BAD EARTH Die große Science-Fiction-Sage
DIE NEUE MENSCHHEIT von Manfred Weinland und Susan Schwartz Die irdischen Ast...
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BAD EARTH Die große Science-Fiction-Sage
DIE NEUE MENSCHHEIT von Manfred Weinland und Susan Schwartz Die irdischen Astronauten John Cloud, Scobee, Resnick und Jarvis verschlägt es in eine düstere Zukunft, in der die Menschen Erinjij genannt werden. Im Zuge ihrer Abenteuer finden sie ein rochenförmiges Raumschiff, das auf die ominösen Sieben Hirten zurückgeht, Kurz darauf gehen die beiden GenTecs Jarvis und Resnick an Bord verloren, dem Rochenschiff aber gelingt die Rückkehr ins heimatliche Sonnensystem. Doch als die RUBIKON II - wie das Schiff getauft wird - nach dramatischen Ereignissen in der Oortschen Wolke die Koordinaten erreicht, an denen sie mit ihrem Verbündeten Darnok zusammentreffen wollen, finden sie dort keine Spur von ihm. Da meldet sich eine mysteriöse Instanz an Bord des Artefakts. Sie verweist Cloud und Scobee überraschend des Schiffes. Beide müssen in eine der Kapseln steigen, die schon Resnick und Jarvis zum Verhängnis wurden. Kurz darauf landen sie in einer Tiefseestation, aus der ihnen die Flucht gelingt. Sie erreichen die Küste eines unbekannten Landstrichs. Hier erhalten sie einen ersten Hinweis darauf, sich auf der Erde zu befinden. Aber was für eine Erde ist das - deren Himmel keine Sterne hat...? 1. »Meine Kinder... « Er schrak auf, spürte den Schmerz wie ein tobendes Tier in seiner Brust. Die Verbindung erlosch, die Aura schwand. »Meine — Kinder!« Jelto konnte sich an keinen Moment wie diesen erinnern. Den Moment, in dem er meinte, das Herz würde ihm bei lebendigem Leib aus der Brust gerissen. »Meine... Kinder...« Seine Stimme sank zu einem Flüstern herab. Tränen standen ihm in den Augen. Wenig später schmeckte er den die salzige Nässe, die sich in seinen Mundwinkeln sammelte. Er wischte sich über das glatt rasierte Gesicht. Es kostete ihn Überwindung, sich wieder hinabzubeugen und das Blatt zu berühren, das er im Augenblick des Schocks losgelassen hatte. Aber er musste es tun. Er musste! Und kaum dass sich seine Fingerkuppen auf das welke Grün legten, flammte die Aura wieder auf, wurde er Teil dessen, was sein ganzes Leben bestimmte. Es hatte noch nicht aufgehört. Schockwelle um Schockwelle raste durch den Wald. Seine Kinder starben. Irgendwo da draußen im Licht des dämmernden Morgens tobten ihre Mörder...
Minuten zuvor... Das Fenster am Himmel hatte sich wieder geschlossen, und zurück blieb Stille. Finsternis. Absolute Schwärze. Nur Scobee vermochte sie für sich aufzulösen. Sie war in der Lage, ihre Augen auf Infrarotsicht umzustellen, es kostete sie nur einen Impuls ihres Willens. »Glaubst du, wir sind...? Wir sind wirklich...?«
Es war ungewöhnlich, dass der Mann neben ihr, John Cloud, keine vollständigen Fragen formulierte. Aber er stand ebenso wie sie selbst noch immer Bann des eben Erlebten — und Gesehenen. Nach ihrer Verbannung von der RUBIKON, nach ihrer Ankunft in der Tiefseestation und ihrer Flucht aus derselben, waren sie davon ausgegangen, auf einem ihnen völlig fremden Planeten, fernab des irdischen Sonnensystems gelandet zu sein. Eine Transportkapsel von der Bauart, die auch schon Resnick und Jarvis zum Verhängnis geworden war, hatte sie auf Sobeks Geheiß hin aus dem Rochenschiff entfernt. Aber Sobek, der vermeintliche Hirte, war nur eine holografische Projektion gewesen, hinter der aller Wahrscheinlichkeit nach die Schiffs-KI steckte. Das Schiff hatte ihnen nie gehört — zu diesem bitteren Schluss musste inzwischen auch Cloud gelangt sein, der bis vor kurzem die einzige »akzeptierte« Person an Bord gewesen war. Doch das war Vergangenheit. Nun mussten sie sich mit den neuen Begebenheiten abfinden und arrangieren. Der Blick durch das Himmelsfenster am pechschwarzen Himmel — der Blick durch die Lücke, die dort oben vor zwei, drei Minuten entstanden war, als ein Raumschiff ins plötzlich sichtbar gewordene, sternenfunkelnde All gestartet war — hatte sie zu der Überzeugung gebracht, dass sie doch nicht in völliger Fremde gestrandet waren — sondern auf der Erde! Ihr Heimatplanet lag offenbar hinter einem Schatten-, einem Unsichtbarkeitsfeld verborgen. Wahrscheinlich verhielt es sich mit dem Mond ebenso, denn beide waren von den Instrumenten der RUBIKON nicht zu orten gewesen. Die einstige Umlaufbahn der Erde im Sonnensystem war dem Anschein nach völlig verwaist gewesen... Aber nun standen sie hier am Ufer eines Ozeans. Sie waren aus dessen Tiefe mit Hilfe eines Fahrzeugs, das sie in der Station der Hirten gefunden haben, emporgestiegen und hierher gelangt. Wo ihnen das Fahrzeug soeben wieder gestohlen worden war. Es war ein absurdes Wesen gewesen, das mannigfache Gestalt anzunehmen vermochte und sie dort unten in der Tiefseestation zuvor gejagt hatte. Doch nun hatte es sich damit begnügt, ihnen ihr einziges Hilfsmittel an dieser ihnen fremden Küste zu stehlen. »Ich weiß nicht, ob dies wirklich die Erde ist«, antwortete Scobee auf Clouds Frage. Sie blickte über das Meer hinaus, in die Richtung, in der das entführte Vehikel verschwunden war. »Siehst du es noch?«, fragte Cloud, der in dieser allumfassenden Dunkelheit nahezu blind war. »Nein. Eben war es noch ein Hitzepunkt, aber nun...« Licht blitzte auf. Sie schloss geblendet die Augen. Cloud stöhnte neben ihr auf »Was war das? Ist es explodiert?« Scobees Augen regulierten sich neu. Das Feuer am Horizont über dem Meer war bereits wieder erloschen. »Sieht so aus«, antwortete sie. »Ich habe auch keine bessere Erklärung.« Sie starrte weiter in die Richtung, in der das Fahrzeug der Hirten zerrissen worden war. »Meinst du, es hat es selbst zerstört?« Scobee gab sich einen Ruck, wandte ihr Gesicht dem Menschen zu, der seid Verlassen des AquaKubus ihr einziger Gefährte war. Und mit dem sie auch das Schicksal teilte, in eine noch immer unbestimmte Zukunft entführt worden zu sein. Darnok, der sie in diese Zeit geholt hatte, hatte ihnen bislang nicht verraten wollen, wie weit es sie in die Zukunft verschlagen hatte. »Hätte es das nicht auch gleich hier haben können?«, fragte sie. »Immerhin wäre es uns dabei auch noch im selben Aufwasch losgeworden.« Da leuchtete Cloud ein, und er nickte. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie sie die Situation an seiner Stelle empfunden hätte — gefangen in völliger Schwärze. Sie konnte es nicht. »Vielleicht«, sagte er plötzlich, »war ja genau das der Grund.«
»Was?« »Es wollte uns nicht umbringen — aber sich selbst und das Vehikel zerstören.« »Macht das Sinn?« »Es wurde uns in der zweiten Kapsel nachgeschickt... Du erinnerst dich?« »Natürlich.« »Es kam kurz nach uns in der Station an. Wenig später gingen plötzlich überall Lichter an, erwachte Technik zum Leben... Ich glaube nicht, dass das Zufall war.« »Sondern?« »Ich könnte mir vorstellen, dass es uns nachgeschickt wurde, um die Station erst wieder zu aktivieren.« »Es hat uns angegriffen. Es hat uns verfolgt, gejagt. Beinahe wären wir draufgegangen!« »So hatte es den Anschein, da hast du Recht. Hast du mich jemals so schnell rennen sehen?« Cloud grinste über das ganze Gesicht, wobei er immer noch etwas unbeholfen in ihre Richtung blickte. Er konnte sie nicht erkennen, sondern orientierte sich nur an ihrer Stimme. »Nein.« »Eben. Dort unten in der Tiefe dachte ich das Gleiche wie du. Aber nun... Immerhin hatte es wahrscheinlich die Möglichkeit, uns hier am Strand zu töten und sich nicht nur mit der Entführung des Fahrzeugs zu begnügen. Wir sind völlig unbewaffnet, und es hatte Fähigkeiten, die...« »Selbst wenn du Recht hättest«, Scobee seufzte, »bliebe die Frage: warum?« »Die KI hat ihr Spiel mit uns gespielt, seit wir die RUBIKON im Kubus gefunden haben.« Er zuckte die Achseln. Mehr an Argumenten für seine Theorie schien er nicht zu besitzen. »Das...« Sie wollte widersprechen, verstummte aber, weil sich eine neue Entwicklung anbahnte, von der sie noch nicht wusste, ob sie darüber froh sein konnten. »Was ist? Was hast du?« Sie fasste Cloud am Arm und begann, ihn in Richtung Landesinnere zu ziehen. »Komm! Schnell!« Er gehorchte widerwillig und ließ sich wie ein Blinder von einem Sehenden führen. »Sag mir endlich, was los ist!«, verlangte er aber. Ohne inne zu halten, den Blick über die Schulter Richtung Ozean gerichtet, erwiderte sie: »Wir bekommen Besuch. — Und ich will noch nicht rausfinden, ob uns dieser Besuch willkommen ist oder nicht.« Sie hasteten weiter. Und noch während sie liefen, wurde es hell, graute der Morgen mit atemberaubender Geschwindigkeit.
Noch während die Fahrzeuge näher kamen, fiel John Cloud vom Glauben ab. Vom Glauben, auf der Erde zu sein. Der Wald, in den Scobee ihn gelotst hatte, erhob sich etwa fünfzig Meter vom Wasser entfernt am Rand des bleichen Uferstreifens — und erinnerte nur rudimentär an die Wälder der Erde. Vereinzelt sah Cloud Bäume und Sträucher, die ihm bekannt vorkam. Doch dazwischen erstreckte sich eine Vegetation, die — darauf hätte er jeden Eid geschworen — so nie das Bild der Erde geprägt hatte. Da gab es gigantische, selbst Mammutbäume an Höhe und Umfang überragende Gewächse, deren Blätter rot und von armlangen Stacheln geprägt waren. Sträucher, die wie ineinander verschlungene Knäuel aus silbrigen Schlangen aussahen. Blumen, deren fantastisch schillernde Blütenkelche sich gerade im ersten Licht zu schließen begannen, anstatt sich zu öffnen... Cloud nahm nur Bruchstücke der sie umgebenden Flora wahr, weil sein Blick immer wieder dorthin irrte, wo sie sich bis vor wenigen Minuten noch befunden hatten. Dort stapften jetzt Soldaten durch den Sand.
Sie waren Menschen — falls sich dies trotz der Helme, deren verspiegelte Visiere keinen Blick ins Innere gestatten, überhaupt sagen ließ. Menschen... Also doch die Erde? Cloud merkte, wie verspannt sein ganzer Körper war. Er war hochgradig in Alarmbereitschaft versetzt, während er neben Scobee im Gebüsch des Waldrands kauerte und sich eine Meinung über ihre Lage zu bilden versuchte. Genau wie sie. Drei Fahrzeuge waren gelandet und umstanden die Stelle, wo noch die schwache Mulde zu erkennen war, die das Hirten-Gefährt hinterlassen hatte. Die Menschen — ohne Zweifel Soldaten — erweckten nicht den Hauch von Vertrauen in Cloud; nicht den Hauch von Bereitschaft aufzustehen, sich ihnen zu zeigen und ihnen entgegenzugehen. Sie waren bis an die Zähne bewaffnet, und ihre Montur erinnerte mehr an eine Panzerung denn an eine Uniform. Ihre Fahrzeuge, die auf unsichtbaren Polstern — Antigrav? — fast lautlos herangejagt waren und noch immer in der Luft schwebten, erinnerten an Zukunftsstudien von Autos, die es schon in Clouds und Scobees Zeit gegeben hatte — »damals«, 2041. Nur dass Antischwerkraft zur Zeit der zweiten Marsexpedition noch kein realistisches Thema, noch keine verfügbare Option gewesen war. »Was schlägst du vor?«, raunte Cloud Scobee zu. Auch ihr Blick wechselte von der Szene am Strand immer wieder in die nähere Umgebung, rechts, links und hinter ihnen. Hier wuchs ein Urwald, der auf drei Dutzend verschiedene Welten zu gehören schien. Ein Mischwald aus irdischer Flora und... Natürlich! Sie haben das All für sich erschlossen. Die Erinjij sind kosmische Menschen, und ihre Erde dürfte inzwischen ein Abbild ihrer Weiterentwicklung sein. Sie haben fremde Vegetation in die irdische integriert. Wir werden die Gründe dafür sicherlich noch erfahren. Er lächelte grimmig. Ganz gewiss werden wir das - wenn wir lange genug leben. »Nicht nur das Fahrzeug aus der Station hat Eindrücke hinterlassen«, flüsterte Scobee. »Wir auch.« Als hätte sie das Stichwort gegeben, schlossen die Soldaten am Strand ihre Orientierungsphase in diesem Moment ab. Einer zeigte die Fußspuren entlang, die von der Mulde aus in Richtung Wald führten. Einen Moment lang hatte Cloud das Gefühl, durch das verspiegelte Visier hindurch direkt angesehen zu werden. Gesehen und erkannt zu werden. Im nächsten Augenblick setzten sich drei der insgesamt sechs Soldaten stumm, aber entschlossen in Bewegung - kamen auf Cloud und Scobee zugelaufen, während die drei anderen in ähnlichem Tempo im Innern der Gleiter verschwanden. »Ich warte immer noch auf einen Vorschlag!« Clouds Blick ruckte zu Scobee. Sie trug wie er das, was Darnok ihnen »geschneidert« hatte. Es waren heimlose, graue overallartige Anzüge, die aus der Nanostruktur seines Karnuts gefertigt worden waren. Doch sie waren nicht im Entferntesten ausreichend, um die beiden gegen das zu wappnen, was gerade auf sie zustürmte. »Sie haben Gewehre - wir nicht«, urteilte Scobee beinahe in Jarvis-Manier. Knapp, aber durchaus zutreffend. »Verschwinden wir!« »Du meinst, sie schießen, bevor sie fragen?« »Ich meine, wir sollten es nicht darauf ankommen lassen.« »Falls es überhaupt die Erde ist«, übte sich Cloud im unpassendsten Moment in Skepsis. »Es kann auch eine x-beliebige andere, von den Erinjij besiedelte Welt sein. Vielleicht haben sie es den Invasoren von damals nachgemacht, weben jeden ihrer eroberten Planeten in dieses unheimliche Dunkelfeld, das nachts die Sterne verhüllt - und tagsüber die Sonne. Wir...« Endlich bemerkte er Scobees gereizten Blick. »Okay«, sagte er, »lass uns hier abhauen!«
Die Frage, wohin, stellte sich nicht. Es gab nur eine Richtung: so tief wie möglich in den Wald hinein. In diesen unmöglichen Wald, von dem nicht auszuschließen war, dass er noch sehr viel gefährlicher war als die Verfolger, vor denen sie flohen. Und die in diesem Moment das Feuer eröffneten.
Meine Kinder... meine Kinder... Sein Denken war erfüllt von Angst, von Sorge, von Trauer und Schmerz - und all diese Gefühle fokussierten in dem einen Gedanken. Mörder! Warum töten sie meine Kinder? Jelto merkte, wie ihm die Umgebung entrückte. Abermals unterbrach der Kontakt. Und die Leere in ihm war noch schlimmer als das vorherige Chaos au! Empfindungen. Der Ohnmacht nahe wandte er sich dem Kriecher zu. Der Kriecher stand leise summend an dem Platz, wo er ihn geparkt hatte. Über Rück- und Vorderbank verteilt lagen Sprösslinge, die er an diesem Morgen hatte pflanzen wollen. Es war gerade noch genug Platz, um sich ans Steuer zu setzen. Jelto taumelte regelrecht in den Kriecher und fiel schwer auf den Fahrersitz. Schwindelgefühle drohten ihn zu übermannen. Dazu kam eine Übelkeit von ganz tief aus dem Bauch. Er versuchte, beruhigend auf die Sterbenden und Ängstlichen einzuwirken, die zwar noch lebten, aber fürchteten, das Schicksal der bereits Toten teilen zu müssen. Was geschieht da draußen?, überlegte er. Er empfing nur verschwommene Bilder. Sie waren klar in ihrer Aussage, was den Tod betraf — aber völlig vage, was die Ursache anging. Er beschleunigte den Kriecher bis an die Grenzen von dessen Belastbarkeit. Dennoch hatte er das Gefühl, sich nur wie in Zeitlupe auf den Herd des Infernos zuzubewegen.
Eine Schneise der Vernichtung raste auf sie zu. Scobee packte Cloud am Arm und zerrte ihn nach links. Er meinte, der Arm würde ihm aus dem Gelenk gerissen werden. Als Scobee zur Seite hechtete, flog er wie ein Anhängsel hinter ihr her, meterweit in die Wildnis. Sie landeten vergleichsweise sanft auf weichem Grund. Ein paar niedrige Sträucher dämpften außerdem ihren Sturz. Hinter ihnen, dort wo sie gerade noch gerannt waren, war nur noch verbrannte Erde zu erkennen — ein etwa ein Meter breiter Weg, der sich durch den Urwald gefräst hatte. Brandgeruch umgab sie, jedoch nur ein vergleichsweise geringes Hitzeaufkommen. »Ich wusste es«, keuchte Cloud. »Die fragen nicht — die ballern gleich!« »Wie wär's, wenn wir später plaudern?« Scobee war bereits wieder auf den Beinen. Ihre Konstitution war der von Cloud um mindestens das Doppelte, eher das Drei- oder Vierfache überlegen. Das zeigte sich hauptsächlich in Gefahrenmomenten. Sonst sah sie aus wie ein Engel. Na ja. Er wollte nicht übertreiben. Es reichte, dass er sich allmählich an sie gewöhnte... Cloud kniff die Augen zusammen, spürte Erde zwischen den Zähnen, spuckte sie aus und rappelte sich ebenfalls wieder hoch.
