Die letzte Überlebende von Adrian Doyle & Timothy Stahl
Eine Welt des Zerfalls, der Hoffnungslosigkeit, der namenlosen...
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Die letzte Überlebende von Adrian Doyle & Timothy Stahl
Eine Welt des Zerfalls, der Hoffnungslosigkeit, der namenlosen Schrecken. Wann wurde sie so vollständig zerstört? Ist dies überhaupt noch die Erde? Eine junge Frau kommt inmitten einer Einöde, die einst wohl blühendes Land war, zu sich. Sie weiß nicht, wer und wo sie ist – aber sie muß kämpfen, um zu überleben. Ratten sind ihre Nahrung; ihr Blut scheint sie zu sättigen. Ja, sie ist eine Vampirin, und ihr Name ist … Lilith Eden! Aber damit ist nur ein winziger Teil des Geheimnisses gelüftet, das sie umgibt wie ein böser Traum. Ein Traum, auf den ein noch böseres Erwachen folgt …
Was bisher geschah … Am 28. September 2000 erscheint ein mysteriöses Haus an der Paddington Street in Sydney. Der Polizeipathologe Darren Secada findet darin die Halbvampirin Lilith Eden und bringt sie in seine Wohnung, verfolgt von Seven van Kees, einer Reporterin. Diese wird Zeuge, wie zwei unheimliche Gestalten von Lilith zur Strecke gebracht werden. Es sind Vampire! Doch dies ist eigentlich unmöglich. Lilith weiß, daß Gott selbst die Alte Rasse vom Antlitz der Erde getilgt hat. Darren stellt fest, daß diese Wesen seit Jahren tot sind; sie verschwanden damals aus ihren Gräbern. Und nun setzt sich der aufgehaltene Verwesungsprozeß fort. Lilith bleibt keine Zeit, Atem zu holen. Sie entdeckt über dem Sydneyer Zoo einen magischen Wirbel, und als sie das Phänomen untersuchen will, wird sie von Chimären angegriffen. Zwar bleibt sie Sieger, doch wer die Untat begangen hat, ist ungewiß. Für Seven van Kees ist das Leben mittlerweile zur Hölle geworden. Sie hat sich in einen Fremden verliebt – um, nachdem sie mit ihm geschlafen hat, festzustellen, daß er längst tot war und nun seinen zweiten, endgültigen Tod findet! Sie vertraut sich Secada an. Gleichzeitig merkt sie, wie sich etwas in ihr verändert. Und erfährt schließlich … daß sie schwanger ist! Lilith lernt unterdessen den Mann kennen, der hinter der Gruppe steht, die für die Chimären verantwortlich zeichnet: der Multimillionär Max Beaderstadt. Er möchte Lilith für seine Ziele gewinnen. Als sie sich weigert, will er sie töten. Dies aber verhindert der Angriff eines Konkurrenten; bei dem Kampf kann Lilith entkommen. Was ist das Geheimnis um diesen Mann …? Das erfährt vorerst nur der Leser: die Geschichte der »dritten Weissagung« nämlich, die eine Vampirin namens Irina 1978 aus dem Vatikan raubte. Es handelt sich um das unter Verschluß gehaltene dritte Geheimnis von Fatima, das für den Jahrtausendwechsel Schreckliches prophezeit. Die Erfüllung
hängt von sieben Zeichen ab. Das erste war die Zerstörung Jerusalems, das Auftauchen der Chimären bereits das vierte. Irina dient der Weissagung, die sich in einem Pergament manifestiert hat und jeden übernimmt, der das Blatt berührt – so auch Max Beaderstadt. Durch diese Übernahme verändert, ist Irina die Vernichtung ihrer Rasse entgangen. Als sie nun von einer weiteren überlebenden Vampirin erfährt, ist klar, daß sie ihrer habhaft werden muß. Sie scheint am Ziel, als Beaderstadt Lilith in seine Gewalt bringt und Irina informiert. Doch das nicht nur, um ihr einen Gefallen zu tun: Beaderstadt ist besessen vom Geist des Vampirs Ilja, der einst Irinas Sippenführer war und jetzt ihren Körper zu übernehmen trachtet. Dafür muß allerdings Beaderstadt sterben. Doch ungünstige Bedingungen verhindern, daß der Geist wie geplant in Irinas Körper wechseln kann, sondern sich einen anderen Wirt suchen muß. Das geschieht von Irina unbemerkt, während sie Lilith betäubt, Darren hypnotisiert und beide mit sich nimmt …
Sei mutig. Schau in den Spiegel. Betrachte dein Bild darin und laß dich nicht täuschen. Was macht dich so sicher, daß du es bist, die dir entgegenblickt? Könnte es nicht sein, daß die wahre Welt auf der anderen Seite des Spiegels liegt? Was ist Wirklichkeit? Und gibt es nur eine Realität oder unzählige, die von deiner nur durch einen dünnen Vorhang abgetrennt sind? Was geschähe, wenn du den Weg hinter den Vorhang finden würdest? Und noch weiter: hinter den Vorhang jenseits des Vorhangs …? Wo würdest du wohl ankommen? Und – noch wichtiger – wie wolltest du je wieder zurückfinden in das, was du für deine Welt hältst …? Prolog Irgend etwas hackte unablässig wie der Schnabel eines emsigen Vogels in ihr Gehirn. Aber letztlich waren es diese Schmerzen, die sie weckten. Wer bin ich? Und … wo bin ich? Sie schluckte krampfhaft. Ihr Mund und ihre Kehle waren knochentrocken, wie ausgedörrt. Als hätte sie tagelang geschlafen, ohne Flüssigkeit zu sich zu nehmen. Ohne … Nahrung. Stöhnend versuchte sie sich aufzurichten, aber zunächst war sie nicht einmal dazu in der Lage. Sie fühlte sich regelrecht einzementiert von der Finsternis. Als hätte die Schwärze, die auf ihr lastete, tatsächliches Gewicht. Und gleichzeitig war es, als befände sie sich in rasendem Fall. Nicht nur sie selbst, ihr Körper, sondern auch der Boden, auf dem sie lag. Der Fahrstuhl rast in die Tiefe … Ein bizarrer Gedanke, denn wenn sie irgendwo nicht war, dann in einem Fahrstuhl. Kalter, nackter Fels bildete den Untergrund, auf
dem sie zu sich gekommen war. Es dauerte eine unbestimmbar lange Zeit, bis der furchtbare Eindruck, ins Nirgendwo abzustürzen, nachließ. Die dringenden Fragen aber blieben: WER BIN ICH – UND WO? Sie war völlig erschöpft. Dabei wog die körperliche Schwäche noch gering im Vergleich zu ihrer geistigen Entkräftung. Als hätte ich Tage ohne Schlaf auskommen müssen und wäre zugleich einer unglaublichen geistigen Belastung ausgesetzt gewesen … Ihre Finger tasteten über den rauhen Boden, erforschten das unmittelbare Umfeld und erst dann die Kleidung, die sie am Leibe trug. Zerfetzte Kleidung. Hosen, Hemd oder Bluse, keine Schuhe … Keine Schuhe. Sie lauschte in sich hinein. An dem bohrenden Schmerz vorbei, der ihren Schädel zu sprengen drohte. Suchend streckte sie die Fühler ihres Geistes aus, um Erinnerungen aufzuspüren. Ihr Gedächtnis streikte, und dabei hatte die Frau am Boden, die Frau, die leise unter kaum erträglichen Schmerzen wimmerte, das absurde Gefühl, daß ihr Verstand sie absichtlich über ihre Identität im unklaren ließ. Um sie zu schützen … »Verrückt …« Krächzend plärrte ihre Stimme in die Finsternis. Es hallte wie in einem riesigen Dom. Dom … Einen Moment, der ihr wie Sand zwischen den Fingern zerrann, glaubte sie, daß dieser Begriff eine besondere Bedeutung für sie hatte. Doch schon im nächsten Atemzug, den ihre gequälten Lungen taten, zerstob dieser Glaube. Sie schloß die Augen, öffnete sie wieder, schloß sie … Es machte keinen Unterschied. Die Schwärze blieb gleich. Ihr Herz schlug matt. Vielleicht hatte es noch nicht gemerkt, daß die Frau zu sich gekommen war. Aber ihr verzweifeltes Ringen um Erinnerung jagte bereits Adrenalinstöße durch ihre Adern, die den
Muskel in ihrer Brust zu erhöhter Aktivität anregten. Wieder öffnete sich ihr Mund. Sie sammelte alle Kraft und rief: »Hallo! Ist da jemand …?« Keine Antwort. Hohl wurde ihre Stimme von nahen Wänden zurückgeworfen. Kein Dom, stellte sie fest. Ein eher kleiner Raum. Offenbar war sie nicht völlig hilflos. Nicht so leer an Wissen und Erfahrung wie ein Neugeborenes. Ihre Amnesie beschränkte sich allein auf die Fragen ihrer Identität und was sie in diesem vergessenen Leben durchgemacht hatte. Wie schrecklich mußte das sein, was eine solche Blockade errichten konnte? Eine Weile lag sie still und reglos da und überlegte. Es war kühl um sie herum, auch der Untergrund, aber es war erträglich. Wie lange lag sie schon auf dem harten Steinboden? Wie lange schon hatte sie nichts Eß- oder Trinkbares mehr zu sich genommen? Und falls es tatsächlich sehr lange her war, wie ihr Gefühl ihr einzureden suchte, warum … … lebte sie unter diesen Umständen dann überhaupt noch? Wer … bin … ICH? Der Name lag ihr auf der Zunge. Aber er entzog sich ihr immer wieder im Moment des Zupackens, im Moment, da sie ihn mit rauher Stimme aussprechen wollte! »Ich bin …« Leere. Ein Abgrund schien sich in ihrem schmerzdurchtobten Hirn aufzutun, eine Kluft, aus der hämisches Gelächter erscholl. Das Lachen eines Teufels, dessen Name … … ihr ebenfalls nicht einfiel. Noch nicht? Oder niemals wieder …? Sie stöhnte. Das Geräusch brach die Stille und führte zugleich wieder hektische Unrast in ihren Körper zurück. Ihre Muskeln gierten
nach Betätigung. Nach Belastung. Sie wollten die Schwäche, die sich im Heisch der Frau eingenistet hatte, davonjagen. Jagen … Das Wort war magisch. Es ließ Schauer der Erregung über die Haut der Frau wandern. Sie bekam eine Gänsehaut. Sehnsucht durchpulste ihr Bewußtsein. Der vage Glaube, daß ihre Erinnerung zurückkehren würde, wenn sie dieses schreckliche Gefängnis aus absoluter Dunkelheit erst hinter sich gelassen hatte. Ihr Hirn brauchte Eindrücke, um das verschüttete Gedächtnis wieder an die Oberfläche dringen zu lassen! Nicht langsam, sondern so hastig, daß winzige Sterne hinter ihren Augen zu explodieren schienen, setzte sie sich auf und wollte in derselben gleitenden Bewegung auch zum Stehen kommen. Sie merkte, daß sie dem langen Schlaf, der auch Ohnmacht gewesen sein konnte, Tribut zollen mußte. Sie wartete, bis sich das Trommeln ihres Herzens beruhigt hatte. Dann stellte sie sich mit der gebotenen Vorsicht auf ihre Beine. Im Aufstehen duckte sie sich, weil sie fürchtete, gegen eine unsichtbare Decke zu stoßen. Aber selbst mit hochgereckten Armen traf sie auf keinen Widerstand. Befand sie sich überhaupt in einem Raum oder doch im Freien? Hatte irgendeine Kraft die Gestirne, an die sie sich erinnern konnte wie an alle elementaren Dinge, ausgeblasen? Unsinn. Tastend setzte sie Fuß vor Fuß, die Arme nun nach vorn gestreckt. Und schon bald traf sie auf eine Wand. Rauher Fels, genau wie der Boden. Eine Höhle, dachte sie. Oder … Die Möglichkeit ließ sie erstmals frieren. … ein Grab. Sie schritt an der Wand entlang und fand nach relativ kurzer Zeit eine Öffnung im Gestein. Der Spalt war nur unwesentlich breiter als
sie selbst und mündete in einen schmalen Gang, der sanft anstieg. Aus unbestimmbarer Entfernung war ein verschwommener Fleck auszumachen. Das Ende des Schachtes? Tageslicht? Die Erwachte ging schneller. Wieder flog ihr Atem. Wieder bohrte sich die Anstrengung wie tausend Nadeln durch ihre Schädeldecke. Doch sie hielt stur das Tempo bei. Und erreichte das Licht. Es war tatsächlich das Ende des Stollens, an dessen entgegengesetztem Ende eine Höhle lag. Sie erinnerte sich nicht, wie sie hineingelangt war. Auch jetzt nicht, da ihr Blick über die endlos scheinende Ebene glitt, die sich zu Füßen des Klotzes aus grauem Stein erstreckte, auf dem sie stand. Es war Tag. Mittag, wenn man dem Stand der kaum sichtbaren Sonne Glauben schenkte. Und trotzdem herrschte überall nur ein Abglanz der erwarteten Helligkeit. Zwielicht. Als hätte jemand die Sonne mit einem Tuch verhängt. Schleier verhüllten den Himmel. Schwaden von … Sie verfolgte den Gedanken nicht weiter, weil ihr keine Erklärung für das, was an der Wolken statt dort oben trieb, einfiel. Das Herz in ihrer Brust krampfte sich zusammen. WO –? Nein! Sie wollte nicht mehr wissen, wo sie war! Nur noch, wer … Langsam stieg sie den Felsen hinab. Die Luft roch nach Rauch und kalter Asche, und die Schicht, durch die sie knöcheltief watete, war ein abscheuliches Gemisch aus Staub und schwarzer Asche! Die Landschaft sah aus wie nach einem Vulkanausbruch. Wie geronnene, erkaltete Lava ragten Strukturen aus der Ebene hervor, und selbst der Berg, den die Schläferin hinabstieg, erweckte den Anschein, als sei seine Oberfläche nur eine Kruste aus amorpher Masse,
unter der ganz anderes schlummern mochte als ein … Berg. Die Frau wollte die Wahrheit nicht wissen. Sie stolperte abwärts, wo nie ein Pfad gewesen war. Am Fuß des kleinen Berges blieb sie kurz stehen. Durst und Hunger wühlten nun wahrnehmbarer in ihren Eingeweiden. Aber so weit das Auge reichte, gab es nichts, was nach einer Wasserstelle oder einer wie auch immer gearteten Oase inmitten der Wüste aus Asche und Staub ausgesehen hätte. Verlassen und leblos wirkte die Welt, in die sie zurückgekehrt war. Und nichts in dieser Öde weckte Erinnerung. Das einzig Reale, was ihr ein wenig Halt inmitten der Unwirklichkeit ihrer Umgebung schenkte, war sie selbst, war die zerschlissene Kleidung, die sie am Leib trug, und das Leben, das in ihr selbst pulsierte. Überall sonst war Tod. Erstreckte sich ein dreidimensionales Gemälde der Trostlosigkeit von Horizont zu Horizont. Sieht es so überall auf der Welt aus? Allmächtiger! Langsam wankte sie weiter und trotzte der Stimme, die ihr einflüstern wollte, sie solle sich wieder im Bauch des Berges verkriechen. In der Finsternis, die mehr Hoffnung beinhaltete als das öde Licht, in das sie hinausgetreten war! Sie widerstand der Verlockung, sich einfach wieder in die Schatten zu kleiden und zum Sterben hinzulegen. Der Himmel hing tief. In der Ferne, so schien es, berührte er gar die knochenfarbene Ebene. Die Atmosphäre schien zu knistern, nicht nur der Trockenheit und Hitze wegen. Es war, als wäre sie elektrisch geladen. Als läge Strom in der Luft … Weiter und weiter entfernte sich die Frau vom Berg des Erwachens. Nicht nur die Erschöpfung, auch Hunger und Durst trübten bald
ihre Wahrnehmung. Bis zum Abend, der die Landschaft in noch bedrückendere Düsternis malte, konnte sie sich kaum noch auf den Beinen halten. Sie stürzte immer öfter, bis sie sich nur noch auf allen Vieren vorwärtsbewegen konnte. Irgendwann war sie nicht einmal mehr dazu in der Lage. Sie brach zusammen. Ihr schweißbedecktes Gesicht sank in den weichen Boden. Asche füllte Mund und Nase. In erlahmenden Überlebensreflexen drehte sie das Gesicht zur Seite und spie aus. Dann schlossen sich ihre gepuderten Augen. Es wurde Nacht. Auch in ihr. Und ein neuer Morgen war ferner denn je …
* »… es wird der Tag des Herrn kommen wie ein Dieb; da werden die Himmel mit Krachen vergehen, die Elemente aber vor Hitze sich auflösen und die Erde und die Werke darauf verbrennen …« 2. P. 3, 7-12 Als die Sonne aufging, schulterte Leon wie an jedem anderen gottverdammten Tag seit seiner Vertreibung seine Ausrüstung und verließ die Hütte, die er am Grund des ausgetrockneten Flußbettes errichtet hatte. In der Anfangszeit, daran erinnerte er sich noch genau, war er manchmal nachts schweißgebadet aus dem Schlaf gefahren, weil er geträumt hatte, eine gewaltige Wasserwoge würde sich von Norden her, wo der Euphrat einmal entsprungen war, auf seine Behausung zuwälzen und ihn ersäufen. Wie eine Ratte. Oder eine andere Delikatesse. Grimmig lächelnd griff er in eine der Brusttaschen seiner Fliegerja-
cke und kramte die Blechdose hervor, in der es hörbar rasselte. Als er den Deckel hob, schimmerten ihm die winzigen blauen Pillen entgegen, deren Zahl ihn daran erinnerte, wie lange es noch dauern würde, bis er sich den Lauf seines Revolvers in den Mund stecken und abdrücken würde. Er pickte eine der Tabletten mit Daumen und Zeigefinger heraus und legte sie auf die Zunge. Nach einer Weile, in der sich mühsam etwas Speichel angesammelt hatte, schluckte er Tonkers Almosen hinunter. Das Wasser, das er in einer kleinen Blechflasche bei sich trug, war dafür zu schade. Den ersten Schluck des Tages wollte sich Leon erst in zwei Stunden gönnen. Er hatte sein Leben im Griff. Alles, was er brauchte, um es – noch – zu erhalten, war strengstens rationiert. Um die Hütte zu verlassen, mußte er an der Tür vorbei, an die er sich ein zerfleddertes und kaum noch erkennbares Pinup genagelt hatte. Wo er es aufgetrieben hatte, wußte er schon nicht mehr. Aber es erinnerte ihn täglich daran, daß es auf diesem Planeten noch Frauen gab. Nicht mehr ganz so makellose Exemplare wie die Schönheit, die auf dem Foto verewigt war, aber immerhin Frauen. Leon wußte kaum noch, wie es war, mit etwas anderem als seinen Händen ins Bett zu gehen … Mit einem harten Lachen küßte er das Foto und trat nach draußen. Staub blies ihm entgegen. Mechanisch zog er das Halstuch höher, so daß es einen Filter bildete, und stapfte hinaus in die graue Eintönigkeit, in der er wie ein Eremit zu leben und zu überleben gelernt hatte. Er folgte einem exakt festgelegten Tagesablauf. Zunächst mußten die Fallen abgeklappert werden. Später würde er sich auf Wassersuche machen und die ihm bekannten Stellen aufsuchen, in denen sich über Nacht winzige Mengen des kostbaren Nasses sammelten. Der gestrige Tag war ohne jede Ausbeute geblieben; sämtliche Schlingen und Fallgruben waren leer gewesen, und der Hauptgrund
dafür war, daß Leon nicht einmal mehr Köder übrig gehabt hatte, weil er die letzten in einem Anfall von Heißhunger roh vertilgt hatte. Wenn er heute wieder Pech hatte, würde er sich etwas einfallen lassen müssen, und zwar schnell … Ein paar Wegminuten von seiner Hütte entfernt lag die erste Station seiner allmorgendlichen Etappe, immer noch im Flußbett, aber etwas erhöht im schwach ansteigenden Uferhang. Die Schlinge war leer. Leon fluchte, obwohl er an einen so raschen Erfolg ohnehin nicht geglaubt hatte. Insgesamt hatte er sein Revier im Laufe der Zeit mit gut zwei Dutzend Fallen gespickt, die er der Reihe nach kontrollierte und dabei immer entmutigter wurde. Auch die mit dünnem Geäst und Streu abgedeckten Gruben waren unangetastet. Die letzten Fallen lagen außerhalb des Flußbetts. Leon erklomm die Uferregion. Der Anblick der Leere und Verlassenheit traf ihn jedesmal neu wie ein Keulenhieb. Ich werde mich nie daran gewöhnen. Seine Hand berührte den Knauf der Waffe, die er im Gürtel trug. In einer Sekunde hätte er alles beenden können. Aber dazu war er zu feige. Die Pillen verhinderten, daß er den Mut dazu aufbrachte. Seine Finger zuckten zurück, als sei der Pistolengriff plötzlich glühendheiß geworden. Nein, sagte er sich, es braucht keinen Mut, um dieses Dasein zu beenden. Mut braucht man, um dieses Leben zu ertragen. Und den hab’ ich … immer noch. Nur – wie lange noch? Fast unbewußt glitt seine Hand unter die Jacke, berührte das zerschrammte Blechdöschen. Der Inhalt klapperte leise, als bewegte sich vielbeiniges Getier darin. So lange es noch klappert, so lange wird mich der Mut nicht verlassen … Leon grinste, aber es war nicht mehr als ein bloßes Verziehen der Lippen, und schmerzhaft noch dazu; der Schmerz … die einzige Konstante in seinem Leben. Sein steter Begleiter, der ihm wie ein
Schatten anhing. Und letztlich doch nicht mehr als ein Bote des Todes. Der ihm folgte wie ein hungriges Tier, das geduldig darauf wartete, daß seine Beute müde wurde – Nicht heute! – Heute noch nicht … Leon straffte die Schultern, und auch diese Bewegung tat weh. Wunden, die nie mehr heilen würden, sondern nur verkrustet waren, platzten auf, und er spürte, wie warme Flüssigkeit seinen Rücken hinabrann, zäh und klebrig. Graue Staubgespenster umtanzten Leon, als er den relativen Schutz des trockenen Flußbetts verließ und hinaus in die Ebene trat. Vielleicht, dachte er, sind es wirklich Geister … Die Geister all jener, die damals umgekommen waren, als geschehen war, was die Welt dergestalt verändert hatte … Leon sah sich im Gehen um. Die Zahl dieser »Geister« konnte stimmen – sie war nicht einmal annähernd zu schätzen … Der Weg war beschwerlich. Stellenweise sank Leon bis an die Knie in den Staub ein, anderswo wiederum mußte er genau aufpassen, wo er seinen Fuß hinsetzte, weil scharfkantige Schlackekrusten Stolperfallen bildeten. Und all das bei minimalster Sicht, denn der Wind war stärker geworden und Leon hatte das Gefühl, durch dichten Nebel zu laufen. Nebel …
* Einen schmerzhaften Moment lang sah Leon sich in einer Welt, in der es Nebel gegeben hatte. Er sah sich am frühen Morgen aus dem Haus seiner Eltern treten, eine Tasse Kaffee in der Hand, nur mit TShirt und Shorts bekleidet, beobachtend, wie die Sonne den Nebel von der Welt zupfte und sie bereit machte für einen neuen, einen wunderschönen Tag …
Tage, wie es sie nicht mehr gab. Nicht in dieser Welt. Nicht in diesem Leben. Nie mehr. Leon wischte sich über die Augen und redete sich ein, der Wind habe ihm Staub hineingeweht … Er verlangsamte seinen Schritt ein wenig, sah sich um. Linker Hand entdeckte er eine markante Erhebung, die wie ein von Riesenhand achtlos hingeworfener Klotz aussah. Dahinter wußte Leon eine Senke, in der er eine weitere Falle aufgestellt hatte. Noch bevor er den Rand der Mulde erreichte, begann sein Herz um eine Nuance heftiger zu schlagen. Er hörte … etwas. Ein Geräusch, das sich nur vage vom Singen und Heulen des Windes unterschied, aber sein Ohr vermochte diesen feinen Unterschied zu erkennen. Leon lief schneller, sprang über den Senkenrand hinweg und stolperte, fiel dann und rutschte schließlich dem Boden der Mulde zu. Das klägliche Winseln wurde lauter, und spätestens jetzt schloß Leon jeden Zweifel aus. Er hatte Erfolg gehabt! Endlich wieder einmal! Als er dann sah, was in das selbstgebastelte Fangeisen getappt war, verspürte er allerdings doch etwas wie Enttäuschung. Seine Phantasie hatte ihm ein fettes Irgendwas vorgegaukelt, ein Tier, dessen Fleisch ihm für ein paar Tage genügen würde – – aber die dürre Kreatur, die da vor ihm lag, schien aus kaum mehr zu bestehen als aus Haut und Knochen und dünnem Fell. Es handelte sich um eine junge Hyäne, deren Hinterlauf zwischen den geschliffenen Zähnen der Eisenklammer steckte, und das Tier war dabei, sich den eigenen Knochen durchzunagen, um sich aus der Falle zu befreien. Der Staub war längst dunkel vom Blut der Beute, und einen winzigen Moment lang empfand Leon Mitleid wegen der Verzweiflung des Tieres. Es würde verblutet sein, lange bevor es sich auf diese grausame Weise befreit hätte.
Als hätte die junge Hyäne dieses Mitleid gewittert und etwas wie Hoffnung daraus geschöpft, sah sie zu ihrem Jäger auf, aus dunklen Augen voller Wärme. Leon wandte den Blick ab und suchte nach einem Stein oder etwas anderem, mit dem er das Tier erschlagen konnte, ehe er es aus der Falle holte. Dabei spürte er die Augen des Tieres weiterhin auf sich ruhen, als sei es wirklich an seinem Tun interessiert – – und dann schwand dieses Gefühl des Beobachtetwerdens plötzlich! So überraschend und spürbar, daß Leon unwillkürlich den Kopf drehte und zu der Hyäne hinsah. Deren Blick galt tatsächlich nicht mehr ihm, sondern etwas anderem; etwas, das sich oben, am Rand der Senke befinden mußte. Leon folgte der Blickrichtung des Jungtieres – und erstarrte in seiner gebeugten, schmerzhaft unbequemen Haltung. Ein Dutzend Augenpaare starrte auf ihn herab. Und die Staubgeister schienen nicht länger zu heulen und zu singen – sie knurrten. Geiferten. Fletschten Zähne … … und griffen an!
