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Die einzigartige britische Fernsehserie jetzt als Goldmann Taschenbuch! Der phantastische Dr. WHO mit seinem unmöglichen Raumschiff auf Abenteuersuche im Weltall! Eigentlich wollte Ian Chesterton an diesem nebligen Abend nur nach Hause fahren, als er einer seltsamen Gestalt begegnet, die in einer Telefonzelle verschwindet. Ian folgt dem alten Mann und begibt sich so, ohne es zu wissen, ins Innere der Tardis. Das merkwürdige Raumschiff bringt ihn zusammen mit dem Doktor, seiner Enkelin Susan und ihrer Lehrerin Barbara auf den Planeten Skaro, wo sie in einen Kampf auf Leben und Tod zwischen den friedliebenden Thals und den kriegerischen Daleks verwickelt werden. Auch wenn sich der Doktor aus dieser Geschichte lieber herausgehalten hätte, irgendwann bleibt ihm einfach keine Wahl mehr… Kann der Doktor den Planeten vor dem Giftangriff der Daleks retten? Und mehr noch, werden Ian und Barbara ihre Heimat je wiedersehen? DEUTSCHE ERSTAUSGABE
Aus der Reihe Dr. WHO wird im Goldmann Verlag erscheinen: Dr. WHO und das Komplott der Daleks Terrance Dicks • 23612 (Sept. 1989)
DAVID WHITAKER
UND DIE INVASION DER DALEKS Mit einem Nachwort von Hermann Urbanek
GOLDMANN VERLAG
Deutsche Erstausgabe Aus dem Englischen übertragen von Peter Tuscher Originaltitel: Dr. Who and the Daleks erschienen bei Target Books, W. H. Allen & Co
Der Goldmann Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann Made in Germany • 7/89 • 1. Auflage © des Romans 1964 by David Whitaker © des Originalskripts 1964 by Terry Nation © der Serie »Dr. Who« 1963, 1964 by British Broadcasting Company © der deutschsprachigen Ausgabe 1989 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlaggestaltung: Design Team München Satz: Fotosatz Glücker, Würzburg Druck: Eisnerdruck, Berlin Verlagsnummer: 23611 Lektorat: Christoph Göhler Herstellung: Peter Papenbrok ISBN 3-442-23611-8
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Die Begegnung im Bezirk Ich hielt meinen Wagen an und ließ mich völlig vom Nebel einhüllen. Ich wußte, ich war irgendwo im Bezirk Barnes, und ich hatte den leisen Verdacht, daß ich mich in seinem verlassensten Winkel befand. Ein warmer Ofen und das Abendessen, welches bei meiner Vermieterin auf mich wartete, schienen mir genauso unerreichbar wie Neuseeland. Ich fragte mich, wie lange es wohl dauern würde, zu Fuß nach Paddington in meine Wohnung zu gelangen, aber die Antwort darauf konnte mich nicht sonderlich aufheitern. Der krönende Abschluß eines verpatzten Tages. Es hatte damit angefangen, daß ich mir bereits vor dem Frühstück meine beste Sportjacke an einer locker sitzenden Schraube in meiner Zimmertüre zerrissen hatte. Es tröstete mich wenig, daß ich seit Wochen nicht dazu gekommen war, sie festzuschrauben, und ich deshalb niemandem die Schuld geben konnte als mir selbst. Und später, nachdem ich mich auf den langen Weg nach Reigate gemacht hatte, wo ich mich bei Donneby, einer Firma für Raketenteile, für den Job eines wissenschaftlichen Assistenten bewerben wollte, mußte ich feststellen, daß der Neffe eines der Direktoren die Stelle erhalten hatte und daß ich die Reise umsonst gemacht hatte. Und jetzt dieser Nebel und die Aussicht auf einen langen, ermüdenden Fußmarsch. Ich schaute auf meine Uhr und schob die Entscheidung so lange wie möglich hinaus. Es war kurz vor neun. Gerade als der Sekundenzeiger seine Drehung vollendete, hörte ich hastige Schritte. Wahrscheinlich noch ein Verirrter, sagte ich mir. Er kam mir gerade recht, um die endgültige Entscheidung für den Fußmarsch noch einmal hinauszuschieben. Im bleichen Schein meiner Scheinwerfer 7
tauchte plötzlich ein Mädchen auf. Sie blieb stehen, und ich sah, wie sie zaghaft ihre Hände bewegte. Auch bemerkte ich, wie sie ihren Mund öffnete, um etwas zu sagen. Ich riß die Tür auf, rannte zu ihr und konnte sie auffangen, bevor sie auf die Straße fiel. Sie stand kurz vor einer Ohnmacht. Ich konnte gerade noch den Namen verstehen, den sie sagte – »Susan« –, während ich sie hochhob und auf dem Vordersitz unterbrachte, dann sank ihr Kopf auf die Nackenstütze, und sie verlor völlig das Bewußtsein. Ich vermutete, daß sie Anfang Zwanzig war, und sie hatte einen schwer einzuschätzenden Gesichtsausdruck; attraktiv, aber dennoch mit ausgeprägtem Charakter. Ihre Kleidung war mit Schlamm bedeckt, und die Strümpfe hingen in Fetzen an den Beinen. In der Jacke ihres Kostüms war ein großer Riß, und ich bemerkte, daß alles über und über voll Blut war. Ich öffnete die Motorhaube und tauchte mein Taschentuch in den Kühler. Damit ist die Idee, nach Hause zu gehen, gestorben, sagte ich mir. Der Schnitt in ihrer Schulter sah alles andere als gut aus. Wahrscheinlich hätte er sogar genäht werden müssen. Als ich zu ihr zurückging, wrang ich das Taschentuch aus und fragte mich gleichzeitig, warum sie keine Handtasche bei sich hatte. War sie von jemandem angegriffen oder bestohlen worden? Die naheliegendste Lösung kam mir nicht in den Sinn. Als ich ihre Stirn abwischte, bewegte sie den Kopf ein wenig. Ihre Lippen bebten etwas. »Susan … Susan …« Meine Gedanken konzentrierten sich auf die sonderbare Tatsache, daß sie mir unbedingt ihren Namen sagen wollte, und ich nehme an, ich war so mit dieser Frage beschäftigt, daß es mich fast erschreckte, als sie ihre Augen öffnete und mich ansah. Einige Sekunden sagte keiner von uns beiden etwas, dann legte ich ihr wieder das Taschentuch auf die Stirn. 8
»Ruhen Sie sich eine Weile aus. Dann wird es Ihnen besser gehen.« »Susan …« »Ja, ich weiß, Sie haben mir Ihren Namen vorhin schon gesagt.« Sie schüttelte den Kopf, während ich das Taschentuch wieder an mich nahm und zusammenlegte. »Nein, Susan liegt auf der Straße«, sagte sie. »Sie war mit mir im Wagen.« »Ich werde gleich hingehen und nachsehen.« »Nein, sofort bitte!« Ich hörte den Nachdruck in ihrer Stimme und nickte. »In Ordnung.« »Ich werde mitkommen. Ich muß. Sie ist verletzt.« »Was ist passiert. Ein Autounfall?« Die Antwort kam unmittelbar nach meiner Frage. »Ja. Dem Himmel sei Dank, daß Sie stehengeblieben sind. Sie wären geradewegs hineingefahren.« Sie stieg langsam aus dem Auto. »Ihre Schulter ist verletzt, wissen Sie das?« »Es ist nicht so schlimm.« Während ich ihr aus dem Auto half, tat ich so, als bemerke ich den Schmerz in ihrem Gesicht nicht, der sich zeigte, sobald sie ihre verletzte Schulter bewegte. »Es ist besser, wenn Sie es mir zeigen. Aber sagen Sie es, wenn Sie es nicht schaffen.« Dann gingen wir los. Wir hatten nur ein paar Schritte auf der Straße zurückgelegt, als der Nebel auch schon die Scheinwerfer meines Wagens verschluckte und uns völlig einschloß. »Wie schwer ist sie verletzt?« fragte ich. »Ich weiß es nicht. Ihr Gesicht war voller Blut. Es war ein großer Lastwagen. Einer von der Armee, glaube ich.« Fast nur zentimeterweise tappten wir unseren Weg entlang, und dennoch wäre ich beinahe über den zerbeulten Kotflügel 9
des Lastwagens gefallen, der von der Karosserie abgetrennt worden war. Ich führte das Mädchen um ihn herum, und wir traten auf zerbrochenes Glas, das unter unseren Füßen knirschte. In der Lautlosigkeit der Nacht wirkte dieses Geräusch sonderbar und unheimlich. Die Umrisse des Lastwagens tauchten auf. Vorsichtig gingen wir um ihn herum. Er lag auf der Seite, und aus einem der Fenster im Führerhaus hing halb drinnen, halb draußen der Oberarm eines Armeekorporals. Ich kletterte hinauf, soweit mir das verbogene Metall es erlaubte. Es sah so aus, als ob der Mann im Moment des Aufpralls auf die Seite geschleudert worden wäre, wobei ihn die in Brüche gehende Scheibe offensichtlich davon abgehalten hatte, auf die Straße geschmettert zu werden. »Ist er in Ordnung? Schwer verletzt, oder was ist?« Ich sah sie an und fragte mich, ob ihr Zustand sich soweit gebessert hatte, daß sie meine Worte aufnahm. Der Moment schien so geeignet wie jeder andere, denn sie drehte sich um und starrte durch den wirbelnden Nebel auf den Körper. »Er ist tot.« »Das befürchte ich auch.« Durch den Nebel begann sich mein Hals zuzuschnüren. Zum ersten Mal bemerkte ich den starken Benzingeruch. Einer der Lastwagenscheinwerfer leuchtete noch grell in die Nacht hinaus; ich wollte dem Benzin keine Chance lassen. Plötzlich überfiel mich die Angst, es könnte einen Kurzschluß geben und der ganze Schrott würde uns um die Ohren fliegen. Noch einmal kletterte ich hinauf. »Ich muß die Lichter ausschalten, aber bewegen Sie sich nicht von der Stelle. Sonst finden wir uns nachher nicht wieder.« Es war ein undankbares Geschäft. Bevor ich die Türe aufstemmen und mich zum Lichtschalter hinarbeiten konnte, mußte ich den leblosen Körper ins Führerhaus zurückmanövrieren. Drinnen war der Benzingeruch noch 10
stärker, und das Atmen fiel mir immer schwerer. Trotzdem war ich schließlich am Lichtschalter und die ganze Umgebung plötzlich in undurchdringliche Finsternis getaucht. Über Angst hatte ich schon viel gelesen; es war ein Zustand, der mir nicht ganz bewußt war, weil ich ihn noch nie erfahren hatte. Ich glaube, daß jeder hin und wieder eine Schocksekunde hat, etwa zwischen dem Stolpern und dem Aufschlagen auf dem Boden; aber nie zuvor hatte ich so tiefe Angst empfunden. Sie füllte mich völlig aus, hinderte mich daran, etwas Logisches oder Vernünftiges zu tun und trieb mir den kalten Schweiß auf die Stirn. Irgendwo wurde von irgend jemand ein Streichholz entzündet. Ich hörte es ganz deutlich, das Schwefelköpfchen auf der Reibefläche, das spröde Aufflackern im Moment der Zündung. Ich schlug mir den Kopf an, als ich mich herauswand, um von dem Lastwagen und dem ganzen Benzin um mich herum wegzukommen. Dabei nahm ich das Geräusch von zerreißendem Stoff wahr, als mein Mantel an einem spitzen Metallteil hängenblieb. Die Hand des Mädchens auf meinem Arm beruhigte mich, als ich losrennen wollte, um in Deckung zu gehen. »Haben Sie das gehört?« preßte ich hervor. Sie starrte mich an. »Hier ist doch jemand, der Streichhölzer anzündet! Das Benzin …« Ich schluckte und versuchte, die Fassung zu bewahren. »Das müssen Sie sich eingebildet haben«, sagte sie ruhig. »Nein, das habe ich nicht. Es war ganz deutlich zu hören. Auf der anderen Seite des Lastwagens.« Für eine Weile standen wir da und riefen in die Nacht. Angestrengt lauschend erwarteten wir eine Antwort. Es kam nichts. Nur die kalte und tödliche Stille. »Vielleicht ist es Susan«, sagte sie.
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Sie führte mich weg vom Wrack die Straße hinauf. Ich wurde das Gefühl nicht los, daß ich sie auf irgendeine Weise enttäuscht hatte. Ich bat sie um Verzeihung, daß ich sie so erschreckt hatte, aber sie drehte sich um und sah mich ruhig an. »Ich sollte mich bei Ihnen entschuldigen, und zwar dafür, daß ich Sie in diese ganze Sache mit hineingezogen habe.« Während wir unseren Weg zurücktappten, dachte ich über das eben Gesagte nach. Es schien mir, als würden sich ihre Worte noch auf etwas anderes als nur den Unfall beziehen. »Ich konnte doch schlecht in meinem Wagen sitzenbleiben, während Sie direkt auf meiner Motorhaube in Ohnmacht fielen, oder?« »Das habe ich nicht gemeint.« Ich stellte keine weiteren Fragen, aber ich wußte, daß ich recht gehabt hatte. Hinter dem Unfall steckte noch eine andere Geschichte. In diesem Moment tauchte ihr Wagen in den Nebelschwaden auf, und unsere Unterhaltung war beendet. Sein Vorderteil hatte sich in einen Baum gegraben. Als wir uns die Sache näher ansahen, knirschten Glasscherben unter unseren Schuhen. »Könnten Sie es schaffen, die Autotür zu öffnen? Drinnen liegt nämlich eine Taschenlampe.« Ich drehte am Griff und plagte mich eine Weile mit dem verbogenen Metall herum. Schließlich gab es nach, und ich konnte die Tür aufdrücken. Nach einigem Umhertasten fand ich die Taschenlampe. Ich hoffte nur, daß sie funktionierte. Als die Glühbirne aufstrahlte, gab auch das Mädchen einen Seufzer der Erleichterung von sich. Ich nahm die Lampe vorsichtig heraus und hielt mich nicht länger damit auf, die Tür wieder zu schließen. Der Wagen war sowieso schrottreif. »Sie zeigen mir jetzt besser, wo sie liegt.« »Ich konnte sie aus dem Auto ziehen und sie an den Straßenrand bringen.«
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Sie führte mich herum und blieb so abrupt stehen, daß ich beinahe in sie gerannt wäre. »Susan«, rief sie zuerst leise, dann lauter: »Susan!« Ich leuchtete alles mit der Taschenlampe ab. Außer den überall herumliegenden Glasscherben war nichts zu sehen. »Vielleicht war sie es. Die die Streichhölzer angezündet hat, meine ich.« Sie schüttelte den Kopf. »Sie hatte eine fürchterliche Schnittwunde an der Stirn. Eine Menge Blut. Es war überall auf ihrem Gesicht und ihrem Pullover. Ich bin sicher, daß sie bewußtlos war.« »Aber es kommt doch hier nicht irgend jemand vorbei und bringt sie einfach fort«, warf ich ein. »Wohin auch? Wir sind mitten im Bezirk Barnes.« »Sie sagte mir, sie wohnt hier. Und zwar ganz in der Nähe.« Falls sie bemerkt hatte, daß ich sie neugierig ansah, so ließ sie es sich dennoch nicht anmerken. »Ich wollte gerade anhalten, als der Lastwagen über die Straße rutschte und uns voll erwischte.« »Wie aber kann sie hier wohnen? Das nächste Haus ist mit Sicherheit über eine Meile entfernt.« »Ich weiß. Wir – haben auch darüber gesprochen. Sie wollte nicht, daß ich sie bis vor die Haustüre bringe, ich andererseits wollte sie bei diesem Wetter nicht alleine nach Hause lassen. Ich bestand darauf, sie zu fahren.« »Und sie wollte, daß Sie sie hierher in den Barnes Bezirk fahren?« Das Mädchen nickte. Ich dachte für einen Moment nach. »Als ich Ihnen von der Sache mit dem Streichholz erzählte, sagten Sie, es könnte Susan gewesen sein. Und jetzt sagen Sie, daß sie mit Sicherheit bewußtlos gewesen sei und sich gar nicht habe bewegen können.«
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»Na ja, ich weiß es nicht«, sagte sie mit müder Stimme. »Der Doktor kann es nicht gewesen sein. Ich kenne diesen Teil des Bezirks. Es gibt kein einziges Haus in der Nähe.« »Was für ein Doktor?« »Ihr Großvater ist Doktor.« Ich lehnte mich an das Auto. »Ich wünschte, ich müßte Ihnen nicht alle Würmer einzeln aus der Nase ziehen«, sagte ich so behutsam wie möglich und versuchte, die Gereiztheit, die in mir hochstieg, zu unterdrücken. Ich wußte, sie war dem Zusammenbruch nahe. »Wenn ihr Großvater Doktor ist, so muß er es gewesen sein, der sie weggeschafft hat. Wahrscheinlich war auch er es, der das Streichholz angezündet hat. Die Frage ist, was wir als nächstes tun. Es ist doch sicher, daß er, sobald er Susan im Bett verstaut hat, zurückkommen wird, um nach Ihnen zu sehen.« Sie sagte: »Nichts auf dieser Welt ist sicher.« Es dauerte eine Weile, bis ich ihre Bemerkung verdaut hatte, und währenddessen mußte ich eine unwillkürliche Handbewegung gemacht haben. Im Schein der Taschenlampe leuchtete etwas auf, kaum fünf Meter entfernt. Es war offensichtlich kein Glas. Ich ging hinüber und hob ein kleines Schmuckstück aus Messing auf. An einer Seite war eine kleine Öffnung, in der noch das Stück eines zerrissenen schwarzen Bandes hing. Ich zeigte es dem Mädchen. »Das gehört Susan. Sie trug es um den Hals.« Ihre Stimme klang tonlos und war ohne jedes Gefühl. Ich wurde langsam wütend. »Es nützt überhaupt nichts, hier rumzustehen und über sie zu reden!« Sie sah mich scharf an. Ich war wohl auch etwas zu laut geworden. Hilflos zuckte ich mit den Achseln. »Sie können es mir nicht übelnehmen, daß ich langsam die Geduld verliere. Sie hören nicht auf, mysteriöse Bemerkungen zu machen, ganz so, als handle es sich hier um eine weitaus größere Sache als nur um einen schrecklichen Autounfall. Ein Mädchen, das hier mitten im Bezirk leben soll; sie kann sich 14
nicht bewegen, weil sie bewußtlos ist, und verschwindet, sobald Sie ihr den Rücken zugekehrt haben. Dieser Doktor, ihr Großvater! Warum diese ganze Geheimnistuerei?« »Ich kann Ihnen doch auch nicht mehr sagen, als ich selbst weiß.« »Aber es ist doch nur ein Autounfall. Oder was ist sonst noch los, am Himmels willen?« »Um ihr Verschwinden sollten wir uns schon Sorgen machen.« Wir schwiegen beide, und ich bot ihr eine Zigarette an. Da sie ablehnte, zündete ich mir selbst eine an. Im Schein des Feuerzeugs sah ich, daß ihr Tränen über die Wangen liefen. Die einzig logische Erklärung für mich war, daß sie einen Schock erlitten hatte, aber je mehr ich mit diesem Gedanken spielte, desto klarer wurde mir, wie unpassend dieser Erklärungsversuch war. Sie war weder nervös noch hysterisch, geschweige denn in Panikstimmung. Einige unerklärliche Dinge waren geschehen, und sie hatte sonderbare Bemerkungen fallen lassen. Da es nichts half, den Nebel durch Tabakrauch noch dichter werden zu lassen, schnippte ich die Zigarette wieder weg. Sie glimmte einen Moment auf und war dann erloschen. Als ich mich umdrehte, um dem Mädchen weitere Fragen zu stellen, wurde ich von einer Sekunde auf die andere starr vor Schreck. Die Schritte, die ich hörte, waren mehr ein Schleichen. Ich konnte ihn fast vor mir sehen, den Schleicher, wie er sich vorsichtig seinen Weg suchte, aber nicht nur wegen der miserablen Sichtverhältnisse. Mit voller Absicht wurde hier jedes laute Geräusch vermieden. Ich fühlte, wie die Finger des Mädchens meinen Arm berührten und sich dann um ihn klammerten. Beide drückten wir uns gegen den Unfallwagen und warteten. Ich schaltete die Taschenlampe aus. Die zunächst unklaren Umrisse eines Mannes kamen immer näher auf uns zu. Er trug einen Mantel, und unter seiner Pelzmütze kamen 15
seine grauen Haare zum Vorschein, die so lang waren, daß sie in seinem Nacken den Mantelkragen berührten. Er ging vornübergebeugt, suchte den Boden ab und hielt ein brennendes Streichholz in der Hand. Plötzlich blieb er so dicht bei uns stehen, daß ich nur drei Schritte benötigt hätte, um zu ihm zu gelangen. Ich sah, wie er sich bückte und etwas vom Bürgersteig aufhob. Es war meine Zigarette. Was mich am meisten fesselte, war das Zündholz, das er in der Hand hielt. Die Flamme blieb so unverändert hell und war so weiß, wie ich es nie zuvor bei einem anderen Streichholz gesehen hatte. Was mich aber noch viel mehr verblüffte, war die Tatsache, daß es offensichtlich nicht abbrannte. Langsam wandte er uns sein Gesicht zu, und der Griff des Mädchens um meinen Arm wurde noch fester. Er sah zuerst mich an und blickte dann auf das Mädchen neben mir. »Was machen Sie denn hier?« Unter den gegebenen Umständen war diese Frage von einer derartigen Lächerlichkeit, daß ich beinahe laut herausgeprustet hätte. Er stand auf und kam zu uns herüber, wobei er sein Streichholz etwas höher hielt. Ich hatte das Gefühl, es wäre nun an mir, etwas zu sagen. »Ein Mädchen ist schwer verletzt. Wir haben nach ihr gesucht.« Er nickte bedächtig. »Eine tragische Geschichte. Der Soldat im Lastwagen hat nicht überlebt. So wie Sie aussehen, junge Dame, sind auch Sie verletzt. Sie sollten im Bett sein.« »Nicht bevor ich Susan gefunden habe«, sagte sie leise, und der Alte warf ihr einen scharfen, fast erstaunten Blick zu. Ich konnte mich nicht länger zurückhalten. »Was ist denn eigentlich mit diesem Streichholz los? Es scheint überhaupt nicht abzubrennen.« 16
»Das ist nur eine kleine Erfindung von mir«, sagte er leichthin und wandte sich wieder meiner Begleiterin zu. »Was, sagten Sie, ist mit dem Mädchen passiert?« »Ich sagte Ihnen doch, daß sie verletzt ist. Ich habe sie hier auf dem Gehsteig zurückgelassen, als ich wegging, um Hilfe zu holen. Als wir zurückkamen, war sie verschwunden.« »Vielleicht hat sie es geschafft, allein nach Hause zu kommen?« »Das ist doch wohl sehr unwahrscheinlich«, bemerkte ich. Irritiert fuchtelte er in der Luft herum. »Ihr jungen Leute denkt zu wenig nach.« In seinen Augen blitzte so etwas wie bösartige Freude auf. »Vielleicht hat sie jemand aus ihrer Familie gefunden und nach Hause gebracht?« Ich konnte nicht verstehen, worüber er sich so amüsierte, noch weniger seine Art, die die ganze Angelegenheit noch mehr verschleierte. »Vielleicht hätten Sie die Freundlichkeit, uns suchen zu helfen«, bemerkte ich kühl. »Noch besser allerdings wäre es, wenn wir bei Ihnen zu Hause die Polizei anrufen könnten. Solange dieser ganze Schrott auf der Straße liegt, kann leicht noch ein anderer Unfall passieren.« »Um das Mädchen würde ich mir überhaupt keine Sorgen machen. Ich bin sicher, sie ist in guten Händen. Und was das Telefon betrifft, so befürchte ich, damit nicht dienen zu können. In meiner kleinen Hütte befindet sich gar keines.« Ich mußte mich sehr bemühen, die Beherrschung nicht zu verlieren. »Aber vielleicht hätten Sie für diese Dame wenigstens etwas Heißes zu trinken und einen Stuhl übrig. Sie haben doch selbst ganz richtig bemerkt, daß sie ebenfalls verletzt ist.« Er sah sie an, und seine Stimme klang plötzlich, als hätte er Kreide geschluckt. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals zuvor in meinem Leben etwas Verlogeneres gehört zu haben.
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»Das Problem ist nur, ich habe den Schlüssel verloren. Danach habe ich nämlich hier gesucht.« Er sah mir so direkt in die Augen, daß ich blinzeln mußte. »Sie haben ihn nicht zufällig gesehen, was? Haben Sie ihn nicht vielleicht aufgehoben? Er ist aus Messing. Es könnte sogar sein, daß noch ein kleines schwarzes Band daran befestigt ist.« Ich zog das Messingding aus meiner Tasche. »Ja, das hier habe ich gefunden.« Er streckte seine Hand danach aus, ich aber zog die meine zurück und sah das Mädchen an. »Aber Sie sagten doch, daß es Susan gehört?« Sie nickte. Ich wandte mich wieder dem Alten zu. »Offensichtlich hat sie es um den Hals getragen. Jetzt werde ich Ihnen einmal sagen, was ich von der ganzen Sache halte. Sie haben doch das Mädchen gefunden, oder? Und jetzt wollen Sie aus irgendeinem Grund dieses Ding haben. Alles andere interessiert Sie gar nicht, die verletzten Mädchen, der Unfall …« »Wollen Sie mir eine Lektion erteilen, wie man sich zu benehmen hat, junger Mann?« fragte er giftig. »Gewöhnen Sie sich das schnell wieder ab. Es befindet sich etwas in Ihrem Besitz, das Ihnen gar nicht gehört. Bitte geben Sie es her.« »Jawohl, es gehört jemand anderem. Und dieser Jemand sind Sie ja nun nicht. Haben Sie das junge Mädchen irgendwo hingebracht?« Meine drei letzten Worte wurden genauso wie der Alte vom Nebel verschluckt, denn er hatte auf dem Absatz kehrtgemacht und war verschwunden. Ich warf dem Mädchen einen flüchtigen Blick zu und bemerkte ihre Unentschlossenheit, aber ich hatte keinerlei Lust, alles in diesem Nebel der Ungewißheit zu belassen. Ich packte sie bei der Hand, und wir rannten hinter dem Alten die Straße entlang. Sie folgte mir, ohne zu protestieren. Schon nach ein paar Sekunden konnten wir seine Schritte nicht mehr hören und gingen etwas langsamer. Ich leuchtete mit der Taschenlampe die Umgebung ab und 18
erkannte im Lichtkegel etwas Viereckiges, eine Art kleine Hütte, die etwas abseits der Straße in der Wiese stand. Wir gingen darauf zu, und schließlich starrten wir beide, das Mädchen und ich, auf eine Telefonzelle. »Das hilft uns fürs erste weiter«, murmelte ich. Das Problem war nur, ich bekam die Tür nicht auf. In namenloser Wut trommelte ich mit den Fäusten gegen die dicke Scheibe. »Aber das Ding sollte doch wirklich offen sein«, sagte ich verärgert. »Wozu sind sie denn da, wenn man im Notfall nicht mal an den Apparat kommt!« Sie sagte: »Was macht das Ding überhaupt hier in dieser verlassenen Gegend?« Ich hielt die Taschenlampe voll auf ihr Gesicht. »Ich kümmere mich einen Dreck um verschwundene Mädchen, um schrullige, alte Männer und auch nicht darum, wo die Post ihre Telefonhäuschen installiert.« Ich holte tief Luft, versuchte, meine Ruhe wiederzugewinnen, und schaffte es schließlich, wieder etwas vernünftiger zu werden. »Alles, was ich will, ist doch, diese Sache hier aufzuklären und nach Hause zu gehen.« »Es tut mir ja leid.« Ich sagte eine Weile gar nichts, denn ich hatte wirklich Angst, endgültig die Geduld zu verlieren. Schließlich war das alles nicht ihre Schuld. In diesem Moment hörte ich einen Zweig knacken, und als ich mich umdrehte, kam im Lichtbogen der Taschenlampe der Alte auf uns zu. »Wie ich sehe, haben Sie die Telefonzelle gefunden«, erklärte er freundlich. Ich starrte ihn eine Weile an und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. »Und wenn sie offen wäre, würde ich eine Polizeistreife rufen, die Sie ein bißchen zur Vernunft bringen könnte.« »Aber, aber, nun beherrschen Sie sich doch etwas! Sie ist verschlossen. Das ist allerdings außergewöhnlich.« 19
Seine ganze Art war plötzlich so freundlich, daß ich an unsere vorhergehende Begegnung gar nicht mehr so recht glauben wollte. Er kam herüber und musterte das Mädchen neben mir. »Dieses schreckliche Wetter ist ja nicht gerade gut für Sie. Und das Blut auf Ihrem Kostüm ist auch nicht sehr kleidsam. Sie haben doch sicherlich einen Wagen?« Ich konnte nur nicken, da mich sein vollkommen verändertes Benehmen sprachlos machte. Er rieb sich nachdenklich das Kinn. »Ich schlage Ihnen folgendes vor. Sie bringen die junge Dame zum Wagen zurück und versuchen, es ihr so bequem wie möglich zu machen. Und Sie kommen mit einem Stemmeisen oder etwas Ähnlichem hierher zurück, und wir versuchen dann, diese Tür zu öffnen. Wäre das nicht das Beste?« »Na gut«, sagte ich etwas widerstrebend und wandte mich an das Mädchen. »Wenn Sie einverstanden sind.« Sie nickte. Der Alte rieb sich die Hände und strahlte uns an. »Großartig! Der richtige Plan und die richtige Methode, es gibt nichts Besseres. Also los geht‹s! Und kommen Sie mir schnell mit dem Stemmeisen zurück, klar?« Wir gingen los. Ich mußte das Mädchen stützen, denn sie stolperte immer wieder über die Unebenheiten des Bodens. Ich wurde das Mißtrauen ihm gegenüber nicht los, und je mehr ich über seinen plötzlichen Scharfsinn nachdachte, desto tiefer wurde es. Ich blieb stehen und fühlte, wie das Mädchen mich ansah. Sie mußte meine wachsende Überzeugung, daß wir hereingelegt worden waren, an meinem Gesichtsausdruck bemerkt haben. Sie drehte sich ebenfalls um, und als ich ihre Überraschung bemerkte, schaute ich ebenfalls zurück. Der Alte hielt in der einen Hand das Streichholz, das noch keinen Millimeter weiter abgebrannt war, und in der anderen einen glitzernden Metallsplitter. Er steckte das Metallteil in das Schloß der Telefonzelle, und die Tür sprang auf. Im selben 20
Moment drehte er sich um und sah in unsere Richtung. In seinem Blick lag eine Mischung aus durchtriebener Schlauheit und Triumph, und trotzdem schien er sich ertappt zu fühlen. Ich rannte zu ihm und packte ihn an der Schulter. Die Tür öffnete sich Stück für Stück, und hinter ihr leuchteten helle Strahlen auf. Ich sprang den Alten an, und wir fielen beide zu Boden. Er schnauzte mich an, ich solle mich nicht in seine Angelegenheiten mischen, aber seine Worte hinterließen keinen sonderlichen Eindruck auf mich. Ich konnte nur noch an dieses Häuschen denken, das, ganz egal, wie auch immer es von außen aussah, sicherlich keine Telefonzelle war. Aus dem Augenwinkeln heraus verfolgte ich, wie das Mädchen an mir vorbei und auf die offene Tür zuging. »Halten Sie sie auf, gehen Sie nicht durch diese Tür!« schrie er verzweifelt. Dann vernahm ich noch eine andere Stimme. »Großvater!« sagte sie. Das Mädchen blieb vor der offenen Tür stehen. »Susan, Susan! Bist du da drinnen?« Sie drehte sich um und sah mich an. Ich konnte den Alten für einen Moment ruhighalten. »Er muß sie hier herein gebracht haben.« Dann ging sie durch die Tür. Der Alte heulte vor Wut auf und riß sich von mir los. Doch gerade, als wir uns vom Boden aufrappeln wollten, erreichte uns der Schrei aus der Telefonzelle. Er war als erster auf den Beinen, aber ich versetzte ihm einen solchen Stoß, daß er taumelnd hinfiel. Ich rannte zur Zelle und dann durch die Tür. Drinnen empfing mich ein derart grelles Licht, daß ich vor Schmerz die Augen verdrehte und die Hände vors Gesicht schlug. Und dann ging alles sehr schnell. Ich stolperte über etwas und fiel der Länge nach hin, wobei mein Kopf mit enormer Wucht auf den Boden aufschlug. Völlig benommen versuchte ich, wieder auf die Beine zu kommen. Ich verlor nur deshalb nicht das Bewußtsein, weil ich mich an diesen markerschütternden Schrei erinnerte. Vorsichtig öffnete ich 21
meine Augen, in der Hoffnung, die Intensität des Lichts hätte nachgelassen. Der Anblick, der sich mir bot, ernüchterte mich mehr als ein Kübel kaltes Wasser über den Kopf. Das grelle Licht hatte sich auf die Intensität einer normalen elektrischen Beleuchtung abgeschwächt. Dennoch konnte ich nirgends Glühbirnen oder irgendwelche anderen Lichtquellen erkennen. Die enorme Größe des Raums versetzte mir den ersten Schock. Dies hier ist nur eine Telefonzelle, sagte ich mir immer wieder. Eine Zelle, die höchstens zwei oder drei Menschen Platz bot. Ich blieb in der Hocke sitzen, um mich etwas auszuruhen, und sah mich um. Der Raum, in dem ich mich befand, war etwa sechs Meter hoch und hatte die Länge und Breite eines Restaurants durchschnittlicher Größe. Meiner Schätzung nach hätten etwa fünfzig Tische Platz gehabt. In seiner Mitte befand sich ein sechseckiges Schaltpult, dessen sechs Armaturen mit verschiedenfarbigen Griffen und Schaltern, Anzeigen und Knöpfen versehen waren. In der Mitte des Pultes wiederum stand eine Glassäule, die in regelmäßigen Abständen Lichtimpulse aussandte. Die glatte Fläche der Wand war durchsetzt mit runden Gebilden, deren Regelmäßigkeit wieder von Apparaturen unterbrochen war, die flackernde Lichter enthielten. In einer Ecke machte ich etwa zwanzig Tonbandspulen aus, die sich hektisch vor- und zurückbewegten. Dazwischen zeichnete dieselbe Anzahl von Oszillographen zackige Kurven auf vorüberlaufende Papierrollen. Um diesen Alptraum noch zu verschlimmern, waren im ganzen Zimmer Möbelstücke plaziert, die mir als perfekte Kopien von Antiquitäten erschienen. Hier befand sich ein zauberhafter Chippendale, dort ein Sheraton-Stuhl. Auf einem geschnitzen Sockel stand in elegantester Ausführung eine Ormulu-Uhr, und auf einem anderen Marmorsockel war eine Büste Napoleons aufgestellt. Vielleicht hatte ich mir wirklich den Kopf ein bißchen zu heftig angeschlagen, dachte ich mir. Ich bin in der Telefonzelle 22
umgefallen und bilde mir das alles nur ein. Abwechselnd öffnete und schloß ich meine Augen, aber es änderte sich nichts. Statt dessen nahm ich die Umrisse eines Mädchens wahr, das mich ansah. Sie hatte dunkle Augen und einen etwas verstörten Gesichtsausdruck. An ihrer Kleidung fiel mir nichts Besonderes auf, sie trug dunkle Skihosen und Stiefel und einen kirschroten Pullover. Um ihre Stirn hatte sie allerdings ein auffälliges Band geschlungen. Es war rotgelb gestreift und verlieh ihrem Aussehen etwas Piratenhaftes. Ich versuchte ein Lächeln, obwohl mir der Kopf immer noch von dem Aufprall schmerzte. »Jetzt weiß ich, daß ich träume«, flüsterte ich schwach. Hinter meinem Rücken konnte ich ein Summen hören. »Schließ die Tür, Susan!« Es war die Stimme des Alten. Das junge Mädchen gehorchte, ging zum Schaltpult und kippte einen Hebel. Das Summen wurde stärker, und ich drehte mich so schnell wie möglich um. Die Flügeltüren schlossen sich hinter dem alten Mann. Vor ihm war das Mädchen, das ich im Nebel getroffen hatte. Sie lag der Länge nach auf dem Boden und hatte außerdem einen Schuh verloren. Der Alte nahm sie kurz in Augenschein. Das Mädchen, das offensichtlich Susan war, ging an mir vorüber und kniete sich neben die am Boden Liegende. »Ist mit Barbara alles in Ordnung?« Der Alte zuckte mit den Achseln. »Bewußtlos. Aber ihr Puls ist stabil. Wir müssen uns um ihre verletzte Schulter kümmern.« »Und wer ist eigentlich der da?« – »Der da« war ich. Beide sahen mich nachdenklich an, und das Mädchen fuhr fort: »Er war nicht bei uns im Wagen.« »Deine Lehrerin hat ihn nach dem Unfall auf der Straße getroffen«, erwiderte der Alte. »Ich bin sehr verärgert über diese ganze Geschichte, Susan. Du hättest dich niemals von Miß Wright hierherfahren lassen sollen.« 23
»Ich konnte es nicht verhindern, Großvater. Sie bestand darauf.« »Dann hättest du besser bei ihr in der Wohnung übernachten sollen. Ich bin mir sicher, sie hätte dir ihre Couch und eine Decke angeboten, und du weißt, daß ich mir keine Sorgen gemacht hätte.« Das Mädchen entgegnete: »Aber dann hätte ich mich um dich gesorgt.« Der Alte kam herüber und stellte sich vor mich hin. »Nun, jetzt haben wir noch jemanden, um den wir uns kümmern müssen.« Mir wurde schwarz vor Augen. Der Schlag gegen meinen Kopf war anscheinend doch heftiger gewesen, als ich zunächst gedacht hatte. Die schwarze Wolke begann, mir den Kopf zu vernebeln. Meine Augenlider wurden schwer wie Blei, und mein Kopf fiel vornüber. Der alte Mann kniete sich neben mich, nahm mein Kinn und hielt so meinen Kopf hoch. Mir begannen alle Kräfte zu schwinden. Ich hätte nicht einmal meinen kleinen Finger rühren können, um ihn an irgend etwas zu hindern, selbst wenn er mich geschlagen hätte. »Er wird ohnmächtig. Er hat eine Beule so groß wie ein Golfball am Kopf.« Mir schwanden nun vollends die Sinne. Ich hatte das schreckliche Gefühl, in einen unendlich tiefen Brunnen zu fallen. Die Stimme des Alten klang, als wäre er weit weg von mir. »Die Sache ist die, kann ich sie nun einfach gehen lassen? Ich glaube nicht. Ich muß sie wohl beide mitnehmen.« In diesem Augenblick wurde ich ganz bewußtlos.
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Gefangene des Alls Ich stand in einem Metallzylinder; es war so heiß, daß mir der Schweiß über Stirn und Gesicht lief. Alles war pechschwarz, aber irgendwo über mir wurde gerade eine runde Eisenluke geöffnet. Ich konnte einen ganz schwachen Lichtpunkt erkennen und die Silhouette eines Menschen, der zu mir herabstieg. Irgend etwas sagte mir, daß dieser Mensch nervös war. »Lassen Sie das Licht nicht fallen«, rief ich. »Was Sie auch machen, lassen Sie es nicht los!« Ich sah, wie das Licht aus seiner Hand fiel und auf mich zukam. Es wurde größer und größer, bis sein Glanz den ganzen Zylinder über mir ausfüllte. Es blendete derart, daß mir die Augen schmerzten, und ich wußte, es konnte mir den Verstand rauben. Als ich erwachte, umgab mich sanfte Zimmerbeleuchtung. Der Schweiß verwandelte sich in kleine Wassertropfen, die aus einem nassen Tuch auf meiner Stirn rannen. Das Mädchen mit dem Namen Susan saß neben mir und lächelte mir aufmunternd zu. »Ich wußte, Sie würden es schaffen. Barbara hat sich große Sorgen um Sie gemacht.« Barbara. Das Mädchen im Nebel. Der alte Mann. Die Erinnerung kam langsam zurück; gleichzeitig spürte ich in meiner linken Gehirnhälfte einen stechenden Schmerz. Das Mädchen wrang das Tuch aus und legte es wieder auf meine Stirn. »Ich heiße Susan. Jetzt, da wir längere Zeit zusammenbleiben werden, sollten wir uns schon bekanntmachen.« »Passen Sie auf mich auf?« 25
»Sie können tun und lassen, was Sie wollen. Sie können auch hingehen, wohin Sie wollen, innerhalb der Tardis«, erwiderte sie ernst. »Na, dann vielen Dank. Was soll das sein, die Tardis?« Susan machte nur eine vage Handbewegung. »Dies hier. Ich habe den Namen aus Anfangsbuchstaben zusammengesetzt.« Sie wechselte das Tuch auf meiner Stirn und erwartete offensichtlich meine Frage, welche Anfangsbuchstaben sie meinte. Ich stellte diese Frage absichtlich nicht. Ich wußte, daß sie es mir erklären würde. Dann drehte sie den Verschluß einer orangefarbenen Tube ab. Sie drückte etwas vom Inhalt, einer dicken braunen Paste, auf ihren Zeigefinger und rieb damit die wunde Stelle an meinem Kopf ein. »Das brennt jetzt ein bißchen, aber die Beule wird in einer halben Stunde verschwunden sein.« Es brannte mehr als nur ein bißchen. Das Wasser schoß mir in die Augen, aber der pulsierende Schmerz ließ nach. Solange ich mir über meinen Zustand nicht ganz klar war, versuchte ich wenigstens, so gelassen wie möglich zu bleiben. Der Raum war klein, aber die Wände glichen denen des Raums, den ich erblickt hatte, als ich die Telefonzelle betreten hatte. Es gab dieselben Kreise an der Wand und keinerlei Anzeichen von Beleuchtung, obwohl es hell war wie der lichte Tag. Das Bett, auf dem ich lag, hatte eine weiche Schaumstoffmatratze und hatte insgesamt Ähnlichkeit mit einem Liegestuhl, nur daß er unter meinen Knien gebogen war. Ich sah das Mädchen an und ertappte sie dabei, wie sie mich beobachtete. »Mein Großvater wird Ihnen alles erklären«, sagte sie. »Ich werde ihm jetzt lieber sagen, daß Sie aufgewacht sind.« Sie stand auf, und die Glastüre verschwand seitlich in der Wand, als sie sich auf den Gang zubewegte.