Ein Blick über die Schulter zeigte ihm, dass auch die beiden anderen Gleiter, die sich an ihre Fersen geheftet hatten, das Feuer eröffneten. Weitere Bahnen der Vernichtung schnitten ins Fleisch der Vegetation. Eine der Strahlbahnen traf zufällig oder gezielt sogar einen der Baumriesen, der nach dem Beschuss regelrecht implodierte — als wäre er im Bruchteil einer Sekunde all seiner Feuchtigkeit beraubt worden, dehydriert und in sich zusammengefallen. Fast erwartete Cloud einen Schrei des sterbenden Giganten zu hören. Ich Narr!, rief er sich zur Ordnung. Weiter! »Zu unserem Glück scheinen sie nicht die sichersten Schützen zu sein...«, konnte er sich eine letzte Bemerkung nicht verkneifen, ehe er sich erneut von Scobee packen und mitzerren ließ. Er sparte sich die Frage, wohin. Sie kannte sich hier so wenig aus wie er. Weg!, lautete die einzige Losung, die jetzt zählte. Nur weg hier und irgendwo Deckung suchen! Irgendwo... Noch während er dies dachte, wusste Cloud mit hellsichtiger Gewissheit, dass sie keine reelle Chance hatten, diesen rücksichtslos vorgehenden Gegnern zu entkommen. Sie würden den ganzen Wald in Schutt und Asche legen, um sicher zu gehen, dass sie dabei auch ihre Beute ausschalteten! Würden sie? Aber selbst wenn — er und Scobee konnten nicht tatenlos warten, dass dies geschah. So lange noch ein Funke Lebenswille in ihnen war, würden sie rennen! Zweige und riesige Gräser peitschten ihnen ins Gesicht, während die Dichte des Waldes mit jedem Schritt zuzunehmen schien und das Fortkommen erschwerte. »Diese Arschlöcher machen keine Gefangenen!«, keuchte Scobee unvermittelt. Sie blieb nicht stehen, keine Sekunde lang. »Zwecklos zu kapitulieren. Es sei denn, wir wollen Selbstmord begehen.« Sie teilte also seine Einschätzung. Rechts von ihnen, fast zehn Meter entfernt, pflügte sich ein neuerliche Hitzstrahl durch die Wildnis. Wie seine Vorgänger entfachte er erstaunlicherweise kein Feuer, das auf andere Bereiche übergriff. Chirurgisch präzise beschränkte sich die Linie der Vernichtung auf exakt die Horizontale, die im Schussfeld lag. Aber diese Präzision übertrug sich glücklicherweise nicht auf die Fähigkeiten des Bordschützen. Scobee zog daraus ihre eigenen Schlussfolgerungen. Plötzlich riss sie Cloud zu Boden — obwohl die nächste Vernichtungsbahn mindestens 15 Meter an ihnen vorbeigejagt war. Nebeneinander lagen sie auf dem lockeren Grund, von dem die typischen Aromen in Clouds Nase stiegen, die ihm noch aus seiner frühesten Kindheit bekannt waren. Waldboden atmete ein unverwechselbares Flair aus. Wäre der Tod nicht so verflucht nahe gewesen, er hätte es genießen können. »Was ist? Wir müssen...«. »Leise!« Sie selbst flüsterte nur, aber mit unüberhörbarer Schärfe. »Unsere Chancen dürften rennend nicht größer sein, als wenn wir uns hier am Boden verstecken.« »Wie meinst du das?« »Ich meine: Da passt etwas nicht.« »Was?« »Dass sie über diese Technologie verfügen und dann so dilettantisch damit umgehen. Wir müssten längst geröstet sein!« »Ah, ja — deine Meinung sei dir gegönnt, aber ich für mein Teil, möchte lieber rennen, statt hier zu liegen und auf den Röststrahl zu warten.« »Gut«, sagte sie. »Gut?« »Ich bleibe.«
»Du...?« Er ballte die Fäuste. Er hatte gewusst, dass sie stur sein konnte. Aber es hätte ihm nie weniger passen können, es von ihr demonstriert zu bekommen, als in diesem Moment. Gleichzeitig machte er sich bewusst, dass sie zwar stur war - starrsinniger als jede andere Frau, der er jemals begegnet war. Aber eines war sie mit Sicherheit nicht: lebensmüde. Sie war keine Selbstmörderin. Sie hatte Gründe, wenn sie sich fürs Liegenbleiben entschied. Links, rechts, vor und hinter ihnen bohrten sich weitere Strahlen durch das Dickicht. Das Geräusch der Gleiter wurde mal lauter, mal leiser. Und mehr und mehr überlagerten andere Töne deren Summen, Schreie. Schreckliche, unverkennbare Schreie verendender Kreaturen. Was immer außer Pflanzen in diesem Wald lebte - vieles starb gerade. Und all das wegen uns, dachte Cloud. Das Schuldgefühl drohte ihn zu strangulieren. Seine Kehle wurde eng. Der Drang wegzulaufen wurde unbezähmbar. Cloud gab dem Impuls nach. Es war weniger Furcht als vielmehr das Gefühl, sich nicht ohne wenigstens den Versuch zu entkommen abschlachten zu lassen. Scobee rief ihm etwas nach, das er nicht verstand »Komm mit!«, erwiderte er. »Sei nicht dumm! Komm mit!« Er sah nicht, was sie tat. Er zählte auch nicht die Schritte, die er zurücklegte - bis sein Weg endete. Bis eine Schwärze, dunkler als die zu-rückliegende Nacht- dunkler und enger-, ihn verschlang...
Er verschwand vor ihren Augen! Sie sah etwas Unglaubliches - und benötigte Sekunden, um es zu verarbeiten. »John...«, rann es tonlos über ihre Lippen. Ihre Taktik des sich tot Stellens überdauerte noch genau die Anzahl von Sekunden, die sie brauchte, um zu begreifen, dass Cloud auch ohne Treffer eines der Gleitergeschütze verloren war falls sie ihn seinem Schicksal überließ. Und das kam nicht in Frage. Sie hatten gemeinsam zu viel durchgemacht. Sie hatten Dinge erlebt, die zusammenschweißten - selbst über die Kluft ihrer gegensätzlichen Lebensauffassungen hinweg. Endlich reagierte sie auf die Bedrohung ihres Gefährten. Während ringsum Lasergeschütze weiter Muster der Vernichtung in den fremd-artigen Wald schnitten, sprang Scobee auf und lief geduckt auf die Stelle zu, wo Cloud in einer giftiggrünen Wand aus Pflanzenfasern verschwunden war. Fasern, die lianenförmig von einem jener Baumgiganten herabbaumelten, die sie schon vorher bestaunt hatten - ohne deren tödliches Geheimnis auch nur zu erahnen. Cloud hatte einen der Stränge im Laufen berührt — und sofort hatten sich alle anderen, die den Baum umflatterten, auf ihn gestürzt. Sie hatten sich wie eine Wand um ihn herum geschlossen. Und wenn Scobee genau hinschaute, vermochte sie durch das Pflanzengewebe hindurch noch Clouds Konturen auszumachen — so eng pressten sich die einzelnen »Lianen« an ihn. Die ersten Momente hatte er sich noch gewehrt und aufgebäumt — inzwischen jedoch war das Bündel, das von der Krone herabhing, ruhig geworden. Es hing fast bewegungslos im sanften Wind, und Scobees Fantasie gebar Horrorvisionen, was das Geschehen im Innern der bizarren Falle anging. Sie stellte sich vor, wie die Stränge Cloud regelrecht zerquetschten, auspressten... Er stirbt, wenn ich ihm nicht helfe. Über das Wie einer Hilfe machte sie sich nur grobe Gedanken. Im Rennen nahm sie einen scharfkantigen Stein auf, der ihr geeignet für ihr Vorhaben schien. Einmal mehr verfluchte sie den Umstand, dass sie das Hirten-Vehikel vor dessen Entführung nicht sorgfältiger nach eventuell nützlichen Dingen —Waffen! — durchsucht hatten.
Sie hatten geglaubt, ihnen bliebe dazu später noch Zeit. Aber jetzt lief Clouds Zeit in Windeseile ab — wenn sie nicht schon abgelaufen war. Der Gedanke verunsicherte Scobee nur kurz, dann spornte er sie zu noch größerer Entschlossenheit an. In ihrer Umgebung starben immer neue Vegetationsstreifen unter sengendem, kontrolliertem Sonnenfeuer. Aber sie dachte nicht länger an das eigene Überleben, dass ihr nichts mehr wert schien. Nicht, wenn sie als Einzige in einer fremden Zeit gefangen war — als einziger Mensch, umgeben nur noch von Erinjij. Sie hob den Stein und hieb auf den Mantel ein, der John Cloud umschloss. Es musste die Hölle sein, in der grünen, faserigen Schote zu stecken. Scobees Vorstellung reichte nicht aus, sich in Clouds Lage zu versetzen. Aber das war auch nicht nötig. Der erste Hieb genügte bereits, um ihr zu zeigen, wie er sich fühlte... Die Schote teilte sich. Scobee atmete schon erleichtert auf, weil sie meinte, Cloud einen Ausweg geöffnet zu haben... Da spaltete sich die eine Hälfte der Stränge ab und schnellte auf sie zu. Sie hatte keine Chance zu entkommen. Nicht einmal mit ihren überlegenen Kräften und Reflexen. Die Pflanzenauswüchse waren schneller. Sie schlossen sich licht- und luftdicht um ihren Körper und zogen ihn vom Erdboden weg. Es folgte das Ersticken, dem sich Scobee nur noch durch das drastische Absenken ihres Stoffwechsels wenigstens kurzzeitig entziehen konnte. Aber so wie die Dinge lagen, würde auch das sie nicht retten — denn die Verdauungssäfte des Baumes strömten bereits...
Jelto steuerte den Kriecher höher als üblicherweise, noch über die Wipfel der aus dem Blätterdach herausragenden Kuana-Bäume hinweg, in deren Kronen Squerls nisteten. Diese kleinen, in Symbiose mit den Bäumen lebenden Vögel opferten sich am Ende ihres Lebens selbst und dienten dem Organismus als Nahrung, der sie bis dahin genährt hatte. Sie stammten vom selben Planeten wie die Bäume und waren schon vor Jeltos Zeit hierher verpflanzt worden. Ihre Widerstandsfähigkeit — und die ihrer Symbiose-Partner—hatte sich seither bewiesen und durchgesetzt. Aus anfänglich wenigen Exemplaren waren inzwischen riesige Wälder geworden. Seit ein paar Jahren gelang es sogar, wieder vereinzelte irdische Baumarten zu integrieren. Die Einflüsse, die einmal zum Absterben jeglicher Vegetation geführt hatten, wurden schwächer. Aber sie sind immer noch vorhanden, allgegenwärtig, dachte Jelto. Doch es war ein einsamer, verlorener Gedanke zwischen all dem Schmerz, der in ihm widerhallte wie ein vieltausendstimmiges, nicht enden wollendes Echo. Seine eigenes Isolation – das abgeschiedene, von der übrigen Welt abgeschnittene Dasein, das er führte – beruhte zum Großteil auf die spezielle Eigenart seiner Umgebung. Kein Mensch wagte sich normalerweise her. Kein normaler Mensch zumindest... Stetes Aufblitzen in der Ferne zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Obwohl ihm allzu große Höhe Beklemmung bereitete – er war im wahrsten. Sinne des Wortes bodenständig –, lenkte er den Kriecher noch weiter hinauf, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen. Summend flog das Fahrzeug dem Ort der Zerstörung entgegen. Und allmählich begriff Jelto, was dort draußen, nahe der Küste geschah. Wer seine Kinder mordete.
Unheilvoller Zorn stieg in ihm auf. Vor Wut zitternd aktivierte er die Komm-Einheit des Kriechers. Trotz der störenden Umgebungseinflüsse gelang an günstigen Tagen der Datentransfer zur Station mittels Richtfunk. Dies war zum einen so, weil die Entfernung relativ gering war, zum anderen, weil der Kriecher über einen hochleistungsfähigen Sender verfügte, mit dem Jelto notfalls sogar Satelliten-Kontakt für den allwöchentlichen Rapport herstellen konnte. Genau diesen Richtstrahl schleuderte er jetzt dem Ort entgegen, wo vor seinen Augen getötet wurde. Sinn- und wahllos gemordet...
»Verschwinde, Grüner!« Das Gesicht des Behelmten auf dem Monitor der Steuerkonsole war trotz der Interferenzen klar zu erkennen. Er hatte sein Visier durchsichtig geschaltet. »Das hier hat Alpha-Priorität! Ich wiederhole: Alpha-Priorität! « Die drei Fahrzeuge, die allesamt das Master-Emblem trugen, hatten ihr Feuer eingestellt. Aber die Worte ihres Anführers deuteten bereits an, dass es sich nur um eine kurze Unterbrechung handelte. »Was tut ihr hier?«, erwiderte Jelto schaudernd. Er hatte noch nie in so kalte Augen geblickt. Sie verursachten ihm mehr als nur Frösteln. Zumal ihn auch jetzt, trotz der Feuerpause, weiter die Schreie seiner Kinder erreichten. Wenn er aus der Kanzel hinabblickte, konnte er das Strichmuster der Verwüstung erkennen, das die Kampfgleiter hinterlassen hatten. »Ich werde nicht zulassen, dass...« »Ich sagte: Verschwinde! Du kannst dich hinterher mit der Wiederaufforstung beschäftigen. Dafür bist du geschaffen worden, Grüner, nur dafür! Also sei klug und behindere unsere Arbeit nicht länger.« »Arbeit?« Jelto hatte dieses Wort noch nie in solch zynischen Zusammenhang gestellt. »Ihr... verheert den Wald! Warum? Ich verlange eine Erklärung. Ich verlange... dass ihr damit aufhört! Sofort!« Das Gesicht auf dem Monitor verzog sich zu einer abfälligen Grimasse. Dann erlosch das Bild. Die Verbindung war unterbrochen worden. Nur Sekunden später lösten die drei Kampfgleiter, die rings um Jeltos Kriecher Position bezogen hatten, ihren Pulk auf und stürzten raubvogelartig in die Tiefe. In unmittelbarer Bodennähe gingen sie auf Horizontalkurs und eröffneten erneut rücksichtslos das Feuer — und zwar nicht länger gebündelt, wie zuvor, sondern weit gefächert. Damit nahmen sie den Schüssen zwar etwas von ihrer Intensität, aber auch die verbliebene Stärke genügte noch, überall, wo sie auftrafen, Schneisen der Verwüstung zu schlagen. Bezeichnenderweise stoben aus keinem der getroffenen Kuana-Bäume Schwärme von Squerls. Sie harrten selbst im Tod bei ihren Symbiose-Partnern aus und starben lieber mit ihnen, als sich einen neuen Baum zu suchen. Diese bedingungslose Treue versetzte Jelto einen Stich. Gleichzeitig schwappte ein neuer Schub von Übelkeit durch seinen Körper. Für eine geschlagene Minute war er völlig unfähig zu reagieren. Die lautlosen Schreie überrollten und lähmten ihn förmlich. Dabei echote es unablässig in ihm: Alpha-Priorität! Das hier hat Alpha-Priorität! Verschwinde, Grüner! Dann, noch eine Minute später, explodierten die angestauten Gefühle förmlich in ihm. IHR WAHNSINNIGEN! Er schickte Spruch um Spruch an die Kampfgleiter. »Aufhören! Sofort aufhören! Ich lasse nicht zu...« Es war sinnlos — und irgendwann sah er es ein.
Er justierte die Richtantenne neu, senkrecht nach oben, und wandte sich dorthin, wohin er sonst nur seine Status-Berichte sandte. Er tat es seit mehr als dreißig Jahren, ohne jemals mehr als eine nüchterne Empfangsbestätigung erhalten zu haben. In knappen Worten schilderte er die Situation und bat darum — nein, er verlangte —, dass alles Menschenmögliche unternommen wurde, um diese amok-laufenden Irren zur Räson zu bringen, sie zu stoppen, Master-Befehle hin oder her... Die Antwort konnte karger nicht ausfallen. »Abgelehnt. Alpha-Priorität. Füge dich und verlasse das betroffene Gebiet! Die Einheiten handeln in höherem Interesse.« Das war alles, was Jelto erfuhr. Und es war der Tropfen, der das Fass seiner Gefühle zum Überlaufen brachte. Halb von Sinnen lenkte er den Kriecher nach unten, genau zwischen die Fronten blindwütiger Zerstörung — ohne Rücksicht auf die Folgen für sich selbst. »Du hast eine Minute. Eine verdammte Minute, Grüner. Wenn du bis dahin nicht verschwunden bist, bist du Geschichte! Hau ab! Du musst völlig irre sein, uns hier zu behindern...« Sie kamen von drei Seiten auf ihn zu, hatten dafür aber das Feuer auf den Wald eingestellt. Statt der Wildnis nahmen sie nun ihn ins Visier, der er nun knapp über einer kleinen Lichtung schwebte. »Was jagt ihr? Was ist es euch wert, so viel Tod zu hinterlassen?«, wandte sich Jelto mit gepresster Stimme an sie. »Das, was ihr zerstört, lebt, es atmet, es hat Gefühle... mögen sie euch noch so fremd sein! Ihr verwüstet, was über Jahrzehnte gewachsen ist. Die Kuana-Bäume... sie können bis zu dreihundert Jahre alt werden. Was ihr hier seht und einäschert, sind Kinder... Auch die Gräser, die Büsche wurden eigens von fernen Planeten hierher geholt, weil über eine lange Zeit hier nichts Irdisches mehr wachsen wollte. Ich bin da, um all das zu hegen und es vor schädlichen Einflüssen zu beschützen. Und da kommt ihr und...« »Wir wissen, was das hier ist. Und glaub mir, wir sind froh, wenn wir hier wieder weg sind. Es macht keinen Spaß, die Zone zu betreten — oder auch nur zu überfliegen. Aber es gab einen Zwischenfall. Es gibt Spuren, die darauf hindeuten, dass...« »Dass was?« Der andere überwand sein kurzes Zögern. »... dass hier jemand abgesetzt wurde, bevor wir das Fahrzeug vernichteten.« Jelto verstand kein Wort. »Wonach sucht ihr?« »Wir wissen es nicht. Aber es darf hier nicht sein. Der Zwischenfall... Der Ursprung scheint nicht irdisch zu sein.« Jelto schüttelte den Kopf. »Ein Eindringling?« »Den Spuren nach zwei.« »Solltet ihr sie nicht lebend fangen, wenn sie euch solche Rätsel aufgeben?« »Überall anders wäre das möglich«, versetzte der Uniformierte. »Aber du weißt genau, was hier los ist. Du lebst hier und bekommst es Tag für Tag mit. Unsere Instrumente sind wertlos. Wir können nur...« »... zerstören?« »Mag sein, dass es dir wie mit Kanonen auf Spatzen gefeuert vorkommt, aber wir haben Befehle.« Mit jedem weiteren Wort, das ihn erreichte, schwoll die Verachtung in Jelto an. Seine Kontakte zur Außenwelt, seine Verbindung zu den bewohnten Gebieten lag faktisch bei null, war nicht existent. Dennoch wusste er, wie die Welt, auf der er lebte, beschaffen war. Er kannte die Strukturen, die ihr Räderwerk in Gang hielten — und über all die Jahre seines Eremitendaseins war er stets froh gewesen, davon ausgeklammert zu sein. Ein zwar karges, aber freies und weitgehend selbst bestimmtes Leben zu führen. Nun holte ihn die Wirklichkeit ein wie ein Tritt in die Magengrube. Eine Realität, die ihm nicht nur den Wert seiner Schützlinge, sondern auch den eigenen ungeschönt vor Augen hielt.
»Wenn ihr Bescheid über die Zone wisst, dass wisst ihr auch, was hier ist... Ihr wisst, was die Bäume und viele andere Pflanzen bezwecken. Niemand überlebt diesen Wald. Wenn sich tatsächlich Lebewesen hineingefluchtet haben, sind sie bereits tot. Entweder habt ihr sie erwischt, oder sie wurden gefressen.« »Deine Minute ist um«, drang die Stimme des Piloten an sein Ohr, der nicht auf seine Argumente einging, mochten sie auch noch so zutreffend sein. »Wir sind bevollmächtigt, jede Behinderung zu beseitigen«, sagte der Anführer des Gleiterpulks. »Auch dich. Die Alpha-Order deckt dies ab. Es wird kein Problem sein, einen wie dich zu ersetzen.« »Womit wir wenigstens eines gemeinsam haben, Klon«, erwiderte Jelto mit vibrierender Stimme. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. Er lauschte in sich hinein, hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, sich gegen die Mörder zu stellen und ihnen die Stirn zu bieten — oder sein Leben zu erhalten. Er wartete keine Erwiderung mehr ab, sondern kletterte aus dem Sitz, sprang vom Kriecher und landete federnd im satten Gras. Dann schritt er langsam auf den Gleiter zu, hinter dem er den Anführer des Pulks vermutete. Genau auf den glimmenden Abstrahlpol des Lasergeschützes zu. Fünf, sechs Schritte später entluden sich die Kanonen der beiden anderen Gleiter. Die folgende Druckwelle schleuderte Jelto zu Boden, und noch im Fallen bohrte sich ein glühender Metallsplitter tief in seine rechte Schulter. Der Schmerz raubte ihm das Bewusstsein...
Jelto träumte einen aberwitzigen Traum. Er lag mit dem Gesicht im Gras, die Hände tief ins Erdreich gegraben, und seine Aura leuchtete heller als jemals zuvor. Sie schickte ihr Licht bis hin zu den Bäumen, und plötzlich erhoben sich von dort Schwärme, unzählige winzige Vögel und flogen auf ihn zu und über ihn hinweg... Der Schatten der Vögel legte sich über den Boden, auf dem Jelto verzweifelt und voller Wut lag. Von überall her stießen neue Schwärme hinzu. Es wurde dunkel wie in finsterster Nacht. Das Rauschen der Flügel übertönte alles. Selbst die Schreie der Sterbenden... Er kam nur langsam wieder zu sich und fand in die Wirklichkeit zurück. Wo...? Er unterdrückte den Gedanken im Ansatz, denn er erinnerte sich. Der Angriff auf seinen Wald. Der sinn-lose, brutale Mord an seinen Kindern. All die Hege und Pflege so vieler Jahre — zerstört in Minuten... Benommen stemmte er seinen Körper vom Boden hoch, rappelte auf die Beine. Seine Aura loderte beinahe. Die Helligkeit machte ihm seine immer noch anhaltende Erregung bewusst. Langsam schweifte sein Blick über die Umgebung, wo das ausgeglühte Wrack des Kriechers lag. Und wo die Kampfgleiter standen. Sie waren immer noch da. Ihre Waffen drohten unverändert. Wie viel Zeit war vergangen? Wie lange war er ohnmächtig gewesen? Er rieb sich über das Gesicht, fühlte kalten Schweiß, und wartete darauf, dass sich die Geschütze abermals entluden. Diesmal würden sie nicht nur auf sein Fahrzeug feuern, sondern auf ihn selbst. Aber nichts geschah. Da erst wurde ihm bewusst, wie still es um ihn herum war. Langsam wankte er auf den ihm am nächsten stehenden Gleiter zu. Nichts passierte. Kein Schuss. Keine Stimme über Außenlautsprecher, die ihn aufforderte zu verschwinden oder ihm seinen bevorstehenden Tod ankündigte.
