BAD EARTH
Die große Science-Fiction-Saga
DIE LETZTE ENKLAVE von Michael Marcus Thurner 2041, gut zwei Jahrzehnte nac...
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BAD EARTH
Die große Science-Fiction-Saga
DIE LETZTE ENKLAVE von Michael Marcus Thurner 2041, gut zwei Jahrzehnte nach dem Scheitern der ersten Marsmission, sucht ein rätselhaftes Phänomen das Sonnensystem heim. Auf der Erde kommt es zu apokalyptischen Szenen, und der Jupiter verwandelt sich in ein Schwarzes loch, aus dem heraus eine fremde Invasionsflotte Kurs auf die Erde nimmt. Durch genau dieses Black Hole verschlägt es die Besatzung der RUBIKON in unbekannte Tiefen des Alls. John Cloud sowie die GenTecs Scobee, Resnick und Jarvis werden Zeugen einer Raumschlacht, an der irdische Schiffe beteiligt sind. Hat es sie in die Zukunft verschlagen? Die Irdischen Schiffe werden auch für die RUBIKON-Crew zur tödlichen Bedrohung. Und dann ist da auch noch das »Phantom« - das sich als Außerirdischer erweist. oamok besitzt ein eigenes Fahrzeug - und kaum haben die Menschen es betreten, katapultiert es sie auch schon aus dem gekaperten ÄskulapRaumer hinaus Ins Weltall. Cloud und die GenTecs sinken besinnungslos zu Boden. Das letzte, was sie hören, sind die Worte: »Endlich! Endlich lerne ich die Mörder meines Volkes kennen... « 1. Jiim packte den hölzernen Speer fester und nutzte die Aufwinde über dem Schrund, um sich spiralförmig nach oben tragen zu lassen. Die günstige Thermik fuhr in seine weit ausgebreiteten Flügel. Ein paar kurze, instinktive Bewegungen sorgten für die notwendigen Korrekturen, um im warmen Luftstrom zu bleiben. Er genoss den kurzen Moment des Sich-Treiben-Lassens; genoss das Hochgefühl der Kraft seiner jungen Jahre; genoss den seltenen Augenblick der absoluten Ruhe. Jiim spähte hoch zu den glänzenden Sternen. Mit einem Mal verflog seine gute Laune, als Maron, derVernichter, in sein Gesichtsfeld geriet. Der geborstene Mond, dessen schroffes, zerrissenes Gesicht kalt herab leuchtete. Ein Zittern durchfuhr Jiims Gefieder, und kurzzeitig verlor er die Kontrolle über seine Flugkurve. Er schüttelte den Kopf und verwarf die trüben Gedanken. Konzentriere dich auf die Jagd! Seine Augen legten ein Netzmuster über den Teil des Schrundes, den er überblickte. Heiß glühende Ströme bildeten Orientierungshilfen, ebenso wie erkaltete, schroffe Felsnasen, die weit in die Höhe ragten und ihm den Eindruck von >Blau< vermittelten. Seine Sinne verrieten ihm binnen weniger Momente, wohin ihn die Thermik getrieben hatte. Es war eines seiner liebsten Jagdgebiete, nicht weit von der Ansiedlung entfernt, in einem der vielen versteckten Seitentäler. Die anderen seines Volkes flogen selten hierher; es gab wenig Landemöglichkeiten, und das Navigieren wurde durch unberechenbare Seitenwinde erschwert. Doch Jiim war einer der besten Flieger der Nargen, und das Jagdfieber hatte ihn gepackt.
»Krie! «, schrie er, und nochmals: »Krie! «
Der Ruf schallte durch die dünne, kalte Luft und würde den anderen Jägern in der
Umgebung sagen, dass er dieses Gebiet für die heutige Jagd beanspruchte.
Chex, sein bester Freund, der mit ihm gekommen war, antwortete aus hundert
Nargenlängen Entfernung und flog dann in einem weiten Bogen nach rechts davon.
Sie verstanden sich gut und hatten auch keine Geheimnisse voreinander, doch bei der
Jagd blieb jeder auf sich alleine gestellt. So verlangte es die Ordnung der Nargen.
Jiim entdeckte eine bewegliche Wärmequelle am Grund des Schrundes. Annähernd
rund, in der Mitte blau, zu den Seiten hin violett und rötlich leuchtend. Das Hinterteil
schwänzelt heftig hin und her. Massiv und langsam. Ein Cherss, vermutlich ein
Einzelgänger!
Cherss waren gefährliche Gegner, selbst für einen ausgezeichneten Jäger wie Jiim.
Doch die Nargen waren auf das Fleisch angewiesen, und das Fieber hatte ihn
gepackt.
Das Cherss würde ihm gehören!
Bald.
So wie er hochgestiegen war, begann er auch den Abstieg. In sanften, weiten Kurven. Bis er durch die näher rückenden Wände des Seitentals gezwungen war, engere und abruptere Manöver zu fliegen. Jiim begann, heftig mit den Flügeln zu arbeiten. Kurze, manchmal hektische Bewegungen retteten ihn mehrmals vor den heimtückischen Seitenböen, deren Wirkung niemals vorhersehbar war. Er rang um die Stabilität in der Luft und behielt gleichzeitig die Jagdbeute im Auge. Das reptiloide Cherss kroch gemächlich auf seinen Stummelfüßen über den scharfgratigen Boden und mied die wenigen offenen Feuerlöcher. Schmutziggelbe Nebelschwaden trübten von Zeit zu Zeit Jiims Sehvermögen, doch sein Instinkt sagte ihm, wo das Cherss hinwollte. Noch vielleicht zwanzig Körperlängen bis zum Erdboden. Er wich einer spitzen Felsnadel aus, umrundete einen der Feuerseen und näherte sich dem Reptil gegen den Wind, schon knapp über der Oberfläche dahinschwebend. Noch eine kurze Korrektur, dann... Das Glück war ihm heute nicht hold. Eine forsche, seitliche Windböe fuhr durch das Schluchtenlabyrinth, erfasste Jiim, verfing sich in seinem Federkleid, und schleuderte ihn unsanft zu Boden. Dann war nur noch Dunkelheit.
Der Narge richtete sich mühsam auf und wischte die Benommenheit beiseite. Das Cherss, wo war es? Er hörte das Grunzen und ließ sich rasch zur Seite fallen. Die Flügel hatte er möglichst nahe an den Körper gezogen, und doch behinderten sie ihn im Nahkampf. Ungelenk kam er wieder hoch. Das Cherss war knapp an ihm vorbeigestürmt und benötigte einige Nargenlängen, um zu wenden. Lange genug für Jiim, um sich neu zu orientieren, und zu kurz, um in die Luft zu entfliehen. Hastig griff Jiim nach dem dünnen, hölzernen Speer, den er beim Absturz verloren hatte. Seine einzige Waffe! Eine nutzlose Waffe. Das Cherss, ein Monstrum, massig wie drei Nargen, zischte und fauchte, als es auf ihn zugestürmt kam. Seine Augen glühten. Fauliger Geruch entströmte seinen breiten Nüstern. Das weit aufgerissene Maul gestattete Jiim einen Blick auf zwei Reihen kräftiger Reißzähne. Die hornigen Krallen der kurzen Beine erzeugten ein scharrendes Geräusch, als das Cherss an Geschwindigkeit gewann. Der knöcherne Schuppenkammpanzer flüsterte trocken, als die Glieder aneinander schabten. In der Luft hätte ich eine reelle Chance gehabt. Ich hätte ihn am Schwanz gepackt, auf den Bauch gedreht und den Spieß in die empfindliche Stelle am Halsansatz gedreht. Aber so... Das Cherss überrannte Jiim, zerfetzte den Speer und fegte ihn mit einem kräftigen Hieb seines Schwanzes weit durch die Luft. Jiim landete hart. Viel zu hart, um rasch genug wieder hochzukommen. Und das Cherss stürmte schon wieder heran...
