Scan by Schlaflos
Buch Vor vielen hundert Jahren hat der Alte Niemand den Schwarzen Prinzen vertrieben und das Reich A...
74 downloads
694 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Scan by Schlaflos
Buch Vor vielen hundert Jahren hat der Alte Niemand den Schwarzen Prinzen vertrieben und das Reich Araukarien gegründet. Jetzt erreichen den uralten Mann schlimme Nachrichten: Sein Erzfeind ist wieder da und schickt sich an, das friedliche Land mit seinem Nebelheer zu verwüsten. Der Alte Niemand und sein junger Begleiter Bolgan machen sich auf, erst die Hochhügellander, dann die Bewohner der Hauptstadt Araukaria vor der tödlichen Gefahr zu warnen, doch der Schwarze Prinz ist mächtiger als bei seiner letzten Attacke, schneller und taktisch geschickter. Und der Alte Niemand spürt die Last seiner Jahre. Also schwört er Bolgan und zwei junge Araukarier- den hitzigen Hatib und seinen träumerischen Bruder Fernd - darauf ein, den Kampf gegen den Schwarzen Prinzen fortzuführen. Dabei können die drei auf Nachforschungen des Alten Niemand zurückgreifen, die er in einem Buch zusammengetragen hat. Bolgan, Hatib und Fernd stehen große Abenteuer bevor, die sie bis an die Grenzen der Welt führen ... Autor Ralf Lehmann, Jahrgang 1973, ist auf der Schwäbischen Alb aufgewachsen. Geprägt vom rauen Mittelgebirge, beschäftigte er sich schon als Kind mit den Sagen seines Heimatraums. Später schärften ausgedehnte Reisen in die schottischen Highlands, aber auch in die Wüsten Innerasiens seinen Blick für Landschaften und Menschen. Nach dem Studium der Geografie, Romanistik und Germanistik in Tübingen kehrte er in seine Heimatstadt Heidenheim zurück, wo er seitdem als Lehrer arbeitet. Bereits erschienen: DAS BUCH DES SCHWARZEN PRINZEN: 1. Die Legende von Araukarien (24285) In Kürze erscheint: DAS BUCH DES SCHWARZEN PRINZEN: 2. Die Melodie der Masken (24286) Weitere Bände sind in Vorbereitung.
Ralf Lehmann
Die Legende von Araukarien Das Buch des Schwarzen Prinzen 1 BLANVALET Umwelthmweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. Blanvalet Taschenbücher erscheinen im Goldmann Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH. 1. Auflage Originalausgabe 5/2004 Copyright © 2004 by Ralf Lehmann Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Agt. Luserke/Odegnal Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck: GGP Media, Pößneck Titelnummer: 24285 Redaktion: Andreas Heckmann V B. • Herstellung: Peter Papenbrok Printed in Germany ISBN 3-442-24285-1 www.blanvalet-verlag.de
1. Die Erzählung des Allen Niemand »Nicht einmal der Alte Niemand kennt das ganze Geheimnis, dachte Bolgan voll Sorge. >Das Einzige, was er hat, ist sein Mut.< Das Land der Tanzenden Berge! Es ist eine merkwürdige Gegend, in der diese Geschichte ihren Anfang nimmt, eine weit von Araukaria, der Hauptstadt des Alten Reiches, entfernte Provinz. Die Landschaft ist schön und anmutig, mit grünen, baumbestandenen Kuppen und tief eingeschnittenen Tälern, in deren Niederungen knorrige alte Trauerweiden in einem niemals endenden Zwiegespräch mit kristallklaren Bächen stehen. Im Frühling ist dieses Land herrlich anzuschauen, aber auch in jenem Herbst, in dem diese Geschichte beginnt, machte es einen friedlichen und angenehmen Eindruck. Die geschwungenen Linien der Hügel hoben sich klar
vom blauen Oktoberhimmel ab, über den der Westwind dann und wann ein paar Wolken trieb. Es war noch warm, auch wenn der Winter bald Einzug halten würde. Eigentlich sehen die Berge nicht aus, als seien sie eine Besonderheit; in Wahrheit aber sind sie eine der merkwürdigsten Gegenden des Alten Reiches. Vor so langer Zeit, dass auch die letzte Erinnerung daran verschwunden ist, bewegten gewaltige Kräfte die Erde. An einigen Stellen tat sie sich auf, und aus ihren Tiefen wurden die Gebirge geboren; an anderen Stellen sammelte sich das Wasser, und es entstanden die unüberwindlichen Meere. Viele Lebewesen kamen daraus hervor, nur wenige davon sind uns heute noch bekannt. Ein 5 Volk von Riesen beherrschte die Erde, zog nach Norden und verschwand; über Generationen waren die Lande unbewohnt, bis die großen Zauberer kamen, von weit jenseits der Ostmauer, und große Taten vollbrachten, bis sie versanken und zu Staub zerfielen; Menschenreich folgte auf Menschenreich, entfaltete sich und verging - die Erde war noch jung und wandelte mit jeder Generation ihr Gesicht. Doch diese Zeiten sind schon lange vorbei. Die Magier von einst sind verschwunden und die Lande erstarrt - die geheimnisvollen Kräfte sind müde geworden. Nur im Land der Tanzenden Berge sind die alten Geister noch am Werk und sorgen dafür, dass das Land - wie von unsichtbaren Händen bewegt - Nacht für Nacht seine Gestalt ändert. Die Berge wandern und haben immer ein neues Gesicht, und niemand kann behaupten, er kenne sich dort aus. Die wenigen Wege und Stege führen in die Irre, und man kann sich verlaufen wie in keinem anderen Land. Mancher hat schon den doppelten Weg zurücklegen müssen, weil er mitsamt seinem Lager während der Nacht um viele Meilen in die Richtung, aus der er kam, zurück verfrachtet worden ist. Die Berge sind launisch, sagt man. Menschen meiden dieses wundersame Land - wer will schon in einer so eigensinnigen Gegend leben? Nur Hirsche und Rehe fühlen sich hier wohl - weil es ihnen nichts ausmacht, morgens an einem Baum aufzuwachen, unter dem sie sich abends nicht zur Ruhe gelegt haben. Zu der Zeit, da diese Geschichte beginnt, wohnte im Land der Tanzenden Berge nur ein einziger Mensch. Man nannte ihn den Alten Niemand. In den Landen war er weit bekannt, doch kaum jemand konnte von sich sagen, er kenne ihn persönlich, denn er verließ seine merkwürdige Heimat praktisch nie. Desto mehr Legenden umgaben ihn dafür. 6 Dass er alt sein musste, älter als jeder Sterbliche, wusste jeder. Es hieß, er sei mächtiger als selbst der Born von Araukaria, der weit entfernt in der Hauptstadt saß und das Alte Reich verwaltete; doch er gebrauchte seine Macht niemals zum Schaden anderer. Es hieß, er sei ein Heiler, aber nur wenige machten sich auf den beschwerlichen Weg zu ihm. Sie fürchteten ihn - und die Tanzenden Berge, die sein kleines Reich bewachten. Deswegen lebte der Alte Niemand völlig zurückgezogen in dieser Einsamkeit. Er war der Herr der Berge. Und die Berge waren seine Diener. Doch an jenem sonnigen Herbstnachmittag war noch jemand hier unterwegs: ein junger Wanderer namens Bolgan. Gekleidet war er nach Art der Bewohner des Hochhügellandes, das sich ungefähr achtzig Meilen entfernt auf der anderen Seite des Faluntals erhob. Er trug eine grobe Leinenhose und hatte eine wollige Weste dabei, die eher für den Winter gedacht war als für diesen sonnigen Tag. Deswegen hatte er sie ausgezogen und über seinen Rucksack gehängt. Bolgan war groß und schlank, wie alle Leute aus seiner rauen Heimat. Er hatte schwarzes, kurzes Haar, wasserblaue Augen und einfache, aber nicht unschöne Gesichtszüge, die ernst und gelassen wirkten. Während seiner Wanderschaft war ihm ein Bartflaum gewachsen, der seine Jugend eher unterstrich. Der junge Hochhügelländer hatte Sorgen, denn in seiner Heimat war etwas vorgefallen, das niemand verstand. Deswegen war er vor fünf Tagen aufgebrochen, und seine Eltern hatten ihn bis zum Rand der Lichtung begleitet, auf der das Dorf lag. »Geh mit meinem Segen«, hatte der Vater gesagt und ihm die Hand gedrückt. »Und komm bald wieder!« Dann hatte er seinen einzigen Sohn umarmt und ihm so, dass die Mutter es nicht hören konnte, ins Ohr geraunt: »Und beeile dich. Ich glaube, uns bleibt nicht viel Zeit.« Bolgan hatte das nicht ganz verstanden; doch sein Vater war ein 7 ernster, kluger Mann und sagte keinen Satz umsonst. Also hatte er gehorsam genickt und sich auf den Weg gemacht. Im Herbst wirkt das Land der Tanzenden Berge eigentlich leicht und lebensfroh. Aber Angst engt den Gesichtskreis ein, und deswegen fehlte Bolgan der Sinn für das bunte Leben, das sich ihm in aller Pracht darbot, um die Sonnenwärme vor dem Winter noch einmal aufzusaugen. >Der Alte Niemand muss ein seltsamer Kauz sein, wenn er sich im Land der Erdgeister wohl fühltVielleicht haben wir ja nur das Werk von Erdgeistern gesehenVielleicht ist es gar nicht die Schuld der Nachtmahre. Wenn der Alte Niemand die Erdgeister in den Tanzenden Bergen beherrschen kanndann kann er ihnen auch bei uns Ruhe gebieten.* Eigentlich glaubte Bolgan gar nicht an Erdgeister. Früher hatte er sich oft mit den alten Geschichtenerzählern angelegt oder sie einfach ausgelacht. »Bleibt mir mit eurem Garn vom Leib«, pflegte er ihnen zu sagen, »ich glaube nur, was ich sehe - und nicht das, was ihr euch zusammen spinnt.« Doch seit in seiner Heimat die Angst umging, war Bolgan sich nicht mehr so sicher, was die Verachtung von Märchen und Legenden betraf. Hoffentlich würde der Alte Niemand ihm Hilfe bieten können. Wenn er ihn überhaupt fand. Aber er hatte sein Ziel schon fast erreicht, wie sich bald herausstellte. Gut eine Stunde später - die Sonne stand schon weit im 8 Westen - versperrte ein altes Gatter seinen Weg. Bolgan durchschritt es und kam auf eine Weide, wo ein paar Ziegen grasten oder faul in der Sonne lagen. Mit neugierigen, leicht spöttischen Blicken musterten sie den Neuankömmling. »Ihr braucht gar nicht so zu gucken«, brummte Bolgan. »Von euch will ich nichts.« Als hätten die Ziegen ihn verstanden, staksten sie erhobenen Hauptes davon, wobei sie dann und wann den Kopf wandten, um ihm einen hochmütigen Blick zu schenken. »Du bist hier fremd«, schienen sie sagen zu wollen. »Wir nicht. Also sei gefälligst ein bisschen freundlicher.« »Ist ja schon gut«, murmelte Bolgan. Über den Hügel zog sich eine Obstwiese, deren Bäume voll reifer Äpfel und Birnen hingen. Ein verfallener Schuppen stand am Wegrand, und aus dem dämmrigen Inneren drang der Geruch von frisch gesammeltem Holz, das dort zum Trocknen gelagert war. Jemand sorgte für den Winter vor. >Hier muss er wohnenAußer ihm lebt kein Mensch im Hochhügelland.< Er folgte dem Weg um eine Biegung - und erblickte halb am Hang einen Gemüsegarten und dahinter ein kleines Holzhaus. Es war leicht windschief und mit altem Stroh gedeckt, das ein wenig Moos angesetzt hatte. Auf der kleinen Veranda, die auch schon bessere Tage gesehen hatte, wippte ein Schaukelstuhl leicht im Wind, als hätte sein Besitzer ihn eben erst verlassen. Das ganze Anwesen wirkte freundlich und einladend. Noch wichtiger: Es war bewohnt, denn aus dem krummen Schornstein stieg Rauch. Bolgan blieb stehen und betrachtete das Haus des Alten Niemand. Er hatte plötzlich Angst, dem berühmten Mann gegenüberzutreten, staubig und müde, wie er war. Zwar war Bolgan einer der Gewandtesten in seinem Dorf, und nicht zuletzt deshalb hatte man ihn ausgeschickt. Aber wie sollte er sich nun verhalten? 9 >Es wird schon gut gehenWer in so einem Haus wohnt, ist bestimmt kein Unmensch.< Dann stieg Bolgan die Obstwiese hinauf, bis er an einen Zaun kam. Er kletterte drüber, ging zwischen Zwiebelund Kohlbeeten hindurch und betrat die verwitterte Veranda. Er wollte gerade klopfen, da ertönte eine tiefe Bassstimme: »Nur herein! Die Tür ist offen!« >Er hat gewusst, dass ich komme«, dachte Bolgan verwirrt. Vorsichtig öffnete er die Tür, klopfte seine Stiefel ab und trat ein. Drinnen herrschte schummriges Halbdunkel. Als sich seine Augen an die Dämmerung gewöhnt hatten, fand Bolgan sich in einem kleinen Wohnzimmer, das heimeliger eingerichtet war, als er das vom Hochhügelland kannte. Sogar einen Teppich gab es. An den Wänden standen Regale voller Bücher und Schriftrollen. In der Mitte des Raums befand sich ein großer, ebenfalls mit Büchern und Papieren überladener Schreibtisch, und dahinter saß ein alter Mann, der freundlich zu Bolgan aufsah. Er schien größer als sein Besucher zu sein, wie er da so aufrecht saß und den Neuankömmling mit eigentümlich hellen, lustig funkelnden Augen musterte. Um diese Augen stand ein Meer aus Falten und Fältchen, die dem Gesicht einen verschmitzten, listigen Ausdruck gaben. Aber die Farbe seiner Wangen und seiner wettergegerbten Stirn war frisch wie die eines rüstigen Mannes. Darüber hinaus hatte der Alte Niemand einen prachtvollen Bart von gepflegtem Weiß mit silbergrauen Strähnen. »Ein junger Mann, der ganz allein auf Wanderschaft ist«, brummte er schließlich mit einer Stimme, die ein bisschen so klang, als müsse sie sich erst einmal von einer dicken Staubschicht befreien. »Die Berge haben mir deine Ankunft schon lange gemeldet, deine Absichten aber beim besten Willen nicht herausfinden können. Was führt dich zu mir?« »Ich komme aus dem Hochhügelland«, erwiderte der Besucher 10 etwas verwirrt. »Mein Name ist Bolgan. Seid Ihr der Alte Niemand?«
»Der bin ich.« Der Greis winkte ihn freundlich näher. »Komm. Ich bin alt, und meine Augen sehen nicht mehr so gut.« Bolgan setzte seinen Rucksack ab und trat an den Tisch. »Soso, ein Hochhügelländer bist du.« Der Alte Niemand musterte ihn noch einmal. Seine Augen wirkten gar nicht, als versagten sie ihren Dienst. »Dann hast du einen weiten Weg hinter dir. Ein Hochhügelländer unternimmt nichts Sinnloses, sagt man. Und wie ich die Menschen dort kenne, verlassen sie ihre Wälder nur ungern.« Bolgan wollte antworten, doch der Alte stand auf, ging aus dem Zimmer und kehrte mit einem Krug Ziegenmilch zurück. »Setz dich und trink. Du musst müde sein. Danach kannst du mir erzählen, was dich zu mir führt.« Bolgan nahm dankbar Platz und trank einen großen Schluck Milch. Sie war sauer und dick, doch sie schmeckte wunderbar. »Du hast einen weiten Weg hinter dir«, begann der Alte noch einmal, als er sah, dass Bolgan seinen Durst einigermaßen gestillt hatte. »Das kann man wohl sagen - obwohl ich den kürzesten genommen habe.« »Der ist nicht immer der schnellste«, meinte der Alte augenzwinkernd. »Na ja - einen richtigen Weg gab es gar nicht. Ich bin aus dem Hochhügelland abgestiegen und quer durchs Faluntal nach Osten gegangen. Dann ging es durchs Land der Tanzenden Berge, bis ich auf einen Pfad gekommen bin, der mich bis vor Euer Haus geführt hat.« »Quer durchs Faluntal bist du gewandert? Dann bist du sicher an den Ruinen von Khor vorbeigekommen?« »Ruinen habe ich keine gesehen«, antwortete Bolgan etwas 11 überrascht. »Nur dann und wann die Mauern eines alten Gehöfts.« »Dann ist dir etwas entgangen! Das alte Khor ...«, begann der Greis, brach dann ab und sah seinen Gast mit einem entschuldigenden Lächeln an. »Ich rede zu viel. Das kommt davon, wenn man so selten einen Menschen zu Gesicht kriegt. Die einzigen Wesen, mit denen ich sprechen kann, sind meine Ziegen, und das ist eine sehr einseitige Unterhaltung. Aber ich will nicht klagen. Und du bist sicher nicht gekommen, nur um einem alten Mann Gesellschaft zu leisten.« Einen Moment hatte Bolgan das Gefühl, der Alte Niemand wollte gar nicht wissen, was er ihm zu sagen hatte. Warum war er sonst auf Khor zu sprechen gekommen? »Ich komme aus Brangwen«, begann er. »Das ist ein Dorf im Hochhügelland. Kennt Ihr das zufällig?« Der Alte Niemand schmunzelte. »Ich kenne im Hochhügelland leider nur wenige Dörfer und bin lang nicht mehr dort gewesen.« »Ihr wisst wahrscheinlich, dass wir nicht reich sind.« »Die Hochhügelländer sind für ihre Anspruchslosigkeit bekannt«, pflichtete ihm der Alte Niemand lächelnd bei. »Ich bin einige Male ihr Gast gewesen und habe dabei immer ein paar Pfund abgenommen.« »Wir können unseren Gästen nicht mehr bieten als wir haben«, wandte Bolgan ein. »Aber das teilen wir gern.« »Schon gut. Erzähl weiter!« »Wisst Ihr, was ein Nachtmahr ist?« Der Alte Niemand blickte auf. »Natürlich. Allerdings habe ich seit vielen Jahren keinen gesehen.« Er wirkte nicht so, als bedauerte er das. »Im Hochhügelland gibt es noch einige. Sie sind etwa so groß wie ich und gehen auf zwei Beinen. Ihre Arme sind klein und schwächer als die eines Menschen, aber sie sind flink und haben 12 scharfe Krallen. Es ist gefährlich, in ihre Nähe zu kommen, denn sie haben ein Maul wie ein Wolf.« »Ja, so habe ich sie in Erinnerung«, sagte der Alte Niemand bedächtig. »Und die Nachtmahre des Hochhügellandes sind nicht die größten. Weit im Norden liegt ein erloschener Vulkan, der Ka-run. Dort leben Nachtmahre, die einen erwachsenen Mann um doppelte Haupteslänge überragen. Es sind seltsame Geschöpfe, aber sie sind uns nicht unähnlich. Hast du je einen Nachtmahr länger betrachtet? Hast du den Schatten gesehen, den er wirft, wenn die Sonne sinkt?« »Sein Schatten sieht aus wie ein Mensch, der Angst hat«, antwortete Bolgan. »Gut beobachtet«, bestätigte der Alte. »Es gibt eine Sage, nach der die Nachtmahre die dunklen Brüder der Menschen sind, geschaffen aus ihren Ängsten und schwarzen Träumen.« Er lehnte sich zurück. »Davon weiß ich nichts. Ich weiß nur, dass sie uns in Frieden gelassen haben, so weit wir denken können. Bis vor kurzem.« Der Alte Niemand sah überrascht auf. »Was ist passiert?« »Wir wissen es nicht genau. Die Nachtmahre leben tief in den Wäldern, in Gebieten, die wir normalerweise nicht betreten. Deswegen bekommen wir sie selten zu Gesicht. Wir lassen sie in Ruhe und sie uns. Aber in letzter Zeit schien es, als würden sie uns aufsuchen. Nachts.« »Nachts sieht man viele Dinge, die nicht existieren.« »Aber manche erweisen sich am nächsten Tag als real«, entgegnete Bolgan. »Vor drei Wochen wurde eine unserer Kühe auf der Weide entsetzlich zugerichtet. Nachtmahre müssen sie getötet haben. Kein anderes Wesen
im Hochhügelland könnte einer Kuh das Rückgrat durchbeißen.« Der Alte Niemand schwieg. »Und das blieb kein Einzelfall. Drei Tage später passierte es auf 13 einer anderen Weide wieder. Seitdem haben die Menschen im Hochhügelland Angst, wenn sie durch die Wälder gehen.« »Manchmal, wenn sie keine andere Beute finden«, sagte der Alte Niemand, »greifen Nachtmahre Haustiere an. Das ist nicht ungewöhnlich.« »Dachten wir anfangs auch. Aber wenig später fehlten drei Hütehunde. Am nächsten Morgen fanden wir ihre Köpfe auf dem Dorfplatz: Die Nachtmahre hatten sie abgerissen. Sie sind nicht hungrig - sie sind böse. Und wir wissen nicht, warum.« »Seltsam.« Der Alte Niemand runzelte die Stirn. Hätte Bolgan aufgeschaut, dann hätte er gesehen, wie sein Gegenüber ein wenig erbleichte. »Nach der Sache mit den Hunden haben wir beraten, was zu tun ist«, berichtete er weiter. »Wir haben in den Dörfern der Umgebung gefragt, ob dort etwas Ähnliches passiert ist, aber die Nachtmahre haben es anscheinend nur auf Brangwen abgesehen. Deshalb haben wir beschlossen, Euch um Rat zu fragen. Die Ältesten haben mich losgeschickt, weil ich jung bin und schnell marschieren kann.« Bolgan sah den Alten Niemand erwartungsvoll an, aber der sagte nichts. Endlich antwortete er zögernd: »Das ist wirklich eine seltsame Geschichte. Kannst du jede Möglichkeit ausschließen, dass es sich nur um ... eine Kette ... unglücklicher Zufälle handelt?« »Zufälle?« Bolgan wurde ungeduldig. »Das glaube ich nicht.« Er starrte auf den Tisch und fasste mühsam in Worte, wofür er keine Begriffe hatte: »Denn da ist noch mehr. Etwas geht in den Wäldern um und verbreitet Angst. Die Tiere sind verstummt; es herrscht ein großes, seltsames Schweigen.« »Ich kenne das Gefühl, allein durch eure Wälder zu wandern«, erwiderte der Alte Niemand. »Sie haben ihre eigenen Gesetze, aber das ist noch kein Grund, sich bedroht zu fühlen. Häufig geht 14 die Angst in ihnen um, ohne dass man weiß, woher sie stammt. Sie kommt, streift einen mit lautlosem Flügelschlag und zieht weiter. Dann atmen die Wälder wieder auf.« Der Alte Niemand schwieg, und Bolgans Hoffnung auf Hilfe schwand zusehends. »Und dann ist noch etwas passiert...« »Nämlich?« »Eines Morgens stand ein Holzpfahl auf unserem Dorfplatz. Seine Spitze war zu einem Widderkopf geschnitzt. Als wir das sahen, verwandelten sich unsere Befürchtungen in Gewissheit: Es ist etwas Böses im Gange.« »Ein Pfahl...« Etwas Seltsames in der Stimme des Alten Niemand ließ Bolgan aufschauen. Er erschrak fast, so sehr hatte sich das Aussehen seines Gastgebers verändert: Bleich, ja wächsern war sein Gesicht, zerfallen und grau, wie um Jahrzehnte gealtert. Stocksteif saß er am Tisch, blickte ins Leere und umklammerte die Armlehnen seines Stuhls so fest, dass die Knöchel weiß und spitz hervortraten. Plötzlich schien er kein rüstiger alter Mann mehr, sondern ein gebrechlicher Greis zu sein. Eine Weile starrte er so vor sich hin, und Bolgan wusste nicht, was er sagen sollte. Dann erhob der Alte Niemand sich mühsam und ging zur Tür. »Ein Pfahl«, murmelte er tonlos. »DER Pfahl.« Er trat auf die Veranda und schaute über die Hügel und auf die Wiesen und Weiden, die ihm viele Jahre Heimat und Zuflucht gewesen waren - und wo er sich so lange vergraben hatte. »Er kommt also wieder«, murmelte er. »Die Zeit ist um.« Lange blieb er wie erstarrt stehen. Schließlich fragte Bolgan: »Verzeiht, aber was bedeutet dieser Pfahl?« Der Alte straffte sich und drehte sich zu Bolgan. »Den Tod bedeutet er«, sagte er leise. »Krieg und Tod.« 15 Er fasste sich langsam wieder. »Nun weiß ich, welche Bedrohung im Hochhügelland umgeht.« »Und könnt Ihr uns helfen?« »Vielleicht. Erst muss ich ein paar Dinge erfahren.« Er faltete die Hände, um ihr Zittern zu verbergen. »Beschreib mir den Widderkopf! Wie sah er aus?« »Wie er ... ausgesehen hat?« »So genau wie möglich.« »Na ja, wie der Kopf eines Widders eben. Irgendwie ... böse. Er schielte uns an, als wollte er auf uns losgehen.« »Und er war aus Holz?« »Ja, die Nachtmahre können ihn nicht geschnitzt haben - so geschickt sind nur Menschen.« »Also sind sie auch nicht für den Pfahl verantwortlich.« Bolgan blickte skeptisch. »Sie könnten ihn gefunden und ins Dorf gebracht haben ...«
»Das ist möglich, aber nicht wahrscheinlich.« Der Alte Niemand lehnte sich zurück. Er hatte seine erste Überraschung verwunden. »In der Nacht, als der Pfahl aufgestellt wurde - habt ihr da nichts gehört? Nichts Verdächtiges bemerkt?« »Nein, überhaupt nicht. Wir haben geschlafen. Erst in der nächsten Nacht haben wir Wachen postiert. Aber dann ist nichts mehr passiert.« »Und den Pfahl habt ihr gleich aus der Erde gezogen?« »Er war uns unheimlich ...« »Und in den Wald geworfen?« »Ja«, antwortete Bolgan verwirrt. »Woher wisst Ihr das?« »Das erkläre ich dir gleich. War es leicht, den Pfahl herauszuziehen?« »Nein. Er war fast einen Meter tief in den Boden gerammt.« »Gerammt? Mitten in der Nacht? Davon hätte ja das ganze Dorf wach werden müssen.« 16 Bolgan runzelte die Stirn. Der Alte Niemand brachte ihn da auf Dinge, die er noch nicht bedacht hatte. »Eigentlich ja«, murmelte er ratlos. »Aber ...« »Ihr glaubt, ihr werdet von Nachtmahren bedroht«, sagte der Alte Niemand bitter, und seine Stimme zitterte. »Doch das stimmt nicht. Oder nur zum Teil. Denn die Nachtmahre werden von Menschen angeführt. Der Pfahl mit dem Widderkopf ist der Beweis. Und wenn er in den Boden gerammt werden konnte, ohne dass ihr davon wach geworden seid, beweist das noch etwas: Hinter diesen Menschen steht eine Macht, von der ihr nicht das Geringste ahnt.« Bolgan hatte Mühe, den Gedankengängen des Alten Niemand zu folgen. Vorhin hatte er noch geglaubt, es mit einem liebenswürdigen, harmlosen Greis zu tun zu haben, doch er hatte sich getäuscht. Jetzt befiel ihn eine schwere, lähmende Angst - die Angst vor der Wahrheit. »Sprecht Ihr ... von den Waldgeistern?« »Nein.« In den Augen des Alten Niemand hatte bisher ein freundliches Lächeln gelegen. Nun aber war ihr Blick scharf und dunkel und schien Bolgan bis in sein Inneres auszuleuchten. »Was weißt du von dem Reich, in dem wir leben, und von seinem Herrscher, dem Born von Araukaria?« »Nur, dass er nicht mehr unser Herrscher ist«, antwortete Bolgan etwas großspurig. »Seine letzten Steuereintreiber haben wir vor bald sechzig Jahren verjagt. Wir Hochhügelländer sind frei, und unsere Freiheit verteidigen wir.« »Freiheit heißt, wenig Freunde in der Not zu haben«, gab der Alte Niemand zu bedenken. »Ich erzähle dir jetzt die Geschichte dieses Reiches, damit du verstehst, was im Hochhügelland geschieht.« Er dachte nach und fragte dann: »Denkst du, Geschichte habe einen Anfang und ein Ende? Nein - Geschichte ist ein Kreis und 17 kehrt immer an den Ursprung zurück ... Was glaubst du, wie alt ich bin?« »Jedenfalls älter, als Ihr ausseht.« Der Alte Niemand lächelte. »Sogar in den abenteuerlichsten Geschichten über mich wird mein Alter meist untertrieben. Vor einigen Wochen habe ich ...« - seine Züge nahmen einen verschmitzten Ausdruck an - »meinen siebenhundertsechzigsten Geburtstag gefeiert.« Bolgan riss die Augen auf. »So alt kann keiner werden!« »Keiner außer mir.« Sein Lächeln verschwand. »Ich war alt, ehe dein Urgroßvater auf die Welt gekommen war, und jung, als das Reich von Araukaria gegründet wurde. So jung wie du. Damals wohnte ich in einem kleinen Dorf nicht weit vom Hochhügelland. Das Reich von Khor, das sich von den Karninbergen bis zur Ostmauer erstreckte, war lange untergegangen, die Großkönige des Graslandes tot und begraben. Dunkle Zeiten waren gekommen und gegangen, und dunkle Menschen mit ihnen. Nur noch einzelne Stämme bevölkerten das Land. Es war eine friedliche Zeit - es gab keinen Grund, Krieg zu führen, weil wir alle arm waren und nur das Notwendigste besaßen. Die Städte waren entweder verlassen oder völlig bedeutungslos geworden, der Handel beinahe zum Erliegen gekommen. Damals ernährten wir uns von dem, was die Lande uns gaben. Wir bestellten einige Äcker, hatten ein, zwei Stück Vieh.« Er lächelte. »Das muss eine schöne Zeit gewesen sein«, meinte Bolgan. »Wie bei uns im Hochhügelland ...« »Es war eine schöne Zeit«, versetzte der Alte, »zumindest glaube ich das heute. Aber vielleicht verkläre ich ja die Vergangenheit. Fraglich, ob die jungen Leute von Araukaria ein solches Leben schön finden würden. Sobald ich alt genug war, musste ich meinen Eltern zur Hand ge18 hen, um unser Auskommen zu sichern. So wuchs ich auf. Das Dorf und die umliegenden Äcker bis zum Wald das war meine Welt. Dahinter, zwischen den dunklen Bäumen, gab es nur noch Sagen von Geistern und allen möglichen Gestalten, die sich dort verborgen halten mochten; es gab Bären und Wölfe und Nachtmahre. Ich glaube, ich war einundzwanzig Jahre alt, als ich zum ersten Mal einen sah. Wie alt bist du, Bolgan?« »Einundzwanzig.« »Der Nachtmahr stand am Rand der Lichtung und beobachtete unser Dorf.« Bolgan hielt den Atem an.
»Du kennst ihr Verhalten und weißt, dass sie sich nicht für Menschen interessieren. Dieser aber tat es. Ich bereue noch heute, der Sache nicht sofort auf den Grund gegangen zu sein. Fasziniert von seinem Anblick, blieb ich stehen; da wandte er sich ab und verschwand im Wald, und ich kümmerte mich nicht weiter darum. Vielleicht habe ich jemandem davon erzählt, aber höchstens beiläufig. Auch als sich in den nächsten Wochen die Begegnungen mit Nachtmahren häuften, wurden wir nicht misstrauisch. Eines Morgens fanden wir einen Pfahl in unserem Dorf. Einen, wie du ihn beschrieben hast - gekrönt mit einem gehörnten Widderkopf. Jemand musste ihn in der Nacht eingerammt haben. Aber keiner von uns hatte es gehört. Das machte uns argwöhnisch.« »Der Widderkopf - hat der eine bestimmte Bedeutung?« »Das habe ich mich später auch gefragt und Nachforschungen angestellt. In früheren Zeiten gab es Rammböcke, mit denen man die Tore feindlicher Festungen einrannte. Häufig hatten sie an der Spitze einen fratzenhaften Widderkopf, um dem Gegner Angst zu machen. Aber was sollte ein Rammbock in unserem Dorf? Von dem Tag an, als wir den Pfahl fanden, stellten wir Wachen auf, und nachts ging niemand mehr ohne Begleitung aus dem Dorf. 19 Aber das sollte uns nichts nützen. Dreizehn Tage später kehrten meine Eltern von der Feldarbeit nicht zurück.« »Was war passiert?«, flüsterte Bolgan heiser. »Als es Abend wurde, ging ich sie suchen. Es war Sommer, die Nächte waren hell. Ich habe sie gefunden - es war schrecklich.« Kalte Angst ergriff Bolgan, als der Alte Niemand fortfuhr. »Die Nachtmahre hatten sie so verstümmelt, dass sie kaum noch zu erkennen waren. Das ist fast siebenhundertvierzig Jahre her, doch der Anblick meiner toten Eltern verfolgt mich bis heute.« Von finsteren Erinnerungen übermannt, schwieg der Alte Niemand, und Bolgan traute sich nicht, etwas zu sagen. Schließlich setzte der Greis seinen Bericht fort. »Aber es sollte noch schlimmer kommen. Als ich Hilfe suchend auf die Lichtung meines Dorfes kam, existierte es nicht mehr. Es war überfallen und angezündet worden; die Häuser brannten lichterloh. Ein Teil der Bewohner und ein paar Nachtmahre lagen tot am Boden; der Rest war verschwunden. In der Mitte des Dorfes steckte der Pfahl. Wir hatten ihn knapp zwei Wochen zuvor aus dem Boden gerissen, aber die Angreifer hatten ihn wieder aufgestellt. Als ich das sah, schrie ich auf und floh.« »Während Ihr im Wald wart, haben die Nachtmahre Euer Dorf überfallen und die Bewohner verschleppt? Vielleicht steht Brangwen ja das Gleiche bevor!« »Möglicherweise«, erwiderte der Alte Niemand. Einen Moment war Bolgan fassungslos. Dann sprang er auf. »Ich muss sie warnen! Ich muss losziehen und ...« »Aber nicht sofort. Wir brechen morgen auf und wandern so schnell wie möglich nach Brangwen. Doch vorher sollst du hören, was damals passiert ist.« »Jede Minute ist kostbar! Vielleicht...« »Wann habt ihr den Pfahl bemerkt?« »Vor fünf Tagen. Einen Tag, bevor ich aufbrach.« 20 »Also ist es noch nicht zu spät. Wir werden rechtzeitig dort sein.« Bolgan blieb nichts anderes übrig, als sich nach dem Alten Niemand zu richten, doch die Angst machte ihm schwer zu schaffen. »Zwischen dem Erscheinen des Pfahls und dem Untergang meiner Heimat sind damals dreizehn Tage vergangen«, sagte der Alte. »Dreizehn Tage - so war es immer. Wir werden drei oder vier Tage vor dem Überfall in Brangwen sein. Bis dahin sind wir gerüstet.« Den letzten Satz sagte er so grimmig, dass Bolgan wieder Vertrauen fasste. Zögernd setzte er sich. »Ich weiß nicht, wie lange ich panisch vor Angst und Schmerz im Wald herumgeirrt bin«, nahm der Alte Niemand seine Erzählung wieder auf. »Vielleicht eine Woche. Ich hatte nur ein Messer bei mir, aber ich wollte mich an den Nachtmahren rächen, die meine Eltern getötet und meine Heimat zerstört hatten. Doch im Wald war kein einziges Wesen, nur bleiernes Schweigen. Irgendwann brach ich vor Erschöpfung zusammen, zum Glück in der Nähe eines Dorfes, sodass ich bald gefunden wurde.« Der Alte Niemand stand auf, nahm eine Tonpfeife von der Wand und begann sie zu stopfen. »Es dauerte eine Zeit, bis ich von dem furchtbaren Ereignis erzählen konnte. Die Menschen, die mich pflegten, hatten anfangs Mühe, mir zu glauben, doch dann schickten sie eine Abordnung in mein Dorf und begriffen, dass sie bald dasselbe Schicksal treffen konnte. Schon am nächsten Morgen wurde in der Siedlung, die mir Zuflucht gewährt hatte, ein Pfahl mit gehörntem Widderkopf gefunden. Mir war klar, dass wir nur noch wenige Tage Zeit hatten, um zu fliehen. Ich versuchte die Bewohner zu überreden, das Dorf aufzugeben und sich in die Wälder zurückzuziehen. Aber sie wollten kämpfen.« Er zündete seine Pfeife an. »Und sie haben den Kampf verloren«, vermutete Bolgan. 21 »Sie hätten ihn nie gewinnen können.« Der Alte Niemand stieß eine Rauchwolke aus. »Selbst wenn sie doppelt
so viele gewesen wären. Die Nachtmahre brachen in so großer Zahl aus dem Wald hervor, dass wir nicht die mindeste Chance hatten. Wir mussten fliehen und ließen Tote und Verwundete zurück. Am Rand der Lichtung standen Menschen, die wir nie zuvor gesehen hatten. Menschen mit bösen Gesichtszügen. Wir wussten sofort, dass sie die Urheber des ganzen Übels waren, doch sie griffen nicht ein, sondern hielten sich im Hintergrund und schauten den Nachtmahren bei ihrer grausamen Arbeit zu. Wie Wölfe, die darauf warten, das wehrlose Opfer anzufallen, wenn die Gefahr vorbei ist. So haben wir sie später genannt Wölfe. Damit fing alles an. Von nun an war es mit der Ruhe in den Wäldern vorbei. Kein Jahr war vergangen, als schon Dutzende Banden von Nachtmahren durchs Land zogen. Angeführt wurden sie von den Wölfen. Sie nahmen die Überlebenden gefangen und verschleppten sie - keiner wusste, wohin und warum. Unsere Welt war klein und einfach gewesen - innerhalb weniger Monate zerfiel sie zu Asche, und Tausende waren auf der Flucht.« Der Alte Niemand starrte vor sich hin. »Es lief immer nach dem gleichen Schema. Wenn der Pfahl mit dem Widderkopf im Dorf stand, hatten die Bewohner noch dreizehn Tage, ihr Hab und Gut zu packen und die Gegend zu verlassen. Zögerten sie, war es zu spät. Die Angst ging in den Landen um und ließ die Menschen verstummen. Doch dann begannen wir uns zu wehren. Und ich war es, der den Widerstand organisierte.« Die Pfeife des Alten Niemand war ausgegangen, und er zündete sie wieder an. »Ich wollte, dass wieder Frieden und Sicherheit in den Landen herrschte und jeder sein Tagwerk verrichten konnte, ohne um Leben oder Freiheit fürchten zu müssen. Und ich wollte eine Antwort. Eine Antwort auf die Frage nach dem Warum.« 22 Er sah auf. »Also begann ich, Gleichgesinnte zu suchen. Ich wanderte durch die Wälder, sprach mit Menschen, die Ähnliches erlebt hatten wie ich, zog durch die noch nicht zerstörten Dörfer und versuchte die Bewohner zu überzeugen, dass etwas getan werden musste. Häufig sprach ich aus, was viele insgeheim dachten, sich aber nicht einzugestehen getrauten - weil es Mut und Opferbereitschaft erforderte. Aber mein Beispiel wirkte. Bald war ich von Hunderten von Kriegern umgeben, die Rache für das nehmen wollten, was Nachtmahre und Wölfe uns angetan hatten. Wir schmiedeten Waffen und übten uns in ihrem Gebrauch. Als wir damit umgehen konnten, traten wir zum Kampf an. In der Nähe befand sich eine Siedlung, in der vor kurzem ein Pfahl aufgestellt worden war. Die Bewohner waren geflohen. Wir flohen nicht. Die Nachtmahre hatten nicht mit Gegenwehr gerechnet, weil die Angst unter den Menschen so groß war. Als sie erkannten, dass sie in einen Hinterhalt geraten waren, stellten sie sich zum Kampf. Wir blieben siegreich und vertrieben sie, obwohl wir schreckliche Verluste erlitten. Zum ersten Mal war ihr Angriff fehlgeschlagen. Wir rissen den Pfahl aus der Erde und verbrannten ihn. Von da an herrschte offener Krieg in den Wäldern. Der bewaffnete Kampf war für uns ungewohnt. Anfangs zu zwei, drei Dutzend, später zu Hundert brachen die Nachtmahre im Dunkeln hinter den Bäumen hervor. Wo immer sie auf uns trafen, gab es Tote. Aber wir lernten schnell, und bald wogen wir an Hoffnung auf, was Nachtmahre und Wölfe an Angst verbreiteten.« Er tat wieder einen tiefen Zug aus der Pfeife. »Im Grunde war es ihre Grausamkeit, die ihnen zum Verhängnis wurde«, sagte er nachdenklich. »Der Druck auf die Lande wurde so groß, dass alle Menschen sich zu wehren begannen - weil ihnen nichts anderes übrig blieb. Aus unseren Dörfern wurden Trutzburgen, aus jedem Stall eine Waffenschmiede. Anderthalb Jahre nach dem Brand meines Dorfes hatte ich tausend Männer um 23 mich, drei Monate später zweitausend, ein Jahr darauf zehntausend, und immer noch führte ich sie allein, denn meine Kraft und mein Hass gegen Nachtmahre und Wölfe waren am stärksten. Wir machten Jagd auf sie - mit immer mehr Erfolg; wenn ein Krieger fiel, traten zwei an seine Stelle, und bald hatten wir ein Heer beisammen, das sich mit dem des alten Khor hätte messen können. Weitere zwei Jahre vergingen in pausenlosen Kämpfen, und schließlich waren wir stärker als sie.« »Und Ihr habt nie erfahren, warum Wölfe und Nachtmahre Jagd auf euch machten?«, fragte Bolgan ungläubig. »Nein. Ich weiß nur, für wen sie es taten.« Bolgan spitzte die Ohren. »Sechs Jahre hatte Terror in den Landen geherrscht«, sagte der Alte. »In dieser Zeit wurden bald sechstausend Menschen in Gefangenschaft geführt. Wir wussten längst, dass es jemanden geben musste, der das befohlen hatte. Und im siebten und letzten Jahr des Kampfes bekam die Angst einen Namen: Schwarzer Prinz. Er war der Anführer der Wölfe. Auf ihn ging die Gewalt in den Landen zurück. Ich habe ihn nur ein einziges Mal gesehen - als er mich verflucht hat. Noch heute bekomme ich Angst, wenn ich j daran denke. Er war ganz in schwarze Gewänder gehüllt, selbst sein Gesicht war unter einem schwarzen Tuch verborgen. Nur seine Augen waren zu sehen. Ihr Blick traf mich ins Mark. Wir waren zufällig auf- j einander gestoßen, mitten im Wald. Er hatte ungefähr dreihundert Wölfe bei sich, die ihn schützten. Wir waren fast doppelt so viele und stark genug, ihn aufzureiben, doch er erkannte unsere Überlegenheit und zog sich rechtzeitig zurück. Bevor er unter den Bäumen verschwand, wandte er sich um, hob seine Hand, die in einem schwarzen Handschuh steckte, und deutete auf mich. Auf mich und keinen anderen. Es war schrecklich.« »Aber er musste doch fliehen«, wandte Bolgan ein.
24 »Trotzdem besaß er eine furchtbare Macht. Als er auf mich zeigte, wusste ich, dass ich verflucht war. Dass es mein Schicksal war, ihn zu suchen, mein Leben lang - bis ich ihn finde.« Er schaute auf und lächelte gequält. »Wie du siehst, ist mir das bis heute nicht gelungen.« »Und deswegen seid Ihr so alt geworden?«, fragte Bolgan. »Meine Geschichte ist noch nicht zu Ende. An jenem Tag siegten wir, und ein paar Monate später waren die Wölfe endgültig aus den Wäldern vertrieben, die Nachtmahre fast alle tot. Dann machten wir uns auf die Suche nach den Verschleppten, doch der Schwarze Prinz war noch nicht geschlagen. Er saß in einem Turm unweit des heutigen Araukaria; man nennt ihn den Roten Turm wegen des roten Gesteins, aus dem er erbaut ist. Er steht heute noch auf einem kleinen Hügel namens Waldbühl. Von dort beherrschte der Schwarze Prinz die Stadt Rapaunin, die dort stand, wo heute Araukaria liegt. Wir erfuhren bald, dass alle Gefangenen als Sklaven nach Rapaunin gebracht worden waren. Wir zogen nach Süden, belagerten und eroberten die Stadt, doch die Menschen, nach denen wir suchten, waren fort. Dann stiegen wir zum Roten Turm hinauf, um den Schwarzen Prinzen zu töten. Aber es kam, wie ich geahnt hatte - auch er war verschwunden. Ich habe ihn jahrhundertelang in allen Ecken und Enden der Welt gesucht, aber nicht das kleinste Lebenszeichen von ihm gefunden.« Der Alte Niemand seufzte tief. »Bis du gekommen bist.« Bolgan kämpfte sein Entsetzen nieder. »Aber er musste doch ...« »Er musste längst tot sein. Doch er lebt und bereitet seine Wiederkehr vor. Wir müssen ihn aufhalten. Morgen brechen wir auf und reisen so schnell wie möglich nach Brangwen.« Bolgan war alles andere als beruhigt. Er hatte das Gefühl, der Alte Niemand verheimliche ihm etwas, doch der fuhr mit seiner Geschichte fort: »Nach dem Krieg schleiften wir Rapaunin und errichteten an 25 seiner Stelle Araukaria, das sich bald zum Zentrum eines neuen Reiches entwickelte und dafür sorgen sollte, dass der Schwarze Prinz nie wieder mächtig wurde. Die Stadt wuchs rasch, und nach wenigen Jahren erstreckte sich ihre Herrschaft bis an die Grenzen des Fernfeldes im Norden, bis ans Scheidegebirge im Osten, bis nach Ayakil im Süden und bis zum Hochhügelland im Westen. So groß war das Reich damals.« »Und der erste Herrscher Araukarias wart Ihr«, meinte Bolgan. »So erzählt man sich zumindest.« »Das stimmt, ich war der erste Born - weil ich den Kampf gegen den Schwarzen Prinzen angeführt hatte. Seit dem Untergang des alten Khor war ein Großteil der Lande wüst geworden. Ehemals reiche, fruchtbare Gegenden waren leer und unbewohnt, Heideland zog sich fast endlos hin. Aber ich ließ neue Straßen bis in die entlegensten Winkel bauen und das alte Kulturland wieder unter den Pflug nehmen. Wohlstand kehrte ein, aus dem sich später Pracht entfaltete. Man baute mir einen Palast auf dem Hügel mitten in der Stadt, dem Königshügel. Bis heute ist er die Residenz des Borns und« - bei diesen Worten richtete er sich selbstbewusst auf-»das Zentrum unserer Welt.« Es fiel Bolgan schwer zu glauben, dass dieser Greis das alles vollbracht haben sollte: Bei all seiner Würde sah er nicht wie ein Held aus. Doch jedes Kind in den Landen wusste, dass die Grundlagen des Reiches das Werk des Alten Niemand waren. »Die Angst vor dem Schwarzen Prinzen aber hatte mich nicht losgelassen. In den ersten Jahren kam ich vor lauter Arbeit selten zum Nachdenken und konnte die dunklen Gedanken verdrängen. Doch dann wurde es anders.« Der Alte schaute auf seine faltigen Hände. »Irgendwann beruhigte sich das Leben in den Landen«, fuhr er fort. »Frieden kehrte ein. Aber nicht in meiner Seele. Der Schwarze Prinz war nicht gefallen, sondern nur besiegt und verschwun26 den. Die Angst war gebannt und doch zu spüren. Sie lauerte in allen Winkeln, kauerte in allen Ecken des Palastes, den ich bewohnte, nein - in dem ich hauste.« Der Alte Niemand straffte sich. »Ich mochte den Palast nicht, nicht seine weiße Pracht noch seine Größe, denn im Grunde meines Herzens war ich der Dorfbewohner von einst geblieben. Ich wusste, dass ich nicht herrschen, sondern den Schwarzen Prinzen ausfindig machen sollte - wie er selbst es mir auferlegt hatte.« »Und dann seid Ihr aufgebrochen«, sagte Bolgan. »So erzählt man in meiner Heimat. Ihr seid ein Suchender, heißt es, der etwas Unbegreiflichem auf der Spur ist.« »Ich bin ein Suchender«, bestätigte der Alte, »bis heute. Die Bewohner meines Reiches staunten, als bekannt wurde, dass ich als Born zurücktreten und die Stadt verlassen wollte. Sie baten mich zu bleiben. Noch dürfe ich nicht gehen, noch sei das Reich zu jung und ungefestigt, um es aus den Händen zu geben. Aber ich ließ mich von meinem Entschluss nicht abbringen. Wenige Wochen später zog ich davon. Nachts, um jedes Aufsehen zu vermeiden. Aus dem Born von Araukaria wurde ein Niemand, weil es in den dunkelsten Zeiten unseres Kampfes geheißen hatte, niemand könne den Schwarzen Prinzen vernichten. Kreuz und quer reiste ich durchs Land, immer auf der Suche nach ihm. Ich begann dort, wo ich seine Spur verloren hatte - im Roten Turm auf dem Waldbühl. Aber ich fand nichts, es war zu viel Zeit vergangen. Dann wandte ich mich flussabwärts nach Tifillan und zu den Städten des Südens. Ich vermutete, dass man die
Gefangenen damals dorthin gebracht hatte. Vielleicht kam der Schwarze Prinz ja von dort. Anfangs hatte ich Glück. An dem Tag, an dem Rapaunin fiel, schien er tatsächlich mit seinen letzten Getreuen nach Süden geflohen zu sein. In Tifillan erinnerte man sich noch an einen langen 27 Menschenzug - das mussten seine Gefangenen gewesen sein. Es hieß, der Schwarze Prinz habe sie ins Verbotene Land geführt, das einige hundert Meilen südlich von hier liegt. Auch dorthin ging ich, doch die Spur löste sich in Rauch auf. Dann wanderte ich aufs Geratewohl nach Norden und klapperte eine Stadt, ein Dorf nach dem anderen ab. Nichts. Zwei Jahrzehnte vergingen, ohne dass etwas geschah. In dieser Zeit wurde ich kein bisschen älter, während meine Kameraden von einst, die ich dann und wann in Araukaria besuchte, in Ehren alt und grau wurden. Der Misserfolg drückte mich immer mehr. Eines Tages - und zwar genau hier - hielt ich es nicht mehr aus: Ich warf mich zu Boden und weinte. Der Schwarze Prinz hatte mich verflucht, und es schien, als müsste ich ihn bis in alle Ewigkeit suchen. Ich weinte und weinte, so verzweifelt und hoffnungslos war ich. Als ich endlich aufsah, erblickte ich einen alten Mann. Ich wusste nicht, woher er gekommen war. Das Land der Tanzenden Berge war damals so menschenleer wie heute.« Der Alte Niemand legte seine Pfeife beiseite. »Sagt dir der Silbergreis etwas?« »Das ist doch eine Sagengestalt, oder?«, antwortete Bolgan vorsichtig. »Es heißt, er sei der Letzte der großen Zauberer von einst. Doch er hält sich aus Menschenscheu verborgen.« »Als meine Bedrängnis am größten war, hat er sich mir gezeigt.« »Es gibt ihn also wirklich?«, wunderte sich Bolgan, der kein Freund von Sagen und Legenden war. »Er hat mit Euch gesprochen?« »Er hat mir geholfen, die Fährte wiederzufinden. Sonst hätte ich wahrscheinlich aufgegeben. >Wer seid Ihr?< fragte ich ihn und wusste die Antwort doch schon, denn der Silbergreis wirft als einziges Wesen in den Landen keinen Schatten - wie der Mann, der neben mir stand. Er war sehr groß und uralt. Sein silberweißer Bart war viel län28 2er und dichter als meiner. Man sah in seinen Augen, dass ein Jahr für ihn nicht mehr bedeutete als ein Wimpernschlag. >Du bist der Niemandund hast dich aufgemacht, den Schwarzen Prinzen zu suchen und dich von deinem Fluch zu befreien/ >JaAber ich finde ihn nicht. Überall habe ich nach ihm geforscht und nun die letzte Spur verlorene Vielleicht hast du am falschen Ort gesucht. Der Schwarze Prinz ist nicht mehr in den Landen. Du kannst ihn nicht suchen wie eine Murmel, die man verloren hat.< >Aber was soll ich denn tun?< >Mach dich wieder auf die Suche - aber nicht in der Gegenwart, sondern in der Vergangenheit. Dort findest du mehr Hinweise auf ihn. Du bist nicht der Erste, den er verflucht hat.. .< Und ich verstand. Mit einem Mal merkte ich, dass ich die ganze Zeit mit Blindheit geschlagen gewesen war. In der Vergangenheit suchen! Darauf hätte ich früher kommen können. >Aber was werde ich dort finden ?< >Antworten auf deine Fragen. Vielleicht sogar auf die nach dem Warum.< Dann beugte sich der Silbergreis zu mir herunter und sagte: >Ich weiß, du hast noch einen weiten Weg vor dir. Doch auch der längste Weg findet ein Ende.< Er zog ein Buch aus der Tasche seines Umhangs. >NimmIn diesem Buch wird eines Tages die Antwort stehen. Aber du musst es selber schreiben. Konzentriere dich auf die Vergangenheit, und forsche in der Überlieferung nach dem Schwarzen Prinzen! Trage deine Funde hier ein. Wenn alles beisammen ist, wirst du verstehen/ 29 >Wie lange wird das dauern ?< >Dein Leben lang. Bis er wiederkommt. Dann ist deine Zeit um. Vielleicht gelingt es dir, die Antwort zu finden. Wenn nicht, beginnt der Kampf von neuem. Aber bevor du stirbst, musst du einen Nachfolger bestimmen, der das Buch für dich beendet. Es ist ein besonderes Buch. Solange du es bei dir trägst, wirst du j alle Sprachen verstehen, die in den Landen gesprochen werden, und alle Schriften, die je geschrieben wurden. Mach dich jetzt auf I die Suche !< Mit diesen Worten verschwand er. Da saß ich nun mit wirren Gedanken im Kopf und einem leeren i Buch in der Hand! Es dauerte lange, bis ich mich beruhigt hatte. Aber ich verstand, um was es ihm gegangen war: Meine Zukunft war die Vergangenheit. Ich sollte mich mit den Kulturen beschäftigen, die früher in den Landen existiert hatten. Und das Buch würde mir
den Schlüssel dazu liefern, sie zu verstehen. Also machte ich mich wieder auf. Ich durchstöberte die Ruinen des alten Khor und besah mir seine Inschriften; jetzt, da ich das Buch hatte, konnte ich sie lesen. Dort wurde ich weiter gewiesen -zur Stimme der Lande, einer steinernen Säule, die alles Wissen über diesen Teil der Welt in sich trägt. Doch ich habe sie nie gefunden. Ich wanderte in die Städte des Nordens und las die alten Handschriften über die Besiedelung des Fernfeldes; ich zog auf die Gletscher des Scheidegebirges und besuchte das Kristallhaus bei den Ruinen von An-Tiki, das ganz aus Eis erbaut ist. Ich saß an den Hausfeuern aller Völker der Erde und lauschte ihren Sagen und Legenden. Und immer, wenn die Rede auf ein Wesen kam, dessen Beschreibung auf den Schwarzen Prinzen passte, hakte ich nach. Was ich erfuhr, trug ich in das Buch ein. Schon in den Ruinen von Khor hatte ich Glück. In den jüngsten Inschriften - sie sind fast tausend Jahre alt erfuhr ich von einer schwarzen Gestalt, die mit Scharen von Soldaten über das Gras30 land hergefallen war und der Stadt den Untergang bereitet hatte, Was der Schwarze Prinz mir und meinen Zeitgenossen angetan hat, ist nichts gegen das, was dem alten Khor widerfahren ist. Aber das ist eine Geschichte, die ich dir später erzählen möchte. Jedenfalls begann der Schwarze Prinz im Laufe der Jahre Konturen anzunehmen.« Der Alte Niemand stand auf, öffnete einen reich verzierten Schrank, schloss eine Kassette auf und nahm das Buch heraus. Es war in schwarzes Leder gebunden, das sich im Lauf der Jahrhunderte gelblich verfärbt hatte und rissig geworden war. Der Schnitt war etwas ausgefranst, aber sonst war das Buch in tadellosem Zustand - der Alte Niemand musste es wie seinen Augapfel gehütet haben. Bolgans Blicke wanderten immer wieder zu dem Buch, das ihn auf rätselhafte Weise anzog. Sein Titel war in altertümlichen, schön geschwungenen Buchstaben geschrieben und lautete: Die Rechenschaft. »Was hat dieser Titel zu bedeuten?«, fragte er. Der Alte Niemand schüttelte den Kopf. Seine Gedanken waren wieder in die bedrohliche Gegenwart zurückgekehrt. »Das weiß ich immer noch nicht.« »Darf ich lesen, was Ihr über den Schwarzen Prinzen geschrieben habt?« Der Alte Niemand wollte ihm das Buch schon geben, doch im letzten Moment besann er sich anders. »Es ist noch zu früh; hab ein wenig Geduld.« Er stand auf und legte das Buch in den Schrank zurück. Bolgan fragte sich, ob etwas darin stand, das er nicht erfahren durfte. Oder war der Alte nur ein Geheimniskrämer, der sich nicht gern in die Karten sehen ließ? >Das werde ich schon noch herausfindenFluch der Lande< nennen ihn die Quellen meistens, seltener >der Gesandtem Der Name >Schwarzer Prinz taucht nur einmal auf, in den Aufzeichnungen aus Khor. Es muss sich aber um ein und dieselbe Person handeln. Die Beschreibungen, die aus ganz verschiedenen Zeiten stammen, gleichen sich fast aufs Haar. Die schwarze Gestalt, das schwarze Kopftuch, die schwarzen Handschuhe. Das heißt, er verändert sich nicht. Der Schwarze Prinz hat die Zeit besiegt und ist das Geschwür, das di Lande auszehrt. Manche Überlieferungen berichten, er trage einen Ring mit einem durchsichtigen Edelstein, und bezeichnen diesen Stein als die Quelle des Bösen. Ob es ihn wirklich gibt, kann ich nicht sagen; bei meiner einzigen Begegnung mit dem Schwarzen Prinzen ist er mir allerdings nicht aufgefallen.« »In den Sagen meiner Heimat ist häufig von Steinen die Rede, die Zauberkräfte besitzen«, warf Bolgan ein. »Meistens bringen sie ihrem Finder Unglück.« 32 »Ich kenne einen Großteil dieser Sagen«, antwortete der Alte Niemand. »Vielleicht ist es wirklich so, dass der Schwarze Prinz einst einen Zauberstein fand und in seinen bösen Einfluss geriet. Aber das müsste vor vielen tausend Jahren geschehen sein, und wir können es nicht mehr nachprüfen.« Bolgan war noch jung und hatte wenig Menschenkenntnis; doch an diesem Punkt der Erzählung spürte er, dass ihm der Alte Niemand etwas verschwieg und mehr über diesen bösen Einfluss wusste. Aber als Hochhügelländer war er zu zurückhaltend, um nachzufragen. Wenn der Alte es für angebracht hielt, würde er ihm schon berichten, was es damit auf sich hatte.