Alles war so ruhig, dass es widernatürlich erschien. Selbst der Chor des Leids, die unhörbaren Schreie der Natur in ihm waren nur noch ein fernes Wispern, als hätte sich ein Tuch über alles gesenkt. Der Kampfgleiter summte auf seinem Antigravpolster und wirkte dadurch noch mehr wie ein absurdes Insekt. Jelto zögerte, doch schließlich betätigte er den Außenkontakt der Luke. Sie reagierte sofort und sprang auf. Eine Rampe fuhr aus. Er überlegte, ob er rufen sollte, aber in seinem Hals war ein dicker Kloß, und so verzichtete er darauf. Er rieb sich mit den Rücken beider Hände über die Augen und wischte Tränen weg. In Jelto war neben Verständnislosigkeit für die Situation eine tiefe Niedergeschlagenheit. Traurigkeit. Jeder Schritt, den er tat, kam ihm vor, als befände er sich noch immer in einem Traum. Und vielleicht war dies tatsächlich der Fall. Ein Albtraum... Der sich zuspitzte, als er die Kanzel betrat und die verkrümmt in ihren Sitzen liegenden Männer sah - Pilot und Co-Pilot. Ihre Anzüge und Helme hatten sie nicht schützen können. Wovor nicht schützen können? Zerrissen, zerfleddert hing nicht nur die Kleidung von ihren Körpern, sondern auch ihre Haut, ihr Fleisch. Überall war Blut, das aus den Wunden geflossen war, die aussahen wie von... wie von... Jelto hielt es nicht länger in der Maschine aus. Er stürzte ins Freie und übergab sich. Kniend saß er minutenlang da, während immer neue Übelkeitsschübe seinen Körper durchrüttelten und erschütterten - und während seine Aura mit jedem Schwall schwächer wurde...
Ohne einen Blick in die andere Gleiter geworfen zu haben, war Jelto sich sicher, dass sich ihm dort das gleiche Bild geboten hätte: von winzigen Schnäbeln zerhackte Tote. Die Frage, wie die Vögel ins Innere gelangt waren - durch winzigste Öffnungen, Lüftungsschlitze... was auch immer -, ersparte er sich. Er stand wie unter Schock. Aus den Tätern waren Opfer geworden, und der Gedanke, dass er daran nicht völlig schuldlos war, quälte ihn noch stärker, als es das Miterleben der vorausgegangenen Verwüstungen getan hatte. Er verstand nicht, was geschehen war. Aber die Annahme, dass sein Traum kein Traum gewesen war, sondern blutige Realität, und dass er die Schwärme aufgewiegelt hatte, wurde mit jeder Sekunde unerträglicher. Irgendwann wurde er sich bewusst, dass er durch den Wald stolperte, und dass er die Lichtung, auf der all das geschehen war, hinter sich gelassen hatte. Er folgte einer ganz bestimmten Spur, einer einsamen Stimme im Chor des all-gegenwärtigen Flüsterns. Plötzlich stand er vor dem Kuana-Baum. Dabei war er sich der Schmerzen kaum bewusst, die die Wunde in seinem Rücken verursachte. Seine Aufmerksamkeit war auf etwas anderes fokussiert. Ein Blick genügte ihm, um zu begreifen, worum es sich bei der Beute handelte, die das außerirdische Riesengewächs gemacht hatte. Zwei... Es waren zwei menschliche Formen, die sich unter dem Fasergeflecht abzeichneten. Jelto erinnerte sich der Worte des Anführers der Zerstörer. Eindringlinge... Sie hatten »Eindringlinge« gejagt, die vom Meer her gekommen sein mussten. Aus dem Landesinnere war unmöglich, weil sie es dann niemals so weit geschafft hätten. Ohne zu zögern hob Jelto seine Arme, berührte rechts und links jeweils einen der Pflanzenkokons, die dicht beieinander hingen, und sandte seine Gedanken aus.
Seine Aura erfasste beide Gebilde, folgte den Strängen, drang mit ihrem Licht und seinen Gedanken bis ins Herz des Baumes vor. Nur wenige Momente später spalteten sich die Kokons, von leichten Widerwillen der Baumseele begleitet. Nacheinander fielen die nassglänzenden Körper zu Boden. Jelto betrachtete sie staunend. Was er schon durch die Pflanzenfasern hindurch erspürt hatte, bestätigte sich. Es war unfassbar, aber die Eindringlinge sahen aus wie Menschen.3AD EARTH Aber kein Mensch hätte den Aufenthalt in einem Kuana-Kokon so lange überstanden... 2. Mashanabá wollte die Prüfung bestehen, um jeden Preis. Sie hatte sich so lange darauf vorbereitet, nun durfte einfach nichts mehr schief gehen. »Gib dir keine Mühe«, höhnte Takaké. »Du wirst es auch diesmal nicht schaffen, Holzkopf! Sieh es doch endlich ein, dass du nicht für Höheres geschaffen bist! Du bist nur zweite Klasse!« Er schüttelte seine mächtige sonnen-rote Mähne, die bis zur Hüfte hinabwallte. Er zog die Lefzen zurück und fletschte beeindruckende Zähne. Die tief in den Höhlen liegenden Augen in seinem breiten, stumpfschnäuzigen Gesicht glühten grün auf. »Lass mich doch in Ruhe, Takaké!«, gab Mashanabá unwirsch zurück und zeigte die Krallen, um ihn auf Abstand zu halten. »Warum gönnst du mir das nicht?« »Weil du schwachsinnig bist, und weil es mir Spaß macht!« Der junge Packa lachte. Er knuffte Mashanabá grob in die Seite und riss ihr das Amulett vom Hals, das sie seit den frühen Kindertagen trug. Es war eine getrocknete Naki-Pfote, ein Erbstück ihrer früh verstorbenen Mutter, das für sie wertvoller war als alles andere der Welt. Takaké schwenkte den Anhänger in der Luft, während er ein Spottlied singend davonrannte. »Gib es mir zurück!«, schrie das Packa-Mädchen und spurtete dem Jungen nach. Sie war sehr viel kleiner und zierlicher als die meisten in ihrem Alter und körperlich zumeist unterlegen — aber dafür sehr flink. Ihre silbrig schimmernde, nur schulterlange Mähne wippte auf und ab, während Mashanabá den Abstand zwischen sich und Takaké rasch verkleinerte. Der Packa schlug einen Haken, und Mashanabá lief ins Leere. Ihre Augen füllten sich mit Zornestränen, als sie das Gelächter der anderen hörte. Es spornte sie an, noch schneller zu laufen. Sie heftete sich wieder an Takakés Fersen. »Warte nur, wenn ich dich erwische! «, rief sie mit einem unterdrückten Schluchzen in der Kehle. Takaké schien allmählich die Luft auszugehen, denn er wurde langsamer, der Abstand verringerte sich erneut. »Fang mich doch!«, gab er zurück und schlug erneut einen Haken. Aber diesmal war Mashanabá darauf vorbereitet. Anstatt auf ihre Wut hatte sie sich auf seine Körperhaltung konzentriert und rechtzeitig erkannt, in welche Richtung der Packa abbiegen wollte. Mashanabá schnitt Takaké den Weg ab, spannte die Beinmuskeln an, federte hoch und legte die restliche Entfernung mit einem Sprung zurück. Takaké stieß einen überraschten Laut aus, als Mashanabá ihn trotz ihres Federgewichts allein durch den Schwung ihres Aufpralls umriss. »He!«, rief er und streckte abwehrend die krallenbewehrten Hände hoch, als Mashanabá mit geballten Fäusten auf sein Gesicht und Brustbein eindrosch. »Spinnst du? Au!« »Gib's mir zurück! Los! «, keuchte die Packa, zerrte an Takakés Faust, die das Amulett umschloss, und biss schließlich mit kleinen scharfen Zähnen hinein. »Autsch! Ist ja gut! Reg dich ab! Ahh!« Takaké öffnete die Faust und schüttelte sie, der Abdruck der nadelspitzen Zähne war deutlich durch den Fellflaum zu sehen, an einigen Stellen traten Blutperlen hervor.
Mashanabá entriss ihm den Anhänger und sprang auf. Voller Wut versetzte sie dem größeren Jungen noch einen Tritt in die Magengrube, bevor sie sich umdrehte und sich auf den Rückweg machte, ohne Takaké noch eines Blickes zu würdigen. Behutsam säuberte sie die Naki-Pfote und versuchte, das zerrissene Band zu reparieren. Ihre Altersgenossen waren still geworden. Mit diesem Ausgang des Streits hatten sie wohl nicht gerechnet, und sie starrten Mashanabá mit aufgerissenen Augen an. Takaké rappelte sich auf, seine sonst so stolz wallende Mähne hing strähnig herab. »Die spinnt doch, die Weiße!«, keifte er Mashanabá nach. »Die ist nicht ganz richtig im Kopf, das merkt man gleich! Versteht nicht mal einen harmlosen Spaß!« »Pah, harmloser Spaß«, murmelte Mashanabá. Sie blieb stehen und warf ihre kurze, seidig schimmernde Mähne zurück. »Für euch ist es doch nur ein Spaß, wenn ihr euch über mich lustig machen könnt!«, schrie sie Takaké und die Zuschauer gleichermaßen an. Ihre Augen funkelten zornig orangefarbenen, die Pupillen waren zu schmalen Schlitzen zusammengezogen. »Nur, weil ich nicht so bin wie ihr, behandelt ihr mich wie Abfall, dabei habe ich euch nie etwas getan!« »Aber, Mashanabá...«, setzte eine der anderen Packa an. Doch die Angesprochenen unterbrach sie wütend. »Ach, lasst mich doch endlich in Ruhe! Ich hasse euch alle!« Sie stampfte weiter auf die Stufen des Lehrgebäudes zu, die sie gerade hatte erklimmen wollen, bevor Takaké sie angepöbelt hatte. Hinter sich hörte Mashanabá halb-lautes, aufgeregtes Flüstern. »Was hat sie denn... so war sie doch noch nie...« »Mashanabá!« Das Mädchen blieb stehen, als es eine tiefe Stimme über sich hörte. Auf der letzten Stufe stand Lokogé, ihr Lehrer. Seine dunkelgraue Mähne wallte fast bis zu den Knien herab, seine blaugrauen Augen musterten sie durchdringend. »Ich habe dich beobachtet, Mashanabá«, fuhr Lokogé fort. »Was ist nur in dich gefahren?« »Wieso?«, gab das Mädchen herausfordernd zurück. »Nur, weil ich mich endlich wehre?« Sie strich über das glatte weiße Fell an ihrem Unterarm. »Die Albinin nennen sie mich, weil ich kleiner bin, ein helles Fell und helle Haut habe. Seit ich zurückdenken kann, ist es so! Aber ich kann doch nichts dafür, dass ich anders aussehe! Bin ich deswegen schlechter?« »Nein, Mashanabá, natürlich nicht«, sagte Lokogé sanft. »Aber sie meinen es doch nicht wirklich böse.« »Sie bezeichnen mich als Dummkopf, Holzkopf oder Schlimmeres.« »Das ist dennoch kein Grund zur Gewalt. Du weißt, wie wir zur Gewalt stehen, Mashanabá?« Das Mädchen ließ den Kopf hängen. »Wir lehnen sie ab«, flüsterte sie. »Sie hat uns beinahe den Untergang gebracht. Rechtzeitig kam der große Frieden über uns. Ihn müssen wir respektieren und wollen wir halten, in jedem Moment unseres Lebens. Du hast kein Recht dazu gehabt, Takaké zu verprügeln«, sagte der Lehrer mit mahnender Stimme. »Er hätte dir deinen Anhänger bestimmt zurückgegeben, wenn du ihn höflich gebeten hättest.« Mashanabá hob nicht den Blick, aber sie schüttelte eigensinnig den Kopf. »Das hat früher nie funktioniert. Aber vielleicht weiß er jetzt, dass ich kein leichtes Opfer mehr bin, und merkt es sich. Ich möchte...« Sie schaute auf, mit einem flehenden Ausdruck in den Augen. »Ich möchte einfach genauso lernen wie die anderen auch und dieselben Chancen bekommen. Ist das so verkehrt? Immer habe ich Geduld gehabt, immer habe ich mich gefügt, und jedes Mal erging es mir dann schlechter! Das ist einfach nicht gerecht!« Lokogé prustete durch seine runzlige, schwarzledrige Nase. »Kind, ich erkenne dich nicht wieder. Was ist nur in dich gefahren? Du bist so völlig verändert. Nach der Prüfung wirst du dich augenblicklich zur Untersuchung begeben, hast du verstanden?« »Aber ich bin gesund!«, protestierte Mashanabá.
»Keine Widerrede!« Der Lehrer war unerbittlich. »Wir müssen herausfinden, was mit dir geschehen ist. Möglicherweise ein Virus, oder eine genetische Erkrankung, aufgrund deiner besonderen Konstitution. Darüber reden wir später. Komm nun, deine Prüfung wird jeden Moment beginnen.« Mashanabá folgte dem Lehrer in die Lehranstalt, die Nervosität kehrte zurück. Diesmal durfte sie einfach keinen Fehler machen. Jeder in der Klasse hatte die Prüfung bestanden, nur sie bisher nicht. Scheinbar ein weiterer Beweis für ihre Unzulänglichkeit, ihr »Anderssein«. Mashanabá wollte mehr denn je beweisen, dass sie nur zufällig etwas anders aussah als die anderen Packa, aber sich ansonsten in nichts von ihnen unterschied. Vor allem wollte sie nicht dümmer sein.
Als Mashanabá allein im Prüfungszimmer saß und auf den Beginn der Prüfung wartete, schweiften ihre Gedanken noch einmal ab. Durch das großformatige Fenster fiel Sonnenlicht herein und tauchte den Raum in ein warmes, von Rottönen durchsetztes Licht. Es war ihr noch nie so sehr aufgefallen wie heute, wie schön ihre Welt doch war. Warum war sie eigentlich so zornig geworden? Es gab doch viel Wichtigeres. Und Takaké hatte sie nur deswegen gereizt, weil er es konnte. Hätte Mashanabá sich ganz gleichgültig gegeben, hätte er das Interesse am Amulett bestimmt schnell verloren. Aber es ist mir wichtig, dachte das Mädchen. Sie hatte das Band notdürftig repariert und die NakiPfote wieder um den Hals gehängt. Der Glücksbringer war etwas, das ihr ganz allein gehörte. Sonst bekam sie nie Geschenke. Ihr Vater kümmerte sich kaum um sie, und Freunde hatte sie keine, weil sie »die Weiße« war. Nach ihrer Prügelei mit Takaké konnte sie kaum noch darauf hoffen, Freunde zu gewinnen. Aber das war ihr auch nicht so wichtig. Wenn sie erst ihren Abschluss hatte, konnte sie überall hingehen, irgendwo würde sie schon einen Platz finden, wo sie willkommen war. Ein leises Pling zeigte an, dass ihr Terminal freigeschaltet war und Mashanabá mit der Arbeit beginnen konnte. Bestimmt würde diese Aufgabe noch schwerer sein als die beiden vorhergehenden. Wahrscheinlich würde sie sich auch diesmal wieder blamieren, weil sie nicht einmal die Fragestellung verstand. Aber was war das? Mashanabá starrte erstaunt auf den Schirm. Zeige uns anhand eines selbst gefertigten Modells, wie nach der Perkolationstheorie Flüssigkeit unter Druck ein poröses Medium durchdringen kann. Das ist nicht schwer, dachte Mashanabá und war dennoch überrascht, weil sie so dachte. Heute war wirklich ein seltsamer Tag. Lokogé hatte schon Recht gehabt, sie als verändert zu bezeichnen. Mashanabá war über sich selbst am meisten erstaunt gewesen, als sie auf Takaké losgegangen war. Zum ersten Mal in ihrem Leben setzte sie sich zur Wehr. Nicht nur, dass sie den Mut dazu gehabt hatte, auch die Wildheit ihres Angriffs war ungewöhnlich. So hatte sie sich wirklich noch nie benommen. War dies die entscheidende Wende, die sie immer herbeigesehnt hatte? Eines Tages, hatte sie bisher immer gedacht, wenn sie einsam und traurig in ihrem Bett lag, wenn ich groß bin, wird sich alles ändern. Dieser Moment schien nun gekommen, und weitaus früher als angenommen. Mashanabá wusste, dass sie die Prüfung bestehen würde. Und nicht nur das: Sie wusste auch, dass sie von heute an nicht mehr zu den Verlierern zählen würde, ewig verspottet und unter den Hänseleien der anderen leidend. Das würden sie nun nicht mehr wagen, nicht nach ihrem Sieg über Takaké, dem Stärksten des Jahrgangs. Mashanabá entspannte sich jetzt und ließ ihre Gedanken fließen. Wie von selbst flogen ihre Finger über die Sensorfelder und konstruierten das geforderte Modell.
