Andrea Camilleri
Die Rache des schönen Geschlechts Commissario Montalbano lernt das Fürchten
Commissario Montalbano is...
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Andrea Camilleri
Die Rache des schönen Geschlechts Commissario Montalbano lernt das Fürchten
Commissario Montalbano ist ja einiges gewohnt, doch als er sich bei einem Aufenthalt in Rom nach einem auf der Straße liegenden Hut bückt und daraufhin von dessen Besitzer zusammengeschlagen wird, ist er irritiert. Dabei ahnt er nur noch nicht, was man mit einem Hut so alles machen kann. Auch sonst hat der Commissario es nicht leicht, denn trotz Fieberschüben und Gebirgskoller ist sein Einfallsreichtum überaus gefragt. Zum Glück gibt es jedoch immer ein paar Dinge, auf die er sich verlassen kann und die seinen Humor am Leben erhalten: das Meer vor seiner Haustür in Marinella, die Köstlichkeiten in der Trattoria San Calogero und - nicht zuletzt - die Frauen. ISBN 3-7857-1540-4 Originalausgabe: LA PAURA DI MONTALBANO Aus dem Italienischen von Christiane v. Bechtolsheim 2003 Verlagsgruppe Lübbe GmbH Schutzumschlag- und Einbandgestaltung: Guido Klütsch, Köln Umschlagbild: Renato Guttuso, ›La finestra blu‹, 1940/41
Buch COMMISSARIO MONTALBANO ist ja einiges gewohnt, doch als er sich bei einem Aufenthalt in Rom nach einem auf der Straße liegenden Hut bückt und daraufhin von dessen Besitzer zusammengeschlagen wird, ist er irritiert. Dabei ahnt er nur noch nicht, was man mit einem Hut so alles machen kann. Auch sonst hat der Commissario es nicht leicht, denn trotz Fieberschüben und Gebirgskoller ist sein Einfallsreichtum überaus gefragt. Zum Glück gibt es jedoch immer ein paar Dinge, auf die er sich verlassen kann und die seinen Humor am Leben erhalten: das Meer vor seiner Haustür in Marinella, die Köstlichkeiten in der Trattoria San Calogero und - nicht zuletzt - die Frauen. Was wäre die Welt ohne das schöne Geschlecht, dem sowohl Montalbano als auch der Sizilianer im Allgemeinen und überhaupt alle Männer in besonderer Weise verbunden sind: intelligente Frauen, schöne Frauen - aber vor allem gefährliche Frauen, die auf Rache sinnen. Und Frauen rächen sich nicht irgendwie, sondern ausschließlich auf raffinierte Weise, giftig, mit spitzer Zunge und anderen - garantiert tödlichen - Waffen.
Autor
Andrea Camilleri, ›der Shooting Star der italienischen Literaturszene‹ (LITERATUREN), hat inzwischen einen festen Platz auf den internationalen Bestsellerlisten erobert. Millionen Leser von Griechenland bis Japan lassen sich nur allzu gern von ihm ins mediterrane Sizilien entführen und begleiten den charmant-ironischen Commissario Montalbano auf seinen ungewöhnlichen Verbrecherjagden zwischen kulinarischen und anderen landestypischen Verführungen. Auch in Deutschland erfreut sich der sizilianische Ganovenjäger unaufhaltsam steigender Beliebtheit.
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Fieber Als er aufwachte, wollte er sofort im Kommissariat anrufen und Bescheid geben, dass es keinen Zweck hatte, er konnte einfach nicht ins Büro, nachts hatte ihn die Grippe angefallen wie ein Hund, der gar nicht erst bellt, sondern einem gleich an die Gurgel springt. Er machte Anstalten aufzustehen, musste sich aber gleich wieder hinsetzen, die Glieder taten ihm weh, die Gelenke knirschten; er versuchte es noch einmal und bewegte sich ganz langsam, gelangte schließlich ans Telefon, streckte die Hand aus, und just in diesem Moment klingelte es. »Pronti, Dottori? Sind Sie da echt selber dran? Erkennen Sie mich? Ich bin Catarella.« »Ich hab dich erkannt, Catarè. Was willst du denn?« »Gar nichts, Dottori.« »Wieso rufst du dann an?« »Das ist nämlich so, Dottori. Ich persönlich selber will nichts von Ihnen, aber der Dottori Augello, der will Ihnen was sagen. Was soll ich machen, soll ich ihn durchstellen?« »Gut, stell ihn durch.« »Bleiben Sie dran, dann können Sie mit ihm reden.« Eine halbe Minute verging in vollkommener Stille. Montalbano wurde von heftigem Schüttelfrost gepackt. Ein schlechtes Zeichen. Er schrie in den Hörer. »Pronto! Pronto! Seid ihr alle tot?« »Entschuldigen Sie, Dottori, aber der Dottori Augello -5-
geht nicht ans Telefon. Wenn Sie ein bisschen Geduld haben, geh ich in sein Zimmer und sag's ihm.« Da meldete Augello sich schon mit keuchender Stimme. »Entschuldige, wenn ich dich störe, Salvo, aber…« »Nein, Mimi, kein Aber«, sagte Montalbano. »Ich wollte gerade anrufen, dass ich heute zu Hause bleibe, ich schaff's nicht. Ich nehme ein Aspirin und leg mich wieder ins Bett. Kümmere dich also selber um die Angelegenheit, wegen der du mich sprechen wolltest. Wiederhören.« Montalbano legte auf, spielte kurz mit dem Gedanken, den Telefonstecker rauszuziehen, und entschied sich dann dagegen. Er ging in die Küche, schluckte ein Aspirin, fröstelte wieder, dachte darüber nach, schluckte noch eine Tablette, schlüpfte ins Bett und nahm das Buch vom Nachttisch, das er am Abend zuvor mit Vergnügen zu lesen begonnen hatte, Der Kampfhund von Carlo Lucarelli; er schlug es auf und wusste nach den ersten Zeilen, dass das Lesen unmöglich war, er spürte einen eisernen Ring um den Kopf und sah alles ganz verschwommen. Kriege ich etwa Fieber?, fragte er sich. Mit der Handfläche befühlte er seine Stirn, aber er konnte nicht unterscheiden, ob sie heiß war oder nicht, außerdem hatte er das nie begriffen, es war ja nur eine symbolische Geste, doch aus unerfindlichen Gründen machte er das immer so. Er musste unbedingt richtig Fieber messen. Montalbano richtete sich seitlich auf, öffnete die Schublade des Nachtkästchens und kramte darin herum. Das Thermometer war natürlich nicht da. Wo hatte er es hingetan? Wann hatte er zum letzten Mal Fieber gemessen? Wahrscheinlich vergangenes Jahr im Dezember, das war für ihn der gefährlichste Monat, und nicht der, von dem der Dichter spricht… Welcher Monat war für Eliot der grausamste? Ja, jetzt fiel es ihm wieder ein, April ist der grausamste Monat… Oder war es März? -6-
Poetische Exkurse in Ehren, aber wo steckte das verfluchte Fieberthermometer? Montalbano stand auf, ging ins andere Zimmer, sah in jede Schublade, in die Bücherregale, in alle Winkel. Hinter einem ziemlich schiefen Bücherstapel auf einem wackligen Tischchen lugte ein Foto von ihm und Livia hervor. Er betrachtete es und konnte sich nicht erinnern, wo es aufgenommen worden war. Ihre Kleidung ließ auf Sommer schließen. Im Hintergrund war schemenhaft ein Mann in Uniform zu erkennen, aber er sah nicht nach Militär aus, eher wie ein Hotelportier. Oder war es ein Bahnhofsvorsteher? Montalbano ließ das Foto Foto sein und setzte seine Suche fort. Keine Spur von dem Thermometer. Wieder hatte er Schüttelfrost, diesmal stärker als vorher, gefolgt von einem leichten Schwindelgefühl. Er fluchte. Das Thermometer musste unbedingt her. Das Ergebnis der Sucherei war, dass es nach einer Weile im Haus aussah, als hätte eine randalierende Einbrecherbande gewütet. Dann wurde Montalbano plötzlich ruhig: Was kümmerte ihn der Fiebermesser eigentlich? Wenn er wusste, wie hoch sein Fieber war, würde sich sein Zustand auch nicht bessern. Sicher war nur, dass er krank war, basta. Er legte sich wieder ins Bett. Da hörte er, wie ein Schlüssel im Schloss umgedreht wurde, und gleich darauf stieß Adelina, seine Haushaltshilfe, einen schrillen Schrei aus. »Madonna biniditta! Die Einbrecher waren da!« Montalbano stand auf und beruhigte die Frau eilends, die ihn während seiner wirren Erklärung aufmerksam musterte. »Jedenfalls sind Sie krank.« Montalbano antwortete mit einer Frage, die zugleich eine Bestätigung war. »Weißt du, wo der Fiebermesser ist?« -7-
»Finden Sie ihn nicht?«
»Wenn ich ihn gefunden hätte, würde ich dich nicht
danach fragen.« Entrüstet pumpte Adelina sich auf. »Wenn Sie ihn nicht finden und dabei das Zimmer auf den Kopf stellen, dass es aussieht wie nach einem Erdbeben, wie soll ich ihn dann finden?« Beleidigt und empört verzog sie sich in die Küche. Montalbano sah sich schon verloren. Allein weil er davon geredet hatte, kehrte plötzlich die fixe Idee zurück, dass er ein Fieberthermometer brauchte. Unbedingt. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich anzuziehen, in die Apotheke zu fahren und eins zu kaufen. Er ging auf Zehenspitzen, damit Adelina nichts merkte, denn sie hätte bestimmt Ärger gemacht und ihn ans Bett gefesselt, damit er das Haus nicht verlassen konnte. Die erste Apotheke hatte keinen Dienst. Er fuhr weiter ins Zentrum von Vigàta, parkte vor der Farmacia Centrale und wollte aussteigen. Er sank in den Sitz zurück, weil ihn heftiger Schwindel überkam und ihm außerdem leicht übel war. Schließlich raffte er sich auf, betrat die Apotheke und stellte fest, dass er warten musste, denn bei der Grippewelle war anscheinend die halbe Stadt krank. Als er an der Reihe war und gerade den Mund aufmachen wollte, krachten draußen auf der Straße, doch ganz in der Nähe, zwei Schüsse. Obwohl er vom Fieber ziemlich benommen war, stand der Commissario im Nu vor der Apotheke, und seine Augen waren wie eine Filmkamera, klare Bilder prägten sich ihm ein. Linker Hand raste ein Moped mit zwei Jungen davon, und der Bursche hinter dem Fahrer hielt eine kleine Tasche in der Hand, die er offensichtlich einer alten Frau entrissen hatte, die hingestürzt war und verzweifelt schrie. Auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig ließ sich Signor Saverio Di Manzo, Inhaber -8-
des gleichnamigen Reisebüros, gerade von einem Verkehrspolizisten entwaffnen. Signor Di Manzo, bekanntermaßen ein Dummkopf, hatte den Diebstahl bemerkt und auf die Jungen mit dem Moped zwei Schüsse abgegeben. Er hatte sie verfehlt und dafür ein zehnjähriges Mädchen getroffen, das sich heulend auf dem Boden wälzte und sich das rechte Bein hielt. Montalbano ging auf sie zu, doch ein Mann kam ihm zuvor, schob ihn weg und kniete sich neben das Mädchen. Der Commissario kannte ihn, es war ein Obdachloser, der im Jahr zuvor in der Stadt aufgetaucht war, von Almosen lebte und Lampiuni Laternenpfahl - genannt wurde, vielleicht weil er so groß und dünn war. Lampiuni hatte rasch die Schnur gelöst, die seine Hose hielt, begann sie fest um den Oberschenkel des Mädchens zu wickeln, blickte kurz zum Commissario auf und befahl: »Halten Sie sie fest.« Montalbano gehorchte, fasziniert von der Ruhe und den präzisen Bewegungen des Stadtstreichers. »Haben Sie ein sauberes Taschentuch? Geben Sie es mir und rufen Sie einen Krankenwagen.« Doch das war nicht nötig, denn der Fahrer eines Autos, das gerade vorbeigekommen war, lud das Mädchen in seinen Wagen, um es nach Montelusa ins Krankenhaus zu fahren. Vier Carabinieri erschienen, und Montalbano verdrückte sich; er setzte sich in seinen Wagen und fuhr schnell zurück nach Marinella. Kaum hatte er die Haustür geöffnet, baute Adelina sich vor ihm auf. »Woher kommt das ganze Blut?« Montalbano sah auf seine Hände und seine Kleider: Sie waren blutverschmiert, das hatte er gar nicht gemerkt. »Da war… da war ein Unfall, und ich…« »Sie legen sich auf der Stelle ins Bett, die Kleider bring -9-
ich in die Reinigung. Was fällt Ihnen eigentlich ein? Was müssen Sie aus dem Haus gehen, wenn Sie krank sind? Sie wissen doch, dass man von einer verschleppten Grippe eine Lungenentzündung kriegen kann! Und nach einer verschleppten Lungenentzündung kommt der Tod!« Mit der Litanei ›Verschleppte Grippe - verschleppte Lungenentzündung ist gleich sicherer Tod‹ hatte Adelina ihm schon mindestens zweimal in den Ohren gelegen. Er ging ins Bad, zog sich aus, wusch sich und schlüpfte in sein frisch gemachtes Bett. Keine fünf Minuten später kam Adelina mit einer großen dampfenden Tasse herein. »Ich hab ein bisschen Hühnerbrühe gekocht, die ist ganz leicht.« »Ich hab keinen Hunger.« »Dann stelle ich sie auf den Nachttisch. Ich geh jetzt: Brauchen Sie noch was?« »Nein, vielen Dank.« Seine Nase war zwar verstopft, aber der Duft der Brühe wehte ihn trotzdem an. Sie war bestimmt köstlich. Er richtete sich halb auf, nahm die Tasse und trank einen Schluck. Die Bouillon war, wie er sie sich vorgestellt hatte, sämig und leicht zugleich, sie rief leise Erinnerungen an Kräuter wach, und er trank sie ganz aus, ließ sich dann mit einem zufriedenen Seufzer in die Kissen sinken und schlief auf der Stelle ein. Montalbano hatte das Gefühl, gerade erst eingenickt zu sein, als das Telefon klingelte. Er stand auf und sah dabei zufällig auf den Wecker, der auf dem Nachttisch stand. Sieben Uhr? Es war sieben Uhr abends? Wie lange hatte er denn geschlafen? Verwundert nahm er den Hörer ab, es ertönte das Freizeichen. Offenbar hatte der Anrufer aufgelegt. Montalbano wollte sich gerade wieder ins Bett -10-
begeben, als es erneut schellte: Es war nicht das Telefon, sondern die Klingel an der Haustür. Er machte auf und stand Fazio gegenüber, der ein besorgtes Gesicht machte. »Wie geht's Ihnen, Dottore?« »Ich bin ein bisschen krank«, antwortete Montalbano, bat Fazio herein und legte sich wieder hin. Fazio setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett. »Sie haben glänzende Augen«, sagte er. »Haben Sie Fieber gemessen?« Da fiel dem Commissario ein, dass er am Morgen wegen der Schießerei ganz vergessen hatte, noch mal in die Apotheke zu gehen und ein Thermometer zu kaufen. »Ja«, log er. »Heute Früh hatte ich achtunddreißig.« »Und jetzt?« »Ich messe später noch mal. Gibt's was Neues?« »Eine Schießerei. So ein Idiot, Di Manzo, der mit dem Reisebüro, hat auf zwei Jungen mit einem Moped geschossen, Handtaschendiebe. Die beiden hat er nicht erwischt, dafür hat er ein Mädchen, das gerade vorbeikam, ins Bein getroffen.« »Habt ihr ihn festgenommen?« »Das haben die Carabinieri gemacht, die sind eingeschritten.« »Weißt du, wie's der Kleinen geht?« »Sie ist außer Gefahr. Sie hat viel Blut verloren, aber zum Glück war Lampiuni in der Nähe, den haben Sie bestimmt schon mal gesehen, diesen Tippelbruder, der…« »Ich kenne ihn«, sagte Montalbano. »Erzähl weiter.« »Tja, er hat geistesgegenwärtig die Blutung gestillt. Eigentlich hat er sie gerettet. Das hat sich in der Stadt herumgesprochen, und morgen veranstaltet der -11-
Bürgermeister ein großes Fest - na ja, wir sind im Wahlkampf, und Kleinvieh macht auch Mist -, bei dem er Lampiuni den Schlüssel für eine Sozialwohnung überreichen will.« »Weißt du, wie er richtig heißt?« »Keine Ahnung, er hat keine Papiere. Und seinen Namen wollte er nie nennen.« »Ah, Fazio, heute Früh hat Dottor Augello angerufen, weißt du, was er von mir wollte?« »Ja, der Polizeipräsident hat irgendeine Antwort angemahnt, auf was weiß ich nicht, und Dottore Augello wollte sich mit Ihnen beraten. Aber ich glaube, er hat die Sache schon erledigt.« Gott sei Dank, da konnte er in aller Ruhe zu Hause bleiben und seine Grippe auskurieren, ohne dass ihn jemand nervte. Sie plauderten noch eine halbe Stunde, dann ging Fazio wieder. Es war schon acht Uhr vorbei. Montalbano stand auf, und sofort wurde ihm schwindlig. Dieser lästige Zustand war immer noch nicht vorbei. Er wählte Livias Nummer in Boccadasse, aber sie meldete sich nicht. Zu früh, die Telefongespräche zwischen ihm und seiner Freundin fanden meistens nach Mitternacht statt. Er sah in den Kühlschrank: gekochtes Huhn und etliche leichte Beilagen, damit es besser schmeckte. Nach einigem Zögern entschied er sich für süßsaure Paprikaschoten und in Essig eingelegte Zwiebelchen. Er ließ sich in seinem Fernsehsessel nieder, und während er lustlos aß, begann er sich einen Film mit dem Titel Die Jäger im Garten Eden anzusehen. Schon bei den ersten Einstellungen wusste er, dass es sich um eine bescheuerte Geschichte handelte, aber die Bilder und Sprüche waren so unglaublich blöd, dass er ganz fasziniert war und das Geschehen bis zum -12-
bitteren The End andächtig verfolgte. Und jetzt? Er schaltete um zu einer Talkshow mit dem Thema Hat Treue heute noch einen Wert?, die gerade auf dem wichtigsten nationalen Sender begann. Der Moderator, stets ein Lächeln auf den Lippen, das leicht ironisch sein sollte, allerdings ausgesprochen servil wirkte, stellte die Gäste vor: eine Herzogin, die mit einem Industriellen verheiratet war, aber bekanntermaßen eine unüberschaubare Flut von Liebhabern und Liebhaberinnen hatte und über die Bedeutung der Treue in der Ehe sprechen sollte; ein Politiker, der von der äußersten Linken allmählich zur äußersten Rechten umgeschwenkt war und sich über den Wert der Konsequenz in der politischen Arbeit auslassen wollte; einer, der erst Priester, dann Blumenkind, dann Buddhist, dann islamistischer Fundamentalist war und sich für die Notwendigkeit der Treue zur eigenen Religion stark machen wollte. Das Vergnügen war gesichert, und Montalbano sah sich die Sendung, hin und wieder hämisch lachend, bis zum Schluss an. Als er den Fernseher ausschaltete, merkte er, dass das Fieber wieder stieg. Er legte sich ins Bett, aber den Roman von Lucarelli nahm er gar nicht erst zur Hand, der schmerzhafte Ring legte sich schon wieder um seinen Kopf. Er löschte die Nachttischlampe und wälzte sich lange im Bett herum, bis der Schlaf sich seiner erbarmte, seine Hand ergriff und ihn mit sich forttrug. Als er die Augen aufschlug, war es halb vier Uhr morgens, und er fühlte sich, als kochte ihn das Fieber bei lebendigem Leibe. Aber es war nicht nur das Fieber, sondern auch ein Gedanke, der ihm kurz vor dem Einschlafen gekommen war und ihn im Schlaf begleitet und diesen nicht gerade leichter gemacht hatte. Nein, es war gar kein Gedanke, vielmehr eine Sequenz von Bildern -13-
und eine Frage. Er dachte daran, wie Lampiuni sich um das verletzte Mädchen gekümmert hatte, seine Bewegungen waren so richtig, so gezielt, beteiligt und zugleich distanziert gewesen, eben so professionell… Er selbst hätte das nicht so hingekriegt. Die Frage konnte folgendermaßen auf den Punkt gebracht werden: Wer war Lampiuni wirklich? Da beschlich ihn in diesem halb deliranten Zustand die dumpfe Ahnung, dass das Fieber nie vorbeigehen würde, wenn er es nicht mit einem Thermometer maß. Er trank in der Küche drei Glas Wasser, zog sich rasch etwas über, verließ das Haus, setzte sich ins Auto und fuhr los. Er merkte gar nicht, dass er Slalom fuhr, zum Glück waren kaum Autos unterwegs. Die erste Apotheke war immer noch geschlossen, und die Farmacia Centrale hatte keinen Nachtdienst, aber auf einem Schildchen neben dem Rollladen stand, man möge sich an die Apotheke Lopresti am Bahnhof wenden. Fluchend setzte er sich wieder ins Auto. Die Apotheke befand sich innerhalb des Bahnhofsgebäudes. Der Rollladen mit dem vergitterten Fenster war heruntergelassen, aber drinnen war Licht. Montalbano sagte dem verschlafenen Apotheker, er brauche ein Fieberthermometer. Nach ein paar Minuten kam der Apotheker zurück. »Sind aus«, sagte er und knallte das Türchen zu. Montalbano hatte einen Kloß im Hals und war dem Weinen nahe. Es war zum Verzweifeln: Wenn er sein Fieber nicht maß, wurde es bestimmt chronisch. Da sah er plötzlich Lampiuni, der, einen Sack über der Schulter, auf den Fahrkartenschalter zusteuerte. Dem Commissario war sofort klar, dass der Tippelbruder vorhatte, wegzufahren, zu flüchten: Er wollte der Feier entgehen, die der Bürgermeister angesetzt hatte, denn sie würde unweigerlich zu seiner Identifizierung führen, der er sich bisher, wer weiß wie lange schon, entzogen hatte. -14-
»Herr Doktor!«, schrie er und wusste selbst nicht, warum er den Vagabunden so nannte, von tief innen war das gekommen, es war sein Jagdinstinkt, mit dem er geboren war. Lampiuni blieb wie vom Donner gerührt stehen und wandte sich ganz langsam um, während Montalbano auf ihn zuging. Als er ihm gegenüberstand, begriff der Commissario, dass der alte Mann starr war vor Schreck. »Haben Sie keine Angst«, sagte er. »Ich weiß, wer Sie sind«, sagte Lampiuni. »Sie sind ein Kommissar. Und Sie haben mich erkannt. Haben Sie Erbarmen mit mir, ich habe für meinen Fehler bezahlt und zahle immer noch dafür. Ich war ein angesehener Arzt, und jetzt bin ich nur noch ein Wrack. Aber ich könnte trotzdem die Schande nicht ertragen, es wäre schrecklich, wenn diese Geschichte wieder ausgegraben würde. Haben Sie Erbarmen, lassen Sie mich gehen.« Dicke Tränen fielen auf seine abgerissene Jacke. »Keine Angst, Dottore«, sagte Montalbano. »Ich habe keinen Grund, Sie aufzuhalten. Aber ich muss Sie noch um einen Gefallen bitten.« »Mich?«, fragte der Stadtstreicher erstaunt. »Ja, Sie. Können Sie mir sagen, wie hoch mein Fieber ist?«
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Tödlich verwundet
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Kapitel 1 Das leichte Abendessen war gewiss nicht schuld daran, dass er sich die halbe Nacht um die Ohren schlug und sich im Bett wälzte, bis er sich fast mit dem Laken strangulierte. Nein, wahrscheinlich lag es an dem Buch, das er ins Bett mitgenommen hatte, an seinem Unmut über so manche fade und blasse Seite eines Romans, den die Kritiker als einen der höchsten Gipfel bejubelten, den die Weltliteratur in den letzten fünfzig Jahren erklommen hatte. Die Entdeckung solcher Gipfel erfolgte durchschnittlich alle sechs Monate, und den Schrei des Entzückens pflegte eine reichlich snobistische Zeitung auszustoßen, an die sich die anderen flugs dranhängten. Alles in allem ähnelte das Panorama der Weltliteratur der vergangenen fünfzig Jahre ziemlich dem Himalaja, von einem Satelliten aus fotografiert. Aber in Wirklichkeit, überlegte er, war das Buch gar nicht schuld. Er hätte es, als er genug davon hatte, ja einfach zuklappen, auf den Boden werfen und das Licht löschen können und damit Schluss. Aber bei ihm stimmte halt alles Mögliche nicht, und so hatte er die Eigenart, dass er, wenn er einmal angefangen hatte, irgendwas zu lesen - Artikel, Essay, Roman -, unmöglich mittendrin aufhören konnte, er musste es zu Ende bringen. Das Klingeln des Telefons wirkte richtig befreiend. Er pfefferte das Buch an die Wand gegenüber und sah auf den Wecker. Drei Uhr morgens. »Pronto?« »Pronti?« »Catarè!« -17-
»Dottori!«
»Was gibt's?«
»Schüsse.«
»Auf wen?«
»Auf jemand.«
»Tot?«
»Tot.«
Glänzender Dialog ganz nach Art des Dichters Alfieri.
»Den verstorbenen Signore, der Gerlando Piccolo heißt,
haben sie bei ihm zu Hause erschossen«, fuhr Catarella prosaisch fort. »Gib mir die Adresse.« »Das ist schwer zu finden, Dottori. Kommen Sie her, Gallo wartet hier auf Sie, weil der kennt den Weg.« »Hast du Dottor Augello Bescheid gesagt?« »Ich hab's versucht, aber der ist nicht da.« »Und Fazio?« »Der ist schon am Tatort.« »Ist gut, ich bin gleich da.« Es herrschte eine solche Dunkelheit, dass man sie mit dem Messer hätte schneiden können. Soweit der Commissario mitbekommen hatte, lag das Haus des Verstorbenen - um mit Catarella zu sprechen - ganz einsam, weit draußen auf dem Land. Die Scheinwerfer seines Autos beleuchteten den Streifenwagen des Kommissariats, der vor der offenen Haustür parkte. Gefolgt von Gallo betrat Montalbano einen großen Raum, der Wohn- und Esszimmer in einem war. Alles sauber, ordentlich, anständig. Durch eine der drei Türen, die in das Wohnzimmer führten, kam Galluzzo mit einem Glas -18-
Wasser herein. Hinter ihm konnte der Commissario eine Küche erkennen. »Wo gehst du hin?« Galluzzo zeigte auf die Tür gegenüber. »Zu der Nichte. Das arme Mädchen! Ich hab ihr gesagt, sie soll sich hinlegen.« »Wo ist Fazio?« Galluzzo wies mit dem Kinn zur Treppe, die in den oberen Stock führte. »Du bleibst hier«, sagte Montalbano zu Gallo. »Und was soll ich tun?« »Wiederhol das Einmaleins.« In dem Zimmer, in dem der Mann erschossen worden war, sah es aus wie nach einem Erdbeben. Aufgerissene Schubladen, Wäsche und Kleidung auf dem Boden, die Schranktüren sperrangelweit offen. Was nicht dazu passte, waren zwei Bildchen, die an der Wand gehangen hatten und jetzt zertreten am Boden lagen, und die Reste einer Muttergottes-Figur, die man gegen die Wand geschmissen hatte. Was sollte ein solcher Vandalismus bei einem Einbruch? Der verstorbene Gerlando Piccolo, ein beleibter untersetzter Mann Anfang sechzig, lag auf einem Doppelbett, den Oberkörper ans Kopfende gelehnt, auf Höhe des Herzens ein großer Blutfleck. Anscheinend hatte er sich noch halb aufrichten können, bevor ihn der Schuss des Mörders endgültig niederstreckte. Seine Augen waren nicht geweitet, nur ein bisschen größer als normal, und blickten verwundert. Aber was soll man auch groß spekulieren, wenn man den Tod kommen sieht, dann ist man entweder erstaunt oder man hat Angst, eine dritte Möglichkeit gibt es nicht. Obwohl es in dem Zimmer recht kalt war, hatte der Mann, als er ins Bett ging, nicht mal sein Unterhemd oder den Pullover, oder was er sonst trug, angelassen. Fazio, der wie ein seine Ware feilbietender -19-
Vertreter neben dem Bett stand, fing den Blick des Chefs auf. »Er ist ganz nackt, er hat nicht mal Unterhosen an.« »Woher weißt du das?« »Ich hab ganz vorsichtig unter die Decke gefasst. Was soll ich machen, soll ich die Spurensicherung anrufen und den Staatsanwalt verständigen?« »Warte noch.« Irgendetwas stimmte nicht. Montalbano bückte sich und blickte auf der Seite, wo sich der Tote befand, unter das Bett, und da lagen die Unterhose und das Hemd. Als er sich wieder aufrichten wollte, stockte er, als wäre ihm heimtückisch die Hexe in den Rücken gefahren. Auf dem Boden, zwischen Nachttisch und Bett, lag ein Revolver. »Fazio, hast du den gesehen?« »Ja, Dottore.« »Den muss der Mörder vergessen haben.« »Nein, Dottore. Er lag im Nachttisch in der Schublade. Die Nichte hat ihn da rausgeholt und damit geschossen. Sie hat es mir selbst gesagt.« »Und auf wen hat sie geschossen?« »Auf den Mörder.« »Ich verstehe nur Bahnhof. Vielleicht sollte ich besser mal mit dieser Nichte sprechen.« »Das sollten Sie vielleicht«, sagte Fazio geheimnisvoll. Die Nichte war etwa siebzehn Jahre alt und hatte einen dunklen Teint, große schwarze, vom Weinen gerötete Augen, krauses Haar in Überfülle. Sie war sehr schmal, und die Art, wie sie den Commissario ansah, wie sie vom Bett aufsprang, auf dem sie nicht gelegen, sondern gesessen hatte, verriet etwas Wildes, Tierhaftes. Sie trug einen dünnen Morgenrock und zitterte, weil sie fror und unter Schock stand. -20-
»Mach ihr was Heißes zu trinken«, sagte der Commissario zu Galluzzo. »In der Küche ist Kamillentee«, sagte das Mädchen. »Und für mich einen Espresso«, bestellte Montalbano. »Mit Sahne? Mit Grappa?«, witzelte Galluzzo, als er hinausging. »Wir müssen miteinander reden. Aber so können Sie nicht bleiben. Ich gehe jetzt für fünf Minuten rüber, und Sie ziehen sich an. In Ordnung?« »Danke.« »Wie heißen Sie?« »Grazia Giangrasso, ich bin die Tochter einer Schwester von Onkel Gerlando.« Montalbano ging ins Wohnzimmer. Gallo fläzte sich in einem Sessel. »Wie viel ist sieben mal sieben?«, fragte er den Commissario. »Neunundvierzig«, antwortete Montalbano automatisch. »Wieso fragst du?« »Sie haben doch gesagt, ich soll das Einmaleins wiederholen!« Wie witzig seine Leute an diesem Morgen waren! Er ging die Treppe hinauf. Fazio stand nicht mehr neben dem Bett. Er lehnte an dem geschlossenen Fenster und blickte sich um. »Hast du was gefunden?« »Es gibt ein paar Sachen, die mir nicht klar sind.« »Zum Beispiel?« »Gerlando Piccolo war seit zwei Jahren verwitwet.« »Ach ja? Das wusste ich nicht.« »Und da frage ich mich…« -21-
»… wer neben ihm im Bett lag, als der Mörder kam?« Fazio sah ihn überrascht an. »Haben Sie etwa auch gemerkt, dass beide Bettseiten benutzt sind? Da, schauen Sie das Kissen an und wie die Bettdecke auf der anderen Seite liegt…« »Entschuldige, Fazio, aber wenn du so was merkst, warum sollte ich es dann nicht merken, und zwar auf den ersten Blick? Sieh dir nur weiterhin alles an und berichte mir dann.« Fazio verzog beleidigt das Gesicht. »Soll ich die Spurensicherung anrufen?«, fragte er reserviert. »Du hast doch eine Uhr. In zehn Minuten rufst du sie an, ohne dass ich dich daran erinnern muss.« Der Raum, der an das Zimmer des Toten angrenzte, war ebenfalls ein Schlafzimmer, jedoch unbenutzt. Auf dem Bett lagen nur Matratzen, die Möbel waren von einer Staubschicht bedeckt. Außerdem gab es noch eine abgeschlossene Tür, Montalbano stieß mit der Schulter dagegen, aber sie gab nicht nach. Gegenüber dieser Tür war ein halbwegs ordentliches Bad. Eine weitere Tür führte in ein Zimmerchen, das als Abstellkammer diente. Er kehrte ins Erdgeschoss zurück. »Der Espresso ist fertig«, rief Galluzzo aus der Küche. Bevor er eintrat, klopfte Montalbano an Grazias Tür. Keine Antwort. »Sie ist im Bad«, sagte Gallo, der sich immer noch im Sessel lümmelte. Während Montalbano in der Küche seinen Espresso trank, kam das Mädchen herein. Sie hatte sich gewaschen und angezogen und wieder etwas Farbe bekommen. Galluzzo reichte ihr den -22-
Kamillentee. Sie fing im Stehen an zu trinken. »Setz dich doch«, sagte Montalbano, zum Du übergehend. Sie setzte sich. Aber auf die Stuhlkante. Um jederzeit aufspringen und flüchten zu können. Sie wirkte wie ein gehetztes Tier. Unter der Bluse mit dem roten Tuch um die Schultern und dem weiten Rock, lauter Sachen von minderer Qualität, ahnte man ihre gespannten Muskeln. Da tat Galluzzo etwas Unerwartetes. »Ist ja gut. Ganz ruhig«, sagte er und streichelte Grazia über den Kopf, als wäre sie ein Tier, das man beruhigen und besänftigen musste. Und wie ein Tier reagierte sie mit einem tiefen Seufzer. »Bevor wir anfangen, muss ich wissen, was in diesem abgeschlossenen Zimmer im oberen Stock ist.« »Das ist… das war Onkel Gerlandos Büro.« »Sein Büro?« »Na ja, da hat er die Leute empfangen.« »Was für Leute?« »Die ihn aufgesucht haben.« »Und wozu haben sie ihn aufgesucht?« »Sie wollten Geld leihen.« Ein Wucherer! Na toll. Das bedeutete Hunderte von möglichen Mördern unter Piccolos Kunden. »Empfing er viele Leute?« »Das weiß ich nicht, sie gingen nicht hier durch.« »Wo denn dann?« »Hinten am Haus gibt es eine Außentreppe, und das Zimmer hat eine Glastür.« »Und der Schlüssel?« »Den hatte der Onkel immer in der Tasche.« Die Kleider des Opfers lagen auf einem Stuhl im -23-
Schlafzimmer. »Galluzzo, geh rauf, hol den Schlüssel, schau dir zusammen mit Fazio dieses Büro an und leg dann alles wieder hin, wie es war.« Als Galluzzo hinausging, sah das Mädchen den Commissario an. »Wo sollen wir uns hinsetzen?« »Zum Reden, meinst du? Das geht doch hier am allerbesten!«, antwortete Montalbano mit einer weiten Armbewegung, die die ganze Küche umfasste. »Ich bin immer hier«, sagte Grazia. Der Commissario merkte, dass ihre Stimme fester klang, gewiss fühlte sie sich weniger unsicher, wenn die Befragung in ihrer gewohnten Umgebung stattfand. Er schenkte sich noch einen Espresso ein und setzte sich. »Seit wann hast du mit deinem Onkel denn in diesem Haus gelebt?« Er holte absichtlich weit aus, er wollte das Gespräch erst dann auf den Mord bringen, wenn das Mädchen in der Lage war, darüber zu reden, ohne hysterisch zu werden. So erfuhr er, dass Grazia das einzige Kind von Gerlando Piccolos Schwester Ignazia war, die mit Calogero Giangrasso, einem kleinen Getreidehändler, verheiratet gewesen war. Mit fünf verlor Grazia ihre Eltern bei einem Autounfall. Sie hatte auch in diesem Auto gesessen, das mit einem Lastwagen zusammenstieß, und eine schlimme Kopfverletzung erlitten, aber im Krankenhaus flickte man sie wieder zusammen. Danach nahmen Onkel Gerlando und seine Frau Titina, die kinderlos waren, sie zu sich. »Mochten sie dich gern?« »Sie brauchten eine Dienstmagd.« Das sagte sie einfach so, ohne jeden Unterton von Groll -24-
oder Verachtung. Sie stellte es nur fest. »Haben sie dich zur Schule geschickt?« »Nein. Im Haus gab es immer was zu tun. Lesen und schreiben kann ich nicht.« »Bist du verlobt, hast du einen Freund?« »Ich?« »Schon gut, sprich weiter.« Als Grazia fünfzehn war, starb Tante Titina. »Woran ist sie gestorben?« »Der Arzt hat gesagt, am Herzen. Sie war herzkrank.« Doch von da an wurde alles besser. »Hat die Tante dich schlecht behandelt?« »Immer. Und sie hat so viel von mir verlangt.« Der Onkel war nicht unfreundlich zu ihr, er hatte sie sogar ganz gern und verlangte nicht, dass ein Topf mindestens fünfmal hintereinander gereinigt wurde. Und manchmal gab er ihr auch Geld, damit sie in die Stadt fahren und sich etwas kaufen konnte, woran sie Spaß hatte. »Jetzt erzähl mal, was passiert ist. Schaffst du das?« »Ja.« Sie wollte gerade anfangen, als Galluzzo in der Tür erschien. »Dottore, das Zimmer ist jetzt offen. Wollen Sie es sich ansehen? Ich bleibe so lange hier.« Das Zimmer war, wie Grazia gesagt hatte, als Büro eingerichtet. Es gab einen Schreibtisch, zwei Sessel, ein paar Stühle, einen Karteikasten. Und hinter dem Schreibtisch einen solide aussehenden Wandtresor. »Ist er zu?«, fragte Montalbano Fazio. »Abgeschlossen.« Der Commissario öffnete die Glastür, die mit einer Eisenstange gesichert war. Sie führte auf die Außentreppe, -25-
von der Grazia gesprochen hatte. Die Kunden konnten empfangen werden, ohne durch die Haustür zu gehen. »Schließ mal den Tresor auf, da sind sicher die Namen von Onkel Gerlandos Kunden drin.« »Galluzzo hat gesagt, dass er Geld verlieh.« »Schreib dir vier oder fünf Namen auf, das reicht. Dann bringst du alles wieder in Ordnung, es muss aussehen, als wären wir nie hier gewesen.« »Glauben Sie, dass die Mordkommission den Fall bekommt?« »Klar, bezweifelst du das? Apropos, hast du angerufen?« »Alle. Die sind frühestens in einer halben Stunde da.« In der Küche waren Galluzzo und Grazia ins Gespräch vertieft. Sie verstummten, als der Commissario hereinkam. »Kann ich dableiben?«, fragte Galluzzo. »Natürlich. Dann machen wir mal weiter.« Jeden Abend um Punkt zehn schaltete Gerlando den Fernseher aus und ging ins Bett, da konnte die Seifenoper, die gerade lief, noch so dramatisch sein. Das war auch das Signal für Grazia. Sie spülte alles ab, was sie für das Abendessen gebraucht hatten, kleidete sich im unteren Bad aus, ging dann in ihr Zimmer und legte sich schlafen. »Augenblick«, sagte der Commissario. »Wer hat die Haustür abgeschlossen?« »Mein Onkel, bevor er zum Essen kam. Das hat er immer gemacht. Er hat abgeschlossen und den Schlüssel an einen Nagel neben der Tür gehängt.« Montalbano sah Galluzzo an. »Der Schlüssel hängt da. Und die Tür wurde nicht gewaltsam geöffnet. Wahrscheinlich ist er mit einem Zweitschlüssel ins Haus eingedrungen.« »Warum sprichst du im Singular? Der Schütze war nicht unbedingt allein.« -26-
»Doch«, sagte Galluzzo. »Er war allein«, bestätigte das Mädchen. Grazia erzählte, sie sei sofort eingeschlafen. Dann sei sie von einem Krach geweckt worden, auf den sie sich keinen Reim habe machen können. Sie lauschte, aber da sie nichts mehr hörte, dachte sie, der Lärm sei irgendwo draußen gewesen. Sie hatte gerade die Augen wieder geschlossen, als sie laute Geräusche im Zimmer des Onkels hörte. Ihr erster Gedanke war, dass er sich nicht wohl fühle, wie es vor einiger Zeit schon mal passiert sei. »Erklär mir das genauer.« Der Onkel aß sehr gern. Einmal hatte er ein Dreiviertelzicklein verschlungen. Nachts war er aufgestanden, er wollte in die Küche und ein bisschen Natron nehmen, aber er hatte es nicht geschafft, es wurde ihm furchtbar schwindlig, und er war hingefallen. »Und was hast du diesmal gemacht?« Sie war aufgestanden, in den Morgenmantel geschlüpft und barfuß die Treppe hinaufgerannt. Im Schlafzimmer des Onkels war Licht. Sie sah gleich, dass der Onkel halb im Bett saß, den Rücken ans Kopfteil gelehnt. Sie trat zu ihm und sprach ihn an, aber er gab keine Antwort. Erst da bemerkte sie das Blut am Mund und den Fleck auf der Brust des Onkels. Sie drehte sich rasch um und sah einen Mann durch die Tür verschwinden. Da fiel ihr ein, dass der Onkel in der Schublade des Nachtkästchens einen Revolver hatte, sie holte ihn heraus, rannte hinter dem Mann her und schoss vom Treppenabsatz aus auf ihn, als er schon die Haustür erreicht hatte und fliehen wollte. Sie lief hinter ihm her, aber sie konnte nichts sehen, es war zu dunkel, sie hörte nur das Geräusch eines Mopeds. Sie kehrte ins Schlafzimmer zurück, begriff, dass sie für den Onkel nichts mehr tun konnte, ließ den Revolver fallen und ging hinunter ins Wohnzimmer, um die Polizei zu rufen. jetzt zitterte Grazia wieder, sie schwankte wie ein -27-
Baum, in den der Wind fährt. Galluzzo strich ihr erneut übers Haar. »Es passt alles«, sagte er. »Auch der Blutfleck.« »Welcher Blutfleck?« »Der vor dem Haus, ich habe ihn mit der Taschenlampe gesehen. jetzt, wo es hell wird, können Sie ihn auch sehen. Er stammt sicher von dem Mörder. Das Mädchen muss ihm in den Rücken geschossen haben.« Da stieß Grazia, den Kopf weit nach hinten geneigt, einen Schrei wie ein Tier aus und verlor die Besinnung.