»Die Menschen, die der Schwarze Prinz in seine Gewalt bekommt«, sagte der Alte Niemand, »verschwinden. Zum Teil werden sie zu Wölfen ausgebildet, zum Teil an einen geheimen Ort verschleppt. Leider schweigen sich die Quellen über den Ort und darüber aus, was dort geschieht - es scheint also nie jemand zurückgekehrt zu sein.« Die Gestalt des Schwarzen Prinzen wurde Bolgan immer unheimlicher. »Eine Sage der Erminari, einem Volk des Südens, berichtet, dieser Ort sei eine Höhle, von wo man unsere Welt verlassen kann um in die Gestade jenseits der Ostmauer zu gelangen. Aber diesen Zugang habe ich nie gefunden. Ich bezweifle, dass es ihn gibt.« »Warum tut der Schwarze Prinz das alles?«, fragte Bolgan. Der Alte Niemand senkte den Kopf. »Ich weiß es nicht.« Bolgan begriff. Sein Gegenüber hatte die Antwort auf die Frage nach dem Warum trotz seines langen Lebens und seiner Macht nicht gefunden. »Ich habe lange Jahre mit der Suche zugebracht. Eine Generation nach der anderen wuchs heran und starb, doch auch an mir ging die Zeit nicht spurlos vorüber. Im Lauf der vielen Jahre, die ich meinen Nachforschungen widmete, begann ich allmählich zu al33 tern. Nun ist meine Zeit fast zu Ende - und ich weiß immer noch nicht, warum es den Schwarzen Prinzen gibt. Das letzte Mal, als er in den Landen wütete, hat er wenig Erfolg gehabt, denn wir haben früh begonnen, uns zu wehren. Hoffen wir, dass wir auch diesmal das Schlimmste verhindern können.« Der Alte Niemand kreuzte die Hände auf dem Tisch. Plötzlich wirkte er müde und verbraucht. Die Falten in seinem Gesicht schienen sich vertieft zu haben, als habe die Erinnerung an lang vergangene Tage ihn noch mehr altern lassen. Bolgan schwieg. »Ich weiß, es kommt dir wenig vor, was ich über den Schwarzen Prinzen erzählt habe«, sagte der Alte Niemand leise. »Aber es ist die Ausbeute von Jahrhunderten. Und es muss reichen, um ihm entgegenzutreten.« Bolgans Gedanken sprangen zu seinem Heimatdorf zurück. »Also glaubt Ihr, dass er wiederkommt? Und dass er sich Brangwen ausgesucht hat, um zum ersten Mal zuzuschlagen?« »Der Pfahl ist das Zeichen. Es kann nicht anders sein.« Die Erzählung war zu Ende. Trübe schaute der Alte Niemand in J das erlöschende Kaminfeuer. Bolgan dagegen war aufgestanden und begann, ruhelos im Zimmer auf und ab zu gehen. Mit Sorgen im Herzen war er zum Alten Niemand aufgebrochen; aber was er erfahren hatte, übertraf seine schlimmsten Befürchtungen. »Und Ihr seid sicher, dass wir noch rechtzeitig kommen, um die Hochhügelländer zu warnen?« »Ganz sicher.« Der Alte straffte sich wieder und stand auf. Er schien neue Energie gefunden zu haben. »Ich packe jetzt für die Reise. Morgen früh machen wir uns in deine Heimat auf.« »Sollten wir nicht doch besser gleich losziehen?«, fragte Bolgan. »Das würde uns nicht früher ins Hochhügelland bringen«, unterbrach ihn der Alte, »im Gegenteil.« »Aber ...« 34 »Warte bis morgen. Dann wirst du das verstehen.« Mit diesen Worten ging er zu einer Truhe neben dem Bett und nahm einen alten Rucksack heraus, in den er allerlei einzupacken begann. Unruhe trieb Bolgan auf die Veranda. Die Sonne war untergegangen, die Nacht hereingebrochen. Rötlich stand der Himmel über den fast schwarzen Hügeln, die leise schimmernd dem Sommer nachtrauerten. Ein wundersamer Friede lag über dem Land. Niemand konnte voraussehen, was der Winter mit seinen langen Nächten bringen würde. An Bolgans Herz nagte die Angst. >Man müsste fliegen könnenDann wären wir auf jeden Fall rechtzeitig in Brangwen .. .< Er zuckte zusammen. Unbemerkt war der Alte Niemand neben ihn getreten. »Schön ist es im Land der Tanzenden Berge«, sagte er leise. »Besonders die Abende. Die habe ich immer besonders geliebt.« Ihn schauderte wie bei einem kalten Windstoß. »Wer weiß - vielleicht ist es mein letzter Abend hier.« »Ihr glaubt also nicht, dass Ihr das Unheil abwenden könnt?« »Wir werden sehen.« Dann schwiegen beide. Das Rot über den Bergen färbte sich violett, dann dunkelblau, wurde schwärzer und schwärzer. Schließlich war es Nacht. »Legen wir uns schlafen«, sagte der Alte Niemand. »Morgen müssen wir früh los.« 2. In Khor
»Warum kommst du wieder, als sei nicht Jahr und Tag vergangen?«, fragte der Alte Niemand. »So vieler Menschen Blut hast du getrunken; und dennoch ...« Aber der Wind gab ihm keine Antwort. Es war noch dunkel, als der Alte Niemand Bolgan wachrüttelte. »Es ist Zeit. Wir müssen aufbrechen.« Bolgan erhob sich wortlos und fuhr in seine Kleider. Dann setzte er sich zu dem Alten, der schon frühstückte, an den Tisch und aß eine Art Fladenbrot und dann zwei taufeuchte Äpfel aus dem Garten. Danach packten die beiden ihre Rucksäcke und marschierten los. Der Morgen graute erst. Nebel lag im Tal, und das Gras war nass. Sicher würde es ein schöner Tag werden, lichtdurchflutet und voll herbstlicher Wärme; jetzt aber war noch nichts davon zu spüren, und die Berge hoben sich nur unscharf vom Horizont ab. Bolgan fröstelte. Der Alte verriegelte die Tür sorgfältig und schloss jeden Fensterladen ruhig und gründlich. >Er weiß, was ihn erwartetEr wird nicht zurückkehren ...< Einmal mehr streifte die Furcht mit schwarzen Flügeln seine Seele. »Gehen wir«, brummte der Alte. Schweigend stapften sie ins Tal, und der Tau durchnässte ihre Schuhe. Unten drehte sich der Alte Niemand noch einmal um und betrachtete gedankenverloren sein Haus, den Garten und die Obstwiesen. 36 »So viele Jahre«, murmelte er. Dann wanderten sie schweigend nebeneinander her, in den herbstlichen Morgen hinein, der heller und heller wurde, bis endlich hinter ihnen die Sonne aufging. Die Nebel verflüchtigten sich, und die Tautropfen leuchteten auf wie Millionen kleiner Diamanten. »Darf ich Euch eine Frage stellen?« » Selbstverständlich.« »Wenn wir in Brangwen sind - was werden wir tun? Wie können wir verhindern, dass es zerstört wird?« »Vor allem müssen wir die Bewohner deiner Heimat vor der Gefahr warnen. Was danach kommt, weiß ich nicht. Wie viele Nachtmahre gibt es denn im Hochhügelland?« »Einige hundert mit Sicherheit. Aber viele Gebiete im Wald hat seit Jahrzehnten kein Mensch mehr betreten. Dort gibt es große Höhlen, so tief, dass niemand an ihr Ende gekommen ist. Soviel ich weiß, wohnen darin viele Nachtmahre.« »Sie nutzen sie oft als Versteck«, sagte der Alte Niemand bedächtig. »So war es zu meiner Zeit auch. Wenn es wirklich nur einige hundert sind, können wir mit ihnen vielleicht fertig werden. Aber wenn die Wölfe dazukommen ... Habt ihr in den letzten Monaten viele Fremde gesehen?« »Nein. Zu uns kommt kaum jemand.« Bolgan sprach nicht weiter. Er konnte sich nur mit Mühe gegen die Versuchung wehren, blindlings loszurennen. Wie sehr staunte er da, als nach kaum zwei Stunden Fußmarsch das Tal vor ihm plötzlich weiter wurde und den Blick freigab auf das braune Grasland des Faluntals! Die Tanzenden Berge schrumpften zu Heidehügeln zusammen und versanken unter der Erde; und baumlos, unendlich weit, erstreckte sich die menschenleere Ebene vor ihnen. Auf der anderen Seite musste bei klarem Wetter das Hochhügelland zu sehen sein, doch heute verlor es sich im Dunst. Bolgan war überrascht stehen geblieben. 37 »Wo sind wir?«, fragte er. Der Anblick des Graslands, das er frühestens am nächsten Tag zu erreichen gehofft hatte, brachte ihn völlig aus der Fassung. »Am westlichen Rand der Tanzenden Berge.« Der Alte Niemand schmunzelte. »Wie ich sehe, sind sie nachts nicht müßig gewesen.« »Sie haben uns heraus getragen?« »Genau. Die Berge tun, was ich will - und gestern habe ich ihnen befohlen, uns über Nacht an die Westgrenze zu bringen.« »Ein seltsames Land.« Bolgan war noch immer verblüfft. »Dann hätten wir uns sogar die zwei Stunden Fußmarsch bis hierher sparen können.« »Nicht ganz. Mit meiner Herrschaft über die Berge ist das so eine Sache; ganz von allein gehorchen sie mir nicht.« Der Alte Niemand schmunzelte wieder. »Sie helfen mir gern - aber sie haben ihren eigenen Kopf und wollen, dass ich auch ein Stück mit ihnen gehe. Sonst sind sie gekränkt.« »Ich weiß nicht, ob ich in einem solchen Land leben könnte«, meinte Bolgan. »Wenn man darauf achten muss, ihm nicht die Laune zu verderben ...« »Es ist ein Geschenk des Himmels für einen, der wie ich auf der Suche nach Wahrheit ist. Es gibt keine bessere Festung als das Land der Tanzenden Berge.« »Warum gehorchen sie Euch überhaupt?«, fragte Bolgan. »Das war ein weiteres Geschenk des Silbergreises. Zusätzlich zu dem Buch. >Ich bin das Gesetz der Landes sagte er zu mir, bevor er verschwand. >Der mir übertragenen Macht sind Grenzen gesetzt. Aber ich will dir noch etwas geben. Ein großes Reich hast du regiert und nicht behalten wollen. Also sollst du jetzt ein kleines Reich regieren - diese Berge hier, die man die
Tanzenden Berge nennt. Es wohnt eine alte, große Macht in ihnen, und vielleicht wird sie dir eines Tages nützlich sein.< So wurde ich Herr dieser Gegend. Und ich bleibe es bis zu meinem Tod.« 38 »Also tanzen die Berge auf Euren Befehl?«, fragte Bolgan. »Sie tanzen von allein. Meistens lasse ich sie in Ruhe. Wen stört es schon, wenn sie sich bewegen?« Für einen Augenblick schien er die Gegenwart vergessen zu haben. »Nur einmal musste ich ihnen ernstlich böse sein«, fuhr er fort und kratzte sich den Bart. »Manchmal machen sie sich einen Spaß daraus, uns Menschen zu ärgern. Ich hatte gerade meine Hütte gebaut, da verfrachteten sie mein ganzes Anwesen über Nacht in eine Senke, in der sich prompt ein See bildete. Als ich aus dem Bett stieg, bekam ich nasse Füße. Mein Gemüsegarten war überflutet, und meine Ziegen wären fast ertrunken.« Seine Augen blitzten. »Da hättest du mich sehen sollen! Ich hielt den Bergen eine Strafpredigt, dass sie blass wurden vor Angst, und drohte ihnen allerschlimmste Strafen an, falls sich so etwas noch einmal wiederholen würde. Ich ließ sie mein Haus samt allem, was dazugehört, wieder auf die Bergkuppe bringen und befahl ihnen dann, zur Strafe vier Tage stillzustehen. Seitdem lassen sie mich in Ruhe - und ich sie auch. Meistens.« Er seufzte, während er auf das Grasland schaute. »Aber leider enden die Berge hier.« »Das heißt, wir müssen ab jetzt jede Meile ehrlich zu Fuß weiter«, vermutete Bolgan. »Das habe ich nicht gesagt. Die Trickkiste eines alten Mannes ist tief und immer für eine Überraschung gut...« »Nämlich?« »Warte es ab.« Wider Willen musste Bolgan lachen. »Ich glaube, das wird eine sehr lehrreiche Wanderung für mich.« Es ging steil bergab, und eine halbe Meile später hörte ihr Pfad auf. Sie hatten das Grasland betreten. »Das gibt ein schönes Stück Arbeit.« Bolgan betrachtete die fast 39 mannshohen Gräser und seufzte. »Auf dem Hinweg war diese Strecke am beschwerlichsten.« Der Alte reagierte nicht. Er marschierte los, aber nicht nach Westen, sondern den Hügeln entlang nach Süden. »Wohin geht Ihr?«, fragte Bolgan. »Zur alten Reichstraße. So sparen wir Zeit.« Als der Alte Niemand Bolgans verständnislose Miene sah, fügte er hinzu: »Das ist eine der wichtigsten Heerstraßen des alten Khor. Die Grasleute erbauten sie vor fast tausend Jahren, und sie war zu ihrer Zeit berühmt - aber heute ist sie fast vergessen. Sie liegt abseits aller Handelswege und wird kaum noch benutzt. Ich glaube, ein Zauber aus alter Zeit schützt sie vor Überwucherung. Früher zogen Heere auf ihr an die Grenzen des Reiches, um sie zu sichern -und zu erweitern, denn der Ehrgeiz der Großkönige war schrankenlos. Aber diese Zeiten sind lange vorbei. Das Reich von Khor war schon vergessen und verweht, als ich ein kleiner Junge war.« Das alte Khor. Immer wieder kam der Alte Niemand auf diese sagenhafte Stadt zu sprechen. Bolgan fragte sich, warum. »Lasst mich vorgehen«, sagte er und überholte seinen Gefährten. »Ich mache den Weg frei.« Nach einer Stunde reichte das graubraune Gras den beiden bis zur Schulter. Dann tauchte vor ihnen ein Streifen auf, der sich nach Westen hinzog. Beim Näherkommen erkannte Bolgan einen mit Gras bewachsenen Wall. Der Alte Niemand blieb stehen und beschattete seine Augen. »Das ist die Heerstraße. Sie verläuft zwischen Erdwällen.« »Da haben sich die Khorer aber viel Arbeit gemacht.« Bolgan schaute nachdenklich auf den Wall. »Das hatte seinen Sinn. Aus der Ferne konnte man nicht erkennen, wie viele Menschen sich auf der Straße befanden. Wenn der Großkönig ein Heer in seine Provinzen sandte, sah man es erst, wenn es sein Ziel erreicht hatte.« 40 Bolgan musterte die Gegend misstrauisch, als wären die Heere heute noch unterwegs. »Es ist nicht mehr weit«, sagte er. »Bleibt hinter mir; in ein paar Minuten sind wir da.« Bald erreichten sie den Wall, der an die drei Meter hoch, mit Gras überwachsen und sehr steil war. Oben angekommen, blieb Bolgan überrascht stehen: Sie standen auf der einzigen Erhebung der Ebene, die sich unendlich weit nach Westen ausdehnte. Schnurgerade zog sich die Straße dahin. Sie war mit großen, zum Teil zerbrochenen Steinplatten gepflastert und sah aus, als habe man sie erst gestern liebevoll gefegt, um einem Heer den bequemen Heimweg zu ermöglichen. >Vier anstrengende Tage habe ich gebraucht, um zum Alten Niemand zu gelangenUnd nur, weil er mehr weiß als ich, kommt er viel schneller voran.< Der Alte berührte ihn am Arm. »Siehst du die Ruinen dort?« Bolgan kniff die Augen zusammen. In der Ferne sah er eine Spitze - einen steinernen Turm, der wie ein abgebrochener Zahn aus dem Gräsermeer ragte. »Was ist das?«, fragte er. »Wohnen hier doch Menschen?« »In diesem Land wohnt niemand mehr«, erwiderte der Alte. »Das sind die Ruinen von Khor.« Bolgan erschauerte. Er beschattete seine Augen, sah aber nicht mehr als vorher. »Die müssen riesig sein ...«
»Ihre Größe sprengt jede Vorstellungskraft. Die Stadt liegt am Falun; dort gibt es eine Furt, auf der wir morgen früh durch den Fluss kommen können.« »Morgen früh schon? Das kann nicht sein. Bis zu diesem Turm sind es doch mehr als fünfundzwanzig Meilen. Wir müssten die ganze Nacht marschieren.« 41 »Glaub mir: Wir sind in den Mauern von Khor, bevor die Sonne sinkt. Diese Straße trägt uns buchstäblich voran.« Bolgan schüttelte den Kopf. »Das glaube ich erst, wenn ich dort bin.« Aber eigentlich konnte auch niemand die Berge tanzen lassen, und als Bolgan das einfiel, sagte er nichts mehr. »Warten wir es ab«, meinte der Alte Niemand. »Zunächst wollen wir rasten. Meine Beine sind alt und müde und wollen nicht mehr so wie ich.« »Sogar dafür haben wir noch Zeit?«, fragte Bolgan, doch insgeheim war auch er für eine kurze Rast dankbar. Er nahm seinen Leinensack vom Buckel und warf ihn ins Gras. Sie begannen zu essen. Plötzlich hielt der Alte Niemand inne, legte sein Brot beiseite und stand auf. Mit gerunzelter Stirn spähte er in den dunstblauen Himmel, als nahe ein Sturm. »Was ist?«, fragte Bolgan. »Ich weiß nicht genau.« Der Alte Niemand beschattete seine Augen. »Ich habe das Gefühl, wir werden beobachtet...« »Aber Ihr habt selbst gesagt, in diesem Land wohnt kein Mensch.« »Richtig«, erwiderte der Alte. »Aber wenn der Schwarze Prinz wirklich wieder umgeht, hat er seine Augen und Ohren überall.« Er deutete auf einen Krähenschwarm; ihr Krächzen war das Einzige, was den Frieden der Ebene störte, durch deren Gräser ein sanfter Wind strich. »In den dunkelsten Tagen unseres Kampfes glaubten wir manchmal, er habe Verbündete unter den Tieren. Als würden uns die Mäuse ausspionieren, die im Lager wohnten und von Brotkrumen lebten. Und die Hasen, die sich unter das Gebüsch duckten, wenn wir an ihnen vorübergingen. Aber am meisten Angst hatten wir vor den Vögeln. Vor allem vor den Krähen, die uns unablässig be42 gleiteten, weil es in unserer Umgebung immer Menschenfleisch zu fressen gab. Wir glaubten, der Schwarze Prinz habe sie geschickt.« Bolgan blickte zu den Krähen hinauf, die hoch über ihnen kreisten. Ihn schauderte. »Glaubt Ihr wirklich, er ist dazu in der Lage?«, fragte er. »Seine Macht ist groß. Damals sah es so aus, als wären die Lande selbst Diener des Schwarzen Prinzen geworden; dabei waren sie es, die am meisten unter ihm litten.« Während der Alte Niemand sprach, ließ er die Krähen nicht aus den Augen, die nun nach Süden flogen. Ihr Krächzen wurde leiser und verlor sich schließlich über dem Gräsermeer. Doch der Alte wusste, dass Krähen niemals im Schwärm nach Süden ziehen. Sie harren den Winter aus und ernähren sich von dem, was die Lande ihnen bieten. Ihre Heimat verlassen sie nur bei Gefahr. >Sie kommen aus dem HochhügellandSie wissen, was bevorsteht.< Aber er sagte nur: »Ziehen wir weiter.« Sie rafften sich wieder auf. Es war angenehm warm auf der Straße, und das Marschieren ging wie von selbst. Bolgan hatte das Gefühl, ewig so weiterlaufen zu können. Alle Müdigkeit war aus seinen Beinen gewichen. »Merkst du es?«, fragte der Alte Niemand. »Nirgendwo wandert man so leicht wie auf den Straßen der Khorer. Und trotzdem ...« »Ja?« »Trotzdem sind sie jetzt alle tot. Macht und Zauber haben die stolze Stadt im Grasland nicht schützen können, und fast alle Geheimnisse hat sie mit ins Grab genommen. Khor fürchtete sich vor dem Schwarzen Prinzen genau daran ist es zugrunde gegangen. Auch das habe ich in das Buch eingetragen: Der Schwarze Prinz wächst mit unserer Angst, wird durch sie erst stark und kann Ge43 stak gewinnen - die Gestalt, die unsere dunkelsten Gedanken ihm geben. Er ist dann am gefährlichsten, wenn unsere Angst am größten ist. So groß, dass wir sie kaum noch ertragen können.« »Habt Ihr denn keine Angst vor dem Schwarzen Prinzen?« »Als du mir gestern erzählt hast, was im Hochhügelland vor sich geht, schon. Jetzt nicht mehr. Denn ich glaube, wir können ihn besiegen. Immerhin haben wir ihn früh erkannt. Aber ich weiß auch, dass ich Vorsorgen muss. Es wird Zeit, einen Erben zu suchen - für die Zeit, die nach mir kommt.« »Wer soll das sein?«, fragte Bolgan. »Das weiß ich noch nicht.« >Hoffentlich meint er nicht michIch bin nicht dazu geschaffen, jahrhundertelang nach dem
Schwarzen Prinzen zu suchen.< Sie wanderten weiter, bis sich der Tag neigte. Ungefähr eine Stunde vor Sonnenuntergang fasste der Alte Niemand seinen Gefährten bei der Schulter, deutete über den Wall und sagte: »Da ist die Pforte von Khor. Wir haben unser Ziel erreicht.« Die Straße machte eine Biegung und gab die Sicht auf die Ruinen der untergegangenen Stadt frei. Das gigantische Portal erhob sich genau vor ihnen. »Das glaube ich nicht«, flüsterte Bolgan. Die Pforte von Khor war Teil einer weitläufigen Wehranlage gewesen, deren Schuttlinie jetzt noch die Stadt umschloss. Sie bestand aus großen, regelmäßig behauenen und geglätteten Steinquadern. Der Westflügel des Pylons war eingestürzt und zu einem riesigen Steinhaufen zusammengesunken, der Ostflügel hingegen stemmte sich trotzig dem Lauf der Jahrhunderte entgegen und ragte achtzig Meter in den Himmel hinauf; die Strahlen der untergehenden Sonne verfärbten seine Steine rötlich. 44 »Die Pforte von Khor«, sagte der Alte Niemand noch einmal. »Sie wurde nie vollendet.« Bolgan kam sich klein und verloren vor. Kopfschüttelnd fragte er: »Warum ist sie so groß? Es gibt keinen Grund, so ein gewaltiges Tor zu bauen.« »Es sieht aus, als wäre es nicht für Menschen, sondern für Riesen oder Götter gedacht, nicht wahr? Heutzutage würde man so etwas nicht mehr errichten. Nicht, weil es nicht möglich ist. Sondern weil es scheinbar keinen Sinn macht. Die meisten Menschen glauben nur noch das, was sie sehen, und tun, was ihnen Nutzen bringt. Doch die Khorer waren anders. Noch während sie von den Wölfen belagert wurden, bauten sie an ihrer Pforte nicht weil sie strategisch notwendig war, sondern weil sie glaubten, man könnte mit ihrer Macht die Feinde einschüchtern. Die Pforte war ein letzter verzweifelter Versuch, das Schicksal abzuwenden.« »Aber vergeblich«, stellte Bolgan fest. »Sonst wäre sie jetzt keine Ruine.« »Richtig. Wenn du willst, werde ich dir ihre Geschichte später erzählen. Ich glaube, es gibt irgendwo noch einen Aufgang. Lass uns danach suchen.« Bolgan nickte stumm. Sie fanden den Eingang an der Nordseite - eigentlich nur ein kleines dunkles Loch im Mauerwerk. »Das ist er. Dahinter führt eine Treppe direkt nach oben.« Bolgan spähte misstrauisch in den Eingang. Vielleicht diente er ja wilden Tieren als Unterschlupf; gleichzeitig hatte das Loch in der Mauer etwas Geheimnisvolles, das ihn neugierig machte. Ein wissendes Lächeln blitzte in den Augen des Alten Niemand auf. »Der Blick von oben ist sehr schön. Besonders an einem Herbstabend. Hast du Lust, mit mir hinaufzusteigen?« Bolgan nickte. »Kann man von dort das Hochhügelland sehen? Es ist nicht mehr weit.« 45 »Vielleicht«, sagte der Alte. Er stieg durch die Bresche und verschwand im Dunkeln. »Wartet. Ich komme nach.« Bolgan folgte ihm ins Innere der Pforte. Dort war es totenstill. Als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er schemenhaft eine flache Treppe. Der Alte Niemand war fort. Er schien vorgegangen zu sein. >Man hört gar nichtsDie Steine schlucken jedes Geräusch. Sicher war seit Unzeiten kein Mensch mehr hier drin ...< Er streckte die Hand aus und stieg vorsichtig nach oben. Die Stufen waren ausgetreten und glatt wie polierter Marmor. »Wo seid Ihr, Herr?«, rief er. Aber seine Worte verhallten dumpf, und von dem Alten kam keine Antwort. »Herr, wo seid Ihr?« Bolgan wurde unruhig. »Ist Euch etwas zugestoßen?« Wieder keine Antwort. Angst stieg in Bolgan auf. Er zuckte erschrocken zusammen, als plötzlich jemand aus dem Dunkel seine Hand ergriff. »Ich bin es nur«, sagte der Alte leise. »Du brauchst dich nicht zu fürchten.« »Warum habt Ihr mir nicht geantwortet?«, fragte Bolgan schnell, um seinen Schreck zu überspielen. »Ich dachte schon, Ihr wärt verschollen.« »Hast du mich gerufen? Oh, dann habe ich dich nicht gehört. Ich war so vertieft in die Zeichen, die in die Mauer gemeißelt sind ...« »Was für Zeichen? Ich erkenne kaum die Hand vor den Augen.« »Ich sehe auch nicht mehr als du«, versetzte der Alte, und Bolgan wusste, dass er lächelte. »Aber man kann sie fühlen. Die Zeichen, meine ich. Versuch's mal.« 46 Er nahm die Hand seines jungen Gefährten und strich mit ihr sachte über die Wand. Tatsächlich spürte Bolgan Unebenheiten im Fels - die Reste einer längst vergessenen Sprache. »Was ist das?«
»Die Schrift der Grasleute. Der ganze Gang ist damit bedeckt.« »Und das könnt Ihr im Dunkeln lesen?« »Ich habe doch das Buch. Die Rechenschaft. Aber nun komm.« Bald wurde der Weg bequemer. Kleine Lichtritzen erhellten den Gang, und Bolgan erkannte, was er vorhin nur erfühlt hatte: Seltsame Figuren, die überall in den Stein gehauen waren. »Sie haben alles hier aufgeschrieben«, sagte der Alte Niemand. »Und was sie nicht in Worte fassen konnten, haben sie bildlich ausgedrückt. Sieh dir dieses Relief an.« Bolgan trat näher. Er erkannte einen altertümlichen Ochsenkarren, der mit Korn schwer beladen war; davor einen Mann, der die Ochsen am Zügel führte; seine Frau, die hinter dem Karren ging und die heruntergefallenen Ähren aufsammelte; am Straßenrand einen blinden Harfenspieler und daneben ein weinendes Kind. Warum weinte es? Die Antwort würde er nie erfahren. Der Alte Niemand nahm ihn wieder an der Hand. »Komm. Die Sonne geht bald unter, und ich will, dass du noch ein Bild siehst.« Langsam stiegen sie weiter nach oben. Bolgan erkannte bald, dass zwischen den Reliefs ein Zusammenhang bestand, der wie ein roter Faden durch die Geschichte dieses merkwürdigen Volkes führte. Da sah man Menschenmengen, die große Steine bewegten, um Gebäude zu errichten. Dann wieder Bilder aus dem ländlichen Leben - Steuereintreiber, die die Abgabe der Bauerngüter überwachten; eine Frau, die ihrem Mann jammernd ein Kind entgegenhielt. Was war mit dem Kind geschehen? War es tot? 47 »Haben die Khorer denn ihre ganze Geschichte hier dargestellt?« »Mehr als das. Alles, was sie je erdacht und gefühlt haben, ist als steinernes Tagebuch in die Wände dieses Bauwerks eingegraben -ein Vermächtnis an die Generationen, die einmal die Lande bevölkern würden. Diese Pforte ist das Testament von Khor.« Bolgan schauderte. Das Licht im Gang schwand zusehends. Je höher die Gefährten kamen, desto mehr Schlachtenszenen tauchten auf, die immer wilder und grausamer wurden. In den unteren Stockwerken der Pforte waren die Bilder fein und liebevoll ausgeführt gewesen - jetzt verloren sie an Eleganz und wirkten steif. Zum Schluss waren sie nur noch von ungelenker Hand in den Stein gekratzt. »Das ist es.« Der Alte Niemand blieb vor einem Bild stehen, das fast die ganze Höhe des Gangs für sich beanspruchte. »Beschreibe mir, was du siehst.« Bolgan betrachtete die Darstellung nachdenklich. »Ist das der Krieg, der Khor in den Untergang geführt hat?« »Genau«, bestätigte der Alte, und Bolgan sah sich das Relief näher an. Da waren Soldaten im Schlachtgetümmel - kahl geschoren, fast nackt und mit riesigen Schilden bestückt die einen; in merkwürdige Eisenpanzer gekleidet die anderen. Viele lagen erschlagen am Boden, während andere ihnen die rechte Hand abhackten - der Siegesbeute wegen. Es war, als glühten die Wildheit, die Gewalt und Angst längst verwehter Tage aus diesem steinernen Grab mitten in Bolgans Seele hinein. »Wer immer dieses Bild geschaffen hat - er muss Angst gehabt haben«, sagte Bolgan. »Große Angst. Das spürt man.« »Gut beobachtet«, erwiderte der Alte und deutete auf einen Reiter abseits des Schlachtfeldes: »Der Schwarze Prinz. Deswegen hatte er Angst.« 48 »So also sieht er aus ...« Das Gesicht war unter einem schwarzen Tuch verborgen. Umgeben von einer Phalanx von Wölfen, streckte er die Rechte drohend gegen die Khorer aus, die in Scharen gegen sein Heer anrannten. Im Gegensatz zu den kraftvollen Kampfszenen war die Figur des Schwarzen Prinzen starr und unbeweglich, als habe der Künstler gerade bei der Aufgabe versagt, diese Gestalt aus dem Stein zu lösen. »Leblos wie eine Statue - und genauso kalt.« Der Alte Niemand hatte Bolgans Gedanken wieder einmal erraten. »Ich habe eine ganze Menge über den Schwarzen Prinzen nur anhand dieses Reliefs herausgefunden.« Bolgan starrte nachdenklich auf das Bild. »Ich wüsste gern, ob wirklich alle Krieger solche Angst vor ihm gehabt haben. Immerhin waren sie so viele ...« Er trat näher heran, um die Gesichter der Soldaten genauer zu betrachten, aber bei aller Feinheit der künstlerischen Ausführung wirkten sie stumpf, und ihre Augen starrten blicklos ins Leere. »Es muss ein grausamer Kampf gewesen sein«, vermutete Bolgan leise. »Furchtbar grausam. Er dauerte fast vierzig Jahre.« »So lang?« »Das erzähle ich dir, wenn wir oben sind. Komm.« Sie wandten sich von dem Bild ab, um vollends nach oben zu steigen. Immer heller wurde es; dann war der Gang zu Ende, und sie traten auf die zerborstene Plattform. »Bei allem, was heilig ist«, stotterte Bolgan fassungslos. »Das ist...«, aber dann versagte ihm die Sprache. Ein überwältigender Anblick bot sich ihnen. Weit, weit im Westen stand die Sonne und überzog die Ebene mit rotem Licht. Der Fluss Falun zog träge wie flüssiges Gold unter ihnen dahin; die alte Heerstraße überquerte ihn
auf einer Brücke mit zwölf Pfeilern, 49 aber sie war zerstört, und das riesige Bauwerk erblindete mitten im Strom. Zwischen Brücke und Tor befand sich das gewaltigste Ruinenfeld der Lande. Mit ungeheurer Zerstörungswut musste sich die Welle der Angreifer einst in die Stadt ergossen haben; doch man konnte die Grundrisse der Häuser noch erkennen sowie die Reste der schachbrettartig angelegten Straßen. Hunderttausenden mochte die Stadt Zuflucht geboten haben. Weiter hinten, im Norden, schien eine Art Tempelbezirk gewesen zu sein, denn gewaltige Säulenkolonnaden standen noch aufrecht, und dicke, mit Reliefs geschmückte Mauern hatten ebenfalls der Wut des Schwarzen Prinzen getrotzt. Die abendliche Ruhe dieser selbst im Zustand der Zerstörung noch Ehrfurcht gebietenden Stadt erschütterte Bolgan so sehr, dass er kaum zu atmen wagte. >Wer mag solche Gesteinsmassen aufeinander getürmt haben?An dieser Stadt wurde bestimmt Jahrhunderte gebaut. Aber wie konnten die Khorer dann vernichtet werden?< »Eine traurige Geschichte verbindet sich mit dieser Stadt«, sagte der Alte Niemand leise. »Die Grasleute kamen aus dem Westen, woher genau, weiß man nicht; sie besiedelten das Faluntal und machten es urbar. Dann wurden sie Herrscher des Graslandes und gründeten Khor. Durch den Handel mit anderen Städten und Ländern wurden sie wohlhabend. Ich könnte dir stundenlang von der großen Zeit des alten Khor erzählen - wie sich das Reich bis an die große Ostmauer erstreckte und bis nach Drehnland im Norden. Aber dazu haben wir keine Zeit. Auch von seinen Untaten will ich nicht viel sagen - dem Verrat am Volk der Smaragdaugen, der Vernichtung der Felajun, die im Scheidegebirge wohnten. Von seiner Prunksucht und Verschwendung ... Das sind alte Geschichten. An die dreihundert Jahre lang sind die Großkönige aus dem Grasland unangefochten die Herren der Welt gewesen. Aber jede glanzvolle Epoche muss einmal vergehen, und der Sturz ist dann um so tiefer. 50 Schon hundert Jahre, bevor der letzte Herrscher der Grasleute in den Trümmern seiner Stadt verbrannte, war es mit dem Reich abwärts gegangen. Der Schwarze Prinz war aufgetaucht und hatte die Wölfe mitgebracht - so viele, dass die Macht der Khorer nicht mehr ausreichte, ihnen Einhalt zu gebieten. Sie suchten Rat bei allen Weisen in den Landen, selbst bei der Stimme der Lande - einer steinernen Säule, die in einer Höhle im Süden stehen soll -, aber nirgends bekamen sie Hilfe. Da begannen sie ihre Stadt mit einer Mauer zu umgeben und riesige Vorräte anzuhäufen.« »Sie ahnten, was ihnen bevorstand«, vermutete Bolgan. »Kurze Zeit darauf war die Stadt umzingelt und die Bewohner in den Mauern gefangen, die ihr Grab werden sollten. Außerhalb der Stadt hatte der Schwarze Prinz sein Schreckensreich gegründet. Da errichteten sie die Pforte.« Ein Windstoß strich klagend über das Gemäuer, und Bolgan zuckte zusammen. Der Alte achtete nicht darauf. »Die Verteidigungsanlagen da unten sind die größten, die es je gegeben hat. Keine Stadt war so gut befestigt wie das alte Khor, keine so gut auf eine lange Belagerung vorbereitet. Aber die Wölfe waren zäh. Siebenunddreißig Jahre standen sie vor den Mauern, dann waren Vorräte und Widerstandswille der Bevölkerung erschöpft. Die Khorer öffneten die Tore in der Hoffnung auf Schonung; aber die Wölfe haben sie fast alle erschlagen. Die Stadt wurde angezündet und dem Erdboden gleichgemacht. Was übrig ist, siehst du hier.« »Sie haben ganze Arbeit geleistet. Aber was passierte danach? Ich meine - wenn der Schwarze Prinz das Reich von Khor zerstören konnte, warum herrscht er nicht bis heute in den Landen?« »Es gibt eine Antwort, aber sie ist gegen jede Logik. Dazu muss ich etwas ausholen. Die Wölfe haben fast alle Bauwerke hier geschleift, doch das große Tor ließen sie in Ruhe. Sie brauchten es noch.« 51 Bolgan machte große Augen. »Wofür?« »Aus irgendeinem Grund wollte der Schwarze Prinz die Pforte vollenden. Steinlage um Steinlage ließ er darauf setzen, bis sie eine Höhe von fast hundert Metern erreicht hatte. Es hat Jahre gedauert, bis ich diese Geschichte rekonstruieren konnte - mit dem Schwarzen Prinzen herrschten Grausamkeit und Chaos in den Landen, und es gibt so gut wie keine Aufzeichnungen. Das meiste musste ich mir aus alten Sagen und Liedern zusammenreimen -und aus einigen fragmentarischen Inschriften, die die letzten Überlebenden hinterließen, als sie verstreut in alle Winde ein trauriges Dasein fristeten. Als die Pforte so hoch geworden war, dass man sie über Dutzende von Meilen sehen konnte, ereignete sich ein furchtbares Erdbeben - als hätten die Lande endlich genug vom Schwarzen Prinzen. Das Tor stürzte zusammen.« »Seltsam«, murmelte Bolgan geistesabwesend. Plötzlich begann er sich nach Brangwen zu sehnen, seinem kleinen Dorf im Hochhügelland. Weil ihm angesichts dieser Ruinen etwas fehlte, zu dem er erzogen worden war: Bescheidenheit. Aber der Abend hatte | noch mehr graue Dunstschleier über dem Grasland aufsteigen lassen, und die Konturen seiner Heimat entzogen sich dem Blick. »Der Schwarze Prinz hat nicht versucht, die Pforte neu aufzubauen«, sagte der Alte Niemand. »Er verschwand einfach und ließ die Wölfe ohne Anführer zurück. Unfähig, Land zu kultivieren, zogen seine ehemaligen Diener plündernd nach Norden und verschwanden aus der damals bekannten Welt. Gras überwucherte die Ruinen von Khor, die in dem entvölkerten Land bald in Vergessenheit gerieten. Heute weiß kaum noch jemand von ihnen.«
»Wenn ich ehrlich bin, habe ich noch nie ein Bauwerk gesehen, das höher ist als ein paar Meter«, gestand Bolgan. »Aber warum zerstört der Schwarze Prinz erst eine Stadt und erhöht dann ihr Eingangstor? Das macht doch keinen Sinn ...« 52 »Er hatte etwas vor - etwas, das über unseren Verstand hinausgeht und mit menschlicher Logik nicht zu erklären ist.« Der Alte Niemand dachte nach. »Oder er ist einfach nur wahnsinnig. Es hat Zeiten gegeben, da habe ich das geglaubt. Nur Wahnsinnige sind grundlos böse. Ich habe auch schon vermutet, dass ...« Er unterbrach sich, und seine Züge erstarrten. Ruckartig drehte er den Kopf Richtung Tempelbezirk, als wollte er mit seinem Blick die Kolonnaden zum Einsturz bringen. »Was ist?« »Es ist noch jemand hier«, flüsterte der Alte. »Wo?« Bolgan folgte dem Blick des Alten Niemand, konnte aber nichts erkennen. Sein Gefährte musste Adleraugen haben, wenn er dort hinten jemanden sah. »Er trägt das Gesicht eines Widders ....« Bolgan schauderte, und er begriff, dass sein Begleiter nicht mit den Augen schaute. Eher mit der Seele. Oder einem Sinn für Gefahr. »Aber ich bin mir nicht sicher ...« Das Gesicht des Alten Niemand war bleich und wächsern. Dann kehrte wieder Leben in seinen Blick zurück, als erwachte er aus einem unangenehmen Traum. Was immer er gespürt hatte: Es war an ihnen vorbeigezogen, ohne die Augen auf sie zu richten. »Verzeih meine dunklen Ahnungen; wahrscheinlich sind das nur Hirngespinste eines alten Mannes. Aber einen Moment dachte ich wirklich ...«, murmelte er. Wieder sah er nachdenklich zum Tempelbezirk hinüber. »Es heißt«, sagte er dann langsam, »dass die Geister der erschlagenen Khorer noch hier umgehen. Nachts. Weil man zwar Menschen töten kann, aber nicht die Seele eines ganzen Volkes. Etwas von ihnen hat überlebt. Und es befindet sich immer noch hier. Wahrscheinlich war es das, was ich gespürt habe.« 53 >Die Seele eines VolkesManchmal verstehe ich ihn einfach nicht. Es kann doch nicht überall nur Geister geben .. .< Der Alte Niemand straffte sich. »Gehen wir wieder hinunter, bevor es ganz dunkel wird. Wir müssen noch Feuerholz suchen.« In den Ruinen wuchsen Büsche, von denen sie ein paar vertrocknete Äste abbrachen. Am Fuß der Pforte entfachten sie ein Feuer und bereiteten sich ein Nachtmahl. Sie aßen schweigend; Bolgan musste über die vielen Dinge nachdenken, die der Alte Niemand erzählt hatte. Der sprach kaum. Er schien müde von der langen Wanderung. Bolgan spürte das und hielt sich zurück, obwohl er viele Fragen zum alten Khor hatte. Inzwischen war die Dunkelheit vollends über die Ruinen herabgesunken, und ein schwarzer Sternenhimmel stand strahlend über der versunkenen Stadt. Der Alte aber wickelte sich in seine Decke und sagte: »Lass uns nun schlafen. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.« Auch Bolgan machte sich zur Nacht zurecht, doch nur dem Alten Niemand zuliebe; er hatte so viel gesehen, dass er nicht müde war. Eine seltsame Unruhe erfüllte ihn. »Solltest du in der Nacht fremdartige Geräusche hören - achte nicht darauf. Und versuche auf keinen Fall, ihren Ursprung herauszufinden.« »Sprecht Ihr von den Geistern der Toten?«, fragte Bolgan neugierig. »Glaubt Ihr wirklich an sie?« Der Alte Niemand schmunzelte plötzlich. »Das vermindert das Risiko, ihnen auf den Leim zu gehen. Ich glaube, sie sind nicht direkt böse - aber sie versuchen einen in die Ruinen zu locken, und dann treiben sie Schabernack. Es ist jedenfalls besser, sich nicht näher mit ihnen zu beschäftigen.« »Schon seltsam, was es in dieser Stadt alles gibt«, sagte Bolgan. Aber er dachte: >Der Teufel soll mich holen, wenn hier wirklich Geister spuken. Der Alte Niemand mag ein mächtiger und weiser 54 Mann sein - aber es wohnen doch nicht in jedem Teil der Lande Geister, bloß weil es ein wenig unheimlich aussieht.< »Ich werde mich nicht vom Feuer entfernen«, versprach er. »Solange Ihr mich mit Eurem Schnarchen nicht vertreibt.« »Ich werde mir Mühe geben«, sagte der Alte Niemand lächelnd. Mitten in der Nacht erwachte Bolgan plötzlich. Leise, um den Alten Niemand nicht zu stören, der friedlich neben ihm schlief, setzte er sich auf. Irgendein ungewohntes Geräusch musste ihn geweckt haben. Aber jetzt war kein Laut mehr zu hören, nicht einmal das Zirpen einer verspäteten Grille durchdrang die Nacht. Das alte Khor lag in tiefstem Frieden. Leise seufzend streckte sich Bolgan, denn vom langen Liegen auf der Erde tat ihm der Rücken weh. Ob er sich die Beine vertreten sollte? Zwar hatte ihm der Alte gesagt, er solle auf der Hut sein, doch was konnte schon passieren? >Vielleicht spukt es hierDoch ich glaube nicht daran.< Bolgan war noch jung, keine zweiundzwanzig Jahre alt. In diesem Alter macht man sich über Geister herzlich
wenig Gedanken. Er schlug die Warnung des Alten in den Wind, stand leise auf - und ging los, geradewegs ins Ruinenfeld hinein. Der Mond war noch nicht aufgegangen, aber die Sterne strahlten hell genug, um die alten Straßenzüge erkennen zu können. Die Wölfe hatten furchtbar gewütet: Keine einzige Hausmauer stand noch aufrecht, alles war zerstört, mit Gras überwachsen, und Steine waren über die Straßen verstreut. Aber die Häuser mussten schön und prächtig gewesen sein. >Eigentlichmüsste es einem Angst machen, sich nachts allein hier herumzutreiben. Aber ich kann mir nicht 55 vorstellen, dass Gefahr droht. Wahrscheinlich wollte der Alte Niemand nur, dass ich keine Dummheiten mache.< Ohne es zu merken, strebte Bolgan dem Tempelviertel zu - und war erstaunt, als er sich plötzlich unter den Kolonnaden wieder fand, die er von der Pforte aus gesehen hatte. Eigentlich hatte er nur ein paar Schritte gehen wollen; jetzt erst bemerkte er, wie weit er schon vom Lagerplatz entfernt war. >Vielleicht sollte ich umkehrenAber wenn ich schon mal da bin .. .< Hier, im Herzen der Stadt, hatte sich der Hass der Wölfe am stärksten entladen. Trotzdem hatten sie den Tempelanlagen nicht viel anhaben können. Das bleiche Sternenlicht beschien die geborstenen Mauern und ließ ihre Wunden vernarben. Nachts sah alles intakt und bewohnbar aus - als seien die letzten neun Jahrhunderte nur in dunklen Wolken darüber gezogen. >Diesen Ort braucht man nicht zu verzaubernEr trägt seine eigene Magie in sich.< Jeder Zauber hat die Eigenart, dass man ihn erst bemerkt, wenn 1 es zu spät ist. Mit Bolgan verhielt es sich genauso: Längst überschattete die Magie der untergegangenen Stadt seine Wahrnehmung. Die Vergangenheit war auf ihn aufmerksam geworden - und flatterte lautlos vom Boden auf. >Ich höre MusikAber das kann nicht sein ...< Erschrocken wandte er sich um. Dem Tempel gegenüber lag die Ruine eines Palastes. Das Dach war eingestürzt; Sternenlicht fiel durch die frei stehenden Säulen und tauchte die Anlage in die Farben der Nacht. Doch in den Mauern erblickte Bolgan ein Licht. Er sah genauer hin und bemerkte, dass im Palast ein Fest vor sich ging. Er überwand seine Angst und schlich näher. »Das ist nicht möglich«, murmelte er. 56 In den Gemächern waren Menschen. Es mussten die Reichen der Stadt sein, denn sie waren alle in prächtige Gewänder gehüllt, und Sklaven trugen Speisen und Getränke auf. >Wo kommen die denn her?Wir hätten sie doch sehen müssen. Ob das die Geister sind, von denen der Alte Niemand gesprochen hat?< Doch das Bild sah nicht aus wie eine Täuschung. Dann und wann drang lautes Lachen zu ihm herüber. >Wie schön sie alle sindWie schön sie alle sind .. .< Doch plötzlich hörte er etwas anderes. Es kam aus dem Tempel. Auch unter den Arkaden ertönte Musik - ein monotoner Gesang. Kalt und streng brach er sich an den Säulenreihen, drängte die lebensfrohen Klänge zurück und trieb sie auseinander. Eine Prozession von Priestern trat aus dem Schatten des Säulensaals und ging in zwei Reihen zum Palast hinüber. Bolgan huschte in das Stockdunkel einer Nische. Er hatte genau im Blickfeld der Priester gestanden - eigentlich hätten sie ihn bemerken müssen. Doch sie gingen an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten. Ihre Köpfe waren kahl geschoren, bis auf eine kleine runde Stelle am Hinterkopf, wo die Haare zu einem dünnen Zopf geflochten waren. Ihre Gesichter waren streng und düster, genau wie ihr Gesang. Bolgan fragte sich, warum sie so ernst waren immerhin ging hier ein großes Fest vor sich. Oder war genau das der Grund für ihren seltsamen Zug? 57 >Ein Widder. < Bolgan zuckte erschrocken zusammen. >Sie tragen einen Widder ...< Die Priester waren schon an ihm vorbei. Ihnen folgten vier Männer, die auf einer Bahre einen Schrein trugen, in dem man den stilisierten Kopf des Tieres erkennen konnte - eine silberne Maske mit zwei gedrehten Hörnern aus Holz. Die Augen waren aus Glas; gefährlich schimmerten sie im Licht der Fackeln. >Sie verkünden den TodUnd den Untergang der Stadt.< Alles kam ihm wie ein böser Traum vor - mit dem Unterschied, dass man nicht daraus erwachen konnte. Bolgan bereute jetzt, die Warnung des Alten Niemand missachtet und allein die Ruinen erforscht zu haben. Etwas war auffällig an der Widdermaske. In die Stirn war ein Edelstein eingelassen, der als drittes Auge erschien. Er war klein, strahlte aber hell wie ein Stern. Bolgan musste an die Zaubersteine denken, von denen der Alte Niemand gesprochen hatte, und spürte instinktiv, dass dieses Juwel wichtig war.
