Nacht haben sie mich tatsächlich mitgenommen, Pepe, bei der Razzia, es war ein junger Leutnant von denen, die sie wer weiß woher geholt haben, also ich grinste und dachte, der wird schon sehen, was für eine Zigarre er kriegt, wenn er Bromuro auf die Wache schleppt. Kaum waren wir dort, ging ich zu dem Dienst habenden und wies mich aus. Keine Reaktion. Ich hätte ihm genau sogut sagen können, ich sei irgendein Penner. Der Typ sah mich nicht einmal an. Ich verlangte, daß Miraflores oder Contreras her auskommen sollten, du weißt schon, wen ich meine. Aber Miraflo res ist inzwischen pensioniert, und Contreras kann nicht, weil er mit einer anderen Geschichte beschäftigt ist. Ich hatte die Hosen schon so voll, daß ich sie zubinden mußte. Aber dann fing ich mit meiner Vergangenheit an, mit der Blauen Division, und daß ich damals zuverlässiger war als Gott selbst, als die Anarchisten die Straßen mit der Knarre in der Hand unsicher machten. Da kam doch so ein Naseweis daher, so einer von der Akademie, und sagte mir, solche Verdienste seien nicht mehr gefragt, und das sagte er mir mit seinem Bärtchen und seinem Kommunistengesicht, jawohl, er sah aus wie so ein Briefwahl-Kommunist, ich rieche diese Vögel von weitem – und dabei habe ich Respekt vor einem richtigen Roten, einem Roten, der sein Leben lang dabei war, aber nicht vor so einem Grünschnabel von Polizist und Kommunist oder De mokrat oder einer Mischung aus dieser Unnatur, vor so einem 205
nicht! Und der Scheißtyp behielt mich da, Pepe, ich sage dir die Wahrheit, und ich dachte bei mir, so viele Schüsse, so viele Winter ohne ein Hemd auf dem Leib und ohne Schuhe an den Füßen, und das alles nur, damit man am Ende nicht mal mehr als zuverlässig gilt! Ich habe es nicht verdient, daß du mir vertraust, Pepe. Ich bin ein Nichts, ein Haufen Scheiße! Ich habe meinen Schneid und meine Eier auf dem Kommissariat gelassen, sie sind zu Boden gefallen wie zwei trockene Fetzen, wie zwei taube Nüsse!» Ein paar Gläser Trebernschnaps und ein Bocadillo mit Chorizo, das ihm Biscuter gemacht hatte, ließen Bromuros Lebensgeister wieder zurückkehren. «Weißt du noch, was ich von dir wissen wollte?» «Hier steckt es drin!» Dabei deutete er auf seinen Kopf. «Hier habe ich es reingesteckt, als ich sah, daß es auf dem Kommissariat nicht mehr wie früher war. Ich hatte Angst, daß sie den Zettel fin den mit der Telefonnummer und mir deshalb Ärger machen, man kann sich ja nicht mal mehr auf die Polizei verlassen. Also aß ich den Zettel auf. Dann habe ich die ganze Nacht die Adresse vor mich hin gesprochen, damit ich sie nicht vergesse.» Bromuro sah zur Zimmerdecke und schnarrte: «Carretera de Vallvidrera A, unten.» «Mensch, Bromuro, was erzählst du da! Ich dachte mir schon, daß es in Sarriá wäre, wegen des Anfangs der Telefonnummer, aber doch nicht auf meinem eigenen Nachhauseweg!» «Auf der Stelle soll mich der Blitz erschlagen, Pepe, wenn ich lüge. Ich habe mir geschworen, auch wenn es das letzte ist, was du als Mensch tun kannst, du mußt Pepes Befehle richtig ausführen!» Carvalho nahm das Telefonbuch aus einer Schublade und suchte in dem Band mit dem Straßenverzeichnis die Adresse, die Bromuro herausgefunden hatte. Es war genau die Nummer, die auf dem Zet tel der Kupplerin gestanden hatte, und der Name, auf den die Num mer eingetragen war, hielt seinen Blick mit magischer Gewalt fest: Juan Pons Sisquella. Carvalho lehnte sich in seinem Bürosessel zu rück und hörte dem Lamentieren von Biscuter und Bromuro nicht mehr zu, sondern überließ sich ganz seiner Intuition, in der ein Ver dacht Gestalt annahm. Er griff zum Telefon und wählte die Num mer des ‹Haushaltsgeschäftes Amperi›. Der Apparat dort klingelte und klingelte, wie gefangen in einem Labyrinth, das ihn hinderte, das Ziel zu erreichen, das für Carvalho so wichtig war. Dann rief er 206
Charos Verwandte an, und der Arbeitslose meldete sich mit leiden der Stimme. Nein, seine Frau könne nicht an den Apparat kom men. Carvalho gab seine Identität preis und erklärte ihm, daß er Narcís suchte. «Ich habe keine Ahnung, wo er ist. Ich weiß nur, daß sie meinen Jungen verhaftet haben. Meine Frau ist auf die Wache gegangen und will ihn besuchen.» «Warum?» «Sie haben überhaupt keine Erklärung gegeben. Sie nahmen ihn mit, das ist alles. Der Junge wollte gerade zur Arbeit gehen, und sie führten ihn ab wie einen Verbrecher.» «Erinnern Sie sich an den Vornamen von Narcís’ Vater? Wissen Sie, ob er vielleicht Juan heißt?» «Nein, ich weiß es nicht. Ich glaube, seine Mutter heißt Neus, oder Nieves, aber an den Namen des Vaters kann ich mich nicht erinnern. Was soll das jetzt? Bitte erzählen Sie ihm das mit meinem Sohn, falls Sie ihn treffen! Er war immer ein guter Freund und könnte uns helfen. Können Sie nichts unternehmen?» «Ich werde tun, was ich kann.» «Ich werde tun, was ich kann», wiederholte er ein paar Minuten später einer aufgeregten Charo, der Mariquita schon berichtet hatte, was geschehen war. «Pepe, sie sind außer sich, sie wissen nicht mehr, was sie machen sollen. Zuerst das mit dem rauschgiftsüchtigen Sohn, von dem sie nicht wissen, wo er steckt. Und jetzt Andrés, aber es ist das erste Mal, daß ihm so etwas passiert. Narcís ist verschwunden, als hätte er sich in Luft aufgelöst.» «Ich gehe jetzt sofort los und rede mit Contreras», bot der wie derhergestellte Bromuro an, martialisch trotz aller Altersschwäche und bereit, den Marsch auf die Jefatura Superior anzutreten. Carvalho bat ihn, damit ein paar Stunden zu warten, vielleicht gerade die Zeit, die er brauchen würde, um seine Gedanken zu ord nen und herauszufinden, warum ihn die Namensgleichheit des Au todidakten und des Besitzers des Hauses an der Straße nach Vallvi drera so elektrisierte. Im Allerheiligsten des Autodidakten ging auch niemand ans Telefon, und es kam nicht in Frage, alle Saunen und Massagesalons der Stadt durchzukämmen. «Hast du erfahren, was der Grund für die Razzia war?» «Also, es war einfach, weil hier jede Menge Gauner frei herum laufen, und ihnen die ganzen Ladenbesitzer von Katalonien im 207
Nacken sitzen, denn heute wird hier ein Juwelier umgebracht und morgen ein Drogist, und sie müssen sich einsetzen, damit die Leute glauben, daß sie etwas tun. Das mit der Kriminalität wird keiner mehr in den Griff kriegen. Kann man den Terrorismus stoppen? Nein. Solange man nicht die Hälfte aller Basken in den Knast steckt und noch ein Viertel davon nach Venezuela ausweist, läuft da nichts. Und in den Großstädten ist es dasselbe. Es gibt tausend Rei bereien, und jeder hat es total eilig, irgendwohin zu kommen. Das ist bei dem Gangster mit der weißen Weste genauso wie bei dem Sechzehnjährigen, der ein Auto knackt, um damit anzugeben, oder eine Apotheke überfällt, um sich einen Schuß zu setzen. Wenn ich dir die Wahrheit sagen soll, Pepe – ich bin ja schon alt, und nach all dem, was ich durchgemacht habe, warum sollte ich das Handtuch werfen –, aber wenn ich jung wäre und sehen würde, was ich sehe, ich würde mir sofort einen Strick nehmen. Mir würde keiner etwas vormachen, weißt du? Wozu die ganzen Jahre durchhalten und da bei bloß immer einstecken müssen, Tag für Tag, und noch eine Ohrfeige und noch eine, und das alles nur, um am Ende doch vor dem Nichts zu stehen?» «Mensch, reiß dich zusammen, Bromuro! Laß dich nicht so hängen!» Biscuter sprach ihm Mut zu, wie nur ein Cortés seine demoralisierten und dezimierten Truppen nach der ‹Noche Triste› hätte aufmuntern können, und die Ansprache des Blonden hatte etwas von einem flammenden patriotischen Aufruf, wie er den Arm erhob und seine Augen nicht von der dunklen Geographie in Bromuros Gesichtszügen ließ, um die Wirkung seiner Worte zu beobachten. Es war ein Konflikt um die Grenzen der Hoffnung im Lande der Unglücklichen. Er bat Charo, zu Mariquita zu gehen, er selbst habe eine ganz dringende Sache zu erledigen. Es bestand darin, zum Auto zu gehen und dieselbe Strecke wie immer zu fahren, als wolle er nach Hause. Aber das war nur ein Täuschungsmanöver, sein erklärtes Ziel befand sich am Fuß des Berges. Dort innerhalb der Stadt begann schon die Natur, und die Bäume und die Pflanzen versprachen, gefangen in den Gartenmauern heruntergekommener oder renovierter Villen, die Nähe der Berge. Der Sonnenuntergang färbte die Mauern der Pri vatschulen blutrot und mit ihnen die Kinderschar, die ihre Illusion von Freiheit wieder in Besitz nahmen. Die Mütter saßen am Steuer, und er überraschte die großen Busse in dem Moment, wo sie nicht 208
wußten, ob sie vorwärts oder rückwärts fahren sollten und ob sie die Fracht heimkehrender Kinder behalten oder wieder ausspucken sollten. Ein paar Meter weiter oben, dachte Carvalho, lag wahrscheinlich der Ort des Verbrechens.
Er hatte das Gefühl, seine Zeit doppelt zu nutzen. Als ob man ihm die Arbeit nach Hause bringen würde. Die aufgeschriebene Haus nummer gehörte zu einem kleinen, verlassen wirkenden Landhaus nur wenige Meter von der Haltestelle der Bergbahn. Ein Verkehrs polizist regelte den Verkehr bei Schulschluß. Ein kleiner Strom kindlicher Ameisen schlängelte sich vom Schulgebäude bis zum Haltepunkt des Zuges, und der Polizist machte ihm mit energi schen Gesten klar, daß er hier nicht parken dürfte. Also fuhr er über die Brücke unmittelbar vor der Haltestelle und ließ das Auto in einer menschenleeren Straße stehen, am Fuß der hohen Umfas sungsmauer einer Villa. Er ging zu dem Haus und kam zu einem hohen Eisengitter, an dem alte Blechplanken befestigt waren, um die Sicht auf den Garten zu nehmen. Er drückte die Klinke, die Tür ging auf, und vor ihm lag eine kiesbestreute Fläche. Ein mit Ziegel steinen belegter Mittelgang führte zur Freitreppe eines Häuschens mit historistischen Ambitionen. Aber er war nicht allein im Garten. Zwei Männer stürzten sich auf ihn. Der eine baute sich eine Hand breit vor seinem Gesicht auf, der andere bewachte seine rechte Seite. Vielleicht hatte er ihre Gesichter schon einmal gesehen, auf jeden Fall erkannte er sie an ihren Bewegungen. «Ihren Ausweis, bitte!» «Und wo ist Ihrer?» Die Dienstmarke wurde ihm mit der allerstriktesten professio nellen Neutralität gezeigt. Derjenige, der vor ihm stand, brauchte keinen Personalausweis, um Carvalho zu erkennen; tatsächlich sah er ihn kaum an. «Kommen Sie mit, wir haben ein paar Fragen an Sie.» Die Haustür hatte sich geöffnet, im Türrahmen waren zwei wei tere Polizisten aufgetaucht, und im Innern des Hauses konnte man weitere Gestalten ahnen. Das Haus war fest in Feindeshand, und er war in eine Falle getappt wie ein Anfänger. Er verzichtete darauf, Rechtsmittel einzulegen, und fuhr lieber im Polizeiauto mit als in 209
seinem eigenen. «Es ist hier so schwierig, einen Parkplatz zu be kommen.» Während der Fahrt durchstöberte er alle Windungen seines Ge hirns, um herauszufinden, wann und warum die Polizei Aktionen unternommen hatte, die zunächst parallel zu seinen eigenen liefen, um dann mit ihnen zusammenzutreffen. Entweder hatten sie seit längerer Zeit die Abelláns beobachtet, oder ihn selbst, oder die Kupplerin hatte Verdacht geschöpft und das alles ins Rollen gebracht. Du hast zu sehr mit ihr gespielt. Du hast dich wie ein Amateurdetektiv oder wie ein Detektiv im Kino verhalten. «Contreras?» «Ja, Contreras bearbeitet diesen Fall. Als wir ihm am Telefon erzählten, daß Carvalho in eigener Person in die Falle gegangen war, wäre er beinahe vor Lachen gestorben.» «Er kann lachen?» «Ab und zu.» «Ich dachte, er hätte seit dem Tod Francos Trauer geschworen.» «Übertreiben Sie nicht.» Contreras tauchte hinter einem Manhattan von Akten auf, von denen einige so aussahen, als hätten sie seit der Zeit von Jack the Ripper dort gelegen. «Oh, welch seltener Gast! Superman in Zivil. Es nützt nichts, Ihnen die Leviten zu lesen. Diesmal sind Sie Ihre Lizenz los! Sie können noch von Glück sagen, wenn Sie nur den Beruf zu wechseln brauchen! Ich habe keine Zeit zu verlieren, und es wird nur zu Ih rem Vorteil sein, wenn Sie schnell und gründlich auspacken. Ich will alles wissen! Wer zum Teufel hat Sie dafür engagiert, Ihre Nase in dieses Schlachthaus zu stecken? Sie wissen ja selbst, das ist kein Mordfall, das ist ein Gemetzel.» «Ich bin versucht, mich zu weigern, die Namen meiner Klienten preiszugeben. Wenn Sie mir auf die Zehen treten und mich für ver haftet erklären wollen, habe ich das Recht, einen Anwalt anzuru fen.» «Na klar, einen, zwei, drei, so viele Sie wollen! Und ich auch. Man muß dazu beitragen, daß alle etwas verdienen. Sie betrachten es als Berufsgeheimnis, nicht wahr?» «So könnte man es nennen.» «Nennen wir es mal so. He, Renduelas, bring mir mal die Berufs geheimnisse dieses Herrn da!» 210
