JAYNE TANNEHILL
DIE OREGONINVASION V – Die Außerirdischen
Aus dem Amerikanischen übertragen von Andreas Brandhorst
G...
13 downloads
950 Views
743KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
JAYNE TANNEHILL
DIE OREGONINVASION V – Die Außerirdischen
Aus dem Amerikanischen übertragen von Andreas Brandhorst
GOLDMANN VERLAG
Deutsche Erstveröffentlichung Der Goldmann Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann Made in Germany • 3/89 • 1. Auflage
© 1988 by Warner Bros. Inc. © der deutschsprachigen Ausgabe 1989 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlaggestaltung: Design Team München Satz: Fotosatz Glücker, Würzburg Druck: Elsnerdruck, Berlin Verlagsnummer: 23717 Lektorat: Michael Görden/Christoph Göhler Herstellung: Peter Papenbrok ISBN 3-442-23717-3
Die Besetzung der Erde durch die Visitors schreitet unaufhaltsam fort, bis ein Toxin ihnen Einhalt gebietet. Das für Menschen harmlose Gift ist für die außerirdischen Besucher absolut tödlich. Doch im amerikanischen Bundesstaat Oregon scheinen die Außerirdischen ein Gegengift produziert zu haben, denn dort können sie ihren Einflußbereich unaufhaltsam ausweiten. Verzweifelt versuchen menschliche Widerstandsgruppen die OregonInvasion aufzuhalten, aber erst ein Überläufer der Visitors gibt ihnen eine Chance zu gezieltem Gegenangriff.
Für John, der den Traum hatte. Und für Bill, der den Weg mit mir beschritt.
1. Kapitel
Erneut lief er durch endlose weiße Korridore, um Ecken herum, vorbei an zuknallenden Türen. Er stürmte durchs Treppenhaus, nahm mehrere Stufen auf einmal, verließ das Gebäude, rannte weiter, immer weiter, fort vom Computer, der einen langsamen, unerbittlichen Tod verkündete. Fort von unter Druck stehenden Luftschächten, die den Tod in seinen Körper zwangen, fort in die Wüste. Er lief und floh, allein, ganz allein – außer ihm war niemand entkommen –, floh vor bunten Luftballons, die rotes Gift in sich trugen, floh vor dem Wind, der den tödlichen Staub mit sich trug. Und irgendwann wurde er schwach, spürte erschöpftes Zittern in den Gliedern, verharrte an Ort und Stelle, sah hilflos zu, wie die Ballons platzten und purpurnes Verderben auf ihn herabrieselte… Als Hadad erwachte, konnte er nicht einmal schreien. Erneut der Traum. Der Alptraum, der eine Vision blieb, sich für ihn nicht in erlebbare Wirklichkeit verwandelte – und doch realer schien als seine Existenz. Er versuchte, die gräßlichen Bilder aus sich zu verdrängen. Dunkel und still erstreckte sich die Wüste vor ihm. Weiter unten, im Tal, zeichneten sich im matten Licht Prinevilles die Konturen von Bauernhöfen und Straßen ab. Einige Wagen krochen über den fernen Hügelhang in Richtung Stadt. Hadads Puls raste, und es dauerte eine Weile, bis er sich wieder beruhigte. Er lag auf dem Boden, stemmte sich in die Höhe, ließ sich wieder in den Staub sinken und wiederholte diese Übung einige Male, um den Adrenalinspiegel in seinem Blut zu senken, spürte dabei, wie sich die Muskeln zusammenkrampften und wieder lockerten.
Nur ein Traum, weiter nichts. Schon seit Monaten litt er nicht mehr daran. Damals, als die ersten Nachrichten über den roten Giftstaub und die Niederlage seines Volkes eintrafen, als sich die Mutterschiffe ins All zurückzogen, verstand er jenen Traum. Wenn er erwachte, zweifelte er nicht daran, daß das Unheil auch Prineville erreicht hatte. Doch er wartete vergeblich auf den Tod. Seitdem war ein Jahr vergangen. Die Visitors kamen im Auftrag des Großen Denkers zur Erde. Sie brauchten das Wasser der Ozeane und Meere, der Flüsse und Seen. Und auch Proteine: Lebensformen, die in den gewaltigen Lagerhallen der riesigen Raumschiffe untergebracht werden sollten, im Kälteschlaf – um auf einer hungernden und übervölkerten Welt im System der Sonne Sirius als Nahrungsmittel zu dienen. Es fiel den Außerirdischen nicht weiter schwer, die intelligenten Bewohner des Planeten Erde zu unterjochen. Die Menschen, wie sie sich nannten, ließen sich von einer überlegenen Technologie beeindrucken und fühlten sich geschmeichelt, als die Visitors behaupteten, sie kämen als Freunde. Später aber regte sich Widerstand. Ein Journalist namens Mike Donovan gelangte an Bord des Mutterschiffes über Los Angeles und fand heraus, daß es sich bei den Fremden keineswegs um menschenähnliche Humanoiden handelte, sondern Echsenwesen, die sich mit Ganzkörpermasken tarnten. Diese Entdeckung führte zu xenphobischem Mißtrauen. Als kurz darauf bekannt wurde, daß die Visitors Menschen verschleppten und als lebende Proteinpakete in der Bereithaltungshibernation verstauten, griffen die Terraner zu den Waffen. Auf die Invasion folgte ein Krieg, doch Hadad fühlte sich nicht als Soldat. Einige Monate lang blieb er an Bord des
Mutterschiffes. Seine Arbeit bestand darin, mit Hilfe von Computern die kryogenischen Kammern und autarken Lebenserhaltungssysteme vieler tausend vom Planeten stammenden Nahrungseinheiten zu überwachen. Der Krieg betraf ihn nur am Rande. Doch dann bemerkte Diana einen Fehler: Ein Körper erwärmte sich plötzlich, verbrauchte den gesamten Sauerstoffvorrat der Erhaltungskapsel und starb – ein Körper, der erst in der Heimat wiedererweckt und dort hungrige Visitorbäuche füllen sollte. Sie entfernte Hadad von seinem Posten und schickte ihn als Stephens Assistenten zur Erde. Hadad nahm die Degradierung wortlos hin. Diana hatte bereits seine Autorität in Frage gestellt, und nun nahm sie ihm den Rang. Nach einer Weile fiel ihm auf, daß sie ihn ständig beobachtete, in der Hoffnung, ihm unterliefe ein weiterer Fehler. Sie mißgönnte ihm das Wohlwollen des Großen Denkers. Aber das alles lag nun schon ein Jahr zurück. Hadad sehnte sich nach den Wüsten seiner Heimat. Die Erde war völlig anders – bis auf die Gebiete, die den leeren Regionen der Welt ähnelten, die ihn geboren hatte. Damals ging es ihm nur darum, sich für einige Tage in die Einsamkeit zurückzuziehen, allein zu sein. Aber seine Englischkenntnisse waren zu beschränkt. Man hatte ihm nicht etwa Los Angeles als Einsatzgebiet zugewiesen, sondern die Region des Toten Meers. Daher auch sein arabisch klingender Name. Doch Diana änderte den ursprünglichen Plan und steuerte die kalifornische Metropole an. Erinnerungsfetzen trieben an seinem inneren Auge vorbei und formten flüchtige Eindrücke. Hadad stahl menschliche Kleidung, aber seine Stiefel eigneten sich nicht für lange Märsche. Er nahm am Straßenrand Platz, um sich eine Zeitlang auszuruhen, und
irgend jemand bot an, ihn mitzunehmen, fragte nach seinem Ziel. Er wußte nicht mehr, was er geantwortet hatte, aber der Mann nickte, ließ ihn einsteigen. Im Verlauf von zwei Tagen lernte er fünf Lastwagenfahrer kennen. Einer von ihnen zeigte ihm, mit welcher Geste man ein Fahrzeug anhielt, und alle erkundigten sich, wohin er unterwegs sei. Hadad streckte einfach nur den Arm aus, deutete auf die Straße. Einer der Fahrer fragte ihn nach seinem Namen, und als er erwiderte, er hieße Hadad, geriet der Mann ganz außer sich, hielt an und ließ ihn allein auf dem Asphalt zurück. Hadad wußte nicht, was der Ausdruck »verdammter Ausländer« bedeutete. Nie wieder nannte er seinen Namen, verwendete statt dessen den Davids. Manchmal träumte er davon, mit den Raumschiffen seines Volkes nach Hause zurückzukehren. Nichts wünschte er sich sehnlicher. Bei einem Rodeo hörte er die Nachricht, die Mutterschiffe schwebten wieder über dem Planeten, und Hadad zog sofort seine Schlüsse daraus. Wenn seine Artgenossen in der Lage gewesen wären, nach Hause zurückzukehren, so hätten sie bestimmt von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Es gab überhaupt keinen Grund dafür, zur Erde zurückzukehren. Auf dieser Welt erwartete sie der rote Staub und somit ein sicherer Tod. Seiner Ansicht nach grenzte es an ein Wunder, daß er noch lebte. Vermutlich war es nur eine Frage der Zeit, bis das Toxin auch seine Nahrungsquelle erreichte. Es kam ihm nie in den Sinn, daß der Wind das Rote Verderben weit an Prineville vorbeitrug: Durch Zufall hatte er den einen Ort gefunden, an dem er überleben konnte. Die Furcht machte ihn hungrig. Um ihn herum entfalteten die nachtaktiven Geschöpfe weiterhin rege Aktivität. Hadad verließ die Höhle unter dem
Felsvorsprung des Plateaus. Von dort aus konnte er das Festgelände und die Stadt sehen, den Sonnenaufgang jenseits des Waldes im Osten und das Grasland im Norden beobachten. Lautlos schlich er über den Hang und horchte nach irgendwelchen Geräuschen. Alles blieb still. Nichts rührte sich, bis er die Coombs Flat Road erreichte. Dann hörte er das Brummen eines Motors. Hadad blieb stehen, erkannte Chuck Martins Wagen und winkte, als ihn das Scheinwerferlicht erfaßte. Chuck erwiderte den Gruß. Als Hadad Los Angeles verließ, wußte er nicht, wohin er sich wenden sollte. Er deutete einfach auf die Straße – und die führte bis nach Prineville. Es kam nur darauf an zu entscheiden, wo er bleiben sollte. Einer der Fahrer, die ihn mitnahmen, hielt in dem kleinen Ort, um zu tanken. Hadad sah das, was bei seinem Volk als Wüste galt, und daraufhin stieg er aus. Er wanderte zu den Hügeln, erkletterte das Plateau, das sich wie ein kolossaler Monolith am Rande der Stadt erhob. Niemand sah ihn. Eine Zeitlang versteckte er sich, paßte sein Leben dem Rhythmus der Wüstentiere an, von denen er sich ernährte. Zunächst genügten sie ihm, aber schon bald wurde es immer schwieriger, geeignete Jagdbeute zu finden. Dadurch blieb ihm nichts anderes übrig, als sich in den Ort zu wagen. An der dritten Straße warteten aufeinandergestapelte Baumstämme auf die stählernen Zähne der Sägemühle. Es gab immer Mäuse, die sich in solchen Holzmassen verbargen. Eines Nachts war er nicht vorsichtig genug: Die Stämme gerieten in Bewegung und rollten auf den nahen Parkplatz. Der Wächter schoß auf ihn. Die Kugel zerfetzte nur das Ohr der Ganzkörpermaske und verfehlte seinen Kopf. An einem anderen Abend fiel er erneut auf. Diesmal bot ihm der Nachtwächter etwas zu essen an, anstatt auf ihn zu zielen.
Hadad nahm das Sandwich entgegen, verspeiste es jedoch nicht. Der Mann redete unaufhörlich. Als er merkte, daß Hadad ihn kaum verstand, zuckte er nur mit den Schultern und sprach lauter. Er nannte sich Dave. Dave schlug vor, er solle in der Sägemühle arbeiten. Hadad hatte keine Erfahrungen im Umgang mit Holz. Er kannte sich mit Computern aus, mit komplizierter Elektronik. Aber er konnte fegen. Dinge tragen, die selbst für besonders kräftige Männer zu schwer waren. Auf diese Weise verdiente er Geld. Und gab es in der Stadt aus. Innerhalb kurzer Zeit lernte er Englisch. Die Menschen im Ort nannten ihn »Araber«, und immer wieder fragte er sich, was das bedeuten mochte. Zuerst klang es wie »verdammter Ausländer«, aber nach einer Weile wurde der Tonfall freundlicher. Alle glaubten, er hieße David. Man erkundigte sich nach seinem Nachnamen, und er antwortete schlicht: »Hadad.« Er blieb an der Baracke des Nachtwächters stehen, wechselte einige Worte mit dem Mann und wandte sich dann wieder den in der Nähe gelagerten Baumstämmen zu. Schon nach kurzer Zeit fand er eine Maus und stopfte sie sich in den Mund. Er fing zwei weitere und fand auch eine kleine Eidechse. Auf seinem Heimatplaneten hatte Hadad nie Echsenfleisch gegessen, doch die irdischen Exemplare schmeckten ziemlich gut. »Auf dem Weg nach Hause?« fragte der Nachtwächter. »Ja. Für heute habe ich genug.« »Lieber Himmel, das Spazierengehen scheint dir wirklich zu gefallen. Außer dir kenne ich niemanden, der mitten in der Nacht so lange Ausflüge unternimmt. Meine Güte, ich bleibe nur auf ‘n Beinen, weil man mich dafür bezahlt. Vielleicht solltest du meinen Platz einnehmen.« »Nein, danke, Dave. Es ist dein Job.«
»Stimmt, Dave. Ich könnte nicht all die schweren Dinge tragen, die du tagsüber herumschleppst. Die Bandscheibe, weißt du. Nacht.« »Gute Nacht.« Hadad folgte dem Verlauf der Straße und marschierte in Richtung Festgelände, kehrte zu seiner Höhle zurück. Inzwischen kannte er die Stadt. Und ihre Bewohner ahnten nicht, wer er war. Aber sie brachten ihm keinen Argwohn entgegen. Ein Mann aus dem Nichts, der sich David Hadad nannte und Arbeit brauchte. Als man ihn fragte, woher er kam, sagte er: »Pau.« So hieß die am Toten Meer geplante Stadt. Jemand vermutete, er sei Hawaiianer, aber da er diesen Ausdruck nicht verstand, schüttelte Hadad den Kopf und erwiderte: »Kalifornien. Los Angeles.« Das genügte. Es spielte nicht einmal eine Rolle, daß er kein Englisch konnte. Die Leute schrien ihn einfach nur an. Allmählich lernte er die für ihn fremde Sprache, und schließlich lächelten die Menschen, akzeptierten ihn als einen der ihren. Nach einer Weile fügte er sich der Erkenntnis, daß es keine Rückkehr für ihn gab. Als er eine Bar in der Nähe des Festgeländes aufsuchte, verkündete der Nachrichtensprecher im Fernsehen, die Mutterschiffe der Visitors schwebten wieder über der Erde. Hadad verfolgte den Bericht ebenso wie die Cowboys, die gekommen waren, um am Rodeo teilzunehmen. Sie erfuhren von der Entführung Dianas, die ein Gegenmittel bekommen hatte, das sie vor dem roten Giftstaub schützte. Später hörte er, daß den Visitors in einigen Teilen der Welt keine Gefahr drohte; offenbar wirkte das von den Widerstandskämpfern entwickelte Bakterientoxin nicht überall. Die nächsten Meldungen blieben vage: Vielleicht waren die Visitors in Südkalifornien oder New Mexico; möglicherweise hatten sie erneut die wichtigsten Städte der
Erde unter ihre Kontrolle gebracht. Aber sie hielten sich von Oregon fern. Am Samstagabend trafen sich Cowboys, Holzfäller und Farmer in der Kneipe, und das Bier löste ihre Zungen. Viele von ihnen schienen genau zu wissen, wie man die Außerirdischen vertreiben konnte. Die meisten Männer in der Stadt trugen ständig Waffen bei sich und meinten, der Rest der Welt solle ihrem Beispiel folgen. Hadad versuchte, sich nichts von seiner Furcht anmerken zu lassen, als er eine ebenso vertraut wie erschreckend klingende Bemerkung hörte: »Wenn mir einer von ihnen über den Weg liefe, würde ich ihn voll Blei pumpen, ohne mich mit irgendwelchen Fragen aufzuhalten.« Das hieß natürlich nicht, daß jemand mit dem Gedanken spielte, Hadad zu erschießen. Er war kein Visitor. Nicht mehr. Für einige Zeit galt er als »Herumtreiber«. Das klang ähnlich abfällig wie »verdammter Ausländer«. Anschließend wurde er zum »nächtlichen Wanderer«, was sich wesentlich freundlicher anhörte. Er brauchte etwas, das die Menschen als »Adresse« bezeichneten und aus Zahlen und Buchstaben bestand. Er entsann sich an die Straßennamen, an die kleinen Schilder, mit denen Häuser und Hütten markiert waren, entschied sich für »1047 Deer«. Jemand sagte: »Oh, du wohnst also bei der Eisenbahnstrecke.« Das verwirrte ihn. Er wußte inzwischen, was »Deer« bedeutete, fragte sich verwundert, welchen Zusammenhang es zwischen Damwild und der Eisenbahn geben mochte. Hadad überquerte das Festgelände und kletterte am Hügelhang empor. Er war müde, und die alptraumhafte Vision verflüchtigte sich, verlor ihre gräßlichen Konturen. Als er seine Höhle erreichte, vergewisserte er sich, daß ihn niemand beobachtete. Dann kroch er hinein, rollte sich zusammen und
starrte in die Nacht, wie ein wildes Tier, das dem Frieden nicht traut. »Gclixtchp!« rief seine Mutter vom Haus. Er achtete nicht auf sie. Seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die winzigen Drähte, die er auf einer Schaltkreisfolie befestigte. »Gclixtchp?« Sie fauchte und zischte mürrisch, und er befürchtete, daß ihn erneut ein mahnender Vortrag erwartete. Er lötete die Verbindung und schaltete den Chipcontroler ab. »Gclixtchp! Wenn du nicht lernst, sofort zu reagieren, wenn dich jemand ruft, wirst du eines Tages den Anschluß verlieren!« Sie warf ihm einige Pakete zu, die zum Transporter gebracht werden mußten, ging davon aus, daß er sie begleitete. Sie duldete keinen Widerspruch. Einmal mehr vernahm er ihre knackende und knarrende Stimme. »Wenn du nicht lernst, sofort zu reagieren, wenn dich jemand ruft, wirst du eines Tages den Anschluß verlieren.« Eine Prophezeiung, die sich bewahrheitet hatte. Andere Erinnerungen folgten. Weicher Sand wich dem grellen Weiß langer Korridore. Die gewaltige Kammer der Bereithaltungshibernation. Tausende von menschlichen Körpern – nackte Männer, Frauen und Kinder, die im Kälteschlaf ruhten, um in den Schlachthäusern einer fremden Welt zu erwachen. Und endgültig zu sterben. Ein Körper verweste. Besorgt überprüfte Hadad die Siegel, suchte nach einer fehlerhaft funktionierenden Systemkomponente. Wer trug die Verantwortung? »Inkompetent!« hallte Dianas zornige Stimme durch die Gänge. »Unfähig!« Sie sah ihn aus empört und wütend blitzenden Augen an. Hadad hatte es gewagt, über ihre Befehle zu klagen. Jetzt war er nichts weiter als ein Störenfried, ein lästiger Mitarbeiter, ein Nichts und Niemand.
Hadad erwachte, als er das Heulen eines Kojoten vernahm. Ein anderer antwortete. Irgend etwas flog an der Höhle vorbei. Es war noch immer dunkel. Er lauschte eine Zeitlang, schloß dann die Lider, spürte das Brennen seiner Augen und nahm sich vor, gleich am nächsten Morgen die notwendigen Tropfen zu kaufen. Die Linsen der menschlichen Maske, die Schutz- und Tarnmembranen vor seinen Echsenpupillen, durften nicht zu trocken werden. Er griff nach der kleinen Flasche, die über ihm hing, hoffte, daß sie noch einen Rest Flüssigkeit enthielt. Doch statt dessen berührte seine Hand die durch die Höhlendecke ragenden Wurzeln eines Wacholderbusches. »Verdammter Ausländer!« verfluchte Hadad die Dunkelheit. Die künstliche Haut am Handgelenk war gerissen, und um das Kunststoffmaterial zusammenzukleben, brauchte er eine »Arzneipflanze«. In den Geschäften von Los Angeles gab es jede Menge davon, aber in Oregon schienen sie nicht annähernd so weit verbreitet zu sein. Außerdem wuchsen sie nicht in der Wüste. Er bedeckte die grünen Schuppen, schlang ein Tuch um die Hand. Dann nahm er die Flasche vom Haken und träufelte sich die restliche Flüssigkeit in die Augen. Irgendwann schlief er ein, träumte von einer Rückkehr nach Hause und wußte gleichzeitig, daß er seine Heimat nie wiedersehen würde. Er war ein Gefangener der Erde, dazu verdammt, den Rest seines Lebens auf einem Planeten zu verbringen, der ihm fremd blieb. Doch als der Morgen dämmerte, als er die Höhle verließ, sah er die riesige Scheibe eines Mutterschiffes, das völlig bewegungslos über dem Wald im Osten schwebte.
2. Kapitel
Fassungslos starrte Hadad zu dem Raumschiff empor. Ein Teil von ihm wünschte, es sei gekommen, um ihn zu retten, ihn nach Hause zu bringen. Doch das widersprach seiner sicheren Überzeugung, daß eine Rückkehr gar nicht möglich war. Außerdem schickte das Oberkommando bestimmt kein Schiff, nur um ihn abzuholen. Niemand wußte, wo er sich befand; man hatte seine Spur unmöglich so weit nach Norden verfolgen können. Die Schlußfolgerung lag auf der Hand: Der mehrere Kilometer durchmessende Diskus gehörte zu einer Flotte, deren Absicht darin bestand, mit einer zweiten Invasion zu beginnen. Hadad machte sich keine Sorgen um die Bewohner von Prineville. Sie waren freundlich zu ihm, gaben ihm Arbeit, akzeptierten ihn am Rande ihrer Gesellschaft – aber darin sah er nur Faktoren des Überlebens. Ihre Wünsche und Hoffnungen gehörten zu einer provinziellen Welt, die keinen Platz für ihn bot, an der er niemals teilhaben konnte. Hadad trat hinter die nahen Felsen und griff nach einigen Kleidungsstücken, zog sich rasch um. Dabei stellte er fest, daß sich der Verband gelockert hatte und der Riß in seiner Maske wesentlich tiefer und breiter war als zunächst angenommen. Er löste das Tuch, wickelte es dann erneut um sein Handgelenk, erweckte damit den Eindruck einer ernsten Verletzung. Aber er mußte unbedingt vermeiden, daß jemand seine Schuppen sah. Der Morgen war klar und kühl. Hadad hatte mehrmals beobachtet, daß die Menschen bei solchen Gelegenheiten Jacken überzogen, und um nicht aufzufallen, folgte er ihrem Beispiel. Anschließend steckte er das zusammenfaltbare
Lederobjekt ein, das sein Geld enthielt. Die Bezeichnung »Brieftasche« kam ihm nicht in den Sinn. Er brauchte eine Arzneipflanze und beschloß, Ericksons Supermarkt einen Besuch abzustatten. Es war Mittwoch, und Hadad rechnete nicht damit, im Laden viele Kunden anzutreffen. Verblüfft blieb er vor dem gläsernen Eingang stehen. Vor ihm herrschte dichtes Gedränge. Lange Schlangen hatten sich an den drei Kassen gebildet, und der Geschäftsführer nahm gerade die vierte in Betrieb. »Nein, heute schließen wir nicht um zwölf.« »Es gibt keine Tomaten mehr.« »Die haben sie sich bereits geholt.« »Sie essen doch gar keine Tomaten.« »Darum geht es nicht. Wir essen sie. Was hätten sie davon, sich nur die Dinge zu nehmen, die ihnen schmecken? Sie wollen uns aushungern.« »Nein, ich kann die Kasse nicht verlassen, um Ihnen zu helfen, Mrs. Grundy.« »Du solltest deinen Laden verbarrikadieren, Pete. Es dauert bestimmt nicht mehr lange, bis die Echsen kommen. Ich habe noch ein zweites Gewehr. Wir verschanzen uns hier und wehren alle Angriffe ab.« »Heute morgen sind die Kinder zu Hause geblieben. Ich muß zurück und mich um sie kümmern.« »Mir ergeht es ähnlich, Shirley. Und glaub mir: Es hat keinen Sinn, wenn du versuchst, dich an den anderen vorbeizudrängeln.« »Himmel, meine Kinder sind allein im Haus. Ich darf keine Zeit verlieren. Wer weiß, was dort geschieht…« »Wenn es die verdammten Außerirdischen wagen, in die Stadt zu kommen, zeigen wir ihnen, daß sie nicht einfach mit uns machen können, was sie wollen.«
Alle sprachen zugleich. Bekannte, die sich seit Jahren nur zugenickt hatten, erörterten Strategien, um Kinder zu schützen, Vorräte in Sicherheit zu bringen, Waffen und Munition zu sammeln. Hadad betrat den Supermarkt, und von einem Augenblick zum anderen herrschte Stille. Etwa fünfzig Männer und Frauen starrten ihn an, und er musterte sie stumm, schob die eine Hand tief in die Jackentasche, als er plötzlich befürchtete, die Schuppen seien trotz des Verbandes zu erkennen. Als er an die Augentropfen dachte, beschleunigte sich sein Pulsschlag, und er begann innerlich zu zittern. Er mußte sich sehr beherrschen, um nicht zusammenzuzucken. »Ach, es ist nur Dave«, seufzte der Geschäftsführer. Daraufhin setzten die Kunden ihre aufgeregten Gespräche fort, erleichtert, daß er kein Visitor war. Wachsam ging Hadad an den Auslagen vorbei, sah Frauen, die ihre Einkaufswagen vollpackten und auch mitgebrachte Körper und Plastiktüten füllten. Vergeblich suchte er nach einem Hinweis auf Logik in ihrer Auswahl. In den Regalen lagen nur noch wenige Waren: Das Angebot war so mäßig wie am Samstagabend. Überall hörte Hadad besorgte Stimmen: junge Frauen, denen Vergewaltigung drohte, der Bürgermeister, der abgesetzt wurde, die Übernahme der Eisenbahn – der Stolz des ganzen County –, Kinder, denen man mit einer Gehirnwäsche Haß auf ihre Eltern lehrte… Die Liste nahm kein Ende. Jemand beschrieb Farmen und Bauernhöfe, auf denen die Visitors Ratten und Mäuse züchten wollten. Ein anderer Mann schilderte mit unheilvoller Dramatik, wie die nahen Wälder in Flammen aufgingen, wie der natürliche Reichtum des Tals verbrannte. Einer meinte, demnächst fänden sicher keine Rodeos mehr statt; es würden keine Touristen mehr kommen, fügte er hinzu. Ja, den Motels und Restaurants stehe der Bankrott ins Haus. Alle schienen zu
glauben, es gebe nicht die geringste Möglichkeit, der Invasion Widerstand zu leisten und die unerwünschten Außerirdischen zu verjagen. Hadad fand keine Augentropfen, drehte den Kopf und hielt nach den Pflanzen Ausschau, die für gewöhnlich neben den Kassen standen. Man hatte sie gegen große Schautafeln ausgetauscht, die für leckere Schokoladenplätzchen warben. Er reihte sich in die Schlange ein und wartete geduldig. Eine Frau blieb neben ihm stehen. »Wollten Sie gar nichts einkaufen?« »Doch, schon. Aber das was ich suchte, ist bereits weg.« »Ich verstehe, was Sie meinen. Gräßlich, nicht wahr? Wie damals beim Streik der Lastwagenfahrer. Ach, man könnte meinen, es sei gerade zu einem Börsenkrach gekommen. Das Horten und Hamstern geht wieder los. Die Leute begreifen einfach nicht, daß alles in Ordnung kommt, wenn sie die Ruhe bewahren. Nun, in solchen Zeiten ist sich jeder selbst der Nächste. Wie dem auch sei: Sie brauchen sich nicht anzustellen. Benutzen Sie den Ausgang dort drüben, bei den Karren. Das mache ich immer, wenn ich nichts finden konnte.« Hadad beherzigte den freundlichen Rat und duckte sich unter der Schranke hinweg, die einige bereitstehende Einkaufswagen von den Regalen trennte. Der Geschäftsführer sah kurz auf und lächelte, als er Dave erkannte. Draußen herrschte eine sonderbare Stille. Das Mutterschiff schwebte nach wie vor über den bewaldeten Hügeln, aber nichts rührte sich: Hadad sah keine Kampfshuttles, die sich anschickten, Prineville in Schutt und Asche zu legen, weder Soldaten in roten Uniformen noch mit Flinten und Revolvern bewaffnete Widerstandskämpfer. Er ging die vierte Straße hoch und konzentrierte seine Hoffnungen auf den Posie Shop. Manchmal gab es dort Arzneipflanzen.
Der Blumenladen war leer. Hadad vermutete, daß sich die Verkäuferinnen im Hinterzimmer aufhielten, wo sie des öfteren Blumensträuße banden. Er betätigte die kleine Klingel, aber niemand kam. Zögernd trat er am Tresen vorbei und blickte in den anderen Raum. Weit und breit niemand zu sehen. Er starrte nach draußen auf die Straße, beobachtete die anderen Geschäfte. Nichts. Nach kurzer Suche fand er die Arzneipflanze, die er benötigte. Es handelte sich um ein recht kleines Exemplar, doch es genügte für seine Zwecke. Wenn er einige Blätter zermahlte, gewann er ausreichend klebrige Substanz für seine Hand. Mehr brauchte er nicht. Hadad erwog die Möglichkeit, die Pflanze zur Höhle mitzunehmen und dort regelmäßig zu bewässern. Wenn sie nicht einging, konnte er einen Vorrat anlegen, um für jeden Notfall gewappnet zu sein. Er ließ einige Banknoten zurück und nahm sich das Wechselgeld aus der Kasse. Nachdem er die Münzen sorgfältig gezählt hatte, machte er sich wieder auf den Weg. Er dachte an die Augentropfen und hoffte, daß ihn in Bob’s Markt keine neuerliche Enttäuschung erwartete. Für gewöhnlich war das dortige Angebot immer vollständig. Vor dem Tresen hatte sich eine Gruppe beunruhigter Männer und Frauen versammelt, und als Hadad den Laden betrat, wurde es ebenso still wie zuvor in Ericksons Supermarkt. Erneut spürte er Mißtrauen und Argwohn, die Furcht, er sei der erste Visitor einer großen Streitmacht, die Prineville zu erobern gedachte. Er ging an der Gruppe vorbei und begann seine Suche im rückwärtigen Teil des Geschäfts, wandte sich den Gefriertruhen zu – obgleich sie nichts enthielten, was sein Interesse weckte. Er spürte, wie sich ein Hauch von Panik in ihm regte, versuchte, sich wieder ganz unter Kontrolle zu bekommen. »Wer ist das?« »Ein Typ, der drüben in der Sägemühle arbeitet.«
»Machen Sie sich keine Sorgen.« »Sind Sie ganz sicher?« »Ja. Die Holzfäller nennen ihn ›Araber‹. Kam vor einigen Monaten in die Stadt.« »Sie kennen ihn also?« »Himmel, ja. Der Bursche ist in Ordnung.« »Es sind noch keine Shuttles gelandet. Das bedeutet, wir haben noch ein wenig Zeit.« »Ich meine, wir sollten uns nicht mit Fragen aufhalten und gleich schießen. Maggie glaubt, dadurch könnten wir uns alle in Schwierigkeiten bringen. Aber so, wie ich die Sache sehe: Wenn wir warten, um herauszufinden, was die Echsen vorhaben, geben wir ihnen nur Gelegenheit, ihre verdammten Pläne zu verwirklichen. Wir wissen inzwischen, was ihre Versprechen wert sind. Von Anfang an bestand ihre Absicht darin, uns zu versklaven. Und deshalb müssen wir zuerst zuschlagen.« »Klingt gut. Aber wie?« »Wir haben Waffen.« »Die Außerirdischen ebenfalls.« »Wir sollten die anderen Leute hierher holen. Sonst sind uns die Visitors zahlenmäßig überlegen.« »Aber wenn wir uns alle in der Stadt versammeln – wer beaufsichtigt dann die Ranches? Ich kann es mir schon vorstellen: Wir verkriechen uns im Gerichtsgebäude und warten darauf, daß man uns umzingelt. Was hätte das für einen Sinn?« »Er hat recht. Die Visitors sind eindeutig im Vorteil. Und wir haben keine Ahnung, was sie unternehmen werden.« »Wie sollen wir uns eurer Meinung nach verhalten? Einfach nur abwarten?« »Das ist immer noch besser, als unsere Kräfte zu vergeuden, indem wir gegen Phantome kämpfen.«
»Aber wir müssen uns vorbereiten.« »Nun, eins wissen wir: Irgendwann verlassen die Echsen ihr Raumschiff, um über uns herzufallen. Ich sage es noch einmal: Wir müssen sie erledigen, bevor es uns an den Kragen geht.« »Klar. Faschisten von den Sternen. Mit solchen Typen kann man ebensowenig reden wie damals mit den blöden Nazis.« »Was haltet ihr davon, wenn wir die Visitors umzingeln, bevor sie uns in die Enge treiben?« »Toller Vorschlag. Wir lassen uns einfach Flügel wachsen und fliegen zum Raumschiff hoch, nicht wahr?« »Dann gedulden wir uns eben, bis sie zu uns herunterkommen. Wenn sie gelandet sind, nehmen wir sie in die Zange.« »He, Leute, wir sprechen hier nicht über irgendwelche religiösen Wirrköpfe, die das Ende der Welt an die Wand malen und im Auftrag eines übergeschnappten Guru versuchen, uns von unseren Sünden zu erlösen. Himmel, wir haben es mit einer gut ausgebildeten und bestens bewaffneten Armee zu tun, die sicher versuchen wird, das ganze Land zu besetzen. Das ist den Echsen schon einmal gelungen. Wir hier in Prineville sind nur kleine Fische für sie. Nun, zuerst versuchten sie, uns Sand in die Augen zu streuen, indem sie behaupten, sie kämen in Frieden und seien bereit, alle unsere Probleme zu lösen. Aber wir haben sie entlarvt. Und deshalb machen sie nunmehr keinen Hehl aus ihren Plänen: Sie wollen die Erde vernichten. Und uns dazu. Sie würden uns lieber zum Frühstück verspeisen, als sich auf irgendeine Art von Kooperation einzulassen.« »Ich weiß nicht… Vielleicht sind sie zurückgekehrt, weil sie unsere Hilfe brauchen.« »Unsere Hilfe! Hast du nicht mehr alle Tassen im Schrank, Clyde? Die Mistviecher wollen uns in ihre Kochtöpfe stecken, das ist alles.«
»Trotzdem: Ich bin sicher, es gibt noch einen anderen Grund. Es muß etwas geschehen sein, über das weder im Fernsehen noch im Radio berichtet wurde. Warum ist das Mutterschiff hier? Warum ausgerechnet hier? Crook County ist nicht groß genug, um den Einsatz einer Erkundungsgruppe zu rechtfertigen, die nach Nahrung sucht. Hier gibt es nur wenige Einwohner pro Quadratkilometer. Warum wählen die Visitors keine Großstadt, wenn es ihnen nur darauf ankommt, die Speisekammern an Bord ihrer Schiffe zu füllen?« »Es geht ihnen nicht nur darum. Sie wollen die Herrschaft über die ganze Erde.« »Es spielt keine Rolle, was sie wollen. Wir dürfen nicht zulassen, daß sie es bekommen.« »Aber wenn wir nicht wissen, was sie haben möchten: Wie sollen wir dann verhindern, daß sie es sich einfach nehmen?« »Wir brauchen Verstärkung. Zusammen mit den Leuten aus Madras, Redmond und Bend hätten wir vielleicht eine Chance.« »Und wie wollen Sie so viele Männer und Frauen dazu bewegen, hierherzukommen und zu kämpfen?« »Wenn sie nicht hierherkommen, haben sie die verdammten Echsenfaschisten bald am Hals!« »Da bin ich ganz Ihrer Ansicht. Ich meinte nur: Auf welche Weise sollen sie verständigt und dazu überredet werden, uns zu helfen?« »Ganz einfach: Wir rufen sie an. Die Telefone sind doch noch immer in Betrieb, oder?« »Ich glaube schon.« »Außerdem brauchen wir eine Art Hauptquartier – einen Ort, wo wir uns treffen und beraten können.« »Wie wär’s mit Carry Fisher Hall? Dort gibt’s Platz genug.« »Und wir müssen uns bewaffnen. Eine Schrotflinte genügt nicht, um eine Armee in die Flucht zu schlagen. Wir benötigen
weitaus mehr Gewehre, Revolver, Munition – alles, was wir bekommen können. Anschließend entwickeln wir einen Schlachtplan.« »Meine Patronen bewahre ich auf der Ranch auf. Wenn ich die verballert habe, mit der meine Knarre geladen ist, kann ich nur noch die weiße Fahne schwenken.« »Wir müssen davon ausgehen, daß sich die Außerirdischen nicht davor fürchten, im Kampf zu fallen. Das macht alles noch schwieriger. Wir können ihnen keine Angst einjagen.« »Genau das, was ich sage: Mit jedem Schuß ein Visitor weniger.« »Andererseits: Wir dürfen keinen organisierten Eindruck erwecken, denn dadurch würde den Visitors sofort klar, daß wir ihnen weit unterlegen sind. Wir müssen im Untergrund kämpfen, so wie damals die Widerstandsbewegung – dort zuschlagen, wo sie es nicht erwarten.« »Auf den ersten Blick betrachtet sollte alles ganz normal wirken, um zu vermeiden, daß die Außerirdischen Verdacht schöpfen. Mit anderen Worten: Kinder in der Schule, Angestellte in Büros, geöffnete Läden und Banken. Wenn wir alle Urlaub machen, wird den Visitors klar, daß etwas faul ist.« »Warum schießen wir die verdammten Kerle nicht einfach über den Haufen?« »Weil sie zurückschießen könnten.« »Ich würde ein Dutzend von ihnen ins Jenseits schicken, bevor sie mich am Wickel hätten.« »Aber der Tod wäre Ihnen sicher. Und lebend nutzen Sie uns weitaus mehr.« »He, junge Dame, wenn Sie glauben, bei diesem Krieg käme es nur zu geringen Verlusten, irren Sie sich gewaltig. Wahrscheinlich verrecken wir alle. Habe ich mich klar genug ausgedrückt? Selbst wenn wir uns organisieren und die anderen Leute dumm genug sind, uns zu Hilfe zu eilen: Die
Chancen stehen eins zu einer Million, daß wir diese Sache mit heiler Haut überstehen. Wir kämen nur dann mit dem Leben davon, wenn wir die Beine in die Hand nehmen und von hier verschwinden – bevor die Außerirdischen feststellen, daß hier jemand wohnt.« »Und warum haben Sie sich nicht längst aus dem Staub gemacht, Joe?« Erst jetzt hob Hadad den Kopf und musterte die junge Frau. Sie war genauso groß wie die meisten anwesenden Männer, trug Stiefel, Hose und eine lederne Arbeitsjacke samt Mütze, ähnelte in dieser Aufmachung den Arbeitern in der Sägemühle. Er begriff plötzlich, daß der Vorschlag, sich zu organisieren, von ihr stammte. Hadad beobachtete sie, wartete vergeblich darauf, daß sie in der Art Dianas das Kommando übernahm. Sie beteiligte sich an der Diskussion, beschränkte sich jedoch darauf, ihren Standpunkt zu verteidigen, übernahm nicht die Führung. Das verwunderte ihn. Bobs Laden war lang und schmal. Drei Gänge reichten vom Eingang bis zur Rückwand. Weiter hinten gab es einen kleinen Raum, in dem die Gefriertruhen standen. Hadad hatte jenes Zimmer aufgesucht, um den neugierigen Blicken der Anwesenden zu entgehen, und als sie ihr Gespräch fortsetzten, ihn überhaupt nicht mehr beachteten, schlenderte er durch einen der Korridore, klemmte sich die Pflanze unter den Arm und betrachtete die Auslagen. Langsam näherte er sich der Gruppe, so daß er mehr hören konnte als nur die lautesten Stimmen. Durch das breite Schaufenster sah er das Gerichtsgebäude auf der anderen Straßenseite, hinter dem Springbrunnen. Einige Männer standen auf der Treppe vor dem großen Haus und gestikulierten nervös. Einer von ihnen schritt fort, kehrte dann wieder zurück. Ein anderer trat von einem Bein aufs andere, während sich die Gestalt vor ihm immer mehr zu ereifern
schien, einen leidenschaftlichen Vortrag hielt und jedes Wort mit einem dolchartigen Zustoßen seines Zeigefingers unterstrich. Hadad spürte, wie Unruhe in ihm entstand. Er wollte nicht erneut die Aufmerksamkeit der Gruppe am Tresen erwecken, aber irgendwann mußte er den Laden verlassen, zur Mühle gehen. Und dann bemerkte er seinen Boß, Mr. Ripley. Er überquerte die Straße, blieb vor dem Gerichtsgebäude stehen, wandte sich dann um und hielt auf Bob’s Market zu. Er sah zur Tür rein, nickte und rief die Männer auf der Treppe zu sich. Sie zögerten nicht, kamen sofort herbei. Alle redeten durcheinander. Jeder hatte Vorschläge, niemand einen Plan. Jeder bot eine Lösung des Problems an, doch niemand wußte genau, worin es bestand. Mr. Ripley beruhigte die Gruppe. Er war es gewohnt, zu vielen Männern zu sprechen, sich Gehör zu verschaffen und Befehle zu erteilen. Und er nutzte seine Erfahrungen, um die Sache in die Hand zu nehmen. Es spielte dabei keine Rolle, daß seine Ideen ebensowenig taugten wie die der anderen. »Männer, es bleibt uns keine Zeit, um…« »Was soll das heißen? Warum haben Sie es so eilig?« »Unterbrechen Sie ihn nicht, Larry. Hören wir uns an, was er zu sagen hat.« »Von wegen. Er meint, wir sollten die Visitors angreifen und uns von ihnen umbringen lassen, und er behauptet, wir hätten nicht einmal Zeit zu überlegen, ob es eine Alternative gibt. Himmel, seit mindestens zwanzig Jahren ist keiner von uns in den Krieg gezogen. Ja, sicher, im Frühling schnappt ihr euch eure Knarren und spielt Cowboy; ihr schießt einige Kaninchen, während der Jagdsaison vielleicht auch den einen oder anderen Hirsch. Aber niemand von euch hat jemals einen Menschen getötet.«
»Unsere Gegner sind keine Menschen.« »Mag sein. Aber sie kleiden sich wie wir, sprechen wie wir. Und sie sind hochintelligent. Wir haben es nicht etwa mit dummen Tieren zu tun, die man leicht überlisten kann, sondern mit ausgebildeten und kampferfahrenen Soldaten. Und ihr wollt sie dazu einladen, uns alle umzubringen, indem ihr auf sie schießt.« »Was schlagen Sie vor, Larry? Was sollen wir Ihrer Meinung nach unternehmen? Raten Sie uns etwa, in den Wald zu fliehen und Prineville aufzugeben? Vielleicht leben Sie noch nicht lange genug hier, mein Junge. Doch ich bin in diesem Ort geboren und aufgewachsen. Dies ist meine Heimat, und vor mir war es die meines Vaters. Ich habe nur die Ranch, und die werde ich bis zum letzten Atemzug verteidigen.« »Ihre Ranch? Sind Sie noch bei Sinnen, Mike? Ist Ihnen Ihre Haut nicht wichtiger? Himmel, wenn Sie tot sind, können Sie mit Ihrer Ranch überhaupt nichts mehr anfangen.« »Na schön, Männer. Ihr habt beide recht. Wir brauchen Zeit, um uns Alternativen einfallen zu lassen. Doch gleichzeitig müssen wir uns auf den Kampf vorbereiten. Die Mühle bleibt heute geschlossen. Ich habe einige Leute nach Barr’s geschickt und beauftragt, dort oben den Widerstand zu organisieren. Die anderen Jungs sind nach Hause zurückgekehrt, um ihre Familien zu holen und sich zu bewaffnen. Bob, besorgen Sie uns Munition. Sie liegt hier zwar nicht in den Regalen, aber Sie wissen sicher, wo das Zeug aufzutreiben ist. Was euch angeht…« Mr. Ripley ließ seinen Blick über die Versammelten schweifen. »Erledigt eure Angelegenheiten und schnappt euch ein paar Schießeisen. Jeder Laden in der Stadt wird von einem Mann bewacht. Durchlöchert jeden Visitor, der euch über den Weg läuft.«
»Wenn ihr euch dazu hinreißen laßt, seid ihr einige Stunden später alle tot. Und dann gibt es niemanden mehr, um die Stadt zu verteidigen.« »Hört mal, wir wissen doch nicht einmal, weshalb sie gekommen sind.« »Die Außerirdischen haben alle wichtigen Städte der Welt angegriffen. Sie sind hier, weil sie erobern wollen. Genügt das als Erklärung?« »Nein. Prineville ist nicht gerade eine Großstadt. Warum sollten sich die Visitors für irgendein Provinznest in Oregon interessieren? Vielleicht suchen sie nur eine abgelegene Region, um sich niederzulassen, Familien zu gründen und ein ruhiges Leben zu führen. Warum gehen wir davon aus, daß sie getötet werden müssen, nur weil es Fremde von den Sternen sind? In Oregon gibt es viel Platz für Leute, die Frieden und eine neue Heimat suchen.« »Meine Güte, hör sich das einer an! Und ich dachte, inzwischen mache sich in Hinsicht auf die Visitors niemand mehr etwas vor. Verdammt, Sie kennen doch die Zeitungsberichte, die Nachrichten im Fernsehen. Die Außerirdischen haben Hunderttausende von Menschen verschleppt, unser Wasser gestohlen, all diejenigen ermordet, die ihnen im Weg standen. Frieden bedeutet ihnen nichts. Sie meinten eben, vielleicht kommen sie in der Absicht, sich hier niederzulassen. In diesem Punkt bin ich sogar ganz sicher. Aber nicht, um ›Familien‹ zu gründen, wie Sie meinten. Bestimmt geht es ihnen darum, hier einen militärischen Stützpunkt einzurichten. Und bevor sie mit dem Bau der Basis beginnen können, müssen sie uns entweder vertreiben oder umbringen.« »Einen Augenblick.« Der Einwand stammte von der jungen Frau in der Lederjacke.
