Zucker im Tank oder Die Hehlerbande von WOLFGANG HOHLBEIN SchneiderBuch
Die vier von der Pizza-Bande Tommi, 13 Jahre ...
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Zucker im Tank oder Die Hehlerbande von WOLFGANG HOHLBEIN SchneiderBuch
Die vier von der Pizza-Bande Tommi, 13 Jahre alt, dunkle Haare, dunkle Augen. Lustig, schnell und mutig, verantwortungsbewußt. Tommi ist aufbrausend, beruhigt sich aber schnell wieder. Er schmaust gern, besonders die Köstlichkeiten aus der Pizzeria seiner Eltern. Sie sind Italiener. Also ist Tommi auch Italiener-aber in Deutschland geboren. In der 6. Klasse der Realschule ist er als Tommaso Carotti bekannt. Schräubchen, 12 Jahre alt, wird so gerufen, weil sie schon als kleines Kind in der Autowerkstatt ihres Vaters mit Schrauben spielte. Kurze, blonde Haare, blaue Augen. Liebt Radfahren, Schwimmen und Skifahren. Wer sie ärgern will, ruft sie „Schreckschraube". In der Schule rufen sie die Lehrer „Stephanie Wagner".
„TH", 13 Jahre alt (wenn er seinen Vornamen Walther nennt, sagt er immer, „mit TH, bitte"): sehr groß, sehr dünn, blondes, glattes Haar. Trägt eine Brille. Spielt furchtbar gern Gitarre, aber nicht sehr gut. Walthers Eltern sind geschieden. Er lebt beim Vater, der einen tollen Posten in einer großen Keksfabrik hat. In der Schule schreiben die Lehrer auf das Zeugnis von TH „Walther Roland" und darunter mittelmäßige Zensuren. Milli, 12 Jahre alt. Wird Milli genannt, weil sie furchtbar gern viel Milch trinkt. Klein und zierlich. Hat langes, blondes Haar. Milli ist zuverlässig und verantwortungsbewußt. Liebt Tiere über alles. Ihre Lieblinge sind der Hund Moritz und Kater Max, die dicke Freunde sind. Milli will einmal den Bauernhof ihrer Eltern übernehmen. Sie hat Angst vor Geistern und Gespenstern. Die Lehrer, die sie als Anna Obermaier kennen, geben ihr gute Zensuren.
Inhalt
Wer den Schaden hat... Der Traum jedes Jungen Vertrauen gegen Vertrauen Denkste! Eis hilft immer Eine Fahrt ins Blaue Ein leiser Verdacht Die Fahrt am frühen Morgen Die Polizei war schon da! Lagebesprechung Beinahe erwischt Fragen über Fragen Es spricht sich herum Es tut sich was Weitere Entdeckungen Bei Inspektor Mauser Schnapp! Endbesprechungen
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Wer den Schaden hat... „Mensch, war das ein Wochenende", sagte Walter, genannt TH, und klopfte seinem Freund Tommi auf die Schulter - in aller Freundschaft, aber doch so fest, daß dieser einen halben Schritt nach vorne machte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Dabei wäre er um ein Haar über seine eigene Schulmappe gestolpert. Wovon sich TH allerdings nicht im geringsten irritieren ließ. Ganz im Gegenteil, er geriet eher noch mehr ins Schwärmen. „Das Wetter war einfach super, sage ich euch - und erst die Geburtstagstorte bei meiner Oma ..." Genüßlich leckte er sich über die Lippen. Ein verträumter Ausdruck trat in seine Augen. Man konnte beinahe sehen, wie ihm allein bei der Erinnerung das Wasser im Munde zusammenlief. Tommi hatte endlich sein Gleichgewicht wiedergefunden und musterte TH mit einer Mischung aus Ärger und Überraschung. „Ach ja, du warst ja bei deiner Großmutter in Biblingen", erinnerte er sich. TH nickte und hob schon wieder die Hand. Tommi zog es deshalb vor, hastig seine Schultasche aufzunehmen und sich aus der Reichweite seines Freundes zu bringen - zumal es sowieso gerade geläutet hatte. TH ergriff ebenfalls seine Tasche und klemmte sie sich unter den Arm. Gemeinsam betraten die Freunde das Schulgebäude, ohne daß TH aufhörte, von dem vergangenen Wochenende zu schwärmen. Tommi versuchte ein paarmal, ihn zu unterbrechen. Einerseits war sein Wochenende im Gegensatz zu dem THs ziemlich langweilig gewesen, und andererseits stand ihnen jetzt wieder eine komplette Woche bevor. Mit der Aussicht 9
auf fünf Tage Unterricht und Schulfolter vor Augen fand Tommi es schon beinahe sadistisch, ihm von einem herrlichen Wochenende vorzuschwärmen. Nein, Tommi war an diesem Morgen nicht besonders gut drauf. Und daran änderte auch das laute Schreien und Lärmen der übrigen Mitschüler nichts, das man schon von weitem durch die geöffnete Klassentür hören konnte. Bevor der Lehrer das Zimmer betrat, ging es dort immer hoch her. Und an diesem Morgen offensichtlich ganz besonders. Tommi sah die Bewegung im letzten Moment, aber seine Reaktion kam eine Zehntelsekunde zu spät. Der nasse Schwamm, der eigentlich TH treffen sollte, verfehlte diesen um Haaresbreite und landete genau in Tommis Gesicht. Eiskaltes, muffig und nach alter Kreide riechendes Wasser lief unter dem schadenfrohen Gelächter der anderen in Tommis Kragen. Das erste, was er erblickte, als er wieder sehen konnte, war THs Gesicht - und dessen schon fast unverschämtes Grinsen. „Na?" fragte TH. Endlich wach?" „Hmff", machte Tommi, was angesichts der Tatsache, daß er selbst nicht genau wußte, ob er nun losschreien oder mit in das allgemeine Gelächter einfallen sollte, vielleicht noch die diplomatischste Antwort war. „Ganz genau", pflichtete ihm TH bei. Er bückte sich, ergriff den Schwamm und warf ihn ziellos zurück in die Menge, wo er klatschend und unter allgemeinem Gejohle ein weiteres unschuldiges Opfer traf. „Bravo", sagte eine Stimme hinter ihnen. „Wirklich gut gemacht." TH fuhr zusammen und verlor ein wenig von seiner strahlenden Laune - aber wirklich nur ein wenig. Unsi10
eher trat er einen Moment lang von einem Fuß auf den anderen, ehe er verlegen lächelte und machte, daß er zurück auf seinen Platz kam. Derweil stand Tommi noch immer reichlich bedröppelt - und im wahrsten Sinne des Wortes wie ein begossener Pudel - da. „Was ist los, Tommi?" fuhr die Stimme fort, die er jetzt wenigstens erkannte, auch wenn er sich immer noch nicht herumdrehte. Sie gehörte dem Deutschlehrer, Herrn Steiner. „Wartest du auf einen Nachschlag, oder willst du vielleicht auch noch in die Sauna, nachdem du schon geduscht hast?" „Ich ... äh ... nein", stammelte Tommi. „Entschuldigung." „Nur angenommen, wenn du dich auf deinen Platz setzt", antwortete Herr Steiner ernst. Beschämt ließ Tommi den Kopf hängen und trollte sich auf seinen Platz, wobei er eine Spur kleiner, schmutziger Wassertröpfchen auf dem Linoleumfußboden der Klasse hinterließ. Das schadenfrohe Grinsen seiner Klassenkameraden glaubte er regelrecht zu fühlen. „So", fuhr Herr Steiner fort, nachdem er einen langen, strafenden Blick in die Runde geworfen und damit wenigstens einigermaßen für Ruhe gesorgt hatte, „dann können wir ja vielleicht mit dem Unterricht beginnen falls die Herrschaften nichts dagegen haben." Er drehte sich herum und machte eine Handbewegung zu jemandem, der draußen auf dem Korridor stand. „Du kannst ruhig hereinkommen. Die spielen nur die Verrückten aber es ist nicht ansteckend." Jemand lachte - allerdings nur genau so lange, wie Herr Steiner brauchte, den Kopf zu drehen und einen mit mindestens zehntausend Volt geladenen Blick in dessen Richtung zu werfen. Und dann betrat ein großer, 11
schwarzhaariger Junge den Klassenraum. Eine Sekunde darauf war es mit der Ruhe abermals vorbei, nur daß sich diesmal kein Gelächter erhob, sondern ein erstauntes Gemurmel und Geraune. Die Ladung in Steiners Blick stieg von zehn- auf hunderttausend Volt. „Ruhe!" Herr Steiner sprach nicht einmal besonders laut aber irgendwie brachte er das Kunststück fertig, den Lärm in der Klasse spielend zu übertönen. Der schwarzhaarige Junge stand wie verloren neben Herrn Steiner und blickte betreten zu Boden. „Na endlich", sagte Herr Steiner kopfschüttelnd und ging zu seinem Pult. Nachdem er seine Aktentasche darauf abgelegt hatte, stellte er sich vor die Klasse - in der bekannten, unheilschwangeren Pose, die er immer einnahm, wenn er etwas besonders Wichtiges mitzuteilen hatte. Mit einer fast dramatischen Geste deutete er auf den schwarzhaarigen Jungen, der immer verlorener wirkte. Ein schüchternes Lächeln war auf seinem Gesicht erschienen, aber man sah ihm an, wie unwohl er sich in seiner Haut fühlte. „Das ist Ashim, Ashim Özkul, euer neuer Mitschüler", sagte Steiner. „Ein Kümmeltürke!" drang es - nicht gerade leise aus einer Ecke. „Wer war das?" fragte der Lehrer scharf. Niemand antwortete. Und Steiner wiederholte: „Ich will sofort wissen, wer das war!" Noch immer keine Antwort. „Wenn sich der Betreffende nicht meldet, gibt's für alle ein paar kleine Sonderaufgaben", sagte Steiner drohend. „Das könnt ihr dann untereinander ausma12
chen, wenn euch das lieber ist." „Ich ... ich war es." Die Stimme klang sehr kleinlaut. Werner stand von seinem Platz in der letzten Bank auf, blickte den Lehrer aber nicht an. Steiners Gesicht verdüsterte sich noch mehr. Er wirkte jetzt eher enttäuscht als zornig. „Werner!" sagte er und schüttelte abermals den Kopf. „Schon wieder du. Du ..." Er seufzte, blickte Werner eine Sekunde lang vorwurfsvoll an und winkte dann mit der Hand. „Setz dich! Wir reden später darüber!" Werner ließ sich hastig auf seinen Stuhl zurücksinken und versuchte unsichtbar zu werden, und Steiner wandte sich wieder an Ashim. „Du kannst dich vorläufig dort neben Marion setzen." Er zeigte auf einen leeren Stuhl in der zweiten Reihe. „Später sehen wir, wo du endgültig hinkommst." Schüchtern machte sich Ashim auf den Weg und setzte sich neben das Mädchen, das ihn mißtrauisch ansah - und dann ein Stück zur Seite rückte, als wüßte sie nicht, was sie von ihrem neuen Banknachbarn halten sollte. „So, dann wollen wir mal zur Tagesordnung übergehen", erklärte Herr Steiner. Wieder ein strafender Blick, der keinem einzelnen, sondern der ganzen Klasse galt. Er öffnete seine Aktentasche. „Die Diktate waren ja nun nicht gerade Glanzstücke. Von keinem von euch." Er nahm die Hefte aus der Tasche und begann sie zu verteilen, nicht ohne bei fast jedem Schüler einen entsprechenden Kommentar abzugeben. Auch Tommi kam nicht ungeschoren davon, wenn auch besser als die meisten anderen. „Das ist diesmal gar nicht so schlecht ausgefallen", sagte Steiner. „Aber auch nicht so gut. Kein Grund, übermütig zu werden." Er legte das Heft in Tommis ausgestreckte Hand. 13
Der strahlte seinen Lehrer an und legte das Heft auf seinen Tisch, um direkt nachzusehen, welche Zensur er diesmal erreicht hatte. Als er es aufklappte, tröpfelte schmutziges, nach Kreide riechendes Wasser aus seinem Haar und hinterließ häßliche Kleckse auf den Seiten. TH grinste ihn schadenfroh an. Steiner hatte inzwischen die letzte Bank erreicht, und der Ausdruck auf seinem Gesicht wurde noch ein bißchen betrübter. „Nun, Walther Roland, bei dir brauche ich ja wohl nichts mehr zu sagen. Wie immer." Schwungvoll ließ er das blaue Heft auf den Tisch seines Schülers fallen. Das Geräusch, mit dem es auf dem Tisch aufprallte, klang wie eine Ohrfeige - und Walther machte auch ein Gesicht, als hätte er eine solche erhalten. Während der Lehrer sich dann weiter der Tagesordnung zuwandte, kippte Tommi vorsichtig mit dem Stuhl nach hinten, um mit TH zu sprechen. „Was hältst du von dem Neuen?" flüsterte er. „Was soll ich von ihm halten? Ich hab' ihn doch vorhin auch zum ersten Mal gesehen", antwortete TH. „Ich glaube, ich ... kenne ihn von irgendwo", sagte Tommi. Er zuckte mit den Schultern. „Also, das Gesicht kommt mir auf jeden Fall bekannt vor. Ich - " TH gab ihm einen warnenden Wink mit den Augen, und Tommi setzte sich hastig gerade, als er bemerkte, daß Steiner ärgerlich in seine Richtung sah. Für den Rest der Stunde hütete er sich, Steiners Aufmerksamkeit noch einmal auf sich zu ziehen. Es dauerte bis zur großen Pause, ehe sie endlich wieder Gelegenheit fanden, über ihren neuen Mitschüler zu reden. Wie üblich versuchten alle Schüler gleichzeitig den Raum zu verlassen, kaum daß es geklingelt hatte, und wie üblich entstand an der Tür ein 14
fürchterliches Gedrängel und Geschiebe und Geschubse. Aber die paar Minuten Zeitverlust waren den Spaß, die Schlacht von Waterloo jeden Tag dreimal neu aufzulegen, schon wert. Auf dem Hof trafen Tommi und TH auf Schräubchen und Milli, die sich, ihr Brot kauend, auf die kleine Mauer gesetzt hatten, die sich rings um das Schulgebäude zog. „Wir haben einen Neuen!" trompetete Tommi gleich los. „Einen Neuen?" Schräubchen kaute genüßlich auf ihrem Brot herum, das sie sehr viel mehr zu interessieren schien als irgendwelche neuen Schüler, die noch dazu nicht einmal in ihre Klasse gingen. Trotzdem tat sie Tommi den Gefallen, nach ein paar Sekunden zu fragen: „Was für einen Neuen? Wie heißt er denn?" „Ein Küm... äh, ein Türkenjunge, Ashim heißt er", verbesserte sich Tommi hastig. „Ich kenne ihn von irgendwo, aber ich weiß im Moment nicht, woher. Aber es wird mir schon wieder einfallen." „Ein Türkenjunge?" Schräubchen biß herzhaft in ihr Brot und schmatzte hörbar. „Na und? Es gibt doch jede Menge Ausländerkinder hier in der Schule. Was ist daran so besonders?" Milli biß in ihren Apfel und nuschelte eine fast unverständliche Zustimmung. „Nichts", sagte Tommi, leicht verwirrt. „Ich ... ich wollte es euch nur erzählen." „Dort drüben ist er ja." TH deutete mit dem ausgestreckten Arm auf den Jungen, der allein in einer Ecke des Schulhofes stand. Das heißt, er war nicht ganz allein. Vor ihm stand Werner, beide Hände in die Hüften gestemmt und auch sonst in eindeutig drohender Haltung. 15
TH zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen. Wahrscheinlich dachte er in diesem Moment so ziemlich an das gleiche wie Tommi - nämlich an die häßliche Bemerkung, mit der Ashim gleich am Morgen in der Klasse begrüßt worden war. Er sagte nichts, sondern sah Tommi nur an, aber das reichte auch. Wenn es darauf ankam, dann verstanden sich die Mitglieder der Pizza-Bande auch ohne Worte. Ohne sichtbare Hast, aber trotzdem schnell, gingen sie über den Hof und blieben zwei Schritte hinter Werner stehen. Der bemerkte sie nicht einmal. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, Ashim im Auge zu behalten, der bis zu der Schulhofmauer zurückgewichen war. Womit er bei Werner allerdings gar nichts erreichte - ganz im Gegenteil. Man sah Ashim an, daß er Angst hatte oder zumindest unsicher war, und das war Öl auf Werners Feuer. „Na, du Knoblauchfresser", konnten sie hören, „habt ihr heute schon ein Lamm geschlachtet?" Er lachte hämisch. Der Junge stand nur da und blickte betroffen zu Boden. „Was ist?" fragte Werner herausfordernd. „Hast du deine Zunge verschluckt, oder du nur sprächen tirkisch Dialäkt aus hinterste Anatolia, Arschi?" „Jetzt reicht's aber", sagte TH ruhig. Werner fuhr herum und hob kampflustig die Fäuste allerdings nur bis zu dem Moment, in dem er sah, wem er gegenüberstand. Milli und Schräubchen hatten sich TH und Tommi mittlerweile angeschlossen, und diese vierfache Übermacht dämpfte Werners Kampfeslust schlagartig. „Verschwinde", sagte TH gelassen. „Der paßt zu euch", sagte Werner abfällig. Und er 16
machte, daß er wegkam, und zwar schnell. Er war auf die verschworene Gemeinschaft der vier von der PizzaBande nicht gut zu sprechen, denn mehr als einmal hatten sie ihm gezeigt, daß er außer einem großen Mundwerk nicht allzuviel vorzuweisen hatte. TH blickte ihm finster nach, während sich Tommi an Ashim wandte. Aus irgendeinem Grund war ihm Werners Auftritt plötzlich selbst peinlich; so, als hätte er irgend etwas damit zu tun. „Hallo, Ashim", sagte er verlegen. „Warum stehst du hier so allein rum?" Der Junge sah die vier der Reihe nach an, sagte aber nichts. „Na, komm schon", sagte TH. Er lächelte, dann deutete er auf die beiden Mädchen. „Das sind Milli und Schräubchen - eigentlich Anna und Stephanie, und uns beide kennst du ja schon aus der Klasse. Wir tun dir nichts." „Werner ist ein Blödmann", fügte Tommi überflüssigerweise hinzu. „Aber wir sind nicht alle so." „Warum bist du so schüchtern?" fragte Schräubchen geradeheraus. „Ich bin überhaupt nicht schüchtern", brummte Ashim leise, aber in einem Deutsch, das um ungefähr das Dreifache besser klang als das Werners. „Ich verstehe schon", meinte Tommi, die anderen lassen dich immer wieder spüren, daß du ihrer Meinung nach anders bist als sie. Aber mach dir nichts daraus. Ich bin auch anders." Ashim sah ihn zweifelnd an, und Tommi nickte mehrmals hintereinander. „Meine Eltern sind Italiener", erklärte er. „Wir haben eine Pizzeria. Für sie war es am Anfang auch nicht leicht, wie sie mir erzählt haben." „Schon gut", sagte Ashim und wollte sich abwenden. 17
Milli legte ihre Hand auf seine Schulter. „He, he!" sagte sie, halb scherzhaft, halb ernst. „So leicht kommst du uns nicht aus. Erst läßt du dir von uns das Leben retten, und dann willst du einfach verschwinden?" Ashim wurde noch ein wenig blasser, als er sowieso schon war. Dann begann Milli zu lachen - und nach ein paar Augenblicken stimmte er ein, wenn auch sehr leise und mehr gezwungen als echt. Aber seine Angst war, wenigstens für den Moment, verflogen. „Erzähl mal", sagte Milli. „Wo kommt ihr her? Wohnt ihr schon lange hier?" „Seit ungefähr einer Woche", antwortete Ashim. Millis Augen wurden rund. „Seit einer Woche?" keuchte sie. Und da sprichst du schon so perfekt Deutsch?" Ashim nickte todernst. „Ich bin sehr lernfähig, weißt du. Aber in Augsburg haben sie einen Dialekt gesprochen, der so ähnlich klang wie eurer..." Millis Unterkiefer klappte herunter, während Tommi und TH sich nur mit Mühe ein Lachen verkneifen konnten. Und auch in Ashims Augen glomm ein amüsiertes Funkeln auf. „Im Ernst", sagte er. „Wir sind aus Augsburg hergezogen. Dort haben wir schon sechs Jahre gelebt. Mein Vater hat das Elektrogeschäft hier in -" „Ha!" unterbrach ihn Tommi. „Jetzt fällt's mir wieder ein! Das Elektrogeschäft direkt neben uns. Dort habe ich dich schon mal gesehen, und deshalb bist du mir auch sofort bekannt vorgekommen. Das Geschäft von Herrn Schneidereit, direkt neben unserer Pizzeria!" „Ja, nebenan ist eine Pizzeria", sagte Ashim. „Und die gehört euch?" „Hast du noch Geschwister?" bohrte Milli, die von Natur aus neugierig war. 18
Ashim nickte. „Einen älteren Bruder. Aber der ist in Augsburg geblieben. Er muß dort seine Lehre beenden. Er soll dann im nächsten Jahr nachkommen. Kleinere Geschwister habe ich nicht." Schräubchen tat der Junge leid. Er hatte seine Furcht vor der Pizza-Bande sichtlich verloren, aber er wirkte immer noch verkrampft. „Weißt du was", sagte sie impulsiv, „wir wollen am Samstag eine Radtour die Wümme entlang machen. Komm doch einfach mit. Oder hast du kein Rad?" Schräubchen liebte das Radfahren über alles. „Doch, ein Rad habe ich. Aber - " „Kein Aber", unterbrach ihn Schräubchen. „Du kommst mit! Wir zeigen dir dann auch etwas von unserer schönen Gegend hier." „Ich ... ich weiß nicht", erwiderte Ashim. Er starrte wieder zu Boden und begann unruhig mit den Füßen zu scharren. „Na, komm schon", meinte TH. „Wir sehen uns zwar noch in der Schule, aber wir treffen uns am Samstag mittag in Tommis Pizzeria. Dort können wir dann besprechen, wohin und wie weit wir fahren. Abgemacht?" Fragend blickte er seinen neuen Mitschüler an. „Und außerdem können wir uns dann noch viel besser kennenlernen", fügte Schräubchen hinzu. Ashim zögerte einen Augenblick. Dann gab er sich einen Ruck. „Gut, abgemacht." Er drehte sich um und ging davon. Auf halbem Weg blieb er stehen und drehte sich noch einmal um. „Ich freue mich schon!" rief er - und lief so schnell davon, als schäme er sich, das gesagt zu haben. 19
Der Traum jedes Jungen Die Schlacht von Waterloo war mit dem Schrillen der Klingel am Ende der letzten Stunde vorüber - wenigstens für diesen Tag. Aber weder TH noch Tommi nahmen diesmal daran teil. Während der Pausen war für sie jede Sekunde so kostbar wie für alle anderen, aber jetzt waren sie die letzten, die durch die Tür traten. Sie wurden erwartet. Als sie auf den Flur kamen, stand Ashim an der gegenüberliegenden Wand. Er wirkte er zum ersten Mal, seit sie ihn kennengelernt hatten, nicht niedergeschlagen und verängstigt. Als er die beiden Jungen entdeckte, kam er auf sie zu. „Ich ... äh, ich wollte euch noch sagen, daß morgen mittag unser Geschäft eröffnet wird. Und ... " TH konnte regelrecht sehen, wie ihn das bißchen Mut verließ, das er zusammengerafft hatte, um auf sie zu warten und sie anzusprechen. Verlegen blickte Ashim zu Boden. Es dauerte fast eine halbe Minute, bis er weitersprach, deutlich leiser und ohne sie anzusehen: „Ich ... ich möchte euch alle gern dazu einladen. Mein Vater hat sich ein paar Überraschungen ausgedacht, um die Eröffnung zu feiern und sich auch hier bekannt zu machen, und ich ... ich hätte euch gerne dabei..." Er lächelte wieder, aber es war ein Lächeln, das seine Verlegenheit nur noch betonte. Auf TH und Tommi machte er in diesem Moment eher den Eindruck eines Jungen, der etwas ausgefressen hat. Und auch Walther schien zu spüren, daß mit Ashim irgend etwas nicht stimmte. Aber er warf Tommi einen raschen, beinahe verschwörerhaften Blick zu und bemühte sich, so natürlich wie möglich zu reagieren. „Prima", meinte er. „Wir sagen Schräubchen und 20
Milli Bescheid. Die werden bestimmt gern mitkommen. Und für dich ist der Weg zu uns ja nicht gerade weit." Grinsend blickte er zu Tommi. „Du kannst ja notfalls im Schlafanzug rüberkommen." „Morgen nachmittag um drei also." Ashim sprach, als hätte er sich alles vorher zurechtgelegt, als hätte er sonst den Mut nicht aufgebracht, die beiden Jungen anzusprechen. Er starrte nicht mehr zu Boden, sah sie aber auch nicht an, sondern fixierte einen imaginären Punkt irgendwo in der Luft zwischen TH und Tommi. „Ich wollte es euch nur jetzt schon mal sagen, damit ihr euch nichts anderes vornehmt. Habt ihr doch noch nicht, oder?" fügte er fast erschrocken hinzu. „Ich nicht", sagte TH. „Und du?" Fragend sah er Tommi an. „Nein, ich auch nicht, und die anderen bestimmt auch nicht." „Super!" TH setzte sein freundlichstes Grinsen auf. „Wir kommen, Ashim!" Ohne noch etwas zu sagen, drehte sich der dunkelhaarige Junge um und lief zum Ausgang. Das heißt eigentlich rannte er mehr, als daß er ging. Fragend sahen sich die beiden Freunde an. Schließlich zuckte TH mit den Schultern. „Ich möchte bloß wissen, was mit dem los war", sagte TH, als sie den Hof verlassen hatten und den gemeinsamen Heimweg antraten. Sie hatten nicht gerade getrödelt, aber von Ashim war schon nichts mehr zu sehen. „Er hat Angst", sagte Tommi überzeugt. „Außerdem ist es sein erster Tag." „Und da fühlt man sich immer komisch, ich weiß", sagte TH. „Trotzdem..." „Ist doch klar", meinte Tommi. „Wenn die überall nur von oben herab behandelt werden, wie Men21
sehen zweiter Klasse ..." „Die?" „Ausländer eben", antwortete Tommi. „Und Türken ganz besonders." Er zog eine Grimasse. „Du kennst das doch." „Sicher", erwiderte TH. „Ich habe bloß nie verstanden, warum überhaupt. Die tun einem doch nichts. Die arbeiten genau wie wir. Sie leben zwar etwas anders, aber deshalb kann man ja wohl nichts gegen sie haben." Tommi dachte an gewisse Geschichten, die ihm seine Eltern erzählt hatten, und zuckte betrübt mit den Schultern. „Das sagt sich so leicht. Aber viele denken eben nicht so. Erinnere dich bloß mal an Werner." „Werner ist ein Idiot", sagte TH überzeugt. Tommi grinste. Es fiel ihm schwer, TH in diesem Punkt zu widersprechen. Aber er hatte auch keine besondere Lust mehr, sich ausgerechnet über Werner zu unterhalten. „Na ja, wir gehen morgen mal zu der Eröffnung, und dann sehen wir weiter", sagte er. „Jedenfalls scheint Ashim ein netter Kerl zu sein, oder findest du nicht?" „Doch." TH nickte. „Er ist recht sympathisch." „Und außerdem tut er mir leid", fügte Tommi nach einer winzigen Pause hinzu. „Ich versuche mir gerade vorzustellen, wie das sein muß. Du kommst in eine fremde Stadt, wo du niemanden kennst, und alle zeigen mit dem Finger auf dich oder beachten dich gar nicht, nur weil du in einem anderen Land geboren bist." „Ja, ist schon schlimm", antwortete TH - mit einer Stimme, die sich eigentlich nicht so anhörte, als breche ihm dieser Gedanke das Herz. Plötzlich grinste er listig. „Aber da fällt mir überhaupt was ein! Du weißt doch, daß ich mir einen neuen Kassettenrecorder kaufen wollte?" 22
Tommi unterdrückte ein Seufzen. Wenn man tagtäglich mit TH zusammen war, wie er und die anderen Mitglieder der Pizza-Bande, dann war es ziemlich unmöglich, das nicht zu wissen. TH ging seinen Freunden seit etlichen Wochen mit seinem Gerede von einem neuen Kassettenrecorder schlichtweg auf die Nerven vorsichtig ausgedrückt. Trotzdem hütete er sich, mit mehr als einem flüchtigen Kopfnicken auf THs Frage zu antworten. Er verspürte keinen besonderen Bedarf nach einem neuen Vortrag über die Vor- und Nachteile der einzelnen Tonbandhersteller. „Als ich jetzt bei meiner Oma war", fuhr TH fort, „hat sie mir wieder ein zusätzliches Taschengeld in die Hand gedrückt. Fünfzig Mark waren es diesmal. Stell dir mal vor, genau der Betrag, der mir noch gefehlt hat! Jetzt kann ich mir ein supertolles Ding kaufen." THs Augen leuchteten auf. „Stereo!" „Toll", sagte Tommi und machte die gelangweilteste Miene der Welt. „So eine Oma wünsche ich mir auch." „Ja, das ist schon was Feines", sagte TH. Plötzlich lächelte er auf eine ganz besondere Art und Weise. „Aber der Vater von Ashim hat doch den Elektroladen übernommen. Was meinst du, ob der mir einen Sonderpreis macht? Als Schulfreund seines Sohnes sozusagen?" Tommi lachte leise. „Du kannst Ashim ja mal darauf ansprechen. Vielleicht kann er was für dich tun." Der Schulweg der beiden Jungen führte an der Gaststätte „Zum Grünen Hof vorbei, einem beliebten Ausflugsziel der Gegend. Vor dem Lokal befand sich ein relativ großer Parkplatz, der genug Platz für die anfahrenden Autos bot. „Mensch!" meinte Tommi und blieb stehen, wobei er TH mit einer Hand an die Schulter griff. Seine Augen weiteten sich erstaunt, und sein Gesicht leuchtete vor 23
Begeisterung auf. „Sieh dir mal diesen Hammer an!" Er zeigte mit der ausgestreckten Hand auf eine schwarze Limousine mit dunkel getönten Scheiben, die auf dem Parkplatz abgestellt war. TH blickte in die entsprechende Richtung und entdeckte den Wagen, der in einem Ort wie Sommerberg sofort auffallen mußte. Allerdings wäre dieser Wagen auch in München aufgefallen. „Irre!" murmelte Tommi. „Der hat sich bestimmt verfahren und fragt jetzt nach dem Weg", erklärte TH, konnte aber seinen Blick nicht von dem Wagen lösen. Tommi war mittlerweile direkt auf das schwarze Auto zugegangen. Seine Augenbrauen rutschten erstaunt nach oben. „He!" sagte er. „Der hat ja ein Kennzeichen unseres Landkreises! Wer kann das bloß sein? Ich hab' den Wagen hier noch nie gesehen. Du etwa?" fragte er. TH schüttelte heftig den Kopf. „Nein, ich auch nicht. Ich wüßte auch niemanden, dem der Wagen gehören könnte." Er zögerte. „Moment mal, mein Vater hat mir da kürzlich erzählt, daß die Villa in der Burgstraße - du weißt doch, die, die so lange leer gestanden hat - verkauft worden sei. Er hat mir auch erzählt, wie der neue Besitzer heißt." Man sah ihm an, daß er krampfhaft nachdachte. „Wilmser", sagte er und verbesserte sich hastig: „Nein, Wormser, ja, Wormser. Soll irgend so ein Geschäftsmann aus Frankfurt sein. Oder was Ähnliches. Mein Vater wußte auch nicht genau, womit der Mann sein Geld verdient." „Na, ist ja auch egal. Aber ein toller Schlitten. Mit dem würde ich auch gern fahren.Wenn mich nicht alles täuscht, ist das ein Cadillac." TH zuckte mit den Schultern. Er war kein Autonarr, 24
aber dieser Wagen hätte selbst einen eingefleischten Autogegner aus der Fassung gebracht. „Weiß ich nicht, ich kenne mich mit Autos nicht aus. Und nun komm, ich muß nach Hause. Ich muß mir noch mein Essen warm machen und hab' einen Riesenhunger." „Wenn ich erwachsen bin, kaufe ich mir auch so einen tollen Schlitten", sagte Tommi bestimmt. „Und dann mit so einem Geschoß durch Sommerberg, das wird 'ne Schau!" Mit glänzenden Augen stand er da. TH nickte geduldig. „Sicher. Und nun komm. Ich interessiere mich nicht für Autos. Sind auch nicht gerade gut für die Umwelt." Was ihn nicht davon abhielt, den riesigen schwarzen Straßenkreuzer weiter mit bewundernden Blicken zu taxieren. Tommi zog eine Grimasse. „Du mit deiner Musik!" Nur widerwillig riß sich Tommi vom Anblick des großen Wagens los und folgte TH. „Wer so einen Wagen fährt, muß schon unheimlich viel Geld haben. Und dann noch die Villa. Die war doch bestimmt auch nicht gerade billig", sinnierte Tommi, während er neben seinem Freund in Richtung Pizzeria Mamma Gina trottete. Neben dem Lokal befand sich das Elektrogeschäft, das jetzt Ashims Eltern gehörte. Das Schaufenster war noch mit einem weißen Tuch verhängt, nur an der Scheibe waren Plakate mit der Aufschrift „Morgen Neueröffnung mit Superpreisen" angeklebt. Tommi sprang hoch, um über das obere Ende des Tuches sehen zu können, hatte aber keinen Erfolg, da er zu klein war. Er zuckte enttäuscht mit den Schultern und ging weiter. Vor der Tür der Pizzeria, die Tommis Eltern gehörte, trennten sich die beiden. TH legte nun einen Schritt zu, um schneller nach Hause zu kommen. 25
„Wir treffen uns um drei", konnte er noch Tommis Stimme hinter sich hören. Zustimmend hob er den rechten Arm, drehte sich aber nicht um.