Renduelas war lustlos, entweder hatte er sein Metier satt oder das ganze Leben, auf jeden Fall schleppte er sich mit tödlicher Lang samkeit zu der Milchglastür, die Contreras’ Büro von dem Büro nebenan trennte. Er ließ sie offen, und eine halbe Minute später standen Andrés und der Autodidakt im Türrahmen. Andrés war niedergeschlagen, der Autodidakt zeigte ein halb zynisches Grin sen, das sich zwischen seinen roten Wangen versteckte, in der un verwechselbaren Röte, die zwei Ohrfeigen hinterlassen hatten. Wahrscheinlich hatte er sie durch den Einsatz des enzyklopädischen Lexikons provoziert, das er im Kopf trug. «Carvalho, aber Sie…» «Du hältst dein Maul!» Contreras’ Gebrüll brachte den Neunmalklugen zum Schweigen. «Sind das Ihre Berufsgeheimnisse? Dann haben sie schon auf gehört, welche zu sein. Nimm sie wieder mit!» Contreras lehnte sich in seinem Stuhl zurück und studierte gele gentlich irgendwelche Akten, die er während der letzten dreißig Jahre keines Blickes gewürdigt hatte. Ab und zu zog er eine Braue hoch. «Und nun? Wollen wir weiter Versteck spielen?» Die Glastür ging wieder auf. Renduelas, etwas wacher, meinte: «Sie verlangen einen Anwalt.» «Alle beide?» «Nein, die Brillenschlange. Der Superschlaue. Dem anderen ist alles egal.» «Bring sie her! Jetzt sollen Sie mal sehen, Carvalho, wie die de mokratische Polizei arbeitet. Renduelas, was haben die beiden bis jetzt zugegeben?» Renduelas sah Carvalho an. «Los, spucken Sie es aus, der Herr da gehört zur Belegschaft.» «Die Brillenschlange sagt, das Haus gehöre ihm, und er habe es ihr vermietet, damit sie sich mit einem Freund treffen konnte. Aber von ihrem Tod habe er nichts gewußt. Und der Stricher behauptet, er habe nicht gewußt, daß sich seine Tante mit einem Freund in dem Haus traf.» «Den Namen des Freundes!» «Ginés Larios Perez, Seemann. Er befindet sich zur Zeit auf ho her See, auf welchem Schiff, wußten sie nicht, aber wir haben es schon herausgefunden, La Rosa de Alejandría, ein Frachter.» 211
«Wo ist er jetzt?» «Auf dem Atlantik, unterwegs nach Barcelona!» «Ruf die Comandancia de Marina an, und schickt ein Telegramm. Dieser Ginés soll in seiner Kabine unter Arrest gestellt werden, die Verantwortung trägt der Kapitän. Wann kommen sie hier an?» «In vier oder fünf Tagen.» «Bringen Sie mir die beiden!» Andrés’ Niedergeschlagenheit war schon unter Fußbodenniveau gesunken. Der Autodidakt trug Unbesorgtheit zur Schau und nahm sich einen Stuhl, um sich zu setzen, als hätte er das Recht auf seiner Seite. «Du setzt dich erst, wenn ich es dir sage. Also gut, mal sehen, ob wir diese Kacke schnell über die Bühne bringen. Den Mörder haben wir schon, aber nun erklärt mir mal, warum ihr diesen widerlichen Kerl gedeckt habt, der eine Frau wie ein Stück Vieh geschlachtet hat!» «Ich habe auf jeden Fall eine Liebesgeschichte gedeckt!» Carvalho bangte um das Gesicht des Autodidakten, in dem wie der der Zynismus stand. «Ich nehme die volle Verantwortung auf mich. Mein Freund Andrés wußte nichts davon, daß ich mein Haus seiner Tante zur Verfügung gestellt hatte.» Andrés nickte zustimmend, aber so, als bestätige er es nur für sich selbst. «Dein Freund Andrés ist derjenige, der in einem Massagesalon als Strichjunge arbeitet.» Andrés’ ganze Empörung sammelte sich in seinen Augen, und er machte einen Schritt auf Contreras zu, aber Renduelas vertrat ihm den Weg. «Ruhig, Stricher, du bist hier nicht im Kino!» «Ich bin kein Strichjunge, als Strichjunge arbeitet vielleicht Ihr …» «Ruhig, Junge, sonst fängst du dir die paar Ohrfeigen ein, die hier so im Raum herumflattern. Gut, gut, wir glauben dir. Du machst dort sauber und wechselst die Handtücher. Aber du mußt zugeben, es ist kein sehr anständiger Ort.» «Es bleibt einem keine andere Wahl!» «Natürlich, die Arbeitslosigkeit, die industrielle Umstrukturie212
rung, die Wirtschaftskrise. Jeden Tag dieselbe Leier, aber ich sehe es ein. Nun gut, du verdienst deinen Lebensunterhalt, indem du auf anständige Weise einen Puff sauberhältst. Irgend jemand muß es ja tun. Und deine Tante war tatsächlich eine Señora aus besseren Kreisen aus Albacete, die einen Seemann als Freund hatte, mit dem sie sich in Barcelona traf. Aber das genügte ihr nicht, sie ging unter dem Pseudonym Carol im Haus deines besten Freundes der Gele genheitsprostitution nach. Und du hattest keine Ahnung von alledem!» «Ich schwöre Ihnen, daß er nichts wußte. Für mich war es wie ein Spiel, glauben Sie mir. Auch wenn er mein Freund ist, weiß er nicht alles, was ich den ganzen Tag treibe.» «Haben Sie das gehört, Carvalho?» «Ich bin ganz Ohr!» «Also: Welche Rolle spielen Sie bei der Sache? Dieser Herr sagt, er wußte nichts von dem Verbrechen, aber Sie wurden engagiert, um den Mörder zu finden!» Der Autodidakt schaltete sich schnell ein: «Ich sah mich gezwungen, mich der ganzen Sache anzuschließen, als ich von dem Verbrechen erfuhr. Die Familie Abellán hatte auch erst später davon erfahren.» «Es waren fünfzehn bis zwanzig Tage später, als die Überreste identifiziert wurden. Seitdem sind drei Monate vergangen, Zeit genug für Sie, um bei Ihrer Schlauheit das Verbrechen mit Ihrem Haus in Verbindung zu bringen, anstatt ein Indiz zu unterschlagen. Renduelas, sagen Sie dem Herrn, was ihn dafür erwartet!» «Knast!» «Haben Sie die Leiche in meinem Haus gefunden? Nein. Also, welches Indiz habe ich unterschlagen?» «Du wußtest, daß sie sich in Barcelona mit jemandem traf, das geht aus der Tatsache hervor, daß du uns seinen Namen und beide Familiennamen gesagt hast.» «Ich habe das nicht mit dem Verbrechen in Verbindung gebracht. Warum hätte er sie umbringen sollen?» «Wir reden weiter, sobald eure Anwälte da sind, denn wir sind hier verfassungstreuer als der liebe Gott. Ruft eure Anwälte an!» «Ich habe keinen.» «Ich nehme denselben wie du.» «Gut gemacht. Auf diese Weise kann er euch zur selben Zeit im 213
Gefängnis besuchen, und ihr kommt billiger weg. Bring sie hin aus!» Contreras pfiff zufrieden vor sich hin und betrachtete Carvalho – befremdet über seine anhaltende Verstocktheit. «Ich habe gerade einen dunklen Fall aufgeklärt, einen ganz dunk len. Fehlt nur noch der Beweis für die Mitwisserschaft dieser beiden Unglücklichen.» Carvalho grinste, als er das Wort Unglücklicher in Zusammen hang mit dem Autodidakten hörte. «Wir tappten im Dunklen, völlig im Dunklen, und warteten auf den zündenden Funken.» «An irgendeinem Tag wird ein zündender Funke Licht in die Sa che bringen!» «Und dieser Zündfunke war ich. Mein Besuch bei der Kupple rin.» «Darauf wollte ich hinaus. Sagen wir mal, wir unterhalten gute Beziehungen zu dieser Sorte von Damen, denn sie können nicht alle Personen kontrollieren, die bei ihnen auftauchen, und manchmal passieren merkwürdige Dinge. Sobald sie etwas wittern, das nicht ganz in Ordnung ist, gibt es nichts besseres, als vorbeugende Maß nahmen zu ergreifen. In diesem Fall gab es einen negativen Faktor, der dazu beitrug, daß viel Zeit verging. Die Zeiträume zwischen den Besuchen des Opfers in Barcelona bewirkten, daß die Kupple rin, wie Sie sie nennen, keinen Verdacht schöpfte. Sie dachte ein fach, daß die andere, ihren seltsamen Gewohnheiten entsprechend, wieder auftauchen würde. Statt dessen tauchten Sie auf! Das war ein Alarmsignal. Sie kam zu uns, und wir zeigten ihr die Fotos. ‹Ja, die ist es.› Die Telefonnummer, das Haus, der Eigentümer, dieses Siebenmonatskind!» «Der Neunmalkluge.» «Der Neunmalblöde! Er gehört zu denen, die sich für ganz be sonders schlau halten. Tatsächlich wird er kaum Schwierigkeiten haben, wenn er über einen guten Anwalt verfügt. So ist das heutzu tage. Unsereins macht sauber, und sie machen alles wieder schmut zig. Mal sehen, wer gewinnt. Und Sie, hauen Sie ab, bevor ich es mir anders überlege, aber ihre Akte wächst und wächst, das können Sie mir glauben!» «Bei mir brauchen Sie sich nicht dafür zu bedanken!» 214
In dieser Nacht konnte Charo keinen Kunden empfangen. Der Ar beitslose schloß sich im Klosett ein, und Mariquita weinte, soviel sie konnte oder für nötig hielt, in den Armen ihrer Cousine, wäh rend Carvalho herauszufinden versuchte, was die beiden kleinen Geschwister von Andrés denken mochten, ein dreizehnjähriger Junge und ein elfjähriges Mädchen. Sie saßen beide an derselben Ecke des Tisches und hatten das Gesicht in die Hände gestützt. Sie hatten geweint, aber jetzt versuchten sie die Welt zu verstehen, in die sie geraten waren, als hätten sie sie gerade eben erst entdeckt. Mariquitas Kummer über die Inhaftierung ihres Sohnes vermischte sich mit dem Kummer darüber, das er an einem so schlechten Ort arbeiten mußte, ‹an einem so schlechten Ort›, wie der Arbeitslose ausgerufen hatte, bevor er sich im Klosett einschloß. Charo hatte versucht, die Arbeit des Jungen zu rechtfertigen, ja sogar, ihr Pre stige aufzubessern. «An diesen Orten geht alles sehr fein zu, und wer kein schlechtes Vorbild sucht, findet auch keins.» Dieses Argument hatte Mariquita etwas getröstet, aber in ihrer Phantasie spielten sich eine ganze Menge von Szenen ab, die sie sich selbst verboten hatte und die ihr Sohn miterlebt haben könnte. Charo war da etwas anderes. Schließlich arbeitete sie ja zu Hause wie eine Modistin oder Näherin. Der Anwalt von Narcís hatte am Spätnachmittag angerufen, und die Vorsicht in seiner Stimme hatte entweder die Rechnung vorbereitet oder wirkliche Vorsicht bedeu tet. Vor dem Gesetz hatte Narcís einen schwereren Stand, obwohl es, wenn er bei seiner Argumentation blieb, keinen Beweis geben würde, mit dem er der Begünstigung des Verbrechens überführt werden konnte. Und was Andrés anging, so würde ihn kein Richter in Untersuchungshaft nehmen, wenn er nicht dieser befremd lichen Tätigkeit nachgehen würde. «Ich hoffe, daß die beiden auf Kaution vorläufig freigelassen wer den, es sei denn, sie behalten sie, bis der Seemann verhaftet ist.» «Was für eine Kaution sollen wir denn stellen, wir, mein armes Kind?» Charo hatte ihr ihre Ersparnisse angeboten und dabei auch Car valho angesehen, aber sie schaute wieder weg, als ihr klar wurde, daß sie keinen Anlaß hatte, über ihn zu verfügen. Ab und zu hörten sie die Faustschläge, mit denen der Ehemann die Klotür bearbeitete – nicht weil er herauswollte, er wollte alle daran erinnern, daß er 215
dort mit seinem Schmerz eingeschlossen war. «Laß ihn dort, Mariquita, laß ihn dort, bis er sich beruhigt hat. Wenigstens legt er sich so mit keinem an!» Carvalho war es unangenehm, oder soviel Dramatik machte ihm Angst, vielleicht ärgerte er sich auch darüber, daß ihm die ganze Dramatik Angst machte und er ein seltsames Mitleid emp fand für die Kinder, die sich ein ums andere Mal der mütterlichen Anweisung widersetzten, etwas zu essen, sich etwas aufzuwär men. «Nein, Mama, wir haben keinen Appetit, Mama.» Carvalho überlegte, ob er ihnen anbieten sollte, sie in die Würstchenbar ein zuladen, denn er nahm an, daß sie diese Idee begeistert aufnehmen würden, aber er hielt sich zurück, denn er fürchtete lächerlich zu erscheinen, wenn er die Rolle des reichen Onkels spielte, und er wollte nicht die Schuld an der Deformation des Geschmacks der Kinder auf sich nehmen. In dramatischen Situationen, so machte er sich über sich selbst lustig, muß man sich selbst prinzipienfest zeigen. Also blieben die Kinder in dieser Nacht ohne Bruder, ohne Würstchen aus Frankfurt und wahrscheinlich ohne Abendessen. Charo versuchte, ihre Cousine zu überreden, ihr die Kinder mit nach Hause zu geben. «Sie haben mehr Ruhe bei mir zu Hause.» «Bei dir zu Hause?» Entsetzen zeigte sich auf dem Gesicht von Mariquita, ein offenes, unschuldiges Entsetzen, das vor allem Charo verletzte. Sie weinte während der ganzen Fahrt von Montcada bis Vallvidrera, wo ihr Carvalho Zuflucht, Abendessen und Mitgefühl bot. Sie weinte über das, was ihrem Neffen zugestoßen war, über die Kränkung durch ihre Cousine und über das Schicksal der Toten. «Was ging nur in dem Jungen vor, daß er so eine Barbarei beg ing? Warum dieser Blutrausch? Ein Mann kann mal einen schlechten Moment haben, im schlimmsten Fall hat er herausge funden, daß sie tat, was sie tat. Auch sie, auch sie! Pepe, glaubst du, daß sie es nötig hatte, so etwas zu tun? Daß sie Geld brauchte? Oder tat sie es aus Lasterhaftigkeit? Reichte ihr das nicht mit Gines?» Carvalho wollte diesen Fall loswerden. Sobald der Autodidakt wieder auf freiem Fuß war, würde er ihm die Rechnung präsentie ren und sich einen neuen Fall suchen. Es war das letzte Mal in seiner beruflichen Laufbahn, daß er einen Fall annahm, der mit irgend jemand in Verbindung stand, mit dem er befreundet war. 216
Gleichzeitig strapazierte er seine Nerven mit einer Theorie, die die Logik der erbitterten Wut des Mörders in Zweifel zog. «Das verstehe, wer will. Er geriet in Panik, wußte nicht, wohin mit der Leiche, und dachte, zerstückelt könnte er sie besser verschwinden lassen.» Als er sich dies mit lauter Stimme selbst sagen hörte, klang es sogar wahrscheinlich, auch für Charo, denn sie murmelte ein ‹Vielleicht› und ließ sich nach Vallvidrera mitnehmen, während sie mit offenen Augen Erinnerungen nachhing und Bilder an ihr vor überzogen, die nur sie allein sehen konnte. «Ist Águilas schön, Pepe?» «Ja, es hat seinen eigenen Reiz. Vor allem das, was Águilas war, bevor es versuchte, wie Benidorm zu werden. Die kleinen Buchten und die grünen Oasen in den Trockentälern!» «Eines Tages werde ich dorthin zurückkehren.» «Wie willst du zurückkehren, wenn du noch nie dort warst?» «Es ist, als sei ich dort gewesen. Meine Mutter hat mir mit so viel Begeisterung davon erzählt. Es war das einzige Mal in ihrem Le ben, daß die Ärmste von zu Hause weg war und diese Leute be suchte, ihren Onkel, ihre Tante, ihre Cousine, damals vor fünfzig Jahren – du weißt gar nicht, wie sehr sie an Mariquita hing, und dann an Encarna. Meine Mutter vergaß nie einen Geburtstag, kei nen einzigen, Pepe. Auch die von Verwandten nicht, die sie noch nie gesehen hatte. Sie brauchte das Gefühl, eine große Familie hin ter sich zu haben.» Nach kurzem Schweigen fügte sie hinzu: «Das Leben ist beschis sen, Pepe!» Vielleicht ist dein Leben beschissen, Charo, und meins auch, aber es ist idiotisch, sich neben sich selbst zu stellen und sich zu bemitleiden. Er machte ihr das Bocadillo, um das sie ihn gebeten hatte. «Mit Kastenbrot, eins von denen, die du so gut machst, Pepe, mit Aioli, Salatblättern, Tomate, Gürkchen, Käse, Mortadella und Tomatenscheibchen!» Er ließ sie ihren Erinnerungen nachhängen und zwischendurch weinen. «Wenn sie ihn auf Kaution freilassen und ich sie bezahlen muß, bekommst du dein Geld nicht, Pepe.» «Der Autodidakt wird mich schon bezahlen.» «Wer?» «Narcís.» 217