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Ich verkrallte meine Hände ineinander, so fest ich konnte. Eigentlich war ich ja nur in eine Telefonzelle gerannt. Was hier nun passierte, gefiel mir gar nicht. Sie drehte sich noch einmal um und sah mich an. »Ich hoffe nur, Sie haben die Stelle bei Donneby‹s nicht bekommen, um die Sie sich beworben hatten.« Ich starrte sie für einen Augenblick nur an und schüttelte dann den Kopf. Sie blickte erleichtert, ganz so, als wäre sie von einem lästigen Problem befreit worden, und ging nach draußen. Ich nahm das Tuch von meiner Stirn und trocknete mir damit die Tränen. Das Brennen auf meiner Beule hatte zwar aufgehört, aber gleichzeitig spürte ich eine schwere Müdigkeit in allen Gliedern. Jetzt bemerkte ich, daß ich weder meinen Mantel noch die Jacke meines Anzugs trug. Man hatte mir auch die Schuhe ausgezogen. Ich wollte aufstehen, aber mein Körper gehorchte mir nicht. Mit dem festen Vorsatz, es in einigen Augenblicken noch einmal zu versuchen, sank ich wieder auf das Bett zurück. Doch in diesem Moment kam der Alte ins Zimmer, gefolgt von Susan und dem Mädchen, das sie Barbara genannt hatten. Sie sah blaß, aber gefaßt aus, eilte direkt zu mir herüber, setzte sich an das Bett und nahm meine Hand. »Wie geht es Ihnen?« »Ich fühle mich ein bißchen schwach. Was wird hier gespielt?« Sie wich meinem Blick aus, so, als hätte sie ein schlechtes Gewissen. In der Zwischenzeit hatte Susan einen der Kreise an der Wand geöffnet und aus einer dahinterliegenden Kammer drei Hocker entnommen. Auf den einen setzte sich der Alte, Susan auf den anderen, aber Barbara blieb, wo sie war. »Der Doktor wird Ihnen jetzt alles erklären«, sagte sie. Unsere Blicke trafen sich, als ich mich ihm zuwandte. Auch ohne seinen Mantel und seine Pelzmütze schien er immer noch so gekleidet zu sein, als lebte er in einer anderen 27
Epoche. Er trug eine gesteppte, mit schwarzer Seide eingefaßte schwarze Jacke und altmodische, enge Hosen mit Schachbrettmuster. Er hatte sogar Gamaschen an, und sein Schlips wurde von einer Krawattennadel aus Perlmutt gehalten. Seine langen grauen Haare machten seine Erscheinung perfekt. Daß er die exzentrischste Kleidung trug, konnte ihm natürlich niemand verbieten, aber das Ganze paßte überhaupt nicht in diese ultramoderne Umgebung. Er klemmte sich den Zwicker auf die Nase und zog aus seiner Jacke eine Brieftasche sowie einige andere Papiere. Ich war gar nicht in der Lage, vor ihm das Wort zu ergreifen, obwohl er all die Sachen aus meiner Jacke genommen hatte, ohne mich vorher zu fragen. Ich war einfach noch zu schwach. »Ian Chesterton.« Er warf mir über den Rand seines Zwickers einen Blick zu und begann in den Papieren und Briefen zu blättern. »Sie sind also Lehrer mit wissenschaftlichem Abschluß. Ich nehme an, Sie sind nicht gerne Lehrer. Das läßt Ehrgeiz vermuten. Spät, aber immerhin.« Ich hatte fast den Eindruck, als rümpfe er die Nase über die Art, wie ich mein Leben gestalte. Ich war weder wütend noch verärgert, obwohl es mir andererseits nicht ganz gleichgültig war. Plötzlich lächelte er mich an. Es gibt Männer um die Sechzig, deren Lächeln nichts an ihrem Alter verändert, andere wiederum macht es jünger. Wenn ich sein Alter richtig schätzte, machte ihn das Lächeln um zwanzig Jahre jünger. Es überraschte mich, wie gut mir seine Freundlichkeit tat. Außerdem nahm es mir etwas von meiner Furcht und Sorge um meine Gesundheit. Es ist nicht einfach, Dinge zu akzeptieren, die außerhalb unseres Erfahrungsbereiches liegen, und nicht den Verdacht zu hegen, verrückt zu sein. »Chesterton, Sie haben Qualitäten, die ich an Ihnen bewundere«, bemerkte er jovial. »Vielleicht erweist sich meine voreilige Entscheidung als Segen. Ich bin froh, daß Sie nicht zu 28
denen gehören, die einen Haufen dummer und lächerlicher Fragen stellen. Sie können warten, bis man Ihnen die Tatsachen mitteilt. Ein anderer glücklicher Umstand ist, daß Sie ein Student der Wissenschaften sind; das läßt auf logisches Denkvermögen schließen. Können Sie sich vorstellen, wo Sie sich befinden?« »Keine Ahnung. Und mir wäre lieber, Sie würden mich nicht so über den Klee loben. Ich habe nämlich jede Menge Fragen.« Er fuchtelte wieder in der Luft herum. »Aber das ist doch die natürlichste Sache der Welt, junger Mann. Ich muß Sie langsam bei uns einführen, Schritt für Schritt.« Er verschränkte seine Beine und tippte sich mit seinem Zwicker ans Kinn. »Ich will Sie einmal in eine hypothetische Situation versetzen. Nehmen wir einmal an, Sie befinden sich als Spion in einem fremden Land. Sie haben ein geheimes Versteck, in dem Sie alle möglichen Dinge aufbewahren, über die Bescheid zu wissen auch für die gewöhnlichsten Menschen äußerst gefährlich wäre. Eines Tages wird Ihr Versteck entdeckt, durch Zufall, von einem völlig arglosen Zeitgenossen. Was machen Sie dann?« Ich spürte, wie Barbara meine Hand fest in die ihre nahm. »Haben Sie etwas Geduld«, sagte sie leise. »Oh, das ist schon in Ordnung. Soweit ich das Ganze beurteilen kann, wird es schon irgendeinen Sinn ergeben.« Ich wandte mich dem »Doktor«, wie sie ihn genannt hatte, zu. »Ich müßte mein Versteck aufgeben.« »Weil Sie das Licht der Öffentlichkeit scheuen.« Das verstand ich. »Wenn aber nun das Versteck eine aeronautische Maschine ist …« »Raumschiff, Großvater«, unterbrach ihn Susan. Sie bat ihn unmerklich um Verzeihung, als er ihr daraufhin einen
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stechenden Blick zuwarf. Der Alte schenkte seine Aufmerksamkeit wieder mir. »Nun, wo war ich stehengeblieben? Ach ja, unser Versteck ist ein Raumschiff. Es ist entdeckt worden. Was würden Sie machen?« »Sollte man es nicht zerstören?« »Und sich die Möglichkeit zur Flucht nehmen? Sicherlich nicht. Würden Sie nicht fortfliegen?« Natürlich war ich derselben Meinung. »Gut. Wir machen Fortschritte. Nun zu diesen unschuldigen Leuten, die über Ihr Versteck gestolpert sind. Was geschieht mit ihnen?« Ich wußte die Antwort, denn der Vergleich war kindisch einfach, auch wenn er natürlich etwas hinkte. »Ich müßte sie wohl mitnehmen«, sagte ich langsam. Der Doktor rieb sich zufrieden die Hände. »Ausgezeichnet, Chesterton! Diese unschuldigen und unerwünschten Entdecker könnten diese Neuigkeit doch überall herumerzählen, oder? Jawohl, Sie müßten sich wohl wirklich dazu entschließen, sie mitzunehmen, auch wenn es für Sie unbequem sein sollte.« »Oder für die anderen«, versetzte Barbara. Nach einer kleinen Weile bemerkte ich: »Es läuft also alles darauf hinaus, daß Sie eine Art Raumschiff besitzen und uns einfach mitnehmen werden.« Er nickte heftig: »Sie haben es erfaßt, Chesterton. Meine Enkelin und ich sind natürlich keine Spione, wie Sie sich denken können.« »Natürlich sind Sie das nicht.« So lange ich derart schwach war, konnte man diese Plauderei von mir aus ewig fortsetzen. »Wir haben allerdings triftige Gründe dafür, zu verhindern, daß die Bewohner Ihrer Erde etwas von unserer Existenz erfahren.« »Die Bewohner meiner Erde?« 30
Er sah kurz zu Susan hinüber. Jetzt fehlte nur noch die größte aller Lügen, dachte ich. Und da ist sie schon. »Meine Enkelin und ich kommen aus einer anderen Welt. Sie und Ihre Begleiterin befinden sich momentan auf meinem Schiff, der Tardis, und dieses Schiff besitzt die Fähigkeit, in die vierte und fünfte Dimension einzudringen: Zeit und Raum.« Ich war sprachlos. Barbaras Hand verkrampfte sich um meine. Sie war von den Worten des Alten wie versteinert, was ich ihr nicht verdenken konnte. Ich konnte mir auch was Lustigeres vorstellen, als mir mit einem Verrückten im Delirium die Zeit zu vertreiben. Nach einer kleinen Pause fuhr er fort: »Die junge Dame neben Ihnen, ihr Name ist übrigens Barbara Wright, habe ich als Lehrerin für Susan engagiert. Ich wollte, daß sich Susan mit den Sitten und Gebräuchen Englands im zwanzigsten Jahrhundert so vertraut wie möglich macht. Darüber hinaus verhehlte mir Susan nicht, daß sie ein gewisses Interesse für den liberalen Lebensstil der jungen Leute heutzutage hegt.« Der Doktor stand langsam auf, sah auf mich herab und fingerte bedächtig an seinem Zwicker herum. »Wir sind Reisende, Chesterton, Susan und ich. Getrennt von unserem eigenen Planeten, und Millionen und Abermillionen von Jahren entfernt von unserer Zeit.« Der glaubt das tatsächlich selbst, dachte ich bei mir. Als er seinen Blick von mir abwandte, erkannte ich echte Traurigkeit in seinen Augen. »Es wird der Tag kommen, an dem wir zurückkehren werden.« Susan stand von ihrem Hocker auf und umarmte ihn. Die meinen das wirklich ernst, sagte ich mir. Es sind keine Schauspieler, es ist ihr bitterer Ernst. »Eines Tages kehren wir zurück, Großvater.«
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Er streichelte liebevoll ihren Kopf, trat dann etwas zur Seite und sah dann zu Barbara und mir herüber. »Sie sind in mein Schiff hereingeplatzt, und ich mußte schnell entscheiden, was zu tun ist.« »Ich habe alles getan, um ihn davon zu überzeugen, Sie beide gehen zu lassen«, sagte Susan, und ich bemerkte, wie das Mädchen neben mir wieder ruhiger atmete. Sie wird doch nicht glauben, was die uns hier auftischen, dachte ich. Dann sprach der Doktor wieder. »Aber sie konnte mich nicht überreden. Ich habe die Tardis startklar gemacht und die Erde verlassen. Zum jetzigen Zeitpunkt möchte ich eigentlich nur noch auf eine Sache zu sprechen kommen.« Ich hob neugierig die Augenbrauen. »Oh, nur auf eine Sache?« Der Doktor blickte mich einen Moment unverwandt an. »Sogar auf Ihrem Planeten gibt es, glaube ich, die Regel, die besagt, daß es auf einem Schiff nur einen Kapitän geben kann. Zweifellos können Sie sich, Susan hat es schon erwähnt, auf der Tardis frei bewegen. Allerdings müssen Sie meinen Befehlen ohne Wenn und Aber Folge leisten, und zwar jederzeit.« Ich fühlte mich immer noch sehr schwach, aber ich wollte versuchen aufzustehen, schwang meine Beine über die Bettkante und erhob mich, Barbara an meiner Seite. Vielleicht sah ich etwas mitgenommen aus, denn ich spürte Barbaras Hand stützend unter meinem Arm. Darüber war ich eigentlich ganz froh, denn meine Beine waren etwa so standfest wie Gummibänder. Und dann legte ich los: »Jetzt werde ich Ihnen mal sagen, was ich darüber denke. Als ich durch die Tür rannte, war ich von dem blendenden Licht völlig überrumpelt. Ich nehme an, wir sind dann durch eine Art Falltüre hinabgestürzt. Dies hier ist irgendein Keller oder eine unterirdische Höhle, die Sie 32
entdeckt haben. Und die haben Sie mit allerlei Gerümpel und Firlefanz vollgestopft, damit alles zu Ihrem Märchen paßt.« Ich mußte mich wieder setzen. Es hatte keinen Sinn, sich so aufzuregen. Was mich am meisten überraschte, war das Verhalten des Mädchens. Sie sah mich an und schüttelte langsam den Kopf, als wollte sie sagen, daß ich im Unrecht war. Ich machte es mir auf dem Bett bequem, so gut es ging und ignorierte sie. »Bitte rufen Sie uns ein Taxi, das uns beide nach Hause bringt. In meinem Zustand kann ich nicht fahren.« Ein Gedanke durchfuhr mich, und ich sah den Alten erschreckt an. »Sie haben doch hoffentlich die Polizei angerufen und über den Unfall informiert, oder?« »Chesterton, so glauben Sie mir doch. Vergessen Sie Ihren Planeten. Wir befinden uns bereits in einem anderen Abschnitt des Universums.« Er machte auf dem Absatz kehrt und ging hinaus. Susan folgte ihm, sah sich aber noch einmal nach uns um, bevor sie durch die Tür ging. »Es ist alles wahr, Mr. Chesterton, jedes Wort.« »Es ist eine Menge lächerlicher Unsinn«, erwiderte ich verärgert. Nun kam mir wirklich langsam die Galle hoch. Susan sah Barbara nur verzweifelt an. »Sagen Sie es ihm. Aber bringen Sie es ihm schonend bei.« Sie drehte sich um, folgte ihrem Großvater, und die Tür glitt hinter ihr zurück in ihre ursprüngliche Position. Barbara schlich sich von mir weg, setzte sich auf einen Hocker und sah mich nicht einmal an. »Wenn Sie mir fünf Minuten Zeit geben, bin ich wieder auf den Beinen. Dann verschwinden wir aus diesem Irrenhaus.« »Ich befürchte, das wird nicht gehen.« »Würden Sie mit mir irgendwo zu Abend essen? Verdient hätten wir‹s wohl.« Sie drehte mir noch immer den Rücken zu, still und nicht bereit, mit mir zu sprechen. Ich betastete meine Stirn. Die 33
Beule war völlig verschwunden. Was auch immer es gewesen war, die Behandlung mit der Paste zeigte schnell Wirkung. Ich testete meine Beine, und sie fühlten sich schon wieder etwas kräftiger an. Ich konnte aufstehen, ohne daß mir schwindelig wurde. Ich wagte ein paar Schritte, immer nahe an der Bettkante, nur für den Fall eines Falles, aber es machte mir keine Schwierigkeiten mehr. Plötzlich spürte ich Barbaras Blick auf mir. Ich ging hinüber und setzte mich auf den Hocker neben ihr. »Aus irgendeinem Grund glauben Sie dem Alten, oder?« »Es gibt keine logische Erklärung dafür«, sagte sie bedächtig. »Hier passiert etwas, das wir mit unserem Verstand nicht erfassen können. Wir müssen es akzeptieren.« »Ich muß überhaupt nichts akzeptieren. Was, um Himmels willen, hat er nur mit Ihnen gemacht? Hören Sie, das Mädchen ist wohlauf. Lassen Sie uns von hier verschwinden. Überlassen wir die beiden ihren wirren Phantasien. Ein paar hundert Meter von hier steht mein Wagen. Ich kann Sie nach Hause bringen.« Sie schüttelte nur langsam den Kopf und wandte sich dann wieder von mir ab. Der Alte hat sie wirklich überzeugt, dachte ich bei mir. Sie stand von ihrem Hocker auf, ging zur Glastür und sah hindurch. Mir fiel auf, daß sie sich diesmal nicht öffnete. »Ich würde Ihnen gerne erzählen, wie diese ganze Sache bei mir angefangen hat.« Sie drehte sich um und sah mich fragend an. »In Ordnung, wenn es mir eine Erklärung dafür liefert, warum Sie dem alten Mann glauben.« Sie lehnte sich gegen die Glastür. »Vor etwa vier Monaten gab ich in einer der regionalen Zeitungen folgende Anzeige auf: ›Gebe Fachunterricht in Geschichte und Geographie, aber auch in anderen Fachgebieten. Auch Einzelunterricht.‹ Sie kennen das ja. Ich hatte die Nase voll von meinem Job als Sekretärin in einem 34
Büro, und auf diesen Gebieten kannte ich mich wirklich gut aus. Ich dachte, es könnte der Start in eine interessantere Zukunft sein. Ich spielte auch mit dem Gedanken, eine eigene Schule zu eröffnen, denn ich hatte früher schon viel unterrichtet. Einfach eine Arbeit, die mich mehr ausfüllte und so weiter.« Ein kurzes Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Ich bekam nur eine Antwort. Ich wurde gebeten, eine bestimmte Telefonnummer anzurufen. Das tat ich und sprach mit Susan. Sie stellte sich mir als Susan Englisch vor und erzählte mir, daß ihr Großvater ihr gerne Unterricht in englischer Geschichte bezahlen würde. Jeden Tag von zehn bis vier, außer Samstag und Sonntag. Ich wollte ihren Großvater treffen, um mit ihm über das Ziel dieses Unterrichts zu sprechen. Wollte sie den Hochschulabschluß? Warum ging sie nicht auf ein Abendgymnasium? Wie würde mein Gehalt ausfallen und all diese Dinge. Susan sagte mir, daß ich ihren Großvater nicht treffen könne, da er zu sehr mit seinen Forschungen beschäftigt sei, daß das Ziel des Unterrichts die Förderung der Allgemeinbildung sei und daß ich zwanzig Pfund die Woche erhalten würde.« Ich starrte sie an. »Dann wundert es mich nicht, daß Sie angenommen haben.« »Nun, es war nicht nur das Geld, obwohl der Betrag phantastisch war. Ich sagte Susan beinahe jede Woche, daß dies zu viel Geld sei, aber sie lachte nur und meinte, ihr Großvater sei sehr reich.« »Was hatte sie denn vorher für eine Ausbildung?« »Das habe ich sie auch gefragt. Sie sagte nur, daß sie viel auf Reisen gewesen wäre. Tatsache war, daß sie mir auf meine Fragen nie klare Antworten gab.« »Aber in vier Monaten müssen Sie doch irgend etwas Definitives herausgefunden haben«, widersprach ich. »Ab und zu ist ihr etwas herausgerutscht. Sie hatte ihre Eltern lange nicht gesehen; sie war nie zuvor in England 35
gewesen; solche Kleinigkeiten eben. Ich bin niemals weit gekommen, weil sie mir an den entscheidenden Stellen immer auswich.« Sie kam wieder von der Glastür zurück und nahm auf einem der Hocker mir gegenüber Platz. »Es war der Geschichtsunterricht selbst, der mir am meisten Aufschluß über sie gab. Einmal schrieb sie eine dreißig Seiten lange Abhandlung über Robespierre, die detailliert beschrieb, wie er seine Spaziergänge machte oder welche Maße seine Kleidung hatte. Andererseits unterliefen ihr oft die gröbsten Fehler.« »Zum Beispiel?« »Sie dachte, Australien liegt im Atlantischen Ozean. Ach, eine Menge solcher Dinge. Sie glaubte, die Spanische Armada sei ein Schloß. Einige ihrer Antworten waren so falsch, daß es schon lächerlich war. Aber der Grund war nicht Unaufmerksamkeit oder Nachlässigkeit. Sie ärgerte sich über jeden Fehler. Einmal fing sie sogar zu weinen an, als ich mit ihr darüber stritt, ob Japan eine Grafschaft in Schottland sei oder nicht.« Ich lachte laut heraus, aber Barbara schien sich nicht sehr darüber amüsieren zu können. »Ich weiß, es klingt sehr lustig, aber wenn man es von einer anderen Seite betrachtet, kann es einem schon Angst einjagen, oder finden Sie nicht?« Ich zuckte mit den Achseln. »Wie dem auch sei«, fuhr sie fort. »Ich war wild entschlossen, mich einmal mit diesem Großvater zu unterhalten. Die vergangenen paar Wochen hatte sie nichts als Ausreden und Entschuldigungen parat. Aber letzte Nacht gab es dichten Nebel, und ich bestand darauf, sie nach Hause zu fahren. Ich habe sie praktisch dazu gezwungen.« Wir schwiegen eine Weile, und ich dachte über alles nach, was sie gesagt hatte. Ich mußte mir eingestehen, daß es doch einige Punkte gab, die noch zu klären waren. All das brachte 36
mich jedoch nicht von meiner Überzeugung ab, daß der Alte entweder sehr exzentrisch oder aber verrückt war. Über das junge Mädchen mit dem Namen Susan war ich ebenfalls nicht sonderlich glücklich. Ich war gerade zu dem Schluß gekommen, daß die Zeit für ein klärendes Gespräch reif sei, als Susan zu uns hereinschaute. »Großvater sagt, Sie können jetzt herauskommen. Wir werden bald da sein.« »Und wird es in Barnes noch nebelig sein?« Sie lächelte nicht einmal. Ich hatte das sonderbare Gefühl, daß sie ihrerseits mich für verrückt hielt. »Es ist sehr freundlich von Ihrem Großvater«, sagte ich kühl. »Sie können ihm ausrichten, daß wir ganz sicher rauskommen werden. Und dann noch etwas –« ich bemerkte, wie ich meine Stimme erhob – »sagen Sie ihm, wir wollen, daß diese Türe offen bleibt. Das ist mein letztes Wort.« Ohne ein Wort zu verlieren, drehte sich Susan um und verließ den Raum. Ich wandte mich wieder Barbara zu. »Sie haben mir da eine Geschichte erzählt, die gespickt ist mit Merkwürdigkeiten. Der ganze Abend war etwas eigentümlich. Man weiß nicht mehr, was man eigentlich glauben soll. Wir sollten gehen und nachsehen, wer nun recht und wer unrecht hat.« Sie nickte kurz und verließ das Zimmer. Ich folgte ihr, und wir kamen durch einen Gang, der von großen viereckigen Säulen begrenzt war. Sie bestanden aus gefärbtem Glas, und die einzelnen Farben, Rot, Blau und Gelb, leuchteten abwechselnd auf. Ich dachte an die Stromrechnung des Alten und mußte ihm zugestehen, daß er einiges an Mühen und Kosten auf sich nahm, um sein Märchen von der Weltraumreise überzeugend zu gestalten. Dann erreichten wir den Raum, den ich als erstes gesehen hatte, den Kontrollraum, wie ihn der Doktor nannte. Er stand darin, über das Schaltpult gebeugt. Seine Hände huschten über Hebel, Schalter und Anzeigen. Eines schaltete er ein, ein 37
anderes ab. Ich fühlte, wie der Boden unter meinen Füßen leicht zu zittern begann, und das dumpfe Grollen einer Maschine drang an mein Ohr. Der Doktor blickte auf und bat uns zu sich hinüber. »Stellen Sie sich neben mich und schauen Sie in diesen Bildschirm«, befahl er. »Nichts von alledem hier interessiert mich«, versetzte ich scharf. »Machen Sie die Tür auf und lassen Sie uns gehen.« Er lehnte sich gegen das Pult und sah mich ernst an. »Sie enttäuschen mich. Ich war fälschlicherweise der Auffassung, Sie seien intelligent. Oder besäßen zumindest etwas Vorstellungsvermögen.« Die Erschütterungen des Bodens wurden stärker, und ich fühlte, wie sie sich auf meine Beine übertrugen. »Ich weiß nicht, ob Sie sich darüber im klaren sind, was Sie hier tun, aber wenn Sie nicht sofort die Tür öffnen, trete ich sie ein!« Ich schrie nicht etwa aus Wut oder Ärger. Der Lärm der Maschinen war inzwischen ohrenbetäubend. Es hörte sich an, als würden mehrere Heulsirenen Luftalarm und Entwarnung gleichzeitig geben. »Es wird nicht nötig sein, daß Sie irgendetwas eintreten«, sagte er nachsichtig. »Ich werde die Tür sowieso gleich öffnen, dann können Sie es selbst sehen.« Er warf Susan einen flüchtigen Blick zu. »Wie kann man nur so dogmatisch sein, Liebstes. Sie glauben nur, was sie erklären können.« »Sie glaubt uns, Großvater.« Ich sah Barbara an. Sie starrte auf den Bildschirm, wie der Alte es ihr gesagt hatte. Schließlich sah auch ich hin. Auf dem Bildschirm war eine Art Nebel zu sehen, und einen Moment lang glaubte ich, auf das Feld um Barnes zu sehen. Ein letztes Mal wurde der Boden von einem heftigen Stoß erschüttert. Wir verloren beinahe das Gleichgewicht, und Barbara faßte nach meinem Arm, um nicht zu stürzen. Das Heulen der Maschinen hörte schlagartig auf, und der Nebel auf dem Bildschirm 38
begann sich zu verziehen. Zum ersten Mal, seit ich durch die Tür der Telefonzelle gerannt war, kamen mir Zweifel. Auf dem Schirm sah ich nun einen seltsamen Wald mit weißen Bäumen. Das Bild änderte sich und gab den Blick auf einen der Bäume frei. Er war vollkommen unbelaubt und machte einen leblosen Eindruck. »Nicht besonders anregend«, murmelte der Doktor, »aber auch nicht besonders gefährlich.« »Wo sind wir?« fragte Barbara. Der Doktor zuckte nur mit den Achseln. »Schwer zu sagen. Ich besitze ein Gerät, das Susan gerne das ›Jahrometer‹ nennt. Unglücklicherweise wurde es auf einer früheren Expedition leicht beschädigt. Ich sollte wirklich mal versuchen, es wieder zusammenzuflicken.« »Aber sind wir denn nicht mehr in … England?« Der Alte sah sie erstaunt an. »Ich dachte, ich hätte mich deutlich genug ausgedrückt, Miß Wright. Wir haben nicht nur England verlassen, sondern auch die Erde. Ich werde eine Probe aus der Atmosphäre entnehmen und noch einige andere Tests durchführen müssen. In Kürze werden wir mehr wissen.« »Die Temperatur scheint ganz angenehm zu sein«, sagte Susan. Ich machte drei Schritte auf den Doktor zu, packte ihn und wirbelte ihn herum. »Jetzt passen Sie mal gut auf! Ich habe endgültig genug von diesem Spielchen. Wenn Sie jetzt nicht sofort diese Türen öffnen, dann, das schwöre ich Ihnen, werde ich sie einschlagen.« Mit einer kurzen Bewegung schüttelte er meine Hand ab. Für sein Alter und seine Statur hatte er überraschend viel Kraft. Er trat einen Schritt zurück und zeigte auf mich. Seine Augen funkelten vor Zorn.
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»Sie sind in mein Schiff eingedrungen! Ich habe Sie nicht hereingebeten. Sie haben mich angegriffen und sich mit Gewalt Zutritt verschafft.« Er ließ seine Hand wieder sinken, und der Zorn in seinen Augen verwandelte sich langsam in Hochmut, was ihn mir auch nicht gerade sympathischer machte. »Diese ganze lächerliche Geheimnistuerei auf der Straße«, schnaubte ich. »Warum haben Sie uns nicht gesagt, daß Sie Susans Großvater sind? Warum diese Lüge mit dem Schlüssel? Warum sind Sie weggerannt? Natürlich waren wir durcheinander, weil wir nicht wußten, wer Sie sind und Susan verschwunden war. Verschonen Sie uns also jetzt mit Ihren Vorwürfen, wir hätten Ihre Behausung attackiert. Sie müßten doch genau wissen, daß wir allen Grund dazu hatten.« »So weit, so gut, das klingt ja alles sehr logisch. Hilfsbereitschaft und Neugierde sind Dinge, die ich sehr wohl verstehen kann, aber diese Skepsis, mein lieber Chesterton –« und jetzt gab er sich so hochnäsig, daß ich ihn am liebsten in den Hintern getreten hätte – »ja, Skepsis ist eine Untugend in Eurer Welt.« »Dann öffnen Sie doch endlich die Türen und lassen Sie uns mitsamt unseren Untugenden so weit wie möglich von hier verschwinden.« Eine kurze Weile herrschte Schweigen, dann drehte sich der Doktor um und sah Barbara an. »Ich glaube, Sie sind dieser Sache gegenüber etwas aufgeschlossener, Miß Wright.« »Für mich ergibt das alles keinen Sinn«, sagte sie, »aber ich glaube Ihnen trotzdem.« Das versetzte den Alten in Erstaunen. »Wie können Sie denken, daß irgend etwas daran wahr ist? Reisen durch Raum und Zeit, Lebewesen von einem anderen Stern – das ist doch kompletter Unsinn.« Der Doktor lachte kurz auf, kam zu mir herüber und tippte mir mit seinem Zeigefinger gegen den Brustkasten. »Ich kann mir gut
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vorstellen, daß Columbus genau dasselbe widerfahren ist, als er auf seiner Theorie bestand, die Erde sei rund.« »Für einen Reisenden im All sind Sie aber erstaunlich gut über die Geschichte der Erde informiert.« »Ich habe ein bißchen darüber gelesen«, gestand er. »Aber lieber ist es mir, wenn ich Geschichte selbst erfahre. Columbus war in seinen jungen Jahren ein Mann mit einer solch vielversprechenden Zukunft, daß ich es immer bedauerte, ihn verlassen zu haben, bevor er seine Theorien veröffentlichte.« Ich warf Barbara einen hilflosen Blick zu. »Sie können diesem Mann doch unmöglich glauben. Zumindest ist er ein solch exzentrischer …« Der Doktor fiel mir barsch ins Wort. »Öffne die Türen, Susan!« befahl er. »Das scheint die einzige Möglichkeit zu sein, diesem Narren die Augen zu öffnen.« »Aber wir haben noch nicht alle Tests ausgewertet, Großvater.« »Das ist mir egal. Ich kann es nicht länger ertragen, als Zielscheibe für die Beleidigungen dieses jungen Mannes zu dienen, dessen Verstand nicht einmal dazu ausreicht, wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse zu akzeptieren. Öffne die Türen!« Susan legte einen kleinen, schwarzen Schalter um. Die Lichter um uns begannen zu glühen – und da war es wieder, dieses summende Geräusch von vorhin. Es klang wie ein Schwarm aufgeregter Bienen. Die zwei großen Schwingtüren öffneten sich. Der Doktor ging auf sie zu, blieb aber noch einmal davor stehen. »Sie wollten nach draußen. Also kommen Sie!« Ich folgte ihm langsam, achtete aber darauf, daß Barbara an meiner Seite blieb. Und dann sah ich die Landschaft hinter der Gestalt des Doktors auftauchen. Mir bot sich dasselbe Bild wie auf dem Bildschirm. Weiße, abgestorbene Bäume, der Boden wie Asche, ein wolkenloser Himmel. Hitze schlug mir 41
entgegen, als ich den Ausgang erreichte. Barbara, die neben mir stand, gab ein heiseres Räuspern von sich. Jemand tippte mich an und reichte mir meine Schuhe, die ich anzog, ohne mir bewußt zu werden, daß jemand anderer mir die Schnürsenkel zuband. Susan gab mir den Rat, diesen Boden nicht ohne Schuhe zu betreten, da niemand sagen könne, wie er beschaffen sei. Ich tat nichts von dem, was man in einer solchen Situation normalerweise macht. Ich zwickte mich nicht und rieb mir auch nicht verwundert die Augen. Ich stand nur da und glotzte, während eine schreckliche Erkenntnis von mir Besitz ergriff. Er hatte die Wahrheit gesagt. Jetzt endlich sah ich es ein, denn für all das konnte es keine andere Erklärung mehr geben. Ich wollte weglaufen, mich verstecken, meine Angst hinausschreien, aber wohin sollte ich? Wovor sollte ich überhaupt Angst haben? Daß der Doktor vor mir stand, erahnte ich eher, als daß ich es sah, und die Freundlichkeit in seinen Augen half mir, wieder in eine wie auch immer geartete Realität zurückzufinden. »Chesterton«, sagte er sanft, »jetzt kommt das Schlimmste für euch. Ich weiß genau, was ihr durchmacht, und ich fühle mich nicht als Sieger, nur weil ich recht hatte. Ich habe uns weit von eurer Erde und von eurem Universum weggebracht. Wir sind auf einem unbekannten Planeten gelandet. Euch bleibt nichts anderes, als dies als Tatsache zu akzeptieren. Wut und Tränen werden euch nicht zur Erde zurückbringen. Macht also eure Erfahrungen und zieht Nutzen daraus.« Ich nickte wie ein Idiot, und er tätschelte mich freundlich am Arm. »Es ist alles in Ordnung, Chesterton. Sie werden sich daran gewöhnen.« Er blickte auf Barbara. »Sie wirken sehr ausgeglichen, meine Liebe. Aber ich spüre, wie traurig Sie sind. Das, was ich Ihrem Begleiter gesagt habe, gilt auch für Sie. Versuchen Sie, über den Ereignissen zu 42
stehen. Zunächst muß es natürlich schrecklich für Sie sein, so plötzlich von allem, was Sie kennen, lieben, und was Ihnen vertraut war, weggerissen worden zu sein. Ich kann das verstehen, aber ist es nicht andererseits sehr aufregend, etwas zu tun, von dem euer Geschlecht niemals geglaubt hätte, daß es überhaupt möglich ist? Es sollte keine Qual sein, sondern ein Privileg, unbekannten Boden zu betreten und unter einer neuen Sonne in einen fremden Himmel zu blicken.« Er trat etwas zurück, lächelte uns beide an, drehte sich dann um und ging auf den nächstbesten Baum zu. Barbara und ich verließen nun das Schiff. Susan folgte uns und verschloß die Türen. Dann lief sie zu ihrem Großvater, und wir konnten hören, wie sie sich bei ihm bedankte, daß er so nett zu uns gewesen war. Ich blickte zu Barbara. Ihr Gesicht war kreidebleich, aber es war keine einzige Träne auf ihren Wangen zu sehen. Ihre Gemütsruhe war das Erstaunlichste, was ich seit langem gesehen hatte. Ich dachte an das verdammte Vorstellungsgespräch, das ich bei »Donneby‹s« über mich hatte ergehen lassen und an meine Niedergeschlagenheit danach, als ich den Job nicht bekommen hatte, hinter dem ich so hergewesen war. Ich dachte an das versäumte Abendessen auf meiner Bude, den Nebel auf dem Feld und an meine zerrissene Sportjacke. Ob all dieser Nichtigkeiten mußte ich unwillkürlich lächeln, und plötzlich bemerkte ich, daß Barbara zurücklächelte. »Wir schließen uns jetzt besser dem Doktor an«, sagte sie. Ich nickte, und wir gingen zu ihm hinüber. Die Erde, meine Erde, und mein Leben schienen schon weit entfernt zu sein. Ich warf einen Blick zurück und sah auf das Schiff des Doktors. Von außen sah es tatsächlich wie eine Telefonzelle aus, ganz wie in Barnes, aber jetzt waren auch bei mir die letzten Zweifel verflogen, daß die Dimensionen in seinem Innern vollkommen anders waren. Ich befand mich in einer mir völlig unbekannten Welt, die sich offensichtlich 43
radikal von allem unterschied, was ich bisher erlebt hatte. Ich wußte nicht einmal, ob mir die ganze Angelegenheit zuwider war oder gleichgültig oder was ich überhaupt empfand. Ich wußte nur, der Doktor hatte recht, und dem mußte ich mich fügen. Entweder das oder völlig durchdrehen. Aber Verrücktsein würde voraussetzen, daß ich unter Halluzinationen litt, daß ich hypnotisiert worden wäre oder unter dem Einfluß von Drogen stand. Ich wußte nur zu gut, daß Alpträume nie sehr lange andauerten, und je mehr Zeit ich darauf verwendete, meine Umgebung zu begutachten und meine Reaktionen und Empfindungen ihr gegenüber auszuloten, desto weniger glaubte ich an bloße Phantasie. Ich war mir sicher, nicht hypnotisiert zu sein, genausowenig wie ich unter Drogen stand. Auch von Träumen konnte keine Rede sein. Aber langsam ging es mir besser. Der Doktor hatte mir geraten, offen zu sein für alles, was geschehen würde. Genau das tat ich auch.
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Der Planet des Todes Es waren ungefähr zwanzig Minuten vergangen, als ich Barbaras Schreie hörte. Wir waren ziemlich weit in den Wald der toten Bäume vorgedrungen und wollten eine kleine Verschnaufpause einlegen. Der Doktor entschloß sich, den Boden zu untersuchen, und wir beide zerbrachen uns den Kopf über seine ascheähnliche Zusammensetzung. Es sah fast so aus, als hätte irgendwann einmal ein fürchterliches Feuer den Wald verwüstet, doch paßte der Zustand der Bäume nicht ganz zu dieser Theorie. Bei der kleinsten Berührung zerfielen sie zu Staub. Susan und Barbara waren in unterschiedliche Richtungen losgegangen, allerdings nicht ohne vom Doktor ermahnt worden zu sein, in Rufweite zu bleiben, und Susan kam mit einer überaus schönen und zarten Blume zurück, die sie gefunden hatte. Natürlich war sie kristallisiert, und die leiseste Berührung würde sie in Staub verwandeln. Ich hatte sie gerade genommen, um sie näher zu untersuchen, als Barbara aufschrie und die Blume sich zwischen meinen Händen in ihre Bestandteile auflöste. Ich rannte in Richtung der Schreie los. Die Zweige der Bäume brachen unter meinem Ansturm, und ihr Staub hüllte mich völlig ein, als ich mir den Weg freikämpfte. Ich fand Barbara mit dem Rücken gegen einen Baum gepreßt. Ihre Zähne hatten sich in ihre Handknöchel gebohrt. Nur kurz sah ich das Aufblitzen eines Tierauges oder etwas Ähnliches und blieb wie angewurzelt stehen. »Ich ging gerade um diesen Baum herum, und da stand es plötzlich vor mir«, flüsterte sie. Ich ließ das Ding nicht aus den Augen, aber es bewegte sich kein bißchen. Es war halb durch einen Busch verdeckt, aber 45
man konnte den unnatürlichen Schimmer zweier Plattfüße und die groben Umrisse seines Körperbaus in den vereinzelten Sonnenstrahlen erahnen, die der Wald hindurchließ. Es hatte etwa die Größe eines Schweins, und die Augen saßen am Ende von Hörnern, die aus dem Kopf herauswuchsen. Ich hörte Susan und den Doktor hinter uns durch den Wald brechen. Als sie sich in Sichtweite befanden, ging ich vorsichtig auf sie zu. »Machen Sie sich bereit zum Weglaufen!« Ich nahm Barbara bei der Hand und führte sie vorsichtig vom Baum weg. Die Pflanze ließ ein sonderbares Ächzen vernehmen, als die Last von Barbaras Körper nicht mehr auf ihr ruhte. Währenddessen hatte das Tier sich noch keinen Millimeter bewegt. »Ich glaube, es ist tot«, meinte Susan. »Das sollten wir vielleicht nicht ausprobieren«, versetzte ich mit etwas Galgenhumor. Ich hatte gerade einen kurzen Blick auf sein Maul geworfen. Die Kiefer sahen so gefährlich aus wie bei einem kleinen Krokodil, und waren gespickt mit scharfen Reißzähnen. »Die Augen sind ganz starr«, murmelte der Doktor. Er bückte sich, hob einen kleinen Zweig auf und warf ihn nach dem Tier. Ich wollte lauthals protestieren, überlegte es mir aber anders, als das Ungetüm keinen Muskel rührte. Vorsichtig hob ich einen herabgefallenen Ast auf, der sich wie alles andere unter meinem Griff aufzulösen drohte, und schlich mich langsam vorwärts. Mit diesem Stock stocherte ich in dem Busch herum. Es gab einen leisen, blechernen Klang, als der Ast über dem Rücken des Tieres zerbrach. »Sie hatten recht, Susan. Es lebt nicht mehr. Es scheint genauso versteinert zu sein wie alles andere im Wald.« Der Doktor ging hinüber und klopfte mit den Fingerknöcheln an das Tier. Als er die Büsche etwas zur Seite drückte, konnten wir das Geschöpf erstmals ganz sehen. Sein Schwanz war doppelt so lang wie sein Rumpf, und scharfe 46
Zacken liefen vom Kopf den Rücken entlang bis zur Schwanzspitze. »Es ist nicht versteinert«, sagte der Doktor. »Es ist erstarrt, aber zu Metall.« Barbara hatte ihre Angst überwunden und kniete sich neben ihn. »Aber das ist doch nicht möglich!« »Warum nicht? Nur weil Sie sich nicht vorstellen können, daß ein Tier ganz aus Metall besteht? Ich aber sage Ihnen, das ist ein Monster aus Metall, oder zumindest war es eines. Es würde mich nicht wundern, wenn es durch irgendwelche inneren magnetischen Felder zusammengehalten würde. Wahrscheinlich hatte es dadurch die Fähigkeit, seine Opfer anzuziehen. Es liegt auf der Hand, daß es sich auch von Metall ernährt hat.« Abrupt stand er auf. »Ascheboden, kristallisierte Blumen, tote Bäume und verdichtetes Metall. Was sagt Ihnen das, Chesterton?« »Hitze wahrscheinlich. Eine sehr große Hitze, obwohl …« Ich starrte ihn an. »Vielleicht eine Art Atomexplosion.« »Haargenau! Eine gigantische Explosion, aber andererseits keine Atom- oder Wasserstoffexplosion, wie wir sie auf Ihrem Planeten testen. Dadurch wäre eine so destruktive Kraft ausgelöst worden, daß einfach alles von der Oberfläche des Planeten weggefegt worden wäre. Hier dagegen haben wir alles in einer Art von Konservierung vor uns.« »Hier drüben ist so etwas wie Fußstapfen«, sagte Susan. Der Doktor forderte uns auf, ihr zu folgen. »Ich hoffe, Sie nicht auf einen leblosen Planeten gebracht zu haben, Chesterton«, murmelte er mürrisch. Seine Enttäuschung war so offensichtlich, daß ich lächeln mußte. Ich warf Barbara, die auf der anderen Seite neben mir ging, einen Blick zu. »Sagen Sie bloß, es wäre Ihnen lieber gewesen, dieses Monster lebend anzutreffen?«
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»Es wäre ein gutes Studienobjekt gewesen«, murrte er, und Barbara quittierte diese Feststellung mit einem spöttischen und überraschten Blick. Dann kam Susan auf uns zugelaufen. »Dort unten ist eine Stadt!« schrie sie aufgeregt. »Wo der Wald aufhört, kann man sie sehen.« Wir rannten hinter ihr her, und zu meinem eigenen Erstaunen stellte ich fest, daß Susans Aufregung mich angesteckt hatte. Als ob es die Entdeckung des Jahrhunderts wäre, eine Stadt zu finden. Der Doktor lief vor mir her, sein graues Haar flatterte, mit seinen Armen bahnte er sich den Weg durch das Dickicht. Doch als wir Susan erreichten, fiel mir auf, daß er überhaupt nicht außer Atem zu sein schien. Ich konnte nur hoffen, ebenfalls noch so fit zu sein, wenn ich in seinem Alter war. Der Wald war zu Ende, genau wie Susan es gesagt hatte, und der schmale Weg verlor sich in einer Lichtung, in der die Asche sehr locker und tief lag. Vor uns befand sich eine lange Reihe großer Felsen. Susan stand auf einem kleinen Findling, hielt sich die Hand zum Schutz gegen das grelle Sonnenlicht vor die Augen und blickte in eine Spalte, die direkt vor ihr lag. Sie drehte sich um, beobachtete uns, und lachte uns plötzlich aus, als sie sah, wie wir uns durch die Asche kämpften. Barbara hatte über Susan gesagt, daß diese etwa fünfzehn Jahre alt sei. Aber wie sie so dastand, mit ihren dunklen, kurzgeschnittenen Haaren, die sich gegen die weißen Felsen hinter ihr abhoben, sah sie aus wie eine junge, sehr attraktive und lebendige Frau von Mitte Zwanzig. Mir kam kurz in den Sinn, was wohl passieren würde, wenn sie einen jungen Mann treffen und gerne heiraten würde. Was war, wenn sie sich entschied, nicht mehr mit ihrem Großvater auf der Tardis zu reisen? Diese Frage zog zu viele andere nach sich. Von welchem Planeten kam der Doktor mit seiner Enkelin ursprünglich? Kannten die Bewohner dieses Planeten überhaupt solche irdischen Gebräuche wie Heirat? 48
Ich beschloß, mir diese Fragen für einen späteren Zeitpunkt aufzuheben. Statt dessen half ich Barbara, auf den Findling zu steigen, und dann blickten wir alle vier (der Doktor war bereits mit erstaunlicher Wendigkeit neben Susan auf den Stein geklettert) staunend durch die Felsspalte auf die Stadt. Ich schätzte ihre Entfernung auf etwa eine Meile. Sie sah aus, als hätte jemand eine überdimensionale elektrische Maschine gebaut. Blank polierte Metallkuppeln blitzten im Sonnenlicht, umgeben von viereckigen Gebäuden aller Art, und etwas, das mir wie Strommasten und Radarschirme erschien, war überall zwischen den Kuppeln und Gebäuden verteilt. »Ganz prächtig«, bemerkte der Doktor, und ich mußte ihm zustimmen. Wer auch immer das Ganze entworfen hatte und wozu es auch gedient haben mag, die Konstruktion lag in vollendeter Symmetrie vor uns. »Das scheint ja nun von der Explosion oder was immer es war, das den Wald zerstört hat, nicht betroffen zu sein«, sagte Susan. »Glaubst du, daß dort unten jemand lebt, Großvater?« Der Doktor schüttelte den Kopf. »Mir ist noch nicht ganz klar, warum diese Stadt noch intakt ist, aber ich bin mir sicher, daß es in dieser Gegend zu einer großen Explosion gekommen ist. Niemand kann sie überlebt haben. Jedenfalls«, so fuhr er bedächtig fort, »niemand von der Sorte Menschen, wie wir sie kennen.« Darüber dachte ich eine Weile nach. Ich hatte mit eigenen Augen das Monster im Wald gesehen. Es bestand offensichtlich aus Metall. Es war also doch denkbar, daß es Überlebende in der Stadt gab, ganz gleich, wie sie beschaffen waren. Ich war so in meine Gedanken vertieft, daß ich gerade noch rechtzeitig mitbekam, was der Doktor angedeutet hatte. »Ich befürchte, ich kann nicht zulassen, was Sie da vorhaben, Doktor«, sagte ich vorsichtig.