»Mr. Ripley schlug vor, wir sollten uns alle bewaffnen. Ich schließe mich seiner Ansicht an. Wir brauchen nicht gleich wild durch die Gegend zu ballern, um unseren Widerstandswillen zu demonstrieren, aber ich halte es für besser, vorbereitet zu sein – falls es tatsächlich zu einem Kampf kommen sollte.« »Ich habe ständig eine Kanone dabei, Lady.« »Wie schön für Sie. Aber das trifft nicht auf uns alle zu. Was mich angeht: Ich möchte nichts und niemanden töten, esse nicht einmal Fleisch.« »Das ist Ihr Problem.« »Nein, es ist der eigentliche Kern der Sache. Wir haben gar nicht die Absicht, jemanden zu erschießen, denn sonst wäre diese Diskussion überhaupt nicht nötig.« »Sie sprechen ganz allein für sich selbst. Mir gefällt die Vorstellung, einige Zielübungen zu veranstalten.« »Kommen Sie mir doch nicht mit Ihrer Macho-Masche, Harv. Ganz gleich, auf welche Weise wir uns auch organisieren: Wir können nichts gegen eine Streitmacht unternehmen, die ihrerseits passiv bleibt. Ein Kampf ist überhaupt erst dann möglich, wenn die Visitors ihr Mutterschiff verlassen und gegen uns vorrücken. Mit anderen Worten: Waffen sind im Augenblick zweitrangig. Derzeit gibt es wichtigere Dinge. Wir können uns nicht in den Läden verbarrikadieren und eine Ewigkeit lang auf den Krieg warten. Wir müssen unser normales Leben weiterführen. Was ist mit den Kindern? Wenn sie jeden Tag zu Hause bleiben, in ihren Zimmern eingesperrt, rasten sie irgendwann aus. Außerdem müssen wir wissen, wohin wir uns wenden und wie wir uns verhalten sollen, wenn tatsächlich etwas geschieht.« »Ich schlage vor, wir treffen uns auf dem Festgelände.«
»Himmel, dort gibt es keine Deckung. Ein paar Außerirdische in den Hügeln genügen, um uns allen den Garaus zu machen. Ganz zu schweigen von den Skyfightern der Fremden.« »Wie wär’s mit dem Krankenhaus? Vielleicht brauchen wir die dort vorrätigen Medikamente.« »Gute Idee.« »Wir sind uns also einig? Wenn irgend etwas passiert, treffen wir uns alle im Hospital?« »Meinetwegen.« »Ich bin trotzdem dafür, in allen Läden Bewaffnete zu postieren.« »Welche Visitors sollen sie aufs Korn nehmen, Mr. Ripley? Erinnern Sie sich nicht mehr? Auch bei den Außerirdischen gab es eine Widerstandsbewegung, und ihre Mitglieder befanden sich an Bord aller Mutterschiffe. Ich weiß nicht mehr genau, wie sich ihre Gruppe nannte. Können Sie ganz sicher sein, daß niemand getötet wird, der unsere Sache vertritt? Die Betroffenen wären in der Lage, uns zu helfen – wenn wir eine Möglichkeit finden, sie zu identifizieren.« »Nur ein toter Visitor ist ein guter Visitor. Sie gehören nicht zu uns. Es sind keine Menschen. Und deshalb…« Er krümmte den Zeigefinger und sagte: »Bumm!« Damit ging die Beratung zu Ende. Der letzte Mann, der das Wort ergriff, war der erste, der den Laden verließ und sich wieder auf den Weg machte. Einige blieben und wandten sich mit weiteren Bemerkungen an das kleiner gewordene Publikum. Mr. Ripley fand einige Rekruten für seinen Plan, die Geschäfte der Stadt in Verteidigungsstellungen zu verwandeln. Einige seiner Gefolgsleute schickte er zum Café an der Hauptstraße, um den anderen vom vereinbarten Treffpunkt im Krankenhaus zu berichten. Hadad bemerkte mehrere Kunden,
die den Laden betreten hatten, an den Regalen vorbeischritten und Einkaufswagen füllten. Die junge Frau in der Lederjacke griff nach einer Tasche, legte sie auf den Tresen und öffnete sie. »Ich fürchte, der Zeitpunkt ist nicht besonders geeignet, aber… Nun, was solls. Wir haben ja schon darüber gesprochen. Ich möchte Sie bitten, einige meiner Sachen in Kommission zu verkaufen. Vielleicht sind Sie jetzt nicht mehr daran interessiert, könnte ich durchaus verstehen… Aber möchten Sie sich die Dinge nicht wenigstens ansehen?« Der Mann hinter dem Tresen nickte und sprach sehr leise. Die anderen Stimmen in Hadads Nähe waren wesentlich lauter, und deshalb entging ihm die Antwort des Ladeninhabers. Doch es schien alles in Ordnung zu sein, denn die jungen Frau holte einige Lederarbeiten aus ihrer Tasche. Hadad fand es seltsam, daß sie sie ausgerechnet hierher brachte, denn in Bob’s Market wurde keine Kleidung angeboten. Am Ständer weiter hinten hingen zwar einige Handschuhe, Mützen und Socken, aber das war auch schon alles. Der Mann probierte eine Jacke an. Vielleicht hatte er persönliches Interesse am Angebot der jungen Frau. Hadad wollte sich die Lederarbeiten aus der Nähe ansehen. Die Jacken kannte er bereits: Die Männer in der Mühle trugen sie bei der Arbeit. Doch die Hemden und Hosen aus dünnem Leder faszinierten ihn. Nach einer Weile holte die Frau auch noch andere Dinge hervor: Gürtel, Brusttaschen, Armbänder. Hadad schob sich näher an den Tresen heran, streckte die linke Hand aus und berührte ein Paar Handschuhe. Der Mann und die Frau unterbrachen ihr Gespräch und musterten ihn. Er achtete gar nicht auf sie, fühlte das weiche Leder, starrte auf die gleichmäßige Naht, griff nach einem Gürtel, der ein wenig härter war, bewunderte die schmalen Borten, die ein
komplexes Muster bildeten, ohne Anfang und Ende. Er versuchte, eine der Tressen zum Anfang zurückzuverfolgen, gab kurze Zeit später auf. Die junge Frau lachte. »Es sieht komplizierter aus, als es ist.« Hadad schüttelte verwirrt den Kopf und drehte sich um. Der Ladeninhaber und die Künstlerin beobachteten ihn noch einige Sekunden lang, verhandelten dann über Preise. Mr. Ripley hatte gesagt, an diesem Tag bliebe die Mühle geschlossen. Das bedeutete: Hadad brauchte weder fegen noch schwere Dinge zu tragen. Niemand würde ihn fragen, warum er nicht pünktlich zur Arbeit erschienen, was mit seiner rechten Hand geschehen war. Es erwarteten ihn keine Pflichten, und deshalb blieb er im Laden, hörte den Menschen zu, die sich gegenseitig ihre Sorgen schilderten. Manchmal fühlte er sich versucht, ihnen von den begrenzten Arsenalen an Bord der Mutterschiffe zu erzählen. Die Ausrüstung der Invasionsflotte eignete sich nicht besonders gut für den Kampf auf irdischem Boden. Die meisten Waffen wurden erst entwickelt und produziert, als die Visitors den dritten Planeten des Zielsystems erreichten. Es handelt sich nicht um Schlachtschiffe, dachte Hadad, sondern um Transporter, die Myriaden Tonnen Wasser und lebendes Protein nach Hause bringen sollen. Nun, das machte die Feinde der Menschen nicht weniger gefährlich. Aber die Bewohner der Erde, so stellte er einmal mehr fest, hatten völlig falsche Vorstellungen vom waffentechnischen Potential der Eroberer. Hadad begann mit einer Analyse der allgemeinen Furchtstruktur. Jeder Mann, der sich einer Gruppe hinzugesellte, betonte zuerst seine Autorität (»Sie haben kein Recht, hier zu sein.«) und anschließend die eigene Entschlossenheit (»Ich würde jeden von ihnen über den Haufen schießen, der sich in die Nähe meines Hauses wagt.«). Nach
diesem Eröffnungsritual brachten die Betreffenden ihre Sorgen zum Ausdruck. In dieser Hinsicht gab es ein breites Spektrum: Manche fürchteten um die Sicherheit ihres Heims, andere um das Leben eines Kindes oder einer kränkelnden Ehefrau. Einige gestanden offen ihre Angst vor dem Tod ein. Auf dieses Stadium folgten Verwirrung und Unschlüssigkeit. Alle fragten sich, was es zu unternehmen galt, und die Antwort darauf bestand fast nur aus Meinungen, Standpunkten und individuellen Perspektiven: Einige vertraten die Ansicht, man müsse die Fremden töten. Andere schlugen vor, die Flucht zu ergreifen. Eine dritte Fraktion resignierte und schien bereit zu sein, alles zu ertragen und über sich ergehen zu lassen – nur um sich der Illusion hinzugeben, es habe sich überhaupt nichts verändert. Die Klugen und Umsichtigen bildeten die kleinste Gruppe. Sie warteten einfach ab, bis die Zauderer und Unsicheren den Laden verließen, um ihre Überlebensrezepte mit Nachbarn zu erörtern. Und als die letzte in eine Aura der Panik gehüllte Person aufbrach, ließen sie ihre Stimmen der Vernunft erklingen und begannen mit einer neuen, wesentlich ruhigeren und zweckbestimmten Diskussion. Hadad versuchte, die Anwesenden einzuschätzen. Die junge Frau stand nach wie vor neben dem Tresen. Es gelang ihm nicht so recht, sich ein Bild von ihr zu machen. Sie sprach wie eine Pazifistin, betonte mehrfach, sie habe nicht die geringste Absicht, jemanden zu töten, so als müsse sie diesbezügliche Zweifel ausräumen. Trotzdem führte sie ein Wurfmesser bei sich. Als sie sich vorbeugte, um dem Ladeninhaber die Lederarbeiten zu zeigen, sah Hadad die Konturen der Rückenscheide unter ihrer Jacke. Sie erwähnte passiven Widerstand, doch als jemand eine wesentlich aggressivere Strategie beschrieb, machte sie einige nützliche Verbesserungsvorschläge.
Sie unterhielt sich mit einem Mann namens Larry, und Hadad musterte ihn wie einen möglichen Gegner: breite Schultern, überaus muskulöse Arme, ein gestählter, an harte Arbeit gewöhnter Körper. Er war wachsam, erweckte jedoch nicht den Eindruck, um jeden Preis in den Kampf ziehen zu wollen – jemand, der zwar nicht vor einer Konfrontation zurückschreckte, es jedoch verstand, Risiken kühl und sachlich abzuschätzen. Hadad kam zu dem Schluß, daß er ihn als Verbündeten vorzog. Kurz darauf traten drei weitere Männer ein, die Hadad aus der Mühle kannte. Sie sprachen nicht viel, konzentrierten sich auf die Arbeit, drückten sich nie, wenn es darum ging kräftig anzupacken. Er beobachtete sie unauffällig. Der Grauhaarige hatte eine Narbe unter dem rechten Auge. Menschen neigten dazu, den Kopf zu senken, wenn sie seinen Blick auf sich spürten, sahen ihn nur dann an, wenn seine Aufmerksamkeit etwas anderem galt. Neben ihm stand jemand, bei dem es sich um seinen Sohn handeln mochte. Er war ebenso kräftig gebaut. Das Gesicht blieb die ganze Zeit über völlig ausdruckslos, doch in den Augen blitzte es. Der dritte Mann war kleiner als die beiden anderen, wirkte drahtig, bewegte sich mit der eleganten Geschmeidigkeit eines Tänzers. Seine Kraft steckte vor allen Dingen in den Beinen – und in etwas, das man gemeinhin als Ausstrahlung bezeichnete. Hadad bemerkte eine zweite Frau, die er vor einer Weile auf der Treppe vor dem Gerichtsgebäude gesehen hatte. Graue Strähnen zeigten sich in ihrem dunklen Haar, und ein dichtes Faltenmuster im Gesicht tilgte die letzten Reste jugendlicher Schönheit. Sie litt an Arthritis, hielt sich vornübergebeugt. Aber ihre Stimme klang fest und selbstbewußt, und alle achteten ihre Meinung. Eine große Küchenschabe kroch wagemutig an der vorderen Seite des Tresens entlang. Hadad beobachtete, wie sich ihre
Fühler bewegten, wie sie über ein Kabel glitt und auf den nahen Schaukasten zuhielt, und plötzlich spürte er die Leere in seinem Bauch. Seit dem Frühstück hatte er nichts mehr gegessen. Die wenigen Mäuse, während der Nacht gefangen und verspeist, waren längst verdaut. Vier Männer standen zwischen ihm und dem Tresen, und als der Käfer seinen Weg fortsetzte, versuchte er, ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Nach einer Weile verharrte die Schabe, offenbar unsicher, wohin sie sich wenden sollte. Zwei weitere Beine gerieten in Hadads Blickfeld, und eine Schulter stieß ihn beiseite. Der Käfer rührte sich nicht von der Stelle. »Wie dem auch sei, wir könnten in jedem Fall Hilfe gebrauchen.« Als Hadad die Stimme der jungen Frau in der Lederjacke hörte, sah er auf, richtete seinen Blick dann wieder auf die Schabe. »Die verdammten Echsen sind machthungrig!« »Es gibt zwei Möglichkeiten, sich der eigenen Macht zu vergewissern. Erstens: Man gebraucht sie einfach. Zweitens: Man setzt sie nicht ein und sieht zu, wie der Widerstand wächst und sich organisiert. Wenn man glaubt, man sei nicht ganz so stark wie der Gegner, so ist es besser, sich ruhig zu verhalten und abzuwarten. In einem solchen Fall kann man nur dann gewinnen, indem man dafür sorgt, daß der Vorteil des Feindes – die größere Macht – zu seinem Nachteil wird.« Die Küchenschabe setzte sich in Bewegung und kroch weiter, fort von Hadad. »Ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen«, antwortete jemand. »Die Visitors brauchen gar nicht hierherzukommen. Es genügt, daß sie in ihrem Raumschiff bleiben.« »Was soll das heißen?« warf ein anderer Mann ein. »Der riesige Diskus ist nicht zu übersehen, und daher dürfte den Visitors klar sein, daß wir von ihrer Anwesenheit wissen.
Nun, wenn sie herunterkämen, müßten sie damit rechnen, sofort in Bedrängnis zu geraten. Dies ist unser Land, und im Gegensatz zu ihnen kennen wir uns hier bestens aus. Mit anderen Worten: Wir haben einen eindeutigen Geländevorteil. Hinzu kommt unsere Furcht. Ripleys Gruppe ist keineswegs organisiert, aber ihr habt’s ja erlebt: Seine Leute brennen darauf, auf jeden Außerirdischen zu schießen, der ihnen über den Weg läuft. Aber wenn die Echsen auch nur eine Stunde lang warten, läßt der anfängliche Schock nach, und dann verwandelt sich Entschlossenheit in nervöses Grübeln. Vermutlich haben die Männer nicht einmal daran gedacht, Proviant mitzunehmen. Irgendwann knurrt ihnen der Magen, und ich bin sicher, das treibt sie schließlich nach Hause zurück.« Erneut wandte sich die Küchenschabe in eine andere Richtung, und diesmal näherte sie sich Hadad. »Damit bestätigen Sie das, was ich vorhin sagte. Wir sollten zur üblichen Tagesroutine zurückkehren. Aber wir benötigen trotzdem Verstärkung.« »Dem widerspreche ich nicht. Doch es hätte wohl kaum einen Sinn, tausend Leute herbeizurufen, die das Ende der Welt beschwören.« »Sicher nicht. Was halten Sie davon, denjenigen Bescheid zu geben, die wir kennen, denen wir vertrauen?« Hadads Blicke klebten an dem dicken Käfer fest. »In Ordnung, das klingt nicht schlecht. Aber was wollen wir damit erreichen? Gehen wir einmal davon aus, es gelingt uns tatsächlich, eine große Streitmacht zu bilden. Was dann?« »Dann erledigen wir die Visitors.« »Warum, Pete?« »Bitte?« »Warum?« »Was meinen Sie damit, Carl?«
»Weshalb wollen Sie die Visitors töten?« »Um zu verhindern, daß sie uns umbringen.« »Genau das ist der Punkt. Eigentlich haben wir gar keinen Grund, die Außerirdischen ins Jenseits zu schicken. Ihre Motive unterscheiden sich von den unsrigen: Wir sind ihnen im Weg, und vielleicht finden sie uns sehr schmackhaft, was weiß ich. Doch wenn wir die Echsen erschießen, ergibt sich nur das Problem, was mit ihren Leichen geschehen soll. Himmel, es ist schon schwer genug, eine verendete Kuh unter die Erde zu bringen. Nein, uns liegt nichts an ihrem Tod, sondern daran, daß sie verschwinden.« »Worauf wollen Sie hinaus?« »Hören Sie: Wenn es nur darum geht, die Außerirdischen abzuknallen – nichts leichter als das. Wir greifen Ripleys Vorschlag auf, bewaffnen die ganze Stadt und postieren die Schützen im zweiten Stock aller Häuser an der Hauptstraße. Wenn die Visitors kommen, empfangen wir sie mit einem Bleihagel. Jeder B-Western in der Glotze veranschaulicht diese Taktik. Es ist ganz einfach. Aber was gewinnen wir dadurch? Das Mutterschiff schwebt weiterhin über den Hügeln, und seine Bordgeschütze könnten Prineville mit einer Salve in Schutt und Asche legen.« Einige Sekunden lang herrschte betretenes Schweigen. »Wir haben also gar keine Chance.« »Das würde ich nicht sagen. Es kommt darauf an, den Visitors ihren hiesigen Aufenthalt so unangenehm wie möglich zu machen.« »Passiver Widerstand also.« »Er ist alles andere als passiv. Haben Sie jemals versucht, ein Kind festzuhalten, das wegrennen will? Nein, ich meine keine körperliche Züchtigung, keine Strafe irgendeiner Art. Das Kind wird zu nichts gezwungen, schlicht und einfach festgehalten. Es windet sich hin und her, tritt um sich und
versucht ständig, sich aus dem Griff zu befreien. Man braucht einen eisernen Willen und muß die ganze Kraft einsetzen, um nicht lockerzulassen. Mit unserer derzeitigen Situation ist es ähnlich, im übertragenen Sinne. Wichtig ist, daß wir in Erfahrung bringen, auf was die Visitors aus sind. Wenn wir das wissen, versuchen wir, ihnen immer neue Hindernisse in den Weg zu legen. Diese Kampftechnik scheint nur deshalb leichter zu sein, weil sie keine besonderen Vorbereitungen erfordert.« »Trotzdem müssen wir uns organisieren. Und wir benötigen ein Hauptquartier.« »Wie wär’s mit diesem Geschäft? Von hier aus können wir das Gericht beobachten. Wenn die Visitors irgendeine Stadt unter Kontrolle bringen, besetzen sie zunächst immer die wichtigsten Gebäude. Wenn sie sich dort drüben niederlassen, haben wir sie die ganze Zeit über im Auge. Sind Sie einverstanden, Bob?« Der Ladeninhaber überlegte eine Zeitlang, schloß die Augen und nickte. Die Küchenschabe schien zu spüren, daß die Diskussion beendet war und hatte es plötzlich eiliger. Vielleicht ahnte sie die Gefahr, unter einem Schuh zerquetscht zu werden. Sie krabbelte schneller und versuchte, sich in Sicherheit zu bringen. Hadad wartete eine günstige Gelegenheit ab, bückte sich und ergriff den Käfer. Als er sich wieder aufrichtete, die Schabe in der linken Faust, drehten sich die Menschen zu ihm um. Er begegnete dem fragenden Blick eines untersetzten Mannes. »Ich dachte, Sie hätten etwas fallengelassen«, brachte Hadad heiser hervor. Das leise Vibrieren in seiner Stimme erinnerte an die visitortypische, nachhallende Resonanz. Er erschrak und räusperte sich, um die Gruppe davon abzulenken.
Der stämmige Mann zuckte mit den Schultern und wandte sich um. Hadad fühlte, wie sich die Küchenschabe in seiner geschlossenen Hand bewegte, widerstand der Versuchung, sie sofort zu essen. Wenn jemand sah, daß er ein Insekt verschluckte… Er schob die Faust in die Jackentasche, ertastete das Fläschchen mit den Augentropfen, das er völlig vergessen hatte. Der Hunger wurde schier unerträglich. Mehrmals bewegte er die Hand in der Tasche, gab sich den Anschein, als suche er etwas. Dann hob er sie rasch und verschlang den Käfer, hoffte dabei, daß die Menschen vor ihm den Eindruck gewannen, er habe sich ein Bonbon in den Mund geschoben. Niemand beachtete ihn. Diesmal herrschte eine andere Atmosphäre, als sich die Gruppe auflöste. Das Ergebnis ihres Gesprächs bestand in einem konkreten Plan, und das erfüllte alle Diskussionsteilnehmer mit Zufriedenheit. Die Männer wechselten noch einige wenige Worte und verließen den Laden. Die ältere Frau überquerte die Straße, ging an dem Springbrunnen vorbei und stieg die Treppe vor dem Gerichtsgebäude hoch. Die Künstlerin sortierte ihre Lederarbeiten, steckte einige in den Ranzen zurück und ließ die anderen auf dem Tresen liegen. Hadad trat an die Kasse heran, setzte die Pflanze ab, holte das Fläschchen hervor und öffnete seine Brieftasche. Die junge Frau bedachte ihn mit einem freundlichen Lächeln, als sie ihre Tasche hob und sich der Tür zuwandte. Sie stieß gegen einen Visitor. Hadad hatte ihn nicht hereinkommen sehen. Es gibt Augenblicke, die die Welt in einen Kosmos der Wunder verwandeln; manchmal genügt ein Lächeln, um die Konturen der Realität hinter einem dunstigen Nebel aus rätselhaftem Glück zu verbergen. Und wenn man sich nur eine
Sekunde später mit einer tödlichen Bedrohung konfrontiert sieht, gewinnt die Gefahr eine noch erschreckendere Intensität. Hadad erstarrte förmlich, unterdrückte gerade noch rechtzeitig ein ängstliches Zwinkern. Sein Puls raste, und alle Muskeln in seinem Leib verkrampften sich – ein fester Griff, der seine Organe umschloß. Der Visitor ging an der jungen Frau vorbei und näherte sich Hadad. Er trug keine Uniform, die ihn als Außerirdischen verriet, war ebenso gekleidet wie der Mann, den die Holzfäller »Araber« nannten: ein Flanellhemd, Jeans, Jacke. Niemand erkannte ihn als Fremden von den Sternen. Abgesehen von Hadad. Dicht vor ihm blieb er stehen, lachte leise und kehlig. Und zischte: »Gclixtchp! Truqh klzopltx grbpdtiq? Spriqktz plictx klzopltx plafqzkrsm. Zhrnimpt trlipgt qravcprts. Crizlchsqpts!
3. Kapitel
»Wie können Sie es wagen, ihn anzuspucken!« entfuhr es der jungen Frau. Hadad sah sie an. Sie ahnte nichts, erkannte den Mann nicht als Visitor. Sie spürte nur seine Feindseligkeit. »Anspucken? Was für ein Unsinn. Ich habe nur einige Worte in unserer Sprache an ihn gerichtet. Er ist einer von uns.« Der Außerirdische lachte spöttisch. »Sie irren sich, Mister. Ich weiß nicht, für wen Sie ihn halten, aber Sie liegen in jedem Fall völlig falsch.« Hadad begriff, daß ihre Antwort der Wahrheit entsprach. Sie wußte tatsächlich nicht, wen der Visitor in ihm sah, verteidigte ihn nur, weil sie ihn angegriffen glaubte. »Gclixtchp, plupltle«, fauchte der Fremde herausfordernd. Doch Hadad schenkte ihm überhaupt keine Beachtung. Seine Aufmerksamkeit galt nach wie vor der Frau, die dem Klang der für sie unverständlichen Worte lauschte. Nach und nach wurde ihr bewußt, mit wem sie es zu tun hatte, aber trotzdem ließ sie sich nicht einschüchtern. »Sie kommen hier hereinstolziert, als gehörte Ihnen die ganze Stadt. Aber da sind Sie auf dem falschen Dampfer, Mister. Glauben Sie vielleicht, Sie hätten hier Anspruch auf irgend etwas? Ich bezweifle sogar, ob Sie ein Recht auf die Luft haben, die Sie atmen. Ich verlange von Ihnen, daß Sie sich entschuldigen – bei mir, weil Sie mich angerempelt haben, und auch bei ihm, fürs Spucken.« »Er ist einer von uns«, beharrte der Visitor. »Er hat Sie getäuscht. Ja, er gehört zu uns. Und einige bestimmte Leute werden sich sehr freuen zu erfahren, daß er sich hier aufhält.«
»Sie irren sich, Mister«, wiederholte die junge Frau. Der Visitor war keineswegs überzeugt. »Ich kenne diesen Mann schon seit vielen Jahren. In einigen Wochen heiraten wir, und das Kind, das ich von ihm empfangen habe, wird als Mensch zur Welt kommen, ohne eine einzige Schuppe.« Die Arroganz in den Zügen des Außerirdischen löste sich auf, wich unsicherer Verlegenheit. »Ich warte auf Ihre Entschuldigung, Mister.« Der Visitor sah erst Hadad an, dann die junge Frau, senkte schließlich den Kopf. »Offenbar ist mir ein Fehler unterlaufen«, brachte er kleinlaut hervor. Und dann ging er. Sie sahen ihm nach, als er den Laden verließ und über die Straße schritt, sich kurz darauf nach links wandte und hinter einer Ecke verschwand. Hadad machte sich keine Illusionen. Er zweifelte nicht daran, daß ihn der Visitor erkannt hatte. »Danke«, sagte er. Die Künstlerin drehte sich um und musterte ihn. Sie war ebenso groß wie er, hielt sich gerade, wirkte so selbstbewußt wie die Kommandantinnen der Mutterschiffe. »Danke.« »Vielleicht habe ich Ihnen gerade das Leben gerettet. Soweit ich weiß, spucken die Echsen Gift. Sie hätten sterben können.« »Das wußte ich nicht. Nochmals vielen Dank.« Vergeblich suchte Hadad nach den richtigen Worten. Seine Muskeln lockerten sich allmählich wieder, aber er konnte sich noch immer nicht rühren. Die Pulsfrequenz war nach wie vor zu hoch. Der Glanz in den »Rehaugen« der jungen Frau schien eine hypnotische Wirkung auf ihn auszuüben, und er sah sich außerstande, den Blick von ihr abzuwenden. Sie lächelte, senkte kurz den Kopf, hob ihn dann wieder. »Nun, wir haben uns gerade kennengelernt, und zwar unter
recht ungewöhnlichen Umständen. Was halten Sie davon, wenn wir unsere Bekanntschaft beim Mittagessen vertiefen?« Hadad setzte zu einem Einwand an. »Ich lade Sie ein.« Er starrte auf den Boden. »Was den Kampf gegen die Visitors angeht, sitzen wir alle in einem Boot. Bitte, ich meine es ernst: Ich würde Sie gern besser kennenlernen.« Hadad sah erneut in ihre Augen, erwiderte ihr Lächeln und nickte. »Gut. Ich kenne ein nettes Restaurant in der Nähe. Gehört einer Freundin von mir. Sie bietet ausschließlich vegetarische Spezialitäten an, und ich fürchte, in einer Stadt, in der fast immer nur Kartoffeln und Fleisch auf den Tisch kommen, wird sie bald pleite machen. Wir müssen ihr ein wenig unter die Arme greifen, finden Sie nicht auch? Kommen Sie.« »Seid vorsichtig auf der Straße«, warf der Ladeninhaber ein. »Wer weiß, wie viele Visitors sich hier herumtreiben.« Die Stimme brachte Hadad in die Wirklichkeit zurück, erinnerte ihn daran, daß sie nicht allein waren, daß es um sie herum eine bedrohte Welt gab. »Machen Sie sich keine Sorgen«, erwiderte die Frau. »Von jetzt an bin ich auf der Hut. Die Begegnung mit dem Außerirdischen hat mir einen gehörigen Schrecken eingejagt. Wenn ich mir vorstelle, was sich unter der menschlichen Maske verbarg, läuft es mir kalt über den Rücken.« Sie öffnete die Tür, und Hadad folgte ihr nach draußen. Die Stadt wirkte völlig normal, und nirgends sahen sie Gestalten in roten Uniformen. Einige Wagen rollten über die Straße, und Fußgänger schlenderten über die Bürgersteige. Das Restaurant befand sich auf der anderen Straßenseite, rund einen Block entfernt. Eine Zeitlang gingen sie
schweigend Seite an Seite, und nach etwa hundert Metern hakte sich die junge Frau bei Hadad ein. »Ich glaube, wir sollten mit den Namen beginnen. Ich weiß überhaupt nicht, wie ich Sie ansprechen soll.« »Die Männer in der Mühle nennen mich Araber.« »Aber das ist wohl kaum Ihr Name, oder?« »Nein. Sie nannten mich so, weil ich ihre Sprache nicht beherrschte.« »Sie sind also kein Amerikaner?« »Nein. Aber ich habe einen amerikanischen Namen.« »Wie lautet er?« »David. Die meisten sagen Dave zu mir.« »Dave. David… Und weiter?« »Diese Frage höre ich jetzt erst zum zweitenmal. Mr. Ripley erkundigte sich danach, als ich ihn um Arbeit bat.« »Ich verstehe nicht…« »David ist mein amerikanischer Name. Früher hieß ich Hadad. Jenen Namen erhielt ich, als ich…« Er unterbrach sich, als er bemerkte, daß er viel zu bereitwillig Auskunft gab und dadurch Gefahr lief, sich zu verraten. Noch nie zuvor hatte er den Wunsch verspürt, von sich zu erzählen. »Als Sie was?« hakte die Frau nach. Sie schien wirklich an ihm interessiert zu sein. Hadad suchte nach einer Möglichkeit, ihr die Wahrheit zu sagen, ohne zuviel preiszugeben. Sie blieben kurz an der Ecke stehen, überquerten dann die Straße. Noch immer hielt die Frau seinen Arm. Als sie den gegenüberliegenden Bürgersteig erreichten, holte Hadad tief Luft. »Man gab mir den Namen eines berühmten Königs, weil ich in dieser Welt ein großer Führer werden sollte.« »Lieber Himmel! Das ist eine ziemliche Verantwortung, oder? Und was führte Sie nach Amerika?« »Eine politische Entscheidung.«
»Und damit war das Königreich dahin, nicht wahr?« Hadad lachte. Er empfand es als angenehm, sich mit der jungen Frau zu unterhalten. »Was ist mit Ihnen? Wie heißen Sie?« »Ruth.« Das Restaurant war klein. Sperrholzwände trennten den Speiseraum von der Küche weiter hinten, und an einer hing ein Bild, das mehrere Frauen bei der Feldarbeit zeigte. Die Einrichtung bestand aus drei langen schmalen Tischen, die von den vorderen Fenstern aus ins Zimmer reichten, auf jeder Seite von drei Stühlen gesäumt. Sie waren die einzigen Gäste. »Hallo, Ruth.« Die Eigentümerin des Restaurants kam aus der Küche, lächelte strahlend und umarmte ihre Freundin. »Ich möchte dir jemanden vorstellen, Betty. Das ist Hadad.« »Wer?« »So lautet mein Familienname. Amerikanern fällt die Aussprache ein wenig schwer. Nennen Sie mich David.« »Okay. David. Nun, was möchtet ihr essen? Ich kann euch Dutzende von Spezialitäten anbieten, eine köstlicher als die andere. Obwohl es hier kaum jemanden gibt, der sie zu schätzen weiß.« Ruth runzelte die Stirn. »Wie läuft dein Laden?« »Nun, wenn ich heute noch den einen oder anderen Gast bedienen darf, brauche ich nicht gleich zu schließen.« »Ist es so schlimm?« »Setz dich, Ruth. Es ist nicht nötig, daß du meine geschäftlichen Sorgen mit mir teilst. Du gibst dir große Mühe, mir zu helfen, bist meine beste Kundin. Ich wußte, daß ich ein Risiko einging, als ich ausgerechnet hier ein vegetarisches Restaurant eröffnete. Wenn sich meine Hoffnungen nicht erfüllen, sehe ich mich nach einer anderen Beschäftigung um.
Wenigstens kann ich dann sagen, daß ich etwas versucht habe, was mir wichtig war. Nun, was möchtet ihr?« »Ich genehmige mir einen Karottensaft, während ich die Speisekarte lese. Was ist mit Ihnen, Hadad? Bettys Gemüsesäfte sind immer ganz frisch.« »Danke, nur Wasser.« »Ein Karottensaft, ein Wasser und zwei Speisekarten.« Betty gab ihnen zwei handgeschriebene Listen, trat hinter die Sperrholzwand und verschwand in der Küche. Hadad hörte, wie sie einen Kühlschrank öffnete. Als er die Pflanze auf den Tisch stellte, sah Ruth neugierig auf. »Ich wollte Sie schon auf dem Weg hierher danach fragen. Was ist das für ein Gewächs? Und warum tragen Sie es dauernd mit sich herum?« »Eine Arzneipflanze. Ihren amerikanischen Namen kenne ich leider nicht.« »Ich sehe zu Hause im Lexikon nach. Wenn es sich um eine ›Arzneipflanze‹ handelt, ein Heilkraut, müßte sie dort verzeichnet sein. Was haben Sie damit vor?« Hadad wußte nicht, ob Menschen solche Pflanzen auf ähnliche Weise verwendeten wie er. Er zögerte mit der Antwort, wollte auf eine Lüge verzichten, durfte aber auch nicht die ganze Wahrheit sagen. »Damit lassen sich Lücken in der Oberfläche schließen.« »Oberfläche? Meinen Sie Haut?« »Ja.« »Dann ist es vermutlich eine Aloe.« »Ich weiß nicht. Blätter und Stengel sind klebrig.« »Und warum nehmen Sie sie überall mit hin?« »Ich habe sie gerade im Laden bezahlt.« »In Bob’s Market?« »Nein. Im Posie Shop.«
»Oh, ich verstehe. Sie haben die Pflanze eben erst gekauft.« »Ja.« »Sind Sie krank?« »Es ist nicht weiter schlimm.« Hadad zog die rechte Hand aus der Jackentasche. Der Verband war ein wenig verrutscht, und an einer Stelle glänzte mattes Grün durch den Stoff. Er erschrak, ließ die Hand rasch wieder sinken. »Oh, keine Sorge. Ich falle nicht gleich in Ohnmacht, wenn ich Blut sehe. Was ist passiert?« »Ich habe eine Wurzel übersehen und mich daran geschnitten.« »Eine schlimme Wunde? Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« »Nein. Ich brauche nur die Arzneipflanze, weiter nichts.« »Und was machen Sie damit?« Wieder geriet Hadad in eine schwierige Lage. Er fühlte sich von Ruths Fragen in die Enge getrieben, verspürte einerseits den Wunsch, offen und ehrlich Auskunft zu geben, wußte aber andererseits, wie gefährlich es sein mochte, sich ihr anzuvertrauen. »Ich zermahle die Blätter. Mit den Werkzeugen, die ich zu Hause habe.« »Dabei würde ich Ihnen gern einmal zusehen.« Wieder spürte er ihren Blick auf sich ruhen, und wieder fehlten Hadad die Worte. In der Stille erschien ihm sein Atem unnatürlich laut. Ruth musterte ihn eine Zeitlang, sah dann auf die Karte. Hadad war hungrig. Und die Speisekarte bot nichts an, was sich für seinen Metabolismus eignete. »Die Linsensuppe mag ich besonders gern«, sagte Ruth. »Ich kann auch den Bohnensalat empfehlen; er schmeckt ausgezeichnet. Betty baut alles selbst an, und ihre Küche ist die beste, die ich kenne. Nun, ich bin oft hier.« Sie beugte sich ein
wenig vor und fügte leiser hinzu: »Wissen Sie, ich hasse es, selbst am Herd zu stehen. Dadurch vergeht mir der Appetit.« Kurz darauf kehrte ihre Freundin zurück. »Für was habt ihr euch entschieden?« »Ich möchte den üblichen Salat.« »Und Sie, David?« »Ist mir gleich. Irgend etwas.« »Also zwei Salate.« Hadad sah sich um, erinnerte sich an den dicken Käfer im Laden. Vielleicht entdeckte er hier ebenfalls einen. Und möglicherweise fand er eine Möglichkeit, ihn zu fangen und zu verschlucken, ohne den Argwohn seiner Gastgeberin zu erwecken. Alles war blitzsauber. Weiter hinten bemerkte er eine Tür mit der Aufschrift »Herren«. Er entschuldigte sich, stand auf und begab sich in die Toilette. Dort erwartete ihn eine Enttäuschung: nirgends eine einzige Spinne, nicht einmal in den Ecken des Fensters. Vielleicht im Hinterhof. Hadad verließ den Waschraum, öffnete die nahe Fliegengittertür und trat nach draußen. Einige Brummer schwirrten in der Nähe. Er streckte die Hand aus, fing sie geschickt und stopfte sie sich sofort in den Mund. Betty kam aus der Küche und sah ihn. »Oh, über die Fliegen brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, David. Ich kann Insekten nicht ausstehen und habe einige elektronische Fallen installiert.« Hadad seufzte innerlich, versuchte, das bohrende Gefühl in seiner Magengrube zu verdrängen und kehrte an den Tisch zurück. Der Salat auf seinem Teller sah aus wie Gras, das man mitsamt den Wurzeln aus dem Boden gerissen hatte. Ruth gab Cremesoße über ihre Portion, begann zu essen und sprach mit vollem Mund. Für eine Weile vergaß Hadad die Aufregung des Tages, die Präsenz des Mutterschiffes, seinen früheren Blutsbruder und Freund, dem es nicht gelungen war,
ihn in Bob’s Market als Visitor zu entlarven. Sein Wahrnehmungsuniversum reduzierte sich einmal mehr auf die junge Frau vor ihm, und er hörte ihr ruhig zu, ohne sie zu unterbrechen. »… eine Gemeinde, deren Mitglieder sich nur von Rohkost ernähren. Und es geht ihnen prächtig. Ich habe dort eine Zeitlang gelebt und eine Menge gelernt: Akupressur, Chiropraktik, Heilung durch Berührung. Alle diese Techniken funktionieren, und zwar ziemlich gut. Nun, viele Leute lachen nur darüber, halten mich für verschroben, weil ich an solche Dinge glaube. Andere aber sind aufgeschlossener – und werden wieder gesund. Ob Sie’s glauben oder nicht: Ich könnte Ihre verletzte Hand heilen, indem ich sie anfasse.« Ihre Rehaugen sahen ihn an, und diesmal war es Hadad, der den Blickkontakt unterbrach. Er starrte aus dem Fenster, konzentrierte sich auf das Äußere, um das Innere – seine wahre Identität – zu schützen. Das Leben in der Stadt nahm seinen gewohnten Gang. Der einzige sichtbare Unterschied bestand darin, daß die Passanten immer wieder den Kopf hoben und das riesige Mutterschiff beobachteten. Während Ruth ihren Vortrag fortsetzte, glitten Hadads Gedanken in die Vergangenheit zurück. Der Visitor in Bobs Laden: Jeffrey, früher ein Freund, jetzt ein erbitterter Feind. Sie stammten aus der gleichen sirianischen Kommune, wurden am gleichen Tag zu Rekruten des Großen Denkers. Sie folgten seinem Ruf, glaubten seinen Verheißungen, mit denen er ihnen Ruhm und Ehre in Aussicht stellte. Sie sprachen den gleichen Dialekt, entschieden sich für das gleiche planetare Projekt. Feste Freunde. Bis man Hadad zum Expeditionsleiter bestimmte und Jeffrey zu seinem Assistenten machte. Jeffreys richtiger Name lautete Spligxzt und bedeutete »der Eifersüchtige«.
Es fiel Hadad alles andere als leicht, einem guten Freund Anweisungen zu erteilen, jemandem, der dauernd jammerte und klagte, weiterhin mit Wohlwollen zu begegnen. Als der Plan geändert und die ursprüngliche Mission verschoben wurde, offenbarte Jeffrey hämische Genugtuung. Vielleicht wäre ihre Freundschaft damals noch zu retten gewesen, wenn man ihnen verschiedene Aufgaben zugewiesen hätte. Aber Hadad erhielt den Auftrag, das Programm zu entwickeln, das den Transport und die Unterbringung Hunderttausender von menschlichen Nahrungsmittelpaketen vorsah. Und Jeffrey mußte sich erneut mit der untergeordneten Rolle des Stellvertreters begnügen. Das zerriß die letzten Bande zwischen ihnen. Sie erledigten ihre Arbeit, und Jeffrey hielt sich an die Befehle, die er von Hadad bekam. Doch in ihrer freien Zeit gingen sie sich aus dem Weg. Die Nachricht, die ihm Jeffrey voller Hohn in der Visitorsprache übermittelt hatte, zog einen endgültigen Schlußstrich unter den Machtkampf, der Hadad eine definitive Niederlage eingebracht hatte. Jeffrey strebte Einfluß an, eine hohe Stellung in der Hierarchie der Invasionsflotte, all das, was Hadad besaß, bevor Diana einen anderen Einsatzort auf der Erde wählte. Als man Hadad nach Los Angeles versetzte und sein Posten an Bord des Mutterschiffes frei wurde, ernannte man Jeffrey zu seinem Stellvertreter, und dadurch bekam er endlich das, was er sich so sehr wünschte: Macht. Sein größter Triumph aber bestand in dem jüngsten Befehl Dianas: Sie erklärte Hadad zum vogelfreien Verräter, der sofort zu erschießen sei. Bestimmt konnte Jeffrey mit einer Belohnung rechnen, wenn er ihr berichtete, daß sich »der Verabscheuungswürdige« auf der Erde befand. Und selbst wenn Jeffrey tatsächlich glaubte, was Ruth in Bob’s Market behauptet hatte, wenn er wirklich davon
überzeugt war, sich geirrt zu haben: Wie viele Visitors, die zur Besatzung des Mutterschiffes über Prineville gehörten, würden Hadad wiedererkennen? Es handelte sich nicht um Dianas Schiff; daran ließ Jeffreys Botschaft keinen Zweifel. Aber wie viele Mannschaftsmitglieder kannten ihn? Und welche Einstellung vertraten die Offiziere in Hinsicht auf Dianas persönlichen Rachefeldzug gegen ihn? Er hatte sie herausgefordert, nicht die ganze Flotte. Er fragte sich, ob sie das wußten… »Was machen Sie in der Mühle?« Ruths Stimme pflasterte einen geistigen Pfad, den Hadads Gedanken beschritten, um in die Gegenwart zurückzufinden. Verwirrt schüttelte er den Kopf. »Worin besteht Ihre Arbeit in der Sägemühle?« wiederholte sie. »Ich fege. Und manchmal trage ich Dinge. Schwere Dinge.« »Haben Sie vorhin nicht gesagt, Sie seien dazu bestimmt gewesen, König zu werden? Ich dachte immer, die Ausbildung eines Thronfolgers sei wesentlich anspruchsvoller. Womit haben Sie sich beschäftigt, bevor Sie hierher kamen?« »Ich…« Hadad lachte und stellte sich vor, wie die junge Frau reagieren mochte, wenn er ihr die Wahrheit sagte. »Ich…« Er unterbrach sich erneut. »Bitte enttäuschen Sie mich nicht; lassen Sie sich eine gute Antwort einfallen. Was haben Sie gemacht? Ganze Scharen schöner Jungfrauen in den Frachtkammern großer Sklavenschiffe bewacht? Mit Amazonenköniginnen um ganze Imperien gekämpft? Gewaltige Computer programmiert, so daß Sie mit nur einem Tastendruck über Tod oder Leben ganzer Völker entscheiden konnten?« »Nun, das ist nur der Anfang einer langen Liste«, sagte Hadad und grinste.
Ruth stimmte in sein Lachen ein, hielt es ganz offensichtlich für unmöglich, daß solche Phantastereien einen realen Hintergrund haben konnten. Hadad verbarg sein Erstaunen hinter einem humorvollen Lächeln. Es verblüffte ihn, wie nahe Ruths Mutmaßungen an die Wahrheit grenzten – ohne daß sie etwas davon ahnte. »Im Ernst«, sagte Ruth, als sie wieder zu Atem kamen. »Wieso gibt sich ein Mann, der darauf vorbereitet wurde, eine Nation zu führen, mit einem Besen zufrieden? Worin genau bestand Ihre Ausbildung? Und welche Stellung nahmen Sie ein, bevor Sie hierher kamen?« »Die Antwort darauf ist nicht ganz leicht. Wenn man ein Volk führen will, muß man zunächst einmal herausfinden, in welcher Richtung es sich entwickelt – um dann an der Spitze zu marschieren. Es kommt darauf an, Bestrebungen, Wünsche und Hoffnungen aufeinander abzustimmen, der entsprechenden Nation die Möglichkeit zu geben, sich selbst zu verwirklichen. Nun, was Ihre Fragen angeht: Ich habe einmal Computer programmiert.« »Und warum nutzen Sie diese Erfahrungen nicht? Im Gericht gibt es mehrere elektronische Datenverarbeitungsanlagen, und dort werden gute Programmierer gebraucht.« »Was wissen Sie von Computern, Ruth?« fragte Hadad. »Nicht viel. Damals, an der Universität, befaßten wir uns mit Dateneingabe und damit zusammenhängenden Problemen. Aber ich habe nie ein Programm entwickelt, wenn Sie das meinen.« »Na schön. Bei den meisten Leuten beschränkt sich die Arbeit mit Computern auf das, was Sie als ›Dateneingabe‹ bezeichnen. Programmentwicklung bedeutet: exakte Beschreibung einer Aufgabenstellung, ihre Umsetzung in codierte Anweisungen. Nun, als ich nach Prineville kam, hätte ich sicher den Umgang mit den hiesigen Computern lernen
können. Eigentlich sind sie alle gleich. In Los Angeles zum Beispiel fiel es mir nicht weiter schwer, die Funktionsprinzipien der dortigen Rechner zu verstehen. Das Problem war ein anderes: Es mangelte mir an Englischkenntnissen. Noch heute habe ich Schwierigkeiten mit Ihrer Sprache, aber damals fehlte mir ganz einfach das notwendige Vokabular. Wenn es darum geht, ein Programm zu erstellen, muß ich zunächst wissen, worin es bestehen soll. Man konnte mir nur englische Erklärungen anbieten – die ich nicht verstand.« »Und deshalb griffen Sie zum Besen.« »Ja.« Eine Zeitlang schwiegen sie. »Frustriert es Sie nicht, auf Kopfarbeit verzichten zu müssen?« erkundigte sich Ruth. »Was bedeutet ›frustriert‹?« »O Himmel, eine schwierige Frage. Es heißt soviel wie verärgert sein, enttäuscht sein.« »Und ›auf Kopfarbeit verzichten‹.« »Ich meine, Sie sind nicht kreativ, lösen keine Probleme, verschwenden Ihre Zeit mit einer unwichtigen Tätigkeit.« »Wenn ich fege, schalte ich nicht einfach mein Gehirn ab. Ich denke nach wie vor.« Ruth lachte erneut, und diesmal fragte sich Hadad verwundert, was sie so erheiterte. »Sie klingen wie ein Zen-Meister.« »Was ist das?« »Zen-Meister sind Lehrer, deren Unterweisungen aus Fragen bestehen. Zum Beispiel: Welches Geräusch verursacht eine klatschende Hand?« »Nun, es ist das Geräusch der Stille. Ich weiß nicht, was daran so schwierig oder komisch sein soll.«
Ruth musterte ihn neugierig. »Außer Ihnen kenne ich niemand, der auf diese Frage sofort Antwort geben konnte. Entweder sind Sie sehr klug oder ausgesprochen dumm.« »Vermutlich gehöre ich zur zweiten Kategorie«, erwiderte Hadad schlicht. »Sie erwähnten eben, daß Sie an der Universität Dateneingabe lernten. Der Begriff ›Universität‹ ist mir neu.« »Es handelt sich um eine besondere Art von Schule, die wichtigste hier in Amerika.« »Sie waren also Studentin?« »Ja, unter anderem.« »Was sonst noch?« »Oh, ich habe mich mit vielen Dingen beschäftigt. Am Studium der Kunstgeschichte gefiel mir vor allen Dingen der historische Aspekt, doch mit der Kritik hatte ich eine Menge Schwierigkeiten. Meine Werteskala unterschied sich zu sehr von der des Professors. Eine Zeitlang arbeitete ich als Schauspielerin in Los Angeles. Hab’ sogar an einem Film mitgewirkt. Später trat ich als Folksängerin in San Francisco auf. Machte zuerst viel Spaß, aber nach einer Weile hatte ich es satt, ständig im Mittelpunkt zu stehen. Ich ging auf Reisen, lernte Naturheiler kennen. Einmal unterrichtete ich in einer Sonderschule für taube Kinder. Das war vermutlich meine bisher wichtigste Tätigkeit. Seitdem lebe ich von den Dingen, die ich herstelle, aus Leder, meine ich. Früher habe ich mich auch als Malerin und Töpferin versucht.« Einmal mehr trafen sich ihre Blicke, und wieder spürte Hadad, daß Ruth eine Antwort von ihm erwartete, die er ihr nicht geben konnte. Er kam sich sonderbar leer vor: Dem Gebäude seiner Gedanken fehlte ein festes Fundament aus Worten. Stumm und irgendwie hilflos beobachtete er die junge Frau, und nach einigen Sekunden drehte sie den Kopf.