Vertrauen gegen Vertrauen Der nächste Schultag verlief wie üblich. Die Schüler langweilten sich - und mehr als einer befand sich in Gedanken schon in den Sommerferien, die in einer Woche beginnen würden. Mehr als einmal mußte Herr Steiner seine Rasselbande zur Ordnung rufen. „Ich verstehe ja, daß ihr keine Lust mehr habt, vor den Ferien noch großartig zu arbeiten, aber ihr solltet an eure Zeugnisse denken", sagte er. „Es wird nicht gerade ein Spaß für einige von euch werden, wenn eure Eltern sie zu sehen bekommen. Also, Freunde, tun wir noch was." Er begleitete seine Worte mit einer auffordernden Geste, erntete aber nur ein paar müde Blicke. Und zumindest TH war sicher, daß auch Steiners Begeisterung nicht so echt war, wie er ihnen weiszumachen versuchte. Schließlich waren auch Lehrer nur Menschen - wenn ihm da auch manchmal so seine Zweifel kamen ... Aber auch dieser Vormittag ging schließlich vorüber, und dann folgte der Nachmittag, an dem das Geschäft von Herrn Özkul eröffnet werden sollte. Gemeinsam mit Milli und Schräubchen wartete TH vor der Pizzeria auf Tommi. Aber erst nachdem er einige Male gepfiffen hatte, ließ sich Tommi blicken. „Ja, ja, immer mit der Ruhe", sagte er ruppig. „Mein Vater hat natürlich wieder etwas gefunden, womit er mich bis zur letzten Minute beschäftigen konnte. Au26
ßerdem ist es fünf Minuten vor drei, und um drei hatten wir uns verabredet." Er sah demonstrativ auf die Armbanduhr und grinste, als TH die Augen verdrehte. „Also keine Panik, Leute!" In den Händen hielt er eine Tüte mit Chips. „Bedient euch!" Er hielt den anderen die geöffnete Tüte hin. „Du hast wohl immer Hunger, wie?" fragte Schräubchen - und griff zu. Auch die anderen bedienten sich ausgiebig. Sogar ein bißchen ausgiebiger, als Tommi lieb zu sein schien, seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen. „Immer - nur auf Pizza stehe ich nicht besonders", sagte er, während er die fast geleerte Tüte dicht unter sein Gesicht hielt und vorwurfsvoll abwechselnd hineinsah und die drei anderen anblickte. Schräubchen grinste und kaute Chips, daß es nur so krachte, während Tommi mit vorwurfsvollem Gesicht, aber schweigend, die letzten Krümel aus der Tüte holte. Dann gingen sie gemeinsam zu dem Haus, in dessen Erdgeschoß sich der Laden befand, der vorher dem alten Herrn Schneidereit gehört hatte. Der Mann war mittlerweile über Siebzig und froh, endlich jemanden gefunden zu haben, der alles ohne große Umstände übernommen hatte. Als die Pizza- Bande die wenigen Meter bis zu dem Geschäft hinter sich gebracht hatte, fragte Tommi: „Na, TH, hast du dein Erspartes schon mitgebracht?" „Nein", entgegnete TH. „Ich wollte mich erst mal umsehen, was der so zu bieten hat. Und dann kann ich ja weitersehen. Auf einen Tag mehr oder weniger kommt es auch nicht an." Fragend blickten die Mädchen zwischen den beiden Jungen hin und her. 27
Tommi lachte und erklärte ihnen, daß TH sich nun endlich dank der großzügigen Spende seiner Großmutter einen neuen Kassettenrecorder leisten könne und vorhabe, ihn in dem Laden der Familie Özkul zu erwerben. „Zum Freundschaftspreis, versteht sich", fügte er, immer noch lachend, hinzu. TH lachte mit und erklärte: „Und dann lade ich euch alle zum kostenlosen Mithören ein." Er wandte sich an Tommi. „Und du bringst die Cola mit!" Eine Sekunde lang starrte Tommi ihn nur aus großen Augen an, aber dann begannen Milli und Schräubchen wie auf ein geheimes Kommando hin zu lachen, und nach einer weiteren Sekunde stimmte auch Tommi darin ein - was blieb ihm auch anderes übrig? Noch immer kichernd und lachend betraten sie den Elektroladen. Sie alle kannten das Geschäft, denn jeder von ihnen war schon einmal hiergewesen: sei es, um Batterien zu kaufen, eine Ersatznadel für einen Plattenspieler, leere Tonbandkassetten ... die eine oder andere Kleinigkeit eben. Große Geräte wie Fernseher oder gar komplette Stereoanlagen hatte der frühere Besitzer kaum geführt. Wahrscheinlich kauften die Leute diese ohnehin lieber in einem großen Kaufhaus in der Stadt. Aber das Geschäft hatte sich völlig verändert, und TH, Tommi und die beiden Mädchen blieben überrascht stehen. Herr Özkul hatte es nicht dabei bewenden lassen, Fenster- und Türrahmen neu zu streichen und ein paar Girlanden aufzuhängen; nein, alles war frisch gestrichen, auf dem Boden lag ein nagelneuer Teppichboden, und unter der Decke brannten gleich vier große Neonlampen und tauchten den Laden in fast taghelles Licht. Während das Geschäft zur Zeit des alten Herrn Schneidereit einen düsteren Eindruck gemacht hatte, der die 28
Leute eher davon abhielt, hier etwas einzukaufen, ließen nun die hellen Wandfarben alles viel freundlicher erscheinen. An den Wänden waren helle Holzregale angebracht worden, auf denen verschiedene Elektrokleingeräte standen. Auf dem Boden befanden sich einige größere Geräte, und gleich neben der Tür, von einigen eigens dazu angebrachten Strahlern geschickt beleuchtet, thronte ein gewaltiger Stereo-Turm mit Boxen, die nicht viel kleiner als die Kühltruhe im Mamma Gina waren. Staunend sah sich Tommi weiter um. Auf der Theke stand ein Tablett mit einer Flasche Sekt, umringt von Gläsern. An den freien Wänden hingen bunte Poster, und hinter der Theke, auf der eine uralte, aber sorgsam restaurierte Kasse stand, befanden sich ebenfalls Regale. Hier waren Kabel, Stecker, Steckdosen und alles, was man in einem Elektrogeschäft kaufen konnte, untergebracht. Alles glänzte vor Sauberkeit. „Guten Tag, die Herrschaften!" Ein großer, dunkelhaariger Mann näherte sich den Kindern. „Womit kann ich dienen?" fragte er freundlich lächelnd und deutete eine Verbeugung an. An seiner Art zu reden und der Bewegung war nichts Spöttisches. Er schien zu jenen Tommis Meinung nach viel zu dünn gesäten - Erwachsenen zu gehören, die auch Kinder ernst nahmen. Daß es sich bei dem Mann um den Vater von Ashim handelte, war ganz offensichtlich. Die schwarzen Haare und die dunklen Augen hatte auch sein Sohn. Um Herrn Özkuls Augen hatte sich ein tiefes Netz aus kleinen Fältchen gebildet, die verrieten, daß er oft und gerne lachte; das gab ihm ein sehr sympathisches Aussehen. „Wir sind - ", begann Tommi, wurde aber sofort von Herrn Özkul unterbrochen: 29
„Ihr seid die Klassenkameraden von Ashim, stimmt's?" „Ja", antwortete TH überrascht. „Woran sieht man das?" „Es ist drei Uhr", antwortete Ashims Vater. „Außerdem seid ihr zu viert. Tommi, TH, Schräubchen und Milli - die Pizza-Bande, richtig?" Nicht nur TH sperrte vor lauter Staunen Mund und Augen auf. „Ashim spricht von nichts anderem mehr als von euch", sagte Herr Özkul, nachdem er sich einige Augenblicke lang sichtlich über ihr Staunen amüsiert hatte. „Er hat mir erzählt, was passiert ist - ungefähr zwanzig Mal. Und wenn ich der letzten Version glauben darf", fügte er augenzwinkernd hinzu, „dann müßt ihr ihm wohl das Leben gerettet haben." „Das ist übertrieben", sagte TH und wurde ein bißchen rot. „Sicher. Trotzdem freue ich mich, daß Ashim schon Freunde gefunden hat." Er legte den beiden Jungen die Arme auf die Schultern. „Tretet ruhig näher. Ashim kommt auch gleich. Er hilft nur kurz seiner Mutter. Ihr könnt euch gerne ein bißchen umsehen, während - " Im gleichen Moment tauchte Ashim in der Tür hinter der Theke auf. Ein erfreuter Ausdruck huschte über sein Gesicht, als er die vier erkannte. „Hallo, da seid ihr ja!" rief er aufgeräumt. Er wirkte viel aufgeschlossener als in der Schule, nicht mehr annähernd so schüchtern und wesentlich selbstbewußter. Und von irgendwelcher Angst war keine Spur mehr zu bemerken. Was ja auch verständlich ist, dachte Tommi. Hier befand er sich schließlich in heimischer Umgebung. Platzvorteil, sozusagen. „Ich würde vorschlagen", sagte Ashims Vater, „daß 30
du deine neuen Freunde zu einer Cola einlädst. - Ihr mögt doch Cola?" Fragend blickte er die vier Mitglieder der Pizza-Bande an. „Aber klar doch, immer", antwortete Tommi, der für alles Trink- und Eßbare immer und zu jeder Zeit zu haben war (wenn es sich nicht gerade um Pizza, handelte). „Gern", meinte Milli. TH nickte nur, und Schräubchen strahlte wie eine Glühbirne. Herr Özkul verschwand hinter einem Vorhang, kam aber schon ein paar Sekunden später zurück, in den Händen einige Dosen des beliebten Getränks. „Gläser stehen dort auf der Theke." Er machte eine entsprechende Kopfbewegung. Während sich die anderen bedienten, betrachtete TH die ausgestellte Ware und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Mit Ausnahme des Schaufensterglases und der vier Mauern ringsum hatte der Laden nichts mehr mit dem alten Elektrogeschäft zu tun. Das Angebot konnte spielend mit dem eines großen Ladens in der Stadt mithalten - bis auf einen Unterschied: Es gab keine Billigartikel. Soweit TH dies beurteilen konnte, schienen die Preise dennoch erfreulich niedrig zu sein, aber Geräte der Art, die mit Mühe und Not so lange hielten wie die erste Ladung Batterien, suchte er vergeblich. Vor einem Kassettenrecorder blieb er stehen. „Der könnte mir schon gefallen", murmelte er. Und dann in normaler Lautstärke und in die Richtung von Herrn Özkul: „Darf ich den mal sehen?" „Ja, natürlich", antwortete der. „Dafür sind die Geräte da. Und wenn sie den Leuten, die hier hoffentlich bald in Scharen hereinkommen werden, allzusehr gefallen, lasse ich mich sogar dazu überreden, sie ihnen 31
zu verkaufen." Er lächelte über seinen eigenen Scherz und kam näher. „Interessierst du dich dafür?" TH nickte. Herr Özkul nahm das Gerät aus dem Regal und stellte es auf den Ladentisch. Dann steckte er den Stecker ein und drückte auf den mit PLAY beschrifteten Knopf. Sofort erklang leise Musik. Er drehte an der Skala, erklärte dem Jungen dies und das und sah ihn dann abwartend an. „Zufrieden? In seiner Preislage der beste, den es im Moment gibt." „Das ... glaube ich gerne", antwortete TH. In bewußt beiläufigem Ton fuhr er fort: „Ich hatte eigentlich vor, mir einen Rekorder zu kaufen. Der käme schon in Betracht. Was kostet er denn?" Herr Özkul nannte den Betrag. TH wurde ein bißchen blaß. „Oh", sagte er. „Qualität hat ihren Preis", sagte Herr Özkul. „Aber ich würde dir natürlich einen Sonderrabatt geben, als neuem Freund von Ashim, sozusagen." Er lächelte. „Zweimal fünfundzwanzig Watt, plus Kopfhörer, plus Netzanschluß und allem, was sonst noch dazugehört." „Nun, ich... also ... " TH atmete tief durch und schien allen Mut zusammenzunehmen. „Wenn Sie mir zwanzig Mark nachlassen würden, reicht mein Geld. Mehr habe ich nämlich nicht zusammensparen können", fügte er hinzu. „Zwanzig Mark?" Herr Özkul runzelte die Stirn und sah plötzlich gar nicht mehr wie ein netter Mann aus, sondern eher wie ein zweihundert Jahre alter türkischer Derwisch. TH wich vorsichtshalber einen Schritt von der Theke zurück. „Zwanzig Mark?" vergewisserte sich Herr Özkul. „Nun ja", stammelte TH. „Ich wollte Sie nicht beleidigen. Ich dachte nur..." 32
„Zwanzig Mark Nachlaß, so, so", sagte Herr Özkul noch einmal. „Das ist mein Ruin, Fremdling! Dabei zahle ich drauf! Ich habe zwölf unmündige Frauen zu versorgen und ein Kind! Oder umgekehrt." „Was?" machte TH. „Habt Mitleid mit einem armen Händler!" fuhr Özkul fort, nun mit fast weinerlicher Stimme, aber noch immer blitzenden Augen. Tommi sah ihn aufmerksam an. Und dann fiel ihm etwas auf. Ashim war hinter seinen Vater getreten und musterte TH ebenso finster wie dieser - aber er hatte dabei alle Mühe, ein Grinsen zu unterdrücken. Und auch Schräubchen begann plötzlich zu kichern. „Z... zehn?" schlug TH schüchtern vor. „Oder nur fünf?" Herr Özkul seufzte tief und verdrehte in perfekt gespieltem Entsetzen die Augen. „Das ist mein Ruin", seufzte er. „Aber gut. Mein letztes Angebot: fünfundzwanzig Mark Rabatt und eine Kassette - als Eröffnungsgeschenk, für jeden von euch natürlich!" „Ich ... also ..." TH begann zu stottern - und dann konnten sich weder Ashim noch sein Vater länger beherrschen und platzten vor Lachen heraus. Und auch Tommi, Schräubchen und Milli kicherten und johlten, was das Zeug hielt. Nur TH blickte weiterhin verdattert von einem zum anderen und verstand offensichtlich gar nichts mehr. „Ja, wußtest du denn nicht, daß man auf einem türkischen Basar immer handeln muß?" fragte Ashim grinsend. „Du beleidigst den Händler, wenn du sein erstes Angebot annimmst." Und endlich kapierte auch TH. „Haha", maulte er. „Wirklich komisch. Aber ich lache später, ja?" Herr Özkul lachte noch ein wenig lauter. Die kleinen 33
Fältchen um seine Augen vertieften sich. Lächelnd griff er ins Regal hinter sich und nahm eine Kassette aus einem extra dafür vorgesehenen Ständer und legte sie neben den hellgrauen Rekorder. „Nun nimm schon." TH zögerte, griff dann aber doch zu - nach der Kassette, nicht nach dem Gerät. „Vielen Dank", sagte er. „Ich komme dann morgen früh mit dem Geld vorbei. Wenn Sie ihn so lange für mich zurücklegen könnten ...?" „Weißt du was?" sagte Herr Özkul, „du nimmst ihn schon heute mit, und morgen nach der Schule kommst du dann und bezahlst ihn. Oder gibst Ashim das Geld mit. Ich nehme doch nicht an, daß du mich betrügen wirst." „Sie ... Sie sind wirklich nett." TH wurde plötzlich verlegen. Betreten blickte er zu Boden. „Aber - " „Ist schon in Ordnung." Freundschaftlich legte Herr Özkul seine Hand auf Walthers Schulter. „Ich weiß, was du gedacht hast. Aber du kannst mein Angebot ruhig annehmen." „He, TH, komm her", rief Schräubchen in diesem Moment, „sonst sind die Dosen gleich leer!" „Ja, ich komme schon." Er ging hinüber zu den Freunden. Während sich alle nicht gerade sehr leise unterhielten, ging mit einem leichten Bimmeln die Tür auf. Ein großer, blonder Mann im Nadelstreifenanzug und mit einer dezenten, grauen Krawatte betrat den Laden. „Guten Tag", grüßte er freundlich. „Guten Tag", erwiderte Herr Özkul und trat auf den Fremden zu. „Kann ich Ihnen helfen?" „Ich hoffe es." Der Mann lächelte. „Ich habe in der vergangenen Woche das Haus an der Burgstraße gekauft, und nun benötige ich noch einige zusätzliche 34
Steckdosen. Sie führen doch auch Elektroarbeiten durch?" Während der Mann Herrn Özkul sein Anliegen vorbrachte, stieß Tommi TH den Ellbogen in die Rippen. Dann deutete er mit dem Kopf in Richtung des Kunden. „Das ist er", flüsterte Tommi. TH sah erst den Fremden, dann seinen Freund reichlich verständnislos an. „Wer?" „Der mit dem dicken Schlitten", antwortete Tommi. TH blickte abermals auf, nickte langsam und konzentrierte sich dann wieder auf seinen Kassettenrecorder, der ihn weitaus mehr zu interessieren schien als gewisse Fremde oder gar deren Autos. „Vielleicht könnten Sie mir die entsprechenden Kabel verlegen und die Steckdosen anbringen?" fragte der Kunde im gleichen Moment. „Es könnte eine Menge Arbeit werden. Sie wissen ja, wie das mit alten Häusern ist. Da funktioniert meistens gar nichts mehr." „Natürlich, mein Herr", antwortete Herr Özkul. Er lächelte. „Diese Art von Problemen kenne ich nur zu gut. Aber keine Sorge, das kriegen wir hin. Dafür sind wir ja schließlich da." „Aber es wäre eilig", antwortete der Fremde. „Ich möchte mir gerne einen Kaffee kochen können, ohne Angst haben zu müssen, daß mir das ganze Haus abbrennt." „Dann komme ich am besten sofort morgen", antwortete Ashims Vater. „Sagen wir, gleich um neun Uhr?" „In Ordnung." „Dann brauchte ich noch Ihren Namen und Ihre Adresse." „Wormser, Burgstraße siebzehn. Es handelt sich um die alte Villa. Sie werden sie schon finden. Man kann sie 35
überhaupt nicht verfehlen." Wormser griff in die Tasche. „Hier habe ich eine Liste von dem aufgestellt, was ich brauche." Er reichte Herrn Özkul den Zettel, den dieser nur flüchtig überflog und dann einsteckte. „Gut. Morgen früh also." Herr Özkul trat hinter die Theke, zog einen Block hervor und notierte den ersten Auftrag. „Vielen Dank", sagte Wormser. „Dann auf Wiedersehen! Und viel Erfolg für das neue Geschäft!" Und damit hatte er auch schon den Laden verlassen. Die Kinder sahen hinter ihm her. „Komischer Mensch. Aber nicht unübel", meinte Milli, die schon von klein auf eine Vorliebe für große Männer hatte. Und Wormser war wirklich groß. „Mensch, der muß ja Geld wie Heu haben!", fügte Schräubchen hinzu. Ihre Augen wurden groß. „Seht mal, in was für einen Schlitten der einsteigt!" „Ja", sagte Tommi, „den Wagen haben wir schon gestern gesehen. Toll, nicht wahr!" Seine Stimme klang so stolz, als wäre es sein Wagen. „Super!" Schräubchens Augen glänzten. Wahrscheinlich hatte sie als Tochter eines Automechanikers die Vorliebe für Autos in die Wiege gelegt bekommen. Auch Milli nickte anerkennend, während THs Augen vor Begeisterung zu leuchten begannen - allerdings für den Rekorder, nicht für das Auto, das er wahrscheinlich gar nicht bemerkte. Durch die große Fensterscheibe beobachteten sie, wie der schwere Wagen langsam anfuhr und dann hinter der nächsten Biegung verschwand. Dann wandten sie sich wieder ihrer Cola zu. „Also, ich gehe jetzt nach Hause", erklärte TH. Tommi grinste. „Ja, ja, ich verstehe schon! Du mußt das neue Ding ausprobieren, stimmt's? Da gibt es 36
keinen Halt mehr." Tommi lachte. „Du und dein ewiges Gedudel. Also, wenn ich dein Vater wäre - " „Bist du aber nicht. Und jetzt kann ich so lange hören, wie ich will. Schließlich hat das Ding Kopfhörer! Und damit nicht genug, ich kann auch Musik hören, wo ich will." Stolz griff er nach dem Karton, in den Herr Özkul das Gerät verstaut hatte. „Morgen bekommst du dann den Garantieschein", erklärte Herr Özkul und half dem Jungen, sich den Karton unter den Arm zu klemmen. „Die versprochene Kassette befindet sich ebenfalls im Karton", fügte er lächelnd hinzu. „ACDC - ich hoffe, du magst die Gruppe." „ACDC? Mensch, super!" sagte TH begeistert. „Woher wußten Sie, daß ich mir die sowieso kaufen wollte?" „Ich bin Gedankenleser, hat Ashim das nicht erzählt?" Er lachte. An der Tür blieb TH noch einmal stehen. „Viel Spaß noch. Dann bis morgen." „Danke, ebenso." Aber das hörte TH schon nicht mehr. Er war aus dem Laden und bereits auf der anderen Straßenseite, noch ehe die Tür ins Schloß fiel.
