Scan by Schlaflos
Buch Der Alte Niemand ist tot und sein Werk vernichtet. Die Araukarier sind von den Truppen des Schw...
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Scan by Schlaflos
Buch Der Alte Niemand ist tot und sein Werk vernichtet. Die Araukarier sind von den Truppen des Schwarzen Prinzen ins Verbotene Land verschleppt worden, um dort ein geheimnisvolles Tor zu errichten: Die Pforte von Sklava Mhor. Auch Bolgan - einer der drei Gefährten, die der Alte Niemand dazu bestimmt hat, den Kampf gegen den Schwarzen Prinzen fortzuführen - leistet Fronarbeit an dem unheimlichen Bauwerk, nach dessen Fertigstellung die Macht des Bösen ins Unermessliche wachsen soll. Da gelingt es ihm, den Ring des Schwarzen Prinzen zu stehlen, dessen Schmuckstein ein Bruchstück des machtbringenden Erfts ist. Unterdessen hat sich Bolgans Gefährte Hatib in die Nördlichen Königreiche durchgeschlagen und die Stadt Barku vor dem nahenden Nebelheer gewarnt. Den Nordländern gelingt ein verzweifelter Sieg, doch die Rache des Schwarzen Prinzen ist absehbar. Hatib macht sich mit dem Waldläufer Imril ins wolkenverhangene Fernfeld auf. In einer Höhle finden die beiden ein weiteres Bruchstück des Erfts und gelangen gerade noch rechtzeitig an den Ort der entscheidenden Schlacht... Autor Ralf Lehmann, Jahrgang 1973, ist auf der Schwäbischen Alb aufgewachsen. Geprägt vom rauen Mittelgebirge, beschäftigte er sich schon als Kind mit den Sagen seiner Heimat. Später schärften Reisen in die schottischen Highlands, aber auch in die Wüsten Innerasiens seinen Blick für Landschaften und Menschen. Nach dem Studium der Geografie, Romanistik und Germanistik in Tübingen kehrte er in seine Heimatstadt Heidenheim zurück, wo er seitdem als Lehrer arbeitet. Bereits erschienen: DAS BUCH DES SCHWARZEN PRINZEN: I. Die Legende von Araukarien (24285), 2. Die Melodie der Masken (24306) In Kürze erscheint: DAS BUCH DES SCHWARZEN PRINZEN: 3. Das Kristallhaus (24343)
Ralf Lehmann
Die Melodie der Masken Das Buch des Schwarzen Prinzen 2 BLANVALET Umwelt h in weis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. Der Blanvalet Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House. i. Auflage Originalausgabe 2/2005 Copyright © 2005 by Ralf Lehmann Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Agt. Luserke/Ivanchenko Satz: deutsch-tükischer fotosatz, Berlin Druck: GGP Media GmbH, Pößneck Titelnummer: 24306 Redaktion: Andreas Heckmann V B. • Herstellung: Heidrun Nawrot Printed in Germany ISBN 3-442-24306-8 www.blanvalet-verlag.de
1 Die Errichtung von Sklava Mhor Berngar zuckte zusammen, als er den Gifalken sah. »Der ist meinetwegen hier«, flüsterte er furchtsam. »Ich habe zu viel geredet.« »Abwarten«, versuchte Bolgan ihn zu beruhigen. Doch auch ihm wurde mulmig. Ein überwältigender Anblick bot sich den drei Gefährten. Alsfar pfiff durch die Zähne. »Junge, Junge.« Vor ihnen erstreckte sich eine Ebene über mindestens zwanzig Meilen, und trockenes Gras wogte im Wind.
Bolgan fühlte sich an die Gegend von Khor erinnert, die er mit dem Alten Niemand durchquert hatte. Am fernen Horizont erhoben sich die Roten Berge, die das Verbotene Land umgaben wie eine unbezwingbare Mauer. Der einzige Zugang zu der Wüste, die sich wie eine Spinne hinter den verwitterten Bergen verbarg, war - Sklava Mhor. Das furchterregende Bauwerk war bereits zu einem Viertel fertig gestellt - ein Pylon wie die Pforte von Khor, aber noch viel größer. Trotz der heißen Mittagssonne wirkte die Sklava düster und bedrohlich, ein dunkler Fleck in der hellen Südlandschaft. An diesen gottverlassenen Ort hatte man die gefangenen Araukarier also geschafft. »Das ist das Werk eines Wahnsinnigen«, murmelte Nauru entsetzt. 5 »Der Schwarze Prinz dürfte das anders sehen«, erwiderte Alsfar. »Ein Menschenleben ist ihm nicht wichtig. Und Tausende auch nicht.« »Weil er ein Ziel hat, das wir nicht verstehen«, erklärte Bolgan und betrachtete dann lange die gigantischen Fundamente. Ihn fror trotz der Hitze. »Die Sklava wächst rasch«, hörte er Ogrok sagen. »Wie es scheint, presst unser Herr das Letzte aus den Gefangenen.« Ormon nickte bedächtig. »Wenn alles glatt geht«, schnarrte er, »ist sie in vier Monaten fertig.« »Vier Monate?«, staunte Ogrok. »Das ist unmöglich.« »Alles ist möglich, wenn der Schwarze Prinz es verlangt«, erwiderte Ormon und trieb sein Pferd an. Die unglücklichen Gefangenen hatten große Anstrengungen unternommen, das Land urbar zu machen. Schöpfwerke holten Wasser aus tiefen Brunnen, um es in Kanäle zu gießen, die es über die neu angelegten Äcker verteilten. Das erste Grün flaumte da und dort - ein Hoffnungsschimmer in der Einöde, den selbst die bedrückende Gegenwart von Sklava Mhor nicht ganz auslöschen konnte. »Der Schwarze Prinz will die Menschen also dauerhaft hier ansiedeln«, sagte Nauru. »Als Sklaven.« »Aber das alles kann nicht erst nach der Zerstörung Araukarias geschehen sein«, wandte Bolgan ein. Ormon, der vorausritt, drehte sich um. »Zwei Jahre«, schnarrte er. »Zwei Jahre wurde dieses Werk vorbereitet. Seit Ankunft der Araukarier arbeiten sechzigtausend Männer an der Pforte und hundertzwanzigtausend in Sklava Firr, der Hauptstadt einer neuen Welt. Aber was rede ich! Die Größe dieses Unternehmens geht sowieso über euren Verstand.« Bolgan hatte eine böse Antwort auf der Zunge, sagte aber nichts. Aurians Behandlung wirkte immer noch nach. 6 >Er muss hellsehen könnenOder er hat Ohren wie ein Luchs. Aber wir haben doch ganz leise gesprochene Als die Sonne sank, konnte Bolgan Einzelheiten der gigantischen Baustelle erkennen. Nach Osten erstreckten sich die Fundamente einer gigantischen Stadt. Das musste Sklava Firr sein. Hunderte aus dem Boden gestampfte Dörfer zogen sich am Gebirge entlang, und in regelmäßigen Abständen thronten hölzerne Wachtürme wie Krähennester über der Ebene. »Willkommen daheim«, knurrte Alsfar, während sie sich einem der trostlosen Weiler näherten. »Schaut mal«, sagte Bolgan. Westlich der Sklava war eine riesige Burg in den Felsen gehauen. Sie hing dreihundert Meter über ihren Köpfen, und nur eine einzige Treppe führte empor. Ogrok drehte sich um. »Das ist Sklava Märtolon«, grinste er. »Die Felsenzwinge des Schwarzen Prinzen. Ihr glaubt gar nicht, wie sehr er sich freut, dass ihr beim Bau der Pforte helft.« Bolgan schauderte. Der Gedanke, dass aus diesen leeren Fensterhöhlen der Zerstörer Brangwens auf sie herunterschaute, machte ihm Angst. Erst jetzt wurde ihm klar, wie wenig der Alte Niemand über den Schwarzen Prinzen gewusst hatte. Was nützten seine Forschungen aus siebenhundert Jahren schon gegen das, was sich hier an den Pforten des Verbotenen Landes offenbarte? Kein Zweifel, der Schwarze Prinz musste in den vergangenen Jahrhunderten an Kraft und Bösartigkeit gewonnen haben - in dem Maße, wie die Macht des Alten Niemand abnahm, der sich in seiner Hütte im Land der Tanzenden Berge hinter Schriftrollen verschanzt hatte. Und er, Bolgan, hatte den Auftrag, dem Schwarzen Prinzen den Großerft zu nehmen. Schöne Aussichten. 7 »Morgen lernt ihr, was arbeiten heißt«, sagte Ogrok, als sie bei den ärmlichen Lehmhütten angekommen waren. »Recht so!« Hauptmann Berngar lachte nervös. »Sie haben es nicht anders verdient.« »Nimm den Mund nicht zu voll«, schnauzte Ogrok. »Noch weißt du nicht, was mit dir geschehen wird.« Berngar zog den Kopf ein; um Ormons Mund spielte ein Lächeln. Die Siedlung lag fast verlassen da. Ogrok winkte eine Frau herbei, die aus einer Hütte kam. »Gib den dreien Quartier. Morgen melden sie sich bei Fardon, dem Vorarbeiter. Er soll sie schuften lassen, bis sie schwarz werden!« »Schuften tun hier alle.« Die Frau war sicher über sechzig und ging etwas gebeugt, als trage sie eine unsichtbare Last auf den Schultern, doch die Gefangenschaft hatte ihr die Würde nicht nehmen können. Mit prüfendem Blick musterte sie die Neuankömmlinge. »Man hat euch schon angekündigt. Wir haben drei Betten frei gemacht.« »Das gefällt mir schon besser«, sagte Alsfar zufrieden. »Wie heißt du?«, fragte Bolgan.
»Blinja. Aber Namen zählen nichts in Sklava Mhor.« Ogrok und Ormon machten sich mit ihrem Trupp an den Aufstieg nach Sklava Märtolon. Es sollte lange dauern, bis die drei Gefährten sie wieder sahen. »Wo sind die Männer?«, wandte sich Bolgan wieder an Blinja. »Sie arbeiten an der Sklava.« Die alte Frau wandte sich zum Gehen, und die Gefährten folgten ihr. Erst als die Sonne längst hinter den Roten Bergen versunken war, kam eine Arbeiterkolonne von der Sklava hergeschlurft. Die Gesichter der Männer waren grau und müde. Wortlos stiegen sie in ihre Betten, ohne die Gefährten zu beachten. 8 Die waren froh darüber. Was hätten sie auch erzählen sollen? Von ihren Abenteuern hätten die Gefangenen wahrscheinlich nichts verstanden. Nach kurzer Zeit waren sie eingeschlafen. Am nächsten Morgen wurden sie von einem Fanfarenstoß geweckt. Die Sonne stieg hinter der Bergkette des Verbotenen Landes auf und tauchte die staubige Ebene in ein unwirkliches Licht. Vor dem Haus stand Blinja mit einem Kessel Suppe. »Was ist denn das für ein Fraß?« Alsfar beäugte misstrauisch einige seltsam aussehende Fleischstücke, die in einer kargen Brühe schwammen. Ein alter Arbeiter wandte ihm sein schmales, sonnenverbranntes Gesicht zu. »Es ist wesentlich besser als das, was wir zu Anfang bekommen haben.« »Dann bin ich froh, jetzt erst hier zu sein.« »Ich bin Fardon, der Vorarbeiter«, sagte der Mann. »Und ihr seid vermutlich die drei, die man uns angekündigt hat?« »Genau«, antwortete Bolgan und betrachtete den kleinen, sehr faltigen Mann. »Es scheint eine harte Arbeit zu sein.« »Es ist eine Arbeit für drei«, erwiderte Fardon ernst. »Was das heißt, werdet ihr noch merken. Am Anfang sind sie hier wie die Fliegen gestorben - nun sind nur noch die Kräftigsten übrig. Aber es kommt ständig Nachschub.« »Welchem Zweck dient das alles ? Weshalb baut man ein Tor vor ein Land, das niemand betreten will?« »Das weiß keiner.« Fardons Augen waren hell und gescheit, und wie bei Blinja lag eine Güte darin, die alles Leid nicht hatte brechen können. Wieder ertönte ein Fanfarenstoß aus der Ferne. 9 »Morgen lernt ihr, was arbeiten heißt«, sagte Ogrok, als sie bei den ärmlichen Lehmhütten angekommen waren. »Recht so!« Hauptmann Berngar lachte nervös. »Sie haben es nicht anders verdient.« »Nimm den Mund nicht zu voll«, schnauzte Ogrok. »Noch weißt du nicht, was mit dir geschehen wird.« Berngar zog den Kopf ein; um Ormons Mund spielte ein Lächeln. Die Siedlung lag fast verlassen da. Ogrok winkte eine Frau herbei, die aus einer Hütte kam. »Gib den dreien Quartier. Morgen melden sie sich bei Fardon, dem Vorarbeiter. Er soll sie schuften lassen, bis sie schwarz werden!« »Schuften tun hier alle.« Die Frau war sicher über sechzig und ging etwas gebeugt, als trage sie eine unsichtbare Last auf den Schultern, doch die Gefangenschaft hatte ihr die Würde nicht nehmen können. Mit prüfendem Blick musterte sie die Neuankömmlinge. »Man hat euch schon angekündigt. Wir haben drei Betten frei gemacht.« »Das gefällt mir schon besser«, sagte Alsfar zufrieden. »Wie heißt du?«, fragte Bolgan. »Blinja. Aber Namen zählen nichts in Sklava Mhor.« Ogrok und Ormon machten sich mit ihrem Trupp an den Aufstieg nach Sklava Märtolon. Es sollte lange dauern, bis die drei Gefährten sie wieder sahen. »Wo sind die Männer?«, wandte sich Bolgan wieder an Blinja. »Sie arbeiten an der Sklava.« Die alte Frau wandte sich zum Gehen, und die Gefährten folgten ihr. Erst als die Sonne längst hinter den Roten Bergen versunken war, kam eine Arbeiterkolonne von der Sklava hergeschlurft. Die Gesichter der Männer waren grau und müde. Wortlos stiegen sie in ihre Betten, ohne die Gefährten zu beachten. 8 Die waren froh darüber. Was hätten sie auch erzählen sollen? Von ihren Abenteuern hätten die Gefangenen wahrscheinlich nichts verstanden. Nach kurzer Zeit waren sie eingeschlafen. Am nächsten Morgen wurden sie von einem Fanfarenstoß geweckt. Die Sonne stieg hinter der Bergkette des Verbotenen Landes auf und tauchte die staubige Ebene in ein unwirkliches Licht. Vor dem Haus stand Blinja mit einem Kessel Suppe. »Was ist denn das für ein Fraß?« Alsfar beäugte misstrauisch einige seltsam aussehende Fleischstücke, die in einer kargen Brühe schwammen. Ein alter Arbeiter wandte ihm sein schmales, sonnenverbranntes Gesicht zu. »Es ist wesentlich besser als das, was wir zu Anfang bekommen haben.« »Dann bin ich froh, jetzt erst hier zu sein.« »Ich bin Fardon, der Vorarbeiter«, sagte der Mann. »Und ihr seid vermutlich die drei, die man uns angekündigt hat?«
»Genau«, antwortete Bolgan und betrachtete den kleinen, sehr faltigen Mann. »Es scheint eine harte Arbeit zu sein.« »Es ist eine Arbeit für drei«, erwiderte Fardon ernst. »Was das heißt, werdet ihr noch merken. Am Anfang sind sie hier wie die Fliegen gestorben - nun sind nur noch die Kräftigsten übrig. Aber es kommt ständig Nachschub.« »Welchem Zweck dient das alles? Weshalb baut man ein Tor vor ein Land, das niemand betreten will?« »Das weiß keiner.« Fardons Augen waren hell und gescheit, und wie bei Blinja lag eine Güte darin, die alles Leid nicht hatte brechen können. Wieder ertönte ein Fanfarenstoß aus der Ferne. 9 »Es ist Zeit.« Fardon stellte seinen Napf beiseite und deutete auf den kleinen Murk. »Den könnt ihr nicht mitnehmen. Gebt ihn Blinja, meiner Frau. Die kümmert sich um ihn.« Nauru seufzte, gehorchte aber. Hunderte von Menschen marschierten mit ihnen auf dem staubigen Weg. Wieder fröstelte Bolgan, als er sich dem Riesenbauwerk näherte. Sklava Mhor bestand aus zwei gewaltigen, rechteckigen Tortürmen, die dreihundert Meter lang und sechzig Meter breit waren. Zu beiden Seiten zogen Kolonnen über eine Rampe behauene Steine hinauf, die sie von einem riesigen Haufen regellos aufgeschichteter Blöcke geholt hatten. »Jeden Tag muss der Bau um einen Meter wachsen«, sagte Fardon, als sie die Rampe betraten. »Sonst gibt es abends nichts zu essen.« »Einen ganzen Meter?«, fragte Bolgan erschrocken. »Bei dieser riesigen Fläche?« »Einen ganzen Meter«, bestätigte Fardon. Schon jetzt hatte Sklava Mhor eine Höhe von über siebzig Metern, und die Arbeiter wirkten wie Ameisen, die auf einem gewaltigen Ameisenhügel und in seinem Umkreis unterwegs waren. Einige schlössen sich Fardon beim Aufstieg an. »Unsere Aufgabe ist es, die angelieferten Steine an den richtigen Ort zu bringen und einzupassen«, sagte der Vorarbeiter. »Dabei muss man gründlich und genau sein. Ihr seht aus, als könnte ich euch das übertragen.« Auf dem westlichen Torturm angekommen, sah Bolgan sich um. Tief unten war das eigentliche Tor - eine gewaltige eiserne Pforte, mit einem Baum verriegelt und mit mannshohen eisernen Angeln in die Sklava eingelassen. Nach Süden erstreckte sich das Verbotene Land, doch der Blick tat weh: Eine öde rote Wüste, so weit das Auge reichte, belebt nur von 10 Staubstürmen, die darauf tanzten. Am Horizont meinte Bolgan einen schwarzen Punkt wahrzunehmen. »Schau nicht hin.« Fardon stand neben ihm. »Das bringt Unglück. Außerdem könntest du beobachtet werden.« »Von wo?« Der Vorarbeiter deutete nach oben. »Siehst du die Fensterhöhlen? Das ist Sklava Märtolon, die Wohnung des Schwarzen Prinzen. Von dort überwacht man uns.« Schon kamen die ersten Kolonnen mit Steinen angekrochen. Fardon achtete darauf, dass die richtigen nebeneinander zu liegen kamen. Seine Männer wuchteten die Blöcke dann mit Holzpflöcken in Position. An den Rändern war es am gefährlichsten: Glatt wie polierter Stahl sollte die Außenfläche der Sklava werden. Seltsamerweise passten die Blöcke haargenau aufeinander, als hätte eine geheime Macht es so bestimmt; einmal aneinander gefügt, drang selbst das schärfste Messer nicht mehr dazwischen. »Da ist Hexerei im Spiel«, murrte Alsfar schwitzend. »Kein Mensch kann diese Dinger so perfekt behauen.« »Sei still.« Fardon hatte seine Worte gehört. »Du weißt nie, wer dir zuhört.« Dann packte er Alsfar am Handgelenk und deutete auf den riesigen Steinvorrat hinunter. »Er wird nicht weniger«, flüsterte er. »Als wüchsen die Blöcke nach. Dieses Bauwerk ist verflucht, sage ich; und verflucht sind wir, die wir es errichten.« Die Gefährten tauschten stumme Blicke. »Machen wir weiter«, murmelte Nauru. Als die Sonne in der Wüste versank, hatten sie gerade eine Steinlage fertig, und die Pforte war wieder einen Meter höher geworden. Müde stiegen sie die Rampe runter und machten sich auf den Heimweg. Als sie das Bauwerk hinter sich ließen, wurde ihnen leichter. »Und das macht ihr jeden Tag?«, fragte Bolgan den Vorarbeiter. »Seit zweieinhalb Monaten«, antwortete Fardon. »Fünfundsiebzig Meter ist die Sklava seither gewachsen.« »Das kann nicht sein«, sagte Bolgan verwirrt. »Du bist doch Araukarier - du kannst frühestens vor anderthalb Monaten hier angekommen sein!« »Aber es ist so«, beharrte Fardon. Bolgan drang nicht weiter in ihn. Schon jetzt hatte er das Gefühl, zu viel erfahren zu haben. Auf dem Heimweg kamen sie an Ruinen vorbei, die ihm am Morgen nicht aufgefallen waren. Zum Teil waren sie zugeweht. Unter einem eingestürzten Torbogen bleichten Knochen im Sand. »Das«, erklärte Fardon, »war der Tempel der Wahrheit. Der Schwarze Prinz hat ihn zerstört. Die Priester mussten fliehen und nahmen den Ring der Wahrheit mit, der ihr Heiligtum ist. Man konnte sie alles fragen wenn sie einem wohlgesonnen waren, streiften sie den Ring über und gaben Auskunft.« »Du weißt sehr viel«, sagte Bolgan. »In Araukaria bin ich Gelehrter gewesen«, erwiderte der Vorarbeiter ruhig. »Und Sterndeuter. Ich habe in den
Tempeln gearbeitet, als Diener der Priester des Verborgenen Gottes.« »Und jetzt musst du Steine schleppen«, brummte Alsfar. »Das ist bestimmt nicht leicht für einen Sterndeuter.« Fardon lächelte. »Aber auch nicht schwerer als für jeden anderen.« Die Menschlichkeit ihres Vorarbeiters gab Bolgan Hoffnung. Als sie in die Siedlung gekommen und ihre Suppe gelöffelt hatten, erwartete sie eine Überraschung. Ausgerechnet auf Alsfars Pritsche lag - Hauptmann Berngar. »Was machst du denn hier?«, fuhr Alsfar ihn an, als er sich 12 von seiner Verblüffung erholt hatte. Bolgan sah diebische Freude in seinen Augen: Sein Gefährte war heilfroh, jemanden gefunden zu haben, auf dem er rumhacken konnte. »Musst du mir jetzt auch noch den Schlafplatz wegnehmen, du Faulpelz?« Berngar öffnete blinzelnd die Augen. »Sie haben mich degradiert«, jammerte er. »Weil ich das Floß verloren habe. Jetzt muss ich arbeiten wie die Gefangenen. Daran seid nur ihr schuld.« »Recht so! Hast du gestern nicht gesagt, wir sollten an der Sklava schuften, bis wir schwarz werden?« »Ich hab's nicht so gemeint«, maulte Berngar. »So«, sagte Alsfar. »Jetzt kannst du jedenfalls richtig anpacken. Nun aber raus aus meinem Bett, du Flohsack; ich will nicht wissen, was sich in deinem Schnauzer angesammelt hat.« Bolgan musste grinsen. Berngar und Alsfar zusammen in einer Kolonne - das konnte heiter werden. Aber vielleicht würde er von Berngar erfahren, wozu sie das Tor errichteten. Er musste ans Verbotene Land denken, das er heute zum ersten Mal gesehen hatte. Abermals schauderte ihn, als er an die rote Wüste dachte, an die tanzenden Staubfahnen - und an das, was sich dahinter verbarg. Die nächsten Tage waren ein ödes, anstrengendes Einerlei, das aus Arbeiten, Essen, Schlafen und wieder Arbeiten bestand. Wenn die Sonne hinter den Bergen aufstieg, marschierten sie in langen Kolonnen zur Pforte, um Steine zu schleppen, bis das Bauwerk wieder einen Meter höher geworden war. Jeder hatte Angst vor den unsichtbaren Augen, die sie von Sklava Märtolon aus überwachten. Abends gab ihnen Blinja Suppe, und Nauru bekam den kleinen Murk zurück. 13 Der ehemalige Hauptmann Berngar war bei der Arbeit keine Hilfe, denn er war ungeschickt. Alsfar persönlich passte auf ihn auf. »Mehr rechts, Hauptmann!«, rief er. »Und stärker! Du drückst ja gar nicht!« »Ich drücke doch«, japste Berngar und stemmte sich gegen seinen Holzpfahl. »Das reicht nicht«, erwiderte Alsfar mitleidlos und trat näher, um besser sehen zu können. »Du musst dich mehr anstrengen.« »Jaaa«, ächzte Berngar und machte einen letzten Anlauf, »jetzt geht's doch.« »Autsch!«, brüllte Alsfar und zog die Hand gerade noch rechtzeitig zurück, bevor der Spalt sich schloss. »Beinahe hättest du mir die Finger eingeklemmt, du Tollpatsch!« »Selber schuld«, sagte Nauru. Er hatte Mitleid mit dem Hauptmann. »Ja, ja«, murrte Alsfar. Der Schmerz hatte ihm den Spaß verdorben. »Trotzdem geschieht's ihm recht.« »Mir geschieht's immer recht, ich weiß«, maulte Berngar, legte seinen Pflock beiseite und beäugte kritisch sein Werk. Der Stein schloss sich fugenlos an die anderen. »Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich beim araukarischen Heer geblieben.« »Du bist beim araukarischen Heer gewesen?«, fragte Bolgan verblüfft. »Natürlich«, sagte Berngar stolz und bleckte die paar Zähne, die ihm nach seiner Begegnung mit den Erminari geblieben waren. »Unter Führung von Morgreal, dem Heeresvorsteher.« »Interessant.« Bolgan half ihm, den nächsten Block zu setzen. »Wie bist du zum Diener des Schwarzen Prinzen geworden?« »Lange Geschichte.« Froh über das Interesse an seiner Person, begann der ehemalige Hauptmann zu erzählen. Bolgan hörte gespannt zu. Manches hätte er sich denken können. Berngar war einfacher Soldat gewesen, hatte es zum Hauptmann gebracht und war dann in Schwierigkeiten geraten. Warum, sagte er nicht. Bolgan vermutete, dass er wegen Unfähigkeit degradiert werden sollte. Da war Morgreal, seit einem Jahr Heeresvorsteher, an ihn herangetreten. Berngar hatte den Befehl über einen Trupp Soldaten bekommen und sollte Neugierige vom alten Hexentanzplatz fernhalten. Nach dem Fall Araukarias hätte er mit Morgreal nach Barku ziehen sollen, war jedoch im letzten Moment abkommandiert worden, um ein Gefangenenfloß zum Ayakil-Felsen zu bringen. Damit hatte seine Pechsträhne begonnen. »Und jetzt haben sie mich zum Gefangenen gemacht«, schimpfte er. »Nach allem, was ich für sie getan habe.« »Das tut mir Leid«, log Bolgan. Er wollte Berngars Redseligkeit ausnutzen und fragte: »Hast du eigentlich eine Ahnung, wozu wir dieses Tor bauen?« »Das hat dir die Felsenstimme doch gesagt.« Jetzt, da er degradiert war, fiel Berngar das Sprechen leicht. »Es soll die Macht des Schwarzen Prinzen vergrößern.« »Aber wie?« »Keine Ahnung.« Berngar schielte nach Sklava Märtolon hinauf, das wie ein drohendes Verhängnis über ihren
Köpfen hing. »Diesen Ormon bringe ich um«, knirschte er. »Der hat mich beim Schwarzen Prinzen angeschwärzt, und zwar mit Vergnügen.« »So ein Schuft«, sagte Bolgan mit echter Entrüstung. »Aber was sind Gifalken überhaupt?« »Eine Bande von Hundesöhnen«, erwiderte Berngar zornig. »Kein Mensch weiß, woher sie kommen.« l5 Dann senkte er die Stimme: »Es heißt, sie werden ohne Seele geboren.« Mit großen Augen blickte er Bolgan an. »Im Verbotenen Land gibt es einen alten Brunnen, der direkt in die Unterwelt führt. Von dort hat sie der Schwarze Prinz mitgebracht. Sie sind seine treusten und furchtbarsten Diener, gleichen einander wie Brüder und ernähren sich von Träumen, vor allem ...« »Ich weiß.« Bolgan warf einen vorsichtigen Blick nach Sklava Märtolon hinauf. Etwas da oben warnte ihn. »Ich habe gesehen, was Ormon in Tifillan getan hat.« Sie arbeiteten weiter, doch die Wut über seine Erniedrigung ließ Berngar nicht los. »Sie gehorchen nur dem Schwarzen Prinzen«, nahm er das Gespräch wieder auf. »Sie nennen ihn Fathär.« »Eigenartiger Name«, sagte Bolgan. »Hast du ihn eigentlich mal gesehen?« »Ich habe sogar mit ihm gesprochen. Damals war er sehr gut zu mir und sagte, ich hätte den Hexentanzplatz vorbildlich bewacht. Dafür bekam ich ein Goldstück aus seiner Hand.« »Dann hast du den Großerft also schon mal gesehen!« »Natürlich«, warf sich Berngar in die Brust. »Er ist in einen Ring gefasst, und der Schwarze Prinz trägt ihn immer überm Handschuh. Komisch, nicht?« Bolgans Verstand arbeitete fieberhaft. War das der geeignete Moment? Es kam darauf an, die richtigen Worte zu finden. »Wenn der Schwarze Prinz seine Macht aus dem Erft bezieht«, fragte er mit erzwungener Ruhe, »warum hat dann nie jemand versucht, den Stein zu stehlen und so zum Herrn der Welt zu werden?« »Den Schwarzen Prinzen bestehlen?«, fragte Berngar irritiert zurück. »Das traut sich doch niemand! Allerdings ...« 16 er dachte scharf nach - »... gibt es ein Gerücht, dass es einmal jemand versucht hat. Es ist nämlich nicht unmöglich.« Der Hauptmann setzte eine geheimnisvolle Miene auf. »Manchmal nimmt der Schwarze Prinz den Ring ab, und zwar, wenn ein Gewitter kommt, denn der Erft zieht Blitze an. Während eines Unwetters - das muss Jahrhunderte her sein - soll ein Diener ihm den Ring genommen haben und geflohen sein, der Schwarze Prinz aber soll ihn gefangen und ihm die schlimmste aller Strafen auferlegt haben.« »Nämlich?«, fragte Bolgan neugierig. »Der Diener musste werden wie er.« »Das verstehe ich nicht.« Berngar breitete grinsend die Arme aus. »Ich auch nicht.« Fardon trat zu ihnen. »Ihr solltet weniger reden und mehr arbeiten«, sagte er ernst. »Die Augen von Sklava Märtolon sind schon auf uns gerichtet.« Bolgan folgte seinem Blick. Droben an der Fensterhöhlung stand eine dunkle Gestalt. War es Ormon, der Gifalk? Oder der Schwarze Prinz persönlich? »Worüber habt ihr gesprochen?«, fragte Fardon. »Über nichts Besonderes«, meinte Berngar kleinlaut. »Hoffentlich.« Ein Blick zeigte Bolgan, dass der Vorarbeiter Angst hatte. Sie verbrachten den Tag mit Steinerücken, und der ehemalige Hauptmann tat sein Bestes, es den anderen gleichzutun. Als die Sonne sank, war die Sklava wieder einen Meter gewachsen. Doch heute war es ihnen schwer gefallen. Erschöpft wankten die Arbeiter vom Bauwerk herunter, das sich im Abendlicht sonnte wie ein schlafendes Raubtier. Unten an der Rampe stand Ormon. Berngar zuckte zusammen, als er ihn sah. »Der ist wegen mir hier«, flüsterte er furchtsam. »Ich habe zu viel geredet.« 17 »Abwarten«, versuchte ihn Bolgan zu beruhigen. Doch auch ihm wurde mulmig. Der Gifalk musterte teilnahmslos die Vorüberziehenden. Schlank, schwarz und reglos wie eine Statue stand er da. Auch Bolgan und Berngar streifte er mit kurzem Blick. Der ehemalige Hauptmann begann zu zittern. »Ich hätte das nicht sagen sollen«, flüsterte er, das Gesicht wächsern vor Angst. »Vergiss, was ich erzählt habe. Vergiss es einfach.« »Natürlich«, versprach Bolgan. Wusste Ormon wirklich, was Berngar ihm anvertraut hatte? Bei einem Gifalken war alles möglich. Ormon blickte nach Sklava Märtolon hinauf. Als habe er von dort einen unhörbaren Befehl erhalten, nickte er unmerklich und folgte ihnen zur Siedlung. Berngar hastete in die Hütte und setzte sich schwer atmend auf seine Pritsche. »Ich habe Angst«, sagte er. »Ormon wird Rache nehmen.« »Keine Sorge«, entgegnete Bolgan nicht sehr überzeugt. Alsfar trat ein. »Heute gibt es kaum etwas zu essen. Beeilt euch, sonst bekommt ihr nichts mehr.« »Ich habe keinen Hunger«, flüsterte Berngar. Bleich und mit angezogenen Knien hockte er da, ein Bild des
