OTTO ZIERER
BILD DER J A H R H U N D E R T E G E S C H I C H T E DES ABENDLANDES UND DER WELT Das große Werk, dessen e...
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OTTO ZIERER
BILD DER J A H R H U N D E R T E G E S C H I C H T E DES ABENDLANDES UND DER WELT Das große Werk, dessen einzelne Bände bei ihrem Erscheinen an dieser Stelle angekündigt wurden, liegt jetzt geschlossen vor. Von padcender Dramatik ist dieses neuartige, erregende Gesdiiditswerk erfüllt. Hier sind nidit wie in Lehrbüdiern alter Art die historisdien Ereignisse mit trodsener Sadilidikeit aneinandergereiht; wie in einem Roman wurde das Bild der Vergangenheit zu blutvollem Leben erweckt. Aus dem Geschehen eines jeden Jahrhunderts sind jeweils die wesentlidien und fortwirkenden, das Herz der Zeit treffenden Ereignisse ausgewählt und in einen Zusammenhang gebradit worden, der die Gesamtheit de* gesdiiditlidien Ablaufs verständlidi macht Das »Bild der Jahrhunderte* öffnet dem bildungshungrigen Laien und dem Gebildeten, den Erwachsenen wie der Jugend, weit das Tor in die Vergangenheit und stellt die Ereignisse der Gegenwart in den großen Zusammenhang der gesdiiditlidien Entwicklung der Mensdiheit. Jeder Doppelband rund 320 Seiten, feinstes Ganzleinen, Goldprägung, Kunstdruck.tafeln, historische Karten, ausführliche Begriffserklärungen im Anhang. Gesamtumfang 8 000 Seiten. Zu dem Werk gehört ein historisches Lexikon mit 680 Seiten, 12000 Stichwörtern, 500 Abbildungen.
* Preise: Einzelband DM 3.60, Doppelband DM 6.60, Band 41/44 DM 13.20, Historisches Lexikon DM 6.60 (Vorzugspreis für Bezieher des Gesamtwerkes, sonst DM 15.50). Die günstigen Bezugsbedingungen; Monatlich braucht nur ein 3and abgenommen zu werden. In diesem Fall wird das .Historische Lexikon" nach Abnahme der 18 Einzelbände geliefert.
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VERLAG SEBASTIAN LUX MURNAU • M Ü N C H E N • I N N S B R U C K • ÖLTEN
KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
FRITZ
HEFTE
BOLLE
Brot für die Menschheit Justus Liebigs Leben und Wirken
VERLAG SEBASTIAN LUX MURNAU.MÜNCHENINNSBRUCK-OLTEN
s ist an einem Sommerabend! Wir sind weit hinaus gerwandert, auf den Berg, von dem der Blick in dieser Stunde bis zum fernen Horizont schweift. Der Anstieg hat sich gelohnt. Unter uns Gehöfte und Dörfer, sommerreife Weizenäcker, leuchtende Wiesenteppiche und Weiden und dunkelgrüne Kartoffel- und Rübenfelder. Drüben aber, wo nun im Westen rotglühend die Sonne untergeht, rauchen die Schlote der großen Fabrik. Wortlos stehen wir im Anblick des friedlichen Landschaftsbildes. Plötzlich unterbricht mein Begleiter das Schweigen. „Und das alles, weil es damals in der Sekunda *so schön geknallt h a t . . . ! " Verwundert sehe ich den Sprecher an. „Ja", lächelt er, „die Felder dort unten mit ihrer reichen Frucht, das Werk mit seinen 2
chemischen Erzeugnissen, den Farben und Heilmitteln — das ist eine lange Geschichte, und sie fängt wirklich damit an, daß jemand aus der Sekunda des Darmstädter Gymnasiums hinausgeworfen wurde, weil seine Schultasche plötzlich in die Luft flog. Dieser jemand hieß Justus Liebig . . . "
Von der Farbenküche nach Paris Mit neugierigen Augen steht ein Junge auf dem Markt in Darmstadt, der kleinen Residenz des jungen Großherzogtums Hessen, und wie gebannt schaut er zu, was da der fahrende Händler macht, der den Leuten Knallerbsen verkauft. Jetzt gießt der Mann etwas aus einer Flasche in die Schale, und rotbraune Dämpfe steigen auf. Salpetersäure — denkt der Bub. Aufmerksam verfolgt er jeden Handgriff, 'seine schönen, großen, dunklen Augen fressen förmlich in sich hinein, was da vor sich geht. Und erst, als er genug beobachtet zu haben glaubt, wendet er sich ab, eilt hinaus zur Kuhschwanzwiese, wo des Vaters Farbenküche ist. Nun weiß er, wie man Knallerbsen macht. Gleich wird er wiederholen, was er eben gelernt hat, und Vater wird ihm lächelnd zusehen. Vaters Farbenküche, das ist des Gymnasiasten Justus Liebig täglicher Aufenthalt, das Paradies seiner Jugend. Das Elternhaus in der Großen Ochsengasse, wo Vater Liebig einen Laden hat, in dem man Drogen, Farben und Firnisse kaufen kann, sieht den Jungen eigentlich nur zu den Mahlzeiten und zum Schlafen; den ganzen lieben langen Tag, sofort nach Schulschluß, treibt er sich bei den Seifensiedern und Färbern, bei den Schmieden und Gerbern herum, und alles, was er ihnen mit seinen wißbegierigen Augen absieht, wird getreulich in Vaters Farbküche nachgeahmt. Und der Vater, der selbst am liebsten, in seiner Küche an der Kuhschwanzwiese herumwerkt, läßt den Jungen probieren und immer wieder probieren, weiß er doch selbst, wie sehr die Leidenschaft des Experimentierens in einem Menschen brennen kann; probiert er doch selbst die sonderbarsten Dinge aus, etwa dies, Häuser und Straßen mit „brennender Luft" zu beleuchten. Im Darmstädter Gymnasium freilich, das Justus Liebig als Achtjähriger zu Ostern 1811 bezogen hat, schütteln die Lehrer bedenklich den Kopf über den Sohn des Handelsmannes Georg Liebig. Denn dort, wo nur vom klassischen Altertum geredet wird, wo man sich mit Latein und Griechisch herumplagen muß, wo kaum jemals ein 3
Wort fällt über die Wunder der Natur, ist der Platz, den Justus Liebig einnimmt, „immer der entgegengesetzte von dem, auf dem man Prämien erhält". Mit Mühe quält sich Justus durch die Tertia. Mit Ach und Krach wird er im Herbst 1815 nach Sekunda versetzt. Aber was interessieren ihn die unregelmäßigen Verben, was der Homer? Er will experimentieren, und wenn er nicht experimentiert, am liebsten mit Chemikalien, die so recht rauchen, stinken und knallen, dann schmökert er in den verstaubten Bänden der Hofbibliothek, aber nur in solchen, die von Chemie handeln. Denn er ist nicht etwa dumm, der Justus Liebig, er ist ein (heller aufgeweckter Kopf. Das hat Hofbibliothekar Heß schnell begriffen, und so läßt er den Jungen selbst Buch um Buch aus den Regalen nehmen. Freilich, wie Justus die alten Schwarten und neuen Bücher verschlingt, das ist ebenso verwunderlich wie sein Experimentieren. Viel später hat er es selbst erzählt: „Ich las die Bücher, wie sie eben auf den Brettern aufgestellt waren: von unten nach oben, von rechts nach links war mir ganz gleichgültig! Für ihren Inhalt war mein vierzehnjähriger Kopf wie der Magen eines Straußes, und es fanden darin die 32 Bände von Macquers Chemischem Wörterbuch (das damals über ein halbes Jahrhundert alt war), der T r i u m p h wagen des Antimoniums' von Basilius Valentinus (eine aus dem 15. Jahrhundert stammende alchimistische Schrift), Stahls Chemie von 1700, Tausende von Aufsätzen und Abhandlungen, die Werke von Kirwan und Cavendish ganz gemütlich Platz nebeneinander." Kein Wunder, daß über diesem Lesen und Experimentieren die Schule zu kurz kommt, kein Wunder, daß Rektor Zimmermann dem Sekundaner Liebig ernsthaft ins Gewissen redet: „Liebig, warum sind Sie so faul? Warum tun Sie nichts? Sie sind doch nicht unbegabt. Aber mit Ihrem Unfleiß sind Sie die Plage Ihrer Lehrer, der Kummer Ihrer Eltern! Was soll denn nur aus Ihnen einmal werden?" Da kommt ein seltsames Leuchten in die Augen des Knaben. Seine Antwort ist klar und bestimmt: „Chemiker will ich werden, Herr Rektor!" Die ganze Sekunda des altehrwürdigen Gymnasiums johlt und tobt, und selbst der gestrenge Herr Rektor muß lachen. Chemie? Was ist denn das? Quacksalberei, Pantscherei! Wie kann nur ein halbwegs vernünftiger Mensch auf den Einfall kommen, Chemiker werden zu wollen? Wenige Wochen später ist es dann mit diesem Liebig endgültig aus: „Eine knatternde Flamme, die in unglücklicher Stunde aus seiner Schulmappe emporschlägt", in der er wieder irgendwelche in Vaters Farbenküche zusammengebrauten Chemikalien mit sich 4