* Ein Dutzend Hyänen hatte sich am Rand der Mulde versammelt, gleichsam Aufstellung genommen, Leon und seine nunmehr hoffnungsvoll winselnde Beute umzingelt. Sie sind intelligent, dachte Leon, und auf einer anderen Ebene seines Denkens fragte er sich, warum er angesichts dieser Gefahr einen solch nüchternen Gedanken fassen konnte. Es ist, als hätte das, was diese Welt verwüstet hat, die Intelligenz dieser Tiere geweckt … Das Rudel kam herab. Nicht schnell, nicht planlos. Die Tiere kamen einfach nur näher, so langsam, so vorsichtig, als setzten sie jeden ihrer Schritte mit Bedacht, und nicht ein Augenpaar entließ Leon währenddessen aus seinem Blick.
Irgendwann hatte sich diese Tierart ausschließlich von Aas ernährt. Diese Gewohnheit hatten die Hyänen fallenlassen, seit selbst der Mensch gezwungen war, jeden Tierkadaver als Geschenk Gottes anzusehen … Sie haben gelernt, sich den veränderten Bedingungen anzupassen, ging es Leon durch den Sinn, und wieder wunderte er sich über die seltsame Überlegung. Aber sie sind den Menschen gegenüber im Vorteil – sie müssen nicht fortwährend am Sinn dieses Lebens zweifeln … Zwei der Hyänen näherten sich dem gefangenen Jungtier, ließen sich zu seinen Seiten nieder, als seien sie zu seinem Schutz abkommandiert. Die anderen umringten Leon, immer noch in solchem Abstand, daß er ihnen nicht gefährlich werden konnte. Seine Hand bewegte sich wie gegen zähen Widerstand auf seinen Gürtel zu. Aber noch bevor seine Finger die Schußwaffe erreichten, verhielt er. Munition war knapp in dieser Zeit, in dieser Welt. Das war ein Grund, weshalb Leon die Pistole nicht zog. Ein anderer: Es mochte ihm durchaus gelingen, zwei, vielleicht auch drei der Hyänen zu erschießen; spätestens dann aber würden die anderen über ihm sein, um ihn zu zerreißen. Und der dritte Grund schließlich: Es war alles andere denn ratsam, in dieser Welt mit Schüssen auf sich aufmerksam zu machen – weil es Leute gab, die zum Mord bereit waren, um in den Besitz einer Pistole zu kommen! Und wer wußte schon, ob sich nicht einer von dieser Sorte in der Nähe herumtrieb; nahe genug, um einen Schuß zu hören und auf dumme Gedanken zu kommen … Trotzdem bewegte sich Leons Hand weiter auf den Gürtel zu. Seine Finger berührten Metall, schlossen sich um die Rundung einer Dose und zogen sie vorsichtig hervor. Mit dem Daumen drückte er die Plastikkappe weg. Ein leises, schnappendes Geräusch entstand dabei – – aber laut genug, um den Hyänen quasi als Startschuß zu gelten!
Die Hälfte des Rudels stürzte sich auf Leon, während die verbliebenen fünf sich noch zurückhielten, als sähen sie sich als Nachhut oder Eingreifreserve. Leon blieb in geduckter Haltung, streckte aber den Arm vor und drehte sich hockend im Kreis, während er den Sprühknopf seiner Dose niederdrückte. Feiner Nebel strömte zischend heraus, bildete für eine Sekunde einen Ring um ihn herum, in den die Hyänen fast gleichzeitig eindrangen – und synchron begannen sie zu heulen, zu krächzen und unmögliche, schauderhafte Laute auszustoßen. Leon preßte sich mit der freien Hand das Halstuch fester vor Mund und Nase, dennoch atmete auch er ein klein wenig von dem Gas ein, das er den Angreifern entgegengespritzt hatte. Seine Kehle schien mit glühenden Nadeln malträtiert zu werden, und zwei, drei Sekunden lang war er nicht imstande, auch nur den Versuch des Atemholens zu unternehmen. Seine Augen tränten, brannten, und vielleicht wäre er verloren gewesen, wäre Leon in einem anderen Leben nicht darauf trainiert worden, auch in ausweglosen Situationen noch überleben zu wollen. Etwas wie ein Instinkt übernahm die Kontrolle seines Körpers. Wie von unsichtbaren Titanenfäusten fühlte er sich zur Seite gestoßen. Leon verwandelte den Sturz in eine Rolle, die ihn auf die Beine brachte, und schon lief er los, ohne es wirklich wollen zu müssen. Seine Füße bewegten sich wie von selbst, trugen ihn auf den Abhang zu, und als er aus den Augenwinkeln einen Schatten auf sich zurasen sah, vollführte er automatisch eine halbe Drehung mit ausgestrecktem Bein, traf den Schatten mit der Stiefelspitze und verwandelte ihn in ein aufheulendes Etwas, das hart gegen einen Fels schlug und liegenblieb. Weiter! Weiter! trieb er sich an. Lauf, du verdammter Hurenbock! gellte die Stimme seines einstigen (und vermutlich längst toten) Ausbilders in ihm. Wenn du es bis nach
oben schaffst, bevor diese Scheißviecher dich erwischen, darfst du mir in die Fresse schlagen! motivierte ihn der alte Schleifer, als habe er noch aus dem Jenseits ein Auge auf ihn. »Yessir!« knirschte Leon. »Das werd’ ich, Arschloch, Sir! Verdammt, das werd’ ich! Ich steck’ dir den Stiefel bis zum Schaft in deinen fetten Arsch!« Das darfst du, Söhnchen! brüllte Sergeant Foley höhnisch, so laut und deutlich, als habe sein Geist es sich direkt in Leons Ohr bequem gemacht. Darfst alles, was du willst – wenn du es schaffst! »YESSIR!« Leon warf sich förmlich über den Rand der Senke, keuchend und mit hämmerndem Puls – stinkenden Atem und heiseres Hecheln im Nacken! Er taumelte zwei, drei Schritte, fing sich wieder, rannte weiter. Etwas berührte sein Bein – Schneller! SCHNELLER! Leons rechte Hand nestelte am Gürtel, seine linke kramte in der Jackentasche. Irgendwie schaffte er es, die lederne Schleuder vom Gürtel zu lösen und im Rennen einen flachen Stein in die Lasche zu legen. Noch einmal holte er alles aus sich heraus, lief so schnell wie noch nie zuvor in seinem Leben. Dann, als er zumindest meinte, der hechelnde Atem seiner Verfolger sei etwas leiser geworden, blieb er stehen und wirbelte herum, die rechte Hand mit der Schleuder schon zum Wurf erhoben. Tatsächlich trennten ihn sechs oder sieben Schritte von dem vordersten Tier. Ihre dürren Läufe sanken bei jedem Schritt tief im Staub ein, so daß sie vergleichsweise langsam vorankamen. Der Stein sirrte davon – und hätte sein Ziel verfehlt, hätte das Tier nicht im entscheidenden Moment einen grotesk anmutenden Sprung vollführt, der seinen Schädel exakt in die Flugbahn des Geschosses brachte. So zertrümmerte der Stein den Schädelknochen
der Hyäne genau zwischen den Augen. Selbst wie zu Stein geworden fiel das Tier zu Boden und verschwand in einer Wolke aufgewirbelten Staubs. Leon ließ die Schleuder von neuem wirbeln, »schoß« noch viermal und erlegte immerhin zwei weitere Hyänen. Die anderen hielt er mit seinen Attacken zumindest auf Abstand – – dann griff seine Hand ins Leere. Er hatte den letzten Stein verschossen. Weiter! gellte Sergeant Foleys Stimme in seinem Schädel. Er rannte wieder los. Und kam genau vier Schritte weit. Dann stolperte er. Stürzte. Und ein geiferndes, stinkendes Monster kam über ihn!
* Staub überall, alles Grau in Grau. Leon hustete, keuchte, spuckte und schlug blindlings um sich. Seine Fäuste trafen auf Widerstand, er spürte borstiges Fell, schwärendes Fleisch unter seinen Händen – und Zähne an seiner Kehle! Ein blitzschneller Hieb befreite ihn davon, ließ den Schädel der Hyäne zur Seite schwingen, aber viel mehr als eine Sekunde Aufschub hatte er sich mit der Aktion nicht verschafft. Er versuchte die Beine anzuziehen, schaffte es leidlich und vollbrachte das Kunststück, den Tierkörper von sich zu wuchten. Aber auch dieser Erfolg bedeutete nicht seine Rettung. Ein dunkler Schemen raste aus dem Nebelgrau auf Leon zu. Er rollte zur Seite, das Tier verfehlte ihn. Leon krümmte sich in der Bewegung, langte nach seinem rechten Stiefelschaft. Seine Finger schlossen sich um einen Griff, zerrten den Dolch, den er dort trug, hervor, und immer noch so gut wie blind stieß er die schartige Klinge einfach vor.
Die Wucht des Aufpralls drohte ihm den Arm zu brechen. Schwer fiel die angreifende Hyäne auf ihn herab – und Wärme näßte seine Hand! Getroffen! Wie irrsinnig riß Leon an dem Dolch, bewegte ihn hin und her, um die Stichwunde noch zu vergrößern. Immer mehr Blut schoß daraus hervor. Dann, als kein Laut mehr aus dem stinkenden Maul des Tieres drang, erhob sich Leon, wuchtete den Kadaver mit sich in die Höhe. Der Kampf hatte nur Sekunden gewährt. Die anderen Hyänen hatten kaum Gelegenheit gehabt, einzugreifen. Vielleicht aber hatten sie einfach nur abwarten wollen, ob die eine Erfolg haben würde – in der Hoffnung auf das, was jetzt geschah … Leon warf den anderen die tote Hyäne buchstäblich zum Fraß vor. Schwer schlug der Kadaver in den Staub, drei, vier Schritte entfernt, und im ersten Augenblick schien es, als wollten sich die anderen nun doch auf Leon stürzen. Statt dessen aber fielen sie über den toten Artgenossen her, schlugen ihre Zähne hinein, und sofort war jedes der Tiere des anderen Feind. Der Zusammenhalt, die Ordnung, die Leon zuvor beobachtet zu haben glaubte, lösten sich auf in Anbetracht des kannibalischen Festmahls, das den Bestien plötzlich zuteil wurde. Leon verspürte eine morbide Art von Faszination, und fast mußte er sich von dem widerwärtigen Anblick losreißen, um seine Chance zu nutzen. Er vermied es, sich allzu hastig zu bewegen. Erst nachdem er eine gewisse Distanz zwischen sich und die Hyänen gebracht hatte, begann er schneller zu laufen und verfiel dann in einen lockeren Trab, den er zumindest für eine Weile durchhalten würde – früher hatte er es stundenlang geschafft, in einem anderen Leben … in einem anderen, unversehrten Körper, den er nicht mit dem nahenden Tod hatte teilen müssen …
Im Laufen versuchte Leon sich zu orientieren, nachdem er zunächst blindlings geflohen war. Im Staubnebel hielt er Ausschau nach vertrauten Geländeformationen, und schließlich wußte er wieder, wo er war – unweit eines schmalen Wasserlaufes, der früher ein Zufluß des Euphrat gewesen sein mußte und in dem es heute nicht mehr die allergeringste Spur von Leben gab. Leon erreichte das Ufer des einstigen Baches und starrte die graue Brühe, die sich zäh durch das Bett schob, sekundenlang an. Unsichtbare Dämpfe stiegen auf, legten sich wie feuriger Hauch auf seine Haut, brannten und prickelten. Trotzdem stieg er in den Bach hinein und setzte seinen Weg darin fort. Irgendwann, bald schon, würden die Hyänen seine Fährte wieder aufnehmen. Weniger aus Rachlust wohl, sondern weil der Hunger und das Wissen um sichere Beute sie dazu trieben. Hier an diesem Bach würden sie seine Spur verlieren. Der Gestank und die Dämpfe des verseuchten »Wassers« waren stärker als die Ausdünstungen, die ein Mensch hinterließ. So würden die Biester seine Hütte nicht ausfindig machen können. Hoffte Leon zumindest … Der Lauf des Flüßleins verzweigte sich, noch ehe er in das einstige Bett des Euphrat mündete; die Giftbrühe sammelte sich in einer flachen Senke und wurde darin zu etwas wie quecksilbrigem Sumpf. Leon kehrte auf halbwegs festen Boden zurück und nahm Kurs auf den früheren Euphrat, dorthin, wo er zumindest etwas in der Art eines Zuhauses hatte. Vorher aber fand er etwas. Jemanden! Eine Gestalt, vom Staub fast vor seinen Blicken verborgen, und wäre er nicht ums Haar darüber gestolpert, hätte er sie wohl nicht einmal entdeckt. Mit bloßen Händen grub er sie aus. Und konnte nicht glauben,
was er sah. Eine Frau! Aber nicht das war es, was Leon erstaunte, beinahe schockierte. Denn diese Frau war … anders. Anders als alle anderen Überlebenden. Sie schien … Leons Gedanken stockten, er suchte unbewußt nach einem anderen Begriff, fand keinen, und so blieb ihm nur der eine: Sie schien nicht von dieser Welt. Diese Frau war unversehrt. Nicht gezeichnet – vom Leben in dieser furchtbaren, postnuklearen Welt …
* O nein, diese Welt war nicht tot! Kenan schüttelte den Kopf, so heftig und schaukelnd, daß zu fürchten stand, der dürre Hals würde ihn nicht länger tragen und wie ein Streichholz brechen. Ganz Ähnliches konnte mit seinen mageren Beinen geschehen, die er förmlich wirbeln ließ, auf daß sie ihn durch die trümmerübersäten Gassen trugen, die einstmals richtige Straßen gewesen waren, gesäumt nicht von herrschaftlichen, aber doch ansehnlichen Häusern, in denen ehrbare Leute gelebt hatten. Diese Leute lebten heute nicht mehr. Andere waren an ihre Stelle getreten, nach Bagdad gekommen aus vieler Herren Länder, als seien die Ruinen Bagdads das gelobte Land. Bagdad – oder vielmehr das, was einmal Bagdad gewesen war – war zu einem der Fixpunkte dieser Welt geworden. Menschen kamen hierher, voller Hoffnung, und wurden doch nur enttäuscht, weil es keine Hoffnung mehr gab. Nur noch den schleichenden Tod … Die Menschheit war zum Sterben verurteilt. Weil ihre Körper nicht für ein Leben in einer solchen Welt gemacht waren. Andere würden
ihren Platz einnehmen; andere, die sich gleichfalls Menschen nennen mochten, obwohl sie kaum noch etwas mit ihren Ahnen gemein haben würden … Dennoch, diese Welt war nicht tot! Sie gebar neues Leben, trieb abseitige Blüten – und bewahrte Kreaturen, die besser den Tod gefunden hätten in jenem Sturm, der diese Welt vor gar nicht langer Zeit binnen Sekunden oder Minuten vollkommen verwandelt hatte. Kreaturen, die den Tod verdient hätten! Weil sie Mörder waren, blutsaufende Ungeheuer! Kenan rannte – versuchte es wenigstens. Letztlich bot er eher den Anblick eines Storches, der vergessen hatte, daß ihm Flügel gewachsen waren: Kenan stakste zwischen den Trümmern hindurch, wohl wissend, daß jeder Fehltritt sein letzter sein konnte. Die Angst saß ihm im Nacken, mehr noch: der Tod. Und wenn Kenan stürzte, würde der Tod zuschlagen, sich auf ihn werfen, um ihm das Blut aus den Adern zu saugen. Warum nur hatte diese Brut den großen Knall überstanden? fragte er – nein, nicht sich, sondern denjenigen, den Kenan seinen blinden Bruder nannte. Blind deshalb, weil er nicht sah, weil er in Kenan gefangen war. Von Geburt an. Und Bruder … weil der andere wirklich Kenans Bruder war – sein Zwillingsbruder! Im Mutterleib waren sie quasi miteinander verschmolzen; etwas, das nicht einmal so selten geschah. Und so hatte letztlich nur Kenan das Licht der Welt erblickt. Daß er ursprünglich ein Zwilling war, hatte eine spätere medizinische Untersuchung zufällig ergeben. Weil verkümmerte Organe des ungeborenen Bruders in Kenan gefunden worden waren. Sie hatten seine Gesundheit nicht beeinträchtigt, und deshalb hatte Kenan darauf verzichtet, die »Reste« seines Bruders operativ aus seinem eigenen Körper entfernen zu lassen. Und dann – nach dem großen Knall, der die Welt verändert hatte – war der blinde Bruder erwacht; die Strahlung hatte ihn geweckt.
Kenan war darüber nicht entsetzt, nicht einmal am Anfang war er es gewesen; im Gegenteil, in einer Welt, in der sich jeder selbst der Nächste geworden war, begrüßte er es, einen Bruder zu haben, der ihn nie verlassen würde … Diese Brut, antwortete der Blinde jetzt auf Kenans stumme Frage, war wohl seit jeher stärker als der Mensch. Weshalb also hätte die Strah lung diesen Kreaturen mehr schaden sollen als der Menschheit? Kenan erwiderte nichts darauf, konzentrierte sich ganz auf die Flucht. Er kannte einen Ort, nicht mehr weit entfernt, der so verwinkelt war, daß er etliche Möglichkeiten bot, sich zu verstecken. Wenn er dort hingelangte, würde Kenan in der Lage sein, dem blutgierigen Jäger nicht nur zu entkommen, sondern ihn sogar – Aber soweit war es noch nicht. Soweit war er noch nicht! Noch hundert Meter, dann würde Kenan sich über sein weiteres Vorgehen Gedanken machen können. Er hörte die Schritte des Verfolgers hinter sich und wollte sich umdrehen, um zu sehen, wie groß sein Vorsprung noch war. Aber die Stimme des Blinden, energisch und unwiderstehlich, stoppte ihn. Schau geradeaus! Dorthin, wo du hinläufst, du Narr! Sonst ist es um uns beide geschehen! »Ja, ja«, keuchte Kenan, »du hast ja recht, Bruder.« Stur hielt er den Blick nach vorne gerichtet, fand sicheren Halt für jeden Schritt, und dann endlich tauchte er in das Dämmerlicht einer Ruine, die vor dem größten aller Kriege ein Basargebäude gewesen war. Entlang endloser Gänge hatten sich dereinst kleine und kleinste Läden gereiht und Menschen dicht an dicht gedrängt. Als Kenan jetzt den Gang hinabstürmte, der vom Eingang aus tiefer in das labyrinthartige Gebäude hineinführte, glaubte er noch so etwas wie Echos des einst so regen Treibens aufzufangen, Gespenster der Vergangenheit, die Geister jener, die das Glück gehabt hatten, sterben zu dürfen; die nicht zu einem Leben in dieser zur Hölle gewordenen Welt verdammt worden waren.
Du versündigst dich, warnte der blinde Bruder. »Schön, dann verfluche ich eben mein Blut!« zischte Kenan. Sein Blut nämlich war sein eigentliches Verhängnis. Weil es anders war als das Blut der meisten anderen, weniger verändert, weniger verstrahlt – was auch immer, Kenan wußte es nicht; nur eines wußte er: Er gehörte zu den wenigen Unglücklichen, deren Blut den Vampiren noch mundete! Derjenige, der ihm jetzt nachhetzte, war nur einer in einer langen Reihe von Jägern. Schon etliche Vampire hatten ihm an die Ader gewollt, und allen war Kenan bislang entkommen – einige hatte er sogar von jeder weiteren Jagd abhalten können … Kenan hatte sich, nachdem ihm sein »Blutfluch« klargeworden war, über die Vampire kundig gemacht, so gut es eben möglich gewesen war. Er hatte herausgefunden, daß die Vampire vor dem alles zerstörenden Krieg in Sippen organisiert gewesen waren, die sich wiederum in den meisten großen Städten der Welt niedergelassen hatten. Diese Verbundenheit hatte der Krieg aufgelöst. Die Überlebenden der Sippen waren zu Einzelgängern geworden, wohl buchstäblich aus Futterneid. Dennoch zog es sie, natürlich, allesamt dorthin, wo sich auch die überlebenden Menschen versammelten, in einstigen Städten wie Bagdad. – Was die Anziehungskraft dieser Orte indes ausmachte, wußte Kenan selbst nicht zu sagen, obwohl auch er vor dem Krieg nicht in Bagdad gelebt hatte. Es war wie ein Sog gewesen, der ihn letztlich hierher gebracht hatte, eine Macht, der er sich weder hatte widersetzen können noch wollen. Eine Massenbewegung im wahrsten Sinne des Wortes hatte eingesetzt und echte Menschenströme in die Städte geführt. Und in ihrem Kielwasser gewissermaßen waren die Vampire nachgefolgt … Aber Kenan wußte mehr als nur dies über die Blutsauger. Er wußte darüber hinaus, wie man sich gegen sie zur Wehr setzen, wie man ihnen den Garaus machen konnte! Wenn man das Glück auf seiner
Seite hatte … Kenan hastete durch die verlassenen Gänge des einstmaligen Basars, und dabei ging ihm der Gedanke durch den Kopf, wie glücklich er und alle, die quasi von seinem Blute waren, sich doch schätzen durften, daß die Vampire nicht mehr in der Lage schienen, sich in Fledermäuse zu verwandeln. Dann nämlich wären die Blutsauger zweifelsohne im Vorteil gewesen und jedes Opfers habhaft geworden. Andererseits hätten sie sich durch diese »sichere Jagd« auch sehr schnell ihrer eigenen Nahrung beraubt. Vielleicht steckte ja ein tieferer Sinn hinter allem, mutmaßte Kenan, doch der blinde Bruder kappte diese Überlegungen, zwang ihn, sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren. Ein Versteck! Wir brauchen ein Versteck! »Kein Problem«, knurrte Kenan und bog in einen schmalen Durchlaß, in dem nach nur einem Schritt nichts anderes als Schwärze zu sehen war. Flach preßte er sich unmittelbar hinter der Ecke gegen die Wand und hielt den Atem an, lauschte. Das Rauschen seines aufgepeitschten Blutes erschwerte ihm, die Schritte des Verfolgers zu hören. Ruhig Blut! meinte der Blinde, und Kenan gestattete sich ein flüchtiges Grinsen. Dann hörte er den Vampir. Hastige Schritte näherten sich, wurden rasch lauter, und dann huschte ein Schemen an Kenans Versteck vorbei. Da hatte Kenan schon unter seine zerschlissene Jacke gegriffen und die Waffe hervorgezogen – einen unterarmlangen Pfahl, dessen Spitze schwarzverkrustet war. Lautlos wie ein Schatten trat er wieder auf den Gang hinaus, atmete tief durch, spannte seine ewig schmerzenden Muskeln – und sprintete los, dem Vampir nach. Die Rollen waren urplötzlich vertauscht, aus dem Jäger war der Gejagte geworden. Aber er würde es nur solange bleiben, wie er sich
dieses Wechsels nicht bewußt war. Es war Kenan unmöglich, sich geräuschlos zu bewegen. Jetzt kam es nur auf Schnelligkeit und Reaktionsvermögen an. Der Vampir blieb stehen, als er den Verfolger hörte, wandte sich um. Das war der Moment, in dem Kenan reagieren mußte. Er sprang, flog förmlich auf den Vampir zu, als der noch in der Drehbewegung war. Den Pflock hielt Kenan wie eine kurze Lanze vorgestreckt. Perfektes Timing! signalisierte er dem blinden Bruder, als die Spitze des Pfahls in das Herz des Vampirs drang, genau in dem Augenblick, da sich der Blutsauger zur Gänze umgedreht hatte und ihm die ungeschützte Brust bot, zu überrascht, um auch nur im Ansatz einen Versuch unternehmen zu können, sich zu wehren. Knirschend drang das Holz tief in die Brust des Vampirs. Schwarzes Blut quoll aus den Wundrändern, netzte den Pfahl und spritzte Kenan entgegen. Er schauderte, nicht nur der Kälte dieses Blutes wegen. Gemeinsam stürzten die Kontrahenten zu Boden. Der Vampir kam unter seinem vermeintlichen Opfer zu liegen. Die Brust des Blutsaugers sank ein unter Kenans Gewicht, wurde schon zu flockigem Staub. Der Verfall setzte sich fort, und schließlich erinnerte nichts mehr daran, was eben hier geschehen war. Kenan erhob sich aus der Asche, schweratmend und zitternd. Die tollkühne Aktion forderte ihren Tribut, schwächte seinen Körper. Ungeschickt, weil mit bebenden Händen, schob Kenan den Pflock zurück in die Schlaufe, die er auf die Innenseite seiner Jacke genäht hatte. Selbst die Stimme seines blinden Bruders klang schwach und zitternd. Wir brauchen … Stoff, Kenan. Kenan nickte. »Ja«, sagte er rauh. »Ich muß zu Tonker …«
Er wird dich nicht einmal anhören, wenn du mit leeren Händen kommst, geschweige denn, dir etwas geben, um unseren Schmerz zu lindern. »Ich weiß. Muß … irgendwas finden, das ihn interessiert.« Kenan taumelte aus dem Gebäude, hinaus in die Gassen des einstigen Bagdad und dann belebteren Gegenden zu, wo er Tonkers Bar wußte. Tonker, der so etwas wie der heimliche Herrscher hier war. Der buchstäblich die Macht in Händen hielt – den Stoff, nach dem jeder lechzte. Der Stoff, aus dem die Alpträume waren. Weil er das Leben verlängerte – das Leben, das doch nur Leiden bedeutete in dieser Welt … Tonker geizte mit diesem Stoff. Man mußte ihm im Tausch schon etwas ganz Besonderes zu bieten haben. Etwas wie … Ein nicht sehr lauter, überraschter und jäh wieder abbrechender Schrei führte Kenan ausgerechnet an diesem Tag zu einem Punkt im Meer der Trümmer, wo etwas war, was Tonker interessieren mußte. Es interessierte auch Kenan … Nein: Es schockte ihn regelrecht. »Wie kann das sein …?« Frag nicht, pack ihn! Auch das Ding, das neben ihm liegt! Das sind zwei Argumente, um uns für den Rest des Jahres mit Stoff einzudecken … Zögernd überwand Kenan die letzten Meter, die ihn von der Gestalt trennten. Ein bewußtlos daliegender Mann, der nicht … nicht hierher gehörte! Ein Fremder. Fremder als alles, was Kenan und sein geheimer Bruder seit Ausbruch des Krieges erblickt hatten …
* Der bleiche, narbige Mond sah schrecklich aus in dieser Nacht, die elend kalt war. Fast ohne Sterne thronte ein gespenstischer Himmel wie ein dunkles Gewicht über der rauhreifglänzenden Landschaft.