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»Ich wiederhole es noch einmal, junger Mann! Diese Stadt ist ein Forschungsobjekt, und ich habe die Absicht, mir einen Überblick zu verschaffen.« Ich schüttelte den Kopf. »Nicht ohne Vorbereitung und auch nicht ohne Diskussion. Wir wissen nicht, was da unten vor sich geht. Es könnte gefährlich werden.« »Ich habe vor, alleine zu gehen«, erwiderte er schroff. »Sie brauchen also keine Angst zu haben.« »Aber ich habe Angst, Doktor! Sie haben das Schiff unter Kontrolle. Sie haben uns unserem Heimatplaneten entrissen und uns hierhergebracht, aber wenn es um unsere Sicherheit geht, haben wir ein Wörtchen mitzureden. Es geht im übrigen auch um Ihre Sicherheit. Ich fürchte, ich kann nicht zulassen, daß einer von uns alleine da hinuntergeht, bevor wir alle Möglichkeiten durchgesprochen haben.« Sein Ärger war so groß, daß ich einen Moment lang dachte, er würde sich mit mir prügeln. Aber er fand schließlich die Beherrschung wieder, wandte sich von mir ab und sah noch einmal auf die Stadt hinunter. Susan warf mir einen wütenden Blick zu. Sie hatte einen heiligen Respekt vor ihrem Verwandten und konnte es offensichtlich nicht ertragen, wenn man sich mit ihm anlegte. Der Doktor drehte sich wieder um und überraschte mich mit einem freundlichen Lächeln. »Wir gehen zurück auf die Tardis, essen etwas und besprechen die ganze Angelegenheit.« Ich nickte, sprang vom Felsen und half dann Barbara und Susan herab. Ich sah zum Doktor empor. Er blickte ein letztes Mal auf die entfernte Stadt. Die Sonnenstrahlen spiegelten sich in seinen Pupillen, aber ich hatte den Eindruck, daß noch etwas anderes seine Augen funkeln ließ. Ich versuchte, das Gefühl, welches sich meiner bemächtigt hatte, abzuschütteln, aber es gelang mir nicht. Ich befand mich in einer unbekannten und offensichtlich gefährlichen Umgebung, und daß ich dem
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Doktor nicht vertrauen konnte, machte die Situation nicht unbedingt einfacher. Die Dämmerung brach schon herein, als wir zur Tardis zurückkehrten, und ich war etwas besorgt, denn Susan war zurückgefallen. Wir waren uns eigentlich einig, daß unter den gegebenen Umständen in dieser leblosen Gegend nichts geschehen dürfte, aber die hereinbrechende Dunkelheit konnte das unter Umständen ändern. Ich stellte mir vor, wie Susan stundenlang in der Gegend umherirren würde, vielleicht auch die ganze Nacht damit zubrachte, den Weg zurück zu finden. Der Doktor und Barbara gingen ungerührt zurück auf das Schiff, und ich begann sie zu suchen. Ich bewegte mich vollkommen geräuschlos durch den Wald. Nur dann und wann knackte ein Zweig, den ich berührt hatte, oder ein Ast brach ab und verwandelte sich zu Staub. Mir war unheimlich und nicht ganz wohl in meiner Haut, denn ich hatte die ganze Zeit über das Gefühl, beobachtet zu werden. Um mir selbst zu beweisen, daß ich das alles lediglich meinen überempfindlichen Nerven zuzuschreiben hätte, drehte ich mich zweimal unvermittelt blitzschnell um, spürte aber nur die leichte Berührung meiner eigenen Haare im Nacken. Plötzlich hörte ich vor mir Schreie, die blankes Entsetzen verrieten, und kurz darauf hastige Schritte. Diesen Teil des Waldes hatten wir zuvor schon durchquert und dabei jede Menge abgebrochenes Gehölz zurückgelassen. Ich konnte hören, wie das tote Holz unter Tritten zerbrach, dann kam Susan in Sicht. Dankbar aufschluchzend fiel sie in meine Arme. »Eine Hand hat mich berührt«, keuchte sie. »Ich wollte gerade eine von diesen kristallisierten Blumen pflücken, als die Hand von hinten auf meine Schulter faßte.« »Aber Sie wissen doch, daß in diesem Wald nichts sein kann, Susan.« Ich führte sie den Weg entlang in Richtung der Tardis. Es vergingen ein paar Sekunden, bis sie mir antwortete. 51
»Aber wir sind doch im Wald. Warum sollte nicht noch jemand anderer hier sein?« Ich erklärte ihr, daß sie vielleicht mit dem Rücken gegen einen Ast gestoßen sei, aber sie ließ sich nicht besänftigen, auch nicht vom Doktor oder von Barbara. »Es war eine Hand, die Hand eines Menschen. Ich habe mir das nicht eingebildet, und erfunden habe ich es schon gleich gar nicht. Ich sage euch, es gibt außer uns noch andere Menschen in diesem Wald.« Wir hatten uns um den Apparat versammelt, den der Doktor »Essensmaschine« nannte. Barbara und ich versuchten Susan von ihrem Irrtum zu überzeugen, bis der Doktor unseren Streit beendete, indem er mit der flachen Hand auf die Maschine schlug. »Das spielt jetzt sowieso keine Rolle mehr, denn wir werden nicht auf diesem Planeten bleiben. Ob Susan wirklich eine Hand gespürt hat oder nicht, bleibt ein Geheimnis, das wir nie lüften werden.« Er sah zu mir herüber. »Chesterton, sobald wir gegessen haben, werde ich das Schiff startklar machen, und wir fliegen anderswo hin. Vielleicht zurück zu Ihrem Heimatplaneten Erde. Na, wie gefällt Ihnen das?« Nach einer kleinen Weile fragte Barbara leise: »Könnten Sie das machen, Doktor?« Er zuckte mit den Achseln. »Wie ich Ihnen bereits sagte, ist der Computer, der die Reiseabschnitte durchrechnet, nicht ganz in Ordnung. Er spielt manchmal so verrückt, daß ich überhaupt nichts versprechen kann. Und denken Sie daran: Wir müssen uns nicht nur um den Faktor Raum kümmern, sondern auch um den Faktor Zeit.« Ich konnte an Barbaras Halsschlagader sehen, wie sich ihr Puls verstärkte.
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»Soll das heißen, daß Sie uns unter Umständen nie wieder in unsere Zeit oder auf unsere Erde zurückbringen werden?« fragte sie. Der Doktor nickte. »Sie haben es erfaßt, Miß Wright. Aber lassen Sie uns dieses Thema nun nicht mehr weiter verfolgen. Ich bin sicher, Sie beide haben großen Hunger. Ich zumindest bin sehr hungrig. Was würden Sie denn gerne essen?« Er sah mich fragend an. »Kann ich mir wünschen, was ich will? Irgend etwas?« fragte ich. »Ja, sogar ein Gericht aus Ihrer Heimat.« »Nun gut, dann nehme ich Spiegeleier mit Schinken, wenn es Ihnen nichts ausmacht.« Er machte eine Handbewegung, als wäre er Oberkellner in einem exklusiven Restaurant. Ich fragte mich, ob er überhaupt so etwas wie eine Gabel hätte. Er stellte sich vor die »Essensmaschine« und drückte verschiedene Knöpfe. »XL 4 28 5 J«, murmelte er. Nach einer kleinen Weile leuchteten ein paar Glühbirnen auf, und ein dreimaliges Summen war zu hören. Der Doktor öffnete einen Verschlag und präsentierte etwas auf einem Papierteller, das aussah wie ein Schokoladenriegel, nur daß es die Farbe von Rauhreif hatte. Er gab es Barbara, wandte sich wieder der Maschine zu, murmelte dieselben Zahlen vor sich hin, drückte auf dieselben Knöpfe und überreichte mir dann ebenfalls einen Papierteller mit gleichem Inhalt. Barbara und ich sahen uns zweifelnd an, und Susan lachte. »Los, probieren Sie es! Es ist nicht giftig!« sagte sie, und ihre Augen funkelten vor Vergnügen. Ich biß in meinen Riegel, wobei ich mir nicht vorstellen konnte, was mich erwartete, doch siehe da: Ich aß Spiegeleier mit Schinken! Ich konnte die beiden Bestandteile des Menüs geschmacklich klar voneinander unterscheiden; das Mahl hatte sogar die richtige
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Temperatur. Ich bemerkte, daß der Doktor auf einen Kommentar meinerseits wartete. »Die Eier sind ein bißchen hart«, sagte ich beiläufig und zwinkerte Barbara zu. Der Doktor verzog keine Miene. »Das hätten Sie mir gleich sagen sollen. Dann hätte ich eine Nummer geändert. Das ist alles ganz einfach. Was hättest du gerne, Susan?« Susan schüttelte nur den Kopf. »Ich habe keinen Hunger, Großvater.« Er sah sie prüfend an. »Das ist aber sonst nicht deine Art, mein Kind. Nun, ich will dich nicht zwingen. Was mich betrifft …« Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Maschine zu, und es sah aus, als würde er eine gemischte Vorspeisenplatte begutachten … »Ich werde mir etwas von dem Venusnachtfisch zubereiten, den wir kürzlich probiert haben. Ich bin froh, daß wir davon einen kleinen Vorrat angelegt haben.« Er murmelte wieder ein paar Zahlen und Buchstaben und zog anschließend einen Papierteller mit drei langen Stangen auf ihm hervor, die aussahen wie Baguette. Ich wollte von ihm wissen, wie die Maschine funktioniere, und wie es möglich war, daß Schinken und Eier sich deutlich im Geschmack voneinander unterscheiden. »Nichts einfacher als das, Chesterton. Geschmacksrichtungen sind Farbtönen sehr ähnlich. Sie mischen zwei Elemente, um ein drittes zu bekommen, und so weiter.« Gerade in diesem Moment hörten wir ein Klopfen. Ich wollte eben den letzten Bissen hinunterschlucken, aber der blieb mir im Halse stecken. Das Geräusch war ganz deutlich zu hören: Eins – zwei – drei – gegen die Türen des Schiffs. Der Doktor stellte sein Essen auf der Maschine ab und eilte fort. »Ich habe euch doch gesagt, es war jemand im Wald!« sagte Susan. Wir folgten dem Doktor in den Kontrollraum, wo er an 54
einem Bildschirm herumhantierte. Das Bild auf dem Schirm wechselte ständig, während die Außenkamera die Umgebung absuchte, aber was auch immer das Geräusch verursacht hatte, es blieb verschwunden. »Ich besitze sehr starke Suchscheinwerfer, die der Kamera folgen«, erklärte er mir. »Von außen sind sie natürlich völlig unsichtbar. Sie dienen nur zu Nachtaufnahmen. Auf jeden Fall gibt es jetzt da draußen nichts mehr zu sehen.« Er schaltete den Bildschirm ab und lächelte mich mit der denkbar größten Arglosigkeit an. »Es scheint, als würde dies die These unterstützen, wir sollten diesen Planeten verlassen.« Ich fühlte mich nicht ganz wohl bei dieser Sache, aber ich war einverstanden. Irgend etwas verbarg sich hinter seiner Maske, aber ich konnte, auf Teufel komm raus, nicht herausfinden, was es war. Er forderte Susan auf, sich neben ihn zu stellen, und seine Hände huschten wieder über die Armaturen und Schalter, wie ich es auch schon vorher bei ihm beobachtet hatte. Aber diesmal reagierten die Maschinen, oder was auch immer das Antriebssystem der Tardis war, anders. Ein ächzendes Stöhnen vermischt mit einem Kreischen, als würde ein Gang falsch eingelegt, war alles, was zu hören war. Susan sah ihren Großvater erschrocken an, und er schüttelte den Kopf. »Schau einmal nach dem Fehlersuchgerät, Susan!« Susan lief weg. Nun stellte sich Barbara neben den Doktor. »Es ist doch nicht etwa kaputt, Doktor?« Er sah sie wohlwollend an. »Nein, Miß Wright, kein bißchen. Wir werden den Fehler bald gefunden haben.« Susan schaute auf eine kleine gläserne Tafel, und selbst von meinem Standpunkt aus konnte ich sehen, wie Zahlenkolonnen darauf aufflackerten und wieder erloschen. »K 4, Großvater.«
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»Eine der Flüssigkeitsverbindungen.« Der Doktor ging langsam um das Schaltpult herum und forderte mich auf, ihm zu folgen. Er öffnete eine Abdeckung, und ich beugte mich an seiner Seite hinab. Ich konnte gläserne Meßstäbe erkennen, die dicht nebeneinander in einer Reihe standen. Er nahm einen davon heraus und bat mich, ihn zu halten, während er seinen Zwicker etwas fester auf die Nase klemmte. Dann nahm er ihn mir aus der Hand und klopfte ihn ab. »Dieser hier ist in Ordnung. In gewisser Weise ähnelt das Prinzip hier den Sicherungen, die Sie auf der Erde benützen, um Ihre elektrische Energie unter Kontrolle zu halten.« »Was ist damit?« »In diesem Fall hier ist nicht ein Stück Draht der Leiter, sondern Quecksilber.« Er hielt das Ding in die Höhe und deutete auf ein Ende. »Der Verschluß hier hat sich leicht verschoben, deshalb ist das Quecksilber entwichen.« »Dann müßten Sie doch eigentlich nur etwas Quecksilber nachfüllen.« Er strahlte mich an, als hätte ich ihm gerade die Relativitätstheorie erklärt. »Ich könnte es nicht logischer ausdrücken, Chesterton.« »Soll ich es Ihnen holen?« »Ich fürchte, das wird nicht möglich sein.« Ich blickte ihn fassungslos an. »Warum nicht?« »Weil wir keines haben.« Eine ganze Weile starrten wir uns nur an. Ich sah ihm fest in die Augen, und nun erkannte ich, was sich hinter seinem Blick verbarg. Nur konnte ich natürlich nichts dagegen tun. Barbara brach schließlich das Schweigen. »Aber Sie haben doch sicher einen Vorrat an Quecksilber an Bord, Doktor?« Er schüttelte traurig den Kopf.
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»Es ist keines mehr da. Ungefähr vor einem Monat habe ich das letzte für ein Experiment gebraucht. Es war fahrlässig von mir, keinen Vorrat mehr anzulegen. Jetzt haben wir den Salat.« »Haben Sie denn kein Barometer, das Sie …« »Überhaupt nichts dergleichen, mein liebes Fräulein«, unterbrach er sie. Er untersuchte noch einmal den Meßstab, als ob er dadurch zu einer Lösung des Problems gelangen könnte, zuckte dann aber als Geste seiner Hoffnungslosigkeit mit den Achseln. Für eine arglose Person lieferte er sicher eine überzeugende Vorstellung. Ich stand geduldig da und wartete auf neue Tricks aus dem Zauberkasten des Doktors. Offensichtlich hatte er mit seiner Schauspielerei Barbara vollständig überzeugt, denn sie legte sanft ihre Hand auf seine Schulter. »Machen Sie sich keine Sorgen! So schlimm ist es nun auch wieder nicht.« »Aber das ist es doch gerade. Ich mache mir Sorgen.« Mit dramatisch schweren Schritten durchquerte er langsam den Raum. »Miß Wright, Susan, Chesterton …« Er blickte uns der Reihe nach an und setzte eine düstere Miene auf, »… in meiner Zerstreutheit habe ich also übersehen, den Quecksilbervorrat aufzufüllen. Aufgrund dieser Tatsache sind wir dazu verdammt, den Rest unseres Lebens auf diesem unwirtlichen Planeten zu verbringen.« Ich blickte zu Susan und sah, daß ihre Augen immer größer wurden. Daß der Alte sogar mit den Gefühlen seiner Enkelin spielte, empfand ich als grausam. Barbara sagte plötzlich: »Und was ist mit der Stadt? Vielleicht gibt es dort unten Quecksilber?« Der Doktor blieb ruckartig stehen und drehte sich mit einem Schwung zu ihr um. Zunächst blieb ihm der Mund offen stehen, dann eilte er zu Barbara und schüttelte ihr freudestrahlend die Hand. 57
»Natürlich, meine Liebe! Die Stadt! Über dem ganzen Problem hier habe ich sie völlig vergessen.« Er durchbohrte mich förmlich mit seinem Blick. Der Triumph in seinen Augen war nicht zu übersehen. »Dagegen können Sie nun wirklich nichts mehr einwenden, Chesterton.« Ich spürte, daß alle Augen auf mich gerichtet waren. »Da haben Sie recht. Wir werden in die Stadt hinuntergehen, Doktor«, erwiderte ich so ruhig wie nur möglich. »Es gibt doch wohl keine andere Möglichkeit, oder?« »Ihre vernünftige Einstellung freut mich sehr, obwohl es jetzt zu dunkel ist für diese Expedition.« Ich nickte zustimmend. Ich mußte die Situation akzeptieren, so wie er sie geschaffen hatte. Ich für meinen Teil war davon überzeugt, daß es auf der Tardis jede Menge Quecksilber gab, aber natürlich auch sehr viele Plätze, wo man es verstecken konnte. Außerdem gab es sicherlich noch genug andere Möglichkeiten, einen Vorwand für den Ausflug in die Stadt zu finden. Ich war sicher, der Doktor bemerkte, wie es in meinem Kopf arbeitete, wie ich nach einem Ausweg suchte und doch keinen fand, denn er kam auf mich zu und tippte mir mit dem Zeigefinger auf die Brust. »Nur ein Kapitän auf diesem Schiff, klar?« Er wandte sich brüsk von mir ab und fügte hinzu: »Also dann, bei Sonnenaufgang.« Ich zog meine Schlüsse aus der offensichtlichen Fähigkeit des Doktors, seinen Willen durchzusetzen und schrieb es mir für die Zukunft hinter die Ohren. Dann zeigte uns Susan die Räumlichkeiten des Schiffes. Es gab zwei großzügig bemessene Schlafzimmer und vier kleinere, sowie zwei wunderschöne Badezimmer. In einem von ihnen verbrachte ich eine halbe Stunde und spielte mit einem Gerät, das einen rasierte und die Haare kämmte. Zunächst war es etwas sonderbar, zu spüren, wie ein kleiner Apparat, so groß wie ein Fünfmarkstück und so dick wie ein Radiergummi, ohne mein 58
Zutun über das Gesicht huschte. Später zeigte mir der Doktor, wie man den Rasierer-Kamm noch in einen anderen nützlichen Gegenstand verwandeln konnte, eine Art eiserne Frisierhaube mit zwei Halterungen, die genau auf die Schultern paßten. Diese Haube bedeckte dann den ganzen Kopf und schwebte etwa zehn Zentimeter über dem Scheitel. Der Doktor »nahm dann die Daten meines Haarschnitts auf«, wie er es nannte, und programmierte das Gerät entsprechend. Es war entschieden unangenehm zu spüren, wie der kleine Apparat sanft über mein Haar glitt, aber als ich fünf Minuten später den ganzen Aufbau herunternahm, sah ich aus, als wäre ich beim besten Friseur Londons gewesen. Dann zeigte er mir, wie man die Wasser- und Öldusche bediente, eine Säule, deren acht Seiten mich einschlossen und aus deren Tausenden von kleinen Düsen Wasser und Massageöl schossen. Mir war, als trommelten tausend kleine Eisenfäuste auf mich ein. Den Erklärungen des Doktors zufolge wurden durch die scharfen Wasserstrahlen die Poren auf der Hautoberfläche geöffnet, was das Öl in sie eindringen ließ. Danach wurde das Öl durch einen zweiten Strahl wieder ausgespült, und der ganze Prozeß begann von vorne. Schließlich reagierten die Muskeln und Nerven auf diese Behandlung, dehnten und entspannten sich bei jedem Auftreffen des Wasserstrahls und wurden so besser trainiert, als wenn man den ganzen Tag über Sport getrieben hätte. Sie wurden zur selben Zeit beansprucht und massiert. Während meiner ersten Nacht auf der Tardis schlief ich außergewöhnlich gut in dem mir zugewiesenen Schlafzimmer. Als ich wieder erwachte, fand ich meine Kleidung wohlgeordnet auf einem Tisch liegend. Mein Anzug war gereinigt und gebügelt und die übrige Wäsche frisch gewaschen.
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Alle meine Begleiter waren bereits aufgestanden, tranken aus Gläsern etwas, das aussah wie Tomatensaft, und aßen dazu Melonenstücke. Susan erklärte mir, es sei ein Konzentrat aus, wie sie es nannte, »Marswinterbeeren«. Der Doktor schien sehr beschäftigt zu sein. Er packte das Nötigste für die Reise zusammen, vorwiegend kleine Schachteln mit Essen und zwei Kartons mit etwas, das er als konzentriertes Wasser bezeichnete. Ich hatte mir so einige Gedanken gemacht, bevor ich mich am Abend zuvor nach der Dusche ins Bett gelegt hatte. Insgeheim wußte ich, daß mir all das langsam Spaß zu machen begann. Es war ein Schock, so plötzlich aus seinem normalen Leben buchstäblich herausgehievt worden zu sein und als Ersatz dafür nichts anderes zu haben als Zweifel und Unsicherheit; und doch hieß ein Teil meines Ichs dieses neue Leben willkommen. Ich hatte gerne unterrichtet und wußte dennoch, daß es so ganz meine Sache nicht war. Der angestrebte Job bei »Donneby‹s«, den ich nicht bekommen hatte, war nur ein Beispiel in einer langen Reihe ähnlicher Versuche und Fehlschläge, die ich durchstehen mußte, weil ich eine Antwort suchte auf die Frage nach meiner persönlichen Zukunft. Das war nun alles vorbei. Ich konnte mein rastloses Streben, das mich durch die Dutzend Jobs getrieben hatte, endlich aufgeben. Ich konnte mich zusammen mit dem Doktor in Aufregung und Abenteuer stürzen, um mich dann eines Tages, wenn er mich auf die Erde zurückgebracht hatte (und ich war mir sicher, er würde dies tun), glücklich und zufrieden einem normalen Job zu widmen. Aber Barbara? Ich konnte ja nicht wissen, ob sie genauso empfand, und hatte auch keinerlei Grund, dies anzunehmen. Vielleicht war der Schock für sie zu groß? Sie hatte zweifellos einen starken Charakter, auch hatte sie Mut bewiesen. Ich beobachtete sie, wie sie ihr Frühstück beendete, gefaßt, aber 60
blaß, sehr ruhig und in sich gekehrt, und fragte mich, welche Wirkung wohl all diese Geschehnisse auf sie haben mochten. »Alles in Ordnung?« »Ja, obwohl ich schlecht geschlafen habe.« »Nicht ganz das Bett, das Sie sonst gewöhnt sind, oder?« Sie lächelte kurz. »Ich lege es nicht darauf an, in Hysterie zu verfallen oder einen Nervenzusammenbruch zu erleiden.« Sie hatte also meine Gedanken erraten, nun gut. »Leichte Kopfschmerzen«, fuhr sie fort. Sie trank ihr Glas leer. »Susan leidet auch etwas unter Kopfschmerzen. Es ist also eigentlich nicht auf das ungewohnte Essen zurückzuführen. Oder die andere Umgebung«, schloß sie trocken. Ich sah Susan den Hebel für die automatischen Türen bewegen, wieder blitzten die vertrauten Lampen auf und erloschen dann, bis sich schließlich die Türen öffneten. Der Doktor forderte uns auf, ihm zu folgen, und ich nahm Barbara am Arm. »Sagen Sie mir, wenn Sie nicht mehr mithalten können, dann bringe ich Sie zurück.« »Oh, das wird schon gehen. Abgesehen davon hat der Doktor Susan und mir eine Medizin gegeben. Es geht mir schon wieder besser.« Ich sah Susan und den Doktor aus dem Schiff steigen, und Barbara und ich folgten ihnen langsam. »Ist Ihnen aufgefallen, daß wir nicht einmal den Namen des Doktors kennen?« fragte mich Barbara. »Auf Fragen persönlicher Art reagiert er nicht.« »Mag sein, aber ich bin fest entschlossen, ihm zwei Fragen zu stellen, sobald er in der richtigen Stimmung ist. Was macht er und wer ist er?« Es entstand ein kurzes Schweigen, und ich sagte: »Vielleicht sollten wir ihn ›Doktor Who‹ nennen?«
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»Alles, was ich wissen will, ist, woher er und Susan kommen«, sagte Barbara. Dann tauchte plötzlich Susan in der Tür auf. »Da draußen ist etwas!«
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Die Macht der Daleks Wir folgten ihr schnell ins Freie und fanden den Doktor in den Anblick eines hellen Metallgegenstandes vertieft, der in der Morgensonne glitzerte. Gestern nacht war er ganz bestimmt noch nicht dagelegen. »Was halten Sie davon, Chesterton?« Es war eine kleine Metallbox, nach Größe und Form einem Buch nicht unähnlich. Ich ergriff einen stabil aussehenden Stock, und obwohl er mir sofort in der Hand zu zerbröckeln begann, hielt er doch lange genug, daß ich gegen die Box schlagen konnte. »Es ist sehr klug von Ihnen, vorsichtig zu sein«, sagte der Doktor. »Es sieht doch sehr nach einer Falle aus, oder?« Ich entschied mich, das Risiko einzugehen, und hob die Box kurzentschlossen auf. Der Deckel ließ sich ohne weiteres öffnen, und doch hob ich ihn aus Gründen der Vorsicht so langsam wie möglich. Der Doktor nahm mir die Schachtel aus der Hand, und wir alle blickten auf den Inhalt. Sie war voll kleiner Glasampullen. »Sie sehen aus wie Medizinkapseln«, sagte Barbara. Der Doktor nickte mit dem Kopf, schloß den Deckel wieder und reichte Susan die Box. »Das denke ich auch. Bring sie ins Schiff, Susan. Ich werde sie untersuchen, sobald wir aus der Stadt zurück sind.« Susan lief zurück ins Schiff, und der Doktor band sich seinen Rucksack mit dem Proviant auf seinen Rücken. »Wer auch immer letzte Nacht an unsere Tür geklopft hat, er war es, der die Box hier zurückgelassen hat«, murmelt er. »Das läßt auf eine Art Zivilisation schließen. Eine hochentwickelte Gesellschaft, die Metall und Glas herstellen kann, sowie in der Lage ist, aus diesen Werkstoffen 63
Gegenstände herzustellen. Ich sehe keine Anzeichen von Feindschaft«, ergänzte er und registrierte mein zustimmendes Nicken. »Aber nichtsdestoweniger werden wir wachsam sein.« Dann kam Susan wieder heraus, verschloß die Schiffstüren, und wir machten uns auf den Weg in die Stadt. Wir brauchten über eine Stunde, um durch den Wald zu kommen, über die Haufen von totem Holz zu klettern und die Sandwüste bis in die Vororte zu durchqueren. Während dieser Zeit sah niemand von uns einen Vogel, ein Insekt oder überhaupt ein Zeichen von Leben. Die Stadt entschädigte uns für die Mühsal des Ausflugs, denn wir alle waren völlig erschöpft vom Waten in dieser ascheartigen Erde, die manchmal bis über unsere Knöchel reichte und das bloße Vorwärtsgehen langwierig und mühselig machte. Die ganze Zeit über hatten wir diese großartigen Gebäude vor Augen. Sie wurden größer und größer, bis schließlich das erste vor uns stand. Ich bezeichne sie nur in Ermangelung eines passenderen Begriffs als Gebäude, denn die ganze Sache sah aus, als hätte jemand einen Architekten beauftragt, eine Stadt zu entwerfen, worauf sie ein anderer völlig mit Asche zugedeckt hatte, bis auf die Dächer und die vorspringenden, aufragenden Gebäudeteile. Ausruhen konnten wir uns erst, als wir die Asche hinter uns hatten und auf den blanken Metalldächern standen. Die Konstruktionen, wie ich sie nun besser nennen sollte, ragten aus dem Metall hervor und hatten weder Türen noch Fenster. Ich schätzte die Ausdehnung der Stadt auf etwa zwei Quadratkilometer, und keine dieser Kontruktionen schien sich zu wiederholen. Einige ragten nur wie etwa zehn Meter hohe Pfähle in den Himmel, andere sahen aus wie riesige Metallkisten, und wieder andere waren rund wie Gaskessel. Aber alle bestanden aus demselben matten Metall und zeigten weder Schweißnähte noch verschraubte Verbindungen.
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Der Doktor schien zu wissen, wohin er ging, und führte uns an, wobei er nach allen Seiten Blicke warf und ab und zu ein erstauntes »Ah!« und »Oh!« vernehmen ließ, als ob er schon beim ersten Anblick erkennen könnte, wozu jedes Gebilde diente. Auf einmal blieb er stehen und befahl uns zu schweigen. Wir verstummten in unserer Diskussion darüber, wozu all das wohl nützlich sei und wer hier überhaupt leben würde. »Auf einem der Dächer hat sich etwas bewegt«, stieß er hervor. »Ich habe es genau gesehen.« Eine ganze Weile suchten wir schweigend die Umgebung ab, nichts geschah, und schließlich ging uns der Doktor wieder voran, um uns tiefer in das Zentrum der Stadt zu führen. Als wir um eines der quadratischen Bauwerke herumgegangen waren, standen wir plötzlich vor einem flachen Gebäude, an dessen Seite eine kurze Rampe zu einem Tor führte. Der Doktor rieb sich vor Vergnügen die Hände und führte sogar einen kleinen Freudentanz auf. »Dieser Platz ist nach einem ganz bestimmten Plan gebaut«, jubelte er. »Dieses Gebäude mit der Tür ist das Herz der Stadt. Wir werden uns das Ganze von innen ansehen, dann wissen wir mehr.« »Wir suchen nach Quecksilber, vergessen Sie das nicht, Doktor!« »Ja, ja, ja«, erwiderte er gereizt. »Aber da wir nun schon einmal hier sind, können wir genausogut kleinere Erkundungen vornehmen.« Barbara stützte sich etwas an mir ab, und bei dieser Gelegenheit bemerkte ich kleine Schweißperlen auf ihrer Stirn. Ihr Gesicht sah nicht so gesund aus, wie es hätte sein können. Ich begleitete sie zur Rampe, setzte sie in den Schatten des Gebäudes und wandte mich mit zornigem Gesicht dem Doktor zu. »Sie sehen doch, daß es zu anstrengend für sie ist, Doktor.
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Lassen Sie uns das Quecksilber suchen und dann auf das Schiff zurückkehren.« »Mir fehlt nichts«, sagte Barbara stur, aber Susan und ich sahen zum Doktor. Man mußte ihm zugestehen, daß er ernsthaft und ehrlich besorgt war. »Dann ruhen Sie sich hier etwas aus, meine Liebe«, sagte er sanft, »und wir sehen uns währenddessen die Sache von innen an.« Barbara schüttelte den Kopf und erhob sich. »Wir finden das Quecksilber eher, wenn wir uns aufteilen«, sagte sie. »Ich verspreche euch, daß ich völlig in Ordnung bin. Jeder von uns sucht nun selbständig weiter. Wir treffen uns hier wieder in fünfzehn Minuten.« Eigentlich war ich damit nicht einverstanden, aber wie ich Barbara kannte, würde sie so lange herumstreiten, bis sie ihren Kopf durchgesetzt hätte. Sie war sehr resolut und fest entschlossen, uns gegenüber keinerlei Schwäche zu zeigen. Vor allem wollte sie vermeiden, daß wir ihretwegen Zeit verloren. Der Doktor war mit ihrem Plan einverstanden, schließlich stimmten auch Susan und ich zu, und wir gingen durch die Tür. Wir befanden uns in einer großzügig bemessenen Halle, von der mehrere Türen abgingen. Es waren eigentlich weniger Türen als vielmehr Bögen, die durch Stahlplatten verschlossen waren. Seitlich der Türschwellen befanden sich flache Ausbuchtungen. Es war Susan, die entdeckte, daß eine Berührung dieser Ausbuchtung die Stahlplatten zur Seite gleiten ließ und den Blick auf einen Korridor dahinter freigab. Jeder von uns wählte eine Tür, dann verglichen wir unsere Uhren. Mit einem kleinen Lächeln bemerkte ich, daß der Doktor eine echte, alte Taschenuhr besaß, die an einer dicken Goldkette hing. Er hätte in eine Londoner Teestube des vorigen Jahrhunderts gehen können, ohne aufzufallen.
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Die von mir gewählte Tür schien überhaupt nirgends hinzuführen; hinter ihr befand sich nur ein kurzer Korridor, der an einer blanken Metallwand endete. Ich lenkte meine Schritte zurück in den großen Raum und traf dort auf Susan, die dasselbe zu erzählen hatte. Fast im selben Moment tauchte der Doktor auf und berichtete uns, er sei erfolgreicher gewesen. So folgten wir ihm in einen kleinen Raum, der angefüllt war mit Meßinstrumenten, die Oszillographen ähnelten, mit deren Hilfe Klangfrequenzen zerlegt werden. Wir zählten dreißig Stück, zehn an jeder Wand, und jede der dreißig Nadeln schrieb eine andere Kurve auf den schmalen Metallstreifen, der sich unter ihr wegbewegte. Wir gingen von einem zum anderen, betrachteten sie in Ruhe und rätselten über ihren Sinn. Nummern oder Buchstaben waren nicht zu sehen, und ohne noch weitere Gedanken an die Funktion dieser Geräte zu verschwenden, suchte ich sie nach etwa vorhandenem Quecksilber ab, das der Doktor benötigte. Plötzlich vernahm ich hinter mir einen tiefen Atemzug. Als ich herumwirbelte, marschierte der Doktor in die Mitte des Raums. Susan lief zu ihm und packte ihn am Arm. »Was ist los, Großvater? Stimmt etwas nicht?« »Ich kann die Nachricht auf diesen Geräten erkennen«, sagte er heiser, und in seinem Gesicht spiegelte sich blankes Entsetzen wider. »Sie müssen mir verzeihen, Chesterton! Ihr müßt mir alle verzeihen! Was habe ich nur angerichtet mit meiner dummen Ausrede?« »Wovon sprechen Sie überhaupt?« wollte ich wissen. Ich war über seine offensichtlich ernste Besorgnis erschrocken. »Wir müssen sofort zum Schiff zurück. Kein Wunder, daß sich die junge Dame nicht wohlfühlt.« Er sah auf Susan herab und hatte Tränen in den Augen. »Auch dir ist es nicht gut gegangen, mein Kind.«
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Er blickte mich quer über den Raum hinweg an. Seine Augen waren ruhelos, und er nestelte an seinem Mantelkragen, als wäre er ein Henkerstrick um seinen Hals. »Verstehen Sie denn nicht, Chesterton«, brach es aus ihm heraus, »Luftverschmutzung! Deshalb stehen diese Geräte hier. Irgendwie sind sie in der Lage, Luftproben im Umkreis von dreißig Meilen zu analysieren.« Zum ersten Mal konnte ich auf der Stirn des Doktors eine Andeutung von Schweiß erkennen. Es erinnerte mich daran, wie Barbara ausgesehen hatte. »Aber wir hatten doch keinerlei Probleme mit dem Atmen«, versetzte Susan. »Was stimmt denn nicht mit der Luft?« »Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß sich neben dem Sauerstoff noch andere Substanzen in der Atmosphäre befinden. Miß Wright war es übel. Und dir auch.« Er sah mich fragend an, aber ich schüttelte den Kopf. Er lehnte sich ermattet gegen eines der Geräte. »Ich habe schon etwas gespürt. Eine ungewohnte Müdigkeit. Nein, nein, Susan«, fuhr er fort, als seine Enkelin besorgt ihre Hand auf seinen Arm legte. »Ich mache mir um Barbara Sorgen. Wir müssen sie finden und auf die Tardis zurückkehren. Geh und such sie!« Susan verschwand aus dem Raum. Der Doktor wartete das Schließen der Tür ab und wandte sich dann mir zu. »Sie wußten doch, daß die Sache mit dem Quecksilber nur vorgetäuscht war, oder? Damit ich meinen Willen durchsetzen und die Stadt auskundschaften konnte?« Mein Schweigen sprach Bände. Ich war zu sehr über den raschen Verfall seiner Kräfte besorgt. Er schleppte sich langsam von dem Gerät weg und nahm meine stützende Hand gerne an. »Bringen Sie uns zum Schiff zurück und haben Sie Dank dafür, daß Sie mich nicht an Susan verraten haben.«
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Er hatte langsam Sprachschwierigkeiten und wackelte immer stärker mit dem Kopf, als ob er krampfhaft bemüht wäre, wach zu bleiben. Er sah aus wie die Zeitlupenaufnahme eines Boxers, der gerade einen Haken einstecken mußte. Ich legte einen Arm um ihn, glitt mit der Hand über die Ausbuchtung neben der Tür und brachte ihn hinaus. »Susan!« rief ich, aber von ihr war nichts zu sehen. Halb den Doktor stützend, halb ihn tragend, begab ich mich durch den Metallkorridor zu dem Raum beim Hauptausgang. Susan war immer noch nirgendwo zu sehen. Das Beste wäre wohl gewesen, das Gebäude zu verlassen und notfalls den Doktor zurückzulassen, um die anderen zu suchen. Plötzlich sah ich aus den Augenwinkeln, wie sich etwas bewegte, und im selben Moment kam Susan langsam rückwärts durch den Eingang. Ich hörte ein leichtes Summen, ähnlich dem Geräusch, das Überlandleitungen bei Nacht verursachen. Susan blieb stehen und blickte wild um sich. Ihre Augen waren vor Schreck weit aufgerissen. Sie blickte gleichsam durch mich hindurch, und ich wußte, es war irgend etwas hinter mir. Ich wollte mich gerade umdrehen, als der Doktor in meinen Armen zusammenbrach. Ich setzte ihn auf dem Boden ab und blickte zu Susan, eine Frage auf den Lippen. Die Antwort kam langsam durch den Vordereingang. Eine Antwort wie ein Alptraum, der mir das Blut in den Adern gerinnen und mich vor Entsetzen erstarren ließ. Es war ein rundes Ding aus Metall, etwa drei Fuß hoch, einem umgedrehten Becher ähnlich, dem man eine Haube obenauf gesetzt hatte. Es war mit matten Metallflanschen bestückt, und aus seiner Vorderseite ragten drei verschieden geformte Stangen. Es glitt langsam über den Metallboden auf uns zu. Susan wich vor der Maschine zurück, bis sie dicht bei mir stand. Jetzt wußte ich, was ich vorher wahrgenommen hatte und was Susan hinter mir gesehen hatte. Inzwischen waren wir von mehreren dieser Gebilde umringt. Sie glitten alle aus den 69
Türen des Eingangsraumes und hielten ihre Stäbe auf uns gerichtet. Eine der Maschinen näherte sich uns noch mehr als die anderen und kam etwa einen Meter von uns entfernt zum Stillstand. Ich begann die drei Stäbe zu untersuchen, die das Gerät besaß, und war gleichzeitig damit beschäftigt, meinen keuchenden Atem unter Kontrolle zu halten und den Impuls, panisch wegzulaufen, zu unterdrücken. Die drei Stäbe unterschieden sich grundlegend voneinander. Der erste und kürzeste war auf der gewölbten Oberseite angebracht und schien eine Art Auge zu sein. Ich konnte sehen, wie sich die Iris zusammenzog und wieder erweiterte, als es uns musterte. Die beiden anderen, längeren Stäbe hatten eher die Position von Armen, sie befanden sich in der Mitte des »Körpers«, einer an jeder Seite. Der linke war mehr ein Stumpf, relativ kurz, innen hohl. Der andere, der längste von allen, war ein schwarzer Teleskoparm mit einer Saugvorrichtung am Ende. Auch bemerkte ich am unteren Ende des »Augenstabes« zwei Ausbuchtungen, von denen ich zunächst annahm, es seien zwei weitere Augen, bis sie plötzlich aufleuchteten und die Maschine zu sprechen anfing. Sie sprach! Ich war so verblüfft, daß ich einen Schritt rückwärts machte und beinahe über den Doktor gefallen wäre. Die Stimme war ohne jede Modulation, ohne jeden Ausdruck, von einer glanzlosen Monotonie, die dennoch ein schreckliches Angstgefühl heraufbeschwor. »Was machen Sie hier?« Susan schien ihre Angst überwunden zu haben, und das war auch gut so, denn ich hätte kein Wort über die Lippen gebracht, selbst wenn man mir dafür ein Vermögen angeboten hätte. »Mein Großvater ist sehr krank«, sagte sie. Ich hörte ein leichtes Beben in ihrer Stimme, aber ich muß zugeben, es war wirklich kaum zu bemerken. Ihre Beherrschung war
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bewunderungswürdig, und sie wurde immer sicherer, je weiter diese merkwürdige Unterhaltung fortschritt. »Warum?« Susan blickte mich verwirrt an und zuckte dann hilflos mit den Achseln. »Was spielt das für eine Rolle, warum? Ist es nicht Grund genug, daß er krank ist? Helfen Sie uns!« Der Gedanke, diese üblen Maschinen könnten Tragbahren und Medikamente heranschaffen, lag nicht gerade nahe, aber ich wartete zunächst noch ab. Der Eingang war noch immer unbewacht. »Warum ist er krank?« schnarrte der Roboter, als hätte er keinerlei Notiz von dem genommen, was Susan gesagt hatte. Ich fand, es war an der Zeit, die Sache in die Hand zu nehmen. »Es ist die Luft. Wir haben gerade herausgefunden, daß sie uns krank macht.« Der Augenbolzen schwenkte sich zu mir herüber. Es entstand eine Pause von mehreren Sekunden, dann bewegte sich der Roboter langsam rückwärts und blieb stehen. »Sie werden alle in einem abgeteilten Raum bleiben, den wir Ihnen zeigen werden.« »Aber mein Großvater ist krank! Schwer krank, soweit wir wissen. Können Sie uns denn nicht helfen?« Der Roboter ignorierte sie einfach, indem er seine vorherige Feststellung kühl wiederholte, aber ich bildete mir ein, diesmal in der Stimme etwas mehr Betonung mitschwingen zu hören. Es war nichts, was man als emotionalen Ausdruck hätte beschreiben können, aber ich hatte das Gefühl, daß er jetzt eher einen Befehl als eine bloße Feststellung ausgesprochen hatte. Ich beugte mich hinab, um dem Doktor aufzuhelfen, und machte Susan eine Geste, damit sie mir half. Als sie sich bückte, war ich mit meinen Lippen ihrem Gesicht sehr nahe. »Einer von uns muß abhauen«, flüsterte ich, »sehen Sie diesen Ausgang? Können Sie weglaufen?« 71
»Machen Sie das!« keuchte sie. Wir gaben uns alle Mühe, den Doktor schwerer erscheinen zu lassen, als er in Wirklichkeit war. »Nehmen Sie seinen Schlüssel! In seiner rechten oberen Westentasche. Bringen Sie mir Tabletten aus meinem Schrank auf der Tardis! Auf der Flasche steht: ›Stimulantium‹.« Langsam, aber sicher bekamen wir den Doktor wieder auf die Beine. Er war nicht völlig bewußtlos, denn seine Augenlider zuckten leicht, und seine Lippen bewegten sich krampfartig, obwohl kein Ton aus seinem Mund kam. Susan fuhr mit ihrer Hand unter seine Achseln, um ihn hochzuheben, und während ich vorgab, ihr dabei zu helfen, glitt meine Hand in seine Westentasche, um den Schlüssel herauszufischen, den sie mir beschrieben hatte. Ich blinzelte ihr zu, ließ den Doktor los und rannte auf den unbewachten Ausgang zu. Auf der Stelle hatten mich die Maschinen umringt. Ich hörte ein knackendes Geräusch. Irgend etwas hatte mir von hinten in die Kniekehlen geschlagen. Von stechendem Schmerz übermannt, fiel ich zu Boden, wobei mir schlagartig bewußt wurde, daß meine Beine vollständig gelähmt waren. Ich vernahm einen kurzen Schmerzensschrei und merkte erst danach, daß ich es gewesen war, der dieses Geräusch verursacht hatte. Schmerz schoß mir die Beine hoch, erfüllte bald meinen ganzen Körper. Vom unteren Ende meiner Wirbelsäule kroch ein brennendes Gefühl bis zu meinem Nacken hoch, dann verlor ich das Bewußtsein. Den ersten Menschen, den ich nach meinem Erwachen sah, war Barbara. Neben ihr erblickte ich den Doktor und Susan. Barbara und der Doktor schliefen beide oder waren bewußtlos (die Idee, daß sie tot sein könnten, verwarf ich sofort), aber Susan war hellwach. Auf ihrem Gesicht entdeckte ich die Spuren getrockneter Tränen, und ihr Haar war völlig durcheinander. Ich schaute mich schnell im Zimmer um. Abgesehen von einem niedrigen Regal, auf dem der Doktor 72
lag, war kein einziges Möbelstück zu sehen. Wir befanden uns in einem quadratischen Raum, der vollständig aus Metall bestand. Ich sah einen Torbogen und vermutete, daß sich dort der Ausgang befinden mußte. Aber ich konnte keine der üblichen Ausbuchtungen erkennen, mit deren Hilfe man die Türen öffnen konnte. Wir waren also Gefangene. Ich versuchte, mich aufzurappeln, aber die Füße versagten mir den Dienst. Susan kam schnell zu mir herüber und stieß mich sanft auf den Fußboden zurück. »Versuchen Sie nur nicht, Ihre Beine zu gebrauchen. Bitte versuchen Sie es nicht!« »Aber sie sind abgestorben. Ich spüre sie überhaupt nicht mehr!« Ich starrte sie in panischer Angst an. »Ich kann gar nichts dagegen machen. Nun sagen Sie bloß nicht, ich kann meine Beine nie wieder gebrauchen …« Sie beendete meinen beinahe hysterischen Anfall, indem sie einen Finger auf meine Lippen legte. »Pssst! Sie werden sie wieder gebrauchen können«, flüsterte sie. »Die Daleks versicherten mir, daß dies nur eine vorübergehende Erscheinung sei.« Mein heftiges Herzklopfen wurde langsam schwächer, und auch die Angst verflog allmählich. Susan schenkte mir ein trauriges Lächeln, aber es tröstete mich trotzdem. »Wenigstens haben sie uns nicht umgebracht«, sagte sie. Ich nehme an, ich hätte auch das als Trost auffassen sollen, aber das tat ich nicht, denn wer garantierte mir, daß dies letztlich nicht doch ihre Absicht war. »Daleks« hatte Susan sie genannt. Ich bat sie um eine Erklärung. »Viel mehr weiß auch ich nicht. Wir befinden uns genau unterhalb der Stadt und wurden mit einem Lift hierhergebracht. Barbara war schon vor uns hier unten.« »Wie geht es ihr?«
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»Nicht so schlecht wie Großvater«, erwiderte sie mit ernster Miene, »aber sie ist krank. Sie und ich scheinen noch einmal davongekommen zu sein.« »Abgesehen von meinen Beinen!« »Einer dieser Stäbe, die sie tragen, ist eine Art Gewehr. Er sondert eine starke elektrische Ladung ab, glaube ich. Damit haben sie Sie getroffen. Im Lift sprach ich mit einem der Daleks, und der sagte mir, sie hätten diese Stadt erbaut. Er nannte uns ›Thals‹.« »Was soll das denn sein?« »Das weiß ich nicht, Mr. Chesterton. Ich kann Ihnen nur berichten, was ich gehört habe. Ich nehme an, daß es auf diesem Planeten zwei verschiedene Rassen gibt, oder doch zumindest gegeben hat. Die Rasse der Daleks und die Rasse der Thals. Bis vor kurzem nahmen die Daleks an, daß alle Thals ausgerottet seien, bis sie im Wald etwas Verdächtiges entdeckten.« »Könnten das wir gewesen sein?« »Nein, denn das war schon eine ganze Weile her. Ich befürchte, sie betrachten uns als Feinde, die gekommen sind, um gegen sie zu kämpfen. Gerade als ich ihnen erklären wollte, daß wir keine Thals seien, ja, daß wir überhaupt keine Feinde seien, hielt der Lift an, und ich hatte keine Möglichkeit mehr, zu Ende zu sprechen. Sie gaben uns zu Essen und zu Trinken. Es schmeckte übrigens ausgezeichnet. Es klingt vielleicht komisch, aber ich glaube, sie haben irgendwie Angst vor uns.« Je mehr ich darüber nachdachte, desto logischer erschien mir das Ganze. Wenn die Daleks die einzige Rasse auf diesem Planeten gewesen sein sollten, oder das auch nur geglaubt haben, um dann festzustellen, daß es noch andere Lebewesen gab, ich glaube, dann war ihre Reaktion verständlich. Ich versuchte aus dem Gedanken Mut zu schöpfen, daß die Lähmung meiner Füße nur ein vorübergehender Zustand sei, und sah mich etwas im Zimmer um, um mich abzulenken. Über 74
der Tür entdeckte ich einen kleinen Metallbehälter, in dem sechs Glaskugeln glühten. Mir war völlig unklar, wozu sie dienten, aber ich prägte mir ihr Aussehen ein. In diesem Augenblick glitt die Tür zur Seite, und einer der Dalek-Roboter fuhr langsam herein, blieb aber direkt vor dem Eingang stehen. »Wenn ihr keine Thals seid«, schnarrte es aus ihm heraus, »habt ihr auch keine Medikamente.« »Wir sind keine Thals«, erwiderte ich. »Wenn ihr aber welche seid, kann euch die verschmutzte Luft nichts anhaben. Wir sind dank unserer Verkleidung immun dagegen.« Der Gedanke, daß sich in dieser Metalldose jemand oder etwas befand, faszinierte mich. Ich hatte sie bis jetzt als bloße Maschine betrachtet. »Leben Sie denn ständig in diesen Panzerungen?« wollte ich wissen. »Die Thals besitzen eine Medizin, um diese vergiftete Atmosphäre zu ertragen«, bemerkte der Dalek mit einem gewissen Nachdruck. Ich spürte, wie sich Susans Hand plötzlich fester um meinen Arm schloß. »Die Medizin! Der Metallbehälter, den wir vor dem Schiff gefunden haben.« Als sie sich umdrehte, konnte ich ihre Augen vor Aufregung glühen sehen. »Verstehen Sie denn nicht? Es muß ein Thal gewesen sein, der an unsere Tür geklopft hat. Er hinterließ dort eine Schachtel mit der Medizin, und das war es, was wir gefunden haben.« »Und diese Tabletten machen einen unempfindlich gegen die Schadstoffe in der Luft, Susan. Sie könnten den Doktor und Barbara wieder heilen.« Der Dalek hatte dieser Unterhaltung geduldig zugehört, aber an dieser Stelle unterbrach er uns. »Wir interessieren uns für diese Tabletten. Wir könnten diese lästige Schutzpanzerung endlich loswerden, die Enge 75
unserer Stadt verlassen und den Planeten von neuem besiedeln. Wissen Sie nicht, wo man diese Medizin finden könnte?« »Wir haben ein bißchen davon gefunden«, sagte ich zurückhaltend. Ich wollte die Tabletten für uns, nicht für die Daleks. »Einer von euch wird diese Medizin in die Stadt bringen.« Der Dalek glitt rückwärts aus dem Raum. Ich rief ihm nach, daß wir Hilfe brauchten, um durch den Wald zu gelangen, aber die Tür hatte sich bereits wieder geschlossen. Ich hatte vergessen, was mit meinen Beinen passiert war, wollte mich erheben und fiel prompt wieder auf den Hintern. Bedrückt blickte ich um mich. Der Doktor und Barbara waren praktisch völlig ausgeschaltet, und obwohl mir die Luft nichts anhaben konnte, war ich doch zu nichts zu gebrauchen. Also blieb nur noch ein sechzehn Jahre altes Mädchen, das über Tod und Leben entschied. Sie hatte etwa die Chance eines Außenseiters beim Derby, nämlich 1:500. Susan war sehr mutig und intelligent, aber für die bevorstehende Aufgabe war sie nicht gerade geschaffen. Ich beobachtete, wie sie die Stirn ihres Großvaters mit Wasser aus einem Metallkrug kühlte, und dachte bei mir, wie zart und wehrlos sie eigentlich erschien. Die Tür öffnete sich, und der Dalek kam wieder in unsere Zelle. Zumindest nahm ich an, daß es derselbe war. Es war unmöglich, sie zu unterscheiden, da sie keinerlei besondere Kennzeichen besaßen. »Einer von euch wird die Medizin holen. So wurde es beschlossen!« »Wir sind alle krank!« versetzte ich wütend. »Sehen Sie denn nicht, daß Ihr Wunsch unmöglich zu erfüllen ist?« »Das Mädchen ist gesund«, sagte der Dalek, wobei er wieder in seinen absolut seelenlosen Tonfall zurückfiel. Susan sah ihn erschrocken an. Ich glaube nicht, daß sie überhaupt den Gedanken gehabt hatte, sie könnte für diese Aufgabe ausgewählt werden. Der Dalek begann von neuem zu sprechen. 76
»Das Mädchen wird auf der Stelle losgehen. Wir haben die Sache mit euch genau besprochen. Es ist möglich, daß ihr keine Thals seid. Es gibt auch keinen Grund, warum ihr uns belügen solltet. Aber ihr ähnelt den Thals in vielerlei Hinsicht.« »Wie könnt ihr das wissen? Ich erinnere mich daran, daß ihr die Thals für ausgestorben hieltet. Wie könnt ihr dann wissen, wie sie aussehen?« »Wir wissen, wie sie aussehen werden«, lautete die rätselhafte Antwort. »Noch schlimmer als ihr.« Ich versuchte, etwas Licht in diese verwickelte Angelegenheit zu bringen. Schlimmer als wir? Und doch waren wir ihnen sehr ähnlich. Dann sprach der Dalek weiter. »Die chemischen Stoffe in der Luft können die Struktur und Gestalt des menschlichen Gewebes angreifen. Die Thals müssen eine mutierte Rasse sein. Wenn sie sich tatsächlich dort im Wald aufhalten, wo Sie die Tabletten gefunden haben, dann müssen Sie sich vor ihnen in acht nehmen.« Susan war der Schrecken ins Gesicht geschrieben, aber ich konnte nichts machen, als ihr einen hilflosen Blick zuzuwerfen. Der Dalek glitt langsam auf Susan zu. »Sie werden sofort losgehen!« Und wieder hörte ich diesen leichten Nachdruck in seiner Stimme, den warnenden Unterton. Nach einer kleinen Weile sagte Susan: »Muß das sein?« Ich konnte es nicht länger ertragen, sie so vollkommen hilflos zu sehen. Deshalb wandte ich mich dem Dalek zu. »Aber sie ist doch noch ein Kind!« »Sie wird sofort losgehen!« Diesmal war die Drohung in den Worten nicht mehr zu überhören. Susan kam zu mir, und ich umarmte sie. »Sie müssen gehen, Susan. Sie sehen ja selbst, wie es um uns steht. Die anderen brauchen dringend diese Medizin, und meine Beine sind nicht zu gebrauchen. Gehen Sie auf dem schnellsten Weg dorthin und kommen Sie sofort zurück.«
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Ich küßte sie sanft auf die Stirn. Dann hielt ich ihren Kopf dicht an meinen, so daß ich ihr etwas zuflüstern konnte. »Verstecken Sie einen Teil der Medizin. Sonst nehmen uns die Daleks alles ab, wenn Sie zurückkommen.« Sie nickte nur leicht, drehte sich zu der Maschine um und sagte entschlossen: »Ich bin bereit!« Der Dalek bewegte sich rückwärts, und Susan folgte ihm, ohne mir noch einen Blick zuzuwerfen. Die Tür schloß sich, und weg war sie. Ich hörte den Doktor wieder vor sich hinmurmeln. Er sprach über das Quecksilber, eine Reihe unzusammenhängender Worte und Sätze, alles in allem der Beweis dafür, wie sehr ihn selbst noch im Schlaf sein Gewissen quälte. Barbara bewegte sich überhaupt nicht. Sie lag nur am Boden, als schliefe sie den tiefsten Dornröschenschlaf. Dornröschenschlaf! Mir wurde bewußt, daß ich einen Begriff aus einem irdischen Märchen gebraucht hatte. Aber das hier war kein Märchen, es war ein Alptraum. Ich befand mich in einer fremden Umgebung, war ein Gefangener und darüber hinaus dazu gezwungen, eine Aufgabe, die eigentlich für mich bestimmt war, an ein junges Mädchen abzugeben. Vor Wut und Verzweiflung schlug ich mit den Fäusten auf meine Beine ein, aber das half natürlich überhaupt nichts. Es war kein Licht am Ende des Tunnels zu sehen – das Leben schien einfach zu verglühen wie ein Komet am Firmament.