herumträgt, „und die ganze Klasse, Lehrer, Schüler in Schrecken versetzt, bringt die Gymnasiallaufbahn des eifrigen Experimentators zu einem plötzlichen, vielleicht nicht ganz freiwilligen", sicher aber für Justus höchst erwünschten „Abschlüsse". Was kann man schon werden, wenn man ein Chemie-Narr ist? Apotheker allenfalls. Also kommt Justus, nun vierzehn Jahre alt, zum Apotheker Pirsch im nahen Heppenheim in die Lehre. Zunächst geht alles ganz gut, der angehende Provisor Liebig schreibt ganz vergnügt, daß er die Zufriedenheit seines Lehrherrn besitze, „worüber ich mich sehr freue", und berichtet: „Der Herr Pirsch ist ganz ordentlich, und ich bin weiter ganz zufrieden". Wer aber auf die Dauer gar nicht zufrieden ist, das ist der Herr Apotheker Pirsch. Denn der Lehrling Justus kann nun einmal das Experimentieren nicht lassen; spät abends noch, wenn er nach langem Dienst in der Offizin hinauf zu seiner schmalen Bodenkammer unter dem Dach geklettert ist, mischt und kocht und probiert er noch, bis eines schönen Tages die zweite Katastrophe hereinbricht: Ein heftiger Knall reißt das ganze schon in friedlichem Schlaf liegende Haus aus seiner nächtlichen Ruhe. Glas klirrt. Notdürftig angezogen, hastet Apotheker Pirsch die Treppe hinauf. Der Lehrling Liebig steht verwirrt inmitten seiner von Qualm und Gestank erfüllten Kammer, die Haare zerzaust, Brandwunden an den Händen. Tisch, Stuhl, Einrichtung — alles ist wild durcheinandergeworfen, und durch das Fenster strömt die Nachtluft herein. Denn das Fenster ist nicht mehr da — die Kraft der von Justus ausgelösten Explosion hat es mitsamt dem Rahmen aufs Dach geschleudert. Am nächsten Tag schon darf Justus Liebig nach Darmstadt zurückkehren, und Apotheker Pirsch ist heilfroh, daß ihm dieser experimentierwütige Lehrling nicht gleich das ganze Haus in die Luft gesprengt hat. So ist Justus Liebig nach zehn Monaten Heppenheim wieder in Darmstadt, sitzt wieder in des Vaters Farbenküche, läßt es zischen und knallen, schmökert wieder in den Schriften der Alchimisten und Chemiker, arbeitet wohl auch einmal ganz vernünftig, wobei er eine schöne grüne Farbe findet, die sich gut verkaufen läßt. Aber immer wieder liegt er dem Vater in den Ohren: „Bitte, lassen Sie midi studieren!" — Zwei Jahre lang bittet er, bettelt er: „Lassen Sie mich auf die Universität. Ich muß, muß, muß Chemiker werden!" Zwei lange Jahre, dann gibt Vater Liebig nach, schreibt ihm einen Empfehlungsbrief an den Herrn Professor Karl Wilhelm Gottloh Kastner, den er kennt, und schickt seinen Sohn auf die eben erst 5
gegründete Universität Bonn. 17V2 Jahre ist Liebig alt, als er im Herbst 1820 die Hochschule bezieht. Professor Kastner findet Gefallen an dem leidenschaftlich für seine Wissenschaft schwärmenden Studiosus Justus Liebig; er sorgt dafür, daß er seine Wissenslücken schließt, er bevorzugt ihn, läßt ihn in seinem Privat-Laboratorium arbeiten. Hier schafft der junge, angehende Chemiker bis tief in die Nacht hinein, bis er Brustschmerzen bekommt, die ihn aufs Krankenlager werfen. Aber schon nach einer Woalie rappelt er sich wieder auf, steht wieder am Arbeitstisch, unterrichtet nebenbei Mediziner, die der chemischen Vorlesung nicht folgen können. So besessen ist er von seiner geliebten Chemie, daß er seinem Lehrer Kastner etwas Jod — damals noch mit Gold aufgewogen — stibitzt und nach Hause schickt: er hat in seiner Chemie-Begeisterung offenbar gar kein Gefühl dafür, wie unrecht sein Tun ist, denn er schreibt ganz treuherzig zu dieser Sendung: „Kastner hat ungefähr vier Unzen (120 Gramm), von welchen ich es ihm wegpraktizierte". Im nächsten Semester folgt Liebig seinem Professor nach Erlangen. Hier findet er die Freundschaft des Dichters August Graf von Platen, hier hört er den Naturphilosophen Friedrich Wilhelm von Schelling. Aber was für eine sonderbare Naturphilosophie ist das! Hier wird nicht, wie Liebig es sich in seinem leidenschaftlichen Erkenntnisstreben vorstellt, die Natur selbst befragt, indem man ihre Erscheinungen sauber messend und wägend untersucht, sondern in seinen Vorlesungen versucht der Professor Schelling, rein vom Geist her, durch „Einkleiden der Naturerscheinungen in Bilder", das zu tun, „was man Erklären nennt". Das hört sich dann so an: „Das Wasser, das fürnehmste der Dinge, von dem alle Produktivität ausgeht und in das sie zurückläuft. Von der Schwere als dem Prinzip der Verendlichung kommt ihm die Tropfbarkeit, von dem L'chtwesen, daß auch in ihm der Teil wie das Ganze ist." Studiosus Liebig, zuerst, wie alle seine Kommilitonen, ein Bewunderer des Philosophen, vermag da nicht mehr mitzumachen. Und wenn er gar bei dem anderen großen Denker seiner Zeit, bei dem Berliner Philosophen Hegel Sätze lesen muß wie diesen: „Die Flektrizität ist der Zweck der Gestalt, der sich von ihr befreit, die Gestalt, die ihre Gleichgültigkeit aufzuheben anfängt, denn die Elektrizität ist das unmittelbare Hervortreten oder das nahe von der Gestalt kommende, noch durch sie bedingte Dasein . . .", so wendet er sich bald mit Grausen ab und stürzt sich ganz in seine Laboratoriumsarbeit, die nach wie vor. nun freilich nicht mehr spielerisch, den knallenden Verbindungen gilt: „Einige Bemerkungen über die Bereitung und 6
Zusammensetzung des Brugnatellischen und Howardschen Knallsilbers" (das sind immer noch die Knallerbsen vom Darmstädter Markt!). Diese Arbeit erscheint in einer wissenschaftlichen Zeitschrift, im „Repertorium der Pharmazie", und als Verfasser zeichnet „Herr Liebig, der Chemie Beflissener aus Darmstadt". Er wird immer kritischer gegen Schellings Naturphilosophie, der Chemie-Beflissene Liebig — später wird er diese Philosophie unnachsichtlich bekämpfen, als ein „mit Stroh ausgestopftes und mit Schminke angestrichenes Totengerippe", weil sie „den ersten Grundsatz der Naturforschung, nur das Beweisbare und Bewiesene für wahr gelten zu lassen, auf die gewissenloseste Art verletzt" und das gewissenhaft-saubere Forschen hemmt. Er arbeitet nicht nur fleißig an seinem Knallsilber, weil diese Versuche ihm chemisch aufschlußreiche Ergebnisse versprechen. Er führt auch ein flottes Studentenleben. Vergnügt trägt er das blau-weiß-rote Band der rheinländischen Landsmannschaft, die ihn bald zu ihrem Senior ernennt, vergnügt läßt er sich sogar drei Tage Karzer aufbrummen, weil er sich in der Silvesternacht 1821/22 „bei einem Unfug vor dem Gasthaus ,Zum Lämmle' besonders hervorgetan und sich nicht nur beleidigende Äußerungen gegen obrigkeitliche Personen zuschulden hat kommen lassen, sondern auch dem Polizeiwächter Schramm und, was ganz unverzeihlich war, sogar dem Herrn Rechtsrat Heim den Hut vom Kopf gestoßen!" Weniger vergnügt jedoch ist er ein Vierteljahr später. Wieder einmal hat es in Erlangen einen Krawall zwischen Studenten und Handwerksburschen gegeben; so schwer aber dieses Mal, daß die Studenten erbittert Erlangen verlassen, acht Stunden weit über Land nach der alten Universitätsstadt Altdorf marschieren und sich erst nach neun Tagen zur Rückkehr in ihre Alma Mater bewegen lassen, als man ihnen feierlich allgemeine Straffreiheit und Schutz für jeden einzelnen zusagt. Im Triumph zieht die Erlanger Studentenschaft, von Professor Kastner und Professor Henke eingeholt, von den Bürgern mit Blumen und Kränzen empfangen, in ihre Universitätsstadt ein. Überall herrscht eitel Freude — nur beim Studiosus Liebig nicht. Denn als er in seine Studentenbude kommt, erfährt er, daß man bei ihm Haussuchung gehalten und sehr belastende Dinge gefunden hat: 50 Ellen blau-weiß-rotes Band und, was schwerer wiegt, Protokolle, die auf Beziehungen der rheinländischen Landsmannschaft zu anderen ihr befreundeten Verbindungen hinweisen, an anderen deutschen Universitäten. Das ist ein schweres Vergehen, und schon ganz und gar, wenn diese Univer-
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sitäten außerhalb Bayerns liegen, im „Ausland". Denn in jeder studentischen Vereinigung wittert man eine Verschwörung von „Demagogen". Schon liegt da auch die Vorladung! Liebig weiß, was ihm blüht — es ist die Zeit, da der Dichter Fritz Reuter unschuldig aus dem gleichen Grund seine „Festungstid" abbüßen muß. Freund Platen hilft in aller Eile den Ranzen schnüren, begleitet Liebig bis Nürnberg. „Nie erschien mir Liebig edler und schöner", schreibt Platen nach dem Abschied in sein Tagebuch. „Eine schlanke Gestalt, ein freundlicher Ernst in seinen regelmäßigen Gesichtszügen, große braune Augen mit dunklen schattigen Brauen nehmen auf den ersten Blick für ihn ein . . . " Liebig flieht ins „Ausland", in seine hessische Heimat. Professor Kastner aber läßt seinen flüchtigen Lieblingsschüler nicht in Stich. In einem ganz besonders herzlich gehaltenen Empfehlungsschreiben legt er dem Großherzog von Hessen nahe, Liebig noch ein halbes Jahr dorthin zu entsenden, wo die ersten Fachgelehrten der Chemie wirken, nach Paris, ihm dann aber einen Lehrstuhl zu verleihen. Der Landesherr bewilligt gnädigst am 24. Mai 1822 zunächst 330 Gulden. 19 Jahre ist Justus Liebig alt, immer noch nicht mehr als ein „der Chemie Beflissener", als er in Darmstadt in die Postkutsche steigt, die ihn auf den Weg nach Paris bringen soll.