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Kapitel 2 Zwei Tage zuvor hatte Questore Bonetti-Alderighi, der Polizeipräsident, ihm wieder mal eine Standpauke gehalten. »Lassen Sie sich das gesagt sein, Montalbano vergessen Sie nicht, dass Ihre Aufgabe in einer temporären Sicherungsfunktion besteht und in nichts sonst.« »Ich verstehe nicht, Signor Questore.« »Mein Gott! Das habe ich Ihnen schon mindestens dreimal gesagt! Wenn Sie an einen Tatort gerufen werden, haben Sie sich darauf zu beschränken, den Tatort zu sichern, während Sie auf die Ermittlungsführer warten. Dass sich keiner rührt.« »Muss ich das sagen?« »Was?« »Polizei! Keiner rührt sich!« Bonetti-Alderighi musterte ihn argwöhnisch. Der Commissario stand vor dem Schreibtisch, den Oberkörper leicht nach vorn geneigt, mit einem Gesicht, das nur demütig um Aufklärung bat. »Ach machen Sie doch, was Sie wollen!« jetzt waren die ›Ermittlungsführer‹ im Anmarsch, und er hatte nicht das geringste Verlangen, ihnen zu begegnen. Er ging in Grazias Zimmer. Das Mädchen hatte sich etwas erholt und lag angekleidet auf dem Bett. Galluzzo saß auf einem Stuhl. »Ich gehe jetzt«, sagte Montalbano. Grazia sprang auf. »Wie bitte? Sind Sie schon fertig?« »Nein, ich habe noch gar nicht angefangen. Galluzzo, du -29-
kommst mit.« Im Wohnzimmer rief der Commissario nach Fazio. Gallo schlief tief in seinem Sessel, und im Vorbeigehen versetzte ihm der Commissario einen Tritt an die Wade. »Was ist los? Was ist passiert?« »Nichts, Gallo. Lass schon mal den Wagen an, wir fahren.« »Brauchen Sie mich?«, fragte Fazio oben an der Treppe. »Ich wollte dir nur sagen, dass ich gehe. Du wartest auf die anderen.« Auf dem Weg zur Tür hakte er sich bei Galluzzo ein. »Wieso interessierst du dich eigentlich so für die Nichte?« Galluzzo wurde rot. »Sie tut mir Leid. Sie ist so traurig und allein.« Draußen wurde es Tag. »Zeig mir mal den Blutfleck.« Galluzzo sah auf den Boden und schien irritiert zu sein. Dann grinste er. »Er ist genau unter Ihrem Auto.« Sie machten Gallo ein Zeichen, er solle zurücksetzen, und dann kam der Fleck zum Vorschein, die Reifen waren zum Glück nicht darüber gefahren. Montalbano ging in die Hocke, um ihn besser sehen zu können, und berührte ihn mit dem Zeigefinger. Kein Zweifel, das war Blut. »Leg irgendwas drauf, sonst ist er nachher nur noch Staub, wenn diese Idioten aus Montelusa mit ihren Autos drüberfahren. Du bleibst mit… mit Fazio hier. Wiedersehen.« »Danke«, sagte Galluzzo. -30-
Er ließ Gallo vor dem Kommissariat aussteigen, setzte sich ans Steuer und fuhr weiter nach Marinella. Beim Rasieren fiel ihm die Sache mit dem Bett des Toten wieder ein. Wenn beide Seiten benutzt waren, dann musste vor dem Mord oder währenddessen jemand neben Gerlando Piccolo gelegen haben. Es gab also, abgesehen von Grazia, die das Zimmer betreten hatte, als alles vorbei war, einen Augenzeugen des Mordes. Er hatte vergessen, die Nichte zu fragen, was sie über die nächtlichen Besuche bei Onkel Gerlando wusste. Ein schwerer Fehler, der ihm niemals unterlaufen wäre, wenn man ihm nicht deutlich zu verstehen gegeben hätte, dass er den Fall den wahren ›Ermittlungsführern‹ zu überlassen habe. Sollten sie doch selber sehen, wie sie weiterkamen. Als es Zeit war, essen zu gehen, erschien Fazio mit finsterem Gesicht. »Und wo ist Galluzzo?« »Nachdem das Haus versiegelt war und die Nichte nicht wusste, wo sie hinsollte, hat Galluzzo seine Frau angerufen, sie war einverstanden, und Galluzzo hat das Mädchen zu sich nach Hause mitgenommen. Dann hat er den Arzt gerufen, weil sie nach der Befragung durch Staatsanwalt Tommaseo und Dottor Gribaudo fix und fertig war. Sie setzen die Befragung morgen Früh fort.« »In Montelusa?« Fazio schien verlegen. »Nein, hier. Dottor Gribaudo hat gesagt, ich soll fragen, ob Sie ihr ein Zimmer herrichten können.« »Dann richte eins her.« »Welches denn? Wir haben ja nicht mal Platz für…« »Oh nein! Stopp! Hast du das Sprichwort vergessen? ›Raum ist in der kleinsten Hütte.‹ Richte das kleine -31-
Zimmer neben dem Klo her.« »Aber das ist doch nicht viel größer als eine Abstellkammer! Und voller Papierkram, da sieht es aus wie Kraut und Rüben!« »Dann schaffst du eben ein bisschen Platz, ja? Eins wollte ich noch wissen: Haben sie Grazia gefragt, wie sie sich die Sache mit dem Bett erklärt, das auf beiden Seiten benutzt war?« Fazio musste lachen. »Dottore mio, Sie kennen doch Staatsanwalt Tommaseo. Seiner Meinung nach, ich zitiere wörtlich, handelt es sich um das ›klassische Verbrechen, wie es in den finsteren homosexuellen Kreisen heranreift‹. Kurz gesagt: Gerlando Piccolo hat einen Mann mit nach Hause genommen, höchstwahrscheinlich einen Immigranten, und der hat ihn nach dem Beischlaf erschossen, um ihn auszurauben.« »Teilt Gribaudo diese Auffassung?« »Dottor Gribaudo sagt, dass es keine Rolle spielt, ob die Person, die mit im Bett lag, Männlein oder Weiblein, Ausländer oder nicht Ausländer war, wichtig ist seiner Meinung nach, dass es sich ganz sicher um einen Komplizen handelt. Um eine Person, die nach dem Beischlaf gegangen ist und dem Dieb und Mörder die Haustür offen gelassen hat.« »Und Grazia?« »Sie sagt, dass sie schon manchmal, wenn sie das Bett machte, gemerkt hat, dass der Onkel in Gesellschaft gewesen war. Und auch gewisse nächtliche Geräusche, die aus seinem Zimmer kamen, ließen daran keinen Zweifel. Genauso wenig hatte sie Zweifel, dass es sich um Frauen und nicht um Männer handelte. Aber sie sagt, dass der Onkel nie und nimmer jemand durch die Haustür hereingelassen hätte. Die Besucherinnen sind über die -32-
Außentreppe gekommen, und der Onkel brauchte nur die Glastür des Büros zu öffnen. Wenn sie fertig waren, gingen sie denselben Weg zurück. Und der Onkel legte die Eisenstange wieder vor die Tür.« »Wie wir sie vorgefunden haben.« »Genau. Aber Grazia hat noch etwas gesagt.« »Was denn?« »Sie meint, dass beide Bettseiten benutzt waren, muss nicht unbedingt bedeuten, dass der Onkel in Gesellschaft war. Zu Lebzeiten hat er gefressen wie ein Schwein, und keine Nacht ist ohne Übelkeit, Atemnot und Sodbrennen vergangen. Dann hat er sich von einer Seite auf die andere gewälzt.« »Genau wie ich heute Nacht«, sagte der Commissario. »Vom Essen?« »Vom Lesen.« »Tommaseo und Gribaudo«, fuhr Fazio fort, »haben Dottor Arquà vorsichtshalber geraten, diese Bettseite von der Spurensicherung sorgfältig untersuchen zu lassen.« »Und Arquà?« »Der war sauer. Er hat gesagt, das brauchten sie ihm nicht zu sagen. Jedenfalls ist klar, zu welcher Auffassung sie neigen: ein Einbruch, der übel, mit Mord, ausgegangen ist.« Sie sahen sich an und grinsten. Sie hatten sich verstanden. Die Auffassung war löchrig wie ein Sieb. Als Montalbano nach dem Essen in der Trattoria San Calogero und seinem üblichen Denkund Verdauungsspaziergang bis zum Ende der Mole ins Kommissariat zurückkam, hatte er Gelegenheit, mit Galluzzo zu reden. »Wie geht's Grazia?« »Sie schläft. Der Arzt hat ihr eine Spritze gegeben. Er -33-
sagt, wenn sie aufwacht, geht es ihr wieder gut. Meiner Frau tut sie auch Leid.« »Um wie viel Uhr hat Gribaudo sie einbestellt?« »Morgen um neun, hier bei uns.« »Hat dieses Mädchen denn wirklich niemanden, Verwandte, eine Freundin?« »Niemand, Dottore. Nach dem, was sie erzählt, hat wohl nicht viel gefehlt und die Piccolos hätten sie an die Kette gelegt. Erst nach dem Tod der Tante hatte sie mehr Freiheit, aber damit war es auch nicht weit her. Der Onkel erlaubte ihr, einmal die Woche in die Stadt zu fahren, und nach spätestens zwei Stunden musste sie zurück sein.« »Was hat sie jetzt vor?« »Keine Ahnung. Als Dottor Gribaudo ihr sagte, sie müsse für ein paar Tage woanders wohnen, ist sie durchgedreht. Sie wollte partout nicht weg. Ich musste lange an sie hinreden, bis sie einverstanden war und mitkam.« »Sag mal - pure Neugier -, hast du sie eigentlich nach dem Revolver gefragt?« »Ich verstehe nicht, Dottore.« »Na ja, Galluzzo, so ein junges Mädchen… apropos, wie alt ist sie eigentlich?« »Achtzehn.« »Sie sieht jünger aus. Ich meinte: Findest du es nicht auch merkwürdig, dass ein junges Mädchen, das aus dem Schlaf gerissen wird und plötzlich einem Unbekannten gegenübersteht, der gerade den Onkel erschossen hat, so mutig und kaltblütig ist, eine Schublade aufzuziehen, einen Revolver herauszuholen und abzudrücken?« »Klar ist das merkwürdig.« »Ja und?« -34-
»Genau das hab ich Grazia auch gefragt, Dottore. Und sie hat geantwortet, dass sie sich erstens vor nichts und niemand fürchtet. Und zweitens hat Gerlando ihr selbst das Schießen beigebracht. Ab und zu musste sie auch üben.« »Piccolo, der ein Blutsauger war, ein cravattaro, wie man in Rom sagt, fürchtete anscheinend, dass eines seiner Opfer sich rächen könnte. Er hat vorgebaut. Und seine Nichte konnte zu seinem Schutz beitragen.« »Und im Haus war nicht nur dieser Revolver.« »Ach nein?« »Nein. Erinnern Sie sich an den Sessel, in dem Gallo saß? Hinter der Rückenlehne stand ein Jagdgewehr, und im Büro hatte er eine Beretta in der Schublade. Auf Gribaudos Bitte hat Grazia demonstriert, dass sie mit der Pistole umzugehen weiß, sie hat mit sicherer Hand durchgeladen.« Um sechs Uhr abends änderte sich die Lage mit einem Mal. »Dottori? Der Dottori Latte mit dem s am Ende will Sie persönlich selber sprechen. Was soll ich machen?« Dottor Lattes, der Chef des Stabes im Polizeipräsidium, trug den Spitznamen ›Lattes e mieles‹, honigsüß, weil er aalglatt und schmierig war und es fertig brachte, einen liebenswürdig anzulächeln, während er am liebsten mit dem Messer auf einen losgegangen wäre. »Mein Bester! Wie geht's, mein Bester? Unser lieber Montalbano! Die Familie wohlauf?« »Ja, danke.« »Ich soll Ihnen vom Herrn Polizeipräsidenten ausrichten, dass Sie den Mordfall Piccolo übernehmen müssen. Aber das dürfte ja ein ziemlich banaler Fall sein.« Je nach -35-
Blickwinkel. Der ermordete Gerlando Piccolo zum Beispiel würde den Fall vielleicht nicht so bezeichnen. »Absolut banal, Dottore. Ein banaler Einbruch, der sich zu einem banalen Mord ausgewachsen hat.« »Bravo! Genau das wollte ich sagen.« »Und entschuldigen Sie, wenn ich mich erkühne…« Er gratulierte sich, das war der richtige Ton, um Lattes zum Reden zu bringen. »Nur zu, mein Bester.« »Warum kann Dottor Gribaudo sich nicht mehr um den Fall kümmern?« Lattes' Stimme wurde zu einem vorsichtigen Wispern. »Der Herr Polizeipräsident will nicht, dass sie abgelenkt werden, weder Gribaudo noch Dottor Foti, sein Stellvertreter.« »Verzeihen Sie, wenn ich es wage… aber wovon denn abgelenkt?« »Vom Fall Laguardia«, hauchte Dottor Lattes und legte auf. Alessia Laguardia, dreißig Jahre alt, hübsch und diskret, betrieb ihr Gewerbe in Montelusa auf höchstem Niveau, zu Hause ebenso wie in ihrem abgelegenen, natürlich illegal gebauten Wochenendhaus dicht an einem griechischen Tempel und mit Blick aufs ›große afrikanische Meer‹, wie Pirandello, der aus dieser Gegend stammte, es genannt hatte. In diesem Haus war Alessia eine Woche zuvor gefunden worden, massakriert mit sechzig Messerstichen. So weit konnte es sich durchaus um einen banalen Mord handeln, um bei der Ausdrucksweise des Dottor Lattes zu bleiben. Allerdings fand die Polizei ein kleines Notizbuch, nach dem der Mörder vergeblich gesucht hatte und in dem, wie zu hören war, fein säuberlich die topgeheimen Privatnummern zu einigen wohl bekannten Namen aus Montelusa und Provinz vermerkt waren, Namen von Politikern, -36-
Unternehmern, Professoren, Staatsanwälten und anscheinend auch der eines Monsignore, der im Ruch der Heiligkeit stand. Bei einer solchen Angelegenheit konnte man sich das Genick brechen, wenn man nicht äußerst behutsam vorging. Und der Herr Polizeipräsident wollte sein Genick offenbar unversehrt bewahren. »Fazio! Galluzzo!« Sie stürzten herbei. »Lattes hat angerufen. Wir sollen den Mordfall Gerlando Piccolo übernehmen.« Fazio zeigte sich erfreut, Galluzzo seufzte und sagte: »Gott sei Dank.« »Wieso?« »Weil der werte Chef der Mordkommission Grazia falsch angefasst hat. Und dem armen Mädchen fehlt es gerade noch, von einem bissigen Hund wie Gribaudo verfolgt zu werden«, erklärte Galluzzo. »Also hört zu… Himmel Herrgott noch mal!« Fazio und Galluzzo zuckten bei dem lauten Gefluche zusammen. »Könnte mir freundlicherweise vielleicht jemand erzählen, wo zum Teufel Mimi steckt? Er hat sich den ganzen Tag noch nicht blicken lassen! Wisst ihr was von ihm?« »Nein«, sagten die beiden wie aus einem Munde. »Catarella!« Catarella kam herbeigerannt und nahm die Kurve ins Zimmer so knapp, dass er sich um ein Haar am Türrahmen die Nase gebrochen hätte. Er war ganz entsetzt. »Beddra Matre, bin ich erschrocken!« »Weißt du was von Dottor Augello?« »Von ihm persönlich selber? Nein.« -37-
Der Commissario wählte Mimis Nummer zu Hause. Nach einer Weile meldete sich Mimis Verlobte Beba, die Montalbanos Stimme gleich erkannte. »Salvo, bist du das? Danke, es geht ihm besser. Der Arzt war da.« »Was hat er denn?« »Eine Blasenentzündung. Das habe ich Catarella heute Morgen aber gesagt.« »Wenn ich es schaffe, komme ich vorbei.« Er legte auf und sah Catarella an. »Warum hast du mir nicht ausgerichtet, dass Signorina Beba angerufen und Bescheid gegeben hat, dass Mimi krank ist?« Catarella schien aufrichtig geschmerzt und überrascht. »Krank ist er? Mir hat die Signorina irgendwas von Zündung gesagt, und ich hab nichts verstanden.« »Sie hat nichts von Zündung gesagt, sondern von Blasenentzündung. Ist ja auch egal, aber warum hast du jetzt nichts gesagt, als ich dich gefragt habe?« »Weil Sie mich gefragt haben, ob Dottor Augello persönlich selber mit mir geredet hat. Und am Telefon hat doch seine Verlobte mit mir telefoniert.« Montalbano legte den Kopf in die Hände. Catarella traten fast die Tränen in die Augen. »Ich schwör's, Dottori! Sie hat nichts von krank gesagt, sie hat bloß was von Zündung gesagt!« »Bitte!«, sagte der Commissario. »Geh in dein Zimmer.« »Und wie geht's jetzt weiter?«, fragte Fazio. »Hast du die Namen aus Piccolos Büro aufgeschrieben, wie ich dir gesagt hatte?« »Ja, Dottore.« »Wie viele sind es?« -38-
»Fünf. Ich hab sie drüben. Soll ich den Zettel holen?« »Nicht nötig. Sieh zu, dass du mit einem von diesen Leuten sprechen kannst. Versuch herauszukriegen, welchen Zins Piccolo verlangte, was für ein Typ er war, wie er sich verhielt, wenn jemand nicht zahlte. Morgen Früh will ich was von dir erfahren.« »Und ich?«, fragte Galluzzo. »Grazias Befragung, die Gribaudo für jetzt anberaumt hatte, lassen wir bleiben. Wenn ich Näheres von ihr wissen will, sag ich's dir. Und du versuch doch, so gut es geht, das Vertrauen des Mädchens zu gewinnen. Wenn sie sich in Ruhe mit einem Freund unterhalten kann, fällt ihr vielleicht das eine oder andere wichtige Detail ein. Wir sehen uns morgen. Ich schaue auf einen Sprung bei Augello vorbei.« Als er allein war, merkte er, dass er keine Lust hatte, bei Augello vorbeizuschauen. Mimi konnte wegen eines eingewachsenen Nagels jammern, als läge er im Sterben, und dann erst bei einer Blasenentzündung! Und Montalbano ertrug es nicht, wenn Augello sich so benahm. Er rief noch mal an. Beba meldete sich. »Mimi schläft.« »Dann stör ihn nicht. Ich wollte dir nur sagen, dass ich nicht kommen kann. Richte ihm aus, er soll bald wieder gesund werden. Ich brauche ihn. Wir ermitteln in einem Mordfall.« »Der Wucherer?« »Ja. Woher weißt du das?« »Ein lokaler Fernsehsender hat darüber berichtet.« Als er das Kommissariat verließ, gelüstete es ihn ebenso plötzlich wie überwältigend nach einem Teller Pasta mit pesto alla trapanese, einem Gericht, das zuzubereiten -39-
Adelina sich aus unerfindlichen Gründen weigerte. Als er am Supermarkt ankam, waren die Rollläden halb heruntergelassen. Er schlüpfte unten durch und stand Signor Aguglia, dem Geschäftsleiter, gegenüber. »Commissario! Sie wünschen?« »Ich brauchte ein Glas pesto alla trapanese.« »Warten Sie, ich hole Ihnen eins.« Die Lichter im Supermarkt waren zu drei Vierteln gelöscht, an den Kassen saß niemand mehr. Aguglia kam mit dem Glas zurück. »Bitte sehr. Sie können nächstes Mal zahlen. Heute war ein schlimmer Tag, ununterbrochen haben empörte Kunden angerufen.« »Wieso das?« »Weil Dindò nicht zur Arbeit erschienen ist, er hat die Kundschaft nicht beliefert.« Dindò war ein hoch aufgeschossener Zwanzigjähriger mit dem Hirn eines Zehnjährigen und immer unterwegs, um in Vigàta und Umgebung die Waren des Supermarkts auszufahren. »Der kriegt morgen was von mir zu hören!«
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Kapitel 3
In Marinella kochte er Nudeln, goss sie ab, tat sie auf den Teller, kippte das ganze Glas Sauce darüber (›für vier Personen‹ stand darauf), setzte sich an den Küchentisch und ließ es sich schmecken. Im Kühlschrank fand er von Adelina zubereitete Meerbarben mit Tomatensauce, er wärmte sie auf und führte sie sich zu Gemüte. Nach dem Essen spülte er sorgfältig ab, um die Spuren des pesto alla trapanese zu verwischen, denn wenn Adelina am nächsten Tag etwas davon merkte, schimpfte sie womöglich. Gewissenhaft stopfte er sogar das leere Glas ganz unten in die Mülltüte. Dann setzte er sich vor den Fernseher, zufrieden wie ein Mörder, der sicher ist, alle Spuren seiner Tat beseitigt zu haben. Der erste Bericht in den Nachrichten von ›Televigàta‹ war natürlich dem Mord an Gerlando Piccolo gewidmet. Nachdem er etliche Außenaufnahmen des Hauses gezeigt hatte, erklärte der Reporter, der Galluzzos Schwager war, er habe sich ein kurzes Amateurvideo über Grazia, die mutige Nichte des Opfers, besorgen können. Stolz fügte er hinzu, es handle sich um eine Sensation, denn es gebe keine anderen Bilder von dem Mädchen. Montalbano traute seinen Ohren nicht. Wo hatte er dieses Video her? Es gab keinen Ton, man sah das Mädchen in einer Küche hantieren, die nicht die Küche im Haus der Piccolos war. Grazia trug ein elegantes Kleid und war hübsch geschminkt. Doch sie bewegte sich wie sonst, angespannt wie eine Katze in Gegenwart von etwas Fremdem, das sich als gefährlich erweisen könnte. Dann zoomte die Kamera ihr Gesicht heran, und der Commissario merkte, wie schön sie war, von einer geheimnisvollen und gefährlichen Schönheit. Für einen Augenblick schien die Kamera die Macht zu haben, etwas -41-
für das bloße Auge Rätselhaftes und Unsichtbares sichtbar zu machen. Grazia hatte die Gesichtszüge mancher Heldinnen aus amerikanischen Western, einer Frau, die sich mit der Flinte zu verteidigen weiß. Eine Stimme aus dem Off sagte, sie solle lächeln, und sie versuchte es, aber sie verzog nur die Lippen über kleinen, spitzen, schneeweißen Zähnen. Eine Tigerin, die drohend fauchte. Dann folgte ein anderer Bericht, und der Commissario schaltete um. Aber wenn jemand ihn gefragt hätte, was seine Augen sahen, hätte er sicher nicht antworten können, zu sehr hingen seine Gedanken einer Frage nach: Wie waren die von ›Televigàta‹ an das Material gekommen? Er hätte gleich Galluzzos Schwager anrufen und so das Problem lösen können. Aber diese Genugtuung gönnte er ihm nicht. Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, die Antwort war schlicht, klar, eindeutig, die einzig mögliche. Und sie beunruhigte ihn sehr. Vor dem Schlafengehen rief er Livia an und erzählte ihr von seinem Tag. Schwierig wurde es in dem Augenblick, da er von seiner Überraschung sprach, als er Grazia im Fernsehen gesehen hatte und sie ihm so anders vorgekommen war, als er sie am Morgen erlebt hatte. »Na ja«, sagte Livia, »wenn dieses Video vor dem Mord gemacht wurde, ist es doch nur normal, dass das Mädchen ruhig und fröhlich aussieht.« »Damit hat es nichts zu tun«, entgegnete Montalbano. »Eine, wie soll ich sagen, unerwartete und merkwürdige Schönheit…« »Dann ist sie eben sehr fotogen«, fiel Livia ihm ins Wort. »Es geht nicht darum, ob sie fotogen ist.« »Worum denn dann?« -42-
»Es war, als ob die Kamera Röntgenstrahlen hätte, ich kann das nicht so gut erklären, ich hab's ja selber nicht richtig kapiert. Es war, als ob…« »Müssen wir noch lange davon reden?« »Weißt du, wenn ich darüber reden kann, sehe ich selbst klarer…« »Darf ich dich was fragen?« »Natürlich.« »Siehst du die Schönheit einer Frau nur auf Bildern?« »Das hat doch damit nichts zu tun!« »Und ob. Denn wenn das so ist, lasse ich ein Video von mir machen und schicke dir die Kassette.« »Musst du eigentlich immer alles auf dich beziehen?« Und schon fing der Streit an. Wer weiß, warum, aber als er die Augen aufschlug und nach einem Blick durch das offene Fenster sah, dass sich ein dunkler und windiger Tag anbahnte, fiel ihm ein Spruch ein, den sein Vater immer gesagt hatte, wenn er frühmorgens aufstand: »Des Morgens musst du viel versprechen, heimtückisch wird der Tag sich rächen.« Der Vater fühlte sich vom Leben verarscht, vom alltäglichen Leben, aber das begriff Montalbano erst viel später. Gut, sein Vater war ein ernsthafter Mann, er gelobte Tag für Tag neuerlichen Einsatz und hielt sich auch an sein Versprechen. Aber er selbst fühlte sich, als er aufstand, um zu duschen, und in sich ging, zu keinem neuerlichen Versprechen imstande, weder sich selbst noch dem Rest der Welt gegenüber. Er hatte nur Lust, wieder ins Bett zu schlüpfen, sich die Decke über den Kopf zu ziehen, die Wärme und den Geruch der noch warmen Laken zu spüren, die Augen zu schließen und wegen -43-
Erreichens der Müdigkeits-, Überdrussund Ertragensgrenze alles aufzukündigen. Im Bad betrachtete er sich im Spiegel und war sich augenblicklich unsympathisch. Wie hielten ihn die Leute nur aus, mochten ihn manchmal sogar gern? Er mochte sich nicht, das war klar. Eines Tages hatte er in einem erbarmungslos lichten Augenblick über sich nachgedacht. »Ich bin wie eine Fotografie«, hatte er zu Livia gesagt. Livia hatte ihn irritiert angesehen. »Ich verstehe nicht, was du meinst.« »Ich existiere, weil es ein Negativ gibt.« »Ich verstehe immer noch nicht.« »Lass es mich erklären: Ich existiere, weil es ein Negativ gibt, das aus Verbrechen, Mord, Gewalt besteht. Wenn dieses Negativ nicht existierte, könnte mein Positiv, also ich, auch nicht existieren.« Sonderbarerweise fing Livia an zu lachen. »Erzähl mir doch nichts, Salvo. Das entwickelte Negativ eines Mörders stellt keinen Polizisten dar, sondern den Mörder selbst.« »Das war eine Metapher.« »Sie stimmt aber nicht.« Ja, die Metapher stimmte nicht, aber ein Körnchen Wahrheit steckte drin. Als er ins Büro kam, rief er sofort Galluzzo zu sich. »Ich gratuliere.« »Wozu?« »Zu deiner eigennützigen Nächstenliebe. Du hast mich vollgelabert, wie Leid Grazia dir tut, du hast sie bei dir aufgenommen, weil das arme Mädchen nicht wusste, wohin mit sich, und das alles nur, damit dein Schwager seinen Knüller landen konnte.« -44-
»Das ist nicht wahr, Dottore.«
»Streitest du ab, dass das deine Küche war?«
»Nein.«
»Dass die Kleider, die Grazia trug, deiner Frau
gehören?« »Nein.« »Siehst du? Du bist gelinde gesagt ein Heuchler, einer, der das Vertrauen anderer ausnutzt.« »Nein, Dottore, ich konnte es meiner Frau einfach nicht abschlagen. Sie hat ihrem Bruder erzählt, dass ich das Mädchen zu uns nach Hause gebracht habe, der hat's nicht geglaubt und hat so lange rumgemacht und rumgeredet… Irgendwann hat mir meine Frau dann gedroht, dass sie Grazia nicht länger im Haus behält, wenn ich ihrem Bruder nicht den Gefallen tue, und ich…« »Hau ab und schick Fazio rein.« »Ja. Bitte verzeihen Sie.« Statt Fazio erschien Catarella. »Dottori, der Fazio ist nicht zu finden, weil er nicht da ist. Aber der Signore Cuglia sagt, dass er mit Ihnen persönlich selber reden will.« »Ist gut, stell ihn durch.« »Das geht nicht, Dottori, weil der Signor Cuglia ist persönlich selber hier.« »Lass ihn rein.« Signor Cuglia war Aguglia, der Leiter des Supermarktes. »Commissario, wissen Sie noch, dass ich Ihnen gestern sagte, Dindò sei nicht zur Arbeit gekommen? Heute Morgen ist er auch nicht erschienen.« »Ich wüsste nicht, inwiefern wir…« »Warten Sie. Als er nicht kam, bin ich zu ihm nach -45-
Hause gefahren. Er lebt allein in einem Dreckloch unter der Treppe, weil er nicht bei seinem Vater im oberen Stock wohnen will. Ich habe geklopft, aber es kam keine Antwort. Da bin ich zum Vater raufgegangen, der hat einen Zweitschlüssel. Wir haben die Tür geöffnet. Die Kammer war leer, ein Schweinestall, glauben Sie mir. Der Vater hat Dindò seit mindestens drei Tagen nicht gesehen. Ich hab auch die Nachbarn gefragt, aber niemand wüsste was. Was soll ich denn jetzt machen?« Montalbano wurde langsam sauer. Wieso erzählte Aguglia ihm diese Geschichte, die ihm als Kommissar doch scheißegal sein konnte? »Nehmen Sie sich einen anderen Gehilfen«, sagte er kalt. »Das Problem ist, dass Dindò mit dem Moped des Supermarkts verschwunden ist. Er darf es benutzen, um zur Arbeit zu fahren.« »Benimmt sich Dindò zum ersten Mal so?« »Ja. Er denkt und handelt auch manchmal wie ein Kind, aber was die Arbeit betrifft, kann ich ihm nichts vorwerfen.« »Dann würde ich Ihnen vorschlagen, noch einen Tag mit der Anzeige zu warten. Sie haben selbst gesagt, dass Dindò wie ein Kind ist. Vielleicht war er hinter einem Schmetterling her und hat sich verirrt.« Kaum hatte er den Satz ausgesprochen, kamen ihm Zweifel. Gab es überhaupt noch Kinder, die hinter Schmetterlingen herrannten? »Zu Lebzeiten«, sagte Fazio und setzte sich vor den Schreibtisch, »war Gerlando Piccolo echt ein Dreckskerl.« »Das heißt?« »In der Stadt pfeifen es die Spatzen von den Dächern, -46-
Dottore. Wer immer Piccolo erschossen hat, man wird ihm ein Denkmal auf der Piazza errichten müssen. Wenn du das Pech hattest, dir Hundert leihen zu müssen, hat er dir sechs Monate später Tausend abgeknöpft. Und er war nicht nur ein Blutsauger, sondern auch ein Schwein.« »Inwiefern?« »Er verging sich an Frauen, die in Not waren. Anscheinend hat er keine ausgelassen. Bevor er ihnen Geld lieh, wollte er eine Anzahlung in Naturalien auf die Zinsen.« »Hast du mit den Personen von der Liste sprechen können?« »Das ist gar nicht so einfach. Die Ärmsten, die in die Fänge solcher Leute geraten, schämen sich einerseits und andererseits haben sie Angst. Ich konnte nur mit zwei von denen reden. Eine, die Witwe Colajanni, hat gesagt, sie würde meine Fragen nicht beantworten, weil sie dem Mörder nicht schaden wollte. Können Sie sich das vorstellen? Die andere heißt Raina, sie hatte einen Obstund Gemüseladen, und Piccolo hat sich das Obst, das Gemüse, den ganzen Laden und ihre Unterhosen einverleibt.« »Wenn er Frauen missbrauchte, gehört auf die Liste der möglichen Täter außer denen, die er gerupft hat, demnach auch so mancher eifersüchtige Ehemann oder Bruder.« Fazio kniff die Augen zusammen. »Dann glauben Sie also nicht, dass wir es mit einem Einbruch zu tun haben, der in einen Mord ausgeartet ist.« »Warum, denkst du vielleicht, es sei ein Einbruch, der in einen Mord ausgeartet ist?« »Nein.« »Ich auch nicht. Hältst du mich für blöder als dich?« -47-
»Das würde ich mir nie erlauben.« »Hast du erfahren, wie Piccolo sich verhielt, wenn jemand sich wehrte und sich nicht länger das Blut aussaugen lassen wollte?« Fazio zog eine Grimasse. »Er schickte jemand, und die zahlten, da war nichts zu wollen.« »Und wer ist dieser jemand?« »Das wollten sie mir nicht sagen, Dottore. Sie haben Angst, mit dem Kerl ist wohl nicht zu spaßen. Aber Sie werden sehen, in vierundzwanzig Stunden weiß ich alles über ihn.« »Das bezweifle ich nicht. Hat Montelusa den Hausschlüssel geschickt?« »Ja, ich hab ihn drüben. Aber ich kann Ihnen gleich sagen, dass es keinen Sinn hat, sich Piccolos Schlafzimmer anzusehen. Erst die Spurensicherung, dann Dottor Pasquano, später die Leute, die den Toten weggebracht haben… Nichts ist mehr an seinem Platz.« »Weißt du denn noch, wie es war, als du gekommen bist?« »Natürlich.« »Lass dir von der Spurensicherung die Fotos schicken, die sie aufgenommen haben, bevor sie alles auf den Kopf gestellt haben. Die könnten uns weiterhelfen.« »Ich rufe gleich an.« »Und wenn du schon am Telefon bist, ruf doch gleich Jachino an, den Schmied.« »Wozu?« »Ich will den Tresor in Piccolos Büro öffnen lassen.« »Da brauchen wir keinen Schmied. Dottor Gribaudo hat -48-
den Schlüssel gefunden. Aber er hat den Tresor nicht geöffnet. Das wollte er am nächsten Tag machen. Dann kam er nicht mehr dazu. Er hat uns den Schüssel geschickt.« »Braucht man da keine Kombination?« »Ach was, Dottore. Diese Truhe von Tresor ist bestimmt über zweihundert Jahre alt! Ich ruf jetzt die Spurensicherung wegen den Fotos an.« Nach einer Weile kam er zurück, mit mürrischem Gesicht. »Ich habe mit Scardocchia gesprochen, dem Stellvertreter von Arquà, er hat gesagt, dass er es seinem Chef gleich ausrichtet. Als er sich wieder meldete, sagte er, es tut ihm Leid, aber sie brauchen die Fotos noch.« Montalbano fluchte leise. Dann telefonierte er. »Hier ist Montalbano. Gib mir Arquà.« Er hatte lange nicht mit ihm gesprochen und wusste daher nicht mehr, ob sie sich duzten oder siezten. Das Problem, wenn es überhaupt eins war, löste Arquà. »Was kann ich für Sie tun, Montalbano?« »Sie wissen, dass mir der Fall Piccolo übertragen wurde?« »Ja.« Ein widerwillig durch die Zähne gepresstes Eingeständnis. »Ich weiß, dass Sie das bedauern, aber so ist es nun mal. jetzt will es der Zufall, dass Staatsanwalt Tommaseo, der die Ermittlungen führt, gerade bei mir ist. Er braucht dringend diese Fotos. Wenn Sie sich einen Augenblick gedulden und am Apparat bleiben, können Sie mit ihm sprechen, sobald er von der Toilette zurück ist. Ich bin so frei, Sie darauf hinzuweisen, dass er wegen Ihrer Antwort -49-
ziemlich sauer ist. Ah, da kommt er ja. Jetzt können Sie selbst mit ihm sprechen.« »Das ist nicht nötig. Grüßen Sie Dottor Tommaseo von mir. Ich lasse die Bilder sofort mit einem Wagen bringen. Scardocchia hatte das nicht richtig verstanden.« »Brauchen Sie die Fotos doch nicht?« »Schon, aber wir können sie noch mal abziehen.« »Ausgezeichnete Idee«, sagte der Commissario und legte auf. »Und wenn der Bluff danebengegangen wäre?«, fragte Fazio. »Inwiefern?« »Wenn Arquà mit Tommaseo hätte sprechen wollen?« »Um sich zusammenscheißen zu lassen? Weißt du, worauf Arquà sich reimt? Auf quaquaraquä, das Hinterletzte.« Die Bilder waren eine halbe Stunde später da. Montalbano ging eine Idee im Kopf herum, weshalb er die Fotos sofort aus dem Umschlag nahm und sorgfältig studierte. Der Fotograf von der Spurensicherung hatte gewissenhaft gearbeitet, die kleinsten Details hatte er aufgenommen. Montalbano reichte Fazio ein Bild, das das Schlafzimmer als Ganzes zeigte, mit dem toten Gerlando Piccolo auf dem Bett. »Stimmt das mit deiner Erinnerung überein?« Kritisch betrachtete Fazio das Foto. »Ich glaube, es war genau so.« Montalbano reichte ihm ein weiteres Foto. Es zeigte die beiden kleinen Bilder, die von der Wand gerissen waren. Sie lagen zertreten auf dem schmalen Stück Boden zwischen Kommode und Bett. Die offenen Schubladen des Möbels schränkten den Durchgang noch weiter ein. Auf -50-
dem Foto waren Myriaden glitzernder Splitter zu sehen, die von dem Rahmenglas der Bilder stammten. »Als du zu dem Toten gegangen bist, bist du da auf die Bilder getreten?« »Nein, Dottore. Ich hatte die Glassplitter gesehen und bin drübergestiegen. Sie sind auch drübergestiegen, als Sie ins Zimmer kamen.« »Ich?« »Ja, ganz instinktiv, deswegen können Sie sich nicht erinnern. Finden Sie diese Bilder denn so interessant?« »Die Bilder nicht, aber die vielen Glassplitter. Wenn jemand versehentlich» mit nackten Füßen darauf tritt, schneidet er sich doch, oder?« »Natürlich schneidet er sich dann.« »Grazia sagte, sie hätte, als sie in den oberen Stock lief, um nachzusehen, was los war, keine Schuhe angezogen, sie ist barfuß rauf.« Fazio wurde nachdenklich. Dann sagte er: »Das muss nichts heißen. Grazia ist ein Mädchen vom Land und gewohnt, barfuß zu laufen. Wahrscheinlich hat sie eine solche Hornhaut an den Füßen, dass nicht mal ein Messer durchgeht.« »Ruf Galluzzo und komm dann auch wieder.« Galluzzo erschien mit niedergeschlagenen Augen, er schämte sich immer noch für das, was Montalbano ihm vorgeworfen hatte. »Ich wollte dich was fragen: Humpelt Grazia zufällig?« Galluzzo riss bewundernd die Augen auf. »Sind Sie Hellseher? Richtig humpeln tut sie nicht, aber gestern nach dem Mittagessen hat sie gejammert, dass es sie in den Fußsohlen sticht. Meine Frau hat sie sich angesehen. Die Füße haben zwar nicht geblutet, aber sie waren voller -51-
Glassplitter. Meine Frau hat sie einzeln mit der Pinzette rausgezogen.« »Danke. Du kannst gehen.« Als Galluzzo wieder draußen war, sagten der Commissario und Fazio nichts dazu. »Wann sollen wir anfangen?« Montalbano sah auf die Uhr. »Ich würde sagen, heute Nachmittag. jetzt gehen wir ess…« Die Tür, die Galluzzo geschlossen hatte, flog donnernd auf. Catarella erschien. »Ich bitte um Verzeihung, die Hand ist mir ausgerutscht. Ich hab grad einen anonymen Anruf gekriegt. In der Contrada Pizzutello haben sie einen Toten gefunden. Und der hat mir auch ganz genau die Stelle gesagt.«
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Kapitel 4 Endlich einmal hatte Catarella die Hinweise eines anonymen Anrufers auf die genaue Stelle, wo der Tote lag, begriffen und auch richtig wiedergegeben. Contrada Pizzutello war keine fünfhundert Meter von Piccolos Haus entfernt. Dichte mediterrane Macchia, in die der Beton noch nicht vorgedrungen war, und beliebtes Ziel heimlicher Liebespaare. Durch das Hin und Her der Autos dieser Pärchen war in dem Dickicht ein Netz von Wegen und kleinen Lichtungen entstanden, ein Labyrinth, durch das der richtige Weg trotz der klaren Angaben nur schwer zu finden war. Die beiden Fahrzeuge, der Streifenwagen und das Auto des Commissario, waren mehrmals zu komplizierten Wendemanövern gezwungen und mussten wieder zurückfahren und einen anderen Weg einschlagen. Schließlich schafften sie es. Der Tote lag mit dem Gesicht am Boden, die Arme ausgebreitet. Welche Farbe seine Jacke hatte, war nicht mehr festzustellen, so getränkt war sie mit längst geronnenem Blut, das aus einer kleinen, aber deutlich sichtbaren Wunde knapp unterhalb des rechten Schulterblatts ausgetreten war. Unweit der Leiche ein Moped mit einem großen Gepäckträger. »Ich sehe zwar sein Gesicht nicht«, sagte Fazio, »aber ich glaube, ich weiß, wer es ist.« »Dindò, der Junge, der für den Supermarkt ausgeliefert hat. Schon gestern Abend hat Aguglia, sein Chef, gesagt, dass er nicht zur Arbeit gekommen ist. Und heute Morgen wollte er Dindò anzeigen, weil er glaubte, er hätte das Moped gestohlen«, erklärte Montalbano. »Der arme Kerl, der war doch nicht ganz dicht!«, brach es aus Germanà heraus, der zusammen mit Tortorella und Imbrò zur -53-
Streife gehörte. »Wir müssen die Waffe finden«, sagte Montalbano. »Die des Schützen?«, fragte Tortorella erstaunt. »Nein«, korrigierte Fazio ihn, der nach einem Blick auf Montalbano sofort verstanden hatte. Und er fügte hinzu: »Die Waffe, die Dindò dabeihatte und mit der er geschossen hat.« Er sah Montalbano wieder an, als wolle er sich bestätigt wissen. Der Commissario nickte. »Herrgott noch mal! Ich kapier überhaupt nichts!«, beschwerte sich Germanà. »Dann lass es bleiben und such!«, befahl Fazio. Sie suchten und suchten und gelangten dabei bis zu Piccolos Haus, aber sie fanden nichts. »Vielleicht liegt die Waffe unter dem Toten«, schlug Tortorella vor. Sie hoben die Leiche nur so weit wie nötig an. »Wenn Arquà sieht, was wir hier tun, kippt er um«, meinte Fazio dazu. Die Waffe war nicht da. Dafür stellten sie fest, dass das Projektil beim Austritt das Fleisch und die Jacke buchstäblich zerrissen hatte. »Vielleicht hat er sie unterwegs weggeworfen, bevor er sich hier versteckt hat«, sagte Fazio. Montalbano spürte plötzlich, wie sich ihm vor Mitleid der Hals zuschnürte. Armer kleiner Dindò, da verkriecht sich ein tödlich verwundeter Mann wie ein Tier zum Sterben… War Tödlich verwundet nicht der Titel eines großartigen Buches von La Capria, das er viele Jahre zuvor gelesen und geliebt hatte? »Er ist verblutet«, sagte Fazio, als könnte er Montalbanos Gedanken lesen. -54-
»Ruf an, wen du anrufen musst«, sagte der Commissario. »Aber mit Dottor Pasquano will ich selber sprechen.« Kurz darauf reichte Fazio ihm das Handy. »Dottore? Hier ist Montalbano. Haben Sie sich den toten Gerlando Piccolo schon angesehen?« »Jawohl. Von innen und von außen.« »Können Sie mir schon was sagen?« »Es gibt nichts zu sagen. Ein einziger Schuss, und der war tödlich. Details dann im Bericht. Wenn er nicht erschossen worden wäre, hätte er gesund wie ein Fisch im Wasser hundert Jahre alt werden können. Er hatte kurz vorher gevögelt.« Das hatte Montalbano nicht erwartet. »Bevor er erschossen wurde?« »Nein, hinterher. Er hat als Toter gevögelt. Was sollen denn diese bescheuerten Fragen? Ist Ihnen nicht wohl?« »Dottore, ich habe noch eine Leiche für Sie.« »Produzieren Sie jetzt am Fließband?« »Fazio erklärt Ihnen, wie Sie herkommen. Wiederhören.« Als Fazio das Gespräch mit Pasquano beendet hatte, rief Montalbano ihn beiseite. »Ich gehe jetzt, Fazio. Bleib du mit den anderen da. Ich muss nicht einen ganzen Tag mit einem Toten verschwenden, von dem ich weiß, wer er ist und wer ihn warum erschossen hat.« »Ist gut«, sagte Fazio. »Noch was. Sag Arquà einen schönen Gruß, er soll die Fingerabdrücke des Toten mit denen aus Piccolos Schlafzimmer vergleichen. Nur zur Bestätigung. Und um noch eins draufzusetzen: Er soll auch Dindòs Blut mit dem verstaubten Blutfleck vor Piccolos Haus vergleichen.« -55-
Er hastete ins Kommissariat. Nur Catarella war da. »Wo ist Galluzzo?« »Zu Hause, beim Essen.« »Verbinde mich mit ihm.« Er ging in Fazios Zimmer, holte sich den Hausschlüssel von Gerlando Piccolo und betrat gerade sein Büro, als das Telefon schellte. »Galluzzo, seid ihr schon fertig mit Essen?« »Nein, Dottore. Wir fangen gerade an.« »Tut mir Leid, aber in fünf Minuten stehe ich bei dir vor der Tür. Ihr müsst mitkommen, du und Grazia.« »In Ordnung, Dottore. Wer ist der Tote?« »Ich sag's dir nachher.« Sie waren so pünktlich, dass sie schon warteten, als Montalbano vor Galluzzos Haus ankam. »Wo fahren wir hin?«, fragte Galluzzo. Montalbano antwortete indirekt. »Grazia, hast du Lust, ein Stündchen zu Hause zu verbringen?« »Natürlich.« Den Rest des Weges schwiegen sie. Als sie das Haus betraten, schlug ihnen ein solcher Mief entgegen, dass es ihnen den Magen umdrehte. »Macht ein paar Fenster auf.« Als das Haus Luft geholt hatte, erklärte Montalbano, was er vorhatte. »Hört zu. Ich will exakt rekonstruieren, was gestern Nacht geschehen ist. Wir müssen das vielleicht auch öfter wiederholen, bis mir einige Dinge ganz klar sind. Grazia, du hast doch gesagt, dass du in deinem Zimmer warst und geschlafen hast.« »Ja.« -56-
»Du, Galluzzo, gehst rauf ins Schlafzimmer, und wenn ich es sage, machst du Lärm.« »Was denn für Lärm?« »Was weiß ich. Schmeiß Sachen auf den Boden, mach Schubladen auf und zu, stampf mit den Füßen.« Galluzzo setzte sich Richtung Treppe in Bewegung. »Und wir zwei gehen in dein Zimmer.« »Ich lag im Bett«, sagte Grazia, als sie eintrat. »Dann tu das.« »Ich hatte nichts an.« »Das ist nicht nötig. Zieh nur die Schuhe aus.« Grazia legte sich barfuß auf das ungemachte Bett. »War die Tür offen oder zu?« »Zu.« Bevor er sie schloss, schrie der Commissario: »Galluzzo, fang an!« Laut und deutlich drang Galluzzos Gepolter zu ihnen, kein Wunder, dass Grazia besorgt gewesen war. »Jetzt tu, was du getan hast.« Das Mädchen stand auf, nahm einen Morgenmantel, der an einem Haken hing, und öffnete die Tür. »Das reicht. Du hör auch auf, Galluzzo!« Sie verließen das Zimmer und gingen ins Wohnzimmer. Galluzzo wartete oben an der Treppe. »War das Licht im Wohnzimmer, als du aus deinem Zimmer kamst, an oder aus?« »Aus.« »Du bist also im Dunkeln hochgelaufen.« »Ich kenne das Haus wie meine Westentasche.« »Hast du gesehen, ob die Haustür offen oder zu war?« »Darauf habe ich nicht geachtet. Aber sie muss offen -57-
gewesen sein, denn als…« »Dazu kommen wir später. Galluzzo, geh in dein Zimmer zurück.« »Soll ich noch mal Krach machen?« »Vorerst nicht, du musst nur aus dem Weg. Grazia, du gehst wieder in dein Zimmer. Mach die Tür zu. Wenn ich es dir sage, läufst du genauso rauf, wie du zu deinem Onkel raufgelaufen bist.« Er schloss Fenster, Fensterläden, Türen und konnte eine fast vollkommene Dunkelheit herstellen. »Komm, Grazia!« Schemenhaft sah er, wie die Tür aufging, wie ein Schatten, der sich kaum von der Finsternis abhob, sich schnell bewegte und die Stufen hinauflief und dabei immer mehr zu einer menschlichen Gestalt wurde, weil durch das Schlafzimmerfenster, das nicht verdunkelt war, Licht hereinfiel. »Was sollen wir jetzt machen?«, fragte Galluzzo von oben. »Wartet.« Montalbano ließ Fenster und Türen geschlossen, öffnete die Haustür und ging dann nach oben. »Bist du sicher, dass die Tür offen war, als du hereinkamst?« »Ganz sicher. Ich hab schon auf der Treppe gesehen, dass das Licht an war. Wenn die Tür zu gewesen wäre, hätte ich kein Licht gesehen.« »Was hast du als Erstes gesehen, als du hereinkamst?« »Meinen Onkel.« »Hast du das Blut gesehen?« »Ja.« »Und was hast du da gedacht?« »Dass er aus dem Mund blutet, weil er krank ist. Erst als -58-
ich mich über ihn beugte, hab ich gesehen, dass er tot ist.« »Galluzzo, geh raus auf den Flur. Und du gehst noch mal aus deinem Zimmer, rennst rauf, kommst hier herein und zeigst mir, was du gemacht hast, bis dir klar war, dass jemand deinen Onkel umgebracht hat.« Der Commissario trat ans Fenster, damit er dem Mädchen nicht im Weg stand. Grazia kam eine Minute später angerannt, keuchend vom Laufen und weil sie so aufgewühlt war. Sie ging zwischen der Kommode und dem Fußende des Bettes hindurch und um das Bett herum, dann beugte sie sich an der Seite, auf der Gerlando Piccolos Leiche gelegen hatte, leicht nach vorn. Auf den Rosten lagen nur noch die Matratzen, die Spurensicherung hatte alles andere mitgenommen. »Und was ist dann passiert?« »Da war ein Geräusch, und ich hab aufgeschaut.« »Und was hast du gesehen?« »Einen Mann. Er kam hinter der Tür hervor, er hatte sich dort versteckt, als er mich kommen hörte.« »Als er dich kommen hörte? Du warst doch barfuß!« »Vielleicht habe ich auf der Treppe nach dem Onkel gerufen.« »Hatte der Mann den Revolver noch in der Hand?« Das Mädchen dachte eine Weile nach und meinte dann: »Das kann ich nicht sagen.« »Ist gut. Galluzzo! Grazia sagt dir, wie du dich hinstellen musst.« Das Mädchen hantierte mit Galluzzo wie eine Dekorateurin mit einer Schaufensterpuppe. Am Ende sagte sie: »Da, genau so stand er da, als ich ihn gesehen hab.« »Wenn er so dastand, hast du sein Gesicht nicht sehen können, er hatte dir den Rücken zugewandt.« -59-
»Deswegen hab ich sein Gesicht ja auch nicht gesehen.« »Geh zurück zum Bett. Sobald ich ›los‹ sage, rennst du, Galluzzo, die Treppe runter und durch die Haustür raus, sie steht offen. Und Grazia, du zeigst mir, wie du die Waffe an dich genommen hast und hinter dem Mörder hergelaufen bist. Fertig? Los!« Galluzzo spurtete los, Grazia zog die Schublade des Nachtkästchens auf, nahm einen imaginären Revolver heraus und stürzte hinter Galluzzo her. »Stopp! Kommt zurück. Wir machen alles noch mal von vorn.« Einen Moment kam er sich vor wie einer dieser immer unzufriedenen Regisseure, die als Legenden in die Kinogeschichte eingegangen sind. »Diesmal kommt noch was dazu. Du, Grazia, schießt auf ihn, wie du es in der Nacht getan hast. Schrei: ›Peng!‹ Und Galluzzo, wenn du das hörst, bleibst du sofort stehen, egal, wo du gerade bist.« Dreimal wiederholten sie die Szene, und jedes Mal stoppte Grazias »Peng!« Galluzzo genau in der Haustür. Die zeitliche Abfolge stimmte vollkommen. »Kommt, wir setzen uns in die Küche.« Galluzzo trank zwei Gläser Wasser hintereinander. »Soll ich ein bisschen pasta al suco machen?«, schlug Grazia vor. »Gute Idee. Solange du kochst, gehen Galluzzo und ich an die frische Luft. Ruf uns, wenn du fertig bist.« »Sind Sie zufrieden?«, war Galluzzos erste Frage. »Ziemlich. Ein Detail gibt es noch zu klären.« »Was denn?« »Ich werde Grazia beim Essen danach fragen.« -60-
Galluzzo schien eingeschnappt und schwieg eine Weile. Dann konnte er nicht länger widerstehen, eine Frage noch mal zu stellen, auf die er keine Antwort bekommen hatte. »Wer ist denn umgebracht worden?« »Dindò.« Galluzzo machte ein Gesicht, als sei er schwer von Begriff. »Der Gehilfe vom Supermarkt?« »Ja.« »Was kann der arme Kerl denn Böses getan haben?« »Na ja, irgendwas wird er schon gemacht haben.« »Aber was denn?« »Zum Beispiel könnte er Gerlando Piccolo umgebracht haben.« Um nicht umzukippen, denn seine Beine waren plötzlich wie Ricotta, musste Galluzzo sich an die Hausmauer lehnen. »So… so… soll das ein Scherz sein?«, stotterte er. »Danach ist mir gar nicht.« Galluzzo fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. Dann riss er die Augen auf, denn schließlich konnte er zwei und zwei zusammenzählen. »Aber dann hat ja Grazia Dindò erschossen!«, rief er. »So ist es. Und wir sind hier, weil ich mich vergewissern wollte, ob das Mädchen die Wahrheit gesagt hat.« Neben dem Haus war ein Brunnen, und dahin ging Montalbano, gefolgt von Galluzzo, der einer Marionette mit kaputten Fäden glich; er ließ den Eimer hinunter, füllte ihn mit frischem Wasser und zog ihn wieder hoch. »Komm, wasch dir das Gesicht. Und kein Wort zu Grazia.« Während Galluzzo sich wusch, stellte Montalbano fest, dass das Fenster, vor dem sie standen, das Küchenfenster -61-
war, drinnen sah man das Mädchen hantieren. Er trat ein paar Schritte näher. Sie hatte nichts mehr von der Schönheit, die ihn am Abend zuvor so beeindruckt hatte, da war eine ganz normale Achtzehnjährige, weder schön noch hässlich, die einen Tisch deckte. Wenn Livia sie so sehen könnte, würde sie sicher denken, dass Salvo ihr seine persönlichen Fantasien erzählt und diese als Realität ausgegeben hatte. Als Grazia sich beobachtet fühlte, hob sie den Kopf und lächelte ihn an. »Sie können kommen, es ist fertig.« Sie setzten sich und aßen schweigend. Am Ende sagte der Commissario: »Der Sugo war ausgezeichnet. Wo kaufst du ihn?« »Er ist nicht gekauft. Ich hab ihn selbst gemacht.« »Kompliment. Grazia, ich muss dich jetzt noch etwas fragen.« »Ja?« »Woher wusstest du, dass der Mann an der Tür war, dass er also noch im Haus war, und du deshalb auf ihn schießen konntest?« Sie zögerte nicht. »Er wollte abhauen, und seine Schuhe waren ziemlich laut. Ich hab auf gut Glück geschossen, einfach drauflos. Ich hätte nie gedacht, dass ich ihn treffe.« »Warum hast du ihn nicht verfolgt?« »Ich hatte Angst, dass er zuerst schießen würde. Er war bewaffnet.« »Vorhin sagtest du, du wusstest nicht, ob der Mann den Revolver in der Hand hatte.« »Aber er hat doch meinen Onkel getötet, oder etwa nicht?«, entgegnete Grazia ungehalten. »Außerdem konnte ich die Treppe nicht runterlaufen, meine Beine haben -62-
gezittert.« »Du hast auf gut Glück geschossen, einverstanden, aber du hast ihn unterhalb des Schulterblatts getroffen. Er hat sich verkrochen und ist verblutet, man hat ihn einen halben Kilometer von hier gefunden. Bei dem Treffer ist er nicht weit gekommen.« Grazia war blass geworden. »Was passiert jetzt mit mir?« »Gar nichts.« »Kennen Sie ihn?« »Ja. Dindò, der vom Supermarkt.« Unvermutet deutete Grazia ein Lächeln an. »Dindò? Das glaube ich nicht. Kommen Sie, sagen Sie die Wahrheit. Wer ist es?« »Dindò«, bestätigte Galluzzo. »Kanntest du ihn?«, fragte Montalbano. »Natürlich kannte ich ihn. Er hat uns mindestens zweimal die Woche Lebensmittel gebracht. Aber viel geredet hat er nie. Dindò! Aber warum hat er das getan? Was hatte er für einen Grund? Er war so unglücklich! Der arme Kerl! Und ich hab ihn getötet!« Plötzlich begann sie verzweifelt zu weinen. Galluzzo stand auf und strich ihr zärtlich übers Haar. Grazia bat darum, sich hinlegen zu dürfen, sie konnte sich kaum noch aufrecht halten. Montalbano ging in Piccolos Büro hinauf, gab Galluzzo den Schlüssel zum Tresor, und der schloss ihn auf. Sie fanden wenig Bargeld darin, keine zweihunderttausend Lire, ein unförmiges, mit Papieren voll gestopftes großes Kuvert und einen kleinen metallenen Karteikasten, ähnlich einem Schubfach, mit alphabetisch geordneten Karten. Oben auf jeder Karte -63-
standen der Vor- und der Nachname des Kunden, das Datum des Darlehens, die Fälligkeiten, die kassierten Summen. Es handelte sich um hohe Darlehen ab fünfzig Millionen. Der andere Karteikasten, der wie ein kleines Möbel aussah, enthielt eine Unmenge Karten, aber dabei handelte es sich um kleinere Darlehen zwischen hunderttausend und zwanzig bis dreißig Millionen Lire. Der Umsatz - wenn man so sagen will - von Gerlando Piccolo entsprach praktisch dem einer kleinen Bank, dachte Montalbano. Und die Unterlagen in dem Kuvert bestätigten den Commissario: lauter Kontoauszüge von Banken in Vigàta und Montelusa, die sich auf Milliardensummen beliefen. Das passte nicht. »Wurde in den Kleidern, die Piccolo vor dem Schlafengehen ausgezogen hatte, Geld gefunden?« »Ja. Etwas über dreihunderttausend Lire.« »Die Dindò nicht angerührt hat.« »Vielleicht kam er nicht mehr dazu.« Aber warum hatte Gerlando Piccolo in seinem Geldschrank weniger als zweihunderttausend Lire und trug mehr als dreihunderttausend mit sich herum?
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Kapitel 5 Drei Tage später lieferte die Spurensicherung die ersten Ergebnisse. Nur drei Tage hatten sie gebraucht! Da verschlug es einem den Atem. Die Bürokratie, überlegte der Commissario, ist ein Labyrinth, in dem die bleichen Knochen von Millionen Akten lagern, die nicht den Weg nach draußen gefunden haben. Sobald die Akten aus Antriebsmangel umgefallen sind, stürzen sich Tausende von hungrigen Mäusen darauf und verschlingen sie. Diese Mäuse, die er manchmal in Scharen durch die mit Aktendeckeln voll gestopften unterirdischen Räume irgendeines Justizpalastes hatte huschen sehen. Nur in den seltensten Fällen und aus völlig unerfindlichen Gründen fand eine von zehntausend Akten schnell wie ein Olympiasieger beim Hundertmeterlauf den Weg durch das Labyrinth und erreichte das Ziel. Wie in diesem Fall. Fingerabdrücke waren von Dindò, mit bürgerlichem Namen Salvatore Trupìa, zwanzig Jahre alt, in Gerlando Piccolos Schlafzimmer massenweise festgestellt worden; von Dindò stammte auch das Blut, das eine kleine Lache gebildet hatte, als er nach der Tat das Moped zu starten versuchte. Die Tatwaffe war nicht gefunden worden, höchstwahrscheinlich hatte Dindò sich ihrer entledigt, als er in den Tod durch Verbluten flüchtete. Außerdem gab es noch die Aussage von Signor Arturo Pastorino, einem Händler, der mit dem Auto auf der Landstraße unterwegs gewesen war und zur Tatzeit gesehen hatte, wie die Außenlampe am Haus von Gerlando Piccolo anging, und eine Sekunde später bog ein Moped, von Piccolos Haus kommend, in rasender Geschwindigkeit in ebendiese Landstraße ein und stieß fast mit seinem Wagen -65-
zusammen. Grazia erzählte Staatsanwalt Tommaseo den Ablauf dieser Nacht ein Dutzend Mal, ohne je eine Silbe zu ändern. Aber das genügte dem Staatsanwalt nicht. »Wissen Sie, Montalbano, ich möchte vor Ort eine Rekonstruktion anstellen. Ich wünsche, dieses Mädchen zu entblößen, es ganz nackt vor mir zu sehen.« Praktisch trat ihm schon der Geifer aus dem Mund. Und da er den spöttischen Blick des Commissario auffing, versuchte er die Scharte wieder auszuwetzen: »Nackt an der Seele, meine ich.« Auch die Rekonstruktion vor Ort ergab nichts Neues. Und was das Licht vor Piccolos Haus betraf, das der Zeuge Pastorino gesehen hatte, beharrte Grazia mit Nachdruck darauf, dass die Lampe ausgeschaltet gewesen sei. Der Staatsanwalt sagte, das sei ein belangloses Detail, möglicherweise habe der Zeuge den Scheinwerfer des Mopeds für die Lampe gehalten, die den Platz vor dem Haus beleuchtete. Doch bevor Tommaseo zu seinen Schlussfolgerungen kam, wollte er sich einer Sache sicher sein, die ihm schon von Anfang an im Kopf rumorte. »Signorina, war Ihr Onkel homosexuell?« Grazia lachte schallend. »Der hatte mit Männern nichts am Hut, er mochte Frauen.« »In der Stadt heißt es auch, er habe sich an Frauen vergangen«, mischte sich der Commissario ein. »Nicht immer ist vox populi vox Dei«, schleuderte Tommaseo ihm entgegen. Und wieder an das Mädchen gewandt: »Können Sie es ausschließen?« -66-
»Ich habe nie gesehen, wen er nachts empfing.« »Sie wissen also nicht, ob es Männer oder Frauen waren?« »Nein, das weiß ich nicht.« »Sie können also nicht ausschließen, dass es auch Männer waren.« »Wie ›auch‹?«, fragte Montalbano. »Haben Sie noch nie was von bisexuell gehört?«, meinte der Staatsanwalt süffisant und leckte sich die Unterlippe. Oder wie wär's mit einem flotten Dreier, Vierer, Fünfer, wo doch das Bett so zerwühlt war, dachte Montalbano, aber er kapitulierte lieber. Auch Grazia kapitulierte. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« So hatte der Staatsanwalt freie Bahn. »Ich habe zwei Hypothesen«, erklärte er, als er mit dem Commissario allein war. »Die erste besagt, dass Piccolo spät nachts mit Trupìa verabredet ist, den er kannte, weil Trupìa die im Supermarkt bestellte Ware ins Haus lieferte. Zur verabredeten Zeit steht Piccolo auf, geht die Treppe hinunter, öffnet leise die Haustür, damit seine schlafende Nichte nicht aufwacht, lässt Trupìa herein und macht die Tür wieder zu, schließt aber nicht ab. Nach dem Geschlechtsverkehr kommt es zu einem Streit. Vielleicht will Piccolo nicht zahlen, was Trupìa verlangt. Der verliert den Verstand, erschießt Piccolo und rafft dann zusammen, so viel er kann. Doch das unvorhergesehene Einschreiten der mutigen Nichte zwingt ihn zur Flucht. Er kann die Haustür noch öffnen, aber Grazia schießt auf ihn. Und Trupìa verblutet. Er kann in kein Krankenhaus gehen, er müsste Erklärungen abgeben, die unweigerlich zu seiner Identifizierung als Täter im Mordfall Piccolo führen würden.« Er hatte sich eine Flasche Mineralwasser bringen lassen, -67-
trank ein halbes Glas und fuhr fort. »Nun zur zweiten Hypothese, die Ihnen, der Sie sich hartnäckig weigern zuzugeben, dass Piccolo möglicherweise homosexuell war, gewiss mehr zusagen wird. Nachts hat Piccolo ein Rendezvous mit einer Frau. Er lässt sie zur Haustür ein, sie gehen in sein Schlafzimmer. Es kommt zu einer geschlechtlichen Vereinigung. Bevor die Frau geht, bittet Piccolo sie, die Haustür hinter sich zuzumachen, abschließen werde er selbst, sobald er wieder Kraft zum Aufstehen habe. Offensichtlich hat ihn diese Frau… lassen wir das. Doch die Frau öffnet die Tür, lässt Trupìa herein und geht fort. Trupìa glaubt, Piccolo würde angesichts der Bedrohung durch die Waffe stillhalten. Doch der macht Anstalten, sich zu wehren, und Trupìa erschießt ihn. Was dann folgt, wissen wir. jetzt müssen wir…« »… cherchez la femme?«, fragte der Commissario ganz ernst. »Wie meinen?«, fragte Tommaseo verdutzt. »Entschuldigen Sie, ich war zerstreut. Sie sagten, wir müssen…« »… die Komplizin suchen, Montalbano. Aber wo? Wie sollen wir sie finden?« »Als suchten wir eine Nadel im Heuhaufen«, sagte Montalbano, denn er wusste, dass abgedroschene Phrasen einen bleischweren Punkt setzen. »So ist es. Welche wählen Sie?« »Wovon?« »Von meinen beiden Hypothesen.« »Die zweite.« »Aber die zweite zwingt uns, weiterzuermitteln, um die geheimnisvolle Komplizin zu finden!« -68-
»Dann nehmen wir die erste.« Wozu sollte er mit Tommaseo auch Zeit und Energie verschwenden. Wenn Montalbano in den folgenden Jahren zufällig an den Fall Piccolo dachte, konnte er sich nie erklären, warum er noch am selben Nachmittag Dindòs Vater aufgesucht hatte. Vielleicht wollte er unbewusst sein Gewissen erleichtern, hatte er doch zugelassen, dass Tommaseo in seinem Abschlussbericht schrieb, der arme Junge würde ›sich regelmäßig für Geld prostituieren‹. Die Adresse hatte er von Aguglia, dem Leiter des Supermarktes, der ihn als Erstes gefragt hatte: »Wann kriege ich mein Moped wieder?« Montalbano versicherte ihm, dass er es innerhalb der nächsten Tage abholen könne, und dann wollte Signor Aguglia noch seine Meinung über Dindò loswerden. »Commissario, bei allem Respekt vor der Polizei, aber diese Geschichte überzeugt mich überhaupt nicht.« »Was meinen Sie?« »Was man in der Stadt so hört. Dindò ging weder mit Männern noch mit Frauen. Und er war nicht mal fähig, einen Zahnstocher zu klauen. Hier im Supermarkt hätte er sich nehmen können, was er wollte, aber er hat immer gesagt, wenn er etwas brauchte, und dafür gezahlt. Er war ein ehrlicher Junge.« Das Haus, in dem Dindòs Vater lebte, lag nah beim Hafen. Ein winziges Häuschen und so baufällig, dass es unbegreiflich war, wie es ohne Stützbalken noch aufrecht stehen konnte. Im Erdgeschoss hatte sich früher ein Lagerraum befunden, der jetzt verschlossen war, ein Brett war über die Tür genagelt. Gegenüber der Haustür führte eine ebenfalls geschlossene Tür in einen Hohlraum unter -69-
der Treppe. Im ersten und einzigen Stock wohnte Antonio Trupìa. Montalbano klopfte. Es öffnete ein gebrechlicher alter Mann, zahnlos und gebeugt und noch hinfälliger als das Haus. »Ich bin Commissario Montalbano. Sind Sie der Großvater von Salvatore Trupìa genannt Dindò?« »Der Großvater? Ich bin sein Vater.« Himmel! In welchem Alter hatte er Dindò gezeugt? Der Alte musste verstanden haben. »Ich hab meinen Sohn Dindò sehr spät gekriegt. Und vielleicht ist er deshalb so geboren, so krank im Kopf.« Er bat ihn in ein Zimmer, das ein wahrer Saustall war, und bot ihm einen wackligen Stuhl an. »Sie müssen entschuldigen, cummissariu, dass ich Sie so empfange. Aber ich bin krank und verwitwet, lebe von der Mindestrente und hab niemand zum Helfen.« »Ich wollte mit Ihnen über Dindò reden.« »Was wollen Sie denn wissen, cummissariu miu? Ich weiß nur, dass sie ihn mir umgebracht haben. Aber die Geschichte von uns Armen machen nicht wir, die machen die, die in den Zeitungen schreiben.« Eigentlich, dachte der Commissario, hatte er vollkommen Recht: Immer mehr mutierten Journalisten über Nacht zu Historikern. »Warum wollte er nicht mehr bei Ihnen leben? Hatten Sie sich gestritten?« »Ach woher denn! Mit Dindò konnte man nicht streiten! Kann man mit einem Kind denn streiten? Nein, vor vier Jahren, wie er mit der Arbeit im Supermarkt angefangen hat, hat er gesagt, dass er allein wohnen will. Da hab ich ihm den Schlüssel für die Kammer unter der Treppe gegeben, die gehört auch mir.« -70-
»Haben Sie ihn oft gesehen?« »Nein. Aber wenn Sie das meinen - in den letzten zwei Monaten war er verändert.« »Woher wollen Sie das wissen, wenn Sie ihn nicht gesehen haben?« »Weil ich ihn gehört hab. Seit zwei Monaten hat er gesungen.« »Er hat gesungen?« »Ja. Aus vollem Hals. Morgens, wenn er aufwachte, und abends, wenn er heimkam.« »Und vorher hat er nicht gesungen?« »Nie.« »Ich würde mir sein Zimmer gern mal ansehen.« »Nehmen Sie den Schlüssel mit.« »Den bring ich Ihnen nachher wieder.« »Nicht nötig. Lassen Sie ihn stecken. Es kommt eh niemand.« »Darf ich Sie was fragen? Warum wurde er Dindò genannt?« »Er hat die Glocken so gern gehört. Wenn sie läuteten, hat er mit dem Kopf din don gemacht.« Der Winkel unter der Treppe war ein etwa drei mal drei Meter großes Kabuff mit schräger Decke, in das durch ein dreißig mal dreißig Zentimeter kleines Gitterfenster Luft, aber kein Licht gelangte. Das Mobiliar bestand aus einem verrosteten Bettgestell, darauf eine Matratze, eine zerlöcherte Decke und ein Kissen ohne Bezug, einem winzigen Tischchen, einem Stuhl. Ein paar Kartons dienten als Schrank. In einer Art Ausbuchtung gab es eine Kloschüssel und ein Waschbecken mit einem rinnenden Wasserhahn. Ein Schweinestall, hatte Signor Aguglia -71-
gesagt. Nein, das hier war schlimmer, es war eine Art verlassene Gefängniszelle in einem Land der Dritten Welt. Dreckige Socken, Unterhosen, Unterhemden, einzelne Zeitungsseiten, Comics, Mickymaus-Heftchen lagen überall auf dem Boden verstreut. Dem Commissario zog es das Herz zusammen, und am liebsten hatte er die Tür wieder zugemacht und wäre gegangen. Aber wie so manches Mal weigerte sein Körper sich zu gehorchen. Also räumte Montalbano den Stuhl frei und setzte sich hin. Wie kam es, dass in diese versiffte Zelle das Glück eingezogen war, eine solche Freude, dass Dindò, der damit nie was am Hut gehabt hatte, eines schönen Tages lauthals zu singen begann und nicht mehr aufhörte, bis er erschossen wurde? Bis er tödlich verwundet wurde wie ein Vogel, den ein Jäger im Flug traf? Wieder kam ihm dieser Romantitel in den Sinn. Man konnte in dem Zimmerchen nichts mehr sehen, Montalbano hätte aufstehen und die Glühbirne anschalten müssen, die von der Decke hing, aber er hatte keine Lust dazu. Er wollte noch ein wenig im Dunkeln in dem Mief sitzen und versuchen, diesem Mief die richtigen Antworten auf seine Fragen zu entlocken. Die erste und sicher wichtigste war: Warum hatte Dindò Gerlando Piccolo umgebracht? Der Junge hatte in dieser Absicht das Zimmer betreten, in dem Piccolo im Bett lag. Alles Übrige, die durchwühlten Schubladen, die zertretenen Bilder, die eine hektische Suche nach Diebesgut vortäuschen sollten, waren nichts als Theater, Show. Jemand musste ihm einen Revolver in die Hand gedrückt haben - nie im Leben wäre Dindò imstande gewesen, sich selbst einen zu besorgen - und ihn davon überzeugt haben, dass der Wucherer den Tod verdiente. Und Dindò tat, wozu man ihn überredet hatte. Und weil er eben so war, schoss er nicht auf Grazia, als er ihr plötzlich gegenüberstand - was ein Kinderspiel für ihn gewesen -72-
wäre, im Grunde auch unvermeidlich -, denn es war ihm im Traum nicht eingefallen, dass das Mädchen reagieren oder, falls sie ihn festnahmen, zu seiner erbarmungslosen Anklägerin werden könnte. Nein, solche Überlegungen brachte Dindòs kindlicher Geist gar nicht zuwege. Er hatte einfach nur versucht zu fliehen, wie ihm jemand eingeschärft hatte. Die zweite Frage lautete: Wie war er ins Haus gekommen? Die Tür wies keine Spuren einer gewaltsamen Öffnung auf, wahrscheinlich hatte er einen Zweitschlüssel benutzt. Doch um einen Zweitschlüssel anzufertigen, brauchte man einen Abdruck, und demnach musste es, außer der Nichte, noch jemanden geben, der völlig ungezwungen und nach Belieben im Haus ein- und ausging. Wer konnte das sein? Eine Zugehfrau gab es nicht, auch nicht stundenweise, Grazia kümmerte sich um alles. Die Kunden wurden über die Hintertreppe eingelassen, sie wussten nicht mal, wie das Haus von innen aussah. Wer dann? Montalbano zermarterte sich das Hirn, und plötzlich kristallisierte sich in seinem Kopf die Gestalt eines Mannes ohne Gesicht, ohne Namen heraus. Eine Person, die jeder in der Stadt fürchtete und die Fazio nicht hatte identifizieren können: der Mann, der in Piccolos Auftrag das Geld kassierte, sein Eintreiber. Ganz allmählich fügte sich alles in einen begreiflichen Zusammenhang, wenn auch erst in Form kaum sichtbarer Zeichen. Montalbano wollte ins Kommissariat zurückfahren; er stand auf, machte ein paar Schritte im Dunkeln und stieß den kleinen Tisch um. Als er fluchend das Licht einschaltete, sah er, dass die Schublade des Tisches aufgegangen war. Darin lag ein Sammelband Comics, »Zozzo, der Reiter mit der Maske«. Zozzo? Er blätterte. Die Comics waren schauerlich, eine PornoVersion von Zorro. Auf jede Seite hatte Dindò mit rotem Kugelschreiber das immer gleiche Wort geschrieben: -73-
GERRECHTIKEIT!