Noch vor dem Ende der Prüfungszeit schickte Mashanabá ihr Ergebnis ab und verließ den Raum, ohne das Ergebnis abzuwarten. Sie wusste, dass sie bestanden hatte. Und selbstverständlich würde sie Lokogés Anweisung, sich zur Untersuchung zu melden, nicht Folge leisten. Sie verschwendete nicht einmal einen Gedanken daran. Beschwingt, beflügelt lief sie leichtfüßig durch die Gänge, begleitet nur vom Klack-Klack-Klack der starren Fußkrallen auf dem Boden, und sie sang zu diesem Rhythmus leise eine Melodie. Das Mädchen begegnete niemandem, worüber es froh war. Dass die Prüfung bestanden war, daran hatte die Packa keinen Zweifel, und sie würde diesen Tag auf ihre Weise feiern. Er sollte nicht durch weitere Hänseleien der Artgenossen verdorben werden. Mit der Schwebebahn fuhr Mashanabá zum Rand der Stadt. Ein Gleitband führte durch einen idyllischen Park. Dahinter begann das offene Land — Wälder, hügelige Wiesen, Flüsse und Seen. Mashanabá ließ sich auf alle viere nieder, fuhr vorn die Krallen aus und spurtete los. Hier draußen »in der Wildnis« war es gestattet, so zu laufen, solange man niemanden provozierte. Mashanabá stieß ein freudiges Jaulen aus und ließ ihren Energien freien Lauf. Sie sauste durch das kniehohe Gras, saugte geradezu die vielen verschiedenen Gerüche in ihre Nase ein, drehte die runden Ohren nach allen Richtungen. Nach kurzer Zeit hatte sie die Fährte eines Guntabocks aufgenommen und folgte ihr, lief kreuz und quer Tiber die Hügel, bis zum Waldrand, wo sie abrupt stehen blieb und sich tief ins Gras duckte. Ungefähr fünfzig Meter von ihr entfernt stand der Bock und äste, mit seinem gefleckten Fell im Licht- und Schattenspiel von Sonne und Blättern kaum auszumachen. Aber Packa waren die besten aller Jäger, auch heute noch. Sie hatten ihre Instinkte nicht verloren, auch wenn sie schon sehr lange aufrecht gingen, hohe Intelligenz entwickelt hatten und den Segen der Technik besaßen. Mashanabá kurzer, buschiger Schwanz zuckte aufgeregt, während sie auf den Bock lauerte. Er hatte sie bisher nicht bemerkt. »Warum tust du es nicht?« Sie zuckte zusammen, als sie die leise Stimme knapp hinter sich hörte. Es war Takaké, der gesprochen hatte. Er glitt an ihre Seite. »Was tust du denn hier?«, zischte sie. Bekam sie nie ihre Ruhe? Nicht einmal in einem solchen Moment, hier draußen in der Abgeschiedenheit? Was war so bedeutsam an ihr, dass man ihr ständig nachschnüffelte? »Ich hab dich angepeilt«, antwortete Takaké, »und bin dir gefolgt.« »Und weshalb? Hast du nichts Besseres zu tun?«, fragte Mashanabá ungehalten. »Nein«, lautete die schlichte Antwort. »Du jagst den Bock, ich jage dich.« »Hau ab!« »Das hättest du dich früher nie getraut zu sagen.« »Heute ist eben alles anders«, knurrte Mashanabá. »Die Prüfung habe ich auch bestanden, enttäuscht dich das?« »Du hattest Glück, das ist alles«, meinte Takaké leichthin. Er deutete auf den Guntabock, der den Kopf hob und mit großen Ohren lauschte. Langsam klappte er die Hörner nach oben. »Also, was ist? Tust du es?« »Tue ich was?«, fragte Mashanabá entnervt zurück. Sie wollte endlich ihre Ruhe haben. Allein sein mit sich und der Natur. Das tun, was sie wollte. »Ihn erlegen«, flüsterte Takaké und leckte sich die Lippen. Seine Pupillenschlitze waren weit geöffnet. Mashanabá starrte ihn an. »Und du nennst mich verrückt?« »Warum? Es ist ganz einfach.« »Darum geht es nicht. So etwas tun Packa nicht. Schon seit sehr langer Zeit nicht mehr.«
»Wir sind Jäger, Mashanabá.« »Falsch, Takaké. Wir waren Jäger. Heute haben wir das nicht mehr nötig. Wir haben damals nur gejagt, um zu überleben. Heute brauchen wir das nicht mehr.« »Du weißt nicht, was dir entgeht«, behauptete Takaké mit einem beunruhigenden Leuchten in den Augen. Seine Pupillen pulsierten. Von seinen Lefzen troff Speichel. »Den Angstschweiß zu riechen, zuzupacken, süßes Blut zu schmecken... »Hör auf damit!« Mashanabá stieß ihn in die Seite. »Du bist doch pervers!« Angewidert runzelte sie die hell gefleckte Nase. »Hast du das etwa schon getan?« »Wer weiß?«, entgegnete er mit in die Breite gezogenen Lefzen. »Dann jag du ihn doch!« »Es macht mir aber mehr Spaß, dir dabei zuzusehen.« »Was willst du nur von mir?«, zischte Mashanabá. »Warum bist du dauernd hinter mir her?« »Ganz einfach, weil du mir was schuldig bist. Denkst du, ich vergesse, was du heute mit mir gemacht hast, vor den Augen aller anderen? Das zahle ich dir heim, Mashanabá, zehnfach.« Takaké richtete sich leicht auf, fuhr die Krallen der linken Hand aus und zielte auf Mashanabás Augen. »Also los, jage ihn, oder es geht dir schlecht!« Mashanabá fühlte, wie sich ihr Magen zusammenkrampfte. Allein schon bei dem Gedanken an frisches Blut wurde ihr übel. Aber Takaké wilder Gesichtsausdruck machte ihr Angst. Er war größer und stärker als sie, und sie hatte ihn öffentlich gedemütigt — das konnte selbst den friedfertigsten Packa zur Weißglut bringen. »Ich gehe ja schon«, murmelte sie. »Aber — ich weiß nicht, wie ich ihn töten muss!« »Das ist doch ganz einfach«, antwortete er. »Folge einfach deinem Instinkt! Spring ihn an, packe seine Kehle, beiße zu! Entweder reißt du ihm die Kehle auf, oder du erstickst ihn. Das liegt ganz bei dir. Aber tu es jetzt, ich habe nicht mehr lange Geduld!« Der Bock war langsam weitergegangen, hatte sich jedoch entgegen Mashanabás Hoffnung immer noch nicht weit genug entfernt. Also musste sie wohl oder übel los. Während sie langsam näher schlich, überlegte die Packa fieberhaft, was sie tun könnte. Unter keinen Umständen wollte sie das Tier töten, das widersprach wirklich jeglicher Ethik. Aber sie wollte sich auch nicht Takaké ausliefern. Er wirkte, als wäre er zu allem fähig. Sie waren allein hier draußen, niemand würde Mashanabá helfen, niemand bemerken, wenn ihr etwas zustieß. Würde man sie überhaupt vermissen? Der Bock hatte wieder zu äsen begonnen, während er sich Schritt für Schritt weiter Richtung Wald bewegte. Mashanabá schlich sich gegen den Wind an, er konnte keine Witterung von ihr aufnehmen. Ein kurzer Blick zurück zeigte ihr, dass Takaké noch an derselben Stelle verharrte. Jetzt waren es nur noch zwanzig Meter. Bald war sie nahe genug heran, um ihn mit einem kurzen Spurt zu erlegen. Mashanabá fühlte keineswegs die Jagdinstinkte in sich erwachen. Im Gegenteil, je näher sie kam, desto mehr Widerwillen empfand sie. Der Guntabock war ein schönes Tier, mit sanften dunklen Augen, von eleganter Statur; ein friedliches Wesen, das keinen Tod aus Gier verdient hatte. Das Mädchen machte sich keine Illusionen. Sie wusste, dass sie es nicht konnte. Sie war aber auch nicht sicher, ob Takaké nicht bloß Sprüche klopfte. Er fühlte vielleicht den Jagdtrieb, aber es war ein Unterschied zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Mit eigenen Händen etwas zu töten, war nicht so einfach, wie man es sich vorstellte. Mit einer Waffe auf größere Entfernung war es eher abstrakt und möglicherweise leichter. Aber all das hatten die Packa hinter sich, so etwas taten sie nicht mehr. Sie waren inzwischen friedfertige, freundliche Wesen, die sich den Wissenschaften und der Kunst hingaben. Nein, ich werde es nicht tun, entschied Mashanabá. Außerdem ist Takaké viel langsamer als ich, und bestimmt hat er schon viel Energie verbraucht, um mir zu folgen. Er ist kein Sprinter, viel zu schwer und massig. Er wird es kein zweites Mal schaffen, mir nachzulaufen.
Sie berührte die Brosche an ihrem Schultergürtel und schaltete das ID-Signal ab. Für kurze Zeit konnte man das schon mal machen, ohne dass es groß auffiel und Ärger einbrachte. Dann schnellte sie los. Der Kopf des Bockes fuhr hoch, das gerade gerupfte Gras rieselte von seinem halb geöffneten Maul herunter, seine Nüstern blähten sich. Das Tier stellte die Ohren nach vorn und die scharfen, gebogenen Hörner nach oben. Für einen Moment schien er unschlüssig, ob er sich dem Gegner stellen sollte oder nicht. Sein Kopf sank leicht nach unten — doch dann entschied er sich für die Flucht. Mashanabá hörte Takaké hinter sich rufen, vielleicht auch fluchen, aber sie hielt sich nicht auf. Sie hetzte den Bock am Waldrand entlang, der vergeblich versuchte, mit hohen, weiten Sprüngen Vorsprung zu erlangen. Als sie eine günstige Stelle fand, schnitt sie ihm den Weg ab und jagte ihn in den Wald hinein. Das Tier brach bald seitlich auf einen schmalen Pfad aus, doch Mashanabá kümmerte sich nicht um ihn, sie war nun selbst auf der Flucht. Der Bock würde entkommen, nun ging es um sie. Man benötigte nicht viel Fantasie, um sich vorstellen zu können, was jetzt in Takaké vorging. Eine Weile raste sie den breiten Weg entlang, um so viel Vorsprung wie möglich zu erhalten, dann bog auch sie ab, hetzte auf allen vieren einen schmalen Tierpfad entlang. Äste und Blätter schlugen ihr ins Gesicht, aber sie störte sich nicht daran. Ihr Fell verhinderte Verletzungen, die Augen waren gut geschützt.
Mashanabá fing an zu hecheln, während sie das Tempo beibehielt und oftmals in letzter Sekunde Hindernissen auswich oder darüber hinwegsprang. Takaké war sicherlich meilenweit abgeschlagen. Er konnte sie auch nicht anpeilen. Bestimmt kannte sein Zorn auf sie nun keine Grenzen mehr, aber das kümmerte das Mädchen nicht. Für den Moment war sie entkommen, was später folgte, würde sie dann schon sehen. Sie musste nur zusehen, Takaké nicht gerade allein zu begegnen. Doch das war jetzt nicht weiter wichtig. Der Tag war noch lang und viel zu schön, um endgültig verdorben zu sein. Mashanabá verlangsamte das Tempo. Ihre Lungen pumpten, die Zunge hing ihr aus der schmalen Schnauze. Schließlich blieb sie stehen, richtete sich auf die Hinterbeine auf und zog die Krallen an den Händen ein. Ihre Handflächen brannten, sie besaßen nicht die widerstandsfähigen, dicken Ballen wie die kräftigen Laufpfoten, denen selbst zersplittertes Glas kaum etwas antun konnte. Die Handflächen würden noch eine ganze Weile die Spuren dieses Gewaltlaufs zeigen und Mashanabá daran erinnern, dass die Zeit als Vierbeiner für die Packa schon sehr lange vergangen war. Auch ihr Rücken schmerzte erheblich durch die ungewohnte Haltung, und sie streckte und dehnte sich, gähnte herzhaft und fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Ihr Herzschlag normalisierte sich allmählich wieder, ihr Atem ging sehr viel ruhiger. Ohren, Hände und Füße waren feucht vom Schweiß. Aber das war es wert gewesen — sie war Takaké los. Ihr Gehör registrierte keinen Laut der Annäherung. Um sie herum war alles still und friedlich. Sie war gerettet, und damit auch der Tag. Heiter tat Mashanabá einen Schritt nach vorn, um weiterzugehen und zu sehen, wohin der Pfad wohl führte. Da gab das Erdreich unter ihr nach und rutschte weg. Die Packa verlor den Halt und stürzte, versuchte vergeblich die Krallen in eine Wurzel oder einen tief herabhängenden Ast zu schlagen. Haltlos schlitterte sie auf feuchten Blättern und Geröll einen bewaldeten Abhang hinunter - bis es plötzlich endete.
Mashanabá hielt entsetzt den Atem an, als sie eine halbe Sekunde frei in der Luft hing. Für einen Moment war sie schwerelos. Im nächsten Moment stürzte sie senkrecht nach unten. Sie hatte immer gedacht, man würde schreien, wenn man in einen Abgrund fiel. Doch sie brachte keinen Ton hervor. Sie hatte auch immer geglaubt, das Leben, auch wenn es so kurz war wie ihres, würde in einem solchen Augenblick noch einmal an einem vorüberziehen und die letzten Sekunden im Leben sich zu einer Ewigkeit dehnen. Doch es ging alles rasend schnell. Bevor ihre Gedanken erfassen konnten, was die Instinkte längst begriffen hatten, prallte sie auf. Aber sie wurde keineswegs zerschmettert. Erstaunt merkte Mashanabá, dass sie immer noch lebte. Der Boden hatte nach einem kurzen, schmerzhaft prellenden Widerstand plötzlich nachgegeben, und sie sank weiter, aber sehr viel langsamer, nach unten... Dann schlug das Wasser über ihrem Kopf zusammen, im selben Moment drang es durch die Grannenhaare, sog sich ihr dichtes Unterfell damit voll und wurde bleischwer. Es zog sie unaufhaltsam weiter nach unten, obwohl sie heftig mit Armen und Beinen ruderte. Beinahe hätte Mashanabá den Mund geöffnet, um zu schreien, doch gerade noch im letzten Moment riss sie sich zusammen. Sie wusste, was dann geschehen würde, und behielt den Atem in den Lungen, ließ kein Wasser hinein, auch nicht durch die Nase oder die Ohren. Ihre Augen schienen als Einziges nicht mit dem Wasser zu kämpfen zu haben. Nach einer kurzen Anpassungsphase konnte Mashanabá alles klar und deutlich um sich herum erkennen. Es war ein von Sonnenstrahlen durchflutetes, schillerndes Blau, mit wogenden Algenflechten um sie herum, und neugierigen Fischen, die ohne Scheu um sie herumschwammen und mit zahnlosen Lippen an ihr zupften. Es waren großschuppige Schäumler, erkannte Mashanabá völlig überflüssig, eine Delikatesse, die auch sie sehr schätzte. Doch dies war ein falscher Moment für solche Gedanken, vor allem der falsche Ort, um nicht zu sagen — das falsche Element. Wenn sich nicht schnell etwas tat, war es diesmal anders herum, und Mashanabá wurde zur Delikatesse für die Schäumler. Vielleicht als ausgleichende Gerechtigkeit? Allmählich geriet sie in Atemnot, der Druck auf die Lungen wurde immer größer, der Drang, Atem zu holen, war schier unüberwindlich. Mashanabá kämpfte und strampelte, dabei hatte sie längst die Orientierung verloren. Es sah überall gleich aus, so tief war sie schon unten. Ich werde es nicht schaffen, dachte sie voller Panik und resigniert zugleich. Da spürte sie plötzlich Widerstand an einem Fuß. Sie drehte sich, tastete mit den Händen. Und wirklich! Es fühlte sich an wie ein Fels, der wie eine Wand emporragte! Über die Richtung konnte es keinen Zweifel geben, denn gleichzeitig trafen ihre Füße jetzt auf den Grund. Mashanabá schnellte hoch, zog sich Stück für Stück am Felsen nach oben. Die Hoffnung, sich doch noch retten zu können, beflügelte sie, spornte sie an, weiter durchzuhalten. Es kamen ihr wie endlose Minuten vor, der Weg nach oben schien nie aufzuhören. Doch schließlich wurde es heller, und endlich konnte sie die Wasseroberfläche über sich sehen. Noch ein paar kräftige Stöße, und ihr Kopf drang an die Luft. Er wurde von dem eigenen Gewicht fast wieder nach unten gezogen, aber Mashanabá schaffte es, das Gesicht über dem Wasser zu halten. Hustend und keuchend rang sie nach Luft, fühlte Erleichterung, als die gequälten Lungen wieder Sauerstoff in sich aufnahmen. Mit letzter Kraft kroch Mashanabá mühsam an Land, wo sie zunächst einige Minuten schwer atmend und zu Tode erschöpft liegen blieb.
Schließlich rappelte sie sich auf und versuchte zuerst, Fell und Kleidung auszuwringen, bis sie aufstehen und sich heftig schütteln konnte. Wasser spritzte in Fontänen um sie herum. Sie benötigte eine halbe Stunde, bis das Fell nicht mehr bleischwer und einigermaßen geglättet war. »Jetzt verstehe ich auch«, murmelte Mashanabá zu sich selbst, »wieso die Packa das Wasser scheuen. Das Unterfell ist nicht wasserabweisend! Kein Wunder, dass man da absäuft, kein Wunder, dass wir Ultraschallduschen benutzen!« Wütend auf sich selbst und vor sich hin maulend, machte sich das Mädchen auf den Rückweg. Für heute hatte sie wirklich genug Abenteuer erlebt. Jetzt wollte sie nur noch nach Hause und den Rest des Nachmittags das Fell in der Sonne trocknen lassen und pflegen. Allerdings musste Mashanabá einräumen, dass das Wasser ihrem Fell einen besonders seidigen Glanz verlieh, es war auch sehr viel lockerer, weicher. Etwas Gutes war immerhin dabei herausgekommen, dachte sie mit einer Portion Galgenhumor.
Der Heimweg gestaltete sich dann doch noch etwas schwieriger, als Mashanabá sich vorgestellt hatte, denn der ID-Peiler war wohl auch nicht wasserdicht gewesen. Er funktionierte jedenfalls nicht mehr, aber darüber regte sich die Packa nicht mehr auf. Noch schlimmer konnte es wohl kaum werden! Immerhin war sie noch am Leben... Leichtsinnigerweise hatte sie zuvor nicht auf den Weg geachtet, weil sie sich auf das Gerät verlassen hatte. Aber Mashanabá konnte sich einigermaßen an den Sonnenstand erinnern. Außerdem konnte sie sich auch als moderne Packa noch auf ihren Orientierungssinn verlassen, der sie tatsächlich bald wieder auf den richtigen Weg zurückführte. Sie war froh, als sie den Wald verließ und weites Land vor sich sah, nun war der Rückweg ganz einfach. In der warmen Sonne trocknete auch ihr Fell sehr rasch, und bald war ihre gute Laune wiederhergestellt. Sie fiel in einen langsamen, gemütlichen Zweibeiner-Trab, der sie in einer halben Stunde zum Transportband im Park zurückbringen sollte. Doch der Tag war noch nicht vorüber. Womit Mashanabá nie und nimmer gerechnet hätte: Takaké wartete tatsächlich noch auf sie und passte sie ab, als sie den Park schon in Sichtweite hatte. Er kam mit gefährlich glühenden Augen und verengten Pupillenschlitzen auf sie zu Mashanabá wusste, dass sie jetzt nicht mehr ausweichen konnte, dass sie sich ihm stellen musste... 3. John Clouds ganzer Körper brannte. Seine Haut war Feuer. Feuer! Er stöhnte gequält auf und öffnete die Augen, was ihm schwer fiel, denn auch die Haut seiner Lider brannte und schmerzte, wie mit Säure übergossen. Zuerst sah er nur verwaschene Flecken, und für Sekunden hielt er es für möglich, dass seine Netzhäute weggeschmolzen, seine Augen verätzt und seine Sehkraft für immer erloschen war. Jedes Blinzeln tat weh, dennoch tat er es, zwinkerte die undeutlichen Schemen fort. Endlich klärte sich sein Blick. Wo bin ich? Zäh und zögernd kehrte die Erinnerung zurück. Sein Versuch zu flüchten... dann der Kontakt mit irgendetwas... die jähe Dunkelheit und Enge, die sich um ihn gestülpt hatte... und dann das Ersticken, die Ohnmacht... Der Tod?
Ich müsste tot sein, machte er sich klar. Aber das bin ich nicht. Wieso bin ich es nicht? Und wo ist...? Clouds Blick schweifte suchend durch den Raum, in dem er zu sich gekommen war. Unweit von ihm befand sich ein zweites Lager, ähnlich primitiv wie das, auf dem er selbst lag: ein Polster aus — Blättern! Waren das wirklich Blätter? Und was war das für eine stinkende Schicht, mit der er vom Kopf bis zu den Zehen eingeschmiert war? Scobee war so nackt wie er. Und auch ihr Körper glänzte, als hätte ihn jemand mit einer ölig schimmernden, harzartigen Masse überzogen. Die Haut darunter war krebsrot wie seine eigene. Mühsam richtete er sich auf die Ellbogen auf. Seine Haut spannte und schmerzte wie nach einem starken Sonnenbrand. Er stöhnte auf. Scobee rührte sich nicht. Sie lag auf dem Rücken, und sie so vor sich zu sehen, ohnmächtig oder tot, nackt und unendlich verletzlich, schuf ihm einen Kloß im Hals. Cloud schloss kurz die Augen, atmete tief ein und aus, scherte sich nicht länger um das Brennen. Vorsichtig schwang er die Beine neben das Lager und setzte sie auf den Holzboden auf. Holz... Egal, wohin er auch blickte, er sah nirgends auch nur eine Spur von Metall oder Kunststoff, von Technik. Ein Geräusch zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Es kam von außerhalb des Raumes, und es war auch kein einfaches Geräusch, sondern eine Stimme. Jemand sang! Cloud verstand kein Wort, vielleicht waren es nicht einmal Worte, die er hörte, sondern nur Laute, die keinerlei Sinn verfolgten. Vorsichtig richtete er sich auf und schlurfte auf Scobee zu. Er legte ihr drei Finger an den Hals und tastete nach dem Puls. Die Kälte ihrer Haut erschreckte ihn. Tot!, war sein erster Gedanke, der ihn trotz der ganzen Umstände völlig unvorbereitet traf. Verdammt! Nein, sie kann doch nicht... Seine Fingerkuppen fanden keinen noch so schwachen Herzschlag. Er zitterte plötzlich, wollte es nicht wahrhaben. »Stob, das kannst du mir nicht antun...« Er suchte nach einer Verletzung, einer tödlichen Wunde an ihrem Körper, fand keine und wälzte den starren, leb-losen Körper sogar vorsichtig auf die Seite, um auch die Rückenpartie zu untersuchen... Er fand keine Verletzung, von der Extremrötung abgesehen, die auch ihn befallen hatte. Aber warum atmete sie dann nicht mehr? Cloud wusste über Klone Bescheid - halbwegs. Dennoch brauchte es lange, bis er auf die Idee kam, dass Scobees Zustand von ihr gewollt herbeigeführt worden sein könnte. Sie war nicht tot, sondern hatte lediglich ihre Körperfunktionen radikal nach unten gefahren. Ja, das musste es sein -Winterschlaf. Hatte Scobee ihre Winterschlaffähigkeit aktiviert? Und wenn ja, war sein nächster Gedanke, wie wecke ich sie ohne entsprechende Medikamente auf? Nahm sie ihre Umwelt in diesem Zustand wahr, wie schwach auch immer? Was war überhaupt passiert, dass sie sich in den Winterschlaf hatte fallen lassen? Dasselbe wie mir. Ihr ist dasselbe passiert wie mir, kam ihm die plötzliche Erkenntnis. Sie geriet in eine lebensbedrohliche Lage und sah keinen anderen Ausweg mehr als die körpereigene Stase... Aber wieso habe ich ohne diese Fähigkeit überlebt? Was ist überhaupt passiert? Der Gesang drang wieder an sein Bewusstsein. Ruckartig stand er auf. Wenn jemand antworten auf seine Fragen besaß, dann der Sänger! Verdanktem sie ihm ihr Leben? Hat er er sie aus wer weiß welcher Misere befreit? Aber um wen handelte es sich?