Denkste! „Geschafft!" TH warf die Reste der Styropor-Verpackung schwungvoll in den Karton und stellte seine neue Errungenschaft auf die rechte Seite seines Schreibtischs. Er brachte den Karton hinaus in die Mülltonne und konnte gar nicht schnell genug zurück 37
in sein Zimmer kommen. Kurz darauf war der Stecker in der entsprechenden Steckdose verankert, und TH legte die neue Kassette ein. Dann startete er den Recorder und erhöhte die Lautstärke. Sofort erfüllte Rockmusik den Raum. Für die nächsten zehn, zwanzig Minuten tat TH nichts anderes als dazusitzen und Musik zu hören, in einer Qualität, die mit seinem bisherigen Uralt-Gerät nicht einmal vorstellbar gewesen wäre. Schließlich war die erste Seite des Bandes abgelaufen. TH wollte die Kassette herausnehmen und umdrehen - und zog mit einem Pfiff die Augenbrauen hoch, als er sah, wie der Motor des Recorders automatisch in eine andere Richtung schaltete und nun die Rückseite abspielte. Ohne daß er das Gerät auch nur anzurühren brauchte. „Mensch, ist das ein Ding!" sagte er fassungslos. „Super!" Die ersten Töne von This Means War von ACDC drangen aus den Lautsprechern des Recorders. Dann ein zuerst noch leises, dann stärker und stärker werdendes Kratzen und Quietschen, und schließlich ein lautes „Klick" - und die Musik verstummte. TH runzelte die Stirn, musterte den Recorder einen Moment lang verdutzt und zuckte schließlich mit den Schultern. Er war alarmiert, aber nur ein bißchen. Schließlich war der Apparat nagelneu. Vielleicht hatte er nur die Kassette nicht richtig eingelegt. Er wechselte sie gegen eine andere aus und versuchte es erneut. Diesmal gab der Recorder ein herzzerreißendes Jaulen von sich, und TH konnte sehen, wie sich das Band aufzuwickeln begann. Hastig - und wirklich in der allerletzten Sekunde, um seine kostbare Bandaufnahme zu retten! - schaltete er den Recorder ab und 38
begann, das Gerät genauer zu untersuchen. Aber er konnte nichts finden. Seinen Vater konnte er auch nicht fragen, denn der mußte heute länger arbeiten und hatte erklärt, nicht vor dem späten Abend zurück zu sein. Irgendein wichtiger Besuch hatte sich in der Computerabteilung der Keksfabrik, in der sein Vater arbeitete, angekündigt. TH nahm noch einmal die Bedienungsanleitung des Geräts in die Hand und begann erneut nachzulesen. Aber soweit er feststellen konnte, hatte er alles richtig gemacht. Er ging zu seinem Schrank und nahm eine weitere Kassette heraus - vorsichtshalber eine, auf die er unter Umständen verzichten konnte. Vielleicht lag es doch daran. Möglicherweise war die Kassette, die ihm Herr Özkul geschenkt hatte, nicht in Ordnung. „Also auf ein Neues", dachte er und schaltete das Gerät noch einmal ein. Diesmal lief alles gut an, aber genau wie vorher waren mit einem Mal die Störgeräusche zu hören, dann ein „Klick" und Schluß. Mist! dachte TH. Wenn ich mich schon mal über etwas freue ... Wird mir wohl nichts anderes übrigbleiben, als den morgen wieder zurückzubringen. Herr Özkul wird den Fehler schon finden. Er war gerade im Begriff, hinauszugehen und sich in die Tiefen des Müllcontainers hinabzuwagen, in den er den Karton etwas voreilig versenkt hatte, da klingelte es. Er ging zur Tür, und als er öffnete, stand Schräubchen draußen. „Hallo, TH", sagte sie. „Ich wollte dich nicht beim Genuß deines neuen Supersounds stören, aber du hattest mir versprochen, mir dein neues Buch zu leihen. Und da dachte ich, ich könnte es gleich heute haben." 39
„Von wegen Supersound", brummte TH und schloß die Tür, als Schräubchen mit ihm ins Zimmer gegangen war. „Hat sich was mit Supersound. Das verflixte Ding funktioniert nicht. Es läuft zwar gut an, aber dann macht es klick - und aus." „Sonst nichts?" fragte Schräubchen überrascht. THs Gesicht verdüsterte sich noch weiter. „Doch", sagte er. „Zwischendurch produziert es Bandsalat." „Hast du denn alles nach Anweisung gemacht?" „Was denkst denn du", entgegnete TH säuerlich. „Ich kann doch damit umgehen. Das solltest du langsam wissen." „Natürlich - aber vielleicht hast du irgendwas falsch angeschlossen?" „Da gibt es nichts falsch anzuschließen", sagte TH wütend. Schräubchen fuhr ein wenig zusammen, und TH rief sich in Gedanken zur Ordnung. Schließlich konnte Schräubchen nun wirklich nichts dafür. Es war zwar unwahrscheinlich, aber immerhin möglich, daß er tatsächlich etwas falsch gemacht hatte. Und außerdem war es noch eine letzte klitzekleine Hoffnung, die drohende Riesenenttäuschung abzuwenden. Er lächelte entschuldigend, nahm das Kabel in die Hand und zeigte Schräubchen, wie er die Verbindung herstellte, um das Gerät mit Strom zu versorgen. Dann drückte er auf die Einschalttaste. Wieder geschah das gleiche wie schon vorher. Dann sprang die Kassette heraus. Mit völlig zerknittertem Band. „Das verstehe ich auch nicht", meinte Schräubchen. „Wird wohl das beste sein, wenn ich das Gerät morgen zurückbringe", sagte TH enttäuscht. Er blickte auf die Uhr. „Heute ist es ja schon zu spät." 40
„Sicher." Schräubchen nickte. „Herr Özkul wird schon den Fehler finden. Aber ich muß jetzt nach Hause. Gibst du mir noch das Buch?" „Klar, es ist einfach toll." Da TH kein sehr ordentlicherjunge war, brauchte er einige Zeit, um das Buch zu finden. Schließlich entdeckte er es unter einem Stapel von Radio- und Stereoprospekten. Er gab es dem Mädchen. „So, dann bis morgen. Und viel Glück mit deinem Recorder." „Ja, danke. Ich gehe noch mit dir raus und hole den Karton aus der Mülltonne." Er hielt Schräubchen die Tür auf, und gemeinsam verließen sie das Haus. Dann blieb er stehen und wartete, daß Schräubchen ging. Aber natürlich tat sie das nicht. Sie lächelte ihn an und sah hocherfreut zu, wie er in den Müllcontainer hinabkletterte und fluchend nach dem Karton suchte.
Eis hilft immer Als TH am nächsten Nachmittag das Elektrogeschäft betrat, stand Herr Özkul hinter dem Ladentisch und bediente gerade eine junge Frau, die sich anscheinend für einen Walkman interessierte. Offenbar hatte sie an dem kleinen Abspielgerät einen Fehler entdeckt, denn TH hörte sie sagen: „Sehen Sie mal, hier ist aber ein großer Kratzer. Haben Sie den Walkman noch einmal da?" „Natürlich." Herr Özkul griff ins Regal hinter sich und holte einen anderen kleinen Karton hervor. Er packte das Gerät aus und begutachtete es sehr gründ41
lieh. „Der scheint in Ordnung zu sein. Bitte entschuldigen Sie." Er legte eine Kassette ein und schaltete auf Kopfhörer um. Dann reichte er der Frau das Gerät. Während sie gebannt auf die - für TH unhörbare - Musik lauschte und ein durchaus zufriedenes Gesicht machte, lächelte Herr Özkul TH grüßend zu und machte eine Geste, sich einen Moment zu gedulden. „Gut", sagte die junge Frau nach einer Weile, „den nehme ich." Sie bezahlte und verließ den Laden. „Hallo, Walther", sagte Herr Özkul. „Irgendwelche Probleme?" Er zeigte auf den Karton, den der Junge auf der Theke abgestellt hatte, und machte ein fragendes Gesicht. „Er läuft nicht richtig", erklärte TH. „So? Was hat er denn?" TH erklärte mit wenigen Worten, was mit dem Recorder nicht stimmte. „Ich habe ihn genau nach Anleitung angeschlossen", sagte er. „Ein bißchen kenne ich mich auch damit aus, ich habe schließlich zu Hause eine Stereoanlage. Aber er lief, dann ein Klick und kein Saft mehr. So, als würde das Band bis zu einer bestimmten Stelle laufen und hätte dann einfach keine Lust mehr. Die Kassette springt dann heraus. Oder geht kaputt." Herr Özkul hörte dem Jungen aufmerksam zu und dachte nach. „Seltsam", sagte er. „Aber weißt du was? Ich kann dir jetzt auch nicht sagen, woran das liegt. Aber komm doch - sagen wir - in einer Stunde wieder, dann weiß ich mehr. Eigentlich müßte der Apparat in Ordnung sein, du hast doch selbst gesehen, daß er noch originalverpackt war." „Sicher, aber vielleicht ist nur ein Kabel im Innenteil 42
lose oder so. Ich komme also nachher wieder." Der Gedanke, den Recorder, auf den er sich schließlich lange genug gefreut hatte, einfach hierzulassen, behagte TH ganz und gar nicht. Aber er sah ein, daß er keine andere Wahl hatte. „Gut. Bis später dann." Enttäuscht verließ TH den Laden. Da er nichts mit sich anzufangen wußte, entschloß er sich, solange zu Tommi zu gehen - für eine Stunde, keinen Augenblick länger. Als er durch den hinteren Eingang die Küche der Pizzeria betrat, stand Mamma Gina gerade am Tisch und nahm einen Kopf Salat auseinander. „Hallo, Walther", sagte sie. „Tommi ist nicht da. Er ist mit seinem Vater zum Einkaufen gegangen." „Macht nichts. Ich wollte auch nichts Bestimmtes", antwortete TH. Mamma Gina hörte auf, den Salatkopf auseinanderzurupfen, und sah ihn stirnrunzelnd an. „Was ist denn los?" fragte sie. „Du machst so einen bedrückten Eindruck? Ist dir irgendeine Laus über die Leber gelaufen?" TH erzählte ihr von seinen Problemen mit dem neuen Kassettenrecorder und davon, daß er in einer Stunde wieder zu Herrn Özkul kommen solle. Tommis Mutter hörte ihm schweigend zu, aber ihr Gesichtausdruck verriet, daß sie seine Gefühle sehr gut nachempfinden konnte. „Na ja, setz dich mal hin", sagte sie freundlich, als er fertig war. „Ich werde dir ein Eis spendieren, auf den Schrecken hin. Dann geht die Zeit auch viel schneller rum." Sie ging zum Kühlschrank und füllte eine kleine Schüssel mit köstlich aussehendem Vanilleeis. „Danke", sagte TH, als sie die Schüssel vor ihn hinstellte. 43
Während Mamma Gina weiter mit dem Salat herumhantierte, sagte sie: „Dieser Herr Özkul ist sehr nett, nicht wahr? Auch seine Frau." „Hm", machte TH - einerseits, weil er den Mund voller Eis hatte und gar nicht antworten konnte, andererseits, weil sich seine Begeisterung für Ashims Vater im Moment in Grenzen hielt. Natürlich wußte er, daß Herr Özkul nichts dafür konnte - schließlich kaufte er die Geräte ja auch nur ein -, aber die Enttäuschung war einfach zu groß. Er hatte sich wochenlang auf den Recorder gefreut, und dann das! „Diese Leute haben es nicht immer leicht gehabt", fuhr Mamma Gina fort, ohne seine Reaktion auch nur zu bemerken. „Ich kann es gut nachempfinden, was es heißt, als Fremder in einem anderen Land zu sein." Nachdenklich schälte sie eine große Zwiebel. „Ja, er ist wirklich nett", sagte TH schließlich - und zu einem Gutteil aus seinem schlechtem Gewissen heraus. Was er über Ashims Vater gedacht hatte, war wirklich ungerecht. „Und so großzügig." Er erzählte ihr, daß er den Recorder schon hatte mitnehmen dürfen, ohne ihn zu bezahlen. „Auch Ashim ist prima, wir mögen ihn alle. Und wir werden versuchen, ihm zu helfen, sich hier zurechtzufinden." „Das ist nett von euch", sagte Mamma Gina. Ein sonderbarer Ausdruck trat auf ihr gutmütiges Gesicht. „Manchmal wünsche ich mir, wir hätten Freunde wie dich und die anderen gehabt, als wir hierhergekommen sind." „Wenn dieser Werner wieder mal den Mund aufreißt und Ashim beschimpft, werde ich ihm ... äh, die Meinung sagen", sagte TH. Er hatte die Hand zur Faust geballt. Dann löffelte er den Rest Eis aus der Schüssel. „Wir haben ihn übrigens eingeladen, am Samstag an 44
unserer Radtour die Wümme entlang teilzunehmen." „Das ist aber lieb von euch. Ich habe ja immer gesagt, ihr seid gute Kinder." Mamma Gina liebte Kinder und hatte es immer bedauert, nur einen Sohn und eine Tochter zu haben. Ihrer Meinung nach gehörten viele Kinder in eine Familie. „So", sagte TH und stand auf, „ich gehe jetzt noch mal rüber. Vielen Dank für das Eis. Es war super." Er verließ die Küche, nicht ohne Mamma Gina noch einmal zuzuwinken. Die Stunde, von der Herr Özkul gesprochen hatte, war noch lange nicht vorbei, als TH in den Laden zurückkam - aber TH schien trotzdem schon erwartet zu werden. Herr Özkul sah nicht besonders zufrieden aus. „Nun?" fragte TH. „Tja, Walther ..." Herr Özkul schüttelte bedauernd den Kopf. „Es tut mir sehr leid, aber ich kann den Fehler nicht finden. Ich habe das ganze Gerät auseinandergenommen und gereinigt, aber irgendwie komme ich damit nicht klar." „Oh", sagte TH enttäuscht. „Das ist... schade." „Ich mache dir einen Vorschlag", sagte Herr Özkul, denn THs Enttäuschung war ihm keineswegs entgangen. „Normalerweise solltest du den Apparat ans Werk zurückschicken, aber ich muß morgen sowieso dorthin." Das Werk lag nur etwa fünfzig Kilometer von Sommerberg entfernt. „Es gibt ein paar Dinge, die ich dort erledigen muß. Ich werde den Apparat mitnehmen und mit dem zuständigen Mann darüber reden. Dann können wir weitersehen." „Aber ich muß ihn noch bezahlen, und - " „Darüber zerbrich dir im Moment nicht den Kopf. Ich möchte selbst erst einmal wissen, was damit los ist. 45
Es läßt mir auch keine Ruhe. Das Gerät war doch originalverpackt, hier ist noch der Garantieschein, siehst du. Es wird wohl besser sein, bis morgen zu warten." „Sicher, aber-" „Und morgen am späten Nachmittag kommst du noch einmal vorbei. Das Geschäft ist zwar geschlossen, aber du weißt ja, wo wir wohnen." „Gut. Und vielen Dank auch. Dann bis morgen." TH tat das einzige, was ihm übrig blieb - er nickte dankbar, drehte sich um und schlurfte niedergeschlagen zur Tür.
Eine Fahrt ins Blaue Am nächsten Mittag trafen sich die vier von der PizzaBande mit Ashim wie verabredet im Hinterzimmer der Pizzeria, und nur einige Minuten später fuhren sie schon hintereinander die Wümme entlang. Der Fluß schlängelt sich zuerst ein Stück durch Sommerberg, dann durch freie Felder und Wälder in größeren und kleineren Biegungen bis zum nächsten großen Strom, in den er schließlich mündet. Nachdem sie einige Kilometer eifrig strampelnd hinter sich gebracht hatten, rief Schräubchen, die für ihr Leben gern Rad fuhr (trotzdem aber immer die letzte war): „He, ihr da vorn, wie war's mit einer kurzen Pause? Da vorn ist ein hübsches Plätzchen, ich war schon mal dort." Sie erreichten ein schönes Stück Wiese, direkt am Ufer der Wümme. Ihre Räder legten sie ins Gras. Dann holte Milli, die praktisch veranlagt war, eine große Decke aus dem Korb ihres Rades und breitete sie aus. 46
Wie immer hatte jeder von ihnen etwas mitgebracht, für den Proviant war also gesorgt. Selbst Ashim zauberte etwas aus seiner Satteltasche, obwohl ihm niemand etwas gesagt hatte und er eigentlich nichts von den Sitten und Gebräuchen der Pizza-Bande wissen konnte. Bald hatten sie es sich auf der weichen Decke gemütlich gemacht und plapperten, genüßlich kauend, wild durcheinander. Obwohl sie sich erst gestern gesehen hatten, wußte doch jeder etwas Neues zu erzählen. Als TH von seinem Recorder sprach, meinte Ashim: „Mein Vater war heute morgen in Wingerfelden. Bei dem Werk, ihr wißt schon." „Und?" fragte TH hoffnungsvoll. Ashirn zog eine Grimasse. „Na, der war vielleicht sauer, als er zurückkam. Ich bin dann gleich weg, weil wir uns ja treffen wollten. Ich weiß zwar nicht, warum er so sauer war, aber da muß irgendwas vorgefallen sein, das ihm gar nicht gefallen hat. Na ja, er wird es mir heute abend erzählen." „Und der Recorder?" fragte TH leise. Ashim zuckte nur mit den Schultern. „Ich habe ihn vorsichtshalber nicht danach gefragt. Aber es scheint irgend etwas damit zu tun zu haben", fügte er hinzu. „Wieso?" „Weil er ihn wieder mitgebracht hat", antwortete Ashim. „Mit einem Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. Ich hatte das Gefühl, daß er das Ding am liebsten an die Wand geknallt hätte." Das wiederum konnte TH nur zu gut verstehen. „Ich komme nachher noch mit zu euch", sagte er. „Dein Vater hat extra gesagt, ich solle heute noch mal vorbeikommen." „In Ordnung. Dann zeige ich dir mal meine Stereoanlage", entgegnete Ashim stolz - und schon waren die 47
beiden in ein tiefgreifendes Gespräch über Musikanlagen vertieft. Die anderen sahen lächelnd zu, wie die beiden mit Händen und Füßen von dieser oder jener Anlage und von ihren geheimsten Wünschen und Träumen sprachen. Dann sagte Tommi: „Also, ich schlage vor, wir fahren noch bis Burg Drachenstein und kehren dann um. Ich habe meiner Mutter versprochen, ihr noch beim Vorbereiten der Abendessen zu helfen." „Ich muß dann auch nach Hause", warf Milli ein. „Wir haben Besuch aus der Stadt, und da mußte ich meiner Mutter hoch und heilig versprechen, nicht zu spät zu kommen." Auch die anderen stimmten zu. Gemeinsam packten sie ihre Sachen zusammen. Kurze Zeit später fuhren sie wieder auf der asphaltierten Straße hintereinander her. Diesmal hatte TH sein kleines Kofferradio, das er am Lenker befestigt hatte, eingeschaltet, und bald fielen alle pfeifend in die flotte Musik ein. Als sie die Burg erreicht hatten, erzählten die vier von der Pizza-Bande Ashim ihr Abenteuer mit dem angeblichen Geist - nacheinander und gleich mehrmals, wobei sie die Geschichte jedesmal ein wenig bunter ausmalten, ohne sich dabei allerdings allzusehr von der Wahrheit zu entfernen. Schließlich kommt es immer auf den Standpunkt an, von dem aus man eine Geschichte erzählt... Ashim hörte ihnen mit offenem Mund zu und blickte dabei mit ungläubigem Gesichtsausdruck von einem zum anderen. „Ist das wirklich wahr? Ihr habt die Täter überführt?" fragte er schließlich. In seinen Augen stand unverhohlene Bewunderung - und auch ein Hauch von Neid. 48
„Kein Problem", sagte Tommi großspurig. „Da haben wir schon andere Nüsse geknackt." „Ganz andere", pflichtete ihm TH bei. „Diese angeblichen Geister waren doch gar nichts", sagte Milli. „Überhaupt nichts", sagte Schräubchen. Ashim kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. „Wir könnten dir da Sachen erzählen ...", sagte Schräubchen. „Beim nächsten Mal", unterbrach TH sie. Tommi warf ihm einen raschen, beinahe dankbaren Blick zu. Wenn Schräubchen einmal anfing zu erzählen, dann fand sie meistens so schnell kein Ende. Ashim schien ein bißchen enttäuscht zu sein, und deshalb fügte TH rasch hinzu: „Jetzt fahren wir besser in Richtung Heimat. Ihr habt ja schließlich alle noch was vor." Er seufzte. „Ich darf heute abend ganz allein zu Hause sitzen. Mein Vater ist bei einem Geschäftsessen, und mein Recorder ist kaputt..." „Du kommst mit zu uns", sagte Ashim bestimmt. „Meine Eltern haben bestimmt nichts dagegen, wenn du bei mir wartest, bis dein Vater nach Hause kommt. Ich zeige dir meine Anlage, und - " „Schon gut", unterbrach ihn TH. Ashims etwas überdeutlich zur Schau gestelltes Mitleid war ihm fast peinlich, auch wenn er wußte, daß er es nur gut meinte. Trotzdem sagte er: „Klar komme ich mit zu euch. Ich will ja schließlich wissen, was mit dem Apparat los ist." Hinter einer Kurve trat Tommi, der an der Spitze fuhr, plötzlich voll in die Bremse. Es hätte nicht viel gefehlt, und die anderen wären ihm ins Hinterrad gesaust. TH und Ashim wichen mit einer fast eleganten Schlenkerbewegung aus, während Milli sich im Sattel aufrichtete und mit aller Kraft den Rücktritt betätigte. 49
Schräubchen stieß einen kleinen Schrei aus und brachte ihr Rad zwei Millimeter vor Millis Waden zum Stehen. Tommi schien von der Beinahe-Katastrophe, die er ausgelöste hatte, gar nichts zu bemerken. „Mensch, TH, sieh mal, was da steht!" rief er aufgeregt. Mit ausgestreckter Hand deutete er auf einen dunklen Wagen, der halb auf der Straße, halb auf der Wiese stand. „Was ist da?" fragte Ashim und betrachtete abwechselnd Tommi und sein Vorderrad, als hätte er Angst, die Notbremsung könne dem Profil geschadet haben. „Der Cadillac! Was macht der denn hier?" fragte Tommi und blickte neugierig in das Innere des Wagens. Vom Besitzer war weit und breit keine Spur zu sehen. „Vielleicht eine Panne?" Schräubchen blickte nachdenklich auf die Motorhaube des riesigen amerikanischen Straßenkreuzers. TH hatte sein Fahrrad auf die Wiese neben der Straße gelegt und blickte ebenfalls neugierig ins Innere der Luxuslimousine. „Was hat denn der da für Pakete auf der Rückbank liegen?" Er zeigte auf einige Kartons, die ordentlich auf den Rücksitzen aufgestapelt waren. Sie waren unterschiedlich groß, aber durch das hellbraune Packpapier war nicht zu erkennen, was sich darin befand. Anscheinend war alles ursprünglich mit einer karierten Wolldecke zugedeckt gewesen, aber sie war heruntergerutscht und gab somit den Blick auf die Ladung frei. Eigentlich sei an dem Anblick nichts Ungewöhnliches, dachte Tommi - sah man einmal von der Tatsache ab, daß es schon etwas seltsam war, wenn jemand einen Wagen wie diesen als Kleintransporter benutzte. Und trotzdem ... irgend etwas stimmte nicht. Es war, als hörte Tommi das Schrillen einer Alarmglocke, tief drinnen in sich, aber doch eine Spur zu laut, um es zu 50
ignorieren. Und ein Blick in THs Gesicht sagte ihm, daß es zumindest Walther genauso erging. Die Kinder gingen um den Wagen herum, konnten aber sonst nichts Auffälliges entdecken. Milli probierte aus, ob sich die Türen öffnen ließen, hatte aber keinen Erfolg. Von Wormser war nichts zu entdecken. Auch Schräubchens Verdacht, daß Herr Wormser „mal in die Büsche mußte", bestätigte sich nicht. Nachdem sie sich einige Minuten vergeblich umgesehen hatten, stiegen sie wieder auf ihre Räder und machten sich endgültig auf den Heimweg. An der Kreuzung verabschiedeten sich Milli und Schräubchen, die in eine andere Richtung fahren mußten. TH, Ashim und Tommi blieben bis zur Pizzeria zusammen, wo Tommi dann vom Rad stieg und den beiden noch einen schönen Abend wünschte. „Du mußt wirklich schon nach Hause?" fragte TH enttäuscht. Eigentlich hatte er keine besondere Lust, mit zu Ashim zu gehen. Selbst dessen Einladung heiterte ihn nicht besonders auf - im Gegenteil. Die Vorstellung, sich Ashims Stereoanlage anzusehen und deren sicherlich phantastischem Klang zu lauschen, während sein eigener Recorder kaputt war, deprimierte ihn eher. Tommi zuckte bedauernd die Schultern. „Tut mir ja leid", sagte er. „Ich habe auch keine Lust, aber ich habe es meiner Mutter doch versprochen. Luigi, der Kellner, ist heute bei einer Hochzeit, und Nele hat auch etwas vor. Also, wer bleibt übrig, um die ganze Arbeit zu machen? Ich. Also dann, Leute ..." Vor sich hinbrummend, schob er widerwillig sein Rad zum hinteren Teil des Hauses. Und nach einer weiteren Sekunde stieg auch TH vom Rad und drehte sich zu Ashim um. Er versuchte wenigstens zu lächeln. 51