Er steckte den Sammelband in die Jackentasche, löschte das Licht und ging hinaus. Anstatt ins Kommissariat fuhr er zu Galluzzo. Er klingelte, und sofort meldete sich Grazia. »Cu è?« »Montalbano.« Das Mädchen öffnete ihm die Tür, und der Commissario sah gleich, dass sie blass war und gerötete Augen hatte. In diesem Augenblick konnte man sie wirklich nicht schön nennen. »Bist du allein?« »Ja, Amelia ist beim Einkaufen.«
»Was machst du gerade?«
»Nichts.«
»Ist dir nicht wohl?«
»Nein.«
»Was hast du? Soll ich einen Arzt rufen?«
»Ich bin nicht krank. Ich… ich kann nur nicht mehr
schlafen, seit ich weiß, dass ich den armen Kerl getötet hab… Und… und ich will nach Hause.« »Geht's dir hier nicht gut?« »Doch, schon, aber zu Hause ist zu Hause.« »Hättest du keine Angst, allein zu wohnen?« »Ich hab vor gar nichts Angst.« »Ein paar Tage noch, höchstens drei, dann kannst du wieder heim. Ich wollte dich was fragen, was uns bei den Ermittlungen im Mordfall deines Onkels sehr weiterhelfen könnte.« Beunruhigt riss Grazia die Augen auf. »Was, sind die immer noch nicht fertig? War es denn nicht Dindò?« »Doch, es war Dindò. Aber hast du dich jemals gefragt, wie Dindò in der Nacht ins Haus gekommen ist? Entweder -74-
hat ihm jemand aufgemacht oder er hatte einen Nachschlüssel. Im einen wie im anderen Fall muss der Junge also einen Komplizen gehabt haben. Und der Komplize war jemand, der freien Zugang zum Haus hatte. jetzt frage ich dich Folgendes: Gab es jemanden, der oft bei deinem Onkel war? Mit dem er vielleicht lange geredet hat? Den er hin und wieder zum Mittagessen eingeladen hat?« Das Gesicht des Mädchens hellte sich auf. »Klar gab es da jemand! Er heißt Fonzio. Und manchmal wollte 'u zu Giurlannu, dass ich ihnen einen Espresso bringe, wenn sie im Büro saßen und redeten.« »Weißt du, wie er mit Nachnamen heißt?« »Nein.« In diesem Augenblick ging die Haustür auf, Galluzzos Frau kam vom Einkaufen zurück. »Signora Amelia, ich nehme Grazia mit ins Kommissariat. Ihr Mann bringt sie später wieder zurück. Und du, willst du dich vorher noch umziehen?« »Ja, aber ich brauche nur fünf Minuten.« Montalbano setzte Grazia neben Catarella, der ihr am Computer die Fotos von allen Vorbestraften aus Vigàta und Umgebung zeigte. Er hatte sich gerade erst an seinem Schreibtisch niedergelassen, als Catarella in einem Affenzahn hereinschlitterte; Fazio trat ihm in den Weg und fing ihn auf. Catarella keuchte. »Dottori! Das Mädchen hat ihn identifiziert!« Sie gingen rüber. Grazia stand in einer Ecke des Zimmers, das Gesicht in den Händen vergraben, und weinte. »Galluzzo! Bring sie nach Hause.« Der Strafregisterauszug besagte, dass man mit Alfonso -75-
Aricò, vierzig Jahre zuvor in Vigàta geboren, das Brot nicht teilen mochte. Er war Glücksspieler. Und wenn er nicht zockte, waren Einbruch, Erpressung, Überfälle, Vergewaltigung, Sachbeschädigung, Körperverletzung bei ihm an der Tagesordnung. Das Foto zeigte ein stattliches Mannsbild mit der Visage des geborenen Verbrechers. »Fazio, sag's allen weiter. Morgen Früh will ich dieses Arschloch in meinem Büro haben.«
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Kapitel 6 Er aß lustlos, ohne Appetit. Dann setzte er sich an den kleinen Tisch und schlug das Album mit den ComicHeften auf, das er aus der Kammer unter der Treppe mitgenommen hatte. Solche Sammelordner lagen zu Dutzenden auf dem Boden verstreut, aber dieser hatte Dindò besonders am Herzen gelegen, er hatte ihn in der Schublade des Tischchens verwahrt, um ihn wieder und wieder lesen zu können, wie die schmutzigen und abgegriffenen Seiten bewiesen. Dann hatte Dindò irgendwann angefangen, an die Seitenränder dieses einzige Wort zu schreiben, Gerechtigkeit. Das Wort als solches erklärte nicht, ob Dindò vorhatte, Gerechtigkeit zu üben oder zu fordern. Geduldig fing Montalbano an, die Geschichte in dem Album zu lesen. Es ging um einen lüsternen alten Gutsbesitzer, der eine schöne junge Frau rauben ließ, um sie sich zu Willen zu machen. Der Raub kam nach wechselvollen Ereignissen zustande, und am Ende konnte der Gutsbesitzer die nackte und um Erbarmen flehende Alba, so hieß das Mädchen, in seinem Schlafzimmer in Augenschein nehmen. Das Flehen, Jammern, Weinen erregte den Alten nur noch mehr, und er packte Alba und nahm sie auf jede nur erdenkliche Art. Dann ließ er sie in den Kerker werfen und nahm sich vor, nach einem erquickenden Schlaf wieder von vorn anzufangen. Aber Zozzo drang heimlich in das Haus des Gutsbesitzers ein und tötete ihn nach einer Reihe von Zweikämpfen, die er mit dessen Schergen ausfocht. Er befreite die junge Frau, und was sie, froh und dankbar, dann mit dem maskierten Reiter machte, war noch schlimmer als das, was der Alte ihr angetan hatte. Ein -77-
bescheuerter Vorwand für Pornozeichnungen. Aber wieso hatte Dindò das Bedürfnis zu diesem zwanghaften Kommentar mit der Gerechtigkeit gehabt? Vielleicht war es ihm ergangen wie manchen schlichten Kinobesuchern, die sich so sehr in eine Geschichte hineinversetzen, dass sie sich einmischen und den tauben Schattengestalten auf der Leinwand, die unbeirrbar ihren vom Schicksal oder vom Drehbuch vorgegebenen Weg gehen, Kommentare, Tipps und Vorschläge entgegenschreien. Diese letzte Vermutung überzeugte ihn fast. Er setzte sich in seinen Sessel und schaltete den Fernseher ein. Es lief eine politische Debatte mit dem Thema: Darf ein amtierender Staatssekretär gegen Bezahlung Werbespots machen? Deprimiert schaltete Montalbano nach einer Weile wieder aus. Er rief Livia an. Und erzählte ihr ausführlich von Dindò. Er beschrieb ihr die schmutzige Zelle, in der der Junge gelebt hatte. Und fragte sie: »Kannst du mir vielleicht sagen, aus welchem Grund so ein bedauernswerter Kerl wie dieses Kind in dem finsteren Loch plötzlich zu singen anfängt?« Und er bekam von Livia eine einfache Antwort, die so simpel, sogar selbstverständlich war, dass eben deshalb die Kraft der absoluten Wahrheit in ihr steckte. »Aus welchem Grund, Salvo? Aus Liebe.« Ein Blitz. Er schwankte, dass er sich kaum aufrecht halten konnte, und musste sich am Tisch festklammern. In schwindelerregendem Tempo flogen die Steinchen des Mosaiks an den richtigen Platz und bildeten ein logisches Bild, ein vollkommenes Muster. »Salvo? Salvo, sag doch was!« Er bekam den Mund nicht auf, um ihr zu sagen, dass er noch am Apparat war. Er legte auf.
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Im Lauf des Vormittags erschienen seine Leute nacheinander geknickt und mit leeren Händen im Kommissariat: Sie hatten den vorbestraften Fonzio Aricò, Gerlando Piccolos Geldeintreiber, nicht ausfindig gemacht. Die Nachbarn hatten ihn seit einer Woche nicht gesehen, sie sagten, es komme oft vor, dass er tagelang ausbleibe. Und da die Kollegen, als sie von der erfolglosen Suche berichteten, einen heftigen Wutausbruch erwarteten, konnten sie es gar nicht glauben, als der Commissario gelassen und höflich antwortete: »Ist gut, danke.« Sie waren derart verblüfft, dass einer den anderen fragte, ob bei ihrem Chef vielleicht sogar Wundmale erschienen seien. Noch am Vormittag führte Montalbano zwei Telefongespräche, das erste mit Staatsanwalt Tommaseo, das ziemlich lange dauerte, weil der so viel erklärt haben wollte. Doch am Ende war er überzeugt. Der zweite Anruf galt dem Chef der Mordkommission, der überhaupt keine Erklärung verlangte. Er sagte, es gebe nur ein Problem. Wie lange Montalbano die Einrichtung benötige? Der Commissario antwortete, dass die Angelegenheit binnen achtundvierzig Stunden erledigt sein werde. Sie einigten sich. Um vier Uhr nachmittags brachte ihm ein Mitarbeiter der Mordkommission Gerlando Piccolos Hausschlüssel. Eine halbe Stunde später rief Montalbano Galluzzo zu sich, gab ihm den Schlüssel und teilte ihm mit, Grazia könne, wenn sie wolle, nach Hause zurück. »Nein, warte, ruf sie von hier aus an.« Als er wieder auflegte, berichtete Galluzzo, das Mädchen wolle jetzt gleich zurück, solange es noch hell sei, sie fürchte sich zwar nicht, aber es sei ihr angenehmer. »Wenn Sie nichts dagegen haben, fahre ich sie hin. In -79-
spätestens einer Stunde bin ich wieder da.« »Du brauchst nicht ins Kommissariat zurückzukommen. Hilf Grazia, sich ein bisschen einzurichten, und fahr dann direkt nach Hause. Du kannst mich ja kurz anrufen und erzählen, wie sie reagiert hat, ob es Probleme gegeben hat. Ach ja, sag ihr auch, dass sie jederzeit hier anrufen kann, wenn ihr irgendwas Angst macht.« Galluzzo lächelte. »Commissario, die hat vor gar nichts Angst. Sie ist unglaublich mutig. Wovor sollte sie denn Angst haben?« »Vor Fonzio Aricò zum Beispiel. Wir haben ihn nirgends gefunden, aber möglicherweise passt er nur den richtigen Zeitpunkt ab, um wieder aufzutauchen.« Galluzzos Lächeln verschwand. »Was kann Fonzio denn von Grazia wollen?« »Das weiß ich nicht. Vielleicht die Unterlagen von Gerlando Piccolo. Aus denen kannst du was rausholen, wenn du sie richtig verwendest.« »Stimmt. Soll ich heute Nacht bei ihr bleiben?« »Woher willst du wissen, ob Fonzio ausgerechnet heute Nacht kommt? Ach ja, sag Grazia doch, dass ich mir morgen die richterliche Genehmigung hole, um alle Unterlagen zu beschlagnahmen, dann kann sie ganz unbesorgt sein. Nein, tu, was ich dir gesagt habe.« Galluzzo rief um halb acht an. Er war gerade von Grazia, die froh war, wieder in ihren eigenen vier Wänden zu sein, nach Hause zurückgekehrt. Der andere Anruf, den Montalbano erwartete, weil er bestätigen würde, dass sein Gebäude von Vermutungen nicht aus Seidenpapier, sondern aus Kalk und Stein war, kam eine knappe Stunde später. »Commissario Montalbano? Sie hat telefoniert. Als -80-
sich eine Männerstimme meldete, sagte sie, sie sei endlich wieder da und das Haus werde nicht überwacht. Sie fügte hinzu, sie habe zwei Dinge für ihn. Der Mann antwortete, er werde kurz nach Mitternacht zu ihr kommen. Was sollen wir jetzt machen?« »Das wäre alles, danke.« Er hätte sich anders fühlen müssen nach dieser Bestätigung, dass er den Nagel auf den Kopf getroffen hatte, aber ihn überkam eine Art Übelkeit, die seinen Magen zuschnürte. »Fazio! Gallo!« »Jawohl!« »Geht nach Hause zum Essen und kommt dann wieder her. Sagt Bescheid, dass ihr heute Nacht zu tun habt.« Die beiden wechselten einen überraschten Blick und sahen dann fragend den Commissario an. »Ich erzähle euch alles, wenn ihr wieder da seid, das hat keine Eile. Aber ich warne euch - zu niemandem ein Wort!« »Was sollen wir schon sagen, wenn wir nicht wissen, worum es geht?«, meinte Fazio. Montalbano verließ ebenfalls das Kommissariat, er hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Vor der Trattoria San Calogero zögerte er kurz, sollte er hineingehen oder nicht? Aber ihm wurde immer schlechter. Also ging er an den Hafen und beobachtete die Touristen, die die Fähre zu den Inseln bestiegen. Fast alles junge Ausländer mit Schlafsäcken. Sie würden die Inseln sicher nicht mit Geld, dafür aber mit dem Glanz ihrer Jugend bereichern. Er seufzte und machte sich auf zu seinem gewohnten Spaziergang bis ans Ende der Mole. »Das sind wohlgemerkt nur Vermutungen meinerseits, -81-
aber sie bestätigen sich allmählich. Die Piccolos, zu denen sie als fünfjährige Vollwaise kommt, halten Grazia von Anfang an wie eine Sklavin, das hat sie selbst zu mir gesagt, und ich glaube nicht, dass sie übertreibt. Und ich bin auch überzeugt, dass Onkel Gerlando, wen wundert's, seine Nichte schon als kleines Mädchen missbraucht hat. Nach dem Tod der Tante wird Grazia zur festen Geliebten des Onkels, wenn er nichts Besseres zur Hand hat. Seit Jahren spürt das Mädchen, anfangs verschwommen, aber allmählich immer deutlicher und stärker, dass sie ihn hasst, aber sie kann sich nicht wehren, es gibt keinen Ausweg für sie. Bis sie sich irgendwann mit Fonzio Aricò, dem Geldeintreiber und Vertrauensmann, zusammentut, vielleicht verlieben sie sich auch richtig ineinander. Der Onkel merkt nichts. Er hockt in seinem Büro im ersten Stock und saugt den Leuten das Blut aus, Grazia und Fonzio machen unten, was ihnen gefällt. Eines Tages kommt Grazia oder Fonzio, das werden wir noch klären, ein Gedanke: sich Gerlando Piccolos zu entledigen, sein Geschäft zu übernehmen und auf eigene Rechnung weiterzubetreiben. Gerlandos Erbe würde sicherlich an Grazia gehen, der Mann hat keine anderen Verwandten. Aber wie die Sache über die Bühne bringen, ohne Verdacht zu erregen? Ideal wäre es, wenn eine dritte Person Gerlando umbrächte. Und da fällt Grazia, und ich bin sicher, dass sie auf diese tolle Idee kommt, Dindò ein, der Ladenjunge vom Supermarkt, ein Zwanzigjähriger mit dem Hirn eines Kindes. Sie fängt an, besonders freundlich zu ihm zu sein, sie gewinnt sein Vertrauen, bei jeder Begegnung gibt sie sich liebevoller und herzlicher. Und Dindò fällt drauf rein und verliebt sich in sie. Da gesteht Grazia ihm, dass sie ihm nie wird gehören können, dass sie eine Gefangene des Onkels ist, der sich niederträchtig an ihr vergeht, der sie zwingt, abscheuliche Sachen mit -82-
ihm zu machen. Dindò beißt sofort an, er fühlt sich wie ein Ritter ohne Furcht und Tadel und verspricht ihr, sie zu befreien und den Mann, der sie gefangen hält, zu töten. Er schwört tausend Eide. Ein paar Tage lang tut Grazia, als wollte sie Dindò von seinem Vorhaben abbringen, dann sagt sie, wenn der Junge so fest entschlossen sei, könne sie ihm eine von den Waffen im Haus besorgen. Die müsse Dindò mitnehmen, nachdem er den Onkel erschossen habe.« »Aber wir haben alle Waffen, die im Haus waren, gefunden«, warf Fazio ein. »Und aus keiner wurde der Schuss abgefeuert, der Piccolo getötet hat.« »In der Tat gehört die Waffe Fonzio Aricò. Aber lass mich weiterreden. In der vereinbarten Nacht öffnet Grazia, nachdem sie die Küche aufgeräumt hat, leise die Haustür und legt den Revolver, den Aricò ihr gegeben hat, auf die unterste Treppenstufe.« »Darf ich was sagen? Wo steckt Fonzio in der Zeit?«, fragte wieder Fazio. »Er sorgt für sein wasserdichtes Alibi. Sicher in einem Spielclub, mit fünfzig anderen Leuten, die das später bezeugen können. Grazia will sichergehen, dass Dindò auch schießt. Deshalb wäre es ideal, wenn er sie anträfe, während der Onkel sie zu den Sachen zwingt, die sie so anwidern, wie sie dem Jungen erzählt hat. Und so kommt es dann tatsächlich.« »Augenblick«, sagte Gallo. »Die Haltung der Leiche…« »Ich weiß, was du denkst. Aber du bist schließlich kein kleiner Junge mehr. Du wirst doch wohl wissen, dass beim Liebemachen die traditionelle Position nicht obligatorisch ist.« Gallo wurde rot und schwieg. »Dindò verspätet sich, also hält Grazia Gerlando auch -83-
danach noch fest umarmt. Endlich kommt Dindò, Grazia schreit und macht sich frei, der Junge schießt, legt den Revolver irgendwohin und fängt an, das Zimmer auf den Kopf zu stellen, um einen Einbruch vorzutäuschen. Aber da verraucht Dindòs Wut plötzlich, er dreht sich um, schaut den Toten an, begreift, was er getan hat, dreht vollends durch und zerschlägt die Bilder und die kleine Muttergottes-Figur. Dann flieht er aus dem Zimmer. Grazia glaubt, dass alles aus ist. Sie denkt, vielleicht ganz zu Recht, dass Dindò früher oder später zusammenbricht und alles erzählt. Sie holt die Waffe des Onkels aus dem Nachttisch, rennt hinter dem Jungen her, schießt und verwundet ihn tödlich.« »Aber das verstehe ich nicht«, sagte Fazio. »Wenn er wirklich vorhatte, alles zu erzählen, sich zu stellen, und wenn er es bis zu der Stelle geschafft hat, an der man ihn gefunden hat, wieso ist er dann nicht in das nächstbeste Haus gegangen und hat um Hilfe gebeten?« »Weil Dindò in dem Augenblick, als er durch Grazias Schuss verletzt wurde, erwachsen geworden ist.« »Das verstehe ich nicht«, murmelte Fazio. »Vorher war er ein verliebter Junge, der nicht wusste, was er tat. Eine Sekunde später begriff er, dass er ein Mörder war, den man wie eine Marionette gelenkt hatte. Der Schuss verwundete ihn nicht nur am Körper tödlich, sondern vor allem an der Seele, weil er ihm Grazias Verrat offenbarte. Er wollte sterben.« »Aber Grazia und Fonzio hatten sich doch sicher Gedanken über Dindò gemacht, falls das Mädchen ihn nicht erschossen hätte«, sagte Fazio. »Natürlich. Sie hätten sich seiner bald entledigt und die Sache als Unfall hingedreht. Aber jetzt weiter. Als Grazia -84-
sieht, dass Dindò abhaut, rennt sie hinter ihm her, schaltet die Lampe vor dem Haus an - das hat ein Zeuge berichtet, aber der Staatsanwalt hat es anders interpretiert -, doch der Junge hat sein Moped schon gestartet und ist verschwunden. Grazia sieht das Blut auf dem Boden, aber sie weiß nicht, wie schwer er verletzt ist. Und das beunruhigt sie, es macht sie nervös und führt dazu, dass ihr ein Fehler unterläuft. Der einzige in einem perfekten Plan. Sie geht hinauf in das Zimmer des Onkels, uns wird sie sagen, sie habe nachsehen wollen, ob sie noch etwas für ihn tun könne, lässt den Revolver, mit dem sie geschossen hat, fallen, holt den Schlüssel für den Tresor, nimmt bis auf knapp zweihunderttausend Lire das Geld heraus, und das muss eine ganze Menge gewesen sein, schließt wieder ab, legt den Schlüssel an seinen Platz, und da sieht sie auf dem Bett oder irgendwo anders die Waffe von Fonzio, mit der Dindò geschossen hat. Sie weiß nicht, was sie tun soll, nach ihrem Plan hätte Dindò sie mitnehmen sollen, Fonzio hätte sie sich wieder geholt und verschwinden lassen. Grazia fürchtet, die Waffe könnte zu Aricò führen, und versteckt sie zusammen mit dem Geld irgendwo im Haus. Das wir nicht durchsucht haben, weil außer für das Schlafzimmer und das Büro keine Veranlassung dafür bestand.« »Woher wissen Sie das mit der Waffe denn?«, fragte Gallo. »Ich weiß es nicht, ich vermute es nur. Und lasst euch gleich gesagt sein, dass darin die Schwachstelle meiner Rekonstruktion liegt. Aber wenn Dindò einen Zusammenbruch hatte, während er sich noch im Haus befand, dann hat er als Allererstes den Revolver weit von sich geschmissen. Wie auch immer, nachdem Grazia Waffe und Geld versteckt hat, ruft sie uns an und sagt, ihr Onkel sei umgebracht worden. Sie steht Todesängste aus, weil sie nicht weiß, was mit Dindò los ist, ob er die Kraft -85-
haben wird, sie anzuzeigen, aber sie hat sich sehr gut im Griff. Ich selbst habe ihr mitgeteilt, dass man die Leiche des Jungen gefunden hat, und sie hat glänzend geschauspielert.« »Dottore, Sie sagten doch, dass Ihre Rekonstruktion sich allmählich bestätigt. Wodurch denn?«, fragte Fazio. »Sobald Grazia allein zu Hause war, hat sie Fonzio angerufen.« »Woher wissen Sie das?« »Ich habe das Telefon überwachen lassen. Sie sagte, er solle zu ihr kommen, weil sie ihm zwei Sachen geben wolle. Meines Erachtens den Revolver und das Geld. Fonzio antwortete, er werde nach Mitternacht kommen.« »Und was machen wir jetzt?« »Wir postieren uns in der Nähe. Wir werden ein paar Stunden lang ganz geduldig frische Nachtluft schnuppern. Denn sie werden sich küssen, umarmen, zur Feier des Tages vögeln, sich alles erzählen. Und wenn Aricò dann rauskommt, nehmen wir ihn fest. Wenn wir das Geld und die Waffe bei ihm finden, ist er dran. Was das Geld betrifft, kann er sich herausreden und behaupten, es gehöre ihm, er habe es beim Spielen gewonnen, aber mit dem Revolver kommt er in Schwulitäten, da wird ihm nicht viel einfallen. Es lässt sich kinderleicht nachweisen, dass der tödliche Schuss auf Piccolo aus dieser Waffe stammt. Womit soll er den Umstand rechtfertigen, dass wir sie in seiner Jacke gefunden haben?« »Und Grazia?« »Die verhaftet ihr beide, ich will mir die Hände nicht schmutzig machen.« Montalbano hatte ins Schwarze getroffen. Fonzio Aricò -86-
erschien um halb eins vor dem Haus, das völlig im Dunkeln lag, die Tür ging auf, Fonzio trat ein, die Tür schloss sich. Nach einer Stunde fingen Montalbano, Fazio und Gallo an zu frieren und zu fluchen. Nicht mal am Rauch einer Zigarette durften sie sich wärmen. Um zehn nach drei merkte zuerst der Commissario, dass die Tür aufgegangen und ein Schatten herausgehuscht war. Fonzio steuerte auf seinen Wagen zu, den er auf der Landstraße geparkt hatte. Er hielt ein Päckchen in der Hand. Als er die Autotür öffnen wollte, stürzten Fazio und Gallo sich auf ihn, rissen ihn zu Boden und legten ihm Handschellen an. Die ganze Aktion war geräuschlos vonstatten gegangen. In der Jackentasche hatte Fonzio einen Revolver. Fazio nahm ihn und reichte ihn Montalbano. »Du weißt, dass du damit erledigt bist?«, fragte der Commissario. Unerwarteterweise grinste Aricò. »Klar weiß ich das«, sagte er. In der Pappschachtel waren achthundert Millionen in verschieden großen Scheinen. Als guter Spieler wusste Fonzio Aricò, wann ein Spiel verloren war, und so versuchte er gar nicht erst, zu behaupten, dieses Geld gehöre ihm. Während der Fahrt machte er nur einmal den Mund auf. »Übrigens habe nicht ich diese ganze Geschichte organisiert, Commissario. Das war dieses verdammte Flittchen.« Montalbano fiel es nicht schwer, das zu glauben. Er ließ sich am Kommissariat absetzen, stieg in sein Auto und fuhr nach Marinella. Eine Stunde später klingelte das Telefon. Es war Fazio. »Das Mädchen haben wir auch festgenommen.« »Was hat sie gemacht?« -87-
»Was wohl. Wie ein Engel geschlafen.« Am folgenden Morgen war das ganze Kommissariat damit beschäftigt, Galluzzo zu trösten, der Grazia ins Herz geschlossen hatte, er konnte es einfach nicht glauben, und so guckte er alle fünf Minuten in Montalbanos Büro und fragte geknickt: »Ist das denn wirklich wahr, Commissario?« Nach einer Stunde reichte es dem Commissario. Er fuhr zu Mimi Augello, der einen Rückfall hatte. »Wie kommt das nur, Mimi, dass du früher nicht mal einen Schnupfen hattest, und jetzt bist du in einer Tour krank?« »Ich kann mir das auch nicht erklären, Salvo.« »Weißt du was? Das ist psychosomatisch.« »Wie meinst du das?« »Du solltest doch längst heiraten, und um den Hochzeitstag in die Ferne zu rücken, fängst du dir sämtliche Krankheiten ein.« »Red doch keinen Scheiß! Erzähl mir lieber von dem Mord an dem Wucherer, wie hieß der noch mal, ah ja, Piccolo.« Montalbano erzählte. Und er berichtete auch, wie merkwürdig es gewesen war, als er Grazia im Fernsehen als außergewöhnlich schönes Mädchen gesehen hatte, was sie in Wirklichkeit gar nicht war. »Na ja«, sagte Mimi, »anscheinend hat dir die Kamera Grazias wahres Gesicht gezeigt. So wie du sie beschreibst, ist dieses Mädchen ein echter Teufel. Und wer was davon versteht, spricht doch immer von der Schönheit Luzifers.« Montalbano glaubte nicht an den Teufel und schon gar nicht an Gemeinplätze, Klischees, leere Redensarten. Aber diesmal protestierte er nicht.
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A Hatful of Rain oder Ein Hut voll
Regen
Es war nichts zu wollen, Montalbano hatte alles versucht, aber je mehr Ausreden er fand, je mehr er sich quer legte, desto sturer wurde Questore Bonetti-Alderighi, der Polizeipräsident. »Geben Sie es auf, Montalbano. Es bleibt bei meiner Entscheidung. Sie und kein anderer unterbreiten dem werten Herrn Staatssekretär den Vorschlag.« Wie schafft der das nur, fragte sich der Commissario, während er sich den Vorschlag anhörte, dass man meint, das Wort ›Staatssekretär‹ leuchtet von innen, wenn er es ausspricht? »…schließlich haben doch Sie das Problem aufgeworfen, oder?«, schloss der Questore unbeirrt. Und worin lag dieses verfluchte Problem? Er wusste selbst nicht, was ihn geritten hatte, als er eines unglücklichen Morgens auf eine Notiz seines Chefs hin eine Methode vorschlug, mit der bestimmte Amtsvorgänge bezüglich der illegalen Einwanderung vereinfacht werden konnten. Der Questore hatte seine Idee für ausgezeichnet befunden und sich so ereifert, dass er die Angelegenheit am Telefon gegenüber dem ›werten Herrn Staatssekretär‹ erwähnte. »Wissen Sie, Signor Questore, den werten Herrn Staatssekretär interessiert die Verschlankung der Bürokratie nicht die Bohne, er will nur verhindern, dass überhaupt Einwanderer zu uns kommen, illegal oder nicht. Sie kennen doch seine politischen Ansichten?« -89-
»Kritik steht Ihnen nicht zu, Montalbano!« Ergebnis: Der Commissario musste nach Rom, mindestens drei Tage dort bleiben und dem werten Staatssekretär einige Details erläutern. Doch worüber er sich grün und blau ärgerte, war das amüsierte Glitzern in den Augen dieses Riesenarschs Bonetti-Alderighi: Der Questore wusste ganz genau, wie sehr es Montalbano widerstrebte, sich aus Vigàta fortzubewegen. »Sie reisen morgen. Ich habe Ihr Flugticket schon abholen lassen.« Fliegen - auch das noch. Er hatte keine Lust, dem Questore zu erklären, dass er im Flugzeug immer todunglücklich war. Supra 'a pasta, minnulicchi!, dachte er bitter, als der Questore ihm das Ticket reichte. Mandeln auf den Nudeln: der Gipfel aller erdenklichen Katastrophen. Im Flughafen Fiumicino wartete er geduldig an der Gepäckausgabe auf den kleinen Koffer, den er dummerweise nicht als Handgepäck mitgenommen hatte, und steckte sich eine Zigarette an. Eine elegante Dame warf ihm einen verächtlichen Blick zu, ein feiner Pinkel neben ihm zischte: »Im Flughafen wird nicht geraucht!« Verschämt trat der Commissario die Zigarette aus. Als sich das Förderband eine halbe Stunde lang gedreht hatte, waren alle seine Reisekollegen wieder im Besitz ihres Gepäcks und bereits gegangen. Das leere Band drehte sich noch drei- oder viermal, blieb dann stehen, das gelbe Licht, das den Betrieb anzeigte, erlosch, und schließlich begriff Montalbano, dass sein Handkoffer nicht -90-
angekommen war, vielleicht flog er gerade nach Burkina Faso oder in den Ural. In der Gepäckermittlung beriet man sich erst hektisch hinter vorgehaltener Hand und bezweifelte, dass er überhaupt in Palermo an Bord gegangen war, dann teilte man ihm mit, sein Handkoffer sei in eine Maschine nach Wladiwostok verladen worden, aber das sei nicht so schlimm, er solle seine Adresse in Rom hinterlassen, binnen höchstens drei, vier Tagen bekomme er das Gepäck wieder. Montalbano gab, da er der Sache nicht traute, seine Adresse in Vigàta an und rannte hinaus, um eine Zigarette zu rauchen, denn er hielt es wirklich nicht mehr aus. Das Taxi flog über die Autobahn, aber kaum war es in Rom, fiel es in das Schritttempo eines ebenso feierlichen wie neurotischen Trauerzuges: alle fünf Minuten zwei Meter, ungeordnete, asthmatische Autoschlangen, sonderbare Baustellen (kein Arbeiter weit und breit) an aufgerissenen Straßen, Brücken, die vor lauter provisorischen Fahrbahnbegrenzungen aus Beton eigentlich nur von Fahrrädern passiert werden konnten. »Rom macht sich schön fürs Heilige Jahr, und wir werden immer hässlicher«, lautete der Kommentar des Taxifahrers, als er die Gesichter der Pechvögel in den anderen Autos betrachtete. Der Betrag auf dem Taxameter entsprach der Hälfte von Montalbanos Monatsgehalt. Er zahlte, stieg aus und stellte fest, dass es nicht weit vorn Hotel einen Herrenausstatter gab. Unter anderem hatte er folgende Eigenart: Wenn er nicht jeden Tag Socken, Unterhose und Hemd wechselte, kam er sich verloren und krank vor, seine Haut fühlte sich klebrig an, als schwitzte sie Fett aus. Nach den Schaufenstern zu urteilen, war das Geschäft vielleicht ein bisschen zu elegant und teuer, aber er hatte keine Lust, ein anderes zu suchen. Er ging hinein, kaufte -91-
drei Paar Socken, drei Hemden, drei Unterhosen, drei Taschentücher, eine Krawatte, und als er auf den Kassenzettel sah, den ihm die Kassiererin lächelnd reichte, wusste er, dass die zweite Hälfte seines Monatsgehalts draufgegangen war. Er verließ das Geschäft beinah fluchtartig und stieß mit einem Herrn zusammen, der gerade eilig hineinging. »Entschuldigen Sie vielmals«, sagte der Commissario. »Das macht doch nichts!«, rief der Signore. Dann packte er Montalbano plötzlich am Arm und starrte ihn an. »Verzeihen Sie, aber… heißen Sie möglicherweise Montalbano?« Der Commissario musterte ihn. Der dickliche elegante Herr mochte etwa in seinem Alter sein. »Ja.« »Mein lieber Salvuzzo!« Benommen ließ er sich von dem Unbekannten in den Armen wiegen und immer wieder auf die Wangen küssen. Dann trat der Mann einen Schritt zurück, ließ ihn aber nicht los. »Lapis!«, rief er. »…lazuli«, sagte Montalbano irritiert. »Immer noch der alte Witzbold! Erkennst du mich denn nicht?« »Nein.« »Ich bin Lapis! Kannst du dich nicht erinnern?« Da dämmerte es ihm. Ernesto Lapis! Klar, jetzt erinnerte er sich an ihn, auch wenn er ihn am liebsten aus seinem Gedächtnis getilgt hätte. Er war der klassische üble Schulkamerad gewesen, der einen vom rechten Weg abbringt, und seinetwegen war der kleine Salvo nicht jeden zweiten, sondern gleich jeden Tag von seinem Vater verhauen worden, mal weil Lapis ihn angestiftet hatte, einen Zigarettenstummel zu rauchen, mal weil er ihn zu fari luna - zum Schuleschwänzen - überredet hatte, um mit -92-
ihm in den Gemüsegärten frische Kichererbsen zu klauen, mal weil… Und wenn Montalbano, was selten vorkam, an Lapis dachte, hatte er sich immer gefragt, in welchem Gefängnis er wohl gelandet war, denn zweifellos war der Knast für den Faulenzer und Ganoven zum Dauerwohnsitz geworden. »Heiliger Salvuzzo, wie lang ist das her! Was machst du denn in Rom?« »Ich muss…« »Wie schön! So ein Zufall! Kaufst du oft in diesem Laden ein?« »In Fiumicino ist mein…« »Hast du schon gezahlt? Ja? Schade, wenn ich früher gekommen wäre, hättest du einen Nachlass bekommen. Das ist nämlich eins der teuersten Geschäfte in Rom. Aber die Sachen sind erstklassig.« »Bist du hier Stammkunde?« »Ich? Nein, es gehört mir. Ich habe noch zwei solche Läden.« »Tja…«, sagte Montalbano und machte einen zaghaften Versuch, sich loszueisen. »Ich lass dich gehen, aber unter einer Bedingung. Du kommst heute Abend zu mir zum Essen. Dann reden wir über die alten Zeiten.« »Weißt du, Ernesto, ich…« »Keine Ausrede. Ich wohne in Prati. Da hast du meine Adresse.« Er reichte ihm eine Visitenkarte, umarmte und küsste ihn noch mal und verschwand im Laden. Die tintenschwarze Laune des Commissario lichtete sich zu einem dunklen Grau, als er im Ministerium anrief und erfuhr, dass der werte Herr Staatssekretär ihn am selben -93-
Nachmittag um vierzehn Uhr siebenundvierzig empfangen werde. »Ich bitte dringend um pünktliches Erscheinen«, meinte der zweite Sekretär des ersten Sekretärs des Staatssekretärs hinzufügen zu müssen, »weil er um fünfzehn Uhr neunundfünfzig nach Brüssel abreist.« Dann war ja alles ganz einfach, er konnte sogar hoffen, am Abend noch einen Flug nach Palermo zu erwischen. Er rief bei der Buchungsstelle an und erfuhr, dass man ihn nur auf die Warteliste für den letzten Flug setzen könne. Der Vorschlag behagte ihm gar nicht, und zwar wegen der ›Warteliste‹, das klang, als trage man sich freiwillig in eine Liste von Katastrophenkandidaten ein, deren verhängnisvolles Schicksal dann durch die Zeitungen ging. Schließlich bekam er einen Platz in einem Flugzeug, das am folgenden Morgen schon um sieben starten sollte. Seine Laune hellte sich weiter auf von Grau bis zu einem schmutzigen Rosa. Er aß gut (um in Rom schlecht zu essen, bedarf es einiger Willensanstrengung), und um vierzehn Uhr vierzig saß er im Vorzimmer des Ministeriums. Auf die Sekunde sieben Minuten später wurde er empfangen. Der Staatssekretär war noch unsympathischer, als der Commissario ihn sich vorgestellt hatte: Eine halbe Stunde lang löcherte er ihn mit Fragen, machte sich Notizen, brachte Einwände vor. Nach dem Gespräch wusste Montalbano, dass die ganze Unternehmung für die Katz war: Der Typ blieb felsenfest bei der Auffassung, dass Immigranten eine Art ansteckende Krankheit waren, vor der man sich in Acht nehmen musste. So war es noch nicht mal vier Uhr, als er niedergeschlagen durch die Straßen Roms wanderte. Im Handumdrehen hatte sich der Himmel violett verfärbt, bestimmt würde es bald regnen, aber noch fiel ein blendender schmaler Sonnenstrahl schräg über die Häuser, -94-
sodass sie wie auf einem Gemälde der römischen Schule, etwa von Donghi, wirkten. Montalbano lief herum, bis ihm die Beine fast lahm wurden. Gegen sieben kam er im Hotel an, der Himmel war mittlerweile tiefviolett, aber noch regnete es nicht. Er legte sich aufs Bett, rief Livia an, nickte ein. Um halb neun klingelte das Telefon. Es war Lapis. Der blöde Kerl hatte ganz richtig kombiniert, in welchem Hotel er wohnte, da es nah bei seinem Geschäft lag. »Was ist los? Wir warten auf dich. Nimm dir ein Taxi.« Fluchend legte Montalbano auf. Er hatte vorgehabt, Lapis anzurufen und die Einladung unter einem Vorwand abzusagen, aber die Müdigkeit hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. jetzt war es zu spät, er musste hin, ob er wollte oder nicht. Eine Viertelstunde später ließ er sich vom Taxi an der Piazza Mazzini absetzen. Sein Ziel, die Via Costabella, war nicht weit, er musste nur die Via Oslavia entlang, rechts in den Viale Carso einbiegen und dann noch mal links. Dieses Viertel war ihm immer sympathisch gewesen, er mochte die breiten Alleen mit den Häusern aus der Jahrhundertwende. Aber nach drei Schritten in der Via Oslavia wusste er, dass er einen Fehler gemacht hatte. Es fielen nämlich erste Regentropfen, dick und spärlich, aber man merkte schon, dass sie nur die übel gesinnte Vorhut eines erbarmungslosen Heeres waren. Selbiges Heer ging an der Ampel in der Via Montello stramm zum Angriff über. Im Nu war der Commissario völlig durchnässt, die Socken in den Schuhen waren eingesuppt. Was tun? Beherzt schritt er schneller aus und bog rechts in den Viale Carso ein, wobei er mal in Pfützen tappte, die nur ein bisschen kleiner waren als das Kaspische Meer, mal auf einer gefährlichen Mischung aus Matsch, Laub und Hundekacke ausrutschte. Und hier zog ein Alliierter -95-
des Regens zu Felde: Ein kalter Wind überfiel ihn hinterrücks und trieb ihn vor sich her. An der Ecke Via Asiago beschloss die Schiebermütze, die Montalbano beim Verlassen des Hotels aufgesetzt hatte, die Flucht zu ergreifen, obwohl sie so mit Wasser voll gesogen war, dass sie mindestens einen Zentner wog; sie rollte über den Boden und bog in die Straße ein, in der sich die RundfunkStudios befanden, wie Montalbano irgendwo gelesen hatte. Reflexartig rannte er hinter der Mütze her, die endlich liegen blieb. Direkt neben einem Hut. Einem umgedrehten, merkwürdig verlassenen Hut, der sich langsam mit Regenwasser füllte. So hieß doch auch ein berühmter Film: A HatfuI of Rain. Der Commissario sah sich um: Normalerweise sitzt ein Hut auf dem Kopf von jemandem, vor allem wenn es in Strömen regnet. Aber wo war dieser jemand? Da hörte er ihn plötzlich hinter sich, diesen jemand, und als Montalbano sich nach Mütze und Hut bückte, rief eine aufgeregte, keuchende Stimme: »Finger weg!« Folgsam nahm er nur seine Mütze und richtete sich wieder auf. Da stand der Besitzer des Hutes vor ihm. Ein Zwanzigjähriger mit Bart und Ohrring, der ihn böse ansah. Ein Windstoß hatte den Hut dem Commissario jetzt an die Füße geheftet. »Weg da«, sagte der junge Mann. »Nein«, erwiderte der Commissario, der bei so miesem Wetter wie jetzt leicht in Zorn geriet und sich gern mit anderen anlegte. »Du bückst dich und hebst ihn auf.« Ohne ein Wort zu sagen, verpasste ihm der bärtige junge Mann einen Schwinger in die Magengrube, und während Montalbano sich vor Schmerzen krümmte, hob der andere den Hut auf, rannte weg und verschwand linker Hand in einer Straße. Der Commissario holte tief Luft und machte sich an die Verfolgung. Das würde er dem Knaben nicht -96-
durchgehen lassen. Was waren denn das für beschissene Manieren? Bestimmt ein Junkie. Er sah ihn in einiger Entfernung schnell laufen, der Junge hatte eine schmale Straße zur Hälfte zurückgelegt und befand sich zwischen einer Kirche und dem Gebäude des RAI-Fernsehens mit dem Pferd davor. Montalbano wusste, dass er sich von der Via Costabella entfernte, aber seine Wut war stärker. Der andere rechnete offenbar nicht damit, dass er verfolgt wurde, und ging jetzt ruhig, ohne Hast, obwohl es noch immer in Strömen goss. Der junge Mann überquerte den Viale Mazzini und bog dann in eine Straße ein, die, wie der Commissario meinte, Via Ruffini hieß. Hier fühlte Montalbano sich imstande, die Sache in Angriff zu nehmen. Er ging schneller und rief, als er den Mann fast eingeholt hatte: »He, du!« Der Typ drehte sich um, erkannte ihn und blieb wie angewurzelt stehen, lange genug, dass der Commissario auf ihn losgehen und ihm ebenfalls einen Schwinger in die Magengrube verpassen konnte. Der junge Mann stöhnte auf, fand aber trotzdem die Kraft zu reagieren und trat ihm mit aller Kraft ans linke Bein. Montalbano unterdrückte den Schmerz und warf sich auf den Burschen. Der riss ihn an den Haaren, der Commissario bohrte ihm einen Finger ins Auge. Sie stürzten zu Boden und wälzten sich in Matsch und Wasser. Da ließ eine Stimme sie einhalten: »Aufhören! Polizei!« Erst jetzt, als er den Jungen abschüttelte, merkte Montalbano, dass er sich ausgerechnet vor einem Polizeikommissariat geprügelt hatte. Beide wurden nicht gerade liebenswürdig hineinbefördert. Man verlangte die Papiere, und der Commissario, der vor Scham am liebsten im Boden versunken wäre, musste sich ausweisen. Daraufhin brachte -97-
man ihn in das Büro seines römischen Kollegen Di Giovanni, der ihn vom Namen her kannte. »Ich weiß gar nicht, wie ich mich entschuldigen soll. Ich wollte diesem Blödmann einen Gefallen tun und seinen Hut aufheben, der ihm weggeflogen war, und da haut der mir eine rein, ohne jeden Grund, Di Giovanni, das musst du mir glauben. Ich habe ihn verfolgt und angegriffen. Ihr müsst bitte alle entschuldigen, es gibt keine Rechtfertigung…« »Komm, wir gehen rüber«, sagte Di Giovanni. »Wir fragen ihn mal, was er gegen dich hat. Der ist bestimmt zugedröhnt.« Sie brauchten nicht aufzustehen. Ein Inspektor klopfte an und trat ein. »Wissen Sie was, Dottor Montalbano? Sie haben einen Dealer dingfest gemacht, den wir schon eine ganze Weile kennen. Das Futter seines Hutes war mit Drogen voll gestopft. Der Taugenichts heißt Antonio Lapis, er lebt hier in der Nähe bei seinen Eltern, in der Via Costabella.« Montalbano erstarrte. »I… i… ich glaube, ich kenne seinen Vater. Ist das der mit den Bekleidungsgeschäften?« »Ja, genau. Der Vater ist ein tüchtiger Mann, aber der Sohn ist ein Lump.« Montalbano fällte eine rasche Entscheidung. Flucht. »Könntet ihr mir ein Taxi rufen?« Zurück im Hotel sagte er dem Portier, er sei für niemanden zu sprechen, dann legte er sich in die Badewanne und schloss die Augen. Bei Ernesto Lapis würde er sich nicht mehr melden, er brachte es nicht über sich, ihm zu erzählen, was passiert war. Da blieb er lieber -98-
deprimiert in der Badewanne liegen und wartete auf den ersten Nieser, den das typische Nasenjucken schon ankündigte.
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Das vierte Geheimnis
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Kapitel 1 Warum versteckte er sich um drei Uhr nachts in einem Hauseingang und spionierte Catarella nach? Sosehr er sich auch anstrengte, er kam einfach nicht drauf, nur zweierlei war ihm klar: erstens dass Catarella etwas tat, was er nicht durfte, von dem Montalbano aber nicht wusste, was es war; zweitens dass Catarella nicht wissen durfte, dass er ihn verfolgte. Aber was hatte die ganze Geschichte zu bedeuten? Tat Catarella etwas Unrechtes? In Uniform schlich er gebückt nah an der Mauer eines baufälligen Hauses entlang, das schwarze Löcher statt Fenster hatte. Immer verwirrter bemerkte Montalbano, dass Catarella das linke Bein nachzog und seinen Revolver in der Hand hatte. Die Straße war menschenleer, von den zehn Laternen, die sie hätten beleuchten sollen, gingen höchstens fünf. Plötzlich blieb Catarella wie angewurzelt stehen, blickte sich um und lief dann auf ein Auto zu, das neben dem Bürgersteig parkte. Obwohl es so dunkel war, meinte Montalbano zu sehen, dass sich in dem Auto etwas bewegte. Tatsächlich ging die Tür auf, und ein Mann stieg aus. Was unmittelbar darauf geschah, hätte aus einem amerikanischen Streifen stammen können: Während Catarella noch schneller auf ihn zuging, hob der Mann den Arm und schoss. Es musste eine großkalibrige Waffe sein, denn bei dem Schuss in die Brust flog der Polizist gegen die Mauer, die drei oder vier Meter entfernt war. Bevor Montalbano reagieren konnte, sprang der Mann wieder in sein Auto und fuhr mit quietschenden Reifen los. Mit zwei Sätzen war der Commissario bei Catarella. Er lag verrenkt am Boden, mitten auf der Brust ein großer dunkler Fleck. Er hielt die Augen geschlossen und keuchte. »Catarè! O -101-
mein Gott! Catarè!« Catarella blinzelte und brauchte eine Weile, bis er den Commissario erkannte. Montalbano hockte sich neben ihn. »Catarè!« »Ah, Dottori! Sie?« »Ja, Catarè, ich bin's. Was ist denn los? Was ist passiert?« Catarella versuchte etwas zu sagen, aber ein Blutschwall aus dem Mund hinderte ihn daran. »Catarè, ganz ruhig, ich ruf…« »Nein, Dottori«, flüsterte Catarella, »rufen Sie niemand, das ist nicht nötig. Es ist alles gespielt. Merken Sie immer noch nichts, Dottori? Wir spielen Theater.« Montalbano sah ihn fassungslos an: Klar, der Polizist war im Delirium, er lag im Sterben und faselte wirres Zeug. Doch der Commissario wollte es genau wissen: »Was heißt, ihr spielt Theater?« Catarella verzog den Mund. War es ein Grinsen oder eine schmerzverzerrte Grimasse? Montalbano bohrte nach: »Was heißt das?« »Dass wir mitten in einer Oper sind, wo wir singen, Dottori. Haben Sie denn das Blut auf meiner Jacke nicht gesehen, das ist Tomatensauce.« Unter dem erstaunten Blick des Commissario stützte Catarella sich mit den Händen am Boden ab, richtete sich auf, rückte seine schief sitzende Uniformmütze zurecht, legte sich eine Hand auf die Brust und fing an zu singen. Mochte die Situation sein, wie sie wollte, der Commissario konnte nicht ignorieren, dass Catarella eine schöne und sichere Stimme hatte. »… die Stunde ist dahin, und ich sterbe verzweifelt!« Dann brach er zusammen. Montalbano war sofort klar, -102-
dass Catarella tot war. Unbändige Wut packte ihn. »Catarè!«, schrie er. Und in seinem Schrei schwangen auch Schrecken, Angst, Verlorenheit mit. Von demselben Schrei wachte er schweißgebadet auf. Mühsam öffnete er die Augen, die Lider fühlten sich an, als seien sie mit einer zähen, klebrigen Paste verschmiert. Er hatte schlecht geträumt. Und ihm fiel auch gleich der Grund dafür ein: Schuld war ein gutes Pfund frische Saubohnen, die er am Abend zuvor draußen auf der Veranda vertilgt hatte, dazu einen kleinen Laib frischen Schafskäse, den Adelina ihm in den Kühlschrank gestellt hatte. Das Schöne am Frische-Saubohnen-Essen besteht auch in dem Vergnügen, dass man sie zweimal aufknackt und man dabei schon in Gedanken schmeckt, was kurz darauf Zunge und Gaumen erfreuen wird. Das ist nämlich so: Du knackst zuerst die Hülse der Saubohne, die innen und außen ein bisschen haarig ist und sich angenehm anfühlt, dann knackst du jede einzelne Bohne, die, während du die Haut abziehst, einen frischen Duft ausströmt, der dein Herz belebt. Und beim Aufknacken denkst du. Und dann kann es sein, dass dir für jedes Problem die richtige Lösung einfällt: beispielsweise wie ein Zank mit Livia beizulegen wäre oder warum jemand ermordet wurde. Bevor er wieder einschlief, erinnerte Montalbano sich, dass er mal geträumt hatte, wie Mimi Augello bei einer Observation getötet wurde. Damals, das wusste er noch genau, hatte es an einem halben gebratenen Zicklein mit Kartoffeln gelegen. Der erste Mensch, den er im Kommissariat sah, war natürlich Catarella, der sich am Telefon abplagte. »Nein! -103-
Wie oft soll ich's denn noch sagen? Wir sind nicht das Bestattungsinstitut Cicalone! Wir sind das Kommissariat Vigàta persönlich! Nein, Sie haben sich falsch verwählt! Soll ich's Ihnen vielleicht vorsingen?« Montalbano glaubte längst, dass sich in Vigàta ein paar Vollidioten zu einem Geheimbund zusammengeschlossen hatten und sich ein Vergnügen daraus machten, bei Catarella anzurufen und zu tun, als hätten sie sich verwählt. Doch bei dem Wort ›vorsingen‹ fiel ihm sein Traum wieder ein. »Catarè, weißt du eigentlich, dass du wunderschön singen kannst?« Catarella, der sich wegen des eben beendeten mühsamen Telefongesprächs den Schweiß von der Stirn wischte, sah ihn verdattert an. »Reden Sie mit mir persönlich selber, Dottori?« »Mit wem denn sonst, Catarè? In dem Kabuff hier sind doch nur wir zwei!« »Dottori«, sagte Catarella in verschwörerischem Ton und blickte sich um, »haben Sie mich denn zufällig wo singen gehört?« »Ja.« »Wann denn, Dottori?«, fragte Catarella besorgt. »Heute Nacht.« Catarella machte ein entgeistertes Gesicht. »Dottori, aber ich war heute Nacht bei mir in meinem Bett!« »Stimmt. Aber ich hab dich im Traum singen hören.« Jetzt sah Catarella nicht mehr verblüfft, sondern ergriffen drein. »Meine Güte, Dottori! Ah Dottori Dottori, das ist aber schön, was Sie mir da sagen! Sie träumen in der Nacht von mir!« -104-
Montalbano war verlegen. »Na ja, wir wollen mal nicht übertreiben… das kommt ja nicht jede Nacht vor.« »Aber heute Nacht haben Sie von mir geträumt! Und das heißt, dass Sie manchmal auch an mich denken, wenn ich nicht im Dienst bin!« Catarella weinte fast vor Rührung. »Aber sag mal, warum beunruhigt es dich so, wenn dich jemand singen hört?«, fragte Montalbano, um ihn abzulenken. Catarella seufzte tief. »Ah Dottori Dottori, Sie müssen wissen, dass ich nämlich Unglück bring, wenn ich sing. Ich sing so falsch, dass die Hunde bellen, wenn sie mich hören. Soll ich Ihnen was erzählen? Ich war mal im Auto von meinem Cousin Pepè, und plötzlich hab ich Lust gehabt zum Singen. Und wie ich den Mund aufgemacht hab, da ist der Pepè so dermaßen erschrocken, dass er geschleudert ist und einen Satz gemacht hat und das Lenkrad rumgerissen hat, und dann sind wir im Graben gelandet. Pepè hat sich saumäßig den Knochen angehauen, der direkt über dem Arsch ist, mit Verlaub. Wie heißt der noch mal? Scheißbein oder so ähnlich.« Im Glauben, Mimi würde sich amüsieren, erzählte er ihm den Traum. Aber der machte ein finsteres Gesicht. »Ich glaube an Träume«, sagte er. »Natürlich nicht an alle, aber manche stellen sich hinterher als Vorahnung heraus. Das habe ich erst kürzlich erlebt. Ich träumte, ein Mann würde mich mit seiner Frau im Bett überraschen. Und tatsächlich hat der Hornochse uns vier Tage später fast erwischt, aber mir ist der Traum wieder eingefallen, und so bin ich verschwunden, bevor er ins Haus kam.« -105-
»Und so was nennst du Vorahnung?« »Wie soll ich's denn sonst nennen?« »Mimi, als ich träumte, dass du erschossen würdest, war das deiner Meinung nach eine Vorahnung?« »Nein, mich hat ja niemand erschossen.« »Schade.« Die Tür flog mit solcher Wucht auf, dass sie an die Wand knallte und ein bisschen von den Putzresten herunterbröselte, die rings um den Türrahmen noch übrig waren. »Ist dir die Hand ausgerutscht?«, fragte der Commissario, der es längst aufgegeben hatte. »Nein, Dottori, diesmal bin ich gerutscht.« »Was gibt's?« »Da ist ein Schnellbrief angekommen, der hat Ihre persönliche Adresse.« »Dann gib her.« »Ich hol ihn schnell.« »Weißt du, warum Catarella am Computer so gut ist?«, fragte Montalbano Mimi. »Weil sein Kopf auf die gleiche Weise funktioniert. Er teilt mir mit, dass ein Brief für mich angekommen ist, aber er bringt ihn erst, wenn ich ihm mein Okay gebe.« Catarella kam zurück, legte den Brief auf den Tisch, drehte sich um und ging zur Tür. Montalbano verwandelte sich plötzlich in eine Statue mit halb offenem Mund. »Catarella!« Der blieb stehen und wandte sich um. »Ai comanni, Dottori.« »Warum ziehst du das linke Bein nach?« »Es tut weh, Dottori.« Der Computer brauchte einen weiteren Input. »Und -106-
warum tut es weh?« »Weil ich heute Nacht schlecht geträumt hab, und da hab ich mich dauernd rumgedreht und rumgedreht, bis ich aus dem Bett gefallen bin, Dottori.« Montalbano wollte nicht fragen, was Catarella Schlechtes geträumt hatte. Er spürte ein unangenehmes Kribbeln an der Wirbelsäule und war plötzlich unruhig. Mimi Augello hatte die Szene beobachtet und wurde immer neugieriger. Aber er sprach erst, als Catarella die Tür hinter sich zugemacht hatte. »Sag mal, Salvo, hat Catarella in deinem Traum auch gehumpelt?« Was für ein guter Bulle Mimi Augello doch war! »Nein.« Um nichts in der Welt hätte Montalbano ihm diese Genugtuung gegönnt. Fazio kam herein, einen schwankenden Stapel unterschriftsfertiger Papiere auf den ausgestreckten Armen. »Nein!«, fuhr ihn der Commissario an; er war ganz blass geworden. »Tut mir Leid«, sagte Fazio, »aber diese Unterlagen müssen heute noch raus. Da hilft alles nichts.« Er legte den Stapel auf den Tisch. Der gerade angekommene Brief wurde darunter begraben. Er kam erst wieder zum Vorschein, als es draußen bereits stockdunkel war. Aber da war Montalbano zu müde, und es grauste ihm vor seinem Namen: Allein beim Lesen der Adresse wurde ihm speiübel. Er würde den Brief am folgenden Morgen öffnen. »Weißt du was Lustiges, Livia? Ich hab gestern von Catarella geträumt!« -107-
Keine Reaktion am anderen Ende der Leitung. »Hallo? Hallo?« »Ich bin noch da.« »Ah. Ich sagte gerade, dass ich gestern…« »Ich habe es gehört.« Die Stimme kam nicht mehr aus Boccadasse, Genua, sondern aus dem Packeis im Schneesturm. »Livia, was ist denn? Was habe ich denn gesagt?« »Du hast gesagt, dass du von Catarella geträumt hast, reicht das nicht?« »Livia, ma sì nisciuta foddri?« »Sprich nicht Dialekt mit mir.« »Sag bloß, du bist eifersüchtig auf Catarella!« »Du bist manchmal unerträglich blöd, Salvo. Es geht doch nicht um Eifersucht.« »Worum denn dann bitte?« »Zu mir hast du noch nie gesagt, du hättest von mir geträumt, noch nie.« Das stimmte. Er hatte von ihr geträumt und träumte weiterhin von ihr, aber er sagte es ihr nie. Warum eigentlich nicht? »Wo ich jetzt so darüber nachdenke…« Aber am anderen Ende war niemand mehr. Kurz dachte er, er sollte sie noch mal anrufen, doch dann ließ er es bleiben. Livia hatte eindeutig schlechte Laune, sie hätte jedes Wort in den falschen Hals gekriegt und noch einen Streit vom Zaun gebrochen. Er setzte sich vor den Fernseher, gerade rechtzeitig zu den letzten Nachrichten bei ›Retelibera‹. Nach der Erkennungsmelodie erschien sein Freund Nicolò Zito und erklärte, der erste Bericht sei einem Vorfall gewidmet, der sich morgens ereignet habe, -108-
nämlich dem tödlichen Sturz eines Bauarbeiters von einem Gerüst. Über dieses Unglück habe ›Retelibera‹ in den Nachrichten um acht Uhr morgens und dann noch einmal um dreizehn Uhr berichtet. Nicht aber in den SiebzehnUhr-Nachrichten. Warum nicht? Weil diese Meldung in unserem immer hektischeren, verworreneren Lebensrhythmus - fuhr Nicolò fort - keine Nachricht mehr hergebe, sie sei innerhalb weniger Stunden bereits veraltet. Er bringe sie jetzt noch mal - erklärte er -, weil er eine Blitzumfrage darüber angestellt habe, wie oft in der Provinz Montelusa im vergangenen Monat solche ›Arbeitsunfälle‹, wie man das beschönigend nenne, passiert seien. Sechsmal. Sechs Todesfälle, weil die Unternehmer die elementarsten Sicherheitsvorschriften komplett missachteten. An die Stelle von Nicolòs Gesicht traten ohne jede Vorankündigung die erschütternden Bilder der zerschlagenen, zerfetzten Toten. Unter jedem Bild das Datum des Unfalls und der Ort, an dem er passiert war. Montalbano wurde schlecht. Zito erschien wieder und erklärte, er habe diese Bilder, die normalerweise der Selbstzensur unterlägen, extra gesendet, um Empörung bei den Zuschauern zu wecken. »Diese Arbeitgeber sind frei herumlaufende Mörder«, sagte Nicolò abschließend. »Wenn Sie einen auf der Straße treffen, dann denken Sie an diese Bilder.« Bei ›Televigàta‹ weihte Staatssekretär Carlo Posacane eine neue Straße ein, eine Art Autobahn, die seinen Geburtsort Sancocco (313 Einwohner) mit einem Wald aus Eisenbetonpfeilern verband, dessen Funktion nicht weiter erläutert wurde. Vor dreihundert Mitbürgern (die dreizehn Abwesenden wählten vielleicht links) sagte der Staatssekretär, er sei, was er sehr bedaure, überhaupt nicht einverstanden mit seinem Parteikollegen und Minister, der die Ansicht geäußert habe, mit der Mafia müsse man sich -109-
notwendigerweise arrangieren. Nein, die Mafia gehöre zerschlagen. Allerdings müsse man differenzieren, man dürfe nicht verallgemeinern, alles über einen Kamm scheren. Es gebe Männer, mustergültige Ehrenmänner sagte der werte Staatssekretär bebend vor Empörung -, die immer für die Gerechtigkeit gekämpft, sogar den Staat ersetzt hätten, wenn dieser sich bedeckt gehalten habe, und dafür seien sie von der so genannten Rechtsprechung mit dem schändlichen Brandmal des Mafioso belohnt worden! So etwas werde es mit der neuen Regierung nicht mehr geben - endete der Abgeordnete unter tosendem Applaus. Neben ihm stand Vincenzo Scipione, genannt 'u zu Cecè, Onkel Cecè - Ehrenmann, treuer Wähler des Staatssekretärs und Inhaber der Baufirma - und trocknete sich tief bewegt eine Träne. »Catarella!«
Im Nu erschien Catarella in der Tür, die zum Glück
offen stand. »Ai comanni, Dottori.« »Catarella, wo ist der Brief, der gestern Abend hier auf dem Tisch lag?« »Weiß ich nicht, Dottori. Aber heute Früh war die polizia da, vielleicht haben die den Brief woanders hingetan.« Die polizia, die Polizei? Hatte dieser Arsch von Polizeipräsident es etwa geschafft, sein Büro durchsuchen zu lassen? »Welche polizia, Catarella?«, fragte er gereizt. »Na, die polizia eben, der Trupp, der immer am Montag, am Mittwoch und am Freitag kommt. Der von immer.« Montalbano fluchte. jedes Mal, wenn die Leute von der -110-
pulizia, dem Putztrupp, da gewesen waren, fand er überhaupt nichts mehr auf seinem Schreibtisch. Catarella hatte sich inzwischen gebückt und mit dem Brief in der Hand wieder aufgerichtet. »Der ist runtergefallen.« Als der Wachtmeister an die Tür ging, merkte der Commissario, dass er noch mehr humpelte als am Tag vorher. »Catarè, geh doch mal zum Arzt und lass dein Bein anschauen.« »Der ist aber weg.« »Geh zu einem anderen.« »Nein, Dottori, ich vertraue nur ihm. Er ist mein Cousin vom Vater her, er ist ein sehr guter Tierarzt.« Montalbano fiel aus allen Wolken. »Du lässt dich von einem Tierarzt behandeln?« »Wieso nicht, Dottori, da ist doch kein Unterschied. Wir sind doch alle Tiere. Aber wenn's gar nicht vorbeigeht, dann geh ich zu einer alten Frau, die die richtigen Kräuter kennt.« Es war ein anonymer Brief, geschrieben in Druckbuchstaben. Darin stand: AM 13. FRÜ MUS DER ALBANISISCHE ARBEITER STERBEN WEN ER VOM GERÜST FELIX IS DASS DAN AUCH EIN ARBEITSUNFAL?