»Ich fühle mich häufig innerlich hin und her gerissen«, fuhr sie schließlich fort. »Wenn ich mit vielen Menschen zusammenarbeite, sehne ich mich nach Ruhe und Abgeschiedenheit. Aber wenn ich alleine bin, kann ich die Einsamkeit schon bald nicht mehr ertragen. Aus diesem Grund gab ich den Computerjob auf: Ich konnte mit niemandem sprechen, hatte ständig mit Maschinen zu tun.« Hadad sah erneut aus dem Fenster. Männer und Frauen, die über den Bürgersteig gingen, dann und wann den Kopf hoben und zum Mutterschiff emporstarrten, zu der stummen Drohung über ihnen. Er spürte, wie die Unruhe in ihm zunahm, wie ihn das Warten darauf, daß etwas geschah, immer mehr belastete. Die Ruhe vor dem Sturm, dachte er und benutzte eine bei den Menschen gebräuchliche Metapher. »Sie haben nicht viel gegessen.« »Wie? Oh, nein, tut mir leid.« »Macht nichts. Menschliche Sorge kommt auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck. Ich esse.« »Was?« »Wenn ich besorgt bin oder mich vor etwas fürchte, genehmige ich mir eine leckere Mahlzeit. Anderen Leuten schlägt die Angst auf den Magen.« »Ich verstehe.« »Wir haben noch nicht darüber gesprochen.« »Übers Essen?« »Nein, die Visitors.« »Oh.« »Müssen wir damit rechnen, an Bord des Raumschiffes verschleppt und dort auf die Speisekarte der Visitors gesetzt zu werden?« »Ich weiß es nicht.« »Warum sind sie hier? Bisher haben sie Oregon nicht die geringste Beachtung geschenkt. In den Nachrichtensendungen
des Freedom Network wurde immer wieder behauptet, hier drohe uns keine Gefahr. Viele Leute ließen sich bei uns nieder, weil sie glaubten, in Oregon seien sie vor den Außerirdischen sicher. Warum kommen die Visitors ausgerechnet jetzt hierher?« »Ich habe mir nicht nur diese Frage gestellt, sondern auch noch eine andere: Was hielt sie bisher von Oregon fern?« »Der rote Giftstaub.« »Genau. Er müßte sie auf der Stelle töten.« Ruth runzelte die Stirn. »Der als Mensch getarnte Fremde, dem wir im Laden begegneten… Warum starb er nicht? Wie können die Echsen hier überleben?« Hadad musterte sie und überlegte, wieviel er ihr anvertrauen durfte, ohne zu riskieren, seine wahre Identität zu verraten. Er glaubte, eine Antwort auf ihre Frage zu wissen und wählte seine Worte mit besonderer Sorgfalt, als er erwiderte: »Es gibt zwei mögliche Erklärungen. Erstens: Vielleicht ist der rote Staub in dieser Region nicht annähernd so giftig wie weiter im Süden.« »Wie ich hörte, produzierte man ihn auf der Grundlage eines speziellen Bakterienstamms. Wie sich später herausstellte, werden die Mikroben oberhalb einer gewissen Temperaturgrenze inaktiv. Das ist der Grund, warum die Visitors in die tropischen Bereiche der Erde zurückkehren konnten. Aber hier in Oregon ist es wesentlich kühler. Mit anderen Worten: Das Toxin müßte voll wirksam sein.« »Zweitens: Möglicherweise haben die Visitors ein Gegenmittel hergestellt, eine Art Impfstoff. Wenn das stimmt, müssen sie ihn zunächst testen.« »Und zwar an einem Ort, wo es den roten Staub gibt.« »An einem Ort, von dem sie glauben, daß er das Toxin aufweist.«
»Es wäre also denkbar, daß sie es gar nicht in erster Linie auf uns abgesehen haben.« »Trotzdem sollten wir kein Risiko eingehen. Es müssen Maßnahmen ergriffen werden, um alle Einwohner von Prineville zu schützen, um zu verhindern, daß sie an Bord des Schiffes gebracht werden, daß man sie in die Konservierungskapseln steckt und anschließend in den großen Hibernationskammern unterbringt.« Ruth sah ihn an. »Sie scheinen genau zu wissen, wie die Visitors mit ihren Gefangenen verfahren.« »Ja.« »Man erzählt sich die schrecklichsten Dinge.« »Warum essen Sie kein Fleisch, Ruth?« »Weil ich…« Sie zögerte. »Ich wollte gerade sagen: Weil ich das Leben achte. Aber bevor ich begriff, was mein Körper braucht, hatte ich keine Bedenken, Fleisch zu essen. Und deshalb war meine Achtung vor dem Leben nicht geringer. Ich schätze, ich respektiere auch die Karotten, die ich eben als Saft getrunken habe.« »Glauben Sie, eine Möhre hat Angst davor, in Ihrem Magen verdaut zu werden?« »Nun, wenn sie wüßte, was ihr bevorsteht…« »Und sind Sie ganz sicher, daß sie es nicht weiß?« »Eine seltsame Frage«, murmelte Ruth. »Natürlich bin ich sicher. Ich meine…« »Die Visitors bereiten ihre Nahrung vor«, sagte Hadad. »In gewisser Weise teilen sie ihr mit, was sie erwartet. Wenn sie sich anschließend ihrem Schicksal fügt, gibt es keine Probleme. Doch wenn sie versucht, sich zur Wehr zu setzen, wird ihr Geschmack vom Aroma der Furcht beeinträchtigt.« Ruth zwinkerte und starrte ihn groß an.
»Ich kenne mich in solchen Dingen aus«, erklärte Hadad. »Sie gehören zu meiner Ausbildung, die mich darauf vorbereitete, König zu werden.« Wieder schloß sich Schweigen an, und Hadad lauschte dem Echo seiner Worte, vermutete, daß sie für einen Menschen überaus seltsam klangen. »Hatte Mr. Ripley recht, als er sagte, wir müßten die Außerirdischen töten, um uns zu schützen?« »Ja. Und der andere Mann ebenfalls. Doch es genügt nicht, sie umzubringen. Töten bedeutet, immer in Furcht zu leben. Es kann nur dann wieder Frieden herrschen, wenn es gelingt, die Visitors zu vertreiben.« »Wie?« »Ich weiß etwas, von dem Sie nichts ahnen. Weder Sie noch die anderen Bürger Prinevilles. Ein Geheimnis, in das Sie auf keinen Fall die falschen Leute einweihen dürfen. Wenn es allgemein bekannt würde, käme es hier wahrscheinlich zu einer Panik.« »Wer sind die richtigen Leute?« »Ich weiß es nicht. Aus diesem Grund wende ich mich an Sie. Meine Englischkenntnisse… reichen einfach nicht aus. Und mir darf kein Fehler unterlaufen.« »Wovon sprechen Sie?« »Ruth, ich weiß etwas über Prineville, das Sie alle in Gefahr bringen könnte.« »Worum geht es dabei?« »In diesem Tal gibt es keinen roten Giftstaub. Leider ist mir nicht bekannt, wie weit sich der unverseuchte Bereich erstreckt.« Ruth bedachte ihn mit einem durchdringenden Blick. »Für wen arbeiten Sie?« fragte sie plötzlich. »Wer hat Sie hierher geschickt?«
Hadad schüttelte den Kopf. »Nein, Sie sind auf dem falschen Pfad.« »Auf der falschen Fährte, meinen Sie.« Ruth lachte leise, obgleich sich düstere Ahnungen in ihr regten. »Als die Ballons platzten, trug der Wind das Toxin mit sich fort und verbreitete es im ganzen Land. Doch die entsprechenden Luftströmungen führten an diesem Tal vorbei. Ich habe lange Zeit auf den tödlichen Staub gewartet. Doch er kam nicht, auch nicht auf die andere Art und Weise.« »Was meinen Sie damit?« »Wie Sie vorhin schon sagten: Das Toxin besteht aus Bakterien. Sie vermehren sich in den Zellen der Tiere, die den Staub einatmen. Nun, den irdischen Organismen schaden sie nicht. Aber wenn Visitors das Fleisch der Lebewesen essen, die mit dem Gift in Berührung gekommen sind, sterben sie.« »Die Wirkung beschränkt sich also nicht nur auf die Atemwege«, sagte Ruth. »Nein. Wenn der Staub in die Lungen eines Außerirdischen gerät, tritt der Tod innerhalb weniger Sekunden ein. Im zweiten Fall dauert es etwas länger.« »Das Freedom Network gab neulich bekannt, daß an vielen Orten die Kontaminierung eingestellt wurde.« »Was eigentlich keinen Sinn ergibt, denn immerhin stellt das Toxin keine Gefahr für terrestrische Lebensformen dar. Vielleicht verzichtet man deshalb auf einen weiteren Einsatz des tödlichen Staubes, weil man glaubt, es sei bereits die ganze Nahrungskette vergiftet.« »Aber Sie sagten doch…« »Ja. Die hiesigen Tiere tragen die Bakterien nicht in sich. Das ist eine Information, die Sie mit niemandem teilen dürfen. Wenn die Visitors dahinterkämen, würden sie bestimmt nicht zögern, alle Bewohner Prinevilles zu verschleppen. Solange sie
glauben, das Gift befände sich auch hier, lassen sie Sie vielleicht in Ruhe – aus Furcht, die in der Bereithaltungshibernation an Bord ihres Raumschiffes verstaute Nahrung zu verseuchen.« »Warum sind Sie so sicher, daß die in diesem Tal lebenden Tiere und Menschen nicht kontaminiert wurden?« »Was die Menschen betrifft, kann ich keine Angaben machen, die jeden Zweifel ausschließen. Und in Hinblick auf die Tiere: Nun, ich habe einige… getestet.« »Deshalb sind Sie hier?« »Ja.« »Wer hat Sie geschickt?« »Niemand. Ich…« Die Wahrheit ließ sich nicht mit vagen Formulierungen umschreiben. »Gehören Sie zur Widerstandsbewegung?« »Nein.« »Für wen arbeiten Sie?« »Das spielt doch gar keine Rolle, Ruth. Ich wollte Bescheid wissen, weil ich nicht nach Hause zurückkehren kann. Inzwischen sehe ich eine Art zweite Heimat in Prineville, und ich wollte feststellen, ob sie sicher ist.« »Denken Sie daran, das Tal zu verlassen, vor den Visitors zu fliehen?« fragte Ruth leise. »Ich wüßte gar nicht, wohin ich mich wenden sollte.« Die junge Frau dachte eine Zeitlang nach. »Ich nehme an, Sie haben mir das alles aus einem ganz bestimmten Grund erzählt. Soll ich die Nachricht an jemanden weitergeben?« »Solange die Visitors nur den einen oder anderen Kundschafter ausschicken, finden sie bestimmt nicht heraus, daß dieses Tal ein unverseuchtes Nahrungspotential für sie bereithält. Wenn ich recht habe, testen sie ihr neues Gegenmittel und gelangen zu dem Schluß, daß es funktioniert. Das erschließt ihnen auch die kalten Regionen des Kontinents,
die Zonen, in denen das Bakterientoxin wirksam ist. Anschließend dauert es sicher noch eine Weile, bis sie eine Möglichkeit finden, die vergifteten irdischen Lebensformen zu dekontaminieren. Dadurch gewinnen Sie Zeit.« »Aber vielleicht taugt das Gegenmittel überhaupt nichts. Hier kann doch gar kein richtiger Test stattfinden.« »Da haben Sie recht. Aber noch wissen die Visitors nichts davon. Und sie dürfen es niemals erfahren. Setzen Sie sich mit der Widerstandsbewegung in Los Angeles in Verbindung. Überzeugen Sie sie davon, daß es nötig ist, den roten Staub in diesem Bereich Oregons zu verteilen.« »Und das Gegenmittel?« »Wenn es die Erwartungen der Visitors erfüllt, gibt es ohnehin keine Rettung für Prineville. Dann bekommen Sie nur eine Gnadenfrist. Doch vielleicht gibt sie Ihnen die Möglichkeit, einen Ausweg zu finden. Wenn das Antiserum versagt, verschwinden die Außerirdischen wieder.« »Was meinen Sie mit Gnadenfrist?« »Um alle Visitors des Mutterschiffes vor dem Toxin zu schützen, sind große Mengen des Gegenmittels erforderlich, und dazu muß zunächst einmal eine Produktionsanlage gebaut werden.« »Aber eine solche Entscheidung träfen sie in jedem Fall. Sie haben deutlich genug darauf hingewiesen, daß es hier keinen roten Staub gibt, und deshalb nehmen die Außerirdischen sicher an, ihr Antiserum erfülle den gewünschten Zweck.« Hadad lächelte. »Sie bezeichnen so etwas als Bluff, nicht wahr?« »Ja, ich glaube, ›Bluff‹ ist das richtige Wort.« »Nun, so etwas klappt nur, wenn sich jemand vor Konsequenzen fürchtet. Und das trifft auf die Visitors nicht zu.« »Ich verstehe nicht ganz…«
»Stellen Sie sich einen Mann vor, der an einem Bankschalter steht und sagt: ›Ich habe einen Revolver in der Tasche. Geld her, oder ich schieße.‹ Der Angestellte muß entscheiden, ob die Drohung ernst gemeint ist. Wenn er das glaubt, händigt er das Geld aus. Wenn nicht, gibt er Alarm. Die Angst vor dem Tod ist eins der stärksten menschlichen Motive. Das wird im Fernsehen immer wieder betont.« Ruth nickte langsam. Wieder suchte Hadad nach den richtigen Worten und schwieg. Noch nie hatte er mit einem Menschen über die Macht von Zon gesprochen. Dieses Thema galt selbst bei seinem Volk als tabu, und in der fremden Sprache gab es nicht die richtigen Ausdrücke, um sich der jungen Frau verständlich zu machen. »Die Situation ist völlig anders, wenn man sich nicht vor dem Sterben fürchtet.« »Die Visitors sind ohne zu zögern bereit, in den Tod zu gehen?« »Ja, Ruth.« »Woher wissen Sie das alles?« »Ich habe in Los Angeles gearbeitet. Für… Diana.« »Ich dachte, Sie gehörten nicht zur Widerstandsbewegung.« »Nun, viele Leute in Los Angeles waren für Diana tätig, und einige von ihnen schlossen sich dem Widerstand an. Die anderen machten einfach nur ihre Arbeit.« Hadad begegnete Ruths Blick und glaubte, in ihren Rehaugen einen stummen Vorwurf zu erkennen. »Ich bin nicht besonders tapfer«, sagte er leise. Sie senkte den Kopf und seufzte, ging nicht auf seine Bemerkung ein. »Sie glauben also, die Außerirdischen führen zunächst nur einen Test durch…« »Wenn ein mit dem Gegenmittel behandelter Visitor durch die Stadt gehen kann, ohne daß ihm etwas geschieht, schicken
sie einen zweiten, der nicht das Antiserum bekam. Wenn er stirbt, wissen sie, daß sie sich vor dem Toxin schützen können. Ich fürchte, auf diese Weise finden sie schon bald heraus, daß zumindest die Luft im Tal keinen Giftstaub enthält. Und dann übernehmen sie Prineville.« »Noch haben sie nicht angegriffen.« »Es ist nur eine Frage der Zeit.« Einige Sekunden lang gab Ruth keinen Laut von sich. Schließlich seufzte sie erneut und ließ die Schultern hängen. »Ich wasche mir nur kurz die Hände, komme gleich wieder.« Sie schob den Stuhl zurück und stand auf. Hadad beobachtete sie und stellte fest, daß ihre Bewegungen jetzt nicht mehr so energisch wirkten wie zuvor. Sie schien in eine Aura melancholischer Niedergeschlagenheit gehüllt zu sein, trug ein imaginäres Gewand aus Schwermut und Kummer, das gar nicht zu ihr paßte. Als sie die Toilette betrat, kam Betty aus der Küche und trat an den Tisch heran. »Meine Güte, scheint ja ein ziemlich ernstes Gespräch gewesen zu sein. Seid ihr alte Freunde?« »Nein, wir haben uns gerade erst kennengelernt.« Betty musterte ihn kurz. »Kann es sein, daß ich Sie mal drüben bei der Mühle gesehen habe?« »Wäre durchaus möglich. Ich arbeite dort.« »Mein Mann ebenfalls.« »Wie heißt er?« »John Hanawald.« »Ja, ein Kollege von mir.« Ruth kam zurück. »Ich bezahle alles, Betty. David ist mein Gast.« Hadad sah auf, und die funkelnden Rehaugen der jungen Frau erwiderten seinen Blick, entführten ihn in eine Welt voller Frieden und Harmonie. Ruth drehte sich um und beglich die Rechnung fürs Mittagessen.
Sie verließen das Restaurant und gingen auf der gleichen Straßenseite in Richtung Gerichtsgebäude zurück. Diesmal hakte sich Ruth nicht bei ihm ein. Immer wieder hob sie den Kopf und starrte zum gewaltigen Diskus des Mutterschiffes empor. »Was bedeutet ›Erbe‹?« fragte Hadad nach einer Weile. »Warum fragen Sie?« »Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.« Hadad griff nach Ruths Hand, führte sie einen halben Block weiter und blieb am Springbrunnen vor der Treppe des Gerichts stehen. »Hier.« Er deutete auf ein Schild mit der Aufschrift: »Das Erbe der Vergangenheit ist der Samen, aus dem die Zukunft wächst.« »Eine Art Geschenk, nehme ich an«, sagte Ruth. »Und noch ein wenig mehr. Mit ›Erbe‹ bezeichnet man all das, was vergangen ist, was jemals geschätzt wurde – ein kostbarer Schatz, den man wachsam hütet und den Kindern und Kindeskindern vermacht.« »Es handelt sich also um konkrete Dinge?« »Und auch um Traditionen.« »Es ist sehr wichtig und ehrenhaft, die Werte der Vergangenheit für Gegenwart und Zukunft zu bewahren. Aber es gibt Leute, die anderer Ansicht sind.« Ruth sah zum Raumschiff hoch. »Die meisten Visitors halten nichts von einer solchen Einstellung.« »Ich dachte mir schon, daß Sie darauf hinauswollten.« »Danke für die Einladung, Ruth. Es tut mir leid, daß ich nicht viel gegessen habe.« »Machen Sie sich nichts draus. Eigentlich ging es gar nicht um die Mahlzeit. Wohin…« Ruth zögerte. »Wohin gehen Sie jetzt?« »Ich weiß nicht.«
»Was ist mit Ihrer Pflanze?« Sie lächelte, wirkte wieder munterer und lebhafter. »Oh«, machte Hadad. »Die habe ich ganz vergessen. Ich muß zurück und sie holen.« »Nun, mein Wagen steht dort drüben.« »Nein danke, ich gehe zu Fuß.« »Versprechen Sie mir etwas?« »Was denn?« fragte Hadad. »Geben Sie gut auf sich acht.« Er erwiderte ihr Lächeln. »Seien Sie unbesorgt.« »Was Ihre Informationen über die Visitors betrifft…« »Ja?« »Danke.« »Oh. Nun, Sie stehen jetzt in meiner Schuld. Vielleicht ergibt sich irgendwann eine Möglichkeit für Sie, mir das Leben zu retten.« »Ich werde nicht zögern, sie wahrzunehmen.« Ruths Augen verwandelten sich wieder in die eines Rehs, und Hadad hatte das Gefühl, als schmelze der Kern seines Ichs in der Wärme ihres Blicks. Er vergaß die Arzneipflanze, das Mutterschiff, die Drohung, die in Form einer riesigen Scheibe über der Stadt schwebte. Irgendein Wesensaspekt der jungen Frau zog ihn wie magnetisch an, aber er blieb stehen, rührte sich nicht von der Stelle. Ruth nickte ihm freundlich zu, und dann wandte sie sich ruckartig um und lief über die Straße. Reifen quietschten. Hupen dröhnten. Eine breite Stoßstange erfaßte die junge Frau, hob sie an und schleuderte sie über den Asphalt.
4. Kapitel
Paul stand hinter Eleanor an der Konsole, als die Wächter den verkleideten Jeffrey in die Kabine führten. Erstaunt bemerkte er, wie sich die Verärgerung in den Zügen des Lieutenant Commander widerspiegelte, als er sah, daß sie beide allein waren. Jeffrey glaubte, Anspruch auf Eleanor erheben zu können, und die Vorstellung, daß Paul seine Abwesenheit ausgenutzt hatte, behagte ihm überhaupt nicht. Paul sah in Eleanor nichts weiter als ein interessantes Spielzeug, und ab und zu fand er Gefallen daran, sich damit die Zeit zu vertreiben. Er hütete sich jedoch davor, irgendwelche Verpflichtungen einzugehen, sich zu etwas hinreißen zu lassen, was er später bereuen mochte. In seiner Schlafzimmerpolitik gab es keinen Platz für Leidenschaft; er ließ sie allein von kühler Sachlichkeit bestimmen. Das militärische Kommando über dieses Raumschiff verdankte er seinen guten Diensten in Dianas Bett. Als sie strategische Macht bekam, erinnerte sie sich an ihn und zählte auf seine Treue. Paul wollte ihr Wohlwollen nicht aufs Spiel setzen, und deshalb unterhielt er keine anderen Beziehungen – zumindest nicht zu so unzuverlässigen und schwatzhaften Frauen wie Eleanor. Sie war Wissenschaftlerin, keine Strategin, hatte ein Gegenmittel entwickelt, das die Wirkung des Bakterientoxins, des sogenannten V-Staubs, für einige Stunden blockieren konnte. Als sie mit Experimenten begann, die in der Herstellung eines dauerhaften Antitoxins resultieren sollten, vernichtete ein Sabotageanschlag der Fünften Kolonne ihre Unterlagen und Aufzeichnungen. Sie ahnte nicht, daß Paul
dafür verantwortlich zeichnete, hegte ihm gegenüber nicht den geringsten Verdacht – obwohl nur er vom genauen Stand ihrer Forschungen wußte und festzustellen vermochte, wo einige Tropfen Säure genügten, um das ganze Projekt in Frage zu stellen. Es blieb Eleanor nichts anderes übrig, als noch einmal ganz von vorne zu beginnen. In der Zwischenzeit versetzte sie das erste Gegenmittel in die Lage, sich maximal drei Stunden lang in verseuchtem Gebiet aufzuhalten. Jeder Rückkehrer mußte mit einem aufwendigen Verfahren dekontaminiert werden und durfte anschließend mindestens zweiundsiebzig Stunden lang nicht erneut mit dem Gift in Berührung kommen. Visitors, die mehrmals mit dem Schutzstoff behandelt wurden, beklagten unangenehme Nebenwirkungen und erkrankten. Trotzdem: Es war ein Anfang. Jeffrey verschlang Eleanor mit sehnsüchtigen Blicken. »Laßt uns allein«, wandte sie sich an die Wächter. Die Uniformierten drehten sich um, und als sie auf den Gang traten, schloß sich das Schott mit einem leisen Zischen. Paul genehmigte sich einen Cocktail, der aus Raupen und Käfern bestand. »Na schön, Jeffrey«, begann Eleanor. »Was haben Sie in dieser Maskerade herausgefunden? Ich bezweifle noch immer, ob die Verkleidung nötig war. Sie ist unwürdig: In diesen Sachen sehen Sie aus wie ein ganz gewöhnlicher Mensch.« Als die beiden Soldaten gingen, fand Jeffrey rasch zu der für ihn typischen Arroganz zurück. Paul beglückwünschte sich insgeheim zu seiner Entscheidung, ihn von einer Eskorte begleiten zu lassen. Noch immer wunderte es ihn, daß sich Jeffrey auf diese Weise einschüchtern ließ. Der Eifersüchtige – er trug seinen Namen zu Recht. Paul erinnerte sich: Während ihres gemeinsamen Aufenthalts an Bord von Lydias Mutterschiff über Los Angeles hatte Jeffrey versucht, ihn bei Diana in Mißkredit zu bringen.
Aber Jeffrey neigte dazu, Fehler zu machen, nicht gründlich genug nachzudenken, bevor er eine Entscheidung traf. Es mangelte ihm an Fingerspitzengefühl – und an Takt. Er hatte Eleanor beleidigt, indem er ihren Plan vereitelte, eine Gruppe geimpfter Soldaten in den Hügeln zu stationieren, um das Antitoxin zu testen. Statt dessen beharrte er darauf, nur ein Mann solle das Schiff verlassen – womit er natürlich sich selbst meinte. Helden sind entweder gefährlich oder dumm, fuhr es Paul durch den Sinn. Und Jeffreys Heldentaten waren die eines Narren. Paul hörte aufmerksam zu, als Eleanor dem Neuankömmling vorwarf, mit dem Shuttle gelandet zu sein und es verlassen zu haben. Jeffrey hatte menschliche Kleidung gestohlen und die Stadt aufgesucht, um festzustellen, ob man ihn auf den ersten Blick als Visitor erkannte – was offenbar nicht der Fall gewesen war. »Sie haben damit riskiert, in Gefangenschaft zu geraten oder gar getötet zu werden, und in einem solchen Fall hätten wir keine Testresultate erhalten.« Eleanor interessierte sich nicht für Jeffreys Erkundungsunternehmen; ihr ging es einzig und allein um seine Reaktionen auf das Bakteriengift. Paul beschränkte sich auf die Rolle eines unbeteiligten Beobachters. Angesichts seiner Anwesenheit mußte Jeffrey auf Schmeicheleien verzichten; es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich mit Logik zu verteidigen, und das war nicht gerade seine starke Seite: schon nach kurzer Zeit gingen ihm die Argumente aus. »Ich habe etwas in Erfahrung gebracht, das Sie interessieren dürfte, Paul«, sagte er schließlich und wandte sich von Eleanor ab. »Wir sind nicht die einzigen Visitors in diesem Teil von Oregon.« Fast gegen seinen Willen hob Paul die Brauen. »Bestimmt erinnern Sie sich an Hadad, den erwählten Jünger des Großen Denkers, der König von Pau werden sollte. Bisher
nahm ich an, er sei zusammen mit Stephen in Los Angeles ums Leben gekommen. Aber das ist nicht der Fall. Irgendwie gelang ihm die Flucht nach Oregon. Ich glaube, es wird Diana sehr freuen zu hören, wo er sich jetzt aufhält. Und sie wird denjenigen belohnen, der ihren Befehl ausführt und ihn zur Strecke bringt. Allem Anschein gehört er zur Fünften Kolonne, denn sonst hätte er wohl kaum den V-Staub überlebt. Das macht ihn gleich in zweifacher Hinsicht vogelfrei.« Paul zuckte mit den Schultern und verbarg seine Aufregung. Hadad war ein Werkzeug gewesen, zunächst für den Großen Denker, dann in den Händen Dianas. Paul vermutete, daß Hadad nach wie vor die besondere Gunst des Denkers genoß. Wenn er noch lebt, könnte er mir sehr nützlich sein, überlegte er. Die Mitgliedschaft in der Fünften Kolonne erweiterte Pauls strategische Bemühungen um einige weitere komplexe Aspekte. Er hielt es für an der Zeit, Prioritäten zu setzen. »Und was ist mit Ihnen, Jeffrey? Sie waren ebenfalls in Los Angeles. Gehörten auch Sie zu den Verschwörern? Kamen Sie deshalb mit dem Leben davon?« Jeffrey zischte empört. Voller Genugtuung stellte Paul fest, wie bereitwillig der junge Visitor den Köder annahm. »Sie wissen ganz genau, daß ich mich an Bord des Mutterschiffs befand und in Gefangenschaft geriet. Sie selbst haben mit Donovan und den anderen verhandelt, um unsere Freilassung zu erwirken.« »O ja, natürlich. Das hatte ich ganz… vergessen.« Paul lächelte, leerte das Glas, nickte Eleanor zu und verließ die Kabine. Die langen weißen Korridore, die sich vor ihm erstreckten, spendeten ihm keinen Trost – obgleich das ganze Raumschiff seinem Befehl unterstand. Eine Anweisung von ihm genügte,
um die Soldaten an Bord zu alarmieren, Technikern neue Einsatzorte zuzuweisen und alle von Junioroffizieren stammenden Order außer Kraft zu setzen. Seine Autorität war umfassend. Gleichzeitig aber hing sie vom Erfolg der zweiten Invasion ab. Dianas Plan sah schlicht und einfach die Eroberung der Erde vor. Die Absichten des Großen Denkers unterschieden sich von den Ambitionen der Obersten Kommandeuse: Ihm kam es in erster Linie darauf an, die Hungersnot auf dem Heimatplaneten zu beenden, die trockenen Wüsten mit irdischem Wasser in blühende Gärten zu verwandeln. Seine Strategie sah vor, den zu erwartenden Widerstand der Erdbevölkerung zu brechen, all das zu nehmen, was gebraucht wurde und den Rest unter der Aufsicht treuer Gefolgsleute zurückzulassen. Zu diesem Zweck wählte er intelligente und sanftmütige Priester, die er damit beauftragte, die restlichen Menschen in passive, gehorsame Untertanen zu verwandeln, die weder an Vergeltung noch an Rebellion dachten – ein Proteinreservoir, auf das jederzeit zurückgegriffen werden konnte. Von den einst so mächtigen Zon-Priestern hatte nur Amon überlebt: Der Große Denker begrenzte seinen Einfluß, zwang seine Anhänger in einen neuen Kult, der ihm Treue schwor. Die früheren Novizen Zons wurden zu Priestern des Denkers. Er rief fünfzig junge Männer zu sich, die das Zeichen Zons trugen, wies sie in ihre neuen Pflichten ein. Er verbot das ZonBuch, ersetzte es mit dem Buch des Großen Denkers. Er bannte die heilige Sprache, gab den sakralen Worten einen anderen Bedeutungsinhalt. Er stattete seine Diener mit Führungsqualitäten aus, stellte ihnen Königreiche in Aussicht und benutzte die Konvertierungstechnik, um die Fundamente ihres Glaubenssystems zu zerschmettern, ihre letzten Verbindungen zu den Herren des Lichts zu lösen. Das Ergebnis
waren ihm völlig ergebene, leere Hüllen, die er mit autoritätslosem Verantwortungsbewußtsein füllte. Diana hielt nichts davon, die Kontrolle der irdischen Bevölkerung Priestern zu überlassen. Sie wollte die Macht für sich selbst. Noch bevor die Flotte die Erde erreichte, begann sie mit Intrigen gegen John und die anderen Obersten Kommandeure. Schließlich stieg sie zur Oberbefehlshaberin auf, änderte die Einsatzgebiete aller Mutterschiffe und wählte für sich selbst eine bedeutende Großstadt. Paul wußte bereits von den Hintergründen ihrer Taktik, noch bevor er zu ihr ins Bett stieg. Ihm gefielen die gemeinsamen Nächte mit Diana, und während er allmählich ihr Vertrauen gewann, versuchte er, ihre schwachen Punkte herauszufinden. Er fühlte sich noch immer dem Großen Denker verpflichtet, wußte aber, daß er Diana nicht offen herausfordern durfte. Ihr Interesse an ihm versetzte ihn in die Lage, seine eigene Stellung zu verbessern. Anschließend nahm er Kontakt mit der Fünften Kolonne auf und wandte sich an die Visitors, denen Diana ebenfalls ein Dorn im Auge war. Schon bald erwies es sich als recht schwierig, in enger Verbindung mit den Verschwörern zu bleiben. Außerdem machte Paul die für ihn sehr bedauerliche Erfahrung, daß er die Fünfte Kolonne nicht kontrollieren konnte. Die Gruppe an Bord seines Schiffes hatte bereits einen Anführer: Justine. Daraufhin gab er sich damit zufrieden, die Verwirklichung ihrer Pläne zu erleichtern, erinnerte sich ständig daran, daß er sie irgendwann seinen eigenen Absichten unterordnen oder sie unauffällig aus dem Weg räumen mußte. Die Befehlsgewalt über ein Raumschiff stellte Paul nicht zufrieden. Er strebte Dianas Position an, letztendlich die Macht des Großen Denkers. Er sah Patricia im Korridor und forderte sie mit einem heimlichen Zeichen auf, ihn in seiner Unterkunft zu besuchen.
Sie nickte andeutungsweise und ging ohne zu zögern weiter. Paul machte sich auf den Weg zu seiner Kabine, um dort zu warten, bis Patricia einen Vorwand fand, zu ihm zu kommen. Sie war vorsichtig, und genau aus diesem Grund hatte er sich für sie als Gefährtin entschieden. Diana durfte keinen Verdacht schöpfen. Wenn sie an seiner Loyalität zu zweifeln begann… Paul überlegte, was er jetzt unternehmen sollte. Diana hatte alle Priester des Großen Denkers umbringen lassen – bis auf denjenigen, den Jeffrey in Prineville gesehen zu haben glaubte. Vielleicht war Hadad tatsächlich die Flucht aus Los Angeles gelungen, bevor die Säuberungsaktion begann. Paul beschloß, zunächst einmal festzustellen, ob Hadad in irgendeinem Kontakt mit der Widerstandsbewegung stand. Wenn nicht, mußte er an den Aktivitäten der Fünften Kolonne beteiligt oder ebenfalls aus dem Verkehr gezogen werden. Es gab bereits zwei Visitor-Fraktionen, die sich für die Erde interessierten. Wenn sich eine dritte Gruppe bildete, wurde die Lage noch weitaus komplizierter, als sie es ohnehin schon war. Paul fragte sich, ob Hadad bereit sein mochte, sich dem Widerstand anzuschließen. Kurz darauf betrat er sein Quartier und schloß die optischen Kontrollsensoren an ein Aufzeichnungsgerät an, das vorbereitete Szenen projizierte: Sie zeigten einen Paul, der sich entkleidete, seufzend auf dem Bett ausstreckte und las. Dann betätigte er den Dimmer, und die strahlende Helligkeit wich einem matten Zwielicht. Er zog die Uniform aus, bereitete sich auf die Begegnung mit Patricia vor, indem er sich eine weite Pelzrobe überstreifte. Paul schob den Vorhang beiseite, der seine Liege vom Rest des Zimmers trennte, legte einige zusätzliche Kissen auf den Schafsfellbezug, machte es sich bequem und nahm ein Buch zur Hand. Während seines Aufenthalts in Los Angeles hatte er
viel gelesen, vor allen Dingen in irdischen Werken, die er für höchst interessante Relikte einer längst überholten Vergangenheit hielt. Die Geheimnisse der terranischen Kultur faszinierten ihn. Er sah auf den Umschlag des Bandes: Die Kunst des Krieges, von Sun Tzu. Ein vielversprechender Titel. Er schaltete die Lampe an der Rückwand ein, schlug das Buch auf und begann mit der Lektüre.
5. Kapitel
Die menschlichen Bewußtseine, die Zeugen des Unfalls wurden, reagierten wie ein Computerprogramm, dessen Anweisungen zu einer Endlosschleife verzweigten: Sie waren in einem zeitlosen Augenblick gefangen, unfähig, sich aus einer Gegenwartsstarre zu befreien, die nur einen Sekundenbruchteil später zu Vergangenheit wurde. Gedanken rasten im Kreis, ohne Anfang und Ende. Dutzende von Personen fragten sich, ob sie irgendeine Möglichkeit gehabt hätten, den Unfall zu verhindern, die Frau rechtzeitig zu warnen, sie fortzureißen, bevor der Wagen herankam. Nur Hadad hielt sich nicht mit derart nutzlosen Überlegungen auf. Mit einigen langen Sätzen war er neben Ruth, die auf dem Asphalt lag, ruhig und still. Er dachte nicht an seine verletzte Hand, an die Schuppen, die sich als dunkles Grün unter dem helleren Verband abzeichneten. Mit beiden Händen betastete er den reglosen Körper der Frau, mit der er eben gerade noch gesprochen hatte, fühlte die Stellen, an denen der Leib die Schmerzen festhielt: die angespannten Schultern, die wunden, blutigen Ellenbogen, die Prellungen auf dem Rücken, an den Hüften, das dumpfe Pochen hinter ihrer Stirn, das gebrochene Bein, das Stechen in den Füßen. Er konnte sich nicht selbst um alle Schmerzpunkte kümmern und sah besorgt auf. Inzwischen kamen die Menschen näher, und der Fahrer des Unglückswagens holte eine Jacke, knüllte sie zusammen und legte sie unter Ruths Kopf. Hadad wußte natürlich, daß es niemanden unter ihnen gab, der sein spezielles Wissen teilte, aber erwartete von ihnen, daß
sie zumindest versuchten, der Verletzten zu helfen. Zu seiner großen Überraschung blieben sie einfach stehen und rührten keinen Finger. »Ich hab’ sie nicht gesehen«, stieß der entsetzte und blasse Fahrer hervor. »Wer hätte denn damit gerechnet, daß sie einfach so über die Straße läuft?« Die anderen kamen etwas näher und flüsterten miteinander. Ein Mann eilte zum Laden zurück und rief: »Jemand soll den Rettungsdienst verständigen!« Aber niemand unternahm etwas. Und so erinnerte sich Hadad an die Autorität, die er bei seinem Volk genossen hatte, schlüpfte erneut in die alte Rolle – mit dem einen Unterschied, daß er diesmal Menschen Befehle gab. Er wies ihnen Aufgaben zu, machte sie zu seinen Assistenten und Helfern. Sie fügten sich sofort. Niemand widersprach. Er bat jemanden darum, auf die Stellen an Ruths Kopf Druck auszuüben, die es ihr erlauben würden, den Schmerz zu fühlen und sich von ihm zu befreien. Dann wandte er sich an einen anderen Mann: »Drücken Sie hier zu.« Und: »Pressen Sie die Haut hier zusammen.« Und: »Sie soll ruhig laut schreien.« Zu Ruth sagte er: »Besinnen Sie sich jetzt auf die Energie, die freigesetzt wurde, als der Knochen in Ihrem Bein brach. Diese Kraft muß in Ihren Körper zurückfließen.« Als er Ruths Geist zur biopsychischen Rekonvaleszenz anleitete, suchte er nach den Regenerationspunkten an ihren Oberschenkeln und schuf ein mentales Bild des Vitalisierungsprozesses. Hadad verbannte den Zweifel nicht nur aus sich selbst, sondern auch aus der jungen Frau, schuf Platz für Sicherheit und jene Art von unerschütterlicher Überzeugung, die von Kindesbeinen an Teil seines Wesens war, die zu allem Lebendigen gehörte, sowohl auf der Erde als auch auf seinem Heimatplaneten. Er konzentrierte sich auf die innere Stärke von Zon, auf seine
überlieferten Lehren, auf die priesterliche Kunst des Überlebens. Hadad nahm das »Jetzt«, das Konzept der gegenwärtigen, verletzten Ruth. Und als sich vor seinen inneren Augen die Konturen stabilisierten, als das Bild einen klaren, unauslöschlichen Kontrast gewann, kehrte er langsam und vorsichtig in der Zeit zurück, Sekunde um Sekunde: ein Körper, der auf den Asphalt prallte, der durch die Luft flog, von einer harten Stoßstange erfaßt wurde; das Quietschen der Reifen, die Energie hastiger Schritte, der Augenblick mangelnden Gleichgewichts, als Ruth von der Bordsteinkante heruntertrat, die in ihrem Leib brodelnde Kraft, als sie vor ihm auf dem Bürgersteig stand… Jedes einzelne Szenenfragment hielt Hadad fest, bevor er das nächste betrachtete, ließ die Übergänge in aller Ruhe aufeinander folgen, ohne Hast. Er verharrte so lange bei den einzelnen Abschnitten der jüngsten Vergangenheit, bis seine Hände spürten, daß der Körper die Wahrheit seiner Vorstellungen akzeptierte. Bei der geistigen Projektion des Aufpralls kreischte Ruth und begann zu schluchzen. Eine Frau kam näher und versuchte, sie zu beruhigen, doch der Mann neben der Verletzten erinnerte sich an Hadads Hinweis, sie ruhig schreien zu lassen: Er schüttelte energisch den Kopf und drängte die Frau zur Seite. Kurz darauf entsann sich der Leib an den kurzen Flug, nachdem er vom Wagen erfaßt worden war, und Ruths Atem stockte. Einige Sekunden lag sie völlig still, ohne Luft zu holen. Die anderen Menschen in der Nähe starrten voller Sorge auf sie herab, und jemand rief: »Sie stirbt!« Unmittelbar darauf rief ein Mann: »Macht Platz. Neigt ihren Kopf zurück.« Doch gerade als er sie beatmen wollte, keuchte Ruth und füllte ihre Lungen. In Hadads innerem Fokus drehte sich ihr Körper hin und her, und Ruth reagierte mit einem leisen Stöhnen. Ihre Muskeln
spannten sich an und zuckten: Aus einem instinktiven Reflex heraus widersetzte sich die Physis den psychischen Zwängen. Hadad achtete darauf, daß das visionäre Bild nicht seinen mentalen Händen entglitt, und schließlich blieb dem Leib nichts anderes übrig, als sich mit der elementaren Wahrheit abzufinden. Kraft floß zurück, stellte unterbrochene Verbindungen wieder her, initialisierte einen Heilungsprozeß, und die Plötzlichkeit der physischen Rekonvaleszenz entsprach dem jähen Freiwerden der kinetischen Energie, die sich beim Kontakt Stoßstange/Körper entfaltet hatte. Der gebrochene Knochen wuchs wieder zusammen; Knorpel formten sich neu und bildeten die richtige Struktur. Die Muskeln entspannten sich. Hadad schlug die Augen auf, sah auf Ruth herab und ließ die Regenerationspunkte los. Das Werk war vollbracht. Er versicherte seinen Helfern, daß keine Gefahr mehr für Ruth bestand, entließ sie aus ihrer Verantwortung. Mit einem Lächeln überzeugte die junge Frau die anderen Menschen davon, daß sie sich tatsächlich erholt hatte. Hadads Assistenten seufzten erleichtert, standen auf und kehrten zu den Zuschauern zurück, berichteten mit aufgeregtem Flüstern von ihren Erlebnissen. »Fühlen Sie sich imstande, aufzustehen und die Straße zu verlassen?« wandte sich Hadad an Ruth. Sie lachte leise. Es klang ein wenig bitter. »Ich glaube, ich halte den Verkehr auf, was?« Als er ihr auf die Beine helfen wollte, traf der Rettungswagen ein. »Sie soll sich nicht bewegen!« rief einer der Krankenpfleger und stieg aus. Das Drama wiederholte sich für die Neuankömmlinge. Hadad wich zur Seite und sah stumm zu, als einer der beiden in weiße
Kittel gekleidete Männer mit einer Untersuchung Ruths begann. Einige Zuschauer traten vor und gaben bereitwillig Auskunft, als man sie fragte, was geschehen sei. Der Notarzt schüttelte verwundert den Kopf, als er feststellte, daß sich Ruth überhaupt nichts gebrochen hatte, als er nicht einmal blaue Flecken oder Hautabschürfungen finden konnte. Der Fahrer des Rettungswagens füllte die Berichtsformulare aus, blieb neben seinem Kollegen stehen und musterte die junge Frau. »He, Ruthie, wie ich hörte, wollten Sie unbedingt feststellen, was härter ist: Ihr Körper oder das Stahlblech des Wagens dort. Wie geht’s ihr, Frank? Wird Sie’s überleben?« »Sie ist völlig in Ordnung, Mike. Kein einziger Kratzer. Komische Sache, was?« »Ach, Sie kennen doch Ruthie, Frank. Sie will bloß nicht ins Krankenhaus gesteckt werden und ein sogenanntes ›Opfer der klassischen Medizin‹ werden. Ein bißchen KräuterHokuspokus, und alles ist wieder bestens, nicht wahr, Ruthie?« »Im Ernst, Mike. Ruth versucht nicht, uns irgend etwas vorzumachen. Sie ist unverletzt.« »Nun, ich schlage vor, wir nehmen sie trotzdem mit und behalten sie einige Tage im Krankenhaus, bis sie den Schock überwindet.« »Sie hat überhaupt keinen Schock erlitten, Mike. Der Puls ist normal, Atmung und Körpertemperatur ebenfalls. Sagen Sie ihm, wie Sie sich fühlen, Ruth.« »Mike, als Sie eintrafen, wollte ich gerade aufstehen und fortgehen. Mir fehlt nichts.« »Aber…« »Na schön. Ich bin bereit, das Hospital aufzusuchen und mich dort noch einmal untersuchen zu lassen. Aber ich nehme meinen Wagen. Euer Leichentransporter gefällt mir nicht.« »Sie sollten sich jetzt nicht ans Steuer setzen.«
»Okay. Dann lasse ich mich von jemandem fahren, einverstanden?« »Was meinen Sie, Frank?« »Von mir aus…« »Na gut, Ruthie. Aber wagen Sie es bloß nicht, unseren Schlitten noch einmal als Leichentransporter zu bezeichnen, klar?« Ruth bedachte den Notarzt mit einem freundlichen Lächeln. Er half ihr hoch und beobachtete sie wachsam, aber die junge Frau stand sicher, schwankte nicht. Schließlich beugte er sich der Erkenntnis, daß sie tatsächlich keine Behandlung brauchte. Die beiden weißgekleideten Männer stiegen wieder in den Krankenwagen, und der Fahrer ließ einmal kurz die Sirene aufheulen, bevor er Gas gab und losfuhr. Ruth trat auf Hadad zu, der in der Nähe einiger Schaulustiger stand. »Ich komme mir wie eine Närrin vor. Beim Essen habe ich Ihnen lang und breit von meinen Heilkünsten erzählt – ohne zu ahnen, daß Sie in dieser Beziehung weitaus fähiger sind als ich. Vielen Dank.« »Gern geschehen.« Hadad meinte es ehrlich, spürte erneut den Blick des Rehs auf sich ruhen. Nach einigen Sekunden senkte er den Kopf. Er empfand die plötzliche Stille als bedrückend. »Die Salate, die Sie Fleisch vorziehen«, sagte er, um dem Schweigen zu entkommen. »Handelt es sich um gesunde Nahrung?« Ruth glaubte zu verstehen, was er meinte. »Ja. Und viele teilen meine Ansicht.« »Aber es gibt auch Menschen, die nicht Ihrer Meinung sind?« »Das stimmt vermutlich. Warum fragen Sie?« »Die Energie kehrte ziemlich schnell zurück. In meiner Heimat hätte ich das erwartet, aber hier überraschte es mich.« »Haben Sie schon öfter auf diese Weise geheilt?«
»Die entsprechenden Kenntnisse gehören zu meiner Ausbildung.« Ruth lächelte. »Die Sie darauf vorbereitet, König zu sein?« Hadad zuckte mit den Schultern. Es machte ihn verlegen, über seine Fähigkeiten zu sprechen. Inzwischen schienen auch die versammelten Passanten überzeugt zu sein, daß Ruth keine Hilfe mehr brauchte. Die Aufregung legte sich, und nach einer Weile löste sich die Gruppe auf. Der Fahrer des Unfallwagens nahm wieder am Steuer Platz, lenkte das Fahrzeug an den Straßenrand und hielt dort eine Zeitlang, um sich zu sammeln. Ruth und Hadad blieben allein auf dem Bürgersteig zurück und genossen die plötzliche Ruhe. Sie dauerte nicht lange. Zuerst klang es wie ein dumpfes Grollen, das von einem heranziehenden Gewitter zu stammen schien – düster und unheilvoll, gestaltlos und nicht greifbar. Und dann kamen sie. Im Laufschritt eilten die in rote Uniformen gekleideten Visitors um die Ecke Main Street und dritte Straße, jeweils vier nebeneinander, eine ganze Kompanie, die auf das Gerichtsgebäude zuhielt. In regelmäßigen Abständen lösten sich einzelne Soldaten vom Gros der Streitmacht und betraten die Läden auf beiden Straßenseiten, während die anderen weiterliefen und sich ihrem Ziel näherten. Es waren noch immer genug Menschen zugegen, um eine Art Widerstand zu mobilisieren. Einige besonders tapfere Männer liefen den Soldaten entgegen und versuchten, ihnen den Weg zu versperren. Vielleicht wollten sie die Visitors provozieren, aber die Invasoren reagierten gar nicht darauf, schritten einfach an ihnen vorbei, ohne Gebrauch von ihren Lasern zu machen. Die anderen Leute verharrten reglos, beobachteten die
Außerirdischen aus weit aufgerissenen Augen. Irgendwo schrie jemand, doch auf der Straße blieb es still. Die Visitors marschierten die Treppe hoch und verschwanden im Gericht; die breite Tür wirkte wie ein großes Maul, das sie verschlang. Es dauerte eine Weile, bis Hadad merkte, daß er Ruth in den Armen hielt. Er konnte sich gar nicht daran erinnern, daß sie auf ihn zugetreten war und sich an ihn geschmiegt hatte. Seine Aufmerksamkeit galt einzig und allein den Soldaten, die Prineville besetzten. Hadad spürte, wie sich Ruths Schultern hoben und senkten, wie das Entsetzen in ihr nach einem Ventil suchte. Behutsam drehte er sie zu sich um und sah ihr in die Augen, hielt sie weiterhin fest. Kurz darauf verklang ihr leises Schluchzen, und er fühlte, wie sich ihre angespannten Muskeln wieder lockerten. »Ruth, ich fürchte, es bleibt Ihnen keine Zeit mehr für einen Abstecher ins Krankenhaus. Verlassen Sie die Stadt, bevor die Visitors alle Straßen blockieren. Fahren Sie zu einem Flughafen. Reisen Sie nach Los Angeles, und setzen Sie sich mit der dortigen Widerstandsbewegung in Verbindung. Weisen Sie Donovan und die anderen darauf hin, wie wichtig es ist, auch dieses Tal mit dem Bakterientoxin zu kontaminieren. Überzeugen Sie sie davon. Haben Sie mich verstanden?« Ruth sah ihn an, und ihre Augen schimmerten feucht. Doch diesmal weinte sie nicht. Hadads Hände strichen über ihre Arme, tilgten Furcht und Grauen aus ihr. Langsam nickte sie. »Ich komme so schnell wie möglich zurück«, sagte sie. »Ja«, erwiderte Hadad und ließ sie los. »Denken Sie an Ihre Arzneipflanze.« »Ich vergesse sie bestimmt nicht.« »Ich komme zurück«, betonte Ruth noch einmal.