Jiim hatte sich in sein Schicksal ergeben und blickte hoch zu Maron, dem Vernichter.
Er achtete nicht mehr auf das heranstürmende Cherss. Der Mond stand voll am
nächtlichen Himmel. Ein schlechtes Omen. Er hätte es wissen müssen.
»Chiu!«, schrie er. Der Todesschrei der Nargen. Die anderen würden es hören, aber
zu spät kommen.
Noch ein paar kurze Momente, dann würde das Reptil über ihm sein. Er hörte, spürte
und roch den Tod kommen, wandte aber dennoch nicht den Blick von Maron, dem
Symbol der Unvollkommenheit. Er leuchtete rot wie ein Fanal.
Rot?
Wärme?
Ein lautes Pfeifen und Zischen ertönte. Die Luft erhitzte sich noch mehr.
Das Cherss blieb irritiert aus vollem Lauf stehen, keine Nargenlänge von Jiim
entfernt. Es witterte. Ein Zittern durchlief seinen mächtigen Körper - dann rannte es
in entgegengesetzter Richtung davon, während sich der Narge aufrappelte und wie
hypnotisiert den Feuerball anstarrte, der scheinbar aus dem Mond herausfiel.
Das unheimliche Gebilde fegte vom Himmel herab, zischte dicht an Jiim vorbei - und verschwand im Schrund. Der Narge verlor fast das Bewusstsein vor Schreck und fühlte sich von einer unsichtbaren Klaue gepackt...
Rückblende - kurz zuvor: GT Jarvis kontrollierte seinen Körper. Puls- und Atemfrequenz, Blutdruck sowie der Kortikosteronspiegel waren durch Genmanipulationen seiner Mandelkerne oberhalb des Hirnstammes ohnehin gedämpft. Durch einen gezielten Gedanken konnte er darüber hinaus seinen Hypothalamus, das Steuerungszentrum aller vegetativen und hormonellen Prozesse beeinflussen. Die Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin im Nebennierenmark war steuerbar, ebenso die Produktion von Kortisol in der Nebennierenrinde. Jarvis empfand auch weniger Schmerz als ein Mensch, doch das, was zu ihm durchdrang, reichte aus, um ihn an die Grenzen des Erfahrbaren zu bringen. Es zerquetschte seinen Körper, als das Askulap-Schiff transparent wurde, sich zu einem scheinbar infiniten Punkt zusammenzog und seinen Körper zu einem unbedeutenden Etwas schrumpfen ließ. Und nach einer nicht messbaren Zeitspanne kehrte sich alles um: Jarvis wurde gedehnt und gestreckt, wandelte sich vom eindimensionalen Nichts wieder zu dem Wesen, das er glaubte, einmal gewesen zu sein. War es so? Oder hatte er auf dieser unglaublichen inneren und äußeren Reise Substanz, individuelles Wissen und Milliarden Neutronen verloren? Der GenTec merkte keinen Unterschied, spürte nur einen gewaltigen Muskelkater. Sein bewusstes Sehen kehrte zurück. Er stand noch immer in seinem Raumanzug in der Steuerzentrale des Askulaps. Mittlerweile schwamm er jedoch regelrecht in seinem eigenen, übelriechenden Sud aus Schweiß und Kondenswasser. Im Inneren des Schiffes herrschte Vakuum, und die Anzeige seiner Sauerstoffreserve wanderte unbarmherzig in Richtung des roten Bereiches. »Scobee und Resnick, seid ihr okay?« Kurzes Zögern, dann kam ein doppeltes, rast zeitgleiches »Ja!« aus dem Funkempfänger. »Wie sieht es mit euren Sauerstoffreserven aus?« »Frag besser nicht. Wir sind beide nahe dem roten Bereich«, antwortete die tiefe Stimme von Resnick. »Wie geht es John?« »Er ist ohnmächtig.« Diesmal antwortete eine Frauenstimme - Scobee.
»Ich schätze, dass er gleich wieder zu sich kommt. Er besitzt eine gute Konstitution -
für einen Menschen.«
»Habt ihr dem Phantom folgen können?«
»Wir brechen gerade ein großes, hohes Schott auf, durch das er uns entwischt ist.
Warte mal...« In der Atmosphärelosigkeit war nichts von einer Detonation zu hören,
dennoch hatte Jarvis das Gefühl, dass gerade eine stattfand. Scobees nächste Worte
schienen dies zu bestätigen. »Jetzt sind wir durch.«
Kurzes, heftiges Atmen.
»John wacht auf. Wir melden uns später wieder.« Es knackte im Empfänger, und die
Verbindung war tot.
Jarvis sah sich in der Zentrale des Raumschiffs um. Es hatte sich nicht viel geändert.
Nur die wandhohen Monitore - eigentlich waren alle Wände zusammen ein einziger
großer Bildschirm - zeigten eine andere Szene.
Das angreifende irdische Schiff war verschwunden. Ab und zu rückten Planeten, die
Sonne des fremden Systems oder das düstere Wurmloch ins Bild - von einer
unbegreiflichen Automatik herangezoomt - und unverständliche Zeichenkolonnen
surrten in rascher Abfolge über die Schirme.
Wie weit mögen wir von der Erde und unserer Sonne entfernt sein?, dachte Jarvis. Es
gab nicht den geringsten Anhaltspunkt. Theoretisch konnten sie sich in einer anderen
Galaxis befinden, nicht nur in einem fremden Sektor der Milchstraße...
Dabei hatte bis vor wenigen Stunden noch die Reise zum Mars als das größte
Abenteuer der Menschheit gegolten. Nun saßen sie im Raumschiff einer fremden
Rasse fest, waren zum Spielball geworden und hatten eine Technik kennen
gelernt, die alles überstieg, was selbst der GenTec mit seinen erweiterten Fähigkeiten
zu erfassen vermochte.
»Jarvis?«
»Ja, Scobee?«
»Hinter dem zerstörten Schott liegt ein Hangar, und darin befindet sich etwas, was
ich als Unterschlupf des Phantoms bezeichnen würde, dem wir gefolgt sind.«
»Wie sieht dieser Unterschlupf aus?«
»Er ähnelt einem Schildkrötenpanzer, der mit einer Eisschicht überzogen ist. Kommt
ziemlich abweisend rüber. Ich denke, es handelt sich um ein kleines Raumschiff, das
aber einer anderen Technologie entsprungen zu sein scheint als der Askulap.«
»Also kein Beiboot? Bist du sicher?«
»Was heißt in unserer Situation schon sicher? Jedenfalls gibt es keinen erkennbaren
Zugang... Moment mal.«
In der folgenden Pause hörte Jarvis nur die Atemzüge der GenTec.
»Eine Art Luke hat sich plötzlich geöffnet. John und ich gehen da jetzt rein - Resnick
bleibt zur Sicherheit im Hangar.«
Zur Sicherheit... Jarvis wollte etwas sagen, seine Bedenken äußern, entschied sich
dann aber dagegen. Scobee konnte das Risiko vor Ort besser abschätzen als er. »Viel
Glück!«, murmelte er, doch es kam keine Antwort mehr.