«Der Junge gefällt mir nicht, Pepe. Er ist ein Intrigant. Was für eine Falschheit: Er wußte, was meine Cousine tat, er hat ihr das Haus vermietet und keinen Ton davon gesagt. Warum?» «Ich würde einige Stunden brauchen, um es zu vergessen, und noch einmal so viele, um darüber nachzudenken, vielleicht hätte ich dann die Lösung. Aber dazu habe ich keine Lust.» Charo schlief auf dem Sofa ein. Carvalho zählte ihre ersten Fal ten, er begrüßte das leichte Welken der Wangen, die angedeuteten Ringe am Hals, und versuchte, mit den Fingerkuppen die Spuren der Zeit zu verwischen. In Charos Reife kündigte sich schon das Alter an. Einen guten Teil der Nacht verbrachte er damit, das Feuer zu schüren, und der Wunsch zu schlafen kam ihm erst, als der Morgen dämmerte. Die Stadt tauchte am Fuß des Berges auf wie ein verkleinertes Modell, darüber die Dunstglocke wie der Ansatz eines schwarzen Daches. Er ging zu Bett und wurde Stunden später von dem aggressiven Klingeln des Telefons geweckt. Am anderen Ende war ruhig und belehrend die Stimme des Anwalts zu hören. «Mein Mandant wird in zwei Stunden entlassen. Es wurden eine Million Peseten als Kaution festgesetzt.» «Von welchem Mandanten reden Sie? Ich dachte, es wären zwei!» «Der Richter hat für Andrés bedauerlicherweise Untersuchungs haft ohne Kaution angeordnet. Zum einen hat ihm das Image seiner Tätigkeit geschadet und zweitens brauchen sie eine Geisel, bis die Arrestierung von Ginés bestätigt ist. Ich glaube, es ist eine Frage von Tagen. Ich habe schon mit Don Narcíso gesprochen, und er hat sich verpflichtet, die Kaution zu bezahlen, sobald der Richter sie für Andrés festsetzt. Ich glaube, es wird sich alles lösen lassen. Wären Sie bitte so freundlich, dies der Mutter von Andrés mitzuteilen?» «Warum tun Sie das nicht selbst?» «Ich habe es versucht, aber ein äußerst unhöflicher Mensch nahm den Anruf entgegen und beschimpfte mich. Seine These war ele mentar: Die Reichen auf die Straße und die Armen an den Geld schrank. Es war nicht möglich, vernünftig mit ihm zu reden.» Carvalho hängte auf und ging im Garten umher, korrigierte die unkorrigierbare Vernachlässigung der Pflanzen, dankte den Pinien für ihren trotz seiner Achtlosigkeit unverwüstlichen Lebensmut und brütete über einer inneren Wut, die er nicht loswerden konnte und die ihn dazu veranlaßte, eine Notiz zu verfassen, die er neben der schlafenden Charo liegenließ, um sich dann ins Auto zu setzen 218
und nach Montcada zu fahren. Von einer Telefonzelle aus rief er Andrés’ Eltern an und verlangte, den weinerlichen Zorn des Ar beitslosen ignorierend, die Frau zu sprechen. Sie war nicht gerade beruhigt von der Nachricht, aber im Grunde war sie geneigt, Hoff nung zu haben. Dann machte er sich auf den Weg zu ‹Haushaltsgeräte Amperi›. Trotz der Tageszeit war das Geschäft zu, und am Türgitter war zu lesen, daß das Geschäft aus familiären Gründen für einige Tage geschlossen sei. Er ging um den Block herum und postierte sich in der Gasse, zu der der Hinterausgang führte. Alles roch nach Zementstaub und Würstchen. Von seinem Standpunkt aus war die Einfahrt zur Gasse eine offene Tür, durch die alles oder nichts kommen konnte. Der Autodidakt würde wohl anderswo seine Wunden lekken, aber die innere Logik seines Verhaltens führte ihn zu diesem Ort, und sein Verhalten war logisch, denn er tauchte um zwei Uhr nachmittags am Eingang der Gasse auf, stutzte, als er Carvalho entdeckte, näherte sich ihm dann aber mit sicherem Schritt, und sein kleines, mittelmäßiges, verglastes Gesicht sah aus wie immer, aber zufriedener denn je. Der Innenhof, die Geheimtür, dann die Dekoration von Geschäft und Bildung – es war ein vernachlässigtes Spielzeug, das Narcís wieder in Besitz nahm, als kehre er von einer langen Abwesenheit zurück, während Carvalho einfach auf der Suche war nach dem Schluß einer Geschichte. «Ich hatte gehofft, Sie würden mir ein paar Stunden Zeit lassen, um mich etwas auszuruhen.» «Ich bin gekommen, um zu kassieren.» «Haben Sie den Mörder gefunden? Ich fühle mich schmutzig. In dem Zimmerchen dort habe ich eine Dusche. Ich bin gleich wieder da.» Carvalho setzte sich auf die Tischkante und hörte zu, wie das Wasser auf einen Plastikboden platschte, unterbrochen von den Händen des Autodidakten, die Sauberkeit und Freiheit auf seinem Körper verteilten. Dann war es still, und eine Person trat auf, die plötzlich gealtert zu sein schien, obwohl sie aussah wie ein frisch geduschter und schlecht rasierter junger Mann, der sich anstelle des Schlafrocks ein braunes Handtuch umgebunden hatte. «Diese Knaste sind ekelhaft! Vor ein paar Jahren war ich schon einmal drin, weil ich im Cinc d’Oros eine Senyera, eine katalanische 219
Nationalflagge getragen hatte … ich war damals fast noch ein Kind, aber seitdem hat sich nichts geändert. Derselbe Gestank, der selbe Schmutz. Neulich las ich in der Zeitung, daß der sozialistische Innenminister die Knäste besichtigt hat. Sie müssen ihm die Suite des Gefängnisdirektors gezeigt haben.» «Andrés ist noch dort.» «Das stimmt nicht ganz. Sie haben ihn ins Modelo-Gefängnis gebracht. Es ist eine Frage von Tagen. Ich fühle mich verantwort lich für das, was geschehen ist, und bezahle die Kaution für ihn, aber das geht erst, wenn dieser Seemann angekommen ist.» «Kennen Sie ihn?» «Ich verstehe, daß Sie auf alles neugierig sind, was Sie nicht wis sen. Die Geschichte ist auch in einem gewissen Sinne faszinierend, das war sie von Anfang an, und sie ist es deshalb, weil ich dafür sorgte, daß sie es wurde. Das sage ich Ihnen hier ohne Zeugen, außerhalb dieser vier Wände würde ich es sofort bestreiten. Dieses Zimmer ist quasi nicht existent.» Der Autodidakt goß sich einen Whisky mit Soda ein. Carvalho lehnte jedes Getränk ab. Er fühlte sich seinem Klienten ausgeliefert und begann, laut zu denken. «Encarna fuhr nach Barcelona, um ihrem mittelmäßigen Leben einer neureichen Provinzlerin zu entfliehen, und eines Tages begeg nete sie auf der Straße ihrem ehemaligen Verlobten. Es geschah, was geschehen mußte, und sie richtete ihr Leben so ein, daß die Reisen nach Barcelona mit der Ankunft der Rosa de Alejandría zusammenfielen, aber irgend etwas geschah, daß sich das, was ur sprünglich ein bewußter und erregender Ehebruch gewesen war, zu einer schmutzigen Geschichte von Prostitution, Verbrechen und Sadismus entwickeln konnte. Und daran sind Sie zweifellos nicht unschuldig, Señor Pons. Ich weiß nicht wie, aber Sie lernten sie kennen und boten ihr ein Liebesnest an, das sie für ihre amourösen und kommerziellen Zwecke nutzte …» «Für die amourösen nicht, oder nur ganz zu Anfang. Aber bitte, denken Sie laut weiter, es wirkt entspannend auf mich. Danach er zähle ich Ihnen meine Geschichte.» «Vielleicht war es eine ungleiche Liebe, wie so oft, und der See mann kannte die Wahrheit nicht, wenigstens nicht die ganze Wahr heit von Encarnas Doppelleben, bis er es eines Tages entdeckte und sie umbrachte. Vielleicht war es auch einer ihrer Kunden oder Sie selbst …» 220
«Werden Sie nicht albern! Wenn ich sie selbst umgebracht hätte, hätte ich mich nicht dafür eingesetzt, daß Nachforschungen ange stellt werden.» «Das ist ein anderer Aspekt der Frage; Sie, Señor Pons, erfuhren von dem Verbrechen und wußten genau, daß, wenn die Polizei her ausfand, wie alles abgelaufen war, auch Ihre Mitverantwortung ans Licht kommen würde. Sie waren nicht in der Lage, aktiv zu werden und Anzeige zu erstatten, weil Sie so tun mußten, als wüßten Sie nichts von dem Verbrechen. Sie mußten eine Möglichkeit finden, als passives Element zu erscheinen, das sich gegen seinen Willen so verhält, aus der Angst heraus, verdächtigt zu werden. Wenn die Polizei auf der Bildfläche erschien, würden Sie eine Reihe von Din gen zugeben müssen: Daß Sie das Opfer gekannt hatten und daß Sie ihr eine Wohnung zur Verfugung gestellt hatten, weiter nichts. Und damit die Polizei diese Stunde der Wahrheit und zugleich ihre Entlastung herbeiführte, waren Sie darauf angewiesen, daß ich die Dinge in Bewegung brachte und mit der ein oder anderen Ermitt lung die Polizei auf mich aufmerksam machte. Deshalb haben Sie mit den Gefühlen der Familie der Toten ihr Spiel getrieben, mit mir und mit dem mutmaßlichen Mörder. Mein Kompliment, Señor Pons, bitte beachten Sie, daß ich Sie seit kurzem Señor Pons nenne, denn ich bekomme allmählich Respekt vor Ihnen. Bis vor ein paar Stunden hielt ich Sie noch für einen ausgemachten Irren in dieser theatralischen Bibliotheksfiliale, aber ich habe meine Meinung ge ändert. Sie sind ein gefährlicher Voyeur …» «Das verstehen Sie nicht richtig.» «Auf jeden Fall kam nach kurzer Zeit ein Faktor ins Spiel, der bis dahin passiv gewesen war: der Seemann. Er wird uns seine Version der Fakten erzählen, und es wird Überraschungen geben. Ich be halte mir vorerst einen Zweifel vor.» «Ich kann Ihnen mit Sicherheit sagen, daß er der Mörder ist. Daran brauchen Sie nicht zu zweifeln.» «Vielleicht besteht daran kein Zweifel. Aber ich bezweifle trotz dem, daß er, nach allem was ich über seine Persönlichkeit weiß, es nach der Tat fertigbrachte, die Frau in Stücke zu schneiden. Das ist eine makabre Tätigkeit, die nicht ins Bild paßt.» «Nein, das paßt nicht. In diesem Punkt kann ich nicht helfen, Ihnen nicht und auch der Familie Encarnas nicht – die, unter uns gesagt, eine einzigartige Frau war. Ich kann euch nicht helfen, um 221
meiner eigenen Sicherheit willen, trotzdem weiß ich mit an Si cherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, was nach dem Verbre chen geschah. Eigentlich bin ich viel zu erschöpft, um Ihnen alles zu erzählen, was ich weiß, Señor Carvalho. Sie sind ein Neuling in dieser Geschichte, ich trage sie seit drei Monaten mit mir herum, seit drei Jahren sogar, seit dem Augenblick, als ich Encarna durch Zufall kennenlernte. Es stimmt, ich habe bis zu einem gewissen Grad mit Personen gespielt, die nicht diesen Überblick haben konnten, den ich habe. Aber ich habe es mir so ausgesucht. Ich bin im Vorteil, und zwar verdientermaßen, denn diese Position habe ich mir hart erkämpft, sie ist mir nicht in den Schoß gefallen. Ich lernte die Abelláns nach und nach kennen, zum Teil aus Zunei gung zu Andrés, daran gibt es keinen Zweifel, aber auch, weil es merkwürdige Leute waren, mit einer ganz anderen, manchmal überraschenden Lebensweise. Und in dieser Familie gab es einen Mythos: Encarna, Encarnita, die Person in der Familie, die Erfolg gehabt hatte. Sie war die, die eine gute Partie gemacht hatte, der Inbegriff der Macht des sozialen Status und des Geldes. Und eines Tages hatte ich Gelegenheit sie kennenzulernen. Es war vor drei Jahren. Andrés kam ganz aufgeregt zu mir hierher, in dieses Zim mer, er war beinahe in Ekstase, und sagte zu mir, er habe seine Tante mitten in Barcelona getroffen. Er habe sie erkannt, und es sei ihr am Anfang unangenehm gewesen, aber sie hätten sich miteinander angefreundet und sie habe ihn gebeten, ihren Aufenthalt in Barcelona geheimzuhalten, da sie die Verwandtschaft nicht besuchen wollte. Andrés hatte ihr angeboten, ihr die Stadt zu zeigen, sie zum Abendessen einzuladen etc. dabei hatte er keinen Centimo in der Tasche. Ich spielte den Bankier, allerdings unter der Bedingung, daß ich dafür als Anstandsbegleiter wenigstens bei ihrem ersten Treffen dabei sein konnte, bei ihrem ersten Abend essen. Es war Schicksal, daß Andrés kein Geld hatte, und er hätte auch nicht gewußt, wohin er sie hätte einladen sollen. Ich lernte sie also kennen, und sie war tatsächlich eine interessante Persönlich keit, allerdings nicht in dem Sinne, wie es die Familie verstand. Das heißt, sie war keine große Dame, nicht einmal eine Señora, zumindest nicht im konventionellen Sinne. Vielleicht war sie es in ihrer gewohnten Umgebung, aber hier nicht.» Der Autodidakt sah Carvalho nicht einmal an. Er wußte, daß er der Geschichte aufmerksam lauschte, die nur er ihm erzählen 222
konnte. Er ging dabei auf und ab, als taste er mit den Füßen nach sicherem Grund, und goß sich Whisky nach. «Natürlich hatte ich Andrés einiges voraus. Ich hatte mehr Frei zeit und bot ihr meine Begleitung an. Außerdem hatte ich Geld und konnte ihr dadurch den Aufenthalt angenehmer gestalten. Aber der wirkliche Grund dafür, daß sie meine Einladung annahm und auch ohne Wissen von Andrés mit mir zusammentraf, war die Tatsache, daß sie mich um etwas bitten wollte. Und durch diese Bitte erfuhr ich von ihrer Geschichte mit dem Seemann. Sie erzählte mir von einer wunderbaren Begegnung, die sie vor ein paar Tagen erlebt hatte, ganz überraschend mitten auf der Straße. Es war ihr früherer Verehrer, wie sie ihn nannte, eine amour fou. Er schämte sich, mit ihr in sein Hotel zu gehen oder in ihrem Hotel mit auf ihr Zimmer zu kommen, und noch weniger wollte er mit ihr in ein Stundenhotel gehen. Sie hatte ihre alte Liebe in chemisch reinem, platonischem Zustand wiedergefunden und fragte mich, ob ich ihr eine Alterna tive bieten könnte, um den Seemann zu treffen, eine Alternative, die zu ungewöhnlichen Zeiten benutzbar sei, nämlich alle drei Mo nate, wenn die Rosa de Alejandría im Hafen lag. Ein altes Haus mei ner Eltern fiel mir ein, das ich eines Tages erben würde. Schwierig zu vermieten, weil es erst renoviert werden müßte, dafür aber sehr gut geeignet für diese Art von Rendezvous, denn ein Zimmer ist in gutem Zustand und das Bad funktioniert. Ansonsten ist das Haus eine reine Ruine. Ich bot es ihr an, ganz uneigennützig, nein, doch nicht ganz. Ich wollte eine Probe. Es fiel mir nicht leicht, mich dazu zu entschließen, aber ich tat es. Als Gegenleistung bat ich sie darum, manchmal, nicht immer, die Liebesszenen mit dem Seemann beob achten zu dürfen, und zwar unter größtmöglicher Diskretion vom Nebenzimmer aus. Es war ein entscheidender Moment. Wenn sie nein gesagt hätte, wären die zukünftigen Ereignisse wahrscheinlich ganz anders verlaufen, aber sie antwortete mit ja und lachte dabei wie verrückt. Stellen Sie sich diese Szene vor! Ein sechster Sinn erwachte in mir. Diese Frau war Material für eine faszinierende Er fahrung. Durch die einfache Tatsache, daß sie ja sagte, hatte sie bewiesen, daß ihre Beziehung zu dem Seemann keine typische au ßereheliche Beziehung war. Es war Theater, eine Aufführung. Sie spielte mit ihm die wiedergefundene Jugend, und es hatte seine Gründe, daß sie die Sache auf solche unwesentlichen Dinge be schränkte. Ein paar voyeuristische Sitzungen überzeugten mich da223