Mittlerweile war die Prozession in der Palastruine angekommen und das Fest vorbei. Aller Prunk war verschwunden; die schönen Menschen, eben noch ganz ausgelassen, standen in Lumpen gehüllt beieinander und klagten. Die Träger hatten den Schrein mit der Widdermaske auf den Stumpf einer Säule gestellt. Wie von Geisterhand gezogen, sank ein Mensch nach dem anderen zu Boden und verneigte sich vor dem Widder. >Ob es sich damals genauso abgespielt hat?Sie haben gewusst, dass ich hier bin!Sie haben es die ganze Zeit gewusst! < Dann begriff er, nicht zufällig auf diese Erscheinung gestoßen zu sein. Alles war nur für ihn da gewesen; die Khorer erwarteten etwas von ihm. Er sollte den Fluch des Schwarzen Prinzen von ihnen nehmen. »Aber das kann ich nicht«, murmelte Bolgan. »Ich habe keine Macht über ihn.« Die Khorer starrten ihn an. Vielleicht wussten sie nicht, dass über neunhundert Jahre sie voneinander trennten. Plötzlich war es, als seien ihre Bewegungen eingefroren bis ans Ende aller Tage. »Es ist nicht meine Schuld«, sagte Bolgan und trat aus dem Schatten. Da verblassten die Gestalten und lösten sich in nichts auf. Der Zauber war gebrochen. »Geht nicht weg«, rief Bolgan. »Ihr braucht keine Angst vor mir zu haben. Ich«, log er, »habe ja auch keine.« Doch die Gestalten kehrten nicht zurück, und in Bolgan stieg das vage Gefühl auf, dass sie vielleicht nicht von ihm vertrieben worden waren - sondern von jemand anderem. >Hier ist noch jemand außer mir .. .< Diese Erkenntnis traf Bolgan wie ein Schock. Er schaute umher und versuchte die Nacht zu durchdringen. Irgendetwas ist da draußen .. .< Und dann sah er es - keine drei Meter entfernt. Das Gesicht der Gestalt blieb im Dunkel; man sah nur die weit aufgerissenen Augen, in denen sich das Sternenlicht spiegelte. »Wer bist du?«, fragte Bolgan erschrocken. Aber dann dachte er: >Das ist ja einer von uns .. .< Der junge Mann trug die Tracht eines Hochhügelländers. Er war nicht viel älter als Bolgan; reglos stand er da und starrte ihn an. Bolgan zögerte, denn die stumme Gestalt war ihm unheimlich, 59 doch dann gab er sich einen Ruck. Er ging auf ihn zu, grüßte ihn als Hochhügelländer und fragte: »Wer bist du? Ich kenne dich nicht.« Die Gestalt sah Bolgan nur an, und es war nicht zu erkennen, ob sie ihn verstanden hatte. >Er sieht aus wie eine TotenmaskeEr ist verrückt geworden^ dachte Bolgan. Er war dem Wahnsinn schon einmal begegnet: Vor zwei Jahren war der alte Gamli, ein kräftiger Waldarbeiter von sechzig Jahren, tot zusammengebrochen - vor den Augen seiner Frau. Bolgan war als Erster hinzugekommen und würde niemals ihren durchdringenden Blick vergessen. Dann hatte sie aufgeschrien und war in den Wald gerannt. Man fand sie erst drei Tage später. Sie hatte ihren Kopf so lange gegen einen Felsen gestoßen, bis sie todwund zusammengebrochen und verblutet war. >Wenn der Alte Niemand doch hier wäreEr könnte jetzt helfen. Ich muss ihn holen ...< Da öffnete sich der Mund des jungen Mannes zu einem markerschütternden Schrei, der zwischen den Ruinen schaurig widerhallte. Dann sprang er auf Bolgan zu und bearbeitete ihn wie wild mit den Fäusten.
»Nein, du bist es nicht! Alle sind es nicht! Du ...« Blindwütig hämmerte er auf Bolgan ein, der um ein Haar zu Boden gegangen wäre. Aber dann wich er seinem tollwütig gewordenen Gegner aus und fing die unkontrollierten Schläge des Hochhügelländers ab, so gut es ging; schließlich erwischte er ihn am Genick und riss ihn mit sich zu Boden. »Sei vernünftig«, zischte er. »Ich will dir nicht wehtun. Aber wenn du mich nicht in Ruhe lässt...« »Du kriegst mich nicht! Du kriegst mich nicht!«, keuchte der junge Mann. »Da waren Dinge ...« Sich hin und her windend wie eine Schlange, arbeitete er sich aus Bolgans Umklammerung heraus. Der Wahnsinn verlieh ihm die Kraft dazu. »Sei doch vernünftig!« Bolgan versuchte ihn festzuhalten. »Beruhige dich! Ich tu dir doch nichts ...« Da rollte sich der Hochhügelländer plötzlich zur Seite, rappelte sich auf und rannte davon - geradewegs auf die Pforte zu. »Das gibt ein Unglück.« Bolgan sprang auf, sank aber sofort 61 wieder stöhnend in die Knie. Der Mann hatte ihn gegen den Knöchel getreten. Bolgan biss die Zähne zusammen, stand auf und hinkte dem Flüchtenden nach. »Warte!«, rief er, doch er wusste, dass es keinen Sinn hatte. Wieselflink rannte der andere davon, stolperte, rappelte sich wieder auf und hastete weiter. Blindwütig sprang er über Ruinen, zerfallene Häuser, Steinbrocken, als werde er von allen Teufeln gejagt. Bolgans Schmerzen ließen nach, und er nahm die Verfolgung auf. Doch obwohl er ein guter Läufer war, konnte er ihn nicht einholen. >Was will er bei unserem Lager?Vielleicht ist das Tor ja der einzige Ausgang aus der Stadt, und er will im Grasland verschwinden^ Aber er ahnte, dass die Person, die er verfolgte, zu planendem Denken gar nicht mehr fähig war. >Er rennt einfach nur geradeaus ...< Jetzt war die Gestalt vor der Pforte angelangt - und verschwand im Aufgang. Bolgan war sofort klar, was folgen würde. »Nicht!«, rief er. »Nicht da hinein!« Er duckte sich, um sich auch durch den Riss zu zwängen; da tauchte aus dem Dunkel eine Hand auf, packte ihn an der Schulter und hielt ihn zurück. Bolgan fuhr herum. »Lass ihn.« Wie aus dem Boden gewachsen, stand der Alte Niemand vor ihm. »Du kannst ihm nicht mehr helfen.« »Er ist wahnsinnig!« Bolgan versuchte sich loszumachen. »Wir müssen ihm helfen, sonst ist es zu spät!« »Es ist schon jetzt zu spät«, erwiderte der Alte dumpf. »Schau.« Bolgan wollte sich losreißen, aber da sah er den Hochhügelländer oben auf der Plattform stehen. Der Himmel allein mochte wissen, wie er so schnell den Weg durch den stockdunklen Gang gefunden hatte. Nur seine Augen waren zu erkennen; unheimlich flackerten sie im Dunklen. Der Mann schaute herunter und zögerte. 62 »Weg da!«, schrie Bolgan. Aber es war zu spät. Mit einem gellenden Schrei sprang der Hochhügelländer über den Rand. Wild ruderte er mit den Armen, überschlug sich mehrmals in der Luft und schrie dabei, als werde ihm die Seele aus dem Leib gerissen. Er schien unendlich langsam zu fallen. Bolgan stand vor Schreck wie angewurzelt und konnte sich nicht rühren. »Nein«, flüsterte er. »Nicht...« Es gab einen dumpfen Stoß, als der Mann aufschlug. Das Gras zu ihren Füßen erzitterte leicht. In einiger Entfernung raschelte es; erschreckte Wühlmäuse brachten sich in Sicherheit. Dann war Stille. Ohrenbetäubende Stille. »Er ist tot.« Bolgan konnte es nicht fassen. »Er war schon so gut wie tot, als er hierher kam«, erwiderte der Alte Niemand. Bolgan wandte sich seinem Gefährten zu. »Ihr habt es gewusst, nicht wahr? Als wir auf der Pforte standen, habt Ihr gespürt, dass dieser Mann sich in den Ruinen versteckt.« »Zumindest geahnt«, gestand der Alte. »Ich habe die Gegenwart eines Menschen gespürt - eines Menschen, der vom Schwarzen Prinzen gezeichnet ist. Morgen werden wir ihn begraben müssen. Er soll nicht als Fraß für wilde Tiere enden.« Bolgan fragte nicht weiter. Sein Gefährte brachte ihn wortlos zum Lagerplatz zurück, wo sie sich am erloschenen Feuer niedersetzten. Lange saßen sie in der Dunkelheit, ohne ein Wort zu sagen, der Alte Niemand ernst und traurig, Bolgan verstört und nervös. Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf. Sein Gefährte hätte das Geschehene vielleicht begreiflich machen können - aber er schwieg beharrlich wie ein Grab. Schließlich hielt Bolgan es nicht mehr aus. »Jetzt sagt mir doch, was es mit diesem Mann auf sich hat!«, brach es aus ihm hervor. »Ihr müsst doch eine Erklärung haben.« 63 Einen Moment lang trafen sich ihre Blicke. Der des Alten Niemand war so voller Trauer und müder Verzweiflung, dass Bolgan im Herzen fror.
»Was geht im Hochhügelland vor?«, fragte er leise. Da fasste ihn der Alte sanft am Arm. In seinen Augen lag tiefes Mitleid - aber auch eine erbarmungslose Wahrheit. »Dieser Mann hat sich in der Gewalt des Schwarzen Prinzen befunden. Brangwen war also nicht das erste Opfer, und die Menschentransporte haben schon begonnen. Irgendwie muss er entkommen sein - aber um den Preis seines Verstandes. Wahrscheinlich hat er nicht ertragen, was er gesehen hat.« »Also geht der Schwarze Prinz tatsächlich im Hochhügelland um«, sagte Bolgan leise. Wütend über seine Hilflosigkeit warf er sich ins Gras. Es wurde eine lange Nacht für die beiden; sie lagen wach, ohne schlafen zu können. Von Westen zogen Wolken auf. Bald waren alle Sterne hinter ihnen verschwunden. Wind kam auf, ein kühler, feuchter Herbstwind; leise strich er um die zerborstenen Mauern des Torturms. Unruhig wälzten die Gefährten sich herum; die Nähe des unheimlichen Toten bedrückte sie, und sie froren unter ihrer Decke. Schließlich stand der Alte Niemand auf und ging ein paar Schritte, um sich zu wärmen; dann blieb er stehen, den Blick nach Westen gewandt. »Warum kommst du wieder?«, fragte er leise, doch Bolgan hörte es trotzdem. »Warum kommst du wieder, als sei nicht Jahr und Tag vergangen? So vieler Menschen Blut hast du getrunken; und dennoch ...« Aber der Wind gab ihm keine Antwort. 3 Unter den steinernen Zwillingen »Wenn ein Mensch stirbt«, sagte der Alte Niemand, »verwandelt sich sein Hass in einen Sturm, der durch die Lande fegt und sich ein neues Opfer sucht...« Endlich graute der Morgen. Es war kälter geworden; ein trauriger Dunstschleier erhob sich über der Ebene des Graslandes und tauchte die Stadt in unwirkliches Licht. Wortlos packten die beiden Gefährten ihre Sachen und gingen dorthin, wo der tote Hochhügelländer lag. Sein Körper war zerschmettert, das Gras mit Blut bespritzt. Bolgan wurde übel, als er seinen Landsmann so liegen sah, und er wandte den Kopf. Auch der Alte Niemand war bleich. »Er kam aus dem Hochhügelland ...«, begann Bolgan. »Ich weiß, du machst dir Sorgen um Brangwen«, erwiderte der Alte Niemand. »Glaube mir: Noch ist es unversehrt. Das erste Ziel der Wölfe war das Dorf dieses Mannes.« Plötzlich bückte er sich und betrachtete die Hand des Toten. »Eigenartig ... sie sieht aus wie verbrannt.« »Als wäre er von glühenden Fingern berührt worden«, erwiderte Bolgan. »Wahrscheinlich nur ein Zufall«, meinte der Alte Niemand. Nachdenklich besah er den Toten. »Jedenfalls kann er uns nichts mehr erzählen.« Da sie keine Schaufeln hatten, um den Hochhügelländer zu begraben, schichteten sie mühevoll Steine über ihm auf, damit ihn die Aasvögel nicht zerfleischten. Dann wandten sie sich um und verließen den grausigen Ort. 65 Es wurde ein trüber und wortkarger Tag. Im frostigen Westwind zerstob die letzte Erinnerung an den Sommer in den Landen. Schweigend marschierten die beiden dahin; immer noch lastete der Anblick des unheimlichen Gesellen auf ihnen. Welche Gefahren warteten in Bolgans Heimat auf sie? Der Alte Niemand wusste es, doch er behielt seine Gedanken für sich. Das Hochhügelland, gestern nur eine ferne blaue Mauer, rückte langsam heran. Dunkel und rau sah es aus, und immer höher ragten die mit dunklen Tannen bestandenen Hänge in den Himmel. »Seht Ihr die beiden Bergkuppen?« Bolgan deutete nach Nordwesten. Der Alte Niemand blieb stehen und nickte. »Bei uns heißen sie die Steinernen Zwillinge, weil sie fast gleich geformt sind. Sie sind so hoch, dass kein Baum auf ihnen wachsen will, und nur mit Heide und einigen Büschen bedeckt. Zwischen ihnen führt der Weg zu meinem Dorf.« Der Alte kniff die Augen zusammen. »Ich sehe ihn. Dann ist es Zeit, die Heerstraße zu verlassen.« Das Land begann langsam zu steigen. Unter das Gras mischte sich Buschwerk, und die ersten schwarzen Tannen tauchten am Wegrand auf. Dann stießen sie auf einen schmalen Pfad, der mitten in den Wald führte. Über ihnen wandten die Steinernen Zwillinge einander das fahlgrüne Haupt zu, als hätten sie sich vor Unzeiten mit ihren Blicken gegenseitig versteinert. Bolgan blieb stehen. »Sollen wir vor dem Aufstieg noch etwas rasten?« Er deutete auf einen moosbedeckten Stein. »Wir haben einen anstrengenden Weg vor uns.« »Gute Idee«, sagte der Alte und schnallte seinen Rucksack ab. Die Müdigkeit war ihm anzumerken. Sie setzten sich auf den Stein, um zu verschnaufen. »Wovon lebt das Hochhügelland jetzt?«, fragte der Alte Niemand. »Von der Jagd, wie zu meiner Zeit, oder vom Ackerbau?« 66 »Von beidem, und das mehr schlecht als recht«, antwortete Bolgan. »Rings um mein Dorf wächst nicht viel -
Roggen, Kartoffeln, etwas Hanf. Wir stellen Fallen, und jeden Herbst machen wir Treibjagd, damit wir Fleisch haben. Der Winter ist lang im Hochhügelland.« »Ich weiß«, erwiderte der Alte. »Ich erinnere mich noch genau an die stillen Wälder, durch die der Nebel zieht, und an ihre Bewohner, die oft hart und verschlossen waren, wenn ich sie nach ihren Geschichten fragte.« Er blickte nachdenklich auf das abweisende Bergland. »Manchmal wundert es mich, wo Menschen sich niederlassen«, sagte er. »Das Grasland, das gesamte Tal des Falun - fruchtbarer Boden und mild, man könnte gut darin leben. Aber gerade diese Gebiete sind heutzutage fast leer; nach der Zerstörung des alten Khor hat sich niemand mehr dort angesiedelt. Doch hier, wo sogar die Hasen Hunger leiden, krallen sich die Menschen in der dünnen Bodendecke fest, als gäbe es nichts anderes auf der Welt. Ihr Hochhügelländer seid ein seltsames Volk.« »Es ist unsere Heimat«, meinte Bolgan nur. Der Alte lächelte. »Habt Ihr nie eine Heimat gehabt?«, fragte Bolgan verwundert. »Nicht, seit der Schwarze Prinz gekommen ist«, erwiderte der Alte. Ein Schatten zog über sein Gesicht. »Nach der Zerstörung meines Dorfes war meine Heimat dort, wo ich abends einschlief. Das war gut so, denn es hielt die dunklen Gedanken fern. Dann war Araukaria viele Jahre meine Heimat. Danach die Tanzenden Berge.« »Ich will nur eine einzige Heimat haben«, sagte Bolgan. »Du kennst ja auch nichts anderes«, antwortete der Alte Niemand belustigt. »Wenn du Araukaria einmal sehen würdest - das ist eine wunderbare Stadt. Dort gibt es mehr als Roggen und Kartoffeln. Auf dem Markt findest du Köstlichkeiten, die du nicht ein67 mal mit Namen kennst. Jeden Tag treffen am Ufer des Falun Schiffe aus aller Herren Länder ein, die ...« »Aber Ihr habt die Stadt doch verlassen«, warf Bolgan ein. Der Alte lächelte und schwieg. »Und in Eurem Land der Tanzenden Berge wächst auch nicht mehr als bei uns.« »Das ist nicht wahr!«, ereiferte sich der Alte. »Es gibt alle möglichen Gemüsesorten, von denen die Hälfte keinen Winter bei euch überlebt. Dazu die Äpfel und ...« Sie sahen sich an und mussten lachen. »Deine Heimat sei dir gegönnt«, lenkte der Alte ein. »Ich will sie dir nicht mies machen, auch wenn sie noch so abweisend ist.« Er sah sich um. »Wäre es nicht besser, hier unten zu übernachten und erst morgen weiterzuwandern? In den Bergen wird es gewiss kalt werden.« »Nein, wir gehen heute noch hinauf«, sagte Bolgan bestimmt. »Unterhalb der Steinernen Zwillinge ist eine kleine Höhle, wo wir die Nacht verbringen können.« Der Alte Niemand sah ein, dass es keinen Sinn hatte, die Sache weiter hinauszuzögern. »Du hast Recht. Aus mir spricht die Müdigkeit, nicht der Verstand. Aber du musst mir verzeihen, denn ich bin alt, und die Bequemlichkeit nistet sich gern bei alten Männern ein.« Bolgan lächelte. Dann kramte er in seinem Rucksack und brachte einen Beutel mit ein paar bräunlichen Beeren zum Vorschein. »Nehmt. Die wachsen bei uns auf der Heide. Wir haben immer einen Vorrat dabei, weil sie Kraft geben.« Der Alte Niemand fischte eine getrocknete Beere heraus, kostete - und verzog das Gesicht. »Sauer und bitter«, urteilte er streng. »Man muss schon sehr geschwächt sein, um davon freiwillig zu essen.« 68 Bolgan lachte. »Sie sind sauer wie das Leben bei uns. Aber man gewöhnt sich schnell an ihren Geschmack.« Etwas widerstrebend aß der Alte Niemand noch eine Beere. »Stimmt«, sagte er dann. »Wie heißen sie?« »Wir nennen sie Schlehen«, erklärte Bolgan. »Sie wachsen an Dornsträuchern. Man muss mit dem Pflücken bis zum Spätherbst warten, wenn der Raureif gekommen ist. Denn erst durch den Frost werden sie genießbar.« »Interessant«, sagte der Alte Niemand. »Den Strauch musst du mir zeigen.« »Es wird kalt.« Bolgan stand auf und schnürte seinen Rucksack. »Machen wir, dass wir weiterkommen.« Bald umgab dichtes Tannengrün die beiden Wanderer. Immer steiler wurde der Pfad, und silbern dampfte ihr Atem in der kälter gewordenen Luft. »Nun verstehe ich, warum du nicht zu Pferd gekommen bist«, sagte der Alte Niemand, während er ächzend einen Felsbrocken überstieg. »Keinen noch so geduldigen Gaul hättest du diesen Weg hinuntergebracht.« »Wir haben sowieso kaum Pferde«, meinte Bolgan gedankenverloren. Er blieb stehen und schaute sich um. Etwas schien ihn zu beunruhigen. »Was ist?«, fragte der Alte Niemand und sah auf. »Sollen wir eine Rast einlegen?« »Es ist so seltsam still im Wald«, antwortete Bolgan langsam. Der Alte Niemand wandte sich um. Das Hochhügelland besteht aus Kalkstein, den das Wasser im Lauf der Jahrtausende aushöhlt, sodass Felsen in den wunderlichsten Formen zutage treten. Das Wasser wäscht kleine Höhlungen in sie hinein, die Augen und Mündern gleichen, oder es arbeitet Nasen, Ohren und absonderliche Warzen heraus, und manche Felsbrocken
sehen sogar aus, als habe ein Steinmetz einen grantigen 69 Zyklopen geformt. Darüber hinaus durchziehen das Hochhügelland weit verzweigte Höhlensysteme, die in tiefen Spalten, aus denen Nebel aufsteigt, an der Erdoberfläche enden. Die Menschen meiden diese Spalten. Es ist dort nicht geheuer, sagen sie. »Normalerweise singen die Vögel, oder es raschelt im Gebüsch. Doch jetzt hört man nichts. Gar nichts.« Der Alte Niemand wusste, was Bolgan dachte. Trotzdem schwieg er beharrlich. Die Ruhe des Waldes machte das Reden schwer. Manchmal zogen Wolkenfetzen über den Weg und nahmen ihnen die Sicht. Als hätten sich die Windgeister in Nebel verwandelt, um die beiden Wanderer näher betrachten zu können. Nach gut vier Stunden kamen sie über eine Anhöhe, und dann ragten die Steinernen Zwillinge vor ihnen auf. Der Alte Niemand blieb wieder stehen, um sich umzuschauen. Bis zum Horizont erstreckte sich der Wald, durchbrochen von zahllosen Heidehügeln, deren Erdkrume zu dünn war, um Bäume zu tragen. Da und dort ragten verwitterte Felsen auf. »Bei uns erzählt man den Kindern, dass die bösen Menschen nach ihrem Tod zwischen den Steinernen Zwillingen hindurchgehen müssen«, sagte Bolgan. »Wenn sie dann ihre Sünden nicht bereut haben, stürzen sie ins Faluntal ab.« »Manchmal habe ich den Eindruck, alles, was sich außerhalb des Hochhügellands befindet, macht euch Angst«, sagte der Alte. »Es ist uns jedenfalls fremd, und wir denken nicht gerne daran«, gab Bolgan zu. »Die Steinernen Zwillinge sind die Grenzen unserer Welt.« Der Alte Niemand schaute nachdenklich zu den grimmigen Felsgesichtern hinauf. »Ich kann mir schon vorstellen, dass die Berge eine Grenze sind«, murmelte er. »Ich rieche Rauch«, sagte Bolgan plötzlich. 70 Der Alte Niemand schnupperte. »Ich nicht.« »Doch«, beharrte Bolgan. »Ganz schwach. Irgendwo brennt es.« »Ist ein Dorf in der Nähe?« »Das nächste Dorf ist Brangwen.« Sie starrten sich an. Der Alte Niemand sah die aufkeimende Angst in Bolgans Augen und beschwichtigte ihn: »Das ist zu weit. Über sechzehn Meilen riecht man keinen Rauch.« »Aber was ist es dann?« Der Alte Niemand spähte über die Lande. »Da hinten.« Er deutete nach Südwesten. Bolgan hatte sich nicht getäuscht: Eine Meile entfernt stieg eine hauchdünne Rauchsäule in den Himmel. Sie hatten Glück gehabt -eine Viertelstunde später hätte man sie vor Dunkelheit nicht mehr sehen können. »Das liegt am Weg nach Brangwen«, sagte Bolgan. »Da scheint jemand ein Lagerfeuer angezündet zu haben ...« »Und zwar ein sehr kleines«, bemerkte der Alte Niemand. »Um ein Haar wäre es mir entgangen ...« »Ihr habt scharfe Augen. Aber wer mag hier sein Lager aufschlagen?« »Jemand, der nicht bemerkt werden will«, antwortete der Alte Niemand trocken. »Seid Ihr sicher?« »Nein. Aber das tut nichts zur Sache. Wir müssen schleunigst weiter; hier oben könnten sie uns sehen.« »Wer?« »Die Wölfe.« Sie hasteten in den Schutz des Waldes. Alle Müdigkeit war vom Alten Niemand gewichen. »Wenn es Nacht ist, brechen sie auf«, sagte er. »Vermutlich kommen sie hier vorbei.« Wenig später saßen sie, keine zehn Meter vom Pfad entfernt, hin71 ter einem Baum. Bolgans Herz hämmerte vor Aufregung. Die Wölfe kamen aus Richtung Brangwen. Hatte der Alte Niemand vielleicht Unrecht? Waren sie schon dort gewesen? Das Schweigen des Waldes wurde immer lastender. Eine Zeit lang war ihr Herzschlag das einzige Geräusch. »Da kommen sie«, flüsterte der Alte Niemand plötzlich. Zunächst sah Bolgan nur ganz kurz ein kleines Licht zwischen den Bäumen. Dann flackerte es wieder auf, näher als vorher. »Sie sind gleich da.« Jetzt war der Fackelträger auf ihrer Höhe; Bolgan kniff instinktiv die Augen zusammen, um sich nicht durch ihren Widerschein zu verraten. Schritte waren zu hören, und der weiche Waldboden erzitterte leicht. »Das ist der Wegsucher«, flüsterte der Alte Niemand. »Nur er hat eine Fackel. Die anderen folgen ihm. So können sie fast nicht entdeckt werden. Man muss im Wald bis auf fünfzig Meter herankommen, um eine Fackel zu sehen ...« Lautlos zogen die Gestalten vorbei. Sie marschierten schnell; nur ihre Köpfe hoben sich als dunkle Schatten gegen die Bäume ab. Es mussten Hunderte sein. Hin und wieder ertönte ein leises Klirren. »Wenn das wirklich Wölfe sind«, flüsterte Bolgan, »warum sind dann keine Nachtmahre dabei?«
»Wenn sie gemeinsam ein Dorf überfallen, verrichten die Nachtmahre die grobe Arbeit. Ihr Fehlen kann bedeuten, dass die Schlacht schon geschlagen ist. Hörst du das Klirren?« »Ja.« »Das sind Eisenketten. Hier ziehen gefangene Hochhügelländer vorbei.« Bolgan erstarrte. »Es sind sicher nicht die Bewohner von Brangwen«, sagte der Alte Niemand schnell, doch es klang hilflos. »Sie kommen zwar aus dieser Richtung, aber das heißt nicht...« 72 »Ich muss näher heran.« Bolgan erhob sich. Der Alte hielt ihn zurück. »Auf keinen Fall! Wir werden nur entdeckt.« »Aber ich muss wissen, ob es meine Leute sind!« »Das hat keinen Sinn, Bolgan. Du ...« Doch Bolgan hatte sich schon aus dem Griff des Alten Niemand befreit und kroch vorsichtig nach vorn. »Nicht«, flüsterte der Alte. »Nicht!« Bolgan kam nicht weit. Gerade wollte er hinter einem breiten Strauch Zuflucht suchen, da lösten sich mehrere Gestalten aus dem Dunkel und warfen sich auf ihn. Bolgan kam nicht dazu, sich zu wehren; ein dumpfer Schlag auf den Hinterkopf, und er rührte sich nicht mehr. »Ich hab's geahnt...«, murmelte der Alte Niemand verzweifelt. »Beweg dich nicht«, flüsterte eine Stimme hinter ihm. »Sonst töten wir dich.« Bolgan konnte nicht sagen, wie lange er bewusstlos gewesen war. Als er erwachte, brummte ihm der Schädel. Benommen schlug er die Augen auf: Er befand sich in einer Höhle, gebunden mit mehreren Stricken. Der Alte Niemand lag neben ihm. »Ich hatte dich gewarnt«, sagte er. »Tut mir Leid«, brummte Bolgan. In seinem Kopf pfiff und dröhnte es. »Ich tue es bestimmt nie wieder.« Der Alte Niemand schmunzelte. Er wirkte bemerkenswert gefasst. »Freut mich, wenn du dazugelernt hast. Wie geht es dir?« »Der Kopf tut mir weh.« »Recht so! Einem Gefangenentrupp des Schwarzen Prinzen nähert man sich nicht.« »Ich konnte doch nicht ahnen, dass sie uns gesehen haben«, klagte Bolgan. »Ihr habt es doch auch nicht gewusst, oder?« 73 »Ich war genauso überrascht wie du.« Bolgan sah umher. Die Höhle war eigentlich nur eine kleine Felsenkammer, aus der ein schmaler Gang ins Freie führte. In einer Nische stapelten sich Kartoffelsäcke, was Bolgan wunderte. »Die Wölfe scheinen länger bleiben zu wollen«, sagte er. »Die Kartoffeln reichen für den ganzen Winter.« »Wir sind nicht in der Hand der Wölfe.« »Was?« »Hätten die uns beim Spionieren erwischt, wärst du nie wieder aufgewacht. Oder wahnsinnig, wie der junge Mann in Khor. Wir sind in der Hand der Hochhügelländer.« Bolgan machte große Augen. »Dann sind wir gerettet!« »Noch nicht. Sie haben das Gleiche getan wie wir - die Wölfe beobachtet. Dann haben sie bemerkt, dass sie dabei nicht allein sind, und uns gefangen genommen.« »Wo sind wir hier?« »In einem Dorf südwestlich der Steinernen Zwillinge. Ich glaube, es heißt Braen.« »Das kenne ich; es ist etwa zwölf Meilen von Brangwen entfernt.« »Das ist nicht allzu weit«, murmelte der Alte Niemand. »Aber zunächst müssen wir die Hochhügelländer davon überzeugen, dass wir nichts mit dem Schwarzen Prinzen zu tun haben ...« »Sie haben doch gesehen, dass wir die Wölfe beobachtet haben, genau wie sie.« »Sie sind äußerst misstrauisch.« Der Alte verzog das Gesicht. »Ich weiß nicht, warum. Auf dem Weg hierher haben sie kein Wort mit mir gesprochen. Sie behandeln uns wie Todfeinde.« In diesem Moment wurde es in der Höhle dunkel. Vier hoch gewachsene Männer kamen herein. Sie waren jung, vielleicht zwanzig Jahre alt, und ganz in braunes Leder gekleidet. Am Gürtel trug 74 jeder eine Axt und einen Dolch; der Alte Niemand zweifelte keinen Augenblick daran, dass sie damit umgehen konnten. »Ist dein Gefährte aufgewacht?«, wandte sich der Anführer an ihn. »Ja, ich bin wach«, antwortete Bolgan ärgerlich. »Und ich danke euch von Herzen für das wohltuende Nickerchen, in das ihr mich versetzt habt. Außerdem bin ich Hochhügelländer wie ihr. Also bindet uns los und ...« »Das wird sich finden«, gab der junge Mann zurück. »Erst möchte Elrohil euch sprechen.« »Elrohil?«, fragte Bolgan überrascht. »Elrohil von Arran? Was macht der denn hier?«
»Das wirst du schon noch erfahren.« Der Hochhügelländer bückte sich und schnürte den beiden die Fußfesseln auf. »Wer ist das?«, fragte der Alte Niemand. »Elrohil ist ein Dorfmeister«, antwortete Bolgan. »Jedes Dorf hat einen - er regelt die wichtigen Dinge. Einmal im Jahr kommen die Dorfmeister in Arran zusammen; das liegt im Westen des Hochhügellands. Den Vorsitz dieser Versammlung hat seit Jahren Elrohil, denn er ist der Älteste und Weiseste unter ihnen.« »Und jetzt ist er hier«, murmelte der Alte Niemand nachdenklich. Er wandte sich an den Anführer. »Wegen der Wölfe, nehme ich an?« »Kommt mit«, sagte der Hochhügelländer. Seine drei Gefährten halfen ihnen beim Aufstehen und führten sie aus der Höhle. Der Alte Niemand erkannte auf den ersten Blick, dass Braen eines der größeren Dörfer im Hochhügelland sein musste. Es mochte vier- bis fünfhundert Bewohner haben. Die Häuser waren dicht an dicht gebaut, und ihre wenigen Fenster zeigten nicht zum Wald hin. Das Dorf war unbefestigt, aber die Zugänge waren so eng, dass sie bei Gefahr schnell gesperrt werden konnten. 75 In Braen herrschte der Alltag eines gewöhnlichen Herbstmorgens. Die Menschen waren nur in dünne, braune Lederkleidung gehüllt; die Kälte schien ihnen nichts auszumachen. Sie waren zu stolz, um ihre Neugierde zu zeigen: Jeder ging seiner Arbeit nach, ohne auf die beiden Neuankömmlinge zu achten. »Lasst Euch nicht täuschen«, sagte Bolgan so leise, dass es nur der Alte Niemand hören konnte. »Sie tun nur so, als sei alles normal.« »Woran siehst du das?«, fragte der Alte genauso leise zurück. »Ich habe noch nie einen Hochhügelländer gesehen, der bei der Arbeit gleichzeitig Axt und Dolch mit sich führt.« Bolgan deutete unauffällig auf einen Mann, der ein großes Bündel Holz in sein Haus trug. »Sie wissen, dass in den Wäldern etwas nicht stimmt.« »Recht haben sie«, murmelte der Alte Niemand. Sie hielten vor einer größeren Hütte in der Mitte des Dorfes. Der Anführer trat ein. »Was werden wir ihnen sagen?«, fragte Bolgan. »Wer weiß, ob sie uns überhaupt glauben?« »Abwarten«, erwiderte der Alte und ließ seinen Blick über die einfachen Holzhütten schweifen, aus deren Kaminen der Rauch von feuchtem Holz quoll, dann über den ärmlichen, aber sauberen Dorfplatz, schließlich über die Menschen, die ihnen mitunter verstohlene Blicke zuwarfen. >Die Angst ist auch hierUnd Bolgan hat Recht: Die Menschen spüren sie.< »Wenn Elrohil ein kluger Mann ist, wird er uns glauben«, sagte er. In diesem Moment trat der Anführer wieder aus der Hütte. »Ihr sollt hereinkommen.« Das Innere der Hütte lag im Halbdunkel, denn statt Fenstern gab es nur kleine Schlitze im Holz; Glas war hierzulande teuer. Als ihre Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, erkannten die beiden einen Versammlungsraum. Ein großer Tisch und zehn 76 Stühle bildeten die Einrichtung. In der Ecke stand ein gemauerter Herd, dessen Kohlefeuer angenehme Wärme verbreitete. Am Ende des Tisches saßen zwei Männer - der Dorfmeister von Braen und Elrohil. Selbst der Alte Niemand musste zugeben, dass es sich bei ihm um eine eindrucksvolle Erscheinung handelte. Elrohils dichtes, schlohweißes Haar war zu einem Zopf geflochten, der ihm bis an den Gürtel reichte. Sein Gesicht war faltig und verwittert; er hatte die Haut eines Neunzigjährigen, der sein Leben mit harter Arbeit verbracht hat. Die Augen verschwanden fast unter den zerfurchten Lidern, funkelten aber eigentümlich im Licht des Herdfeuers. Elrohils Körper mochte alt und gebrechlich sein; sein Geist war es mit Sicherheit nicht. >Dieser Mann ist misstrauischEr ist zu weit gegangen^ dachte Bolgan. >Er war so kurz angebunden, dass Elrohil wütend ist.< Aber er täuschte sich. Der Dorfmeister von Arran schwieg eine Weile. »Jetzt weiß ich es«, sagte er endlich. »Ihr seid der Alte Niemand.« »Ich bin froh, dass Ihr von selber darauf gekommen seid. Mir hättet Ihr es vielleicht nicht geglaubt.« Elrohil neigte den Kopf. »Ihr seid mir von Anfang an bekannt 78 vorgekommen, doch das Ereignis, mit dem ich Euch in Verbindung gebracht habe, ist über achtzig Jahre her. Ihr habt Euch kaum verändert. Damals kam ein alter Mann nach Arran, blieb einige Wochen und schrieb unsere Geschichten auf. Ich war noch ein kleiner Junge.« Der Alte Niemand nickte gedankenverloren. »Schon damals wart Ihr auf der Suche nach dem Schwarzen Prinzen«, sagte Elrohil. »Ihr hattet Angst, dass er wiederkommt...« »Ihr kennt mich gut«, erwiderte der Alte Niemand überrascht. »Ich habe nur wenigen Menschen vom Zweck meiner Forschungen erzählt.« »In neunundachtzig Jahren erfährt man einiges. Auch die Geschichte des Alten Niemand.« »Dann muss ich Euch nicht mehr viel erzählen«, sagte dieser erleichtert. »Wenn Ihr jetzt Vertrauen zu uns habt, sollten wir unser Wissen über die Wölfe austauschen.« Bolgan und der Alte Niemand berichteten abwechselnd von ihrer Reise, vor allem davon, was ihnen in Khor widerfahren war. »In den Ruinen fanden wir einen Hochhügelländer«, sagte Bolgan. »Aber er war unfähig, mit uns zu sprechen die Angst hatte ihm den Verstand erwürgt. Er stürzte sich von der Pforte herab und starb sofort.« »Ein junger Mann, ungefähr so alt wie du?«, unterbrach Elrohil. »Ja. Kanntet Ihr ihn etwa?« »Nicht persönlich. Doch ich weiß, um wen es sich handeln muss. Vor einer Woche erreichte uns Nachricht aus Bangor, einem größeren Dorf im Westen, ein Mann sei von der Arbeit im Wald nicht zurückgekehrt. Man suchte ihn überall - vergebens.« »Was ist passiert?« »Keine fünf Tage, nachdem uns die Nachricht vom Verschwinden des Mannes erreichte, wurde Bangor überfallen und angezündet. Ein Großteil der Bevölkerung wurde verschleppt.« 79 >Also ist Brangwen tatsächlich nicht als erstes Dorf bedroht wordenBangor hat es früher getroffen.< »Das ist jetzt zwei Tage her«, fuhr Elrohil fort. »Wir haben Fußabdrücke von Nachtmahren gefunden. Unterstützt wurden sie von den Kriegern, die ihr Wölfe nennt. Sie haben das Dorf gebrandschatzt, aber nicht alle Bewohner umgebracht - wir fanden Spuren von gut hundert Gefangenen, verloren sie aber in den Höhlen. Erst gestern Abend haben wir die Fährte in der Nähe der Steinernen Zwillinge wiedergefunden.« »Und seid dabei auf uns gestoßen«, sagte der Alte Niemand nachdenklich. »Kein Wunder, dass ihr misstrauisch gewesen seid.« »Ihr wart unseren Kundschaftern nahe genug, um sie zu verraten. Deswegen haben wir euch gefangen genommen.« »Ihr habt gründliche Arbeit geleistet.« Bolgan rieb sich den Schädel, der bei der Erinnerung wieder zu schmerzen begann. »Um ein Haar hättet ihr mich umgebracht.« »Wir durften kein Risiko eingehen«, warf Beol ein, der bisher kaum ein Wort gesagt hatte. »Die Wölfe sind furchtbar stark. Wir haben gesehen, was sie in Bangor anrichteten, und deswegen keine Lust, sie auf uns
aufmerksam zu machen.« »Das kann ich gut verstehen«, sagte der Alte Niemand. »Aber was ist mit den Nachtmahren? Die waren bei dem Gefangenenzug nicht mehr dabei.« Beols Gesicht verdüsterte sich. »Sie haben sich von den Wölfen getrennt und sind in den Höhlen geblieben. Selbst der tapferste Hochhügelländer traut sich nicht, ihnen dorthin zu folgen.« »Wir wissen zu wenig über die Höhlen unter dem Hochhügelland«, sagte Elrohil. »Den Nachtmahren macht die Dunkelheit nichts aus; sie können sich dort wochenlang verstecken. Oder anderswo ans Tageslicht kommen wie es ihnen beliebt.« »Das hatte ich befürchtet«, brummte der Alte Niemand unzufrieden. »Es gibt wahrscheinlich Dutzende von Ausgängen.« 80 »Hunderte. Fast jedes Dorf im Hochhügelland ist so für sie erreichbar.« Der Alte Niemand senkte den Kopf. »Dann sieht es böse aus. Wohin werden die Gefangenen eigentlich gebracht?« »Die Wölfe sind kurz vor den Steinernen Zwillingen nach Süden abgebogen. Anscheinend ziehen sie in einigen Meilen Abstand zur Nordstraße Richtung Araukaria.« Der Alte zuckte zusammen. »Aber das ergibt keinen Sinn«, murmelte er. »Nach Araukaria ...« Elrohil musterte den Alten Niemand. »Vielleicht wollen sie noch weiter nach Süden. Ins Ermingebirge. Oder nach Tifillan. Als der Morgen graute, waren sie schon weit weg, und die Kundschafter konnten ihre Zahl nur noch schätzen. Es müssen über dreihundertfünfzig Wölfe gewesen sein.« »Dann ist es jetzt Zeit zu handeln.« »Sagt uns, was wir tun sollen.« Elrohil strich sich über die Schläfen. »Als Beol hörte, was in Bangor geschehen ist, hat er mich holen lassen. Aber ich weiß keinen Rat. So lange ich denken kann, ist im Hochhügelland nie etwas Ähnliches passiert.« Zum ersten Mal zeigte sich in Elrohils Gesicht Verzweiflung. »Wir müssen so schnell wie möglich nach Brangwen.« »Dann brechen wir gleich auf«, antwortete Beol. »Und zwanzig Männer nehmen wir mit. Für alle Fälle.« »Aber was sollen die Bewohner von Brangwen tun?«, fragte Elrohil. »Sofort ihre Häuser räumen und fliehen. In andere Dörfer oder in den Wald«, antwortete der Alte Niemand. »Brangwen ist dem Tod geweiht.« »Wie viel Mann wären denn nötig, um das Dorf zu verteidigen?«, fragte Beol. »Wir Hochhügelländer sind das Kämpfen nicht gewöhnt, aber tapfer sind wir allemal.« »Tapferkeit nützt nichts«, erwiderte der Alte Niemand. »Zu 81 meiner Zeit brauchten wir mindestens vierhundert Mann, um es mit einem Trupp Wölfe aufzunehmen. Das sind keine einfachen Söldner, sondern Diener des Schwarzen Prinzen; seine Macht verleiht ihnen furchtbare Stärke. Und sie sind bis an die Zähne bewaffnet. Wenn sie dazu noch von Nachtmahren unterstützt werden, ist ein Kampf gegen sie fast aussichtslos.« »Aber wir müssen doch etwas unternehmen«, antwortete Beol verzweifelt. »Sonst wird es im Hochhügelland keinen Frieden mehr geben.« »Darum werde ich mich kümmern«, sagte der Alte Niemand. »Sobald wir die Bewohner von Brangwen gewarnt haben, reise ich nach Süden - und bitte Olean, den Born von Araukaria, Truppen hierher zu schicken. Denn nicht nur das Hochhügelland ist bedroht, sondern das ganze Reich.« »Aber ...« Beol sandte einen vorsichtigen Blick zu Elrohil. »Das Hochhügelland ist niemandem Untertan«, sagte der prompt. »Schon gar nicht Olean.« »Das tut nichts zur Sache«, antwortete der Alte Niemand. »Es geht um euer Leben, vergesst das nicht.« »Und wenn der Born die Gelegenheit nutzt, uns zu unterwerfen?«, fragte Elrohil scharf. »Wir haben Jahrzehnte gebraucht, um die araukarischen Steuereintreiber loszuwerden. Soll das alles wiederkommen?« Bolgan spannte sich. Er kannte die Meinung seines Volkes über Araukaria. Der Alte Niemand hatte einen wunden Punkt getroffen; Elrohil würde es niemals akzeptieren, dass fremde Soldaten ins Land kamen, um ihnen zu helfen. Da tat sein Gefährte etwas Überraschendes; er beugte sich vor und packte Elrohils verkrüppelte Hand. »Die Frage ist berechtigt«, sagte er. »Aber jetzt zweitrangig. Wenn ihr euch nicht helfen lasst, wird kein Hochhügelländer frei bleiben. Unterschätzt den Schwarzen Prinzen nicht! Alles, was 82 euch bisher wichtig war, ist nichtig vor der Gefahr, die euch bedroht.« Stille trat ein. Elrohil schien zu überlegen. »Ich bin alt«, wehrte er sich. »Da gibt man seine Prinzipien nicht mehr gern auf.« »Dann denkt an die Jungen«, beharrte der Alte Niemand. »Helfen denen Eure Prinzipien?« Elrohil überlegte lange; schließlich senkte er den Kopf. »Ihr habt gewonnen«, sagte er. »Aber es zerreißt mir das Herz.« »Der erste Satz zeigt Eure Klugheit«, sagte der Alte Niemand leise. »Und der zweite Eure Aufrichtigkeit.« »Wann ziehen wir los?«, fragte Elrohil.