Seine Sauerstoffanzeige war nun im roten Bereich.
Noch etwa siebzig Minuten, verinnerlichte er sich.
Eine möglichst unaufgeregte Atmung vorausgesetzt. Aber im Folgenden überschlugen sich die Ereignisse. Jarvis entdeckte Anzeichen für eine angelaufene Selbstvernichtungssequenz. Er verließ seinen Posten und eilte so schnell er konnte ebenfalls zu dem Hangar, den die anderen entdeckt hatten. Dort gelang es ihm gerade noch mit Resnick in das eigentümliche, schildkrötenartige Fahrzeug zu flüchten - ehe dieses sich auch schon schloss und in den offenen Weltraum hinauskatapultierte. Durch das geschlossene Hangartor hindurch? Im Inneren warteten Scobee und Cloud - und ein »Ding« in einer kreisrunden Wanne, dessen Aussehen an einen riesigen Herzmuskel erinnerte. Und das sie mit den Worten empfing: »Endlich! Endlich lerne ich die Mörder meines Volkes kennen!« Aber bei allem Schrecken gab es auch Grund zur Hoffnung: Während hinter ihnen der Äskulap in einer kleinen Sonne verging, entdeckten sie, dass es an Bord der »Schildkröte« offenbar atembare Luft gab. Cloud wagte als Erster, den Helm abzunehmen. Die anderen folgten seinem Beispiel, als derVersuch folgenlos blieb. Scheinbar folgenlos. Denn schon kurz darauf wurde ihr Mut zum Risiko bestraft. Etwas in der Luft bekam ihnen überhaupt nicht. Jarvis fiel und verlor das Bewusstsein. Sah nur noch, dass auch die anderen in dem fremden, kleinen Schiff zu Boden sanken... 2. Die mächtige Druckwelle war über Jiim hinweg gefahren und hatte ihn einige Meter weit in Richtung eines Feuersees gewirbelt. Das Federkleid des Nargen war zerrupft und voller Staub und bedurfte einer sorgfältigen Reinigung. Der Rücken und sein linkes Bein schmerzten, doch sonst schien er keine Blessuren davongetragen zu haben. Warum lebe ich noch? Was war das? Wo ist der Feuerball niedergegangen? Wirre Fragen. und Gedanken schossen ihm durch den Sinn. Panik und abergläubische Furcht vermischten sich und erzeugten den instinktiven Impuls, sofort fliehen zu wollen. Jiim flatterte aufgeregt mit den schmerzenden Flügeln. Das Rot aus dem Himmel konnte nichts anderes als eine Zornesträne ihres Kriegsgotts Rigo gewesen sein, den die Nargen aus irgendeinem Grund gereizt hatten. Sein Instinkt hatte das Cherss binnen weniger Momente in die Flucht geschlagen. Ihn jedoch, Jiim, hatte ein anderes, überaus zwiespältiges Gefühl an seinen Platz gebannt. Neugier. Jenes Empfinden, das den Nargen vom Tier unterschied. Nenn es Neugier oder Interesse, es macht mich auf jeden Fall zu dem, was ich bin: ein denkendes Wesen. Und jetzt gehe ich zur Zornesträne.
Humpelnd machte er sich auf den Weg.
Das intensive Rot war leicht zu orten. Es kam aus einem weiten Nebental, das sich so wusste Jiim - zur großen Hauptebene des Schrundes hin öffnete. Doch das Rot wurde rasch dunkler, verlor deutlich an Leuchtkraft und würde binnen kürzester Zeit zu Blau werden. Und damit schwerer zu orten sein in den Netzfeldlinien aus Farben und Formen. Jiim schritt kräftiger aus. Fliegen schien ihm bei der Annäherung an die Zornesträne nicht angebracht zu sein; es hätte von den Göttern leicht als Überheblichkeit ausgelegt werden können. Also ging er und hob die Arme leicht an, um das Gefieder nicht über den Boden schleifen zu lassen. Da war sie! Gleich beim Übergang von einem Tal ins andere. Noch leuchtete sie in dunklem Rot und dampfte. Wasser tropfte da und dort herab und erzeugte neben dem Knistern brennender Büsche in der näheren Umgebung die einzigen Geräusche, die Jiims empfindliche Ohren auffangen konnten. Die Zornesträne erinnerte an eine Nargen-Behausung, nur war sie weitaus schwungvoller und sanfter geformt. Sie erreichte eine Höhe von vielleicht drei Nargenlängen und war annähernd doppelt so breit wie hoch. Und dort, wo auch in Jiims Behausung der Eingang zu finden war... stand sie offen. Die Zornesträne war hohl.
Jiim würgte vor Aufregung die letzte Mahlzeit hoch, zerkaute nachdenklich nochmals die Reste des kleinen Nagers, den er verzehrt hatte, und verschluckte sie wieder. Danach fühlte er sich besser. Wer hatte schon jemals davon gehört, dass die Zornesträne eines Gottes auf Kaiser, seiner Heimat, gelandet war? In wenigen Augenblicken würden die anderen Nargen herbeiströmen, angezogen von der Erschütterung, den Bränden und dem Hitzeschein. Caar, der Suprio, würde mit ihnen kommen und eine Entscheidung treffen, wie mit die sein Sendboten aus dem Hohen Himmel zu verfahren sei. Vorsichtig ging Jiim näher, setzte einen kurzen Schritt vor den anderen. Das dunkle Loch in der Zornesträne lockte ihn. War es vielleicht so, dass dieses... Etwas... ihm geschickt worden war? Schließlich hatte es sich genau in dem Moment genähert, als er sich zum Sterben bereit gemacht
hatte. Stellte diese Öffnung eine Einladung nur an ihn dar? War er so etwas wie ein...
Auserwählter?
Jiim war neugierig.
Neugier führte zu Verstehen. Verstehen führte zu Wissen. Wissen führte zu... Wissen
führte zu...
Jiim trat durch das dunkle Tor.
Aha. Götterboten waren also blass, hatten keine Flügel und waren in seltsame, steife Stoffe gehüllt. Und - soweit war seine gedankliche Blasphemie bereits gediehen - sie stanken. Rasch flüsterte Jiim ein Gebet und flehte mehrere Dutzend hoher Wesen aus der reichhaltigen Götterwelt der Nargen um Verzeihung an. Gleichzeitig sah er sich genauer um. Es war dunkel, und seine Sinne konnten im Inneren nur diffuse Wärmequellen ausmachen. Blau und Violett dominierten den Raum. In der Mitte der Zornesträne waberte etwas rundes, Gewölbtes in allen Farben des Spektrums. Zögernd ging Jiim darauf zu. Seine Flügel flüsterten sanft mit jeder Bewegung. Vorsichtig griff er in die grüne - nein, jetzt gelbe! - Farbe. Er drang langsam ein, bis er auf Widerstand stieß und nicht mehr weiterkam, während es orangerotblauviolett wurde. Mit einem unterdrückten Schrei zog er die schmale, aber kräftige Hand zurück. Es hatte ihn... gekitzelt. Dann... gereizt. Und schlussendlich... geschmerzt. Mit gesträubten Federn trat er zurück und konzentrierte sich auf die vier auf dem Boden liegenden Gestalten. Götter? Götterboten? Egal. Sie rührten sich nicht, und er hatte keine Lust, auch nur einen Moment länger als unbedingt notwendig in der Zornesträne zu bleiben. Noch dazu bei einem derart schlechten Licht und dem unheimlichen Lichterbogen, den er berührt hatte. Durfte man diese... Wesen überhaupt anfassen? Jetzt hätte er gerne Chex oder einen anderen aus der Jagdgruppe, mit der er das Dorf verlassen hatte, bei sich gehabt. Auch Alef, Cur und Pheens waren tapfere junge Nargen, auf die er sich verlassen konnte. Bevor er von einem neuen Gefühl überwältigt wurde, das er nicht mochte, handelte er lieber. Mühsam schleppte er eine der vier Gestalten nach der anderen ins Freie. Sie waren annähernd so schwer wie er selbst, obwohl sie keine Flügel besaßen. Erst danach leistete sich Jiim den Luxus, Angst zu empfinden. Er war stolz auf sich. Denn die Neugier hatte die Angst besiegt.