Grauschwarz und trostlos dräuten Wolken im böigen Wind. »Warum schneidest du mich?« fragte die Stimme im Finstern. »Ich schneide dich? Wie kommst du darauf?« Leons Stimme klang genauso verwundet, wie sein Körper es auch tatsächlich war. Er spähte über die schwach glimmende Glut des herabgebrannten Feuers hinweg zu der Frau, die ihm immer noch eine Fremde war, auch nach der langen Zeit, die sie ihn begleitete und von der er sich oft gewünscht hatte, ihr nie begegnet zu sein. Sie war zu schön. Zu … anders. Und zu anstrengend. Er hatte nichts als Scherereien, seit er sie kannte. »Anfangs«, sagte die Frau, die seinen wachsenden Unwillen offenbar spürte, »hast du dich geradezu rührend um mich gekümmert, hast mir Essen und sogar deine einzige Decke gegeben, obwohl sie zu klein ist, um uns beide zu wärmen …« »Anfangs?« unterbrach er sie. »Kümmere ich mich denn nicht mehr um dich?« Eine Weile herrschte Schweigen jenseits der knisternden Glut, über die ein eisiger Atem hinwegfegte. Dann sagte die Stimme eine Nuance dunkler: »Vielleicht war es dumm zu glauben, es müßte mehr werden, mit der Zeit. – Wie lange sind wir jetzt schon zusammen? Oder sollte ich besser fragen: Wie lange irren wir nun schon gemeinsam durch das Chaos und die Verwüstung? Denn zusammen … richtig zusammen sind wir nie gewesen.« Leon krümmte sich, als sich sein angeschlagener Magen in Krämpfen zusammenzog. Stöhnend grub der hagere Mann die Hände in das dünne Bauchfell und versuchte, Schmerz mit Schmerz zu bekämpfen. Allmählich klang der Anfall, der Schwäche und Übelkeit durch seinen Leib gespült hatte, wieder ab. »Worauf willst du hinaus?« »Ich will wissen, woran ich bin.« »Du willst wissen, woran du bist …?« Er lachte auf. Es klang viel häßlicher, als er es eigentlich beabsichtigt hatte. »Wenn einer nicht
weiß, woran er ist, dann bin wohl ich es!« »Aber daran trägst du selbst die Schuld.« Für eine Weile schloß er die entzündeten Augen. Es war, als würde sich eine lautlose und auch nicht fühlbare Brandung über ihn ergießen, um ihn in die Tiefe eines unerforschten Ozeans zu reißen. Erschrocken starrte er zurück ins schwelende Feuer, als könnte es ihm Halt und Schutz bieten. Sicherheit. Er lachte erneut auf, diesmal stumm. »Ich?« fragte er. »Du läßt niemanden an dich heran.« »Ich bin ein gebranntes Kind …« Er kniff die Lippen zusammen, ballte die Fäuste und fügte nach fast einer Minute hinzu: »Im wahrsten Sinne des Wortes.« Auf der anderen Seite des Feuers, das sie zwischen den Ruinen eines ehemaligen Gehöfts entfacht hatten, entstand Bewegung in den Schatten. Lilith richtete sich auf. Lilith … Leon erschauerte. Dies war der Name, den sie ihm bei ihrer ersten Begegnung genannt hatte, und er hätte selbst nicht zu sagen vermocht, was ihn daran so störte. Wie erstarrt hockte er auf dem Brett, das er über zwei Steine gelegt hatte, und ließ es geschehen, daß sie sich neben ihn setzte. Sie hatte diesen eigentümlichen Geruch, der ihn instinktiv die Muskeln anspannen ließ und die innere Stimme anheizte, die ihm einreden wollte, sofort Abstand zwischen sich und diese Frau bringen zu müssen, weil anderenfalls … Anderenfalls? … etwas Furchtbares geschehen würde! Sie zogen seit einem guten Monat durch die Einöde, die unter dem glitzernden Frost verbrannt war. Leon bezweifelte, daß hier je wieder ein Baum oder auch nur Gras wachsen würde. Die Natur war ermordet worden. Von Wahnsinnigen, die damit das Todesurteil auch
über sich selbst verhängt hatten. Wohin man auch sah, wohin man auch kam, überall bot sich ein ähnliches Bild der Zerstörung. Das Wenige, was überlebt hatte, neidete dem anderen die Luft zum Atmen. Auch wenn diese Luft verpestet war. Auch wenn die Wolken am Himmel mehr Asche als Regen transportierten … Ihre Hand auf seiner Schulter beendete den rasenden Flug seiner Gedanken. »Warum hast du solche Angst vor mir?« Er kannte die Antwort. Ganz tief in sich drinnen wußte er sie. Aber sie gelangte nicht auf seine Zunge. Es erschütterte ihn viel zu sehr, daß sie ihn durchschaut hatte. Wie lange schon? »Angst?« Schrill kam die Frage, die ihn spätestens entlarvte. »Ich würde dir nie etwas tun. Du warst gut zu mir. Als du mich fandest …« Als ich sie fand, erinnerte sich Leon, dachte ich zuerst, ich träume. Und manchmal glaube ich das auch heute noch. »Hör auf!« fauchte er. »Ich will nichts davon hören!« Ihre Hand blieb auf seiner Schulter. »Ist es dir lieber, wenn ich dich verlasse?« Ja! »Nein. Was redest du für einen Unsinn?« Er starrte ins ersterbende Feuer, über dem sie Heuschrecken geröstet hatten, starrte stur hinein, nur um sie nicht ansehen zu müssen. Sie erinnerte ihn nicht nur an die Frauen, die er von früher kannte, sie war noch eine Frau wie von früher. Sie hatte sich nicht verändert wie die anderen – wie alle anderen, ihn inbegriffen. Und das machte ihm am meisten Angst. In wie vielen Nächten hatte er wachgelegen und mit sich gerungen, um eine Antwort für ihren … ihren Zustand zu finden. Vergeblich. Es gab keine Erklärung. Sie war und blieb ein Wunder. Ein lebendiges Wunder aus Fleisch und Blut.
»Du behandelst mich wie ein Monstrum.« Ihre Finger gruben sich in den Stoff seiner lädierten, aber gefütterten Jacke. Dich? Ich bin das Monstrum! Er versuchte die Hand abzustreifen. Aber sie blieb beharrlich. »Du sagst, du hättest kaum eine Erinnerung an die Zeit vor unserem Zusammentreffen …« Er räusperte sich. »Du weißt noch deinen Namen, aber sonst nichts … oder fast nichts. Damit käme ich zurecht, wenn –« »Wenn?« »Wenn sonst alles normal wäre.« Er fühlte, daß sie nickte, und aus den Augenwinkeln heraus konnte er die schemenhafte Antwort ihres Körpers sogar erkennen. Sie wußte, was er meinte. Sie wußte, was falsch an ihr war. »Ich wünschte, ich hätte selbst eine Erklärung dafür. Ich verstehe es selbst nicht, daß ich nicht krank bin wie alle anderen. Ich weiß nicht, woran es liegt, daß meine Haut nicht verbrannt oder voller Geschwüre ist! Aber mußt du mich deshalb so behandeln?« Leon schwieg. Er fühlte etwas sauer und heiß seine Speiseröhre hinaufkriechen und schluckte verzweifelt, um es daran zu hindern, bis in seinen Rachenraum vorzustoßen. »Ich wünschte, ich wäre dort gewesen, wo es schnell ging, als es passierte. Wo der Tod sofort und wie ein glühender Hammer über die Menschen gekommen ist. Dieses langsame Sterben hat niemand verdient …« Fast niemand, korrigierte er sich. Außer denen, die es befohlen und das Inferno erst angezettelt haben … »Du hast dich aufgegeben«, sagte Lilith. Er fand es nicht einmal einer Erwiderung wert. Als ihre Finger in den Kragen seiner Jacke glitten und ihn im Nacken zu streicheln begannen, wollte er die Gefühle, die sie auslöste, zuerst nicht wahrhaben. Aber es war unmöglich, dies länger als ein paar Sekunden durchzustehen.
»Warum tust du das?« »Jedenfalls nicht aus Mitleid.« »Warum dann?« »Ich habe mich so sehr an dich gewöhnt, daß ich angefangen habe, dich zu mögen. – Dir könnte so etwas nicht passieren, habe ich recht?« Für einen Moment glaubte er, von hilfloser Aggression überrollt zu werden und dem Drang, sie von sich zu stoßen, nicht widerstehen zu können. Erstaunlicherweise schmolz jedoch aller blinder Zorn unter der Wärme ihrer Hand. Er fing an zu zittern. Dann hob er die mit Stoff umwickelten Hände und begrub sein Gesicht darin. Schluchzend sank sein Oberkörper so weit nach vorn, daß die Stirn fast die Glut berührte. Lilith riß ihn zurück, drehte ihn in derselben Bewegung und zwang ihn, sein Gesicht auf ihre Schulter zu betten. Er ließ es zu, weil er zu keiner Abwehr mehr fähig war. Verletzlicher hatte ihn seit der Katastrophe noch kein Mensch erlebt. Nach einer Weile zog sie ihn mit sich in den Stand und lenkte ihn dorthin, wo sie ihr Schlaflager vorbereitet hatten. In einen halb verschütteten Keller, in dem es zu riskant gewesen wäre, ein Feuer zu entfachen. Der Rauch hätte sie erstickt. Natürlich war es kalt dort. Aber in dieser seltsamen, beinahe magischen Nacht fror Leon zum erstenmal seit Einbruch des nuklearen Winters nicht. Lilith wärmte ihn. Lilith zeigte ihm, daß es ein Leben vor dem Tode gab. Und Dinge, für die es sich zu leben lohnte …
* Es zerfrißt ihn, dachte die Frau und mied bei ihren Liebkosungen die Beulen auf Leons Haut: schwärende Male, die nur die »Spitze des Eisbergs« waren. Darunter schien es noch sehr viel ärger zu rotten
und zu faulen. Der Körper des Mannes, den sie nahe des Euphrat kennengelernt hatte, war nicht nur von Aussatz befallen. Der schlimmste Feind wütete im Verborgenen: Geschwulste, die ihre Metastasen bereits in alle Organe gestreut hatten. Leon würde nicht mehr lange leben, und nichts und niemand konnte daran etwas ändern. Auch ich nicht. Er kannte sein Schicksal. Er lag auf dem Rücken, und sie hatte auf seinen Lenden Platz genommen. Ihre Kleidung trugen sie beide noch, was ihre beiderseitige Erregung aber kaum zu dämpfen vermochte. Begehrlich hatten sich Leons Finger unter ihre Jacke geschoben und preßten nun durch den Pullover hindurch die Brüste der stoßweise atmenden Frau, deren eigene Hände vorsichtig seinen Körper erkundeten. Schon nach kurzer Zeit verspannte sich Leon. »Was ist?« »Du wirst dich vor mir ekeln.« »Du bist ein Idiot.« »Ich kenne meinen Körper.« »Und ich will ihn kennenlernen.« »Hast du gar keine Angst, ich könnte dich … anstecken?« »Womit? Sagtest du nicht, die Strahlung sei an deinem Schicksal schuld? Und sagtest du nicht auch, die heimtückische Radioaktivität lauere überall, selbst in der Luft? Außerdem hat der Fallout längst alles verseucht.« Nach diesen Worten kehrte die fiebrige Wollust in ihren und in seinen Blick zurück. Wortlos schob er den stretchartigen Stoff ihres Pullovers über ihren Busen und knöpfte die darunterliegende Bluse auf. Wenig später berührten die nackten Fingerspitzen seiner bandagierten Hände zum erstenmal ihre entblößte Haut. Sie merkte, wie es ihn elektrisierte. Seufzend umfaßte sie seine Handgelenke und ermutigte ihn, beherzter zu Werke zu gehen.
Dann stoppte sie ihn, und sein fragender Blick schien zu fürchten, daß sie ihn nun doch abweisen wollte. Das Gegenteil war der Fall. Sie begann lediglich, die Verbände von seinen Händen zu lösen. Sehr behutsam und dennoch unerbittlich. »Nein …« »Doch! Ich will dich spüren, nicht diese Lumpen!« »Aber –« »Kein Aber.« Sie hatte selbst keine Erklärung dafür, warum sie ihn zu sehen vermochte, obwohl pechschwarze Dunkelheit den Kellerraum wie Tinte füllte. Er wußte nicht, daß sie ihn sah. Vielleicht beruhigte ihn gerade das. Er gab seinen Widerstand auf. Sie beugte sich tiefer und verschloß seinen halboffenen Mund mit einem zarten Kuß. Warum die Phantasie durch ihr Hirn spukte, sich nicht mit dieser sanften Berührung zu begnügen, sondern zuzubeißen, irritierte sie selbst. Aber das war nur ein kurzer, vergänglicher Moment. Schon befreite sie seine stolze Männlichkeit aus dem Gefängnis. Sekunden später ritt sie rhythmisch auf Leons hartem, dickem Pfahl, und das Geräusch, mit dem ihr Gesäß dabei auf seine Schenkel klatschte, trieb sie in einen Sinnesrausch, der sie ihre erbärmliche Situation vergessen ließ. Und ihn seine Verstrahlung. Doch schon am nächsten Morgen holte die Realität sie wieder ein. Desillusioniert setzten sie ihre Wanderschaft fort.
* Der Anblick raubte nicht nur ihr den Atem. »Bagdad«, flüsterte Leon, als sie die Anhöhe erklommen hatten
und hinabschauten. »Das ist … oder sagen wir besser: das war einmal Bagdad … Viel ist nicht davon übrig geblieben. Na ja, wenigstens ist es auch für den verfluchten Saddam zum Grab geworden. Sein beschissener Bunker hat ihm nicht viel geholfen.« Lilith fragte nicht nach, wer dieser Saddam gewesen war. Leons haßerfüllter Ton genügte ihr. Ohnehin hielt sie der Anblick, der sich ihnen unten auf der rostbraunen Ebene bot, gefangen. Auf den ersten Blick schien es, als erstreckte sich nichts anderes als eine Ruinenlandschaft bis hin zu den fernen Horizonten. Erst beim zweiten Hinsehen wurde deutlich, daß doch das ein oder andere halbwegs stehengeblieben war zwischen all dem Schutt und den nackt wie Skelette in den Himmel ragenden, zerfetzten oder abgeknickten Metallkonstruktionen! Die einstige Stadt erstreckte sich über ein riesiges Areal. Und sie war nicht tot, sondern belebt. Von Menschen! Denn Tiere zündeten sich für gewöhnlich keine Feuer an … »Du warst schon einmal hier?« fragte Lilith. Leon nickte gedankenversunken. »Mehr als einmal.« »Und du meinst, hier könnten wir bleiben, ein paar Tage oder länger ausruhen?« Er zuckte die Achseln. »Wer weiß? Sicher ist es nirgends mehr …« Er hustete hart und spähte verkniffen ins mittägliche Zwielicht. Seine dicke Jacke raschelte. Es war das einzige Geräusch, zumindest hier oben, denn aus der Stadt dort unten klangen hämmernde Geräusche herauf. Der Wind hatte eine Pause eingelegt. Kein Lüftchen regte sich. Auch der Rauch der vielen über die Trümmer verteilten Feuer stand wie mit dem Lineal gezogen in der Luft. »Du siehst schlecht aus«, sagte Lilith. »Wie fühlst du dich?« »Das werde ich dir sagen, wenn wir Tonker gefunden haben.« »Tonker?« »Ein alter … Freund.« Leon setzte sich in Bewegung. Ein gewundener Pfad führte nach
unten. Lilith folgte mit unguten Gefühlen. Ihr Blick suchte den düsteren Himmel ab, durch den die Asche entfesselter Vulkane und von Bomben aufgewirbelter Staub trieben. Unaufhörlich. Und nun schon im dritten Jahr …
* An ihr Erwachen in der Trostlosigkeit erinnerte sich Lilith nur sehr verschwommen. Da waren machtvolle Bilder in ihrem Kopf gewesen. Von einem sonderbar verlassenen Ort, den sie Leon später einmal beschrieben hatte, und er war der Meinung gewesen, es könnte sich um ein Kloster gehandelt haben. Dort war sie aber nicht zu sich gekommen, sondern irgendwo in der Wüste nahe einer alten Ausgrabungsstätte namens Uruk, wo sich auch Leon zu dieser Zeit herumgetrieben hatte. Leon war erst einunddreißig Jahre alt, aber die Krankheit hatte seine Haut gegerbt, dunkle Ringe um seine blaßgrünen Augen gelegt und tiefe Furchen in sein Gesicht gegraben. Als der Krieg ausgebrochen war – ein Krieg, der nur Stunden gedauert hatte, nicht Jahre wie seine beiden Vorgänger –, hatte Leon mit einem Geschwader der U.S. Air Force im Luftraum der entmilitarisierten Zone zwischen Kuwait und dem Irak Patrouille geflogen. Aus heiterem Himmel war die Meldung über ihn und seine Kameraden hereingebrochen, daß Aufklärungssatelliten verborgene Raketensilos der Irakis ausfindig gemacht hatten – aber erst in dem Moment, als sie sich ihrer Tarnung entledigt hatten und die darin verborgenen Flugkörper gestartet worden waren! Danach hatten sich die Ereignisse überschlagen. Leons Geschwader hatte zunächst Befehl erhalten, die geheimen Abschußrampen zu zerstören, war aber schon kurz darauf ohne Angabe von Gründen zum Flugzeugträger Nimitz zurückbeordert worden. Auf dem
Weg dorthin war der Funkkontakt abrupt abgebrochen. Und beim Anflug auf die Koordinaten hatten sie sich an einem über der Wasserwüste stehenden schaurig schönen Pilz orientieren können. Der Bordradar hatte wenig später nur noch im Meer treibende Trümmer ausgemacht. Überall war erhöhte Radioaktivität meßbar geworden, und auch die Schalen der Kampfjets hatten das Strahlenbombardement nur unzureichend von den Piloten fernhalten können. In einem Verzweiflungsmanöver war der Pulk wieder landeinwärts geschwenkt. Der Treibstoff hatte noch für eine knappe Stunde gereicht. Sie hatten einen zivilen Flughafen der Kuwaitis anfliegen wollen. Doch während des Fluges waren aus dem Radio immer schlimmere Meldungen gekommen. Hysterische Stimmen, aus denen zu entnehmen gewesen war, daß Rußland die USA dringend vor einem ebenfalls nuklear geführten Konterschlag gegen den Irak und dessen arabische Verbündete gewarnt hatte. Und dann, noch über kuwaitischem Hoheitsgebiet, waren Marschflugkörper geortet worden. Keine amerikanischen, sondern mutmaßlich russische, die von seegestützten Basen abgefeuert worden sein mußten, vermutlich von U-Booten! Auch auf kuwaitischem Boden begannen die Pilze zu blühen. Leons Geschwader verlor jede Ordnung in dem ausbrechenden Chaos. Die Jets verstreuten sich in alle Himmelsrichtungen. Leon erinnerte sich an einen aufgegebenen Übungsflugplatz im Grenzgebiet zum Irak, den er mit dem letzten Tropfen Kerosin erreicht hatte und wo er erfolgreich auf einer löchrigen Piste notgelandet war. Eine Stunde hatte er nur im Cockpit gesessen, dem Knistern und Rauschen des Äthers gelauscht und das Schauspiel verfolgt, mit dem zwar nicht die Welt, aber die Zivilisation unterging! Anfangs hatte er geglaubt, die Ölquellen der Kuwaitis wären, wie schon einmal während des Golfkriegs, in Brand geraten und würden den Himmel verdunkeln. Erst sehr viel später hatte er begriffen, woher die Rußwolken gekommen waren. Und der Sturm, der selbst an dem stählernen Jet wie an einem Sperrholzmodell gerüttelt hatte.