Lernender in Paris — Lehrer in Gießen Paris! Keine Stadt der Welt vermag in diesen Jahren eine solche Fülle glanzvoller Namen der Naturwissenschaften aufzuweisen wie Frankreichs Hauptstadt. Hier wirkt der als Physiker wie als Chemiker gleich große Gay-Lussac, hier lesen die Physiker Arago, Ampere, Biot, Dulong, hier lehrt der Astronom Laplace; in den Auseinandersetzungen zwischen dem Begründer der Wissenschaft von den ausgestorbenen Urzeit-Lebewesen, Cuvier, und dem Zoologen Geoffroy de St, Hilaire kündigt sich ein neues Zeitalter in der Lehre vom Leben an; die Chemiker Vauquelin, Clement-Desormes, Thenard, Chevreul gehören zu den ersten dieses Faches. Liebig ist begeistert; er arbeitet — wieder zuerst mit dem geliebten Knallsilber und anderen Salzen der Knallsäure — von morgens 7 Uhr bis nach Mitternacht, und was er nicht schon in Bonn und Erlangen von dem auf der Gymnasium Versäumten fleißig nachgeholt hat, das erarbeitet er sich nun hier in Paris. Und wie anders erlebt er jetzt 8
die Chemie! Hier wird nicht herumphilosophiert, hier wird naturwissenschaftlich gearbeitet, nach der „mathematischen Methode, die jede Aufgabe womöglich in eine Gleichung verwandelt und bei jeder gleichförmigen Aufeinanderfolge zweier Erscheinungen einen ganz bestimmten" gesetzmäßigen Zusammenhang „annimmt, der, nachdem er aufgesucht und aufgefunden ist, ,Erklärung' oder ,Theorie' heißt". Mit dieser Methode geht er nun die Knallverbindungen an. Was schert es ihn, daß eine Explosion ein Auge schwer verletzt, so schwer, daß es Zeit seines Lebens sehschwach bleibt! Er entdeckt „ein Knallkupfer, ein Knalleisen, ein Knallzink und viele andere, Sachen, an denen sich die französischen Chemiker schon längst die Köpfe zerbrechen". Am 28. Juli 1823 trägt der große Gay-Lussac Liebigs Arbeit über das Knallsilber und das Knallquecksilber in der Pariser Akademie der Wissenschaften vor. Diese Sitzung der Akademie ist nicht nur wichtig, weil von nun an Justus Liebig einen Namen in der Chemie hat. Wesentlicher wird eine Begegnung, für deren Schilderung Liebig selbst 16 Jahre später diese schönen Worte gefunden hat: „Zum Ende der Sitaung der Pariser Akademie mit dem Zusammenpacken meiner Präparate beschäftigt, näherte sich mir aus der Reihe der Mitglieder der Akademie ein Mann und knüpfte mit mir eine Unterhaltung an; mit der gewinnendsten Freundlichkeit wußte er den Gegenstand meiner Studien und alle meine Beschäftigungen und Pläne von mir zu erfahren; wir trennten uns, ohne daß ich aus Unerfahrenheit und Scheu fragte, wessen Güte an mir teilgenommen hatte. Diese Unterhaltung ist der Grundstein meiner Zukunft gewesen, ich hatte den für meine wissenschaftlichen Zwecke mächtigsten und liebevollsten Gönner und Freund gewonnen. Unbekannt, ohne Empfehlungen in einer Stadt, wo der Zusammenschluß so vieler Menschen aus allen Teilen der Erde das größte Hindernis ist, das einer näheren persönlichen Berührung mit den dortigen ausgezeichneten und berühmten Naturforschern und Gelehrten sich entgegenstellt, wäre ich, wie so viele andere, in dem großen Haufen unbemerkt geblieben und vielleicht untergegangen; diese Gefahr war völlig abgewendet. Von diesem Tage an waren mir alle Türen, alle Institute und Laboratorien geöffnet; das lebhafte Interesse, welches Sie mir zuteil werden ließen, gewann mir die Liebe und innige Freundschaft meiner mir ewig teuren Lehrer Gay-Lussac, Dulong und Thenard. Ihr Vertrauen bahnte mir den Weg zu einem Wirkungskreis, den seit 16 Jahren ich unablässig bemüht war, würdig auszufüllen." 9
Der Mann, an den Liebig dankbar rückschauend diese Worte richtet, ist kein geringerer als der größte Naturforscher, der bis dahin und seitdem gelebt hat: Alexander von Humboldt. Seine Fürsprache verschafft Liebig einen Platz im Laboratorium von Gay-Lussac, und gemeinsam mit seinem französischen Lehrer vermag Liebig die Formel des Knallsilbers zu rinden, wie sie auch heute noch gültig ist. Alexander von Humboldt läßt aber den jungen Forscher, dessen ganze Genialität ihm vom ersten Augenblick bewußt war, auch nicht aus den Augen, als dieser nun mit seiner Knallsilber-Arbeit bewiesen hat, daß er in die erste Reihe der Chemiker aufgerückt ist. Am 5. Februar 1824 schreibt Humboldt an den Großherzog von Hessen: „Wir haben den Vorzug gehabt, unter uns einen Ihrer Untertanen zu sehen, Monseigneur, der durch die Überlegenheit seines Talents, die ausgedehnten Kenntnisse in der Chemie und seinen Scharfsinn die lebhafte Aufmerksamkeit der Pariser Akademie auf sich gezogen hat; ihn verbindet mit den Gaben des Geistes eine Liebenswürdigkeit des Charakters und Feinheit der Sitten, wie sie unter den Gelehrten seines Alters so selten ist. Wenn meine schwache Stimme von einigem Gewicht sein könnte, würde ich Eure Königliche Hoheit ergebenst bitten, Monsieur Liebig auch fernerhin die Gunst Ihrer besonderen Protektion angedeihen zu lassen. Er wird ein Professor sein, der unserem Vaterlande Ehre macht, und die lebhafte Erkenntlichkeit, von der ich durchdrungen* bin für einen Souverän, der die Güte hat. ein so ausgezeichnetes Talent zu ehren, wird geteilt von meinen Kollegen an der Akademie . . . " Humboldts „schwache Stimme" verhallt nicht ungehört: Am 26. Mai 1824 ernennt der Großherzog den Doktor Liebig — seine alte Universität Erlangen hatte ihm inzwischen für eine Arbeit „Über das Verhältnis der Mineralchemie zur •Pflanzenchemie" die Doktorwürde ohne mündliche Prüfung zuerkennt — zum Außerordentlichen Professor der Chemie an der Universität Gießen. Das Kopfschütteln darüber ist bei allen Autoritäten nicht gering: Ganze 21 Jahre ist dieser Professor alt, er hat nie ein Abiturium gemacht, er hat im „Ausland" Bayern studiert, dann in Frankreich, er ist im „Ausland" Doktor geworden — das kann zu nichts Gutem führen. Nun kündigt er gar die gleiche Vorlesung an wie der Ordentliche Professor, und ihm, dem jungen Fant, strömen die Studenten zu! Es kommt zu ernsten Schwierigkeiten, die das Schicksal auf ebenso überraschende wie tragische Weise zu Liebigs Gunsten 10
entscheidet. Der Ordinarius ertrinkt im Juli 1825 beim Baden in der Lahn — und damit wird der Lehrstuhl frei. Während der achtundzwanzig Jahre, die Justus Liebig in Gießen wirkt, von 1824 bis 1852, kommt die kleine Universität durch ihn zu Weltruf. Denn in der ehemaligen Kasernenwache am Seltersberg entsteht etwas ganz Neues: Das erste vorbildliche chemische Laboratorium, in dem die Studenten einen völlig neuen Unterricht in der Chemie erhalten. Jetzt wird ihnen nicht mehr nur vorgetragen und vorexperimentiert, was der Professor weiß und kann, jetzt müssen sie selbst von Grund auf jeden Handgriff, jeden chemischen Arbeitsgang ausführen, müssen Schritt für Schritt eindringen in das Riesengebiet, müssen Verbindungen in ihre Elemente zerlegen — die Elementaranalyse —, müssen dann lernen zu ermitteln, in welchen Zahlenverhältnissen diese Elemente in den Verbindungen enthalten sind — die quantitative Analyse —, und müssen schließlich aus Elementen neue Verbindungen, Präparate, herstellen. Und das alles wird im Laboratorium betrieben ohne jede Rücksicht auf irgendeine spätere womöglich praktische Anwendung. Nicht auf die „angewandte Chemie" hin wird gearbeitet, nicht auf eine Ausbildung der Chemiker für Soda-, Schwefelsäure-, Zuckerfabriken; hier in Liebigs Laboratorium, dem ersten und lange Zeit „einzigen Platz in der ganzen Welt, wo angehenden Chemikern ein mit praktischen Übungen verbundener Unterricht geboten wurde", soll seine Schüler „ein wahrhaft wissenschaftlicher Unterricht fähig und empfänglich für all und jede Anwendung machen, und mit der Kenntnis der Grundsätze und Gesetze der Wissenschaft sind die Anwendungen leicht, sie ergeben sich von selbst!" Mit Feuereifer macht sich der junge Professor an die Arbeit. So geht es in der alten Wache zu: „Auf dem Herd in der Mitte stehen einige kleine Ofen mit glühenden Kohlen; Gas gab es ja damals noch nicht, und die Weingeistflamme langte nur für kleine Gefäße. Da dampft in einer großen Porzellanschale eine kodiende Brühe, dort destilliert man eine Säure aus einer mächtigen Glasretorte. Jetzt platzt die Retorte, und die Säure fließt auf die glühenden Kohlen, und im Augenblick erfüllt sich der Raum mit Qualm und ätzendem Dampf. Ventilation gibt es nidit, also werden schnell Fenster und Türen aufgerissen, und Meister und Gesellen fliehen ins Freie, bis sich der Qualm verzogen hat. Ob dem sensiblen Professor mit der schmächtigen Figur und dem vergeistigten Gesicht der Wechsel aus der Dampfbadhitze des Laborall