Elends. Bolgan wusste nicht, was er tun sollte. Er ließ den Hauptmann allein und folgte Alsfar. »Er hat Angst«, sagte er. »Ormon ist ihm gefolgt.« »Der?«, fragte Alsfar verwundert. »Ich habe ihn gar nicht gesehen.« »Eben war er noch hier.« Bolgan blickte sich suchend um, doch der Gifalk war verschwunden. »Hoffen wir das Beste«, sagte Alsfar. An diesem Abend behandelte er Berngar freundlicher. 18 Doch es war zu spät. Am nächsten Morgen, als sie wieder von einem Fanfarenstoß geweckt wurden und aufstanden, sagte Alsfar: »Seht mal - Berngar ...« »Was ist mit ihm?« Bolgan trat an sein Bett und schluckte. Der Hauptmann war tot. Bleich und mit wächsernen Wangen lag er da; die Augen starrten gebrochen zur Decke. Sein Gesicht war verzerrt vor Angst, als habe er die spitzfingerige Hand, die ihm das Leben nahm, noch gesehen. Alsfar untersuchte den Leichnam. »Er hat keine Wunde. Ich frage mich, woran er gestorben ist.« »Angst«, brummte Nauru. »Ormon«, sagte Bolgan. »Worüber habt ihr gestern gesprochen?«, fragte Alsfar. »Ihr habt euch lange unterhalten. Dann ist Fardon gekommen und hat es euch verboten. Ab da war Berngar nicht mehr der Alte.« »Da seht ihr, wohin es führt, wenn man zu viel redet.« »Eine weise Antwort«, brummte Alsfar. »Sie steigert unsere Lebenserwartung.« Traurig starrte Bolgan auf den toten Hauptmann. Ein angenehmer Mensch war Berngar nicht gewesen - aber bei weitem nicht das dunkelste Rad der gnadenlosen Maschinerie des Schwarzen Prinzen, von der er am Ende selbst zermahlen worden war. »Lassen wir ihn hier«, sagte er und strich Berngar über das Gesicht, um ihm die Augen zu schließen. »Heute Abend wollen wir ihn begraben.« Doch als sie von der Sklava zurückkamen, war sein Bett leer, sogar eine neue Decke lag dort, sauber gefaltet. Niemand wusste, wer den Leichnam weggebracht hatte, auch die Frauen nicht. Bolgan, der die Zusammenhänge ahnte, spürte seinen Hass auf Ormon brodeln und Blasen schlagen wie kochender Leim. 19 >Trotzdem hast du nicht verhindern können, dass ich das Geheimnis des Schwarzen Prinzen erfahren habeEr ist wegOder hat er sich verwandelt ?< Etwas an Rafis Gang kam ihm seltsam vor. Sah er jetzt schon Gespenster? Im Weiler angekommen, blieb Bolgan hinter der Tür stehen, um Rafi zu beobachten. Ein Kind rannte auf den Alten zu: Raulin, sein Enkel, ein Spielkamerad des kleinen Murk. Rafi erwiderte die Umarmung. Dann nahm er Raulin wortlos mit sich. >Ich habe mich wohl getäuschtWas geht hier vor?Er ist ein Wandlers dachte er erschrocken. >Er hat den Jungen glauben machen, er sei sein Großvater.< Alsfar kam und reichte Bolgan einen Napf Suppe. »Ich habe es gesehen«, sagte er. In seinen Augen stand nackte Wut. »Auch Nauru weiß Bescheid. Im Augenblick ist er bei den Frauen, um Murk zu holen. Ihn kriegt Ormon nicht, und wenn es uns alle das Leben kostet.« Fardon sah verzweifelt nach Sklava Märtolon hinauf. »Er rächt sich«, flüsterte er. »Macht hat viele Gesichter, hat er gesagt; aber auf diese Art...« Er wandte sich ab. Tränen standen ihm in den Augen. »Es ist meine Schuld. Ich habe ihn herausgefordert.« Von nun an sah man jeden Abend ein Kind die Treppen nach Sklava Märtolon hochsteigen. Die Frauen konnten nicht verhindern, dass immer wieder plötzlich eines verschwand und den Weg hinauf nahm. »Es ist meine Schuld«, sagte der verzweifelte Fardon stets aufs Neue. »Ich hätte ihn nicht reizen sollen.« »Vielleicht hat es gar nichts mit dir zu tun«, versuchte ihn Bolgan dann zu beruhigen. »Er braucht ihre Träume und hätte sie sowieso geholt.« Das Schlimmste war, dass sie ohnmächtig zusehen mussten. Meist dauerte es über eine halbe Stunde, bis die Kleinen die Treppe emporgestiegen und ihren Blicken entschwunden waren. Dann hielt das ganze Dorf Wache, um die Kinder, wenn sie endlich im Dunkeln zurückkamen, in Empfang zu nehmen. Meist waren die Kleinen
dann völlig teilnahmslos, als hätte Ormon ihnen mit den Träumen auch den Verstand geraubt. Sie schliefen nicht mehr, sondern starrten mit gebrochenen Augen an die Decke. Wenn die Erschöpfung sie dann doch einnicken ließ, wachten sie bald schreiend wieder auf. Die Alpträume, die ihnen der Gifalk im Tausch für ihre Träume überließ, schienen sie zu überwältigen. In kürzester Zeit verfielen sie und sa24 hen aus, als würden sie durchsichtig. Viele starben. Hatte ein Kind das Glück, die ersten Tage durchzustehen meist waren es die ganz Kleinen -, bestand Hoffnung. Doch ein großer Teil überlebte die Behandlung des Gifalken nicht. Fardons Feststellung, der Schwarze Prinz sei offenbar in Eile, hatte ins Schwarze getroffen. Nun wurde auch nachts unter Aufsicht an der Sklava gearbeitet. Fackeln vertrieben die Dunkelheit um die Pforte, und Schreie, Befehle und das Klatschen von Peitschen zerrissen die Nacht. Mit immer größerer Härte wurden die Baumaßnahmen vorangetrieben. Der Schwarze Prinz presste das Letzte aus seinen Gefangenen heraus. Keiner wusste, warum. Den Gefährten ging im täglichen Einerlei der Fronarbeit der Gesprächsstoff aus. Stumm saßen sie abends beisammen, und Müdigkeit erstickte ihre Sehnsucht nach Freiheit. Alsfar schimpfte nicht mehr, und Nauru interessierte sich nur noch dafür, seinen Sohn von den Verderben bringenden Stufen fern zu halten, die nach Sklava Märtolon führten. »Ich bringe Ormon um, wenn er Murk etwas antut«, sagte er einmal. »Ich steige auf diese verdammte Felsenburg und erwürge ihn.« »Sei still«, sagte Bolgan. »Du weißt, er kann uns hören.« »Dann soll er mich doch hören«, knurrte Nauru und knetete die gewaltigen Fäuste. Die Tür ging auf, und Fardon kam herein. In den letzten Tagen war er um Jahre gealtert. Sein Gesicht war grau und eingefallen, und seine intelligenten Augen hatten alle Energie verloren. Er ertrug die Blicke der anderen nicht mehr. Von dem Mann, der Ormon kühn die Stirn geboten hatte, war nichts übrig geblieben. 25 »Es ist etwas passiert«, sagte er leise. Bolgan sah auf. »Heute ist ein Trupp Wölfe aus den Nördlichen Königreichen angekommen«, fuhr Fardon fort. »Sie waren zerlumpt und völlig erschöpft. Es geht das Gerücht, der Schwarze Prinz habe seine erste Niederlage eingesteckt.« »Zu schön, um wahr zu sein«, knurrte Nauru. »Der und eine Niederlage einstecken?« »Wer weiß«, erwiderte Bolgan. »Vielleicht beeilt er sich deswegen so, die Sklava fertig zu stellen«, schaltete sich Alsfar ein. »Er fürchtet, man könnte sie zerstören, ehe sie vollendet ist.« »Und es gibt noch mehr Neuigkeiten«, berichtete Fardon weiter. »Es heißt, die Erften, von denen ihr erzählt habt, haben ihre Macht zurückgewonnen und sind auf dem Weg hierher.« Bolgan ahnte, warum der alte Mann so fest an diese Gerüchte glaubte: Sie gaben ihm Hoffnung. Nicht darauf, dass der Schwarze Prinz besiegt würde, denn so weit dachte der Vorarbeiter nicht mehr. Sondern darauf, dass Ormon auf andere Gedanken kam. Hatte Bolgan sechzig, achtzig oder hundert Tage an der Sklava gearbeitet? Er wusste es nicht. Einzig an der Höhe des Bauwerks war zu ermessen, wie viel Zeit vergangen war. Jetzt stand er auf der Plattform und starrte über die Ebene des Verbotenen Landes. Es war Abend, und die Staubschleier über der roten Wüste hatten sich gelegt. Was verbarg sich hinter dem schwarzen Punkt am Horizont? Kein Gefangener durfte die Schwelle überschreiten, und die riesigen Eisentore waren geschlossen. Fardons Trupp von dreißig Mann war mittlerweile auf 26 sechs zusammengeschmolzen. Den Rest hatte man abgezogen, um beim Bau von Sklava Firr zu helfen, der neuen Hauptstadt. Immer mehr Gefangene wurden aus aller Herren Länder gebracht. Wie eine bösartige Krankheit fraß sich die Macht des Schwarzen Prinzen immer weiter in die Lande hinein. Wenigstens waren Alsfar, Nauru und Bolgan bis jetzt zusammengeblieben. >Sklava Mhor wird bald vollendet seinUnd dann?< Fardons Gerücht kam ihm wieder in den Sinn. Doch nichts deutete darauf hin, dass die Wölfe wirklich einen ebenbürtigen Gegner gefunden hatten. Und er? Er wollte den Großerft stehlen! Bolgan hätte laut auflachen können. Noch hatte er seinen Gegner nicht einmal von fern gesehen. »Träumst du?«, riss ihn eine Stimme aus den Gedanken. Alsfar stand neben ihm. »Sieh zu, dass du Arbeit in die Hand bekommst. Da oben warten sie bloß darauf, uns wegschicken zu können. In Sklava Firr soll es härter sein.« »Du redest schon wie einer, der sein Leben lang Steine geschleppt hat«, sagte Bolgan. »Ich glaube sowieso nicht, dass wir um Sklava Firr herumkommen.« An diesem Abend geschah es. Als sie vor der Unterkunft saßen und ihr karges Abendessen zu sich nahmen, hob Nauru plötzlich den Kopf und fragte: »Wo ist Murk? Er müsste längst hier sein.« Die drei Gefährten sahen sich erschrocken an. Während der letzten Viertelstunde hatten sie nicht an den Jungen
gedacht, und nun war er nirgendwo zu sehen. »Nein«, flüsterte Nauru und sprang auf. Bolgan und Alsfar tauschten einen Blick, dann rannten sie hinter ihm her. 27 Sie fanden den Hünen wie angewurzelt hinterm Haus stehen und auf die Felstreppe starren. Nauru hatte Murk streng verboten, sich aus der Siedlung zu entfernen, doch Ormons Wille war stärker. »Murk!«, rief er verzweifelt. »Komm zurück!« Er wollte ihm nach und seinen Sohn retten, war aber außerstande, sich zu rühren. Auch Alsfar und Bolgan konnten plötzlich keinen Schritt mehr tun. »Murk!«, brüllte Nauru aufs Neue, doch der Kleine drehte sich nicht einmal um. Sein Vater schrie und fuchtelte mit den Armen. Schließlich ging sein Brüllen in Schluchzen über. »Das darf er nicht«, flüsterte er. »Das darf er nicht.« Mittlerweile hatte der Junge die Stufen von Sklava Märtolon fast erreicht. »Hilf ihm«, sagte Nauru zu Fardon. »Du kannst es.« »Wie denn? Niemand kann ...« »Doch.« Nauru spie seine Worte förmlich aus. »Du weißt, was Ormon von dir erwartet. Und du wirst es tun. Sonst töte ich dich. Macht hat viele Gesichter, hat der Gifalk zu dir gesagt«, zischte er. »Und dann hat er deine Seele getötet, schon beim ersten Kind, das nach Sklava Märtolon hochgestiegen ist. Ich habe nichts gesagt, obwohl ich es wusste. Aber nun ist es mein Sohn.« Bolgan würde Fardons Blick nie vergessen - seine verweinten Augen, aus denen Angst und Reue das letzte bisschen Leben presste. Dann flüsterte der Vorarbeiter: »Gut.« Er machte sich mit gesenktem Kopf auf den Weg, um die Felsenburg nicht sehen zu müssen, in deren steinernen Löchern ein bösartiges gelbes Feuer glühte. Immer noch konnten sich die Gefährten nicht rühren, doch der kleine Murk war stehen geblieben. Wie aus einem Traum erwacht, wandte er den Kopf. Dann rannte er zum Lager zurück, so schnell es 28 seine kurzen Beine erlaubten. Er eilte an Fardon vorbei, ohne ihn zu beachten. Der erklomm nun die Stufen von Sklava Märtolon, und bald verschlang ihn die Dunkelheit. Niemand sollte je erfahren, wie der Gifalk sich an ihm rächte. Bolgan schluckte. Ein Mensch war verschont geblieben, ein anderer dafür in den Tod gegangen. »Zu Mördern sind wir geworden«, raunte er. »Fluch dem Gifalken, der uns dazu gemacht hat.« Aber Nauru hörte ihn nicht. Murk kam angerannt, mit rotem Gesicht und außer Atem, und sein Vater riss ihn hoch. »Hab ich dich wieder«, flüsterte er. Bolgan konnte Nauru keinen Vorwurf machen, denn schließlich hatte der um das Leben seines Sohnes gekämpft. Trotzdem konnte er nicht vergessen, wie Fardon wie ein Aussätziger die Treppe hinauf geschlichen war - nur weil er sich einmal gewehrt hatte. Bolgans Hass gegen Ormon steigerte sich ins Unendliche - weniger, weil er grausam und heimtückisch war, eher, weil er alle zu Schuldigen gemacht hatte. Eine furchtbare Welt hatte der Gifalk um sie errichtet - ein Netz aus Lüge, Hass und Misstrauen, in dem sie sich immer tiefer verstrickten. Am dritten Tag nach Fardons Weggehen gab es kein Abendessen. »Blinja ist tot«, meldete Alsfar. Die alte Frau hatte sich am Dachbalken einer Hütte erhängt, aus Gram über den Verlust ihres Mannes. Nauru blickte zu Boden und legte die Hand auf den Kopf seines Sohnes. »Wir tragen den Tod in uns.« »Schön gesagt«, ertönte eine schnarrende Stimme hinter ihnen. Bolgan fuhr herum. 29 Es war Ormon. Sein Gesicht war nicht mehr so schmal und asketisch wie einst. Anscheinend hatte er da oben in Sklava Märtolon ein gutes, vielleicht zu gutes Leben. Nun war er die verhängnisvollen Stufen heruntergestiegen, um sich am Anblick der toten Frau zu weiden. »Ihr werdet immer weniger. Gut so.« Ormon zog ein Messer aus der Tasche. Ein Ruck, und die Leiche fiel mit dumpfem Schlag zu Boden. »Ein elendes Leben«, sagte er gleichgültig. »Nun hat sie es hinter sich.« Da schwollen Bolgan die Zornesadern. »Warum bist du gekommen?«, fragte er. »Wolltest du wissen, wie eine Frau aussieht, die sich aus Kummer über deine Bosheit das Leben genommen hat? Bist du jetzt zufrieden?« »Sei ruhig, Bolgan«, sagte Alsfar erschrocken. »Nein«, fauchte der. »Es reicht!« Er trat hart an den Gifalken heran. »Ohne unsere Angst bist du machtlos. Vergreifst du dich deshalb so gern an Kindern? Ist ihre Angst am größten?« »Du bist ein Heuchler«, sagte Ormon mit seltsamer Ruhe, die ihn gefährlicher wirken ließ als jede Emotion es getan hätte. Er war im Begriff gewesen, sein Messer in die Tasche zu stecken. Nun aber ließ er es erneut aufschnappen. »Ich habe die Frau nicht getötet - ihr seid es gewesen. Oder habt ihr Fardon nicht gedrängt, an die Stelle des Jungen zu treten?« »Das stimmt nicht!«, rief Nauru wütend. »Du hättest mit den Kindern weitergemacht, bis ...« »Das kannst du bestenfalls vermuten«, schnitt Ormon ihm das Wort ab. »Die Mörder seid ihr! Einen alten Mann habt ihr geopfert - für ein paar Kinderträume.« »Du machst uns erst zu Mördern!«, brüllte Bolgan, warf sich auf den Gifalken, erwischte ihn am Hals und würgte ihn. Ormon taumelte rückwärts. »Du Schuft!«, schrie Bolgan und 30
hieb blindwütig auf ihn ein. Da sammelte der Gifalk seine Kräfte und warf Bolgan zurück, der stöhnend in die Knie ging. »Das hättest du nicht tun sollen«, erklang die Stimme des Gifalken über ihm. »Nun wirst du sterben.« Bolgan sah gleißenden Stahl über sich aufblitzen, warf sich nach hinten und ließ den Stoß des Gifalken ins Leere gehen. Benommen lag er am Boden - Ormons nächster wutentbrannter Hieb würde sein Ziel erreichen. »Ich habe dir doch verboten, ihn anzufassen.« Wie eine Messerklinge drangen diese Worte in Bolgans Gehirn. Er schlug die Augen auf. Eine schwarze Gestalt stand hinter Ormon und hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt. Der Gifalk zuckte erschrocken zurück. »Fathär«, schnarrte er. »Ihr habt doch gesehen, wie er ...« »Du hast dich meinem Befehl widersetzt.« Die Miene des Gifalken blieb unbewegt. »Er ist ein Aufrührer, Fathär. Und er plant etwas gegen Euch; sonst hätte er nicht mehr die Kraft, sich so zu verhalten. Ihr solltet Euren Befehl überdenken und ihn töten lassen durch mich.« »Ich will diesen jungen Mann lebend haben«, erwiderte der Schwarze Prinz. Seine Stimme ließ Bolgan erschauern. Ormon steckte sein Messer wieder ein. »Wie Ihr wollt, Fathär.« Er streifte Bolgan mit einem giftgelben Blick. »Du wirst noch um Vergebung schreien das verspreche ich dir.« »Steh auf«, befahl der Schwarze Prinz, und Bolgan gehorchte. Er wusste kaum, wie ihm geschah. Wochen und Monate hatte er sich vorgestellt, dem Schwarzen Prinzen gegenüberzustehen. Nun war es so weit - und er starb beinahe vor Angst. Der unheimliche Anführer der Wölfe mochte gut einen halben Kopf größer sein als Bolgan und überragte selbst Nauru. 31 Er war ganz in eine schwarze Rüstung gekleidet und hatte das Gesicht unter einem schwarzen Tuch verborgen. An die Augen erinnerte nur ein kaltes, kobraähnliches Glitzern hinter dem Tuchspalt. An seiner behandschuhten Rechten steckte ein Ring mit einem Edelstein. >Der GroßerftBerngar hatte also Recht.< Gebannt starrte er auf das Ziel seiner Reise. Der Schwarze Prinz war nicht allein gekommen, sondern von seiner Leibwache umringt. Ein alter Bekannter war dabei: Ogrok, der brutale Wolfsführer. Warum war der Schwarze Prinz hier? Bloß, um ihn vor dem Gifalken zu schützen? »Ihr kennt mich?« »Du bist Bolgan aus dem Hochhügelland«, erwiderte der Schwarze Prinz. »Ein Begleiter des Alten Niemand, der mein Todfeind war.« »Bis zu seinem letzten Atemzug«, murmelte Bolgan. »Und auch der da sollte sterben, Fathär.« Ormon trat noch einmal vor. »Ich spüre Gefahr von ihm ausgehen. Er war einer der drei Freunde des Alten und weiß zu viel.« »Wer gefährlich ist, entscheide ich«, erwiderte der Schwarze Prinz. »Ich brauche diesen Mann noch.« Ormon biss sich auf die Lippe. Bolgan wusste nicht, wovor er mehr Angst haben sollte - vor dem giftigen Hass des Gifalken oder vor der Undurchdringlichkeit des Schwarzen Prinzen. »Ich wüsste nicht, was der Hochhügelländer uns nutzen könnte«, sagte Ormon. »Aber du weißt, dass König Gebork mit einem Heer über die Nordstraße heranzieht, um mich zur Schlacht zu stellen«, erwiderte der Schwarze Prinz. »Ein Freund des Alten Niemand ist dabei - Hatib.« »Hatib?«, fragte Ormon irritiert. Er begriff offenbar nicht, 32 warum der Schwarze Prinz solche Dinge vor den Gefangenen zur Sprache brachte. »Wir können ihn nicht töten, denn er trägt den Blauen Erft. Nur der, der mir einst diesen Ring gab« - er zeigte auf seine Rechte -, »ist in der Lage, ihn zu vernichten.« >Hatib hat es also geschafft^ dachte Bolgan. >Er muss Morgreal besiegt haben.< »In zehn Tagen ziehen wir aus, König Gebork das Fürchten zu lehren - an der Spitze eines Heeres, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Den Hochhügelländer nehmen wir mit und das Mädchen auch - als Pfand für den Blauen Erft.« Bolgans Gedanken überschlugen sich. Wie mochte es Hatib gelungen sein, den Edelstein in die Hand zu bekommen? Er erinnerte sich dunkel an die Höhle der glühenden Masken, von der die Felsenstimme gesprochen hatte. Und wer war dieses Mädchen? Bolgan ahnte es, wollte es aber nicht wahrhaben. »Ich habe dich im letzten Moment vor einer Dummheit bewahrt«, sagte der Schwarze Prinz zu Ormon. »Hättest du ihn getötet, wäre meine Rache schrecklich gewesen.« Der Gifalk trat einen Schritt zurück und verneigte sich. In seinen toten Augen stand Trotz. »Gib mir deine Hand, Hochhügelländer«, sagte der Schwarze Prinz. Bolgan zuckte zusammen. »Nein«, stöhnte er. »Bitte nicht.« Doch der Schwarze Prinz streckte seine Rechte aus, und Bolgan schrie auf: Wieder fühlte er Kälte in sich hineinströmen, wie bei der letzten Begegnung mit Aurian. Doch der Schmerz währte nur kurz, dann sagte der
Schwarze Prinz: »Nun bist du auf Gedeih und Verderb an mich gebunden. Du wirst mir niemals entkommen.« Bolgan begriff nicht. Taubheit breitete sich in seiner Schulter aus. 33 Der Schwarze Prinz wandte sich an seine Soldaten. »Bringt ihn zu dem Mädchen.« Ogrok trat vor und fesselte seine Hände. »Mitkommen«, knurrte er. Bolgan wandte sich um. Hinter ihm standen Alsfar und Nauru. Der kleine Murk klammerte sich ans Knie seines Vaters, sah zu Bolgan auf und begann zu heulen. Er ahnte, dass sie sich nicht wiedersehen würden. »Los jetzt!«, rief Ogrok und zerrte Bolgan mit sich. »Auf Wiedersehen«, flüsterte Bolgan den Gefährten zu. Wortlos stieg der Wolfsführer mit dem Gefangenen die Treppen von Sklava Märtolon hinauf. Auf halber Höhe angekommen, schob er ihn in einen Gang, an dessen Ende ein Verlies lag, und wandte sich an einen Wächter. »Sperr ihn ein und bewach ihn, bis ich ihn holen komme.« Der Wächter öffnete eine Zellentür und stieß Bolgan hinein. Der taumelte und stürzte zu Boden. Er wollte sich mit seinem verletzten Arm aufrichten, aber das gelang ihm nicht. »Bolgan?«, fragte eine vertraute Stimme. »Bist du das?« »Reika!«, stöhnte er. »Was machst du hier?«, fragte Reika verblüfft. Sie schien dem Frieden nicht zu trauen. »Ich hab gedacht, du bist tot.« Vorsichtig trat sie aus dem Schatten. Ein letzter Abendsonnenstrahl fiel durch eine Gesteinsritze auf ihr eben noch ganz bleiches Gesicht. »Du bist ja gefesselt.« Sie kniete nieder, um ihm die Lederriemen von den Handgelenken zu lösen. Ihre Arme waren erschreckend schmal geworden. »Hast du in letzter Zeit gehungert?«, fragte Bolgan, weil ihm nichts anderes einfiel. 34 »Wie wir alle.« Sie blickte auf und sah ihn traurig an. »Du etwa nicht? Dann hast du Glück gehabt.« Sie brachte den Knoten mit den Fingern nicht auf und nahm die Zähne zu Hilfe. »Wie lange bist du schon hier?«, fragte er. »Keine Ahnung.« Endlich hatte Reika den Knoten gelockert. »Zwei Monate? Drei? Am Anfang haben sie mich besser behandelt. Ich konnte mich im Felsenhorst frei bewegen. Aber dann ist ein Aufseher zu freundlich geworden.« Sie wickelte den Lederriemen ab. »Da habe ich ihn erst vors Schienbein getreten und dann ein wenig höher dorthin, wo es Männern richtig wehtut. Seitdem bin ich hier.« »Tapferes Mädchen. Wahrscheinlich ist es sogar meine Schuld, dass sie dich überhaupt nach Sklava Märtolon gebracht haben.« Bolgan berichtete von Aurians Verhör. »Was hat der Schwarze Prinz wohl mit uns vor?«, fragte Reika. »Er braucht uns als Geiseln, um Hatib zu erpressen. Wie es scheint, ist Morgreal, unser hoch geschätzter Heeresvorsteher, im Norden besiegt und getötet worden.« »Das geschieht ihm recht, dem falschen Hund«, sagte Reika mitleidlos. Doch plötzlich traten ihr Tränen in die Augen. »Gibt es keine Neuigkeiten von Fernd?«, fragte sie leise. »Ich weiß nicht, wo er ist.« Bolgan wechselte rasch das Thema: »Hast du den Schwarzen Prinzen gesehen, als du im Felsenhorst gefangen warst?« »Nur einmal. Sklava Märtolon ist nämlich riesig. Da sind Hunderte von Gängen, und sie führen so tief in den Berg, dass man unter die Wüste kommt; da durfte ich aber nie hin. Der Schwarze Prinz tut dort seltsame Dinge. Man sagt, er spricht mit den Erdgeistern.« Sie schauderte. »Kennst du auch Ormon, den Gifalken?« 35 »Der ist ein Schuft.« Reika begann wieder zu weinen. »Es macht ihm Spaß, einem Angst einzujagen. >Meine drei Brüder sind unterwegs, um deinen Schatz zu fangenIm Hochhügelland hieß es, man könne auf den Mondstrahlen wandernSie ist wie ein FluchDas war doch hinter der Pforte! Sollte etwa ... ?< Die meterhohen Türflügel bewegten sich. Mit hässlichem Quietschen schwangen sie langsam auf und gaben den Blick ins Verbotene Land frei - und auf das Heer des Schwarzen Prinzen. Reika war entsetzt. »Das sind ja ...«, begann sie zu murmeln, doch der Satz blieb ihr im Halse stecken. Zehntausende, vielleicht sogar Hunderttausend strömten durch das Tor, angeführt vom Schwarzen Prinzen; unter Dröhnen und Waffengeklirr ergossen sie sich auf den Platz. »Als hätte er seine Soldaten über Nacht verdreifacht«, sagte Reika tief erschrocken. »Das ist der Fluch von Sklava Mhor«, flüsterte Bolgan. »Spürst du ihn nicht? Die Pforte gibt ihnen den Segen, während sie hindurchgehen. Und dieser Segen heißt Tod.« Verzweifelt betrachtete er die endlos dahinziehenden Wölfe. Ihre stählernen Rüstungen blitzten und funkelten in der Sonne; der Boden bebte unter ihrem gleichmäßigen Tritt.
