Mareike Berger
Die Hexe vom Teufelsfelsen Irrlicht Band 359
Gespenstische Ereignisse werfen ihre unheilvollen Schatt...
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Mareike Berger
Die Hexe vom Teufelsfelsen Irrlicht Band 359
Gespenstische Ereignisse werfen ihre unheilvollen Schatten voraus. Entsetzliches Leid und Unrecht wird Dir widerfahren. In Deiner größten Not wirst Du ganz allein sein. Das Grauen wird Dich verschlingen. Du wirst spüren, wenn es soweit ist. Bete, Unglückliche, bete…
Am Abendhimmel zogen sich Gewitterwolken zusammen und verbargen den tiefstehenden Mond. Schlagartig wurde es fast völlig dunkel. Patricia Stuart spürte, wie ein eiskalter Schauer über ihren Rücken kroch, und Verzweiflung stieg in ihr auf. Die junge Frau zwang sich, tief durchzuatmen, um ihre Fassung wiederzugewinnen. Noch vor wenigen Monaten war sie eine aufgeschlossene, lebenslustige Frau gewesen, jungverheiratet und dementsprechend glücklich. Für einen winzigen Moment hing sie mit bitterer Melancholie ihren Erinnerungen nach. Dann aber versuchte sie, wie schon so oft in den letzten Wochen und Monaten, diese Gedanken zu verdrängen, denn die prophetischen Worte der alten Zigeunerin standen wieder vor ihrem geistigen Auge. Diese furchtbare Prophezeiung war es, die sie verändert hatte. Die Erkenntnis, daß sich die Worte der Alten erfüllten, daß sie grausame Wirklichkeit wurden, mehr und mehr ihr Leben beeinflußten, hatte Patricia fast an den Rand eines Nervenzusammenbruchs gebracht. Colin, ihr Mann, hatte die Warnung der Zigeunerin rigoros als Unfug und Scharlatanerie abgetan und sie ausgelacht. Aber es war Patricia aufgefallen, daß er in den darauffolgenden Tagen überaus gereizt und nervös gewesen war. Die Prophezeiung schien ihm demnach also doch nicht so unsinnig… Die Furcht wollte wieder wie mit eiserner Faust nach Patricias Herzen greifen, aber sie schüttelte die düsteren Gedanken mit letzter Kraft von sich ab. Gleich würde sie zu Hause sein, bei Colin und den geladenen Gästen, die sicherlich schon ungeduldig auf sie warteten. Gewissensbisse regten sich in Patricia, denn schließlich war es mehr als unhöflich, daß ausgerechnet das Geburtstagskind sich verspätete.
Ein kühler Wind kam auf und fuhr raschelnd durch die kahlen Äste der Bäume und Sträucher des Stadtparks, der das Anwesen der Stuarts umgab. Patricia erreichte das große schmiedeeiserne Portal und öffnete es. Mit leisem Quietschen schwang das Tor – wie von Geisterhand bewegt – hinter ihr zu. Der Kies des Weges knirschte unter ihren hastigen Schritten. Die Umrisse des Hauses hoben sich gegen den verhangenen Himmel ab. Es war ein großes, uraltes Haus, von wildem Efeu überwuchert, mit einem hohen Giebel und kleinen Fenstern. Patricia mochte dieses Haus nicht sehr, aber Colin hing geradezu versessen daran. Und so waren sie nach ihrer Hochzeit vor zwei Jahren hier eingezogen. Es waren noch wenige Schritte bis zum Haus, und ihr Blick glitt über die dunkle Fassade. Plötzlich weiteten sich ihre Augen verwundert, denn erst jetzt hatte die junge Frau bemerkt, daß keines der Fenster des Hauses erleuchtet war. Leblos und wie verlassen lag das monströse Gebäude vor ihr in der Nacht. »Seltsam«, flüsterte Patricia nachdenklich. »Colin und die Gäste müßten doch schon längst da sein.