von, daß dieser Seemann nicht gerade ein japanischer Sexualathlet war. Er war zur platonischen Liebe verdammt, das sagte ich auch zu ihr. Sie gab es zu, und machte sogar einige technische Kommentare, nicht plump, natürlich, aber als seien sie die Frucht einer Lektion, die sie vor einem Zuhörer memorierte, der sie schon kennt. Jetzt ist der Moment gekommen, in dem Sie eigentlich neugierig darauf sein müßten, ob wir miteinander ins Bett gingen, sie und ich. Sind Sie neugierig? Wenn ja, dann werden Sie es nicht zugeben. Sie wol len mir diesen Triumph nicht gönnen. Aber ich will es Ihnen ehrlich sagen. Nein, wir haben nicht miteinander geschlafen. Ich hatte Angst vor ihr. Ich hätte noch lächerlicher dagestanden als der See mann. Statt dessen machte ich ihr den Vorschlag, das Spiel zu er weitern, durch den Spiegel der Integrität zu gehen, diesen Spiegel, der sie als reife, anständige Ehefrau zeigte, die eine unmögliche Liebe lebt. Zusammen spielten wir, zunächst nur in Gedanken, mit den phantastischen und sinnlichen Möglichkeiten einer Prostitu tion innerhalb von Grenzen, die sie selbst bestimmen konnte. Na türlich keiner Prostitution aus finanziellen Gründen. Sie akzeptierte und das Spiel begann. Als erstes hörte das Haus in Sarriá auf, der Ort der Begegnungen mit dem Seemann zu sein. Man mußte das Risiko verteilen. Der Seemann mußte zurückkehren zu der Aufregung der Hotels, Por tiers und Taxifahrer. In Wirklichkeit interessierte sie der sexuelle Teil ihrer Begegnungen immer weniger, und das Haus in Sarriá wurde der Ort ihrer Arbeit als Carol. Mit den Kunden, die ihr die Agentur vermittelte. Und zwar alle drei Monate genau drei Wochen lang, mit dem Seemann und allem übrigen. Dann zurück nach Hause, und das alles drei Jahre lang. Bis eines Tages ein bedauer licher Zufall die Voraussetzungen für das Verbrechen schuf. Wie immer war sie zum Hafen gegangen, um ihren treuen Seemann zu verabschieden, und hatte das Schiff kurz vor dem Ablegen verlas sen. Eine technische Panne war schuld daran, daß die Rosa de Alejandría wieder in den Hafen zurückkehrte und der Seemann nach ihr zu suchen begann. Im Hotel war sie nicht. Dann erinnerte er sich an den Ort ihrer ersten, entspannten Begegnungen, den sie als Haus von Verwandten ihres Mannes bezeichnet hatte, das ihr gelegent lich zur Verfügung stand, und als er dort um das Haus herumstrich, entdeckte er das merkwürdige Gewerbe von Encarna. Es muß viele Stunden gedauert haben, bis er seinen Augen traute, schließlich 224
ging er ins Haus und verlangte Erklärungen. Sie haben ihm nicht gefallen.» «Woher wissen Sie, daß sie ihm nicht gefallen haben? Intuition oder Schlußfolgerung?» «Keins von beidem, ich war dort. Es war einer der Tage, an de nen ich mich im Nebenzimmer aufhielt und von meinem Logen platz aus genialen Vorstellungen zusah. Ich war dort. Ich sah, was passierte.»
«Encarnas letzter Telefonkunde war gerade gegangen, ein Witwer aus Granollers, ein wahres Gedicht, glauben Sie mir! Der Witz die ser Art von Beziehungen liegt ja darin, daß beide eine bestimmte Rolle spielen müssen. Zunächst spielte Encarna die sexuell Ausge hungerte, deren Ehemann im Bett nicht konnte. Aber dann wan delte sie je nach Eigenheiten des Klienten die Rolle ab. Sie mußte besonders behutsam vorgehen, wenn sie das Geld verlangte, denn sie wissen zwar im allgemeinen, daß sie bezahlen müssen, aber sie möchten, daß die Sache schön verpackt ist. Der aus Granollers war ihr fast während des ganzen Aufenthaltes in Barcelona treu geblie ben, und nach allem, was ich sah und hörte, war er darauf aus, zuerst zu bumsen und sich dann bei gelöschtem Licht an seine Frau zu erinnern. Und zwar nicht in einem allgemeinen Sinn, in einer Art Vergegenwärtigung, sondern er erinnerte sich an ganz konkrete Situationen, die er Encarna schilderte, als wolle er sie um Rat fra gen. Da war zum Beispiel ein Familienfest gewesen, zu dem seine Frau hingehen wollte und er nicht. Encarna mußte ihre Meinung dazu sagen. ‹Du hast recht, Ferreres›, oder ‹Nein, nein› – er hieß Ferreres, Anselmo –, ‹es tut mir leid, aber deine Frau hatte ganz recht, diese Leute waren ein Haufen Gesindel und hatten es nicht verdient, daß ihr sie besuchtet.› ‹Vielleicht hast du recht, Carol.› Verstehen Sie? Und nun war Ferreres gegangen, und ich wollte ge rade zu Encarna ins Zimmer schlüpfen, denn es gefiel mir, sie in dem Moment zu überfallen, wenn sie sich wieder zurecht machte, noch halb ausgezogen war und noch halb in der Rolle einer Frau, die sexuell Russisches Roulett spielte, aber irgend jemand hatte das Haus betreten, ein leeres Haus ist ein Resonanzkasten für das klein ste Geräusch, und Ginés’ Ankunft ließ mir kaum Zeit, meinen Be225
obachtungsposten wieder einzunehmen. Er blieb dort an der Tür stehen, in unentschlossener Haltung, zwischen Unsicherheit und Aggressivität, er hatte getrunken, er war angetrunken, um sich Mut zu machen oder um ein Alibi zu haben für den Moment, in dem Encarna ihn psychologisch besiegen würde. Er konnte aggres siv werden oder in Tränen des Selbstmitleids zerfließen. Ich hielt die zweite Möglichkeit für wahrscheinlicher, und es wäre auch dazu gekommen, wenn Encarna nicht bedauerlicherweise aus der Rolle gefallen wäre. Anfangs machte sie ihre Sache gut, sehr gut. Ginés hatte nur ein unvollständiges Bild von der Situation. Er hatte gese hen, wie ein Mann aus dem Haus kam, verstehen Sie mich richtig, ein Mann, also dachte er an die Existenz eines ‹andern›, an das klas sische Vorhandensein eines ‹andern›, aber obwohl er gesehen hatte, wie Encarna zum Abschied Ferreres an der Tür einen Kuß gegeben hatte, war er immer noch bereit zu glauben, daß es sich um den Ehemann gehandelt hatte, der plötzlich aufgetaucht war – jede Er klärung war ihm recht, die ihm geholfen hätte, sich selbst etwas vorzumachen. In diesem Punkt war Encarna meisterhaft, sie gab sich unversöhnlich. Ferreres war eben Ferreres und damit Schluß, und sie las ihm die Leviten, zwar mit Taktgefühl, aber sie erklärte ihm, daß sie beides brauchte, die nostalgische Liebe und die Liebe im Bett. In diesem Moment brach aus Ginés ein Schwall Klagen, er er-ging sich in Selbstmitleid und Schuldgefühlen, er tat sich selbst leid und gleichzeitig wuchs sein Zorn. Vielleicht packte ihn der Ekel, vielleicht hatte er allmählich Encarnas relative Nacktheit be merkt, und sie auch, denn sie zog den Schwanz ein und hörte auf, die Rolle der Frau zu spielen, die das Recht hat, keine Erklärungen abzugeben. Sie versuchte, ihn zu trösten, sogar ihn zu streicheln. Er stieß sie immer heftiger zurück, und bei einem derben Stoß fühlte sie sich angegriffen, eine Wut brach tief aus ihrem Innern hervor, eine fürchterliche Rage, sie war wie ein Tier, das in die Enge getrieben ist, kurz und gut, sie fuhr ihm mit den Fingernägeln durchs Gesicht. Er führte die Hand zu der Stelle – ich sehe es noch genau vor mir, er steht in dieser hell erleuchteten Zone, hat die Hand vom Gesicht genommen, schaut sie an, sie ist blutig, die Kratzer brennen, die Kratzer einer Frau brennen ganz besonders, Carvalho, sie rechtfertigen seine Reaktion, denn es ist eine Aggres sion, die den Betroffenen demütigt und für den Aggressor eine Schande ist, und dann sehe ich, wie Ginés den Arm hebt und En226
carna mit einem harten Faustschlag trifft. Ich höre ihre Schreie, und ein Ringen der Körper beginnt, plötzlich bricht es ab, Ginés ver setzt ihr vier oder fünf Schläge, deren bloßes Geräusch mir wehtut, vor allem eines, ich weiß nicht, ob es das letzte war, ein ganz eigen artiges Geräusch. Später habe ich begriffen, daß es das Geräusch des Todes war. Encarna fiel zu Boden, und Sie können sich die Szene vorstellen, klischeehafter geht es gar nicht mehr, das verdutzte Ge sicht des Seemannes, seine Wiederbelebungsversuche, also, wozu weitererzählen – wenn Sie ein Kinogänger sind oder schon öfter Fernsehfilme gesehen haben, erspare ich mir einen Haufen Worte für die Beschreibung eines Ablaufs, den Sie schon kennen. Schließ lich machte er einen Abgang wie im Kino, er ging rückwärts, die Augen starr auf die Leiche gerichtet, Augen, die aus den Höhlen quollen, Sie kennen das ja, und ich glaube, er kannte es auch, denn seit es das Kino gibt, verhalten sich die Verbrecher wie Verbrecher im Kino, und ich glaube sogar, auch die Opfer. Ich sah nicht, wie Encarna fiel, aber ohne Zweifel achtete sie darauf, daß ihre Leiche genauso aussah wie das Opfer eines gewaltsamen Todes. Im Haus hörte man noch lange, viel zu lange die Schritte von Ginés, der sich zurückzog. Ich wußte nicht, was tun – sollte ich in das Zimmer eilen für den Fall, daß Encarna noch am Leben war, oder wegren nen –, ich weiß nicht, was ich getan hätte, wäre ich nicht gezwun gen gewesen, das zu tun, was ich tat. Denn die Geschichte ist noch nicht zu Ende, noch nicht!» Er betrachtete die Wirkung seiner Enthüllungen auf Carvalho. Bevor er fortfuhr, grinste er schief, ging zu seinem HiFi-Turm und legte eine Kassette ein, die zu einer schwebenden Musik wurde, beruhigend, ein Schrittmacher für das Gedächtnis, ein Piano, das an einem unbestimmten Punkt des Universums stand. «Es sind die ‹Diálogos› von Mompou, gespielt von Mompou selbst. Ich sagte, die Geschichte sei noch nicht zu Ende. Ich war halb entschlossen, mein Versteck zu verlassen, und warf durch den Spalt einen letzten Blick auf die Szene. Ich sah die Beine von Encarna, die am Boden lagen, aber sie war nicht allein, an der Tür stand jemand. Ich hatte Mühe, zu erkennen, wer es war, obwohl das jetzt nicht ganz stimmt, was ich Ihnen sage, denn bis heute weiß ich nicht genau, wer oder was es war. Allem Anschein nach war es eine Frau, aber keine normale Frau, sie sah aus wie eine Puppe oder wie eine Karikatur. Sie glich diesen ‹minots› bei den Fallas in Valencia oder 227
auf den Karnevalswagen. Sie war sehr geschminkt, sehr groß, sehr stark und gekleidet, wie sich heute keine Frau mehr kleiden würde. Am einfachsten wäre es wahrscheinlich zu sagen, daß sie wie ein Transvestit aussah, aber das trifft es auch nicht ganz, es war kein Transvestit, der versucht, wie die schönste Frau der Welt auszuse hen, sondern einer, der sich als fünfzigjährige Frau zurechtgemacht hatte, die ihr Alter verbergen will. Ich weiß nicht, ob ich mich deut lich genug ausdrücke. Es war eine fürchterlich geschminkte Fünf zigjährige, so schrecklich geschminkt, daß ihre roten Lippen in einem ewigen Grinsen erstarrt waren, und mit diesem Grinsen be trachtete sie Encarnas Leiche. Ehrlich gesagt, ich glaube nicht, daß sie wirklich grinste. Vielleicht habe ich es aber auch nicht richtig wahrgenommen, denn ich war zu Tode erschrocken, als ich sah, wie dieses Riesenweib sich meinem Guckloch näherte, sich über Encarna beugte und sie umdrehte, sich dann im Zimmer umsah und plötzlich etwas Unerwartetes tat, sie bückte sich nämlich – und von meinem Blickwinkel aus sah man nur die Schultern und einen gräßlichen Pelz, ich weiß nicht, von welchem Tier, es war einer von den Pelzen, an denen immer noch das Köpfchen des Tieres hängt, man sah das Schnäuzchen und die glänzenden Augen, genau wie direkt vom Präparator geliefert. Es ist eine Art Pelz, wie sie früher viel getragen wurde, meine Mutter hat auch so ein Ding irgendwo in einem Schrank. Das Schnäuzchen des Tieres baumelte vor mei ner Nase, dann sah ich das schreckliche, konzentrierte Gesicht der Frau, und als sie sich aufrichtete, hielt sie den halbnackten Körper von Encarna in den Armen, als sei sie eine kaputte Puppe und feder leicht. So stand sie vor mir, und ihre starken Arme präsentierten mir die Leiche wie auf einem Tablett. Sie wandte mir den Rücken zu, es war ein zylindrischer Rücken, ein zylindrischer Körper, obendrauf eine platinblonde Perücke, untendran hochhackige rote Schuhe, an einer Seite hing Encarnas Kopf mit ihren halblangen braunen Haa ren, sehr schön, auf der anderen Seite baumelten die nackten Beine, etwas dünn, aber sehr edel, und die Frau ging zur Zimmertür. Ich setzte mich auf den Fußboden, entschlossen, meinen Platz nicht mehr zu verlassen, bis alles vorüber war, bis mich die Stille mir selbst wieder zurückgeben würde. Was ich gesehen hatte, war so unwirklich gewesen, daß ich nicht wußte, ob ich es glauben sollte oder nicht.» «Und die seltsame Frau trug Encarna aus dem Haus?» 228