toriums in die Winterkälte draußen wohl bekömmlich ist? Gewöhnen sollte er sich wohl daran, denn Tag für Tag hat er Stunden in der unheizbaren Kammer an der Waage zu tun. In diesem Raum, unter diesen Verhältnissen, mitten unter den Schülern, sind Liebigs schöne Untersuchungen über den Indigo, die Pikrinsäure; die cyansauren Salze, über die Einwirkung des Chlors auf Alkohol, über Hippursäure, Chinasäure, über Bildung und Konstitution des Äthers, die epochemachenden Arbeiten über die Elementar-Analyse — kurz alles, was Liebig bis zum Jahre 1833 produziert hat, ausgeführt, mit der dürftigsten Unterstützung von der Staatskasse, anfänglich sogar, ohne daß auch nur die Mittel zur Anstellung eines Dieners oder Assistenten gewährt wurden." Von diesem Laboratorium aus lichtet Justus Liebig das „ungeheure Dickicht ohne Ausgang und Ende", wie sein Freund Woehler, auch dieser ein Chemiker von hohen Graden, die Organische Chemie genannt hat. Hier werden die Männer seine Schüler, die in seinem Geist das mächtige Gebäude moderner Chemie aufgeführt haben, August Wilhelm Hofmann und Wurtz, Frankland und Williamson, Kekule und Fresenius. Im Deutschen Museum in München ist Liebigs Laboratorium getreulich nachgebildet worden als die Stätte, in der chemische Weltgeschichte gemacht worden ist, wie der „Stammbaum" der Nobelpreisträger für Chemie zeigt, der dort ebenfalls zu sehen ist: 32 Nobelpreisträger — von Jakobus Hendrikus van't Hoff 1901 bis zu Hermann Staudinger und Hans Adolf Krebs 1954 —• können in Justus Liebig ihren wissenschaftlichen „Großvater" und „Ahnherrn" sehen. Eine Fülle grundlegender Methoden und Entdeckungen verdankt die Chemie den Gießener Jahren. Die Elementar-Analyse ermöglicht überhaupt erst eine genaue Ergründung der Zusammensetzung organischer Strukturen und vereinfacht sie derart, daß „jetzt ein Affe Chemiker werden kann", wie Liebig launig bemerkt. In Gemeinschaft mit Wühler findet er, daß die Cyansäure dieselbe Zusammensetzung hat wie die Knallsäure. Diese von dem großen schwedischen Chemiker Berzelius „Isomerie" genannte Entdeckung ist für die Organische Chemie von ebenso außerordentlicher Bedeutung wie die ebenfalls in freundschaftlicher Zusammenarbeit mit Wöhler gelungene Aufdeckung der „Radikale"; es sind dies Gruppen miteinander verbundener Atome verschiedener Elemente, die frei in der Natur nicht zu existieren vermögen, in chemischen Umsetzungen jedoch unverändert von einer Verbindung in andere übertreten können. Liebig entdeckt, daß nicht, wie der während 12
Liebigs Laboratorium auf dem Seltersberg in Gießen 1840
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der großen Französischen Revolution von der Guillotine hingemordete Lavoisier gemeint hatte, der Sauerstoff das säurebildende Element ist, sondern daß die Säuren Wasserstoff-Verbindungen sind, deren Wasserstoff durch Metalle ersetzbar ist, und er stellt 1832 das Schlafmittel Chloral und das Chloroform dar, das 15 Jahfe später durch Simpson als Betäubungsmittel bei chirurgischen Operationen zum Segen für die leidende Menschheit wird. Das alles fällt ihm nicht als Glücksgeschenk in den Schoß. Die materiellen Grundlagen dafür muß er vielmehr in zermürbendem Kleinkampf mit kurzsichtigen Behörden erstreiten. Persönlich anspruchslos, steckt er alles, was er entbehren kann, in den Ausbau seines Laboratoriums, und erst als Überarbeitung und Ärger ihn aufs Krankenlager werfen, entschließt man sich dazu, dem inzwischen weltberühmt gewordenen Chemiker eine seiner Leistung würdige Lebenshaltung zu ermöglichen und das Laboratorium zweckentsprechend zu erweitern und einzurichten. Und dann macht eine wiederum mit Wöhler gemeinsam unternommene Arbeit ..Über die Natur der Harnsäure" 1838 nach Berzelius Worten „den Anfang, das Rätsel der Chemie des lebenden Körpers zu enthüllen". Sie wird der Beginn jener Untersuchungen, die zur Revolution in der Landwirtschaft führen sollten.
Pflanzenernährung
und
Agrikulturctiemie
Das Rätsel der Chemie des lebenden Körpers zu enthüllen — das ist die neue Aufgabe, die Liebig, unermüdlich schaffend, mit seiner lodernden Forscherleidenschaft den schwächlichen Körper immer wieder bezwingend, nun in Angriff nimmt. Schon in Paris war es ihm dämmernd ins Bewußtsein getreten, „daß nicht allein zwischen zweien oder dreien, sondern zwischen allen chemischen Erscheinungen in dem Mineral-, Pflanzen- und Tierreich ein gesetzlicher Zusammenhang bestehe; daß keine allein stehe, sondern immer verkettet mit einer anderen, diese wieder mit einer anderen, und so fort, alle miteinander verbunden, und daß das Entstehen und Vergehen der Dinge eine Wellenbewegung in einem Kreislauf sei". Er will das Rätsel der Chemie des lebenden Körpers enthüllen. Liebig denkt zurück an seine Jugendjahre, als er in der Darmstädter Hofbibliothek die alten Scharteken verschlungen und so die Geschichte seiner geliebten Wissenschaft sich aus den Quellen erschlossen hat. „Der Triumphwagen des Antimoniums" von 14
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Bgsilius Valentinus — das ist noch jene von symbolisch-magischen Vorstellungen beherrschte Scheidekunst gewesen, die dann in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die alchimistischen Hüllen abgestreift hat und vor allem durch Robert Boyle zur exakten Wissenschaft von den Eigenschaften und Umwandlungen der Stoffe geworden ist. Das ganze 18. Jahrhundert hindurch — wieviel der chemischen Bücher dieser Zeit hat er gelesen! —• folgt dann ein kühner Vorstoß von Forschern und Denkern nach dem andern in ein vorher von Aberglaube und Goldmacherwahn vernebeltes Gebiet. Immer neue Stoffe gelangen in Retorte und Tiegel zur Untersuchung, immer weiter zieht sich der Kreis der Experimente, von den festen Stoffen zu den Gasen. Und mit diesen Gasen beginnt bereits auch die Fragestellung nach der Chemie der lebendigen Körper. Joseph Black hat 1757 die Kohlensäure entdeckt; fast zwanzig Jahre danach haben Priestley und Scheele den Sauerstoff gefunden, und zur selben Zeit Scheele, Rutherförd und Lavoisier den Stickstoff, von dem Cavendish, der kurz zuvor den Wasserstoff entdeckt hatte, in seinen „Experiments on Air" von 1784 nachweisen kann, daß er ein wesentlicher Bestandteil der atmosphärischen Luft ist. Und welche Rolle spielen all diese Gase im Leben der Pflanze? Diese Frage bewegt schon bald nach der Auffindung der Kohlensäure allenthalben die Forscher. Der holländische Arzt Jan Ingenhousz macht bereits 1769 die ersten Beobachtungen über die Aufnahme von Kohlensäure durch die grüne Pflanze; Priestley entdeckt, daß die Pflanzen aus Kohlensäure Sauerstoff abzuspalten vermögen, und um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert folgen die grundlegenden Arbeiten der beiden bedeutenden Schweizer Nicolas Theodore de Saussure und Jean Senebier über die Kohlensäure-Aufnahme durch die Pflanze und ihren Gas-Stoffwechsel. Im Jahre 1804 — Justus Liebig liegt da noch in den Windeln — eröffnet Saussure mit seinen „Recherche« chimiques sur la Vegetation", einem der klassischen Werke der Naturwissenschaft, die exakte Erforschung der Nährstoffaufnahme durch die Pflanze: Er weist überzeugend nach, daß die grüne Pflanze ihr organisches Gefüge im Sonnenlicht aus der Kohlensäure der Luft aufbaut. Aber wenn die Pflanze sich von der Kohlensäure der Luft ernährt —• wozu hat sie dann ihre Wurzeln? Nur, um im Boden verankert zu sein? Oder nimmt sie auch dort Nahrung auf? Diese Frage — ob die Pflanze Stoffe mit ihren Wurzeln aus dem Boden ziehe und welche — kann Saussure noch nicht der Lösung zu15
Justus von Liebig
C. R. Fresenius Analytische Chemie H. v. Fehling Fehlingsche Lösung (Zuckernachweis) E. Erlenmeyer Erlenmeyer- Kolben Naphthalin-Kons tit. A. Strecker T aurin-Synthese M. v. Pettenkofer Nahrungsmittelchemie, Hygiene A. Kekule ~""""""~~ Benzolring, Strukturchemie A. Sobrero Nitroglyzerin N. Zinin Anilin aus Benzol
J. Volhard Kreatin-Synthese Liebig-Biographie Th. Anderson Pyridin- und Chinolinbasen A. W. Hofmann Teerfarbensynthese Ch. A. Wurtz Paraffinkohlenwasserstoffsyn these C. Schmidt Stoff Wechselchemie
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A. v. Baeyer 1905 Indigosynthese W Körner Struktur der Benzolabkömmlinge A. Ladenburg Coniin-Synthese Ch. G. Williams Erdölchemie J. Dewar Dewarsches Gefäß Gasverflüssigung Th, Zincke ZinckescheSynthe.se v. Benzolabkömml. J. H. vant Hoff 1901 Theorie d. Lösungen D. Vorländer KristallineFlüssigk. W. v. Miller Organ. Elektrolyse
0. Wallach 1910 Terpene u. Kampfer
W. Ostwald 1909 — Katalyse