Kurz zuvor: Caar stand, das linke Bein angezogen, den Rumpf nach vorne gebeugt und die Flügel weit von sich gestreckt, auf der Gemeinschaftsplattform seines Volkes. »... Nach Sermon kam Plephes, auf Plephes folgte Anteri, den Coors begleitete. Sermon brachte die Feder, Plephes gab das Feuer, Anteri blies den Wind, und Coors modellierte das Fleisch aus Feuerstaub, den er vom Boden aufhob, und so ward Nargor geboren, der Stammeselter aller Nargen...« Caar beugte das rechte Knie und ignorierte geflissentlich das Brennen und den Schmerz in seinen Knochen. Er wurde alt. Nein. Er war alt. Schon seit langem. »Sermon, Plephes, Anteri, Coor, so hört mich an: Ich bitte euch um die Gunst der vier Windrichtungen, über die ihr gebietet. Ich bitte euch um die Gunst des Jagdglücks für unsere vier mal vier Krieger, die heute Nacht nach Nahrung für unser Volk suchen. Ich bitte euch um die Gunst der vier Jagd-Tugenden Schnelligkeit, Ausdauer, Geschicklichkeit und Kraft. Ich bitte euch...« Die Litanei ging viermal vier Strophen weiter, und immer wieder beugte Caar das schmerzende Knie, spie ehrfurchtsvoll auf den Boden und erhob sich wieder. Nachdem er mit dem abendlichen Gebet fertig war, erhob er sich, reinigte die Hände in einem hölzernen Gefäß und knabberte an einer heiligen TorfyrRanke. Die Gebete erschöpften ihn, doch es war noch lange nicht Zeit, die Macht an einen jüngeren Nargen weiter zu reichen. Wem hätte er die Geheimnisse seinesVolkes auch anvertrauen sollen? Die neue Generation von Nargen war verkommen. Sie zweifelte heimlich an den Göttern, er wusste es; sie verstand es nicht, die Qualen, die seinem Volk auferlegt worden waren. duldend hinzunehmen. Doch Caar würde dafür sorgen, dass die Zeit des Zweifelns bald vorüber ging. Er, der Grimmige, wie sie ihn heimlich nannten, würde die Geschicke der Nargen weiter mit eiserner Hand bestimmen. Er würde... »Chiu!«, hörte er den Todesschrei eines jungen Jägers. Er wusste sofort, dass es sich um Jiim handelte. Jiim, den Leichtsinnigen. Tollkühn, neugierig und respektlos war er, aber auch einer der besten Jäger. Es wäre ein herber Verlust für die Gemeinschaft gewesen, wenn er umkam. Dann sah Caar den roten Feuerball. Der Suprio sah ihn nicht nur, er roch auch den bitteren Geschmack in der Luft, fühlte die herannahende Hitze und spürte in seinen Beinen die Wucht des Aufpralls. »Ihr Götter!«, schrie ein Halbwüchsiger im Nest seines Elters. Überall flatterten die Nargen aufgeregt aus ihren Behausungen, brüllten in Panik, flogen orientierungslos herum und behinderten einander gegenseitig.
Caar kämpfte gegen den Kloß in seinem Kropf an und gegen den Instinkt, ebenfalls emporzusteigen. Eine rotgelbe Wolke stieg dort auf, wo der Feuerball in den Schrund gestürzt sein musste, und formte einen grinsenden, hautlosen Schädel, über dem unheildräuend Maron leuchtete. »Pias! Seid ruhig! «, forderte Caar seinen Stamm mit aller Stimmgewalt, zu der er fähig war, auf. Er flatterte heftig mit seinen mächtigen, sonnengelben Flügeln und erzeugte ein Geräusch, das Respekt gebot. Langsam beruhigten sich die Nargen, nur der Halbwüchsige war kaum zu bändigen. Erst, als ihm sein Elter mit einem Flügel auf den nur spärlich beflaumten Kopf hieb, verstummte auch er endlich. »Mein Volk!«, rief der Suprio, »die Götter haben uns ein Zeichen gegeben, genau in der heiligen Stunde des Gebetes.« »Ein Zeichen!« »Eine Geste der Götter! « »Die Götter blicken auf uns herab! « Wieder hob Caar seine Flügel, und gleich darauf herrschte wieder Stille. »Es mag ein gutes Zeichen sein...« Ehrfürchtiges Raunen. »Oder ein böses...« Beunruhigtes Gemurmel. »Wir müssen dieses Zeichen finden und es interpretieren!« Caar drehte seinen Kopf fließend in alle Richtungen, fast um dreihundertsechzig Grad. Seine schwarzen Augen funkelten fanatisch. »Ich fordere euch auf, mit mir zu kommen, euch alle, und das Wirken der Götter mit anzusehen. Folgt mir! « Er schlug zwei-, dreimal mit den schweren Flügeln, bis er genug Aufwind spürte, und ließ sich dann von der Plattform gleiten. Die gute Thermik war einer der Gründe für die Ahnen gewesen, gerade an dieser Stelle das Gemeindehaus zu errichten, und mit graziöser Leichtigkeit fädelte sich Caar in die Luftströme ein, die ihn zum Zeichen der Götter tragen würden. Er sah sich nicht mehr um. Er wusste, dass die anderen ihm folgten. Das verlangte der Respekt vor dem Suprio, selbst wenn er sie in den Tod geführt hätte.
Jiim betrachtete die vier Gestalten näher. Sie trugen ein dichtes Flaumkleid auf den hässlichen Köpfen, noch dazu in unterschiedlichen Farben. Hässlich? Hatte er das soeben gedacht? Hastig verbeugte er sich in die vier Himmelsrichtungen und deutete mit den Fingern einen Kreis an; das Symbol der göttlichen Vollkommenheit, das den Nargen für immer verloren gegangen war. Nacht für Nacht wurde ihnen ihre Schuld in Form Marons - des zerstörten Mondes eindringlich vor Augen geführt. Dann wandte sich Jiim wieder den Lebewesen zu, die zu schlafen schienen. Sie besaßen Augen, die durch eine Art Hautlappen geschützt waren und muschelförmige,
nur rudimentär ausgebildete Ohren, die auf ein schlechtes Gehör schließen ließen. Außerdem hatten sie ein allein stehendes, weit vorspringendes Riechorgan und dicke Wülste rund um den Mund. Die Gesichtshaut war faltig und zerknautscht, nur das kleinste Wesen wirkte zarter. Vorsichtig griff er dessen Körper ab. Die Außenhaut fühlte sich spröde und kalt an, das Fleisch darunter weich und untrainiert. Nicht so zäh und sehnig wie der Körper eines Nargen. Das Wesen besaß zwei handgroße Höcker auf dem Oberkörper, die es von den anderen unterschied. Zwei voneinander getrennte Mägen? Gewachsene Geschwüre? Riesige Pusteln wie bei sterbenden Cherss, deren Eiter im Augenblick des Todes weit umherspritzte? Jiim fuhr mehrmals vorsichtig über die Außenhaut und fühlte mit seinen sensiblen Fingern, dass kleine, spitze Dinger aus den beiden Eiterpusteln emporwuchsen. Hastig richtete er sich auf und wich zurück. Hatte er das unheimliche Wesen in seiner Unwissenheit so sehr gereizt, dass sein Tod unmittelbar bevorstand? Wie hatte er nur wagen können, es zu berühren? Der junge Narge trat noch einen Schritt weiter zurück - und purzelte ungeschickt über die Beine eines Nargen, der hinter ihm stand. Jiim landete im Staub. Ein toller Jäger bin ich, dass ich nicht einmal merke, wenn sich der ganze Stamm um mich herum versammelt, dachte Jiim bitter. Aber immerhin brauche ich nicht mehr auf die Knie zu fallen, um dem Suprio meine Ehrerbietung zu erweisen.