Ein leiser Verdacht Schon als die beiden Jungen die Wohnung betraten, konnten sie Fetzen einer lautstarken Diskussion hören um nicht zu sagen: eines Streites. TH konnte zwar kein Wort verstehen, da Ashims Eltern natürlich türkisch sprachen, aber allein die Lautstärke und der gereizte Ton verrieten genug. Ein wenig verlegen blieb er stehen und wollte am liebsten sofort wieder gehen. Nach allen Enttäuschungen auch noch in einen handfesten Familienkrach hineinzuplatzen, war so ziemlich das letzte, was er sich wünschte - ganz davon abgesehen, wie peinlich die Situation nicht nur für ihn gewesen wäre. Aber Ashim hielt ihn zurück. „Bleib hier", sagte er. „Das klingt schlimmer, als es ist. Ich habe dir doch gesagt, daß mein Vater Ärger hatte." „Sicher?" fragte TH zögernd, während er nervös zu der Tür blickte, durch die die Stimmen drangen. „Ganz sicher", erklärte Ashim. „Ich muß das schließlich wissen, oder?" Gemeinsam betraten sie das Wohnzimmer. Ashims Vater, der aufgeregt im Zimmer hin und her gelaufen war, blieb mitten in einem Schritt stehen und sah TH und seinen Sohn irritiert - aber auch fast ein bißchen zornig, was TH keineswegs entging - an. Dann lächelte er, aber es wirkte jetzt automatisch und nicht mehr halb so echt und herzlich wie gestern. Auf dem Sofa saß Frau Özkul, der TH heute zum ersten Mal begegnete. Sie stand auf und kam mit ausgestreckter Hand auf TH zu. Auch ihr Gesicht wirkte ernst, aber ihr Lächeln und die Freude in ihrem Blick waren echt. „Hallo!" sagte sie. „Du bist bestimmt Walther. Mein Sohn hat von dir erzählt, und dieser 52
Mann, der da steht und herumschreit", sie deutete mit feinem Spott auf ihren Mann, „hat gesagt, daß du noch vorbeikommen würdest." TH lächelte pflichtschuldig. Er hätte sich ohrfeigen können, nicht seiner Eingebung gefolgt und auf dem Absatz kehrtgemacht zu haben. Die Spannung, die im Raum lag, war fast fühlbar. Sie waren nicht nur beinahe in einen Streit hineingeplatzt, dachte er, sondern unmittelbar. Vielleicht lag es nur an Ashims Mutter, daß er jetzt nicht doch ging. Genau wie Hefr Özkul war auch dessen Frau TH auf Anhieb sympathisch. „Setz dich", sagte sie, „das Abendessen ist gleich fertig. Du ißt doch mit uns, oder?" „Ich weiß nicht... " TH zögerte. Er erhielt einen Stoß von Ashims Ellenbogen und verbesserte sich hastig: „Vielleicht doch. Ich meine ..." „Natürlich ißt er mit", sagte Ashim und schob TH einfach zum Sofa. Auch Herr Özkul setzte sich, während seine Frau in die Küche ging. „Was ist denn los?" fragte Ashim seinen Vater auf deutsch, wahrscheinlich, damit TH verstehen konnte, was sie redeten. „Warum regst du dich so auf? War irgendwas im Werk?" Sein Vater saß einfach da und starrte ins Leere, als hätte er die Frage gar nicht gehört. Sein Gesicht war vor Ärger gerötet, und in seinen Augen loderte ein Zorn, der TH schaudern ließ. So nett und sympathisch er Ashims Vater immer noch fand - er zog es vor, ihm nicht zu begegnen, wenn er wirklich wütend war. „Vater, was war los?" fragte Ashim noch einmal. Endlich hob Herr Özkul den Kopf und sah die 53
beiden Jungen an. „Es gibt Ärger", sagte er. „Großen Ärger." „Wegen des Recorders?" fragte TH. Die Situation wurde ihm immer unangenehmer. Irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, mitschuldig an dem zu sein, was passiert war - obwohl er noch immer nicht wußte, was das überhaupt sein mochte. „Machen sie Schwierigkeiten wegen der Garantie?" fuhr er fort, als Herr Ozkul nicht antwortete. „Ich meine, ich... ich kann auch ein anderes Modell nehmen, wenn dieses nicht mehr - " „Ich soll gestohlene Ware verkauft haben", sagte Ashims Vater plötzlich laut. TH verstummte mitten im Satz, und Ashim starrte seinen Vater entsetzt an. „Was ?!" keuchte er. „Gestohlene Ware?" wiederholte TH ungläubig. Im ersten Moment hatte er das Gefühl, einfach loslachen zu müssen. Aber ein Blick in Ashims Gesicht überzeugte ihn davon, daß es besser war, das jetzt nicht zu tun. So albern dieser Verdacht klang - er war ungeheuerlich. „Aber wieso denn?" murmelte er. „Sie haben doch erst gestern das Geschäft eröffnet - ich ... ich meine ... was für gestohlene Ware?" Verwirrt blickte TH zwischen Herrn Özkul und Ashim hin und her. „Ich werde versuchen, es euch zu erklären." Herr Ozkul lehnte sich in seinem Sessel zurück und atmete tief durch. Mit einem Male kam er TH um mindestens zehn Jahre älter vor als noch vor ein paar Minuten. „Also, ich war doch heute morgen in Wingerfelden bei der Elektro AG. Ihr wißt schon." Ashim und TH nickten, sagten aber nichts. „Ich mußte dort ein paar Dinge erledigen - neue Lieferbedingungen, Rabatte und so weiter. Deshalb habe ich auch deinen Recorder gleich mitgenommen, anstatt 54
ihn erst hinzuschicken." Er blickte zu TH. „Ich habe also dem zuständigen Mann den Fehler erklärt und ihm das Gerät gegeben. Und dann hat er gesagt, er werde auf der Liste nachsehen, aus welcher Produktion das Gerät stammt. Die haben dort so eine Liste, auf denen alle Geräte, die sie produziert haben, aufgeführt sind. Und ist dann mit dem Recorder aus dem Zimmer gegangen." „Und?" fragte TH, als Herr Özkul nicht sofort weitersprach, sondern wieder aus zornerfüllten Augen ins Leere starrte. „Dann ist er zurückgekommen", antwortete Herr Özkul, „das Gerät unter dem Arm. Und in seiner Begleitung war ein anderer Mann, den ich nicht kannte. Der stellte sich dann als stellvertretender Geschäftsführer vor. Ein Herr - ach, ich weiß nicht mehr, wie er hieß." Er stand auf und begann wieder im Zimmer auf und ab zu gehen, als hielte er es einfach nicht mehr aus, still zu sitzen. „Dieser Herr Sowieso jedenfalls meinte, daß vor einigen Monaten bei einem Einbruch ins Werk eine Menge Elektroartikel gestohlen worden seien. Videorecorder, Plattenspieler, Kassettendecks und so weiter, na, ihr könnt es euch vorstellen. Und dieser Kassettenrecorder, den ich mitgebracht hätte, sei ein Teil davon. Man könne es anhand der eingestanzten Nummer nachprüfen. Der Einbruch konnte bisher nicht aufgeklärt werden." „Hehlerware!" entfuhr es TH. Dann fuhr er sich schnell mit der Hand über den Mund, als wolle er das Wort wegwischen. „Jawohl, Hehlerware!" Herr Özkul setzte sich wieder hin. Und wieder änderte sich seine Stimmung binnen weniger Sekunden. Statt zornig und empört wirkte er jetzt nur noch 55
niedergeschlagen. „Und ich soll diese Ware in meinem Geschäft verkauft haben", sagte er kopfschüttelnd. „Ich! Man will die Polizei einschalten, die mein Geschäft durchsuchen wird und alles andere natürlich auch. Die Polizei! In meinem Geschäft und in meiner Wohnung!" „Aber das darf doch nicht wahr sein!" flüsterte Ashim. „Du hast doch die ganzen Sachen von Herrn Schneidereit übernommen, oder nicht?" „Natürlich. Sein Lager war noch voll. Er war damals froh, so schnell jemanden gefunden zu haben, der sein Geschäft übernimmt, daß er gar nicht erst versucht hat, vorher noch alles zu verkaufen. Ich habe die Sachen dann von ihm übernommen. War ja auch viel leichter für mich. Er hat mir auch die Unterlagen überlassen, woraus zu entnehmen ist, wo und zu welchem Preis er die Sachen gekauft hat." „Aber dann kann Ihnen doch gar nichts passieren", warf TH ein. Er wischte sich seine vor Aufregung feucht gewordenen Hände an der Hose ab. „Ich meine, Sie ... Sie haben doch Quittungen. Einen Vertrag oder so was!" „Das habe ich denen natürlich auch gesagt. Aber die scheinen mir nicht zu glauben. Die meinen, sie hätten schon so lange mit Herrn Schneidereit zusammengearbeitet, und niemals wäre irgendwas vorgefallen. Und - " „Aber das kann man doch nachprüfen", unterbrach ihn TH erneut. „Sie sagten doch gerade, sie hätten noch die Unterlagen von Ihrem Vorgänger. Da steht doch alles drin." „Sicher, aber die Leute sind der Ansicht, das könne nur die Polizei entscheiden. Und die wird gleich hiersein." Er lächelte bitter. „Du kennst das doch, Walther. Ausländer sind sowieso alle Betrüger. Und die 56
Schlimmsten sind die Türken ..." Er ließ den Kopf hängen. Ashim stand auf und ging zu seinem Vater. Beruhigend legte er ihm die Hand auf die Schulter. „Vater, bitte beruhige dich doch. Es wird sich schon alles aufklären." „Sie können doch alles beweisen", fügte TH hinzu. Herr Özkul hob müde den Kopf. „Wenn es wirklich gestohlene Ware ist, dann wird mir so langsam Verschiedenes klar. Ich meine - ich habe einige Geräte ausgepackt, und darauf waren Kratzer und Schäden. Zwar alle sehr klein und nicht offensichtlich, aber immerhin. Ich hatte gedacht, der alte Mann wäre nicht sehr gut damit umgegangen, weil er das Geschäft nicht mehr weiterführen konnte. Deshalb habe ich die Artikel auch preiswerter abgegeben. Wie konnte ich nur so dumm sein!" TH stand ebenfalls auf. „Woher hatte Herr Schneidereit denn die ganzen Sachen? Hat er es Ihnen gesagt?" Herr Özkul sah TH an. „Natürlich." Er nickte. „Er sagte, er habe sie vom Großhandel bezogen. Die Kaufquittungen hat er mir überlassen. Es wäre für ihn leichter gewesen, von einem Großhändler zu kaufen. Der Name dieses Großhändlers steht auf den Rechnungen." „Na, dann ist doch alles klar!" sagte TH. „Nichts ist klar", sagte Özkul niedergeschlagen. Er stand auf und schlurfte aus dem Zimmer. TH sah ihm verwundert nach. „Warum ... warum regt sich dein Vater überhaupt so auf?" fragte er. „Ich meine, so, wie es aussieht, kann er doch seine Unschuld beweisen." „Du verstehst überhaupt nichts", sagte Ashim bitter. „Stimmt", gestand TH. 57
„Es geht gar nicht darum, ob er seine Unschuld beweisen kann oder nicht", sagte Ashim. „Die Polizei wird kommen und hier alles durchsuchen. Die Leute werden reden. Auch wenn sich herausstellt, daß wir nichts damit zu tun haben. Das überlebt er nicht", fügte er hinzu, leise und in einem Ton, der TH schaudern ließ. Nach ein paar Augenblicken kam sein Vater zurück, einen gewaltigen Aktenordner unter den linken Arm geklemmt. „Mal sehen", sagte er und legte den Ordner auf den Tisch. Er blätterte darin herum. „Hier ist es schon - das sind alle Kaufverträge über die Sachen, die sich noch im Lagerraum und teilweise auch im Geschäft befinden. Hier: Hans Schnitzler, Rodenberg." „Das ist doch nur einige Kilometer entfernt, oder?" Ashim wandte sich stirnrunzelnd an TH. TH nickte, schüttelte aber fast im gleichen Moment den Kopf. „Stimmt, aber... Schnitzler? Die Firma kenne ich nicht. Ich war schon oft in Rodenberg. Ein Freund meines Vaters wohnt dort, und wir fahren deshalb öfter hin." Jetzt war es TH, der im Zimmer auf und ab lief. „Irgendwas ist faul an der Sache", dachte er. Sie roch nicht nur nicht gut, sie stank. „Komisch", sagte Herr Özkul. „Ich kenne die Firma auch nicht. Und ich habe mich ausführlich informiert, bevor ich dieses Geschäft gekauft habe. Über die Konkurrenz, über die Einkaufsquellen und so weiter... Und Herrn Schneidereit kann ich auch nicht mehr fragen. Er hat mir seine neue Adresse nicht dagelassen. Der alte Mann hatte doch einen guten Ruf in der Stadt..." Für einen Augenblick herrschte Stille. Dann schüttelte sich der Mann, als müsse er sich mit Gewalt in die Gegenwart zurückrufen. „Ach so, dein Recorder." Er 58
wandte sich an TH. „Ich habe das gleiche Gerät noch einmal im Lager. Ich werde es dir holen." Er stand auf und verließ das Zimmer. „Aber das ist doch nicht nötig!" rief TH ihm nach. „Laß ihn", sagte Ashim leise. „Es ist besser, wenn du ihn jetzt nicht mehr ansprichst. Er muß nachdenken." „Dann ... dann werde ich besser gehen", sagte TH. „Es ist schon spät." „Unsinn! Du kannst doch noch mit uns zu Abend essen", entgegnete Ashim. „Meine Mutter würde sich bestimmt auch freuen." „Laß mal gut sein", erwiderte TH, „ich gehe jetzt besser nach Hause." In diesem Moment kam auch schon Herr Özkul zurück, in der Hand einen Karton. „Hier, Walther, ich hoffe, diesmal ist alles in Ordnung. Es ist ein neues Gerät. Ich habe es überprüft. Es müßte eigentlich laufen." „Aber-" „Über die Bezahlung reden wir am Montag. Probiere ihn aus, und wenn alles klar ist, besprechen wir den Rest." Er gab TH den Karton. Eigentlich wollte TH ihn gar nicht mehr haben. Aber er fing einen neuerlichen, warnenden Blick Ashims auf und begriff, daß er seinen Vater zutiefst gekränkt hätte, hätte er abgelehnt. Zögernd griff er nach dem Gerät und klemmte es sich unter den linken Arm, während Herr Özkul schon wieder zum Tisch schlurfte und in seinen Akten zu blättern begann. Aber er machte dabei den Eindruck, überhaupt nicht zu spüren, was er tat. Sein Blick ging geradewegs durch das Papier hindurch. Er tat TH sehr leid. 59
Die Fahrt am frühen Morgen Am nächsten Morgen stand TH schon sehr früh auf. Er hatte nicht gut geschlafen, viel zuviel war ihm durch den Kopf gegangen. Also zog er sich an. Dabei schaltete er seinen neuen Recorder ein, der glücklicherweise einwandfrei funktionierte. Trotzdem hatte er keine rechte Freude an der Musik, so gut sie auch klang. Natürlich war es Unsinn, daß er Schuld an dem ganzen Dilemma hatte, aber irgendwie wurde er das Gefühl nicht mehr los, es zumindest ausgelöst zu haben. Hätte er sich doch niemals diesen verdammten Recorder gekauft! Mit einem Brötchen in der Hand verließ er leise die Wohnung, um seinen Vater nicht zu wecken, der gestern sehr spät nach Hause gekommen war. Er holte sein Rad aus dem Schuppen und fuhr in Richtung Pizzeria. Dort angekommen, stellte er das Rad ab und begann, kleine Steine gegen Tommis Fenster zu werfen, das sich im ersten Stock befand. Es dauerte nicht lange, und ein verschlafener Tommi öffnete das Fenster - und zog gerade noch rechtzeitig den Kopf ein, um einem weiteren Wurfgeschoß auszuweichen, das TH schon abgefeuert hatte, bevor das Fenster aufging. „He!" rief er empört. „Was soll das? Was willst du denn überhaupt hier, mitten in der Nacht! ?" Er gähnte ausgiebig. „Bist du aus dem Bett gefallen?" Ganz gegen seine sonstigen Gewohnheiten ging TH nicht auf den scherzhaften Ton ein, sondern blieb sehr ernst. „Kann ich raufkommen? Ich muß dir unbedingt was erzählen. Es ist wirklich wichtig." Tommi zögerte. Obwohl er noch halb zu schlafen schien, war ihm der Ernst in THs Stimme nicht entgan60
gen. Er überlegte einen Moment, dann nickte er. „Okay. Aber sei leise. Meine Eltern schlafen noch. Ich komme runter und mache auf." Tommi kroch wieder ins Bett, als die beiden oben angekommen waren. Er zog die Decke bis zum Hals und meinte: „Na, dann schieß mal los. Es muß schon sehr wichtig sein, wenn du so früh aufstehst, und das freiwilU g'" TH setzte sich, rieb sich verschlafen die Augen und erzählte mit leiser, sehr ernster Stimme, was am vergangenen Abend vorgefallen war. Gespannt hörte Tommi zu, ohne ihn zu unterbrechen. Während TH redete, verschwand der übernächtigte Ausdruck rasch von Tommis Gesicht. „Ja", schloß TH. „Und nun steht Herr Özkul in dem Verdacht, daß die Sachen, die er verkauft, gestohlen sind." Mittlerweile hatte er sich auf den Bettrand gesetzt. „Aber er kann doch alles nachweisen, er hat doch die Unterlagen von Herrn Schneidereit übernommen?" TH nickte. „Natürlich. Aber du weißt doch, wie das ist - wenn so ein Verdacht einmal ausgesprochen ist, bleibt immer etwas hängen. Du hättest ihn mal sehen sollen, gestern Abend." Tommi sah ihn fragend an. „Herr Özkul hat zwar nichts gesagt", fuhr TH fort, „aber ich bin sicher, daß man ihn im Werk nicht gerade freundlich behandelt hat." Er stand auf und ging zum Fenster. „Und dazu kommt eben noch, daß er Türke ist. Ausländer." Er drehte sich nicht zu Tommi um, aber er konnte spüren, wie sein Freund zusammenfuhr. „Weißt du was?" sagte er, noch immer zum Fenster gewandt. „Ich habe mir überlegt, ob wir nicht mit dem Rad nach Ro61
denberg fahren sollten. Ich meine, wir könnten uns doch mal den Laden dieses Großhändlers ansehen. Vielleicht fällt uns dabei etwas auf." Tommi gähnte. „Jetzt sofort? Es ist noch so früh! Und außerdem habe ich noch nicht gefrühstückt." „Deine Probleme möchte ich haben!" sagte TH. „Hast du aber nicht", antwortete Tommi ruhig. „Du hast ja schon gefrühstückt, oder?" „Dann nimmst du dir ein Brot mit auf den Weg!" sagte TH ungeduldig. „Du wirst schon nicht verhungern." „Na gut", brummte Tommi und stand widerwillig auf. „Aber was ist mit den anderen?" „Während du dich anziehst und dir deine Notration zusammenpackst, gehe ich zu Ashim rüber - oder nein, besser nicht." Tommi sah ihn fragend an. „Ich glaube, wir sollten Ashim da rauslassen", erklärte TH. „Wenigstens jetzt noch. Und auf dem Weg nach Rodenberg fahren wir kurz bei Schräubchen und Milli vorbei. Liegt sowieso an der Strecke." „Um diese Zeit?" fragte Tommi. TH antwortete gar nicht mehr, aber er mußte Tommi noch einige Male drängen, bis sie endlich (fast eine halbe Stunde später) auf ihren Rädern saßen und in Richtung Rodenberg strampelten. Zumindest blieb es ihm erspart, dieses Manöver noch zweimal zu wiederholen, denn Milli und Schräubchen waren schon angezogen und hatten auch bereits gefrühstückt, als die beiden Jungen bei ihnen vorbeikamen, um sie abzuholen. Und es kostete TH nicht besonders viel Überzeugungskraft, sie zum Mitkommen zu bewegen, früher Morgen hin oder her. Die Mädchen waren von dem Plan der Jungen begei62
stert und auch sofort bereit, sie zu begleiten. Der Weg nach Rodenberg war nicht sehr weit, aber er reichte aus, noch einmal alle Einzelheiten zu besprechen - soweit sie Einzelheiten kannten... Schließlich war es Milli, die einen Gedanken aussprach, der TH schon seit gestern gequält hatte, auch wenn er es sich bisher nicht einmal selbst eingestanden hatte. „Und was ist, wenn es stimmt?" fragte sie. „Wenn was stimmt?" fragte TH - obwohl er genau wußte, was Milli meinte. „Daß die Sachen geklaut sind", sagte Milli. TH trat so heftig in die Bremse, daß Milli, Schräubchen und Tommi noch ein gutes Stück weiterrollten, ehe auch sie zum Stehen kamen. Mit einem einzigen Tritt in die Pedale fuhr er zu ihnen und zog die Bremse, daß seine Reifen quietschten. „ Was?" wiederholte TH mit allem Entsetzen, das er in seine Stimme legen konnte. Aber Milli blieb ganz ruhig. „Ich sage ja nicht, daß es so ist", sagte sie. „Aber es wäre immerhin möglich - oder?" „Klar", fauchte Tommi. „Und um so möglicher, weil Ashims Vater ein Ausländer ist, nicht wahr?" Milli schüttelte tadelnd den Kopf. „Das ist das Schlimme mit euch Männern", sagte sie altklug. „Ihr redet erst und schaltet dann euer bißchen Gehirn ein. Was ich meine, ist doch nur das: Immerhin kennen wir Ashim und seine Eltern erst ein paar Tage. Okay, sie sind nett, aber was beweist das?" „Nichts", gestand Tommi. „Eben." Milli nickt heftig. „Und daß sie Ausländer sind, beweist auch nichts. Weder, daß sie automatisch schuld sind, noch, daß sie automatisch 63
unschuldig sind, oder?" „Und was willst du damit sagen?" fragte TH finster. „Gar nichts", behauptete Milli. „Nur, daß wir bei aller Ausländerfreundlichkeit nicht anfangen sollten, ihnen weniger zuzutrauen als unseren sogenannten Landsleuten - oder irgendwelchen Spaghettifressern!" fügte sie hinzu, streckte Tommi die Zunge heraus und trat vorsichtshalber hastig in die Pedale. „He!" brüllte Tommi. „Na warte!" In perfekt ge~ schauspielertem Zorn versuchte er sich auf Milli zu stürzen, aber die war längst aus seiner Reichweite, und die nächsten fünf Minuten wurden zu einer wilden Verfolgungsjagd, bis sie endlich, erschöpft und halb keuchend, halb lachend, wieder anhielten. „Aber jetzt mal im Ernst", sagte Tommi. „Irgendwo hat Milli schon recht. Und selbst, wenn wir nicht so denken, die Polizei tut es ganz bestimmt." „Ein Grund mehr, die Augen offen zu halten", sagte Milli. Sie strampelten weiter, und nach einer knappen viertel Stunde waren sie in Rodenberg angekommen. Sie fuhren längere Zeit durch die Gegend, ohne die Firma zu finden, aber damit hatte TH auch gerechnet. Rodenberg war nicht einmal groß genug, um auf allen Straßenkarten eingezeichnet zu sein. Hätte es hier einen Großhandel - und noch dazu einen Elektrogroßhandel - gegeben, hätte er garantiert davon gewußt. Trotzdem durchsuchten sie das kleine Nest Haus für Haus, ohne jedoch auf mehr als einen Gemischtwarenladen, drei Zigarettenautomaten und ein Architekturbüro zu stoßen. Dann erreichten sie ein kleines Wäldchen, etwas außerhalb der Ortschaft gelegen. „Riecht ihr das auch?" fragte Milli und schnupperte. 64
„Ja", Tommi nickte, „ein komischer Geruch." „Stinkt nach Betrug", sagte Milli. „Sogar ganz gewaltig", fügte Schräubchen hinzu. „Da!" TH deutete mit ausgestrecktem Arm auf ein Schild, das neben einem etwas breiteren Waldweg stand.