f R. WüUtStter 1915 — R. Kuhn 1938 Chlorophyll Carotinoide A. v. Weinberg P. Ehrlich 1908 Der „Stammbaum Stereochemie Chemotherapie E . Bamberger — — K. Landsteiner 1930 der Liebig-Schüle Thiazine Blutgruppen mit den H. Rupe P. H. Müller 1948 Naturfarbstoffe DDT 32 Nobelpreisträge 0. Fischer, Rosanilin- • A. Harden 1929 Konstitution Fermente H. W i e l a s * 1927 GallensäWren und Sterine | O. Diels 1950. • K. Alder 1950 E. BuchnefF 1907 Dien-Synthese Dien-Synthese Zellfreie Gärung 1953 O. H. Warburg 1931. • H. A. Krebs E. Fischer 1902 Stoff Wechselchemie Zucker- und PurinAtmungsfermente . A. Butenandt 1939 Chemie A. Windaus 1928. Hormone ' O. Hahn 1944 Vitamin D Uranspaltung H. Fischer Blutfarbstoff
1930
1939 _ T. Reichstein 1951 _ H. Staudinger 1953 • • L. Ruzicka PolymethylenHormone MakromolekularStruktur Chemie _ R. Zsigmondy 1925 H. v. Euler 1929 Ultramikroskop Fermente S. Arrhenins 1903 • Fr. Bergius 1931 R. Abegg Ionentheorie Benzinsynthese Elektrovalenz Th.W. Richards 1914 Atomgevkhtsbestimmvmg 1932 W. Nernsjl 1920 -1. Langmuir Oberflächenchemie Chem. Thermodynamik W. F. Giauque 1949 G.N.Lewis, AktiviTieftemperaturtätskoeffizient chemie 17
führen. Man weiß zwar: Wenn man Pflanzen im Tiegel zu Asche verbrennt, so findet man in der Asche dieselben Mineralstoffe wieder, die auch der Boden enthält. Was liegt eigentlich näher, als anzunehmen, daß sie diese Mineralstoffe auch tatsächlich aus dem Boden geholt hat? Aber man lebt ja im Zeitalter der Naturphilosophie, und so orakelt man lieber über eine geheimnisvolle „Lebenskraft", die diese mineralischen Salze in der Pflanae selbst bilde. Und dann ist da noch der Humus, jener dunkle Mutterboden, der aus organischen, verwesenden oder zersetzten Stoffen tierischen und pflanzlichen Ursprungs besteht! Daß dieser Humus der wichtigste Nährstoff für die Pflanze sei, das ist zu der Zeit, als Liebig sich mit der Chemie der lebenden Körper zu beschäftigen beginnt, unbestrittene Lehrmeinung in der Landwirtschaft. Selbst Saussure hat noch gemeint, der Humus sei der wesentliche Bestandteil der pflanzlichen Nahrung, und nur mit organischer Substanz, nur mit Mist, lasse sich der Ackerboden düngen. Ganz besonders aber hat sich diese „Humustheorie" durchgesetzt, als sie Albrecht von Thaer, der als „Vater der deutschen Landwirtschaft" so Großes geleitet hat, in einen „Grundsätzen der rationellen Landwirtschaft" 1809 in den Mittelpunkt seiner Erörterungen gestellt hat. Jahrhundert um Jahrhundert hatte die deutsche Landwirtschaft —• und mit ihr die vieler anderer europäischer Länder unter dem Gesetz der Dreifelderwirtschaft gestanden: In regelmäßigem Wechsel war ein Drittel des Ackerlandes unbebautes Brachfeld, ein Drittel trug Wintergetreide und das letzte Drittel Sommergetreide. Weder Hackfrucht noch Futterkräuter wurden auf dem Äckerland gebaut; das Viehfutter lieferten einzig und allein die Weiden und Wiesen. Was Jahrhunderte gut gegangen war, was Jahrhunderte hindurch die Bauern und die Bürger schlecht und recht ernährt hatte, wollte nun nicht mehr genügen. Der Ertrag der Äcker ging immer mehr zurück, und zugleich wurde die Zahl der hungrigen Mägen, die gesättigt werden wollten, immer größer. Denn etwas Merkwürdiges ging in dieser Zeit mit der weißen Menschheit vor sich: Jahrhundert um Jahrhundert war die Zahl der Menschen fast gleich geblieben; schwere Seuchenzüge hatten die Bevölkerung immer wieder dezimiert, nur ganz langsam hatte sie zugenommen. Dann aber, wie durch ein Wunder, begann ein schneller Zuwachs. Zuerst in England: In einem Jahrhundert, von 1700 bis 1800, hatte sich die Bevölkerung mehr als verdoppelt — von knapp fünf Millionen auf über zehn Millionen; 1820 sind es 18
aber schon 14 Millionen! Waren die Dampfmaschinen daran schuld, deren erste um 1720 feuerspeiend und qualmend Bergwerkspumpen bewegten, dann aber, seit 1769 von James Watt entscheidend verbessert, jene Spinnmaschinen, jene mechanischen Webstühle antrieben, gegen die sich die wütenden Angriffe der „Maschinenstürmer" richteten? Lag es daran, daß die fürchterlichen Seuchen an Kraft verloren hatten? — Keiner kann die Fragen beantworten, aber alle, alle wissen sie es: Die Menschen werden immer mehr, die Äcker tragen immer weniger. Die Landwirtschaft muß umgestaltet werden, damit sie mehr erzeugen kann! Das ist die brennende Forderung der Zeit, nun auch in Deutschland. Und hier macht sich deshalb Albrecht Thaer, Arzt zuerst, dann Landwirt aus Leidenschaft, an eine „Verbesserung der Landwirtschaft". Das Brachland — das ist seine erste Forderung — muß alljährlich bebaut werden. Das hatten zwar vor ihm schon andere erkannt, und 1783 hatte Schubart den von der Berliner Akademie der Wissenschaften ausgesetzten Preis für den besten Vorschlag zur Hebung des Anbaues von Futterkräutern gewonnen — derselbe Schubart, der wegen seines tatkräftigen Eintretens für den Kleebau von Kaiser Joseph IL als Edler von Kleefeld geadelt worden war. Aber wirkliche Erfolge hatte man vor Thaer kaum erzielt, denn es kam ja nicht allein auf die Bebauung des Brachlandes im Rahmen der alten Dreifelderwirtschaft an; Thaer zeigte, daß zweckmäßige Kultivierung des Bodens, Fruchtwechsel zwischen Halm- und Blatt- oder Hackfrucht, erhöhte Futterproduktion durch Hackfrucht- und Klee-Anbau, als Folge davon Stallfütterung und gesteigerte Viehhaltung, Vergrößerung der Düngererzeugung und damit wieder Erhaltung und Steigerung der Bodenfruchtbarkeit mit einer Beseitigung des alten Flurzwanges Hand in Hand gehen mußten. Ganz klar erkannte es Thaer: Durch die Ernte werden dem Boden Stoffe entzogen, die ihm ersetzt werden müssen, wenn er wieder Frucht tragen soll. Diese Stoffe, die dem Boden wieder zugeführt werden sollen, sind, so lehrte er, in erster Linie die organischen Stoffe, von denen die Pflanze lebt, pflanzlicher und tierischer Abfall, Mist, Humus. Es läßt sich nicht bestreiten: Mist und Humus erhöhen den Ertrag. Und wenn man Gips und Mergel und Kalk dazu tut, kann man noch mehr erreichen. Aber warum? Etwa, weil, wie man sagt, „die Wirkung des Stallmistes auf einer an sich unbegreiflichen Beschaffenheit beruhe, welche die Nahrung der Tiere bei ihrem Durchgang durch den Organismus empfinge", oder deshalb, weil 19
Mergel, Gips und Kalk eine im Humus steckende geheimnisvolle „Bodenkraft" zu gesteigerter Leistung „anreizen"? All das kann Liebig nicht glauben. Er hält nichts von „Bodenkraft" und „Lebenskraft", die er in seinen chemischen Untersuchungen nicht fassen kann. Seine und seiner Schüler Untersuchungen haben ihm immer wieder gezeigt, daß es nur einige wenige chemische Elemente sind, die sich in den Pflanzen wiederfinden lassen, Kohlenstoff vor allem, dann „die Elemente des Wassers" — Wasserstoff und Sauerstoff — und Stickstoff. „Aus drei bis fünf Elementen entsteht die unendliche Reihe von organischen Verbindungen, die in ihren Eigenschaften so außerordentlich große Unterschiede zeigen." Diese Elemente und ihre Verbindungen kann die Pflanze nur aus drei Quellen haben: Aus der Luft, in die sie ihre Blätter ausstreckt, aus dem Boden, in dem sie wurzelt, und aus dem Wasser, das als Feuchtigkeit im Boden, als Wasserdampf in der Luft mit der Pflanze in Berührung kommt. Wasser ist eine Verbindung von Wasserstoff und Sauerstoff; in der Luft hat man es mit Gasen zu tun, mit Kohlensäure vor allem und Sauerstoff; und der Boden enthält die verschiedensten Mineralsalze. Und Liebig zieht den kühnen Schluß: „Die Nahrungsmittel aller grünen Pflanzen sind anorganische, sind Mineralstoffe. Die Pflanzen enthalten verbrennliche und unverbrennliche Bestandteile. Die letzteren sind die Bestandteile der Aschen, welche alle Pflanzenteile nach dem Verbrennen hinterlassen. Die für unsere Kulturpflanzen wesentlichsten sind: Phosphorsäure, Schwefelsäure, Kieselsäure, Kali, Natron, Kalk, Bittererde, Eisen, Kochsalz. Aus Kohlensäure, Ammoniak (Salpetersäure), Schwefelsäure und Wasser entstehen ihre verbrennlichen Bestandteile. Aus diesen Stoffen bildet sich im Lebensprozeß der Gewächse der Pflanzenleib, und sie heißen darum Nahrungsmittel; die luftförmigen werden von den Blättern, die feuerbeständigen von den Wurzeln aufgenommen." Die „Nahrungsmittel" der Pflanze zerfallen demnach in die luftförmigen, „atmosphärischen", und in die feuerbeständigen, „mineralischen". Und nun folgt Liebigs Absage an die Lehre vom Humus: „Der Mist wirkt nicht durch seine organischen Elemente auf das Pflanzenleben ein, sondern indirekt durch die Produkte seines Verwesungsprozesses, infolge also des Übergangs seines Kohlenstoffs in Kohlensäure und seines Stickstoffs in Ammoniak (oder Salpetersäure). Der organische Dünger, der aus Überresten von Pflanzen und Tieren besteht, läßt sich demnach ersetzen durch die un20