Erst viel später war ihm klar geworden, daß die Atommächte ihre sämtlichen Arsenale geöffnet und zum Einsatz gebracht hatten! Über das Warum und die genaue Abfolge der Katastrophe war nie etwas bekannt geworden. Unter den Überlebenden. Aber sie haben sich wenigstens ihre Erinnerung bewahrt. Sie wissen, wie diese Welt einmal ausgesehen hat, bevor das meiste Leben unter einem Leichentuch erstickt wurde, dachte Lilith bitter. Sie folgte Leon mit ein paar Schritten Abstand durch eine notdürftig freigelegte Straße Bagdads. Es war später Abend. Das Licht schwand rapide. Wahrscheinlich beeilte sich Leon deshalb so sehr. Und wahrscheinlich hing auch seine wachsende Nervosität mit den Vorboten der stockfinsteren Nacht zusammen. Bis zu diesem Moment waren sie noch keiner Menschenseele begegnet. Nichtsdestotrotz fühlte Lilith – und wahrscheinlich spürte es auch Leon –, daß sie beobachtet, aus dem Verborgenen heraus beäugt wurden. Wenn sie Glück hatten, nur von mißtrauischen, wenn sie Pech hatten, von feindseligen Augen … »Wie viele Menschen leben noch hier?« Ihre Frage, obwohl leise gestellt, schien von den Ruinen aufgefangen und als unheimliches Echo zurückgeworfen zu werden. Vielleicht geschah dies aber auch nur in ihrer Einbildung, denn als Leon antwortete, war von dem Phänomen nichts festzustellen. »Ein paar Hundert … genau kann ich es dir nicht sagen.« Er trug immer noch die Reste seiner einstigen Fliegeruniform, und die robusten Stiefel waren sein ganzer Stolz. »So viele haben die Bombe überlebt?« »In Bagdad gab es gar keine Überlebenden. Sie kamen alle später aus dem Umland hierher, weil es in der Trostlosigkeit da draußen niemand auf Dauer aushält – und weil die wenigsten die Strapazen einer längeren Wanderschaft auf sich nehmen wollen.« »Du tust es.«
»Ich tat es, solange ich dazu in der Lage war. Mein Krebs hat sich vergleichsweise langsam entwickelt. Manchmal kam es mir vor, als würde sich zurückhalten, nur um mich länger quälen zu können. Die meisten anderen haben mehr Glück.« Leons Definition von Glück rief einen Schauder in Lilith hervor. Im nächsten Moment stoppte sie ein Geräusch in ihren Überlegungen. Ein seltsames Geräusch. »Was war das?« Leon blieb stehen. »Ah«, sagte er mit großer Erleichterung. »Ich dachte schon, wir wären in die Irre gelaufen. Aber wir sind gleich da …« »Gleich da?« Das Geräusch war nicht lauter geworden, aber durch seine Stetigkeit rückte es nicht mehr aus Liliths Aufmerksamkeit. »Was, zur Hölle, ist das?« »Musik«, sagte Leon. »Musik?« »Zuzugeben etwas schräge Musik. Aber Tonker hatte schon immer eigene Vorlieben – und das Sendungsbewußtsein, um andere mit missionarischem Eifer dafür zu bekehren.« »Wann erfahre ich endlich, wer dieser Tonker ist? Die Betonung, als du ihn ›Freund‹ nanntest, klang merkwürdig.« »Vielleicht, weil wir einmal Freunde waren. Seither ist viel passiert.« Mit diesen Worten stiefelte Leon weiter, und kurz darauf erreichten sie Tonker’s Bar. Die wahnsinnigste Kneipe, die Lilith je betreten hatte. Rechts und links des Eingangs der Baracke brannten Kerosinfeuer, bewacht und in Gang gehalten von vermummten Gestalten, die den Ankömmlingen keine Beachtung schenkten. Etwas anderes wäre es wohl gewesen, wenn Lilith sich nicht auch ihre Kapuze tief ins Gesicht gezogen hätte. Nur Leon wußte, wie es darunter aussah. Im zuckenden Licht der Kerosinflammen wurde Lilith jedenfalls eines endgültig klar: Die Zeit der Menschen ist vorbei. Wir sind die Dinosauri-
er dieser Epoche. Die Bombe hat den Meteor ersetzt, der vor 65 Millionen Jahren die Herrschaft der Echsen beendete. Bleibt die Frage, wer uns ablösen wird … Zunächst würde dieser Planet seine Wunden lecken und sich von den schrecklichen Verletzungen erholen müssen, die man ihm zugefügt hatte. Es herrschte keine Eile. Für eine Übergangsphase würden selbst diejenigen geduldet werden, die all dies verschuldet hatten … Ich denke, als gehörte ich nicht dazu, wurde Lilith bewußt. Aber sie brauchte nur in sich hineinzulauschen, um die Bestätigung zu finden, daß sie wirklich nicht dazu gehörte. Warum kann mir die Strahlung nichts anhaben? Sie schien die einzige, die immun oder resistent gegen die Anfechtungen der verseuchten Umwelt war. Die Einzige! Diese Sonderstellung machte vor allem eins: einsam. Selbst unter anderen Menschen, selbst in Leons Nähe erschien es ihr zunehmend, als sei sie die Monstrosität, nicht die anderen, die tatsächlich vom Krieg und seinen Nachwehen gezeichnet waren. Schulter an Schulter, Leon etwas geduckter, so als krümmte er sich gerade unter einer neuen Schmerzwelle, traten sie durch die mit Tüchern verhängte Tür der Baracke. Dahinter schwoll der Lärm augenblicklich an. »Allmächtiger …« Lilith blieb stehen und war sekundenlang durch nichts mehr zu bewegen, weiterzugehen. Ihre Blicke setzten das Bild des Raumes aus einer Unzahl von Einzelszenen zusammen, die miteinander in keinem Zusammenhang zu stehen schienen. Aus verbeulten Karosserieteilen hatte jemand eine mindestens zwanzig Meter lange Theke gebaut, vor der sich ein gutes Dutzend Gäste verlor. Die Baracke schien erst nach der Katastrophe errichtet worden zu sein und war groß genug für eine Tanzfläche und eine kleine, erhöhte Bühne, auf der zwei verloren wirkende, verschleierte
Frauen Platz genommen hatten und ihre »Instrumente« malträtierten. Singende Sägen, fiel Lilith der Begriff dazu ein. Die übrigen Gäste mußten entweder taub oder abgehärtet sein, daß sie diese Klänge ertrugen, ohne eine Miene zu verziehen. Aber die »Musik« war nicht einmal das Schlimmste an diesem Ort, dessen Wände dort, wo keine Regale mit Flaschen standen, gespickt mit Trophäen waren. Entsetzlichen Trophäen. »Dieser Tonker hat den Verstand verloren«, flüsterte Lilith Leon zu. »Und wer sich hier wohl fühlen kann, auch!« Rechnete man die an den Tischen sitzenden und hie und da herumstehenden Gäste zu den Leuten am Tresen hinzu, mochte Tonker’s Bar von einem halben Hundert Menschen besucht sein. Was einem Großteil der von Leon geschätzten Gesamtbevölkerung Bagdads entsprach … »Warum – tut er das?« Lilith zeigte auf eine der Trophäen, die direkt über der Eingangstür aufgehängt war. Es handelte sich zweifellos um die sterblichen Überreste von echten Siamesischen Zwillingen, die zum Zeitpunkt ihres Ablebens bereits erwachsen gewesen waren. Die beiden Augenpaare schienen Lilith stumm anzustarren. Der Blick ging durch und durch. Leon folgte ihrem ausgestreckten Arm, sah aber gleich wieder angewidert weg. »Wahrscheinlich steckt dasselbe Motiv dahinter, das Menschen in früheren, besseren Zeiten veranlaßte, in Freakshows zu gehen oder sich auf Autobahnbrücken zu drängeln, wenn unten ein verheerender Verkehrsunfall stattgefunden hatte. Wer hierher kommt, hat tausendmal Schrecklicheres als das gesehen. Und vielleicht findet er es sogar tröstlich, solche Schicksale zu begaffen.« »Das hört sich nicht nach Menschen an.« »Es gibt keine Menschen mehr – außer dir vielleicht. Daran mußt du dich gewöhnen. Es sind alles nur Davongekommene, in denen der Countdown tickt. Rasend schnell.«
»Du bist doch auch nicht so geworden.« Leon legte den Kopf schief. Das schmale Gesicht war wächsern. Winzige Schweißtröpfchen hatten sich wie ein Netz aus Perlen darüber gelegt. »Bist du sicher?« Lilith begriff, daß er Fieber hatte. Es ging zu Ende mit Leon, dem Ex-US-Piloten … Sie wollte es nicht wahrhaben. »Wo ist dieser Tonker? Zeig ihn mir! Er soll mir selbst sagen, warum er eine solche Menagerie geschaffen hat!« Ihr Blick schweifte über die anderen »Trophäen«: ausgestopfte Mißgeburten, größtenteils Tiere, die offenbar nach der Katastrophe zur Welt gekommen waren, aber nicht lange gelebt hatten. Ziegen, denen Beine aus dem Rückgrat wuchsen; Hunde mit zwei Schnauzen; eine Katze, die wie eine Laborratte aussah, nackt, unbefellt, unter deren grau-weißer Haut sich die Adern abzeichneten; dazwischen ein Fötus in einem Glas, haltbar gemacht durch eine alkoholische Lösung; zwar hatte er nur einen Kopf, dafür aber Unmengen von Extremitäten, die sich wie die Tentakel eines Tintenfischs um seinen winzigen Leib schlangen. Hier stockte Liliths Rundblick. Verachtung für den Mann, den sie noch gar nicht kannte, machte sich in ihr breit. Als sie merkte, daß Leon sich in Bewegung gesetzt hatte, folgte sie ihm zur Bar. Sie hörte, wie er die weibliche Bedienung, die ihre Kahlköpfigkeit unter einer Fliegerkappe verbarg, nach Tonker fragte. Die Augen unter den falschen Wimpern – sie sahen aus, als bestünden sie aus kurzen Drahtstücken, die in die Lider gesteckt und geflochten worden waren – blickten in das Glas, das sie gerade vollschenkte. »Hinten. Er will jetzt nicht gestört werden.« »Ist er allein?« »Was sollte er allein hinten?« Schwache Neugier veranlaßte die verstrahlte Frau, nun doch hochzublicken. Sie zuckte zusammen. Offenbar hatte sie Leon erkannt. Rasch eilte sie nach hinten, die aufgebrachten Rufe des Mannes
ignorierend, für den das Glas bestimmt gewesen war, das gerade vollgeschenkt worden war. Leon griff über den Tresen hinweg und angelte es sich. Lilith dachte, er wollte es dem Besteller zuschieben. Doch er setzte es selbst an die Lippen, kippte den Inhalt in einem Zug und schüttelte sich danach prustend, als hätte er nicht gewußt, um was für einen Fusel es sich handelte. Erstaunlicherweise blieb dieses Verhalten folgenlos. »Bist du verrückt? Du mußt doch nicht jeden provozieren!« Leon zuckte die Schultern. »Vielleicht. Aber wer weiß, wie lange ich noch lebe. Wer weiß, ob mir noch Zeit für einen Drink bleibt, wenn Tonker erst aufgekreuzt ist …« Lilith spähte in plötzlichem Unwohlsein unter der Kapuze hervor. Leon benahm sich mehr als seltsam. In diesem Augenblick öffnete sich wieder die Tür hinter der Bar. Und Lilith erfuhr den Grund ihres Hierseins. Den wahren Grund …
* »Daß du es wagst …!« Der Mann, bei dem es sich um keinen anderen als Tonker handeln konnte, schob sich durch die Tür auf Leon zu und stemmte die Fäuste in die Hüften. Er war breit wie ein Schrank, einen guten Kopf größer als Leon, und es schien ihm einigermaßen gut zu gehen. Der brutale Zug um seinen Mund strahlte bis in die wäßriggrauen Augen. Lilith trat näher auf Leon zu, um zu dokumentieren, daß sie zu ihm gehörte und ihm nötigenfalls Beistand leisten wollte. Die Geste veranlaßte Tonker, in schallendes Gelächter auszubrechen, das ebenso jäh wieder endete, wie es begonnen hatte. »Wer ist das? Hast du dir Verstärkung mitgebracht?«
»Nein«, sagte Leon. Er legte die Hände auf den Tresen. »Sie heißt Lilith. Sie wird dir gefallen. Vielleicht können wir uns wieder vertragen …« »Das letzte Mal, als wir uns trafen …«, Tonker seufzte theatralisch, »… sagte ich dir etwas. Kannst du dich noch daran erinnern?« Leon nickte. »Ich solle mich nie wieder hier blicken lassen, hast du gesagt, weil du sonst –« »Weil ich sonst für nichts garantieren könne. Bis auf eines: Daß du meine Wände zieren wirst, falls es dir doch noch einmal einfällt, meine Schwelle zu übertreten!« Lilith spannte sich an. Spätestens ab dieser Drohung wurde ihr klar, daß Leon nicht offen zu ihr gewesen war. Und sie begann sich zu fragen, inwieweit er sie sonst noch getäuscht hatte … »Ich komme nicht mit leeren Händen.« Leons Stimme vibrierte jetzt vor Nervosität, obwohl ihm Tonker unbewaffnet gegenüberzustehen schien. Gehetzt blickte er sich um. »Wo sind deine Bodyguards?« »Sie sind da«, versicherte Tonker. »Ein Wink oder eine dumme Bewegung von dir, und das war’s. Sie werden so zielen, daß man dich wieder herrichten kann. Du weißt schon, wofür …« »Was sind Sie für eine Bestie?« konnte Lilith sich nicht länger im Zaum halten. »Ich …?« »Natürlich Sie!« Sie wies zu den ausgestopften und präparierten Leichen. »Nur ein vollkommen abartig Veranlagter kann –« »Da gebe ich Ihnen recht, wer immer Sie sein mögen und wo auch immer er Sie aufgegabelt hat.« Ein verächtliches Lächeln breitete sich über Tonkers Gesicht. »Aber offenbar sind Sie unzureichend informiert. Er und ich, wir waren mal Kompagnons. Verstehen Sie? Diese Kneipe am Ende der Welt haben wir beide aus dem Boden gestampft, und für die eigenwillige Dekoration war nicht ich zuständig, sondern …« Er stockte, sah Leon an. »Willst du es sagen, oder
soll ich …?« In diesem Moment begriff Lilith die Wahrheit. Und daß sie in Gefahr war. In furchtbarer Gefahr! Sie wollte sich abwenden und zum Ausgang fliehen, aber Leons Hand hielt sie fest. Wie ein Schraubstock schlossen sich seine Finger um ihren Arm. »Du verstehst es nicht. Du kannst es nicht verstehen. Es tut mir leid …« »Laß mich los!« In Leons Augen schien es aufzublitzen. »Das geht nicht.« »Warum nicht?« »Weil ich – nicht mit leeren Händen zurückkommen konnte. Nicht nach dem, was passiert ist.« »Passiert?« »Er hat mich beschissen«, mischte sich Tonker von der anderen Tresenseite aus ein. »Er wollte dieses Paradies für sich allein. Und als ich ihm auf die Schliche kam, versuchte er mich umzupusten. Da hat’s mir gereicht. Irgendwie verständlich, oder?« »Du hast mich nur am Leben gelassen«, brach es schluchzend aus Leon heraus, »weil du genau wußtest, unter welchen Qualen ich krepieren werde!« »Der Vorrat hätte für uns beide gereicht«, sagte Tonker. »Du bist selbst schuld, daß ich ihn jetzt mit anderen Auserwählten teile …« »Wovon redet ihr zwei Schwachköpfe?« »Von den Pillen«, sagte Tonker. »Wir haben sie aus Saddams Bunker herausgeholt. Wir beide. Alles, was dort an Vorräten lagerte. Medikamente gegen Radioaktivität. Und Drogen, einen ganzen Berg voller Drogen. Was glaubst du, Schätzchen, was die Leute hier bei mir suchen? Zigaretten, Schnaps und anderen Fusel? Das genügt den wenigsten. Die meisten kaufen bei mir Vergessen. Deshalb mögen mich alle so sehr. Hast du nicht auch Appetit auf ein paar bunte Pillen? Dir geht es doch auch dreckig, gib es zu! Wenn du noch nicht
ganz von der Hölle zerfressen wurdest und ein bißchen nett zu mir bist, mache ich dich vielleicht auch zu einer Erwählten. Komm ‘rüber auf meine Seite des Tresens und zeig mir, was sich unter der Kapuze versteckt. Zeig’s dem alten Tonker …!« Lilith spürte ein krampfartiges Gefühl in ihrer Magengegend, obwohl es noch nicht lange her war, daß sie eine Kleinigkeit zu sich genommen hatte, gemeinsam mit Leon. Der regelrechte Heißhunger, der bei Tonkers hämischen Worten in ihr erwachte und ihre Eingeweide durchwühlte, war ihr unerklärlich. Sie trat neben Leon und stieß ihn mit der Hand an. Er prallte gegen die Theke und hob abwehrend die Arme. »Du kleines Stück Dreck«, zischte Lilith. »Habe ich das richtig verstanden, daß du mich … an ihn verschachern willst? Für eine Handvoll Drogen oder Wunderpillen?« »Du hast keine Ahnung, was ich durchmache …«, suchte Leon nach einer Rechtfertigung. Es gab keine, das wußte er selbst, deshalb preßte er die Lippen zusammen und schwieg fortan eisern. Schritte hinter ihr veranlaßten Lilith, sich umzudrehen. Alptraumgestalten hatten einen Halbkreis um sie und Leon gebildet. Sie sahen aus wie die lebendigen Ausfertigungen mancher Trophäe, die Tonkers Bar schmückte. Woher sie so plötzlich gekommen waren, blieb unklar. »Auf meine Leute ist Verlaß«, seufzte Tonker. »Du solltest mich nicht allzu lange hier drüben warten lassen. Geduld zählt nicht zu meinen Tugenden …« Schief grinsend wandte er sich in Leons Richtung. »Stimmt’s, alter Knabe?« Leon erblaßte unter der verheerten Haut. Als Lilith immer noch keine Anstalten machte, seiner Aufforderung nachzukommen, wurde ihr von hinten die Kapuze so grob heruntergerissen, daß es sie Büschel von Haaren kostete. Sie wirbelte herum. Ein unterdrückter Schrei floh über ihre Lippen. Er ging unter in dem Schreckgeraune auch der beiden Gestal-
ten, die hinter sie geschlichen waren und die Hände bereits ausgestreckt hatten, um sie rechts und links zu packen. Die Münder von Tonkers »Leibgardisten« standen so weit offen wie die aller Versammelten – von Leon einmal abgesehen, der diesen Augenblick des Staunens bereits hinter sich hatte – und waren zu Salzsäulen erstarrt. Auch Tonker schien gebannt von Liliths Erscheinung. Hinter seinen wäßrigen Augen zogen Schlieren vorbei, als wären seine Pupillen mit einer trüben Flüssigkeit gefüllt, die von unsichtbarer Hand aufgerührt worden war. Seine Stimme brach den dumpfen Zauber des Moments: »Packt sie! Bringt sie zu mir! Aber … vorsichtig!« Lilith war noch nicht schlüssig, auf wen ihre kalte Wut vorrangig abzielte: auf Leon, der ihr Vertrauen mit Füßen getreten hatte, oder auf den Besitzer dieser endzeitlichen Kneipe, dessen Wünsche und Gelüste bis vor einer Minute noch unschwer auf seiner Visage abzulesen gewesen waren. Nun nicht mehr. Tonkers Züge hatten sich verschlossen, der Blick seiner Augen war klar und kristallscharf geworden. Weniger erstaunt als … mißtrauisch. Lauernd blickte er zu Leons »Mitbringsel« herüber, und Lilith war selbst zunächst so benommen, daß sie sich nur halbherzig gegen die Hände der äußerlich so tumben, in Wahrheit aber überaus beweglichen Handlanger zur Wehr setzte. Leon mischte sich nicht ein. Wie ein Häuflein Elend schaute er zu, wie Lilith vor Tonker geschleift wurde. Bevor die Distanz auf weniger als zwei, drei Schritte zusammengeschmolzen war, hob der Amerikaner die Hand und stoppte seine Männer. Lilith versuchte sich loszureißen, aber die Leibwächter hielten sie mit jeweils einer Hand unerbittlich fest. Schmerzhaft gruben sich die
behandschuhten Finger in ihr Fleisch. Aber sie gab nicht zu erkennen, daß es ihr weh tat. Betont herablassend musterte sie den Kneipier und zischte: »Dafür wirst du mir büßen!« »Wer bist du?« »Wer weiß?« Sie zuckte die Achseln, was den Schmerz der Umklammerung verstärkte. Nach dieser Antwortverweigerung wandte sich Tonker sofort an Leon, der noch auf der anderen Seite der Theke stand und sehnsüchtig auf das von ihm geleerte Glas schielte. »Wo hast du sie aufgegabelt?« Leon schluckte. Sein Kehlkopf knackte. Der Krebs, wisperte es durch sein Hirn. Staubgespenster schienen selbst hier drinnen in der Baracke vor seinen Augen zu wogen. Er hustete und hatte das Gefühl, Teile seiner Lungen auszukotzen. Mühsam fanden seine Hände Halt an der Theke. Tonker hatte ihm nicht das Zeug überlassen, das er selbst schluckte, um der Hölle Paroli zu bieten. Es gab bessere Pillen als die, die in Leons kleiner Blechdose zu Ende gingen. Viel bessere. Alles in allem hatten die Medikamente seinen schleichenden Zerfall nur hinausgezögert. Aber der Tod war in ihm. Der Tod hatte seine Bastionen bereits in jedem Organ errichtet und Leons übriges Gewebe mit Metastasen vermint. Er war nicht mehr zu retten. Jedenfalls nicht mit diesen beschissenen Pillen. Früher hatte er keine solche Angst vorm Sterben gehabt. Früher hatte er auch nicht halb so viel Zeit und Gelegenheit gehabt, überhaupt darüber nachzudenken. Dir fehlt der Drill, Söhnchen. Ohne eine harte, aber gerechte Hand bist du doch ein mieses kleines Stück Dreck! fühlte er sich in seiner Einbildung von Sergeant Foley verspottet. DRECK … echote es in seinen Schläfen. Er wollte nicht antworten, aber die Feigheit siegte: »Draußen im Neverland. Sie lag einfach da, bedeckt von Staub. Zuerst dachte ich,
sie sei tot, aber –« »Sie hat dich nicht … angegriffen?« Leon verneinte. »Sie war hilflos – und dankbar für jede Hilfe. Hör auf, sie so zu behandeln. Sie kann dir keine Antwort auf deine Fragen geben. Sie erinnert sich an nichts. Nur an ihren Namen.« Tonkers Gesicht formte sich zu einer Grimasse. »Und das hast du ihr abgekauft?« »Warum sollte sie lügen?« »Warum sollte sie lügen?« äffte der Kneipenbesitzer ihn nach. »Du warst schon immer ein Traumtänzer. Unfaßbar, daß einer wie du mir ans Leder wollte …« Kopfschüttelnd pendelte sich sein Blick wieder auf das »Geschenk« seines alten Kompagnons ein. »Wie nennst du dich?« »Lilith.« »Und wie heißt du wirklich?« Die Frau mit dem makellosen Gesicht erwiderte Tonkers Blick furchtlos. »Wenn dir der Name nicht paßt, denk dir einen anderen aus. Wie kommst du dazu, mich als Lügnerin hinzustellen?« Er schüttelte langsam den Kopf. »Du spielst deine Rolle sehr überzeugend. Ist der Rest deines Körpers auch so … gesund wie dein hübsches Gesicht?« »Ich bin nicht verstrahlt, wenn du das meinst.« »Das meine ich.« Tonker wiegte den Kopf nun nachdenklich. So leise, daß seine Stimme nur zu verstehen war, weil sämtliche Anwesenden in der Kneipe die Luft anzuhalten schienen, fragte er: »Und wieso bist du unversehrt?« Er schürzte die Lippen. »Wovon ich mich natürlich erst überzeugen muß …« »Wenn du das tust –« Tonker ließ die Warnung nicht einmal ganz verklingen, als er seinen Söldnern bereits signalisierte, tätig zu werden. Blitzschnell gehorchten sie. Einer der Muskelprotze trat hinter Lilith und hielt sie an beiden Armen fest, während der andere vor sie
trat und ihr den Stoff ihrer Kleidung mit bloßen Händen vom Leib zerrte. Knirschend zerriß zuerst der kuttenartige Umhang, dann die ohnehin lädierten Textilien darunter, Hemd und Hose, und obwohl Lilith beinahe postwendend reagierte, stand sie bereits entblößt da, als ihr Tritt Tonkers Knecht genau zwischen den Beinen traf. Er zeigte keine Wirkung! Unbeeindruckt wich der Hüne mit der fleckigen Haut nur deshalb beiseite, um seinem Herrn und Gebieter den ungehinderten Blick auf die Frau zu ermöglichen. »Oh …« Ausführlicher kommentierte Tonker den Anblick des schlanken, makellosen Frauenkörpers nicht. Statt dessen ordnete er an: »Durchsucht ihre Lumpen! Und dann verbrennt sie – die Kleider; keine Sorge, Schönheit. Ich will kein Risiko eingehen. Wer weiß, wo du deine Waffen und Instrumente verbirgst …« Er senkte seinen Blick tief in Liliths Augen und fragte in nun wieder absolut freundlichem Ton: »Wo sind die anderen?« Sie hob einen Arm vor ihre Brüste und eine Hand vor die Scham und erwiderte mühsam beherrscht: »Welche anderen? Ich bin allein. Wenn ich wüßte, wo ich andere wie mich finde, wäre ich nicht hier!« »Du bist aber hier, und bestimmt nicht grundlos.« Tonker klatschte in die Hände. »Ich werde deinem angeblich verschütteten Gedächtnis ein wenig auf die Sprünge helfen.« Er drehte sich der Tür zu, durch die er gekommen war, und sagte: »Mir nach!« Lilith erhielt einen Stoß in den Rücken, als sie sich weigerte, sich in Bewegung zu setzen. Im selben Moment knurrte ihr Magen so überlaut, daß sogar die beiden Söldner kurz innehielten. Tonker drehte sich, bereits in der Tür, um und sagte: »Du scheinst Hunger wie ein Wolf zu haben. Aber das ist genau richtig. Voller Bauch denkt nicht gern … So sagt man doch, oder? Los jetzt!« Im Weitergehen rief er: »Du darfst auch mitkommen, Leon, mein Freund. Damit du kapierst, was dir da unter die Finger gekommen ist …« Leon stand wie angenagelt vor der Theke. Als er sich umblickte,
sah er in Gesichter, die es ihm ratsam erscheinen ließen, sich Tonkers Aufforderung nicht zu widersetzen. Bevor er mit hängenden Schultern den Tresen umrundete und ebenfalls durch die Tür schlüpfen wollte, wurde er von zwei vermeintlichen Gästen leibesvisitiert und restlos entwaffnet. Dann erhielt er einen Tritt und taumelte in einen schmalen Gang, an dessen Ende Tonker gerade eine Tür öffnete, deren Bedeutung Leon bestens kannte. Sie führte hinab ins Allerheiligste von Tonker’s Bar, die auf dem Boden des einstigen Regierungspalastes Saddam Husseins erbaut worden war. Von den früheren Prunkbauten saß kein Stein mehr auf dem anderen. Die zweite Welle schmutziger Waffen hatte sie hinweggefegt. Die unterirdischen Gefilde, in die Tonker gerade aufbrach, waren hingegen völlig unversehrt. Die zweite Welle hatte ihnen so wenig anhaben können wie die erste. Im Gegensatz zu ihren Insassen …
* »Wenn dir kalt ist, gebe ich dir einen der Anzüge, die unten in den Schränken hängen«, sagte Tonker, während sie die Eisenstiegen eines senkrecht in die Tiefe führenden Treppenabgangs hinunterstiegen. »Aber ich glaube nicht, daß dir die niedrigen Temperaturen hier drin etwas ausmachen. Du hast Ärgeres überstanden, ohne die geringsten Spuren davonzutragen …« Er ging an der Spitze, gefolgt von Lilith und den beiden Hünen. Den Abschluß bildete Leon, der wie ein geprügelter Hund folgte und offenkundig längst bereute, was er getan hatte. Aber diese Einsicht kam zu spät … »Wohin gehen wir?« fragte Lilith. Die Antwort verblüffte sie. »In Saddams Bunker.« »Saddams Bunker?« Sie stockte kurz, wollte zu Leon zurückschau-
en, erhielt aber sofort einen Ellbogenhieb in die Seite. »So wie ich es verstanden hatte, müßte der nur noch Schrott sein.« Tonker grinste. »Du unterschätzt den Erfindungsreichtum der U.S. Army, Schätzchen. Wir haben den Kerl und all seine Generäle vernichtet, ohne daß eine Bombe bis in diese Tiefe vordringen mußte.« »Aber … wie?« fragte Lilith, während sie weiter dem schwindelig machenden Verlauf der Wendeltreppe folgten. »Das haben wir uns anfangs auch gefragt«, sagte Tonker. »Bis wir auf die Aufzeichnungen der letzten Minuten vor dem großen Knall stießen: eine Art Blackbox, wie sie in Flugzeugen Verwendung fand.« »Was habt ihr daraus erfahren? Oder ist das streng geheim?« Ihr ironischer Ton veranlaßte Tonker, sich zu ihr umzudrehen und beinahe gutgelaunt zu grinsen. »Ich glaube nicht, daß das eines der Geheimnisse ist, hinter denen du her bist.« »Geheimnisse? Ich?« Plötzlich lachte sie gereizt und ungläubig in einem auf. »Du hältst mich für eine … Spionin?« »In gewisser Weise, ja.« Er setzte den Weg fort. Inzwischen mußten sie an die fünfzig Meter in die Erdrinde vorgestoßen sein. »Dann bist du wirklich nicht mehr zurechnungsfähig.« »Das hat der Krieg aus uns gemacht«, erwiderte Tonker lakonisch und wechselte zum ursprünglichen Thema zurück. »Die erste Bombe, die Bagdad traf, war noch von meinen Leuten. Keine herkömmliche Höllenmaschine. Offenbar wollte man Saddam und sein Regime gezielt ausschalten. Mit einer weiterentwickelten Neutronenbombe womöglich. Deren Strahlung vermochte der Bunkermantel nicht abzuweisen. Alles organische Leben hier drinnen wurde genau wie an der Oberfläche in einer einzigen Sekunde in seine Atome und Moleküle zerblasen, das Anorganische blieb bestehen, beinahe unbeschadet! So oder ähnlich muß es geschehen sein. Was die Generäle aber offenbar nicht einkalkulierten, war, daß die Russen sich das nicht gefallen ließen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion hat sie niemand
mehr ernst genommen, und das war der große, verhängnisvolle Fehler. Jelzin hat den starken Mann markiert. Und es ist in die Hose gegangen. Für die ganze Welt. Denn in der zweiten Welle, die sein Gegenschlag auslöste, wurden alle Arsenale, die noch aus den Zeiten des Kalten Krieges stammten, geleert. Altmodische Waffen. Dreckige Waffen. Keine Stadt auf diesem Planeten blieb von dem Bombardement verschont. Aber Bagdad versank erst in Schutt und Asche, nachdem alles Leben hier vernichtet war. – Soviel zum Thema ›saubere Blitzkriege‹. Aber reden wir weiter, wenn wir angekommen sind.« Lilith verstand nicht alles, wußte aber, daß sie sich vorerst mit dem Gehörten zufrieden geben mußte. Sie kamen an geschlossenen Schotts vorbei, die in verschiedene Ebenen des unterirdischen Bunkerkomplexes zu führen schienen. Irgendwann stoppte Tonker vor einer dieser Türen. »Wir sind da«, sagte er. »Dahinter liegt es.« »Liegt was?« fragte Lilith. »Mein Verlies.« Seine Augen glitzerten im schwachen Licht einer Lampe, die aus unerfindlichen Gründen noch – oder wieder – brannte, in ausgesuchter Bösartigkeit. Dann öffnete er das Schott.