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Flucht in die Gefahr Etwa zwei Stunden später begann mein Magen zu schmerzen, und ich begriff, daß die giftige Luft nun auch mir zusetzte. Daß sich meine Füße nun anfühlten, als läge ich in einem Haufen von Stecknadeln, daß also Leben in sie zurückkehrte, war mir beinahe schon gleichgültig. Meine Kleidung war völlig naßgeschwitzt, und das Zimmer verwandelte sich langsam in eine Achterbahn. Ich erinnerte mich daran, daß ich eigentlich zu Barbara hinüberkriechen wollte, als sie anfing, ihren Kopf zu bewegen und leise vor sich hinstöhnte, um ihren Kopf mit etwas Wasser zu kühlen. Dazu kam es allerdings nicht, da ich zu meinem Entsetzen feststellen mußte, daß ich selbst kleinere Bewegungen nicht mehr ausführen konnte. Schließlich begannen die wenigen Gegenstände im Raum um mich zu tanzen, und ich verlor das Bewußtsein. Als ich wieder erwachte, mußte ich daran denken, daß es nun wirklich langsam uninteressant wurde, in Ohnmacht zu fallen. Es war einfach schon zu oft passiert. Meine Magenschmerzen waren verflogen, mein Kopf wurde schnell klar, aber in meinem rechten Arm spürte ich einen teuflischen Schmerz. Meine Uhr lag so, daß ich sie sehen konnte; zu meinem Schrecken mußte ich feststellen, daß seit Susans Abschied bereits fünf Stunden vergangen waren. In diesem Moment legte sich eine kühle Hand auf meine Stirn, und Susans Gesicht tauchte über meinem auf. »Ich will, daß Sie sich für ein paar Minuten ausruhen«, sagte sie sanft. »Ich habe die Medizin gebracht und Ihnen allen etwas davon gegeben. Alles, was Sie nun tun müssen, ist entspannen, dann wird alles wieder gut.« »Wie ist es Ihnen ergangen?« wollte ich wissen.
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Ich hatte den Eindruck, deutlich zu sprechen, aber Susan sagte mir später, ich hätte geklungen, als wäre ich mehrere Tage ohne Wasser in der Wüste umhergeirrt. Vielleicht war ich auch nur erleichtert darüber, daß sich offensichtlich einiges zum Besseren zu wenden schien. Die Geschichte, die Susan uns zu erzählen hatte, war außerordentlich interessant, und sie erzählte sie, als wir alle zusammen auf dem Boden lagen, um wieder zu Kräften zu kommen. Sie sprach, ohne jede Übertreibung und ohne falsche Bescheidenheit. Meine Bewunderung für dieses Mädchen wuchs und wuchs. »Die Daleks brachten mich bis an den Stadtrand«, begann sie. »Dann gab mir einer von ihnen mit seinem Saugnapf einen Stoß, so daß ich beinahe in den Aschestaub gefallen wäre. Sie sagten mir, daß sie sich nur auf Metall fortbewegen könnten, und darüber war ich eigentlich ganz froh, denn ich hatte schon Angst gehabt, sie würden mir folgen und das Schiff entdecken. Ich hatte sie zwar nie über Felsen oder ähnliche Dinge klettern sehen, aber ich war dennoch erst beruhigt, als sie mir sagten, ich solle nun alleine weitergehen. So schnell ich konnte, rannte ich über das wüstenartige Gelände und hatte die Felsen bald überwunden. Doch als ich bei mir dachte, das Schlimmste sei nun vorüber, begann das Unwetter. Es waren wirklich furchterregend helle, blendende Blitze und riesengroße Regentropfen. Und dann verirrte ich mich.« Sie sah mich mit ihren großen Augen an. Ich muß eingestehen, daß ich sehr gefesselt war von ihrer Geschichte. Ich sah sie direkt vor mir, wie sie patschnaß durch den toten Wald lief, ohne die geringste Ahnung, wo sie sich befand, und den Weg zum Schiff nicht finden konnte. »Ich konnte nur noch daran denken, was Mr. Chesterton zu mir gesagt hatte, bevor ich euch verlassen hatte. ›Kommen Sie so schnell wie möglich wieder zurück!‹ hatte er gesagt.« Sie 80
lächelte mich an. »Diese Worte übertönten in meinem Innern sogar das Brausen und Toben des Sturms und hielten mich davon ab, mich einfach irgendwo auf den Boden fallen zu lassen und liegen zu bleiben. Sie machten mir irgendwie Mut. Ich mußte mich sehr zusammennehmen, Großvater, mich in all dem Chaos und Tosen irgendwie zu orientieren. Und dabei bemerkte ich, daß ich verfolgt wurde.« Über mangelndes Interesse unsererseits konnte sie sich wirklich nicht beklagen. Der Doktor hockte leicht vornübergebeugt auf seiner Bank, und Barbara saß aufrecht da, die Arme um ihre Knie verschränkt, während ich meinen Blick nicht mehr von Susan abwenden konnte. Sie ging langsam im Zimmer umher und veranschaulichte ihre Geschichte durch kleine, aber präzise Gesten. »Ich konnte nicht vergessen, was uns die Daleks über die Thals erzählt hatten. Ihrer Meinung nach waren jene mutierte Wesen, und so bildete ich mir ein, hinter mir polterten vierköpfige, sechsarmige Geschöpfe durch den Wald. Ich war aber wild entschlossen, nicht als kleiner Imbiß für diese Monster zu enden, und so rannte ich einfach weiter, ohne eigentlich zu wissen, welche Richtung ich eingeschlagen hatte, aber auch ohne die Hoffnung aufzugeben. Um genau zu sein, war das Schiff gar nicht so weit draußen. Ich hatte es sicherlich ein paarmal umkreist. Auf jeden Fall stand ich plötzlich auf der bekannten Lichtung, und vor mir stand die Tardis. Ich rannte zur Tür, schloß sie auf und ließ sie sofort hinter mir wieder zufallen. Ich war so durchnäßt, Großvater, ich befürchte, ich habe einen ganzen Regenwassersee im Schiff hinterlassen.« Der lächelte sie nur an und machte eine verzeihende Handbewegung. »Das Schlimmste kam aber noch. Als ich das Zeug bei mir hatte, von dem wir hofften, es sei die Medizin, wurde ich mir plötzlich bewußt, daß im Wald etwas … daß irgend etwas außerhalb des Schiffes war.« 81
»Hast du den Bildschirm angestellt?« wollte der Doktor wissen, und Susan nickte. »Natürlich, und so konnte ich auch beobachten, daß sich im Wald etwas bewegte. Das einzige, was ich als Waffe hätte gebrauchen können, war einer deiner Spazierstöcke, so nahm ich also einen, steckte die Blechbox in meinen Gürtel und verließ das Schiff. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Gewitter bereits aufgehört, aber es war inzwischen dunkel geworden. Dann und wann blitzten helle Lichter auf. Die Tür des Schiffs hatte ich nicht ganz geschlossen, für den Fall eines nötigen Rückzugs. Lange stand ich einfach nur da und beobachtete die Umgebung. Auf der linken Seite des Schiffs befindet sich ein flacherer Felsen, und hinter diesem Stein sah ich während des kurzen Moments eines Blitzes, wie sich etwas bewegte. Ich überlegte noch, ob ich nicht einen Überraschungsangriff in diese Richtung unternehmen sollte, als ich eine tiefe Stimme vernahm. ›Ich werde dir nichts tun‹, sagte sie. ›Hab keine Angst vor mir.‹ Ich fragte ihn, wer er sei, und er antwortete mir, sein Name sei Alydon, er gehöre der Rasse der Thals an. ›Habt Ihr die Medizin genommen, die ich für euch zurückgelassen hatte?‹« »Für euch zurückgelassen?« wiederholte der Doktor. Wir sahen uns alle an und versuchten, die Zusammenhänge zu erkennen. Susan verschränkte die Arme und nahm zu Füßen ihres Großvaters Platz. »Ja, Großvater, Alydon hat die Box mit der Medizin für uns zurückgelassen. Er hat sie nicht zufällig verloren, wie wir zuerst dachten. Das klang ja nun alles sehr vielversprechend, und so bat ich die Stimme, sich zu erkennen zu geben. Ich wollte das Wesen anschauen. ›Du hast keine Scheu, dich deinen Begleitern zu zeigen‹, erwiderte Alydon, ›denn ihr kennt und akzeptiert euch
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gegenseitig, so wie wir das auch tun. Aber ich und mein Volk sind mutierte Wesen.‹ ›Du klingst aber ganz normal‹, sagte ich. ›Habt ihr die Medizin genommen?‹ beharrte er, und so erklärte ich ihm, was geschehen war, auch alles über die Daleks. Daraufhin herrschte langes Schweigen. Plötzlich aber explodierte ein greller Blitz, und zwar mindestens zehn Sekunden lang. Erst danach gab Alydon eine Erklärung ab. ›Ihr scheint uns sehr ähnlich zu sein. Es ist das erste Mal, daß ich euch so deutlich sehen kann.‹ ›Dann komm doch heraus, so daß auch ich dich sehen kann. Ich muß zu den anderen zurück. Sie sind gefangen, und ich weiß noch nicht, ob ich dir vertrauen kann oder nicht.‹« Susan blickte zu Barbara, und ich glaubte, eine Spur von Schalk in ihren Augen zu erkennen. »Nach einer kleinen Weile trat Alydon aus dem Schatten heraus. Es war langsam wieder etwas heller geworden, und obwohl die Blitze nachgelassen hatten, waren sie noch so hell, daß ich die Umgebung deutlich erkennen konnte. Nun, Barbara, ich weiß nicht, was man auf diesem Planeten unter Mutation versteht, aber er ist der schönste Mann, den ich irgendwo auf irgendeinem Planeten gesehen habe.« In diesem Moment mußte ich schon sehr verdutzt aus der Wäsche geguckt haben, denn Susan und Barbara lachten über mich. »Anwesende natürlich ausgeschlossen«, kicherte Susan. Ich beugte mich nach vorne und kam mir dabei ziemlich lächerlich vor. Wenn Sie das jemals versucht haben, während Sie in der Hocke saßen, wissen Sie, was ich meine. »Nun bleib aber objektiv!« versetzte der Doktor mit Nachdruck. »Alydon ist ungefähr einen Meter neunzig groß, ist wohlproportioniert und besitzt schönes, langes Haar. Dann trug 83
er noch einen mit auffälligen Schuppen besetzten Umhang«, berichtete Susan. Sie blickte wieder zu Barbara. »Wenn Sie wollen, komme ich später noch einmal auf Alydon zurück«, und Barbara gab zu verstehen, daß sie mit dieser baldigen, geheimnisvollen Unterredung einverstanden sei. »Auf jeden Fall begleitete mich Alydon durch den Wald und gab mir eine Extraschachtel Tabletten für den Fall, daß die Daleks eine ganze Ration für sich beanspruchen würden. Er stellte mir jede Menge Fragen, die ich natürlich nicht beantworten konnte, zum Beispiel über die Maschinen und die Stadt. Aber wir einigten uns darauf, daß ich mit den Daleks über einen Waffenstillstand sprechen würde.« Susan legte eine Hand auf das Knie ihres Großvaters und blickte zu ihm empor. »Die Thals sind gekommen, um nach Lebensmitteln zu suchen, weißt du, und so habe ich ihnen versprochen, mit den Daleks eine Abmachung zu treffen.« »Dann hast du also mit den Daleks eine Abmachung in dieser Richtung unternommen?« fragte der Doktor in aller Ruhe. »Oh, ja«, sagte Susan froh, »ich erzählte ihnen alles über die Thals und was ihr Anliegen sei, und sie versprachen, ihnen Essen und Trinken zukommen zu lassen. Diese Roboter sind nur halb so schlimm, wie sie aussehen.« Der Doktor strich Susan sanft übers Haar und erhob sich. Unsere Blicke trafen sich kurz, und dabei bemerkte ich eine Nachdenklichkeit in seinen Augen, die mir nicht ganz geheuer war. »Erzähl weiter, Susan!« »Habe ich denn etwas falsch gemacht?« »Das kann ich noch nicht sagen, mein Kind. Erzähle mir zuerst alles, was noch passiert ist.« »Die Daleks diktierten mir einen Brief, den ich an die Thals schreiben sollte«, fuhr sie stockend fort. »Sie gaben mir dünne Blätter aus Metall und eine Art Griffel. Die Daleks würden 84
Vorrat an Essen und Trinken in der Eingangshalle deponieren, und die Thals brauchten die Sachen nur abzuholen. Das war der ganze Inhalt des Briefes.« Der Doktor ließ den Kopf in seine Hände sinken. Sein Gesichtsausdruck war nicht gerade unfreundlich, aber ohne Zweifel ernst. »Und woher sollen die Thals wissen, daß dies keine Falle ist?« fragte er ruhig. »Ich sagte ihnen, ich würde dafür bürgen.« »Was du auch getan hast, oder?« Susan nickte bedrückt. Der Alte entfernte sich ein paar Schritte. Man konnte es förmlich spüren, wie sein Gehirn arbeitete. »Und wann sollen die Thals die Lebensmittel abholen?« »Morgen, bei Sonnenaufgang«, sagte Susan, während sie zu ihrem Großvater ging, um ihn zu umarmen. »Oh, Großvater, was habe ich nur angerichtet? Etwas Schreckliches, befürchte ich.« Er streichelte sie sanft. »Susan, es könnte sein, daß du diese Thals in große Gefahr gebracht hast. Wir haben keinerlei Grund, diesen Daleks über den Weg zu trauen. Dieser Alydon scheint genau zu wissen, was er tut. Er hinterläßt uns Medizin. Er hält Wache. Er gibt dir eine Extraration Tabletten. Es handelt sich hier um zwei völlig verschiedene Rassen, die auf diesem Planeten leben. Die einen sperren uns ein, und wenn es uns schlecht geht, tun sie dann irgend etwas, um uns zu helfen? Nein! Aber als sie herausfinden, daß wir Zugang zu dieser Medizin haben, schicken sie dich los, um sie zu holen. Aber auch das machen sie nur, um die Medizin für sich zu behalten.« Der Doktor warf uns allen bedeutende Blicke zu. »Warum sollten die Daleks irgend etwas, was sich in ihrem Besitz befindet, mit jemandem teilen? Gibt es denn auch nur den kleinsten Hinweis darauf, daß diese Wesen so etwas wie 85
Mitgefühl, einen Sinn für Erbarmen oder Freundschaft besitzen? Haben sie denn überhaupt ein Interesse an uns? Ich kann das eigentlich nicht glauben.« Direkt über des Doktors Kopf entdeckte ich in diesem Augenblick einen kleinen Behälter mit sechs Glasaugen darin. Was sollte es anderes sein als Kameraobjektive oder Mikrofone, sagte ich mir. Wahrscheinlich beides. Falls die Daleks uns abhören sollten, war es wohl besser, den Mund zu halten und nicht zuviel über unsere wahren Gefühle zu verraten. Ich war so sehr mit diesen Gedanken beschäftigt, daß ich gar nicht bemerkt hatte, wie mich der Doktor direkt ansprach. Er sagte: »Was ist denn los mit Ihnen, Chesterton? Ich glaube, Sie haben überhaupt nicht zugehört.« Ich erhob mich vom Boden und ging so um den Doktor herum, daß ich mit dem Rücken zur Glasaugenbox stand. Auf diese Weise konnte ich unbeobachtet gestikulieren. Ich deutete mit dem Daumen hinter mich. »Wenn Sie die Daleks so sprechen hören könnten«, sagte ich mit gespieltem Ärger, »was glauben Sie, würden die wohl machen? Sie haben uns bis jetzt noch nicht getötet, sie lassen uns die Medizin einnehmen, und Sie können es ihnen nicht zum Vorwurf machen, daß sie mißtrauisch sind. Lassen Sie Ihnen etwas Zeit, Doktor, und sie werden Ihnen bestimmt beweisen, wie freundlich sie uns gesonnen sind.« Der Doktor war schnell von Begriff. Er nickte nur mit dem Kopf, nachdem er mit einem raschen Seitenblick die Box gestreift hatte. Dann bückte er sich, hob mit der einen Hand den Metallkrug in die Höhe, bedrohte mich damit und forderte mich mit der anderen heimlich auf, vor ihm zurückzuweichen. »Sie wagen es, sich mit mir anzulegen, Chesterton?« keifte er, während ich ihm rückwärts auswich. Die zwei Mädchen, die nicht wissen konnten, welches Spiel wir hier trieben, wollten ihn zurückhalten, und ich erkannte, daß Susan mit dem 86
Gedanken spielte, ihrem Großvater die Waffe zu entwenden. Das war allerdings das Letzte, was ich wollte. Ich zog mich noch rascher zurück, und der Doktor folgte mir mit haßerfülltem Blick, den Krug schwingend. »Nach allem, was ich für Sie getan habe, muß ich mir nun anhören, wie Sie unsere Feinde verteidigen.« Ich rechnete ohnehin damit, zu fallen, aber es geschah etwas früher, als ich dachte, da ich plötzlich über etwas stolperte. Ich konnte noch beobachten, wie der Doktor den Krug hob und ihn mit unbeirrbarer Zielsicherheit nach dem Kasten an der Wand schleuderte. Er traf genau ins Schwarze: Ein Blitz, ein Knall, etwas Rauch, und der Kasten hing zerschmettert an der Wand. Der Doktor kam zu mir, grinste vor Vergnügen und half mir auf die Beine. »Ausgezeichnet, mein Junge, ausgezeichnet. Ein perfektes Team, he?« Er drehte sich um und erklärte den anderen den Sachverhalt, während ich den Gegenstand untersuchte, über den ich gestolpert war. Es war ein langer Mantel mit sonderbaren Mustern, und er bestand aus einem Material, das ich nie zuvor in meinem Leben gesehen hatte. Es schien eine Mischung aus Seide und Gummi zu sein, aber seine Beschaffenheit erinnerte eher an Zigarettenpapier. »Das ist Alydons Mantel«, sagte Susan. »Er gab ihn mir, denn als wir die Felsen erreichten, begann es wieder zu regnen.« »Kommt beide mit!« unterbrach sie der Doktor. »Bevor einer dieser Roboter hereinkommt und bemerkt, was mit ihren Geräten passiert ist. Wir müssen uns so schnell wie möglich aus diesem Gefängnis befreien.« »Und die Thals warnen«, sagte Barbara ruhig. Der Doktor sah sie nur kurz an, antwortete ihr aber nicht. »Was unternehmen wir denn wegen der Daleks?« fragte ich. Wir dachten einen Moment nach.
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»Ihre Augenstäbe scheinen ihnen eine enorme Übersicht zu verschaffen, und ihre Gewehre haben eine gewaltige Durchschlagskraft.« »Das weiß ich nur zu gut«, sagte ich. »Aber wie funktionieren sie? Man muß offensichtlich davon ausgehen, daß die Daleks selbst in einer Art Kasten leben; und darin muß sich auch ein Motor befinden. Wenn wir die Arbeitsweise dieser Maschine herausfinden, könnten wir sie vielleicht an dem Punkt angreifen.« Der Doktor rieb sich gedankenverloren an der Nase. »Ja, das ist des Pudels Kern, Chesterton. Wie Sie wissen, besteht diese ganze Stadt aus Metall. Sogar die Böden sind aus Eisen. Außerdem haben sie Susan gesagt, daß sie sich nur auf Metall fortbewegen könnten, also nur bis zum Stadtrand.« »Und sie sind von Strom abhängig«, warf Susan ein. »Aber wie denn, meine Liebe? Wir wandern hier die ganze Zeit auf dem Metallboden umher, ohne einen einzigen Stromschlag abzubekommen. Wo sind ihre Stromabnehmer?« »Trotzdem, sie haben immer diesen leichten Geruch nach Elektrizität um sich. Es erinnert mich an etwas, aber mir fällt kein Name dafür ein«, sagte Barbara. Sie dachte kurz nach, dann schlug sie eine Hand vor die Stirn, als es ihr plötzlich einfiel. »Auto-Scooter! Auf dem Rummelplatz. Die riechen genauso!« »Ich frage mich, ob …«, begann der Doktor, dann kam er zu mir, nahm mir Alydons Mantel ab und strich mit seinen Fingerspitzen über seine Oberfläche. Er sah mich an. »Glauben Sie, die Daleks haben herausgefunden, wie man sich elektrostatische Energie zunutze machen kann, Chesterton?« Aus Gründen der Vernunft wollte ich eigentlich darüber überhaupt nicht mit ihm diskutieren. Allein der Gedanke schien absurd. Aber dann dachte ich an unsere Reise durch Raum und 88
Zeit und an die veränderten Dimensionen innerhalb des Raumschiffs. Man kann schwer vernünftig diskutieren, wenn einem solche Gedanken im Hinterkopf herumspuken. Ich zuckte mit den Schultern. Der Doktor grinste mich an und tätschelte meinen Arm. »Sehr richtig, mein Junge. Immer offen bleiben für alle Möglichkeiten, die in Betracht kommen. Ich weiß, der Einsatz von elektrostatischer Energie erscheint abwegig, aber es wäre doch immerhin eine Antwort, oder nicht? Nun gut, falls sie sie sich zunutze machen, gibt es nur eine Möglichkeit der Stromabnahme. Sie entnehmen die Spannung dem Boden und geben sie auch wieder dahin ab. Jetzt nehmen wir einmal an, Chesterton …« Er breitete den Mantel auf dem Boden aus, und in diesem Augenblick unterbrach Barbara ihn. »Nehmen wir einmal an, wir zögen einen Dalek auf diesen Mantel?« »Genau, Miß Wright.« »Wird der Mantel isolieren, Doktor?« Er und Barbara untersuchten ihn zusammen. Ich erinnerte sie daran, daß ihn Alydon Susan gegeben hatte, weil es zu regnen begonnen hatte. Und zweifellos fühlte er sich etwas gummiartig an. Susan setzte sich auf den Boden, zog einen Schuh aus und begann, die Asche von den Absätzen zu streifen. »Nun, wir müssen es versuchen«, sagte der Doktor. »Chesterton und ich werden das übernehmen. Sie und Susan sollten sich, soweit es geht, heraushalten.« »Woran ich eigentlich gedacht hatte, war Folgendes, Doktor«, schlug ich vor. »Entweder Barbara oder Susan könnten etwas in die Tür klemmen. Wir haben keine Garantie dafür, daß der Dalek den Raum betreten wird, aber wenn wir die Tür blockieren, könnte er neugierig genug werden, hereinzuschauen.«
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»Gute Idee, aber das besorgen Sie. Setzen Sie sich hier hin, und sobald die Tür sich öffnet, stecken Sie etwas zwischen Tür und Rahmen. Die Tür öffnet sich doch zur Seite hin und verschwindet in der rechten Wandseite, oder?« Ich nickte. »Doktor, ich weiß nicht, ob es Ihnen schon aufgefallen ist«, mischte sich Barbara ins Gespräch, »aber die Augenstäbe verschaffen ihnen praktisch einen perfekten Rundblick. Sie werden es wohl kaum schaffen, unbemerkt an ihnen hochzuklettern.« Sie hielt einen Klumpen in der Hand, der an gemustertes Plastilin erinnerte. »Außer, Sie benützen Schlamm.« Der Doktor kam zu mir herüber und half mir die Teile aufzusammeln, die von der zertrümmerten Box an der Wand stammten. »So ganz falsch können wir mit dieser Taktik nicht liegen«, murmelte er. In diesem Moment öffnete sich die Tür. Sofort verteilten wir uns im ganzen Raum. Ich pirschte mich möglichst nahe an die Tür heran, und der Doktor legte sich mir gegenüber flach auf den Boden. Susan und Barbara standen vor der Tür und versperrten dem Dalek den Weg. Sobald die Tür sich vollständig geöffnet hatte, stieß ich ein Stück weiches Metall, das ich von der Box gelöst hatte, in die Türkante. Offensichtlich mißtrauisch geworden, verharrte der Dalek draußen im Korridor. »Sie haben unser Kommunikationssystem zerstört«, schnarrte er. »Stellen Sie sich alle zusammen auf einen Platz.« Niemand rührte sich von der Stelle. Der Dalek bewegte sich weiter und war bereits zur Hälfte in der Tür, aber für meinen Geschmack noch nicht nahe genug am Mantel. »Warum befinden sich zwei von Ihnen an den gegenüberliegenden Seiten des Eingangs? Alle vier müssen an einem Platz stehen!«
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Dann entschloß sich der Dalek, uns vorzuführen, was geschehen würde, falls wir seine Anordnungen ignorierten. Ich sah einen kurzen roten Punkt in einer der Ecken aufblitzen. Man hörte ein rauhes Krachen, und ein leuchtend blauer Strahl schoß durch den Raum. Er traf auf der Wand auf, zerschmolz ihre Oberfläche, und kleine Ströme rotglühenden Metalls ergossen sich auf dem Boden. Der Doktor und ich sahen uns an, dann bewegten wir uns zögernd auf die Mädchen zu. »Wir konnten noch nicht feststellen«, begann der Dalek, »ob das Kommunikationssystem mit Absicht oder zufällig zerstört wurde. Das spielt auch keine Rolle mehr. Sie interessieren uns nicht mehr. Wir haben die Medizin erprobt.« Wir alle sahen uns verwirrt an. Die Stimme des Daleks begann wieder zu schnarren, um uns weitere Erklärungen zu liefern. »Einige der Daleks, an denen die Tabletten erprobt wurden, haben nicht darauf angesprochen und sind gestorben. Demzufolge ist diese Medizin Gift für uns. Um uns von unseren Panzern zu befreien, um fähig zu sein, den Planeten Skaro wieder aufzubauen, müssen wir denjenigen Bestandteil in der Luft erhöhen, der Euch und den Thals fremd ist.« »Aber wenn Sie das tun, töten Sie alle anderen«, rief der Doktor. »Der Planet gehört den Daleks!« Der Anblick der Maschine jagte mir noch immer Schrecken ein. »Aber Ihnen geht es doch gut in der Stadt? Sie haben Ihre Schutzanzüge. Es gibt doch genügend Platz für Sie und die Thals?« »Für einige Zeit, vielleicht. Aber wenn wir uns vermehren und wenn die Thals sich vermehren, ist der Konflikt unvermeidlich. Wir werden mehr von dem chemischen Bestandteil in der Luft verlangen und sie einen geringeren Anteil. Deshalb müssen sie ausradiert werden.« Es verging eine Weile, während der der Augenstab jeden von uns musterte. 91
»Die Entscheidung über eure Zukunft fällt morgen. Nachdem wir den Thals unsere Macht demonstriert haben.« Der Dalek glitt sanft nach draußen, und die Tür begann, sich zu schließen. Als sie aber an dem kleinen Metallstück angekommen war, hielt sie abrupt an. Der Dalek strich mit seiner Saugvorrichtung über den Knopf außerhalb des Raumes, aber die Tür bewegte sich keinen Millimeter. Er kam ins Zimmer zurück. Der Arm mit der Waffe war genau auf Barbara gerichtet. »Nehmen Sie das Hindernis aus der Tür!« Da mir nichts anderes übrigblieb, ging ich hinüber und entfernte das kleine Metallstück. Der Dalek verließ den Raum. Unser Plan war fehlgeschlagen. Dann hatte Susan einen Einfall und rief: »Wir brauchen mehr Wasser. Es ist alle, und Sie können uns nicht die ganze Nacht ohne Wasser lassen!« »Sie werden es später bekommen.« Die Tür schloß sich vollständig. Susans Geistesblitz würde bewirken, daß der Dalek zurückkommen würde, aber wir mußten warten. Außerdem war es möglich, daß uns das Wasser ein ganz anderer Roboter brachte. Auf jeden Fall öffnete sich irgendwann die Tür, und ein Dalek kam ganz ohne Mißtrauen herein. Wir saßen alle auf dem Boden herum; der Doktor war beinahe eingenickt, Susan und Barbara vertrieben sich die Zeit mit einem Wortspiel, bei dem Susan erstaunlicherweise mit Leichtigkeit gewann. Sie verfügte offensichtlich über einen großen Wortschatz. Sobald die Tür sich geöffnet hatte, sah ich meine ganz große Chance gekommen, denn ich war der Tür am nächsten und befand mich etwas seitlich von ihr. Ich stellte mich schlafend, aber sobald der Roboter an mir vorbei war, erhob ich mich und stieß ihn von hinten an, so fest ich konnte. Er rollte über den Mantel und hielt an. Barbara sprang aus der Gefahrenzone der Waffe und schmierte den Schlamm, den sie aufgehoben hatte, über die optische Linse der Maschine. Ich hörte die Stimme des Daleks quaken, aber seine Worte blieben unverständlich, so als 92
würgte man ihn. Der Doktor war schlagartig wach geworden. Wir sprangen alle auf, um aus dem Schußbereich der Waffe zu gelangen, für den Fall, daß sie noch funktionsfähig war. Der Doktor erteilte Befehle. »Susan, suche noch ein Metallstück, um die Tür offenzuhalten! Miß Wright, gehen Sie mit ihr und bewachen Sie den Korridor! Chesterton, Sie und ich werden versuchen, dieses Ding zu öffnen!« Susan und Barbara gingen weg, und wir begannen, die Panzerung des Daleks zu untersuchen, in der Hoffnung, einen Griff oder eine Schweißnaht zu finden. Wir fanden schließlich einen Hebel auf der Vorderseite der Maschine, einige Zentimeter unter der Oberseite und direkt in der Mitte. Der Roboter gab kein Lebenszeichen mehr von sich, also betätigten wir den Hebel und hoben die Abdeckung hoch. Ich denke ungern an den Anblick zurück, der sich uns bot. Es war grauenhaft. Inmitten eines Kopfes ohne Ohren befand sich ein einzelnes Auge und eine Nase, die so flach und formlos war, daß sie eher an eine Beule erinnerte. Der Mund war nur ein kurzer Schlitz oberhalb des Kinns, das schon mehr einer Fischflosse glich, und seitlich der Mundwinkel befanden sich zwei weitere Schlitze. Ich hörte den Doktor etwas von Hörvorrichtungen murmeln. Die Haut war dunkelgrün und mit einem besonders abstoßend aussehenden Schleim bedeckt. Ich fühlte, wie sich mir der Magen umdrehte, und biß mir auf die Zunge, bis ich Blut schmeckte. Der Doktor betrachtete das Wesen mit Abscheu und wischte sich mit der Hand über die Stirn. »Es ist zwar entsetzlich, Chesterton, aber wir müssen dieses Ding herausholen!« Nach einer kleinen Weile sagte ich: »Weil ich da hinein muß?« Er sah mich scharf an. »Jawohl, mein Lieber, das ist unsere einzige Hoffnung. Werden Sie es schaffen?« Die Antwort blieb mir erspart, denn Susan kam herein, um sich unsere Entdeckung anzusehen. Der Doktor wollte sie 93
überzeugen, bei Barbara zu bleiben, aber ohne Erfolg. Ich sah Barbara kurz in die Augen, und sie begriff, daß sie besser nicht an unserer Entdeckung teilhaben sollte. Zusammen zogen wir die Maschine vom Mantel herunter. Der Dalek bewegte sich wieder. Langsam hob er den Kopf, und ich bemerkte zwei stumpenförmige Arme, von denen einer sich auf einen Hebel zubewegte. Dann stopfte der Doktor den Mantel in den Kasten, wir hoben das Wesen heraus und manövrierten es in eine Ecke. Es war die schrecklichste und grauenvollste Erfahrung meines Lebens. Auch der Doktor war offensichtlich betroffen, denn er leckte sich andauernd nervös über die Lippen, so, als ob sein Mund ausgetrocknet wäre, und seine Gesichtsfarbe hatte einen leichten Grauton angenommen. »Chesterton, wenn es auch nur einen Hauch von Zweifel daran gegeben haben sollte, was wir hier vor uns haben, so hat ihn der Anblick von diesem Ding hier endgültig ausgeräumt. Und sie nennen die Thals mutierte Wesen! Nun gut. Was halten Sie davon, in dieser Maschine zu fahren, he?« Natürlich war das Ding eng wie eine Sardinenbüchse, aber wenn ich mich zusammenkrümmte und meine Arme verschränkte, konnte ich es schaffen. Drinnen befanden sich allerhand Hebel und Schalter, aber ich hatte keine Ahnung, wozu sie im einzelnen gut sein sollten. »Ich habe ein bißchen Angst vor dieser ganzen Sache, Doktor«, sagte ich. »Und falls sie nun so eine Art Nachrichtensystem hier eingebaut haben, was dann?« Der Doktor war damit beschäftigt, den Schlamm von der Linse zu entfernen. »Nun, Sie werden diese ganzen Schalter nicht benötigen. Wir befestigen den Deckel wieder und schieben Sie an. Dabei tun wir so, als gingen wir hinter Ihnen her.« Er rief die zwei anderen zu sich, und dann senkte sich langsam der Deckel über mir. Ich hatte keinerlei Atembeschwerden, und wenn ich meinen Kopf leicht zur Seite 94
drehte, konnte ich durch eine Gummilinse blicken, sodaß ich auch etwas von meiner Umgebung mitbekam. »Sagen Sie etwas!« hörte ich Barbara von draußen. »Können Sie mich hören?« »Ja, sehr gut sogar«, antwortete der Doktor. »Aber Sie sollten mehr wie ein Dalek klingen«, sagte Susan. Ich versuchte, ihre tonlose, flache Stimme zu kopieren, und daraufhin tauchte ihr Gesicht vor mir auf, sie lächelte und winkte mir voller Optimismus zu. »Ganz hervorragend, Mr. Chesterton.« Ich fühlte, wie sie mich vorwärtsschoben, und dann bewegten wir uns auf die Tür zu. Der Doktor ging voran. Er benutzte die Stange mit dem Saugnapf als Lenkhilfe. Wir kamen in den Korridor und bewegten uns in ihm langsam vorwärts. Ich war unvorstellbar erleichtert, als wir diesen Raum endlich verlassen konnten, aber als die anderen mich in meiner Maschine herumdrehten, konnte ich kurz sehen, wie sich etwas unter dem Mantel bewegte. Eine kleine grüne Hand mit drei Fingern versuchte krampfhaft, den Mantel hochzuheben, der den ganzen Körper bedeckte. Die Tatsache, daß dieser Versuch fehlschlug, und der Körper wie leblos auf den Stahlboden zurückfiel, konnte mich nicht gerade erheitern. In diesem Moment schoben meine Begleiter mich um eine Ecke des Korridors, und das Blut gefror mir in den Adern. Etwa zehn Meter vor uns sah ich einen Dalek, der sich umdrehte und uns genau ins Auge faßte.