Der Schwarze Prinz ritt voran, hinter ihm seine Befehlshaber, ein gutes Dutzend an der Zahl - allesamt mit roten Helmbüschen geschmückt. Niemals hätte Bolgan es für möglich gehalten, dass sich eine solche Heeresmacht in Sklava Märtolon verbarg. Wo hatten sie gewohnt? Wie hatte man sie ernährt? Er sollte nie erfahren, wie der Schwarze Prinz sein Heer vergrößert hatte - und welchen Preis er dafür an die Lande zahlte. Ogrok deutete Bolgans Miene richtig. »Das habt ihr nicht erwartet, was?«, höhnte er. »König Gebork hätte sich besser im letzten Winkel seines Königreichs verkrochen, statt sich mit uns anzulegen.« 40 Bolgan schwieg, doch Reika konnte sich eine Antwort nicht verkneifen: »Das hat schon mal jemand gesagt«, bemerkte sie mit Unschuldsmiene. »Ich glaube, sein Name war Morgreal, und er war Heeresvorsteher.« »Werd nicht frech«, raunzte der Wolfsführer. »Was weißt du schon von Morgreal.« »Dass er tot ist«, entgegnete Reika mutig. Da erblickte der Schwarze Prinz die beiden Geiseln, bog ab und lenkte seinen Rappen zu ihnen. »Lass die beiden nicht entwischen, Ogrok«, sagte er. »Du bist mir mit deinem Leben für sie verantwortlich.« Ogrok nahm Haltung an. »Die entkommen mir nicht.« »Und du hüte dich!« Der Schwarze Prinz deutete auf Bolgan, und sein Ring glänzte in der Sonne. »In deinen Augen steht Auflehnung. Versuche nicht, mich herauszufordern, denn du bist mir mit Haut und Haar verfallen.« Er lenkte sein Pferd wieder an die Spitze des Zuges. »Wir reihen uns beim Tross ein«, sagte Ogrok. »Und wehe, ihr tanzt aus der Reihe!« »Warum meint der Schwarze Prinz, du seist ihm verfallen?«, fragte Reika leise. »Das weiß ich nicht genau«, antwortete Bolgan. »Nach der Auseinandersetzung mit Ormon hat er mich berührt. Seitdem kann ich meinen Arm nicht richtig bewegen.« Reika runzelte die Stirn. »Vielleicht ist das eine Falle.« »Alles ist eine Falle«, brummte Bolgan. »Ein böser Traum; ein Trugbild. Überleg mal, was gerade geschehen ist! Warum hat der Schwarze Prinz uns gerade hier postiert?« »Damit wir sehen, wie sein Heer auszieht«, sagte Reika. »Nur deshalb?« »Und damit wir etwas Falsches tun - aus Angst«, setzte sie nach kurzem Nachdenken hinzu. 41 »Maul halten«, knurrte Ogrok. Als sie sich beim Tross einreihten, schaute sich Bolgan ein letztes Mal um. Kein Soldat kam mehr durch die Pforte von Sklava Mhor, als hätte das Verbotene Land alles Böse ausgespien. Die eisernen Türflügel würden offen bleiben, bis die Streitmacht siegreich zurückkehrte. Dahinter sah Bolgan die tanzenden Staubfahnen in der Wüste; er suchte den kleinen schwarzen Punkt am Horizont. Er hätte zu gern gewusst, was das war. Das riesige Wolfsheer kam rasch voran. Schon nach wenigen Tagen gelangten sie zum Ayakil-Felsen; dann begann der lange und anstrengende Marsch durch die endlosen Weiten der antuliolischen Ebenen, bis sie schließlich in der Ferne den Ant-Ermin erblickten. Ein Trupp von zwölf Mann bewachte die Geiseln, denen man die Hände gebunden hatte. Doch wohin hätten sie fliehen sollen? Bolgan, der in den Bergen aufgewachsen war, schmerzte die öde Ebene in den Augen; nirgends ein Baum oder Strauch, wo man sich verstecken konnte. Doch seit Sklava Mhor am Horizont verschwunden war, waren seine Lebensgeister wieder erwacht, und er sehnte den Moment herbei, seine Ketten zu sprengen. Die Gefangenschaft neigte sich dem Ende zu - das spürte er. Irgendwann kommt die Gelegenheit dachte er immer wieder, und sein Blick schraubte sich am Ring des Schwarzen Prinzen fest. Dann suchte er den Horizont danach ab, ob ein Gewitter aufzog und er endlich prüfen konnte, ob Berngar recht gehabt hatte. Unter den marschierenden Wölfen waren viele finstere Gestalten in furchterregenden Rüstungen, deren Helme an den Schädel eines Ebers erinnerten. Bolgan begriff, wie sehr die 42 Macht des Schwarzen Prinzen in den letzten Monaten gewachsen sein musste. Tatsächlich erstreckte sich sein Herrschaftsgebiet vom Verbotenen Land bis an die große Ostmauer und an die Grenzen der Nördlichen Königreiche. Bolgan wurde bange, wenn er an die ungeheure Streitmacht dachte, die sich wie eine Schlammflut nach Norden wälzte. Würde der rätselhafte König Gebork ihr Einhalt gebieten können? Letzte Nacht hatte er an seinem Schlafplatz eine Tonscherbe gefunden und unbemerkt in die Hosentasche bugsiert. Reika hatte ihn gespannt angeschaut, doch er hatte nichts gesagt. Nach drei Tagen Marsch durch den Ant-Ermin überquerten sie den Isillan. In den verkarsteten Gesteinsspalten des Ermingebirges blühten Gräser und Blumen. Weiße, frische Wolkenfetzen zogen über die Hügel, getrieben von einem frühlingshaften Ostwind; Bolgan tastete immer wieder verstohlen nach der Scherbe in seiner Tasche. Er hoffte insgeheim, ein Zufall werde ihm zu Hilfe kommen, vielleicht sogar die Lande selbst - denn dieses Heer lag wie ein Fluch auf ihnen. Selbst die im Wind schaukelnden Blumen verblassten, wenn das Heer klirrend vorüberzog. Aber noch war es nicht so weit. Sechs Tage später kehrte die Südstraße an den Falun zurück, und sie betraten die einst liebliche Tallandschaft von Araukarien - jetzt verwüstet und unbewohnt. Dann erreichten sie den
Hexentanzplatz. Der Frühling hatte die Spuren, die hunderttausend Menschen hier hinterlassen hatten, bisher nicht heilen können, und der Talboden sah immer noch wie ein notdürftig gestopfter Flickenteppich aus. Verwittertes Bauholz lag herum; ein Baum, der gefällt, aber liegen gelassen worden war, streckte die kahlen Äste zum Himmel. 43 Der Schwarze Prinz ließ die Wölfe im Kessel antreten. Sechzigtausend standen im Halbrund und schauten ihn an. »Ihr wisst, weshalb wir hier sind«, donnerte seine Stimme über den Platz. »Ein Feind aus dem Norden will die Fertigstellung von Sklava Mhor verhindern. Wir sind ihm entgegen gezogen, um ihn in seine Berge zurückzutreiben. Hier wollen wir ihn erwarten und besiegen!« »Ich frage mich, warum er ausgerechnet hier sein Lager aufschlägt«, murmelte Bolgan. »Wenn Gebork ihn einkreist, sitzt er in der Falle.« »Er hat genug Späher ausgeschickt, die ihn warnen«, sagte Reika. Bolgan schaute zum Himmel. In den letzten Tagen war es warm geworden, fast schwül. »Was suchst du?« »Eine Gewitterwolke«, antwortete Bolgan düster. Die Wagen wurden entladen, die Mannschaftszelte aufgestellt, und binnen eines Tages war ein riesiges Heerlager aufgeschlagen. Feuer brannten, und Hammerschläge hallten von den Felswänden zurück - die Wölfe schärften ihre Klingen für die große Schlacht. Wider Willen musste Bolgan die unheimliche Präzision bewundern, mit der das Unternehmen des Schwarzen Prinzen vonstatten ging. Die Unterkünfte der einfachen Soldaten, für jeweils etwa vierzig Mann gedacht, befanden sich am Rand des Zeltlagers; in der Mitte des Kessels hatte man einen Pfahl mit Widderkopf in den Boden gerammt, um den die Zelte der Befehlshaber im Kreis angeordnet waren - auch das des Schwarzen Prinzen. Ogrok näherte sich. Er musste sich Wein besorgt haben, denn sein Gesicht war leicht gerötet. In diesem Zustand war mit dem Wolfsführer ganz gut auszukommen. 44 »Na, schon ein passendes Quartier gefunden?«, höhnte er. »Es ist schwer, mit gebundenen Händen ein Zelt aufzustellen«, antwortete Bolgan. »Darum habt ihr ja mich.« Ogrok überprüfte die Fesseln. »Euch wird eine große Ehre zuteil. Ihr werdet neben dem Zelt unseres Herrn schlafen - auf seine persönliche Anordnung.« Er grinste. »Er hat euch einfach gern. Wahrscheinlich werdet ihr eine ruhige Nacht haben - es gibt viel zu planen, also wird euch kein Befehlshaber mit seinem Schnarchen stören!« Er lachte schallend, trat an ein kleines Zelt und hielt ihnen mit spöttischer Dienstfertigkeit die Plane auf. »Husch, husch, ins Körbchen. Und dass ihr mir keine Dummheiten macht!« »Sieh mal«, sagte Reika zu Bolgan und blieb stehen. »Dort drüben ist er ja wirklich. Der Schwarze Prinz.« Bolgan folgte ihrem Blick. Das Zelt des unheimlichen Anführers war geöffnet, um das schwindende Tageslicht einzulassen, und Bolgan sah ihn über eine Karte gebeugt stehen, ohne von den beiden Gefangenen Notiz zu nehmen. Da grollte es von fern. Im Osten hatten sich Gewitterwolken gebildet. »Schneller da drüben!«, schrie Ogrok einigen Wölfen zu, die ein Offizierszelt aufstellten, und entfernte sich, um mit seinen Soldaten zu schimpfen. So gewann Bolgan Zeit. Der Schwarze Prinz hatte beim ersten Donnergrollen den Kopf gehoben, trat nach draußen und sah zum Himmel. >Endlich Wahnsinns schoss es Bolgan durch den Kopf. >So viele Zu45 fälle gibt es doch gar nicht.< Hatten etwa die Lande das Gewitter geschickt? Jedenfalls musste er handeln. Er dachte an seine Tonscherbe. Wenn es ihm gelänge, sich zu befreien ... >Ich kann doch nicht einfach ins Zelt gehen und den Ring stehlenIch werde keine hundert Meter weit kommen.< Er warf einen zögernden Blick auf den einzigen Ausgang aus dem Felsenkessel. Bewacht war er nicht. Nachdenklich rieb er seinen schmerzenden Arm. Schon beim Gedanken an sein Vorhaben stieg panische Angst in ihm auf. Da verließ der Schwarze Prinz das Zelt. Bolgans Blick folgte ihm, als er sich aufs Pferd schwang und losritt, dem Talausgang zu. >UnglaublichEr hat den Ring einfach liegen lassen.< »Genug getrödelt!« Ogrok war zurückgekommen. »Ja«, sagte Bolgan mechanisch. Als er ins Zelt geführt wurde, spürte er, dass seine Angst und seine Müdigkeit wie weggeblasen waren - zum ersten Mal seit langem hatte er wieder einen eigenen, freien Entschluss gefasst. »Was ist?«, fragte Reika, als Ogrok gegangen war. »Du bist ja ganz blass.« Bolgan erzählte ihr, was er vorhatte. Das Mädchen schluckte. »Und das soll funktionieren?«
»Wenn es schief geht, sterben wir. Aber das tun wir auch, wenn wir hier bleiben. Der Schwarze Prinz wird uns sowieso töten, sobald wir als Geiseln keinen Wert mehr für ihn haben.« Der Abend verging in nervenzehrendem Warten. Bolgan schreckte immer wieder hoch, weil er meinte, Pferdegetrappel 46 zu hören, doch der Schwarze Prinz kam nicht zurück. Von Zeit zu Zeit grollte es in der Ferne; das Gewitter stand überm Faluntal. »Es zieht vielleicht ab«, meinte Reika. »Nein, es kommt. Es lässt sich nur Zeit.« Als es dunkel geworden war, fingerte Bolgan die Scherbe aus der Hosentasche und begann, den Lederriemen durchzuscheuern. Mehrmals hielt er inne, weil er Schritte zu hören glaubte, doch niemand kümmerte sich um sie. Es war eine mühsame Arbeit, und er wurde immer aufgeregter. Gegen Mitternacht hatte er endlich den ersten Riemen zertrennt. Wenig später war er frei und band Reika los. »Versuchen wir's«, flüsterte er. Ein Blitz zuckte durch die Dunkelheit; dann ertönte ein Donner in der Ferne. »Jetzt«, sagte Bolgan und hob die hintere Zeltwand an. Draußen duftete es frühsommerlich nach Gräsern. Grillen zirpten. Der Mond war noch nicht aufgegangen, und am Osthimmel standen hoch aufragende Gewitterwolken. Bolgan nahm Reika an der Hand und huschte mit ihr zum Zelt des Schwarzen Prinzen. »Warn mich, wenn jemand kommt«, sagte er. Mit klopfendem Herzen hob er den Vorhang und tastete sich ins stockdunkle Zelt. >Kein Wächter? Kann man so viel Glück haben?< Bolgan ahnte die Antwort, weigerte sich jedoch, sie anzuerkennen. Er zuckte zusammen, als er mit der Hand etwas berührte, was sich rasch als Tisch erwies. Vorsichtig tastete er ihn ab und spürte das Pergament der Karte, über die sich der Schwarze Prinz noch vor einigen Stunden gebeugt hatte. Da war es! Fast hätte Bolgan vor Freude geschrien, als er das Kästchen 47 fühlte. Er öffnete es und griff nach dem Ring; gleich breitete sich Kälte in seiner Hand aus, und er hielt inne. Er hatte etwas Warnendes gespürt - einen kalten Luftzug, als sei noch jemand hier. »Reika?«, flüsterte er. Keine Antwort. >Das ist bestimmt nur das Gewitters dachte er, schob den Ring in die Tasche und tastete sich zum Ausgang. Erleichtert hob er die Plane und atmete die kühle Nachtluft ein. »Hast du ihn?«, fragte Reika. Bolgan nickte und zwang seine Unruhe nieder. »Am Eingang zum Hexenkessel habe ich Pferde gesehen. Gehen wir.« Leise huschten sie durchs schlafende Heerlager. Einige Feuer brannten noch, aber die meisten Wachen waren eingeschlafen; die Wölfe sammelten Kraft für die große Auseinandersetzung. Vorsichtig schlichen Bolgan und Reika in die Deckung der Felswand und folgten ihr geduckt zum Talausgang. Das Heer des Schwarzen Prinzen mochte an die tausend Pferde haben; die meisten waren außerhalb des Kessels geblieben. Nur etwa fünfzig standen in einer engen Koppel und fürchteten sich vor dem Wetterleuchten in der Ferne. »Kannst du reiten?«, fragte Bolgan. Reika verneinte. »Dann musst du bei mir aufsitzen. Heute Nacht lernst du es nicht mehr.« Bolgan schlich auf die Koppel und nahm ein Pferd am Zügel. »Ruhig«, flüsterte er sanft. »Ich tu dir nichts.« Er hatte eine glückliche Wahl getroffen - das kräftige Tier würde sie willig tragen, mager und leicht, wie sie geworden waren. >Gleich sind wir endlich wieder freiDas hat uns gegoltenDie Tore des WaldbühlsDer Schwarze Prinz hat ihn berührt ...< Bolgan sprang auf, stieß die Verfolger beiseite und taumelte zum Waldrand. »Gib mir deine Hand!« Einen Moment berührten sie sich. Dieser letzte Augenblick gehörte ihnen. »Geh in den Roten Turm«, flüsterte Bolgan noch. »Dort ist er sicher.« Dann wurde er von Ormon zurückgerissen. »Der Ring«, schnarrte der Gifalk und streckte die Hand aus. »Gib mir den Ring.« »Zu spät«, murmelte Bolgan und brach bewusstlos zusam53 men. Ormon beugte sich über ihn und durchsuchte seine Taschen. »Er hat ihn nicht.« Die anderen Reiter hatten dem Gifalken gerade zur Hand gehen wollen und traten nun betroffen zur Seite. Ormon wandte sich an Reika. »Komm, Mädchen. Im Wald kannst du nicht bleiben. Du gehörst nicht hierher.« »Er muss ihn ihr im letzten Moment gegeben haben«, sagte einer von Ormons Begleitern, doch der brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Erst jetzt bemerkte Reika den Ring. Einen Augenblick war sie so verblüfft, dass sie der Aufforderung beinahe gefolgt wäre. »Die Tore haben Bolgan gerichtet.« Noch immer war das Gesicht des Gifalken eine ausdruckslose Maske. »Wenn er am Leben bleiben soll, musst du uns den Ring geben.« »Du lügst«, sagte Reika. »Du wirst ihn sowieso töten.« Da sprang der Gifalk mit ausgestreckten Händen vor und versuchte, in den Kreis des Waldbühls zu dringen, doch Reika zuckte zurück, und Ormon griff fehl. Er stieß einen Fluch aus und versuchte es erneut. Panisch rannte Reika in den Wald, weg von Ormons gelbem Blick, in dem nur Hass und Tücke lagen. Wie im Traum irrte sie zum Roten Turm, der dunkel und düster zwischen den Tannen des Bühls aufragte. Das Tor war offen, und sie ging hindurch, am Grab des Alten Niemand vorbei. Einer Ahnung folgend, eilte sie die Stufen zum Zimmer hinauf. Dort war Fernd. Er lag im Bett und schlief, müde und abgezehrt. Sein rundes Gesicht war eingefallen, und die Nase ragte blass und spitz daraus hervor. 54 Reika betrachtete ihn lange, dann zog sie leise ihr Kleid aus und schlüpfte unter die Decke. Im Einschlafen spürte sie noch, wie Fernd instinktiv seine mager gewordenen Arme um sie schlang. »Und das Mädchen ist entwischt?«, hörte Bolgan wie aus weiter Ferne. Langsam erwachte er aus tiefer Ohnmacht. Sein Kopf dröhnte, und er blickte wie durch Schleier. Schmerzen jagten durch seinen Körper. »Sie ist im Waldbühl.« Das war Ormons Stimme. »Wir sind einen Augenblick zu spät gekommen. Und sie hat Euren Ring, Fathär. Er muss ihn ihr im letzten Moment gegeben haben.« Eine Welle des Triumphs durchströmte Bolgan. Er hatte es also geschafft. Reika war mit dem Erft in Sicherheit. »Ich weiß.« Die Stimme des Schwarzen Prinzen war ruhig und unbeteiligt. Bolgan hob die Lider.