* Die erloschenen Monitore in den Wänden sahen aus wie die leeren Augenhöhlen in einem Totenschädel. Hinter dem Schott lag ein weiter Raum mit niedriger Decke, in dessen gegenüberliegende Wand ein halbes Dutzend Metalltüren eingelassen waren. Die Wände waren in zweckmäßigem Betongrau gehalten, ohne ein einziges Bild oder sonstige dekorative Elemente. »Der Vollzugstrakt«, erläuterte Tonker. Er war vor einer der in der Mitte liegenden Türen stehengeblieben und wartete darauf, daß Li-
lith und die anderen zu ihm aufschlossen. »Was meinst du mit Vollzug? Ich dachte, das sei ein Bunker …« »Es war Saddams Bunker«, erwiderte Tonker, mit einer Betonung, die für ihn schon Erklärung genug zu beinhalten schien. Lilith trat zu ihm und blickte in die Richtung, aus der sie gekommen war. Leon stand noch mit einem Fuß auf der Eisentreppe. Der andere, auf den er jetzt das Gewicht verlagerte, hatte die Schwelle bereits überwunden. Lilith las nichts als die reine Verzweiflung in den Augen des Süchtigen, aber welche seiner Süchte gerade die Oberhand in ihm gewonnen hatte, hätte sie nicht zu beurteilen vermocht: die Sucht nach dem nackten Leben oder seine Abhängigkeit von den Drogen, von denen er glaubte, sie könnten ihm das Dasein in der Hölle erträglicher gestalten. Neben dem Schott, das Tonker für sie geöffnet hatte, lag noch ein zweites, verschlossenes Tor, etwa doppelt so breit. Dahinter, das hatte der Kneipenbesitzer ihnen beim Eintritt erklärt, verlief der Schacht eines Turbolifts, dessen Elektronik jedoch irreparabel beschädigt war. Lilith ließ den Blick zu der Tür wandern, neben der Tonker stand und mit einer Wandtafel beschäftigt war, auf der es numerierte Tasten mit Ziffern von 0 bis 9 gab. Offenbar tippte er eine auswendig gelernte Zahlenkolonne ein. Im nächsten Moment verschwand der Metallflügel der Tür fauchend in der Wand. Dunkelheit gähnte ihnen aus der Öffnung entgegen. »Ist das meine Zelle?« fragte Lilith. Tonker schüttelte den Kopf. »Ich bin eher ein Verfechter der Isolationshaft.« Was er damit meinte, wurde deutlich, als er unbemerkt einen Lichtschalter aktivierte. Matte Helligkeit flutete den Raum jenseits der Tür.
»Die Batterien der Notversorgung werden noch ein paar Jahre durchhalten«, sagte Tonker, ohne danach gefragt zu werden. Er nickte den beiden Söldnern zu, die Lilith vor die Öffnung schoben. Bis sie den Gefangenen sah. Er lag auf einer Pritsche. Er war nackt. Ein Mann, der – Lilith atmete heftig ein und aus – genauso unversehrt war wie sie selbst!
* »Wer ist das? Warum ist er nicht –?« Lilith verstummte. Ihre Gedanken wirbelten wie im Sturm hinter ihrer Stirn, einer jedoch rückte in den Vordergrund, als würde er von einem Sog aus dem Chaos gerissen. Er ist … wie ich! Um ein Haar hätte Lilith diesen Gedanken laut ausgesprochen. Ihre Lippen hatten sich bereits geöffnet, doch grub sie die Schneidezähne in ihre Unterlippe, so fest, daß sie leise aufstöhnte. Sie hatte Tonkers Blick lauernden Blick gespürt, gerade noch rechtzeitig, und deswegen hatte sie sich die Worte verkniffen. Offenbar hatte der Kneipenbesitzer sie genau aus diesem Grund hier heruntergebracht und mit diesem Gefangenen konfrontiert: um ihr eine verräterische Bemerkung zu entlocken. Aber damit hätte Lilith ihm ohnedies nicht dienen können. Sie wußte weder, wer der nackte Mann in der Zelle war, noch, warum er ebenso wenig von der Strahlung verseucht war wie sie. Sie wußte ja nicht einmal, weshalb sie selbst davon verschont geblieben war … … aber vielleicht kannte ja der Gefangene die Antwort auf diese Frage! Möglicherweise wußte er mehr über ihre Vergangenheit und Herkunft als Lilith selbst! Auch diese Überlegung versuchte sie sich mit keiner Regung an-
merken zu lassen. Tonkers Blick ruhte nach wie vor auf ihr, spürbar, als berühre er sie mit seiner schmierigen Pfote. Und obwohl Lilith sich alle Mühe gab, dieses Gefühl zu ignorieren, spürte sie doch, wie sich etwas in Tonkers Blick veränderte – etwas wie Zufriedenheit schien sich hineinzumengen, und hätte sie den Kopf gewandt, um ihn anzuschauen, hätte sie ihn ganz sicher kaum merklich nicken sehen. »Du willst sagen, daß du diesen Kerl nicht kennst?« kam er endlich auf ihre Frage zurück. Inzwischen waren Lilith so viele Gedanken durch den Sinn geschossen, daß sie kaum noch wußte, worauf Tonker anspielte. Sie blinzelte verwirrt, als sei sie gerade aus tiefstem Schlaf geweckt worden, dann nickte sie zögerlich. »Ja … Ich meine … nein, ich kenne ihn nicht. Müßte ich das?« Tonker zuckte die breiten Schultern, eine Geste, die ob seiner Statur geradezu bedrohlich wirkte. »Nun, immerhin seid ihr euch … ähnlich, nicht wahr?« Lilith wandte ihren Blick wieder dem Gefangenen zu. Er lag noch immer in derselben Haltung auf der Pritsche. Seine Rippenbögen zeichneten sich unter der fahlen Haut ab, sein Herzschlag war so deutlich zu sehen, als sei eine Faust in seiner Brust eingeschlossen, die unermüdlich nach oben stieß. Die Lider in dem ausgezehrt wirkenden Gesicht flatterten wie die Flügel eines kleinen Falters, die Augen dahinter wirkten glasig und trübe. Lilith ging davon aus, daß der Gefangene kaum in der Lage war, sie oder einen der anderen wirklich zu sehen. Seinem Äußeren nach zu schließen lag er schon seit längerer Zeit in dieser Zelle, wahrscheinlich in ständiger Dunkelheit, und mithin mochte er fast blind geworden sein. Am Boden neben der Pritsche sah sie einen Blechnapf, der vermutlich nur deshalb wie blankpoliert aussah, weil der Gefangene ihn wohl buchstäblich saubergeleckt hatte. Was sich darin befunden hat-
te, darüber wollte Lilith gar nicht nachdenken. Aber sie glaubte nicht, daß Tonker seinen Gefangenen mit wirklich Genießbarem verköstigen ließ. Nahrung war knapp in dieser Welt, und was ihr den Ekel hochtrieb, hatte Leon während der gemeinsamen Tage und Nächte als Köstlichkeit betrachtet. Insofern war also davon auszugehen, daß der Mann in dieser Zelle allenfalls mit Abfällen gefüttert worden war. Wie um den Gedanken noch zu unterstreichen, stieg Lilith auf einmal übelster Gestank in die Nase, ganz so, als habe er bislang fett und träge im Hintergrund der Zelle gehangen und sei nun, bewegt von der Zugluft, wie eine Woge in Richtung des Ausgangs getrieben. Unwillkürlich wollte Lilith einen Schritt zurückweichen, doch die beiden Hünen stoppten ihre Bewegung. Deren Berührung widerte Lilith nicht weniger an wie der Gestank, und so rückte sie wieder eine Winzigkeit vor, bemüht, die Nase aus dem Zellendunst zu halten, was nahezu unmöglich war. »He!« rief Tonker an ihr vorbei in Richtung des Gefangenen. »Du! Steh auf!« »Ihr kennt nicht einmal seinen Namen?« wunderte sich Lilith. Tonker grinste schief. »Nein. Er zeigt sich noch weniger kooperativ als du.« »Vielleicht kann er ja nicht reden? Oder er versteht eure Sprache nicht?« meinte Lilith. Sie hatte das eigenartige, fast irrationale Gefühl, Partei für den nackten Mann in der Zelle ergreifen zu müssen. Als gäbe es da etwas, das sie miteinander verband. Und unterbewußt hoffte Lilith, daß es tatsächlich so war … »O doch, er kann reden, und er spricht auch unsere Sprache!« erwiderte Tonker. »Er kennt sogar ein paar echt unflätige Wörter …« Tonker gab einem seiner »Bodyguards« einen knappen Wink. Der Riese setzte sich grunzend in Bewegung. Er ging auf den Gefangenen zu, zerrte ihn von der Pritsche hoch und stieß ihn wie verse-
hentlich gegen die Wand. Im scheinbaren Versuch, ihn stützen zu wollen, rammte er ihn ein weiteres Mal gegen den rauhen Beton. Die Haut an der Stirn des Nackten platzte auf, Blut lief ihm übers Gesicht, und er sah aus, als weine er rote Tränen. Der Hüne packte den Mann im Nacken und dirigierte ihn brutal in Richtung der Tür. Vor Tonker und Lilith ließ er ihn anhalten. »Sieh dir diese Frau an«, verlangte der Kneipenbesitzer. Der Hüne veränderte seinen Griff geringfügig und drehte den Kopf des Gefangenen unter Zuhilfenahme seiner dicken Finger Lilith zu, als spiele er mit einer lebensgroßen Puppe. Lilith hielt dem Blick des anderen stand und sah, wie der Mann sich bemühte, sie klarer zu erkennen. Er kniff die rotentzündeten Lider zusammen, und tatsächlich klärte sich die Trübheit, die seine Augäpfel wie mit Nebel überzog, ein klein wenig. Scheinbar hatten sich seine Augen mittlerweile etwas an die fast fremd gewordene Helligkeit gewöhnt. Er bewegte den Kopf wie nickend, ließ den Blick an Liliths nackter Gestalt hinab und wieder emporwandern. Und dann … lachte er. Es war ein furchtbares Geräusch. Als knirsche in seiner Kehle zerriebenes Glas, und als seien seine Lunge mit Pergamentschnipseln gefüllt, die jeder Atemzug hörbar knistern ließ. »Was soll diese Scheiße?« fragte er dann leise, heiser, und dabei sah er Tonker an, ein fast bewundernswert verwegenes Lächeln auf den schmalen, krankhaft grauen Lippen. »Was meinst du?« gab Tonker zurück. Der Gefangene machte eine Kopfbewegung in Liliths Richtung. »Was ziehst du hier für eine Schau ab? Glaubst du, ich falle auf so einen Mist … aarrgghh!« Seine Nackenwirbel knackten vernehmlich, als der Riese hinter ihm die Hand zur Faust ballte – ohne indes das Genick des Mannes vorher loszulassen …
Tonker schüttelte knapp den Kopf, woraufhin sein Zerberus den Griff wieder lockerte. Dennoch wäre der Gefangene vermutlich in die Knie gegangenen, hätte er ihn ganz losgelassen. »Red endlich«, verlangte der Kneipier dann, an den Nackten gewandt. Der Mann keuchte, jedes Wort fiel ihm hörbar schwer. »Ich weiß nicht … wo ihr die Kleine … aufgetrieben habt … und wie ihr sie so herrichten konntet … daß sie aussieht, als sei sie … okay. Aber ich weiß, weshalb ihr es gemacht habt … Sie ist der Köder, und ich soll … danach schnappen.« Er fing sich allmählich wieder, und dann gelang es ihm sogar, wieder zu grinsen. »Aber den Gefallen werde ich euch nicht tun.« Tonker sparte sich jede Erwiderung. Mit einem Blick befahl er seinem Gardisten, den Gefangenen zurückzubringen – woraufhin der Riese den Nackten kurzerhand in die Zelle hineinschleuderte. Der Mann stürzte und rollte bis zur gegenüberliegenden Wand, die ihn unsanft stoppte. Der Hüne verließ die Zelle, Tonker zog Lilith mit sich und drückte draußen einen Knopf auf der Tastatur neben der Tür, die sich daraufhin schloß. Dann wandte er sich mit dem Lächeln eines hungrigen Haifisches an Lilith. »Das mit dem Köder war gar keine so schlechte Idee«, meinte er ölig, »oder was meinst du …?«
* Sie waren wieder nach oben gegangen und befanden sich jetzt in einem der Räume, in die Tonker sich zurückzuziehen pflegte, wenn er nicht gestört werden wollte. Der Geruch hier war wie benebelnd. Lilith hatte Mühe, ihre Sinne beisammenzuhalten. Die beiden hünenhaften Wächter hielten sich im Hintergrund,
während der Kneipenbesitzer Lilith und Leon bedeutete, in einer geschmacklosen Plüsch- und Polsterlandschaft Platz zu nehmen. Lilith unternahm alle möglichen Verrenkungen, um in eine halbwegs sitzende Position zu gelangen, aber jedesmal sank sie entweder hintenüber oder zur Seite, so daß sie sich wie eine Mätresse vorkam, die ihres Freiers harrte … … und Tonkers Blicke ließen keinen Zweifel daran, daß er nur allzu gern diesen Part übernommen hätte. Aber noch schien ihm eine andere Absicht wichtiger zu sein. Er gesellte sich zu ihnen, nachdem er sich etwas zu trinken geholt hatte, ohne Lilith oder Leon davon anzubieten. »Du behauptest also, den Mann dort unten nicht zu kennen?« kam er ohne Umschweife auf das Thema zu sprechen. Er sah Lilith an, zu ihrer Verwunderung fast ohne Mißtrauen. »Das behaupte ich nicht nur«, erwiderte Lilith, »ich kenne ihn tatsächlich nicht. – Was weißt du über ihn?« Die Frage rutschte ihr fast ungewollt über die Lippen, und Tonker quittierte sie mit einem versonnenen Lächeln. Mit der Antwort jedoch ließ er sich Zeit. Er nahm einen genüßlichen Schluck von seinem Becher, starrte eine Weile hinein, dann erst wandte er sich lächelnd wieder Lilith zu. »Nichts«, sagte er zu ihrer Enttäuschung nur. Sie lachte trocken auf. »Das glaube ich dir nicht.« »Das bleibt dir natürlich belassen«, meinte Tonker. »Wo kommt er her?« Lilith schrak fast auf, als Leon sich wieder in die Unterhaltung einschaltete. Er hatte kein Wort gesagt, seit sie die unterirdische Zelle aufgesucht hatten. Tonker hob die Schultern. »Nicht einmal das weiß ich.« »Dann eben anders gefragt«, sagte Leon. »Wie ist er hierher gekommen?« »Irgendein Trottel hat ihn draußen in den Ruinen gefunden, bewußtlos«, erklärte Tonker. »Sah aus, als sei er gestürzt oder herun-
tergefallen, von wo auch immer. Der Typ, der ihn gefunden hat, brachte ihn zu mir. Wollte ihn tauschen gegen – na ja, du weißt, was ich meine, Freund. Die Leute schleppen alles Mögliche hier an, damit ich sie ein bißchen glücklich mache.« Er grinste häßlich, sein Blick wechselte zwischen Leon und Lilith hin und her. »Der Kerl war nicht verseucht. Wie du, Schätzchen.« Er nickte Lilith wohlwollend zu. »Und er trug … na, seltsame Klamotten eben. Deshalb hat man ihn zu mir gebracht.« »Und dann?« fragte Leon zögernd. Tonker lächelte geheimnisvoll. »Wie auch immer«, sagte er nach kurzem Zögern, »ich kann mich beim besten Willen des Eindrucks nicht erwehren, daß ihr beide – du und dieser Typ da unten – etwas gemeinsam habt. Und ich wüßte zu gern, worum es sich dabei handelt.« Er legte die Fingerspitzen gegeneinander und sah Lilith darüber hinweg abwartend an. »Da teilen wir einen Wunsch«, sagte sie nur. »Vielleicht kann ich deinem Gedächtnis ein wenig auf die Sprünge helfen.« Tonker ließ eine Hand unter seiner Jacke verschwinden. Als sie wieder zum Vorschein kam, war sie nicht mehr leer – – und Lilith starrte verblüfft auf das, was Tonker ihr hinhielt. Sie wußte nicht, womit sie gerechnet hatte; mit dem, was der Kneipenbesitzer ihr da zeigte, jedenfalls nicht im entferntesten. Es sah aus wie ein Instrument, ähnelte einer ganz aus Metall gefertigten Panflöte. Die Legierung schimmerte in einem blutroten Ton, und Lilith hätte geschworen, noch nie etwas Vergleichbares gesehen zu haben – obwohl ihr Gedächtnis natürlich auch in diesem Punkten kein endgültiges Urteil erlaubte. Wie gegen ihren Willen streckte sie die Hand aus und nahm das Instrument entgegen, das Tonker ihr nach kurzem Zögern überließ. Sie drehte es, wunderte sich darüber, daß es weniger schwer war, als es aussah, und konnte der Versuchung nicht widerstehen, die »Flöte« – falls es denn eine war – an die Lippen zu setzen.
Tonker deutete ihre Haltung richtig. »Streng dich ruhig an. Aber es ist nicht, was es scheint. Ich selbst habe es oft versucht, diesem Ding den kleinsten Ton zu entlocken. Aber vielleicht muß man nur den Trick kennen, damit es klappt … Der Gefangene trug es bei sich. Und er wurde fuchsteufelswild, als er begriff, daß es den Besitzer gewechselt hat …« Lilith wollte das Ding wieder zurückgeben. »Wenn du es schon versucht hast, ist es sinnlos, daß ich meinen Atem auch noch vergeude …« »Nein! Versuch es! Bitte …« Das Glitzern in Tonkers Augen kannte sie inzwischen schon zu Genüge. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, setzte sie die obere Öffnung der Röhrchen an ihrer Unterlippe an, stülpte die Oberlippe etwas darüber und blies hinein. Nichts. Das Glitzern in Tonkers Augen erlosch. Wirklich enttäuscht wirkte er jedoch nicht. Nur bestätigt in dem, was offenbar ohnehin schon erwartet hatte. In diesem Moment, Lilith hatte das Ding längst wieder abgesetzt, geschah es. Ein … Ton schnitt durch Tonkers privates Reich. Ein furchtbarer Ton, als würde ein Windstoß eine Million an Fäden hängende Rasierklingen erfassen und gegeneinanderschlagen. Das Geräusch dauerte ungefähr solange an, wie Lilith eben hineingeblasen hatte! »Was war das? Wie hast du das gemacht?« Tonker entriß ihr den metallischen Gegenstand, als fürchtete er, sie könnte den Vorgang wiederholen. »Ich weiß nicht. Ich kann es nicht gewesen sein. Das Geräusch kam erst, als ich …« »Wer redet von dem Geräusch?« unterbrach er sie.
»Wovon sonst?« »Ich rede von dir! Du warst eine Sekunde lang … unscharf …« »Unscharf? Wohl zuviel eigene Drogen geschluckt?« Kopfschüttelnd starrte sie den ehemaligen Elitepiloten an. »Halt’s Maul!« Tonkers Stimme klang beinahe haßerfüllt: »Willst du am Leben bleiben?« »Was müßte ich dafür tun?« Er sagte es ihr. »Und wenn ich kein Glück habe?« fragte sie. »Dann kannst du mich nur noch gnädig stimmen, wenn du sehr, sehr freundlich zu mir bist …« Lilith erhob sich. »So sehr hänge ich nun auch wieder nicht am Leben.«
* Sie erhielt einen derben Stoß in den Rücken, den sie nicht ausgleichen konnte. Sie stolperte, stürzte, und als sie den Boden berührte, hörte sie, wie sich hinter ihr das Metallschott schloß, fauchend wie ein urzeitliches Monster. Das Licht wurde ein wenig herabgedimmt, bis es die Zelle nur mehr schattenhaft ausfüllte, aber es verlosch nicht ganz. Offensichtlich war Tonker daran gelegen, daß ihr Mitgefangener Lilith auch sah; vermutlich setzte er darauf, daß ihre Blöße seinen bisherigen Widerstand untergraben würde. Lilith richtete sich auf Hände und Knie auf, kroch über den Boden und lehnte sich schließlich mit dem Rücken gegen die Wand, die jener, an der die Pritsche befestigt war, gegenüberlag. Der nackte Mann lag darauf, scheinbar teilnahmslos wie bei ihrem ersten Betreten der Zelle, das kaum eine Stunde zurücklag. Langsam wandte er jetzt den Kopf und blinzelte zu Lilith herüber. Dann drehte er den Kopf wieder zurück und schaute erneut zur Decke, als
gebe es dort Interessanteres zu sehen als eine nackte Frau. »Wie lange bist du schon hier?« fragte Lilith, um das Gespräch in Gang zu bringen. Sie wußte, was Tonker von ihr erwartete. Tonker, der vielleicht jetzt gerade versuchte, selbst einen ähnlich »verspäteten« Ton aus dem Ding herauszuquetschen, wie es ihr gelungen war. »Schätze, das weißt du besser als ich«, gab der Mann zurück. Ein leicht bitterer Ton schwang in seiner Stimme mit. »Du irrst dich, wenn du glaubst, daß ich zu Tonkers Leuten gehöre.« Der andere schnaubte nur abfällig. Eine Weile schwiegen sie. Schließlich war es, natürlich, wieder Lilith, die das Wort ergriff. »Vielleicht bin ich noch schlechter dran als du. – Ich weiß nämlich wirklich nicht, wie ich hierher gekommen bin, während du es nur nicht verraten willst.« »Zumindest was den letzten Punkt angeht, hast du recht«, erwiderte er. Sein spöttisches Lächeln ahnte Lilith eher, als daß sie es wirklich sah, denn der Fremde schaute noch immer starr zur Zellendecke hinauf. Unwillkürlich zog Lilith die Beine näher an den Körper und schlang die Arme fest um die Knie. »Chiyoda, hilf«, flüsterte sie. Erst nach einer Weile wurde ihr bewußt, was sie gesagt hatte, und sie merkte, daß auch der Fremde zusammengezuckt war und sie wie elektrisiert musterte. »Sag das noch mal!« forderte er sie auf. Ihr schwindelte. Sie schloß die Augen, hob die Hände und preßte die Fingerspitzen gegen die Schläfen. Dumpfer Kopfschmerz durchzog ihr Gehirn wie ein sich langsam zusammenbrauendes Gewitter. Statt Blitzen zuckten verschwommene Bilder durch die finstere Nacht des Vergessens. Es gelang ihr nicht, sie lange genug festzuhal-
ten, um zu verstehen, wovon sie handelten. »Was hast du gerade gesagt?« Als sie die Lider nach Sekunden oder Minuten wieder hob, kniete der Fremde unmittelbar ihr gegenüber am Boden. Seine vormals fahle Haut hatte sich mit Röte gefüllt. »Ich …?« »Der Name!« drängte er und klang dabei heiser wie ein erschöpftes Tier. »Was war das eben für ein Name?« Sie schluckte. »Ich … weiß nicht. Er ist mir nur so eingefallen … Ich – verdammt, ich wünschte, ich wüßte, warum! Du glaubst mir ja doch nicht, daß ich keine Erinnerung mehr habe. Du meinst, ich simuliere … Aber das ist nicht wahr. Ich bin …« »Ja?« »Verzweifelt! Wahrscheinlich verzweifelter als du!« Er schwieg. Nach einer Weile drängte er sie jedoch erneut: »Sag den Namen noch einmal. Sag ihn langsam und deutlich. Ich will wissen, ob ich richtig verstanden habe!« »Es ist nur ein Name …« »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Also?« »Chiyoda … glaube ich …« Er klatschte in die Hände, daß ein lauter Knall entstand. Lilith zuckte zusammen. Der stiere Blick des Fremden machte ihr angst. Anders als in der Nähe von Leon, Tonker oder dessen Schergen wühlte keinerlei Heißhunger in ihren Eingeweiden. Das Geheimnis, das ihr Gegenüber wahrte, degradierte niedere Begierden zur Bedeutungslosigkeit. Niedere Begierden … Heißhunger … Ihr schauderte. »Was glotzt du mich so an?« »Du bist ein noch besserer Köder, als ich zuerst dachte«, lobte er sie. Nein, korrigierte sie sich. Er lobt nicht dich, Närrin, er lobt Tonker. Du bist dessen Köder!