organischen Verbindungen, in welche er in dem Boden zerfällt." Das ist die Kampfansage! Und Liebig, zeit seines Lebens ein streitbarer Herr, ist der rechte Mann, den Kampf gegen die HumusLehre durchzufechten. 1840 wirft er, der Chemiker, den Landwirten den Fehdehandschuh hin: „Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Agricultur und Physiologie" — das ist der Titel des Buches, mit dem er seine so revolutionär erscheinenden Anschauungen bekannt gibt. Ein großartiges Gemälde des Naturgeschehens entwirft er. Aus der dämmernden Ahnung in Paris, daß zwischen den chemischen Erscheinungen im Mineral-, Pflanzen- und Tierreich ein gesetzlicher Zusammenhang bestehen müsse, entwickelt sich das Bild vom Kreislauf der Stoffe in der Natur: „Zwischen allen Bestandteilen der Erde, des Wassers und der Luft, welche teilnehmen an dem Leben der Pflanze, zwischen allen Teilen der Pflanze und des Tieres und seiner Teile besteht ein Zusammenhang, so zwar, daß, wenn in der ganzen Kette der Ursachen, welche den Übergang des anorganischen Stoffes zu einem Träger der organischen Tätigkeit vermitteln, ein Glied fehlt, die Pflanze oder das Tier nicht sein kann." Am Beispiel des Kreislaufs der Stoffe im Meer führt er den Gedanken näher aus: „Jedermann weiß, daß in dem begrenzten, wiewohl ungeheuren Räume des Meeres ganze Welten von Pflanzen und Tieren aufeinanderfolgen, daß eine Generation dieser Tiere alle ihre Elemente von den Pflanzen erhält, daß die Bestandteile ihrer Organe nach dem Tode des Tieres die ursprüngliche Form wieder annehmen, in welcher sie einer neuen Generation von Pflanzen zur Nahrung dienen. Der Sauerstoff, den die Seetiere in ihrem Atmungsprozeß der daran so reichen im Wasser gelösten Luft entziehen, wird in dem Lebensprozeß der Seepflanzen dem Wasser wieder ersetzt; er tritt an die Produkte der Fäulnis der gestorbenen Tierleiber heran, verwandelt ihren Kohlenstoff in Kohlensäure, ihren Wasserstoff in Wasser, während ihr Stickstoff die Form von Ammoniak wieder annimmt. Wir beobachten, daß im Meere, ohne Hinzutritt oder Hinwegnahme eines Elementes ein ewiger Kreislauf stattfindet, der nicht" in seiner Dauer, wohl aber in seinem Umfang begrenzt ist durch die in dem begrenzten Räume in endlicher Masse enthaltene Nahrung der Pflanze." Das war etwas für die bildungsbeflissenen Zeitgenossen! Bald schon stellen sie sich die „Liebigsche Welt" ins Zimmer: Einen gläsernen Behälter voller Wasser, den Boden schön mit Sand bestreut, malerisch gruppiert darauf Steine und kleine „Tropfstein21
grotten", alles dicht bepflanzt mit Wasserpflanzen und belebt mit Fischen — und hier leben Pflanze und Tier im Liebigschen Kreislauf. Denselben Kreislauf wie im Wasser sieht er auch auf der Erde: „Kohlensaure, Ammoniak und Wasser enthalten in ihren Elementen (Kohlenstoff, Stickstoff, Wasserstoff und Sauerstoff) die Bedingungen zur Erzeugung aller Tier- und Pflanzenstoffe. Kohlensäure, Ammoniak und Wasser sind aber auch die letzten Produkte ihrer Fäulnis und Verwesung. Es nehmen also alle die zahllosen, in ihren Eigenschaften so unendlich verschiedenen Produkte des Stoffaufbaues lebender Organismen nach dem Tode derselben die ursprüngliche anorganische Form wieder an, aus denen sie gebildet sind. Der Tod, -die völlige Auflösung einer zugrunde gegangenen Generation, ist die Quelle des Lebens für eine neue." Diesen Kreislauf der Stoffe aber stört der Mensch. Zwar nicht dort, wo alles, was erzeugt wird, auch an Ort und Stelle verzehrt wird und wo man alles, was Mensch und Tier verdaut haben, dem Feld ebenso zuführt wie alle pflanzlichen Abfälle (wie es der Gärtner mit seinem Komposthaufen macht). Liebig schildert recht liebevoll, wie diese vollständige Rückgabe alles Verdauten an den Boden seit uralten Zeiten die chinesische Kleinbauernwirtschaft erhält. Bei uns aber, so wettert er, „muß der Boden unfruchtbar werden, wenn durch die Kultur der Gewächse und ihre Hinwegnahme der Vorrat von den Nährstoffen im Boden immer kleiner wird", wenn man den Feldern „von allem dem nichts wiedergebe, was man in dem Korn und Vieh in die Städte gebracht und ausgeführt hat". Und deshalb die Folgerung: „Als Prinzip des Ackerbaues muß angesehen Werden, daß der Boden in vollem Maße wiedererhalten muß, was ihm genommen wird; in welcher Form dieses Wiedergeben geschieht, ob in der Form von Exkrementen, oder von Asche, oder von Knochen, dies ist wohl ziemlich gleichgültig. Es wird eine Zeit kommen, wo man den Acker mit einer Auflösung von Wasserglas (kieselsaurem Kali), mit Asche von verbranntem Stroh, wo man ihn mit phosphorsauren Salzen düngen wird, die man in chemischen Fabriken bereitet", denn „die rationelle Kultur im Gegensatz zur Raubwirtschaft beruht auf dem Ersatz!" Mit Salzen zu düngen — das und nichts anderes bedeutet das Wort Agrikulturchemie, das nun für Jahrzehnte das Schlagwort bleibt, unter dem der Kampf der Geister ausgefochten wird. Hie Humus — Hie Mineraldünger! So tönt es bald durch ganz Europa, und wie so oft, sind auch hier die Nachbeter eifriger als die eigentlichen Verkünder der Lehre. Denn schon Albrecht von Thaer, dessen 22
Anhänger nun die neue Lehre vom» Mineraldünger erbittert bekämpfen, hatte im § 25 seines Vortrages über Ertrag und Erschöpfung der Ernte von 1814 „den kalkigen Alkalien und salzigen Düngemitteln" erhebliche Bedeutung zugeschrieben, Mergel zur Bodenverbesserung benutzt und sich so bereits auf dem Wege zu Liebigs Lehre vom mineralischen Dünger befunden. Und auch Liebig hat nie Thaers Verdienste bestritten; in seinen „Naturwissenschaftlichen Briefen über die moderne Landwirtschaft" betont er mit Nachdruck, daß „die erfolgreichen Leistungen Thaer's und anderer ausgezeichneter Männer in dieser Richtung bereits längst anerkannt" seien. Aber die heftigen Auseinandersetzungen müssen wohl sein, damit sich die neuen, so umstürzlerischen Gedanken durchsetzen können. Es ist nicht ganz leicht, es bedarf der ganzen Energie, der ganzen Hingabe, der ganzen leidenschaftlichen Persönlichkeit eines Liebig, auch die herben Rückschläge hinzunehmen, die kommen. Bewundernswert, wie er anfängliche Irrtümer seiner Theorie und ihrer praktischen Anwendung zugibt, wie er mit jeder neuen Auflage der „Agrikulturchemie" Neues, Besseres verkündet! Er gibt zu, daß seine Meinung, die Pflanzen nähmen den Stickstoff aus der Luft auf, falsch war; er gibt ebenso zu, daß seine ersten Angaben über den „Patentdünger" nicht richtig waren, daß irgend etwas an ihrer Zusammensetzung nicht stimmen konnte: „Was mir einen wahren, dauernden und nie sich mildernden Kummer machte, dies war der Umstand, daß ich nicht einzusehen vermochte, worin es lag, daß meine Dünger so langsam wirkten; überall in Tausenden von Fällen sah ich, daß jeder ihrer Bestandteile wirkte, jeder allein, und wenn sie beisammen waren, wie in meinem Dünger, so wirkten sie nicht. . . " „Ich hatte mich an der Weisheit des Schöpfers versündigt und dafür meine gerechte Strafe empfangen, ich wollte sein Werk verbessern, und in meiner Blindheit glaubte ich, daß in der wundervollen Kette von Gesetzen, welche das Leben an die Oberfläche der Erde fesseln und immer frisch erhalten, ein Glied vergessen sei, was ich, der schwache ohnmächtige Wurm, ersetzen müsse. Es war aber dafür gesorgt, freilich in so wunderbarer Weise, daß der Gedanke an die Möglichkeit des Bestehens eines solchen Gesetzes der menschlichen Intelligenz bis damals nicht zugänglich war, so viele Tatsachen auch dafür sprachen; allein die Tatsachen, welche die Wahrheit reden, werden stumm, oder man hört nicht, was sie sagen, wenn sie der Irrtum überschreit." „So war es denn bei mir. Die alkalischen Salze, bildete ich mir ein, 23