»Sofort. Wir dürfen keine Zeit verlieren.« Selbst der Alte Niemand war erstaunt darüber, wie schnell die beiden Dorfmeister einen Trupp von zwei Dutzend Mann zusammengestellt hatten, um sie nach Brangwen zu begleiten. Keine halbe Stunde nach der Beratung waren sie unterwegs. Beol führte die Schar, und Elrohil hatte es sich nicht nehmen lassen mitzukommen. Trotz seines hohen Alters saß er aufrecht im Sattel und hielt die Zügel fest in der Hand. Obwohl es sich bei den Pferden nur um Ackergäule handelte, kamen sie gut voran. Immer noch war es diesig und kalt, aber der Wind hatte aufgefrischt; Nebelfetzen trieben über die Tannenwipfel. Der Alte Niemand, den freien, unverstellten Blick gewohnt, sehnte sich danach, wieder aus diesen undurchdringlichen Wäldern zu kommen. Sie sprachen kaum. Nach wenigen Stunden zeigte ein Wegstein, dass sie die Gemarkung von Brangwen erreicht hatten. »Seltsam.« Bolgan suchte mit unruhigem Blick den Wald ab. »Kein Mensch ist unterwegs. Wir hätten schon längst jemandem begegnen müssen, denn Brangwen ist ganz nah.« 83 »Vielleicht verlassen sie das Dorf nicht mehr, weil sie Angst haben ...« »Hoffen wir es«, erwiderte Bolgan dumpf. Wortlos trieben sie die Pferde zu größerer Eile an. Ihre Anspannung wuchs mit jedem Schritt. »Was ist das?«, fragte der Alte Niemand plötzlich. Vor ihnen war eine Stelle aufgetaucht, wo der helle Kies schwarz gefärbt war. »Sieht aus, als habe jemand ein Fass Teer ausgegossen«, meinte Bolgan. Der Alte dagegen wandte den Kopf, um seine Bestürzung z verbergen. »Es riecht übel«, sagte Bolgan, der die Reaktion seines Gefährten nicht bemerkt hatte, stieg ab und kniete nieder. Er nahm einen J Kiesel und schnupperte daran. Als er wieder aufstand, war er totenbleich. »Blut!«, flüsterte er. Sie starrten sich an. Keiner wagte etwas zu sagen. »Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben«, sagte Beol schließlich, als die Stille immer quälender wurde. »Vielleicht ist es nur ...« »Hier sind mindestens zehn Menschen gestorben«, stammelte Bolgan. Fassungslos starrte er auf den Blutfleck. Nichts war zu hören, nur das tödliche Schweigen des Waldes. »Das ist ein dunkler Tag«, flüsterte der Alte. »Du wirst viel Kraft brauchen.« Da schrie Bolgan auf und rannte auf sein Dorf zu. »Wir müssen bei ihm bleiben«, sagte der Alte Niemand. »Sonst verfällt er dem Wahnsinn wie der Hochhügelländer aus Bangor.« »Ihr habt es gewusst, nicht wahr?«, fragte Elrohil. »Ich habe es jedenfalls befürchtet.« »Aber Ihr habt doch gesagt, vom Einsetzen des Pfahls bis zum Überfall vergehen dreizehn Tage!« 84 »Diesmal hat der Schwarze Prinz eine Ausnahme gemacht«, antwortete der Alte bitter. »Denn er wusste, dass ich nach Brangwen unterwegs bin.« Vor ihnen ertönte wieder ein Schrei. »Jetzt hat er es gesehen«, murmelte der Alte. »Kommt schnell.« Sie gaben ihren Pferden die Sporen. Schon kamen Zeichen menschlicher Tätigkeit in Sicht - behauenes Holz und ein alter Karren, der morsch und halb verfault am Wegrand lag. Dann öffnete sich der Wald vor ihnen; sie hatten Brangwen erreicht. Oder das, was davon übrig war. Das Dorf musste ungefähr zweihundert Einwohner gehabt haben; der Alte Niemand zählte die Überreste von knapp fünfzig Hütten. Ein Blick genügte, um zu sehen, dass Brangwen schon vor Tagen gebrandschatzt worden war; die Hütten bestanden nur noch aus wirren Haufen von verbrannten Balken. Einige verkohlte Pfeiler ragten wie mahnende Finger empor; der Rest war zu Asche zerfallen, die der Regen zusammengeschwemmt hatte, sodass eine schwarzgraue Schlammschicht das Feld der Verwüstung bedeckte. »Entsetzlich«, flüsterte Elrohil. »Bangor hat genauso ausgesehen.« »Dort ist der Pfahl.« Der Alte Niemand deutete auf die Mitte der Lichtung. Grimmig thronte der gehörnte Widderschädel über den Spuren des Verbrechens. Dunkle Erinnerungen regten sich im Alten Niemand. Er hatte so viele Orte gesehen, an denen die Diener des Schwarzen Prinzen gewütet hatten. War der Kampf gegen ihn umsonst gewesen? Jetzt, am Ende seines Lebens, musste er einsehen, dass er wieder am Anfang stand. »Ich habe den Schwarzen Prinzen immer unterschätzt«, sagte er. Seine Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück. Es hatte keinen Sinn, mit dem Schicksal zu hadern. Wo war Bolgan? 85 Der Blick des Alten wanderte nach rechts, und da sah er ihn stehen, wie zur Säule erstarrt. Sein junger Begleiter hatte den Rucksack ins Gras fallen lassen; sein Gesicht war kalkweiß, und die Mundwinkel zuckten. Fassungslos
starrte er auf die Ruinen seiner Heimat. »Wir müssen zu ihm gehen«, sagte der Alte. »Er braucht uns.« Bolgan stand da wie erblindet. Einen Augenblick lang hatte er die Reste seines Dorfes in grausiger Klarheit erblickt, aber dann hatte ihn Nebel umfangen - eine weiße Dunkelheit, die sich auf seine Augen legte. Wie durch einen Schleier sah er verkohlte Balken, verstümmelte Leichen liegen, und sie sahen aus wie mit frischem Schnee bedeckt - damit seine Seele nicht an der schrecklichen Wahrheit zugrunde ging. Eine eisige Hand griff nach seinem Verstand, und für einen Moment bekam Bolgan Einblick in das, was man Wahnsinn nennt. Dann rüttelte ihn jemand an der Schulter. »Bolgan? Komm zurück, mein Freund!« Doch der reagierte nicht, sondern blickte an ihm vorbei auf die Trümmer seines Dorfes. Es war Abend geworden, und die Hochhügelländer lagerten niedergeschlagen am Rand der Lichtung. Sie schienen gelähmt vor Schreck. Bolgan saß abseits und starrte vor sich hin. Der Alte Niemand hatte verboten, die Lichtung zu betreten, und untersuchte die Trümmer ringsum. Bald hatte er aus den vielen Spuren ein klares Bild gewonnen. Die Nachtmahre und Wölfe waren in der Nacht gekommen, als alles schlief, hatten sich lautlos um die Häuser verteilt und auf ein Zeichen Fackeln auf die Strohdächer geworfen. Als die Bewohner herauskamen, verschreckt und geblendet, drangen die Nachtmahre ins Dorf und machten die Hochhügelländer, die offenbar keinen 86 Widerstand leisten konnten, nieder oder verschleppten sie. Ein großer Mann lag am Boden, mit blutleerem Gesicht und von Bisswunden übersät. Er hatte noch Zeit gehabt, ein Schwert zu greifen und den Eindringlingen entgegenzutreten. Die blutbeschmierte Waffe hielt er noch umklammert, und neben ihm lagen mehrere abgebrochene Zähne eines Nachtmahrs, die wie Dolche aussahen. »Gut gemacht«, murmelte der Alte Niemand. »Er hieß Ilzhin«, sagte hinter ihm eine tonlose Stimme. Der Alte Niemand fuhr herum und erblickte Bolgan. »Du solltest doch die Lichtung nicht betreten«, sagte er mit leisem Tadel. »Diese Bilder wirst du nie vergessen.« Bolgans Blick war immer noch starr auf den Toten gerichtet. »Er hieß Ilzhin«, wiederholte er. »Und er war der Schwager meines Vaters. Ein Schmied.« Dann kehrte sein Blick in die Wirklichkeit zurück. »Hätten wir sie nicht retten können?«, fragte er. »Gab es denn keine Möglichkeit, Brangwen zu warnen?« »Es war von Anfang an zu spät«, sagte der Alte Niemand. »Dein Dorf brannte wahrscheinlich in der Nacht, als du in meiner Hütte warst.« Bolgan schluckte. »Warum gerade Brangwen?«, murmelte er. Dem Alten ging Bolgans qualvoller Blick nahe, doch er blieb die Antwort schuldig und kniete stattdessen neben dem Toten nieder, um seine unmittelbare Umgebung zu untersuchen. »Eine Fußspur«, sagte er dann. »Seltsam. War doch ein Wolf im Dorf? Zumindest stammt die Spur nicht von den Hochhügelländern ...« »Woran seht Ihr das?« Elrohil war zu ihnen gekommen. »Ich könnte das nicht erkennen.« »Setzt einfach Euren Fußabdruck daneben und vergleicht.« Elrohil trat vorsichtig in den schlammigen Untergrund.. 87 Der Alte Niemand fuhr den Rand von Elrohils Abdruck entlang. »Das ist ein Schuh aus dem Hochhügelland, schwer und hart - daher die klaren Linien.« Er deutete auf den anderen Abdruck. »Und?« Elrohil und Bolgan beugten sich darüber. »Er ist breiter«, sagte Elrohil. »Und formlos.« »Leinenschuhe, wie sie im Süden hergestellt werden, wo es wärmer und trockener ist. Wahrscheinlich ist der Wolf den Nachtmahren zu Hilfe gekommen ...« Plötzlich stutzte er, beugte sich noch einmal vor und inspizierte den Fußabdruck. Als er hochsah, war sein Gesicht bleich wie der Tod. Elrohil schaute ihn fragend an. »Es ist noch mehr zu erkennen.« Der Alte Niemand gab sich alle Mühe, seine Aufregung zu verbergen. »Ich kann nichts entdecken«, bedauerte Elrohil. Der Alte Niemand deutete auf eine kleine, dreieckige Erhebung in der Mitte des Abdrucks. »Der Schuh hat ein bestimmtes Zeichen. Er gehört zur Ausrüstung des Heeres von Araukaria.« Elrohil schnappte nach Luft. »Ein araukarischer Soldat? Was hat der hier zu suchen?« »Das ist mir genauso schleierhaft wie Euch«, sagte der Alte leise. »Vielleicht hat hier jemand eine falsche Spur gelegt. Es könnte aber auch sein« - er holte tief Luft -, »dass der Schwarze Prinz schon Verbindungen zur Hauptstadt hat.« Elrohil starrte finster auf den Toten herunter, der vielleicht von der Hand eines araukarischen Soldaten gefallen war. »Es gibt nur eine Möglichkeit, die Wahrheit zu erfahren«, sagte der Alte Niemand. »Ich muss nach Araukaria
gehen und herausfinden, ob die Wölfe sich auch dort herumtreiben. Die Gefahr ist nicht nur im Hochhügelland; die Hauptstadt selbst ist bedroht. Aber noch hat der Schwarze Prinz einen mächtigen Feind - und um den wird er sich zuerst kümmern müssen.« »Welchen Feind?« »Mich«, sagte der Alte grimmig. »Ihr seid ein Greis wie ich«, entgegnete Elrohil. »Ihr werdet ihn nicht aufhalten können, sondern am gleichen Tag sterben, an dem der Schwarze Prinz seine Herrschaft aufrichtet.« Der Alte Niemand schwieg. Aus dem Wald kam der verschlafene Ruf eines Vogels. »Ich werde Euch folgen«, sagte Bolgan dumpf. Seine Züge waren starr, und er wirkte um Jahre gealtert. »Ich will Euch nach Araukaria begleiten. Und Rache nehmen.« »Aber deine Heimat ist doch hier«, wandte der Alte Niemand ein. »Vom heutigen Tag an habe ich keine Heimat mehr«, antwortete Bolgan. Als es dunkel wurde, ritten sie ein Stück zurück, um die Nacht in einer Holzfällerhütte zu verbringen. Sie alle standen unter Schock. Die Natur hingegen begann das traurige Ereignis schon zu vergessen. Je weiter sie sich von Brangwen entfernten, desto mehr belebte sich der Wald. Rehe wechselten, und die Vögel begannen ihr Abendkonzert. Der Alte Niemand musterte Bolgan, der düster wie der Tod neben ihm ritt, und nahm schließlich seine Hand. Sie war kalt und schlaff. »Mein Freund«, sagte der Alte Niemand. »Ich weiß, dass keine guten Worte dich jetzt trösten können. Aber ...« »Brangwen war meine Heimat«, sagte Bolgan tonlos. »Der Schwarze Prinz hat sie zerstört... und die Wölfe. Dafür werde ich sie büßen lassen.« 89 Bolgans verschleierter Blick wurde einen Moment durchsichtig. Dahinter glomm ein Feuer, das seinen Gefährten schaudern ließ. >RachedurstDie Trauer schwindet, und zurück bleibt blanker Hass.< »Ich habe einst selber vor der Verwüstung gestanden«, sagte er. »Es ist furchtbar, die Menschen zu verlieren, die man liebt. Doch inzwischen weiß ich, dass die Trennung nicht von Dauer ist. Denn nicht einmal der Tod ist ewig.« »Aber die Erinnerung«, erwiderte Bolgan dumpf. »Und der Hass. Dem kann selbst der Tod nichts anhaben.« »Das ist leider wahr«, bestätigte der Alte Niemand traurig. »Wenn ein Mensch stirbt, verwandelt sich sein Hass in einen Sturm, der durch die Lande fegt und sich ein neues Opfer sucht...« Bolgan sah fragend auf. »Ein Sprichwort. Irgendwann wirst du es begreifen, und dann wird dein Hass vergehen - denn einen Gegner, den man hasst, kann man zwar besiegen, aber nie ganz aus der Welt schaffen. Durch die Erinnerung wird er unsterblich.« Der Alte Niemand sah, dass die Augen seines Gefährten von Schmerz geweitet waren. Jetzt schimmerten sie feucht. >Es wird lange dauern, bis er das verwunden hatVielleicht sein ganzes Leben.< Er überlegte, ob er Bolgan hindern sollte, ihn nach Araukaria zu begleiten, wo der junge Mann ihm womöglich eher schaden würde. >Aber meine Kräfte schwinden dahinVielleicht werde ich bald Hilfe nötig haben. Und der Weg nach Araukaria ist weit.< Es war stockdunkel, als sie an der Hütte anlangten. »Morgen früh solltet ihr die Toten begraben«, sagte der Alte Niemand zu Elrohil. »Und Ihr und Bolgan?« 90 »Wir werden vor Tagesanbruch aufbrechen und nach Araukaria reiten. Vielleicht können wir die Wölfe auf der Nordstraße überholen.« »Vor Araukaria liegt das Dorf Palin«, sagte Elrohil. »Dort gibt es eine Herberge, Belindans Gasthaus. Der Besitzer ist Hochhügelländer. Er wird Euch bestimmt gut bewirten. Außerdem ist er aufgeweckt und erfährt in seinem Rasthaus alles, was in den Landen vorgeht.« »Ein guter Tipp«, antwortete der Alte Niemand. »Vielleicht hat er etwas Interessantes aufgeschnappt.« In der Hütte lag der Alte Niemand noch lange wach und grübelte. Warum kehrte der Schwarze Prinz zurück? Die Frage, die ihn seit Jahrhunderten beschäftigte. Im Lauf der Zeit hatte das Warum in seiner Fantasie Gestalt angenommen. Immer, wenn er an seinen Erzfeind dachte, erhob es sich als dunkler Schatten, als Nachhut in der Wüste, die der Schwarze Prinz unter seinen todbringenden Schritten zurückließ. Doch sobald der Alte Niemand versuchte, die Konturen näher zu erfassen, verschwand die Erscheinung im Nichts. >Ich war mir zu sicherIm Land der Tanzenden Berge habe ich mich mit meinen Büchern vergraben und auf den Tod gewartet. Und jetzt ist der Schwarze Prinz wieder da, während meine Zeit zu Ende geht. Nicht dass ich Angst vor dem Tod hätte! Ich sehne ihn schon lange herbei. Ein Leben ohne Tod ist kein Leben. Aber wer außer mir kann den Schwarzen Prinzen aufhalten? Der Born von Araukaria?* Der Alte
Niemand lächelte bitter. Er war dabei gewesen, als Olean, vierunddreißigster Born von Araukaria, mit großem Pomp in sein Amt eingeführt wurde; er selbst hatte Olean einst die Krone aufs Haupt gesetzt. Das war vor bald vierzig Jahren, und er hatte es nur zögernd getan, denn er 91 ahnte, dass Olean schwach war - dass er das Reich vielleicht halten, aber nicht zur einstigen Größe zurückführen würde. Wie ein Traum aus längst vergessenen Tagen stieg die Erinnerung empor. Trotz seines Verzichts auf die Krone hatte der Alte Niemand den Kontakt zu seiner Stadt nie ganz verloren. Er war dort beliebt; als der Zauber sich in Sagen und Legenden zurückzog, übte der Reichsgründer auf die Menschen eine starke Faszination aus. Immer, wenn er lange auf Wanderschaft gewesen war und sich nach Gesellschaft sehnte, machte er in Araukaria Halt. Dann wurde ihm das prächtigste Gemach im Palast eingeräumt, und er hielt Hof, als wäre er selber noch Born. Und auf einem großen Platz hatte man ihm sogar eine Granitstatue errichtet. Doch mit den Jahren betrachtete er die Ereignisse im Reich am liebsten von seiner Hütte im Land der Tanzenden Berge aus. Araukaria besuchte er immer seltener. Mittlerweile gab es dort viele Plätze, auf denen Statuen ehemaliger Borne standen, häufig größer und prächtiger als seine. So wie der Alte Niemand sich immer mehr in Büchern und Legenden vergrub, verstanden die Araukarier bald nicht mehr seine Suche nach dem Schwarzen Prinzen, der im Lauf der Zeit mehr und mehr ins Dunkel der Geschichte rückte und schließlich darin verschwand. Nur noch in Kindermärchen lebte er als Schreckgespenst weiter. So verblasste der Ruhm des Alten Niemand, doch er unternahm nichts dagegen. Und einem Born nach dem anderen drückte er in feierlicher Zeremonie die Krone aufs Haupt, mal mit mehr, mal mit weniger Sympathie doch mit einer langsam, aber stetig wachsenden Gleichgültigkeit. >Ich bin ein Narr gewesen, dass ich so viele Jahre im Land der Tanzenden Berge verschwendet habe. Wer wird nun das Unheil noch aufhalten? Olean? Niemals.< Mit Schrecken wurde dem Alten bewusst, wie dringend er einen Nachfolger brauchte. Wer war jung und stark genug, den Kampf 92 gegen den Schwarzen Prinzen von neuem aufzunehmen? Bolgan? Vielleicht. Aber der Schock über den Verlust seines Dorfes saß tief, und es war nicht abzusehen, was sich daraus entwickeln würde. >HatibHatib könnte der Erbe sein.< Er musste lächeln, als er sich daran erinnerte, wie er ihn kennen gelernt hatte. »Habt Ihr für mich etwas zu essen?«, fragte der Junge. »Ich bin schon drei Tage in dieser Gegend unterwegs, ohne einen einzigen Menschen zu sehen.« »Kein Wunder«, sagte der Alte Niemand. »Im Land der Tanzenden Berge wohne nur ich. Wo kommst du her?« »Aus Araukaria.« Der Junge mochte fünfzehn Jahre alt sein. Ein erster Bartflaum spross in seinem Gesicht, und er blickte den Alten Niemand mit neugierigen, eisblauen Augen an. »Ich bin auf Wanderschaft, um die Welt zu sehen.« »Mutig. Machen sich deine Eltern keine Sorgen um dich?« »Die sind am Fieber gestorben«, erwiderte der Junge. »Ich kann auf mich selbst aufpassen.« Der Alte schüttelte den Kopf. »Komm, du siehst ganz verhungert aus. Ich gebe dir einen Krug Ziegenmilch. Dann sehen wir weiter.« »Ziegenmilch ist gut«, sagte der Junge und folgte ihm in die Hütte. »Ein Stückchen Brot wäre allerdings auch nicht schlecht.« So hatte der Alte Niemand vor sieben Jahren Hatib kennen gelernt, einen verwegenen, übermütigen Burschen, dessen Optimismus und Selbstvertrauen unbegrenzt zu sein schienen. Ein Wunder, dass er es unbehelligt bis ins Land der Tanzenden Berge geschafft hatte. Sobald er die Ziegenmilch ausgetrunken hatte, schlief er vor Erschöpfung ein. Seine Füße waren vom Laufen so wund, dass er nicht mehr weiterwandern konnte. Seine Unruhe 93 und sein Freiheitsdrang schienen so stark, dass ihnen der Körper nicht zu folgen vermochte. Erst nach einigen Tagen hatte sich Hatib von den Strapazen seiner Wanderung erholt, sodass der Alte ihn ohne Bedenken ziehen lassen konnte. In der Zwischenzeit waren sie Freunde geworden -zwei eigenartige Menschen, die sich in der großen Welt gefunden hatten. Als Hatib quer über die Wiesen davonstapfte, stand der Alte Niemand auf seiner Veranda und schaute ihm nach. >Der wird es noch zu etwas bringenWenn ich wieder nach Araukaria komme, werde ich nach ihm sehen^ Später sollte der Alte Genaueres über seinen jungen Freund erfahren. Hatib war ein Findelkind, hatte aber Glück im Unglück gehabt - so wie später immer wieder: Ein reiches, kinderloses Kaufmannspaar aus Araukaria hatte ihn an Sohnes statt aufgenommen. Von Anfang an war Hatib ein Streuner gewesen; mit dreizehn riss er das erste Mal aus und durchquerte das Faluntal. Bei seiner zweiten Reise verirrte er sich im Land der Tanzenden Berge, wo er Bekanntschaft mit dem Alten Niemand machte. Von da an besuchten sie sich regelmäßig, und der Alte war froh, einen Enkel bekommen
zu haben. Hatib wurde ein junger Mann, aber sesshaft wurde er nicht. Immer wieder trieb es ihn hinaus, und bald hatte er mehr gesehen und erlebt als mancher Siebzigjährige. Im Alten Niemand regte sich Hoffnung. Hatib war ein bisschen wie er. Oder besser: wie er in Hatibs Alter gewesen war. Der Junge steckte voller Energie, und sein scharfer Verstand ließ ihn weiter sehen als die meisten; dazu war er ehrgeizig und zäh - ein Mensch, der sich nicht leicht von seinem Ziel abbringen ließ. »In Araukaria muss ich mit Hatib sprechen«, flüsterte der Alte. »Er muss den Sturm überleben.« 94 Aber was sollte Hatib tun? Dasselbe wie er - Krieger um sich scharen? Der Schwarze Prinz würde wieder hervorbrechen, sobald die Wachsamkeit erlahmte. Erneut würden dann Tausende sterben, würde unsägliches Leid über die Menschen kommen. Der Alte Niemand schüttelte den Kopf. Nein, eine endgültige Lösung musste her. Der Schwarze Prinz durfte diese Welt nie wieder betreten. Konnte Hatib ihn daran hindern? Der Bursche war ihm ähnlich; aber das war zu wenig. Der Alte seufzte tief, und seine Hoffnung schwand. >Und Fernd? Was ist mit Fernd?< »Das ist Fernd, mein kleiner Bruder«, hatte Hatib gesagt, als der Alte Niemand ihn zum ersten Mal in Araukaria besuchte, drei Jahre war das her. »Eigentlich ist er gar nicht mein richtiger Bruder -seine Eltern sind am Fieber gestorben, und ich habe ihn davor bewahrt, dass er ins Verbotene Viertel gesteckt wird.« »Nobel von dir«, meinte der Alte und wandte sich an den Jungen. »Fernd heißt du also. Wie alt bist du?« »Vierzehn«, antwortete der scheu. »Vor dem Alten Niemand brauchst du keine Angst zu haben«, ermunterte ihn Hatib und wandte sich an seinen Besucher: »Manchmal traue ich mich kaum, ihn um Milch zu schicken - er ist so schüchtern, dass er Angst hat, mit den Marktfrauen zu sprechen.« »Das gibt sich«, brummte der Alte Niemand und zwinkerte Fernd zu. Mit dem Jungen verband sich eine eigenartige Geschichte. Sechs Jahre war es her, dass in der Stadt das gelbe Fieber gewütet hatte, und Hatibs Pflegeeltern waren unter den letzten Opfern gewesen, die die Seuche von der Stadt gefordert hatte. Kurz zuvor jedoch hatten sie auf Hatibs Bitte noch ein Findelkind bei sich aufgenom95 men: Den kleinen Fernd, dessen Eltern ebenfalls am Fieber gestorben waren. Eigentlich entsprach es nicht Hatibs Natur, sich um andere Menschen zu kümmern. Aber seinen jüngeren Bruder liebte er über alles. Sogar Lesen und Schreiben hatte er ihm beigebracht -und später auch, im Haus nach dem Rechten zu sehen, wenn er selbst auf Reisen war. »So schüchtern bin ich gar nicht«, wehrte sich Fernd. »Erzähl das deinem Mädchen.« Hatib knuffte ihn freundschaftlich. »Du triffst sie doch noch, oder? Diese Reika, meine ich?« Fernd nickte stolz. »Sie ist die Tochter eines Blumenhändlers«, sagte Hatib zum Alten. »Sie sind nicht reich, aber ehrbare Leute.« »Sie sind reicher als wir«, wandte Fernd ein. »Das ist keine Kunst.« Hatib lachte. >Noch ein eigenartiger MenschDahinter steckt eine Absicht^, dachte Bolgan sofort. Eine dunkle Ahnung keimte in ihm auf. 102 Der Mann hielt den Kopf gesenkt; er saß ganz still da, als warte er darauf, bedient zu werden, aber er hatte nicht gerufen. Im Gegenteil: Er hatte sich mit keinem Laut bemerkbar gemacht. Bolgan trat näher; plötzlich schaute der Mann auf, und der junge Hochhügelländer blickte in ein schmales, vorspringendes Gesicht, dessen blasse Augen ihn gleichgültig musterten. Bleiche Wangen, eine große, dünne Nase und ein ebenso dünnlippiger Mund gaben dem Gesicht einen grausamen Zug. Bolgan stand wie versteinert. >Er ist ein Diener des Schwarzen Prinzen. Es kann nicht anders sein ...< Woher er das wusste, konnte er nicht sagen. Etwas war eigenartig an diesem Mann - es bestand eine Verbindung zwischen ihm und dem Untergang von Brangwen. Bolgan trieb seinen Blick durch die ausdruckslosen Augen des Mannes hindurch bis in sein Herz; und dort sah er nur Kälte und graue Mordgier. >Aber er ist kein WolfEr muss etwas Schlimmeres sein ...< Er wollte sein Gegenüber ansprechen, doch der Mann stand auf, streifte Bolgan mit einem Blick, der ihm durch Mark und Bein drang, und ging zur Tür.
Bolgan wollte ihm nach, brachte aber keinen Fuß vor den anderen. »Heh!«, stieß er schließlich mit rauer Stimme hervor, doch der Mann reagierte nicht, sondern zurrte seinen Mantel fest und öffnete die Hintertür. Ein kalter Windstoß fuhr in die Stube und brachte den Geruch von Regen mit; der Unbekannte schlug den ledernen Kragen hoch. Dann war er draußen. Hilfe suchend drehte sich Bolgan zu seinem Gefährten um, der immer noch mit Belindan sprach. Offenbar hatte er von der ganzen Szene nichts bemerkt. »Merkwürdig«, dachte Bolgan und trat verwirrt zu den beiden. 103 »Das ist alles, was ich zu berichten habe«, schloss der Wirt gerade. Die Sorge ließ ihn älter erscheinen. »Verzeiht, dass es so wenig ist. Meint Ihr, etwas davon ist wichtig?« »Ich glaube nicht«, sagte der Alte Niemand nachdenklich. »Aber das ist nicht Eure Schuld. Können wir hier übernachten?« »Selbstverständlich. Ich werde euch die Zimmer zeigen«, sagte Belindan. »Es sind noch andere Gäste hier mehrere Händler und ein junger Wanderer. In einer guten Stunde gibt es Abendessen.« »Das hört sich gut an.« Der Alte Niemand lächelte. »Seit Tagen haben wir keine ordentliche Mahlzeit mehr bekommen.« Das Zimmer, das Belindan ihnen gab, war einfach, aber sauber. Sie ruhten sich etwas aus und gingen in die Stube zurück, als es Zeit zum Essen war. Bolgan dachte immer wieder daran, dem Alten seine Begegnung mitzuteilen. Aber aus irgendeinem Grund konnte er es nicht. Verstimmt wartete er auf den Abend. Lautes Reden schallte ihnen entgegen, als sie die Stube wieder betraten. Etwa zwanzig Gäste waren im Raum die Reisenden, von denen Belindan erzählt hatte, aber auch Menschen aus dem Dorf, die hier abends zusammenkamen. Die Gefährten kümmerten sich nicht um neugierige Blicke, sondern setzten sich. Ihr Magen knurrte, und sie langten tüchtig zu, als ihnen Belindan das Abendessen vor die Nase setzte. »Ihr habt viel Kundschaft«, sagte der Alte und griff zu. »Euer Gasthaus scheint ein beliebter Treffpunkt zu sein.« »Es ist das beste Wirtshaus weit und breit«, erwiderte Belindan stolz. »Und die Händler sind im Dorf gern gesehen, denn sie bringen uns Neuigkeiten aus der Hauptstadt.« »Das glaube ich. Aber wo ist der junge Wanderer, von dem Ihr gesprochen habt?« »Den hat es nicht im Haus gehalten«, lachte der Wirt. »Er kam 104 kurz vor Euch an, nahm ein Zimmer, lud seine Sachen ab und machte sich gleich wieder auf, trotz Regen und Kälte. Er scheint die Unruhe in sich zu tragen; wenn er nicht so jung wäre, könnte man ihn für einen Waldläufer halten. Die können auch keinen Moment stillhalten.« »Ein Waldläufer«, murmelte der Alte. »Warum nicht?« »He, Belindan!«, kam es aus einer Ecke. »Bring uns noch Bier!« Der Wirt stand auf. »Möchtet Ihr auch einen Krug? Wir brauen unser Bier selbst, und es hat den besten Ruf.« »Gern«, sagte der Alte, und Belindan ging hinter die Theke. »Ihr habt nach dem Wanderer gefragt«, begann Bolgan. »Warum interessiert Ihr Euch für ihn?« Der Alte zog seine Pfeife aus der Tasche und stopfte sie. »Ich hatte ein seltsames Gefühl, als Belindan ihn erwähnte. Vielleicht ist es ein Spitzel.« »Das glaube ich nicht.« Bolgan entschloss sich endlich, von seiner Beobachtung zu sprechen. »Der Spitzel war vermutlich schon da.« »Wie?« Der Alte sah erschrocken auf. »Wovon redest du?« »Von etwas, das ich nicht begriffen habe«, erwiderte Bolgan leise. »Ich habe mich nicht getraut, es Euch zu erzählen.« Und froh, seine Geschichte loszuwerden, berichtete er von der merkwürdigen Begegnung in der Gaststube. »Seltsam«, brummte der Alte. »Ich hätte ihn doch bemerken müssen ...« Er paffte nachdenklich. »Und mir kommt noch etwas seltsam vor.« Seine Miene verdüsterte sich, und er beugte sich vor. »Nicht einmal Belindan scheint ihn gesehen zu haben«, flüsterte er. »Ich habe gefragt, ob wir ungestört reden könnten. Da hat er gemeint, im Haus sei gerade niemand außer uns.« Sie sahen sich an, und in ihren Augen glomm Furcht. 105 »Aber das kann doch nicht sein«, wandte Bolgan ein. »Hat Belindan uns etwa angelogen?« Ihre Blicke wanderten zum Wirt, der ihnen gerade Bier zapfte. Mit einem Mal erschienen seine Züge hart und undurchdringlich. »Es ist unsere Angst, die ihn so aussehen lässt«, sagte der Alte Niemand. »Nein, ich glaube nicht, dass Belindan mit dem Schwarzen Prinzen im Bunde steht. Er hat viele Helfer, deren Fähigkeiten die unseren weit übersteigen. Wenn ich den Fremden schon nicht bemerkt habe, hat Belindan ihn erst recht nicht gesehen.« Sie wurden unterbrochen; die Tür ging auf, und der junge Wanderer betrat die Stube. Wenn wir einem Menschen das erste Mal begegnen, reicht ein Wort oder eine Geste, und wir haben eine Vorstellung von ihm, die uns beeinflusst - im Guten wie im Schlechten. Eine Handbewegung, ein
Augenzwinkern, ein Blick, und wir bilden uns ein Urteil. Selbst etwas so Einfaches wie das Offnen einer Tür prägt unser Bild, denn man kann sie so öffnen, als wolle man sich schon vor dem Hereinkommen dafür entschuldigen. Ein großspuriger oder ungeschickter Mensch wird sie lauter und weiter öffnen als notwendig, ein eher furchtsamer und scheuer dagegen so vorsichtig, dass wir ihn nicht einmal dann mit dem inneren Auge bemerken, wenn er vor uns steht und nach unserem Namen fragt. Der Wanderer schien zur forscheren Sorte zu gehören: Die Tür flog auf, und ein Schwall Kälte drang in die Gaststube. Einen Moment blieb der junge Mann auf der Schwelle stehen - nicht so lange, um aufdringlich zu wirken, aber lang genug, um viele Blicke auf sich zu ziehen. Er grüßte in den Raum und wurde prompt zurückgegrüßt oder doch mit einem Kopfnicken bedacht. Dann zog er seinen durchnässten Mantel aus, hängte ihn zum Trocknen über den Ofen, ging zu einer Eckbank und fragte, ob noch ein Platz frei sei. Man rückte zusammen; der Wanderer setzte sich. 106 »Das kann kein Spitzel sein«, sagte Bolgan. »Dafür wirkt er viel zu ...« Er unterbrach sich, als er das Gesicht des Alten sah. Der starrte auf den Neuankömmling wie auf einen Geist. »Ihr kennt ihn?«, fragte Bolgan verwundert. In der Miene des Alten Niemand mischten sich Verwirrung und Überraschung, wandelten sich aber bald zu wachsender Freude. »Ja. Das ist Hatib.« Er machte keine Anstalten, etwas zu erklären, sondern lächelte nur stillvergnügt. Bolgan betrachtete den Wanderer. Hatib war hoch gewachsen und schlank, aber sicher kräftiger, als es den Anschein hatte. Zwei große, sehnige Hände ragten aus den Ärmeln seines schwarzen Lederkleides. Seine Gesichtszüge waren scharf geschnitten und edel wie die eines Mannes von hoher Abkunft, mit Augen, die klar, blau und furchtlos aus dem Gesicht hervorstachen. Der Alte Niemand hatte noch immer nichts gesagt; jetzt aber stand er auf, trat zu dem jungen Mann, der schon ins Gespräch mit einem Händler vertieft war, und fasste ihn an der Schulter. Hatib drehte sich um und sah den Alten ein paar Sekunden ungläubig überrascht an. Dann sprang er auf und schloss ihn herzlich in die Arme. Sie wechselten ein paar Worte, die Bolgan nicht verstehen konnte. Dann brachte der Alte Niemand den Wanderer an ihren Tisch. »Hatib, das ist Bolgan«, sagte er, »mein Begleiter auf dem Weg nach Araukaria.« Bolgan erhob sich und reichte Hatib die Hand; dieser ergriff sie und schüttelte sie herzlich. »Bei dem alten Mann bist du in guter Gesellschaft«, sagte er mit heller, fast jungenhafter Stimme. Er setzte sich, und Belindan brachte ihnen drei Krüge Bier. »Jetzt bin ich aber gespannt, was meinen Freund aus seinem geliebten Land der Tanzenden Berge treibt.« Hatib grinste über das 107 ganze Gesicht vor Wiedersehensfreude. »Wolltest du Fernd und mich besuchen, weil deine Ziegen nicht mehr mit dir reden?« »Das nicht gerade.« Das Lächeln des Alten verschwand. »Erinnerst du dich daran, was ich dir vom Schwarzen Prinzen erzählt habe?« »Sicher«, erwiderte Hatib. »Es ist zwar lange her, aber diese Geschichte habe ich nicht vergessen.« »Nun, wegen ihm bin ich hier. Denn er ist in unsere Welt zurückgekehrt - mit dem Ziel, sie zu vernichten.« Hatib, der gerade zum Trinken angesetzt hatte, stellte seinen Krug wieder ab. »Der Schwarze Prinz?«, fragte er entsetzt. »Das kann nicht...« »Doch«, erwiderte der Alte Niemand. »Er hetzt mit den Wölfen durch die Lande und überzieht sie mit Krieg. Du weißt, was das heißt.« Er berichtete in groben Zügen, was ihm und Bolgan widerfahren war. Hatib hörte nachdenklich zu. Aus seinem Gesicht war der forsche Ausdruck gewichen und hatte wachsender Besorgnis Platz gemacht. Schließlich fasste er die Situation zusammen: »Also - im Hochhügelland gehen die Wölfe um, plündern mit den Nachtmahren die Dörfer und nehmen die Bewohner gefangen. Möglicherweise sind auch araukarische Soldaten in die Sache verwickelt. Die Hochhügelländer werden nach Süden gebracht, wahrscheinlich nachts und abseits der Wege, damit man es nicht merkt. Ist es so?« »Genau.« »Aber welchen Sinn soll das haben? Ich meine, warum lässt der Schwarze Prinz ausgerechnet Dörfer im Hochhügelland überfallen? Weil er noch nicht stark genug ist, um sich mit größeren Siedlungen anzulegen?« »Das könnte sein«, erwiderte der Alte Niemand. »Als ich jung war, ging er ähnlich vor. Die kleinsten Dörfer waren zuerst dran, dann die größeren. Schließlich ging er gegen die Städte vor. Als er 108 Rapaunin, die Vorgängerstadt von Araukaria, unterwarf, war er auf dem Höhepunkt seiner Macht.« »Aber es ist schwierig, Menschen so weit zu verschleppen«, wandte Hatib ein. »Wo immer man sie hinbringt sie müssen durch Araukarien, und das ist ein Risiko für die Wölfe. Das Hochhügelland ist ein ungünstiger Ort...« »Es hat seinen Grund, dass sie gerade diese Gegend ausgewählt haben«, sagte der Alte finster. Hatib horchte auf. »Welchen?«
»Ich wurde in der Nähe des Hochhügellandes geboren. Brangwen und Bangor, wo der Schwarze Prinz zum ersten Mal seine Macht gezeigt hat, sind nicht weit von dem Ort entfernt, wo mein Leben vor über siebenhundertsechzig Jahren begonnen hat. Ich bin sicher, dass der Schwarze Prinz den Mann nicht vergessen hat, der ihn besiegte. Er will mir etwas zeigen ...« »Dass der Kampf von neuem beginnt und sich nichts geändert hat.« »Bis auf den Umstand, dass ich jetzt ein alter Mann bin.« Sie schwiegen. »Klingt plausibel«, murmelte Hatib. »Aber warum lässt er die Menschen in Gefangenschaft führen? Wofür braucht er sie?« »Das habe ich damals nicht herausbekommen.« Der Alte Niemand senkte den Kopf. Hatib schwieg eine Weile. Er dachte nach. »Da ist noch etwas«, sagte er dann. »Vielleicht passt es dazu. Ich habe dir noch nicht erzählt, warum ich unterwegs bin.« Der Alte schaute auf. »In den letzten Monaten habe ich den Süden bereist«, berichtete Hatib. »Ich bin mit dem Schiff bis Tifillan gekommen und wollte auf der Südstraße weiterwandern - in den Ant-Ermin, vielleicht sogar bis zum AyakilFelsen. Weißt du, dass es in Tifillan zugeht wie in einem Taubenschlag?« 109 »Ich habe seit Jahren keine Nachricht von dort gehört.« »Dann bekommst du sie jetzt. Vierzig Schiffe lagen im Hafen, und alle hatten Getreide an Bord, das den Falun hinuntergehen sollte. Ich habe versucht mitzufahren, um mir den Fußmarsch zu sparen, aber niemand hat mich an Bord genommen - obwohl ich bezahlen wollte. Ich habe noch nie so finstere Gesellen gesehen wie diese Besatzungen. Vierzig Schiffe mit Getreide! Man könnte ganz Araukaria einen Winter lang damit versorgen. Ich fragte, für wen das Getreide bestimmt sei, und sie sagten, in den Städten am Meer herrsche Hungersnot. Aber das stimmt nicht. Ich habe mit einem Alten aus Tifillan gesprochen. Im Süden gibt es keine Hungersnot. Und das Getreide geht nicht weit. Es kommt in Ayakil an, wird dort verladen und verschwindet im Nichts. Niemand weiß, wer es kauft und für welchen Zweck.« »Seltsam«, brummte der Alte Niemand. »Da scheint jemand viele Leute versorgen zu müssen ...« »Menschen, die in einem Land wohnen, das selbst kein Getreide hat. Aber das ist noch nicht alles.« Gemächlich trank Hatib einen großen Schluck Bier. Er konnte es nicht lassen, die Dinge spannend zu machen. »Auf der Südstraße sind viele Leute unterwegs, deren Gesicht nichts Gutes verheißt. Manche von ihnen sind bewaffnet. Man kann sie nicht leicht zum Sprechen bringen, aber einer war betrunken und hat erzählt, es gebe jetzt Arbeit für sie. Irgendwo zwischen dem Ant-Ermin und dem Verbotenen Land.« »Dann wissen wir jetzt, wo sich der Schwarze Prinz aufhält. Er sammelt seine Kräfte im Süden ...«, flüsterte der Alte Niemand atemlos. »Und wenn er vierzig Schiffsladungen Getreide braucht, hat er Großes vor.« »Der Sturm bricht los«, murmelte der Alte. »Fragt sich nur, wo.« »In Araukaria«, erwiderte Hatib. 110 Der Alte Niemand war nahe daran, die Fassung zu verlieren. »Woher willst du das wissen? Der Fußabdruck in Brangwen ist noch kein Beweis dafür, dass die Hauptstadt in akuter Gefahr ist.« »Der Fußabdruck nicht. Aber da ist noch etwas anderes. Ich glaube, der Schwarze Prinz versucht, die Araukarier von sich abzulenken. Es ist ungefähr drei Monate her, da kamen bei uns Gerüchte auf, dass es im Ermingebirge oder in Tifillan selbst zu brodeln beginne. Es werde Krieg geben. Du kannst dir vorstellen, dass diese Spekulationen für einige Verwirrung gesorgt haben. Sie gingen von Mund zu Mund und wurden immer gewagter, bis man glauben konnte, der Feind stehe bereits vor den Toren der Stadt. Dann schritt der Born ein. Er ließ bekannt geben, alle Grenzen des Reiches seien befriedet und es gebe keine Bedrohung. Daraufhin beruhigten sich die Menschen wieder.« »Also ist irgendetwas aus dem Süden durchgesickert«, sagte der Alte. »Aber das bedeutet doch, dass die Araukarier auf den Schwarzen Prinzen aufmerksam geworden sind - nicht, dass er versucht, sie abzulenken.« »Eben nicht! Ich habe versucht, die Gerüchte zurückzuverfolgen, um ihren Urheber zu ermitteln. Aber die Spur verlief im Sand. Wer immer sie ausgestreut hat, wollte unerkannt bleiben. Das war vor einem Vierteljahr. Vergangenen Monat kam das Gemunkel von den Unruhen schon wieder auf. Noch einmal musste der Born bekannt geben, es bestehe kein Anlass zur Sorge. Das Gerede flaute darum bald ab, schneller als beim ersten Mal. Und jetzt kommt's: Vor neun Tagen machte das Gerücht schon wieder die Runde, und der Born drohte seinem unbekannten Urheber diesmal sogar einen Hochverratsprozess an, wenn er noch einmal solche Falschmeldungen in Umlauf bringe. Aber das war eigentlich nicht mehr nötig, denn um das Gerücht kümmert sich mittlerweile niemand mehr.« »Auf was willst du hinaus?« 111 Hatib lehnte sich zurück. »Was passiert wohl, wenn jetzt jemand in die Hauptstadt kommt, um vor einer
Bedrohung aus dem Süden zu warnen?« Der Alte presste die Lippen zusammen. »Man wird ihm nicht glauben«, sagte er tonlos. »Mehr noch - er muss um sein Leben fürchten. Es ist dafür gesorgt, dass die Araukarier für diese Gefahr blind sind.« »Und das ist der Beweis«, sagte Hatib. »Wenn der Sturm losbricht, dann dort.« Bolgan musste Hatibs Scharfsinn bewundern. Innerhalb weniger Minuten hatte er aus den Einzelinformationen ein Gesamtbild entworfen, das stimmig war - und schrecklich zugleich. Er selbst wäre dazu nicht in der Lage gewesen. Gleichzeitig wunderte es ihn, wie sehr Hatib seine Anteilnahme an den Geschehnissen verbarg. Nach außen hin schien das Ganze nur ein Spiel für ihn zu sein. Der Alte Niemand war so verdutzt, dass ihm zunächst die Worte fehlten. »Das sind die Neuigkeiten aus Araukaria.« Hatib nahm die Hand seines Freundes. »Glaub mir - ich hätte dir gern bessere überbracht.« »Jetzt wissen wir wenigstens, was der Schwarze Prinz vorhat«, sagte der Alte Niemand grimmig. »Er hat sich die Hauptstadt ausgesucht, weil ich sie gegründet habe. Aber das war ein Fehler, denn dort kann ich ihn am besten bekämpfen.« »Wie das?«, fragte Hatib. »Zunächst müssen wir Olean, den Born von Araukaria, vor dem Komplott warnen. Dann werden wir sehen, was er unternimmt.« Er ballte die Fäuste. »Und er wird etwas tun - dafür werde ich sorgen.« Hatib wiegte nachdenklich den Kopf. »Du bist lange nicht mehr in der Stadt gewesen. Manches hat sich geändert. Ich bin nicht einmal sicher, ob der Born überhaupt etwas tun kann.« 112 »Wie meinst du das?« Hatib zögerte. »Es heißt, er stehe nicht mehr allein an der Spitze des Reiches. Dieses Amt sei ihm zu schwer geworden. Den Großteil der Staatsgeschäfte soll nun sein Heeresvorsteher erledigen, der die wahre Macht in Araukaria besitzt. Er ist es auch gewesen, der im Namen des Borns die Bekanntmachungen unterzeichnet hat. Sein Name ist Morgreal.« »Morgreal?« Der Alte runzelte die Stirn. »Den kenne ich nicht. War nicht Jarno Heeresvorsteher?« »Bei deinem letzten Besuch schon. Aber das ist zwei oder drei Jahre her. Damals war Morgreal noch einfacher Offizier; aber er hat sich Freunde geschaffen. Außerdem weiß er, wie man sich nach oben dient. Jarno ist vor knapp zwei Jahren vom Pferd gestürzt und hat sich das Genick gebrochen; da hat der Born Morgreal zu seinem Nachfolger berufen.« »Und jetzt beeinflusst er seine Entscheidungen.« Der Alte Niemand schaute nachdenklich vor sich hin. »Was glaubst du, Hatib: Könnte das nicht ein Vorteil für uns sein? Olean ist kein tatkräftiger Mensch, und ich habe schon oft bereut, ihm den Titel des Borns verliehen zu haben. Vielleicht ist es gut, wenn ihm jemand zur Seite steht, der jung und ehrgeizig ist.« »Das hängt davon ab, was für ein Mensch der neue Heeresvorsteher ist«, erwiderte Hatib. Der Alte schüttelte den Kopf. »Ich hätte mich mehr um meine Stadt kümmern müssen. Alles, was du mir von Araukaria erzählst, ist für mich neu.« Er senkte den Kopf, und Bolgan, der die ganze Zeit still zugehört hatte, erriet seine Gedankengänge. >Er macht sich Vorwürfe^ dachte er. jahrelang hat er sich in seinen Büchern vergraben. Jetzt erkennt er, dass das der falsche Weg war.< »Mach dir keine Sorgen.« Hatib klopfte seinem Freund auf die Schulter. »Wir werden dem Schwarzen Prinzen die Suppe versal113 zen. Wenn er uns wirklich angreifen will - wie viele Wölfe braucht er dazu? Tausende und Abertausende, und er muss sie nahe der Hauptstadt zusammenziehen. Wie will er das anstellen? Nein, ich glaube nicht, dass er unentdeckt bleibt. Er war zu selbstgewiss, als er dich so früh warnte, um sich an deinem Unglück zu weiden. Nun sind wir aufs Schlimmste vorbereitet.« »Unterschätze die Wölfe nicht«, widersprach der Alte Niemand. »Weißt du, wie wir sie damals nannten? Das Nebelheer. Weil sie sich fast unsichtbar machen konnten, wenn sie wollten.« Dennoch schien ihm Hatibs Optimismus neuen Mut einzuflößen. Auch Bolgan spürte die Energie und Lebenskraft, die von dem jungen Wanderer ausging. Einer wie der ließ sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen. »Ich kenne die Gegend um Araukaria nicht«, mischte er sich ins Gespräch, »aber wo könnte sich so ein Nebelheer denn verstecken?« »Im Waldbühl vielleicht, der den Roten Turm umgibt«, antwortete Hatib und wandte sich an den Alten. »War das nicht der Ort, von dem aus der Schwarze Prinz geherrscht hat? Ja, das wäre ...« »Unmöglich«, fiel der ihm ins Wort. »In den Roten Turm kann er nicht.« »Warum?« »Ich habe dir doch vom Silbergreis erzählt, der mir mein langes Leben verlieh und die Herrschaft über das Land der Tanzenden Berge. Er hat noch etwas getan: Er hat den Roten Turm samt Waldbühl mit einem Bannfluch belegt. Weil er der Hauptsitz des Schwarzen Prinzen war. Weder er selbst noch seine Diener dürfen ihn jemals wieder betreten - kein Wolf und kein Nachtmahr. Und dieser Fluch währt bis heute.« »Bist du sicher?«, fragte Hatib. »Das alles ist lange her.«
»Ich habe selbst gesehen, wie die Tore des Waldbühls - so nennt man sie - funktionieren«, beharrte der Alte Niemand. »Vor vielen Jahren jagten wir eine Gruppe versprengter Nachtmahre, die nach Araukarien eingedrungen waren und dort Furcht und Schrecken verbreiteten. Sie hetzten auf den Bühl zu, und wir fanden sie kurz darauf reichlich verstört am Boden. Sie hatten Platzwunden am Kopf, als wären sie gegen eine Wand gerannt. Wir versuchten dann, sie in den Wald zu tragen, doch das ging nicht - es war, als ob man gegen eine Mauer liefe.« »Davon habe ich nichts gewusst«, meinte Hatib. »Fernd ist hin und wieder im Waldbühl. Aber das hat er mir nie erzählt.« »Weil er es nicht weiß«, sagte der Alte. »Diese Sache ist nur den Bornen bekannt. Aber wie geht es Fernd eigentlich?« »Prächtig.« Ein Lächeln hellte Hatibs Miene auf. »Du wirst ihn kaum wiedererkennen.« »Vor gut zwei Jahren, als ich ihn das letzte Mal sah, war er noch ganz schmächtig. Doch er hatte ein hübsches Gesicht, und die Mädchen mochten ihn, eine vor allem; wie hieß sie noch gleich ...« »Sie hieß Reika, und sie ist sein Mädchen geblieben bis zum heutigen Tag«, fiel ihm Hatib ins Wort. »Du wirst sie kennen lernen, wenn du nach Araukaria kommst.« »Darauf bin ich gespannt«, sagte der Alte verschmitzt. Über den Rest dieses Abends gibt es nicht viel zu erzählen. Die drei Gefährten saßen am Tisch und betrachteten die anderen Gäste. Aber ihre Sorgen bildeten eine gläserne Mauer, die sie von den Umsitzenden trennte. Es war voll und laut in der Gaststube, wie immer, wenn die kalten Herbstnächte das Bedürfnis nach Gesellschaft und Wärme wecken, doch die drei waren still und nachdenklich. »Kann ich euch noch etwas bringen?«, fragte Belindan und sammelte die leeren Krüge ein. »Nichts mehr, danke«, antwortete der Alte Niemand für alle. »Was sind wir Euch schuldig?« 115 »Wenn ihr eine Empfehlung von Elrohil habt, seid ihr meine Gäste«, erwiderte Belindan. »Alle drei.« »Na, da danke ich aber«, sagte Hatib erfreut. Der Wirt wünschte eine gute Nacht und verließ ihren Tisch. »Geht nur; ich komme gleich nach.« Bolgan gähnte. »Ich schöpfe noch kurz frische Luft, bevor ich ins Bett gehe.« Draußen regnete es nicht mehr, und der kalte Wind hatte nachgelassen. Die Wolken rissen auf, und bleiches Mondlicht flutete über die Lande. Bolgans Gedanken wanderten zu seinen Angehörigen, die irgendwo dort draußen unterwegs waren, und das Herz krampfte sich ihm zusammen. Hoffentlich hatten sie eine geschützte Stelle zum Übernachten gefunden. Vielleicht aber mussten sie im Dunkeln marschieren - einem Ziel entgegen, das nur der Schwarze Prinz zu kennen schien. Bolgans Blick schweifte über die Lande, doch da war nichts als Einöde und die Straße, die sich nach Süden zog. Morgen würde sie sie nach Araukaria führen ... Er trat ins Haus zurück und schloss die Tür hinter sich. Wäre Bolgan nicht so müde gewesen und hätte er sich etwas genauer vor der Schenke umgesehen, dann wäre ihm vielleicht etw; aufgefallen: Auf der anderen Straßenseite, hinter einem Haus versteckt, lauerte ein blasses Augenpaar. Er hätte den Mann erkannt, der ihm heute unter so merkwürdigen Umständen in der Gaststube begegnet war. Doch um Bolgans Aufmerksamkeit stand es an diesem Abend nicht mehr zum Besten; um ein Haar wären sie alle umgekommen, und das Schicksal Araukariens hätte sich schon in Palin entschieden. Dann wäre nur noch Fernd übrig geblieben, das Böse aufzuhalten - Fernd, von dem bisher fast nicht die Rede war. Es war nur ein Zufall, der die drei Gefährten in dieser Nacht vor dem Untergang rettete. 116 Weit nach Mitternacht, als das Wirtshaus in tiefem Schlaf lag, wurden Bolgan und der Alte Niemand plötzlich wachgerüttelt. Hatib stand angekleidet vor ihnen. »Was ist los ?«, fragte der Alte leise. »Es ist doch noch lange nicht Morgen!« »Das ist manchen im Dorf offenbar egal«, erwiderte Hatib mit gedämpfter Stimme. »Sieh mal aus dem Fenster. Aber geh nicht zu nahe heran.« Der Alte Niemand setzte sich ruckartig auf, und selbst im schwachen Mondlicht war ihm anzumerken, wie erschrocken er war. »Das kann doch nicht...«, murmelte er. Vorsichtig näherte er sich der Scheibe. Das Dorf lag regennass und ausgestorben da. Dann aber bemerkte er an einer Hausecke zwei Lichtpunkte, die im Dunkel wie Glühwürmchen leuchteten. Die Augen gehörten einer Gestalt, die in einen schwarzen Mantel gehüllt war und, halb durch die Hausecke verdeckt, unentwegt auf Belindans Herberge schaute. Der Alte trat vom Fenster zurück. »Tatsächlich - da beobachtet einer das Wirtshaus.« »Nicht einer. Mehrere«, flüsterte Hatib. »Ich konnte nicht schlafen, also stand ich auf und sah aus dem Fenster. Wir werden von fünf oder sechs Männern beobachtet. Sie stehen im Dunkeln, um nicht bemerkt zu werden.« »Meinst du, sie haben es auf uns abgesehen?«, flüsterte Bolgan. Er wollte ans Fenster, doch Hatib hielt ihn zurück. »Nicht, sonst merken sie was. Ja, ich glaube, sie sind wegen uns hier.« »Und warum?«
»Das frage ich mich auch«, brummte der Alte Niemand finster. »Sie können sich doch denken, dass wir das Gasthaus nachts nicht verlassen. Es würde reichen, im Morgengrauen auf dem Posten zu sein.« 117 »Das macht mir am meisten Sorgen«, sagte Hatib. »Wenn sie wissen, dass wir nach Araukaria unterwegs sind, wollen sie uns wahrscheinlich am Ankommen hindern ...« »Aber warum gerade jetzt?« Die Stimme des Alten Niemand war nur noch ein heiseres Flüstern. »Sie hätten uns schon vor Tagen ans Leder gehen können. Da waren wir allein und völlig schutzlos.« »Sie haben sich vielleicht erst vor kurzem dazu entschlossen. Oder den Befehl dazu erhalten. Vor ein paar Stunden haben wir uns die Strategie des Schwarzen Prinzen zusammengereimt - und sind dabei wohl belauscht worden. Wahrscheinlich haben wir mit unseren Vermutungen buchstäblich ins Schwarze getroffen.« »Und jetzt wissen wir zu viel.« Stumm betrachteten die drei die Straße. Da - auch an der anderen Ecke bewegte sich nun ein Schemen an der dunklen Hauswand entlang. »Sie warten noch auf ein Zeichen«, murmelte der Alte. Mit zusammengekniffenen Augen suchte er den Horizont ab. »Da draußen ist etwas, das uns sucht. Es kommt auf uns zu. Und wenn es uns gefunden hat, sind wir verloren.« Stille breitete sich aus, und die Angst senkte sich wie ein Leichentuch über den Raum. Bisher war die Gefahr immer weit entfernt gewesen. Jetzt war es anders. Nur Bolgan fürchtete sich nicht. Er kochte vor Wut. »Am liebsten würde ich rausgehen und denen zeigen, dass man einem Hochhügelländer nicht hinterherspioniert«, sagte er zornig. »Und dass man nicht ungestraft Dörfer anzündet.« Hatib legte ihm die Hand auf die Schulter. »Im Augenblick sind wir machtlos. Ich weiß nicht, was da draußen ist; aber es ist stärker als wir.« »Ich habe einen Dolch«, murmelte Bolgan trotzig. »Ein Dolch richtet gegen Langschwerter nur wenig aus.« 118 »Was sollen wir denn sonst tun?«, fragte Bolgan aufgebracht. »Wir fliehen«, erklärte der Alte Niemand. »Und schlagen uns irgendwie nach Araukaria durch. Wenn wir die Stadt nicht erreichen, ist sie verloren.« »Ich glaube, wir können ihnen entkommen«, sagte Hatib. »Sie beobachten das Haus nur auf einer Seite. Hinterausgang und Stalltür sind frei.« »Versuchen wir es«, meinte der Alte Niemand. »Wir werden nur einen kleinen Vorsprung haben, aber wenn die Nacht vorbei ist, wagen sie es vielleicht nicht mehr, uns auf offener Straße anzugreifen. Das ist unsere einzige Hoffnung.« Hatib überlegte. »Wenn wir vorsichtig sind und die Pferde nicht scheu machen ...« Der Alte Niemand sah ihn an. »Es ist riskant. Wenn sie uns entdecken, töten sie uns. Aber das tun sie auch, wenn wir bleiben.« So leise wie möglich packten sie ihre Sachen, während Hatib beobachtete, was sich unten tat. »Beeilt euch«, flüsterte er. »Ich glaube, sie warten nicht mehr lange.« »Was siehst du?«, fragte der Alte. »Drei Reiter«, erwiderte Hatib atemlos. »Sie sind schwarz wie die Nacht und kommen die Dorfstraße herunter. Ihre Gäule scheinen über das Pflaster zu schweben, so lautlos sind sie. Jetzt steigen sie ab und ...« »Das sind Meuchelmörder«, flüsterte der Alte Niemand. »Der Schwarze Prinz hat ihnen furchtbare Fähigkeiten verliehen. Gehen wir!« Mühsam riss sich Hatib von dem seltsamen Anblick los. »Ja, gehen wir«, murmelte er gedankenverloren. Vorsichtig öffneten sie die Tür. Auf dem Gang herrschte Totenstille, bis auf das Klopfen ihrer Herzen. So leise wie möglich schlichen sie durch das schlafende Haus in die Gaststube und weiter zur Stalltür. 119 »Einen Moment«, raunte Hatib. Er trat zum Eingang und lugte vorsichtig durch einen Spalt. »Ich kann nichts erkennen«, sagte er leise. »Es ist zu dunkel ... Doch, nun sehe ich was ... Sie stehen beisammen und flüstern ... Jetzt deutet einer aufs Haus und ...« »Machen wir, dass wir wegkommen.« Langsam öffnete der Alte Niemand die Stalltür. Der Geruch von Heu und Tieren schlug ihnen entgegen. »Wo ist dein Pferd, Hatib? Unsere stehen ganz hinten.« »Ich hab keins. Ich nehme das nächstbeste.« Der Alte brummte missbilligend; Hatib schwieg dazu, denn er hatte keine Lust, ausgerechnet jetzt ein Gespräch über Moral zu beginnen. Sie tasteten sich zu ihren Pferden vor. Auch Hatib wollte sich eins nehmen, doch als er es loszubinden versuchte, begann es aufgeregt zu schnauben und stampfte mit den Hufen. »Ruhig«, sagte Hatib begütigend, aber das Tier warf den Kopf nach oben und wollte schon wiehern, da stieß der Alte Niemand ein leises, hohes Pfeifen aus. Sofort war das Pferd still.