«Ich weiß es nicht, aber ich denke schon, denn Tage später durch suchte ich das Haus von oben bis unten, noch bevor man die Leiche gefunden hatte, aber ich fand nichts, was mich auf den Gedanken brachte, daß dort ein Gemetzel stattgefunden hätte. Auch nicht im Garten beim Abfall, auch nicht in einem der leerstehenden Zim mer.» «Hörten Sie auch kein Auto wegfahren?» «Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Stellen Sie sich meinen Zustand vor. Fest steht, daß diese Frau oder was auch immer, Encarna wegtrug, und ihre Erscheinung ist so unwirklich und un wahrscheinlich, daß sie für mich nach dieser Erzählung aufhört zu existieren. Mehr noch, wenn ich mit dieser Geschichte zur Polizei gehen würde, würden sie mir nicht glauben, ich würde mir selbst unnötige Schwierigkeiten bereiten und den Seemann nicht vor der Verurteilung retten. Er hat sie umgebracht.» «Das ist möglich. Aber dieses andere Wesen hat sie zerstückelt, und in der Bewertung des Verbrechens des Seemanns wird das Massakrieren der Leiche eine Rolle spielen.» «Er ist schuldig, idiotischerweise schuldig. Er ist ein unreifer und gefährlicher Jugendlicher, der als ewig Verliebter durchs Leben geht, in einem ewigen Traum. Er schlug Encarna das faszinierende Abenteuer vor, gemeinsam alles hinter sich zu lassen und sich eine Ecke am Meer zu suchen, ‹am Meer, Encarna, denn das Meer ist mein Leben, im hintersten Winkel des Meeres, Encarna, nur du und ich.› Dann erzählte er ihr von einer Reise, die er bis vor die Tore dieses Ortes gemacht hatte, dieses legendären Ortes, eine Reise in die Türkei, glaube ich, denn es ging um den Bosporus. Er wußte nicht, was für eine Frau er da in seinem Arm hielt. Er glaubte, sie zu besitzen, und er besaß sie nicht. Dieser Idiot war der Mörder. Alles andere ist nur eine Anekdote.» «Aber dieser Mann wird dann für beides bezahlen müssen, für das, was er getan hat, und für das, was er nicht getan hat!» «Meine Geschichte ist zu Ende, und ich werde sie nie wieder erzählen. Sie tun gut daran, das ernst zu nehmen, ihr Geld einzustekken und den Mund zu halten. Nichts werden wir in Ordnung brin gen, der Seemann wird seine Wahrheit erzählen. Die Polizei wird ihm nicht glauben, die Polizei wird versuchen, ihm das Verbrechen anzuhängen und so weiter. Alles steht zu meinen Gunsten. Andrés und ich werden nur als Zeugen vor Gericht aussagen. Der Seemann 229
kennt uns nicht einmal. Jeder spielt seine Rolle. Ich mit voller Kenntnis der Hintergründe, Andrés ohne jede Ahnung. Ich werde ganz sicher einen Freund verlieren, aber es ist eine Freundschaft, die schon alles hergegeben hat, was zu erhoffen war.» Narcís öffnete eine Schublade seines kostbaren Nußbaum schreibtisches, entnahm ihr ein Scheckheft, rechnete etwas im Kopf aus, schrieb etwas auf ein Formular, riß es heraus und gab es Carvalho. «Ich bezahle meine drei Viertel. Ich könnte Ihnen den vierten Teil auch noch geben, für den Ihre Freundin zuständig ist, vor allem unter diesen Umständen, unter denen Sie, wie ich annehme, das Zartgefühl besitzen werden, ihr keine Rechnung zu stellen. Aber es hätte eine schlechte Wirkung, wenigstens auf mich, es wäre so etwas wie der Versuch, mich bei Ihnen anzubiedern, bei all dem, was Sie wissen und ausplaudern könnten. Aber ich habe keinerlei Grund dazu, mich anzubiedern, Ihr Wort stünde gegen meines. Außerdem hieße das, Ihre Intelligenz zu beleidigen. Sie sind kein schlechter Detektiv, aber ich habe den Eindruck, daß Sie den Ereig nissen hinterherhinken. Sie sind ihnen nicht voraus!» Carvalho kontrollierte die Summe und nickte. Er steckte den Scheck ein, ging zu der Geheimtür, drückte den Knopf, und der Korridor tauchte auf, frisch gestrichen in einem glänzenden Grau grün. «Der einzige, der den Ereignissen vorgreift, ist der Mörder.» «Er ist nicht der einzige. Ich war in diesem Fall auch den Ereig nissen voraus, ich habe sie herbeigeführt, vom Anfang bis zum Ende.» «Sie haben das Zeug zu einem Mörder!» «Darüber könnte man streiten.»
Er fuhr mit seinem Auto bis zur Spitze des Wellenbrechers hinaus. Dann ging er zu Fuß weiter und kam an den alleräußersten Rand der Stadt, wo Felsen aufgehäuft waren, um den Damm vor den Zorn ausbrüchen des Meeres zu schützen. Während er den Horizont be trachtete, suchte er den schicksalhaften Korridor, durch den die Rosa de Alejandría in ein paar Tagen einlaufen würde. Gegenüber lag die abgewertete Erscheinung der Burg von Montjuïc, in früheren Zeiten eine Festung des Schreckens und heute ein Park, durch den 230
sich sonntägliche Ausflüglermassen wälzten, Schalen von Sonnen blumenkernen ausspuckend, und Omnibusladungen alter Leute, die angesichts einer Welt von begrenzter Rendite auf den Tod war teten. Der Damm war ein asphaltiertes Band, das dem Ursprung der Stadt zustrebte, seine steinerne Böschung fiel ab zu den Volks stränden von Barceloneta, Club Natación Barcelona, Orientales, La Deliciosa, San Sebastián, oder vielleicht hießen sie auch nicht mehr so, aber da lagen die Strände, heuchlerisch dem Winter hin gegeben, in Erwartung der armen Badegäste, der zum Schweigen gebrachten Mehrheit ohne Urlaub, die die Anzahl ihrer Bäder im Meer jeden Sommer an ihren Fingern abzählen konnten, ein ent wertetes Glück, zu dem man mit dem Omnibus gelangte. Und weiter in der Ferne die Lagersilos von Maquinista Terrestre y Marítima, der Maresme. Der Kreis schloß sich wieder einmal, wie er es vorausgesehen hatte, auf hoher See. Eine Reihe vor Anker lie gender Schiffe bildete eine Linie parallel zum Horizont. Sie gehör ten genau so zur Staffage wie die alten Angler, Fossilien, verstei nert in ihrem unbeweglichen Warten. Aufs Meer hinausfahren und auf die Ankunft der Rosa de Alejandría warten, den Seemann warnen, ihn auf einen Delphin setzen und ihm erlauben, am Ende der Welt oder des Meeres an Melancholie zu sterben. Aber es war nicht seine Aufgabe, Leben zu retten oder zu zerstören, sondern sie während eines bestimmten Bruchteils ihrer Laufbahn zu beob achten, ohne nach Ursprung und Ziel zu fragen. Er hatte Bruch teile des Lebens von Andrés gesehen, von seiner Familie, Paquita, des insuffizienten und schon senilen Gutsbesitzers aus Albacete, der Sociedad Deportiva Albacete Balompié, eines Blinden aus Águilas, zwei Nonnen aus Jaravía, die zu Fuß gingen, La Morocha, ih rem Vater, dem Animero, der radiosüchtigen alten Dame, dem Autodidakten selbst und von zwei unsichtbaren Gestalten, die für im mer imaginär bleiben würden, Encarna und Ginés, eine schlechte Namenskombination, die keinen mythologischen Wohlklang besaß; Peleas und Melisende, Daphnis und Chloe, Encarna und Ginés wurden einen abgestandenen Mief von Unterentwicklung, Arsch der Welt und Lyrik nicht los. Ein protziges Auto kam über den Damm angerollt, ein teures Auto mit schwedischer Karosserie, deutschem Motor und eng lischen Fertigteilen. Es parkte hinter Carvalhos klapprigem Ford 231
Fiesta, der vom Staub seiner vergeblichen Fahrten und der blinden Achtlosigkeit der Vögel bedeckt war. Der majestätischen Limou sine entstieg ein livrierter Chauffeur und hielt einem schlanken, lä chelnden Gentleman den Schlag auf. Weder die Korrektheit seiner Kleidung, die diskret seinen Reichtum andeutete, noch seine Lie benswürdigkeit dem Chauffeur gegenüber noch das brillante Lä cheln dieses gewollt glücklichen Menschen, hätten Carvalhos Auf merksamkeit erregt, wenn er nicht einen nagelneuen Zylinder in der Hand gehalten hätte, ein absolutes Non-Plus-Ultra. Was dieser Gentleman nun tat, war wenig diskret. Einen nach dem andern sprach er die wenigen Spaziergänger um den Leuchtturm herum an und kletterte die Felsen hinab zu den einsamen Anglern, um jedem einzelnen etwas zu überreichen, das er aus dem Zylinder zog. «Irgendeine Werbekampagne», dachte Carvalho und achtete nicht mehr auf das Treiben des Neuankömmlings, bis dieser vor ihm stand und ihn ansprach, wobei er den schmalen, kahlen Kopf in den Nacken legte und aus einer gewissen Distanz heraus Carvalho taxierte, ob er sein Angebot annehmen würde. «Erlauben Sie mir, Sie einzuladen, mein Herr!» Damit überreichte er ihm eine Zigarre, die er aus dem Zylinder genommen hatte. Carvalho betrachtete das Geschenk, nahm es und las, was auf dem Etikett stand. Demnach war es eine philippinische Zigarre, ‹Spezial, ›. «Zuerst hatte ich vor, ‹Cohibas› zu verschenken, aber eine ‹Cohiba› kann sich heutzutage jeder leisten. Unsere ganze politische Elite raucht ja nichts anderes.» Jetzt zückte der Mann eine Visitenkarte und überreichte sie Car valho. «Antonio Gomá, Manager eines multinationalen Konzerns. Ich bin fünfzig Jahre alt geworden und möchte, daß Sie die Freude über diesen Triumph des Willens über die Logik mit mir teilen. Wir Manager sind Einzelgänger, und so habe ich mir diese kleine Ein lage von Exhibitionismus erlaubt, hier, an diesem Ort, den ich aufs Geratewohl ausgesucht habe, einem Ort für entspannte Menschen, die angeln, spazierengehen oder einfach das Meer betrachten. Sehr schön, ein sehr schöner Ort!» «Ich gratuliere!» «Rauchen Sie sie auf meine Gesundheit!» Der Mann machte sich wieder auf die Suche nach potentiellen Menschen, die er beschenken konnte. Carvalho ging zu seinem 232
Auto. Der Chauffeur der Limousine stand davor, lehnte mit seinem Arsch an der Karosserie und las Mundo Deportivo. «Macht Ihr Chef öfter solche Ausflüge?» «Er ist nicht mein Chef. Ich finde, er könnte sein Geld genauso gut zum Fenster hinauswerfen. Ich arbeite für eine Agentur und bin mit dem Auto bis Mittag engagiert.» Carvalho stieg in sein eigenes Auto und fuhr ein paar Meter neben dem Manager her, der seinen lächelnden Gang mit dem Zylinder unter dem Arm fortsetzte. Er bemerkte Carvalhos Manöver und bedachte ihn mit einer Verbeugung und einem Winken der Hand. Dann fuhr Carvalho hinauf in Richtung Vallvidrera und ließ, sobald er den Ensanche erreicht hatte, an jeder Kreuzung die Forderungen von Jugendlichen zwischen Bettelei und Sozialarbeit über sich ergehen, die ihm die Frontscheibe putzen wollten. Die Fahrer, die im Netz der roten Ampel zappelten, gestikulierten aus dem Wageninnern, um die Jugendlichen von ihrem Vorhaben abzubringen, weil sie sonst sich entscheiden mußten, ob sie sie für einen unerbete nen Dienst bezahlen sollten oder nicht. Carvalho ließ drei Sauber keitskontrollen zu, drei Ampeln, drei Fünfpesetenstücke, um mit einer Frontscheibe in Vallvidrera anzukommen, die nicht ganz so schmutzig war wie zuvor, und mit einem beruhigten Gewissen, hatte er doch zum Lebensunterhalt von drei Opfern der zyklischen Krise beigetragen. Als er am Haus des Verbrechens vorbeifuhr, sah er es an wie einen neuen, unvermeidlichen Nachbarn, der ihn hier erwarten würde, Tag für Tag, für immer, solange die Erinnerung noch warm war. Er erzählte Charo die Geschichte des Mannes mit dem Zylinder, ver schwieg ihr aber sein Gespräch mit dem Autodidakten. Sie hatte immer noch rote Augen, aber nun herrschte eine gewisse Ordnung in Carvalhos Angelegenheiten, vor allem in der Küche, wo jedes Ding an einem Platz war, den ihm Charos Logik oder ihr Gedächt nis zugewiesen hatte. «Ich gehe jetzt.» «Nein, bleib heute hier. Wir können später hinunterfahren, etwas fürs Abendessen einkaufen und Fuster einladen. Ich habe Lust, ihm von meinem Ausflug nach Albacete zu erzählen, vor allem vom Ursprung des Río Mundo.» «Laß es gut sein. Ich gehe noch mit einkaufen, aber dann will ich nach Hause. Zwei Tage Urlaub ist zuviel Risiko, so, wie es heutzu233
tage aussieht, mit der ganzen Konkurrenz, den Massagesalons, du weißt ja.» Dabei bleibt alles in der Familie, dachte Carvalho, im Gegensatz zu Charo, deren Vorstellungskraft gespalten war zwischen der Rolle, die sie den Angehörigen ihres Stammes zuschrieb, und der, die sie tatsächlich spielten. «Nimm den Telefonhörer ab und leg ihn daneben. Ein paar Tage! Versuch es! Bleib hier bei mir. Auf Probe.» Charo sah ihn verwirrt an. «Ich brauche dein Mitleid nicht!» «Ich mußte es dir sagen!» Charo setzte sich auf die Terrasse, von der man über das Vallès blickte. Der Wind hatte mitgeholfen, den Blick in die Ferne zu säu bern, und dort war er, der Montserrat, wie eine Laune der Optik, erbaut von irgendeinem Mäzen des Jugendstils und mit der Hilfe einer Person, die total unter Drogen stand. Charo dachte nach, Car valho ebenfalls. Er bereute sein Angebot, das keinen Sinn hatte. Charo sah zu, wie er grübelte, blinzelte in der Sonne und erhob sich schließlich entschlossen, entschlossen zu gehen. «Bring mich runter, Pepe, oder begleite mich wenigstens zur Bergbahn!» «Du gehst?» «Ja. Keiner kann über seinen Schatten springen. Ich bin nicht mal zum Kochen für dich gut. Du kochst besser als ich. Gib mir einen Kuß!» Carvalho küßte sie. «Es ist nicht schlimm!» Er brachte sie in seinem Wagen nach Hause und ging dann zum Büro, wo er den Speisezettel absegnete, den ihm Biscuter vorlegte, und bat ihn, seine Pläne zurückzuschrauben, da er ein größeres Abendessen für Fuster plane und seine Leber nicht überlasten wollte. «Wenn wir schon von der Leber sprechen, Chef, da ist ein Brief von dem Kurbad, wo Sie hingehen wollten.» Es war ein Umschlag mit der Abbildung eines vornehmen Ge bäudes inmitten einer Vegetation, die man für tropisch halten konnte. Der Brief war die liebenswürdige Antwort auf seine An frage wegen eines Platzes ‹für einen Reinigungsprozeß, der, wie wir hoffen, sich vorteilhaft auf Ihre Gesundheit auswirken wird …› «Ich verstehe nicht, was Sie dort wollen, Chef, ich könnte Ihnen eine Diät kochen, bei der Sie bis auf die Knochen abmagern und so 234
gesund würden wie der Fisch im Wasser, falls das Wasser für den Fisch gesund ist …» «Das ist nicht der Punkt, Biscuter, ich möchte einfach gerne ein mal zur Kur fahren, bevor ich sterbe. Das ist wie eine Fahrt zum Berg Athos oder zu den Niagarafällen. Außerdem wird man mas siert und bekommt Schlammpackungen. Ich bin dauernd nur we gen der Arbeit unterwegs, und ich möchte mich erholen.» «Es gefällt mir gar nicht, daß Sie Ihr Geld so zum Fenster hinaus werfen, Chef. Das sind alles Halsabschneider!» Carvalho ließ den mißmutigen Biscuter stehen und machte sich auf den Weg zur Boqueria-Markthalle.
