Die Physik des Kletterns
Mit Haken und Ösen T INA C ZERMIN | P ETER D ULLNIG | L EOPOLD M ATHELITSCH | W ERNER B. S CHN...
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Die Physik des Kletterns
Mit Haken und Ösen T INA C ZERMIN | P ETER D ULLNIG | L EOPOLD M ATHELITSCH | W ERNER B. S CHNEIDER Klettern ist eine gerade auch unter Physikern weit verbreitete Sportart. Oft unklar ist indes, welche physikalischen Gesetzmäßigkeiten die Wagemutigen in die Schranken weist. lettern hat als Sportart in den letzten Jahren einen deutlichen Aufschwung erlebt, wobei die Attraktion durch das Angebot künstlicher Kletteranlagen noch verstärkt worden ist. Diese zusätzlichen Möglichkeiten beeinflussten sicherlich auch die Überlegungen, Klettern in das Schulsportprogramm aufzunehmen. So ist zum Beispiel in Bayern Klettern im Rahmen des differenzierten Sportunterrichts fest verankert. In einem dafür eigens erstellten Lehrplan, der in enger Zusammenarbeit mit dem Alpenverein erarbeitet worden ist, werden dem Lehrer Hinweise zur Gestaltung entsprechender Sportstunden gegeben. Physikalische Gesetzmäßigkeiten setzen dem Klettern Grenzen und legen Rahmenbedingungen fest.Technische Neuerungen verhelfen dazu, sich diesen Grenzen immer mehr zu nähern, sie bieten dem Sportler aber gleichzeitig auch größere Sicherheit.
K
Kraftwandler und Klettern Das vielleicht grundlegende physikalische Prinzip, das Kletterer nutzen, ist der Flaschenzug. Er verhilft zu Kraftgewinn auf Kosten größerer Weglängen (Untersetzung). In der realen Umsetzung ist es allerdings oft schwer,die von der Schulphysik bekannten idealisierten Darstellungen zu erkennen: Die übersichtlichen Rollen sind durch Karabiner ersetzt und dünne Schnüre durch Seile, wobei der Kraftgewinn, wie er bei idealen Flaschenzügen auftritt, bei weitem nicht erreicht wird. Beim Klettern werden hauptsächlich folgende drei Kraftwandler eingesetzt: 62
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Physik in unserer Zeit
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32. Jahrgang 2001 Nr. 2
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Kraftumlenkung durch feste Karabiner („Selbstseilrolle“) Sie ermöglicht, dass sich der Kletterer nach oben zieht (Abbildung 1). Obwohl ein an der Wand befestigter Karabiner (und keine lose Umlenkung!) eingesetzt wird, muss der Kletterer (im Idealfall zu vernachlässigender Reibung) nur die Hälfte seines Gewichts als Kraft aufbringen. Allerdings muss er für 0,5 m Höhengewinn 1 m Seil durch seine Hände ziehen.
Kraftumlenkung durch lose Karabiner („lose Rolle“) Sie wird häufig zur Unterstützung von Erschöpften und zur Bergung von Verletzten eingesetzt (Abbildung 2).Auch hier wird die Rolle durch Karabiner ersetzt. Im Idealfall ergibt sich wieder eine Kraftuntersetzung von 2 :1.