»Puh«, seufzte Bolgan. »Das war knapp.« »Wo hast du das denn gelernt?«, fragte Hatib den Alten. »In siebenhundertsechzig Jahren lernt man schon den einen oder anderen Trick.« Sie sattelten die Pferde, legten ihnen Zaumzeug an und führten sie zum Ausgang. Seit dem Pfiff des Alten waren die Tiere im Stall ganz ruhig; es schien sogar, als bemühten sie sich, möglichst leise aufzutreten. »Es gibt noch ein paar Geheimnisse, die du mir verraten musst«, flüsterte Hatib anerkennend. »Mit diesem Trick hättest du einer der erfolgreichsten Pferdediebe Araukariens werden können.« Der Alte blieb stehen und horchte. »Sie sind über uns«, raunte er. 120 Auch Bolgan und Hatib hielten an und lauschten in die Dunkelheit. Von oben ertönte ein leises Scharren. Hatib verfolgte die Richtung des Geräuschs. »Sie halten auf unser Zimmer zu.« Dann kam kein Laut mehr. »Jetzt stehen sie vor unserer Tür«, flüsterte der Alte. »Gleich beginnt die Jagd.« Plötzlich ging alles sehr schnell. Ein dumpfes Poltern kam von oben, als die Tür zu ihrer Schlafstube aufgerissen wurde und die Meuchler eindrangen. Dann gedämpfte Stimmen: Die Opfer befanden sich nicht am erwarteten Ort. »Los jetzt!«, rief der Alte. »Sonst ist es zu spät!« Sie führten ihre Pferde nach draußen, saßen auf und sprengten los, in die regennasse Nacht hinein. Da löste sich ein Schatten von der gegenüberliegenden Hauswand und rannte auf Bolgans Pferd zu. Der zog seinen Dolch und stieß wild um sich, und der Schatten ließ von ihm ab. »Schnell!«, rief der Alte. Hinter ihnen erhob sich Geschrei, aber die drei hatten schon die Nordstraße erreicht und das Dorf hinter sich gelassen. »Bist du verletzt?«, fragte der Alte Niemand. »Nein«, antwortete Bolgan, doch seine Stimme klang kleinlaut und grau. Dann verschwanden die drei in der Dunkelheit, und wenig später war auch das Klappern der Hufe verhallt. 5. In Araukaria »Den Tod verkünden wir!«, riefen die Tänzer und lachten. »Wir verkünden den Tod, den Tod!« In der Nacht erscheinen Gefahren größer als am Tag, und ein Sonnenstrahl reicht aus, einem Menschen wieder Mut und Zuversicht zu geben. So erging es auch den Gefährten. Mit dem Morgen hatte der Regen aufgehört, und es wurde wärmer. Die Meuchelmörder des Schwarzen Prinzen schienen sich in Luft aufgelöst zu haben. Trotzdem waren die drei vorsichtig. Hatib und Bolgan hatten den Alten Niemand in die Mitte genommen, die Hand am Griff ihrer Dolche. Immer noch schwebten die Ereignisse der Nacht wie schwarze Schatten über ihnen, und von Zeit zu Zeit wandten sie unwillkürlich den Kopf, um zu sehen, ob sie verfolgt wurden. Allerdings war es in dieser Gegend schwer, einen Anschlag auf sie zu verüben. Die Nordstraße hatte sich so verbreitert, dass Ochsengespanne bequem aneinander vorbeifahren konnten. Reger Verkehr herrschte zwischen den Dörfern, und man sah allerorten, dass hier der schwach gewordene Arm Araukarias noch wirksam war. Bolgan war der Schweigsamste. In der Nacht hatte er seinen Angreifer erkannt - es war der Mann aus Belindans Gasthaus, und sein mordlustiger Blick ließ ihn immer noch frösteln. Zu seinem Hass war Angst gekommen. »Wie weit ist es noch nach Araukaria?«, fragte er. »Wir sind fast da«, antwortete der Alte Niemand. »Aber es wird wohl Abend werden, bis wir im Bornspalast sind; die Stadt ist sehr groß.« »Größer als das alte Khor?« 122 »Viel größer«, erwiderte der Alte. »Siehst du die mittlere Kuppe da?« Bolgan kniff die Augen zusammen. Eine Meile entfernt durchbrachen mehrere kleine Hügel die Ebene. Dahinter schien das Land aufzuhören. »Dort fällt der Weg steil ins Tal des Falun ab, wo Araukaria liegt«, sagte der Alte. »Du wirst es gleich sehen.« »Da bin ich gespannt«, meinte Bolgan. »Eine tote Stadt habe ich schon gesehen, eine bewohnte noch nicht.« »Araukaria ist schön«, versetzte der Alte, »besonders von den Kuppen aus. Nicht einmal Hatib wird das bestreiten können.« Der lächelte. »Das will ich gar nicht. Doch du weißt, dass es bei Städten nicht nur auf die Fassaden ankommt, sondern auch auf das, was dahinter liegt. Und du selbst hast die Stadt verlassen, weil sie dir nicht mehr gefiel.« »Stimmt«, sagte der Alte unwillig. »Ich habe mich dort nicht mehr wohl gefühlt, als Araukaria groß und mächtig wurde. Aber ich vermag immerhin die Schönheit dieser Stadt zu bewundern. Im Gegensatz zu dir.« »Na ja«, meinte Hatib, »ich bin dort aufgewachsen und kenne die Schattenseiten.« Bolgan, der in Gedanken versunken war, hatte dem Gespräch der beiden nur halb zugehört und auch nicht bemerkt, dass sie schon die Höhe der Kuppe erreicht hatten. Er hob den Blick - und staunte. Zu seinen Füßen fiel die Straße steil zu einer Ebene ab, in die Araukaria hineingebaut war. Der Falun durchzog die Stadt in einer großen Schleife, die im Licht der Nachmittagssonne glitzerte, und teilte das Häusergewirr mit seinen vielen verschachtelten Straßen und Gassen in zwei Hälften. Araukaria war so groß, dass das Faluntal kaum genug Platz bot. Wie ein Meer brandete die Stadt an die
grasbewachsenen Hänge 123 und überflutete deren untere Teile, bis sie weiter oben in einzelne Häuser zerstäubte und sich schließlich in der Heide verlor. In den Außenbezirken standen weiß und auf wunderliche Weise ungeordnet die Villen aus neuerer Zeit - einer Zeit, die durch Frieden und Reichtum geprägt war. Das Zentrum dagegen wurde von den Resten einer mächtigen, kreisrunden Mauer umschlossen und gemahnte an die Vergangenheit, als Araukaria jung und sein Anspruch auf die umliegenden Lande nicht unbestritten gewesen war. Genau in der Mitte der Stadt erhoben sich auf einem Hügel die blendend weißen Palastbauten der Borne. Bolgan wusste, dass sie viele hundert Jahre alt waren, doch sie sahen aus, als habe man sie gestern erst fertig gestellt. Mit offenem Mund saß er im Sattel und wusste nicht, was er sagen sollte. Noch nie hatte er etwas auch nur entfernt Vergleichbares gesehen. Etwa dreihunderttausend Menschen wohnten dort unten. Ihr Lärm stieg als unentwirrbarer Knäuel von Geräuschen das Tal empor, brach sich an den Hängen, wurde in der Herbstluft verstreut und fand sich zu neuen Klängen zusammen, die als leises, eher spür- als hörbares Rauschen an Bolgans Ohr drangen. Wohl eine Viertelstunde lang schaute und lauschte er eingeschüchtert. All das ging beinahe über seinen Verstand. »Schau es dir nur an«, sagte der Alte Niemand stolz. Stets übermannte ihn Rührung, wenn er Araukaria nach langer Zeit wieder erblickte. »Das ist mein Werk.« >Und selbst der Schwarze Prinz wird es nicht zerstören könnenEr wird daran ersticken.< Aus dieser Perspektive konnte man sich wirklich nicht vorstellen, dass die Stadt Opfer von Feuer und Plünderung werden könnte. Zehntausend Mann standen hier ständig unter Waffen. Das Heer des Alten Reiches war auf tausend Meilen das größte im Umkreis. »Gefällt dir der Anblick?«, fragte der Alte Niemand. »Ich schätze, ihr Hochhügelländer habt euch nicht vorstellen können, dass 124 die Steuereintreiber, die ihr verjagt habt, aus so einer Stadt gekommen sind ...« Bolgan schaute noch immer staunend ins Tal. Der Alte deutete nach Nordosten. »Gestern haben wir doch vom Waldbühl und vom Roten Turm gesprochen, wo der Schwarze Prinz nach der Schlacht Zuflucht fand - das war da drüben.« Der Waldbühl befand sich auf einem felsigen Vorsprung, der weit ins Faluntal hineinragte und den Fluss zu einer Schleife nach Osten zwang. Er bestand aus Kiefern und dunklen Tannen; in seinem Südteil sah man die kegelförmige Spitze eines steinernen Turms knapp über die Wipfel ragen. Etwas Geheimnisvolles ging von ihm aus. »Man nennt ihn auch Siljans Turm«, sagte der Alte. »Die Steine, aus denen er erbaut wurde, stammen aus den Roten Bergen, die das Verbotene Land umschließen. Er ist uralt, älter als alles in den Landen; aber diese Geschichte erzähle ich dir ein andermal.« »Reiten wir weiter«, drängte Hatib. »Vor den Wölfen sind wir erst sicher, wenn wir den Born benachrichtigt haben.« Die Nordstraße führte in mehreren Windungen bergab; je tiefer sie kamen, desto mehr belebte sie sich. Bald erreichten sie die ersten Häuser - noble Villen, die in reiner Luft freien Blick auf die Stadt gewährten. Schließlich tauchte die Straße in das Häusermeer ein. »Du solltest nicht jeden grüßen«, brummte Hatib, als Bolgan aus Gewohnheit einige Menschen mit einem freundlichen Kopfnicken bedachte. »Warum nicht?«, fragte Bolgan arglos. »Weil du dir sonst Genickstarre holst«, antwortete Hatib trocken. »Ich komme eben aus der Provinz«, meinte Bolgan und nickte trotzig weiter. »Da grüßt man sich, weil man noch freundlich zueinander ist.« 125 »Die berühmte Freundlichkeit der Hochhügelländer«, spottete der Alte Niemand. »Ist deine Beule inzwischen weg?« Alle drei lachten, und Bolgan gab das Grüßen auf. Sie wussten nicht, dass sie beobachtet wurden. Blasse Augen befanden sich in der Menge. Keine fünf Schritte hinter ihnen bewegte sich eine Gestalt unscheinbar und behände durch das Gewühl. Je weiter die Gefährten in die Stadt kamen, desto schwerer wurde das Durchkommen. Als das Gewimmel zu groß wurde, bog der Alte Niemand in eine Seitengasse, die wenig später auf eine breite Schneise führte. »Die Straße der Paraden«, wandte sich Hatib spöttisch an Bolgan. »Sie dient nur zu Umzügen und Prozessionen. Sonst braucht sie niemand.« »Eine Prachtstraße schadet nicht«, verteidigte der Alte die Anlage halbherzig. »Hmm«, meinte Bolgan geistesabwesend. Die Häuser zu beiden Seiten waren symmetrisch angeordnet, was der Anlage ein herrschaftliches Aussehen gab. Im Gegensatz zu den engen Gassen war sie sauber gefegt, und Bäume mit ausladenden Kronen standen in langen Reihen, um in der Sommerhitze Schatten zu spenden. Allerdings gab es kaum Passanten, und die Bäume waren blattlos. Bolgan befürchtete, dass diese Straße bei Regen ziemlich trostlos war.
Je näher sie dem Palast kamen, desto weniger Menschen waren unterwegs. In den prunkvollen Gebäuden war kein Platz für Handwerker und Kaufleute; hinter den steinernen Arkaden war es dunkel. »Diese Gegend scheint zum Anschauen gedacht, nicht zum Wohnen«, bemerkte Bolgan. Hatib grinste, und der Alte Niemand wandte überrascht den Kopf. »Wie meinst du das?« Bolgan deutete auf die Fassaden. »Alles steht leer.« 126 »Das sind die Häuser der Reichen«, sagte der Alte. »Mittlerweile haben sich die meisten in den Außenbezirken niedergelassen, weil es dort angenehmer ist. Aber es gehört zum guten Ton, ein Haus in der Nähe des Borns zu haben. Diese Paläste werden nur bei großen Festen bezogen.« »Nur bei großen Festen?« Bolgan schüttelte verständnislos den Kopf. »Da staunst du, was?« Hatib konnte es nicht lassen. »Bei dir im Hochhügelland sind sie froh, wenn sie ein wasserdichtes Dach überm Kopf haben - und hier stehen Paläste, in denen sich dein ganzes Dorf unterbringen lässt, und das Kleinvieh noch dazu. Aber sie benutzen sie nicht, weil es sich woanders angenehmer leben lässt.« Er legte Bolgan die Hand auf die Schulter. »Glaub ja nicht, dass sie glücklicher sind. Sie sind satt und rund wie gemästete Schweine, aber...« »Hatib, bitte«, murrte der Alte Niemand. »Du kannst über Araukaria lästern, so viel du willst - aber nicht in meiner Nähe. Sonst lernst du mich von einer anderen Seite kennen.« Und das Wunder geschah: Hatib schwieg tatsächlich. Einige hundert Meter weiter mündete die Straße in einen Platz, an dessen Ende weiße Säulen standen. Dort musste das Ziel liegen - der Bornspalast. »Ja«, sagte der Alte, der wieder einmal Bolgans Gedanken erraten hatte. »Wir haben es geschafft. Wenn wir da drin sind, kann uns nichts mehr passieren.« Bolgan drehte sich unwillkürlich um, sah aber niemanden. Dann erreichten sie den Platz, und vor ihnen lag das Zentrum des Alten Reiches. In schier endlosen Reihen erstreckten sich weiße Säulen zu beiden Seiten und strahlten im Licht der untergehenden Sonne. Dahinter und darüber erhoben sich auf dem Königshügel weitere 127 Bauten, deren spitzgiebelige Dächer auf kunstvoll durchbrochenen Wänden ruhten. »Der Bornspalast«, sagte Hatib. »Groß und schön wie eine Wolke - und genauso weit weg von den Ängsten der Stadt. Werden sie uns überhaupt reinlassen? Wir könnten ihre kostbaren Teppiche ruinieren, schmutzig wie wir sind.« Der Alte Niemand überging diese Bemerkung. »Da drüben ist der Eingang.« »Er ist ziemlich klein, oder?«, fragte Bolgan verwundert. »Das ist nur ein Seitenportal. Das Haupttor mit den silbernen Wächtern ist auf der Ostseite, aber dort ist zu viel Trubel, und wir sollten nicht auffallen.« Das Tor war gerade so groß, dass ein Karren hindurchpasste, und verschlossen. Der Alte Niemand pochte an einen Türflügel, und sie warteten, ohne dass etwas geschah. Wieder pochte der Alte. Nichts rührte sich. »Lass mich mal machen«, sagte Hatib. »In dieser Stadt wird nur gehört, wer am meisten Lärm macht.« Er zog seinen Dolch und hämmerte mit dem Griff ans Holz, dass es über den ganzen Platz hallte. »Wenn der Born gerade beim Essen sitzt«, sagte Hatib zufrieden, »ist ihm jetzt der goldene Löffel aus der Hand gefallen. Oder er ist taub auf beiden Ohren.« Endlich näherte sich von innen ein Schlurfen, und der Riegel wurde zurückgeschoben. Der Türflügel öffnete sich langsam, und heraus lugte ein kleiner, älterer Mann mit wässrigen Triefaugen. »Was wollt ihr?«, krächzte er. »Um diese Zeit werden keine Waren mehr angenommen. Verschwindet.« »Wir bringen keine Waren«, erwiderte der Alte Niemand. »Wir wollen zu Olean, dem Born von Araukaria.« Der alte Wächter musterte die drei blinzelnd. Kurzsichtig war er also auch. 128 »Wenn ihr eine Audienz haben wollt, müsst ihr durch den Haupteingang gehen und euch anmelden«, raunzte er feindselig. »Aber man wird euch nicht vorlassen, so wie ihr ausseht. Und der Born empfängt um diese Zeit keinen Besuch mehr.« »Lass uns rein!«, rief Hatib barsch. »Erkennst du diesen Mann denn nicht? Das ist der Alte Niemand, der Gründer dieser Stadt. Olean wird ihn bestimmt empfangen.« Der Mann betrachtete die drei und rümpfte die Nase. »Der Stadtgründer sieht anders aus«, behauptete er dann. »Hast du ihn denn je gesehen?«, fragte der Alte Niemand belustigt. »Nein. Aber wenn ich ihn träfe, würde ich ihn erkennen.« »Offensichtlich nicht«, sagte Hatib und grinste triumphierend. Der Wächter wurde unsicher. »Willst du uns wirklich abweisen?«, fragte Hatib gelassen. »Wenn das hier tatsächlich der Alte Niemand ist...« er zwinkerte dem Wächter freundschaftlich zu - »..., dann wird man dich für deine Unfreundlichkeit vierteilen. Ich kenne den Born ganz gut. Er mag es nicht, wenn man seine alten Freunde nicht zu ihm lässt.« Der Wächter dachte nach.
»Da muss ich erst Meldung machen«, sagte er schließlich. »So lange müsst ihr euch gedulden.« Er schlug die Tür zu, und seine Schritte entfernten sich. Der Alte Niemand starrte seine Gefährten an und wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. »Das ist mir noch nie passiert«, meinte er endlich. »In meiner eigenen Stadt wie ein Bittsteller zu warten, bis ich vorgelassen werde ...« Er schüttelte den Kopf. »Wenn alle Menschen hier wie dieser Türhüter sind, werden wir es schwer haben.« »Das Missverständnis wird sich bestimmt gleich klären«, sagte Hatib. Aber seine Worte klangen unsicher. 129 Eine unangenehme Stille entstand zwischen den dreien, doch da näherte sich das Schlurfen wieder, und die Tür wurde endlich ganz geöffnet. »Ihr dürft reinkommen«, sagte der Türhüter und trat beiseite. »Zu gnädig«, erwiderte Hatib spitz. Der Alte Niemand fragte ärgerlich: »Und wer kümmert sich um unsere Pferde?« »Ich werde sie in den Stall führen«, sagte der Wächter. »Also, gehen wir«, sagte der Alte Niemand leise. Kaum hatten die drei den Palast betreten, kam ihr Verfolger aus dem Schatten eines Hauses hervor und verschwand in den engen Gassen Araukarias. Es war Zeit zu melden, dass der Greis mit seiner Botschaft durchkommen würde. Eine Marmortreppe führte die Gefährten auf den Hügel. Plötzlich standen sie auf seiner obersten Plattform, einem groß angelegten Platz. Blendend weißer Kalkstein dehnte sich überallhin aus, als sollte er das Dunkel der Welt aus dem Gesichtskreis des Borns von Araukaria verbannen. Nur einige kleine Bäume, sorgfältig gestutzt und in tönerne Krüge gefasst, belebten das Bild. »Der Empfangsplatz von Araukaria«, sagte der Alte Niemand. »Der Hügel ist aus Granit; ich glaube, es hat zwei ganze Jahre gedauert, bis er für die Anlage des Platzes eingeebnet war. Als ich jung war, befand sich hier ein Wäldchen ...« »Ein Araukarien-Hain«, sagte Hatib. »Daher der Name der Stadt.« »Am Anfang meiner Herrschaft durfte keiner außer mir diesen Bereich betreten«, sagte der Alte Niemand. »Damals war auch Hohaus, die große Thronhalle, noch nicht erbaut.« »Hohaus?«, fragte Bolgan. »Das teuerste und protzigste Gebäude der Welt«, antwortete Hatib. »Es steht hinter dir.« Bolgan drehte sich um, und sein Mund blieb offen - wohl zum zehnten Mal an diesem Tag. 130 Am anderen Ende des Platzes stand über einer ausladenden Treppenanlage eine mächtige Halle, die - wie fast alle Bauten des Palastbezirks - von kolossalen Säulen umgeben war. Das Portal in der Mitte schien nicht für Menschen, sondern für Riesen gemacht. Zwei Wächter in silberner Rüstung standen zu beiden Seiten. Ansonsten war der Platz leer und wirkte, als sei er schon vor Ewigkeiten verlassen worden. Bleierne Stille lag über der Halle. »Dort wohnt Olean«, meinte der Alte Niemand. »Mir wird schwindlig, wenn ich Hohaus nur anschaue«, knurrte Hatib. »Da drin möchte ich nicht begraben sein.« »Dort wird man dich auch nicht begraben«, spottete der Alte Niemand. »Solche Ehre wird man dir nie erweisen. Nur die Borne und ihre Angehörigen finden in der Gruft unter Hohaus die letzte Ruhe.« Hatib lächelte. »Mancher Bettler hat es zum König gebracht. Wer weiß, was aus mir einmal wird ...« »Ein Born sicher nicht«, schnitt ihm der Alte Niemand das Wort ab. »Dazu hast du zu wenig Manieren.« Er schaute suchend umher. »Ich wundere mich, dass uns noch kein Mensch entgegengekommen ist. Vieles hat sich merkwürdig verändert, seit ich das letzte Mal hier war.« Doch ihre Ankunft war gemeldet worden: Als sie sich Hohaus näherten, trat einer der silbernen Wächter auf sie zu. »Seid willkommen, Alter Niemand, und willkommen seien auch Eure Begleiter im Hause Oleans«, sagte er würdevoll. »Der Born erwartet Euch, und ich soll Euch zu ihm führen.« Der Alte Niemand nickte nur. »Er bedauert, dass er Euch nicht selbst abholen konnte«, fuhr der Wächter fort, als sie das mächtige Portal durchschritten. »Aber nun hat er desto mehr Zeit für Euch.« »Die wird er brauchen«, murmelte Hatib. Mit hallenden Schritten durchmaßen sie den Saal, an dessen 131 Ende zwei Wachen in goldener Rüstung standen. Wortlos ließ man sie passieren. Nachdem sie eine weitere, kleinere Halle durchquert hatten, ging es nach links in eine Zimmerflucht, bis ihr Begleiter schließlich vor einer mit Edelsteinen besetzten Tür stehen blieb. »Der Born erwartet Euch.« Der Alte Niemand öffnete die Tür und trat ein; Hatib und Bolgan folgten ihm. Sie standen in einem prächtigen Gemach, auf dessen goldgewirkten Teppich sie kaum ihre Schuhe setzen
mochten. Kostbare, mit Intarsien verzierte Schränke und Truhen standen an den Wänden, während ein geschmückter Tisch mit mehreren Stühlen die Mitte des Raums einnahm. »Seid willkommen in Hohaus, Alter Niemand!«, sagte eine sanfte Stimme. Der Born hatte wohl am Tisch gesessen und ein großes Pergament studiert, das noch dort lag; jetzt aber war er aufgestanden, trat auf den Stadtgründer zu und reichte ihm die Hand. Bolgan und Hatib bedachte er mit einem Nicken, und die zwei verbeugten sich unwillkürlich vor dem mächtigen Oberhaupt des Alten Reiches. »Seid gegrüßt, Olean«, erwiderte der Alte Niemand leise. Die beiden alten Männer standen sich einen Augenblick wortlos gegenüber, was Hatib und Bolgan Gelegenheit bot, Olean genauer zu betrachten. Der Born von Araukaria war früher sicher größer als der Alte Niemand gewesen, doch jetzt musste er zu ihm aufschauen, so gebeugt ging er. Er hatte nur noch wenige dünne Haare auf dem Kopf, und die Augenbrauen fehlten fast gänzlich. Sein Alter war schwer zu schätzen, denn sein hageres Gesicht war fast faltenlos und glänzte - sicher das Ergebnis sorgfältiger Pflege. Doch sein Hals war voller Altersflecke, seine Haut spröde wie ein Herbstblatt. Das Gesicht war scharf geschnitten und edel, mit einer vor132 springenden, gebogenen Adlernase. Die Wangen aber waren totenbleich und standen in seltsamem Gegensatz zu seinem dünnlippigen, kirschroten Mund. Hoch stehende Backenknochen gaben ihm ein herrisches Gepräge; dem aber widersprachen die hellgrauen, erloschenen Augen. >Ein schöner Mann ist der Born nichts dachte Bolgan. >Schwer zu sagen, was man von ihm halten soll.< Hatib nickte nachdenklich, als habe er denselben Gedanken gehabt. Nun wandte sich Olean zu ihnen, und der Alte Niemand sagte: »Das sind Hatib, mein Ziehsohn und Freund, und Bolgan, wegen dem ich nach Araukaria gekommen bin.« Noch einmal bedachte der Born die beiden mit einem Kopfnicken. »Wir wollen nichts überstürzen. Ihr seht müde aus und habt offenbar einen langen Weg gehabt.« »Das ist wahr«, erwiderte der Alte. »Vom Land der Tanzenden Berge bis hierher war es ein weiter, ereignisreicher Weg.« »Ich werde Euch etwas zu essen bringen lassen«, sagte Olean. »Dann könnt Ihr erzählen, was Euch zu mir führt.« Aus der Tasche seines reich plissierten Gewandes zog er eine kleine Silberglocke und läutete. Bedienstete kamen herein und trugen herrliche Speisen auf, die köstlich dufteten. Bolgan wunderte sich darüber, dass das Essen so schnell hatte hergerichtet werden können. »Die araukarische Gastfreundschaft hat seit meinem letzten Besuch also nicht nachgelassen«, sagte der Alte Niemand zufrieden. Die Gefährten setzten sich an den Tisch und begannen zu essen. Olean verzichtete, obwohl es ihm gut getan hätte, wie Bolgan fand. »Ich vermute, Ihr seid aus wichtigem Grund gekommen«, sagte der Born schließlich, als die drei ihren Hunger gestillt hatten. »Das kann man wohl sagen.« Der Alte Niemand setzte sich auf. »Ihr kennt die Geschichte des Alten Reiches gut?« »Ihr selbst seid darin mein Lehrmeister gewesen.« 133 »Dann wisst Ihr, was es bedeutet, wenn man einen Pfahl mit dem Gesicht eines Widders findet?« »Dass Euer Feind, der Schwarze Prinz, zurückgekehrt ist.« »Nicht nur meiner.« Der Alte Niemand war überrascht, dass der Born so unbeteiligt wirkte. »Er ist der Feind aller Menschen - es sei denn, sie haben ihm ihre Seele verkauft. Ihr müsst ihn genauso fürchten wie ich.« »Und jetzt ist er wieder da, wollt Ihr sagen«, vermutete Olean. »Genau.« Der Alte Niemand lehnte sich zurück und fixierte sein Gegenüber. Bolgan vermutete, dass er wütend war. Auch der Born hatte den Blick bemerkt. »Ich verstehe Eure Verwunderung über meine Gelassenheit«, sagte er. »Aber in Araukaria sind in letzter Zeit Dinge vorgefallen, die vielleicht manches erklären.« >Er meint die Gerüchtes dachte Bolgan. »Zunächst« - der Born straffte sich endlich - »muss ich alles wissen, was Euch zu der Überzeugung gebracht hat, der Schwarze Prinz sei wieder aufgetaucht.« »Das ist umsichtig«, sagte der Alte und musterte den Born. Dessen Gesicht blieb freundlich - doch undurchdringlich wie der Marmor, aus dem der Palast gebaut war. Nach kurzem Schweigen begann der Alte, die Ereignisse seit ihrem Aufbruch vom Land der Tanzenden Berge zu erzählen. Der Born unterbrach ihn kein einziges Mal; still hörte er zu, konzentriert jedes Wort abwägend. Aber bei der Beschreibung der rauchenden Überreste von Brangwen erhob er sich und begann auf und ab zu gehen, die schlanken Fingerspitzen aneinander gelegt. Seine Miene veränderte sich; die ausgezehrten Züge zeigten Betroffenheit. War sie echt oder vorgespiegelt? Bolgan konnte es nicht sagen. Als der Alte Niemand geendet hatte, drehte Olean sich um. »Ist das die ganze Geschichte? Und Ihr habt nichts
weggelassen oder hinzugefügt?« 134 »Das ist alles«, erwiderte der Alte Niemand. »Ich hoffe, Ihr erkennt den Ernst der Lage.« Der Born setzte sich wieder. »Seltsame Sache«, sagte er dann. »Schon seit einem Jahr gehen Gerüchte in der Stadt um, Araukaria könnte bald überfallen werden. Einmal war die Rede von den Städten des Südens, die mit uns Krieg führen wollen, ein andermal von einem rätselhaften Heerführer jenseits der Ostmauer. Wenn ein solches Gerücht aufkam, sandte Morgreal, mein Heeresvorsteher, jedes Mal Truppen aus, um die Provinzen Araukariens und die angrenzenden Gebiete zu erkunden. In alle Himmelsrichtungen schickte er Soldaten - in die Nördlichen Königreiche, nach Tifillan im Süden und bis ans Scheidegebirge im Osten. Stets kamen sie mit der Nachricht zurück, es gebe keine Bedrohung. Wer immer diese Gerüchte in die Welt gesetzt hat - bis jetzt hat es ausgesehen, als wäre nichts dran.« »Weil sie von langer Hand geplant und mit Absicht in die Welt gesetzt wurden«, erwiderte der Alte. »Um mich unglaubwürdig zu machen, wenn ich nach Araukaria komme. Und die Rechnung des Schwarzen Prinzen ist anscheinend aufgegangen«, fügte er dumpf hinzu und sah auf. »Denn nicht einmal Ihr scheint mir Glauben zu schenken.« »Das habe ich nicht gesagt.« Von einem Moment auf den anderen fiel Oleans Bornsmaske ab. Dahinter erschien das Gesicht eines alten Mannes, der unter der Last seiner Sorgen grau und müde geworden ist, sich aber Zeit zum Zuhören nimmt und Mitgefühl empfindet. »Euer Bericht hat mich verunsichert. Er ... passt nicht ins Bild. Und Euer Wort wiegt bei mir schwer.« >Vielleicht haben wir gewonnene dachte Bolgan. Einen Moment lang wurde die Zukunft für ihn hell und klar. Der Born würde den Ernst der Lage erkennen und das Heer zusammenziehen, um dem Schwarzen Prinzen Einhalt zu gebieten. Er würde Truppen ins Hochhügelland senden, die Nachtmahre und Wölfe bestrafen und 135 dann nach Süden marschieren, um das Übel an der Wurzel zu packen. Vielleicht war es noch nicht zu spät. »Ihr habt den Schwarzen Prinzen vor langer Zeit in die Flucht geschlagen«, sagte Olean nachdenklich. »Damals hat er Euch dazu verflucht, so lange zu leben, bis er wiederkommt. Und jetzt seid Ihr ein alter Mann.« »So ist es«, sagte der Alte Niemand bitter. »Die Zeit des Schwarzen Prinzen ist erneut angebrochen. Und er kommt rasch - ich spüre, wie meine Kraft nachlässt.« »Trotzdem frage ich mich, warum er gerade Araukaria bedrohen soll«, sagte der Born. »Die Gerüchte sind der Beweis! Er hat sie ausgestreut, um Euch in Sicherheit zu wiegen. Er wird in Araukaria zuschlagen. Was er im Hochhügelland getan hat, war nur ein Vorspiel.« »Aber er kann vor unserer Haustür doch unmöglich so viele Wölfe sammeln?«, wandte der Born ein. »Genau das schafft er! Den Herrn des Nebelheeres haben wir ihn immer genannt.« »Er müsste sich in Luft auflösen können ...« »Oder er hat Freunde hier, die dafür sorgen, dass niemand etwas merkt«, antwortete der Alte Niemand. »Ich kenne Euren neuen Heeresvorsteher Morgreal nicht. Könnt Ihr ihm trauen?« Das Gesicht des Borns verschloss sich einen Moment, dann antwortete er: »Absolut. Er ist mir vollkommen ergeben. Seit zwei Jahren ist er meine wichtigste Stütze. Nicht nur Ihr seid alt geworden ...« »Und was werdet Ihr nun tun, Olean? Reichen Euch die Beweise etwa nicht?« »Ich bin, ehrlich gesagt, noch unentschlossen«, wich der Born aus. »Ich könnte das Heer marschieren lassen. Aber wohin? Ich könnte die Bürger zu den Waffen rufen. Aber sie werden fragen, warum - welche Antwort soll ich ihnen geben?« 136 Der Alte Niemand senkte den Kopf. »Das weiß ich nicht. Aber wenn wir nichts tun, werden sie vom Schwarzen Prinzen die Antwort bekommen.« »Ich weiß, dass ich handeln muss«, lenkte der Born ein. »Aber nur nichts überstürzen. Morgen rufe ich die Ratsversammlung ein.« Da runzelte der Stadtgründer die Stirn. »Seit wann gibt es in Araukaria eine Ratsversammlung?« »Seit fast einem Jahr. Sie besteht aus einigen engen Freunden und den Höchsten der Stadt, die bei schwerwiegenden Problemen zusammenkommen und sich mit mir beraten.« Um ein Haar wäre Bolgan entgangen, was sich nun zwischen den beiden abspielte. Olean vermied es, den Alten Niemand anzusehen; das Thema war ihm unangenehm. Dieser hingegen verbarg eisern seine Überraschung. »Ihr wisst, dass die Herrschaft der Borne keine Teilung duldet«, sagte er schließlich. »So war es von jeher.« »Niemand würde es wagen, sich meinem Willen zu widersetzen«, versicherte Olean rasch. »Die Versammlung berät mich -keinen Deut mehr. Und ich will ihre Meinung hören, bevor ich die Bürger Araukarias zu den Waffen rufe.« Der Alte nickte, sah aber nicht aus, als sei ihm diese Neuigkeit recht. Das kurze Einverständnis der beiden war vorüber. Eine quälende Stille entstand; der Born saß nur da und schaute auf den Tisch. Bolgan war von seinen erloschenen Augen beunruhigt. Etwas stimmte nicht mit ihm. Endlich sagte der Born: »Ihr seid müde, wie ich sehe. Das Gästehaus ist gerichtet, damit ihr euch von den Anstrengungen erholen könnt.« Erstmals hatte er sich auch an Bolgan und Hatib gewandt.
»Wir sind wirklich erschöpft«, erwiderte der Alte mit unbewegter Miene. »Aber wir wollen Eure Gastfreundschaft nicht über137 strapazieren. Hatib hat ein kleines Haus in der Stadt. Dort werden wir übernachten.« Bolgan atmete innerlich auf, denn er hatte keine Lust, die Nacht im Palastbezirk zu bleiben, dessen makellose Schönheit ihn mehr und mehr abstieß. Da aber sagte Olean: »Seid Ihr nicht letzte Nacht bedroht worden? Ihr solltet vorsichtig sein und nicht kurz vor der Entscheidung Eure Haut riskieren. Ich werde Euch morgen brauchen, um die Ratsversammlung von der Gefahr zu überzeugen.« >Das kann nicht sein Ernst seinHat er seine Macht also doch abgegeben ?< Der Alte Niemand ließ sich nichts anmerken. »Ihr habt Recht. Wir werden im Palastbezirk bleiben. Ich bin das Wandern nicht mehr gewöhnt, und die Reise hierher hat mich sehr mitgenommen. Morgen werde ich« - und diesen Satz sprach er mit seltsamer Betonung - »gründliche Nachforschungen betreiben müssen.« »Natürlich.« Der Born erhob sich. »Ich habe leider noch zu tun, aber ich lasse Euch zum Gästehaus bringen.« Er läutete wieder, und der silberne Wächter, der sie herbegleitet hatte, trat ein. Die Gefährten sprachen kein Wort, als sie über den großen Platz gingen. Die Sonne war lange verschwunden; ein bläuliches Leuchten, ihr letzter Gruß, schwebte über dem westlichen Horizont. Nur ein paar Fackeln erhellten die Nacht. Kurze Zeit später betraten sie das Gästehaus. Kaum war der Wächter verschwunden, warf sich Hatib in den nächsten Sessel. »Puh«, stöhnte er. »Verdammt anstrengend, sich mit einem Born zu unterhalten.« »Das kann man wohl sagen«, erwiderte der Alte. »Vor allem, wenn er einem nicht glauben will.« Mutlos und müde ließ er sich auf einen Stuhl sinken. »Ich verstehe deinen Pessimismus nicht. Du hast mehr erreicht, 138 als ich erwartet hatte. Offen gesagt war ich nicht mal sicher, ob Olean dir überhaupt zuhören würde.« »Er musste - schließlich habe ich ihm einst die Krone aufs Haupt gesetzt. Aber gern hat er es nicht getan. Genau das macht mir Sorgen.« »Was denkst du?«, forschte Hatib. »Olean hat sich verändert. Er war immer ein hagerer und kränklicher Mensch, doch heute hat mich sein Gesicht erschreckt. Er ist alt geworden, doch nicht das allein nagt an ihm. Er hat Angst. Und am allerwenigsten gefällt mir die Sache mit der Ratsversammlung. Er hatte da so einen eigenartigen Unterton in der Stimme ...« Hatib schwieg. Bolgan hatte den beiden nur halb zugehört. Er stand am Fenster und blickte über das westliche Araukaria; frische, feuchte Luft strömte von den Heidehügeln auf die Stadt herab und brachte den Geruch von nassem Gras und Wacholdertau. Und eine schwere, schwarze Dunkelheit, die es nur außerhalb menschlicher Siedlungen gibt. Wie eine weiche Decke lag diese Luft über der noch immer pulsierenden Stadt. Tausende Fackeln brannten unterhalb des Palastes und warfen Licht auf den Falun, der ihren Schein silbrig widerspiegelte. Staub und fremdartige Gerüche drangen empor, vereinten sich mit dem Duft der Lande und erweckten in Bolgan die Sehnsucht nach Leben und Gesellschaft - eine Sehnsucht, die er noch nicht gekannt hatte. Das Bild des Hochhügellandes, bisher treu in seinem Herzen bewahrt, begann zu verblassen. »Ob man um diese Zeit noch aus dem Palastbezirk kommt?«, fragte er vorsichtig. »Das große Tor ist bestimmt schon zu«, antwortete der Alte. »Der Born duldet keine nächtlichen Besucher. Aber die Seitentore sind normalerweise mit einer Wache besetzt, und wenn man dort bekannt ist, kann man ein und aus gehen, wie man will. Warum fragst du? Ist es dir zu eng hier?« 139 »Ich würde gern noch etwas spazieren gehen«, gestand Bolgan. »Ich habe heute so viel erlebt und bin noch nicht müde. Am liebsten würde ich mir ein wenig die Stadt ansehen.« Der Alte zögerte, doch Hatib sagte: »Das lohnt sich. Vor drei Tagen war Novemberfest. Bis zum neuen Jahr ist halb Araukaria jetzt nachts auf den Beinen.« »Ich lege mich jetzt jedenfalls schlafen«, meinte der Alte. »Aber vorher gebe ich dir etwas Geld mit.« Er nahm ein paar Münzen aus seinem Lederbeutel und mahnte: »Sei auf der Hut, und meide dunkle Gassen und Menschen, die auffallend freundlich tun. Nimm das Tor, durch das wir gekommen sind; jetzt wird der Wächter ja wohl keine Schwierigkeiten mehr machen.« Bolgan lachte, schob die Münzen in die Jackentasche und ging. »Ich lasse ihn nur ungern gehen«, sagte der Alte Niemand. »Du hättest ihm ruhig einreden können, um diese Zeit sei es draußen zu gefährlich.« »Warum denn? Er hat noch nie eine richtige Stadt gesehen - ist doch klar, dass er sich ein bisschen umschauen möchte.« »Ich weiß nicht«, wehrte der Alte ab. »Er ist ein wichtiger Zeuge der Verbrechen des Schwarzen Prinzen - allein ist er vielleicht in Gefahr.« »Das sind wir alle«, sagte Hatib leise. »Nicht nur draußen in der Stadt.« Der Alte Niemand betrachtete Hatib nachdenklich. »Hast du auch das Gefühl, wir sitzen hier in der Falle?«
»Ich fühle mich im Palast nicht wohl« erwiderte Hatib. »Man meint, die Wände hätten Ohren und jeden Moment könnten Mörder durch die Tapetentür kommen.« »Vielleicht sehen wir Gespenster.« Der Alte Niemand seufzte. 140 »Ich habe dich vorhin beobachtet. Dir war die Ratsversammlung nicht neu. Was weißt du darüber?« »Wenig«, erwiderte Hatib. »Sie wird nicht oft einberufen, vielleicht alle zwei, drei Monate, und berät alles Mögliche - die Steuern, das Heer und vieles andere.« »Also Dinge, die Olean allein entscheiden müsste«, brummte der Alte Niemand. »Aber das hat Araukaria bisher nicht geschadet. Viele Menschen sind sogar froh, dass sich der Born mit anderen berät. Er war ja nie sonderlich beliebt.« Dann wurde Hatib nachdenklich. »Aber eines wundert mich.« »Nämlich?« »Dass Olean die nächste Versammlung so kurzfristig einberufen konnte. Im Rat sitzen mehr als fünfzehn Würdenträger, und längst nicht alle wohnen in der Hauptstadt. Viele haben Landgüter, die Meilen von Araukaria entfernt liegen, und es müssten noch in der Nacht Boten ausgeschickt werden, um sie rechtzeitig zu benachrichtigen.« »Und?« »Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass Olean das heute Abend erst veranlasst. Ich glaube, der Termin der Versammlung war schon vor unserer Ankunft festgesetzt...« Der Alte wandte sich zum Fenster und blickte in die Nacht. »Und wenn das so ist«, fuhr Hatib fort, »dann handelt es sich vielleicht um ein abgekartetes Spiel.« »Du meinst, der Born wusste schon vorher, dass wir ihn aufsuchen würden?«, fragte der Alte Niemand. »Und er benutzt die Ratsversammlung nur, um Zeit zu gewinnen?« »Vielleicht ist er selber ein Werkzeug, und Morgreal hat seine Finger im Spiel...« »Was weißt du über ihn? Olean hat ihn so übertrieben verteidigt, dass seine Bewunderung kaum echt sein kann.« 141 »Ich kenne Morgreal nicht«, erwiderte Hatib. »Aber ich habe gehört, er ist bei den Soldaten sehr beliebt, weil er freigiebig ist und nach Jarnos Tod mehr Sold durchgesetzt hat. Außerdem dürfen sie jetzt bei ihren Familien wohnen. Als Soldat hat man neuerdings ein gutes Leben in Araukaria. Allerdings hat das auch Neid erregt. Böse Zungen behaupten, der Heeresvorsteher habe die Treue seiner Männer erkauft.« »Vielleicht verfolgt er wirklich eigene Ziele. Wir werden ihn morgen unter die Lupe nehmen.« Der Alte dachte nach und setzte hinzu: »Was die Boten betrifft, können wir uns sofort Gewissheit verschaffen.« Er stand auf, warf seinen alten Mantel um und ging zur Tür. »Wohin willst du?«, fragte Hatib. »Zum Palasttor.« Nach einer Viertelstunde kehrte der Alte zurück. Seine Miene war finster. »Du hast ins Schwarze getroffen«, sagte er dumpf. »Ich habe am Haupttor gefragt, ob Boten ausgesandt wurden. Seit Stunden hat kein Reiter den Palast verlassen.« »Also war die Ratsversammlung schon vor unserer Ankunft angesetzt.« Der Alte nickte und starrte mit leerem Blick vor sich hin. »Irgendetwas ist hier im Gange«, flüsterte er. Unterdessen ging Bolgan die große Prachtstraße zurück, die noch immer menschenleer, fast ein wenig unheimlich war. Bald tauchte er in das Gassengewirr der Innenstadt ein. Wie Hatib gesagt hatte: Es war die Zeit der Feste, und Araukaria legte sich noch lange nicht schlafen. Viele Menschen standen in Gruppen beisammen und plauderten. Ein warmer Wind hatte sich erhoben; der Duft von Nadelhölzern, Nacht, verbranntem Pech 142 und Straßenstaub lag darin, ungewohnt für Bolgan, der nur die herbe Luft des Hochhügellandes kannte. Ein freies, weiches Gefühl überkam ihn. >Es ist alles ganz anders hierDass man so leben kann ...< Neugierig betrachtete er die Stadtbewohner. Sie waren kleiner und zarter als er und hatten dunkle, fast olivbraune Haut und Freude an farbenprächtiger Kleidung; einer wie Bolgan machte hier wenig Eindruck. Zum ersten Mal seit langer Zeit spürte Bolgan wieder etwas Lebensfreude. Er war zu schüchtern, um jemanden anzusprechen, und ließ sich nur immer tiefer in die Stadt treiben. >Selbst die Kinder bleiben während der Festtage lange aufDer ist gefährlichIch weiß nicht, was er vorhat. Aber er meint es nicht gut.< »Beim Lesen der Chroniken habe ich versucht, das Tun des Schwarzen Prinzen zu verstehen«, fuhr Morgreal fort. »Doch was Ihr geschrieben habt, ist zu dürftig, um sich ein Bild von ihm zu machen. Beschreibt ihn mir daher, Alter Niemand. Beschreibt ihn einem jungen Mann, der ihn sich nicht recht vorzustellen vermag. Oder habt Ihr ihn vielleicht nie gesehen?« »Doch, einmal«, erwiderte der Alte unwillig. Morgreal hatte ihn in die Defensive gedrängt. »Und noch heute schauert mich, wenn ich an diese Begegnung denke. Ich ...« 158 »Es ist die Angst, die Euch umtreibt. Ja, das verstehe ich.« Morgreal redete, als habe er einen in Ehren ergrauten Greis mit leider schon getrübtem Verstand vor sich, dem man nicht offen widersprechen durfte. Die Worte des Heeresvorstehers entfalteten eine seltsame Magie: Diejenigen, die dem Alten Niemand eben noch geglaubt hatten, wurden plötzlich unsicher. Hatib kochte vor Zorn, aber er konnte nichts tun. Morgreal war zu geschickt, um sich eine Blöße zu geben. In der Ratsversammlung herrschte Totenstille, und der junge Heeresvorsteher begann im Raum auf und ab zu gehen. Er wusste, auf wie dünnem Eis sich seine Einwände bewegten, und wählte seine Worte mit Bedacht: »Aber das Gesicht des Schwarzen Prinzen habt Ihr nie gesehen. Und alle anderen Zeugen dieser Begegnung sind tot.« Aus Morgreals Mund klang selbst diese Feststellung wie ein Vorwurf. >Er ist ein WolfSeine Überzeugungskraft kommt nicht aus ihm allein. Sogar mir macht er Angst.< »Ich frage mich, ob dieser Schwarze Prinz nicht vielleicht nur ein Kinderschreck ist«, bereitete Morgreal den nächsten Stoß vor. »Ihr seid ihm vor Hunderten von Jahren zum letzten Mal begegnet; jetzt habt Ihr ein verbranntes und geplündertes Dorf gesehen, auf dessen Lichtung ein Pfahl mit einem Widderkopf aufgestellt war. Meine Erfahrung als Heeresvorsteher lehrt mich, dass Brand und Plünderung nicht von Schwarzen Prinzen, sondern von marodierenden Banden verübt werden. Schon vor Jahrzehnten hat sich das Hochhügelland von uns abgewandt, und alle Bemühungen, es erneut ins Reich von Araukaria einzugliedern, sind am Trotz seiner Einwohner gescheitert. Seitdem herrschen dort Unruhe und Fehde- das ist der Preis der Freiheit.« »Das ist nicht wahr!«, rief Bolgan, doch Morgreal beachtete ihn nicht, sondern fragte: »Ist es nicht erheblich wahrscheinlicher, dass 159 die Brandschatzung im Hochhügelland - ein bedauerlicher Vorfall, gewiss - nicht auf den Schwarzen Prinzen, sondern auf Plünderer zurückgeht? Ist es nicht viel wahrscheinlicher, dass die Spuren dieser Plünderung Euch« Morgreal wandte sich wieder an den Alten Niemand - »auf eine falsche Fährte lenken sollten? Auch die Hochhügelländer kennen ja die alten Sagen, und ein Pfahl mit einem Widderkopf ist schnell geschnitzt. Dazu braucht man keine Wölfe. Vielleicht hat man Eure Gutgläubigkeit ausgenutzt, um von den wahren Tätern abzulenken, die möglicherweise aus einem verfeindeten Nachbardorf kommen.« »Das kann nicht sein, denn ...«, begann der Alte Niemand und verstummte dann. Ein Raunen entstand; immer mehr Ratsmitglieder begannen zu zweifeln. Der Stadtgründer war durch Morgreals hinterhältige Worte verwirrt, da spielte der seinen letzten Trumpf aus. »Ihr seid vielleicht erzürnt«, sagte er. »Aber versetzt Euch in unsere Lage. Wir haben in der letzten Zeit sehr viele Meldungen bekommen, Araukaria sei bedroht. Bedroht von wem? Von Herrn Abamil aus dem Süden, ganz gleich, wer das ist? Besitzt er die Stärke, eine Stadt dieser Größe anzugreifen?« Er blickte Beifall heischend um sich und erntete zustimmende Blicke. »Ich glaube nicht, dass er eine Bedrohung ist.« Jetzt, da er den Großteil der Versammlung auf seiner Seite fühlte, ließ Morgreal seine Demut fallen. Mit sichtlicher Verachtung blickte er auf den Alten Niemand herab. Der wollte Einspruch erheben, doch ihm fiel einfach nichts ein. Nicht Morgreals Argumentation ließ ihn verstummen, denn die war löchrig wie ein Sieb; es war seine Ausstrahlung. Wie ein böser Zauber hatte sie sich über die Versammlung gelegt. Und der Alte Niemand war ihr nicht gewachsen. Stille breitete sich aus. Die Ratsmitglieder schienen abwarten zu wollen, wie viel der Stadtgründer noch erdulden konnte. 160 Nur Hatib ließ sich nicht einschüchtern; seine Wut war einfach zu groß. >Es reicht!Dieser Mistkerl.< Er stand auf und handelte intuitiv, aber umsichtig. Es würde schwer sein, gegen Morgreal anzukommen, aber er wollte es versuchen. Vielleicht gelang es ihm, die Maske vom Gesicht des Heeresvorstehers zu reißen. Das war ihre einzige Chance. Kein Quäntchen Schärfe lag in seinen Worten, als er sich demütig lächelnd an Morgreal wandte: »Ich bin nur ein einfacher Mann; daher ist es mir eine große Ehre, in dieser Versammlung sprechen zu dürfen.« Dass er das durfte, setzte er offenbar voraus.