Sein Gefühl warnte ihn vor der Bedrohung, die die Treppe herauf kam, und als er hinschaute, las er im erschütterten Gesicht des Tele grafisten, daß sein Schicksal besiegelt war. Der Telegrafist blieb bei ihm stehen. Er sah zu Boden oder auf das Stück Papier, das er vom Fernschreiber abgerissen hatte, dann wollte er weitergehen, blieb aber stehen und gab ihm das Papier. ‹Spanische Polizei ordnet an Arrestierung des Offiziers Ginés Larios Perez bis Ankunft Barce lona. Steht unter Mordverdacht.› Er hielt es ihm weiter hin, falls er es noch einmal durchlesen wollte, aber Ginés schüttelte den Kopf. «Danke.» «Es tut mir leid, aber …» «Bring es dem Kapitän. Du bekommst sonst Schwierigkeiten.» Er sah ihm nach, wie er die Treppe zur Kommandobrücke hinauf stieg. Er selbst blieb stehen, eine Hand auf dem Geländer und die andere halb in der Luft, als hätte die Berührung mit dem Fernschrei ben seinen Arm erstarren lassen, in dem Bemühen das Schicksal festzuhalten, das ihm jetzt entglitt. Er setzte sich auf eine Taurolle und wartete darauf, daß die Ereignisse sich überstürzen würden. Als erster kam Germán, ihm folgten Basora, Martín und zwei Ma trosen. Im Vordergrund waren die Beine von Germán, die der an deren folgten in einer perspektivischen Linie zum Heck. Er wollte den Blick nicht heben, um Germán nicht ins Gesicht sehen zu müs sen, denn von diesem Gesicht tropften Tränen und klatschten rund und voll aufs Deck. «Ginés, Ginésico!» stöhnte Germán, und in der einfachen Nennung des Namens lag ihre ganze gemeinsame Ge235
schichte, von ihrer Jugend bis heute, und alle Erinnerungen, die sie teilten. Er hob den Kopf, um auf einer Höhe mit den Gesichtern der anderen zu sein, die ihn nicht ansahen, weil keiner ihm das sagen wollte, was jeder wußte. «Wo sperrt ihr mich ein?» «Zuerst will dieser Verrückte mit dir reden. Das Ganze ist ein Irrtum, nicht wahr, Ginés?» «Nein, es war kein Irrtum!» Ginés schüttelte als Antwort auf Basoras Frage den Kopf. Dann wollte er zur Kommandobrücke ge hen. «Nein, er erwartet dich in seiner Kajüte.» Seine neuen Bewacher folgten ihm. Germán hatte den Arm um seine Schultern gelegt, ging im Gleichschritt mit ihm und sagte ihm ins Ohr: «In was bist du da hineingeraten, Ginés? In welcher un glücklichen Stunde habe ich dich dazu gebracht zurückzukommen? Warum hast du mir nichts davon gesagt? Warum bist du aufs Schiff zurückgekommen? Was hast du getan, Ginés, was hast du getan?» Er wollte ihn bitten, mit den Fragen aufzuhören, aber von seinen Lippen kam kein Ton. Er ging stur weiter, um so schnell wie mög lich die Kapitänskajüte zu erreichen. Da war sie schon, am Ende des Korridors. Die Tür stand etwas offen, und er erwartete, daß sie aufging, das Revuegirl in ihrer altmodischen Aufmachung auftrat und ‹Die Erlöserin› singen würde, aber die Stimme des Kapitäns ließ ihn auf der Schwelle stehenbleiben. «Keinen Schritt weiter! Bleiben Sie dort stehen!» Die Stimme kam aus dem Spalt der angelehnten Tür. «Sagen Sie Ihren Kollegen, sie sollen sich zurückziehen, und Sie bleiben hier!» Die Offiziere und Matrosen kehrten der Szene den Rücken zu, nur Germán blieb in einiger Entfernung stehen, damit er seinem Freund zu Hilfe eilen konnte. Die Stimme des Kapitäns klang ganz nahe, als er ihn bat: «Kommen Sie näher, aber machen Sie die Tür nicht weiter auf.» Ginés legte seine Stirn an das gefirnißte Holz. Wenige Zentimeter dahinter hörte er den erregten Atem des unsichtbaren Kapitäns und seine Stimme, die wie bei der Beichte zu einem Flüstern gedämpft war. «Es ist zu spät, Ginés! Ich habe Sie rechtzeitig gewarnt!» Er wollte ihn fragen: «Was wußten Sie? Woher wußten Sie es?» aber es 236
schien ihm zwecklos, in Details zu wühlen, die das Theatralische der Situation noch verstärken würden, ein Hindernis mehr auf dem Weg zur endgültigen Lösung seines eigenen Dramas. Er sagte nichts, und die Stimme des Kapitäns tönte weiter aus seinem Ver steck, erstickt, von Angst verstellt. «Sie waren ein Dummkopf! Seit Monaten verhalten Sie sich wie ein Dummkopf. Sie haben es nicht geschafft, damit aufzuhören, als es noch Zeit war. Denken Sie in ein paar Jahren, wenn Sie sich mit der nötigen Distanz an diese Szene erinnern, an ihren Kapitän, an alles, was er für Sie getan hat, und an alles, was er für Sie zu tun bereit war! Versprechen Sie mir, daß Sie daran denken werden?» Ginés nickte dieser halboffenen Tür zu, dieser peinlichen Stimme und diesem Wesen, das er sich vorstellte, wie es im Dunkel kauerte und bei einem Beichtgeheimnis Zuflucht suchte. «Wir werden uns nie wiedersehen, Ginés! Das ist Ihre letzte Reise! Aber auch die meine. Vergessen Sie mich nicht.» Ein kurzes Schweigen, Schritte auf dem Plastikbelag des Fußbo dens, und als der unsichtbare Kapitän sich weit genug entfernt hatte, ertönte seine Stimme im gewohnten Befehlston: «Germán, Basora, tun Sie Ihre Pflicht! Der Offizier Larios steht unter Ihrer Verantwortung.» Ginés verließ den Schauplatz in Begleitung seiner Freunde. Die beiden Matrosen folgten in einiger Entfernung, sie wagten es nicht, den Corpsgeist zu verletzen. «Zuerst sagte er, wir sollten dich in eine leere Kabine ohne Lüf tung stecken, neben dem Maschinenraum, wo die Maschinisten sich aufs Ohr legen, während sie auf ihren Dienst warten. Es hätte nicht viel gefehlt und Germán hätte ihn zusammengeschlagen! Schließlich haben wir uns geeinigt und ihn dazu gebracht, daß du in deiner Kabine bleiben kannst. Theoretisch sollte die Tür von außen abgeschlossen werden, aber das ist Idiotie, du wirst nicht ins Wasser springen und uns wegschwimmen … schwöre, daß du diese Ab machung respektierst und keine Dummheiten machst! Mir ist es egal, uns allen ist es egal, was du getan hast, aber dieses Schiff ver läßt du lebend, den Atlantik nicht. Schwöre mir, Ginés, daß du uns keinen Ärger machst, dann lassen wir deine Kabinentür offen.» Ginés drückte Basoras Arm, wie um ein nutzloses Gefühl dank barer Verbundenheit auszudrücken. «Nein, nein, ich werde bestimmt keine Dummheiten machen, 237
aber schließt die Kabine ab. Ich muß mich allmählich daran gewöh nen.» «Wir kommen dich besuchen!» «Aber paßt auf, dieser Irre dreht uns noch einen Strick daraus. Was hat er dir denn zugeflüstert?» «Das habe ich kaum verstanden.» Germán beteiligte sich nicht an diesem Gespräch, diesem Ge spräch am Fuß des Schaffotts, diesen letzten Worten, Abschied vor einer Reise ohne Wiederkehr. «Ab und zu würde ich gerne einem Deckspaziergang machen.» «Dir stehen pro Tag zwei Spaziergänge mit Bewachung zu.» Martín bewältigte die Situation mit Hilfe von Vorschriften, mit welchen Vorschriften, war egal. Als er in seiner Kabine einge schlossen wurde, las Ginés in den Augen von Germán die Ankündi gung, er werde wiederkommen, um nach den Gründen dieser Tra gödie zu forschen. Er war als Freund betroffen, dem kein oder nicht genügend Vertrauen entgegengebracht worden war. Ginés fand sich mit der neuen Art von Einsamkeit ab. Sie war anders als die, die er in seinen zwanzig Jahren auf See erlebt hatte. Jetzt war die Ein samkeit etwas anderes, sie glich eher einer Quarantäne, aus der er viele Jahre nicht entlassen werden würde. Noch verfügte er über eine Welt von Anhaltspunkten, die in seinem Bewußtsein gespei chert waren, und freundschaftliche Stimmen auf der anderen Seite der Tür, aber bald würde er zwischen Zahnräder geraten, die seine Persönlichkeit auslöschten. Das würde mit der Forderung begin nen, er solle alles erzählen, als gäbe es eine Erklärung dafür, was er getan hatte, als könne es jemand anderem erklärt werden, außer ihm selbst oder der armen Encarna. Vielleicht konnte er Germáns Fragen als Training auffassen, was nach der Ankunft in Barcelona auf ihn zukam. Kaum anderthalb Stunden nach dem Beginn seiner Gefangenschaft saß der ungeduldige Germán vor ihm. Er hatte nicht den Mut, ihm ins Gesicht zu sehen, aber es war von lebens wichtiger Bedeutung für ihn, Erklärungen zu verlangen. «Ich habe Encarna umgebracht.» «Encarna. Das war klar. Aber wieso hast du dann zu mir gesagt, du müßtest unbedingt nach Barcelona, um sie zu treffen?» «Es war eben so. In gewissem Sinne ist es immer noch so.» «Aber du wußtest, daß du sie umgebracht hattest.» «Ja.» 238
«Vielleicht hast du ja gehofft, sie wüßten noch nicht, daß du es warst.» «Ja. Das wäre die vernünftigste Erklärung, und tatsächlich hatte ich diesen Gedanken, aber nicht immer. Ich wäre auf alle Fälle zu rückgekehrt, auch wenn das nicht so gewesen wäre. Allerdings nicht in den Momenten der Angst, die ich so oft erlebt hatte. Zum Beispiel als ich damals getürmt war und nicht auf das Schiff zurück kommen wollte. Aber das hätte bedeutet, daß ich den Schmerz mein ganzes Leben mit mir herumgeschleppt hätte.» «Aber was hast du da angerichtet! Warum?» «Ich hatte einen schlechten Tag», sagte er, und Germán brach in eine Litanei von Klagen und bestürzten Fragen aus. «Es war vorherbestimmt.» Das sagte er schließlich, als er es satt hatte, den Ball zurückzuspielen, den ihm Germán mit der Ausdauer eines ausgeflippten Pelotaspielers zuspielte. «Es war vorherbe stimmt. Ich habe mich wieder an Szenen erinnert, aus der Zeit in Águilas, als wir noch Kinder waren, und wenn es dir auch wie eine Lüge vorkommen mag, Encarna trug damals schon ihren eigenen Tod in sich, und ich meinen Fluch. Ich weiß, es klingt wie aus einem Roman, wie ein Paradox, aber wenn ich diese ganzen Jahre über denke und mich sehe, uns beide, wird mir klar, daß es kein anderes Ende nehmen konnte. Wie oft machte ich ihr den Vorschlag, alles aufzugeben, mich zu heiraten und in irgendeinem Winkel der Welt Zuflucht zu suchen! Aber es wäre nicht möglich gewesen.» «Was hat sie dir getan, daß du sie getötet hast?» «Nichts so Schwerwiegendes, daß ich sie umbringen mußte. Das sage ich dir jetzt, Germán, mit dem Herzen in der Hand. Das Schlimmste, was mich am meisten verletzt hat, war wohl, daß sie mich damals wegen diesem Typ sitzenließ, weißt du noch, es war dieser Sommerfrischler. Vielleicht hat alles damit angefangen.» Er sah sich in den vier Wänden seines Gefängnisses um. «Du mußt dir einen Anwalt suchen! Du brauchst Zeugen. Ich werde für dich aussagen. Ich erzähle, daß du deinen Verstand verlo ren hattest. Du mußt einen Grund finden! Sie wollte nicht mit dir kommen und du hast durchgedreht. Zeitweilige Unzurechnungs fähigkeit!» «Man soll nichts überstürzen!» «Bist du dir denn klar darüber, daß du jahrelang im Knast sitzen wirst?» 239
«Man soll nichts überstürzen.» «Seeleute halten das Gefängnis nicht durch!» «Schick mir ab und zu mal Nachricht von diesem Schiff. Es wird mich interessieren, wo ihr seid. Und wenn ich irgendwann wieder herauskomme, dann fahre ich wieder zur See, Germán!» Ein Matrose kam und teilte ihnen verlegen mit, der Kapitän habe ihm den Befehl gegeben, die Kabine abzuschließen und vor der Tür Wache zu stehen. Germán ging wütend hinaus, fluchte: «Dieser Hurensohn!» und schrie zur Verblüffung des Matrosen: «Was dieses Revuegirl sich alles einbildet!» Aber Ginés grinste zufrieden, als er eingeschlossen und allein war.