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Überlebenswille Der Dalek vor uns blieb stehen. Ich wagte nicht daran zu denken, was geschehen würde, wenn er losschießen sollte. Der Doktor befand sich etwas seitlich von mir und tat so, als würde er von dem Arm des Roboters vorwärts gestoßen. Aber er befand sich genau in der Schußlinie. Erstmals konnte ich die schreckliche Angst einer Panzerbesatzung nachfühlen, wenn sie ein feindliches Geschütz vor sich hat. »Nur ruhig Blut, Chesterton«, flüsterte mir der Doktor zu, und dann sagte er laut und mit ärgerlichem Tonfall: »Hören Sie endlich auf, mich so zu stoßen, ich bitte Sie. Ich komme ja schon!« Etwa drei Meter vor dem Dalek kamen wir zum Stehen. Ich wollte keinesfalls der Erste sein, der zu sprechen anfing. Ich hatte einfach zu viel Angst, einen Fehler zu begehen. Die geschmolzene Metallwand in unserer Zelle wollte mir einfach nicht aus dem Sinn. Der Schweiß floß mir in Strömen über die Stirn, vorbei an meiner Augenbraue und tropfte mir dann von der Nase. »Kommen Sie auf Ebene Acht?« Ich bemerkte, daß der Dalek am Ende des Satzes leicht seine Stimme erhoben hatte. Es war das erste Mal, daß sich eine Art Sprachmelodie bemerkbar machte. »Ja.« Der Dalek musterte uns eine Weile und wandte sich dann von uns ab. »Es gibt keine Anweisungen. Die Sache ist verschoben worden.« Ich suchte verzweifelt nach einer Antwort, konnte aber keinen Ton von mir geben. Dann tauchte die schlanke Silhouette Susans vor mir auf. 96
»Ich werde nicht gehen!« schrie sie. »Sie haben kein Recht, uns hier wie Gefangene zu halten.« Sie rannte los und versuchte an dem anderen Dalek vorbeizukommen. Die Maschine reagierte erstaunlich schnell. Sie wirbelte herum, und ich sah, wie sich der Arm mit dem Saugnapf blitzschnell an der gegenüberliegenden Wand festsaugte, so daß Susan der Weg versperrt war. »Gehen Sie zurück zu den anderen!« Susan drehte sich langsam um und stellte sich an die Seite ihres Großvaters, der nun zwischen ihr und Barbara stand. Der Dalek wandte mir seinen Augenstab zu, und die Glühbirnen leuchteten auf. »Ich werde dir helfen, sie in den Lift zu bringen.« Ich wagte es nicht, irgend etwas zu sagen. Die aufleuchtenden Birnen erinnerten mich daran, daß ich ja überhaupt nicht wußte, ob die meinen funktionierten. Der Dalek löste seinen Arm von der Wand, drehte sich herum und richtete ihn auf eine Ausbuchtung in der Wand. Eine Tür glitt zur Seite, und Susan ging durch sie hindurch. Barbara stellte sich so vor den Doktor, daß dieser einen der Stäbe nehmen konnte, um mich zu ziehen. Wir waren sicherlich nur noch wenige Zentimeter von der Tür entfernt. Barbara war bereits auf der anderen Seite, als der Dalek sein Auge plötzlich auf die Stelle richtete, wo ich die Hand des Doktors vermutete. »Treten Sie zurück! Nehmen Sie Ihre Hand da weg!« Der Doktor gehorchte, und ich kam natürlich zum Stillstand. Der Augenstab richtete sich direkt auf mich. »Was ist los? Ist etwas nicht in Ordnung mit dir?« Ich dachte, es wäre das Beste, auf stur zu schalten. »Sie kommen auf Ebene Acht!« betonte ich. Der Roboter schien zunächst unentschlossen, wandte dann aber seinen Augenstab und schließlich sich selbst von mir ab. Der Doktor packte die Gelegenheit beim Schopfe, zog mich an einem der Stäbe durch die Tür und drehte mich so, daß ich mit dem 97
Gesicht nach draußen blickte. Der Dalek drehte sich langsam, während sich die Linsen seines Auges rhythmisch verengten und erweiterten. Der Doktor strich mit der Hand über die innere Ausbuchtung des Lifts, und die Tür glitt langsam zu. Ich beobachtete die träge Bewegung der Tür und erwartete jeden Moment, daß sie von dem Dalek plötzlich gestoppt würde, der das ganze Spiel durchschaut hatte. Nichts dergleichen geschah. Statt dessen vernahm ich nur eine kurze Bemerkung seitens des Daleks, die er in eine Art Mikrofon sprach. Es ging wohl um unsere Unterbringung auf Ebene Acht. Dann schloß sich die Tür endgültig, und die Stimme des Daleks verstummte. Der Doktor kniete sich vor die Ausbuchtung in der Wand, um sie zu untersuchen. »Geben Sie mir einen Ihrer Schuhe, Miß Wright!« sagte er. Barbara zog einen aus und reichte ihn dem Doktor. Mit dem Absatz dieses Schuhs zerschmetterte er das Glas der Wölbung in tausend Stücke. Dann griff er in seine Jackentasche und zog daraus etwas außergewöhnlich Alltägliches hervor: einen Haken für einen Kleiderknopf. Mit diesem stocherte er in dem Loch herum, das in der Wand entstanden war. Es dauerte nur einige Sekunden, dann zog er einige Drähte hervor, die er mit einem kräftigen Zug nach unten abriß. Er ging in die Hocke, steckte seinen Haken wieder ein und rieb sich zufrieden die Hände. »So schnell werden sie diese Tür nicht mehr öffnen.« »Vielleicht könnten Sie dann so freundlich sein und mich aus dieser Blechbüchse hier befreien!« Er winkte die beiden Mädchen herbei, während er sich erhob. »Sie werden ja gebraten da drinnen. Der Griff ist auf der Vorderseite, Miß Wright.« Stück für Stück öffnete sich der Deckel, und ich kletterte dankbar aus meiner Sardinenbüchse. Wir waren in einer Art Vorraum, nicht viel größer als ein Wäscheschrank, und der Tür 98
nach zu schließen, die vor uns lag, befand sich hinter uns ein Lift, der nicht verschlossen war. »Nun, ich bin froh, aus dem Ding da wieder herauszusein. Jetzt weiß ich endlich, was es heißt, eine Sardine zu sein.« »Los, los, wir müssen mit diesem Lift nach oben und aus dieser Stadt heraus«, versetzte der Doktor scharf. Aus der Ferne hörten wir plötzlich das Heulen von Sirenen, dann zupfte mich Susan am Ärmel und deutete auf die Tür. Erst zeigte sich ein rotglühender Fleck, dann eine kleine Öffnung: Die Daleks schweißten sich ihren Weg frei! Wie ein Mann sprangen wir in den Lift, und Barbara drückte auf den obersten Knopf einer Schalttafel mit insgesamt zwanzig Knöpfen. Der Lift schoß nach oben. Susan sah auf die Uhr. »Es ist gleich sechs, Großvater. Die Thals müßten jeden Moment eintreffen.« Der Doktor räusperte sich nur und vermied es, uns anzusehen. Barbara schaute ihn unverwandt an, und ich hatte den Eindruck, daß sie ihm gerade etwas erklären wollte, als sich der Lift langsamer bewegte. Schließlich stand er ganz still. Wir verließen den Lift und befanden uns auf dem Dach eines Gebäudes, das mich an einen Glaskessel erinnert hatte. Eine Glaskuppel umgab uns, als hätte hier jemand ein Observatorium einrichten wollen. Auf diese Weise hatten wir jedenfalls einen hervorragenden Rundblick über die Stadt, ich hatte das Gefühl, auf dem Eiffelturm zu stehen. Wir traten an die Glaswand und betrachteten uns die ganze Sache erst einmal. Von hier aus gesehen sah die Stadt aus, als hätte man eine Menge technischer Geräte auf einen Haufen zusammengetragen. Wir befanden uns im höchsten Gebäude der Stadt, und so konnten wir uns einen genauen Überblick über unsere Umgebung verschaffen. Weit entfernt konnte man den Wald erkennen, in dem die Tardis lag. Auf eigentümliche Weise wirkte er einladend. Auf derselben Höhe lag die Reihe 99
der Felsen, von der aus Susan die Stadt zuerst gesehen hatte. Dahinter begann das Land abzufallen. Ich konnte vereinzelt spärliche Vegetation erkennen. Auf der anderen Seite der Stadt türmte sich eine enorme Gebirgskette vor unseren Augen auf. Als wir etwas in diesem »Observatorium« umhergingen, trafen wir auf etwas, was ich nur als typische »DalekBildhauerkunst« bezeichnen kann. Es bestand aus einer Serie von aneinandergeschweißten Metallquadern, ohne jede Verzierung. Da eine funktionelle Verbindung mit dem Boden nicht zu erkennen war und die Quader offensichtlich auch keine Maschinenteile enthielten und überhaupt zu nichts nütze zu sein schienen, kamen wir zu dem Schluß, daß es sich hier um eine Art bizarrer Dekoration handeln müsse. Der Doktor dirigierte uns alle zum Lift zurück und entwarf einen Schlachtplan. »Wir haben gesehen, daß es mehrere dieser Lifte gibt. Das einzige, das wir nun tun können, ist, in einem dieser Lifte hinunterzufahren, einen Ausbruch zu versuchen und aus der Stadt zu entkommen.« »Glauben Sie denn, daß wir überhaupt an den Daleks vorbeikommen werden?« fragte Barbara. »Da bin ich mir ganz sicher, Miß Wright. Erinnern Sie sich, wie Susan sagte, die Thals kämen in die Stadt? Die Daleks werden vollauf mit ihnen beschäftigt sein. Wenn wir uns nur vorsichtig genug verhalten, sollte es uns möglich sein, in den Wald zu entwischen.« »Das dachte ich mir«, sagte Barbara verärgert. »Ich wußte, daß Sie das vorschlagen würden. Es ist Ihnen ganz egal, daß die Thals in die Stadt kommen werden, zu einem Treffen, das wir immerhin arrangiert haben. Vielleicht werden sie sogar kommen, um uns zu helfen. Sie denken nur daran, sie als Köder zu benutzen, während wir uns in Sicherheit bringen.«
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Der Doktor schien ganz erstaunt über ihren Wutausbruch. Ich muß zugeben, es verwunderte mich ebenfalls. So lange ich Barbara kannte, war sie nie aus der Fassung geraten oder hatte die Selbstbeherrschung verloren. Nicht einmal, als sie dem Metallmonster im Wald gegenübergestanden und gedacht hatte, es sei noch am Leben. »Miß Wright. Ich bin an Ihren Einwänden nicht interessiert. Wir müssen uns zunächst um unsere eigene Sicherheit kümmern.« »Sie haben also wirklich vor, diese Leute zu opfern, ohne auch nur einen Gedanken an sie zu verschwenden?« »Natürlich habe ich darüber nachgedacht«, erwiderte der Doktor schroff, »aber es ist unsere Pflicht, zum Schiff zurückzukehren.« »Unsere Pflicht wem gegenüber?« »Gegenüber jedem einzelnen von uns«, sagte der Doktor. Das Problem war, daß ich beiden recht geben mußte. Ich wußte, worauf der Doktor hinauswollte: Wir waren wohl kaum dafür vorbereitet, die Thals in einem Kampf zu unterstützen, der nach Ansicht des Doktors offensichtlich unausweichlich war. Andererseits war es nicht gerade die feine englische Art, zu verschwinden, ohne die Thals, die schließlich wir in die Stadt gelockt hatte, nicht wenigstens gewarnt zu haben. Gerade als ich diese Gedanken in Worte kleiden wollte, verschwand der Lift. »Schnell!« rief der Doktor. »Wir haben jetzt keine Zeit zu streiten. Sie werden jeden Moment heraufkommen.« Ich rannte zu einem der kubischen Gebilde und schleifte es zum Lifteingang. »Womit verschwenden Sie denn nun Ihre Zeit, Chesterton?« »Ich verschwende keine Zeit«, erwiderte ich barsch. Ich hatte allmählich genug von seiner Art, uns allen nur Schlechtes zuzutrauen. »Ich werde das Ungleichgewicht der Kräfte etwas abbauen.« 101
Barbara half mir, den Kubus über die Kante des Aufzugschachtes zu kippen. Er entglitt uns, und als ich meinen Kopf vorsichtig über die Öffnung streckte, sah ich ihn den Schacht hinunterwirbeln. Er krachte unten auf, und eine dicke Rauchwolke stieg zu uns auf. Ich trat zurück und winkte Barbara zu mir. Der Doktor klopfte mir auf die Schulter. »Es tut mir leid, mein Junge. Ich habe Sie wohl etwas falsch eingeschätzt.« »Hier ist noch ein anderer Lift, Großvater«, rief Susan. Sie war etwa zehn Meter von uns entfernt. Wir liefen zu ihr. Barbara blieb plötzlich stehen und rannte zur Glaskuppel. »Sie kommen! Schaut, es ist eine ganze Abteilung!« Ein herrlich anzusehender, alter Mann bog um die Ecke eines der viereckigen Häuser. Er trug einen Mantel von der Art, wie Susan ihn aus dem Wald mitgebracht hatte. Er war wohl beinahe zwei Meter groß und trug eine Krone aus Silber auf seinem Kopf. Seine gebräunte Haut war glatt rasiert, sein weißes Haar war kurz geschnitten. Offensichtlich war er der Anführer. Man konnte es daran erkennen, wie er den Männern hinter sich Zeichen gab, vorsichtig zu sein und nichts zu überstürzen. Wir hämmerten gegen das Glas und schrien mit vereinten Kräften, um ihre Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen, aber das Observatorium war offensichtlich schalldicht und außerdem viel zu hoch, als daß sie uns hätten bemerken können. »Wir müssen ihnen helfen, Ian«, sagte Barbara. Eine Weile sagte niemand etwas, und der Doktor schaute uns abwechselnd an. Schließlich wandte ich meinen Blick ab von dieser kleinen Gruppe unter uns und nickte langsam. »In Ordnung. Wir fahren alle mit dem Lift nach unten. Der Doktor bringt Sie und Susan zurück zum Wald, und ich warne währenddessen die Thals. Wir treffen uns dann später.« »Ich will mit Ihnen kommen«, protestierte Barbara.
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»Das werde ich auf keinen Fall zulassen!« versetzte ich scharf. Ich mochte es gar nicht, auf diese Art mit ihr zu sprechen, aber es schien mir die einzige Möglichkeit zu sein, diese Unterhaltung zu beenden. Barbara kniff die Lippen zusammen und ging auf den Lift zu, den wir ausgesucht hatten, und ich folgte ihr zusammen mit dem Doktor, der nur noch nachdenklich den Kopf schüttelte. »Sentimentalitäten sind das, Chesterton, nichts weiter. Aber ich werde Sie nicht zurückhalten.« »Schließlich war es mein Fehler, daß die Thals überhaupt hierherkommen.« Wir betraten den Lift und legten den Rest des Wegs schweigend zurück. Als der Lift angehalten hatte, traten wir mit äußerster Vorsicht hinaus. Ich ging als erster, dann kamen die Mädchen, und der Doktor bildete das Schlußlicht. Wie die Indianer schlichen wir durch ein anderes kleines Vorzimmer auf den Korridor. Um möglichst keinen Verdacht zu erregen, schlossen wir die Tür hinter uns. Der Korridor, in dem wir uns befanden, war offensichtlich ein Hauptgang, denn er kreuzte sich mit einer Reihe von anderen Gängen. Es stellte sich die Frage, welchen wir nehmen sollten. Ich entschied mich dafür, einfach geradeaus weiterzugehen, und das war gut so, denn nach zwei oder drei Minuten standen wir in einer Empfangshalle, deren Tür offenstand. Vor uns lag die Stadt. Ich bat die anderen, sich nicht von der Stelle zu rühren, bis ich wußte, was draußen vorging. Ohne mit mir darüber eine Diskussion zu beginnen, warteten sie. Außerhalb des Gebäudes war niemand zu sehen, also winkte ich sie zu mir heran. »Also, Doktor, da vorne beginnt bereits der Aschenboden. Ich habe zwar etwas die Orientierung verloren, aber ich glaube, der Wald befindet sich links von uns. Sie brauchen also nur etwas im Kreis zu gehen. Ich möchte nur noch eines sagen.« Ich blickte zu Barbara. »In einem Punkt muß ich dem Doktor 103
recht geben. Es kann nur einen Chef geben. Tun Sie alles, was er Ihnen sagt. Ich verlasse euch jetzt nur, weil … nun, vielleicht, weil wir den Thals etwas schuldig sind. Ansonsten würde ich ebenfalls dem Doktor folgen. Ich würde mich seinen Anordnungen auf keinen Fall widersetzen.« Barbaras Augen blitzten gefährlich auf. »Falls das mir gegolten haben sollte, so war es pure Zeitverschwendung«, sagte sie kühl. Der Doktor schüttelte mir die Hand. »Machen Sie‹s gut, mein Freund. Aber kommen Sie so schnell wie möglich zum Schiff zurück, klar?« Ich nickte und lächelte Susan an. Barbara ging wortlos weg. Der Doktor spähte aus dem Eingang, nahm Susan an der Hand, und die beiden verschwanden. Barbara zögerte und blickte zu mir zurück. Wir sahen einander eine Weile an, dann folgte sie den anderen. Ich lehnte mich für einen Moment gegen die Wand und verspürte plötzlich den Wunsch nach einer Zigarette. Es war das erste Mal, daß ich ganz alleine war, seit Barbara aus dem Nebel vor mir aufgetaucht war. Ich kann nicht verhehlen, daß ich kein besonders gutes Gefühl angesichts der vor mir liegenden Aufgabe hatte und daß ich nur zu gerne jemanden bei mir gehabt hätte, der zusammen mit mir diese knifflige Sache durchstehen würde. Ich hatte weder eine Zigarette, noch war jemand bei mir, also mußte ich alleine los. Die Thals mußten vor der drohenden Gefahr gewarnt werden. Man mußte ihnen sagen, daß sie die Stadt verlassen sollten, und zwar so schnell wie möglich. Ich sah mich um. Hier konnte ich nicht bleiben. Das beste wäre wohl, das Gebäude zu verlassen. Ich schlug die den anderen entgegengesetzte Richtung ein und geriet tiefer in die Stadt hinein. Gerade, als ich dachte, ich hätte mich vollkommen verirrt, stieß ich auf das Gebäude, vor dem Barbara zum ersten Mal gespürt hatte, daß sie krank war. Ich schlich mich von einem Gebäude zum nächsten, sah mich überall sorgfältig um, 104
blieb alle paar Schritte stehen, um ganz sicher zu sein, nicht verfolgt zu werden, aber es war nirgends auch nur die Spur von einem Dalek zu sehen. Ich blieb vor dem Eingang des Gebäudes stehen und blickte hinein. Die Eingangshalle, in der wir ursprünglich beschlossen hatten, uns zu trennen, war in bemerkenswerter Weise verändert. Alle möglichen Schachteln und Kartons waren aufeinandergestapelt, und in der Mitte des Raumes befanden sich metallene Kanister, in denen sich wahrscheinlich Wasser befand. Die Thals hatten sich darum versammelt. Der Anführer durchsuchte gerade eines der Pakete und entnahm ihm dann eine kleinere Packung, die er sorgfältig untersuchte. Schließlich legte er sie zurück und bedeutete einem der Männer, ihm auf einen höheren Stapel Kisten zu helfen. Es fiel mir auf, wie kräftig diese Männer waren. Sie waren alle überdurchschnittlich groß und breitschultrig; außerdem besaßen sie alle schönes Haar. Sie trugen alle die gleichen Mäntel und engsitzenden Hosen in hellbrauner Farbe, die aus einem lederähnlichen Material gemacht zu sein schienen. Von den Knien abwärts waren Löcher von der Größe einer Münze in den Stoff geschnitten worden. Ihr Schuhwerk erinnerte mich an die Sandalen der Römer. Abgesehen von ihren Gesichtszügen waren sie nicht voneinander zu unterscheiden – bis auf den Anführer: Er trug eine Silberkrone. Der Anführer sah sich um. »Daleks!« rief er. »Wir kommen mit friedlichen Absichten zu euch. Wir können euch diese Lebensmittel nur bezahlen, indem wir mit euch zusammenarbeiten. Zusammen können wir den Boden außerhalb der Stadt fruchtbar machen, und wir könnten Getreide anpflanzen. Es fällt auch wieder öfters Regen, und es besteht die Hoffnung, daß der Planet Skaro zu neuem Leben gebracht werden kann. Wir werden jetzt die Lebensmittel an uns nehmen und bedanken uns herzlichst bei
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euch. Wir kommen später zurück und werden darüber beraten, wie wir zusammen arbeiten können.« Plötzlich sah ich das äußerste Ende eines Saugnapfes hinter einer Ecke hervorlugen. Ich blickte mich rasch in der Halle um und entdeckte noch mehr Daleks. Man konnte ihre üblen Ausdünstungen förmlich riechen; sie waren wie Giftgas, das jeden einzelnen Nerv traf und die Sinne schärfte. Ich sprang in den Eingang. »Es ist eine Falle!« schrie ich. Alle Thals wirbelten herum und starrten mich an. »Steht nicht so tatenlos herum …« Ein Dalek schoß aus seinem Versteck auf mich zu und richtete seine Waffe auf mich. Ich rollte mich blitzschnell zur Seite, als ich bereits das krachende Geräusch der Gewehrsalve vernahm, die durch den Raum blitzte. Die Wand, vor der ich einige Zehntelsekunden zuvor noch gestanden hatte, explodierte in Rauch und Flammen. Eine Sekunde später war sie geschmolzen und geborsten. Sofort entstand ein fürchterliches Tohuwabohu. Die Thals gerieten in Panik, sie stießen und schubsten sich gegenseitig, und die Daleks kamen aus ihrem Versteck hervor. Der Anführer der Thals war der einzige, der überhaupt so etwas wie Geistesgegenwart zeigte. Er hob seinen Arm hoch über seinen Kopf, und seine Stimme dröhnte derart durch den Raum, daß alle auf der Stelle ruhig waren. »Halt! Ich befehle es euch!« Erstaunlicherweise gehorchte jeder. Die Thals blickten zu ihm auf, und die Daleks, die in der Zwischenzeit alle zum Vorschein gekommen waren, stellten sich im Halbkreis um ihn auf. Der Anführer durchmaß den Raum mit einem Blick, der keine Spur von Angst verriet. »Wir haben genug Kriege auf Skaro geführt«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Unsere zwei Rassen sind die einzigen Überlebenden. Welchen Sinn sollte es haben, noch weiteres Unheil anzurichten?« 106
Er verschränkte seine Arme. Sein gelassenes Auftreten vermittelte überhaupt den Eindruck von Selbstsicherheit und Vertrauen. Da stand er nun, wehrlos und unbewaffnet, einer Schar von gefährlichen Feinden ungeschützt ausgeliefert, und doch klang seine Stimme fest, ohne Anflug von Furcht oder Feigheit. Und nicht nur das. Er ließ auch jedermann seine Autorität spüren. Sie erfüllte den Raum wie ein mächtiger Sturm, der alle dazu zwang, gemeinsam zu handeln und ihm ungeteilte Aufmerksamkeit zu zollen. Es war ein fast magisches Ereignis; noch nie hatte ich ein beeindruckenderes Beispiel an Mut und Entschlossenheit gesehen. »Wir können unabhängig voneinander leben, wir können getrennte Wege gehen, unterschiedliche Kulturen entwickeln, neue Ideen und Gedanken erarbeiten, verschiedene Gebräuche einführen, und das alles so lange, bis unsere Interessen kollidieren und der Streit von neuem beginnt. Oder wir können zusammenarbeiten, voneinander lernen, unsere Erfahrungen und Entdeckungen teilen. Ich sage euch: Dies ist der einzige Weg!« Es herrschte Totenstille; der Anführer der Thals wartete auf eine Antwort. Als ich sie vernahm, lief es mir eiskalt den Rücken hinab, alles in mir krampfte sich zusammen. Aus irgendeiner Richtung knarrte die Stimme eines Daleks. »Der Planet Skaro gehört uns. Nur uns alleine!« Dreißig Waffen richteten sich auf den Anführer. Als ob er sich der drohenden Gefahr bewußt wäre, machte er einen letzten Versuch, mit Hilfe seiner Persönlichkeit das Blatt zu wenden. »Daleks! Wir kommen in Frieden!« Kaum war das letzte Wort verklungen, spieen dreißig Gewehre ihr blaues Feuer, und die Salven trafen ihn alle gleichzeitig. Für eine Sekunde erglühte sein Körper in strahlendstem Licht, wie ein Schiff am fernen Horizont, dann brach er zusammen und stürzte auf die Kartons neben sich.
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»Lauft!« schrie ich. Die Thals ergriffen die Flucht in Richtung Stadt. Ich wurde umgestoßen, fiel hin, aber die Hand eines Thals zog mich mit. »Wir haben keine Zeit zu verlieren!« sagte ich. Die Welle der uns verfolgenden Daleks wogte hinter uns; glücklicherweise waren sie durch ihre eigenen Verwüstungen am raschen Fortkommen gehindert. Der Thal hielt so lange meine Hand, bis ich wieder sicher auf eigenen Füßen stand. Zusammen rannten wir aus dem Gebäude. Ich sah, wie direkt vor uns ein Thal getroffen wurde und in verkrümmter Haltung auf der Metallstraße liegenblieb. Aus einem anderen Haus stürmten plötzlich einige Daleks, woraufhin sich die Thals in alle möglichen Richtungen zerstreuten. Der Thal, der neben mir lief, zog mich hinter eine dicke Metallwand in Deckung. »Habt ihr denn keine Gewehre?« fragte ich ihn. »Habt ihr denn nichts mitgebracht, um euch zu schützen?« Er sah mich nur an, etwas mitleidig, hatte ich fast den Eindruck. Dann suchte er die Gebäude hinter unserem Rücken ab. »Dieser Weg scheint ungefährlich zu sein.« »Zurück in den Wald?« Er nickte. »Ich glaube, da sind wir in Sicherheit.« Ich sah, wie einer der Thals von zwei Daleks auf einer kleinen Gasse zwischen zwei Häusern gejagt wurde. Sie holten ihn ein und nagelten ihn mit ihren Saugnäpfen an die Hauswand. Sein Mund und seine Augen waren vor Angst weit aufgerissen. Dann erschossen sie ihn, und ich wandte mich mit Grauen ab. Der Thal neben mir zupfte mich am Ärmel. »Wir müssen hier weg. Es ist sinnlos, hier zu stehen und sich all das mit anzusehen.« »Es war überhaupt sinnlos, ohne jede Vorsichtsmaßnahme hierherzukommen«, schrie ich ihn an. Er runzelte die Stirn und 108
schaute mich so verständnislos an, als hätte ich Suaheli gesprochen. Als ich einen Blick über seine Schulter warf, konnte ich den Gewehrkolben eines Daleks erkennen, der offensichtlich durch meine Stimme auf uns aufmerksam geworden war und der in unsere Richtung zielte. Für mich war der Zeitpunkt gekommen, so schnell wie möglich und so weit weg wie möglich zu verschwinden. Wir schafften es, ohne weitere Zwischenfälle aus der Stadt zu fliehen, und trafen in dem verwüsteten Gebiet zwischen Stadt und Wald auf den kläglichen Rest der Thals. Ich schätzte sie auf ungefähr zwanzig. Sie schienen der Erschöpfung nahe zu sein. Es wurde kaum gesprochen, und die Gesichter wirkten entmutigt und deprimiert, obwohl ich eine gewisse Erleichterung feststellen konnte, als der Thal eintraf, mit dem ich zusammen geflohen war. »Dies ist der Mann, der versucht hat, uns zu warnen«, sprach er zu ihnen. »Mein Name ist Alydon«, fuhr er an mich gewandt fort, als wir uns zu den anderen setzten. »Ach, dann seid Ihr es also, der Susan im Wald getroffen und ihr die Medizin gegeben hat?« Er nickte und stellte mich einem anderen Thal vor, der neben mir saß. »Dies ist Ganatus.« Dieser nickte mir nur kurz zu und schaute dann wieder zu Alydon. »Alydon, du bist jetzt der Anführer, da Temosus tot ist.« Alydon schwieg und blickte auf die Stadt zurück. »Einschließlich Temosus haben wir sieben Mann verloren«, fuhr Ganatus fort. »Wir müssen die anderen warnen. Wir können hier nicht länger bleiben«, murmelte Alydon und versuchte sich aufzurichten. Ich hielt ihn zurück. »Moment, bevor ihr geht, solltet ihr mit meinem Freund, dem Doktor sprechen. Wir haben schon einen der Daleks außer 109
Gefecht gesetzt. Sie sind nicht unbesiegbar. Wir könnten einen Plan entwerfen, um sie zu schlagen.« Die zwei Thals sahen sich an. Ich konnte sehen, wie verwirrt sie waren. »Alydon, Ihr könnt es nicht zulassen, daß Euer Anführer umsonst gestorben ist«, warf ich ein. »Da habt Ihr recht!« »Nun gut, dann laßt uns einen Weg finden, um den Daleks eine Lektion zu erteilen.« »Meint Ihr damit, wir sollen gegen die Daleks kämpfen?« erwiderte er, und das Staunen in seiner Stimme war unüberhörbar. »Was sonst?« »Das ist unmöglich!« »Aber ich dachte, Ihr braucht Nahrungsmittel?« »Das ist wahr, und deshalb haben wir Eure Begleiterin Susan gefragt, ob sie nicht für uns diese Sache einfädeln könnte.« »Ja, das tut mir leid, denn durch ihre Schuld wurdet Ihr in eine Falle gelockt …« »Wir wären über kurz oder lang sowieso in die Stadt gekommen«, unterbrach er mich. »Aber wir können nicht gegen die Daleks kämpfen.« »Wir werden nicht gegen sie kämpfen!« bekräftigte Ganatus. Ich sah ihn erstaunt an. »Aber warum denn nicht?« »Was Ihr uns hier vorschlagt, bedeutet, daß wir ihnen den Krieg erklären müßten. So etwas ist uns völlig fremd. Wie überhaupt alle Arten von Kampf.« »Das ist schön und gut, aber …« Von neuem unterbrach er mich. »Ganz gleich, was passiert.«
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»Aber Alydon, die Daleks sind keine menschlichen Wesen. Sie sind nur böse, halb Lebewesen, halb Maschinen, und nur darauf bedacht, Euch auszurotten. Glaubt Ihr, sie werden es dabei belassen? Sie werden einen Weg finden, um die Stadt zu verlassen, und Euch niedermetzeln. Das wißt Ihr so gut wie ich!« Alydon nickte. »Ja, wir müssen von hier fortziehen.« »Das hat keinen Sinn. Sie werden Euch überall hin folgen. Sie sind wild entschlossen, daß niemand außer ihnen diesen Planeten bewohnen soll. Alydon, sie haben uns das selbst gesagt! Die Luft, die Ihr hier atmet, ist für sie tödlich.« Für einen Moment sagte niemand etwas. Aber da ich den Eindruck hatte, sie nachdenklich gemacht zu haben, fuhr ich fort: »Ich will damit nicht sagen, daß Ihr sie vollkommen auslöschen sollt, aber Ihr müßt ihnen deutlich machen, daß Ihr mindestens ebensoviel Macht besitzt wie sie.« »Was aber nichts anderes bedeutet, als mit ihnen zu kämpfen«, bemerkte Alydon. »So ist es wohl. Aber Ihr kennt die Alternative. Sie werden Euch ausradieren, jeden einzelnen von Euch, und zwar ohne mit der Wimper zu zucken.« Wieder herrschte langes Schweigen. Dann sprach Alydon: »Wenn es stimmt, was Ihr sagt, so gibt es eigentlich nur noch eines zu sagen.« Ich wartete ab. Ganatus wandte seinen Blick von Alydon ab, starrte nur auf den Ascheboden und ließ etwas von der Asche durch seine Finger rieseln. Alydon erhob sich und blickte mir fest in die Augen. »Die Daleks«, sagte er mit ruhiger Stimme und mit tiefem Ernst, »werden uns wohl vernichten müssen.«
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Der See der mutierten Wesen Die Thals hatten ihr Lager in der Nähe der Tardis aufgeschlagen, und als wir es erreichten, trafen wir auf die Kinder, Frauen und älteren Männer, deren Gesichter Fröhlichkeit ausstrahlten. Ich ging hinüber zum Doktor, zu Susan und Barbara, und wir lauschten alle Alydons Schilderung der vergangenen Ereignisse. Die Thals standen im Halbkreis um Alydon, die Kinder in der vordersten Reihe, die Mütter und kleinen Mädchen knieten hinter ihnen, während sich die Männer im Hintergrund hielten. Auffallend war, daß niemand Fragen stellte; sie schienen nur alle darauf zu warten, daß ihnen die ganze Geschichte möglichst plastisch erzählt wurde. Zu Alydons Füßen hatte der andere Thal, den ich namentlich kannte, Ganatus, Platz genommen, sowie eine Frau, deren Name Dyoni lautete. Susan sagte mir, daß sie Alydons Braut war. Wie die Männer, so waren auch die Frauen wohlproportioniert und besaßen schönes Haar. Als ich sie so betrachtete, wie sie Alydons Erzählungen lauschten, erinnerten sie mich an wunderschöne Juwelen, jedes von gleicher Schönheit, und doch alle verschieden voneinander. Dyoni war unter ihnen sicherlich der seltenste Edelstein. Sie trug ihr Haar etwas länger als die anderen Frauen, fast bis zur Taille, und im Sonnenlicht, das in vereinzelten Strahlen durch die toten Bäume fiel, schimmerte es wie feingesponnenes Gold. Die durchschnittliche Größe der Thal-Frauen lag wohl bei 1,70 Meter, aber Dyoni war fast 1,80 groß, und ihre Würde und Grazie betonten diese außergewöhnliche Größe noch. Auch bemerkte ich eine kleine Krone auf ihrem Haupt, die mich an den Kopfschmuck des alten Anführers Temosus erinnerte. Susan flüsterte mir zu, sie sei seine Tochter. 112
Ich konnte mir keinen Reim auf das Verhalten dieser Leute machen. Alydons Worte spukten mir im Kopf herum; ich konnte einfach nicht verstehen, warum jemand lieber tot sein wollte, als sich im Kampf zu stellen. Ich flüsterte dies auch dem Doktor zu. Er machte mir ein Zeichen, und wir entfernten uns von der Gruppe, um uns an einem Ort niederzulassen, wo man uns nicht hören konnte. Wir befanden uns auf einer kleinen Lichtung, und Susan brachte uns Plastikbecher mit Getränken sowie Lebensmittel, die sie vom Schiff geholt hatte. »So, wie ich die Sache sehe«, begann der Doktor, indem er sich über seine Leibspeise, den Venusnachtfisch hermachte, »sind die Thals Überlebende eines grauenhaften Krieges. Ich habe mit den Älteren gesprochen, und ich denke, ich kann aus den Bruchstücken ihrer Erzählungen ihre Geschichte rekonstruieren. Vor zweihundert Jahren gab es hier auf Skaro eine verheerende Atomexplosion, die alles Leben zerstörte und nur die Gebäude und andere Konstruktionen unzerstört ließ. Aufgrund vorhandener Gebirgszüge oder anderer natürlicher Barrieren konnten einige Bewohner dem Schlimmsten noch entgehen. Es muß furchtbar für sie gewesen sein, denn es gab so gut wie keine Nahrungsvorräte, und auch die Luft war vergiftet.« Er beendete sein Mahl und wischte sich den Mund mit einem Taschentuch ab. Ich bot Barbara noch etwas zu essen an, aber sie lehnte kühl ab. Offensichtlich hatte sie mir das heftige Wortgefecht in der Stadt noch immer nicht verziehen. Der Doktor riß mich jedoch schnell wieder aus meinen Gedanken. »Das Ergebnis waren Mutationen, Chesterton, wie Sie sicher ebenfalls vermutet haben, und das war wohl das Schlimmste an der ganzen Sache. Die Entdeckung, daß alle Nachkommen entstellt waren, die Frage, warum all das passieren konnte, und die einzige Antwort darauf – der Krieg.« Nie zuvor hatte ich den Doktor ernster gesehen. »Wer führte denn Krieg gegen wen?« fragte ich. 113
»Ohne Zweifel die Thals gegen die Daleks, mein lieber Junge. Die Daleks bauten mehrere Städte wie diese hier, und dann explodierte die Bombe. Das Schlimme daran war, daß sie eine millionenfach stärkere Wirkung hatte, als zunächst angenommen. Es scheint, als sei dies die einzige Stadt, in der die Thals überlebt haben. Das dürfte einiges erklären.« »Aber aus welchem Grund haben die Daleks überlebt?« fragte Barbara. »Die Gebirgskette, Miß Wright. Sie hielt einen großen Teil der Strahlung ab. Bei den Überlebenden der Thal-Rasse verhielt es sich genauso. Sie kommen aus einem Tal, das Tausende von Meilen von hier entfernt und von sehr hohen Bergen umschlossen ist.« »Aber die Daleks waren doch nicht immer so, wie sie jetzt sind, oder?« »Nein, Chesterton. Sehen Sie, die Thals konnten überleben, indem sie eine Medizin entwickelten, die sie in der verpesteten Luft überleben ließ und gleichzeitig alle Strahlenkrankheiten von ihnen fernhielt. Mit der Zeit erholten sie sich, und nach einigen Generationswechseln waren sie vollkommen resistent. Sie waren wahrscheinlich auch früher keine unattraktiven Menschen gewesen, aber nun haben sie den letzten Anschein von Häßlichkeit von sich abgestreift.« Er machte eine bedeutende Pause. »Dasselbe gilt übrigens für ihren Geist.« »Aber mit den Daleks verhält es sich anders«, fiel ihm Susan ins Wort. »Genau, mein Kind. Die Daleks haben sich in ihre Panzerungen verschanzt. Sie haben sich der vergifteten Luft angepaßt, ohne es zu merken, und brauchen inzwischen dieses Gift in der Luft. Die Thals dagegen benötigen gute, frische Luft. Der Kreis der Mutation ist also noch nicht geschlossen. Die Daleks sehen inzwischen aus wie jener, den Sie und ich gesehen haben, Chesterton.« »Sind sie denn so schrecklich?« fragte Susan. 114
»Wie Figuren aus einem Alptraum«, warf ich ein. »Nun, Gott sei Dank werden wir ihnen nicht mehr begegnen«, sagte sie. Barbara erhob sich und ging langsam von uns weg. Der Doktor blickte ihr bedächtig nach, dann sah er mich an. Ich hob fragend meine Augenbrauen, aber er zuckte nur mit den Schultern. Ich kannte ihn inzwischen etwas und wußte, daß er eine Situation blitzschnell durchschauen konnte, auch, daß er im Notfall immer eine Lösung parat hatte, aber ich konnte mir auch denken, daß es ihm schwerfiel, ein Urteil über Barbaras Gefühle abzugeben. Ich stand auf und schlenderte langsam zu ihr hinüber. »Sie sind so ruhig, Barbara.« Sie brach einen Zweig von dem Baum ab, neben dem sie stand, und ließ ihn zwischen den Fingern zu Staub werden, aber sie machte keine Anstalten, mir zu antworten. Ja, sie ignorierte mich vollkommen, als wäre ich über einen Kilometer entfernt. »Sehen Sie, ich weiß, daß ich Sie in der Stadt etwas hart angegriffen habe. Würden Sie eine Entschuldigung meinerseits akzeptieren?« Ich nahm sie sanft am Arm. Sie riß sich von mir los und schaute mir ins Gesicht. Ich bemerkte, daß ihr Puls hämmerte und wie sie der unterdrückte Ärger zittern ließ. »Wagen Sie es nicht, mich anzurühren!« zischte sie mich an. Sie klang so giftig, daß ich wie vom Donner gerührt stehenblieb. Ich war noch nie gut darin gewesen, meine wahren Gefühle zu verbergen. Wenn ich mich verstellen wollte, mußte ich mich sorgfältig darauf vorbereiten, und offensichtlich verriet nun mein Gesichtsausdruck deutlich, wie überrascht ich war. »Ich nehme an, Sie denken, es wäre gut für mich, Sie andauernd um mich zu haben. Aber da liegen Sie falsch. Wir sind aneinandergekettet, das sehe ich ein, aber das heißt noch lange nicht, daß ich diese Situation besonders schätze.« 115
»Aber was, um Himmels willen, habe ich denn angestellt, Barbara?« stammelte ich. Ich konnte sie einfach nicht verstehen. Sie wandte sich wütend von mir ab, aber ich sah trotzdem, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. »Lassen Sie mich alleine!« In dem folgenden Schweigen dachte ich über jede Kleinigkeit nach, die sie verletzt oder wütend gemacht haben könnte, aber außer der Tatsache, daß ich mir in der Stadt eine Art Führungsrolle angemaßt hatte, fiel mir nichts ein. Ich ging zurück zum Doktor, der gerade seine Tasse leerte. Es war überdeutlich, daß er die ganze Szene mitangesehen hatte. »Hängt wohl der Haussegen etwas schief, Chesterton?« fragte er und lachte mich an. Ich fand dies nicht gerade den geeignetsten Moment für seine Art von Humor. »Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten!« versetzte ich schroff. »Sie haben aber eine mürrische Art, mein Lieber. Sie sollten etwas verträglicher werden, wenn Sie sich Freundschaften erhalten wollen!« Ich warf ihm einen tödlichen Blick zu. »Manchmal«, stieß ich durch die Zähne hervor, »könnte ich Sie hochheben, Sie auf den Kopf stellen und fallen lassen, am besten über einem Abgrund.« Das schien ihn kaum berührt zu haben, denn er lächelte mich freundlich an, als hätte ich ihm gerade das größte Kompliment gemacht. »Ach, Sie können Ihren Ärger getrost an mir auslassen, solange ich in guter Stimmung bin.« Er kam zu mir herüber und klopfte mir auf die Schulter. »Aber wenn ich Sie wäre, Chesterton« – er sah vieldeutig zu Barbara hinüber und sprach mit gesenkter Stimme weiter – »dann würde ich meine Gefühle überhaupt nicht offen zeigen.« Er trat etwas zurück, und plötzlich glaubte ich in seinen Augen so etwas wie Freundschaft zu sehen. 116
»Sie werden überrascht sein, was es bedeutet, seine Emotionen zu kontrollieren, mein Freund. Auf diese Weise kommt man der Wahrheit am nächsten.« »Welcher Wahrheit? Wovon sprechen Sie überhaupt?« »Mein lieber Freund, Sie wollen es ja gar nicht wissen. Alles was im Leben zählt, ist, daß man die Dinge für sich selbst entdeckt. Was Sie mit diesen Entdeckungen anfangen, ist dann schon wieder eine ganz andere Geschichte.« Leider hatte ich keine Gelegenheit mehr, weitere Fragen zu stellen, denn in diesem Moment betrat Alydon unsere Lichtung. Ich hatte immer noch keine Ahnung, was mit Barbara los war, und auch der Doktor hatte mir kein bißchen weitergeholfen, obwohl ich den Eindruck hatte, daß er auf irgend etwas hinauswollte. Alydon sagte: »Warum haben die Daleks Temosus getötet?« »Ich bin mir nicht ganz sicher«, erwiderte ich, »aber ich glaube, ich habe eine Idee.« Susan kam mit Dyoni auf die Lichtung, und auch Barbara schien ihre schlechte Stimmung für eine Weile unterdrücken zu wollen, denn sie kam ebenfalls zu uns, um der Unterhaltung zu lauschen. »Was haben sie gegen uns?« fragte Alydon mit ruhiger Stimme. »Wir sind mit friedlichen Absichten gekommen. Wir haben ihnen unsere Zusammenarbeit angeboten. Und doch wollten sie uns töten. Warum?« »Es ist wahrscheinlich einfach Haß gegenüber allem, was anders ist als sie«, erwiderte ich. Der Doktor nickte und fügte hinzu: »Soweit ich die Sache beurteilen kann, wird es nie eine Verständigung zwischen Thals und Daleks geben, Alydon.« Nach einer Minute sagte der Thal traurig: »So seht Ihr also gar keine Hoffnung?«
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»Nicht, wenn Ihr einfach die Hände in den Schoß legt und alles akzeptiert. Natürlich besteht Hoffnung, falls Ihr versucht, Euren Lebensstil zu ändern.« »Das wird unmöglich sein.« »Auch dann, wenn Euer Lebensstil nichts anderes bedeuten sollte als den Tod?« fragte der Doktor. »Auch dann!« Dyoni trat vor. Sie bemühte sich nicht einmal, ihren kalten Gesichtsausdruck zu verbergen. »Keiner von Euch versteht unsere Prinzipien. Es ist nicht einfach so, daß wir gegen den Kampf sind. Krieg an sich ist uns völlig fremd. Dieser Planet Skaro ist ein leuchtendes Beispiel dafür, was passiert, wenn ein Krieg ausbricht.« Der Doktor richtete sich auf. Er ging auf sie zu und deutete mit seinem langen Finger auf sie. »Dieser Planet, Madam«, dozierte er, »ist ein Beispiel für die verheerenden Folgen von Dummheit und Ignoranz. Ich bin kein Anwalt für Eure Auseinandersetzungen. Ich sah glorreiche Völker untergehen; hochstehende Kulturen verschwanden auf Nimmerwiedersehen; wunderschöne Städte versanken in Schutt und Asche, wo zuvor Schönheit und Frieden herrschten. Aber so schlimm es auch klingen mag: Man muß manchmal kämpfen, um ein Übel zu vernichten. Darum sage ich Euch: Kämpft! Kämpft um Euer Leben! Schützt Eure Schwachen und ehrt Eure Alten! Kümmert Euch um die Mädchen und Frauen! Lehrt Eure Kinder!« »All das glauben wir zu tun«, erwiderte Alydon. »Aber genau das tut Ihr nicht, wenn Ihr Euch den Daleks ergeben solltet«, widersprach der Doktor. Alydon und Dyoni sahen sich an. Es war kein Blick der Unsicherheit, eher ein bedauernder Ausdruck der Unfähigkeit, uns ihren Standpunkt deutlich machen zu können. Der Doktor machte eine hilflose Handbewegung und seufzte.