HANS SCHNITZLER & Co war darauf zu lesen. „Das muß es sein", kam es wie aus einem Mund. Die vier tauschten bezeichnende Blicke. Für einen Großhandel war ein Wald außerhalb eines winzigen Kaffs wirklich ein sonderbarer Standort. Sie radelten den Weg entlang - sehr lange, wie TH fand - und erreichten endlich eine Lichtung, auf der ein helles, flaches Gebäude stand. Der Weg war auf den letzten Metern so schlecht geworden, daß sie selbst mit ihren Fahrrädern Mühe hatten, durchzukommen. Und er sah nicht besonders befahren aus. Die vier von der Pizza-Bande stellten ihre Räder hinter einigen eng beieinanderstehenden Bäumen ab und machten sich zu Fuß auf, um alles aus der Nähe betrachten zu können. Es handelte sich um ein altes Fabrikgebäude, das ohne sonderlichen Aufwand oder gar Liebe in ein großes Lagerhaus verwandelt worden war. Die Kinder versuchten, durch die verstaubten Fenster zu blicken, um sich einen Eindruck vom Inneren der Halle machen zu können. Aber ihre Anstrengungen waren umsonst. Die Fenster waren von innen mit Holzlatten vernagelt, und alle Lücken und Ritzen sorgsam mit Pappe verdeckt. 65
„Hier!", rief Milli plötzlich, die sich an der anderen Seite des Gebäudes herumgetrieben hatte. „Hier steht ein Fenster offen." Schnell liefen die anderen zu ihr hin. Das Fenster war tatsächlich nur angelehnt, so daß man durch den verbliebenen Spalt mit der Hand die von innen angebrachte Pappe erreichen konnte. „Wenn man kräftig dagegendrückt, müßte sie sich lösen", erklärte Milli. „Ich habe es schon versucht", fügte sie leicht verlegen hinzu, „aber meine Arme sind nicht lang genug." „Laß mich mal", sagte TH, der größte der vier. „Vielleicht habe ich ja Glück." Die anderen machten ihm Platz, und TH streckte den Arm aus. Nach einigen vergeblichen Versuchen sagte er: „Sind nur ein paar Zentimeter. Wenn ich was zum Drauf stellen hätte..." Gemeinsam suchten sie die nähere Umgebung ab, aber nirgends war etwas zu finden. So verlassen und alt das Gelände auch wirkte, erwies sich die Umgebung doch bei näherem Hinsehen als sorgsam aufgeräumt. „Ich hab's!" rief Tommi schließlich. „Ich hocke mich hin, und du stellst dich auf meinen Rücken." TH grinste. „Ich wollte dir schon lange mal wieder irgendwohin treten", sagte er. Tommi schnitt ihm eine Grimasse, hockte sich unter das Fenster und machte eine ungeduldige Handbewegung. „Hör auf, dummes Zeug zu reden", befahl er. „Los!" Es dauerte eine Weile, aber endlich hatte TH die Balance auf Tommis Rücken gefunden und drückte nun kräftig mit der rechten Faust gegen die Pappe hinter der Scheibe. Mit einem scharrenden Geräusch löste sie sich vom unteren Fensterrahmen. TH kniete sich auf Tommis Rücken und zog nun mit aller Kraft und beiden 66
Händen an dem großen Stück. Es gab ein deutlich hörbares: „Ratsch!", und die Verblendung fiel ins Innere der Halle. TH sprang auf die Füße, und auch Tommi stellte sich wieder auf, nicht ohne sich mit der linken Hand seinen Rücken zu massieren. „Du bist ganz schön schwer", maulte er. „Ich muß ein Wort mit meiner Mutter reden. Du verdrückst zu viele Gratis-Pizzas." Die Kinder stellten sich nun vor das Fenster und versuchten einen Blick in die Halle zu werfen. Nachdem sich ihre Augen an die Dunkelheit dort gewöhnt hatten, sahen sie einen großen, unmöblierten Raum, auf dessen Boden Hunderte von Kartons lagen. Der letzte Teil der Halle war durch eine riesige Glasscheibe mit einer kleinen Tür in der Mitte abgeteilt: wahrscheinlich das Büro des Unternehmens. „Man kann kaum was erkennen", sagte Schräubchen und reckte den Hals. „Licht müßte man haben." „Ich kann ja mal versuchen, das Fenster zu öffnen. Aber dann muß einer aufpassen, ob jemand kommt", schlug Milli vor. „Ich bin die Kleinste, vielleicht gelingt es mir. Und du, Tommi, müßtest noch einmal den Hocker spielen." „Ungern", entgegnete Tommi, „aber du bist ja schließlich nicht so schwer wie TH." „Und ich stelle mich da vorn hin", warf Schräubchen ein und deutete mit dem ausgestreckten Arm auf den Rand des Grundstücks, wo eine große Linde stand. „Wenn jemand kommen sollte, pfeife ich ganz laut." Tommi hockte sich wieder hin, und Milli kletterte auf seinen Rücken. Sie griff durch den Fensterspalt und hantierte an dem verklemmten Riegel herum. Dann faßte sie an den oberen Rand des Rahmens. Mit einem tiefen „Geschafft!" drückte 67
sie mit der freien Hand das Fenster auf. Die Kinder blickten sich um, aber Schräubchen machte keinerlei Zeichen. Sie hockte unter dem großen Baum und malte mit einem kleinen Zweig Muster in den sandigen Boden. Von Zeit zu Zeit sah sie auf, um nachzusehen, ob auch wirklich niemand kam. Nacheinander kletterten die verbliebenen drei Viertel der Pizza-Bande durch das nun geöffnete Fenster und sprangen in den dunklen Raum. Im ersten Moment waren sie fast blind. Der Lagerraum kam ihnen viel größer vor, als es von draußen den Anschein gehabt hatte, und die Lücken zwischen den Kisten- und Kartonstapeln wirkten mit einem Male wie tiefe, unheimliche Schluchten. Die Luft roch trocken und verbraucht, nach Staub und Alter. „Ist euch eigentlich klar, was wir tun?" fragte TH plötzlich. In der unheimlichen Stille, die hier drinnen herrschte, klang seine Stimme übernatürlich laut, obwohl er flüsterte. „Klar", sagte Milli. „Wir sehen uns um." „Man könnte es auch Einbruch nennen", sagte TH. „Aber wir nehmen doch nichts weg." „Trotzdem. Ich glaube kaum, daß dieser Herr Schnitzler sehr begeistert ist, wenn er uns hier erwischt - ob er nun Dreck am Stecken hat oder nicht." „Ein Grund mehr, vorsichtig zu sein", sagte Tommi. „Also - umschauen, aber nichts anrühren, ist das klar?" TH nickte. Während Milli und Tommi sich die Kartons genauer ansahen, näherte sich TH dem Büro. Die Tür war nicht verschlossen, aber es gab dort auch nicht viel, was sie hätte beschützen können. Außer einem Schreibtisch, auf dem ein Telefon stand, und einem grauen Aktenschrank aus Stahl befand sich absolut nichts in dem kleinen Zimmer. Der Akten68
schrank war natürlich verschlossen, ebenso die Schreibtisch-Schubladen. TH probierte auch nicht weiter herum, denn plötzlich vernahm er einen lauten Pfiff. Schnell schloß er die Tür und sah sich um. Tommi und Milli waren bereits wieder am Fenster und winkten ungeduldig. Nach einem letzten sichernden Blick in die Runde huschte TH zu ihnen, spreizte die Beine und verschränkte die Hände ineinander, damit Milli und Tommi über diese Räuberleiter das Fenster erreichen konnten. Hintereinander und mit der Lautlosigkeit und Geschicklichkeit geübter Fassadenkletterer stiegen sie wieder ins Freie und liefen zum Waldrand zurück, wo sie ihre Räder versteckt hatten. Obwohl der Weg nicht sehr weit war, war nicht nur Tommi völlig außer Atem, als er neben Schräubchen ankam. Sein Herz jagte, und er hatte Mühe, überhaupt zu sprechen. Widerwillig gestand er sich ein, daß es gefährlicher war, als ihm lieb war. Wenn irgend jemand sie dort drinnen erwischt hätte ... „Was ... was war denn los?" fragte er schwer atmend. „Warum hast du gepfiffen?" „Da kam ein Auto", antwortete Schräubchen. „Ein schwarzes, großes Auto", fügte sie hinzu, und zwar auf eine ganz bestimmte Art, die nicht nur Tommi aufhorchen ließ. „Bist du sicher?" fragte er. Schräubchen nickte so heftig, daß ihr Haar flog, und sie atmete tief ein. „Ich glaube, es war der Wagen von diesem Mann, der auch bei Herrn Özkul war." „Wormser?" fragte TH. „Der neue Besitzer der Villa in der Burgstraße?" „Wenn er so heißt." Schräubchen zuckte mit den Schultern. 69
„Der gleiche Wagen, den wir am Samstag gesehen haben?" vergewisserte sich TH. „Genau der." Schräubchen sank auf das weiche Moos des Waldbodens, zupfte einen Grashalm aus und steckte sich ihn zwischen die Lippen, um nachdenklich darauf herumzukauen. „Der Kerl ist mir nicht ganz geheuer", sagte sie. „Ich weiß nicht, warum, aber irgendwie erinnert er mich an einen Gangsterboß." „Deine Phantasie geht wieder mal mit dir durch", sagte Milli. „Ich meine, mir ist er auch nicht ganz geheuer. Er macht mir einen zu glatten Eindruck. Aber das heißt doch gar nichts." Tommi musterte sie finster. „Hast du heute nacht schlecht geschlafen, oder bist du nur neuerdings prinzipiell immer anderer Meinung als wir?" fragte er. Milli grinste. „Nö. Ich habe nur was gegen vorschnelle Schlüsse, das ist alles." „Wieso vorschnell?" fragte TH und deutete auf Schräubchen. „Sie hat völlig recht. Denk nur mal an die komischen Pakete, die er gestern in seinem Wagen liegen hatte. Und dann stand der Schlitten auch noch ganz allein am Straßenrand ..." „Ist das verboten?" wollte Milli wissen. TH sog hörbar die Luft ein, und für einen Moment sagte niemand etwas. Aber die Spannung, die zwischen den beiden knisterte, war mit einem Male fast fühlbar. Es sah beinahe so aus, als gerieten sich zum ersten Mal zwei Mitglieder der Pizza-Bande untereinander in die Haare. Dann stand Tommi auf und deutete zurück zum Waldrand, in Richtung Lagerhalle. „Warum sehen wir nicht einfach nach, was er hier zu tun hat?" schlug er vor. „Das bringt vielleicht mehr, als uns gegenseitig anzugiften." 70
Milli zog eine Grimasse, und TH starrte seinen Freund nur streitlustig an - aber dann stimmten sie doch beide mit einem Nicken zu, und auch Schräubchen erhob sich wieder. Der Wald war so dicht, daß sie ausreichend Deckung fanden, um die Halle und den Platz beobachten zu können, ohne Gefahr zu laufen, selbst gesehen zu werden. Vor dem Haupteingang stand der ihnen schon bekannte schwarze Wagen. Und Milli hatte sich nicht getäuscht - es war Wormsers übergroßer Cadillac. Von dem Fahrer war allerdings weit und breit nichts zu sehen. „Was der wohl hier will?" flüsterte Milli. „Ob das alles ihm gehört? Ihr habt doch gesagt, er wäre Geschäftsmann. Vielleicht handelt er mit Elektroartikeln?" „Möglich war's", meinte TH, ließ aber keinen Blick von dem schwarzen Wagen. „Aber vielleicht ist er auch nur - " Die drei anderen erfuhren nie, was Wormser vielleicht nur war, denn in genau diesem Moment trat der Besitzer des amerikanischen Wagens hinter einer Ecke des Gebäudes hervor und stieg ein. Er setzte zurück, gab dann so heftig Gas, daß unter den Reifen Schmutz und Fontänen aus kleinen Kieselsteinen hervorschossen, und war in Sekundenschnelle verschwunden. Die Kinder gingen zurück zu ihren Rädern. Wieder setzten sie sich ins Gras. „Irgendwas stimmt doch hier nicht", begann Tommi, wobei er sowohl TH als auch Milli einen eindeutig warnenden Blick zuwarf. „Wieso? " fragte Schräubchen. „Wenn man einen Großhandel aufzieht, macht man das doch nicht so ..., so unauffällig", antwortete Tommi 71
zögernd. Es fiel ihm schwer, in Worte zu fassen, was er empfand. „Ein Geschäft lebt von Kundschaft, oder? Ich meine, es muß bekannt sein, um zu laufen. Der Laden hier ist aber eher gut versteckt." „Das stimmt", pflichtete ihm TH bei. „Und es sieht auch irgendwie komisch aus da drinnen. Alles nur so hingestellt, überhaupt nichts geordnet, wie es sich für ein ordentliches Geschäft gehört", fügte er hinzu, an Schräubchen gewandt, die ja nicht mit in der Halle gewesen war. „Also, wenn ich ein Geschäft hätte, würde es anders aussehen. Und dann hätte ich auch nichts zu verbergen, von wegen Fenster von innen verdunkeln und so." „Vielleicht fangen sie erst an?" schlug Schräubchen vor. TH schüttelte den Kopf. „Nein. Also mir kommt das mehr als nur komisch vor. Das Büro sah auch nicht gerade einladend aus. Kein Bild an der Wand oder irgendwas Persönliches. Kein Kalender, nicht einmal eine Uhr. Wenn ich etwas verkaufen will, dann muß doch auch der Rahmen stimmen, wenn ihr versteht, was ich meine." „Sicher", warf Schräubchen ein. „Vielleicht sind in den Kartons die gestohlenen Sachen aus dem Werk?" Nachdenklich riß sie an dem Gras herum, auf dem sie lag. „Aber das wäre wohl zu einfach." „Da waren aber Elektrogeräte drin", sagte Tommi. „Das habe ich sehen können. Videorecorder und so." „Bist du sicher?" fragte TH. Tommi nickte. „Ich habe den Deckel von einem Karton aufgemacht und dann gelesen, was auf den kleineren Kartons, die darin waren, stand", antwortete er. „Ich hätte mich gerne noch genauer umgesehen, aber dann hat Schräubchen gepfiffen..." 72
„Ja, das stimmt", gab ihm Milli recht. „Ich sollte euch doch warnen, wenn jemand kommt!" protestierte Schräubchen. „Sagt ja auch keiner was dagegen", beruhigte sie TH hastig. Er ballte ärgerlich die Faust. „Wenn dieser Kerl fünf Minuten später gekommen wäre, wüßten wir jetzt Bescheid." „Ist er aber nicht", antwortete Milli. Und fügte hinzu: „Aber er ist wieder weg." „Wie meinst du das?" fragte TH. „Wie ich es sage", antwortete Milli. „Er ist wieder weg. Was spricht dagegen, noch einmal hineinzugehen und richtig nachzusehen?" Sekundenlang waren sie alle still und blickten Milli fast betroffen an. Aber dann schüttelte Tommi entschieden den Kopf. „Zum Beispiel die Tatsache, daß wir gerade noch einmal so davongekommen sind. Ich habe keine besondere Lust, doch noch erwischt zu werden und meinen Eltern erklären zu müssen, wieso wir in eine Lagerhalle eingebrochen sind." Er sah auf die Uhr. „Und außerdem habe ich Hunger. Ich glaube, wir fahren jetzt besser nach Hause. Es ist Zeit zum Mittagessen." „Natürlich! Du und dein Mittagessen." Alle lachten. Aber sie waren auch deutlich erleichtert, daß Tommi ein Grund eingefallen war, nicht noch einmal in die Halle einzusteigen.
Die Polizei "war schon da! Wieder trennten sich an der Kreuzung die Jungen von den Mädchen. Und als TH und Tommi vor der Pizzeria 73
angekommen waren, lud Tommi seinen Freund ein, noch mit hereinzukommen und gleich mitzuessen. TH zögerte. Er war nicht besonders hungrig, aber eine Pizza - noch dazu, wenn sie umsonst war - konnte er immer verdrücken. Trotzdem schüttelte er nach ein paar Augenblicken den Kopf. „Vielleicht komme ich später nach", sagte er. „Ich gehe mal kurz zu Ashim rüber. Mal sehn, was es Neues gibt. Ich nehme an, daß die Polizei schon gestern abend dagewesen ist. Vielleicht hat sich ja schon alles geklärt." „Ist gut", erwiderte Tommi. „Aber sag mir dann, was los ist." TH war nicht besonders wohl in seiner Haut, als er sein Rad abstellte und zum Nachbarhaus ging. Wenn er an gestern dachte, dann wäre er am liebsten verschwunden, um mit der ganzen Sache nichts mehr zu tun zu haben. Aber dazu war es zu spät. Die Pizza-Bande - und er ganz besonders - steckte schon viel zu tief in der Sache mit drin, um noch zurück zu können. Und außerdem hatte er immer noch das Gefühl, wenigstens ein ganz kleines bißchen mit schuld an allem zu sein. Er war es Ashim einfach schuldig, sich wenigstens zu erkundigen, was passiert war. Als er die Hand nach der Klingel ausstreckte, wurde die Tür aufgerissen, und Ashim trat ihm entgegen. Sein Gesicht wirkte nicht gerade fröhlich. „Hallo, Kümmeltürke", sagte TH mit gutmütigem Spott. Er versuchte, so gelassen wie möglieh zu klingen. „Wie ist die Lage?" Ashim blickte ihn finster an. „Wie soll sie wohl sein?" fragte er. „Gestern abend war die Polizei da. Mein Vater ist fix und fertig. Die ganze Nacht ist er in der Wohnung herumgelaufen. Er hat kein Auge zugetan." „War es so schlimm?" fragte TH. Seine ohnehin nur 74
aufgesetzte gute Laune war schlagartig verflogen. Ashim nickte nur. „Was ist passiert?" fragte TH. „Ihr habt den Beamten doch alle Unterlagen gezeigt, oder etwa nicht?" „Natürlich", antwortete Ashim. „Aber es sieht trotzdem nicht gut aus." Er schwieg einen Moment, dann riß er die Tür ganz auf und machte mit der anderen Hand eine Bewegung zu TH, doch einzutreten. TH verstand. Dies war nun wirklich keine Sache, die man auf der Straße bereden konnte. „Also", begann Ashim, nachdem TH in den Laden getreten war und er die Tür hinter ihm geschlossen hatte. „Es steht eindeutig fest, daß der Apparat aus dem Einbruch stammt. Außerdem noch ein paar von den anderen Geräten, die mein Vater im Laden und in seinem Lagerraum stehen hatte. Die Polizei hatte eine Liste mit, auf der alle Gerätenummern und Beschreibungen standen. Und dann hat Inspektor Mauser gesagt-" „Inspektor Mauser?" TH wurde hellhörig. „Den kenne ich. Der ist sehr nett und auch sehr hilfsbereit." Ashim runzelte die Stirn, als hätte er einen anderen Eindruck von dem Inspektor gehabt. Aber er ging nicht weiter auf THs Einwurf ein, sondern fuhr fort: „Ja, also dieser Inspektor hat gesagt, es wäre natürlich sehr dumm, daß mein Vater nur noch einige Rechnungen von den Sachen hätte und nicht alle." „Stimmt das?" Ashim nickte niedergeschlagen. „Ich fürchte, ja." „Dann sitzt ihr also in der Tinte", murmelte TH. Er hob die flache Hand ans Kinn. „Und zwar bis hierhin." Ashim blickte zu Boden und malte mit den Fußspitzen Kreise auf den Teppich. „Mein Vater hat darauf gesagt, daß er Herrn Schneidereit eben vertraut hätte, 75
weil der doch schon eine Ewigkeit hier wohnte, und deshalb hätte er sich eben nicht weiter um die entsprechenden Unterlagen gekümmert. Und das schlimmste ist, daß er nun nicht nachweisen kann, daß er die Geräte wirklich vom Vorbesitzer des Ladens übernommen hat. Jetzt will dieser Inspektor Mauser von meinem Vater eine Aufstellung haben, was er schon verkauft hat und an wen. Gott sei Dank ist er in solchen Sachen sehr genau und hat Buch über alle seine Verkäufe geführt. Auch über die Reparaturen, die er ausgeführt hat. Mein Vater meint, jetzt spricht sich alles herum, und jeder wird glauben, daß er die Sachen gestohlen hat oder wenigstens mit gestohlenen Waren handelt. Als Hehler sozusagen. Er ist mit den Nerven total am Ende." „Und wenn das alles wirklich stimmt, dann hat er damit auch vollkommen recht", dachte TH. Die wenigsten von ihnen hatten Herrn Schneidereit wirklich gekannt. Er war eben ein alter Sonderling gewesen, der wenig Kontakt zu seinen Mitmenschen hatte, aber er war immer noch ein Einheimischer, dem man wahrscheinlich mehr glauben würde als den Özkuls. Selbst wenn sie Ashims Vater nichts würden nachweisen können ... Mit ein ganz klein wenig Pech war das Geschäft erledigt, noch ehe es richtig angelaufen war. O ja, er konnte die Erregung von Ashims Vater nur zu gut verstehen. Trotzdem sagte TH laut: „Nun reg dich mal wieder ab. Wir werden das schon klarkriegen. Mauser ist ein netter Kerl, glaub mir. Der findet die Wahrheit schon heraus." „Das sagst du so", antwortete Ashim niedergeschlagen. „Aber das ist es ja nicht allein." „So?" Ashim seufzte. „Du weißt nicht, wie schwer es mein 76
Vater schon vorher gehabt hat. Und nun dieser Verdacht, geklaute Ware zu verkaufen ... Es wird doch niemand mehr etwas bei uns kaufen..." Ashim brach ab. TH bemerkte, daß er mit den Tränen kämpfte. Verlegen blickte er zur Seite. „Und er hat sich so sehr darauf gefreut, sich seinen Traum zu erfüllen", flüsterte Ashim. „Ein eigenes Geschäft. Davon hat er immer geredet. Er ... er hat die letzten zwanzig Jahre darauf gespart. Zwanzig Jahre, kannst du dir das vorstellen? Und jetzt ist alles aus, noch bevor es angefangen hat. " „Es wird sich schon alles aufklären, Ashim", sagte TH. „Klar", sagte Ashim. „Es muß nur ein Wunder geschehen." „Vielleicht ist das schon passiert", sagte TH. Ashim sah auf. Tränen verschleierten seinen Blick. „Wie... wie meinst du das?" TH erzählte ihm, was die Pizza-Bande in den vergangenen Stunden erlebt hatte. „Dieser große Wagen", schloß er, „der geht mir einfach nicht aus dem Sinn. Und dann, daß Herr Schneidereit nicht mehr zu erreichen sein soll. Da stimmt doch was nicht." „Aber das Geschäft soll doch sehr gut gegangen sein hat jedenfalls mein Vater gesagt. Er hat sich vorher erkundigt, und er hat nur Gutes gehört - sonst hätte er das Geschäft doch gar nicht gekauft!" „Hör mal zu, Ashim", sagte TH, „es wird sich schon alles aufklären. Reg dich ab. Wir treffen uns heute nachmittag bei Mamma Gina, im Hinterzimmer." Er deutete auf die Wand des Ladens, hinter der die Pizzeria lag. „Das ist das Hauptquartier der Pizza-Bande. Komm doch um vier Uhr mal vorbei, dann reden wir weiter. Wir werden schon einen Weg finden, um die 77
Unschuld deines Vaters zu beweisen." Ashim widersprach nicht. Aber er sah auch nicht sehr zuversichtlich aus. „Sag mal", fragte TH nach einer Weile, und das eigentlich nur, um überhaupt etwas zu sagen und das immer unangenehmer werdende Schweigen zu durchbrechen, „dein Vater war doch in der Villa, oder?" Ashim blickte ihn fragend an. „Im Haus von Wormser." „Sicher - warum?" „Oh, nur so", sagte TH hastig. Es hatte nicht viel Sinn, Verdächtigungen auszusprechen und damit vielleicht Hoffnungen zu wecken, die doch nur wieder enttäuscht werden würden. Trotzdem fuhr er fort: „Wie sah es denn da aus? Hat er was erzählt?" „Nicht viel", antwortete Ashim. „Du kannst dir ja vorstellen, daß er was anderes im Kopf hat, im Moment jedenfalls. Ein altes Haus eben, und die Elektroinstallation ist entsprechend. Alles vergammelt und verrottet. Aber dieser Herr Wormser lebt ziemlich komisch." TH wurde hellhörig. „Wie meinst du das?" Ashim zuckte mit den Schultern. „Komisch eben. Vater sagt, alles wäre nur ganz flüchtig eingerichtet. Ein Bett, ein paar Stühle, ein alter Schrank - und jede Menge Kisten und Kartons." TH nickte. „Das paßt wie die berühmte Faust aufs Auge", dachte er. Komisch - so, als hätte er sich erst gar nicht richtig eingerichtet, um möglichst schnell wieder verschwinden zu können ... Plötzlich hatte TH Mühe, ein zufriedenes Lächeln zu unterdrücken. Mal sehen, was Milli dazu sagte ... Und trotzdem - als TH wenige Augenblicke später den Laden verließ, um zu Tommi zu gehen und die ver78
sprochene Pizza zu essen, fühlte er sich noch elender als zuvor.
