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Buch Der mythische Dornenkönig ist erwacht und hat Chaos und Verderben über das Land Crothenien gebracht. Der rechtmäßige König und seine Kinder sind von Verräterhand ermordet worden, das Reich steht am Rand eines Bürgerkriegs. Königin Muriele versucht verzweifelt, die Macht der Krone aufrechtzuerhalten. Allein aus der Hoffnung, dass ihre jüngste Tochter Anne Dare das Attentat überlebt haben könnte, kann sie noch Kraft schöpfen. Murieles treuester und bester Helfer, der Ritter Sir Neil MeqVren, begibt sich auf die Suche nach der Vermissten und findet sie schließlich in Begleitung ihrer Dienerin Austra und des stolzen Schwertkämpfers Cazio. Neil offenbart Anne, dass sie nach Hause zurückkehren muss, um eine Prophezeiung zu erfüllen, die das Land von den Schrecken des Dornenkönigs befreien kann. Und so macht sich der kleine Trupp auf den Weg auf Schritt und Tritt bedroht von Attentätern, aber auch von Mantikoren, Gryffins und anderen Monstren, die man bislang für Geschöpfe der reinen Fantasie gehalten hatte ... Autor Greg Keyes lernte schon als Kind die Kultur und Sprache der Navajo-Indianer kennen und entwickelte hierdurch eine große Faszination für Sprachen, Rituale und Mythen. Nach einem Anthropologie-Studium veröffentlichte er unter dem Namen J. Gregory Keyes seinen ersten Fantasy-Roman »Aus Wasser geboren«, mit dem er sofort in die Riege der jungen Erneuerer des Genres aufstieg. Außerdem ist von Greg Keyes lieferbar: DIE VERLORENEN REICHE: I. Der Dornenkönig. Roman (24260)
Greg Keyes
Die Rückkehr der Königin Die verlorenen Reiche 2 Ins Deutsche übertragen von Marie-Luise Bezzenberger BLANVALET Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Charnel Prince. The Kingdoms of Thorn and Bone« (Book Two) bei Del Rey, Ballantine Publishing Group, New York. Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. Der Blanvalet Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House. i. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung August 2005 Copyright © der Originalausgabe 2004 by J. Gregory Keyes Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2005 by Verlagsgruppe Random House GmbH, München Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Schlück/Crabb Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck: GGP Media GmbH, Pößneck Verlagsnummer: 24261 Redaktion: Alexander Groß UH • Herstellung: Heidrun Nawrot Printed in Germany ISBN 3-442-24261-4 www.blanvalet-verlag.de
Für Elizabeth Bee Vega Had laybyd hw loygwn eyl Nbag Heybeywr, ayg nhoygwr niwoyd. Der Wald spricht mit vielen Zungen, Lausche wohl, doch antworte niemals. - Nhuwd nhy Whad-Sprichwort, als Warnung für kleine Kinder gebräuchlich Prolog Ich höre ein Geräusch«, sagte Martyn leise und zügelte seinen Apfelschimmelhengst. »Es ist ein unnatürliches Geräusch.« Die blauen Raubtieraugen des Mönchs starrten unverwandt, als versuchten sie, sich durch die
gewaltigen Stämme der Eiseneichen und die felsigen Hänge des Königswaldes zu brennen. An der Haltung seiner Schultern unter der blutroten Robe konnte Ehawk erkennen, dass jeder Muskel seines Körpers angespannt war. »Ohne Zweifel«, erwiderte Sir Oneu leutselig. »Dieser Wald plappert wie eine Frau, die vor Liebe halb von Sinnen ist.« Doch trotz seines Tonfalls waren Sir Oneus schwarze Augen ernst, als er sich an Ehawk wandte. Wie immer war Ehawk verblüfft über das Gesicht des Älteren - es war weich und spitz, die Augenwinkel durch das Gelächter von fünfzig Jahren voller Fältchen. Der Ritter schien seinem Ruf als kühner Kämpfer kaum gerecht zu werden. »Was meinst du, mein Junge?«, fragte Oneu. »Nach allem, was ich gesehen habe«, begann Ehawk, »kann Bruder Martyn eine Schlange jenseits des nächsten Hügels atmen hören. Ich habe keine solchen Ohren, und im Augenblick höre ich wenig. Aber allein das ist schon merkwürdig, Herr. Es sollten mehr Vögel singen.« »Bei den Eiern des heiligen Rooster«, knurrte Oneu spöttisch, »was soll das denn heißen? Da trällert doch gerade einer, so laut, dass ich mein eigenes Wort kaum verstehe.« »Ja, Herr, aber das ist ein Etecbakichuk, und die -« »Sprich die Sprache des Königs oder Almanisch, Bursche«, fuhr ihn ein mürrischer Mann mit fahlem Gesicht an. Er trug Gewän9 der in der gleichen Farbe wie Martyns. »Schwafle uns nichts in deiner Heidensprache vor.« Das war Gavrel, ein weiterer der fünf Mönche, die die Reisenden begleiteten. Sein Gesicht sah aus, als sei es in einen Apfel geschnitzt und zum Trocknen liegen gelassen worden. Ehawk mochte Gavrel nicht besonders. »Zügelt Eure eigene Zunge, Bruder Gavrel«, wies Sir Oneu ihn zurecht. »Ich bin derjenige, der mit unserem jungen Führer redet, nicht Ihr.« Gavrel quittierte den Tadel mit einem finsteren Blick, widersprach dem Ritter jedoch nicht. »Was wolltest du sagen, Ehawk, mein Junge?« »Ich glaube, ihr nennt sie Krähenspechte«, erklärte Ehawk. »Die haben vor nichts Angst.« »Ah.« Oneu runzelte die Stirn. »Dann lasst uns still sein, während Bruder Martyn genauer hinhört.« Ehawk tat wie geheißen; er strengte seine eigenen Ohren aufs Äußerste an und verspürte ein ungewohntes Frösteln, als er sich der Stille des Waldes bewusst wurde. Es war seltsam. Doch dies waren seltsame Zeiten. Erst vor zwei Wochen war der Sichelmond purpurfarben aufgegangen, fürwahr ein unheilvolles Vorzeichen, und der Schall eines eigentümlichen Horns war im Winde ertönt; nicht nur in Ehwaks Dorf war es zu hören gewesen, sondern überall. Die alten Orakelweiber murmelten Prophezeiungen von Untergang und Verderben vor sich hin, und Geschichten von grauenvollen Bestien, die im Königswald umgingen und mordeten, wurden mit jedem Tag häufiger. Und dann waren diese Männer von Westen gekommen, ein Ritter der Kirche, prachtvoll anzuschauen in seiner Herrenrüstung, und fünf Mönche vom Orden des heiligen Mamres, alles Krieger. Vor vier Tagen waren sie in Ehawks Dorf eingetroffen und hatten einen einheimischen Führer gesucht. Die Ältesten hatten ihn ausgewählt, denn obgleich Ehwak kaum über seinen siebzehnten Sommer hinaus war, gab es keinen Begabteren, wenn es ums Jagen und Spurenlesen ging. Er hatte sich gefreut, dass er mitgehen durf10 te, denn hier, dicht bei den Hasenbergen, waren Fremde etwas Ungewöhnliches, und er hatte gehofft, etwas über fremde Länder zu erfahren. Er war nicht enttäuscht worden. Sir Oneu de Loingvele berichtete gern von seinen Abenteuern, und er schien schon überall gewesen zu sein. Die Mönche waren weniger gesprächig und ein wenig unheimlich - außer Gavrel, der unheimlich war und kein Blatt vor den Mund nahm, und Martyn, der auf seine eigene, schroffe Art freundlich war. Wenn er gleichmütig von seinem Leben und seiner Ausbildung erzählte, war das, was er zu sagen hatte, im Allgemeinen interessant. Eins jedoch hatte Ehwak nicht in Erfahrung gebracht: wonach diese Männer suchten. Manchmal dachte er, dass sie es selbst nicht wussten. Sir Oneu nahm seinen kegelförmigen Helm ab und klemmte ihn unter den Arm. Ein verirrter Sonnenstrahl glitzerte auf seinem Harnisch, als er seinem Schlachtross den Hals klopfte, um das Tier zu beruhigen. Sein Blick glitt zu Martyn zurück. »Nun, Bruder?«, erkundigte er sich. »Was flüstern die Heiligen Euch zu?« »Keine Heiligen, denke ich«, antwortete Martyn. »Ein Rascheln, viele Männer, die über Laub schreiten, aber sie hecheln wie Hunde. Sie geben noch andere sonderbare Laute von sich.« Er wandte sich an Ehwak. »Was für Menschen leben in dieser Gegend?« Ehwak dachte nach. »Die Dörfer der Duth ag Pae liegen zwischen diesen Hügeln verstreut. Das nächste heißt Aghdon; es liegt gleich ein Stück weiter das Tal hinauf.« »Sind sie Krieger?« »Normalerweise nicht. Bauern und Jäger, genau wie meine Leute.« »Kommen diese Geräusche näher?«, wollte Sir Oneu wissen.
»Nein«, sagte Martyn. »Wohlan. Dann werden wir in dieses Dorf reiten und schauen, was die Einheimischen zu sagen haben.« 11 »Was habt Ihr gemacht?« »Ich bin ins Piratenlager hinübermarschiert und habe ihren Anführer zu einem Ehrenduell gefordert.« »Hat er die Herausforderung angenommen?« »Das musste er. Piratenhäuptlinge müssen nach außen hin stark sein, sonst folgen ihnen ihre Männer nicht. Hätte er abgelehnt, so hätte er am nächsten Tag gegen zehn seiner eigenen Leute kämpfen müssen. Also habe ich ihm diese Sorge erspart, indem ich ihn tötete.« »Und was dann?« »Dann habe ich seinen Stellvertreter herausgefordert. Und dann den Nächsten, und so weiter.« Ehawk grinste. »Habt Ihr sie alle getötet?« »Nein. Während ich gekämpft habe, haben sich meine Männer eines ihrer Schiffe bemächtigt und sind losgesegelt.« »Ohne Euch?« »Ja. Das hatte ich ihnen befohlen.« »Und was ist passiert?« »Als sie gemerkt haben, was geschehen war, haben sie mich natürlich gefangen genommen, und die Duelle haben aufgehört. Aber ich habe sie davon überzeugt, dass die Kirche Lösegeld für mich zahlen würde, deshalb haben sie mich recht gut behandelt.« »Hat die Kirche gezahlt?« »Vielleicht hätte sie das getan - ich habe nicht so lange gewartet. Später bekam ich die Gelegenheit zu fliehen, und ich habe sie genutzt.« »Erzählt mir davon«, bat Ehawk. Der Ritter nickte. »Alles zu seiner Zeit, Junge. Aber jetzt sag du mir - du bist hier aufgewachsen. Die Ältesten in deinem Dorf haben viele merkwürdige Dinge erzählt, von Gryffins, Mantikoren -sagenhafte Ungeheuer, die seit tausend Jahren nicht mehr gesehen wurden, sind plötzlich allüberall. Was hältst du davon, Ehawk, mein Junge? Schenkst du solchem Gerede Glauben?« Ehawk wog seine Worte sorgfältig ab. »Ich habe seltsame Fährten gesehen und sonderbare Witterungen gerochen. Mein Vetter 14 Owel hat gesagt, er hätte ein Tier gesehen, das aussah wie ein Löwe, aber mit Schuppen und dem Kopf eines Adlers. Owel lügt nicht, und es passt nicht zu ihm, dass er es mit der Angst bekommt oder Dinge sieht, die nicht da sind.« »Du glaubst solche Geschichten also?« »Ja.« »Wo kommen diese Ungeheuer her?« »Es heißt, sie hätten geschlafen - wie ein Bär im Winterschlaf, oder wie eine Zikade, die siebzehn Jahre im Erdreich schläft, ehe sie herauskriecht.« »Und was glaubst du, warum sie jetzt aufwachen?« Wieder zögerte Ehawk. »Komm, Junge«, drängte der Ritter leise. »Deine Ältesten wollten nichts sagen, wahrscheinlich, weil sie gefürchtet haben, als Ketzer betrachtet zu werden. Wenn du davor Angst hast, dann hast du von mir nichts zu befürchten. Die Mysterien der Heiligen umgeben uns auf allen Seiten, und ohne die Führung der Kirche denken die Menschen sonderbare Sachen. Aber du lebst hier, Junge - du kennst Dinge, von denen ich nichts weiß. Geschichten. Die alten Gesänge.« »Ja«, sagte Ehawk bedrückt. Er spähte zu Gavrel hinüber und fragte sich, ob dieser wohl auch schärfere Ohren hatte als ein normaler Mensch. Sir Oneu bemerkte den Blick. »Diese Mission steht unter meinem Befehl«, sagte er, immer noch mit leiser Stimme. »Ich gebe dir mein Wort als Ritter, dir wird kein Schaden aus dem entstehen, was du mir erzählst. Also - was sagen die alten Weiber? Warum treiben ruchlose Geschöpfe ihr Unwesen im Wald, wenn sie das niemals zuvor getan haben?« Ehawk biss sich auf die Lippe. »Sie sagen, es ist Etthoroam, der Moosfürst. Sie sagen, er ist aufgewacht, als der Mond purpurn war, wie es in der alten Prophezeiung vorhergesagt wurde. Diese Wesen sind seine Diener.« »Erzähl mir von ihm, von diesem Moosfürsten.« »Äh ... das sind doch bloß alte Märchen, Sir Oneu.« 15 »Erzähl sie mir trotzdem. Bitte.« »Seine Gestalt gleicht der eines Menschen, heißt es, aber er ist ganz aus Dingen des Waldes gemacht. Ein Geweih wächst auf seinem Kopf, wie bei einem Hirsch.« Ehawk sah dem Ritter offen ins Gesicht. »Sie sagen, er war schon vor den Heiligen hier, vor allem anderen, als es nur den Wald gegeben hat und der die ganze Welt bedeckt hat.«
Sir Oneu nickte, als sei ihm dies bereits bekannt. »Und weshalb erwacht er?«, wollte er wissen. »Was sagt die Prophezeiung, was er tun wird?« »Es ist sein Wald«, meinte Ehawk. »Er wird tun, was er will. Aber es heißt, wenn er aufwacht, wird sich der Wald gegen die erheben, die ihm Schaden zugefügt haben.« Er blickte zur Seite. »Deshalb sind die Sefry weggegangen. Sie haben Angst, dass er uns alle töten wird.« »Und fürchtest du das auch?« »Ich weiß nicht. Ich weiß nur ...« Er verstummte, wusste nicht, wie er es ausdrücken sollte. »Nur weiter.« »Ich hatte mal einen Onkel. Eine Krankheit ist über ihn gekommen. Man hat nicht viel gesehen - keine Geschwüre oder offene Wunden, keine Anzeichen eines Fiebers -, aber er ist immer müder geworden, als die Monate verstrichen sind, und seine Augen wurden ganz trübe. Seine Haut ist bleich geworden. Er ist sehr langsam gestorben, und erst ganz am Ende konnten wir den Tod an ihm riechen.« »Das tut mir Leid.« Ehawk zuckte die Achseln. »Der Wald - ich glaube, er stirbt genauso.« »Woher weißt du das?« »Ich kann es riechen.« »Ah.« Der Ritter schien eine Weile darüber nachzugrübeln, und so ritten sie schweigend weiter. »Dieser Moosfürst«, sagte Sir Oneu endlich. »Hast du schon einmal gehört, dass ihn jemand den Dornenkönig genannt hat?« 16 »So nennen ihn die Oostischen, Sir Oneu.« Sir Oneu seufzte und sah plötzlich älter aus. »Das dachte ich mir.« »Ist es das, was Ihr hier im Wald sucht, Sir Oneu? Den Dornenkönig?« »Ja.« »Dann -« Doch Martyn schnitt ihm jäh das Wort ab. »Sir Oneu?« Das Gesicht des Mönches wirkte hart und starr. »Ja, Bruder?« »Ich höre sie wieder.« »Wo?« »Überall. Aus allen Richtungen jetzt. Sie kommen näher.« »Was ist das, Martyn? Könnt Ihr mir sagen, womit wir es zu tun haben? Mannen des Dornenkönigs?« »Ich weiß es nicht, Sir Oneu. Ich weiß nur, dass wir umzingelt sind.« »Ehawk? Gibt es irgendetwas, das du uns sagen kannst?« »Nein, Sir. Ich kann noch gar nichts hören.« Doch schon bald hörte er es. Überall um sie herum regte sich der Forst, als wären die Bäume selbst zum Leben erwacht. Ehawk war, als zöge der Wald sich zusammen, als stünden die Bäume immer dichter beieinander, eine riesige Falle, die sich um die Reisenden schloss. Die Pferde begannen nervös zu wiehern, sogar Airece, Sir Oneus Schlachtross. »Haltet euch bereit, Männer«, brummte Sir Oneu. Ehawk konnte jetzt flüchtige Blicke auf sie erhaschen, auf die Gestalten zwischen den Bäumen. Sie grunzten und knurrten wie Tiere, sie krächzten und maunzten, doch sie sahen aus wie Männer und Frauen, nackt oder nur in ungegerbte Tierhäute gehüllt. Sir Oneu beschleunigte sein Tempo zum Trab und bedeutete ihnen, das Gleiche zu tun. Er hob seinen schweren Eschenholzspeer. Ehawk sah, dass vor ihnen jemand auf dem Weg auf sie wartete. Sein Herz war eine Grille in seiner Brust, als sie näher herantrabten. Sie waren zu siebt, Männer und Frauen, zerkratzt und 17 voller blauer Flecken, und nackt wie am Tage ihrer Geburt - alle außer einem. Er stand vor den anderen, ein Löwenfell wie einen Mantel über die eine Schulter geworfen. Von seinem Kopf ragte ein breites Geweih empor. »Etthoroam«, keuchte Ehawk. Er konnte seine Knie nicht mehr fühlen, die sich an das Pferd klammerten. »Nein«, sagte Martyn. »Das ist ein Mensch. Das Geweih gehört zum Kopfputz.« Ehawk, der versuchte, sein wachsendes Entsetzen zu beherrschen, sah, dass Martyn Recht hatte. Doch das bedeutete gar nichts. Etthoroam war ein Zauberer. Er konnte jede beliebige Gestalt annehmen. »Seid Ihr sicher?«, fragte Sir Oneu Martyn. Vielleicht teilte er Ehawks Zweifel. »Sein Geruch ist der eines Menschen«, antwortete Martyn. »Sie sind überall«, murmelte Gavrel, der hastig den Kopf von einer Seite zur anderen drehte und in den Wald spähte. Ehawk bemerkte, dass die drei anderen Mönche ihre Bögen gespannt und einen lockeren Ring um die Gruppe gebildet hatten. Martyn schloss mit seinem Pferd zu Ehawk auf. »Bleib dicht bei mir«, sagte er. Seine Stimme war sehr leise. »Ehawk, mein Junge«, fragte Sir Oneu, »könnten das die Leute aus dem Dorf sein?« Ehawk betrachtete die Gesichter derer, die hinter dem Mann mit dem Geweih standen. Ihre Augen waren sehr merkwürdig, blicklos, als wären sie betrunken oder im Banne eines Zaubers. Ihr Haar war wirr und verfilzt.
»Vielleicht«, antwortete er. »Es ist schwer zu sagen, wenn sie so aussehen.« Sir Oneu nickte und hielt zehn Ellen von den Fremden entfernt an. Plötzlich war es so still, dass Ehawk die Brise in den höchsten Ästen flüstern hörte. »Ich bin Sir Oneu de Loingvele«, rief der Ritter mit klarer, tragender Stimme, »ein Mitglied der Kirche mit einem heiligen Auftrag. Mit wem habe ich die Ehre?« 18 Die Gestalt mit dem Hirschgeweih grinste und hob die Fäuste, sodass sie die Schlangen sehen konnten, die sich darin wanden. »Seht Euch ihre Augen an«, stieß Gavrel hervor und zog sein Schwert. »Sie sind wahnsinnig.« »Haltet ein«, befahl Sir Oneu. Er ließ die Hand auf dem Heft seines Schwertes ruhen und beugte sich vor. »Das ist eine kluge Antwort«, sagte der Ritter laut. »Die meisten würden ihren Namen nennen oder irgendeinen belanglosen Gruß aussprechen. Ihr mit Eurem Geweih dagegen, Ihr haltet mir Schlangen hin. Sehr gerissen, muss ich sagen. Eine exzellente Antwort. Ich erwarte Euren nächsten Geistesblitz bereits mit äußerster Ungeduld.« Der Mann mit dem Geweih blinzelte lediglich, als seien Sir Oneus Worte nichts als Regentropfen. »Ihr seid nicht bei Sinnen, nicht wahr?«, fragte Sir Oneu. Diesmal legte der Geweihmann den Kopf in den Nacken, sein zum Himmel gewandter Mund öffnete sich, und er heulte. Drei Bogen surrten gleichzeitig. Ehawk fuhr bei dem Geräusch herum und sah, dass die drei Mönche in den Wald schössen. Denn die nackten und halb nackten Gestalten, die zwischen den Bäumen hindurchgehuscht waren, stürmten plötzlich heran. Ehawk sah, wie eine von ihnen fiel, ein Pfeil hatte ihren Hals durchbohrt. Sie war hübsch, oder war es einst gewesen. Jetzt zuckte sie am Boden wie ein verwundetes Reh. »Bleibt an meiner Seite, Bruder Gavrel«, befahl Sir Oneu. Er legte seine Lanze an und richtete sie auf die Gruppe auf dem Weg. Wie ihre Gefährten im Wald waren auch sie unbewaffnet, und der Anblick eines Ritters in voller Rüstung hätte sie zurückweichen lassen müssen, doch stattdessen sprang eine der Frauen vor und rannte direkt in den Speer hinein. Die Waffe traf sie mit solcher Wucht, dass die Spitze an ihrem Rücken herausdrang, doch sie griff nach dem Schaft, als wolle sie sich daran emporziehen, bis zu dem Ritter, der sie getötet hatte. Sir Oneu fluchte und zog sein Breitschwert. Er hieb auf den ersten Mann ein, der ihn ansprang, und auch auf den nächsten, doch mehr und mehr von den Besessenen kamen aus dem Wald ge19 strömt. Die drei Mönche schössen weiter, mit einer Geschwindigkeit, die Ehawk unmöglich dünkte, doch schon jetzt trafen die meisten ihrer Schäfte aus nächster Nähe, und am Wegesrand häuften sich rasch die Toten. Martyn, Gavrel und Sir Oneu zogen blank und tauschten jetzt die Plätze mit den Bogenschützen, bildeten einen Kreis um sie, damit sie Platz zum Schießen hatten. Ehawk war in die Mitte des Rings gedrängt worden. Reichlich verspätet griff er nach seinem eigenen Bogen und legte einen Pfeil an, doch bei all dem Gedränge war es schwer, ein Ziel zu finden. Es waren mehr Angreifer, als Ehawk zählen konnte, doch sie waren alle unbewaffnet. Dann änderte sich das schlagartig, als irgendjemand sich daran erinnerte, wie man einen Stein wirft. Der erste prallte klirrend von Sir Oneus Helm ab und richtete keinen Schaden an, doch bald folgte ein ganzer Steinhagel. Mittlerweile hatten die Feinde eine Art wortlosen Gesang angestimmt. Der Klang hob und senkte sich wie der Ruf eines Ziegenmelkers. Bruder Alvaer taumelte, als ein Stein ihn an der Stirn traf und Blut aus der Wunde spritzte. Er hob die Hand, um sich die Augen zu wischen, und in dieser kurzen Pause riss ein Riese von einem Mann an seinem Arm und zerrte ihn in das Meer aus tollwütigen Gesichtern. Natürlich hatte Ehawk noch nie das Meer gesehen, doch er konnte es sich anhand von Sir Oneus lebhaften Beschreibungen gut vorstellen - wie ein See, der auf und ab wogte. Alvaer war wie ein Mann, der in einem solchen Gewässer ertrank. Er kämpfte sich an die Oberfläche und wurde wieder hinab gezogen. Noch einmal tauchte er auf, weiter entfernt und voller Blut. Ehawk schien es, als fehle ihm ein Auge. Alvaer kam ein letztes Mal hoch, dann war er verschwunden. Inzwischen setzten die anderen Mönche und Sir Oneu ihr blutiges Werk fort, doch die Leichen türmten sich zu hoch, als dass die Pferde sich noch hätten frei bewegen können. Gavrel starb als Nächster, er wurde in die Menge gezerrt und in Stücke gerissen. 20 »Sie werden uns überwältigen!«, schrie Sir Oneu. »Wir müssen durchbrechen.« Er drängte Airece vorwärts; sein Schwertarm hob und senkte sich, drosch auf Glieder ein, die sich nach ihm und seinem Pferd ausstreckten. Ehawks Pony schrie auf und tänzelte, und plötzlich war ein Mann da und riss mit dreckigen, abgebrochenen Nägeln an Ehawks Bein. Er brüllte, ließ den Bogen fallen und zog seinen Dolch. Wild stach er zu und fühlte mehr die Klinge eindringen, als dass er es sah. Der Mann beachtete es nicht, sondern sprang hoch, bekam seinen Arm zu fassen und begann mit grauenvoller Kraft zu ziehen. Dann war auf einmal Martyn neben ihm, und der Kopf des Angreifers kollerte über den Boden. Ehawk schaute mit einer Art entrückter Faszination zu. Er drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um zu sehen, wie Sir Oneu zu Boden ging; drei Männer hingen an
seinem Schwertarm, und zwei weitere zerrten an ihm. Er heulte verzweifelt auf, als sie ihn vom Pferd rissen. Die Mönche kämpften sich vor, bewegten sich mit aberwitziger Geschwindigkeit, schienen in alle Richtungen gleichzeitig zu schlagen. Sie erreichten Sir Oneu nicht rechtzeitig. Ein Stein prallte gegen Ehawks Schulter; mehrere trafen Martyn, einer davon am Kopf. Er schwankte einen Augenblick, blieb jedoch im Sattel. »Folge mir«, befahl er Ehawk. »Zaudere nicht.« Er warf sein Pferd herum, fort von seinen beiden Brüdern, und ritt vom Weg herunter. Ehawk war wie betäubt; es kam ihm nicht ein einziges Mal in den Sinn, nicht zu gehorchen. Das Schwert des Mönchs wirbelte zu schnell, als dass man es hätte sehen können, und er hatte die Richtung klug gewählt, hatte sich die Stelle ausgesucht, wo am wenigsten Feinde standen. Dahinter war ein breiter Fluss. Die beiden sprangen ins Wasser, und ihre Pferde tauchten unter und begannen zu schwimmen. Sie schafften es bis zum anderen Ufer, wo die Böschung sanft abfiel und die Tiere Halt fanden. Ein Blick zurück zeigte, dass die Angreifer ihnen bereits auf den Fersen waren. 21 Martyn griff herüber und packte Ehawk an der Schulter. »Der Praifec muss hiervon erfahren. Verstehst du? Praifec Hespero, in Eslen. Es ist mehr, als ich von dir verlangen kann, aber du musst schwören, dass du es tust.« »Eslen? Ich kann nicht nach Eslen reiten. Es ist zu weit, und ich kenne den Weg nicht.« »Du musst. Du musst, Ehawk. Ich erlege es dir auf, als den geos eines Todgeweihten.« Mehrere ihrer Verfolger platschten in den Fluss und begannen unbeholfen zu schwimmen. »Kommt mit«, flehte Ehawk verzweifelt. »Ich kann das nicht ohne Euch tun.« »Ich werde dir folgen, wenn ich kann, aber ich muss sie hier aufhalten, und du musst so schnell reiten, wie dein Pferd dich tragen kann. Hier.« Er löste einen Beutel von seinem Gürtel und drückte ihn Ehawk in die Hand. »Da ist Geld drin, nicht viel. Gib es mit Bedacht aus. Außerdem ist ein Brief dabei, mit einem Siegel. Das wird dafür sorgen, dass du zum Praifec vorgelassen wirst. Sag ihm, was wir hier gesehen haben. Versage nicht. Und jetzt geh.« Dann musste er sich umdrehen, um dem ersten Wahnsinnigen gegenüberzutreten, der aus dem Fluss kam. Er spaltete den Schädel des Mannes wie eine Melone, nahm dann eine andere Kampfstellung ein und schickte sich an, dem nächsten die Stirn zu bieten. »Reite!«, schrie er, ohne sich umzublicken. »Sonst sind wir alle umsonst gestorben.« Da zerbrach irgendetwas in Ehawk, und er trieb sein Pferd an und ritt, bis die Stute vor Erschöpfung stolperte. Selbst dann hielt er nicht an, sondern ließ das arme Tier weiterlaufen, so schnell es ihm eben möglich war. Schluchzen zerriss ihm die Brust, bis sie schmerzte und die Sterne sich zeigten. Er ritt stets nach Westen, denn er wusste, dass Eslen irgendwo in dieser Richtung lag. TeÜI Schattentage Im Jahre 2223 von Everon - Im Monat Novmen Der letzte Tag des Otavmen ist der Tag des heiligen Temnos. Die ersten sechs Tage im Novmen sind jeweils der heiligen Dun, dem heiligen Under, der heiligen Shade, der heiligen Mefitis, dem heiligen Gavriel und dem heiligen Halaquin gewidmet. Alle zusammen sind dies die Schattentage, an denen die Welt der Lebenden der Welt der Toten begegnet. aus dem Almanach von Presson Manteo Und nachdem zwölf Monat gegrämt er sich Stieg aus der See seiner Liebsten Geist Was willst du von mir, Herzliebster mein Das meinen ew'gen Schlaf mir zerreißt? Ich will einen Kuss, o Geliebte mein Einen einzigen Kuss nur von dir Dann störe ich nimmermehr deine Ruh' Dann lasse ich Frieden dir. Meine Lippen sind Eis und Meer, mein Lieb Sind wie der Lehm so kalt Und küsst du sie, so salzig nass Wirst keinen Tag du mehr alt. aus Die ertrunkene Geliebte, virgenyanisches Volkslied Er soll verflucht sein zu leben und soll so Vernichtung bringen über das Leben. Übersetzung aus Tafles Taceis oder Das Buch des Raunens 1. Kapitel - Die Nacht Neil MeqVren ritt mit seiner Königin eine dunkle Straße in der Stadt der Toten hinunter. Das Trommeln der Pferdehufe wurde vom Hagel übertönt, der auf die bleiernen Pflastersteine prasselte. Der Wind war ein Drache, der seine nebligen Leibeswindungen regte und mit dem nassen Schwanz peitschte. Geister begannen sich zu rühren, und unter Neils poliertem Brustpanzer, unter seiner vor Kälte schaudernden Haut und dem Gehege seiner Knochen ballte sich die Sorge. Der Wind und der eisige Regen machten ihm nichts aus. Seine Heimat war Skern, wo Frost, Meer und Wolken ein und dasselbe waren, wo Kälte und Schmerz als die simpelsten Bestandteile des Lebens galten. Auch die Toten störten ihn nicht. Es waren die Lebenden, die er fürchtete, die Dolche und Pfeile, die Wetter und Finsternis vor seinen Augen, die bloß menschlich waren, verbargen. So wenig wäre nötig, um die Königin zu töten - der Stich einer winzigen Nadel, ein Loch von der Größe eines kleinen Fingers in ihrem Herzen, ein aus der Schleuder sirrender Stein
gegen ihre Schläfe. Wie konnte er sie beschützen? Wie konnte er das Einzige bewahren, das ihm geblieben war? Er warf ihr einen raschen Blick zu. Ein wollener Wettermantel verhüllte sie, ihr Gesicht lag tief im Schatten der Kapuze. Ein ähnlicher Mantel bedeckte seine Herrenrüstung und den Helm. Sie mochten aussehen wie jedes andere Pilgerpaar, das gekommen war, um seine Ahnen zu besuchen - oder zumindest hoffte er das. Wären jene, die den Tod der Königin wünschten, Sandkörner gewesen, so hätten sie eine Sandbank gebildet, groß genug, um ein Kriegsschiff darauf stranden zu lassen. 25 Sie überquerten Steinbrücken über Kanälen mit schwarzem Wasser, die Bruchstücke der Flammen in ihren Laternen einfingen und sie zu gelben, schleierartigen Netzen spannten. Die Häuser der Toten kauerten zwischen den Kanälen, hohe Giebeldächer ließen den Sturm abgleiten und hielten ihre schweigenden Bewohner trocken, wenn auch nicht warm. Anderswo huschten ein paar Lichter zwischen den Gassen herum - anscheinend war die Königin nicht die Einzige, die sich von dem schlechten Wetter nicht beirren ließ, entschlossen, heute Nacht die Gesellschaft der Toten zu suchen. Man konnte natürlich in jeder beliebigen Nacht mit den Toten sprechen, doch in der letzten Nacht des Otavmen - am Temnosabend - würden die Toten vielleicht antworten. Oben auf dem Hügel, im Eslen der Lebenden, feierten die Menschen; bis das Unwetter heraufgezogen war, hatten Tänzer in Skelettkostümen die Straßen bevölkert, und ernste Sverrun-Priester hatten die vierzig Hymnen des heiligen Temnos gesungen. Bittsteller in Totenschädelmasken waren von Haus zu Haus gezogen und hatten um Seelenkuchen gebeten, und Feuer hatten auf den öffentlichen Plätzen gebrannt, das größte davon auf dem Versammlungsplatz, der als der Kerzenhain bekannt war. Jetzt waren die Festlichkeiten in die Häuser und Schenken verlegt worden, und die Prozession, die sich normalerweise ihren gewundenen Weg bis nach Eslendes-Schattens gesucht hätte, war vor dem grimmigen Antlitz des hereinbrechenden Winters von einem Strom zu einem Rinnsal geschrumpft. Die kleinen, aus Rüben und Äpfeln geschnitzten Lampen waren alle dunkel, und hier würde sich heute Nacht nur wenig Festliches zutragen. Neil behielt die Hand an Krähes Heft, und seine Augen waren ruhelos. Er beobachtete nicht die dahinschwankenden Lichtpunkte der Laternen, sondern starrte ins Dunkel, das sich dazwischen dehnte. Wenn irgendetwas sie angriff, dann würde es wahrscheinlich von dort kommen. Die Häuser wurden größer und höher, als sie den dritten und den vierten Kanal überquerten, und dann erreichten sie den letzten Kreis, umfriedet mit Granit und Eisenspeeren, wo die Statuen 16 der heiligen Duh und des heiligen Under über Paläste aus Marmor und Alabaster wachten. Eine Laterne bewegte sich auf sie zu. »Behaltet Eure Kapuze auf, Mylady«, wies Neil die Königin an. »Das ist doch nur einer der Scathomen, die die Gräber bewachen«, entgegnete sie. »Vielleicht, vielleicht auch nicht«, erwiderte Neil. Er ließ Hurrikan ein paar Schritte traben. »Wer da?«, rief er. Die Laterne hob sich, und in ihrem Licht kam ein eckiges Gesicht aus dem Schatten eines Wettermantels zum Vorschein. Neils Atem ging ein wenig leichter, denn er kannte diesen Mann - Sir Len, in der Tat einer der Scathomen, die ihr Leben den Toten geweiht hatten. Natürlich waren das Äußere eines Mannes und das, was in ihm steckte, zwei verschiedene Dinge, wie Neil aus bitterer Erfahrung wusste. Deshalb blieb er wachsam. »Die gleiche Frage muss ich Euch stellen«, erwiderte der alte Ritter auf Neils Ruf. Neil ritt näher heran. »Es ist die Königin«, sagte er zu dem Ritter. »Ich muss ihr Gesicht sehen«, beharrte Sir Len. »Gerade heute Nacht muss alles seine Ordnung haben.« »Alles wird seine Ordnung haben«, ließ sich die Stimme der Königin vernehmen, während sie ihre Laterne hob und die Kapuze zurückschlug. Ihr Gesicht erschien, schön und hart wie das Eis, das vom Himmel fiel. »Ich kenne Euch, Lady«, sagte Sir Len. »Ihr dürft passieren. Aber ...« Seine Worte schienen mit dem Wind davonzufliegen. »Zweifelt nicht an Ihrer Majestät«, warnte Neil steif. Die Augen des alten Ritters spießten Neil auf wie Speere. »Ich habe Eure Königin schon gekannt, als sie noch Kinderkleidchen getragen hat«, knurrte er. »Als Ihr weder geboren wart noch jemals irgendwer auch nur an Euch dachte.« »Sir Neil ist mein Ritter«, erklärte die Königin. »Er ist mein Beschützer.« 27 »Fürwahr. Dann sollte er Euch von hier fortbringen. Ihr solltet nicht zu diesem Ort kommen, Mylady, wenn die Toten sprechen. Nichts Gutes wird daraus entstehen. Ich habe hier lange genug Wache gestanden, um das zu wissen.« Die Königin betrachtete Sir Len lange. »Euer Rat ist gut gemeint«, sagte sie schließlich. »Aber ich werde ihn nicht beherzigen. Bitte fragt nicht weiter.« Sir Len beugte das Knie. »Ich werde nicht weiterfragen, meine Königin.« »Ich bin nicht mehr Königin«, wehrte sie leise ab. »Mein Gemahl ist tot. Es gibt keine Königin in Eslen.« »So Ihr lebt, Mylady, gibt es eine Königin«, erwiderte der alte Ritter. »Im Namen der Wahrheit, wenn auch nicht
im Namen des Gesetzes.« Sie nickte leicht, und ohne ein weiteres Wort betraten sie den Wohnsitz der königlichen Toten. Sie ritten unter dem schmiedeeisernen Torbogen eines großen Hauses aus rotem Marmor hindurch, wo sie die Pferde zurückließen, und mit der Drehung eines Schlüssels waren sie dem eisigen Regen entkommen. Hinter der Tür fanden sie eine kleine Eingangshalle mit einem Altar und einen Gang, der in die Tiefen des Gebäudes hineinführte. Obgleich irgendjemand bereits die Kienspäne in dem Gang angezündet hatte, hingen noch immer Schatten wie Spinnweben in den Ecken. »Was soll ich tun, Mylady?«, fragte Neil. »Haltet Wache«, antwortete sie. »Das ist alles.« Sie kniete vor dem Altar nieder und zündete die Kerzen an. »Väter und Mütter des Hauses Dare«, sang sie, »Eure an Kindes statt angenommene Tochter ruft, demütig vor ihren Vorfahren. Beehrt mich, ich bitte Euch, in dieser Nacht der Nächte.« Jetzt entzündete sie ein kleines Räucherstäbchen, und ein Geruch wie von Kiefer und Fließharz schien schlagartig Neils Nasenlöcher zu füllen. Irgendwo im Hause raschelte etwas, und eine Glocke schlug. Muriele erhob sich und streifte ihren Mantel ab. Darunter trug sie 28 ein Kleid aus mit Walbein gesteiftem schwarzem Safnit. Ihr rabenschwarzes Haar schien damit zu verschmelzen, ließ ihr Gesicht verwaist zurück, das fast in der Luft zu schweben schien. Neil wurde die Kehle eng. Die Königin war unvergleichlich schön, und das Alter hatte wenig ausrichten können, um diese Schönheit zu schmälern, doch es war nicht das, was Neil das Herz zusammenzog - sondern vielmehr die Tatsache, dass sie einen Moment lang jemand anderem ähnelte. Neil wandte den Blick ab und durchsuchte mit den Augen den Schatten. Die Königin schickte sich an, den Korridor hinauf zuschreiten. »Mit Verlaub, Mylady«, sagte er eilig, »ich würde gern vorangehen.« Sie zögerte. »Ihr seid mein Diener, und die Verwandten meines Gemahls werden Euch als solchen betrachten. Ihr müsst hinter mir gehen.« »Mylady, wenn vor uns ein Hinterhalt -« »Darauf lasse ich es ankommen«, entgegnete sie. Sie gingen den Gang entlang, der mit Reliefdarstellungen der Taten des Hauses Dare getäfelt war. Die Königin bewegte sich mit gemessenen Schritten voran, den Kopf gesenkt, und ihre Tritte hallten deutlich wider, trotz des fernen Getöses des Unwetters, das auf das Schieferdach hämmerte. Sie betraten einen großen Raum mit einer Kuppeldecke, wo eine lange Tafel gedeckt war, dreißig Plätze, jeweils mit einem Kristallkelch. In jeden davon war Wein, so rot wie Blut, eingeschenkt worden. Die Königin schritt suchend an den Stühlen entlang, bis sie den richtigen fand, dann setzte sie sich und starrte den Wein an. Draußen stöhnte der Wind. Lange Minuten verstrichen, und dann ertönte ein Glockenschlag, und dann noch einer. Zwölf insgesamt, und beim Mitternachtsschlag trank die Königin aus dem Kelch. Neil fühlte, wie etwas durch die Luft fuhr, ein Frösteln, ein Summen. Dann begann die Königin zu sprechen, mit tieferer, heisererer 29 Stimme als sonst. Neils Nackenhaare kribbelten beim Klang dieser Stimme. »Muriele«, sagte sie. »Meine Königin.« Und dann, als antworte sie sich selbst, sprach sie mit ihrer gewöhnlichen Stimme. »Erren, meine Freundin.« »Deine Dienerin«, verbesserte die tiefere Stimme. »Wie geht es dir? Habe ich versagt?« »Ich lebe«, erwiderte Muriele. »Dein Opfer war nicht umsonst.« »Aber deine Töchter sind hier, an diesem Ort des Staubes.« Neils Herzschlag wurde schneller, und jäh wurde ihm klar, dass er sich von der Stelle bewegt hatte. Er stand neben einem der Stühle und starrte auf den Wein hinunter. »Alle?« »Nein. Aber Fastia ist hier, und die süße Elseny. Sie tragen Totenhemden, Muriele. Ich habe ihnen gegenüber versagt - und dir gegenüber.« »Wir sind verraten worden«, entgegnete Muriele. »Du hast alles getan, was du tun konntest, alles gegeben, was du geben konntest. Ich kann dir keinen Vorwurf machen. Aber ich muss wissen, was mit Anne ist.« »Anne ...« Mit einem Seufzen verklang die Stimme. »Wir vergessen, Muriele. Die Toten vergessen. Es ist wie eine Wolke, ein Nebel, der jeden Tag mehr von uns verschlingt. Anne ...« »Meine jüngste Tochter. Anne. Ich habe sie in den Konvent der heiligen Cer geschickt, und wir haben keine Nachricht von dort erhalten. Ich muss wissen, ob die Meuchelmörder sie dort gefunden haben.« »Dein Gemahl ist tot«, antwortete die Stimme namens Erren. »Er schläft nicht hier, aber er ruft aus weiter Ferne. Seine Stimme ist schwach und traurig. Einsam. Er hat dich wirklich geliebt.« »William? Kannst du mit ihm sprechen?« »Er ist zu fern. Er kann den Weg hierher nicht finden. Die Pfade sind dunkel, weißt du ? Die Welt ist dunkel,
und der Wind ist stark.« »Aber Anne - du kannst sie nicht flüstern hören?« 3° »Jetzt erinnere ich mich an sie«, schwärmte Erren mit der Stimme der Königin. »Haare wie Erdbeeren. Nichts als Ärger. Dein Liebling.« »Lebt sie, Erren? Ich muss es wissen.« Darauf folgte Schweigen, und Neil stellte zu seiner Überraschung fest, dass er das Weinglas in der Hand hielt. Er hörte die Antwort nur von weit her. »Ich glaube, sie lebt. Es ist kalt hier, Muriele.« Mehr wurde gesprochen, doch Neil hörte es nicht, denn er hob das Glas und trank. Er stellte den Kelch auf den Tisch, während er den bitteren Schluck, den er genommen hatte, hinunterwürgte. Dann starrte er in den darin verbliebenen Wein, der zur Ruhe kam und zu einem roten Spiegel wurde. Er sah sich selbst darin; das kräftige Kinn seines Vaters war da, doch seine blauen Augen waren schwarz und sein weizenblondes Haar rötlich, als betrachte er ein Porträt, das mit Blut gemalt worden war. Dann stand jemand hinter ihm, und eine Hand senkte sich auf seine Schulter. »Dreh dich nicht um«, flüsterte eine weibliche Stimme. »Fastia?« Doch jetzt sah er ihr Gesicht statt des seinen im Spiegel des Weines. Er roch ihren Lavendelduft. »So wurde ich genannt, nicht wahr?«, sagte Fastia. »Und du warst mein Liebster.« Jetzt versuchte er sie anzusehen, doch ihre Finger packten seine Schulter fester. »Tu es nicht«, sagte sie. »Schau mich nicht an.« Seine Hand brachte das Weinglas zum Zittern, doch das Bild von ihr darin blieb unberührt. Sie lächelte schwach, doch ihre Augen waren Lampen, in denen Traurigkeit brannte. »Ich wünschte ...«, begann er, doch er konnte den Satz nicht vollenden. »Ja«, sagte sie. »Ich auch. Aber es hätte nicht sein können, das weißt du. Wir waren töricht.« 3i »Und ich habe dich sterben lassen.« »Das weiß ich nicht mehr. Ich weiß noch, dass du mich in den Armen gehalten hast. An deiner Brust, wie ein Kind. Ich war glücklich. Das ist alles, woran ich mich erinnere, und bald werde ich auch das nicht mehr wissen. Aber es ist genug. Es ist fast genug.« Finger zogen kalte Spuren über seinen Nacken. »Ich muss wissen, ob du mich geliebt hast«, flüsterte sie. »Ich habe nie jemanden so geliebt, wie ich dich geliebt habe«, antwortete Neil. »Ich werde niemals eine andere lieben.« »Doch, das wirst du«, sagte sie leise. »Das musst du. Aber vergiss mich nicht, denn mit der Zeit werde ich mich selbst vergessen.« »Niemals«, stieß er hervor. Undeutlich war ihm bewusst, dass ihm Tränen übers Gesicht rannen. Ein Tropfen fiel in den Wein, und das Schattengesicht, das Fastia war, keuchte auf. »Das ist kalt«, sagte sie. »Eure Tränen sind kalt, Sir Neil.« »Es tut mir Leid«, erwiderte er. »Alles tut mir Leid, Mylady. Ich kann nicht schlafen -« »Still, Liebster. Sei still und lass mich dir etwas sagen, solange ich es noch weiß. Es geht um Anne.« »Die Königin ist hier, sie fragt nach Anne.« »Ich weiß. Sie spricht mit Erren. Aber da ist Folgendes, Sir Neil, etwas, das man mir erzählt hat. Anne ist wichtig. Wichtiger als meine Mutter oder mein Bruder oder sonst jemand. Sie darf nicht sterben, sonst ist alles verloren.« »Alles?« »Das Zeitalter von Everon geht zu Ende«, erklärte sie. »Uralte Flüche und neue Übel beschleunigen seinen Untergang. Meine Mutter hat das Gesetz des Todes gebrochen, hast du das gewusst?« »Das Gesetz des Todes?« »Es wurde gebrochen.« »Das verstehe ich nicht.« »Ich auch nicht, aber es wird in den Hallen der Gebeine geflüstert. Die Welt ist jetzt in Bewegung, stürzt auf ihr Ende zu. Alle, die leben, stehen am Rande der Nacht, und wenn sie dahingehen, wird niemand ihnen mehr folgen. Keine Kinder, keine nachfolgen32 den Generationen. Jemand steht dort, sieht sie vergehen und lacht. Ob Mann oder Frau, weiß ich nicht, doch es gibt nur wenig Hoffnung, dass er oder sie aufgehalten werden kann. Es gibt nur eine winzige Möglichkeit, die Dinge wieder ins Lot zu bringen. Aber ohne Anne besteht selbst diese Möglichkeit nicht.« »Ohne dich ist mir das gleich. Es ist mir gleich, ob die Welt der Vernichtung anheim fällt.« Die Hand löste sich von seiner Schulter und strich über seinen Nacken. »Es darf dir nicht gleich sein«, sagte sie. »Denk an die ungeborenen Generationen, und stell sie dir als unsere Kinder vor, die Kinder, die wir nie haben konnten. Betrachte sie als Frucht unserer Liebe. Lebe für sie, wie du es für mich getan hättest.« »Fastia -« Nun drehte er sich doch um, unfähig, es noch länger zu ertragen, aber dort war nichts, und die