»Ich bin Bürger Araukarias wie Ihr; auch ich kenne den Schwarzen Prinzen nur als Kinderschreck und weiß, wie gering die Angst vor ihm ist. Deswegen verstehe ich den Versuch des Heeresvorstehers, unseren Gedanken eine andere Richtung zu geben. Aber vielleicht sehen wir den Wald vor lauter Bäumen nicht. Denn auch in seinen Ausführungen gibt es einige Dinge, die er uns erklären sollte.« >Und jetzt drehen wir den Spieß mal umNatürlich nichts dachte Hatib. >Aber du lügst trotzdem. Und die Ratsmitglieder wissen das - egal, was sie antwortend »Du solltest mit deinen Verdächtigungen vorsichtiger sein«, schloss der Heeresmeister. »Ich hoffe, damit ist alles geklärt.« Bemüht, möglichst schnell über diesen Punkt wegzukommen, lächelte er Hatib mit herablassender Versöhnlichkeit an. Doch das Lächeln erreichte seine Augen nicht. Dort glühte ein tiefer, unversöhnlicher Hass. Hatib hatte an seiner Maske gerüttelt, und für einen Moment war darunter das wahre Gesicht zu sehen gewesen. Morgreal wusste das. Und es machte ihn wütend. Hatib dachte nicht daran, klein beizugeben. Im Gegenteil: Er beschloss, noch eins draufzusetzen. Vielleicht fehlte nur noch ein kleiner Ruck, um die Maske abzureißen. »Dann habe ich mich also getäuscht«, sagte er, »und bitte um Vergebung. Aber jetzt könnt Ihr sicher noch einige weitere Unklarheiten ausräumen.« Morgreal stutzte einen Moment. Er begriff, dass er einen ebenbürtigen Gegner gefunden hatte. Doch solange der Born Hatib nicht den Mund verbot, musste er mitspielen. »Frag, was du willst«, sagte er von oben herab. »Mein väterlicher Freund hat vorhin ein paar Einzelheiten verschwiegen«, sagte Hatib zur Versammlung. »Wahrscheinlich fand er sie zu unwichtig, vielleicht auch zu verwirrend, um sie Euch zu unterbreiten. Doch« mit diesen Worten wandte er sich an Morgreal, der immer noch am Tisch stand und unwillig auf Hatibs nächsten Streich wartete - »nun könnten sie vielleicht einen Sinn ergeben. Mein Freund ist in den Ruinen von Brangwen auf einen merkwürdigen Fußabdruck gestoßen, in dessen Ferse ein kleines Dreieck zu erkennen war. Ihr wisst, was das heißt, oder? 163 Es handelte sich um den Schuh eines araukarischen Soldaten. Eines Soldaten, der vielleicht unter Eurem Kommando stand. Erklärt mir, wie der Fußabdruck dorthin gekommen ist. Kann wirklich eine Bande
plündernder Hochhügelländer solche Stiefel getragen haben? Oder waren es Eure eigenen Leute? Erklärt mir das! Und dann erklärt mir, warum die Bande, die uns in Palin aufgelauert hat, Mäntel des Heeres von Araukaria trug!« Hatibs letzte Worte waren reine Erfindung (er hatte nicht einmal vage erkannt, welche Kleidung die Männer getragen hatten), doch sie verfehlten nicht ihren Eindruck auf die Ratsversammlung. Morgreals Nimbus war gebrochen; da und dort wurde getuschelt. Der Heeresvorsteher zitterte vor Zorn; er wollte Hatib schroff antworten, doch der schnitt ihm kurzerhand das Wort ab. Noch war er nicht fertig mit ihm. »Was ist in Palin passiert?«, beharrte er lauernd. »Wollte uns eine Räuberbande an den Geldbeutel? Das kann ich kaum glauben. Waren es nicht Eure Männer, ausgeschickt, um zu verhindern, dass der Alte Niemand Araukaria erreicht - und Eure ehrgeizigen Pläne stört?« Bei diesen Worten warf er dem Born einen unmissverständlichen Blick zu. Die Versammlung saß da wie vom Donner gerührt. Es war ein offenes Geheimnis, dass Morgreals Ehrgeiz über das Amt des Heeresvorstehers hinausging; aber Hatibs Verdächtigungen brachen mit einer Wucht über sie herein, die Zweifel fast unmöglich machte. Allesamt musterten sie Morgreal, und auch der Born sah erschrocken und nachdenklich drein. Einen Augenblick sah es aus, als wollte der Heeresvorsteher sich auf Hatib stürzen, doch er besann sich eines Besseren und wandte sich an den Born. »Herr, dieser Junge will Euch einreden, ich würde die Absichten des Alten Niemand mit Gewalt hintertreiben; und was ihm an Beweisen fehlt, ergänzt er mit Lügen. Er wagt es sogar, mir Verrat zu unterstellen! Wollt Ihr das wirklich dulden?« 164 »Du solltest deine Zunge etwas in Acht nehmen«, sagte Olean zu Hatib, »wenn du an der Versammlung weiter teilnehmen willst.« Das war ein sehr milder Tadel. Hatib begriff in diesem Moment: >Der Born hat Angst vor Morgreal. Mehr als alle anderen.< Aber jetzt war der Heeresvorsteher bloßgestellt; vielleicht würde Olean sich doch für den Alten Niemand entscheiden. Deshalb erwiderte Hatib sofort reumütig: »Verzeiht mir, wenn ich mich im Zorn gehen ließ. Doch nicht der Wille zur Verleumdung hat aus mir gesprochen, sondern die Liebe zu Euch. Mein Freund hat einen weiten und gefahrvollen Weg auf sich genommen, um Euch vor einer furchtbaren Gefahr zu warnen. Wollt Ihr ihn wirklich einfach abweisen? Wollt Ihr nicht auf den Mann hören, der Euch einst gekrönt hat?« Der Born schwieg und die Ratsversammlung auch. Alle wussten, dass jetzt die Entscheidung darüber fiel, wer in Araukaria das Sagen hatte. Nach einer Pause, die Hatib furchtbar lang vorkam, sah der Born endlich auf. Olean schien entschlossen, um seine Macht zu kämpfen; in den eben noch erloschenen Augen glomm Leben. Es fiel ihm sichtlich schwer, sich auf eine Konfrontation mit Morgreal einzulassen, doch er brachte die Kraft auf, seinem Heeresvorsteher ins Gesicht zu sehen, als er sagte: »Ich folge der Meinung des Alten Niemand. Wir müssen uns wappnen - selbst wenn der Feind unsichtbar ist.« Ein Raunen ging durch die Versammlung. Das hatte niemand erwartet. »Herr!«, rief Morgreal aus. Jetzt, da die Dinge sich zu seinen Ungunsten wandten, verlor er die Beherrschung. »Lasst Euch doch nicht von einem dahergelaufenen Wanderer beeinflussen! Verschenkt Eure Zeit nach so vielen Gerüchten nicht wiederum an solchen Unsinn!« 165 »Dieser dahergelaufene Wanderer ist der Stadtgründer«, widersetzte sich der Born. Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn. »Wir werden das Volk zu den Waffen rufen.« »Herr!«, sagte Morgreal leise. >Wir haben gewonnenAuch wenn vielleicht kein Ratsmitglied wirklich an den Schwarzen Prinzen glaubt. Aber dass Morgreal ein Verräter ist, können sie sich nur zu gut vorstellen^ Da fiel sein Blick auf den Alten Niemand, der alles andere als erleichtert wirkte. Immer noch starrte er auf Morgreal wie das Kaninchen auf die Schlange. Hatib folgte seinem Blick - und begriff, dass ihr Sieg keinen Pfifferling wert war. Alles Gefällige war aus den Zügen des Heeresvorstehers gewichen; sein Gesicht ähnelte dem eines hungrigen Raubtiers. Hatib hatte es geschafft, Morgreal die Maske abzureißen - doch was sich dahinter verbarg, war furchtbar. Böse, hasserfüllte Augen starrten auf den Born, der mit einem Mal aussah, als wollte er sich in seinem Thron verkriechen. Die ] düstere Macht des Heeresvorstehers war unbezwinglich. »Herr!«, flüsterte Morgreal bedrohlich. »Wenn Ihr es befehlt, mache ich mich sofort zu den Generälen auf und gebe ihnen Anweisung, mobil zu machen. Sie werden mir gehorchen, Herr! Aber die Mannschaften? Sie haben kaum Sold bekommen, Herr, und lange nicht mehr gekämpft. Euer Befehl könnte sie unzufrieden machen, sehr unzufrieden. Und ich weiß nicht, ob ich ihre Empörung niederhalten kann ...« >Er droht dem Born mit einer MilitärrevolteSo ein treuloser Hund.< »Was soll ich also tun, Herr?«, fragte Morgreal und belauerte den Born wie eine Schlange. Der Heeresvorsteher war bei seinen Truppen immer noch beliebt; jeder im Saal wusste, was passieren 1 würde, wenn er sich an die
Spitze der Revolte stellte. >Wir haben verlorenHat nicht einmal er noch Mumm in den Knochen ?< Wie auf ein Zeichen standen nun auch die anderen Ratsmitglieder auf und entfernten sich. Nur Morgreal, der alle Hoffnungen des Alten Niemand zunichte gemacht hatte, blieb. Hatib näherte sich wütend seinem Gegenspieler und fragte: »Auf welcher Seite stehst du, Morgreal? Was hat dir der Schwarze Prinz für deinen Verrat geboten?« 167 Aber der Augenblick der Wahrheit war vorbei. Der Heeresvorsteher hatte seine Maske wieder aufgesetzt. Nur seinen Blick hatte er noch nicht in der Gewalt - mit dem hätte er Hatib durchbohren können. »Du verdächtigst mich zu Unrecht«, sagte er. »Ich diene nur meinem Herrn.« Dann wurde er giftig. »Du aber bist ein räudiger Straßenköter, der sich vor den Höchsten von Araukaria derart aufgespielt hat, dass es um ein Haar zur Katastrophe gekommen wäre. Die Bürger zu den Waffen rufen! Deinesgleichen wird nie wieder zu Ratsversammlungen zugelassen, dafür werde ich sorgen. Und das gilt auch für deinen väterlichen Freund, wie du ihn genannt hast. Er soll ins Land der Tanzenden Berge zurückkehren und dort auf den Tod warten - er ist ihm lange genug ausgewichen.« »Dafür wirst du bezahlen«, sagte Hatib ruhig. »Eines Tages wird dir das noch Leid tun.« »Den Tag wirst du nie erleben«, höhnte Morgreal. »Dazu müsstest du älter werden als der Alte Niemand.« Er wandte sich um und verließ den Saal. Hatib hätte ihn erwürgen können. Sein Gefährte saß noch immer wie versteinert da und starrte ins Nichts. Endlich sagte er mit gebrochener Stimme: »Gehen wir.« Geschlagen und müde stand er auf, und sie verließen die Halle, in der sie solche Schmach erlitten hatten. An der Tür kam ihnen der silberne Wächter entgegen, der sie am Vorabend zum Born geführt hatte. »Mein Herr schickt mich«, wandte er sich an den Alten. »Er bittet um Verzeihung für das, was Euch angetan wurde, aber er hat alles in seiner Macht Stehende getan. In den nächsten Tagen hat er keine Möglichkeit, Euch zu empfangen, doch Ihr dürft im Palast bleiben, solange Ihr wollt.« »Richte deinem Herrn aus, dass wir seine Gastfreundschaft nicht länger in Anspruch nehmen«, sagte der Alte Niemand müde. 168 Eine Viertelstunde später waren sie mit ihrem Gepäck auf den Straßen Araukarias unterwegs. Die Pferde hatten sie in den Stallungen des Borns zurückgelassen. »Wohin gehen wir?«, fragte Bolgan. »Zu meinem Bruder Fernd«, antwortete Hatib. »Wir wohnen in einem Haus unweit der westlichen Stadtmauer. Wenn wir dort sind, sehen wir weiter.« »Weiß er, dass wir kommen?«, fragte der Alte Niemand matt. »Bestimmt nicht. Er glaubt, ich sei ins Land der Tanzenden Berge unterwegs.« Sie bogen in eine Seitengasse ein. An ihrem Ende blieb Hatib stehen. »Da wären wir.« Das Haus sah wie alle in diesem Viertel aus - einfach, aber nicht ärmlich, mit spitzem Giebel und vorkragendem Fachwerk. Die Fenster schienen vor kurzem erst geputzt worden zu sein, und vor dem Eingang war ein schmaler Blumenstreifen angelegt. Alles machte einen schmucken und freundlichen Eindruck. »Und das gehört euch ganz allein?«, fragte Bolgan. »Ich habe es vor fünf Jahren von meinen Pflegeeltern geerbt«, erwiderte Hatib. »Aber Fernd hat auch ein Anrecht darauf. Wenn er zwanzig wird - also in drei Jahren - bekommt er die Hälfte.« Er ging zur Tür und pochte laut und energisch, wie es seine Art war. Lange tat sich nichts, und der Alte meinte: »Vielleicht ist er ausgegangen. Oder auf dem Markt.« »Das glaube ich nicht«, erwiderte Hatib. »Fernd ist ziemlich faul. Vor allem schläft er gern.«
Wieder pochte er. Endlich war ein leises Tapsen zu hören, und eine verschlafene Stimme fragte: »Wer ist da?« »Ich bin's!«, rief Hatib. »Ich und der Alte Niemand.« Ein Riegel fuhr zurück, und die Tür sprang auf. >Das ist ja der verliebte Träumer von gestern AbendSo ein Zufall.< 169 Hatten Fernds Haare am Tag zuvor noch halbwegs geordnet gewirkt, so hingen sie ihm heute ungekämmt und zottelig vom Kopf. Trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit trug er nur ein dünnes Hemd und kurze Hosen. Seine nackten Füße steckten in ausgetretenen Sandalen. »Was macht ihr denn hier?«, fragte er verwundert und lächelte. »Ich habe gar nicht mit euch gerechnet.« Er umarmte Hatib und den Alten Niemand herzlich; dann wanderte sein Blick zu Bolgan. »Und wer bist du?« »Das ist Bolgan aus dem Hochhügelland«, sagte Hatib. »Lass uns rein; wir haben schlimme Tage hinter uns.« Fernd öffnete die Tür ganz, und die drei traten ein. Der größte Raum des Hauses war die Wohnküche mit einer Kochstelle, die auch als Ofen diente, und einer Eckbank mit Holztisch. »Kommt ihr jetzt aus dem Hochhügelland oder aus dem Land der Tanzenden Berge?«, fragte Fernd und setzte sich. »Aus dem Bornspalast«, antwortete Hatib finster, und Fernd machte große Augen. »Was habt ihr denn da gemacht?« Reika kam in die Küche und | musterte die Neuankömmlinge skeptisch. >Schau an - da ist ja auch das MädchenDir das zu sagen, ist weder mein Wille noch meine Aufgabe. Die Antwort steckt in dir selbst - wie eine zweite Seele.An Selbstbewusstsein mangelt es Guret nichts dachte Hatib. »Aber seitdem hängt unser beider Leben an einem seidenen Faden«, berichtete der frühere Schatzmeister weiter. »Morgreal liebt es nicht, wenn man ihm in die Suppe spuckt. Es wäre sinnlos gewesen, in der Versammlung gegen ihn aufzubegehren; das könnte nur der Born selbst. Dass er es heute wenigstens versucht hat, war mehr als ungewöhnlich. Er hat größte Angst vor Morgreal - berechtigte Angst, wie ihr gesehen habt.« »Das habe ich alles nicht gewusst«, sagte der Alte Niemand. »Verzeiht den unhöflichen Empfang. Ihr habt mehr Mut, als ich angenommen hatte.« »Ich verstehe Euer Misstrauen«, antwortete Guret. »Aber ich bin auf Eurer Seite. Bloß konnte ich das in der Versammlung nicht zeigen. Gwendall und ich sind nur deshalb noch am Leben, weil 177 wir dort nicht viel ausrichten können. Im Grunde stören wir Morgreal ja nicht, im Gegenteil - solange wir seine Entscheidungen absegnen, kann er sich auf uns berufen, wenn etwas schief läuft.« Sein Gesicht verdüsterte sich wieder. »Wir haben lange nicht gewusst, was der Heeresvorsteher eigentlich bezweckt. Vielleicht Born werden, wenn Olean das Zeitliche segnet? Warum auch nicht? Eine Weile sah es so aus, als mache er seine Sache gar nicht schlecht. In den letzten Jahren war viel Regierungsarbeit liegen geblieben. Die Stadt brauchte dringend ein neues Kanalsystem, und Morgreal hat Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um dieses Vorhaben rasch anzugehen. Dann hat er den Handel nach Süden ausgebaut - mit Quastans Hilfe, der ausgezeichnete Verbindungen nach Tifillan und in andere Städte dort unten besitzt. Ich habe erst später gemerkt, dass er all das nur getan hat, um sich bei der Bevölkerung beliebt zu machen, denn er ist sehr ehrsüchtig. Und er kommt gut an. Jeder in Araukaria weiß mittlerweile, was im Bornspalast vorgeht. Aber es stört niemanden, denn vieles scheint besser als früher. Doch Morgreals Ehrsucht hat sich im Lauf des letzten Jahres verschlimmert, und sein wahrer Charakter ist ans
Licht gekommen. Der Heeresvorsteher hat jegliches Maß verloren, zunächst in seinem eigenen Haushalt: Morgreal besitzt inzwischen mehrere Villen in der Stadt und leistet sich ein Heer von Bediensteten. In der Öffentlichkeit tritt er so pompös auf, als unternehme der Born mit seinem Gefolge eine Prozession. Niemand weiß, woher er das Geld dazu nimmt. Dann hat er begonnen, in der Regierungsarbeit Fehler zu machen, und Maßnahmen getroffen, die er nicht bezahlen kann. So hat er eine Solderhöhung für seine Mannschaften angeordnet, vermutlich als Belohnung dafür, dass sie ihn beim Born als Heeresvorsteher empfohlen haben; vielleicht aber auch als Dank dafür, dass Jarno, sein Vorgänger, sich so plötzlich das Genick gebrochen hat. 178 Doch Morgreal hat sich vertan. Man kann nicht den Sold für zehntausend Mann um ein Drittel erhöhen und sich dann wundern, kein Geld mehr zu haben. Jeder hätte ihm das vorrechnen können - und ich selbst habe es mehrfach getan. Aber er hat nicht hören wollen. Seine Beliebtheit bei den Soldaten ist ihm wichtiger gewesen. Wahrscheinlich hat er gehofft, den Sold aus höheren Steuereinnahmen bezahlen zu können, die uns der aufblühende Handel bescheren würde, aber das ist illusorisch; eher hebt man den Königshügel einhändig in die Luft, als dass man von einem gewieften Händler Abgaben bekommt.« Grimmig schaute Guret umher. »Das Ende der Geschichte war absehbar. Die Soldaten haben eine Zeit lang den versprochenen höheren Lohn erhalten, seit zwei Monaten aber nicht einen Heller bekommen, denn Araukaria ist inzwischen so gut wie zahlungsunfähig. Bis jetzt ist es Morgreal gelungen, das zu vertuschen oder die Schuld auf andere abzuwälzen. Und da kommt Ihr und wollt militärischen Schutz für das Hochhügelland - in einer Situation, in der das Heer aus Geldmangel kaum noch einsatzfähig ist! Mehr noch, Ihr wollt die Bürger zu den Waffen rufen! Ein Wunder, dass Ihr den Königshügel lebend erreicht habt.« »Um ein Haar hätten wir das nicht geschafft«, bemerkte der Alte Niemand. »Also hat Hatib Recht - die Angreifer von Palin sind aus Araukaria gekommen.« »Vielleicht versteht ihr jetzt besser, was in der Versammlung geschehen ist.« Guret wandte sich an Hatib. »Du hast Morgreal ordentlich eingeheizt«, sagte er anerkennend. »Ich habe ihn noch nie so wütend gesehen, und die Versammlung war entsetzt. Seit Jahren hat sich keiner getraut, so mit ihm zu reden.« »Der soll sich ärgern, bis er schwarz wird«, sagte Hatib geschmeichelt. »Leider hat es nichts genützt.« »Vielleicht doch.« Gurets Anwesenheit wirkte auf die Gefähr179 ten wie Balsam. Der alte Schatzmeister war der Einzige, der sich nicht ins Bockshorn jagen ließ. »Noch nie hat jemand den Ratsmitgliedern so deutlich vor Augen geführt, dass sie sich einem Verräter unterworfen haben. Egal, ob sie die Geschichte mit dem Schwarzen Prinzen glauben oder nicht - jeder weiß nun, dass etwas schief läuft und Morgreal mehr als nur Born werden will. Aber das reicht nicht, um die Machtverhältnisse zu ändern.« Er wandte sich an den Alten Niemand. »Als ich Euch heute so unvermutet wieder sah, bekam ich Hoffnung, Ihr könntet die Dinge in Ordnung bringen. Erst nach Eurer Erzählung erkannte ich das Ausmaß der Katastrophe: Unser Heeresvorsteher liefert die Stadt planmäßig dem Schwarzen Prinzen aus. Sein heutiges Verhalten war der Beweis.« »Auch ich verstehe jetzt manches besser«, sagte der Alte Niemand. »Ich glaube, Morgreal handelt aus purer Berechnung. Er denkt, der günstigste Weg, aus der von ihm verschuldeten Krise zu kommen ist - der Untergang der Stadt.« »Das ist das Kalkül eines Wahnsinnigen«, erwiderte Guret. »Wir müssen ihn aufhalten.« »Aber wie?«, fragte Hatib. »Darüber zermartern wir uns schon lange den Kopf.« »Es gibt einen Weg.« Guret senkte die Stimme. »Wir haben uns etwas ausgedacht, Gwendall und ich. Hört zu.« Der Alte Niemand beugte sich vor; sein Kampfgeist war wieder erwacht. »Es gibt nur eine Chance, gegen Morgreal anzukommen«, sagte Guret. »Wir müssen ihn bloßstellen, in aller Öffentlichkeit. Wir machen jedem Bürger Araukarias klar, dass unser famoser Heeresvorsteher ein Verräter ist dann ist er besiegt, und wir bringen das Schiff auf einen anderen Kurs.« »Aber wir können doch nicht einfach behaupten, er wolle die Stadt ins Verderben stürzen«, wandte der Alte Niemand ein. 180 »Nein, wir müssen einen Umweg einschlagen«, erwiderte Guret. »Morgreal hat sich eine Blöße gegeben, als er Patimir zum Schatzmeister gemacht hat. Es ist nie klug, einem Taugenichts einen guten Posten zuzuschanzen. Patimir ist bis ins Mark korrupt und hat sich großzügig aus der Staatskasse bedient, was die Finanzen noch stärker zerrüttet hat. Davon weiß bis jetzt nicht einmal die Ratsversammlung, doch ich habe meinem sauberen Nachfolger hin und wieder auf die Finger geschaut. Er hat versucht, die Unterschlagung zu verbergen, aber mir macht man nichts vor. Dann hat auch Morgreal den Betrug bemerkt. Doch statt Patimir zu entlassen, hat er versucht, die Sache gemeinsam mit ihm zu bereinigen. Vor einer Woche nun hat er dabei etwas getan, das ihn um Kopf und Kragen bringen kann.« Gurets Augen blitzten. »Jedenfalls, wenn wir es richtig anstellen. Um den Geldmangel zu vertuschen, hat er sich große Summen beim reichsten Bürger Araukarias geliehen - den kennt ihr schon, es ist...« »Quastan«, rief der Alte, »der auch sein Spießgeselle ist.«
»Genau, und jetzt kommt's: Als Gegenleistung hat Morgreal ihm versprochen, zu seinen Gunsten eine Salzsteuer einzuführen. Das klingt harmlos, aber Quastan hat das Monopol auf den Salzhandel. Sein Reichtum würde durch diese Abgabe ins Unermessliche steigen - auf Kosten der Araukarien« Guret machte eine kurze Pause und sagte dann: »Wir müssen nur dafür sorgen, dass diese Absprache ans Licht kommt.« Der Alte Niemand nickte. »Dann ist Morgreal geliefert, und Quastan und Patimir auch. Alle werden erkennen, dass der Heeresvorsteher ein korrupter Emporkömmling ist. Aber wir können nicht beweisen, dass es diese Vereinbarung zwischen Morgreal und Quastan gibt.« »Doch.« Guret wurde seiner Sache immer sicherer. »Denn Quastan ist misstrauisch und hat etwas Schriftliches verlangt, um das geliehene Geld notfalls zurückfordern zu können. Deshalb ha181 ben Morgreal und Patimir einen Vertrag unterzeichnet - und mit | dem können wir ihnen das Handwerk legen.« Hatib pfiff durch die Zähne, doch der Alte Niemand blieb skeptisch. »Aber wie kommen wir an den Vertrag?« Jetzt lächelte Guret zum ersten Mal. »Indem wir ihn stehlen und ! Gwendall geben, damit er Morgreal und Patimir anzeigt - dann sind sie erledigt, und wir haben freie Hand.« Der greise Finanzminister saß so unschuldig da, als sei sein Plan die normalste Sache der Welt, doch der Alte Niemand schätzte das anders ein: »Das ist eine Verzweiflungstat. Tausend Dinge können dabei schief gehen. Wo befindet sich der Vertrag überhaupt?« »Bei Quastan. Aber eine Abschrift davon muss in Patimirs Diensträumen im Palast liegen. Zu denen habe ich noch immer den Schlüssel. Patimir weiß das natürlich. Deshalb hat er sich ein Schließfach bauen lassen, zu dem ich keinen Zugang habe.« Sein Lächeln wurde breiter. »Das glaubt er zumindest.« »Wenn Morgreal oder Patimir Wind von der Sache bekommen«, wandte der Alte Niemand ein, »werden sie alles tun, damit der Vertrag nicht in unsere Hände gelangt.« »Umso rascher müssen wir handeln«, antwortete Guret. »Das ist schon richtig«, murmelte der Alte. In seinem Gesicht arbeitete es. »Aber warum erzählt Ihr mir das alles? Ihr habt nichts davon, mich einzuweihen.« »Der Stadtgründer hat ein Recht darauf zu erfahren, was hier geschieht«, sagte Guret. »Außerdem seid Ihr einer der wenigen, denen man noch trauen kann.« »Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache«, meinte der Alte Niemand. »Aber ich sehe keinen anderen Ausweg. Wie wollt Ihr an den Vertrag kommen? Wollt Ihr Euch in den Palast schleichen?« »Lasst das meine Sorge sein«, antwortete Guret. »Morgen haben wir ihn. Wenn alles glatt geht, wird Gwendall Morgreal noch am Abend verhaften.« 182 Während Guret die Gefährten in seine Verschwörung einweihte, stand Morgreal in einem dunklen Zimmer des Palastes und spähte nach draußen. Er kochte noch immer vor Wut. Die Ratsversammlung steckte ihm in den Knochen. Mit dem Alten Niemand war es leichter gewesen als erwartet, doch diesem Hatib war gelungen, was noch niemand geschafft hatte: ihn zu zwingen, seine Macht offen zu zeigen. Schon allein dafür hasste er ihn. Was noch schlimmer war: In seinem tiefsten Inneren musste Morgreal sich eingestehen, dass Hatib ihn das Fürchten gelehrt hatte. Bisher hatte der Heeresvorsteher dank der Macht seines Herrn jeden Gegner überwunden. An Hatib aber prallte sie ab wie an einer Mauer. Der hatte den Spieß sogar umgedreht und ihn vor aller Augen lächerlich gemacht. Morgreal hatte erkennen müssen, dass die Macht seines Herrn nicht unbegrenzt war - und dafür hasste er Hatib noch mehr. >Ich werde ihn töten lassenIhn und seine ganze Bande. Ich wollte ihn schon früher beseitigen, aber ER wollte ja nicht.< Etwas war bei der Planung schief gelaufen. Hatib hatte nicht ganz Unrecht gehabt: Die Spitzel in Palin waren zwar keine araukarischen Soldaten gewesen, doch sie gehörten zu Morgreals privater Gilde - zuverlässige Männer, die er einsetzte, wenn etwas unauffällig erledigt werden musste. Die gedungenen Mörder hingegen waren Wölfe gewesen - besondere Wölfe, von Herrn Abamil selbst ausgesucht. Aber der Anschlag war gescheitert, und als Morgreal schon einen Trupp zusammengestellt hatte, um den Alten Niemand in Araukaria abzufangen, hatte sein Herr einen Rückzieher gemacht. Morgreal hatte mit ansehen müssen, wie der Stadtgründer unbehelligt den Palast betreten und den Born gewarnt hatte. Ausgerechnet am Tag vor einer Ratsversammlung! 183 Olean hatte über den unerklärlichen Geldmangel diskutieren wollen - die letzte Möglichkeit, wie der kranke alte Mann von Hohaus sich gegen Morgreal noch zur Wehr setzen konnte. >Bald ist alles andersAber bis dahin .. .< Dann sah er es endlich: Die Schwärze am Himmel schien sich zu einer Wolke zu verdichten, und Morgreal fühlte einen eisigen I Windstoß, der ihn schaudern ließ. »Du hast deine Sache großartig gemacht«, kam eine kalte Stimme aus dem Dunkel des Zimmers. »Ich kann nur gratulieren.« »Verhöhnt mich nicht auch noch«, sagte Morgreal, ohne sich umzudrehen. Er wusste, sein Herr mochte es nicht, wenn man ihn £ anschaute. Auch ihm war es lieber so. »Dieser Hatib hätte um ein Haar Born und Versammlung
auf seine Seite gezogen. Er hat gewagt, mir zu drohen, und ...« »Ich verhöhne dich nicht«, sagte die Stimme. »Es hätte schlimmer enden können. Unterschätz den Alten Niemand nicht - er ist längst nicht besiegt und kann uns immer noch in die Quere kommen -jetzt, wo er Freunde gefunden hat.« »Er hat den Palast verlassen und wohnt in einem der ärmeren Stadtteile«, knirschte Morgreal. »Zusammen mit seinen drei Gefährten, von denen zwei seine Enkel sein sollen. Ich habe das Haus beobachten lassen; Guret ist gerade bei ihnen.« »Dieser Narr! Er gibt den Kampf also nicht auf. Sei auf der Hut! Guret und der Stadtgründer - ein gefährliches Gespann.« »Der Alte und seine Gefährten hätten es überhaupt nicht bis in den Palast schaffen dürfen«, murrte Morgreal. »Dann wäre alles leichter gewesen. Warum haben wir nicht ein zweites Mal versucht, sie zu töten? Gelegenheit dazu gab es genug.« »Die Pläne haben sich geändert«, antwortete die Stimme. »Kann jemand Eure Pläne ändern?«, fragte Morgreal verwundert. »Ich dachte immer, Ihr dient nur Euch allein.« »Ich bin nur ein Gesandter«, sagte die Stimme. »Die drei jungen 184 Gefährten sind die größte Gefahr für meinen Herrn - und seine Hoffnung. Einer von ihnen ist auserwählt, Großes zu tun; doch solange wir nicht wissen, wer es ist, müssen sie am Leben bleiben -alle drei.« »Was heißt hier auserwählt?«, fragte Morgreal. »Ich denke, sie sind unsere Feinde! Sie sind die Einzigen, die das Unternehmen noch gefährden können!« »Das geht dich nichts an«, erwiderte die Stimme. »Kümmere dich um das, was von dir verlangt wird! Je weniger du weißt, desto besser für dich.« Morgreal war eingeschüchtert. »Ich habe ja nur gefragt«, murmelte er. »Was wollt Ihr als Nächstes von mir?« »In erster Linie, dass du Ruhe bewahrst.« Die Stimme kam näher und war jetzt an Morgreals Ohr. »Bald sind wir am Ziel«, flüsterte sie. »Vor den Toren des Verbotenen Landes ist der Grundstein für das große Werk gelegt. Aber die Zeit drängt, und mein Herr wird ungeduldig. Uns fehlen noch Menschen.« »Wie viele?« Morgreal schwante nichts Gutes. »Hunderttausend«, sagte die Stimme. »Kein Mann weniger.« »Aber das war nicht ausgemacht«, protestierte Morgreal. Der Schwarze Prinz änderte die Regeln, ohne ihn zu fragen! Jetzt erst wurde ihm wirklich klar, dass er seine Seele verkauft hatte. »Dreißigtausend, hatten wir gesagt. Und dafür sollte ich über die Stadt herrschen, wenn Ihr fort seid.« »Die Pläne haben sich geändert«, wiederholte die Stimme. »Aber sei unbesorgt - du wirst über eine noch viel wichtigere Stadt herrschen. Mein Herr und ich haben Großes mit dir vor.« »Also führt Ihr Euren Plan durch«, murmelte Morgreal. »Natürlich - und du kümmerst dich darum, dass der Alte Niemand das nicht im letzten Moment verhindert. Aber töte ihn nicht. Und nimm dir Guret vor - der weiß zu viel und lässt sich nicht einschüchtern; du wirst ihn wohl ausschalten müssen.« 185 »Aber Guret ist der am meisten geachtete Bürger der Stadt«, wehrte sich Morgreal. »Die Araukarier schätzen ihn, weil es in den vierzig Jahren seiner Amtszeit nie Missstände gegeben hat - ganz anders als bei meinem sauberen Freund Patimir. Wenn ich ihn töten lasse, bin ich für alle Zeit erledigt. Außerdem werde ich niemanden finden, der bereit ist, ihn umzubringen. Guret ist für die Araukarier unantastbar.« »Dann wirst du es selbst tun müssen.« »Das kann ich nicht!« Die Stimme lachte leise. »Der junge Herr kann kein Blut sehen? Als Heeresvorsteher? Dann soll das von mir aus Quastan erledigen - Hauptsache, Guret macht uns keine Schwierigkeiten mehr. Oder soll ich dir einen meiner Diener schicken? Der arbeitet mit Sicherheit zuverlässiger als ihr beiden.« »Das kann schon sein«, sagte Morgreal mit belegter Stimme. Er hatte einen dieser Diener schon gesehen, und Angst kroch in ihm hoch. »Ist es ...« »Es ist einer von ihnen. Wenn du so viel Respekt vor Guret hast, kann ich dir die Begegnung nicht ersparen.« Morgreal gab sich einen Ruck. »Wenn es schon sein muss, dann soll Euer Diener es tun. Ich begehe keinen Mord.« »In der heutigen Rats Versammlung hast du tausend Morde begangen«, sagte die Stimme kalt. »Ganz gleich, wie du das nennst. Ich verschwinde jetzt und melde mich erst in der Nacht wieder, in der unser Unternehmen beginnt. Du wirst Kraft brauchen ...« Etwas berührte Morgreal, und ein Glücksgefühl durchströmte ihn. Seine Sinne verwirrten sich - wie jedes Mal, wenn der Schwarze Prinz ein Quäntchen seiner Macht auf ihn übertrug. Er nahm nur noch wahr, wie ein geflügelter Schatten an ihm vorbeischwebte, sich in die Lüfte hob und in der Nacht verschwand. »Auf bald, Morgreal«, hallte die Stimme von fern. »Du wirst mehr Menschen befehligen, als du dir erträumst.« 186 Dunkle Wärme breitete sich in Morgreals Körper aus. Er gestand sich ein, dass er Araukaria für genau dieses
Gefühl verraten hatte. »Gut«, murmelte er traumverloren. »Auf bald, Herr Abamil.« Die Nacht brach über Araukaria herein, und die Gefährten gingen zu Bett. Trotz der furchtbaren Geschehnisse schliefen sie tief und fest - bis auf den Alten Niemand, der mitten in der Nacht aus einem Traum erwachte, den ihm vielleicht der Silbergreis geschickt hatte, um die Lande vor dem Untergang zu retten. Er stand auf und weckte Hatib. Leise raunte er ihm einige Anweisungen für den nächsten Tag ins Ohr, wehrte die erstaunten Fragen seines jungen Freundes ab, legte sich wieder ins Bett und schlief ruhig bis zum nächsten Morgen. In dieser Nacht wurde es kalt; Wind war aufgekommen und rüttelte an den Fensterscheiben. Wenig später setzte Regen ein, der sich in den frühen Morgenstunden mit Graupel vermischte. Der Versuch der Wintertänzer, den Sommer in der Stadt zu halten, war fehlgeschlagen - wie jedes Jahr. Die Lande gingen ihren eigenen Gang und scherten sich nicht um die Wünsche der Menschen. Fernd erwachte als Erster und sah aus dem Fenster. Der Himmel war grau und regenverhangen, und Wolkenfetzen zogen in niedriger Höhe über die nassen Giebel der Stadt. Als die Nachbarin aus dem Haus trat, wusste Fernd, dass der Winter gekommen war, denn sie hatte dicke Wollsachen angezogen und ein warmes Kopftuch umgelegt. Vielleicht schneit es baldDer gehört doch dem Alten Niemands dachte Bolgan und drehte sich zu ihm um, aber der Greis machte keine Anstalten, et189 was zu erklären. Fernd hatte nichts gemerkt, und Bolgan beschloss, lieber nichts zu sagen. Wenig später schoben Bolgan und Hatib sich über den Markt. Es war bitterkalt, und sie hatten warme Mäntel an. Die Menschen ringsum waren in schwere Umhänge oder Pelze gehüllt. Der Platz war aufgeweicht vom Regen, und Bolgan fror an den Füßen. »Gebt mir davon.« Hatib war an einen Stand getreten und deutete auf eine Stange, an der Hartwürste hingen. »Wie viele wollt ihr?«, fragte der Händler. »Das ist beste Ware; eigentlich nicht mit Geld zu bezahlen.« Hatib überlegte. »Dann gebt mir alle«, sagte er. »Alle?« »Alle.« »Aber die sind teuer ...« »Macht nichts.« >Der sorgt vorFalls es schief geht.< »Verreist Ihr noch vor Ende der Festtage?«, erkundigte sich der Händler freudig. So ein gutes Geschäft machte er selten. »Könnte man sagen«, bestätigte Hatib. »Wir brauchen noch Dörrfleisch. Und Brot. Vielleicht etwas Trockenobst.« »Das gibt es da drüben.« Der Händler wies auf einen anderen Stand. »Aber feilscht ein bisschen - es lohnt sich.« »Ich werde es versuchen«, versprach Hatib und lächelte. Aber Hatib feilschte nicht. Weder an diesem Stand noch am nächsten, wo er etwas Pfeifentabak für den Alten Niemand kaufte; im Gegenteil, er gab noch etwas drauf. Schließlich hatten sie ihr ganzes Geld ausgegeben und kehrten hochbepackt zurück. Mittlerweile war es Spätnachmittag. 190 Ungefähr zu diesem Zeitpunkt betrat Guret, der ehemalige Schatzmeister, Patimirs Amtszimmer im Bornspalast. Er wusste, dass sein unfähiger Nachfolger nachmittags immer eine Pause einlegte, aus der er mal früher, mal später zurückkehrte; eine halbe Stunde blieb er mindestens fort. Das musste reichen. >Ich bin zu alt für solche SachenMit sechsundsiebzig Jahren begeht man keinen Diebstahl mehr.< Klopfenden Herzens huschte er zur Tür. Sie war nicht abgeschlossen, aber er war zu aufgeregt, sich darüber Gedanken zu machen. Vorsichtig trat er ein und zündete mit zitternden Fingern eine mitgebrachte Kerze an. Dann sah er sich um. Der Raum war nicht groß. Vierzig Jahre hatte Guret hier gearbeitet; noch heute hätte er sich sogar im Dunkeln mühelos darin zurechtgefunden, denn sein Nachfolger hatte so gut wie nichts verändert. Bis auf eine Kleinigkeit: In den rechten Wandschrank, wo sich die wichtigsten Dokumente für die tägliche Arbeit befanden, hatte Patimir ein Geheimfach einbauen lassen, das sich nur mit einem Spezialschlüssel öffnen ließ. Eigentlich war dieses Fach der Grund dafür, dass Guret seinem Nachfolger auf die Schliche gekommen war; es hatte ihn misstrauisch gemacht. >Warum hat Patimir Geheimnisse vor mir?Bei einem reinen Gewissen würde er mir trauen.< Guret selbst hatte ihn damals in die Finanzverwaltung Araukarias eingeweiht. Widerwillig, versteht sich. Trotz seines hohen Alters liebte er seine Arbeit, und es war ihm schwer gefallen, sie an einen Jüngeren abzutreten. Außerdem mochte er den Neuen nicht. >Vielleicht, weil er jung istund mich überflüssig macht.< Doch daran hatte es nicht gelegen. Patimir war ihm unheimlich. 191 Er schien bei seiner Arbeit ständig an etwas zu denken, das sich Gurets forschendem Verstand entzog. Später hatte er erfahren dass es Morgreal gewesen war, der ihn als Schatzmeister durchgesetzt hatte. Das hatte das Misstrauen des alten Schatzmeisters noch gesteigert. >Und ich hatte Rechts dachte er jetzt, und seine Angst verflog >Mein Nachfolger ist so falsch wie sein Lächeln.< Das Geheimfach zu finden war das Schwierigste. Es war in die Holzvertäfelung eingelassen und mit bloßem Auge nicht zu erkennen. Erst nach längerem Tasten fand Guret einen schmalen, merkwürdig gewundenen Schlitz - das Schlüsselloch. »So weit, so gut«, murmelte er. Als Patimir das Geheimfach bauen ließ, hatte der Born von ihm ein Duplikat des Schlüssels verlangt und ihn Guret mit dem Auftrag gegeben, heimlich ein Exemplar für sich anzufertigen. Schließlich konnte man nie wissen. Der Schatzmeister zog diesen Schlüssel nun aus der Tasche, steckte ihn in den Spalt - und die Holzvertäfelung glitt auseinander. »War gar nicht schwer«, murmelte er erleichtert, nahm die Kerze und leuchtete in das Fach. Es enthielt nur ein Dokument mit mehreren Siegeln - darunter auch dem des Borns von Araukaria. Patimir musste es gestohlen
haben. »Das Privatsiegel des Borns«, brummte Guret. »Der schreckt wirklich vor nichts zurück.« »Ihr aber auch nicht.« Guret zuckte zusammen und fuhr herum. Hinter ihm stand Morgreal! Die Person daneben kannte er nicht. Sie hatte ein blasses, ausdrucksloses Gesicht und Augen, deren Blick sich nicht deuten ließ. Eigenartigerweise war es schwer, sich dieses Gesicht zu merken man vergaß es sofort. »Ihr solltet nicht hier sein, Guret.« Der greise Schatzmeister begriff, dass der Kampf verloren war. 192 Er ahnte, was Morgreal tun würde. Er musste es tun, denn sonst ginge es ihm selber an den Kragen. >Ich habe lang genug gelebtDen Alten Niemand kann ich nicht retten - auf den hat es Morgreal abgesehen. Aber Gwendall kann ich vielleicht aus der Sache raushalten.< »Ihr habt da etwas in der Hand, das Euch nicht gehört«, sagte Morgreal. »Gebt es mir.« »Es ist der Beweis für Patimirs Unterschlagung«, sagte Guret. »Wenn Ihr ihm beisteht, macht Ihr Euch mitschuldig, Heeresvorsteher.« »Ihr seid ein alter Mann. Die Zeiten haben sich geändert, seit Ihr Schatzmeister wart«, sagte Morgreal leichthin und fragte dann lauernd: »Was hattet Ihr mit dem Vertrag vor?« »Ich wollte ihn dem Born bringen«, erklärte Guret mit fester Stimme. »Er weiß von Patimirs dunklen Geschäften und hat mir seinen Schlüssel zum Geheimfach gegeben. Auch Olean weiß, dass Patimir ein Nichtskönner ist, und wollte ihn anklagen.« »Ihr lügt«, sagte Morgreal. »Ich lüge nicht«, verteidigte sich Guret. »Woher sollte ich sonst den Schlüssel haben?« »Von Olean jedenfalls nicht.« Morgreal langte in die Tasche und zog zu Gurets Entsetzen den Schlüssel des Borns heraus. »Woher habt Ihr den?«, fragte er verblüfft. »Ich habe ihn mir genommen.« »Aber er gehört Olean ....« »...dessen Regentschaft beendet ist.« Morgreal zuckte mit keiner Wimper. »Er hat mir all seine Schlüssel ausgehändigt.« »Was habt Ihr ihm angetan?«, fragte Guret entsetzt. »Nichts. Er ist in Hohaus, wie immer. Nur hat er ein paar Wachen mehr als sonst, damit er den Palast nicht verlässt.« »Er ist der Born!«, rief Guret. »Er ist unser Herr und ...« »Das war einmal.« Morgreal wandte sich an seinen Begleiter. 193 »Bring die Wahrheit aus ihm heraus. Ich will wissen, wer in die Sache verwickelt ist, sonst besteht Gefahr für das Unternehmen. Wenn du fertig bist, kannst du mit ihm machen, was du willst.« Guret wurde bleich. Er begriff, dass der Heeresvorsteher vor nichts zurückschreckte. »Das wirst du bereuen ...« »Wohl kaum.« Morgreal verschwand, und sein Begleiter blieb allein mit dem alten Schatzmeister zurück. Von nun an sollten sich die Ereignisse überschlagen. War es Zufall oder dunkle Vorahnung, dass Hatib sich auf dem Nachhauseweg umwandte und etwas Entsetzliches erblickte? »Schau mal«, sagte er und fasste Bolgan am Arm. Der folgte Hatibs Blick und zuckte zusammen. »Der Pfahl!« »Und er zeigt genau auf unser Haus.« Der Pfahl war in einer halbdunklen Ecke in den Boden gerammt worden und nicht leicht zu bemerken. Auf seiner Spitze steckte der Kopf eines Widders. Er schien erst kurz zuvor geschlachtet worden zu sein, denn am Pfahl klebte geronnenes Blut. »Gurets Plan muss fehlgeschlagen sein«, flüsterte Hatib. »Wir müssen so schnell wie möglich nach Hause.« Sie hetzten heim, und Hatib hämmerte an die Tür. »Macht auf! Macht doch auf!« Endlich wurde geöffnet, und Fernd stand vor ihnen. »Was ist denn? Warum habt ihr es so eilig?« »Ist jemand hier gewesen?« »Reika war kurz da und kehrt am Abend zurück. Und der Großvater wartet noch immer auf Guret.« »Der wird nicht kommen.« Der Alte Niemand war eben dabei, die jüngsten Ereignisse in die . 194 Rechenschaft einzutragen. Bei Hatibs Eintreten hob er den Kopf. »Schon zurück?« »Wir müssen fliehen.« Hatib berichtete knapp, was sie vor dem Haus gesehen hatten. »Hast du mein Pfeifenkraut mitgebracht?«, fragte der Alte, als Hatib fertig war.
»Ja«, antwortete der verwirrt, »aber ...« »Gib es mir. Wir brauchen nichts mehr zu überstürzen.« Er stand schwerfällig auf und nahm seine tönerne Pfeife aus dem Regal. »Ich hatte es geahnt«, sagte er, nachdem er sie gestopft und einen tiefen Zug getan hatte. »Dieser Pfahl gilt mir, und er ist wie ein Stich ins Herz.« »Und jetzt?«, fragte Bolgan ratlos. »Jetzt ist der Kampf verloren. Guret ist tot, und Gwendall erwartet das gleiche Schicksal. So wie mich, wobei mir allerdings noch ein paar Stunden oder Tage bleiben.« »Dann sollten wir hier verschwinden!«, rief Bolgan entnervt. »Nein.« Der Alte Niemand tat einen tiefen Zug aus der Pfeife. »Setzt euch zu mir. Alle drei.« Fernd, Hatib und Bolgan gehorchten. »Gurets Plan war die Idee eines Verzweifelten«, sagte der Alte Niemand. »Seit heute Nacht sehe ich vieles klarer, und deshalb habe ich meine Vorkehrungen getroffen. Hatib, was ist mit dem Roten Turm?« »Ich habe alles vorbereitet«, sagte der. »Wir können jederzeit dorthin. Und Vorräte haben wir für vier oder fünf Tage.« »Das wird reichen«, antwortete der Alte. »Länger wird es nicht dauern.« »Bis was passiert, Großvater?«, fragte Fernd nervös. »Bis die Stadt zerstört wird.« 195 »Das glaube ich nicht«, murmelte der Junge. »Das kann nicht sein.« »Es ist aber so. Der Pfahl mit dem Widderkopf meint mich. Und ich bin Araukaria.« »Was sollen wir tun?«, fragte Hatib. »Es wird Zeit, das Erbe zu verteilen.« Der Alte schloss das Buch und legte es vor sie hin. Die drei Gefährten erschraken - der schwarze Ledereinband hatte sich blutrot verfärbt. »Vor über siebenhundert Jahren hat mir der Silbergreis dieses Buch gegeben«, sagte der Alte Niemand feierlich. »Es war meine Aufgabe, darin alles aufzuzeichnen, was ich über den Schwarzen Prinzen finden konnte. Das habe ich getan und bin in der ganzen Welt herumgereist, um eine Antwort auf die Frage nach dem Warum zu bekommen.« Seine Stimme wurde leiser. »Aber ich habe sie nicht gefunden. Araukaria ist dem Untergang geweiht, und es ist Zeit, einen Nachfolger zu bestimmen. Die Rechenschaft ist der Schlüssel zum Ganzen; sie muss an den Richtigen gelangen. Bolgan, leg deine Hand auf das Buch.« Zögernd legte Bolgan seine Rechte auf den blutroten Einband. Er fühlte ein leichtes Kribbeln, eine Energie, die auf ihn überging; aber sonst geschah nichts. »Bolgan ist es nicht«, sagte der Alte Niemand. »Versuchen wir es mit Hatib.« Der legte die Hand mit Schwung und Zuversicht auf das Buch, doch auch bei ihm geschah nichts. »Hatib auch nicht.« »Was hätte denn passieren sollen?«, fragte er gereizt. Er hatte offenbar erwartet, der Erbe zu sein. »Dass es schwebt?« »Das wirst du schon sehen«, antwortete der Alte Niemand. »Fernd, du bist an der Reihe.« Fernds Linke zitterte leicht, als er sie auf das Buch legte. Dann 196 stieß er einen Schrei der Überraschung aus. Bei der Berührung wurde der Einband der Rechenschaft wieder schwarz. Bolgan und Hatib staunten Bauklötze, doch der Alte Niemand meinte nur: »Kein Zweifel, Fernd, du bist mein Erbe. Und dazu bestimmt, meine Aufgabe zu Ende zu führen.« Fernd zog die Hand zurück, als habe er sich verbrannt. »Das ist unmöglich«, murmelte er. »Ich kann doch nicht ...« Verwirrt schaute er von einem zum anderen. »Das kann nicht sein. Wenn einer die Welt vom Schwarzen Prinzen befreien kann, dann Hatib.« »Das Buch hat anders entschieden«, sagte der Alte Niemand. »Allerdings« - er lächelte Hatib zu - »bin ich überzeugt, die Gefährten werden dir bei deiner Aufgabe helfen.« »Natürlich«, brummte Hatib. »Vermutlich muss ich aufpassen, dass Fernd sich in den Landen nicht verläuft.« Wider Willen mussten sie lachen. Dann sagte der Alte: »Es ist Zeit zu packen. Dann gehen wir in den Roten Turm.« »Wieso eigentlich gerade dorthin?«, fragte Bolgan. »Habt Ihr nicht selbst gesagt, dort ist es unheimlich?« »Nur der Rote Turm kann uns Schutz gewähren«, antwortete der Alte. »Dort sind wir sicher. Zumindest bis ...« Er beendete den Satz nicht, doch seine Gefährten wussten, wovon er sprach. Im Roten Turm würde der Alte Niemand in Ruhe sterben können. »Aber Reika muss auch mit«, sagte Fernd. »Wo bleibt sie nur? Sie wollte bei Einbruch der Dunkelheit zurück sein.«
»Warten wir, bis sie kommt«, antwortete der Alte Niemand. >Hoffentlich ist Morgreal nicht schnellerDie Hoffnung stirbt zuletztDer hat wirklich keine Hoffnung mehrEs gibt einen Verräter da untenUnd wir kennen ihn - ohne Morgreals Vorarbeit wäre das hier nicht möglich gewesen. Er hat Araukarias Soldaten abgelenkt. Aber das allein reicht nicht. Der Schwarze Prinz muss ein Heer von mehreren zehntausend Mann so verstecken können, dass niemand Notiz davon nimmt. Wie macht er das bloß?< Immer mehr Menschen strömten aus der Stadt, doch kaum waren sie dem Feuer entkommen, näherte sich das nächste Unheil. Aus dem Dunkel des Graslands tauchten Reiter auf, die sie zu Gruppen zusammentrieben, aneinander banden und abführten. Ein langer Zug erschöpfter, weinender Menschen schleppte sich das Faluntal hinab - in die Dunkelheit, in die Gefangenschaft. 215 »Seht!«, rief Hatib und deutete auf den Bornspalast. Mit weithin hörbarem Krachen stürzte das Dach von Hohaus, der Halle auf dem Königshügel, ein. Menschen taumelten auf den glutheißen Vorplatz hinaus, doch schon nach wenigen Schritten fingen ihre Kleider Feuer, und sie stürzten. Ein paar Mal wälzten sie sich hin und her, dann lagen sie still. Wieder ein Krachen - ein paar Säulen brachen und fielen zu Boden. Dann sanken die Palastmauern zusammen, als wären sie aus Sand. Wohl eine Stunde starrten die Gefährten fassungslos auf das alles verzehrende Feuer, das auf grausige Weise die letzte Nacht des Alten Reichs erleuchtete. Hatib und Bolgan stand das blanke Entsetzen im Gesicht; Fernd saß verstört im Gras, ohne das Geschehen zu begreifen. Wo mochte Morgreal sein? Zu gern hätte Hatib sich aufgemacht, diesen Bluthund zu erwürgen. Aber der Alte Niemand hatte Recht: Dafür war es noch nicht an der Zeit. Da entdeckte er auf halbem Weg zur Stadt eine Gruppe von Reitern, die reglos das Feuer betrachteten. Sie waren kaum mehr als eine Meile entfernt. Wegen ihrer schwarzen Helmbüsche vermutete Hatib in ihnen die Anführer des Nebelheeres; sicher befand sich dort auch Morgreal. Er fasste Bolgan an der Schulter. »Kehr jetzt um. Der Alte Niemand braucht unsere Hilfe. Und pass auf Fernd auf, damit er das nicht noch mal versucht.« »Gehst du nicht mit?«, fragte Bolgan. »Ich komm nach. Zuerst muss ich erfahren, was der Schwarze Prinz vorhat.« »Willst du ins Tal?«, fragte Bolgan entsetzt. »Du wirst bestimmt entdeckt und endest wie all die anderen!« »Nein; die Aufmerksamkeit der Wölfe gilt allein der Stadt - die bemerken mich nicht.« 216 Hatib begann den Hang hinabzusteigen. Bolgan sah ein, dass es keinen Sinn hatte, ihn aufzuhalten, denn sein Zorn über den hinterhältigen Angriff und die Katastrophe, die über das Alte Reich hereingebrochen war, war zu groß. »Komm«, sagte er zu Fernd und nahm ihn bei der Hand. »Und mach keine Dummheiten. Um ein Haar hätten wir auch dich heute verloren.« »Vielleicht wäre das besser gewesen. Es gibt ja keine Hoffnung mehr.« Bolgan wollte ihm Mut machen, fand aber keine Kraft dazu. »Komm«, flüsterte er und zog ihn in den Wald zurück. Fernd folgte mit leerem Blick. Das Feuer kam Hatib zupass; es warf flackernde Schatten über die Hänge, so dass er von unten kaum zu sehen war. Die Luft war noch immer vom Knistern und Prasseln brennender Häuser erfüllt, und er konnte sich bei dieser Geräuschkulisse gut anschleichen. Ein paar Büsche gewährten ihm Deckung. >Die Wölfe sind ja riesigSind etwa alle Menschen aus dem Süden so groß?< Da drehte sich eine der Gestalten um, und Hatib zuckte zusammen. Das war kein Mensch - das hatte eine schwarz glänzende, stählern wirkende Haut, einen weit vorgeschobenen Kiefer mit spitzen Dreieckszähnen und kalt funkelnde Augen. »Nachtmahre«, flüsterte er. Hatib kannte sie nur aus den Erzählungen des Alten Niemand. Ihre dreizehigen Füße waren mit scharfen Klauen bewehrt, und mit ihren muskulösen Beinen konnten sie mehrere Meter weit springen. Das Gefährlichste an ihnen
jedoch waren ihre riesigen, scharfen Zähne. Der Alte Niemand hatte gesagt, ein Nachtmahr sei in der Lage, Hartholz zu zerbeißen. 217 Hatib hoffte vergeblich, Reika, ihre Eltern oder Bekannte zu entdecken. Er würde Fernd trotzdem sagen, er habe das Mädchen wohlauf gesehen, damit ihm nicht das Herz brach. Schon wollte Hatib enttäuscht den Rückzug antreten, weil er wegen der Nachtmahre nicht nah genug an die Reiter herankam, da änderte sich die Situation: Einer der Anführer löste sich aus der Gruppe und lenkte sein Pferd durch die Reihen der Nachtmahre -genau auf den Busch zu, hinter dem Hatib kauerte. »Verflucht«, murmelte der. »Haben die mich etwa entdeckt?« Immer deutlicher schälten sich die Konturen des hoch gewachsenen Reiters aus der Dunkelheit. An den Boden gepresst lag Hatib da und wagte kaum zu atmen. Kurz vor ihm blieb das Pferd stehen. Stille. Hatib hob langsam und vorsichtig den Kopf. Der Reiter war - Morgreal. Der Heeresvorsteher schien auf etwas zu warten und blickte reglos in die Nacht. Noch immer trug er den Helmbusch eines Offiziers von Araukaria - der Stadt, die er verraten und dem Feuertod überantwortet hatte. Beinahe hätte Hatib der Versuchung nachgegeben, aufzuspringen und ihn anzugreifen; da löste sich ein zweiter Umriss aus der Gruppe von Offizieren und ritt langsam auf Morgreal zu. Obwohl er als Einziger keinen Helmbusch trug, überragte er alle anderen. Hatib fuhr ein kalter Schauer über den Rücken, als er die Gestalt näher kommen sah. Es war Herr Abamil persönlich - der Schwarze Prinz. Sein Gesicht war unter einem Tuch verborgen. Alles an ihm war schwarz, bis auf einen Ring an der Hand, in den ein Edelstein eingelassen war, der im Feuer blutrot glänzte. Selbst das Pferd war schwarz wie die Nacht - bis auf die Augen, in denen ein bösartiges Leuchten stand. Hatib fühlte bleierne Kälte in seinen Gliedern. Bei allem Mut, den er besaß - nur mit Mühe konnte er das Verlangen unterdrücken, sein Gesicht ins Gras zu pressen, bis die furchtbare Gestalt 218 verschwunden war. Doch zu verlieren hatte er nichts, und diese Erkenntnis machte ihn stark. »Du wolltest mich sprechen, Heeresvorsteher.« Die Stimme des Schwarzen Prinzen klang, als sei er nicht von Fleisch und Blut, sondern aus Stahl gegossen. »Ich möchte melden, dass alles zum Abmarsch nach Barku bereit ist, Herr.« Auch Morgreal hatte Angst vor dieser Stimme. »Gut. Ihr brecht noch heute Nacht auf. Gerüchte können schneller sein als ein Heer, das sich verstecken muss. Noch haben wir nicht die Macht, offen vorzugehen.« »Soll ich das Heer etwa begleiten?«, fragte Morgreal. »Das war nicht ausgemacht...« »Du sollst es sogar anführen. Du hast gute Arbeit geleistet. Alles ist gelaufen, wie ich wollte. Aber wir haben noch nicht genug Gefangene.« »Ich sollte doch Herr einer Stadt werden, die größer ist als Araukaria«, sagte Morgreal trotzig. »Und Barku ist viel kleiner. Ihr hattet mir das versprochen.« »Du wirst auch nicht Herr von Barku sein. Ob du deine Belohnung bekommst, hängt von deiner Geschicklichkeit ab.« Kein Quäntchen Gefühl sprach aus der Stimme des Schwarzen Prinzen. »Und von den Wölfen, die ich dir mitgebe. Ihr nehmt Barku ein und bringt die Menschen nach Süden, ins Verbotene Land. Dort brauchen wir sie für das große Werk - die Errichtung von Sklava Mhor.« »Euer Wunsch ist mir Befehl, Herr«, erwiderte Morgreal. »Noch ehe der Tag anbricht, sind wir unterwegs.« Er zögerte kurz, gab sich dann einen Ruck und fragte: »Was ist eigentlich Sklava Mhor, von dem Ihr so oft sprecht? Der Palast, in dem Ihr einst wohnen werdet?« »Nein«, sagte der Schwarze Prinz kalt. »Sklava Mhor ist das Tor, durch das mein Herr schreiten wird, wenn die Zeit gekommen ist. Um sein Ebenbild zu finden.« 219 Morgreal schwieg. Anscheinend konnte er mit dieser Antwort nichts anfangen. Hatib ging es genauso. Da sagte der Schwarze Prinz: »Zu diesem Bauwerk fehlt uns nur noch der Schlussstein, der den Torbogen krönen und weithin über die Lande leuchten wird. Wenn ich den habe, kann ich das Tor vollenden.« »Was ist das für ein Stein?«, fragte Morgreal, dem sichtlich unheimlich wurde. »Das wirst du sehen, wenn es an der Zeit ist. Heute Nacht noch wird ein Kurier beauftragt, ihn mir zu bringen.« Damit wandte der Schwarze Prinz sein Pferd und ritt zu den Offizieren zurück. Morgreal gab seinem Tier die Sporen und sprengte in die Nacht. Hatib blies langsam die vor Spannung angehaltene Luft aus. Er hatte sich schon mehrmals an ein Lager angeschlichen, doch jedes dieser Abenteuer kam ihm nun wie ein Spiel vor. Im Schwarzen Prinzen dagegen war ihm das Mensch gewordene Böse begegnet. >Ein Tor, durch das sein Herr schreiten wirdWen meint er damit? Den SOG? Und was hat es mit dem Stein auf sich? Das klingt nach der Sage vom Erft.. .< Es wurmte ihn, dass er so wenig von dem begriff, was vor sich ging. Etwas aber hatte er verstanden: Barku, die Hauptstadt der Nördlichen Königreiche, war das nächste Opfer des Schwarzen Prinzen. Und Morgreal, der Verräter Araukarias, führte ein Heer dorthin. Wenn kein Wunder