müßte man unlöslich machen, weil der Regen sie sonst entführe! Ich wußte damals noch nicht, daß sie die Erde festhalte, sowie ihre Lösung damit in Berührung komme, denn das Gesetz, zu welchem mich meine Untersuchungen über die Ackerkrume führten, heißt: An der äußersten Kruste der Erde soll sich unter dem Einfluß der Sonne das organische Leben entwickeln, und so verlieh denn der große Baumeister den Trümmern dieser Kruste das Vermögen, alle diejenigen Elemente, welche zur Ernährung der Pflanzen und damit auch der Tiere dienen, anzuziehen und festzuhalten, wie der Magnet Eisenteile anzieht und festhält, so daß kein Teilchen davon verlorengeht; in dieses Gesetz schloß der Schöpfer ein zweites ein, wodurch die pflanzentragende Erde ein ungeheurer Reinigungsapparat für das Wasser wird, aus dem sie durch das nämliche Vermögen alle der Gesundheit der Menschen und Tiere schädlichen Stoffe, alle Produkte der Fäulnis und Verwesung untergegangener Pflanzen- und Tiergenerationen entfernt". Nicht der Grundgedanke also ist falsch gewesen — die Lehre, daß die Pflanzen ihren Körper aus anorganischen Stoffen aufbauen —, sondern nur die technische Zusammensetzung der Düngersalze. Und Liebigs Gedanken, so umwälzend sie den führenden Köpfen der Landwirtschaft zuerst erschienen waren, beginnen sich durchzusetzen. Der Siegeslauf des Mineraldüngers setzt ein; und bis heute, da Liebigs weltbewegende Erkenntnis durch mannigfache weitere Einsicht in das Lebensgeschehen im Boden, in Pflanze und Tier vertieft worden ist, hat nichts diesen Siegeslauf aufhalten können. Liebigs Mineraldünger erst gibt den Landwirten überhaupt die Möglichkeit, auf ihren verarmenden Äckern und Feldern genug anzubauen, um die unaufhaltsam wachsende Menschheit satt zu machen. Denn sein mineralischer Dünger ersetzt dem Boden nicht nur, was man ihm an Nährstoffen mit dem in die Stadt Gelieferten entzogen hat, sein Dünger macht nicht nur die „Raubwirtschaft" wieder gut, sondern steigert den Ertrag weit über das hinaus, was Acker und Feld je zuvor haben liefern können. Erst heute, nach gut hundert Jahren, vermögen wir die ganze Bedeutung dessen zu erkennen, was Liebig der Menschheit mit seiner neuen Lehre von der Ernährung der Pflanzen aus anorganischen Stoffen, mit seinem großen Bild vom Kreislauf der Stoffe in der Natur, mit der Anwendung seiner Lehre vor allem aber in der Mineraldüngung geschenkt hat. Denn heute sehen wir zurück auf ein zuvor nie für möglich gehaltenes Wachstum der Bevölkerung in aller Welt. So ist die Menschheit gewachsen: 24
Es lebten in Europa Afrika Amerika Asien Ozeanien auf der Erde im Jahre 1650 1750 1800 1850 1900 1949
Millionen Menschen
100 140 188 266 390 533
100 95 90 95 141 198
13 12 25 59 151 321
330 479 600 749 830 1328
2 2 2 2 6 12
545 728 906 1171 1552 2378
Und was hatte man schon vor Liebigs Umwälzung in der Landwirtschaft prophezeit? Daß die Menschheit nicht mehr an Zahl zunehmen könne, nicht zunehmen dürfe, weil bald schon nicht mehr genügend Nahrung da sein würde, die hungrigen Mäuler zu stopfen. Wie jämmerlich mußten sich diese düsteren Voraussagen Lügen strafen lassen: Knapp 30 Millionen Menschen konnte die deutsche Landwirtschaft um 1800 kärglich genug ernähren; vor dem zweiten Weltkrieg aber wurden 80 Prozent der Ernährung des inzwischen auf 70 Millionen angewachsenen deutschen Volkes aus der eigenen Scholle gedeckt! 1880 lieferte ein Hektar, mit Stallmist gedüngt, 80 Doppelzentner Kartoffeln, 1932 aber, mit Mineralsalzen, über 190 Doppelzentner. D a s ist in erster Linie Liebigs Verdienst! Aber da sind doch Leute, die immer wieder davon reden, daß Liebigs „Kunstdünger" unser Unglück sei; was mit den Düngemitteln aus der Fabrik auf den Acker gestreut werde, sei „künstlich", also unnatürlich, und wenn heute allerlei Krankheiten angeblich immer häufiger würden, so sei das die Folge einer Degeneration des Menschen, hervorgerufen durch den „Kunstdünger". Schon das Wort „Kunst" ist diesen Leuten höchst verdächtig, klingt doch darin aus den bitteren Erfahrungen zweier Weltkriege allzuviel an von kümmerlichem und minderwertigem „Ersatz". Nun — nichts ist falscher, als annehmen zu wollen, Kunstdünger sei „Ersatz"dünger. Genau das Gegenteil wollte Liebig mit diesem Wort betonen: Kunst — das ist ihm höchstes Können, völlige Beherrschung. Kunstdünger bedeutet also, daß der Pflanze ein Nährstoff zur Verfügung gestellt wird, der seine Entstehung wirklicher Kenntnis der Pflanzenernährung und vollendetem Können der Agrikulturchemiker verdankt. Das, und nicht einen minderwertigen oder gar schädlichen Ersatz meint das Wort Kunstdünger. 25
Hundert Jahre haben die Chemiker und die Pflanzenforscher weitergeforscht, Liebigs Mahnung getreu, immer nur die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu suchen. Sie wissen heute, welche Unmengen mineralischer Substanzen die Pflanzen dem Boden entziehen. Nach einer einzigen Ernte hat ein Hektar Boden verloren: durch Getreide Kartoffeln Zuckerrüben
an Stickstoff
Phosphorsäure
Kali
85 kg 108 kg 150 kg
40 kg 39 kg 42 kg
85 kg 177 kg 188 kg
Die gleiche Menge müßte ihm wieder zugeführt werden. Leider ist das selbst im Lande Liebigs bei weitem noch nicht der Fall. Denn die Düngemittelversorgung des deutschen Bodens lag 1953 erheblich darunter: Nur 29,5 kg Stickstoff, nur 27,7 kg Phosphorsäure, nur 54,3 kg Kali wurden durchschnittlich je Hektar verbraucht — mit dem Erfolg, daß, wie eine genaue Überprüfung von 1,3 Millionen Bodenproben ergeben hat, nur ein Viertel unserer Äcker ausreichend mit allen Nährstoffen versorgt ist, vierzig Prozent aber viel zu wenig mineralische Pflanzennahrung erhalten. Nicht>zn viel, sondern zu wenig Mineraldünger erhält unser Boden! Er ist unterernährt! Denn auch Stallmist, Jauche, Kompost und Gründüngung können die gefährlich klaffende Lücke nicht schließen. Noch ein paar Zahlen mögen zeigen, was erhöhte Düngung bedeutet: In Dänemark, Holland, Belgien, Nordfrankreich und Nordwestdeutschland betrug der Stickstoffverbrauch für Düngezwecke 1924/25 15 kg je Hektar, 1948/49 aber 25 kg. Dementsprechend ist in dieser Zeit der Ertrag der Weizenernte gestiegen, von 21 Doppelzentner je Hektar auf 24! Besonders eindringlich ist ein Beispiel, das Professor Rademacher von der Landwirtschaftlichen Hochschule Stuttgart-Hohenheim gegeben hat: „In Nordrhein-Westfalen mit seinen 62 Prozent Ackerland und 38 Prozent Grünland wurden auf einen Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche 1951/52 gestreut: 44 kg Stickstoff, 48 kg Phosphorsäure, 78 kg Kali. In Baden-Württemberg mit einem nur um ein Prozent größeren Anteil von Ackerland dagegen wurden nur 16 kg Stickstoff, 18 kg Phosphorsäure, 30 kg Kali gestreut. 26
1952 wurden in NordrheinWestfal en von einem Hektar geerntet: 29,5 dz Winterweizen 25 dz Sommerweizen 16 dz Speiseerbsen 252 dz Kartoffeln 303 dz Zuckerrüben
in
Ba den-Württemberg nur:
24 20 15 176 282
dz dz dz dz dz
aber
Winterweizen Sommerweizen Speiseerbsen Kartoffeln Zuckerrüben!
Schon Justus Liebig hat es gewußt: Nicht ein einziges Glied in der Kette darf fehlen, wenn man den vollen Ertrag erhalten will; die Höhe der Ernte hängt davon ab, daß a l l e Nährstoffe im richtigen und harmonischen Verhältnis der Pflanze zur Verfügung gestellt werden. Fehlt ein Nährstoff oder wird er nicht genügend gegeben, so bestimmt e r den Minderertrag. Dieses harmonische Nährstoffverhältnis gilt es zu erreichen! Und zu diesem harmonischen Nährstoffverhältnis gehören nicht nur — das haben die letzten Jahrzehnte gelehrt — Liebigs klassische Elemente in der Luft, im Wasser und in den mineralischen Düngern, gehören nicht nur Kohlenstoff, Sauerstoff, Wasserstoff, Stickstoff, Phosphor, Kalium, Kalzium, Schwefel, Magnesium und Fisen, sondern auch noch andere Elemente, diese oft freilich nur in winzigen Spuren. Aber diese Spuren müssen da sein, sonst leidet die Pflanze not. Solehe „Spurenelemente" oder „Mikronährstoffe" — im Gegensatz zu Liebigs klassischen „Makronährstoffen" — sind vor allem Bor, Mangan, Kupfer, Zink und Molybdän; wie gering die Mengen sind, die die Pflanze braucht, zeigen diese Zahlen: Je Hektar werden dem Boden entzogen durch Zuckerrüben Getreide Kartoffeln
an Makronährstoffen Stick- Phosphor- v ,. .. Kali . [t stotf saure 85 kg 108 kg 150 kg
40 kg 39 kg 42 kg
85 kg 177 kg 188 kg
an Mikronährstoffen Bor Man Kupgan fer 60 g 60 g 375 g
408 g 140 g 350 g
60 g 50 g 70 g
Wenige Gramm also nur auf den Hektar — aber sie m ü s s e n ersetzt werden! Nicht nur um der Pflanze willen, sondern auch, weil diese Spurenelemente für eine gesunde Ernährung von Mensch und Haustier notwendig sind. Schon gibt man deshalb hier und da 27
den Pflanzen bereits Mineraldünger mit Zusatz von Mikronährstoffen, wenn auch gerade auf diesem Gebiet noch vieles zu tun ist. Denn hier sehen wir heute Thaers Humus in neuem Lichte: Wir wissen, daß der Humus wirklich „voller Leben" ist, daß Millionen und Abermillionen von Bakterien, von Kleinpilzen, von Würmchen in jeder Handvoll Humus leben und hier an der großen Umsetzung der Stoffe entscheidend mitwirken. Die Erforschung ihrer Lebensgeheimnisse, ihrer Rolle vor allem bei der Erschließung von Mikronährstoffen und für die Bereitstellung weiterer Wirkstoffe zum Gedeihen der Pflanze gehört zu den reizvollsten Aufgaben der Landwirtschaftsbiologie und -chemie von heute.