Berührung an seiner Schulter war fort, hatte nur ein schwindendes Kribbeln zurückgelassen. Die Königin starrte noch immer in ihren Wein und flüsterte. »Du fehlst mir, Erren«, sagte sie. »Du warst meine starke rechte Hand, meine Schwester, meine Freundin. Feinde umgeben mich. Ich habe nicht die Kraft dafür.« »Deine Kraft ist unendlich«, erwiderte Erren. »Du wirst tun, was getan werden muss.« »Aber was du mir da gezeigt hast. Das Blut. Wie kann ich das tun?« »Am Ende wirst du Meere aus Blut erschaffen«, sagte Erren. »Aber es ist nötig. Du musst.« »Ich kann nicht. Sie würden es niemals zulassen.« »Wenn die Zeit kommt, können sie dich nicht aufhalten. Still jetzt, Muriele, und wünsch mir Frieden, denn ich muss fort.« »Geh nicht. Ich brauche dich, besonders jetzt.« »Dann habe ich dich zweimal im Stich gelassen. Ich muss fort.« Und die Königin, die während dieser letzten Monate aus Stahl hätte geschmiedet sein können, senkte den Kopf und weinte. Neil stand neben ihr, sein Herz war zerrissen von Fastias Berührung, sein Verstand brannte von ihren Worten. 33 Er sehnte sich nach der Einfachheit der Schlacht, wo Versagen Tod bedeutete anstatt Qual. Draußen wurde das Lärmen des Sturms lauter, während die Toten sich wieder zur Ruhe begaben. Der Schlaf kam nicht, der Morgen dagegen schon. Beim ersten Sonnenlicht hatte sich das Unwetter verzogen, und sie begannen mit dem Aufstieg von Eslen-der-Schatten nach Eslen der Lebenden. Ein reiner, kalter Seewind blies, und die kahlen Äste der Eichen, die den Weg säumten, glitzerten in Hüllen aus Eis. Die Königin hatte die ganze Nacht über geschwiegen, doch als sie noch ein gutes Stück von der Stadt entfernt waren, wandte sie | sich ihm zu. »Sir Neil, ich habe eine Aufgabe für Euch.« »Majestät, ich stehe Euch zur Verfügung.« Sie nickte. »Ihr müsst Anne finden. Ihr müsst die einzige Tochter finden, die mir geblieben ist.« Neil fasste die Zügel fester. »Das ist das Einzige, was ich nicht tun kann, Majestät.« »Ich befehle es Euch.« »Meine Pflicht liegt bei Euer Majestät. Als der König mich zum Ritter gemacht hat, habe ich geschworen, an Eurer Seite zu bleiben, Euch vor jeglicher Gefahr zu beschützen. Das kann ich nicht tun, wenn ich in die Ferne ziehe.« »Der König ist tot«, sagte Muriele. Ihre Stimme wurde ein wenig schroffer. »Jetzt gebe ich Euch Befehle. Ihr werdet dies für mich tun, Sir Neil.« »Majestät, bitte verlangt das nicht von mir. Wenn Euch etwas zustoßen sollte -« »Ihr seid der Einzige, dem ich vertrauen kann«, unterbrach ihn Muriele. »Glaubt Ihr, ich möchte Euch von meiner Seite fortschicken? Den einzigen Menschen fortschicken, von dem ich weiß, dass er mich niemals verraten wird? Aber genau deshalb müsst Ihr gehen. Diejenigen, die meine anderen Kinder umgebracht haben, suchen jetzt nach Anne, dessen bin ich mir sicher. Sie ist am Leben, 34 weil ich sie weggeschickt habe und weil niemand bei Hofe weiß, wo sie ist. Wenn ich irgendjemand anderem als Euch ihren Aufenthaltsort anvertraue, gefährde ich dieses Geheimnis und setze meine Tochter noch größerer Gefahr aus. Wenn ich es nur Euch verrate, weiß ich, dass es gewahrt bleibt.« »Wenn Ihr glaubt, dass sie dort, wo sie sich befindet, in Sicherheit ist, solltet Ihr sie dann nicht dort lassen?« »Ich kann mir nicht vollkommen sicher sein. Erren hat angedeutet, dass die Gefahr noch immer sehr groß ist.« »Die Gefahr für Euer Majestät ist sehr groß. Wer auch immer die Meuchelmörder gedungen hat, die Euren Gemahl und Eure Töchter umgebracht haben, wollte auch Euch töten. Gewiss will derjenige das immer noch.« »Gewiss. Ich widerspreche Euch nicht, Sir Neil. Aber ich habe Euch einen Befehl gegeben. Ihr werdet Euch für eine lange Reise bereitmachen. Morgen brecht Ihr auf. Wählt Männer aus, die mich während Eurer Abwesenheit beschützen sollen - ich traue Eurem Urteil in solchen Dingen mehr als meinem eigenen. Aber ich fürchte, Ihr müsst Euren Auftrag allein durchführen.« Neil senkte den Kopf. »Ja, Majestät.« Die Stimme der Königin wurde weicher. »Es tut mir Leid, Sir Neil. Wirklich. Ich weiß, wie schwer Euer Herz verwundet wurde. Ich weiß, wie groß Euer Pflichtbewusstsein ist und wie sehr es in Cal Azroth gelitten hat. Aber Ihr müsst dies für mich tun.« »Majestät, ich würde Euch den ganzen Tag lang anflehen, wenn ich dächte, dass Ihr es Euch vielleicht noch einmal überlegen könntet, aber ich sehe, dass Ihr das nicht tun werdet.« »Ihr habt einen scharfen Blick.« Neil nickte. »Ich werde tun, was Ihr befehlt, Majestät. Morgen früh werde ich zum Aufbruch bereit sein.« 35 2. Kapitel z'Espino Anne Dare, die jüngste Tochter des Königs von Crothenien, Herzogin von Rovy, kniete vor einer Zisterne und schrubbte mit wunden, von Blasen bedeckten Händen Wäsche. Ihre Schultern schmerzten, ihre Knie brannten,
und die Sonne drosch auf sie ein wie ein goldener Hammer. Ein paar Ellen entfernt spielten Kinder im Schatten einer Weinlaube, und zwei Damen in Kleidern aus Seidenbrokat nippten an Weinkelchen. Annes Baumwollkittel, der früher jemand anderem gehört hatte, war seit Tagen nicht gewaschen worden. Sie seufzte, wischte sich die Stirn und vergewisserte sich, dass ihr rotes Haar unter ihrem Kopftuch steckte. Verstohlen warf sie einen sehnsüchtigen Blick auf die beiden Frauen und arbeitete weiter. Sie löste ihre Gedanken von ihren Händen, etwas, worin sie allmählich recht geschickt wurde, und stellte sich vor, sie sei wieder daheim und würde ihr Pferd Windschnell auf der Schleppe reiten oder gebratenes Rebhuhn mit grüner Soße essen, mit Bratäpfeln und dicker Sahne als Nachtisch. Ihre Hände schrubbten und schrubbten. Gerade malte sie sich ein kühles Bad aus, als sie plötzlich ein scharfes Zwicken an ihrem Hinterteil verspürte. Sie schaute sich um und erblickte einen Jungen, etwa drei oder vier Jahre jünger als sie - ungefähr dreizehn -, der sie angrinste, als habe er gerade den besten Witz der Welt erzählt. Anne klatschte die Wäsche auf das Waschbrett und fuhr zu ihm herum. »Du widerliches kleines Ungeheuer!«, schrie sie ihn an. »Du hast genauso schlechte Manieren wie -« Sie bemerkte, dass die Frauen sie ansahen; ihre Mienen waren hart. »Er hat mich gekniffen«, erklärte sie. Und um auch sicherzugehen, dass sie verstanden, zeigte sie auf die Stelle. »Da.« 36 Eine der Frauen - eine blauäugige, schwarzhaarige Casnara namens da Filialofia - musterte sie lediglich mit schmalen Augen. »Für wen genau hältst du dich eigentlich?«, fragte sie mit ausdrucksloser Stimme. »Für wen, bei allen Lords und Ladys, hältst du dich, dass du so mit meinem Sohn redest?« »Wo suchst du dir nur immer dein Gesinde?«, erkundigte sich ihre Begleiterin, Casnara dat Ospellina, säuerlich. »A-aber er -«, stotterte Anne. »Schweig augenblicklich still, du kleines Stück ausländischer Abschaum, sonst lasse ich dich von Corhio, dem Gärtner, verprügeln. Und der wird dir da sehr viel mehr antun, als dich nur zu kneifen, wage ich zu behaupten. Vergiss nicht, wem du dienst, in wessen Hause du bist.« »Eine richtige Lady würde ihrem Balg bessere Manieren beibringen«, fuhr Anne auf. »Und was verstehst du davon?«, fragte Casnara da Filialofia und verschränkte die Arme. »Was für Manieren sind dir denn deiner Meinung nach beigebracht worden, in dem Bordell oder Schweinestall, wo immer deine Mutter dich auch ausgesetzt hat? Auf jeden Fall hast du nicht gelernt, wo dein Platz ist.« Sie reckte das Kinn. »Hinaus. Auf der Stelle.« Anne erhob sich aus ihrer knienden Stellung. »Na schön«, sagte sie und drehte sich zu den beiden Frauen um. Sie streckte die Hand aus. Da lachte Filialofia. »Du erwartest doch gewiss nicht, dass ich dafür bezahle, dass du mein Haus beleidigt hast, oder? Verschwinde, Dirne. Ich habe keine Ahnung, wieso mein Gemahl dich überhaupt angestellt hat.« Dann rang sie sich ein kleines Lächeln ab, in dem jedoch keine Spur von Humor lag. »Nun, vielleicht doch. Möglicherweise fand er dich amüsant, auf eine barbarische Art und Weise. Warst du amüsant?« Mehrere Augenblicke verschlug es Anne schlicht die Sprache, und einen weiteren Moment lang schwankte sie hin und her, ob sie "ie Frau ohrfeigen - was ihr ganz bestimmt eine Tracht Prügel eintragen würde - oder einfach weggehen sollte. 37 Sie tat keins von beidem. Stattdessen erinnerte sie sich an etwas, das sie während der letzten Woche beim Arbeiten auf der Triva gelernt hatte. »O nein, für mich hat er keine Zeit«, beteuerte sie liebenswürdig. »Er war viel zu sehr mit Casnara dat Ospellina beschäftigt.« Und dann ging sie und lächelte über das wütende Geflüster, das sich hinter ihr erhob. Die großen Landgüter lagen auf der Nordseite von z'Espino; von den meisten konnte man über das blaue Wasser der Lierischen See schauen. Als sie durch das Tor schritt, blieb Anne einen Augenblick lang im Schatten eines Kastanienbaumes stehen und blickte auf die schaumgekrönten Fluten hinaus. Auf der anderen Seite, im Norden, lag Liery, wo die Familie ihrer Mutter herrschte. Nordöstlich lag Crothenien, wo ihr Vater als König und Herrscher regierte und wo ihr Liebster Roderick mittlerweile bestimmt alle Hoffnung hatte fahren lassen. Nur ein wenig Wasser trennte sie von ihrem rechtmäßigen Platz und von allem, was sie liebte, und doch war es eine kostspielige Angelegenheit, dieses bisschen Wasser zu überqueren. Obgleich sie eine Prinzessin war, besaß sie keinen roten Heller. Ebenso wenig konnte sie irgendjemandem verraten, wer sie war, denn schreckliche Gefahren waren ihr auf dem Fuße gefolgt, als sie nach z'Espino gekommen war. Als Wäscherin war sie sicherer denn als Prinzessin. »Du da.« Ein Mann kam auf einem Pferd die Allee heraufgeritten und blickte auf sie herab. An seiner viereckigen Kappe und dem gelben Wams erkannte sie, dass er ein Aidilo war, der dafür zuständig war, dass Ordnung auf den Straßen herrschte. »Ja, Casnar?« »Troll dich. Lungere hier nicht herum«, sagte er schroff. »Ich komme gerade von der Arbeit bei der Casnara da Filialofia.« »Ja, und jetzt bist du fertig, also musst du verschwinden.« »Ich wollte mir nur einen Moment das Meer ansehen.« »Dann sieh's dir vom Fischmarkt aus an«, blaffte er. »Muss ich dich dorthin begleiten?«
38 »Nein«, antwortete Anne. »Ich gehe schon.« Während sie eine Allee hinuntertrottete, die von Steinmauern gesäumt war - mit Glasscherben gekrönt, damit man nicht hinüberklettern konnte -, überlegte sie, ob die Dienstboten, die auf den Gütern ihres Vaters arbeiteten, wohl auch so schlecht behandelt wurden. Bestimmt nicht. Die Allee mündete auf den Piato dachi Meddissos, einen prächtigen Platz aus roten Ziegeln, der auf einer Seite von dem dreistöckigen Palast des Meddisso und seiner Familie begrenzt wurde. Der Palast war nicht so prachtvoll wie der ihres Vaters in Eslen, doch er war recht eindrucksvoll mit seinen langen Säulengängen und den terrassenförmig angelegten Gärten. Auf der anderen Seite des Piato stand der Tempel der Stadt, ein elegantes Bauwerk aus poliertem braunem Stein, das sehr alt aussah. Auf dem Piato selbst herrschte ein Tumult aus Farben und Lebendigkeit. Straßenhändler mit hölzernen Karren und roten Kappen boten gegrilltes Lammfleisch, gebratenen Fisch, gedämpfte Muscheln, kandierte Feigen und geröstete Kastanien feil. Blassäugige Sefry, zum Schutz vor der Sonne verhüllt und verschleiert, verkauften unter bunten Markisen Bänder und Putzwerk, Strümpfe, heilige Reliquien und Liebestränke. Eine Mimentruppe hatte sich ein Stück des Platzes freigeräumt und führte ein Stück auf, bei dem es um Schwertkämpfe, einen König mit einem Drachenschwanz, den heiligen Mamres, den heiligen Bright und den heiligen Loy ging. Zwei Flötenspieler und eine Frau mit einer kleinen Trommel spielten eine rasche Melodie. In der Mitte des Piato rang eine gestrenge Statue des heiligen Netuno mit zwei Seeschlangen, die sich um seinen Körper wanden und Wasserstrahlen in ein Marmorbecken spien. Eine Gruppe reich gekleideter junger Männer lehnte am Rand des Brunnens; sie tätschelten die Griffe ihrer Rapiere und pfiffen Mädchen in grellbunten Kleidern hinterher. Sie fand Austra am Rande des Platzes, fast schon auf den Tempelstufen. Sie saß neben ihrem Eimer und ihrer Waschbürste. Austra sah sie näher kommen und lächelte. »Schon fertig?« Sie 3.9 war fünfzehn, ein Jahr jünger als Anne, und genau wie diese trug ] sie ein ausgeblichenes Kleid und ein Kopftuch, um ihre Haare zu verbergen. Die meisten Vitellianer hatten dunkle Haut und schwarzes Haar, und die beiden Mädchen fielen schon genug auf ohne ihre roten und blonden Flechten zur Schau zu stellen. Glücklicherweise pflegten die meisten Frauen ihren Kopf in der Öffentlichkeit zu bedecken. »Sozusagen«, erwiderte Anne. »Oh, ich verstehe. Schon wieder?« Anne seufzte und setzte sich. »Ich gebe mir Mühe, wirklich, das tue ich. Aber es ist so schwer. Ich hatte gedacht, nach dem Konvent wäre ich auf alles gefasst, aber -« »Du solltest so etwas nicht tun müssen«, sagte Austra. »Lass mich arbeiten. Du kannst in der Kammer bleiben.« »Aber wenn ich nicht arbeite, dauert es noch länger, bis wir genug für die Überfahrt zusammenhaben. Das gibt den Männern, die uns suchen, noch mehr Zeit, um uns zu finden.« »Vielleicht sollten wir unser Glück doch auf der Straße versuchen.« »Cazio und z'Acatto sagen, die Straßen werden viel zu genau beobachtet. Sogar die Straßenwächter haben jetzt eine Belohnung auf mich ausgesetzt.« »Das ist doch unsinnig. Die Männer, die im Konvent versucht haben, dich umzubringen, waren hansische Ritter. Was haben die mit vitellianischen Straßenwächtern zu schaffen?« »Ich weiß es nicht, und Cazio auch nicht.« »Wenn das so ist, werden sie dann nicht auch die Schiffe beobachten?« »Ja, aber Cazio sagt, er kann einen Kapitän finden, der keine Fragen stellt und nichts herum erzählt - wenn wir genug Silber haben, um ihn zu bezahlen.« Sie seufzte. »Aber noch ist es nicht so weit, und essen müssen wir auch. Und was noch schlimmer ist, ich habe heute überhaupt nichts bekommen. Was soll ich bloß morgen machen?« Austra klopfte ihr auf die Schulter. »Ich bin bezahlt worden. 40 wir machen auf dem Fischmarkt und beim Carenso Halt und kaufen uns was zum Abendessen.« Der Fischmarkt lag am Rande des Perto Nevo, wo Schiffe mit hoch aufragenden Masten ihre Ladungen aus Holz und Eisen löschten und dafür Weinfässer, Olivenöl, Getreide und Seide an Bord nahmen. Kleinere Boote drängten sich an den südlichen Molen, denn in den vitellianischen Gewässern wimmelte es von Krabben, Muscheln, Austern, Sardinen und hundert anderen Fischarten, von denen Anne noch nie gehört hatte. Der Markt war ein Labyrinth aus Kisten und Fässern, randvoll mit den glänzenden Schätzen der See. Sehnsüchtig betrachtete Anne die riesigen Hummer und die schwarzen Taschenkrebse, die in Tonnen voller Salzwasser noch immer strampelten und zappelten, die Berge aus glatten Makrelen und silbrigen Tunfischen. Nichts davon konnten sie sich leisten, und so mussten sie sich tiefer und weiter vordrängen, dorthin, wo mit Salz bestreute Sardinen ausgelegt und Weißfische zu Haufen aufgeschichtet waren, die allmählich zu riechen begannen. Weißfisch kostete nur zwei Minser pro Coinix, und dort blieben die Mädchen stehen, um sich mit gerümpften Nasen ihr Abendessen auszusuchen. »Z'Acatto hat gesagt, man muss sich die Augen anschauen«, meinte Austra. »Wenn sie trübe sind oder schielen,
ist der Fisch nicht gut.« »Dann sind die hier alle schlecht«, erwiderte Anne. »Das ist das Einzige, was wir uns leisten können«, entgegnete Austra. »Es sind bestimmt ein oder zwei in diesem Haufen, die noch gut sind. Wir müssen nur suchen.« »Wie war's mit gepökeltem Barsch?« »Den muss man einen Tag lang einweichen. Ich weiß ja nicht, wie es dir geht, aber ich habe jetzt Hunger.« Eine tiefe Frauenstimme lachte leise hinter ihren Schultern. »Nein, ihr Süßen, kauft nichts davon. Euch ist sonst eine ganze Woche lang schlecht.« Die Frau, die sie angesprochen hatte, war ihnen vertraut - Anne 41 hatte sie oft auf der Straße gesehen, hatte jedoch nie mit ihr gesprochen. Sie kleidete sich geradezu skandalös und trug eine Menge Schminke und Wangenrot. Einmal hatte sie z'Acatto sagen hören, »die da« könne er sich »nicht leisten«, daher glaubte Anne zu wissen, welchem Gewerbe die Frau nachging. »Danke«, sagte Anne. »Aber wir finden schon noch einen, der gut ist.« Die Frau blickte zweifelnd drein. Sie hatte ein straffes, schmales Gesicht und kohlschwarze Augen. Ihr Haar war unter einem Netz mit Schmucksteinen aus Glas hochgesteckt, und sie trug ein grünes Kleid, das, obwohl es schon bessere Zeiten erlebt hatte, hübscher war als alles, was Anne im Augenblick besaß. »Ihr beide wohnt in der Straße der sechs Nymphen. Ich habe euch gesehen - mit diesem alten Säufer und diesem stattlichen Burschen, der mit dem Degen.« »Ja«, erwiderte Anne. »Ich bin eure Nachbarin. Mein Name ist Rediana.« »Ich heiße Fiene, und das ist Lessa«, log Anne. »Nun denn, Mädchen, kommt mit«, sagte Rediana. Ihre Stimme war leise. »Hier findet ihr bestimmt nichts Essbares.« Anne zögerte. »Ich beiße euch nicht«, versicherte Rediana. »Kommt.« Sie winkte ihnen, ihr zu folgen, und führte die beiden zu einem Tisch voller Flundern. Ein paar davon zappelten noch. »Die können wir uns nicht leisten«, wandte Anne ein. »Wie viel habt ihr?« Austra hielt eine Zehnminsermünze hoch. Rediana nickte. »Parvio!« Der Mann hinter dem Flundertisch war damit beschäftigt, ein paar Fische für einige gut gekleidete Frauen auszunehmen. Ihm fehlte ein Auge, doch er machte sich nicht die Mühe, die weiße Narbe an dieser Stelle zu verbergen. Er mochte an die sechzig Jahre alt sein, doch seine entblößten Arme waren so muskulös wie die eines Ringkämpfers. »Rediana, mi cara«, sagte er. »Was kann ich für dich tun?« »Verkauf meinen Freundinnen einen Fisch.« Sie nahm Austra 42 JaS Geldstück aus der Hand und gab es ihm. Er sah es an, runzeldie Stirn, dann lächelte er Anne und Austra an. »Sucht euch einen aus, der euch gefällt, meine Süßen.« »Melto brazie, Casnar«, erwiderte Austra. Sie wählte eine der Flundern und legte sie in ihren Korb. Augenzwinkernd reichte ihr parvio eine Fünfminsermünze. Der Fisch hätte eigentlich fünfzehn kosten müssen. »Melto brazie, Casnara«, sagte Anne zu Rediana, als sie sich auf den Weg zum Carenso machten. »Nicht der Rede wert, Liebes«, wehrte Rediana ab. »Ehrlich gesagt habe ich gehofft, dass ich Gelegenheit bekommen würde, mit euch zu reden.« »Ach? Und worüber?«, fragte Anne, ein wenig misstrauisch ob der Freundlichkeit der anderen. »Über eine Möglichkeit, wie ihr jeden Tag Fisch wie diesen auf dem Tisch haben könntet. Ihr seid beide recht hübsch und ziemlich exotisch. Ich kann etwas aus euch machen. Und zwar nicht für diese Tölpel aus unserer Straße, sondern für eine bessere Sorte Kunden.« »Ihr ... Ihr wollt, dass wir -« »Schwer ist es nur beim ersten Mal«, versicherte Rediana. »Und so schwer nun auch wieder nicht. Das Geld ist leicht verdient, und ihr habt euren hübschen jungen Degenkämpfer, der auf euch aufpasst, wenn ihr es mit einem ungehobelten Kunden zu tun bekommt. Er arbeitet bereits für mich, wisst ihr.« »Cazio?« »Ja. Er passt auf ein paar von den Mädchen auf.« »Und er hat Euch hierzu angestiftet?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, er hat gesagt, ihr würdet mich abweisen. Aber Männer wissen oft nicht, wovon sie reden.« »Diesmal weiß er es«, gab Anne mit frostiger Stimme zurück. »Vielen Dank für Eure Hilfe und den Fisch, aber ich fürchte, wir müssen Euer Angebot ausschlagen.« Redianas Augen wurden schmal. »Ihr glaubt, ihr seid zu gut dafür?«
43 »Natürlich«, antwortete Anne, ehe sie sich eines Besseren besinnen konnte. »Ich verstehe.« »Nein«, sagte Anne. »Nein, Ihr versteht nicht. Ich finde, Ihr seid auch zu gut dafür. Keine Frau sollte das tun müssen.« Das zauberte ein sonderbares kleines Lächeln auf Redianas Gesicht. Doch sie zuckte die Achseln. »Trotzdem wisst ihr nicht, was gut für euch ist. Ihr könntet an einem Tag mehr verdienen, als ihr jetzt in einem ganzen Monat bekommt, und brauchtet euch eure Schönheit nicht durch Scheuerarbeiten zu ruinieren. Denkt darüber nach. Wenn ihr es euch anders überlegt - ich bin leicht zu finden.« Damit schlenderte sie davon. Die beiden Mädchen gingen eine Weile schweigend weiter, nachdem Rediana sie verlassen hatte. Dann räusperte sich Austra. »Anne, ich könnte doch -« »Nein«, sagte Anne zornig. »Dreimal nein. Es wäre mir lieber, wenn wir niemals nach Hause kommen, als unter solchen Bedingungen.« Anne kochte immer noch vor Wut, als sie den Carenso an der Ecke der Pari-Straße und des Vio Furo erreichten, doch der Geruch von frisch gebackenem Brot verdrängte alles außer dem Hunger aus ihrem Kopf. Der Bäcker ein hoch gewachsener, hagerer Mann, der stets von oben bis unten mit Mehl bedeckt war - bedachte sie mit einem freundlichen Lächeln, als sie eintraten. Er machte gerade mit einem Rasiermesser Einschnitte in noch nicht gebackene Landbrote, während sein Geselle hinter ihm mit einem langen Schieber weitere Laibe in den Ofen beförderte. Ein großer schwarzer Hund, der auf dem Boden lag, blickte schläfrig zu den Mädchen auf und ließ dann vollkommen gleichgültig den Kopf wieder herabsinken. Brot türmte sich in Körben und Tonnen, in allen Größen und Formen - goldbraune, runde Laibe, so groß wie Wagenräder und verziert mit olivenblattähnlichen Mustern, grobe Brotscheite von. Armeslänge, kleine perechi, die man mit einer Hand umfassen 44 konnte, knusprige, eiförmige Wecken, mit Haferflocken besprenkelt. Und all das war nur der erste Eindruck. Sie gaben zwei Minser für einen warmen Brotlaib aus und lenkten ihre Schritte zum Perto Veto, wo sich ihre Unterkunft befand. Port schritten sie durch Straßen, die von ehemals prachtvollen Häusern flankiert wurden, Gebäuden mit Höfen zwischen Marmorsäulen und mit Baikonen vor den oberen Fenstern. Sie bahnten sich ihren Weg durch die Trümmer von Dachschindeln, die nie ersetzt worden waren, und durch Scherben von Weinflaschen; dabei atmeten sie Luft, die schwer vom Geruch nach Brackwasser und Unrat war. Es war die Stunde des vierten Glockenschlags, und Frauen mit tief ausgeschnittenen Blusen und korallenroten Lippen - Angehörige von Redianas Zunft - hatten sich bereits auf den Baikonen versammelt, riefen Männern, die den Anschein erweckten, als hätten sie Geld, aufreizende Worte zu und verspotteten jene, die nicht so aussahen. Ein Trupp Männer ließ auf einer gesprungenen Marmorstufe einen Weinkrug herumgehen und pfiff, als Anne und Austra vorbeikamen. »Die Herzogin von Herilanz«, rief einer der Kerle. »He, Herzogin, gib mir einen Kuss.« Anne beachtete ihn nicht. Während des Monats, den sie jetzt im Perto Veto wohnte, hatte sie festgestellt, dass die meisten solcher Männer zwar lästig, aber harmlos waren. An der nächsten Straßenkreuzung bogen sie ab, betraten ein Gebäude durch dessen offene Tür und stiegen die Treppe zu ihrem Quartier im ersten Stock hinauf. Als sie näher kamen, hörte Anne Stimmen von oben z'Acattos und die von jemand anderem. Die Tür stand offen, und z'Acatto blickte auf, als sie eintraten. Er war ein älterer Mann, vielleicht fünfzig Jahre alt, mit einem leichten Bauchansatz. Sein Haar war mehr grau als schwarz. Er saß auf einem Hocker und unterhielt sich mit ihrem Hauswirt Ospe-ro- Die beiden Männer waren annähernd gleich alt, doch Ospero war fast kahl und noch gedrungener. Beide sahen aus, als wären sie Ziemlich betrunken, und die drei leeren Weinflaschen, die auf dem 45 Boden lagen, bestätigten diesen Eindruck. Das war nichts Ungewöhnliches - z'Acatto war meistens betrunken. »Dena dicolla, Casnaras«, grüßte z'Acatto. »Guten Abend, z'Acatto«, erwiderte Anne. »Casnar Ospero.« »Ihr seid früh zurück«, bemerkte z'Acatto. »Ja.« Sie führte diese Tatsache nicht weiter aus. »Wir haben Fisch und Brot mitgebracht«, verkündete Austra fröhlich. »Das ist gut, das ist gut«, sagte der Alte. »Dazu brauchen wir einen Weißen, vielleicht einen Vino Verio.« »Es tut mir Leid«, entgegnete Austra. »Wir hatten kein Geld für Wein.« Ospero grunzte und zog eine silberne Menza hervor. Blinzelnd betrachtete er die Münze, dann warf er sie Austra zu. »Das ist für den Wein, meine hübsche Della.« Er machte eine kurze Pause, um die Mädchen anzüglich zu mustern, dann schüttelte er den Kopf. »Ihr kennt doch den Laden an der Straße des Klammen Mondes? Escerros Geschäft? Sagt ihm, ich habe Euch geschickt. Sagt ihm, dafür kriegt Ihr zwei Flaschen Vino Verio, sonst komme ich und schlage ihm den Schädel ein.« »Aber ich wollte -«, setzte Austra an.
»Geh nur, Austra, ich koche den Fisch«, sagte Anne. Sie mochte Ospero nicht. Er und seine Freunde schienen etwas Unredliches an sich zu haben. Andererseits war es z'Acatto irgendwie gelungen, ihn dazu zu überreden, ihnen die beiden Zimmer eine Woche lang auf Kredit zu vermieten, und er hatte nie mehr getan, als sie lüstern anzustarren. Sie waren auf seine Gunst angewiesen, deshalb hielt sie ihre Zunge im Zaum. Sie ging in die winzige Speisekammer und holte einen Krug mit Olivenöl und einen Beutel Salz. Dann goss sie ein wenig von dem Öl in einen kleinen irdenen Crematro, bestreute den Fisch auf beiden Seiten mit Salz und legte ihn in das Öl. Trübsinnig betrachtete sie ihre Vorbereitungen und wünschte sich zum hundertsten Mal, sie könnten sich zur Abwechslung Butter leisten - oder] überhaupt welche finden. Sie seufzte, legte den Deckel auf den 46 Crematro und trug ihn die Treppe hinunter und dann durch die Innentür im Erdgeschoss in den kleinen Hof, den sich die Bewohner des Hauses teilten. Ein paar Frauen hatten sich um eine Grube mit glühenden Kohlen versammelt. Für ihr Gericht war noch kein Platz, also setzte sie ich auf eine Bank und wartete, musterte abwesend die trostlosen Mauern mit dem bröckelnden Stuckwerk und versuchte sich vorzustellen, dies wäre der Obstgarten im Schloss ihres Vaters. Eine Männerstimme machte diesen Versuch zunichte. »Guten Abend, della.« »Hallo, Cazio«, antwortete sie, ohne sich umzudrehen. »Wie fühlt Ihr Euch heute Abend?« »Müde.« Sie bemerkte, dass jetzt Platz am Feuer war, und erhob sich, um den Crematro hinüberzutragen, doch Cazio trat ihr in den Weg. »Lasst mich das tun«, bat er. Cazio war groß und schlank und nur wenig älter als Anne. Er trug ein dunkelbraunes Wams und scharlachrote Beinkleider. Ein Degen hing in einer zerschrammten Scheide an seiner Seite. Seine dunklen Augen blickten aus einem schmalen, gut geschnittenen Gesicht auf sie herab. »Euer Tag ist nicht gut verlaufen?« »Bestimmt nicht so gut wie Eurer«, gab sie zurück und reichte ihm den Crematro. »Wie meint Ihr das?« »Ich meine, dass Ihr bei der Arbeit, die Ihr Euch ausgesucht habt, gewiss reichlich Gelegenheit bekommt, Euch zu erfrischen.« Er sah sie verwirrt an. »Und versucht bloß nicht, den Schüchternen zu spielen«, herrschte sie ihn an. »Ich habe heute mit Rediana gesprochen. Sie hat mir erzählt, was Ihr getrieben habt.« »Ah .« Er ging zu der Kohlengrube hinüber, stellte den Tontopf m die Asche und scharrte die Kohlen mit einem versengten Stock gegen dessen Seiten. Dann kam er zurück und setzte sich neben sie. »Ihr seid nicht einverstanden damit?« »Es ist mir gleich.« 47 »Es sollte Euch aber nicht gleich sein. Ich tue das für Euch, wisst Ihr noch? Ich versuche, eine Überfahrt für uns zu verdienen, um Euch heimzugeleiten.« »Und doch scheinen wir nicht näher daran, aufzubrechen, als wir es vor einem Monat waren.« »Seereisen sind nicht billig, schon gar nicht, wenn die Fracht geheim bleiben muss. Wo wir gerade davon reden, nehmt Euch ganz besonders in Acht. Es suchen mehr Männer auf den Straßen nach Euch als je zuvor. Ich frage mich nur, ob Ihr wisst, warum.« »Ich habe Euch doch gesagt, ich weiß es nicht.« Das war nicht wirklich gelogen. Sie hatte keine Ahnung, wieso ein Preis auf ihren Kopf ausgesetzt worden war, doch sie dachte bei sich, dass es etwas mit ihrem Stand und mit den Träumen zu tun haben musste, die sie selbst im Wachen heimsuchten. Träume, die von ... anderswoher kamen. »Ich habe Euer Wort für bare Münze genommen«, sagte Cazio, »und das tue ich immer noch. Aber wenn Ihr irgendeinen Verdacht habt...« »Mein Vater ist ein reicher, mächtiger Mann. Das ist der einzige Grund, der mir einfällt.« »Habt Ihr irgendeinen Rivalen, der um seine Gunst buhlt? Vielleicht eine Stiefmutter? Jemand, der es vorziehen würde, Euch nicht zurückkehren zu sehen?« »Ach ja, meine Stiefmutter«, sagte Anne. »Wie konnte ich sie nur vergessen? Einmal hat sie mich mit einem Jäger losgeschickt und ihm befohlen, ihr mein Herz zurückzubringen. Ich wäre des Todes gewesen, hätte der alte Bursche nicht eine Schwäche für mich gehabt. Stattdessen hat er ihr das Herz eines Keilers gebracht. Und dann das eine Mal, wo sie mich zum Wasserholen geschickt und kein Wort über den Nicwer verloren hat, der im Fluss gehaust hat, weil sie gehofft hat, er würde mich verzaubern und mich fressen. Ja, all das hätte mir in meiner derzeitigen Lage als Hinweis dienen sollen, aber ich habe sie wohl nicht verdächtigt, weil mir mein liebes Väterchen versichert hat, sie hätte sich geändert.« 48 »Jetzt seid Ihr sarkastisch, nicht wahr?«, fragte Cazio.
»Das hier ist kein Phay-Märchen, Cazio. Ich habe keine Stiefmutter. Es gibt niemanden in meiner Familie, der mir Böses wünschen würde. Die Feinde meines Vaters mögen es vielleicht tun, aber ich kann nicht genau sagen, wer sie sind. Ich verstehe nicht viel von solchen Ränken.« Cazio zuckte die Schultern. »Nun gut.« Dann erhellte ein Lächeln sein Gesicht. »Ihr seid eifersüchtig«, sagte er. »Was?« »Das habe ich gerade erst begriffen. Ihr denkt, ich schlafe mit Redianas Ladys, und Ihr seid eifersüchtig.« »Ich bin nicht eifersüchtig«, verwahrte sich Anne. »Ich habe bereits einen treuen Liebsten, und das seid nicht Ihr.« »Ach ja, der sagenumwobene Roderick. Ein wunderbarer Mann, habe ich gehört. Ein wahrer Prinz. Ganz sicher hätte er auf Euren Brief geantwortet, wenn er nur noch ein paar Monate länger Zeit gehabt hätte.« »Das hatten wir doch alles schon«, seufzte Anne. »Begleitet, wen immer Ihr wollt, tut mit ihnen, was immer Ihr wollt. Ich bin Euch dankbar für all Eure Hilfe, Cazio, aber -« »Einen Moment.« Cazios Tonfall war jetzt scharf, seine Miene plötzlich sehr ernst. »Was ist denn?« »Euer Vater hat Euch zum Konvent der heiligen Cer geschickt, nicht wahr?« »Eigentlich war es meine Mutter«, verbesserte sie ihn. »Und hat Euer treuer Liebster Roderick gewusst, wo Ihr hinfahrt?« »Es ist alles zu schnell gegangen. Ich habe gedacht, ich fahre nach Cal Azroth, und das habe ich ihm gesagt, und dann hat meine Mutter es sich in derselben Nacht anders überlegt. Es war mir nicht möglich, ihn zu benachrichtigen.« »Er hätte es nicht durch Klatsch und Tratsch erfahren können?« »Nein. Man hat mich heimlich fortgeschickt. Niemand sollte davon wissen.« 49 »Aber dann habt Ihr einen Brief an Euren Geliebten geschickt -einen Brief, den ich selbst dem Cuveitur der Kirche übergeben habe -, und innerhalb von neun Tagen sind die Ritter im Konvent aufgetaucht. Wirkt das für Euch nicht verdächtig?« Wirken tat es - wie ein Zündfunke in Annes Brust. »Ihr geht zu weit, Cazio. Ihr habt Roderick schon öfter schlecht gemacht, aber zu unterstellen ... anzudeuten ...« Stammelnd verstummte sie, zu wütend, um weiterzureden, umso mehr, weil das irgendwie einleuchtend klang, doch das konnte nicht sein, weil Roderick sie liebte. »Die Ritter waren aus Hansa«, sagte sie. »Ich habe ihre Sprache erkannt. Roderick ist aus Hornladh.« Doch im Stillen dachte sie an etwas, das ihre Tante Lesbeth einmal gesagt hatte. Es schien lange her zu sein, doch es war irgendetwas über Rodericks Haus gewesen, dass seine Familie bei Hofe in Ungnade gefallen war, weil sie einst den Anspruch eines Reiksbaurg auf den Thron unterstützt hatte. Nein. Das ist lächerlich. Genau das wollte sie Cazio gerade sagen, als Austra plötzlich in den Hof gestürzt kam. Sie war außer Atem, und ihr Gesicht war hochrot und tränenüberströmt. »Was ist denn los?«, wollte Anne wissen und ergriff Austras Hände. »Es ist schrecklich, Anne.« »Was?« »Ich h-h-habe einen Cuveitur gesehen. Er hat es auf dem Platz verkündet, vor dem Weinladen. Er kam aus - o Anne, was sollen wir nur tun?« »Austra, was ist losl« Ihre Freundin biss sich auf die Lippen und sah ihr in die Augen. »Ich habe furchtbare Neuigkeiten«, flüsterte sie. »Die schlimmsten Neuigkeiten der Welt.« 50 3. Kapitel Der Komponist Leovigild Ackenzal starrte den Speer mit einer Mischung aus Angst und Verdruss an. Die Angst war durchaus berechtigt; die scharfe Spitze der Waffe war nur wenige Zoll von seiner Kehle entfernt, und der Mann, der den Schaft hielt, war groß, trug eine Rüstung und saß auf einem feurigen Ross. Seine eisengrauen Augen erinnerten Leoff an die erbarmungslosen Fluten des Eismeeres, und er hatte den Eindruck, dass dieser Mann, wenn er ihn jetzt tötete, sich am nächsten Morgen nicht einmal mehr an ihn erinnern würde. Auf jeden Fall gab es nichts, was er tun konnte, um den Kerl davon abzuhalten, wenn diesem der Sinn nach Mord stand. Dass er gleichzeitig Verdruss empfand, war wohl ziemlich unsinnig, hatte jedoch in Wahrheit wenig mit dem Gepanzerten zu tun. Tage zuvor - in den Hügeln - hatte er in der Ferne eine schwache Melodie gehört. Ohne Zweifel war es irgendein Schäfer gewesen, der auf einer Rohrflöte gespielt hatte, doch die Tonfolge war ihm seither nicht mehr aus dem Kopf gegangen, umso mehr, da er das Ende nicht mitbekommen hatte. Sein Verstand hatte hundert verschiedene Schlussakkorde ersonnen, doch keiner davon gefiel ihm wirklich. Das war ungewöhnlich. Normalerweise konnte Leoff eine Melodie ohne die geringste Mühe vollenden. Die Tatsache, dass diese sich ihm entzog, machte sie verlockender als eine schöne, geheimnisvolle - aber
widerstrebende - Geliebte. Dann war er heute Morgen mit einer Ahnung erwacht, wie das Ende klingen sollte, doch nach noch nicht einmal einem Glockenschlag auf der Straße war er derart rüde gestört worden. »Ich habe nicht viel Geld«, erklärte Leoff dem Mann wahrheitsgemäß. Seine Stimme zitterte dabei ein wenig. 5i Die harten Augen wurden schmal. »Nein? Und was ist dann das alles da auf Eurem Maultier?« Leoff warf einen Blick auf sein Packtier. »Papier, Tinte, meine Kleider. In dem großen Kasten ist eine Laute, in dem kleineren eine Fiedel. In den ganz kleinen sind verschiedene Holzblasinstrumente.« »Auy? Dann macht sie auf.« »Sie haben keinen Wert für Euch.« »Aufmachen.« Leoff gehorchte, wobei er versuchte, den Blick nicht von dem Mann abzuwenden. Zuerst öffnete er den mit Leder bezogenen Lautenkasten; das Instrument dröhnte leise, als sein gerundeter Klangkörper auf den Boden stieß. Dann packte er die restlichen Instrumente aus: die achtsaitige Fiedel aus Rosenholz mit Perlmuttintarsien, die Mestro DaPeica ihm vor Jahren geschenkt hatte. Eine hölzerne Flöte mit silbernen Klappen, eine Oboe, sechs Flageoletts von verschiedener Größe und ein dunkelrotes Krummhorn. Der Mann sah ihm zu und verzog so gut wie keine Miene. »Ihr seid also ein Barde«, sagte er schließlich. »Nein«, erwiderte Leoff. »Nein, das bin ich nicht.« Er versuchte sich aufzurichten, das Beste aus seiner eher durchschnittlichen Körpergröße zu machen. Ihm war klar, dass seine haselnussbraunen Augen, sein lockiges Haar und das jungenhafte Gesicht nicht sehr bedrohlich wirkten, doch er konnte wenigstens würdevoll auftreten. Der andere zog eine Augenbraue hoch. »Und was genau seid Ihr dann?« »Ich bin Komponist.« »Und was tut ein Komponist?« »Er komponiert Musik.« »Ich verstehe. Und wie unterscheidet sich das von dem, was ein Barde tut?« »Nun ja, zum einen -« »Spielt etwas«, unterbrach ihn der Mann. 52 »Was?« »Ihr habt mich gehört.« Leoff runzelte die Stirn, sein Ärger wuchs. In der Hoffnung, irgendjemanden zu erblicken, schaute er sich um, doch so weit das Auge reichte, zog sich die Straße leer dahin. Und hier in Neuland, wo das Gelände so flach war wie ein Klangbrett, war das wirklich sehr weit. Warum hatte er den Mann auf dem Pferd dann nicht kommen sehen? Doch die Antwort lag in eben jener Melodie, über die er nachgegrübelt hatte. Wenn er Musik in seinem Kopf vernahm, spielte der Rest der Welt einfach keine Rolle. Er hob die Laute auf. Natürlich war sie verstimmt, aber nicht allzu sehr, und es war das Werk eines Augenblicks, dies in Ordnung zu bringen. Er zupfte die Melodie, mit der er sich abgemüht hatte. »Das stimmt nicht«, murmelte er. »Ihr könnt doch spielen, oder?«, wollte der Berittene wissen. »Stört mich nicht«, erwiderte Leoff geistesabwesend und schloss die Augen. Ja, da war es, obwohl ihm der Schluss entgangen war. Er fing wieder an, eine einzelne Tonfolge auf der obersten Saite, die in Dreierschritten höher und dann in Zweierschritten wieder tiefer wurde und dann die Tonleiter hinaufhüpfte. Er fügte eine Bassbegleitung hinzu, doch irgendetwas daran passte nicht. Er hielt inne und begann von neuem. »Das ist aber nicht sehr gut«, bemerkte der Mann. Das war zu viel, Speer hin oder her. Leovigild sah den Fremden an. »Es wäre ziemlich gut, wenn Ihr mich nicht unterbrochen hättet«, erwiderte er. »Ich hatte das hier schon fast im Kopf, versteht Ihr, und dann kommt Ihr mit Eurem langen Riesenspeer und ... Was wollt Ihr überhaupt von mir? Wer seid Ihr?« Vage wurde ihm bewusst, dass seine Stimme nicht mehr zitterte. »Wer seid denn Ihr}«, erkundigte sich der Mann friedfertig. Leoff streckte sich. »Ich bin Leovigild Ackenzal«, verkündete er. 53 »Und warum wollt Ihr nach Eslen?« »Ich habe eine Anstellung am Hofe Seiner Hoheit Williams des Zweiten, als Komponist. Der König hat anscheinend eine höhere Meinung von meiner Musik als Ihr.« Bizarrerweise lächelte der Mann. »Jetzt nicht mehr.« »Was meint Ihr damit?« »Er ist tot, das meine ich damit.« Leoff blinzelte. »Das ... das wusste ich nicht.« »Nun, es stimmt aber. Genau wie die halbe königliche Familie.« Er verlagerte sein Gewicht im Sattel.