Einen Menschen jedenfalls, dachte Cloud. Wenn wir tatsächlich auf der Erde sind, dann um einen Menschen! Eindeutig! Oder...? Er schleppte sich zur Tür. Sie bestand wie die Wände, Decke und Boden aus einzelnen Rundhölzern, die mit hanfartigen Stricken verbunden waren. Primitiv, aber zweckmäßig. Cloud öffnete die Tür nicht, sondern presste sein rechtes Auge gegen einen Spalt in der Türkonstruktion. Er war breit genug, um in den Bereich dahinter spähen zu können. Ein weiterer Raum erstreckte sich dahinter. Er war größer als der, in dem sich Cloud befand, und erinnerte an ein riesiges Gewächshaus. Sein Blick suchte den Sänger—und fand ihn. Im gleichen Moment korrigierte er sich: Das war kein Mensch! Grundgütiger, aber was dann? Das Wesen war zwar einem Menschen ähnlich. Doch es schien in bunten Flammen zu stehen, die es umwaberten, ohne es zu verbrennen. Plötzlich war wieder alles offen. Scobee mochte doch tot sein, und auch er war nicht zwangsläufig gerettet. Nicht, wenn dieses Wesen hinter allem steckte... Clouds Gedanken überschlugen sich. Die Aurengestalt stand vor einem Tisch, auf dem sich kleine Töpfe aneinander reihten, in denen Pflanzenschösslinge steckten. Das Wesen berührte sie, während es sang und — ja, was tat? Die Pflänzchen in dem Regenbogenlicht badete, von dem es selbst umgeben war? Das gleißende, in allen Spektralfarben schillernde Licht ließ alles dahinter diffus und undeutlich werden, zog die Silhouette der Gestalt nach und löste sie gleichzeitig auf. Es war gespenstisch. Für eine Sekunde war Cloud geneigt, an Geister zu glauben. Das war die Sekunde, in der sich etwas schwer auf seine Schulter legte. Er fuhr herum.
»Pssst!«, zischte Cloud. Bei aller Freude und Erleichterung, Scobee lebend vor sich zu sehen, konnte er doch nicht vergessen, was er Sekunden zuvor entdeckt hatte. »Still! Kein Laut!« Er legte sich den Finger auf die Lippen. Ihr Gesicht war ein Spiegel seiner eigenen Verwirrung. Aber sie stand viel sicherer als er auf den Beinen. »Was ist?«, fragte sie. »Wo... sind wir hier?« Ihre Nacktheit schien ihr gar nicht bewusst zu sein, und Cloud hatte anderes im Kopf. Er zeigte zur Tür und deutete mit dem Finger, den er eben noch an seine Lippen gehalten hatte, auf den Spalt, der den Blick in den Nachbarraum ermöglichte. Sie folgte der unausgesprochenen Aufforderung. Und als sie sich vorneigte, fiel ihm auf, dass die Rötung ihrer Haut im Gegensatz zu seiner eigenen bereits abklang. Ihre Selbstheilungskräfte sind den meinen um ein Vielfaches überlegen, rief er sich in Erinnerung. Was immer uns beiden zugestoßen ist, sie wird es schneller wegstecken und vergessen können als ich. Falls ihnen überhaupt die Zeit blieb, irgendetwas wegzustecken... Sie wich von der Tür zurück, kaum dass sie hindurchgeschaut hatte. Ihr Blick flackerte. »Was ist das?« In diesem Moment verstummte der Gesang auf der anderen Seite. Cloud schob Scobee sanft zur Seite und nahm seinen alten Platz wieder ein. Es kostete ihn schiere Überwindung, das Auge erneut gegen die Lücke im Holz zu pressen, aber er tat es. Er musste wissen, was das Wesen tat, das jetzt genau in seine Richtung blickte. Und erlosch!
Cloud zog Scobee von der Tür weg, aber bevor er sie auf das Gesehene vorbereiten konnte, schwang die Tür nach innen, und der Unbekannte stand auf der Schwelle. »Das ist nicht...«, setzte Scobee an. Aber dann verstummte sie und starrte den Mann, der ihnen scheu zulächelte, aus großen Augen an. Der Mann, der nur Blicke für sie zu haben schien, Cloud kaum beachtete, sagte in fast triumphierendem Ton: »Ich wusste es!« Cloud und Scobee tauschten Blicke. Schließlich trat Cloud einen Schritt vor. »Hallo. Ich schätze, Sie können uns sagen, was... nun, was mit uns passiert ist. Wo sind wir? Wer sind Sie?« Der Mann war etwas größer als sie beide und spindeldürr. Die Kleidung, die er trug, lag eng an dem mageren Körper. Sie war von grünbrauner Farbe und erweckte den Eindruck, als sei sie aus dünnen Pflanzenfasern geflochten oder gewoben. Was auch immer... Sie bestand aus einer Hose und einem ebenso schlichten Oberteil. Der Fremde war barfüßig. »Ich bin Jelto«, sagte der Mann, dessen Alter sich kaum schätzen ließ. Seine Haut war glatt, dennoch strahlten seine Züge jene Art von Reife und Erfahrung aus, die man frühestens ab der ungefähren Mitte seines Lebens erlangte. »Jelto... Ich bin John. John Cloud. Das hier ist Scobee.« Jelto nickte und trat näher. »Und wer seid ihr?« Cloud hatte diese Frage befürchtet. Hatte geahnt, dass er sich nicht mit ihren Namen begnügen würde. »Haben Sie uns gerettet?«, fragte er. Jelto trat noch näher. Ihre Nacktheit schien ihn nicht zu stören. »Wirkt die Salbe?«, fragte er, als wiche er der Frage aus. Und ehe sie antworten konnte, nickte er Scobee zu. »Oh, ich sehe, dass sie wirkt. Das ist ebenfalls... außergewöhnlich...« »Wir wurden verfolgt«, sagte Scobee. »Was wissen Sie darüber?« »Viel, das Meiste«, sagte Jelto. »Ich war Zeuge. Man hat meine Kinder getötet. So viele. Schließlich fand ich euch. Dass ihr lebt, ist ein Wunder. Die Bäume töten sonst jeden - außer mir...«
»Ihre Kinder getötet?« Scobee lauschte dem Nachhall, den Jeltos Worte in ihr verursachten. Gleichzeitig musterte sie den Hageren, als erwartete sie, jeden Augenblick wieder das irritierende Licht aus ihm hervorbrechen zu sehen. Die Aura, die sie an die Kirlianfotografien erinnerten, mit denen sie sich irgendwann einmal als Halbwüchsige von 14 oder 15 Jahren beschäftigt hatte. Damals hatte sie es fasziniert, daran zu glauben, dass Pflanzen ein Seelenleben besitzen sollten - und dass es technisch möglich war, dies sogar sichtbar zu machen. Auch Cloud wirkte wegen der Worte ihres mutmaßlichen Retters entsetzt. Er wartete ebenso angespannt auf Jeltos Antwort wie sie. »Ich nenne sie so. Niemand versteht es, niemand, der nicht ist wie ich. Aber ich begleite sie vom Samen an, ich ziehe sie heran wie Kinder. Ich habe es nicht ertragen, sie sterben zu sehen, zu hören wie sie...« Seine Stimme wurde immer leiser. Plötzlich wankte er. Und im nächsten Moment kippte er einfach vornüber, schlug auf den Boden des Raumes - und rührte sich nicht mehr.
Scobee war sofort bei ihm. Die notdürftig verarztete Wunde auf Jeltos Rücken war ihnen bislang verborgen geblieben. Nun war sie unübersehbar. Er hatte sie zwar verpflastert, aber sie musste wieder aufgebrochen sein und blutete stark. »Verdammt!«, fluchte Cloud. »Er hat uns geholfen, dabei hat- er selbst Hilfe mehr als nötig. Wie sieht es aus, Scob? Meinst du, du kannst ihm...?« Er verstummte und sah zu, wie sie das Pflaster entfernte und sich das ganze Ausmaß der Verletzung ansah. »Sieht aus, als würde noch etwas drinstecken«, sagte sie. »Ich brauche Wasser. Heißes Wasser, saubere Tücher, Instrumente... am besten wäre eine medizinische Ausrüstung. Es muss hier irgendwo eine geben. Das Pflaster ist sehr speziell. Aber mehr konnte er selbst wahrscheinlich nicht für sich tun. Er hat die Wunder desinfiziert, verschlossen und dann darauf gehofft, dass sie heilt. Aber das kann sie nicht, nicht solange der Fremdkörper in ihm steckt.« Sie legte das Pflaster wieder über die Wunde und presste ihre Hand darauf. Der Blutstrom kam ins Stocken. »Beeil dich. Such! Nicht hier drinnen - es muss andere Räume geben, modernere. Das hoffe ich zumindest...« Cloud zögerte nicht länger. Obwohl er sich allmählich Kleidung wünschte, sah er ein, dass dies auf der aktuellen Prioritätenliste weit unten angesiedelt war. »Okay, ich seh mich um. Ich beeile mich.« Er stürzte aus der noch offenen Tür. Bei dem angrenzenden Bereich schien es sich tatsächlich um ein großes Gewächshaus zu handeln. Aber rechts lag ein Gang, in dem es metallisch schimmerte. Es war ein harter Kontrast zu dem Holz und dem Glas, das die bisherige Umgebung geprägt hatte. Cloud rannte darauf zu. Die Schmerzen, die von den Verätzungen seiner Haut hervorgerufen wurden, waren immer noch stark, aber erträglich. Sekunden später lief er durch einen etwa zehn Meter langen Gang, an dessen Ende eine Tür lag, die einem Raumschiffschott glich. Bei seiner Annäherung öffnete sie sich automatisch. Dahinter lag ein Bereich voller Hightech, der wie ein Fremdkörper in der sonst so naturbelassenen Umgebung wirkte. Aber schnell wurde ihm klar, dass dies genau der Ort war, der ihnen weiterhelfen konnte. Wenige Minuten später kehrte er zu Scobee zurück und stellte eine Tasche neben ihr ab. Er öffnete sie wortlos für sie, und ihre verkniffene Miene hellte sich augenblicklich auf. »Danke«, sagte sie. Dann tat sie ihr Möglichstes, um Jelto zurückzuzahlen, was er für sie getan hatte. Aber die Verletzung erwies sich als noch schwerwiegender, als sie es erwartet hatte. Obwohl Cloud ihr assistierte, bekam sie die Blutung kaum in den Griff. Ihnen fehlte Plasma, um den Verlust zu kompensieren. Ihnen fehlte genau die Einrichtung, die selbst Krankenhäuser ihrer Zeit geboten hatten. Aber hier...? Hier draußen in der Wildnis...? »Ich schaffe es nicht«, seufzte sie irgendwann entnervt und suchte Clouds Blick. »Doch«, widersprach er. »Du schaffst es. Wir schaffen es. Wir müssen. Wir können nicht zulassen, dass er...« Sie nickte und wandte sich wieder der Wunde zu. Kurz ballte sie die Hände, die das medizinische Notfallbesteck hielten, zu Fäusten. Dann machte sie weiter. Die Zeit verrann, ohne dass es ihnen bewusst wurde. Wer war Jelto?
Wer waren die, von denen sie gejagt worden waren und die offenbar auch ihm Leid zugefügt hatten? Scobee hatte einen Splitter herausgeholt, ein Stück scharfkantiges, zerfetztes Metall, das darauf schließen ließ, dass hinter Jelto noch weit mehr lag, als er ihnen bislang offenbart hatte. Schon allein deshalb musste er leben. Weiterleben. Er konnte ihnen so vieles verraten, so vieles erklären — über diesen unsagbar fremd, unsagbar tödlich gewordenen Planeten namens Erde. 4. »Aylea! Aylea, hörst du mich nicht? Aylea!« Aylea fuhr hoch und riss sich die VR-Kappe vom Kopf .Verstört blinzelte sie und brauchte einen Moment, sich zurechtzufinden. Ja, sie war das Menschenmädchen Aylea, nicht die Packa Mashanabá. »Ja doch, Mama, ich höre dich! Bin ja nicht taub!«, rief sie hastig und fühlte, wie ihr Gesicht heiß anlief. So war das immer, wenn sie sich ertappt fühlte — und das war ziemlich häufig der Fall. »Dafür hast du aber ganz schön lange gebraucht, um dich zu einer Antwort zu bequemen!«, erscholl die Stimme der Mutter aus Richtung Küche. »Komm her, das Essen ist fertig! Beeil dich und trödle nicht so lange herum!« »Ich mache ja schon!« Aylea verdrehte die Augen und bewegte die Lippen in einem lautlosen Meckern. »Jammer nicht, sondern beweg dich!« Das Mädchen zuckte zusammen. Woher konnte ihre Mutter das wissen? Diese Frage konnte sich Aylea selbst beantworten: Weil sie ihre Mutter war. Das war manchmal ganz schön nervtötend. Das Mädchen machte sich auf den Weg ins Esszimmer und war versucht, mit dem Fuß aufzustampfen, als aus dem Bad ein leises Piepsen ertönte. »Und vergiss nicht, dir die Hände zu waschen!«, erinnerte ihre Mutter. »Ja, ja«, murmelte Aylea, stapfte zurück ins Bad und hielt die Hände über das Becken. Ein warmer Wasserstrahl, vermischt mit einer wohl duftenden Seife lief über ihre Hände. Nach dem Trocknen wurden sie mit einer pflegenden Lotion eingesprüht. »Was ist so schlimm daran, sich vor dem Essen die Hände zu waschen?«, fragte Lynn, als Aylea mit missmutigem Gesicht in der Küche erschien. »Nichts«, antwortete das Mädchen, »aber ich mag diese dauernde Überwachung und Erinnerung nicht. Warum kann ich nicht selbst mal was entscheiden?« »Worüber beklagst du dich? Es ist gut für dich. Und wenn du volljährig bist...« »...dann muss ich selbst dran denken, wenn ich den Haushaltshelfer nicht entsprechend programmiere«, vollendete Aylea den Satz und verdrehte erneut die Augen, während der Stuhl sich hinter ihr schwebend in richtige Position brachte, und sie setzte sich. »Aber bis dahin ist es noch so lang!« »Was für ein Unsinn«, widersprach Lynn, während sie selbst Platz nahm. »Du hast die schönste Kindheit, die man sich vorstellen kann. Ein paar Regeln muss es immer geben.« »Und wer stellt die auf?«, fragte Aylea herausfordernd. »Ich, weil ich die Mutter bin«, antwortete Lynn prompt und berührte ein Sensorfeld neben ihrem Teller. Sie lächelte und stupste ihre Tochter an der Nase. »Und deswegen habe ich auch entschieden, dass es heute dein Lieblingsgericht gibt! Zufrieden?« Jetzt musste Aylea lachen. »Welches meiner vielen?« »Lass dich überraschen.« Ein Servierer schwebte mit einem voll beladenen Tablett heran und stellte duftende Speisen und bunte Getränke auf den Tisch.
Aylea lief das Wasser im Mund zusammen. Sie konnte sich nicht erinnern, dass es ihr einmal nicht geschmeckt hätte. Das Essen wurde individuell an die Geschmacksempfindungen und das Hungergefühl jeder Person angepasst und enthielt ausgewogene Vitamine, Mineralstoffe, Proteine und Kohlenhydrate. Niemand wurde mehr dick, und es gab auch keine starken Gelüste nach ausgefallenen Leckereien, da alles im ausreichenden Maß angeboten wurde.
»Tut mir Leid! « Stephen, Ayleas Vater, kam atemlos herein. »Die Sitzung hat wieder einmal länger gedauert.« Er drückte nacheinander Aylea und Lynn einen Kuss auf die Wange und nahm Platz. »Die neue Biosphäre auf dem Mars nimmt uns ganz schön in Anspruch. Es sind so viele Wünsche zu berücksichtigen, man glaubt es nicht.« »Nun, um in eine neue Siedlung umzuziehen, muss einem schon etwas geboten werden«, meinte Lynn. »Wozu benötigen wir überhaupt eine neue Biosphäre?« »Es ist genug Platz da, warum also nicht? Außerdem wollen wir dort eine neue Forschungsstation einrichten. Dort können dann beispielsweise kleine Naseweise wie du, Aylea, ihren künftigen Arbeitsplatz finden.« »Ich weiß nicht, Papa. Ich habe mich doch noch gar nicht entschieden, was ich später machen will. Ich meine, mehr-dimensionale Mathematik ist nicht schlecht, oder Quantenphysik...« »Und für die Leistungsverbesserungen des Klonings interessierst du dich nicht mehr?« »Doch, schon... aber Androidenforschung finde ich interessanter. Künstliches Leben und so.« »Stephen, sie ist doch gerade erst zehn geworden. Lass ihr ein wenig Zeit! Vergiss nicht, bei aller Leistungsfähigkeit und hoher Intelligenz ist sie noch ein Kind!«, mischte sich Lynn ein. »Kinder brauchen Freiräume für ihre Entwicklung, sie müssen spielend lernen und erst alle Möglichkeiten ausloten, bevor sie sich entscheiden. Wir haben doch so viel Zeit.« Stephen lachte. »Ich weiß, manchmal reißt mich die Begeisterung einfach mit, seit Aylea ihr Praktikum in meiner Abteilung gemacht hat.« Er strahlte seine Tochter an. »Ich finde, du bist ein besonders kluges Mädchen.« Aylea errötete leicht. Ihr Vater war nicht gerade verschwenderisch im Verteilen von Komplimenten, schließlich gab es nur kluge Menschen, und das Bildungsniveau war sehr hoch. Die meisten Menschen im arbeitsfähigen Alter beschäftigten sich mit der Wissenschaft, vor allem die Raumfahrttechnologie war sehr beliebt. Aber es gab auch hoch angesehene Künstler, die wunderbare sphärische Musik oder Lyrik komponierten, oder auf fraktaler Geometrie basierende Kunstwerke errichteten. So genannte »niedere Arbeiten« musste keiner mehr verrichten, dafür gab es Roboter. Auch im Haushalt war alles auf Computerbasis durchorganisiert. Einkäufe wurden pünktlich erledigt, das Essen automatisch entsprechend der Programmierung zubereitet. »Das bringt mich auf etwas anderes«, bemerkte Lynn und richtete die Augen auf die Tochter. Aylea hatte ihr langes, blondes Haar, das herzförmige, feingeschnittene Gesicht und den langen, schlanken Körperbau geerbt. »Hast du deine Aufgabe gemacht, Schätzchen?« Aylea nickte. »Ja, Mama, war ganz einfach! « »Und warum warst du dann immer noch in der VR?«, hakte Lynn nach. Das Mädchen errötete. Ihre Mutter war nicht im Zimmer gewesen. Woher wusste sie das? Sicher, Aylea hatte eine ganze Weile nicht geantwortet, aber das kam öfter vor, auch wenn sie beispielsweise einmal nur lernte. Es gab noch Schulen und Lehrer. Es hatte sich herausgestellt, dass die Kinder eine reale Bezugsperson und den Kontakt untereinander benötigten, um zufriedenstellend ihren Aufgaben nachzukommen.