Jiim. du dreimal verfluchter Abkömmling Marons, was treibst du hier? Warum wissen wir nicht, was du tust? Und warum hast du vorher den Todesschrei ausgestoßen?« Das Federkleid des Suprio wirkte etwas kräftiger als sonst. Er war zornig. »Verzeih mir. Ehrwürdiger Oberster Eierhüter. ich war erschrocken! Ich wollte nur...« »Du hast nichts zu wollen! Was sind das für Lebewesen? Warum hast du sie berührt, Frevler?« Caar tanzte um ihn herum, flatterte aufgeregt mit seinen Flügeln und demütigte ihn damit bewusst vor den anderen Nargen. Rang und Ansehen des jungen Jägers würden in dieser Nacht erheblichen Schaden nehmen. Verzweifelt richtete sich Jiim an die anderen Nargen: »Ihr habt sicher alle diesen mächtigen Feuerschein gesehen?« Fast alle Nargen bestätigten es stumm. »Und ihr habt auch gespürt und gerochen, wie die Zornesträne Rigos hier niedergegangen ist? Sie hat mich gerettet vor dem Ansturm eines Cherss, das mich im selben Moment töten wollte!«
Unruhe breitete sich aus. »Zornesträne?«
»Aber die mächtigen Vier, Sermon, Plephes, Anteri und Coor werden uns doch vor
Unglück bewahren?«
»Rigo. der Kriegsgott?«
»Die Götter wollten dich schützen?«
Der Suprio unterbrach die Gespräche und hob Ehrfurcht gebietend den linken Flügel.
»Schweigt! « Dann wandte er sich an den jungen Jäger: »Was soll das Geschwätz
von einer Zornesträne, Jüm? Die Götter haben heute Abend zu mir gesprochen und
Frieden und Ruhe für die nächsten Monde prophezeit, wenn wir ihnen in aller Demut
dienen.« Er keckerte höhnisch. »Hast du vielleicht gefehlt? War diese...
Zornesträne... nur für dich bestimmt? Hast du uns deswegen nicht gleich informiert?
Und was sind das für unbekannte Geschöpfe?« Er deutete auf die vier Bewusstlosen.
»Sie waren im Inneren der Zornesträne, und ich habe sie herausgeholt«, antwortete
Jiim trotzig.
»Und wo ist diese Zornesträne jetzt? Wir können sie nirgends sehen.« Caars Stimme
war voller Hohn, sein Flügel beschrieb einen allumfassenden Kreis.
»Na da, gleich hinter...«
Als sich Jiim umdrehte, war der dunkle Brocken weg. Wie von den Göttern des
Feuers verschluckt.
Der Suprio stolzierte um die vier merkwürdigen, wie leblos daliegenden Gestalten herum. Mit seinen viergeteilten Füßen kratzte er etwas Staub vom rauen Boden und schleuderte ihn in ihre Richtung - als Zeichen seines Misstrauens und seiner Missachtung. Er fürchtet diese Wesen, und er weiß nicht, wie er mit ihnen umgehen soll, dachte Jiim und verdrängte den Schock über das Verschwinden des merkwürdigen Behälters. Wenn der Suprio einen Grund fände, würde er die Fremden auf der Stelle töten. Ich kenne seine engstirnigen Gedanken: Was nicht sein darf, gibt es auch nicht. Wenn er sie tötet und ins Feuer stößt, braucht er nicht länger über die Unfassbarkeit ihrer Existenz nachzusinnen. »Ehrwürdiger Suprio, ich versichere dir als Jäger und Mitglied der Gemeinde, dass diese Wesen in einem dunklen Gefäß zu uns kamen. Bei meiner Ehre!« Jiim schlug sich mit der rechten Faust gegen die linke Schulter, sodass sich die mächtigen Flügel überkreuzten. Gemurmel brandete auf. Ein Schwur auf die Ehre war nichts, was man leichtfertig abgab. In ihrer kleinen Gemeinde galt das versprochene Wort genau so viel wie eine Tat. Caar wusste das. Doch das Wort eines Suprio zählte nun einmal mehr als das eines einfachen Jägers. Der Ehrwürdige Oberste Eierhüter machte eine Kunstpause, als
würde er zögern. In Wirklichkeit wollte er nur andeuten, dass er die Ehrenbezeugung Jiims zwar hinnahm, sie ihm aber letztlich gleichgültig war. Er würde die vier Lebewesen wohl dennoch zum Tode verurteilen. »Caar, es müssen Abgesandte unserer Götter sein!«, unternahm Jiim einen letzten, verzweifelten Versuch. »Oder glaubst du, dass es Zufall ist, dass sie ausgerechnet zu viert hier auftauchen? Ist >vier< nicht die heilige Zahl? Sind es vielleicht Boten von Sermon, Plephes, Anteri und Coor?« Zischen und heftiges Flattern war die Reaktion der Nargen. Mehrere Junge brachen in Weinen aus. Alle wichen um mehrere Schritte zurück. Der Suprio blickte Jiim mit unverhülltem Zorn an. Dann lächelte er listig, wobei aber nur der junge Jäger sein Gesicht sehen konnte. »Gut«, sprach Caar, »mit deiner Ehrenbezeugung hast du uns...« Er wies mit einem Flügel in Richtung der zurückdrängenden Nargen und meinte in Wirklichkeit alle, nur nicht sich selbst, »... davon überzeugt, dass es Götterboten sein mögen. Aber es wird deine Pflicht sein, sie in deiner Behausung aufzunehmen und zu versorgen. Binnen vier Tagen hast du den Beweis zu erbringen, dass du Recht hast. Sollte es so sein, werde ich als Mittler zwischen uns Nargen und der Welt der Götter einschreiten. Solltest du dich aber irren und nur in überheblicher Ignoranz einen falschen Schwur geleistet haben, so kennst du dein Schicksal.« Er hat auf jeden Fall gewonnen, der alte Eierklau. Egal, was auch rauskommt, er hat mich bei den Ohren. Jetzt hilft wirklich nur noch ein Wunder - diese flaumlosen Wesen müssen tatsächlich Götterboten sein. Allerdings habe ich meinen Bedarf an Wundern in letzter Zeit reichlich überstrapaziert, dachte Jiim selbstkritisch, hob aber den Arm zur Bestätigung. 3. Cloud träumte von hohen, grünen Bäumen, dem Geruch von leicht feuchtem Heu und einer sanften Brise, die sein Gesicht kühlte. Der Holzboden unter ihm knarrte leise, und die Wolken, die er durch eine große Luke vor14 beiziehen sah, bildeten immer neue Formen. Die Ferien auf Onkel Richards Farm in Virginia - ein Kaleidoskop voll Erinnerungen an spannende, lustige, abenteuerliche Momente. Die zahlreichen Raufereien, die er und sein dicker Vetter Pete sich auf dem riesigen Heuboden geliefert hatten. Die erste und einzige Zigarette seines Lebens, Marke »Lucky Strike«. Das pickelgesichtige Mädchen namens Cibyl. Eine Dorfpomeranze, die von morgens bis abends einen Kaugummi im viel zu großen Mund hatte, und ihre Hautverunreinigungen mit einer mächtig dicken Schicht Schminke zu verbergen versuchte. Cloud hatte mit ihr geschlafen. Er war dreizehn Jahre alt gewesen, und er erinnerte sich kaum mehr im Detail an das Aussehen des Mädchens, nur die Schminke, der Kaugummi und die ständigen Trauerränder unter ihren Fingernägeln waren ihm im Gedächtnis haften geblieben. Und wie merkwürdig es sich angefühlt hatte, als er...