Hadad wußte, daß sie damit nicht nur eine Rückkehr nach Prineville meinte. Ihre Worte bedeuteten mehr, betrafen auch ihn. »Seien Sie vorsichtig.« »Das verspreche ich Ihnen«, sagte sie. Dann holte sie tief Luft und wandte sich von ihm ab. Sie sah nach rechts und links, überquerte die Straße, stieg in ihren Wagen und fuhr nach Westen. Hadad sah ihr nach – und wußte, daß er nicht warten konnte, bis Ruth zurückkam.
6. Kapitel
Hadad erwachte noch vor dem Morgengrauen, wie es seine Absicht gewesen war. Am Abend zuvor hatte er seine Kleidungsstücke in ein Flanellhemd gewickelt, die Blätter der Arzneipflanze zermahlen und den Riß in der Kunststoffhaut seiner Hand geschlossen. Die wenigen Werkzeuge, das Fläschchen mit den Augentropfen und die lederne Mappe, die sein Geld enthielt, befanden sich in den Taschen der Jacke. Er ließ nichts zurück. Jetzt kam es darauf an, alle verdächtigen Spuren zu beseitigen. Nacheinander legte er die fortgeräumten Steine an ihre ursprünglichen Plätze zurück. Er strich mit einigen Zweigen über den Boden, um seine Fußabdrücke zu beseitigen. Das Wasser, das er in einem Krug vom Crooked River geholt hatte, goß er über einigen nahen Felsen aus. Anschließend verteilte er Wacholder- und Salbeiblätter an den Stellen, die sein charakteristisches Geruchsmuster aufwiesen. Dann zog er die Jacke über, griff nach seinem Bündel und wanderte über die Straße. Die Sterne beendeten ihre Reise über den nächtlichen Himmel, und der Mond verbarg sich hinter einer Wolke, dicht über dem Horizont des Plateaus, das Hadad nun verließ. Sein Magen war noch immer mit den Nagetieren und Insekten gefüllt, die er vor Stunden gefangen und verspeist hatte: An diesem Tag mußte er ohne Nahrung auskommen. Besorgt fragte er sich, ob er jemals wieder essen konnte, ohne sich dadurch mit dem Bakterientoxin zu vergiften.
Die Coombs Flat Road erstreckte sich still und leer durch ergrauende Dunkelheit. Als Hadad an einem Haus vorbeischritt, schaltete jemand eine Lampe ein. Irgendwo summte ein Wecker. Nun, es würde noch eine Weile dauern, bis sich die ersten Frühaufsteher auf den Weg zur Arbeit machten. Hadad erreichte den Wachschuppen an der Mühle, als Dave seine letzte Runde machte. »Bist heute früh auf den Beinen, was?« »Ich gehe nach Westen. Und der Weg ist ziemlich lang.« »Du verläßt uns also, hm?« Hadad wich Daves Blick nicht aus. Er vernahm weder Spott noch Geringschätzung in der Frage des Nachtwächters. »Ja.« »Nun, du bist nicht der einzige. Gestern abend sind mehrere Familien aufgebrochen. Ich würde ihrem Beispiel gern folgen und ebenfalls verschwinden, aber in meinem Alter… Nun, ich kann nicht einfach woanders ein neues Leben beginnen. Man begreift schließlich, daß man irgendwo sterben muß, und der Ort spielt eigentlich keine Rolle. Warum also nicht dort, wo man sich zu Hause fühlt? Ihr jungen Leute seid natürlich in einer ganz anderen Situation; für euch gibt es nach wie vor eine Chance. Ich hoffe nur, daß es euch gelingt, den verdammten Echsen zu entkommen und irgendwo eine sichere Zukunft zu finden.« »Tja, wer weiß?« Der Nachtwächter nickte mitfühlend und streckte die Hand aus. »Der Typ dort drüben will ebenfalls nach Westen. Vielleicht nimmt er dich mit.« »Danke, Dave.« »Viel Glück.« »Das wünsche ich dir auch.«
Hadad wandte sich von ihm ab. Der alte Mann winkte zum Abschied, seufzte und griff dann nach der Liste, um das Ende seines Wachdienstes einzutragen. Auf der anderen Straßenseite stand ein blauer Kleinlieferwagen, und jemand war gerade damit beschäftigt, Möbelstücke und Kisten zu verladen. Hadad trat auf ihn zu und bot seine Hilfe an. »Danke.« Der Mann rückte das letzte große Paket zurecht und vergewisserte sich, daß nichts herunterfallen konnte. »Ich habe gerade mit Dave gesprochen. Er meinte, Sie seien nach Westen unterwegs.« »Stimmt genau. Ich muß nur noch volltanken.« »Darf ich Sie begleiten?« »Gern. Ich kann jemanden gebrauchen, der aufpaßt, daß ich nicht einschlafe. War eine lange Nacht. Können Sie fahren?« »Nein, tut mir leid.« »Macht nichts. Solange Sie sprechen und mich wachhalten…« »Ich werd’s versuchen.« »Ich bin Jerry.« Der Mann reichte ihm die Hand. Hadad schüttelte sie. »Dave.« »Steigen Sie ein.« Hadad öffnete die Beifahrertür, verstaute sein Bündel hinter dem Sitz und nahm Platz. Kurz darauf setzte sich Jerry ans Steuer und startete den Motor. Nach einigen hundert Metern hielt er an der Tankstelle; Stan kam aus seinem Büro, schüttelte benommen den Kopf und rieb sich den Schlaf aus den Augen. »Was kann ich für Sie tun, Jerry?« »Füllen Sie den Tank bis zum Rand, Stan. Ich fahre nach Hause zurück.« Stan deutete auf die Ladefläche. »Sieht ganz nach ‘nem Umzug aus.«
»Schön wär’s. Aber leider konnte ich meine Eltern nicht davon überzeugen, mit mir zu kommen. Sie gaben mir nur die Sachen, die sie nicht mehr brauchen. Für meine Frau, wissen Sie.« »Vielleicht folgen sie später. Wenn sie erleben, was hier geschieht.« »Hoffentlich. Was ist mit Ihnen, Stan?« »Ach, ich kann Mary nicht im Stich lassen. Solange sie im Krankenhaus liegt, bleibe ich hier. Wenn es ihr besser geht, machen wir uns aus dem Staub.« »Wohin soll’s gehen?« »Zu Verwandten in Eugene. Hallo, Dave. Sie verlassen uns ebenfalls?« »Ja.« Hadad nickte. »Hab’ gehört, was Sie gestern für Ruth getan haben. Ich wünschte, Sie wären zur Stelle gewesen, als Mary ihren Unfall hatte. Dann könnte sie jetzt vielleicht wieder gehen.« »Wovon sprechen Sie?« fragte Jerry. »Wissen Sie nichts davon? Ruth lief gestern vor einen Wagen. Und Dave brauchte nur wenige Minuten, um ihre Verletzungen zu heilen. Lassen Sie es sich von ihm erzählen.« »Nachdem Sie vollgetankt haben.« Er deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Wird sofort erledigt.« Hadad starrte auf die dunkle Straße, während das Benzin in den Tank floß. Die Vorstellung, von seinen Heilfähigkeiten zu berichten, behagte ihm überhaupt nicht, und er fragte sich, wann seine Verpflichtung begann, Jerry mit einem Gespräch zu unterhalten. Der Mann am Steuer bezahlte und fuhr wieder los, lenkte den Wagen vorsichtig durch die Stadt. Es waren nur wenige andere Fahrzeuge unterwegs. Hadad beobachtete die erleuchteten Fenster des Gerichtsgebäudes, doch er hielt vergeblich nach
den Visitors Ausschau. Nirgends zeigte sich eine rote Uniform. Die Ampeln schienen sich gegen sie verschworen zu haben, und Jerry mußte immer wieder anhalten. Schließlich erreichten sie die Abzweigung am Rand von Prineville, und Jerry wählte die Straße, die nach Sisters und durch den Paß führte. Eine Zeitlang schwiegen sie. Nach etwa zehn Meilen schaltete Jerry das Radio ein. Er schien sentimentale CountryMusik zu bevorzugen, und Hadad lauschte den Worten. In allen Liedern ging es um Liebe, um das Auf und Ab des Lebens, und die Sänger wiesen immer wieder darauf hin, wie wichtig es sei, daß die Menschen Kummer und Freude miteinander teilten. Die Sonne schob sich hinter den Gipfeln der Berge hervor. Schatten tanzten über die Windschutzscheibe, als sie durch Wälder fuhren. Mitten in einem Lied schaltete Jerry das Radio wieder ab. »Kann die Melodie nicht ausstehen. Was meinte Stan, als er sagte, Sie hätten Ruth geheilt?« »Es war nicht weiter schwierig. Sie wurde angefahren, und außer mir gab es niemanden, der etwas für sie tun konnte.« »Nur Sie waren in der Lage, ihr Erste Hilfe zu leisten?« »Alle starrten nur auf sie herab, ohne einen Finger zu rühren.« »Die übliche Geschichte«, brummte Jerry und nickte. »Nun, erzählen Sie mir davon. Was ist geschehen?« »Ruth lief über die Straße, ohne auf den Verkehr zu achten. Wir hatten miteinander gesprochen, und ich vermute, dadurch war sie abgelenkt. Der Wagen konnte nicht rechtzeitig anhalten.« »Und was haben Sie gemacht?« »Nichts Besonderes.« »Stan schien anderer Ansicht zu sein. Wenn ich mich recht entsinne, erwähnte er Mary. Offenbar glaubte er, Sie hätten
auch seiner Frau helfen können. Kommen Sie, lassen Sie sich nicht jedes Wort aus der Nase ziehen. Ruth und ich sind alte Bekannte. Ich würde wirklich gern wissen, was ihr zugestoßen ist.« »Hat sie Ihnen von ihrer Heilkunst erzählt?« »Lieber Himmel, jedesmal wenn wir uns begegnen, versucht sie, mich von ihrem Kräuterfirlefanz zu überzeugen. Gehören auch Sie zu der Gruppe vegetarischer Zauberer?« »Nein.« »Sie haben Ihre eigene Magie, was?« Hadad lachte, nicht laut, sondern leise und zurückhaltend. Ganz offensichtlich legte Jerry nicht nur großen Wert auf ein Gespräch, sondern auch auf klare Antworten. Er überlegte und suchte nach Worten, die ihn zufriedenstellten und gleichzeitig nicht zuviel verrieten. Der Mann am Steuer lenkte den Lieferwagen durch eine scharfe Kurve, und vor ihnen ragten die schroffen Grate noch höherer Berge gen Himmel. »Schmerz ist wie ein zerklüftetes Gebirge. Wenn man heilen will, muß man Vorsprünge und Zacken ausgleichen, Lücken füllen. Die Erdbewohner weisen innere Glätte auf, wenn sie nicht verletzt sind und in sich ruhen.« »Erdbewohner? Das klingt so, als kämen Sie von einem anderen Planeten.« »Welchen Ausdruck würden Sie benutzen?« »Leute. Menschen.« »Aber das, was ich eben sagte, trifft auch auf Tiere zu.« »Oh, ich verstehe, was Sie meinen. Hört sich trotzdem komisch an. ›Erdbewohner!‹ Verwenden Sie diese Bezeichnung auch für sich selbst?« »Nein.« Hadad war ehrlich, offenbarte jedoch nur einen Teil der Wahrheit. »Entschuldigen Sie, ich wollte keine Kritik üben. Sie sprechen so, als stammten Sie nicht von hier.«
»Ich habe erst kürzlich Englisch gelernt.« »Und Ihre Muttersprache?« »Ich weiß nicht, wie man sie hier nennt.« »Woher kommen Sie?« »Ich sollte jetzt eigentlich in Pau sein, um erneut die Stadt in der Wüste zu bauen.« »Diesen Namen höre ich jetzt zum erstenmal«, sagte Jerry. »Es ist eine verlorene Stadt.« »Wie Atlantis?« »Was ist Atlantis?« »Eine verlorene Stadt – und damit wären wir wieder beim Anfang.« »Ja, wie Atlantis«, erwiderte Hadad. Jerry seufzte. »Ich geb’s auf. Wo haben Sie Ihre Heilkunst gelernt?« »Zu Hause.« »In Pau?« »Nein, zu Hause.« »Oh.« Hadad musterte ihn. Jerry bemühte sich sehr, ein Gespräch zu beginnen, und Hadad fühlte sich beschämt, weil er sich nicht an sein Versprechen hielt. Er versuchte, sich nicht nur auf knappe Antworten zu beschränken. »Dort, wo ich früher lebte… Nun, bei meinem Volk stellt die Heilkunst nichts Außergewöhnliches dar. Aber nicht alle beherrschen sie, nur diejenigen, die das Zeichen tragen.« »Was für ein Zeichen?« erkundigte sich Jerry. Hadad zögerte und beschloß, diese Frage zu ignorieren. »Ruth brach sich das Bein«, sagte er statt dessen. »Und Sie haben ein gebrochenes Bein wieder zusammenwachsen lassen? Innerhalb weniger Minuten?« »Sie ist sehr gesund und kräftig.«
»Man braucht also nur gesund und kräftig zu sein, um geheilt zu werden?« »Es hilft zumindest.« »Sie sind mir ein Rätsel, Dave. Ruth kam mir schon seltsam vor, aber Knochenbrüche hat sie nie heilen können.« Besorgnis regte sich in Hadad. Er wollte nicht, daß ihn Jerry für anders hielt und Verdacht schöpfte, und deshalb wechselte er das Thema. »Ihre Eltern wohnen noch immer in Prineville?« »Sie weigern sich, die Stadt zu verlassen.« »Sie müssen fort.« »Sie behaupten, woanders sei es nicht sicherer.« »Da irren sie sich.« »Das habe ich ihnen auch gesagt. Aber sie glaubten mir nicht.« Erneut schaltete Jerry das Radio ein, und Hadad sah darin ein Zeichen dafür, daß seine Dienste als Gesprächspartner nicht mehr erforderlich waren. Eine Stunde lang schwiegen sie, während der Lieferwagen durch die Gebirgslandschaft rollte. »Wohin wollen Sie?« fragte Jerry unvermittelt. »Weg von Prineville«, antwortete Hadad schlicht. Die Plötzlichkeit der Frage verwunderte ihn, und deshalb fügte er hinzu: »Ich mußte Prineville verlassen. Ich bin nicht besonders tapfer, und ich habe weder ein Zuhause noch eine Familie, die es zu schützen gilt.« »Wer kein Held ist, braucht deswegen noch lange kein Feigling zu sein. Nun, ich möchte nur wissen, ob Sie einen bestimmten Ort im Sinn haben. Ich bin bald zu Hause, und ich weiß nicht, wo ich Sie aussteigen lassen soll.« »Dieser Ort ist so gut wie jeder andere. Ganz gleich, wohin ich mich auch wende: Der Tod findet mich überall.« »Est la vita.«
Kurz darauf erreichten sie eine kleine Stadt, und Hadad las die Aufschrift eines Schildes: »Vida.« Er vermutete, daß sich Jerrys letzte Bemerkung auf diesen Namen bezog. Neugierig sah er sich um. Dutzende von Häusern säumten die Straße; kleine Nußbaumgehölze reichten bis zum Fluß; Hütten standen auf schmalen Lichtungen, schmiegten sich an die steilen und bewaldeten Hänge. Hadad beobachtete die Stromschnellen unter einer überdachten Brücke; dicht dahinter ließ das rauschende Strömen nach, und das ruhig fließende Wasser spiegelte einen fast wolkenlosen Himmel wider. »Im Ernst, Dave. Haben Sie wirklich kein Ziel?« »Ich bin auf der Flucht, Jerry. Jeder Ort, in dem es keine Visitors gibt, ist mir recht. Übrigens: vielen Dank dafür, daß Sie mich mitgenommen haben.« »Sie können bei mir wohnen. In meinem Haus ist genug Platz.« »Nein, ich…« »Himmel, Dave, wo wollen Sie denn unterkommen? Dies ist ein Dorf, keine Großstadt. Entweder kennen Sie hier jemanden, oder Sie müssen sich ein Haus bauen. In Vida gibt es weder Arbeit noch Hotels. Kommen Sie mit mir. Ich kann Sie doch nicht durch den Wald irren lassen.« Jerry hielt auf der Zufahrt und begann damit, die Möbel und Kisten zu entladen. Hadad zögerte kurz und faßte dann mit an. Es wäre nicht sehr freundlich gewesen, ihm die ganze Arbeit zu überlassen. Und so trug er schwere Dinge, wie in der Mühle. Er lernte Jerrys Familie kennen, seine Frau namens Madge und ihren Sohn Tony. Madge erkundigte sich sofort nach ihren Schwiegereltern, und als Jerry ihre Fragen beantwortet hatte, stellte er Hadad vor. Man hieß ihn willkommen, schob einen weiteren Stuhl an den Tisch und zeigte ihm ein Zimmer, in dem er schlafen konnte. Anschließend kehrte Madge in die
Küche zurück, um die Hauptmahlzeit des Tages vorzubereiten – obgleich es noch immer recht früh am Morgen war. Zum erstenmal lernte Hadad einen Haushalt kennen, in dem das Kochen eine der Hauptfunktionen darzustellen schien. Fasziniert beobachtete er die vielfältigen Aktivitäten. Die Gespräche, die dabei geführt wurden, sparten ihn aus. Er verließ das Haus und wanderte am Rand der Farm entlang. Schon bald entdeckte er Mäuse, aber er machte keine Anstalten, sie zu fangen. Er war noch nicht hungrig – jedenfalls noch nicht hungrig genug, um das Risiko einer tödlichen Vergiftung einzugehen. Als er die Mäuse sah, überlegte er, ob sie das Bakterientoxin in sich trugen. Er wußte, daß er früher oder später eine Antwort auf diese Frage finden würde – auf die eine oder andere Weise. Hadad wartete, ließ seine Gedanken dahintreiben. War er nach Vida gekommen, um zu sterben? »Ach, hier sind Sie. Das Essen ist fast fertig. Kommen Sie ins Haus.« »Nein, lieber nicht.« Jerry seufzte. »Wir nehmen Sie gern bei uns auf, Dave. Sie sind uns keine Last. Wenn Sie Arbeit suchen: Ich könnte Hilfe auf der Farm gebrauchen.« »Ich kann nichts essen.« Jerry kam näher, nahm neben ihm Platz, schwieg und beobachtete ebenfalls die Mäuse. Einige Minuten lang herrschte Stille. »Ich schätze, irgend etwas bedrückt Sie, Dave. Und vermutlich geht es gar nicht darum, ob Sie bei uns wohnen.« Hadad blieb stumm. »Hören Sie, Dave. Die Invasion der Visitors hat viele Leute aus ihrer Heimat vertrieben. Entweder Flucht oder Tod. Sie können von Glück sagen, daß Sie allein sind und niemanden zurücklassen mußten.«
Hadad warf ihm einen kurzen Blick zu und richtete seine Aufmerksamkeit dann wieder auf die Maus, die unter einem Haufen aus Werk- und Spielzeugen hervoräugte. »Falsch getippt, wie? Es gibt jemanden. Jemanden in Prineville. Sind Sie sicher, daß es richtig war, aus der Stadt zu verschwinden?« Hadad nickte. »Mußten Sie die Frau dort zurücklassen?« Wieder gab Hadad keine Antwort. »Oder wollte sie nicht mitkommen?« Erneut sah er Jerry an, wortlos, ernst und nachdenklich. »Gab es Streit zwischen euch?« Hadad senkte den Kopf. »Hören Sie, es steht mir nicht zu, Ihnen einen Rat zu geben. Ich kenne weder Sie noch Ihr Mädchen in Prineville. Nun, manchmal muß man sehr schwierige Entscheidungen treffen. Wissen Sie, Liebe ist kein Synonym für grenzenlose Opferbereitschaft. Wenn man gibt, hat man auch ein Recht darauf, zu empfangen.« Jerry schüttelte den Kopf. »Verstehen Sie, was ich meine? Sie sind bei uns willkommen. Vielleicht ändert die Frau ihre Meinung. He, was halten Sie von einer leckeren Mahlzeit? Anschließend fühlen Sie sich bestimmt besser.« »Ich kann nicht essen.« »Kommen Sie wenigstens mit rein.« »Madge und Sie… Ihr seid glücklich, nicht wahr?« »Ja. Ja, das sind wir… Oh, ich verstehe. Das macht alles noch schwerer für Sie. Das kann ich Ihnen nachempfinden. Es ist verdammt nicht leicht, Freude und Fröhlichkeit zu ertragen, wenn man selbst niedergeschlagen ist. Was haben Sie vor?« Hadad sah in Richtung Wald. »Bestimmt finden Sie dort draußen einen geeigneten Lagerplatz. Derzeit sind keine Holzfäller bei der Arbeit, und
niemand dürfte etwas dagegen haben, wenn Sie im Wald kampieren. Wenn sich trotzdem Probleme ergeben sollten: Sagen Sie einfach, Sie seien mein Gast.« Hadad nickte. »Aber wenn Sie schon nicht bei uns unterkommen, möchte ich Ihnen wenigstens Zelt und Schlafsack mitgeben.« Jerry betrat den Vorratsschuppen hinter dem Haus und kehrte mit einer kompletten Ausrüstung zurück. »Hier, das sollte für den Anfang genügen. Wenn Sie sonst noch etwas brauchen: Ich bin immer für Sie da.« Wieder nickte Hadad. »Ich meine es ernst, Dave. Wenn Sie irgend etwas benötigen…« Jerry brach ab, klopfte ihm auf die Schulter und ging ins Haus. Hadad betrachtete das Zelt und die anderen Gegenstände. Nichts davon hatte irgendeinen Nutzen für ihn. Aber wenn er die Dinge nicht mitnahm, mochte Jerry Verdacht schöpfen. Er holte sein Kleidungsbündel aus dem Wagen, griff nach der Ausrüstung und erkletterte dann den Hang, der sich hinter der Farm erhob. Der Wald war feucht und kühl. Hadad suchte sich eine Stelle am Rande der Schlucht, so daß er die Straße weiter unten und auch Vida im Auge behalten konnte. Sofort machte er sich daran, eine Mulde zu graben, gerade breit und tief genug, um seinen Körper aufzunehmen. Der lockere Boden fühlte sich klamm an, und die Felsen und Steine erschienen ihm kalt wie Eis. Als sich Hadad ausstreckte, spürte er, wie die feuchte Kühle durch seine Kleidung kroch. Zu den Sachen, die Jerry ihm mitgegeben hatte, gehörte auch eine große Kanevasplane, die zwar mehrere Flecken aufwies, aber keinen einzigen Riß. Hadad breitete sie in der Mulde aus und beschwerte die Ränder mit Steinen. Das Zelt und die restlichen Objekte verstaute er in einem anderen Loch.
Er arbeitete und wachte. Aber er suchte nicht nach Beutetieren. Langsam verstrich der Tag, und helles Licht wich matter Gräue. Als die Sonne unterging, rollte sich Hadad zusammen und schlief. Am nächsten Morgen schloß er mit dem Leben ab und ging auf Jagd. Er fand einige sonderbare, rattenartige und mit scharfen Zähnen ausgestattete Wesen, die sich leicht fangen ließen. Das Fleisch der kleineren Exemplare war zart, das der größeren zäh wie Leder. Er starb nicht. Tagelang wartete Hadad vergeblich auf den Tod. Und so kehrte er ins Leben zurück und schloß sich erneut einer menschlichen Gemeinschaft an. Er fand Arbeit in Rhodoland, fegte in Ike’s Pizza. Wenn man ihn fragte, wo er wohnte, antwortete er schlicht, er sei Jerrys Gast, und das genügte. Schon bald stellte er fest, daß sich die Leute gern unterhielten. Sie sprachen miteinander, weil es kaum Abwechslung gab, waren noch schwatzhafter als die Bewohner Prinevilles. Er hörte ihnen aufmerksam zu und fand einen Platz am Rande der Gesellschaft von Vida, wurde als Außenseiter und Sonderling akzeptiert – ohne etwas von sich preiszugeben. Fragen nach seiner Vergangenheit wich er aus. Hadad kaufte eine Kunststoffplane, um das Kanevastuch zu ersetzen. Er legte sich auch eine neue Jacke zu, von der Art, wie sie die Männer in Vida trugen. Und anschließend packte er die Ausrüstung zusammen, um sie Jerry zurückzubringen. Er bemerkte die Frau erst, als er nach dem Zelt griff. Ganz offensichtlich beobachtete sie ihn schon seit einer Weile, ohne daß er etwas davon gemerkt hatte – eine beunruhigende Erkenntnis für Hadad, ein Zeichen dafür, daß er sich wie ein Mensch zu verhalten begann.
Ruth stand etwas weiter unten auf dem Pfad, der zu Jerrys Farm führte, und Hadad sah ihren alten Wagen, der am Straßenrand parkte. Sie wandte den Blick nicht von ihm ab. Langsam ließ er das Zelt sinken, richtete sich auf und sah sie an. Sie senkte kurz den Kopf, hob ihn dann wieder, erweckte den Eindruck, als erwarte sie eine Erklärung von ihm. Hadad trat auf sie zu und blieb dicht vor ihr stehen. »Ich wußte nicht genau, ob ich dich hier finden würde.« Hadad merkte, daß sie ihn jetzt duzte. »Warum bist du gekommen?« »Du warst nicht mehr in Prineville, als ich zurückkehrte.« »Warum bist du hier?« wiederholte er. »Du hast mich in eine Stadt geschickt, die ich überhaupt nicht wiedererkannte, um Leute zu finden, deren Namen ich nicht einmal wußte, die eine Fremde in mir sahen, die mir mißtrauten, die ich darum bitten sollte, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um den roten Giftstaub nach Oregon zu bringen. Ich hatte Vertrauen zu dir und deiner Theorie, Hadad, und nur deshalb nahm ich all die Mühen auf mich. Aber du hieltest es nicht einmal für nötig, auf mich zu warten.« Hadad achtete nicht auf ihre vorwurfsvollen Worte. »Ist es dir gelungen, mit der Widerstandsbewegung Kontakt aufzunehmen?« »Ja.« »Und ist jemand mit dem Bakterientoxin nach Prineville geschickt worden?« »Nein.« »Warum nicht?« »Sie wollten nicht noch mehr Staub verteilen, um einen ökologischen Kollaps zu vermeiden. Offenbar tolerieren die irdischen Biotope nur eine ganz bestimmte Menge. Alles, was darüber hinausgeht, könnte auch den terrestrischen
Lebensformen schaden. Den Tieren ebenso wie den Menschen.« »Aber im Tal von Prineville gibt es kein Toxin.« »Das habe ich ihnen gesagt. Aber sie glaubten mir nicht. Oder vielleicht doch. Nun, es spielt keine Rolle. Wichtig ist nur, daß sie nichts unternehmen werden, um uns zu helfen.« »Hast du mit den richtigen Leuten gesprochen?« fragte Hadad. »Ja, soweit ich das beurteilen kann. Himmel, ich weiß es nicht. Vielleicht bin ich den einzigen Visitor-Spionen in der ganzen Widerstandsbewegung begegnet. Vielleicht waren es die falschen Leute, die mir die falschen Antworten gaben. Ich habe mir die größte Mühe gegeben, aber unter den gegebenen Umständen war einfach nicht mehr drin.« »Und dann bist du nach Prineville zurückgekehrt?« »Ja«, sagte Ruth und fügte spitz hinzu: »Das hatte ich dir doch versprochen, nicht wahr?« »Wie sieht’s dort aus?« Ruths Miene umwölkte sich. »In Prineville ist niemand mehr seines Lebens sicher. Alles hat sich genauso entwickelt, wie du es vorausgesagt hast. Die Visitors haben die Stadt übernommen. Sie verschleppen Männer, Frauen und sogar Kinder – niemand weiß, wohin sie gebracht werden. Manche Leute sind spurlos verschwunden. Einige versuchen, sich zur Wehr zu setzen, schießen auf jeden, der eine rote Uniform trägt. Tagsüber herrscht eine trügerische Ruhe, und dann wirkt der Ort wie eine Geisterstadt, ausgestorben, völlig tot. Des Nachts kann man Schüsse hören, das Zischen von Laserwaffen.« Kummervoll schüttelte sie den Kopf. »Für Prineville gibt es keine Rettung mehr.« »Wir müssen Jerry Bescheid geben. Seine Eltern wohnen dort.«
»Ich habe ihm bereits alles gesagt. Er ist vor einer Stunde aufgebrochen, um sie zu holen.« »Er geht ein großes Risiko ein, wenn er zurückfährt.« »Er ist schon unterwegs.« »Sicher könnte er Hilfe gebrauchen.« »Er ist schon unterwegs, Hadad.« Hadad musterte sie erneut, und erst jetzt sah er die Betroffenheit in ihren Zügen, das stumme Leid. »Wie hast du mich hier gefunden?« »Ich ging zur Mühle, aber dort konnte mir niemand Auskunft geben. Mary sagte mir schließlich, du seiest mit Stan zusammen losgefahren. Ich hatte die Hoffnung aufgegeben, eine Spur von dir zu finden, machte mich im Krankenhaus nützlich und versuchte, Verletzten und Verwundeten zu helfen.« »Warum bist du gekommen?« Hadad wurde sich bewußt, daß er diese Frage nun schon zum dritten Mal stellte. »Weil du hier bist.« »Um mir zu berichten, daß Donovan und die anderen auf einen neuerlichen Einsatz des V-Staubs verzichten wollen?« »Das spielt in diesem Zusammenhang nur eine untergeordnete Rolle.« »Ich verstehe nicht ganz…« »Ich habe mich auf den Weg gemacht, um herauszufinden, was aus dir geworden ist.« Diesmal sah ihn wieder das »Reh« aus Ruths Augen an. Aber er erkannte auch noch etwas anderes: Trauer, Enttäuschung. »Jetzt weißt du es.« Hadad beobachtete, wie sie den Kopf schüttelte. »Vielleicht wollte ich dort sein, wo… wo du bist.« »Ich habe mich in die Berge zurückgezogen«, stellte er unnötigerweise fest. »Dann folge ich deinem Beispiel.«
»Aber meine Lebensart ist dir fremd.« »Ich bin lernfähig.« Ruth holte tief Luft. »Gib mir wenigstens eine Chance.« »Darum geht es nicht«, erwiderte Hadad. »Ich besitze keine Dinge, um dir den Aufenthalt hier einigermaßen bequem zu machen. Ich…« Einmal mehr musterte er sie, sah das Blitzen in den Augen der jungen Frau, ihre Niedergeschlagenheit. Hadad trug noch immer die Ausrüstung, die er von Jerry erhalten hatte, stand nach wie vor auf dem Pfad. Er wollte Ruth nicht zu dem Ort bringen, wo er schlief, wo er die Tiere beobachtete. Statt dessen wählte er eine höher gelegene Stelle. »Komm.« Sie folgte ihm. Sie erkletterten den steilen Hang, vorbei an jungen Schößlingen und aufragenden Felsen. Im Bereich der alten Bäume, der Kiefern und Fichten, die mehr als ein Dutzend Meter weit in die Höhe ragten, kamen sie schwerer voran. Dickicht umschloß sie, und mühsam bahnten sie sich einen Weg durch Farne und dorniges Gebüsch. Nach einer Weile erreichten sie ein kleines Gehölz und nahmen auf einem umgestürzten Stamm Platz. Hadad legte das Zelt und die anderen Gegenstände beiseite. »Erklär mir mit anderen Worten, warum du gekommen bist«, sagte er. Ruth starrte zu Boden, strich mit der Stiefelspitze über ein weiches Nadelpolster, hob dann den Kopf und sah ihn an. »Ich glaube, ich liebe dich.« Plötzlich verstand Hadad ihren seltsamen Gesichtsausdruck. »Deshalb bist du hier?« »Ja.« Erneut fühlte er sich von ihr angezogen, so wie in Prineville kurz vor dem Unfall. Er kannte nun die Ursache dieses
Empfindens und widerstand der Versuchung, Ruth in die Arme zu schließen. »Du kannst nicht bleiben«, murmelte er. »Ich habe ein Zelt mitgebracht. Und auch einige andere Dinge, die wir brauchen.« »Für mich gibt es nur diesen Berg hier. Ich möchte… allein sein.« »Das nehme ich dir nicht ab. Ich glaube einfach nicht, daß du mich fortschicken willst. Bitte, Hadad…« »Ruth, wir unterscheiden uns viel zu sehr voneinander.« Sie seufzte. »Ich weiß nichts von den Gepflogenheiten deines Volkes, Hadad, und angesichts der derzeitigen Lage haben die amerikanischen Traditionen ihre Bedeutung verloren. Wir müssen von unseren alten Angewohnheiten Abschied nehmen und ein ganz neues Leben beginnen, so gut es eben geht. Himmel, ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken, wie ich mich dir verständlich machen soll. Nur in einem Punkt bin ich ganz sicher: Ich vertraue der Stimme, die in meinem Herzen flüstert, und deshalb widerspreche ich dir, wenn du sagst, wir könnten nicht zusammenbleiben. Ich spüre ganz deutlich, daß du dich ebenso danach sehnst wie ich. Warum leugnest du das? Warum erzwingst du eine Distanz zwischen dir und mir? Die Unterschiede, von denen du behauptest, sie bildeten eine unüberwindliche Barriere zwischen uns… Das ist alles ohne Hand und Fuß. Verstehst du? Sie existieren nur in deiner Phantasie. Guter Wille kann Brücken bauen.« Ruth zögerte kurz und fügte etwas leiser hinzu: »Hadad, um mich herum bricht eine Welt auseinander, von der ich bisher annahm, sie sei fest und stabil. Ich liebe dich. Und ich möchte die Zeit, die mir noch bleibt, mit dir verbringen. Alles andere spielt keine Rolle mehr für mich.« »Du siehst nur die äußeren Aspekte«, gab Hadad zurück.
»Ganz im Gegenteil. Ich habe mich nicht aufgrund deines Aussehens in dich verliebt. Deine Nase ist zu groß, und deine Hände sind grobknochig und viel zu breit. Deine Muskulatur läßt dich plump erscheinen, und die glasigen Augen verbergen die Wahrheit. Nein, du entsprichst nicht gerade der üblichen Vorstellung eines strahlenden Helden. Ich liebe dein Wesen, Hadad, das, was sich in deinem Innern befindet.« »Aber dabei übersiehst du das, was Äußeres und Inneres voneinander trennt.« »Du hältst dich für anders, weil deine Gefühle im Gegensatz zu dem stehen, was du denkst. Du glaubst, dich von mir zu unterscheiden, weil du nicht zu dieser Kultur gehörst. Aber was ist mit unseren Wünschen und Hoffnungen? Auch du suchst nach einem Ort, wo keine Gefahr droht, nach einer Oase des Friedens inmitten einer Wüste aus Haß und Feindseligkeit. Ich weiß nicht, welche Geheimnisse du zu bewahren versuchst, aber ich verspreche dir, daß ich mich von ihnen nicht erschrecken lasse. Ich sehe in dir einen sanftmütigen und liebenswerten Mann, und das genügt mir.« »Trotzdem kann es keine gemeinsame Zukunft für uns geben.« Ruth beugte sich ein wenig vor. »Wenn das stimmt, so sag mir, daß du mich nicht liebst.« Hadad sah sie an und stellte fest, daß ihre Augen all das preisgaben, was sie empfand. Sie machte keinen Hehl aus ihren Gefühlen, gab sich alle Mühe, die Distanz zwischen ihnen zu verringern. »Dazu bin ich nicht imstande«, erwiderte er schließlich. »Dann gibt es kein Argument, das mich dazu bewegen kann, dich zu verlassen.« »Du irrst dich.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe mich in die Berge zurückgezogen, um zu sterben.«
»Dann leiste ich dir bis zu deinem Tod Gesellschaft.« »Ich bin auf der Flucht.« »Dann helfe ich dir.« »Ich habe kein Heim.« »Dann schaffen wir uns eins.« »Ich bin nicht der, für den du mich hältst.« »Dann werde ich herausfinden, wer du bist.« »Und anschließend wirst du fortgehen.« »Dazu gibt es keinen Grund.« Hadad beobachtete sie und begriff, daß er sie wegschicken mußte. Eine ganze Welt wartete auf sie, während es für ihn nur die Berge gab, die Einsamkeit. Sie gehörte zu den Menschen, zu dem Volk, das sich gegen die Invasoren von den Sternen wehrte, das für seine Zukunft kämpfte. Hadad wünschte sich, sie festhalten zu können, aber er wußte, daß er nicht mit einer Lüge leben konnte. »Ich bin ein Visitor, Ruth«, sagte er.