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Kapitel 2 Der Schweiß trat ihm auf die Stirn, als er sich den Stempel auf dem Umschlag ansah. Der Brief war am zehnten in Vigàta abgeschickt worden. Ein plötzlicher Gedanke ließ ihn erstarren: Vielleicht hätte er, wenn er den Brief schon tags zuvor gelesen hätte, anstatt mit seiner Trödelei Zeit zu verlieren, den Unfall oder den Mord, oder was immer es war, verhindern können. Doch gleich darauf besann er sich: Auch wenn er den Brief sofort geöffnet hätte, wäre er nicht rechtzeitig zur Stelle gewesen. Es sei denn, Catarella hatte ihn zu spät gebracht. »Catarella!« »Ai comanni, Dottori! Was ist los? Sie sehen blass aus!« »Catarella, weißt du noch, um wie viel Uhr der Brief, den du vorhin unter dem Tisch gefunden hast, gestern Früh angekommen ist?« »Ja, Dottori. Das war Schnellpost. Extrapost. Da war's kurz nach neun.« »Hast du ihn mir sofort gebracht, als er ankam?« »Natürlich, Dottori. Sofortestens.« Und leicht indigniert fügte er hinzu: »Ich lass doch die Sachen nicht warten, die für Sie sind.« Er hätte es also sowieso nicht geschafft. Der Brief war mit Verspätung angekommen, er hatte drei Tage für eine Strecke von weniger als einem Kilometer gebraucht, denn so weit war das Postamt vom Kommissariat entfernt. Und so was nannte sich Eilbrief! Auf dem Umschlag stand, ebenfalls in Druckbuchstaben: ATTILIO SIRACUSA, VIA MADONNA DEL -112-
38. Er rief bei Nicolò Zito an. Der sei noch nicht im Büro, sagte die Sekretärin. Montalbano versuchte es bei ihm zu Hause. Zitos Frau Taninè teilte ihm mit, ihr Mann sei zum Glück schon um sieben Uhr morgens gegangen. »Wieso zum Glück?« »Weil er Zahnschmerzen hatte und das ganze Haus wach gehalten hat. Wir kamen uns vor wie an Weihnachten«, erklärte Taninè. »Und warum geht er nicht zum Zahnarzt?« »Weil er Angst hat, Salvo. Der kriegt einen Herzschlag, wenn er den Bohrer nur sieht.« Er verabschiedete sich und legte auf. Dann rief er nach Catarella und beauftragte ihn, die Zeitung zu kaufen, die der Provinz Montelusa täglich zwei oder drei Seiten widmete. Er fand die Meldung sofort: ROSARIO
TÖDLICHER ARBEITSUNFALL In der zwischen Vigàta und Montelusa gelegenen Ortschaft Tonnarello ist gestern Morgen um sieben Uhr dreißig der albanische Bauarbeiter Pashko Puka, 38, mit regulärer Arbeitserlaubnis bei der Firma Santa Maria von Alfredo Corso beschäftigt, vom Gerüst eines Neubaus gestürzt. Seine Arbeitskollegen, die sofort zur Stelle waren, konnten leider nur noch feststellen, dass jede Hilfe für Puka zu spät kam. Die Staatsanwaltschaft hat eine Untersuchung eingeleitet. Das war alles. Einschließlich Überschrift neun Zeilen, rechts unten am Ende der letzten Spalte. Die Seite verströmte bodenlose Gleichgültigkeit gegenüber diesem unglückseligen Tod, der einfach unterging zwischen den -113-
Nachrichten über die jeweilige Krise in der Gemeinde Fela und der Gemeinde Poggio, der Ankündigung, Wasser werde nicht mehr alle vier, sondern nur noch alle fünf Tage ausgegeben, den Vorbereitungen für das Fest von San Isidoro in Gibilrossa. Es war eine sehr gute Idee von Nicolò Zito gewesen, die Bilder der Männer zu zeigen, die bei der Arbeit ums Leben gekommen waren. Aber wie viele Zuschauer hatten sie sich wohl angesehen und wie viele hatten umgeschaltet, um ihre Augen mit dem Hintern einer Tänzerin zu erfreuen oder sich die Ohren mit dem Gewäsch der Machthaber in der neuen Regierung zulabern zu lassen? Mimi Augello war noch nicht da. Der Commissario rief Fazio zu sich und zeigte ihm die Meldung. Fazio las. »Der arme Kerl!«, sagte er. Wortlos reichte Montalbano ihm den anonymen Brief. Fazio las. »Scheiße!«, sagte er. Dann hatte er den gleichen Gedanken wie Montalbano. »Wann ist der Brief denn angekommen?«, fragte er finster. »Gestern Früh. Und ich habe ihn nicht aufgemacht. Aber auch wenn ich ihn gelesen hätte, hätte ich nichts machen können. Es war bereits passiert.« »Und was tun wir jetzt?«, fragte Fazio. »Vielleicht weißt du das: Tonnarello ist doch näher an Montelusa als an Vigàta. Uns wurde dieser Unfall, oder was es auch war, nicht gemeldet, deshalb würde ich gern wissen, wer eingeschaltet wurde.« »Dort in der Nähe ist ein Carabinieri-Posten, Commissario. Er wird von Maresciallo Verruso kommandiert. Ein tüchtiger Mann. Die haben sich todsicher an ihn gewandt.« »Kannst du dich trotzdem informieren?« -114-
»Dauert zwei Minuten, ich geh schnell telefonieren.« Nur zum Zeitvertreib, denn er war sicher, dass der Absender auf dem Brief falsch war, schlug Montalbano das Telefonbuch auf. Es gab einen einzigen Attilio Siracusa, und der wohnte in der Via Carducci. Er wählte die Nummer. »Scheiße, welcher Scheißarsch ruft da schon wieder an, verdammte Scheiße?« Etwas dürftig, der Wortschatz des Signor Attilio Siracusa, aber zweifellos von einer gewissen Ausdruckskraft. »Hier spricht Commissario Montalbano.« »E chi minchia minni futti a mia - na und, mir doch scheißegal!« Montalbano beschloss, mit gleicher Waffe zurückzuschlagen. »Halt's Maul, Siracusa, und beantworte meine Fragen, sonst komme ich und reiß dir die Eier ab.« Die Stimme von Signor Siracusa klang mit einem Mal freundlich, höflich, geradezu dankbar für die erwiesene Ehre. »Ah, Commissario, Sie sind es? Entschuldigen Sie, aber ich bin erst vor zwei Stunden nach Hause gekommen, ich habe auf dem verdammten Flug von Indien hierher eine schlaflose Nacht verbracht. Sie werden es nicht glauben, aber um zehn Uhr morgens bin ich in Bombay an Bord gegangen und… Aber bitte entschuldigen Sie, wenn ich einmal angefangen habe zu reden… Was wollten Sie denn von mir?« »Nichts.« »Was soll dann der Scheiß?«, rief Signor Siracusa, während der Commissario auflegte. Fazio kam zurück. »Wie ich es mir dachte, Commissario. Verruso war -115-
dort.« »Das bedeutet, dass wir draußen sind.« »Das kann man so sehen.« »Wie meinst du das?« »Wir sind halb draußen und halb drin, Dottore. Draußen, weil es nicht unser Fall ist, drin, weil wir Kenntnis von etwas haben, was Verruso nicht weiß. Nämlich dass es kein Unfall, sondern Mord war. Außer es war doch ein Unfall, und dieser Signor Siracusa ist ein Hellseher.« »Und?« »Wir haben nur zwei Möglichkeiten: Entweder wir verbrennen den Brief und tun, als hätten wir ihn nie gekriegt, oder wir überwinden unseren inneren Schweinehund, das muss man in so einem Fall nämlich, und schicken den Brief an die Carabinieri, mit den besten Empfehlungen von der Polizei.« Montalbano schwieg nachdenklich. Da kam Augello herein, der sofort merkte, dass etwas in der Luft lag. »Was ist denn hier los?« Montalbano erzählte ihm alles. Das Ergebnis war, dass Augello ebenfalls nachdenklich schwieg. Nach einer Weile sagte er: »Wir halten uns bedeckt, ohne dass Verruso dadurch in Verzug gerät. Wir müssen uns gegenüber den Carabinieri unbedingt fair verhalten.« »Und was sollen wir machen?«, fragte Fazio. »Wir werden selber aktiv, forschen ein bisschen nach, sehen zu, wie sich alles anlässt. Wenn es sich gut anlässt, das heißt, wenn wir wissen, dass wir etwas in der Hand haben, machen wir weiter, und dann sorgt der liebe Gott dafür, dass sich die Situation zwischen uns und den Carabinieri klärt. Wenn wir aber mit dem Kopf gegen eine Wand -116-
rennen…« Er unterbrach sich. Montalbano fuhr an seiner Stelle fort: »… überlassen wir die Angelegenheit den Carabinieri, dann sollen die sich drum kümmern. Mimi, welche Bedeutung hat für dich denn das Wort ›fair‹?« »Genau die gleiche wie für dich«, gab Mimi zurück. Daraufhin verteilte der Commissario die Aufgaben. Sie drei allein würden die Sache in die Hand nehmen, da durfte kein Staub aufgewirbelt werden, sie mussten still und heimlich vorgehen, nichts, aber auch gar nichts, durfte dem Mörder oder, noch schlimmer, den Carabinieri zu Ohren kommen. Fazio sollte in der Via Madonna del Rosario 38 überprüfen, ob dort ein gewisser Attilio Siracusa wohnte oder ob ihn jemand kannte. Fazio wollte etwas sagen, aber der Commissario kam ihm zuvor. »Ich weiß, dass es Zeitverschwendung ist. Der Name ist erfunden, genau wie die Adresse. Aber es muss geklärt werden.« Mimi sollte mit dem Briefumschlag aufs Postamt gehen. Es konnte ja nicht viele Leute geben, die einen Eilbrief von Vigàta nach Vigàta schickten. Er sollte sich den Quittungsabschnitt geben lassen, den der Absender ausgefüllt hatte, und den Postbeamten fragen, ob er sich erinnern könne, wer den Brief aufgegeben habe. Ganz beiläufig und in aller Freundschaft sollte er sich außerdem erkundigen, wieso ein beschissener Eilbrief für nicht mal einen Kilometer drei Tage brauchte. »Und du?« »Ich fahre nach Montelusa. Ich will mit Pasquano reden.« »Wie bitte? Gehen Sie den Leichen anderer Leute jetzt auch noch auf den Wecker?« »Nein, nein, Dottor Pasquano, wissen Sie, es handelt -117-
sich um eine statistische Studie, die das Ministerium angefordert hat, und da…« »Darüber, wie viele albanische Bauarbeiter jedes Jahr in Italien vom Gerüst fallen?« »Nein, Dottore, die Studie untersucht…« »Jetzt hören Sie mal her, Montalbano, ich lasse mich von Ihnen nicht verarschen. Wenn Sie von mir was erfahren wollen, dürfen Sie mir keinen Quatsch erzählen. Reden Sie Klartext.« »Also, Dottore, wir untersuchen in Vigàta einen Einbruch bei einem Juwelier, in den möglicherweise, wohlgemerkt möglicherweise, dieser Puka verwickelt ist. Wir haben den Verdacht, dass er von seinen Komplizen ausgeschaltet wurde, das ist es.« Es klappte. Dottore Pasquano schien sich abgeregt zu haben. »Tja, was soll ich dazu sagen. Die Leiche des armen Kerls wies Brüche und Verletzungen auf, die bei einem Sturz aus zwanzig Meter Höhe plausibel sind. Ob der Sturz kein Zufall war und jemand nachgeholfen hat, das kann keine Obduktion jemals feststellen. Verstehen Sie?« Er kicherte. »Wieso wenden Sie sich wegen weiterer Auskünfte nicht an Maresciallo Verruso? Soll ich ihn verständigen, dass Sie ermitteln?« »Danke«, sagte Montalbano barsch und wandte sich zum Gehen. Da hielt Pasquanos Stimme ihn zurück, und er drehte sich noch mal um. »Etwas hat mich doch stutzig gemacht. Und Verruso werde ich das auch sagen. Er ging regelmäßig zur Pediküre.« Montalbano machte ein überraschtes Gesicht. Dottor -118-
Pasquano breitete die Arme aus, um ihm zu bedeuten, dass es nun mal so sei und er nichts daran ändern könne. Der Commissario dachte, dass Nicolò Zito inzwischen im Büro sein könnte. Er hatte kein Handy, deshalb parkte er an einer Telefonzelle, oder besser vor einem dieser Aufhänger unter freiem Himmel, an denen man pitschnass wird, wenn es regnet; zwei Telefone hingen daran. Die natürlich besetzt waren. An einem kreischte eine Schwarze wie irr in einer unverständlichen Sprache. Am anderen stand ein siebzigjähriger Bauer mit Schiebermütze, den Hörer ans Ohr geklebt, und sagte gar nichts, keinen Mucks, sondern hörte nur zu. Nach fünf Minuten, in denen das Gekreisch der Schwarzen immer wütender wurde, sagte der Bauer ›hm‹ und hörte dann weiter zu. Es war zwecklos. Montalbano setzte sich wieder ins Auto und hielt an einem anderen Telefonhaken. Beide Apparate waren frei. Er stürzte auf den einen zu und sah, dass das rote Lämpchen leuchtete, das Telefon war kaputt. Das zweite funktionierte, allerdings stellte der Commissario nach hektischer Suche fest, dass er keine Karte dabeihatte. Während er nach einem Tabakladen Ausschau hielt, trat ein Mann an das andere Telefon und fing in aller Ruhe an zu sprechen. Unbändige Wut stieg in Montalbano hoch. Was hatte dieses Telefon gegen ihn? Warum hieß es erst, es sei kaputt, und dann funktionierte es bei jemand anderem tadellos? Er knallte den Hörer mit solcher Wucht auf die Gabel, dass er abprallte und hinunterfiel. Fluchend warf der Commissario ihn an seinen Platz zurück und setzte sich ins Auto. Er wollte gerade den Motor anlassen, als der Mann, der vorher telefoniert hatte, zum Seitenfenster hereinsah. Er war um die fünfzig, hager, mit Brille, sehr erregt, streng. »Was ist?« »Sie sollten sich besser benehmen.« -119-
»Wieso, was habe ich Ihnen denn getan?« »Mir nichts. Aber Sie waren kurz davor, öffentliches Eigentum zu beschädigen. Sie hätten das Telefon fast kaputtgemacht.« Er hatte natürlich Recht. Aber Montalbano schluckte die Standpauke nicht. Wenn der Streit haben wollte, bitte sehr. Er öffnete die Tür, stieg langsam aus dem Auto, stellte sich fest auf beide Beine und sah dem gleichaltrigen Mann in die Augen. »Ich warne Sie, tun Sie nichts Unüberlegtes. Ich bin Maresciallo bei den Carabinieri«, sagte der. Montalbano erstarrte. Das hatte gerade noch gefehlt, eine Schlägerei zwischen einem Polizeikommissar und einem Maresciallo der Carabinieri. Und wer wäre wohl dazwischengetreten, die Finanzpolizei vielleicht? Am besten beendete er die Sache gleich. »Bitte entschuldigen Sie, ich war sehr nervös und…« »Ist schon gut, fahren Sie nur.« »Darf ich Sie was fragen, Maresciallo?« »Bitte.« »Wie können Sie mit einem kaputten Apparat telefonieren?« »Telefonieren? Ich habe nicht telefoniert. Ich habe geflucht, weil die Verbindung nicht zustande kam. Erst dann ist mir das rote Lämpchen aufgefallen.« »Dann waren Sie also auch wütend.« »Schon, aber ich habe nicht versucht, das Telefon zu demolieren.« »Ja, Commissario, Dottor Zito war im Büro, er hat eine Blumenvase zerschmissen, ein paar Unterlagen auf den -120-
Boden geknallt und ist dann wieder gegangen. Wenn er Zahnschmerzen hat, ist er schlimmer als der rasende Roland.« »Hat er gesagt, was er vorhat?« »Dass er sich ins Meer stürzt. Das sagt er immer. Ich glaube nicht, dass er noch mal kommt, er lässt sich für die Nachrichten von Dottor Giordano vertreten. Aber wenn ich Ihnen vielleicht weiterhelfen kann…« Nicolòs Sekretärin war ein Goldstück: eine hübsche Dreißigjährige, die Montalbano sehr zugetan war. »Ja, gestern Abend hat Nicolò doch so einen guten Bericht über Arbeitsunfälle gebracht.« »Soll ich Ihnen eine Kopie machen lassen?« »Ja, aber was ich brauche, ist ein bisschen komplizierter. Nicolò hat die Bilder dieser Unfälle offensichtlich aus einem ganzen Vorrat an Material zusammengeschnitten. Stimmt das?« »Ja, Commissario.« »Jetzt brauchte ich das gesamte Material und nicht nur das, was gestern Abend gesendet wurde. Ich weiß, dass das aufwendig ist und…« »Ach was!«, sagte die Sekretärin lächelnd. »Diese Berichte über die Unfälle hat Dottor Zito eigens gesammelt, um dann die schockierendsten Bilder aussuchen zu können. Die Kassette ist im Archiv. Sie muss nur überspielt werden.« »Dauert das lange?« »Zehn Minuten.« Als er ins Kommissariat kam, erwarteten Fazio und Augello ihn schon in seinem Büro. »Bevor wir anfangen zu reden, muss ich telefonieren.« -121-
Er wählte eine Nummer. »Dottor Pasquano, hier ist Montalbano. Bitte gehen Sie nicht gleich in die Luft, Dottore. Nur eine Frage, dann können Sie Ihre nächste Leiche zerlegen. Hatten die anderen Opfer saubere Füße?« Während Fazio und Augello ihn irritiert ansahen, hörte Montalbano sich die gejaulte Antwort des Doktors an, dankte und legte wieder auf. »Ich erklär's euch nachher«, sagte er. »Fazio, erzähl.« »Ich kann nicht viel berichten. Es gibt keine Nummer 38 in der Via Madonna del Rosario. Die Straße endet mit der 36, einer Schuhmacherwerkstatt. Sie gehört…« Er unterbrach sich und fischte einen Zettel aus der Jackentasche. »… Vincenzo Formica, Sohn des verstorbenen Giovanni und von Elisabetta…« »Halt's Maul!« Als Fazio mitten in seinem Personalienrausch, der ihn bisweilen heimsuchte, so abrupt gestoppt wurde, lief er rot an und steckte den Zettel wieder ein. »Niemand kennt Attilio Siracusa. Er gehört auch nicht zu den Kunden. Ich bin in das Haus gegenüber gegangen, mit der ungeraden Hausnummer, der 31. Ein Friseur. Dort hat nie jemand von diesem Siracusa gehört.« »Und du, Mimi?« »Am Eilpostschalter sitzt nur eine Angestellte. Ihr müsst euch eine Hexe vorstellen. Als ich sie sah, hätte ich am liebsten auf dem Absatz kehrtgemacht. Dabei war sie ein freundliches Geschöpf, sehr liebenswürdig.« »Hast du dich in sie verknallt, Mimi?« »Nein, aber man wundert sich doch immer wieder, wie sehr der Schein trügt. Du hattest Recht, Salvo, es kommt -122-
nicht oft vor, dass ein Eilbrief von Vigàta nach Vigàta geschickt wird. Ich hab ihr den Umschlag gezeigt. Sie konnte sich genau erinnern. Den Brief hat ein Junge aufgegeben, und er hatte einen fertig ausgefüllten Quittungsbeleg und abgezähltes Geld dabei.« »Das können wir dann wohl vergessen«, meinte Fazio. »Hat sie dir denn erklärt, warum der Brief so lange gebraucht hat?« »Ach ja«, sagte Mimi. »Die Cobas-Gewerkschaft hat gestreikt.« »Und wer den Brief geschrieben hat, wusste sie nicht«, sagte Montalbano. »Eines ist also sicher. Der falsche Signor Siracusa wollte das Verbrechen, denn um ein solches handelt es sich, verhindern.« »Und was ist die Geschichte mit den Füßen?«, fragte Mimi. Montalbano erzählte es ihnen. Und fügte hinzu: »Pasquano sagte, die Füße der anderen seien normal gewesen, die einen dreckig, die anderen sauber. Nur Puka ging zur Fußpflege.« »Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Bauarbeiter, Albaner oder nicht, zur Fußpflege…« »… außer«, unterbrach Montalbano ihn, »er war gar kein echter Bauarbeiter. Was hat unser hoch geschätzter Dottor Augello hier eben in einer Anwandlung von überwältigender Originalität gesagt? Dass der Schein trügt. Oder besser: Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Oder noch besser: Die Kutte macht noch keinen Mönch.«
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Kapitel 3 Er verputzte einen großen Teller gebratene Meerbarben und erlangte dabei eine Konzentration, bei der ein Yogi anfängt zu schweben, nur dass seine Konzentration in die entgegengesetzte Richtung ging, sie schlug tiefe Wurzeln in der Erde, nämlich in dem durchdringenden Duft, dem zarten Geschmack dieser Fische, und ließ keine anderen Gedanken und Gefühle zu. Montalbano konnte sogar die Geräuschkulisse draußen, Autos, Geschrei, voll aufgedrehte Radios und Fernseher, verschwinden lassen und sich eine Art schalldichte Blase schaffen. Am Ende erhob er sich nicht nur satt, nicht nur zufrieden, sondern wunschlos glücklich. Kaum hatte er die Trattoria San Calogero verlassen, wäre er um ein Haar von einem daherrasenden Auto überfahren worden, dem er nur durch einen Sprung auf den Bürgersteig mit knapper Not auswich. Aber die Harmonie zwischen ihm und dem Klang der himmlischen Sphären war auf einen Schlag zerrissen. Um den Unmut wieder loszuwerden, der ihn nach dem paradiesischen Zwischenspiel beim ersten Schritt in die Welt befallen hatte, entschloss er sich zu seinem üblichen Spaziergang auf der Mole bis vor zum Leuchtturm. Dort setzte er sich auf seinen gewohnten Felsen, steckte sich eine Zigarette an und begann nachzudenken. Gut, losgegangen war die ganze Geschichte mit einem anonymen Brief und der Ankündigung einer Mordtat, die dann auch pünktlich geschah. Es war klar, dass der Mörder nicht die Polizei provozieren wollte, nach dem Motto ›Legt mir das Handwerk, wenn ihr dazu imstande seid‹, nein, der anonyme Verfasser des Briefes war nicht -124-
nur nicht der Mörder, sondern hatte sogar versucht, den Mord zu verhindern. Er hatte Pech gehabt, sein Brief war nicht rechtzeitig angekommen. Aber noch viel mehr Pech hatte letztlich dieser Albaner, der arme Puka. Aus dem er, Montalbano, nicht schlau wurde. Und warum nicht? Bloß weil er zur Fußpflege ging? Aber das war ein rassistischer Gedanke! mussten Albaner unbedingt hässlich, schmutzig und böse sein? Nein, ihn hatte der Umstand stutzig gemacht, dass ein Bauarbeiter, ob Albaner oder Finne, zur Pediküre ging. Aber das war ja noch schlimmer: Das war Klassendenken! »Wieso gehst du nicht mal zur Fußpflege?«, hatte Livia ihn vor einiger Zeit gefragt, als sie sah, dass die Nägel seiner beiden großen Zehen zu dick geworden waren und einer zu Jesus, der andere zum heiligen Johannes hinschielte. Er wollte nicht, er fand, das sei was für Reiche oder für weibische Männer. Kurz und gut - diese tollen Ermittlungen gingen von einem Vorurteil aus, das über ein zweites Vorurteil geschmiert war! Montalbano hatte keine Lust, ins Kommissariat zu fahren. Er fühlte sich innerlich so leer. Und er fand nicht in Ordnung, was er tat, nämlich dem Maresciallo der Carabinieri ein so wichtiges Element wie den anonymen Brief vorzuenthalten. Aber in seiner Polizistennatur glich er einem Hund, er ließ ungern von dem Knochen ab, in den er sich verbissen hatte. Was tun? Faul saß er einfach nur da und warf Kiesel nach einem Flaschenkorken, der im Wasser schwamm, aber er traf ihn kein einziges Mal, ein kalter Wind war aufgekommen und kräuselte das Meer. Von Capo Rossello drängten böswillige schwarze Wolken heran. Er spürte, dass er etwas tun musste, bevor die Sintflut sich entlud, er fühlte sich unangenehm getrieben, als musste er sich beeilen. Am besten, er überließ sich den Ratschlägen, die sein Instinkt -125-
ihm eingeben würde, ließ sich von sich selbst führen, folgte seiner eigenen Fußspur. Er kehrte ins Kommissariat zurück und rief Fazio zu sich. »Kannst du dich mal erkundigen, ob die Baustelle noch abgesperrt ist?« Sie war es. Demnach waren keine Arbeiter zugange, er würde höchstens einen Wachmann antreffen. »Was haben Sie vor? Fahren Sie hin?« »Ja, bevor der Regen kommt.« »Dottore, passen Sie auf, dass niemand Sie erkennt. Wenn Verruso erfährt, dass Sie sich dort herumtreiben, gibt's einen Riesenkrach, da können Sie Gift drauf nehmen.« Er brauchte zwanzig Minuten bis Tonnarello. Der letzte Kilometer war ein Feldweg voller Schlaglöcher. Von einem kleinen Hügel aus sah er unten die Baustelle liegen, sie bauten den Palazzo, oder was es auch war, mitten in einem hässlichen einsamen Tal ohne jedes Panorama. Es gab auch keine anderen Häuser, keinerlei bestellte Felder in der Nähe, nur nacktes Gestein, Agavenstämme, Kaktusfeigen. Wie konnte man nur auf die bescheuerte Idee kommen, mitten in einer öden Steinwüste ein Haus, oder was es auch war, zu bauen? Die Gegend schien viel geeigneter für ein Hochsicherheitsgefängnis oder eine Klinik für gefährliche Infektionskrankheiten. Die Baustelle war von einer über zwei Meter hohen Wand aus horizontal verlaufenden Brettern eingezäunt, die an Pfosten in regelmäßigen Abständen angebracht waren. In der Mitte der Seite, die Montalbano sehen konnte, war der Bauzaun auf einem längeren Abschnitt unterbrochen, anscheinend war das der Zugang für die Lastwagen und Arbeiter. Er -126-
kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können: Die Durchfahrt war zwar offen, aber mehrere rotweiße Plastikbänder, von einer Seite zur anderen gespannt, wiesen darauf hin, dass der Zutritt verboten war. Das waren die Trassierbänder, aber sie stellten kein Hindernis dar. Dahinter befand sich, direkt neben der Durchfahrt, eine kleine Blechbaracke, wohl eine Art Büro. Eine weitere Baracke stand linker Hand direkt am Zaun, sie war groß und länglich, wahrscheinlich ein Umkleideraum für die Arbeiter. Montalbano sah sich alles noch eine Weile an, aber nichts rührte sich; die Baustelle war sicher verlassen, außer jemand schlief in einer der Baracken. Schwarze Wolken verhüllten den Himmel, in der Ferne rumpelte es schon. Montalbano fuhr den Weg hinunter und blieb vor der Durchfahrt stehen. Auf einer großen Tafel stand, dass es sich um den Bau einer Villa für »Wohnzwecke« handelte und der Eigentümer ein gewisser Giacomo Di Gennaro war. Darunter die Nummer der Baugenehmigung; der Name des Bauunternehmens, die Firma Santa Maria von Alfredo Corso; der Bauleiter, Architekt Mario Mattia Manfredi Montalbano stieg aus, hob ein Band mit der Hand hoch, drückte ein anderes mit dem Fuß hinunter, und schon befand er sich innerhalb des Bauzauns. Er ging zu der kleinen Baracke, deren Tür mit einem Riegel verschlossen war, auch die Tür der größeren Baracke war verriegelt, allerdings gab es hier zwei kleine Fenster, und das eine stand halb offen. Er lief an dem Gerüst entlang und fand schnell die Stelle, wo der arme Puka aufgeschlagen war, denn die Konturen eines Körpers waren auf die Erde gezeichnet und der Staub war da, wo der Kopf gelegen hatte, dunkel vom Blut. Der Commissario blickte nach oben: Etwa in der fünften Etage fehlte eine äußere Laufbohle. Und unten lag das -127-
entzweigebrochene Brett neben den Körperumrissen. Er hockte sich hin und prüfte die Bruchlinie des Brettes: Sie war ausgefranst, unregelmäßig, nichts wies darauf hin, dass man es präpariert hatte. Außerdem war das Brett alt. Die Szene sollte so aussehen, als sei Puka auf den Laufbohlen gegangen und dann abgestürzt, als plötzlich ein Brett durchbrach. Moment mal, überlegte der Commissario, wenn es so aussehen sollte, hatte der Mörder dann bedacht, dass Puka auf den darunter liegenden Bohlen hätte landen können und mit einem großen Schrecken und relativ unbeschädigt davongekommen wäre? Der so genannte Unfallhergang musste anders gewesen sein, sicherlich hatte der Täter an dieses Problem gedacht, aber das war nur festzustellen, wenn man wie ein Affe das Gerüst bis zum fünften Stock hinaufkletterte. Sehr witzig. Ich muss rauskriegen, was die Zeugen den Carabinieri erzählt haben, sagte er sich, Fazio hat bestimmt einen guten Spion bei denen. Das war sein letzter Gedanke. Erbarmungslos brach die Sintflut in Gestalt eines Hagels mit so dicken Körnern los, dass sie wie Steine auf seinen Kopf prasselten. Fluchend rannte Montalbano Richtung Auto, schlüpfte zwischen den Trassierbändern hindurch, riss die Tür auf, setzte sich ins Auto, ließ den Motor an. Und fuhr nicht los. Er fuhr nicht los, weil seine Füße sich weigerten, auf die Pedale zu drücken, sein Hintern saß schwer wie ein Betonklotz auf dem Sitz, sein ganzer Körper wehrte sich, er wollte diesen Ort nicht verlassen. »Ist ja gut«, sagte Montalbano zu sich selbst. Und als wollte er seinen Füßen und seinem Hintern beweisen, was er für Absichten hatte, lenkte er leicht zu der Durchfahrt hin. Sofort spürte er, dass er wieder normal wurde. Der Hagel hatte zugenommen, der Commissario brauchte den Scheibenwischer gar nicht einzuschalten, es -128-
hätte nichts genützt. Blind fuhr er drauflos, zerriss mit dem Auto die Trassierbänder und erreichte die große Baracke. Er hielt so nah wie möglich neben dem offenen Fenster, dann fasste er sich ein Herz, stieg aus und kletterte, wobei er ausrutschte, fluchte, sich schmutzig machte, auf die Motorhaube und schwang sich durch das Fenster. Bei der Landung prellte er sich die Schulter. Montalbano heulte auf vor Schmerz. Völlig durchnässt rappelte er sich hoch. In der Baracke war es stockfinster, bei dem Unwetter war es um fünf Uhr nachmittags dunkel. Nun hatte er gehorcht, was redete ihm sein Körper da noch ein? Sein Körper redete ihm gar nichts ein. Warum hatte er ihn dann da hineingeschickt? Montalbano fühlte sich wie in einer Trommel, die von Hunderten von Trommlern geschlagen wurde, das kam von dem Hagel auf dem Blechdach. Betäubt, blind und unter Schmerzen, die Arme vorgestreckt wie ein Schlafwandler, ging er drei Schritte und war aus irgendeinem Grund überzeugt, dass die Baracke leer sei. Also ging er schnell auf die Tür zu und schlug sich dabei heftig das linke Bein an der Kante einer Holzbank an. Genau an der Stelle, an der er sich zwei Tage vorher wehgetan hatte, als er im Bad ausrutschte. Der höllische Schmerz stieg ihm bis ins Hirn. Mit Schrecken stellte er fest, dass er taub geworden war. Wie konnte man denn das Gehör verlieren, wenn man sich ein Bein anschlug? Dann wurde ihm klar, dass die Aquariumsstille, die ihn mit einem Mal umgab, auf einen einfachen Umstand zurückzuführen war: Es hatte aufgehört zu hageln. Er erreichte die Tür, suchte den Schalter, fand ihn, knipste das Licht an. Es bestand keine Gefahr, dass jemand das Licht in den Fenstern bemerkt hätte, bei dem schauerlichen Wetter wagte sich kein Mensch in diese grässliche Steinwüste, in der die Baustelle lag. Die Baracke war sauber und aufgeräumt. Es -129-
gab einen langen Tisch, zwei Bänke, vier Stühle. Hinten drei Kammern: ein Klo und zwei Duschen. An der fensterlosen Wand war eine lange Garderobe angebracht. Fünf Haken waren von Overalls und weißen Malerklamotten belegt, über jedem dieser Haken hing ein gelber Helm an einem Nagel, die Arbeitsschuhe standen unter der jeweiligen Kluft am Boden. Zwar waren fünf Plätze belegt, aber zwischen dem dritten und dem vierten war ein leerer Haken, ohne Helm, ohne Schuhe, ohne Kleidung. Montalbano war sicher, dass dies Pukas Platz gewesen war, die Carabinieri hatten anscheinend alle persönlichen Gegenstände des Albaners mitgenommen. jetzt erklang eine Art leise Musik vom Dach, es regnete Bindfäden und Engelshaar. Er sah in die beiden Duschen, fand nichts. Kaum stand er in der sehr sauberen und ordentlichen Toilette, musste er pinkeln. Automatisch machte er die Tür zu. Als er fertig war und sich umdrehte, sah er, dass das Licht der Glühbirne, die von der Decke herunterhing, auf der metallenen Tür einen merkwürdigen Reflex in Regenbogenfarben hervorrief. Montalbano betrachtete ihn einen Augenblick, und da fielen ihm an einer Stelle etwas über Kopfhöhe eines durchschnittlich großen Mannes ein paar bräunliche Flecken auf, die von einer sichelförmigen Schramme ausgingen, einer Schramme, die von etwas Metallenem stammen musste, das mit Wucht gegen die Tür geschlagen war. Montalbano ging mit dem Gesicht so nah hin, dass er fast mit der Nase an die Tür stieß, und hatte keinen Zweifel mehr, das waren Flecken von geronnenem Blut, die auf der Oberfläche des lackierten Stahls intakt geblieben waren, auf einer Holztür wären sie vielleicht aufgesogen worden. Die Flecken waren ziemlich groß und reichten für sämtliche Analysen. Doch wie die Flecken abnehmen? Er musste unbedingt noch mal ins Auto. Er schob einen Stuhl an das Fenster, -130-
durch das er eingestiegen war, kletterte darauf und sah hinaus. Anscheinend hatte es aufgehört zu regnen. Er stemmte sich hoch, und als sein Oberkörper halb draußen war, fing es wieder an zu hageln, noch schlimmer als vorher. Das schlechte Wetter, oder wer auch immer, hatte ihm einen Hinterhalt gelegt. Wieder völlig durchnässt, setzte er sich ins Auto und nahm ein Taschenmesser und eine alte Plastikhülle seines Autoversicherungsscheins aus dem Handschuhfach. Er steckte beides ein und wartete rauchend, bis der Hagel vorbei war. Dann schaffte er es wie durch ein Wunder, auf der Motorhaube zu balancieren, aber kaum hatte er den Oberkörper vorgestreckt, um sich am Fenster festzuhalten, rutschten ihm beide Füße weg, als hätten sie sich abgesprochen, und er knallte mit dem Kinn geradewegs auf das Fensterbrett. Als er kopfüber zwischen Motorhaube und Barackenwand in den Matsch fiel, tröstete er sich mit dem Gedanken, dass es ihm jedenfalls besser erging als dem armen Puka. Als er nicht in einem Auto, sondern in einem merkwürdigen riesigen Schlammklumpen mit Eigenantrieb am Kommissariat vorfuhr, war Montalbano fix und fertig. Die Rückfahrt aus dem Tal, den Feldweg bergauf, der sich in Morast verwandelt hatte und auf dem er mal ins Schleudern geriet, mal im Sumpf stecken blieb, war sehr mühsam gewesen, außerdem taten ihm die Schulter und das Bein scheußlich weh. Als Catarella in dem Wrack, das zur Tür hereinkam, den Commissario erkannte, fing er an zu kreischen wie ein Truthahn, dem der Hals umgedreht wird. »Mafre santa, Dottori! Heilige Muttergottes, was ist denn mit Ihnen los? Sie sind ja ganz matschig! Sogar in Ihren Haaren ist Matsch!« »Reg dich ab, ist ja nichts passiert, ich geh mich gleich waschen.« -131-
Keine Chance. Catarella hakte den Commissario unter, der sich vergebens zu entwinden versuchte. In vollkommener Harmonie gingen sie den Flur entlang, denn da beide am linken Bein verletzt waren, neigten sie sich bei jedem Schritt gleichzeitig nach links. Fazio sah sie von hinten und konnte sich das Lachen kaum verkneifen. Als Montalbano sich im Bad wusch, hielt Catarella ihn an den Schultern fest, und der Commissario wurde langsam sauer, weil er ihn gar nicht mehr loswurde. »Dottori, Ihre Kleider sind ja ganz nass! Da werden Sie ja krank! Dottori, soll ich Ihnen einen Cognac holen?« »Nein.« »Dottori, bitte, tun Sie's für mich, schlucken Sie ein Aspirin! Ich hab eins in der Schublade!« »Gut, dann bring mir eins.« Gefolgt von Fazio ging Montalbano in sein Büro. »Ich habe mir schon langsam Sorgen gemacht.« »Hast du jemandem gesagt, dass ich auf der Baustelle war?« »Nein. Aber wenn Sie in einer halben Stunde noch nicht zurück gewesen wären, wäre ich hingefahren. Haben Sie was rausgefunden?« Montalbano wollte es ihm schon sagen, aber da kam Catarella herein, ein Glas und das Aspirin in der einen und einen Aniskeks in der anderen Hand. »Ich will keinen Keks.« »Doch, Dottori! Da bin ich jetzt ganz streng! Wenn Sie nichts im Bauch haben, dann kriegen Sie Bauchweh, wenn Sie das Aspirin nehmen, wenn Sie nichts im Bauch haben!« Montalbano wappnete sich mit Engelsgeduld und gehorchte. Erst als die ganze Operation beendet war, zog -132-
Catarella beruhigt ab. »Wo ist Augello?« »Beim Juwelier Melluso war ein versuchter Raubüberfall, Dottore. Melluso hat wie ein Irrer angefangen zu schießen, die beiden Einbrecher sind geflüchtet, weil sie nur Spielzeugpistolen hatten, laut Zeugenaussagen waren es zwei junge Burschen. Ergebnis: zwei verletzte Passanten.« »Hat der Juwelier einen Waffenschein?«
»Ja, leider.«
»Waren die Diebe Ausländer?«
»Nein, zum Glück nicht.«
Im Stillen freute sich Montalbano über das ›Leider‹
ebenso wie über das ›Zum Glück‹. Sie waren deutlicher als jede lange Rede. »Und?«, fragte Fazio, der es vor Neugier nicht mehr aushielt. »Ich bin zu einem ersten Ergebnis gekommen«, sagte der Commissario, »aber ich habe keine Lust, es dir zu sagen.« »Warum nicht?«, fragte Fazio. »Weil ich's Mimi dann noch mal erzählen muss, und das nervt.« Fazio sah ihn an, schloss die Tür, kam zurück, pflanzte sich vor dem Schreibtisch auf und fing an zu reden, in breitem Sizilianisch. »Pozzu parlari da omu a omu - kann ich von Mann zu Mann mit Ihnen reden?« i› Certu - klar.« »Wir alle mögen Sie gern und baden freiwillig Ihre beschissenen Launen aus, aber das dürfen Sie nicht ausnutzen. Verstehen Sie?« »Ja.« -133-
»Sie sind stinkig, weil Sie einen Aniskeks essen mussten, das vergessen Sie jetzt mal und erzählen mir, was Sie auf der Baustelle gefunden haben. Und wenn Sie keinen Bock haben, alles zweimal zu erzählen, dann erzähl eben ich es Dottor Augello.« Montalbano ergab sich. Er informierte Fazio ausführlich über alles, was er erlebt, was er getan, was er entdeckt hatte. Als er fertig war, zog er die Plastikhülle aus der Tasche und reichte sie Fazio. Das Blut war zu Staub zerfallen, es war nur noch ein fast unsichtbarer Strich dunkles Mehl am unteren Rand der Hülle. »Heb du das auf, Fazio. Es ist kostbar. Wenn das Blut, was ich sicher glaube, von Puka stammt, ist es ein eminent wichtiger Beweis.« »Wofür?« »Dafür, wie der Albaner getötet wurde. Denn meines Erachtens wurde Puka von seinem Mörder überrascht und angegriffen, als er zum Pinkeln auf dem Klo war. Puka, schon im Arbeitsanzug, aber noch ohne Schutzhelm, lässt die Klotür offen, der Mörder kommt und zieht ihm ein Eisenrohr über den Kopf. Aber während er das Eisen hebt, macht er hinter sich die Tür zu.« »Wieso?« »Weil das Klo von jedem, der zufällig an der Barackentür vorbeigeht, eingesehen werden kann. Dieses Risiko muss er ausschalten. Puka sackt tot auf die Kloschüssel, der Mörder schleift ihn raus für seine Inszenierung. Er muss mindestens einen Komplizen gehabt haben. Bevor sie wegen dem vorgetäuschten Unfall Alarm schlagen, säubern sie das Klo gründlich, aber die Flecken an der Tür sehen sie nicht, denn die steht offen, während sie putzen.« -134-
»Aber wie ist das Blut da hingekommen?« »Du musst bedenken, dass ich es zufällig entdeckt habe, weil mir dieser Lichtschimmer auffiel. Der Mörder schlägt einmal zu und holt aus, um ein zweites Mal zuzuschlagen. Aber es ist eng da drin, das Eisen knallt gegen die geschlossene Tür und hinterlässt einen sichelförmigen Kratzer, und bei diesem Schlag fliegen Blutstropfen von dem Eisen an die Tür. Doch einen zweiten Schlag braucht es gar nicht, Pukas Schädel ist schon zertrümmert.« Die Tür ging auf, Augello kam herein. »Fazio hat erzählt, dass du auf der Baustelle warst. Was hast du herausgefunden?« Montalbano stand auf. »Also, bis morgen«, sagte er. Und ging.
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Kapitel 4 Sechs tödliche Arbeitsunfälle innerhalb eines Monats allein in der Provinz Montelusa waren eine ganze Menge. Wie viele mochten es dann in ganz Italien sein? War das bekannt? Ja, gelegentlich zählte jemand sie, und dann erschien mit zerknirschtem Gesicht eine Fernsehjournalistin und erklärte Gott und der Welt, wie hoch doch diese Zahl sei, natürlich, aber sie bewege sich durchaus im europäischen Mittel. Und damit zu den Sportnachrichten. Das war's. Wie hoch war denn das europäische Mittel, dürfte man das erfahren? Nein, das sagten sie nicht. Denn diese Geschichte mit dem ›europäischen Mittel‹ war inzwischen nicht nur ein feines Alibi, sondern auch ein großer Trost. Die Arbeitslosigkeit um vier Prozent gestiegen? Kein Grund zur Sorge, sie lag ja nur leicht, eine Idee, über dem europäischen Mittel. Nicht so die Verkehrsunfälle, nein, die lagen unter dem europäischen Mittel, aber keine Bange, die Regierung wollte sich darum kümmern, und deshalb plante ein Minister eine Mindestgeschwindigkeit von hundertfünfzig Stundenkilometern, damit auch Italien mit den anderen Ländern dieses von den Banken gewollten schönen Europa mithalten konnte. Wie war man eigentlich auf die Bezeichnung Unfälle gekommen? Nein, Nicolò Zito hatte ganz richtig gesagt: Mordanschläge waren es, und als solche mussten sie angesehen werden. All das ging ihm durch den Kopf, während er die butterzarten Tintenfischchen aß, die Adelina zubereitet hatte, und allmählich verging ihm der Appetit, bis er ganz verschwunden war. Er stand auf, räumte den Tisch ab und trank einen Espresso, um den -136-
bitteren Geschmack im Mund loszuwerden. Dann legte er die Kassette von Nicolòs Sekretärin ein, setzte sich hin und sah sie sich an. Der erste Tote war ein bedauernswerter Mann, der in eine Sickergrube gefallen war. Der zweite ein Vater von drei kleinen Kindern, der bei lebendigem Leibe verbrannt war. Im dritten Fall war ein Seil mit einem Eisenträger gerissen, und der Eisenträger hatte den Mann, der darunter stand, zerquetscht. Der vierte Tod war gewissermaßen weniger einfallsreich, nämlich der übliche banale Sturz vom Gerüst. Beim fünften war die Fantasie durchgeschlagen: Ein Bauarbeiter hatte einen Kollegen, den er nicht gesehen hatte, mit Beton übergossen. Wie hieß noch mal dieser Roman des italoamerikanischen Schriftstellers Pietro di Donato, in dem auch so ein Fall erzählt wird? Ach ja, Christus im Beton. Es gab auch einen guten Film nach diesem Buch. Der sechste und letzte war Pukas Tod. Beim Anblick dieses Blutbades hatte es ihm den Magen umgedreht. Er brauchte eine Pause. Montalbano trat auf die Veranda, es war ein wunderbarer Abend. Er lief auf den Strand hinunter und schlenderte ganz langsam, einen Fuß vor den anderen setzend, am Wasser entlang. Eine gute halbe Stunde wanderte er, die salzige Luft munterte ihn allmählich auf. Dann kehrte er nach Hause zurück, schaltete den Fernseher ein und sah sich die Sequenz mit dem toten Puka immer wieder von vorn an. Aber auf dem Spaziergang musste er sich verkühlt haben, denn er spürte stechende Schmerzen in der verletzten Schulter. Wohl ein Dutzend Mal sah er sich die Bilder an, er ließ das Band vor- und zurücklaufen, stoppte, spulte, bis er nur noch Schatten vor den Augen sah. Da war nichts, was nicht stimmig gewesen wäre. Es sollte wie ein Unfall aussehen? Es sah aus wie ein Unfall. Er verglich die Sequenz über Puka mit der des anderen Bauarbeiters, Antonio Marchica, -137-
der ebenfalls vom Gerüst gefallen war. ja, etwas gab es schon, nämlich dass Pukas Körper, die Stellung seiner Beine und Arme, exakt aussah, wie man es erwartete, sodass es künstlich wirkte. Puka lag da, wie ein Regisseur es sich für Filmaufnahmen vorstellte. Marchicas Arme zum Beispiel sah man nicht, sie steckten beide unter dem Körper. Pukas rechter Arm dagegen lag in einem schönen Bogen über dem Kopf, und der linke mit etwas Abstand seitlich am Körper. Marchicas Gesicht sah man nicht, weil es in der Erde vergraben war, Puka lag im Profil da, und man sah einen großen Teil der Kopfwunde. Montalbano wäre nicht erstaunt gewesen, wenn eine Stimme »Ruhe! Wir drehen!« gerufen hätte. Aber er fragte sich: Wenn du nicht den anonymen Brief bekommen hättest und gewarnt gewesen wärst, hättest du dann auch dieses Gefühl von Inszenierung, von Theater gehabt? Er konnte die Frage nicht beantworten. Montalbano sah auf die Uhr, es war schon zwei. Er schaltete den Fernseher aus und ging ins Bad. Die Schulter schmerzte jetzt arg, und er kramte lange im Arzneischränkchen nach der Salbe, mit der Ingrid ihm einmal dieselbe Schulter eingerieben und die ihm gut getan hatte. Natürlich fand er sie nicht. Er legte sich ins Bett, drehte sich immer wieder um, bis er eine Lage fand, in der die Schulter nicht so wehtat, und schlief dann endlich ein. Er stand mit Livia ganz oben auf einer Klippe, und sie blickten auf das Meer unter ihnen. Plötzlich hörte man ein gewaltiges ›Krack‹. »Was war das?«, fragte Livia erschrocken. Da merkten sie, dass sie nicht am Rand einer Klippe, sondern auf einem Gerüst aus Eisenstangen und Brettern standen. Und ausgerechnet das Brett, auf dem sie beide standen, hatte das unheilvolle Geräusch von sich gegeben. »Krrraaack!«, -138-
machte das Brett noch mal und brach durch. Sie fielen ins Leere. Sie fielen und fielen, unendlich lange. Nach dem ersten Schreck und da sie in etwas hineinfielen, das anscheinend keinen Boden hatte, gewöhnten sie sich irgendwie ans Fallen. Es war ein langsames, gebremstes Gleiten, als ob die Schwerkraft halbiert wäre. »Wie geht's dir?«, fragte Montalbano. »So weit ganz gut«, antwortete Livia. Da sie nah nebeneinander flogen, fassten sie sich bei den Händen. Dann umarmten sie sich. Dann küssten sie sich. Dann zogen sie sich aus, und die Kleider segelten auf ihrer Höhe mit. Nachdem sie sich fünf Minuten lang geliebt hatten, landeten sie in einem Akrobatennetz, und lachend und immer wieder hochschnellend liebten sie sich weiter, bis jemand schrie: »Handschellen her! So was tut man nicht in der Öffentlichkeit! Ihr seid verhaftet!« Das schrie dieser Typ, der Maresciallo, der ihm in Montelusa aufs Dach gestiegen war, weil er den Hörer hingeknallt hatte. Montalbano wachte auf und verfluchte ihn. Da kam ihm eine verrückte Idee. Es war vier Uhr morgens. Er stand auf, ging ins andere Zimmer und wählte eine Nummer. Livias verschlafene und belegte Stimme meldete sich beim sechsten Klingelton, als der Commissario sich schon besorgt fragte, wieso sie um diese Uhrzeit noch nicht zu Hause war. »Wer ist da?« »Ich bin's, Salvo. Weißt du, dass ich gerade von dir geträumt habe?« »Fick dich, du blöder Wichser!« Er hatte sich verwählt, das war nicht Livias Stimme. Aber damit war ihm die Lust vergangen, die richtige Nummer zu wählen. Alle Müdigkeit war verflogen. Er ging in die Küche, um sich einen Espresso zu machen, und stellte mit Schrecken fest, dass nur noch ein paar Krümel -139-
in der Dose waren, die nicht mal für ein Tässchen gereicht hätten. Fluchend zog er sich an. jede Bewegung war von einem heftigen Stich in der Schulter begleitet. Montalbano fuhr zur Nachtbar am Hafen. Er trank einen extrastarken doppelten Espresso, kaufte vorsichtshalber hundert Gramm gemahlenen Kaffee, ging zurück zum Auto und blieb wie angewurzelt stehen. Er hatte am Tor eines Holzzauns geparkt, neben zwei Pfosten, an denen eine große Tafel angebracht war. Ein Zaun wie bei der Baustelle, auf der er gewesen war. Und das hier war auch eine Baustelle. Er sah auf das Schild. Die Idee, die ihm plötzlich gekommen war, hielt auch der zweiten und der dritten Prüfung stand. Warum sollte er dem nicht nachgehen? Es war zumindest eine Möglichkeit. Sein linker Arm baumelte schlaff am Körper, denn sobald er ihn bewegte, schmerzte die Schulter dermaßen, dass es sich anfühlte, als ob sie vor Wut brüllte. Die Fahrt von Marinella ins Kommissariat war mühsam gewesen, und als er sich jetzt aus dem Auto quälte, kam ihm Catarella entgegen, der zufällig vor dem Eingang gestanden hatte. »Ah Dottori Dottori! Tut's immer noch weh?«, fragte er und versuchte ihn praktisch Huckepack zu nehmen. »Hängen Sie sich an mich dran! Mein Bein tut nicht mehr weh! Mir geht's wieder gut!« »Warst du gestern bei der alten Frau?« »Ja, Dottori! Sie hat mir einen Nachtwickel gemacht, und heut Früh war ich ganz gesund!« Was bedeutete das? Der Commissario blickte verschwörerisch um sich. Er sprach ganz leise. »Gehst du heute Abend mit mir da hin?« Catarella blieb die Luft weg. »Matre santa, Dottori, was -140-
für eine Ehre!« »Aber wehe, du verrätst was, Catarè!« »Ich bin ein Grab, Dottori.« Der Commissario erzählte Fazio von den Aufnahmen, die er sich angesehen hatte. Dann sagte er, er sei, da er keinen Kaffee mehr im Haus gehabt habe, um vier Uhr morgens aufgestanden und zur Bar am Hafen gefahren, um welchen zu kaufen. »Was hat denn das damit zu tun?«, fragte Fazio. »Viel. Ich hatte neben zwei Pfosten mit einer Bautafel geparkt, du weißt schon, wo der Name der Firma, die die Arbeiten ausführt, die Nummer der Baugenehmigung und das ganze Zeug draufsteht.« »Ja und?«, fragte Fazio. »Auf der Kassette mit den angeblichen Unfällen ist von diesen Angaben keine Rede. Die musst du mir besorgen.« Er holte einen Zettel aus der Tasche und gab ihn Fazio. »Da steht, wo die Unfälle passiert sind und wie die Opfer heißen. Ich will alles wissen, die Namen der Baufirmen und der Auftraggeber, die Nummern der Baugenehmigungen… Verstehst du?« »Ich verstehe. Aber wozu brauchen Sie das alles?« »Ich will wissen, ob es einen gemeinsamen Nenner gibt.« »Einen gibt es.« »Welchen?« »Den Tod.« Die Bürotür flog auf, aber anstatt an die Wand zu knallen, prallte sie gegen einen Stapel mit -141-
unterschriftsfertigen Papieren, den Fazio auf dem Boden abgestellt hatte, flog genauso schnell wieder zurück und wollte ins Schloss fallen. Aber das gelang der Tür nicht, denn auf ihrer Flugbahn traf sie auf ein Hindernis: Catarellas Gesicht. Der stieß ein spitzes Gewieher aus und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. »Heilige Mariiiiiia! Ich hab Nasenbluten!« Was war das, ein Polizeikommissariat? Das war eine Ideenwerkstatt für Slapsticks, auf die Charly Chaplin und Larry Semon neidisch gewesen wären. Montalbano wartete geduldig, bis Catarella sein Taschentuch in die blutende Nase gestopft hatte. »Dottori, ich bitte um Verzeihung. Aber da ist ein Marisciallo von den Carrabinera gekommen, der will einfach nur mit Ihnen persönlich selber reden. Er sagt, dass er Verruso heißt.« Verruso? Hieß so nicht der Maresciallo, der im Fall Puka ermittelte? Verdammt, was wollte der? »Sag ihm, ich bin nicht da.« Er bereute es auf der Stelle. »Nein, Catarè, lass ihn rein.« Der Maresciallo, in Uniform, die Militärmütze unter dem linken Arm, erschien mit ausgestreckter rechter Hand in der Tür. »Ach, Sie?« Der Commissario war schon halb aufgestanden und verharrte mit ausgestreckter rechter Hand in dieser Haltung. Denn der Maresciallo war niemand anderes als der Mann, der ihm in Montelusa wegen der Geschichte mit dem Telefon die Leviten gelesen hatte. Und er war derselbe - aber das wusste Verruso nicht -, der ihm im Traum erschienen war und ihn aufgeweckt hatte, als er mit Livia schlief. Dann kehrte Leben in die Szene zurück, Montalbano lief um den Schreibtisch herum, der -142-
Maresciallo trat ein paar Schritte vor, und sie schüttelten sich endlich die Hand. Beide mit einem Lächeln auf den Lippen, das so falsch war wie eine in Neapel fabrizierte Rolex. Sie setzten sich. »Darf ich Ihnen etwas anbieten?« »Nein.« Es vergingen gut zehn Sekunden, bevor er hinzufügte: »Danke.« Matre santa, war der unfreundlich! Montalbano beschloss, keine Fragen zu stellen, sollte doch der das Gespräch anfangen. »Ermitteln Sie eigentlich im Fall Pashko Puka, Dottore?« »Wie war der Name?« Er beglückwünschte sich, die Verwunderung war ihm wirklich gut gelungen. Aber vielleicht war das ein Fehler gewesen, denn der Maresciallo sah ihn an und ging direkt zum Angriff über. »Signor Commissario, ich bitte Sie. Ich habe mit Dottor Pasquano gesprochen, er hat mich pflichtgemäß darüber informiert, dass Sie ihn aufgesucht, sich nach dem Ergebnis der Obduktion erkundigt und ihm auch gesagt haben, Puka sei möglicherweise in verschiedene Einbruchsdelikte verwickelt.« Montalbano gab sich geschlagen. Dieser Scheißkerl von Pasquano hatte ihn verraten. Was sollte er dem Maresciallo jetzt bloß erzählen? »Nun, es wurden uns Gerüchte, wohlgemerkt nur Gerüchte, zugetragen, dass dieser Albaner zusammen mit anderen Subjekten der hiesigen Unterwelt an…« »Verstehe«, unterbrach Verruso ihn sauer. Montalbano zog es den Mund zusammen, als hätte er eine saure Frucht -143-
gegessen. Es war klar, dass der Maresciallo genug hatte und kein Wort glaubte. »Nur Gerüchte?« »Ja, Maresciallo, nur vage Gerüchte.« »Keine Post?« Wenn der ihm in den Kopf geschossen hätte, wäre Montalbano weniger überrascht gewesen. Was wollte er mit dieser Frage andeuten? Worauf wollte er hinaus? Verruso erwies sich als ziemlich gefährlich. Während Montalbano sich auf der Suche nach einer Antwort das Hirn zermarterte, hatte Verruso seine Jackentasche geöffnet, einen Brief herausgeholt und ihn auf den Tisch gelegt. Montalbano sah ihn an und erstarrte: Der Brief sah genauso aus wie der, den er bekommen hatte. »Was ist das?«, fragte er, Erstaunen heuchelnd, aber diesmal spielte er wie ein Schmierenkomödiant. Der Maresciallo hatte anscheinend keine Lust, seine Zeit zu vertun. »Das müsste Ihnen eigentlich bekannt sein. Sie haben den gleichen Brief bekommen.« »Entschuldigen Sie, aber woher wollen Sie das wissen? Haben Sie etwa einen Maulwurf in meinem Kommissariat?«, fragte Montalbano und hob die Stimme. »Ich empfehle Ihnen, den Brief zu lesen.« »Das ist nicht nötig, wenn Sie meinen, ich hätte den gleichen Brief bekommen«, gab der Commissario zurück und versuchte, sarkastisch zu klingen. »In dem hier gibt es ein Post scriptum.« Tatsächlich. Und da stand: ICH WEISSE SIE HIN, DAS DER COMISARIO MONTALBANO DENSELBEN BRIF KRIGT, FALS SIE MEINEN, SIE WEREN BESONDERS SCHLAU. Sie schwiegen. -144-
»Und?«, fragte Verruso dann. Der Commissario überlegte hin und her. Er hatte zweifellos falsch gehandelt, es wäre seine Pflicht gewesen, den Brief an die Carabinieri weiterzuleiten und sich ansonsten aus der Sache rauszuhalten. Aber wenn er zugab, dass er ihn bekommen hatte, erstattete der Maresciallo vielleicht Meldung beim Questore, und dann gab es einen Mordskrach. Und Bonetti-Alderighi, der Herr Polizeipräsident, würde sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, ihn fertig zu machen und dafür zu sorgen, dass er aus dem Polizeidienst entlassen wurde. Er hatte sich strafbar gemacht, daran war nicht zu rütteln. Na gut, wenn er dafür bezahlen musste, dann würde er eben dafür bezahlen. »Ich habe den Brief bekommen«, sagte er so leise, dass er es fast selbst nicht hörte. Doch der Maresciallo hatte sehr gut gehört. »Sie wissen, dass Sie ihn unverzüglich an meine Vorgesetzten hätten weiterleiten müssen?« Er hatte den gleichen unangenehmen Ton an sich wie neulich, als er ihn wegen des Telefons angefahren hatte. Und wie in seinem Traum, als er ihm nicht erlaubte, sein Schäferstündchen mit Livia zu beenden. Vor allem diese Erinnerung wurmte ihn gewaltig. »Ich weiß das, ich mache den Job ja nicht erst seit gestern.« Er zog eine Schublade auf, nahm den Brief heraus und warf ihn auf den von Verruso. »Nehmen Sie ihn und hauen Sie ab.« Verruso rührte sich nicht von der Stelle und schien auch nicht beleidigt. »Sonst nichts?« »Was denn noch?« »Verzeihen Sie, Dottore, aber ich glaube Ihnen nicht.« -145-
»Wieso nicht?« »Weil es nicht zu Ihnen passt. Ich habe viel von Ihnen gehört, wie Sie arbeiten, wie Sie denken. Daher bin ich überzeugt, dass Sie den Brief nicht einfach in eine Schublade gelegt haben. Und wo wir schon mal im Gespräch sind…« Er unterbrach sich, beugte sich vor, nahm den an Montalbano adressierten Brief und reichte ihn ihm. »Lassen Sie ihn verschwinden. Meine Vorgesetzten sollten von der Geschichte besser nichts erfahren.« Verruso wollte also mit offenen Karten spielen, ohne Tricks und ohne Fallen. Der Mann verdiente Vertrauen und Respekt. »Danke«, sagte Montalbano. Er legte den Brief in die Schublade zurück. »Was haben Sie auf der Baustelle denn gefunden?«, fragte der Maresciallo unvermittelt. Montalbano blickte ihn bewundernd an. »Woher wissen Sie, dass ich auf der Baustelle war?« »Ich war auch da«, sagte Verruso.