geschah, erwartete das kleine Reich von Barku das gleiche Schicksal wie seinen größeren Bruder im Süden. Vorsichtig stand er auf und schlich den Hang wieder hoch. Gut zwei Stunden mochten vergangen sein, als er wieder am Waldbühl anlangte und sich nach Araukaria umwandte. Längst hatte das Feuer seinen Höhepunkt überschritten. Die meisten Teile der Stadt waren verbrannt und glimmten nur noch. Im Osten färbte sich der Himmel grau und rosa: Der neue Tag zog auf. Doch das Alte Reich würde ihn nicht mehr begrüßen. 220 Als Hatib wieder zum Turm kam, stand das Tor noch immer weit offen. Er stieg die Wendeltreppe empor und betrat das Zimmer, in dem sie sich eingerichtet hatten. Eine Kerze erhellte den Raum spärlich und warf flackernde Schatten. Der Alte Niemand lag auf dem Bett, leichenblass und mit eingesunkenen Augen. Er atmete mühsam und rührte sich nicht. Fernd hockte in einer dunklen Ecke und starrte vor sich hin. Bolgan saß beim Alten und hielt ihm die Hand. Als er Hatib hörte, drehte er sich um. »Er stirbt«, sagte er. Hatib betrachtete den Alten. Seine Brust hob und senkte sich in unregelmäßigen Abständen, und die Füße, die unter der zu kurzen Decke hervorsahen, waren weiß und kalt. »Der Schwarze Prinz ist zurückgekehrt«, sagte er dann, »und beherrscht die Lande. Mit dem Alten Niemand geht es zu Ende.« Er setzte sich an die Bettkante. Sein Zorn war verraucht, und er fühlte sich leer und mutlos. »Also bleiben nur wir drei übrig, um dafür zu sorgen, dass der Schwarze Prinz wieder aus der Welt verschwindet. Als Erbe des Alten Niemand wird Fernd dabei die schwierigste Aufgabe übernehmen müssen.« »Aber was sollen wir tun?«, fragte Bolgan. »Im Tal stehen Tausende von Wölfen unter Waffen! Was können wir gegen sie ausrichten?« »Das wird sich zeigen. Zu tun haben wir genug. Vielleicht können wir einige Menschen davor bewahren, das gleiche Schicksal zu erleiden wie die Araukarien« »Weißt du, was der Schwarze Prinz vorhat?« »Ja. Ich habe ihn belauscht.« Bolgan und Fernd rissen die Augen auf, und Hatib erzählte ihnen in knappen Worten, was er aufgeschnappt hatte. »Er hat die Stadt also gebrandschatzt, weil er Arbeitskräfte 221 braucht«, sagte Bolgan nachdenklich. »Er führt sie ins Verbotene Land, um dort eine Pforte zu errichten.« »Sklava Mhor«, sagte Hatib. »Dafür scheinen viele Zwangsarbeiter nötig.« »Sklava Mhor?«, fragte Bolgan. »Davon habe ich noch nie gehört.« »Ich auch nicht. Wir sollten herausfinden, um was es sich da handelt. Es klingt böse und gefährlich.« »Das kann man wohl sagen«, murmelte Bolgan. Er schlug fröstelnd die Arme um den Oberkörper und begann auf und ab zu gehen. »Wozu soll diese Pforte eigentlich dienen?« »Das habe ich nicht recht verstanden. Sein Herr werde durch sie in die Welt kommen, um sein Ebenbild zu finden - so was Ähnliches hat er gesagt.« »Wer mag der Herr des Schwarzen Prinzen sein? Und wer dessen Ebenbild?« »Ich vermute, sein Herr ist der SOG.« »Dann wird alles noch schlimmer«, murmelte Bolgan. »Es ist seltsam, doch ich glaube, der Schwarze Prinz hat vom Erft gesprochen«, sagte Hatib, »dem Edelstein, von dem in der Sage die Rede war. Er scheint ihn zu brauchen.« Bolgan sah auf. »Kann es sein, dass der Schwarze Prinz etwas mit Siljan zu tun hat? Vielleicht sind sie ein und dieselbe Person!« »Aber Siljan hat den Erft behalten. Wenn der Schwarze Prinz mit Siljan identisch wäre, müsste er nach dem Stein nicht mehr suchen.« »Vielleicht steht im Buch des Alten Niemand mehr über den Erft«, sagte Bolgan, griff danach und fuhr dort fort, wo er vor Stunden zu lesen aufgehört hatte: »Man vermutet, dass Siljan in der Fremde gestorben ist. Die Glocke aber ist seitdem nicht mehr erklungen. Es heißt, sie läute erst wieder bei einem bedeutenden Ereignis, das die Lande verändert.« Darunter hatte der Alte Niemand ergänzt: »Der Erft ist seit die222 sen Ereignissen verschwunden. Aber in den Sagen fast aller Völker gibt es rätselhafte und gefährliche Edelsteine. In manchen Geschichten ist auch vom Bösen die Rede, das durch die Macht des Erfts Einzug in den Landen hält. Ein Hinweis auf den Schwarzen Prinzen? Oder sogar auf den SOG? Ich glaube nicht, denn es gibt diese Legende in sehr vielen Varianten, und man kann nicht genau sagen, was der Erft ist und wo man ihn findet. Edelsteine kommen so häufig in Sagen vor, weil sie die Sehnsucht des Menschen nach Reichtum und Ehre verkörpern (genau wie Waffen, Zauberquellen und verborgene Schätze, die regelmäßig in Märchen auftauchen), den Wunsch, etwas Besonderes zu besitzen, mit dem oft die Gefahr der Vereinsamung, der Überheblichkeit, des Absturzes verbunden ist. Noch ist nicht abzusehen, ob die Sagen vom Erft einmal an Bedeutung gewinnen. Am
meisten über ihn geforscht haben die Felajun, ein rätselhaftes Volk auf den Höhen des Scheidegebirges; in den Ruinen von An-Tiki, ihrer Hauptstadt, befindet sich noch heute das Kristallhaus, eine gewaltige Bibliothek aus Eis, in der ihre Sagen und Legenden lagern.« »An-Tiki.« Hatib runzelte die Stirn. »Dort«, las Bolgan weiter, »gibt es sehr viel Material über den Erft; aber da ich ihn für unwichtig halte, werde ich diese Sagen nicht ins Buch aufnehmen.« »Ist das alles?«, fragte Hatib. Bolgan nickte. »Dann wissen wir, was wir zu tun haben. Zunächst meine Aufgabe: Ich reise so schnell wie möglich nach Barku und warne die Bewohner, dass Morgreal mit einem Heer im Anmarsch ist.« »Den zu überholen, wird nicht leicht«, gab Bolgan zu bedenken. »Du weißt ja, wie beweglich das Nebelheer ist.« »Aber ich werde schneller sein«, knirschte Hatib. »Und wenn ich auf allen vieren in Barku ankomme. Araukaria war Morgreals letztes Opfer - das habe ich mir geschworen.« 223 »Du willst allein reiten?« »Wir haben ja nur ein Pferd.« »Und was soll ich tun?«, fragte Bolgan. »Mit Fernd ins Scheidegebirge ziehen.« Hatib hatte seine Entschlossenheit wiedergewonnen. »Der Alte Niemand hat den Erft nicht ernst genug genommen. Vielleicht findet ihr in An-Tiki etwas heraus, das ...« »Ich werde nirgendwo hingehen«, sagte Fernd. Hatib fuhr herum. »Was?« »Ich will Reika suchen. Vielleicht ist sie noch am Leben und unter den Gefangenen. Das ist mir wichtiger, als in den Landen herumzuirren und ...« »Aber du musst es tun«, flüsterte der Alte Niemand. Er schien die ganze Zeit zugehört zu haben und hob nun mühsam den Kopf. »Wo bist du?«, fragte er schwach. »Hier«, sagte Fernd, setzte sich an die Bettkante und fasste die Hand des Alten. »Ich bin bei dir, Großvater.« »Du bist mein Erbe, Fernd. Das Buch hat dich dazu bestimmt. Hatib hat Recht - die Sagen über die Erften sind die einzige Spur. Du musst nach An-Tiki gehen und herausfinden, ob sie die Lösung des Rätsels sind. Vielleicht war ich damals zu oberflächlich ...« »Und Reika? Ich muss versuchen, sie ...« »Du wirst sie wiedersehen, glaub mir«, sagte der Alte Niemand. »Aber vorher musst du deine Pflicht tun. Sonst wird es in den Landen nie wieder Frühling werden.« »Aber ich bin noch so jung ...« »Vielleicht hat das Buch dich gerade deshalb ausgewählt.« Fernd kämpfte mit sich. »Dann werde ich es tun, Großvater«, sagte er schließlich. »Gut«, flüsterte der Alte Niemand, sank erschöpft aufs Kissen zurück und schlief ein. »Wo liegt An-Tiki?«, wollte Fernd wissen. 224 »Im Osten«, erwiderte Hatib, »über dreihundert Meilen entfernt.« »So weit?«, fragte Fernd verzweifelt. »Ich kann doch nicht...« Hatib stand auf und nahm ihn in die Arme. »Es ist schwer, ich weiß«, flüsterte er, hob Fernds Kopf und sah ihm in die Augen. Fernd schluckte. Dann rieb er sich mit den Fäusten über die Augen, um die Tränen zu trocknen. »Du hast Recht wir gehen.« Der letzte Schlaf des Alten Niemand dauerte etwa eine halbe Stunde. Langsam ging sein Atmen in ein kehliges Röcheln über. Dann schlug er noch einmal die Augen auf. »Fernd!«, flüsterte er. »Fernd!« »Was ist, Großvater?« »Komm näher«, hauchte der. »Ich kann dein Gesicht nicht erkennen.« Fernd legte seine Rechte auf die Stirn des Alten. Das schien ihm wieder Kraft zu geben. »Da ist noch etwas, das mir wichtig ist.« Der Sterbende richtete sich mit letzter Anstrengung auf. »Araukaria ist zugrunde gegangen und damit all mein Besitz.« Der Alte Niemand sprach gepresst und schnell, denn er wusste, dass seine Zeit ablief. »Das Letzte, was ich noch habe, gebe ich dir, Fernd - die Herrschaft über das Land der Tanzenden Berge. Du sollst über sie befehlen.« »Aber ...« »Sieh mich an, Fernd!«, stieß der Alte Niemand hervor. »Noch seid ihr hier sicher. Doch ich fühle, wie die Macht des Schwarzen Prinzen an den Pforten rüttelt. Er will in seinen Turm zurück. Ihr müsst weg von hier und herausfinden, wie man ihn vernichten kann, denn sonst...« 225 Seine Hände öffneten sich, seine Augen wurden dunkel, und er sank tot in die Kissen. Schwarz und schweigend standen die Wälder, so reglos wie die uralten Mauern des Roten Turms. Stumm hielten
die Gefährten am Sterbebett des Alten Niemand Totenwache. Plötzlich horchte Bolgan auf. »Die Glocke - hört ihr?« Und wirklich: Ganz leise hallte sie durch die Nacht. »Das ist das Totengeläut«, sagte Hatib dumpf. »Für die Araukarien Und für den Alten Niemand.« Fernd betrachtete den Leichnam. Das Gesicht seines Großvaters war bleich und ausgezehrt, doch das Sterben schien ihm nicht schwer gefallen zu sein nach einem Leben, das so viele hundert Jahre gedauert hatte. Ein leichtes Lächeln lag auf seinem Gesicht, als habe ihm der Tod eine große Last von der Seele genommen. Es dauerte nicht lange, da fiel ein grauer Schimmer durch die Mauerschlitze. Ein neuer Tag hatte begonnen. Sie begruben den Alten Niemand vor dem Roten Turm und pflanzten eine junge Kiefer, die sie im Wald ausgegraben hatten, zu seinen Füßen. So ist das Alte Reich untergegangen. Die Gefährten aber werden sich trennen. Eine lange Reise liegt vor ihnen, deren Ende noch nicht abzusehen ist. Denn ungeheuer groß sind die Lande, und Wundersames wird den dreien auf ihrem Weg begegnen. Seltsame Gestalten bevölkern diese Welt, die so fremd und doch so vertraut scheint; ein eigenartiges Leben pulsiert dort, gewoben aus alten Geschichten, in die der Wind fährt, um sie zu trennen und anders zu mischen, sodass ständig etwas Neues entsteht, bis er sie endlich, seines Spiels müde, sich selbst überlässt - auf dass sie eine Gestalt annehmen, die wir verstehen können. Jeder der Gefährten wird eine abenteuerliche Geschichte erleben - ganz anders als die seiner 226 Mitstreiter und doch auf erstaunliche Weise gleich. Denn es sind die gleichen Lande, die die drei durchstreifen, und es ist immer derselbe Wind, der ihnen den Weg weist. 9. Ein seltsamer Traum »So sei es!«, jauchzten die Hexen und schwangen sich wieder in die Lüfte. »Dann soll er unser Holz bekommen, und noch mehr dazu. Ein Gifalk ist er! Und mit Träumen will er uns bezahlen! Mit Träumen! Mit Träumen!« So endete das Reich von Araukaria, und so starb der Alte Niemand - in einem alten Gemäuer, umgeben von nur drei Getreuen. Der Schwarze Prinz war wiedergekehrt, um ein großes, furchtbares Werk zu errichten. Aber noch brach sich sein Wille an den Toren des Waldbühls. Die drei Gefährten säumten nicht, ihre Vorbereitungen zu treffen. Wortlos stopften Hatib und Bolgan Gepäck in ihre Rucksäcke. Fernd hatte keinen und nahm den des Alten Niemand. Vorsichtig schob er die Rechenschaft hinein. Als er das Buch berührte, spürte er, welche Verantwortung auf ihm lastete. Es war schon fast dunkel, als sich Hatib von Bolgan und Fernd verabschiedete. »Der Rote Turm ist unser Treffpunkt«, sagte er und schwang sich aufs Pferd. »Kommt hierher zurück, wenn ihr etwas herausgefunden habt.« Stumm blickten die beiden ihm nach. Die Tritte seines Pferdes wurden rasch leiser und verhallten im Wald. »Auf geht's, Fernd«, sagte Bolgan endlich. »Nach An-Tiki.« Als sie aus dem Waldbühl schlichen, war von den gefangenen Araukariern und vom Heer des Schwarzen Prinzen nichts mehr zu sehen. Die Wölfe hatten ihre Aufgabe erfüllt: Das Feuer hatte die Stadt in eine gewaltige Ruine verwandelt, die wie eine schwärende Wunde in der Landschaft lag. Nur ein paar Statuen der Borne standen noch und ragten fast drohend in den wolkenschweren Him228 mel. Der Königshügel erhob sich wie ein verendeter Wal aus den Trümmern. Und über allem lag leichter, flauschiger Schnee wie ein zerfetztes Leichentuch. Fernd musste an Reika denken, die dort unten im Tal war, vielleicht verschleppt, vielleicht verbrannt, auf unabsehbare Zeit von ihm getrennt. Tränen der Trauer und der Wut wollten wieder in ihm aufsteigen. »Gehen wir«, sagte Bolgan, und Fernd wandte entschlossen den Kopf, um durch die dunkelnde Heide zu stapfen. Aber sie sollten nicht weit kommen. Gerade stiegen sie den Abhang runter, da ließ ein erschreckter Schrei Bolgan zusammenfahren. Ein dunkler Schatten hatte sich erhoben; schon lag Fernd am Boden und kämpfte verzweifelt. Sofort warf Bolgan sich auf den Angreifer und zerrte ihn an den Haaren zurück. »Du wirst uns nicht hindern, du Mistkerl«, fauchte er und hieb auf ihn ein. Da traf ihn von hinten ein Schlag auf den Kopf. Das Letzte, was er sah, war der dunkle Schemen des Jungen, der den Hang hinabrannte und in der Dunkelheit verschwand. Als Bolgan erwachte, war es schon hell. Vorsichtig schlug er die Augen auf. »Wo bin ich?« Es gelang ihm kaum, sich aufzusetzen, denn sofort durchzuckte ein steiler Schmerz seinen Schädel. Er befand sich in einem Zelt, in dem ein roh gezimmerter Tisch, ein Stuhl und ein kleiner Schemel standen. Am Eingang wachten zwei Wölfe. »Du bist in Aurians Zelt«, knurrte ihm einer von ihnen zu. »Wer ist Aurian?« »Das wirst du gleich erfahren.« Der Wolf verschwand und kam wenig später mit einem Begleiter zurück. 229
>Den kenne ichAber woher?< Aurian hatte ein schmales, blasses Gesicht und musterte ihn gleichgültig. Sein abstoßender Blick machte Bolgan Angst. »Lasst mich mit ihm allein«, befahl Aurian. Seine Stimme passte zu seinem Äußeren - sie war katzenhaft weich und doch unangenehm schnarrend. >Aber reden habe ich ihn noch nie gehörtDas Gasthaus in Palin! Der stille Beobachter^ »Was hattest du im Waldbühl zu suchen?«, riss Aurian ihn aus seinen Gedanken. »Das wisst Ihr doch längst«, antwortete er beherzt. »Und mich kennt Ihr auch.« Da packte ihn Aurian bei den Haaren und riss ihm den Kopf nach hinten. Bolgan schrie vor Schmerz. »Du kannst nicht wissen, was ich weiß«, flüsterte er kalt. »Also sag mir die Wahrheit. Und wehe dir, wenn du lügst.« Bolgan nickte unter Tränen. »Also: Warum warst du im Waldbühl?« »Ich habe den Alten Niemand begleitet«, bekannte Bolgan. »Er ist von Morgreal aus der Stadt gewiesen worden, weil er versucht hat, ihn des Verrats zu überführen.« »Was ist mit dem Alten geschehen?« »Er ist tot«, sagte Bolgan leise. »Dann hat er bekommen, was er verdiente. Aber du bist nicht allein gewesen, nicht wahr?« »Nein«, sagte Bolgan zögernd. »Hatib war dabei. Und Fernd.« »Wer ist das?« »Hatibs jüngerer Bruder; sein Stiefbruder, um genau zu sein.« »Sein Stiefbruder«, wiederholte Aurian nachdenklich. Er ließ Bolgans Kopf los und fragte: »Habt ihr letzte Nacht im Waldbühl eine Glocke geläutet?« 230 »Sie hat von ganz allein geläutet.« »Ist der Rote Turm etwa von Geistern bewohnt?«, höhnte Aurian. »Es ist so gewesen, wie ich es sage«, beharrte Bolgan. »Das Buch des Alten Niemand enthält die Sage von einer Glocke, die bei besonderen Ereignissen läutet.« »Der Alte Niemand und sein berühmter Hang zur Märchenwelt«, spottete Aurian. »Was steht noch in diesem Buch?« »Viele Geschichten. Die meisten haben wir nicht verstanden.« »Wer von euch dreien hat es jetzt?« »Keiner«, log Bolgan. »Wir haben es im Roten Turm gelassen -dort ist es am sichersten.« »Soso. Jetzt musst du mir noch sagen, was mit deinen Gefährten geschehen ist.« Bolgan zögerte. Er hatte sich vorgenommen, nichts zu verraten, aber in Aurians Augen lag etwas, das ihn warnte. >Er hat keinen BlickAls wäre er tot.< »Hatib ist nach Norden aufgebrochen«, meinte er dann. »Er will im Königreich Barku Soldaten sammeln, um den Schwarzen Prinzen zu bekämpfen.« »Interessant.« Zum ersten Mal verzog sich Aurians altersloses Gesicht zu einem Lächeln. »Da wird er sich wundern. Mehr weißt du nicht von ihm?« »Nein«, erwiderte Bolgan. »Im Grunde wusste keiner von uns so recht, was er tun sollte.« Ahnte Aurian die Wahrheit? Bolgan versuchte, ihm so fest wie möglich in die Augen zu schauen. >Auch du hast Brangwen angezündetWie der Hochhügelländer in KhorMorgreal hat sicher alles getan, damit hier niemand rumschnüffeltBis es zu spät war.< Über hundertfünfzigtausend Araukarier mussten gefangen worden sein. Dicht gedrängt saßen sie da; ihre Gesichter waren mit Asche verschmiert, ihre Lippen verkrustet. Kleine Kinder schrien; manche hielten sich den Bauch vor Hunger. Bolgan sah Wachsoldaten oberhalb der grimmigen Felsgesichter, und ihn schauderte. Da wurde er vom Wolf in den Rücken gestoßen. »Du kannst von Glück sagen, dass du im Waldbühl gewesen bist, als wir die Stadt abgefackelt haben - die hier hatten nichts zu lachen.« Bolgan antwortete nicht. Wortlos blickte er in die stumpfen und erschöpften Gesichter der Araukarier. Kaum war der Wolf gegangen, entdeckte Bolgan Reika. Sie sah blass und traurig aus. Ihre Augen waren vom Weinen 233 ganz rot. Sie hatte eine dünne Decke umgeschlungen, die aber kaum wärmte, und zitterte vor Kälte. Bolgan zögerte einen Moment. So viel Leid stand zwischen ihnen. Dann aber siegte die Freude, sie unter den Lebenden zu sehen, und er ging zu ihr. »Guten Abend«, sagte er leise. Das Mädchen sah auf, und ihre grünen Augen weiteten sich. »Du? Wo kommst du denn her? Und wie geht es Fernd?« »Gut. Das hoffe ich wenigstens.« »Ist er im Roten Turm? Oder haben sie ihn auch gefangen?« Bolgan berichtete, was sich in der Brandnacht bei ihnen zugetragen hatte - vom Plan, den Hatib dem Schwarzen Prinzen abgelauscht hatte, vom Tod des Alten Niemand und davon, dass Fernd das Erbe des Greises angetreten hatte. »Dann ist er jetzt allein in den Landen unterwegs?« Reika schüttelte den Kopf. »Er ist doch noch so jung!« Bolgan musste unwillkürlich lächeln. »Du bist auch nicht älter«, meinte er freundlich. Es zerriss ihm das Herz, sie so verzweifelt und besorgt zu sehen. Um sie auf andere Gedanken zu bringen, fragte er: »Wie bist du aus der Stadt gekommen?« »Das war ein reines Wunder.« Reika hatte Glück im Unglück gehabt. Als sie das Haus von Fernd und Hatib verschlossen gefunden hatte, war sie zu ihren Eltern gegangen, unruhig und voller Sorge. Wenig später war das Feuer ausgebrochen. Anfangs glaubten alle, es sei nur ein kleiner Brand in der Nähe des Palastes; aber es kam niemand, ihn zu löschen. Dann ertönten überall die Feuerglocken. Da erst ging den Araukariern auf, dass sich eine Katastrophe anbahnte. Die Leute rafften eilig ihre Habe zusammen und drängten in wilder Flucht aus der Stadt. Im Chaos wurde Reika von ihren Eltern getrennt und von der Menge mitgerissen. Irgendwann fand sie sich taumelnd und nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen, vor der 234 Stadt wieder. Als sie das Heer der Wölfe sah, wurde sie ohnmächtig. »Und deine Eltern hast du nicht wiedergefunden?« »Nein. Wahrscheinlich sind sie tot. Ich habe überall nach ihnen gesucht!« Ratlos hielt Bolgan das weinende Mädchen im Arm, bis sie sich einigermaßen beruhigt hatte. »Gegen Morgen hat man uns zehn Meilen falunabwärts geführt, in diesen Hexenkessel«, beendete sie dann ihre Erzählung. »Fernd hat die ganze Nacht geweint, weil er solche Angst um dich hatte«, berichtete Bolgan.
»Ich hatte auch Angst um ihn.« Reika hob den Kopf und ließ ihren Blick über die Menschen schweifen. Es begann dunkel zu werden. »Aber besser, allein in den Landen unterwegs als hier. Man sagt, dieser Ort sei verflucht.« »Verflucht? Warum?« »Es ist ein Hexentanzplatz«, antwortete Reika. »Der kleine Fluss hier ist fast immer ausgetrocknet. Nur in Jahren, wo es sehr viel regnet, laufen die Höhlen der Hexen voll, und sie versammeln sich, um den Regen zu verfluchen. Es heißt, sie machen ein großes Feuer, bis sie ihn vertrieben haben; und dann gibt es sieben Jahre Trockenheit. Spürst du nicht, dass es hier unheimlich ist?« Bolgan sah sich um. Im hinteren Teil des Kessels war ein Wäldchen, und Axtschläge hallten von dort herüber. »Ich weiß nicht...«, murmelte er. Er schüttelte sich, als habe ihn etwas Kaltes gestreift. »Hat dir jemand gesagt, was sie mit uns vorhaben?« »Nein. Von diesem Sklava Mhor, das du vorhin erwähnt hast, habe ich noch nie gehört.« »Es soll an den Pforten des Verbotenen Landes liegen«, sagte Bolgan nachdenklich. Er hielt Reika ein Stück Brot hin, und sie schob es in den Mund. 235 »Danke. Ich habe seit fast zwei Tagen nichts gegessen.« Manche der Umsitzenden drehten sich um und warfen Bolgan verlangende Blicke zu; ihnen ging es nicht besser als Reika. Aber dieses Stück Brot war fast alles, was Bolgan hatte. »Gleich nach unserer Ankunft haben sie ein paar hundert Leute ausgesucht. Sie lassen sie Bäume fällen, um Flöße daraus zu bauen.« »Was wollen sie denn damit?« »Uns nach Süden schicken«, sagte Reika. »Als Sklaven.« »Aber das kann doch nicht funktionieren. So viele Menschen auf Flößen?« Nachdenklich blickte er über die Umsitzenden hinweg. Sie hatten es nur dem Glück zu verdanken, dass der Winter noch nicht mit voller Macht hereingebrochen war. Bolgan fröstelte, und er zog seinen Mantel enger. »Es wird kalt«, sagte Reika. »Letzte Nacht sind einige von uns erfroren.« »Ich habe eine Decke dabei; die reicht für uns beide.« »Gott sei Dank«, meinte Reika. Trotz der Decke froren sie bitterlich. Viele Araukarier litten noch mehr, denn sie hatten nichts, um sich zu wärmen. Die meisten saßen die Nacht über zitternd da, die Arme an den Leib gepresst, die kalten Hände zu Fäusten geballt. Bolgan tat kein Auge zu; er lag nur da und betrachtete Reika, die eng an ihn gekuschelt eingeschlafen war, erschöpft nach all dem, was sie erlebt hatte. Erst gegen Morgen fiel Bolgan in einen leichten Halbschlaf und hatte einen Traum: Das Bild des Kessels verwischte sich, und darüber sah er Hexen tanzen. Wild kreischend fuhren sie durch die Luft, hässlich und böse. Immer wieder stießen sie auf die Araukarier herab, die leise jammerten, aber noch konnten sie ihnen nichts tun. 236 Da stand einer auf und ging zum Wäldchen; er hatte ein weißes Gewand an, und Bolgan erkannte, dass es Aurian war. »Da bist du!«, schrien die Hexen und fuhren auf ihn nieder. »Du hast unsere Bäume gefällt! Du lässt diese Menschen auf unserem Platz schlafen! Wer gibt dir das Recht dazu?« »Der Schwarze Prinz.« Aurian blickte ruhig zu dem wilden Reigen empor. »Ihr wisst, wer hinter ihm steht: der Herr der Lande. Auch ihr müsst euch seinem Willen fügen.« »Noch ist er nicht der Herr der Lande«, keiften die Hexen. »Und er wird bezahlen müssen, wie es Gesetz ist!« »Ich kenne die Währung. Sind euch Träume genug?« »Wessen Träume?« »Die der Kinder.« Da hörten die Hexen auf zu tanzen und versammelten sich neugierig um ihn. Jetzt erst konnte Bolgan ihre faltigen und hässlichen Gesichter sehen. Eine von ihnen hatte die Gestalt eines großen, struppigen Raben angenommen, eine andere das Gesicht einer schielenden Eule. »Kinderträume«, raunten sie andächtig. »Welche Sicherheit gibst du uns?« »Mein Wort wird euch genügen, denn ich bin ein Gifalk - einer, der sich von Träumen ernährt.« Bolgan fragte sich, was das bedeutete; die Hexen schienen zufrieden zu sein. »So sei es!«, jauchzten sie und schwangen sich wieder in die Lüfte. »Dann soll er unser Holz bekommen, und noch mehr dazu. Ein Gifalk ist er! Und mit Träumen will er uns bezahlen! Mit Träumen! Mit Träumen!« Immer lauter wurde ihr Geheul, immer wilder ihr Tanz; johlend jagten sie über die Araukarier hinweg, die wieder zu jammern begannen. Davon erwachte Bolgan. Der Morgen war angebrochen, die schlimmste Kälte vorüber. 237 Bolgan sah zum Wäldchen hinüber, aber es war verschwunden. Während der Nacht hatte man die letzten Bäume gefällt und abtransportiert. »Ein seltsamer Traum«, murmelte er. Reika war ebenfalls wach; während er schlief, hatte sie sich von ihm
losgemacht. Sie sah grau und hungrig aus. »Hast du noch was zu essen?«, fragte sie. »Nicht mehr viel.« Bolgan kramte in seiner Tasche und holte seinen letzten Kanten Brot hervor. »Nimm das.« »Aber dann hast du nichts mehr«, wandte Reika halbherzig ein. »Iss schon.« Während Reika hingebungsvoll kaute, kamen durch die Schlucht viele Wölfe. Es dauerte eine Weile, bis sie sich zwischen den Gefangenen aufgestellt hatten. Sie schienen eine Mitteilung machen zu wollen; ein Wolf stand ganz in ihrer Nähe. »Steht auf!«, sagte er. »Der Marsch beginnt. Ihr geht an den Aufsehern vorbei, die einige von euch aussondern werden. Dann bekommt ihr weitere Anweisungen.« »Wohin führt man uns?«, fragte ein junger Mann neben Bolgan. »Das wirst du früh genug erfahren«, schnauzte der Wolf. »Ich möchte es aber jetzt wissen.« Der junge Mann war nur wenig älter als Bolgan, strohblond, groß und mager. Seine Züge waren herb und kantig; graue Augen blinzelten sauertöpfisch zu dem Wolfssoldaten empor. »Sei vorsichtig«, zischte der. »Willst du meine Geduld auf die Probe stellen?« Der junge Mann sagte nichts mehr. »Also los.« Der Soldat wandte sich an die Umstehenden. »Auf mit euch, ihr faulen Hunde!« »Ich habe Angst«, flüsterte Reika, als sie aufstanden; ihre Beine fühlten sie kaum, so kalt waren sie während der Nacht geworden. »Ob sie uns trennen werden?« 238 »Ich weiß nicht«, erwiderte Bolgan. »Aber das wäre nicht mal das Schlimmste, was uns passieren könnte.« Auch die anderen Araukarier hatten sich erhoben, jedenfalls zum Großteil - manche waren zu schwach und blieben sitzen. »Wer nicht mitkommt, wird es bereuen!«, rief der Soldat. »Es geht nicht«, sagte ein Greis in ihrer Nähe. »Ich spüre meine Beine nicht mehr.« Sie starrten den Wolf ängstlich an - alte Männer und Frauen, Verwundete und Kranke, die den Marsch zum Verbotenen Land nicht überstehen würden. Und Kinder, deren Eltern in der Nacht vor Erschöpfung gestorben waren. Sie blieben bei ihnen sitzen, reglos und mit leerem Blick. »Wie ihr wollt«, knurrte der Wolf und kehrte ihnen den Rücken. Wer noch laufen konnte, folgte ihm. Der junge Mann, der sich mit dem Soldaten angelegt hatte, ging vor Bolgan, und rechts von ihm ein anderer, ein wahrer Riese von Gestalt. Bolgan hatte gestern schon gesehen, dass er einen kleinen Jungen bei sich hatte, der kaum vier Jahre alt sein konnte; jetzt hatte er ihn unter seinem großen Mantel versteckt. Als sie zum Ausgang des Kessels kamen, standen dort schon viele Menschen. Bald wurden sie in einen Pferch gedrängt, der immer enger wurde. An seinem Ende saß ein ganz in Weiß gekleideter Mann. >Weiß wie die UnschuldVielleicht ist er ein Priester des Verborgenen Gottes gewesen, bevor der Schwarze Prinz ihn rekrutiert hat.< Der Mann fixierte die Vorübergehenden und schien ihre Arbeitsfähigkeit abzuschätzen. Dann gab er mit fast unmerklicher Handbewegung den Soldaten hinter ihm ein Zeichen. Die traten vor, um die Kräftigsten in Gruppen von knapp hundert Mann aus dem Talkessel zu führen. »Der da«, sagte er und deutete auf den jungen Trotzkopf. »Und 239 die beiden noch.« Das galt Bolgan und dem Hünen. »Dann ist Schluss. Mehr passen nicht aufs Floß.« »Aber wir gehören zusammen«, protestierte Bolgan und zog Reika neben sich. »Die kann nicht mit«, erwiderte der Mann gleichgültig. »Du siehst sie später wieder.« »Aber ...«, begann Bolgan, doch da wurde Reika schon in eine andere Richtung gezerrt, zu einer Schar junger Frauen auf der anderen Seite des Talkessels. »Lasst mich, ich will da nicht hin«, rief sie, dann klatschte es, und man hörte das rohe Gelächter der Soldaten. Reika schrie auf, dann war sie still. »Das wird euch noch Leid tun«, sagte Bolgan zu dem Weißling. »Befehl ist Befehl«, erwiderte der kalt. »Und das hier ist keine Hochzeit.« Bolgan schwieg und schluckte seine Wut herunter. Kein ganzer Tag, dass er Reika wiedergefunden hatte, und schon waren sie erneut getrennt. »Führt sie ab«, ertönte eine schnarrende Stimme. »Sie müssen aufs Floß, bevor es dunkel wird.« Wie aus dem Boden gewachsen, stand Aurian hinter dem Weißling. Er beugte sich runter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. »Hundert Kinder?«, fragte der verwundert zurück. »Was um alles in der Welt...« »Das geht dich nichts an.« Bolgan sah, wie der Hüne neben ihm die Luft anhielt, als sie an dem Gifalken vorbeizogen. Aber Aurian reagierte nicht, und nach wenigen Sekunden Anspannung war der kleine Junge außer Gefahr. >Wozu braucht er hundert Kinder?Hat das etwa mit meinem Traum zu tun?
Alsfar hat Rechts dachte Bolgan. >Sie sind in Eile.< Bei dem Proviant handelte es sich zumeist um altes Brot und angelaufenen Käse; auch ein paar Streifen
getrocknetes Fleisch waren dabei. Die Fesseln behinderten die Gefangenen; es ruckte und zerrte nach allen Seiten. Gierig stopfte Bolgan sich den Mund voll, denn auch er war ausgehungert, und füllte seine Hosentaschen mit allem, dessen er habhaft werden konnte; er ahnte, dass die Reise hart und entbehrungsreich würde. »Schweinetröge sind das«, kommentierte Alsfar säuerlich. »Und wir sind die Schweine. Wenn wir fett genug sind, schlachten sie uns.« Bolgan lächelte. »Das wird dauern. Von diesem verschimmelten Brot werden wir nicht fett.« Nauru ließ sich mehr Zeit; zunächst fütterte er den kleinen Murk. Bolgan nahm sich insgeheim vor, alles in seiner Macht Stehende zu tun, damit der Kleine die Reise überlebte; also stopfte er noch mehr Brot in seine Taschen. 243 »Genug jetzt!«, sagte Hauptmann Berngar. »Ihr seid nicht die Einzigen hier.« Die Soldaten drängten die Gefangenen von den Trögen. »Die Schweinchen sind aber noch nicht satt«, hörte Bolgan Alsfar neben sich murmeln. Dann führte man sie zu ihrem Floß. Die Baumstämme wurden nur von Stricken zusammengehalten, und am Heck ragte ein roh gezimmertes Ruder aus dem Wasser. Ein paar lange Stangen lagen bereit, dem Floß zusätzliche Lenkung und Antrieb zu verschaffen, und in die Baumstämme waren ein paar Eisenringe geschraubt, die dazu dienten, die Gefangenen festzubinden. Das war alles. Bolgans Gruppe war längst nicht die erste, die so verfrachtet wurde - auf dem Strom schwammen viele Flöße, jedes beladen mit etwa neunzig Gefangenen, die an die Ringe gekettet waren, und mit fünfzehn Soldaten, die sie bewachten. Bolgan sah sich ein letztes Mal um, als er das Floß bestieg und an einen Ring gekettet wurde. Weitere Gefangene wurden aus der Schlucht geführt und marschierten - mit Stricken aneinander gebunden - in langen Kolonnen das Faluntal hinab, Männer, Frauen und Kinder. Sie hatten nicht das Glück, mit dem Floß zu fahren, sondern würden die vielen hundert Meilen nach Sklava Mhor zu Fuß zurücklegen müssen. Bald schon waren sie Bolgans Blick entschwunden und vom diesigen Grau der hereinbrechenden Dämmerung verschluckt. »Schau«, sagte Nauru, der neben ihm stand. »Da kommen die Kinder. Als Tribut an die Hexen.« Am Schluchtrand war Aurian aufgetaucht; er führte eine Gruppe von etwa hundert Kindern am Talrand entlang. Erst jetzt entdeckte Bolgan in einer Entfernung von einer halben Meile einen gähnenden Höhleneingang im Hang. Dort stieg Nebel auf, und einen Moment glaubte Bolgan, die Gesichter der Hexen zu erkennen, die gierig und böse nach ihrer Beute schielten. Aurian führte die Kinder dorthin und verschwand mit ihnen in der Dunkelheit. 244 »Leinen los!«, bellte Berngar, und die Taue flogen ans Ufer. Soldaten bohrten Holzstangen in den weichen Grund; das Floß bewegte sich träge in die Mitte des Flusses, wo es von der Strömung erfasst wurde und an Geschwindigkeit gewann. Die Reise nach Süden hatte begonnen. 10. Stromschnellen »Es ist noch jemand hier. Ich spüre es«, sagte Bolgan. Schweigen. »Das werden wir gleich sehen«, meinte Nauru endlich und wollte die neue Fackel anzünden. »Nicht«, flüsterte Bolgan. »Das Licht verjagt es...« Sechs Tage trieb Bolgan mit den anderen Gefangenen auf dem Falun dahin. Das Tal war breit, die Strömung des Flusses nur selten so stark, dass ein Reiter am Ufer nicht problemlos hätte mithalten können. Die Wölfe wechselten sich an den Stangen ab, um das Floß auf Kurs zu halten; die Gefangenen saßen angekettet auf den Stämmen. Der Proviant, den sie bei ihrer Abfahrt erhalten hatten, war zum Großteil aufgezehrt, und die Wölfe dachten nicht daran, ihnen etwas abzugeben. Wenigstens hatte einer der Gefangenen einen Stock zuspitzen dürfen, um nach Fischen zu stechen. So gab es immerhin ein bisschen Abwechslung. Die Landschaft war einförmig und grau, nur manchmal stand ein Gehöft oder eine Fischerhütte am Ufer. Fast alle waren verlassen, denn der Schwarze Prinz brauchte immer noch Menschen. Bolgan ließ den Blick häufig sehnsüchtig über das Tal hinausschweifen, denn dahinter lag die Freiheit. Er litt unter der Gefangenschaft wie alle anderen. Doch seinen Lebensmut rauben konnte sie ihm nicht. In diesen sechs Tagen legten sie über hundertvierzig Meilen zurück. Dann, am siebten Tag, änderte sich die Landschaft, und ihre Fahrt wurde weniger eintönig: Sie hatten das Ermingebirge erreicht, das der Falun in vielen Windungen durchquert. Die Flussufer rückten enger zusammen, bis sie sich zu beiden Seiten als zer246 klüftete Felswände auftürmten. Das Floß nahm immer mehr Fahrt auf; längst war kein anderes mehr in Sicht. »Das wird böse enden«, sagte Alsfar und sah Bolgan mürrisch an. »Hörst du die Stämme in der Strömung knirschen?« »Das sind nur unsere Knochen.« Bolgan grinste schief. »Bis zum Ayakil-Felsen werden wir so durchgeschüttelt sein, dass keine Gräte mehr an ihrem Platz ist.« In den vergangenen Tagen hatte Bolgan Gelegenheit gehabt, seine beiden Leidensgenossen näher kennen zu lernen. Nauru, der Hüne, war ein gutmütiger Mensch, doch die Ereignisse in Araukaria hatten ihn wortkarg gemacht. Er hatte als Schlachter in einem der heruntergekommensten Viertel gearbeitet, das in der Brandnacht
zuerst in Schutt und Asche gesunken war. In den Flammen hatte er seine Frau und seinen älteren Sohn verloren. Jetzt blieb ihm nur noch der kleine Murk, sein dreijähriger Jüngster mit dem runden Gesicht, an den er sich mit aller Liebe klammerte. Murk genoss Narrenfreiheit auf dem Floß; ohne Fesseln tollte er auf den Stämmen umher, und nur wenn er es gar zu bunt trieb, rief Nauru ihn leise zur Ordnung. Der Hüne nickte, ohne auf Bolgans Bemerkung einzugehen. Doch Alsfar schaute wieder an den Felsen hoch: »Der Stein da sieht aus wie eine drohende Faust - sicher ein böses Omen.« Bolgan folgte seinem Blick. Er hatte ein ungutes Gefühl, als sie unter dem Felsblock hinwegglitten. Alsfar war das genaue Gegenteil von Nauru. Als Bediensteter eines schwerreichen Araukariers hatte er in dessen Villa ein gutes Leben gehabt; aber Bolgan fragte sich, ob man nicht besser arm war und dafür keinen so eigenbrötlerischen Diener hatte wie Alsfar, bei dem jedes Wort eine Anklage war, jede Geste eine mürrische Zurechtweisung. Gegenüber den Wölfen nahm er kein Blatt vor den Mund, und Bolgan hatte ihn schon mehrmals gewarnt, seine spitze Zunge werde ihn ins Verderben stürzen. Aber der hagere 247 Blondschopf war störrisch wie ein Esel und ließ sich den Mund nicht verbieten. Ganz Unrecht hatte er nicht. Von Zeit zu Zeit stampfte das Floß im hektischer gewordenen Wasser, und die Strömung zerrte an den Seilen, mit denen die Stämme zusammengebunden waren. »Viel schneller darf die Strömung nicht werden«, pflichtete ihm Nauru bei, der sich in vielem als gescheiter erwiesen hatte, als seine Herkunft vermuten ließ. Wegen seiner Verständigkeit und Kraft war er schon mehrmals an den Stangen eingesetzt worden, um das Floß zu lenken - beziehungsweise von den Felsen fern zu halten, denen es oft bedrohlich nahe gekommen war. »Wenn wir so weitermachen, erleiden wir Schiffbruch.« »Wisst ihr, wie lange die Reise dauert?«, fragte Bolgan. »Bis zum Ayakil-Felsen ist es weit«, sagte Nauru. »Dreihundert Meilen. Vielleicht auch mehr.« »Und das auf diesem Seelenverkäufer«, kam Alsfar auf sein Lieblingsthema zurück. Er hatte ein wenig zu laut gesprochen; Hauptmann Berngar stand in der Nähe. »Du jammerst mir zu viel«, knurrte er und gab Alsfar einen Stoß zwischen die Rippen. »Wenn dir das Floß nicht gut genug ist, kannst du bis zum Aykilfelsen hinter uns herschwimmen.« »Es heißt Ayakil, nicht Aykil«, belehrte ihn Alsfar. »Im Übrigen traue ich Euch glatt zu, dass Ihr Eure Drohung wahrmacht. Erst einem das Dach überm Kopf wegbrennen - und einen dann ertrinken lassen.« Berngar hob die Hand, und Alsfar zog rasch den Kopf ein. »Dir werden die flotten Sprüche schon noch vergehen«, sagte der Hauptmann verächtlich und wandte sich wieder dem Ruderstand zu. Ihm war anzusehen, dass das Geschaukel seinem Magen zu schaffen machte. Alsfar lugte zwischen den Händen hervor, und als er sah, dass Hauptmann Berngar gegangen war, grinste er. 248 »Dich werden deine Spaße noch teuer zu stehen kommen«, sagte Nauru ernst. »Die meisten Wölfe haben nicht so viel Geduld.« Und wirklich hatten sie es nicht schlecht getroffen. Hauptmann Berngar führte ein eher lockeres Kommando, und Bolgan hatte den Eindruck, er hasse das wacklige Floß, das sie nach Süden bringen sollte, aus Leibeskräften - auch wenn er das nicht zugeben durfte. Berngar war untersetzt und breitschultrig, mit krumm gewachsenen Beinen, von denen er das rechte ein wenig nachzog. Sein Gesicht zierte ein mächtiger Schnauzbart, der jetzt, nach fast einer Woche Fahrt, an den Enden herabhing, was Berngar das Aussehen eines verdutzt dreinblickenden Walrosses gab. Die meiste Zeit über beschränkte er sich darauf, grimmig zu schauen und an seiner zerkauten Pfeife zu saugen, was er seit diesem Morgen aber immer weniger tat - eine Folge der stärker gewordenen Strömung. Wenn er mit Untergebenen sprach, dann immer auf kurze Entfernung, als wolle er ihnen in die Nase beißen - was Bolgan zu der Vermutung geführt hatte, dass der Offizier kurzsichtig war. Nauru warf einen sorgenvollen Blick auf die zusammenrückenden Felswände. »Mir wird mulmig. Das Ermingebirge ist wild -genau wie seine Bewohner, die Erminari.« »Was weißt du über sie?«, fragte Bolgan. »Im Hochhügelland kennt man nur ihren Namen.« »Die Erminari sind gefährlich«, erwiderte Nauru. »Schon meine Mutter erzählte, der Born habe immer wieder Strafexpeditionen ins Gebirge schicken müssen, weil sie Menschen fangen und als Sklaven in die Städte des Südens verkaufen. Aber genützt hat das wenig.« »Ich glaube, es gibt viele Gegenden des Alten Reiches, in denen der Arm Araukarias nicht mehr wirksam gewesen ist«, meinte Bolgan spöttisch. »Auch bei uns im Hochhügelland war der Einfluss des Borns gleich null.« 249 »Die Hauptstadt hatte viel Macht verloren,«, gab Nauru zu. »Aber sie war reich, trieb Handel und lebte in friedlicher Nachbarschaft mit allen. Besonders gut waren die Verbindungen nach Tifillan, das am Falun liegt.« »Falls es nicht zerstört worden ist«, brummte Alsfar. »Das ist natürlich möglich«, räumte Nauru ein. Er strich seinem Sohn gedankenverloren über den Kopf. »Jedenfalls sollten wir uns vor den Erminari hüten.« >SeltsamAls ich nach Araukaria kam, glaubte ich, eine Weltreise gemacht zu haben. Aber die Lande sind noch viel größer.< Nachdenklich blickte er die Felswände empor, über denen sich ein bleigrauer Himmel wölbte. Im Hochhügelland
herrschte sicher längst Winter. Wie weit mochte es bis dorthin sein? Dreihundert Meilen? Vierhundert? Bolgans Gedanken schweiften ab. Er musste an seine Heimat denken, an strohgedeckte Hütten, die unter einer dicken Schneelast ächzten, an warme Stuben und den Geruch von verbranntem Torf. Dann aber sah er eine Lichtung vor sich, verschneit bis auf ein paar verkohlte Holzpfosten. Der Wind fegte darüber hinweg, und ringsum standen dunkle Tannen. Ein Ruck ließ ihn aus seinen Gedanken auffahren. Es war, als habe ein großes Maul nach dem Floß geschnappt und es knapp verfehlt. Soldaten wie Gefangene tauschten erschrockene Blicke. Bolgan stand auf und blickte flussaufwärts: Hinter ihnen blieb ein großer Felsen zurück, der dicht unter der Wasseroberfläche lag. Der Rudergänger hatte offenbar nicht aufgepasst und das gefährliche Hindernis voll überfahren. »Nichts passiert«, sagte Nauru erleichtert. »Aber wir sollten vielleicht ...« Weiter kam er nicht. Ein Schrei gellte vom vorderen Teil des Floßes her, das plötzlich rapide Fahrt aufnahm. Ein Seil war gerissen 250 und hatte einem Gefangenen einen blutigen Striemen auf den Rücken geklatscht. »Der Stein«, sagte Bolgan. »Wer weiß, wie viele Stricke er aufgerissen hat.« »Das kann ja heiter werden«, unkte Alsfar. »Platz da!« Hauptmann Berngar zwängte sich durch und stiefelte unsicher nach vorn. »Was ist hier los?«, hörten sie ihn rufen. »Wer von euch hat das Seil durchgeschnitten?« »Er kapiert's nicht«, sagte Alsfar. »Aber er wird schon noch merken, dass die Idee mit den Flößen nicht gut war.« »Bloß ist es dann zu spät«, brummte Nauru. »Seht mal da.« Bolgan starrte flussabwärts. Eine Viertelmeile entfernt waren Schaumkronen zu sehen; dahinter schien der Falun aufzuhören. »Das muss der Ermin-Katarakt sein«, sagte Nauru. »Den hatte ich ganz vergessen. Handelsschiffe können ihn gefahrlos befahren, aber ihre Bauweise ist völlig anders - sie sind bei weitem nicht so schwerfällig wie dieses Ding.« Als hätte das Floß nur auf seine Worte gewartet, ertönte ein Krachen. Wieder scheuerten die Stämme über einen Felsen; der Steuermann riss das Ruder herum, da die nächste Untiefe schon sichtbar war und sich gefährlich schnell näherte. Aber das Floß reagierte zu langsam. Es stieß mit der rechten Seite auf den Felsen und bäumte sich auf. Die Wölfe fielen durcheinander, einige ins Wasser; die angeketteten Gefangenen schrien. Dann kam das Floß für kurze Zeit in ruhigeres Wasser und stabilisierte sich wieder. Bolgan hörte Hauptmann Berngar schreien und fluchen. >Diese Fahrt hat er sich anders vorgestellt^ dachte er und schaute sich um. Der Falun hatte hier schon über sechshundert Meilen hinter sich und war zu einem mächtigen Strom angeschwollen; nun wurde er, zwischen gewaltige Felsen eingekeilt, auf eine Breite von knapp 251 hundert Metern zusammengezwängt. Das mochte er nicht. Wasserschwaden stoben über die ächzenden Baumstämme, und die Gefangenen hielten schützend die Hände vors Gesicht, um sich vor der eiskalten Gischt zu schützen. Die Wölfe hatten sich am Heck zusammengedrängt, wo der Ruderer verzweifelt versuchte, das Floß auf Kurs zu halten. Aber das war vergeblich - der Falun warf es, wohin er wollte. »Da vorn geht der Katarakt erst richtig los!«, schrie Alsfar. »Lange halten wir die Belastung bestimmt nicht mehr aus!« »Kannst du schwimmen?«, rief Bolgan zurück. Es wurde immer schwieriger, das Tosen des Wassers zu übertönen. »Was soll das nützen? Bei dieser Strömung wird man einfach mitgerissen und geht unter.« »So weit wird es schon nicht kommen«, sagte Nauru nicht sehr überzeugt und schloss die Arme um Murk. Sekunden später kippte das Floß mit grauenhaftem Knirschen in die Stromschnellen des Ermin-Katarakts, und der Tanz mit dem Wasser begann. Obwohl zwanzig Meter lang und über sechs Meter breit, wurde das Gefährt von der Strömung mitgerissen wie ein Blatt im Wind. Es schlug über eine Kante, stürzte hinab, und vorn ertönte das verzweifelte Schreien der Gefangenen, das aber gleich erstickt wurde, als der Bug unter die Wasseroberfläche tauchte. Es schien ewig zu dauern, bis sich das schwer geprüfte Gefährt wieder ächzend aufrichtete und die Gefangenen nach Luft schnappen konnten. Weiter ging es mit furchtbarer Geschwindigkeit den Falun hinab. »Da!« Alsfar deutete auf einen großen Felsen in Ufernähe. Ein Vorgängerfloß war an ihm zerschellt. Die Balken waren wie Streichhölzer zersplittert und ragten als riesiges Gerippe über dem Stein auf. Bolgan kniff die Augen zusammen. »Die sind mit voller Wucht gegen den Felsen geworfen worden.« 252 »Das kann uns auch noch passieren«, sagte Nauru. »Hoffentlich haben wir mehr Glück.« »Ich wüsste nicht, wieso«, knurrte Alsfar. Er blickte zu Hauptmann Berngar und seinen Soldaten, die sich verzweifelt an den rutschig gewordenen Baumstämmen festhielten. »Die sehen jetzt, dass auf dem Wasser alle
gleich sind.« In einem Strudel kreiste ein Toter. Ob Gefangener oder Wolf, war nicht zu erkennen; aber etwas ließ Bolgan erbleichen: »Ein Pfeil«, stieß er hervor. »Der Schaft steckt ihm noch im Rücken. Das Floß wurde angegriffen, ehe es zerschellte.« Ihre Blicke wanderten ängstlich an den Felswänden empor. Dann sahen sie sie. Am Rand der Schlucht standen vielleicht fünfzig Menschen. Langes Haar hing ihnen herab, und alle waren mit großen Bögen bewaffnet; außerdem hatten sie Steinhaufen aufgeschichtet. Unbeweglich starrten sie herunter. »Erminari«, sagte Nauru. »Die haben es auf uns abgesehen.« »Ich frage mich, was die Wölfe gegen sie tun wollen«, meinte Bolgan. »Mit ihren Pfeilen jedenfalls erreichen sie nichts«, sagte Alsfar. »Uns bleibt nur die Hoffnung, irgendwie durchzukommen.« »Das glaubst du doch wohl selbst nicht«, erwiderte Bolgan heftig. »Wenn wir nichts unternehmen, sind wir in ein paar Minuten ertrunken oder von einem Pfeil durchbohrt!« Nervös schaute er nach oben. Gleich würden sie in Reichweite der Erminari sein. Bolgan packte Nauru an der Schulter. »Kannst du die Eisenringe aus dem Holz ziehen? Gib Alsfar deinen Jungen und versuch es.« Nauru blickte zweifelnd auf die Ringe, die natürlich nicht einfach so von den Gefangenen herausgezogen werden konnten. Dann schaute er zu den Erminari empor, die eben ihre Pfeile einlegten. Zögernd reichte er Alsfar den kleinen Murk. 253 »Und was dann?«, fragte er. »Du willst doch nicht...« »Doch«, erwiderte Bolgan leise. »Wir müssen springen.« Da bückte sich Nauru und griff nach dem Ring. Bolgan sprang ihm zur Hilfe. Gemeinsam packten sie das Eisen und zogen. »Ihr habt vielleicht Nerven«, sagte Alsfar kopfschüttelnd und blickte sich vorsichtig um. »Wenn das die Wölfe sehen, seid ihr erledigt.« »Die haben andere Sorgen«, ächzte Bolgan und zog noch einmal mit aller Kraft. Er hatte Recht. Aller Augen waren auf die Erminari gerichtet, die an der rechten Schluchtkante standen. Die Wölfe holten Pfeile aus dem Köcher, doch die Angst war ihnen anzusehen. »Wir schaffen es nicht«, sagte Nauru. »Er sitzt zu fest.« »Dann sind wir verloren.« Bolgan wollte aufstehen, warf sich stattdessen aber auf die Balken und rief: »Haltet euch fest! Das war erst der Anfang.« In diesem Moment neigte sich das Floß, von einer neuen Strömung erfasst, wieder zur Seite. Der Steuermann fluchte und riss wild am Ruder, um die Kontrolle zurückzugewinnen, aber wie an einer Schnur gezogen lief das Floß schräg auf das rechte Felsufer zu - dorthin, wo die Erminkrieger standen. »Die kennen die Strömung genau.« Nauru blickte zornig nach oben. Dann waren sie in Reichweite. Gebrüll übertönte das Tosen des Wassers. Pfeile schwirrten herab und blieben zitternd im nassen Holz stecken. Die Wölfe schössen mit allem, was sie hatten, zurück, aber es war fast unmöglich, die Steilwand hochzuzielen. Dann stürzten große Steine herab und gaben dem angeschlagenen Floß den Rest. Taue rissen; Menschen schrien; Chaos herrschte auf den Stämmen. Bolgan wies nach vorn. »Seht ihr den Felsen? Ich bin sicher, dass unsere Reise dort zu Ende ist. Wir müssen hier runter!« 254 »Ziehen wir noch mal«, sagte Nauru. »Alle miteinander!« Der eiserne Ring quietschte und drehte sich ein wenig, aber er ließ sich nicht herausreißen. »Zu fest«, ächzte Nauru. »Versuchen wir es mit der Kette.« Sie hakten sie unter dem Ring fest und zerrten mit der Kraft der Verzweiflung. Es knirschte; dann gab die Kette nach und brach entzwei. Wenig später war auch Bolgan frei. »Und jetzt das Gleiche bei mir, wenn ich bitten darf!«, rief Alsfar. »Ich möchte auch mit.« Doch seine Kette war aus besserem Stahl und brach nicht so leicht. Nach einigen Anläufen mussten Bolgan und Nauru Pause machen; ihre Hände waren aufgeschürft und brannten wie Feuer. »Schneller«, drängte Alsfar. »Das Floß hält nicht mehr lang.« Einige Gefangene hatten den Befreiungsversuch bemerkt und begannen nun auch, an ihren Ketten zu zerren, weil sie den Erminari nicht als Zielscheibe dienen wollten. Doch keiner besaß Naurus Kraft. »Es nützt nichts«, brummte der. »Wir ersaufen wie Ratten.« »Besser als gesteinigt zu werden«, erklärte Bolgan. »Außerdem haben wir vielleicht eine Chance - da drüben ist das Wasser ruhiger. Versuchen wir es noch mal.« Sprach's und wollte aufstehen. Ein Ruck warf ihn wieder zu Boden. Unter ihm hatte sich ein Spalt auf getan: Das Floß begann auseinander zu brechen.