»Ackenzal. Der Name klingt hansisch.« »Tut er nicht«, verwahrte sich Leoff. »Mein Vater war aus Herilanz. Ich wurde in Tremar geboren.« Er spitzte die Lippen. »Ihr seid gar kein Wegelagerer, nicht wahr?« »Ich habe nie gesagt, dass ich einer wäre. / haet Artwair.« »Ihr seid ein Ritter, Sir Artwair?« Wieder jene Andeutung eines Lächelns. »Artwair genügt. Habt Ihr ein Schreiben, das Eure Behauptung bestätigt?« »O ja. Ja, das habe ich.« »Ich würde es sehr gern sehen.« Leoff fragte sich zwar, warum Artwair sich um so etwas scheren sollte, wühlte aber trotzdem in seiner Satteltasche, bis er ein Pergament mit dem königlichen Siegel fand. Er reichte es dem Krieger, der es kurz überflog. »Das sieht aus, als wäre es in Ordnung«, sagte er. »Ich bin gerade auf dem Rückweg nach Eslen. Ich werde Euch dorthin geleiten.« Leoff spürte, wie sich seine Halsmuskeln entspannten. »Sehr freundlich von Euch«, erwiderte er. »Tut mir Leid, wenn ich Euch Angst eingejagt habe. Eigentlich hättet Ihr nicht allein reisen sollen - nicht in diesen Zeiten.« Bis zum Mittag hatte sich der Kinderaugen-Himmel des Morgens zu einem bedrückenden Blindgrau getrübt. Dies trug nicht dazu bei, Leoffs Laune zu verbessern. Die Landschaft hatte sich verändert; sie war nicht mehr vollkommen flach, sondern die Straße 54 verlief jetzt neben einer Art Böschung oder Erdwall. Dessen Form war so gleichmäßig, dass es ihm schien, als müsse er von Menschenhand geschaffen worden sein. In der Ferne konnte er ähnliche Wälle sehen. Das Seltsamste waren die Türme, die auf einigen davon standen. Es sah aus, als wären gewaltige Räder an ihnen befestigt worden, jedoch ohne Radkranz, nur vier Speichen, die mit etwas bespannt waren, das wie Segeltuch aussah. Sie drehten sich langsam in der Brise. »Was ist das?«, fragte Leoff und zeigte auf den am nächsten stehenden Turm. »Zum ersten Mal in Neuland, wie? Das ist eine Malend. Der Wind dreht sie.« »Ja, das sehe ich. Zu welchem Zweck?« »Die da pumpt Wasser. Manche sind zum Kornmahlen da.« »Sie pumpt Wasser?« »Auy. Wenn sie das nicht täte, würden wir uns jetzt in der Fischsprache unterhalten.« Sir Artwair deutete mit weit ausholender Geste auf die Landschaft. »Was glaubt Ihr denn, warum man das hier Neuland nennt? Früher lag es unter Wasser. Das wäre jetzt immer noch so, aber die Malenden pumpen das Wasser ständig hinaus.« Er deutete zur Böschung empor. »Das Wasser ist dort oben. Das da ist der große Nordkanal.« »Ich hätte es wissen müssen«, sagte Leoff. »Natürlich habe ich von den Kanälen gehört. Ich wusste, dass Neuland unterhalb des Meeresspiegels liegt. Ich habe nur ... ich habe wohl gedacht, ich wäre noch nicht so weit gekommen. Ich dachte, man würde es irgendwie mehr bemerken.« Er warf seinem Begleiter einen Blick zu. »Macht Euch das manchmal nervös?« Sir Artwair nickte. »Ja, ein bisschen. Trotzdem, es ist ein Wunder, und ein guter Schutz gegen Eindringlinge.« »Wie das?« »Wir können jederzeit das Wasser durch die Deiche lassen, sodass jede Armee, die gegen Eslen marschiert, schwimmen müsste. Eslen selbst liegt hoch und trocken.« »Was ist mit den Leuten, die hier draußen leben?« 55 »Wir würden es ihnen rechtzeitig mitteilen. Jeder hier kennt den Weg zum nächsten sicheren Ort, glaubt mir.« »Wurde das schon einmal gemacht?« »Ja. Viermal.« »Und die Armeen wurden aufgehalten?« »Drei von ihnen. Die vierte wurde von einem Dare angeführt, und dessen Nachfahren sitzen heute in Eslen.« »Was das ... was den König angeht-«, begann Leoff. »Ihr fragt Euch, ob noch jemand da ist, dem Ihr etwas vorsingen könnt, um Euch Euer Brot zu verdienen.« »Darüber mache ich mir auch Gedanken«, gab Leoff zu, »aber ganz offensichtlich habe ich auf meiner Reise eine Menge Neuigkeiten verpasst. Ich bin mir nicht einmal sicher, welches Datum wir haben.« »Wir haben den Temnosenal. Morgen ist der erste Tag des Novmen.« »Dann bin ich schon länger unterwegs, als ich gedacht habe. Ich bin im Seftmen aufgebrochen.« »Genau der Monat, in dem der König getötet wurde.« »Es wäre freundlich ...«, setzte Leoff an. Dann sagte er: »Könntet Ihr mir bitte erzählen, was König William zugestoßen ist?« »Gewiss. Er wurde auf einem Jagdausflug von Meuchelmördern überfallen. Sein gesamtes Gefolge wurde niedergemacht.« »Meuchelmörder? Von woher?«
»Seepiraten, heißt es. Es war in der Nähe der Landzunge von Aenah.« »Und andere Mitglieder des königlichen Hauses sind mit ihm umgekommen?« »Prinz Robert, sein Bruder, wurde ebenfalls getötet. Die Prinzessinnen Fastia und Elseny sind in Cal Azroth ermordet worden.« »Das kenne ich nicht«, sagte Leoff. »Ist das in der Nähe des Ortes, wo der König getötet wurde?« »Ganz und gar nicht. Es ist mehr als fünf harte Tagesritte entfernt.« »Das scheint mir aber ein seltsamer Zufall zu sein.« 56 »Ja, nicht wahr? Trotzdem ist es so, und denen, die etwas anderes andeuten, ergeht es übel.« »Ich verstehe«, erwiderte Leoff. »Könnt Ihr mir dann sagen - wer regiert jetzt in Eslen?« Artwair lachte leise in sich hinein. »Das kommt ganz darauf an, wen man fragt. Es gibt einen König - Charles, Williams Sohn. Aber der ist, wie es heißt, von den Heiligen berührt. Man muss ihn beraten, und Rat steht ihm reichlich zur Verfügung. Die Edlen des Comven geizen nicht damit, und zwar bei jeder Gelegenheit. Auch der Praifec der Kirche hat eine Menge zu sagen. Und dann ist da noch Williams Witwe, Charles' Mutter.« »Muriele Dare.« »Ah, etwas zumindest wisst Ihr also«, stellte Artwair fest. »Ja, wenn man einen Menschen benennen sollte, von dem man sagen kann, dass er in Crothenien regiert, dann wäre sie die beste Wahl.« »Ich verstehe«, erwiderte Leoff. »Ihr sagt, Ihr macht Euch Sorgen wegen Eurer Stellung?«, wollte der Ritter wissen. »Sind Posten für Euresgleichen rar?« »Es gibt noch andere Dienstherren, die mich nehmen würden«, gab Leoff zu. »Ich bin nicht ganz unbekannt. Zuletzt habe ich dem Grefft von Glastir gedient. Trotzdem, eine Stellung am Königshof ...« Er blickte zu Boden. »Aber das ist nur eine Kleinigkeit, nicht wahr, bei all diesem Durcheinander?« »Wenigstens habt Ihr ein wenig Verstand, Komponist. Aber verzagt nicht, vielleicht bekommt Ihr Euren Posten ja noch - die Königin könnte die Abmachung einhalten. Dann seid Ihr mittendrin, wenn der Krieg losgeht.« »Krieg? Krieg gegen wen?« »Gegen Hansa - oder Liery. Oder vielleicht auch ein Bürgerkrieg.« »Treibt Ihr Scherze mit mir?« Artwair zuckte die Achseln. »Ich habe ein Gefühl für solche Dinge. Alles ist Chaos, und normalerweise bedarf es eines Krieges, um alles wieder ins Lot zu bringen.« »Beim heiligen Bright, hoffentlich nicht.« 57 »Ihr mögt keine Marschgesänge?« »Ich kenne keine. Könnt Ihr mir welche vorsingen?« »Singen, ich? Wenn Euer Maultier zum Schlachtross wird.« »Nun ja.« Leoff seufzte. »Es war auch nur so eine Idee.« Eine Weile ritten sie schweigend dahin, und als der Abend heranrückte, erhob sich Nebel, von der sinkenden Sonne rosig gefärbt. Das Muhen von Vieh ertönte in der Ferne. Die Luft roch nach trockenem Heu und Rosmarin, und die Brise war kalt. »Erreichen wir Eslen noch heute Abend?«, wollte Leoff wissen. »Nur wenn wir die ganze Nacht reiten, wozu ich keine große Lust habe«, antwortete Sir Artwair. Er schien nicht bei der Sache zu sein, als suche er nach etwas. »Dort, wo die Straße hier oben den Kanal kreuzt, liegt eine Stadt. Da kenne ich ein Gasthaus. Wir nehmen uns ein Zimmer, und wenn wir früh aufbrechen, sind wir morgen Mittag in Eslen.« »Stimmt irgendetwas nicht?« Artwair zuckte die Schultern. »Ich habe ein mulmiges Gefühl. Wahrscheinlich ist es nichts weiter, wie in Eurem Falle.« »Habt Ihr nach etwas Bestimmtem Ausschau gehalten, als wir uns begegnet sind?« »Nach nichts Bestimmtem und nach allem, was fehl am Platze ist. Ihr wart fehl am Platze.« »Und was ist jetzt fehl am Platze?« »Habe ich gesagt, irgendetwas wäre fehl am Platze?« »Nein, aber irgendetwas ist nicht in Ordnung - man sieht es Eurem Gesicht an.« »Und was versteht ein Barde von meinem Gesicht?« Leoff kratzte sich am Kinn. »Ich habe Euch doch gesagt, ich bin kein Barde. Ich bin Komponist. Ihr habt gefragt, wo da der Unterschied ist. Ein Barde zieht von Ort zu Ort, verkauft Lieder, spielt bei Tanzfesten auf dem Lande, solche Sachen.« »Und Ihr tut es für Könige.« »Das ist nicht alles. Seid Ihr von hier? Wart Ihr bei Tanzfesten?« »Auy.« 58 »Barden reisen manchmal in Gruppen bis zu vier Mann. Zwei spielen die Fiedel, einer die Rohrflöte, und ein anderer schlägt die Handtrommel und singt.« »Bis jetzt kann ich Euch folgen.« »Es gibt da ein Lied - Die schöne Maid von Dalwis. Kennt Ihr es?«
Artwair sah ein wenig verblüfft aus. »Gewiss. Das ist beim Fiussanal immer sehr beliebt.« »Stellt es Euch vor. Eine Fiedel spielt die Melodie, die zweite kommt dazu und spielt dasselbe Lied, fängt aber ein bisschen später an, sodass es einen Kanon gibt. Dann kommt der Dritte dazu, und schließlich der Sänger. Vier Stimmen insgesamt, und jede kontrapunktisch zu den anderen.« »Kontrapunkte kenne ich nicht, aber ich kenne das Lied.« »Gut. Und jetzt stellt Euch zehn Fiedeln vor, zwei Rohrflöten, eine Oboe, eine Flöte und ein Hörn, und jedes Instrument spielt etwas anderes.« »Das dürfte sich anhören wie ein ganzer Hof voller Viehzeug, würde ich denken.« »Nicht, wenn es richtig geschrieben ist und die Musikanten ihre Sache gut machen. Nicht, wenn alles an seinem Platz ist. Ich kann ein solches Stück hören, in meinem Kopf. Ich kann es mir vorstellen, noch ehe es jemals gespielt worden ist. Ich habe einen sehr feinen Sinn für solche Sachen, Sir Artwair, und ich kann sehen, wenn es jemand anderem ebenso geht, ob es nun mit Musik zu tun hat oder nicht. Irgendetwas macht Euch zu schaffen. Die Frage ist nur, wisst Ihr, was es ist?« Der Ritter schüttelte den Kopf. »Ihr seid ein seltsamer Mann, Leovigild Ackenzal. Aber, ja - diese Stadt, von der ich eben gesprochen habe, Broogh - sie liegt genau vor uns. Aber was hört Ihr, mit Euren Musikantenohren?« Leoff konzentrierte sich einen Moment lang. »Schafsgeblök, weit weg. Kühe. Amseln.« »Richtig. Inzwischen sollten wir Kinder schreien und Frauen nach ihren Männern keifen hören, dass die vom Bier lassen und 59 nach Hause kommen sollen. Wir sollten Glocken und Hörner in den Feldern hören, sollten die Arbeiter hören. Aber nichts dergleichen.« Er schnüffelte. »Es riecht auch nicht nach Gekochtem, und der Wind weht uns entgegen.« »Was kann das bedeuten?« »Ich weiß es nicht. Aber ich glaube, wir werden nicht auf der Hauptstraße in die Stadt reiten.« Er neigte den Kopf leicht zur Seite. »Wie nützlich seid Ihr, wenn es Ärger gibt? Könnt Ihr mit einem Schwert umgehen oder mit dem Speer?« »Ihr Heiligen, nein.« »Dann wartet Ihr hier, in der Malend. Sagt dem Windschmied, Artwair bittet darum, dass er einen Glockenschlag lang auf Euch aufpasst.« »Glaubt Ihr denn, es ist so ernst?« »Wieso sollte eine ganze Stadt verstummen?« Leoff fielen mehrere Gründe ein, alle unheilvoll. »Wie Ihr meint«, seufzte er. »Ich wäre nur im Weg, wenn es Schwierigkeiten gibt.« Nachdem er die Deichkrone erklommen hatte, blieb Leoff einen Augenblick lang stehen und staunte, wie ein paar Fuß Höhe Neuland verwandelten. Nebel sammelte sich wie Wolken in den tief liegenden Gefilden, doch von seinem erhöhten Aussichtspunkt aus konnte er ferne Kanäle erkennen, die die Landschaft durchkreuzten, korallenartige Bänder, die aussahen, als hätten die Heiligen selbst sie aus dem dämmrigen Himmel geschnitten und auf jenen bernsteinfarbenen Feldern ausgebreitet. Hier und dort konnte er sogar sich bewegende Punkte ausmachen - das mussten Boote sein. Auch Lichter begannen jetzt aufzublinken, blasse Schwärme aus Helligkeit, so bleich, dass es sich eher um die flüchtigen Behausungen des Wunderlichen Volkes handeln mochte als um das, was sie zweifellos waren: die von Kerzen erhellten Fenster ferner Städte und Dörfer. Zu seinen Füßen lag der gewaltige Kanal, breiter als so mancher 60 Fluss - doch es musste in der Tat ein Fluss sein, vielleicht der Taufluss, der hier zwischen von Menschenhand errichteten Mauern gefangen war und durch Findigkeit dort festgehalten wurde. Es war fürwahr ein Wunder. Schließlich betrachtete er die Malend und überlegte, wie sie wohl funktionierte. Das Rad drehte sich in der Brise, doch er konnte nicht erkennen, wie dies das Wasser davon abhielt, das Land unter ihm zu ertränken. Es quietschte leise, während es sich drehte, ein anheimelndes Geräusch. Ein freundliches gelbes Licht fiel durch die offene Tür der Malend, und der Geruch von brennendem Holz und bratendem Fisch drang heraus. Leoff stieg von seinem Maultier und klopfte an die Tür. »Auy? Wer ist da?«, fragte eine helle Tenorstimme. Einen Augenblick später erschien ein Gesicht, ein kleiner Mann mit weißem Haar, das in alle Richtungen abstand. Durch das Alter schien sein Gesicht in sich zusammengesunken zu sein, so runzlig war es. Seine Augen jedoch leuchteten, ein helles Blau, wie in Leder gefasste Lapissteine. »Mein Name ist Leovigild Ackenzal«, antwortete Leoff. »Artwair hat gesagt, ich soll fragen, ob ich freundlicherweise einen Glockenschlag lang hier warten darf.« »Artwair, wie?« Der alte Mann kratzte sich am Kinn. »Auy, wilquamen. I haet Gilmer Oercsun. Fühlt Euch bei mir wie zu Hause.« Er vollführte eine etwas ungeduldige Geste. »Das ist sehr freundlich«, antwortete Leoff. Drinnen war das unterste Geschoss der Malend ein einziger gemütlicher Raum. Ein Herd, in dem ein Kochfeuer prasselte, war an der einen Wand errichtet worden. Ein eiserner Topf hing darüber, neben einem Spieß, an dem
zwei große Flussbarsche steckten. An der gegenüberliegenden Wand befand sich ein kleines Bett, und zwei dreibeinige Hocker standen näher am Feuer. Von den Dachbalken hingen Netze voller Zwiebeln, ein paar Kräuterbündel, ein Weidenkorb, ein paar Grasmesser, Hacken und Beile herab. Eine Leiter führte zum nächsten Stock hinauf. 61 In der Mitte des Raumes hob und senkte sich ein hölzerner Schaft in einem mit Steinen ummauerten Loch im Boden. Wahrscheinlich wurde er irgendwie von dem Windrad hoch über ihnen angetrieben. »Ladet doch Eu'r arm's Maultier ab«, sagte der Windschmied. »Haveth-yus huher?« »Verzeihung?« Artwairs Dialekt hatte sonderbar geklungen. Der des Windschmieds war nahezu unverständlich. »'r seid ein Fr'md'r, wie?« Der Mann sprach ein wenig langsamer. »Seltsamen Akzent habt 'r. Ich werde versuchen, mich an die Sprache des Königs zu halten. Also. Habt Ihr schon gegessen? Habt 'r hungrig?« »Ich will Euch keine Umstände machen«, beteuerte Leoff. »Mein Freund kommt bestimmt bald zurück.« »Das heißt, 'r habt hungrig«, entschied der Alte. Leoff ging hinaus und lud seine Habseligkeiten von seiner Maultierstute ab, dann ließ er sie auf der Deichkrone laufen. Er wusste aus Erfahrung, dass sie sich nicht weit entfernen würde. Als er wieder in die Malend trat, stellte er fest, dass einer der Fische ihn auf einem Holzteller erwartete, zusammen mit einem Stück Schwarzbrot und gekochter Gerste. Der Windschmied saß bereits auf einem der Hocker, seinen Teller auf den Knien. »Ich habe gerade keinen Tisch«, entschuldigte er sich. »Musste ihn verbr'nnen. In den letzten Wochen war's Holz knapp.« »Habt noch einmal vielen Dank für Eure Freundlichkeit«, sagte Leoff und stocherte an der knusprigen Haut des Fisches herum. »Ach wo, keine Ursache. Aber wo ist Artwair hingang', wo 'r nicht hinkönnt?« »Er fürchtet, dass in Broogh irgendetwas nicht stimmt.« »Hm. War heut Abend still dort, das stimmt. Hab mich schon gewund'rt.« Er runzelte die Stirn. »Kommt mir vor, als hätt ich auch die Vesp'rglocke nicht gehört.« Wenn dies Gilmer zu weiteren Gedanken verleitete, so teilte er sie Leoff nicht mit, sondern machte sich über sein Essen her. Der Komponist folgte seinem Beispiel. 62 Als das Mahl beendet war, warf Gilmer die Gräten ins Feuer. »Woher kommt 'r denn?«, fragte er. »Aus Glastir, an der Küste«, antwortete Leoff. »Das ist weit von hier, auy? Und woher kennt 'r Artwair?« »Ich bin ihm unterwegs begegnet. Er begleitet mich nach Eslen.« »Oh, 'r geht zu Hofe? Dunkle Zeiten dort, seit der Nacht des Purpurmondes. Dunkle Zeiten allüberall.« »Ich habe den Mond damals gesehen«, sagte Leoff. »Sehr merkwürdig. Das hat mich an ein Lied erinnert.« »Bestimmt ein ungut's Lied, da wette ich.« »Ein altes, und sehr rätselhaft.« »Singt 'r ein wenig davon?« »Ah, na schön ...« Leoff räusperte sich. Riciar ritt über die Wiesen grün An der westlichen Berge Fuße Dort sah er eine bleiche Königin Die in den Lilien pflegte der Muße Ihre Arme glänzten wie Vollmondschein Ihre Augen wie Tau so klar An ihrem Kleid klangen Glöcklein klein Sie trug Diamanten im Haar Gegrüßt, 0 mein' hehre Königin Seid mir gegrüßt, rief er laut Denn Ihr müsst der Heiligen Größte sein Die jemals ein Mensch hat geschaut Wahrlich, sprach sie, keine Heil'ge ich bin Keine Göttin leuchtend und hell 'S der Albenlande Königin Die heut Abend Ihr seht hier zur Stell' 63 O Riciar, willkommen in meinem Gefild Am Fuße der Berge im Westen Kommt her und ruhet gemeinsam mit mir Seid Ihr doch der Sterblichen Bester Und der Wunder drei will ich zeigen Euch Und was die Zukunft wird bringen Und meinen Wein teil ich mit Euch Meine Arme Euch werden umschlingen Und unterm westlichen Himmelsdach Offenbarte drei Wunder sie ihm Und ganz allmählich schenkte danach Zu schau'n sie der Alben Aug' ihm O Riciar, verweilt eine Weile bei mir Bleibt ein Zeitalter oder zweie Lasst die Lande des Schicksals, weit von hier Schlaft bei Eibe, Esche und Weiher Hier ist mein Tor aus Nebel und Grund Dahinter mein herrliches Reich Von allen Rittern im Erdenrund Seid Ihr stets willkommen dort gleich
Ich gehe nicht mit Euch, Königin hehr Ich werde das Tor nicht durchschreiten Sondern heimkehren zu meinem Lehnsherrn Ins Schicksalsland werde ich reiten Wenn Ihr nicht bei mir bleiben wollt Wenn Abschied ich nehmen muss So bitt ich, auf dass ich nicht vergessen sollt Euch um einen einzigen Kuss 64 So beugte er sich, sie zu küssen, herab An der westlichen Berge Fuß Ein Messer sie zog wohl aus ihrem Haar Und stach's ihm durch Herz und Brust Zu seiner Mutter Haus ritt er zurück Hell entströmte das Blut seinem Herzen Mein Sohn, mein Sohn, du bist so bleich Was fügte dir zu solche Schmerzen* O Mutter, ich bin verwundet schwer Und sterben werd ich noch heut Doch künden muss ich dir, was ich geseh'n Ehe ich fortging so weit Eine Purpursichel die Sterne wird mäh'n Laut schmettern ein fremdes Hörn Wo Königsblut den Boden tränkt Dort rankt der schwarze Dorn. Leoff beendete das Lied. Gilmer lauschte mit offenkundigem Entzücken. »'r habt eine schöne Stimme«, meinte der Alte. »Ich weiß nichts von diesem Riciar, aber alles, was 'r sagt, ist eingetroffen.« »Wie das?« »Die Purpursichel - das war der Sichelmond, der letzten Monat aufgegangen ist, wie 'r gesagt habt. Und ein Hörn ist geblasen worden - 's wurd' allüberall gehört. In Eslen, an der Bucht, draußen auf den Inseln. Und Königsblut ist vergossen worden, und dann die Schwarzdornen.« » Schwarzdornen ?« »Auy. 'r habt's nicht gehört? Sie sind zuerst in Cal Azroth gewachsen, wo die beiden Prinzessinnen erschlagen wurden. Sind direkt aus ihrem Blut gesprossen, sagt man, genau wie in Eurem Lied. Sind so schnell gewachsen, dass sie die Burg dort niederge65 rissen haben, und sie wuchern immer noch, 's heißt, der Königswald ist auch voll davon.« »Davon habe ich überhaupt nichts gehört«, sagte Leoff. »Ich war unterwegs, von Glastir.« »Gewiss sind die Neuigkeiten doch auf der Straße gereist«, wandte Gilmer ein. »Wie haben sie Euch verfehlt?« Leoff zuckte die Achseln. »Ich bin mit einer Sefry-Gruppe gereist, und die haben nur sehr wenig mit mir geredet. Die letzte Woche war ich allein unterwegs, aber ich war wohl in Gedanken.« »In Gedanken? Wo das Ende der Welt kommt und all das?« »Ende der Welt?« Gilmer senkte die Stimme. »Bei allen Heiligen, Mann, habt 'r denn gar keine Ahnung? Der Dornenkönig ist erwacht. Das sind seine Dornenranken, die's Land verschlingen. Das war sein Hörn, das Ihr habt schmettern hören.« Leoff strich sich übers Kinn. »Dornenkönig?« »Ein alter Dämon aus dem Wald. Der letzte der bösen Alten Götter, heißt's.« »Ich habe noch nie ... nein, wartet, da gibt es doch ein Lied über ihn.« »'r steckt bis obenhin voller Lieder.« Leoff zuckte die Achseln. »Man könnte sagen, Lieder sind mein Gewerbe.« »'r seid ein Barde?« Leoff seufzte und lächelte. »So etwas Ähnliches. Ich nehme alte Lieder und mache neue daraus.« »Also ein Liederschmied. Ein Schmied wie ich.« »Ja, das kommt schon eher hin.« »Nun, wenn's ein Lied über den Dornenkönig ist, so will ich's nicht hören. Er wird uns noch früh genug alle töten. Kein Grund, sich Gedanken um ihn zu machen, bevor's so weit ist.« Leoff war sich nicht sicher, wie er darauf reagieren sollte, doch er war überzeugt, dass Artwair es wahrscheinlich erwähnt hätte, wenn das Ende der Welt bevorstünde. »Schön«, antwortete er und zeigte nach oben. »Darf ich fragen, wie das funktioniert?« 66 Gilmers Miene hellte sich auf. »'r habt doch das Saglwic draußen gesehen, auy? Der Wind dreht's, sodass sich da oben eine Achse dreht.« Er zeigte zum Dach hinauf. »Dann übertragen hölzerne Zapfen und Zahnräder dieses Drehen und heben und senken diesen Schaft. Der treibt die Pumpe da unten an. Ich kann's Euch morgen zeigen.« »Das ist sehr nett von Euch, aber morgen werde ich nicht mehr hier sein.« »Vielleicht doch. Artwair hatte genug Zeit, um zweimal nach Broogh zu reiten und zurückzukommen, also muss irgendetwas ihn dort aufgehalten haben. Und ich brauche meinen Schlaf. Und so, wie die Kuvolde an Euren Lidern zupfen, würde ich sagen, Euch geht's genauso.« »Ich bin ziemlich müde«, stellte Leoff fest. »'r könnt gern bleiben, bis Artwair zurückkommt, wie ich gesagt habe, 's gibt noch ein zweites Bett für solche Zwecke, oben im nächsten Stock. Nehmt's, wenn 'r mögt.« »Ich glaube, das tue ich wirklich, und wenn nur für ein kleines Nickerchen.« Er stieg die Leiter zum ersten Stock empor und fand das Bett, direkt unter einem Fenster. Es war jetzt völlig
dunkel, doch der Mond war hervorgekommen, und ungefähr eine halbe Meile kanalaufwärts erblickte er eine Ansammlung hausförmiger Schatten, eine Mauer und vier Türme von unterschiedlicher Höhe. Das musste Broogh sein. Allerdings war keinerlei Licht zu sehen, nicht einmal so viel wie das, was er in den weit entfernten - und wahrscheinlich deutlich kleineren - Dörfern hatte erkennen können. Mit einem Seufzer streckte er sich auf der derben Matratze aus und lauschte dem Gesang der Wolfsschwingen und Nachtfalken, müde, aber nicht schläfrig. Über sich konnte er die Zahnräder klappern und klacken hören, von denen Gilmer gesprochen hatte, und ganz in der Nähe das Tröpfeln von Wasser. Das Ende der Welt, wie? Das traf sich ja mal wieder famos. Im Alter von zweiunddreißig hatte er eine Stellung am Königshof ergattert, und das Ende der Welt stand kurz bevor. 67 Wenn er überhaupt noch eine Stellung am Königshof hatte. Seine Überlegungen zu diesem Problem wurden durch die plötzlichen gehauchten Töne einer Flöte unterbrochen. Sie klangen so klar und schön, dass sie durchaus hätten echt sein können, doch er hatte lange genug mit seiner Begabung gelebt, um zu wissen, dass sie in seinem Kopf ertönten. Eine Melodie begann, und er lächelte, während sich sein Körper entspannte und sein Verstand zu arbeiten begann. Die Malend lehrte ihn ihr Lied. Es kam leicht zu ihm, zuerst die Altflöte, der Wind, der von Osten kam, über die grünen Ebenen. Und jetzt die Trommel, als das Rad - das Saglwic? - sich zu drehen begann, und Fiedeln - hier gezupft anstatt gestrichen fingen an, die Melodie gemeinsam mit der Flöte zu spielen. Dann fielen die tiefen Töne der Bassgeigen ein, die gewaltigen Fluten unter der Erde antworteten, aber natürlich war es immer noch eine Melodie - und nun strömte Wasser in den Kanal, ein fröhliches Rieseln auf einem Flageolett, als die Malend zu einer Einheit aus Luft, Erde, Wasser und Handwerkskunst wurde. Jetzt begannen die Variationen; jedes Element bekam sein eigenes Thema - die Erde ein behäbiger Tanz der tiefen Instrumente, die Flöten jedoch ein verrücktes, fröhliches Springen, und die Saiteninstrumente strichen gebrochene Akkorde, fast schon ineinander verschliffen ... Er blinzelte. Seine Kerze war ausgegangen, und es war stockfinster. Wann war das denn passiert? Doch das Concerto war fertig, konnte zu Papier gebracht werden. Anders als die Melodie in den Hügeln war der Tanz der Malend als Ganzes zu ihm gekommen. Vielleicht lag es daran, dass ihm erst jetzt klar wurde, dass jemand in dem Raum unter ihm war und redete. Zwei Stimmen, und keine von beiden gehörte Gilmer Oercsun. »... verstehe nicht, warum ausgerechnet wir das erledigen sollen«, sagte die eine Stimme. Es war ein Tenor, ziemlich kratzig. »Beklag dich nicht«, antwortete eine andere, diese ein dröhnen68 der Bariton. »Beklag dich vor allem nicht, wenn er in der Nähe ist.« »Es ist nur, ich wollte es sehen«, erwiderte die erste Stimme. »Willst du denn nicht dabei sein, wenn sie den Deich durchstechen und das ganze Wasser daraus hervorbricht?« »Du wirst es sehen«, beschwichtigte der Bariton. »Du wirst es genau genug zu sehen kriegen. Kannst von Glück sagen, wenn du nicht darin schwimmen musst.« »Ja, du hast wohl Recht. Trotzdem.« Ein fröhlicher Unter ton kroch in die Stimme des Tenors. »Aber wird das nicht lustig, im Boot über all das da unten drüberzurudern? Über die Hausdächer? Ich werde direkt über ... wie heißt die Stadt noch mal?« »Wo das Mädchen gesagt hat, du hättest eine Nase wie ein Schildkrötenstängel ?« »Genau.« »Reckhaem.« »Stimmt. He, ein Schildkrötenstängel ist das Beste, was die von heute Nacht an noch kriegen wird.« »Immer noch besser als deiner, nach allem, was ich gehört habe«, bemerkte der Bariton. »Jetzt lass uns zusehen, dass wir hier fertig werden. Vor dem Morgengrauen müssen wir auf einer Strecke von vier Meilen jede Malend niederbrennen.« »Ja, aber warum?« »Damit sie das Wasser nicht wieder zurückpumpen können, du blöder Sceat. Jetzt komm schon.« Niederbrennen? Leoffs Herz vollführte rasche Tanzschritte. Der Kopf der Treppe wurde plötzlich sichtbar, ein orangerotes Rechteck, und er roch brennendes Öl. 69 4. Kapitel Der Praifec Aspar White rang nach Atem, doch ihm war, als habe sich eine riesige Hand um seine Kehle geschlossen. »Sceat, das kann nicht richtig sein«, brachte er mühsam hervor. »Winna -« Winna verdrehte die blauen Augen und schüttelte ihre honigblonden Locken. »Sei still, Aspar«, mahnte sie. »Stell dich nicht so an. Hast du denn noch nie einen Farling-Kragen getragen?« »Ich habe überhaupt noch nie irgendwelche Kragen getragen«, knurrte Aspar. »Wozu auch?«
»Weil du hier in Eslen bist, im königlichen Palast, und nicht auf irgendeiner Heide in den Hochlanden herumstrolchst, und weil du noch vor dem nächsten Glockenschlag Seiner Exzellenz, dem Praifec von ganz Crothenien, gegenübertreten wirst. Dafür musst du richtig angezogen sein.« »Aber ich bin doch bloß ein Waldhüter«, beschwerte er sich. »Lass mich doch wie einer angezogen sein.« »Du hast den Schwarzen Warg und seine Banditenbande getötet, ganz allein, mit nichts als deinem Bogen, deiner Axt und deinem Dolch. Du hast gegen einen Gryffin gekämpft und überlebt. Willst du mir erzählen, du fürchtest dich davor, ganz simple Hofkleidung zu tragen?« »Das Zeug ist nicht simpel. Ich sehe blöd aus, und ich kriege keine Luft.« »Du hast dich noch gar nicht gesehen, und wenn du genug Luft bekommst, um so zu quengeln, dann würde ich sagen, dir fehlt nichts. Und jetzt komm zum Spiegel.« Er zog die Augenbrauen hoch. Auf Winnas jungem Gesicht lag ein breites Lächeln. Ihr Haar wurde von einer Art schwarzem Netz gehalten, und sie trug ein blaues Kleid, dessen Mieder seiner Meinung nach viel zu tief ausgeschnitten war. Nicht dass der An70 blick nicht erfreulich gewesen wäre, aber er würde auch jeden anderen Mann erfreuen. »Nun, du siehst zumindest - äh - hübsch aus«, stellte er fest. »Gewiss. Und du auch. Siehst du?« Sie drehte ihn zum Spiegel herum. Nun ja, sein Gesicht erkannte er wieder, auch wenn es glatt rasiert war. Dunkel von der Sonne, vernarbt und verwittert von einundvierzig hart gelebten Jahren, war es vielleicht nicht hübsch, doch es war die Sorte Gesicht, wie ein Waldhüter des Königs es haben sollte. Vom Hals abwärts war er ein Fremder. Der enge, steife Kragen war lediglich das Unbequemste an einem Wams aus einem bunt gemusterten Stoff, der eher als Teppich oder Vorhang hätte dienen sollen. Darunter fühlten sich seine Beine irgendwie nackt an, wie sie so in engen grünen Beinkleidern steckten. Er kam sich vor wie ein kandierter Apfel auf einem Stiel. »Wer ist bloß auf die Idee gekommen, jemanden so anzuziehen?« Er schnaubte. »Es ist, als hätte irgendeine Verrückte sich bemüht, sich den lächerlichsten Aufzug auszudenken, den man sich nur vorstellen kann, und bei Grims Auge, das ist ihr auch gelungen.« »Verrückte?«, fragte Winna. »Ja, also, kein Mann würde jemals auf so ein Gauklergewand verfallen. Das muss irgendein gemeiner Trick gewesen sein. Oder eine Wette.« »Du gehörst lange genug zum Hof, um es besser zu wissen«, sagte Winna. »Die Männer hier lieben ihr Prachtgefieder.« »Stimmt«, gab er zu. »Und ich bin auch verdammt noch mal bereit, von hier zu verschwinden.« Ihre Augen wurden ein wenig schmaler, und sie hob anklagend den Zeigefinger. »Du bist nervös, weil du dem Praifec vorgestellt wirst.« »Bin ich nicht«, fuhr er auf. »Bist du doch! Ein nervöses kleines Quengelkind!« »Ich habe eben nie besonders viel mit der Kirche zu tun gehabt, 7i das ist alles«, brummte er. »Außer dass ich ein paar von ihren Mönchen getötet habe.« »Geächtete Mönche«, erinnerte sie ihn. »Du wirst das wunderbar machen, gib dir bloß Mühe, nicht zu fluchen mit anderen Worten, versuch, überhaupt nichts zu sagen. Überlass das Reden Stephen.« »O ja, das wird eine große Hilfe sein«, murmelte Aspar sarkastisch. »Der ist der Inbegriff des Takts.« »Er ist ein Mann der Kirche«, entgegnete Winna. »Bestimmt versteht er mehr davon, mit einem Praifec zu sprechen, als du.« Ein scharfes kleines Lachen von der Tür her folgte auf ihre Worte. Aspar schaute hinüber und sah, dass Stephen eingetreten war und im Türrahmen lehnte; er war fast genauso gekleidet wie Aspar selbst, schien sich jedoch bedeutend wohler zu fühlen. Sein Mund war zu einem Lächeln verzogen, und sein braunes Haar war auf eine Weise nach hinten gekämmt, die der höfischen Mode recht nahe kam. »Ich war ein Mann der Kirche«, bemerkte Stephen. »Ehe ich mich der Ketzerei schuldig gemacht habe, meinem Fratrex gegenüber ungehorsam war, seinen Tod verschuldet habe und aus meinem Kloster geflohen bin. Ich bezweifle sehr, dass Seine Exzellenz der Praifec viel Gutes zu mir sagen wird.« »Höchstwahrscheinlich«, pflichtete Aspar ihm bei, »endet diese Begegnung für uns in einem Kerker.« »Nun«, stellte Winna gesittet fest, »wenigstens sind wir dann gut angezogen.« Praifec Marche Hespero war ein hoch gewachsener Mann in mittleren Jahren. Er hatte ein schmales Gesicht, das durch einen kleinen Kinn- und einen Schnurrbart noch schärfer wirkte. Seine schwarze Robe umhüllte den dazu passenden Körper - dünn, fast vogelartig. Auch seine Augen waren wie die eines Vogels, dachte Aspar - wie Falken- oder Adleraugen. Er empfing sie in einem düsteren, kargen Gemach mit grauen Steinwänden und niedriger Balkendecke. In der üppigen Pracht des Palastes von Eslen wirkte dieser Raum völlig fehl am Platz. 72 Der Praifec thronte in einem Lehnstuhl hinter einem großen Tisch. Zu seiner Linken saß ein dunkelhäutiger
Knabe von vielleicht sechzehn Wintern, der in seinen bäuerlichen Kleidern mindestens ebenso unbehaglich aussah, wie Aspar sich fühlte. Abgesehen davon waren Aspar, Winna und Stephen die Einzigen im Raum. »Bitte, setzt Euch doch«, sagte der Praifec freundlich. Aspar wartete, bis Stephen und Winna auf ihren Stühlen Platz genommen hatten, und ließ sich dann auf dem nieder, der noch übrig war. Grim mochte wissen, ob es der richtige war. Wenn es überhaupt einen richtigen gab. Die Sache mit den Löffeln bei dem Bankett vor einer Woche war ihm immer noch unangenehm. Wer brauchte denn mehr als eine Sorte Löffel? Als sie sich gesetzt hatten, erhob sich der Praifec und verschränkte die Hände auf dem Rücken. Er sah Aspar an. »Aspar White«, sagte er mit leiser Stimme, so weich wie der Stoff, aus dem Winnas Kleid war. »Ihr seid seit vielen Jahren der Waldhüter des Königs.« »Mehr Jahre, als ich mich erinnern kann, Euer Exzellenz.« Der Praifec lächelte flüchtig. »Ja, die Jahre sind uns dicht auf den Fersen, nicht wahr? Ich schätze, Ihr seid ein Mann von ungefähr vierzig Wintern. Es ist schon eine Weile her, dass ich in diesem Alter war.« Er zuckte die Schultern. »Was wir an Ansehnlichkeit verlieren, gewinnen wir hoffentlich an Weisheit.« »Ja, Euer Exzellenz.« »Alles in allem war Eure Laufbahn bis jetzt wahrlich bemerkenswert. Seid Ihr wirklich ganz allein mit diesem Schwarzen Warg fertig geworden?« Aspar rutschte unbehaglich hin und her. »Das ist ein bisschen aufgebauscht worden.« »Ah«, sagte der Praifec. »Und diese Sache mit dem Relister?« »Der hatte noch nie gegen einen Mann mit Axt und Dolch gekämpft, Exzellenz. Seine Rüstung hat ihn behindert.« »Ja, gewiss.« Er warf einen Blick auf ein Blatt Papier auf dem Tisch. »Ich sehe hier auch ein paar Klagen. Wie war das mit dem Grefft von Ashwis?« 73 »Das war ein Missverständnis«, erwiderte Aspar. »Seine Lordschaft war betrunken und hat sich mit einer Fackel am Wald zu schaffen gemacht.« »Habt Ihr ihn wirklich gefesselt und geknebelt?« »Der König hat sich meinem Standpunkt angeschlossen, Mylord.« »Ja, letzten Endes schon. Aber da war doch diese Angelegenheit mit Lady Esteiren?« Aspar versteifte sich. »Die Lady wollte mich als Führer für eine Lustreise, Euer Exzellenz, was keinesfalls zu meinen Pflichten gehört. Ich habe mich bemüht, höflich zu sein.« »Das ist Euch anscheinend nicht gelungen«, entgegnete der Praifec. Ein Hauch von Belustigung schwang in seiner Stimme mit. Aspar setzte zu einer Erwiderung an, doch der Praifec hob die Hand, schüttelte den Kopf und wandte sich an Stephen. »Stephen Darige, ehemals ein Fratir im Kloster von d'Ef.« Er blickte auf Stephen herab. »Ihr habt während Eurer kurzen Amtszeit einen recht nachhaltigen Eindruck auf die Kirche gemacht, nicht wahr, Bruder Stephen?« Stephen runzelte die Stirn. »Euer Exzellenz, wie Ihr wisst, waren die Umstände -« Der Praifec schnitt ihm das Wort ab. »Ihr stammt aus einer angesehenen Familie, sehe ich. Wart auf der Schule in Ralegh. Seid gelehrt in antiken Sprachen, was Ihr in d'Ef dazu genutzt habt, verbotene Dokumente zu übersetzen, deren Übersetzung - so wie ich es verstehe, korrigiert mich, falls ich mich irre - sowohl den Tod Eures Fratrex als auch unaussprechliche Akte finsterer Hexerei zur Folge hatte.« »All dies ist wahr, Euer Exzellenz«, antwortete Stephen, »aber ich habe mein Werk auf den Befehl des Fratrex hin verrichtet. Die finstere Hexerei wurde von abtrünnigen Mönchen ausgeübt, angeführt von Desmond Spendlove.« »Nun, seht Ihr, dafür gibt es keinerlei Beweise«, wandte der Praifec ein. »Bruder Spendlove und seine Mitstreiter sind alle tot, 74 ebenso wie Fratrex Pell. Günstig für Euch, da auf diese Weise niemand Eure Geschichte widerlegen kann.« »Euer Exzellenz -« »Und doch gebt Ihr zu, den Dornenkönig gerufen zu haben, dessen Erscheinen das Ende der Welt ankündigt.« »Das war ein Versehen, Euer Exzellenz.« »Ja. Das wird ein geringer Trost sein, wenn die Welt tatsächlich im Begriff ist unterzugehen, nicht wahr?« »Ja, Euer Exzellenz«, antwortete Stephen unglücklich. »Nichtsdestotrotz lässt Euer Schuldeingeständnis in dieser Angelegenheit stark darauf schließen, dass Ihr die Wahrheit sagt. Insgeheim habe ich, wie ich zugebe, schon lange geargwöhnt, dass in d'Ef irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Immerhin besteht die Kirche aus Männern und Frauen, die alle fehlbar sind und ebenso anfällig für Verderbtheit wie jeder andere. Jetzt sind wir doppelt auf der Hut, dessen dürft Ihr gewiss sein.« Schließlich wandte er sich an Winna. »Winna Rufoote. Wirtstochter aus Colbaely Keine Waldhüterin, keine Würdenträgerin der Kirche. Wie im Namen des Himmels seid Ihr in all dies hineingeraten?« »Ich liebe diesen Klotz von einem Waldhüter, Euer Exzellenz«, antwortete sie.
Aspar spürte, wie sein Gesicht rot anlief. »Nun«, sagte der Praifec, »derlei Dinge lassen sich wohl nicht begründen, nicht wahr?« »Wahrscheinlich nicht, Euer Exzellenz.« »Doch Ihr wart bei ihm, als er dem Gryffin auf der Spur war, und auch in Cal Azroth, als der Dornenkönig erschienen ist. Des Weiteren wart Ihr die Gefangene des Sefry Fend, der angeblich für vieles von dem, was geschehen ist, verantwortlich ist.« »Ja, Euer Exzellenz.« »Wohlan.« Hesperos Lippen bildeten eine dünne Linie. »Ich lasse Euch die Wahl, Winna Rufoote. Wir werden von Dingen sprechen, die außerhalb der Mauern dieses Raumes nicht vernommen werden dürfen. Ihr mögt bleiben und ein Teil von etwas wer75 den, das sich auf verschiedene Weise als sehr gefährlich erweisen könnte - oder Ihr könnt gehen, und ich lasse Euch sicher zum Gasthaus Eures Vaters nach Colbaely heimgeleiten.« »Euer Exzellenz, ich bin ein Teil von alldem hier. Ich bleibe.« Aspar bemerkte plötzlich, dass er aufgestanden war. »Winna, ich verbiete -« »Sei still, du großer Bär«, sagte Winna. »Wann hast du mir je etwas verbieten können?« »Diesmal tue ich es!«, beharrte Aspar. »Ruhe, bitte«, sagte der Praifec. Er richtete seine Raubvogelaugen auf Aspar. »Es ist ihre Entscheidung.« »Und sie hat sie getroffen«, fügte Winna hinzu. »Überlegt es Euch gut, meine Liebe«, riet der Praifec. »Es ist getan, Euer Exzellenz«, entgegnete Winna. Der Praifec nickte. »Nun wohl.« Er legte die Hand auf die Schulter des Jungen, der die ganze Zeit über stumm dagesessen hatte. Er hatte schwarzes Haar und ebensolche Augen, und seine Haut war dunkel, dunkler als Aspars. »Gestattet mir, Ehawk von den Wattau vorzustellen, einem Stamm aus den Hasenbergen. Sie sind Euch vielleicht bekannt, Waldhüter White.« »Ja«, antwortete Aspar knapp. Seine Mutter war eine Wattau gewesen, sein Vater ein Ingorn. Das Kind, das sie gezeugt hatten, war bei keinem der beiden Stämme je willkommen gewesen. Wieder nickte der Praifec. »Die Ereignisse, an denen ihr drei beteiligt wart, sind für die Kirche von großer Bedeutung, ganz besonders das Erscheinen des so genannten Dornenkönigs. Bisher waren wir der Ansicht, er sei nichts weiter als ein Volksmärchen, ein alter Aberglaube, vielleicht inspiriert durch irgendeine ungebildete Erinnerung an die Magierkriege, oder sogar an die Knechtschaft, bevor unsere Vorfahren die Ketten jener gesprengt haben, die sie versklavt hatten. Jetzt, wo er erschienen ist, müssen wir unseren Wissensstand natürlich ganz neu bewerten.« »Wenn ich so frei sein darf, Euer Exzellenz, mein Bericht -«, begann Stephen. 76 »Ich habe Euren Bericht selbstverständlich gelesen«, unterbrach ihn Hespero. »Eure Arbeit zu diesem Thema ist lobenswert, doch Euch fehlt das gesammelte Wissen der Kirche. Im heiligen z'Irbina gibt es eine Reihe gewisser Werke, die ausschließlich von Seiner Heiligkeit, dem Fratrex Prismo, gelesen werden dürfen. Nachdem ich von den Geschehnissen in Cal Azroth gehört hatte, habe ich sogleich eine Nachricht nach z'Irbina gesandt. Und jetzt habe ich meinerseits Nachrichten erhalten.« Er hielt inne. »Nachrichten und mehr«, fuhr er fort. »Das werde ich später erklären. Wie dem auch sei, damals meinte ich, nicht auf Botschaft aus z'Irbina warten zu können. Ich habe einen Suchtrupp unter dem Schutz der Kirche ausgesandt, um dieses ... Geschöpf aufzuspüren und mehr über es in Erfahrung zu bringen. Der Suchtrupp war stark, ein Ritter der Kirche und fünf Mönche des heiligen Mamres. Sie haben Ehwak in seinem Dorf als Führer angeworben. Er wird jetzt berichten, was er gesehen hat.« »Ah«, sagte Ehawk. Sein Akzent war ausgeprägt, und es war der Akzent eines Menschen, der es nicht gewohnt war, die Sprache des Königs zu sprechen. »Seid gegrüßt.« Er heftete den Blick auf Aspar. »Ich habe von Euch gehört, Sir Waldhüter. Ich dachte, Ihr wärt größer. Es heißt, Eure Pfeile sind so lang wie Speere.« »Ich bin für Seine Exzellenz geschrumpft«, knurrte Aspar. »Was hast du gesehen, Bursche, und wo hast du es gesehen?« »Im Gebiet der Duth ag Pae, in der Nähe von Aghdon. Einer von den Mönchen - Martyn - hat etwas gehört. Und da waren sie.« »Sie?« »Männer und Frauen, aber wie wilde Tiere. Sie hatten nichts an, sie haben keine Waffen getragen. Sie haben den armen Sir Oneu mit Händen und Zähnen in Stücke gerissen. Ein Wahnsinn war über sie gekommen.« »Wo kamen sie her?« »Es waren die Duth ag Pae, da bin ich mir sicher. Vielleicht alle, obwohl ich keine Kinder gesehen habe. Aber es waren Greise dabei.« Er schauderte. »Sie haben das Fleisch der Mönche verschlungen, noch während sie sie getötet haben.« 77 »Weißt du, was sie in den Wahnsinn getrieben haben könnte?« »Es waren nicht nur sie, Sir Waldhüter. Auf der Flucht bin ich auf ein Dorf nach dem anderen gestoßen, alle
verlassen. Ich habe mich in Löchern und unter dem Laub versteckt, aber sie haben mein Pferd gefunden und es zerrissen. Nachts habe ich sie gehört, wie sie Lieder gesungen haben, in keiner Sprache der Berge.« »Aber du bist ihnen entkommen.« »Ja. Als ich den Wald verlassen habe, habe ich sie hinter mir zurückgelassen. Ich bin hergekommen, weil Martyn es so gewollt hat.« »Martyn war einer meiner vertrauenswürdigsten Diener«, erläuterte der Praifec. »Und sehr mächtig in Mamres.« »Was für ein Wahnsinn befällt ganze Dörfer?«, überlegte Stephen laut. »Die alten Weiber ...«, begann Ehawk, dann erstarb seine Stimme. »Nur zu, Ehawk«, ermutigte ihn der Praifec. »Sag, was du willst.« »Es ist eine von den Prophezeiungen. Sie haben gesagt, wenn Etthoroam erwacht, wird er den ganzen Wald als sein Eigen beanspruchen.« »Etthoroam«, wiederholte Stephen. »Den Namen habe ich schon einmal gehört. So nennt dein Volk den Dornenkönig.« Ehawk nickte. »Aspar«, sagte Winna leise. »Colbaely liegt im Königswald. Mein Vater. Meine Familie.« »Colbaely ist weit weg vom Land der Duth ag Pae«, erwiderte Aspar. »Was bedeutet das schon, wenn es stimmt, was der Junge sagt?« »Da hat sie nicht Unrecht«, bemerkte Stephen. »Sie sind nicht nur in den Tiefen des Königswaldes«, sagte der Praifec. »Wir haben Berichte über Kämpfe überall entlang des Waldrands erhalten, zumindest im Osten.« »Euer Exzellenz, um Vergebung«, bat Aspar. »Für welches Vergehen?« 78 »Erlaubt mir, Euch zu verlassen. Ich bin der Waldhüter des Königs. Der Wald steht unter meinem Schutz. Ich muss das mit eigenen Augen sehen.« »Ja zu Eurem zweiten Satz. Aber Ihr seid nicht länger der Waldhüter des Königs.« »Was?« »Ich habe Seine Majestät ersucht, Euch meinem Befehl zu unterstellen. Ich brauche Euch, Aspar White. Niemand kennt den Wald so gut wie Ihr. Ihr habt dem Dornenkönig gegenübergestanden und überlebt - nicht nur einmal, sondern zweimal.« »Aber er war sein ganzes Leben lang der Waldhüter des Königs!«, brach es aus Stephen hervor. »Euer Exzellenz, Ihr könnt doch nicht einfach -!« Die Stimme des Praifec war plötzlich nicht mehr sanft. »Fürwahr, Bruder Darige, ich kann. Ich kann, und ich habe. Und tatsächlich ist Euer Freund nach wie vor ein Waldhüter - der Waldhüter der Kirche. Auf welch größere Ehre kann er hoffen?« »Aber -«, setzte Stephen erneut an. »Wenn es Euch nichts ausmacht, Stephen«, sagte Aspar leise, »ich kann für mich selbst sprechen.« »Bitte tut das«, drängte der Praifec. Aspar blickte dem Praifec direkt in die Augen. »Ich verstehe nicht viel von Höfen oder Königen oder Praifecs«, gab er zu. »Man hat mir gesagt, ich hätte nur wenige Manieren und die, die ich hätte, wären schlechte. Aber mir scheint, Euer Exzellenz, dass Ihr mich hättet fragen können, ehe Ihr mich davon in Kenntnis setzt.« Hespero starrte ihn einen Augenblick lang an, dann zuckte er die Achseln. »Nun gut. Da habt Ihr Recht. Ich nehme an, ich habe zugelassen, dass meine Sorge um die Menschen Crotheniens und der ganzen Welt meinen Blick für die persönlichen Vorlieben eines einzelnen Mannes getrübt hat. Ich kann den König jederzeit bitten, sein Dekret zu ändern - also frage ich Euch jetzt.« »Was genau wünschen Euer Exzellenz?« »Ich will, dass Ihr in den Königswald zieht und herausfindet, 79 was dort wirklich vor sich geht. Ich will, dass Ihr den Dornenkönig findet, und ich will, dass Ihr ihn tötet.« Ein Moment des Schweigens folgte auf die Worte des Praifec. Er saß da und sah sie an, als hätte er sie aufgefordert, jagen zu gehen und mit frischem Wildbret zurückzukehren. »Ihn töten«, sagte Aspar nach einer Weile behutsam. »Fürwahr. Ihr habt den Gryffin zur Strecke gebracht, oder etwa nicht?« »Und der hätte um ein Haar Aspar getötet«, warf Winna ein. »Er hätte ihn auch getötet, nur hat der Dornenkönig ihn irgendwie geheilt.« »Seid Ihr Euch da sicher?«, fragte der Praifec. »Tut Ihr die Heiligen und ihre Werke so leichtfertig ab? Immerhin halten sie sehr wohl ein Auge auf das Treiben der Menschen.« »Worauf wir hinauswollen, Euer Exzellenz«, sagte Stephen, »ist, dass wir nicht wissen, was genau sich an jenem Tag zugetragen hat, was der Dornenkönig ist oder was für ein Omen er wirklich darstellt. Wir wissen nicht, ob der Dornenkönig getötet werden sollte, und wir wissen nicht, ob er überhaupt getötet werden kann.« »Er kann getötet werden, und er muss getötet werden«, entgegnete Hespero. »Dies hier kann ihn töten.« Er holte eine lange, schmale Lederhülle hinter seinem Schreibpult hervor. Die Hülle sah alt aus, und Aspar konnte eine
Art verblasster Schrift darauf erkennen. »Dies ist eine der ältesten Reliquien der Kirche«, sagte der Praifec. »Sie hat auf diesen Tag gewartet - und auf jemanden, der sie einsetzt. Der Fratrex Prismo hat die Vorzeichen gelesen, und die Heiligen haben ihren Willen offenbart.« Er öffnete ein Ende der Hülle und zog vorsichtig einen Pfeil heraus. Die Spitze funkelte, fast zu hell, um sie anzusehen. »Als die Heiligen die Alten Götter vernichteten«, erklärte Hespero, »haben sie dies hier gefertigt und es dem ersten der Kirchenväter gegeben. Es tötet alles, was aus Fleisch ist - Tiere von hehrem oder verderbtem Wesen sowie uralte heidnische Geister. Man 80 kann ihn siebenmal verwenden. Fünfmal ist er bereits benutzt worden.« Er schob den Pfeil wieder in die Hülle und faltete die Hände vor sich. »Der Wahnsinn, dessen Zeuge Ehawk geworden ist, ist das Werk des Dornenkönigs. Die Vorzeichen besagen, dass er sich ausbreiten wird, wie Wellen in einem Teich, bis alle Länder der Menschen davon verschlungen worden sind. Deshalb bin ich auf Befehl des allerheiligsten Senaz der Kirche und des Fratrex Prismo höchstselbst dazu angehalten, dafür Sorge zu tragen, dass dieser Pfeil das Herz des Dornenkönigs findet. Dies, Aspar White, ist der Auftrag und die Pflicht, die ich Euch zu übernehmen bitte.« 5. Kapitel Die Sarnwaldhexe Wir können sie nicht alle erwischen«, stellte Anshar grimmig fest, während er die Sehne seines Bogens zurückzog. Es war nichts da, was man hätte treffen können - die Wölfe waren nichts weiter als Schatten zwischen den Bäumen, und er war überzeugt, dass jeder Pfeil, den er bisher abgeschossen hatte, sein Ziel verfehlt hatte. Der Sarnwald war zu dicht, zu sehr von Ranken und Unterholz durchsetzt, als dass ein Bogen von großem Nutzen gewesen wäre. »Nun ja, nein«, sagte der einäugige Sefry zu seiner Linken ungerührt. »Ich denke, das können wir nicht. Aber wir sind nicht hergekommen, um gegen Wölfe zu kämpfen.« »Vielleicht ist es Euch ja noch nicht aufgefallen, Fend«, erwiderte Bruder Pavel und schob sich die nassen braunen Haarfransen aus der Stirn. »Aber uns bleibt nichts anderes übrig.« Fend seufzte. »Sie greifen uns doch nicht an, oder?« 81 »Sie haben Refan in Stücke gerissen«, gab Bruder Pavel zu bedenken. »Refan ist vom Pfad abgewichen. Wir werden nicht so dumm sein, nicht wahr?« »Glaubt Ihr wirklich, dass wir sicher sind, wenn wir auf dem Weg bleiben?«, fragte Anshar und betrachtete zweifelnd den schmalen Pfad, auf dem sie alle drei standen. Zwischen ihm und der heulenden Wildnis des Waldes schien keine klare Grenze zu bestehen, nur ein schlammiges Gemisch aus Blättern und Erde. »Ich habe nicht gesagt, dass wir sicher sind«, gab Fend mit einer Art finsterem Humor zu. »Nur dass die Wölfe uns nicht kriegen werden.« »Ihr habt Euch auch schon geirrt«, wandte Bruder Pavel ein. »Ich?«, fragte Fend. »Geirrt?« »In Cal Azroth zum Beispiel«, beharrte Bruder Pavel. Fend blieb abrupt stehen und richtete den Blick seines einen Auges auf den Mönch. »Inwiefern habe ich mich geirrt?«, fragte der Sefry leise. »Ihr habt falsch gelegen, was den Waldhüter betrifft«, warf Pavel ihm vor. »Ihr habt gesagt, er wäre nicht gefährlich.« »Ich soll gesagt haben, Aspar White wäre nicht gefährlich? Der einzige Mann, der mich im Zweikampf je wirklich verwundet hat? Der Mann, der mir das Auge genommen hat? Ich glaube nicht, dass ich jemals in irgendjemandes Träumen behauptet habe, Aspar White sei nicht gefährlich. Ich glaube, es war vielleicht Euer Freund Desmond Spendlove, der geschworen hat, er würde den Waldhüter aufhalten, ehe er Cal Azroth erreicht.« »Er hat unsere Pläne zunichte gemacht«, knurrte Pavel. »Nun«, entgegnete Fend, »Eure Wortwahl verwirrt mich: zunichte gemacht. Wir haben doch die beiden Prinzessinnen getötet, oder etwa nicht?« »Ja, aber die Königin -« »Ist entkommen, das gebe ich zu. Aber das lag nicht daran, dass ich mich in Bezug auf irgendetwas geirrt hätte es lag daran, dass man uns besiegt hat.« 82 »Wenn wir geblieben wären -« »Wenn wir geblieben wären, wären wir jetzt beide tot, und unsere Sache hätte zwei Streiter weniger«, sagte Fend. »Glaubt Ihr, Ihr kennt die Wünsche unseres Herrn besser als ich, Bruder?« Pavels Stirn blieb gefurcht, doch schließlich nickte er. »Nein«, gab er nach. »Nein. Und seht Ihr? Während wir streiten, was machen die Wölfe?« »Sie sind immer noch da draußen«, antwortete Anshar. »Aber sie kommen nicht näher.«
»Nein. Weil sie wissen will, weshalb wir hier sind. Solange sie neugierig auf uns ist - solange wir uns an ihre Regeln halten und auf dem Pfad bleiben, passiert uns nichts.« Er schlug Pavel auf den Rücken. »Werdet Ihr jetzt aufhören, Euch Sorgen zu machen?« Bruder Pavel brachte ein nervöses Lächeln zustande. Anshar hatte von der Geschichte in Cal Azroth gehört, war jedoch nicht dabei gewesen. Die meisten Mönche, die in diese Auseinandersetzung verstrickt gewesen waren, waren aus d'Ef gewesen. Er war im Kloster von Anstaizha ausgebildet worden, weit im Norden seines Heimatlandes Hansa. Erst vor wenigen Wochen war er nach Süden geschickt worden; sein Fratrex hatte ihm befohlen, dem seltsamen Sefry und Bruder Pavel zu helfen, wo er nur konnte. Besonders hatte man ihm eingeschärft, dass er dem Sefry stets zu gehorchen habe, auch wenn dieser kein Mann der Kirche war. Also war er Fend hierher gefolgt, zu jenem Ort, an dem sich angeblich all die schaurigen Geschichten seiner Kindheit zugetragen hatten - in den Sarnwald -, auf der Suche nach niemand anderem als der Sarnwaldhexe persönlich. Der Pfad führte sie tiefer in den Wald, in eine Schlucht zwischen zwei Hügeln, die bald zu einer schroffen Klamm wurde, deren Wände zu beiden Seiten lotrecht aufragten. Er war auf dem Land aufgewachsen, Bäume waren ihm vertraut, und am Rande des Sarnwaldes hatte er die meisten benennen können. Jetzt kannte er rast gar keine mehr. Manche waren schuppig und sahen aus, als be83 stünden sie aus kleinen Schlangen, die an größere angefügt worden waren. Andere reckten sich zu unglaublicher Höhe empor, ehe sie spinnenfeines Laubwerk ausbreiteten. Wieder andere waren von weniger sonderbarem Aussehen, jedoch ebenso unbekannt. Schließlich erreichten sie einen Quelltümpel voll klarem Wasser, dessen Ränder dicht mit Moos und blassem, fast weißem Farn bewachsen waren. Die Bäume hier waren schwarz und geschuppt, mit herabhängenden Blättern, die an gezackte Messerklingen erinnerten. Leere Augen starrten aus den menschlichen Schädeln auf ihn herunter, die in den Astgabeln der Bäume ruhten. Anshar merkte, dass er drauf und dran war, zurückzuweichen, und unterdrückte diesen Instinkt mit schierer Willenskraft. Er roch etwas Moschusartiges, Bitteres. »Das ist es«, verkündete Fend leise. »Das ist der Ort.« »Was machen wir jetzt?«, wollte Anshar wissen. Fend zog ein Messer von gefährlichem Aussehen. »Kommt her, beide«, befahl er. »Sie will Blut.« Gehorsam trat Anshar an Fends Seite. Pavel tat es ihm nach, doch Anshar glaubte, ein Zögern bemerkt zu haben. Inzwischen zog Fend die Klinge über seine Handfläche. Blut quoll aus dem Schnitt, und Anshar war halb verblüfft, zu sehen, dass es ebenso rot war wie das eines jeden Menschen. Fend sah die beiden an. »Nun?«, sagte er. »Sie wird mehr wollen als das.« Anshar nickte und zog sein eigenes Messer, und Bruder Pavel tat das Gleiche. Anshar schnitt sich gerade in die Handfläche, als er aus dem Augenwinkel eine eigenartige Bewegung sah. Bruder Pavel stand immer noch dort, das Messer quer über seiner Hand, doch er zuckte seltsam. Fend stand ihm gegenüber und hatte die Hand an Pavels Kopf, wie um ihn aufrecht zu halten. Nein. Fend hatte gerade ein Messer durch Bruder Pavels linkes Auge gerammt. Jetzt zog er es heraus und wischte es an Pavels Kutte ab. Der Mönch stand weiter zuckend da, das verbliebene Auge auf seine halb zerschnittene Handfläche gerichtet. »Sehr viel mehr Blut«, erläuterte Fend. Er versetzte Pavel einen 84 Stoß, und der Mönch kippte vornüber in den Tümpel. Dann blickte der Sefry auf und sah Anshar an. Dieser verspürte ein Frösteln, rührte sich jedoch nicht von der Stelle. »Habt Ihr keine Angst, dass Ihr der Nächste seid?«, fragte Fend. »Nein«, antwortete Anshar. »Wenn mein Fratrex mich als Opfer hergeschickt hat, dann werde ich ein Opfer sein.« Fends Lippen verzogen sich zu einem widerwilligen Lächeln. »Ihr Kirchenleute«, sagte er. »Ihr habt so viel Glauben, so viel Treue.« »Ihr dient nicht der Kirche?«, fragte Anshar überrascht. Fend schnaubte lediglich und schüttelte den Kopf. Dann sang er etwas in einer eigentümlichen Sprache, die Anshar noch nie gehört hatte. Etwas regte sich zwischen den Bäumen. Er sah die Bewegung nicht, doch er fühlte und hörte sie. Der Mönch dachte an riesige, schuppige Leibeswindungen, die sich durch den Wald schleppten und sich um den Tümpel zusammenzogen wie ein mächtiger Wurm aus den Legenden. Bald würde das Ungetüm den Kopf zwischen den Baumstämmen hervorstrecken und seinen gewaltigen, zahnbewehrten Schlund öffnen. Was jedoch unter den Bäumen hervortrat, war ganz anders als das, was seine Vorstellung ihn glauben gemacht hatte. Ihre Haut war weißer als Milch oder Mondlicht, und ihr Haar schwebte wie schwarzer Rauch um sie herum. Er versuchte die Augen abzuwenden, denn sie war nackt, und er wusste, dass er sie nicht ansehen sollte, doch er
konnte nicht anders. Sie war so schlank, so erlesen und zart, dass er zuerst dachte, sie wäre ein Kind. Dann jedoch wurde sein Blick von den kleinen Hügeln ihrer Brüste angezogen und von den blassblauen Brustwarzen, die diese krönten. Zu seiner Überraschung sah er, dass sich vier weitere, kleinere Brustwarzen an ihrem Bauch hinabzogen, wie die Zitzen einer Katze, und plötzlich wurde ihm klar, dass sie eine Sefry war. Sie lächelte, und zu seiner Schande verspürte er ein Aufwallen 85 der Lust, das nur von seinem Entsetzen übertroffen wurde. Die Sefry hob ihnen die Hand entgegen, die Handfläche nach oben gerichtet, winkte, und er trat einen Schritt vor. Fend legte ihm die Hand auf die Brust und hielt ihn zurück. »Sie ruft nicht Euch«, sagte er und zeigte auf den Tümpel. Pavel zog plötzlich Arme und Beine unter sich und stemmte sich unbeholfen hoch. Er drehte sich zu ihnen um. »Warum bist du gekommen, Fend?«, krächzte Pavel. »Ich bin gekommen, um mit der Sarnwaldhexe zu sprechen«, antwortete der Angesprochene. »Du hast sie gefunden«, verkündete Pavel. »Wirklich? Ich habe immer gehört, die Hexe sei von schrecklicher Gestalt, eine Riesin, eine durch und durch abstoßende Kreatur.« »Ich habe vielerlei Gestalt«, sagte Pavels Leichnam. »Und außerdem werden viele törichte Geschichten über mich erzählt.« Die Frau neigte den Kopf zur Seite. »Du hast die Dare-Prinzessinnen erschlagen«, sagte sie. »Ich rieche es an dir. Aber es waren drei Töchter. Warum hast du die dritte nicht getötet?« Fend lachte leise. »Ich dachte, mein Opfer hätte erwirkt, dass meine Fragen beantwortet werden?« »Dein Opfer bewirkt lediglich, dass ich dich nicht niederstrecke, ohne mir anzuhören, was du zu sagen hast. Von hier an musst du dir meine Gunst erhalten, wenn du noch mehr willst.« »Ah«, sagte Fend. »Wohlan. Die dritte Tochter - ich glaube, ihr Name war Anne - war nicht in Cal Azroth. Man hatte sie fortgeschickt; wir wussten nichts davon.« »Ja«, sagte der Leichnam. »Ich sehe es. Andere haben sie in Vitellio gefunden, doch es ist ihnen nicht gelungen, sie zu töten.« »Dann ist sie also noch am Leben?«, erkundigte sich Fend. »War das eine von deinen Fragen?« »Ja, aber es hört sich an, als wäre sie jetzt das Problem von jemand anderem.« »Erde und Himmel werden aus den Fugen gehoben, um sie zu finden«, entgegnete Pavel. »Sie muss sterben.« 86 »Ja, das weiß ich«, erwiderte Fend. »Aber wenn sie, wie Ihr sagt, gefunden -« »Und wieder verloren worden ist.« »Könnt Ihr mir sagen, wo sie ist?« »Nein.« »Nun gut«, sagte Fend. »Die anderen haben sie verloren - sie können sie auch wieder finden.« »Du hattest die Königin in deiner Gewalt und hast sie nicht erschlagen«, sagte Pavel. »Ja, ja«, erwiderte Fend. »Es scheint, als ob mich ständig irgendwer daran erinnert. Ein alter Freund von mir ist aufgetaucht und hat das Ganze ziemlich gestört. Doch so, wie ich es verstehe, ist die Königin nicht so wichtig wie Anne.« »Sie ist wichtig - und keine Angst, sie wird sterben. Dein Versagen dort wird dich wenig kosten. Und in einem hast du Recht - die Tochter ist alles, soweit es deinen Meister angeht.« Zum ersten Mal schien Fend überrascht. »Ich würde ihn nicht als Meister bezeichnen - Ihr wisst, wem ich diene?« »Er kam einst zu mir, vor langer Zeit, und jetzt rieche ich ihn an dir.« Die Frau hob das Kinn, genau wie auch Pavel es in einer grotesken Parodie tat. »Hat der Krieg begonnen?«, fragte der Leichnam. »Wie kommt es, dass Ihr so viel über manche Dinge wisst und über andere überhaupt nichts?« »Ich weiß viel vom Großen, aber nur wenig vom Kleinen«, sagte Pavel und schmunzelte über das Wortspiel. Hinter ihm stand die Frau einfach nur da, doch jetzt konnte Anshar ihre Augen sehen; sie hatten eine verblüffend violette Farbe. »Ich kann den Lauf des Flusses sehen, aber keine Wirbel und Strömungen, nicht die Schiffe darauf oder die Blätter, die ihm meerwärts folgen. Deine Worte versorgen mich damit. Du sagst etwas, und ich sehe diese Dinge damit verbunden - und so erfahre ich die kleinen Dinge. Also. Hat der Krieg schon begonnen?« »Noch nicht«, antwortete er. »Aber bald, heißt es. Ein paar Figuren gehen in Stellung. Das ist nicht wirklich mein Hauptanliegen.« 87 »Was ist dein Anliegen, Fend? Was suchst du wirklich hier?« »Man sagt, Ihr seid die Mutter der Ungeheuer, o Sarnwaldhexe. Ist das wahr?« »Die Erde selbst trägt Ungeheuer in ihrem Schoß. Was suchst du?« Fends Lächeln wurde breiter, und Anshar fröstelte unwillkürlich. Als Fend ihr antwortete, fröstelte er noch einmal, heftiger diesmal.