Lagebesprechung Bei Mamma Gina war es um vier Uhr noch sehr ruhig. Das Lokal war geschlossen und würde erst in einer Stunde geöffnet werden. Aber es war keineswegs still: Tommis Eltern bereiteten schon fleißig Salate, Saucen und andere Kleinigkeiten für den erwarteten Abendansturm vor, und aus dem Radio drang leise italienische Musik, zu der Mamma Gina manchmal die Melodie mitsummte (nicht besonders gut, aber dafür mit großer Begeisterung). Im Hinterzimmer saßen die vier Mitglieder der Pizza-Bande sowie Ashim um den runden Tisch herum und redeten - alle gleichzeitig und wild durcheinander. Jeder von ihnen hatte etwas zu dem Thema zu sagen. Nur Ashim saß still da und versuchte zuzuhören. „Also!" TH sprach etwas lauter, um die anderen zu übertönen. „Ich habe heute mittag mit meinem Vater über diesen Herrn Wormser mit dem tollen Wagen gesprochen. Mein Vater konnte mir auch nichts weiter erzählen, als daß der Mann ein selbständiger Geschäftsmann ist, der irgendein Zeug verkauft. Was es ist, wußte er auch nicht. Aber er hat mir versprochen, sich umzuhören und mir dann zu erzählen, was er erfahren hat." „Oh, das hilft uns wirklich weiter", sagte Schräubchen schnippisch. „Ich kann doch nicht hexen", beschwerte sich TH. „Weißt du vielleicht mehr?" „Rein zufällig ja", antwortete Schräubchen. „Ich habe 79
nämlich auch mit meinem Vater gesprochen, und zwar über diese alte Fabrik. Die Firma Schnitzler in Rodenberg gibt es noch gar nicht so lange! Auf dem alten Gelände war vorher eine Gummifabrik, in der Reifen hergestellt wurden. Mein Vater hat dort immer die Reifen gekauft - das war billiger als an der Tankstelle." „Und was beweist das?" fragte Ashim leise. Alle vier starrten ihn an. Seit er hereingekommen war, hatte Ashim kaum ein Wort gesagt, sondern nur lustlos in der Pizza herumgestochert, die Mamma Gina ihm gebracht hatte, und die meiste Zeit ins Leere gestarrt. „Immerhin ist es komisch", sagte TH nach einer Weile. „So?" fragte Ashim schlecht gelaunt. „Ich kann nicht darüber lachen." „Ich gebe ja zu, es sind keine Beweise", sagte TH. „Aber ein paar Zufälle zuviel auf einem Haufen, nicht wahr?" Er zählte einige Punkte auf: „Erst verkauft Herr Schneidereit seinen Laden zu einem Spottpreis und ist seither wie vom Erdboden verschluckt." „Dann taucht dieser Wormser auf. - In eurem Laden werden Waren gefunden, die ganz hier in der Nähe geklaut worden sind. - Und kurz darauf erscheint aus dem Nichts ein gewisser Schnitzler und eröffnet eine Elektrogroßhandlung im tiefsten Wald, mit der Wormser irgendwas zu tun haben muß. Wir haben ihn schließlich dort gesehen." TH ballte seine rechte Hand mit einem Ruck zur Faust. „Ich esse nie wieder im Leben Pizza., wenn das alles Zufälle sind." „Ich nehme dich beim Wort", sagte Tommi. „Ihr habt es alle gehört!" TH ignorierte ihn. „Wißt ihr was?" sagte er. „Wir werden uns die Villa dieses Herrn Wormser einmal aus 80
der Nähe ansehen! Wenn der nichts mit der ganzen Sache zu tun hat, freß ich einen Besen." Er lächelte grimmig und machte eine fragende Geste in Ashims Richtung. „Was ist - kommst du mit?" Ashim zögerte einen Moment, ehe er den Kopf schüttelte. „Ich gehe besser nach Hause. Ich möchte mich um meinen Vater kümmern. Vielleicht kann ich ihn ein bißchen ablenken." „Wie du willst." TH stand auf. Insgeheim war er fast froh, daß Ashim abgelehnt hatte. Ganz egal, ob Wormser nun etwas mit der Sache zu tun hatte oder nicht - im Moment war es sicher nicht klug, wenn ausgerechnet Ashim in der Nähe seines Hauses gesehen wurde. Vor der Tür trennten sie sich. Diesmal gingen die Freunde von der Pizza-Bande zu Fuß. Der Weg war nicht weit, und nach einigen Minuten hatten sie ihr Ziel schon erreicht: eine zweigeschossige, ehemals weiße Villa inmitten eines parkähnlichen Gartens, der von einem hohen Eisengitterzaun umschlossen wurde. Sowohl am Garten als auch an dem Gebäude hatte der Zahn der Zeit schon kräftig genagt, aber trotzdem machte das Haus noch einen sehr gepflegten Eindruck. Die Spuren des Alters gaben ihm etwas Majestätisches, und der Garten wirkte weniger verwildert als eher natürlich zugewachsen. Die Kinder gingen den Zaun entlang, bis sie das angrenzende Grundstück erreichten. Sie hatten keine Schwierigkeiten, sich dort durch eine Hecke zu drängen, um sich dann an dem Eisengitter entlangzuschleichen, bis sie auf gleicher Höhe mit dem großen Haus waren. Büsche und Unterholz waren hier so dicht und ineinander verfilzt, daß kaum die Gefahr bestand, von der Villa aus gesehen zu werden. Sie hatten im Ge81
genteil eher Schwierigkeiten, sich überhaupt einen Weg durch die Wand aus ineinandergekrallten Zweigen und Dornen zu bahnen. Wormser war zu Hause. Vor der großen Eingangstür aus Eiche stand der dunkle Wagen. Über der Tür brannte ein kleines Licht. Auch die unteren Räume waren erleuchtet, obwohl es erst Nachmittag war. „Nichts zu entdecken", flüsterte Milli. „Pst", machte Tommi, da sich im gleichen Augenblick die Tür öffnete und ein junger Mann das Haus verließ. Im ersten Moment dachte sie, er würde in den Cadillac einsteigen, aber er ging an dem Wagen vorbei und über die mit Kieselsteinen bestreute Auffahrt zum Tor. Er öffnete es und verließ das Grundstück zu Fuß in Richtung Ortsmitte. „Wer war denn das? Den kenne ich doch!" behauptete Schräubchen. „Ich hab' den schon mal gesehen, aber ich weiß im Moment nicht, wo." „Schnell, Tommi, hinterher", zischte TH und machte sich direkt auf den Weg. Tommi folgte ihm, während die Mädchen sich fragend ansahen. „Wir bleiben hier und beobachten das Haus", rief Milli den Jungen leise nach. „Okay", hörten sie TH noch sagen - und dann waren die beiden Jungen auch schon verschwunden.
Beinahe erwischt Vorsichtig schlichen Tommi und TH hinter dem jungen Mann her, der mit schnellen Schritten durch das Zentrum der kleinen Stadt lief. Es war gar nicht so leicht, ihn nicht aus dem Auge zu verlieren, denn TH 82
und Tommi hielten einen gehörigen Sicherheitsabstand ein. Gleichzeitig waren sie mit einem Auge immer auf der Suche nach einem Versteck oder einer Deckung, hinter der sie im Notfall blitzschnell verschwinden konnten, sollte der junge Mann sich umdrehen. Aber er drehte sich nicht um, sondern eilte immer weiter. Nach einer Weile gestand sich Tommi ein, daß ihre Vorsicht wahrscheinlich übertrieben war, denn der junge Mann schien sich völlig sicher zu fühlen. Durch eine Toreinfahrt betrat er einen großen Hof. Die Jungen folgten ihm, blieben aber neben der Einfahrt stehen, um dann um die Ecke zu schauen - und diesmal war ihre Vorsicht berechtigt, denn der Mann blieb plötzlich doch stehen und sah sich auf eine Art um, die die beiden nur zu gut kannten. TH und Tommi preßten sich enger gegen die Wand. Mit angehaltenem Atem und klopfenden Herzen warteten sie, bis der Mann weiterging und durch eine eiserne Tür ein Gebäude betrat, das sich im Hinterhof befand. Die Fenster neben der Tür waren vergittert. Anscheinend hatte sich in dem Haus irgendwann einmal eine Werkstatt befunden, denn neben der eisernen Tür befand sich ein großes Garagentor, das in der Mitte zu öffnen war. Vor diesem großen braunen Tor stand ein alter Kombi, dessen ehemals graue Farbe bereits abzublättern begann. Ursprünglich schien ein Schriftzug auf den Seiten angebracht gewesen zu sein, der aber stümperhaft überpinselt worden war. Wenn man genau hinsah, konnte man sogar noch einzelne Buchstaben erkennen. Die Wagentüren waren geschlossen. TH machte eine fragende Bewegung, und Tommi nickte. Das nagende Gefühl in ihm, das ihm sagte, daß hier irgend etwas faul war, wurde immer stärker. „Hinterher", flüsterte er. „So eine Chance bekommen 83
wir nicht noch einmal." Um nicht gesehen zu werden, schlichen die Jungen an der Wand der Einfahrt entlang und versteckten sich für einen Moment hinter den überquellenden Mülltonnen, die auf dem Hof abgestellt waren. Als nichts geschah, näherten sie sich in gebeugter Haltung dem Haus. Vor dem Fenster rechts neben der Eisentür blieben sie stehen, richteten sich auf und versuchten einen Blick ins Innere zu werfen. Dabei mußten sie sich auf die Zehenspitzen stellen, denn die Fenster waren relativ hoch angebracht. Aber der Erfolg lohnte die Mühe. Der Fremde, den sie verfolgt hatten, stand vor einem großen Schreibtisch, hinter dem ein dicker Mann saß. Dessen Gesicht lag im Schatten, so daß sie es nicht erkennen konnten, aber in seinem Mundwinkel glomm eine Zigarre, deren rotes Ende in regelmäßigen Abständen aufleuchtete. Er schien aufgeregt auf den Jüngeren einzureden, denn er gestikulierte eifrig mit beiden Händen. Der Jüngere versuchte ein paarmal zu antworten, hatte aber sichtlich keinen Erfolg. Da das Fenster fest verschlossen war, konnten TH und Tommi nichts von dem verstehen, was gesprochen wurde. Aber daß die beiden Männer Streit miteinander hatten, war ganz offensichtlich. TH und Tommi hatten das Gefühl, einen Stummfilm zu betrachten, in dem alle Gesten und Bewegungen unnatürlich heftig ausfielen, so daß Worte eigentlich gar nicht mehr nötig waren. Der Mann mit der Zigarre deutete aufgeregt auf eine bestimmte Stelle auf einem Blatt Papier, das auf dem Schreibtisch vor ihm lag, und der Jüngere beugte sich vor; wahrscheinlich, um es zu lesen. Dann richtete er sich wieder auf. Der Dicke nahm die Zigarre aus dem Mund und warf sie wütend in einen großen Aschenbe84
eher, der auf dem Schreibtisch stand. Dann streckte er den rechten Arm aus und deutete auf die Tür. Scheinbar hatte er seinem Gegenüber befohlen, den Raum zu verlassen. Schnell duckten sich die zwei von der Pizza-Bande und machten sich auf, um ungesehen und schnell den Hof zu verlassen. Aber nicht schnell genug - und erst recht nicht ungesehen... „Was macht ihr denn hier?" erklang plötzlich eine Stimme hinter ihnen. Und ehe TH richtig mitbekam, was überhaupt los war, hatte ihn eine Hand am rechten Arm gepackt und hielt ihn mit eisernem Griff fest. TH drehte sich um und bekam gerade noch mit, wie Tommi durch die Toreinfahrt verschwand. Erst dann hob er den Kopf und blickte in das Gesicht des Mannes, der ihn so grob festhielt. Eine Sekunde später wünschte er sich, es nicht getan zu haben. Der Mann, der ihn festhielt, sah aus wie ein Boxer. Er hatte eine flache, wahrscheinlich mehrfach gebrochene Nase und für THs Vorstellungsvermögen unwahrscheinlich breite Schultern. Und die Kraft, die in seinem Griff lag, bewies TH, daß es sich bei den Ausbeulungen unter seinen Jackenärmeln nicht um Fett handelte. „Ich hab' dich gefragt, was du hier tust, du Bengel!" brüllte der Mann. Als TH nicht sofort antwortete, packte der Fremde noch ein bißchen fester zu und begann ihn zu schütteln. TH schwieg noch immer, aber er wehrte sich, so gut er konnte. Doch es war nicht gut genug. Nicht für diesen Fleischberg. „Wohl hier rumgeschnüffelt, wie? Ich will jetzt sofort wissen, was ihr hier wollt." 85
„Ich... ich suche jemanden", stammelte TH. Der Griff um seinen Bizeps tat so weh, daß er kaum sprechen konnte. „So? Wen denn?" „Herrn ... Herrn Wormser!" stöhnte TH. Er raffte all seinen Mut zusammen und sah dem Mann direkt in die Augen, konnte aber nichts entdecken, was darauf schließen ließ, daß dem Mann der Name bekannt war. Im Gegenteil - der Griff wurde eher noch fester. TH hatte plötzlich das Gefühl, mit dem Arm in einen Schraubstock geraten zu sein. Seine Augen füllten sich mit Tränen des Schmerzes. „Wormser? Wer soll denn das sein? Los, red schon!" „Lassen Sie mich los!" keuchte TH. „Sie haben kein Recht, mich - " „Kein Recht?" Der Mann mit dem Boxergesicht lachte häßlich. „Du wirst gleich sehen, welches Recht ich habe." Er riß TH grob herum und zerrte ihn hinter sich her. Als sie die Tür zu dem Hinterhaus erreicht hatten, wurde sie von innen geöffnet, und der junge Mann, den sie verfolgt hatten, trat heraus. „Was ist, Karl?" fragt er. „Was machst du mit dem Jungen?"
Fragen über Fragen Während sich TH unter dem Griff des Breitschultrigen wand, war Tommi so schnell wie möglich zurück zur Villa gelaufen, wo Schräubchen und Milli noch auf ihre Freunde warteten. Völlig außer Atem erreichte er die 86
Mädchen und stieß keuchend hervor, was passiert war. Milli und Schräubchen hörten ihm erschrocken zu, und dann sagte Milli: „TH wird sich schon herausreden. Ihr habt ja nichts Schlimmes getan." Tommi blinzelte. „Was? Du willst - ?" „Was will ich?" unterbrach ihn Milli mit der gleichen lächelnden Gelassenheit, mit der sie ihn schon am Vormittag auf die Palme gebracht hatte. „Das Überfallkommando rufen? Vielleicht Arnold Schwarzenegger und Sylvester Stallone?" „Auf jeden Fall können wir TH nicht einfach in der Klemme sitzen lassen", grollte Tommi. „Das sagt ja auch keiner", antwortete Milli. „Aber vielleicht sollten wir ein bißchen nachdenken, ehe wir einfach losstürmen, weißt du? Wenn Wormser und Co bisher keinen Verdacht geschöpft haben, dann tun sie es bestimmt, wenn wir jetzt durchdrehen. Klar holen wir TH raus - aber mit Köpfchen, nicht mit Muskeln." Tommi schluckte die zornige Antwort herunter, die ihm auf der Zunge lag, und deutete auf die Villa. „Und was war hier los ?" „Wormser ist aus dem Haus gekommen", erzählte Schräubchen. „Er hat seinen ganzen Kofferraum mit Kartons und Akten vollgepackt. Wir konnten aber von hier aus nicht sehen, was in den Kartons war, und wir wollten auch nicht näher rangehen. Dann hat er sich umgesehen - " „Ziemlich auffällig umgesehen", fügte Milli gewichtig hinzu. „ - und ist dann losgefahren", schloß Schräubchen. „Aber bevor er losgefahren ist, hat er so komisch gegrinst", fügte Milli hinzu. „Gegrinst?" fragte Tommi. „Das ist aber- " „He!" 87
Tommi fuhr erschrocken herum, als er die Stimme hörte, und dann machte der verwirrte Ausdruck auf seinem Gesicht jäher Erleichterung Platz, als er erkannte, wer da auf sie zugerannt kam. Es war niemand anderes als TH. In rekordverdächtigem Tempo kam er über den Rasen gelaufen und ließ sich erschöpft neben Tommi ins Gras fallen. „Da bist du ja wieder", sagte Milli. „Du bist ja schneller von den Toten auferstanden, als ich dachte." „Hm?" machte TH. Er wollte etwas sagen, aber seine Stimme versagte. Er atmete keuchend und war am ganzen Körper in Schweiß gebadet. „Tommi hat dich schon vor einem Erschießungskommando gesehen", sagte Milli spöttisch. „Wäre es nach ihm gegangen, hätten wir bereits die Nationalgarde alarmiert, um dich zu befreien." Tommi schenkte ihr einen giftigen Blick und wandte sich an TH. „Wie bist du ihnen entwischt?" fragte er. „Überhaupt nicht", gestand TH keuchend. „Sie ... sie haben mich laufen lassen." „Einfach so?" TH brachte das Kunststück fertig, gleichzeitig zu nicken und den Kopf zu schütteln. „Mann, das war vielleicht knapp", sagte er, noch immer schwer atmend und am ganzen Leib vor Erschöpfung zitternd. Er mußte den ganzen Weg hierher aus Leibeskräften gerannt sein. „Ich hab' dem Kerl gesagt, ich würde Herrn Wormser suchen. Aber den schien er überhaupt nicht zu kennen. Er reagierte überhaupt nicht auf den Namen. Dann hat er noch gefragt, wieso wir durch das Fenster geblickt haben und wo mein Freund geblieben ist. Ich habe gesagt, wir hätten gedacht, daß Herr Wormser hier wohnt, weil sein Wagen hier manchmal 88
stehen würde. Und da hätten wir eben einen Blick durch das Fenster werfen wollen, weil hier nirgendwo ein Namensschild zu entdecken gewesen sei." „Und darauf ist er reingefallen?" fragte Tommi zweifelnd. TH zuckte mit den Schultern. „Natürlich nicht, aber ich wollte doch nur mal sehen, wie der reagiert. Mann, hatte der ein Kreuz. Wenn der mich richtig in die Mangel genommen hätte, wäre ich jetzt Brei." Er rieb sich mit der anderen Hand über den Arm. „Aber dann kam der Mann aus dem Haus, dem wir hinterhergelaufen sind", erklärte er. „Der Boxer hat ihm erzählt, daß er uns beim Herumschnüffeln erwischt hätte, und ich tischte dem Typ die gleiche Erklärung auf. Dann meinte der zu seinem Kumpel, er solle mich laufenlassen." „Und das hat er getan?" TH nickte. „Eigentlich war der junge Mann sehr freundlich", sagte er. „Er hat mir auch gesagt, daß es einen Herrn mit Namen Wormser dort nicht gäbe. Dann hab' ich gemacht, daß ich wegkam. Ich wollte es nicht zu weit treiben. Vielleicht hätten die doch noch Verdacht geschöpft." „Wenn sie es nicht schon getan haben", sagte Tommi düster. TH legte den Kopf schief. „Wieso?" „Weil Wormser abgehauen ist", erklärte Tommi mit einer Kopfbewegung zum Haus hin. „Vor ein paar Minuten. Mit einem ganzen Kofferraum voller Akten." „Das ist doch kein Verbrechen, oder?" fragte Milli. Tommi zog es vor, nicht darauf zu antworten. „Ich glaube immer mehr, daß er etwas mit den gestohlenen Elektrogeräten zu tun hat", sagte er. „Wenn man nur mehr über ihn erfahren könnte ... Niemand weiß etwas 89
über ihn, auch nicht, woher er sein Geld hat, was für Geschäfte er betreibt..." „Vielleicht hat er das Geld geerbt", schlug Schräubchen vor. „So etwas soll es ja geben. Vielleicht hatte er eine reiche Tante oder so." „Oder im Lotto gewonnen, wie?" schnappte Tommi. „Das glaube ich einfach nicht", sagte TH. „Der sieht nicht so aus wie einer, der eine reiche Tante hat." „Oder Lotto spielt", murrte Tommi. Und plötzlich hellte sich sein Gesicht auf. „Ich hab's!" rief er. „Er ist ein langgesuchter Bankräuber und hält sich hier in unserem kleinen Ort versteckt." Milli seufzte. „Jetzt spinn nicht rum", meinte TH. „Wir haben auch so schon Ärger genug. Wenn der sich hier versteckt hält, kauft er nicht die alte Villa und fährt öffentlich mit seinem dicken Wagen herum. Der muß sich darüber im klaren sein, daß er damit auffällt." „Stimmt", erwiderte Tommi und zog eine Grimasse. „Aber es wäre schön gewesen, oder?" „Es könnte ja sein, daß er lange Jahre im Ausland war, dort gespart hat", sagte Milli. „Oder- " „Quatsch!" erwiderte TH nachdrücklich. „Jetzt hört endlich auf rumzublödeln. Ich meine es ernst." „Ich auch", sagte Milli. „Entweder wir gehen logisch an die Sache ran, oder wir vergessen sie. Irgendwelchen Leuten hinterherzuschnüffeln und Ratespielchen zu spielen, dazu habe ich keine Lust." „Also gut", sagte Tommi. „Dann mit Logik. Was ist mit seinem Auftauchen bei der alten Fabrik? Was wollte er da?" „Vielleicht gehört sie ihm", schlug Schräubchen vor. „Er heißt Wormser, nicht Schnitzler", belehrte Tommi sie. „Aber weiter: In seinem Wagen waren doch auch 90
solche Kartons - erinnert ihr euch? Die sahen denen in der Lagerhalle verdammt ähnlich." „Alle Kartons ähneln sich mehr oder weniger", sagte Milli. „Sag mal, auf welcher Seite stehst du eigentlich?" fragte Tommi scharf. „Du hast recht", sagte Schräubchen, an Tommi gewandt und eine Spur zu hastig, um sich nicht anmerken zu lassen, daß sie eigentlich nur redete, um einen Streit zwischen Milli und ihm zu verhindern. „Irgendwas stimmt nicht mit diesem Wormser. Und ich denke immer noch darüber nach, woher ich den Mann kenne, der vorhin aus dem Haus gekommen ist und dem ihr hinterhergeschlichen seid. Ich komme aber nicht darauf..." „Wird dir schon einfallen." Tommi stand auf. „Hier herumzusitzen und ein leeres Haus zu bewachen, hat jedenfalls nicht mehr viel Zweck, finde ich. Ich verkrümele mich jetzt." „Wir wollten doch eigentlich noch zu Ashim", erinnerte TH die Pizza-Bande. Tommi nickte und sah auf seine Armbanduhr. „Ich kann nicht mehr mit, tut mir leid. Ich muß nach Hause. Nur noch heute, dann sind Luigi und meine Schwester wieder da." Auch den anderen war es mittlerweile zu spät geworden, und so machten sich alle auf den Nachhauseweg.
Es spricht sich herum Die neue Woche begann wie jede andere Woche auch mit einem Unterschied: Nur noch ein paar Schultage, 91
dann gab es Ferien. Die Kinder machten Pläne, wie sie die freie Zeit verbringen würden, und selbst ein paar Lehrer waren unruhiger und nervöser als sonst. Tommi ertappte Herrn Steiner mehr als einmal dabei, insgeheim auf die Uhr zu sehen und dabei die Stirn zu runzeln, als ginge auch ihm die Zeit nicht schnell genug vorbei. In Sachen Wormser und Co tat sich vorerst nichts mehr. Wie versprochen, war TH noch einmal zu Ashim gegangen, aber er hatte keine Neuigkeiten mitgebracht. Die Polizei war nicht wiedergekommen. Dafür geschah etwas anderes: Es dauerte eine Weile, bis Ashim damit herausrückte; was TH befürchtet hatte, schien sich zu bewahrheiten: Das Geschäft lief nicht mehr. Als TH am Mittwoch nachmittag auf dem Sportplatz war, um für seinen Verein zu trainieren, entdeckte er Ashim am Rand des Spielfeldes. Er wedelte eifrig mit den Armen. TH hob die Hand und spreizte alle fünf Finger, um ihm anzudeuten, er solle noch ebenso viele Minuten warten. Ashim schien ihn verstanden zu haben, denn er nickte und ließ sich auf einer der unbequemen niedrigen Holzbänke am Platzrand nieder. Endlich erschien TH am Spielfeldrand und fragte: „Was ist los, Ashim?" Er erschrak ein bißchen, als er den Ausdruck auf Ashims Gesicht sah. Was er aus der Entfernung für bloße Ungeduld gehalten hatte, war Nervosität, gemischt mit einem guten Schuß purer Verzweiflung. „Ist was Schlimmes passiert?" fügte er hinzu. Ashim nickte. „Das kann man wohl sagen", antwortete er niedergeschlagen. „Mein Vater hat das Geschäft geschlossen." Seine Schultern bebten. „Geschlossen?" keuchte TH. „Was ... was soll das heißen?" „Geschlossen heißt geschlossen", sagte Ashim. Er 92
starrte zu Boden und malte mit der Fußspitze unregelmäßige Kreise in den Sand. „Aus. Finito. Sense. Schluß." Er atmete tief ein und wieder aus. In THs Ohren klang es wie ein Schluchzen, und wahrscheinlich war es das auch. Zögernd setzte er sich neben Ashim auf die Bank und wartete, bis der Freund weitersprach. Es dauerte lange. „Heute morgen war ein Mann im Laden und hat einen Videorecorder reklamiert", berichtete Ashim. „Er hat gesagt..." Ashim stockte. Es fiel ihm sichtlich schwer, weiterzusprechen. „Er hat gesagt, mit dem Gerät wäre irgendwas nicht in Ordnung, aber das wäre ja auch kein Wunder. Geklaute Ware hätte eben immer irgendwelche Macken." „Was???" Ashim nickte traurig. Seine Augen schimmerten feucht. „Ja, und als mein Vater dann fragte, wie er auf so etwas käme, hat der Mann geantwortet, daß es ja kein Wunder sei, und das hätte er jetzt davon, daß er nicht in einem ordentlichen deutschen Geschäft seine Ware kauft. Er hätte es gut gemeint, aber von solchen Leuten könne man wohl nichts anderes erwarten. Und nun ... " Der Junge brach ab. Er kämpfte jetzt mit aller Macht gegen die Tränen an. „Das ist ja ..." TH fehlten die Worte. „Das ist eine bodenlose Frechheit", flüsterte er schließlich. Ashim sprach weiter. „Und dann hat der Mann sein Geld zurückverlangt und gemeint, er würde jedem erzählen, was ihm passiert sei, um die anderen Leute davor zu warnen, Hehlerware zu kaufen." „Das ist eine Unverschämtheit! Und - " „Aber das ist noch nicht alles", unterbrach ihn Ashim mit leiser, bitterer Stimme, in der sich Schmerz und 93
Zorn mit noch etwas anderem mischten; etwas Neuem, etwas, das TH beinahe Angst machte. „Heute morgen hatte jemand mit Farbe auf die Fensterscheibe unseres Geschäfts ,Türken raus' geschrieben. Mein Vater will nicht mehr. Er sagt, es reicht ihm." „Das ist wirklich gemein", murmelte TH. Er spürte selbst, wie wenig diese Worte jemanden wie Ashim trösten konnten. Das sprach sich so leicht aus - aber es war schwer. Manchmal unmöglich, begriff er plötzlich. „Solche Menschen gibt es überall", fuhr er fort. „Die warten nur darauf, daß sie so ein Geschmiere von sich geben können. Das dürft ihr einfach nicht persönlich nehmen." „Das sagst du so. Aber die Sache geht weiter. Heute morgen waren noch mehr Kunden im Geschäft und wollten ihre Geräte zurückgeben. Sie meinten, es wäre ihnen schon von Anfang an komisch vorgekommen, daß mein Vater alles so preiswert verkauft. Sie wollten mit geklauten Sachen nichts zu tun haben. Und er solle ihnen ihr Geld wiedergeben. Mein Vater hat ihnen versichert, daß das alles nur ein Mißverständnis sei, aber sie haben darauf bestanden. Also hat er das Geld zurückgegeben, die Ware zurückgenommen und dann den Laden geschlossen." Tränen liefen dem Jungen nun über die Wangen. „Er hat gemeint, es hätte keinen Sinn mehr." „Nun beruhige dich mal wieder. Es wird sich schon alles aufklären." TH blickte zu Boden und dachte einen Moment nach. „Er hat geweint", sagte Ashim. „Vorhin, als er die Jalousien heruntergelassen hat. Er ... er glaubt sicher, daß ich es nicht gemerkt habe, aber ich habe es gesehen. Ich habe Angst um ihn, Walther." 94
„Ich glaube, wir müssen endlich etwas unternehmen", flüsterte TH.