Schweizer Flaschenzug Er besteht aus einer festen und zwei losen Rollen (Abbildung 3) und ermöglicht im Idealfall eine Kraftuntersetzung von 5:1. Im Realfall ist sie allerdings wesentlich kleiner. Seilumlenkungen um einen großen Winkel bewirken große Reibungskräfte, und zusätzlich wird das Seil gedehnt. Aus Sicherheitsgründen muss immer eine Rücklaufsperre eingebaut sein,die einen bestimmten „Durchlauf“ bis zum Sperren aufweist. Für die Kraftuntersetzung gilt folgende Regel: Jede Rolle verteilt die an ihrer Achse angreifende Kraft gleichmäßig auf beide Seilstücke. Für den Fall des Schweizer Flaschenzugs heißt das (Abbildung 3): Die Zugkraft F an der mittleren Rolle wirkt an beiden Seilstücken, an der Achse wirkt 2·F. An der unteren Rolle wirken 2·F an jedem Seilstück, das heißt 4·F an der Achse. An der obersten Rolle wirkt an jedem Seilstück F, so dass sich bezüglich der Last eine Zugkraft von 5·F ergibt. Für alle drei kraftgewinnenden Anordnungen ist die in Abbildung 4 gezeigte Zugweg-Zugkraft-Relation typisch. In der Vordehnphase wird nur Dehnungsarbeit verrichtet, die Last wird noch nicht bewegt. In der zweiten Phase wird die Last gehoben. Danach ergibt sich eine (meist geringe) Senkung der Last, bis die Rücklaufsperre blockiert. Die Energieverluste (schraffiert gezeichnet) ergeben sich aus Reibung, Dehnung des Seils und durch Senkung der Last aufgrund des Durchlaufs. Aus der gemessenen maximalen Zugkraft Fmax die zur Hebung der Last notwendig ist,und dem Gewicht kann man die effektive Untersetzung berechnen
SPORTPHYSIK
ueff =
G Fmax
Messungen [1] ergaben für die lose Rolle ueff =1,4 (Idealfall uideal = 2), so dass der Wirkungsgrad für die Untersetzung η = ueff/uideal = 0,7 beträgt. Für den Schweizer Flaschenzug wurde ueff = 2,2 gemessen (uideal = 5,Wirkungsgrad η = 0,44). Diese Wirkungsgradangaben beziehen sich auf die jeweils maximale Zugkraft.Vergleicht man dagegen die tatsächlich aufzuwendende Arbeit mit der genutzten,so muss man noch die Seildehnung und die Rücklaufbremsung berücksichtigen. Die Ergebnisse hängen dann auch von der Seillänge ab. Man erhält beispielsweiseη real = 0,45 für die lose Rolle (Zugweg 1,4 m) bzw. η real = 0,35 für den Schweizer Flaschenzug (Zugweg 2,38 m).
Die Wahl des richtigen Seils Die größte Gefahr beim Bergsteigen und Klettern ist ein Absturz. Um die Folgen eines möglichen Sturzes zu mindern, sichert sich der Kletterer im Allgemeinen mit einem Seil. Er ist dazu mit einem oder mehreren Kameraden verbunden. Beim Klettern läuft das Seil zusätzlich über Zwischensicherungen, etwa Haken (Abbildung 5). Stürzt ein Kletterer ab, wird er über das Seil aufgefangen („Sturz ins Seil“). Zunächst könnte man annehmen, dass die Sicherheit mit der Belastbarkeit des Seils zunimmt. So gesehen müssten Stahlseile am sichersten sein. Dies ist aber
nicht so. Der Sturz in ein Stahlseil ist ungleich gefährlicher als der in ein modernes Sicherungsseil aus Kunststoff. Ein Stahlseil hat einen sehr geringen Dehnungskoeffizienten, so dass Bremsweg und Bremszeit vergleichsweise kurz und auftretende Beschleunigungen und Kräfte entsprechend groß sind. Im Sprachgebrauch der Kletterer ist es üblich, die maximale Kraft, die beim Sturz ins Seil auftritt, mit Fangstoß zu bezeichnen (siehe „Der Fangstoß“, S. 64). Je geringer die Elastizität des Seils, desto größer wird beim Sturz der Fangstoß. Eine mindestens ebenso große Bedeutung für die Sicherheit hat neben der Belastbarkeit daher die Dehnbarkeit des Seils. In der Fachsprache wird diese durch den Seilmodul M beschrieben. Er gibt jene Kraft an,welche die Länge des Seils dem Hookeschen Gesetz folgend verdoppeln würde, wenn das überhaupt möglich wäre. Je kleiner der Seilmodul, desto dehnbarer ist also das Seil. Die Dehnbarkeit eines Seils hängt aber – bei festem Seiltyp und Seilmodul – auch von seiner Länge ab.Verdoppelt man die Länge, wird bei gleicher dehnender Kraft die Dehnung verdoppelt. Die Stärke des Fangstoßes beim Sturz hängt also nicht nur von der durchfallenen Höhe h und dem Seilmodul M ab, sondern auch von der Länge l0 des „ausgegebenen Seils“. Darunter versteht man die Seillänge
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KLETTERN
Abb. 1. Selbstseilrolle. Der Kletterer zieht sich selbst nach oben, während die Person am Boden nur die Sicherung übernimmt.