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Kapitel 5 Zuerst war Montalbano verlegen, er schämte sich sogar. Nicht weil er bei etwas Ungesetzlichem beobachtet worden war, sondern weil Verruso, wenn er den ganzen Spektakel verfolgt hatte, inklusive Sturz kopfüber in den Matsch, sich bestimmt über ihn kaputtgelacht hatte. Er sah dem Maresciallo in die Augen, konnte aber von Spott oder Belustigung nichts entdecken. Die nächste Empfindung war psychosomatischer Art, denn seine Schulter stach ihn dreimal rasch hintereinander. »Haben Sie mich observiert?« »Das würde ich mir nie erlauben. Ich hatte vor, die Baustelle gründlich zu inspizieren, aber da habe ich Ihr Auto gesehen und…« »Woher wussten Sie, dass das mein Auto war?« »Ich hatte es doch in Montelusa gesehen, als wir diese… nun ja, Diskussion hatten. Und ich vergesse kein Nummernschild.« Er war eine echte Polizistennatur, gar keine Frage. »Aber wie kommt es, dass ich Sie nicht gesehen habe?« »Ich hatte außerhalb der Einzäunung geparkt, auf der anderen Seite der Baustelle. Ich habe gesehen, wie Sie durch das Fenster in die Baracke eingestiegen sind. Und da habe ich mich versteckt.« »Aber wieso denn? Sie hätten doch genauso gut plötzlich dastehen können, wie heute Nacht, und…« »Ich?! Heute Nacht?!«, rief Verruso überrascht. Montalbano fing sich rechtzeitig wieder. »Nein, entschuldigen Sie, ich meinte heute Morgen, nicht heute Nacht.« -147-
»Ich wollte Sie nicht stören. Wollte Sie nicht ablenken. Und dann bin ich auf die Motorhaube Ihres Wagens gestiegen und habe in die Baracke geschaut. Verzeihen Sie den Vergleich, aber Sie wirkten wie ein Hund, ein Jagdhund, der Witterung aufgenommen hat.« Es klopfte. Fazio wollte hereinkommen, blieb aber verstört in der Tür stehen. Er wusste nichts von Verrusos Besuch. »Guten Tag«, sagte er sehr kühl. »Guten Tag«, antwortete der Maresciallo nicht gerade begeistert. »Ich komm später wieder«, sagte Fazio. »Warte«, sagte Montalbano. »Bring mir dieses Plastiktütchen, das ich dir zum Aufbewahren gegeben habe. Ich will es dem Maresciallo zeigen.« Fazio wurde blass, als ob man ihn tödlich beleidigt hätte, öffnete den Mund, schloss ihn wieder, drehte sich um und verschwand. Der Commissario erzählte Verruso, was es zu erzählen gab. Das dauerte etwa zehn Minuten, und Fazio war immer noch nicht zurück. Dann klopfte es endlich, und Fazio erschien mit betrübter Miene. Theatralisch breitete er die Arme aus und schüttelte den Kopf. »Ich find's nicht mehr«, sagte er. »Ich hab alles abgesucht.« Und dann, an den Maresciallo gewandt: »Tut mir Leid.« »Ich verstehe«, sagte Verruso. Montalbano stand auf. »Komm, ich helfe dir suchen. Entschuldigen Sie mich, Maresciallo.« Draußen vor dem Büro packte er Fazio am Arm, sodass er ihn fast hochhob, und schob ihn vorwärts. »Was fällt dir eigentlich ein!«, zischte er. -148-
»Dottore, von mir kriegt der gar nichts. Die Tüte gehört uns!« »Ich geb dir fünf Minuten, damit Verruso denkt, wir würden wirklich suchen. Ich gehe solange draußen eine rauchen.« Er war sauer auf Fazio. Aber wenn sich der Maresciallo nicht als brauchbarer Kerl entpuppt hätte, hätte er dann nicht genauso reagiert und weiterhin geleugnet, einen anonymen Brief erhalten zu haben? »Da ist es«, sagte Fazio und ging schmollend wieder in sein Zimmer. Montalbano rauchte fertig und kehrte zum Maresciallo zurück. Der nahm das Tütchen, das der Commissario ihm reichte, und steckte es in die Tasche, ohne einen Blick darauf zu werfen, als sei es ganz unwichtig. »Maresciallo, sollte sich herausstellen, dass dieses Blut von Puka stammt, dann heißt das…« »Keine Sorge, Dottore. Ich lasse es zusammen mit dem anderen Blut untersuchen.« Dem anderen Blut? »Wissen Sie, Dottore«, geruhte Verruso zu erklären, »als Sie von der Baustelle wegfuhren, ließ ich zwei von meinen Leuten kommen. Wir untersuchten die Toilette sorgfältig und fanden hinter der Kloschüssel Blutflecken, die den Mördern beim Saubermachen entgangen waren. Denn Puka hat nicht einer allein umgebracht, meinen Sie nicht auch?« »Doch«, gab Montalbano reserviert zu. Dieser Maresciallo Verruso spielte Katz und Maus mit ihm. Aber war Verruso so sicher, die Katze zu sein? Und wie weit war er mit seinen Ermittlungen? Wie viel Vorsprung hatte -149-
er, wie weit war er ihm voraus? Vorsprung? Wie weit voraus? Was war das, etwa ein Wettlauf zwischen Polizei und Carabinieri? Sollten die das Problem doch selber lösen, sollten die sich doch drum kümmern! »Gut«, sagte Montalbano und gab damit zu verstehen, dass das Gespräch für ihn beendet sei. »Ich habe Ihnen alles gesagt und Ihnen das Beweisstück ausgehändigt. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen, ich habe zu tun…« Er stand auf und streckte ihm die Hand entgegen. Verruso sah sie an, als hätte er noch nie im Leben eine Hand gesehen, und blieb sitzen. »Vielleicht haben Sie nicht verstanden«, sagte er. »Was hätte ich denn verstehen sollen?« »Dass ich hier bin, um Ihnen zu sagen… um Sie zu fragen, ob Sie Lust haben, mir zu helfen… nicht offiziell, meine ich.« Montalbano musste lachen. Was war der Maresciallo doch für ein schlauer Fuchs! Er, Montalbano, löste den Fall, und Verruso heimste die Lorbeeren ein. »Und warum sollte ich das tun?« » »Weil ich todkrank bin.« Einfach so. »Sie scherzen doch, oder?« »Nein. Ich habe einen Krebs, der mich bei lebendigem Leib auffrisst. Ich bin allein, meine Frau ist vor drei Jahren gestorben, wir haben keine Kinder. Der einzige Sinn meines Lebens besteht darin, diejenigen, die es verdienen, hinter Gitter zu bringen.« »Wissen Ihre Vorgesetzten Bescheid?« »Nein. Aber die Ärzte sagen, dass ich nicht mehr lange so weitermachen kann, vielleicht noch ein, zwei Wochen, dann muss ich ins Krankenhaus, um mich… jedenfalls -150-
fürchte ich, dass ich bei der knappen Zeit, die mir noch bleibt, nicht mehr viel zuwege bringe. Aber wenn Sie… Welche Entscheidung Sie auch treffen, ich bitte Sie jedenfalls, niemandem etwas von meiner Krankheit zu sagen.« »Haben Sie aus irgendeinem Grund besonderes Interesse an diesem Fall?« »Überhaupt nicht. Ich mag nur nichts halb fertig liegen lassen.« Hut ab. Nein, viel mehr als das: Respekt. Für den heiteren Mut, die gelassene Entschlossenheit dieses Mannes. Montalbano hatte einmal einen Vers gelesen, in dem in etwa stand, was einem zu leben helfe, sei der Gedanke an den Tod. Nun, der Gedanke vielleicht schon, aber die Gewissheit des Todes, seine Präsenz tagaus, tagein, seine ständigen Symptome, sein grausames Ticken - in diesem Fall war der Tod ja wie ein Wecker, der nicht zum Aufwachen, sondern zum ewigen Schlaf läutete -, hätte all das in ihm, Montalbano, nicht eine unsägliche, unerträgliche Angst ausgelöst? Woraus bestand dieser Mann, der ihm da gegenübersaß? Nein, überlegte er, er ist aus Fleisch und Blut, wie ich auch. Denn wenn es zur Sache geht, wenn es endgültig so weit ist, entdeckt wohl jeder Mensch in sich eine unverhoffte und barmherzige Kraft. »Einverstanden«, sagte er. Und setzte sich wieder. »Danke«, sagte der Maresciallo. Montalbano stand sofort wieder auf. »Bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick.« Sein Hals war mit einem Mal wie zugeschnürt, womöglich fehlte nicht viel, und er wäre in Tränen ausgebrochen. Er ging in die Toilette, trank einen Schluck Wasser und wusch sich das Gesicht. Auf dem Rückweg sah er kurz bei Fazio rein. -151-
»Wie weit bist du mit deiner Recherche?« »Mittendrin«, antwortete Fazio unfreundlich und mit missmutigem Gesicht. Die Geschichte mit der Plastiktüte hatte er einfach nicht schlucken können. Du hast ja keine Ahnung, was dich noch erwartet, dachte der Commissario belustigt. Er kehrte an seinen Schreibtisch zurück. Seit Verruso das Zimmer betreten hatte, saß er in derselben Haltung da, die Schuhe genau parallel nebeneinander. »Möchten Sie wirklich nichts? Einen Espresso oder sonst etwas zu trinken?«, fragte Montalbano, aber eigentlich nur, weil er wissen wollte, ob er Verruso aus seiner Starre lösen konnte. »Nein, danke.« Wenigstens diesmal war danke sofort auf das Nein gefolgt. Montalbano legte gleich los. »Was haben Sie denn in der Hand?« »Nichts Brauchbares. Pashko Puka wohnte in Montelusa in einem vierstöckigen Haus, das aus unerfindlichen Gründen noch nicht in sich zusammengefallen ist. Eine Dreckbude. Da schlafen Albaner, Kurden, Araber, Kosovaren. Mindestens zu viert in einem Zimmer.« »Haben sie es besetzt?« »Ach was! Das Haus gehört dem rechten Stadtrat Francesco Quarantino, der gegen die Einwanderung ist. Aber da er ein großzügiger Mensch ist, wie er bei jeder Gelegenheit erzählt, überlässt er das Haus diesen armen Teufeln, bis sie wieder verjagt werden. Zu monatlich dreihunderttausend pro Bett. Doch Puka zahlte anderthalb Millionen, weil er ein Zimmer für sich und ein eigenes Bad mit einer Art rudimentärer Dusche hatte. Und das ist -152-
sehr sonderbar, er gönnte sich einen Luxus, den er sich bei seinem Lohn eigentlich nicht erlauben konnte.« »Na ja, das war nicht sein einziger Luxus. Er ging zum Beispiel auch zur Fußpflege.« Der Maresciallo wurde nachdenklich. »Stimmt. Ich habe den nackten Leichnam gesehen. Sehr gepflegt. Die Körperpartien, die gewöhnlich nicht der Sonne ausgesetzt sind, waren schneeweiß, auch die Brust und der Rücken, die durch das Unterhemd geschützt waren. Ich hatte ein seltsames Gefühl.« Er schien durcheinander und wollte nicht weitersprechen. »Sagen Sie es mir.« »Wissen Sie, Dottore, ich traue Gefühlen nicht.« Ich schon, dachte Montalbano. »Sagen Sie es mir«, bat er noch einmal. »Ich weiß nicht, aber es kam mir vor, als sei diese Leiche aus Stücken zusammengesetzt, die zu zwei verschiedenen Männern gehörten.« »Vielleicht waren es zwei verschiedene Männer.« Der Maresciallo begriff sofort. »Sie meinen, Puka war nicht der, als der er erscheinen wollte?« »Genau. Was steht denn in seinen Papieren?« »Die haben wir nicht gefunden. Weder in seinem Zimmer noch in den Kleidern, die er trug, als er umgebracht wurde.« »Man hat sie ihm also abgenommen. Man wollte seine Identifizierung verhindern.« »Aber wir haben ihn identifiziert!« »Zur Hälfte. Den Bauarbeiter. Apropos - sind Sie eigentlich sicher, dass er so hieß?« »Sicher ist nur der Tod.« -153-
Das war ihm so rausgerutscht. Er grinste, Verruso grinste über sich selbst. Ein Grinsen ohne Lippen, ein Schnitt durchs Gesicht. Dann sprach er weiter. »Der Bauunternehmer, für den er arbeitete und der übrigens nie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen ist und als anständiger Mann gilt, hatte sich die Nummern der Aufenthaltsgenehmigung und der Arbeitserlaubnis notiert. Aber er kann sich erinnern, dass Puka einen Pass dabeihatte, als er sich vorstellte.« »Welcher Immigrant kommt schon mit einem richtigen Pass? Sicher nicht viele.« »Stimmt. Aber Puka hatte einen.« »Haben Sie jemanden befragt, der ihn kannte?« »Befragt habe ich die Leute schon. Aber niemand hatte irgendwas mit ihm zu tun. Man wurde nicht warm mit ihm. Nicht dass er abweisend oder arrogant gewesen wäre, im Gegenteil. Es war sein Wesen. Aber in seinem Zimmer gab es etwas Seltsames. Oder vielmehr, etwas gab es nicht.« »Nämlich?« »Da war kein Brief aus seinem Land. Kein Foto. Kann das sein, dass er in Albanien niemanden hatte?« »Wissen Sie, ob er hier eine Frau hatte?« »Sie haben nie gesehen, dass er eine Frau mit aufs Zimmer brachte, weder am Tag noch in der Nacht.« »Vielleicht war er homosexuell.« »Vielleicht, ja. Aber alle, mit denen ich gesprochen habe, haben es ausgeschlossen.« Die Frage kam nicht aus seinem Kopf, sondern direkt von seinen Lippen, unkontrolliert, wie eingeflüstert. »Wie sprach er? Haben seine Kollegen an seinem Akzent gehört, aus welcher Ecke in Albanien er stammte?« -154-
Der Maresciallo sah ihn bewundernd an. »Nach den Papieren, die er der Baufirma vorlegte, wurde er in Valona geboren. Ich habe auch die anderen Albaner gefragt, was für einen Akzent er hatte, aber sie konnten es mir nicht sagen. Übrigens hat Puka, als er ausnahmsweise mal ein paar Worte mit seinen Landsleuten wechselte, gesagt, er habe sich schon früher, während der kommunistischen Regierungszeit, einmal für lange Zeit in Italien aufgehalten.« »Soweit ich mich erinnern kann, erlaubte Albanien damals weder die Einreise noch die Ausreise.« »Ja, stimmt. Es sei denn, dieser Puka gehörte zum diplomatischen Corps und genoss bestimmte Vergünstigungen. Dann fiel er in Ungnade und war gezwungen zu emigrieren, um sich sein Brot zu verdienen. Das würde auch erklären, warum ich in seinem Zimmer zwei elegante Anzüge, ein Paar Markenschuhe und Unterwäsche von guter Qualität gefunden habe.« »Aber wie verdiente er sein Geld?« »Sicher nicht als Bauarbeiter.« »Wir sind an einem toten Punkt.« »Ich habe das Konsulat und die Botschaft von Pukas Tod unterrichtet, damit sie eventuelle Verwandte in Albanien benachrichtigen können. Das Konsulat hat mir heute Morgen ein Fax geschickt. Sie stellen Nachforschungen an und informieren mich dann. Vielleicht kommt ja irgendwas dabei heraus.« »Wir wollen es hoffen. Haben Sie in Erfahrung gebracht, wie der Unfall passiert ist?« »Es gibt keine Zeugen.« »Wie bitte?« »Architekt Manfredi, der Bauleiter, sagte, man habe -155-
morgens einen Trupp von sechs Leuten erwartet. Als drei von ihnen, und zwar…« Er holte einen Zettel aus der Tasche. »… Amedeo Cavaleri, Stefano Dimora und Gaetano Miccichè, auf die Baustelle kamen, haben sie Pukas Leiche gleich gefunden, er war also schon vor ihnen da. Was der Wachmann bestätigt.« »Hat der Wachmann sonst noch was gesehen?« »Nein. Er ist dann ins Bett gegangen, weil er vor Zahnschmerzen die ganze Nacht nicht schlafen konnte.« »Wie ist der Albaner zur Arbeit gekommen?« »Mit dem Moped, das wir auf der Baustelle gefunden haben. Und die drei Bauarbeiter sind zusammen in Dimoras Auto gefahren.« »Zwei fehlen noch.« »Genau. Ein Rumäne, Anton Stefanescu, und ein Algerier, Ahmed ben Idris, kamen fünf Minuten später zusammen auf einem Moped.« »Wer hat Sie verständigt?« »Dimora, er ist mit seinem Auto gekommen.« »Was haben denn die Bauarbeiter für eine Erklärung? Denn wenn das Brett unter seinen Füßen gebrochen ist, hätte Puka innerhalb des Gerüstes stürzen müssen, also auf das darunter liegende Brett, ohne großen Schaden davonzutragen.« »Das habe ich mir auch überlegt. Aber man hat mir erklärt, dass Puka wahrscheinlich mit dem Bauch am Geländer lehnte und die Arme nach dem Lastenaufzug ausstreckte. Als er merkte, dass das Brett unter ihm nachgab, hat er sich instinktiv mit dem ganzen Körper nach vorn gelehnt, und dabei hat er Übergewicht bekommen und ist abgestürzt. Anscheinend hatte er nicht -156-
mal den Schutzhelm festgeschnallt, denn den hat er im Fall verloren. Das ist eine plausible Rekonstruktion.« Montalbano bemerkte, dass die Stirn des Maresciallo seltsam glänzte. Verruso fing an zu schwitzen, aber er rührte sich nicht, machte keine Bewegung. »Sind die anderen Bauarbeiter aus dem Trupp vorher schon mal auffällig geworden?« »Keiner. Doch das - Sie wissen das besser als ich, Dottore heißt überhaupt nichts.« »Stimmt. Dieser Bauunternehmer… wie heißt er noch mal?« »Alfredo Corso.« »Dieser Signor Corso stellt oft Ausländer ein. In unserem Fall kommen drei von sechs Bauarbeitern aus dem Ausland.« »Alle mit ordentlichen Papieren. Er ist ein Mensch mit Herz und Verantwortungsgefühl. Er hat mir erzählt, dass er selbst Emigrant war, in Deutschland, und daher Verständnis für bestimmte Situationen hat.« Er stand unvermittelt auf. jetzt war sein Gesicht schweißnass. »Ist Ihnen nicht gut?« »Nein.« Montalbano erhob sich ebenfalls. »Kann ich etwas für Sie tun?« »Nein, danke. Dottore, es ist besser, wenn ich mich hier nicht mehr sehen lasse, und es scheint mir auch nicht günstig, wenn Sie zu uns kommen. Rufen Sie mich an, ruhig schon morgen, dann verabreden wir uns. Ich danke Ihnen für alles.« Er gab ihm die Hand, der Commissario schüttelte sie. Aber als Verruso an die Tür gehen wollte, kam er aus dem -157-
Tritt und verlor das Gleichgewicht. Montalbano war gleich bei ihm und packte ihn an den Schultern. »So können Sie nicht fahren. Ich bringe Sie.« »Nein, danke«, sagte Verruso fest. »Es genügt, wenn Sie mich zum Auto begleiten.« Er stützte sich auf Montalbanos Arm. Sie verließen das Zimmer, gingen den Flur entlang und auf den Eingang zu. Als sie an Catarella vorbeikamen, riss er Mund und Augen auf und ließ den Telefonhörer fallen. Er sah aus wie der erschrockene Hirte, der in keiner Krippe fehlt und vor der Grotte, in der das Jesuskind geboren ist, die Arme zum Himmel erhebt. Montalbano wartete, bis der Maresciallo ins Auto eingestiegen und losgefahren war. Dann ging er zurück. Catarella hatte sich immer noch nicht gefangen und stand da wie zur Salzsäule erstarrt.
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Kapitel 6 Es war Zeit, zum Essen zu gehen, und Fazio war immer noch nicht aufgetaucht. Die Bürotür stand offen, daher rief Montalbano laut nach ihm. Fazio eilte herbei, blieb aber auf der Schwelle stehen. Er streckte nur den Kopf ins Zimmer seines Chefs und spähte vorsichtig herum, vielleicht hatte sich der Maresciallo ja versteckt und kam plötzlich zum Vorschein. Montalbano wollte schon die berühmten Worte der beiden Komiker De Rege sagen: »Komm schon rein, du Blödmann!« Aber er nahm sich zusammen, Fazios Laune war schon schlecht genug, er musste ihn nicht noch zusätzlich reizen. »Und? Bist du immer noch nicht fertig?« »Doch, Dottore, seit einer halben Stunde.« »Und wieso kommst du jetzt erst?« »Ich wollte unangenehme Begegnungen vermeiden.« Was sollte er tun? Ihn beschimpfen? Oder so tun, als ob nichts wäre, und auf eine andere Gelegenheit warten? Er entschied sich für letztere Möglichkeit, als hätte Fazio nicht gespottet. Der hatte inzwischen den Zettel, den Montalbano ihm gegeben hatte, auf den Tisch gelegt. »Das können Sie sich selber ansehen.« »Was heißt das?« »Dottore, ansehen heißt normalerweise ansehen. Auch in diesem Fall.« Fazio war wirklich sauer. Aber jetzt reichte es dem Commissario. »Wenn du dich nicht innerhalb von fünf Sekunden entschuldigst, kriegst du einen Tritt in den Arsch. Und es -159-
ist mir scheißegal, wenn du mich beim Questore, bei der Gewerkschaft, dem Staatspräsidenten und dem Papst verpetzt.« Er sagte es leise, und Fazio begriff, dass er den Bogen überspannt hatte. »Entschuldigung.« »Also los, red schon, ich hab nicht so viel Zeit.« »Zwei Unglücksfälle haben etwas gemeinsam. Der Mann, der von dem Eisenträger zerquetscht wurde, und der Albaner haben für dieselbe Baufirma gearbeitet, die Santa Maria von Alfredo Corso.« »Beide mit demselben Bauleiter?« »Nein.« Mehr sagte er nicht. Fazio war sehr zugeknöpft. Nach einer Weile fragte er: »Haben Sie weitere Anweisungen?« »Nein. Ich wollte dir nur noch sagen, dass wir uns nicht weiter mit dem Tod des Albaners befassen. Dafür ist der Maresciallo zuständig, und es war ein Fehler, dass wir uns eingemischt haben. In Ordnung?« »Wie Sie meinen. Und was mache ich mit dem Zettel hier?«, fragte er und nahm das Blatt vom Tisch. »Putz dir den Hintern damit ab. Ich gehe jetzt essen.« Catarella rannte hinter ihm her, hielt ihn am Eingang auf und redete mit verschwörerischer Stimme auf ihn ein. »Ist der denn mit Ihnen verwandt, Dottori?« »Wer?« »Der Marisciallo.« »Quatsch!« »Dann bitt ich um Verzeihung, aber warum war der dann an Ihrem Arm?« »Catarè, als ich heute Morgen aus dem Auto stieg, hab -160-
ich mich da nicht bei dir eingehängt?« »Stimmt.« »Und sind wir etwa miteinander verwandt, du und ich?« »Meine Güte! Stimmt! Dottori, kein Mensch auf der Welt kann die Sachen so gut erklären, wie Sie sie gut erklären können!« Aber er besann sich augenblicklich. »Aber, Dottori, der Maresciallo ist nicht aus seinem Auto ausgestiegen! Das ist doch was anderes!« Satt und zufrieden erhob er sich vom Tisch, als Mimi hereinkam. »Wo warst du denn den ganzen Vormittag?« »Heute Nacht war ein Einbruchsdiebstahl. Aber es war weder ein Einbruch noch ein Diebstahl.« »Und was dann?« »Versuchter Versicherungsbetrug.« »Und du bist hier, um mir das zu erzählen?« »Nein, zum Essen. Aber ich wollte die Gelegenheit nutzen.« »Dann red schon, ich brauche frische Luft und will ans Wasser.« »Ich war im Kommissariat.« »Verstehe. Fazio hat dir vom Maresciallo erzählt.« »Ja.« »Mimi, ich habe versucht, ihm die Lage zu erklären, aber er will nichts davon hören. Dieser Maresciallo Verruso ist zu mir gekommen, weil er von Dottor Pasquano erfahren hatte, dass ich mich mit dem Albaner befasse. Ich wollte ihm auf die Nase binden, Puka sei möglicherweise in ein paar Einbrüche verwickelt, aber das hat er nicht geschluckt. Da habe ich ihm die Wahrheit von -161-
dem anonymen Brief und allem erzählt. Er hat sich nicht aufgeregt, war nicht eingeschnappt, hat nicht gedroht, er hat mich nur freundlich gebeten, mich rauszuhalten. Und das habe ich ihm versprochen. Das ist alles. Dabei hätte er uns die Hölle heiß machen können. Im Unrecht waren wir, Mimi, und er hat das nicht ausgenutzt. Versuch du, das diesem Dickschädel von Fazio begreiflich zu machen.« Bei seinem Denk- und Verdauungsspaziergang Richtung Leuchtturm, dachte er, dass er jetzt allein weiterermitteln und das sogar vor Mimi und Fazio geheim halten musste. Er durfte nicht riskieren, dass herauskam, was Verruso ihm anvertraut hatte. Eine halbe Stunde saß er auf seinem Felsen und dachte nach. Dann kehrte er ins Büro zurück, schlug das Telefonbuch auf und wählte eine Nummer. Man sagte ihm, Signor Corso sei im Büro und habe, wenn er sofort komme, eine Viertelstunde Zeit für ihn, dann müsse er dringend nach Fiacca. Alfredo Corso war ein dicker Siebzigjähriger mit einem rundlichen, faltenlosen Gesicht. Er hatte hellblaue Augen und musste ein launischer Mensch sein. Montalbano war ihm anscheinend unsympathisch, denn als der Commissario eintrat, schnauzte Corso ihn sofort an. »Was wollen Sie von mir? Ich habe keine Zeit.« »Ich auch nicht«, sagte der Commissario. »Ich komme wegen des Albaners, der auf Ihrer Baustelle umgekommen ist.« »Und wo ist die Finanzpolizei, he? Und die Forstpolizei, he?« »Ich verstehe nicht.« »Wie bitte, kümmern sich um diesen Unfall denn nicht die Carabinieri? Mischt die Polizei bei so was jetzt auch -162-
noch mit?« »Nein, ich komme ja nicht wegen des Unfalls, sondern weil dieser Pashko Puka möglicherweise in einen Einbruch verwickelt war.« Alfredo Corso sah ihn an und musste lachen. »Finden Sie das komisch?« »'Un ci criu - das glaube ich nicht.« »Sie müssen das nicht glauben… Warum glauben Sie es denn nicht?« »Weil ich, mein Verehrtester, die Leute auf den ersten Blick durchschaue. Ich sehe sie mir einmal an und weiß sogar, was sie denken. Und Puka, der arme Kerl, hat bestimmt nicht geklaut.« »Hat Ihre Intuition Sie nie im Stich gelassen?« »Nie. Ich suche die Leute, die bei mir arbeiten wollen, persönlich aus. Ich habe mich noch nie geirrt.« »Bei den Ausländern auch nicht?« »Die Ausländer, mein Verehrtester, egal ob sie schwarze oder gelbe Haut haben, sind Menschen wie Sie und ich. Da gibt es keinen Unterschied.« »Apropos, Sie beschäftigen doch viele Immigranten, und…« Corsos Gesicht flammte auf wie ein Streichholz. »Sollen die vielleicht verhungern?« »Nein, Signor Corso, ich…« »Soll man sie zwingen zu klauen? Zu dealen?« »Signor Corso, ich…« »Mädchen auf den Strich zu schicken?« Montalbano schwieg, er begriff, dass er keine Chance hatte, Corso musste sich erst mal abreagieren. »Ihre Kinder zu verkaufen? Sagen Sie selbst.« -163-
»Sind Sie gläubig?«
Die Frage irritierte Corso.
»Was zum Teufel tut denn das zur Sache, ob ich gläubig
bin oder nicht? Nein, ich bin nicht gläubig. Aber fast dreißig Jahre Emigrantenleben erst in Belgien und danach in Deutschland haben mir gereicht, um diese Leute zu verstehen, die aus Verzweiflung ihr Land verlassen.« »Wie stellen Sie die Ausländer ein?«
»Sie werden mir vermittelt.«
Montalbano bemerkte ein winziges Zögern. »Von
wem?« »Was weiß ich… von der Caritas, solchen Organisationen eben, von der Präfektur…« »Und von wem wurde Ihnen speziell Puka vermittelt?« »Weiß ich nicht mehr.« »Denken Sie nach.« »Catarina!« Sofort ging die Tür des Nebenzimmers auf, und eine hoch gewachsene, gut aussehende, elegante Dreißigjährige erschien. Ein Prachtexemplar von einer Sekretärin. »Catarina, wer hat uns Puka vermittelt?« »Ich schaue rasch in den Computer.« Sie verschwand und erschien gleich wieder. »Das Polizeipräsidium.« Corso geriet in Zorn und fing an zu schreien. »Das Polizeipräsidium! Haben Sie gehört, Commissario? Das Polizeipräsidium! Und Sie kommen her und erzählen so einen Mist!« Da tat die Sekretärin etwas, was sie in Gegenwart eines Fremden nicht hätte tun sollen. Sie trat hinter den Schreibtisch, legte Corso den Arm um die Schultern und -164-
küsste ihn auf die Glatze. »Hör auf, sonst steigt dein Blutdruck wieder.« Sie ging zurück in ihr Büro. Die beiden machten wirklich kein Hehl aus ihrer Beziehung. »Sie sind doch…«, fing Montalbano an. Er wollte ›Witwer‹ sagen, bremste sich aber gerade noch. Etwas in den Augen des Mannes ließ ihn die Wahrheit ahnen. »Was sagten Sie gerade?«, fragte Corso, der sich wieder beruhigt hatte. »Nichts. Ihre Tochter, nicht wahr?« »Ja, ich war nicht mehr der Jüngste. Wie Sie also sehen, mein Verehrtester… das Polizeipräsidium wird mir wohl kaum einen Dieb vermittelt haben, oder?« Montalbano breitete die Arme aus. Er musste es irgendwie bewerkstelligen, mit der Tochter und Sekretärin allein zu sprechen. Nachdem sie ihren Vater geküsst und sich wieder aufgerichtet hatte, hatte sie ihm rasch einen so eindeutigen Blick zugeworfen, als hätte sie gesagt: Ich muss mit dir reden. »Ich weiß, dass Sie keine Zeit haben«, sagte er und machte ein betrübtes Gesicht, »aber ich muss Sie um weitere Auskünfte über…« »Kommt gar nicht in Frage! Ich bin sowieso schon spät dran!«, brüllte Signor Corso. Er stand auf. »Catarina!« »Ja«, sagte die junge Frau, die im Nu wieder erschienen war. Stand sie etwa immer hinter der Tür und wartete darauf, dass sie gerufen wurde? »Catari, hilf du dem Herrn. Wir haben schließlich nichts zu verbergen. Auf Wiedersehen.« Er ging und ließ dem Commissario nicht mal Zeit, den Gruß zu erwidern. »Kommen Sie doch herein«, sagte Catarina, während sie die Tür zu ihrem Büro öffnete und -165-
beiseite trat, um Montalbano vorzulassen. Der Raum war ziemlich groß, die Möbel altmodisch, nicht aus Chrom oder in undefinierbarem Stil. Eine Ausnahme bildeten nur der Computer und zwei Telefone, solche, die alles können, vom Faxen bis zum Kaffeekochen. Auf einer Seite gab es eine Sitzecke. Die junge Frau bat den Commissario, auf dem Sofa Platz zu nehmen, sie selbst setzte sich in einen Sessel. Man sah ihr an, dass sie ein bisschen verlegen war. »Wollten Sie wirklich weitere Auskünfte, oder haben Sie verstanden, dass ich…« »Ich habe verstanden, dass Sie mit mir reden wollen, aber nicht in Gegenwart Ihres Vaters.« »Und genau das bereitet mir Unbehagen.« »Wieso?« »Ich spreche ungern über meinen Vater, ohne dass er es weiß, aber es ist zu seinem Besten. Wenn ich vorhin erwähnt hätte, was ich Ihnen jetzt sagen werde, hätte er sich aufgeregt. Er hat sehr hohen Blutdruck und schon einen Infarkt hinter sich.« Montalbano hatte auf ihrem Schreibtisch zwei gerahmte Fotografien gesehen: Eine zeigte einen etwa fünfjährigen Jungen, die andere einen Mann um die vierzig, der aussah wie Alfredo Corso dreißig Jahre zuvor. Manche Frauen heiraten Männer, die ein Ebenbild ihres Vaters sind. »Signora Catarina«, fing er an. »Caterina, bitte. Catarina nennt mich nur mein Vater, ich weiß nicht warum.« »Signora, ich verspreche Ihnen, dass Signor Corso nie von unserem Gespräch erfahren wird.« »Entschuldigen Sie, aber ich glaube, Sie haben nicht verstanden. Es geht nicht darum, ob mein Vater etwas -166-
erfährt oder nicht, sondern darum, dass ich manches hinter seinem Rücken tue.« Montalbano horchte auf: manches? »Ich bin verheiratet und habe einen Sohn, er heißt Alfredo wie mein Vater. Mein Mann heißt Giulio. Giulio Alberganti.« Sie sah Montalbano an, als erwarte sie eine Reaktion, aber der Commissario hatte den Namen noch nie gehört. Was hatten diese Erklärungen überhaupt mit der PukaGeschichte zu tun? Was faselte Signora Catarina, pardon, Caterina da? »Freut mich«, sagte Montalbano mit einem Hauch, einem Häuchlein Ironie. Doch die blieb der Frau nicht verborgen. Sie war schön und klug. »Sie glauben, ich würde zu weit ausholen, aber ich bin bereits mitten im Problem. Mein Mann ist ein Kollege von Ihnen. Oder fast. Ich lebe hier mit dem Kind, weil ich meinen Vater nicht allein lassen will. Giulio arbeitet in Rom. Wir sehen uns leider nur selten.« Montalbano sagte kein Wort, aber er begriff immer noch nicht, worauf die Frau hinauswollte. »Als Sie fragten, wer meinem Vater Puka vermittelt hat, antwortete ich, das Polizeipräsidium. Das hatte ich ihm auch gesagt, und so steht es im Computer. Aber es stimmt nicht.« »Sie haben Pukas Namen von Ihrem Mann«, sagte Montalbano. »Und Sie sollten Ihrem Vater sagen, das Polizeipräsidium hätte ihn genannt.« Caterina sah ihn bewundernd an und nickte. »Haben Sie Ihren Mann über den Unfall informiert?« »Das ist mir nicht gelungen. Im Büro sagte man mir, er -167-
sei nicht im Haus, zu Hause meldete sich niemand, und er selbst hat nicht angerufen. Aber ich habe mir keine Sorgen gemacht, denn das kommt öfter vor. Wissen Sie, mein Mann ist…« »Ich will es gar nicht wissen«, sagte Montalbano. »Ich kann es mir vorstellen.« »Aber es gibt noch etwas«, sagte Caterina leise. »Was denn?« »Etwas sehr Heikles. Kennen Sie einen Bauunternehmer namens Vincenzo Scipione?« »Den man 'u zu Cecè nennt? ja.« »Dieser Mann war schon immer ein Konkurrent meines Vaters. Er ist ein Mafioso, und das sage nicht ich, das sagen die Urteile, die bis vor kurzem über ihn verhängt wurden. Aber jetzt hat sich seine Lage geändert, der Abgeordnete Posacane tanzt nach seiner Pfeife. Mein Vater wollte mit der Mafia nie etwas zu tun haben, auch wenn so mancher behauptet, man müsse sich mit ihr arrangieren. Und er hat dafür gebüßt: Betrug bei der Vergabe von Aufträgen, in Brand gesetzte Baumaschinen, Kreditverweigerung von Seiten bestimmter Banken, Drohanrufe, anonyme Briefe und so weiter und so fort. Dann passierte vor vier Monaten der erste Unfall auf einer unserer Baustellen, in Gibilrossa.« »Das wusste ich nicht«, sagte Montalbano. »Ich weiß von zwei Fällen: dem Arbeiter, der von einem Eisenträger erschlagen wurde, und Puka. Was war passiert?« »Ich muss etwas vorausschicken. Es hat auf unseren Baustellen vorher noch nie einen Unfall gegeben, mein Vater achtet penibel auf die Einhaltung der Sicherheitsvorschriften. Und es hat ihm sehr wehgetan, als er von einem Journalisten von ›Retelibera‹ als Mörder bezeichnet wurde. Natürlich sind manche richtige Mörder, -168-
andere nicht. jedenfalls sind zwei Bauarbeiter vom Gerüst gestürzt. Sie hatten sich an das Geländer gelehnt, und es hat nachgegeben. Mein Vater war überzeugt, dass jemand die Bolzen absichtlich gelockert hatte. Ein Sabotageakt. Einer der beiden Arbeiter kam mit ein paar Prellungen davon, der andere ist Invalide. Drei Tage nach dem Unfall bekam ich einen Anruf. Eine Stimme sagte: ›Haben Sie gesehen, Signora, was alles passieren kann? Passen Sie gut auf Ihren hübschen Jungen auf.‹ Ich erschrak furchtbar, sagte aber weder meinem Vater noch meinem Mann etwas. Etwa zehn Tage danach besuchte uns ein Bauunternehmer zum Abendessen, ein guter Freund meines Vaters. Er sagte, er habe alles an Scipione verkauft, mit Verlust. Zwei Unfälle hätten ihm gereicht, um zu begreifen, worum es gehe, und er wolle nicht noch mehr Tote auf dem Gewissen haben. Da fuhr ich nach Rom zu meinem Mann und erzählte ihm alles. Kurze Zeit später rief er mich an und sagte, ich solle Puka einstellen. Mein Vater hat Recht, Commissario. Puka kann kein Dieb sein, Sie sind völlig auf dem Holzweg.« Er beschloss, mit ihr zu reden, ohne etwas zu verheimlichen, ebenso aufrichtig zu sein wie sie. Außerdem war sie eine starke Frau. »Signora, das war ein Vorwand, weil ich mehr über Puka erfahren wollte.« »Warum interessieren Sie sich für ihn?« »Weil es kein Unfall war. Er wurde ermordet. Maresciallo Verruso, den Sie sicher kennen gelernt haben, und ich sind absolut sicher.« »Mein Gott!«, rief Caterina und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. »Und ich bin schuld daran!« Montalbano wollte ihr keine Gelegenheit zum Weinen lassen. »Reden Sie kein dummes Zeug und antworten Sie. -169-
Als der Arbeiter vor gut einem Monat von dem Eisenträger erschlagen wurde, war Puka da auf derselben Baustelle?« »Nein, auf einer anderen.« »Ist es üblich, dass das Polizeipräsidium Ihnen Namen von Immigranten nennt?« »Das ist zwei- oder dreimal vorgekommen.« »Gut«, sagte Montalbano und erhob sich. »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr Sie mir geholfen haben. Und es ist mir eine große Ehre, dass ich eine Frau wie Sie kennen lernen durfte.« Sie sahen sich an. Und Montalbano sagte: »Ja.« Wie machten sie das, dass sie sich einfach so verstanden? Sie hatte ihn wortlos gefragt: Sollte ich meinen Sohn nicht besser von hier wegbringen? »Nach Rom, zu meinen Schwiegereltern«, antwortete sie ihrerseits auf die stumme Frage des Commissario. Sie gaben sich die Hand zum Abschied. Dann trat sie nah zu Montalbano, umarmte ihn und legte ihren Kopf an seine Brust. »Danke.« Sie löste sich von ihm und öffnete ihm die Tür. »Wissen Sie, wann der Betrieb auf der Baustelle weitergeht?«, fragte er, als er an ihr vorbeiging. »Seit zwei Uhr nachmittags wird wieder gearbeitet.«
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Kapitel 7 Damit war die Geschichte komplizierter und einfacher zugleich geworden. Einfacher, weil er jetzt wusste, dass der Albaner kein Albaner war, dass er bestimmt nicht Pashko Puka hieß, dass er Polizist gewesen war, vielleicht von der Spezialeinheit Digos oder der Antimafia, und sich als Bauarbeiter eingeschleust hatte. Er sollte etwas aufdecken und wurde selbst enttarnt. Und umgebracht. Kompliziert aber wurde die Geschichte dadurch, dass Puka ein Bulle gewesen war und damit außer Maresciallo Verruso und ihm selbst jetzt auch die Leute von der Digos oder der Antimafia, sobald sie davon Kenntnis erhielten, falls das nicht schon längst der Fall war, seinen Tod untersuchen würden. Drei Hunde an einem Knochen. Eile war geboten, bevor Rom dem armen Verruso die Ermittlungen aus der Hand nahm und ihn damit um die letzte Genugtuung brachte, die ihm noch blieb. Er sah auf die Uhr, schon halb sechs. Bis er in Tonnarello ankam, wurde auf der Baustelle wahrscheinlich schon eine ganze Weile nicht mehr gearbeitet. Tatsächlich war von dem Hügel aus keine Menschenseele zu sehen. War die Fahrt umsonst gewesen, weil nicht mal der Wachmann da war, denn um den ging es ihm? Er wartete eine Zeit lang und hatte Glück. Die Tür der kleineren Baracke öffnete sich, ein Mann kam heraus, knöpfte sich die Hose auf und pinkelte. Dann ging er in die Baracke zurück und schloss die Tür. Montalbano setzte sich ins Auto und fuhr hinunter zur Baustelle. Der Weg war ein einziger glitschiger Matsch. Der Commissario parkte vor der Einfahrt; er ging auf die andere Seite der Bretterwand und hob die Hand, um an die Tür der Baracke zu klopfen, hielt aber auf -171-
halber Höhe inne. In der ländlichen Stille hörte er deutlich, was in der Baracke los war. »Ah! Ah! Los! Noch mal! Gib's mir!«, keuchte eine Frauenstimme. Es war eine sonderbar hohe, fast kindliche Stimme. Das hatte er nicht erwartet. Umso schlechter für den Wachmann. Montalbano hämmerte so laut an die Tür, dass es wie eine kurze Garbe aus einer MP klang. In der Baracke wurde es still. »Wer ist da?«, fragte eine Männerstimme. »Freunde.« Der Mann war anscheinend aufgestanden, denn der Commissario hörte jemanden herumstapfen. Aber er kam nicht an die Tür, er stapfte noch eine Weile herum, zog eine Schublade auf und schloss sie wieder. »Klick.« Das Geräusch alarmierte Montalbano, denn er kannte es genau. Der Mann hatte eine Pistole durchgeladen. Kurz überlegte der Commissario, ob er zum Auto laufen und seine Pistole aus dem Handschuhfach holen sollte. Und dann? Sollte er sich mit dem Wächter eine Schießerei wie vor dem OK Corral liefern? Neben der Tür ging ein winziges Guckloch auf. »Chi vo' - was willst du?« »Mit dir reden. Ich heiße Montalbano.« »'U commissariu?« »Ja.« »Ich kann Sie nicht richtig sehen.« Montalbano trat einen Schritt zurück. Das Guckloch ging wieder zu, die Tür gleichzeitig auf. »Kommen Sie herein.« Als Erstes warf Montalbano einen Blick auf das schmale Bett, ein verrostetes Feldbett mit einer nackten Matratze -172-
voller Flecken in verschiedenen Farben. Keine Spur von der Frau. Und in der Baracke gab es weder ein Klo noch irgendeine Abstellkammer. »Wo ist die Frau?« »Welche Frau?« »Die, mit der du gefickt hast.« »Dutturi, ich und ficken? Schön wär's! Mich wollen ja nicht mal die Huren! Das war ein Film!« Und er deutete auf den Fernseher und das Videogerät, aus dem eine Kassette, anscheinend ein Porno, halb herausschaute. Obwohl das kleine Fenster in der Längswand geöffnet war, stank es erbärmlich. Seit wann hatte sich der Mann nicht gewaschen? Er war etwa sechzig Jahre alt und zahnlos, seine linke Hand hatte nur drei Finger, eine lange Narbe zog sich quer über das Gesicht. Sämtliche Wände waren mit nackten Ärschen, Mösen und Titten von Filmsternchen oder Möchtegern-Filmsternchen buchstäblich tapeziert. Der Mann hielt den Blick fest auf den Commissario gerichtet. »Was ist, legst du die Pistole jetzt hin oder nicht?« Der Wachmann sah die Waffe an, die er immer noch in der Hand hatte. »Scusasse, die hab ich ganz vergessen.« Er zog die Tischschublade auf, legte die Pistole hinein und machte hastig wieder zu. Aber der Commissario konnte noch sehen, dass stapelweise Fotos darin lagen. »Gehst du immer mit Pistole an die Tür?« »Früher nicht, jetzt schon.« »Was heißt das?« Der Mann antwortete mit einer weiteren Frage. »Was wollen Sie von mir?« Wenn er das Fragespiel will, das kann er haben, dachte der Commissario. »Wie heißt du?« -173-
»Angelo Piluso.« »Wie oft warst du im Knast?« Er hatte mit Sicherheit schon mal gesessen. Der Mann hob die linke Hand und zeigte seine drei übrig gebliebenen Finger. »Und warum?« »Körperverletzung, Diebstahl, Einbruchsdiebstahl.« »Du bist ein Dieb, und Signor Corso stellt dich vertrauensvoll als Wächter ein? Wie geht denn das?« »Was gibt's denn auf einer Baustelle schon viel zu klauen?« »Na ja, wenn man es drauf anlegt, findet man da eine ganze Menge.« »Hat Signor Corso mich angezeigt?« »Nein. Ich bin wegen dem toten Albaner hier.« Angelo Peluso sah ihn überrascht an. »Wie bitte? Macht den nicht der Maresciallo?« »Schon, aber…« »Dann rede ich nicht mit Ihnen.« Montalbano schlug dem Wachmann mit der flachen Hand auf die Brust, sodass er gegen das Feldbett stolperte und darauf fiel. »He, was soll…« Montalbano öffnete die Schublade, schob die Pistole beiseite, nahm einen Stapel Fotos heraus. Nackte Mädchen und Buben in obszönen Posen. Er machte die Schublade wieder zu, ging an den Videorekorder und legte die Kassette ein. »Und jetzt schauen wir uns mal diesen hübschen Film an.« »Nein! Nein!«, stöhnte der Wachmann. »Hast du einen Waffenschein?« »Ja.« -174-
»Du ziehst jetzt deine Jacke an und kommst mit aufs Kommissariat.« »Aber ich hab doch gesagt, dass ich einen Waffenschein habe!« »Ich nehme dich nicht wegen der Pistole mit, sondern wegen den Fotos und dem Video. Weißt du, was Pädophilie bedeutet?« Der Mann fiel auf die Knie. »Dutturi, um Himmels willen! Ich schau nur! Ich schaue! Noch nie habe ich einen Jungen oder ein Mädchen gehabt! Ich schwör's!« »Das werden wir ja sehen.« »Dutturi, Sie wollen mich fertig machen! Wenn Signor Corso das erfährt, schmeißt er mich raus!« »Keine Sorge, im Knast kriegst du auch was zu beißen. Du kennst das doch, oder?« Der Mann fing an zu heulen und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Montalbano fiel ein, dass Caterina Corso das auch getan hatte, und da packte ihn die Wut. Mit einem Satz baute er sich vor dem Wachmann auf, riss ihm die Hände weg und verpasste ihm voller Abscheu zwei schallende Ohrfeigen, eine rechts und eine links. Peluso war leicht benommen. Dann richtete er sich auf und setzte sich mit gesenktem Kopf aufs Bett. »Was wollen Sie wissen?«, flüsterte er. »Warum hast du irgendwann gedacht, du brauchtest eine Waffe?« »Weil auf der Baustelle zu viele Ausländer sind, Albaner, Türken, Neger… diese Leute sind doch zu allem fähig, da muss man sich schützen.« Er log, da war der Commissario ganz sicher. Aber er wollte lieber nicht nachhaken. »Du hast dem Maresciallo gesagt, Puka wäre manchmal -175-
früher als die anderen gekommen.« »Ja, das stimmt. Drei- oder viermal.« »Wie viel früher?« »Keine Ahnung… eine halbe Stunde vielleicht.« »Und was hat er dann gemacht?« »Das weiß ich nicht. Ich hab ihm die große Baracke aufgeschlossen, er ist reingegangen, und ich bin wieder hierher.« »Und wie erklärst du dir, dass er am Tag des Unfalls nicht in der Baracke geblieben, sondern allein auf das Gerüst gestiegen ist?« »Weiß ich doch auch nicht. Aber er ist schon mal rauf. Das hab ich gesehen.« »Und was hat er da gemacht?« »Mit dem Handy telefoniert. Er hat gesagt, dass das Handy unten in der Baracke nicht geht.« Die Erklärung mochte durchgehen, wenn unten wirklich kein Empfang war. Aber dieses Handy konnte viel ans Licht bringen. »Wer hat das Handy mitgenommen?« »Keine Ahnung… ich hab's nicht neben dem Toten gesehen. Vielleicht hat's der Marisciallo.« »Und wo warst du an dem Morgen, als Puka abstürzte?« »Hier drin, Commissario. Ich hab die ganze Nacht nicht geschlafen, ich hatte solche Zahnschmerzen, dass ich…« »Und du hast keinen Schrei gehört?« »Nein.« »Auch nicht den Aufprall?« »Überhaupt nichts.« Er log immer weiter, dieser erbärmliche Wurm. -176-
Montalbano konnte sich gerade noch beherrschen, ihm ins Gesicht zu treten, dieser Mann löste eine solche Lust auf körperliche Gewalt in ihm aus, dass er selbst erschrak. Er verschwand besser so bald wie möglich aus dieser Baracke. »Was hatte er an, als er auf dem Gerüst telefonierte? Arbeitsklamotten?« »Ich glaub, er war umgezogen… ja ja, jetzt wo ich's mir überlege, bin ich sicher, dass er sich zur Arbeit umgezogen hatte.« »Gut«, sagte der Commissario und ging an die Tür. »Was ist? Verhaften Sie mich nicht?« »Heute nicht.« Der Mann sprang auf, trat dem Commissario in den Weg, bückte sich, nahm Montalbanos Hand und fing an, sie zu küssen, wobei er ihm den Handrücken voll sabberte. Angeekelt hob der Commissario ein Knie und schlug es dem Mann mit aller Kraft ans Kinn. Peluso kippte bewusstlos nach hinten. Montalbano stieg über ihn drüber und kam endlich an die frische Luft. Während der verfluchten Fahrt von der Baustelle bergauf ging ihm durch den Kopf, was Peluso gerade erzählt hatte. Zumindest eines war, falls es der Wahrheit entsprach, sonderbar. Aus welchem Grund war Puka zum Telefonieren auf das Gerüst gestiegen? Der Wachmann hatte gesagt, in der Baracke gebe es keinen Empfang, na gut. Aber warum musste Puka in diesem Augenblick unbedingt von da oben telefonieren? Hätte er das Handy nicht benutzen können, bevor er auf die Baustelle kam? Er hätte zu Hause telefonieren können oder irgendwo unterwegs, als er mit dem Moped von Montelusa nach Tonnarello fuhr. Montalbano war mittlerweile auf dem -177-
Hügel angekommen und blickte von oben noch mal auf die Baustelle zurück. Und augenblicklich begriff er, warum Puka, obwohl er auf der Hut sein musste, um bei seinen Arbeitskollegen keinen Verdacht zu erregen, scheinbar so leichtsinnig gehandelt hatte. Er war dazu gezwungen gewesen, der arme Kerl, er hatte keine Wahl gehabt. Inzwischen war es halb acht. Der Commissario raste nach Montelusa, aber als er an dem Haus ankam, in dem sich das Büro von Alfredo Corso befand, war der Eingang verschlossen. Montalbano klingelte an der Sprechanlage, aber niemand meldete sich. Er fluchte, Corsos Telefonnummer zu Hause hatte er nicht, aber dort hätte er sowieso nicht angerufen, denn möglicherweise war der Bauunternehmer von seiner kurzen Reise zurück und ging selbst an den Apparat. Was tun? Der Commissario brauchte die Informationen wie die Luft zum Atmen. Stocksteif stand er vor der Tür, als sie aufging und Caterina Corso erschien. »Commissario!« Es fehlte nicht viel, und Montalbano hätte sie umarmt und geküsst. »Wie schön, Sie zu sehen!«, entfuhr es ihm. Caterina war eben eine Frau. Und deshalb ging ihr Gesicht in einem strahlenden Lächeln auf. »Wollten Sie zu mir?« »Ja. Bitte entschuldigen Sie, aber ich musste einfach zu Ihnen.« Caterina strahlte noch mehr. »Glauben Sie mir, ich brauche ganz dringend einige Informationen. Ich weiß, dass Sie nach Hause wollen, aber…« Caterinas Lächeln erlosch jäh wie eine durchgebrannte Glühbirne. Sie trat beiseite. »Ist schon gut, kommen Sie herein.« -178-
Im Aufzug sagte sie: »Mein Mann hat angerufen.« »Haben Sie ihm von Puka erzählt?« »Das war nicht nötig. Er hat durchblicken lassen, dass er es bereits wusste. Er war nicht besonders mitteilsam, ich glaube, er rief aus dem Ausland an.« Während sie auf dem Treppenabsatz mit den Schlüsseln hantierte, sagte sie noch, sie habe ihm auch von ihrem Vorhaben erzählt, das Kind nach Rom zu bringen, zu den anderen Großeltern. »Und was meint er dazu?« »Er war einverstanden. Nur meinem Vater werde ich es irgendwie beibringen müssen. Er wird sehr leiden, wenn sein Enkelkind fort ist.« Im Büro setzte sie sich an den Schreibtisch und schaltete den Computer ein. »Was wollen Sie denn wissen?« Montalbano erklärte es ihr. »Ich brauche zehn Minuten. Dann kopiere ich die Daten auf eine Diskette, und Sie können sie sich in aller Ruhe an Ihrem Computer ansehen.« Diskette? Computer? Panik ergriff den Commissario. Er wollte sie schon bitten, die Angaben auszudrucken, aber dann dachte er, dass er dieser Frau, die so nett zu ihm war, dadurch noch mehr Zeit stahl. Er beruhigte sich mit dem Gedanken, dass Catarella das Problem lösen konnte. Und bei Catarella fiel ihm ein, dass sie ausgemacht hatten, zu der Kräuterfrau zu fahren. Das genügte, dass die Schulter, bis dahin von den Ereignissen abgelenkt, sich mit vier Dolchstichen hintereinander zurückmeldete. Er musste ein bisschen wimmern und sah Caterina an. Aber die Frau war so intensiv mit ihrem Computer beschäftigt, dass sie nichts gehört hatte. Und so geschah es, dass der Commissario den Blick nicht mehr von ihr lösen konnte. Sie war wirklich schön, da war nichts zu wollen. Schön und klar. Wenn man sie so ansah, hatte man das Gefühl, auf dem -179-
offenen Meer zu sein, reine Luft zu atmen. Und es geschah noch etwas, was ihn aus dem Gleis brachte. Vor lauter Konzentration schob Caterina die Zungenspitze heraus und legte sie an die Oberlippe. ›Glugluglugluck‹, machte sein Blut in den Adern. Plötzlich fühlte Caterina sich beobachtet. Sie hob den Blick vom Computer und sah den Commissario an. Der Blick dauerte eine Zehnmillionstelsekunde länger, als er hätte dauern dürfen. »Wenn Sie rauchen wollen…«, sagte Caterina und schob ihm den Aschenbecher hin. »Nein, danke«, sagte Montalbano. »Ich mag lieber diese Meerluft.« Caterina sah ihn wieder an. Ihre Augen fragten: Welche Meerluft? Deine, antworteten Montalbanos Augen. Sie errötete. Schließlich gab Caterina ihm die Diskette, die sie in einen Briefumschlag gesteckt hatte. Sie standen beide gleichzeitig auf. »Danke. Wann reisen Sie ab?« »Ich hoffe, in drei Tagen.« »Bleiben Sie länger fort?« »Nein. Ich fliege morgens nach Rom und bin abends wieder da.« Im Aufzug schwiegen sie. Montalbano begleitete sie zu ihrem Auto. Sie verabschiedeten sich voneinander. Der Händedruck dauerte eine Zehnmillionstelsekunde länger, als er hätte dauern dürfen. »Carabinieri Tonnarello, ja bitte?« »Salvino Montaperto. Ist Maresciallo Verruso da?« »Augenblick.« Dreißig Sekunden Stille, dann Verrusos Stimme. -180-
»Commissario? Was gibt's?« Er war ein echter Polizist, da konnte man nichts sagen, er hatte sofort verstanden. »Wie geht es Ihnen?« »Schon besser, aber ich musste den ganzen Nachmittag zu Hause bleiben.« »Gibt's was Neues?« »Bei mir nicht. Und bei Ihnen?« »Ja, etliches. Ich habe eine bestimmte Idee. Morgen Vormittag würde ich Sie gern treffen, sagen Sie wann und wo.« Der Maresciallo überlegte eine Weile. »Erinnern Sie sich an die Telefonzelle, bei der wir uns zum ersten Mal begegnet sind? Dort um halb zehn, passt Ihnen das?« Im Kommissariat war nur Catarella.