»Los!«, brüllte Alsfar, und sie zerrten verzweifelt an der Kette. Tatsächlich: Der letzte Ruck gab ihr den Rest, und sie zersprang klirrend - die Gefährten waren frei. Hauptmann Berngar hörte ihren Lärm und musterte sie verblüfft. »Ab durch die Mitte!«, brüllte Bolgan und sprang. Der Atem stockte ihm, als das eiskalte Wasser durch seine Kleider drang; aber ein doppeltes Aufklatschen sagte ihm, dass Alsfar und Nauru hinter ihm waren. Heftig Wasser tretend, wandte er sich um. Seine Ge255 fährten folgten dichtauf; Murk hatte sich am Hals seines Vaters festgeklammert. Rufen und Schreien drang vom Floß zu ihnen herüber. Bolgan sah, wie Hauptmann Berngar ihnen zornig mit der Faust drohte. In diesem Moment krachte ein weiterer Stein von der Wand herunter. Berngar sprang zur Seite, ruderte entsetzt mit den Armen -und fiel ebenfalls ins Wasser. >Er kann nicht schwimmenVerflixt«, dachte Bolgan. >Ich kann ihn doch nicht ...< Aber dann entschloss er sich, schnellte nach vorn und war mit wenigen kräftigen Zügen bei Hauptmann Berngar. Der streckte Hilfe suchend die Arme aus dem Wasser und drohte prompt erneut zu versinken; Bolgan griff zu und kehrte um, dem rettenden Ufer zu. Er musste gehörig strampeln, bis er Alsfar und Nauru erreichte, die auf einen Felsvorsprung geklettert waren. Wie nasse Katzen krallten sie sich fest, zitternd vor Kälte. »Bist du wahnsinnig?«, schimpfte Alsfar, als Bolgan ankam. »Was willst du mit dem? Lass ihn ersaufen!« »Nehmt ihn mir ab!«, keuchte Bolgan und stemmte ihnen den halb ertrunkenen Hauptmann entgegen, der nicht wusste, wie ihm geschah. »Ich kann ihn nicht allein halten.« Alsfar reichte widerstrebend die Hand, um Berngar in Empfang zu nehmen. »Ich hätte ihn ertrinken lassen. Er ist ein Wolf, hast du das vergessen?« »Er wird uns vielleicht noch nützlich sein.« Bolgan zog sich erschöpft auf den Felsen. »Es ist noch lange nicht gesagt, dass wir unsere Freiheit behalten.« »Stimmt«, sagte Nauru. »Vielleicht können wir ihn noch brauchen - als Faustpfand.« 256 Berngar lag da und rührte sich nicht. Er sah jämmerlich aus. Sein Gesicht war noch immer bläulich; nur langsam kehrte seine Farbe zurück. Aus dem prächtigen Schnurrbart tropfte Wasser. Dann kam er zu sich und riss die Augen auf. »Mein Floß«, japste er. »Ich muss zu meinem Floß. Die Männer ...« »...brauchen dich nicht mehr«, sagte Nauru. »Sieh selbst.« Zweihundert Meter weiter hatte sich die Katastrophe vollendet. Mit grauenhaftem Knirschen war das Floß auf den haushohen Block aufgefahren und zersplittert; Holzstämme trieben den Fluss hinab, dazwischen Ertrunkene, zum Teil aneinander gekettet. Die Überlebenden, etwa fünfzig Mann, krallten sich an die Felseninsel und blickten hilflos ins tosende Wasser. »Was tun sie?« Berngar kniff angestrengt die Augen zusammen. »Wo ist das Floß? Wo sind meine Soldaten?« >Er kann es nicht sehenUnser Hauptmann ist kurzsichtig wie ein Maulwurf.« Ein spöttisches Lächeln zog über Alsfars Gesicht. »Dein Floß ist zerschellt, Hauptmann«, sagte er betont unterwürfig. »Und deine Soldaten ereilt das verdiente Los. Gerade werden sie von den Gefangenen ins Wasser geworfen ...« »Das ist ja furchtbar«, jammerte Berngar. Alsfar hatte Recht. Die paar Wölfe, die sich auf den Felsen gerettet hatten, waren gegenüber den Araukariern in kläglicher Minderzahl, und die tobten jetzt ihre Wut an den Peinigern aus. Ein Soldat nach dem anderen landete im Wasser. »Sei froh, dass du bei uns bist, Hauptmann«, sagte Alsfar zu Berngar. »Dort drüben hätten sie dich jetzt erledigt.« »Aber das ist ungerecht!«, rief Berngar ehrlich entrüstet. Bolgan bemerkte erst jetzt, wie einfältig der Kommandant war. »Man hat uns hohe Belohnung versprochen, wenn wir euch unbeschadet zum Aykil-Felsen bringen. Uns wurde gesagt ...« 257 »Es heißt Ayakil, nicht Aykil«, korrigierte Alsfar. »Und jetzt rettest du nichts als das nackte Leben. Ist dir das zu wenig? Dann können wir dich auch ...« »Lass ihn«, sagte Bolgan. »Sieh dir lieber an, was da drüben passiert.« Alsfar pfiff durch die Zähne. »Die Erminari.« »Sie holen ihre Beute«, sagte Bolgan. Wie mochten sie hinunter ans Ufer gekommen sein? Jedenfalls warfen die Sklavenjäger ein Seil zum Felsen hinüber, das die Gefangenen dankbar ergriffen, festbanden und sich nacheinander durch die reißende Strömung zu ihren Rettern hangelten, die sie in Empfang nahmen - und in einer Höhle verschwanden, die der Fluss aus dem Fels gewaschen hatte. »Sie haben leichtes Spiel«, sagte Nauru. »Die Wölfe sind ja ertrunken oder getötet. Bis auf unseren Gast
natürlich.« Er zwinkerte Berngar zu. »Aber was nun? Freiheit nützt uns wenig ohne Nahrung.« Bolgan suchte die Wand nach Tritten und Griffen ab, sah aber nur graues Gestein und einige Farne in den schmalen Ritzen. »Hier kommen wir nicht rauf«, sagte er schließlich. »Wir müssen zu der Höhle«, meinte Alsfar. »Wahrscheinlich gelangt man nur dort aus der Schlucht.« Bolgan dachte an das menschenfeindliche Gebirge ringsum. Was wollten sie tun, wenn sie wirklich hier rauskamen? >Unser Leben zu retten war einesNicht zu verhungern ist das andere.< Sie verbrachten zwei Stunden fröstelnd auf dem Felsvorsprung, um sicher zu sein, dass die Sklavenjäger fort waren. In dieser Zeit hatte Bolgan Gelegenheit, seine Gedanken zu ordnen. Schmerzlich wurde ihm bewusst, wie weit er davon entfernt war, den Schwarzen Prinzen erfolgreich zu bekämpfen. Die Entscheidung, vom Floß zu springen, war sicher richtig gewesen; doch wie 258 mochte es den anderen Gefangenen ergehen? Schon jetzt ahnte er, dass er freiwillig dorthin gehen musste, wohin ihn die Wölfe hatten bringen wollen - ins Verbotene Land, wo der Schwarze Prinz Sklava Mhor errichten ließ. »Mir ist kalt«, meldete sich der Hauptmann zu Wort. »Können wir nicht woanders hingehen?« »Uns allen ist kalt«, erwiderte Nauru. Er hielt Murk, dem die Zähne klapperten, eng an die nackte Brust gedrückt. Doch der Kleine schien die Bärennatur seines Vaters zu besitzen und klagte mit keiner Silbe. »Besser frieren als Gefangene der Erminari zu sein. In den Städten des Südens herrscht immer noch Mangel an Sklaven. Wahrscheinlich werden die Geretteten nach Tifillan verkauft, sechzig Meilen flussabwärts; dort gibt es einen großen Sklavenmarkt. Wer weiß, vielleicht gelangen sie auf diesem Weg sogar in die Hand der Wölfe zurück.« »Ein seltsamer Kreislauf«, sagte Alsfar. »Ich frage mich nur, ob die Erminari nicht die Rechnung ohne den Wirt gemacht haben; der Schwarze Prinz wird nichts kaufen, was ihm schon gehört.« Es wurde langsam dunkel. »Versuchen wir es«, sagte er dann und wies auf die Höhle. »Warte noch.« Bolgan spähte in die Dämmerung. »Vielleicht haben sie Wachen aufgestellt.« »Ich geh vor und seh nach«, erwiderte Alsfar unbeeindruckt. »Wenn noch jemand da ist, werde ich es schon merken.« »Dann ist es zu spät«, brummte Nauru. »Aber wenn wir noch länger warten, erfriere ich.« Der Felsenabsatz führte als schmaler, brüchiger Weg über die tosenden Wasserstrudel des Falun. Alsfar turnte geschickt auf ihm entlang, bis er den Eingang der Höhle erreichte. Vorsichtig spähte er hinein; dann kletterte er um die Ecke und verschwand im Ungewissen. Bolgan und Nauru warteten einige bange Minuten, bis Alsfar wieder auftauchte und winkte. 259 »Die Luft scheint rein zu sein«, sagte Nauru. Sie nahmen Berngar in die Mitte und kletterten los. Nach wenigen Minuten hatten sie die Höhle erreicht. »Sie sind weg«, empfing sie Alsfar, und Bolgan warf einen zweifelnden Blick in den Eingang. »Ich war schon drin«, erklärte Alsfar mit kindlichem Stolz. »Es geht weiter. Aber es war zu dunkel.« »Wir brauchen Fackeln«, sagte Nauru. »Vielleicht haben die Erminari welche dagelassen.« »Wahrscheinlich«, antwortete Bolgan. »Wenn sie öfter hierher kommen, haben sie bestimmt einen Vorrat angelegt.« Sobald sich ihre Augen an das Dunkel gewöhnt hatten, sahen sie einen großen Pfeilköcher, der mit Eisenhaken an der Wand befestigt war; daneben hingen mehrere Fackeln und eine Zunderbüchse. Wenige Minuten später war es in der Höhle hell. »Donnerwetter.« Alsfar sah sich verblüfft um. »Die sind gar nicht so unzivilisiert, wie ich gedacht hatte.« »Ich glaube nicht, dass die Erminari das geschaffen haben«, staunte Bolgan. Die Höhle war nur zum Teil natürlichen Ursprungs. In den Stein waren fantastische Wesen gehauen - ein Troll, der einen großen Fisch verschluckte; ein Drachenkopf genau über dem Eingang, der böse auf sie herunterschielte. Der hintere Teil der Höhle war wie ein riesiges Drachenmaul geformt. Dahinter verlor sich der Gang im Dunklen. Bolgan beschlich das Gefühl, einigen dieser Figuren schon begegnet zu sein. »Egal, wer die Höhle gestaltet hat«, brummte Nauru, »wir haben es mit berufsmäßigen Flusspiraten zu tun.« Viele Rollen Lederseil zum Fesseln der Gefangenen hingen an der Wand. Auch Eisenketten waren reichlich vorhanden. Die Rettung der Schiffbrüchigen vom Felsen war also sicher nicht die erste Unternehmung dieser Art. 260 »Eine perfekte Falle.« Nauru blickte zur Felseninsel. »Jedes Gefährt zerschellt da drüben, wenn man von oben für Verwirrung sorgt. Dann kommen die Erminari durch die Höhle hierher und holen sich aus den Trümmern, was ihnen nützlich scheint.« »In Araukaria habe ich von diesem Versteck nie gehört«, sagte Alsfar. »Es war zwar bekannt, dass immer wieder Überfälle auf Schiffe passieren, aber nicht, dass man sie so abgefeimt plündert. Es wäre leicht gewesen, diese Höhle zu zerstören.« »Die Erminari haben sie aber geheim halten können«, sagte Nauru. »Wahrscheinlich haben sie ihre Gefangenen
immer an Orte geschafft, wo ihnen das Reden nichts nützte, und unliebsame Mitwisser mundtot gemacht.« Ein Quietschen ließ sie aufhorchen. Murk war gestolpert, als er die Höhle erkunden wollte. Jetzt saß er mit gespreizten Beinen da und blickte sich verdattert um. Kaum hatte er sich von seinem Schreck erholt, stand er auf und setzte seine Besichtigung fort. »Suchen wir den Ausgang«, sagte Bolgan. »Vielleicht kommen sie wieder.« Ein boshaftes Lächeln blitzte in Alsfars Gesicht auf. »Wir könnten den Hauptmann ja fesseln und für die Erminari zurücklassen. Als kleines Dankeschön.« Der Offizier wurde bleich. »Ich möchte mit euch gehen.« »Aber wehe, wenn du Dummheiten machst!«, sagte Bolgan. Berngar zog den Kopf ein. Vom Befehlshaber des Floßes war nicht viel übrig geblieben, und Bolgan fragte sich, welcher Zufall diesen einfachen Mann zum Offizier des Schwarzen Prinzen gemacht hatte. Zumindest ging ihm der Verlust seiner Soldaten ebenso nahe wie die Tatsache, dass er Gefangener war - deswegen war Bolgan ihm gegenüber milder gestimmt, als Berngar eigentlich verdient hatte. Er wollte schon gehen, doch Nauru sagte: »Da kommt noch ein Floß.« 261 »Was?«, fragte Bolgan überrascht. Der Hüne hob den Arm. »Dort hinten.« Mittlerweile war die Nacht hereingebrochen, und der Mond leuchtete silbrig über der Schlucht; in seinem Licht war ein großes, plumpes Gefährt zu sehen, das sich durch die Strudel des Kataraktes kämpfte. »Die müssen wahnsinnig sein«, sagte Bolgan. »Bei Dunkelheit hier durchzufahren! Die werden zerschellen wie wir.« »Wahrscheinlich haben sie die Stromschnellen zu spät bemerkt«, meinte Nauru. Jetzt war das schemenhafte Floß heran und schoss mit unheimlicher Geschwindigkeit durchs aufgewühlte Wasser. Dann tauchte es vorn ein, und das Schreien der dunklen Gestalten drang zu ihnen herüber. Berngar öffnete den Mund; er wollte offenbar Hilfe rufen, spürte aber eine knochige Hand am Hals und hörte Alsfar sagen: »Lass das, mein Lieber. Spiel nicht den Helden - denn die sterben früher, als ihnen lieb ist.« Berngar brummte etwas und wandte den Kopf. »Sie haben es geschafft.« Nauru schaute dem Floß nach, das in ruhigeres Wasser gekommen war und schließlich hinter einer Flussbiegung verschwand. Er wandte sich um und nahm Murk bei der Hand. »Gehen wir«, sagte er, »bevor die Fackel vollends herunterbrennt.« Noch einmal betrachtete Bolgan die seltsamen Figuren. >Woran erinnern sie mich bloß?Sie suchten Rat bei allen Weisen in den Landen, selbst bei der Stimme der Lande - einer steinernen Säule, die in einer Höhle im Süden stehen soll -, aber nirgends bekamen sie Hilfe.< »Die Stimme der Lande«, murmelte Bolgan. »Der Alte Niemand hat sie gesucht - und nicht einmal ihre Existenz beweisen können. Und ich stolpere über sie. Einfach so.« 263 »Wovon redest du?«, fragte Alsfar. »Ich verstehe wieder mal kein Wort.« »Lange Geschichte«, sagte Bolgan. In knappen Worten erzählte er ihnen, was es mit der Säule auf sich hatte. »Und wozu dient sie?«, fragte Nauru. »Seit Jahrhunderten weiß kein Mensch mehr von ihr, außer den Erminari;
und die konnten damit wahrscheinlich nichts anfangen.« »Aber wir vielleicht«, erwiderte Bolgan hoffnungsvoll. In diesem Moment verlosch Naurus Fackel. Der kleine Murk; heulte los, doch als das Echo zurückkam, wurde er still. »Wir haben zu viel geredet«, knurrte Nauru aus dem Dunkel. »Hast du noch eine?«, fragte Bolgan. »Ich glaube nämlich ...« Ein Grunzen ertönte, dann ein Klatschen und ein erstickter Schrei. »Der Hauptmann wollte sich davonstehlen«, meldete Alsfar. »Das wird er nicht wieder versuchen.« »Gut«, meinte Bolgan. »Also, Nauru, hast du noch eine Fackel?« »Ja, und auch die Zunderbüchse. Ich brauche nur ...« »Moment«, unterbrach ihn Bolgan, heiser vor Aufregung. »Ich spüre etwas. Ihr nicht?« »Willst du uns Angst machen?«, fragte Nauru. »Nein. Es ist noch jemand hier. Ich spüre es.« »Das werden wir gleich sehen«, meinte Nauru und wollte die neue Fackel anzünden. »Nicht«, flüsterte Bolgan. »Das Licht verjagt es ...« Die anderen schwiegen, und Bolgan begriff, dass seine Gefährten nicht merkten, was im Saal vorging. Doch er war Hochhügelländer; oft war er im schweigenden Wald unterwegs gewesen und hatte eine Ahnung von den geheimnisvollen Zauberkräften bekommen, die in der Stille wohnten. Auch jetzt spürte er eine unbekannte Macht. Suchend und tastend streckte sie ihre Fühler nach den Eindringlingen aus. Bolgan reagierte intuitiv: 264 »Wir kommen nicht als Feinde«, hallte seine Stimme durch den Saal. »Wir fliehen vor dem Schwarzen Prinzen, der Araukaria gebrandschatzt hat. Und wir suchen nach der Antwort auf die Frage nach dem Warum.« »WARUM.« Bolgan zuckte zusammen, als das letzte Wort von den Wänden hallte. War es wirklich nur sein Echo gewesen? Es war mehr. Etwas hatte seine Sätze vernommen - und dachte darüber nach. Da flüsterte Nauru plötzlich heiser vor Angst: »Sieh doch. Die Säule ...« Der gewaltige Träger begann, von innen heraus bläulich zu flackern. Wie von einem geheimnisvollen Feuer gespeist, warf er zuckende Schatten an die Wände des Felsendoms, der nun in seiner ganzen Größe und Würde sichtbar wurde. »Die Frage nach dem Warum«, erklang eine Stimme, schwer und schleppend, als mache ihr das Sprechen Mühe nach all den Jahrhunderten, die sie geschwiegen hatte. »Wer bist du, Fremdling, der du nach dem Warum fragst?« »Der Alte Niemand hat mich ausgeschickt. Kanntet Ihr ihn?« »Den Alten Niemand kannte ich wohl«, antwortete die Stimme. »Aber er hat mich nicht gefunden, obwohl er mich ein Leben lang gesucht hat. Jetzt ist er tot, und du bist hier. Erzähle mir, was vorgefallen ist.« Bolgan begann stockend, seine Erlebnisse vorzutragen. Er bemühte sich, nicht das kleinste Detail auszulassen. »Gut«, ertönte die Stimme schließlich, als er bei der Stelle angekommen war, wo ihr Floß an den Felsen der Erminkatarakte zerschellte. »Den Rest weiß ich, denn ich habe die Erminari sprechen hören, als sie die Gefangenen abführten. Ihre Stimmen sind hart und herrisch - wie ihre Gedanken; ihr könnt von Glück sagen, dass ihr ihnen nicht in die Hände gefallen seid.« »Kennen die Erminari Euch denn nicht?«, fragte Bolgan. 265 »Nein. Sie haben Angst vor dieser Halle und können nicht begreifen, was sich darin befindet.« »Also seid Ihr wirklich die Stimme der Lande?« »Das bin ich«, erwiderte das Orakel, und Bolgan war es, als schwinge Befriedigung in diesen Worten mit. »Die Grasleute aus Khor fanden mich, als sie die Höhle erforschten. Dann errichteten sie mir diese Halle. Wenn sie eine Frage hatten, kamen sie hierher.« »Konntet Ihr ihnen immer Antwort geben? Warum ist Khor dann untergegangen?« Das Licht der Säule flackerte, und Bolgan fürchtete schon, zu weit gegangen zu sein. Dann antwortete die Stimme: »Weil es Fragen ohne Antwort gibt. Und manchmal könnte ich Antwort geben - doch ihr Menschenkinder kennt die Frage nicht.« Bolgan schwieg; einen Moment war es totenstill. Nur das leise Atmen der Gefährten war zu hören, die sich kaum zu rühren wagten. »Aber nun«, nahm die Stimme der Lande das Gespräch wieder auf, »bist du da. Frage mich, was du willst.« »Warum ist der Schwarze Prinz zurückgekehrt?« Seine Worte verhallten, und keine Antwort kam. Das Glimmen der Säule wurde dunkler, als kehrte sich die Energie nach innen. »Warum ist der Schwarze Prinz zurückgekehrt?«, wiederholte Bolgan. »Wisst Ihr es nicht, oder wollt Ihr es nicht sagen?« »Ich weiß es wohl«, erklärte das Orakel schließlich. »Der Schwarze Prinz ist der Diener dessen, den der Alte Niemand SOG genannt hat. Solange der SOG schläft und seine Augen nicht auf unsere Welt gerichtet sind, schläft auch der Schwarze Prinz und ist nur eine Hülle, ohne Energie und Seele. Nun aber ist der SOG erwacht.
Und er ist stark - bis hierher spüre ich seine Macht.« »Worin besteht diese Macht?«, drängte Bolgan. »Das zu sagen, ist mir verwehrt. Denn dazu müsste ich das Geheimnis der Lande brechen, über das seit Jahrtausenden Schweigen 266 herrscht. Und das werde ich nicht tun - nicht ehe der Einzige kommt, dem ich es mitteilen darf.« »Und wer ist das?« Die Säule schwieg. Bolgan biss sich auf die Lippen. Eben waren seine Hoffnungen noch so hoch geflogen. »Gibt es denn nichts, was Ihr für mich tun könnt?«, fragte er leise. »Ich will dir eine Geschichte erzählen.« Bolgan spitzte die Ohren. »Es ist die Sage«, begann das Orakel, und die Säule leuchtete mit einem Mal wieder auf, als habe das blaue Feuer neue Nahrung erhalten, »von dem großen Edelstein namens Erft - er kann dem SOG Einhalt gebieten.« »Ich kenne diese Geschichte zum Teil«, sagte Bolgan. »Mein Freund Fernd ist zum Scheidegebirge aufgebrochen, um mehr über den Stein zu erfahren.« »Auch die Menschen von Khor kannten den Erft«, erwiderte die Stimme der Lande. »Sie wollten ihn dazu benutzen, ihre Pforte fertig zu bauen. Also begannen sie ihn zu suchen - und vergaßen dabei das Naheliegendste: mich nach seinem Verbleib zu fragen. Zu klein war ihr Herrschaftsgebiet schon geworden, zu gering ihr Horizont; die alten Zauberer waren ins Grab gesunken. Blind und taub war das Volk von Khor in seinen letzten Tagen geworden.« Bolgan musste an die Bilder in der Pforte denken. Je weiter er nach oben gekommen war, desto ungeschickter waren sie in den Stein gekratzt. »Also bin ich seit dieser Zeit der Erste, der Euch nach dem Stein fragt?« »Du fragst mich nicht - ich bin es, der dir diese Geschichte erzählt. Und nun höre! Vor langer Zeit gab es einen Stein namens Erft. Er hatte große Macht. Aber Macht verdirbt, und deswegen waren die Zeiten nur gut, solange der Erft in der Erde ruhte. Dann aber wurde er gefunden.« 267 »Von Siljan«, sagte Bolgan, »der wegen des Steins seinen Bruder erschlagen hat.« »Wer hat dir das erzählt?« »Der Alte Niemand«, antwortete Bolgan stolz. \ »Dann hat er mehr gewusst, als er vorgab«, antwortete das Orakel. »Weißt du auch, was geschah, nachdem Siljan mit dem Erft aus dem Roten Turm geflohen war?« »Nein. An dieser Stelle bricht die Sage ab.« »Er nahm ihn mit und versteckte sich in der Einsamkeit. Aber der Verborgene Gott, der das Leben in den Landen erschaffen hat, wollte nicht, dass der Edelstein den Menschen weiter Unglück bringt. Deshalb schickte er den Silbergreis, das Gesetz der Lande, um ihn Siljan wegzunehmen.« »Und nun versucht der Schwarze Prinz, den Erft zu bekommen«, sagte Bolgan. »Hatib hat ihn belauscht und meinte, ein Kurier sei unterwegs, der ...« »Du bist zu ungeduldig«, unterbrach die Stimme, und in der Säule flackerte es. »Wenn du nicht lernst, dich zu gedulden, wirst du das Geheimnis des Schwarzen Prinzen nie lüften.« »Entschuldigung«, sagte Bolgan erschrocken. »Ab jetzt werde ich nur noch zuhören.« »Nachdem der Silbergreis Siljan den Erft genommen hatte, zerteilte er ihn. Aus einem Erft wurden drei. In sie gingen die drei Eigenschaften ein, die euch Menschenkinder von den Landen unterscheiden: Liebe, Hass und Träume. Der Silbergreis nahm den Erft des Hasses, wegen seiner Farbe auch Blauer Erft genannt, und versteckte ihn an einem geheimen Ort in Drehnland: der Höhle der Glühenden Masken.« Das Orakel verstummte einen Moment, doch Bolgan schwieg. Er wollte sich nicht noch einmal einen Vorwurf einhandeln. »Der Erft der Liebe«, fuhr die Säule fort, »auch Roter Erft genannt, befindet sich an einem ebenso unzugänglichen Ort: in der 268 steilsten Stelle der Ostmauer. Der dritte Erft wird Großerft genannt, denn er ist der mächtigste. Ihn besitzt - der Schwarze Prinz.« »Ausgerechnet den Erft der Träume?«, fragte Bolgan ungläubig. »Seit Jahrhunderten trägt er ihn an einem Ring, den er nie ablegt. Und er will die beiden anderen Erften in die Hand bekommen -dann erst kann Sklava Mhor vollendet werden und der SOG Einzug in die Welt halten.« »Also muss ich verhindern, dass er sie bekommt«, sagte Bolgan mit belegter Stimme. »Und sie an mich nehmen.« »Das reicht nicht, aber es ist der erste Schritt. Doch hüte dich! Die Ostmauer, in die der Rote Erft eingelassen ist, kann man nicht ersteigen; und wenn du versuchst, den Blauen Erft aus der Höhle der Glühenden Masken zu holen, wird es dir böse ergehen.« Bolgan senkte den Kopf. Damit hatte er gerechnet. »Was würde geschehen, wenn ich alle drei Erften hätte? Bekäme ich dann die Macht, den Schwarzen Prinzen zu
vernichten?« »Nein. Nur ein Einziger kann das, und nur der Silbergreis darf ihm sagen, wie man die Steine gebraucht. Für dich hingegen habe ich nun alles in meiner Macht Stehende getan.« »Aber ich muss doch noch so viel erfahren ...«, begann Bolgan. »Du hast die Frage nach dem Warum gestellt - und eine Antwort erhalten.« Das blaue Flackern in der Säule verlosch zusehends. »Eine von vielen, doch die einzige für dich. Denn es gibt Gesetze in den Landen, die die Antworten kontrollieren.« Bolgan schluckte. »Kontrollieren?« »Mach das Beste daraus, Bolgan vom Hochhügelland«, sagte die Stimme. »Nun musst du gehen; es bleibt mir nichts mehr, als dir und deinen Gefährten eine gute Reise zu wünschen. Denn auch ich habe ein Interesse daran, dass die Macht des SOGS nicht weiter wächst.« »Ihr könnt doch jetzt nicht einfach verstummen!«, ereiferte sich Bolgan. 269 Aber die Stimme schwieg, und das Licht verlosch. Bolgan stand im Dunklen und fühlte sich wieder sehr allein auf der Welt. Dann raschelte es, und Nauru zündete seine Fackel an. Warmes Licht erstrahlte, und Bolgan erwachte wie aus einem Traum. Jetzt erst erinnerte er sich, dass er nicht allein vor der Säule stand, sondern mit seinen Gefährten und dem Hauptmann. »Das ist ja ein Ding«, hörte er Alsfar neben sich brummen. »Keine hundertfünfzig Meilen von Araukaria entfernt, und schon fangen die Wunder an.« »Das kann man wohl sagen«, seufzte Bolgan. Noch einmal wanderte sein Blick zu den vier Statuen empor, die erloschen und blind in das Dunkel des Saals starrten. Die Stimme der Lande hatte ihm ihre Botschaft übermittelt - jetzt musste er sie nur noch verstehen. »Wenigstens weiß ich jetzt ein bisschen mehr«, brummte er. »Aber wie komme ich an die Erften?« Er warf einen Blick auf Berngar, der trotzig abseits stand, und auf den kleinen Murk, der sich an den Hosenbeinen seines Vaters festhielt, um nicht vor Müdigkeit umzufallen. Er war ein tapferer kleiner Junge, und sicher würde aus ihm einmal ein so starker und verständiger Mann wie Nauru werden. Wenn er das Glück hatte, erwachsen zu werden. 11. In der Hand der Erminari Da schrie der kleine Murk auf. »Pssst«, machte Bolgan verärgert, wandte sich um - und erstarrte, als er sah, was den Jungen so erschreckt hatte. Durch das dichte Gestrüpp lugten Dutzende von Augenpaaren. Die Erminari hatten sie entdeckt. Es dauerte gut eine Stunde, bis die Gefährten den Ausgang der Höhle gefunden hatten. Durchnässt und vor Kälte zitternd, wagten sie sich nur kurz in die Nacht hinaus, um Holz zu sammeln. Dann hielten sie ihre Kleider übers Feuer, damit sie trockneten. Bolgan dachte über die Worte der Felsenstimme nach. Den Erft gab es also tatsächlich - oder zumindest hatte es ihn einmal gegeben. Der Silbergreis hatte ihn zerteilt und die Stücke an unzugängliche Orte gebracht. Warum hatte er das dem Alten Niemand nicht gesagt, als er ihm die Rechenschaft gab? War es etwa nicht wichtig? Aber die Felsenstimme hatte ihm vorhin doch ausgerechnet diese Geschichte erzählt... >Einen Teil des Erfts hat der Schwarze Prinz schonUnd nach einem der beiden anderen Stücke ist ein Kurier unterwegs.< Dann begriff er: Drei Erften waren in den Landen verteilt, und drei Gefährten waren losgezogen, um gegen den Schwarzen Prinzen zu kämpfen. Als ob ein mächtiges Schicksal sie führte, war Hatib nach Norden gegangen, in Richtung des Blauen Erfts, und Fernd ging nach Osten, wo sich der Rote Erft befand. Noch wussten sie nichts von ihrer Aufgabe; doch Bolgan ahnte, dass auch ihnen der weitere Weg gewiesen würde. Damit war klar, was er zu 271 tun hatte: >Ich muss zum Schwarzen Prinzen gehenund ihm den Großerft abnehmend Im Grunde war er schon auf dem Weg zu ihm gewesen. Aber das Floß war zerschellt, die meisten Gefangenen in die Hände der Erminari gefallen. Bolgan ahnte, dass er seine Freiheit bald wieder aufgeben musste, um nach Sklava Mhor zu gelangen. Es dauerte gut eine Stunde, bis sie ihre Kleidung so weit getrocknet hatten, dass sie sich hinlegen konnten. Wenig später war die Höhle von den gleichmäßigen Atemzügen der fünf erfüllt, die den Schlaf völliger Erschöpfung schliefen. Bolgan erwachte, als ein Lichtstrahl in die Höhle fiel. Mühsam und ausgefroren erhob er sich; auch Alsfar öffnete blinzelnd die Augen. »Guten Morgen«, hüstelte der ehemalige Diener. »Ich kann leider nicht mit einem Krug warmer Milch aufwarten wie gewöhnlich, sondern nur mit einem Stück trockener Freiheit. Kurz gesagt: Ich habe Hunger und Durst.«
Bolgan lächelte, doch dann wurde er ernst: »Wo ist Berngar?« Ruckartig setzte sich Alsfar auf und sah sich in der Höhle um. Nauru schlief noch, den kleinen Murk eng an sich gedrückt. »Verflixt«, brummte Alsfar und hob die Reste der Schnur auf, mit der er den Hauptmann an sich gebunden hatte. »Während wir geschlafen haben, hat er sie durchgewetzt und ist getürmt. Ich könnte mich ohrfeigen.« »Es ist nicht deine Schuld. Wir waren einfach müde.« »Hätten wir ihn doch ersaufen lassen«, knurrte Alsfar. »Nun wird er uns an die Erminari verraten.« »Das glaube ich nicht«, erwiderte Bolgan. »Er wird versuchen, auf eigene Faust zu seinen Truppen zu finden. Vielleicht kommt er zur Südstraße durch, wo die Gefangenen marschieren.« 272 »Der Narr«, ließ sich nun auch Nauru vernehmen. »Berngar hat so schlechte Augen, dass er keine fünf Meilen weit kommt.« Die drei schwiegen bedrückt. »Gehen wir ihn suchen«, sagte Bolgan schließlich. Sie erhoben sich und steckten die Nase vorsichtig aus der Höhle. Sie befanden sich an einem Hang, der sich bis zur Falunschlucht hinaufzog. Vor ihnen lagen kahle Berge, deren spärliche Vegetation jetzt im Winter braun und grau war und sich kaum von den zerklüfteten Felsen unterschied. »Feindseliges Land«, brummte Nauru. »Ich frage mich, wie wir hier ungeschoren durchkommen wollen.« »Gar nicht, wenn wir Berngar nicht vor den Erminari finden«, sagte Bolgan. Dann kniff er die Augen zusammen. »Ich glaube, ich sehe ihn.« »Wo?«, fragte Alsfar. Bolgan deutete nach Westen; ungefähr drei Meilen entfernt, am Ausgang eines kleinen Tals, hatte ein versiegter Fluss einen kahlen Fächer aus lockerem Geröll abgelagert - und davor stand eine schwarze Gestalt, die den bequemsten Weg über die Steine zu suchen schien. »Na, der kann was erleben«, brummte Alsfar. Grimmig brachen sie auf. Berngars Dummheit konnte schlimmste Folgen für sie haben, und das wussten sie. Doch von den wilden Bewohnern des Gebirges war nichts zu sehen. Kein Rauch stieg auf und verriet eines ihrer Dörfer, kein Ruf scholl durch die Luft. Selbst die Vögel waren verstummt. »Bis jetzt kannte ich das Ermingebirge nur aus Erzählungen«, sagte Nauru, als sie die Talsohle erreicht hatten, die mit Unterholz bewachsen war. »Aber es ist noch unwirtlicher.« Er warf einen Blick auf die kahlen, vom Wind zerfressenen Anhöhen. »Ich frage mich, wovon die Erminari leben.« »Von der Sklavenjagd«, erwiderte Alsfar lakonisch. 273 »Seht mal«, sagte Bolgan. »Berngar steht noch immer an derselben Stelle.« »Wahrscheinlich weiß er nicht, wohin«, meinte Nauru. »Vielleicht hat er auch eingesehen, dass seine Flucht sinnlos ist, und kehrt wieder um.« »Was tun wir, wenn wir ihn haben?« Alsfar riss wütend eine Dornenranke beiseite. »Wo finden wir Unterschlupf?« »Im Grunde nirgendwo.« Bolgan musste an den Weg denken, der ihm gestern gewiesen worden war. »Jedenfalls dürfen wir nicht in die Hände der Erminari fallen.« »Das ist ja das Problem«, murrte Alsfar. »Wir dürfen niemandem in die Hände fallen. Den Erminari nicht und den Wölfen auch nicht. Jeder in diesem verfluchten Land ist unser Feind.« Sie kämpften sich weiter durchs Unterholz, aber ihnen wurde immer mulmiger zumute. Sie fühlten sich beobachtet. Dann standen sie endlich vor dem Schuttfächer. »Er ist immer noch da«, sagte Alsfar verblüfft, als er durch die Zweige lugte. »Warum rührt er sich nicht? Wir ...« Nauru zog ihn zurück ins Unterholz. »Vorsicht! Das ist eine Falle!« »Wieso?«, fragte Bolgan. »Er hat sich seit anderthalb Stunden nicht gerührt«, flüsterte Nauru. »Da ist was faul.« Bolgan spähte nach vorn. Berngar war ungefähr dreihundert Meter entfernt und kehrte ihnen den Rücken zu. »Du hast Recht. Er sieht merkwürdig aus ...« »Sie haben ihn erwischt«, verkündete Nauru, der die schärfsten Augen hatte, »und an einen Pfosten gebunden. Sein Kopf hängt nach vorn; er ist ohnmächtig oder tot.« »Stimmt«, bestätigte Bolgan kurz darauf. »Aber warum ...« »Berngar dient als Köder«, sagte Nauru scheinbar ruhig; nur seine Stimme zitterte ein wenig. »Die Sklavenjäger haben ihn ge274 fangen genommen und geahnt, dass mehr Menschen in der Nähe sind. Also haben sie ihn weithin sichtbar aufgestellt - und wenn wir versuchen, ihn zu befreien, schnappt die Falle zu.« »Ein heimtückisches Volk«, brummte Bolgan. »Und was jetzt? Wir können doch nicht...« Da schrie der kleine Murk auf. »Pssst«, machte Bolgan verärgert, wandte sich um - und erstarrte, als er sah, was
den Jungen so erschreckt hatte. Durch das dichte Gestrüpp lugten Dutzende von Augenpaaren. Die Sklavenjäger hatten sie entdeckt. Ehe die Gefährten auch nur ein Glied rühren konnten, brachen die Erminari aus dem Unterholz hervor. Bolgan wurde von zweien festgehalten; er strampelte und wehrte sich erbittert. Nauru brüllte wie ein Stier und warf die Erminari nur so um sich; da traf ihn ein Keulenschlag auf den Hinterkopf. Einen Moment schwankte er, dann brach er zusammen. »Ihr Feiglinge!«, schrie Alsfar, als er ihn stürzen sah. Nur Augenblicke später waren sie überwältigt, und die Erminari schleiften sie aufs Geröllfeld, um ihren Fang zu untersuchen. >Muss ich denn ständig in Gefangenschaft geraten?Er ist beunruhigt^ dachte Bolgan. >Er hat Angst um Altan. Was könnte ihm passiert sein?< Er folgte Tuskans suchendem Blick. >Hinter den Bergen verbirgt sich etwas.< Ganz deutlich spürte Bolgan das Nahen einer Gefahr. Noch brach sie sich an den schützenden Gebirgskämmen und konnte nicht ins Tal gelangen; aber lange würde es nicht mehr dauern. Ihn fröstelte. 284 In diesem Moment kam ein alter Erminaro und sagte etwas, das Tuskan für Bolgan übersetzte. »Das ist Einno. Du würdest ihn vielleicht Dorfmeister nennen. Er ist es leid, euch als Gefangene zu sehen. Wenn ihr wollt, könnt ihr im Ort als freie Menschen leben, bis Altan kommt. Aber ihr müsst schwören, keinen Fluchtversuch zu unternehmen.« »Das ist sehr großzügig«, meinte Bolgan erfreut. Auch Alsfar wollte das Angebot annehmen, doch Nauru erklärte ernst: »Sag deinem Dorfmeister, dass seine Menschlichkeit uns ehrt. Aber ich möchte nicht euer Gast sein, wenn ich danach in die Sklaverei verkauft werde. Ich will weiter im Stall schlafen. Und Murk wird bei mir bleiben.« Bolgan sah ihn verständnislos an. »Dann will ich es nicht besser haben«, sagte er. »Aber warum bist du so störrisch?« Auch Alsfar war überrascht. Das war nicht der Nauru, den sie kannten. »Ich bin Gefangener«, knurrte der Hüne. »Und so möchte ich auch behandelt werden. Ich werde im Stall schlafen, angekettet an den Pfosten, und der Junge neben mir. Das werden wir tun, bis Altan kommt - oder wer auch immer.« Bolgan schluckte, denn er wusste, dass die Erminari einen hohen Begriff von Ehre hatten. Naurus Ablehnung musste für sie ein Schlag ins Gesicht sein. Warum tat er das? Dann begriff er. Sein Freund hatte den letzten Satz mit seltsamer Betonung gesprochen - als wollte er ihn und Alsfar davor warnen, einen tödlichen Fehler zu begehen. >NatürlichAltan wird nie kommen; vermutlich ist er längst tot. Wer immer als Nächster das Dorf betritt, tut es im Auftrag des Schwarzen Prinzen.< Er sah zu Alsfar, der Nauru verständnislos anstarrte. >Die Wölfe werden uns nur schonen, wenn wir Gefangene der Erminari sindWir müssen uns an Haupt285 mann Berngar halten. Immerhin habe ich ihn gerettet - da wird er wohl ein gutes Wort für uns einlegend »Ich glaube, Nauru hat Recht«, sagte er ernst zu Tuskan. »Wir sind eure Gefangenen - nichts weiter.« »Diese Antwort wird Einno nicht gefallen«, erwiderte Tuskan. Dann fügte er leise hinzu: »Aber ich kann sie verstehen.« Alsfar schaute blöd drein, doch Bolgan trat ihm auf den Fuß, und er schwieg. Tuskan übersetzte für Einno; der streifte die Gefangenen mit einem Blick, den man nicht übersetzen musste. >Auch er ahnt die WahrheitSeit ihrem Überfall auf das Floß sind die Erminari verurteilt und der Henker kommt bald.< »Einno sagt, es sei gut«, übersetzte Tuskan. »Wenn ihr unsere Gastfreundschaft nicht mögt, sollt ihr im Stall bleiben.« So geschah es. Die Gefährten schliefen angekettet und durften jeden Mittag einige Stunden im Dorf herumgehen. Aber die zarte Pflanze der Freundschaft war verdorrt. Tuskan war wortkarg, und andere Erminari zeigten sich
überhaupt nicht mehr. Eines Tages kam auch der kleine Murk heulend in den Stall gerannt; die anderen Kinder hatten ihn verprügelt. Nauru tröstete ihn, ohne einen Kommentar abzugeben. Die letzten Tage vor dem Untergang des Dorfes blieb der Junge im Stall, weil er sich ohne seinen Vater nicht mehr vor die Tür wagte. >Sie machen die Fronten klarWas stößt mich an diesem Menschen nur so ab?Er wirkt ruhig und überlegt, und doch ist er unangenehmer als Ogrok.< Berngars Bericht wies einige Lücken auf. So ließ er die Felsenstimme aus, vielleicht, weil er Angst hatte, damit Unwillen zu erregen. Um so ausführlicher schilderte er seine Gefangennahme durch die Erminari. 292 »Und vorgestern sind sie plötzlich verschwunden«, kürzte er seinen Bericht ab, als er merkte, dass die
Wolfsführer ungeduldig wurden. »Ich weiß nicht, wohin. Vielleicht haben sie erfahren, dass ihr uns befreien kamt?« »Befreien?« Ogrok schüttelte sich vor Lachen. »Deshalb sind wir nicht hier. Keine Gefangenen, lautet der Befehl. Nein, es ist purer Zufall, dass wir euch am Leben gelassen haben. Die Erminari haben wir schon gestern aufgespürt. Sie hatten sich in einer Höhle verkrochen, oben in den Bergen.« Er grinste. »Wir haben vor dem Eingang Feuer gemacht und sie geräuchert wie Schweineschinken. Von denen lebt keiner mehr.« Bolgan schluckte. Er musste an Tuskan denken und an den alten Einno - Sklavenjäger zwar, aber nicht ohne Ritterlichkeit. Und an die Kinder, die mit Murk gespielt hatten, bis sie ihn schließlich verjagten. Wut stieg in ihm auf, und es kostete ihn große Anstrengung, sich zurückzuhalten. Aber Alsfar hielt sich nicht zurück. »Ausgeräuchert habt ihr sie?«, fragte er ohne Rücksicht auf sich und andere, wie es seine Art war. »Zusammen mit ihren Frauen und Kindern? Ihr seid eine Bande von feigen Mördern. Die Erminari waren hochherzige Menschen, verglichen mit...« »Halt den Mund, Alsfar«, rief Nauru verzweifelt, denn diesmal war sein Gefährte wirklich zu weit gegangen. »Halt doch einmal den Mund ...« Weiter kam er nicht. Ogrok holte aus und rammte Alsfar die Faust in den Magen; der ging nieder und blieb zusammengekrümmt liegen. Der Wolfsführer zog seinen Dolch aus dem Gürtel. >Aus!Diesmal ist Alsfar an den Falschen geratene Ogrok hatte den Dolch schon erhoben, da hielt Ormon seinen Arm mit überraschender Kraft auf. 293 »Nicht«, sagte er ruhig. »Ich glaube, der Schwarze Prinz will sie lebend.« »Du hast mir nichts zu befehlen!«, rief Ogrok. »Keine Gefangenen, hat er gesagt.« »Das war vor vier Wochen«, erwiderte Ormon. Immer noch war sein Gesicht eine undurchdringliche Maske. »Ich kenne nicht nur die Befehle des Schwarzen Prinzen, ich weiß auch, was er denkt. Denn ich bin ein Gifalk. Wenn du diesen Mann tötest, wird unser Herr nicht zufrieden sein.« Sie maßen sich mit den Augen, Ogrok erhitzt und böse, Ormon kalt wie Marmor. Einen Augenblick sah es aus, als wollte der Wolfsführer Alsfar doch noch töten, aber da sagte Ormon mit erschütternder Ruhe: »Sieh dich vor, Ogrok.« Bolgan wagte kaum zu atmen. »Auf deine Verantwortung«, brummte der Wolfsführer schließlich und steckte sein Messer ein. Ormon nickte knapp. Dann wandte er sich an Alsfar: »Dein Mundwerk ist mir etwas zu frech. Sieh mich an ...« Er packte ihn am Kragen und zog ihn halb zu sich hoch. Alsfar starrte ihn an wie das Kaninchen die Schlange. Dann öffnete er den Mund zu einem stummen Schrei; seine Lippen wölbten sich vor, und die Augen sprangen ihm beinahe aus den Höhlen. Alsfar krampfte und zuckte im Griff des Gifalken, konnte sich aber nicht befreien; in seinem schmalen, verhärmten Gesicht stand nackte Todesangst. >Ormon reißt ihm die Seele aus dem LeibWas hat er nur für Kräfte?< Dann war es vorbei. Der Gifalk ließ Alsfar los, und der sackte völlig erschöpft zu Boden. Er war kaum noch bei Bewusstsein und atmete schwer und unregelmäßig. Ormon beachtete ihn nicht weiter, sondern wandte sich kalt an die anderen: »Wir werden euch nach Sklava Mhor bringen; dort hat 294 man Verwendung für euch. Aber vergesst nie: Eine einzige Handbewegung von mir reicht aus, euch das Leben aus dem Leib zu pressen.« Er wandte sich an die Soldaten, finstere Gestalten, die noch den blutrünstigsten Befehl Ogroks ausführen würden. Auch ihnen schienen Ormons Kräfte unheimlich zu sein. »Glotzt nicht so«, sagte der Gifalk leichthin. »Die Strafexpedition ist vorbei. Wir ziehen zum Verbotenen Land.« »Aber wir sind noch nicht fertig mit den Erminari«, brummte Ogrok. »Wir haben doch den Befehl, alle Dörfer ...« »Vertrau mir.« Ormon schien seiner Sache sicher zu sein. »Ich möchte losgebunden werden«, verlangte Berngar trotzig. »Ich bin Soldat des Schwarzen Prinzen wie ihr.« »Das ist vorbei«, knurrte Ogrok, der sich nach der Konfrontation mit dem Gifalken wieder beruhigt hatte. »Wer sein Floß verliert, darf auf keine Vergünstigung hoffen.« Der Hauptmann zog kleinlaut den Kopf ein. Bevor sie wieder gefesselt wurden, mussten Bolgan und Nauru Alsfar in den Sattel helfen. Es sollte Tage dauern, bis er sich erholt hatte. Während der Reise durch die kahlen Lande sah Bolgan vor seinem inneren Auge immer wieder, wie Alsfar sich unter dem Griff des Gifalken gewunden hatte. Der schlimmste Krieger des Schwarzen Prinzen konnte nicht so furchtbar sein wie dieser unscheinbare Mann, dessen Augen keine Seele hatten. Bolgan warf einen Blick auf Alsfar. Er war totenbleich und sah trotzig geradeaus. >Er schämt sichWeil ich ein Begleiter des Alten Niemand war? Aber Aurian hat mich doch schon verhört.. .< Bei der Durchquerung des Gebirges sah Bolgan, was die Truppen des Schwarzen Prinzen angerichtet hatten. In den Dörfern stand kein Stein mehr auf dem anderen, und wenn die Bewohner nicht rechtzeitig geflohen waren, hatte man sie auf offener Straße erschlagen. Umherirrende Rinder, rußgeschwärzte Ruinen und verkohlte Leichen überall. Verwesungsgeruch lag überm Land. Bolgans Wut auf Ogrok und seine Männer stieg mit jedem Tag. Nach fünf Tagen hatten sie die Erminberge hinter sich und gelangten an den Isillan, der die südlichen Gestade, Ant-Ermin genannt, vom Gebirge trennt. An einer steinernen Brücke bogen sie ab und folgten dem Fluss einen halben Tag nach Osten, bis er in den Falun mündete. Dort lag Tifillan - die Stadt, in der Altan sie hätte verkaufen sollen. Der Sklavenhändler war den Truppen des Schwarzen Prinzen wohl in die Arme gelaufen. Die Stadt war belagert und gestürmt, aber nur zum Teil zerstört worden - man brauchte sie noch. Tifillan lag auf dem Sporn zwischen Isillan und Falun unter einer gewaltigen Burg; eine Mauer schützte die Stadt, die an drei Seiten von Wasser umgeben war, vor Eindringlingen. Nun aber lag die Mauer in Trümmern, und die zerschlagenen Fenster der Burg sahen wie blinde Augen übers Wasser. Vom stolzen Tifillan, das sich rühmte, die freieste und lebendigste Hafenstadt am Falun zu sein, war kaum etwas übrig geblieben. Ogrok drehte sich zu seinen Wölfen um: »Heute hat das Reiten 296 ein Ende! Ab jetzt geht es mit dem Schiff weiter. Zum Ayakil. Aber vorher wird gefeiert!« Die Soldaten lachten - bis auf Ormon, der wie immer still und unauffällig abseits ritt. »Als wenn es hier etwas zu feiern gäbe«, brummte Alsfar, als sie durch das rußgeschwärzte Tor ritten. In der Stadt hatte Feuer gewütet; die prächtigen alten Häuser waren geplündert und böse mitgenommen. Die meisten Männer waren verschleppt worden; nur Frauen, Kinder und Alte bevölkerten die Straßen. Hohläugig und hungrig starrten sie die Wölfe an, die durch die verwüsteten Gassen trabten, als hielten sie eine Parade ab. Zum ersten Mal zeigte Ormon Interesse an seiner Umwelt. Aufmerksam ließ er den Blick über die Menschen schweifen, denen sie begegneten. So ritten sie zum Hafen, wo sie vor einer Herberge Halt machten, die noch in leidlich gutem Zustand war. Kaum waren sie abgestiegen, kam der Wirt aus der Schenke gelaufen. »Willkommen, Herr!«, rief er und ruderte windmühlengleich mit den Armen. »Endlich habe ich die Ehre, Euch wieder in meiner Herberge zu sehen!« Er sagte das, als habe er lange keine so lieben Gäste wie Ogrok und seine Meute mehr bewirtet. »So viele Tage seid Ihr fort gewesen und habt uns nicht mit Eurer Anwesenheit beglückt!« »Lass das, Narvan«, knurrte Ogrok unwirsch, ließ es sich aber gefallen, dass der ihm enthusiastisch die Hände küsste. Einige Soldaten grinsten - dieser Wirt schien weniger untertänig als vielmehr ein ausgemachtes Schlitzohr zu sein. Narvan war fast einen Kopf kleiner als Bolgan, und neben Ogrok wirkte er wie ein Zwerg. Er mochte knapp fünfzig Jahre alt sein, und trotz des Winters hatte er eine sonnengebräunte Glatze. Hinter den Ohren standen ihm Büschel schwarzgrauer Haare ab, was ihn wie einen heruntergekommenen Komödianten wirken 297 ließ. Seine Augen blickten listig und geistvoll zu dem hünenhaften Wolfsführer empor, als er, ohne dessen Hände loszulassen, fortfuhr: »Beehrt Ihr mich also wieder? So gut gefallen hat es Euch bei mir, dass Ihr aufs Neue geneigt seid, bei mir zu wohnen? Wunderbar! Wunderbar!« »Genug jetzt«, sagte Ogrok. »Wir bleiben in deinem Saftladen, bis wir ein Schiff haben, das uns zum AyakilFelsen bringt. Besorg mir ein gutes Zimmer - und Ormon auch. Die Soldaten kannst du unterbringen, wo du willst.« Dann wies er auf die Gefangenen. »Die musst du einsperren. Wir haben Befehl« - er tauschte einen Blick mit Ormon - »sie ins Verbotene Land zu bringen. Also pass gut auf sie auf.« »Ein wahrer Held seid Ihr!«, jauchzte Narvan. »Mit tausend Kriegern zieht Ihr ins Ermingebirge, und vier Gefangene bringt Ihr zurück! Wunderbar!« Ogrok lächelte geschmeichelt, Ormon dagegen lächelte nicht. Er starrte auf einen etwa zwölfjährigen Jungen, wohl den Sohn des Wirts, der eben aus der Tür sah. >Dieser Blick verheißt nichts GutesErbärmliche GegendWüst, menschenfeindlich, würdig des Schwarzen Prinzen.< Doch die Straße begann sich zu bevölkern. Ochsenkarren kamen ihnen entgegen, die Lebensmittel nach Sklava Mhor gebracht hatten. Misstrauisch musterten die Fuhrleute den Soldatentrupp und die Gefangenen in seiner Mitte. »Glotzt nicht so!«, schrie Ogrok, wenn ihm ihre Blicke auf die Nerven gingen. »Sonst ergeht es euch genauso!« Da sahen die Menschen zur Seite und machten, dass sie weiterkamen. Überhaupt schien Ogrok mit jedem Tag, den sie sich der Sklava näherten, aggressiver zu werden. Oft schlug er die Gefangenen ohne Grund, und beim leisesten Anlass beschimpfte er seine Soldaten - als wollte er seine Brutalität noch einmal richtig austoben. Bolgan ahnte, warum der Wolfsführer so bösartig war: Er hatte Angst. Auch Hauptmann Berngar schien sich vor der Ankunft zu fürchten. Er hatte seine Freiheit allein einer Laune Ogroks zu verdanken. Noch war nicht sicher, ob der Schwarze Prinz ihm den Verlust des Floßes verzeihen würde. Meile um Meile legten sie zurück. Die Gefährten schwitzten tagsüber, nachts froren sie unter einem klaren, kalten Sternenhimmel. In diesem Land gab es keinen Winter. So ging es drei Tage lang, dann öffneten sich die Lande plötzlich - und gaben den Blick frei auf Sklava Mhor.