»Ich habe es gespürt, als der Ring die Tore durchbrach. Ihr seid zu spät gekommen.« »Es war nicht unsere Schuld. Sein Vorsprung war zu groß.« Bolgan wusste es besser und lächelte grimmig in sich hinein. Er lag im fackelerleuchteten Zelt des Schwarzen Prinzen und begriff, dass er einen ganzen Tag bewusstlos gewesen sein musste. Der Schwarze Prinz hatte seine eiserne Rüstung angezogen. Die Schlacht schien unmittelbar bevorzustehen. »Er hat zu lange gezögert.« Das Sprechen fiel Bolgan schwer; nur undeutlich kamen die Worte über seine Lippen. »Euer Gifalk ist ein Versager.« Ormon zischte und hob die Hand, doch der Schwarze Prinz brachte ihn mit einer Geste zur Ruhe. »Über deine Strafe sprechen wir später. Geh, ich will mit ihm allein sein.« 55 Der Gifalk zögerte. »Darf ich Euch noch eine Frage stellen? Wie konnte der Hochhügelländer den Ring stehlen? Ihr tragt ihn doch immer am Finger.« »Ich hatte ihn abgelegt. Wegen des Gewitters.« »Ihr habt ...?« Ormon verschlug es einen Moment die Sprache. Dann fragte er schneidend und scharf: »Habt Ihr da nicht einen Fehler gemacht, Fathär? Durch den Ring spricht Euer Herr! Jetzt wird er böse sein.« >Sie reden vom SOGAber das nutzt mir nichts mehr.< Er spürte, dass zwischen dem Schwarzen Prinzen und dem Gifalken ein stummer, aber erbitterter Zweikampf stattfand. »Nach deiner Unvorsichtigkeit heute Morgen solltest du nicht unverschämt werden, Ormon«, sagte der Schwarze Prinz dann. »Geh jetzt. Der Hochhügelländer wird seine Strafe von mir persönlich empfangen.« »Aber er ist gefährlich, Fathär«, sagte Ormon schlau. »Ich kann nicht verantworten, Euch mit ihm allein zu lassen. Der Herr würde nicht wollen, dass...« »Verlass das Zelt«, unterbrach ihn der Schwarze Prinz, und seine Stimme klang kalt und drohend. »Du weißt, welche Macht mir gegeben ist. Du würdest ihr unterliegen. Sorg dafür, dass in nächster Zeit niemand reinkommt! Ich will unter keinen Umständen gestört werden - selbst wenn das Heer der Nordländer da wäre, verstanden?« Ormons Miene verzerrte sich, und Bolgan hoffte einen Moment auf einen Kampf zwischen den beiden unheimlichen Geschöpfen. Dann gab der Gifalk überraschend nach. »Wie Ihr befehlt, Fathär. Doch bedenkt: Niemandem passen Eure Kleider.« Mit diesen rätselhaften Worten ging er. Bevor er das Zelt verließ, streifte er Bolgan mit einem merkwürdigen Blick. 56 >Er hat AngstDie Rechenschaft nannte.« »Seid Ihr etwa Siljan?«, flüsterte Bolgan entsetzt. »Aber der Silbergreis hat Euch den Erft doch abgenommen!« »Und zerteilt. Ein Stück hat er auf den höchsten Gipfel der Karninberge im Fernfeld gelegt; das ist weit im Norden. Es war kein großes Problem, an diesen Splitter zu gelangen.«
»Wer den Erft nimmt, der wird zum Diener des SOG«, flüsterte Bolgan. »Und wem der Erft genommen wurde, der kann ...« »... diese Welt verlassen - stimmt genau. Seit vielen Jahren habe ich auf einen Nachfolger gewartet. Nun ist er da.« »Aber ich habe den Ring nicht mehr.« Der Schwarze Prinz beugte sich über ihn, und seine Augen leuchteten kalt. »Dann ist es deine erste Aufgabe, ihn zurückzuholen. Du wirst die Macht dazu bekommen - von deinem zukünftigen Herrn.« Noch weigerte sich Bolgan, die furchtbare Wahrheit zu begreifen. »Bald wirst du verstehen«, sagte der Schwarze Prinz. »Du wirst den SOG anflehen, dich sterben zu lassen. Jeder noch so schreckliche Tod wird dir als höchstes Glück erscheinen. Aber er wird dich am Leben erhalten, deine Seele zumindest, und wenn sich dein Körper aufgelöst hat wie meiner, wirst du sehen, wie es ist, ewig zu leben. Du wirst den SOG verfluchen, ihm schöntun, ihm alles versprechen, aber er wird dich benutzen, bis du einen anderen gefunden hast, der deine Rolle übernimmt. Dann erst wirst du Frieden finden.« 58 »Nein, das will ich nicht!« Ein letztes Mal flackerte Wut in Bolgan auf. »Lasst mich sterben!« »Setz dich!«, befahl der Schwarze Prinz, und Bolgan musste gehorchen. »Zieh dich aus!«, kommandierte er, und Bolgan zog sich aus, bis er nackt, bloß und zitternd dastand. »Nun wirst du sehen.« Der Schwarze Prinz trat an den Tisch, nahm den Helm seiner Rüstung in beide Hände und zog ihn langsam vom Kopf. Bolgan stieß einen Schrei aus. Unter dem Helm war: nichts. Dann zog er die Handschuhe aus. Auch darunter: nichts. Bolgan wollte weglaufen, doch er konnte sich nicht rühren. Das Schauspiel ging weiter, bis die ganze Rüstung auf dem Tisch lag und vom Schwarzen Prinzen nur ein dünner Rauchfaden übrig war. »Nun weißt du es.« Seine Stimme klang jetzt anders, fast menschlich, und schien von nirgendwoher zu kommen. »Einst war ich wie du - und nun ist meine Pflicht erfüllt.« Bolgan schwieg fassungslos. »Wenn Ormon zurückkehrt«, fuhr die Stimme fort, »wird Bolgan verschwunden sein. Und der Gifalk wird die Befehle des Schwarzen Prinzen befolgen, obwohl er die Wahrheit ahnt.« Bolgan schwankte. Dann ergriff ein mächtiger Wille von ihm Besitz. »Nun zieh die Rüstung an.« »Ich will nicht. Ich kann nicht...«, aber schon wurde Bol-gans Widerstand schwächer - wie eine Kerzenflamme, der die Luft ausgeht. »Zieh sie an!« Und Bolgan zog sie an, ein Teil nach dem anderen. Zuletzt setzte er den Helm auf. Einen Moment sah er das Hochhügel59 land vor sich, das seine Heimat gewesen war, dann verschwand es, und das letzte Bild, das er mit seinem eigenen Ich sah, war das Verbotene Land; im Geist schwebte er darüber hin, über die rostrote Wüste und die tanzenden Staubfahnen, auf den kleinen schwarzen Punkt zu. Als er erkannte, was sich dort befand, weiteten sich seine Augen vor Entsetzen. »Nicht Fernd!«, schrie er. »Nein, nicht Fernd!« Dann wurde es dunkel. Der SOG begann zu sprechen. Bolgan dachte noch, dass ihn die Stimme an Fernd erinnere, aber sie war hart und böse. Dann versank sein Geist im Dunkel. »Hörst du mich?«, fragte der SOG. »Ich höre dich.« 3 In den Ruinen von Thingal »Auch du wirst das Töten noch lernen«, sagte Imril. » Und der Erste, der von deiner Hand fällt, nimmt deine Seele mit ins Grab.« In den Nördlichen Königreichen regieren Nebel und Wolken. Grüne, sanfte Hügel prägen das Land, so dass die Gegend auf den ersten Blick einen fruchtbaren Eindruck macht, aber das täuscht. Weiß gewaschene Kalksteinblöcke durchbrechen die dünne Bodendecke und machen größeren Ackerbau unmöglich. Wenn Nebel über die Hügel zieht, sehen die Blöcke wie stumme Pilger aus, die sich auf eine unbekannte Suche gemacht haben. Durch diese verzauberte Landschaft zieht die Nordstraße als schmales Band. Im kalten Januarnebel, der den Weg nass und glitschig gemacht hatte, wanderte eine Gestalt eilig Richtung Barku. Es war Hatib, der dem Nebelheer hinterherzog, um die Katastrophe, die sich vor der Hauptstadt der Nördlichen Königreiche anbahnte, zu verhindern. Hatibs Gesicht war eingefallen; hervortretende Backenknochen ließen seine Züge hart und verschlossen wirken; die Ereignisse in Araukaria hatten Spuren hinterlassen. Aber seine Augen blickten klar und eisblau unter dichten Brauen hervor, und trotz aller Härte lag kein Hass in ihnen. Nur unbedingte Entschlossenheit.
Wo Ackerbau nicht möglich ist, leben die Menschen vom 61 Vieh - so auch hier. Milde Traurigkeit lag über den Weidehügeln, eine leise, klagende Melodie. Auch Hatib spürte sie und freute sich daran. Er mochte diese karge Gegend, in der er sich im Kampf mit der harten Natur befand. >Ein reines Lands dachte er, wenn sein Blick über die Berge schweifte. Gefragt, was er damit meine, hätte er keine Antwort gewusst. Sein Pferd hatte ihn lange brav getragen, obwohl er ihm sehr viel zugemutet hatte. Bis vor das Land der Tanzenden Berge war er gekommen. Seit dem Tod des Alten Niemand standen die Hügel still, als warteten sie auf bessere Zeiten. Und auf einen neuen Herrn. Dann war sein Pferd so erschöpft gewesen, dass er es hatte töten müssen, um es nicht einem ungewissen, wahrscheinlich aber grausamen Schicksal zu überlassen. Seitdem ging es langsamer, und Hatib war beunruhigt. Würde er das Nebelheer noch einholen? Keine Menschenseele war ihm begegnet - die Lande entlang der Nordstraße waren wie leer gefegt. Am späten Nachmittag tauchte an der Straße eine Stele auf. Ein älteres Volk als die Nordländer hatte sie aufgestellt. Sie war nur grob behauen und furchteinflößend wie der mahnende Finger einer längst vergangenen Macht. Der Stein hatte früher die Grenze zwischen Barku und der Nordprovinz des Alten Reichs angezeigt, doch die war seit Jahrzehnten aufgegeben. Hatib sah sich unwillkürlich um, als wittere er Gefahr. »Die Ruinen von Thingal«, murmelte er. »Keine zwanzig Meilen mehr bis Barku.« Der Alte Niemand hatte ihm einmal von der rätselhaften Stadt erzählt. Vor Tausenden von Jahren hatte das Reich von Thingal den gesamten Norden umfasst, bis ins Fernfeld hinein, wo seit Jahrhunderten kein Mensch mehr lebte. Die Targi - so nannten sich die Bewohner - waren ein Bauernvolk, das keine Schrift kannte, aber einen Pflug entwickelt hatte, mit 6z dem man auch den steinigsten Acker fruchtbar machen konnte. Doch auf dem Höhepunkt seiner Macht war das Reich von Thingal vernichtet worden: Die Targi waren zu weit nach Norden vorgedrungen und hatten den Tanzenden Tod geweckt. Aus dem Halbdunkel schälten sich steinerne Überreste -alte Straßenzüge und Fundamente. Hohl hallten Hatibs Schritte durch die Ruinen, und er trat unwillkürlich leiser auf. >VorsichtWenn die Wölfe in der Nähe sind ...< Er hielt an, und bedrohliche Stille umgab ihn. >Es hat keinen Sinn, hier ohne Deckung rumzulaufen.< Er würde sich einen Unterschlupf suchen und ein paar Stunden ausruhen. Nach Einbruch der Nacht würde er querfeldein weitermarschieren - so hatte er eine Chance, das Nebelheer zu umgehen. Ein Steinhaufen zur Rechten war von kahlen Büschen und Dornenranken überwachsen - ein besseres Versteck konnte er sich nicht wünschen. Er kroch hinein, wickelte sich in seine Decke und schloss die Augen. Schlafen konnte er nicht. Seine Gedanken kreisten um das Nebelheer. Was, wenn Morgreal ihm zuvorkam? »Ich hätte ihn damals erwürgen sollen«, murmelte er, als er an die Ratsversammlung dachte. Morgreals grausames Lächeln - nie würde er es vergessen. Und auch nicht, wie der Heeresvorsteher kalten Blicks dem Untergang Araukariens beigewohnt hatte - der Stadt, die er hätte schützen müssen. »Es ist alles bereit für den Marsch nach Barku, Herr« - diese Worte klangen ihm noch immer im Ohr. Und auch die rätselhafte Antwort des Schwarzen Prinzen: »Es wird ein Kurier gesandt werden, um den Erft zu holen.« Wer mochte der Kurier sein? Hatibs Gedanken schweiften zu Fernd ab, dem einzigen Menschen, für den er echte Zuneigung empfand. Der Groß63 vater hatte seinen Bruder, nicht ihn zum Erben gemacht, und das wurmte Hatib noch ein wenig. Doch er spürte, dass die Entscheidung des Alten Niemand richtig gewesen war. Er lächelte, als Erinnerungen in ihm aufstiegen. Mit dreizehn - in der Zeit, da jeder Junge sich nach fernen Ländern sehnt - hatte er sich am Falun ein Floß gebaut, um auf große Fahrt zu gehen. Gerade hatte er die letzten Vorbereitungen getroffen, hatte ein Päckchen Proviant und ein Wasserfass aufs Floß geschnallt und sich ein hölzernes Schwert umgebunden, mit dem er sich gegen Feinde zur Wehr setzen wollte, da sah er einen blassen Jungen von sieben, acht Jahren am Ufer sitzen und ihn aus großen braunen Augen beobachten. »Willst du mitkommen?«, fragte er. »Ich gehe auf große Fahrt. Da könnte ich einen Schiffsjungen brauchen.« Der Kleine stand auf und näherte sich vorsichtig. Hatib fuhr fort: »Kannst du kochen? Wir werden lange unterwegs sein und großen Hunger bekommen.« »Ja.« »Aber du hast doch sicher Angst vor wilden Tieren?«, bohrte er weiter, denn allmählich wurde ihm bei dem Gedanken unwohl, einen Achtjährigen mitzunehmen. »Nein.« »Kannst du nichts als Ja und Nein sagen?«, fuhr Hatib ihn an. »Doch«, flüsterte der Junge mit gesenktem Kopf. »Ich heiße Fernd.« »Also, Fernd«, seufzte Hatib. »Ich werde schon einen guten Schiffsjungen aus dir machen.« Sie trieben den Falun hinab, ein paar Stunden vielleicht, doch aus dem Kleinen war kaum etwas
herauszubringen. Auf jede Frage sah er sein Gegenüber zwar treuherzig an, antwortete aber fast immer nur mit Ja oder Nein. 64 Das Abenteuer dauerte nicht lange; abends bekamen sie Hunger, zogen das Floß zur Stadt zurück und versteckten es im Gebüsch. Obwohl der Kleine Hatib auf die Nerven ging, wollte er ihn nicht bei Dunkelheit durch die Straßen ziehen lassen und fragte ihn, wo er wohne. »Nirgendwo«, sagte der Junge. »Du musst doch Eltern haben«, beharrte Hatib. Dann sah er die Traurigkeit in Fernds Blick. »Sie sind tot«, kam die stockende Antwort. »Seit einer Woche.« Hatib war zu jung, die ganze Tragweite dieses Satzes zu begreifen. Kurz zuvor hatte das gelbe Fieber in der Stadt gewütet und viele Opfer gefordert. Er verstand immerhin, dass er jetzt für den Kleinen verantwortlich war. »Komm«, sagte er seufzend. »Wir werden schon einen Platz für dich finden.« So waren sie Brüder geworden. Als Fernd vierzehn war, änderte sich sein Leben. Bis dahin hatte er sich einsam gefühlt und sich stark zurückgezogen, nun aber lebte er auf, denn er hatte Reika kennen gelernt. >Aber ein Tollpatsch ist er noch immerDa ist jemand.< Er hatte etwas gehört - ein leises Kratzen auf Stein, ein Geräusch, das nicht in die Ruinen von Thingal passte. Hatib war lange genug in der Wildnis gewesen, um zu wissen, dass Gefahr drohte. »Bin ich etwa doch in der Nähe des Nebelheers?«, fragte er sich. »Dann war ich verdammt unvorsichtig.« Auf allen vieren kroch er aus dem Gebüsch. Er spürte kaltes, feuchtes Moos unter den Händen, und der Geruch von Erde stieg ihm in die Nase. 65 Draußen war es stockdunkel, nur manchmal gaben die Wolken ein Stück schwarzen Himmel frei; genau in diesem Moment aber brach der Mond durch, und kaum fünfzig Meter entfernt sah Hatib eine vom Wind zerzauste Baumgruppe. Dort stand jemand. >Ein Posten des NebelheersMorgreal kann keinen unerwünschten Besuch brauchen^ Er wartete, bis der Mond hinter den Wolken verschwand, dann pirschte er sich vorsichtig an die Baumgruppe. Hinter einem großen, grasüberwachsenen Runenstein fand er Deckung, ehe der Mond wieder vorkam. Vorsichtig lugte er über den Stein. >Das ist kein Postens begriff er. >Das sind - Jäger.< Vor sich sah er zwei große, kräftige Gestalten, die zu Pferd unterwegs gewesen waren; er hörte das Schnauben der Tiere in der Nähe. >Und sie haben einen Gefangenen gemachte An einem Baum lehnte eine weitere Gestalt. Sie war kleiner als die Wolfsjäger und verschmolz in der Dunkelheit fast mit dem Stamm. Zu sehen waren nur eigentümlich helle Augen, die im Mondlicht silbern glänzten. Da zerriss einer der Wolfsjäger die Stille. »Zum letzten Mal - warum treibst du dich nachts in den Ruinen herum?« Die Gestalt antwortete nicht. »Soll ich's dir sagen, Farai?«, knurrte der zweite Wolfsjäger. »Schau dir den Mann doch an.« »Ich weiß schon. Er ist ein Waldläufer. Gibt's hier noch mehr von deiner Sorte? Du wolltest uns auskundschaften, gib's zu!« Der Gefangene antwortete noch immer nicht; stumm stand er da, und sein Blick richtete sich auf den Runenstein, hinter dem Hatib versteckt lag. Der zuckte zurück. Hatte der Waldläufer ihn entdeckt? Wenn ja, musste er Luchsaugen besitzen. »Dann sag ich es dir«, sagte der andere Jäger. »Ihr Waldläu66 fer seid schließlich nicht dumm. Den Nördlichen Königreichen steht eine Überraschung bevor, und du weißt das.« »Reden wir nicht lange herum«, sagte Farai. »Töten wir ihn.« »Nicht so hastig. Besser, wir zünden ein Feuer an und stellen ihn hinein, bis er auspackt. Wir müssen wissen, ob sich noch andere hier rumtreiben.« »Waldläufer gestehen nichts«, wandte Farai ein. »Die halten alles aus.« »Das werden wir sehen.« Kein Zweifel: Der Gefangene hatte Hatib entdeckt und sandte ihm aus hellen Augen einen durchdringenden Blick und eine stumme Bitte zu. >Er hat hier keine GefährtenSonst wären die Wölfe längst tot.< Er tastete mit der Rechten zum Gürtel und zog geräuschlos sein Messer. Noch zögerte er. »Binde ihn fest«, sagte Farai. »Während ich ihn röste, gehst du zum Lager und holst Verstärkung. Sag Morgreal, wir haben einen Waldläufer gefasst, und schlag ihm vor, das Ruinenfeld durchkämmen zu lassen.« Plötzlich kam Bewegung in die schlanke Gestalt des Waldläufers. Sein Körper spannte sich wie der einer Katze; er sprang vor und krallte sich am Hals des Wolfs fest. Der würgte einen Schreckensschrei hervor und schlug um sich.
Farai warf sich fluchend auf den Waldläufer, um ihn von seinem Kameraden zu trennen. Ein Dolch blinkte im Mondlicht auf. >Jetzt oder nie.< Hatib sprang auf, stürmte hinter dem Stein vor und stieß den Wolf beiseite. Der stürzte zu Boden, und Hatib warf sich auf ihn. Er hatte erwartet, allein die Überraschung werde genügen, 67 ihn zu überwältigen - eine Fehleinschätzung. Der Jäger rappelte sich fluchend auf. Hatib stolperte rückwärts und fiel direkt neben den Waldläufer, der fest in seinen Gegner verkrallt war. Wieder blitzte ein Messer. Hatib war zu ungeübt, den Angriff sofort zu parieren, doch dann versetzte er dem Wolf einen gezielten Tritt in die Magengrube, so dass er stöhnend zur Seite fiel, sprang auf und verpasste seinem Gegner noch ein paar Tritte, bis der sich nicht mehr wehrte. Zeit zum Nachdenken hatte er nicht, denn die beiden anderen wälzten sich in wildem Kampf auf dem Boden. Der Wolfsjäger schien die Oberhand über den Waldläufer bekommen zu haben. Eben wollte Hatib nach dem Jäger schlagen, da stieß der einen Schrei aus, bäumte sich auf und sackte blutüberströmt hintenüber. Langsam stand der rätselhafte Waldläufer auf und reichte Hatib die Hand. »Ich danke dir.« Der Mond war wieder hinter einer Wolke verschwunden, und Hatib konnte nur noch die hellen Augen seines Gegenübers erkennen, dessen Hand fest und schwielig war und vermutlich einem älteren Mann gehörte. »Ich bin Imril«, sagte die Gestalt. »Und du?« »Hatib. Aus Araukarien.« »Ich bin ein Waldläufer; vielleicht hast du schon von uns gehört.« Natürlich kannte Hatib die Waldläufer - zumindest aus den Erzählungen des Alten Niemand. >Sie sind kein Volk, sondern haben nur gemeinsam, dass sie draußen in der Wildnis lebenSie sind die Zugvögel unter den Menschen, und ihr Leben ist voller Entbehrungen. Die wenigsten von ihnen sterben friedlich in einer geheizten Stube.< 68 Dafür waren die Waldläufer frei. Frei wie der Wind. Alle paar Jahre trafen sie sich an einem geheimen Ort im Norden, ernannten neue Mitglieder und tauschten Erfahrungen aus. Waldläufer waren überall geachtet und geschätzt. Trotz ihrer stolzen Art waren sie sich nicht zu schade, ihren sesshaften Landsleuten zur Hand zu gehen, wenn es Not tat. Und manch fahrender Händler hatte sich nur aus einer gefährlichen Lage befreien können, weil ihm in letzter Sekunde ein Waldläufer zu Hilfe gekommen war. »Wo kommst du her, Hatib?«, riss ihn Imrils Stimme aus den Gedanken. »Dieser Ort ist gefährlich.« »Das habe ich gerade erfahren. Aber ...« Der Wolf, den er niedergeschlagen hatte, gab einen leisen Laut von sich. Er war aus der Bewusstlosigkeit erwacht. »Warte.« Imril beugte sich über den Jäger. Etwas knirschte dumpf, dann war es still, und Imril richtete sich auf. »Du hast offenbar viel Glück gehabt«, fuhr er ungerührt fort. Hatib schluckte. Mit solcher Kaltblütigkeit hatte er nicht gerechnet. »Waren das Räuber, die es auf deine Börse abgesehen hatten?«, fragte er vorsichtig. »Nein, auf mein Leben«, antwortete Imril. »Aber das weißt du doch schon. Du hast uns ja ein paar Minuten beobachtet.« »Das hast du rasch gemerkt. Die beiden waren taub und blind.« »Du hast dich geschickt angeschlichen. Selbst ich war mir bis zum Schluss nicht ganz sicher, ob sich wirklich jemand hinter dem Runenstein versteckt.« »Ich war vorsichtig«, sagte Hatib geschmeichelt. »Aber was hast du mit diesen Leuten zu tun? Wolltest du sie wirklich auskundschaften ?« »Das haben die Schattenmänner behauptet, nicht ich.« 69 >Die Schattenmänner?Beim Verborgenen Gott - ich bin noch rechtzeitig gekommenWas willst du hier?Unser Volk ist so zahlreich geworden, dass die Lande es nicht mehr ernähren. Dürfen wir auf deinem Gebiet wohnen ?< Die Ul-Um durchschaute die Lüge sofort und wurde böse, ließ sich jedoch nichts anmerken. Eigentlich glaube ich nicht, dass ihr in meinem Reich heimisch werdet. Es ist nicht für euresgleichen gemacht. Doch wenn du unbedingt willst, lass dich mit deinen Untergebenen in meinem Schoß nieder.< Hoffnungsvoll betrat Karun mit seinen Dienern das Land, doch kaum waren sie in den Sümpfen, schössen Flammenzungen hoch, und sie versanken in der glutflüssigen Erde. Qualvoll gingen sie zugrunde, und von Karuns Gestalt blieb nur ein großer schwarzer Berg. Die Ul-Um schaute zu und freute sich an ihrem Hexenwerk. >Ich weiß, dass du deinen Bruder erschlagen hast!Das ist die Strafe dafür, dass du mich belogen hast!< Dann verwandelte sie sich in eine große, hässliche Spinne, trank das Blut der Riesen und zog sich tief unter die Erde zu ihren Feueröfen zurück.« »Was hat das mit dem Tanzenden Tod zu tun?«, fragte Hatib. Imril lächelte. »Nicht so ungeduldig. Karnin, der alte König, war in der Zwischenzeit nicht müßig gewesen. Er hatte herausgefunden, wohin sein Sohn sich gewandt hatte, und brach ebenfalls nach Norden auf. Alle Getreuen folgten ihm -bis auf Ayakil, den Hirten, der draußen bei den Schafen gewe106 sen war. In den Feuersümpfen hielt der König an und rief nach Karun. Da verwandelte sich die Hexe wieder in ein altes Weib, trat vor Karnin und fragte: >Wer bist du?< >Der König der Riesen. Ich bin auf der Suche nach meinem Sohn, der seinen Bruder getötet hat und geflohen ist.< >Ich habe ihn gesehen. Der Mord hat ihn hart und grausam gemacht. Er wollte mich umbringen und mir mein Reich nehmen, da habe ich ihn in Stein verwandelte Der König weinte und sagte: >Ich weiß, er hat böse gehandelt. Aber ist er auf immer verloren? Ich glaube, etwas Gutes ist doch in ihm.< >Was geschehen ist, ist geschehenund was ich tat, war recht getan. Doch ich kann ihm das Leben zurückgeben - wenn du dich dafür mit deinem Volk in Stein verwandeln lässt.< >Warum das denn?Weil du Vergebung für einen erbittest, der mir Böses wollteMir ist gleich, wer die Strafe bekommt, aber einer muss zahlen.< Warum Karnin in diesen Handel einwilligte, wird wohl ein ewiges Rätsel bleiben, doch er nickte. >Einverstanden.< Da tat die Ul-Um einen Spruch, verwandelte den alten König und sein ganzes Heer in die heutigen Karninberge und lachte dann schallend und böse. >Dein Wunsch soll in Erfüllung gehen. Doch du sollst keine Freude an deinem Sohn haben, Riese!< Sie grub sich durch erstarrte Lava zu Karun hinunter, riss ihm das Herz heraus, besprach es und hauchte ihm
Leben ein - kaltes und böses Leben. Karuns Geist erwachte. Er erhob sich und fragte: >Bist du meine Mutter?< >Nein. Doch du wirst mein Sohn sein.< 107 Und aus Karun, dem Riesen, wurde der Tanzende Tod. Er altert nicht und stirbt nicht. Bis heute fegt er als grauer Sturm an den kahlen Hängen der Karninberge entlang, die um seinetwillen ein schlimmes Schicksal auf sich genommen haben. Am Fuß des Karunbergs schuf die Ul-Um ihrem Stiefsohn eine Heimat: Korvo, die Wolkenburg. Manchmal zog er sich Jahrzehnte dorthin zurück, um - versorgt von den Nachtmahren - über bösen Gedanken zu brüten. Zu dieser Zeit kamen die Targi, die Bewohner des Reiches von Thingal, voller Hoffnung, das kalte Land unter den Pflug zu nehmen. Doch vom Lärm ihrer Arbeit wachte er auf und brach mit furchtbarer Gewalt hervor. Wer sich nicht retten konnte, erfror im tödlichen Tanz von Kälte und Eis. Die Targi verschwanden oder suchten Zuflucht in den Karninbergen. Seitdem herrscht der Tanzende Tod unangefochten übers Fernfeld.« »Und dorthin gehen wir?«, brummte Hatib. »Na, danke.« »Ich hatte dich gewarnt!« »Ich bereue meine Entscheidung ja gar nicht. Ich wollte bloß wissen, was mich erwartet.« »Bei uns gibt es ein Sprichwort«, meinte Imril. »Wer sich auf den Falken setzt, dem werden die Winde zum Grab. Und du hast einen Waldläufer zum Gefährten gewählt...« »Noch dazu einen, der liebend gern dunkle Geschichten erzählt und seltsame Sprüche aufsagt«, murmelte Hatib. Sie hatten Moloil umrundet und mussten sich fester in ihre Mäntel wickeln. Die Kälte veränderte das Gesicht und nahm die Züge eines fauchenden Tiers an, gegen dessen böse Krallen ihre Kleidung nutzlos schien. »Vor uns liegt der Arin-Gollan«, sagte Imril. »Dahinter kommt das Fernfeld.« Hatib war beklommen, als sie sich an den flachen Anstieg machten. Die Straße versank metertief im angewehten 108 Schnee, und sie mussten absteigen und die Pferde am Zügel führen. Nach einer Stunde sah Hatib in der weißen Fläche einen Pfahl auftauchen. »Ist das die Grenze?« »Ja, das ist der Gollan. Dort endet die Herrschaft der Menschen. Als der Tanzende Tod die Targi aus dem Fernfeld vertrieben hatte, zog er seine Verderben bringende Bahn weit in die Nördlichen Königreiche.« Sie waren vor dem Granitmonolith angekommen, der eine Höhe von gut zweieinhalb Metern hatte. »Der ist ja mit Schriftzeichen bedeckt.« Vorsichtig fuhr Hatib mit der Hand über die schwarzen Runen. »Das ist der Bannfluch der Priester der Wahrheit. Der Tanzende Tod darf diese Grenze nicht überschreiten. Auch im strengsten Winter sind die Nördlichen Königreiche vor ihm sicher. Dafür ist das Fernfeld für Menschen verboten.« Hatib musterte die Runen. »Halt!«, schienen sie zu rufen. »Bis hierher und nicht weiter.« Eigenartig, dass Gerk gerade hier Zuflucht gesucht hat.< »Schau«, sagte Imril. »Wir sind da.« Vor ihnen fiel das Gelände leicht ab, und unendlich weit dehnte sich das tote Fernfeld - eine verlassene Ebene aus Steinen und grauem Geröll, im Osten begrenzt von den Karninbergen, deren Gipfel sich wie ein gezackter Drachenrücken zum Horizont wanden. Hatib stand wie erstarrt und konnte die Augen nicht abwenden. Unermesslich groß wirkte das Fernfeld; die raue Weite erschütterte ihn. Die Landschaft schien auf eigenartige Weise mit ihm verwandt - als habe er sie schon immer im Herzen getragen. 109 »Schön, nicht wahr?« Imril schien Gedanken lesen zu können. »Viele Waldläufer denken wie du. Bis heute krallen sich sogar noch ein paar Targi in den Karninbergen fest - allen widrigen Umständen zum Trotz.« »Tatsächlich?«, fragte Hatib überrascht. »Sie sind zäh und haben Jahrhunderte überdauert.« »Also gibt es doch Menschen hier.« »Der Tanzende Tod weiß davon und duldet sie. Uns nicht.« »Dann frage ich mich, wo der Priester untergekommen ist.« »Er nimmt ein großes Risiko auf sich. Vielleicht helfen ihm die Targi, doch das Fernfeld ist kein Spielplatz. Erst recht nicht für alte Priester.« Hatib betrachtete schweigend die unwirtliche, windgepeitschte Landschaft. Die Nordstraße schlängelte sich den Arin-Gollan abwärts, bis sie einen sanften Knick nach rechts machte und, eng an die Flanke der von Osten heranbrandenden Bergketten geschmiegt, als schmales Band nach Norden führte - in die hereinbrechende Dunkelheit. Wo sie an den Horizont stieß, überragte ein Berg alle anderen. »Der Große Karnin«, sagte Imril. »Er ist nur dreißig Meilen entfernt, aber das ist das gefährlichste Stück der Wanderung. Hier gibt es keinen Unterschlupf vor dem Tanzenden Tod.« >Ein wildes Lands dachte Hatib und zog die Kapuze fester. >Es breitet sich aus wie eine große Geschichte. Man muss nur die Ohren spitzen und zuhören.< Sein Pferd schnaubte heiser.