»Dottori, wir müssen noch eine Viertelstunde auf
Galluzzo warten, weil der muss mich ablösen.« »Ist gut. Alles klar.« Er holte die Diskette aus der Tasche. »Bis Galluzzo kommt, kannst du mir das ausdrucken. Aber es darf dich ja niemand sehen. Ich gehe so lange einen Espresso trinken und warte dann im Auto auf dich.« Catarella tauchte auf, als Montalbano schon drei Zigaretten geraucht hatte und langsam sauer wurde. »Ich bitte um Verzeihung, Dottori, aber weil nämlich der Galluzzo zu spät gekommen ist.« Er gab ihm einen Stapel Papier. »Ich hab alles ausgedruckt.« »Also, wo wohnt die Alte?«, fragte Montalbano und ließ den Motor an. »Erst mal Richtung Marinella«, seufzte Catarella und -181-
machte ein glückliches Gesicht. »Was ist denn?« »Meine Güte, Dottori, ich bin einfach so glücklich! jetzt haben Sie ganz heimlich zwei Geheimnisse mit mir, ganz allein mit mir selber!« »Zwei?« »Ja ja, Dottori. Die Alte und die Sachen, die ich gedruckt hab. Macht im Ganzen zwei, oder?«
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Kapitel 8 Mit Catarellas Hilfe gelang es ihm, den Wickel, den ihm das Kräuterweiblein gegeben hatte und für den er so viel wie für eine seltene Arznei gezahlt hatte, fest um die Schulter zu binden. Schon schwieriger war es, Catarella nach Hause zu schicken: Er hatte sogar vorgeschlagen, auf dem Sofa zu schlafen. »Dottori, wenn Sie mich dann in der Nacht dringend brauchen, dann bin ich schon da und helf Ihnen!« Als er endlich allein war, verspürte er plötzlich Hunger, aber im Kühlschrank fand er nicht viel: harten Käse, schwarze und grüne Oliven. Besser als gar nichts. Seine Haushaltshilfe Adelina, die man mit viel gutem Willen als richtige Haushälterin bezeichnen konnte, glänzte seit einer Woche nicht gerade mit kulinarischem Einfallsreichtum, denn ihre Söhne, zwei Delinquenten, saßen wieder mal hinter Gittern, und sie musste ihre Enkel hüten. Montalbano beschloss, beim Essen zu arbeiten. Er stellte Käse, Oliven und Wein neben die von Catarella ausgedruckten Seiten auf den Tisch. Aus der Schublade holte er noch fünf Blatt Papier und einen Bleistift. Nach zwei Stunden Arbeit waren die fünf Blätter beschrieben, und sie bestätigten, was er sich schon gedacht hatte. Er staunte, wie einfach im Grunde alles war: Man musste nur nachdenken. Den richtigen Gedanken zu finden war schon um einiges schwieriger. Dann zu beweisen, wie all das, was in den Unterlagen stand, zusammenhing, war nicht seine, sondern die Aufgabe des Maresciallo. Er konnte ihm allerhöchstens ein bisschen helfen. Bevor er ins Bett ging, rief er Livia an. Er war zärtlich, -183-
liebevoll, ihr zugetan. Irgendwann konnte Livia nicht mehr an sich halten. »Ich komme zu dir, ich fliege Freitagabend.« Als er dann im Bett lag, las er ein paar Seiten Herz der Finsternis von Conrad, das er hin und wieder zur Hand nahm. Als er müde wurde, löschte er das Licht. Das letzte Bild, das an seinen Augen vorüberzog, war Caterina Corso. Und da wusste er, warum er auf so niederträchtige, gemeine Art zärtlich zu Livia gewesen war. Es war sein schlechtes Gewissen. Er schimpfte mit sich. Am folgenden Morgen nahm er den Wickel ab, die Schmerzen waren wie weggeblasen, er konnte die Schulter frei bewegen. Der Tag war klar und heiter. Bevor er nach Montelusa fuhr, um den Maresciallo zu treffen, schaute er im Kommissariat vorbei. Catarella stürzte sich auf ihn, packte ihn am Arm, zog das Ohr des Commissario zu seinem Mund und flüsterte: »Und, was sagen Sie?« »Worüber denn?« »Über was wir zwei gestern Abend miteinander gemacht haben«, sagte er anzüglich und grinste selig. Gottlob war niemand in der Nähe, sonst hätte man den Eindruck haben können, dass er und Catarella abends zuvor unanständige Sachen gemacht hatten. »Alles in Ordnung.« »Wieder gut?« »Vollkommen.« Catarella wieherte vor Glück. Kaum war Montalbano in seinem Zimmer, kam Fazio ganz zerknirscht herein. »Dottore, ich wollte Sie um Entschuldigung bitten.« »Weswegen?« »Weil ich mich so dumm benommen habe. Dottor Augello hat mit mir gesprochen, und er hat mir klar -184-
gemacht, dass ich im Unrecht war.« »Reden wir nicht mehr darüber. Irgendwelche Neuigkeiten?« »Ja. Gestern Abend und heute Morgen hat es zwei schwere Raubüberfälle gegeben. Den ersten im…« »Sag's Augello, kümmert ihr euch drum«, fiel Montalbano ihm ins Wort. »Ich hab noch was zu erledigen.« Fazio sah ihn an. Da wusste der Commissario, dass Fazio wusste: Was auch immer er zu erledigen hatte, er tat es im Einvernehmen mit den Carabinieri. »Na gut«, sagte Fazio und breitete resigniert die Arme aus. Verruso, in Zivil, wartete schon bei dem Telefon auf ihn. Er sah blass und krank aus. »Wie geht es Ihnen, Maresciallo?« »So là là. Gehen wir in eine Bar hier in der Nähe, Dottore? Sie gehört Freunden von mir, und ich bin oft dort, da können wir in Ruhe reden.« Unterwegs sagte der Maresciallo: »Heute Morgen habe ich einen seltsamen Anruf von meinem Kommando bekommen. Man hat mir mitgeteilt, die Präfektur werde sich um alle weiteren Angelegenheiten im Zusammenhang mit Pukas Leichnam kümmern und ich dürfe zu den albanischen Vertretungen keinen Kontakt mehr haben. Ich verstehe den Grund nicht.« »Weil Puka, oder wie er auch hieß, kein Bauarbeiter war, was wir schon wussten, sondern einer von uns.« »Von uns?«, fragte Verruso und blieb so unvermittelt stehen, dass ein Mann, der hinter ihm ging, in ihn hineinlief. »Digos, Antimafia, verdeckter Ermittler bei den -185-
Carabinieri, keine Ahnung. Man hat ihn geschickt, weil man den Verdacht hatte, dass hinter dem einen oder anderen Unfall ein Mord steckte. Es ist ihm gelungen, sich einzuschleusen, aber er muss sich irgendwie verraten haben. Er wurde umgebracht.« »Wann haben Sie erfahren, dass Puka…« »Gestern Nachmittag. Und die Person, die es mir gesagt hat, ist absolut vertrauenswürdig.« Und damit hatte er dem Maresciallo klar gemacht: Den Namen dieser Person würde er nicht nennen. In der Bar gab es ein winziges Hinterzimmer mit zwei kleinen Tischen. Es hatte nicht einmal ein Fenster. Bevor er die Tür hinter sich schloss, sagte der Maresciallo zu dem Mann an der Kasse, sie wollten nicht gestört werden. »Soll ich Ihnen was zu trinken bringen?«, fragte der Mann. »Nein, nichts«, sagte Montalbano. »Nein«, sagte Verruso. »Gestern Nachmittag«, fing Montalbano an, »habe ich Angelo Peluso, dem Wachmann auf der Baustelle, einen Besuch abgestattet.« »Ein widerlicher Kerl«, meinte der Maresciallo dazu. »Ganz Ihrer Meinung. Er sagte, Puka sei manchmal eine halbe Stunde vor den anderen auf der Baustelle erschienen.« »Und was hat er gemacht?« »Peluso sagte, er hätte ihn mindestens zweimal auf der obersten Etage des Gerüsts gesehen.« »Und was hat er gemacht?«, wiederholte Verruso. »Mit dem Handy telefoniert.« »Aber wozu musste er da…« »Das habe ich mich auch gefragt. Die Antwort lautet: Unten am Boden ist kein Empfang. Aber Puka tat nur so, als würde er telefonieren, in Wirklichkeit inspizierte, -186-
kontrollierte er das Gerüst, um festzustellen, ob es nachts für einen vorgetäuschten Unfall präpariert worden war. Und gleichzeitig konnte er beobachten, wer von den Bauarbeitern als Erster kam. Er musste schon jemand Bestimmten im Visier gehabt haben. Und er war auf der Hut. Aber ihm ist ein schwerer Fehler unterlaufen.« »Welcher denn?« »Er dachte, wenn sie etwas gegen ihn unternähmen, dann während der Arbeit, vor aller Augen, damit die Unfallgeschichte glaubwürdig erscheint. Doch sie haben ihn vorher getötet und danach den angeblichen Unfall inszeniert. Und ohne den anonymen Brief hätten wir alle das auch geglaubt.« »Wer kann ihn geschickt haben?« »Ich habe eine bestimmte Vorstellung, aber dazu später. Auf dem Rückweg von der Baustelle ahnte ich schon, wie Puka bei seiner Ermittlung vorgegangen war. Daraufhin bin ich zu Corso ins Büro und habe mir die Namen der Leute geben lassen, die auf den drei Baustellen der Firma, auf denen die Unfälle passiert sind, zusammen gearbeitet haben.« »Drei?«, fragte Verruso überrascht. »Drei. Der erste, bei dem vor vier Monaten ein Schutzgeländer nachgab, hat einen Arbeiter zum Invaliden gemacht. Signor Corso glaubt, dass jemand die Bolzen des Geländers gelockert hat.« »Das wusste ich gar nicht«, sagte der Maresciallo. »Es war außerhalb Ihrer Zuständigkeit. Das ist in Gibilrossa passiert. Der zweite Unfall hat sich vor etwas über einem Monat ereignet. Ein Kran hatte gerade einen Eisenträger angehoben, der Eisenträger ist heruntergefallen und hat einen Arbeiter unter sich begraben.« -187-
»Das wusste ich. Maresciallo Cosimato, der die Ermittlungen führte, hat mir davon erzählt. Er hatte keinen Zweifel, dass es sich um ein schreckliches Unglück handelte.« »Er war in gutem Glauben. Der dritte Unfall ist der von Puka.« »Aber was um Himmels willen wurde denn damit bezweckt?« »Sie wollten Corso dazu bringen, seine Firma für einen Apfel und ein Ei zu verkaufen und das Feld zu räumen. Finden Sie das nicht Grund genug? Übrigens habe ich erfahren, dass schon einmal ein Bauunternehmer nach dem ersten Unglück auf seiner Baustelle die Segel gestrichen hat. Er hat den Wink verstanden, wie es so schön heißt. jemand will sich mithilfe politischer Protektion systematisch das Monopol im Baugewerbe verschaffen.« »'U zu Cecè«, sagte der Maresciallo fast zu sich selbst. »Hat es auf den Baustellen von 'u zu Cecè eigentlich auch Arbeitsunfälle gegeben?«, fragte der Commissario. »Nicht dass ich wüsste.« »Das dachte ich mir. Er ist der Typ, der nach einem Banküberfall mit dem Geld flüchtet, aber langsam fährt, um nicht wegen überhöhter Geschwindigkeit gestoppt zu werden. Nun zu den Listen.« Montalbano holte die Notizen hervor, die er sich abends zuvor gemacht hatte. Er las sie kurz durch. »Zu dem Trupp, der zum Zeitpunkt des ersten Unfalls auf der Baustelle war, gehörten Amedeo Cavaleri und Stefano Dimora. Beim zweiten Unfall waren Cavaleri, Dimora und Gaetano Miccichè in der Kolonne. Bei Pukas Unfall waren auch wieder Cavaleri, Dimora und Miccichè auf dem Bau. Und die drei haben Puka tot aufgefunden. Die weiteren Mitglieder der Kolonnen heißen alle anders.« -188-
Der Maresciallo dachte eine Weile nach. »Das beweist alles und nichts«, sagte er schließlich. »Stimmt. Aber Sie müssen noch wissen, dass der Wachmann auf allen drei Baustellen immer derselbe war: Angelo Peluso. Sie brauchten für ihr Vorhaben einen Komplizen, der ihnen nachts die Tore der Baustellen öffnete und keine Fragen stellte. Und Peluso ist die Schwachstelle.« »Wieso? »Ich habe den Eindruck, dass man Peluso die Pistole auf die Brust gesetzt hat. Er ist kein freiwilliger Komplize. Die Mörder sind dahinter gekommen, dass er pädophil ist, und haben ihn erpresst. Und als ihm klar war, dass die drei auch Puka töten wollten, hat er kalte Füße bekommen.« »Und was hat er dann gemacht?« »Er hat einen anonymen Brief geschrieben.« »Er?« »Ich bin überzeugt davon. So was hat es schon öfter gegeben.« Sie schwiegen. »Gut«, sagte Verruso schließlich, »dann informiere ich jetzt meine Vorgesetzten…« «… was ein Riesenfehler wäre«, ergänzte der Commissario. »Warum?« »Weil viel Zeit ins Land gehen wird, bevor Sie grünes Licht bekommen. Und Ihr Problem ist doch die Zeit, nicht wahr?« »Was sollte ich Ihrer Meinung nach also tun?« »Wie viele Leute haben Sie in Tonnarello?« »Drei.« »Und Autos?« -189-
»Eines.« »Damit können wir keine großen Sprünge machen«, meinte Montalbano, »aber es könnte reichen. Sie rasen noch heute fünf Minuten vor Feierabend mit Sirenengeheul auf die Baustelle. Sie müssen einen richtigen Spektakel veranstalten, möglichst viel Wirbel machen. Postieren Sie einen Mann an der Einfahrt, damit klar ist, dass niemand die Baustelle verlassen kann. Dann gehen Sie zu dem Wachmann in die Baracke und schließen sich mit ihm ein. Die Baracke lassen Sie von ihrem zweiten Mann bewachen. Es muss der Eindruck entstehen, als ginge es um eine abschließende Vernehmung. Den drei Mördern muss himmelangst werden. Zum Schluss legen Sie Peluso Handschellen an und tun so, als nähmen Sie ihn mit. Theater, lieber Maresciallo.« »Das sagt mir gar nicht zu.« »Sie mögen das Theater nicht? Das ist ein Fehler. Theater ist…« »Ich meine nicht das Theater. Sondern das, wozu Sie mich anstiften wollen.« Da spielte Montalbano seine Trumpfkarte aus. »Soll ich Ihnen was sagen? Morgen werden Sie noch einen Anruf von Ihren Vorgesetzten bekommen. Man wird Sie von dem Fall entbinden. Und dann sitzen Sie auf halbem Weg mit leeren Händen da.« »Was reden Sie da?« »Darauf können Sie wetten. Den Fall übernehmen direkt die Chefs von Puka.« Der Maresciallo stützte die Stirn in die Hand, verharrte eine Weile so und seufzte dann tief. »Also gut. Aber was kann ich Peluso zur Last legen, wenn ich ihn festnehme?« -190-
»Was weiß ich - den Vertrieb von abgelaufener Limonade.« »Und dann?« »Sie werden sehen, dass etwas geschehen wird. Sagen Sie Ihren Kollegen, sie sollen auf der Hut sein, denn diese Leute sind gefährlich. Sie wissen, dass Peluso, wie gesagt, die Schwachstelle ist. Sie reagieren bestimmt, irgendeine Dummheit werden sie machen.« »Ich hoffe es.« »Rufen Sie mich an, Maresciallo? Ich bin im Kommissariat und warte auf Nachricht«, sagte Montalbano und erhob sich. »Natürlich«, sagte der Maresciallo. Und daraus, wie er es sagte, schloss der Commissario, dass Verruso endgültig überzeugt war. Sie verabschiedeten sich vor der Bar voneinander. Als Montalbano die Autotür öffnete, fiel sein Blick auf das Telefon. Er konnte nicht widerstehen. »Hier ist Montalbano.« »Wie schön, Sie zu hören.« Pause. »Gibt's was Neues?«, fragte Caterina dann. »Ja. Können Sie sprechen? Sind Sie allein im Büro?« »Ja.« »Haben Sie Ihrem Vater schon gesagt, dass Sie vorhaben…« »Nein, ich habe es noch nicht übers Herz gebracht.« »Sagen Sie ihm nichts.« »Wieso nicht?« »Ich glaube, es ist nicht mehr nötig, Ihren Sohn -191-
wegzubringen.« »Meinen Sie das im Ernst?« »Natürlich meine ich das ernst.« »Können Sie mir nicht Näheres sagen?« »Damit sollten wir lieber bis morgen warten.« Noch eine Pause, diesmal etwas länger. »Wir könnten uns sehen«, sagte Caterina. »Wo und wann Sie wollen.« »Morgen zum Abendessen?« »Einverstanden.« »Rufen Sie mich doch morgen Vormittag noch mal an.« »Natürlich.« Diesmal war die Pause ziemlich lang, sie wollten beide nicht auflegen. Dann gab Caterina sich einen Ruck. »Danke.« »Bitte«, sagte Montalbano. Und kam sich völlig bescheuert vor. Zufrieden und unzufrieden. Zufrieden, weil er ganz und gar überzeugt war, dass der eingeschlagene Weg richtig war und zum Ziel führte; unzufrieden, weil nicht er diesen Weg gehen würde, sondern jemand anderes. Sei's drum. Es kommt eben vor, dass man Dinge im Leben nicht selber zu Ende bringen kann, sondern im Verborgenen handeln muss, versteckt hinter einem anderen. Wichtig ist, überhaupt ans Ziel zu kommen. Ein magerer Trost? Stimmt, aber immerhin ein Trost. Von guten Vorsätzen beseelt, fuhr Montalbano nicht nach Vigàta zurück, sondern blieb in Montelusa und ging in eine Galerie, in der tags zuvor eine Ausstellung von Bruno Caruso eröffnet worden war. Er war hingerissen von einem Frauenkopf und erkundigte sich bei dem Galeristen nach dem Preis, -192-
rechnete ewig herum, wie viel Geld er auf dem Konto hatte, und kam schließlich zu dem Ergebnis, dass diese Radierung, wenn er auf einen Mantel verzichtete, auf den er ein Auge geworfen hatte und der ziemlich teuer war, ihm gehören könnte. Er einigte sich mit dem Galeristen und fuhr dann endlich nach Vigàta. Seine Zufriedenheit erreichte ihren Höhepunkt in der Trattoria San Calogero vor einem Teller mit knusprigen Fischlein, jungen Meerbarben, kleiner als der kleine Finger eines Kindes, gebraten und als Ganzes mit den Händen zu essen. Unzufriedenheit überkam ihn erst, als er auf seinem gewohnten Felsen am Ende der Mole saß, und zwar in Gestalt eines ganz bestimmten Gedankens: Was, wenn der Maresciallo es nicht schaffte? Er verfügte nur über zwei Leute, und die Mörder waren zu dritt und zu allem fähig. Wenn es ihm nicht gelang, sie hinter Gitter zu bringen, und sei es nur für einen Tag, würde der Wachmann nie den Mund aufmachen und gestehen. Und je länger Montalbano darüber nachdachte, desto mieser wurde seine Laune, bis seine Verdauung plötzlich streikte und er grässliches Sodbrennen bekam. So schaffte er es, in den knapp zwei Stunden, die er im Kommissariat verbrachte, Mimi Augello anzumotzen, mit Fazio zu zanken, sich mit Gallo anzulegen und einen Streit mit Galluzzo vom Zaun zu brechen. Catarella saß verängstigt in seinem Kabuff, und als er vom Commissario gerufen wurde, glaubte er, jetzt sei er dran, und unter seiner Uniform brach ihm der Schweiß aus. »Du kommst in fünf Minuten mit. Such dir jemand, der dich am Telefon vertritt.« Er ging weg! Der Commissario verpisste sich und reagierte sich woanders ab! Selbst die Möbel im Kommissariat schienen aufzuatmen.
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Kapitel 9 Im Auto machte Catarella den Mund nicht auf; er war zu Recht überzeugt, dass sein Chef böse werden würde, ganz egal, was er von sich gab. »Hast du das Telefon dabei?« Catarella zuckte zusammen, er hatte nicht damit gerechnet, dass der Commissario reden würde. »Nein, Dottori, ich kann doch das Telefon nicht mitnehmen…« »Wieso denn nicht?« »Das kann ich doch nicht einfach einpacken.« Montalbano krallte die Finger um das Lenkrad, dass die Knöchel weiß anliefen. »Ich rede von deinem Handy, verdammt noch mal!« »Ach so! Das hab ich doch immer dabei. Brauchen Sie's?« »Im Moment nicht. Ich wollte nur wissen, ob du es dabeihast.« Als sie in die Straße nach Tonnarello einbogen, sagte Montalbano wieder etwas. »Catarè, was wir jetzt tun, muss ein Geheimnis zwischen uns beiden bleiben, niemand darf etwas erfahren.« Catarella nickte und schniefte. Der Commissario sah ihn an. Zwei dicke Tränen rollten über Catarellas Gesicht Richtung Mund. »Was ist, heulst du?« »Ich bin so gerührt, Dottori.« »Warum?« »Dottori, überlegen Sie doch mal! Drei Geheimnisse -194-
haben wir zusammen! Drei! Wie die von der Muttergottes von Fatima! Und jetzt sind wir doch schon mitten in unserem dritten Geheimnis, täten Sie mir da erklären, was es ist?« »Wir müssen nach etwas schauen, was die Carabinieri machen, ich hoffe auf ein paar Festnahmen.« Catarella fiel aus allen Wolken. »Scusasse, Dottori, mit Verlaub, aber uns kann es doch scheißegal sein, was die Carabinieri machen.« »Ich hab doch gesagt, dass es ein Geheimnis ist, oder?« »Stimmt«, sagte Catarella, blitzschnell überzeugt. Montalbano hielt nicht auf dem Kamm des Hügels, sondern fuhr noch etwas weiter zu einer Stelle mit ein paar Bäumen, an der sie vor Blicken geschützt waren. Er nahm sein Fernglas aus dem Handschuhfach. Es war klein, ein Opernglas mit Perlmuttüberzug. Montalbano hatte es schon ewig und wusste gar nicht, wie er zu ihm gekommen war. Es erfüllte seinen Zweck vollkommen. Die gesamte Baustelle war zu sehen, wenn auch aus einem anderen Winkel, jetzt hatte er die Tür der Wächterbaracke besser im Blick. Die Leute arbeiteten. Er sah auf die Uhr. Viertel nach fünf. Er nahm sich eine Zigarette, bot Catarella auch eine an, gab ihm Feuer und sah wieder zu der Baustelle hinunter. Plötzlich explodierte etwas neben ihm. Er fuhr herum. Was da explodiert war, war Catarella, der blau anlief und verzweifelt nach Luft schnappte. Er war buchstäblich am Ersticken. Besorgt schlug Montalbano ihm mehrmals mit der Hand auf den Rücken. Endlich fing Catarella sich wieder. »Der Rahahahahauch.« »Rauchst du denn nicht?« »Nein, Dottori.« »Warum hast du die Zigarette dann genommen?« -195-
»Weil ich brav gehorchen wollte.« Um fünf Uhr fünfundzwanzig war kein Arbeiter mehr auf dem Gerüst, alle waren in der großen Baracke und zogen sich um. Als Montalbano schon immer unruhiger wurde, kam der Wagen der Carabinieri angerast und fuhr mit ohrenbetäubendem Sirenengeheul zur Baustelle hinunter. Die Bauarbeiter traten aus ihrer Baracke, manche angezogen, manche nicht. Auch der Wachmann kam heraus, aber da stand schon der Maresciallo vor ihm und stieß ihn wieder zurück, ging selbst hinein und schloss die Tür hinter sich. Inzwischen sagte ein Carabiniere den Arbeitern - man sah es an seinen Gesten -, sie sollten wieder in ihre Baracke gehen und dort bleiben. Als alle drin waren, machte er die Tür zu und stellte sich mit seinem Kollegen davor. Das war eine kluge Variante des Planes, den Montalbano vorgeschlagen hatte. Mit nur zwei Leuten war es das Beste, was Verruso tun konnte. So verging eine halbe Stunde. In der Stille hörte der Commissario, dass in der großen Baracke geredet wurde. Aber er verstand nichts. Dann zückten die beiden Carabinieri die Pistolen. »Verstehst du sie?« »Ja, Dottori.« »Was sagen sie?« »Die Arbeiter wollen raus, Dottori.« In diesem Augenblick ging die Barackentür auf, und ein Bauarbeiter kam heraus und gebärdete sich wie wild: Hinter ihm kam noch einer zum Vorschein. Ganz ruhig hob ein Carabiniere den Arm und schoss in die Luft. Die beiden Arbeiter verschwanden schleunigst wieder in der Baracke. Sie schlossen sogar die Tür. Dann trat der Maresciallo aus der kleinen Baracke, ging zu seinen Leuten und redete mit ihnen. Es war ein kurzes Gespräch, -196-
dann kehrte der Maresciallo um, verschwand in der Baracke und kam mit dem Wachmann wieder heraus. Er blickte um sich und fesselte Peluso mit Handschellen an ein Eisenrohr des Gerüsts. Montalbano gratulierte Verruso: Er hatte einen strategisch günstigen Platz gewählt, kein Arbeiter, der aus der Baracke kam, konnte den Wachmann übersehen. Dann postierte sich der Maresciallo vor der großen Baracke, während ein Carabiniere, damit niemand abhauen konnte, sich unter das Fenster stellte, durch das der Commissario eingestiegen war. Der zweite Carabiniere öffnete die Tür der großen Baracke und blieb neben ihr stehen. Der Maresciallo hatte ein Blatt Papier in der Hand. Da wusste der Commissario, dass Verruso sich von der Firma Corso die Namen all derer hatte geben lassen, die an diesem Tag arbeiteten. Der erste Arbeiter kam mit seinen Ausweispapieren in der Hand heraus. Verruso kontrollierte sie. Eine Minute später setzte sich dieser Arbeiter, der anscheinend nach Hause fahren durfte, auf ein Moped und verließ fluchtartig die Baustelle. Ebenso der zweite, der dritte, der vierte Arbeiter. Beim fünften sah die Sache schon anders aus. Nach einem Blick auf dessen Ausweis machte Verruso eine Handbewegung. Der Carabiniere, der neben der Tür gestanden hatte, war sofort zur Stelle, packte den Arbeiter bei den Schultern, stieß ihn neben den Wachmann und kettete ihn mit Handschellen ebenfalls an die Eisenstange. Der nächste Arbeiter kam ungeschoren davon. Der siebte wurde wieder festgehalten und angekettet. Es fehlte also nur noch einer, aber dieser eine kam nicht zum Vorschein. jetzt waren noch der Maresciallo, die drei Gefesselten und die beiden Carabinieri auf der Baustelle; Letztere suchten den dritten Arbeiter überall, sogar auf dem Gerüst. Ohne Erfolg. Da lief Verruso zu seinem Auto und telefonierte. Nach einer -197-
Viertelstunde kam ein Wagen. Den Wachmann nahm der Maresciallo mit, die beiden anderen wurden in den eben angekommenen Wagen verfrachtet. Alle fuhren ab. Nur das Auto, mit dem die drei Mörder zur Arbeit gekommen waren, stand noch vor dem Bauzaun. Mittlerweile war es dunkel. »Dottori, jetzt sind alle weg, und da ist keiner mehr zu sehen. Was machen wir jetzt?«, fragte Catarella schüchtern. »Wir machen es wie die Alten«, antwortete Montalbano, der plötzlich Lust hatte, zu frotzeln und Catarella auf den Arm zu nehmen. »Was haben die Alten denn gemacht, Dottori?« »Sich am Bauch gekratzt und ihren Bauchnabel angeguckt.« Das hatte seine Großmutter immer zu ihm gesagt, als er ein kleiner Junge war. Aber er war nie dahinter gekommen, warum die Alten ihre Zeit damit verbrachten, sich am Bauch zu kratzen und den Bauchnabel anzugucken. Catarella war fassungslos. »Haben die Alten das echt gemacht, Dottori?« »Ganz echt.« Und während Catarella noch über die sonderbaren Bräuche der Altvorderen sinnierte, zündete Montalbano sich eine Zigarette an und behielt dabei die Baustelle im Blick. Nach einer weiteren Viertelstunde war die Baustelle nur noch ein Fleck, der fast genauso dunkel war wie die dunkle mondlose Nacht. »Gib mir das Handy.« Catarella gab es ihm, der Commissario rief bei den Carabinieri in Tonnarello an. Verruso war am Apparat. »Maresciallo, hier ist Montalbano.« -198-
»Ich habe gerade im Kommissariat angerufen, aber man sagte mir, Sie seien nicht im Haus, und niemand wusste, wo Sie zu erreichen sind.« »Ja, ich musste zu…« »Wollen Sie außer dem, was Ihnen bereits bekannt ist, noch mehr wissen?« »Ich verstehe nicht. Ich weiß überhaupt nichts, wenn Sie's mir nicht sagen…« »Ach hören Sie doch auf, Commissario. Als ich ankam, ging die Sonne gerade unter, und ein Strahl fiel genau auf Ihr Fernglas. Soll ich Ihnen sagen, wo Ihr Auto stand?« »Nein. Gratuliere. Erzählen Sie.« »Dimora, der Handlanger, der die Morde ausgeführt hat, ist uns entwischt.« »Wie das?« »Tja, ich glaube, er ist sofort abgehauen, als er die Sirene hörte. Wir haben in der Baracke seine Kleidung gefunden, er hat sich nicht mal umgezogen, sondern seine Arbeitskluft angelassen. Er ist bestimmt längst über alle Berge.« »Was sagen seine Kumpane?« »Im Augenblick noch gar nichts. Aber der Wachmann hat geredet. Und ich glaube, dass 'u zu Cecè diesmal Probleme bekommt.« »Maresciallo, darf ich Sie um etwas bitten?« »Natürlich, Commissario.« »Würden Sie den Satz leicht abgewandelt noch mal sagen?« »Ich verstehe nicht.« »Würden Sie bitte sagen: Ich glaube, dass 'u zu Cecè diesmal verschissen hat?« -199-
»Wie Sie meinen«, sagte der Maresciallo schicksalsergeben. Er wiederholte den Satz, wie er gehörte. Aber er fügte noch hinzu: »Warum eigentlich?« »Lieber Maresciallo, Wörter haben für mich ein Gewicht. Und ein schmutziges Wort wiegt am meisten. Das ist alles. Und bitte entschuldigen Sie, dass Sie meinetwegen sprechen mussten, wie es nicht Ihre Art ist. Würden Sie mir noch was sagen?« »Natürlich.« »Das Kennzeichen von Dimoras Auto.« »Wozu brauchen Sie das?« Er hätte antworten können, dass sein Fernglas nicht so weit reichte. Aber er sagte bloß: »Nur so.« Der Maresciallo nannte ihm das Kennzeichen. Und dann fragte er: »Haben Sie meine private Telefonnummer?« »Nein. Wozu wollen Sie mir die geben?« »Nur so.« Sie verabschiedeten sich voneinander, und Montalbano gab Catarella das Handy zurück. »Mach du aus, ich schaff das immer nicht. jetzt können wir fahren.« Er bewegte die Hand zum Zündschloss, als sein Instinkt plötzlich Gestalt annahm. Er wusste nicht, wie er das Phänomen sonst beschreiben sollte: Sein Instinkt flüsterte ihm ein, diesen Ort nicht zu verlassen, und zwar wirkte er psychosomatisch, indem er Bewegungen unmöglich machte oder erschwerte. Montalbano hatte ganz schlaffe -200-
Hände, seine Füße fühlten sich an wie Ricotta und lagen kraftlos auf den Pedalen. Schwitzend schaffte er es gerade noch, den Zündschlüssel umzudrehen, aber der Druck war zu schwach, der Motor gab ein Geräusch wie eine zufriedene Katze von sich und ging wieder aus. »Was ist los, springt er nicht an?«, fragte Catarella, dem die Vorstellung, die Nacht im Auto verbringen zu müssen, gar nicht behagte. »Ich bin es, der nicht anspringt«, sagte Montalbano. Catarella war von der Antwort ziemlich beeindruckt. »Soll ich jemand anrufen?« »Wen denn?« »Puh, keine Ahnung, einen Mechaniker oder einen Doktor, halt jemand, der Ihnen am besten helfen kann.« »Los, Catarè, auf geht's. Ich steige jetzt aus und beobachte mit dem Fernglas die Baustelle.« »Dottori, aber wenn's so dunkel ist, sehen Sie dann was in der Nacht?« »Nein. Aber wenn der Mann, den die Carabinieri nicht gefunden haben, immer noch auf der Baustelle ist und weg will, muss er irgendwann ein Streichholz oder ein Feuerzeug anmachen. Und dann sehe ich ihn. Eine halbe Stunde passe ich auf und dann du. Wir wechseln uns ab.« Schon nach zwanzig Minuten sah er nur noch verschwommen, und überall blitzten Lichter auf wie in der Laurentiusnacht, in der es angeblich so viele Sternschnuppen gibt (er hatte schon seit Jahren keine einzige mehr gesehen). Schließlich war seine Schicht zu Ende. Er setzte sich ins Auto, weil ihm langsam kalt wurde, und zündete sich eine Zigarette an, wobei er sorgfältig darauf achtete, dass das Aufflackern des Feuerzeugs und das rote Glimmen, wenn er an der -201-
Zigarette zog, nicht zu sehen waren. Er musste eingenickt sein, denn Catarella weckte ihn auf. »Sie sind dran, Dottori.« Dann war wieder Catarella dran. Und dann wieder er. Als er sich danach ins Auto setzte, war ihm die Kälte in die Knochen gekrochen. Er zündete sich noch eine Zigarette an und stellte besorgt fest, dass nur noch zwei übrig waren. Montalbano hatte die Zigarette gerade im Aschenbecher ausgedrückt, als er Catarella leise rufen hörte. Er stieg hastig aus. »Hast du was gesehen?« »Dottori, es war gleich wieder weg, aber da hat jemand ganz kurz was angemacht.« »Bist du sicher?« »Ich schwör's, Dottori! Wollen Sie das Fernglas?« »Nein, mach du weiter, meine Augen sind müde.« »Arrè - schon wieder, Dottori«, sagte Catarella plötzlich. »Der hat's schon wieder gemacht, angemacht und ausgemacht. Wenn ich mir nicht irre, geht der zum Ausgang.« Er irrte nicht. Dimora musste auf dem Weg zu seinem Auto sein, dem einzigen, das noch dastand. Wie zur Bestätigung seines Gedankens leuchteten die Rücklichter des Wagens kurz auf, und in der Stille war deutlich zu hören, wie der Motor gestartet wurde. »Dottori, der haut ab!« »Wir schneiden ihm den Weg ab.« Sie sprangen ins Auto, Montalbano ließ den Motor an und fuhr ebenfalls ohne Licht los. Aber nach ein paar Metern blieb er stehen. Dimora hatte nicht den normalen Weg bergauf eingeschlagen, er fuhr sehr mühsam und sehr langsam querfeldein in die entgegengesetzte Richtung und musste immer wieder die Scheinwerfer einschalten, um -202-
Steinbrocken, Schlaglöchern, Bäumen auszuweichen. »Da braucht er zwanzig Minuten, bis er aus dem Tal draußen ist. Was ist auf der anderen Seite?« »Gallotta«, sagte Catarella. »Da muss er durch Gallotta durch, da kommt er nicht drum rum.« »Dann empfangen wir ihn eben dort.« Sie brauchten keine zwanzig Minuten bis Gallotta, einem Nest mit tausend Einwohnern. Dimora musste, um die richtige Straße zu erreichen, auf der er sich schnell aus dem Staub machen konnte, den Weg über das Dorf nehmen. Im Rückwärtsgang bog Montalbano von der Straße ab und schob sich zwischen zwei Häusern in eine Gasse. Aufs Äußerste angespannt, warteten sie mit eingeschaltetem Motor. Sie warteten und warteten. Drei Lastwagen, ein Porsche und ein dreirädriger Transporter fuhren vorbei. Von Dimoras Auto keine Spur. »Vielleicht hat er ein Auto angehalten und sich mitnehmen lassen?«, schlug Catarella zaghaft vor. »Das glaube ich nicht. Wenn er nicht kommt, dann suchen wir ihn eben.« Langsam fuhren sie durch die schmalen Straßen von Gallotta, das Auto wirkte wie ein gefährliches Tier, wie eine riesige Kakerlake. Dann kamen sie in eine Straße, die ebenso menschenleer war wie die anderen. Von den zehn Laternen, die sie hätten beleuchten sollen, gingen höchstens fünf. Drei Autos parkten neben dem Bürgersteig. Das hinterste, Montalbano wusste es, als er das Kennzeichen sah, war Dimoras Wagen. Aber er schien leer. War Dimora vielleicht ausgestiegen und hatte sich im Haus eines Freundes versteckt? »Hör zu, Catarè. Du steigst aus und näherst dich dem letzten Auto von hinten. Vielleicht ist Dimora schon weg. Vielleicht hat er sich auch drin versteckt. Pass auf, er ist -203-
wahrscheinlich bewaffnet. Ich geb dir Deckung.« Catarella stieg aus und öffnete sein Holster. Er näherte sich dem Auto von hinten, war aber auf den Bürgersteig getreten. Jetzt ging er an der Mauer eines baufälligen Hauses entlang, das schwarze Löcher statt Fenster hatte. Und an dieser Stelle hatte die Szene für den Commissario einen leichten Aussetzer, als wenn in einem Film ein paar Einzelbilder fehlten. Der Traum! Heiliger Himmel, das war ja der Traum! Die Wirklichkeit und die geträumten Bilder wichen zwar in manchem voneinander ab, doch im Großen und Ganzen stimmte es. Schnell holte er die Pistole aus dem Handschuhfach, lud durch, stieß die Tür auf und sprang aus dem Auto. Gleichzeitig öffnete sich die Tür von Dimoras Wagen, ein Mann stürzte heraus und streckte den rechten Arm zu Catarella hin, der wie gelähmt dastand. »Dimora!«, schrie Montalbano. Der Mann drehte sich um und schoss. Montalbano hatte bereits abgedrückt, die beiden Schüsse vermischten sich zu einem einzigen Knall. Dimoras halbes Gesicht flog weg und blieb, Knochen, Fleisch, Hirnmasse, an einer Hauswand kleben. Der Commissario rannte zu dem Mann, der mit dem Rücken auf dem Bürgersteig lag, und wusste auf den ersten Blick, dass er tot war. Dann wandte er sich zu Catarella um. Der stand reglos da, die Augen weit aufgerissen. Montalbano trat zu ihm und nahm ihm das Handy aus der Jackentasche. »Setz dich ins Auto.« Catarella rührte sich nicht von der Stelle. Erst als Montalbano ihm einen leichten Klaps auf die Schulter gab, setzte er sich in Bewegung. Ein Automat. Montalbano wählte eine Nummer. »Hier ist Montalbano. Leider muss ich so spät noch stören, aber…« -204-
»Ich habe Ihren Anruf erwartet.«
Er hatte ihn erwartet?
»Haben Sie ihn? Ich war sicher, dass er sich auf der
Baustelle versteckt hatte. Ich hatte Dimoras Wagen nicht beschlagnahmt, weil ich ihn als Köder dalassen wollte. Ich wusste, dass er anbeißen würde und dass Sie in der Nähe waren, um ihn sich zu angeln.« Ganz kurz hatte der Commissario einen ketzerischen Gedanken: Was für ein schönes Paar würden er und dieser Maresciallo der Carabinieri abgeben! »Ich war gezwungen zu schießen.« »Ist er tot?« »Ja.« »Wo sind Sie genau?« Der Commissario erklärte es ihm. »Hat jemand Sie gesehen?« »Ich glaube nicht. Es ist kein Fenster aufgegangen. Bei so was schläft man lieber weiter.« »Umso besser. Bleiben Sie, wo Sie sind, in spätestens einer Viertelstunde bin ich in Gallotta.« Montalbano setzte sich ebenfalls ins Auto. jetzt zitterte Catarella. »Mir ist so kalt, so furchtbar kalt, Dottori.« Montalbano legte ihm den Arm um die Schultern. »Lehn dich an mich.« Catarella kuschelte sich an den Commissario und heulte plötzlich los. »Matre santa! Heilige Muttergottes, ist das schrecklich, wenn man das sieht, wie einer totgemacht wird!« Zu sehen, wie ein Mensch getötet wurde, war für Catarella schrecklich. Aber wie schrecklich war es erst, -205-
wenn man selbst einen Menschen tötete? Verruso verlor keine Zeit, er hielt auf der Höhe von Montalbanos Auto und sprach durch das offene Seitenfenster mit ihm. »Fahren Sie sofort weg, Sie dürfen mit dieser Geschichte nichts zu tun haben. Dimora habe ich getötet, bei einem Schusswechsel. Klar? Sobald Sie weg sind, informiere ich die zuständige Stelle. Ach, das sollten Sie noch wissen: Die beiden Komplizen von Dimora haben geredet, sie haben gestanden, dass 'u zu Cecè die Morde in Auftrag gegeben hat, und trotz aller politischen Protektion habe ich das Gefühl, dass er diesmal verschissen hat, wie Sie es nennen.« Lag Ironie in Verrusos letzten Worten? Es war so, aber das wollte der Commissario nicht wahrhaben. Er brachte Catarella nach Hause. Als Catarella ausgestiegen war, konnte er sich immer noch nicht auf den Beinen halten, und er lehnte sich auf Montalbanos Seite ans Fenster. »Dottori, und dann täte das doch unser viertes Geheimnis sein, oder?« Und diesmal sah er alles andere als glücklich aus. Montalbano strich ihm über den Kopf wie einem Hund. »Ja, leider.« In Marinella stellte er sich unter die Dusche und ging gar nicht mehr raus. Er konnte nicht aufhören, er seifte sich ein, spülte die Seife ab und fing wieder von vorn an. Er verbrauchte das ganze Wasser aus dem Tank. Eines wusste er sicher: dass er diese Nacht kein Auge schließen würde. Und so war es. Am Morgen, als die Sonne schon hoch stand, schwamm er eine Stunde im eisig kalten Meer. Doch als er aus dem Wasser stieg, fühlte er sich immer noch schmutzig. Wie -206-
sagte Lady Macbeth? Wie, wollen diese Hände nimmer rein werden? Er zog sich an und stellte die große Kaffeekanne auf, dann setzte er sich auf die Veranda und wartete, einen Espresso nach dem anderen trinkend, bis eine zivile Zeit zum Telefonieren gekommen war. »Hier ist Montalbano. Ich möchte bitte mit Signora…« »Ah, Dottore, Sie sind's. Die Signora kommt heute nicht ins Büro. Sie möchten sie bitte zu Hause anrufen. Haben Sie die Nummer?« Diesmal meldete sich gleich Caterina. »Danke! Danke! Gerade habe ich im Radio gehört, dass 'u zu Cecè verhaftet ist! Danke!« »Wieso danken Sie mir? Maresciallo Verruso hat…« »Ach, ich wollte Ihnen sagen, dass wir uns heute Abend leider nicht sehen können. Das müssen wir um ein paar Tage verschieben.« »Sind Sie krank?« »Nein, was ganz Dummes. Ich bin gestern ausgerutscht und habe mir den Knöchel verrenkt. Ich kann nicht laufen.« Stütz dich auf mich, hätte Montalbano am liebsten gesagt. Ich bring dich zu einer großartigen alten Frau, die dir einen Zauberwickel anlegt. Nach einem halben Tag geht es dir wieder gut, und dann… Aber er sagte nur: »Das tut mir Leid.« Er kehrte auf die Veranda zurück und legte sich wie eine Eidechse in die Sonne. Man kann nicht mit einer Frau zusammen sein, wenn man einen Tag zuvor einen Menschen getötet hat. Das kommt zwar vor, aber nur in amerikanischen Spielfilmen.
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Montalbano hat Angst
Als sie in dem Restaurant Platz genommen hatten, wusste er gleich, dass Ingegnere Matteo Castellini nicht sein Fall war. Castellinis Frau Stefania, Livias Busenfreundin, war zwar auch nicht das Gelbe vom Ei, doch immerhin ganz passabel, eine vierzigjährige Brünette, die zu gegebener Zeit redete und intelligente Sachen sagte. Aber der Ingegnere war Montalbano auf den ersten Blick unsympathisch. Er war ganz in Weiß zum Abendessen erschienen, wie in einer Waschmittelreklame, ausgenommen die ins Elfenbein spielende Krawatte. Als er ihm die Hand gab, konnte Montalbano sich gerade noch beherrschen, »Mister Livingstone, I suppose?« zu sagen. Kaum war er fertig mit dem ersten Gang, einem risotto di mare, den Montalbano gut fand, legte der Ingegnere auch schon los. »Dann wollen wir mal zur Sache kommen«, sagte er. Es gab also eine Sache? Livia hatte kein Wort verlauten lassen. Er sah sie fragend an, und sie antwortete mit einem so flehenden Blick, dass der Commissario sich vornahm, was auch immer diese ›Sache‹ zu bedeuten hatte, gelassen zu bleiben und das Abendessen, zu dem ihn seine Freundin praktisch in Ketten geführt hatte, nicht in einem Streit enden zu lassen. »Wissen Sie, ich habe Stefania schon so lange damit in den Ohren gelegen, dass sie uns miteinander bekannt machen soll. Wir beide haben ein gemeinsames Interesse, und ich beneide Sie sehr.« -208-
»Wieso?«
»Weil Sie über ein privilegiertes Observatorium
verfügen.« »Ach ja? Welches denn?« »Das Kommissariat von Vigàta.« Montalbano traute seinen Ohren nicht. Das Kommissariat, ein privilegiertes Observatorium? Ein paar schäbige ebenerdige Zimmer, in denen sich Leute herumtrieben wie Catarella, der dummes Zeug quasselte, oder Mimi Augello, der immer hinter irgendeinem Rock her war? Er sah Livia an, aber die war in ein angeregtes Gespräch mit ihrer Freundin Stefania vertieft. Der Commissario war sicher, dass sie nur so tat. »Oh ja«, fuhr der Ingegnere fort. »Ich plane und baue Brücken. Weltweit, bei aller Bescheidenheit. Aber wissen Sie, in einem Betonpfeiler steckt nun mal kein Mensch.« Meinte er das im Ernst, oder machte er einen Witz? Montalbano wollte es genauer wissen. »Na ja, bei uns hat schon gelegentlich einer im Beton gesteckt.« jetzt fiel der Ingegnere aus allen Wolken. »Wirklich?« »Allerdings. Das war eine der Methoden, mit denen die Mafia…« Castellini unterbrach ihn. »Nein, vielleicht habe ich mich falsch ausgedrückt. Wissen Sie, Commissario, ich hätte nicht Ingenieur werden sollen. Ich hätte mich gerne mit Analyse beschäftigt.« »Chemischer?« »Nein. Mit Psychoanalyse.« So allmählich klärte sich die Sache. »Da muss ich Sie leider enttäuschen. In dieser Hinsicht ist das Kommissariat von Vigàta nicht unbedingt der -209-
geeignete Ort, um…« Konnte man sich Catarella hinter einer Couch vorstellen, auf der einer lag, der ein Büschel Spinat geklaut hatte? »Ich weiß, ich weiß. Aber was man dort zu ergründen vermag!«, rief der Ingegnere mit entrücktem Blick. Er hatte seine Stimme erhoben, sodass selbst Livia und Stefania ihr Gespräch unterbrachen und ihn ansahen. »Was denn ergründen?« »Die menschliche Psyche natürlich, Commissario! Ihre Windungen! Ihre Tiefe! Ihre Komplexität!« Aha, der Ingegnere gehörte also zu der Sorte Leute, die sich in allem, was mit ›Psy‹ anfängt - Psychologie, Psychoanalyse, Psychiatrie - genüsslich aalen. Montalbano beschloss, noch eins draufzusetzen. »Sie meinen, in ihre Abgründe hinabzusteigen?« »Ja.« »Ihre wirren Irrgärten zu durchwandern?« »Ja, ja.« »Sich in ihre finsteren Labyrinthe zu wagen? In ihre unentwirrbaren Knäuel? In die unterirdischen Höhlen? Die unerforschlichen…« »Ja, ja, ja«, keuchte Castellini, dem Orgasmus nahe. Livia verpasste Montalbano unter dem Tisch einen Fußtritt, und er verstummte. Auch weil sein Repertoire an Gemeinplätzen und Klischees nicht besonders groß war. Livia nutzte die Pause. »Weißt du, Matteo…«, sagte sie zum Ingegnere. Der Liebreiz in ihrer Stimme ließ Montalbano aufhorchen: Wenn Livia diesen Ton anschlug, folgte unweigerlich ein Seitenhieb, wie wenn die siede ihre Tinte ausstoßen, die Sepien, die der Kellner gerade servierte. »…selbstverständlich hätte Salvo die Möglichkeit dazu. -210-
Aber er nutzt sie nicht. Bei ihm geht es nicht über die Beweise hinaus.« »Was meinst du damit?«, fragte Montalbano gereizt. »Nicht mehr und nicht weniger als das, was ich gesagt habe. Du bleibst auf einer bestimmten Ebene stehen, die dir für deine Ermittlungen genügt. Vielleicht hast du Angst, darüber hinauszugehen.« Sie wollte ihn verletzen, das war klar. Das war die Rache dafür, dass er den Ingegnere verarscht hatte. Sogar Stefania schien sich über die Äußerung ihrer Freundin zu wundern. »Das ist nicht meine Aufgabe. Ich bin weder Pfarrer noch Psychologe noch Therapeut. Bitte entschuldigt mich jetzt.« Und er tauchte ein in den Duft und den Geschmack der siede, die zubereitet waren, wie sie zubereitet gehörten. Nach einer Schweigepause fing der Ingegnere an, von Schuld und Sühne zu sprechen, das er, wie er sagte, ›In der dunklen Stille der jemenitischen Nächte‹ wiedergelesen habe. In Sachen Psychologie lag Dostojewskij seiner Meinung nach gewaltig daneben. Als sie sich voneinander verabschiedeten, zog Stefania einen Schlüsselbund aus ihrer Handtasche und gab ihn Livia. »Fahrt ihr morgen?« Fahren? Wohin denn? Er machte doch erst seit einer Woche Urlaub in Boccadasse und hatte überhaupt keine Lust, sich fortzubewegen. »Was soll das mit der Fahrt?«, fragte er, als Livia den Motor anließ. »Stefania und Matteo überlassen uns netterweise für ein paar Tage ihr Haus in den Bergen.« O Gott! Die Berge! Er war ein Kind des Meeres, er war einfach so, da konnte er nichts dafür. Oberhalb von fünfhundert Metern war er schlecht gelaunt und konnte -211-
beim geringsten Anlass Streit anfangen, manchmal hatte er sogar solche Anfälle von Wehmut, dass er noch schweigsamer und eigenbrötlerischer wurde, als er von Natur aus schon war. Schön waren die Berge ja, aber das Meer war auch schön. Außerdem hatte Livia ihn einfach überrumpelt, richtiggehend verraten. Schlimmer als Gano im Puppentheater, der Mörder des rasenden Roland. »Warum hast du nicht gleich gesagt, dass du schon alles organisiert hast, um mich in die Berge zu schleifen?« »Zu schleifen! Jetzt mach doch nicht so ein Drama draus! Ganz einfach: Wir hätten die Tage sonst nur damit verbracht, uns zu zoffen.« »Ich möchte bloß mal wissen, warum wir eine Woche vor Ferienende unbedingt aus Boccadasse wegmüssen!« »Weil du in Boccadasse Ferien machst, während ich hier wohne, ich lebe hier. Klar? Das sind deine Ferien, nicht meine. Ich habe entschieden, dass wir unsere Ferien verbringen, wo ich will.« »Sagst du mir wenigstens, wo dieses Haus ist?« »Oberhalb von Courmayeur.« Oberhalb? Zwischen dem ewigen Eis und unberührten Gipfeln, wie Ingegnere Castellini sich ausgerückt hätte? Der Commissario erstarrte. Sie stritten lange, aber Montalbano wusste, dass er von vornherein verloren hatte. Später, vor dem Einschlafen, schlossen sie Frieden. Und noch später, als er mit offenen Augen dalag und das fahle Licht sah, das durch das offene Fenster hereinkam, Livia neben sich atmen hörte und ihr Atmen sich mit dem des Meeres vermischte, war Montalbano versöhnt und bereit, es mit den Eisbären aufzunehmen, die im Packeis oberhalb von Courmayeur -212-
sicher gut gediehen. Die ganze Fahrt, die zwei Stunden dauerte, wollte Livia ihn nicht ans Steuer lassen, da war nichts zu machen. »Jetzt lass doch mich mal fahren. Du wirst doch nur müde.« »Sagtest du nicht, ich wollte dich in die Berge schleifen? Also lass dich hinschleifen und sei still.« Da sie noch alles Mögliche zu tun gehabt hatten, in Boccadasse spät losgefahren waren und auch ziemlich dichter Verkehr herrschte, entschied Montalbano, als die Sonne unterging, dass er wohl am besten ein Nickerchen hielt. Livia Stimme weckte ihn. »Komm, Salvo, wir sind da.« Als er ausstieg, stellte er fest, dass es außerhalb des von den Scheinwerfern beleuchteten Bereichs stockfinster und in der Nähe keine Spur menschlichen Lebens zu hören oder zu riechen war. Von der Lichtung, auf der sie gehalten hatten, ging ein Pfad ab, der fast senkrecht anstieg und in irgendeine gottverlassene Gegend führte. »Los, steh nicht so verträumt rum. Mach deinen Rucksack auf, hol deinen Pullover raus und zieh ihn an.« Den Rucksack hatte Livia ihm natürlich geliehen, aber der dicke Pullover gehörte ihm, er hatte ihn letzten Winter in Boccadasse gelassen. Als die Scheinwerfer plötzlich ausgingen, hatte Montalbano das unangenehme Gefühl, von der Nacht verschluckt worden zu sein. Er wurde unruhig. Livia knipste eine Taschenlampe an und beleuchtete den Weg. »Komm hinter mir her und pass auf, dass du nicht ausrutschst.« -213-
»Wie weit ist es denn bis zum Haus?«
»Etwa hundert Meter.«
Nach den ersten fünfzig Metern wusste der Commissario, dass hundert Meter am Strand eine und hundert Meter in den Bergen eine andere Sache waren. Aber zum Glück war der Aufstieg anstrengend, sonst hätte die Kälte ihm trotz Pullover die Besinnung geraubt. Einmal rutschte er aus, einmal stolperte er. »Sieh zu, dass du lebend ankommst«, sagte Livia, die flink wie eine Ziege war. Endlich mündete der Weg in eine Lichtung. Wie das Haus von außen aussah, war kaum zu erkennen, aber Montalbano kam es vor wie eine ganz normale einstöckige Berghütte. Doch drinnen sah die Sache schon anders aus. Die Doppeltür führte in ein großes Wohnzimmer mit massiven, vertrauenerweckenden dunklen Holzmöbeln im Landhausstil, Fernseher, Telefon und einem großen offenen Kamin an der hinteren Wand. Außerdem gab es im Erdgeschoss noch ein Bad und eine kleine Küche mit einem riesigen Kühlschrank, der so voll gestopft war, dass man einen Lebensmittelladen hätte eröffnen können. Im oberen Stock zwei Schlafzimmer mit Glastüren, die auf eine gemeinsame Terrasse hinausgingen, und ein weiteres Bad. Das Haus war dem Commissario sofort sympathisch. »Gefällt's dir?«, fragte Livia. »Hm«, meinte er nur, denn er war noch nicht fertig mit ihr. Und setzte hinzu: »Kalt ist es.« »Ich mache gleich die Heizung an. Du wirst sehen, in zehn Minuten ist dir warm. Du kannst so lange einen Anorak von Matteo anziehen.« Einen Anorak von Ingegnere Castellini? Da erfror er lieber. »Nein, schon gut, ist ja gleich vorbei.« -214-
Es war wirklich bald vorbei. Und vorbei war eine Stunde später auch der Bärenhunger von der frischen Luft und dem Laufen, denn sie hatten den Kühlschrank praktisch halb geleert. Dann setzten sie sich auf ein gemütliches Sofa, und Livia schaltete den Fernseher an. Einvernehmlich entschieden sie sich für einen amerikanischen Spielfilm, die Geschichte eines reichen Mannes im Süden, dessen zwanzigjährige Tochter sich in einen Landarbeiter des Gutes verliebte, was dem Vater gar nicht behagte. Montalbano schlief, den Kopf an Livias Schulter gelehnt, plötzlich ein, und als sie anderthalb Stunden später aufstand, um den Fernseher auszuschalten, kippte er seitlich aufs Sofa und wachte verwundert auf. »Ich gehe schlafen, danke für den schönen Abend«, sagte Livia spöttisch und stieg die Treppe in den oberen Stock hinauf. Montalbano schlief sieben Stunden am Stück, und als er aufwachte, lag er noch genauso da, wie er sich hingelegt hatte. Livia, die neben ihm schlief, sah man an, dass ihre Reise durch das Land der Träume mit seinen immer neuen und versunkenen Gegenden noch lange nicht zu Ende war. Er stand auf, ging ins Erdgeschoss, machte sich einen Espresso, duschte, zog sich an, öffnete die Tür und trat vor das Haus. Er war nicht gefasst gewesen auf einen Tag von fast gnadenloser Schönheit in kräftigen Farben, der Schnee blendete, und der Mont Blanc war so hoch über ihm, dass Montalbano fast ein bisschen erschrak. Doch sofort stach die Kälte auf ihn ein, eisige Klingen schnitten ihm ins Gesicht, in den Hals, die Hände. Tapfer ging er hinter das Haus und blieb unter der Schlafzimmerterrasse stehen. Wenige Schritte entfernt begann ein Pfad, der seitlich am Berg hinaufführte und sich bald zwischen den Bäumen verlor. Das war eine Art Einladung, und Montalbano -215-
beschloss, wer weiß, warum, sie anzunehmen. Er kehrte ins Haus zurück, betrat auf Zehenspitzen das Schlafzimmer von Matteo und Stefania, öffnete den Schrank, nahm sich einen Anorak und einen richtig dicken Pullover, schlüpfte hinein, holte ein Paar Bergstiefel aus einem Schuhregal, zog sie an, legte Livia in der Küche einen Zettel hin: ›Bin spazieren‹, zog sich eine Art dicken Wollstrumpf mit Bommel über den Kopf, ging hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Bevor er losmarschierte, vergewisserte er sich, dass er Zigaretten und Feuerzeug in der Anoraktasche hatte. In der anderen Tasche waren ein Paar Handschuhe, die er sich überstreifte. Nachdem er eine halbe Stunde gelaufen war und bei jedem Schritt spürte, wie seine Lungen sich dehnten, stieß er auf eine Weggabelung, und er entschied sich für den rechten Pfad. Er führte bergauf, aber Montalbano war nicht müde, im Gegenteil, er hatte sogar das Gefühl, an Gewicht zu verlieren, sein Körper und sein Geist wurden leicht. Hier gab es keine Bäume mehr, nur noch Felsen. Irgendwann setzte er sich, bevor es um eine Kurve weiterging, auf einen großen Stein, um die Aussicht zu genießen. Er holte die Zigaretten aus der Tasche, steckte sich eine an, zog zweimal daran und trat sie wieder aus. Er hatte keine Lust zu rauchen. Als er auf die Uhr sah, staunte er. Anderthalb Stunden war er schon gelaufen, und er hatte es gar nicht gemerkt. Er sollte lieber umkehren, womöglich machte Livia sich Sorgen, wenn er so lange fortblieb. Doch bevor er sich an den Abstieg machte, wollte er noch ein paar Schritte gehen, nur noch die eine Kurve, hinter der ein Teil der Landschaft verborgen lag. Und mit einem Mal war alles anders. Hier präsentierte sich das Gebirge, wie es wirklich ist, so rau, hart, streng, dass man Furcht und Respekt empfindet. Der Weg wurde unangenehmer, schmal, wie er war zwischen der Felswand und einer -216-
Schlucht, die steil in die Tiefe abfiel. Montalbano war nicht schwindlig, aber bei diesem Anblick drängte er sich unwillkürlich gegen die Wand. An den Fels gelehnt, betrachtete er die Berggipfel, die kleinen Häuser unten im Tal, die wie Würfel aussahen, die Mäander eines Flusses, der bald auftauchte, bald verschwand. Schön war das schon, gar keine Frage, aber er fühlte sich mit einem Mal fremd, wie ein unbeholfener Außerirdischer, den eine ihm unbekannte Welt verwirrt. Er wandte sich ab, um die Kurve zurückzugehen und nach Hause zu laufen, doch dann zögerte er. Er glaubte, eine menschliche Stimme gehört zu haben. Was die Stimme sagte, hatte er nicht verstanden, aber ihr verzweifeltes Zittern war zu ihm gedrungen. Angespannt lauschte er. »Bit…te!Hil…fe!« Er drehte sich um. Und hörte die Stimme wieder: »Hil…fe! Hil…fe!« Montalbano ging drei Schritte weiter, er war sicher, dass die Stimme vom Abgrund her kam. Vorsichtig näherte er sich der Kante des Weges und streckte den Kopf vor. Vielleicht zwanzig Meter weiter vorn, ein Stückchen unterhalb des Pfades, bildete hoch über dem Abgrund ein Felsvorsprung eine kleine Plattform. Auf dieser lag bäuchlings jemand, ob Mann oder Frau war nicht zu erkennen, weil der Anorak den Kopf verdeckte, und hielt eine Frau an den Handgelenken fest, damit sie nicht in den Abgrund stürzte. Glücklicherweise hatte die Frau es geschafft, den linken Fuß in eine Felsspalte zu schieben, denn sonst hätte die andere Person sie nicht lange halten können. Die Szene stellte sich Montalbano mit einem Mal so dramatisch dar, dass sie nicht real schien, und er wollte schon nachsehen, wo die Scheinwerfer und die Filmkamera platziert waren. Ohne dass er es merkte, hatten seine Beine ihn im Handumdrehen auf die Höhe der beiden Unglücklichen getragen, er sah fünf oder sechs in -217-
den Fels eingeschnittene Stufen, flog sie hinunter und stand schon neben dem Menschen, der ausgestreckt am Boden lag. Es war ein Mann, und er hatte ihn kommen hören. »Hilfe.« Er hatte keine Kraft mehr zu sprechen, außerdem war sein Mund, der in seinem Pullover vergraben war, gegen die Erde gepresst. »Können Sie mich hören?«, fragte der Commissario, legte sich neben ihn und zog dabei die Handschuhe aus. Er spähte nach der Frau. Ihre Augen waren geschlossen, das Gesicht schneeweiß, und mit dem verschmierten Lippenstift sah sie aus wie ein Clown. »Ganz ruhig!«, sagte der Commissario zu ihr. Die Frau machte die Augen nicht auf, sie war reglos wie eine Statue. Montalbano legte sich zurecht und sagte zu dem Mann: »Hören Sie gut zu. Ich fasse jetzt mit beiden Händen das linke Handgelenk. Sie machen es genauso mit dem rechten Handgelenk. Zu zweit müssten wir sie hochziehen können. Hören Sie mich? Haben Sie verstanden?« »Ja.« Montalbano packte das linke Handgelenk, der Mann ließ es los und hielt mit beiden Händen das andere Handgelenk fest. »Alles klar?« »Ja.« »Ich zähle jetzt bis drei. Bei drei ziehen wir sie gleichzeitig langsam hoch. Fertig? Eins, zwei, drei!« Es war kein leichtes Unterfangen und wurde durch einen Umstand, den der Commissario nicht bedacht hatte, zusätzlich erschwert, denn als die Frau spürte, dass sie hochgezogen wurde, verkrampfte sie sich aus Angst, im Leeren zu hängen, und zog den Fuß nicht aus der Spalte. -218-
Montalbano und der Mann mussten sie hin und her zerren und gerieten dabei außer Atem. Der Commissario befürchtete auch, dass der Mann, wenn er am Ende seiner Kräfte war, plötzlich losließ. Würde er die Frau, die zum Glück klein und zierlich war, allein halten können? Wie der Herrgott es wollte, lagen eine Viertelstunde später alle drei rücklings auf der Plattform. Die Frau wimmerte schwach, sie musste sich ein paar Rippen gebrochen haben, die Augen hielt sie immer noch geschlossen. Sie war jung, um die dreißig. Der Mann, der vielleicht vierzig war, atmete mit offenem Mund und machte ein Geräusch wie beim Schnarchen. Der Kleidung, die beide trugen, sah man die erstklassige Qualität an. Montalbano robbte zu der Frau hin. Sie war immer noch weiß, nur ganz allmählich gelangte wieder Blut in ihr Gesicht. »Kopf hoch, Signora, es ist alles vorbei. Machen Sie die Augen auf, schauen Sie mich an.« Langsam schüttelte die Frau den Kopf. Der Mann starrte sie an, anscheinend war er nicht imstande, sich zu bewegen. »Haben Sie ein Handy?« Der Mann deutete auf die Innentasche seines Anoraks. Montalbano knöpfte sie auf und nahm das Gerät heraus. Aber wen sollte er anrufen? Der Mann musste verstanden haben, er ließ sich das Handy geben, stützte sich auf einen Ellbogen, wählte eine Nummer und fing an zu reden. »Salvo!« Es war Livias Stimme, und Montalbano merkte, wie Leben in ihn zurückkehrte. Anscheinend hatte er schlecht geträumt. jetzt weckte Livia ihn auf, das war alles gar nicht wahr, es war nur im Traum geschehen. »Salvo!« Er blickte nach oben, Livia stand auf dem Weg und sah ihn an, ganz blass. Dann sprang sie mit zwei Sätzen auf die Felsnase. Sie hatte erschrockene Augen und keuchte. Rasch erzählte ihr der Commissario, was passiert war. -219-
»Geh nach Hause. Ich bleibe bei ihnen.« Keine Chance, er konnte sie nicht davon abbringen. »Du kriegst noch was zu hören«, sagte sie, als Montalbano sich auf den Weg machte. Zu Hause zog der Commissario sich aus und wusch sich unter der Dusche den Schweiß von der Haut. Dann setzte er sich - nicht mal eine Unterhose hatte er angezogen aufs Sofa, öffnete eine noch nicht angebrochene Flasche Whisky und nahm sich fest vor, sie mindestens halb auszutrinken. Als Livia vier Stunden später kam, saß er immer noch so da. Die Flasche war dreiviertel leer. »Steh auf!« »Jawoll«, sagte Montalbano, erhob sich und stand stramm. Die Ohrfeige, die Livia ihm verpasste, machte ihn ganz benommen, und er sank aufs Sofa zurück. »Warum?«, lallte er. »Weil ich heute Morgen fast gestorben bin vor Angst, als du nicht zurückkamst. Du bist ein Arschloch!« »Ich bin ein Held! Ich habe einen Menschen ge…« »Manche Helden sind Arschlöcher, und du gehörst zu dieser Sorte. jetzt hau ab ins Bett, da bleibst du, bis ich dich wecke.« »Jawoll.« »Sie heißen Silvio und Giulia Dalbono, sind seit fünf Jahren verheiratet und haben ein Haus an dem anderen Berghang. Er hat in Turin eine Fabrik, aber hierher kommen sie, sooft sie können.« Montalbano probierte gerade eine Art lardo, weißen Speck, der mild und kräftig zugleich war und schmolz, sobald er sich zwischen Gaumen und Zunge befand. »Ich -220-
habe mit ihm gesprochen, während die Frau im Krankenhaus versorgt wurde, sie hat zwei gebrochene Rippen. Sie sind ganz normal gewandert, sie wollte auf dem Felsband gehen, und dort ist sie aus unerklärlichen Gründen abgestürzt. Vielleicht war ihr unwohl oder schwindlig, oder sie ist einfach gestolpert. Sie stürzte, konnte sich aber immerhin so lange an der Kante festklammern, bis der Mann sie an den Handgelenken packte. Dann bist zum Glück du gekommen. Er hat mich nach dir gefragt, wer du bist, was du machst. Er war beeindruckt von deiner Gelassenheit. Er will morgen kommen, um sich bei dir zu bedanken. Hörst du mir eigentlich zu?« »Natürlich«, sagte Montalbano und schob sich noch eine Scheibe Speck in den Mund. Livia schwieg verärgert. Erst als sie fertig gegessen hatten, ließ sich der Commissario zu einer Frage herab. »Hat sie die Augen aufgemacht?« »Wer?« »Giulia. So heißt sie doch, oder? Hat sie die Augen aufgemacht?« Livia sah ihn überrascht an. »Woher weißt du das? Nein, sie macht die Augen nicht auf. Sie weigert sich. Die Ärzte sagen, das kommt vom Schock.« »Aha.« Sie setzten sich aufs Sofa. »Willst du fernsehen?« »Nein.« »Was willst du machen?« »Komm, ich zeig's dir.« Als sie Salvos Absichten durchschaute, protestierte Livia schwach: -221-
»Lass uns wenigstens raufgehen…« »Nein, hier hast du mir eine geknallt, und hier wirst du dafür büßen.« »Jawoll«, sagte Livia. Am nächsten Morgen wachte er um sieben Uhr auf, und um acht öffnete er die Tür, um nach draußen zu gehen. »Salvo!« Das war Livia, die oben im Bett lag und ihn rief. Wie bitte? Wo sie doch zehn Minuten vorher noch tief und fest geschlafen hatte! »Was ist?« »Was machst du?« »Ich gehe ein paar Schritte.« »Nein! Warte auf mich, ich komme mit. In einer Viertelstunde bin ich fertig.« »Ist gut, ich warte hier in der Nähe.« »Geh nicht zu weit weg.« Montalbano war wütend. Wie einen dummen kleinen Jungen behandelte sie ihn! Er ging raus. Der Tag war wie ein Duplikat des vorherigen Tages, klar und strahlend hell. Auf dem Vorplatz stand ein Mann, der offensichtlich auf ihn wartete. Montalbano erkannte ihn gleich, es war Silvio Dalbono. Er war unrasiert und hatte Ringe unter den Augen. »Wie geht's Ihrer Frau?« »Viel besser, danke. Ich habe die Nacht im Krankenhaus verbracht und komme gerade von dort. Ich habe darauf gewartet, dass sie…« »Dass sie endlich die Augen aufmacht?« Der Mann sah ihn überrascht an, öffnete den Mund, machte ihn wieder zu und schluckte. Er versuchte zu -222-
lächeln. »Mir war schon klar, dass Sie ein guter Polizist sind, aber dass Sie so gut sind! Woher wissen Sie das?« »Ich weiß gar nichts«, sagte Montalbano unwirsch. »Mir ist nur an zwei Dingen aufgefallen, dass etwas nicht stimmte. Erstens hielt Ihre Frau hartnäckig die Augen geschlossen. Anfangs, als sie im Leeren hing und wir sie festhielten, dachte ich, sie sträube sich auf diese Weise gegen die schreckliche Lage, in der sie sich befand. Doch dann hielt sie die Augen auch, als sie schon in Sicherheit war, und noch im Krankenhaus weiter geschlossen. Daher vermutete ich, dass sie sich gegen Ihre Anwesenheit sträubte. Das Zweite war, als Sie und Ihre Frau nach der Rettung nebeneinander auf dem Felsen lagen - Sie mussten sich ja nicht gleich umarmen, aber Sie haben sich nicht mal berührt.« »Glauben Sie mir? Ich habe sie nicht…« »Ich glaube Ihnen.« »Dieses Felsband war oft Ziel unserer Wanderungen. Gestern Morgen war Giulia vorausgelaufen, sie stieg hinunter, und dann hörte ich, als ich noch auf dem Weg war, einen Schrei. Sie war nicht mehr da. Ich stieg auch hinunter, und da…« Er schwieg und wischte sich mit einem Taschentuch das schweißglänzende Gesicht ab. Dalbono sah dem Commissario nicht in die Augen, als er fortfuhr: »Ich habe ihre Hände gesehen, die sich an einem Felszacken an der Kante festklammerten. Sie hat einmal nach mir geschrien, zweimal, dreimal… Ich schwieg, ich stand nur da, wie gelähmt. Das war die Lösung.« »Sie wollten die Gelegenheit beim Schopf ergreifen und sie loswerden?« »Ja.« »Haben Sie eine andere Frau?« -223-
»Seit zwei Jahren.«
»Ahnte Ihre Frau etwas?«
»Nein, gar nichts. Aber dort, in diesem Augenblick,
wurde es ihr klar. Es wurde ihr klar, weil ich nicht auf ihren Hilfeschrei reagierte. Und plötzlich schwieg sie. Es war so… so schrecklich, so unerträglich still. Da stürzte ich los und packte sie an den Handgelenken. Wir… wir sahen uns an. Unendlich lange. Und irgendwann hat sie die Augen geschlossen. Da habe ich…« Wer weiß, warum - Montalbano stand plötzlich wieder am Rand des Abgrunds, er sah das Gesicht der Frau, verzweifelt nach oben gewandt wie bei einer Ertrinkenden… Zum ersten Mal im Leben empfand er ein Schwindelgefühl. »Es reicht«, sagte er grob. Irritiert vom Ton des Commissario, sah der Mann ihn an. »Ich wollte Ihnen nur erklären… Ihnen danken…« »Es gibt nichts zu erklären und nichts zu danken. Fahren Sie zu Ihrer Frau zurück. Guten Tag.« »Guten Tag«, sagte der Mann. Er wandte sich um und stieg langsam den Weg hinunter. Es stimmte, Livia hatte Recht. Er hatte Angst, er fürchtete sich davor, sich in die ›Abgründe der menschlichen Psyche‹ zu begeben, wie dieser blöde Matteo Castellini das nannte. Er fürchtete sich, weil er genau wusste, dass er am Grund einer solchen Schlucht unweigerlich einen Spiegel vorfände. In dem sich sein eigenes Gesicht spiegelte.