Es tut sich was „Ich glaube, wir müssen endlich etwas unternehmen!" THs Stimme überschlug sich fast vor Erregung, als er den Satz eine halbe Stunde später laut wiederholte, während er mit seinen Freunden von der Pizza-Bande zusammensaß. „Das geht so nicht weiter. Ashims Eltern gehen an der Sache kaputt." Er schnippte mit den Fingern. „Einfach so." „Wir müssen ihnen helfen", sagte Tommi. „Stimmt schon. Aber wie? Hast du Lust, dich noch einmal mit dem Fleischklops anzulegen?" TH schüttelte hastig den Kopf und rieb sich den Oberarm, der allein bei der Erinnerung an die häßliche Szene schon wieder weh zu tun schien. „Ich schlage vor, wir fahren noch einmal zu dem alten Fabrikgelände. Vielleicht können wir dort irgendwas rausfinden." „Und was?" wollte Milli wissen. Tommi holte tief Luft und polterte los: „Zum Beispiel, ob du überhaupt noch - " „Ich hab' eine Idee", unterbrach ihn TH hastig. „Wartet einen Moment hier. Vielleicht klappt's ja." „Was?" erkundigte sich Milli mißtrauisch. Aber TH grinste nur, stand auf und verließ im Sturmschritt die Einsatzzentrale der Pizza-Bande, ohne mehr als diese geheimnisvolle Äußerung getan zu haben. Es dauerte fast zehn Minuten, bis er zurückkam, aber er ignorierte die bohrenden Fragen der anderen auch 95
dann noch und verkündete nur - in auffallend aufgeräumtem Ton -, daß er ,soweit' sei und sie jetzt losfahren könnten. Und da die anderen ihn kannten, versuchten sie nicht, noch etwas aus ihm herauszubekommen, sondern fuhren los. Nicht lange danach stellten sie ihre Räder wieder in dem kleinen Wäldchen hinter der ehemaligen Fabrik ab und näherten sich dem Grundstück. Anders als beim ersten Mal herrschte heute ein reges Kommen und Gehen auf dem Gelände. Das große Tor der Lagerhalle stand offen. Schatten bewegten sich dahinter, und ab und zu konnten sie Stimmen hören, ohne allerdings die Worte zu verstehen. Der Transporter, den TH und Tommi auf dem Hinterhof entdeckt hatten, stand heute vor dem Tor zur Fabrikhalle; beide Türen des Wagens waren weit geöffnet. Auf der Ladefläche stapelten sich braune und graue Kartons. Tommi wollte etwas sagen, aber Milli legte hastig den ausgestreckten Zeigefinger über die Lippen und deutete zur Halle. Ein hochgewachsener, sehr hagerer junger Mann war aus dem Tor getreten, einen gewaltigen Kartonstapel auf den ausgestreckten Armen balancierend. Nach der Art, wie er sich bewegte, mußten sie ziemlich schwer sein. „Das ist doch - ", flüsterte Schräubchen. „Der Typ, den wir verfolgt haben", sagte TH und nickte. „Genau der. Also stimmt hier wirklich was nicht." Milli bedeutete ihm abermals, still zu sein, und diesmal hielt TH auch tatsächlich die Klappe. Schweigend sahen sie zu, wie der junge Mann mit seiner Last zu dem Lieferwagen ging und die Kartons ungeschickt hineinstapelte. Dann schlug er die Türen zu und setzte sich 96
hinter das Steuer. Er mußte drei oder vier Anläufe nehmen, ehe der altersschwache Motor des Wagens endlich hustend und qualmend zum Leben erwachte, aber schließlich hatte er es geschafft. Kurz darauf verließ der Wagen das Gelände. Die Kinder hockten immer noch hinter dem Gebüsch und warteten. Ein paar Minuten später bog die ihnen bereits sattsam bekannte dunkle Limousine um die Ecke und blieb vor der Eingangstür stehen. Herr Wormser stieg aus, schlug die Wagentür hinter sich zu und betrat das Gebäude. „Ha!" sagte TH. „Volltreffer, würde ich sagen." Gespannt hockten die Kinder in ihrem Versteck. Zu gern wären sie jetzt in der Halle gewesen, um zu hören, was dort gesprochen wurde. Aber TH verwarf den Gedanken, sich hinüberzuschleichen und Mäuschen zu spielen, fast ebenso schnell wieder, wie er ihm gekommen war. Das Risiko war zu groß. Wormser war bereits gewarnt. Noch eine Kleinigkeit, und die ganze Bande verschwand auf Nimmerwiedersehen in der Versenkung ... Aber es dauerte nicht lange, und Wormser trat wieder heraus. In seiner Begleitung befand sich der Mann mit der Zigarre, den die beiden Jungen im Büro der ehemaligen Werkstatt gesehen hatten. „Das nächste Teil des Puzzlespieles", dachte TH grimmig. „Und die wissen also nicht einmal, wer dieser Wormser sein soll, wie?" knurrte Tommi. Nun, zumindest der Dicke schien dies sehr genau zu wissen: Er schlug Wormser jovial auf die Schulter und reichte ihm dann die Hand. Wormser ergriff sie, schüttelte sie übertrieben heftig und ging dann zurück zu seinem Wagen. Er bewegte sich noch immer sehr 97
schnell, aber er machte trotzdem einen zufriedenen Eindruck. So, als wäre ihm gerade ein phantastisches Geschäft gelungen ... Als er zurücksetzte, streckte er noch einmal den Arm aus dem Fenster, um dem Dicken mit der Zigarre einen Gruß zukommen zu lassen. Fragend sahen sich die Kinder an. Der Mann war wieder ins Haus gegangen, nachdem Wormsers Angeber-Wagen im Wald verschwunden war. TH deutete den anderen mit einer Kopfbewegung an, ihm zu folgen, und so gingen sie zurück zu der Stelle, wo sie ihre Räder zurückgelassen hatten. Zumindest konnten sie sich hier unterhalten, ohne Gefahr zu laufen, daß sie gehört wurden. „Ich hab' es gewußt!" rief TH aus, während er sich ins Gras fallen ließ. „Ich hab's gewußt!" wiederholte er und sah seine Freunde triumphierend an. „Er steckt mit denen - ", er deutete mit dem Daumen über die Schulter zurück zur Fabrik, „ ... unter einer Decke. Die stehlen die Sachen, und er verkauft sie. Teilweise transportiert er sie in seinem Wagen, teilweise wird alles mit dem Kombi weggeschafft." „So muß es sein", sagte Tommi. „Wir haben sie!" „Immer langsam mit den jungen Pferden!" sagte MÜH. Tommis Augen blitzten auf. „Natürlich", knurrte er. „Wer auch sonst. Du - " „Irgendwie gefällt mir die ganze Sache nicht", fuhr Milli unbeeindruckt fort. „Ich bin einfach noch nicht ganz davon überzeugt, daß der mit drin steckt. Das sind alles keine Beweise, Leute." „Was willst du denn noch?" empörte sich Tommi. „Daß wir Wormser mit einem Brecheisen in der Hand in einem Geschäft erwischen?" „Ja, das wäre ein Beweis", sagte Milli gelassen. „Je98
denfalls kann ich mir lebhaft vorstellen, was Inspektor Mauser zu unseren ,Ermittlungen' sagt." Tommi schnaubte erregt. „Meinst du, Wormser war nur zufällig hier? Und auch am letzten Sonntag, als wir ihn hier mit seinem Wagen gesehen haben?" fragte er ärgerlich. „Das glaubst du doch wohl selbst nicht! So viele Zufälle gibt's gar nicht!" „Nein", stimmte TH ihm zu, „ich glaube auch nicht, daß es Zufall war. Der steckt mit drin, oder ich fress' einen Besen." „Nun, hoffentlich schmeckt er dir." Milli war leicht beleidigt. „He, Schräubchen, was ist mit dir los?" Tommi stieß die Freundin sanft an. „Träumst du, oder was ist?" Schräubchen hatte tatsächlich die ganze Zeit stumm dagesessen und nicht einmal richtig zugehört. Jetzt schrak sie zusammen, blinzelte schuldbewußt und rettete sich in ein verlegenes Lächeln. „Ich ... entschuldige, aber ich denke immer noch nach, woher ich den Mann kenne." „Den jungen?" Schräubchen nickte und biß sich nachdenklich auf die Unterlippe. „Und ich glaube, ich weiß es jetzt", sagte sie. „Er hat früher bei Herrn Schneidereit gearbeitet. Ich bin mir fast sicher. Er hat bei uns schon mal den Fernseher repariert, zusammen mit Herrn Schneidereit. Daher kam er mir so bekannt vor." „Stimmt", sagte Milli. Sie richtete sich auf und nickte heftig. „Jetzt, wo du es sagst ... Bei uns war er auch schon mal. Jetzt wo du es gesagt hast, weiß ich es wieder. Er hat auch unseren Fernseher repariert. Aber das ist schon länger her." „Ja, und irgendwann habe ich gehört, daß er dann seine Stelle gekündigt hat, angeblich, weil er eine 99
bessere gefunden hat", fügte Schräubchen hinzu. Tommi blickte finster zwischen den beiden Mädchen hin und her, während TH äußerst erfreut aussah. „Na bitte, da haben wir ja schon die Verbindung." TH stand auf und begann, aufgeregt hin und her zulaufen. „Was ich gesagt habe! Der Mann kennt durch seine Arbeit die Kunden und weiß also genau, wer so was braucht. Sie stehlen die Sachen bei der Elektro-AG und verkaufen sie dann weiter. Natürlich zu Sonderpreisen." „Aber ich glaube nicht, daß Herr Özkul so etwas tun würde." Milli sah traurig aus. „Hast du nicht vor ein paar Tagen noch gesagt, daß wir gar nichts über ihn wissen?" fragte Tommi spitz. „Stimmt. Aber das paßt einfach nicht zu ihm", beharrte Milli. „Das glaube ich auch nicht," sagte TH. „Aber ich nehme an, daß Herr Schneidereit solche Sachen gekauft hat - vielleicht sogar, ohne es zu wissen. Den hat das Geschäft doch in den letzten Jahren kaum noch interessiert. Vielleicht hat der Mann gesagt, er hätte besondere Beziehungen. Und der alte Mann hat vielleicht gedacht, daß er nie wieder so billig an diese Geräte kommen würde. Und so ein alter Mann wird auch nicht so schnell mißtrauisch." „Du glaubst wohl auch, daß jeder, der älter ist als dreißig, automatisch blöd sein muß, wie?" fragte Milli. „Nein, aber Schneidereit war wirklich alt. Und schon ein bißchen ... komisch. Ich hab' mal ein paar Batterien bei ihm gekauft - das war vielleicht ein Aufstand. Er hat zehn Minuten gebraucht, um drei Preise zusammenzurechnen, und sich dann noch kräftig vertan." „Zu wessen Gunsten?" wollte Milli wissen. 100
TH grinste und betrachtete plötzlich höchst konzentriert eine Wolke, die am Himmel vorbeizog. „Mensch, du hast wirklich recht. So könnte es gewesen sein." Tommi blickte seinen Freund voller Bewunderung an. „Wir sind ihnen auf der Spur, Freunde. Es paßt alles. Noch so viel", er schnippte mit den Fingern, „und wir haben sie!" „Vielleicht sollten wir mal mit Inspektor Mauser darüber sprechen", meinte Schräubchen, die der Polizist besonders gut leiden konnte. „Ich meine ..., wenn ihr recht habt, dann könnten die Typen gefährlich werden." „Hast du etwa Angst?" erkundigte sich TH spöttisch. „Nein", antwortete Schräubchen. „Aber wenn wir einen Fehler machen und sie verscheuchen, dann ist es um Ashims Vater geschehen. Wollt ihr, daß er seinen Laden zumachen muß und pleite geht?" „Natürlich nicht", antwortete Tommi. „Aber wir haben doch keinerlei Beweis." Er deutete mit einer Kopfbewegung auf Milli. „Ich gebe es ungern zu, aber sie hat recht. Wir haben noch keinen richtigen Beweis." „Dann müssen wir eben welche besorgen", entschied TH.
Weitere Entdeckungen Als die vier von der Pizza-Bande an dem Ausflugslokal „Zum Grünen Hof" vorbeikamen, herrschte dort reger Betrieb. Sie waren schon an der Einfahrt vorbeigefahren, als Tommi dem vor ihm fahrenden 101
TH hinterherpfiff. „Was ist los?" TH drehte sich um. „Der Wagen." Tommi machte eine entsprechende Kopfbewegung. „Ich glaube, ich habe ihn auf dem Parkplatz des Lokals gesehen." „Wormsers Schlitten?" „Nein, den Transporter", sagte Tommi. „Die Rostlaube ist unverwechselbar." TH bremste ab. Die Mädchen hatten gehört, was Tommi gesagt hatte, und stiegen ebenfalls von den Rädern. „Was der wohl hier will?" fragte Tommi. „Vielleicht hatte der Fahrer Durst?" meinte Schräubchen. „Oder mußte mal", fügte Milli hinzu. Tommi bedachte sie mit einem finsteren Blick. „Das wäre ja auch zu schön gewesen", dachte er. Aber statt wieder über Milli herzufallen, zuckte er nur mit den Schultern und versuchte es zur Abwechslung mit einem konstruktiven Vorschlag. „Warum sehen wir nicht einfach mal nach?" Überraschenderweise hatte Milli nichts dagegen einzuwenden, und so schoben sie ihre Räder das kurze Stück zurück. Dann betraten sie den Parkplatz. Tommi hatte sich nicht getäuscht: Der Transporter stand da, aber es kam den Kindern vor, als wäre er eher dort versteckt, denn der Fahrer hatte ihn relativ dicht an ein Gebüsch herangefahren. Es schien, als wolle er nicht, daß der Wagen auf Anhieb gesehen wurde. Die vier näherten sich dem Kombi und blickten vorsichtig in die Fahrerkabine. Sie war leer. Und der Blick auf die Ladefläche war durch eine Wolldecke versperrt, die wie ein Vorhang hinter die beiden Sitzbänke gespannt worden war. 102
Plötzlich hörten sie, daß sich ihnen Schritte auf dem Kiesweg näherten. Schnell liefen sie zu den Büschen und versteckten sich dort, so gut es ging. Sie schoben die Zweige etwas zur Seite und beobachteten, was geschah. Der Fahrer des Transporters ging zum hinteren Teil des Wagens und öffnete die Türen. Er beugte sich hinein und kam kurz darauf mit einem großen, hellgrauen Karton wieder zum Vorschein. „Ein Videorecorder mit Stereo", flüsterte Tommi hinter vorgehaltener Hand, „Es steht auf dem Karton. Ich kann es genau lesen." „Kannst du auch die Nummer erkennen?" fragte TH. Tommi blickte ihn fragend an, dann schüttelte er den Kopf. „Wieso?" TH zuckte enttäuscht mit den Schultern. „Schon gut. Paß lieber auf, was der Kerl tut." Der Fahrer hatte die Türen geschlossen und war ins Haus zurückgegangen. Nach einigen Minuten erschien er wieder, blickte sich vorsichtig nach allen Seiten um und ging zu seinem Wagen. Bevor er einstieg, steckte er etwas in die Brusttasche seines hellblauen Hemdes, aber die vier konnten nicht erkennen, um was es sich handelte. Er startete den Wagen und setzte vorsichtig zurück, ohne die Kinder zu entdecken. Als der Wagen verschwunden war, krochen sie aus den Büschen und blieben für einen Moment stehen. „Der verkauft die gestohlene Ware direkt", meinte Tommi und sah nachdenklich in die Richtung, in die der Wagen gefahren war. „So eine Art fliegender Händler. Nur daß er keine Teppiche hat, sondern heiße Videogeräte. Eigentlich müßte er Asbesthandschuhe tragen." Er sah dem davonfahrenden Wagen enttäuscht nach. Dann wandte er sich wieder an TH. 103
„So, und jetzt raus mit der Sprache - was weißt du?" „Nichts." TH zögerte einen Moment, dann griff er in die Hosentasche und zog einen total zerknautschten Zettel heraus. Als er ihn auseinanderfaltete und über dem rechten Knie glattstrich, erkannten die drei anderen, daß es sich um die Fotokopie einer Liste handelte. „Das ist eine Aufstellung der gestohlenen Waren", sagte er. „Die Polizei hat sie wohl bei Ashims Vater vergessen. Ich dachte mir, wenn wir die Nummern vergleichen ..." Er seufzte, faltete den Zettel zusammen und blickte fast sehnsüchtig zum Restaurant hinüber. „Wenn du das denkst, was ich gerade denke, daß du es denkst", sagte Milli, „dann vergiß es lieber." „Wir können da nicht einfach reinspazieren und die Nummer vergleichen." Zu THs Überraschung war es gerade Tommi, der Milli zustimmte. „Die schmeißen uns hochkantig raus." „Ja," TH seufzte. „Ich fürchte, du hast recht. Und Wormser und sein zigarrerauchender Freund sind dann gewarnt. Wir müssen nun wirklich mit Inspektor Mauser reden." Er sah Milli an. Aber diesmal hatte sie nichts mehr dagegen.
Bei Inspektor Mauser Der Inspektor hörte sich an, was die Kinder ihm zu erzählen hatten, ohne sie auch nur einmal zu unterbrechen. Als sie geendet hatten, lehnte er sich in seinem Schreibtischsessel zurück und sah sie der Reihe nach sehr nachdenklich an. 104
„Das klingt ja wirklich toll", sagte er nach einer Weile. „Schon ein bißchen zu toll, findet ihr nicht? Eine richtige Räuberpistole." „Aber wir haben - !" Mauser hob rasch und beruhigend die Hand, als TH auffahren wollte. „He, he, langsam, junger Freund", sagte er. „Ich sage ja nicht, daß ihr lügt oder euch das alles nur einbildet. Aber ich glaube, eure Phantasie geht diesmal ein wenig mit euch durch." Sofort begannen alle vier auf ihn einzureden. Sie sprachen wild durcheinander, so daß Mauser diesmal beide Hände hob, um sie zur Ruhe zu bringen. Als das nichts nützte, knallte er die Faust auf den Tisch. Und das wirkte. Tommi, TH, Milli und Schräubchen hörten abrupt auf zu reden und blickten ihn betroffen an. „Also - einer nach dem anderen", sagte Mauser mit übertrieben geschauspielerter Strenge. „Ich habe ja nicht gesagt, daß ich euch nicht glaube, oder? Aber ..." Wieder hob er die Hand, da TH schon den Mund geöffnet hatte, um ihm ins Wort zu fallen. „... das klingt alles so einfach. Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß die Bande sich so dumm benimmt, daß sie gleich auffällt. Wenn es überhaupt eine Bande gibt." „Sie glauben uns nicht", sagte TH enttäuscht. „Glauben ..." Mauser betonte das Wort auf eine Art und Weise, die die vier aufhorchen ließ. „Es spielt eigentlich gar keine Rolle, ob ich euch glaube oder nicht", fuhr er nach einer Weile fort. „Da ist etwas, das ich euch eigentlich gar nicht erzählen dürfte." Er blickte jedem der vier in die Augen. „Aber ich kenne euch lange genug, um euch vertrauen zu können." Er blickte jetzt auf seinen Schreibtisch und zog einen grauen Aktenordner aus einer Schublade. „Wir haben schon länger den Verdacht, daß diese 105
wie heißt sie doch gleich -, ach ja, Strohn GmbH in der Winterstraße nicht ganz sauber ist." „Das ist doch diese Firma im Hinterhaus, wo der Bullige mich erwischt hat", sagte TH. Ein triumphierendes Lächeln huschte über sein Gesicht. „Ich habe ja gleich gesagt, daß da was nicht stimmt." Mauser dämpfte mit einer entsprechenden Handbewegung THs Begeisterung. „Immer mit der Ruhe. Genau, es ist ein Haus im Hinterhof. Ich glaube, früher war da einmal eine Autowerkstatt. Dort befindet sich jetzt die Strohn GmbH. Angeblich repariert man dort defekte Elektro-Großgeräte. Wie wir herausgefunden haben - das bleibt aber unter uns, verstanden?" Eindringlich blickte er die Kinder an. Sie nickten der Reihe nach. „Also, wie wir herausgefunden haben, arbeitet diese Firma mit der Firma Schnitzler in Rodenberg zusammen." „Die alte Lagerhalle", entfuhr es Milli. „Genau, die alte Lagerhalle", wiederholte Inspektor Mauser. „Dort besorgt man sich angeblich die Ersatzteile für die Großgeräte. Und nun geht das Gerücht um, daß man bei der Strohn GmbH auch fabrikneue Geräte kaufen kann." „Das erklärt auch, warum der Kombi vor dem Restaurant stand und warum dieser Kerl den Karton mit dem Videorecorder reingetragen hat. Wahrscheinlich hat er den Leuten einen besonders guten Preis gemacht. Und die haben natürlich sofort zugegriffen." Walthers Gesicht hatte sich gerötet. „Das paßt alles wie die Faust auf Werners Auge!" Mauser blickte ihn eine Sekunde lang irritiert an und fuhr dann fort: „Nun, diese Strohn GmbH scheint sauber zu sein. Wir konnten denen nichts nachweisen." 106
„Aber Sie sagten doch selbst, daß es Gerüchte ...", meinte TH. „Eben", unterbrach ihn Mauser. „Aber mit Gerüchten und mit scheint und könnte und vielleicht kann ich keinen Durchsuchungsbefehl erwirken, wißt ihr?" „Und diese Firma Schnitzler? Haben Sie dort nichts gefunden?" „Leider nicht. Es ist das alte Problem - wir können ihnen nichts nachweisen. Wir haben die Unterlagen dieser sogenannten Firma überprüft und alles ganz genau unter die Lupe genommen. Fehlanzeige. Keines der Geräte, die sich dort befanden, gehörte zu den gestohlenen Sachen. Wahrscheinlich hat diese Strohn GmbH die Firma Schnitzler gewarnt, so daß man dort auf unseren Besuch vorbereitet gewesen war." „Klar", spann Tommi den Faden weiter, „und die Strohn GmbH hat nur die Geräte, die zu reparieren sind. Die gestohlenen befinden sich woanders." „Richtig. So weit sind wir auch. Aber wir müßten ihnen das wirklich nachweisen können. Das heißt, sie auf frischer Tat ertappen. Erst dann könnten wir mit einem Durchsuchungsbefehl rechnen. Ohne Beweis ist da nichts zu machen." „Auf frischer Tat ertappen ..." Milli starrte auf ihre wippenden Fußspitzen. „Das wäre doch eine Möglichkeit." „Woran denkst du?" fragte Tommi. Plötzlich begannen seine Augen zu glänzen. „Ihr wollt doch wohl nicht - ", protestierte der Inspektor. Aber ehe er sich's versah, standen die vier schon an der Tür und riefen: „Bis später, Herr Inspektor. Vielen Dank, daß Sie uns zugehört haben." Und damit hatten sie schon den Raum verlassen. 107
Kopfschüttelnd sah der Inspektor den Kindern nach und griff zum Telefonhörer. Aber richtig unzufrieden wirkte er eigentlich nicht...