7. Kapitel
»Das nehme ich dir nicht ab«, erwiderte Ruth und schmunzelte. Hadad gab keine Antwort und wartete stumm. »Vielleicht hältst du mich für arrogant, aber ich fürchte mich nicht vor den Unterschieden zwischen uns.« Hadad schwieg noch immer und spürte, wie sich ein erster Hauch von Zweifel in Ruth zu regen begann. Ungewißheit nagte an den Mauern des Bollwerks, das ihre feste Überzeugung schützte. »Ich…« Sie riß die Augen auf, schien erst jetzt zu begreifen, was seine letzten Worte bedeuteten, spannte aus einem Reflex heraus die Muskeln an, schloß die Augen. Ihre Züge verhärteten sich plötzlich, und in den Wangen zuckte es. Ruth versuchte, sich zu beherrschen, mit der Enttäuschung fertig zu werden. Nach einer Weile hob sie die Lider. »Das ist nicht fair«, hauchte sie. »Es ist die Wahrheit.« »Aber du hast mir doch gesagt…« Sie brach ab. »Ruth, ich bleibe in den Bergen, bis ich sterbe. Es gibt keine Hoffnung für mich.« »Nein, nein, nein!« Sie warf den Kopf von einer Seite zur anderen, und Tränen rollten ihr über die Wangen. Ihr Körper erzitterte heftig, als sie zu schluchzen begann. Hadad streckte die Hand aus, um sie zu beruhigen. »Rühr mich nicht an!« Ruth wich zurück, schüttelte entsetzt den Kopf, sprang auf und lief fort, eilte den Hang hinab. Hadad blieb ruhig sitzen, stummer Zeuge der menschlichen Katastrophe, die er selbst ausgelöst hatte. Er lauschte dem
Schluchzen und Wimmern, als Ruth durchs Dickicht wankte, als sie über den Pfad stolperte, fiel, sich wieder aufraffte und weitereilte. Irgendwann erreichte sie ihren Wagen, und Hadad hörte, wie der Motor aufheulte, als sie Gas gab, wie die Reifen quietschten. Stille folgte. Hadad wartete. Und mit ihm der Wald. Eine kleine Feldmaus trippelte dort über den Baumstamm, wo eben noch Ruth gesessen hatte. Hadad beobachtete sie gleichgültig, ohne sich von der Stelle zu rühren. Die Maus schnupperte die verfaulende Borke, setzte dann ihren Weg fort. Ein Eichelhäher flog über die kleine Lichtung und zwitscherte spöttisch. Vor Hadads Füßen lag ein Stück Holz. Er hob es auf, drehte es nachdenklich hin und her. Die Maserung schien ein bestimmtes Bild zu formen, das nach deutlicheren Konturen verlangte. Er holte sein Taschenmesser hervor und begann vorsichtig zu schnitzen, formte die zarten Züge eines Gesichts, die gewölbte Linie des Halses, an die sich nackte Schultern anschlossen. Dort endete das Holz, und daraufhin wandte sich Hadad wieder Augen, Nase und Mund zu. Erst nach einer guten Weile merkte er, daß er ein Abbild Ruths schuf. Unbehagen entstand in ihm, als er es betrachtete, aber er sah sich außerstande, sein Werk zu zerstören, gab der Versuchung nach, es zu vervollständigen, so daß das hölzerne Gesicht eine noch größere Ähnlichkeit mit dem der jungen Frau bekam. Hadad hielt es für unangemessen, auf dieser Lichtung nach Nahrung zu suchen. Sie war ein Ort der Stille, der Meditation. Als sich die Sonne dem westlichen Horizont entgegenneigte, erwog er die Möglichkeit, am Hang zu jagen. Den ganzen Tag über hatte er nichts gegessen, aber er verspürte noch immer
keinen Appetit. Die Sehnsucht, die tief in ihm vibrierte, verstärkte den Kummer, der sich wie ein schweres Gewicht auf seine Schultern senkte. Noch etwas anderes kam hinzu: Es gab nun jemanden, der wußte, wo er sich aufhielt, und das bedeutete potentielle Gefahr. Von jetzt an mußte er ständig auf der Hut sein. Er schob das Messer in die Jackentasche zurück, legte das Holzstück auf den Baumstamm, griff nach der Campingausrüstung und kehrte zu seinem Schlafplatz zurück. Dort ließ er das Zelt und die anderen Dinge zurück, wanderte nach Osten, hielt in den kleinen Schluchten nach Nagetieren Ausschau. Er legte einige Kilometer zurück, bevor er gesättigt war. Doch das Völlegefühl in seinem Magen verdrängte nicht die seltsame Art von Unruhe, die weiterhin in ihm zitterte. Nach wie vor begleitete ihn ein Schatten der Unzufriedenheit und des Verlangens. Kurze Zeit später brach Hadad auf, um Jerry all das zurückzubringen, was er ihm geliehen hatte – und um sich nach seinen Eltern zu erkundigen. Als er die Farm erreichte, sah er den Kleinlieferwagen, der vor dem Haus stand. Die zur Seite gezogene Plane der Ladefläche gab den Blick auf einige Kisten frei. Jerry trat nach draußen, griff nach einem weiteren Paket und trug es ins Haus. Als er einige Minuten später wiederkam, zog Hadad eine Kiste für ihn heran. »Danke. Ich kann Hilfe gebrauchen.« »Sie haben sie also gefunden?« »Ja«, erwiderte Jerry. »Mein Vater ist angeschossen worden. Nichts Schlimmes, nur eine Fleischwunde. Meine Mutter war außer sich vor Angst. Ich mußte sie beide aus der Stadt schmuggeln, unter der Plane. In Prineville herrscht das Grauen, Dave. Es ist praktisch niemand mehr übriggeblieben. Die wenigen Überlebenden wagen sich nicht auf die Straße. Ich habe auch eine Nachbarin in Sicherheit gebracht, eine alte
Dame, die von einigen Leuten versteckt wurde. Es ist entsetzlich, Dave.« »Hatten Sie Schwierigkeiten, in die Stadt zu gelangen?« »Ruth gab mir einen Passierschein, den sie auf dem Weg hierher einem Toten abnahm. Damit konnte ich die Straßensperren passieren. Weitaus problematischer war es, wieder hierher zurückzukehren. Die Visitors durchsuchen alle Wagen. Ich mußte mich nach Norden wenden und einen weiten Umweg machen.« »Prineville ist also fest in ihrer Hand.« »Ja. Aber damit geben sich die Echsen bestimmt nicht zufrieden. Früher oder später werden sie auch die anderen Orte im Tal übernehmen und anschließend in die Berge vorstoßen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie hier erscheinen. Ich warte eine Weile, bis sich meine Eltern erholt haben, einige Wochen vielleicht, und dann ziehe ich weiter. Komisch, Dave. Wenn man die Fremden ansieht, erkennt man all das, was auch die Menschen bewegt: Hoffnungen, Sorgen, Träume, vielleicht sogar Liebe. Aber unter den Masken verbirgt sich Heimtücke. Man darf niemandem von ihnen trauen.« »Was ist mit der Fünften Kolonne?« »Die entsprechenden Visitors geben sich nur den Anschein, die Widerstandsbewegung zu unterstützen. Sie haben ihre eigenen Pläne. Wir sollten uns nicht auf sie verlassen. Himmel, wir sitzen wirklich in der Klemme. Es gibt keinen Ausweg. Wir können nur fliehen und hoffen, daß sie uns nicht erwischen.« »Diese Kiste übernehme ich.« »Danke, Dave. Kommen Sie, ich stelle Sie meinen Eltern vor.« Hadad hatte den größten Behälter gewählt und erwartete, daß er besonders schwer war. Doch er erwies sich als überraschend leicht. Er schlang beide Arme darum, stieg die Treppe hoch
und betrat das Haus. Die anderen Pakete stapelten sich an der einen Wand des Wohnzimmers. Hadad durchquerte den Raum und setzte die Kiste ab. Als er sich umdrehte, sah er Madge – die ihm freundlich zunickte – und die drei älteren Leute, die auf dem Sofa saßen, große Becher in den Händen hielten und eine dampfende Flüssigkeit tranken. Sie wirkten ernst, in sich gekehrt. Jerry kam mit einem Wäschekorb herein und stellte ihn an der Tür ab. »Dave… meine Eltern Evelyn und Ralph. Und Mrs. Hardesty. Ich habe dir ja schon von Dave erzählt, Mutter. Er stammt aus Prineville, arbeitete dort in der Sägemühle.« Die Frau, die Jerry Mutter nannte, versuchte zu lächeln, aber sie brachte nur eine Grimasse zustande. Der Mann nickte aus einem Reflex heraus, starrte dann wieder ins Leere. Vielleicht sah er erneut den Schrecken in Prineville. Mrs. Hardesty war älter als die anderen, eine kleine, vertrocknet wirkende Frau. Aber als sie den Köpf hob, spürte Hadad einen wachsamen Blick auf sich ruhen. Nach einigen Sekunden stand sie auf, schlurfte auf ihn zu und musterte ihn eingehend, schnupperte argwöhnisch. Unmittelbar darauf gleißte es in ihren Augen, und Hadad vernahm ein leises, kehliges Knurren, glaubte die Hitze des Zorns zu fühlen, der in ihr brannte. »Verschwinden Sie von hier. Sie sind einer von ihnen. Gehen Sie. Lassen Sie uns in Ruhe.« Mrs. Hardestys Stimme klang scharf. »Jerry, werfen Sie diesen Mann raus. Auf der Stelle. Er ist ein verdammter Außerirdischer.« Hadad blieb wie gelähmt stehen und starrte die alte Frau groß an. Noch nie zuvor war er einem Menschen mit dem Spürsinn eines Tiers begegnet. Er fürchtete sich nicht vor ihr; sie hatte keine Macht über ihn, sah man einmal von ihrem Einfluß auf Jerry und die anderen ab. Aber er respektierte ihren
erstaunlichen Scharfsinn und wußte, daß sie einen Feind in ihm sah, ganz gleich, welche Argumente Jerry zu seinen Gunsten vorbrachte. »Er ist ein Freund von mir, Mrs. Hardesty.« »Sie sind ein Narr. Er hat Sie getäuscht. Aber ich durchschaue ihn. Er soll das Haus verlassen, sofort!« Hadad sah Jerry an, senkte den Kopf und sah verlegen zu Boden. Als er wieder aufblickte, bemerkte er die Unsicherheit in Madges Zügen, beobachtete, wie sie sich ein Lächeln abzuringen versuchte. Er nickte knapp, schritt aus dem Zimmer und trat auf die Veranda. Jerry folgte ihm. »Bitte entschuldigen Sie, Dave. Was soll ich sagen? Mrs. Hardesty hat soviel durchgemacht, daß sie sich vor ihrem eigenen Schatten fürchtet.« »Schon gut.« Hadad ging um den Lieferwagen herum, um die Campingausrüstung zu holen. »Ich brauche die Sachen nicht mehr.« »Das bedeutet doch nicht etwa, daß Sie uns verlassen, oder?« »Nein. Ich benötige sie nur nicht mehr, das ist alles.« »Ich nehme an, Ruth hat mit Ihnen gesprochen, nicht wahr?« fragte Jerry. »Sie wußten also, daß sie mich suchte?« »Nun, als sie sich nach Ihnen erkundigte, bemerkte ich ihren besonderen Gesichtsausdruck, und der Schluß lag auf der Hand. Wie dem auch sei: Hinter dem Schuppen ist Platz genug für ein Zelt, und ich verspreche Ihnen dafür zu sorgen, daß Ihnen Mrs. Hardesty nicht in die Quere kommt. Sie stören uns nicht, und ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mein Angebot annehmen und bleiben.« »Ruth ist fortgegangen.« »War das ihre eigene Entscheidung? Oder haben Sie sie fortgeschickt?« »Jerry, es war einfach nicht richtig, daß sie hierher kam.«
»Sollte sie sich etwa in Prineville von den Visitors schnappen lassen?« »Ich kann mich nicht um sie kümmern.« »Ist sie nicht die Richtige?« Hadad sah ihn verwirrt an. »Ich verstehe nicht…« »Ist sie nicht das Mädchen, das Sie in Prineville zurückließen?« »Doch, ich glaube schon.« »Ach, Dave, vielleicht stecke ich meine Nase in eine Sache, die mich nichts angeht, aber… Wenn sich zwei Menschen lieben, sollten sie ihren Gefühlen nachgeben und versuchen, miteinander zurechtzukommen. Wenn’s nicht klappt… Nun, dann kann man nichts machen. Ich halte es für falsch, daß Sie weder ihr noch sich selbst eine Chance geben.« »Glauben Sie, ich liebe Ruth?« Jerry runzelte die Stirn. »Etwa nicht?« »Ich möchte, daß sie glücklich wird.« »Na also«, brummte Jerry. »Sie ist stark und hat ein Recht darauf, glücklich zu sein. Irgendwann wird sie einen Mann finden, der ihre Hoffnungen erfüllt.« »Und Sie? Was ist mit Ihnen, Dave? Sind Sie nicht ebenfalls stark genug? Haben nicht auch Sie ein Recht darauf, glücklich zu werden?« »Ich bin dazu verdammt, einsam zu sein«, sagte Hadad. »Was für ein Unsinn! Sie sind zu lange allein gewesen, das ist alles. Sie haben vergessen, was es bedeutet, geliebt zu werden. Himmel, seien Sie doch kein Narr! Gehen Sie zu ihr. Holen Sie sie zurück.« »Um Ihre Worte zu benutzen: Ich liebe sie. Und deshalb habe ich ihr gesagt, daß wir nicht zusammenbleiben können.« »Sie sind verrückt, Dave.« »Vielleicht.«
Jerry schüttelte den Kopf. »Nun, wenn Sie Ihre Meinung ändern: Ich bin gern bereit, Sie hier aufzunehmen. Sie und Ruth.« Er schleppte eine weitere Kiste ins Haus. Hadad sah eine Matratze auf der Ladefläche des Lieferwagens und trug sie auf die Veranda. Er entschied sich dagegen, das Gebäude zu betreten, und als Jerry nicht sofort zurückkehrte, legte Hadad die Campingausrüstung neben der Tür ab und kehrte in den Wald zurück. Durch die Schlucht kroch bereits das Dunkel der nahen Nacht. Der Himmel weit oben war noch immer blau, und die Kiefern und Fichten am Rande des Abhangs bildeten einen gestochen scharfen Kontrast. Mattes Grau ersetzte die Farben des Tages, trübte das saftige Grün des Waldes. Hadad kletterte langsam. Müdigkeit beschwerte seine Glieder, und er sehnte sich nach erholsamem Schlaf, achtete darauf, nicht die Ruhe zu stören, die ihn umgab. Er nahm einen anderen Weg zu seinem Lagerplatz, sah sich immer wieder wachsam um und lauschte. Alles blieb still. Kurz vor seinem Ziel blieb er abrupt stehen. Er war sicher gewesen, daß niemand seinen Unterschlupf kannte, zumindest kein Mensch. Und deshalb erschrak er, als er neben der Mulde eine Gestalt sah. Ruth saß auf einer Pritsche, die Hadad aus alten Decken hergestellt hatte, und als er näher kam, hob sie den Kopf. Ihr Blick schien bis in die entlegensten Gewölbe seines Ichs zu reichen, schürte Verlangen und Sehnsucht in ihm, die Glut seiner Leidenschaft, wob ihn in das dichte Gespinst eines seltsamen Zauberbanns, aus dem er sich nicht befreien konnte. Wieder fühlte er sich von ihr angezogen, und diesmal leistete er keinen Widerstand. Wortlos trat er auf sie zu, ließ sich neben ihr auf die Knie sinken, suchte in ihrem Gesicht nach Tränen, nach Hinweisen
auf Trauer und Zorn. Er fand nur Hoffnung. Ruth trug ein weites formloses Ledergewand, und während er sie noch beobachtete, griff sie nach dem unteren Saum und zog sich das Kleidungsstück über den Kopf. Völlig nackt saß sie vor ihm, musterte ihn stumm, streckte sich dann auf den Decken aus und wartete, ließ ihn nicht aus den Augen. Hadad beugte sich zu ihr hinab und küßte sie, strich mit den Fingerkuppen über Wangen und Arme, schenkte ihr Ruhe, indem er sie berührte. Dann wich er wieder zurück, und sein Blick wanderte über Ruths Leib: ein schlanker Körper, die Brüste klein und flach, der Bauch eine sanfte Wölbung zwischen ihren knochigen Hüften, hellbraunes, lockiges Haar, das ein dunkles Dreieck zwischen ihren Schenkeln bildete. Hadad streifte das Hemd von Schultern und Armen, zog auch die Hose aus, entblößte damit die spezielle Kunststoffhaut seiner Ganzkörpermaske. Ruth sah ihn immer noch an, maß ihn mit nicht nachlassender Aufmerksamkeit, zog ihn behutsam zu sich herab. Er küßte sie erneut, hielt dabei seine Echsenzunge zurück, fühlte, wie ihn die Wärme der Leidenschaft durchströmte. Trübe Linsen verbargen das erregte Leuchten in seinen getarnten Augen. Als er sich in sie hineinschob, vergaß Hadad die Unterschiede zwischen ihnen, die er zuvor so sehr betont hatte. Das Universum schrumpfte, bis es nur noch Hadad und Ruth umfaßte. Langsam gab der Waldboden die Wärme ab, die er während des Tages empfangen hatte. Fledermäuse und Schwalben flatterten umher, schnappten nach Fliegen und Mücken. Eichhörnchen sprangen geschickt von Ast zu Ast. Die Sonne überließ den Himmel der Nacht, und perlmuttener Mondschein filterte sanft durch die Wipfel der Koniferen. Hadad erinnerte sich daran, daß Ruths Metabolismus anders beschaffen war als sein eigener. Um zu vermeiden, daß die
Kühle ihre Körpertemperatur senkte, holte er eine der Decken hervor und hüllte die junge Frau darin ein. Nach einer Weile schlug sie die Augen auf, sah zu ihm hoch und lächelte. Er strich ihr über ihr Haar, und als sie nach seiner Hand griff, merkte sie, wie kalt seine Finger waren. »Komm, kriech unter die Decke.« »Das würde nichts nützen. Der Stoff hält nur die Wärme zurück, die dein Körper abstrahlt. Mein Leib hingegen paßt sich an die Temperatur der Umgebung an. Kälte macht mir nichts aus. Ich spüre sie nicht einmal.« »Oh.« »Das ist einer der Unterschiede zwischen uns…« Hadad zögerte kurz. »Du bist zurückgekommen.« »Ich weiß noch immer nicht so recht, ob ich dir glauben soll.« Sie musterte ihn, gleichzeitig skeptisch und besorgt. »Ich habe dir die Wahrheit gesagt, Ruth. Ich könnte dich gar nicht belügen.« »Das glaube ich dir. Seltsam: Du… du fühlst dich gar nicht anders an.« »Abgesehen von meiner kühlen Haut.« »Das meine ich nicht.« Ruth lächelte. »Ich weiß. Die Anatomie der Visitors entspricht im großen und ganzen der von euch Menschen. Das ist der Grund, warum der Große Denker diese Masken für uns entwickeln ließ. Aufgrund der geringen körperlichen Differenzen gibt es keine Probleme bei der Anpassung. Unsere organische Struktur ist natürlich völlig anders beschaffen…« »Der Große Denker?« »Der Führer meines Volkes.« »Das klingt respektvoll.« »Ja«, bestätigte Hadad. »Aber er hat Unheil und Leid auf unseren Planeten gebracht, zwingt uns darum, ums nackte Überleben zu kämpfen!«
»Weil er euch Menschen für ein minderwertiges Volk hält. Sicher, ihr seid intelligente Wesen, aber eure Glaubens- und Wissenschaftssysteme sind so primitiv, daß der Denker euch nicht als gleichrangige Lebensform einstufen wollte. In der menschlichen Geschichte gibt es Parallelen. Die sogenannten Untermenschen der Nazis. Die Sklaven in Amerika…« »Sie wurden befreit.« »Und an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Bei euch gibt es viele Namen für geringerwertige Subspezies: Farbige, Ausländer, Kommunisten…« »Karl Marx würde sich im Grab umdrehen.« »Wer?« fragte Hadad verwundert. »Ein Philosoph, der die Welt verbessern wollte. Leider versäumte er es in seinen Schriften, uns vor Schauspielern zu warnen, die in die Rolle von Präsidenten und Staatsoberhäuptern schlüpfen.« »Ich verstehe nicht ganz…« Ruth winkte ab. »Mach dir nichts draus. War nur ein Scherz.« Eine Zeitlang schwiegen sie, und die junge Frau blickte nachdenklich in die dunkle Ferne. »Bist du sicher, daß du mir hier auf dem Berg Gesellschaft leisten willst?« fragte Hadad schließlich. Ruth nickte. »Es wird nicht leicht für dich sein. Ich führe ein völlig anderes Leben als du.« »Ich gewöhne mich schon daran.« Hadad griff nach dem Ledergewand, das Ruth getragen hatte, breitete es auf der Decke aus. Dann legte er sich hin, beobachtete die Sterne und fragte sich, wie er schlafen sollte. Wenn er ruhte, wandte er das Gesicht dem Berg zu, war sich ständig aller Bewegungen in der Nähe bewußt. Diesmal aber galt seine Aufmerksamkeit in erster Linie der jungen Frau: Er wollte ihr nahe sein, sie umarmen, ihre Wärme an seiner Brust
spüren. Und so drehte er sich zu ihr um, schob sich ein wenig näher an sie heran, genoß ihre Präsenz, bis sich seine Gedanken in der Dunkelheit der Ruhephase verloren. Das ferne Heulen eines Kojoten weckte ihn, und auf unangenehme Weise wurde sich Hadad wieder der Welt bewußt, die ihn umgab. Sein Körper sehnte sich nach Bewegung, aber er befürchtete, Ruth zu wecken, wenn er aufstand. Er betrachtete ihr Haar, das wie ein Schleier auf seinem Arm lag. Wenige Minuten später drehte sich die junge Frau um und rückte ein wenig von ihm fort. Hadad nutzte die Gelegenheit, stemmte sich in die Höhe, fand seine Sachen dort, wo er sie am vergangenen Abend fallengelassen hatte, zog sich an und ging auf Jagd. Ruth war wach, als er zurückkehrte. Sie trug wieder das Gewand aus Leder, saß mit überkreuzten Beinen neben der Pritsche: die Augen geschlossen, die Hände auf den Knien. Hadad trat leise auf sie zu, ging neben ihr in die Hocke und beobachtete den Fluß im Tal. Sonnenschein spiegelte sich auf dem schnell dahinströmenden Wasser wider. »Guten Morgen. Du stehst früh auf.« »Häufig. Aber nicht immer.« Hadad musterte sie, sah blasse Wangen. »Es geht dir nicht gut«, sagte er. »Nein.« »Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.« »Seit einiger Zeit ist mir morgens oft übel«, erklärte Ruth. »Der Grund ist das ungeborene Leben, das du in dir trägst«, antwortete er sanft. Sie sah ruckartig auf, betrachtete seine Züge und wandte dann den Blick von ihm ab. »Ich habe jenes Leben gestern abend in dir gespürt«, sagte Hadad. »Bei meinem Volk ist so etwas kein Tabu. Ich dachte,
bei euch Menschen… Der Vater deines Kindes – wohnt er in Prineville?« Ruth schüttelte den Kopf. »Ist er tot?« »So gut wie.« »Tut mir leid, Ruth. Ich wünschte, ich könnte ihm helfen, aber der Revitalisierungsprozeß ist sehr kompliziert, und ich verstehe nicht viel davon. Ich werde dich und euer Kind schützen. Mehr kann ich nicht für ihn tun.« Ruth seufzte. »Du irrst dich, Hadad. Er befindet sich nicht an Bord des Mutterschiffes.« »Nein?« »Wir verstanden uns nicht. Und deshalb trennten wir uns. Er hat gar keine Ahnung, daß ich schwanger bin. Was mir nur recht ist.« »Schade.« »Schade? Oh, ich verstehe. Du hast Mitleid mit mir. Nun, das ist nicht nötig. Ich habe mich damit abgefunden, bin viel lieber mit dir zusammen.« »Vielleicht änderst du irgendwann deine Meinung.« »Ach, Hadad…« Er sah sie an, und wieder bemerkte er, die Trauer in ihren Zügen, einen farblosen Schemen der Niedergeschlagenheit, der sich nicht auflösen ließ. Sie hoffte nach wie vor. Aber vielleicht ahnte sie auch, daß ihr eine Enttäuschung bevorstand, daß ihr Wunsch nicht in Erfüllung gehen konnte. Ruth hatte eine komplette Campingausrüstung mitgebracht – Hadad fragte sich, ob sie ebenfalls von Jerry stammte –, und sie errichtete das Zelt weiter oben, auf der anderen, ein wenig größeren Lichtung. Als Ruth die Pflöcke in den Boden trieb, sah sie das Holzstück, das Hadad auf dem Baumstamm zurückgelassen hatte. »Was ist das?« fragte sie und griff danach.
»Gefällt es dir?« »Es ist wunderschön.« »Danke.« »Darf ich es behalten?« »Nimm es ruhig.« Ruth legte die Schnitzarbeit ins Zelt und spannte die restlichen Schnüre. Sie holten die übrigen Dinge aus ihrem Wagen, und dann wurde es Zeit für Hadad, in der Pizzeria zu fegen. Ohne ein Wort der Erklärung machte er sich auf den Weg. Niemand hielt sich in dem Restaurant auf, als er dort eintraf, und nur die Küchentür stand offen. Hadad sah auf die Uhr: noch eine Stunde, bis das Feuer in den Öfen entzündet wurde. Er griff nach dem Besen und begann zu fegen, stellte zwei Stühle, die jemand vergessen hatte, auf einen nahen Tisch. Ruth ging ihm nicht aus dem Kopf. Erst nach einer ganzen Weile merkte er, daß er nicht mit der üblichen Aufmerksamkeit arbeitete. Er schüttelte den Kopf, schob alle ablenkenden Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf den Boden. Er fegte. Wischte. Rückte Stühle zurecht. Und dachte an nichts anderes. Er verstand nicht, warum Ruth wütend war, als er zurückkehrte. Sie fand nicht die richtigen Worte, um es ihm zu erklären. Hadad beobachtete, wie sich der Ärger in ihren Zügen nach und nach verflüchtigte. Später krochen sie unter die dickeren Decken im Zelt, und als Ruth einschlief, schlang Hadad glücklich den Arm um sie. Nach einer Weile drehte sie sich um, wie schon in der Nacht zuvor, und der Visitor neben ihr rollte sich ebenfalls auf die andere Seite. Doch neben ihm spannte sich die Kunststoffplane des Zelts, verwehrte ihm den Blick in die Nacht. Eine Zeitlang lauschte er den leisen Geräuschen, stellte sich die Tiere vor, die nun im Wald
umherstreiften, und schließlich fiel er in einen unruhigen Schlaf. Einige Stunden später weckte ihn der Ruf eines Eichelhähers. Hadad verließ das Zelt und begann mit der Suche nach Nahrung. Mit vollem Magen kehrte er zu seinem alten Lagerplatz zurück, um saubere Kleidung aus dem Versteck hinter den Felsen zu holen. Doch das Loch war leer. Verwirrt sah sich Hadad um, begriff schließlich, daß Ruth sie fortgebracht haben mußte. Erzürnt kletterte er zur weiter oben gelegenen Lichtung und betrachtete die Sachen, die an einer der Zeltschnüre hingen. Schon nach wenigen Sekunden fand er, was er suchte, zog sich rasch um. Als Ruth aus dem Zelt trat, sah er sie verärgert an, senkte dann den Kopf und kam zu dem Schluß, daß sie gar nicht verstehen konnte, warum er so aufgebracht war. Als er wieder aufsah, bedachte ihn die junge Frau mit einem ihrer magnetischen Blicke, bat ihn wortlos zu sich. Daraufhin lächelte er und folgte ihrem stummen Ruf. Es ergaben sich weitere Probleme. Hadad fühlte sich nicht wohl im Zelt, dessen Planen ihn vom Rest der Welt trennten, und es geschah recht häufig, daß ihn Ruth mit bestimmten Verhaltensweisen vor den Kopf stieß. Sie beklagte sich, wenn er längere Zeit fortblieb, wenn er ganz plötzlich verschwand, ohne ihr etwas zu sagen, fürchtete sich vor dem Wald, in dem Hadad einen Freund sah, der ihm Nahrung zur Verfügung stellte. Sie fuhren in die kleine Stadt. Die Leute akzeptierten Ruth, erst als Jerrys Freundin, später auch als Hadads Begleiterin. Eine Zeitlang suchten sie die Nähe anderer Personen, um das zu vergessen, was erneut eine gewisse Distanz zwischen ihnen schuf. Aber nach und nach wuchs die Anspannung.
Hinzu kam die konkreter werdende Gefahr, die von den Visitors in Prineville ausging. Weiter flußaufwärts hatte man ein Shuttle gesichtet, und die Bürger von Vida nahmen kein Blatt vor den Mund, wenn sie über die Außerirdischen sprachen. Ihre Verurteilung der Invasoren von den Sternen war kategorisch, und sie erwarteten, daß jeder ihre Meinung teilte. Ruth geriet häufig außer sich, wenn die anderen Männer und Frauen alle Visitors über einen Kamm scherten, und es frustrierte sie – Hadad beschloß, seinen Wortschatz um diesen interessanten Ausdruck zu erweitern –, daß es keine Möglichkeit für sie gab, die Ehre des fremden Volkes zu verteidigen. Sie stellte sich die Fremden nicht mehr als abscheuliche Echsen vor, und doch wußte sie, daß die Bürger recht hatten: Die Visitors zerstörten die Erde. Des Abends versuchte sie, mit Hadad darüber zu reden, aber er schwieg, hörte ihr nur stumm zu, während sie versuchte, mit sich selbst ins reine zu kommen. Ab und zu begab sich Ruth zur Farm, um mit Madge zu sprechen. Zunächst erwähnte sie nicht, woher sie kam – obgleich Jerry und seine Frau natürlich wußten, daß sie im Wald kampierte, zusammen mit Dave/Hadad. Aber Evelyn, Ralph und vor allen Dingen Mrs. Hardesty ahnten nichts davon, und es lag Ruth fern, sie in das Geheimnis einzuweihen. Der junge Tony war nicht so vorsichtig. Als er eines Tages von der Schule zurückkehrte und Ruth in der Küche sah, fragte er: »Warum leben Sie mit dem Echsenmann im Wald?« Bei diesen Worten rümpfte er die Nase und machte damit deutlich, was er von der ganzen Sache hielt. »Wie hast du ihn genannt, Tony?« »Mrs. Hardesty verwendet diesen Ausdruck«, antwortete der Junge mit der unverblümten Offenheit eines Neunjährigen.
Madge entschuldigte sich, schickte ihren Sohn nach draußen und versuchte, das Thema zu wechseln. Aber Tonys Frage brachte Mrs. Hardesty in Fahrt, und sie begann sofort damit, Ruth unter Druck zu setzen. »Keine anständige Frau gibt sich mit einem solchen Mann ab.« »Aber Sie kennen ihn doch überhaupt nicht, Mrs. Hardesty«, erwiderte Ruth verzweifelt. »Ich weiß genug über ihn.« Am folgenden Abend wandte sich Ruth an Hadad und erzählte ihm alles. Sie schluchzte, vergoß Tränen der Wut und des Zorns, weil sie weder ihn noch sich selbst verteidigen konnte, fühlte sich in einem Kerker der Wahrheit gefangen. Hadad hielt sie in den Armen, während sie sich in den Schlaf weinte, suchte anschließend seinen alten Lagerplatz auf und beobachtete, wie sich die Nacht auf Vida senkte. Es war ein Fehler gewesen, ihr zu erlauben, bei ihm zu bleiben, ihr seine wahre Identität zu offenbaren. Er mußte sich von ihrem Bann befreien, durfte nicht länger ihrem magnetischen Blick erliegen, durfte nicht länger eine Welt locken lassen, die aus menschlichen Sorgen und Ängsten bestand. In jener Nacht kroch er nicht ins Zelt, rollte sich statt dessen in der Mulde zusammen und starrte in die Finsternis. Hadad schlief so ruhig und friedlich wie vor Ruths Rückkehr in sein Leben. Gerüchte besagten, daß sich die patrouillierenden VisitorShuttles Vida immer mehr näherten, und Jerry traf Vorbereitungen, um mit seiner ganzen Familie aufzubrechen. Mit seinen geringen Ersparnissen kaufte er einen zusätzlichen Wagen. Jeden Tag belud er den Kleinlaster mit Vorräten, trug sie abends ins Haus zurück. Stundenlang überprüfte er den Motor, nahm sich anschließend das andere Fahrzeug vor. Hadad beobachtete ihn vom Haus aus.
Er kehrte nicht auf die obere Lichtung zurück. Er machte einige Einkäufe in der Stadt, um seine Ausrüstung zu vervollständigen, die Dinge zu ersetzen, die er bei Ruth zurückgelassen hatte. Insbesondere brauchte er neue Kleidung und Decken. Einmal wartete sie am Pfad auf ihn, bat ihn darum, wieder bei ihr im Zelt zu schlafen. Hadad versuchte ihr zu erklären, warum das nicht möglich war. Ruth wies ihn auf seine Verantwortung für sie und das Kind hin, weinte bitterlich. Aber Hadad beharrte auf seinem Standpunkt, um ihr noch mehr Unglück zu ersparen. Er hielt sich von der Lichtung fern und hoffte, daß sie irgendwann aufgab und den Berg verließ, daß sie den Schmerz vergaß, den er ihr bereitete. Er blieb fort und sehnte sich nach ihr zurück. Doch er konnte ihr nicht ständig aus dem Weg gehen. Eines Abends, als Hadad recht spät von der Nahrungssuche zurückkam, saß Ruth neben der Mulde, die ihm als Heimstatt diente. Vor ihr stand eine hölzerne Schüssel, mit irgendwelchen Kräutern und Wurzeln gefüllt: ihr Essen. Sie sah auf, als er sich näherte. »Ich muß mit dir reden.« Hadad nahm neben ihr Platz und hörte der jungen Frau ruhig zu. Gedankenlos schnitt sie mehrere Themen an, ohne das anzusprechen, was sie so sehr belastete. Gelegentlich kaute sie auf Blättern, und der Visitor folgte ihrem Beispiel, griff ebenfalls in die Schüssel und stopfte sich etwas von ihrem Inhalt in den Mund, geistesabwesend, ohne sich dessen bewußt zu werden. Er blieb still, und nach einer Weile schwieg auch Ruth, sah ihn traurig an. Tränen schimmerten in ihren Augen. »Warum meidest du mich?« fragte sie schließlich. »Weil ich nicht mit dir zusammen sein kann.« »Du warst es aber. Zumindest für einige Tage und Nächte.«
»Ruth, versuch bitte, mich zu verstehen…« Heftig schüttelte sie den Kopf, weinte erneut, hielt die Tränen nicht länger zurück. Sie spülten die Enttäuschungen aus ihr heraus, die unerfüllt gebliebenen Wünsche, all das, was sie sich vergeblich erhofft hatte. Mit zunehmender Verwirrung lauschte Hadad ihren Vorwürfen: Ruth beschrieb seine Verhaltensaspekte, die ihr nicht gefielen, schilderte all die anderen Dinge, die integraler Bestandteil seines Wesens und Lebens waren, von denen er sich nicht trennen konnte, ohne sein Visitor-Ich in Frage zu stellen, ohne die eigene Identität aufzugeben. Jedes Argument bestätigte seine Annahme, daß es keine gemeinsame Zukunft für sie gab. Jeder neue Unterschied, auf den sie ihn hinwies, entfernte ihn weiter von ihr, machte ihn einsamer als jemals zuvor. »Dein starrer und kalter Blick«, schluchzte Ruth. »Nie zeigst du deine Gefühle. Ich ertrage es einfach nicht mehr, Hadad.« Ihre Stimme klang erstickt. »Du… du bist so schrecklich weit weg.« Er wollte sie trösten, sie über die Kluft hinweg erreichen, die sich zwischen ihnen verbreiterte. Doch sein einziges Angebot bestand aus der Wahrheit – und die würde alles verschlimmern. »Sag doch etwas.« »Was willst du von mir hören?« »Ich möchte sehen, was du fühlst«, sagte Ruth. »Dazu mußt du in meine wirklichen Augen blicken«, erwiderte Hadad. »Dann zeig sie mir.« »Ich bin kein Mensch, Ruth. Meine Augen sind anders als deine.« Sie schluchzte erneut. Hadad wußte, daß er einen Fehler machte, aber der Wunsch, sich von ihr als das akzeptieren zu lassen, was er war, wurde
immer stärker. Schließlich gab er nach und legte die Linsen ab. Zum erstenmal nahm er sie vollständig wahr, ohne die Begrenzungen des Blickfeldes, die ihm seine menschliche Maske aufzwangen. Verlangen wuchs in ihm, als er die junge Frau musterte. Die feine Struktur ihrer Gesichtszüge, die sanfte Wölbung von Hals und Nacken, die Schultern, der geschmeidige Leib – alles wirkte weniger fremdartig auf ihn. Sie hätte aus seiner Heimat stammen können, wäre nicht die glatte und helle Haut gewesen. Als er sie auf diese Weise wahrnahm, schmolzen die Unterschiede wie Schnee in der Sonne, und er begriff, daß er zu ihr zurückkehren und ihr das geben mußte, was sie von ihm erhoffte. Ruth beobachtete ihn, versuchte im dunkler werdenden Zwielicht die Augen des Visitors zu sehen. Sie erstarrte förmlich, als sie das kalte Funkeln in den Schlangenpupillen bemerkte, und Hadad spürte deutlich, wie Abscheu in ihr entstand, wie sie innerlich von ihm zurückwich. Neue Tränen befeuchteten ihre Wangen. Er wollte sie trösten. Vielleicht klang seine Stimme vertraut genug, um ihren Schock zu mildern. Hadad öffnete den Mund, um einige Worte an sie zu richten – und erschrak, als eine metabolische Reaktion einsetzte, die er nicht zu kontrollieren vermochte. Ein zweiter Fehler. Weitaus ernster, als der erste. Er hatte von den Wurzeln und Blättern in der hölzernen Schüssel gegessen, und sie entfalteten nun die übliche Wirkung in seinem Leib. Er war gerade erst von der Jagd zurückgekehrt, spürte nach wie vor die Völle der unverdauten Beute im Magen: einige Nagetiere, die Chitinpanzer mehrerer Insekten, die Federn eines Rotkehlchens. Die pflanzlichen Fasern unterbrachen den Verdauungsprozeß, stimulierten Muskelkontraktionen. Hadad
begann zu würgen, und es blieb ihm nicht genug Zeit, in den Wald zu laufen. Von einer Sekunde zur anderen erbrach er die Mäuse, die Grillen, den Vogel. Aus einem Reflex heraus schloß er die Augen. Neben ihm ertönte ein erstickter Schrei, ein entsetztes Keuchen folgte. Blätter raschelten und Zweige knackten, als Ruth herumwirbelte und davonstürmte, als sie vor dem grauenhaften Fremden floh.
8. Kapitel
»Wer hat Erkundungsshuttles in die Berge geschickt?« fragte Paul scharf, als er Eleanors Kabine betrat. »Sie wissen genau, daß ich den entsprechenden Befehl gab.« Ihre selbstgefällige Gelassenheit erinnerte ihn an Diana. »Ein solches Unternehmen dient gewiß nicht dazu, Ihre wissenschaftliche Arbeit voranzubringen«, stellte Paul fest. »Daher muß ich davon ausgehen, daß es nicht Ihre Idee war, sondern die Jeffreys. Und Jeffrey leitet keineswegs die militärischen Aktionen dieses Schiffes. Verstanden?« »Ja. Ich frage mich nur, ob Sie bereit sind, Ihre Pflichten als Kommandant und Oberbefehlshaber der Bordtruppen wahrzunehmen, Paul. Wir haben den Widerstand in Prineville gebrochen, die Stadt eingenommen, zu unserem Stützpunkt gemacht und somit das erste Ziel erreicht. Aber wir dürfen uns nicht einfach damit begnügen. Es geht darum, das ganze Tal unter Kontrolle zu bringen und anschließend in die Berge vorzustoßen. Nichts hindert uns daran, diesen Teil der Erde zu erobern.« »Bisher wußte ich gar nichts von Ihren strategischen Ambitionen«, sagte Paul spitz, zwang sich zur Ruhe und fügte hinzu: »Eleanor, die Einsätze in Bend, Redmond und Madras binden einen nicht geringen Teil unserer Streitmacht. Hinzu kommt, daß jeder von uns nach maximal drei Stunden ins Mutterschiff zurückkehren und sich einem langwierigen Dekontaminierungsprozeß unterziehen muß, an den sich eine zweiundsiebzigstündige Rekonvaleszenzphase anschließt. Es mangelt uns an Mobilität. Und solange es Ihnen nicht gelingt, ein wirksames Antitoxin herzustellen und die Gefahr des V-
Staubs endgültig zu bannen, dürfen wir uns nicht von persönlichem Ehrgeiz dazu hinreißen lassen, unnötige Risiken einzugehen. Es brächte uns keinen Vorteil, weiter ins Gebirge vorzurücken.« »Ihnen vielleicht nicht, Paul«, sagte Eleanor. »Aber es gibt noch andere Dinge, die wir berücksichtigen sollten.« »Handelt es sich um wissenschaftliche Erwägungen?« Eleanor zögerte und hob die Brauen. »Nein, nicht nur«, entgegnete sie etwas leiser und zurückhaltender. »Auch um militärische – was nicht bedeutet, daß ich Ihr diesbezügliches Beurteilungsvermögen in Zweifel ziehe.« Der Spott war unüberhörbar, und Paul preßte kurz die Lippen zusammen. »Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie etwas deutlicher werden könnten.« »Irgendwo im Tal versteckt sich ein Verräter, ein möglicher Saboteur, Paul. Jeffrey hat ihn gesehen und ist entschlossen, Dianas Befehle auszuführen. Was mir durchaus angemessen erscheint. Ich frage mich, warum Sie es nicht für nötig hielten, die Suche nach ihm anzuordnen, als Jeffrey Ihnen berichtete, wo sich Hadad verborgen hält. Das bringt Sie in Verdacht, Paul. Offenbar ist Ihnen aus irgendeinem Grund daran gelegen, den Priester zu schützen. Was auf Sympathie gegenüber der Fünften Kolonne hindeutet. Es mag vermessen sein, einen militärischen Kommandanten der Verschwörung zu bezichtigen, aber…« Eleanor holte tief Luft. »Wem dienen Sie, Paul?« »Weder Diana und ihrem Größenwahn noch der Arroganz Jeffreys. Ich diene einzig und allein dem Großen Denker. Mit einem persönlichen Rachefeldzug verschwendet man nur Kraft und Zeit. Sie haben sich zu einem ebenso nutzlosen wie gefährlichen Unternehmen überreden lassen und dabei die Grenzen Ihrer Autorität überschritten.« Paul unterbrach sich
kurz, um Eleanors Reaktion einzuschätzen, suchte in der festen Mauer ihrer Überzeugung nach einer Lücke der Unsicherheit. Ihr Gesichtsausdruck blieb eine stumme Herausforderung. Nach einigen Sekunden wandte er sich um, öffnete die Tür und wies die Wächter darauf hin, daß Eleanor ab sofort unter Arrest stand. Als Paul zurücksah, beobachtete er, wie die Wissenschaftlerin an die Konsole herantrat. Vermutlich wollte sie jemanden um Hilfe bitten. »Machen Sie sich keine Mühe, Eleanor. Ich habe bereits Anweisung gegeben, Ihre Kommunikationskanäle zu blockieren. Sie hätten sich einflußreichere Verbündete suchen sollen, meine Liebe.« Er lächelte und ging, zufrieden über den errungenen Sieg.
9. Kapitel
Eine Zeitlang blieb Hadad reglos sitzen und starrte auf die Linsen in seiner Hand. Noch immer zitterten die Magenmuskeln, und in der Ferne hörte er nach wie vor Ruths Schreie. Sie wurden allmählich leiser, während sie den Hang hinabeilte, und als sie verklangen, vernahm er nach wie vor ihr Echo. Erst als auch in seinem Innern Stille herrschte, ließen die Kontraktionskrämpfe nach. Hadad griff in die Tasche und holte das Fläschchen mit den Augentropfen hervor. Er mußte die Linsen reinigen, bevor er sie wieder auf die Augen schob. Kurz darauf erhob er sich und schob Erde über die stinkende Masse, die er herausgewürgt hatte. Dann kehrte er zum weiter oben gelegenen Lager zurück, zu den alten Kiefern und Fichten, die eine kleine Lichtung säumten. Heißes Wasser blubberte auf einem kleinen Gaskocher. Hadad sah das Zelt, Ruths persönliche Dinge, ihre Kleidung, die noch immer an einer der Halteschnüre hing. Die Bande zwischen ihnen – endgültig gerissen. Es existierte keine gemeinsame Basis mehr, und das, was Ruth als »Distanz« bezeichnet hatte, war jetzt eine lichtjahreweite Kluft. Welten trennen uns, dachte Hadad betroffen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Er legte Hemd und Hose ab, an denen der Geruch des Erbrochenen haftete, zog sich saubere Sachen an, wusch die Linsen im brodelnden Wasser und preßte sie sich wieder auf die Augen. Vorsichtig und behutsam rückte er sie zurecht, reduzierte seine visuelle Wahrnehmung einmal mehr auf den begrenzten Tunnelblick.
Als er eine Viertelstunde später seinen Lagerplatz erreichte, sammelte er Rute, Salbei und Minze, zerrieb die Blätter und verteilte sie auf dem Boden, um den Gestank zu neutralisieren. Weit über ihm summte es leise: ein Shuttle. Hadad kam zu dem Schluß, daß der Pilot in großer Höhe flog, denn mit ausgeschalteten Scheinwerfern konnte er nicht in der Schlucht manövrieren. Er nickte langsam. Ganz offensichtlich beschränkten sich die Visitors nicht mehr nur auf das Tal und schickten erste Spähtrupps ins Gebirge. Wahrscheinlich würde ihnen schon bald eine Streitmacht folgen, mit dem Befehl, Vida und die anderen Orte zu erobern. Hadad erinnerte sich an Jerry: Er mußte ihn warnen, ihn auffordern, sofort mit seiner Familie aufzubrechen, nicht bis zum nächsten Tag zu warten. Er verlor keine Zeit, eilte über den Hangpfad. Als sich vor ihm die Konturen der Farm aus dem Dunkel der Nacht schälten, schwoll das Brummen wieder an. Der Skyfighter flog jetzt nach Osten. Hadad hastete die Verandatreppe hoch und pochte an die Tür. Er geduldete sich nur einige Sekunden, klopfte dann noch einmal. Das Geräusch zögernder Schritte, gefolgt von Jerrys dumpfer Stimme. »Wer ist da?« »Ich bin’s, Dave. Ein Shuttle hat den Ort überflogen, und sicher dauert es nicht mehr lange, bis die Visitors angreifen. Ihr müßt sofort los.« »Er ist es«, zischte Mrs. Hardesty. »Gib mir das Gewehr, Madge«, sagte Jerry. Hölzerne Dielen knarrten. Weitere Schritte. »Mach auf, Jerry. Hören Sie mich an.« Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit, und Hadad starrte auf die Mündung einer Schrotflinte. Er wartete keine Erklärung ab, sprang zur Seite, rannte geduckt an den Fenstern vorbei und
floh in den Wald. Ruth. Offenbar hatte sie Jerry und den anderen von ihm erzählt. Schüsse knallten im Garten hinter ihm, und als sich Hadad umdrehte, sah er eine schattenhafte Gestalt, einen vagen Schemen, dessen Umrisse mit der Schwärze verschmolzen. Nur ein Verfolger. Schwere Schritte. Vermutlich Jerry. Hadad stürmte über den Hang, und als er die erste Anhöhe erreichte, verließ er den Pfad und wandte sich nach Westen. Er bahnte sich einen Weg durchs Dickicht, verharrte ab und zu, horchte nach den Geräuschen, die der Mann hinter ihm verursachte. Schon nach kurzer Zeit gewann er einen guten Vorsprung, aber Jerry gab nicht auf. Hadad lief an den alten und hohen Bäumen vorbei, änderte die Richtung und setzte die Flucht nach Osten fort, fand eine geeignete Kiefer und kletterte am Stamm hoch. Er achtete nicht darauf, daß er dabei seine Kleidung zerriß. Weit oben hockte er sich auf einen besonders dicken Ast und rührte sich nicht mehr von der Stelle. Mit einem mentalen Befehl versuchte er, seinen rasenden Puls unter Kontrolle zu bringen, und gleichzeitig hielt er wachsam Ausschau, beobachtete den dunklen Wald, der sich unter ihm erstreckte. Das Knacken und Keuchen kam näher. Jerry erreichte den Baum, ging daran vorbei, kehrte unsicher zurück und starrte wütend in die Finsternis. Eine Zeitlang lehnte er sich an den Stamm und schien zu überlegen, was er unternehmen sollte. Schließlich gab er sich einen Ruck und ging fort. Hadad wartete eine Weile, bevor er mit dem Abstieg begann. Er wußte, daß ihm keine andere Wahl blieb, als den Berg zu verlassen, der seit einigen Wochen seine neue Heimat war, erinnerte sich an die Jacke, die er auf dem alten Lagerplatz zurückgelassen hatte. Er machte einen Umweg, um ganz sicher zu sein, daß ihm niemand auflauerte, doch seine Befürchtungen erwiesen sich als grundlos: Niemand erwartete
ihn auf der Lichtung. Hadad fand seine Jacke, nahm auch die anderen Dinge, die er brauchte, schob sie in die Taschen und wanderte dann nach Westen, zur Straße. Er wollte Jerrys Farm umgehen, im Schutze des Gebüschs dem Verlauf der Straße folgen, bis er den Ort hinter sich gelassen hatte – um dann einen Wagen anzuhalten, der nach Westen fuhr. Er überquerte die Angel’s Flight Road, verschwand auf der anderen Seite zwischen den Bäumen. Vorsichtig näherte er sich dem Highway, schlich an den Häusern vorbei, hinter deren Fenstern Licht brannte: helle Rechtecke in einer mondlosen, finsteren Nacht. Hadad hörte Schritte auf der überdachten Brücke, kurz darauf Stimmen. Plötzlich rief jemand: »Da ist er!« Ein Gewehr entlud sich krachend. Wieder lief er in den Wald, aber diesmal nahm nicht nur ein Mann die Verfolgung auf. Eine ganze Meute heftete sich an seine Fersen, schwärmte hinter ihm aus. Hadad konnte ihre Formation nicht umgehen, mußte sich darauf verlassen, daß er schneller war als die Menschen, die ihn erschießen wollten. Er floh nach Westen, doch dort wurde der Wald immer dichter. Dornen streckten ihm spitze Krallenfinger entgegen, die an seiner bereits zerrissenen Kleidung zerrten, sich in den weichen Kunststoff der Ganzkörpermaske bohrten. Brombeerbüsche bildeten nahezu undurchdringliche Barrieren zwischen den Bäumen und versuchten, den Visitor festzuhalten. Er verfing sich in Hagebuttensträuchern, die ihm ganze Fladen der Tarnhaut von den grünen Schuppen rissen. Stimmen wehten heran. Hadad streifte die Reste der Hose von sich ab und wandte sich nach Osten. Im Bereich der Espen und Zitterpappeln kam er wesentlich schneller voran, aber als die Verfolger zu ihm aufschlossen, kehrte er wieder ins Dickicht zurück.
Nach einer Weile sah er vor sich erneut das Asphaltband der Angel’s Flight Road, und er begriff, daß ihm gar nichts anderes übrigblieb, als es zu überqueren und zu versuchen, sich auf der anderen Seite in Sicherheit zu bringen. Hadad hatte den gegenüberliegenden Straßenrand fast erreicht, als er in unmittelbarer Nähe den gedämpften Schrei einer Frau vernahm. Er zögerte nicht, hielt sofort auf den nahen Waldrand zu. »Nein, komm hierher«, flüsterte die Frau. Hadad sah zurück und erkannte Ruth, die neben dem offenen Kofferraum ihres Wagens stand. »Komm«, drängte sie. Langsam trat er auf sie zu, beobachtete die Straße und den Wald jenseits davon. Noch war keiner seiner Verfolger in Sicht. »Versteck dich hier«, hauchte Ruth. Er musterte sie kurz, kam dann der Aufforderung nach. Als sie den Kofferraumdeckel schloß, sah er, wie einige Männer aus dem Wald eilten und über die Straße liefen. Dann schnappte das Schloß zu, und Hadads Welt bestand nur noch aus Dunkelheit. Er regte sich nicht und versuchte, möglichst flach zu atmen. Stiefelsohlen kratzten über harten Boden. Schritte näherten sich. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?« Jerrys Stimme. »Ach, Jerry, er sah schrecklich aus«, erwiderte Ruth und schluchzte überzeugend. »Er war hier?« »Ja. Ich fürchtete schon, er hätte es auf mich abgesehen, aber er rannte einfach weiter, in Richtung Highway.« »Kommt, Männer!« rief jemand anders. »Wir schnappen uns die verdammte Echse.« »Und Ihnen fehlt bestimmt nichts?«
»Oh, es war grauenhaft, Jerry. Ich hätte nie gedacht…« Ruth schluchzte erneut. »Er hat uns beide getäuscht. Machen Sie sich keine Vorwürfe. Wie wär’s, wenn Sie zu Madge ins Haus gehen? Dort sind Sie in Sicherheit.« »Ich kann nicht hierbleiben, Jerry. Ich… ich will nicht in der Nähe sein, wenn ihr ihn umbringt.« Sie weinte nun, und Hadad fragte sich, ob sie wirklich nur schauspielerte oder wenigstens ein Teil ihrer Gefühle echt war. »Gehen Sie ins Haus, Ruth«, brummte Jerry. »Nein. Nein, lieber nicht.« »In Ihrem jetzigen Zustand sollten Sie nicht fahren. Sie sind viel zu erregt.« »Bitte, lassen Sie mich gehen, Jerry. Ich möchte einfach nur fort.« »Versprechen Sie mir, vorsichtig zu sein?« »Ich muß weg.« »Na schön. Haben Sie alles, was Sie brauchen?« »Ja, im Wagen. Der Kofferraum ist voll.« »Seien Sie auf der Hut, Ruth.« »Ja. Und geben Sie ebenfalls auf sich acht.« »Das werde ich.« »In Ordnung.« Wieder Schritte, und diesmal entfernten sie sich. Hadad rechnete damit, daß Ruth den Kofferraum öffnete, aber statt dessen hörte er, wie sie sich ans Steuer setzte. Der Anlasser wimmerte, und unmittelbar darauf sprang der Motor an. Die junge Frau gab Gas, und das Trägheitsmoment preßte den Visitor in eine dunkle Ecke. Als sie den Wagen mit hoher Geschwindigkeit durch einige scharfe Kurven lenkte, wurde Hadad hin und her geschleudert. In seiner Orientierungslosigkeit begriff er nur, daß er noch einmal mit
dem Leben davongekommen war, und diese Erkenntnis genügte, um ihn zu beruhigen. Er schlief ein. Er erwachte, als der Wagen anhielt. Der Motor lief weiterhin: ein gedämpftes, gleichmäßiges Summen. Andere Fahrzeuge rollten vorbei. Hadad spürte, wie Abgas in den Kofferraum drang. Nach kurzem Zögern holte er sein Taschenmesser hervor, preßte die Spitze auf das Ventil des Ersatzreifens und atmete die herausströmende Luft tief ein. Kurze Zeit später drehte Ruth offenbar den Zündschlüssel herum, denn das Brummen erstarb. Hadad blieb reglos liegen, rationierte seinen Vorrat an frischer Luft und wartete. Die Tür öffnete sich. Ruth stieg aus. »Nein, ich kann den Kofferraum nicht öffnen, Officer. Ich habe den Schlüssel bei meinem Bruder in der Stadt vergessen.« »Dann muß ich das Schloß aufbrechen. Ein Schuß genügt. Niemand darf ohne eine gründliche Kontrolle passieren. So lautet der Befehl.« »Wenn Sie schießen, muß ich den dadurch angerichteten Schaden in Ordnung bringen lassen, und das kann ich mir nicht leisten. Wollen Sie mich ruinieren?« »Dann bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als umzukehren, Lady.« Die Stimme eines Mannes: fest und entschlossen. »Wir gehen kein Risiko ein. Sehen Sie die Panzer dort? Wenn es die Visitors wagen sollten, dieses Tal anzugreifen, erleben sie ihr blaues Wunder. Außerdem haben wir in den Bergen Flugabwehrkanonen in Stellung gebracht.« Und noch etwas schärfer: »Auch wenn die verdammten Echsen den Rest der Welt erobern – es wird wenigstens einen Ort geben, an dem Menschen weiterhin in Freiheit leben können.« »Und was ist mit mir? Ich bin ein Mensch.«
»Wie ich eben schon sagte, Lady: Wir müssen jedes Risiko ausschließen. Entweder breche ich das Schloß auf, oder Sie machen kehrt.« »Ich verstehe. Nun, dann fahre ich eben zurück.« »Wie Sie meinen.« Die Schritte entfernten sich vom Wagen, und die Fahrertür öffnete und schloß sich. Einige Sekunden später startete Ruth den Motor und wendete. Nach etwa zwanzig Minuten hielt sie wieder an und verließ das Fahrzeug. Hadad wartete angespannt, hörte das Rasseln eines Schlüsselbunds. Dann klappte der Kofferraumdeckel hoch. Der Mond war aufgegangen, und die plötzliche Helligkeit verwirrte den Visitor. Er drehte sich um und stemmte sich in die Höhe. »Paß auf, daß du nicht mit dem Kopf an die Kante stößt«, sagte Ruth. »Komm, ich helfe dir.« Sie stützte ihn, als er aus dem Kofferraum kletterte, und Ruth klappte den Deckel wieder zu. »Du kannst jetzt ruhig auf dem Beifahrersitz Platz nehmen. Es besteht keine Gefahr mehr.« Sie musterte Hadad. Die Kunststoffhaut seiner Ganzkörpermaske wies Dutzende von Rissen auf. Grüne Schuppen glänzten im perlmuttenen Licht des Mondes. »Ich glaube, du brauchst eine Arzneipflanze.« »Ja.« »Und eine neue Hose.« Ruth lachte. »In deiner gegenwärtigen Aufmachung siehst du nicht einmal wie ein anständiger Visitor aus.« Hadad seufzte und fühlte, wie sich die Anspannung in ihm langsam verringerte. Doch sie verflüchtigte sich nicht ganz. »Auf dem Rücksitz liegt eine Lederhose. Sie müßte dir eigentlich passen, denn immerhin habe ich sie extra für dich angefertigt.«
Ruth öffnete die Tür zum Fond, beugte sich in den Wagen und holte ein zusammengerolltes Bündel hervor. Hadad betrachtete das glatte Material – die Haut eines Tieres –, nahm die Hose entgegen und probierte sie an. Sie war recht weit, ließ seinen ausgeprägten Oberschenkelmuskeln genug Platz. »So, und jetzt sollten wir uns besser wieder auf den Weg machen«, sagte Ruth schließlich, als Hadad sie nur wortlos ansah. »Danke.« Sie winkte ab. »Schon gut. Steig ein.« Er kam der Aufforderung nach, und Ruth setzte sich wieder ans Steuer, reichte ihm eine Kanevastasche. »Sie enthält Verbände, Nadeln, Garn und so weiter. Versuch bitte, damit deine Maske zusammenzuflicken. Du siehst schrecklich aus, und wenn wir unterwegs irgend jemandem begegnen…« Ruth sprach nicht weiter, aber Hadad verstand, was sie meinte. »Hinten liegen noch einige andere Sachen, die du gebrauchen könntest.« Sie deutete auf die Jacke. »Ich schlage vor, du wirfst sie weg. Vielleicht müssen wir durch Vida.« »Vida?« »Ich weiß nicht genau. Die Straßensperren können wir nicht passieren. Die dort postierten Soldaten nehmen ihre Aufgabe sehr ernst.« Hadad seufzte. »Fahr allein weiter, Ruth. Laß mich hier zurück. Wenn du weiterhin bei mir bleibst, setzt du dein Leben aufs Spiel.« »Es ist meine Schuld, daß man dich aus Vida verjagte«, stellte sie betroffen fest. »Ich hätte Jerry nichts sagen sollen. Ich dachte, er würde verstehen. Im Ernst, Hadad: Ich wollte dich nicht verraten. Er hörte mich weinen und kam in den Wald. Und ich hatte es satt, ständig zu lügen. Deshalb vertraute ich mich ihm an.«
»Du brauchst mir nichts zu erklären«, erwiderte Hadad. »Aber vielleicht mir selbst. Durch meine Schuld bist du in große Gefahr geraten.« Ruth brach ab, aber diesmal folgten keine Tränen. »Es tut mir leid, daß ich dir so viele Probleme bereitet, einen Platz in deinem Leben beansprucht habe. Ich bin ein Visitor. Es tut mir leid, daß ich kein Mensch für dich sein kann.« Hadad starrte auf die Kanevastasche. »Das ist Hybris.« »Was?« »Hybris. Selbstüberhebung. Man kann für sein Verhalten um Verzeihung bitten. Aber wenn man sich dafür entschuldigt, ein Mensch zu sein, so spielt man Gott. Das ist Hybris. Die alten Griechen hielten so etwas für einen tragischen Fehler unseres Wesens. Und ich schätze, das trifft auch auf dich zu, wenn du es bedauerst, ein Visitor zu sein. Niemand kann über seinen eigenen Schatten springen.« »Schatten?« Ruth lächelte. »Ich meine: Wir müssen uns mit dem abfinden, was wir sind.« »Und du?« fragte Hadad. »Bist du, was du bist?« »Tja, ich weiß nicht genau. Vielleicht fällt es dir manchmal leichter als mir, dich mit deiner Abstammung abzufinden.« Ruth senkte den Kopf. »Ich hätte schweigen sollen, als Jerry mich fragte, warum ich weine. In jedem Fall wäre eine Lüge besser gewesen als die Wahrheit.« »Zweimal Konjunktiv«, bemerkte Hadad und versuchte zu lächeln. »Die Vergangenheit läßt sich nicht ändern. Man kann nur Gegenwart und Zukunft beeinflussen.« Ruth sah ihn an, dachte über seine letzten Worte nach und erwiderte schließlich das Lächeln des Visitors.