»Cibyl«, flüsterte er in diesem seltsamen Zustand zwischen Traum und Wirklichkeit.
Dann öffnete er wohlig seufzend die Augen...
... und blickte geradewegs in die Fratze des Monsters.
»Geh weg!«, schrie Cloud, rappelte sich halb auf, stolperte über den Strohhaufen, auf dem er gelegen hatte, und fiel schwer nach hinten. Das Gewicht des Raumanzugs zog ihn zu Boden, und der metallene Wulst des offenen Kragens schlug schmerzlich gegen seinen Nacken. Mühsam stand Cloud wieder auf und wich langsam auf dem schwankenden Boden nach hinten. Er ließ das Monstrum nicht aus den Augen, bis er an die Veranda gelangte, die das seltsame Haus mit merkwürdigen, hanfähnlichen Schnüren begrenzte. »Komm bloß nicht näher, du Ausgeburt der Hölle!«, knurrte er. Wo, verdammt noch mal, war er? Und wie kam er hierher? Das Wesen dachte nicht daran, stehen zu bleiben. Es stakste mit seltsam unbeholfenen Schritten näher heran und schlug bedrohlich mit den gewaltigen Flügeln. Es hielt eine Art Schüssel in den Händen und keckerte ununterbrochen in einer Sprache, die aus rauen Konsonanten und lang gezogenen Vokalen bestand. Cloud sah die drei GenTecs im Hintergrund des luftigen Raumes liegen, hinter dem fauchenden Monster. Sie rührten sich nicht. Wahrscheinlich waren sie bewusstlos, wie er es auch gewesen war. Aber wer hatte sie in dieses... Haus... gebracht - und warum? Egal. Er musste erst einmal verschwinden, irgendwohin, wo er seine Gedanken sammeln konnte. Vielleicht würde sich das Durcheinander in seinem Kopf lichten... »Sayonara, Vogelgesicht«, knurrte Cloud und kletterte zwischen den Hanfseilen hindurch, ohne das Wesen aus den Augen zu lassen. Er tat einen Schritt rückwärts, stieß ins Leere und fiel ins Nichts. Im Fallen zwang er seinen erschöpften Körper zu einer unmenschlichen Anstrengung, drehte sich in der Luft und bekam das Endstück eines herabbaumelnden Seiles zu fassen. Doch es glitt zwischen seinen Händen hindurch, und ungebremst fiel Cloud weiter nach unten. Geschätzte hundert Meter tief.
Hundert Meter im freien Fall bedeuteten vier, fünf Sekunden Restleben. Aber Cloud dachte nicht über den Tod nach, und auch sein Leben zog nicht vor seinem inneren Auge vorbei. Er schrie einfach, während er sich überschlug. Er schrie auch noch, als ihn kräftige Arme auffingen und ihm Federn übers Gesicht schlugen. Vielleicht zehn Meter fehlten noch bis zum felsigen Boden, der nass und grün glänzte, dann wurde die Distanz wieder größer. Das »Monster« mit den großen, schwarzen Kulleraugen hatte ihm das Leben gerettet.
»Was... wer bist du?«, fragte John den Geflügelten, der ihn sanft oben im Baumhaus absetzte. »Wäär ssst uu?«, wiederholte das Wesen keckernd und seltsam singend. Sein lippenloser Mund bewegte sich lediglich starr auf und ab, und auch die Möglichkeit, mit der Mimik seines Gesichtes etwas auszudrücken, schien eingeschränkt. Die Ohren, wenn man sie so nennen durfte, wuchsen nahe der Backenknochen seitlich aus dem Kopf und endeten fein verästelt in zarten, flaumigen Haaren, die sich im stetigen Wind bewegten. Beeindruckend und Ehrfurcht gebietend waren die Flügel, die nahezu zwei Meter in die Höhe ragten. Kein Wunder, dass ich an einen Dämon dachte, als ich aufwachte. Cloud bemühte sich um ruhige Atmung. Der Schock des Sturzes saß noch tief. Die Flügel und die kohlrabenschwarzen, riesigen Augen, der feuerrote, nackte Körper - die erste Assoziation war die zu einem Racheengel... Das Vogelwesen betrachtete ihn interessiert. Dann reichte es Cloud die Schüssel, die es bereits bei seinem Erwachen in den Händen gehalten hatte. »Essen?«, fragte Cloud und deutete auf den undefinierbaren Brei, der sich in der Holzschüssel befand. »Ssen!«, wiederholte das Wesen und zeigte mit der Hand auf Schüssel und Mund. Dabei bewegte es den Kopf in hastigen Bewegungen mehrmals hin und her. Zögernd kratzte Cloud mit Zeige- und Mittelfinger ein wenig von dem Brei aus dem Gefäß. Er ließ die Zunge darüber fahren und schmeckte. Er zögerte. Es war sauer-fruchtig, wie eine Mischung aus Äpfeln, Kiwis und Bananen. Er war mehr als hungrig. Wie lange hatte er nichts mehr gegessen? Das letzte lukullische Highlight waren ein paar mikrowellenerhitzte Putenflügel gewesen, die sie zu Darcys Geburtstag an Bord der RUBIKON gegessen hatten. Vor mindestens zwei Ewigkeiten, dachte Cloud und kostete vorsichtig von dem Brei. Und der war gut! Eine wahre Götterspeise! Exotische Früchte, erntefrisch, mit einem Etwas an Geschmack, das Clouds Zunge nicht zu identifizieren vermochte. Es schmeckte einfach... fremd, exotisch. Und so was von gut!