Es dauerte eine Weile, bis ihr der Sinn der Worte dämmerte, die der Fremde seinem Lob noch hinzugefügt hatte. »Laß uns reden«, hatte er sie aufgefordert. »Laß uns über … das Wild reden, das ich jagte – und woher du dieses Phantom kennst …«
* Jedsara sank in die Wanne, auf deren Wasseroberfläche ätherisches Öl mit einem anregenden Aroma schillerte. Der aufsteigende Dampf verteilte es im Zimmer. Tonkers Mätresse rekelte sich aufreizend, glitt, den Kopf weit nach hinten gebogen, tiefer in das heiße, grünlich schimmernde Gemisch, so daß am Ende nur noch ihr Gesicht und die Spitzen ihrer üppigen Brüste daraus hervorragten. »Komm endlich«, gurrte sie in gebrochenem Englisch. Sie war schon kurz nach der Eröffnung der Bar in Bagdad aufgetaucht, stammte aber gebürtig aus dem einstigen Nachbarland Iran, aus der Umgebung von Teheran. Teheran war unmittelbar nach Bagdad gefallen, aber Jedsara hatte mit ihrem Mann Freunde in der Kleinstadt Nalis besucht, achtzig Kilometer entfernt, als die Welt unterging. Fernseher, Radio und Telefon waren von einer Sekunde auf die andere ausgefallen. Die Erde hatte gebebt – nein, sie hatte sich geschüttelt –, und alle hatten an eine heftige seismische Erschütterung geglaubt. Ein paar Minuten lang. Bis die Druckwelle sengende Hitze über die Häuser des Ortes gespült und sämtliche Dächer hinweggefegt hatte. Bis der Himmel am Mittag schwarz wie Kohle geworden war. Die Sonne hatte ausgesehen wie bei einer totalen Finsternis. Nur ein Strahlenkranz an ihren Rändern war sichtbar geblieben. Jedsara hatte es an ein Gesicht, umrahmt von Flammenhaar erinnert. An das Antlitz eines häßlichen Gottes. Allah hat uns verlassen, hatte sie gedacht, und eine unsichtbare
Schlinge hatte sich dabei eng um ihren Hals gelegt. Ihr Mann hatte das Geschehen im selben Raum wie sie erlebt. Er war ans Fenster gerobbt, dessen Scheibe vom ersten Donnerschlag zertrümmert worden war, er hatte die Arme zum Himmel gereckt und sich dann an die Brust gegriffen, bevor er leise röchelnd in sich zusammengesunken war. Inmitten schluchzender, wimmernder und schreiender Leiber. Inmitten der Freunde, die vergessen hatten, irgend jemandes Freund zu sein – von einem Donnerschlag zum nächsten. Ein grausig schöner Pilz war am Horizont aufgeblüht. In heimatlicher Richtung. Da hatte es die Heimat schon nicht mehr gegeben. Nur noch – Jedsara verdrängte die Erinnerungen, die in den unmöglichsten Variationen über sie herfielen. Brutaler noch als der Mann, der sich jetzt die Kleider vom Leib streifte und mit einem begehrlichen Schnauben zu ihr in die Wanne stieg. Das Wasser schwappte über den Rand hinweg. Es störte Tonker nicht. Und Jedsara ebensowenig. Sie dachte nur an das Eine: an ihren Lohn. Nicht an die Arbeit davor. Tonkers Kopf sank bis über die Lippen unter Wasser. Während nur noch seine Augen über dem Spiegel erkennbar waren, erinnerte er Jedsara an ein Krokodil, das ausschließlich von animalischen Trieben gelenkt wurde. Wie dieser Mann eben. Sie hatte keinen Respekt vor ihm, aber Angst. Seine Macht und sein Besitz machten ihn eher abstoßend als anziehend, aber Stolz war ein Luxus, den sie sich in diesem Stadium der Krankheit nicht mehr leisten konnte. »Kann ich …«, setzte sie mit brüchiger Stimme an,»… gleich eine haben? Nur eine einzige. Du viel mehr von mir haben, wenn ich … schmerzfrei …« Die Art und Weise, wie er sie anstarrte, begrub jede Hoffnung in
ihr, daß er Mitleid haben könnte. Mitleid ist ein Fremdwort für ihn, rief sich Jedsara in Erinnerung. Und wartete darauf, daß er sich an ihr zu schaffen machte. Er hatte noch nie den Menschen in ihr gesehen, nur die Frau. Sie schwitzte unter der Perücke, auf die Tonker bestand, und beugte sich vor, um Tonkers Geschlechtsteil im Wasser zu ertasten. Es war dick, aber nicht sehr lang, auch nicht im erigierten Zustand. Dummerweise litt er unter Potenzproblemen, die vermutlich auf seinen Pillenkonsum zurückzuführen waren. Es war eine Heidenarbeit, ihn ausreichend zu stimulieren, daß er überhaupt in sie eindringen konnte. Tonker hatte ein leichte homosexuelle Veranlagung, die er aber nicht mit dem eigenen Geschlecht auslebte, sondern mit den Frauen, die er von sich abhängig gemacht hatte. Jedsara war nicht die einzige. Es gab noch andere Opfer. Ausnahmlos Muslime aus dem ehemaligen Irak und den umliegenden Gebieten. Ehemalige Muslime, dachte Jedsara bitter. Für Religion war kein Platz mehr auf dieser Welt. Höchstens noch für stille, verzweifelte Gebete. Tonker duldete keinen anderen »Herrn« neben sich … Sie erstickte die Gedanken, die sie jedesmal wieder neu quälten. Nicht mehr daran denken … An gar nichts mehr denken … Sie gab sich ihm nicht hin. Das hatte sie nie getan. Sie stellte ihm ihren Körper zur Verfügung. Für einen öden Akt der Befriedigung, der sie selbst völlig unbefriedigt zurückließ. »Du kleines Miststück! Ich werd’s dir besorgen!« »Ja! Jaaa!« Jedsara schloß die Augen. Dachte an den Lohn, nicht die Arbeit. Und erfüllte jeden Wunsch ihres Herrn …
*
Leon saß an einem einsamen Tisch, von dem aus kaum zu beobachten war, welche Darbietung gerade auf der Bühne stattfand, und überlegte, ob tatsächlich er es gewesen war, der die alptraumhafte Dekoration der Bar ersonnen hatte. Zu seinem Leidwesen mußte er es sich eingestehen. Mußte er einräumen, daß er um kein Deut besser als das Schwein Tonker war … »Heda!« plärrte er zur Theke hinüber und hob sein leeres Glas. »Euer Herr und Meister hat mir freien Ausschank bis zum Abwinken genehmigt – schon vergessen? Muß ich jedesmal betteln, bis man mir nachschenkt? Was ist denn das für ein beschissener Service …?« Die Blicke, die ihn trafen, erinnerten ihn an die Augen, die ihn von den Wänden herab anstarrten. Tote Augen. Anklagende Augen. Leon hatte keine der makabren Trophäen umgebracht. Gestorben waren sie von ganz allein. Aber daß sie jetzt hier jedermanns Blicken preisgegeben waren, daran trug nur er die Schuld. Er ekelte sich vor dem Monster, das sich sein Hirn mit dem freundlichen Leon teilte. Eine von Tonkers Puppen erschien neben ihm und stellte eine Flasche neben das leere Glas. »Sauf dich tot!« zischte die Frau, deren Haut so trocken und rissig wie das staubige Flußbett aussah, in dem Leon bis vor kurzem gehaust hatte. Ich hätte dortbleiben sollen, dachte er. Lieber allein krepieren, als hier ein paar Tage länger zu leben und unentwegt an meine Sünden erinnert zu werden … Laut krächzte er: »Verschwinde!« »Nichts lieber als das.« Leons Blick folgte der leicht bekleideten Bedienung, bis sie den Kopf drehte und ihn ansah. Genauso abschätzig. Beschämt senkte er den Blick. Seine Hand fand die Flasche wie von selbst. Das Glas war unnötig. Er trank sie in einem Zug fast zur
Hälfte aus und wartete darauf, daß die Alkoholgespenster seine Staubgespenster ertränkten. Als er wieder einen Blick in die Runde warf, fiel ihm die Stille auf, die plötzlich eingekehrt war. Totenstille. Und dann lehnte er sich erleichtert auf seinem Stuhl zurück, weil der Fusel endlich Wirkung zeigte. Weiße Mäuse sahen anders aus … Trotzdem. Die Wahngestalten füllten die Bar wie strategisch verteilte Schachfiguren. Leon gluckste glücklich in sich hinein. Die Stille endete. Von irgendwoher tönte wieder Musik. Musik? Eine Melodie. Eine herzzerreißende Melodie. Leon hatte plötzlich einen Geschmack auf der Zunge, der selbst den des Alkohols übertünchte. Süß und warm und klebrig legte er sich über seinen Gaumen. Kaltes Entsetzen befiel den Betrunkenen. Dann riß die Melodie die letzten Dämme in ihm nieder.
* »Halleluja!« Als Tonker sich in seine Gespielin ergoß, hatte er einen zeitlosen Moment lang den Eindruck, daß ihm die Sinne schwanden; als wäre die Hitze, die in seinen Lenden lohte, wirkliches Feuer, das nicht nur in, sondern um ihn herum die Luft flimmern ließ. Zugleich glaubte er, die Wände auf sich zurücken zu sehen, als schrumpfe der Raum auf unmögliche Weise. Und etwas wehte an und in sein Ohr, spürbar wie ein Windhauch, vernehmlich wie ferner Chorgesang engelhafter Stimmen – und doch ganz anders, vollkommen fremd und … Dann erloschen die Flammen in seinem Unterleib, und für ein,
zwei Sekunden fühlte sich Tonker entspannt, ganz so, wie er sich früher immer nach dem Sex gefühlt hatte. Und schließlich kam der Schmerz, mit dem sein kranker Körper die Anstrengung stets quittierte. Jedesmal eine Spur ärger, wie Tonker meinte. Aufstöhnend ließ er sich zur Seite sinken. Es platschte. Sein schlaffes Glied glitt aus dem Schoß der Frau. Bald darauf stemmte er sich wortlos aus der Wanne, deren Inhalt ungemütlich abzukühlen begann. Der Kneipenbesitzer schloß die Augen, versuchte ruhig zu atmen und den Schmerz niederzuzwingen, auf ein Maß zu reduzieren, das sich ignorieren ließ. Dann trocknete er seinen kränkelnden Körper ab und ließ das Tuch danach achtlos zu Boden fallen, damit auch Jedsara sich dessen bedienen konnte. Mürrisch zog er sich wieder an. So war es immer. Er mußte es haben, aber es wurde nie wieder, wie er es in Erinnerung hatte. Während er zu einem Spiegel ging, um das nasse, schüttere Haar zu glätten, hatte er das Gefühl, sein eigenes Abbild nicht mehr ertragen zu können. Wie in einem Krampf schloß er die Augen, und als er die Lider wieder hob – es waren nur ein paar Sekunden vergangen –, war ihm, als bewege sich die Luft über offenem Feuer. Und einen Herzschlag später … … wurde alles anders! Waren er und seine Gespielin plötzlich nicht länger allein! Der Schrecken kam über Tonker wie ein mehrstufiger Luftangriff. Zunächst entsetzte ihn die bloße Anwesenheit der fremden Männer, die Tatsache, daß sie seine Privatgemächer hatten betreten können, ohne aufgehalten worden zu sein – ja ohne daß er selbst sie hatte kommen hören! Dann erschrak er über das Aussehen der Eindringlinge – über ihre Ähnlichkeit mit dem Mann, der seit Wochen in der Bunkerzelle schmachtete, ohne auch nur ein Wort über seine Herkunft und Ab-
sicht verraten zu haben. Als der Mann zu ihm gebracht worden war, hatte er Kleidung wie diese Fremden getragen; etwas, das sich am ehesten mit einem engen Overall vergleichen ließ, der jede Kontur wie echte Haut überzog und abbildete und der aus einem Material bestand, das gleichfalls an Haut erinnerte, von seiner Farbe abgesehen: die entsprach eher der von Marmor, so daß die Körper der Fremden wirkten wie aus Stein geschlagen. Und schließlich … die Instrumente. Jeder der Fremden hielt eine jener flötenartigen Gerätschaften in Händen, detailgenaue Kopien derjenigen, die der andere bei sich getragen hatte und die sich jetzt in Tonkers Besitz befand. Er schauderte, als er sich des Tons erinnerte, den er dem Instrument kurz zuvor entlockt hatte. War ihm da nicht auch gewesen, als bewege sich die Luft … ganz so wie gerade eben? All diese Eindrücke schossen Tonker binnen kürzester Zeit durch den Kopf. Zwei, allenfalls drei Sekunden waren vergangen, seit die Fremden aufgetaucht waren. Gleichzeitig stellte sein Unterbewußtsein eigene Überlegungen an, ein Überbleibsel aus jener Zeit, da Tonker auf intuitives Handeln angewiesen war, als Pilot der US Air Force. Es verknüpfte Fakten miteinander, stellte Zusammenhänge her, die zu einer Möglichkeit dessen wurden, womit Tonker sich hier konfrontiert sah – – aber er weigerte sich, es als Tatsache anzusehen. Weil es unmöglich war! Der Ton, den er erzeugt hatte, indem er in das Instrument geblasen hatte, konnte doch kein Signal gewesen sein … Es ist so unmöglich wie das Erscheinen dieser Fremden aus dem Nichts, richtig? wisperte es aus seinem Unterbewußtsein. Tonker ignorierte die geisterhafte Stimme – und reagierte. Ein schriller Pfiff gellte durch den Raum, durchdringend und selbst in Tonkers Ohren schmerzend. Die Fremden, fünf an der Zahl, rührten sich noch immer nicht, standen reglos, als seien sie wirklich nichts anderes als marmorne
Statuen, die jemand in den Raum gestellt hatte. Die Tür flog auf, und Tonkers hünenhafte Gardisten stürmten herein. Nach drei Schritten allerdings blieben sie stehen, als seien sie vor eine unsichtbare Wand gelaufen. Verwirrt versuchten sie die Situation zu erfassen, versuchten zu begreifen, wie die Fremden unbemerkt hereingekommen sein konnten, aber Tonker ließ ihnen keine Zeit. »Auf sie, Männer!« befahl er und sprang selbst auf, um aktiv ins Geschehen einzugreifen. »Nehmt ihnen diese … Dinger ab!« Für Fragen würde später Zeit sein. Die beiden Riesen walzten auf den jeweils nächststehenden Fremden zu – aber keiner von ihnen erreichte sein Ziel; sie schafften es nicht einmal, Hand an den Gegner zu legen. Die beiden Männer, die angegriffen werden sollten, hoben fast gemächlich ihre Instrumente an den Mund, schürzten die Lippen und bliesen, ohne Tonkers Handlanger dabei aus den Augen zu lassen. Eine geisterhafte, zweistimmige Tonfolge schwang durch den Raum, und Tonker hatte den irrationalen Eindruck, daß seine beiden Guards diese Töne in gänzlich anderer Weise wahrnahmen, als er es tat – weil sie ihm nicht … bestimmt waren. Für ihn war es, als berühre etwas Eisigkaltes sein Trommelfell; es war schmerzhaft, und ein Schauder jagte durch seinen Körper, daß er glaubte, jeder Knochen würde von Frost umkrustet. Aber das Gefühl schwand so rasch, wie es gekommen war. Seine beiden Männer indes … Sie verharrten inmitten der Bewegung, als würden sie eingefroren. Ihre Lippen öffneten sich, aber kein Laut drang darüber. Nur ihre Augen waren noch imstande, zu »schreien« – lautlos zwar, aber doch so deutlich, daß Tonker den Schmerz darin unmöglich übersehen konnte. Und dann … Blut. Dünne Rinnsale flossen zunächst nur aus den Nasen der beiden
Hünen. Dann lief es auch aus ihren Ohren, näßte die Kleidung an den Schultern, und schließlich quoll Blut auch unter den Lidern der Männer hervor, rann ihnen über die Gesichter, derweil ihre Augen immer weiter hervortraten, als würden sie von hinten aus den Höhlen gedrückt. Und so starben sie. Beide in derselben Sekunde. Sie kippten um wie gefällte Bäume, und der Aufprall der massigen Körper ließ den Boden vibrieren. Stille trat ein. Buchstäblich atemlose Stille. Bis Tonker die angehaltene Luft pfeifend aus seinen Lungen entließ. »Wer seid ihr?« fragte er tonlos. Wie von selbst bewegte sich seine rechte Hand auf die Hüfte zu, ertastete aber nur nackte Haut. Für den Moment hatte Tonker sogar vergessen, daß er keine Kleidung trug – und somit auch keine seiner versteckten Waffen. Kraftlos fiel seine Hand nach unten. Sein Blick wanderte von einem zum anderen. Die Fremden glichen einander, wenn auch nicht wie Zwillinge. Eine Redensart ging Tonker durch den Sinn: Aus dem gleichen Holz geschnitzt … Sie schien ihm in gewisser Weise zutreffend, ersetzte man aus Holz geschnitzt durch aus Stein gehauen. Tatsächlich erinnerten ihn diese Männer an griechische Statuen. Ihre Gesichter waren von makelloser Schönheit, wie modelliert, mit fast femininen Zügen und von jener nicht wirklich ungesunden Blässe, die vor Urzeit einmal als vornehm gegolten hatte. Der Übergang zwischen Hals und Kleidung war nur auszumachen, wenn man sehr genau hinsah. »Gib uns den Schlüssel.« Tonker hatte nicht mit einer Antwort gerechnet, und als einer der Fremden jetzt sprach und die Hand ausstreckte, zuckte er unwillkürlich zurück. Die anderen reagierten darauf, indem sie ihre Instrumente hoben und näher an ihre Lippen brachten, ohne sie indes zu
berühren. »Den Schlüssel?« echote Tonker. »Wovon redest du?« »Den Schlüssel, den du einem der unseren abgenommen hast«, sagte der andere. Selbst seine Stimme schien kalt und hart wie Stein. Tonker begriff. »Ich …«, setzte er an, besann sich dann aber anders. »Hört zu, Leute. Ich weiß nicht, wer ihr seid und was ihr hier zu suchen habt – aber ich finde, wir sollten erst einmal reden, einverstanden?« Vielleicht sprachen sie ja auf die diplomatische Tour an. »Den Schlüssel!« Tonker sah seine Hoffnung schwinden. »Und dann?« fragte er. »Was geschieht, wenn ich euch diesen … Schlüssel gebe?« »Dann bringst du uns zu unserem Bruder«, erklärte der Fremde. »Warum sollte ich das tun?« hörte sich Tonker fragen, als stehe er neben sich, und er bereute die provozierende Frage schon in dem Moment, da er sie stellte. Weil er ahnte, nein, wußte, was geschehen würde … Sein Gegenüber hob das rötlich schimmernde Instrument an den Mund, fixierte Tonker über den Rand hinweg und blies einen Ton – – der Tonker wimmernd in die Knie gehen ließ. Und jeglichen Widerstand brach.
* »Das Phantom? – Wovon redest du?« Lilith sah den Gefangenen an, gleichermaßen fragend wie verwirrt. »Du kennst den Namen des Wildes«, erwiderte der andere. »Chiyoda …?« Lilith wiederholte den Namen, den sie eben genannt hatte, ließ ihn förmlich über ihre Zunge gleiten – und lauschte in sich. Auf eine Regung. Auf eine erwachende Erinnerung. Auf irgend etwas, das mit dem Namen Chiyoda in Verbindung stehen
mochte … … und tatsächlich war da etwas. Etwas, das noch nicht greifbar war, diffus blieb; etwas, das Lilith an das blasse Licht eines neuen Tages erinnerte und von dem sie wußte, daß es nicht heraufbeschworen, nicht herbeizuzwingen war. Es würde kommen, langsam, aber von selbst … »Was weißt du über … Chiyoda?« fragte sie zögernd, als habe sie Scheu, den seltsam vertrauten Namen auszusprechen. »Er ist wie wir – und doch keiner von uns.« Die Antwort des anderen sagte Lilith nichts. »Wie ihr?« hakte sie nach. »Dann sag mir endlich, wer ihr seid – was du bist!« »Ich glaube nicht, daß du es verstehen würdest«, erwiderte er, wandte sich Lilith dabei zu und lächelte; nicht spöttisch, sondern in der Art, in der man einem Kind sagte, daß es für dieses oder jenes noch nicht alt genug sei … »Wie wär’s, wenn du es zumindest versuchen würdest?« meinte Lilith, das Lächeln erwidernd. »Ich meine, wir haben jede Menge Zeit, oder? Erklär es mir.« Der andere schüttelte bedächtig den Kopf. »Wo sollte ich anfangen mit einer solchen Erklärung? – Vielleicht«, er zögerte kurz, und sein Blick wirkte auf eigenartige Weise nach innen gerichtet, »wissen nicht einmal mehr wir selbst, wie alles begann.« »Es gibt also mehr von deiner Sorte?« Lilith gab nicht nach. Sie fühlte sich auf dem richtigen Weg, und jede noch so winzige Information, die sie dem Fremden entlocken konnte, mochte ihr von Nutzen sein … Er nickte – oder wollte es zumindest tun. Ein Geräusch und eine Bewegung lenkten ihn ebenso ab wie Lilith. Ein Fauchen und Kratzen, jenes Geräusch, mit dem sich die Zellentür öffnete. Synchron wandten sie beide den Blick in Richtung des Ausgangs.
Und Lilith erzitterte …
* Gestalten quollen herein. Gestalten noch viel fremdartiger als der Mann, den Lilith zum Reden hatte bringen wollen. Denn diese Gestalten waren nicht seinem Druck und seinen Entbehrungen ausgesetzt gewesen! »Bruder …« Der Namenlose neben Lilith kam schwankend zum Stehen. Ein Ausdruck, der ihr eine Gänsehaut verursachte, ließ sein Gesicht aufleuchten. »Ich wußte, daß ihr mich findet …«, rann es über seine Lippen. »Irgendwann …« Wie eine Marionette, deren Schnüre durchhingen, stakste er auf den Mann zu, der die Gruppe, welche in die Zelle getreten war, anführte. Geschöpfe, die sich geschmeidig und kontrolliert bewegten, als wären es Maschinen, wie es sie in dieser Perfektion auf der Erde nie gegeben hatte. Und nie mehr geben würde. Dank des unseligen Krieges, der alles verschlungen und jeden Fortschritt auf Jahrmillionen erstickt hatte. »Dann wußtest du mehr als wir, Sternlicht.« Der Anführer strahlte dieselbe Ruhe und Kraft aus wie jede andere der Gestalten in der marmorfarbenen Kleidung. »Wäre nicht der Ton erklungen und hätte uns den Weg zu dir gewiesen, wir wüßten immer noch nicht, wohin es dich verschlagen hat. Der Kontakt war völlig unterbrochen.« Sternlicht, dachte Lilith. Was ist das für ein verrückter Name? Sternlicht blieb unmittelbar vor dem Ankömmling stehen und sagte: »Ich verfolgte eine Spur. Die des … Phantoms, du weißt, wen ich meine. Aber ich kam in einem Trümmermeer aus dem Klang. Ich stürzte und verlor das Bewußtsein, bevor ich Gegenmaßnahmen einleiten konnte. Danach bin ich in dieser Zelle zu mir gekommen.
Nackt. Man hatte mich jeder Möglichkeit beraubt, zu fliehen oder um Hilfe zu rufen. Dennoch gab ich nie die Hoffnung auf …« Hinter dem Anführer trat eine andere Gestalt hervor. Sie wirkte feminin, obwohl sich kein Busen unter der hautengen Kleidung wölbte. Sie hielt Sternlicht die Kleidung, die ihm gestohlen worden war, entgegen und überdies jene »Flöte«, der Lilith einen schrecklichen Ton entlockt hatte. Sternlicht nahm beides entgegen. Und während er sich das sonderbare Textil überstreifte, schien der Anführer erstmals Notiz von Lilith zu nehmen. »Wer ist sie?« Sternlicht schloß die Nähte seiner Kleidung, die unsichtbar wurden, kaum daß sie paßgenau zusammengefügt worden waren. »Ich weiß es nicht. Noch nicht. Und sie selbst behauptet, es auch nicht zu wissen.« »Sie sieht aus wie wir.« »Und sie kennt«, sagte Sternlicht, »den Namen des Frevlers, dessen Spur ich verfolgte: Chiyoda.« In den edlen Zügen des Anführers zuckte ein Muskel. »Habe ich dich falsch verstanden? Sagtest du nicht, sie gebe vor, unter Erinnerungsschwund zu leiden?« »Ich weiß nicht, ob dies die Wahrheit ist.« »Dann laß es uns herausfinden.« Er zeigte auf die »Flöte« in Sternlichts Hand. »Finde du es heraus.« »Ich will sie nicht verletzen.« »Sie wird nicht lange leiden. Wenn sie verraten hat, was sie weiß, werden wir sie von ihrer Qual erlösen. Wir sind keine Unmenschen.« Sternlicht sah zu Lilith herüber. Sie hatte den Eindruck, daß er sie für das, was gleich geschehen würde, um Entschuldigung bitten wollte. Aber womöglich sah er in ihr nicht viel mehr als ein Insekt.
Er setzte das Instrument aus blutrotem Metall an die fahlen Lippen. Und öffnete einer vergessenen Hölle die Pforten!
* Sternlicht kannte jeden Ton und Zwischenton auf seinem Schlüssel. Er wählte gut, ehe er seinen Atem in das Instrument entließ. Die Frau, die immer noch dort kauerte, wo er sie verlassen hatte, begann sich am Boden zu winden und um sich zu schlagen. Eine kleine Weile. Dann war der Widerstand, waren die kreatürlichen Reflexe ihres Körpers gebrochen. Mit verzerrtem Gesicht lag sie da. Die Augen starr auf einen Punkt gerichtet, den niemand sonst zu sehen vermochte. Sternlicht hielt den Ton im Sprechen. »Wer bist du? Woher kommst du? Sag es uns!« Die Lippen im entstellten Gesicht begannen zu flattern wie die Kiemen eines schaurig schönen Fisches. »Ich … Ich bin …« Anstatt weiterzusprechen, gellte ein Schrei, furchtbarer noch als alle vorherigen, durch den Raum. Und dann – Sternlicht begann zu ahnen, welch schrecklichen Fehler sie begangen hatten – entstellte sich ihr Gesicht noch mehr, gebar ganz neue, animalische Züge und machte auch vor dem Rest des Körpers nicht Halt. Der Ton der Flöte endete in einem häßlichen Mißklang. Häßlich und abscheulich wie die Bestie, die sich im selben Atemzug vom Boden erhob, um sich für alles, was ihr angetan worden war, zu rächen!