10. Kapitel
»Dort ist die überdachte Brücke. In jenem Bereich hat man ihn zuletzt gesehen… Captain, wir haben den Ort gefunden. Sollen wir angreifen?« Die Stimme des Piloten drang aus dem Lautsprecher der externen Kommunikation. »Nein«, lautete die Antwort Jeffreys. »Ich will versuchen zu landen. Vielleicht kann ich den verdammten Verräter irgendwo aufstöbern. Setzen Sie den Flug zur Schlucht fort.« Paul blickte auf die Bildschirme seines Shuttles. Patricia saß neben ihm, und außer ihnen befand sich niemand an Bord. Ihr Skyfighter schwebte hoch am Himmel, mit ausgeschalteten Positionslichtern und Scheinwerfern. Unter ihnen glitten die Einheiten der Suchgruppe dahin. »Was für ein Narr«, zischte Paul nach einer Weile. »Er hat nichts weiter im Sinn als seine persönliche Rache. Er muß eliminiert werden, Patricia.« »Ja, Sir.« Paul lächelte, zufrieden darüber, daß Patricia auch dann auf Förmlichkeit bestand, wenn sie allein waren. Darauf konnte er immer zählen, selbst wenn sie im Bett lagen. Die junge Frau wurde niemals aufdringlich, nahm sich ihm gegenüber nichts heraus. Und das gefiel ihm. Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Stimmen. »Ich kann nicht landen. Wir müssen ihn ausräuchern.« »Soll ich zurückkehren, Captain?« »Nein, ich bin sicher, er versteckt sich hier irgendwo. Teilen Sie mir in regelmäßigen Abständen mit, was bei Ihnen geschieht.«
Patricia drehte den Kopf. »Möchten Sie eingreifen, Commander?« Paul seufzte. »Nein. Wir warten einfach nur ab. Bleiben Sie außer Sichtweite.«
11. Kapitel
Über ihnen ertönte ein dumpfes Grollen, als das Visitor-Shuttle auf die Schlucht zuhielt und den Flug zwischen hoch aufragenden Felswänden fortsetzte. »Schalt das Licht aus und gib Gas«, sagte Hadad. Der helle Glanz der Scheinwerfer verblaßte genau in dem Augenblick, als sich der Skyfighter genau über dem Wagen befand. Ruth beschleunigte, und ein zuckender Laserblitz kochte hinter ihnen über den Asphalt. »Sie meinen es ernst«, stieß die junge Frau hervor. »Verdammt, ich kann überhaupt nichts sehen. Irgendwo auf der linken Seite zweigt ein Kiesweg ab. Er muß ganz in der Nähe sein, denn wir haben Vida fast erreicht.« »Nimm jetzt ruhig wieder Gas weg. Das Shuttle fliegt durch den Canyon. Diesmal haben sie es nicht auf uns abgesehen.« Die Reifen quietschten, als Ruth den Wagen durch eine Kurve zwang, die überraschend vor ihnen auftauchte. In einer Entfernung von einigen Dutzend Metern sahen sie die überdachte Brücke Vidas. »Ich hab’ den Weg übersehen, muß irgendwo wenden. Duck dich, Hadad. Wir dürfen nicht riskieren, daß dich jemand sieht.« Der Visitor rutschte vom Sitz und krümmte sich unter dem Armaturenbrett zusammen, während Ruth das Auto auf eine Zufahrt steuerte und zurücksetzte. Anschließend suchte sie nach der Nebenstraße, die ins nächste Tal führte. In der Ferne krachten Flak-Geschütze, und die Entladungsblitze erhellten die Nacht mit einem kurzlebigen, flackernden Schein. Ein Kampfshuttle der Visitors erwiderte
das Feuer: Das Licht greller Laserstrahlen entriß der Dunkelheit die Konturen von Bäumen, Felsen und Häusern. Ruth fuhr langsam, und nach der dritten Kurve entdeckte sie die gesuchte Abzweigung: kaum mehr als ein schmaler Pfad, der sich jedoch nach einigen hundert Metern verbreiterte und durchs bewaldete Gebirge wand. Sie waren bereits ein ganzes Stück vom Highway entfernt, als die anderen Skyfighter durch die Schlucht flogen. Immer wieder setzten sie ihre Bordgeschütze ein, und konzentrierte Energie verbrannte alles, was sie berührte. Hadad sah zurück und beobachtete, wie die alte Holzbrücke an der Goodpasture Road in Flammen aufging. Er hoffte, daß Jerry und seine Familie den Ort verlassen hatten. Kurz darauf bemerkte er einen weiteren Skyfighter, der die kleine Stadt unter Beschuß nahm. Glut irrlichterte, und Hadad wußte, daß die Farm getroffen worden war. Der erste Blitz traf das Haus, der zweite einige Kanister mit Benzin. Eine Explosion donnerte, und Myriaden unheilvoll glitzernder Funken regneten auf Bäume und Sträucher herab. Das trockene Holz brannte sofort. Das Feuer fand reichlich Nahrung, tobte zuerst an den Flußufern, fraß sich dann an den Hängen empor und erfaßte beide Seiten der Schlucht. Der helle Widerschein projizierte ein rötliches Glühen auf die hohen Felswände, und das von unten beleuchtete Shuttle wirkte wie ein weißer Drachen, dessen Flammenodem immer wieder über den Boden strich. Hochenergetische Strahlenbündel ließen Häuser auseinanderplatzen. Weitere Explosionen krachten, als das lodernde Inferno abgestellte Wagen erreichte, schließlich explodierte auch die Tankstelle im Westen. Hadad blickte kurz in den Fond und hielt vergeblich nach dem Zelt Ausschau. »Du hast deine Campingausrüstung vergessen.«
»Ich wollte sie gerade in den Kofferraum packen, als ich dich über die Straße kommen sah«, erwiderte Ruth. »Es blieb mir keine andere Wahl, als sie zurückzulassen.« »Inzwischen ist sie sicher verbrannt.« »Ja. Madge und Jerry…« Hadad nickte kummervoll. »Ich weiß.« Er hatte den Kleinlieferwagen vor dem Farmhaus gesehen. »Wenn sie doch nur rechtzeitig aufgebrochen wären.« Hadad seufzte. »Weißt du, Ruth… Manchmal hat eine Flucht keinen Sinn.« »Was meinst du damit?« »Jerry wußte einfach nicht, wo er Zuflucht suchen sollte. Vielleicht hielt er es für aussichtslos zu versuchen, erneut davonzulaufen. Für mich gibt es ebenfalls keinen Ort, der mir Sicherheit bieten könnte.« »Ich fahre zu einem… Freund«, entgegnete Ruth. »Er nimmt uns bestimmt auf.« »Ruth, ich bin auf den Tod vorbereitet.« »Nun, ich nicht.« Schweigend setzten sie die Fahrt fort. Die Scheinwerfer waren nach wie vor ausgeschaltet, aber das Flackern der Laserblitze und das Glühen des Waldbrands hinter ihnen genügte, um den Verlauf der Straße zu erkennen. Als sie den nächsten Bergkamm erreichten, sahen sie noch ein Shuttle, das sich dem Tal näherte. »Halt an«, sagte Hadad. »Warte, bis es verschwunden ist.« Ruth trat auf die Bremse und beobachtete das weiße Phantom, das knapp dreihundert Meter vor ihnen über die Bäume hinwegglitt. »Sie haben uns gesehen.« »Nicht unbedingt.« »Hadad, dieser Wagen ist das einzige Objekt weit und breit, das sich bewegt hat.«
Der Visitor auf dem Beifahrersitz nickte. »Mag sein. Aber dichtes Buschwerk umgibt uns, und ohne Scheinwerferlicht sind wir nicht annähernd so leicht zu entdecken, wie du glaubst.« »Was machen wir jetzt?« fragte Ruth. »Wir warten ab, um festzustellen, ob das Shuttle zurückkehrt. Wenn nicht, fahren wir weiter.« Schon nach kurzer Zeit wurde das Summen des Antigravitationstriebwerks wieder lauter. Hadad sah aus dem Seitenfenster, betrachtete die vertrauten Konturen des Skyfighters, die roten Symbole an Bug und Flanken. Langsam näherte sich die Kampffähre, schwebte direkt über dem Wagen. »Hadad, ich…« »Pscht.« Das Shuttle flog nach Osten weiter. Ruth und der Mann neben ihr blieben einige Minuten lang still sitzen und horchten. »Jetzt können wir wieder los«, sagte Hadad schließlich. »Aber vielleicht…« »Sei unbesorgt, Ruth. Es besteht keine Gefahr mehr.« Die Junge Frau startete den Motor und gab vorsichtig Gas. Still folgten sie dem Verlauf der kurvenreichen und an einigen Stellen recht steilen Straße, erreichten ein kleineres Tal und näherten sich Wendling. Ruth starrte immer wieder gen Himmel, aber die Aufgabe, ihr Auto in finsterer Nacht über den schmalen und unbeleuchteten Weg zu lenken, erforderte ihre ganze Aufmerksamkeit, und nach einer Weile vergaß sie die Furcht. In Wendling wich der Kies festem Asphalt. In der Nähe von Marcola wandten sie sich nach Norden, und einige Stunden später entschied sich Ruth für einen Zubringer, der bei Sweet Home auf den Highway führte.
»Ich muß tanken.« Sie achtete auf die Hinweisschilder, suchte nach einer Tankstelle, die noch immer Benzin hatte. Normalerweise ergaben sich in dieser Beziehung nicht einmal während des Winters Probleme, aber inzwischen war die Lage eine völlig andere. Der Fall von Prineville unterbrach die üblichen Verbindungs- und Nachschubwege, und der Staat Oregon bereitete sich auf den Krieg gegen die Visitors vor. Hinzu kam die Massenflucht der in Panik geratenen Bevölkerung. Viele andere Fahrzeuge rollten durch die Nacht, und voraus bildete sich eine lange Schlange aus roten Rücklichtern. Ruth fluchte. »Noch eine Straßensperre.« Sie wartete auf eine Lücke im Verkehr, wendete und fuhr zurück. In Cascadia hielt die junge Frau an einer kleinen, unbeleuchteten Tankstelle und wartete. Als niemand kam, stieg sie aus, griff nach dem Zapfhahn und stellte zufrieden fest, daß die Säule in Betrieb war. Sie hatte rund die Hälfte des Tanks gefüllt, als ein alter, in einen fleckigen Overall gekleideter Mann heranschlurfte. »He, was erlauben Sie sich, junge Dame? Das ist gegen das Gesetz.« Er deutete auf das Nummernschild. »Sie sollten es eigentlich wissen. Immerhin haben Sie ein OregonKennzeichen.« »Oh, freut mich, daß Sie hier sind. Ich brauche unbedingt Benzin.« Der Mann schüttelte den Kopf. »Verstehen Sie denn nicht? Es wurde rationiert.« »Ich muß nach Detroit.« »Hm.« Der Tankwart brummte etwas Unverständliches. »Der Highway ist blockiert, und die Streitkräfte haben in den Bergen Stellung bezogen, lassen niemanden durch. Aber soweit ich weiß, ist die Strecke über Albany noch frei.«
Er gewährte Ruth fünf weitere Gallonen und berechnete ihr das Doppelte des angezeigten Preises. Sie erhob keine Einwände und nahm wieder am Steuer Platz. Hadad beobachtete, wie der alte Mann die Banknoten einsteckte, in einen Kombi stieg und sich auf der hinteren Sitzbank ausstreckte. Vermutlich machte er ein Nickerchen und wartete auf den nächsten Kunden, dem er mehr Geld abknöpfen konnte, als ihm zustand. Ruth wandte sich nach Westen. »Du solltest den Rat des Mannes beherzigen und nach Albany fahren«, sagte Hadad. »Laß mich hier zurück.« Sie bedachte ihn mit einem kurzen Blick und schüttelte den Kopf. »Ich kenne eine kleine Nebenstraße, die durch die Berge führt. Vielleicht kommen wir dort weiter.« »Ruth, ich weiß nicht…« »Himmel, ich auch nicht. Ich frage mich, wohin wir unterwegs sind, was wir machen sollen, wenn wir das Ziel erreichen, wo immer es sich auch befinden mag. Ich… ich…« Sie begann zu schluchzen, rief sich dann aber wieder zur Ordnung. »Ich weiß nicht, warum ich noch mit dir zusammen bin. Zuvor konnte ich wenigstens behaupten, es sei mein Wunsch, dir Gesellschaft zu leisten. Dadurch schien alles richtig zu sein. Es spielte keine Rolle, was um uns herum geschah. Aber jetzt… Ich kann die Augen nicht mehr vor den Tatsachen verschließen. Der Krieg hat auch diesen Teil der Erde erreicht, und wir beide…« Sie seufzte. »Seltsam«, fügte sie etwas leiser hinzu. »Ich bin mir gar nicht mehr sicher, ob ich irgend etwas fühle. In meinem Innern ist alles taub.« Kurze Zeit später fand sie die Straße, in unmittelbarer Nähe der Reservoirs, und ohne zu zögern bog sie ab. Sie sprach weiter, manchmal erstaunlich rational, dann wieder unzusammenhängend. Hadad hörte ihr die ganze Zeit über ruhig zu, ohne ihr helfen zu können. Die Motive, die sie
bewegten, blieben ihm fremd. Ruth beschrieb ihm ihre Suche nach einer Heimat, nach Arbeit, Liebe und einem geordneten Leben. Sie fürchtete, daß es bald keine Welt mehr gab, in der ihr Kind aufwachsen konnte, keine Welt für sie selbst. Sie hatte Angst und versuchte, das Gespenst des Entsetzens mit Worten zu vertreiben. Sie legten Kilometer um Kilometer zurück, und das Donnern der Flak-Geschütze und Panzerkanonen verhallte in der Ferne. Stille umhüllte sie, nur unterbrochen vom leisen Brummen des Motors und dem Zirpen der Grillen.
12. Kapitel
Aus dem Lautsprecher des Komempfängers erklangen das gedämpfte Prasseln der Flammen und die aufgeregten Stimmen der Shuttle-Piloten. Paul lauschte. »Das wär’s, Captain. Wir haben sie alle erwischt. Niemand kam davon.« »Der Rauch ist ziemlich dicht. Steigen Sie höher, damit wir nicht in die Qualmwolken geraten.« »Captain, einige Menschen laufen über die Straße.« »Eröffnen Sie das Feuer.« Paul zuckte mit den Schultern. »Was für eine Verschwendung von gutem Fleisch.« »Commander?« »Schon gut, Patricia. War nur eine Bemerkung.« »Ja, Sir.« Die externe Kommunikation übertrug ein rhythmisches, knallendes Pochen. »Wir sind in Schwierigkeiten, Captain. Flugabwehrkanonen…« Diese Mitteilung stammte von einem Scout-Shuttle, das weiter als die anderen Einheiten in den Canyon vorgestoßen war. Die Skyfighter über Vida gaben keine Antwort. Wieder das Donnern der Flak-Geschütze, gefolgt von einer krachenden Explosion – und dann Stille. Der Schluß lag auf der Hand. Paul wartete auf eine Reaktion der restlichen Kampffähren, rechnete damit, daß Jeffrey den Befehl zum Rückzug gab oder eine neue Strategie anordnete. Nichts dergleichen geschah.
»Die verdammten Narren haben ihre Kommunikatoren desaktiviert und die Warnung daher nicht gehört. Sie fliegen direkt ins gegnerische Sperrfeuer.« »Soll ich versuchen, mich mit ihnen in Verbindung zu setzen, Commander?« »Nein, Patricia. Sie waren dumm genug, sich auf dieses törichte Unternehmen einzulassen. Die Folgen haben sie sich selbst zuzuschreiben. Vida ist zerstört. Und das, was den Priester angeht, den Diana so sehr haßt – ich glaube, diesen Punkt können wir als erledigt abhaken. In der Meldung hieß es, niemand sei davongekommen. Jeffrey hat seinen Willen durchgesetzt.« »Wie Sie meinen, Commander.« Es knisterte und knackte im Lautsprecher des Empfängers, als die Piloten Flugdaten nannten. Die Skyfighter schwebten durch das schmale Tal, dicht über dem Fluß, der sich im Verlaufe von Jahrtausenden tief in den Fels gefressen hatte. Ohne es zu ahnen, näherten sie sich den Flak-Stellungen der Menschen, und schon nach kurzer Zeit gerieten sie unter schweren Beschuß. Mit einer Mischung aus Genugtuung und Besorgnis horchte Paul den erschrockenen Stimmen, dem Zischen der Laser und Grollen der Kanonen. Lichtblitze erhellten die Schlucht, zeichneten die gezackte Silhouette der Berge vor einem dunklen Himmel ab. Feuer loderte an den Hängen empor, wütete durch ungewöhnlich trockene Wälder. Die Mutterschiffe hatten soviel Wasser aufgenommen, daß der terrestrische Verdunstungszyklus drastisch verändert wurde und der Regen ausblieb. Zwar schluckten Wolken das Licht der Sterne, aber es fielen keine Tropfen. Und so wüteten die Flammen, verschlangen viele Morgen des dichten Kiefern- und Fichtenwaldes. »Commander, dort drüben«, sagte Patricia plötzlich und beugte sich vor. »Etwas hat sich bewegt.«
Paul starrte durch den transparenten Bugschild. »Ich kann nichts erkennen. Kehren Sie zurück, Patricia. Fliegen Sie eine Schleife.« »Ja, Sir.« Das Shuttle wendete und näherte sich wieder der Schlucht. Paul ließ seinen Blick über das Gelände schweifen, beobachtete die dunklen Bäume, die noch nicht den Flammen zum Opfer gefallen waren. Nichts rührte sich. »Halten Sie den Kurs, Patricia. Dort unten gibt es Damwild. Vielleicht haben Sie einen Hirsch gesehen.« »Es sah eher wie ein Fahrzeug aus, Sir.« Paul hielt weiterhin Ausschau und bemerkte einen seltsamen Schatten direkt unter ihnen. Doch aufgrund des Buschwerks fiel es ihm schwer, dem Schemen eine bestimmte Form zu geben. Wenn es sich tatsächlich um einen Wagen handelte, so kam er vermutlich aus Vida. Er fragte sich, ob jemand den Ort verlassen hatte, bevor der Angriff begann. »Fliegen Sie weiter. Wenn wir hinter der Anhöhe dort vorn sind, steigen Sie höher, reduzieren die Geschwindigkeit und gehen auf Gegenkurs.« »Ja, Commander.« Patricia befolgte seine Anweisungen, und kurz darauf beobachtete Paul, wie sich der Schatten von den Bäumen löste und wieder in Bewegung setzte. »Sie hatten recht, Patricia. Es ist tatsächlich ein Wagen. Die Frage lautet: Wer sitzt am Steuer?« »Soll ich das Feuer eröffnen, Commander?« »Nein, Patricia. Folgen Sie dem Fahrzeug nur, in sicherer Entfernung. Die Insassen sollen glauben, wir hätten nichts bemerkt.« An der nächsten Kreuzung bog der Wagen ab und fuhr nach Norden weiter. Das Visitor-Shuttle schwebte dicht unter der Wolkendecke und folgte ihm. Es fiel Paul nicht weiter schwer,
den Schatten auf der Straße im Auge zu behalten, und geduldig wartete er auf einen Hinweis, der ihm Aufschluß darüber geben mochte, wem die Flucht aus Vida gelungen war.
13. Kapitel
Die Nacht verfinsterte sich. »Ich kann die Straße kaum mehr sehen, Hadad«, sagte Ruth. »Wir müssen die Scheinwerfer einschalten.« Der Mann neben ihr nickte kurz. »In Ordnung.« Hadad blickte aus dem Seitenfenster, sah zum wolkenverhangenen Himmel hoch, beobachtete auch den Horizont. Inzwischen lag das Tal des Mackenzie River weit hinter ihnen, und ein hoher Bergkamm trennte sie vom Waldbrand. Noch immer rochen sie verbranntes Holz, aber es fielen keine Ascheflocken mehr. Die Straße wand sich an den Hängen empor, hier einspurig, an anderen Stellen breiter, dann nur noch als unebener Kiespfad. An einigen Stellen sah Hadad Schilder mit Zahlen, die für ihn bedeutungslos blieben. Einmal fiel das Scheinwerferlicht auf einen Hirsch am Rande des Waldes, und die Augen reflektierten den hellen Glanz. Nach einigen Sekunden drehte sich das Tier um und sprang davon, verschwand in der Finsternis zwischen den Bäumen. Als sie die Anhöhe in der Nähe von Minniece Point erreichten, hörte Hadad das Summen eines Shuttles. »Das Licht ausschalten«, stieß er hervor, und Ruth kam seiner Aufforderung sofort nach. Gleichzeitig trat sie auf die Bremse. »Was ist?« »Über uns«, sagte Hadad nur. Antigravitationsgeneratoren brummten. Ruth hielt an, streckte den Kopf aus dem Seitenfenster und blickte nach oben.
»Ich sehe nur Wolken, weiter nichts.« »Ein Skyfighter hat uns verfolgt.« »Aber warum?« »Ruth, bei meinem Volk gelte ich als Verräter. Laß mich hier zurück. Fahr ohne mich weiter. Schließ dich den anderen Menschen an. Kämpfe zusammen mit ihnen um die Freiheit dieses Planeten. Mir kannst du nicht mehr helfen.« »Ich will dich nicht im Stich lassen, Hadad.« »Eine sehr törichte Einstellung«, erwiderte der Visitor an ihrer Seite. »Vielleicht.« Ruths Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, und sie nahm die Straße als ein vages graues Band inmitten von konturloser Schwärze wahr. Sie legte den Gang ein, gab behutsam Gas, hielt den Blick auf das Buschwerk am Wegesrand gerichtet und suchte nach einer Abzweigung. Sie fuhr ganz langsam. »Warum schießen sie nicht auf uns?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte Hadad nachdenklich. Die Straße neigte sich nun ins Tal hinab, und an den lockeren Kies schlossen sich Asphaltstreifen mit weißen Markierungslinien an. Plötzlich ertönte über ihnen ein ohrenbetäubendes Krachen, und ein weißblauer Blitz zuckte vom Himmel herab, so grell, daß er für einen Sekundenbruchteil alles in gleißende Helligkeit tauchte. Unmittelbar darauf kehrte die Dunkelheit zurück, wirkte noch finsterer als zuvor. Ruth schrie und trat das Bremspedal bis zum Anschlag durch. Hadad spürte, wie er nach vorn geschleudert wurde, wie sich der Sicherheitsgurt auf seiner Brust spannte. Seine Verwirrung wich erleichtertem Erstaunen. Er war sicher, daß der Skyfighter das Feuer auf sie eröffnet hatte, und er fragte sich, warum sie noch lebten.
Er starrte in die Dunkelheit, suchte vergeblich nach einer Antwort. Dann begann es zu regnen. Ruth saß vornübergebeugt, die Stirn auf dem Rand des Lenkrads. Hadad fürchtete, daß sie das Bewußtsein verloren hatte, und er schob sich näher, um sie zu untersuchen. Sie blutete nicht, atmete jedoch flach und ungleichmäßig. Als er sie vorsichtig zurückzog, begann sie zu weinen. Er schlang die Arme um sie und wartete darauf, daß die Tränen die Anspannung in ihr lockerten. Das Brummen über ihnen war verklungen. Sie hörten nur die Regentropfen, die auf das Dach und die Motorhaube hämmerten, ein angenehm beständiges, einschläferndes Geräusch. Hadad spürte, wie ihm die Augen zufielen. Als er sie wieder öffnete, wußte er nicht, wieviel Zeit verstrichen war. Es regnete nach wie vor. »Ruth? Ruth…« »Mhm?« »Wach auf. Wir müssen den Hang verlassen.« »Was?« »Es war nur ein Blitz. Wir sind am Leben.« »Was ist geschehen?« fragte die junge Frau schläfrig. »Keine Ahnung. Das Shuttle schwebt nicht mehr über uns. Wir können jetzt wieder die Scheinwerfer einschalten und weiterfahren.« »Laß mich schlafen.« »Ruth, es regnet in Strömen, und die Gräben haben sich in reißende Bäche verwandelt. Die Straße könnte überflutet werden, und wenn die Strömung stark genug wird, spült sie uns vom Berg. Wir müssen versuchen, deinen Freund zu erreichen.«
Ruth murmelte etwas, und ihre Gedanken verloren sich erneut im Reich der Träume. »Nein, du darfst nicht wieder einschlafen.« Hadad beugte sich über sie, öffnete das Fenster auf der Fahrerseite, preßte Ruths Kopf in den strömenden Regen. Von einem Augenblick zum anderen war sie hellwach. »He, was soll das bedeuten?« »Tut mir leid, Ruth. Wir müssen los.« Sie nickte, startete den Motor, schaltete Scheinwerfer und Scheibenwischer ein. Sie schien ihre Müdigkeit vergessen zu haben, und Hadad erinnerte sie nicht daran. Wasser bildete breite Lachen auf der Straße, gurgelte und schäumte in den Gräben, strömte wolkenbruchartig vom Himmel herab, tropfte von überhängenden Felsen und den Zweigen und Ästen der Bäume. Ruth fuhr besonders vorsichtig, um nicht ins Schleudern zu geraten. Nach einer Weile gabelte sich der Weg vor ihnen, und Ruth hielt unschlüssig an. Die linke Straße war offenbar in einem besseren Zustand, und deshalb schlug Hadad jene Richtung vor. Ruth widersprach ihm nicht. Die Nacht schien kein Ende nehmen zu wollen. Als es kühler wurde, schlossen Hadad und Ruth die Seitenfenster, die sie geöffnet hatten, um dem Beschlagen der Windschutzscheibe vorzubeugen. »Es dauert nicht mehr lange bis die Sonne aufgeht«, sagte der Visitor. »Woher willst du das wissen?« »Die Kühle. Auf diesem Planeten spürt man sie immer kurz vor der Morgendämmerung.« Die Straße führte nach unten und verwandelte sich in einen Fluß. Um die Bremsen zu schonen, wählte Ruth den
niedrigsten Gang des automatischen Getriebes. Sie gab keinen Ton von sich, und Hadad schwieg ebenfalls. Sie überquerten eine Brücke, und einige hundert Meter weiter sahen sie ein Hinweisschild, dessen Aufschrift sie entziffern konnte. Ein Pfeil zeigte geradeaus: DETROIT 12. Der andere wies in die Richtung, aus der sie kamen: HIGHWAY 22 13. Sie passierten eine zweite Brücke, und kurz darauf sahen sie links eine große Wasserfläche. Die Straße wand sich zwischen dem See und einem steilen Berghang auf der rechten Seite entlang. Bäume wuchsen am Ufer, und schlammige Wege führten zu Campingplätzen und Anlegestellen. Es regnete nun nicht mehr so stark wie noch vor wenigen Minuten, und Ruth entspannte sich langsam. Erneut flackerte ein Blitz, und für einen Sekundenbruchteil bildete sich ein komplexes Muster aus weißen Linien am Himmel. Donner grollte und hallte von den Hügeln auf der anderen Seite des Sees wider. Einige Sekunden später nahm Ruth den Fuß vom Gas. Direkt vor ihnen stand ein großer Lastwagen und blockierte die Straße. Auf der Ladefläche lagen einige Baumstämme und etliche Kisten, über denen sich eine Plane spannte. Offenbar hatte der Mann am Steuer auf der regennassen Straße die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren. Der Laster war gegen einen Mast geprallt. Die oben an den Isolatoren befestigten Kabel dienten dazu, den nahen Campingplatz mit elektrischem Strom zu versorgen. Hadad sah, daß sie nun auf dem Führerhaus lagen. Die Menschen darin sahen aus dem Fenster und winkten aufgeregt. Ruth hielt an und stieg zusammen mit Hadad aus. »Sie dürfen den Lastwagen nicht berühren!« rief der Fahrer. Hadad begriff die Gefahr und hielt Ruth zurück. »Geh nicht näher heran.«
»Aber die Leute dort sind gesund und munter.« »Das Gummi der Reifen verhindert eine Erdung. Du könntest den Stromkreis schließen, und das brächte nicht nur dich um, sondern auch die Personen im Laster. Wir müssen das Kabel irgendwie entfernen.« »Wie?« Hadad begann mit einer Suche in unmittelbarer Nähe des Lkws. Der Fahrer rief ihm einen Rat zu. Neben ihm saßen seine Frau und zwei Söhne. »Ihr solltet besser zurückkehren. Wir sitzen hier drin fest, können nicht raus.« Hadad hörte die Verzweiflung in der Stimme. »Im Führerhaus sind Sie sicher. Bitte hören Sie auf mich: Versuchen Sie auf keinen Fall auszusteigen. Wir finden irgendeine Möglichkeit, das Kabel zu entfernen. Aber Sie müssen im Laster bleiben. Verstanden?« »Ja.« Der Mann beruhigte sich. Hadad fand den gesuchten Baum und kehrte zu Ruth zurück. »Wir brauchen Werkzeuge.« »Die meisten sind…« »Vor allen Dingen benötige ich eine Axt.« »In meinem Rucksack befindet sich eine. Sie ist zwar nicht sonderlich groß, dürfte aber genügen.« Hadad nahm das Beil entgegen und prüfte die Klinge. Sie war scharf genug. Anschließend schob er sich vorsichtig am Führerhaus des Lastwagens vorbei und erkletterte den Baum, den er zuvor für seine Aufgabe ausgesucht hatte. Als er sich auf einer Höhe mit dem Dach des Lkws befand, benutzte er das Beil, um einige Zweige zu entfernen, legte dadurch eine Astgabel frei, die später die stromführenden Kabel aufnehmen sollte. Nach der Vorbereitung des Stamms sprang er zu Boden und bedachte die Leute im Wagen mit einem kurzen Blick, um sich
zu vergewissern, daß sie sich an seine vorherigen Anweisungen hielten. Sie musterten ihn so erstaunt und verblüfft wie die Menschen, die ihn bei den Liegestützen beobachtet hatten. Als Hadad ihre Reaktion bemerkte, erinnerte er sich daran, daß er mit der Agilität seines Volkes geklettert war. Aber angesichts der derzeitigen Umstände spielte ihre Verwirrung nur eine untergeordnete Rolle; er zuckte mit den Schultern und wandte sich ab. Ruth stand auf der Straße, und das nasse Haar klebte an Stirn und Schläfen. Er griff nach ihrem Arm und zog sie zum Wagen zurück. »Mach dir keine Sorgen um mich«, sagte sie. »Ein bißchen Regen macht mir nichts aus.« »Steig ein. Ich brauche deine Hilfe.« Sie nahmen beide Platz. Hadad schwieg eine Zeitlang und dachte nach, erwog mehrere Alternativen. »Ich brauche einen großen Haken. Irgendeinen Gegenstand, um die Kabel hochzuziehen.« »Himmel, Hadad, sie stehen noch immer unter Strom. Wenn du sie anfaßt…« »Ich benötige einen Haken, Ruth«, wiederholte der Visitor. »Einen großen Haken.« Sie seufzte. »Ich habe nur die Werkzeuge dabei, die ich benutze, um Leder zu bearbeiten.« »Zeig sie mir.« Ruth griff nach einem Beutel, der vor der hinteren Sitzbank lag. Hadad betrachtete den Inhalt. Sofort fiel ihm ein vförmiger Locher auf, der ausreichend fest und stabil zu sein schien. Keins der anderen Dinge wies auch nur entfernte Ähnlichkeit mit einem Haken auf. »Ist das alles?« fragte Ruth. »Nein, noch nicht ganz. Ich brauche auch ein Seil, das keine Elektrizität leitet.«
Die junge Frau breitete die Arme aus. »Da muß ich passen.« »Vielleicht irrst du dich. Der Kunststoff meiner menschlichen Maske: Er leitet keinen Strom. Wärst du imstande, einen Strick daraus zu knüpfen?« »Ja, ich glaube schon.« »Also gut.« Hadad zog sich aus, nahm ein Ledermesser aus dem Beutel und schnitt dünne Plastikstreifen von seinen Beinen. Anschließend nahm er sich den Brustbereich vor. Zuerst starrte ihn Ruth verdutzt an, doch allmählich begriff sie, was er plante. Als Hadad ihr die flexiblen Bänder reichte, stellte sie daraus ein langes, zopfartiges Gebilde her, das sie am Locher befestigte. Der Visitor löste weitere Streifen aus seiner Ganzkörpermaske, und Ruth flocht sie zu einer rund einen Meter langen Kordel zusammen. Anschließend streifte sich Hadad wieder die Ledersachen über, spürte jetzt deutlicher als zuvor, wie rauh die nassen Tierhäute waren. Er nahm das improvisierte Seil, verließ den Wagen und fühlte, wie der Regen auf ihn herabströmte. Neben dem vorbereiteten Baum wuchs ein zweiter, dessen Zweige über die Straße reichten. Er kletterte am Stamm hoch, achtete darauf, sich wie ein Mensch zu bewegen, fand einen geeigneten Ast und näherte sich dem Führerhaus des Lasters. Vorsichtig ließ Hadad die Kunststoffkordel herab, schwang sie behutsam von einer Seite zur anderen und zielte mit dem vförmigen Locher nach dem Kabelstrang. Die ersten Versuche blieben erfolglos. Der Visitor kroch etwas weiter über den Ast, hörte das leise Knacken im Holz unter ihm, senkte erneut das geflochtene Seil. Diesmal verfing sich der Gegenstand, den er als Haken benutzte, unter dem stromführenden Metall. Langsam zog Hadad, und das Kabel geriet in Bewegung, löste sich vom Führerhaus des Lastwagens. Innerhalb weniger
Minuten gelang es ihm, den Strang in der Astgabel des anderen Baums zu deponieren. Genau in diesem Augenblick zuckte blendende Helligkeit auf ihn herab, und Donner krachte. Ein Blitz traf den Stamm, an dem sich Hadad festhielt. Flammen leckten über regennasses Holz, zischten über feuchte Fichtennadeln. Das Lederhemd des Visitors fing Feuer und verbrannte, offenbarte grüne Schuppenhaut. Hadad fiel und prallte schwer auf den Boden. Die Türen des Lastwagens öffneten sich, und einige Personen sprangen auf die Straße; Ruth stieg ebenfalls aus und eilte herbei. Hadad schlug die Augen auf und sah menschliche Hände, die schwelende Lederreste von seiner Brust lösten. Er wartete auf das Entsetzen in den glatten Mienen über ihm, darauf, daß man ihn als Außerirdischen erkannte, als verhaßte Echse. »Er hat schlimme Verbrennungen erlitten. Die Haut ist verkohlt. Berührt sie nicht. Kommt, helft mir beim Tragen. Der Mann hat uns das Leben gerettet. Wir stehen in seiner Schuld.« Hadad regte sich nicht, als sie ihn forttrugen. Sie legten ihn in Ruths Wagen, und im Anschluß daran kehrte die Familie ins Führerhaus zurück. Der Mann nahm am Steuer Platz, startete den Dieselmotor und setzte vorsichtig zurück. Ruth beobachtete das Manöver, und ihre Fingerspitzen klopften ungeduldig aufs Lenkrad. »Laß dir nichts anmerken«, sagte Hadad. »Mit mir ist alles in Ordnung, aber der Mann soll ruhig glauben, ich sei schwer verletzt. Andernfalls müßte er sich der Erkenntnis stellen, daß ich kein Mensch bin. Sieh mich nicht an.« »Und dir fehlt bestimmt nichts?« erwiderte Ruth, ohne den Kopf zu drehen. »Der Blitz…« »O ja, er hat mich getroffen. Ich habe gemerkt, wie sich die Energie entlud.«
»Und sie hat dir überhaupt nicht geschadet?« fragte die junge Frau besorgt. »Nein, Ruth. Es handelte sich um begrenzte Kraft. Sie zerstörte mich nicht.« »Aber du bist gefallen«, stellte Ruth fest. »Nein. Ich bin vom Baum gesprungen, um dem Feuer zu entgehen. Das ist alles.« »Und du hast dich nicht verletzt? Dir keinen Knochen gebrochen?« Ruths Verwirrung wuchs. »Nein. Meine Muskeln sind stark genug, um die Wucht eines solchen Aufpralls zu absorbieren. Du kannst ganz beruhigt sein, Ruth. Aber der Mann soll sich weiter Sorgen um mich machen. Das verstärkt seine Entschlossenheit, den Lastwagen auf die Straße zurückzusteuern.« »Du scheinst die menschliche Psyche ziemlich gut zu verstehen«, entgegnete die junge Frau mit leisem Spott. »In der Welt der Gedanken gibt es nicht annähernd so viele Unterschiede, wie du glaubst«, hauchte Hadad. Die dicken Reifen des Lasters drehten durch, und ganz langsam setzte sich das schwere Fahrzeug in Bewegung. Als Zugmaschine und Anhänger wieder gerade ausgerichtet waren, hupte der Fahrer und forderte Ruth mit einem Wink auf, ihr in Richtung Detroit, Oregon, zu folgen. Als sie den Highway erreichten, wandte sich der Lkw nach links, und Ruth wahrte auch weiterhin einen Abstand von einigen Dutzend Metern. Kurze Zeit später, in der Ortschaft, bog sie erneut nach links ab und fuhr zur Schule, fort von dem namenlosen Mann und seiner Familie. Als sie außer Sicht waren, lenkte sie das Auto an den Straßenrand und hielt an. Das erste diffuse Licht der Morgendämmerung verdrängte die Dunkelheit der Nacht. Graue Wolken zogen über den Himmel, und es regnete noch immer. »Dein Freund lebt hier in Detroit?« fragte Hadad.
Ruth nickte. »In diesem Haus?« »Nein. Er ist Ranger und wohnt hinter der Wache.« Sie sah auf ihre Hände, die sie im Schoß gefaltet hatte. »Ich habe hier nur angehalten, um der Familie Gelegenheit zu geben…« Sie sprach nicht weiter. »Ich verstehe.« Eine Zeitlang schwiegen sie. Hadad beobachtete die junge Frau am Steuer, sah dann aus dem Seitenfenster und ließ seinen Blick über die Häuser schweifen. An der nahen Kreuzung glühte das rote Licht einer Ampel, und im Fenster eines Ladens hing ein Schild mit der Aufschrift »Geöffnet«, obwohl das Geschäft ganz offensichtlich geschlossen war. Vor dem inneren Auge des Visitors bildeten sich stumme Szenenbilder: eine ruhige Kleinstadt, die seit einigen Wochen mit einem großen Flüchtlingsstrom fertig werden mußte, Verzweifelte, Heimatlose und Hungrige aufnahm. Gemüsegärten beanspruchten einst gepflegte Rasenflächen. Korn wuchs auf ehemaligen Spielplätzen. »Mir knurrt der Magen«, sagte Ruth nach einer Weile. »Vielleicht hat dein Freund etwas zu essen für dich.« Sie nickte und streckte die Hand nach dem Zündschlüssel aus. »Ich kann dich nicht begleiten, Ruth«, sagte Hadad. Ruth zögerte, griff nach dem Steuer. Ihre Finger schlossen sich so fest ums Lenkrad, daß die Knöchel weiß hervortraten. »Versuch bitte, mich zu verstehen«, fügte der Mann neben ihr hinzu. »Dein Freund wird mich ebensowenig akzeptieren wie Jerry. Ich bin ein Visitor, Ruth.« »Und wohin willst du gehen?« »In die Berge. Irgendwann nehme ich mit der Nahrung das Bakterientoxin in mich auf, und dann sterbe ich. Bis das
geschieht, werde ich dort leben.« Hadad deutete auf den Wald, in dem er Zuflucht zu finden hoffte. »Was ist mit dir?« fragte er. »Bleibst du bei deinem Freund?« »Wahrscheinlich.« »Das klingt nicht besonders begeistert.« »Nein.« Hadad suchte nach den richtigen Worten. »Ist er kein guter Mann?« »Doch, das ist er.« »Trotzdem bist du traurig.« Ruth nickte. Hadad bemerkte, wie sie mit den Fingerspitzen über den Rand des Lenkrads strich, vor und zurück. Er blieb still, hielt den Blick die ganze Zeit über auf sie gerichtet – und spürte, wie sich erneut Verlangen in ihm regte, eine melancholische Begierde, die all das in sich vereinte, was ihm erstrebenswert erschien: Freundschaft, Liebe, Heimat, Vertrauen. »Ich kann dir nichts bieten«, sagte er leise. »Und vermutlich droht mir in den Bergen ein rascher Tod. Aber du hast mich gelehrt, zu hoffen und zu wünschen.« Er zögerte. »Kommst du mit mir?« Ruth schwieg, und nach einigen Sekunden schüttelte sie den Kopf. »Ich verdiene dich nicht, Hadad«, brachte sie rauh hervor. »Du bist tapfer und ehrlich. Dir liegt etwas am Schicksal der Menschen – obgleich sie mehrmals versucht haben, dich umzubringen. Du weißt, was Mitgefühl bedeutet. Du…« Ruth holte tief Luft. »Hadad, du stellst all das dar, was ich mir jemals von einem Mann erträumte, aber ich… ich kann nicht länger bei dir bleiben. Du bist… zu gut für mich. Ich bin nicht mutig genug, denke in erster Linie an mich selbst. Und ich fürchte mich vor den Bergen, in denen du dich so sicher bewegst, als seiest du dort aufgewachsen. Ich fürchte mich vor
dem Leben, das du führst. Ich fürchte mich vor dem Tod, den du so… gleichgültig hinnimmst. Ich möchte leben. Und überall um mich herum lauert Unheil. Selbst wenn ich bei dir bin.« Es fiel ihr schwer, diese Worte zu formulieren. Hadad sah nur, wie sich ihre Lippen bewegten; er hörte gar nicht, was sie sagte. Diesmal achtete er nicht auf die junge Frau und ihre Ängste, konzentrierte sich ausschließlich auf die eigenen Sorgen. Er konnte sich nicht mehr auf sein menschliches Erscheinungsbild verlassen. Die Schuppenhaut auf der Brust war deutlich sichtbar, glänzte grün durch die Löcher im Hemd, schimmerte dunkel auf den Händen. In seinem Gesicht zeigten sich breite Kratzer. Hadad/David – eine Echse, ein Außerirdischer. Zwei Synonyme für Gefahr und Schrecken, für Erbarmungslosigkeit und Vernichtung, für Grauen und Entsetzen. Und für Haß. »Ich bin das, was ich bin«, sagte er. Ruth nickte, holte ihren Rucksack hervor und reichte ihm frische Sachen: ein neues Hemd, auch eine Jacke. Hadad zog sich um, öffnete dann die Tür und stieg aus. Die junge Frau gab keinen Ton von sich, versuchte nicht, ihn aufzuhalten. Hadad hatte eine Entscheidung getroffen; jetzt gab es kein Zurück mehr. Er schloß die Tür, wanderte in Richtung Highway, überquerte die Straße und verschwand im Wald.
14. Kapitel
Es war vor allen Dingen Patricias Geschick als Pilotin zu verdanken, daß sie zum Mutterschiff zurückkehren konnten. Der Blitz hatte viele Funktionskomponenten des elektrischen Bordsystems beschädigt, und Paul schauderte unwillkürlich, als er sich an den Flug durch die schmale Schlucht erinnerte, an die hohen und schroffen Felswände, die dicht neben dem Shuttle in die Höhe ragten. Nach der Dekontaminierung erwartete sie Eleanor im Hangar, und Paul überlegte, ob er zu nachsichtig gewesen war, als er sie aus dem Arrest entließ. In dieser Beziehung hatte ihn Jeffrey erheblich unter Druck gesetzt. Da sich Paul außerstande sah, alle seine Fragen zu beantworten, entschied er schließlich, Eleanors früheren Status wiederherzustellen. Er versuchte, die Situation zu einem Vorteil zu verändern: Wenn Jeffrey eine Möglichkeit bekam, die Autorität der Wissenschaftlerin zu nutzen, um eigene Pläne zu verwirklichen, gab es keinen Anlaß mehr für ihn, Pauls Position in Frage zu stellen, indem er ihm Verbindungen zur Fünften Kolonne vorwarf. Die Erwartungen des militärischen Kommandanten erfüllten sich: Jeffrey holte Eleanors Erlaubnis für den Einsatz der Skyfighter ein – und trieb sich damit selbst in die Enge. »Wir befürchteten schon, Sie seien ebenfalls ums Leben gekommen«, sagte Eleanor zuckersüß. »Sie waren viereinhalb Stunden draußen, und die Wirkung des Antitoxins ließ vor rund zwei Stunden nach. Um so erstaunlicher ist es, daß Sie keine Vergiftungserscheinungen aufweisen. Ich wäre Ihnen
sehr dankbar, wenn Sie sich in mein Labor begäben und dort untersuchen ließen.« »Sparen Sie sich Ihre Tests, Eleanor. Wir haben uns die ganze Zeit über im hermetisch abgeriegelten Shuttle aufgehalten und Luft geatmet, die aus dem Mutterschiff stammte. Wir sind überhaupt nicht mit der irdischen Atmosphäre in Berührung gekommen.« Paul log. Die Klimaanlage des Shuttles hatte den bordeigenen Sauerstoffvorrat durch verseuchte Luft ersetzt. Sowohl Paul als auch die anderen Angehörigen der Fünften Kolonne besaßen individuelle Vorräte des Antitoxins, das im Auftrage der terrestrischen Widerstandsbewegungen in den amerikanischen Bates-Laboratorien hergestellt wurde. Sie benutzten das Gegenmittel nicht, das Eleanor zusammenbraute, und deshalb hatte er überhaupt nicht an das Zeitlimit gedacht, das auch er als Kommandant beachten mußte. Eine umfassende Analyse seines Stoffwechselsystems konnte sich Paul nicht leisten; dadurch bestand die Gefahr, daß Eleanor Verdacht schöpfte. Er verließ den Hangar und machte sich auf den Weg zu seiner Unterkunft. Wenn Eleanor mit ihm sprechen wollte, mußte sie ihm folgen. »Ist Jeffrey zurückgekehrt?« »Oh, ich finde es rührend, daß Sie sich Sorgen um ihn machen, Paul.« »Es geht mir keineswegs um sein Wohlbefinden, Eleanor. Er hat einen Einsatz geleitet – den nicht ich autorisiert habe, sondern Sie –, und als Oberbefehlshaber der Streitkräfte dieses Mutterschiffes interessiere ich mich für den Verlauf der militärischen Operation.« »Natürlich.« Sie schritten durch den Korridor. Nach etwa zwanzig Metern blieb Paul stehen, hielt Eleanor am Arm fest und sah sie an. »Ich warte nach wie vor auf eine Antwort«, sagte er scharf.