6. Kapitel Die Augen aus Asche Es dauerte nur Augenblicke, bis Rauch aus dem Treppenschacht zu quellen begann und das Knistern der Flammen alle anderen Geräusche übertönte. Der Boden wurde heiß, und Leoff wurde klar, dass er sich genau dort befand, wo, wäre die Malend ein Ofen, das Brot hingehörte. Er ging zum Fenster und überlegte, ob er sich beim Sprung das Bein brechen würde, riss jedoch den Kopf zurück, als er zwei Gestalten erblickte, die zusahen, wie die Malend brannte; im Feuerschein, der aus der Tür drang, sahen ihre Gesichter rötlich aus. Der kurze Blick, den er auf sie erhaschte, war nicht gerade beruhigend. Einer der beiden war fast ein Riese, und Leoff sah das Glänzen von Stahl in den Händen beider Männer. Sie hatten die Malend nicht durchsucht - das überließen sie dem Feuer. »Armer Gilmer«, murmelte er. Wahrscheinlich hatten sie den kleinen Mann im Schlaf ermordet. Was unter Umständen ein gnädigeres Schicksal war als das, was Leoff bevorstand. Schon wurde das Atmen schwer. Die Flammen kletterten zu ihm empor, doch der Rauch würde ihn gewiss zuerst finden. 88 Er konnte nicht hinunter, er konnte nicht zum Fenster hinaus. Also blieb nur der Weg nach oben, wenn er noch ein paar Augenblicke länger leben wollte. Er fand die Leiter und kletterte zum nächsten Stockwerk hinauf. Dort war es auch schon verraucht, doch nicht annähernd so stark wie auf dem Stockwerk, das er gerade verlassen hatte. Und es war dunkel, sehr dunkel. Wieder hörte er die Zahnräder arbeiten, und ganz in der Nähe quietschte etwas. Jetzt musste er sich im Laufwerk der Malend befinden. Er fand die letzte Leiter und stieg mit zitternder Behutsamkeit hinauf. In seinem Kopf war ein Bild, wie seine Hand - oder schlimmer noch, sein Kopf - von einem unsichtbaren Zahnrad erfasst wurde. Im letzten Stockwerk war es kaum rauchig. Schwach konnte er ein Fenster ausmachen und tappte hoffnungsvoll hinüber. Doch sie standen immer noch dort unten, und jetzt ging es geradezu lächerlich tief hinunter. Leoff versuchte sich zur Ruhe zu zwingen und tastete in der Finsternis umher. Fast hätte er aufgeschrien, als er etwas berührte. Er fing sich gerade noch, als er begriff, dass es ein senkrechter Balken war, der sich drehte wahrscheinlich der Mittelschaft, der die Pumpe antrieb. Nur dass der Schaft, den er im Erdgeschoss gesehen hatte, sich nicht drehte, sondern sich hob und senkte. Irgendwie musste die Bewegung im Stockwerk unter ihm übertragen werden. Das kam ihm immer noch nicht richtig vor. Die Achse des - wie hatte Gilmer es genannt? Die großen, gemaserten Speichen? Saglwic. Dessen Achse musste waagrecht sein, also musste jene Bewegung irgendwo weiter oben auf diesen Balken hier übertragen werden. Was bedeutete, dass über ihm noch irgendetwas sein musste. Vorsichtig tastete er über sich herum und fand oben auf dem Balken ein hölzernes Rad mit großen Zähnen. Es drehte sich. Ein bisschen mehr Umhertasten, und er fand das zweite Rad, das im rechten Winkel über dem ersten angebracht war, sodass die Zähne 89 am unteren Rand des zweiten Rades in die des ersten griffen, um es zu drehen. Leoff dachte bei sich, dass der Schaft, der das zweite Rad drehte, mit dem Windrad selbst in Verbindung stehen musste. Er fand diesen Schaft und folgte ihm, wobei er selbst nicht genau wusste, wonach er suchte. Der Rauch hatte ihn erneut aufgespürt, ebenso die Hitze. Die geglättete Achse führte durch ein eingefettetes Loch in der Mauer, das nur um ein Winziges größer war, als sie dick war. Langsam wurde ihm klar, wonach er suchte. »Es muss doch eine Möglichkeit geben, das Saglwic zu reparieren ... ja!« Unter der Achse fand er einen Riegel, und als er ihn hob, konnte er eine kleine viereckige Luke öffnen. Er schob sie einen Spaltbreit auf und spähte hinaus. Ein bleicher Mond hockte auf dem Horizont, und in seinem Licht sah er, wie die Speichen des Malend-Rades sich im Wind drehten, und dahinter das Wasser des Kanals, das wie Silber glänzte. Unter sich sah er niemanden, doch dort gab es genug Schatten, um alles Mögliche zu verbergen. Ein Beben durchlief das Gebäude, dann ein zweites. Unten brachen Balken weg. Der Turm jedoch sollte eigentlich standhalten, da er aus Stein gemauert war. Ein Schwall heißer Luft und eine Flammenfaust folgten diesem Gedanken auf dem Fuße und brachen aus der Bodenluke für die Leiter hervor. Ihr Heiligen, ich will das nicht tun!, dachte er. Aber entweder das oder verbrennen. Er hielt den Atem an und folgte der rhythmischen Bewegung der Speichen, bis er sie mit allem fühlte, was er hatte. Das Lied der Malend kam zurück, erfüllte ihn, und jetzt atmete er im Takt dazu. Beim ersten Taktschlag sprang er. Seine Beine zuckten beim Abspringen, und beinahe hätte er es nicht geschafft, doch eine Hand bekam das hölzerne Gitterwerk des Windflügels zu fassen. Ohne Vorwarnung fühlte er sich plötzlich auf den Kopf gestellt, doch es gelang ihm, die andere Hand in den Stoff zu krallen. Sein Magen re9o
bellierte vor Angst und Orientierungslosigkeit, als die Landschaft unvorstellbar weit unter ihm zurückblieb. Dann stürzte sie ihm wieder entgegen, und er begann an dem Flügel hinunterzuklettern. Als dessen Ende sich dem Boden entgegensenkte, kletterte er schneller; er fürchtete, noch eine Umdrehung mitmachen zu müssen, doch es war immer noch zu weit entfernt. Als der Flügel sich wieder emporschwang, klammerte er sich fest, und seltsamerweise verwandelte sich seine Furcht in eine Art wilde Freude. Sein Kopf zeigte jetzt zur Achse des Rades, und irgendetwas schien an seinen Füßen zu ziehen, selbst als diese himmelwärts zeigten, als wollten die Heiligen nicht, dass er fiele. Er folgte dem Zug, kletterte weiter, sogar als er kopfüber hing, und als der Flügel sich das nächste Mal zum Erdboden senkte, war er tief genug herabgeklettert, um abzuspringen. Er landete hart, jedoch nicht mit knochenbrechender Wucht, und lag einen Augenblick lang im Gras. Aber nicht lange. Tief geduckt schlich er sich von der brennenden Malend weg und hielt auf den Kanal zu. Fast hatte er ihn erreicht, als eine kräftige Hand seinen Arm packte. »Psst!«, zischte eine leise Stimme. »Ich bin's bloß, Gilmer.« Leoff schloss die Augen und nickte. Er hoffte, sein Herz würde nicht durch seinen Brustkorb ins Freie hervorbrechen. »Folgt mir«, sagte Gilmer. »Wir müssen weg von hier. Die Männer, die das getan haben -« »Ich habe sie gesehen, auf der anderen Seite der Malend.« »Auy. Dumm sind die.« »Nun, auf dieser Seite sind keine Fenster, die man beobachten müsste.« Sie erreichten den Kanal. Leoff sah, dass dort ein kleines Ruderboot festgemacht war. »Rasch«, befahl Gilmer, während er das Tau löste. »Steigt ein.« Nur wenige Augenblicke später waren sie in der Mitte des Kanals, und Leoff legte sich mit aller Kraft in die Riemen. Gilmer hatte das Steuer übernommen. »Ich hatte gefürchtet, Ihr wärt tot«, sagte Leoff. 9i »Nay. Ich bin hinausgegangen, um ihr beim Drehen zuzusehen. Hab sie reinkommen hören und verstanden, worüber sie geredet haben. Ich dachte, ich würde sie wohl nicht daran hindern können.« Er schaute zu der Malend zurück. Flammen schlugen aus der Spitze, und die Windflügel brannten wie Fackeln. Sie drehten sich noch immer. »'s tut mir Leid, Liebling«, sagte Gilmer leise. »Verfaulen sollen sie dafür, dass sie dir das angetan haben. Verfaulen!« Dann wandte er sich ab. »Was jetzt?«, fragte Leoff. »Jetzt fahren wir nach Broogh und sehen nach, was dort vorgeht.« »Aber Artwair ist nicht zurückgekommen.« »Dann braucht er vielleicht unsere Hilfe.« Leoff war der Meinung, dass jegliche Schwierigkeiten, mit denen Artwair nicht allein fertig werden konnte, höchstwahrscheinlich viel zu groß für einen Windschmied und einen Komponisten wären. Er setzte dazu an, genau das zu sagen, dann jedoch kam ihm ein anderer Gedanke. Gilmer musste es seinem Gesicht angesehen haben. »Was ist?«, fragte der Alte. »Meine Instrumente! Meine Sachen!« Der alte Mann nickte betrübt. »Auy. Wir haben heute beide verloren. Jetzt denkt daran, was die Menschen dort unten in den Dörfern verlieren werden, wenn diese Schufte den Deich durchbrechen.« »Ich frage mich bloß, was wir tun können. Ich kann nicht kämpfen. Ich verstehe nichts von Waffen.« »Nun, ich auch nicht«, erwiderte Gilmer, »aber das heißt nicht, dass ich's einfach geschehen lassen werde.« Als trauere er um die Malend, erstarb der Wind, und Stille senkte sich über den Kanal, nur unterbrochen vom Plätschern der Ruder im Wasser. Leoff suchte ängstlich die Ufer ab; er fürchtete, dass die Männer ihnen vielleicht am Rand des Kanals entlang folgen wür92 den, doch nichts rührte sich zwischen den stattlichen Silhouetten der Ulmen, die die Wasserstraße säumten. Bald gesellten sich größere Schatten zu den Bäumen - zuerst Hütten, dann hohe Häuser. Der Kanal wurde schmaler. »Da vorn ist das Tor«, flüsterte Gilmer. »Haltet Euch bereit.« »Wofür?«, fragte Leoff. »Ich habe keine Ahnung«, antwortete der Alte. Das schmiedeeiserne Wassertor war von einfacher Bauart, und es stand offen. Fast lautlos glitten sie hindurch und hinein in die Stadt Broogh. Die seltsame Stille der Nacht war hier dichter, als sie es weiter unten auf dem Kanal gewesen war, als wäre Broogh das Herz der Stille selbst. Und auch nicht der schwächste Kerzenschein erleuchtete die Fenster. Sie waren von einem Film aus Mondlicht überzogen, wie die Augen der Blinden. Leise steuerte Gilmer das kleine Boot zu einem Steg hinüber. »'r zuerst«, wies er Leoff an. »Gebt Acht, dass 'r mich nicht ins Schaukeln bringt.«
Vorsichtig stieg Leoff aus dem Boot auf den gemauerten Kai, und ein Schauer lief ihm über den Rücken, als sein Fuß festen Boden berührte. »Haltet das Boot fest«, sagte Gilmer. »Macht Euch nützlich, auy?« »Entschuldigung«, flüsterte Leoff. Sogar seine leise Antwort schien in der schweigenden Stadt widerzuhallen. Er hielt den Rand des Bootes fest, während der Windschmied es vertäute, und spürte seinen Puls im Hals. In Mondlicht gehüllt war Broogh wunderschön. Die hohen, schmalen Gebäude waren mit Silber überzogen, und die Pflastersteine der Straßen wirkten flüssig, während das Wasser des Kanals zu einer Glimmerfläche geworden war. Die Brücke, die der Stadt ihren Namen gegeben haben musste, wölbte sich stark und anmutig ein paar Schritte entfernt, an jedem Pfeiler schlummerte ein Heiliger im Stein. Dahinter, ein Stück den Kanal hinunter, ragte am anderen Ufer der Glockenturm der Kirche auf. 93 Gleich neben ihm, in der Straße, die sich am Kanal entlangzog, war ein hölzernes Schild im schwachen Licht gerade noch zu erkennen. Es verkündete, dass die Tür unter ihm der Eingang zum Paiter's Fatem war. Unter den Worten zeigte ein kleines Flachrelief einen beleibten Sacritor, der sich einen Becher aus einem Weinfass füllte. Als Gilmer mit dem Boot fertig war, zeigte er auf das Wirtshaus. »Da«, sagte er. »Das ist die beliebteste Schenke der Stadt, und um diese Zeit sollte dort eigentlich eine Menge los sein.« Wie jedes andere Gebäude in Broogh lag das Gasthaus still und dunkel da. »Wir schauen uns mal drinnen um«, brummte Gilmer. »Wenn alle sich versteckt haben, dann könnt 'r drauf wetten, dass sich die halbe Stadt da drinnen verkrochen hat. Vielleicht im Keller.« »Wovor denn verstecken? Vor ein paar Schurken wie denen, die Eure Malend niedergebrannt haben?« »Nein«, sagte Gilmer. »Broogh hat einen Ruf.« »Wie meint Ihr das?« »Übeltäter haben diese Stadt schon früher heimgesucht. Ihre Lage ist unübertrefflich - wenn man hier den Deich durchsticht, kommt das Wasser sechzig Meilen weit nicht zum Stehen, 's ist schon einmal versucht worden. Vor dreißig Jahren ist ein abtrünniger hansischer Ritter - Sir Remismund fram Wulthaurp - mit zwanzig Berittenen und hundert Mann Fußvolk hier eingefallen. Er hat sich in eben diesem Wirtshaus eingenistet und Briefe nach Eslen geschickt, in denen er damit gedroht hat, den Deich zu öffnen, wenn man ihm kein Lösegeld geben würde.« »Aber er hat es nicht getan?« »Nay. Ein Mädchen, die Tochter des Bootsbauers, die Schönste der Stadt, sollte am nächsten Tag heiraten. Sie hat ihr Hochzeitskleid angezogen und ist zu Wulthaurp gegangen, dort oben, im obersten Gemach. Sie hat ihn geküsst, und während sie sich geküsst haben, hat sie ihm die Schleppe ihres Kleides um den Hals gewickelt und sich dann aus dem Fenster gestürzt. Die beiden haben eine mächtig blutige Schweinerei gemacht, beinahe genau da, 94 wo Ihr jetzt steht. Auf dieses Zeichen hin haben sich die übrigen Bewohner der Stadt auf seine Männer gestürzt. Das Heer musste sich den Weg zum Tor hinaus freikämpfen, und fast hundert Broogher sind tot in den Straßen zurückgeblieben.« Er schüttelte den Kopf. »Und das war auch nicht 's erste Mal, dass so etwas passiert ist. Nein, jeder Bursche und jedes Mädchen, das in Broogh aufwächst, versteht den Deich und die Brücke als heiliges Gut. Sie brennen alle darauf, der Held der nächsten Geschichte zu werden.« »Und trotzdem glaubt Ihr, irgendetwas hat ihnen solche Angst eingejagt, dass sie sich versteckt haben?« Gilmer schüttelte den Kopf. »Nay«, sagte er traurig. »Ich fürchte, sie verstecken sich ganz und gar nicht.« Die Tür gab beim Öffnen lediglich ein leises, protestierendes Quietschen von sich, doch nichts regte sich auf ihr Eintreten hin. Vor sich hin brummelnd zog Gilmer seine Zunderbüchse hervor und zündete eine Kerze an. »Grundgütige Heilige!«, keuchte Leoff, als das Licht um sie herumfiel. Es waren in der Tat viele Menschen im Paiter's Fatem - oder das, was früher einmal Menschen gewesen waren. Sie lagen oder hockten vornübergesunken in Gruppen da, ohne sich zu rühren. Leoff hegte keinerlei Zweifel daran, dass sie tot waren. Sogar im warmen Licht der Flamme war ihre Haut weißer als alte Gebeine. »Ihre Augen!«, stieß Gilmer mit vor Kummer belegter Stimme hervor. Da bemerkte Leoff es, und er krümmte sich würgend bis zum Boden hinab. Die Erde selbst schien unter ihm zu taumeln und der Himmel sich auf ihn herabzusenken. Keiner der Toten in der Schenke hatte Augen, nur Aschehöhlen. Gilmer legte Leoff fest die Hand auf die Schulter. »Ruhig«, sagte er. »Wir wollen doch nicht, dass die, die das getan haben, uns hören, oder?« Die Stimme des alten Mannes bebte. »Ich kann nicht ...« Eine weitere Woge der Übelkeit überkam Leoff, und er presste die Stirn auf den Holzboden. Es dauerte eine ganze Weile, bis er wieder hochschauen konnte. 95 Als er es tat, sah er, dass Gilmer die Leichen betrachtete. »Wieso haben sie ihnen die Augen ausgebrannt?«, stieß Leoff mühsam hervor. »Die Heiligen mögen's wissen. Aber sie haben's nicht mit Kienspänen oder glühenden Eisen getan. Die Augen sind noch da, sie sind nur zu Kohle verbrannt.« »Hexerei«, flüsterte Leoff.
»Auy. Finsterste Hexerei.« »Aber warum?« Mit grimmiger Miene richtete Gilmer sich auf. »Damit sie den Deich einreißen können und sich weder mit Gegenwehr noch mit Zeugen abgeben müssen.« Er hielt einen Moment inne und fügte dann hinzu: »Aber noch haben sie ihn nicht durchstochen, nicht wahr? Noch ist Zeit.« »Zeit wofür?«, fragte Leoff ungläubig. Gilmers Gesicht wurde ausdruckslos. »Diese Leute waren meine Freunde«, sagte er. »Bleibt hier, wenn 'r wollt.« Er durchsuchte die Leichen und fand schließlich ein Messer. »Wer immer das hier getan hat, rechnet jetzt nicht damit, dass noch jemand am Leben ist. Sie wissen nichts von uns.« »Und wenn sie von uns wissen, enden wir genauso wie die da«, entgegnete Leoff verzweifelt. »Auy, könnt gut sein«, erwiderte Gilmer und strebte auf die Tür zu. Leoff schaute abermals die Toten an und seufzte. »Ich komme mit«, sagte er. Als sie wieder auf der Straße waren, blickte er erneut auf die Pflastersteine hinunter. »Wie hieß sie?«, fragte er. »Hm?« »Die Braut.« »Ah. Litha. Litha Rungsdautar.« »Und ihr Verlobter? Was ist aus dem geworden?« Gilmers Mund zuckte. »Er hat nie geheiratet. Er ist Windschmied geworden, wie sein Vater. Still jetzt - die Flutschleuse ist nicht mehr weit.« 96 Auf der Straße kamen sie an weiteren Toten vorbei, alle mit dem gleichen leeren Blick. Nicht nur Menschen, sondern auch Tiere -Hunde, Pferde, sogar Ratten. Manchen stand Entsetzen ins Gesicht geschrieben, während andere lediglich verwirrt aussahen. Einige - irgendwie war das am schlimmsten - schienen in einem Zustand der Verzückung gestorben zu sein. Leoff bemerkte noch etwas anderes: einen Geruch, ein schwaches Aroma der Verwesung. Doch es war nicht der Geruch des Grabes oder des Metzgerladens. Keine Spur von Maden oder Fäulnisgasen. Der Geruch erinnerte ihn an Trockenfäule - unauffällig, nicht eigentlich unangenehm, mit einem leichten Duft nach verbranntem Zucker. Als er weiterging, wurde er außerdem eines Geräusches gewahr - ein rhythmisches Hämmern, nicht ein einzelner Hammer, sondern viele, die alle die Bassbegleitung zu derselben Totenklage schlugen. »Das sind sie, sie arbeiten an der Mauer!«, sagte Gilmer. »Beeilt Euch!« Er führte ihn zur Stadtmauer und zu den Steinstufen, die hinaufführten. Sie stiegen über einen toten Wächter hinweg, um die Mauerkrone zu erreichen. Von dort aus blickten sie hinunter. Neuland wurde bis zum Horizont vom Mond beschienen, direkt unter ihnen jedoch warf die Mauer ihren Schatten auf den Deich, auf dem sie stand. Fackeln brannten dort, die Flammen senkrecht in der windstillen Finsternis. Fünf Männer, nackt bis zur Taille, arbeiteten an einem gemauerten Abschnitt des Damms, schlugen mit ihren Spitzhacken darauf ein. Weitere fünf oder sechs schauten zu - es war schwer, zu sagen, wie viele es genau waren. »Warum ist dieser Teil aus Stein?« »Das ist eine Abdeckung. Der größte Teil des Deichs besteht aus gestampfter Erde. Sich da hindurchzugraben würde zu lange dauern, wenn der König Neuland fluten müsste, wie es hin und wieder schon vorgekommen ist. Aber auf königlichen Befehl ist das noch nie geschehen, ohne die Bewohner der Tief lande zu warnen.« »Aber werden sie nicht ertrinken, wenn sie durchbrechen?« 97 »Nay. Sie schlagen eine kleine Öffnung in die Mauer, seht 'r? Das Wasser wird in einem Strahl hervorschießen und das Loch immer mehr vergrößern, aber das wird ihnen Zeit geben, sich davonzumachen.« »Was glaubt Ihr, wer das ist?« »Die Heiligen mögen's wissen.« »Nun denn, was können wir tun?« »Ich überlege gerade.« Leoff strengte seine Augen an, um mehr von dieser Szene zu verstehen. Dort unten gab es ein Muster. Was war es? Er ließ seinen Verstand zur Ruhe kommen. Da waren die Landschaft und der Deich. Sie waren wie das Notenpapier, auf dem Musik niedergeschrieben wurde. Dann waren da die grabenden Männer, wie die Melodie, und diejenigen, die schweigend Wache standen, wie die dumpf dröhnenden Basstöne eines Volkstanzes. Und das war alles ... »Nein«, flüsterte er. »Was?« Leoff zeigte mit dem Finger. »Schaut, da unten liegen auch Tote.« »Kein Wunder. Jeder, der am Leben ist, würde versuchen, sie aufzuhalten.« Der Windschmied kniff die Augen zusammen. »Genau, seht 'r? Sie sind um das Tor herumgekommen und haben sie von hinten angegriffen.« »Aber seht Ihr, wie sie daliegen, in einer Art Bogen? Als hätte irgendetwas sie einfach niedergestreckt, als sie zu
nahe herangekommen sind.« Gilmer schüttelte den Kopf. »Habt 'r denn noch nie einen Kampf gesehen? Wenn sie dort ihre Schlachtenlinie gebildet haben, dann sind sie eben dort gefallen.« »Aber ich sehe keinerlei Spuren eines Kampfes. Wir haben nirgends in der Stadt Anzeichen eines Kampfes gesehen, aber trotzdem sind alle tot.« »Auy. Das ist mir auch aufgefallen«, erwiderte Gilmer trocken. »Sie bilden also einen Bogen. Schaut in die Mitte von dem Bogen.« 98 »Wie meint 'r das?« »Eine Laterne wirft Licht in einem Kreis, ja? Tut so, als wäre dort, wo die Leichen liegen, der Rand des Lichtkreises. Und jetzt sucht die Laterne.« Mit einem skeptischen Knurren tat Gilmer es. Einen Moment später flüsterte er: »Da ist wirklich etwas. Eine Art Kasten oder Kiste, mit einem Mantel darüber.« »Ich wäre bereit, darauf zu wetten, dass es genau das ist, was die Leute von Broogh niedergestreckt hat. Wenn wir da hinuntergehen - wenn sie uns sehen -, dann werden sie es auf uns richten.« »Was werden sie auf uns richten?« »Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung. Aber es ist zugedeckt, und dafür muss es einen Grund geben. Irgendetwas sagt mir, dass wir überhaupt nichts tun können, solange sie das da haben.« Gilmer blieb eine Weile stumm, »'r mögt vielleicht Recht haben«, meinte er dann. »Aber wenn 'r Euch irrt...« »Ich glaube nicht, dass ich mich irre.« Gilmer nickte ernst und spähte wieder hinunter, »'s ist nicht weit von der Mauer entfernt, nicht wahr?« »Nicht allzu sehr. Was habt Ihr vor?« »Folgt mir.« Der kleine Mann durchsuchte die Wächter behutsam nach Waffen, fand ihre Schwertscheiden jedoch leer - kein Wunder, wenn man bedachte, wie viel ein gutes Schwert kostete. Dann führte er Leoff die Mauerkrone entlang zu einem kleinen Vorratshäuschen. Auf dem Weg dorthin mussten sie über sechs Leichen hinwegsteigen. Gilmer öffnete die Tür, trat in den Schatten und kam ächzend wieder heraus. Er hielt einen Stein in den Händen, so groß wie Leoffs Kopf. »Helft mir mal damit.« Die beiden schleppten den Stein zur Brüstung. »Glaubt 'r, wir können das Ding weit genug werfen?«, fragte Gilmer. »Der Mauerfuß ist abschüssig«, sagte Leoff. »Selbst wenn wir danebentreffen, wird der Stein rollen.« 99 »Vielleicht zerstört er dann aber die Hexenkiste nicht. Wir müssen zusammen werfen.« Leoff nickte und legte beide Hände um den Stein. Als sie ihn ausgerichtet hatten, sagte Gilmer sehr leise: »Auf drei. Eins, zwei -« »He! He, ihr da oben!« Ein Schrei ertönte, ein Stück weiter die Mauer hinunter, gar nicht weit weg von ihnen. »Los!«, brüllte Gilmer. Sie wuchteten den Stein in die Luft. Leoff wollte zusehen, aber jemand kam den Wehrgang entlang auf sie zugerannt, und er glaubte nicht, dass derjenige auf eine freundliche Plauderei aus war. 7. Kapitel Entdeckt Der Fluss Za löste Annes Tränen auf und trug sie sanft zum Meer davon. Kanarienvögel sangen in den Oliven- und Orangenbäumen, die sich durch die alten, gesprungenen Pflastersteine der Terrasse drängten, und der Wind roch süß nach frisch gebackenem Brot und herbstlichen Honigblumen. Libellen schwirrten träge in dem goldenen Sonnenlicht umher, und irgendwo in der Nähe spielte ein Mann auf einer Laute und sang leise von Liebe. In z'Espino nahte der Winter sachte, und dieser erste Tag des Novamenza war ganz besonders gütig. Doch Annes Spiegelbild im Fluss sah so kalt aus wie die langen, trostlosen Nächte des nördlichsten Nahzgave. Sogar die rote Flamme ihres Haares schien ein dunkler Schatten zu sein, und ihr Gesicht wirkte so bleich wie der Geist eines ertrunkenen Mädchens. 100 Der Fluss sah ihr Herz und gab ihr zurück, was darin war. »Anne«, sagte jemand hinter ihr leise. »Anne, du solltest nicht hier im Freien sein.« Anne blickte nicht auf. Sie konnte auch Austra im Fluss sehen; ihre Freundin sah genauso geisterhaft aus wie sie selbst. »Das ist mir gleich«, erwiderte Anne. »Ich kann nicht in dieses grauenvolle kleine Zimmer zurück, nicht jetzt, nicht so.« »Aber dort ist es sicherer, besonders jetzt ...« Austras Stimme versagte, als sie zu weinen begann. Sie setzte sich neben Anne, und sie umschlangen einander. »Ich kann es immer noch nicht fassen«, sagte Austra nach einer Weile. »Es kommt mir unmöglich vor. Vielleicht ist es ein unwahres Gerücht. Schließlich sind wir sehr weit weg von zu Hause.« »Ich wollte, ich könnte das glauben«, erwiderte Anne. »Aber die Neuigkeiten sind von den Cuveituren der
Kirche gebracht worden. Und ich weiß, dass es wahr ist. Ich kann es fühlen.« Sie wischte sich mit der Hand die Augen. »Es ist in derselben Nacht passiert, als sie versucht haben, uns zu töten. Die Nacht mit diesem purpurnen Mond, als die Ritter den Konvent niedergebrannt haben. Ich hätte mit ihnen sterben sollen.« »Deine Mutter lebt noch, und dein Bruder Charles auch.« »Aber mein Vater ist tot. Und Fastia, Elseny, Onkel Robert, alle tot, und Lesbeth ist verschwunden. Es ist zu viel, Austra. Und all die Schwestern aus dem Konvent der heiligen Cer, getötet, weil sie sich zwischen mich und ...« Sie schauderte und brach erneut in Schluchzen aus. »Und was sollen wir jetzt tun?«, fragte Austra nach einer Weile. Anne schloss die Augen und versuchte die Phantome zu ordnen, die hinter ihren Lidern herumwirbelten. »Wir müssen natürlich nach Hause«, erwiderte sie schließlich. Es klang, als spräche eine Fremde. »Alles, was sie gesagt hat...« Sie hielt inne. »Wer?«, fragte Austra. »Was wer gesagt hat? Was bedeutet das, Anne?« »Nichts. Ein Traum, den ich hatte, das ist alles.« 101 »Ein Traum?« »Das ist etwas, worüber ich nicht reden will.« Sie versuchte ihr Baumwollkleid glatt zu streichen. »Ich will eine Weile über gar nichts reden.« »Lass uns wenigstens irgendwohin gehen, wo wir mehr unter uns sind. Eine Kapelle vielleicht. Es ist schon fast Zeit für den dritten Glockenschlag.« Die Stadt erwachte um sie herum bereits aus ihrer täglichen Mittagsruhe. Das Treiben am Flussufer nahm zu, als die Leute von einem Schläfchen oder einem geruhsamen Mittagessen zu ihren Geschäften zurückkehrten, und die Illusion des Alleinseins wurde ausgelöscht. Die Pontro dachi Pelmotori wölbte sich ein paar Dutzend Perechi zu ihrer Rechten über den Za. Vor ein paar Augenblicken noch still, wimmelte es dort jetzt schon von Geschäftigkeit. Wie mehrere der Brücken von z'Espino war sie eher ein Gebäude mit Läden, die zu zwei oder drei Stockwerken übereinander ihre Seiten säumten, sodass sie die Menschen, die auf ihr dahingingen, nicht sehen konnten. Alles, was zu sehen war, war die mit rotem Stuck verzierte Fassade mit den dunklen Fenstermäulern. Die Brücke gehörte der Gilde der Metzger, und Anne konnte ihre Sägen arbeiten, konnte die Metzgerburschen mit den Kunden feilschen hören. Ein Eimer voll von irgendetwas Blutigem flog aus einem der Fenster und klatschte in den Fluss, wobei der Unrat nur knapp einen Mann in einem Boot verfehlte. Er begann zur Brücke hinaufzubrüllen und schüttelte die Faust. Als ein zweiter Eimer voll des gleichen Zeugs noch dichter neben ihm landete, schien er sich eines Besseren zu besinnen und machte sich wieder ans Rudern. Anne wollte Austra gerade beipflichten, als ein Schatten über sie fiel. Sie schaute auf und erblickte einen Mann, mit dunkler Haut - wie die meisten Vitellianer - und ziemlich hoch gewachsen. Sein grünes Wams war ausgeblichen und ein wenig abgenutzt. Er trug ein rotes und ein schwarzes Beinkleid. Seine Hand ruhte auf dem Knauf seines Degens. 102 »Dena dicolla, Casnaras«, sagte er mit einer kleinen Verbeugung. »Was macht so liebreizende Gesichter so lang und kummervoll?« »Ich kenne Euch nicht, Casnar«, erwiderte Anne. »Aber ich wünsche Euch einen guten Tag, mögen die Heiligen Euch segnen.« Sie blickte weg, doch er verstand den Wink nicht. Stattdessen stand er lächelnd da. Anne seufzte. »Komm«, sagte sie und zupfte an Austras Kleid. Die beiden erhoben sich. »Ich will Euch nichts zuleide tun, Casnaras«, versicherte der Mann hastig. »Es ist nur so, dass man im Süden nicht oft Haare aus Kupfer und Gold sieht und so reizende Nordlandakzente hört. Wenn sich dem Auge solche Schätze darbieten, ziemt es sich für einen Mann, jegliche Dienste anzubieten, die er leisten kann.« Ein kleines Frösteln kroch Annes Rückgrat hinauf. In ihrer Trauer hatte sie vergessen, ihren Kopf zu bedecken, und Austra auch. »Das ist sehr freundlich von Euch«, erwiderte sie rasch. »Aber meine Schwester und ich wollten gerade nach Hause gehen.« »Dann lasst mich Euch begleiten.« Anne ließ ihren Blick umherschweifen. Obgleich die Straßen über ihnen nun zu geschäftigem Leben erwachten, war dieser Teil der Terrasse so etwas wie ein Park, und hier war es noch recht ruhig. Um die Straße zu erreichen, mussten sie und Austra ungefähr zehn Ellen weit gehen und dann ein Dutzend Steinstufen hinaufsteigen. Der Mann stand zwischen ihnen und der nächsten Treppe. Und schlimmer noch, ein anderer Mann saß auf der Treppe und war mehr als nur beiläufig an ihrer Unterhaltung interessiert. Wahrscheinlich waren noch andere da, die sie bloß nicht sehen konnte. Sie richtete sich auf. »Werdet Ihr uns vorbeilassen, Casnar?« Er sah verblüfft aus. »Warum sollte ich Euch nicht vorbeilassen? Ich habe Euch doch gesagt, ich will Euch nichts zuleide tun.« »Nun gut.« Sie setzte sich in Bewegung; der Mann wich langsam zurück. 103
»Irgendwie haben wir auf dem falschen Fuß angefangen«, sagte er. »Mein Name ist Erieso dachi Sallatotti. Wollt Ihr mir nicht den Euren verraten?« Anne antwortete nicht, sondern ging weiter. »Oder vielleicht sollte ich raten?«, fuhr Erieso fort. »Vielleicht verrät mir ja eines der Vögelchen Eure Namen.« Anne war sich jetzt sicher, dass sie auch hinter ihnen jemanden hörte. Anstatt in Panik zu geraten, fühlte sie, wie rascher Zorn sich ihres Kummers als Flügel bediente, um sich hoch emporzuschwingen. Wer war dieser Mann, dass er sie an diesem Tag belästigte, ihre Trauer störte? »Ihr seid ein Lügner, Erieso dachi Sallatotti«, sagte sie. »Ihr wollt mir ganz gewiss etwas zuleide tun.« Der Schalk verschwand aus Eriesos Miene. »Ich habe nur vor, meine Belohnung einzustreichen«, erwiderte er. »Ich kann nicht verstehen, was jemand mit so einer blassen und unliebenswürdigen catella vorhat, aber es gibt Silber zu holen. Also kommt, werdet Ihr laufen, oder muß man Euch mitschleifen?« »Ich schreie«, warnte Anne. »Hier sind überall Leute.« »Das mag mich meine Belohnung kosten«, sagte Erieso, »aber es wird Euch nicht retten. Viele aus der Straßenwache suchen nach Euch, und die könnten Euch durchaus schänden, ehe sie ihr Silber einfordern. Das werde ich nicht tun, ich schwöre es beim Lord Mamres.« Er streckte ihr die Hand hin. »Kommt. Nehmt sie. So ist es am einfachsten für Euch und für mich.« »Wirklich?« Anne fühlte, wie ihr Zorn finsterer wurde. Doch sie griff nach seiner Hand. Als sich ihre Finger berührten, spürte sie seinen Puls, das nasse Fließen seines Inneren. »Cer verfluche Euch«, sagte sie. »Die Würmer kommen über Euch.« Eriesos Augen wurden riesengroß. »Ah!«, krächzte er. »Ah, nein!« Er krallte beide Hände in seine Brust und sank auf ein Knie, als wolle er sich verneigen. Dann übergab er sich. »Seid froh, dass Ihr mir nicht im Lichte des Mondes begegnet seid, Erieso«, sagte sie. »Und schätzt Euch noch glücklicher, dass 104 Ihr mich nicht in seiner Finsternis angetroffen habt.« Damit schritt sie an ihm vorbei. Der Mann auf der Treppe starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Er sagte nichts und verstellte ihnen nicht den Weg, als sie zur Straße hinaufstiegen. »Was hast du gemacht?«, fragte Austra atemlos, als sie in die Menge auf dem Vio Caistur eintauchten. »Ich weiß es nicht«, antwortete Anne. Als sie die Straße erreichten, waren fast aller Zorn und aller Mut aus ihr herausgebrannt und ließen nur Furcht und Verwirrung zurück. »Es war wie in jener Nacht beim Konvent, als die Männer gekommen sind«, sagte sie. »Als du den Ritter geblendet hast.« »Irgend etwas in mir ... es macht mir Angst, Austra. Wie kann ich solche Dinge tun?« »Es macht mir auch Angst«, stimmte Austra ihr zu. »Glaubst du, du hast ihn getötet?« »Nein, ich denke, er wird sich erholen. Wir müssen uns beeilen.« Sie bogen vom Vio Caistur in eine schmale Straße ein, eilten an Strumpfläden und einer Schenke vorbei, die nach gegrillten Sardinen roch, durch die Piata da Fufiono mit dem Alabasterspringbrunnen mit dem ziegenbeinigen Heiligen und immer weiter, bis die Straßen schmaler und verschlungener wurden und sie endlich den Perto Veto erreichten. Die Frauen waren bereits draußen auf ihren Baikonen, und mehrere Gruppen von Männern saßen auf den Stufen und tranken, genau wie am Tag zuvor. »Ich glaube, sie folgen uns immer noch«, sagte Austra und schaute sich um. Anne blickte ebenfalls zurück und sah eine Männerschar - fünf oder sechs - um die Ecke biegen. »Lauf«, sagte Anne. »Es ist nicht weit.« »Ich hoffe, Cazio ist da«, stieß Austra hervor. »Pfeif auf Cazio«, murmelte Anne. Die Mädchen rannten los. Sie waren erst ein paar Ellen weit ge105 kommen, als Erieso aus einer Seitenstraße trat, blass, aber wütend, einen anderen Mann an seiner Seite. Erieso zog seinen Degen, eine schmale, gefährliche Metallklinge. »Verzaubere das hier, Hexe«, fauchte er. »Ich habe gehört, dass sie tot genauso viel für dich bezahlen wie lebendig, und mein guter Wille ist mir gänzlich abhanden gekommen.« »Was für ein großer Stachel für so kleine Mädchen«, spottete eine Frau von ihrem Balkon. »Schön zu sehen, dass mal richtige Männer in unsere Straße kommen.« »Rediana!«, rief Anne, die die Frau erkannte. »Die wollen uns umbringen!« »Ach, jetzt mag die Gräfin mich, wie?«, rief Rediana herunter. »Nicht so wie gestern auf dem Fischmarkt, oder?« Erieso schnaubte. »Hier wirst du keine Hilfe finden, cara«, höhnte er. Kaum hatte er das gesagt, traf ein irdener Topf mit irgendetwas Übelriechendem darin seinen Gefährten genau auf den Schädel. Der Mann ging mit einem Stöhnen zu Boden und presste die Hände gegen seinen Kopf. Erieso schrie auf und begann auszuweichen, als ein Hagel aus verfaulten Früchten und Fischgräten aus mehr als einem Fenster auf ihn niederging.