»Lange werden die Tiere das nicht überleben«, sagte Imril. »Ich hoffe, sie tragen uns bis zum Karnin.« »Und dann?« »Dann schlachten wir sie. Wir brauchen Fleisch.« Der Ritt durchs Fernfeld kostete Kraft. Eiskalter Ostwind fegte von den Bergen herab und brachte stechenden Nebel und den Geruch von Schnee. Die Sonne war nur selten als kraftloser Ockerball am südlichen Horizont zu sehen, und auch die Grate und Berggipfel verloren sich in den Wolken. Graue Geröllhänge säumten die Straße; manchmal wichen sie zurück und gaben den Blick in ein verhangenes Tal frei. Am Abend des zweiten Tages durchbrach Imril das Schweigen. »Wir sind da«, sagte er dumpf durch seinen wollenen Schal und wies nach Osten. »Der Karnin liegt zur Rechten. Siehst du den Steinhaufen da? Er zeigt den Weg zum Versammlungsplatz.« Sie stiegen ab und führten die schwachen Pferde schräg den Hang hinauf ins Geröll hinein. Imril kannte den Weg genau. Keine halbe Stunde, nachdem sie die Nordstraße verlassen hatten, wandte er sich scharf rechts einer Felsgruppe zu. »Die Spalte dort?« Der Waldläufer nickte. »Na endlich. Bin ich froh, aus der Kälte zu kommen!« Vor dem Felsspalt stand wieder ein Pfahl. »Die Priester der Wahrheit haben auch diesen Platz mit einem Schutz versehen.« Imril hatte Hatibs Gedanken wieder erraten. »Der Tanzende Tod kommt hier nicht herein.« »Du magst die Priester der Wahrheit trotzdem nicht besonders, oder?« »Komm.« Sie führten die Pferde in den Spalt. Dumpfe, feuchte Luft schlug ihnen entgegen. Nach dem tagelangen Heulen des Windes kam es ihnen hier unnatürlich still vor. Nach etwa zehn Metern spürte Hatib, wie der Raum sich weitete. Dann wurde es hell: Imril hatte eine Fackel angezündet. Im Lauf der Jahrhunderte war der Versammlungsplatz erweitert und eine riesige Halle aus dem Felsen gehauen worden, deren Decke sich in flackernden Schatten verlor. Der Ort mochte über fünftausend Menschen Platz bieten. »Seit wann ist hier niemand mehr gewesen?«, fragte Hatib fasziniert. »Seit gut dreißig Jahren. Als der Tanzende Tod erwachte, wurde es hier zu gefährlich. Aber ...« Imril schnupperte. »Was ist?« »Ich rieche Rauch. Hier hat ein Feuer gebrannt.« Er wandte sich ab, und Hatib folgte ihm. Nach kurzer Suche stießen sie auf die erkalteten Reste einer Feuerstelle. Imril kniete nieder. »Nicht älter als zwei Wochen.« »Gerk vermutlich«, sagte Hatib. »Dann ist er weitergezogen.« »Oder umgekommen.« Imril hatte die Hand zur Faust geballt. »Wahrscheinlich hat der Tanzende Tod von ihm erfahren, und da hat er sich hier verkrochen, um abzuwarten.« »Warum ist er dann verschwunden?« »Das frag ich mich auch.« Nachdenklich zerkrümelte Imril etwas Asche. »Er muss ein besseres Versteck gefunden haben.« »Glaubst du wirklich, er wagt sich ins offene Gelände, wenn der Tanzende Tod ihn sucht?« »Er besitzt den Ring der Wahrheit, Hatib. Er kann ihn zu jeder Zeit sehen. Nein, Gerk ist nicht tot.« Imril lächelte säuerlich. »Das kommt ungelegen. Der Priester hat den Tanzenden Tod geweckt - und der wird wiederkommen. Ich muss den Ayaddain so schnell wie möglich ausführen.« »Das heißt, wir gehen im Dunklen auf den Karnin?« »Nein. Eine Nacht in den Bergen würden wir nicht überleben. Aber wir marschieren vor Morgengrauen los. Der Tan112 zende Tod kann uns Wochen festhalten - dann ist es für Barku zu spät.« Hatib wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte, als Imril ihn wachrüttelte. »Zieh alles an, was du hast.« Er wickelte sich aus seiner Decke und stand hastig auf, denn er hatte die Anspannung seines Gefährten bemerkt. Es war noch dunkel. Erst zwei Stunden später begann es zu dämmern. Der Weg führte geradewegs ins Gebirge. Hatib hatte das Gefühl, angestarrt zu werden. Immer wieder glaubte er, an den nebligen Hängen huschende Schatten zu erkennen. »Siehst du die Targi?«, fragte Imril prompt - und laut, um den Wind zu übertönen. »Sie lassen uns nicht aus den Augen.« »Ahnen sie, was du vorhast?« »Sie werden den Ayaddain mit Sicherheit hören.« Dunkel und steil ragte der Karnin vor ihnen auf. Wie die anderen Berge verbarg er sein Haupt in den Wolken. Bald marschierten sie in einem Nebel aus tausend gefrorenen Nadeln, die ihnen das Gesicht zerstachen. Hatib senkte den Kopf und konzentrierte sich auf den Weg. Ein Schritt, noch einer, und immer auf den Boden geschaut. Immer höher ging es.
»Was hat es mit dem Ayaddain eigentlich auf sich?« »Das ist ein Zauber aus der Zeit von Thingal. Nur wir Waldläufer kennen sein Geheimnis.« »Habt ihr denn besondere Fähigkeiten?« Imril ließ sich mit der Antwort Zeit. »Wir verbringen unser Leben draußen in den Landen«, sagte er schließlich. »Ich vermute, damit hängt es zusammen. Weißt du, die Wildnis schärft einem die Sinne. Irgendwann kann man fühlen, was einem das Gras sagen will - und die Bäume, die Flüsse und Steine. Man kann nicht mit ihnen reden, weil sie keine Ohren haben und nur ihre eigenen traurigen Geschichten erzählen. Aber man kann sich ihre Kräfte zunutze machen - sie einen Gedanken aussprechen lassen. Oder eine Warnung, die jeder Waldläufer hören wird.« Plötzlich wurde es hell. Hatib und Imril hatten das Wolkenfeld überwunden. Ein kalter, dunkelblauer Himmel wölbte sich über ihnen, und die Sonne, die weit vor dem Winter in den Süden geflohen war, beschien die Berglandschaft mit kristallklarem Licht. In jungfräulichem Weiß thronte der Karnin über ihnen - ein wild zerklüfteter Felsgipfel, der wie ein verlassener Adlerhorst das Gebirge überragte. »Beeilen wir uns«, sagte Imril. »Wenn wir den Berg nicht bezwingen, wird er uns töten.« Bald waren ihre Hände aufgeschürft vom rauen Stein, doch schon lagen die Schneefelder weit unter ihnen. Dann, die Sonne sank schon, gelangten sie endlich zum Gipfel. »So eine Aussicht hat man nicht alle Tage«, sagte Imril. Ein überwältigender Anblick bot sich ihnen. Die Berggipfel erhoben sich steil über das wilde Wolkenmeer und schauten hochmütig auf die Nebel herab, deren immerwährendes Treiben sie den Niederungen entzog. Wolken bäumten und türmten sich an ihren Flanken auf, um sie zu verschlingen, zerbarsten dann aber in einer Gischt aus aberunzähligen Eiskristallen, die gleißend wieder in die Tiefe sanken. Aus dem schneebedeckten Gipfel des Großen Karnin ragte ein meterhoher Basaltwürfel, dessen Seiten spiegelglatt waren. »Haben die Targi diesen Stein so behauen?«, fragte Hatib und fuhr mit der Hand über die Oberfläche. 114 »Sie sagen, er sei das versteinerte Herz des Karnin. Hier konzentriert sich die Macht der Lande. Auf seiner Oberseite befindet sich eine Vertiefung - die Fassung für einen Edelstein. Wenn man den einsetzt, wird er so hell strahlen, dass er die Kälte für immer aus Drehnland vertreibt. Und den Tanzenden Tod. Dann wird der Karnin wieder zum Leben erwachen, und das Zeitalter der Riesen beginnt von Neuem.« >Und wieder ist die Rede von einem Stein.< Hatib erinnerte sich an die Sage vom Erft, die Bolgan, es schien Jahre her zu sein, aus der Rechenschaft vorgelesen hatte. Imril sah sich um. »Die Sonne geht gleich unter. Doch nicht einmal der Tanzende Tod kann jetzt noch verhindern, dass die Waldläufer gewarnt werden.« Er kletterte auf den Basaltblock und reinigte ihn sorgfältig vom Schnee. Dann zog er die Schuhe aus. »Was tust du denn da?«, fragte Hatib entsetzt. »Ruhe!«, rief Imril. »Der Ayaddain erwacht.« Mit bloßen Füßen stand er auf dem Stein und streckte beide Arme der Sonne entgegen, die eben mit ihren letzten Strahlen die Szene beleuchtete. Weit unter ihnen stand das Gefolge des Großen Karnin im aufgewühlten Wolkenmeer. Am fernen Horizont sah Hatib zum ersten Mal die Ostmauer - die Grenze der Welt. Als dünner Strich zeichnete sie sich über den Wolken ab. Wie weit mochte sie entfernt sein? Er ahnte nicht, dass Fernd nur wenige Wochen später versuchen würde, sie zu überwinden. »Ein Waldläufer ist es, der zu euch spricht!« Imrils Stimme klang wie aus einer anderen Welt. »Den Ayaddain will ich tun, ihr Mächte der Erde, der Sonne und des Windes, denn es ist Gefahr.« Es wurde heller, als hätte die untergehende Sonne neue Kraft gewonnen. Der schmächtige Körper des Waldläufers wuchs und wandelte sich. Imril begann zu singen - drei hohe, fallende Töne, die langsam an- und abschwollen. >Gefahr! Sammelt euch im Fernfeld, dachte Hatib. Überrascht sah er auf. Dieser Gedanke stammte gar nicht von ihm ... >Die Landes begriff er. >Sie sprechen durch Imrils Willen.< Der Waldläufer sang nun lauter und bedrohlicher. >Gefahr! Kommt, dachte Hatib wieder. Imrils Körper spannte sich, und seine Hände ballten sich zu Fäusten. Durch seinen Körper lief ein Zittern, dann stieß er einen markerschütternden Schrei aus, der nicht menschlich und nicht tierisch war. Hoch und schrill brach er aus ihm hervor, und eine gewaltige Macht warf Hatib zu Boden. Der Ayaddain drang über die ganze Welt, über die Ebenen, die Gebirge und Meere, und in den Schluchten des Drehn hallte er schauerlich wider. Er brach sich an der Ostmauer und an den Pforten des Verbotenen Landes, wurde zurückgeworfen und vervielfachte sich, bis schließlich die ganze Welt unter seiner Wucht zu erbeben schien wie eine riesige Glocke nach einem Hammerschlag. Die Waldläufer wandten sich zum Fernfeld, und Entsetzen packte sie. Das Geheimnis des Schwarzen Prinzen war offenbar geworden, das dunkle Siegel zerbrochen: Die Welt war bedroht, ja im Untergang begriffen - und man musste sich vereinen, um sie zu retten. Es wurde still.
Imril setzte sich und rang nach Luft. Hatib - sonst durch nichts einzuschüchtern - wagte keinen Ton von sich zu geben. Schließlich kletterte Imril vom Stein und zog sich die Schuhe über die blau gefrorenen Füße. »Gehen wir.« Die Sonne verschwand im feuerroten Wolkenmeer. 116 »Ein Wunder, dass wir den Abstieg überlebt haben«, seufzte Hatib dankbar, als er weit nach Mitternacht den Runenpfahl endlich schemenhaft aus dem Dunkel auftauchen sah. »Der Karnin hat uns beschützt«, sagte Imril. »In all den Jahrtausenden hat er seine Güte nicht verloren.« Der Waldläufer sah angeschlagen aus, und die Falten in seinem Gesicht schienen sich vertieft zu haben. Der heutige Tag war nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Auch die Lande hatten sich verändert. Sie waren erwacht. Fragen summten durch die Welt wie ein Bienenschwarm. Die beiden Pferde waren erfroren und starrten mit gebrochenen Augen zum Himmel. »Es waren tapfere Tiere«, meinte Imril, setzte dann aber hinzu: »Morgen kümmere ich mich um ihr Fleisch.« »Sollten wir nicht besser Gerk suchen, bevor der Tanzende Tod uns findet?«, fragte Hatib. »Nicht wir - du.« »Ich allein?« »Ich werde die Versammlung vorbereiten.« Imril wiegte den Kopf. »Auch der Schwarze Prinz hat den Ayaddain gehört. Er weiß, dass tausend Waldläufer zehntausend Wölfe aufwiegen, und wird alles tun, unsere Zusammenkunft zu verhindern.« »Du meinst, er wird Jagd auf euch machen?« »Es gibt knapp siebentausend Waldläufer in den Landen. Ich bin froh, wenn sich die Hälfte hierher durchschlagen kann.« »Was ist mit den Targi? Helfen die uns nicht?« »Vielleicht.« Imril dachte nach. »Auch sie haben den Großen Ruf gehört und wissen, dass sie gebraucht werden. Sie haben die Zeit nicht vergessen, als das Reich von Thingal den gesamten Norden beherrschte.« Er schloss die Augen. »Aber sie haben Angst«, sagte er leise. »Das habe ich gespürt, als ich den Ayaddain über die Lande gesandt habe. Sie fürchten, der Schwarze Prinz könnte dem Tanzenden Tod die Macht geben, die Grenzen zu überschreiten, die die Priester der Wahrheit ihm gesetzt haben. Sie haben Angst, er könnte die Gollani überwinden und in ihre Berge vordringen. Vielleicht gibt das den Ausschlag.« »Dann bleibt uns noch Gerk«, kam Hatib aufs Thema zurück. »Warum soll ich ihn allein suchen?« »Weil er mich kennt.« Hatib machte große Augen. »Es war keine freundliche Zusammenkunft. Vor einigen Jahren bin ich zum Tempel der Wahrheit gewandert und wollte dem Ring eine Frage stellen. Sie betraf den Schwarzen Prinzen.« »Vor einigen Jahren schon?« »Es war eine Vermutung, nichts weiter«, wehrte Imril ab. »Jetzt weiß ich, dass sie richtig war. Aber ich wurde nicht vorgelassen. Gerk ist kalt und überheblich; sein ganzes Trachten gilt der Sicherung des Rings, für den er sich verantwortlich fühlt. Ich bin damals ziemlich grob zu ihm gewesen. Wenn er mich sieht, wird er uns gewiss nicht helfen.« 6 Gerk, der Priester der Wahrheit »Der Alte Niemand hat uns nicht nach dem Erft gefragt, als er im Tempel der Wahrheit war«, sagte Gerk. » Wir hätten ihm doch Auskunft gegeben.« >Jetzt lügst duImmer, wenn das Gespräch auf den Tempel kommt, fängst du an zu lügen.< Das Fernfeld ist ein raues Land, und wer es durchqueren will, braucht Mut. Im Sommer ist es durchaus möglich, denn dann sind die Tage lang und die Winde weniger kalt. Ein einsamer Vogel zieht über den Himmel, und vielleicht sieht man einen scheuen Hasen, der - kaum entdeckt - in die Gerölltäler der Karninberge flüchtet. Der Tanzende Tod dagegen, der Schrecken des Fernfelds, hat sich dann in seine Burg am Karun verzogen und schläft. Im tiefsten Winter aber dauern die Nächte im Fernfeld über zwanzig Stunden, und selbst mittags liegt nur ein diffuses Grau überm Land. Das Schlimmste aber ist der eiskalte Wind, der beständig von den Bergen pfeift. Er dringt einem bis ins Mark und hat schon manchem den Tod gebracht. Durch diesen Kältesturm wanderte eine Gestalt zielstrebig nach Norden. Hatib war seit drei Tagen unterwegs, und der Rucksack lastete schwer auf seinen Schultern, doch er verlangsamte seinen Schritt um keinen Deut. 119 Nur hin und wieder knirschten schüttere Grasbüschel unter seinen Füßen. Seit der Trennung von Imril hatte sich die Szenerie nicht verändert. Im Osten versteckten sich die Karninberge in den Wolken. Nur selten waren Felszacken hinter den Schneevorhängen zu erkennen, düster und bedrohlich, als könnten die Riesen jeden Moment zu neuem Leben erwachen. >Ich fühle schon wie ein Waldläufers dachte Hatib. Im Zwielicht konnte er kaum etwas erkennen und fürchtete, längst an Gerks Unterschlupf vorbeimarschiert zu
sein. Sollte der Priester wirklich so weit nördlich Schutz gesucht haben? Und wo? Korvo konnte nicht mehr weit sein ... Missmutig vor Hunger und Kälte, begann Hatib nach einem Schlafplatz Ausschau zu halten, nach einer kleinen Höhle vielleicht oder wenigstens nach einem Stein, hinter dem er Schutz vor dem Sturm finden konnte. Dann blieb er überrascht stehen. Vor ihm lag der Umriss eines Gebäudes, das in Dämmerung und Schnee kaum zu erkennen war. »Seltsam«, brummte Hatib und stapfte auf das Gemäuer zu. Es schien eine verlassene Burg aus der Zeit des alten Thingal zu sein. Ein viereckiger, trutziger Turm lehnte sich, von einer verfallenen Einfriedung umgeben, gegen den Wind, der um die Mauern heulte wie ein Chor verlorener Seelen. Vorsichtig umrundete Hatib das finstere Gemäuer. Was hatte die Targi nur dazu getrieben, sich in dieser menschenfeindlichen Gegend anzusiedeln? >Sinnlos, darüber nachzudenken. Das Ding ist Jahrhunderte alt, aber ein gutes Nachtlager ist es allemal.< Dort, wo einmal das Tor gewesen war, gähnte ein großes Loch. Hatib ging hindurch und kam in den Burghof. >Ein GollanDer Platz ist geschützte 120 Wie ein mahnender Zeigefinger ragte ein runenbeschriebener Pfahl vor dem Turm auf. Der wirkte völlig verlassen, doch Hatibs Instinkt für Gefahr war geweckt. Etwas stimmte hier nicht. »Ich Idiot«, murmelte er dann. »Ich habe Gerk gefunden.« Er trat ein paar Schritte zurück, legte die Hände an den Mund und schrie hinauf: »Hallo! Ist da jemand?« Doch sein Rufen ging im Heulen des Windes unter. Auf der Turmspitze sah er einen grünlichen Lichtschimmer. Hatib lockerte seinen Dolch, trat an die Tür und pochte. Hohl hallte es drinnen wider. »Ich weiß, dass du da bist«, murmelte er. »Hast du Angst vor mir?« Wie von Geisterhand ging die Tür auf, und Hatib trat ein. Vom oberen Ende der Treppe drang Licht; im Wohnraum musste ein Feuer brennen. Hatib ließ sich nicht verleiten, einfach hinaufzugehen. Vorsichtig öffnete er die Tür zur Rechten. Ein Geruch von Erde und Holz schlug ihm entgegen. Dieser Raum wurde offenbar als Vorratslager genutzt. >Er muss Helfer habenJemand hat diesen Schlupfwinkel für ihn vorbereitete Die Treppe zum Wohnraum war steil und rutschig und endete nach zwölf Stufen an einer weiteren Tür, die angelehnt war. Hatib drückte sie auf. Felle von Schneehasen lagen auf dem Boden, und an den Wänden hingen Teppiche. Diese Stube passte vielleicht in die Nördlichen Königreiche, doch keinesfalls ins Fernfeld. Ein großer Kamin in der Ecke verbreitete angenehme Wärme. Fenster gab es nicht, nur zwei Schlitze in der Mauer. Ansonsten waren ein großer Tisch mit mehreren Stühlen und ein Regal voll schwerer, alter Bücher zu sehen. 121 Am Tisch saß ein Mann in einem strahlend blauen Samtumhang. Über den Kopf hatte er eine Lodenkapuze gezogen, die an den Rändern mit weißem Fell bestickt war. Er las in einem Buch, und Hatib erkannte die rätselhaften Runen, die auch die Gollani bedeckten. Seltsam: Die Seiten waren schwarz, die Schrift weiß. Endlich blickte der Mann auf - und Hatib erschrak. Die Augen des Alten leuchteten grün wie von Smaragdflammen gespeist und sahen Hatib durchdringend an. Lange, schmale Hände mit gepflegten Fingernägeln sahen aus dem Umhang. >Das ist Absicht^, schoss es Hatib durch den Kopf. >Er will aussehen wie ein Zauberer. In Wirklichkeit ist er nur ein alter Mann mit grünen Augen.< »Willkommen in der Burg der Wahrheit!« Gerks Stimme klang heiser, als habe er lange mit keinem Menschen mehr gesprochen. »Du hast Mut, allein durchs Fernfeld zu wandern!« Er wirkte nicht im Geringsten überrascht über den unerwarteten Besuch. »Guten Abend. Bist du Gerk?« Der Priester reichte Hatib die Hand, ohne aufzustehen. »Woher kennst du meinen Namen?« »Von König Gebork. Er hat mir erzählt, du hast im Fernfeld Schutz gesucht.« Der alte Mann musterte ihn prüfend, als erwarte er in Hatibs Augen die Antwort auf eine wichtige Frage. »Er hat mir gesagt, der Tempel der Wahrheit sei vom Schwarzen Prinzen zerstört worden«, fuhr der fort. »Auch ich bin sein Feind, denn er hat Araukaria, meine Heimatstadt, in Schutt und Asche gelegt.« »Ich weiß«, erwiderte Gerk. »Ich habe es im Ring gesehen. Du hast Glück gehabt, dass du nicht gefangen wurdest.« 122 »Was ist mit den Araukariern geschehen?« »Sie wurden verschleppt.« Gerk wies auf einen Stuhl, und Hatib setzte sich. »Nach Süden, um Sklava Mhor zu erbauen.« >Er ist bestens informiert, dachte Hatib. Behutsam tastete er sich vor: »Ich habe den Schwarzen Prinzen belauscht und so von seinem Plan erfahren, Barku anzugreifen. Wir sind seinem Nebelheer zuvorgekommen und haben ihn zurückgeschlagen.«
»Dann hast du wieder großes Glück gehabt.« Gerk legte die Fingerspitzen aneinander, und in sein Gesicht trat ein dünnes Lächeln. »Unverschämt großes Glück sogar. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, ihm so mitzuspielen. Er wird wiederkehren und Rache nehmen.« »Die Nordländer werden jedenfalls nicht klein beigeben. Doch sie brauchen Hilfe. Deshalb bin ich mit meinem Gefährten auf den Karnin gestiegen, um die Waldläufer zusammenzurufen. Dann habe ich mich auf die Suche nach dir gemacht, um ...« »Du siehst hungrig aus«, unterbrach Gerk. »Es erzählt sich leichter, wenn man satt und durchgewärmt ist.« >Und du gewinnst Zeit, dir deine Antworten zurechtzulegenEr will mich prüfenWenn ich wütend werde, hat er einen Grund, mich vor die Tür zu setzen.< Also verzog er keine Miene und sagte nur: »Trotz seines hohen Alters wusste er bis zuletzt genau, was er tat. Er hat uns den Auftrag gegeben, den Schwarzen Prinzen zu vernichten.« »Das war nicht nett von ihm.« »Warum?« »Weil es unmöglich ist.« »Es ist unmöglich, wenn man es nicht versucht«, antwortete Hatib ruhig. »Und das kommt auf den Einzelnen an. Ich zum Beispiel habe es geschafft, Barku zu warnen, und jetzt haben wir die Waldläufer zusammengerufen. Vielleicht...« »Ich habe den Ayaddain gehört«, erwiderte Gerk. »Doch ich frage mich, was er bewirkt. Viele Waldläufer werden sterben, ehe sie überhaupt das Fernfeld erreichen. Und um den Rest wird sich der Tanzende Tod kümmern.« »Das wird sich weisen«, murrte Hatib. Gerks selbstgefälliger Pessimismus begann, ihm auf die Nerven zu gehen. »Auf jeden Fall ist es besser sich zu wehren, als mit klugen Worten über den Untergang der Welt zu philosophieren.« Sie starrten sich an, und die Luft schien plötzlich mit Funken geladen. Zorn huschte über das Gesicht des Alten, ver124 schwand aber so schnell, wie er gekommen war. Man wurde nicht Hohepriester, wenn man seine Gefühle nicht im Griff hatte. »Du hast diesen gefährlichen Weg sicher nicht zurückgelegt, um mich zu beleidigen«, sagte er. »Was willst du?« »Zunächst brauchen wir deinen Rat. Wir wissen zu wenig vom Schwarzen Prinzen, zu wenig von dem, was er vorhat. Du hingegen bist ihm begegnet, als er deinen Tempel zerstört hat. Was ist da geschehen?« Gerk zögerte. »Das ist eine lange Geschichte.« Hatib hatte etwas in ihm angesprochen, das noch nicht tot, noch nicht unter Hoffnungslosigkeit begraben war. »Bist du mal im Tempel der Wahrheit an den Toren des Verbotenen Landes gewesen?« Hatib verneinte. »Wir waren dort fünfundzwanzig Priester. Der Ring der Wahrheit hat große Kräfte. Er zeigt die Dinge der Welt, denn in ihm ist nichts als die Wahrheit.« >Er spricht in der Gegenwart, nicht in der VergangenheitAlso hat er den Ring noch. Und zwar hier.< Gerk starrte nachdenklich ins Feuer. »Unser Leben war dem Ring geweiht und völlig auf ihn ausgerichtet, nicht auf das, was um uns geschah. Das war unser Fehler. Denn wir bemerkten nicht, wie das Böse hinter den Roten Bergen aufstieg und Macht gewann. Dann war es zu spät. Die Pforten des Verbotenen Landes öffneten sich, und die Wölfe kamen heraus. Sie drangen in den heiligen Bezirk und töteten alle außer mir. Dass ich überlebt habe, ist ein Wunder.« Gerk sprach diese Worte ruhig, fast teilnahmslos, doch Hatib spürte, dass dieses Ereignis den alten Priester erschüttert hatte. Unter seiner Maske kochten Wut und Verzweiflung. Er fühlte noch etwas: Schuldbewusstsein. Aber weshalb? »Ich hatte Wache auf dem Tempeldach«, fuhr Gerk fort.