« Wie zur Bestätigung ihrer Worte schlug die nahe Turmuhr acht. Die wuchtigen Glockenschläge hallten seltsam dumpf durch das Abendgrauen. Patricias Gedanken wirbelten wie welkes Laub im Herbstwind. Immer und immer wieder fragte sie sich, warum weder ihr Mann noch die geladenen Gäste hier waren. Wie in Trance tasteten ihre Hände schließlich zum Lichtschalter. Nach einer schier endlos erscheinenden Suche umkrampften ihre Finger endlich den Schalter und drehten ihn um. Gleißendes Licht übergoß die zitternde Frau. Sie blickte in den venezianischen Spiegel in der überdimensionalen Empfangshalle. Ihr langes blondes Haar
war vom Wind zerzaust, und ihr Gesicht war gespenstisch blaß. Da hörte sie das Knarren… Erschrocken zuckte Patricia zusammen und wirbelte herum. Es war also doch niemand hier! Da…! Das Geräusch hatte sich wiederholt. Es waren Schritte gewesen, leise, vorsichtige Schritte. Dann schlug im ersten Stock eine Tür ins Schloß. Ganz deutlich hatte Patricia das metallische Klicken vernommen. »Colin?« rief sie fragend. Als sie keine Antwort erhielt, warf Patricia entschlossen ihren Mantel über das handgeschnitzte, wurmstichige Geländer und hastete die Treppen hoch. Der kalte Angstschweiß trat ihr aus allen Poren, als sie daran dachte, daß dies bereits die Situation sein könnte, welche die Zigeunerin beschworen hatte. Sie war ganz allein. Niemand würde ihr beistehen, wenn ihr jetzt Gefahr drohte. »Hallo! Ist da jemand?« Zaghaft kam diese Frage über ihre Lippen. Patricia war fest entschlossen, sich diesmal nicht einschüchtern zu lassen. Sie wollte das Licht andrehen, doch seltsamerweise funktionierte es hier oben nicht. Sie hielt den Atem an, ihre Hände waren zu Fäusten geballt. In diesem Augenblick sah sie das unförmige weiße Gebilde, das sich ihr aus dem dämmrigen Zwielicht des Raumes heraus entgegenblähte… Gleichzeitig hörte sie eine Diele knacken. »Großer Gott«, hauchte Patricia und wich langsam zurück. Ihr Herz pochte zum Zerspringen. Die junge Frau wollte schreien, um Hilfe rufen, aber sie konnte nicht. Da spürte sie eine leichte, fast zärtliche Berührung an ihrer Wange. Jetzt fiel der Bann von ihr ab. Sie stieß einen gellenden Schrei aus und rannte, wie von Furien gehetzt, aus dem
Zimmer. In der Dunkelheit des Korridors stolperte sie über irgend etwas und stürzte. Sie wollte sich wieder aufrappeln, aber da hörte sie Schritte. Langsam, fast zögernd, kamen sie näher und näher. Wie schutzsuchend kroch Patricia zur Korridorwand. »Nicht! Bitte – laß mich! Bitte…«, stammelte sie. Nunmehr hatte sie die Wand erreicht. Wie erstarrt blieb sie liegen. Die Schritte waren jetzt ganz nahe… Aus! schoß es ihr durch den Sinn.