Schnapp! Es war das dritte Mal, daß sich die Pizza-Bande der alten Fabrikhalle mitten im Wald näherte, aber Tommi, Milli, Schräubchen und TH waren viel aufgeregter als zuvor, was ja auch kein Wunder war. Schließlich war es eine Art Premiere. Es war weiß Gott nicht das erste Mal, daß sie sich irgendwo an- oder einschlichen, aber ganz bestimmt das erste Mal, daß sie es mit dem festen Vorsatz taten, sich erwischen zu lassen. Trotzdem trafen sie natürlich gewisse Sicherheitsvorkehrungen. Diesmal stellten sie die Räder an einer Stelle ab, die näher am Fabrikgelände lag. Sie wollten sich damit den Weg verkürzen und sie bei einer eventuellen Flucht (die ja trotz allem durchaus nötig werden konnte) schneller erreichen. Sie schlössen die Räder auch entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit nicht ab. Milli hatte den Vorschlag gemacht. Sie war eigentlich nicht sehr feige, ließ sich aber gern bei allem, was sie tat, ein Hintertürchen offen. Keiner der anderen hatte widersprochen. Schließlich handelte es sich bei Wormser & Co, sollte sich ihr Verdacht bestätigen, um wirkliche Kriminelle. Und es gab nicht sehr viel, was dagegen gesprochen hätte ... Als sie an ihrem gewohnten Platz hinter den Büschen hockten, entdeckten sie wieder den Kombi, der mit weit 108
geöffneten Türen vor dem Eingang stand. Durch die offene Tür der Lagerhalle konnten sie Stimmengemurmel vernehmen. Aber sonst war weit und breit kein Mensch zu sehen. TH starrte wie gebannt auf den Wagen und schien nachzudenken. Dann stieß er Milli leicht mit dem Ellenbogen in die Seite, legte aber gleichzeitig den Zeigefinger auf die Lippen. Fragend sah ihn das Mädchen an. Er beugte sich näher zu ihr herüber und flüsterte: „Hast du noch Zucker in der Tasche?" Die Frage war eigentlich überflüssig, denn Milli hatte die Angewohnheit, immer Zucker in der Tasche zu haben, um damit Pferde, die sie tagsüber und auf ihren Radtouren traf, zu füttern. Milli liebte Tiere über alles. Sie nickte und griff in die Hosentasche. Als sie die Hand herauszog, hielt sie ein halbes Dutzend Zuckerwürfel darin. „Heute frisch nachgefüllt", sagte sie so leise sie konnte. „Was willst du denn damit? Hast du schon wieder Hunger?" TH lächelte flüchtig, nahm den Zucker an sich und legte wieder den ausgestreckten Zeigefinger auf die Lippen. Dann zeigte er auf den Zucker in seiner anderen Hand und dann auf den Transporter. Fragend sahen ihn die anderen an. Sie schienen nicht zu verstehen, was er meinte. „Kommt mal näher", flüsterte TH. „Ich werde rüberschleichen und diesen Zucker in den Benzintank des Wagens stecken", sagte er, als sich die drei anderen direkt neben ihm niedergehockt hatten. „Sie können dann zwar wegfahren, aber - " „Sie werden nicht weit kommen", vollendete Tommi den Satz und strahlte über das ganze Gesicht. Die Idee schien ihm zu gefallen. Kein Wunder - mit Autos 109
kannte er sich mindestens so gut aus wie TH mit Radios und Stereoanlagen. TH nickte. „Aber paß auf", fügte Tommi hinzu. TH nickte abermals, dann richtete er sich hinter der Deckung auf und rannte, so schnell er konnte und in geduckter Haltung, hinüber zum Wagen. Als er am Ziel angekommen war, konnten die anderen von der Pizza-Bande beobachten, wie er sich gegen den Wagen lehnte und zuerst einmal tief Luft holte. Danach schlich er zurück bis etwa zur Mitte des Wagens, wo sich der Tankverschluß befand. Nach einem raschen, sichernden Blick nach beiden Seiten schraubte er mit geübten Bewegungen den Tankdeckel ab und ließ vorsichtig - nicht, ohne sich zwischendurch noch ein paarmal hastig nach allen Seiten umzusehen ein Stück Zucker nach dem anderen in den Tank fallen. Als er damit fertig war, schraubte er den Deckel sorgfältig fest und lief, immer noch geduckt, zu seinen Freunden zurück. Tommi klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. „Gut gemacht", sagte er. „Die werden ihr blaues Wunder erleben, wenn sie abhauen wollen." TH atmete ein paarmal tief ein und aus, ehe er antwortete. Seine Hände zitterten leicht. Er hatte wohl mehr Angst gehabt, als er bereit war, zuzugegeben. „So", sagte er und sah die anderen an. „Jetzt geht's los. Wir machen jetzt richtig Lärm." „Aber unauffällig", fügte Schräubchen kichernd hinzu. Sie verließen ihren Platz und gingen auf die Halle zu. Dabei erzählten und lachten sie so laut, daß in Sekundenschnelle zwei Männer im Rahmen der Eingangstür erschienen. Kunststück - sie hätten taub sein müssen, 110
um den Radau zu überhören, den die vier veranstalteten. „He, ihr da, was wollt ihr hier?" rief einer der beiden. Er war einen Schritt aus der Halle herausgetreten und hatte die Arme in die Hüften gestemmt. Der Ausdruck auf seinem Gesicht wirkte nicht besonders freundlich, aber auch nicht drohend. Er schien eher unangenehm überrascht als zornig über das plötzliche Auftauchen der Kinder zu sein. „Wer? Wir?" Milli deutete mit dem Zeigefinger auf sich selbst und zauberte einen perfekt geschauspielerten Was-habe-ich-denn-getan?-Ausdruck auf ihr Gesicht. „Frag nicht so dumm", antwortete der Mann, nun schon etwas grober. „Was ihr hier macht, will ich wissen!" Sie gingen unbeeindruckt weiter - und dann erkannte TH die beiden auch. Es waren der ehemalige Angestellte von Herrn Schneidereit und der dicke Mann mit der Zigarre. Diesmal war dessen Mundwinkel allerdings leer. „Wir - äh, wir wollen uns nur mal umsehen. Wir haben gehört, hier soll es sehr billige Videorecorder geben", sagte er. Die Augen des jungen Mannes wurden schmal. Er blickte TH auf sonderbare Weise an - und dann schien er sich an etwas zu erinnern... „Bitte?" keuchte er, und diesmal klang es eindeutig drohend. „Ich hör' wohl nicht richtig? Macht sofort, daß ihr wegkommt. Hier ist Privatbesitz. Ihr habt hier nichts verloren." Der junge Mann kam auf die vier zu. „Aber im Ort wird erzählt, daß hier alles viel billiger verkauft wird. Deshalb hat der Türke seinen Laden schon geschlossen. Er kam wohl gegen die starke Konkurrenz nicht an." Schräubchen wuchs über sich selbst 111
hinaus. Sie hätte sich selbst niemals zugetraut, derart unverfroren lügen zu können. „Ja", fügte Tommi hinzu. „Und ich brauchte einen neuen Fernseher." Er kicherte. „Ihr seid ja verrückt!" Der dicke Mann näherte sich den Kindern ebenfalls, die nun einige Schritte rückwärts gegangen waren. „Da hat einer einen Scherz mit euch gemacht. Hier gibt's nichts zu kaufen." „Aber mein Vater hat gesagt, sein Freund hätte gesagt, daß jemand ihm gesagt hat, Inspektor Mauser hätte gesagt, das hier wäre ein ganz heißer Tip." Das war Milli - mit dem ernstesten Gesicht der Welt. TH biß sich auf die Zunge, um ein Lachen zu unterdrücken, während der Dicke und der junge Mann offensichtlich im ersten Moment so ihre Verständnisschwierigkeiten hatten. Dann wurde der Dicke leichenblaß. „Inspektor Mauser?" keuchte er. „Ihr ... ihr verschwindet jetzt auf der Stelle, oder ich hole diesen Inspektor Mauser." Er lachte grimmig. „Mal sehen, was dein Vater dazu sagt, du Kröte!" Er wedelte mit beiden Händen, um die Kinder zu verscheuchen. Der andere tat es ihm nach. „He!" protestierte Tommi. „So können Sie doch nicht mit unserer Freundin sprechen!" Der Dicke beugte sich vor und preßte die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. „Bleibt noch eine Minute", sagte er gefährlich leise, „und du wirst sehen, was ich alles kann." Das reichte. Trotz allem bekam es Tommi jetzt allmählich mit der Angst zu tun, und den anderen erging es keineswegs besser. Also machten alle vier eine Kehrtwendung und liefen in Richtung Wäldchen davon. Sie hielten erst an, als sie die ersten Büsche zwischen 112
sich und die beiden Hehler gebracht hatten, und blieben dann schwer atmend stehen. Alle - bis auf Milli, die anscheinend jetzt endlich auch das Jagdfieber gepackt hatte. „Keine Müdigkeit vorschützen!" rief sie. „Wir müssen wieder zurück und nachsehen, ob sie das tun, was wir von ihnen erwarten." „Und wenn ... wenn nicht?" fragte Schräubchen keuchend und mühsam um Atem ringend. „Helfen wir ein bißchen nach", sagte Milli grinsend. „Hast du deine Liste noch, TH?" „Klar." TH griff in die Hosentasche und förderte die zerknitterte Fotokopie zutage. „Hier." „Dann gib bloß acht, daß du sie nicht im falschen Moment verlierst", sagte Milli augenzwinkernd. Im ersten Moment verstand TH sichtlich nicht, was sie überhaupt meinte. Dann grinste er und schob die Fotokopie wieder in seine Hosentasche, wobei er sorgsam darauf achtete, daß sie ein Stück herausragte und deutlich zu sehen war. Sie schlichen wieder zurück zu ihrem Versteck hinter den Büschen und beobachteten von dort aus den Vorplatz der Lagerhalle. Zunächst geschah gar nichts. Die Kinder wollten schon enttäuscht zurück zu ihren Rädern gehen, als sich die Tür abermals öffnete - und TH einen ,guten alten Bekannten' sah. Der breitschultrige Mann mit dem Boxergesicht öffnete das große Tor und fuhr den Transporter in die Halle. Freundlicherweise ließ er das Tor gleich hinter sich offen, so daß die Kinder sehen konnten, was in der vom Tageslicht noch ausreichend beleuchteten Halle geschah. Der Mann steuerte den Wagen auf die linke Seite, so daß sich die Hecktüren des Wagens vor den aufgestapelten Kartons befanden. Dann begann er, den Wagen vollzupacken. Der Dicke - diesmal wieder mit Zigarre 113
und sein jüngerer Komplize kamen aus dem provisorischen Büro, jeder einen Stapel Akten unter den Armen, die sie ebenfalls in den Transporter warfen. Sie gingen dabei nicht besonders sorgfältig mit den Unterlagen um. Es schien ihnen egal zu sein, ob dabei etwas kaputtging oder nicht. Sie hatten es einfach nur eilig. Sehr eilig. Tommi lächelte vor lauter Zufriedenheit still in sich hinein. Die vier von der Pizza-Bande hatten auch allen Grund, zufrieden zu sein, denn sie hatten erreicht, was sie wollten: Die Ganovenbande hatte Angst bekommen und kannte nur noch ein Ziel: so schnell und so weit weg wie nur irgend möglich! Aber wie von Tommi und TH vorausgesehen, kamen sie nicht weit. Allerdings nicht, weil der Zucker sich mittlerweile im Benzin aufgelöst hatte, sondern weil sich Polizeisirenen aus der Ferne dem Fabrikgelände näherten. Es war wie in einem Krimi, nur spannender, denn dies hier war die Wirklichkeit. Die drei Gestalten im Inneren der Halle wurden plötzlich sehr nervös - und sehr schnell -, und für einen Moment hatte Tommi die Befürchtung, sie könnten es trotz allem schaffen: Der Lieferwagen schoß nämlich mit durchdrehenden Reifen auf das Hallentor zu ... ... und kam im allerletzten Moment zum Stehen. Eine halbe Sekunde noch, und er wäre in den Kühler des Polizeiwagens gekracht, der, wie aus dem Nichts aufgetaucht, aus dem Waldweg hervorschoß und sich quer vor das Tor stellte. „Schnapp!" sagte TH grinsend. „Und da saß die Maus in der Falle!" Tommi lächelte und sah gebannt zu, was weiter geschah. 114
Die Ganoven stiegen mit hoch erhobenen Händen aus dem Wagen, obwohl keiner der Polizisten eine Pistole gezogen hatte. „Nicht nur frech, sondern auch noch feige", witzelte Schräubchen. TH griff in die Hosentasche und zog abermals seine Kopie hervor. „Schade", sagte er mit gespielter Enttäuschung. „Ich hätte zu gerne ihr Gesicht gesehen, wenn ich die verloren hätte." „Warum gehst du nicht hin und holst es nach?" schlug Tommi vor. Und einen Moment lang sah es fast so aus, als wolle TH seinem Vorschlag unverzüglich nachkommen. Aber nur einen Moment - dann knüllte er das Blatt zu einem kleinen Ball zusammen und kickte ihn schwungvoll davon. „Wir haben noch was Wichtigeres zu tun", sagte er. „Uns fehlt noch einer in der Sammlung, nicht wahr?" Die Pizza-Bande saß im Hinterzimmer der Pizzeria Mamma, Gina und diskutierte ihren letzten und, nach einhelliger Meinung, aufregendsten Fall. Auch Ashim war dabei. „War doch ganz gut", meinte Milli, „daß Inspektor Mauser der Ansicht war, wir würden irgendeinen Unsinn anstellen, und dann direkt zum Fabrikgelände gefahren ist. Er kam gerade rechtzeitig." „Wir haben uns ja auch reichlich Mühe gegeben", fügte Tommi hinzu. „Ich kam mir schon richtig lächer115
lieh dabei vor, mich so auffällig blöd zu benehmen." „Wieso?" fragte Milli harmlos. „Du warst doch ganz normal." „Wie immer", versicherte Schräubchen. „Trotzdem war es knapp", fuhr Tommi unbeeindruckt fort. Er hatte sich fest vorgenommen, sich nicht mehr ärgern zu lassen. Wenigstens heute nicht. „Immerhin hätten die drei auch zu Fuß abhauen können." „Sie haben einen großen Fehler gemacht", sagte TH und zog an dem Strohhalm, der in der Cola-Flasche steckte. „Sie hätten sich absetzen und nicht in Sommerberg bleiben sollen. Dann wären sie nicht aufgefallen. Jedenfalls nicht so schnell." „Ja, aber stell dir mal vor, wenn du einen Recorder gekauft hättest, der nicht kaputt gewesen wäre?" Schräubchen biß in die Pizza., die Mamma Gina zur Feier des Tages spendiert hatte. „Richtig. Dann wäre dieser Stein überhaupt nicht ins Rollen gekommen", sagte TH. „Aber ich glaube, irgendwann wären sie doch aufgefallen. Sie waren einfach zu leichtsinnig." Er nahm einen weiteren tiefen Schluck aus seiner Cola-Flasche und sah Ashim an. „Aber dein Vater war auch ganz schön leichtgläubig, nicht?" sagte er, wobei er sich Mühe gab, in seiner Stimme keinen vorwurfsvollen Ton mitklingen zu lassen. „Er hätte sich die Bücher doch etwas gründlicher ansehen sollen." Ashim nickte. „Stimmt. Aber er konnte wirklich nichts dafür." Tommi und TH runzelten gleichzeitig fragend die Stirn. „Inspektor Mauser hat auch mit Herrn Schneidereit gesprochen", sagte Ashim. „Ihr hattet recht, er ist wirklich sehr nett." 116
„Wo war er denn?" fragte Schräubchen. „Schneidereit, meine ich." „Ich dachte, der sei untergetaucht", fügte Milli hinzu. Ashim schüttelte den Kopf. „Ach wo. Er war nur für ein paar Wochen bei seiner Tochter. Und er ist genauso unschuldig wie mein Vater. Herr Schneidereit hat die Geräte wirklich von seinem ehemaligen Angestellten gekauft. Der hat ihm erzählt, es wären Geräte mit kleinen Lackschäden oder welche aus Unfall- und Brandschäden und so weiter. So was kann man manchmal billig kaufen. Aber der alte Mann konnte keinerlei größere Fehler entdecken und war natürlich froh, so preiswert an wertvolle Elektroartikel zu kommen. Er hat auch nicht weiter nachgedacht, sondern hat dem jungen Mann eben vertraut. Der soll schon bei ihm in die Lehre gegangen sein." „Und er hat nie was gemerkt?" fragte Tommi. Ashim zuckte mit den Schultern. „Nein. Der junge Mann hat irgendwann einmal gekündigt, angeblich, weil er einen besseren Job gefunden hat. Aber dieser bessere Job war wohl die Diebesbande. Inspektor Mauser meint, der Junge wäre gar nicht so schlimm, er wäre wohl nur in schlechte Gesellschaft geraten." „Tja, so was soll vorkommen", sagte TH aufgeräumt. Er trank einen Schluck Cola und knallte die ColaFlasche übertrieben laut auf den Tisch. „Aber jetzt ist ja alles wieder in Ordnung." Er grinste breit. „Nicht verzagen, Pizza-Bande fragen. Wann macht ihr denn euren Laden wieder auf?" Bei dieser Frage erlosch Ashims Lächeln. Von einer Sekunde auf die andere wirkte er gar nicht mehr erleichtert, sondern traurig, ja, fast niedergeschlagen. „He!" sagte Tommi alarmiert. „Was ist los?" Ashim druckste einen Moment herum. „Wir gehen 117
zurück nach Augsburg!" stieß er schließlich hervor. „Zurück?!" Tommi richtete sich erschrocken in seinem Stuhl auf, und auch die anderen starrten Ashim fassungslos an. „Aber warum denn das?" „Mein Vater will nicht mehr", antwortete Ashim. „Er sagt, die Vertrauensbasis wäre zerstört. Irgend etwas würde immer hängenbleiben. Es würde sowieso niemand mehr bei ihm etwas kaufen. Wahrscheinlich hat er sogar recht. Und so könnten wir direkt wieder zurück nach Augsburg gehen. Herr ... Herr Schneidereit hat sich bereit erklärt, den Kaufvertrag rückgängig zu machen. Er hat wohl noch einen anderen Interessenten. Und so kommen wir wenigstens ohne Verlust aus der Sache raus." „Ja, sicher, aber..." „Und wenn ich ehrlich sein soll", fuhr Ashim leise fort, „dann bin ich auch fast froh darüber. Mein Bruder wohnt dort und mein Freund Stefan. Ich gehe dann eben wieder in dieselbe Schule wie vorher, und ..." Er ließ den Kopf hängen. „Aber wir sind doch auch deine Freunde", sagte Tommi leise. „Das weiß ich", antwortete Ashim traurig. „Aber mein Vater will eben zurück. Da kann ich nichts machen." „Schade", sagte Schräubchen. Milli beugte sich zur Seite und flüsterte TH etwas ins Ohr. Der nickte zustimmend und gab das Geheimnis leise an die übrigen Mitglieder der Pizza-Bande weiter. Milli stand auf und räusperte sich. „Ich schlage vor, daß wir Ashim zum Ehrenmitglied der Pizza-Bande machen." Überrascht hob Ashim den Kopf und sah die anderen an. „Ich ein Mitglied der Pizza-Bande?" 118
„Na klar", sagte Tommi. „Warum denn nicht? Wir haben nichts gegen Ausländer." „Bestimmt nicht", fügte Milli todernst hinzu. „Immerhin haben wir auch einen Itacker in unserer Mitte, oder?" Tommi spießte sie regelrecht mit Blicken auf und machte eine Handbewegung an der Kehle entlang. „Mach nur so weiter, und du lernst meine sizilianische Verwandschaft kennen", erklärte er mit komisch verstellter, drohender Stimme. Milli lächelte und streckte ihm die Zunge heraus. Tommi wurde schnell wieder ernst. „Ashim, du bist ab sofort Ehrenmitglied der PizzaBande. Darauf wollen wir trinken." Alle hoben ihre Cola-Flaschen und stießen auf das neue Mitglied der Pizza-Bande an. „Und wenn du in Augsburg auf irgend etwas Verdächtiges stößt und Hilfe brauchst - Anruf genügt", erklärte TH fröhlich und schlug dem Freund kameradschaftlich auf die Schulter. „Ich ... ich danke euch", stotterte Ashim. Dann steckte er sich schnell ein Stück Pizza in den Mund, um seine Rührung zu verbergen. „Das hatte ich mir eigentlich schon gewünscht, als ihr mir von euren Abenteuern erzählt habt, aber ich hätte nicht geglaubt..." Er brach ab und schluckte. „Nun bin ich gar nicht mehr froh, daß wir von hier wegziehen." „Wir auch nicht", meinte TH. In diesem Moment ging die Tür auf, und Mamma Gina trat ein, wie immer leicht verschwitzt und wie immer mit einem freundlichen Lächeln auf dem Gesicht. „Du, Walther", sagte sie, „dein Vater ist gerade ins Lokal gekommen, mit einem Mann. Wahrscheinlich ein Geschäftsessen." 119
„Geschäftsessen? Davon hat er mir gar nichts gesagt. Was ist denn das für ein Mann?" fragte TH. „Ich weiß den Namen nicht, aber ich glaube, er wohnt in der alten Villa." „ Wormser?!" Wie von einer Tarantel gestochen, fuhren die fünf Kinder von ihren Stühlen hoch und liefen zu dem braunen Vorhang, der das Speisezimmer vom hinteren Teil des Lokals trennte. An dem Vorhang entstand ein kurzes Gedränge, aber TH schob seine Freunde einfach beiseite und spähte durch einen Spalt im Vorhang ins Gästezimmer. „Tatsächlich!" murmelte er fassungslos. „Wormser! Mein ... mein Vater sitzt tatsächlich mit dem Wormser am Tisch. Und ich dachte, der sitzt schon hinter Schloß und Riegel." „Was?" fragte Tommi ungläubig. „Was haben die denn miteinander zu tun?" „Das werden wir gleich wissen", erklärte TH grimmig. Er öffnete den Vorhang und ging auf den Tisch zu, an dem sein Vater und Herr Wormser saßen. „Ach, hallo, Walther", sagte Herr Roland. „Was machst du denn hier? Herr Wormser, das ist mein Sohn Walther", stellte er vor. Herr Wormser nickte und sagte: „Ich glaube, wir haben uns schon mal gesehen. Kann das sein?" Ein sonderbares Lächeln begleitete seine Frage. „Ich - äh, ja, im Elektrogeschäft von Herrn Özkul. Aber nur ganz kurz." TH wußte nicht, wie er sich verhalten sollte. Verlegenheit überkam ihn. Etwas stimmte hier nicht. Aus seinem heiligen Zorn wurde Verwirrung. „Herr Wormser ist Generalvertreter für Personalcomputer", erklärte sein Vater. „Er war heute bei uns in 120
der Keksfabrik, um uns eine neue Anlage zu verkaufen. Und jetzt wollen wir zusammen essen und die Einzelheiten besprechen." „Personalcomputer? Aber ich dachte -" „Daß wir ein Computerwerk hier in Sommerberg haben, ist für Herrn Wormser auch von Nutzen." Wormser nickte. Er sah plötzlich so aus, als könnte er sich nur noch mit letzter Kraft ein Lachen verkneifen. „Ich wohne jetzt in Sommerberg", erklärte er. „Ich habe die alte Villa in der Burgstraße gekauft. Dort befindet sich auch mein Büro. Aber ich glaube, das wißt ihr alles schon." THs Vater blickte fragend zwischen Walther und Wormser hin und her. „Ja", gestand TH kleinlaut. „Es ist... uns aufgefallen." „Und ich habe vor, mein Lager hier in die Nähe zu verlegen", fügte Wormser mit einem dünnen Lächeln hinzu. „In das ... das alte Fabrikgebäude?" fragte TH. „Ganz genau dorthin. Ich habe auch schon einen Mietvertrag mit der Stadt Sommerberg. Es hat da zwar vorher einige Mißverständnisse gegeben, aber - " „Die Diebe!" Seltsamerweise lachte Wormser. „Stimmt", sagte er. „Ursprünglich hatte ich angenommen, daß diesen Leuten die Halle gehört, und ich hatte auch schon Verhandlungen mit ihnen aufgenommen. Natürlich ohne zu wissen, mit wem ich es zu tun hatte. Aber als dann die Polizei bei mir war und mir alles erzählt hatte, war Inspektor Mauser so freundlich und hat mir dabei geholfen, mit dem wirklichen Besitzer zu verhandeln nämlich der Stadt Sommerberg." „Ach", sagte TH kleinlaut. Plötzlich hatte er das dringende Bedürfnis, zu einer Maus zu werden und sich 121
blitzschnell in irgendeinen Winkel verkriechen zu können. „Und nun hat es geklappt, und ich werde nächste Woche dort mein Lager einrichten." „Aber die Pakete in Ihrem Wagen ..." murmelte TH. Vor lauter Verlegenheit wußte er mit einem Mal nicht mehr, wohin mit seinen Händen. „Was meinst du damit?" fragte sein Vater. Sein Blick wurde mißtrauisch, während Wormser sich gar keine Mühe mehr gab, zu verbergen, wie sehr ihn die Situation erheiterte. „Ach, nichts. Aber was haben Sie denn am Sonntag morgen dort gemacht?" Sofort biß er sich auf die Unterlippe. Das hätte er wohl besser nicht gesagt. „Sonntag morgen? Da habe ich mir das Gelände noch einmal angesehen. So ganz in Ruhe, weißt du", sagte Wormser. „Ihr hättet ruhig dableiben können. Aber was habt ihr denn dort gemacht?" „Oh ... nichts", erklärte TH, allerdings eine Spur zu hastig. „Nur rumgefahren." „Nur rumgefahren, so, so", wiederholte sein Vater. Er seufzte, dann wandte er sich wieder an Wormser. TH wäre am liebsten im Erdboden versunken. „Sie müssen eines wissen, Herr Wormser", erklärte sein Vater, „mein Sohn gehört zur sogenannten Pizza-Bande." „Pizza-Bande?" „Der Schrecken von Sommerberg", sagte THs Vater. „Sie ist nicht gerade ungefährlich. Die sieht und hört alles. Ich könnte Ihnen da Geschichten erzählen ..." Er nahm einen Schluck Wein. „Ich glaube, ich... ich gehe jetzt besser", sagte TH und drehte sich um. „Einen Augenblick noch, Walther." Herr Wormser hielt den Jungen mit leichtem Griff am Arm fest. Hilfe122
suchend blickte TH zum Vorhang. Aber von seinen Freunden war nichts zu sehen. „Ich wollte dir noch etwas sagen", fuhr der Mann fort. „Wenn du oder einer deiner Freunde einen Computer braucht, könnt ihr natürlich jederzeit zu mir kommen. Ich mache euch dann einen Sonderpreis. Aber dann kommt ihr bitte zur Vordertür hinein, und bleibt nicht hinter dem Zaun stehen. Klar?" Er lachte. „Und natürlich ist es einwandfreie Ware, nicht gestohlen, sondern ehrlich vom Hersteller gekauft", schloß er und grinste. TH nickte dankbar. „Ich ... ich muß jetzt wirklich gehen", stotterte er. „Meine Freunde warten auf mich", sagte er laut. Wie zum Gruß hob er die rechte Hand und ging, so schnell er konnte, zurück in Richtung Hinterzimmer. Natürlich standen die anderen Mitglieder der PizzaBande immer noch direkt hinter dem Vorhang. TH mußte kräftig schieben, um sich Einlaß zu verschaffen. Und natürlich erwartete ihn Milli mit einem Grinsen, das so breit war, daß TH dachte, sie würde gleich ihre eigenen Ohren verschlucken. „Ist schon gut", knurrte er. „Du brauchst kein Wort zu sagen. Ich weiß, was du sagen willst. Es ist wirklich nicht nötig!" „Ich hab' doch gar nichts gesagt", beschwerte sich Milli. Sie hatte alle Mühe, nicht vor lauter Schadenfreude herauszuplatzen. „Das ist auch besser so", knurrte TH. „Für uns alle." Aber natürlich sagte Milli jetzt doch etwas, und zwar genau das, was TH erwartet hatte. „Habe ich es nicht gesagt?" fragte sie mit einem eindeutig triumphierenden Lächeln. „Ich habe gleich gewußt, daß er nichts damit zu tun hat." „Man kann sich ja mal irren, oder?" fauchte TH. 123
„Aber daß er uns hinter dem Zaun gesehen hat, hätte ich nie gedacht. Wir haben doch aufgepaßt, daß wir nicht entdeckt werden." „Ja, das dachten wir auch", sagte Schräubchen. „Aber so geht es eben." „Deshalb hat er so gegrinst, bevor er in sein Auto gestiegen und losgefahren ist", meinte Tommi. „Aber ich muß zugeben, daß Milli wohl als einzige von uns den richtigen Riecher hatte, was Herrn Wormser betraf." „Ach so", unterbrach Milli das Geplänkel, „wir haben da noch etwas für dich, liebster TH." Sie stand auf und verließ den Raum. Durch die nur angelehnte Tür, die zur Küche führte, hörten die Kinder ein Tuscheln und Kichern, dann das laute Lachen von Mamma Gina. Einen Augenblick später erschien Milli wieder, in der Hand einen alten braunen Besen, um dessen unteres Stielende sie eine dunkelrote Schleife gebunden hatte. Sie streckte den Arm aus und hielt TH den Besen mit einer leichten Verbeugung hin. „Hier, du wolltest ihn doch fressen, wenn Herr Wormser mit der ganzen Sache nichts zu tun hat", prustete sie los. „Der Rest der Pizza-Bande hofft, daß er dir gut schmeckt." „Vielleicht möchtest du Salz und Pfeffer oder Ketchup - oder magst du ihn lieber pur?" fragte Tommi und lachte so kräftig, daß ihm die Tränen über die Wangen liefen. Und alle Mitglieder - und Ehrenmitglieder - der Pizza-Bande fielen in das Lachen ein.
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Hohlbein, Wolfgang: Zucker im Tank oder Die Hehlerbande / von Wolfgang Hohlbein. - München : F. Schneider, 1989 (Pizza-Bande ; Bd. 17) ISBN 3-505-04126-2 NE: GT Dieses Buch wurde auf chlorfreies, umweltfreundlich hergestelltes Papier gedruckt. © 1989 by Franz Schneider Verlag GmbH Schleißheimer Straße 267, 80809 München Alle Rechte vorbehalten Titelbild und Illustration: Gisela Könemund Lektorat: René Rilz Herstellung: Dietmar Schwingenschlögl Druck: Presse-Druck Augsburg Bindung: Conzella Urban Meister, München-Dornach ISBN: 3 505 04126-2