Vor etwa hundert Jahren hatte man es mit »Unterricht zu Hause« versucht. Aber es hatte sich herausgestellt, dass die Kinder irgendwann nicht mehr zwischen virtueller und tatsächlicher Realität unterscheiden konnten und ein stark gestörtes soziales Verhalten entwickelten. Aylea wusste das aus einer historisch-soziologischen Studie, über die sie einmal eine Arbeit schreiben musste. Und sie wusste ebenso, dass ihre Mutter die virtuelle Realität grundsätzlich ablehnte und sie nur in Zusammenhang mit dem Unterricht duldete. Darüber hatten sie so oft eine Auseinandersetzung gehabt, bis ihr Vater sich schließlich ein-gemischt und erklärt hatte, dass er Aylea mit zehn Jahren für reif genug befand, nicht nur trockenen Lehrstoff hineinzupauken, sondern auch spielen zu dürfen und das Gelernte spielerisch umzusetzen und zu verarbeiten. »Es gibt genügend echte Spielplätze zum Toben!«, hatte Lynn eingewandt, aber sie war überstimmt worden. Sogar von den Lehrern: »Alle Kinder in Ayleas Alter spielen in der VR. Grenzen Sie die Tochter nicht aus. Lassen Sie ihr das Vergnügen.« Also hatte Lynn schließlich nachgegeben. Aber sie schrieb Aylea genau die Zeiten vor, wann sie spielen durfte und wann nicht. Und sie ertappte die Tochter natürlich regelmäßig dabei, dass die Regeln übertreten wurden, trotz aller Strafen und Verbote. Aylea konnte der Verlockung einfach nicht widerstehen. »Och... ich habe nur noch ein bisschen gespielt«, gab Aylea zu, in der Hoffnung. dass es halb so schlimm wurde, wenn ihr Vater dabei war, der immerhin auf ihrer Seite war. »Zur Entspannung, Mama! Ich war so früh fertig, und...« »Du weißt, dass ich nicht möchte, dass du so lange im Packa bleibst«, schnitt Lynn ihr das Wort ab. »Es ist doch nur ein Spiel, Mama.« »Unter sehr realen Bedingungen, Aylea. Du bist noch zu jung für ausgedehnte Sitzungen. Du könntest dich darin verlieren.« »Aber es ist da so schön...« »Eben deswegen.« Lynn wies durch das große Panoramafenster. »Du könntest darüber vergessen, dass es hier auch schön ist. Du könntest vergessen, dass dein Körper jede Menge Bewegung braucht, nicht nur dein Geist. Nichts kann sich mit echter Luft vergleichen, die man einatmet, eine echte Blume, die man in der Hand hält, deren Duft man riecht. Warum musst du überhaupt spielen?« »Weil es da ganz anders ist, und weil es einfach Spaß macht«, antwortete Aylea. »Es ist alles ganz einfach, wenn man sich so bewegt. Man kann so viele Sachen gleichzeitig machen und sehen, ohne eingeschränkt zu sein.« »Das Kind kann seiner Fantasie freien Lauf lassen«, stimmte Stephen zu. »Es kann ganz andere Spiele spielen, weil sich alles individuell auf es einstellt. Und es lernt dabei noch eine Menge. Beispielsweise, wie es auf einer fremden Welt sein kann – mit anderen Kulturen und so weiter. Das fördert die Kreativität, das ist wissenschaftlich nachgewiesen.« »Und die seelische Ausgeglichenheit und Zufriedenheit«, zitierte Aylea aus ihrem Aufsatz. »Ich habe mich eingehend damit beschäftigt, Mama, und ich weiß doch, dass es hier ganz anders ist. Außerdem würde ich gar nicht immer dort sein wollen!« »Ich sehe schon, ihr begreift nicht, worauf ich hinaus will.« Lynn seufzte. »Ich halte einfach nichts von dieser Art Flucht aus der eigenen Welt. Das haben wir doch gar nicht mehr nötig! Wozu brauchen wir denn noch mehr Abwechslung?« »Um einen erweiterten Horizont zu bekommen«, antwortete ihr Ehemann. »Es ist gut, wenn die Kinder von Anfang an auf Vielseitigkeit trainiert und ihr Intellekt ausreichend gefordert und gefördert wird, Wozu haben wir den Verstand, wenn wir so viel brachliegen lassen würden? Außerdem besteht kein Grund, sich auf die faule Haut zu legen. Wir beherrschen die interstellare Raumfahrt. Wir haben Kolonien auf fast allen Planeten und vielen Monden unseres und auch einiger anderen Sonnensysteme. Das ganze Universum steht uns offen! Das sollen und müssen wir
nutzen. Vor allem kann es geschehen, dass trotz unserer Kontrolle über das Jupiter-Portal jemand von der anderen Seite zu uns durchdringt.« »Ich weiß, was du meinst«, warf Aylea eifrig ein. »Es wird überall im Netz gemeldet, dass dieses fremde Schiff weiter im Anflug ist! Wer mag das wohl sein? Denkt ihr, es sind böse Eindringlinge?« »Ob Invasoren oder nicht, sie sind fremd. Aber warten wir es ab«, sagte Lynn. »Schon einmal sind Schiffe bei uns gelandet, wie ihr wisst. Sie bilden heute als Türme die Zentren der Metrops. Sie haben unser Leben positiv verändert. Hoffen wir also, dass dieses neue Schiff ebenfalls gute Absichten hegt, denn es dürfte technisch nicht zu unterschätzen sein, wenn es uns erreichen kann...« Aylea hörte nur noch mit halbem Ohr zu und widmete sich lieber ihrem Essen.
Anfangs, als es den Großalarm gegeben hatte, waren natürlich alle sehr aufgeregt gewesen, und in der Schule hatten sie eifrig darüber diskutiert. Aber inzwischen war die erste Neugier abgeklungen. Es hatte sich nichts weiter getan, und das Interesse der Kinder erlosch schnell. Viel wichtiger war es Aylea, so schnell wie möglich wieder ins Packa zurückzukehren. Sie hatte immer noch nicht herausgefunden, wer ihr geheimnisvoller Gegenspieler war, der ihr als »Takaké« das Leben schwer machte. Leider hatte ihre Mutter sie mittendrin herausgeholt, als die nächste Auseinandersetzung bevorstand. Nun war Takaké im Vorteil, und Aylea hoffte, dass sie nicht allzu viele Punkte verloren hatte. Mit den erworbenen Spielpunkten konnte sie nur etwas anfangen, wenn sie ein neues Spiel startete, mit einer ganz neuen Figur. Aylea hatte Mashanabá heute zum ersten Mal eingesetzt - mit einem Vorschuss an Punkten aus den letzten Spielen, der die Figur sofort gehörig aufgewertet und Aylea mehr Zugriffsmöglichkeiten gestattet hatte. Zum ersten Mal hatte sie diese Möglichkeit gehabt, nachdem sie sich vorher auf einfachen Levels einige Vorteile verschafft hatte. Lieber wollte sie langsam anfangen und sich nach oben arbeiten, als gleich wild loszustürmen - wie es andere Kinder taten, die zum ersten Mal im Spielrausch waren - und womöglich Minuspunkte zu machen. Aylea war heute noch manchmal wütend auf ihre Mutter, weil sie ihr das Spielen so lange verboten hatte. Da konnte man so richtig Kind sein, sich austoben, und auch mal Mist bauen, ohne dass gleich ein Strafgericht folgte. Alles um sich herum vergessen, einfach nur spielen. Und heute war es wirklich etwas ganz besonderes gewesen. Es war, als wäre Aylea wirklich Mashanabá, sie konnte den Körper richtig spüren und war bei der vielen Rennerei ganz außer Atem gekommen. Und dann, bei dem Sturz in den See... Aylea schauderte es jetzt noch, beinahe hätte sie das Spiel von selbst abgeschaltet. Aber dann hätte sie alle Punkte verloren und wieder von vorn anfangen müssen, und Mashanabá fand sie zu gelungen, um die Figur gleich wieder zu verlieren. Sie konnte noch viele Abenteuer bestehen. Aber es war ganz schön knapp gewesen. »Die Packa sind übrigens nett«, warf Aylea in eine Gesprächspause der Eltern ein. Sie wollte über das reden, was sie beschäftigte. Es war das erste Mal, denn Lynn hatte solche Unterhaltungen bisher abgelehnt. »Wie aufrecht gehende Hunde mit überlangen Armen! Mit der Suchmaschine habe ich in einem antiquarischen Datenspeicherarchiv herausgefunden, dass sie diesen früheren chinesischen Chow-Chows irgendwie ähnlich sehen. Und sie tragen ulkige Sachen. Da sind mehr Löcher drin als Stoff. Ohne Fell würde man ganz schön komisch darin aussehen. Sie lieben auch Ketten und Armbänder, und alle tragen jede Menge technischen Kram mit sich herum.«
»Ja, früher waren sie sehr aggressive Geschöpfe, aber das hat sich zum Glück geändert«, sagte ihr Vater und tätschelte lächelnd ihren Arm. »Alles eine Frage der Programmierung.« Er seufzte. »Und das ist schon die Überleitung zum Abschied, ich muss wieder los, ihr Lieben. Hast du heute noch zu tun, Liebling?« »Nein, ich habe meinen Auftrag beendet und mir vorgenommen, den Nachmittag mit meiner Tochter zu verbringen«, antwortete Lynn und lächelte Aylea an. »Wir könnten einen Ausflug machen, wenn du magst.« Aylea dachte an den unterbrochenen Spielzug, den sie viel lieber zu Ende geführt hätte. Normalerweise liebte sie Ausflüge mit der Mutter. Sie gingen shoppen, ins Museum, Eis essen und vieles mehr. Nur gerade heute nicht. Aber sie wollte ihre Mutter natürlich auch nicht enttäuschen. Also lachte sie fröhlich und klatschte in die Hände. »Nichts lieber als das!« Bald darauf starteten sie von der Terrasse im dreiundvierzigsten Stockwerk mit dem Sologleiter, eine Art schwebendes Motorrad, das rein zum entspannenden Vergnügen gebaut wurde, und fädelten sich in den Verkehr ein.
Aylea klammerte sich an ihre Mutter, die rasch beschleunigte und zwischen den Häuserschluchten hindurchsauste. Wenn der Flug zu halsbrecherisch wurde, griff die automatische Kontrolle ein, doch Lynn war eine geübte Fahrerin, die genau die Grenzen kannte. Energetische Prallfelder hielten weit-gehend den Flugwind ab und würden auch im Fall eines unwahrscheinlichen Absturzes Verletzungen oder Tod verhindern. Doch trotz des geringen Risikos machte es Aylea einen Heidenspaß, mit ihrer Mutter durch die Stadt zu flitzen, auf großformatige Werbeschirmen zuzufliegen, bis sie glaubte, selbst mitten im Spot zu sein, und erst kurz davor abzudrehen. »Wo wollen wir hin, Mama?«, fragte Aylea über Helmfunk. »Ich weiß nicht. Worauf hast du Lust? Vielleicht ein kleines Picknick?« »Prima! o Sie hatten zwar gerade erst etwas gegessen, aber es kam ja auf den Spaß an. Lynn lenkte den Sologleiter auf die Landeplattform eines Einkaufszentrum. Sie streiften Hand in Hand durch den riesigen Lebensmittelmarkt, dessen Angebot hinter Glas geschützt lag, gut ausgeleuchtet und appetitlich präsentiert. Aylea übernahm die Auswahl und tippte jeweils auf das Sensorfeld für eine Portion. Zum Schluss suchte sie noch den Picknickkorb aus, mit passendem Geschirr, Besteck, Servietten und natürlich einer bequemen Decke. An der Ausgabe konnten sie den Fresskorb in Empfang nehmen - hauptsächlich Obst. Lynn zückte die ID-Karte zum Einlesen, und damit war schon alles erledigt. Geld existierte nicht mehr, denn es gab alles im Überfluss, und für das Erworbene wurde gleichsam als Gegenwert einfach die Arbeitskraft eingesetzt. Dabei war »Arbeit« jede registrierte Tätigkeit, gleich welcher Art. Auch der Unterricht der Kinder galt bereits als Arbeit, und sie hatten ihre eigene ID-Karte, womit sie allerdings nur jugendfreie Ware erwerben konnten. Die Eltern hatten allerdings die Möglichkeit, persönliche einschränkende Einstellungen vorzunehmen. Übrigens sehr zum Leidwesen von Aylea, die beispielsweise schon mal gern gewusst hätte, was genau unter »intimen sozialen Kontakten« zwischen Mann und Frau zu verstehen war. Nicht, dass sie nicht aufgeklärt gewesen wäre - aber das war nur staubtrockene Theorie, unter der sie sich nicht sehr viel vorstellen konnte. Ganz so lieblos konnte der Vorgang ja wohl nicht sein, sonst würden Ayleas Eltern nicht hin und wieder kichernd im Schlafzimmer verschwinden und dort stundenlang verweilen, ohne sich durch
irgendetwas stören zu lassen. Und danach hatten sie immer ein besonderes Strahlen im Gesicht, wirkten gelöst und zufrieden und ließen Aylea so manchen Streich durchgehen, den sie ihnen spielte. Wenig später ging der Flug weiter Richtung Land, und Aylea hatte längst vergessen, dass sie ursprünglich lieber im VR-Netz spielen wollte. Es war doch etwas anderes, selbst aktiv zu sein. Deshalb gab es auch in jedem Bezirk große Spieleinrichtungen für Kinder - nicht nur zur sportlichen Betätigung, sondern auch zur Förderung der Kreativität. Ihnen standen jede Menge Labors und Werkstätten zur Verfügung, um Experimente durchzuführen oder Maschinen zu bauen. Diese Dinge entstanden in Gemeinschaftsarbeit, erstreckten sich oft über Monate, und machten einen Heidenspaß - vor allem den Kindern, die es gern mal »krachen und zischen« ließen, so wie Aylea. Ihr selbst gebastelter Vulkan, den sie in mühevoller Arbeit zusammen mit ihren vier besten Freunden naturgetreu nachgebaut hatte, wurde so aktiv, dass das Zentrum für drei Tage wegen Explosionsgefahr geschlossen werden musste, und es dauerte noch weitere drei Tage, um wieder alles von dem ausgetretenen kochendheißen, inzwischen erstarrten Pudding zu säubern, der als Ersatz für Lava dienen sollte. Dazu wurden die Kinder herangezogen, die zuerst ihre helle Freude daran hatten, Pudding zu löffeln bis zum Überdruss. Doch irgendwann konnten sie keinen Pudding mehr sehen, vor allem, als es an die Feinarbeiten ging, aus jeder kleinen Ritze den Dreck zu entfernen. Für einige Zeit war Aylea, die sich natürlich keiner Schuld bewusst war, nicht besonders beliebt. Unter sich sah Aylea jetzt prall stehendes Getreide. Auf weiten Flächen um die Metrop herum war die Landwirtschaft angesiedelt; allerdings nicht in riesigen Monokulturen, sondern abwechslungsreich mit Feldern, Baumplantagen, mit kleinen Refugien und Hainen für wieder angesiedelte Wildtiere. Dazwischen erhoben sich hin und wieder große Gewächshäuser und Forschungslabors. Eine halbe Stunde später steuerte Lynn auf das »natürliche« Land zu, »Natur pur«, wie es in der Werbung oft angepriesen wurde. Die Ökologie war inzwischen wieder intakt, es musste nur noch hin und wieder eingegriffen werden. Über die Weiden zogen große Büffel- und Pferdeherden und andere Pflanzenfresser. In den Wäldern konnte sich große Artenvielfalt erhalten, beim Käfer angefangen. In unmittelbarer Nähe der Metrops gab es keine größeren Raub- oder Gifttiere. Sie waren in ferne Täler verbannt, die von großen Gebirgen eingeschlossen wurden. Aber durch die Wetterkontrolle war auch ihr Überleben gesichert. Aylea deutete auf eine kleine Lichtung in einem Mischwald. »Das sieht gut aus, Mama, landen wir dort!« Lynn folgte ihrer Anweisung, und gleich darauf streckten sie sich auf der idyllischen Wiese aus. Als Lynn anfing, die Leckereien auszupacken, dauerte es nicht lange, bis die ersten Tiere heranschlichen — Kaninchen, Eichhörnchen, Rehe, und jede Menge Vögel. Da sie nicht bejagt wurden, kannten sie keine Scheu mehr. Um den Überschuss kümmerte sich die staatliche Behörde auf humane Weise, wie Aylea wusste. Zuerst war das Mädchen begeistert, umringt zu sein, Fell und Federn streicheln zu können. Aber schließlich wurden ihr die kleinen Mundräuber zu aufdringlich und lästig. »Haut ab!«, rief sie. »Los, verschwindet! Ich habe nichts mehr für euch!« Lynn lachte, als Aylea einen empörten Schrei ausstieß. Eine Elster hatte sie aus Rache für die Vertreibung an den Haaren gezogen und flog dann laut krächzend davon. Abgesehen von Vogelgezwitscher, dem leisen Rascheln der Blätter und unter-schiedlichen Tierstimmen war es wohl-tuend ruhig. Kein Stadtlärm, keine Werbung, kein Menschengeschrei, nur hin und wieder ein Gleiter in großer Höhe, sonst waren sie ganz für sich. Aylea legte sich auf die Seite und stützte den Kopf auf einen angewinkelten Arm. »Es ist toll, eine Sonne zu sehen«, murmelte sie, in Erinnerung wieder im Packa weilend. »Die Sonne dort ist groß und rot, der Himmel fast violett. Nicht so öde wie hier.«
Es war hell und warm, aber über sich sah Aylea trotzdem nur einen blaugrauen, milchigen Schleier, so weit das Auge reichte. Früher, vor langer Zeit, war der Himmel blau gewesen, an dem Wolken entlang zogen, mit einer gelben Sonne. So könnte es heute jeden Tag sein, denn unvorhergesehene, schwere Unwetter gab es nicht mehr. Aylea hatte sich mal der schweren Aufgabe stellen müssen, einen Tag lang die Wetterkontrolle zu simulieren. Sie hatte es nicht geschafft, dass überall im Tiefland ein gleichmäßiges, angenehmes Klima mit geregeltem Niederschlag herrschte und in den Hochländern gewünschter Schneefall für Wintersport. Um genau zu sein, ging die Erde schließlich in einem fürchterlichen Wirbelsturm und einer Sintflut unter, als die Meere mit über 500 Meter hohen Tsunamis das Land überfluteten, und Aylea kassierte die erste schlechte Note in ihrem Leben. Das machte natürlich weiter nichts, denn damit wollte der Lehrer eigentlich nur demonstrieren, dass Selbstverständliches nicht unbedingt leicht zu bewerkstelligen war, und für Aylea hatte die Bewertung keine weiteren Folgen. Aber sie knabberte lang an ihrem »Versagen« und hatte plötzlich Hochachtung vor den bislang eher etwas belächelten Klimatechnikern, die ja, wie bis dahin angenommen, wohl nur »ein paar Knöpfe drücken« mussten. Die Wirklichkeit sah ganz anders aus. »Unsere Sonne ist auch noch da, Aylea, wir können sie nur nicht mehr sehen«, sagte ihre Mutter. »Das liegt an...« »... dem Tarnschirm, weiß ich doch, Mama. Wenn er nicht wäre, könnten wir tagsüber die Sonne sehen, und nachts Luna und viele Sterne...« »Was soll das, Aylea. Worüber beschwerst du dich eigentlich? Die Erde ist doch wunderbar, überall ist es grün und fruchtbar, denn nur noch 150 Millionen Menschen bevölkern die Metrops rund um den Globus. Wir haben nach Jahrtausenden des Überlebenskampfes das Wunder vollbracht und das absolute Paradies geschaffen! Und damit es so bleibt, benötigen wir den Tarnschirm. Das ist ein Zugeständnis, das wir machen müssen, und ich finde, es ist den Preis wert.« »Ich beschwere mich nicht, Mama«, murmelte Aylea. »Ich meine ja nur...« »... dass du nie genug haben kannst.« Ayleas Mutter seufzte. »Wir haben alles im Überfluss, es gibt keine Armut mehr, keine tödlichen Naturgewalten, keinen Krieg. Wir leben als freie Menschen, die ohne Grenzen überallhin reisen können. Wir arbeiten das, was uns Spaß macht, und können uns alles leisten, was wir nur wollen. Wir alle sind reich, keiner muss neidisch auf den anderen sein. Genügt das nicht?« Aylea grinste versöhnlich. »Es ist eben was Besonderes, wenn man im VR-Netz eine Sonne sehen kann. Aber ich bin ganz zufrieden damit, wenn ich oft genug hin darf.« »Ach, so versuchst du es jetzt! Du bist ganz schön raffiniert, kleines Fräulein. Aber ich bin besser als du, ich kenne diese Tricks nämlich schon.« Lynn glitt mit den Fingern durch Ayleas Haar. »Ich habe sie selbst bei meiner Mutter angewandt.« »Mit Erfolg?«, fragte Aylea lauernd. Lynn lachte. »Nein, nicht oft. Mütter darf man niemals unterschätzen. Da fällt mir ein, wir haben beim Essen ganz deine Hausaufgabe aus den Augen verloren, über die ich noch etwas wissen wollte. Hast du das Modell fertig?« »Es hat in der Simulation gut hingehauen«, sagte Aylea eifrig. »Ich habe es als Prüfungsaufgabe für Mashanabá gestaltet... »Hat sie dir etwa dabei geholfen?« »Sie hat ein paar gute Gedanken, finde ich. Sie gefällt mir, ich werde sie behalten. Auch wenn sie nicht gut schwimmen kann. Aber sie ist so... anders. Ich kann noch viel mit ihr machen. Das finde ich gut.« Lynn runzelte die Stirn. »Du beschäftigst dich aber sehr intensiv damit«, sagte sie ernst. »Nur, weil es noch ganz frisch ist«, versicherte Aylea hastig. »Es ist ja nicht so, dass ich dauernd daran denke oder so. Ich bleibe schon hier in dieser Welt«, fügte sie lachend hinzu.