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»Uns kann das ja egal sein. Wir verlassen diesen Planeten wieder.« Alydon verbeugte sich knapp und nahm Dyonis Arm. Sie verschwanden wieder zwischen den Bäumen. Der Doktor blickte mich fragend an. »Haben Sie jemals so unvernünftige Menschen gesehen, Chesterton? Hier hätten sie die Möglichkeit, ihren Planeten wieder aufzubauen, aber sie legen die Hände in den Schoß und geben einfach auf.« Er kramte geistesabwesend in seinen Taschen. »Aber sie haben immerhin einen festen Standpunkt«, räumte Barbara ein. »Das schon. Nur ist es leider der falsche.« Er vergrub seine Hände noch tiefer in den Taschen, als würde er etwas suchen. »Ich glaube, sie wissen nicht einmal, wie man kämpft«, sagte Susan. »Ich sprach mit einem, dessen Name Kristas war. Er bewachte einen langen Metallkanister, und ich fragte ihn, was darin sei. Er enthält ihre Geschichte.« Der Doktor unterbrach seine Sucherei für eine Weile und blickte sie über seine Brillengläser hinweg an. »Wirklich, mein Kind? Ich hätte nichts dagegen, mir diese Sache einmal näher anzusehen.« »Ich fragte ihn, was passieren würde, wenn jemand versuchen würde, ihn zu stehlen«, fuhr Susan fort. »›Wer sollte ihn denn stehlen wollen?‹ erwiderte Kristas, und so sagte ich ihm, daß einer von uns dies tun könnte, vorausgesetzt, wir wären üble Zeitgenossen. ›Und wenn wir nun wirklich sehr daran interessiert wären, würden wir Sie dafür sogar töten.‹ – ›Mich töten ?‹ sagte er erstaunt. ›Ich würde Euch den Kanister freiwillig geben.‹« Susan verschränkte die Arme und lehnte sich gegen einen Baum. Ein Teil der Rinde verwandelte sich in Staub und setzte sich langsam zu ihren Füßen ab. 119
»Nun, ich bestand auf einer Antwort, denn ich wollte genau wissen, wie die Thals über gewisse Dinge denken. So fragte ich ihn, was geschehen würde, wenn wir den Kanister mit uns nähmen und Kristas zum Schweigen bringen würden. Aber er zuckte nur mit den Schultern und sagte: ›Dann würde ich wohl sterben, nicht?‹« Der Doktor durchwühlte von neuem seine Taschen und setzte eine besorgte Miene auf. »Gehen wir zum Schiff zurück, Doktor?« fragte Barbara. Er nickte geistesabwesend, dann klärten sich seine Gesichtszüge plötzlich auf. Er kam zu mir herüber und hielt mir seine offene Hand hin. »Geben Sie mir bitte die Sicherung, Chesterton.« Ich starrte ihn an. Er rieb ungeduldig Daumen und Zeigefinger gegeneinander. »Na, machen Sie schon. Ich habe Sie Ihnen in dem kleinen Zimmer gegeben, in dem all die Sicherungen waren.« »Nein, das haben Sie ganz sicher nicht getan!« »Aber es muß so gewesen sein. Erinnern Sie sich doch! Ich war bereits krank und Sie …« Er unterbrach sich. »Nein, es stimmt. Ich habe sie Ihnen nicht gegeben. Ich müßte sie haben, stimmt‹s? Ich kann sie aber nicht verloren haben, weil ich meine Tasche zugeknöpft hatte.« Er griff sich an sämtliche Taschen und machte dann ein erstauntes Gesicht. Als er seinen Mantel zur Seite hochhob, konnten wir deutlich erkennen, daß der Verschluß seiner Jackentasche samt Knopf säuberlich abgetrennt worden war. Obwohl wir alle dasselbe dachten, sagte niemand etwas. Der Doktor war an der Reihe, die Antwort von sich aus auf die Frage zu geben, die uns allen auf der Zunge lag. »Die Daleks haben uns die Sicherung abgenommen. Sie ist irgendwo dort unten in der Stadt.« Wir verbrachten praktisch den ganzen Rest des Tages damit, mit den Thals zu diskutieren und mit ihnen zu streiten. Der 120
Doktor wollte eine Armee bilden und die Stadt stürmen, aber Barbara war strikt dagegen. Wenn sie kämpften – und sie gab zu, daß die Daleks sie ausmerzen würden, falls sie das nicht tun würden – so sollten sie dies aus freiem Entschluß tun. So waren wir schließlich in zwei Lager gespalten. Der Doktor und ich waren einer Meinung, Barbara und Susan waren der entgegengesetzten Ansicht. Das Ergebnis war das gleiche, nur, daß wir jetzt auch noch untereinander zerstritten waren. Die Thals waren dadurch völlig verwirrt. Es war ganz klar, daß sie einfach keine Vorstellung vom Kämpfen an sich hatten. Unter Tapferkeit und Mut konnten sie sich wohl etwas vorstellen, und nur ein Narr hätte sie als Feiglinge bezeichnet, aber die Bedeutung von »Feindschaft« war ihnen so fremd, als würde man versuchen, einem Blinden Farben zu erläutern. Ich versuchte alles, bis ich mir schließlich ein Konzept zurechtlegte, von dem ich überzeugt war, daß es uns ans Ziel bringen würde. Andererseits würde es die aggressive Anwendung körperlicher Kraft verdeutlichen können. Die männlichen Mitglieder der Thal-Rasse waren durchwegs starke, durchtrainierte Männer, und die Idee kam mir, als ich mit Ganatus über körperliche Ertüchtigung sprach. Er erzählte mir, daß sie sich alle an sportlichen Wettkämpfen beteiligten, so zum Beispiel Wettläufen und Hochspringen. Ich beschloß also einen Boxkampf zu organisieren. Ich wählte Ganatus und seinen Bruder Antodus aus und erklärte ihnen die Regeln. Dann markierte ich ungefähr ein Quadrat und ernannte Alydon zum »Trainer« für Ganatus und den Doktor als Helfer für Antodus. Ich selbst war der Schiedsrichter. »Der Sinn des Ganzen liegt darin«, sprach ich im vollen Bewußtsein darüber, daß alle Thals um mich versammelt waren und mir zuhörten, »daß darüber entschieden wird, wer der stärkere und beweglichere von beiden ist. Ich werde Punkte verteilen, und zwar jeweils an denjenigen, der Schläge am Körper seines Gegners anbringen kann. Fairerweise darf dabei 121
nicht unter die Gürtellinie geschlagen werden. Und«, so fuhr ich fort, ermutigt durch die Aufmerksamkeit, die mir zuteil wurde, »es ist nur erlaubt, die Vorderseite von Körper und Gesicht zu treffen. Wer foult, wird bestraft. Der Kampf wird über drei Runden gehen, zwischen denen jeweils eine Pause eingelegt wird.« Die beiden Männer nickten nachdenklich, dann runzelte Ganatus die Stirn. »Ich habe eine Frage. Worauf läuft das Ganze eigentlich hinaus?« »Herauszufinden, wer der Stärkere ist.« »Und der Beweglichste«, ergänzte Ganatus. »Ich erinnere mich, Ihr habt uns das bereits erklärt. Aber um das erstere zu beweisen, würde es genügen, daß ich Antodus hochhebe oder er mich. Und ein Wettrennen würde die zweite Frage entscheiden.« »Aber hier kann ermittelt werden, wer den anderen außer Gefecht setzen kann«, erklärte ich geduldig. »Warum sollte ich danach trachten, meinen Bruder niederzuschlagen?« fragte Antodus. »Warum solltet Ihr ein Wettrennen gewinnen wollen?« erwiderte ich, denn ich hatte Fragen dieser Art erwartet. Meine Antwort schien sie zufriedenzustellen, denn sie sahen sich an, und als ich sie fragte, ob sie bereit wären, nickten sie zustimmend. Sie standen sich gegenüber und ließen ihre Arme zur Seite herabhängen. »Von mir aus mach du den ersten Punkt«, sagte Ganatus. Antodus hob den Arm und tippte seinen Bruder leicht gegen die Brust. Die Menge applaudierte begeistert, und die beiden traten einen Schritt zurück, um herauszufinden, ob ich zufrieden sei. Susan kicherte hinter vorgehaltener Hand. Ich warf ihr einen tadelnden Blick zu, dann nahm ich die beiden Männer zur Seite.
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»Ich glaube, Ihr habt mich noch nicht ganz verstanden. Als ich sagte: zuschlagen, so meinte ich das auch so. Und Ganatus, wenn Euer Bruder Euch schlagen will, so müßt Ihr Euch verteidigen.« »Aber ich habe den Punkt gemacht«, protestierte Antodus. »Ja, und nun bin ich an der Reihe«, fügte sein Bruder hinzu. Ich raufte mir die Haare und versuchte, nicht zum Doktor zu sehen, der sich halb totlachte. »Warum wollen sie nicht einsehen, wie wichtig es für sie ist?« fragte ich mich wütend. Ein allerletztes Mal wollte ich es probieren. »Ganatus, nun kämpft Ihr gegen mich. Jetzt paßt mal auf! Haltet Eure Arme und Fäuste vor Körper und Gesicht. Fäuste zusammen, Mann! Genau so!« Ganatus wirkte jetzt wild entschlossen; sein Bruder stand im Hintergrund und beobachtete uns. Ich tänzelte auf ihn zu, meine Rechte deckte mein Gesicht, meine Linke hielt ich nach vorne, und das Kinn war unten. Ganatus tat sein Bestes, um mich nachzuahmen, auch wenn der Effekt eher unfreiwillig komisch war. Aber es war immerhin ein Anfang. »So, Ganatus, nun zielt mit Eurer rechten Faust auf mich und versucht, mich zu treffen. Ich zähle bis drei. Und vergeßt nicht: schlagt mich, so hart Ihr könnt! Eins … Zwei … Drei …!« Ganatus streckte seinen Arm etwa zwei Meter von mir entfernt vom Körper weg und benutzte ihn als eine Art Lanze. Von dieser Art zu Boxen war ich so überrumpelt, daß ich mich duckte, Ganatus über meine Schulter hinwegflog und bäuchlings auf dem Boden landete. Der Doktor konnte sich vor Lachen nicht mehr halten und fiel rückwärts in die Menge, die alle Zurückhaltung aufgegeben hatte und gleichfalls mitbrüllte. Ganatus sprang auf die Beine, rannte zu mir und gratulierte mir.
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»Ah, jetzt verstehe ich«, rief er aus, und seine Augen glänzten vor Begeisterung. »Beweglich und stark: Ihr weicht mir aus und schlagt mich trotzdem.« Ich nickte nur benommen und bedankte mich für den Applaus, während mir alle bewundernd auf die Schulter klopften. Ich ging am Doktor vorbei, der Tränen lachte und sich den Bauch vor Schmerzen hielt. »Großartig, Chesterton, großartig!« Und er schnappte nach Luft. Aber ich antwortete ihm nicht. Langsam überkam mich eine Stinkwut. Seit der Begegnung in Barnes schien ich nur eine Schachfigur in einem großen Spiel zu sein. Ich wurde nur herumgeschubst oder mußte darauf warten, daß jemand den nächsten Zug machen würde. Ich hatte mehr als genug davon. Ich wollte endlich aus dem ganzen Schlamassel heraus, in dem wir uns befanden. Ich entfernte mich von der Menge, die nun Ganatus durch Zurufe ermunterte, meinen Erfolg zu wiederholen. Ich ließ meine Wut am erstbesten Baum aus und schlug derart hart dagegen, daß sich meine Faust tief in seinen Stamm bohrte. In diesem Augenblick fühlte ich, daß jemand hinter mir stand, und als ich mich umdrehte, sah ich Alydon und Dyoni vor mir. »Seid nicht böse, mein Freund«, sagte er mit freundschaftlicher Stimme. »Ich kann mir gut vorstellen, was Ihr uns habt vermitteln wollen, auch wenn Ihr es nicht vermocht habt. Aber das werdet Ihr nie zustandebringen. Kämpfen paßt nicht zu unserem Volk.« »Gut. Dann werdet Ihr alle sterben. Alle!« sagte ich verbittert. Einige aus der Menge hatten uns zugehört und umringten uns. Barbara stand in der vordersten Reihe und beobachtete mich. »Nun, dann werden wir eben alle sterben«, sagte Dyoni stolz, »wenn es keine andere Möglichkeit gibt. Warum sollen wir etwas tun, wovon wir keine Ahnung haben?«
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»Oder was wir nicht tun können, weil wir wissen, daß es falsch ist.« Ich packte ihn am Arm. »Nehmen wir einmal an, ich will Euch die Unterlagen über Eure Geschichte entwenden. Den Behälter, den ihr so sorgsam bewacht. Er scheint ja immerhin einen gewissen Wert für Euch darzustellen.« »Was würdet Ihr damit anfangen?« »Ihn den Daleks geben. Sie könnten uns im Austausch dafür etwas zurückgeben, das sie uns gestohlen haben.« »Wir hoffen natürlich, daß Ihr uns den Behälter nicht wegnehmt, aber wenn Ihr unbedingt wollt, wird Euch hier niemand daran hindern.« Nun waren wieder alle Thals um uns versammelt, und der Doktor und Susan standen neben Barbara. Mittlerweile war ihnen ebenfalls das Lachen vergangen. Ich sah noch eine letzte Möglichkeit. Was ich dabei tun mußte, widerte mich selbst an, aber ich wußte, dies war unsere letzte Hoffnung. Ich schlug Alydon mit der Faust so heftig gegen das Kinn, daß er einige Schritte zurücktaumelte. Die Menge wich etwas zurück, aber was mich erstaunte und zugleich hoffen ließ, war die Tatsache, daß sein Blick eine gewisse Härte ausstrahlte. »Vielleicht sind die Daleks mit Eurem Kanister alleine gar nicht zufrieden. Vielleicht wollen Sie einen von Euch, um mit ihm ein bißchen zu experimentieren«, sagte ich so drohend wie möglich. »Sie besitzen ausgedehnte unterirdische Laboratorien, und die Thals sind für sie geheimnisvolle Wesen. Vielleicht sollte ich einen von Euch mitnehmen.« In den Gesichtern der Umstehenden zeichnete sich eine gespannte Aufmerksamkeit ab, die ich noch nie zuvor bei ihnen bemerkt hatte. Die einzige, die sich rührte, war Barbara. Sie schlug entsetzt ihre Hände zusammen. In den Brillengläsern des Doktors 125
spiegelten sich die grellen Sonnenstrahlen wider. Alydon starrte mich an, und ich ahnte, daß meine Botschaft diesmal endlich ankommen würde. Ich machte einen Schritt nach vorne und legte meine Hand auf Dyonis Schulter. »Dieses Mädchen werde ich zu den Daleks bringen.« Die Menge stieß einen Seufzer aus. Es war nicht genau festzustellen, ob Mißfallen oder Furcht die Ursache war. Immer noch stand Alydon da, ohne ein Wort zu sagen. Der Schrecken über das, was ich eben gesagt hatte, spiegelte sich im Gesicht des Mädchens wider, aber sie machte keinerlei Anstalten, sich mir zu entwinden. Ich drehte mich um und zog sie mit mir, als Dyoni und Alydon sich entschlossene Blicke zuwarfen. Plötzlich vernahm ich hastige Schritte hinter mir und spürte einen festen Griff auf meiner Schulter. Blitzschnell hatte ich eine Faust im Gesicht und fiel nach hinten, wobei ich einen kleinen Baum mitriß, bis ich schließlich in einer Staubwolke aus zerbröselnden Ästen und Zweigen versank. Der Schlag an sich war nicht wirklich hart gewesen; er war auch nicht sonderlich gut plaziert gewesen. Es war der Überraschungseffekt gewesen, der mich umgerissen hatte, obwohl ich natürlich insgeheim auf eine solche Reaktion gehofft hatte. Es war eigentlich mehr ein Stoß gewesen als etwas anderes, aber während ich hinfiel, stellte ich mit Erleichterung fest, daß Alydon mich an etwas hatte hindern wollen; als ich Gewalt anwendete, tat er es auch. Hoch aufgerichtet stand er über mir, den Arm schützend um Dyonis Schultern gelegt. »Es gibt also doch etwas, wofür Ihr kämpft«, sagte ich. Längere Zeit herrschte Schweigen, dann entspannten sich die Muskeln in Alydons Armen. Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, als wollte er lästige Spinnweben fortwischen, die seine Sicht beeinträchtigten. Schließlich ließ er sich von Dyoni
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wegführen, und eine Minute später war ich allein, denn alle anderen Thals folgten ihnen. Für eine Weile blieb ich einfach sitzen und lauschte den sich entfernenden Schritten. Endlich half mir Susan auf die Beine, und ich wischte mir den Staub von den Kleidern. »Chesterton«, sagte der Doktor. »Ich glaube, Sie haben hier etwas bewiesen.« »Hat er das?« Ich konnte die Verachtung in Barbaras Augen sehen. »Was haben Sie denn getan, außer eine lächerliche und dumme Show abzuziehen?« »Ob mit oder ohne Thal«, sagte ich grimmig, »ich habe mich dazu entschlossen, morgen in die Stadt zu gehen und die Sicherung zurückzuholen.« »Noch mehr Heldentaten?« sagte sie. Ich sah sie gleichgültig an. »Nein. Wir haben einfach keine andere Möglichkeit.« »Sie sind ein Narr, Ian Chesterton. Was können Sie denn gegen diese … Monster da unten ausrichten? Ich verbiete es Ihnen zu gehen.« »So, so, Sie verbieten es mir also«, kam es aus meinem Mund. »Das werden wir ja sehen.« Sie warf mir einen vernichtenden Blick zu, dann machte sie auf dem Absatz kehrt und ging in Richtung der Tardis. Der Doktor und Susan hatten die ganze Zeit über geschwiegen, obwohl ich wußte, daß Susan Mühe hatte, sich zurückzuhalten. »Warum ist sie so unfair?« platzte es schließlich aus ihr heraus. Der Doktor tätschelte ihren Arm und folgte schließlich Barbara. »Sie ist nicht unfair, meine Liebe«, sagte er ruhig. »Miß Wright stellt Fragen, und das ist etwas ganz anderes.« »Was für Fragen, Großvater? Ich verstehe das alles nicht.« Ich verstand diese Sache auch nicht recht, und so hörte ich interessiert zu. »Oh, sie kennt die Antworten schon vorher. Das Problem ist nur, daß sie nicht daran glauben will.« 127
Sie sahen sich eine Weile an, dann blickte Susan zu mir herüber und sagte: »Aha, ich verstehe.« Ich wußte nicht genau, wovon sie eigentlich sprachen, aber mir war klar, daß ich zur Klärung dieses Sachverhalts hätte noch tiefer in die Materie eindringen müssen, und dazu hatte ich keinerlei Lust. In der Tardis verhielt sich Barbara bemerkenswert ruhig, so, als würde sie bedauern, was vorgefallen war. Ich hatte kein Interesse daran, unsere Streiterei noch weiter fortzuführen, also einigten wir uns auf eine Art friedlicher Koexistenz. Eine Sache ging mir noch im Kopf herum, und das war der Umstand, daß der Doktor offensichtlich keine Waffen an Bord hatte. Als Susan in unserer Zelle unterhalb der Stadt erwähnte, daß sie den Spazierstock ihres Großvaters an sich genommen hatte, weil dies das einzige Verteidigungsinstrument darstellte, hatte ich das ihrer Unwissenheit zugeschrieben. Offensichtlich, so dachte, ich, wollte sie der Doktor nicht mit Gewehren oder Explosivstoffen in Berührung kommen lassen. Für mich war es ein ziemlicher Schock, erkennen zu müssen, daß das einzig Gefährliche an Bord der Tardis der Vorrat an immerbrennenden Streichhölzern war, die ich beim Doktor auf der Gemeindewiese gesehen hatte. Ich hatte keine Ahnung, wie die Daleks auf Feuer reagieren würden, aber es war nicht auszuschließen, daß mir die Streichhölzer noch von Nutzen sein würden, und er schien gewillt zu sein, mir einige auszuhändigen. Der nächste Morgen hatte eine Überraschung für uns parat, die jeden Gedanken an einen Alleinangriff ad absurdum führte. Alydon wartete schon vor dem Schiff auf uns, und hinter ihm standen seine Brüder Ganatus und Antodus zusammen mit Dyoni. Er kam herüber und wandte sich direkt an mich. »Ich weiß genau, was Ihr getan habt, und warum Ihr es getan habt. Ich konnte mich einfach nicht mehr zurückhalten.
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Ich mußte Euch aufhalten. Ihr hattet recht. Ich hänge am Leben, und Ihr habt es mir deutlich gemacht.« Ich nahm seine Hand und drückte sie herzlich. Wir umringten ihn, und der Doktor betrachtete ihn aufmerksam. »Sehr gut, junger Mann«, sagte er gönnerhaft. »Sie scheuen sich nicht, zuzugeben, daß Sie etwas dazugelernt haben. Nun geht es darum, Nutzen daraus zu ziehen, stimmt‹s?« Alydon nickte. »Für mich ist die Sache einfach. Ich werde mit Euch in die Stadt hinuntergehen. Die Thals haben mich zu ihrem Anführer ernannt, da Temosus nicht mehr unter uns weilt. Ich werde jetzt zu ihnen sprechen und ihnen mein Vorhaben darlegen und anhören, was sie dazu zu sagen haben. Ich möchte, daß Ihr mich begleitet und das Resultat hört.« Wir folgten ihm an den Ort, an dem die Familien der Thals im Halbkreis versammelt waren. Kurz bevor Alydon mit seiner Ansprache beginnen wollte, hielt ich ihn zurück. »Ich möchte, daß Ihr Euch über eines im klaren seid, Alydon«, betonte ich ausdrücklich. »Ich gehe auf jeden Fall in die Stadt, ganz gleich, was geschieht. Die Sache von gestern hat damit nicht das geringste zu tun. Sie gab mir nur die Gelegenheit, Euch und Eurem Volk etwas Wichtiges zu zeigen.« Ich legte meine Hand auf seine Schulter. »Versteht doch. Ich muß in die Stadt, oder ich und meine Freunde müssen sterben. So wie ich die Sache sehe, habt auch Ihr keine andere Wahl. Aber ich möchte ausdrücklich betonen: Ich werde es nicht zulassen, daß Ihr Euer Volk unseretwegen opfert. Das müßt Ihr mir glauben.« Er lächelte mir zu, dann stellte er sich vor seine Leute. »Thals«, begann er, »ich habe sorgfältig über die Sache nachgedacht, die wir gestern nacht besprochen haben. Ihr habt mich an die Stelle Temosus‹ gewählt, aber im Moment kann ich nicht als Euer Anführer zu Euch sprechen. Ich kann Euch lediglich die Ansichten Alydons mitteilen, und seine Pläne. Ein Teil meines Gehirns war für Jahre ein unbeschriebenes Blatt, 129
und ich denke, Euch ist es ebenfalls so ergangen. Was ich nicht akzeptieren wollte, habe ich einfach aus meiner Gedankenwelt ausgeklammert. Nun muß ich es akzeptieren. Wo liegt unsere größere Verantwortung? Sollen wir unseren Prinzipien gemäß nicht kämpfen? Sollen wir uns verfolgen und schließlich ausmerzen lassen? Bisher hatte ich das als selbstverständlich angenommen, denn es schien keine andere Alternative zu geben. Aber gestern habe ich ein anderes Prinzip entdeckt, und das heißt Leben. Wir wurden geboren, um zu überleben, nicht, um zu sterben. Ich sagte mir, warum sollten wir gegen die Naturgewalten ankämpfen? Gegen die sengende Sonne, die unser Getreide verdorren ließ und uns zur Jagd nach Lebensmitteln zwang? Warum sollten wir nicht einfach die Hände in den Schoß legen und auf den Tod warten? Ich fragte mich, warum sollten wir dem kargen Boden etwas abringen? Jetzt erkenne ich, daß das Leben gleichbedeutend ist mit Kampf.« Ich fühlte Susans Hand in meiner und hielt sie fest. Vielleicht spürte sie ebenso wie ich, daß hier ein neues Zeitalter anbrach, daß die Thals auf einem anderen, neuen Weg waren, auch wenn dieser Weg so alt war wie die Menschheit selbst. Alydon blickte mit einem leichten Anflug von Trauer in die Runde. »Und so sage ich Euch, es ist keine Schande zu sterben, aber es ist niederträchtig, sein Leben fortzuwerfen.« Je mehr er sprach, desto mehr Selbstvertrauen strahlte er aus, und ich mußte unwillkürlich an Temosus‹ Rede denken, kurz bevor er getötet worden war. Ich hatte den Eindruck, daß die Thals ihre Anführer mit Bedacht auszuwählen verstanden. »In der Stadt der Daleks gibt es Lebensmittel. Sie töteten Temosus und einige andere. Ich werde zu ihnen gehen und sie dazu zwingen, uns zu helfen.« Er schwieg für einen Moment und verschränkte seine Arme. 130
»Ich habe nicht vor, sie zu bestehlen«, sagte er schließlich, »obwohl sie das Leben einiger unserer Kameraden von uns genommen haben. Aber sollte ich diesmal angegriffen werden, so werde ich mich verteidigen.« Ganatus und Antodus traten an seine Seite. »Ich spreche für meinen Bruder und mich selbst«, sagte Ganatus. »Wir werden dich begleiten.« Von allen Seiten waren jetzt ermunternde Zurufe und Beifall zu hören. Die Thals drängten sich um Alydon, jeder wollte mit dabei sein. Sie bombardierten ihn mit Fragen zu seinen Plänen. Die Kinder schrien und sprangen an ihren Müttern hoch. Sie wollten auf deren Schultern sitzen, um Alydon besser sehen und besser hören zu können, was er zu sagen hatte. Der Doktor trat hinter mich, kramte in seinen Taschen und hielt schließlich etwas an seine Lippen. Der schrille Ton einer Trillerpfeife durchschnitt plötzlich den Lärm, und von einer Sekunde auf die andere herrschte Schweigen. Insgeheim lachte ich über die kleinen Tricks des Doktors, mit denen er sich immer wieder Aufmerksamkeit verschaffte, aber ich mußte zugeben, daß er immer wieder bekam, was er wollte. Auch diesesmal wurde er nicht enttäuscht. »Meine Freunde«, begann er, und ich dachte schon, er würde hinzufügen: »Römer und Senatoren!«, so theatralisch war sein Auftreten. »Eine Sache wie diese braucht einen erfahrenen Planer, einen General.« Er machte eine dramatische Pause, legte seine Hand aufs Herz und verbeugte sich leicht. »Ich biete meine Dienste an und stehe Ihnen zur Verfügung.« Und so kam es, daß ich zwei Stunden später eine kleine Abteilung von der Stadt wegführte in den Gürtel dichter Vegetation, den ich vom Observatorium aus gesehen hatte. Der Plan des Doktors basierte auf einer beiläufigen Bemerkung Ganatus‹. Er, sein Bruder und zwei weitere Thals hatten bereits früher einen See untersucht, in dem es von Unterwassertieren und gefährlichen Reptilien nur so wimmelte. Die beiden 131
anderen Gruppenmitglieder waren während der Expedition auf seltsame Weise verschwunden, deshalb hatte man den See zum verbotenen Territorium erklärt. Während ihrer Flucht zurück zu ihrem Volk hatten Ganatus und sein Bruder dicke Rohre entdeckt, die vom Gebirge in den See führten. Der Doktor war der Ansicht, daß die Daleks sich mit Hilfe dieser Rohre das nötige Wasser holten, es raffinierten und es schließlich benutzten, um mit Hilfe des Wasserstoffs Energie herzustellen. Er war davon überzeugt, daß die elektrostatische Energie nicht auf atomarem Wege erzeugt wurde. So entschloß er sich dazu, seine »Armee«, wie er sie nannte, in zwei Gruppen aufzuspalten. Die größere Gruppe sollte die Daleks in die Wüste und den Wald locken, um dann im richtigen Moment in der Stadt soviel Unheil wie möglich anzurichten. Die kleinere Gruppe, die mir anvertraut worden war, sollte sich ihren Weg durch das Gebirge bahnen. Dann sollten wir die Daleks zu einem vereinbarten Zeitpunkt aus dem Hinterhalt angreifen. Der Plan klang soweit ganz gut, nur standen uns überhaupt keine Waffen zur Verfügung. Wir mußten uns ganz auf den Überraschungseffekt verlassen. Abgesehen von unserer Waffenlosigkeit machte mir noch etwas anderes zu schaffen. Barbara hatte darauf bestanden, in meiner Abteilung zu sein. Ich hatte mir den Mund fusselig geredet, um sie davon abzubringen, aber ich konnte nichts gegen ihre Sturheit ausrichten. So stand ich schließlich vor der Wahl, entweder selbst nicht zu gehen oder ihrem Wunsch nachzugeben. Wir waren schließlich zu sechst: Ganatus und Antodus kamen mit mir, denn sie kannten sich wenigstens etwas in der Umgebung aus. Ihnen folgten zwei weitere Thals, Elyon und Kristas. Der letztere war von beeindruckender Größe, und seine tiefschwarzen Augen kontrastierten auffallend mit seinen hellen Haaren. Und endlich waren da noch Barbara und ich,
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zwei Menschen, die sich nichts zu sagen hatten, nur verbunden durch den gemeinsamen Willen zu überleben. Es dauerte vier Stunden, bis wir den Wald verlassen hatten und den Vegetationsgürtel erreichten. Von diesem Zeitpunkt an wurde der Weg immer beschwerlicher und ungemütlicher. Jeder durchschnittliche Dschungel hätte uns schon genug Schwierigkeiten bereitet, aber hier war alles noch viel schlimmer. Überall gab es wildwachsendes Gestrüpp, ineinander verfilzt, mit langen Streifen und Punkten in den verrücktesten Farben. Gigantische Büsche wuchsen zwischen den Bäumen, deren Wurzeln wiederum Schoß nicht nur eines weiteren, sondern einer ganzen Anzahl junger Bäume waren. Je näher wir an den See kamen, desto mehr mutierte Pflanzen boten sich unserem Anblick. Das schlimmste aber war das Buschgras, das doppelt so hoch war wie wir selbst; und jeder Halm war so dick wie eine Bambusstange. Schließlich waren wir völlig darin eingeschlossen. Antodus ging mit dem hünenhaften Kristas vorneweg, kämpfte sich durch das Unterholz und bahnte uns einen Pfad zum See. Zusammen mit Alydon folgte ich ihnen, wobei ich Elyon half, den Proviant zu schleppen, sowie einen runden Kanister, den die Thals den »Behälter des Feuers« nannten. Ganatus und Barbara bildeten die Nachhut. Ab und zu durchbrach der Schrei eines Tieres die Stille. Dann blieben wir alle jedesmal regungslos stehen und fragten uns, wie weit das Wesen wohl entfernt sein mochte. Aber das war unmöglich festzustellen, und irgendwann war plötzlich kein Laut mehr zu hören. Der harte Boden, auf dem wir lange Zeit gewandert waren, verwandelte sich zusehends in weichen, matschigen Untergrund, und da wir erst einmal eine Pause von zwanzig Minuten gemacht hatten, schlug ich Antodus vor, einen brauchbaren, trockenen Abschnitt zu suchen, wo wir eine längere Pause einlegen und etwas essen konnten, um neue Kräfte zu sammeln. 133
»Wir werden bald das Ufer des Sees erreichen«, sagte er. »Mein Bruder und ich haben dort eine ausgezeichnete Stelle entdeckt. Sie liegt auf felsigem Untergrund und sehr geschützt. Wir sollten bald dort sein.« Ich gab diese Information an Ganatus und Barbara weiter, die einige Meter hinter uns marschierten. Barbara nahm die ganzen Strapazen auf sich, ohne sich auch nur einmal zu beklagen. Offensichtlich war sie fest entschlossen, uns kein Klotz am Bein zu sein. Dennoch machte ich mir Sorgen um sie. Sie atmete schwer, und in ihrem Gesicht zeigten sich deutlich Spuren von Überanstrengung. Ganatus sah so aus, als würde er sie nicht begleiten, weil sie Hilfe brauchte, sondern weil er ihre Anwesenheit schätzte. Er scherzte mit ihr, führte sie durch das Dickicht und half ihr, wo er konnte. Trotzdem war ihr die Anstrengung ins Gesicht geschrieben, und ich atmete innerlich auf, als wir endlich die dichte Vegetation verließen und der besagte Rastplatz vor uns auftauchte. Wir ließen uns alle erschöpft niedersinken, außer Kristas, der den Eindruck machte, als wäre es für ihn nichts weiter als ein Nachmittagsausflug gewesen. Er versprach, Wache zu halten. Keiner widersprach ihm. Als wir uns eine halbe Stunde später alle versammelt hatten, brach bereits die Dämmerung ein. »Wir können heute nicht mehr weiter«, sagte ich. »Ich schlage vor, wir machen es uns hier so gemütlich wie möglich und versuchen morgen, diese Wasserleitungen zu finden.« »Das bedeutet, wir müssen um den See herumgehen«, brummte Ganatus. »Wir können unmöglich durch ihn hindurch.« »Könnten wir nicht ein Floß bauen?« fragte Barbara. »Damit kämen wir doch sicher schneller ans Ziel.« »Es gibt eine Menge unbekannter Tiere in diesem See«, erwiderte Antodus, »die eine derartige Abkürzung nicht ratsam erscheinen lassen.«
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Die Vorstellung, daß nur wenige Meter neben unserem Floß eine Riesenseeschlange oder ein anderes alptraumhaftes Monster auftauchen würde, ließ uns den Marsch um den See wieder in einem angenehmen Licht erscheinen. Elyon, der sich selbst zum Chef ernannt hatte, installierte die »Behälter des Feuers« und verkündete, er werde zum See hinabgehen und mit vollen Wasserbehältern zurückkehren. »Ihr glaubt doch nicht etwa, daß wir dieses Zeug trinken können?« protestierte ich. Er präsentierte mir eine kleine Tablettendose. »Nachdem wir das hier hinzugefügt haben. Das Essen«, fügte er etwas traurig hinzu, »wird auch nichts Besonderes sein.« »Wenn es uns überhaupt nicht schmecken sollte, verspeisen wir dich, mein Freund«, scherzte Ganatus. »Lebend!« brummte Kristas. Ich lachte über ihren anscheinend unverwüstlichen Humor, und dann verschwand Elyon zum See. »Ich schlage vor, wir wechseln uns beim Wacheschieben ab«, sagte Antodus. Damit war ich einverstanden. Glücklicherweise war Barbara schon eingeschlafen, was uns erlaubte, ungestört einen Wachplan einzuteilen, der Barbara nicht miteinbezog. Plötzlich hörten wir Elyons Stimme von weit weg. Sie gellte so schrill durch die Nacht, daß wir alle auf der Stelle aufsprangen. Wir starrten in die Richtung, aus der wir Elyon gehört hatten. Es war nur ein einziger Schrei, aber er enthielt die schauerliche Gewißheit eines unabänderlichen Schicksals, das sichere Bewußtsein um den nahenden Tod. Es war das angsterfüllte Schreien eines Menschen in höchster Gefahr. Wir fühlten uns, als hätte ein Geisterfinger unsere zum Zerreißen gespannten Nerven wie Harfensaiten angezupft. »Kristas!« schrie Elyon.
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Kristas war der erste, der sich wieder in der Gewalt hatte und den Vorhang des lähmenden Schweigens zerriß. Er rannte aus unserem Felsplateau und verschwand in der Nacht. Barbara erwachte, und ich bat Antodus, bei ihr zu bleiben. Ganatus und ich folgten Kristas. Wir fanden ihn am Seeufer kniend: Er starrte auf die zwei Behälter, die auf der Wasseroberfläche schaukelten. Hilflos sah er mich an und zeigte auf einen Streifen von Elyons Mantel, nur wenige Zentimeter breit und fast einen Meter lang. Ich entzündete eines der Streichhölzer, und wir alle betrachteten den Fetzen Stoff. Ein Ende war von Blut durchtränkt. Ich blickte hinaus auf den See, aber nichts war auf seiner glatten Oberfläche zu erkennen, nicht das kleinste Kräuseln gab uns eine Antwort auf die schrecklichen Fragen, die uns alle auf der Zunge lagen. Elyon war tot, und das Geheimnis seines Sterbens würde der See nur seinem nächsten Opfer offenbaren.
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Mit dem Mut der Verzweiflung Das fahle Licht der Morgenröte verlieh dem Sumpf eine eigenartige Schönheit. Es war nicht leicht gewesen, Schlaf zu finden, nach allem, was mit Elyon geschehen war, aber schließlich überwältigte jeden von uns nach und nach die Erschöpfung des langen Fußmarsches. Wir alle fielen in einen leichten, unruhigen Schlaf. Sogar Kristas, der mich für die letzte Wache aufrüttelte, gestand mir, daß seine Augenlider schwer seien. »Ich habe ein sonderbares Gefühl«, flüsterte er mir so leise zu, daß die anderen nicht erwachten, »als ob ich gegen Elyons Tod etwas hätte unternehmen sollen. Mit dieser Art von gewaltsamem Tod bin ich vorher noch nie konfrontiert worden.« Er blickte gedankenverloren in den Feuerkanister. »Natürlich gab es Unfälle. Mein Vater wurde unter einem Felsvorsprung von Steinen erschlagen. Aber solche Dinge sind ein Teil des Lebens.« Er hob den Kopf und sah mich an. »Versteht Ihr mich, wenn ich sage, daß das, was Elyon passiert ist, ein Teil des Todes ist? Es ist grauenhaft und schrecklich.« Ich wußte, was er empfand. Auch bei ihm war ein Teil seines Bewußtseins, wie bei den anderen Thals, lange Zeit im Dornröschenschlaf gelegen. Es war das Wissen um Feindschaft und der Wille, dagegen anzukämpfen. Ich dachte über dieses und jenes nach, aber als ich ihm erklären wollte, was sich in ihm verändert hatte, war er bereits eingeschlafen. So saß ich nun am Feuer und beobachtete, wie der Flammenschein langsam mit dem heller werdenden Sonnenlicht verschmolz. Was würde der neue Tag bringen? Der Sumpf zeigte sich von seiner friedlichsten und unschuldigsten Seite. Nichts rührte sich, und kein Laut war zu 137
hören. Ich war von Herzen froh, daß es hier keine lästigen Insekten gab, aber ich hätte mir die Anwesenheit von Vögeln oder kleineren Tieren gewünscht, die uns vor einer nahenden Gefahr hätten warnen können. Ich weckte die anderen so spät wie möglich. Nachdem wir ein heißes Getränk namens Ratanda zu uns genommen hatten – eine Art Nuß, die die Thals züchteten, und die, wenn man sie auskochte, einen schmackhaften Tee ergab – brachen wir unser Lager ab und machten uns auf den Weg um den See zu der Stelle, an der wir die Wasserrohre vermuteten. Nun trug Antodus den Feuerbehälter, und Kristas und ich bildeten das Schlußlicht. Ich hatte entschieden, daß Barbara mit Ganatus vorangehen sollte. Wo immer es mir möglich war, sammelte ich trockene Zweige, bis wir genügend davon zusammen hatten. Die schwerste Entscheidung war die, den richtigen Weg zu finden. Der Sumpf war nur unter größten Anstrengungen zu durchqueren. Dicke Weinstöcke von der Größe junger Bäume gab es überall. Riesige Bäume und das verfilzte Unterholz ließen jeden Schritt zur Qual werden. Andererseits hörte die Vegetation zwanzig Meter vor dem Seeufer abrupt auf. Wir hatten also die Wahl, uns entweder mit einem sehr viel höheren Zeitaufwand durch das Dickicht zu kämpfen, aber in Deckung zu sein, oder den schnelleren und leichteren Weg zu nehmen und dafür als Zielscheibe für unvorhergesehene Attacken zu dienen. Schließlich entschieden wir uns doch für die schnellere Route. Wir kamen gut voran und lagen nicht schlecht in der Zeit. Die anderen fragten mich hin und wieder, wozu all das Reisig dienen solle, das wir mit uns führten, aber ich wollte ihnen noch nichts darüber sagen. Ich befürchtete, vielleicht für übervorsichtig gehalten zu werden, und außerdem hatte ich den Eindruck, daß es nicht allzuviel verlangt sei, ein paar trockene Äste mitzuschleppen. Plötzlich rückte das Seeufer etwas in den Hintergrund, wir kletterten über einige Felsen, und die Wasserrohre tauchten vor 138
uns auf. Es war eine beeindruckende Konstruktion. Die Rohre liefen vom Gebirge herab direkt in den See. Was mich besonders interessierte, waren dunkle, scharfe Kanten, die sich an der Stelle zeigten, an der die Rohre aus dem Gebirge traten. »Das sind Höhlen«, erklärte ich Kristas, »entweder natürliche oder künstliche, die von den Daleks angelegt wurden. Wie weit, denkt Ihr, sind wir davon entfernt?« Er dachte einen Moment lang nach. »Eine Meile vielleicht. Luftlinie allerdings. Wir bräuchten sicherlich eine Stunde, um den Fuß des Gebirges zu erreichen.« Genau in diesem Moment tauchte das Geschöpf aus dem Wasser auf. Seine Größe allein ließ mir das Blut gerinnen, und riesige Wassermengen flossen von seinem massigen Körper zurück in den See. Das Untier war so groß wie ein Haus, und sein Kopf bestand praktisch nur aus Zähnen. Direkt am Nacken waren zwei ausladende Kiefer befestigt. Es war klar, daß sie dazu dienten, das Ungeheuer mit Beute zu versorgen. Das Ungetüm stieß einen furchterregenden Schrei aus und setzte sich in Bewegung. Es hatte an jeder Körperseite sechs mit Schwimmhäuten versehene Beine, mit deren Hilfe es mit beeindruckender Geschwindigkeit auf uns zustrebte. »Lauft los! Kristas, bleibt bei mir! Ihr zwei! Rennt mit Barbara ins Unterholz.« »Los, macht schon!« schrie ich sie an. Endlich packten sie Barbara und rannten mit ihr weg. »Kristas, das Reisig!« Wir schnappten uns den Anteil, den die anderen hatten fallenlassen, und warfen alles zusammen mit unserem Holz auf einen Haufen. Das Monster raste nun förmlich durch das Wasser; es schien den ganzen Himmel zu verdecken. Ich kramte in den Taschen bis ich eines der nie verlöschenden Streichhölzer des Doktors fand, das ich an der Oberfläche eines Felsens entzündete. Zu meiner großen Erleichterung schlugen sofort Flammen aus dem Reisighaufen. 139
Kristas und ich hoben ein paar der brennenden Zweige auf, als gerade der furchterregende Kopf des Monsters am Ufer auftauchte. Der Schreck fuhr mir in alle Glieder, als ein glühendrotes Auge mich drohend anfunkelte. Der Ast wäre mir beinahe aus der zitternden Hand gefallen. Auch Kristas war wie gelähmt. Das Monster riß das Maul auf und zeigte seine messerscharfen Zähne. Elyon kam mir wieder in den Sinn. Ich rief laut seinen Namen, und das veranlaßte Kristas, nicht länger tatenlos zuzusehen. Wir kletterten beide auf den riesigen Kopf des Untiers, fielen aber sofort wieder herab, als die Kreatur sich vor Schmerz aufbäumte. Einer der Äste war in das Maul des Monsters gelangt, wo er sich wie eine Maulsperre verklemmte. Als Kristas mir auf die Beine half, sah ich, wie das Tier mit Hilfe eines Arms versuchte, sich des brennenden Astes zu entledigen. Eine Stichflamme mußte dem Untier geradewegs ins gräßliche Auge gefahren sein, denn ein markerschütternder Schrei gellte durch die Nacht. Schließlich gab das Monster den Kampf auf und floh zurück ins Wasser. Eine Riesenwelle schwappte über uns hinweg, und kurz darauf war nur noch der Riesenschwanz des Tieres zu sehen, der die Wasseroberfläche aufpeitschte. Wir rannten zu den anderen, ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen, und fanden sie am Rande des Unterholzes. Tränen flossen Barbara übers Gesicht, aber ich bemerkte mit Genugtuung den Gesichtsausdruck der beiden anderen. Er war Kristas‹ Miene sehr ähnlich und drückte Erregung und wilde Entschlossenheit aus. Sie wußten, daß es endgültig an der Zeit war zu kämpfen. Daß es eine Möglichkeit gab, sich gegen das scheinbar Unbesiegbare zur Wehr zu setzen und es zu besiegen. Zum ersten Mal spürte ich, daß sie nicht nur Überlebende des Planeten Skaro waren, die eine fadenscheinige Existenz führten und die auf einem Auge blind waren für die Realität. 140
Sie waren die wahren Erben ihres Volkes und ihrer Welt und bereit, die Erbschaft anzutreten. Wir wollten den Ort des Grauens gerade verlassen, als sich unseren Augen ein unglaubliches, schreckliches Schauspiel bot. Die Oberfläche des Sees explodierte wie ein Vulkan, und etwa zwanzig oder dreißig Monster schossen aus dem Wasser, um sich über das Untier herzumachen, das wir gerade in den See zurückgetrieben hatten. Blind und von allen umzingelt, kämpfte es um sein Leben, bis es von den anderen vor unseren Augen zerfetzt wurde, die instinktiv ahnten, daß es im Grunde wehrlos war. Ohrenbetäubendes Gebrüll erschütterte die Luft, und die Wellen spritzten bis zu uns herüber. Ich trieb die anderen an, weiterzugehen, die Gelegenheit zu nutzen, während der die Ungeheuer mit sich selbst beschäftigt waren. Wir benötigten über eine Stunde, um den Gebirgsrand zu erreichen, dann rasteten wir zehn Minuten lang im Schatten der zwei riesigen Wasserleitungen. Die Sonne stach um diese Tageszeit mit einer enormen Kraft auf uns herab. Ich untersuchte die Rohre. Als Leitern oder Aufstiegshilfen waren sie nicht zu gebrauchen. Antodus hatte bereits den Stoff seiner Hose an ihnen versengt, und so forderte ich die übrigen auf, sich von ihnen fern zu halten. Das Metall war glühendheiß, und der See kochte und brodelte an der Stelle, wo die Rohre ins Wasser tauchten. Es war ein Jammer, daß die Rohre so heiß waren, denn an ihnen entlang liefen Metallsprossen, an denen wir mit Leichtigkeit hätten hochklettern können. »Wenn wir nur daran gedacht hätten, ein Seil mitzubringen!« sagte ich verbittert zu Ganatus. »Die Oberfläche der Felsen ist zwar glatt, aber wir könnten dennoch daran hochklettern.« »Bei dieser Hitze? Es ist ja noch heißer als gestern!« Er nickte und schwieg ratlos.