*
Sie wußte nicht, was mit ihr passierte. Aber es passierte, nichts anderes zählte, nichts anderes berührte sie in dieser Phase nicht enden wollender Qual. Etwas zerschnitt das strangulierende Band um ihre Erinnerung. Etwas sprengte den Panzer, der die Bilder und das Wissen zurückgehalten hatte … Die wichtigste Erkenntnis war die ihrer Identität. Wie lange hatte sie mit diesem absurden Irrtum gelebt …? ICH BIN NICHT LILITH EDEN! Erinnerungen überrollten die sich am Boden windende Frau. Ihre Augen waren weit aufgerissen, und dennoch hatte sie den Kontakt zu ihrer Umgebung verloren. Sie trieb in einem Mahlstrom aus Vergangenem. Bilder, Stimmen, Orte und Personen, die ihren Weg begleitet hatten. Und zuletzt … Was kein Mensch ertragen hätte, war ihr zugemutet worden. Von einem Geschöpf, welches das personifizierte Böse war. GABRIEL. Satans Name stand in Flammenschrift in ihrem Geist. Das Feuer fraß sich in ihren Verstand, auch die Zahl des Tiers loderte auf: 666 … Sie badete in Schrecken, sah noch einmal durch viele tausend Augen gleichzeitig, die nicht ihr selbst gehört hatten, sondern der Armee, die sie angeführt und gelenkt hatte. In des Teufels Namen! Er hatte mich verbunden mit meinen Brüdern und Schwestern, mit denen, die denselben Fluch in sich trugen wie ich. Den Fluch des Werwolfs … Sie versuchte die Nebel, die sie umsponnen wie ein Kokon, mit ihren Blicken und ihren anderen Sinnen zu durchdringen. Es gelang ihr nicht. Sie war zum Spielball von Gewalten geworden, die andere entfesselt hatten. Sie wälzte sich am Boden, wie sie es damals schon einmal getan
hatte. In der Zuflucht, in die Chiyoda sie geholt hatte, um sie Gabriels Einfluß und Mißbrauch zu entziehen. Auch damals – wie lange war es her? – hatte sie Gesichter durch rauchartige Schwaden hindurch wahrgenommen. Nicht nur die greisen Züge ihres alten Mentors Chiyoda, auch die zweier Indianer und eines Aboriginal. Hidden Moon, durchfuhr es sie, Makootemane und … Esben Storm! Sie hatten sie mit vereinten Kräften vom Schlachtfeld bei Uruk, wo keinem geringeren als dem Schöpfer selbst eine Falle gestellt worden war, fortgerissen.* Steinchen um Steinchen fügte sich das Mosaik zusammen. Bis es ein Bild ergab, dem sich die gemarterte Frau nicht mehr verweigern konnte. Ich bin nicht Lilith! Ich bin – – NONA! Bei El Nabhal und seinen Tüchern, wie hatte sie glauben können, SIE zu sein? Sie, der FEIND. All ihr Denken war doch darauf ausgerichtet gewesen, Lilith Eden zu vernichten … Aber war vielleicht gerade das der Grund? Hatte sie sich so sehr in den Körper ihrer Feindin versetzt, daß deren Identität für ihren geleerten Verstand schneller greifbar gewesen war als die eigene? Aber warum war sie so versessen darauf gewesen, die Halbvampirin zu töten …? Nonas Gedanken irrten durch den Strudel der Bilder hin zu IHM. Landru. Mein Geliebter … Ein warmes Gefühl durchströmte sie, bis sie sich erinnerte, daß der Hüter des Lilienkelchs, dessen Wege sie beinahe ein halbes Jahrtausend lang immer wieder begleitet hatte, den Tod in Jerusalem gefunden hatte! Er hat sich selbst gerichtet unter dem verderblichen Einfluß der Archon*siehe VAMPIRA T50: »Armageddon – Die letzte Schlacht«
ten. Niemand anderer als er selbst hätte ihn besiegen können. Und Lilith hat ihn erst in diese Situation gebracht! Nona hatte keine Ahnung, wie die Schlacht bei Uruk ausgegangen war. Die Strapazen hatten sie in Bewußtlosigkeit versinken lassen. Wo ist Chiyoda geblieben? Wo die anderen, die an seiner Seite waren und ihm halfen, mich zu retten? Und wieso bin ich in dieser unwirtlichen, verseuchten Welt erwacht …? Sie erinnerte sich wieder. Chiyoda war ein Meister im Aufspüren und Betreten anderer Realitäten gewesen. Dank seiner geistigen Kräfte war er in Dimensionen vorgestoßen, die kein anderer Mensch aus eigenem Vermögen hätte erreichen können … FALSCH! Es gibt andere, die genau dasselbe können. Du bist ihnen begegnet. Hier! Die Nebelfront schien aufzubrechen. Nona erstarrte in ihren wütenden Zuckungen. Ihr Blick fand Sternlichts Augen. Die Kehle schmerzte ihr, als wäre sie wund. Heiser, als hätte sie einen stundenlangen Vortrag gehalten. Was habe ich ihnen verraten? Was wissen sie über mich und meinen Fluch? Unbändiger, lange unterdrückter Hunger trieb ihr die Verdauungssäfte in den Rachen. Und sie begriff, daß nicht nur ihre Erinnerung, sondern auch ihre einzigartige Fähigkeit zurückgekehrt war. Sie gierte nach blutigem, rohen Fleisch. Wie werden sie wohl schmecken? Zumindest äußerlich sahen sie aus wie Menschen. Wie … Beute! Nonas Muskeln spannten sich an. Mit einem einzigen Sprung überwand sie die Distanz zu Sternlicht. Und brachte die Flöte zum Verstummen.
*
Im Sturz entglitt das Instrument Sternlichts Hand, und es berührte den Boden im selben Moment, da sein Hinterkopf hart gegen die Betonwand der Zelle schlug. Sternlicht schrie auf vor Schmerz, dennoch streckte er, am Boden liegend, den Arm nach der Flöte aus, als sei nichts von größerer Bedeutung als sein Instrument. Nona trat seine Hand beiseite – nicht mit ihrem Fuß, sondern mit einer haarigen Pfote, deren Zehenspitze Krallen entwuchsen. Tiefe Wunden hinterließen sie auf Sternlichts Handrücken, Blut spritzte – und Nona heulte auf! Vor Lust. Vor Gier. Vor Hunger! Neben Sternlicht kniend langte sie mit ungelenken Pranken nach ihm, packte ihn und zerrte ihn so zu sich, daß sie seine Kehle mit ihren Reißzähnen erreichen konnte – – wäre nicht etwas anderes geschehen. Hätte nicht ein neuer Ton ihre Ohren erreicht! Wie glühender Draht senkte er sich hinein, immer tiefer, bohrte sich in ihr Hirn, wo er sich verästelte und jeden Nerv ihres mutierten Leibes gleichsam in Flammen aufgehen ließ. Nona brüllte, tobte, wand sich. Mit den Pranken griff sie sich an den Schädel, als könne sie ihn auf diese Weise daran hindern, kurzerhand zu zerspringen. Das Hirn darin schien sich in einen Feuerball verwandelt zu haben. Der Hunger indes ließ währenddessen nicht nach, quälte sie noch zu allem furchtbaren Schmerz, den der mehrstimmige Flötenton ihr bereitete. Fort! schrie es in ihr. Ich muß fliehen! Hinauf an die Oberfläche! Nona preßte die Pranken gegen ihre Ohren, und tatsächlich sank der Schmerz um ein paar Grade, knapp unterhalb der Grenze zum Unerträglichen. Jeder Muskel schien noch immer aus purer Glut zu bestehen, und jede Bewegung tat höllisch weh; trotzdem kam Nona auf die Beine und torkelte in Richtung der Zellentür. Einen von Sternlichts Brü-
dern, der es wagte, sich ihr in den Weg zu stellen, fegte sie mit der Schulter beiseite, und in der Bewegung versetzte sie ihm noch einen Tritt, der seine Kleidung zerfetzte und eine blutende Wunde hinterließ. Dann war sie draußen. Woher sie die Geistesgegenwart nahm, den Schließknopf der Tür zu drücken, wußte Nona nicht; sie tat es einfach. Das Schott glitt binnen einer Sekunde zu, und die Wölfin hetzte auf die eiserne Wendeltreppe zu, die nach oben führte. Hinauf in Tonkers Bar. Der Gedanke an die Gäste dort machte Nona rasend, ließ sie im wörtlichen Sinne rot sehen – blutrot! Und der Gedanke gab ihr Kraft. Zapfte verborgene Energiereserven ihres entarteten Leibes an, trieb ihn voran wie eine Maschinerie, die plötzlich von mehreren Motoren bewegt wurde. Der Schmerz in ihren Gliedern sank mit jedem Schritt, den sie der Treppe näherkam. Das Gefühl, ihre Muskeln würden in Flammen stehen, legte sich. Immer geschmeidiger wurden die Bewegungen der Wölfin, und als sie den Fuß auf die erste Treppenstufe setzte, war sie in jeder Hinsicht wieder ganz die Alte … bis etwa zur Hälfte der Treppe. Bis sie auf ein Hindernis stieß, das ihr den weiteren Weg verwehren wollte. Ein Mann stand plötzlich dort. Ohne Nona überholt zu haben oder über die Stufen herabgelaufen zu sein. Er tauchte auf wie aus dem Nichts. Einen Augenblick lang schienen seine Konturen noch verschwommen, dann stand er da, klar und deutlich, aus Fleisch und Blut – und gewandet in einen marmorfarbenen Overall. Einer von Sternlichts Brüdern. Und er hob die Flöte an die Lippen, um ihr einen Ton zu entlocken. Nona erstarrte für den Bruchteil einer Sekunde. Sie wußte, was geschehen würde – was der Ton in ihr auslösen würde! Daß er sie diesmal töten würde! Ihr animalischer Instinkt übernahm die Kontrolle des Wolfskör-
pers, ließ ihn reagieren. Um zu überleben! Nona sprang. Aus dem Stand schnellte sie nach vorne, mit vorgestreckten Pranken, brüllend und geifernd. Sie traf den anderen vor die Brust, genau in dem Augenblick, da seine Lippen das Instrument berührten. Er kippte nach hinten, rang um das Gleichgewicht und war bemüht, vor allem die Flöte am Mund zu halten. Nona fand Halt am Treppengeländer, gönnte sich jedoch keine Pause, sondern stieß sich ab und schlug zu. Ihre Krallen schrammten mit einem häßlichen Ton über das Metall der Flöte, entrissen das Instrument den Händen des Mannes. Es fiel in die Tiefe. Und Nona schlug abermals zu. Diesmal zielte ihre Pranke nach dem Hals des anderen, und es lag ungleich mehr Kraft in dem Hieb. Blut spritzte, Fleisch und Sehnen rissen, Wirbel knirschten. Dann folgte der Kopf des Mannes seiner Flöte … Einen Moment lang war Nona versucht, ihre Zähne in das noch warme Fleisch des Enthaupteten zu graben. Aber sie widerstand. Das Leben war bereits geflohen aus diesem Leib, und somit bot er kein Mahl von jener Art, nach dem es sie verlangte. Oben aber gab es genug davon, war ihr der Tisch reich gedeckt! Nona rannte weiter. Endlich erreichte sie das Ende der Treppe, stürmte durch die nächstliegende Tür – und prallte zurück! Sie fand sich in einem Raum wieder, der als Badezimmer dienen mochte. Eine große Wanne stand in der Mitte, wäre eigentlich der Blickfang des Raumes gewesen – – hätte es die beiden Leichen nicht gegeben. Eine tote Frau, die noch im Wasser lag, und … Tonker. Nona hatte Mühe, den Kneipenbesitzer zu identifizieren. Sein Leichnam war übel zugerichtet, und die Wölfin konnte sich nicht erklären, wie es zu der Entstellung gekommen war. Die Haut des
Nackten sah aus, als sei sie zerschnitten, und doch reichte dieser Begriff nicht aus, um zu beschreiben, was wirklich geschehen sein mußte. Tonkers ohnedies schon verwüsteter Leib wirkte wie aufgeplatzt, wie die Haut einer überreifen Frucht, und schwärendes Fleisch quoll aus den Wunden wie die Füllung aus zerschlissenen Polstern. Obwohl sie selbst Bestie war, fühlte Nona Übelkeit in sich aufsteigen, Ekel. Sie wandte sich hastig ab, einer zweiten Tür zu, und stürmte fluchtartig hindurch. Dahinter lag jener Raum, in dem sie vor einer Weile (vor Ewigkeiten!) mit Leon und Tonker gesessen und geredet hatte. Auch ihn durchquerte die Wölfin eiligst, stieß eine weitere Tür auf, gelangte auf einen schmalen Hur, der links von ihr zur Sackgasse wurde und rechter Hand zur Bar hinausführte. Nona lief nach rechts, langte hinter dem Tresen der Kneipe an – und blieb abermals stehen, wie von unsichtbaren Fäusten gepackt und gestoppt! Was sich ihren Blicken darbot, entsetzte sie. Nicht nur, weil es ein furchtbares Bild war … … sondern weil etwas ihr das ersehnte Festmahl verdorben hatte. Der Tod war schneller gewesen als Nona. Und er hatte überreiche Ernte gehalten.
* Leichen, wohin Nonas Blick auch fiel. Die Besucher von Tonkers Kneipe waren samt und sonders tot. Ihre Körper verheert wie der von Tonker: aufgeplatzt, zerrissen, von klaffenden Sprüngen überzogen wie altes Porzellan. Blut und aufgequollenes Fleisch. Ein Stöhnen … Nona stellte die Ohren auf und bewegte sie. Prüfend, schnüffelnd,
ganz Wolf, sog sie die Luft ein, um Witterung aufzunehmen. Irgendwo war noch Leben … Mit einem Sprung setzte die Wölfin über den Tresen, fegte dabei Gläser und Flaschen herab. Widernatürlich laut klang das Splittern, und ebenso unnatürlich lange schien es zu währen. Nona lauschte angestrengt, hörte aber nichts mehr. Schon glaubte sie, sich das Stöhnen nur eingebildet zu haben – womöglich war es auch nur der allerletzte Laut eines Sterbenden gewesen –, als ein Stück entfernt etwas knirschte. Als würde ein Stuhl zentimeterweise über den Boden gezerrt. Und dann wieder ein Ton aus menschlicher Kehle, gequält, voller Schmerz. Nona schleuderte Tische und Stühle beiseite, als sie sich ungestüm ihren Weg in jene Richtung bahnte, aus der die Geräusche kamen. Drei, vier Schritte entfernt bewegte sich ein Stuhl; wie von selbst schien er stückweise zur Seite zu rutschen. Ein Tisch stand davor, verwehrte Nona den Blick auf den Boden dort. Aufbrüllend schlug sie ihre Krallen in das Holz der Tischplatte, riß das Möbelstück in die Höhe und warf es von sich. Und dann sah sie … Leon. Er schaute zu ihr auf, aus blutenden Augen, sein Gesicht zerklüftet, eine Landschaft aus blutgefüllten Schluchten. Und er grinste wie irr, als er sagte: »Was denn? So sieht der Tod aus? Hatte ich mir ganz anders vorgestellt …«
* Nona hatte die Wölfin bezähmt. Ohne zu wissen, aus welchem Grund … In menschlicher Gestalt, so wie Leon sie kannte und sie ihn kennengelernt hatte, kniete sie neben ihm. Sein Kopf ruhte in ihrem Schoß. Seine Lippen formten ein zitterndes Lächeln. Seine Augen schienen in blutigen Seen zu schwimmen, weit aus ihren Höhlen hervorgetreten und von dunkler Feuchte gesäumt.
»Verdammt, wer bist du wirklich, he?« Seine Frage erstaunte Nona, im ersten Moment jedenfalls. Andererseits … was hatte sie erwartet? Was sollte Leon sonst fragen, im Angesicht des Todes? Er wollte ihr Geheimnis gelüftet wissen, um es mit in den Tod zu nehmen. War das nicht sein gutes Recht oder wenigstens ein respektabler Wunsch, obwohl er sie hintergangen hatte? Nona konnte ihm sein Verhalten nicht länger verübeln. Nicht jetzt, da er sterbend vor ihr lag. Jetzt rührte sein Anblick sie nur noch, er rührte an ihrer menschlichen Seite, und sie empfand etwas wie Mitleid mit Leon. Hatte er, indem er sie an Tonker verschachern wollte, letztlich nicht nur den Gesetzen dieser Welt gehorcht? War ihm dafür eine Schuld anzulasten? Und … war es nicht völlig egal, jetzt, da er starb? »Ich bin nicht von dieser Welt«, sagte Nona. Und erntete nur einen fragenden Blick. Sie lächelte. »Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll …« »Versuch’s einfach, okay?« Nona nickte. »Ich gehöre nicht hierher. Ich stamme aus einer anderen Welt, in der sich die Dinge etwas … anders entwickelten.« »Aber … wie ist das möglich?« Jedes Wort kostete Leon schier übermenschliche Anstrengung, und jede Silbe trieb ihm Blut über seine Lippen. »Chiyoda«, sagte Nona nur. »Chi … wer?« »Mein Mentor. Mein Lehrer. Er war imstande, zwischen den Wirklichkeiten hin und her zu pendeln. Er muß mich hierher gebracht haben, in der Meinung, ich sei hier sicher. Aber …« Nona verstummte. »Aber …?« Nonas Blick ging in imaginäre Fernen; in eine ferne Welt, »… diese Welt ist nicht besser als jene, aus der Chiyoda mich fortgeschickt
hat.« »Wie könnte irgendeine Welt nicht besser sein als diese hier?« fragte Leon rauh. »Meine Welt …«, sie zögerte, weil es ihr schwerfiel, die furchtbare Wahrheit laut auszusprechen, »… existiert vielleicht nicht mehr.« Sie schluckte hart. »Und keiner … der meinen. Ich bin die letzte Überlebende einer besonderen Rasse. Ich war stets heimatlos, wurzellos, aber nun …« Leons stummes Starren ließ sie innehalten. »Er kann dich nicht mehr hören –« Nona hob den Blick ohne sonderliche Hast weg von dem Toten. Sie waren da. Lautlos gekommen, aus dem Nichts … aus dem Klang. »– aber sprich ruhig weiter«, forderte Sternlicht sie auf.
* Sie war umzingelt. Von einer Übermacht, die kein weiteres Mal Pardon mit ihr kennen würde! »Tötet mich!« forderte Nona im Bewußtsein ihrer Niederlage rauh. Das Fell war gewichen, aber noch immer klebte Blut auf ihren Lippen und zwischen ihren Zähnen, und sie wäre in der Lage gewesen, die Metamorphose zur Wolfsfrau augenblicklich erneut zu vollziehen. Sie verzichtete darauf. Wenn sie hier und jetzt tatsächlich sterben mußte, dann wollte sie ihr Leben wenigstens in diesem Körper aushauchen. »Warum sollten wir das tun?« »Warum? Weil –« Kühl maßen die Blicke der Fremden die Fremde in ihrer Mitte. – ihr all die anderen auch nicht geschont habt, ihr Teufel! Nona fröstelte. Ein naßkalter Ring aus Eisen schien sich um ihr
Herz zu spannen, weil ihr einfiel, wie oft sie selbst die Gesetze der Menschlichkeit verletzt hatte. Die Moral eines frommen Kirchgängers war ihre Sache nie gewesen. Und in all den Jahrhunderten, in denen sie die Entwicklung der Menschen verfolgt hatte, in deren Mitte sie einst geboren worden war, hatte sie an vermeintlichen Rechtfertigungen für die Grausamkeiten, die sie begangen hatte, gestrickt. Aber sie hatte nie Gründe gefunden, die einer objektiven Betrachtung standgehalten hätten. Es waren immer nur Ausreden gewesen. Der Gedanke, daß die Fremden ihr auch in dieser Hinsicht überlegen sein könnten, lähmte sie mehr als die stumm drohenden Flöten in ihren Händen. Sie wurde vom Gefühl eigener Nichtigkeit schier überwältigt. »Ich habe einen von euch … getötet.« »Du hast ihn«, sagte der Anführer, dessen Name Nona nicht kannte, »vorausgeschickt. Dorthin, wohin auch wir zurückkehren werden. Mit dir.« Das Kältegefühl dehnte sich in Nona aus. »Mit – mir?« »Du bist ihm noch eine Hilfestellung schuldig.« Der Anführer stand wie ein unerschütterlicher Pol im Ring der übrigen Gespenster und wies mit seiner Flöte auf Sternlicht. »Hilfestellung? Und warum ausgerechnet ihm?« »Weil er den Auftrag hatte. Und noch immer hat.« »Ich verstehe nicht …« »Ich jage das Phantom namens Chiyoda, und du kennst es«, schaltete sich Sternlicht selbst ein. »Du kennst nicht nur seinen Namen, sondern bist sogar eng mit ihm verbunden. Das hast du bereits preisgegeben. Und mit deiner weiteren Hilfe werde ich den Frevler aufspüren, um ihn davon abzuhalten, das Gleichgewicht des Kosmos länger zu gefährden.« »Phantom … Frevler … Warum redest du so abfällig über Chiyoda? Er hat nichts Bö-«
Noch mitten in Nonas Rede hoben die Gestalten ihre Instrumente an die Lippen. Auch Sternlicht. Und dann wurde Nona von der aufklingenden Melodie erfaßt, wurde davon aufgesogen … … und an einem fernen Ort wieder ausgespien. Ferner, als sie es selbst in ihren kühnsten Träumen hätte erahnen können!
* »Wo – bin ich?« Sie erinnerte sich, diese Frage vor nicht allzu langer Zeit schon einmal gestellt zu haben. Erst sich selbst und dann Leon. Aber die Umgebung, in der sie sich nun mit Sternlicht wiederfand, war viel fremder, surrealer, abstrakter als der Ort ihres Erwachens auf einer atomar verheerten Erde. Sie hatte nicht einmal sichtbaren Boden unter den Füßen und trotzdem das Gefühl zu stehen. Rings um sie pulsierten Farben, nichts als … Farben. »Du bist im Zentrum«, sagte Sternlicht. »Von hier aus werden wir aufbrechen. Denn von hier aus steht uns der direkte Schritt nach überallhin offen.« »Nach überallhin?« »Willst du nicht heim?« Die Frage kam so überraschend, daß Nona zunächst nicht imstande war, zu antworten. Schließlich überwand sie ihre Verblüffung. »Du willst mich heimbringen? Wie käme ich zu dieser Gunst?« Noch während sie die Frage stellte, fand sie selbst die Antwort. Und Sternlicht, der kein Hehl aus seinen Motiven machte, bestätigte ihren Verdacht. »Du bist mein Lotse. Ich öffne Wege nach überallhin. Dann stimme ich den Klang auf dich ab, und gemeinsam werden wir uns ans Ziel
treiben lassen.« Nona stellte seine Aussage keine Sekunde in Zweifel. »Wer bist du? Du und die anderen? Wenn ihr so mächtig wärt, wie es scheint, könntet ihr jede Welt beherrschen …« »Zum Herrschen sind wir nicht bestimmt.« »Wozu denn?« »Zum Wachen. Und … Regulieren.« »Was versteht ihr darunter?« »Du bist diesem Chiyoda sehr verbunden. Dann weißt du auch, was er tut.« »Er tut …« Sie verstummte kurz, weil sie heftig schlucken mußte in der Erinnerung dessen, was sie von Gabriel erfahren hatte. Satan hatte behauptet, daß der Werwolf nun auch über den weisen, alten Chinesen gesiegt habe. »Er tat keiner Fliege etwas zuleide!« Sternlicht erwiderte ungerührt: »Er tat Schlimmeres. Dafür muß er bestraft werden.« Er schwieg kurz und fügte dann hinzu: »Selbst wenn er sich selbst der Folgen seiner Taten nicht bewußt ist, wird er sich dafür verantworten müssen. So schreibt es das Gesetz vor.« »Was für ein Gesetz?« »Ich darf dir darüber keine Auskunft geben.« »Seid ihr eine Organisation? Wer hat euch beauftragt? Ihr führt euch auf wie Gott persönlich …!« »Gott?« Sternlicht legte den Kopf schief, als wäre dies ein bedenkenswerter Aspekt. »Es gibt keinen Gott. Wir sind nie einem begegnet. Auf all unseren Missionen nicht.« »Was euch fast wieder sympathisch macht. Beweist es doch, daß ihr weder allwissend, noch allmächtig seid. Bliebe die Frage, woher ihr das Recht nehmt, Jagd auf irgend jemanden zu machen!« »Wir spüren nur Phantome auf. Grenzverletzer.« »Grenzverletzer?« Nona schüttelte verständnislos den Kopf und hatte das diffuse Gefühl, erneut eine Lanze für Chiyoda brechen zu müssen, dessen Schicksal im dunkeln lag. Wie das der ganzen Welt,
der sie entstammte. »Er überschreitet Grenzen, die ihm nicht gestattet sind. Und dabei verletzt er diese Grenzen. Er fügt ihnen Schaden zu.« Es schien nicht oft vorzukommen, daß Sternlicht über die Hintergründe seiner Bestimmung sprach. Falls es überhaupt schon einmal vorgekommen war. »Und ihr? Ihr überschreitet diese Grenzen andauernd, wenn ich es richtig verstanden habe! Verletzt ihr sie nicht?« »Nein.« »Nein?« »Wir stehen im Einklang mit dem Kosmos. Mit seiner Melodie.« Dieses Gespräch, dachte Nona kopfschüttelnd, könnte ebensogut in einer Klapsmühle stattfinden. Plötzlich hielt sie es für denkbar, immer noch in Gabriels Bann zu stehen. Vielleicht lag sie irgendwo am Rande Uruks im heißen Wüstensand und träumte diese Begegnung – alles, was damit zusammenhing – nur! Sie wußte nicht, ob sie es sich wünschen sollte. »Und Chiyoda?« »Er geht verbotene Wege. Brennt Risse in die Wirklichkeit. Risse, die, würden sie überhand nehmen, die Grenzen ausradieren könnten. Hast du eine Vorstellung, was dann geschähe?« »Nein.« »Das Element der Ordnung wurde vom Element des Chaos erstickt werden. Es gäbe keine Ordnung mehr. Und in diesem Ungleichgewicht würden sämtliche Welten, sämtliche Wirklichkeiten und Universen miteinander verschmelzen. Alles Leben würde – enden.« Nona bildete sich nicht ein, tatsächlich zu verstehen, was Sternlicht ihr zu erklären versuchte. Aber sie spürte, daß er ihr nichts vormachte. Er war ein Wächter. Von wem auch immer beauftragt. »Gibt es viele wie Chiyoda?« »So viele, wie das Multiversum Sterne besitzt.«
»Aber dann wäre eure Aufgabe unerfüllbar. Ihr wärt ewig damit beschäftigt!« Sternlicht nickte. »Das sind wir.« Sie sehnte sich nach einer Umgebung, in der ihre Blicke Ruhe finden konnten. Hier war alles in Bewegung, alles im Wandel … »Das hier ist nicht euer Zuhause, oder?« »Doch. Wir sind das Zentrum. Aber das würdest du nicht verstehen. Wir sind nicht aus Fleisch und Blut wie du.« »Woraus dann?« Er ging nicht darauf ein. »Wieso hat mich Chiyoda in eine verseuchte Welt geschickt? Ist das nicht absurd? Vom Regen in die Traufe …« »Es war nicht deine Wirklichkeit. Du hattest nichts zu befürchten. Es konnte dir nichts anhaben. Offenbar weiß er das.« »Er weiß viel.« »Zuviel.« An der Knappheit seiner Erwiderungen erkannte Nona, daß Sternlichts Geduld sich dem Ende zuneigte. »Wirst du ihn töten, wenn du ihn findest?« Es war eine rhetorische Frage. Sie hatte gesehen, was mit Leon, mit Tonker und etlichen anderen geschehen war. Sternlicht antwortete auch darauf nicht. »Gehen wir.« Er hob die Flöte. Oder was immer es war. Als träumte ich in einem Traum, dachte Nona, als das Unbeschreibliche über sie kam und sie erneut in einen Wirbel aus Licht und Farben stürzte. Noch während des flüchtigen Moments ihrer »Reise« begann sie sich zu hassen. Für ihren Verrat. Und hoffte beinahe, die Welt, der sie entgegenfielen, wäre Gott zum Grab geworden und würde nun für alle Zeit unter der Knute des Bösen stöhnen.