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Die Dinge im Dunkeln lassen
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Kapitel 1 In aller Herrgottsfrühe, kurz bevor er richtig wach war, hatte er deutlich gehört, wie das Wasser in die beiden Tanks oben auf dem Dach seines Hauses in Marinella floss. Und da die Stadtverwaltung von Vigàta den Bürgern jeden dritten Tag Wasser zugestand, bedeutete dieses Geräusch, dass Montalbano nach Herzenslust duschen konnte. So stürzte er, nachdem er Kaffee gekocht und andächtig das erste Tässchen getrunken hatte, ins Bad und drehte die Wasserhähne voll auf. Er seifte sich ein, wusch sich, sang falsch den Triumphmarsch aus Aida, und als er nach dem Handtuch griff, klingelte das Telefon. Nackt lief er aus dem Bad, wobei er den Fußboden ganz nass machte - das würde Adelina ihm heimzahlen, indem sie ihm nichts Essbares in den Backofen oder den Kühlschrank stellte -, und nahm den Hörer ab. Das Freizeichen ertönte. Aber wieso klingelte das Telefon dann immer noch? Da kapierte er, dass es nicht das Telefon, sondern die Klingel an der Haustür war. Er sah auf die Uhr auf dem Wandbord im Esszimmer, es war noch nicht mal acht: Wer außer seinen Leuten aus dem Kommissariat konnte um diese Zeit vor seiner Tür stehen? Wenn sie ihn belästigten, musste es sich um etwas Ernstes handeln. So, wie er war, ging er an die Tür. Der Pfarrer, der draußen wartete, machte entgeistert einen Satz nach hinten, als Montalbano nackt vor ihm stand. »E…entschuldigen Sie«, sagte er. »E…entschuldigen Sie«, sagte Montalbano ebenso verwirrt und versuchte sein Geschlecht einigermaßen mit der linken Hand zu bedecken, aber sie reichte nicht aus. Der Pfarrer ahnte es nicht, aber er hatte trotz der peinlichen Situation in Montalbanos Achtung einen -226-
Pluspunkt erzielt. Denn der Commissario mochte Geistliche nicht, die in Zivil herumliefen, mal in Jeans und Pullover, mal im Jogginganzug, das kam ihm immer vor, als wollten sie sich verstecken und tarnen. Doch der Pfarrer, der hier vor seiner Tür stand, trug eine Soutane, war ein schlanker, gepflegter Mann um die vierzig und machte einen intelligenten Eindruck. »Kommen Sie herein, ich ziehe mich rasch an«, sagte Montalbano und verschwand im Bad. Als Montalbano zurückkam, stand der Pfarrer auf der Veranda und sah aufs Meer hinaus. Der Morgen zeigte sich in reinen und kräftigen Farben. »Können wir hier miteinander reden?«, fragte der Geistliche. »Natürlich«, antwortete der Commissario und verbuchte einen weiteren Punkt zugunsten des Pfarrers. »Ich bin Don Luigi Barbera.« Sie gaben sich die Hand. Montalbano fragte ihn, ob er einen Espresso wolle, aber der Pfarrer lehnte ab. Der Commissario hatte keine Lust auf eine zweite Tasse, als er den Pfarrer so unschlüssig sah; den drängte es einerseits, zu erklären, weswegen er ihn aufgesucht hatte, und andererseits schien es ihm schwer zu fallen, zum Thema zu kommen. »Worum geht es?«, ermunterte Montalbano ihn. »Ich wollte zu Ihnen ins Kommissariat. Sie waren noch nicht da, und einer Ihrer Mitarbeiter hat mir netterweise gesagt, wo Sie wohnen. Daher war ich so frei.« Montalbano sagte nichts. »Es geht um eine diffizile Angelegenheit.« Jetzt stand dem Pfarrer der Schweiß auf der Stirn, sie glänzte. »Eine… eine Person, die im Sterben liegt, hat vor einer Woche die Beichte abgelegt. Sie hat mir ein Geheimnis -227-
preisgegeben. Eine schwere Schuld, für die ein Unschuldiger gebüßt hat. Ich versuchte sie zum Reden zu bewegen, sich von dieser Last nicht nur vor Gott, sondern auch vor den Menschen zu befreien. Sie wollte nicht. Sie weigerte sich mit aller Kraft, sie wehrte sich. Gestern Abend konnte ich sie mit Gottes Hilfe endlich überzeugen. Da ich Ihren Ruf kenne, dachte ich, Sie seien der Richtige für…« »Für was?«, fragte Montalbano unfreundlich. Fand der Pfarrer das witzig, so früh am Morgen? Erstens war Montalbano kein Freund von Groschenromanen, er würde sich da nie reinziehen lassen. Und das sah allein nach dem Hinweis auf ein Geheimnis, auf eine schwere Schuld, auf einen Unschuldigen im Gefängnis ganz nach Groschenroman aus… Und bestimmt folgte dann der Rest des Repertoires: das misshandelte Waisenmädchen, der böse junge Schönling, der betrügerische Vormund… Zweitens flößten ihm Sterbende eine solche Furcht ein, weckten ihn ihm etwas so Düsteres und Abgründiges, dass es ihm dann tagelang schlecht ging. Nein, er wollte mit dieser Geschichte absolut nichts zu tun haben. »Also, Padre«, sagte er und gab dem anderen damit zu verstehen, dass er gehen solle, »ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, aber ich habe zu viel zu tun, als dass ich… Fahren Sie ins Kommissariat, fragen Sie nach Dottor Augello und richten Sie ihm aus, dass er sich um die Angelegenheit kümmern soll.« Padre Barbera blickte ihn an wie ein Kälbchen, kurz bevor es zur Schlachtbank geführt wird. Und sagte so leise, dass es kaum zu verstehen war: »Lass mich dieses Kreuz nicht allein tragen, mein Sohn.« Was war es, was dem Commissario so zusetzte? Die -228-
Wahl der Worte? Der Ton, in dem sie vorgebracht wurden? »Also gut«, sagte er. »Ich komme mit. Aber sind Sie sicher, dass die Fahrt nicht umsonst ist?« »Ich kann Ihnen versichern, dass Ihnen diese Person…« »Das meinte ich nicht. Ich wollte sagen: Sind Sie sicher, dass der Sterbende noch am Leben ist?« »Die Sterbende, Dottore. ja, bevor ich zu Ihnen fuhr, habe ich angerufen. Vielleicht schaffen wir es rechtzeitig.« Sie hatten ausgemacht, dass der Commissario hinter dem Pfarrer herfahren sollte, daher konnte er Padre Barbera keine weiteren Fragen stellen. Dass er so wenig wusste, verstimmte ihn noch mehr, er wusste ja nicht mal, wie die Frau hieß, die er besuchen sollte, und das Verrückte an der Situation war, dass er gleich einen Menschen kennen lernen sollte, den er ein paar Stunden später nie mehr würde sehen können. Padre Barbera fuhr in die Peripherie von Vigàta, bog auf der Straße nach Montelusa gleich wieder links ab, fuhr weiter Richtung Raccadali, bog nach drei Kilometern wieder links ab, passierte ein hohes Eisentor, fuhr eine gepflegte Allee entlang und hielt vor einer großen Villa. »Wo sind wir hier?«, fragte der Commissario, als er ausgestiegen war. »Das ist ein Altersheim, es heißt La Casa del Sacro Cuore und wird von Nonnen geführt.« »Sieht ziemlich teuer aus«, bemerkte Montalbano, als er einen Gärtner am Werk und eine Schwester sah, die einen alten Mann im Rollstuhl spazieren fuhr. »Stimmt«, sagte der Padre Barbera trocken. »Bevor wir reingehen, will ich mehr wissen. Vor allem, wie die… die Signora heißt.« »Maria Carmela Spagnolo.« »Und woran stirbt sie?« -229-
»An Altersschwäche, sie erlischt langsam wie eine Kerze. Sie ist über neunzig.« »Verheiratet? Kinder?« »Ich weiß leider nicht viel von ihr, Dottor Montalbano. Sie war ziemlich jung Witwe und hat keine Kinder, nur einen Neffen, der in Mailand lebt und ihren Aufenthalt hier zahlt. Ich weiß, dass sie in Fela gelebt hat und dann einige Zeit nach dem Tod ihres Mannes ins Ausland gegangen ist. Vor fünf Jahren ist sie nach Sizilien zurückgekehrt und hat sich hier einquartiert.« »Warum ausgerechnet hier?« »Das kann ich Ihnen erklären. Sie ist in dieses Haus gezogen, weil hier auch eine Freundin aus Kinderjahren lebte, die jedoch letztes Jahr verstorben ist.« »Ist der Neffe benachrichtigt?« »Das nehme ich an.« »Ich rauche jetzt erst noch eine Zigarette.« Padre Barbera hob die Arme. Montalbano tat alles, um den Moment hinauszuzögern, in dem er dieser armen Frau ins Gesicht würde sehen müssen. Padre Barbera wiederum verstand nicht, warum der Commissario so wenig Interesse an der Sache zeigte. »Und mehr wissen Sie nicht?« Der Pfarrer sah ihn sehr ernst an. »Natürlich weiß ich mehr. Aber was ich weiß, wurde mir gebeichtet, verstehen Sie?« Aha, nächstes Kapitel des Groschenromans. Jetzt trat der Priester auf den Plan, der das Geheimnis, das ihm im Dunkel des Beichtstuhls anvertraut worden war, nicht preisgeben durfte. Ach was, am besten brachte er die Sache rasch hinter sich, hörte sich das wirre Gerede einer alten Frau an, die nicht mehr bei Sinnen war, und hatte -230-
seinen Part damit erledigt. »Gehen wir.« Das Haus wirkte wie ein Zehn-Sterne-Hotel, falls es das gibt. Überall huschten raschelnd Nonnen durch die Gänge. Ein zimmergroßer Aufzug brachte die beiden in die dritte und letzte Etage. Von dem blank gewienerten Flur gingen ein Dutzend Türen ab. Hinter einer war unaufhörliches verzweifeltes Wimmern zu hören, hinter einer anderen Musik aus einem Radio oder einem Fernseher, hinter einer dritten das dünne Stimmchen einer Frau, das C' è una chiesetta, amor, nascosta in mezzo ai fior… sang. Vor der letzten Tür, die nur angelehnt war, blieb Padre Barbera stehen. Er steckte den Kopf hinein und wandte sich dann zum Commissario um. »Kommen Sie.« Damit er überhaupt einen Schritt tun konnte, musste Montalbano sich vorstellen, dass hinter ihm einer war, der ihn anschubste und ihn zwang, sich in Bewegung zu setzen. In dem Zimmer gab es ein Bett, einen kleinen Tisch mit zwei Stühlen, ein Möbel mit einem Fernseher darauf, zwei bequeme Sessel. Eine Tür führte ins Bad. Alles schön aufgeräumt, alles sehr gepflegt. Neben dem Bett saß eine Nonne, die den Rosenkranz betete und dabei leicht die Lippen bewegte. Von der Sterbenden sah man nur den Kopf, wie von einem gerupften Vögelchen, das gekämmte Haar. Padre Barbera fragte leise: »Wie geht es ihr?« »Sie ist mehr dort als hier«, antwortete die Schwester wie in einem kindlichen Gedicht, stand auf und verließ das Zimmer. Padre Barbera beugte sich über das winzige Köpfchen. »Signora Spagnolo! Maria Carmela! Ich bin's, Don Luigi.« Die Augenlider der alten Frau öffneten sich nicht, sie zitterten nur. -231-
»Signora Spagnolo, der Mann, von dem ich Ihnen erzählt habe, ist hier. Sie können mit ihm sprechen. Ich gehe jetzt hinaus. Wenn Sie fertig sind, komme ich wieder.« Auch jetzt öffnete die Frau die Augen nicht, sie nickte nur ganz leise. Als Padre Barbera am Commissario vorbeiging, flüsterte er ihm zu: »Geben Sie Acht.« Worauf? Zuerst verstand der Commissario nicht. Dann begriff er, was ihm der Geistliche ans Herz legen wollte: Vorsicht, dieses Leben hängt an einem Nichts, an einem unsichtbaren, hauchdünnen Spinnwebfaden, ein lauter Ton, ein Husten genügt, um ihn unwiederbringlich zu zerreißen. Er bewegte sich auf Zehenspitzen vorwärts, setzte sich vorsichtig auf den Stuhl und sagte leise, mehr zu sich selbst als zu der Sterbenden: »Ich bin da, Signora.« Da kam vom Bett ein zartes Stimmchen, aber es war klar, ohne Anstrengung, ohne Schmerz: »Sind Sie… sind Sie… der Richtige?« Das weiß ich ehrlich gesagt nicht, wollte er schon antworten, aber er machte den Mund schnell wieder zu. Wie konnte man überhaupt zu einem Menschen, egal, in welcher Situation, schon mit Gewissheit sagen: Ja, ich bin der Richtige für dich? Aber vielleicht wollte die Sterbende auch nur fragen, ob er Polizist war, jemand, der mit dem, was er erfahren würde, auch richtig umging. Die Greisin deutete das unschlüssige Schweigen des Commissario wohl als bejahende Antwort, denn sie gab sich einen Ruck und drehte mit einer gewissen Anstrengung das Köpfchen so weit wie eben nötig, die Augenlider immer geschlossen. Montalbano beugte sich über das Kissen. »Nun… nun era…« Es war kein… »vi… vilenu.« Gift. -232-
»Cristi…na'u vosi…« Cristina wollte es… »e… iu… iu ci lu desi… ma…« und ich hab's ihr gegeben… aber… »nun era… nun era…« es war kein… es war kein… »vilenu.« Gift. In der vollkommenen Stille des Zimmers, in das auch keine Geräusche oder Stimmen von außen drangen, hörte Montalbano ein Pfeifen, das fern und nah zugleich war. Da begriff er, dass Signora Spagnolo tief Atem geholt hatte, vielleicht endlich befreit von der Last, die sie seit Jahren mit sich herumschleppte. Er wartete darauf, dass sie weitersprach, dass sie noch etwas sagte, denn was sie gesagt hatte, war zu wenig, und der Commissario wusste nicht, wo er anfangen sollte, um überhaupt etwas zu verstehen. »Signora«, flüsterte er. Nichts. Sicher war sie vor Erschöpfung eingenickt. So stand er leise auf und öffnete die Tür. Padre Barbera war nicht da, aber die Nonne stand ein paar Schritte entfernt und bewegte immer noch die Lippen. Als sie Montalbano sah, trat sie zu ihm. »Die Signora schläft«, sagte er und machte einen kleinen Schritt zur Seite. Die Nonne ging in das Zimmer, trat ans Bett, holte die linke Hand der alten Dame unter der Bettdecke hervor und fühlte den Puls. Dann holte sie auch die andere Hand hervor, nahm den Rosenkranz vom Gürtel und legte ihn ihr um beide Hände. Erst bei diesen Gesten begriff der Commissario, dass Signora Maria Carmela Spagnolo gestorben war. Dass sie sich mit dem Pfeiflaut nicht von der Last des Geheimnisses, sondern von der Last des Lebens befreit hatte. Und er hatte sich nicht gefürchtet. Er hatte es gar -233-
nicht gemerkt. Vielleicht weil weder die weihevolle Erhabenheit des Todes noch seine alltägliche, schreckliche fernsehgerechte Entweihung geherrscht hatte. Es war ganz einfach, ganz natürlich der Tod gewesen. Padre Barbera kam zurück, als Montalbano schon zwei Zigaretten hintereinander geraucht hatte. »Sehen Sie? Wir sind gerade noch zur rechten Zeit gekommen.« Stimmt. Zur rechten Zeit, um einen Köder zu schnappen, den Angelhaken in der Speiseröhre zu spüren und die Gewissheit zu haben, dass die notwendige Befreiung von diesem Angelhaken langwierig und mühselig sein würde. Hinterlistig überrumpelt hatte man ihn. Er sah den Pfarrer fast grollend an. Der schien nichts zu merken. »Konnte sie Ihnen noch etwas sagen?« »Ja, dass das, was sie einer gewissen Cristina gegeben hatte, nicht das Gift war, das diese wollte.« »Das passt«, sagte Padre Barbera. »Wozu?« »Ich würde Ihnen gern helfen, glauben Sie mir. Aber ich kann nicht.« »Ich habe Ihnen doch auch geholfen.« »Sie sind kein Geistlicher mit Schweigepflicht.« »Schon gut«, sagte Montalbano und setzte sich ins Auto. »Auf Wiedersehen.« »Warten Sie«, sagte Padre Barbera. Aus einem Schlitz an der Seite der Soutane holte er ein zweimal gefaltetes Blatt Papier, das er dem Commissario gab. »Die Verwaltung hat mir alles gesagt, was sie über die Signora weiß. Meine Adresse und meine Telefonnummer habe ich dazugeschrieben.« -234-
»Wissen Sie jetzt, ob der Neffe benachrichtigt ist?« »Ja, sie haben ihm den Tod mitgeteilt. Sie haben ihn in Mailand angerufen. Morgen Vormittag kommt er nach Vigàta. Wenn Sie wollen… kann ich Sie wissen lassen, in welchem Hotel er absteigt.« Der Pfarrer suchte um Vergebung nach. Aber der Schaden war schon angerichtet.
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Kapitel 2 »Dottori, ich bitte um Verzeihung, aber fühlen Sie sich vielleicht nicht gut? Haben Sie ein Unwohlsein?« »Nein. Warum?« »Hm, ich weiß nicht… Ich hab das Gefühl, dass Sie da sind und dass Sie weg sind.« Catarella hatte völlig Recht. Im Büro war er, weil er redete, Anweisungen gab, erklärte, aber in Gedanken saß er in einem gepflegten kleinen Zimmer im dritten Stock eines Altersheims neben dem Bett einer sterbenden Neunzigjährigen, die ihm gesagt hatte, dass… »Komm rein und mach die Tür zu, Fazio. Ich muss dir erzählen, was ich heute Morgen erlebt habe.« Als Montalbano fertig war, sah Fazio ihn zweifelnd an. »Und was will der Pfarrer jetzt von Ihnen?« »Keine Ahnung, ich soll wohl anfangen nachzuforschen, sehen, ob…« »Aber wenn Sie nicht mal wissen, wie, wann und wo das mit dem Gift passiert ist! Die Geschichte liegt womöglich sechzig oder siebzig Jahre zurück! Und dann: War die Angelegenheit bekannt, oder ist sie aus dem Wohnzimmer anständiger Leute nie rausgekommen, sodass kein Mensch jemals was erfahren hat? Dottore, hören Sie auf mich: Vergessen Sie die ganze Sache. Wegen dem Raubüberfall von gestern wollte ich Ihnen sagen…« »Jetzt erklär mal, Salvo. Hast du mir diese Geschichte erzählt, weil du meinen Rat willst? Ob du dich damit -236-
befassen sollst oder nicht?« »Genau, Mimi.« »Ich lass mich doch von dir nicht verarschen.« »Ich verstehe nicht.« »Du willst meinen Rat überhaupt nicht! Du hast dich längst entschieden!« »Ach ja?« »Ja! Logisch, dass du dich mit Feuereifer in eine Geschichte stürzt, die weder Hand noch Fuß hat! Und die vor allem so alt ist! Wahrscheinlich wirst du mit Leuten zu tun haben, die an die hundert sind!« »Na und?« »Solche Reisen in die Vergangenheit sind doch dein größtes Vergnügen. Es macht dir Spaß, mit Alten zu plaudern, die sich noch erinnern, wie viel 1912 die Butter gekostet hat, aber ihren Namen haben sie vergessen! Dieser Pfarrer ist gewieft, der hat dir genau den richtigen Floh ins Ohr gesetzt.« »Weißt du, Livia, als ich heute Morgen duschte, klingelte es an der Tür. Nackt, wie ich war, habe ich aufgemacht und…« »Entschuldige, aber vielleicht habe ich mich verhört. Du bist splitterfasernackt an die Tür gegangen?« »Ich dachte, es sei Catarella.« »Na und? Ist Catarella etwa kein Mensch?« »Natürlich ist er das!« »Und warum musst du einem Menschen den Anblick deines nackten Körpers zumuten?« »Hast du ›zumuten‹ gesagt?« »Habe ich, und ich nehme es nicht zurück. Oder glaubst -237-
du, du siehst aus wie der Apoll vom Belvedere?« »Wie meinst du das? Wenn ich nackt vor dir stehe, mute ich dir da den Anblick meines Körpers zu?« »Manchmal ja, manchmal nein.« Das war der Anfang ihres telefonischen Zoffrituals. Montalbano konnte so tun, als wäre nichts, und weiterreden oder die Sache böse enden lassen. Er entschied sich für Ersteres. Er sagte etwas Witziges, was ihm nicht recht gelang, weil er beleidigt war, und erzählte Livia die Geschichte zu Ende. »Hast du die Absicht, dich darum zu kümmern?« »Ach, ich weiß nicht. Ich habe den ganzen Tag darüber nachgedacht. Und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich es eher bleiben lasse.« Livia lachte gehässig auf. »Warum lachst du?« »Nur so.« »O nein! Du sagst mir jetzt auf der Stelle, was dieses Gelächter di scòncica verdammt noch mal soll!« »Sprich nicht so mit mir und rede nicht Dialekt!« »Ist gut, entschuldige.« »Was heißt scòncíca?« »Spott, sich mokieren.« »Ich hatte nicht die Absicht, mich über dich zu mokieren. Es war nur ein - wie soll ich sagen -, ein konstatierendes Lachen.« »Und was hast du konstatiert?« »Dass du langsam alt wirst, Salvo. Früher hättest du dich voller Elan in so einen Fall gestürzt. Das ist alles.« »Ach ja? Ich bin alt und schlapp?« »Von schlapp habe ich nichts gesagt.« -238-
»Wieso behauptest du dann, der Anblick meines Körpers sei eine Art Qual?« Und jetzt brach der Streit los. Er lag auf dem Bett und las den Zettel, den ihm Padre Barbera am Morgen gegeben hatte. Maria Carmela Spagnolo, Tochter von Giovanni und Matilde Jacono, geboren in Fela am 6. September 1910. Hat einen vier Jahre jüngeren Bruder namens Giacomo. Der Vater ist ein wohlhabender Anwalt. Sie wird in einem Internat von Nonnen erzogen. 1930 heiratet sie Dottor Alfredo Siracusa, einen reichen Apotheker aus Fela, der Häuser und Grundstücke besitzt. Die Eheleute haben keine Kinder. 1949 wird sie Witwe, Mitte des darauf folgenden Jahres verkauft sie alles und zieht nach Paris zu ihrem Bruder Giacomo, einem Berufsdiplomaten. Sie folgt ihm überallhin. Dann stirbt der Bruder, der verheiratet ist und einen Sohn namens Michele hat. Maria Carmela Spagnolo zieht weiterhin durch die Welt, zusammen mit Michele, der als Ingenieur beim Energiekonzern ENI tätig und unverheiratet ist. Als Michele Spagnolo in Pension geht und sich in Mailand niederlässt, meldet Maria Carmela sich in der Casa del Sacro Cuore an. Ihr ganzes Geld (was sehr viel ist) hat sie dem Neffen vermacht. Der sorgt dafür bis zum Tod der Tante für ihren Lebensunterhalt. Mehr war nicht. Eigentlich hatte die Lektüre Montalbano nichts gebracht. Oder vielleicht war da doch etwas, und man konnte es als Frage formulieren: Wie kommt eine Frau dazu, wenige Monate nachdem sie Witwe geworden war, Gewohnheiten, Rituale, Gebräuche, Verwandte und Bekannte hinter sich zu lassen und alles zu verkaufen und ins Ausland zu gehen?
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In dieser Nacht hatte er mehrere Albträume, bestimmt wegen der anderthalb Pfund purpi affucati, die Adelina ihm hingestellt und die er andächtig verspeist hatte, obwohl er wusste, dass sie der Verdauung nicht unbedingt zuträglich waren. In einem Traum humpelte er splitterfasernackt, verrunzelt, schlabberhäutig, auf zwei Stöcke gestützt durch die Straßen, umringt von unzähligen Frauen, die alle Livia merkwürdig ähnlich sahen und sich über ihn lustig machten und wütende Hunde auf ihn hetzten. Er versuchte immer wieder, sich in ein Haus zu retten, aber alle Türen waren verriegelt. Da sah er endlich eine offene Tür, schlüpfte hinein und fand sich in einer verräucherten Spelunke mit lauter Bunsenbrennern wieder, auf denen Destillierapparate und Kolben standen. Eine Frau sagte mit Grabesstimme: »Tritt näher. Was willst du von Lucrezia Borgia?« Er trat näher und entdeckte, dass Lucrezia Borgia niemand anderes war als die jüngst verstorbene Signora Maria Carmela Spagnolo verwitwete Siracusa. Bis kurz vor fünf wälzte er sich im Bett, dann schlief er ein und schlief vier Stunden am Stück. Als er sah, dass es schon neun Uhr war, wusch er sich fluchend und rasierte sich hastig, zog sich an, öffnete die Tür und hatte den Finger von Padre Barbera im Auge, der gerade auf die Klingel drücken wollte. Meine Güte, das nervte vielleicht! Der hatte den Weg zu seinem Haus gut gelernt, und jetzt vergaß er ihn nicht mehr! »Liegt wieder jemand im Sterben?«, fragte Montalbano extra mürrisch. Padre Barbera reagierte nicht darauf. »Kann ich reinkommen? Nur ein paar Minuten.« Montalbano ließ ihn herein, bot ihm aber keinen Stuhl an. Sie blieben stehen. -240-
»Ich habe heute Nacht kein Auge zugetan«, sagte Padre Barbera. »Haben Sie auch purpi affucati gegessen?« »Nein, ich habe abends ein leichte Suppe und etwas Käse zu mir genommen.« Mehr sagte er nicht. War denn das die Möglichkeit, dass er sich eigens nach Marinella bemühte, um ihm sein Menü des vorigen Abends mitzuteilen? »Heute habe ich wirklich wenig Zeit.« »Ich wollte Sie bitten, nicht mehr an die Geschichte zu denken. Es stand mir nicht zu, Ihnen als Polizisten ein Ereignis zur Kenntnis zu bringen, das vor so vielen Jahren geschehen ist…« »Um genau zu sein: in den ersten sechs Monaten des Jahres 1950?« Padre Barbera zuckte überrascht zusammen. Montalbano wusste, dass er ins Schwarze getroffen hatte. »Hat Ihnen das die selige Signora gesagt?« »Nein.« »Wieso wissen Sie dann von diesem Datum?« »Ich bin Polizist. Weiter jetzt.« »Nun, ich glaube nicht, dass ich - dass wir das Recht haben, eine Geschichte ans Licht zu zerren, die im Lauf der Zeit einen Schlusspunkt gefunden hat und in Vergessenheit geraten ist. Sie würde alte Wunden aufreißen, vielleicht neuerlichen Groll wecken…« »Stopp«, sagte Montalbano. »Sie können leicht reden von Wunden und Groll, weil Sie mehr wissen als ich. Doch ich habe keine Ahnung und bin nicht in der Lage, irgendwas zu beurteilen.« »So übernehme ich die Verantwortung und bitte Sie, diese Geschichte zu vergessen.« -241-
»Das könnte ich, aber unter einer Bedingung.« »Nämlich?« »Das erkläre ich Ihnen gleich. Aber vorher habe ich noch etliches anzumerken. Also, in den ersten Monaten des Jahres 1950 bittet eine gewisse Cristina Signora Maria Carmela, Frau eines Apothekers oder frisch verwitwet, um Gift. Aus persönlichen Gründen, die man kaum jemals wird erfahren können, oder weil sie argwöhnt, dass Cristina mit diesem Gift jemanden töten will, steckt Signora Maria Carmela ihr ein harmloses Pulver zu, das sie als Gift ausgibt. Sie bescheißt sie, mit Verlaub, Hochwürden. Cristina verabreicht das Gift der Person, die sie töten will, und diese bleibt am Leben, sie kriegt höchstens ein bisschen Bauchweh.« Padre Barbera hatte den Oberkörper vorgebeugt und lauschte dem Commissario: Er wirkte wie ein aufs Äußerste gespannter Bogen. »Wenn dem so war, hatte Signora Maria Carmela nicht viel zu bereuen. Es war kein Gift, also was soll's. Aber wenn Signora Maria Carmela sich so tief darüber grämt, dass dieses Gefühl sie bis zum Tod nicht loslässt, dann muss die Sache anders gelaufen sein, als Maria Carmela gehofft hatte. Klingt das vernünftig?« »Klingt vernünftig«, sagte Padre Barbera, den Blick auf die Augen des Commissario geheftet. »Und da liegt der Hund begraben. Das heißt nämlich, dass Cristina zwar kein Gift bekommen hat, der Mord aber trotzdem passiert ist.« Nicht Schweiß, sondern Wasser rann von Padre Barberas Stirn herunter. »Und noch etwas: Die Person, ob Mann oder Frau, weiß ich nicht, wurde nicht erschossen oder erstochen, sondern vergiftet.« -242-
»Wie kommen Sie darauf?« »Das hat mir die arme Tote gesagt, die Angst, die die Frau ihr Leben lang mit sich herumgeschleppt hat. Denn als der Mord geschehen war, muss sie den Verdacht geschöpft haben, dass sie sich geirrt hat, dass sie Cristina versehentlich doch richtiges Gift gegeben hat und nicht das Pülverchen, das sie vorbereitet hatte.« Der Pfarrer sagte nichts, rührte sich nicht. »Ich will Ihnen sagen, was ich vorhabe. Wenn der Mörder für seine Tat bezahlt hat, interessiert mich die Geschichte nicht mehr. Aber wenn es noch etwas Unklares, Ungelöstes gibt, mache ich weiter.« »Nach über fünfzig Jahren?« »Wissen Sie was, Padre Barbera? Manchmal frage ich mich, welche Beweise Gott hatte, als er Kain des Mordes an Abel bezichtigte. Glauben Sie mir, wenn ich die Möglichkeit hätte, würde ich den Fall wieder aufrollen.« Padre Barbera war dermaßen erstaunt, dass ihm der Unterkiefer herunterklappte. Resigniert breitete er die Arme aus. »Wenn das so ist…« Er ging an die Tür, doch bevor er das Haus verließ, sagte er noch: »Michele Spagnolo ist angekommen. Er ist im Hotel Pirandello abgestiegen.« Er kam zu spät zu der Sitzung mit Polizeipräsident Bonetti-Alderighi. Der beäugte ihn nur ungnädig und wartete, schweigend, damit das unmanierliche Benehmen auch so richtig zur Geltung kam, bis der Commissario sich gesetzt und die Kollegenrunde um Entschuldigung gebeten hatte, und sprach dann weiter über das Thema: »Was kann -243-
die Polizei tun, um das Vertrauen der Bürger zurückzugewinnen?« Einer schlug vor, ein Preisausschreiben zu veranstalten, ein Zweiter sagte, man solle am besten ein Tanzfest mit tollen Gewinnen und Kotillon ausrichten, ein Dritter meinte, man könne doch die Presse zur Mitarbeit motivieren. »Inwiefern?«, fragte Bonetti-Alderighi. »Sie könnte es ignorieren, wenn wir einen Fehler machen oder es uns nicht gelingt…« »Verstehe, verstehe«, fiel ihm der Questore hastig ins Wort. »Noch irgendwelche anderen Vorschläge?« Zeige- und Mittelfinger von Montalbanos Rechter streckten sich von ganz allein in die Luft, ohne dass sein Gehirn einen Befehl erteilt hätte. Der Commissario sah die beiden erhobenen Finger leicht erstaunt an. Der Questore seufzte. »Bitte, Montalbano.« »Und wenn die Polizei immer und überall ihre Pflicht tun würde, ohne zu provozieren oder ihre Macht zu missbrauchen?« Die Sitzung wurde in Gletscherkälte aufgehoben. Auf dem Rückweg nach Vigàta kam er zwangsläufig am Hotel Pirandello vorbei. Er rechnete nicht damit, Michele Spagnolo anzutreffen, aber versuchen konnte er es ja mal. »Ja, Commissario, er ist auf seinem Zimmer. Soll ich Sie mit ihm verbinden?« »Hallo? Hier ist Commissario Montalbano.« »Commissario? Was denn für einer?« »Von der Polizei.« »Und was wollen Sie von mir?« Ingegnere Spagnolo schien sich wirklich zu wundern. »Mit Ihnen reden.« -244-
»Worüber denn?«
»Über Ihre Tante.«
Dem Ingegnere kam die Stimme aus der Kehle wie
einem strangulierten Huhn. »Meine Tante?« »Ingegnere, ich bin hier, in Ihrem Hotel. Wenn Sie so nett wären und herunterkämen, könnten wir uns besser unterhalten.« »Ich bin gleich da.« Der Ingegnere war Anfang sechzig und ziemlich klein, sein Gesicht terrakottafarben von der Wüstensonne, die ihm bei seiner Suche nach Öl die Haut verbrannt hatte. Er war ein Nervenbündel und bewegte sich ruckartig. Er setzte sich hin, stand auf, setzte sich hin, als Montalbano Platz genommen hatte, schlug die Beine übereinander, stellte sie wieder nebeneinander, richtete sich den Krawattenknoten, wischte sich mit den Fingern über das Sakko. »Ich verstehe nicht, was die Polizei…« »Kein Grund zur Aufregung, Ingegnere.« »Ich bin nicht aufgeregt.« Wie benahm der sich wohl, wenn er erst nervös war! »Kurz bevor Ihre Tante starb, hat sie mir eine Geschichte anvertraut, die ich nicht so richtig verstanden habe, irgendwas mit Gift, das kein Gift war…« »Gift? Meine Tante?« Aufstehen, hinsetzen, Beine übereinander, Beine nebeneinander, Krawatte, Sakko wischen. Diesmal nahm er außerdem die Brille ab, hauchte die Gläser an, setzte die Brille wieder auf. Wenn der so weitermacht, drehe ich in zehn Minuten durch, dachte der Commissario. Ich muss das schnell über die Bühne bringen. »Was wissen Sie von Ihrer Tante?« -245-
»Sie war eine Heilige. Wie eine Mutter war sie für mich.« »Warum ist sie vor fünf Jahren nach Vigàta gezogen?« Aufstehen, hinsetzen, Beine übereinander, Beine nebeneinander, Krawatte, wischen, Brille ab, hauchen, Brille auf. Außerdem: Nase putzen. »Weil ich geheiratet habe, als ich pensioniert wurde. Und meine Tante hat sich mit meiner Frau nicht verstanden.« »Wissen Sie denn, was bei Ihrer Tante in der ersten Hälfte des Jahres 1950 los war?« »Keine Ahnung. Um Himmels willen, was ist denn das für eine Geschichte?« Aufstehen, hinsetzen, Beine übereinander, Beine nebeneinander… Aber da war der Commissario schon nicht mehr im Hotel.
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Kapitel 3 Auf dem Weg nach Vigàta fiel ihm ein, was er im Aufsatz eines Shakespeare-Forschers über Hamlet gelesen hatte. Da hieß es, der Geist des seligen Vaters - des Königs, den der Bruder mit stillschweigender Duldung von Gertrude, der Geliebten des Mörders und Schwagers, ermordet hat habe seinen Sohn Hamlet mit dem Befehl, ihn zu rächen und den Onkel zu töten, die Mutter aber zu verschonen, vor eine Aufgabe aus dem melodramatischen, nicht aus dem tragischen Fach gestellt. Schließlich wisse alle Welt, dass ein Vater- oder ein Muttermord tragische Angelegenheiten seien, doch ein Onkelmord sei höchstens Thema eines schlechten Melodrams oder einer bürgerlichen Komödie, die leicht zur Posse werde. Bei der Erledigung des Auftrags veranstalte der junge Dänenprinz einen solchen Wirbel, ein solches Theater, dass er sich selbst zur Figur einer Tragödie zu befördern vermöge. Und was für einer Tragödie! Nun hatte er sich also gebührend mit Hamlet verglichen, Signora Maria Carmela Spagnolo hatte noch nicht als Geist zu ihm gesprochen, obwohl da nicht viel fehlte, die arme Frau hatte ihm nicht explizit irgendeinen Auftrag erteilt, einen solchen wollte ihm höchstens Padre Barbera erteilen, und den konnte man leicht streichen, weil in Shakespeares Tragödie ein Priester nur sehr am Rande vorkommt - aus welchem Grund also sollte er mit seinen Nachforschungen einen Groschenroman in eine Detektivgeschichte ummodeln? Denn das war wohl drin, ein guter Krimi, und nie und nimmer einer dieser Romane mit ›Dichte und Tiefgang‹, die jeder kauft und niemand liest, obwohl die Kritiker schwören, noch nie sei ihnen ein -247-
solches Buch unter die Augen gekommen. Daher war er, als er das Kommissariat betrat, fest entschlossen, sich um die Geschichte mit dem Gift, das kein Gift war, nicht zu kümmern, auch nicht, wenn man ihn wie einen störrischen Esel an den Haaren zerrte. »Ciao, Salvo, weißt du was?« »Nein, Mimi, solang du's mir nicht sagst, weiß ich es nicht. Aber wenn du's mir sagst und mich dann fragst, ob ich was weiß, dann kannst du dich freuen, wenn ich sage: ja, ich weiß es.« »Meine Güte, was ist dir denn für eine Laus über die Leber gelaufen! Ich wollte dir nur was wegen dieser Toten sagen, wie heißt sie noch mal… ach ja, Maria Carmela Spagnolo, du befasst dich doch mit dem Fall…« »Nein.« Mimi Augello fiel aus allen Wolken. »Was heißt Nein?« »Das Gegenteil von ja.« »Jetzt erklär mal. Willst du nicht wissen, was ich dir sagen wollte, oder befasst du dich nicht mehr mit der Geschichte?« »Letzteres.« »Und wieso nicht?« »Weil ich nicht Hamlet bin.« Augello sah ihn überrascht an. »Der vom Sein oder Nichtsein? Was tut denn der zur Sache?« »Viel. Wie läuft's mit den Ermittlungen in dem Raubüberfall?« »Gut. Ich bin sicher, dass ich sie kriege.« »Erzähl.« -248-
Mimi erzählte ausführlich, wie es ihm gelungen war, zwei der drei Täter zu identifizieren. Falls er ein Wort des Lobes aus dem Mund des Commissario erwartet hatte, so wurde er enttäuscht. Montalbano sah ihn nicht mal an, er saß mit gesenktem Kopf da und hing irgendwelchen Gedanken nach. Nach fünf Minuten Schweigen stand Augello auf. »Ich geh dann mal wieder.«
»Warte.«
Dem Commissario kamen die Worte nur mühsam über
die Lippen. »Was wolltest du vorhin wegen… wegen der Toten sagen?« »Dass ich was erfahren habe. Aber ich sag's dir nicht.« »Warum nicht?« »Du hast selber gesagt, dass dich der Fall nicht interessiert. Außerdem hast du dich nicht dazu herabgelassen, dich irgendwie anerkennend dazu zu äußern, wie ich in der Sache mit dem Raubüberfall weitergekommen bin.« Und das sollte ein Kommissariat sein? Das war ein Kindergarten, in dem Trotz und kleine Bosheiten den Ton angaben. Ich geb dir meine Muschel nicht, weil du mich von deinem Pausenbrot nicht hast abbeißen lassen. »Willst du von mir hören, dass du das gut gemacht hast?« »Ja.«
»Mimi, du hast das ganz nett gemacht.«
»Du bist echt gemein, Salvo! Aber ich will mal nicht so
sein und sag dir, was ich weiß. Heute Morgen war Rechtsanwalt Colajanni beim Friseur und hat die Todesanzeigen gelesen, wie alte Leute das so machen.« Montalbano fuhr wütend hoch. -249-
»Was heißt hier, wie alte Leute das machen? Bin ich etwa alt? Ich lese auch als Erstes die Todesanzeigen! Und dann das Vermischte.« »Ja, ist ja gut. Plötzlich hat Colajanni laut gesagt: ›Sieh mal einer an! Maria Carmela Spagnolo! Ich dachte, die wäre längst tot!‹ Das ist alles.« »Ja und?« »Salvo, das bedeutet, dass es jemand gibt, der sich noch an sie erinnert. Und dass diese Giftgeschichte Wirbel gemacht haben muss. Es gibt also eine Möglichkeit für dich: Du gehst zu Avvocato Colajanni und fragst ihn, was er weiß.« »Hast du die Anzeige gelesen?« »Ja, sie war ganz schlicht, der schmerzerfüllte Neffe Michele teilt das Ableben seiner über alles geliebten und so weiter und so fort. Was ist, gehst du hin?« »Du kennst Colajanni doch! Der ist im Alter tobsüchtig geworden! Wenn du nur ein Wort falsch sagst, zieht er dir einen Stuhl über die Rübe. Reden kann man mit dem nur im Einsatzanzug. Außerdem steht meine Entscheidung: Ich will mich mit dieser Geschichte nicht befassen.« »Dottor Montalbano? Hier ist Clementina Vasile Cozzo. Was ist eigentlich los, haben wir etwa gestritten, dass wir uns nicht mehr sehen? Wie geht es Ihnen?« Montalbano wurde rot. Er hatte sich schon lange nicht mehr bei der gelähmten alten Lehrerin gemeldet, die er so gern mochte. »Mir geht's gut, Signora. Wie schön, Ihre Stimme zu hören!« »Ich rufe aus purem Eigennutz an, Commissario. Meine Cousine aus Fela hat sich angemeldet, sie kommt morgen -250-
nach Vigàta. Sie liegt mir schon so lange in den Ohren, dass sie Sie kennen lernen will, würden Sie mir also den Gefallen tun und morgen, wenn es bei Ihnen geht, zum Mittagessen kommen? Dann hätte ich das endlich hinter mir.« Er nahm die Einladung an, aber aus irgendeinem Grund war er unruhig. Sein Jagdinstinkt war erwacht, er warnte ihn vor einer drohenden Gefahr, vor einer laubbedeckten Falle, in die er stolpern konnte, wenn er nicht aufpasste. Quatsch, sagte er sich. Welche Gefahr konnte schon hinter einer Einladung von Signora Clementina zum Mittagessen stecken? Neugier, reine Neugier, ermahnte der Commissario sich selbst, als er anderntags um halb neun auf dem Platz hinter der Casa del Sacro Cuore hielt. Er hatte es sich doch gedacht. Vor dem rückwärtigen Tor parkte ein Leichenwagen mit glitzernden goldenen Engelchen. Nicht weit davon ein Taxi, der Fahrer ging auf und ab. Auch drei Mopeds standen da. Kliniken, Hospize, Krankenhäuser haben immer eine Hintertür, wegen der meist vormittags stattfindenden Bestattungen und des letzten Geleits, das schnell und diskret abgewickelt wird: Angeblich um den Kranken und den anderen Bewohnern den Anblick von Särgen und weinenden Angehörigen zu ersparen, denn sie hoffen schließlich, das Haus durch das Hauptportal eigenfüßig verlassen zu können. Ein heimtückischer Wind wehte und trieb schmutzig gelbe Wolken durcheinander. Dann tauchten vier Männer auf, die einen Sarg trugen, gefolgt vom Neffen der verstorbenen Signora Maria Carmela. Das war's. Montalbano legte den Gang ein und fuhr los, er war deprimiert und verärgert über sich selber und seinen Einfall. Was zum Teufel hatte er bei diesem Trauergeleit verloren, das von einer fast beleidigenden Armseligkeit und Trostlosigkeit war? Neugier! Aber -251-
worauf? Wollte er wissen, mit welchen einfallsreichen Ticks Ingegnere Spagnolo noch aufwartete? Als das Hausmädchen von Signora Clementina Vasile Cozzo die Tür öffnete, merkte Montalbano schon an dem Blick, mit dem die Frau ihn bedachte, dass sie immer noch eine ebenso tiefe wie unerklärliche Abneigung gegen ihn hegte. Teilweise verzieh Montalbano ihr das, weil sie wusste, was sie in der Küche zu tun hatte. »Die Zeit vergeht, was?«, meinte das Hausmädchen und riss ihm das Paket cannoli aus der Hand. Was hieß denn das? Dass er in weniger als einem Jahr ein alter Mann geworden war? Und dann grinste diese infame Person auch noch, als er sie fragend und besorgt ansah. Im Wohnzimmer quoll aus einem Sessel neben dem Rollstuhl von Signora Clementina eine unglaublich fette Fünfzigjährige, deren Stimme durch Mark und Bein ging, sie redete nämlich nicht, sondern hatte einen Ton an sich, der eng mit dem hohen C verwandt war. »Das ist meine Cousine Ciccina Adorno«, sagte Signora Clementina zu Montalbano, und in ihrer Stimme schwang die Bitte um Verständnis mit. »Gütiger Himmel! Wie freue ich mich, Sie kennen zu lernen!« Das war am ehesten ein Mittelding zwischen dem Geheul einer Nebelsirene und dem eines Wolfs, der seit einem Monat nichts zu beißen hatte. In der Viertelstunde bevor sie sich an den Tisch setzten, erfuhr Montalbano unter zunehmenden Ohrenschmerzen, dass Signora Ciccina Adorno verwitwete Adorno (›Ich habe meinen Cousin geheiratet‹) nicht fünfzig, sondern siebzig Jahre alt war, und er entnahm ihren wirren Erklärungen, warum sie von Fela nach Vigàta hatte fahren müssen: Sie lag nämlich -252-
im Streit mit einem, der ein kleines Haus von ihr gemietet hatte und die Miete nicht mehr zahlen wollte, weil im Dach eine undichte Stelle war und bei Regen das Wasser in die gute Stube tropfte. Wer müsse nun nach Meinung des Commissario, der ein Mann des Gesetzes sei, für die Reparatur der undichten Stelle aufkommen? Zum Glück bat in diesem Augenblick das Hausmädchen zu Tisch. Betäubt von dem Geschrei, konnte der Commissario die pasta 'ncasciata gar nicht genießen, dabei entstammte sie bestimmt einer Sphäre ganz knapp unterhalb der allerhöchsten, wo der Herrgott sitzt. Dafür war Signora Ciccina zu dem Thema gewechselt, das sie am brennendsten interessierte, und so befragte sie ihn zu den kleinsten Details über die sie natürlich umfassend Bescheid wusste - sämtlicher Einzelheiten aller Fälle, die Montalbano je gelöst hatte. Sie erinnerte sich an die belanglosesten Nebensächlichkeiten, die dem Commissario vollkommen entfallen waren. Beim Fisch startete Clementina Vasile Cozzo einen letzten Versuch, den Commissario aus diesem Fragentaifun zu erretten. »Ciccina, was meinst du - wird dem japanischen Kaiser ein Sohn oder eine Tochter geboren?« Und während der Commissario noch überrascht war, dass plötzlich die Aufgehende Sonne, oder was auch immer, ins Spiel gebracht wurde, erklärte Signora Clementina ihm, ihre Cousine wisse alles über sämtliche Herrschaftshäuser in der ganzen Welt. Signora Ciccina biss aber nicht an. »Soll ich etwa von so was reden, wenn wir unseren Commissario hier sitzen haben?« Und ohne Atem zu schöpfen, fuhr sie fort: »Wie denken Sie über den Fall Notarbartolo?« »Welcher Notarbartolo?« »Sie scherzen wohl! Erinnern Sie sich etwa nicht an -253-
Notarbartolo, den von der Banca di Sicilia?« Das Verbrechen war Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts (oder war es Ende des neunzehnten?) geschehen, aber Signora Ciccina begann darüber zu reden, als läge es erst einen Tag zurück. »Ich weiß nämlich alles über alle Verbrechen, die seit der Vereinigung Italiens bis heute in Sizilien passiert sind, Commissario.« Nach dem Exkurs über den Fall Notarbartolo ging es weiter mit dem Fall Mangiaracina (1912-14), der sich als so verzwickt und kompliziert erwies, dass der Mörder beim Espresso immer noch nicht entlarvt war. Da schaute Montalbano, der einen ernsthaften Schaden seines Trommelfells befürchtete, auf seine Uhr, stand auf, schützte plötzliche Eile vor, verabschiedete sich und dankte Signora Clementina. Ciccina Adorno brachte ihn an die Tür. »Eins noch, Signora«, sagte der Commissario, ohne zu bedenken, worauf er sich einließ. »Erinnern Sie sich an eine gewisse Maria Carmela Spagnolo?« »Nein«, antwortete entschieden Signora Adorno, die doch über sämtliche Bluttaten auf der Insel Bescheid wusste. Als er auf dem Felsen unterhalb des Leuchtturms saß, gab er sich einer Art Selbstanalyse hin. Er war von Ciccina Adornos negativer Antwort zweifellos enttäuscht. Hieß das, dass er doch Nachforschungen anstellen wollte? Ja oder nein? Wenn er sich doch ein für alle Mal entscheiden könnte! Ein Minimum an Initiative würde ausreichen. Zum Beispiel könnte er zu Avvocato Colajanni gehen und ihn, auch auf die Gefahr einer Schlägerei hin, nach Maria Carmela Spagnolo befragen. Denn es bestand kein Zweifel, dass der sie kannte, wenn er bei der Lektüre der Todesanzeige beim Friseur so reagiert -254-
hatte. Oder er könnte in die städtische Bibliothek gehen, den Jahrgang 1950 der größten Tageszeitung der Insel ausleihen und mit Engelsgeduld nachlesen, was in den ersten sechs Monaten des Jahres in Fela alles passiert war. Oder Catarella beauftragen, per Computer zu recherchieren. Warum tat er es dann nicht? Mit ein bisschen gutem Willen konnte er in Erfahrung bringen, was es zu erfahren gab, und schon war die Sache erledigt. Hatte er vielleicht keine Lust, dem Thema lebensverlängernde Maßnahmen - das von Ärzten, Geistlichen, Moralaposteln, Fernsehmoderatoren so heiß diskutiert wurde - und dem Thema prozessverlängernde Maßnahmen - das von Juristen und Politikern so heiß diskutiert wurde auch noch das Thema ermittlungsverlängernde Maßnahmen hinzuzufügen, das kein Mensch diskutieren würde? Oder verhielt er sich, und das schien ihm die richtige Antwort, lieber passiv? Nämlich wie ein Strand, an dem gelegentlich die Überbleibsel von Schiffbrüchen angeschwemmt wurden: Manches nimmt das Meer wieder mit, anderes bleibt liegen und versengt in der Sonne. Da wartete man doch am besten, bis die Wellen weitere Wrackteile ans Ufer spülten. Um kurz nach eins war er gerade auf dem Weg ins Bett, als das Telefon klingelte. Das war bestimmt Livia. »Hallo, Liebling«, sagte er. Schweigen am anderen Ende der Leitung, dann explodierte ein ohrenbetäubendes Donnergetöse, als ginge die Welt unter. Als er den Hörer vom Ohr weghielt, begriff er, dass es sich um Gelächter handelte. Und so lachen konnte nur Ciccina Adorno, die nicht nur ein Schreihals, sondern auch ein Nachtlicht war. -255-
»Tut mir Leid, Dottore, aber ich bin nicht Ihr Liebling. Dottore, Sie haben mich reingelegt!« »Wieso denn, Signora?« »Mit Maria Carmela Spagnolo. Sie haben nicht gesagt, dass sie nach ihrer Heirat Siracusa hieß, ihr Mann war Apotheker, und vor lauter Nachdenken konnte ich gar nicht einschlafen.« »Kannten Sie sie?« »Klar kannte ich sie! Sogar persönlich. Aber ich habe seit vielen Jahren nichts mehr von ihr gehört.« »Sie ist vorgestern gestorben, hier in Vigàta.« »Ja, so was!« »Könnten wir uns morgen Früh treffen, Signora?« »Ich fahre um acht wieder nach Fela.« »Wäre es vielleicht möglich…« »Wenn Sie nicht zu müde sind, können Sie jetzt noch kommen.« »Aber Signora Clementina…« »Meine Cousine hat nichts dagegen. Wir erwarten Sie.« Bevor er das Haus verließ, stopfte er sich Watte in die Ohren. Nachdem Signora Ciccina eine Stunde lang geredet hatte, klopften die oberen Nachbarn an die Decke. Dann kamen die unteren Nachbarn dazu und klopften an den Boden. Und die anderen Nachbarn klopften an die Wände. Da setzte Signora Clementina den Commissario und die Cousine in eine Abstellkammer. Montalbano verließ das Haus nach drei Stunden, sechs Tassen Espresso und zwanzig Zigaretten. Trotz der Wattestöpsel taten ihm die Ohren weh. Diese Welle hatte -256-
nicht vereinzelte Wrackteile angespült, sondern eine komplette Galeone.