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»Wir müssen eben auf die Nacht warten«, raunte ich, und er sah mich an. »Bei Nacht? Wo es hier solche Monster gibt?« Ich ging achselzuckend weg und starrte auf die verdammten Röhren und den See. Mittlerweile war es wieder völlig ruhig geworden. Vom Kampf der Seemonster war nichts mehr zu hören und zu sehen. Barbara nahm meinen Arm und reichte mir einen Becher mit Wasser. Es war lauwarm, aber ich war ihr dankbar dafür. Ich nickte und drehte mich wieder um, mit den Gedanken völlig bei dem Problem, auf welche Weise wir die Höhlen über uns erreichen könnten. »Ian …« Ich wandte mich wieder zu ihr um und blickte ihr offen in die Augen. »Sehen Sie, Barbara, nur, weil ich eine glückliche Hand hatte mit diesem Monster aus dem See, dürfen Sie nicht glauben, sich entschuldigen zu müssen.« Sie öffnete ihren Mund, um etwas zu sagen, aber ich ließ sie nicht zu Wort kommen. »Ich weiß, es gibt nichts, wofür Sie sich entschuldigen müßten, also lassen Sie uns diese Angelegenheit hier erledigen und zum Doktor und seinem Schiff zurückkehren.« »Und was dann?« fragte sie. »Keine Ahnung. Hoffen wir, daß er uns zur Erde zurückbringen kann – falls Sie glauben, daß dort Platz genug ist für uns beide.« In diesem Moment tauchte Kristas auf. Er trug eine riesige Kletterpflanze auf den Schultern, die er hinter sich herschleifte wie eine Schlange. »Wir brauchen doch ein Seil?« sagte er und ließ das Ding vor meine Füße fallen. Ich hatte gar nicht richtig wahrgenommen, daß Barbara ihn noch gar nicht gesehen hatte, sondern immer noch mich anstarrte. Dann ging sie einfach weg. Nun gut, sagte ich mir, man kann ja auch nicht 142
jedermanns Liebling sein. Ich ergriff Kristas Hand und drückte sie so kräftig ich nur konnte, aber für ihn fühlte es sich wohl eher an, als streiche eine Feder über die Oberfläche eines Schlachtschiffes. Die Geste hatte sowieso etwas Lächerliches an sich. Auch mit größter Anstrengung konnte ich mit meiner Hand nicht um seine Handfläche fassen. Er lächelte mich an, schirmte mit seiner Hand die Augen ab und blickte zu der Stelle hinauf, an der die Rohre aus dem Berg kamen. »Einer von uns muß mit dieser Pflanze hier hochklettern«, und er zwinkerte mir listig zu. »Ich schlage vor, der Stärkste von uns. Entweder Ihr oder ich.« »Ich stelle mir lieber nicht vor, einen Hünen, wie Ihr es seid, den Berg hochzuziehen. Ihr müßt gehen.« Er nickte bedächtig, so, als hätte es niemals eine andere Möglichkeit gegeben. Er hätte mich hochheben und wie einen Tennisball durch die Luft schleudern können, wenn er gewollt hätte. »Ein Problem ist die Hitze, Kristas«, sagte ich. »In der Nacht haben wir größere Probleme.« Er begann die Schlingpflanze auf seinem linken Arm und seiner Schulter aufzuwickeln. »Wenn einer von uns langsam mit diesem Ding hochklettert, können wir die anderen um so schneller hochhieven.« »In Ordnung, Kristas. Aber Ihr müßt mir versprechen, aufzugeben, wenn Euch die Sonne zu sehr zusetzt!« »Es ist eigenartig, wie ich nun alles in neuem Licht sehe. Ich sehe Herausforderungen. Ich habe das zuvor nie so wahrgenommen. Die Sonne wird ein würdiger Gegner sein.« Dann begann er, den Berg hochzuklettern. Wir sahen ihm sorgenvoll nach. Die ersten Abschnitte waren noch einfach. Er fand genügend Ausbuchtungen, um sich mit Händen und Füßen abzustützen, aber bald wurde der Fels glatter. Einmal hielt er an und entledigte sich seiner Sandalen, die er zu uns herabwarf. Die Sonne brannte ihm unbarmherzig auf die Haut, 143
und ich wußte, daß er jetzt in Todesgefahr war. Hitze und Anstrengung führten zu enormen Schweißausbrüchen, die aber sofort von der Glut der Sonne aufgeleckt wurden, und wie gegerbt auch die Hautoberfläche sein mochte, die gnadenlose Sonne würde sie rösten, Schicht um Schicht, bis sie sich den Weg freigebrannt hatte zum schutzlos darunterliegenden Fleisch. Inzwischen war Kristas am schwierigsten Punkt angelangt. Die Wand fiel nun steiler ab, und auch ein professioneller Kletterer mit Hammer und Haken, Seilen und Kletterschuhen hätte mindestens so viel Zeit benötigt, wie wir zur Verfügung hatten. Kristas sicherte sich an einem festen Standpunkt und sah zu uns herab. »Könnt Ihr mich hören?« rief er, und ich winkte ihm zu. »Hier ist eine Felsnadel. Daran werde ich die Kletterpflanze befestigen.« »Das sieht zu riskant aus«, rief ich zu ihm empor, aber er hatte schon begonnen, die Pflanze auseinanderzuwickeln, bis er die beiden Enden in seiner rechten Hand hielt. Mit der anderen Hand nahm er das geschlungene Ende, stützte sich gegen den Felsen ab und warf es nach oben. Es hing beim ersten Versuch fest, und Ganatus und sein Bruder lächelten sich zu. Barbara stand neben uns und beschattete ihre Augen, um besser sehen zu können. Als Kristas am Seil zog, so fest er konnte, fühlte ich, daß meine Hände schweißnaß geworden waren. Sollte Kristas abstürzen, so würde er unweigerlich in den See fallen. In den See mit all seinen Ungeheuern. Ich biß die Zähne zusammen und versuchte, nicht daran zu denken. Er stieß sich von seinem sicheren Standpunkt ab und zog sich vorsichtig an der Kletterpflanze hoch. Er mußte beide Enden in einer Hand halten, während er mit der anderen hochkletterte, und nur jemand mit solchen Riesenfingern, wie er sie besaß, konnte dies bewerkstelligen. Ein paar Minuten später schloß sich sein Arm um einen kleinen Felsvorsprung, 144
und er zog sich in das Innere der Höhle. Wir alle sprangen vor Freude auf und winkten ihm zu, als er die Kriechpflanze aushakte und zu sich hochzog. Er winkte kurz zurück, dann warf er das andere Ende der Pflanze zu uns herab. Sie war natürlich um einiges zu kurz, aber wir suchten unseren Proviant zusammen und die Wasserbehälter und begannen, den Berg hochzuklettern. Ich ging nun als letzter, während die beiden Brüder Barbara halfen. Es gab nur ein oder zwei schwierige Stellen, an denen der Fels etwas glatter war, und so hatten wir das Ende der Kletterpflanaze schnell erreicht, das verführerisch vor unserer Nase baumelte. Kristas zog einen nach dem anderen auf den Felsensims. Für einen Moment blieb ich neben Kristas stehen. »Gegen ein kühles Bad hätte ich jetzt nichts einzuwenden«, bemerkte er. Ich blickte hinab zum See mit seiner glatten, glitzernden Oberfläche. Ab und zu konnte man den Schatten eines monströsen Etwas erhaschen, das aber zu tief unter Wasser war, um die spiegelglatte Oberfläche zu stören. »Eines Tages werdet Ihr in diesem See baden, mein Freund. Oder Eure Kinder. Aber zuerst müßt Ihr ihn leerfischen.« Er gluckste, und wir verschwanden in der Dunkelheit der Höhle. Wenigstens war es dort kühl, und die Feuerbox der Thals spendete uns ausreichend Licht. Erste Schwierigkeiten tauchten auf, als die Wasserrohre, von denen wir gehofft hatten, daß sie uns den Weg in die Stadt zeigen würden, plötzlich in der Felswand verschwanden, während die Höhle eine scharfe Biegung nach rechts machte. Uns blieb nichts anderes übrig, als dem Verlauf der Höhle zu folgen, aber mir war bei diesem abrupten Richtungswechsel gar nicht wohl, und das sagte ich auch Antodus. »Wir hofften natürlich alle, daß die Daleks einen Tunnel durch diesen Berg getrieben hatten«, erwiderte er, »aber es handelt sich wohl doch um natürliche Höhlen.« 145
Plötzlich befanden wir uns in einem kleinen Raum und hatten drei Wege zur Auswahl. Ich zählte meinen Vorrat an Streichhölzern; es blieben noch vier Stück. Ich gab Barbara, Ganatus und Kristas jeweils eines. »Antodus, Ihr nehmt die Feuerbox, und nehmt zusammen mit Kristas den rechten Weg.« Sie nickten, verschwanden, und ich entzündete ein Streichholz. »Barbara und ich nehmen den mittleren Gang«, erklärte Ganatus. Er strich ebenfalls sein Streichholz an und ging los. Barbara und ich schauten uns kurz an. »Wir treffen uns alle wieder hier und berichten, was es Neues gibt.« Sie nickte kurz und folgte ihm. Nach etwa zwanzig Schritten erwies sich die linke Öffnung als Sackgasse. So blieb mir nichts anderes übrig, als zum Ausgangspunkt zurückzukehren. Ich saß einige Minuten lang da und überlegte, ob ich nicht den anderen folgen sollte, als Kristas zusammen mit Antodus auftauchte. Sie hatten die gleiche Erfahrung gemacht wie ich: Auch ihr Gang war immer enger geworden, bis er schließlich an einer nackten Felswand endete. Wir suchten die Kletterpflanze und den Proviant zusammen und folgten Barbara und Ganatus. Dieser Weg begann zunächst sehr vielversprechend. Er führte in einen Tunnel, in dem man aufrecht gehen konnte – nur Kristas mußte sich natürlich bücken – bis er sich schließlich zu einem etwa zwanzig Fuß breiten Raum auswuchs, dessen Höhe schwer abzuschätzen war. Plötzlich hörten wir vor uns das Poltern von Gestein und die erschreckte Stimme Barbaras. Sofort liefen wir los. Sie kam bereits auf uns zugestürzt. »Es ist Ganatus!« rief sie aus. »Er ist gestürzt, und wir haben beide Streichhölzer verloren.« »Beruhigen Sie sich, Barbara«, sagte ich sanft. »Zeigen Sie uns, wo!« 146
Sie führte uns den Tunnel entlang, bis dieser immer enger wurde und schließlich der uns schon bekannte nackte Felsen vor uns auftauchte. Dort bog Barbara scharf nach rechts ab und zwängte sich durch eine enge Spalte. »Hier durch. Er sagte, er hätte etwas gefunden, aber dann muß er ausgerutscht sein. Ich versuchte, ihn noch zu fassen zu kriegen, aber dann verloren wir unsere Streichhölzer und konnten nichts mehr sehen.« Ich quetschte mich an den anderen vorbei, wobei ich mich fragte, wie Kristas hier jemals durchkommen sollte. Antodus reichte mir den Feuerbehälter. Ich sah eine riesige Felsspalte, steckte meinen Kopf hindurch und leuchtete dann mit dem Streichholz, so gut ich konnte. Ich blickte in eine gigantische Höhle, befand mich ungefähr zwanzig Fuß über ihrem Grund, und entdeckte unten einen matten Schimmer. Es war Ganatus, der gerade dabei war, sich wieder aufzurappeln. Neben ihm lag eines der Streichhölzer. »Ist alles in Ordnung?« rief ich. Er blickte nach oben und rieb sich die Schulter. »Ja. Glücklicherweise habe ich mir nichts gebrochen. Das glaube ich wenigstens.« Er hob das Streichholz auf und stand nun wieder auf seinen Beinen. »Wartet einen Moment! Ich werfe Euch unsere Kletterpflanze hinunter.« »Ich denke, es wäre besser, wenn Ihr alle zu mir herabkommen würdet«, antwortete er. Ich dachte für einen Moment darüber nach und kam zu demselben Ergebnis. Die Höhle sah vielversprechend aus. Das größte Problem war tatsächlich, Kristas durch die enge Felsspalte zu drücken. Schließlich schafften wir es. Antodus schob von der einen Seite, und Barbara und ich zogen von der anderen. Dann hielt Kristas unser »Seil« und ließ uns einzeln hinab in die Höhle, bis er selbst schließlich hinuntersprang. 147
Zwanzig Fuß waren für ihn ein Kinderspiel. Ich hatte inzwischen völlig die Orientierung verloren. Ich hatte den Eindruck, daß wir ununterbrochen nach rechts gegangen waren, und somit befürchtete ich, wieder dort zu landen, von wo wir ausgegangen waren. Mit großer Erleichterung registrierte ich, daß die Höhle nach links abbog. Ganatus und ich gingen nun voran, und als wir eine schmale Passage durchquert hatten, wären wir beinahe in eine Kluft gefallen, die sich überraschend vor unseren Füßen auftat. Wir setzten unsere Feuerbox ab, und Ganatus ließ sich auf der Kante nieder. »Auf der anderen Seite ist ein Sims«, sagte er. »Sollen wir auf der einen Seite hinunterkletten und auf der anderen wieder hinauf?« Er nahm einen Stein und ließ ihn in den Abgrund fallen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis der Stein auftraf, und er landete mit einem eher undefinierbaren Geräusch. Es klang wie ein Klatschen. Keiner von uns hatte zu diesem Zeitpunkt Lust auf einen Tauchkurs. »Wir werden wohl rüberspringen müssen«, seufzte ich. »Zumindest haben wir unser Seil.« »Gut«, erwiderte er. »Ihr könnt es mir hinüberwerfen, wenn ich auf der anderen Seite bin.« »Ihr«, sagte ich mit Bestimmtheit, »könnt es zu mir hinüberwerfen!« Barbara brachte uns etwas zu trinken und ein paar von den getrockneten Früchten des Doktors. Wir kauten bedächtig und überlegten. »Natürlich könnt Ihr mich als ersten gehen lassen«, murmelte Kristas. »Wir haben keine Ahnung, wie stabil der Felssims auf der anderen Seite ist«, antwortete ich. Ich trank meine Tasse leer und erhob mich.
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»Macht mir mal Platz, damit ich genug Anlauf nehmen kann. Antodus, Ihr seid mir für eine exzellente Beleuchtung zuständig. Haltet die Feuerbox so hoch wie möglich.« Er nickte, ging ans äußerste linke Ende der Kluft und hielt das Licht hoch über seinen Kopf. Ich untersuchte den Sims, um griffige Stellen ausfindig zu machen. Sehr viel Hilfreiches war nicht zu entdecken. Die Kante selbst war nur etwa einen Fuß breit, zog sich nach links und bog dann um die Ecke. Ich ging etwas im Tunnel zurück, stützte mich ab, rannte an den anderen vorbei und sprang. Ich hatte mich etwas zu fest abgestoßen, und mein rechtes Knie knallte gegen den Felsen. Beinahe wäre ich nach rückwärts gestürzt, doch ich fand gerade noch Halt, indem ich mich verzweifelt an einem hervorspringenden Felsen klammerte. Das rettete mich. Ich schüttelte mich und versuchte, meine Erregung zu dämpfen. »Wirf mir die Pflanze rüber, Kristas!« Ich lehnte mich gegen die Wand und fing sie mit Leichtigkeit. Das eine Ende schlang ich um meine Hüften, während ich das andere zurückwarf. »Kristas, ich hole jetzt Barbara herüber. Wickelt das Seil um Eure Hüften, dann kann sie sich herüberhangeln.« Ich wischte meine Hände sorgfältig an meinen Hosen ab und bemerkte bei dieser Gelegenheit, wie zerrissen sie waren. Barbara stellte sich neben Kristas und blickte in den Abgrund. »Wir lassen Euch nicht fallen«, hörte ich ihn sanft sagen, und sie lächelte ihn tapfer an. Dann setzte sie sich auf die Kante der Kluft, schnappte sich das Seil und schwang sich zu mir herüber. Sie machte das mit einer Selbstverständlichkeit, als hätte sie ihr ganzes Leben nichts anderes gemacht. Als sie noch einen Meter von mir entfernt war, setzte sie einen Fuß auf die Kante und hievte sich selbst zu mir hoch. Ich packte sie sofort und zog sie zu mir heran. Dann spürte ich, wie sie sich verkrampfte und sich von mir wegdrückte. Haben wir nicht
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auch ohne diesen lächerlichen Haß schon genug Ärger? dachte ich bei mir. »Es ist wirklich nicht nötig, daß Sie Ihre Aversionen gegen mich so offen zur Schau stellen«, schnaubte ich. Sie antwortete nicht, und als der matte Schein des Feuers ihr blasses Gesicht für einen Moment erhellte, war es schwer zu erkennen, ob tatsächlich ein leichtes Lächeln über ihr Gesicht huschte oder nicht. Vor Wut preßte ich meine Lippen zusammen. Das schallende Gelächter, das von der anderen Seite kam, stimmte mich auch nicht freundlicher. »Was ist so lustig?« fragte ich. »Wir haben uns gerade überlegt, ob Ihr es überhaupt wünscht, daß wir hinüberkommen«, gluckste Ganatus. Nach einer Weile sagte ich knapp: »Seil kommt!« und ihr Lachen erstarb. Wahrscheinlich befürchteten sie, mich verletzt zu haben. Vielleicht dachten sie auch, daß es mir an Humor fehlte, aber ich hatte keine Lust, ihnen irgend etwas zu erklären. All diese persönlichen Dinge spielten ohnehin keine Rolle mehr, als einer nach dem anderen herüberkletterte. Antodus war der nächste. Er übergab Ganatus die Feuerbox, der sie ihm zuwarf, sobald Antodus festen Stand hatte. Dann kam Ganatus selbst herüber. Kristas ließ mich das Seil einrollen, sprang mit federnder Leichtigkeit herüber, ohne auch nur Anlauf zu nehmen, und landete sanft neben mir. »Wir hätten Euch einfach quer über die Spalte legen sollen, dann hätten wir bequem drübermarschieren können«, sagte ich mit vollem Ernst. Ich hatte meine Fassung wiedergewonnen, denn ich war froh, daß wir dieses Hindernis so ohne Schwierigkeiten überwunden hatten. Außerdem wollte ich mein rüdes Verhalten von vorhin wiedergutmachen. »Das hätten wir schon versuchen können, aber dann wärt Ihr mir alle auf dem Kopf herumgetrampelt.« 150
»Ihr hättet Euch sicherlich nicht schwer verletzt dabei.« Er grinste mich an und nahm Antodus die Feuerbox ab. »Also los, Ganatus, Ihr nehmt Barbara und geht voran. Ihr folgt ihnen«, sagte ich zu Kristas. »Und wollen wir hoffen, daß wir die Wasserrohre bald wieder finden.« Sie verschwanden um die Ecke, und kurz darauf hörte ich Ganatus rufen, daß der Sims sich verbreiterte. Ich verstaute die Kletterpflanze auf meiner Schulter und nickte Antodus zu. Kristas war mitsamt der Feuerbox um die Ecke verschwunden, also entzündeten wir das letzte Streichholz und folgten ihnen. Ich wollte gerade um die Ecke biegen, als Antodus über seine eigenen Füße stolperte. Er versuchte sich an meiner Schulter festzuhalten, aber seine Hand rutschte ab. Das Seil fiel Schlinge für Schlinge von meiner Schulter, und ich versuchte, es zu halten, während ich mich gegen den Felsen preßte, voller Angst, in den Abgrund zu fallen. Antodus rang immer noch um sein Gleichgewicht, aber ohne Erfolg. Er stürzte über die Kante, ein Seilende in der Hand. »Festhalten!« rief ich, als er mitsamt der Schlingpflanze nach unten fiel. Die Liane hatte sich um mein Handgelenk gewickelt und hätte mich beinahe ebenfalls nach unten mitgerissen. Antodus schrie um Hilfe. Entsetzt stellte ich fest, daß dies das erste Mal war, daß einer meiner Kameraden so etwas wie Angst zeigte. »Kristas!« rief ich und versuchte, das Seil besser in den Griff zu bekommen. Dennoch glitt mir das Holz unaufhaltsam zwischen den Händen hindurch. Verzweifelt grub ich meine Fingernägel in die Rinde. Ein Fuß war mir bereits über die Felskante gerutscht. Obwohl ich wußte, daß ich in dieser gekrümmten Position nicht viel ausrichten konnte, wagte ich es nicht, das Seil loszulassen. Natürlich hatte ich das Streichholz fallen lassen, so daß uns die schwarze, gähnende Leere umgab. »Ganatus! Kristas!« brüllte ich. Endlich hörte ich ihre Stimmen. Das Seil zog mich immer näher zum Abgrund. 151
»Sucht Euch einen guten Halt, Antodus!« Seine Stimme erklang aus dem dunklen Abgrund unter mir. »Meine Hände rutschen ab. Ich kann … mich … nicht länger …« Plötzlich kamen Kristas und Ganatus um die Ecke. Beide hatten Licht bei sich. »Schlingt die Pflanze unter Euren Arm, wenn Ihr könnt!« rief ich. Gerade als Ganatus sich zu mir heranrobbte, gab das Seil ruckartig nach, und von unten erscholl ein langgezogener Schrei. Ich taumelte rückwärts. Ganatus kniete neben mir und starrte ungläubig auf das Seil. Er beugte sich vor und rief den Namen seines Bruders. In diesem Moment hörten wir einen Körper auf der Wasseroberfläche aufklatschen, und ein zweiter Schrei gellte durch die Finsternis. Diesmal war er nur kurz – zu kurz. Für einen Moment war alles ruhig, dann hörte man einen unglaublichen Lärm, so wild, wie ihn ein Mensch alleine gar nicht hätte verursachen können. Es war offensichtlich ein Kampf auf Leben und Tod im Gange. Wie zur Bestätigung dieser Vermutung klang das schrille Kreischen eines Wasserungeheuers zu uns herauf. Wir waren erstarrt vor Schreck. Langsam erstarben die Geräusche, nur noch ein Platschen hie und da, dann war es ruhig. Ganatus lag nun bäuchlings auf dem Sims und starrte in die Dunkelheit unter ihm. »Antodus!« rief er, und da er keine Antwort erhielt, wiederholte er den Namen immer wieder. Ich schaute zu Kristas und dann zu Barbara, die inzwischen ebenfalls zu uns geeilt war und sich gegen den Fels lehnte. Sie zitterte am ganzen Körper, und ihr Gesicht war eine Maske des Schreckens. Endlich gab Ganatus auf, vergrub das Gesicht in seine Hände und weinte. Er wurde geschüttelt von Trauer und Verzweiflung. Ich starrte dumpf und antriebslos vor mich hin. Die Verzweiflung ließ mich plötzlich spüren, wie sehr meine Muskeln und Gelenke schmerzten. Kristas übernahm nun das 152
Kommando, half Ganatus auf und bat Barbara, die Feuerbox vor uns herzutragen. Er schubste mich mit seinem Fuß an der Schulter, und daraufhin erhob ich mich, um ihnen zu folgen. Nach zehn Minuten verbreiterte sich der Sims zusehends und bog scharf nach links ab. Der Abgrund endete, nun gingen wir auf einem Felsenweg, ungefähr sieben Fuß breit und zehn Fuß hoch. Wir sprachen kein Wort, aber allen gemeinsam war eine Art verbissener Wille zum Durchhalten. Kristas stützte Ganatus, und so schleppten wir uns vorwärts, mit bleiernen Beinen. Alle dachten wir an das schreckliche Ende von Antodus. Irgendwann bog unser Weg abermals nach links, und wir hielten an. Vor uns war nichts als eine nackte Felswand! Ich scharrte mit den Händen über das Gestein und riß mir dabei etwas von meiner Haut ab, aber es half nichts. Unsere Reise war zu Ende. Alles, was uns blieb, war der bittere Geschmack der Niederlage.
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Das Ende Ich weiß nicht, wie lange wir in diesem kleinen Felskorridor lagen. Der Schock über Antodus‹ Tod, gepaart mit der schieren Verzweiflung, als der blanke Felsen vor uns aufgetaucht war, hatte uns alle Energie genommen, ließ uns träge in Hoffnungslosigkeit versinken. Zunächst hatte Kristas unseren Weg bis zur Unglücksstelle zurückverfolgt, um eine andere Route zu finden, doch schließlich gab auch er auf und setzte sich still neben uns, den großen Kopf vornübergebeugt. Barbara hatte versucht, Ganatus zu trösten, aber er reagierte kein einziges Mal auf ihre Worte. Er lag nur auf dem Boden und hatte den Kopf zur Seite gedreht. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Ich befand mich in einem Dämmerzustand, in einem geistigen Niemandsland, in dem es das Beste schien, unentschlossen und inaktiv zu bleiben. Es war die Feuerbox, die uns aus unserer Lethargie riß. Unter Umständen wären wir noch für Stunden so dagesessen, bis Hunger und Durst uns zur Rückkehr gezwungen hätten, aber plötzlich begann die Flamme zu flackern. Kristas beschäftigte sich mit der Feuerbox, und ich kroch auf allen vieren zu ihm hin. »Wir müssen zurück!« murmelte er. »Wir schaffen es niemals ohne Licht über diesen Abgrund.« »Wie lange wird es noch brennen?« »Wahrscheinlich ist am See beim Kampf der Monster Wasser eingedrungen«, sagte er bedächtig. »Die Energiezellen sind so gebaut, daß sie sich durch die eigene Hitze und Lichtstrahlung wieder aufladen. Sie müssen nur alle paar Jahre überholt werden.« »Dann solltet Ihr das Licht jetzt besser ausdrehen.«
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Ich durchwühlte meine Taschen, aber die Streichhölzer des Doktors waren alle verbraucht. Kristas hob die Feuerbox hoch und hantierte an ihr herum. Das Licht erlosch. Er wollte die Box wieder auf den Boden stellen, hielt aber inne. Er wandte seinen Kopf um und sah mich an. Auch Barbara hatte sich nach vorne geneigt, die Augen weit aufgerissen. »Wo kommt denn das Licht her?« flüsterte sie. Ich spürte neues Leben in meinen Gliedern. Es stimmte! Von irgendwo über uns drang ein fahler Lichtschein zu uns herein. Ich sprang auf die Füße und entdeckte die Lichtquelle etwa zwanzig Fuß von uns in der Felswand. »Laß mich auf deine Schultern steigen, Kristas!« Der riesige Kerl bückte sich, und Barbara half mir, auf seine Schultern zu klettern. Sofort entdeckte ich einen kleinen Riß in der Wand, mit dessen Hilfe ich noch weiter hinaufklettern konnte. Plötzlich blickte ich durch ein etwa sechs Fuß breites Loch. Dann sah ich wieder zu den anderen hinab. »Ich schlüpfe mal hier durch«, erklärte ich, und meine Stimme muß ungewöhnlich aufgeregt geklungen haben, denn auch Ganatus war nun aufgestanden und starrte mich an. Ich zwängte mich durch das Loch und kroch auf Händen und Knien vorwärts. Ich mochte etwa sieben Meter zurückgelegt haben, als der schmale Tunnel leicht abfiel und breiter wurde. Unter mir lag eine weitere Felsenhöhle, und mein Herz begann vor Freude zu hüpfen, denn auf ihrem Boden verliefen zwei Metallrohre. Ich wußte, daß es die beiden vom See waren. Ich folgte mit dem Blick ihrem Verlauf. Sie verschwanden in der gegenüberliegenden Wand, in der sich an dieser Stelle ein großer, offener, bogenförmiger Durchgang befand. Durch diesen Bogen fiel gleißendes Licht, und auf der anderen Seite des Felsens blitzte unübersehbar der bekannte Metallboden. Ich konnte es kaum erwarten, meinen Freunden diese Neuigkeiten mitzuteilen. Kristas war der letzte, der durch den Tunnel robbte. Als er sich zu uns in die Felsenhöhle herabließ, 155
war er voller Kratzer und Schrunde. Er warf mir einen beinahe reuevollen Blick zu. »So groß zu sein, hat auch seine Nachteile.« Ich schlug ihm auf die Schulter, und zusammen schlichen wir zu dem Bogengang, um uns die Sache näher anzusehen. Vor uns lag ein weitläufiger Raum, dessen Boden, Wände und Decke ganz aus Metall bestanden. Er war etwa hundert Fuß hoch, etwa doppelt so lang und zwanzig Fuß breit. In regelmäßigen Abständen waren an den Seitenwänden kleine Plattformen installiert, deren Höhe man mittels Knopfdruck verstellen konnte. Kristas entdeckte das durch einen Zufall, als er sich auf eine Plattform setzte, um einen lästigen Stein aus seinem Schuh zu entfernen. Plötzlich fuhr er wie mit einem Aufzug in die Höhe. Er tastete den Rand der Plattform ab und fand schließlich einen Knopf, der ihn wieder nach unten beförderte. Der Nutzen dieser Plattformen war offensichtlich, denn die Wände des Raumes waren bis unter die Decke gespickt mit Instrumenten und Anzeigen aller Art. Die beiden Wasserrohre endeten in einem großen Kessel, aus dessen anderer Seite Hunderte von kleineren Rohren entsprangen. Diese Rohre wiederum führten zu den Instrumenten an der Wand. »Anscheinend benützen sie einen Teil davon als Trinkwasser«, sagte Ganatus. »Aber einen anderen Teil scheinen sie auch zu komprimieren. Schaut nur, wie die Zeiger in den Instrumenten herumtanzen. Vielleicht erzeugen sie so ihre Elektrizität …« Barbara und Kristas hatten in der Zwischenzeit den anderen Teil der Höhle in Augenschein genommen. Ich machte mir heimlich Gedanken um Ganatus. Er war so blaß, und seine Augen funkelten schwarz, aber sein Gesichtsausdruck verriet eisernen Willen, und seine Haltung zeugte von unbeugsamen Stolz.
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»Wir kämpfen weiter, Ganatus«, erklärte ich mit fester Stimme. Wir sahen uns kurz in die Augen, dann ging er ein paar Schritte von mir weg. »Dachtet Ihr, ich würde aufgeben?« »Ich denke mir, vielleicht findet Ihr, daß Euer Bruder sinnlos sein Leben geopfert hat. Wir müssen dafür sorgen, daß das nicht der Fall ist. Er soll nicht umsonst gestorben sein.« »So ist es!« bekräftigte Ganatus. Dann kam Kristas auf uns zu. »Auf der anderen Seite gibt es eine Tür und einen Gang. Außerdem hat Barbara einen Lift gesehen.« »Nun, was sollen wir machen? Gibt es eine Möglichkeit, diese Installationen hier außer Betrieb zu setzen?« Ich blickte auf meine Uhr, die glücklicherweise unbeschädigt geblieben war. »Uns bleiben noch vier Stunden, um den Doktor am vereinbarten Punkt zu treffen.« »Wenn wir etwas anrühren«, gab Ganatus zu bedenken, »dann werden die Daleks hier einfallen wie ein Bienenschwarm und uns in die Höhlen zurücktreiben.« Plötzlich rannte Barbara auf uns zu. »Ich habe eine Alarmanlage gehört und irgendwelche Durchsagen, aber ich habe sie nicht verstehen können.« Wie ein Mann rannten wir zur Tür und zum Lift. Der Lärm der Alarmanlage nahm zu. Über uns bellte eine Stimme aus dem Lautsprecher, und sie klang panisch. »Rein in den Lift!« befahl ich. Ich drückte auf einen der unteren Knöpfe, so daß wir nur ein Stockwerk höher fuhren. Der Alarm wurde immer schriller. Als wir die Tür des Liftes öffneten, standen wir wieder in einem kleinen Vorraum, der den Lift vom Korridor trennte. Jetzt konnte man auch die Ansagen verstehen. »Alarm!« schnarrte es aus den Lautsprechern. »Die Thals stürmen die Stadt. Alarm!«
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Kurz darauf glitt die Tür zur Seite, und ich erkannte die untere Seite eines Daleks. »Zurück!« rief ich, und wir stürmten zurück in den Lift. Ich drückte wie wild auf den Knöpfen herum, bis sich der Lift schließlich nach oben in Bewegung setzte, gerade als der Dalek in das Vorzimmer rollte. »Warum sind sie denn jetzt schon in die Stadt gekommen?« fragte Ganatus, als der Lift von neuem stoppte. Diesmal stand die Tür zum Korridor offen. Während alle anderen im Lift warteten, pirschte ich mich vorsichtig bis zur Ecke und spähte die Umgebung aus. Der Korridor lag völlig verlassen da. Ich wäre vor Schreck fast umgefallen, als über mir der Lautsprecher losdröhnte. »Alarm! Die Thals wurden auf Ebene 29 gesehen!« Dieses Stockwerk hatten wir gerade verlassen. Wir waren danach acht Stockwerke nach unten gefahren, also befanden wir uns nun auf Ebene 21. »Meldung an Hauptquartier, wenn Thals gefangengenommen!« fuhr die Stimme in tödlicher Monotonie fort. Dann herrschte wieder Stille, und ich dachte, die Durchsage sei zu Ende. Ich wollte gerade zurückkehren, als die Stimme von neuem ertönte. »Einen Moment!« befahl sie. Ich wartete, bis mir schließlich klar wurde, daß da jemand auf neue Befehle wartete. Wie zur Bestätigung schnarrte die Stimme wieder los. »Plan geändert! Keine Gefangennahme! Ich wiederhole: Keine Gefangennahme! Vernichten! Ich wiederhole: Vernichten …!« Nachdenklich ging ich zurück zu den anderen. Es gab also ein Hauptquartier. Und jemanden, der Befehle gab. Nun hatten wir wenigstens ein Ziel vor Augen: Wir mußten dieses Hauptquartier aufstöbern und es zerstören.