Und den anmaßenden »Wächter« verschlingen …
* Mandschurei, China Der volle Mond hing am nächtlichen, sternfunkelnden Firmament. Milder Wind streichelte das Tal. Früher, dachte Nona, war dies meine Nacht. Seit Gabriel die Fähigkeit in ihr geweckt hatte, jederzeit zur Werwölfin zu werden, war diese einst besondere Mondphase zur Beliebigkeit verkommen, Nona spähte von der kleinen Anhöhe hinab auf das weitläufige, schattenhaft aufragende Gebäude, dessen Herzstück das Sanktuarium bildete, Chiyodas sagenumwobenes Refugium, zu dem Werwölfe aus aller Herren Länder Wallfahrten unternommen hatten. Um das Gift des Mondes in ihren Adern zu besiegen, wie ihr Vorbild es geschafft hatte – der Mann, der schon zu Lebzeiten zur Legende geworden war. Früher, dachte Nona, zwischen Verzweiflung und Hoffnung schwankend. All das war früher. Und heute? Ihrem alten Mentor mußte etwas zugestoßen sein. Sonst hätte er sie niemals in der strahlenverseuchten Wüstenei sich selbst überlassen! Und wenn Nona an ihren gespenstischen Begleiter dachte, hoffte sie beinahe, daß Chiyoda sich jedweder Bestrafung entzogen hatte. Vor Minuten war Sternlicht den Abhang hinabgestiegen und zwischen den klosterartigen Bauten verschwunden. Er braucht nicht zu fürchten, daß ich mich aus dem Staub mache. Wohin sollte ich auch gehen? Zunächst hatte sie Sternlicht nicht allein vorausgehen lassen wollen. Aber nie war ihr dieser Ort so abweisend erschienen wie in dieser Nacht! Er ist nicht da.
Er ist nicht mehr am Leben. Sternlicht jagt nur noch einem wahrhaftigen Phantom hinterher. Aber dafür gab es – noch – keinen Beweis. Als der Fremde auch nach einer halben Stunde nicht zurückgekehrt war, entschloß sich Nona, ihm zu folgen. Alles in ihr sträubte sich, den finsteren Ort aufzusuchen, mit dem sie so sehr viel bessere Zeiten verband, aber letztlich hielt sie es auch nicht mehr allein auf der Höhe aus. Langsam ging sie auf das Sanktuarium zu. Sie hatte es fast erreicht, als ein Schrei aus einem der Nebengebäude ertönte. Ein unmißverständlicher Schrei: der eines Geschöpfes in höchster Not! Nona hatte nicht geahnt, daß Sternlicht zu soviel Schmerz fähig war, wie dieser qualvolle, abrupt endende Laut ihn ausdrückte. Aber es gab keinen Zweifel, daß der geheimnisvolle Flötenspieler ihn ausgestoßen hatte! So rasch ihre Füße sie trugen, hetzte Nona in die Richtung, aus der Sternlichts Schrei erschollen war. Nichts anderes als seine Stimme. Keine noch so erbärmliche Melodie … Der Rundbau war finster. Seine Tür hatte weit offen gestanden. Offenbar hatte Sternlicht das Innere durchkämmen wollen. Nona trat in das finstere Geviert und stellte ihr Augenlicht auf die herrschenden Verhältnisse um. Es gab nur einen einzigen großen Raum mit schlichtem Mobiliar. Er war leer. Hier bin ich falsch, dachte sie und wollte sich abwenden, um weiter in der eingeschlagenen Richtung zu suchen. In diesem Moment trafen ihre goldenen Wolfsaugen auf etwas, das ihr auch nicht mit normalem Blick entgangen wäre, denn es lag da inmitten der Schwärze wie ein Juwel auf samtenem Polster. Die Spannung bohrte sich wie ein Pfeil in Nonas Brust. Sternlicht war nicht da, aber sein … Schlüssel? Das Instrument, das auch seine
mächtigste Waffe war und das er niemals freiwillig aus der Hand gegeben hätte? Einen Moment überlegte sie, ob er sie mit diesem Köder testen wollte. Aber sie verwarf die Idee als absurd. Alarmiert wechselte sie mit ihrem kompletten Körper in die Gestalt der Ersten Kriegerin Armageddons, zu der Satan sie ernannt hatte. Sofort witterte sie Blut. Es hatte eine eigenartige Note, aber es war frischvergossen, daran gab es für die erfahrene Wolfsfrau keinen Zweifel. Die Flöte! gemahnte sie sich, als sie sich umwenden und aus dem Raum eilen wollte. Bevor sie das metallene Instrument erreichte, ließ etwas anderes sie erneut innehalten und ihr Herz höherschlagen. Mit einem Sprung landete sie vor dem Kamin und streckte die Pranke in die Asche darin. Sie war noch warm! Sollte es möglich sein …? Sie zögerte, die Hoffnung auszudenken. Sollte Sternlicht am Ende die Rechnung ohne den Wirt gemacht haben …? Nun nicht mehr zu bremsen, warf sie sich herum und setzte sich auf die Blutspur, die aus dem Bau hinausführte. Tiefer in die Nacht, abseits der Unterkünfte. Kurz darauf fand sie Sternlicht. Oder das, was von ihm noch gefunden werden konnte.
* Das Wesen, das sich als »Wächter des kosmischen Gleichgewichts« bezeichnet hatte, einer von unzähligen Wächtern, sah erbärmlich aus in seinem Tod. Nicht besser, nicht würdevoller als jeder beliebige Kadaver, der von einem wilden Tier ins Gestrüpp gezerrt wurde,
um dort in Ruhe verspeist werden zu können. Die Montur, die Sternlicht getragen hatte, hing nur noch in Fetzen an seinem blutüberströmten Torso. Der Kopf lag ein Stück weit abseits, Nonas Blick fand ihn erst nach einigem Suchen. Ein Gesicht war nicht mehr erkennbar, nur noch krallenzerfurchtes, roh blutendes Fleisch … Sternlicht. So klang der Name in ihrem Kopf. In ihren Gedanken. Aus ihrem zähnefletschenden Rachen hörte er sich sehr viel verächtlicher und mitleidloser an. Sie bückte sich nicht über ihn, weil es keinen Zweifel an seinem Tod gab. Sie nahm ihre Metamorphose zurück, weil sie überzeugt war, den, der Sternlicht auf dem Gewissen hatte, nicht fürchten zu müssen. Langsam drehte sie sich um ihre eigene Achse und rief dabei seinen Namen. Erst leise, als fürchtete sie, ihn durch übertriebene Lautstärke vertreiben zu können, dann immer beherzter, immer ungeduldiger: »Chiyoda … Chiyoda …!« Antwort erhielt sie nicht, obwohl sie das Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Nicht nur aus einer Richtung … Da schoß ein Schemen aus der Nacht auf sie zu, doch noch vor dem Zusammenprall verwandelte sich die gertenschlanke Frau in eine ebenbürtige Gegnerin. Bei dem Kampf, der sofort entbrannte, verlor sie Sternlichts Schlüssel. Aber das war ohne Bedeutung. Er hätte ihr ohnehin nicht geholfen. Nicht gegen diesen Gegner, der – – ein Werwolf war wie sie selbst! Diese und die Erkenntnis, daß es sich niemals um Chiyoda handeln konnte, schien ihr vorübergehend den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Brutaler hätte der Beweis, daß Sternlicht sie in die Irre geführt hatte, nicht auf sie einhageln können. Dies ist nicht meine Realität. Denn dort gibt es keine Werwölfe mehr!
Die Konsequenz dieser Erkenntnis war noch niederschmetternder: Sternlicht ist tot. Nun werde ich für alle Zeit in dieser fremden Wirklichkeit gefangen sein … Weitere Überlegungen ließ ihr ungestümer Gegner nicht zu. Wütend hatte er sich in ihr Halsfell verbissen und pflügte gerade mit seinen Pranken über ihre Rippen. Nona hatte keine Wahl. Sie mußte reagieren, obwohl sie noch nie einen der ihren getötet hatte. Aber in diesem Stadium der blinden Rage konnte sie sich nur noch selbst retten, wenn sie diese Vorbehalte überwand. Sie krallte sich in die empfindlichste Stelle des männlichen Werwolfs. Als sie schon meinte, sein Skrotum zwischen ihrer Faust zerquetscht zu haben, löste sich sein Gebiß mit einem jammernden Ton aus ihrem Hals. Nonas Pranken schossen nach oben und bekamen die Ohren des Ungetüms zu fassen, das sie aus haßerfüllt glosenden Augen anstarrte. Die beabsichtige Bewegung, um das Genick zu brechen, war in ihrer Vorstellung schon vollzogen, als eine verzweifelte, in unmittelbarer Nähe erklingende Stimme sie doch noch davon abhielt. »Nein! Tu es nicht! Du bist doch … wie wir!« Ernüchtert und beschämt in einem ließ sie ihr sicheres Opfer los und trat einen Schritt zurück. Aus dem nahen Dickicht löste sich ein Mädchen von vielleicht dreizehn, vierzehn Jahren. Es war in Lumpen gekleidet und schien verletzt, denn es schleppte sich mit letzter Kraft auf sie zu. Und noch während Nona der Halbwüchsigen entgegenblickte, veränderte sich der Werwolf zu ihren Füßen ebenfalls in einen Jungen fast gleichen Alters, der atemlos und röchelnd, als fülle Blut seine Kehle, hervorstieß: »Wer bist du? Und wo sind all die anderen, die wir hier finden sollten …?«
Epilog Das Tal war voller Blumen, die ihre Blüten der warmen Augustsonne entgegenreckten. Blumen! In Luzifers Welt gäbe es bestimmt keine Blumen, dachte Nona. Sie hockte am Fuß des Hangs, auf dem sie vergangene Nacht mit Sternlicht angekommen war. Sternlicht, der inzwischen unter Sand und Steinen einer Wirklichkeit begraben lag, in die er nicht gehörte. Die Kinder und Nona hatten ihn gemeinsam unter die Erde gebracht. Die Kinder … Nona lächelte gelöst, nicht nur weil sie herausgefunden hatte, daß sie doch in ihrer Wirklichkeit gelandet war, sondern auch, weil diese Wirklichkeit so gar nicht dem düsteren Bild entsprach, das sie sich davon ausgemalt hatte. Die Zeit in der anderen Wirklichkeit schien einem anderen Tempo unterworfen gewesen zu sein als hier. Denn inzwischen schrieb man, wie sie erfahren hatte, das Jahr 1999. Was war aus Gabriel und seinen Plänen geworden? Und was aus … Lilith? Der Name schmerzte. Aber ein Blick zu dem Jungen hin, der gerade Wasser für seine Schwester aus dem nahen Brunnen holte, genügte, um den Anflug von Rachsucht zu vertreiben. Charlys Schwester war von Sternlicht attackiert und verwundet worden. Dann hatten sie Sternlicht getötet und weggeschleift. Weil sie gesehen hatten, daß Nona mit dem seltsamen Fremden gekommen war, hatten sie zunächst auch sie als Feindin betrachtet. Inzwischen waren die Mißverständnisse ausgeräumt. Und Nona wußte, daß es eine Zukunft gab. Für ihre Art. Warum war sie nicht selbst darauf gekommen? Versonnen spielte sie mit der Flöte, die sie, wann immer sie sie in
die Hand nehmen würde, an Sternlicht erinnern würde. Und daran, daß es seinesgleichen im Kosmos gab. Warum war sie nicht darauf gekommen, daß der Teufel lediglich die Werwölfe, die den Fluch bereits lebten, in seine Armee rekrutiert und in die Schlacht geschickt hatte, die keiner von ihnen überlebte? Darüber hinaus gab es aber noch zahllose Menschen, die noch nichts von ihrer Verdammnis wußten. Und die ihr erst nach Eintritt der Geschlechtsreife erlagen. Wie Charly und Ann, die beiden Geschwister, die mit ihrem Vater in die Mandschurei unterwegs gewesen waren, als ihn der RUF Gabriels von ihnen trennte. Seither waren sie hier. Allein. Bis letzte Nacht. Nona liebte sie schon jetzt, als wären es ihre eigenen Kinder. Meine eigene Brut. Der Grundstein eines Rudels. Mit diesem Gedanken erhob sie sich und lief auf die Gebäude zu, um nach Ann zu sehen … ENDE
Unter dem Eis Leserstory von Valentin Olbrich »Devin, hilf mir!« Wieder sehe ich Yvelles angstverzerrtes Gesicht vor mir. Wieder höre ich das Kratzen ihrer Fingernägel, die sich in das splitternde Eis graben. Mein Blick ist starr vor Entsetzen, als Yvelle ruckartig im schwarzkalten Wasser versinkt. »Devin …« Ihr Schrei verebbt. Für Sekundenbruchteile schweben ihre feuerroten Haare auf dem Wassers, dann hat der See sie verschlungen. »Yvelle!« Jetzt erst reagiere ich. Werfe mich in gefährlicher Verzweiflung nach vorne. Meine zitternden Hände schießen in die eisige Tiefe. Nur am Rande spüre ich die klamme Kälte, die meine suchenden Finger ertauben läßt. Für Sekundenbruchteile glaube ich noch, Yvelles Kopf zu ertasten, aber dann verblaßt auch diese Empfindung. In panischem Begreifen werfe ich mich weiter nach vorne. »Yvelle …« Nur das Eis antwortet mir. Wie Donner kracht es in meinen Ohren. Für Sekunden verspüre ich das entsetzliche Gefühl, das auch Yvelle empfunden haben muß. Das Eis gibt unter mir nach, und, bei Gott, ich will es, ich will in das undurchdringliche Wasser tauchen und Yvelle retten … Noch bevor mich die Scholle vollends hinunterreißen kann, packt mich jemand am Knöchel und an der Schulter und zieht mich energisch zurück. Das Eis zerbirst. Stille senkt sich über den See. Schwerfällig wälze ich mich herum und blicke in Victors gerötetes Gesicht. Fassungslos sieht er mich an – nein, nicht mich! Sein Blick zielt einige Meter neben mich. Ich fahre herum – und dann sehe auch ich es.
Yvelle preßt sich von unten gegen das Eis. Sie ist tot! durchschießt es mich sofort, aber dann sehe ich die Luftblasen, die aus Yvelles weit aufgerissenem Mund sprudeln. Es sind so viele … »Nein!« Sofort robbe ich auf die Stelle zu und hämmere unablässig gegen das harte Eis. Yvelles Gesicht preßt sich wie in einem grausamen Zerrspiegel dagegen, ich sehe die Todesangst in ihren schockgrünen Augen, sehe, wie ihre kleinen Fäuste verzweifelt an der Decke klopfen, sehe, wie das Wasser ihren blauen Schal aufbläht, kann fast hören, wie ihre Lippen meinen Namen formen … »Devin …!«
* Erschreckt fahre ich aus dem Labyrinth meiner Erinnerungen auf. Yvelles Schrei hallt als Echo in mir nach. Aus tränenverschleierten Augen blicke ich hinaus auf den menschenleeren Pearl Lake, der in der lautlosen Dezemberdämmerung vor mir liegt. Das Zwielicht kleidet die Eisfläche in bleigraue Schatten. Der See ist eine endlose Ebene, die mit den diffusen Konturen der umstehenden Bäume verschmilzt. Weit hinten, am anderen Ufer, versuchen die schwachen Lichter des Lokals Harold’s Point ängstlich die Dunkelheit zu durchdringen, die wie von einem unsichtbaren Spinnrad dichter und dichter gewebt wird. Ich lege den Kopf in den Nacken und starre in den grau bewölkten Himmel. Schneidend weht der Winterwind in meine Augen und verstärkt die Tränen noch. Dieser Tag ist genauso wie jener Tag vor fast einer Woche, als … »Wohin gehst du, Devin?« hallt Moms Stimme hinter mir. »Nur kurz hinunter zum Pearl Lake«, erwidere ich künstlich lächelnd. Zuerst erkenne ich deutlichen Schrecken in ihren rotgeweinten Augen, dann aber wird ihr bewußt, daß ich keine Schlittschuhe dabei habe.
»Geh bitte nicht aufs Eis«, flüstert sie und versucht ein Lächeln, das jedoch in einem erstickten Schluchzen mündet. »Nein, Mom.«
* Nun sitze ich hier auf der Bank, umgeben von den frosterstarrten Gerippen der kahlen Bäume, und bin völlig in meiner Gedankenwelt versunken. Szenen aus meiner Kindheit strömen mit vertrauter Wärme in mir hoch und lassen ein sehnsüchtiges Lächeln auf meinen rissigen Lippen erscheinen. Ich sehe … … Yvelle und mich, wie wir an düsteren Herbstabenden oben auf dem Dachboden herumschleichen und uns gegenseitig zu Tode erschrecken, um danach in erleichtertes Gelächter auszubrechen. … wie wir in kindlichem Eifer durch den Garten tollen und auf der Suche nach versteckten Ostereiern Moms wohlgepflegte Orchideen niedertrampeln. Doch all dies ist unwiederbringliche Vergangenheit. Yvelle ist fort. Ich bin allein. Kein Lachen, keine gemeinsamen Streiche mehr. Es ist vorbei. Und ich trage die Schuld. Nur ich. Und es gibt lediglich einen Weg, mich mit Yvelle wieder zu vereinen, denn Yvelle ist noch hier. »Devin!« Ich blinzele mit Augen, die durch schlaflose Nächte in dunkle Ringe eingebettet sind. Ihre Stimme … sie verfolgt mich seit ihrem Tod. Personen, die behaupten, daß ein starkes geistiges Band zwischen Zwillingsgeschwistern besteht, haben recht. Das weiß ich nun. Yvelle … Siebzehn Jahre war sie jung. Siebzehn verflucht kurze Jahre. Nun ist alles vorbei, und dennoch geht alles seinen gewohn-
ten Weg. Nur ich nicht … Ein Ruck geht durch meinen vom Sitzen erkalteten Körper. Ich habe Mom belogen. Meine Schlittschuhe standen bereits draußen unter der Treppe. Ich werde jetzt aufs Eis gehen. Ich muß noch einmal dorthin zurückkehren, wo Yvelle durch meine Schuld verunglückt ist. »Schuld?« bricht Morris Stimme, nahe der Hysterie, in mein Bewußtsein. Sie preßt mich fest an sich, und ihre Worte sind nur ein tränendurchsetztes Wispern. »Sag so etwas nie wieder, Junge, hörst du? Nie wieder! Was konntest du dafür? Das Eis, es war so dünn, zu dünn … Es war einfach zu gefährlich, jetzt schon auf den See zu gehen! Sag so etwas nie wieder!« Energisch vertreibe ich Moms Stimme. Sie kann nicht ahnen, was in mir vorgeht. Welche Schuldgefühle mein Gewissen aushöhlen seit Yvelles Tod. Sekundenlang starrte ich auf das Eis, bis es spät und Yvelle vom Wasser verschlungen war. Sekunden, die über Leben und Tod entscheiden, denke ich erschüttert. Mein Blick geht für lange Augenblicke ins Leere. Dann schnalle ich mit gewohnter Routine meine Schuhe an. Entschlossen gleite ich über den Pearl Lake. Die Dunkelheit breitet sich wie ein formloser Krake über dem See aus und umfängt mich mit unzähligen Tentakeln. Doch ich lasse mich nicht aufhalten. Zielstrebig steuere ich die Mitte des Sees an. Das Eis ist längst wieder zugefroren. Der Gedanke daran, daß Yvelles Leiche (sie ist nicht tot!) nicht geborgen werden konnte, überzieht meinen dick vermummten Körper mit einer Schicht aus Rauhreif. Ich sah ihren Todeskampf unter dem Eis und konnte ihr nicht helfen … bis sie schließlich mit ersterbenden Bewegungen in die Tiefe gezogen wurde. Ich stelle mir vor, wie ihr Körper irgendwo unter mir am pechschwarzen Grund des Sees liegt, verborgen in einem Sarg aus Wasser und Kälte.
Und ich stelle mir vor, wie sich ihr Körper zaghaft bewegt … … wie sich ihre aufgedunsenen Lider zurückziehen … … wie ihre Augen die kaltnasse Finsternis durchdringen … Scharf bremse ich und jage die Kufen tief in die Eisdecke hinein, so daß feine Kristalle aufspritzen. Mit versteinertem Gesicht gehe ich in die Hocke und nähere mich der schwarzen Fläche. Vor meinem geistigen Auge vermag ich zu sehen, wie Yvelle nixengleich durch das Wasser der Oberfläche entgegenstrebt. Denn Yvelle ist nicht tot! Ihr scheinbares Sterben war nur der Übergang in einen anderen, wunderbaren Zustand, und unsere gegenseitige Liebe schlägt eine Brücke über den Abgrund des Todes hinweg. Diese Brücke werde ich nun beschreiten, damit Yvelle und ich wieder zusammen sind. Es gibt keinen anderen Weg! Ein erwartungsvolles Lächeln kerbt meine Lippen. Aus den Wassern des Sees löst sich ein heller Punkt, der schnell an Größe und Intensität gewinnt und erstaunlich behende emportreibt. »Yvelle!« Mein Freudenschrei übertönt das leise Knistern des Eises um mich herum. »Yvelle!« Ich kann sie bereits deutlich erkennen. Ihr blauer Schal hat sich mit schwarzem Schlick vollgesogen, aber ihr Gesicht leuchtet mir klar und freundlich entgegen. Sie ist so nah, so nah … Nur noch das Eis trennt mich von ihr, dessen Knacken anschwillt. Dieses Geräusch klingt, als riefe Yvelle meinen Namen, damit wir endlich vereint sind. Tränen laufen über meine erhitzten Wangen. Wie damals. Aber diesmal sind es Tränen des Glücks und der Erlösung. Yvelle ist jetzt genau unter mir. Wie damals, als sie in irrer Panik versuchte, das Eis zu durchbrechen, als die Luft ihren Lungen entfloh. Ihr Lächeln entblößt schlammbeschmierte Zähne. Aber ihre Augen …
sie haben sich nicht verändert. Das moosgrüne Flimmern darin zeigt endlose Freude. Ihre aufgequollenen Lippen öffnen und schließen sich. Wie damals. Nur daß diesmal keine Luftblasen hervordringen. »Devin!« Ich höre sie, vernehme ihre fröhliche Stimme durch das Eis, dessen Risse sich nun wie Blitze ausbreiten und auf mich zuschnellen. »Yvelle, ich komme …« Berstend zerkracht das Eis unter mir. Ich sacke mit strahlendem Lächeln in das atembetäubende Wasser, dessen Kälte angesichts Yvelles einladend ausgebreiteter Arme sofort seine Schockwirkung verliert. Bevor die nasse Finsternis über mir zusammenschlägt und meine Kleidung durchdringt, blicke ich ein letztes Mal mit vor Sehnsucht brennenden Augen über den See. Dann wird auch diese tagelang gehegte Sehnsucht gestillt … … als ich unter Wasser in Yvelles leuchtende Augen blicke und meine Hände in die ihren lege. Ich lasse mich von ihr zum Grund hinabziehen, der uns stumm und lichtlos erwartet. Und der einzige Gedanke, als ich meinen Mund öffne und das Wasser wie frostiges Feuer in meine Lungen schießt, ist: Wir sind wieder zusammen. Endlich. Für immer. ENDE ©Valentin Olbrich, Winzerstr. 31, 13593 Berlin
Die Hauptpersonen des Romans Beaderstadt, Max – Ein Multimillionär, der der Arm der »Sekte der letzten Apostel« in Australien führte. Ein Exzentriker, Herr über ein weltweit verzweigtes Firmennetz und Sammler von Kunstschätzen. Im Outback ließ er eine riesige Industrieanlage erbauen; welchen Zwecken sie dient, ist noch nicht geklärt. Ein Dämon erfüllte Beaderstadt – der Geist des Vampirs Ilja. Beaderstadt kam ums Leben, als Ilja seinen Körper verlassen und in die Vampirin Irina einfahren wollte … was nicht gelang. Chiyoda – Ein uralter, weiser Werwolf und Nonas Mentor. Als erster fand er die geistige Kraft, den Fluch zu überwinden, bei Vollmond zum Tier zu werden. Und nicht nur dies: Dank seiner mentalen Fähigkeiten konnte er sich in parallelen Zukünften bewegen und auch andere dorthin mitnehmen. Das rettete ihn nicht davor, bei der letzten Schlacht zwischen Gut und Böse den Tod durch die Hand des Teufels zu finden … Ilja – Vampirischer Sippenführer, dessen Geist zur Zeit des letzten russischen Zaren von Landru in ein hühnereigroßes Kleinod eingepfercht wurde, das einmal sein eigener Kopf war. Als Max Beaderstadt den Kopf erwarb und untersuchte, konnte Ilja in ihn einfahren und ihn beeinflussen. Sein Ziel war es, in die letzte Vampirin Irina überzuwechseln, doch durch Liliths Mitwirken mißlang dies, und Ilja mußte sich eine andere »Bleibe« suchen. Wo er diese fand, ist noch ungewiß. Maguire, Ryder – Ein geheimnisvoller Unbekannter, in den Seven van Kees sich Hals über Kopf verliebte, als sei ihr logisches Denken ausgeschaltet. Und das war es in der Tat – durch Magie. Denn alle außer Seven sahen Maguire, wie er wirklich war: ein Zombie, ein dem Grab entstiegener Toter, der nur für ein Ziel existierte: eine Menschenfrau zu schwängern. Er starb endgültig, nachdem er dies
erreicht hatte. Und er ist nicht der einzige Untote dieser Art … Nona – Eine junge Werwölfin; Landrus Geliebte und Lilith Edens Todfeindin. Zum Armageddon, der letzten Schlacht, hatte sie die Aufgabe, sämtliche Werwölfe gegen Gott zu führen und ihn zu schwächen. Dabei kamen alle ums Leben.
Die Zeit des Sammlers von Adrian Doyle Einst war er ein Mächtiger, ein König unter dunklen Fürsten, gleichermaßen geachtet wie gefürchtet. Doch seine Zeit verging; er verlor seine Macht, seine Hoffnung, und schließlich sein Leben. Einsam und in absoluter Finsternis schloß er für immer die Augen … Für immer? Nein, denn das Schicksal hielt neuen Schrecken bereit: für ihn und für alle, denen er begegnen sollte. Man störte seinen ewigen Frieden und zerrte ihn ans Licht einer neuen Existenz, die er verachtete wie sich selbst. Eine neue Zeit sollte anbrechen:
Die Zeit des Sammlers