Doch der Rest seiner Männer war jetzt eingetroffen, und sie schwärmten aus, um die Mädchen einzukreisen. Sie wurden in die Mitte der Straße gedrängt, wo keine schweren Gegenstände geworfen werden konnten. Alle Frauen auf der Straße schrien jetzt durcheinander. »Ich wette, der hat eine Elritze in der Hose«, brüllte eine. »Oder eine nasse kleine Schnecke, die sich vor lauter Angst in ihr Häuschen verkrochen hat.« »Geht zurück zur Nordstadt, wo ihr hingehört!« Doch Erieso, der sich sicher außer Reichweite aller gefährlichen Geschosse sah, hatte aufgehört, den Damen seine Aufmerksamkeit zu widmen. Wieder kam er auf Anne und Austra zu. »Ihr könnt uns nicht töten, nicht vor all den Leuten hier«, sagte sie. 106 »Im Perto Veto gibt es keine Leute«, erwiderte er. »Nur Gesindel. Selbst wenn jemand sich die Mühe machen sollte, davon zu berichten, niemand würde ihm zuhören.« »Schade«, ließ sich eine neue Stimme vernehmen. »Seine Geschichte wird nämlich ein interessantes Ende haben.« »Cazio!«, rief Austra. Anne schaute nicht hin - sie konnte den Blick nicht von Eriesos Degenspitze abwenden, und inzwischen kannte sie Cazio gut genug. »Und wer im Namen von Lord Ontro seid Ihr?«, wollte Erieso wissen. »Nun, ich bin Cazio Pachiomadio da Chiovattio, und ich bin der Beschützer dieser beiden Casnaras«, erwiderte der Angesprochene. »Und dies erweist sich als ein guter Tag, denn ich habe jemanden, vor dem ich sie beschützen kann. Ich wünschte nur, Ihr wärt keine so offenkundigen Feiglinge - das verdirbt mir die Freude. Aber was soll's.« Anne hörte Stahl aus Leder zischen. »Caspator«, sagte Cazio zu seinem Degen, »an die Arbeit.« »Wir sind zu sechst, du Narr«, entgegnete Erieso. Anne vernahm eine rasche Bewegung hinter sich, ein Keuchen, ein Gurgeln. »Ihr seid nicht gut im Zählen«, meinte Cazio. »Ich sehe nur fünf. Anne, Austra, kommt zurück. Schnell.« Anne tat wie geheißen und streifte Cazio fast, als er an ihr vorbeiglitt, den Degen gerade vorgestreckt. »Bleibt hinter mir«, wies er sie an. Jetzt jubelten die Frauen. Der Kerl, den Cazio bereits durchbohrt hatte, schleppte sich jämmerlich von der Straße weg, während der Degenkämpfer Erieso und seinen restlichen Männern gegenübertrat. Anne jedoch ließ sich von Cazios großspurigem Auftreten nicht täuschen - fünf waren zu viel, selbst für ihn. Sobald sie ihn umzingelt hatten ... Doch er zeigte keine Angst, sondern focht behäbig, fast als wäre er gelangweilt. Er tanzte vor, zurück, rundherum und hatte seine 107 Gegner einen Augenblick lang tatsächlich zu einem dicht gedrängten Haufen zusammengetrieben, während sich alle gleichzeitig verteidigten. Dann jedoch wurde ihnen sein Vorteil klar, und sie begannen, sich von der Seite an ihn heranzupirschen. Cazio parierte einen Angriff und vollführte eine seltsame Drehung, blockierte die Klinge seines Gegners und zwang die Spitze zur Seite, wo sie einen weiteren von Eriesos Männern traf. Gleichzeitig rammte sich Cazios Spitze hart in die Schulter seines eigentlichen Zieles. Beide Männer schrien auf und wichen zurück, doch keiner schien tödlich verwundet zu sein. »Za uno-en-dor«, erklärte Cazio ihnen. »Meine eigene Erfindung. Ich -« Er brach ab, um eine wilde Attacke zu parieren, dann duckte er sich rasch unter einem Stoß aus einer anderen Richtung hinweg. Er trat zurück, jedoch nicht schnell genug, um einem dritten Stoß zu entgehen, der ihn in die linke Schulter traf. Cazio ächzte und packte die Klinge, um sie dort festzuhalten, hatte jedoch nicht genug Zeit, um den Kerl zu durchbohren, denn schon drängten die anderen wieder heran. »Cazio!«, schrie Austra in nackter Angst auf. Dann traf eine Flasche einen der Männer am Kopf und ließ sein Ohr zu rotem Mus aufplatzen. Anne schaute sich um, um zu sehen, wer sie geworfen hatte, und stellte fest, dass etwa dreißig Männer aus dem Viertel, mit Messern und Holzkeulen bewaffnet, hinter ihr standen. Einer davon war Ospero. Er schnippte mit dem Daumen in Eriesos Richtung. »Ihr da«, knurrte Ospero schroff. »Was wollt Ihr von den Mädchen?« Eriesos Lippen wurden schmal. »Das ist meine Sache.« »Ihr seid im Perto Veto, holder Knabe. Das macht es zu unserer Sache.« Eriesos noch kampffähige Männer hatten sich zurückgezogen und waren neben ihn getreten. Einer hielt sich das Ohr, und Blut 108 lief ihm durch die Finger. Anne kam es auf einmal so vor, als sei sie zwischen zwei Löwen geraten. Eriesos Gesichtsausdruck veränderte sich mehrmals, ehe er schließlich seufzte. »Die da, mit den roten Haaren. Sie ist mit Fürst Latro verlobt, aber die dumme kleine catella ist in diesen Burschen da vernarrt und ist
fortgelaufen. Ich bin ausgeschickt worden, um sie zurückzuholen.« »Ach ja?«, erwiderte Ospero. »Gibt es eine Belohnung, wenn man sie zurückbringt?« »Nein.« »Warum solltet Ihr dann so dumm sein, ihr hierher zu folgen?« »Meine Ehre gebietet es. Ich habe versprochen, sie zurückzubringen.« »Aah ja. Fürst Latro, wie? Derselbe Fürst Latro, der unseren Fisch mit einem Zoll belegt hat, damit er seinen billiger verkaufen kann? Derselbe Fürst Latro, der Fuvro Olufio gehängt hat?« »Ich weiß nichts von diesen Dingen.« »Dann wisst Ihr nicht allzu viel. Aber ich sage Euch eins - wenn es Latro da Villanchi Schmerzen bereiten würde, wenn ich mir die Nase abschnitt, würde ich es mit Freuden tun. Er bekommt sein Mädchen zurück. Von uns. In Stücken.« Eriesos Gesicht rötete sich noch mehr. »Das werdet ihr nicht tun. Der Zorn des Fürsten wäre fürchterlich. Er würde den Meddisso Truppen hier herunterschicken lassen. Wollt ihr das?« »Nein«, gab Ospero zu. »Aber wir sind bescheiden, hier unten im Perto. Uns liegt nicht viel daran, die Lorbeeren für solcherlei Sachen einzuheimsen, uns liegt nur daran, dass es geschieht.« »Aber wie werdet ihr -« Eriesos Augen wurden groß, als die Männer plötzlich vorwärts stürmten. »Nein!« Er drehte sich um und rannte davon, und seine Helfershelfer flohen mit ihm. Ospero lachte, während er zusah, wie sie verschwanden. Dann wandte er sich wieder an Anne, Austra und Cazio. »Er hat gelogen, also nehme ich an, es ist wirklich eine Belohnung auf Euch ausgesetzt«, sagte er zu Anne. »Ich glaube, Ihr soll109 te mir lieber verraten, was für eine, und ich glaube, das solltet Ihr lieber sofort tun.« Wie um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, drängten sich Osperos Männer dichter heran. 8. Kapitel Der Basilnix Ich werde sterben, dachte Leoff. Es schien ein träger Gedanke zu sein; alles wirkte langsam und in ein eigentümliches goldenes Licht gehüllt. Er konnte jede Einzelheit an dem Mann erkennen, der ganz plötzlich auf ihn zukam. Sein Haar war hell und über der Stirn zu ungleichen Fransen geschnitten. Es war zu dunkel, um die Farbe seiner Augen bestimmen zu können, doch sie standen weit auseinander. Sein Wams war fast bis zum Bauch geöffnet. Seine Ohren standen ab. Er hatte sich ein Stück Stoff um den Kopf gebunden. Und hier war sein Schwert, schön wie eine Viper im Mondlicht. Dann kam etwas an ihm vorbeigeflogen, eine weitere Mondscheinscherbe, und traf den Mann hoch oben an der Brust. Das brachte ihn zum Stehen. Er stieß einen erschrockenen Laut aus und schaute nach unten. Etwas Metallenes landete auf dem Boden und sang einen vollkommenen Ton. Dieser schien in der Luft hängen zu bleiben, gestützt von einer seltsamen Folge aus Wohlklängen. »Verdammt«, sagte Gilmer. »Blöder Tattergreis«, knurrte der Mann und hob erneut das Schwert. »Dafür hole ich mir deine Männlichkeit, ehe du stirbst.« Doch dann zögerte er. Der Gesang, den Leoff vernommen hatte, war nicht in seinem Kopf. Er war hier, unterhalb der Mauer, ein Geräusch, das das Rü110 ckenmark gefrieren ließ. Nur widerstrebend nahm er zur Kenntnis, dass es Männer waren, die gellend brüllten oder zumindest aus voller Lungenkraft schrien. Der Mann mit dem Schwert stand genau neben der Brüstung, und er schaute hinüber. Dann versuchte er in das Lied einzustimmen. Sein Mund klaffte auf, und die Sehnen seines Halses traten wie Drähte hervor. Schließlich brach er einfach zusammen. »Was ist denn da los?« Gilmer schob sich vorwärts, um ebenfalls hinüberzuschauen, doch Leoff riss ihn auf die Steinplatten und lag da, versuchte ihn niederzuhalten. »Nicht«, keuchte er. »Nicht! Ich weiß nicht, was in dem Kasten war, aber ich weiß, dass wir es nicht ansehen dürfen.« Der Mann mit dem Schwert war so zu Boden gestürzt, dass sein Kopf ihnen zugewandt war. Selbst im Mondlicht konnten sie sehen, dass seine Augen zu Asche geworden waren, genau wie die der anderen Toten in Broogh. Von unten ertönte noch immer Geschrei. »Schaut nicht hin!« »Haltet euch die Augen zu! Lasst Reev und Hilman ihn einfangen!« »Es hat sie nicht alle erwischt«, flüsterte Leoff. »Was hat sie nicht alle erwischt?«, wollte Gilmer wissen. Leoff merkte, dass der alte Mann zitterte. Eine kräftigere, befehlsgewohntere Stimme übertönte die anderen: »Das ist von der Mauer gekommen. Da oben ist noch jemand. Findet ihn. Tötet ihn.« »Die meinen uns«, sagte Leoff.»Kommt. Und schaut nicht hin!« Die beiden Männer eilten die Treppe hinunter, zurück in die schweigende Stadt.
»Wie lange wird es dauern, bis sie um die Mauer herumgekommen sind?«, japste Leoff, während sie über das Kopfsteinpflaster rannten. »Nicht lange. Sie werden durchs Südtor kommen. Wir sollten uns lieber verstecken. Los, hier entlang.« 111 Gilmer führte Leoff um mehrere Ecken herum, über den Platz am Fuße des Glockenturms und eine weitere Straße hinauf. »Wie viele hat es wohl erwischt, was immer es war?« »Kann man nicht wissen.« »Psst!«, zischte Gilmer. »Halt. Horcht.« Leoff tat wie geheißen, und obgleich das Geräusch seines Herzschlags und seines Atems seine Ohren füllte, konnte er ausmachen, weshalb Gilmer angehalten hatte - die Schritte mehrerer Männer, die sich der Stelle näherten, wo sie standen. »Kommt, hier rein«, sagte Gilmer. Er entriegelte die Tür eines zweistöckigen Gebäudes, und sie schlüpften hinein. Sie stiegen die Treppe zum ersten Stock empor und traten in ein Zimmer mit einem Bett und einem mit Vorhängen versehenen Fenster. Gilmer steuerte darauf zu. »Nehmt Euch in Acht«, warnte Leoff. »Vielleicht haben sie es dabei.« »Auy, 'r habt Recht. Ich werde nur kurz hinausspähen.« Der kleinere Mann ging zum Fenster. Leoff beobachtete ihn beklommen, als sich von hinten eine Hand auf seinen Mund legte. »Psst«, sagte eine Stimme in sein Ohr. »Ich bin es, Artwair.« Selbst auf dieses leise Geräusch hin fuhr Gilmer herum. »Mylord Artwair!«, keuchte er. »Hallo, Windschmied«, sagte Artwair. »Was für Ärger habt Ihr uns denn da eingehandelt?« »Mylord?«, wiederholte Leoff. »Das wusstet 'r nicht?«, fragte Gilmer. »Sir Artwair ist unser Herzog, ein Vetter Seiner Hoheit König Charles.« »Nein«, antwortete Leoff, »das wusste ich nicht. Mylord -« »Still«, sagte Artwair. »Das ist jetzt nicht wichtig. Sie kommen, sie sind Euch dicht auf den Fersen, und sie werden Euch finden. Der Basilnix hat eine gute Nase.« »Basilnix?« »Auy Unsere dunkelsten Legenden erwachen in diesen Tagen zum Leben.« »Das ist es, was in der Kiste war?« 112 »Auy« Er grinste verkniffen. »Als ich ankam, sind sie mit ihm durch die Straßen gelaufen, haben damit herumgeleuchtet wie mit einer Laterne. Ich habe die letzten der Städter sterben sehen. Ich verdanke meiner alten Amme mein Leben, denn nur durch ihre Geschichten habe ich begriffen, was da vorging. Ich habe die Augen abgewandt, ehe sein Blick auf mich gefallen ist. Natürlich wäre ich erneut fast gestorben, als Ihr seinen Käfig zerschmettert habt, weil ich sie beobachtet habe. Trotzdem, das war schlau. Ich glaube, Ihr habt mehr als die Hälfte von ihnen getötet, bevor sie die Kreatur wieder zudecken konnten.« »Ihr habt es gesehen?« Artwair nickte. »Ich habe sie vom Südturm aus beobachtet.« »Wie haben sie es geschafft, dieses Wesen wieder einzufangen und zuzudecken?« »Sie haben zwei Blinde dabei«, antwortete Artwair. »Sie dienen als seine Wärter. Die anderen gehen hinter ihnen. Der Käfig ist wie eine Aenan-Lampe, auf allen Seiten geschlossen, außer auf einer. Es gibt ein Licht von sich, dieses Wesen, und hat man es einmal gesehen, so kann man ihm nur mit allergrößter Willenskraft widerstehen.« »Aber der Käfig ist doch jetzt zerschmettert.« »Auy Also müssen sie sich sehr vorsehen, und wir auch.« »Wir müssen fliehen, ehe sie uns finden.« »Nein«, sagte Artwair leise. »Ich glaube, wir müssen kämpfen. Zwei Männer sind auf dem Deich geblieben. Sie werden länger brauchen, aber trotzdem werden sie ihn durchbrechen, wenn wir ihnen die Zeit dafür geben. Das können wir nicht zulassen.« »Nein«, pflichtete Gilmer ihm bei. »Nicht, nachdem Broogh sein Leben gegeben hat.« »Aber wie können wir gegen etwas kämpfen, das wir nicht ansehen können?«, wollte Leoff wissen. Artwair hob etwas vom Boden auf: zwei Flaschen aus blauem Glas, mit Flüssigkeit gefüllt. Oben waren Lumpen hineingestopft worden. »Hier ist mein Plan«, sagte Artwair. 113 Augenblicke später stand Leoff oben an der Treppe. Artwair stand unter ihm auf dem ersten Absatz, ein Schatten, der einen Bogen vor sich hielt und einen Pfeil an die Sehne gelegt hatte. Gilmer kauerte mit fest zugekniffenen Augen hinter Leoff am Fenster. »Sie sind da«, drang Artwairs Stimme herauf. »Haltet Euch bereit.« Leoff nickte nervös. Er hielt mit einer Hand eine Kerze und mit der anderen eine der Flaschen voll Öl
umklammert. Gilmer war genauso bewaffnet. Leoff hörte, wie sich die Tür öffnete, und der Bogen sang einen tiefen Ton. »Die haben einen Bogen!«, kreischte jemand. »Die Treppe hinauf!«, befahl eine andere Stimme. »Sie können nicht treffen, was sie nicht sehen können. Wenn sie die Augen öffnen, sind sie tot.« Schritte kamen die Treppe herauf. Wieder surrte der Bogen, und wieder schrie jemand vor Schmerz auf. »Ein Glückstreffer!«, brüllte derjenige, der der Anführer zu sein schien. »Rauf da, und zwar schnell.« »Jetzt!«, schrie Artwair und rannte die Treppe hinauf. Leoff entzündete den ölgetränkten Lumpen. Und er sah ein Licht den Treppenabsatz überfluten. Es war wunderschön, golden, das vollkommenste Licht, das er jemals gesehen hatte. Ein Versprechen absoluten Friedens erfüllte ihn, und er wusste, dass er nicht weiterleben konnte, ohne die Quelle dieses Leuchtens erblickt zu haben. »Jetzt, habe ich gesagt!«, schrie Artwair. Aus weiter Ferne hörte Leoff Glas zerbrechen und neue Schreie von unten. Gilmer musste seine Flasche geworfen, musste auf die Haustür gezielt haben. Aber Gilmer hatte das Licht nicht gesehen, er verstand nicht... Jäh fielen Leoff die Leichen in der Schenke wieder ein. Er erinnerte sich an ihre Augen. Er schleuderte die Flasche auf den Treppenabsatz, den Artwair soeben verlassen hatte. Das Licht war heller und schöner denn je. 114 Noch während die Flammen aufblühten wie eine vielblättrige Rose, beugte Leoff sich vor, um einen Blick darauf zu erhaschen, nur einen flüchtigen Blick ... Und dann stieß Artwair ihn grob zu Boden. »Bei allen Heiligen, was tut Ihr denn da? Ihr dürft nicht hinsehen!«, grollte er. Noch mehr Schreie. Eine Nacht der Schreie. Das Öl brannte schnell, und ebenso das hauptsächlich aus Holz gebaute Haus. »Gilmer!«, brüllte Artwair. »Habt Ihr die Türschwelle getroffen?« »Auy, das habe ich«, antwortete dieser. »Ich dachte, es wäre das Risiko wert, schnell mal hinzusehen, da sie das Biest doch auf der Treppe hatten. Ich habe gut gezielt.« Er kratzte sich am Kopf. »Nur sitzen wir jetzt natürlich in einem brennenden Haus fest.« »Die aber auch«, erwiderte Artwair. Er ging zum Fenster, schob den Vorhang zurück und legte einen Pfeil an seine Bogensehne. »Jetzt wird abgerechnet«, sagte er. »Bewacht die Treppe. Wenn welche durchkommen, schreit.« Das Treppenhaus war bereits eine Flammenhölle, und erstickende Rauchschwaden wirbelten empor. Dies war auch eine Nacht des Feuers, dachte Leoff. Anscheinend war es ihm bestimmt, zu verbrennen. Über die Schreie und das Brüllen des Feuers hinweg hörte er den Bogen surren. Und dann noch einmal, als Artwair auf irgendetwas auf der Straße schoss. Dann kam ein Schatten durch die Flammen, etwas von der Größe eines Hundes, jedoch schlangengleich. Die Flammen färbten sich golden. Leoff kniff die Augen zu. »Schließt die Augen!«, schrie er. »Er kommt herauf!« »Folgt meiner Stimme«, erwiderte Artwair. »Das Fenster. Wir müssen springen.« »Hier«, sagte Gilmer. Er packte Leoffs Hand und zog ihn hoch. Der Geruch von vorhin war überall, und er fühlte seine Haut von mehr als nur der Hitze prickeln. "5 Dann berührte er den Fensterrahmen, und von Entsetzen getrieben ergriff er ihn, trat hindurch, hing einen Augenblick lang an den Fingern und ließ sich fallen. Sein Magen hob sich kopfwärts, und dann schien der Boden unter seinen Füßen zu bersten. Schmerzen, heller als die Sonne, leuchteten in ihm auf. Jemand zerrte an ihm. Schon wieder Gilmer. »Steht auf«, befahl der kleine Mann. Leoff versuchte zu antworten, würgte jedoch stattdessen an seiner eigenen Zunge. Artwairs Gesicht tauchte im rötlichen Feuerschein auf. »Er hat sich das Bein gebrochen. Helft mir, ihn hier wegzubringen.« Sie schleiften ihn von dem Feuer fort, das begonnen hatte, sich auszubreiten. Dunkelheit schlich sich heran, zusammen mit dem Schmerz, und Leoff merkte nicht mehr, was um ihn herum geschah. Das Nächste, was ihm deutlich bewusst wurde, war, dass sie in einem Boot waren, auf dem Kanal. »Bleibt bei ihm, Gilmer«, sagte Artwair grimmig. »Um zwei muss ich mich noch kümmern. Dann können wir gehen.« »Wohin?«, fragte Gilmer, und zum ersten Mal schwang Verzweiflung in seiner Stimme mit. »Meine Malend, meine Stadt...« Er weinte jetzt. Leoff ließ den Kopf zurücksinken und sah zu, wie der Rauch zu den Sternen aufstieg, während das Boot sanft auf dem Kanal schaukelte. Er versuchte, nicht an den Schmerz zu denken. »Was macht das Bein?«, erkundigte sich Artwair.
»Ein dumpfes Pochen«, antwortete Leoff und warf einen Blick darauf. Es war fest geschient worden, doch selbst jetzt sandte jeder Ruck, den der Karren auf der tief zerfurchten Straße machte, einen Stich bis in seinen Oberschenkel, sogar mit den Heuballen als Polster. Artwair hatte den Karren und den schweigsamen Mann, der ihn fuhr, gemietet. »Es war ein glatter Bruch, und es sollte gut heilen«, erklärte Artwair. 116 »Ja, ich habe wohl Glück gehabt«, gab Leoff düster zurück. »Auch ich trauere um Broogh«, sagte Artwair. Seine Stimme wurde sanfter. »Das Feuer hat nur ein paar Häuser vernichtet.« »Aber sie sind alle tot«, wandte Leoff ein. »Die meisten, auy«, gab Artwair zu. »Aber einige waren auf Reisen oder sind spät von den Feldern zurückgekommen.« »Und die Kinder?«, fragte Leoff. »Wer wird für sie sorgen?« Gilmer und Artwair hatten am Morgen nach dem Brand nacheinander die Häuser durchsucht. Sie hatten insgesamt dreißig Kinder gefunden, noch in der Wiege oder im Kinderbettchen. Diejenigen, die alt genug gewesen waren, um draußen zu sein, hatte das gleiche Schicksal ereilt wie ihre Eltern. »Man wird sich um sie kümmern«, antwortete Artwair. »Dafür wird ihr Herzog Sorge tragen.« »Ach ja«, seufzte Leoff. »Warum habt Ihr mir nicht gesagt, wer Ihr seid, Mylord?« »Weil man mehr erfährt, mehr sieht, wenn einen die Leute nicht ständig >Mylord< nennen«, erwiderte Artwair. »So manche Grefftschaft und so manches Königreich sind ins Verderben gestürzt, weil ihre Herren nicht wussten, was auf ihren Straßen und in ihren Gassen vorging.« »Ihr seid ein ungewöhnlicher Herzog«, sagte Leoff. »Und Ihr seid ein ungewöhnlicher Komponist - nehme ich an, obwohl ich noch nie von einem gehört hatte, ehe ich Euch begegnet bin. Ihr habt mir - und dem Reich - einen großen Dienst erwiesen.« »Das war Gilmer«, wehrte Leoff ab. »Ich habe es nicht begriffen. Ich wäre weit fortgerannt, wenn ich allein gewesen wäre. Ich bin kein Held, kein Mann der Tat.« »Gilmer hat sein ganzes Leben hier verbracht. Seine Pflicht und Schuldigkeit ist tief in seinem Gebein verwurzelt. Ihr seid ein Fremder und diesem Ort nichts schuldig - und wie Ihr sagt, Ihr seid kein Krieger. Trotzdem habt Ihr alles dafür aufs Spiel gesetzt. Ihr seid ein Held, Sir, umso mehr, als Ihr fliehen wolltet und es nicht getan habt.« »Und doch haben wir nur so wenige gerettet.« 117 »Seid Ihr toll? Habt Ihr eine Ahnung, wie viele zugrunde gegangen wären, wenn sie den Deich durchbrochen hätten? Was das das Reich gekostet hätte?« »Nein«, erwiderte Leoff. »Ich weiß nur, dass eine ganze Stadt umgekommen ist.« »Das kommt vor«, sagte Artwair. »Im Krieg und bei Hungersnöten, bei Überschwemmungen und Feuersbrünsten.« »Aber warum? Was wollten diese Männer? Woher hatten sie dieses grauenvolle Geschöpf?« »Ich wünschte, ich wüsste es«, entgegnete Artwair. »Ich wünschte wirklich, ich wüsste es. Als ich zum Deich zurückgekommen bin, waren die beiden letzten Männer geflohen. Der Rest ist dem Feuer oder dem Basilnix zum Opfer gefallen.« »Und die Kreatur?«, wollte Leoff wissen. »Ist sie entkommen?« Artwair schüttelte den Kopf. »Sie ist verbrannt. Da ist sie, dort, auf Galasts Rücken.« Leoff schaute hinüber. Das Packpferd trug ein unförmiges, in Leder gehülltes Bündel. »Ist das nicht gefährlich?« »Ich habe das Biest selbst eingewickelt, und mir ist nichts passiert.« »Wo kommt ein solches Wesen her?« Der Herzog zuckte die Schultern. »Vor ein paar Monaten wurde in Cal Azroth ein Gryffin zur Strecke gebracht. Noch vor einem Jahr hätte ich geschworen, dass solche Geschöpfe nichts anderes sind als Alven-Märchen für Kinder. Aber jetzt haben wir auch noch einen Basilnix. Es ist, als erwache rings um uns herum eine ganze verborgene Welt.« »Eine "Welt des Bösen«, sagte Leoff. »Die Welt hatte schon immer reichlich Böses zu bieten«, erwiderte Artwair. »Aber ich gebe zu, ihr Antlitz scheint sich zu verändern.« Gegen Mittag erblickte Leoff etwas, das er für eine Wolke am Horizont hielt. Nach und nach konnte er jedoch schlanke Türme und 118 die Wimpel darauf erkennen und begriff, dass das, was er vor sich sah, ein Hügel war, der aus der riesigen flachen Ebene von Neuland emporragte. »Ist es das?«, fragte er. »Auy«, antwortete Artwair. »Das ist Ynis, die Insel der Köni»Insel? Es sieht aus wie ein Hügel.«
»Hier ist es zu flach, um das Wasser sehen zu können. Der Magierfluss und der Taufluss treffen sich auf dieser Seite von Ynis, teilen sich und fließen darum herum. Auf der anderen Seite liegen die Schaumbrecherbucht und die Lierische See. Das Schloss dort ist Eslen.« »Es sieht groß aus.« »Das ist es auch«, erwiderte Artwair. »Es heißt, in Schloss Eslen gibt es mehr Gemächer als Sterne am Himmel. Ich weiß es nicht - ich habe weder das eine noch das andere je gezählt.« Bald erreichten sie die Stelle, wo die Flüsse sich vereinigten, und Leoff sah, dass Eslen sich tatsächlich auf einer Art Insel erhob. Der Taufluss - der Strom, den sie in der unglücklichen, dem Untergang geweihten Stadt Broogh überquert hatten - strömte in einen anderen, ebenfalls eingedeichten Fluss, den Magierfluss. Dieser war gewaltig, vielleicht eine halbe Meile breit, und gemeinsam bildeten die Flüsse eine Art See, aus dem die Hügel von Ynis steil emporragten. »Wir setzen mit der Fähre über«, erklärte Artwair. »Dann sorge ich dafür, dass Ihr den richtigen Leuten vorgestellt werdet. Ich habe keine Ahnung, ob Eure Stellung sicher ist, aber wenn, dann werden wir es herausfinden. Wenn nicht, kommt zu meinen Ländereien in Hautwarpen, und ich finde einen Platz für Euch.« »Danke, Mylord.« »Nennt mich Artwair - so habt Ihr mich schließlich kennen gelernt.« Als sie in Sichtweite des Fährstegs kamen, fürchtete Leoff schon, sie wären auf ein Heerlager gestoßen. Beim Näher kommen sah er, 119 dass dies, wenn es denn eins war, ein höchst bunt zusammengewürfeltes, ungeordnetes Heer war. Zelte und Wagen hatten eine Art Labyrinth gebildet, mit schmalen Gassen und kleinen Plätzen, fast eine behelfsmäßige Stadt. Rauch stieg von ein paar Kochfeuern auf, doch es waren nicht so viele, wie er erwartet hätte. Ihm fiel ein, dass Gilmer gesagt hatte, das Holz sei knapp. An Menschen herrschte jedenfalls kein Mangel. Leoff schätzte, dass mehrere tausend sich hier versammelt hatten, und die meisten hausten nicht in Zelten oder Wagen, sondern lagerten auf Decken auf dem nackten Boden. Sie sahen den Karren vorbeifahren, und auf ihren Gesichtern erschienen die verschiedensten Ausdrücke zumeist Gier, Zorn und Hoffnungslosigkeit. In der Mitte dieses zerlumpten Feldlagers befand sich ein ordentlicheres; auf sämtlichen Zelten wehten die Farben des Königs, und es mangelte nicht an bewaffneten Männern, die diese ebenfalls trugen. Als sie sich diesem Lager näherten, trat ihnen ein Mann in mittleren Jahren in den Weg. Ein harter, entschlossener Ausdruck lag in seinen Augen. »Verschwinde«, sagte der Fahrer. Der Mann beachtete ihn nicht und sah stattdessen Artwair an. »Mylord«, sagte er. »Ich kenne Euch. Als ich jünger war, habe ich in Eurer Stadtwache gedient.« Artwair blickte auf ihn herunter. »Was wollt Ihr?«, fragte er. »Mein Weib, Mylord, und meine Kinder. Nehmt sie mit in die Stadt, ich flehe Euch an.« »Und wo soll ich sie unterbringen?«, fragte Artwair leise. »Wenn in der Stadt Platz wäre, hätte man Euch hier nicht angehalten. Nein, sie sind draußen besser dran, mein Freund.« »Das sind sie nicht, Mylord. Das Grauen geht um in diesem Land. Alle reden vom Krieg. Ich bin kein Mann, der es leicht mit der Angst zu tun bekommt, Mylord Artwair, und doch fürchte ich mich. Und es ist feucht hier. Wenn der Regen kommt, haben wir keine Zuflucht.« »In der Stadt hättet Ihr auch keine«, sagte Artwair bedauernd. »Hier habt Ihr wenigstens Trinkwasser, weiche Erde und ein we120 nig zu essen. Dort drinnen hättet Ihr nichts als Betten aus Stein und Pisse, die man Euch aus den Fenstern auf den Kopf schüttet, damit Ihr sie gegen Euren Durst auflecken könnt.« »Aber wir hätten die Mauer«, wandte der Mann ein. Seine Stimme klang jetzt flehentlich. »Die Wesen, die Ihr fürchtet, werden sich von Mauern nicht aufhalten lassen«, erwiderte Artwair. Dann richtete er sich auf. »Sagt mir Euren Namen, Sir.« »Jan Readalvson, Mylord.« »Kommt mit mir in die Stadt, Fralet Readalvson. Ihr werdet selbst sehen, dass es dort keinen Platz für Eure Familie gibt, nicht im Augenblick. Des Weiteren gebe ich Euch einen Auftrag - Lebensmittel, Kleider und Zelte an die Menschen hier zu verteilen. Ich vertraue darauf, dass Ihr, nachdem Ihr Eure Familie versorgt habt, gerecht vorgehen werdet. Von Zeit zu Zeit werde ich nach Euch sehen. Das ist das Beste, was ich tun kann.« Readalvson verbeugte sich. »Ihr seid sehr großzügig, Mylord.« Artwair nickte. »Jetzt fahren wir weiter.« Sie gingen an Bord der Fähre und traten ihre kurze Fahrt über das Wasser an. Über ihnen ragte das Schloss wie ein Berg auf, und die Stadt wälzte sich herab wie dessen Ausläufer, eine Lawine aus Häusern mit schwarzen Dächern, die nur durch die mächtige Mauer aufgehalten wurde, die sie umgab. Als sie auf den breiten steinernen Kai zuhielten, sah Leoff, dass es dort ähnlich aussah wie auf dem Ufer, das sie gerade verlassen hatten. Hunderte von Menschen kauerten auf der anderen Seite des Kais, allerdings hatten sie keine Wagen oder Zelte, und in ihren Gesichtern war weniger Hoffnung zu finden.
»Ihr habt gesagt, Ihr hättet in meiner Wache gedient«, wandte Artwair sich an ihren neuen Begleiter. »Woher kommt Ihr jetzt?« »Ich hatte gehört, im Osten gäbe es Siedlungsland, in der Nähe des Königswaldes. Vor zehn Jahren bin ich dorthin gezogen und habe mir einen Hof gebaut.« Seine Stimme klang gebrochen. »Dann ist der Dornenkönig erwacht, oder zumindest erzählt man 121 sich das, und die schwarzen Ranken sind gekommen - und noch Schlimmeres.« Er blickte auf. »Manchmal kann ich immer noch die Schreie meiner Nachbarn hören.« »Sie sind umgekommen?« »Ich weiß es nicht. Die Geschichten - ich konnte es nicht wagen, nachzusehen, versteht Ihr? Ich musste an meine Kinder denken. Aber ich fühle sie immer noch in meinem Rücken, ich spüre immer noch das Schaudern in meinen Knochen.« Leoff verspürte ebenfalls ein Schaudern in seinen Knochen. Was war nur aus der Welt geworden? War das Ende wahrhaftig nahe, wenn der Himmel zersplittern und wie die Scherben eines zerbrochenen Topfes herabfallen würde? Als sie den Kai erreichten, drängte die Menge auf sie zu, doch die Stadtwache stieß die Menschen zurück, und eine Gasse bildete sich. Ein paar Momente später schwang das quietschende Tor weit auf, und sie betraten die Stadt. Ihr Weg führte sie in einen Hof und von dort durch ein zweites Tor. Die Mauern über ihnen waren voller Wachen, doch offensichtlich erkannten sie Artwair, und das innere Tor wurde geöffnet. Die Hauptstraße zum Schloss wand sich durch die Stadt, als wäre sie eine riesige Schlange, die den Hügel hinaufkroch. Leoff setzte sich auf und lehnte den Rücken gegen die Karrenwand, um besser sehen zu können, als sie an Kapellen aus uraltem Marmor vorbeiholperten, vom Regen und Rauch eines Jahrtausends verfärbt und verwittert, an Häusern mit steilen Dächern, die himmelwärts stachen, niedrigen Hütten mit weißen Wänden und rotem Fachwerk, die sich eng aneinander schmiegten, außer dort, wo schmale Gassen sie teilten. Die meisten Gebäude hatten ein Obergeschoss, das ein wenig überhing - einige wenige hatten zwei. Sie rollten auf einen weiteren Platz, in dessen Mitte die verwitterte Bronzestatue einer Frau stand, den Fuß auf den Hals einer geflügelten Schlange gesetzt. Die Bestie krümmte und wand sich unter ihrem Schuh, und ihr Gesicht war so kalt und unnahbar wie der Nordwind. 122 Fast hundert Menschen waren auf dem Platz versammelt, und einen Augenblick lang dachte Leoff, es wäre ein aufgebrachter Haufen, doch dann hörte er eine helle Sopranstimme und zog sich etwas weiter hoch. Auf dem breiten Podest der Statue gab eine Mimentruppe eine Vorstellung, begleitet von einer kleinen Gruppe Musikanten und Sänger. Die Instrumente waren einfach - eine Fiedel und eine Bassgeige, eine Trommel und drei Rohrflöten. Als Leoff vorbeikam, hatte eine Frau gerade aufgehört zu singen, während eine andere im grünen Kleid und mit vergoldeter Krone den Inhalt ihres Liedes dargestellt hatte. Die Schauspielerin schien mit einem Mann auf einem Thron zu reden. Leoff hatte den Text des Liedes nicht mitbekommen, denn die Menge brüllte zur Antwort und übertönte sie, doch die Melodie war simpel, eine wohl bekannte Wirtshausballade. Der Mann auf dem Thron richtete sich auf und grinste einfältig. »Wartet einen Moment«, bat Leoff. »Kann ich da ein bisschen zuhören?« Artwair warf ihm einen spöttischen Blick zu. »Ihr könnt Euch genauso gut gleich Euren ersten Eindruck vom Hof verschaffen. Ich glaube, die Dame in Grün soll unsere gute Königin Muriele sein.« Der Mann hustete, als wolle er sich räuspern. Drei Männer sangen im Chor. Er ist der König Ha, ha, ha Er ist der König Hi, hi,hi Was soll er bloß tun? Ha, ha, ha Von den Heil'gen berührt Hi, hi, hi Der Schauspieler brach in das hilflose Gelächter eines Schwachsinnigen aus und tollte ein wenig herum, während der Chor seine 123 Verse wiederholte. Eine lächerliche Gestalt mit einem riesigen Hut schloss sich dem Tanz des »Königs« an. »Unser geliebter König Charles«, sagte Artwair trocken. »Und sein Hofnarr.« Die Instrumente verstummten, und der Mime, der den König spielte, sagte etwas, das Leoff völlig unverständlich erschien. Eine unheimliche Gestalt in einer schwarzen Robe und mit einem langen, albernen Kinnbart kam auf die Bühne gerannt. Der Mann schwänzelte um die Königin herum. Er sang nicht, sondern sprach auf theatralische Weise, fast eine Art Sprechgesang. »Lasst mich übersetzen«, rief die schwarz gewandete Gestalt. »Liebwerte Königin, Euer Sohn hat mit der
Stimme der Heiligen verkündet, dass mir das gesamte Reich zu übergeben sei. Dass man mir die Schlüssel der Stadt überreichen möge, dass es mir gestattet sei, meine Hände liebkosend auf Euren -« Das Brüllen der Menge übertönte ihn. »Unser allseits geschätzter Praifec Hespero«, erklärte Artwair. »Was geht hier vor?« Eine Gruppe aus drei als Ratsherren verkleideten Männern kam stolpernd und einander anrempelnd herbeigerannt. Am Fuß des Podests begann ein Chor zu singen: Hier, hier sind der Edlen drei Der Praifec ist im Irrtum, so meinen sie Charles spricht Fing, nicht Kirchlitanei Und sie behaupten, er sagte dies ... Sie hielten inne, und die Musik wechselte den Takt, wurde zu einem recht fröhlichen Tanz. Hinauf mit dem Zehnten Verrammelt die Stadt Bringt Jungfern und Kuchen Krieg macht nicht satt Sehen nicht, was echt und wahr Sind drei töricht Edle gar. 124 pie »Edelleute« hielten sich die Augen zu, und der Chor sang eine neue Strophe, während sie um die Königin herumhüpften. »Unser weiser, verehrter Comven«, sagte Artwair. Die Königin richtete sich inmitten all dieses Treibens auf. »Die Königin fleht«, deklamierte sie. »Ist denn niemand zur Hand, der uns in dieser Zeit der Finsternis errettet?« Dann stimmte der Chor ein Lied von Trauer und Verlust an, ein Klagelied um die Kinder der Königin, während sie einen Tanz für die Toten aufführte und die anderen Lieder als Kontrapunkt wiederkehrten. »Komponiert Ihr solche Dinge?«, wollte Artwair wissen. »Eigentlich nicht«, antwortete Leoff, fasziniert von dem Schauspiel. »Ist so etwas hier üblich?« »Der Mummenschanz? Auy, aber das ist etwas für den Marktplatz, Ihr versteht. Dem einfachen Volk gefällt das. Der Adel tut so, als gäbe es dergleichen nicht - es sei denn, sie gehen zu weit, wenn sie sich über die Edelleute lustig machen. Dann haben die Mimen vielleicht ein tragischeres Ende für ihr Stück.« Er warf einen Blick auf die Sänger. »Wir sollten lieber weiterfahren.« Leoff nickte nachdenklich, während Artwair sich an den Kutscher wandte, der Karren sich knarrend wieder in Bewegung setzte und sie durch immer reichere Viertel den Hügel hinauffuhren. »Die Menschen scheinen wenig Vertrauen zu ihren Führern zu haben«, bemerkte Leoff, der über den Inhalt des Mimenstücks nachdachte. »Die Zeiten sind schwer«, erwiderte Artwair. »William war nur ein mittelmäßiger König, aber das Königreich hatte Frieden und gedieh, und jeder mochte ihn. Jetzt ist er tot, zusammen mit Elseny und Lesbeth, die beide wirklich geliebt wurden. Der neue König, Charles - nun, die Darbietung, die Ihr eben gesehen habt, war nicht ungerechtfertigt. Er ist ein netter Bursche, aber von den Heiligen berührt. Unsere Verbündeten haben sich gegen uns gewendet, sogar Liery, und Hansa droht mit Krieg. Dämonen kriechen aus ihren Löchern, Flüchtlinge drängen sich in den Straßen, und 125 alle Marschhexen sagen Unheil voraus. In Zeiten wie diesen brauchen die Menschen einen starken Führer, und sie haben keinen.« Er seufzte. »Ich wollte, diese wenig schmeichelhafte Darstellung des Hofes wäre das Schlimmste, aber die Gilden sind in hellem Aufruhr, und ich fürchte, es wird nicht mehr lange dauern, bis Hungeraufstände ausbrechen. Die halbe Ernte ist in der Nacht des Purpurmondes auf den Feldern verdorrt, und der Fischfang war schlecht.« »Was ist mit der Königin? Ihr habt gesagt, sie sei stark.« »Auy. Stark und wunderschön und so weit von ihrem Volk entfernt wie die Sterne. Und natürlich stammt sie aus Liery. In diesen Zeiten, wo Liery abtrünnig zu werden droht, trauen manche ihr nicht.« Leoff ließ sich das durch den Kopf gehen. »Die Neuigkeiten aus Broogh werden das Ganze nicht besser machen, nicht wahr?« »Kein bisschen. Aber besser, als wenn Neuland in den Fluten untergegangen wäre.« Er schlug Leoff auf die Schulter. »Keine Bange. Nach dem, was Ihr getan habt, werden wir schon irgendein Auskommen für Euch finden.« »Oh«, sagte Leoff. Er hatte gar nicht an seine eigenen Sorgen gedacht. Die Augen von Broogh ließen es nicht zu. 9. Kapitel Anträge Vom Thron aus konnte man weit in den Saal sehen, eine Galerie aus Messerspitzen und Gift. Die Säulen des Großen Thronsaals ragten wie mächtige Baumstämme in einen bleichen Dunst aus kaltem Licht empor, das durch die hohen Fenster hereinfiel. Über dieser rauchigen Schicht lag ein 126 weiteres, tieferes Gewölbe der Dunkelheit. Tauben gurrten und flatterten dort, denn es war unmöglich, sie von dem riesigen Raum fern zu halten, genauso wie die Katzen, die hinter den Vorhängen und Wandbehängen herumschlichen und Jagd auf sie machten. Muriele fragte sich oft, wie sich ein so riesiger leerer Raum derart schwer anfühlen konnte. Es war, als würde man in dem Moment, da man durch die großen Bronzetore trat, die den Eingang des Saales bildeten, so tief unter
die Erde versetzt, dass die Luft selbst zu einer Art Stein wurde. Gleichzeitig kam es ihr vor, als befände sie sich in gefährlich großer Höhe, als würde sie von einem Berggipfel stürzen, wenn sie durch eines der Fenster hinausträte. Es schien, als wäre in den Symmetrien dieses Saales das Schlimmste aus Himmel und Hölle gegenwärtig. Ihr Gemahl, der verstorbene König William, hatte den Großen Thronsaal nur selten benutzt; er hatte für seine Audienzen den Kleinen Saal vorgezogen. Dieser war unter anderem leichter zu heizen, und heute herrschte im Großen Saal Eiseskälte. Sollen sie frieren, dachte Muriele, als sie ihren Blick über die Versammelten schweifen ließ. Mögen sie mit den Zähnen klappern. Soll ihnen Taubendreck auf ihre Gewänder aus Samt und Brokat fallen. Soll dieser Saal sie zermalmen. Sie betrachtete die Menschen, die vor dem Thron standen, und sie hasste sie alle. Irgendjemand - wahrscheinlich jemand, der jetzt dort stand und sie anstarrte - hatte den Mord an ihren Kindern ausgeheckt oder dabei geholfen. Irgendjemand dort im Saal hatte ihren Gemahl getötet. Irgendjemand dort hatte ihr nichts als dies hier gelassen ein Leben in Furcht und Trauer, und soweit es sie betraf, hätten sie es ebenso gut alle miteinander sein können. Messerspitzen und Gift. Fünfhundert Menschen, die alle etwas von ihr wollten, von denen etliche ihr nach dem Leben trachteten. Einige der Letzteren waren leicht auszumachen. Dort war das blasse Antlitz von Ambria Gramme, den schwarzen Trauerflor auf dem Kopf, als wäre sie Königin gewesen und nicht lediglich die Geliebte des Königs. Dort war Ambrias ältester Bastard, he127 rausgeputzt, wie ein Prinz gekleidet sein mochte. Dort waren Grammes drei Liebhaber aus dem Comven, dicht an sie gedrängt, wie um sie aus der Menge herauszuheben, in seliger Unwissenheit - oder vielleicht auch Gleichgültigkeit - gegenüber der Tatsache, dass sie alle drei einander gegenseitig zum Hahnrei machten. Gramme würde sie innerhalb eines Herzschlags umbringen, wenn sie glauben würde, damit davonkommen zu können. Zu Murieles Linker stand Praifec Hespero in seinen schwarzen Gewändern und mit seiner viereckigen Kappe; eine Hand hob sich beiläufig und strich über den schmalen Kinnbart, während er, fast ohne zu blinzeln, jedes Wort um ihn herum in sich aufnahm und es in seine Pläne einflocht. Was wollte er? Er gab sich als Freund, natürlich, als Ratgeber, aber die Männer, die ihre Töchter umgebracht hatten, hatten die Roben der Kirche getragen. Es hatte geheißen, sie seien Abtrünnige gewesen, doch wie konnte sie irgendetwas für erwiesen halten? Und hier, dicht vor ihren Füßen, kam eine neue in Seide gehüllte Hundemeute geduckt näher, starrte sie an, wollte sehen, ob sich ihr Hals ihren Zähnen darbot. Sie wünschte sich, sie könnte sie einfach töten, sie wie Tiere hinschlachten und an die Tauben verfüttern lassen. Doch das konnte sie nicht. In Wahrheit hatte sie nur wenige Waffen. Und eine davon war ihr Lächeln. Also lächelte sie den Anführer der Meute an und nickte, und zu ihrer Linken ahmte ihr Sohn auf dem Herrscherthron sie nach, indem er mit dem Kopf nickte und damit anzeigte, dass der Hund sich aus seiner knienden Stellung erheben und bellen durfte. »Euer Majestät«, sagte er, an ihren Sohn gewandt, »es ist eine Freude, Euch zu sehen.« Charles, der König - ihr Sohn - machte große Augen. »Euer Mantel ist hübsch«, stellte er fest. Das stimmte in der Tat. Der Erzgrefft Valamhar af Aradal schätzte feine Gewänder. Der Mantel, den ihr Sohn so bewunderte, war aus elfenbein- und goldfarbenem Brokat und bedeckte ein 128 seegrünes Wams, das zu den Augen des Erzgreffts passte. Allerdings passte es nicht zu seinem geröteten Gesicht mit den schwellenden Adern oder zu seiner fettleibigen Gestalt. Seine Wachen, in schwarzroten Überwürfen, waren von schlankerer Statur, jedoch nicht weniger grell gekleidet. »Ich danke Euch, Euer Majestät«, erwiderte der Gesandte im Tonfall vollkommener Aufrichtigkeit, ohne auf das unterdrückte Gekicher zu achten, als wäre dies eine völlig normale Antwort für einen König. Doch sie sah den Spott, der sich in seinen Augen verbarg. »Königinmutter«, schnurrte Aradal und verbeugte sich jetzt vor Muriele. »Ich hoffe, Euch wohlauf vorzufinden.« »In der Tat, durchaus wohlauf«, antwortete Muriele munter. »Es ist stets ein Vergnügen, unsere Vettern aus Hansa willkommen zu heißen. Bitte übermittelt Eurem Herrscher Marcomir meine Freude über Eure Anwesenheit.« Wieder verbeugte sich Aradal. »Das werde ich getreulich tun. Ich hoffe allerdings, ihm noch mehr zu überbringen.« »Gewiss«, sagte Muriele. »Ihr mögt ihm meine Beileidsbekundung zum Tod des Herzogs von Austrobaurg überbringen. Ich glaube, der Herzog war ein enger Freund Seiner Majestät.« Aradal furchte die Stirn, nur ganz kurz, und Muriele beobachtete ihn genau. Austrobaurg und ihr Gemahl waren zusammen auf der vom Wind umtosten Landspitze von Aenah umgekommen, bei irgendeinem geheimen Treffen. Austrobaurg war ein Vasall Hansas gewesen. »Das ist überaus gütig, Euer Majestät. Diese ganze Angelegenheit ist ebenso verwirrend wie tragisch.