Eleanor blickte zu ihm auf, öffnete den Mund, schloß ihn wieder und starrte zu Boden. »Ja, er ist zurück. Er wurde verwundet.« Sie zögerte kurz, bevor sie hinzufügte: »Er kam als einziger mit dem Leben davon.« »Das überrascht mich nicht. Er geriet in eine Falle.« Ruckartig hob Eleanor den Kopf. In ihren Augen blitzte es. »Woher wissen Sie das?« »Ich ließ den Empfänger eingeschaltet. Er nicht. Das Scoutschiff der Vorhut warnte vor den gegnerischen FlakStellungen, aber Jeffrey glaubte offenbar, die Erde im Handstreich erobern zu können. Ihr Verbündeter ist ein inkompetenter Narr, Eleanor. Und diesmal kommt er nicht ungeschoren davon. Sein Ehrgeiz, sich als Held zu präsentieren, hat mehreren Shuttle-Piloten das Leben gekostet.« »Der Priester ist tot«, warf Eleanor ein. »Woraus schließen Sie das?« »Jeffrey meint, niemand sei dem Feuer entkommen.« »Das meint Jeffrey«, erwiderte Paul mit gelindem Spott. »Sie konnten nicht landen, und deshalb ließen sie alles in Flammen aufgehen, die ganze Schlucht. Ich halte es für durchaus wahrscheinlich, daß der verräterische Priester zusammen mit den Menschen verbrannte.« »Nun, es mag ›wahrscheinlich‹ sein, aber es gibt keinen Beweis. Ich werde bald feststellen, wie erfolgreich Jeffreys Mission war. Gute Nacht, Eleanor.« Die Wissenschaftlerin starrte ihn groß an. Nach einigen Sekunden drehte sie sich abrupt um und ging in Richtung Medstation davon. Vermutlich will sie Jeffrey von meiner Reaktion berichten, dachte Paul. Er lächelte und beschloß, so bald wie möglich einen Späher auszuschicken – um in Erfahrung zu bringen, ob der Priester wirklich tot war. Wenn
er hingegen überlebt hatte, mußte er Kontakt zu ihm aufnehmen. Bevor Jeffrey Gelegenheit bekam, seinen Rachefeldzug erfolgreich zu beenden.
15. Kapitel
Die Regentropfen glitzerten im Licht der aufgehenden Sonne, und über dem grünen See bildete sich ein glänzender Regenbogen. Hadad hockte in einem Baum am nordöstlichen Ufer. Schlangen und Schnecken krochen unter ihm über den schlammigen Hang. Der Visitor hatte sich bereits den Magen gefüllt und beobachtete die Geschöpfe ohne Interesse. Er betrachtete die glatte Wasserfläche, die sich weiter unten erstreckte. Nach einer Weile gab er der Müdigkeit nach, machte es sich im Geflecht der Äste und Zweige gemütlich und schlief. »Und jene, die das Licht erkennen, sollen nicht fürchten den Tod.« Die Stimme schien in einem tiefen Gewölbe zu erklingen und hallte dumpf hinter Hadads Stirn wider. Er erwachte und sah sich um. Niemand befand sich in der Nähe. Er sah einige Menschen auf den Straßen und Plätzen des Ortes hinter ihm, doch im Uferbereich herrschte Stille. Er schloß die Augen und versuchte, ins angenehme Dunkel des Schlafes zurückzukehren. »Und jene, die das Licht erkennen, sollen nicht…« Hadad hob den Kopf, aber auch diesmal war er allein. »… sollen nicht fürchten den Tod«, beendete er den Satz laut. Er sah zum See, der nun den klaren Himmel reflektierte, das Grün der Bäume, das Graubraun der Berge. »… der Tod, den du so gleichgültig hinnimmst… so gleichgültig… gleichgültig…« Die Erinnerungsstimme Ruths.
Seine Fingerkuppen berührten die Borke des Stammes. Wann hatte er damit begonnen, mit Gleichgültigkeit auf das Konzept des eigenen Todes zu reagieren? Er dachte an seinen Alptraum, an die mit giftigem V-Staub gefüllten Luftballons, die sein Leben bedrohten… Seit wann hielt er den Tod für unvermeidlich? Seit das Bakterientoxin sowohl die Atmosphäre der Erde als auch die Nahrungskette kontaminierte? Seit dem Verlassen des Mutterschiffes? Während seiner langen Wanderschaft rechnete Hadad ständig damit, dem Tod zu begegnen, doch er war noch immer am Leben. Bisher hatte er angenommen, dem roten Staub entkommen zu sein, aber inzwischen lag bereits ein langer Weg hinter ihm. Zum erstenmal erwog er die Möglichkeit eines Irrtums. Vielleicht atmete er schon seit vielen Tagen eine Luft, die für andere Visitors tödlich sein mußte. Vielleicht nahm er mit der Nahrung die Bakterien in sich auf, das Toxin, das die Menschen als Waffe gegen die außerirdischen Invasoren verwendeten. Aber warum starb er nicht? »Und jene, die das Licht erkennen, sollen nicht fürchten den Tod.« Erneut die sonderbare Stimme. Wo hatte er sie gehört? Und warum vernahm er sie jetzt? »… so gleichgültig.« Ruths Vorwurf verstärkte das Unbehagen in ihm. Warum nahm er den Tod gleichgültig hin? Hadad kniff die Augen zu, konzentrierte sich auf seine Innenwelt, suchte in den Labyrinthen des Gedächtnisses nach einem Hinweis. In Gedanken staute er die Fluten des Zeitstroms und zwang sie in die entgegengesetzte Richtung: die Tage in Vida, die Monate in Prineville, die Wochen in Los Angeles, die Jahre an Bord des Mutterschiffes, die Stunden auf dem Anwesen des Großen Denkers, die… Verwirrt runzelte er die Stirn. Er hatte zwei Jahre beim Denker verbracht. Warum
entsann er sich nur an wenige Stunden? Die Soldaten brachten ihn als Kind zum Oberhaupt seines Volkes; aus welchem Grund erinnerte er sich an eine Rekrutierungsrede? Und Jeffrey? Wer war Jeffrey? Er gehörte nicht zur Gemeinschaft seines Heimatdorfes. Aber ein Teil seines Ichs sah in Jeffrey einen alten Jugendfreund. »Ich bin bereit, für den Großen Denker zu sterben, aber es gibt keinen Grund für mich, zu töten.« Hadad erkannte Dianas Stimme. Ständig wiederholte sie die Worte. Warum? Wo befand sie sich? Warum hörte er sie? Die Worte… Sie waren falsch. »Sagen Sie es, Gclixtchp: ›Ich bin bereit, für den Großen Denker zu sterben, aber es gibt keinen Grund für mich zu töten.‹ Legen Sie den Schwur ab, Gclixtchp. ›Ich bin bereit, für den großen Denker zu sterben, aber es gibt keinen Grund für mich zu töten.‹« »Nein, das sind die falschen Worte. Sie sind nicht richtig.« Die kindliche Stimme des jungen Gclixtchp. Wo hielt er sich auf? Wo war das Kind? Vergeblich versuchte er, sich daran zu entsinnen, wo er Dianas Stimme gehört hatte. Beim Denker? Zwei Jahre verbrachte er dort. Zwei Jahre. Aber weshalb erinnerte er sich nicht daran? Und Jeffrey? »Dies ist Ihr Freund Jeffrey. Sie kennen ihn schon lange. Er ist Ihr Freund. Sie sind mit ihm aufgewachsen. Gemeinsam dient ihr der Sache des Großen Denkers. Ein Königreich erwartet Sie, Hadad, und Jeffrey wird nicht von Ihrer Seite weichen. Sie können ihm vertrauen…« Diana. Aber warum flüsterte ihre Stimme in ihm? Gab es einen Zusammenhang zwischen ihren Worten und… Und was? Er hatte Diana an Bord des Mutterschiffes kennengelernt, entsann sich an die Vorstellung… Halt, Augenblick, dachte Hadad. Die Vorstellung, ja: Aber Diana begrüßte ihn nicht als Fremde,
erweckte einen vertrauten Eindruck. Begegnete er ihr nicht zum erstenmal? »Wiederholen Sie den Schwur, Gclixtchp: ›Ich bin bereit, für den Großen Denker zu sterben, aber es gibt keinen Grund für mich, zu töten.‹ Wiederholen Sie die Worte. Dann sorge ich dafür, daß die Flammen verschwinden.« »Aber es sind nicht die richtigen Worte.« »Sagen Sie den Schwur. Dann brauchen Sie das Feuer nicht mehr zu fürchten.« Was für ein Feuer? Heiße Glut umloderte ihn, brannte über seinen ungeschützten Leib, verkohlte grüne Schuppen. Hungrig leckten die Flammen nach ihm, seiner Mutter, seinem Vater, dem Haus, das er mit dem Begriff »Heim« assoziierte. »Ich bin bereit, für den Großen Denker zu sterben, aber es gibt keinen Grund für mich, zu töten.« Seine eigene Stimme. Er sprach den Eid, und daraufhin wich die verzehrende Hitze von ihm fort. Nichts weiter als ein Trugbild – eine andere Art von Wirklichkeit, die nur im mentalen Kosmos existierte, für die es in der externen Realität keine Entsprechung gab. Er saß in einem Zimmer, dessen Wände aus Glas bestanden. Und jenseits der transparenten Trennflächen wartete Diana! Die falschen Worte… Diana hatte ihn in die Konvertierungskammer bringen lassen und gezwungen, sie zu wiederholen. Aber sie waren falsch, nach wie vor falsch. Wie lauteten die richtigen Worte? Erneut schloß Hadad die Augen, hielt das helle Tageslicht aus seinem internen Universum fern. Er versuchte, sich an den richtigen Schwur zu erinnern, stieß jedoch nur auf Leere. Noch immer spürte er feuchtes Leder auf der Haut. Die Regennässe in Jacke und Hemd widerstand der Wärme des
Sonnenscheins, verdunstete nur langsam. Das Gewicht der Kleidungsstücke schien sich verdoppelt zu haben… … weckte Vorstellungen von einem rituellen Joch, das man ihm auf die Schultern preßte, auf die Struktur seines Bewußtseins… Hadad war damals sieben Jahre alt gewesen. Wie lauteten die richtigen Worte? »Ich bin bereit, für Zon zu sterben, aber es gibt keinen Grund für mich zu töten.« Er sprach die Worte klar und deutlich aus, und seine kindliche Stimme hallte im Saal der Weisen wider. Er erinnerte sich an Kerzen, weiße Roben, goldene Spangen. »Natürlich! Zon lehrt Mitgefühl. Ich bin bereit, für Zon zu sterben, und nicht etwa für den Großen Denker. ›Und jene, die das Licht erkennen, sollen nicht fürchten den Tod.‹ Der rote Staub tötet mich nicht. Er bringt mich nicht um. Ich atme ihn mit der Luft ein, nehme ihn mit der Nahrung auf, aber trotzdem bin ich noch am Leben.« »Ich möchte leben. Aber überall um mich herum lauert Unheil. Selbst wenn ich bei dir bin… bei dir… bei dir…« Jetzt hörte er Ruths Worte, denen er zunächst keine Beachtung geschenkt hatte. Sie wollte nicht länger bei ihm bleiben, weil er sich mit dem Tod abfand. Das war die Barriere zwischen ihnen – nicht etwa der Umstand, daß er zu den Visitors gehörte. Hadad beschloß, die junge Frau zu suchen. Es befand sich niemand in der Nähe, und deshalb nutzte er den Vorteil, den ihm die Agilität seines Echsenkörpers verlieh, ließ sich zu Boden fallen und federte den Aufprall in den Knien ab. Mit langen Schritten kehrte er zur Kreuzung zurück, und dort verharrte er unschlüssig. »Haben Sie sich verirrt, Kumpel?« Die Stimme kam von dem Haus auf der linken Seite. Hadad drehte sich um und sah einen alten Mann, der am Fenster saß.
»Ich suche die Rangerwache.« »Dann müssen Sie nach links, zum Highway. Am nördlichen Ufer des Sees.« »Danke.« »Gern geschehen.« Hadad setzte den Weg fort und nahm die Jacke ab, um das Hemd von der warmen Mittagssonne trocknen zu lassen. Einige andere Gebäude säumten die Straße, und er roch den Duft von frischem Brot. Kiefern und Fichten säumten die Straße. Rhododendronbüsche streckten ihre großen Blattbündel dem Sonnenschein entgegen, und Farne verbargen sich im Schatten der hohen Bäume. Ein sanfter, lauer Wind wehte, und einige Mücken umschwirrten Hadad neugierig. Hadad fand die Wache auf der rechten Seite, ging über den Asphalt, den weiße und gelbe Linien in einzelne Parkplätze unterteilten, stieg dann die Treppe hoch. Die Tür war geschlossen, das Büro leer. Er klopfte an, aber niemand öffnete. Neben dem Haus führte eine Zufahrt am Hang des Hügels hoch. Hadad kehrte auf den Parkplatz zurück, zögerte einige Sekunden lang und schritt dann an dem Gebäude vorbei. Weiter hinten entdeckte er einen großen Schuppen, der fast bis zu den Wipfeln einiger nahe Espen emporreichte. Eine Zeitlang beobachtete er die am Rande der Zufahrt abgestellten Wagen. Es handelte sich um grüne Fahrzeuge, die das gleiche Emblem aufwiesen wie das Schild vor der Wache. Weiter standen einige Häuser hinter hohen Brombeerbüschen. Hadad wandte sich in die entsprechende Richtung, und kurz darauf sah er Ruths Auto. Es parkte vor einer Hütte, und als er sich ihr näherte, hörte er die Stimme einer Frau, die er sofort wiedererkannte. »Das hat doch keinen Sinn.« Ein Mann.
»Wieso nicht?« fragte Ruth. »Du hast selbst gesagt, es sei mein Kind.« »Bezweifelst du das etwa?« »Nun, wenn es wirklich mein Kind ist, mußt du mir auch das Recht zugestehen, zusammen mit dir zu entscheiden, ob es in einer so verrückten Welt geboren werden soll.« »Du bist nicht dafür verantwortlich.« »Und warum nicht?« »Weil ich gar nicht von dir verlange, Verantwortung zu übernehmen.« »Du kommst einfach so hereingeplatzt und bittest darum, bleiben zu können. Willst du auch behaupten, es sei nicht nötig, daß ich mir um dein Wohlergehen Sorgen mache? Deine Anwesenheit genügt, um mich in die Pflicht zu nehmen.« »Ich bin erwachsen, Ron. Und selbständig.« »Himmel, Ruth, willst du denn nicht verstehen?« »Ron, ich bin die ganze Nacht unterwegs gewesen. Alles, was mir gehört, ist in Flammen aufgegangen, abgesehen von meinem Wagen und den Dingen, die ich am Leib trage. Die Echsen haben auf mich geschossen, und fast hätte mich ein Blitz erschlagen. Ich brauche ein Dach über dem Kopf, eine Gelegenheit, mich auszuruhen. Und du bist so dreist, mir zu sagen, du wolltest dich nicht mit einer Schwangeren belasten. Mit einer Frau, die dein Kind trägt.« »Eine Abtreibung…« »Kommt nicht in Frage, Ron.« Ruths Stimme klang schärfer, entschlossener. »Ich habe nicht die Absicht, ungeborenes Leben zu töten.« »Falls du es noch nicht begriffen haben solltest, Ruth: Es herrscht Krieg. Ein Krieg, bei dem es nicht nur um die Vorherrschaft des einen über den anderen, sondern um unser aller Überleben geht.« »Das ist mir durchaus klar«, erwiderte Ruth.
»Glaubst du? Hast du schon über unsere Situation nachgedacht? Wir sind abgeschnitten, Ruth. Schon seit Wochen treffen keine Lastwagen mit Nahrungsmitteln mehr ein. Wir müssen mit dem zurechtkommen, was wir im Kühlschrank haben und selbst anbauen können. Wir sind keine Bauern, Ruth. Uns bleibt nichts anderes übrig, als ganz von vorn anzufangen, das symbolische Rad der Landwirtschaft noch einmal zu erfinden. Du bist hergekommen, weil es sonst keinen anderen sicheren Ort gibt. In Ordnung. Dann mußt du ebenfalls zu Hacke und Schaufel greifen. Wir können es uns nicht leisten, jemanden zu ernähren, der sich nicht nützlich macht. Aber deine Schwangerschaft… Bald bist du gar nicht mehr fähig, uns bei der Arbeit zu helfen, und wenn das Kind geboren ist, müssen wir zwei zusätzliche Mäuler stopfen.« »Die Überbevölkerung gehört der Vergangenheit an, Ron«, sagte Ruth. »Die Echsen haben bereits mehr als ein Drittel der Menschheit verschleppt.« »Und für den Rest von uns sieht die Zukunft alles andere als rosig aus. Hungersnöte bedrohen uns, Epidemien. Überfälle der Visitors. Wir müssen lernen zu überleben. Ruth, wir konnten hier nur durchhalten, weil wir genug Wasser haben. Die Außerirdischen verwandeln die Erde allmählich in eine Wüste, und wir sind eine Art Oase, die uns Wasser im Überfluß bietet. Um bei dem Vergleich zu bleiben: Leider gibt es hier keine Dattelpalmen, keine Plantagen, keine Äcker.« Der Mann schwieg einige Sekunden lang. »Du hattest genug Benzin, um hierher zu kommen. Warum bist du nicht ins Tal weitergefahren?« »Das ging leider nicht.« »Warum nicht?« »Ich war nicht allein.« »Wer begleitete dich?« »Ein Freund.«
»Noch jemand, der uns zur Last fällt, der ernährt werden muß.« »In dieser Beziehung brauchst du dir keine Sorgen zu machen.« »Nun, ich persönlich vielleicht nicht. Aber es betrifft uns alle, unsere Gemeinschaft. Das hast du immer noch nicht verstanden, Ruth. Wir sitzen in einem Boot. Du glaubst, nach wie vor in einer Welt des Überflusses zu leben, aber inzwischen hat sich alles geändert. Heute ist sich jeder selbst der Nächste.« »Du versuchst nur, deinen Egoismus mit den derzeitigen Umständen zu rechtfertigen.« »Deine Kritik berührt mich längst nicht mehr. Über dieses Stadium bin ich hinaus. Ich kümmere mich um die Dinge, die mir am Herzen liegen, und du gehörst nicht mehr dazu.« Hadad stieg die Treppe hoch, nahm jeweils zwei Stufen auf einmal. »Ich frage mich, wieso ich überhaupt auf den Gedanken kam, dir läge noch etwas an mir.« »Das frage ich mich auch. Ich habe jetzt andere Pflichten, Ruth. Ich bin Ranger, und meine Aufgabe besteht darin, Detroit zu schützen.« Hadad klopfte an die Tür. Im gleichen Augenblick hörte er das Shuttle. Nur einen Sekundenbruchteil später sprang er los und stürmte in Richtung Wald. Laserstrahlen kochten am Haus vorbei, verfolgten ihn mit tödlicher Hitze. Hadad wich nach rechts und links aus, schlug Haken, versuchte, dem Bordschützen kein klares Ziel zu bieten. Gut einen Kilometer hinter der Wache fand er einen Abwasserkanal, sprang hinein und lief weiter. Als er das Ende erreichte, kletterte er wieder heraus und hielt auf die Bäume zu.
Der Skyfighter raste über ihn hinweg, wendete, kehrte zurück. An der Absicht des Piloten konnte kein Zweifel bestehen: Er wollte dem Fliehenden den Weg abschneiden. Hadad wich erneut zur Seite, hastete an Bäumen vorbei – und löste eine Falle aus. Das unter den Blättern verborgene Seil schloß sich um den Fuß des Visitors und riß ihn mehr als fünf Meter weit in die Höhe. Die Insassen des Shuttles mußten den Eindruck gewinnen, als sei er ganz plötzlich verschwunden, als habe er sich in Luft aufgelöst. Weitere Laserblitze zuckten und verbrannten einige Dutzend Meter entfernt den Boden. Mehrere Minuten lang kreiste die Kampffähre, bevor sie nach Osten abdrehte. Als Hadad am Fenster der Hütte vorbeigelaufen war, hatte er gehört, wie Ruth seinen Namen rief. Er mußte irgendwie zu ihr zurück. Seine Bauchmuskeln verhärteten sich, als er den Oberkörper emporzwang, nach dem Seil griff und sich Hand über Hand hochzog, bis er nach einem dicken Ast greifen und die Schlinge vom Fuß lösen konnte. Dann ließ er sich am Stamm herab und lief wieder los. In der Hütte rührte sich nichts. Der Visitor trat auf die Tür zu und klopfte. Ein Mann öffnete und starrte ihn an, schnitt eine Grimasse, als er Hadads zerkratztes Gesicht sah. »Was wollen Sie?« »Ist Ruth hier?« »Da haben Sie Pech, Mister. Sie macht gerade einen Spaziergang.« »Wo?« Der Mann deutete auf die Straße. »Versuchen Sie’s im Park«, sagte er spöttisch.
Die Tür fiel ins Schloß, und Hadad drehte sich um, bemerkte einen schmalen Pfad, der zwischen den Bäumen zur Straße führte. Als er ihn beschritt, sah er kurze Zeit später eine andere Zufahrt, die vom Highway bis zum Ufer des Sees reichte. Es dauerte nicht lange, bis er sich dem Campingplatz näherte: Kisten markierten individuelle Territorien, und Zelte boten Schutz vor dem Wetter. Möbelstücke, die aus aufgegebenen – und inzwischen vielleicht zerstörten – Häusern stammten, bildeten breite Stapel zwischen den einzelnen Parzellen. Hadad entdeckte die junge Frau schließlich am Strand: Sie kam gerade von der Anlegestelle im Westen zurück. Er blieb am Waldrand stehen und beobachtete sie. Ihr Blick galt erst dem Sand vor ihr, dann dem Wasser, den Bäumen, dem Himmel. Langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen. Unsicher verließ Hadad den Schutz des Dickichts, fragte sich, wie Ruth auf ihn reagieren würde. Ruth hob den Kopf, und als sie ihn erkannte, vergaß Hadad all seine Zweifel. Sie lief auf ihn zu, und er breitete die Arme aus und setzte sich ebenfalls in Bewegung. Es trennten sie noch einige Meter, als Hadad einmal mehr das Summen eines Antigravitationstriebwerks hörte. Der Skyfighter befand sich irgendwo hinter ihm. Er wandte sich nach rechts, lief zum Wald, und die Energiestrahlen verfehlten ihn, fraßen sich in den Sand. Das Shuttle sauste über ihn hinweg. Hadad wirbelte um die eigene Achse und sah Ruth, die auf dem Boden lag und sich nicht rührte. Er rief ihren Namen, und Entsetzen quoll in ihm empor, als er sich vorstellte, daß sie von einem der Laserblitze getroffen worden war. Ruth stemmte sich in die Höhe, und der in ihm vibrierende Schrecken wich tiefer Erleichterung. Sie lebte!
Dann fiel ihm plötzlich auf, daß die Kampffähre nicht zurückkehrte. Sie raste an der Anlegestelle im Westen vorbei, schwebte durch die schmale Schlucht – und eröffnete dort das Feuer. Hadad wußte, daß der See seine Existenz einem Damm verdankte. Auf der linken Seite, etwa hundert Meter entfernt, planschte ein vierjähriger Junge im Wasser. Seine Mutter stand in der Nähe und lachte. Sie ahnten nichts von der Gefahr. Hadad wandte sich von Ruth ab und eilte auf die beiden Menschen zu. Er lief schneller als während seiner Flucht vor dem Shuttle, schneller als jemals zuvor in seinem Leben, verwandelte seinen Körper in einen Hochleistungsmotor, die Beine in zwei unermüdlich stampfende Kolben. Während er über den Sand stürmte, hörte er in der Ferne einige donnernde Explosionen. Unmittelbar darauf begann das Wasser abzufließen. Er erreichte die Mutter, stieß sie einfach beiseite, sprang in den See, beobachtete, daß sich der Junge bereits vom Ufer entfernte, mit den Armen ruderte. Der Visitor schwamm mit der Strömung, die immer stärker wurde, hielt den Jungen fest, der sich zuerst gegen seinen Griff wehrte, dann aber keinen Widerstand mehr leistete, als er begriff, daß ihm der fremde Mann helfen wollte. Hadad versuchte vergeblich, gegen das Zerren und Reißen der Fluten anzukämpfen, änderte daraufhin seine Taktik und bestimmte die Anlegestelle am Ende des Strandes zu seinem Ziel. Er fühlte, wie der Körper des Jungen erschlaffte, verdoppelte seine Anstrengungen, hörte das tosende Rauschen im Bereich des zerstörten Damms. Das Ufer blieb unerreichbar, und die Strömung trug sie auch an der hölzernen Mole vorbei. Hadad schwamm, mobilisierte alle seine
Kraftreserven und näherte sich langsam einigen Bäumen. Die letzte Chance… Seine Hand schloß sich um die Wurzel einer Eiche, und glücklicherweise gab das Holz nicht nach. Er klammerte sich daran fest, wartete eine halbe Ewigkeit lang, bis der Wasserstand soweit gesunken war, daß er festen Boden unter sich spürte. Der Visitor kroch über feuchten Sand, zog den Jungen behutsam mit sich, verharrte nach einigen Metern und tastete nach den Druckpunkten am Nacken und auf der Brust des Kindes. Er nahm vitale Energie wahr, zwar schwach, aber nach wie vor existent, und er verstärkte sie mit der Kraft Zons, schürte das Feuer des jungen Lebens, auf daß die Seelenflamme heller brannte.
16. Kapitel
Der Junge öffnete die Augen, als seine Mutter und Ruth herbeikamen. »Oh, Johnny… oh, wie kann ich Ihnen nur danken… Johnny, Johnny, du lebst… o mein Gott!« Die Mutter sank auf die Knie und drückte ihren Sohn glücklich an sich. In der Ferne hörte Hadad das dumpfe Fauchen von Laserentladungen, gefolgt von weiteren Explosionen, aber er achtete nicht darauf. Er spürte, wie Ruth ihn am Arm berührte. »Die Visitors – sie kommen bestimmt zurück! Wir müssen fort von hier. Hörst du nicht? Bitte. Um Himmels willen, steh auf und komm mit mir!« Die Worte blieben ohne Bedeutung für ihn. Mattigkeit breitete sich in seinem Körper aus, und in diesen Sekunden wünschte sich Hadad nichts sehnlicher, als sich der Erschöpfung hinzugeben, als die Augen zu schließen und alles um sich herum zu vergessen. Doch Ruths drängende Stimme zog ihn auf die Beine; er vertraute ihr ohne Vorbehalte, wie damals in Vida, als er sich im Kofferraum ihres Wagens versteckt hatte. Seite an Seite hasteten sie über den breiten Strand. Die junge Frau trieb ihn, forderte ihn auf, noch schneller zu laufen. Aber die Müdigkeit war wie ein bleiernes Gewicht, das sich auf ihn herabsenkte, und der Waldrand schien vor ihm zurückzuweichen. »Kommen Sie zurück!« rief die Mutter des vierjährigen Knaben. »Bitte, geben Sie mir Gelegenheit, Ihnen zu danken. Ich kenne nicht einmal Ihren Namen…«
Hadad blieb stehen und drehte sich um, als er sie hörte. Sie saß noch immer auf dem nassen Sand und hielt ihren Sohn in den Armen. »Lauf, Hadad.« »Ich kann nicht, Ruth.« »Du mußt. Sonst bist du erledigt.« Und dann sah er den Skyfighter, der sich wieder dem Uferbereich näherte. Er flog tief und mit nur geringer Geschwindigkeit, was dem Piloten ausreichend Zeit gab, den Waldrand zu beobachten und nach verdächtigen Bewegungen Ausschau zu halten. Die Mutter rührte sich nicht von der Stelle, preßte nach wie vor ihren Sohn an sich. Sie rief ihm etwas zu, aber Hadad hörte sie gar nicht, vernahm nur noch das Summen des Shuttles. Er schien im Gespinst eines Alpdrucks gefangen zu sein, das allen seinen Bewegungen einen zähen Widerstand entgegensetzte, die Müdigkeit verstärkte und in Apathie zu verwandeln drohte. Ein weißblauer Blitz löste sich von der Kampffähre, kroch wie in Zeitlupe durch die Luft, so als sei die tödliche Energie in einer entropischen Blase gefangen. Hadad sah, wie das konzentrierte Feuer den Strand entlangtastete. Er sah das Gesicht der Mutter, als der Tod sie erreichte. Sekundenbruchteile dehnten sich zu langen Minuten: Schmerz und Entsetzen verzerrten die Züge der Frau; Haut verkohlte geradezu absurd langsam. Er sah, wie die Flammenzunge nach dem Jungen leckte und das Licht seines Lebens für immer auslöschte. Er sah, wie zwei verbrannte Leichen auf dem Strand zurückblieben. Und Hadad lief.
Ruth war einige Schritte voraus. Sie passierten die Anlegestelle, erreichten kurz darauf den Wald. Dicht hinter ihnen zischten Laserstrahlen. Wieder floh Hadad. Die Zweige der Bäume, die Blätter von Büschen und Sträuchern, der lockere Boden des Pfades, der harte Asphalt der Straßen – all das erschien ihm unwirklich. Und während er floh, flüsterte und raunte es in ihm. Der Visitor fühlte sich versucht, einfach stehenzubleiben und sich dem Tod zu stellen. Ich bin bereit, für den Großen Denker zu sterben, aber es gibt keinen Grund für mich, zu töten. Es wäre dem Denker sicher dienlich, wenn er starb. Hadad stellte sich vor, wie er den Wald verließ, auf den Strand zurückkehrte und eine tödliche energetische Entladung abwartete. »Lauf, Hadad!« Ruths Stimme erklang weiter vorn. Die junge Frau stand auf der Straße und winkte. Ich bin bereit, für den Großen Denker zu sterben… »Komm, Hadad.« … für den Großen Denker zu sterben… Ich fürchte mich vor dem Tod, den du so gleichgültig hinnimmst… »Du darfst nicht stehenbleiben, Hadad!« Es sind die falschen Worte, wisperte es in ihm. Wie lauten die richtigen? »Hierher, Lady.« »Wir müssen weiter.« »Ihr Begleiter ist völlig erledigt. Verstecken Sie sich im Wohnwagen. Ich sage einfach, Sie seien weitergelaufen. Helfen Sie ihm beim Einsteigen. Er kann jeden Augenblick zusammenbrechen.« Rauhe Hände berührten Hadads linken Arm, weiche den rechten. Die Sohlen seiner Stiefel kratzten über schmale Stufen, und mit den Schultern stieß er an harte Metallpfosten.
Dann spürte er, wie ihm warme Luft entgegenwehte, wie sein Körper auf eine Matratze sank und die letzte mentale Brücke einstürzte, die seine Gedankenwelt mit der Wirklichkeit verband. Dunkelheit. Rotbraune Finsternis. Ein Schlüssel, der sich im Schloß drehte. Nicht die richtigen Worte… Druck senkte sich auf ihn herab, und Hadad glaubte zu fühlen, wie Flüssigkeit über seinen Leib tropfte. Die Dunkelheit gewann eine lichtlose orangefarbene Tönung. Wenn Sie den Eid wiederholen, sorge ich dafür, daß das Feuer Sie nicht mehr verbrennt. Sprechen Sie mir die Worte nach… »O mein Gott, sie landen!« Sprechen Sie mir die Worte nach… die Worte… die falschen Worte… Ein Helm umschloß Hadads Kopf. Sensoren klebten an den Schläfen fest. Sein Körper stürzte in eine bodenlose Leere, fiel durch einen gelben Schlund, fiel und fiel und fiel… Ein Königreich wartet auf Sie… Und Jeffrey wird immer bei Ihnen bleiben. Sie können ihm vertrauen. Er ist Ihr Freund… Irgend etwas löste den linken Arm von seiner Seite und zog ihn in die Leere. Er schwebte von ihm fort, ohne ihn ganz zu verlassen, streckte sich dem dunklen Wirbeln entgegen, das aus Wasser und substanzlosem Nichts bestand… Ein kleines Kind, das in den Fluten zu ertrinken drohte… »Nein, öffne die Hand, Hadad. Verkrampf dich nicht.« Er hielt das Kind fest. »Bitte, Hadad. Hörst du mich?« Andere Worte… ebenfalls nicht die richtigen… nicht die richtigen… Etwas Fremdes zwang ihn dazu, die Hand zu öffnen, und das Kind glitt von ihm fort, versank in den davonströmenden
Fluten, während Hadads rechter Arm in einem Tunnel aus samtener Schwärze schwebte, aus einer nur greifbar werdenden Leere, die sich um ihn herum zusammenfaltete, Schultern und Oberkörper bedeckte, ihn vom orangefarbenen Schlund trennte. Nur die Hand blieb dort zurück, umhüllt von gelbem Nichts. Nur die Hand und sein Kopf, der unter einem Helm steckte. »Ausschwärmen! Sie müssen hier irgendwo sein. Sucht auf dem Campingplatz. He, ist das Ihr Wohnwagen?« »Dort drin befindet sich nur meine Frau. Sie ist krank.« »Schließen Sie die Tür auf.« »Es geht ihr ziemlich schlecht.« »Haben Sie nicht gehört, was ich sagte?« »Ich kann nicht zulassen, daß Sie meine Frau stören.« Eine Explosion ließ den gelben Kosmos erzittern, und Myriaden Splitter rasten durch den Tunnel, der sich um Hadads Körper zusammenpreßte. Die Schreie von Menschen zerrissen die Dunkelheit, und ein Entsetzenswind schleuderte ihn fort, durch einen sonderbaren Raum-Zeit-Riß, hinter dem grüne Schwäche auf ihn wartete. Er stöhnte. »Pscht.« Rauch wallte durch grüne Finsternis. Zahnräder knirschten, als der Rauch einen faserigen Kokon um ihn spann, und irgend etwas erschütterte das Gefüge der Welt. »Die Tür ist verriegelt.« »Machen Sie von Ihrem Laser Gebrauch.« Licht gleißte durch fleckige, grüne Leere, bildete Dutzende von fadenartigen Ausläufern, die sich zu einem dichten Netz formten. Es fiel auf Hadad herab, stülpte sich auf Kopf, Hände, Gesicht, auf eine glänzende Schuppenhaut. »Was für ein Gestank!«
»Sehen Sie nach.« »Nur eine Frau im Bett, wie der Mann sagte.« Hämmer pochten an die kristallisierte Gaze über ihm. Risse wuchsen in die Länge, und der Kokon zerfiel in Tausende von winzigen Fragmenten. »Der menschliche Gestank reicht mir jetzt. Hier ist niemand.« »Nehmen Sie sich den nächsten Wohnwagen vor.« Der Raum-Zeit-Riß schloß sich mit einem verhaltenen Klicken. Luft entwich aus einem Ventil dicht neben ihm, und der grüne Ballon des Raums schrumpfte, preßte rauhes Gummi auf seinen Körper. Irgend jemand zog es fort, löste es von seinem Leib, nahm ihm den Helm ab, befreite Arm und Torso aus dem Tunnel, hob ihn hellblauer Dunkelheit entgegen. »Hadad?« Explosionen projizierten kleine Sterne an einen hellblauen Himmel. Und während sie übers Firmament glitten, ertönte ein dünnes Heulen, das im Nichts verklang. »O mein Gott, sie legen den Campingplatz in Schutt und Asche. Sie bringen alle um. Oh, Hadad…« Sie sollen König sein und Hadad heißen, denn Sie werden die alte Stadt Pau wiedererstehen lassen, und die Menschen der Erde werden Ihnen folgen, wie einst dem legendären Wüstenkönig. Verkünden Sie ihnen die Wahrheit des Großen Denkers. Der Denker lehrt Kapitulation, Unterwürfigkeit und Gehorsam. Der Denker verlangt, daß man sich seinem Willen fügt. Sie sollen bestätigen, daß alles Leben vom Großen Denker kommt. Die leitende Hand des Denkers ist überall. Und nun, Gclixtchp: Sprechen Sie die Worte des Schwurs: Ich bin bereit, für den Großen Denker zu sterben, aber es gibt keinen Grund für mich, zu töten. »Nein.« Seine Antwort durchhallte das blaue Universum und zitterte in den Zellen seines Körpers.
Etwas kam durchs Blau heran und näherte sich rasch. Es senkte sich auf seine Brust, kroch dem Gesicht entgegen, berührte dann nur seine Lippen. Der Raum selbst küßte ihn, offenbarte ihm sein kobaltblaues, strahlendes Wunder. »Ich liebe dich, Hadad.« »Zon lehrt Mitgefühl.« Diese Stimme vibrierte in der Struktur des allgemeinen Seins. »Sprich die Worte des Schwurs, Sohn.« Die Stimme erfüllte all das, was war, ist und sein wird. Und das Flüstern in Hadad reagierte, ohne daß er sich auf eine Antwort konzentrierte, erfüllt von Vertrauen und Zuversicht: Ich bin bereit, für Zon zu sterben, aber es gibt keinen Grund für mich, zu töten. Er schwebte inmitten der Sterne, beobachtete das Aufblitzen gewaltiger Explosionen: alte Sterne starben, und neue wurden geboren. Sirenen wimmerten, als Kometen durch Sonnensysteme rasten. Schüsse krachten, als sich Sternenkinder in Supernovae verwandelten – der Kosmos feierte die Herrn des Lichts. Hadad schlug die Augen auf. Ruth saß neben ihm und musterte ihn besorgt. Er wußte nicht genau, wo er sich befand. Braune Metallwände umgaben ihn, und er ruhte in einem Bett. Kleidungsstücke lagen auf dem Boden verstreut, Hemden und Hosen, die er jetzt zum erstenmal sah. Draußen liefen Menschen durch den Wald. Er hörte das Knallen von Projektilwaffen, das Zischen und Fauchen von Lasern. Verletzte schrien. Sterbende stöhnten. »Deckt mich!« Ein Gewehr entlud sich. »Dort drüben.« Ein heißer Energiestrahl verbrannte menschliches Fleisch. »Sie haben mich erwischt, Ron. Übernehmen Sie. Treiben Sie die verdammten Echsen zu ihrem Shuttle zurück.« »In Ordnung, Leute. Los geht’s.«
Es ratterte. Heißes Blei und gebündeltes Feuer brachten qualvollen Tod. Dann das Summen des Skyfighters. Schließlich Stille. Schwere Schritte, als die Ranger vom Strand zum Campingplatz zurückkehrten. »Himmel, wir brauchen einen Bulldozer, um hier Ordnung zu schaffen. Bob, begleiten Sie Jack zur Wache. Verbinden Sie ihm das Bein, und bringen Sie die Planierraupe hierher.« Und dann: »Laßt uns nach Überlebenden suchen.« »Was ist geschehen, Ruth?« fragte Hadad leise. »Ein Angriff der Visitors.« »Sie hatten es auf mich abgesehen.« »Ja.« »Was ist mit den Menschen?« »Tot«, erwiderte die junge Frau betroffen. »Und die Stimmen, die ich höre?« »Die Ranger haben die Angreifer zurückgetrieben. Die Visitors sind fort.« »Der Mann, der die Befehle erteilt«, sagte Hadad. »Er ist Ihr Freund, nicht wahr?« »Ja.« Hadad beobachtete Ruth, hielt in ihren Zügen nach Kummer, Leid, Furcht und Haß Ausschau. Er sah nur Sorge. Sie beugte sich zu ihm herab, strich mit den Fingerkuppen über seine Wangen, berührte die Stellen, an denen das Material der Maske Risse aufwies. »Du brauchst eine Arzneipflanze.« Hadad hob die Hand, und das Licht fiel auf eine fleckige, grüne Schuppenhaut, unter der sich dicke Aderstränge abzeichneten. Plötzlich öffnete sich die Tür des Wohnwagens, und der Mann, den Hadad in der Hütte gesehen hatte, trat ein und
starrte sie groß an. Zischend ließ er den Atem entweichen und verzog das Gesicht. »Das hätte ich mir eigentlich denken können.« Ron sah sich um, schob ein Hemd beiseite, das auf der Sitzbank neben dem Tisch lag, nahm ihnen gegenüber Platz. Hadad rührte sich nicht, und Ruth saß weiterhin neben ihm, richtete ihren Blick nun auf den Vater ihres ungeborenen Kindes. »Sie waren hinter ihm her, nicht wahr?« fragte Ron. »Ja.« Hadad räusperte sich. »Ich bin…« »Hören Sie, Mister: Ich weiß nicht, wer Sie sind, und ich will es auch gar nicht erfahren. Ich interessiere mich nur für das, was Ruth zu sagen hat.« »Tu mir leid, Ron.« »Das genügt mir nicht. Du hast ihn hier versteckt, während draußen fünfundsiebzig Personen starben. Fünfundsiebzig unschuldige Menschen. Ich frage mich, warum euch die Visitors nicht entdeckten. Habt ihr euch irgendwo verkrochen?« »Einer von ihnen kam herein. Der Mann… der Mann, der uns hier Unterschlupf gewährte, sagte ihnen, seine Frau liege krank im Bett. Vermutlich gelang es ihm, die Außerirdischen zu überzeugen.« »Himmel, das ergibt doch überhaupt keinen Sinn. Die Echsen haben sogar ein kleines Kind in einem Laufstall getötet. Ich begreife nicht, warum sie euch in Ruhe ließen.« Ron deutete auf Hadad. »Was hat es mit ihm auf sich? Warum sind die Visitors so wild darauf, ihn zu erwischen?« »Darf ich vorstellen? Mein Freund Ha… David.« Hadad wußte, daß es bei den Menschen üblich war, sich die Hände zu schütteln. Aber er blieb trotzdem still liegen. Die grüne Schuppenhaut der Finger hätte ihn sofort verraten.