* Wir dürfen getrost Liebig, seinen Schülern und Nachfahren vertrauen. Was er begonnen hat — „den Acker mit Salzen zu düngen" —, gehört heute zum Allgemeingut aller Landwirte. Und die Waffe, die er gegen den Hunger geschmiedet hat, wird auch kommende Generationen vor Not und Entbehrung bewahren. Denn immer noch wächst die Menschheit, und im Geiste Liebigs gilt es, die Menge pflanzlicher Nahrung zu vermehren. Neue Wege sind es, die die Forschung einschlägt und die Praxis bereits erprobt: In riesigen Gewächshäusern Nutzpflanzen zu ziehen, nicht auf natürlichem Erdreich, sondern in wässrigen Nährlösungen mineralischer Makro- und Mikronährstoffe, und ihnen dazu Kohlensäure aus den Abgasen der Fabrikschornsteine zuzuführen; in künstlichen Teichen grüne Algen zu züchten, wiederum unter Zuleitung von Kohlensäure aus Abgasen, wiederum unter Zugabe mineralischer Nährstoffe, und diese Algen zu verfüttern oder Stärke, Eiweiß, Fette aus ihnen zu gewinnen. Neue Wege, gewiß, aber alte Gedanken. Liebigs Gedanken, die ihn immer und immer wieder bewegt haben: „Alles, was wir tun und treiben, schaffen und entdecken, scheint mir unbedeutend, gegen das gehalten, was der Landwirt erzielen kann. Unsere Fortschritte in Kunst und Wissenschaft vermehren nicht die Bedingungen der Existenz der Menschen, und wenn auch ein kleiner Bruchteil der menschlichen Gesellschaft an geistigen und materiellen Lebensgenüssen gewinnt, so bleibt die Summe des Elends in der großen Masse die nämliche. Ein Hungernder geht nicht in die Kirche, und ohne ein Stück Brot kein Kind in die Schule. Der Fortschritt des Landwirts hingegen lindert die Not und die Sorgen der Menschen und macht sie empfindunssfähig und empfänglich für das Gute und Schöne, was Kunst und Wissenschaft erworben, und gibt unseren Fortschritten erst den Boden und den rechten Segen". 28
Vollendung Zwei Jahre nach der weltbewegenden „Agrikulturchemie", 1842, folgt ein weiteres Werk, „Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Physiologie und Pathologie", eine Tier- und Menschencheinie also. Die moderne Ernährungswissenschaft beginnt mit diesem Buch, und alle unsere Erkenntnisse über den Stoffwechsel, über seine unendlich komplizierten chemischen Umsetzungen, über die Wirkstoffe des Lebens gehen auf die „Tierchemie" von 1842 zurück — ein Blick auf den „Stammbaum" der Liebigschule beweist es. Im Zusammenhang mit diesen physiologisch-chemischen Untersuchungen steht auch die Erfindung Liebigs, die seinen Namen in aller Welt bekannt gemacht hat, bekannter als seine epochemachende Agrikulturchemie: Liebigs Fleischextrakt.
Erster Fabrikationsraum, in dem Liebigs Fleischextrakt hergestellt wurde 29
Im Jahre 1852 verläßt Justus Liebig Gießen und folgt einer ehrenvollen Berufung nach München. Hier hat er bis zu seinem Tode am 18. April 1873 unermüdlich gewirkt. Neben Forschung und Lehre gilt nun sein besonderes Interesse der literarischen Arbeit. Er begründet die „Annalen der Chemie", die „Jahresberichte" und das „Handwörterbuch der reinen und angewandten Chemie". In immer neuen Auflagen seiner „Chemischen Briefe" aber wirbt er vor allem in der breiten Öffentlichkeit für die Wissenschaft, die er wie kaum ein anderer gefördert hat; diese „Chemischen Briefe" sind ein noch heute lesenswertes, kostbares Zeugnis dafür, wie ein König der Forschung die Ergebnisse und Probleme seiner Wissenschaft dem Laien nahebringen soll: „Die Naturforschung hat das Eigene, daß alle ihre Resultate dem gesunden Menschenverstand des Laien ebenso klar, einleuchtend und verständlich sind, wie dem Gelehrten, daß der letztere vor den anderen nichts voraus hat als die Kenntnis der Mittel und Wege, durch welche sie erworben wurden; diese sind aber für die nützlichen Anwendungen in den meisten Fällen völlig gleichgültig." — Das in seiner lebendigen und bildhaften Sprache unvergänglich frische Buch hat höchstes Lob gefunden; Jakob Grimm, Begründer der deutschen Sprachwissenschaft und Altertumswissenschaft, hat es in der Vorrede des riesigen, heute noch nicht abgeschlossenen „Deutschen Wörterbuches" so gewürdigt: „Die Chemie kauderwelscht in Latein und Deutsch, aber in Liebigs Mund wird sie sprachgewaltig". König Max IL von Bayern überschüttet den großen Chemiker, der zum Mittelpunkt der vom König in seine Hauptstadt berufenen „Nordlichtin" wird, mit Ehren. Liebig wird 1852 in den erblichen Freiherrnstand erhoben, wird 1859 Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und Generalkonservator der wissenschaftlichen Staatssammlungen. Langsam, aber unaufhaltsam setzt sich seine Agrikulturchemie durch. 1857 gründet er selbst die „Bayerische Aktiengesellschaft für chemische und landwirtschaftliche Fabrikate zu Heufeld" in Oberbayern. Die Düngemittel-Industrie nimmt ihren Aufstieg. Ganze Flotten holen Guano von den Vogelinseln der tropischen Meere, der so reich ist an phosphorsaurem Kalk. 1861 werden die unermeßlich reichen Kalisalzvorkommen in Mitteldeutschland erschlossen. Die Eisenindustrie liefert Thomasmehl, das bei der Erzeugung von Stahl anfällt, wenn dem Erz der Phosphor entzogen wird. Aus Chile kommt der Salpeter, aus den Kokereien und Gasanstalten schwefelsaures Ammoniak. Und kurz vor dem ersten Weltkrieg gelingt es, Stickstoff direkt aus der Luft 30
zu Ammoniak zu verarbeiten. Nun vermag der Mensch, was Liebig den grünen Pflanzen anfangs irrtümlich zugetraut hatte, nun kann er tatsächlich s.einen Nutzgewächsen den Luftstickstoff in Form von Ammoniak-Düngemitteln zuführen. Liebigs Mineraldünger schafft neue Nahrung für die wachsende Menschheit — allein in den vierzig Jahren zwischen 1888 und 1928 steigt der Jahresertrag der landwirtschaftlichen Erzeugung auf der ganzen Welt um den Betrag von 24 Milliarden Mark! Und noch zu Liebigs Lebzeiten beginnt auch die Entwicklung der Farbenindustrie, angeregt vor allem durch seinen Meisterschüler Kekule, der die Formel des Benzolrings gefunden hat, und durch A. W. Hofmanns Synthese von Teerfarben. Ihren schönsten Gipfelpunkt hat diese mächtige Entfaltung in jenen von Farbstoffen hergeleiteten Heilmitteln gefunden, mit denen nun endlich die schweren Seuchenerkrankungen gebannt werden können. Goldene Weizenfelder, grüne Wiesen, satte Menschen —- Fabriken, in denen fröhliche Farben entstehen und segensreiche Heilmittel: Gibt es ein schöneres Denkmal für den einstigen Apothekenlehrling, den sein Lehrherr hinauswarf, weil der Bub mit Knallsilber herumexperimentierte? Unvergessen wird Justus von Liebig bleiben, seine wahrhaft liebenswerte, hinreißende Persönlichkeit, die schon in Gießen einen Kollegen zu dem launigen Trinkspruch auf den Chemieprofessor und seine Gattin begeisterte: „Wen lieb ich? Den Liebig — die Liebig — die lieb' ich!" Unvergessen wird er bleiben, als eines der großen Vorbilder, als der große Forscher und Lehrer, der leidenschaftliche Streiter für das als richtig erkannte: „der fruchtbarste Chemiker unseres Vaterlandes und aller Lande, ein Lehrer ohnegleichen, ein klassischer Schriftsteller, ein Wohltäter der Menschheit, eine der großartigsten Erscheinungen unter den Denkern seiner und aller Zeiten, dessen Andenken lebendig bleiben wird, solange die menschliche Kultur besteht": Justus von Liebig, der mit der Waffe der Chemie die Gefahr des Hungers für die Menschheit gebannt hat. Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Das Bild auf Seite 2 zeigt die alte Kasernenwache in Gießen L u x - L e s e b o g e n 176 ( N a t u r k u n d e ) - H e f t p r e i s 2 5 P f g . Natur- und kulturkundliche Hefte — Bestellungen (vierteljährl. 6 Hefte DM 1.50) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt — Verlag Sebastian Lux, Murnau, München, Innsbruck, Ölten — Druck: Buchdruckerei Mühlberger, Augsburg 31
ORION Die führende illustrierte Zeitschrift für Natur und Technik
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