Und hoffte, dass sie die Kurve gerade noch gekriegt hatte. Denn schon heute Abend wollte sie unbedingt ins Netz zurück und nachsehen, was mit Mashanabá passiert war. Es war nämlich durchaus nicht so, dass man als Einzelperson die volle Kontrolle über das Spiel hatte. Packa war ein Gemeinschaftsspiel aller, die im Netz waren. Da galten ganz eigene Regeln und Gesetze.
Am späteren Nachmittag flogen sie zurück. Um den Abfall mussten sie sich nicht kümmern, denn Lynn brauchte nur ein kurzes Signal zu senden, schon kam eine Recyclingmaschine vorbei und sammelte alles ein, auch die Decke. Niemand musste sich heutzutage noch mit unnötigem Ballast abschleppen. Man besorgte sich das, was man gerade brauchte, mehr war nicht notwendig. Lynn landete auf der weitläufigen Rasse ihrer großzügigen, zweistöckigen Wohnung. Oben befanden sich das Zimmer für Aylea und das Schlafzimmer der Eltern, unten die Küche und ein großer, in verschiedene Abschnitte unterteilter Wohnraum, wo sieh jeder auch mal in eine ruhige Ecke zurückziehen konnte. Eine gemütliche Kaminecke mit Büchern, Datenträgern und einer Leinwand war ein absolutes Muss für kühlere Abende, die es auch hin und wieder gab — zum Wärmen, Träumen bei echtem Feuerschein oder Filme Anschauen. Auf der Terrasse war ein kleiner Gartenabschnitt angelegt, mit einem Pool, der Ausbuchtungen für Massagedüsen besaß. Gleich nebenan befand sich ein Projektor für Golf oder Tennis, falls man keine Zeit hatte, in den Sportclub zu gehen, oder am Handicap arbeiten wollte. Für Sauberkeit und Ordnung sorgten elektronische dienstbare Geister, über die der Haushaltshelfer, der Zentralcomputer, die Aufsicht hatte. Aber der Computer war unaufdringlich. Er war eine Unterstützung, keine Überwachung. Keine staatliche Organisation nutzte die Daten aus, die ständig gesammelt wurden, sie verhalfen nur zu einem geordneten Leben. Falls jemand einmal ein Gesetz übertreten sollte — was äußerst schwierig war, da Automatikkontrollen normalerweise rechtzeitig eingriffen —, kam er im Handumdrehen vor Gericht und erhielt seine Strafe. Zum Beispiel eine echte körperliche Arbeit, etwa in der Landwirtschaft. Aber so etwas kam äußerst selten vor und erregte außer Mitleid kein besonderes Aufsehen. Denn warum sollte man etwas Ungesetzliches tun? Jeder hatte alles, konnte tun und lassen, was er wollte, solange er dabei nicht die Privatsphäre eines anderen beeinträchtigte. Natürlich gab es hin und wieder Familienstreitigkeiten, aber sie wurden zumeist rasch beigelegt. Die Menschen waren viel zu ausgeglichen und ruhig dafür geworden. Das zumindest hatte Aylea damals in ihrem Aufsatz niedergelegt und eine gute Bewertung dafür erhalten. Aylea konnte sich auch unbesorgt ohne ihre Eltern durch die Stadt bewegen. Es gab nichts Düsteres, Verborgenes. Alle Türen standen offen, und niemand hatte unerfüllbare Träume. Aber das, hatte Aylea ebenfalls aufgeschrieben, führte entgegen früherer Meinungen keineswegs zum Niedergang der Zivilisation. Ich glaube, das liegt auch an unserer erhöhten Intelligenz. Wir haben den Sprung nach oben auf der Evolutionsleiter geschafft, haben uns von niederen Instinkten verabschiedet und den Weg zur vollkommenen Zufriedenheit gefunden. »Sag mal, Mama, geht es eigentlich allen anderen ebenso gut wie uns?«, stellte Aylea eine unerwartete Frage, nachdem sie es sich auf der Terrasse gemütlich gemacht hatten. »Wen meinst du?« »Na, die da oben.« Das Mädchen deutete zum Himmel. »Außerirdische eben.« »Ach so.« Lynn lächelte. »Nein, ich glaube nicht, Aylea, deswegen haben wir ja den Tarnschirm. Aber unser Militär bemüht sich, unseren Fortschritt dorthin zu bringen, wo er benötigt wird. Wir bringen den Frieden, wo wir nur können, Aylea. Aber das Universum ist groß, und es gibt viel zu tun.«
»Und dieses Schiff, das uns anfliegt?« »Es stellt keine wirkliche Gefahr dar, denke ich, denn es ist allein. Wir werden herausfinden, was es damit auf sich hat.« Daraufhin schwieg Aylea eine Weile und dachte über ihr morgiges Pensum nach. Im Alter von zehn Jahren wuchsen Aufgaben und Verantwortung. Aylea wurde allmählich an praktische Arbeiten herangeführt — in der Realwelt, nicht nur in der Virtuellen. Sie hatte schon einmal in so etwas hineingeschnuppert, als sie bei ihrem Vater ein dreiwöchiges Praktikum absolviert hatte. Es war sehr gut gelaufen, und ihr Vater war seitdem sehr viel aufmerksamer und interessierter an allem, was sie tat. Sonst war sein Kopf nämlich meistens voll mit irgendwelchen Forschungsrätseln, die es zu lösen galt. Er wollte seine Tochter gern für den Bereich der Raumfahrttechnologie begeistern und sie dafür entsprechend fördern. »Dann steht dir das Universum offen, Kind«, hatte er mit leuchtenden Augen erzählt. »Dort draußen gibt es so viel mehr, du kannst es dir nicht vorstellen. Natürlich auch Entbehrungen, aber das ist es wert.« Aylea fand es noch zu früh, sich für eine Richtung zu entscheiden. Sie war für vieles begabt und hatte noch mehr Interessen. Zum Glück gab es keinerlei Zwang. Sie konnte sich jederzeit entscheiden, oder später eine Entscheidung ändern. Hauptsache war, sie fand einen guten Platz, wo sie ihr Bestmögliches geben konnte.
Als sie es nicht mehr länger aushielt, ging Aylea auf ihr Zimmer, unter dem Vorwand, sich auf den morgigen Tag vorbereiten zu wollen. In Wirklichkeit konnte sie es nicht mehr erwarten, ins Netz zu gehen und Packa zu spielen. Wie war wohl ihr Punktestand? Würde Aylea herausfinden, welcher ihrer Freunde hinter Takaké steckte? Sie war sich sicher, dass es einer ihrer Freunde war, der ihr einen Streich spielte. Sie waren alle schon sehr viel länger im VR-Netz unterwegs und konnten die Identitäten herausfiltern. Wahrscheinlich machten sie sich einen Spaß daraus, Aylea herauszufordern. Spätestens morgen würde sie es erfahren, davon war Aylea überzeugt. Immerhin hatte ihre Mutter sie ziehen lassen. Sie war selbst beschäftigt mit einem Rechenrätsel, das eine Freundin gerade geschickt hatte. Wie es aussah, würde es länger dauern. Aylea ließ sich in dem Spezialsessel nieder, schlüpfte in Handschuhe und Fußüberzüge, um sich quasi »selbst« durch das Netz zu bewegen, und machte es sich bequem. Dann setzte sie die Kappe auf, spürte die feinen Nadelstiche auf Stirn und Kopfhaut, als die neuronalen Anschlüsse Kontakt herstellten, und stöpselte zuletzt das Interface in den winzigen Anschluss hinter ihrem rechten Ohr. Wenige Sekunden später ging die rasante Fahrt durchs Netz los, bis der Kontakt hergestellt war.
Mashanabá löste die Gleichung und lehnte sich zurück. Es war alles in Ordnung, dessen war sie sich sicher. Zumindest mit der Prüfung. Sie wartete bis zum Klingelzeichen, bevor sie aufstand und die Klasse verließ. Die anderen schauten ihr nach, sagten jedoch keinen Ton. »Mashanabá, warte noch einen Moment«, bat Lokogé, der Lehrer. »Ihr anderen könnt gehen. Wiederholt zu Hause, was wir heute durchgenommen haben. Es wird morgen abgefragt werden.« Mashanabá blieb zurück, während die anderen jungen Artgenossen den Raum verließen.
»Ich wollte dich fragen, ob du mir etwas zu erzählen hast«, sagte Lokogé schließlich, als sie allein waren. »Nein«, antwortete Mashanabá. »Nicht, dass ich wüsste.« »Hast du vielleicht eine Ahnung, wo sich Takaké befinden könnte?« »Nein. Ich habe nichts mit ihm zu tun. Ich habe mit niemandem etwas zu tun.« »Aber es könnte sein, dass du ihn als Letzte gesehen hast«, fuhr der Lehrer fort. Mashanabá blinzelte verwirrt. »Ich? Aber weshalb...?« Lokogé lehnte sich an seinen Arbeitstisch. »Takaké ist dir gefolgt. Die Aufzeichnungen beweisen, dass er genauso wie du die Stadt verlassen hat - und zwar durch den Park, nur wenig später als du.« »Es - es gibt darüber Aufzeichnungen?«, stotterte Mashanabá. »Das wusste ich nicht.« »Oh, das geschieht automatisch, wird aber normalerweise nicht weiter verwendet. Alle drei Tage werden die Aufzeichnungen überschrieben, das war hier noch nicht der Fall, deswegen versuchten wir zu rekonstruieren, was er an jenem Tag gemacht hat.« »Aber damit habe ich wirklich nichts zu tun. Jedem ist bekannt, dass Takaké mich nicht leiden kann. Er hat also keinen Grund, mir zu folgen - und ich bin ihm auch nicht begegnet.« Mashanabá war ein wenig erstaunt, wie leicht ihr die Lüge von den Lippen ging. Packa logen normalerweise nicht. Aber in diesem Fall war es etwas anderes. Doch das ging niemanden etwas an. Lokogé nickte. »Ich habe mir dasselbe gedacht, aber wir wissen einfach nicht mehr weiter. Es ist ein großes Rätsel. Es scheint so, als ob Takaké seit deiner Auseinandersetzung mit ihm spurlos verschwunden ist. Wobei ich da nicht unbedingt einen Zusammenhang sehe, ich stelle es nur als Tatsache fest. Aber wenn du nicht weiterhelfen kannst...« »Kann ich nicht, tut mir Leid. Er wird schon wieder auftauchen. Manchmal verschwinden Packa ja einfach in der Wildnis und kommen irgendwann wieder zurück«, meinte Mashanabá leichthin. Sie konnte nicht so tun, als ob Takakés Verschwinden ihr nahe ging. Weshalb auch? Es gab keinen Grund, sich zu verstellen. Und wenn der verhasste Feind für einige Zeit fort war, umso besser! Allerdings konnte sich Mashanabá jetzt auch die Seitenblicke erklären, mit denen die Mitschüler sie heute bedacht hatten. Gesprochen hatte niemand mit ihr, aber das war ohnehin kaum je der Fall. Sicherlich vermuteten sie irgendeinen Zusammenhang, wagten aber keine öffentlichen Fragen oder gar Anschuldigungen. Das würde auch zu weit führen. »Gut, Mashanabá, danke«, sagte ihr Lehrer nachdenklich. »Du darfst gehen.« Erleichtert machte das Mädchen sich auf den Weg nach draußen. Vor dem Portal drängten sich einige Mitschüler. Die Gespräche verstummten augenblicklich, als Mashanabá in Hörweite kam. Einige drehten sich zu ihr um und starrten sie an, aber keiner sagte etwas. Mashanabá wusste nicht, was ihr lieber war - die Spottrufe oder diese eisige Verachtung. Andererseits war sie ihr Leben lang daran gewöhnt, es war jetzt nicht anders. Vielleicht war es doch mal ganz angenehm, keine neuen Schmähungen mehr hören zu müssen. Sie konnte die anderen wie Luft behandeln, ebenso schweigend an ihnen vorübergehen, ohne irgendwelche Blicke zu erwidern. Möglicherweise wartete der eine oder andere darauf, dass sie Fragen stellte, den Kontakt suchte. Aber Mashanabá hatte nichts verbrochen, sie brauchte sich nicht zu rechtfertigen, vor niemandem. Wenn schon, dann mussten das die anderen, und zwar schon seit Jahren. Als sie die Lehranstalt hinter sich gelassen hatte, atmete Mashanabá auf - wie fast jedes Mal, wenn sie einen neuen Tag überstanden hatte. Um das Lernen ging es ihr nicht, das machte ihr Spaß und gab ihr Hoffnung, eines Tages anderswo mit entsprechender Ausbildung einen neuen Anfang wagen zu können. Aber immer dieses Spießrutenlaufen! Und die Sorge, eines Tages geistig vielleicht doch nicht mehr mit den anderen mithalten zu können. Hier werden sie dich nie anerkennen, ob Takaké nun wieder auftaucht oder nicht, dachte sie und wünschte sich, älter zu sein. Aber sie musste immer noch Geduld haben.
Zu Hause angekommen, bereitete Mashanabá sich ein Fertiggericht zu. Ihr Vater war wie üblich nicht da. Meistens kehrte er erst heim, wenn sie schon schlief. Die beiden sahen sich kaum, und wenn, wechselten sie nicht mehr als drei Worte miteinander. Das Verhältnis zwischen ihnen konnte man keinesfalls als herzlich bezeichnen, noch weniger als familiär. Sie waren wie zwei Fremde, die sich zufällig dieselbe Wohnung teilten. Mashanabá wusste nicht, ob es jemanden gab, der sich einsamer fühlen konnte als sie. Sie hatte niemanden, mit dem sie reden konnte. Umso mehr musste sie jetzt Stärke zeigen. Sie durfte sich nicht unterkriegen lassen. Es war schon der richtige Weg gewesen, Takaké zurechtzuweisen und ihm die Grenze aufzuzeigen, die er nicht überschreiten durfte. Niemand hatte das Recht dazu, Mashanabá als zweite Wahl zu verhöhnen, sie war genauso viel wert wie jeder andere. Während sie darüber nachdachte, merkte Mashanabá, dass sie dabei war, die Wohnung zu verlassen, um... ja, was zu tun? Irgendetwas, schoss es ihr durch den Kopf. Ein Spiel, einen Wettkampf, aber das hier ist zu langweilig. »Nein«, sagte Mashanabá laut und verblüfft. »Was ist denn nur in mich gefahren? Das ist doch überhaupt nicht meine Art!« Dann muss sich das ändern, wisperte es in ihr. Ihre Füße setzten sich in Bewegung, ohne dass Mashanabá sich daran erinnern konnte, ihnen den bewussten Be-fehl dazu gegeben zu haben. Wurde sie jetzt etwa doch verrückt? Keineswegs, flüsterte das Unbekannte. Aber es wird Zeit, dass du etwas unternimmst. Dieses ewige Selbstmitleid bringt doch gar nichts. Ich werde dich jetzt anders gestalten. Mashanabá hielt sich die Ohren zu und rannte in die Wohnung zurück. Angst ließ ihr Herz schneller klopfen, ihr Pulsschlag beschleunigte sich so sehr, dass sie ihn in den Schläfen pochen spürte. Unbekannte Kräfte zogen und zerrten an ihr und versuchten, sie in eine Richtung zwingen, wohin sie nicht wollte. Gedanken drängten sich auf, die sie als nicht die ihren erkannte. Das war schlimmer als im See zu ertrinken, schlimmer als ein Unfall, eine Naturgewalt, was auch immer. Es war nicht real. Aber Mashanabá wusste, dass sie real war. Sie konnte sich an alles erinnern. Programmierung, blitzte es in ihrem Gehirn auf. Da stimmt was nicht. Mashanabá hatte schon einmal so ein seltsames Gefühl gehabt. Als sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben zur Wehr gesetzt und Takaké einen Schlag auf die Nase verpasst hatte. Da hatte sie das Gefühl gehabt, neben sich zu stehen und eine völlig Fremde zu betrachten, die da agierte. Dann war dieses Gefühl verschwunden und dem Eindruck der Leere gewichen. Und zwar ziemlich genau nach dem Sturz in den See, als ihre sämtlichen elektronischen Geräte kaputt gegangen waren und sie dem Tode nah gewesen war. Sie konnte sich erinnern, dass hinterher irgendetwas ausgehakt war in ihrem Gehirn, dass sich etwas verändert hatte, das nie mehr rückgängig gemacht werden konnte. Und nun war es schlimmer denn je. Gleichzeitig wurde sich Mashanabá aber auch bewusst, dass sie nicht verrückt war. Sie nutzte ihre neuen Willenskräfte, sich zur Wehr zu setzen. Sie ging einfach nicht, keinen Schritt, auch wenn ihr Körper und etwas anderes in ihr noch so sehr danach verlangte. Sie tat etwas ganz anderes. Sie trat vor den Spiegel und sah hinein. Sie betrachtete nur ihr Spiegelbild — jede Kontur, jede Linie, jedes einzelne Härchen. Alles stimmte, auch die Runzeln und Sprenkel auf der Nase. Bis auf die Augen! Mashanabá streckte den rechten Zeigefinger aus und deutete auf sich im Spiegel.
»Raus aus meinem Kopf!«, sagte sie laut und sehr bestimmt.
Aylea fuhr zusammen, fast hätte sie den Kontakt verloren. Was war das? Irgendetwas stimmte da ganz und gar nicht! Sie hatte überhaupt keine Kontrolle über das Spiel mehr, ausgerechnet jetzt! Dabei hatte es so gut angefangen, fast wie ein Krimi: die Suche nach Takaké. Und jetzt entwickelte es sich in eine Richtung, die Aylea nie im Leben so geplant hätte. Und was sagte Mashanabá da nur? Konnte sie sie etwa sehen? Das Mädchen überlegte fieberhaft, ob es aussteigen oder weitermachen sollte. Das Problem war, wenn sie es jetzt einfach beendete, stürzte das Spiel womöglich komplett ab und löschte alle Punkte. Dann konnte sie wieder ganz von vorn anfangen. Jemanden um Rat zu fragen und derweil das Spiel auf Pause zu halten, funktionierte auch nicht. Was hatte Mashanabá gesagt? »Raus aus meinem Kopf«? Das konnte natürlich auch ein Spielzug eines Gegners sein, eine ihrer Freundinnen, die sich wieder zugeschaltet hatte und Aylea auf einen anderen Level zwang. Oder die den Sieg für sich beanspruchte, wenn Aylea aufgab, und alle Punkte einheimste. Alles war möglich. Was sollte sie tun? Aylea atmete tief durch. Eigentlich war es gar keine Frage. Neugierig war sie zudem. Und aussteigen konnte sie immer noch, wenn die Programmierung tatsächlich defekt war. Jetzt wollte sie erst einmal wissen, wie es weiterging — und was Mashanabá tatsächlich damit meinte...