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»Wir hatten uns nie vorstellen können, daß sie einen Anführer haben«, sagte Ganatus, als ich ihm erzählte, was ich gehört hatte. »Ich auch nicht. Ich dachte, sie seien alle gleich. Aber jetzt habe ich den Verdacht, daß jemand die Verantwortung für ihre Handlungen trägt, daß ihnen jemand genau sagt, was sie zu tun haben.« »Das Problem ist nur«, warf Barbara ein, »wo ist diese Kommandozentrale?« Ich holte sie alle in den Lift zurück und drückte auf den Knopf, der uns zum zehnten Stockwerk bringen würde. »Wir wissen ja nicht einmal, ob sich die Zentrale überhaupt in diesem Gebäude befindet«, sagte ich. »Wir müssen sie eben einfach suchen.« Wieder hielt der Lift an, wir schlichen vorsichtig nach draußen und überquerten den Korridor. Ich strich mit der Hand über die nun schon hinlänglich bekannte Ausbuchtung an der Wand, und wir betraten einen kleineren Raum. Das grelle Licht ließ mich vor Schmerz die Augen verdrehen, aber dann erkannte ich, daß praktisch der ganze Raum mit einem Glashaus angefüllt war. Es handelte sich wohl um eine Art Treibhaus, denn in ihm befanden sich Tausende von grünen Schößlingen. Die Hitze in diesem Raum war kaum zu ertragen. Ich wußte, daß wir nicht lange hierbleiben konnten. »Künstliches Licht!« Barbara atmete schwer. »So züchten sie ihre Pflanzen.« Plötzlich zischte uns Ganatus zu: »Ich höre etwas auf dem Gang.« Wir drückten uns alle gegen die Wand. Ganatus kam schnell zu mir herüber und flüsterte mir ins Ohr: »Daleks!« Das Glashaus funktionierte auch als Spiegel, und so konnten wir deutlich erkennen, wie rund zwanzig Daleks an uns vorbeimarschierten. Wir warteten ein paar Sekunden, dann spähte Ganatus um die Ecke und gab uns ein Zeichen, daß die 159
Luft rein sei. Die Dalek-Stimme aus dem Lautsprecher ließ uns wieder wie angewurzelt stehen bleiben. »Achtung! Die Operation beginnt. Daleks werden alle Thals, die sich im Gebäude befinden, vernichten!« Ich blickte die anderen fragend an. »Was für eine Operation?« »Auf Ebene sechs darf sich bis zum Ende der Aktion niemand aufhalten«, fuhr die Stimme fort. »Sechs!« rief Barbara aufgeregt. »Könnte sich nicht da die Zentrale befinden?« Ganatus gab uns mit einer kleinen Geste zu verstehen, still zu ein. Ein leises Schnarren drang vom Korridor zu uns herein. Ganatus ballte die Faust, und als etwas in unserem Gesichtsfeld auftauchte, sprang er auf den Gang. Kristas und ich folgten ihm auf dem Fuße und fanden ihn, wie er sich gerade wieder hochrappelte. Noch einer war gerade dabei, wieder auf die Beine zu kommen. Zu meinem großen Vergnügen handelte es sich um Alydon. Wir entschlossen uns, dem grell erleuchteten Raum den Rücken zu kehren, und fanden einige hundert Meter weiter einen ähnlichen, der aber nur matt erleuchtet war. Das Treibhaus in seiner Mitte war viel kleiner, auch wuchs nichts darin. Aber es gab etwas anderes, was meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Die Daleks benutzten diesen Raum offensichtlich als Lager für ihre Rohstoffe und Werkzeuge, denn überall waren fein säuberlich Eisenstangen aufgeschichtet. An allen waren verschiedenartige Teile angebracht, an manchen Haken, an anderen wieder kleine Magnete. Aber dann bemerkte ich einen Stapel Eisenstangen mit unterschiedlichen Saugnäpfen, und mir wurde schlagartig klar, daß die Daleks ihre Stäbe je nach Bedarf und Arbeitsweise auswechseln konnten. »Auf jeden Fall können wir ein paar von den Dingern gut als Waffen gebrauchen«, sagte ich zu Kristas. Ich wandte mich Alydon zu, der gerade Ganatus und Barbara lauschte, die ihm 160
von unseren Abenteuern erzählten. Mit bestürzter Miene hörte er vom Tode Elyons und Antodus‹. »Es scheint, als hätten wir alle unsere Pechsträhnen gehabt«, murmelte er leise. »Was ist passiert? Und warum habt Ihr die Stadt früher als geplant angegriffen?« »Der Doktor und Susan wurden gefangengenommen.« Der Schreck fuhr mir in alle Glieder. Barbara packte Alydon am Arm. »Wie bitte?« stieß sie hervor. »Er ging davon aus, daß die Daleks ihre Stadt mit Hilfe elektronischer Instrumente überwachen. Mit Hilfe von Radiowellen, wie er sich ausdrückte. Ich verstand zwar nicht genau, was er meinte, aber wir waren mit seinem Plan einverstanden. Er holte ein paar Metallplatten aus seinem Raumschiff, Tardis glaube ich, nannte er es.« Ich nickte ungeduldig. »Auf jeden Fall spiegelten wir mit deren Hilfe die Sonnenstrahlen in Richtung der Stadt. Seinen Worten nach wollte er so die Fernsehkameras der Daleks außer Gefecht setzen. Dann gingen Susan, er, sowie mein Cousin Gurna selbst hinunter in die Stadt. Der Doktor behauptete, eine Möglichkeit zu kennen, die Radiowellen der Daleks so zu stören, daß wir unbemerkt in die Stadt gelangen könnten. Doch Gurna kam alleine zurück und teilte uns mit, daß wir die Stadt auf der Stelle stürmen müßten. Die Daleks würden in Kürze über ihr eine Bombe zur Explosion bringen, um die Luft zu verpesten. Das alles hatte der Doktor herausgefunden. Als Gurna die Wüste erreicht hatte, blickte er nochmals zurück.« Er sah uns traurig der Reihe nach an. »Ja, weiter!« drängte ich ihn. »Der Doktor und Susan waren von Daleks umzingelt. Er konnte überhaupt nichts dagegen unternehmen. Er mußte tatenlos mitansehen, wie sie abgeführt wurden.« 161
»Sie wurden also nicht getötet?« Er schüttelte den Kopf, aber sein Gesicht verriet, daß er ihnen wenig Überlebenschancen einräumte. »Jetzt wissen wir auch, was die Stimme mit der ›Operation‹ meinte«, versetzte ich grimmig. »Es ist die Bombe!« Dann packte ich einige der Eisenstangen, die mit Haken versehen waren, und warf sie auf den Boden. »Nehmt diese Stangen und folgt mir!« rief ich. Jeder packte sich eine, und wir eilten auf den Korridor. Das Versteckspiel hatte nun ein Ende. Mit der Eisenstange in der Hand fühlte ich mich erheblich sicherer. So primitiv die Bewaffnung auch war, es war besser als nichts. Ich wußte, daß wir einem Gegner, der Distanzwaffen besaß, unterlegen sein würden, aber im Nahkampf standen wir nicht schlecht da. Der Korridor zog sich beachtlich in die Länge, und ich nahm Kristas am Arm. »Kristas«, sagte ich, »ich habe eine Aufgabe für Euch: Beschützt Barbara. Weicht nicht von ihrer Seite!« Er nickte mir mit einer Geste des Versprechens zu. »Ich werde auf sie aufpassen. Ich weiß, was sie Euch bedeutet.« Hatte er nicht irgendwo recht? Ging es mir etwa nicht nur darum, die Schwächste in unserer Gemeinschaft zu beschützen? Ich verscheuchte diese Gedanken, als Ganatus auf einen Behälter an der Wand deutete! Er hatte gewisse Ähnlichkeiten mit der Box, die der Doktor damals zerschmettert hatte. Er war genau auf uns gerichtet. Ich nahm meinen Metallstock und zertrümmerte die Box mit einem Schlag. Auf der Stelle schrillten die Alarmsirenen durch den Korridor, und die schon vertraute Stimme begann zu schnarren: »Achtung! Auf Ebene Zehn wurden Thals entdeckt! Alle Kreuzungen blockieren …! Alle Kreuzungen blockieren …!« »Hier unten gibt es einen Lift!« rief Alydon. Im selben Moment schlossen sich hinter uns eine ganze Reihe von Türen. 162
»Wie weit ist es?« fragte ich knapp und eilte weiter. Kristas überholte mich und drückte gegen eine der Türen, die gerade im Begriff war, sich von oben her zu senken und uns den Weg abzuschneiden. Er konnte sich ihr zwar entgegenstemmen, sie aber doch nicht ganz stoppen. Barbara tauchte unter ihm hindurch und rannte weiter. »Noch eine Tür zwischen uns und dem Lift!« schrie sie. Kristas stemmte sich inzwischen auf Knien gegen die Tür. Wir halfen ihm, so gut es ging, und zerstörten anscheinend den Mechanismus der Tür, denn plötzlich rührte sie sich keinen Millimeter mehr. Ich schnappte nach Luft. »Ganatus, lauft Ihr durch und helft Barbara! Wir müssen unbedingt in diesen Lift!« Er schlüpfte uns zwischen den Beinen hindurch und verschwand. Blitzschnell war er auf der anderen Seite. Er trieb uns zur Eile an. Ich war als nächster an der Reihe. Barbara stützte sich auf Händen und Knien ab, um die letzte Tür aufzuhalten. Ganatus half ihr zwar, dennoch glitt die Tür unaufhaltsam abwärts, fast wie eine Guillotine in Zeitlupe. Ich warf mich nach vorne und konnte mich mit dem Rücken unter die Tür stemmen. Die Maschine, die die Tür bewegte, heulte auf, als wir ihr unseren Widerstand entgegensetzten, aber glücklicherweise trafen Kristas und Alydon rechtzeitig ein. Wir brachten die Tür ebenfalls zum Stillstand und krochen unter ihr hindurch. Mit einem lauten Krachen schlug sie hinter uns auf, nachdem ich Alydon unter ihr durchgezogen hatte. Wir eilten weiter zum Lift. »Einige von uns schafften es, in das Gebäude einzudringen«, erzählte Alydon, als sich der Lift in Bewegung gesetzt hatte. »Aber zwei meiner Leute wurden unten in der Halle erstochen. Einige sitzen auch in anderen Gebäuden fest. Ich befürchte fast, wir haben eine Menge Menschen verloren.« Ich hatte nicht die Absicht, in diesem Augenblick in Trauer oder Selbstmitleid zu versinken. Wir mußten diese 163
Kommandozentrale zerstören und dann Susan und den Doktor finden. Keine Zeit für Tränen! Das mußte warten. Der Lift stoppte mit einem sanften Ruck, wir pirschten nach draußen und sahen uns um. Ebene Sechs unterschied sich deutlich von allen anderen Ebenen, denn ich konnte nach einem kurzen Korridor zu unserer Linken einen langen Bogengang erkennen. Die metallenen Umrisse von Daleks waren für kurze Momente zu erkennen. Instinktiv war mir klar, daß wir uns jetzt im Herzen der Stadt befanden. Hier lag die Zentrale der Daleks. Falls es uns gelingen sollte, diese zu zerstören, hatten wir zumindest den Hauch einer Chance. Zumindest, dachte ich grimmig, würden wir ihnen eine tüchtige Abreibung verpassen. Ich wandte mich Alydon zu. »Dort unten haben wir eine Art hydroelektronisches Kraftwerk gefunden, mit dem sie Wasser in Energie verwandeln. Ganatus wird es Euch zeigen. Ich möchte, daß Ihr beide dorthin geht, und es völlig zerstört. Zerschlagt die Instrumente, macht soviel kaputt wie möglich.« »Aber Ihr werdet uns hier brauchen«, erwiderte Ganatus. »Wir haben keine Zeit für Diskussionen. Wenn Ihr das erledigt habt, trommelt soviele Thals zusammen wie möglich, und bringt sie alle hier herauf.« »Bitte, Ganatus, macht es so, wie Ian gesagt hat«, erklärte Barbara. »Es ist das beste.« Selbst wenn ich in diesem Moment überrascht gewesen sein sollte, so zeigte ich dies nicht offen. »Ihr habt uns bis hierher geführt. Es wäre nicht richtig, nun zu streiten.« Zusammen mit dem zögernden Alydon ging er zurück in den Lift und drückte auf einen der Knöpfe. Die zwei fuhren nach unten. Jetzt wandte ich mich den beiden anderen zu. »Hört mir zu! Unsere Arbeit wird kein Vergnügen sein. Wenn ich mich nicht irre, haben sie von hier aus die Bombe 164
unter Kontrolle. Wir müssen sie aufhalten. Es sind vielleicht Dutzende von ihnen da drinnen, und sie sind bewaffnet. Alles, was für uns spricht, ist der Überraschungsmoment und unsere größere Beweglichkeit.« Wir drückten uns platt gegen die Wand, als ein Dalek vorüberhuschte. Ich spähte wieder nach draußen und erblickte zwei Türen, die sich im rechten Winkel gegenüberlagen. Es handelte sich offenbar um zwei kleine Seitenräume. Für uns konnten sie nützlich sein; schließlich wollten wir nicht mitten auf dem Korridor überrascht werden. Der Dalek, der eben vorbeigerollt war, diente vielleicht als eine Art Laufbursche. Ich hatte keine Lust, in ein Kreuzfeuer zu geraten. »Ich werde als erster gehen. Kristas, Ihr seid der nächste. Barbara, bleiben Sie dicht hinter ihm, und schauen Sie vorsichtig über seine Schulter.« Ich trat nach draußen und schlich mich in die Richtung, in der wir die Zentrale vermuteten, wobei ich die Wände nach den Kamerakästen absuchte, die die Daleks hätten vor uns warnen können. Glücklicherweise waren keine vorhanden. Doch als ich den Bogengang erreichte, mußte ich zu meinem Entsetzen feststellen, daß dieser gar nicht frei zugänglich war, wie ich angenommen hatte, sondern daß uns dicke Panzerglasscheiben den Weg versperrten. Dies war zwar ein Rückschlag, aber ich beschloß, dieses Problem für eine Weile zu ignorieren, und riskierte dafür einen Blick in die Zentrale. Als erstes fiel mir ein Bündel von Eisenrohren auf, das bis zur Decke reichte. Um sie herum standen etwa vier Daleks. Sie überwachten anscheinend das Auffüllen eines länglichen Behälters mit einer Flüssigkeit, die aus einem Metallcontainer tröpfelte. Der Behälter war in eines der Rohre integriert und über eine Glastüre zugänglich. Das zweite, was ich sah, war ein Dalek aus Glas! Er saß auf einer Art Bühne. Sein Äußeres bestand zur Gänze aus Glas. Im Inneren befand sich ein ähnlich abstoßendes 165
Monster, wie es der Doktor und ich schon früher aus seinem Panzer geholt hatten. Der Dalek sah ekelerregend aus. Er saß auf einem Blechstuhl, und seine Plattfüße reichten nicht ganz bis zum Boden. Der Kopf war übermächtig groß, und ich blickte angewidert auf mächtige Beulen an den Stellen, wo sich normalerweise Ohren und Nase befinden, sowie auf einen gräßlichen Schlitz als Mundöffnung. Er fuchtelte ruhelos mit seinem verrenkten, kleinen Arm herum, und seine dunkelgrüne Haut glänzte ölig grün. »Los! Beeilt Euch!«, gab er von sich. Aber dieser Dalek sprach mit einer völlig anderen Stimme. Sie klang nicht so stumpf und monoton wie die der anderen Daleks, sondern glich eher einer drohenden, schrillen Kommandostimme, die sogar so etwas wie eine Sprachmelodie zu bilden vermochte. Was mir sofort auffiel, war die Tatsache, daß ich jedes Wort durch die dicke Glasscheibe hören konnte, von der man eigentlich annehmen mußte, daß sie den Raum schalldicht machen würde. Ich sah mich um und entdeckte den Grund. Zu beiden Seiten des bogenförmigen Eingangs waren Eisengitter in die Wand eingelassen, die sich auch seitlich in der Wand fortzupflanzen schienen. Wenn diese Gitter auch in den kleinen Seitenräumen installiert waren, dachte ich mir, dann könnten wir das Problem mit dem Panzerglas vergessen und sofort durch die Gitter in die Zentrale eindringen. Also öffnete ich die Seitentüre und zog meine beiden Begleiter in einen Vorratsraum für Metallbehälter. Das Gitter verlief so in der Wand, wie ich es mir gedacht und gewünscht hatte. Ich forderte die anderen auf, sich zu bücken. Wir hatten einen wunderbaren Ausblick in die Kommandozentrale. Sofort packte mich Kristas an der Schulter. Auch Barbara und ich sahen sie in diesem Moment. Der Doktor und Susan. Mit Hilfe riesiger Magnete waren ihre Arme und Beine regelrecht an der Wand festgenagelt, und sie versuchten verzweifelt, sich zu befreien. 166
»Könnt Ihr dieses Gitter aus der Wand reißen?« fragte ich Kristas leise. Er nahm es in Augenschein und nickte dann zuversichtlich. »Ohne Lärm zu verursachen?« fragte Barbara. »Ich werde es versuchen.« Er streckte seine Hand hindurch und begann, die dünnen Stäbe zu zerbrechen. Ich sah mir währenddessen die Zentrale noch etwas genauer an und bemerkte eine etwa zwei Fuß hohe Wand, die den Mittelpunkt des Raums einschloß. Sie war nur ein paar Meter von uns entfernt. An einigen Stellen besaß sie Öffnungen, durch die hindurch die Daleks offensichtlich den Raum betraten. Sie schien alles in allem wohl nur der Verzierung der Zentrale zu dienen, denn ein praktischer Nutzen war nicht erkennbar und würde uns wohl auch immer verborgen bleiben. Aber uns konnte sie sehr nützlich sein, das war mir sofort klar. Ich flüsterte Barbara leise ins Ohr: »Einer von uns könnte durch das Gitter schlüpfen und hinter dieser Mauer zum Doktor und zu Susan schleichen. Was halten Sie davon?« Sie nickte. »Braves Mädchen. Ich habe keine Ahnung, wie stark diese Magneten sind. Versuchen Sie Ihr Bestes. Fangen Sie mit der Befreiungsaktion an den Beinen an, wo Sie keiner sehen kann. Lassen Sie die Hände vorerst an der Wand, bis Kristas und ich zu Ihnen stoßen.« »Seien Sie bitte vorsichtig, Ian«, flüsterte Barbara. Kristas hatte bereits ein großes Loch in das Gitter gerissen, und wir halfen Barbara, hindurchzukriechen. Sie begann sich wie eine Schlange an der Wand entlangzubewegen. Glücklicherweise waren die Daleks so fieberhaft bei ihrer Arbeit, daß sie sich unbemerkt vorwärtsschleichen konnte. Der Doktor hatte es mittlerweile aufgegeben, sich von der Wand losreißen zu wollen, und hob den Kopf. »Hört auf mit diesem Massaker!« schrie er. 167
Der gläserne Dalek sprang auf und gebärdete sich wie ein Rumpelstilzchen. Er führte einen kleinen Tanz auf, und sein Arm trommelte wütend gegen das Glas. »Ruhe«, quiekte er. »Wir werden das Volk von Skaro sein. Und zwar das einzige!« Ich hörte, wie Kristas hinter meinem Rücken leise, aber wütend schnaubte. »Dagegen sollen wir kämpfen? Gegen dieses Scheusal?« brach es aus ihm heraus. »Sie haben vor, die Luft vollends zu vergiften«, flüsterte ich grimmig. Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem gläsernen Dalek zu. »Warum seid ihr noch nicht fertig? Ich sage euch, wir müssen uns beeilen!« kreischte er. Die Daleks entfernten nun den Metallbehälter und trugen ihn mit Hilfe ihrer Saugnäpfe nach rechts, fort aus meinem Gesichtsfeld. Die anderen schlossen behutsam die Glastüre und standen schließlich mit dem Rücken zu uns an einem Schaltpult von enormer Größe. Barbara war bereits ein Stück an der Eisenwand entlanggeschlichen, und Susan sowie der Doktor hatten sie bereits bemerkt, sahen jedoch konsequent in eine andere Richtung, um sie nicht zu verraten. Ich konnte sehen, wie Barbara die Magnete an Susans Beinen entfernte. Alle meine Muskeln waren gespannt vor Nervosität. »Also los, mein Freund«, keuchte ich. »Als erstes zerschmettern wir diesen Glasdalek, und dann hauen wir so viel kaputt wie möglich.« Kristas‹ Hand klammerte sich fester um die Eisenstange. Er lächelte mich auf eine Art und Weise an, die mir Mut einflößte. Mit Leichtigkeit schlüpften wir durch das Gitter, hockten uns zunächst eng zusammen auf den Boden und sprangen dann beide gleichzeitig auf unsere Beine. Aus irgendeinem Grund stieß ich eine Art Schlachtruf aus und rannte direkt auf den
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gläsernen Dalek zu, die Eisenstange über meinem Kopf schwingend. Er hatte sich dem Schaltpult zugewandt gehabt; als er meiner ansichtig wurde, blieben ihm vor Staunen die Augen offen stehen. Das gläserne Gehäuse drehte sich bereits, und mir war klar, daß ich verloren sein würde, falls der bewaffnete Arm erst einmal in meine Richtung zielen würde. Blitzschnell warf ich mich zur Seite, und schon schoß ein Feuerstrahl an mir vorbei und traf das Panzerglas, das sich sofort in seine Bestandteile auflöste. Ich wirbelte die Eisenstange hoch über meinen Kopf und ließ sie auf das Glas krachen, das sofort in Scherben ging. Das Wesen in seinem Inneren gab einen gellenden, markerschütternden Schrei von sich, dann fiel es zwischen das zerbrochene Glas und wand sich am Boden. Kristas benutzte die Eisenrohre als Deckung und kümmerte sich um das Schaltpult. Die davor stehenden Daleks wirbelten herum, als sie die Todesschreie ihres Anführers hörten, doch in diesem Augenblick drosch Kristas‹ Eisenstange auf ihre Köpfe nieder. Sofort kam Bewegung in die Szene. Zwei der Daleks feuerten ihre Waffen auf mich ab. Ich tauchte seitlich weg und krachte mit meiner Schulter auf den Boden. Die Wand, vor der ich gerade noch gestanden hatte, war nur noch geschmolzenes Metall, nachdem zwei blaue Gewehrsalven an mir vorbeigezischt waren. Barbara hatte Susan und den Doktor mittlerweile vollständig befreit und zog sie zum Ausgang hin, der aber plötzlich von einem Dutzend Thals unter der Führung von Ganatus versperrt war. Sie strömten in die Zentrale, obwohl zwei von ihnen von den Salven der Daleks niedergestreckt wurden. Ich beobachtete Kristas, als er einen Dalek hochhob und ihn gegen zwei weitere warf, die gerade im Begriff waren, ihre Gewehre abzufeuern. Es gab eine gewaltige Explosion, deren Druckwelle Kristas direkt vor meine Füße schleuderte. Er schüttelte sich nur kurz, 169
packte dann sofort einen Eisenkanister und zerschmetterte diesen auf dem Kopf eines weiteren Daleks. Ganatus wiederum sprang einem Dalek von hinten auf den Rücken und wurde von diesem durch den halben Raum geschleppt, bis er schließlich abgeworfen wurde. Der Dalek drehte sich blitzschnell, und eine blaue Flamme schoß aus seiner Waffe. Sie traf Ganatus an der Schulter, der mit einem Schmerzensschrei zu Boden stürzte. Ich beschäftigte mich mit dem Eisenrohr, das sich in der Mitte des Raumes befand. Hunderte von Drähten führten zu der länglichen Metallbox in seinem Inneren, ich riß zwei von ihnen heraus. Mein sechster Sinn sagte mir plötzlich, daß ich in Gefahr sei, und ich sprang zur Seite, als im nächsten Moment der Saugnapf eines Dalek auf das Rohr zuschoß, in der Absicht, mich zu erledigen. An der Unterkante des Panzers entdeckte ich einen Griff. Den packte ich und kippte den Dalek einfach zur Seite, bevor er zu weiteren Angriffen Gelegenheit gehabt hätte. Ein weiterer Dalek hatte einen Thal mit seinem Saugnapf an die Wand genagelt, der sich direkt in die Magengrube des Thals bohrte. Dann schoß die furchterregende blaue Flamme aus der Waffe des Daleks. Der Thal krümmte sich kurz und verwandelte sich kurz darauf in Asche und Rauch. In diesem Moment fiel das Licht aus, und man hörte Geräusche, die offensichtlich von nicht mehr richtig funktionierenden Maschinen verursacht wurden. Sie verstummten nach und nach. Kristas war gerade dabei, auf einen Dalek einzudreschen, als er vor Staunen innehielt, denn die Waffen der Daleks zeigten gleichzeitig senkrecht nach oben. Aus irgendeiner Richtung schimmerte ein fahles Licht. Ich bemerkte, daß das Licht nicht vollständig erloschen, sondern nur erheblich schwächer geworden war. Ungefähr achtzig Prozent der Energie stand den Daleks nicht mehr zur Verfügung.
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Eine hilfreiche Hand stützte mich. Es war der Doktor, der mir gleich eines seiner Wunderstreichhölzer reichte. Offenbar hatte er sie bereits im ganzen Raum verteilt, denn plötzlich waren neun oder zehn zugleich entzündet. Die überlebenden Daleks bewegten sich nun äußerst träge, und ihre Waffen fielen langsam nach unten. Aus dem Innern ihrer Panzer drang so etwas wie Wehklagen, das lauter und lauter wurde, bis Susan sich schließlich die Ohren zuhielt. »Haben Sie diese Bombe entschärft, Chesterton?« wollte der Doktor wissen. »Ich weiß es nicht«, versetzte ich etwas bedrückt. »Ich habe nur einige Drahtverbindungen gelöst.« Er eilte zu dem Eisenrohr und zog die restlichen Drähte aus ihren Halterungen. Vorsichtig näherte ich mich einem der Daleks. Das Jammern erstarb langsam, und die Thals lauschten schweigend. Kristas hielt noch immer seinen Kanister in der rechten Hand, für den Fall, daß sich irgendwo noch Widerstand regen sollte, aber uns allen war klar, daß mit diesen Kreaturen etwas Entscheidendes geschah. Der Dalek neben mir drehte mir langsam seinen Augenstab zu. Seine zwei weiteren Stäbe hingen einfach herab. »Nehmt … uns … nicht unsere Energie«, tönte es schwach. Der Doktor kam herüber und lauschte interessiert. »Ohne Energie können wir nicht leben«, fuhr er fort. Die Stimme wurde immer brüchiger. »Selbst, wenn ich Euch Eure Energie erhalten wollte, ich wüßte nicht, wie«, sagte der Doktor. »Dann … ist das … das … Ende der Daleks«, krächzte die Stimme, wobei das letzte Wort kaum noch zu verstehen war. Der Augenstab fiel wie gelähmt herab und zeigte nach unten. Ich sah mich im Raum um. Alle Daleks machten den gleichen, leblosen Eindruck. Lange herrschte vollkommenes Schweigen. Niemand bewegte sich von der Stelle. Dann legte der Doktor seine Hand 171
auf einen Dalek und gab ihm einen kleinen Stoß. Er bewegte sich ein Stückchen vorwärts und stand dann wieder still. »Sie sind tot. Sie sind alle tot«, hörte ich Susan flüstern. Vorsichtig bahnte sich der Doktor an den Trümmern vorbei einen Weg quer durch den Raum hinüber zu dem Glasdalek, dem ich den Garaus gemacht hatte. Er beugte sich über ihn und entfernte mit einem Ausdruck des Grauens eine Kette vom Hals des Dalek. Er kam zu mir herüber und ließ die Kette vor meinen Augen baumeln. An ihr hing unsere Sicherung. »Nun sind wir gerettet, was, Chesterton?« Wir blickten uns in die Augen. Ich hatte nichts zu sagen. Ich sah keinen Sinn darin, alten Staub wieder aufzuwirbeln. »Sie werden mir doch nicht mehr böse sein, junger Mann?« Er blickte sich in der Zentrale um. »Auf jeden Fall gibt es hier genug Quecksilber. Ganz nebenbei: Haben Sie bemerkt, daß der Dalek, den Sie erledigt haben, auch an seinem Bein ein elektrisches Kabel befestigt hat? Ich glaube, sie brauchten den Strom nicht nur zur Fortbewegung oder für ihre Waffen, sondern auch für ihre Herzschrittmacher.« »Ich habe Alydon und Ganatus hinuntergeschickt, um das Kraftwerk zu zerstören.« »Das war ein guter Einfall, mein lieber Freund«, erwiderte er bedächtig. »Und nicht Ihr einziger«, fügte er hinzu. Alydon kam mit etwa zwanzig Thals herein. Sie begannen sofort, ihren Freunden Löcher über den Hergang des Geschehens in den Bauch zu fragen. Sie lauschten gespannt zehn verschiedenen Versionen. Alydon kam zu uns herüber, nachdem er sich über Susan und Barbara gebeugt hatte, die ihrerseits Ganatus trösteten und ihm seine Schulter mit etwas Stoff verbanden, den Kristas aus seiner Kleidung gerissen hatte. »Sind sie sicher tot, Doktor?« fragte Alydon.
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»Ja, die Daleks haben ihre Macht verspielt. Dies ist nun Euer Planet, Alydon. Benützt die Erfindungen der Daleks, um ihn wieder instandzusetzen.« Alydon blickte etwas verstört um sich. »Ich habe nicht von einem einzigen Gerät hier eine Ahnung.« »Dann gibt es viel zu lernen«, bemerkte der Doktor. »Ach, hätten wir doch unsere Erfahrungen machen können, ohne so viele Opfer bringen zu müssen.« Der Doktor betrachtete ihn mit ernster Miene. »Sorgt dafür, daß Eure Leute nicht umsonst gestorben sind. Wenn Ihr mich nun fragt: ›Wozu sollen wir weiter Krieg führen?‹ dann bin ich nicht nur Eurer Meinung, ich bestehe sogar darauf, daß Ihr gemäß Euren Prinzipien lebt.« Dann sagte ich: »Aber vergeßt niemals, daß Ihr weiterkämpfen müßt. Ihr müßt dem Boden etwas abringen, der sengenden Sonne trotzen, die Monster im See bekämpfen und das Leben selbst zu Höherem führen.« »Und, wenn ich mir zum Abschluß noch eine Bemerkung erlauben darf«, unterbrach mich der Doktor sanft, »strebt immer danach, auf der Seite der Wahrheit zu stehen.« Er wandte sich von Alydon ab und betrachtete nachdenklich die kleine Sicherung in seiner Hand. »Seid immer offen und ehrlich«, fuhr er fort. »Es ist erstaunlich, welch verheerende Wirkung eine kleine Lüge nach sich ziehen kann.« Auf dem Rückweg zum Wald sprach Barbara kein Wort mit mir. Auch auf der anschließenden Siegesfeier war sie immer auf Abstand bedacht. Sie setzte sich zwischen die beiden Verwundeten, Ganatus und Alydon. Ab und zu spürte ich ihren Blick auf mir ruhen, aber sobald ich sie ansah, wich sie mir konsequent aus. Gegen Ende des Abends, als wir inmitten von »Feuerboxen« saßen, überhäuften uns die Thals mit Geschenken und Komplimenten. Das brachte uns alle etwas in Verlegenheit, mit 173
Ausnahme des Doktors, der jedes Geschenk und jede Schmeichelei mit großartiger Haltung hinnahm, wobei er aber jeden Anflug von Überheblichkeit vermied. Jetzt war er wieder ganz in seinem Element. Wie nicht anders zu erwarten, erhob er sich schließlich, um mit einer Rede den Abend zu beschließen. »Meine Freunde«, begann er, wobei er seine rechte Hand in seiner Westentasche verstaute, während die andere an seiner Seite herabbaumelte, um bereit zu sein für die unvermeidlichen theatralischen Gesten des Doktors. »Meine lieben Freunde. Wir haben zusammen ein Abenteuer bestanden. Wir haben den Daleks die Stirn geboten und einen herrlichen Sieg errungen. Ihr könnt mir glauben, wir haben in der Stadt jeden Stein umgedreht, bevor wir sie verließen. Die Daleks sind ausnahmslos tot. Das Übel ist ausgemerzt und hat Platz gemacht für Glück und Wohlstand. Was uns betrifft, also meine Enkelin, meine beiden Freunde und mich, so muß ich Euch sagen, daß wir Euch verlassen werden.« »Bleibt bei uns!« scholl es ihm aus Dutzenden von Mündern entgegen, aber der Doktor schüttelte nur traurig den Kopf. »Unsere Bestimmung sind die Sterne, meine Freunde. Vielleicht werde ich eines schönen Tages zurückkehren und Eure Enkel besuchen, um zu sehen, welche Fortschritte Ihr gemacht habt. Dann wird es hier wieder Vögel geben und bunte Blumen. Die Schönheit des Landes und Kultur werden blühen, und dieses Abenteuer wird Geschichte sein.« Er blickte andachtsvoll in die Runde und erhob seinen Zeigefinger. »So betrachtet denn dieses Ereignis«, sagte er bedeutungsschwanger, »als unterste Stufe einer Leiter zu Glück, Frieden und Wohlstand.« Unter tosendem Beifall und Hochrufen nahm er wieder Platz und ließ seinen Blick schweifen. Dann sah er zu mir herüber. »Chesterton, ich glaube, wir sollten nun gehen.« 174
Ich nickte und suchte nach Barbara, aber ihr Stuhl war leer. Die Leute erhoben sich nach und nach von ihren Plätzen, sammelten die Überreste ein und schafften etwas Ordnung. Der Doktor nahm mich am Arm. »Ein langer Abschied ist das letzte, was wir jetzt gebrauchen können«, murmelte er. »Ich hasse Gefühlsduselei, aber diese Menschen hier könnten mich diesem Laster verfallen machen.« Er reinigte umständlich und sorgfältig seinen Zwicker am Jackenärmel und setzte ihn dann wieder in korrekter Position auf. »Nun kommen Sie schon!« sagte er dann fast barsch. Wir nahmen endgültig Abschied von den Thals und machten uns auf den Weg zur Tardis. Susan war schon da und hielt die Tür weit offen. Ich konnte hinter ihr in das hell erleuchtete Innere des Schiffes sehen. Seine Größe schien mir jedesmal von neuem enorm im Vergleich zu einer Telefonzelle. »Ist denn Barbara nicht mit Euch gekommen?« fragte sie. »Ich gehe sie suchen«, schlug ich vor. Der Doktor war einverstanden, bat mich aber, keine unnötige Zeit mehr zu verlieren. »Wir haben etwas zu besprechen«, sagte er dann mit geheimnisvollem Unterton und ging mit Susan ins Schiff. Ich ging zurück zu dem Platz, an dem das Fest stattgefunden hatte, und fragte Dyoni nach Barbara, allerdings ohne Erfolg. Aber Alydon konnte mir einen Hinweis geben. »Ihr solltet nach Kristas suchen«, riet er mir. Ich muß wohl ein etwas verdattertes Gesicht gemacht haben, denn er klopfte mir auf die Schulter und lachte über das ganze Gesicht. »Ihr habt ihn doch gebeten, auf sie aufzupassen, soweit ich das richtig verstanden habe. Er ist ein sehr einfacher, gutmütiger Kerl. Und Ihr habt ihn noch nicht von seiner Aufgabe entbunden. Ich glaube, er würde auch gegen eine Million Daleks kämpfen, wenn Ihr ihn darum bitten würdet.«
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Dann marschierte ich los in die Richtung, in der Alydon Kristas zuletzt gesehen hatte. Es war ein bequemer Trampelpfad, und ich kam recht gut voran. Da saßen sie nun zusammen, gegen einen umgestürzten, toten Baum gelehnt, und die Feuerbox erleuchtete die Riesenfüße Kristas‹. Im Schatten eines Busches blieb ich stehen, ohne ihn zu berühren, um ihn nicht zu Staub werden zu lassen und mich auf diese Weise zu verraten. »Soll ich es Ian sagen?« fragte Kristas. »Nein! Oh, ich weiß nicht. Kristas, was soll ich ihm nur sagen?« Eine Weile herrschte Schweigen. Dann fuhr Barbara fort: »Er haßt mich. Das weiß ich genau. Ich habe mich dumm benommen. Ich wollte unbedingt meinen Kopf durchsetzen.« Ich fragte mich, ob sie nicht mein lautes Herzklopfen hören würden. Hatte ich da richtig gehört? Wieder folgte ein langes Schweigen, und ich wagte kaum zu atmen. »Ich kenne mich in diesen Dingen nicht sehr gut aus«, antwortete Kristas bedächtig. »Aber ich weiß, daß es nie zu spät ist, Barbara. Ihr habt Euch getroffen und wart gezwungen, zusammenzubleiben. Nun seid Ihr aneinandergeschweißt. Wartet ab und seht, was Eure Gefühle dazu sagen werden.« Er hob einen Ast auf, brach kleinere Stücke von ihm ab und warf sie von sich. »Versteht mich recht, ich spreche natürlich nur von meinem bescheidenen Standpunkt aus«, fügte er mit einem Lächeln hinzu. »Und nur, soweit ich Euch als Person kenne. Ich spreche normalerweise ohne Umschweife und sehr direkt aus, was ich denke. Gestern abend auf dem Fest saß neben mir ein Mädchen mit Namen Salthyana. Morgen werde ich ihr sagen, daß ich mit ihr mein ganzes Leben verbringen möchte. Aber ich nehme an«, beschloß er seine Rede mit ernster Miene, »das wäre wohl etwas zu direkt für Euch.« 176
»Ja«, antwortete Barbara leise und fügte hinzu: »Außerdem fragt der Mann die Frau, ob sie will.« Dann erhob sie sich. »Ich gehe nun zurück, um Susan und den Doktor zu finden, sonst kommen sie mich noch suchen.« Jetzt, dachte ich, wird sie mich entdecken. Ich hätte nur meine Hand auszustrecken brauchen, um sie an der Schulter zu berühren, aber sie hatte die Augen fest auf den Boden gerichtet und ging an mir vorüber, ohne von mir Notiz zu nehmen. Kristas warf seinen Stock weg, rieb sich die Hände und machte sich daran, die Feuerbox aufzuheben. Ich wartete ab, bis Barbara außer Hörweite war, dann trat ich aus dem Schatten des Busches. Kristas murmelte etwas Unverständliches, lächelte aber, als er sah, daß ich es war. »Dann wißt Ihr es also?« Ich hielt ihm meine Hand hin. Er stellte die Feuerbox auf den Boden und ergriff sie. »Wir fliegen nun mit dem Doktor fort. Er bat mich, lange Abschiedsszenen zu vermeiden, aber ich konnte Euch nicht verlassen, ohne Euch Adieu zu sagen. Ihr seid mein Freund geworden, und ich werde Euch niemals vergessen.« Die Traurigkeit in seinen Augen muß sich auch in den meinen widergespiegelt haben. Er drückte mir noch einmal die Hand, und ich hatte die größte Mühe, nicht vor Schmerz zusammenzuzucken. »Auf Wiedersehen, Ian. Ich wünschte, Ihr würdet nicht gehen, aber wie ich sehe, müßt Ihr Euren Weg gehen.« Ich fühlte einen lächerlichen Reiz in meinen Augen, also machte ich auf dem Absatz kehrt und ging rasch weg von ihm, durch den toten Wald, zum letzten Mal. Ich beschleunigte meine Schritte, um rasch zum Schiff zu gelangen. Als ich die Felsen erreichte, sah ich in der Ferne Alydon und Dyoni stehen. Er hatte seinen Arm um ihre Schulter gelegt, und ihr Gesicht war ihm zugewandt. Ihr Gesichtsausdruck strahlte eine 177
solche Glückseligkeit aus, daß ich mir die letzten Worte zum Abschied ersparte und still weiterging, zufrieden, solche Erinnerungen mit mir nehmen zu können.
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Ein neues Leben! Susan betätigte einen Knopf, und die Türen schlossen sich hinter mir. Der Doktor drehte sich um und stützte sich mit dem Rücken gegen das Schaltpult ab. Barbara stand etwas seitlich mit dem Rücken zu mir. »Aha!« sagte der Doktor, so als würde er eine geschäftliche Unterredung einleiten. »Wir haben auf Sie gewartet, junger Mann.« Ich ging durch den Kontrollraum und setzte mich in einen Stuhl. »Chesterton und Miß Wright«, begann er. Sie drehte sich um und sah ihn an. Dann nahm sie auf einem Hocker neben der alten Standuhr Platz. Susan verschränkte die Arme und schaute uns alle der Reihe nach an. »Keinem von Ihnen beiden kann ich versprechen, daß Sie zu Ihrem Planeten zurückkehren werden. Ich sagte das schon und erwähne dies nur noch einmal. Die Tardis hat, so ausgezeichnet sie in vielen Dingen auch sein mag, einige Macken. Zum Beispiel kann ich keine Reise von vorneherein genau planen. Alle beide haben Sie sich, das darf ich wohl sagen, sehr tapfer geschlagen. Als Störenfriede habe ich Sie kennengelernt, aber ich habe Sie schätzen gelernt als Freunde und Kameraden. Außerhalb dieser Türen, das wissen wir, befindet sich eine sehr interessante Welt. Die Menschen sind herzensgut, und es gäbe viel zu tun. Es wäre ein erfülltes Leben, ein befriedigendes Leben, einen Planeten wiederherzustellen. Chesterton, hier hätten Sie eine Aufgabe.« Ich nickte nur als Zeichen der Zustimmung.
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»Es sind weniger als hundert Leute, um ihn zu bevölkern und ihn sich Untertan zu machen. Sie hätten mit Sicherheit eine gute Stellung in einer derartigen Gesellschaft.« »Sie machen ihm die Sache sehr schmackhaft«, bemerkte Barbara. »Das will ich auch«, sagte er. »Denn was habe ich schon zu bieten? Pausenlos Gefahren, Rastlosigkeit, ein Leben aus dem Koffer sozusagen, von Ort zu Ort hetzend auf der Suche nach einem Ideal, das wir vielleicht niemals finden werden. Wenn Sie mit uns kommen wollen … Susan und ich sind einverstanden und wären glücklich, Sie bei uns zu haben. Wenn Sie, vielleicht sogar beide, natürlich hier bleiben wollen …« »In diesem Fall wären wir tief betrübt«, ergänzte Susan, und der Doktor nickte nur zustimmend. Es herrschte ein kurzes Schweigen, und Barbara und ich sahen uns an. Ich bildete mir ein, ein kleines Lächeln über ihr Gesicht huschen zu sehen. Ich jedenfalls konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. »Ich überlasse Barbara die Entscheidung für uns beide«, sagte ich. Der Doktor runzelte die Stirn. »Warum?« »Weil der Mann«, murmelte ich, »immer die Frau fragt, ob sie willens ist.« Ich sah, wie ihre Augen sich veränderten und sie leicht errötete. Das Licht spiegelte sich in ihren glänzenden Pupillen, und ich wußte, daß ihr nun alles, was sie Kristas im Wald gesagt hatte, wieder einfiel. Sie wußte jetzt, daß ich Zeuge des Gesprächs gewesen war. Der Doktor sah sie kurz an, dann warf er mir einen nicht gerade unfreundlichen Blick zu. »Mir scheint, die junge Dame hat sich noch nicht ganz entschieden.« Ich wartete.
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Dann fragte Barbara: »Können wir beim Doktor bleiben, Ian?« Ich bemerkte, wie sich Susan und ihr Großvater zulächelten. Ich stand auf, ging zu Barbara und nahm ihre Hand sanft in die meine. Ich spürte den starken Druck ihrer Finger. Wollte sie mich trösten? War es echtes Gefühl? Noch wagte ich nicht zu hoffen, es könnte Liebe sein. Die Zukunft würde uns die Antwort geben. Ich drehte mich um und lächelte dem Doktor zu. »Wir fahren mit Ihnen«, sagte ich.
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Wer ist Doctor Who? Die britische SF-Fernsehserie DOCTOR WHO stellt ein Phänomen dar, das in vielen Belangen nur mit der amerikanischen SF-TV-Serie STAR TREK/RAUMSCHIFF ENTERPRISE vergleichbar ist. Beiden gelang es, eine riesige Fan-Gemeinde um sich zu scharen, was zur Folge hatte, daß sich sowohl DOCTOR WHO als auch STAR TREK mehr als zwei Jahrzehnte auf dem Markt behaupten konnten – und daß sie nicht nur in ihrem ureigensten Element, dem Fernsehen, erfolgreich waren, sondern sich auch in allen anderen Medien behaupten konnten, sei es nun im Kino, als Comic-Version oder auch als Romanadaptionen. Einige kleinere Unterschiede aber gibt es zwischen den beiden Dauerbrennern: Während es bei STAR TREK nur einen Zweiteiler und ansonsten abgeschlossene Folgen gab, so bestand und besteht bei dem britischen Gegenpart jedes Abenteuer aus mehreren Folgen, manchmal aus zwei, in der Regel aber zwischen vier und sechs. Und während ENTERPRISE nur drei Saisonen (das sind Jahresstaffeln) lang mit neuen Abenteuern lief (vom 8. September 1966 bis zum 3. Juni 1969), die in den folgenden zwei Jahrzehnten immer wieder ausgestrahlt wurden, und bis zum Start des ersten Kinofilms am 6. Dezember 1979 nur durch die Treue der Fans am Leben erhalten wurde (und durch neue Romane im Verlag BANTAM BOOKS mit neuen Abenteuern der Crew, die nicht zuvor über den Bildschirm geflimmert waren und die sich im Anschluß an die TV-Adaptionen bei GOLDMANN in Vorbereitung befinden), lief DOCTOR WHO seit der Ausstrahlung der ersten Folge am 23. November 1963 ohne Unterbrechung mit neuen Abenteuern und befindet sich nun nach 25 Saisonen im 26. Jahr. Nach der 22. Saison war 182
DOCTOR WHO 1985 von der Einstellung bedroht, diese konnte aber durch die Unterstützung von Fans und Prominenten abgewendet werden. Heute ist davon keine Rede mehr. Wer ist nun dieser DOCTOR WHO, der in den späteren Folgen nur mehr als DER DOKTOR bezeichnet und auch so angesprochen wird? Im ersten Abenteuer, »An Unearthly Child«, wird er als der etwas seltsame und schrullige Großvater eines Mädchens vorgestellt, der über eine Zeitmaschine verfügt, in der er auch wohnt und lebt und die von außen wie eine blaue britische Polizei-Notruf-Telefonzelle aussieht. Dieses seltsame Gefährt, das ein eigenes Kontinuum in sich birgt und daher innen weit geräumiger ist, als von außen her ersichtlich, wird TARDIS genannt; das ist eine Abkürzung für »Time And Relative Dimensions In Space«. Damit kann man, wie im Laufe der Episoden ersichtlich wird, nicht nur durch die Zeit reisen, sondern auch durch den Raum und auch in alternative RaumZeit-Kontinua. Anfangs bleibt die Herkunft des Doktors ein Rätsel, es wird zunächst nur klar, daß die Großvater-Rolle nicht echt sein kann, sondern nur als Vehikel diente, um die Mitwirkung des Mädchens an den Abenteuern zu erklären – denn schließlich war und ist die Serie für Jugendliche konzipiert, auch wenn eine Umfrage ergeben hat, daß 60% der Zuseher Erwachsene sind. Das Rätsel um die Herkunft des Doktors wird nur allmählich gelüftet: Er ist ein Time Lord, ein Bewohner des hochentwickelten Planeten Gallifrey mit dem Namen d3x2, der der beschaulichen Ruhe und Muße seiner Heimat überdrüssig geworden ist und eine leicht beschädigte TARDIS gestohlen hat (diese Maschinen können ihre Gestalt beliebig ändern und sich so den gegebenen Erfordernissen anpassen, diese aber behielt ihre erste angenommene Form bei und änderte sie nicht 183
mehr), um sich auf Abenteuer zu begeben. Obwohl er äußerlich einem Menschen gleicht, so gibt es doch gravierende Unterschiede: niedrigere Körpertemperatur, zwei Herzen, niedrigerer Blutdruck, geringere Atemfrequenz, andere Blutzusammensetzung (mit höherer Sauerstoffaufnahmefähigkeit), höhere Hirnkapazität und Gehirnaktivität. Dazu besitzt ein Time Lord noch die Fähigkeit, bei Todesgefahr oder lebensgefährlichen Verletzungen eine Regeneration durchzuführen und sich somit in einen neuen Körper zu transformieren bzw. in einen solchen zu evolvieren. Solchermaßen relativ unsterblich, ist der Doktor gegenwärtig – in der relativen Gegenwart – rund 750 irdische Jahre alt. Diese letzte Eigenschaft des Doktors, sich in einen neuen Körper zu evolvieren/regenerieren – bei Beibehaltung allen Wissens und aller Fähigkeiten – war auch unbedingt erforderlich, um die Serie so lange am Leben zu erhalten. Denn keinem Schauspieler gefällt eine Rolle, und sei sie noch so interessant, so gut, als daß er sie ewig spielen möchte. Irgendwann kommt der Tag, an dem er sich anderen Gefilden zuwenden, etwas Neues machen, andere Rollen spielen möchte. Und so war diese Transformation eine gute Begründung dafür, warum der Doktor nach einigen Saisonen anders aussah, von einem anderen Schauspieler dargestellt wurde. Mittlerweile ist in der Serie der siebte Doktor im Einsatz: Nach William Hartnell, Patrick Troughton, John Pertwee, Tom Baker, Peter Davison und Colin Baker ist jetzt seit 1987 Sylvester McCoy DER DOKTOR. Zu Beginn der Serie wurde ein Schwerpunkt auf Zeitreisen gelegt. DOCTOR WHO reiste zu den Azteken, den Römern und in den Wilden Westen und besuchte Marco Polo und die Erde der Zukunft, um nur einige Beispiele zu geben, aber es waren auch schon vereinzelt Abenteuer im All zu sehen. Schon in der zweiten Episode tauchten die Daleks auf – mörderische Roboter, die sich zur Nemesis des Doktors entwickelten, mit 184
denen er in den folgenden Jahren mehrmals in Zeit und Raum und auch auf der Erde eines parallelen Kontinuums konfrontiert wurde. Einen Wendepunkt in der Karriere des Doktor gab es, als er sich in einem kniffligen Fall an die Time Lords um Hilfe wenden mußte. Diese Hilfe wurde ihm zwar gewährt, im Anschluß daran wurde er wegen des Diebstahls der TARDIS und der Einmischung in die Entwicklung von anderen Rassen vor Gericht gestellt. Wegen mildernder Umstände wurde er zum Exil auf der Erde des 20. Jahrhunderts verurteilt, und es wurde ihm die Kontrolle über die ohnehin sehr eigenwillig agierende und reagierende TARDIS entzogen. Solchermaßen gehandikapt, konnte der Doktor nicht mehr von sich aus gegen seine Feinde agieren, sondern mußte abwarten, bis sie den Kampf gegen ihn aufnahmen. In der Folge fungierte der Doktor in erster Linie als Berater von UNIT, der United Nations Task Force, einer in Großbritannien stationierten Spezialeinheit, die sich vor allem mit Spionagefällen der futuristischen Art beschäftigte. Als er seinen Erzfeind, den Master, einen verbrecherischen Time Lord, unter Einsatz aller Kräfte unschädlich machte, beendeten seine Artgenossen sein Exil, und der Doktor konnte wieder mit seiner TARDIS das Raum-Zeit-Kontinuum durchkreuzen und in der Zukunft und der Vergangenheit der Erde sowie in den Tiefen des Alls neue Abenteuer bestehen. Dabei gibt es hin und wieder auch einen kurzen Aufenthalt im 20. Jahrhundert, um seinen Freunden von UNIT bei einem schwierigen Fall zu helfen. Seine Abenteuer bestritt und bestreitet der Doktor allerdings nie alleine, sondern mit stets wechselnden Gefährten und Gefährtinnen, wie Susan, Jamie, Jo, Sarah, Harry, dem Brigadier und jetzt neuerdings Ace. Zu den nichtmenschlichen Begleitern gehörten unter anderen der weibliche Time Lord Romana und der Computerhund K-9. 185
Mitte der sechziger Jahre wurden auch zwei Abenteuer von DOCTOR WHO für die Filmleinwand produziert, denen zwei TV-Episoden um die gefährlichsten Gegenspieler des Doktors als Grundlage dienten: »Doctor Who and the Daleks« (1965) und »Daleks – Invasion Earth 2150 A.D.« (1966). In beiden Filmen war Peter Cushing in der Rolle des Doktors zu sehen. Rund ein Jahr nach dem Start der TV-Ausstrahlungen – im November 1964 – hielt DOCTOR WHO auch seinen Einzug im Medium Comic. Nach den ersten Veröffentlichungen in TV COMICS erschienen gezeichnete Abenteuer des SF-Heroen auch in Magazinen wie COUNTDOWN, TV ACTION und zuletzt in der ausschließlich dem Doktor gewidmeten Zeitschrift DOCTOR WHO, die von der britischen Sektion von MARVEL herausgebracht wird. Letztere wurde im Oktober 1979 als DOCTOR WHO WEEKLY gestartet und mit der Ausgabe 44 im September 1980 auf monatliche Erscheinungsweise umgestellt. Das Magazin, von dem bislang einschließlich verschiedener Sonderausgaben rund 150 Nummern erschienen sind, enthält neben Comics auch umfangreiche Hintergrundinformationen zur Serie, wie Artikel, Tabellen, Informationen über die Schauspieler, über neue Projekte in allen Medien, über die bisherigen Episoden einschließlich Inhaltsangabe, sowie über neue MerchandisingProdukte. Die ersten Comics aus dem britischen Magazin wurden in den USA nachgedruckt: Es erschienen 4 Ausgaben in der Reihe MARVEL PREMIERE (Nr. 57-60, 1980/81) und 23 Hefte der Serie DOCTOR WHO (1984-1986). DOCTOR WHO hat aber auch einen gewaltigen Erfolg auf dem Buch- und Taschenbuchmarkt erzielen können. Von 1966 an wurde jährlich – mit Ausnahme von 1972 – ein DOCTOR WHO ANNUAL herausgebracht, ein Jahrbuch mit Kurzgeschichten, die auf der TV-Serie basieren, aber nicht ausgestrahlt wurden. Noch erfolgreicher als diese Jahrbücher aber waren und sind die Romanadaptionen der TV-Episoden, 186
die 1973 gestartet wurden und mittlerweile auf die stolze Zahl von über 140 Titel angewachsen sind. Hauptautoren dieser Novellisierungen, die bei TARGET BOOKS erscheinen, sind David Whitaker, Terrance Dicks und Ian Marter. Daneben gibt es natürlich auch Sekundärwerke zur Serie, wie »The Doctor Who Monster Book«, »The Making of Doctor Who« und »The Doctor Who Discovery Series«. Zur Feier des 25jährigen Jubiläums erschien von Peter Haining das Sachbuch: »Doctor Who: 25 Glorious Years«. Im deutschen Sprachraum ist DOCTOR WHO nicht völlig unbekannt, obwohl die Serie nie im deutschsprachigen Fernsehen ausgestrahlt wurde. Aber zu Beginn der achtziger Jahre publizierte der Münchener Jugendbuchverlag FRANZ SCHNEIDER zwei stark gekürzte Romane der Serie, ohne irgendwelche Kommentare zu diesem britischen TV-Phänomen zu geben: »Dr. Who – Der Planet der Daleks« (1980; Doctor Who and the Planet of the Daleks) und »Dr. Who – Kampf um die Erde« (1981; Doctor Who and the Dalek Invasion of Earth), beide von Terrance Dicks. Ein noch angekündigter dritter Band ist nicht mehr erschienen. GOLDMANN beginnt seine Edition der Serie mit den Dalek-Romanen. Eine chronologische Edition nach der Reihenfolge der Original-Episoden war weder sinnvoll noch möglich, da auch die Reihenfolge der englischen Romanadaptionen sich nicht an diese gebunden fühlte und etliche frühe Abenteuer noch nicht zu Romanen verarbeitet worden sind, wie zum Beispiel Episode 9 (»Planet of Giants«) oder Episode 16 (»The Chase«). Infolge der Zeitreisen ist es auch fast unmöglich, eine richtige Chronologie zu erstellen, es sei denn aus dem spezifischen Blickwinkel des Doktors heraus. Denn das für den Doktor erste Zusammentreffen mit den Daleks in Episode 2 (»The Dead Planet«; Romantitel: »The Daleks« von David Whitaker) war – absolut chronologisch gesehen – gar nicht das erste, da der Doktor zu einem späteren 187
Zeitpunkt mit Daleks einer früheren Vergangenheit zusammentraf. Aber das ist halt das Problem mit den Zeitreisen. Wien, im Januar 1989 Hermann Urbanek P.S. Das DOCTOR WHO MAGAZINE und anderes Material zur Serie kann unter anderem bezogen werden von: Comicladen Edeltraud Schmidt, Peter-Vischer-Weg 6, D-8814 Lichtenau
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