John beherrschte sich mühsam, um nicht gleich noch mehr von dem Brei zu sich zu nehmen. Eine halbe Stunde würde reichen, um die Wirkung des Mischobstes auf seine Verdauung abzuwarten. Dann noch einmal kosten, eine halbe Stunde verstreichen lassen, und wenn ich noch lebe, werde ich drei, vier Schüsselchen von diesem Manna bei meinem geflügelten Kellner ordern. Er schielte an dem Vogelwesen vorbei zu seinen Begleitern. Sie ruhten auf ähnlichen Strohsäcken wie er, alle zur Seite gedreht, und er konnte ihre ruhigen Atemzüge hören. Ein Problem nach dem anderen, John. Zuerst musst du dich um den komischen Vogel kümmern. Er sah ihm in die schwarzen Augen. Dann deutete er mit der Hand auf sich und sagte möglichst betont: »John Cloud.« Das Vogelwesen zögerte kurz. Fast scheu blickte es ihn an. Es schien äußerst nervös zu sein. So nervös wie er selbst. Dann zeigte es auf ihn und wiederholte: »Tschonk Laut.« Es keckerte verhalten, fast belustigt. Der Amerikaner blickte in die dunklen Augen, und plötzlich musste er lachen. Es war ein befreiendes, lautes Lachen, das langsam in seinem Magen begann, sich durch die Luftröhre den Weg nach oben bahnte und wie Donner hervorbrach. Er musste lachen, lachen, lachen. All die Anspannung und all die Ängste brachen aus ihm hervor und äußerten sich in einem gewaltigen, krampfartigen Gelächter. Das Vogelwesen trat zurück. Es war erschreckt und sichtlich von Respekt erfüllt, aber auch neugierig. »Bleib... huahua... hier, du komischer... Vogel. Tschonk... hihihuahu!« John lachte, bis die Bauchmuskeln schmerzten und die Tränen hervor schossen. Der Geflügelte war bis ans Ende des großen Raumes zurückgewichen. Dort stand er und beobachtete. Cloud lachte, bis er weinte - und dann schlief er ein.
Es war dunkel, als er wieder erwachte. Der Vogelmensch war nirgends zu sehen. Diesmal fiel ihm der Wechsel in die Realität wesentlich leichter. Der Lachkrampf und die Tränen hatten die psychische Erschöpfung weggewischt - oder auch nur verdrängt. Wie auch immer, er und seine Begleiter befanden sich in einer Situation, die noch nie ein Mensch erlebt hatte und auf die die Schulpsychologie wohl keine Antwort gewusst hätte. Das Lachen hatte auf jeden Fall geholfen. Er stand auf und sah nach den anderen. Scobee, Jarvis und Resnick schliefen nach wie vor tief und fest. John hatte keine Erklärung dafür, da die GenTecs eigentlich wesentlich robuster waren als er.
Einerlei. Er sah keinen Grund zur Beunruhigung. Bei der Frau und den beiden Männern funktionierte die Atmung einwandfrei, auch der Ruhepuls war für ihre Verhältnisse normal. Cloud näherte sich nochmals Scobee und beugte seinen Kopf nahe zu dem ihren hinab. Das Licht eines fremden Mondes half ihm, ihr schmales Gesicht zu betrachten. Der rechte Arm der GenTec zuckte hoch und strich über ihr Gesicht. Er musste sie mit seinem Atem gekitzelt haben. Erschrocken richtete sich Cloud auf. Nach einer Weile spürte er wieder Hunger. Wo war der Breitopf? Hatte ihn der Vogelmensch dagelassen? Cloud tastete sich vorsichtig durch den Raum, der von Sternenlicht, das von zwei offenen Seiten einfiel, erfüllt war. Er stolperte über sein Strohlager, tastete an seinem Rand entlang und fand schließlich das Holzgefäß. Gierig fasste er mit einer Hand hinein, holte einen großen Breibatzen heraus und aß. Herrlich! Wenn ich das Zeugs auf die Erde exportieren könnte, wäre ich ein gemachter Mann! Falls es die Erde und die dortigen Menschen noch gab... Gesättigt stand er wenig später auf, ging vorsichtig zur Öffnung, durch die er abgestürzt war, und blickte ehrfürchtig zu den Sternen hinauf. Ist das nicht der Traum und die Sehnsucht eines jeden Astronauten? Unter einem fremden Sternenhimmel zu stehen und emporzublicken? Seltsam: Eigentlich ist das Gefühl fast enttäuschend. Es sieht genau so aus wie auf der Erde, nur sind mir die Sternbilder unbekannt. Und dass dem Mond ein knappes Drittel seiner Masse fehlt, als ob ein Riese ein Stück daraus abgebissen hätte, ist vielleicht auch ein wenig merkwürdig. Cloud kicherte. Derzeit konnte ihn nichts erschüttern. Er hatte zu viel erlebt, und sein Geist akzeptierte keinen weiteren Schock mehr. Er war einfach überfrachtet mit Eindrücken. Auch die Vielzahl der fremdartigen Vogelwesen, die mit kräftigen Flügelschlägen herumkreisten und ab zu einen spitzen Schrei ausstießen, irritierte ihn nicht über Gebühr. Er hatte sich damit abgefunden, sich in einer vollkommen abstrusen, einzigartigen Situation zu befinden, in der keine herkömmlichen Maßstäbe mehr galten. Seufzend genoss Cloud die klare Nacht.
Zwei Stunden später rührte sich Scobee, wälzte sich unruhig hin und her. Schließlich
richtete sie ihren Oberkörper ruckartig auf und blickte sich um.
»John?«, fragte sie leise und blickte in seine Richtung. Übergangslos, als hätte sie
einen Schalter betätigt, war sie wach.
»Ja, Scob, hier bin ich! Komm her zu mir!«
Sie zögerte keinen Moment und glitt mit geschmeidigen Bewegungen auf ihn zu.
Sie hat auf Infrarotsicht Umgeschalten. Sie erkennt alles um sich herum, als wäre es
heller Tag.
»Wo sind wir hier? Wie sind wir hergekommen? Was ist passiert?«
Sie ist neugierig, aber ihre Stimme klingt so unbeteiligt. Als würde sie außerhalb
ihres Körpers stehen und sich selbst beobachten, selbst zuhören.
»Wo soll ich da beginnen?« Cloud seufzte. »Wir sitzen im Wipfel eines riesigen
Baumes fest, um uns kreisen riesige, intelligente Vogelgeschöpfe, vom hiesigen
Mond fehlt sichtlich ein ziemlicher Brocken, und es dauert zirka fünf Sekunden, bis
man auf dem Boden aufschlägt, wenn man so dumm ist wie ich. Dein Haar sieht
übrigens wunderschön im Mondlicht aus, wusstest du das?«
Sie sah ihn verstört an, und über der Nasenwurzel bildete sich eine tiefe Falte.
Cloud hatte sie irritiert. Er grinste. »Nein, nein, mach dir keine Sorgen, ich bin nicht
durchgedreht. Die ganze Situation ist nur ein wenig... merkwürdig, nicht wahr?«
Er wurde ernst und erzählte Scobee von seiner Begegnung mit dem Vogelmenschen,
seinem Sturz und der Rettung in letzter Sekunde.
Die GenTec hörte konzentriert zu. Dann sah sie hinaus und studierte die
Vogelmenschen mit ihren hochsensiblen Augen. Sie sagte kein Wort, fragte nicht
nach, hörte ihm nur zu.
Als Cloud ans Ende seiner Schilderung kam, nickte sie, als ob sie alles begriffen
hätte.
Im hinteren Teil des Hauses bewegten sich die beiden anderen GenTecs, Jarvis und
Resnick. Ohne einen Laut standen sie auf und näherten sich.
Cloud erhob sich. Ein schwacher Streifen Helligkeit war am wolkenverhangenen
Horizont zu sehen. Die fremde Sonne würde bald aufgehen.
Würde sie gelb, rot oder violett sein?