»Das sind nicht meine Augen«, flüsterte Mashanabá vor dem Spiegel. Sie war ganz nahe herangetreten. »Sie sehen aus wie meine Augen, und ich kann mich erkennen. Aber dahinter spiegelt sich noch etwas anderes. Ich kann es sehen. Es ist etwas... unglaublich Fremdes. Und es ist in mir!« Kein Zweifel, dachte Aylea erschrocken, sie weiß es! Aber wie ist das möglich? »Raus aus meinem Kopf!«, wiederholte Mashanabá wütend und verzweifelt zugleich. Sie wartete eine Weile. Dann schrie sie: »Rede mit mir, verdammt! Ich weiß, dass du da bist!« Aylea war nun so verwirrt, dass sie das Spiel einfach mitmachte. Vielleicht war sie in ein sich selbst weiterentwickelndes Programm geraten. Auch das war möglich. Das musste sie herausfinden. Doch jetzt war es das Beste, mit Mashanabá zu kommunizieren, vielleicht kamen sie gemeinsam auf die richtige Lösung. »Was ist?«, fuhr Mashanabá fort und funkelte ihr Spiegelbild aus schmalen Pupillenschlitzen an. »Soll ich zuerst die Hand in kochendes Wasser halten, bis du reagierst? Oder irgendetwas anderes tun, das ordentlich schmerzt? Bestimmt ist dir das auch nicht angenehm, wenn mein Gehirn mit Schmerzreizen überflutet wird! Das muss doch auch zu dir durchschlagen, oder? Also, ich frage zum letzten Mal: Bist du da oder nicht?« Ja. »Na endlich! Und wer bist du?« Aylea. Aber es ist unmöglich, dass du mich bemerkst. »Und weshalb?« Weil es nur ein Spiel ist. »Ein Spiel? Ich bin kein Spiel! Ich bin real! « Es ist virtuelle Realität, also täuschend echt. Aber es findet nur im Kopf statt.
»Red keinen Blödsinn! Von dieser Philosophie habe ich schon gehört, damit lässt sich so ziemlich alles Unerklärliche sehr einfach pauschalisieren! « Aber es ist wahr. »Mumpitz! Und jetzt hau ab!« So einfach geht das nicht. Es kann viel kaputt machen. Möglicherweise löscht es dich aus. »Oder dich, wie wäre das, Aylea? Nun? Ich werde es dir beweisen. Ich gehe jetzt zu meinem Terminal und werde nach einer Lösung suchen.« Mashanabá steuerte mit leicht schwankenden Schritten ihr Terminal an. Sie musste immer noch gegen das zweite Ich in ihr, das sich »Aylea« nannte, ankämpfen. Doch sie schaffte es, die Suchmaschine zu starten, gab alle Begriffe ein, die ihr einfielen und ein paar, die von Aylea stammten. Wie es aussah, hatte das Aylea-Ich ebenfalls Zugriff auf das Terminal. Es dauerte eine ganze Weile, bis die Suche beendet war. Während der Wartezeit kämpfte Mashanabá gegen sich selbst. Sie versuchte, das Aylea-Ich aus ihrem Gehirn zu werfen oder sich dagegen abzuschotten. Doch alles blieb ohne Erfolg. Das Aylea —Ich weigerte sich schlichtweg, sie zu verlassen, und Mashanabá hörte dem Gefasel nicht mehr zu. »Es ist eine verschlüsselte Datei«, sagte Mashanabá erstaunt, als das Ergebnis auf dem Bildschirm stand. Die Information stammt aus unserem Netz, sagte das Aylea-Ich. Ich erkenne die Dateiform. »Willst du damit sagen, dass wir alle miteinander vernetzt sind?«, stieß Mashanabá entgeistert hervor. Du bist Teil des Programms der VR-Spiele, natürlich bist du damit vernetzt. »Und ich sage dir noch einmal: Ich bin real! Diese Welt hier ist real!«, schnaubte Mashanabá eigensinnig. »Warum glaubst du mir nicht? Öffne die Datei, sie wird es dir beweisen! Oder hast du Angst davor?« Es könnte einen Zusammenbruch geben, wenn ich das tue. Aber ich werde es versuchen, denn ich will es dir ebenso beweisen, dass du im Irrtum bist. Nur so kann ich das Programm normal beenden, fürchte ich. Es ist eine sehr verfahrene Situation.
Aylea brauchte einige Zeit, bis sie die Datei geknackt hatte. Ohne das Praktikum bei ihrem Vater hätte sie das wahrscheinlich nicht geschafft, aber sie hatte dort eine Menge mitbekommen. Doch dann wünschte sie sich, es nicht getan zu haben. Mashanabá Schreie in ihrem Bewusstsein schmerzten Aylea mehr als alles andere, ihre Ohnmacht, ihre Verzweiflung. Dabei hatte die Packa Recht behalten — das war das Schlimmste. Es war alles wahr. Die Packa existierten wirklich. Ebenso existierte ihre rote Sonne, der violette Himmel, einfach alles. Mashanabá war ein Lebewesen, genauso wie Aylea. Irgendwann einmal waren Raumschiffe von der Erde auf dem Planeten der Packa gelandet. Offiziell stand in der Datei, dass sie den »Frieden gebracht« hatten. Aber beiden, Aylea und Mashanabá, war klar, dass die Menschen den Planeten erobert hatten, und zwar innerhalb kürzester Zeit. Sie unterwarfen die Packa und zwangen sie, ihre Lebensgewohnheiten, ihren Glauben, ihre Ansichten zu ändern. Die Menschen brachten die Technik, bauten moderne Städte, pressten die Packa hinein und ließen sie alles Frühere nahezu vergessen. Immerhin stimmte eines: Die Packa waren sehr kriegerisch gewesen.
Aber die Menschen hatten es keineswegs gut mit ihnen gemeint. Um zu verhindern, dass sie sich eines Tages in den Weltraum erhoben, um andere Planeten zu überfallen, wie es die Menschen taten, wurde ihnen der Wohlstand gebracht, der Frieden — und ein Chip, der jedem Neugeborenen ins Gehirn eingepflanzt wurde, zur Konditionierung... Und zur Unterhaltung der Menschen! Das VR-Spiel fand keineswegs in der virtuellen Realität statt. Wann immer die Menschen es wollten, stöpselten sie sich in die Netzverbindung ein, ließen das Bewusstsein überlicht-schnell durch den Raum reisen und nahmen durch den Chip Kontakt zu einem beliebigen Packa auf. Sie übernahmen sein Bewusstsein, seinen Körper und »spielten« damit. Was immer sie wollten...
Aber ich wollte nichts Böses, stammelte Aylea in Mashanabá Bewusstsein. Ich habe es nicht gewusst... Mashanabá kauerte zusammengerollt auf dem Boden. »Spar dir deine Entschuldigungen«, schluchzte sie. »Ihr... ihr habt uns zu Sklaven gemacht! Ihr benutzt uns wie ein Programm, wie Spielzeug, wie... Ihr verdammten Bestien, wie könnt ihr nur!« Aber ich wusste es wirklich nicht! Ich dachte mir nichts dabei!, rechtfertigte sich Aylea verzweifelt. »Natürlich nicht, wie denn auch«, stieß Mashanabá hervor und setzte sich langsam auf. Ihre Mähne war völlig zerzaust. »Und natürlich muss es mir passieren, dass mein Chip kaputt geht, dass ich erkenne, was wirklich vorgeht auf dieser Welt! Ich war ja von Anfang an anders. Vermutlich hat der Chip nie richtig funktioniert, und jetzt... jetzt ist alles vorbei.« Aber nein, ich werde einfach nicht mehr kommen. Ich werde... »Dummes Ding, glaubst du, damit ist es getan? Ich weiß doch von jetzt an nie mehr, ob ich mit einem Packa oder mit einem Menschen spreche. Ob alles, was mir widerfährt, Teil eures teuflischen Spiels ist oder einfach nur Zufall! Ich kann nicht mehr zurück, nie mehr. Ich werde dir etwas zeigen.« Mashanabá stand auf und ging auf die Tür zu. »Komm mit, Aylea! Ich zeige dir, was du aus mir gemacht hast in deinem sorglosen Zeitvertreib.«
Ayleas Vernunft riet ihr, sofort auszusteigen, das Spiel zu beenden und nie mehr anzufassen. Ob ihre Mutter die Wahrheit kannte und deswegen so dagegen war? Wussten es vielleicht alle Erwachsenen und verharmlosten es nur, weil es für sie etwas ganz Normales war? Jeder heute lebende Mensch war mit dem Packa aufgewachsen. Die Wahrheit hatte keine Bedeutung mehr, oder sie war verwässert worden mit der Zeit. Eine Verkettung unglücklicher Umstände wollte es, dass Aylea die Wahrheit erfuhr, und dass auch die Spielfigur erkannte, was sie in Wirklichkeit war. Ich muss sofort mit Papa darüber reden. Wenn Mashanabá die anderen aufklärt... Wenn ihr irgendeiner glaubt, dann... dann..., dachte das Mädchen aufgewühlt. Und ich bin Schuld! Erschrocken stellte sie fest, dass Mashanabá inzwischen schon ein gutes Stück weitergekommen war, nämlich bis an den Rand der Stadt, wo Aylea das letzte Mal unterbrochen worden war. »Keine Sorge, niemand wird mich entdecken. Ich habe den ID-Peiler zu Hause gelassen.« Mashanabá wanderte zwischen einigen Büschen umher, blieb schließlich stehen, kauerte sich dann hin, fuhr die Krallen aus und begann zu graben. Was tust du da?, fragte Aylea verdutzt. »Ich sagte doch, ich werde es dir zeigen.« Mashanabá ließ sich nicht beirren. Sie grub und grub.
Aylea stieß einen virtuellen Schrei aus, als sie plötzlich eine Hand erkannte, die unter dem ganzen Sand und der Erde zum Vorschein kam. Und es ging weiter. Nein!, schrie Aylea in Mashanabás Bewusstsein. Was hast du getan? »Sieh hin!«, forderte Mashanabá mit brüchiger Stimme. »Schau dir genau an, was du aus mir gemacht hast! Das ist Takaké! Weißt du, was er mir angetan hat? Kannst du es dir vorstellen? Er und du, ihr habt irgendwie das Raubtier in mir geweckt, das die Packa einst waren. Ich bin ihm an die Kehle gegangen, wie er es bei dem Guntabock wollte, und habe sie zerfetzt. Sein süßes, warmes Blut rann mir die Kehle hinunter. Ich habe es geschluckt – und ich habe es genossen! Bis ich wieder aus dem Blutrausch zu mir kam. Ich dachte, ich würde wahnsinnig. Ich glaubte, es nicht ertragen zu können. Ich habe es trotzdem versucht. Doch nun... nun, da ich die Wahrheit kenne... Nein, es ist zu Ende. So kann ich nicht weiterleben. So will ich nicht weiterleben. Es ist vorbei.« Nein!, schrie Aylea ein zweites Mal auf, als Mashanabá sich auf alle viere niederließ und in hohem Tempo auf den Wald zurannte. Mashanabá, was tust du? Du kannst nicht... Das darfst du nicht! »Du kannst mich nicht mehr daran hindern«, keuchte Mashanabá. »Und diesmal mache ich es richtig.«
Den ganzen Weg über versuchte Aylea, die Packa aufzuhalten. Doch sie hatte keinen Erfolg. Mashanabá durchquerte den Wald, fand mit traumwandlerischer Sicherheit den Pfad zum See und rannte im Vollgalopp darauf zu. Im nächsten Moment stürzte sich die Packa den Abhang hinab, sprang mit einem gewaltigen Satz mitten in den See hinein. Genauso wie das letzte Mal sog sich ihr Fell sofort voll und zog sie langsam zum Grund hinunter. Mashanabá wehrte sich mit keiner einzigen Arm- oder Fußbewegung dagegen. Ihr Körper sank langsam, regungslos zum Grund herab. Noch hatte sie den Atem gehalten, ein reiner Reflex, doch es würde nicht mehr lange dauern... 5. »Steht dir gut«, sagte Cloud, mit Blick auf ihre wiedergefundene Kleidung. »Schade, ich hatte mich schon an deine Offenherzigkeit gewöhnt. Wäre ich frech, würde ich sagen: der einzige Lichtblick seit langer, langer Zeit.« Sie blickte ihn nachdenklich an, zuckte die Achseln und meinte: »Es wäre mir neu, dass du mich reizvoll findest, lieber John. Selbst wenn wir beide die letzten Menschen der Erde wären... du würdest doch nie vergessen, was ich bin.« »Das ist eine Unterstellung! Ich mag einmal Vorbehalte gehegt haben... Hölle, du mir gegenüber doch bestimmt auch, sei ehrlich! Aber die Zeiten haben sich geändert — du und ich, wir haben uns geändert. Ich habe gelernt, dich nicht mehr durch einen Filter zu sehen, der mir weismachen will, du seiest kein Mensch. Nur weil du anders... « Er räusperte sich. »... entstanden bist als ich.« Cloud blickte sie fest an. »Inzwischen denke ich anders, ganz anders, und versteh das bitte nicht als billiges Anbiedern. Du hast bewiesen, dass du kein... Ding bist. Ich gebe zu, unsere Begegnung mit außerirdischen Intelligenzen wie Darnok, Jiim, Cy und den Bewohnern des Aqua-Kubus hat zu meinem Sinneswandel beigetragen. Da habe ich erst gelernt, was Andersartigkeit wirklich bedeutet. Du, Jarvis und Resnick... ihr seid wie ich. Ihr seid auf derselben Welt geboren wie ich. Und im Gegensatz zur Erde, auf der ich mich so gar nicht mehr heimisch fühle — jetzt schon nicht mehr — bist du mir ans Herz gewachsen, Scob. Bilde dir um Himmels willen nicht zu viel drauf ein. Und
dass du nackt noch attraktiver als angezogen auf mich wirkst...? Hm, würdest du mir das Gegenteil abnehmen, wenn ich es behaupten würde?« »Wer weiß?« Sie wandte sich Jelto zu, der auf einem der Blätterlager ruhte, auf denen sie zu sich gekommen waren. Das Thema schien ihr nicht ganz geheuer zu sein. Lachend trat er neben sie, bereit, es darauf beruhen zu lassen. Er hatte keine Sekunde das Gefühl, zu viel gesagt zu haben oder zu weit gegangen zu sein. Und das war wichtig für ihn selbst, denn er konnte von Tag zu Tag weniger sagen, wie er seine Beziehung zu Scobee selbst definiert hätte. Manchmal bildete er sich ein, ihr mehr als freundschaftliche Gefühle entgegenzubringen. Ein anderes Mal wieder zweifelte er stark daran, dass ihn mehr als die durchlittenen Gefahren mit ihr verband, mehr als reine Sympathie... Sie hatten den Komplex von Jeltos Behausung durchsucht und ihre Ursprungskleidung gefunden. Jelto schien sie gereinigt zu haben. Bedachte man die Verätzungen ihrer Haut, war dies wahrscheinlich mehr als nötig gewesen. Nun wirkten die Overalls wie neu. Sie hatten keinerlei Schaden genommen, den aggressiven Pflanzen-sanft aber offenbar auch nicht ferngehalten. Er hatte, wie Cloud immer noch schmerzhaft bestätigen konnte, jeden Quadratzoll Haut erreicht. Dank der übel riechenden Salbe, die Jelto ihnen aufgetragen hatte, war die Entzündung inzwischen auch bei Cloud abgeklungen. Aber er beneidete Scobee um ihre Selbstheilungskräfte. Sie hatte schon ihre gewohnte Hautfarbe wieder und schien unter keinerlei Nachwehen zu leiden. Im Gegensatz zu ihm, der er jedes Reiben der Kleidung unangenehm bemerkte. Dennoch hatte er sich für den Anzug entschieden. Nackt neben einer angezogenen Scobee herumzulaufen, erschien ihm als keine erstrebenswerte Alternative. Mann, bist du konservativ, machte er sich über sich selbst lustig. Und prüde. Hoffnungslos prüde. Er lächelte. Offenbar fühlte er sich schon entschieden besser als noch eine Stunde zuvor. Jetzt musste nur noch Jelto wieder zu sich kommen und gesunden. Scobee hatte ihr Möglichstes getan. Die Wunde war von dem Fremdkörper befreit, gesäubert und sogar vernäht. Ein neuer Pflasterverband trug sein Übriges dazu bei, dass die Verletzung nicht noch einmal aufbrechen konnte. »Wir wissen immer noch nicht, wo wir sind«, seufzte er und blieb neben Jeltos Kopf stehen. Die Züge des Besinnungslosen wirkten selbst im Schlaf angespannt. Aber seine Haut war normal, wies keine Spuren jenes Lichts auf, das er an ihm bemerkt hatte, als er sich im Gewächshaus unbeobachtet gefühlt hatte. »Was mag es damit auf sich haben?«, murmelte er, als Scobee nicht auf seine Bemerkung einging. Sie hob den Blick. »Womit?« »Mit dieser... Aura. Du hast sie doch auch gesehen. Das Licht platzte regelrecht aus ihm heraus. Und die Farben. Er sah aus wie...« Sie nickte und unterbrach ihn. »Mit etwas Glück wird er uns alles erklären. Auch wo wir sind. An welchem Fleck der Erde. Sobald er wach ist...« »Du hast Recht. Und bis es so weit ist...« »Ja?« »Sehe ich mich hier einmal etwas genauer um — und in aller Ruhe. Kommst du mit?« Sie verneinte. »Es ist besser, wenn ich bei ihm bleibe. Du berichtest mir, was du findest. Und bleib nicht zu lange weg. Ich habe mich an dich gewöhnt.« »Obwohl du jetzt Ersatz gefunden hast?« Cloud grinste und nickte in Jeltos Richtung. »Frauen fliegen doch auf Jungs, die leuchten.« »Ich fürchte, da bringst du etwas durcheinander. Wir fliegen auf Leuchten. Was bedeutet: auf Kerle mit Grips. Zu denen darfst du dich doch rechnen. Sei nicht so furchtbar bescheiden.« Sie grinste.
Cloud durchkämmte den Gebäude-komplex und fand bestätigt, dass Jelto offenbar ganz allein hier hauste — woran er insgeheim gezweifelt hatte. Es beruhigte ihn einerseits, andererseits bedeutete es aber auch, dass ihnen noch mehr an der Genesung des Mannes gelegen sein musste. Ohne ihn waren sie aufgeschmissen. Die Anlage, das stellte sich heraus, lag auf einer Dschungellichtung. Sie bestand aus mehreren ineinander verschachtelten Gebäudeteilen. Einige der Bauten — zum Beispiel der, in dem sie zu sich gekommen waren — schien Jelto eigenhändig erstellt zu haben, während die »HightechKomponenten« bereits bezugsfertig da gewesen sein mussten, als er hier ankam... Um was zu tun?, überlegte Cloud. Einen außerirdischen Wald mit irdischer Flora zu mischen? Pflänzchen von was weiß ich wie vielen Welten hier anzusiedeln? Die Vorstellung war immer noch so bizarr wie im ersten Moment ihrer Begegnung mit dieser Art der Vegetation. Barg es nicht unkalkulierbare Risiken, fremde Pflanzen, Mikroben und Tiere aus völlig anders gearteten Biosphären der Erde zu »implantieren«? Musste das nicht Abwehrreaktionen und schwerwiegende Folgen für das hiesige Biosystem nach sich ziehen? Oder handelte es sich hier nur um eine Art Reservat? Wenn ja, wo lag es, auf welchem der Kontinente, auf welcher größeren Insel vielleicht? Wie sah das andere, das zivilisierte und bevölkerte Gesicht der Erde aus? Cloud fiel die hohe, schlanke, nadelförmige Konstruktion auf, die neben den Gebäuden aufragte. Sie stieß über die Kronen der höchsten Bäume hinaus und stach weit in den Himmel. Eine Antenne? Im dritten Raum, den er inspizierte, hörte Cloud plötzlich eine gedämpfte Stimme. Sie drang aus einer schmalen Tür am anderen Ende. Er ging darauf zu, fand den Öffnungsmechanismus, die Tür glitt zur Seite, und die Stimme wurde augenblicklich lauter. In der kleinen Kammer war niemand, wie bereits von Cloud vermutet. Es handelte sich um die Übertragung einer Empfangseinheit. Eine Stimme rief — wieder und wieder—nach Jelto. »...antworte! Es ist dringend. Es gab einen Zwischenfall. Der Kontakt zu den Aufklärern ist abgebrochen. Wir schicken neue Einheiten. Unterstütze sie! Nimm dir das Gebiet vor, um das es geht. Hörst du? Melde dich! Melde dich unverzüglich!« Cloud dachte nicht daran, eines der Geräte auch nur anzurühren. So rasch er konnte, kehrte er zu Scobee und dem Herrn der Station zurück.
»Er ist wach«, begrüßte ihn Scobee. »Wenn mich nicht alles täuscht, hat er meinen Eingriff gut überstanden... Was hast du in Erfahrung gebracht? Wo sind wir?« »Mitten im Urwald... Falsch: mitten im außerirdischen Wald irgendwo auf der Erde.« Cloud trat neben Jelto und ging neben ihm in die Hocke. »Jemand versucht, Kontakt zu Ihnen aufzunehmen. Ich weiß nicht, wer. Aber es scheint so, als wäre jemand hierher unterwegs. Die Stimme sprach von Einheiten... und von einem Zwischenfall. Verloren gegangenen >Aufklärern