Austrobaurg wird schmerzlich vermisst werden, ebenso wie König William und Prinz Robert. Ich hoffe - so wie ich weiß, dass auch Ihr hofft -, dass die Schurken, die hinter dieser Schandtat stecken, bald zur Rechenschaft gezogen werden.« Als er das sagte, warf er einen kurzen Blick auf Sir Fail de Liery. Die Leichen auf der Landspitze waren mit lierischen Pfeilen gespickt gewesen. 129 Sir Fail lief dunkelrot an, entgegnete jedoch nichts - was für seine Verhältnisse bewundernswerte und fast unerhörte Selbstbeherrschung bedeutete. Muriele seufzte und wünschte sich, Erren wäre noch an ihrer Seite. Erren hätte augenblicklich gewusst, ob Aradal irgendetwas verbarg. Für Muriele klang er aufrichtig. »Es sind beklagenswert viele Leben verloren gegangen in diesen letzten Monaten«, fuhr er fort und sah wieder Charles an. Er verneigte sich. »Euer Majestät, ich weiß, dass Eure Zeit kostbar ist. Ob ich wohl direkt zur Sache kommen darf?« »Ich befehle es«, erwiderte Charles und warf einen verstohlenen Seitenblick auf Muriele, um zu sehen, ob er auch das Richtige gesagt hatte. »Danke, Euer Majestät. Wie Ihr wohl wisst, sind dies in vielerlei Hinsicht unruhige Zeiten. Unheimliche Geschöpfe treiben des Nachts ihr Unwesen, schreckliche Prophezeiungen scheinen in Erfüllung zu gehen. Das Verhängnis droht allenthalben, am schrecklichsten Eurer Familie.« Mein Gesicht ist aus Stein, sagte sich Muriele im Stillen. Doch selbst Stein würde schmelzen, müsste er ihren Zorn eindämmen. Sie wusste nicht mit Sicherheit, wer den Mord an ihrem Gemahl und ihren Töchtern eingefädelt hatte, doch es konnte kaum Zweifel geben, dass Hansa damit zu tun hatte, trotz des Rätsels um Austrobaurg. Hansische Könige hatten einst auf dem Thron gesessen, den ihr Sohn jetzt innehatte, und sie hörten niemals auf, davon zu träumen, ihn eines Tages wieder unter ihrem Hinterteil zu haben. Doch wenn es auch wenig Zweifel an ihrer Beteiligung gab, so gab es auch wenig Beweise. Also tat sie ihr Bestes, Haltung zu bewahren, sorgte sich jedoch, dass es ihr vielleicht nicht ganz gelingen mochte. »Seine Majestät hat mich gesandt, um in diesen Sorgentagen unsere Freundschaft anzubieten. Unter den Augen der Heiligen sind wir alle vereint. Wir hoffen, alle unerfreulichen Verstimmungen zwischen uns aus der Welt zu schaffen.« 130 »Eine höchst lobenswerte Geste«, erwiderte Muriele. »Mein Herrscher bietet mehr als eine Geste, Mylady«, sagte Aradal. Er schnalzte mit den Fingern, und einer seiner Diener legte ihm einen Kasten aus poliertem Rosenholz in die Hände. Dann verneigte er sich und reichte ihn Muriele. »Gewiss ist das doch für meinen Sohn bestimmt, Erzgrefft«, sagte Muriele. »Geschenk?«, nuschelte Charles. »Nein, Mylady. Es ist für Euch. Ein Zeichen der Gewogenheit.« »Von Marcomir?«, fragte sie. »Einem verheirateten Mann? Doch nicht zu gewogen, will ich hoffen.« Aradal lächelte. »Nein, Mylady Es ist von seinem Sohn, Prinz Berimund.« »Berimund?« Sie hatte Berimund zum letzten Mal gesehen, als er fünf Jahre alt gewesen war, und das schien noch nicht allzu lange her zu sein. ».K/ezVz-Berimund?« »Der Prinz ist jetzt dreiundzwanzig, Königinmutter.« »Ja, und deshalb könnte ich leicht seine Mutter sein«, entgegnete Muriele. Gedämpftes Gelächter war daraufhin ringsum im Hofstaat zu vernehmen. Aradals Gesicht wurde noch röter. »Mylady -« »Lieber Aradal, ich scherze doch nur«, beschwichtigte sie. »Lasst uns sehen, was der Prinz uns geschickt hat.« Der Diener öffnete den Kasten und brachte eine erlesene Gürtelkette aus geschmiedetem Gold mit Smaragden zum Vorschein. Muriele lächelte etwas breiter, ließ ein wenig die Zähne sehen. »Sie ist bezaubernd«, sagte sie. »Aber wie kann ich sie annehmen? Ich trage bereits die Kette des Hauses Dare. Zwei kann ich nicht tragen.« Aradals Gesicht verfärbte sich ein wenig. »Euer Majestät, lasst mich offen sprechen. Die Freundschaft, die mein Herr Berimund Euch entbietet, ist von geneigtester Natur. Er wünscht Euch zu seiner Braut zu machen - und eines Tages zur Königin von Hansa.« »O weh«, erwiderte Muriele. »Großherziger und großherziger, wann ist denn der Prinz in dieser großen Liebe für mich ent131 brannt? Ich bin über die Maßen geschmeichelt. Dass eine Frau meines Alters noch solche Leidenschaft wecken kann -« Sie brach ab, wohl wissend, dass sie nur Augenblicke davon entfernt war, die Worte auszusprechen, die einen Krieg auslösen würden. Sie hielt inne und atmete tief durch, ehe sie fortfuhr. »Das Geschenk ist wunderbar«, sagte sie. »Doch ich fürchte, dass mein Kummer noch zu frisch ist, um es anzunehmen. Wenn es dem Prinzen mit seinen Absichten ernst ist, so bitte ich ihn darum, dass er mir Zeit geben möge, um mich zu erholen, bevor er seine Werbung fortsetzt.« Aradal verbeugte sich, dann trat er näher und senkte die Stimme. »Majestät«, flüsterte er. »Seid nicht unklug. Ihr
mögt mir vielleicht nicht glauben, aber ich habe Euren Gatten nicht nur geachtet, ich habe ihn geschätzt. Ich bin nur ein Bote - ich setze keine Staatsangelegenheiten in Hansa in Bewegung. Aber ich weiß ein wenig über Eure Stellung hier, und sie ist gefährdet. In Zeiten wie diesen müsst Ihr an Eure Sicherheit denken. William hätte das gewollt.« Muriele dämpfte ihrerseits die Stimme, um sie der des Erzgreffts anzupassen. »Maßt Euch nicht an, für den Geist meines Gemahls zu sprechen«, erwiderte sie. »Er ist noch nicht sehr lange kalt. Dieses Angebot, zu diesem Zeitpunkt, ist unangemessen. Das wisst Ihr, Aradal. Ich habe gesagt, ich ziehe es in Erwägung, und das werde ich auch tun. Das ist das Beste, was ich im Augenblick anbieten kann.« Aradals Stimme wurde noch leiser, während alle im Saal sich anstrengten, dem Gespräch zu folgen. »Ich stimme Euch zu, Lady, dass der Zeitpunkt nicht gut gewählt ist«, gestand er. »Ich hätte diese Angelegenheit nicht so gehandhabt. Aber die Zeit ist gegen uns alle. Die Welt ist randvoll mit Krieg und Verrat. Wenn Ihr schon nicht an Eure Sicherheit denken wollt, so denkt an Euer Volk. Nach allem, was geschehen ist, braucht Crothenien da einen Krieg?« Muriele zog die Brauen zusammen. »Ist das eine Drohung, Erzgrefft?« »Ich würde Euch niemals drohen, Lady. Ich empfinde nichts als Mitleid für Eure Lage. Aber es ist keine Drohung, finstere Wolken 132 zu betrachten und zu vermuten, dass ein Sturm heraufzieht. Es ist keine Drohung, einem Freund zu raten, Schutz zu suchen.« »Ihr seid ein Freund«, log Muriele. »Das sehe ich. Ich werde Euren Rat gründlich in Erwägung ziehen, aber ich kann und werde Euch heute keine Antwort geben.« Aradals Miene war grimmig, doch er nickte. »Wie Ihr wünscht, Majestät. Doch wenn ich an Eurer Stelle wäre, Euer Hoheit, würde ich nicht zu lange zögern.« »Ihr werdet nicht eine einzige weitere Sekunde zögern«, brüllte Fail de Liery Sein Gesicht war vor Wut so rot, dass sein Haar eine weiße Rauchwolke hätte sein können, die von ihm aufstieg. »Ihr werdet dieser aufgeblasenen hansischen Auster sagen, dass Ihr jegliche Annäherungsversuche seines schwachköpfigen Prinzen aufs Nachdrücklichste zurückweist.« Muriele sah einen Moment lang zu, wie ihr Onkel wie ein angeketteter Birsirk auf und ab lief. Der Hof hatte sich zurückgezogen, und sie befanden sich in ihrem privaten Sonnenzimmer, einem Gemach, das ebenso offen und luftig war wie der Thronsaal kalt und hart. »Ich muss mir den Anschein geben, alle Angebote in Betracht zu ziehen«, sagte sie. »Nein«, wehrte er ab und zeigte mit dem Finger auf sie. »Das ist ganz sicher nicht wahr. Ihr könnt nicht ernsthaft darüber nachdenken - oder auch nur so tun, als tätet Ihr es -, das Reich Crothenien Marcomirs Erben auszuliefern.« Muriele verdrehte die Augen. »Welchem Erben? Selbst wenn ich ihn heiraten würde, müsste ich erst einmal einen zur Welt bringen. Selbst wenn ich wollte - und das tue ich nicht -, glaubt Ihr wirklich, dass ich in meinem Alter dazu imstande wäre?« »Das ist egal«, fauchte Sir Fail. »Hier greift ein Rad ins nächste. Euch zu heiraten verhilft ihm zum Thron, in jeder Hinsicht, außer dem Namen nach.« Er schlug mit der flachen Hand auf das Fenstersims. »Ihr müsst Lord Selqui heiraten«, blaffte er. Muriele zog eine Braue empor. 133 »Muss ich?«, fragte sie kalt. »Ja, Ihr müsst. Das ist unbedingt das Beste, und ich habe gedacht, Ihr würdet das einsehen.« Sie erhob sich, ballte die Fäuste so fest, dass ihr die Nägel in die Handflächen schnitten. »Ich habe mir jetzt fünf Heiratsanträge angehört, während Williams Atem noch warm im Wind treibt. Ich bin so geduldig und so liebenswürdig gewesen, wie es mir nur möglich ist. Aber Ihr seid mehr als ein ausländischer Gesandter, Fail de Liery. Ihr seid mein Onkel. Von meinem Blut. Ihr habt mich auf Euer Knie gesetzt, als ich fünf war, und mir vom Wasserpferd erzählt, und ich habe gelacht wie jedes andere Kind und Euch geliebt. Jetzt seid Ihr einer von denen geworden, ein weiterer Mann, der in mein Haus marschiert und mir sagt, was ich zu tun habe. Von Euch lasse ich mir das nicht gefallen, Oheim. Ich bin kein kleines Mädchen mehr, und Ihr werdet meine Zuneigung nicht ausnutzen.« Fail riss die Augen auf, dann wurden seine Züge ein wenig weicher. »Muriele«, sagte er, »es tut mir Leid. Aber wie Ihr sagt, wir sind vom selben Blut. Ihr seid eine de Liery. Die Kluft zwischen Crothenien und Liery wird größer. Das ist nicht Eure Schuld -aber da war etwas, das William im Schilde geführt hat. Habt Ihr gewusst, dass er der Salzmark Schiffe für ihren Krieg gegen die Kummerinseln geliehen hat?« »Das ist ein Gerücht«, erwiderte Muriele. »Es geht auch das Gerücht um, dass lierische Bogenschützen meinen Gemahl getötet haben.« »Das könnt Ihr doch nicht glauben. Die Beweise dafür waren ganz offenkundig erfunden.« »Im Augenblick könnt Ihr Euch nicht vorstellen, was ich glaube«, gab Muriele zurück. Fail schien eine Bemerkung herunterzuschlucken, dann seufzte er. Plötzlich sah er uralt aus, und einen Augenblick lang wünschte sie sich nichts sehnlicher, als ihn zu umarmen, die raue alte Wange an der ihren zu
spüren. »Was auch immer die Ursache ist«, sagte Fail, »das Problem 134 bleibt bestehen. Ihr könnt diese Wunde heilen, Muriele. Ihr könnt unsere Länder wieder zusammenführen.« »Und Ihr glaubt, Crothenien und Liery können gemeinsam Hansa trotzen?« »Ich weiß, dass es allein keiner von uns beiden kann.« »Das war nicht meine Frage.« Er blies die Backen auf und nickte. »Ich bin eine de Liery«, sagte sie. »Ich bin auch eine Dare. Zwei Kinder sind mir geblieben, und beide sind Erben dieses Throns. Ich muss ihn für sie bewahren.« Fails Stimme wurde noch sanfter. »Es ist wohl bekannt, dass Charles keine Kinder zeugen kann.« »Den Heiligen sei Dank, sonst müsste ich mich mit Anträgen für seine Hand befassen.« »Dann meint Ihr Anne, wenn Ihr von Erben sprecht. Muriele, für Williams Einsetzung seiner Töchter als Erben gibt es so gut wie keinerlei Beispiel. Die Kirche ist dagegen - Praifec Hespero zieht bereits dafür zu Felde, das Gesetz annullieren zu lassen. Und selbst wenn es Bestand hat, was ist, wenn Anne ...« Er stockte, seine Lippen wurden schmal. »Was ist, wenn Anne tot ist?« »Anne lebt.« Fail nickte. »Ich hoffe inständig, dass Anne noch am Leben ist. Nichtsdestotrotz, es gibt noch andere Erben, die in Betracht gezogen werden könnten, und Ihr wisst, dass sie auch in Betracht gezogen werden.« »Nicht von mir.« »Vielleicht werdet Ihr das nicht entscheiden.« »Ich werde sterben, lange bevor ich einen von Ambria Grammes Bastarden den Thron besteigen sehe.« Fail lächelte grimmig. »Sie ist sehr umtriebig in Staatsangelegenheiten«, sagte er. »Sie hat mehr als die Hälfte des Comven auf ihre Seite gebracht, wie Euch bekannt sein muss. Muriele, Ihr müsst Euch versöhnen, sowohl mit dem Comven als auch mit dem Volk Eures Vaters. Dies ist nicht der richtige Zeitpunkt, um Crothenien noch tiefer zu spalten.« 135 »Ebenso wenig ist es der richtige Zeitpunkt, zur lierischen Herrschaft zurückzukehren.« »Das schlage ich auch nicht vor.« »Genau das schlagt Ihr sehr wohl vor.« »Muriele, Liebes, es muss etwas geschehen. So kann es nicht weitergehen. Charles besitzt nicht das Vertrauen der Menschen - er wird es nie besitzen. Sie wissen, dass die Heiligen ihn berührt haben, und in freundlicheren Zeiten wäre ihnen das vielleicht gleichgültig. Aber es passieren schreckliche Dinge, Dinge jenseits unseres Verständnisses. Manche sagen, das Ende der Welt stehe bevor. Sie wollen einen starken Führer, einen mächtigen Führer. Und da ist immer noch die Tatsache, dass er keinen Erben zeugen kann.« »Anne könnte eine starke Führerin sein.« »Anne ist ein eigenwilliges Kind, und das ganze Königreich weiß das. Außerdem wird mit jedem Tag das Gerücht lauter, dass Anne das Schicksal ihrer Schwestern teilt. Die Gefahren an Euren Grenzen mehren sich. Wenn Ihr Hansa den Thron nicht durch eine Heirat gebt, werden sie ihn sich mit Gewalt holen. Nur ihre Hoffnungen und die schwache Sorge, dass die Kirche eingreifen könnte, haben sie so lange zaudern lassen.« »Das weiß ich alles«, sagte Muriele müde. »Dann wisst Ihr auch, dass Ihr handeln müsst, bevor sie es tun.« »Ich darf nicht voreilig handeln. Selbst wenn ich mich mit Selqui vermählen würde, würde das ebenso viele erzürnen wie erfreuen. Wenn ich das Angebot aus Hornladh ausschlage, ist es durchaus möglich, dass sie sich mit Hansa gegen uns verbünden. Es gibt hier keinen klaren Kurs für mich, Sir Fail. Euer Kurs wird durch Eure Treuepflichten deutlich bestimmt. Meinen Weg machen die meinen unsichtbar. Ich brauche wirklichen Rat, echte Möglichkeiten, nicht diesen fortwährenden Druck aus allen Richtungen. Ich brauche einen Menschen, auf den ich zählen kann, einen Menschen, der keine Verpflichtungen hat außer mir gegenüber.« »Muriele -« 136 »Nein. Ihr wisst, dass Ihr das nicht sein könnt. Lierisches Seewasser fließt in Euren Adern. Sosehr ich Euch auch liebe, Ihr wisst, dass ich Euch hierin nicht vertrauen kann. Ich wollte, ich könnte es, aber ich kann nicht.« »Wem könnt Ihr dann trauen?« Muriele spürte, wie ihr eine einsame Träne ins Auge stieg und über ihre Wange rollte. Sie wandte sich ab, damit er es nicht sah. »Niemandem natürlich. Bitte lasst mich allein, Sir Fail.« »Muriele -« Sie konnte hören, wie seine Stimme unter seinen Gefühlen brach. »Geht«, sagte sie. Kurz darauf hörte sie, wie die Tür ins Schloss fiel. Sie ging ans Fenster, krallte die Finger um den Rahmen und fragte sich, wie Sonnenlicht so finster erscheinen konnte. 10. Kapitel Ospero Cazio trat zwischen Anne und Ospero. Er hob den Degen nicht, doch er hielt ihn weiter vor dem Körper.
»Wie ich den anderen Kerlen schon gesagt habe«, verkündete er energisch, »diese Ladys stehen unter meinem Schutz. Ich bin ebenso wenig gewillt, sie Euch auszuliefern wie ihnen.« Osperos Augen wurden schmal, und plötzlich wirkte er in der Tat äußerst gefährlich, auch ohne die mehr als zwanzig Mann, die sich hinter ihm versammelt hatten. »Nimm dich in Acht, wie du mit mir redest, Bursche«, sagte er. »Es gibt vieles, was du nicht weißt.« »Ganz bestimmt«, gab Cazio zurück. »Ich weiß nicht, wie viele Kerne in einem Granatapfel stecken. Ich weiß nicht, was für Mützen man in Herilanz trägt. Ich verstehe nicht das Geringste von der 137 Sprache der Hunde, und ich kann Euch nicht sagen, wie eine Wasserpumpe funktioniert. Aber ich weiß, dass ich geschworen habe, diese Damen zu beschützen, und beschützen werde ich sie.« »Ich habe deine Schützlinge nicht bedroht«, entgegnete Ospero. »Andererseits sind sie zu einer Bedrohung für mich geworden. Wenn Schwertkämpfer aus der Nordstadt in meine Stadt kommen, bin ich durchaus davon betroffen. Wenn ich mich gezwungen sehe, gegen sie vorzugehen, betrifft mich das umso mehr. Jetzt werde ich sie alle töten und ihre Leichen im Sumpf versenken müssen, und ich muss wissen, ob irgendjemand sie vermissen wird. Ich muss wissen, wer sie vermissen und wer nach ihnen suchen wird, wenn es denn jemand tut. Und vor allem muss ich wissen, warum sie überhaupt hier aufgetaucht sind.« »Und um die Belohnung macht Ihr Euch keine Gedanken?«, fragte Cazio zweifelnd. »So weit sind wir noch nicht gekommen«, erwiderte Ospero. »Und das werden wir auch nicht«, sagte Cazio. »Jetzt seid so freundlich und schickt Eure Männer weg.« »Junge -«, begann Ospero. »Ich weiß nicht, wer diese Männer waren«, platzte Anne heraus. »Ich weiß nur, dass irgendjemand meinen Tod will und bereit ist, dafür zu bezahlen. Eure anderen Fragen kann ich nicht beantworten, weil ich die Antworten nicht weiß. Ich danke Euch für Eure Hilfe gegen diese Männer, Ospero. Ich glaube, dass Ihr im Innern ein Ehrenmann seid und dass Ihr die Situation nicht ausnutzen werdet.« Ospero lachte rau auf, und viele seiner Männer taten es ihm nach. »Ich bin kein Ehrenmann«, sagte er. »Dessen könnt Ihr Euch sicherer sein als alles anderen.« Cazio hob bedächtig den Degen. »Das willst du bestimmt nicht tun, Junge«, sagte Ospero. »Ich glaube, ich weiß besser als Ihr, was ich will«, entgegnete Cazio hochmütig. Ospero nickte leicht. Dann bewegte er sich mit verblüffender Geschwindigkeit, duckte sich und schwang sein Bein herum, so138 dass er Cazios vorderen Fuß traf. Cazio wurde halb herumgewirbelt, und Ospero richtete sich auf, packte beinahe gemächlich seinen Schwertarm und verdrehte ihn, sodass der Degen klirrend zu Boden fiel. Wie durch Zauberei erschien ein Messer in seiner anderen Hand und zuckte zu Cazios Kehle empor. »Ich glaube«, sagte Ospero, »du brauchst eine Lektion in Respekt.« »Von solchen Lektionen braucht er eine Menge«, ließ sich eine neue Stimme vernehmen. »Z'Acatto!«, schrie Austra. Es war tatsächlich der alte Mann, der da die Straße herunter auf sie zugeschlurft kam. »Was habt Ihr mit ihm vor, Ospero?«, erkundigte sich z'Acatto. »Ich überlege mir gerade, ob ich ihn schnell oder langsam ausbluten lassen soll.« »Tut Euch keinen Zwang an«, knirschte Cazio. »Ich würde Euch raten, es schnell zu tun«, sagte z'Acatto. »Sonst hält er nur eine langatmige Rede.« »Das sehe ich«, erwiderte Ospero nachdenklich. »Z'Acatto!«, rief Cazio. Der Alte seufzte. »Lasst ihn lieber los.« Anne wappnete sich. Sie wusste, dass z'Acatto, seinem Äußeren zum Trotz, ein Mestro des Degens war, und sie wusste auch, dass er eine tiefe Zuneigung für Cazio hegte. Er würde den Jüngeren nicht kampflos sterben lassen. Könnte sie noch einmal die Macht Cers heraufbeschwören, Ospero blenden und ihn dazu bringen, das Messer fallen zu lassen? Sie würde es versuchen müssen, um ihrer aller willen. Doch zu ihrer Überraschung senkte Ospero die Klinge und trat zurück. »Selbstverständlich, Emratur.« Cazio sah aus wie vor den Kopf geschlagen. »Emratur?«, fragte er. »Was soll das? Emratur?« »Still, Junge«, brummte z'Acatto. »Sei einfach froh, dass du am Leben bist.« Er wandte sich an Ospero. »Wir müssen uns unter vier Augen unterhalten.« 139 Ospero nickte. »Es hat den Anschein, als gäbe es Dinge, die Ihr mir nicht erzählt habt.« Auch z'Acatto nickte. »Cazio, geleite die Casnaras zurück ins Zimmer. Ich komme gleich nach.« »Aber -« »Widersprich zur Abwechslung einmal nicht«, knurrte z'Acatto. Osperos Männer zerstreuten sich, während die beiden Älteren zusammen davongingen. Cazio sah ihnen nach, dann seufzte er und schob Caspator in die Scheide. »Ich wünschte, ich wüsste, was das eben sollte.« »Was war das für ein Name, mit dem Ospero z'Acatto angesprochen hat?«, fragte Anne. »Emratur? So habe ich
Euch ihn noch nie nennen hören.« »Kommt«, sagte Cazio. »Wir tun lieber, was er sagt.« Er setzte sich in Bewegung. Anne folgte ihm. »Cazio?«, drängte sie beharrlich. »Cazio hat uns gerade das Leben gerettet«, erinnerte Austra sie. »Wieder einmal.« Anne achtete nicht auf sie. »Ihr habt überrascht ausgesehen«, bemerkte sie. »Das ist kein Name«, knurrte Cazio. »Es ist ein Titel. Der Befehlshaber über hundert Männer.« »Ihr meint, wie in einer Armee?« »Ja, wie in einer Armee.« »War z'Acatto ein Emratur?« »Wenn er einer war, hatte ich keine Ahnung davon.« »Ich dachte, Ihr kennt ihn schon Euer ganzes Leben lang.« Sie hatten die Treppe zu ihrer Unterkunft erreicht, und Cazio schickte sich an hinaufzusteigen. »So ist es auch. Nun, sozusagen. Er war ein Diener meines Vaters; er hat meine Brüder und mich in der Dessrata unterwiesen. Aber als ich noch klein war, ist er manchmal monatelang verschwunden. Wahrscheinlich hat er da irgendwo gekämpft. Mein Vater hatte damals viel Einfluss. Er könnte hundert Mann befehligt haben.« 140 »Aber z'Acatto dient Eurem Vater immer noch.« »Nein. Mein Vater hat sein Vermögen verloren und ist schließlich in einem Duell getötet worden. Ich habe z'Acatto geerbt, zusammen mit einem Haus in Avella. Das ist alles, was vom Besitz meines Vaters übrig geblieben ist.« »Oh. Das tut mir Leid.« Tränen stiegen Anne in die Augen. In all der Aufregung hatte sie ein paar Augenblicke lang ganz und gar vergessen zu trauern. Cazio blieb stehen. Er sah ein wenig verwirrt aus und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Das ist vor langer Zeit passiert«, sagte er. »Es gibt keinen Grund für Euch zu weinen.« »Ich habe nur gerade an etwas gedacht«, murmelte Anne. »Das ist alles. An jemanden, den ich verloren habe.« »Oh.« Er schaute auf seine Füße hinab, dann hob er den Blick wieder und begegnete dem ihren. »Es tut mir Leid, dass ich so schroff bin«, sagte er. »Ich bin nur - nun, ich wünschte, ich wüsste, was hier vorgeht. Ich dachte mir bereits, dass irgendetwas komisch war, als z'Acatto hier eine Bleibe für uns gefunden hat, dass er Ospero schon früher gekannt haben muss - es war zu einfach, und er hat uns sogar Kredit gegeben. Jetzt bin ich mir ganz sicher. Ich weiß nur nicht, was das bedeutet.« »Dann vertraut Ihr z'Acatto nicht?« »Ich glaube nicht, dass er mich jemals hintergehen würde, falls Ihr das meint«, antwortete Cazio. »Aber mit seinem Urteilsvermögen ist es manchmal nicht zum Besten bestellt. Schließlich hat er zugelassen, dass mein Vater getötet wurde.« »Wieso war das z'Acattos Schuld? Was ist passiert?« »Ich weiß nicht, was geschehen ist, aber ich weiß, dass z'Acatto sich deswegen schuldig fühlt. Danach hat er angefangen, ständig zu trinken. Und er muss nicht bei mir bleiben - ich habe nicht das Geld, um ihn zu entlohnen. Trotzdem tut er es, und das muss daran liegen, dass er sich schuldig glaubt.« »Vielleicht bleibt er aus Liebe«, meinte Austra. »Ha«, sagte Cazio und wischte diese Möglichkeit mit einer Handbewegung zur Seite. 141 »Aber wer ist Ospero? Ich dachte, er wäre nur unser Hauswirt.« »O ja - er ist der Hauswirt der meisten hier im Perto Veto. Außerdem hat er die Kontrolle über vieles, was auf den Kais passiert. Und über die Ladys, die ich beschütze. Hier im Viertel nennen sie ihn zo cassro - den Herrn. Kein Taschendieb greift zu, ohne dass er davon weiß.« »Er ist ein Verbrecher?« »Nein. Er ist der Fürst der Verbrecher, zumindest in diesem Viertel.« »Was machen wir jetzt?«, wollte Anne wissen. »Bis das richtige Schiff vorbeikommt und wir genug Geld haben, um für unsere Überfahrt zu bezahlen, können wir gar nichts machen. Sie suchen Euch jetzt überall. Hier sind wir sicherer als irgendwo sonst. Falls z'Acatto weiß, was er tut.« »Bestimmt weiß er das«, erwiderte Austra. »Hoffen wir's.« Anne sagte nichts. Abgesehen davon, dass er die meiste Zeit betrunken war, wusste sie nur sehr wenig von z'Acatto. Jetzt stellte sich heraus, dass Cazio nicht so viel über den alten Mann wusste, wie er geglaubt hatte. Es mochte wahr sein, dass z'Acatto Cazio niemals hintergehen würde. Doch das hieß nicht, dass Austra und Anne in Sicherheit waren - nicht im Mindesten. Teil II Neue Bekanntschaften Im Jahre 2223 von Everon Später Novmen Prismo, die erste Tonart, ist die Lampe des Tages. Sie beruft sich auf den heiligen Loy, die heilige Ausa, den heiligen Abullo und den heiligen Fei. Sie beschwört die helle Sonne und das blaue Gewölbe des Himmels herauf. Sie löst Zuversicht, Überschwänglichkeit, Ruhelosigkeit und unbesonnenes Verhalten aus.
Etrama, die zweite Tonart, ist die Lampe der Nacht. Sie beruft sich auf die heilige Soan, die heilige Cer, den heiligen Artumo. Sie beschwört den Mond in all seinen Phasen herauf den bestirnten Himmel, zärtliche Nachtwinde. Sie löst Müdigkeit, Ruhe und Traum aus. aus Der Harmonium-Kodex von Elgin Widsel Prismo, die erste Parade, wird so genannt, weil sie am einfachsten durchzuführen ist, nachdem man den Degen aus der Scheide gezogen hat. Die Riposte ist linkisch. Etrama, die zweite Parade, heißt aus keinem bestimmten Grunde so, ist jedoch eine wirksamere Abwehr gegen Angriffe von der Flanke. übersetzt aus Obsao Dazo Chiadio (»Werk des Degens«) von Mestro Papo Avradio Vallaimo HM
11. Kapitel Ein Zweikampf Ich glaube, dieser Mann will uns töten, Hurrikan«, sagte Neil zu seinem Pferd und klopfte dem Hengst den Hals. Dann zuckte er die Achseln, holte tief Atem und betrachtete den Himmel. Er hatte immer gedacht, der Himmel wäre der Himmel - wandelbar mit dem Wetter, gewiss, doch im Großen und Ganzen derselbe, wo immer man hinging. Hier im Süden jedoch war sein Blau irgendwie anders, kühner. Das passte zu dem Rest der Fremdartigkeit - die weiten, sonnengetränkten Felder und Weingärten, die weiß verputzten Häuser mit ihren roten Ziegeldächern, die niedrigen, knorrigen Eichen und schlanken Zedern, die die Landschaft prägten. Es war schwer, zu glauben, dass eine solche Gegend in derselben Welt existierte wie sein kaltes, nebliges Heimatland - besonders jetzt, wo der Monat Novmen halb vergangen war. Skern war zurzeit wahrscheinlich unter einer Schneeschicht von einer Königselle Dicke begraben. Hier schwitzte er ein wenig unter seinem gesteppten Wams und seiner Rüstung. Das Wundersame an alldem entging Neil nicht. Er erinnerte sich an seine Ehrfurcht, als er Eslen zum ersten Mal gesehen hatte, wie groß die Welt einem Knaben von einer kleinen Insel in der Lierischen See erschienen war. Und doch hatte er in den letzten Monaten das Gefühl gehabt, als sei die Welt um ihn herum geschrumpft, und das Schloss von Eslen war zu nicht viel mehr als einer Schachtel geworden. Jetzt kam ihm die Welt größer denn je vor, und das ließ ihn eine Art melancholisches Glück empfinden. In einer so weiten Welt waren die Traurigkeit und die Ängste von Neil MeqVren nichts gar so Großes. 145 Selbst diese gemischte Freude ging mit einem gewissen Maß an Schuldgefühlen einher. Die Königin lebte in ständiger Gefahr, und sie zu verlassen, aus welchem Grund auch immer, kam ihm falsch vor. Doch sie hatte diesen Weg für ihn gewählt, sie und die Geister von Erren und Fastia. Gewiss wussten sie besser als er, was das Richtige war. Trotzdem sollte es ihm keine Freude bereiten. Er hörte Gebrüll, und ihm wurde klar, dass der Mann auf der Straße es nicht schätzte, zugunsten des Himmels einfach ignoriert zu werden. »Um Vergebung«, rief Neil in der Sprache des Königs zurück, »aber ich kann Euch nicht verstehen. Ich wurde nicht in der Sprache Vitellios unterwiesen.« Der Mann antwortete mit etwas ähnlich Unverständlichem, das diesmal an einen seiner Knappen gerichtet war. Jedenfalls nahm Neil an, dass es Knappen waren, weil er den brüllenden Mann für einen Ritter hielt. Er saß auf einem kräftigen Ross, einem Rappen mit weißer Blesse, der eine leicht gepanzerte Schabracke trug. Der Mann war ebenfalls gerüstet - sein Panzer war von merkwürdiger Machart und ungemein schmuck, mit Eichenblattreliefs an den Gelenken, nichtsdestotrotz war es eine Herrenrüstung. Den Helm trug er unter dem Arm, doch Neil konnte erkennen, dass er kegelförmig war, mit einem Busch bunter Federn, die fast wie ein Hahnenschweif angeordnet waren. Anstelle eines Überwurfs trug er ein rot-gelbes Gewand, und auf seinem Schild prangte etwas, das ein Wappen sein mochte - eine geballte Faust, eine Sonne, eine Art Beutel. Die Symbole hatten in der Wappenkunde, die Neil geläufig war, keinerlei Bedeutung, doch er war schließlich, wie er gerade bei sich gedacht hatte, sehr weit weg von zu Hause. Der Ritter hatte vier Männer in seinem Gefolge; keiner davon trug eine Rüstung, doch alle waren in rote Überwürfe gekleidet, auf denen das gleiche Muster aufgenäht war, das er auf dem Schild trug. Ein großes Zelt war am Straßenrand errichtet worden, über dem ein Wimpel flatterte, der lediglich das Sonnenzeichen auf146 wies. Drei Pferde und zwei Maultiere grasten auf den Wiesen entlang der zerfurchten roten Straße. Einer der Männer schrie: »Mein Herr fordert, dass Ihr Euch zu erkennen gebt!« Er hatte ein langes, knochiges Gesicht und ein Haarbüschel am Kinn, das als Bart durchzugehen versuchte. »Wenn Ihr dies nicht in einer zivilisierten Sprache zuwege bringt, so sprecht nur jedwedes Kauderwelsch, das Euch beliebt, und ich werde übersetzen.« »Ich bin ein Wanderer«, erwiderte Neil. »Mehr als das darf ich Euch nicht sagen, fürchte ich.« Ein kurzes Gespräch zwischen dem Ritter und seinem Knappen folgte, dann wandte der Diener sich wieder an Neil.
»Ihr tragt die Rüstung und die Waffen eines Ritters. In wessen Diensten seid Ihr unterwegs?« »Diese Frage kann ich nicht beantworten«, sagte Neil. »Bedenkt Euch wohl, Sir«, riet der Mann. »Es verstößt in diesem Lande gegen das Gesetz, die Rüstung eines Ritters zu tragen, wenn man nicht die Berechtigung dazu besitzt.« »Ich verstehe«, erwiderte Neil. »Und wenn ich ein Ritter bin und es beweisen kann, was wird Euer Herr dann dazu sagen?« »Er wird Euch zum ehrenvollen Zweikampf herausfordern. Nachdem er Euch getötet hat, wird er sich Eure Rüstung und Euer Pferd aneignen.« »Ah. Und wenn ich mich bloß als Ritter verkleidet habe?« »Dann ist mein Herr gezwungen, Euch mit einer Geldbuße zu belegen und Euer Eigentum einzuziehen.« »Nun«, sagte Neil, »dann spielt es ja keine große Rolle, wie ich mich nenne, oder? Zum Glück habe ich einen Speer.« Die Augen des Knappen wurden kreisrund. »Wisst Ihr denn nicht, wen Ihr vor Euch habt?« »Ich würde ja fragen, aber da ich meinen Namen nicht nennen kann, wäre es unhöflich, den seinen zu verlangen.« »Kennt Ihr sein Emblem nicht?« »Ich fürchte, nein. Können wir das hier dann hinter uns bringen?« 147 Wieder sprach der Diener mit seinem Herrn. Als Antwort setzte der Ritter seinen Helm auf, legte die Lanze an und brachte seinen Schild in Position. Neil tat das Gleiche, wobei ihm auffiel, dass seine eigene Waffe fast eine ganze Königselle kürzer war als die seines Gegners. Der vitellianische Ritter sprengte zuerst los; sein Schlachtross schleuderte in der Abendsonne eine Wolke roten Staubes empor. Neil trieb Hurrikan zum Galopp an und senkte die Spitze seines Speers zum Stoß. Hinter den wogenden Feldern stob eine Wolke Vögel aus einer entfernten Baumreihe auf. Einen Augenblick lang schien alles sehr still. Im letzten Moment verlagerte Neil sein Gewicht im Sattel und drehte plötzlich seinen Schild, sodass die Eisenspitze seines Feindes schräg auftraf, statt direkt dagegenzuprallen. Der Stoß ließ seine Zähne aufeinander schlagen und riss eine Schmarre in seinen Schild, doch er schwang die Spitze seiner eigenen Waffe nach rechts, denn sein Gegner drehte sich in einem ähnlichen Manöver. Er traf den Schild des Vitellianers dicht am Rand, und die ganze Wucht seines Stoßes krachte in den Ritter. Neils Speer brach ab; die Spitze blieb tief im Schild des Fremden stecken. Im Vorbeifegen sah er den Vitellianer im Sattel zurückschwanken, doch als er wendete, bemerkte er, dass es seinem Gegner irgendwie gelungen war, oben zu bleiben. Neil grinste wild und zog Krähe. Der andere Ritter musterte ihn einen Augenblick, dann reichte er einem seiner Männer seine Lanze und zog ebenfalls sein Schwert. Sie prallten wie Donner aufeinander, Schild gegen Schild. Krähe schlug darüber hinweg und klirrte gegen den Helm des Vitellianers, und der fremde Ritter traf Neil mit einem Hieb an der Schulter, der ihm mit Sicherheit den Arm abgetrennt hätte, wäre der Stahl nicht gewesen, der ihn umhüllte. Einen Moment lang rangen sie so miteinander; die Pferde quetschten ihnen zwischen wogenden Flanken die Beine, doch sie waren zu nahe, um schwere Schläge anzubringen. Hurrikan löste sich aus dem Knäuel, und Neil warf ihn herum 148 und schlug fast instinktiv zu. Er traf seinen Feind genau am Hals und schickte ihn krachend zu Boden. Der Rappe stampfte heftig und blieb stehen, um seinen Herrn zu beschützen. Erstaunlicherweise kam der Ritter zittrig wieder auf die Beine. Seine Halsberge und die dicke Binde darunter hatten die Schneide abgefangen, doch es war ein Wunder, dass sein Genick nicht gebrochen war. Neil stieg ab und schritt auf seinen Gegner zu. Der Vitellianer holte mit dem Schwert zu einem Rundschlag aus, doch Neil rammte ihn mit seinem Schild, sodass er einen Schritt zurücktaumelte. Neil nutzte die größere Entfernung, um seinerseits einen Hieb anzubringen, der den Waffenarm des Mannes an der Schulter traf. Die Rüstung dröhnte wie eine Glocke, und das Schwert seines Feindes fiel klappernd zu Boden. Neil wartete darauf, dass er es aufhob. Stattdessen jedoch ließ der Ritter den Schild fallen und nahm den Helm ab, wobei ein von mittleren Jahren gerundetes Gesicht, wirres, von Silber durchzogenes schwarzes Haar sowie ein gepflegter Schnurr- und Kinnbart zum Vorschein kamen. Seine Nase war ein wenig formlos, als sei sie zu oft gebrochen worden. »Ihr seid ein Ritter«, gab der Mann in der Sprache des Königs zu. Er sprach mit hörbarem Akzent, war jedoch durchaus zu verstehen. »Auch wenn Ihr mir Euren Namen nicht nennen wollt, muss ich mich Euch dennoch ergeben, denn ich glaube, Ihr habt mir den Arm gebrochen. Ich bin Sir Quinte dac'Ucara, und es ehrt mich, Euch im Zweikampf gegenübergestanden zu haben. Werdet Ihr mein Gast sein?« Doch ehe Neil antworten konnte, schwanden Sir Quinte die Sinne, und seine Knappen eilten an seine Seite. Neil wartete, während Sir Quintes Männer ihn aus seiner Rüstung schälten und ihn mit einem parfümierten Tuch wuschen. Das Schlüsselbein war in der Tat gebrochen, also fertigten sie eine Schlinge für seinen Arm an. Währenddessen kam Sir Quinte wieder zu sich, doch falls ihm der zerschmetterte Knochen Schmer149
zen bereitete, so war es ihm kaum anzusehen, höchstens an seinen Augen. »Ich habe mich Eurer Sprache zuvor nicht bedient«, sagte er, »weil ich Euch nicht kannte und es sich nicht geziemt hätte, in meinem Heimatland eine fremde Sprache zu sprechen. Aber Ihr habt mich besiegt, also wird Virgenyanisch die Sprache dieses Lagers sein.« Er deutete mit einem Kopfnicken auf seine verbeulte Rüstung. »Sie gehört Euch«, erklärte er, »genau wie zo Cabadro, mein Ross. Behandelt ihn gut, ich bitte Euch - er ist ein wunderbares Pferd.« Neil schüttelte den Kopf. »Ihr seid großherzig, Sir Quinte, aber ich brauche beides nicht. Ich muss mit leichtem Gepäck reisen, und beides würde mich behindern.« Quinte lächelte. »Ihr seid es, der großherzig ist, Sir. Wollt Ihr diese Großherzigkeit nicht vergrößern, indem Ihr mir Euren Namen verratet?« »Ich darf nicht, Sir.« Sir Quinte nickte weise. »Ihr habt einen Schwur getan. Ihr seid in geheimem Auftrag unterwegs.« »Ihr könnt vermuten, was Euch beliebt.« »Ich respektiere Euren Wunsch«, sagte Sir Quinte, »aber irgendwie muss ich Euch anreden. Sir zo Viotor sollt Ihr sein.« »Diesen Namen verstehe ich nicht.« »Er bedeutet nicht mehr als das, als was Ihr Euch selbst bezeichnet habt, >der Wanderen. Ich habe es ins Vitellianische übersetzt, damit Ihr weniger gebildeten Leuten erklären könnt, wer Ihr seid.« »Dann habt Dank«, erwiderte Neil aufrichtig. Sir Quinte wandte sich an einen seiner Männer. »Arvo, bring uns Wein und Speisen.« »Bitte, ich muss weiter«, wehrte Neil ab. »Obgleich ich Euch für das Angebot danke.« »Es ist spät. Lord Abullo senkt seinen Streitwagen zum Weltende herab, und sogar Ihr - gewaltiger Kämpfer, der Ihr sein mögt -müsst schlafen. Meine Gastfreundschaft anzunehmen wird Euer 150 Streben nicht allzu sehr beeinträchtigen, und es würde mir große Freude bereiten.« Trotz Neils Einspruch war Arvo bereits dabei, ein Tuch auf dem Boden auszubreiten. »Nun gut«, gab Neil nach. »Ich nehme Eure Freundlichkeit an.« Bald war das Tuch mit Speisen bedeckt, die Neil zum größten Teil nicht kannte. Es gab natürlich Brot und eine Art harten Käse und Birnen. In einer roten Frucht kamen zahllose perlenartige Körner zum Vorschein, wenn man sie aufschnitt. Sie schmeckten gut, waren aber nicht leicht zu essen. Kleine schwarze Früchte waren salzig statt süß; der Wein war rot und schmeckte stark nach Kirschen. Erst als sie bereits zu essen begonnen hatten, fiel Neil ein, dass die Speisen vielleicht Schlafpulver oder Gift enthalten könnten. Ein Jahr zuvor wäre ihm etwas derart Unehrenhaftes niemals auch nur in den Sinn gekommen. Bei Hofe jedoch machten Ehre und die Voraussetzungen, die damit einhergingen, einen angreifbarer als alles andere. Doch Sir Quinte und seine Knappen aßen und tranken von allem, was Neil zu sich nahm, und der Gedanke verging. Wie seltsam sein Aussehen und seine Standarte auch sein mochten, Sir Quinte war ein Ritter, und er benahm sich wie einer - er würde Neil ebenso wenig vergiften wie Sir Fail de Liery, der alte chever, der ihn aufgezogen hatte, nachdem sein Vater gefallen war. Plötzlich erschien ihm Vitellio doch nicht so fremdartig. Die Vitellianer aßen langsam und hielten oft inne, um sich in ihrer eigenen Sprache, die in Neils Ohren mehr wie Gesang klang als wie gesprochene Worte, zu unterhalten oder zu streiten. Die Abenddämmerung wich einer angenehmen, kühlen Nacht. Sterne machten den Himmel zu einem Schatz, und wenigstens sie waren die Sterne, die Neil kannte. Nur dass man sie in Eslen nur selten zu sehen bekam. Hier blendeten sie einen geradezu. Sir Quinte wechselte einigermaßen betreten zurück in die Sprache des Königs. »Es tut mir Leid, Sir Viotor, dass ich Euch aus un151 serer Unterhaltung ausgeschlossen habe«, beteuerte er. »Nicht alle meine Knappen sprechen die virgenyanische Sprache, auch mein Historiker Volio nicht.« Er wies auf den ältesten seiner Männer, einen Gesellen mit quadratischem Schädel, auf dem lediglich ein Kranz grauer Haare wuchs. »Historiker?« »Ja, gewiss. Er schreibt meine Taten nieder - meine Siege und Niederlagen. Versteht Ihr, wir haben gerade gestritten, wie meine heutige Niederlage festgehalten werden soll - und was sie für die Zukunft zu bedeuten hat.« »Ist es denn so wichtig, dass sie überhaupt niedergeschrieben wird?«, wollte Neil wissen. »Die Ehre erfordert es.« Sir Quinte klang überrascht. »Vielleicht habt Ihr noch nie ein Duell verloren, Sir Viotor, aber wenn Ihr es tätet, könntet Ihr dann so tun, als sei es niemals passiert?« »Nein, aber das ist doch nicht das Gleiche, wie es aufzuschreiben.« Der Ritter zuckte die Achseln. »Die Gebräuche im Norden sind eben anders - dem lässt sich nicht widersprechen. Allerdings muss sich nicht jeder Ritter in Vitellio vor der Geschichte verantworten, aber ich bin ein Ritter des Berges, und mein Orden verlangt, dass meine Taten aufgezeichnet werden.« »Ihr dient einem Berg?«
Der Ritter lächelte. »Der Berg ist ein heiliger Ort, berührt von den Lords - die Ihr, glaube ich, die Heiligen nennt.« »Dann dient Ihr den Heiligen? Ihr habt keinen menschlichen Herrn?« »Ich diene den Gilden der Kaufleute«, antwortete Sir Quinte. »Sie sind dem Berg verschrieben.« »Ihr dient Kaufleuten?« Der Ritter nickte. »Ihr seid fremd hier, nicht wahr? Alles in allem gibt es vier Sorten Ritter in Vitellio. Jede Obergilde hat ihre Ritter - die Kaufleute, die Handwerker, die Seeleute und so weiter. Jeder Fürst - wir sagen Meddisso -, jeder Meddisso also befehligt Ritter. Dann gibt es natürlich die Ritter der Kirche. Und 152 schließlich haben die Richter ihre eigenen Ritter, die ihnen dienen, damit sie nicht von einem der anderen dazu genötigt werden können, unlautere Entscheidungen zu fällen.« »Was ist mit dem König?«, wollte Neil wissen. »Hat er keine Ritter?« Sir Quinte schmunzelte und wandte sich an seine Knappen. »Fatit, pispe dazo rediatur«, sagte er. Sie stimmten in sein Gelächter ein. Neil ließ sich seine Verwirrung nicht anmerken. »Vitellio hat keinen König«, erklärte Quinte. »Die Städte werden von den Meddissos regiert. Manche Meddissos regieren mehr als eine Stadt, aber keiner von ihnen herrscht über alle. Niemand hat seit dem Sturz der Hegemonie vor tausend Jahren über alle Städte geherrscht.« »Oh.« Neil konnte sich ein Reich mit einem Regenten vorstellen, doch er hatte noch nie von einem Land ohne König gehört. »Und«, fuhr Sir Quinte fort, »da ich der Gilde der Kaufleute diene, wünschen sie, dass Buch geführt wird. Dafür habe ich meinen Historiker.« »Aber Ihr habt auch etwas von einer Bedeutung für die Zukunft gesagt?« »Oh, fürwahr.« Sir Quinte hob den Finger. »Ein Kampf ist, als ob man die Knochen wirft oder die Karten liest. Es liegt eine Bedeutung darin. Schließlich sind es doch die Heiligen, die entscheiden, wer von uns den anderen besiegt, nicht wahr? Und wenn Ihr mich bezwungen habt, so hat das etwas zu bedeuten.« »Und was erkennt Euer Historiker darin?« »Eine Aufgabe. Ihr seid in einem äußerst wichtigen Auftrag unterwegs, und viel hängt davon ab. Das Geschick ganzer Reiche.« »Interessant«, sagte Neil und versuchte, keine Miene zu verziehen, obgleich seine Neugier geweckt war. »Deshalb muss ich mich Euch selbstverständlich anschließen. Die Heiligen haben es verkündet.« »Sir Quinte, Ihr braucht nicht -« »Kommt«, fiel ihm der Ritter ins Wort. »Wir haben getafelt. Ich 153 bin verwundet und erschöpft. Ihr selbst müsst zumindest ermüdet sein. Ich bitte Euch, teilt für diese Nacht die Gastlichkeit meines Feldlagers. Morgen brechen wir früh auf.« »Ich muss allein reisen«, wehrte Neil ab, allerdings widerwilliger, als er es erwartet hätte. Sir Quintes Gesicht erstarrte. »Misstraut Ihr mir? Ihr habt mich besiegt, Sir. Ich könnte Euch niemals verraten.« »Sir Quinte, ich habe zu meiner großen Betrübnis gelernt, dass nicht alle Männer - und damit will ich Euch nicht schmähen -, die behaupten, sich ehrenhaft zu verhalten, dies auch tun. Mein Ziel ist geheim, und so muss es auch bleiben.« »Solange Euer Ziel nicht das Dorf Buscaro ist, kann ich mir nicht vorstellen, was es sein könnte, ob nun geheim oder nicht.« »Buscaro?« Neil besaß eine Karte, doch er war nicht sehr bewandert darin, sie zu lesen. Seit er von der Vitellianischen Hochstraße abgebogen war, war er sich ein wenig unsicher gewesen, was den richtigen Weg anging. »Das ist der einzige Ort, zu dem diese Straße hinführt. Seid Ihr sicher, dass Ihr keinen ortskundigen Führer braucht?« Neil überlegte einen Moment lang. Wenn er sich verirrt hatte, hatte er mehr als nur die Orientierung verloren - er hatte auch Zeit eingebüßt. Wenn er von der rechten Straße abgekommen war, würde er irgendwann jemanden nach dem Weg fragen müssen. Aber nicht unbedingt eine Gruppe bewaffneter Männer. Trotzdem ... Er richtete den Blick wieder auf Sir Quintes ernstes Gesicht und seufzte. »Ihr täuscht mich doch nicht, Sir?« »Echi'dacrumi da ma matir. Bei den Tränen meiner Mutter.« Neil nickte. »Ich suche den Konvent der heiligen Cer«, sagte er widerstrebend, »auch bekannt als der Wohnsitz der Tugenden.« Sir Quinte stieß einen Pfiff aus. »Seht Ihr, es war der Wille der Heiligen, dass Ihr mir begegnet seid. Ihr habt vor etlichen Meilen den falschen Weg eingeschlagen.« Mahnend hob er den Finger vor Neil. »Es ist doch keine Schande, zuzugeben, dass man einen Führer braucht.« 154 Der junge Ritter dachte darüber nach. Wenn Sir Quinte ihm feindlich gesonnen war, konnte er Neil mit