125 »Das hat mir das Leben gerettet. Als das letzte Portal zusammenbrach, lief ich mit noch einem Priester ins Allerheiligste und nahm den Ring. Der hat mich später sehen lassen, wie es den anderen ergangen ist. Es war entsetzlich.« Gerk legte die Hände ineinander, um ihr Zittern zu verbergen. Was immer der Alte verheimlichte - seine Gefühle waren echt. »Die Diener des Schwarzen Prinzen waren uns dicht auf den Fersen. Einige zeichnen sich durch besondere Fähigkeiten aus: die Gifalken, seine grausamsten Mitstreiter. Meinen Gefährten haben sie getötet, nur ich konnte entkommen. Es war wohl die Macht des Rings, die mich schützte. So ging der Tempel der Wahrheit unter. Wohin sollte ich mich wenden? Auf dem Weg nach Araukaria erfuhr ich, dass selbst die Hauptstadt des Alten Reichs schon vom Schwarzen Prinzen unterwandert war. Die Gifalken waren mir hart auf den Fersen. Sie brauchen keinen Schlaf, und jeden Tag zeigte mir der Ring, dass sie näher kamen. Da beschloss ich, ins Fernfeld zu ziehen und mich in den Schutz der Targi zu begeben. Sie sind uns zu Dank verpflichtet, weil wir die Gollani aufgestellt und den Tanzenden Tod in die Schranken gewiesen haben. Sie sorgen dafür, dass es mir an nichts mangelt.« Gerk legte ein Holzscheit in das erlöschende Feuer. »Warum habt ihr so spät vom Schwarzen Prinzen erfahren? Konntest du nicht sehen, was hinter den Toren des Verbotenen Landes geschah?« »Nein. Mancherorts versagt die Kraft des Rings - zum Beispiel jenseits der Roten Berge, wo Lüge und Falschheit herrschen. Auch hinter die große Ostmauer kann man nicht schauen.« »Schade«, murmelte Hatib. Er sah Resignation und Müdigkeit in den Augen des Alten. 126 Die Erzählung hatte den Priester erschüttert, doch er war sichtlich entschlossen, sich im Fernfeld zu verkriechen, bis der Sturm vorüber war. Oder bis sein Turm, den Gerk großspurig »Burg der Wahrheit« nannte, dem Schwarzen Prinzen nicht mehr widerstehen konnte. Der Ring würde mit ihm untergehen - viel zu sehr hing er an seiner Macht und Faszination. »Wo ist der Ring jetzt?« Gerks Miene verschloss sich, doch er sagte zögernd: »In dem zusammengestürzten Gemach über uns.« »Warum das denn? Dort kann man ihn dir wegnehmen!« »Den Ring der Wahrheit kann man nicht einfach stehlen. Der ist da oben vollkommen sicher.« »Seinetwegen bin ich hier. Kann er mir zeigen, welchen Weg das Wolfsheer genommen hat? Und wie viele Soldaten es zählt?« Gerk schwieg. »Das ist wichtig. Du weißt, was in den letzten Wochen passiert ist. Wir werden es schwer haben.« »Ihr werdet untergehen«, sagte Gerk barsch. »Du brauchst nicht in den Ring zu sehen, um zu erkennen, dass der Schwarze Prinz Herr der Welt ist. Es ist sinnlos, sich dagegen aufzulehnen.« »Das kommt auf einen Versuch an.« Gerk schwieg wieder. »Außerdem habe ich einen Bruder«, fuhr Hatib leise fort. »Er ist allein in den Landen unterwegs. Ich wüsste gerne, wie es ihm geht.« Diese Bitte konnte Gerk kaum abschlagen. »Weißt du, worauf du dich einlässt?« Der Priester beugte sich vor und sah Hatib eindringlich in die Augen. »Der Ring kann dir wehtun, denn die Wahrheit ist hart. Vor allem in diesen dunklen Tagen.« »Ich habe meine Heimat verloren«, antwortete Hatib. »Ich kann die Wahrheit verkraften.« Gerk gab nach. »Dann will ich es dir nicht verbieten.« >Am liebsten tätest du'sAber besser, mich in den Ring sehen zu lassen, als ihn mir zu geben.< Er folgte dem Alten in ein Nebenzimmer, wo eine Leiter stand. Gerk lehnte sie unter eine schmale Deckenluke. »Bleib nicht zu lange oben. Die Wahrheit nutzt wenig, wenn man erfroren ist.« »Willst du nicht mitkommen? Ich weiß nicht, wie man mit dem Ring der Wahrheit umgeht.« »Dabei kann ich dir nicht helfen«, erwiderte Gerk ernst. »Was immer du siehst, musst du allein sehen. Deine Wahrheit ist nicht die von jedermann.« Hatib stieg die Leiter hoch und öffnete die Luke. Droben heulte der Sturm. Hatibs Ohren hatten sich nur zu gern an die behagliche Stille im Kaminzimmer gewöhnt. In der zerborstenen Turmspitze war es finster. Nur durch ein samtenes Tuch schimmerte grünes Licht und beleuchtete die Plattform, hinter deren Rändern die Nacht begann. Es hatte wieder zu schneien angefangen, und große Flocken wirbelten herum. Hatib schloss die Luke hinter sich. Vor dem bitterkalten Wind gab es kaum Schutz. Er zog den Mantel fester um sich, hockte sich im Schneidersitz vor das samtene Tuch und hob es ab. Zuerst war der Ring so hell, dass er Hatib blendete. Er lag auf einem Block aus schwarzem Marmor, war nicht groß und würde höchstens auf den Ringfinger einer sehr schmalen Hand passen. Behutsam streifte Hatib das Orakel auf den kleinen Finger.
»Wo ist Fernd?«, fragte er und hatte Angst vor der Antwort. »Zeig mir meinen Bruder.« 128 Vor Hatibs Augen entstand ein Bild, anfangs verschwommen, als habe die Wahrheit so ihre Mühe. Zu seiner Erleichterung verdichtete sich das Bild dann zu Fernds Umriss. Er saß mit einer warmen Decke in einer dunklen Kammer und starrte nach draußen. Es schien, als habe er in einem Dorf Zuflucht gefunden. Auf der Straße stand eine silbrig glänzende Gestalt, die ganz aus Eis bestand. Jetzt wandte sie den Kopf, und Fernd schrie, als er ihrem Blick begegnete. Dann zerfiel das Bild, und Hatib konnte nichts mehr erkennen. »Was war das? Was ist mit Fernd geschehen?«, fragte er. Doch der Ring blieb stumm. Immerhin ist er noch am Leben. Und frei.< Hatibs Hände zitterten vor Kälte, doch er riss sich zusammen. Er musste mehr herausfinden. »Wo ist Bolgan? Zeig ihn mir!« Eine undurchdringliche Wand aus grünem Nebel stieg auf. Dann sah Hatib viele Menschen in einer trübseligen Kammer schlafen. Einer von ihnen war Bolgan. Im fahlen Mondlicht sah er bleich und abgezehrt aus. Eine schwarze Gestalt stand neben ihm und starrte reglos auf ihn hinunter. >Der Schwarze Prinz! Bolgan ist in der Höhle des Löwen!< Da drehte sich die schwarze Figur zu Hatib um und fixierte ihn aus grell leuchtenden Augenschlitzen. Sie trug einen Ring am Finger, in den ein Stein eingelassen war. Hatib spürte die Kraft, die vom Ring des Schwarzen Prinzen ausging, beugte sich über den Ring der Wahrheit und fragte: »Was will er?« Da riss es ihn nach oben. Hoch schwebte er über der Ebene, und in der Ferne erkannte er die Fundamente eines riesigen Pylons, den die gefangenen Araukarier errichteten. >Das also ist Sklava Mhor.< Er sah den gewaltigen Widderkopf über dem Architrav. »Zu diesem Bauwerk fehlt uns noch der Schlussstein, der 129 den Torbogen krönt und weit über die Lande leuchten wird. Wenn ich den habe, kann ich das Tor vollenden« diese Worte des Schwarzen Prinzen hatten sich in Hatibs Gedächtnis gebrannt. >Die Pforte ist der Schlüssel zum GanzenUnd dieser Stein. Ich muss Gerk danach fragen.< Das Bild änderte sich. Hatib schwebte längs des Gebirgskamms und sah auf einmal die Reste des Tempels der Wahrheit, halb mit Sand zugeweht und nur noch im Grundriss erkennbar. >Dort also hat Gerk gewohnt.< Ihm kam eine Idee. »Warum wurde der Tempel wirklich zerstört?«, fragte er den Ring. »Zeig mir die Wahrheit.« Da sah er den heiligen Ort vor der Vernichtung, eine prächtige Anlage. Menschen gingen ein und aus; einige kannte er. >Das ist ja .. .< Hatib pfiff durch die Zähne. Der Ring sah alles. Auch Verrat. >Sie waren selbst schuldDer SOG!< »Sklava Mhor ist das Tor, durch das mein Herr einst schreiten wird, wenn die Zeit gekommen ist, sein Ebenbild zu finden.« Heere zogen zum roten Horizont, Tausende, Zehntausende von Menschen, Nachtmahren und Waldschraten alles, was die Lande an dunklen Kreaturen aufzubieten vermochten. Hatib sah große Schlachten, fliehende Menschen und standhafte Helden, Paläste und Tempel in Flammen, Mord 130 und Verwüstung. Sein Herz krampfte sich zusammen. »Nein! Das darf nicht sein!« Das Licht des Rings zuckte noch einmal auf und erstarb dann zu einem grünlichen Glimmen. Hatib schrak hoch und merkte, dass er steif vor Kälte auf der Plattform saß. Der Wind heulte noch stärker, und sein Mantel war mit Schnee bedeckt. Er musste über eine Stunde im Sturm gesessen haben. Er zog das Orakel vom tauben Finger und breitete das Tuch darüber. Dann öffnete er die Luke und stieg - vor Kälte, Angst und Wut am ganzen Körper zitternd - die Leiter hinab. Gerk hockte vor dem Kamin und schürte das Feuer. Bei Hatibs Eintreten wandte er sich um. »Du bist lange draußen gewesen.« »Ich wäre beinahe erfroren. Aber es hat sich gelohnt.« Hatib setzte sich an den Kamin und streckte die tauben Hände zum Feuer. »Der Ring hat mir gezeigt, wie weit es schon gekommen ist. Außer den Nördlichen Königreichen gibt es niemanden mehr, der dem Schwarzen Prinzen Widerstand leistet.« »Das hätte ich dir vorher sagen können.« >Er freut sichEr glaubt, ich hätte nichts bemerkte »Wie geht es deinem Bruder?« »Ich hab ihn nur ganz kurz gesehen. Er hat auf ein seltsames Wesen aus Eis gestarrt. Dann wurde der Ring dunkel.«
Bei dem Gedanken, dass Fernd nicht mehr am Leben sein könnte, zerriss es Hatib fast. »Es muss nicht zum Schlimmsten gekommen sein.« Mit einem Mal verlor Gerk seine Arroganz. »Das Zauberwesen hat vielleicht die Präsenz des Rings gespürt und ihn aus seinem Gesichtskreis verbannt. Und die Lande stehen schon zu einem gewissen Teil unter der Macht des Schwarzen Prinzen 131 und damit auch der Ring. Da ist es möglich, dass er die Wahrheit verfälscht und dir das Bild deines Bruders vorenthält.« »Da war noch etwas«, sagte Hatib. »Ich habe Sklava Mhor gesehen, und mir ist wieder eingefallen, was ich dem Schwarzen Prinzen abgelauscht hatte. Er hat von einem Stein gesprochen, der ihm unsagbare Macht verleiht, wenn er die Pforte vollendet. Dabei besitzt er selbst einen Ring mit einem Stein, der Macht zu haben scheint.« »Du hast über die wichtigen Dinge in den Landen nicht allzu viel erfahren«, bemerkte Gerk spöttisch. »Hat der Alte Niemand dir etwa nie von den drei Erften erzählt?« »Vielleicht war er nicht so schlau wie du.« Gerk überhörte diese Bemerkung. »Es gab einmal einen Stein namens Erft«, begann er. »Wer ihn besaß, hatte große Macht.« Hatib musste an die Sage von Siljan denken, schwieg aber. »Wegen dieses Steins«, fuhr Gerk fort, »kam es zu schlimmen Kriegen, bis der Silbergreis erschaffen wurde, das Gesetz der Lande. Er nahm ihn den Menschen weg, zerteilte ihn in drei Teile und versteckte sie an unzugänglichen Orten. Bis heute halten sie die Welt im Gleichgewicht. Der Rote Erft fand in der Ostmauer seinen Platz. Ein anderes Stück des Steins kam auf den Großen Karnin, doch die Gifalken haben ihn gestohlen und ihrem Herrn gebracht.« Hatib hielt den Atem an. »Der Stein am Ring des Schwarzen Prinzen?« »Genau. Seit er in seinem Besitz ist, nennt man ihn den Großerft, den Stein der Träume - der dunklen Träume.« »Das hat mir der Alte Niemand tatsächlich nie erzählt«, murmelte Hatib überrascht. »Dann hat er von den wichtigsten Dingen der Lande keine Ahnung gehabt«, meinte Gerk nur. 132 »Warum habt ihr ihn nie aufgeklärt? Immerhin war er doch mal im Tempel der Wahrheit.« Gerks Lächeln verschwand. »Er hätte doch von der Teilung des Erfts erfahren müssen«, bohrte Hatib weiter. »Der Alte Niemand hat uns nicht nach dem Erft gefragt, als er im Tempel der Wahrheit war«, sagte Gerk. »Wir hätten ihm doch Auskunft gegeben.« >Jetzt lügst duZeit zu gehenEr hat's geahnt.< Hatib hätte schreien können vor Wut. Er schloss die Luke und stieg runter. Im Kaminzimmer merkte er, was sich verändert hatte: Gerks Schnarchen war verstummt. >Natürlich. Diesen Triumph möchte er auskosten.
Wir werden uns nicht Wiedersehens dachte er mutlos. Von der eingestürzten Höhle her rauchte und staubte es noch immer. Hatib ging wie im Traum an den Trümmern vorbei. Eine Stunde schlug er sich durch die Schlucht, sprang über kleine Bäche und kletterte über Felsen. Zwei Meilen stromaufwärts zweigte schließlich ein kleines Seitental ab. Hatib folgte dem zugefrorenen Wasserlauf, froh, die Schlucht mit den gewaltigen Eiszapfen zu verlassen. Je höher er stieg, desto vorsichtiger wurde er. Oben angekommen, schaute er sich um. >Niemand zu sehen. Mit diesem Manöver haben sie nicht gerechnete Der Horizont war violett verfärbt, und die Akaruna sahen im Gegenlicht so fremdartig aus, dass Hatib einen Moment gedacht hatte, es handle sich um Nachtmahre. >Es wird wärmer. Bald werden die Eiszapfen schmelzen.< Er trat aus der Deckung und machte sich auf den Weg. Obwohl er den Erft dick eingewickelt hatte, spürte er seine Verderben bringende Kälte am ganzen Leib. >Der Priester soll mir zeigen, wie man ihn gebrauchtUnd wie man sich vor ihm schützte Ein Schrei zerriss von fern die Stille. Die Nachtmahre hatten Imril bemerkt. »Viel Glück«, murmelte Hatib noch mal. »Du wirst es brauchen.« I67 Die Akaruna machten das Fernfeld unübersichtlich - das sollte Imrils Leben retten. Die Nachtmahre hatten darauf vertraut, die Gefährten würden ihnen ahnungslos in die Arme laufen. Doch Imril konnte sich an ihnen vorbeischleichen, was sie erst spät bemerkten. Zwanzig grauenvolle Stunden jagten sie ihn. Dann erreichte er die Feuersümpfe und brach dort zu Tode erschöpft zusammen. Da hatten die Nachtmahre die Verfolgung schon aufgegeben und begriffen, dass sie genarrt worden waren. So hatte Imril Hatib gut fünfzig Stunden Vorsprung verschafft. Drei Tage vergingen, da wurde es hell. Und wärmer. Imril humpelte etwas, doch er war zäh. Vorsichtig und ohne Hast suchte er einen Pfad durch die Sümpfe. Aus Felsspalten drang beißender Rauch, und in tiefen Gruben leuchtete rote Lava -der trügerische Grund, auf dem das von der Ul-Um verfluchte Land ruhte. Imril wusste, dass er nicht willkommen war. Wenn er auf die Lavaberge schaute, spürte er Feindseligkeit. >Die Riesen sind dennoch gerechtIhre Seelen sind noch nicht erloschen. Sie werden mir eine Chance geben, durchzukommen^
Am vierten Tag kroch die Sonne als riesiger roter Ball über den Horizont und erfüllte das Land mit lang entbehrter Wärme. In der Drehnschlucht spiegelten sich ihre Strahlen in den Eiszapfen. Bald tropften sie, und erste Sprünge zeigten sich. Der vom Schmelzwasser geschwollene Drehn tobte schmutzbraun unter ihnen her. Sechs weitere Tage vergingen. Stille lag über dem Land, nur unterbrochen vom leisen Grollen der schwarzen Berge oder vom Wind, der sacht über das tauende Eis strich. Noch war Hatib frei, doch jeder wäre bei seinem Anblick 168 erschrocken, so rasch verfiel er. Zwei Monate Marsch durch die lebensfeindliche Landschaft hatten ihn sehr geschwächt. Hager und eingefallen war sein Gesicht, und die einst kräftigen Hände hatten nun Spinnenfinger. Vermutlich hatte sein Zustand mit dem Dörrfleisch zu tun, das von schrecklichen Wesen stammte. Nur eine kleine Ration war noch übrig, die er für die letzten, schlimmsten Tage im Fernfeld aufsparte. Auch der Erft zehrte an seinen Kräften. Noch hatte Hatib Lebensenergie, auch wenn ihm das Aufstehen nach jeder Pause schwerer fiel. Seine Füße waren wund - eher eine Folge der schlechten Ernährung als der vielen Meilen, die er zurückgelegt hatte. An diesem Tag sah er den Karun aus der Ferne. Deutlich zeigte sich sein dunkler Umriss im Süden. Auf Hatib wirkte dieser Anblick fast lähmend: Diesmal war der Tanzende Tod gewarnt. Sollte er versuchen, durch eine der Höhlen am Karnin an ihm vorbeizukommen? Nein! Lieber vom Tanzenden Tod getötet werden als von den dunklen Wesen, deren Fleisch er gegessen hatte. Sie würden ihren fauligen Geruch an ihm wittern. Von einer dunklen Ahnung gepackt, wandte Hatib sich um: Nachtmahre! Sie waren nur noch zwei Meilen entfernt und stürmten heran, so schnell sie konnten. Wie weit war es zum Karun, wo der Herrschaftsbereich ihres früheren Herrn begann? Acht Meilen? Vielleicht etwas mehr? Würde sein Vorsprung reichen? >Einer wird mich besiegendie Nachtmahre oder der Tanzende Tod. Aber ich werde meine Haut teuer verkaufend 169 Dann warf er den Rucksack auf die Schultern und rannte los. >Er ist in GefahrIch spüre es.< Suchend schaute er sich um. Die Nachricht war so klar, als hätten die schwarzen Berge sie ihm zugerufen. Seine Nerven hatten gelitten in diesem unheimlichen Land; immer wieder schrak er zusammen, weil er eine wunderliche Gesteinsformation für den Schatten eines lauernden Ungeheuers hielt. Doch anders als sein Freund hatte er das schwerste Stück der Reise hinter sich und noch genug Nahrung, um bis zum Versammlungsort der Waldläufer zu kommen. In den letzten Tagen hatte er viel über den Erft nachgedacht. Wie groß war seine Macht? Imril war Realist. Er hielt es für unmöglich, dass der Kampf gegen den Schwarzen Prinzen durch einen Stein entschieden werden konnte. Das entsprach nicht den Gesetzen der Lande - es war zu einfach. Was konnte ein Stein gegen diese Gesetze ausrichten? Diese Frage stellte Imril sich immer wieder. Nachtmahre sind zäh und ausdauernd; kein Mensch kann ihnen auf lange Sicht entkommen. Hatib wusste das. Doch der Karun kam näher. Mittlerweile war auch Korvo an seiner Westflanke zu erkennen. Und der Tanzende Tod? Panik ergriff Hatib bei dem Gedanken, dass er genau auf seine Wohnstätte zulief. >Besser er als die Nachtmahre. Bei ihm geht's schnellere Ein Brüllen riss ihn aus seinen Gedanken, und er sah sich entsetzt um. Seine Verfolger waren bis auf dreihundert Meter an ihn he170 rangekommen. Einer hätte es sogar beinahe geschafft, ihm den Weg abzuschneiden, und brach nun kaum dreißig Meter hinter ihm durch die Akaruna. Hatib rannte, was das Zeug hielt, doch er war zu langsam. Da zog er sein Messer. »Na komm!«, brüllte er. Schon hob der Nachtmahr die Klauen und fletschte die Zähne. Blitzschnell stach Hatib zu. Er traf das Vieh in die Leiste, ließ das Messer los und wollte dem gefährlichen Gebiss ausweichen. Zu spät - die Zähne des Nachtmahrs fuhren in seine Schulter. Verzweifelt versuchte er sich zu befreien, da ging das Maul des Angreifers auf und gab einen langen, heiseren Schmerzensschrei von sich. Hatib riss sich los und rannte, was seine Beine hergaben. Aus der Schulter sickerte Blut, und sein Rücken tat höllisch weh. >Wenn Imril doch hier wäreDer wüsste einen Auswege Da sah er fünfhundert Meter weiter den Gollan stehen. Das gab ihm neue Kraft, doch die Nachtmahre holten unaufhaltsam auf. Schon drang ihr Keuchen an sein Ohr. >Nicht lebendNicht lebende Dann war er am Gollan! Der Schnee verlor sich im Basalt -Hatib hatte das Fernfeld erreicht. Wie durch einen Schleier sah er die Wolkenburg in den Himmel ragen. In diesem Moment erschien sie ihm wie eine rettende Insel. Dann merkte er, dass die Nachtmahre ihm aufs Fernfeld gefolgt waren. »Sie haben sich jemandem unterworfen, der mächtiger ist als der Tanzende Tod.« Imrils Worte klangen ihm im
Ohr, und er wusste, dass die Jagd vorüber war. Scharfe Klauen streckten sich gierig nach ihm aus und zuckten wild durch die Luft. >Du bist zu weit gegangen^ sagte eine innere Stimme. Jetzt bezahlst du den Preise 171 »Nein!«, schnaubte Hatib wutentbrannt. Dann war es vorbei. Er stolperte, und in einem gellenden Schrei zersplitterte die Macht seines Willens an der Realität. Er stürzte und brach zusammen; dann wurde es still und dunkel. >Es gibt Gesetzen Immer wieder kehrte Imril zu diesem Gedanken zurück. >Wenn der Silbergreis den Schwarzen Prinzen nicht daran hindern kann, sie zu brechen - warum sollte der Erft es können? Und wenn doch: Warum hat der Silbergreis den Stein nicht schon längst eingesetzt? Immerhin hat er als Einziger Zugang zu ihm.< Da flüsterte es böse in ihm: >Und wenn er den Schwarzen Prinzen nicht bekämpfen will? Wenn er mit ihm im Bunde ist?< »Das kann nicht sein«, murmelte Imril. »Der Schwarze Prinz will uns Böses, nicht der Silbergreis.« »Weißt du, was Gut und Böse ist?«, flüsterte die Stimme. »Und wie die Gesetze lauten? Weißt du, wer der SOG ist?« »Woher denn?«, wehrte Imril ab. »Ich kann nur tun, was ich für richtig halte.« Doch damit brachte er die Stimme nicht zum Schweigen. Manchmal durchzuckte ihn die Idee, der Silbergreis könnte die Lande mit Hilfe des Schwarzen Prinzen gegen die Menschen aufgehetzt haben. Dann aber wäre ausgerechnet er der SOG! Imril wehrte sich gegen diese Idee, so gut er konnte. Hatib erhob sich mühsam. Sein Mantel war schweißnass vor Angst und Anstrengung, seine Schulterwunde blutverkrustet. »Was ist passiert?«, murmelte er. Beim Aufstehen schwankte die Welt vor seinen Augen. »Die Nachtmahre.« 172 Mühsam hielt er sich an diesem Zipfel Wirklichkeit fest. »Ich bin gerannt...« Er sah sich um - und war hellwach. Keine drei Meter entfernt standen sie, im Lauf erstarrt, und schauten ihn aus blinden Augen an. >Er hat sie versteinerte Mühsam nahm er den Rucksack auf. Die Schulter schmerzte, und er zitterte am ganzen Körper. Doch er lebte. Warum hatte ihn der Tanzende Tod verschont? >Er hat noch was mit mir vor. Sicher nichts Gutes.< Stolpernd nahm er den Marsch wieder auf, doch sein Mut war gebrochen. Noch war Korvos Steinportal geschlossen. Wollte der Tanzende Tod sehen, wie weit er kam, um ihn kurz vor dem Ziel zu töten? Doch der Herr der Wolkenburg durfte den Blauen Erft so wenig bekommen wie die Nachtmahre. Langsam und unsicher stieg Hatib die steinige Flanke des Karun hinauf. Droben lag Korvo düster im Schatten des Berges. Nie wärmte die Sonne die dunklen Mauern. Der Turm mit den giftgelben Schlitzen erhob sich drohend über ihm, und Hatib senkte den Blick. Die Rechnung des Tanzenden Todes mit den Nachtmahren war beglichen. Die mit Hatib stand noch aus. >Er spielt mit mirEr wartet wie die Spinne im Netz, doch irgendwann holt er mich. Aber vielleicht verschätzt er sich - die Spalten sind nicht weit.< Dieses Denken war für Hatib typisch. Es hatte ihn die ganze Zeit am Leben erhalten und allen Gefahren glücklich entrinnen lassen. Natürlich war ihm das Ziel, den Schwarzen Prinzen zu besiegen, stets bewusst. War aber sein Leben aufs Höchste bedroht, konnte er seine Pläne - statt an ihnen zu ersticken - einfach wie eine Karte zusammenfalten und im hintersten Winkel seines Gehirns verstauen, wo sie nicht mehr 173 störten. Kleinere, widerstandsfähigere Illusionen traten dann an ihre Stelle. Barku, die Waldläufer, Gerks Turm all das lag außerhalb seiner Möglichkeiten. Doch die Höhlen und unergründlichen Felsspalten waren erreichbar. Noch eine Meile, dann würde er ausruhen können. Für ein paar Stunden? Für immer? Das scherte Hatib nicht, und darin lag seine größte Stärke. Ein Grollen ließ ihn zusammenfahren. Korvos Tor hatte sich geöffnet, und eine graue Wolke drang heraus, die die Burg ums Doppelte überragte. Jetzt setzte sie sich in Bewegung. >Töte mich - aber den Erft bekommst du nicht!< Das Ziel war fast erreicht: ein meterbreiter Abgrund, dessen Sohle sich den Blicken entzog. Das Heulen der UlUm scholl daraus hervor. Hatib erschien es wie ein Heimruf. Er hoffte inständig, er wäre tot oder wenigstens nicht mehr bei Bewusstsein, wenn die dunklen Wesen, deren Fleisch er gegessen hatte, ihn am Grund der Spalte fanden. >Nur ein Schritts dachte er, wandte sich dem anheulenden Eissturm zu und spürte die grausige Kälte. Sein Mund öffnete sich zu einem irren Lachen. Dann nahm er den Rucksack ab und hielt ihn über den Riss. Ein Brüllen antwortete ihm aus den Wolken. Hatib ließ los und tat den entscheidenden Schritt. Es war ganz leicht. >Aus!Ich hätte Hatib nicht allein lassen sollenGorgor! Und er hat mich auf den ersten Blick erkannt. Ich wollte, meine Augen wären noch so scharf wie seine.< Erleichtert stieg er dem alten Freund entgegen. >So lange habe ich keinen Menschen gesehen und treffe ausgerechnet ihn.< Auf dem windgepeitschten Grat schüttelten sie sich die Hände - und umarmten sich dann tief bewegt. »Sei gegrüßt, Imril«, sagte Gorgor mit tiefer Stimme. Seine Augen funkelten vor Wiedersehensfreude. »Sei mir gegrüßt. Was hat dich in diese Einöde getrieben?« Gorgor überragte Imril fast um Haupteslänge, und sein Gesicht war von Bart und Haaren so verwildert, dass nur die Augen zu erkennen waren, die scharf, aber gütig unter buschigen Brauen hervorblitzten. Er trug einen groben Mantel aus verblichenem Schaffell. In der Hand hatte er einen Wanderstab. »Du hast uns doch gerufen, Imril - schon vergessen? Der Ayaddain ist nicht ungehört verklungen.« »Das freut mich«, sagte Imril erleichtert. »Aber du bist weit nördlich des Versammlungsplatzes.« »Deinetwegen. Als ich am Karnin eintraf und du nicht da 176 warst, hab ich mir Sorgen gemacht. Mittlerweile suchen mehr als ein Dutzend Waldläufer nach dir.« »Das ist gut, denn im Fernfeld ist jemand, der vielleicht Hilfe braucht. Sind schon viele Waldläufer am Karnin?« Gorgors Lächeln verschwand. »Auch der Schwarze Prinz hat deinen Ruf gehört, und die Wölfe töten jeden, den sie finden können. Wirst du verfolgt?« »Nicht mehr.« Imril berichtete, was sich zugetragen hatte. »Das hätte selbst ich dir nicht zugetraut«, meinte Gorgor, als Imril fertig war. »Du bist nicht mehr der Jüngste.« »Für so was ist man eigentlich immer zu alt.« »Glaubst du, Hatib ist etwas zugestoßen?« »Ich bin mir nicht sicher«, antwortete Imril ernst. »Wir werden sehen. Ich habe übrigens eine gute Nachricht für dich: Gestern bin ich den Targi begegnet.« Imril machte große Augen. »Sie haben mit dir gesprochen?« »Einige beherrschen unsere Sprache noch. Sie haben deinen Ruf gehört und kämpfen vielleicht mit.« »Das ist erfreulich. Immerhin ...« »Es ist eine ungewöhnliche Situation eingetreten«, unterbrach Gorgor. »Im Süden geschieht Beängstigendes. Der Schwarze Prinz hat in seinem Machthunger fast die gesamten Lande unterworfen. Nur die Nördlichen Königreiche widerstehen ihm noch. Den Targi ist klar, dass der Sturm über sie hereinbricht, wenn sie sich nicht