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Kapitel 4 Am ersten Januar 1950 setzte sich Avvocato Emanuele Ferlito, Nenè für die Freunde, pünktlich um neun Uhr abends zu ›Meine Tante deine Tante‹ in den Club Patria, von dem ganz Fela wusste, dass er in Wirklichkeit eine Spielhölle war. Und wenn das an den so genannten Werktagen der Fall war, was war dann erst an Sonn- und Feiertagen los, speziell zwischen Weihnachten und dem Dreikönigsfest, wenn die Leute, wie es in den Dörfern Tradition ist, sogar die letzte Unterhose verspielen. Avvocato Nenè Ferlito, der reich und im Wesentlichen ein Nichtstuer war, denn er arbeitete nur selten und wenn, um Freunden einen Gefallen zu tun, war fünfzig Jahre alt und hatte Glück im Spiel und Glück in der Liebe. Er war nicht nur imstande, achtundvierzig Stunden lang am Spieltisch zu sitzen, ohne jemals aufs Klo zu gehen, sondern hatte auch Frauen in Fela und in den benachbarten Ortschaften, und man wusste, dass er in Palermo (wohin er, zumindest sagte er das seiner Gattin, oft zu Gerichtsverhandlungen fuhr) gleich zwei Frauen hatte, eine Tänzerin und eine Schneiderin. Pro Abend trank er gut eine halbe Flasche französischen Cognac. Tägliche Dosis filterlose Zigaretten: hundertzehn bis hundertzwanzig. Gegen elf Uhr an diesem Neujahrsabend kippte er plötzlich um. Was ein paar Jahre vorher schon mal passiert war. Der Anwalt war, mit Verlaub, steif wie ein Stockfisch, wurde von heftigen Krämpfen geschüttelt, übergab sich und bekam kaum mehr Luft. »Ist es wieder so weit!«, rief Dottor Jacopo Friscia, der ebenfalls im Club war. Friscia hatte ihn schon bei der ersten Ohnmacht behandelt und ihm vor allem das Rauchen verboten, aber -258-
das war Ferlito bei einem Ohr rein- und beim anderen wieder rausgegangen. Eine neuerliche Krise durch Nikotinvergiftung war unausweichlich. Doch diesmal ist es viel ernster als das letzte Mal, Nenè Ferlito droht zu ersticken, und um ihm die Kinnladen zu öffnen, müssen der Arzt und die anderen aus dem Club auf einen Schuhlöffel zurückgreifen. Als der Anwalt endlich wieder zu sich kommt, wird er nach Hause getragen, während Dottor Friscia schnell Medikamente holt. Signora Cristina, die Frau des Anwalts (das Ehepaar schläft getrennt), lässt ihren Mann ins Bett bringen und ruft dann ganz aufgeregt ihre achtzehnjährige Tochter Agata an, die die Feiertage bei Verwandten in Catania verbringt. Die Helfer gehen, als Dottor Friscia kommt; der Zustand des Patienten ist unverändert. Der Doktor erklärt der Signora mit deutlichen Worten, dass der Patient in Lebensgefahr schwebt, und schreibt ihr auf einen Zettel, welche Arzneien sie wann verabreichen muss. Signora Cristina ist verständlicherweise durcheinander und unkonzentriert, und so wiederholt er, das Leben ihres Mannes hänge davon ab, dass die korrekte Gabe strikt eingehalten werde. Sie werde die ganze Nacht wach bleiben müssen. Cristina sagt, sie schaffe es. Der Arzt hat seine Zweifel und fragt sie, ob sie eine Krankenschwester brauche, die sich um alles kümmere. Cristina lehnt ab. Der Arzt geht. Am folgenden Morgen klingelt Dottor Friscia kurz nach acht bei den Ferlitos. Das Hausmädchen Maria, das gerade erst angekommen ist, öffnet ihm und sagt, Signora Cristina habe sich im Zimmer ihres Mannes eingeschlossen und lasse niemanden hinein. Doch der Arzt kann sie überreden, die Tür aufzumachen. In dem Zimmer stinkt es unerträglich nach Kotze, Pisse und Scheiße. Starr und mit großen Augen sitzt Cristina neben dem Bett auf einem Stuhl. Der Anwalt liegt tot im Bett. Der Doktor bringt die -259-
Frau, die einen Schock hat, wieder zu sich und stellt fest, dass die Arzneischachteln, die er gebracht hat, noch verschlossen sind. »Aber warum haben Sie ihm denn die Medikamente nicht gegeben?« »Es kam nicht mehr dazu. Eine halbe Stunde nachdem Sie weg waren, ist er gestorben.« Der Doktor berührt den Toten. Er ist noch warm. Aber das muss an dem Holzofen liegen, den der Avvocato, bevor er abends zuvor in den Club gegangen war, noch selbst angeheizt hatte, weil er nicht frieren wollte, wenn er nachts nach Hause kam. Signora Cristina wird später aussagen, dass sie, eine Viertelstunde bevor man ihren sterbenden Mann brachte, nachgeschürt habe. Die Beerdigung muss um ein paar Tage verschoben werden, um Stefano, dem in der Schweiz lebenden Bruder des Verstorbenen, die Teilnahme zu ermöglichen. Am Tag nach dem Tod des Avvocato sucht Agata Dottor Friscia auf, um sich genauer erklären zu lassen, was ihr die Mutter bezüglich der Medikamente gesagt hat, die sie ihrem Mann nicht mehr rechtzeitig habe geben können. Das führt dazu, dass Agata von zu Hause auszieht und Freunde um Unterschlupf bittet. Wie bitte, eine Tochter verlässt die Mutter ausgerechnet in der Stunde des Schmerzes, wenn sie ihr beistehen müsste? Ab da brodelt die Gerüchteküche in der Stadt, wo hinter vorgehaltener Hand sowieso schon Andeutungen, Anspielungen, viel sagende Bemerkungen geflüstert wurden. Bei ihrer Heirat ist Cristina Ferlito zwanzig Jahre alt und bildschön; ihr Vater ist der Notar Calogero Cuffaro und damit in Fela und den Nachbargemeinden der einflussreichste Vertreter der regierenden Partei. Der Bischof empfängt ihn praktisch täglich. Ob öffentliche -260-
Aufträge, Genehmigungen, Lizenzen, Zuschläge Cuffaros Wille geschehe. Cristina lernt schnell, aus welchem Holz ihr zehn Jahre älterer Ehemann geschnitzt ist. Sie bekommen eine Tochter. Cristina gibt die brave Ehefrau, und niemand kann ihr etwas vorwerfen. Bis zum Februar 1948, als ihr Mann einen entfernten Neffen ins Haus bringt, den fünfundzwanzigjährigen Attilio, einen sehr gut aussehenden jungen Mann, dem er eine Stelle in Fela vermittelt hat. Attilio, der bis dahin bei seinen Eltern in Fiacca gelebt hat, bezieht ein Zimmer in der Villa, die der Avvocato und seine Frau bewohnen. Oft, behaupten böse Zungen, tröstet Attilio bereitwillig seine Tante, die sich bei ihm wegen der dauernden Seitensprünge ihres Mannes ausweint. Bei so viel tröstendem Zuspruch findet Signora Cristina es am bequemsten, sich im Bett trösten zu lassen. Doch die Frau verliebt sich in den jungen Mann, sie hängt wie eine Klette an ihm, ist furchtbar eifersüchtig und fängt an, ihm sogar vor Fremden Szenen zu machen. Der Avvocato bekommt anonyme Briefe, aber die lassen ihn ziemlich kalt, eigentlich ist er ganz froh, dass seine Frau nicht mehr ihm, sondern dem Neffen auf den Wecker geht. Teils weil er die Geliebte satt hat, teils weil er dem Onkel, dem er schließlich seine Stelle zu verdanken hat, nicht länger Unrecht tun will, zieht Attilio im Oktober des folgenden Jahres in eine Pension. Cristina dreht durch, sie isst nicht mehr, sie schläft nicht mehr und schickt ihrem Geliebten mittels des Dienstmädchens Maria endlos lange Briefe. In einigen äußert sie, was Attilio nicht ernst nimmt, die Absicht, ihren Mann zu töten, um wieder frei zu sein und mit ihm leben zu können. Bei der Beerdigung bekommt die ganze Stadt mit, dass Cristina gemieden wird - von der Tochter, vom Schwager Stefano, der aus der Schweiz angereist ist, und von der Schwiegermutter, die ihre Schwiegertochter in der Kirche, -261-
als sie vor dem Sarg stehen, unverblümt des Mordes an ihrem Sohn bezichtigt. Da tröstet Cristinas Vater, Notar Calogero Cuffaro, die Ärmste und gibt allen zu verstehen, sie sei halb verrückt vor Schmerz. Doch noch am selben Abend erklärt Stefano, der Schweizer, im Club Patria, er werde bei der zuständigen Stelle die Obduktion seines Bruders beantragen, und zieht sich mit Rechtsanwalt Russomanno zurück, der mit Notar Cuffaro die politische Überzeugung teilt, aber Chef des gegnerischen Flügels ist. Die eindringliche, sehr konzentrierte Unterredung in einem Hinterzimmer des Clubs dauert drei Stunden. Lang genug, dass zwei Unbekannte Stefano auf dem Nachhauseweg eine Tracht Prügel verpassen und ihn auffordern: »Schweizer, hau ab in die Schweiz!« Auf Bitte von Notar Cuffaro, der eine ›angemessene Erklärung‹ verlangt, erscheint Stefano Ferlito in Begleitung von Avvocato Russomanno trotz eines gequetschten Auges und eines lahmen Beines im Haus des Verstorbenen. Keine Spur von Cristina, der Witwe, dafür ist außer dem Notar auch der angesehene Avvocato Sestilio Nicolosi da, der König der Anwälte. Dem Geschrei und Gezänk, das die Anwälte Russomanno und Nicolosi veranstalten, lauscht vor der Villa eine kleine Menschenmenge, doch um zehn Uhr abends kehrt mit einem Mal Stille ein: Was ist da passiert? Cristina ist plötzlich in der Wohnzimmertür erschienen. Und sie erklärt bleich, aber entschieden: »Es reicht. Ich kann nicht mehr. Ich habe Nenè umgebracht. Mit Gift.« Der Notar startet einen letzten Versuch und spricht von Irrereden und Wahnvorstellungen, aber es ist nichts zu wollen. Zwanzig Minuten später sehen die Leute, wie die Haustür aufgeht. Erst kommen Signora Cristina, der Notar und Avvocato Nicolosi heraus, dann folgen Stefano und -262-
Avvocato Russomanno. Die Menge läuft bis zum Carabinieri-Posten, wo Cristina sich stellen will, hinter ihnen her. Leutnant Frangipane vernimmt sie. Und Cristina erzählt, sie habe, nachdem Dottor Friscia gegangen sei, ihrem Mann nicht die Medizin verabreicht, sondern ein Glas Wasser zu trinken gegeben, in dem sie ein Mäusegift auf Strychninbasis aufgelöst habe. »Wo haben Sie das gekauft?« »Ich habe es nicht gekauft. Ich habe meine Freundin Maria Carmela Siracusa darum gebeten, die Witwe des Apothekers. Sie hat es in der Apotheke geholt und mir gegeben. Ich habe gesagt, ich brauche es für die Mäuse im Haus.« »Warum haben Sie Ihren Mann umgebracht?« »Weil ich seine Seitensprünge nicht mehr ertragen habe.« Anderntags wird Maria Carmela Spagnolo verheiratete Siracusa von Leutnant Frangipane einbestellt, und sie bestätigt unter Tränen, sie habe der Freundin das Gift gegeben, aber nicht im Traum daran gedacht, dass Cristina es dazu verwenden könnte, ihren Mann zu töten. Sie hätten sich an Weihnachten getroffen, lange miteinander geredet, und Cristina sei nicht anders gewesen als sonst… Signora Maria Carmela, genauso alt wie Cristina und mit ihr befreundet, gilt als charaktervolle Frau. Der Apotheker selig war ein Weiberheld wie der Anwalt, doch sie hat sich nicht wie Cristina einen Geliebten zugelegt. So hat der Leutnant keinen Grund zu der Annahme, Maria Carmela Spagnolo sei über Cristinas Mordabsichten im Bilde gewesen. Er nimmt die Aussage auf und schickt Maria Carmela wieder nach Hause. Aber irgendjemand setzt ein paar Gerüchte über sie in Umlauf: Man munkelt, die Frau des Apothekers habe sehr wohl über Cristinas Vorhaben Bescheid gewusst. jedenfalls halten viele Leute Maria -263-
Carmela für eine Komplizin. Empört verkauft die Frau ihren Besitz und geht ins Ausland, zu ihrem Bruder, dem Diplomaten. Sie wird noch mal für einige Tage zurückkommen, um im ersten Prozess, der 1953 stattfindet, auszusagen. Da wird sie ihre erste Aussage bestätigen und sofort wieder nach Frankreich abreisen. In Fela ward sie nie mehr gesehen. Doch vor dem Prozess geschehen etliche seltsame Dinge. Ein paar Tage nach Cristinas Festnahme ordnet die Staatsanwaltschaft besagte Obduktion an, die die Frau zu ihrem Geständnis veranlasst hat. Die dem Leichnam entnommenen Teile werden, in acht Behältern verpackt, dem Ermittlungsrichter in Palermo geschickt, und der leitet sie weiter an Professor Vincenzo Agnello, Toxikologe an der Universität, und Professor Filiberto Trupìa, Dozent für pathologische Anatomie. Die beiden erhalten auch die Betttücher mit Flecken vom Erbrochenen des Sterbenden und die Unterwäsche, die er trug. Da gibt Cristina vor dem Ermittlungsrichter zwei Erklärungen ab. In der ersten beteuert sie, sie habe ihren Mann getötet, um ihm weitere Qualen zu ersparen. Eine Art Euthanasie. In der zweiten behauptet sie, sie sei gar nicht sicher, dass sie sich einen Mord habe zuschulden kommen lassen, denn die Giftmenge, die sie ihm gegeben habe, sei zu gering gewesen. Fast nichts, ein winziger Krümel zwischen Daumen und Zeigefinger. Ein paar Monate später gibt Cristina nach intensiven Gesprächen mit Avvocato Nicolosi eine dritte Erklärung ab, in der sie alles widerruft. Sie habe ihrem Mann nie Gift gegeben, das habe sie den Carabinieri und dem Richter nur aus Angst gesagt, sie habe die Todesdrohungen von ihrem Schwager Stefano, dem Schweizer, gefürchtet. Sie dachte, im Gefängnis sei sie in Sicherheit. Sie betonte noch einmal, es sei wahr, was sie Dottor Friscia erklärt habe: -264-
nämlich dass sie ihrem Mann die Medikamente nicht mehr habe geben können, weil er gestorben sei, bevor sie etwas habe tun können. Abschließend meinte sie, dass ihr die Analyseergebnisse der Herren Professoren aus Palermo gewiss Recht gäben. In der Tat platzt die Bombe kurz darauf mit einem Riesenknall. In ihrem Gutachten versichern Agnello und Trupìa, sie hätten, trotz unzähliger Proben und Gegenproben, an den sterblichen Überresten und den untersuchten Stoffen keine Spur von Strychnin oder sonst einem Gift gefunden: Avvocato Ferlito sei an akuter Nikotinvergiftung gestorben, die zu einem tödlichen Anfall von Angina pectoris geführt habe. Cristina ist unschuldig. Aber Stefano Ferlito nimmt die Niederlage nicht hin und geht zum Gegenangriff über. Wisst ihr denn nicht, sagt er jedem, der ihm über den Weg läuft, dass die beiden geschätzten Professoren ihre Karriere zum Teil Notar Cuffaro verdanken, mit dem sie dick befreundet sind? Was habt ihr denn anderes erwartet? Avvocato Nicolosi hat Cristina diese letzte Aussage machen lassen, als er sicher war, dass die Gutachten günstig ausfielen. Und viele sind auf Stefanos Seite. Da kommt die Staatsanwaltschaft von Palermo auf eine gute Idee: Sie schickt alles, was die beiden palermitanischen Professoren für ihr Gutachten gebraucht hatten, zu Spezialisten, weltberühmten Toxikologen, nach Florenz. Als die Carabinieri die acht Behälter mit den Resten des armen Avvocato abholen, ist nicht mehr viel davon übrig, ein Teil ist verdorben, ein Teil bei den Analysen draufgegangen. Wie dem auch sei, das versiegelte Paket wird offiziell am ersten Juli nach Florenz geschickt. Doch Anfang September schreibt der Richter in Florenz einen Brief nach Palermo, in dem er fragt, warum die Sendung noch nicht da sei. Und wo ist sie hängen geblieben? Man sucht und sucht und entdeckt das Paket endlich im -265-
Florentiner Justizpalast, wo es in einer Dachkammer vergessen worden ist. Ende Oktober liefern nicht weniger als sechs bedeutende Professoren aus Florenz ihr Gutachten ab: Sie hätten dermaßen viel Strychnin gefunden, dass Zweifel an der Professionalität oder an der geistigen Gesundheit von Agnello und Trupìa angebracht seien, den beiden Kollegen aus Palermo, die nichts gefunden hätten (oder nichts hätten finden wollen). Keine Frage: Avvocato Ferlito wurde vergiftet, Ehefrau Cristina ist schuldig. »Na, hab ich's euch nicht gesagt?«, schreien Stefano Ferlito und Avvocato Russomanno triumphierend. »Oh nein«, hält Avvocato Nicolosi vehement dagegen. »Die Sendung, die so spät in Florenz angekommen ist, wurde manipuliert!« »Das ist ein schmutziger Schachzug meiner politischen Gegner«, stellt Notar Cuffaro klar. »Über meine Tochter wollen sie mich schädigen!« Auf alle Fälle beantragt Avvocato Nicolosi ein Gutachten über den Geisteszustand seiner Mandantin, die sich jedoch als völlig zurechnungsfähig erweist. Kurzum, im ersten Prozess, dem von 1953, wird Cristina zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt. Und dann erklärt Cristina, sie könne sich erinnern, ihrem Mann in dieser berühmten Nacht zwar etwas gegeben zu haben, doch es sei fast sicher nur ein wenig Natron gewesen. Im Mittelpunkt des zweiten Prozesses, der fast zwei Jahre später stattfindet, steht das detaillierte Gegengutachten von Professor Aurelio Consolo, demzufolge die Florentiner Kollegen so beschränkt und unfähig seien, dass sie das falsche Reagenz verwendet hätten. Aus diesem Grund hätten sie Spuren von Strychnin gefunden. Da verlangt Nicolosi ein toxikologisches Obergutachten. Der Antrag wird zurückgewiesen, aber die Richter ändern das erste Urteil ab: jetzt muss Cristina noch sechzehn -266-
Jahre sitzen. 1957 lehnt der Oberste Gerichtshof die Revision ab, das Urteil ist damit rechtskräftig. Cristina schickt ein Gnadengesuch nach dem anderen aus dem Gefängnis. Und drei Jahre später setzt sich ein Justizminister, der es mit der Gerechtigkeit nicht so genau nimmt, unter dem Druck einiger einflussreicher Mitglieder seiner Partei, der auch der sture Notar Cuffaro angehört, dafür ein, der Frau die ersehnte Gnade zuteil werden zu lassen. So kann Cristina wieder nach Hause, und das Kapitel hat ein für alle Mal ein Ende.
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Kapitel 5 Es war fünf Uhr durch, lange hatte er seinen Kopf unters Wasser gehalten, um das taube Gefühl loszuwerden, nachdem er die halbe Nacht mit der jaulenden Signora Ciccina in einer Kammer verbracht hatte; er war ziemlich verwirrt nach all den Namen von Rechtsanwälten, Gutachtern, Verwandten des Toten und Verwandten der Mörderin, an die Signora Adorno sich mit besessener, mit mörderischer Präzision erinnerte, und wollte gerade ins Bett gehen, als das Telefon klingelte. Das konnte nur Livia sein, vielleicht machte sie sich Sorgen, weil sie ihn vorher nicht zu Hause erreicht hatte. »Hallo, mein Liebling.« »Schon wieder! Dottore, tut mir Leid, aber ich bin Ciccina Adorno.« Die Taubheit kehrte augenblicklich zurück, und Montalbano hielt den Hörer auf Sicherheitsabstand. »Was gibt's, Signora?« »Ich hab noch was vergessen. Es geht um das erste Gutachten, das von den Professoren Agnello und Trupìa aus Palermo.« Montalbano horchte auf, das war ein heikler Punkt. »Bitte erzählen Sie, Signora.« »Als die Professoren aus Florenz sagten, die Kollegen aus Palermo, die kein Strychnin gefunden hatten, seien entweder inkompetent oder verrückt, ließ Rechtsanwalt Nicolosi Professor Aurelio Giummarra aussagen. Und der hat erzählt, dass Professor Agnello, bei dem er Assistent war, gestorben ist, bevor er das negative Gutachten hatte unterschreiben können. Da hat das Gericht gesagt, dass eben er unterschreiben soll. Professor Giummarra hat es -268-
auch unterschrieben, aber er war ein gewissenhafter Mann und hat erst alle Analysen noch mal gemacht. Und wissen Sie was? Er hat versichert, dass er das gleiche Reagenz verwendet hat wie seine Florentiner Kollegen. Und er hat kein Strychnin gefunden.« »Danke, Signora. Wissen Sie noch, wie der Vorsitzende Richter im zweiten Prozess hieß?« »Klar. Manfredi Catalfamo. Und der Vorsitzende Richter im ersten Prozess hieß Giuseppe Indelicato, und der am Revisionsgericht…« »Danke, das reicht schon, Signora. Gute Fahrt.« Natürlich waren ihm Catalfamo und Indelicato schnurzegal, er hatte nur gefragt, um noch mal über das Gedächtnis von Ciccina Adorno staunen zu können, die ein wandelnder Supercomputer war. Er lag auf dem Bett, im Ohr das Geräusch des leicht bewegten Meeres, und dachte über alles nach, was er erfahren hatte. Wenn stimmte, was Maria Carmela Spagnolo ihm in ihrer Todesstunde anvertraut hatte, dann hatten die Gutachter aus Palermo einfach deshalb kein Strychnin gefunden, weil keines vorhanden war. Cristina hatte geglaubt, ihren Mann zu vergiften, ihm in Wirklichkeit jedoch ein harmloses Pülverchen verabreicht. Wieso hatten dann die Gutachter aus Florenz Gift gefunden? Vielleicht hatte Notar Cuffaro ja doch Recht, und das Material war so lange auf rätselhafte Weise verschwunden, damit seine politischen Gegner Zeit hatten, es mit einer ganzen Tonne Strychnin zu versetzen. Einen Skandal gab das nicht her: In Italien sind die Prozesse gespickt mit Proben und Gegenproben, die verschwinden und zu gegebener Zeit wieder auftauchen, das ist eine liebe alte Gewohnheit, fast ein Ritual. -269-
Im Grunde war Cristina nicht verurteilt worden, weil sie ihren Mann tatsächlich vergiftet hatte, sondern weil sie es plante. Hätte sie überhaupt auf die Idee kommen können, dass ihre liebe Freundin Maria Carmela sie belog? Und warum hatte Maria Carmela das getan? Wahrscheinlich weil sie über die leidenschaftliche Liebe zu dem jungen Neffen Attilio im Bilde war und auch wusste, dass Cristina in letzter Zeit die Absicht geäußert hatte, ihren Mann zu töten. Es ist natürlich zweierlei, ob jemand den Mund aufmacht, um Dampf abzulassen, oder ob er ernsthaft etwas sagt. Wie auch immer, damit Cristina nicht früher oder später Riesenmist baut, gibt Maria Carmela ihr ein bisschen Pulver und sagt, es sei Mäusegift. Bis dahin ist alles klar, Maria Carmela handelt zum Wohl der Freundin. Aber warum verschweigt sie dann die Wahrheit, erst vor dem Leutnant der Carabinieri und später vor Gericht? Sie hätte damals bei den Carabinieri zu Cristinas Entlastung nur zu sagen brauchen: »Cristina kann ihren Mann mit dem Pulver, das sie von mir hatte, gar nicht getötet haben, es war nämlich kein Gift.« Das hätte völlig ausgereicht. Aber sie sagt es nicht. Ganz im Gegenteil, sie macht eine Szene, weint verzweifelt und versichert, sie habe nichts von Cristinas Mordabsichten gewusst. Um das Maß voll zu machen, schlägt sie beim Prozess noch weitere Nägel in den Sarg der Freundin. Erst fünfzig Jahre später redet sie, um angesichts des Todes ihr Gewissen zu erleichtern. Warum? Maria Carmela schweigt und weiß, dass jemand verurteilt wird, der unschuldig ist, wenn auch nur relativ unschuldig. Dieses Verhalten deutet auf tiefen Hass hin, anders kann man das nicht nennen: Es handelt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um einen eiskalten blanken Racheakt. -270-
Mittlerweile war es heller Tag. Montalbano sprang aus dem Bett, setzte die Espressokanne auf und trat auf die Veranda hinaus. Der Wind hatte sich gelegt, der Strand war nass und dreckig, Plastikflaschen, Algen, leere Dosen, tote Fische. Strandgut. Montalbano zitterte vor Kälte und ging ins Haus zurück. Er trank drei Tassen Espresso hintereinander, schlüpfte in seine dicke Jacke und setzte sich auf die Veranda. Die Morgenluft war erfrischend. Zum ersten Mal im Leben ärgerte er sich über seine Abneigung, sich Notizen zu machen: Ihm schwirrte etwas durch den Kopf, was Signora Ciccina gesagt hatte, aber er konnte es nicht festhalten. Montalbano wusste, dass es etwas Wichtiges war, aber es kristallisierte sich einfach nicht heraus. Er hatte immer ein eisernes Gedächtnis gehabt, warum ließ es ihn dann jetzt im Stich? Bedeutete das Älterwerden für ihn etwa, dass er ein Notizheft und einen Bleistift mit sich herumtragen musste wie die englischen Polizisten? Diese Horrorvorstellung wirkte sich auf sein Gedächtnis besser aus als jede Medizin, und plötzlich fiel ihm alles wieder ein. Den Carabinieri hatte Signora Maria Carmela erklärt, Cristina habe sie Mitte November um das Gift gebeten. Bis dato liebt Maria Carmela die Freundin so sehr, dass sie ihr ein harmloses Pulver gibt, um sie vor einer Tollheit zu bewahren. Aber keine zwei Monate später sind ihre Gefühle gegenüber Cristina vollkommen verändert, sie kann sie nicht ausstehen, sie hasst sie. Und entkräftet das Geständnis der Freundin nicht. Demnach musste zwischen den beiden Freundinnen in dieser kurzen Zeitspanne etwas vorgefallen sein. Aber nicht irgendein kleiner Streit, den es auch zwischen engsten Freunden geben kann, nein, es musste eine so schwerwiegende Angelegenheit sein, dass sie eine tiefe, unheilbare Wunde geschlagen hat. Halt. -271-
Moment mal. Signora Ciccina Adorno hatte auch erzählt, dass die beiden Freundinnen sich an Weihnachten gesehen hatten, zumindest hatte Maria Carmela das dem Leutnant gesagt. Es gab keinen Grund, daran zu zweifeln, dass diese Begegnung wirklich stattfand. Und es war keine förmliche Begegnung, kein höfliches, aber kühles Austauschen von guten Wünschen, nein, die beiden Frauen redeten in aller Ruhe miteinander, nicht anders als sonst… Das konnte nur zweierlei bedeuten: Entweder fängt Maria Carmela während oder nach dem weihnachtlichen Treffen an, Cristina zu hassen, oder ihre Wut, ihr Hass beginnt, ein paar Tage nachdem sie Cristina das falsche Gift gegeben hat. Bei dieser zweiten Vermutung spielt Maria Carmela während der Begegnung die alte Freundin, sie verbirgt geschickt, was sie Cristina gegenüber empfindet, und wartet geduldig darauf, dass Cristina früher oder später abdrückt. Ja, denn das falsche Gift ist nichts anderes als ein Revolver mit Platzpatronen. Was auch immer geschieht, der Knall wird Cristinas Leben zerstören. Und wenn Maria Carmela imstande gewesen war, dieses Geheimnis bis an ihr Lebensende zu hüten, kam die zweite Hypothese der Wahrheit sicher am nächsten. Ohne Vorwarnung tauchte vor Montalbanos Augen das Bild der Sterbenden auf, das im Kissen versunkene Köpfchen eines gerupften Spatzes, die makellos weiße Bettwäsche, das Nachtkästchen… Das Bild stoppte, und dann nahm das Gedächtnis eine Art Zoom vor. Was war auf dem Nachtkästchen? Eine Flasche Mineralwasser, ein Glas, ein Löffel und, halb hinter der grünen Flasche verborgen, ein etwa zwanzig Zentimeter hohes hölzernes Kruzifix auf einem quadratischen Sockel. Das war's. Und mit einem Mal schälte sich als klares Bild das Kruzifix heraus: Der ans Kreuz genagelte Jesus war kein Weißer. Er war schwarz. Ein sakraler Kunstgegenstand, den Maria -272-
Carmela sicher in irgendeinem entlegenen Land in Afrika gekauft hatte, als sie ihren Neffen, den Ingenieur, auf seinen Reisen begleitete. Plötzlich ließ ein Gedanke ihn aufspringen. War das möglich, dass die Signora von all ihren Reisen nur diese kleine Figur mitgebracht hatte? Wo waren ihre anderen Sachen, all die Gegenstände, Fotos, Briefe, die man aufhebt, damit die Erinnerung sich in ihnen verankert und sie von unserem Leben Zeugnis ablegen können? Zurück im Büro, rief der Commissario gleich im Hotel Pirandello an. Er erfuhr, dass Ingegnere Spagnolo gerade zum Flughafen gefahren war, um die erste Maschine nach Mailand zu nehmen. »Hat er viel Gepäck dabei?« »Der Ingegnere? Nein, nur einen Handkoffer.« »Hat er Sie zufällig beauftragt, ihm ein großes Paket nachzuschicken, einen Karton oder Ähnliches?« »Nein, Commissario.« Demnach waren die Sachen von Maria Carmela, falls es überhaupt etwas gab, noch in Vigàta. »Fazio!« »Ja bitte, Dottore?« »Hast du heute Vormittag viel zu tun?« »Geht so.« »Dann lass alles sausen. Ich hab einen Auftrag für dich, der dir Spaß machen wird. Du fährst jetzt gleich nach Fela. Es ist halb neun, um zehn bist du dort. Du musst ins Einwohnermeldeamt.« Fazios Augen glitzerten vor Freude. Er hatte eine Eigenart, die Montalbano ›Personalientick‹ nannte: Er stellte nicht nur Tag, Monat, Jahr der Geburt eines Menschen fest, seinen Wohnort und wie der Vater und die Mutter hießen, sondern brachte auch die Namen des Großvaters und der Großmutter und des Urgroßvaters und -273-
so weiter und so fort in Erfahrung. Wenn er nicht durch eine normalerweise grobe Reaktion seines Chefs unterbrochen wurde, war er imstande, die Geschichte dieser Person bis in die Urgründe der Menschheit zurückzuverfolgen. »Was muss ich da machen?« Der Commissario erklärte es ihm, nachdem er ihm alles erzählt hatte, auch von Cristina und dem Prozess. Fazio verzog den Mund. »Dann muss ich ja gar nicht nur aufs Einwohnermeldeamt.« »Nein. Aber das macht niemand so gut wie du.« Keine fünf Minuten später ging Montalbano auch, er setzte sich ins Auto und machte sich auf den Weg zur Casa del Sacro Cuore. Die Manie, alles herausfinden zu müssen - der Antrieb für jede seiner Ermittlungen -, hatte sich seiner bemächtigt. jetzt gab es kein Zögern, keine inneren Widerstände mehr: Groschenroman oder Krimi, Tragödie oder Melodram, dieser Geschichte musste er einfach auf den Grund gehen. Er wurde beim Verwalter des Hauses vorstellig, Signor Inclima, einem dicken, herzlichen Mann Anfang fünfzig. Der setzte sich, auf Bitte des Commissario, an einen Computer. »Wissen Sie, Commissario, um solche Sachen kümmert sich Signor Cappadona, mein Stellvertreter, aber der hat Grippe und ist heute leider nicht gekommen.« Er hantierte eine Weile herum, drückte auf ein paar Tasten, aber man sah, dass er mit dem Computer nicht auf vertrautem Fuß stand. Schließlich redete er. »Ja, hier steht, dass sich alle persönlichen Gegenstände der verstorbenen Signora Spagnolo in unserem Lagerraum befinden, in einem Reisekoffer, der ihr gehört. Ich weiß aber nicht, ob er dem Neffen schon nach Mailand geschickt wurde.« -274-
»Und wie könnte man das feststellen?«
»Kommen Sie mit.«
Er zog eine Schublade auf und holte einen Schlüsselbund hervor. Sie verließen das Haus durch das Hauptportal. Im Park links befand sich ein niedriges Gebäude, ein Lager mit einer großen Tür, auf der, wohl um Missverständnisse von vornherein auszuschließen, ›Lager‹ stand. Pakete, Schachteln, Koffer, Kassetten, Kisten, Behältnisse aller Art waren ordentlich an den Wänden entlang aufgereiht. »Wir bewahren alles sorgfältig und gut erreichbar auf. Wissen Sie, Commissario, unsere Bewohnerinnen sind alle, wie soll ich sagen, recht begütert. Und gelegentlich haben sie Lust, sich ein Kleidungsstück anzusehen oder einen Gegenstand, an dem sie hängen… Ah, da steht er ja noch, der Reisekoffer von Signora Spagnolo.« Haben denn, fragte sich Montalbano, weniger Begüterte keine Lust, Sachen, die ihnen wichtig waren, mal wieder anzuschauen? Bloß sind diese Sachen nicht mehr so gut erreichbar, sie sind verkauft oder im Pfandhaus. Der Reisekoffer war kein Reisekoffer. Er war eine Art kleiner Schrank, der auch wie ein Schrank aufrecht stand und so groß war wie der Commissario. Koffer von solchen Ausmaßen kannte Montalbano nur aus Filmen, die Ende des neunzehnten oder Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts spielen. Der hier war buchstäblich bis auf den letzten Zentimeter mit diesen runden, quadratischen oder rechteckigen Etiketten aus buntem Papier tapeziert, die die Hotels früher als Reklame auf die Koffer klebten. Ein Teil der Etiketten war von einem weißen Papier überdeckt, das noch feucht war vom Kleister und auf dem die Mailänder Adresse des Neffen stand. »Bestimmt kommt morgen der Spediteur«, sagte der Verwalter. »Wollen Sie sonst noch was wissen?« -275-
»Ja. Wer hat den Schlüssel zu dem Koffer?« »Da muss ich nachschauen, ob er noch bei uns ist oder ob der Ingegnere ihn schon abgeholt hat.« Es stellte sich heraus, dass er ihn bereits abgeholt hatte. Montalbano aß lustlos, ohne Appetit. »Sie machen mir heute keine Freude«, tadelte ihn Calogero, der Wirt der Trattoria. »Wenn ein Gast wie Sie so isst, dann vergeht einem wie mir die Lust am Kochen.« Der Commissario entschuldigte sich und versicherte, das liege an den vielen Gedanken, die er im Kopf habe und die er nicht weit genug habe wegscheuchen können, um diese wundervolle Languste zu genießen, die Calogero ihm serviert hatte. In Wirklichkeit hatte er nur einen Gedanken, aber der war dermaßen quälend, dass er für zehn reichte. Dann musste er, in Ermangelung anderer Möglichkeiten, die einzige Chance wahrnehmen, die ihm in der kurzen Zeit noch blieb, bevor der Koffer die Reise nach Mailand antrat: Orazio Genco. Es war vier Uhr nachmittags, um diese Zeit war Orazio - weit über siebzig und Einbrecher, nie gewalttätig, eine anständige Person, abgesehen von seinem Laster, eben in Wohnungen einzubrechen bestimmt zu Hause und holte seinen in der Nacht versäumten Schlaf nach. Sie waren sich sympathisch, und Orazio hatte dem Commissario eine kostbare Sammlung von Dietrichen und Nachschlüsseln geschenkt. Orazios Frau Gnetta öffnete die Tür und sah Montalbano erschrocken an. »Commissario, was ist? Ist was passiert?« »Nein, nein, Gnetta, ich wollte deinen Mann nur mal besuchen.« »Kommen Sie herein«, sagte die Frau beruhigt. »Orazio ist krank, er liegt im Bett.« »Was hat er denn?« -276-
»So Schmerzen, so… so aromatische. Der Doktor sagt, dass er in der Nacht nicht draußen sein darf, wenn es feucht ist. Aber wie soll denn der brave Mann sonst arbeiten?« Orazio döste vor sich hin, aber als er den Commissario sah, richtete er sich halb auf. »Dottore Montalbano, was für eine schöne Überraschung!« »Wie geht's, Orà?« »Geht so, Dottore.« »Möchten Sie einen Espresso?«, fragte Gnetta. »Gern.« Als Gnetta das Zimmer verlassen hatte, stellte Orazio schnell klar: »Commissario, ich hab schon seit einem Monat nicht mehr gearbeitet, wenn also was war, dann…« »Darum geht es mir gar nicht. Ich hätte einen kleinen Auftrag für dich, aber ich sehe schon, dass du das Bett hüten musst.« »Ja, Dottore, tut mir Leid. Da müssen Sie selber ran. Sie wissen doch, wie das geht. Ich hab's Ihnen doch gezeigt!« »Ja, aber ich hab da einen Reisekoffer, den man auf- und wieder zumachen muss, ohne dass es jemand merkt. Verstehst du?« »Klar. jetzt trinken Sie erst mal in aller Ruhe Ihren Espresso, und dann reden wir.«
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Kapitel 6 Gegen sieben Uhr kam Fazio gut gelaunt zurück. Er machte es sich auf dem Stuhl vor Montalbanos Schreibtisch bequem, fischte ein zweimal gefaltetes Blatt Papier aus der Jackentasche und begann zu lesen: »Siracusa Alfredo, Sohn des verstorbenen Giovanni und der verstorbenen Scarcella Emilia, geboren in Fela am…« »Willst du dich mit mir anlegen?«, unterbrach Montalbano ihn. Fazio grinste. »Das war doch nur ein Witz, Dottore.« Er faltete das Blatt zusammen und steckte es wieder ein. »Ich hab Schwein gehabt, wenn ich das so sagen darf, Dottore.« »Ach ja?« »Ich konnte mit dem Apotheker Arturo De Gregorio sprechen.« »Und wer ist das?« »Der jetzige Inhaber der Apotheke, die Alfredo Siracusa gehört hat. Und zwar hat dieser De Gregorio gleich nach seinem Diplom an der Universität 1947 in der Apotheke Siracusa gearbeitet. In Wirklichkeit hat er sich um die Apotheke gekümmert, Dottore Siracusa hat nämlich den ganzen Tag gezockt oder war hinter einem Weiberrock her. Am 30. September 1949 hatte Dottor Siracusa auf dem Heimweg von Palermo einen Autounfall und war auf der Stelle tot.« »Was war das für ein Unfall?« »Keine Ahnung, anscheinend ist er plötzlich -278-
eingeschlafen. Wahrscheinlich hat er die Nacht mit irgendeiner Frau oder am Spieltisch verbracht. Er war allein. jedenfalls sagt Dottor De Gregorio keine Woche später zu der Witwe, wenn sie einverstanden sei, würde er gern die Apotheke übernehmen. Die Signora hält ihn eine ganze Weile hin, und Ende November einigen sie sich dann auf den Preis.« »Das interessiert mich alles überhaupt nicht, Fazio.« »Gleich, Dottore, ich komme gleich zur Sache. Dann macht Dottor De Gregorio Inventur. Anschließend an das Hinterzimmer, das als Lager benutzt wurde, gab es noch einen kleinen Raum mit einem Tisch, an dem Dottor Siracusa seinen Schreibkram erledigte, Rechnungen, Korrespondenz, Bestellungen. Aber eine Schublade ist abgeschlossen, und der Schlüssel ist nirgends zu finden. Der Dottore fragt die Signora danach. Die sucht sämtliche Schlüssel zusammen, die ihrem Mann gehörten, geht in die Apotheke, probiert alle Schlüssel durch, findet den richtigen und schließt die Schublade auf. Der Dottore sieht, dass lauter Briefe und Fotografien drinliegen, aber da schellt es an der Tür, und er geht den Kunden bedienen. Dann kommt noch einer. Schließlich kehrt der Dottore in das kleine Büro zurück. Die Signora liegt besinnungslos am Boden. Der Dottore bringt sie wieder zu sich, die Witwe sagt, sie sei ohnmächtig geworden; die Briefe und Fotos liegen teils auf dem Schreibtisch, teils auf dem Boden. Dottor De Gregorio bückt sich, um sie aufzusammeln, aber da zischt ihn die Witwe an: ›Lassen Sie das liegen! Fassen Sie nichts an!‹ Noch nie hatte er sie so erlebt, sagt Dottor De Gregorio. Die Signora war sonst zu jedermann höflich und liebenswürdig, aber jetzt schien der Teufel in sie gefahren. ›Gehen Sie! Gehen Sie weg!‹ Der Dottore bedient weitere Kunden. Nach einer halben -279-
Stunde kommt die Signora, in der Hand zwei dicke Umschläge. ›Wie fühlen Sie sich, Signora? Soll ich Sie nach Hause bringen?‹ ›Lassen Sie mich in Ruhe!‹ Von diesem Tag an, sagt der Dottore, war die Signora nicht mehr sie selbst, keine zehn Pferde brachten sie mehr in die Apotheke. Zu ihm war sie weiterhin unleidig und mürrisch. Dann wurde Avvocato Ferlito umgebracht, und in der Stadt munkelte man, sie habe mit Cristina, der Ehefrau und Mörderin, gemeinsame Sache gemacht. Da hat Signora Siracusa ihren ganzen Besitz verkauft und ist ins Ausland gegangen. Von allem, was De Gregorio mir erzählt hat, fand ich das mit der Ohnmacht am interessantesten.« »Warum?« »Ist doch sonnenklar, Dottore! Das wissen Sie genauso gut wie ich! In dieser Schublade hat Signora Maria Carmela Spagnolo, frisch verwitwete Siracusa, etwas gefunden, womit sie nie im Leben gerechnet hätte.« Gegen Mitternacht fiel ihm nichts mehr ein, was er noch anstellen sollte, um die Zeit totzuschlagen. Lesen ging nicht, er war zu nervös und konnte sich nicht konzentrieren, wenn er am Ende einer Seite angekommen war, musste er von vorn anfangen, weil er nicht mehr wusste, was er gelesen hatte. So blieb ihm nur der Fernseher, aber er hatte schon eine politische Debatte gesehen - moderiert von zwei Journalisten, die wie Dick und Doof aussahen, einer bullig wie ein Elefant und der andere klapperdürr -, bei der es um den Rücktritt eines Staatssekretärs mit Reptilkopf ging; er war Rechtsanwalt und hatte die Verhaftung der Richter vorgeschlagen, bei denen er Prozesse verlor. Neben ihm hatte ein Minister mit -280-
einem Totenschädelgesicht gesessen, der ihn verteidigte und von dem man kein Wort verstand. Montalbano überwand sich und schaltete wieder ein. Die Diskussion lief immer noch. Er fand einen Sender, in dem ein Dokumentarfilm über das Leben der Krokodile gezeigt wurde, und bei dem blieb er. Montalbano musste eingenickt sein, denn plötzlich war es zwei Uhr. Er wusch sich das Gesicht, verließ das Haus und setzte sich ins Auto. Zwanzig Minuten später bog er vor dem geschlossenen Tor der Casa del Sacro Cuore rechts ab und hielt auf dem Platz hinter der Villa, wie er es auch getan hatte, als er das Trauergeleit beobachtete. Montalbano stieg aus und sah, dass in vielen Fenstern gedämpftes Licht war. Er wusste, woran das lag: an der Schlaflosigkeit im Alter, die dich dazu verurteilt, Nacht für Nacht wach im Bett oder im Sessel zu verbringen und dein Leben noch mal zu ertragen, dir Minute für Minute durch die Finger gleiten zu lassen wie die Perlen eines Rosenkranzes. Und am Ende wünschst du dir nur noch den Tod, weil er die vollkommene Leere ist, ein Nichts, befreit von Verdammung und Verfolgung durch die Erinnerung. Ohne Schwierigkeiten kletterte er über das Tor, der Mond schien hell genug, sodass Montalbano sehen konnte, wo er hintrat. Aber kaum im Park, blieb der Commissario wie gelähmt stehen. Ein Hund starrte ihn an, einer dieser fürchterlichen Bluthunde, die nicht bellen, die nichts machen, sich aber bei der geringsten Bewegung in deine Kehle verbeißen. Sein Hemd war plötzlich schweißnass und klebte auf der Haut. Er rührte sich nicht, der Hund auch nicht. Morgen Früh, wenn es hell wird, finden sie uns so, ich schaue den Hund an, und der Hund schaut mich an, dachte er. Mit einem Unterschied: Der Hund befand sich auf seinem Terrain, während er selbst unbefugterweise in -281-
dieses Terrain eingedrungen war. »Der Hund hat Recht«, dachte er noch mit einem berühmten Satz des Bühnenautors Eduardo De Filippo. Er musste unbedingt irgendwas tun. Doch da sprang ihm das Glück zur Seite. Ein Pinienzapfen oder eine vertrocknete Frucht plumpste von einem Baum auf den Rücken des Tieres, das überraschenderweise ›Pling‹ machte. Es war ein künstlicher Hund, den man da hingestellt hatte, um Idioten wie ihn zu erschrecken. Die Tür des Lagers hatte Montalbano im Handumdrehen geöffnet. Er zog sie hinter sich zu, knipste die große Taschenlampe an, die er mitgebracht hatte, und bekam nach den Anweisungen des Einbrechers Orazio den Schrankkoffer spielend auf. An einem Dutzend Bügel hingen Damenkleider, auf dem Fach darunter standen alle möglichen Sachen, ein winziger Eiffelturm, ein Löwe aus Pappmaschee, eine Holzmaske und andere Souvenirs. Das Innere des Kofferdeckels bestand aus mehreren Schubfächern. Darin lagen Schlüpfer, Büstenhalter, Tücher, Schals, Wollstrümpfe. Und unter dem Fach mit den Andenken gab es noch zwei geräumige Schubladen. In der ersten waren Schuhe. In der zweiten ein Karton und ein dicker Umschlag. Montalbano öffnete den Umschlag. Fotografien. Auf der Rückseite jedes Fotos hatte Maria Carmela sorgfältig Datum, Ort, Namen der abgebildeten Personen vermerkt. Da waren Maria Carmelas Eltern, ihr Bruder, der Neffe, die Frau des Bruders, eine französische Freundin, ein schwarzes Dienstmädchen, alle möglichen Landschaften… Fotos von ihrer Hochzeit fehlten. Und weit und breit kein Foto ihres Mannes. Als habe die Signora sein Gesicht vergessen wollen. Auch keine Fotos von Cristina, ihrer einstigen Herzensfreundin. Montalbano schob die Bilder wieder in den Umschlag und öffnete die Schachtel. Briefe. Sie steckten, nach Absender sortiert, in verschiedenen -282-
Kuverts. ›Briefe von Mamma und Papà‹, ›Briefe meines Bruders‹, ›Briefe meines Neffen‹, ›Briefe von Jeanne‹… Auf dem letzten Kuvert stand nichts. Drei Briefe waren darin. Schon als er den ersten zu lesen begann, wusste Montalbano, dass er fündig geworden war. Er steckte die drei Briefe in die Tasche, räumte alles auf, schloss den Koffer und die Tür des Lagers ab, strich dem künstlichen Hund über den Kopf, kletterte über das Tor, setzte sich ins Auto und fuhr zurück nach Marinella. Drei lange Briefe, der erste stammte vom 4. Februar 1947 und der letzte vom 30. Juli desselben Jahres. Drei Briefe, die glühendes Zeugnis ablegten von einer leidenschaftlichen Liebe, die wie ein Strohfeuer aufgeflammt war und auch nicht länger als ein Strohfeuer gedauert hatte. Briefe von Cristina Ferlito an den Apotheker Alfredo Siracusa, die immer auf die gleiche Art begannen - ›Mein geliebter Alfredo, mein Herzblut‹ - und mit den Worten ›Immer und in alle Zeit Deine Cristina‹ endeten. Briefe, die die Frau ihrem Geliebten, dem Mann ihrer besten Freundin, geschrieben hatte und die dieser unvorsichtigerweise in seinem Schreibtisch in der Apotheke aufbewahrte. In jener Schublade, die Maria Carmela auf Bitte von Dottor De Gregorio geöffnet hatte. Als Maria Carmela die Briefe damals las, fühlte sie sich bestimmt gekränkt und tödlich verletzt, doch was ihr so zusetzte, war weniger der doppelte Verrat durch Mann und Freundin als vielmehr die Worte, die diese gegen sie wählte, verächtliche Worte, höhnische Worte. Alfredo, wie kannst du nur neben so einer bigotten Frau leben? Alfredo, wie schaffst du das, dich nicht zu übergeben, wenn du morgens aufwachst und sie neben dir liegt? Alfredo, weißt du, was Maria Carmela mir neulich anvertraut hat? Dass sie seit der Hochzeitsnacht immer nur gelitten hat, wenn sie mit dir schlief. Warum ist das für -283-
mich dann eine solche Lust, dass ich sterben könnte? Montalbano kam nicht umhin, sich noch eine Lust vorzustellen, die viel bösartiger und raffinierter war: die Lust des Apothekers, sich mit der Ehefrau des Mannes zu amüsieren, der sein bester Freund in punkto Kartenspiel und Frauen und völlig ahnungslos war. Und wer weiß, wie lange die Geschichte noch gedauert hätte, wenn nicht der schöne Neffe Attilio in Cristinas Leben getreten wäre. Als sie die Briefe findet, beschließt Maria Carmela, sich zu rächen. Das falsche Gift hat sie Cristina schon gegeben, bevor sie hinter die Affäre gekommen war, und sicherlich bedauert sie, die Mordabsichten damals erkannt zu haben. Wenn sie gewusst hätte, was los war, hätte sie ihr echtes Gift gegeben, damit Cristina sich eigenhändig zugrunde richtete. jetzt bleibt ihr nichts anderes übrig, als auf einen falschen Schritt der einstigen Freundin zu warten. Und als diese einen Fehler macht, ergreift Maria Carmela die Gelegenheit beim Schopf und tut das ihrige, damit die Frau hinter Gitter kommt, obwohl sie weiß, dass Cristina ihren Mann mit diesem Pulver gar nicht getötet haben kann. Wenn sie dem Carabinieri-Leutnant die Wahrheit erzählt hätte, hätte es für die ehemalige Freundin besser ausgesehen. Aber genau das will sie nicht. Und erst in ihrer Todesstunde, als ihre Zunge für alle Gelüste, auch für die der Rache, unempfindlich geworden ist, beschließt sie, ihre Schuld zu offenbaren. Aber warum hat sie diese Briefe aufbewahrt und nicht wie die Fotos von ihrem Mann und der Hochzeit weggeworfen? Weil Maria Carmela intelligent ist. Sie weiß, dass die Wut, die sie angetrieben hat, eines Tages unweigerlich an Kraft verlieren wird, die verblassende Erinnerung an die Kränkung könnte dafür sorgen, dass sie jemandem erzählt, was wirklich geschehen ist, Cristina könnte freikommen… -284-
Dann brauchte sie nur einen dieser Briefe in die Hand zu nehmen, und der Wunsch nach Rache würde wieder lebendig, grimmig wie am ersten Tag. Am Morgen verließ Montalbano früh das Haus, geschlafen hatte er praktisch nicht. Als er die Kirche betrat, war Padre Barbera gerade mit dem Gottesdienst fertig. Montalbano folgte ihm in die Sakristei. Der Küster half dem Pfarrer, das Messgewand auszuziehen. »Geh jetzt und lass niemanden herein.« »Jawohl«, sagte der Küster und ging. Mit einem Blick begriff der Pfarrer, dass Montalbano jetzt wusste, was Maria Carmela Spagnolo gebeichtet hatte. Aber er wollte ganz sichergehen. »Haben Sie alles herausgefunden?« »Ja, alles.« »Wie haben Sie das gemacht?« »Ich bin Polizist. Es war eine Art Wette, hauptsächlich mit mir selbst. Aber es ist vorbei.« »Sind Sie sicher?«, fragte Padre Barbera. »Natürlich. Wen interessiert denn schon eine Geschichte, die fünfzig Jahre zurückliegt? Maria Carmela Spagnolo ist tot, Cristina Ferlito ebenfalls…« »Woher wollen Sie das wissen?« »Na ja, ich nehme an…« »Sie irren.« Montalbano sah ihn ungläubig an. »Sie lebt noch?« »Ja.« -285-
»Wo denn?« »In Catania, bei ihrer Tochter Agata, die ihr verziehen hat, als Cristina aus dem Gefängnis kam. Agata ist mit einem Bankangestellten verheiratet, einem tüchtigen Mann namens Giulio La Rosa. Sie haben ein Haus in der Via Gomez 32.« »Wieso erzählen Sie mir das?«, fragte der Commissario. Noch während er fragte, wusste er schon die Antwort des Pfarrers. »Damit Sie tun, was ich als Geistlicher nicht tun kann. Sie können einem Menschen jetzt, da er vom Leben nichts mehr erwartet, seinen Frohmut wiedergeben. Mit dem Licht der Wahrheit den letzten dunklen Lebensabschnitt dieser Frau erhellen. Gehen Sie und tun Sie Ihre Pflicht, Sie dürfen keine Zeitverlieren. Es wurde schon zu viel Zeit verloren.« Er legte Montalbano die Hände auf die Schultern und schob ihn Richtung Tür. Verwirrt machte Montalbano ein paar Schritte und blieb dann plötzlich stehen, wie Schuppen fiel es ihm von den Augen. Er drehte sich um. »Sie hatten alles genau geplant, als Sie an dem Morgen zu mir kamen! Sie haben das alles eingefädelt, Sie haben sich meiner bedient, und ich Idiot bin drauf reingefallen! Und das war auch alles Show, als Sie versuchten, mich davon abzubringen, Sie wussten, dass ich den Knochen nicht mehr loslassen würde. Sie wussten von Anfang an, dass wir so weit kommen, dass wir dieses Gespräch haben würden. Hab ich Recht, ja oder nein?« »Ja«, sagte Padre Barbera. Montalbano saß wütend und genervt am Steuer und zeterte gegen jeden Autofahrer, der sich mit ihm auf der Straße befand. -286-
Wie ein dummer kleiner Junge hatte er sich reinlegen lassen. Wie konnte das sein? Wieso hatte er nicht beizeiten gemerkt, dass Padre Barbera ihn in eine Falle lockte? Ganz schön scheinheilig, der Pfarrer! Das Sprichwort war eindeutig: Monaci eparrini, sènticci la missa, e stòccacci U rini. Hör dir an, was Mönche und Pfaffen in der Messe sagen, aber hinterher tritt ihnen ins Kreuz. Ach, die verlorene Volksweisheit! Im Verkehr von Catania hatte er ausreichend Gelegenheit, jedem die Hörner zu zeigen und unflätig zu schimpfen. Dann erreichte er nach endlosem Herumgefahre schließlich das Haus in der Via Gomez. In dem winzigen Gärtchen beaufsichtigte eine ziemlich junge Frau zwei spielende Kinder. »Signora Agata La Rosa?« »Die ist nicht da, ich passe auf die Kinder auf.« »Sind das Kinder von Signora Agata?« »Wie bitte? Das sind ihre Enkel!« »Ich bin Kommissar, von der Polizei.« Die Frau sah ihn argwöhnisch an. »Und, ist was? Ist was passiert?« »Nichts, ich muss nur Signora Cristina etwas mitteilen. Ist sie da?« »Klar.« »Ich müsste mit ihr sprechen. Können Sie mich zu ihr bringen?« »Und was mach ich solang mit den Kindern? Gehen Sie allein rein, gleich die zweite Tür links, ist nicht zu verpassen.« Ein geschmackvoll eingerichtetes Haus und trotz Enkelkindern ordentlich. Die zweite Tür links stand halb offen. »Darf ich?« -287-
Keine Antwort. Er trat ein. Die alte Frau saß in einem Sessel und schlief in der warmen Sonne, die durch die Fensterscheiben hereinschien. Ihr Kopf war nach hinten geneigt, und aus ihrem Mund, aus dem glitzernd ein Speichelfaden sickerte, kam ein mühseliges, schabendes Atmen, das immer wieder kurz stockte, um dann mit noch größerer Mühe wieder einzusetzen. Eine Fliege huschte ungestört über die Augenlider, die so dünn geworden waren, dass der Commissario befürchtete, sie könnten unter dem Gewicht des Insekts einbrechen. Dann schlüpfte die Fliege in ein durchscheinendes Nasenloch. Die Gesichtshaut war gelb und gespannt und lag so eng an, dass sie wie eine Farbschicht auf den Knochen wirkte. Die Haut der schlaff daliegenden, von der Arthrose verkrümmten Hände dagegen war wie aus Pergament und hatte große braune Flecken. Die Beine, auf denen eine Decke lag, zuckten unaufhörlich. In dem Zimmer hing ein unerträglicher Mief, es roch ranzig und nach Urin. Existierte in diesem Körper, den die Zeit so entstellt hatte, noch etwas, mit dem man kommunizieren konnte? Montalbano bezweifelte es. Und schlimmer noch: Wenn es dieses Etwas gab, würde es dann die Wahrheit ertragen? Wahrheit ist Licht, oder so ähnlich hatte der Pfarrer gesagt. Schon, aber konnte ein so starkes Licht das, was es nur erhellen sollte, nicht auch in Flammen aufgehen lassen und verbrennen? Da war das Dunkel des Schlafes und der Erinnerung allemal besser. Er wandte sich ab und ging in den Garten zurück. »Haben Sie mit der Signora gesprochen?« »Nein. Sie schläft. Ich wollte sie nicht wecken.«
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Anmerkung des Autors
Dieser Band besteht aus drei langen und drei kurzen Erzählungen. Die langen Erzählungen waren bisher unveröffentlicht. Zwei der drei kurzen Erzählungen sind bereits erschienen: Fieber in der Zeitschrift für Strafvollzug ›Le Due Città‹, 2001; A Hatful of Rain in der Tageszeitung ›La Repubblica‹ vom 15. August 1999. Die kürzeren Erzählungen sind nicht im eigentlichen Sinne Kriminalgeschichten, sondern eher Geschichten von drei zufälligen und außergewöhnlichen Begegnungen des Commissario Montalbano. Natürlich habe ich die Namen und Situationen erfunden, sie haben also keinerlei Bezug zur so genannten Realität. a. c. Im Text erwähnte kulinarische Köstlichkeiten cannoli: Mit süßer Ricottacreme gefüllte Röllchen pasta 'ncasciata: Makkaroniauflauf mit Auberginen und Hackfleisch pesto alla trapanese: Pesto aus reifen Tomaten, Knoblauch, Basilikum, Olivenöl, Salz purpi qffucati: Tintenfische in Tomatensauce risotto di mare: Risotto mit Meeresfrüchten
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