Leichtigkeit folgen und ihn mit seinen Männern überwältigen, wann immer ihm der Sinn danach stand - in der Nacht, ohne Warnung. Wenn er mit ihnen zusammen wäre, wüsste er zumindest, wo sie sich befanden. Und er würde es erfahren, wenn sie einen Boten ausschickten. »Ich nehme Euer Angebot an, Sir«, sagte Neil. »Ich wäre froh über Eure Hilfe.« Trotzdem schlief er in dieser Nacht nur einen sehr leichten Schlaf, mit der Hand an Krähes Heft. Der nächste Morgen dämmerte kühl und klar, mit leichtem Raureif auf dem Gras. Sir Quintes Knappen hatten das Lager abgebrochen und alles zusammengepackt, bevor die Sonne sich auch nur vom Horizont gelöst hatte. Sie ritten die Straße zurück, die Neil heraufgekommen war, und binnen zweier Glockenschläge waren sie auf einen Pfad abgebogen, der ebenso gut von ein paar Ziegen hätte stammen können. »Das ist der Weg zum Konvent der heiligen Cer?«, fragte Neil und versuchte seine Zweifel zu verbergen. Er war noch immer alles andere als im Reinen mit seiner Entscheidung, sich dem Vitellianer anzuvertrauen, und achtete sorgsam darauf, keinen der Männer des Ritters ganz aus den Augen zu lassen. »Eine Abkürzung«, erklärte dieser. »Ihr habt Euch an der Kreuzung hinter Turoci vertan, beim Fluss. Dieser Weg wird uns in der Hälfte der Zeit auf die richtige Straße führen. Und ich vermute, dass die Zeit nicht auf Eurer Seite ist.« »Da habt Ihr Recht«, erwiderte Neil ernst. Je schneller er Anne fand und nach Eslen zurückkehrte, desto eher konnte er sich wieder seiner Aufgabe widmen, die Königin zu beschützen. »Dann sorgt Euch nicht. Ehe die Sterne heute Nacht hervorkommen, seid Ihr im Konvent der heiligen Cer.« Das bebaute Land wurde mit der Zeit wilder. Einer von Sir Quintes Knappen holte ein Saiteninstrument hervor, das aussah wie eine kleine Laute mit zu wenigen Saiten, und sang eine fröhli155 che Weise, von der Neil kein Wort verstand. Trotzdem war die Melodie hübsch, und als der Musikant geendet hatte, stimmte er ein neues Lied an. »Es ist eine Tragödie, dieses Lied«, erläuterte Sir Quinte. »Über die zum Untergang verurteilte Liebschaft eines Ritters mit einer Dame in einem Konvent. Sehr traurig.« Neil spürte, wie ein schwermütiges Lächeln über sein Gesicht huschte. »Ah!«, rief Sir Quinte aus. »Hier geht es also um eine Lady! In dem Konvent?« »Nein«, sagte Neil. »Eine Lady, wahrhaftig, aber sie ist sehr weit weg von dem Konvent.« »Ah.« Sir Quinte dachte eine Weile darüber nach. »Um Vergebung, Sir Viotor, für meine Fragen. Ich habe den Schmerz in Euch zuerst nicht bemerkt. Jetzt weist er Euch aus wie ein Wappen.« »Es ist nichts«, wehrte Neil ab. »Es ist alles andere als nichts. Ich fürchte weder Schwert noch Lanze, Sir Viotor, nicht einmal die Euren. Aber Liebe - das kann den größten Riesen bezwingen.« Er furchte die Stirn, machte Anstalten, etwas hinzuzufügen, und setzte dann sehr viel leiser erneut an. »Nehmt Euch in Acht, Sir Viotor. Ich weiß nichts über Eure Liebe und werde keine weiteren Fragen stellen, doch es will mir scheinen, dass Eure Dame für immer verloren ist, vielleicht jenseits der Gefilde, die uns bekannt sind. Wenn dies der Fall ist, müsst Ihr Euch sicher sein, dass Ihr Euer Herz kennt, denn Euer Herz wird ihre Stimme hören und versuchen, ihr zu antworten. Es könnte Euch an Lord Ontro und Lady Mefitis und ihr trostloses Königreich verraten, obwohl es Euch eigentlich noch bestimmt ist, viele Taten hier unter uns zu verrichten.« Neil fühlte, wie sich ihm jäh die Kehle zuschnürte, und einen schrecklichen Augenblick lang fürchtete er, er würde in Tränen ausbrechen. Er würgte sie herunter. »Ihr scheint eine Menge über mich zu wissen, Sir Quinte.« »Ich weiß, was ich mutmaße. Lasst mich noch eines mutmaßen, und dann werde ich schweigen. Wenn Ihr darauf aus seid, durch 156 die Schwestern des Konvents Gehör bei den Verblichenen zu finden, so würde ich davon abraten. Der Preis ist fürchterlich.« »Jetzt kann ich Euch' gar nicht mehr folgen«, gestand Neil. »Wisst Ihr denn nichts über den Ort, zu dem Ihr wollt? Lady Cer und Lady Mefita sind Aspekte desselben satho, dessen, was Ihr in der Sprache des Königs eine Heilige nennt. Die Damen, die sich ihr weihen - wenngleich fromm und Frauen der Kirche -, erlernen die Kunst des Meuchelmords und die Sprache der Toten. Ihr werdet Euch im Leben nicht wünschen, auch nur mit einer Novizin jenes Ordens Händel zu suchen, Sir Viotor.« Neil sah plötzlich Lady Erren vor sich, in der Festung von Cal Azroth, umgeben von den Leichnamen ihrer Feinde, von denen die meisten scheinbar unversehrt gewesen waren. Ihm fiel ein, dass sie im Konvent der heiligen Cer ausgebildet worden war. »Das glaube ich von ganzem Herzen, Sir Quinte«, antwortete er. Sie kamen in ein Weinbaugebiet. Reihen von Rebstöcken, die sich bis zu den Hügelkuppen hinauf erstreckten, umgaben sie, und Sir Quinte brachte das Gespräch auf Wein, ein Thema, von dem er eine Menge zu verstehen schien. Der Tag neigte sich dem Ende zu, und Neils Zweifel an seinen Reisegefährten regten sich, schwanden und regten sich erneut. Doch wenn sie ihm feindlich gesonnen waren, warum hatten sie die Gelegenheit dann nicht genutzt? Sie waren in der Überzahl. Vielleicht wollten sie noch irgendetwas von ihm. Anne zum Beispiel. Wenn die Damen der heiligen Cer alle so Furcht erregend waren wie Erren, konnten sie nicht einfach dort hineinmarschieren oder sich den Zutritt
erkämpfen. Sie würden Neil brauchen, damit er sie mit der Nachricht der Königin dort herausholte. Das wäre der rechte Zeitpunkt, um auf der Hut zu sein. In einer Hinsicht zumindest hatte Sir Quinte Wort gehalten - noch vor Sonnenuntergang folgten sie einer Wegbiegung um den Fuß eines Hügels herum und erreichten den Konvent der heiligen Cer. Oder vielmehr seine Ruinen, denn der Konvent war niederge157 brannt worden. Sobald er die Trümmer erblickte, trieb Neil Hurrikan zum Galopp an, doch er war nur ein paar hundert Schritt weit geritten, ehe er das Pferd wieder in Schritt fallen ließ. Es war kein Rauch zu sehen. Dieses Gemäuer war schon vor langer Zeit abgebrannt. Aber war das hier überhaupt der Konvent der heiligen Cer? Er hatte nur Sir Quintes Wort. Hinter sich hörte er das leise Zischen von Stahl, der aus ledernen Scheiden glitt, und ihm wurde klar, dass er Sir Quinte und den anderen schließlich doch den Rücken zugekehrt hatte. 12. Kapitel Rückkehr in den Wald Als die Ebene von Mey Ghorn dem Königswald wich, hielt Aspar White an, starrte und wünschte sich, er wäre aus Stein. »Hier sind wir doch erst vor zwei Monaten vorbeigekommen«, flüsterte Stephen. »Ich weiß nicht mehr viel von dem, was damals passiert ist«, sagte Winna. »Aber daran würde ich mich erinnern.« »Still, alle beide«, fuhr Aspar sie an. Winnas Augen wurden groß vor Verblüffung und Kränkung, und er konnte sie nicht ansehen. Ehawk, der Wattau-Junge, starrte lediglich den Boden an. »Ich muss ...«, versuchte Aspar zu erklären, doch ihm wollte nichts einfallen. »Wartet einfach hier«, brummte er stattdessen. »Ich bin bald wieder da.« Er versetzte Unhold einen Klaps mit den Zügelenden, und das gewaltige Pferd trottete vorwärts - anscheinend widerwillig. Aspar konnte es ihm nicht verdenken; Unhold war ein Mörder, ein Tier, das nur sehr wenig fürchtete, doch in dieser Hinsicht waren 158 er und Aspar gleich. Das, worauf sie jetzt zuritten, sollte nicht sein. Wie Stephen gesagt hatte, sie waren vor kaum zwei Monaten hier gewesen. Damals war hier der Waldrand gewesen, Wiesen und kleine Bäume, ein paar riesige Eichen und Kastanien, die Blätter von den Farben des Herbstes gezeichnet. Jetzt war alles schwarz. Von weitem sah es fast aus wie wallender Rauch, jedoch auf seltsame Weise am Boden verankert. Aus der Nähe konnte man erkennen, um was es sich wirklich handelte. Ranken, so dick wie Schiffstaue, schlangen sich um die Bäume und wanden sich über den Boden, sandten Tausende kleinerer Schösslinge aus, die mit jedem Ast und Zweig rangen, den sie zu fassen bekamen - und das waren alle. Die Wipfel der höchsten Bäume bogen sich unter ihrem würgenden Gewicht oder waren abgebrochen. Und überall Dornen - von kleinen Stacheln, nicht länger als sein Fingernagel, bis zu mehr als spannenlangen Dolchen. »Grim«, murmelte Aspar. »Haergrim Wüterich, was geschieht mit meinem Wald?« Stephen warf Winna einen Blick zu. »Er wollte nicht -« »Ich weiß«, sagte sie. »Seine Härte kommt aus der Gewohnheit, nicht aus seinem Herzen. Das ist wie diese Metallhüllen, die die Ritter in Eslen tragen.« Sie hielt den Blick auf den Waldhüter gerichtet, während seine Gestalt vor dem düster aufragenden Schwarz kleiner und kleiner wurde. »Er liebt seinen Wald«, fügte sie leiser hinzu. »Mehr als alles andere. Mehr als mich.« »Das bezweifle ich«, erwiderte Stephen. »Tut das nicht«, sagte sie. »Es stört mich nicht, es macht mich nicht eifersüchtig. Es ist schön, zu wissen, dass ein Mann so viel zu empfinden vermag, sogar jemand, der all das durchgemacht hat, was Aspar hinter sich hat. Es ist gut, zu wissen, dass ein Mann Leidenschaft verspürt und nicht nur hohle Knochen in sich hat.« Sie blickte zu Stephen hinüber, und im Licht des wolkenverhangenen Morgens wirkten ihre grünen Augen beinahe grau. »Ich liebe 159 diese Wälder auch - ich bin auf der anderen Seite von ihnen aufgewachsen. Aber Ihr und ich, wir können niemals verstehen, was er für diesen Ort empfindet. Das ist das Einzige, worauf ich eifersüchtig bin - nicht dass er es fühlt, sondern dass ich es nicht tue.« Stephen nickte. »Was ist mit Eurer Familie? Macht Ihr Euch Sorgen um sie?« »Ja«, antwortete sie. »O ja. Ich versuche, nicht daran zu denken. Aber mein Vater, der wäre der Erste, der verschwindet, wenn es zu schlimm wird. Wenn er es rechtzeitig erfährt. Wenn er genug Zeit hat.« Aspar war in einiger Entfernung vom Pferd gestiegen. Stephen hörte das Knarren, mit dem er sich aus dem Ledersattel löste. Als Novize hatte Stephen den Pfad der Schreine des heiligen Decmanus beschritten. Der Heilige hatte seine Sinne geschärft, sein Gedächtnis - und andere Dinge. Er hörte auch, wie Aspar fluchte und den Wüterich anrief. »Habt Ihr eine Erklärung dafür?«, erkundigte sich Winna. »Warum das passiert? Was genau diese Dornen sind? Habt Ihr im Scriftorium des Königs irgendetwas gefunden?«
»Ich weiß wenig mehr als Ihr«, gestand Stephen. »In Erzählungen und Legenden werden sie mit dem Dornenkönig in Verbindung gebracht, aber das wissen wir ja bereits aus eigener Erfahrung.« Die Festung von Cal Azroth war hinter ihnen noch immer zu sehen, nicht viel mehr als eine Masse verschlungener Dornenranken. Dort hatten sie den Dornenkönig zum letzten Mal gesehen. Ein Pfad aus den gleichen Ranken führte hierher, zum Wald, wo sie sich anscheinend festgesetzt hatten. »Wieso sollte er seinen eigenen Wald zerstören?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Stephen. »Manche Geschichten behaupten, er wird alles vernichten, die Welt neu erschaffen, aus der Asche der alten.« Er seufzte. »Vor einem halben Jahr habe ich mich für gelehrt gehalten, und der Dornenkönig war nicht mehr als ein Name in einem Kinderlied. Jetzt scheint nichts von dem, was ich weiß, wahr zu sein.« 160 »Ich weiß, wie Euch zumute ist«, erwiderte Winna. »Er winkt uns vorwärts«, verkündete Stephen. »Seid Ihr sicher?« »Ja.« Aspar sah seine Gefährten näher kommen. Er brachte seinen Atem zur Ruhe. Sceat darauf, dachte er. Was ist, ist eben. Hat keinen Sinn, deswegen weich zu werden. Ich werde den Dornenkönig finden, ihn töten und alldem ein Ende machen. Und das war's dann. Als die anderen bei ihm ankamen, brachte er sogar ein Lächeln zustande. »Wächst ganz schön schnell, dieses Unkraut«, bemerkte er und deutete mit einer Kopfbewegung auf den sterbenden Wald. »Das stimmt«, pflichtete Stephen ihm bei. »Ich nehme an, das ist alles aus seiner Spur gesprossen«, sagte Aspar. »Das macht es einem wenigstens leicht, ihm zu folgen. Es sei denn, dieses Zeug hat sich schon überall ausgebreitet.« Dem war nicht so. Nur einen Glockenschlag später stießen sie auf Bäume, die zunächst nur zur Hälfte und schließlich überhaupt nicht mehr von den Ranken überwuchert waren. Aspar fühlte, wie Erleichterung seinen Körper bis zu den Zehen durchströmte. Es war immer noch Zeit, um etwas zu unternehmen. Noch war nicht alles verloren. »Mal sehen«, sagte er. »Wir haben noch zwei Stunden Tageslicht, aber ich rechne bei Dämmerung mit Regen. Stephen, da wir ja jetzt für den Praifec arbeiten, denke ich, Ihr solltet all dies auf Euren Karten vermerken - wie weit das Zeug sich ausgebreitet hat. Winna und ich schlagen in der Zwischenzeit das Lager auf.« »Was glaubt Ihr, wo wir sind?«, wollte Stephen wissen. Aspar sah sich langsam um. Sein Orientierungssinn war durch die Unvertrautheit dessen, was sie vorhin gesehen hatten, ein wenig durcheinander geraten. Der Wald befand sich mehr oder weniger westlich von ihnen, erstreckte sich von Norden nach Süden. Im Osten lagen die hügeli161 gen Midenlande. Er konnte fünf oder sechs kleine Gehöfte ausmachen, ein paar verstreute Schafe, Ziegen und Kühe auf den sanften Hügeln. Der Turm einer kleinen, ländlichen Kirche ragte vielleicht eine Meile weit entfernt in die Höhe. »Wisst Ihr, welche Stadt das ist?«, fragte Stephen. »Ich denke, es ist Thrigaestath«, erwiderte Aspar. Stephen hatte seine Karte hervorgezogen und studierte sie. »Seid Ihr sicher?«, fragte er. »Ich würde eher sagen, es ist Tulhaem.« »Ach ja? Und warum fragt Ihr mich dann? Ich wandere ja erst mein ganzes Leben lang durch diese Wälder. Ihr habt eine Karte.« »Ich wollte bloß sagen«, entgegnete Stephen, »dass dies erst die dritte Stadt ist, die ich gesehen habe, seit wir an Cal Azroth vorbeigekommen sind, und deswegen müsste es Tulhaem sein.« »Tulhaem ist größer«, hielt Aspar dagegen. »Es ist schwer, zu sagen, wie groß eine Stadt ist, wenn man nur die Spitze eines Kirchturms sehen kann. Wenn Ihr sagt, es ist Thrigaestath, dann will ich das gern so vermerken.« »Werlic. Dann tut das.« »Trotzdem, Thrigaestath müsste näher -« »Winna«, fragte Aspar, »wo willst du hin?« Sie hatte ihr Pferd schweigend angetrieben und schickte sich an, im Schritt den Hügel hinunterzureiten, fort von dem Wald. »Fragen«, antwortete sie. »Da unten ist ein Hof.« »Bogelih«, knurrte Aspar. »Bist du sicher?« Der Junge - ein strohblonder Bengel von vielleicht vierzehn Jahren namens Algaf - kratzte sich am Kopf und schien über die Frage nachzusinnen. »Nun ja, Herr«, sagte er schließlich. »Ich wohne schon mein ganzes Leben lang hier, und ich hab noch nie gehört, dass jemand die Stadt anders genannt hätte.« »Das steht nicht auf meiner Karte«, beklagte sich Stephen. »Wie weit sind wir von Thrigaestath entfernt?«, wollte Aspar wissen. »Oh, fast eine Meile, würde ich sagen«, antwortete der Junge. 162
»Aber da wohnt jetzt keiner mehr. Die schwarzen Dornen sind drübergewachsen.« »Über die ganze Stadt?«, fragte Winna. »Ich habe ja immer gesagt, dass sie zu nahe am Wald liegt«, mischte sich eine weibliche Stimme ein. Aspars Blick folgte dem Klang bis zu einer Frau von vielleicht dreißig Jahren, die ein braunes Kleid aus selbst gewebtem Tuch trug und neben dem ummauerten Schweinekoben stand. Ihr Haar hatte die gleiche Farbe wie das des Jungen, und Aspar nahm an, dass sie seine Mutter war. »Stolz, genau das war es«, fuhr sie fort. »Sie haben die Grenze überschritten. Jeder hat es gewusst.« »Wie lange ist das her?«, fragte Stephen. »Ich weiß es nicht«, erwiderte sie. »Vor der Zeit der Großmutter meiner Großmutter. Aber der Wald denkt langsam, hat meine Großmutter immer gesagt. Er vergisst nicht. Und jetzt ist der Herr der Dornen aufgewacht, und er holt sich zurück, was ihm gehört.« »Was ist mit den Leuten von Thrigaestath passiert?«, wollte Aspar wissen. »In alle Winde zerstreut. Sind zu ihren Verwandten gezogen, wenn sie welche hatten. Ein paar sind in die Stadt gegangen, glaube ich. Aber sie sind alle fort.« Ihre Augen wurden schmal. »Ihr seid es doch, nicht wahr? Der Waldhüter des Königs?« »Ich bin der Waldhüter«, gab Aspar ihr Recht. Die Frau deutete mit einem Kopfnicken auf die kleinen Gebäude ihres Hofes. »Wir haben außerhalb der Grenze gebaut. Wir haben sein Gesetz geachtet. Sind wir sicher?« Aspar seufzte und schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht. Aber ich habe vor, es herauszufinden.« »Ich habe weder Gemahl noch Angehörige, die mich aufnehmen könnten«, sagte die Frau. »Ich habe nur den Jungen hier. Ich kann diesen Ort nicht verlassen.« Stephen räusperte sich. »Habt Ihr irgendetwas davon gehört, dass andere Dörfer aufgegeben worden sind? Von Menschen, die - um Vergebung - nackt herumlaufen wie Tiere?« 163 »Ein Reisender aus dem Osten hat solche Dinge erzählt«, sagte die Frau. »Aber Reisende bringen oft Geschichten mit.« Sie trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. »Trotzdem, irgendetwas ist dort.« »Was?«, wollte Aspar wissen. »Irgendwelche Wesen kommen aus den Dornen. Die Tiere riechen sie. Die Hunde bellen die ganze Nacht. Und gestern habe ich eine Ziege verloren.« »Ich hab es gesehen«, fiel der Knabe eifrig ein. »Ich hab es am Waldrand gesehen.« »Algaf«, fuhr die Frau ihn an. »Ich habe dir doch gesagt, du sollst dort nicht hingehen. Niemals.« »Ja, Mama. Aber Riqqi ist dort hinaufgerannt, und da musste ich ihm doch nachlaufen.« »Wir können uns einen neuen Hund besorgen, wenn das nötig sein sollte«, wehrte seine Mutter ab. »Niemals, hast du gehört?« »Ja, Mama.« »Aber was hast du gesehen, Junge?«, fragte Aspar. »Ich glaube, es war ein Uttin«, verkündete der Junge fröhlich. »Er war größer als Ihr, aber er war ganz verkehrt, wenn Ihr versteht, was ich meine. Ich hab ihn nur ganz kurz gesehen.« »Ein Uttin«, knurrte Aspar. Einst hätte er die Worte des Halbwüchsigen schroff abgetan. Sein ganzes Leben lang hatte er Märchen von Uttins, Alven, Boygshinns und allen möglichen seltsamen Bestien im Königswald gehört, und in fast vier Jahrzehnten hatte er niemals eine Spur von ihnen gefunden. Doch er hatte vor diesem Jahr auch noch nie einen Gryffin gesehen - oder einen Dornenkönig. »Ich kann Euch hinführen, Meister Waldhüter«, erbot sich Algaf. »Deine Mutter hat dir gerade gesagt, du sollst dich vom Wald fern halten«, wehrte Aspar ab. »Das ist ein guter Rat. Sag mir einfach, wo es war, und ich schaue mich vor Sonnenuntergang noch einmal dort um.« »Ihr bleibt doch bei uns, oder?«, fragte die Frau. 164 »Ich will Euch keine Umstände machen«, erwiderte Aspar. »Wir werden unser Lager auf Eurer Wiese aufschlagen, wenn wir dürfen.« »Schlaft in der Scheune«, bot die Frau an. »Das macht keine Umstände - es wäre eine Beruhigung.« »Nun gut«, sagte Aspar. »Danke für Eure Freundlichkeit.« Er winkte dem Wattau. »Ehawk, du kommst mit mir. Wir gehen nachsehen, ob dieses Wesen irgendwelche Spuren hinterlassen hat.« Aspar rümpfte bei dem Geruch die Nase. »Nicht anfassen«, warnte er Ehawk, der sich bückte, um die Spur mit dem Finger nachzuzeichnen. »Warum nicht, Meister White?« »Ich habe mal die Fährte eines Gryffin berührt und bin davon krank geworden. Kleinere Lebewesen sind glatt daran krepiert. Ich habe keine Ahnung, von was für einem Geschöpf diese Fährte stammt, aber es ist keins, das ich kenne, und wenn ich im Königswald etwas sehe, das ich nicht kenne, dann habe ich gelernt, vorsichtig damit umzugehen.« »Es ist groß«, bemerkte Ehawk. »Ja. Und hat sechs Zehen. Gibt es oben bei euch irgendetwas, das solche Spuren hinterlässt?« »Nein.«
»Bei uns auch nicht«, sagte Aspar. »Und dieser Gestank?« »So was hab ich noch nie gerochen«, gestand der Junge. »Aber es ist widerlich.« »Ich bin schon einmal auf diesen Geruch gestoßen«, sagte Aspar. »In den Bergen, wo ich die Behausung des Dornenkönigs gefunden habe.« Er seufzte. »Nun, lass uns wieder zurückgehen. Morgen folgen wir der Fährte dieses Wesens.« »Irgendwas folgt ihr jetzt schon«, sagte Ehawk. »Wie? Was siehst du?« Der Junge kniete nieder und zeigte mit dem Finger, und Aspar sah, dass er Recht hatte. Dort war noch eine zweite Spur zu sehen, 165 kleine, fast kindliche Abdrücke, diese von Schuhen mit weicher Sohle. Sie waren so schwach, dass sie selbst seinem geübten Blick entgangen waren. »Du hast gute Augen, Wattau«, knurrte Aspar. »Vielleicht sind sie zusammen unterwegs«, sagte der Junge. »Ja. Könnte sein. Komm.« Die Frau hieß Brean, und sie setzte ihnen einen Hühnereintopf vor; wahrscheinlich hatten sie und der Knabe seit Monaten nicht so gut gegessen. Aspar hielt sich zurück - er hoffte, dass etwas für sie übrig blieb, wenn sie weiterzogen. In dieser Nacht schliefen sie in der Scheune. Genau wie Brean behauptet hatte, bellten die Hunde die ganze Nacht, meilenweit im Umkreis, und wahrscheinlich auch die, die man nicht mehr hören konnte. Furcht lag in ihren Stimmen, und Aspar schlief nicht gut. Am nächsten Tag standen sie früh auf und gingen auf Uttin-Jagd. Unglücklicherweise war die Fährte nicht lang - sie endete nach ungefähr zwanzig Ellen im Wald. »Der Boden ist immer noch weich«, sagte Aspar. »Und das Biest ist schwer. Eigentlich sollten Spuren zu sehen sein.« »In den Geschichten, die ich als Kind gehört habe, konnten Uttins sich so klein machen wie Mücken oder sich in Moos verwandeln«, erklärte Winna. »Er könnte sich direkt unter unseren Füßen versteckt halten.« »Das sind doch nur Märchen«, brummte Aspar. »Gryffins waren auch nur Märchen«, erwiderte sie. »Aber die Geschichten haben nicht ganz gestimmt«, wandte Stephen ein. »In jedem Märchen und jeder Schilderung, die ich über den Dornenkönig gelesen habe, waren nur ein paar Worte wahr. Und der echte Gryffin war ganz anders als der aus den Phay-Märchen.« »Aber echt, oder?« »Werlic«, stimmte Aspar zu. »Ich habe diesen Fabeln noch nie getraut.« 166 »Du traust nie irgendwas, außer dem, was du mit eigenen Augen siehst«, entgegnete Winna. »Warum sollte ich auch? Alles, was nötig war, um mich davon zu überzeugen, dass es so etwas wie Gryffins wirklich gibt, war, dass ich einen sehe. Alles, was notwendig wäre, um mich davon zu überzeugen, dass ein Vieh, das schwerer ist als ein Pferd, sich in Moos verwandeln kann, ist, dass ich es sehe. Ich bin ein schlichter Mensch.« »Nein«, widersprach Stephen. »Ihr seid ein skeptischer Mensch. Das hat Euch dort am Leben erhalten, wo andere umgekommen wären.« »Sind wir uns hierin etwa einig?«, wollte Aspar mit hochgezogenen Brauen wissen. »Mehr oder weniger. Es ist eindeutig, dass viele Dinge, die wir früher für Legenden gehalten haben, auf Tatsachen beruhen. Geschichten entwickeln und verändern sich beim Erzählen, also, nein, wir können uns nicht darauf verlassen, dass sie zuverlässig sind. Die einzige Möglichkeit, Wahrheit und Erfindung auseinander zu halten, ist durch unsere eigenen Sinne.« »Nun, dann benutzt Eure Sinne mal«, sagte Winna. »Wo ist es hin?« Es war Ehawk, der antwortete, indem er ernst nach oben zeigte. »Guter Junge«, lobte Aspar. Er deutete in die Richtung, in die Ehawk gezeigt hatte. »Hier ist die Rinde zerkratzt, seht ihr? Das Biest ist in den Bäumen unterwegs.« Stephen erbleichte und blickte zu dem fernen Baldachin der Wipfel hinauf. »Das ist fast genauso schlimm, als wenn es sich in Moos verwandeln könnte«, stieß er hervor. »Wie sollen wir es sehen?« »Ist das ein Rätsel?«, wollte Aspar wissen. »Mit unseren Augen.« »Aber wie sollen wir seiner Fährte folgen?« »Ja, das ist ein Problem. Aber es scheint sich am Waldrand entlangzubewegen, wo die Dornen sind, und das ist die Richtung, in 167 die wir auch wollen. Der Praifec hat uns nicht hergeschickt, um Uttins zu jagen. Ich würde sagen, wir machen mit dem weiter, was man uns aufgetragen hat, und wenn wir ihm dabei begegnen, schön und gut.« »Meiner Ansicht nach ist das überhaupt nicht schön und gut«, bemerkte Stephen, »aber ich verstehe, was Ihr meint.« Eine Weile ritten sie schweigend weiter. Aspar suchte mit den Augen die Baumkronen ab, und sein Rücken
juckte unaufhörlich. Der Geruch nach Herbstlaub war schier überwältigend. Langjährige Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass dieser Geruch ein Zeichen dafür war, dass sich ein Mord anbahnte. Die Sefry-Frau, die ihn aufgezogen hatte, hatte gesagt, er verdanke dieses seltsame Wahrnehmungsvermögen Grim dem Wüterich, denn Aspar war an einem Ort geboren worden, wo Grim Opfer dargebracht wurden. Aspar glaubte das nicht unbedingt, und es kümmerte ihn auch nicht - ihn kümmerte nur, dass es im Allgemeinen stimmte. Außer im Herbst, wenn der Geruch ohnehin überall war ... Doch wieder hatte seine Nase Recht. Als sie sich einer Lichtung näherten, wurde der Geruch stärker. »Ich rieche Blut«, sagte Stephen. »Und etwas, das fürchterlich stinkt.« »Könnt Ihr etwas hören, mit Euren von den Heiligen gesegneten Ohren?« »Ich bin mir nicht sicher. Atmen vielleicht, aber ich kann nicht sagen, wo.« Sie drangen ein wenig weiter vor, bis sie den zusammengesunkenen, zerfetzten Körper auf der Lichtung erblickten. »Ihr Heiligen!«, entfuhr es Winna. »In der Heiligen Namen«, sagte Stephen. »Der arme Junge.« Blut tränkte die Blätter und das Erdreich, doch das Gesicht war sauber und unschwer als das Algafs zu erkennen, des Jungen von dem Gehöft. »Er hat wohl doch nicht auf seine Mutter gehört«, seufzte Aspar. Stephen schickte sich an, auf die Lichtung hinauszutreten, doch Aspar hielt ihn mit ausgestrecktem Arm zurück. 168 »Nein. Seht Ihr es denn nicht? Der Junge ist ein Köder. Das Biest will, dass wir dorthin gehen.« »Er lebt noch«, wandte Stephen ein. »Er ist es, den ich atmen höre.« »Asp-«, setzte Winna an, doch er brachte sie zum Schweigen. Sein Blick wanderte durch die Baumwipfel, doch dort war nichts außer kahlen Ästen und einem Windhauch. Er seufzte. »Haltet ein Auge auf die Bäume«, sagte er. »Ich hole ihn.« »Nein«, widersprach Stephen. »Ich tue es. Ich kann nicht so gut mit dem Bogen umgehen wie Ihr. Wenn es sich wirklich in den Bäumen versteckt, habt Ihr am ehesten die Chance, es aufzuhalten.« Aspar dachte nach, dann nickte er. »Dann geht. Aber seid auf der Hut.« Als Stephen vorsichtig auf die Wiese hinaustrat, legte Aspar einen Pfeil an die Sehne seines Bogens und wartete. Ein Schwärm Sperlinge schwirrte durch die Bäume. Dann herrschte unheimliche Stille im Wald. Stephen erreichte den Knaben und kniete neben ihm nieder. »Es ist schlimm«, rief er ihnen zu. »Er blutet immer noch. Wenn wir ihn gleich verbinden, gibt es vielleicht noch Hoffnung.« »Ich sehe nichts«, sagte Ehawk. »Ich weiß«, erwiderte Aspar. »Mir gefällt das nicht.« »Vielleicht hast du dich geirrt«, gab Winna zu bedenken. »Wir wissen doch gar nicht, ob ein Uttin - oder was immer das für ein Wesen ist - schlau genug ist, um uns eine Falle zu stellen.« »Der Gryffin war mit Menschen und Sefry zusammen«, erinnerte Aspar sie. Er dachte an die Fußabdrücke. »Dieses Biest vielleicht auch. Es braucht gar nicht selbst schlau zu sein.« »Stimmt.« Irgendetwas entging ihm - er wusste es. Das Geschöpf musste zu Fuß auf die Lichtung gekommen sein. Er hatte nur eine Fährte gefunden, die auf die Wiese hinausführte, und war davon ausgegangen, dass es auf der anderen Seite wieder in den Wald gegangen und dann erneut in die Bäume gestiegen war. 169 »Uttins können sich so klein machen wie Mücken oder sich in Moos verwandeln«, hatte Winna gesagt. »Stephen, kommt her, sofort]«, brüllte Aspar. »Aber ich -« Stephens Augen wurden riesengroß, und sein Kopf drehte sich so schnell, dass er sich fast von den Schultern löste; dann kam er taumelnd auf die Beine. Er war noch keine Elle weit gekommen, als der Boden unter seinen Füßen zu explodieren schien und etwas, das sehr viel größer war als ein Mensch, in einer Wolke aus Blättern auf ihn zusprang. 13. Kapitel Mery I Leoffs Finger tanzten über die rot-schwarzen Tasten der Hammarharfe, doch sein Verstand trieb in hässliche Tagträume hinüber, von Leichen mit Augen aus Asche und einer Stadt, die unter den Schwingen der Nacht für immer verstummt war. Finsternis kroch durch seine Finger und in die Tastatur, und die fröhliche Melodie, die er gespielt hatte, klang plötzlich schwer wie ein Requiem. Verärgert griff er nach seinen Krücken und erhob sich, wobei der Schmerz in seinem Bein ihn zusammenzucken ließ. Er überlegte, ob er in sein Gemach zurückkehren und sich hinlegen sollte, doch der Gedanke an die kleine, dunkle Kammer machte ihn trübsinnig. Das Musikzimmer war wenigstens sonnig, mit zwei hohen Fenstern, aus denen man über Eslen blickte und über Neuland dahinter. Es war auch gut mit Instrumenten ausgestattet - neben der Hammarharfe gab es hier Fiedeln in allen Größen, Lauten und Basslauten, Oboen, Flageoletts und Dudelsäcke. Auch waren reichlich Papier und Tinte vorhanden. Doch die meisten dieser Dinge waren von einer feinen Staubschicht bedeckt, und die Saiteninstrumente waren samt und son-
170 ders seit Jahren nicht mehr gestimmt worden. Leoff fragte sich, wie lange es wohl her war, seit es hier einen Hofkomponisten gegeben hatte. Genauer gesagt, er fragte sich, ob es jetzt einen gab. Wann würde er etwas von der Königin hören? Artwair hatte sein Versprechen gehalten, Leoff ein Quartier im Schloss zu verschaffen und dafür zu sorgen, dass er die Erlaubnis bekam, das Musikzimmer zu nutzen. Ihm war eine sehr kurze Audienz beim König gewährt worden, der allem Anschein nach kaum gemerkt hatte, dass Leoff da war. Die Königin war dabei gewesen, schön und majestätisch, und auf ihr Betreiben hin hatte der König Leoff für sein Handeln in Broogh belobigt. Keiner von beiden hatte ein Wort über seine Stellung verloren. Und obgleich ihm ein paar neue Gewänder geschneidert worden waren und ihm regelmäßig Mahlzeiten in sein Gemach gebracht wurden, hatte seit nunmehr zwei Wochen noch niemand ein Werk bei ihm in Auftrag gegeben. Also tändelte er herum. Er hatte das Lied der Malend zu Papier gebracht, hatte es als Stück für ein zwölfköpfiges Orchester arrangiert und es dann, unzufrieden mit dem Resultat, für dreißig Instrumente umgeschrieben. Seines Wissens hatte noch niemals ein so großes Orchester gespielt, doch das war es, was er in seinem Kopf gehört hatte. Er hatte es noch einmal mit jener flüchtigen Weise von dem Hügel versucht, doch irgendetwas ließ ihn immer wieder innehalten, und er hatte die Arbeit zur Seite gelegt. Stattdessen hatte er eine Suite höfischer Tänze begonnen, in Erwartung des erhofften Auftrags - vielleicht für eine Hochzeit. Während all dessen ließ ihn der Tod Brooghs nicht los, verlangte nach einer Stimme. Ihm war klar, was er tun musste, doch er zögerte. Er fürchtete, dass das Komponieren eines so machtvollen Werkes, wie es in seinem Kopf langsam Gestalt annahm, ihn irgendwie seiner eigenen Lebenskraft berauben könnte. Also rumorte er verdrossen im Musikzimmer herum, durchforstete die Manuscrifte in den Schränken, stimmte die Saiteninstrumente - und stimmte sie dann noch einmal. 171 Er starrte gerade aus dem Fenster und beobachtete die fernen Kähne auf dem Taufluss, als er ein unterdrücktes Niesen vernahm. Er drehte sich um, um zu sehen, wer dort stand, doch es war niemand im Zimmer. Die Tür war leicht geöffnet, und er konnte zehn Ellen des dahinter liegenden Korridors überblicken. Die Haare in seinem Nacken stellten sich auf, als er langsam durchs Zimmer ging und sich fragte, ob er sich das Geräusch vielleicht nur eingebildet hatte. Doch dann ertönte es erneut, lauter diesmal. Es kam aus einem der Schränke. Mit steigender Furcht starrte er zum Ort des Geräusches hinüber. Hatten sie ihn aufgespürt, die Mörder von Broogh? Waren sie gekommen, um Rache zu nehmen, hatten einen Meuchelmörder geschickt, aus Angst, dass er sie verraten könnte? Vorsichtig hob er das Nächstbeste auf, was zur Hand war, eine Oboe. Sie war schwer - und spitz. Wieder schaute er in den Flur hinaus. Es war keine Wache zu sehen. Er überlegte, ob er eine suchen sollte, und hätte es auch beinahe getan, doch stattdessen riss er sich zusammen, marschierte auf den Schrank zu, packte rasch die Tür und riss sie auf, während er die Oboe schwang. Große Augen blinzelten zu ihm empor, und ein kleiner Mund schnappte nach Luft. Das Kind starrte Leoff einen Moment lang an, während dieser sich entspannte. In dem Schrank kauerte ein kleines Mädchen, nicht älter als sechs oder sieben Jahre. Sie trug ein blaues Satinkleidchen, und ihr langes braunes Haar war ziemlich zerzaust. Ihre großen blauen Augen wirkten völlig arglos. »Hallo«, sagte er nach einem Augenblick. »Du hast mich ganz schön erschreckt. Wie heißt du denn?« »Mery, bitte sehr«, antwortete sie. »Warum kommst du nicht heraus, Mery, und erzählst mir, warum du dich dort drin versteckst?« »Ja, bitte sehr«, sagte sie und rutschte aus ihrem engen Versteck. Sie richtete sich auf und wich vor ihm zurück. 172 »Ich gehe jetzt«, verkündete sie. »Nein, warte. Was hast du denn da drin gemacht?« »Hier war sonst nie jemand«, sagte sie. »Ich bin immer hergekommen und habe mit der Hammarharfe gespielt. Ich finde es schön, wie sich das anhört. Jetzt seid Ihr hier, und ich kann nicht mehr damit spielen, aber ich höre Euch gern zu.« »Nun, Mery, du hättest doch fragen können. Manchmal hätte ich nichts dagegen, wenn du zuhörst.« Sie ließ den Kopf ein wenig hängen. »Ich gebe mir einfach Mühe, leise zu sein und mich nicht sehen zu lassen. Das ist am besten.« »Unsinn. Du bist doch ein hübsches kleines Mädchen. Es gibt gar keinen Grund, schüchtern zu sein.« Sie antwortete nicht, starrte ihn jedoch an, als spräche er Vitellianisch. Er zog einen zweiten Hocker vor die Hammarharfe. »Setz dich hierhin. Ich spiele dir etwas vor.« Ihre Augen wurden noch größer, und dann runzelte sie die Stirn, als glaube sie ihm nicht. »Wirklich?« »Wirklich.« Sie tat wie geheißen und ließ sich auf dem Hocker nieder.
»Also, wie heißt dein Lieblingslied?« Sie dachte einen Moment nach. »>Rund um den Hügel und wieder zurück< mag ich gern.« »Das kenne ich«, sagte er. »Als ich so alt war wie du, war das auch eins meiner Lieblingslieder. Mal sehen - geht es ungefähr so?« Er spielte die Melodie. Sie lächelte. »Das dachte ich mir. Jetzt lass es mich mal mit beiden Händen spielen.« Er begann eine einfache Bassbegleitung und spielte die Melodie erneut. Beim dritten Mal fügte er einen Kontrapunkt hinzu. »Jetzt ist es wie ein Tanz«, stellte sie fest. »Stimmt«, sagte er. »Aber hör zu, ich kann eine Hymne daraus machen.« Er ließ die Bassbegleitung weg und ging zu einer vier173 stimmigen Harmonie über. »Oder ich kann machen, dass es traurig klingt.« Er spielte eine eher getragene Variante. Wieder lächelte sie. »So gefällt es mir. Wie könnt Ihr aus einem Lied so viele machen?« »Das ist mein Beruf«, erwiderte er. »Aber wie geht das?« »Nun - stell dir mal vor, du möchtest etwas sagen. >Ich möchte ein bisschen Wasser trinken.< Auf wie viele verschiedene Arten könntest du das sagen?« Mery überlegte. »Ein bisschen Wasser, das ich trinken möchte?« »Richtig. Wie noch?« »Ich würde gern ein bisschen Wasser trinken, bitte.« »Genau. Höflich.« »Ich will ein bisschen Wasser, jetzt gleich« »Befehlend, ja. Und wütend?« »Ich will Wasser« Sie unterdrückte ein Kichern über ihren gespielten Zorn. »Und so weiter«, sagte Leoff. »Mit Musik ist es genauso. Es gibt viele Möglichkeiten, denselben Gedanken auszudrücken. Es kommt nur darauf an, die richtigen auszusuchen.« »Könnt Ihr das auch mit einem anderen Lied?« »Natürlich. Welches Lied hättest du denn gern?« »Ich weiß nicht, wie es heißt.« »Kannst du es summen?« »Ich glaube schon.« Sie konzentrierte sich und begann zu summen. Zwei Dinge fielen Leoff sofort auf. Zum einen summte sie das Thema des Liedes der Malend, das er erst vor ein paar Tagen zu Papier gebracht hatte. Zum Zweiten summte sie die Melodie vollkommen richtig und absolut tonrein. »Das hast du hier drinnen gehört, nicht wahr?« Sie machte ein verlegenes Gesicht. »Ja, bitte sehr.« »Wie oft?« »Nur einmal.« 174 »Einmal.« Interesse regte sich in seiner Brust. »Mery, würdest du mir etwas auf der Hammarharfe vorspielen? Etwas, das du immer gespielt hast, wenn du allein hier warst?« »Aber Ihr könnt das doch viel besser.« »Aber ich spiele auch schon länger, und man hat mich darin unterwiesen. Hast du je Musikunterricht gehabt?« Sie schüttelte den Kopf. »Dann spiel mir etwas vor. Ich würde es wirklich gern hören.« »Also gut«, sagte sie. »Aber es wird bestimmt nicht schön.« Sie setzte sich auf dem kleinen Hocker zurecht, spreizte die winzigen Finger auf der Tastatur und begann zu spielen. Es war nur eine Melodie, eine einfache Tonfolge, doch er erkannte sie sofort als »Die hübsche Maid von Dalwis«. »Das ist wirklich sehr gut, Mery«, sagte er. Er zog einen Hocker neben den ihren. »Spiel es noch mal, und ich spiele mit.« Sie begann von vorn, und er fügte zunächst nur einzelne Akkorde hinzu, dann eine durchgehende Bassstimme. Merys Lächeln wurde immer strahlender. Als sie geendet hatten, sah sie ihn mit funkelnden blauen Augen an. »Ich wünschte, ich könnte auch mit zwei Händen spielen«, sagte sie. »So wie Ihr.« »Das könntest du, Mery Ich könnte es dir beibringen, wenn du möchtest.« Sie öffnete den Mund, dann zögerte sie. »Seid Ihr sicher?«, fragte sie. »Es wäre mir eine Ehre.« »Ich würde das gern lernen.« »Nun gut. Aber du musst bei der Sache sein. Du musst tun, was ich sage. Du hast ein sehr gutes Ohr, aber die Art und Weise, wie du deine Hände bewegst, ist nicht richtig. Du musst sie so halten ...«
Zwei Glockenschläge verstrichen, ohne dass Leoff es merkte. Mery begriff die Übungen schnell. Ihr Verstand und ihr Gehör waren wirklich erstaunlich, und es entzückte ihn, zu sehen, wie sie Fortschritte machte. 175 Er hörte niemanden kommen, bis jemand an die offene Tür klopfte. Er drehte sich auf seinem Stuhl um. Dort stand Muriele Dare, die Königin. Sie sah nicht ihn, sondern Mery an. Die Kleine hüpfte eilig von ihrem Hocker und beugte das Knie. Mit einiger Verspätung versuchte Leoff, es ihr gleichzutun, obwohl seine Schiene ihn behinderte. »Mery«, sagte die Königin mit leiser, kalter Stimme. »Warum gehst du nicht spielen?« »Ja, Majestät«, erwiderte die Kleine und schickte sich an hinauszuhuschen. Dann jedoch drehte sie sich um und blickte Leoff scheu an. »Danke«, sagte sie. »Mery«, sagte die Königin ein wenig heftiger. Und das kleine Mädchen war verschwunden. Dann wandte die Königin sich mit eisigem Blick an Leoff. »Wann hat Euch Lady Gramme damit beauftragt, ihrem Kind Musikstunden zu geben?«, fragte sie. »Majestät, ich kenne keine Lady Gramme«, erwiderte Leoff. »Das Kind hat sich hier versteckt, weil sie Musik mag. Ich habe sie heute entdeckt.« Die Züge der Königin schienen sich ein wenig zu entspannen. Ihre Stimme wurde weicher. »Ich werde dafür sorgen, dass sie Euch nicht mehr belästigt.« »Majestät, ich finde die Kleine entzückend. Sie hat ein exzellentes Gehör und lernt schnell. Ich würde sie auch umsonst unterrichten.« »Tatsächlich?« Die Kühle war zurückgekehrt, und zum ersten Mal begann Leoff sich zu fragen, wer genau Lady Gramme wohl war. »Mit Verlaub, Majestät, ich weiß so wenig über diesen Ort. Ehrlich gesagt weiß ich noch nicht einmal, ob ich hier in Stellung bin.« »Um das zu besprechen, bin ich hier.« Sie setzte sich, und er stand beklommen da und sah sie an, die Krücken fest unter die Arme geklemmt. Im Korridor stand zu jeder Seite der Tür ein Wachposten. 176 »Mein Gemahl hat nichts davon gesagt, dass er Euch angestellt hat, und der Brief, den Ihr von ihm erhalten habt, scheint Euch abhanden gekommen zu sein.« »Majestät, mit Verlaub, der Brand in der Malend -« »Ja, ich weiß, und Herzog Artwair hat den Brief gesehen, und das genügt mir. Trotzdem muss ich heutzutage sehr vorsichtig sein. Ich habe an verschiedenen Stellen Erkundigungen über Euch eingezogen, und das hat eine Weile gedauert.« »Ja, Majestät. Selbstverständlich, ich verstehe.« »Ich weiß nicht viel von Musik«, sagte die Königin, »aber man hat mir zu verstehen gegeben, dass Ihr für einen Komponisten einen ungewöhnlichen Ruf habt. Die Kirche zum Beispiel hat Eure Arbeit mehrfach zensiert. Es wurde sogar von Hexerei gemunkelt.« »Ich versichere Euch, Majestät«, erwiderte Leoff hastig, »ich habe nichts Ketzerisches getan und bin ganz gewiss kein Hexenmeister.« »Und doch äußert die Geistlichkeit in Glastir genau diese Ansicht. Sie sagen, Eure Werke würden häufig unziemlich orchestriert.« Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, was das heißt. Außerdem berichten sie, eines Eurer Konzerte wäre Anlass für Gewaltausbrüche gewesen.« »Das stimmt lediglich im weitesten Sinne des Wortes, Majestät. Zwei Herren hatten sich über den Wert einer meiner Kompositionen gestritten. Sie wurden dabei handgreiflich, und sie hatten ... Freunde, die sich ihnen angeschlossen haben.« »Es hat also eine Schlägerei gegeben.« Leoff seufzte. »Ja, Euer Majestät.« »Der Abtor von Glastir meinte, Eure Musik hätte einen schlechten Einfluss auf die Menge gehabt.« »Ich glaube nicht, dass das stimmt, Majestät.« Sie lächelte schwach. »Ich glaube, ich verstehe, warum mein Gemahl Euch diesen Posten angeboten hat, wenngleich er lange unbesetzt war. Er lag mit der Kirche ein wenig im Streit, besonders mit Praifec Hespero. Ich nehme an, er hat es getan, um ihn ein biss177 chen zu ärgern.« Das Lächeln verschwand. »Unglücklicherweise ist mein Sohn nicht in derselben Position wie mein Gemahl. Wir können es uns nicht leisten, die Kirche zu reizen - zumindest nicht sehr. Andererseits habt Ihr Euch als Freund des Königreiches erwiesen, und Herzog Artwairs Fürsprache in Eurer Sache ist Gold wert.« Sie runzelte leicht die Stirn. »Sagt mir, was der Kirche an Eurer Musik nicht gefällt. Genau.« Leoff bedachte seine Worte sorgfältig. »Majestät, Euer letzter Hofkomponist - welches seiner Werke war Euer Lieblingsstück?« Sie blinzelte, und ihm wurde plötzlich kalt, weil er sich angemaßt hatte, ihre Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten. »Das kann ich wirklich nicht sagen«, antwortete sie. »Ich glaube, es war wohl einer seiner Tänze.«
»Könnt Ihr es in Eurem Kopf hören? Könnt Ihr es summen?« Jetzt sah sie verärgert aus. »Wollt Ihr auf irgendetwas Bestimmtes hinaus?« Er balancierte auf seinen Krücken, um die Hände vor der Brust falten zu können. »Majestät, Musik ist eine Gabe der Heiligen. Sie hat die Macht, die menschliche Seele zu rühren. Und doch tut sie es meistens nicht. Seit fast hundert Jahren wird Musik nicht mit dem Herzen, sondern mit dem Verstand geschrieben, beinahe wie ein Rechenexempel. Sie ist unfruchtbar geworden, eine reine Denkaufgabe.« »Ein Tanz sollte sich doch wie ein Tanz anhören, oder nicht?«, fragte die Königin. »Und ein Requiem wie ein Requiem?« »Das sind Formen, Majestät. Innerhalb dieser Formen lassen sich so erhabene Dinge bewerkstelligen -« »Das verstehe ich nicht. Was hat die Kirche gegen Eure Philosophie?« Und jetzt war Leoff klar, dass er seine Worte sehr sorgfältig wählen musste. »Weil manche Kirchenangehörige Gewohnheit mit Lehre verwechseln. Es gab eine Zeit vor der Erfindung der Hammarharfe - sie ist kaum hundert Jahre alt. Vor zweihundert Jahren war es undenkbar, dass zwei Stimmen verschiedene Teile eines Liedes sin178 gen sollten, geschweige denn vier, aber heute werden Kirchenhymnen stets für vier Stimmen verfasst. Und trotzdem hat sich, aus welchen Gründen auch immer, die Musik in den letzten hundert Jahren überhaupt nicht verändert. Sie ist leblos und vertraut. Manche Menschen fürchten Veränderungen -« »Ich habe Euch um eine genaue Auskunft gebeten.« »Ja, Majestät. Vergebt mir. Nehmt zum Beispiel die Trennung von instrumentaler und gesungener Musik. Die Musik der Kirche ist ausschließlich die des Gesangs. Andererseits gehört zu einem Konzert niemals eine menschliche Stimme.« »Barden spielen und singen«, wandte die Königin ein. »Ja. Und der Kirche gefällt das nicht. Wieso ? Man hat mir nie eine schriftliche Kirchenlehre gezeigt, in der das erklärt wird.« »Dann wollt Ihr also sowohl für Stimme als auch für Instrumente komponieren?« »Ja! In den alten Zeiten hat man das getan, vor der Herrschaft des Schwarzen Narren.« »Hat er es untersagt?« »Nun - nein. Er hat es sogar gefördert, doch wie alles, was er berührt hat, hat er auch dies zugrunde gerichtet. Er hat Musik zu etwas Grauenvollem gemacht - hat Sänger foltern lassen, damit sie im Chor schreien, solche Dinge.« »Ah«, sagte die Königin. »Und als die Hegemonie ihn besiegt und Frieden geschaffen hat, hat sie solche Musik verboten, wegen ihrer Verbindung zum Schwarzen Narren, so wie sie alles andere verboten hat, was mit ihm zu tun hatte.« »Einschließlich der Erfindungskunst«, erklärte Leoff. »Wäre dieser Bann noch in Kraft, wären die Malenden, die Euer Neuland trockenlegen, niemals erdacht worden.« Wieder lächelte die Königin. »Glaubt nicht, die Kirche hätte nicht versucht, das zu verhindern«, bemerkte sie. »Aber um auf Eure Behauptung zurückzukommen - Ihr sagt, Musik hätte die Macht, die menschliche Seele zu rühren, und jetzt sprecht Ihr vom Schwarzen Narren. Es heißt, während seiner Herrschaft sei Musik verfasst worden, die ganze Reiche in Verzweiflung gestürzt hat, 179 die Wahnsinn und tierisches Verhalten hervorrufen konnte. Wenn dem so ist - wenn Musik die menschliche Seele in die Finsternis treiben kann -, ist es dann nicht besser, wenn sie, wie Ihr sagt, unfruchtbar und harmlos bleibt?« Leoff löste seine gefalteten Hände und seufzte. »Majestät«, erwiderte er, »die Welt ist bereits voll von Musik der Verzweiflung. Klagelieder klingen uns unablässig in den Ohren. Ich möchte dem mit Freude begegnen, mit Stolz, Zärtlichkeit, Frieden - und vor allem mit Hoffnung. Ich möchte unser Leben um etwas bereichern.« Die Königin sah ihn lange an, ohne dass in ihrer Miene etwas zu lesen gewesen wäre. »Rührt meine Seele«, sagte sie schließlich. »Zeigt mir, was Ihr meint. Ich werde mir ein Urteil darüber bilden, wie gefährlich es ist.« Er zögerte einen Augenblick; er wusste, dies war der entscheidende Moment, und er überlegte, was er spielen sollte. Eine der aufwühlenden Weisen, die er für den Hof von Glastir geschrieben hatte? Den Siegesmarsch des Lord Fell? Er hatte sich für Letzteres entschieden und legte die Finger auf die Tasten, doch es geschah etwas anderes. Er begann, das zu spielen, was er gemieden hatte, jenen Teil, der in seinem Kopf bereits Gestalt angenommen hatte. Sanft zunächst, ein Lied von Liebe und Sehnsucht, ein Pfad in eine schönere Zukunft. Dann die Feinde, Missklang, Schrecken, dunkle Wolken, die die Sonne auslöschten. Pflicht, grausige Pflicht, doch alldieweil kehrte die Melodie der Hoffnung wieder und wieder zurück, unbezwingbar, bis am Ende, nach Trauer und Tod, nur noch sie übrig blieb, trotz allem triumphierend. Als er geendet hatte, fühlte er, dass seine Augen feucht waren, und er sandte ein stummes Dankgebet an die Heiligen, für das, was sie ihm geschenkt hatten. Langsam wandte er sich von der Tastatur ab und sah, dass die Königin ihn anstarrte. Eine einzelne Träne rann langsam ihre Wange hinunter.