wehren. Weißt du, was man sich unter den Waldläufern erzählt? Angeblich versucht der Schwarze Prinz, sich auch den Tanzenden Tod Untertan zu machen.« »Schöne Aussichten«, murmelte Imril mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich habe viel nachgedacht. Es gab immer Gesetze in den Landen, oder? Im Moment sieht es aus, als 177 würden sie gebrochen, eins nach dem anderen. Nichts stimmt mehr.« »Noch ist nicht aller Tage Abend«, erwiderte der Hüne. »Erst wenn wir Waldläufer den Mut verlieren, ist alles verloren.« Endlich hatte die Sonne ihr Werk vollendet. An den gesprungenen Eiszapfen der Drehnschlucht strömte Schmelzwasser in den reißenden Fluss. Dann löste sich der erste gewaltige Zapfen von der Steilwand und stürzte mit ohrenbetäubendem Krachen hundertachtzig Meter tief in sich zusammen. Eisstaub wirbelte durch die Luft, und der Drehn schäumte. Andere Zapfen folgten. Der Frühling hatte begonnen. Durchs Fernfeld dagegen fegte noch immer ein eisiger Wind, und die Nordstraße lag im Schatten der Karninberge. Hatib saß zusammengesackt auf einem Stein und war kaum wiederzuerkennen. Seine Vorräte waren verbraucht. Die letzten Mahlzeiten hatte er nicht bei sich behalten können. Am ersten Tag war er noch zwanzig Meilen gewandert, immer in Angst vor dem Tanzenden Tod. Am zweiten Tag waren es fünfzehn Meilen und gestern nur mehr fünf, die er dem Fernfeld abgerungen hatte. Jetzt ging es nicht mehr. Er war am Ende und der letzte Teil des Wegs nicht mehr zu meistern. Die Nordlande hatten sich als stärker erwiesen. Hatib war so erschöpft, dass er seine Niederlage gleichmütig hinnahm. Nur Frieden wollte er haben, endlich Frieden. Den Kopf auf die Brust gesenkt, den Mantel umgewickelt, erwartete er den Tod. Am Anfang hatte er noch gespürt, wie die Kälte hochkroch 178 und sich in ihm ausbreitete. Jetzt durchzuckte ihn nur noch dann und wann ein schmerzliches Pochen und ließ seinen Kopf schlaff hin und her pendeln, als bewege er sich im Traum. Hatte er es nicht so gewollt? War es nicht sein Wunsch gewesen zu wandern, bis der Körper hinter seinem Willen zurückblieb? Mochte er auch sterben - vergessen war er nicht! Durch diese Phantastereien hindurch hörte er Schritte kommen. »Hoffentlich überlebt er den Rückweg«, sagte einer. »Sieht nicht so aus«, antwortete ein anderer. Dann verlor Hatib das Bewusstsein. 9 Die Versammlung der Waldläufer Gerks Augen blitzten. »Sterben müssen wir alle. Aber warum sollte der Tanzende Tod stärker sein als ich?« Ganz allmählich kam Hatib wieder zu sich. Wie nach langem Winterschlaf kehrte er aus der schemenhaften Welt des Vergessens zurück und öffnete die Augen. Nacht umgab ihn. Dann hörte er Gemurmel und das Geräusch von Schritten - er war wieder unter Menschen. Auf Stroh gebettet lag er da, in warme Decken gehüllt. >Was ist passiert?< Er hatte geträumt, taub durch dunkles Wasser zu treiben. Einmal war er aufgetaucht und unter einem dunklen Himmel dahin geglitten. In der Ferne hatte ein Licht geleuchtet und Erleichterung und Ruhe verheißen. Dann aber hatte ihn eine Strömung erfasst und in eine andere Richtung getrieben. Der weiche Druck auf seinen Körper hatte nachgelassen, und das Licht war immer heißer und greller geworden. Davon war er aufgewacht. Mühsam sammelte sich Hatib. Wo war er? Er schien nicht gefesselt zu sein und fühlte sich warm und geborgen. »Ich glaube, er hat es geschafft«, sagte eine Stimme. >Das ist Imril.< Verschwommene Erinnerungen stiegen in 180 Hatib auf: Sie waren zusammen durchs Fernfeld gezogen. Durch Drehnland. Der Tanzende Tod ... Er zuckte zusammen. Eine Hand strich ihm übers Gesicht. »Es wird dauern, bis er aufstehen kann.« >Ich bin am Großen KarninEinmal hab ich ihn überlebt. Aber noch mal?< Schon glaubte er, das Brüllen und Toben zu hören. »Er lässt sich Zeit«, stellte er fest und musterte den Horizont. »Es wird zwei Stunden dauern, bis er hier ist. Was sollen wir tun?« »Abwarten. Viel hängt davon ab, ob die Höhle noch geschützt ist.« Aller Augen richteten sich auf den Gollan. Gestern hatten sie ihn mühsam wieder aufgerichtet, doch jeder wusste, dass seine Macht gebrochen war. Es war nur eine Frage der Zeit, wann der Zugang für den Tanzenden Tod frei war. Imril deutete nach Norden. »Schaut! Da kommt noch jemand.« Etwa drei Meilen entfernt war eine Gestalt auf der Nordstraße aufgetaucht. Noch war sie kaum zu erkennen. Hatib schätzte die Entfernung. »Das wird knapp ...« »... aber er könnte es schaffen«, versetzte Imril. »Vielleicht ist das Gerk - der wüsste, was wir tun sollen.« »Das ist Gerk.« Orch, der Targi, war neben sie getreten. »Er 190 kommt, um mit uns gegen Korvaus-Nain zu kämpfen, den ihr den Tanzenden Tod nennt.« »Bis jetzt ist er vor ihm eher davongerannt«, brummte Hatib. »Er kann den Tanzenden Tod besiegen«, beharrte Orch. »Zu schön, um wahr zu sein«, stöhnte Hatib. »Dann wäre er zum ersten Mal zu etwas nütze.« Gorgor kniff die Augen zusammen. »Jetzt weiß ich, warum der Herr von Korvo so langsam ist. Seht mal genau hin.« Hatib folgte seinem Blick. Vor der Wolke waren schwarze Schatten aufgetaucht und gewannen langsam Kontur. »Die Nachtmahre«, sagte er. »Er treibt sie vor sich her.« »Wie viele sind es?«, fragte Imril. »Schwer zu sagen. Sie sind noch zu weit weg.« Zwei Stunden krochen quälend dahin. Es wurde still am Versammlungsplatz der Waldläufer. Gerk, der Priester der Wahrheit, erreichte als letzter Vorbote des Tanzenden Todes die Höhle. Obwohl ein Marsch von mehreren Tagen hinter ihm lag, war ihm die Anstrengung kaum anzusehen. Sein Bart sah ein wenig länger und ungepflegter aus, als Hatib ihn in Erinnerung hatte; auch der dunkle Mantel war am Saum mit Erde beschmutzt. Doch Gerks Blick war scharf und überheblich wie ehedem. »Willkommen!«, begrüßte ihn Hatib nicht gerade freundlich. »Hat es dir im Turm nicht mehr gefallen? Sehr erfreut, dass ich deine Gastfreundschaft erwidern darf.« »Kann ich mir denken. Du brauchst mich auch dringend«, gab ihm Gerk mit gleicher Münze zurück. Der alte Priester hatte sichtlich keine Lust, sich Vorwürfe anzuhören. »Ich werde deine Gastfreundschaft nicht allzu lang in Anspruch nehmen.« 191 Seine grünen Augen funkelten angriffslustig. Was auch immer Gerk seit ihrer letzten Begegnung erlebt hatte höflicher war er nicht geworden. »Magst du etwas essen?«, fragte Imril, um die Wogen zu glätten. »Danke«, erwiderte Gerk lächelnd. »Doch es gibt Wichtigeres zu tun. In zwei Stunden sind die Nachtmahre und der Tanzende Tod hier. Da werdet ihr schwere Verluste erleiden.« »Du wirst uns doch nicht etwa helfen wollen?«, knurrte Hatib unversöhnlich. »Wir haben eine Abmachung«, sagte Gerk kalt. »Du holst den Blauen Erft, und ich stehe euch bei, wenn dir das gelingt.« »Hier ist er.« Hatib zog den Lederbeutel hervor, doch der Alte wehrte ab. »Lass gut sein. Mein Ring hat mir gezeigt, dass du ihn hast.« »Schau ihn dir trotzdem an.« Hatib öffnete den Beutel. Blaues Licht erfüllte die Höhle. »Unangenehm, was? Kannst du mir sagen, wie man ihn gebraucht?« »Auf jeden Fall nicht, indem man ihn rumzeigt. Niemals darf er in die Hand des Schwarzen Prinzen fallen!« »Der ist im Augenblick nicht das Problem«, knurrte Gorgor. »Sondern die Nachtmahre und der Tanzende Tod.« »Das eine hängt mit dem anderen zusammen.« Gerk ordnete ungerührt die Falten seines Mantels - eine seltsame Geste in der verrußten Höhle. »Du, Hatib, hast die Pläne des Schwarzen Prinzen durchkreuzt. Deshalb ist jetzt das furchtbarste Bündnis in der Geschichte der Lande zustande gekommen: Der SOG und der Tanzende Tod haben zusammengefunden.« »Und seitdem werden die Gollani zerstört«, sagte Imril. »Genau.« Ein schmerzlicher Zug lief über Gerks Gesicht. 192 »Die Burg der Wahrheit ist nur noch ein Trümmerhaufen. Ich hoffe, der Versammlungsplatz kann länger widerstehen.« »Hast du unseren Gollan nicht gesehen?«, fragte Imril. »Auch er ist beschädigt.« »Noch schützt er uns. Sieben Pfeiler stehen an den Grenzen des Fernfelds. Und fünf im Inneren, um Plätze wie diesen zu schützen. Unser Gollan ist der mächtigste der fünf. Irgendwann wird er fallen, doch selbst Krono-Nain kann ihn nicht einfach so zerstören. Deswegen hat der Tanzende Tod die Nachtmahre dabei: Sie sollen für ihn an
den Blauen Erft gelangen.« »Schöne Aussichten. Was tun wir jetzt?« »Es sind ungefähr tausend Nachtmahre«, sagte Gerk. »Ihr seid zwölfhundert Waldläufer und zweitausend Targi da wird es euch doch nicht schwer fallen, sie zusammenzuhauen, was?« »Das allein reicht eben nicht, du Schlauberger«, knurrte Hatib wütend. »Du sagst selbst, dass der Gollan irgendwann fällt. Dann wird der Tanzende Tod uns besuchen kommen.« Gerk lächelte immer noch. »Das kann er nicht.« »Warum nicht?« »Weil ich bei euch bin.« »Und?« »Vergiss nicht, wer ihm einst die Grenzen gesetzt hat. Ich werde nicht zulassen, dass er die Regeln verletzt.« »Nimm den Mund nicht zu voll«, erwiderte Hatib, der dem alten Priester mit Unwillen, aber auch mit wachsendem Erstaunen zugehört hatte. »Auch du bist nur ein Mensch. Wenn du dich ihm entgegenstellst, bedeutet das deinen Tod.« Gerks Augen blitzten. »Sterben müssen wir alle. Aber warum sollte der Tanzende Tod stärker sein als ich?« Er sagte das, als wäre es das Normalste von der Welt. Hatib 193 fragte sich, ob der Priester ein Prahlhans war. Oder ein Lügner, der sie ins Verderben führen würde. Aber aus Gerks Miene war alle Selbstgefälligkeit verschwunden und hatte finsterer Entschlossenheit Platz gemacht. >Er wird es tunWie sehr muss er den Tanzenden Tod hassen Da überwand er seine Abneigung. Sie hatten ohnehin keine andere Möglichkeit - sie mussten Gerk vertrauen. In diesem Moment trat Tikail wieder ans Feuer. »Er ist nur noch eine halbe Meile entfernt«, meldete er. »Also - sehen wir ihn uns an«, sagte Gerk. Vor der Höhle war es bitterkalt geworden. Nur noch zwei Posten standen Wache, denen die Anspannung deutlich anzusehen war. »Geht rein«, befahl Imril leise. Das ließen die beiden sich nicht zweimal sagen. Hoch wirbelte die bleigraue Wolke über ihnen auf, und Hagelkörner pfiffen durch die Luft. Die Nachtmahre kämpften sich den Hang hoch und kamen näher. »Ihr müsst sie vernichten.« Gerk sprach laut, um das Tosen zu übertönen. »Nur dann kann das Unternehmen gelingen.« »Wie denn? Draußen geht es nicht.« »Lasst sie in die Höhle und haut sie dann zusammen.« Die Waldläufer schauten sich fragend an. »Das ist sehr riskant«, meinte Imril schließlich. »Wir könnten uns im Eingang postieren; dann haben wir den Rücken frei und können die Nachtmahre abwehren ...« »Das reicht nicht«, fiel Gerk ihm ins Wort. »Sie müssen sterben, heute noch. Die Zeit wird knapp. Der nächste Blitz, der den Gollan trifft, wird ihn vernichten.« »Wenn wir die Nachtmahre in die Höhle lassen, gibt es ein Blutvergießen«, murrte Imril. 194 Hatib blickte schaudernd zu den brüllenden Wolkenfetzen auf. Er glaubte, aus Nebel geformte Hände zu sehen, die nach ihnen griffen. Der Tanzende Tod hatte seine Gegner erkannt. »Wir müssen zurück«, rief er in den Sturm hinein. »Hast du nicht zufällig auch einen Zauber gegen Nachtmahre, Gerk? Das würde vielen das Leben retten.« »Wie gesagt - die sind eure Sache.« Der Priester verschwand im Eingang. Die anderen tauschten einen Blick. »Überheblicher Schweinehund«, knurrte Hatib. »Er ist unsere einzige Chance«, sagte Imril. »Und das weiß er. Tun wir, was er will, und hauen wir die Nachtmahre zusammen.« In der Höhle war es totenstill. Die Luft roch dumpf und feucht. Waldläufer und Targi erwarteten dicht gedrängt das Kommende und blickten kalt entschlossen. >Sie sind ganz anders als die Nordländer^ dachte Hatib, der am Eingang stand. >Die Barkuri waren tapfer, aber ungeübt -die hier sind harte Krieger. Mit den Waldläufern könnten wir den Schwarzen Prinzen das Fürchten lehren. Wenn dieser Versammlungsplatz nicht unser Grab wird.< »Wo ist der Erft?«, fragte Hatib leise. »Im hintersten Teil der Höhle vergraben«, raunte Gorgor. »Dort finden ihn die Nachtmahre nie.« »Zumindest ein paar von uns müssen überleben«, flüsterte Tikail. »Und berichten, was geschehen ist.« Minutenlang herrschte unerträgliche Stille. Dann erreichte der Tanzende Tod sein Ziel. Der Boden erzitterte. Ein kalter Windstoß fegte Schnee in die Höhle. »Lasst erst ein paar Nachtmahre reinkommen«, flüsterte Hatib. l95 »Klar«, flüsterte Gorgor grimmig. »Es muss sich ja lohnen, wenn wir zuschlagen.« Draußen begann es zu fauchen, dann hörte man Schritte. Und wieder Schritte. Das Fauchen verstummte. Im Eingang wurde es dunkel, und ein großer Nachtmahr schob sich herein.
Er zuckte zurück, als er die Reihen der Waldläufer sah, trat vorsichtig an die Wand und gab den Eingang frei, durch den nun ein Nachtmahr nach dem anderen kam. Mehrere Minuten verstrichen. Als ein Großteil der Untiere in die Höhle gedrungen war, rief Imril: »Los!« Waldläufer und Targi griffen an. Die Nachtmahre drängten sich zunächst am Eingang zusammen, um dem Gegner möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten; dann brachen sie wie auf ein Zeichen fauchend los. Steine flogen von der Decke. Die Targi waren wie Spinnen die Wände hochgeklettert und nahmen die Nachtmahre von dort aus gezielt unter Beschuss. Mancher brach erschlagen zusammen, doch auch Waldläufer wurden getroffen. »Drauf!«, schrie Hatib und versuchte, mit einigen Kämpfern zum Eingang vorzustoßen, um die Eindringlinge zu teilen. Doch das sollte sich als unmöglich erweisen. Mit solcher Schnelligkeit drang ein Nachtmahr nach dem anderen aus dem Spalt, dass der Vorstoß scheiterte. Meter um Meter mussten Hatib und seine Leute zurückweichen. Schreie und Stöhnen mischten sich unter den Kampflärm. Oft lagen ganze Gruppen ineinander verkeilt und bearbeiteten sich mit Dolchen und Zähnen. »An der Wand entlang zum Eingang!« Hatib hatte seine Waffe erhoben und sammelte die Waldläufer um sich. »Gute Idee«, knirschte Gorgor, der gerade einen Nachtmahr niedergetreten hatte, der fast einen Kopf größer war als 196 er. Die Kraft des Hünen schien unerschöpflich. »Wir schneiden den Biestern den Rückzug ab und hauen sie nieder.« Meter für Meter arbeiteten sie sich vor. Endlich hatte Hatib sein Ziel erreicht. Zusammen mit Gorgor stand er vorn. Wie wahnsinnig bearbeiteten sie die von draußen hereindrängenden Nachtmahre. Dann tat sich eine Lücke auf, und die Waldläufer stießen zum Eingang vor, um kein Untier mehr einzulassen. Plötzlich stand Hatib neben Imril, der sich ebenfalls nach vorn gearbeitet hatte. »Wir haben es fast geschafft!«, brüllte er. »Freu dich nicht zu früh!« Wild rannten die Nachtmahre gegen die überlegenen Gegner an. »Verstehst du, warum sie sich nicht zurückziehen?«, rief Hatib. »Lieber lassen sie sich abstechen.« »Auf diese Weise sterben auch unsere Leute«, kam zur Antwort. »Wir haben schon über hundert Mann verloren, und dabei wird es nicht bleiben.« Wieder drängten die Nachtmahre herein. Ihre Klauen zuckten gefährlich durch die Luft, und sie rannten gegen die geschlossenen Reihen der Waldläufer an. »Sieh mal!«, rief Imril und deutete entsetzt auf den Eingang, doch Hatib kam nicht dazu, seinem Blick zu folgen. Ein großer Nachtmahr hatte sich durchgearbeitet und tauchte unmittelbar vor ihm auf, brüllend, hochaufgerichtet, die Augen weiß verdreht. Noch nie war Hatib so bestialischer Wut ausgesetzt gewesen. Er sprang zurück, prallte gegen einen anderen Kämpfer und fiel zu Boden. Dann war das Vieh über ihm. »Imril!«, brüllte Hatib, doch sein Freund hörte ihn nicht, sondern starrte wie versteinert zum Eingang. Der Nachtmahr hob den Fuß, um Hatib zu erdrücken, doch der zog blitzschnell seinen Dolch, und der Angreifer trat hi197 nein. Das Tier schrie auf. Einen Moment begegnete Hatib seinem Blick, nutzte seine Chance, rappelte sich auf und rammte den Nachtmahr mit der Schulter; der verlor das Gleichgewicht und stürzte. Wenige Augenblicke später war er tot. Imril stand immer noch da wie angewurzelt. Jetzt sah Hatib, worauf ihn sein Gefährte hatte hinweisen wollen. »Der Gollan ist zersplittert.« Kein Licht schimmerte mehr von draußen herein; der Spalt war voll Nebel, durch den ein heiseres Brüllen drang. Dann tauchte - kaum sichtbar - eine Hand auf, klammerte sich schmal, dünn und krallenartig ans Gestein und tastete sich langsam vor. Hatib wurde bleich. Im Traum hatte er diese Hand und ihren Herrn schon gesehen. »Der Tanzende Tod!«, flüsterte er. Die Nachtmahre am Eingang waren fast alle niedergerungen. »Wir müssen ihn aufhalten«, sagte Imril zu Hatib. Der antwortete nicht, sondern starrte gebannt auf die Hand, die über die Wand kroch. »Das können wir nicht«, murmelte er schließlich. »Aber wir müssen es versuchen!« Imril wollte sich mit erhobenem Dolch auf den Gegner stürzen, da nagelte ihn eine Stimme an Ort und Stelle fest: »Lass das!« Gerk, der Priester der Wahrheit, trat aus dem Gedränge der Waldläufer und schaute Hatib herausfordernd an. Dann war er vorbei und verdeckte mit seiner großen, hageren Gestalt die Sicht auf den Tanzenden Tod. Hatib wollte ihm nach, doch der Nebel verdichtete sich und entzog Gerk seinen Blicken. Es wurde still. Plötzlich zuckten Blitze, und ein Krachen hallte durch die Höhle. Dann ertönte ein gellender Schrei. »Er hat es tatsächlich getan.« 198 Eiskalter Rauch quoll durch den Spalt und über den Boden. Das Toben und Brüllen hatte aufgehört. Endlich
tauchten die Konturen einer Gestalt auf. »Wenn das der Tanzende Tod ist ...«, flüsterte Imril, hob den Dolch und wartete auf das Kommende. Doch es war der alte Priester. Mit gesenktem Kopf wankte er herbei. Seine Arme baumelten herab, als gehörten sie nicht zu ihm. Er warf einen stumpfen Blick auf die Waldläufer, neigte sich vornüber und wäre umgefallen, hätte Hatib ihn nicht gestützt. Erschöpft sank Gerk in seine Arme. »Was hast du getan?«, fragte Hatib. »Nie hätte ich gedacht, dass der Tanzende Tod so stark ist«, murmelte Gerk und sackte zusammen. Der Kampf war vorüber. Zu hören war nur noch das Ächzen der Verwundeten und manchmal ein Schluchzen, wenn ein Waldläufer einen Freund unter den Toten entdeckte. Über zwölfhundert Nachtmahre waren gefallen, fast hundertdreißig Waldläufer, dazu etwa fünfzig Targi. Die toten Nachtmahre wurden gesammelt und im hintersten Winkel der Höhle gestapelt. Die gefallenen Waldläufer lagen an anderer Stelle aufgebahrt. Aus dem Versammlungsort war eine Leichenhalle geworden, doch ein Entkommen war nicht möglich, denn die Nacht war eingebrochen, und keiner wusste, wo sich der Tanzende Tod befand. Weit war er jedenfalls nicht. Der Priester der Wahrheit lag noch immer bewusstlos am Feuer. Niemand hatte gesehen, was sich zwischen ihm und seinem unheimlichen Gegner abgespielt hatte. »Glaubst du, er stirbt?«, fragte Hatib und betrachtete den Alten nachdenklich. 199 »Ich weiß nicht mal, was ihm fehlt.« Imril hatte eine Schnittwunde an der Stirn, war ansonsten aber unversehrt. »Er hat Flecken im Gesicht, als wäre seine Haut verbrannt.« »Oder erfroren.« Zwei Stunden saßen die Gefährten stumm an seinem Lager. Dann kam Gerk wieder zu Bewusstsein. Er röchelte leise, und ein Zittern durchlief seinen Körper. Schließlich öffnete er die bläulich verfärbten Lider. »Ich hab es kaum mehr zu hoffen gewagt.« Imril, der seinen Patienten keine Sekunde aus den Augen gelassen hatte, beugte sich über ihn. »Hörst du mich, Priester?« Mühsam hob der Alte den Kopf. »Ist die Schlacht gewonnen? Sind die Nachtmahre besiegt?« »Vollkommen«, antwortete Hatib an Imrils Stelle. Auch die hundert, die draußen geblieben waren, hatten die Niederlage des Tanzenden Todes nicht überlebt. Steif gefroren lagen sie an den kahlen Hängen, getötet vom Zorn ihres Herrn. »Gut.« Der Priester richtete sich ächzend auf. »Jetzt haben wir nur noch einen Feind - den Herrn von Korvo.« »Was hat er mit dir angestellt?« »Frag lieber, was ich mit ihm angestellt habe. Ohne mich wärt ihr jetzt tot.« »Trotzdem können wir nicht raus«, meinte Imril. »Macht euch bereit zum Aufbruch«, beharrte der alte Priester. »Wenn es hell wird, müsst ihr losziehen, sonst ist es für Barku zu spät. Den Tanzenden Tod überlasst nur mir.« »Willst du ihn etwa aufhalten?«, rief Hatib aus. »Bevor du nicht zu Kräften kommst, brauchen wir gar nicht...« »Ich werde nie mehr zu Kräften kommen«, schnitt Gerk ihm das Wort ab und hob die Hände. »Sieh her.« Hatib schluckte. Die Finger waren blauschwarz verfärbt wie nach langer Entzündung. Ohne Heilkräuter und im un200 wirtlichen Klima des Fernfelds konnte sich Gerks Zustand nur verschlechtern. Der Priester lächelte schwach. »Niemand berührt ungestraft den Tanzenden Tod«, sagte er leise. »Nicht einmal ich.« Traurig betrachtete er seine unbrauchbaren Hände. »Die Gelegenheit war günstig. Er wollte den Schutzzauber des Gollan überwinden. Eines Tages werden die Lande dafür Rechenschaft verlangen. Von ihm und von KronoNain. Er hatte seine ganze Energie auf den Pfahl gerichtet, als ich dazukam. Ich bin schwer verletzt, aber er hat auch was abgekriegt. Und das nicht zu knapp.« Die Kräfte verließen Gerk, und er sank aufs Lager zurück. »Lasst mich nun schlafen, diese letzte Nacht. Im Morgengrauen werden wir sehen, wer den längeren Atem hat - er oder ich.« Die letzten Worte murmelte er nur noch und schlief dann ein. »Wochenlang hab ich ihn verflucht«, meinte Hatib nachdenklich. »Weil er mich auf diese unselige Reise geschickt hat. Jetzt rettet er vielleicht unser Leben.« »Hoffentlich behält er Recht«, sagte Imril. »Den Tanzenden Tod aufhalten! Wenn ich nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, wie er in den Spalt ging, hätte ich ihn jetzt ausgelacht.« Wortlos wachten Hatib und Imril bei dem alten Priester, der seinem letzten Lebenstag entgegenschlief. Seine Brust hob und senkte sich regelmäßig. Nur manchmal stöhnte er leise. Imril hatte ihm die Hände notdürftig verbunden, doch das konnte seinen raschen Verfall nicht aufhalten. Endlich dämmerte der Morgen durch den Spalt und weckte die abgekämpften Waldläufer, die in der Nacht wenig Schlaf 201 gefunden hatten. Die Rucksäcke waren gepackt, die Stiefel für den langen Marsch gefettet, doch jeder wusste,
was auf sie wartete. Immer wieder wanderten Blicke zu Gerks Lager. Als der alte Priester eine Stunde nach Tagesanbruch die Augen aufschlug, war sein Blick wieder fest und klar. Er setzte sich auf und fragte: »Wo ist der Tanzende Tod?« »Gorgor hat vorhin nachgesehen«, erwiderte Imril und gab Gerk einen Teller Suppe. »Er wartet etwa zwei Meilen nördlich.« »So was dachte ich mir. Der muss auch seine Wunden lecken.« Er sah Hatib und Imril an. »Zeit zum Aufbruch. Marschiert so schnell wie möglich nach Barku. In kaum zwei Wochen trifft Morgreals Heer dort ein.« »Wird uns der Tanzende Tod nicht angreifen, wenn wir uns aus der Höhle wagen?«, wandte Hatib ein. »Das muss er sogar«, erwiderte Gerk. Imril hatte den Verband gelöst, und der Priester warf einen Blick auf seine schwarz gewordenen Hände. »Er wird versuchen, die Vereinbarung mit Krono-Nain einzuhalten. Doch jetzt, wo er schwach ist, habe ich eine Chance gegen ihn.« »Aber er wird dich töten.« »Wer sich auf den Falken setzt, dem werden die Winde zum Grab. Ich bin ein Priester der Wahrheit und habe einen Auftrag - du selbst hast mich daran erinnert. Gerk deutete auf seine Brusttasche. »Da ist noch etwas -der zweite Teil meines Versprechens.« Hatib verstand. Wortlos nahm er den Ring der Wahrheit raus. »Bewahre ihn gut«, sagte Gerk feierlich. »Du weißt, wie man ihn gebraucht. Früher war es üblich, ihn kurz vor dem Tod in die Hände eines jungen Priesters zu geben, doch die 202 Zeiten haben sich geändert, und von meinen Brüdern ist keiner mehr am Leben.« Er richtete sich auf. »Sieh dich vor, wenn du durch ihn hindurchblickst! Die Wahrheit hat viele Gesichter.« Gerk holte tief Luft, um aufzustehen; Hatib half ihm auf die Beine. »Bald werdet ihr sehen, ob ich Wort halten konnte.« »Aufbruch!«, rief Imril über den Versammlungsplatz. »Wir führen den Zug«, sagte Thornegin. Seit dem gestrigen Kampf schien sein Bart noch weißer geworden. »Ihr bleibt bei Gerk. Wenn er gegen den Tanzenden Tod unterliegt, geben wir ein Zeichen und verstreuen uns in alle Winde. Ein paar werden schon überleben.« Dann verließen die Waldläufer in langer Reihe die Höhle. Auf der Nordstraße sammelten sie sich, um den Marsch nach Süden anzutreten. Hatib und Imril waren unter den Letzten; Gerk war bei ihnen. Die drohende Wolke des Tanzenden Todes stand im Norden und bewegte sich nicht. »Sollen wir auf dich warten?«, fragte Hatib und kannte die Antwort. »Auf keinen Fall«, sagte Gerk. Er zwang sich zu einem Lächeln. »Wir Alten müssen den Jungen weichen - so ist das nun mal. Ich will nicht klagen. Nicht jeder stirbt Hand in Hand mit dem Tanzenden Tod.« »Du bist anders, als ich dich anfangs eingeschätzt habe«, sagte Hatib bewegt. »Es muss schwer sein, die Dinge so zu sehen.« »Wenn man jung ist, schon. Später wird es leichter. Aber jetzt zieht los. Und dreht euch nicht um!« »Wir danken dir«, sagte Imril. »Auch wenn es vielleicht wie Hohn klingt.« 203 »Ich weiß, wie es gemeint ist.« Endlich war Gerks Hochmut verschwunden. »Leb wohl«, sagte auch Hatib, und sie wandten sich zum Gehen. Auf der Nordstraße angekommen, gaben sie Tikail ein Zeichen, und der Marsch begann. Ein entferntes Donnern ließ sie aufhorchen. Der Tanzende Tod hatte sich in Bewegung gesetzt. Die Waldläufer beschleunigten den Schritt. Trotz Gerks Warnung sah Hatib sich behutsam um. Der Priester stand noch immer am Höhleneingang, lächelte und winkte mit der verbundenen Hand. Der Wind verwehte den letzten Gruß, den er den Waldläufern nachsandte. Dann straffte er sich und ging quer übers Geröllfeld auf die nahende Wolke zu. Ein Windstoß fegte von den Bergen. Hatib wandte sich ab, ein namenloses Grauen im Nacken. Obwohl helllichter Tag war, wurde es dunkel, als wollten die Wolken die Sonne auslöschen, um nicht zu sehen, was geschah. Ein letztes Mal drehte Hatib sich um. Gerk war schon weit weg, ein Strich in der Landschaft, kaum noch zu erkennen in der Dunkelheit. Dann verschlang ihn die Wolke. Das war das Letzte, was man von ihm sah. »Schau nicht zurück«, mahnte Imril. Eine halbe Stunde später zuckten Blitze. Hatib und Imril marschierten weiter und versuchten, nicht an den Kampf zu denken, dessen Größenordnung ihre Vorstellung überstieg. Ein letzter Blitz zerriss die Nacht. Einen Augenblick hoben sich die Gipfel der Karninberge gegen den kalt erglühenden Himmel ab. Dann kamen ein Krachen und ein markerschütternder Todesschrei, der an den Hängen widerhallte. 204 Ein eisiger Luftzug wehte über das Heer der Waldläufer. Das war das Ende Gerks, des Priesters der Wahrheit vom Verbotenen Land. Und das Ende des Tanzenden Todes.