»Ich bitte um Entschuldigung, aber es freut mich nicht besonders, Sie kennenzulernen. Bevor Sie kamen, ging es uns hier recht gut. Wir hatten Wasser und lernten es allmählich, Korn und Gemüse anzubauen. Die Visitors ließen uns in Ruhe. Jetzt hat der Krieg auch dieses Tal erreicht, und das haben wir in erster Linie Ihnen zu verdanken.« Ron wandte sich wieder an Ruth und fügte hinzu: »Ihr könnt nicht bleiben«, sagte er fest. »Ich hoffe, das verstehst du. Solange er sich hier aufhält, ist niemand von uns mehr seines Lebens sicher.« »Ich fürchte, die Visitors kehren auch dann zurück, wenn wir den Ort verlassen«, wandte Ruth ein. »Das mag sein. Aber seine Anwesenheit vergrößert die Gefahr. Ruth, wir können ihn hier nicht längere Zeit verstecken. Die Echsen schrecken gewiß nicht davor zurück, alle Einwohner Detroits zu töten, um herauszufinden, wo sich dein Freund verbirgt. Und irgendwann werden sie ihn finden. Ich hoffe nur, daß sie deinem Wagen folgen. Wenn nicht, ist unser aller Schicksal besiegelt. Bring ihn fort. Und bleib weg. Ich will dich nicht wiedersehen.« Ruth schüttelte den Kopf. »Ich weiß gar nicht, wohin ich mich wenden soll, Ron. Wir sitzen ebenso in der Falle wie ihr.« »Du hast noch immer nicht verstanden, Ruth. Es ist so wie mit dem Kind: Du verschließt die Augen vor den Konsequenzen.« Ron seufzte. »Ruth, manchmal ist es notwendig, daß eine Person ihr Leben opfert, damit andere leben können. Bring ihn zu den Visitors. Wenn sie ihn bekommen, lassen sie uns vielleicht in Ruhe. Ich beauftrage Jay, euch zur Wache zurückzufahren. Nimm deinen Wagen und verschwinde. Zusammen mit ihm.« »Ich habe nicht genug Benzin.« »Jay wird dafür sorgen, daß jemand deinen Tank füllt. Das wär’s, Ruth.«
Der Ranger stand auf, bedachte sowohl Hadad als auch die junge Frau mit einem letzten Blick und verließ den Wohnwagen. »Jay«, hörten sie seine Stimme. »Fahren Sie die Leute hier zur Wache. Ruths Wagen steht an der Zufahrt vor meinem Haus.« Er fügte einige weitere Anweisungen hinzu. Kurz darauf sah Jay zur Tür herein. »In Ordnung, Sie können jetzt aussteigen. Wir haben die Visitors vertrieben. Kommen Sie.« Ruth gab dem Mann im Bett ein unauffälliges Zeichen, erhob sich und trat auf die Tür zu. Hadad stemmte sich in die Höhe und überprüfte seine Kleidung. Das Leder war noch immer feucht, aber nicht zerrissen. Nur die Hände offenbarten seine wirkliche Haut. Rasch sah er sich im Wohnwagen um, entdeckte zwei Arbeitshandschuhe und streifte sie sich über die Finger. »He, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit«, drängte Jay. »Bin schon unterwegs.« Der Mann nickte, und Hadad gesellte sich zu Ruth, die bereits draußen stand. Die Ranger hatten die Leichen am Rande des Campingplatzes aufgereiht. Tote Visitors lagen neben verbrannten Menschen; die Außerirdischen waren nur anhand ihrer roten Uniformen zu erkennen. Als sie in Jays Wagen in Richtung Highway fuhren, sah Hadad einen Bulldozer, der an der Anlegestelle vorbeirollte. »Wollen Sie Detroit wirklich verlassen?« fragte der Ranger am Steuer. »Mir scheint, hier ist es sicherer als in den Bergen.« »Es bleibt uns keine Wahl, Jay«, erwiderte Ruth. Er zuckte mit den Schultern. »Wie Sie meinen. Nun, ich weiß nicht, was zwischen Ihnen und Ron geschehen ist. Er war ganz außer sich, als Sie ihn verließen.« »Schon gut, Jay. Das alles spielt jetzt keine Rolle mehr.«
»Tut mir leid. Im Ernst.« »Danke. Sie sind immer ein guter Freund gewesen.« Schweigend legten sie den Rest der Strecke zurück. Nachdem Jay den Tank gefüllt hatte, stiegen Ruth und Hadad ein. Die junge Frau steuerte ihr Auto über den Highway, und nach einigen Kilometern bog sie nach Osten ab. Sie blickte in den Rückspiegel. »Zum Glück folgt er uns nicht.« »Zum Glück?« wiederholte Hadad verwirrt. »Weil wir nicht nach Osten fahren, sondern nach Norden. Ich kenne einen kleinen Urlaubsort in den Bergen.« »Ach, Ruth«, seufzte Hadad. »Warum hörst du nicht auf Ron? Er hat recht. Wenn wir bleiben, kehren die Visitors zurück, und dann sterben noch mehr unschuldige Menschen.« »Ich habe sie in Prineville erlebt«, hauchte Ruth. »Sie werden sich auch Detroit, Oregon, vornehmen – ganz gleich, ob wir hier sind oder nicht.« »Und was ist mit den Leuten in den Bergen?« wandte der Visitor neben ihr ein. »Unsere Gegenwart brächte auch sie in Gefahr.« »Das Dorf ist verlassen. Die Familien, die dort wohnten, sind hierher umgezogen.« »Wovon willst du leben, Ruth? Ich kann in den Wäldern auf Jagd gehen, aber du…« »Hadad, die Berge ernähren dich, nicht wahr?« »Ja.« »Dann werden sie auch mich nicht verhungern lassen.«
17. Kapitel
Paul lag in einem ovalen, halbtransparenten Behälter und genoß die blubbernde Wärme, die ihn umhüllte. Er wartete auf Patricia. Den ganzen Nachmittag über hatte er an der Konsole gesessen, sich mit Höhenlinienkarten beschäftigt und Listen verglichen, die Daten über Bevölkerungsdichte und Geländeanalysen enthielten. Ständig waren Shuttles unterwegs, um die Bewohner der eroberten Städte zum Mutterschiff zu bringen: menschliches Fleisch für die Bereithaltungshibernation. Das Antitoxin, dessen Wirkung sich auf wenige Stunden beschränkte, genügte für diese Operationen, und außerdem stand inzwischen eine Substanz zur Verfügung, mit der sich vom V-Staub vergiftete Körper dekontaminieren ließen. Mit anderen Worten: Kein Visitor brauchte mehr den Tod zu fürchten, wenn er von der Erde stammende Nahrung zu sich nahm. Das Oregon-Projekt stand kurz vor dem Abschluß – und es gab der sirianischen Streitmacht die Möglichkeit, auch den Rest der Erdbevölkerung zu unterwerfen. Paul hatte bereits einige Pläne entwickelt, die ihn beim bevorstehenden Machtkampf in eine günstige Position bringen sollten. Ein wichtiger Sieg war nötig, eine strategische Meisterleistung, die Dianas Erfolge in den Schatten stellte und ihm den Ruf einbrachte, weitaus fähiger zu sein. Paul schätzte, daß er ungefähr ein Jahr brauchen würde, um sein Ziel zu erreichen, stellte sich voller Genugtuung vor, wie Diana nach Ablauf dieser Zeit Befehle von ihm entgegennahm,
wie er ihre Arroganz in eine Waffe verwandelte, die sich gegen sie selbst richtete. Seine Schultern schmerzten. Er schaltete die Düsen ein und ließ sich tiefer ins gurgelnde und schäumende Wasser sinken. Wasser. Ihm gefiel der Luxus, es im Überfluß zur Verfügung zu haben. Paul nahm sich vor, am nächsten Morgen die entsprechenden Tanks an Bord des Mutterschiffes zu überprüfen. In den Bergen gab es einige Seen, die sie in die Lage versetzten, ihre Vorräte jederzeit zu ergänzen. Er liebte es, im Wasser zu liegen, wollte sich nie wieder der Notwendigkeit beugen müssen, sparsam damit umzugehen. Er schloß die Augen und spürte, wie das warme Strömen um ihn herum die Sorgen des Tages davonspülte. Nach einer Weile stand er auf, stieg aus der Mulde und griff nach einem weiten Mantel, der bis zum Boden reichte und die Haut seiner menschlichen Maske trocknete. Wenig später, als der Stoff die Feuchtigkeit aufgesaugt hatte, kleidete er sich in eine bequeme Robe. Patricia stand in der Tür seines Schlafzimmers, als er die Badezelle verließ. »Das Shuttle ist zurückgekehrt, Sir.« »Gut. Hat die Besatzung irgend etwas entdeckt?« »Sie fand den Wagen an dem Ort, den Sie beschrieben.« »Und die Insassen?« fragte Paul. »Ihre Vermutungen wurden bestätigt: Der Priester hielt sich tatsächlich in Detroit auf.« »Ausgezeichnet. Ich möchte, daß Justine Kontakt mit ihm aufnimmt. Er gehört ganz offensichtlich zur Widerstandsbewegung. Wir brauchen Informationen über die entsprechende Organisationsstruktur in Oregon…« »Da wäre noch etwas, Sir.« »Ja?«
»Der Skyfighter wurde verfolgt.« »Verfolgt?« wiederholte Paul überrascht. »Von wem?« »Von einer anderen Kampffähre, Sir.« »Jeffrey?« »Nein, Sir. Er befindet sich noch immer unter medizinischer Beobachtung. Aber ich vermute, der Befehl stammte von ihm. Die Einheit, die Sie ausschickten, bemerkte das andere Shuttle erst, als sie den gesuchten Wagen entdeckte. In der Nähe eines Sees.« »Eines Sees?« »Ja, Sir.« »Gut. Das gibt uns Gelegenheit, auch die anderen Wassertanks zu füllen.« »Ich fürchte, da muß ich Sie enttäuschen, Sir.« »Was meinen Sie damit?« Patricia senkte kurz den Blick. »Er ist nicht mehr da.« »Was ist nicht mehr da?« »Der See, Sir.« Paul holte tief Luft. »Sie verwirren mich, Patricia. Ich schlage vor, Sie nehmen Platz und erzählen mir die ganze Geschichte, von Anfang an.« Er griff nach ihrer Hand, führte sie ans Bett heran, legte die Robe ab und streckte sich auf dem weichen Schafsfell aus. »Die Schultern, Patricia. Bitte seien Sie so lieb.« Die uniformierte Frau kniete sich aufs Bett und massierte Pauls verkrampfte Muskeln. »Die Späher brachen heute morgen auf«, begann sie. »Sie flogen nach Süden, in Richtung Bend, um keinen Verdacht zu erwecken. Später steuerten sie die Berge an. Sie machten sich nicht die Mühe, dem Verlauf der Schlucht zu folgen. Ich gab ihnen die genauen Koordinaten des Ortes, wo uns der Blitz traf.« »Ich verstehe. Ein bißchen tiefer…«
»Sir?« »Ein bißchen tiefer«, wiederholte Paul. »Auf der linken Seite.« »Ja, Sir. Wie dem auch sei: Sie erreichten die kleine Stadt auf der anderen Seite des Bergkamms, und dort fanden sie den Wagen. Gleichzeitig orteten sie den anderen Skyfighter.« »Sie meinen das Shuttle, das ihnen folgte.« »Ja, Sir. Die Besatzung der anderen Fähre hätte den Wagen gar nicht wiedererkennen können, Sir. Nur Justine kannte die Beschreibung. Außerdem wäre es sicher nicht schwer gewesen, den Flug mit der Suche nach Wasser zu rechtfertigen. In der Nähe gab es einen See.« »Das sagten Sie bereits.« »Entschuldigen Sie, Sir.« Paul brummte. »Sie sprachen gerade im Konjunktiv. Das deutet darauf hin, daß sich Probleme ergaben.« »Ja, Sir. Das stimmt, Sir. Der Priester… er stand auf dem Parkplatz, in der Nähe des Wagens. Die Besatzung des anderen Shuttles sah ihn und eröffnete das Feuer, Sir. Sie jagte ihn in den Wald zurück, und dort verschwand er irgendwo.« »Gut. Er hat also überlebt. Außerdem kennen wir jetzt seinen ungefähren Aufenthaltsort.« »Das ist noch nicht alles, Sir.« Paul verzog das Gesicht. »Ich höre.« »Justine kehrte zurück und hoffte, das andere Shuttle würde ihr erneut folgen. Aber das war nicht der Fall. Es kreiste eine Zeitlang und suchte weiterhin nach dem Priester. Zuerst vergeblich. Ich weiß nicht genau, warum es kurz darauf den Damm zerstörte.« »Den Damm?« »Besser gesagt: zwei Dämme.« »Zwei?«
»Ja, Sir. Den, der das Wasser des Sees staute. Und einen weiter unten im Tal.« »Weshalb?« »Keine Ahnung, Sir. Es gab keinen strategischen Grund dafür. Vielleicht nur eine Laune des Piloten, Sir.« »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, gelang dem Priester die Flucht. Und die Laune eines Piloten vergeudete das Wasser eines ganzen Sees.« »Sir, nach der Zerstörung der beiden Dämme flog das Shuttle wieder in Richtung Stadt, und die Besatzung beobachtete, wie der Priester in Begleitung einer menschlichen Frau über den Strand lief. Erneut setzte sie die Bordgeschütze ein, doch der Gesuchte entkam. Daraufhin landete der Skyfighter.« »Was?« »Er landete, Sir. Und die Visitors durchsuchten einen Campingplatz, auf dem sich der Priester versteckte.« »Fanden Sie ihn?« »Nein, Sir. Aber wenn die Berichte zutreffen, töteten sie während der Suche rund hundert Menschen.« »Gab es Überlebende?« »Ja, Sir. Vier.« »Darf ich fragen, wie hoch die Verluste waren?« »Sechs, Sir.« Paul ächzte leise. »Zehn Soldaten folgten dem Scout in einem zweiten Shuttle, jagten einfach so zwei Dämme in die Luft und brachten hundert Menschen um, während sie nach dem Priester suchten – ohne ihn zu finden.« »Ja, Sir.« »Ich hoffe, daß die Gruppe aus Jeffreys Freunden bestand und nicht etwa Angehörige meiner Elitetruppen.« »Nein, Sir.« »Drücken Sie sich bitte etwas klarer aus.« »Nein, Sir, es waren nicht nur Freunde von Jeffrey.«
»Ich verstehe.« »Das ist noch nicht alles, Sir.« Paul seufzte erneut und spürte, wie sich seine Ungeduld allmählich in Ärger verwandelte. »Heraus damit.« »Ranger eröffneten das Feuer auf die Landegruppe. Daher die Verluste, Sir. Die vier Überlebenden starteten mit ihrem Shuttle und kehrten hierher zum Mutterschiff zurück. Aus diesem Grund wissen wir, daß es ihnen nicht gelang, den Priester zu eliminieren.« »Er befindet sich also irgendwo auf dem Campingplatz oder in den Wäldern, die Detroit säumen.« »Nein, Sir. Justine und ihre Begleiter schlossen sich nicht dem anderen Shuttle an, sondern blieben im Tal und beobachteten, wie der Wagen die Stadt verließ. Er fuhr nach Norden und hielt in der Nähe einiger Berghütten. Das ist die neue Zuflucht des Priesters, Sir.« »Sind Sie ganz sicher?« »Ja, Sir«, bestätigte Patricia. »Und Justine könnte sich mit ihm in Verbindung setzen?« »Wenn Sie möchten, Sir.« »Gut.« Paul drehte sich auf die Seite, und die uniformierte Visitor musterte ihn wortlos. »Ah, jetzt geht es mir schon besser. Ziehen Sie sich aus, Patricia.« »Noch nicht, Sir. Man erwartet Sie in zehn Minuten im Kontrollraum, Sir.« »Ach?« »Für das verabredete Gespräch mit Diana, Sir.« »Ich kann mich nicht daran erinnern, sie um eine Unterredung gebeten zu haben.« »Das erstaunt mich, Sir. Ich dachte, der Termin sei von Ihnen anberaumt worden.«
»Das ist nicht der Fall. Nun, ich spreche trotzdem mit Diana. Sehen wir uns später?« »Wenn Sie wünschen, Sir.« »Ja, ich finde Ihre Gesellschaft sehr angenehm.« Patricia lächelte, schob sich vom Bett herunter und ging. Paul zog seine Uniform an, schaltete den Videomonitor seiner Unterkunft ein und machte sich auf den Weg zur Zentrale des Mutterschiffes. Jeffrey stand an der Kommunikationskonsole. »Ich nehme an, diese Ehre verdanke ich Ihnen, Jeffrey«, sagte Paul. »Bitte?« »Das Gespräch mit Diana. Sie haben es arrangiert, nicht wahr?« Noch etwas schärfer fügte er hinzu: »Ich erwarte von Ihnen, daß Sie mir einen ausführlichen Bericht über Ihr heutiges Debakel vorlegen.« »Neuigkeiten sprechen sich hier schnell herum.« »Sie sind mir einige Erklärungen schuldig.« »Es wird sich noch herausstellen, wer etwas zu erklären hat«, erwiderte Jeffrey herausfordernd. Paul hob die Brauen, drehte sich dann zu der großen Projektionsfläche um. Dianas Abbild erschien auf dem Schirm, und die Sensoranzeigen versicherten dem Kommandanten, daß sie ihn ebenfalls sehen konnte. »Worum geht es?« fragte Diana. Ihr Tonfall war kühl und sachlich. Paul dachte an ihren geschmeidigen Leib im Bett, verdrängte diese Vorstellung aber sofort wieder. »Ich würde es gern Jeffrey überlassen, diese Frage zu beantworten.« Dianas Blick ging an Paul vorbei, und Jeffrey trat einen Schritt vor. »Wir haben den Priester Hadad verfolgt«, sagte er.
»Verfolgt?« Dianas Züge blieben unbewegt. Ihre ernste Miene verriet nichts von ihren Empfindungen. »Ich dachte, er sei tot. Sie wissen, was Sie zu tun haben, Jeffrey.« »Ja, Diana. Ich kenne meine Pflicht. Im Gegensatz zu einigen anderen Leuten.« »Mein Befehl lautete, alle Priester zu eliminieren. Die Narren sprachen von Passivität und Toleranz, untergruben damit die Moral unserer Truppen. Hadad ist der einzige Überlebende. Er muß sterben.« Diana bemerkte das Zögern Jeffreys und fügte hinzu: »Gibt es irgendwelche Probleme?« »Ja. Und sie betreffen Fragen der Autorität. Ich weiß, an welche Befehle ich mich zu halten habe. Aber unser so überaus fähiger Militärstratege hat offenbar andere Pläne.« Diana sah Paul an. »Welche Pläne meint Jeffrey?« »Diana, Jeffrey hat versucht, die ganze Operation in Hinsicht auf den Priester unter seine Kontrolle zu bringen. Seine Inkompetenz führte dazu, daß der Gesuchte dreimal entkam. Durch seine Schuld fanden viele Menschen den Tod, die wir als Nahrungspakete in den Hibernationskammern hätten unterbringen können. Er vergeudete das Wasser eines ganzen Sees. Und er war sogar so unfähig, Hadads Spur zu verlieren. Ich habe nicht die geringste Absicht, das militärische Kommando an ihn abzutreten oder bei weiteren Aktionen seinen Rat zu berücksichtigen.« »Es kommt in erster Linie darauf an, den Priester aus dem Verkehr zu ziehen«, sagte Diana. »Machen Sie sich in dieser Hinsicht keine Sorgen. Er ist bereits so gut wie tot.« Diana nickte. »Jeffrey, hiermit löse ich die Bande zwischen Ihnen und Hadad. Ihr Vorgesetzter hat gerade die Verantwortung für den Tod des Priesters übernommen, und das genügt mir. Haben Sie mich verstanden?« »Ja, Diana«, erwiderte Jeffrey und sah zu Paul auf.
Einige Sekunden lang war Paul nicht ganz sicher, ob er wirklich gewonnen hatte. Er wußte nichts von einer besonderen Verbindung zwischen Jeffrey und Hadad, aber er begriff plötzlich, daß ihm jetzt gar keine andere Wahl mehr blieb, als den Priester umzubringen. Wenn Hadad überlebte, mußte er damit rechnen, von Diana bestraft zu werden – und dann gab es keine Möglichkeit mehr für ihn, sich seinen Traum von Macht zu erfüllen. »Und Sie, Paul?« fragte die Oberste Kommandeuse. Er nickte. »Gut. Ist das alles?« »Ja.« »Dann bis zum nächsten Mal.« Paul nickte erneut und unterbrach die Verbindung. Jeffrey beobachtete ihn. »Machen Sie sich keine falschen Hoffnungen, Jeffrey«, stieß Paul hervor. »Ich weiß, wo sich der Priester aufhält. Er wird sterben. Sie können sogar dabei zusehen, wenn Sie wollen. Das haben Sie verdient. Aber ohne meine ausdrückliche Genehmigung schicken Sie keine Soldaten mehr in den Einsatz, klar?« »Ja, Sir.« »Jetzt dürfen Sie wieder Ihren üblichen Pflichten nachkommen. An Bord des Schiffes.« »Wie Sie meinen, Sir.« Der junge Visitor verließ den Kontrollraum. An diesem Tag nahm Justine die Aufgaben des diensthabenden Offiziers wahr. Was mir nur recht ist, dachte Paul zufrieden. »Justine, bringen Sie mir die Einteilungsliste für die nächsten zweiundsiebzig Stunden.«
»Ja, Sir.« Die hochgewachsene Brünette reichte ihm eine Chipfolie. Sie enthielt die Namen all der Visitors, die das von Eleanor hergestellte Antitoxin erhalten hatten. Es waren auch die Soldaten eingetragen, die den Angriff auf den Campingplatz nicht überlebt hatten. Gute Männer, dachte Paul. Ausgezeichnete Kämpfer, auf die ich in Zukunft verzichten muß. Durch Jeffreys Schuld. Justine gehörte zu den Leuten, die während einer zweiundsiebzigstündigen Rekonvaleszenzphase im Mutterschiff bleiben mußten. »Drei Tage«, sagte er und sah Justine an. Sie nickte. Paul nahm sich vor, den Plan zusammen mit Patricia zu entwickeln. Diesmal blieb Justine – die die Fünfte Kolonne an Bord leitete – nichts anderes übrig, als seine Anweisungen zu befolgen. Ein zweiter Sieg. Er lächelte. Kurze Zeit später kehrte Paul in sein Quartier zurück. Aus einem Reflex heraus streckte er die Hand aus, um die digitalen Impulse gespeicherter Szenenbilder in die Überwachungselektronik des Videomonitors zu speisen. Doch aus irgendeinem Grund zögerte er, schaltete das Gerät ein und sah sich die Aufzeichnung der letzten halben Stunde an. Eleanor. Sie betrat seine Kabine – obwohl er den Zugangscode verändert hatte –, sah sich im Zimmer um und begann mit einer gründlichen Durchsuchung. Paul starrte auf den Bildschirm und fragte sich, wonach die Wissenschaftlerin Ausschau hielt. »Ich habe gefunden, was ich suchte«, erklang hinter ihm die Stimme einer Frau. Paul drehte sich um. Eleanor stand in der Tür der Badezelle, nicht etwa in eine Uniform gekleidet, sondern in einen seiner weiten Mäntel. »Offenbar fühlen Sie sich bereits ganz wie zu Hause.«
»Ich dachte, unter den gegebenen Umständen zögen Sie meine Gesellschaft der einer anderen Frau vor.« Paul kniff die Augen zusammen. »Was wollen Sie?« Langsam und mit aufreizend schwingenden Hüften trat sie auf ihn zu, hob die rechte Hand und strich ihm über die Wange. »Ich beabsichtige, Sie zu erpressen, Paul.« »Nett. Glauben Sie, daß Sie dazu fähig sind?« »Da bin ich ziemlich sicher.« »Nun, man greift nur dann zum Mittel der Erpressung, wenn man sich verzweifelt etwas wünscht, das man auf andere Weise nicht bekommen kann. Ich frage mich, worin Ihr Wunsch besteht.« Paul beobachtete Eleanors Reaktion. Seine spöttische Bemerkung verwirrte sie. Vermutlich hatte sie erwartet, daß er sich nach ihrem Fund erkundigte. Die Wissenschaftlerin wandte sich von ihm ab, schlenderte langsam durchs Zimmer und schien mit den Blicken Besitz davon zu ergreifen. »Ich will Macht, Paul. Und ich möchte, daß die verbalen Auseinandersetzungen zwischen uns endlich aufhören. Wir könnten zu Verbündeten werden. Sie brauchen das Prestige meiner Erfolge, und ich benötige die Autorität Ihrer Stellung. Was halten Sie von einer Zusammenarbeit zwischen uns, Paul?« Drohend fügte sie hinzu: »Ich bin in der Lage, Ihre Karriere zu zerstören. Es wäre ganz einfach.« »Nichts ist einfach, Eleanor.« »Durch meine Arbeit stehen Ihnen die gemäßigten Klimazonen der Erde offen, Paul. Der nächste Schritt besteht darin, einen Teil der Flotte unter Ihrem Kommando zu reorganisieren, um die kühleren Städte dieses Planeten unter Kontrolle zu bringen. Ihre Pläne für diese Operation sind
bereits fertig. Oh, sehen Sie mich nicht so überrascht an. Ich kenne die Karten, mit denen Sie sich heute beschäftigt haben.« »Ich wußte gar nicht, daß Sie sich für Kartographie interessieren, Eleanor.« »Sie ist mir völlig gleich. Mein Interesse gilt Macht und ihrer Ausübung.« »Wessen Macht?« »Meiner.« Paul musterte sie und begriff, daß sie es ernst meinte. Er hütete sich davor, sie zu unterschätzen. »Also gut«, brummte er schließlich. »Was schlagen Sie vor? Mit was für einer Art von Bündnis wollen Sie zu Macht gelangen?« »Ich möchte Kontrolle, Paul. Völlige Kontrolle. Ich bestimme die Ziele, und Sie führen meine Befehle aus.« »Mit anderen Worten: Sie haben keinen gleichberechtigten Partner im Sinn, sondern eine Marionette. Aus welchem Grund glauben Sie, ich würde mich damit einverstanden erklären? Was bieten Sie als Gegenleistung an?« »Mein Schweigen, Paul.« »Ihr Schweigen?« »Ja.« »Ich verstehe nicht…« »Ich meine Ihr Bestreben, Dianas Autorität zu untergraben, ihre Stelle einzunehmen. Zweitens: Ihre Mitgliedschaft in der Fünften Kolonne…« »Ihre Vorwürfe deuten darauf hin, daß ich ein sehr beschäftigter Mann bin. Gegen-Gegenspionage – so nennt man das doch, oder? Eine gefährliche Sache. Man weiß nie, wem man trauen kann. Warum sollte ich mich ausgerechnet auf Sie verlassen?« »Sie brauchen mich.« »Das glauben Sie.«
»Ich weiß es.« Paul seufzte. »Dann wissen Sie mehr als ich. Nun gut. Aus welchem Grund brauche ich Sie? Welchen Nutzen hätten Sie für mich?« Eleanor lachte, kam wieder näher und schmiegte sich an ihn. Ihr Blick war fest und durchdringend. »Sie brauchen mich, um das hier zu synthetisieren.« Sie hob eine kleine Kapsel, die Pauls Vorrat des Antitoxins enthielt, das aus den Bates-Laboratorien stammte. Danach hat sie also gesucht, fuhr es ihm durch den Sinn. »Für eine Synthetisierung, die allein persönlichen Zwecken dient. Die Produktionsstätten auf der Erde könnten im Verlauf des Krieges zerstört werden, und dann müßte die Fünfte Kolonne ihre Stützpunkte und Basen in den gemäßigten Zonen aufgeben – was Ihnen die Herrschaft über die halbe Erde einbrächte.« Paul dachte über den Plan nach, den Eleanor mit wenigen Worten beschrieben hatte. Scientific Frontiers – der Hersteller des Antitoxins – stellte einen der Pfeiler dar, auf den sich Dianas Macht stützte. Er sah auf die Wissenschaftlerin herab, deren Körper ihm das Bett in Aussicht stellte – und in deren Gedanken sich eine Falle für ihn verbarg. »Ich werde Ihren Vorschlag prüfen«, sagte er ruhig. »Nehmen Sie sich nicht zuviel Zeit.« Paul winkte. »Ziehen Sie sich jetzt wieder an und lassen Sie mich allein.« Eleanor kam der Aufforderung nach, und an der Tür blieb sie noch einmal stehen. »Vielleicht können wir unser Gespräch fortsetzen, wenn Sie den Priester eliminiert haben.« »Ja, vielleicht.« Hinter ihr schloß sich das Schott mit einem verhaltenen Zischen.
Paul programmierte die elektronische Verriegelung auf den alten Code, den Patricia eingeben würde, um seine Unterkunft zu betreten, justierte den Videomonitor auf vorbereitete Szenen – sein persönliches »Bitte nicht stören«-Zeichen – und streckte sich auf dem Bett aus. Der Priester. Wieder fühlte sich Paul herausgefordert, spürte gleichzeitig einen ihm bereits vertraut gewordenen inneren Widerstand. Mit einer Selbstanalyse versuchte er festzustellen, warum er zögerte, Dianas Befehl auszuführen. Er hatte den jungen Mann während des Fluges zur Erde kennengelernt, erinnerte sich an einen eher enttäuschenden Eindruck von ihm. Er wirkte unnahbar, war sich seiner selbst zu sicher, unerschütterlich in seiner Treue gegenüber dem Großen Denker. Warum regte sich immer Unbehagen in Paul, wenn er sich Hadads Tod vorstellte? Kurz darauf traf Patricia ein und nahm verblüfft zur Kenntnis, daß Paul nach wie vor seine Uniform trug. Sie knöpfte ihre Jacke wieder zu und blieb abwartend neben der Liege stehen. »Ich habe Diana versprochen, den Priester zu töten«, sagte er ohne Einleitung. »Ja, Sir.« »Wenn ich ihn nicht eliminiere, verliere ich mein Kommando.« »Ich verstehe, Sir.« »Hadad und die junge Frau… Sind sie allein in den Bergen?« »Ja, Sir. Soweit wir wissen, stehen die anderen Hütten leer.« »Dann ist keine große Einsatzgruppe erforderlich«, sagte Paul. »Nein, Sir.« »Gut. Wir brechen mit drei Shuttles auf. Sie begleiten mich, Patricia. Sorgen Sie dafür, daß Justine all die Leute mitnimmt,
die Jeffrey bei seiner letzten… Mission unterstützten. Der Rest der Besatzung sollte aus Angehörigen der Fünften Kolonne bestehen.« »Sir?« »Ich möchte es vermeiden, lange Erklärungen abgeben zu müssen. Jeffrey und seine Freunde werden dieses Unternehmen nicht überleben. Er ist ein Ärgernis – ohne ihn komme ich besser zurecht. Es soll den Anschein haben, als seien wir angegriffen worden. Und es ist wichtig, daß Jeffrey und seine Anhänger sofort sterben. Justines Leute werden uns bestimmt nicht verraten.« »Ich verstehe, Sir«, sagte Patricia. »Anschließend verhören wir den Priester, um zu erfahren, welche Basen die Fünfte Kolonne in den nördlichen Regionen unterhält. Es geht darum herauszufinden, wieso Hadad den VStaub überlebte.« »Ja, Sir.« »Geben Sie Justine Bescheid«, fügte Paul hinzu. »Wir warten zweiundsiebzig Stunden, so daß die richtigen Personen mit uns kommen können. Weisen Sie sie darauf hin, daß erst dann auf den Priester geschossen werden darf, wenn ich den Befehl dazu gebe.« »Ja, Sir.« »Hadad muß getötet werden. Ist das klar?« »Ja, Sir.« »Und noch etwas, Patricia: Eleanor hat meinen von der Widerstandsbewegung stammenden Vorrat Antitoxin gefunden und an sich gebracht. Holen Sie die Kapsel zurück. Ohne daß sie erfährt, wer sie nahm.« »Zu Ihren Diensten, Sir.« Patricia verließ die Unterkunft. Paul war müde, aber er mußte noch mit jemand anders sprechen, bevor er sich zur Ruhe legen konnte.
Er trat an die Konsole heran und setzte sich mit der Kommunikationsstation in Verbindung. »Sir?« »Schicken Sie Jeffrey ins Kartenzimmer«, sagte Paul und machte sich auf den Weg. Die entsprechende Kammer war besonders hell erleuchtet, und ihre Wände bestanden aus großen Bildschirmen und Monitoren. Der Konferenztisch schien von innen heraus zu strahlen und stellte eine Projektionsfläche dar, auf der sich strategische und taktische Strukturprogramme abbilden ließen. Paul hatte diesen besonderen Raum gewählt, weil er keine Kontrollmechanismen enthielt. Jeffrey stand am einen Ende des langen Tisches, als der Kommandant eintrat. »Sie wollten mich sprechen, Paul?« »Ja. Um Ihnen meine Bedingungen für Ihre Teilnahme an der Elimination Hadads zu nennen.« »Ich höre.« »Sie werden mit niemandem darüber sprechen. Haben Sie verstanden? Das Wissen um den genauen Zeitplan bleibt auf Sie und mich beschränkt.« »Wenn Sie unbedingt wollen…« »In der Tat. Übrigens gilt das auch für Eleanor.« »Selbstverständlich.« »Sie begleiten meinen Piloten und mich, und der diensthabende Offizier wird die Besatzungen der übrigen Shuttles ohne Ihre Einmischung bestimmen.« Jeffrey hob die Brauen. »Hätte ich einen Grund, mich einzumischen?« Paul ging nicht auf die Frage ein. »Wir starten in zweiundsiebzig Stunden.« »Es gibt keinen Anlaß für eine so lange Verzögerung«, zischte Jeffrey.
»Meine Entscheidung ist der Anlaß«, erwiderte Paul und lächelte humorlos. »Oder wollen Sie meine Autorität schon wieder in Frage stellen?« Einige Sekunden lang war er nicht sicher, wie Jeffrey darauf reagieren würde. Der Mann ihm gegenüber senkte den Kopf, und Paul sah, wie seine Lippen bebten. »Nein, natürlich nicht«, entgegnete er leise.
18. Kapitel
Sonnenschein glitzerte auf dem Wasser in der großen Wanne. Hadad beobachtete, wie sich Ruth ausstreckte und planschte, wie sie den Kopf hob und lächelte. Und während er ihr zusah, glitten seine Gedanken einmal mehr in die Vergangenheit zurück… Es fiel ihnen nicht weiter schwer, die Berghütten zu finden. Ruth behielt recht: Sie standen tatsächlich leer. Eine der Türen war nicht verschlossen, und als sie das kleine Haus betraten, wehte ihnen muffig riechende Luft entgegen. Hadad beschloß, später einige Duftkräuter zu verteilen. Sie sahen ein großes und breites Bettgestell, einige Möbel, alte und fleckige Vorhänge an den Fenstern: Erinnerungen an die Menschen, die hier gelebt hatten und nun in Detroit Zuflucht suchten. Hinter der Lodge, dem größten Gebäude des kleinen Dorfes, entdeckte Ruth vier große Wannen. Der Sonnenschein hatte das Regenwasser in ihnen erwärmt, und die junge Frau zögerte nicht, die günstige Gelegenheit zu nutzen. Sie nahm ein Bad. Hadad stand neben dem Behälter und sah, wie Ruth auf ihn zuglitt. Sie hob die Hand, und nasse Finger berührten seine Lippen. »Ich wünschte, ich könnte deine wirklichen Augen sehen.« »Bist du sicher?« erwiderte Hadad skeptisch. »Du weißt doch, was beim letztenmal geschah.« Ruth gab keine Antwort, ließ sich ins Wasser zurücksinken und wandte den Blick nicht von ihm ab. Der Visitor seufzte, zog die dicken Lider zurück und löste die Linsen. Vorsichtig hielt er sie in der linken Hand. Die junge Frau kam wieder auf ihn zu.
»Deine Augen«, sagte sie leise. »Sie verändern die Farbe.« »Ja.« »Wieso?« »Sie reagieren auf das, was ich fühle. Auf meine Überlegungen.« Ruth lächelte erneut. »Ich könnte also feststellen, was du denkst – wenn mir die Bedeutung der Farben klar wäre.« »Vielleicht. Deine Pupillen verändern sich ebenfalls. Sie schrumpfen oder erweitern sich.« »Und weißt du, was mir durch den Kopf geht?« »Manchmal.« Hadad musterte sie, und einmal mehr spürte er die magnetische Wirkung ihres Blicks, fühlte sich von ihr angezogen. Er beugte sich vor und küßte sie. Die junge Frau drehte sich um und versank im warmen Wasser. Hadad schloß die Augen. Müdigkeit erfüllte ihn mit einer angenehmen Benommenheit, doch als er daran dachte, was im Tal geschah, in anderen Teilen der Welt, regte sich wieder Unbehagen in ihm. Die Visitors, seine Artgenossen, brachten Tod und Zerstörung auf diesen Planeten, und wenn es ihnen wirklich gelang, ein wirksames Antitoxin herzustellen, gerieten auch die freien menschlichen Enklaven im Norden in große Gefahr. Er erinnerte sich an all die Menschen, die er schätzen gelernt hatte, an die Millionen »Nahrungspakete« in den riesigen Hibernationskammern der Mutterschiffe, an die teuflischen Pläne Dianas und ihrer Verbündeten. Zon lehrt Mitgefühl, flüsterte es in ihm. Zon lehrt Harmonie. Intelligentes Leben hat ein Recht darauf sich frei zu entfalten und in Frieden zu leben. Und: Ich bin geflohen, lebe mit einer menschlichen Frau in den Bergen. Mit einer Frau, die kaum etwas von mir weiß, die vielleicht nicht einmal ahnt, auf was sie sich eingelassen hat.
Hadad sah vor sich einen anderen, einen imaginären Berg, der nicht aus hartem Fels bestand, sondern aus Problemen, die auf eine Lösung warteten. Später begannen sie damit, ihre Hütte wohnlich einzurichten. Hadad verwirklichte seine Absicht, zerrieb Kräuter und verteilte sie auf dem hölzernen Boden, um den muffigen Geruch zu vertreiben. Der Visitor ging auf Jagd und sah sich mit dem ersten und vielleicht wichtigsten Problem konfrontiert. Er füllte sich den Magen mit Nagetieren und Insekten, mit Mäusen, Eichhörnchen und Ameisen, aber was war mit Ruth? Es gab keinen Supermarkt in der Nähe, in dem sie einkaufen konnte. Wenn der Berg dich ernährt, wird er mich nicht verhungern lassen. Hadad nickte sich selbst zu, setzte die Jagd fort und fing einige Schlangen. Als er sie zurückbrachte, stellte er überrascht fest, daß die junge Frau nicht einmal mit der Wimper zuckte. Sie hatte bereits ein Feuer entzündet, häutete Hadads Beute und briet sie über den Flammen. »Ich vermute, du bist an eine andere Kost gewöhnt«, sagte der Visitor und beobachtete, wie sie das Fleisch verspeiste. Die Kühle der Nacht verdrängte die Wärme des Tages, und über ihnen glitzerten Myriaden Sterne am Himmel. Hadad hielt vergeblich nach dem funkelnden Punkt Ausschau, den die Menschen Sirius nannten. »Wie ich schon sagte: Ich bin anpassungsfähig.« Als das Feuer niedergebrannt war, zogen sie sich in die Hütte zurück und krochen unter die Decke. Hadad spürte, wie sich Ruth an ihn schmiegte, und er schlang die Arme um sie, lauschte dem gleichmäßigen Zischen ihres Atems, versuchte, an ihren Träumen teilzuhaben. Trotz seiner Müdigkeit fand er keine Ruhe. Lange Stunden lag er wach und starrte an die dunkle Decke des Zimmers, lauschte den Stimmen, die tief in seinem Innern
flüsterten, dem Raunen und Wispern, das ihm unverständlich blieb. Es war, als harre eine gestaltlose Botschaft darauf, sich ihm zu offenbaren, ihm Aufschluß darüber zu geben, was ihn erwartete. Schließlich schlief er ein. »Sohn.« Eine Stimme, die die Kluft der Zeit und des Raums überbrückte und sanft die Gedanken Hadads berührte. Er erkannte sie wieder, wußte jedoch nicht, was er antworten sollte. Und so schwieg er. Und schlief. »Steh auf, Sohn, denn die Zeit ist gekommen.« Es handelte sich nicht um einen Befehl, der bedingungslosen Gehorsam verlangte, sondern um eine freundliche Aufforderung, eine höfliche Bitte. Dennoch reagierte der Visitor sofort. Er erwachte, streifte den Kokon der Müdigkeit mühelos von sich ab. In seinem Innern herrschte jetzt eine andere Art von Ruhe, und die Sorgen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft spielten plötzlich keine Rolle mehr. »Komm«, sagte die Stimme, die nur er hören konnte. Hadad verließ das Bett, trat durchs Zimmer, ging nach draußen und sank nackt ins Gras. Die Welt um ihn herum bestand aus Stille und Finsternis. »Gut.« Das Flüstern kam aus der Ferne. Der Visitor wartete geduldig. Vor ihm bildete sich ein glühendes Etwas, ein Kirliankörper aus schimmerndem Ektoplasma. »Du hast einen langen Tag hinter dir, Sohn«, sagte das Phantom. »Ich habe den Pfad der Sterne beschritten.« »Das Volk der Sterne soll zu den Sternen zurückkehren.« »Und jene, die das Licht erkennen, sollen nicht fürchten den Tod.« »Du erinnerst dich also.«
»Wer bist du?« fragte Hadad. Die glühende Gestalt rührte sich nicht von der Stelle. »Früher hast du mich gekannt«, antwortete sie. »Ich bin Amon, der letzte Priester von Zon. Einst waren wir viele. Einst hinderte uns niemand daran, die Botschaft der Herrn des Lichts zu verkünden. Einst sprachen wir uns gegen die Pläne des Großen Denkers aus. Einst unterwiesen wir die Kinder, die das Zeichen Zons trugen. Ich habe auch dich unterrichtet, im Saal der Weisen, dich mit den Worten vertraut gemacht, die im Buch Zons niedergeschrieben sind.« »Bitte lehr sie mich noch einmal, Amon, denn ich habe sie vergessen.« »Sohn, die Worte sind nur wichtig für jene, die nicht in der Wahrheit Zons wandeln.« »Aber ich habe die Lehren Zons vergessen. Ich höre nurmehr die Worte Dianas, die Worte des Großen Denkers.« »Sie existieren ausschließlich in deinem Geist, Sohn«, erwiderte die Manifestation Amons. »Die Lehren Zons aber bestimmen dein Wesen. Zon lehrt Mitgefühl, und dein Verhalten entspricht diesem Gebet. Zon lehrt Fügsamkeit in Hinsicht auf die Gesetze des Universums, und dein Sein kündet von Harmonie mit allem, was dich umgibt. Zon lehrt, das Gleichgewicht allen Handelns zu akzeptieren, und deine Natur beschreitet den schmalen Weg zwischen Leben und Tod, ohne das Reale in Frage zu stellen. Zon lehrt, das Alles zu achten, und dein Gebaren beweist Respekt für alle Dinge, die nicht zu deinem Wesen gehören. Ruth hat dir außerdem gezeigt, dich selbst zu respektieren. Dieses Wissen genügt.« »Aber bist du nicht hierhergekommen, um mir Weisheit zu bringen?« fragte Hadad. »Weise ist derjenige, der sein eigenes Licht nicht zu hell erstrahlen läßt.« Und Amon fügte hinzu: »Für die Herrn des
Lichts ist die Zeit gekommen, die Erde zu erlösen. Hör mir gut zu, Sohn, denn es gibt viel zu tun: In drei Tagen wirst du diesen Ort verlassen und nach Süden fliegen, um Elisabeth zu finden.« »Elisabeth?« wiederholte Hadad verwirrt. »Man nennt sie Sternenkind. Du wirst sie erkennen, denn sie trägt wie du das Zeichen Zons. Zons Anhänger werden dich Amon nennen, denn sie sehen in dir, was sie von mir erwarten. Und das Buch von Zon prophezeit, daß ein Priester namens Amon das Volk zu den Sternen zurückführt. Zons Anhänger werden in dir die Macht der Herrn des Lichts sehen. Und du kannst sie Freunde nennen, denn sie wissen um dein wahres Wesen, kennen die Wahrheit. Alle deine Freunde helfen dir, denn du, Sohn, wandelst im Licht.« Die phantomhafte Gestalt fuhr fort: »Das Mädchen namens Elisabeth wird dir folgen, ganz gleich, wohin du auch gehst, denn ihm wurde verkündet, daß Amon eines Tages zu ihm kommt. Du wirst lernen, die Macht Zons zu gebrauchen, sie mit der Macht der Erde zu verstärken. Kämpfe nur gegen diejenigen, die es auf dein Leben abgesehen haben. Wisse, Sohn, daß du die Kraft des Irdischen nutzen kannst, die eherne Substanz der Erde und aller Geschöpfe, die auf ihr existieren. Lehre Elisabeth die Philosophie Zons, denn sie versteht noch nicht die Energie, die sie erfüllt. Dreieinhalb Jahre lang wirst du mit ihr reisen und den Menschen Zons Botschaft bringen, und am Ende dieser sakralen Mission begegnet ihr dem Tod. Du verbringst diese Zeit im Glanz der Herrn des Lichts, doch für jeweils einen Tag in jedem Jahr mußt du auf das Schimmern der Erkenntnis verzichten. Nach vierundzwanzig Stunden wirst du auferstehen und in der Lage sein, so wie ich zwischen den Sternen zu wandeln, im Ewigen Licht.
Das Kind, das Ruth trägt, wird die Prophezeiung der irdischen Bücher erfüllen. Doch das andere Kind, das sie von deinem Samen empfängt, soll stark sein, unter den Menschen aufwachsen und für die Freiheit der Völker dieses Planeten in den Kampf ziehen. Zons Anhänger werden Ruth schützen, wenn du sie schließlich verläßt, denn sie muß ihr Vermächtnis annehmen und zu den Ihren zurückkehren. Schlaf nun wieder, Sohn«, sagte Amon. »Und sei unbesorgt: Beide Völker wissen von dem, was ich dir gerade mitteilte. Wiederhol nun den Schwur.« »Ich bin bereit, für Zon zu sterben, aber es gibt keinen Grund für mich zu töten.« »Denn in Zon existiert kein Tod, sondern nur das Licht der Liebe«, antwortete die glühende Gestalt, bevor sie verschwand. Hadad saß in der stillen Nacht. Irgendwo schrie eine Eule, und der süße Duft wilden Ysops wehte durch die Finsternis. Der Visitor wußte nicht, wie lange Ruth schon neben ihm stand. Sie streckte die Hände aus und berührte seinen Kopf, gab jedoch keinen Ton von sich. Schweigend begaben sie sich wieder in die Hütte und kehrten ins Bett zurück. Die nächsten Tage verstrichen in Muße. Mit keinem Wort erwähnte Hadad die Prophezeiung, fragte nicht einmal, ob Ruth das Glühen des Phantoms ebenfalls gesehen hatte. Sie genossen den Frieden, der sie umhüllte – obgleich der Visitor wußte, daß er nur von kurzer Dauer sein konnte. Er unternahm lange Wanderungen, durchstreifte allein den Wald, beobachtete die Tiere, lauschte dem Gesang der Vögel. Manchmal leistete ihm Ruth Gesellschaft – wenn sie nicht gerade die Nahrung zubereitete, die er ihr brachte –, und dann lachten sie viel, hielten sich oft in den Armen. Sie liebten sich. Und sie warteten.
Am Morgen des vierten Tages schlug Hadad seiner Gefährtin vor, gemeinsam auf Jagd zu gehen. Ruth war sofort einverstanden. Als sie die Tür öffnete, sah sie den Strahler in der Hand eines uniformierten Außerirdischen. Die junge Frau reagierte aus einem Reflex heraus, riß ihr Messer aus der Rückenscheide, warf es und nagelte den Arm des Mannes an den Baumstamm hinter ihm, bevor er das Feuer eröffnen konnte. Eine weibliche Visitor hob ihre Waffe und schoß auf das Dach der Hütte. Ein Toter fiel herunter und blieb vor dem Eingang liegen. Jeffrey. Vier weitere Laserentladungen folgten: zwei neben dem Schlafzimmerfenster und einer hinter der Hütte. Der vierte Blitz traf den uniformierten Mann, der über den Pfad lief und sich dem kleinen Haus näherte. Dann wurde es wieder still. »Dies ist mein Kampf, Ruth«, sagte Hadad. »Sie haben es nur auf mich abgesehen, nicht auf dich.« Er drückte sie kurz an sich, gab ihr einen Kuß und trat nach draußen, an der Leiche Jeffreys vorbei. »Amon«, flüsterte der Visitor, der noch immer am Baum stand. Ruths Messer steckte in seinem Ärmel. Hadad sah auf und erkannte den Offizier wieder: Er hatte ihn schon einmal gesehen, damals, auf dem Anwesen des Großen Denkers. »Das Volk der Sterne soll zu den Sternen zurückkehren.« Paul sprach die rituellen Worte aus. »Und jene, die das Licht erkennen, sollen nicht fürchten den Tod«, gab Hadad die traditionelle Antwort. »Amon. Du bist hier auf der Erde. Die Zeit der Rückkehr ist gekommen.« »Es ist nur der Anfang. Du wolltest mich töten, nicht wahr?«
»N-nein. Meine Absicht bestand darin, dir einige Fragen über die Widerstandsbewegung zu stellen.« »Es gibt keinen Widerstand, nur ein ausgewogenes Gleichgewicht in allem Handeln.« »Die Lehre Zons.« »Du kennst sie?« Zum erstenmal wandte Paul den Blick von ihm ab, sah über die Schulter und beobachtete die anderen Visitors. Hadad musterte sie nacheinander. In ihren Augen schimmerte nicht das Licht des Verstehens, aber trotzdem zögerten sie, ihre Waffen einzusetzen. Sie schienen zu begreifen, daß es Dinge gab, die wichtiger waren als ihr Auftrag. Paul zögerte. »Ja, ich kenne die Lehren Zons«, erwiderte er schließlich. »Dann bist du mein Freund. Und wenn diese Leute deine Freunde sind, so sollen es auch meine sein.« »Sir?« fragte die kleine Frau neben Paul. »Ja, Patricia?« »Wenn es hier keine Widerstandsbewegung gibt… Es würde bedeuten, daß er nicht zur Fünften Kolonne gehört.« »Darum geht es nicht«, gab Paul zurück. »Patricia, dies ist kein Priester des Großen Denkers, sondern Amon, der Bote Zons, der die Völker der Erde erlösen und uns zu den Sternen zurückführen wird.« Er hob die eine Hand und strich ihr übers Haar, schien erst jetzt festzustellen, daß er den anderen Arm nicht bewegen konnte. Hadad trat vor und löste Ruths Messer von seinem Ärmel. Patricia bedachte Paul mit einem fragenden Blick, richtete ihre Aufmerksamkeit dann auf Hadad und schüttelte verwundert den Kopf. »Ich war der Mann, nach dem ihr gesucht habt«, sagte Hadad und versuchte, Patricias unausgesprochene Fragen zu beantworten. Aber sie starrte ihn weiterhin verwirrt an.
Einige Sekunden lang beschränkte sich Hadads Wahrnehmung nur auf die Visitors neben Paul. Es verging eine ganze Weile, bis er sich auch der anderen Uniformen bewußt wurde, die weiter rechts standen: drei Männer und eine Frau, deren Waffen nach wie vor auf ihn zielten. Amons Prophezeiung hatte ihn nicht auf eine solche Situation vorbereitet, und Hadad überlegte, wie er sich jetzt verhalten sollte. Erneut musterte er Paul, der die Gruppe zu leiten schien. Und er wartete, hoffte auf irgendeinen Hinweis, der ihm Aufschluß darüber geben mochte, aus welchem Grund sie gekommen waren. Nichts geschah. Niemand regte sich. Es blieb still. Kein Laser fauchte. Hadad spürte, wie die allgemeine Verwirrung zunahm, besann sich auf seine natürliche Autorität und holte tief Luft. »Paul, Ruth und ich müssen das Sternenkind Elisabeth finden. Du wirst uns begleiten. Wir brauchen einen Piloten, ein Shuttle. Die anderen kehren zum Mutterschiff zurück und berichten, daß der gesuchte Priester getötet wurde. Das dürfte Diana doch endlich zufriedenstellen.« Paul erwachte aus seiner Starre. »Justine, Sie haben ihn gehört«, sagte er. »Machen Sie sich mit dem Rest der Gruppe auf den Rückweg. Patricia bleibt bei uns. Melden Sie den Skyfighter, den wir nehmen, als zerstört. Behaupten Sie einfach, wir seien von einer größeren Streitmacht der Menschen angegriffen worden.« »Ja, Sir.« »Behalten Sie das im Gedächtnis, was Sie hier gesehen haben. Aber verraten Sie niemandem etwas davon.« »Ich verstehe, Sir.« »Wegtreten.« Die vier anderen Visitors schlossen sich Justine an.
»Das Shuttle befindet sich nicht in der Nähe«, stellte Hadad fest. »Nein. Wir wollten euch überraschen, Amon.« »Hol es her.« Paul und die Pilotin namens Patricia liefen über den Pfad und verschwanden zwischen den Bäumen. Hadad drehte sich um, näherte sich der Leiche des Mannes, der zunächst ein guter Freund gewesen war – und dann ein erbitterter Feind. »Praetenama, Jeffrey. Praetenama.« Er ging in die Hocke, legte dem Toten kurz die Hand auf die Stirn und erhob sich wieder. Ruth stand in der Tür. Er reichte ihr das Messer, das sie nach Paul geworfen hatte. »Was ist eigentlich los, Hadad?« fragte sie. »Ich verstehe überhaupt nichts mehr.« »Wir haben eine Aufgabe«, erwiderte er sanft. »Das Sternenkind Elisabeth wartet auf uns.« »Können wir nicht hierbleiben, nur wir beide?« Er berührte ihre Wange, küßte sie und lächelte. Auf der Straße hinter dem Wagen landete das Shuttle. »Eine angenehme Vorstellung, auch für mich. Ich bin kein Kämpfer, Ruth. Ich verabscheue Gewalt. Aber es existiert ein Gleichgewicht in allem Handeln. Und während auf der Erde Krieg wütet, gibt es keinen Frieden. Wir konnten weder Prineville retten noch die Bewohner von Vida und Detroit, aber vielleicht sind wir imstande, das zu bewahren, was von deiner Welt übriggeblieben ist.«