Er hätte ihn im zollfreien Hafen von St. Thomas billiger bekom men können, aber er wollte genau diesen Trainingsanzug haben, aus dem Schaufenster von Beristain auf den Ramblas, an der Ecke der Calle de Fernando. Nachdem er ihn in Händen hielt, in einer Plastiktüte, überquerte er die Fahrbahn zum Mittelweg der Ram blas. Er ging hinauf zum Stadtzentrum und zu dem Hotelzimmer, das er gemietet hatte, um sich von der langen Seefahrt zu erholen und vielleicht einen Ausflug zu machen. Germán hatte ihn zu über reden versucht, ein Auto zu mieten und nach Águilas zu fahren, aber er konnte sich nicht entscheiden und hatte nicht allzuviel Lust, dorthin zu fahren. Während er sich selbst die Gründe aufzählte, die ihm fehlten, um eine derart verrückte Reise zu unternehmen, sah er einen vertrauten Schatten rechts vorbei gehen. Er fühlte das Profil der Frau noch auf der Netzhaut, als sie schon vor ihm ging, und als er ihren Rücken betrachtete, in dem enganliegenden Übergangs kleid, das ihre ansprechende, mittelgroße Figur betonte, wußte er, warum er Herzklopfen bekam und losrannte, um sie einzuholen und ihr ins Gesicht zu sehen. «Encarna!» Auch sie erkannte ihn sofort wieder, und sie küßten sich auf die Wangen wie Verwandte, die sich lange nicht mehr gesehen hatten, sie faßten sich an den Händen und tanzten mitten unter den Passan ten an diesem lauen Frühlingsnachmittag auf den Ramblas umher. Nach ein paar Schritten erzählten sie einander die wichtigsten Er eignisse ihres Lebens, obwohl sie das eine oder andere schon von 240
Paquita erfahren hatten, dem statischen Nachrichtendepot, das sie jedesmal abriefen, wenn einer von den beiden nach Águilas kam. Als es Nacht wurde, saßen sie beim Abendessen in einem Lokal, das sie auf gut Glück ausgesucht hatten. Nach dem Essen folgten ver trauliche Gespräche, bei denen sie die Karten der Frustration zu nächst noch zurückhielten, um sie dann doch auf den Tisch zu le gen, eine komplette Serie von Fehlschlägen, eine gescheiterte Ehe, und die Eintönigkeit der Seefahrt, bei der ihm ein Hafen fehlte, wo er ankommen oder wohin er zurückkehren wollte. Sie verfügte nicht über ihr Leben und er verfügte im Übermaß über seines. Die Karikatur von Encarnas Leben in Albacete brachte sie zum Lachen, und zum Ausgleich machte Ginés seine Lebensgeschichte zu einer Sammlung von Anekdoten aus hundert Häfen, Geschichten, die er erlebt hatte, ohne damit zu rechnen, daß er sie jemals einem gebannt lauschenden Zuhörer erzählen könnte. «Das ist doch wunderschön, die Welt sehen zu können! Ich er finde jedes Jahr hundert Wehwehchen, um herauszukommen und hier frei atmen zu können. Es ist herrlich, sich in einer Stadt zu verlieren, wo einen niemand kennt, wo keiner weiß, daß ich Señora Rodríguez de Montiel bin, wo man sich mit jedem beliebigen Men schen treffen kann, ohne Rücksicht auf irgend jemand oder irgend etwas nehmen zu müssen.» Ginés fühlte ihr gegenüber wieder dasselbe beunruhigende Be dürfnis, sie zu umarmen, das blockiert wurde durch dasselbe, nicht weniger beunruhigende Gefühl, es nicht tun zu dürfen, daß er in seiner Jugend bei ihren Spaziergängen gehabt hatte. Ihre Eltern hat ten damals gesagt, Ginés und Encarna würden miteinander gehen. Damit war gemeint, daß sie um die Gefühle herumschlichen, die sie füreinander empfanden, ohne die richtigen Worte oder die entschei denden Gesten zu finden. Auch an diesem Abend und am nächsten Tag hatte er dieses Gefühl, wie die Katze um den heißen Brei herumzuschleichen. Sie verabredeten sich für eine Zeit, die sie selbst bestimmen konnten, ohne Rücksicht auf Schule, Arbeit, Familie, Paqui oder was die Leute sagen würden, sie war es, die aufhörte zu sprechen, um ihn in der Absicht anzusehen, die Schranke zu über springen, die Schranke dessen, was hätte sein können, aber nicht war. Ihr erster Kuß war wie eine Vorwarnung, dann küßte sie ihn lange und intensiv. Ein Kuß, der von einer langen Reise kam, ver stärkt durch einen langen, widersinnigen Aufschub. Sie war noch 241
das Mädchen von früher mit den langsamen Bewegungen und den kontrollierten Gedanken. Sie war frei in einer für sie freien, offenen Stadt, und sie konnte es in Abständen sein, die jedesmal mit der Ankunft der Rosa de Alejandría zusammenfielen. An jenem ersten Abend in ihrem Hotelzimmer sprach sie begeistert von dieser Mög lichkeit. Sie hatten zuerst vorgehabt, in Ginés’ Zimmer zu gehen, aber seine Verkrampftheit hatte zu einem schäbigen, komischen Dialog mit dem Portier geführt, der völlig zwecklos war, denn sie hatte schon den Aufzug betreten. Er hatte sich verpflichtet gefühlt, Erklärungen abzugeben, weil diese Frau mit auf sein Zimmer kam. Das Gespräch war ihr peinlich, und sie beendete es, indem sie den Aufzug wieder verließ und auf die Straße hinausging. Ginés folgte ihr mit Schuldgefühlen und Erklärungen. «Du bist immer noch einer vom Dorf!» sagte sie zu ihm in der Dämmerung, als sie nackt auf dem Bett lagen. Die Liebe war unbe friedigend gewesen, denn Ginés hatte sich zwanzig Jahre diesen Akt gewünscht, zwanzig Jahre einen einzigen Augenblick, und ihr Körper hatte sich als unzugänglich erwiesen wie eine massive Mauer aus Fleisch, die am Ende einer schwierigen Entscheidung stand. «Ich finde es entsetzlich, sich heimlich ins Hotel schleichen zu müssen.» «Ich habe mich nicht eingeschlichen! Laß uns ein anderes Hotel nehmen und uns als Ehepaar ausgeben.» «Wie sollte ich das Germán und den anderen erklären?» «Du kannst mir nicht weismachen, daß ihr euch nicht von euren Affären erzählt und euch gegenseitig mal einen Gefallen tut!» «Das mit uns ist etwas anderes. Ich will nicht, daß sie es erfahren. Es ist etwas anderes.» «Du hast dich überhaupt nicht verändert. Ich sagte einmal zu Paca: ‹Wenn dein Vetter doch anders gewesen wäre, wenn er doch entschiedener gewesen wäre!› Vielleicht auch nicht, wozu uns etwas vormachen! Du hast mir Angst eingejagt. Angst davor, die Frau eines Seemannes ohne Zukunft zu werden, monatelang eine Witwe zu sein, und das alles für nichts oder sehr wenig. Ich bin keine Nonne. Dafür bin ich nicht geschaffen.» Ihre sexuelle Beziehung war nicht gewinnbringend. Die ver dammte Notwendigkeit, diese Mauer aus Fleisch zu besteigen, die sen Körper in seiner plötzlichen Nacktheit als normal zu empfin den, ihm die gefühlsmäßige Verklärung zu nehmen, mit dem er ihn 242
das ganze Leben lang umgeben hatte, all das nahm ihm seine Sicher heit. Während der ersten Begegnungen war alles in eine affektive Wolke gehüllt gewesen, und Ginés entlastete sich selbst, indem er die Meinung vertrat, so etwas wie Liebe habe genügend kompensatorische Wirkung, jenseits des sexuellen Erfolgs oder Mißerfolgs. Das schien auch ihre Einstellung zu sein. Verliebt erwartete sie ihn jedesmal in nächster Nähe des Hafens, als hätte sie in den Monaten der Trennung nur auf dieses Treffen hingelebt. Selten besaß er den klaren Kopf, um diese Beziehung aus kritischer Distanz zu betrach ten. Sie war ein Bestandteil seines Lebens geworden, genau wie die Häfen ein Bestandteil seines Lebens und die Fluchten ein Bestand teil ihres Lebens waren. Ginés hatte keine Menschen, die es in die Beziehung einzubringen, davon fernzuhalten oder zu vergessen galt. Ihr fehlte jede Beziehung, die entbehrlich war. Sie hatte keinen Kontakt zu ihren Verwandten in Barcelona und sehr wenig zu de nen in Águilas; nur ihr Ehemann war eine im negativen Sinne not wendige Gestalt. Sie bezog sich auf ihn zunächst mit gequältem Schweigen, aber dann mit einer wachsenden Verachtung, als wäre am Anfang dieser heimlichen Beziehung der Ehemann ein aktiver Grund ihres Ehebruchs gewesen, am Ende aber ein passiver, ein lästiges und absurdes Ding, von dem sie kam und zu dem sie fataler weise zurückkehren mußte. Im Laufe der Jahre kam es zu etwa acht Begegnungen in zwei Etappen, die schwer voneinander abzugren zen waren. Zu Anfang war Ginés die einzige Hoffnung dieser herr lichen Frau, die eine Viertelstunde, nachdem das Schiff angelegt hatte, im Café de la Opera auf ihn zu warten pflegte, diese Frau, bei deren Anblick seine Kollegen bewundernde Pfiffe ausgestoßen hat ten, als sie ihnen einmal Arm in Arm auf der Straße begegnet wa ren. Mit der Zeit kam sie dann zwar noch mit der ursprünglichen Zärtlichkeit zu den Rendezvous, aber sie vermittelte ihm das Ge fühl, daß nicht er, sondern die Umstände der wirkliche Grund ihrer Fluchten und ihrer Befriedigung waren. Und an diesem kritischen Punkt bekam Ginés Angst, sie ein zweites Mal zu verlieren. Er schlug ihr vor, ihrer Beziehung einen endgültigen Sinn zu geben. «Ich kann etwas finden, das mit meinem Beruf zusammenhängt und keine langen Seefahrten erforderlich macht. Ich könnte eine kleine Yacht kaufen und von Piräus oder von Istanbul aus Kreuz fahrten für Touristen anbieten. Das machen viele, und es werden immer mehr. Du könntest auf dem Schiff mitfahren. Wir könnten 243
immer zusammen sein. In Spanien ist es nicht üblich, eine mittel große Yacht zu mieten, vielleicht auf den Balearen, aber es gibt nicht genügend Touristen dafür. Für dich würde sich nichts ändern, wenn wir ins östliche Mittelmeer gehen würden.» Und dann erzählte er ihr phantastische Träume von den griechi schen Inseln oder dem Bosporus. Vor allem Pathmos und der Bos porus hatten es ihm angetan, er wollte mit ihr unbedingt das teilen, was er in erzwungener Einsamkeit, in einer subjektiven, masturbatorischen Aneignung von Landschaften und Erlebnissen genossen hatte. Sie freundete sich mit dem Gedanken an oder lehnte ihn ab, je nach dem Stand ihrer eigenen Überlegungen, deren logische Ent wicklung sie ihm nie enthüllte. Sie erzählte ihm auch nicht, wie er es gerne wollte, alles, was ihr Leben vor und nach ihren Begegnungen betraf. Erzähl mal! Und was hast du dann getan? Was denkst du? Was dachtest du? Alle Fragen glitten von der Haut Encarnas ab, sie war im Grunde undurchdringlich, eine undurchdringliche Mauer aus Fleisch, die plötzlich mit geschlossenen Augen in seinen Armen lag, und er erfuhr nie, ob dies in der Absicht geschah, ihn nicht anzusehen, oder aus dem Bedürfnis heraus, ihn in der Erinnerung zu suchen. Dann, in den ersten Tagen ihrer letzten Begegnung, hatte ihr der Seemann eine Art Ultimatum gestellt. «Ich habe diese Situation satt, diese falsche Normalität. Ist es dir aufgefallen? Wir sind wie verheiratet. Als würdest du auf einen Ehemann warten, der zur See fährt.» «Vielleicht sieht es so aus, aber es ist nicht so.» Tatsächlich war er ein Teil mehr in einem komplizierten Puzzle, das er nicht überblickte, und dessen wichtigster Teil ihr Ehemann war. «Hab Geduld! Mit meinem Mann geht es zu Ende.» «Was willst du damit sagen?» «Er macht es nicht mehr lange.» «Bist du traurig?» «Traurig? Überhaupt nicht. Ich will nur zwanzig Jahre nicht ein fach über Bord werfen. Wenn ich das tun würde, würde er es mir heimzahlen, und das ganze Pack dort würde sich freuen. Hab Ge duld!» Aber es gab mehr als eine, mehr als zwei Encarnas. «Ginés!» 244
Germán stand in der Tür. Er hatte das Licht in der Kabine ange schaltet, es blendete seine Augen, geschunden durch sein krankhaf tes Starren in die Dunkelheit, das nur durch die Feuchtigkeit der Erinnerung oder des Selbstmitleids gelindert wurde. «Ginés, bist du wach?» «Ja.» «Die Straße von Gibraltar ist in Sicht!» Das war der Anfang vom Ende dieser Reise, aller Reisen, auch der imaginären. «Der Verrückte hat sich in seine Kajüte eingeschlossen und läßt sich kaum sehen. Wir haben noch etwas Zeit. Sprich dich aus. Viel leicht kann ich dir helfen. Man muß etwas unternehmen, Vorberei tungen treffen. Sprich doch endlich!» Er kehrte Germán den Rücken zu, dem Licht und der Notwen digkeit, sein Scheitern zu einem Schauspiel zu machen. Germán blieb noch einige Minuten dort stehen, dann hatte er es satt und schloß die Tür hinter sich, zornig und mit einer gewissen Grausam keit.