»Es ist vorbei«, sagte eine Stimme neben Hatib. Orch, der Targi, marschierte bei ihm. »Korvaus-Nain ist tot.« »Und Karuns Schuld ist abgegolten«, meinte Imril bewegt. »Nach so vielen Jahren ist der Wunsch der Lande endlich erfüllt.« Über vierhundert Meilen entfernt erwachte der Karun zum Leben. Erst war es nur ein dumpfes Grollen, doch es schwoll immer mehr an, als zürne die Ul-Um über den Tod ihres Stiefsohns. Die Flanken des Vulkans bebten, und Korvo erzitterte bis in die Grundfesten. Dann spie der Krater Lava und Gestein aus. Felsbrocken regneten auf Korvo nieder, durchschlugen das Kuppeldach der verwaisten Burg und brachten es zum Einsturz. Spalten öffneten sich unter den Fundamenten. Heißes Gas strömte empor und hüllte das Bauwerk in eine giftige Wolke. Noch ein gewaltiger Erdstoß, und die Mauern stürzten in sich zusammen. Korvo, das schrecklichste Bauwerk nördlich des Alten Reichs, nur zusammengehalten von der Bosheit seines Herrn, war nicht mehr. 10 Die Schlacht um Barku Dann standen die Wölfe vor der Stadt! So zogen zwölfhundert Waldläufer und zweitausend Targi unter Führung von Hatib, Imril und Gorgor über die Nordstraße. Gerks unheimliches Ende war bald vergessen, und alle waren froh, aus dem unwirtlichen Fernfeld zu kommen. Trotz des ungewissen Ausgangs waren die Waldläufer zum Kampf entschlossen, denn alle hatten Freunde verloren, entweder im Gefecht mit den Nachtmahren oder an die Häscher des Schwarzen Prinzen; alle waren sie verfolgt worden und oft nur knapp Gefangenschaft und Tod entronnen; auf abenteuerlichen Wegen waren sie zum Versammlungsplatz gelangt. Dennoch hatte der Schwarze Prinz ihre Zusammenkunft nicht verhindern können. Jetzt wollten sie es ihm heimzahlen. Noch zögerte der Frühling und war im steinernen Grau der Berge kaum zu erkennen, doch da und dort spross frisches Gras zwischen den Steinen hervor. Es roch nach Frühling. Am dritten Tag schließlich zog ein einsamer Vogel über den Himmel. Ein Vogel! Wie lange hatte Hatib kein Tier mehr gesehen, keine Pflanze außer Flechten und erfrorenen Grasbüscheln! >Früher war der Herbst meine liebste JahreszeitDann zog es mich immer aus Araukaria. Nie hätte ich gedacht, dass der Frühling so schön sein kann.< Trotzdem spürte er, dass er einen Teil seiner selbst im Fernfeld zurückließ, wo man sich unweigerlich bewusst wurde, 206 nur ein Staubkorn im Gefüge der Lande zu sein. Die raue Schönheit des Nordens hatte in Hatibs Seele Wurzeln geschlagen. Unter der Rastlosigkeit der letzten Tage schwelte Sehnsucht - nach Einsamkeit. Mitte April kamen sie an den Resten des Gollan vorbei, der das Reich des Tanzenden Todes nach Süden begrenzt hatte. Einen halben Tagesmarsch darauf waren sie in Moloil. Die Stadt war fast ausgestorben. Die waffenfähigen Männer waren unter ihrem Obermann Kodo nach Barku gezogen, um König Gebork zu helfen - wie die Männer aus Ysen und Algabal. Mehrmals hatte Hatib den Ring der Wahrheit befragt, Gerks Vermächtnis, und was er sah, machte ihn schaudern. Das neue Wolfsheer war riesig, und Morgreal schien zu wissen, dass er beobachtet wurde: Viele Wagen in seinem Tross blieben verhüllt. Sie waren so schwer, dass zehn Ochsen sie zogen. Was mochte unter den Planen stecken? Zehn Tage nach ihrem Abmarsch machten sie endlich Halt vor Barku. Der Frühling war eingekehrt. Verglichen mit Araukaria mochte er schüchtern und spärlich scheinen, doch in den Augen der Waldläufer, die wochenlang nur Steine und tief hängende Wolken gesehen hatten, war das Übermaß der Farben fast unerträglich. Im Gorm, der sich durchs grüne Tal schlängelte, spiegelte sich das Licht der untergehenden Sonne; die Bäume waren noch kahl, die Hügel aber mit Blumen bedeckt. Auch Barku hatte sich verwandelt. Die Mauern waren höher geworden und durch hölzerne Türme verstärkt. In den großen Zeltlagern vor den Toren waren Truppen aus den anderen Königreichen untergebracht. »Wie schön das alles aussieht«, sagte Imril. »Doch der Friede wird nur noch kurze Zeit dauern.« 207 »Sieh dir die Zelte an!«, rief Hatib. »Wir haben viele tausend Krieger hinzugewonnen.« »Und sind trotzdem in der Unterzahl.« »Das macht nichts«, mischte sich Gorgor ins Gespräch. »Die Nordländer wissen, wofür sie kämpfen.« Auf den Mauern stand eine dichte Menschenmenge. Die Barkuri jubelten von den neu errichteten Brüstungen, denn sie hatten Hatib und Imril, die vorneweg marschierten, erkannt. Imril lächelte grimmig. »Sie haben anscheinend noch nicht verstanden, dass es jedes Mal Krieg gibt, wenn wir kommen.« »Das ist ja nicht unsere Schuld«, meinte Hatib. »Sondern die von Morgreal, der seine Unfähigkeit nicht einsehen will.« Imrils Lächeln verschwand so schnell, wie es gekommen war. »Diesmal wird er sich vorsehen.« Das Nordtor war geöffnet worden, und ein Reiter sprengte heraus. Er war jung und trug leichte Lederkleidung; im Galopp näherte er sich dem Zug. »Das ist Feri! Der naseweiseste Wachposten, den ich je gesehen habe. Sicher wird er uns Löcher in den Bauch
fragen.« Der Junge grinste übers ganze Gesicht, als er sein Pferd vor Hatib zum Stehen brachte. »Ich hätte nicht gedacht, dass ihr noch lebt«, sagte er, sprang ab und schüttelte den beiden die Hand. »Nach allem, was man von euch gehört hat.« »Was hat man denn gehört?«, fragte Hatib neugierig. »Na - eben nichts«, erwiderte Feri, und sie mussten lachen. »Besser keine Neuigkeiten als schlechte. Und bei euch? Wie es aussieht, hat Hauptmann Olin ganze Arbeit geleistet.« »Der hat uns Tag und Nacht schuften lassen. Es ging ihm nie schnell genug. Ich glaube, er hat seit zwanzig Jahren nicht mehr solchen Spaß gehabt.« 208 »Jedenfalls kann das Resultat sich sehen lassen.« Imril betrachtete die Befestigungsanlagen. »Morgreal wird sich was einfallen lassen müssen.« »Außerdem sind mittlerweile alle Männer aus Moloil, Ysen und Algabal hier. Elftausend, glaube ich. Aber ich kann mir Zahlen nicht merken.« »Das sind zu wenige«, murmelte Imril in sich hinein. »Olin hat mit Rafai Truppenübungen abgehalten. Ein richtiges Heer will er haben. Ich weiß nicht, wo er lauter gebrüllt hat, beim Bauen oder beim Üben. Rafai brüllt nie.« »Die beiden ergänzen sich ganz gut«, versetzte Hatib. »Sie sind vermutlich gerade bei Gebork im Palast. Geht nur rein und schaut nach ihnen.« Wenig später betraten sie zu viert den Palast: Hatib, Imril, Gorgor und Orch. »Und schaut nach ihnen?«, murmelte Hatib grinsend. »Wo werden wir den Truchtin finden? Auf dem Thron über einem Schlachtplan oder in der Küche beim Kartoffelschälen? In diesem Reich ist alles möglich.« Sie fanden König Gebork im Beratungssaal. »Seid gegrüßt!«, sagte Hatib, als sie eintraten. »Ich hoffe, wir stören nicht.« »Tapfere Männer stören nie.« Der Truchtin richtete sich auf und lächelte. Dann umarmte er die Kampfgefährten herzlich. »Ich bin froh, dass ihr da seid. Wir haben sehr auf eure Hilfe gehofft. Morgreals Heer ist kaum fünfzehn Meilen entfernt.« Auch er hatte sich verändert. Der Spitzbauch war verschwunden, der Bart dafür ein wenig länger geworden. Und weiß. König Gebork schien um Jahre gealtert. Doch seine funkelnden Augen waren die gleichen geblieben. »Setzt euch und erzählt«, sagte er. »Ich vermute, ihr habt viele Abenteuer hinter euch.« 209 »Das kann man wohl sagen. Imril kennt Ihr bereits, und das ist Gorgor, ein Waldläufer und Freund. Außerdem haben wir es geschafft, die Targi, die Bewohner des Fernfelds, auf unsere Seite zu bringen. Das hier ist Orch, der für sie ...« Hatib konnte nicht weiterreden: Olin war eingetreten und schloss ihn in die Arme. »Dass ihr noch lebt!«, rief er. »Ihr verrückten Kerle!« Hatib erwiderte die Umarmung von Herzen. Dann war auch Rafai zur Stelle. »Willkommen in Barku«, sagte er zu Orch und Gorgor. »Ich hätte nie gedacht, mal einen Targi leibhaftig zu Gesicht zu bekommen.« Sein Gesicht verdüsterte sich. »Trotzdem sind wir so wenige.« »Ein Nordländer wiegt zehn Wölfe auf«, erwiderte Olin. »Wirst schon sehen.« »Hoffentlich«, meinte Rafai skeptisch. Hatib wollte mit seinen Abenteuern beginnen, kam aber wieder nicht zum Erzählen. Die Tür öffnete sich, und Feri steckte den Kopf herein. »Sie kommen«, verkündete er. »Wer?«, fragte Gebork. »Morgreal?« Feri grinste. »Der natürlich auch. Aber ich meine Kait, Gerrit und Kodo. Sie haben gehört, dass die Waldläufer da sind. Jetzt wollen sie die Anführer sehen.« Kurze Zeit später betraten drei Männer den Beratungssaal. »Seid willkommen!«, begrüßte sie der Truchtin. »Setzt Euch zu uns. Wie Ihr seht, haben wir Gäste.« Hatib musterte die drei und versuchte sie einzuschätzen. König Gerrit von Algabal war groß und hager, hatte eine Glatze und musterte Hatib aus grauen Augen. Dann reichte er ihm die mächtige Pranke. »Warst du das, der Barku vor den Wölfen bewahrt hat?« »Ja. Und ich bin nicht allein gekommen. Neben mir stehen Imril und Gorgor, zwei Waldläufer. Sie haben zwölfhundert 210 Gefährten aus dem Fernfeld hergeführt. Daneben seht Ihr Orch, den Anführer der Targi.« »Die Targi«, murmelte Kodo von Moloil, der sich im Hintergrund gehalten hatte. »Dass ich das noch erleben darf.« Kodo mochte an die siebzig sein, doch sein Blick war so frisch und offen, als sei das Alter bei ihm nur die Summe aus Kraft und Lebensfreude der Jugend. Ein weißer Bart umrahmte sein faltiges und gütiges Gesicht, und er war so groß, dass selbst Hatib zu ihm aufschauen musste.
»Ich freue mich, euch kennen zu lernen«, sagte er und reichte den vieren die Hand. »Der Truchtin hat mir von eurem Marsch ins Fernfeld erzählt. Ihr müsst sehr mutig sein.« Dann wandte Kodo sich an Orch. »Jahrhundertelang haben die Targi einzig zu den Bewohnern von Moloil Kontakt gehabt. Da freut es mich umso mehr, dass sie sich dem Kampf gegen den Schwarzen Prinzen anschließen.« »Wer ihn unterstützt, ist unser Feind«, kam zur Antwort. »Und wer gegen ihn kämpft, dem helfen wir, denn der Schwarze Prinz ist der Fluch der Lande.« »Dann sind wir jetzt etwa fünfundzwanzigtausend«, meldete sich Kait zu Wort. »Die größte Streitmacht, die je in den Nördlichen Königreichen zusammengekommen ist. Wenn Morgreal kämpfen will, soll er nur kommen!« Kait vom Ysen war das genaue Gegenteil von König Gerrit: klein, breitschultrig und mit krummen Beinen, die aus einem kurzen Rock aus grober Baumwolle herausstanden. Ein Schnauzbart zierte sein breites Gesicht, passte aber nicht zu dem vollen, lockigen Haupthaar, das ihm wie eine Mähne über die Schultern hing. Wenn Gerrit wie ein Grobschmied aussah, so ähnelte der König vom Ysen einem zähen, kauzigen Raufbold. Endlich konnte Hatib erzählen - vom Marsch ins Fernfeld 211 und davon, was sie auf dem Karnin erlebt hatten, von der Begegnung mit dem Priester Gerk und der Wanderung durchs dunkle Drehnland, vom Ring der Wahrheit und vom Tanzenden Tod. Hatib fasste sich kurz, doch die Andeutung ihrer Abenteuer genügte, den Truchtin die Hände überm Kopf zusammenschlagen zu lassen. »In Barku wagt man kaum, den Namen des Tanzenden Todes auszusprechen. Und ihr habt ihn getötet!« »Das war Gerk«, erwiderte Imril bescheiden. »Doch wenden wir uns der Zukunft zu. Der Norden ist vereint vielleicht können wir Morgreal ja ein zweites Mal besiegen.« »Habt ihr tatsächlich den Erft und den Zauberring?«, unterbrach Kait. »Was kann man damit anfangen?« »Der Ring der Wahrheit zeigt, was in den Landen vorgeht.« Hatib öffnete den Beutel und legte den Ring auf den Tisch. Der König vom Ysen betrachtete ihn mit unverhohlener Gier. »Darf ich ihn ausprobieren?« »Das ist schwierig.« Kait versuchte es trotzdem, starrte lange auf den Ring und gab ihn Hatib dann enttäuscht zurück: »Ich kann nichts erkennen.« »Man muss lange üben«, erwiderte Hatib und steckte den Ring wieder ein, bevor die anderen auf ähnliche Gedanken kamen. »Und der Erft?«, bohrte Kait weiter. »Hast du den auch hier?« »Ja, aber sein Anblick ist schwer zu ertragen. Ich möchte nicht, dass wir durch ihn zu Schaden kommen.« Der König vom Ysen nickte sichtlich enttäuscht. Der Truchtin ergriff das Wort: »Spätestens übermorgen ist Morgreal hier. Ich frage mich, was er sich diesmal einfallen lassen wird, um in die Stadt zu kommen.« 212 »Durchs Flusstor wird er es jedenfalls nicht mehr versuchen«, sagte Olin grinsend. »Sind wirklich alle Vorbereitungen getroffen?«, fragte Hatib. »Ich habe mit Rafai einen Plan ausgedacht«, knurrte Olin und beugte sich vor. »Wir haben Morgreal ausspioniert und wissen, dass er uns anderthalbfach überlegen ist, vielleicht sogar um das Doppelte. Er hat Vorräte, uns Monate zu belagern, wir dagegen können uns nicht lange verschanzen, denn wir müssen fünfundsiebzigtausend Menschen versorgen, und die Stadt ist überfüllt. Also muss es schnell gehen.« Imril nickte zustimmend. »Und worauf willst du hinaus? Auf einen offenen Kampf?« »Darauf, Morgreal eine Falle zu stellen«, antwortete Olin. Hatib und Imril spitzten die Ohren. »Zwei Meilen südöstlich liegt das Wäldchen von Hamlin«, fuhr Olin fort und zeigte es auf der Karte. »Ich habe dort in den letzten zwei Monaten Verstecke für etwa dreitausend Mann bauen lassen. Wenn die Wölfe kommen, lassen sie sich überrollen und stehen dann in ihrem Rücken. Morgreal ist auf Belagerung eingestellt, nicht auf offenen Kampf. Er rechnet nicht mit Feinden außerhalb der Mauern. Zu einem verabredeten Zeitpunkt kommen unsere Männer aus dem Wald und greifen aus dem Hinterhalt an. Gleichzeitig machen wir einen Ausfall und nehmen die Wölfe in die Zange.« Hatib pfiff durch die Zähne. »Das ist ein verzweifelter Plan. Wenn Morgreal davon Wind bekommt oder sich zu schnell von der Überraschung erholt, gibt es eine Katastrophe.« »Rafai war anfangs dagegen«, räumte Olin ein und warf seinem jungen Offizier einen Seitenblick zu. »Das Risiko ist hoch, aber was sollen wir sonst tun?« Es wurde still. Schließlich ergriff Imril das Wort. »Der Plan 213 kann funktionieren, hat aber einen Schwachpunkt: Die dreitausend Mann im Wald tragen die Hauptlast. Wenn sie entdeckt werden oder versagen, ist alles verloren. Also müssen es die besten Kämpfer sein.« »Richtig«, bestätigte Olin finster. »Die Nordländer sind alle tapfer. Aber um so einen Angriff durchzuführen ...« »Lass mich das machen. Mich, die Waldläufer und die Targi.«
Schweigen herrschte im Saal. Imril hatte Recht: Nur die Waldläufer konnten den Plan ausführen. Aber dass er freiwillig die Gefahr auf sich nahm, damit hatte niemand gerechnet. »Es ist gefährlich«, wandte Hatib ein. »Ihr werdet die höchsten Verluste haben.« »So sind die Karten eben verteilt«, meinte Imril gleichmütig. »Es ist die einzige Möglichkeit, mit Morgreal fertig zu werden.« »Ich danke dir«, sagte Olin rau. »Dann werde ich die Waldläufer begleiten«, erklärte Hatib. »Bitte nicht«, wandte der Hauptmann ein. »Wir brauchen dich bei der Verteidigung der Stadt.« Hatib wiegte den Kopf. Olins Plan schwebte wie ein Todesurteil über seinem Gefährten, und er wollte ihn in der Stunde der Gefahr nicht allein lassen. Imril reichte ihm die Hand. »Dein Mut ehrt dich, aber Olin hat Recht - dein Platz ist hier auf den Mauern.« Hatib schwieg, und Imril wandte sich an den Hauptmann. »Heute Abend ziehen wir in den Wald von Hamlin. Und übermorgen um Mitternacht greifen wir an!« Es war ein schöner Aprilabend. Rötliche Wolken zogen über Barku, als die untergehende Sonne einen letzten Hoffnungs214 grüß sandte. Morgreals Heer war kaum acht Meilen entfernt, und Waldläufer und Targi sammelten sich vor dem Südtor. »Alles Gute!«, sagte der Truchtin. »Und seht euch vor! Wenn etwas schief geht, kann nichts und niemand euch helfen!« »Es wird nichts schief gehen«, sagte Gorgor. »Übermorgen um Mitternacht spalten wir Morgreal den Schädel!« Auch Hatib und Imril nahmen Abschied. Im Gegensatz zu Gorgor, für den alles nur ein großes Spiel schien, war Imril ernst. »Ich weiß, dass du dir Sorgen um mich machst«, sagte er mit gequältem Lächeln. »Wir sind dem Tod so oft entkommen - warum sollte er gerade jetzt die Rechnung fordern?« »Meine Nerven sind wohl nicht mehr die besten«, meinte Hatib. »Mit der Hoffnung auf den Sieg wächst die Angst vor der Niederlage«, gab Imril zu. »Wenn du keine Angst haben willst, darf dir am Überleben nichts gelegen sein.« Hatib umarmte ihn. »Es wird schon nichts passieren«, sagte er tief bewegt. »Übermorgen um Mitternacht!« »Leb wohl!« Gorgor, der schon an der Spitze des Zuges stand, winkte, und Hatib winkte zurück. Dann begann der Marsch. >Imril hinkt noch immerDas hatte ich befürchtet