»Scobee, informiere du die beiden über die Geschehnisse. Und bereite sie darauf vor,
dass >unser< Vogelmensch bald zurückkommen wird. Diese Rasse scheint
nachtaktiv zu sein_ Ich nehme an, dass sie während des Tages Schlaf benötigt.«
Die GenTec nickte ausdruckslos. Cloud grüßte Resnick und Jarvis knapp und legte
sich dann auf sein Strohbett. Er wollte noch etwas nachdenken.
Ein leises Kratzen auf dem Dach, das aus groben, unbehandelten Ästen und dazwischen gestopften Grasbüscheln bestand, kündete von der Rückkehr des Hausherrn. Cloud stand langsam auf. Sein Herz klopfte heftig. Nahe dem zentralen Baumstamm, der den Raum förmlich durchbohrte, öffnete sich eine Luke im Dach. Der Vogelmensch hangelte sich an einem langen Seil herab. Er bewegte sich vorsichtig und, wie es Cloud schien, auch ein wenig müde. Er trug eine
Art geflochtenen Beutel über der Schulter; darin befanden sich gelbgrüne, ovale Früchte. Oder war es ein Gemüse? In der linken Armbeuge hielt er ein etwa armlanges reptiloides Tier, das sein Leben ausgehaucht hatte. Eine abgebrochene Speerspitze steckte in der Schulter des Tieres, und das mittlerweile gestockte Blut hatte sich über den gezackten Hornkämmen verteilt. Wenigstens ist das Blut rot und nicht etwa pink oder dottergelb, dachte Cloud sarkastisch. Die großen Augen des Vogelwesens richteten sich auf ihn. »Tschonk Laut«, wisperte es und zeigte zuerst auf den Menschen und dann auf die drei erwachten GenTecs. Es keckerte halblaut. Grundgütiger, ich glaube, der Kerl lacht über mich! Cloud nannte ihre Namen. Der Geflügelte wiederholte sie: »Sko Pi, Res Nick, TscharVis.« Dann deutete er auf sich selbst und klopfte viermal mit der Faust gegen seine schmale Brust. »Jiim!« sang er und klapperte mehrmals mit dem schmalen Mund nach. Dann trat er respektvoll einen Schritt zurück. Ohne die Augen von dem Vogelmenschen zu nehmen, raunte Cloud in Scobees Richtung: »Scob, wie deutest du das, was er sagt? Versteht er, was ich ihm sagen will? Versteht er die Bedeutung der Worte, die er gebraucht, oder äfft er sie nur nach?« Sie hatte eine philosophisch-wissenschaftliche Ausbildung genossen, die sich mit der friedlichen Kontaktaufnahme mit Außerirdischen beschäftigte. Die NCIA hatte an alle Eventualitäten gedacht, bevor sie die GenTecs in die RUBIKON verpflanzt hatte. »Ich denke schon«, wisperte Scobee zurück. »Es scheint mir, dass die Gestik durchaus menschenähnlich ist. Körperbau und Gliederanzahl deuten darauf hin, dass die evolutionäre Entwicklung ähnlich der irdischen verlaufen ist. Abgesehen von den Flügeln ist...« »Ja, ja, schon gut, Scob.« An den Vogelähnlichen gewandt, sagte Cloud: > Jiim, freut mich, dich kennen zu lernen. Wie geht's denn so, altes Haus? War die Jagd erfolgreich? Schmeckt das hässliche, schlabberige Gürteltier, das du dir über die Schulter gehängt hast, wenigstens? Ich hätte nämlich riesigen Appetit auf ein dick geschnittenes Steak, blutig, dazu noch eine riesige, gengezüchtete Folienkartoffel und cholesterinarme Kräuterbutter. Auf die Dekoration mit Petersilie und BroccoliSträußchen verzichte ich ausnahmsweise, aber...« »Mach mal halblang, John, du überforderst das arme Wesen total! Siehst du nicht, wie es vor dir zurückweicht?« Scobees Stimme klang ärgerlich. »Wenn du erlaubst, werde ich den Erstkontakt übernehmen.« »Kommt gar nicht in Frage! Ich lass mich aber gern von dir beraten.« Er grinste noch breiter. Sie ließ sich nicht provozieren. »Diese Wesen scheinen ein ähnliches Schlafbedürfnis zu haben wie wir, sonst hätte Jiim uns während unserer Bewusstlosigkeit nicht auf die Strohmatten gelegt. Ich empfehle dir, dich hinzusetzen..
Das erweckt den Eindruck von Friedfertigkeit.« Sie zögerte. »Wir alle sollten uns hinsetzen.« Am Rascheln der Kleidung erkannte John, dass sich die drei GenTecs bereits niederließen. Er wagte nicht, den Blick von Jiim zu wenden. Dann nahm auch er Platz und schaute erwartungsvoll zu dem Geflügelten hoch. Jiim schien die symbolische Geste zu verstehen. Er kam wieder ein paar Schritte näher. »Ich vermute«, flüsterte Scobee nahe an Clouds Ohr, »dass er einen Heidenrespekt vor uns hat. Wir wissen zwar nicht, wie wir hier gelandet sind. Aber das einfache, soziale Gefüge, das hier zu herrschen scheint, weist auf eine primitive und endemische Kultur hin, die noch nie Kontakt mit anderen intelligenten Spezies hatte.« Sie zögerte. »Wie wir ja bislang auch noch nicht.« »Was willst du damit zum Ausdruck bringen, Scob?« Cloud bemühte sich, leise zu sprechen. Er wollte den Vogelmenschen nicht verängstigen. Starke Schwankungen in der Stimmlage konnten ihn aufgrund seines wahrscheinlich empfindlichen Gehörs erschrecken. »Ich meine, dass Jiim uns als höhergestellte Lebewesen betrachtet. Möglicherweise als... Götter.« »Ist es für Götter nicht ein wenig merkwürdig, wenn sie so bewusstlos sind, dass man sie mühelos irgendwohin verfrachten kann?« »Genau das ist, schätze ich, Jiims größtes Problem. Er hat keine Ahnung, wie er uns einschätzen soll. Um so mehr, als du vor ihm Ängste zeigst, und er dich vorhin, wie du sagst, retten musste. Er ist sich augenscheinlich nicht sicher, was er mit uns anfangen soll. Und vielleicht ist das auch unsere Rettung. Wie du an dem erlegten Tier sehen kannst, sind er und sein Volk Fleischfresser. Wenn du also von Steaks sprichst, scheint mir dies ein wenig... unsensibel. Schließlich könnten wir als genau solche bald in einer großen Pfanne brutzeln - sobald Jiim erkennt, dass wir gar keine so genannten >Götter< sind.«
Auf Scobees Anraten bedeutete Cloud dem Vogelmenschen mit einer herrischen Geste, sich ebenfalls hinzusetzen. Jiim verstand und gehorchte. Er hielt dabei ausreichend Abstand zu den Menschen und kreuzte die Flügel, die an der Rückseite der zähen, dürren Arme angewachsen waren, vor seiner Brust. Das Rot seines nackten Körpers und die weit ausladenden Schwingen erzeugten gehörigen Respekt in Cloud, und er hatte Mühe, ruhig zu bleiben. »Er folgt dir. Gut.« Scobee flüsterte ihm ins rechte Ohr, und er spürte die Wärme ihres Atems. »Er ist offensichtlich bereit zur Kontaktaufnahme. Er will lernen. « »Wie soll ich vorgehen?«
»Hm, vielleicht sollte doch besser ich...«
»Nein, Scob! Lass es mich versuchen.«
Sie zögerte. »Von mir aus. Probiere es mit der >Ich Tarzan - du JaneCommander