»Wie heißt das Stück?«, fragte sie leise. »Ich habe es noch nie gespielt«, erwiderte er. »Es ist ein Teil von 180 etwas Größerem, eine Quintessenz davon. Aber vielleicht nenne ich es >Die Mär von Lithaer< gesagt.« »Ja, das bin ich, ja, das ist es, und ja, das hat sie«, erwiderte Vaseto. »Und damit ist reichlich viel dazu gesagt worden. Überhaupt, im Augenblick müssen wir uns über andere Dinge Gedanken machen.« »Zum Beispiel?« 194 Als Antwort schlug ein Pfeil in den Stamm eines Olivenbaums ein, nur eine Elle von Neils Kopf entfernt. 15. Kapitel Der Uttin Aspar schoss einen Pfeil auf das Geschöpf ab, noch ehe er sehen konnte, was es war. Er traf, dessen war er sich sicher, doch der Pfeil schien keine große Wirkung zu zeigen. Ein langer, klauenbewehrter Arm schoss vor und schleuderte Stephen zu Boden. Als Aspar den zweiten Pfeil fliegen ließ, schien sich ein Lichtschleier über alles zu senken. Die Blätter, die die Grube verborgen hatten, in der sich die Kreatur versteckt hatte, drehten sich langsam, während sie zu Boden fielen; jedes einzelne war deutlich zu erkennen - Eiseneiche, Esche, Haurnbagm, Pappel. Als die Blätter herabsanken, wurde der Uttin sichtbar. Der erste Eindruck war der einer riesigen Spinne - zwar besaß das Geschöpf nur vier Gliedmaßen, doch diese waren lang und spindeldürr und hingen an einem Rumpf, der so gedrungen war, dass er klotzig wirkte, eine Muskelmasse, bedeckt von etwas, das wie braune Schuppen aussah, sowie spärlichem grünlichem Haar, das am oberen Rücken dichter wurde und wie eine Krause einen kurzen, dicken Hals umgab. Gelbe Augen starrten aus einem gewaltigen, länglichen Gebilde aus grünem Hörn, das statt Nasenlöchern lediglich Schlitze und statt Ohren nur Löcher aufwies. Sein Maul war das Lachen einer Schwarzen Mary, ein Schlitz, der den Kopf entzweischnitt und um grässliche, zackige schwarze Zähne herumwaberte. Der zweite Pfeil traf den Uttin in die Brust, dort, wo sich sein Herz hätte befinden müssen. Die Kreatur wandte sich von Ste195 phen ab und ließ sich auf alle viere fallen, dann sprang sie mit grauenvoller Geschwindigkeit auf Aspar zu. Aspar konnte noch einen weiteren Schuss abgeben, genau wie Ehawk, dann hatte das Ungetüm sie erreicht. Sein Gestank traf Aspar in die Magengrube, und ihm wurde übel, als er den Bogen fallen ließ und Kampfdolch und Wurfaxt herausriss. Mit Letzterer schlug er heftig zu und wich aus, als das Wesen an ihm vorbeischoss. Eine Hand mit sechs Klauen hieb nach ihm und verfehlte ihn knapp. Er wirbelte herum und duckte sich kampfbereit.
Der Uttin hielt inne und federte auf seinen langen, merkwürdigen Beinen langsam auf und ab, den Körper aufgerichtet, die Finger klopften auf den Boden. Er überragte Aspar um eine Königselle. Aspar wich zurück und hoffte, knapp außer Reichweite zu sein. »Winna«, sagte er. »Mach, dass du hier wegkommst. Sofort.« Ehawk schob sich langsam seitwärts, bemerkte er, um hinter die Bestie zu gelangen. »Wüiinaaah«, krächzte das Ungeheuer, und Aspars Haut zog sich zusammen, als wäre er in ein Würmernest hineingestolpert. »Wünaah weeeg, ya. Ich hole dich später. Spaß machen.« Die Sprache war der hiesige almanische Dialekt. »Bei Grims Augen«, fluchte Aspar. »Was bist du, verdammt noch mal?« Als Antwort lehnte sich der Uttin ein wenig nach vorn, dann zog er einen der Pfeile aus seiner Brust. Aspar sah, dass die Schuppen eher Knochenplatten waren, ein natürlicher Panzer - der Pfeil war nicht tief eingedrungen. Mehr und mehr fühlte er sich an den Gryffin erinnert, der einem Reptil ebenfalls sehr ähnlich gewesen war. Wenn dieses Wesen giftig war, so wie der Gryffin, dann war Stephen bereits so gut wie tot. Und er auch, wenn es ihn berührte. Er wartete auf die nächste Bewegung des Ungeheuers und suchte nach verwundbaren Stellen. Auch der Kopf war gepanzert und bestand wahrscheinlich hauptsächlich aus Knochen. Mit einem 196 gut gezielten Wurf könnte er möglicherweise eines der Augen treffen. Vielleicht die Kehle? Nein. Alles zu dicht am Gegner. Die Arme des Geschöpfs waren überall. Er verstärkte den Griff um seinen Kampfdolch. Der Uttin schoss plötzlich als undeutlicher Schemen auf ihn zu. Ehawk stieß einen Schrei aus und schoss einen Pfeil ab; Aspar duckte sich, sprang in die Reichweite der zupackenden Klauen, schlug mit der Klinge nach der Innenseite des Schenkels und führte dann einen Stich gegen den Unterleib. Er fühlte, wie Fleisch unter seinem ersten Hieb aufriss, und das Geschöpf heulte auf. Sein Stoß ging ins Leere, als das Ungeheuer wie ein Frosch über ihn hinwegsprang und ihm dann einen gewaltigen Tritt versetzte, der ihn zu Boden schleuderte. Noch ehe er auch nur ans Aufstehen denken konnte, fuhr es herum, riss einen Ast von einem Baum und warf ihn. Aspar hörte Ehawk aufschreien und dann den dumpfen Aufschlag eines Körpers auf dem Boden. Dann kam der Uttin in großen Sätzen auf ihn zu. Aus dem Augenwinkel sah er Winna, nur mit einem Dolch bewaffnet, herbeistürzen, um ihm zu helfen. »Nein!«, brüllte Aspar und stemmte sich mithilfe seiner Axt hoch. Doch der Uttin versetzte Winna einen Schlag mit dem Handrücken, und als sie taumelte, packte er sie mit der anderen Hand. Im nächsten Augenblick sprang er senkrecht in die Höhe und riss Winna mit sich. Er erwischte einen tief hängenden Ast, schwang sich vor und packte mit seinen handartigen Füßen einen anderen Ast. Schneller, als ein Mensch laufen konnte, schoss er durch die Bäume davon. »Nein!«, wiederholte Aspar. Er kam auf die Füße, hob seinen Bogen auf und rannte hinter dem sich rasch entfernenden Ungetüm her. Eine Art Schaudern war in seinem Inneren, ein Gefühl, das er nie gekannt hatte. Er unterdrückte es und rannte weiter, griff an seinen Gürtel, nach der Pfeilhülle, die der Praifec ihm gegeben hatte, und zog den schwarzen Pfeil heraus. Er verlor den Uttin immer wieder aus den Augen. Der Atem 197 pfiff harsch durch Aspars Lippen, als er die Reliquie an die Bogensehne legte. Er blieb stehen, nahm Schusshaltung ein, und einen Augenblick lang war die Welt wieder still. Er spürte die ungeheure Größe der Erde unter sich, die leichte Brise, die sich über das Land schob, den tiefen, langsamen Atem der Bäume. Dann zog er die Sehne zurück. Der Uttin geriet hinter einem Stamm außer Sicht, erschien wieder und verschwand erneut. Aspar zielte auf die schmale Lücke, wo er seiner Meinung nach wieder auftauchen musste, fühlte den richtigen Zeitpunkt kommen und ließ los. Der schwarze Schaft zog davon, fort von ihm, drehte sich um sich selbst, zischte an Blättern und Zweigen vorbei, dorthin, wo der breite Rücken des Uttin kurz die Lücke zwischen zwei Bäumen schloss. Die Stille dehnte sich, nicht jedoch die Ruhe. Aspar rannte wieder los, griff bereits nach einem neuen Pfeil und fluchte vor sich hin; sein Herz krampfte sich zusammen wie eine zornige Faust. Er fand Winna zuerst. Wie eine fortgeworfene Puppe lag sie in einem vom Herbst geröteten Farndickicht, das Kleid blutverschmiert. Der Uttin saß ein Stück entfernt, den Rücken an einen Baum gelehnt. Aspar konnte die Spitze des schwarzen Pfeils erkennen, die aus seiner Brust ragte. Er kniete neben Winna nieder und tastete nach ihrem Puls, hielt jedoch den Blick fest auf den Uttin gerichtet. Dieser gurgelte, spuckte Blut und blinzelte, als wäre er müde. Er hob eine sechsfingrige Hand und berührte die Pfeilspitze. »Nicht recht, Mannmensch«, krächzte er heiser. »Nicht gut. Ein ruchloses Ding, ja? Und doch wird es auch dich niederstrecken. Dein Ende ist dasselbe wie das meine.« Dann erbrach er Blut, keuchte noch zweimal und blickte weit über die Lande des Schicksals hinaus. »Winna?«, sagte Aspar. »Winna?« Sein Herz stolperte, doch ihr Puls war noch zu spüren, ein kräftiger Puls. Er
berührte ihre Wange, und sie regte sich. »Was?«, fragte sie. 198 »Lieg still«, erwiderte er. »Du bist gefallen, ich weiß nicht, wie tief. Hast du irgendwo Schmerzen?« »Ja«, antwortete sie. »Mir tut alles weh. Es fühlt sich an, als wäre ich in einen Sack gesteckt und von sechs Maultieren getreten worden.« Jäh schnappte sie nach Luft und setzte sich ruckartig auf. »Der Uttin ...!« »Er ist tot. Halt jetzt still, bis wir sicher sind, dass nichts gebrochen ist. Wie tief bist du gefallen?« »Ich weiß nicht. Nachdem er mir den Schlag versetzt hat, ist alles verschwommen.« Er begann, ihre Beine zu untersuchen, tastete nach gebrochenen Knochen. »Aspar White. Bist du immer so romantisch gestimmt, nachdem du einen Uttin getötet hast?«, fragte sie. »Immer«, erwiderte er. »Jedes Mal.« Dann küsste er sie, aus purer Erleichterung. Dabei wurde ihm bewusst, dass er in den letzten paar Augenblicken das schlimmste Grauen seines Lebens empfunden hatte. Es überstieg jegliche Furcht, die er je verspürt hatte, so unendlich weit, dass er es überhaupt nicht begriffen hatte. »Winna -«, begann er, doch ein leises Geräusch ließ ihn aufblicken, und in dem Dickicht hinter dem toten Uttin erhaschte er einen flüchtigen Blick auf eine vermummte Gestalt, halb hinter einem Baum verborgen, das Gesicht knochenweiß, und ein grünes Auge»Fend!«, fauchte er und griff nach seinem Bogen. Als er sich umdrehte, war die Gestalt verschwunden. Er legte den Pfeil an und wartete. »Kannst du laufen?«, fragte er leise. »Ja.« Sie stand auf. »War er es wirklich?« »Auf jeden Fall war es ein Sefry. Ich konnte ihn nicht genau erkennen.« »Da kommt jemand hinter uns her«, sagte sie. »Das sind Stephen und Ehawk. Ich erkenne sie am Schritt.« Die beiden jungen Männer erreichten sie einen Augenblick später. 199 Stephen schnappte nach Luft, als er das tote Ungeheuer erblickte. »Ihr Heiligen!« Aspar wandte den Blick nicht vom Wald ab. »Da draußen treibt sich ein Sefry herum.« »Die Spuren, die wir vorhin gefunden haben?«, fragte Ehawk. »Höchstwahrscheinlich. Seid Ihr unverletzt?«, wollte Aspar wissen. »Ja, alles in Ordnung, danke«, antwortete Stephen. »Ein paar blaue Flecken, das ist alles.« »Der Junge?«, fragte Winna. Stephens Stimme wurde düster. »Er ist gestorben.« Niemand sagte etwas dazu. Es gab nicht viel zu sagen. Der Wald war ruhig, seine normalen Laute machten sich wieder bemerkbar. »Ihr beide bleibt bei ihr«, entschied Aspar. »Ich schaue mal nach, was aus dem Gefährten unseres Freundes geworden ist.« »Aspar, warte«, bat Winna. »Was ist, wenn es wirklich Fend ist? Was ist, wenn er dich wieder in eine Falle lockt?« Er berührte ihre Hand. »Ich glaube, diese eine Falle war alles, was er geplant hatte. Wenn wir den Pfeil des Praifec nicht gehabt hätten, wäre sie ja auch wunderbar zugeschnappt.« »Ihr habt den Pfeil benutzt?«, fragte Stephen. »Das Biest hatte Winna«, sagte Aspar. »Es war oben in den Bäumen. Es gab sonst nichts, was ich tun konnte.« Stephen runzelte die Stirn, nickte dann jedoch. Er ging zu dem Uttin hinüber, kniete neben dem Leichnam nieder und zog das Geschoss vorsichtig heraus. »Ich sehe, was Ihr meint«, bemerkte er. »Die anderen Pfeile sind kaum einen Fingerbreit eingedrungen.« Er bedachte sie mit einem schiefen Grinsen. »Wenigstens wissen wir jetzt, dass es funktioniert.« »Ja. Bei Uttins«, gab Aspar zu. »Ich bin gleich wieder da.« Er drückte Winnas Hand. »Und ich werde mich vorsehen.« Er folgte der Fährte ein paar hundert Ellen, so weit, wie er es allein wagte. Er hatte Winna die Wahrheit gesagt er befürchtete 200 keine Falle, doch er hatte Angst, dass der Sefry sich im Bogen zu Stephen und Winna zurückschleichen könnte, um sie zu erwischen, wenn er nicht da war. Fend würde nichts mehr genießen, als einen weiteren Menschen zu töten, den Aspar liebte, und er war gerade näher daran gewesen, Winna zu verlieren, als er es jemals sein wollte. »Sieht so aus, als wäre er allein«, bemerkte Aspar. Sie waren der Spur des Sefry den größten Teil des Tages gefolgt. »Er ist schnell«, sagte Ehawk. »Aber er will, dass wir ihm folgen.« »Ja, das denke ich auch«, stimmte Aspar zu. »Wie meint Ihr das?«, fragte Stephen. »Die Fährte ist deutlich - sogar nachlässig. Er gibt sich keine Mühe, uns loszuwerden.« »Ehawk hat doch gerade gesagt, dass er es eilig zu haben scheint.« »Das reicht als Erklärung nicht aus. Er hat nicht einmal die einfachsten Tricks versucht, um uns irrezuführen. Er
hat drei Bäche überquert und ist nicht ein einziges Mal ein Stück stromauf- oder stromabwärts gewatet. Werlic, Ehawk hat Recht - aus irgendeinem Grund will er, dass wir ihm folgen.« »Wenn es Fend ist, führt er uns bestimmt zu etwas Unangenehmem«, warf Winna ein. Aspar kratzte sich die Stoppeln am Kinn. »Ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich Fend ist. Ich habe ihn nicht genau erkennen können, aber ich habe keine Augenklappe gesehen. Und die Abdrücke sehen zu klein aus.« »Aber wer immer es ist, er war mit dem Uttin unterwegs, genau wie Fend und Bruder Desmond mit dem Gryffin zusammen waren. Also ist es wahrscheinlich einer aus Fends Bande, richtig?« »Nun, soweit ich weiß, sind Fends Geächtete die einzigen Sefry, die sich noch im Wald herumtreiben«, erwiderte Aspar. »Die anderen sind schon vor Monaten fortgezogen.« Die Fährte hatte sie tief in den Wald geführt. Hier war von den 201 schwarzen Dornen nichts zu sehen. Riesige Kastanienbäume ragten um sie herum auf, und der Boden war von ihren stacheligen Früchten übersät. Irgendwo ganz in der Nähe trommelte ein Specht, und hin und wieder hörten sie hoch über sich den Schrei von Wildgänsen. »Was können die nur vorhaben?«, grübelte Winna laut. »Ich denke, das werden wir herausfinden«, erwiderte Aspar. Es wurde Abend, und sie schlugen ihr Lager auf. Winna und Stephen rieben die Pferde ab, während Ehawk Feuer machte. Aspar kundschaftete die Umgebung aus und prägte sie sich ein, damit er sich auch im Dunkeln zurechtfinden konnte. Beim ersten Morgengrauen brachen sie auf und ritten weiter. Die Spuren waren jetzt frischer - im Gegensatz zu ihnen war der Verfolgte nicht beritten, und trotz seiner Eile holten sie auf. Mittags sah Aspar etwas durch die Bäume vor ihnen und bedeutete den anderen anzuhalten. Er blickte zu Stephen hinüber. »Ich höre nichts Ungewöhnliches«, meinte dieser. »Aber dieser Geruch - es stinkt nach Tod.« »Haltet euch bereit«, sagte Aspar. »Barmherzige Heilige«, hauchte Stephen, als sie nahe genug herankamen. Ein kleines Steingebäude kauerte auf einem runden Erdhügel. Um den Fuß des Hügels herum lag ein Kreis aus Leichen, von denen fast nur noch die Gebeine übrig waren. Doch Stephen hatte Recht - der Gestank war noch vorhanden. Für seine von den Heiligen gesegneten Sinne musste er schier unerträglich sein, dachte Aspar. Stephen bekräftigte dies, indem er sich vornüberkrümmte und würgte. Aspar wartete, bis er fertig war, dann trat er näher. »Es ist genau wie damals«, sagte er. »Wie die Opfer, die Eure abtrünnigen Mönche dargebracht haben. Das hier ist ein Sedos, nicht?« »Es ist ein Sedos«, bestätigte Stephen. »Aber es ist nicht so wie damals. Diesmal machen sie es richtig.« »Wie meint Ihr das?«, wollte Winna wissen. 202 Stephen sackte gegen einen Baum. Er sah bleich und schwach aus. »Wisst Ihr Bescheid über die Sedoi?«, fragte er. »Ihr habt etwas darüber gesagt, als die Königin Euch befragt hat, aber damals habe ich nicht besonders gut zugehört. Aspar war verletzt, und seither -« »Ja, wir haben seither nicht mehr viel darüber gesprochen.« Stephen seufzte. »Wisst Ihr, wie Priester den Segen der Heiligen empfangen?« »So ungefähr. Sie suchen Schreine auf und beten.« »Ja. Aber nicht einfach irgendwelche Schreine.« Er deutete mit einer Geste auf den Hügel. »Das da ist ein Sedos. Das ist ein Ort, wo ein Heiliger einmal gestanden und ein wenig von seiner Gegenwart zurückgelassen hat. Einen einzigen Sedos aufzusuchen verhilft einem jedoch nicht zum Segen, jedenfalls für gewöhnlich nicht. Man muss mehrere von ihnen finden, eine Reihe von Orten, die vom selben Heiligen betreten wurden, oder von Aspekten dieses Heiligen. Die Schreine - wie dieses Bauwerk hier - haben selbst keine Macht. Die Macht kommt von dem Sedos - der Schrein dient nur als Erinnerung; es ist ein Ort, der uns helfen soll, unsere Aufmerksamkeit in der Gegenwart des Heiligen zu konzentrieren. Ich habe den Pfad der Schreine des heiligen Decmanus beschritten, und er hat mich mit den geschärften Sinnen beschenkt, die ich jetzt besitze. Ich kann mich einen Monat später noch genauso gut an Dinge erinnern, als wären sie gerade erst passiert. Decmanus ist ein Heiliger des Wissens; Mönche, die andere Pfade beschreiten, empfangen andere Gaben. Der Pfad der Schreine des Mamres zum Beispiel verleiht denen, die auf ihm wandeln, kriegerische Fähigkeiten. Große Kraft, Eifer, einen Instinkt fürs Töten, all so etwas.« »Wie bei Desmond Spendlove.« »Ja. Er ist dem Pfad der Schreine des heiligen Mamres gefolgt.« »Dann gehört das hier also zu einem Pfad der Schreine?«, fragte Winna. »Aber die Leichen ...« »Der Schrein ist neu«, entgegnete Stephen. »Schaut Euch die Steine an. Kein Moos, keine Flechten, keinerlei Verwitterungen. Das könnte gestern gebaut worden sein. Die abtrünnigen Mönche 203 und Sefry, die dem Gryffin gefolgt sind, haben ihn dazu benutzt, die alten Sedoi im Wald zu finden. Ich glaube,
der Gryffin hatte die Fähigkeit, sie zu wittern, und hat einen Rundgang entlang jener gemacht, in denen noch etwas Macht schlummert. Dann haben Desmond und seine Schar Menschen geopfert, ich glaube, um herauszufinden, welchem Heiligen die Sedoi gehörten. Aber ich glaube nicht, dass sie es richtig gemacht haben ihnen haben bestimmte Kenntnisse gefehlt. Wer auch immer das hier getan hat, hat es richtig gemacht.« Er fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Und ich bin schuld daran. Als ich in d'Ef war, habe ich uralte, verbotene Scrifti übersetzt, die von diesen Dingen gehandelt haben. Ich habe ihnen zu dem Wissen verholfen, das zu tun, was Ihr hier seht.« Er zitterte und sah blasser aus denn je. »Sie bauen einen Pfad der Schreine, versteht Ihr?« »Wer?«, wollte Aspar wissen. »Spendlove und seine Abtrünnigen sind tot.« »Nicht alle, scheint es«, erwiderte Stephen. »Das hier ist gebaut worden, nachdem wir Spendlove getötet haben.« »Aber welcher Heilige hat hier seine Spur hinterlassen?«, flüsterte Winna. Stephen würgte erneut, rieb sich die Stirn und richtete sich auf. »Es ist an mir, das herauszufinden«, sagte er. »Wartet hier, Ihr alle - bitte.« Stephen übergab sich fast ein zweites Mal, als er den Kreis aus Leichen erreichte. Diesmal nicht wegen des Geruchs, sondern vor Grauen über die Einzelheiten. Kleiderfetzen, das Band im Haar eines der kleineren Leichname, direkt über ihrem schiefen, noch nicht ganz fleischlosen Grinsen. Ein fleckiger grüner Mantel mit einer Messingbrosche in Form eines Schwans. Kleine Zeichen dafür, dass dies einst menschliche Wesen gewesen waren. Wo hatte das kleine Mädchen das Band her? Wahrscheinlich war sie die Tochter eines Holzfällers - vielleicht war es das prächtigste Geschenk gewesen, das sie in ihrem Leben jemals bekommen hatte. Ihr Vater hatte es erstanden, als er die Schweine zum Markt in Tul204 haem getrieben hatte, und sie hatte ihn auf die Wange geküsst. Er hatte sie »mein kleines Entchen« genannt, und er hatte zusehen müssen, wie ihr die Eingeweide aus dem Leib gerissen wurden, kurz bevor er selbst das Messer gespürt hatte, dicht unter der Stelle, wo die Schwanenbrosche seinen Mantel zusammenhielt... Stephen schauderte, schloss die Augen, um über sie hinwegzutreten, und fühlte ... ein Summen, ein sanftes Kitzeln im Bauch, eine Art Knistern im Kopf. Er drehte sich um, um zu Aspar und den anderen hinüberzuschauen, und sie schienen weit entfernt, winzig. Ihre Münder bewegten sich, doch er konnte sie nicht sprechen hören. Einen Augenblick lang vergaß er, was er vorhatte, stand einfach nur da und überlegte, wer sie wohl sein mochten. Gleichzeitig fühlte er sich ausgezeichnet. Alle Schmerzen waren verschwunden, und ihm war, als könnte er zehn Meilen weit laufen, ohne anzuhalten. Stirnrunzelnd musterte er die Gebeine und das verwesende Fleisch rund um den Hügel; er erinnerte sich undeutlich daran, dass ihm dieser Anblick aus irgendeinem Grund Unbehagen bereitet hatte, wenngleich er sich fragte, warum ihn all das mehr stören sollte als die Zweige und Blätter, die ebenfalls auf dem Boden herumlagen. Darüber nachsinnend drehte er sich langsam um, um das Gebäude hinter sich zu betrachten. Es war gebaut wie viele Kirchenschreine - ein einfacher Steinwürfel mit einem Dach aus Schiefer und offenem Eingang. Auf dem Türsturz war ein einzelnes Wort eingraviert, und mit Interesse stellte er fest, dass es sich dabei nicht um Vitellianisch handelte, die in der Kirche übliche Sprache, sondern stattdessen um Altvadhiianisch, die Sprache der Magierkönigreiche. MARHIRHEBEN, lautete es. Im Innern blickte eine kleine, schlanke Statue aus geschnitztem Knochen über einen Steinaltar hinweg. Es war eine wunderschöne Frau mit einem merkwürdigen Lächeln. An ihren Seiten stand je ein Gryffin, und ihre Hände senkten sich, als wollten sie ihre Mähnen liebkosen. Er blickte sich um, sah jedoch sonst nichts Bemerkenswertes. Achselzuckend verließ er den Schrein. 205 Als er erneut über den Kreis aus Leichen hinwegtrat, riss sich etwas Fürchterliches los und sprang ihm aus der Kehle. Die Welt zersplitterte wie Glas, und er stürzte in die Nacht vor der Geburt der Welt. 16. Kapitel Die Hunde der Artuma Während der Pfeil noch zitterte, traten zwei Männer auf die Straße, und Neil schätzte, dass sich mindestens vier in den Büschen am Wegesrand versteckt hielten. Ein leises Scharren verriet ihm, dass einer hinter ihm war. Die beiden vor ihnen waren in ausgeblichenes Leder gekleidet, und jeder hielt einen langen Speer in der Hand. Außerdem hatten sie Tücher umgebunden, um ihre Gesichter zu verbergen. »Banditen?«, fragte Neil. »Nein, Priester«, erwiderte Vaseto spöttisch. Einer der Männer rief etwas. »Von welchem Heiligen?«, erkundigte sich Neil. »Lord Turmo, würde ich denken, dem Schutzherren der Diebe. Sie haben Euch gerade gebeten, abzusteigen und Eure Rüstung abzulegen.« »Tatsächlich?«, sagte Neil. »Was ratet Ihr mir?« »Das kommt darauf an, ob Ihr Eure Habe behalten wollt oder nicht.« »Eigentlich schon, besten Dank.« »Also dann«, sagte Vaseto und stieß einen hellen, hohen Pfiff aus. Wieder brüllte der Mann etwas, und diesmal schrie Vaseto etwas zurück.
»Worum ging es jetzt?« »Ich habe ihnen angeboten, sich zu ergeben.« 206 »Sehr gut«, bemerkte Neil. »Versucht den Kopf unten zu halten.« Er griff nach seinem Speer. In diesem Augenblick brach wildes Getümmel am Straßenrand aus. Neil warf Hurrikan herum und erhaschte einen Blick auf etwas sehr Großes, Braunes im Gebüsch. Blätter flogen, und irgendjemand schrie vor Angst auf. Verwirrt drehte er sich wieder nach den Männern auf der Straße um, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie sie unter den Pfoten zweier gewaltiger Mastiffs zu Boden gingen. »Oro!«, brüllte einer der beiden. »Oro, pertument! Pacha Satos, Pacha sachero satos! Pacha misercarda!« Neil blickte sich um. Es waren mindestens acht der riesigen Bestien zu sehen. Vaseto pfiff erneut. Die Hunde wichen ein oder zwei Schritte von ihren Opfern zurück, fletschten jedoch weiterhin die Zähne. Neil warf Vaseto, die gerade absaß, einen Blick zu. »Wieso behaltet Ihr nicht dieses große Schwert da in der Hand«, schlug sie vor, »während ich diesen Burschen die Waffen abnehme?« »Habt Erbarmen!«, sagte einer der Männer, die auf der Straße lagen, in der Sprache des Königs. »Seht, wie ich spreche Eure Sprache? Vielleicht ich bin Verwandter!« »Was für Erbarmen willst du von mir?«, fragte Neil, der den Hund, welcher den Strauchdieb bewachte, im Auge behielt, während er dem Mann den Speer und seine beiden Messer abnahm. »Ihr hattet doch vor, mich zu bestehlen, oder nicht? Mich vielleicht sogar zu töten?« »Nein, nein, natürlich nicht!«, beteuerte der Mann. »Aber heutzutage ist Leben so schwer. Essen ist wenig, Arbeit noch weniger. Ich habe Weib, zehn Kinder - bitte verschont mich, Herr!« »Still«, befahl Vaseto. »Du hast es selbst gesagt. Futter ist knapp. Wenn meine Hunde ein Schaf oder eine Ziege fressen, bekomme ich Ärger. Wenn sie dich fressen, bekomme ich dafür nur Dank. Also schweig jetzt still, und danke den Lords und Ladys, dass du solch edlen Tieren als Nahrung dienen wirst.« 207 Der Mann blickte auf. Tränen liefen ihm aus den Augen. »Lady Artuma! Lasst Eure Kinder mich verschonen!« Vaseto hockte sich neben ihm hin und zauste ihm das Haar. »Das ist unaufrichtig«, sagte sie. »Erst überfällst du eine Dienerin Artumas, und dann bittest du sie um Vergebung?« »Priesterin, ich wusste nicht!« Sie küsste ihn auf die Stirn. »Und wieso ist das eine Entschuldigung?«, wollte sie wissen. »Ist nicht, ist nicht. Ich verstehe das.« Sie suchte an seinem Gürtel und förderte einen Beutel zutage. »Nun«, sagte sie, »vielleicht ist ja eine Spende am nächsten Schrein deiner Sache förderlich.« »Ja«, schniefte der Mann, »Vielleicht. Ich bete, dass so ist. Großer Lord, erhabene Lady -« »Ich bin dein Gerede jetzt leid«, sagte Vaseto. »Noch ein Wort, und dir wird die Kehle durchgeschnitten.« Sie entwaffneten den Rest der Wegelagerer und saßen wieder auf. »Sollten wir sie nicht irgendwohin schaffen?«, fragte Neil. Sie zuckte die Achseln. »Nicht, wenn Ihr keine Zeit zu verlieren habt. Ihr würdet bleiben und auf einen Richter warten müssen. Ohne Waffen sind sie eine Weile harmlos.« »Harmlos wie Lamm!«, pflichtete ihr der am Boden liegende Mann bei; dann schrie er auf, als der Hund auf ihn losging. »Kein Geschwätz mehr, ich habe es dir doch gesagt«, wies Vaseto ihn an. »Bleib still liegen. Ich lasse meine Brüder und Schwestern hier, damit sie mit dir verfahren können, wie es ihnen beliebt.« Sie ließ ihre Stute die Straße hinuntertraben. Einen Augenblick später folgte Neil ihr. »Ihr hättet mir von den Hunden erzählen können«, sagte er nach einer Weile. »Das hätte ich«, stimmte sie zu. »Ich fand es kurzweilig, es nicht zu tun. Seid Ihr zornig?« »Nein. Aber ich lerne, nicht verblüfft zu sein.« 208 »Ach? Das wäre ein Jammer. Es steht Euch so gut zu Gesicht.« »Werden sie sie töten?« »Hmm? Nein. Sie werden lange genug bleiben, um ihnen richtig Angst zu machen, dann werden sie uns folgen.« »Wer seid Ihr, Vaseto?«, wollte Neil wissen. »Das ist ja wohl kaum eine angemessene Frage«, entgegnete Vaseto. »Ich weiß nicht, wie Ihr heißt.« »Mein Name ist Neil MeqVren«, sagte er. »Das ist nicht der Name, den Ihr der Gräfin genannt habt«, stellte sie fest. »Nein. Aber es ist mein richtiger Name.« Sie lächelte. »Und Vaseto ist der meine. Ich bin eine Freundin von Gräfin Orchaevia. Das ist alles, was Ihr wissen müsst.« »Diese Männer schienen Euch für eine Art Priesterin zu halten.« »Was ist daran verkehrt?« »Seid Ihr eine?«
»Nicht aus Berufung.« Das war alles, was sie dazu zu sagen bereit war. Gegen Mittag des nächsten Tages roch Neil das Meer und hörte bald darauf die Glocken in z'Espino läuten. Als sie über eine Hügelkuppe ritten, kamen Türme in Sicht; schlanke Spitzen aus rotem oder dunkelgelbem Stein ragten über Kuppeln und Dächern auf, die sich auf Meilen aneinander zu drängen schienen. Weniger weit entfernt bildeten dunklere, olivgrüne Felder einen scharfen Kontrast zu goldenen Weizenflächen und zierlichen Hainen aus messerförmigen Zedern. Hinter den Häusern glänzte das blaue Silber der See unter einem Haufen weißer Wolken. Westlich der Stadt stand eine weitere Ansammlung von Gebäuden, düsterer, ohne Türme und ohne Stadtmauer. Das war wohl z'Espino-des-Schattens, nahm er an. »Es ist groß«, sagte Neil. »Groß genug«, erwiderte Vaseto. »Und für meinen Geschmack zu groß.« »Wie sollen wir da drin jemals zwei Frauen finden?« 209 »Nun, ich vermute, wir werden nachdenken müssen«, antwortete sie. »Wenn Ihr an ihrer Stelle wärt, was würdet Ihr tun?« Schwer zu sagen bei Anne, dachte Neil. Sie könnte beinahe alles tun. Wusste sie überhaupt, was ihrer Familie zugestoßen war? Doch selbst wenn sie es nicht wusste, sie war in einem fremden Land, verfolgt von Feinden. Wenn sie auch nur ein bisschen Verstand hatte, würde sie versuchen, nach Hause zurückzukehren. »Sie würde versuchen, nach Crothenien zu gelangen«, sagte er. »Es gibt zwei Möglichkeiten, das zu tun. Auf dem Seeweg oder über Land. Hat sie Geld, dieses Mädchen?« »Wahrscheinlich nicht.« »Dann würde ich denken, es wäre leichter, auf dem Landweg zu reisen. Ihr solltet es wissen - Ihr seid gerade erst hergekommen.« »Ja, aber die Straßen sind gefährlich, besonders wenn diese Männer immer noch nach ihr suchen.« Er verlagerte sein Gewicht im Sattel. »Die Gräfin hat etwas von einem Mann erzählt, dem der Kopf abgeschlagen wurde und der immer noch lebt.« »Sie hat Euch davon erzählt, wie? Und Ihr habt so lange gewartet, um mich danach zu fragen?« »Ich will wissen, womit ich es zu tun habe.« »Ich würde es Euch sagen, wenn ich es wusste«, erwiderte Vaseto. »Nicht mit der übliche Sorte Ritter, aber das ist offenkundig. Wie die Gräfin gesagt hat, der Bursche war in gewisser Weise noch am Leben, wenn auch nicht mehr wirklich in der Lage zu sprechen.« Sie runzelte die Stirn. »Erhebt Ihr denn gar keine Einwände dagegen? Ihr scheint nur allzu bereit zu sein, einen völlig aberwitzigen Gedanken zu akzeptieren.« »Ich habe im letzten Jahr genug Hexerei und Nekromantie gesehen«, sagte Neil. »Ich habe keinen Grund, an den Worten der Gräfin zu zweifeln, und allen Grund, ihr zu glauben. Wenn sie mir sagen würde, es seien die eschasl selbst, die vom Tode zurückgekehrt sind, ich würde es glauben.« »Eschasl?«, fragte Vaseto. »Ihr meint die Skasloi? Ihr Leute aus Liery könnt Worte wirklich bis zur Unkenntlichkeit entstellen, das muss man euch lassen. Auf jeden Fall sind die Männer, von de210 nen wir reden, Menschen, oder zumindest waren sie das am Anfang. Wir haben auch Leichen von der eher gewöhnlichen Sorte gefunden. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, sie stammten aus Eurem Land oder von irgendwo anders im Norden, denn ein paar hatten gelbes Haar wie das Eure und helle Augen. Das waren keine Vitellianer.« »Was mich überlegen lässt, wie sie auf einer Mission des Mordbrennens so tief in Euer Land geraten sind.« Vaseto grinste. »Aber die Antwort darauf kennt Ihr doch bereits, oder Ihr habt zumindest einen Verdacht. Irgendjemand hier ist ihnen behilflich.« »Die Kirche?« »Nicht die Kirche, aber vielleicht jemand innerhalb der Kirche. Oder es könnte die Gilde der Kaufleute sein, wenn man das Interesse Eures Sir Quinte bedenkt. Oder irgendein beliebiger Fürst, wer weiß ? Aber sie haben hier Hilfe, dessen könnt Ihr gewiss sein.« »Und haben sie Hilfe in z'Espino?« »Das ist durchaus wahrscheinlich. Ein Kupferminser könnte fast jeden Würdenträger in dieser verkommenen Stadt kaufen.« Neil nickte und betrachtete die Landschaft, die zwischen ihm und der Stadt lag, mit neuen Augen. »Was ist das dort unten?«, fragte er und zeigte auf die Stelle, wo die Straße, auf der sie sich befanden, sich mit einer größeren vereinigte. Zahlreiche Zelte und Stände waren am Rand dieser Straße errichtet worden. Gleich hinter der Gabelung überquerte die Straße auf einer Steinbrücke einen Kanal, und auf der zur Stadt gelegenen Seite war ein Tor. »Dort zieht die Gilde der Kaufleute ihre Steuern ein«, antwortete Vaseto. »Warum fragt Ihr?« »Weil ich dort Posten beziehen würde, wenn ich nach jemandem Ausschau halten wollte, der z'Espino betritt oder verlässt.«
Vaseto nickte. »Gut. Ich werde schon noch einen misstrauischen Mann aus Euch machen.« »Möglicherweise halten sie auch nach mir Ausschau«, sagte Neil. 211 »Braver Junge.« Er hatte das Gefühl, sie hätte auch mit einem der Hunde reden können. Er warf ihr einen Blick zu, doch sie starrte wie gebannt die Reisenden an, die in langer Reihe darauf warteten, die Brücke passieren zu können. »Ich habe eine Idee«, verkündete sie. Neil presste das Auge an den Sprung in der Wand des Karrens. Durch den schmalen Spalt sah er hauptsächlich Farben - Seide und Satin und grellbunt gefärbte Baumwolle wirbelten wie tausend Blütenblätter im Wind. Gesichter gingen fast darin unter, doch hier und da konnte er sie erkennen. Der Wagen kam mit einem Ruck zum Stehen. Er versuchte einen Blick auf das zu werfen, was er sehen wollte, indem er sich halb hinkauerte und durch ein Astloch spähte. Eine Gruppe Männer in orangefarbenen Überwürfen sprach mit den Wagenlenkern und denen, die mit Packtieren zu Fuß unterwegs waren. Manchmal durchsuchten sie die Fracht, manchmal ließen sie die Leute ohne viele Worte durch. Ein paar Auseinandersetzungen flammten auf und endeten, wenn Münzen den Besitzer wechselten. Hinter alldem, am Tor, waren noch mehr Männer; diese waren bewaffnet, und in den Türmen über dem Tor konnte er Bogenschützen erkennen. Er spähte weiter und verfluchte das Astloch, weil es ihm nur so ein kleines Blickfeld bot. Die Männer der Gilde kamen auf den Wagen zu, in dem er Zuflucht gefunden hatte. Bald würde er Es waren nicht seine Augen, die ihm Aufschluss gaben, sondern seine Ohren. Die Wolke aus unverständlichem Vitellianisch, die ihn umgab, war durchsichtig geworden. Jetzt, durch diese Klarheit hindurch, vernahm er eine Sprache, die er kannte. Eine Sprache, die ihm verhasst war. Hansisch. Er konnte nicht verstehen, was gesagt wurde, doch er erkannte den Rhythmus, die langen, verschliffenen Vokale und die heiseren Kehllaute. Unwillkürlich ballten sich seine Hände zu Fäusten. 212 Er schob sich zu einem anderen Spalt hinüber und stieß sich dabei den Kopf an. »Pssst da hinten«, flüsterte eine Stimme wütend. »Es gibt keinen Handel, wenn Ihr nicht still liegt, so wie man Euch geheißen hat.« »Einen Augenblick«, erwiderte Neil. »Keinen Augenblick. Auf Euren Platz, sofort.« Ein Gesicht schob sich durch den Vorhang, und Licht flutete herein. Neil sah nur den Umriss des breitkrempigen Hutes und das schwache Glitzern laubgrüner Augen. »Seht Ihr da draußen jemanden mit hellem Haar?« »Die beiden Hanser neben den Männern von der Gilde ? Ja. Und jetzt legt Euch hin!« »Ihr seht sie?« »Natürlich sehe ich sie. Sie beobachten die Leute, sehen zu, wie die von der Gilde ihre Arbeit machen. Wahrscheinlich suchen sie nach Euch, und sie werden Euch auch finden, wenn Ihr nicht still liegt!« Ein zweites Gesicht schaute herein, dieses gehörte Vaseto. »Los doch, Ihr Riesentölpel! Ich diene hier als Eure Augen! Ich habe sie gesehen. Jetzt tut das Eure!« Neil zögerte einen Moment, begriff jedoch, dass ihm nichts anderes übrig blieb. Er konnte nicht gegen alle Männer der Gilde und auch noch gegen die Hanser kämpfen ... Er legte sich hin und zog sich das Tuch über den Mund, als jemand an die Rückwand des Karrens polterte. Dann versuchte er, langsam zu atmen, merkte jedoch erschrocken, dass er etwas vergessen hatte. Die Münzen! Er fand sie und legte sie auf seine Augen, gerade, als die Leinwandklappe an der Rückseite des Wagens raschelte. Rasch hielt er den Atem an. »Pis'es eck egmo?«, fragte jemand scharf. »Un viro morto«, antwortete eine sehr ironische Stimme. Neil erkannte sie als die des Sefry, der für den Rest der Gruppe sprach. »OlViedo! Pis?« 213 Neil fühlte, wie Finger seinen Arm packten. Er kämpfte gegen den Drang an aufzuspringen. Dann streiften die Finger seine Stirn. Die Luft wurde ihm knapp, und seine Lunge begann zu schmerzen. »Chiano Vechioda daz'Ofina«, antwortete der Sefry »Morta daca crussa.« Die Finger verschwanden mit einem Ruck. »Diuvo!«, brüllte der Mann von der Gilde, und die Klappe schloss sich. Eine Auseinandersetzung, die er nicht verstehen konnte, schloss sich an. Endlich, nach endlosen Momenten, setzte sich der Wagen wieder in Bewegung. Nach einer von auf Steinen stoßenden und knirschenden hölzernen Rädern erfüllten Ewigkeit klopfte jemand gegen seinen Stiefel. »Ihr könnt jetzt aufstehen«, sagte Vaseto. Neil nahm die Münzen von den Augen und setzte sich auf. »Haben wir das Tor passiert?« »Ja, und das ist nicht Euer Verdienst«, brummte Vaseto. »Habe ich Euch nicht gesagt, dass es gelingen wird?«
»Er hat mich befühlt. Noch einen Moment länger, und ihm wäre aufgegangen, dass ich noch warm war.« »Wahrscheinlich. Ich habe nicht gesagt, dass kein Risiko dabei wäre. Aber die Sefry haben ihre Rolle gut gespielt.« »Was haben sie ihm erzählt?« »Dass Ihr der Bluteiterseuche erlegen wärt.« Sie lächelte. »Die Schminke hat geholfen.« Neil nickte und kratzte an den falschen Beulen, die die Sefry aus Schweineblut und Mehl fabriziert hatten. »Wahrscheinlich ist er sofort beten gegangen«, fügte Vaseto hinzu. Sie vollführte eine ruckartige Kopfbewegung. »Kommt.« Er streckte den Kopf aus dem Karren. Sie befanden sich auf einer Art Platz, der von hohen Gebäuden umgeben war. Überall wimmelten Menschen herum, ebenso fremdartig und bunt gekleidet wie die Reisenden an der Brücke. Sie gingen zur Vorderseite des Wagens, wo drei Sefry unter einem Baldachin saßen, dicht verschleiert gegen die Sonne. 214 »Danke«, sagte Neil. Eine der Sefry, eine alte Frau, schnaubte. Die beiden anderen beachteten ihn nicht. »Wie habt Ihr sie dazu gebracht, uns zu helfen?«, wollte Neil von Vaseto wissen, als sie ihn über den Platz führte. »Ich habe ihnen gesagt, ich würde sonst das Versteck in ihrem Karren verraten, wo sie ihre Schmugglerware verstauen.« »Woher wusstet Ihr davon?« »Ich wusste es nicht«, antwortete sie. »Nicht sicher. Aber ich weiß ein oder zwei Dinge über Sefry, und dieser Clan hat fast immer Schmugglerware dabei.« »Das ist gut zu wissen.« »Außerdem schulden sie mir ein paar Gefallen. Oder haben mir ein paar geschuldet. Die meisten haben wir gerade verbraucht. Also vertut diese Chance nicht. Behaltet die Perücke auf. Lasst Eure Strohmatte nicht sehen.« Neil zupfte an der Mimenperücke aus Rosshaar, die über sein kurz geschnittenes Haar gestülpt worden war. »Ich mag das nicht«, murmelte er. »Wenn Ihr die aufhabt, seid Ihr eine echte Schönheit«, sagte Vaseto. »Und jetzt versucht, nicht zu viel zu reden, besonders, wenn Euch jemand auf Hansisch oder Crothenisch anspricht. Ihr seid ein Reisender aus Ilsepeq, und Ihr seid hier, um den Schrein von Vanth zu besuchen.« »Wo ist Ilsepeq?« »Ich habe keine Ahnung. Und ebenso wenig wird es irgendjemand wissen, dem Ihr es erzählt. Aber die Espinitos bilden sich etwas auf ihr Wissen über die Welt ein, also wird niemand das zugeben. Übt einfach Folgendes: >Edio dat Ilsepeq. Ne fatio Vitelli-an.wie der nahende Herbstich