«Zuerst dachte ich mir, los, schick dem Unglücklichen ein Tele gramm. Eine Warnung. Dann hat er Zeit zu fliehen, oder eine gute Erklärung vorzubereiten, die ihn deckt, denn wenn er so unvorbe reitet ankommt, wird der ganze Schmutz dieser Geschichte über ihn hereinbrechen. Alle werden sich darauf stürzen, die Polizei und die Presse. Ich sah die Meldung schon vor mir: ‹Nach monatelan gen, schwierigen und komplizierten Nachforschungen faßte die Polizei den schmutzigen Mörder, der sein Opfer zerstückelt hatte.› Aber, was soll’s. Vor allem anderen war meine Lizenz in Gefahr. Und ich liebe sie, gezwungenermaßen, denn ich habe keine andere, und zum gegenwärtigen Zeitpunkt habe ich auch keinen anderen Beruf, es sei denn, ich würde mir das Rezept für diesen Spinat ‹a la marinera› patentieren lassen, den ich heute für dich zu machen ver sucht habe, und jemand würde eine Methode finden, ihn in Dosen zu verpacken, mit dem Geschmack von Wiener Würstchen imprä gnieren, und dann sollen sich die gegenwärtigen und kommenden Generationen von Hamburgersüchtigen davon ernähren. Außer dem dachte ich, mein Telegramm würde ihn auf hoher See errei245
chen, und die Polizei wäre unter Umständen allem anderen zuvor gekommen. Und überhaupt, was zum Teufel kümmert mich das? Bin ich denn seine Mutter oder sein lieber Gott? Er ist erwachsen und soll seine Zeit ausnützen, so gut er kann, denn wenig davon wird er in den kommenden Jahren auf der Straße verbringen. Nur, es geht mir einfach gegen den Strich, daß er für etwas bezahlen soll, was er nicht getan hat.» «Aber er hat etwas getan!» «Ein elementarer Satz, lieber Fuster!» Die hochgezogenen Augenbrauen des Beraters drückten keine Skepsis aus, als er sich mit seiner dunkelblauen, griechischen Ma trosenmütze auf dem schütteren Haarkranz über den Topf beugte, in dem Carvalho dem Essen den letzten Schliff gab. «Ein ganz besonderes Essen, aber was gibt es eigentlich zu fei ern?» «Die Unmöglichkeit, überhaupt etwas zu feiern. Ich habe in einem Anfall von Großzügigkeit oder Senilität Charo angeboten, sie könne hier eine Zeitlang auf Probe wohnen, und dann würden wir weitersehen. Aber, nachdem sie höchstens eine halbe Minute überlegt hatte, sagte sie nein, jeder lebe sein eigenes Leben, sie koche schlechter als ich und daß man hat, was man hat. Und damit ging sie. Es ging mir also genauso wie mit dem Gedanken, dem offensichtlich unfähigen und phlegmatischen Mörder das Leben zu retten. In solchen Fällen ist es das beste, in die Boquería zu gehen und Sachen zu kaufen, die man manipulieren und in andere verwan deln kann: Gemüse, Meeresfrüchte, Fisch und Fleisch. In letzter Zeit denke ich an den Zusammenhang zwischen der Grausamkeit des Essens und der Grausamkeit des Tötens. Das Kochen ist die Kunst, einen kannibalischen Mord zu verschleiern, der manchmal mit einer wilden, menschlichen Grausamkeit verübt wird – denn das treffendste Adjektiv der Grausamkeit ist das Wort menschlich. Zum Beispiel denke ich an diese Vögelchen, die lebendig in Wein ertränkt werden, damit sie besser schmecken.» «Ein sehr appetitanregendes Thema!» «Das Jahr hat gerade erst begonnen. Die Sterne werden Schlange stehen, um uns in den Arsch zu treten, einer nach dem andern. Die Astrologen sagen, es wird ein schlechtes Jahr. Also, aus diesem Grund und aus vielen anderen bin ich in der Absicht, mir selbst etwas zu kochen, zur Boquería gegangen.» 246
«Und für Fuster, das Meerschwein!» «Es steht dir frei, es zu essen oder nicht. Aber besonders den ersten Gang darfst du nicht ablehnen, er ist die Begegnung zweier Kulturen. Es ist Spinat ohne Stengel, leicht gekocht und kleinge schnitten, und außerdem ein kostenloses und absurdes Kunstwerk, wie jedes kulinarische Kunstwerk. Man brät ein paar Scampiköpfe in Butter an, nimmt sie heraus und kocht sie kurz auf. In der Butter, die ihren Geschmack angenommen hat, dünstet man gehackten Knoblauch, kleine Scampi und geschälte, gesalzene und gepfefferte Muscheln. Dazu kommt ein Löffelchen Mehl, Muskatnuß und ein halbes Fläschchen Austernsauce, und nach kurzem Umrühren der Sud der Scampiköpfe. Das alles gießt man über den Spinat und läßt die Mischung kochen, nicht allzu lange, nur damit sie gut durch zieht und eine sichtbar dickflüssige Konsistenz bekommt. Dann wird Schinken einer jungen Ziege in Würfel geschnitten und, ele mentar und fast alltäglich, mit Reineclauden in Schweineschmalz angebraten, zusammen mit einer nelkengespickten Zwiebel, einer Tomate und gemischten Kräutern. Dazu gibt man Stücke von ro hem Schinken und den Saft der Reineclauden und macht eine Art Gemüsesauce, in der aber der Geschmack der Nelken, das süße Aroma des Ziegenschinkens und der rohe Schinken dominieren. Die gedünsteten Reineclauden arrangiert man auf den Schinkenwür feln, gießt die Sauce darüber, schiebt das ganze kurz in den Back ofen, und fertig ist das Abendessen. Ein paar Flaschen Remelluri de Labastida, Jahrgang , und dann kann man in Ruhe dem Alter entgegen sehen.» «Du wirst also dafür bezahlt, daß du deine Fälle nicht löst?» «Ich löse sie immer. Am Ende weiß ich fast immer genausoviel wie der Mörder, und das erzähle ich meinem Klienten. In diesem Fall wußte mein Klient allerdings mehr als ich, und er wird immer mehr wissen, er weiß sogar mehr als der Mörder, aber das spielt keine Rolle mehr.» Fuster ahnte das Gewitter, das sich in der Tiefe des weißen Him mels zusammenbraute, auf dem nur fremdartige Vögel im Flug zu sehen waren. Er gab Carvalho Zeit, sich zu beruhigen, bis die erste Flasche Wein ihren Geist ausgehaucht hatte. «Und zu allem übrigen ist dieses Grundstück hier vorne verkauft worden, und vielleicht wird mir jetzt ein Teil der Aussicht auf Bar celona verbaut!» 247
«Das ist das Schlimmste von allem!» «Seit ich diese Gegend kenne, schon lange bevor ich die leiseste Ahnung hatte, daß ich eines Tages hierherziehen würde, hat dieses Grundstück mit seinen Bäumen mein Bild von Vallvidrera be stimmt. Und das von Tausenden von Städtern, die jeden Sonntag hierherkamen, und wie von einem Balkon aus über die Stadt blick ten. Aber davon weiß die demokratische Stadtverwaltung anschei nend nichts, und anstatt diesen Balkon den Bürgern und mir selbst zu schenken, lassen sie es zu, daß wieder ein Stück der Stadt um mauert und verbaut wird. Ohne Zweifel war das alles ganz legal. Dieses Land erstickt allmählich an seinem Legalitätsfanatismus. Die innere Logik der Gesetze ist wie ein Eisenbahnstrang und eine Lo komotive dazu. Sie hat nie Zeit, um anzuhalten und die Selbstmör der nach ihren Gründen zu fragen oder die Tauben zu warnen. Die Jungs der demokratischen Stadtverwaltung müssen alle aus gutem Hause stammen. Sie haben von Kindheit an den Sommer in einem Landhaus mit Garten verbracht und haben keine Ahnung, was es bedeutet, den Zug zu nehmen, um eine Stunde lang einen öffentlich zugänglichen Baum zu besuchen, oder wie faszinierend es ist, sich die Komödie von außerhalb anzusehen. Diese Stadt.» Die zweite Flasche brachte der Seele der Nacht Frieden, und Fu ster erzählte Neuigkeiten von gemeinsamen Freunden, insbeson dere von Professor Beser, den sie bei der Aufklärung eines sozialen Verbrechens als literarischen Experten hinzugezogen hatten. «Da für sind die Anhänger des literarischen Realismus nützlich! Du mußt lesen und dich körperlich betätigen. Dann siehst du die Rea lität mit anderen Augen! Du liest ein Buch nur, um es zu verbren nen, um Gründe für die Verbrennung zu finden, und körperlich betätigst du dich nur, wenn du jemanden verfolgst oder selbst ver folgt wirst. Es ist ganz logisch, daß du ein negatives Verhältnis zur Realität hast!» «Ich fahre zur Kur.» «Baden-Baden? Marienbad? La Toja? Panticosa?» «Ich fahre zu einem dieser Kurorte voller Ausländer auf der Su che nach der Sonne Spaniens, die vorhaben, die ganze Scheiße in unseren Kloaken zu lassen. Schlammbäder, Massagen, Darmreini gung.» «Bist du krank?» «Nein, aber ich habe es dringend nötig, das man mich wie ein 248
Stück Natur behandelt, und ich muß dieses gesunde Wasser trin ken, das die Leber mit Eisen versorgt und die Harnröhre mit Vase line schmiert. Ein weißer Bademantel! Ich werde mir einen weißen Bademantel kaufen, und dann bleibt mir nichts anderes übrig, als zur Kur zu gehen.» «Ans Meer oder in die Berge?» «Beides. Ich muß den Ort sorgfältig auswählen. Es müßte einen Kurortführer geben. Die ganze Welt ist ein Kurort, bis auf einzelne ehrenwerte Ausnahmen, wie zum Beispiel der Libanon oder El Sal vador. Um so schlimmer für sie. Man muß schon verrückt sein, um im Libanon zur Welt zu kommen. Was mich an dieser Geschichte am meisten ankotzt, ist, daß sie nach uralt stinkt, hör mal, ich war dort, wo das alles seinen Anfang nahm, in Águilas, und nicht mal der Schauplatz, wo die schmutzigen Gefühle der Protagonisten ent standen sind, existiert mehr. Die Stierkampfarena ist abgerissen, nicht einmal die Uferpromenade ist noch dieselbe, auch die sozialen Verhältnisse nicht, es gibt die Fabrik nicht mehr, in der sie gearbei tet hat, auch nicht den Elan der Überlebenden, der vor dreißig oder vierzig Jahren herrschte. Dieses unglückliche Paar fiel der Überalte rung seiner Gefühle zum Opfer, der Überalterung ihrer Güte und ihrer Bosheit. Sie haben die Ruinen ihrer selbst in sich konserviert, etwas, das sie schon nicht mehr waren, und sie haben diese Ruinen plötzlich in den Vordergrund gerückt, ohne darauf zu achten, was sich in ihrem Leben verändert hatte. Das ist kulturell erworben, sie haben sich an nutzlosen, unnötigen Verhaltensmustern orien tiert.» «Gehst du zu dem Prozeß?» «Vielleicht werde ich als Zeuge geladen, obwohl ich das bezwei fele. Wenn nicht, dann gehe ich nicht hin. Kann man Kuraufent halte von der Steuer absetzen?» «Wenn es aus gesundheitlichen Gründen geschieht, und wenn man, wie du, als Freiberufler tätig ist, dann ganz bestimmt. Das ist das Urteil eines Fachmanns.» «Aber ich will morgen zum Hafen gehen. Ich will sehen, wie die Rosa de Alejandría und der Seemann ankommen.» «Wie stellst du ihn dir vor?» «Wie das, was man zu meiner Zeit einen sensiblen Jungen nannte. Eine Ruine. Die Ruine eines sensiblen Jungen.» «Und was ist mit dem Fluß?» 249
«Mit welchem Fluß?» «Als du mich anriefst, um mich einzuladen, hast du gesagt: ‹Ich muß dir vom Ursprung eines ganz ungewöhnlichen Flusses erzäh len, der Mundo heißt!›» «Ach so! Findest du das nicht gut? Es sieht fast so aus, als hätte sich die Landschaft von Calderón * inspirieren lassen. Ein Fluß, der Welt heißt!»
Er war groß, der Mann in Handschellen. Größer als ich. Dreiundvier zig ist er bestimmt. Es fiel auf, mit welchem Selbstbewußtsein er die Gangway herabkam, respektvoll eskortiert von Polizisten mit unsi cheren Schritten und gesenktem Blick. Sie suchten den Boden, den sie nicht unter den Füßen hatten. Er sah nicht auf die Stufen. Lan dungsstege sicher hinunterzugehen war ein Teil seines Berufs; das hatte er über zwanzig Jahre lang getan. Dunkelhäutig und sonnen gebräunt, hatte er die Farbe und die Adlernase eines Seemannes, der Sturmböen und Häfen wittert. Nach seiner Ungezwungenheit zu urteilen, war er es, der die vier Polizisten seiner Eskorte abführte. Nervös brauchten sie alle Hände, um den zu dem Landungssteg der Fähre heranzuwinken, die sie von der Rosa de Alejandría zum Kai gebracht hatte. Während das Auto herbeirollte, nahm ein Polizist seinen Arm, und der Mann blickte auf, als suche er jemanden im Hafen. Vielleicht hatte er Carvalho bemerkt, der als lustloser Zu schauer an einem Lagerschuppen lehnte, dessen unsichtbarer Inhalt nach Schweröl roch. Eher aber suchte er ein Stück offenes Meer zwischen den vertäuten Schiffen – einen Weg, um seine unmögliche Reise zum Bosporus und zum Ende der Welt fortzusetzen. Carvalho hatte sich selbst dazu erzogen, nicht an das Schicksal zu glauben. Zuerst glaubt man an das Schicksal und schließlich an den eigenen Tod, hatte er irgendwo gelesen. Vielleicht war er auch selbst auf diesen Gedanken gekommen, als er noch nachgedacht hatte – als hätten es die Welt und die andern verdient, daß man sich über sie Gedanken machte. Der Mann schluckte und ließ sich ins Auto schieben. Dann war es auch schon an Carvalho vorbei und fuhr hinein in die Stadt des Guten und des Bösen, die Stadt der * Pedro Calderón de la Barca, «Das große Welttheater».
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Polizeiwachen und der Gefängnisse. Carvalho zuckte die Schultern und ging zu seinem Auto, um so schnell wie möglich eine Stadt zu verlassen, die ihn für heute nicht mehr interessierte. Eine Liebesge schichte ging ihrem Ende zu. Wahrscheinlich würde sich der See mann aufs Lügen verlegen, um sich zu retten, vielleicht würde er auch sein Schicksal auf sich nehmen, wie es in Büchern steht, und sich verurteilen lassen, den Blick auf seine nicht übertragbaren Erinnerungen gerichtet. Carvalho freute sich, nach Hause zu kommen und allein zu sein. Die feuchte Kälte des Hafens saß ihm noch in den Knochen, und es gab nichts Besseres als ein Glas eisgekühlten Orujo und heißen Kaffee, um wieder innerlich warm zu werden. Er nahm ein ganzes Stück Kalbsbauch aus dem Kühlschrank, ließ es auf das Küchen brett fallen und schnitt es mit einem scharfen Messer wie ein Buch in der Mitte auf. Die überstehenden Lappen schnitt er ab, so daß es eine annähernd rechteckige Form bekam, und klopfte das Fleisch mit dem Mörserstößel, damit es weicher wurde und die Fasern sich dehnten. Wie bei einem Stilleben arrangierte er darauf von links nach rechts rohen Schinken, roten Paprika, kleingeschnittenen und in Bechamel gedünsteten Mangold, Kreuzkümmel, Trüffel und Stücke von einem hartgekochten Ei. Beginnend mit dem Rand, wo der rohe Schinken lag, rollte er das Fleisch wie ein Stück Pergament zusammen, und die Rolle verschlang nach und nach die Zutaten, bis sie wie ein großer, gefüllter Fleischzylinder aussah. Diesen schlug Carvalho in eine doppelte Lage Alufolie ein, um das Kunstwerk dann für eine dreiviertel Stunde in den vorgeheizten Backofen zu schieben. Über Nacht sollte es abkühlen, am andern Tag würde er die geschwärzte Alufolie abziehen und eine kalte Fleischrolle voller Überraschungen zu Tage fördern. Er würde sie in Scheiben verzeh ren, und zwar mit einer Kräutermayonnaise, bei der Kapern domi nierten. Nun hatte der Abend einen Sinn, und es fehlten nur noch das Kaminfeuer und eine Condal Nr. aus dem wunderbaren Kist chen, das ihm jener unglückliche, aber dankbare Ehemann aus Teneriffa geschickt hatte. Ein Buch verlangte danach, in seiner Eigen schaft als Korsett der Gefühle verbrannt zu werden. Aus seinem Reich der toten Worte wählte er «Dichter in New York» * aus, um es dem Holocaust zuzuführen. Als letzte Gnade schlug er es auf * García Lorca, «Poeta en Nueva York».
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einer Seite auf, die in Erinnerung an eine bevorzugte Behandlung seit langen Jahren den andern Seiten gegenüber Abstand gewahrt hatte. ‹Mond und Panorama der Insekten›. Am Fuß des Scheiter haufens trafen ihn die Verse wie Schreie eines Unschuldigen. Aber die Nacht hat kein Ende, wenn sie sich über die Kranken legt, und es gibt Schiffe, die Zuschauer suchen, um in Frieden untergehen zu können. Er ging und stellte das Buch zurück an seinen Platz, wo es seit dem Beschluß gestanden hatte, seine Bibliothek in eine Galerie von Todeskandidaten zu verwandeln.
«Wozu also weiter erzählen – wenn Sie ein Kinogänger sind oder schon öfters Fernsehf ilme gesehen haben, erspare ich mir einen Haufen Worte für die Beschreibung eines Ablaufs, den Sie schon kennen. Schließlich machte er einen Abgang wie im Kino, er ging rückwärts, die Augen starr auf die Leiche gerichtet, Augen, die aus den Höhlen quollen, Sie kennen das ja, und ich glaube, er kannte es auch, denn seit es das Kino gibt, verhalten sich die Verbrecher wie Verbrecher im Kino, und ich glaube, sogar auch die Opfer.»
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