*
Als Patricia ihre Augen aufschlug, lag sie in ihrem Bett. Colin beugte sich über sie und blickte sie besorgt an. Ein verwirrtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel, als er ihr Erwachen bemerkte. »Aber Liebes, was ist denn geschehen? Warum hast du so geschrien?« »Ich… Das Gespenst!« »Patricia. Bitte, beruhige dich doch!« stieß Colin hervor. Sie nickte. »Da – da war plötzlich ein weißes Phantom, das nach mir griff. Oh, Colin, ich bin so entsetzlich erschrocken! Die Stille, die Dunkelheit… Und dann dieses – dieses Wesen!« Ein Schluchzen schüttelte Patricia. Colin umarmte seine junge Frau zärtlich und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ganz ruhig, Patricia. Es war der Vorhang, der dich so erschreckt hat. Ich hatte die Fenster geöffnet: Beruhige dich, es ist jetzt ja alles vorbei.« »Aber warum war das Zimmer dunkel? Warum antwortete niemand auf mein Rufen?« fragte Patricia mit erstickter Stimme. »Und dann dieses Stöhnen…«
Colin lächelte verlegen. »Niemand hat gestöhnt. Und die Dunkelheit ist einfach zu erklären: Ich wollte dich überraschen, Liebste. Schließlich hast du heute Geburtstag.« »Die Geburtstagsgäste! Um Himmels willen, sie werden böse sein. Ich liege hier im Bett…« Patricia machte Anstalten, aufzustehen, doch Colin drückte sie mit sanfter Gewalt in die Kissen zurück. »Die Gäste sind nicht mehr hier. Ich habe sie weggeschickt.« Patricia löste sich schroff aus den Armen ihres Mannes und sah ihn fragend an. »Du hast sie weggeschickt? Aber warum denn nur, Colin?« »Ich wollte mit dir allein sein, darum«, erwiderte Colin gelassen. »Ich wollte dich überraschen und einen gemütlichen Geburtstagsabend mit dir verbringen.« Bei diesen Worten deutete er auf den prächtigen Rosenstrauß, der auf dem handgeschnitzten Tischchen stand. Schweigend erhob sich Patricia und ging zu den Blumen. »Wie schön die sind«, sagte sie leise und hob die Vase hoch. Mit geschlossenen Augen roch sie an ihnen. »Gefallen Sie dir, Liebes?« »O ja, sehr«, nickte Patricia. Sie, kämpfte mit den Tränen der Erleichterung. Dann stutzte sie und blickte Colin nachdenklich an. »Aber wo hast du die Rosen eigentlich um diese Jahreszeit her?« »Nun, ich ließ meine Beziehungen spielen. Ich wollte dir eine Freude machen, und da ich weiß, wie sehr du Rosen liebst…« Patricia lächelte weich. Wie wundervoll die Rosen dufteten! Vergessen waren jetzt all die düsteren, beunruhigenden Gedanken und die Schrecken der Nacht. »Du bist mir nicht böse?« fragte Colin mit einem seltsam lauernden Unterton in der Stimme. Diese Frage holte Patricia aus ihrer träumerischen Versunkenheit. »Böse? Warum sollte ich dir böse sein?«
»Immerhin habe ich deine Geburtstagsgäste weggeschickt, ohne dich vorher zu fragen.« »Ach so… nein, deswegen bin ich dir nicht böse, Colin. Ich liebe dich.« »Deine Worte machen mich sehr glücklich, Liebes«, sagte Colin erleichtert. Dann lächelte er und meinte theatralisch: »Ach ja, hier habe ich ja noch etwas für meinen Liebling.« Zögernd griff Patricia nach dem Geschenk. »Du mußt es sogleich auspacken«, drängte Colin ungeduldig. »Was da wohl Schönes drin ist?« murmelte sie halb zu sich selbst. Mit wiegenden Schritten ging sie dann wieder zu ihrem Bett und setzte sich. Colin folgte seiner Frau und nahm neben ihr Platz. Erwartungsvoll beobachtete er sie. Jetzt konnte Patricia ihre Neugierde nicht mehr zügeln. Sie löste das goldene Band, das um das Päckchen geschlungen war und zerriß das Papier. Zum Vorschein kam ein kleines, aber wertvoll aussehendes Schmuckkästchen. Mit zitternden Fingern öffnete Patricia es. Ein goldenes Kettchen lag darin, und als sie dieses Kettchen beinahe ehrfürchtig aus der kleinen Schatulle hob, sah sie das Herz, das daran baumelte. Es war ebenfalls aus purem Gold. Aber viel wichtiger als der materielle Wert war der Wert der Worte, die in das Herz eingraviert waren: Ich werde Dich immer lieben. Dein Colin. »Oh, Colin!« So lange schon hatte ihr Colin keine Liebeserklärung mehr gemacht. Sicher, er war nach wie vor nett und zärtlich gewesen. Aber diese Zärtlichkeit erschien oft nur mühsam erbracht. In den letzten Monaten war Colin auch immer öfter sehr spät in der Nacht heimgekommen. Heimlich, wie ein Dieb. Und sie hatte nicht gewagt, ihn zu fragen, denn sie hatte sich vor der Antwort gefürchtet. Um nichts in der Welt wollte sie das Glück ihrer Ehe aufs Spiel setzen.
Sie hatte Colins nächtliche Ausflüge stillschweigend geduldet und unter der brennenden Ungewißheit gelitten. Colin war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, um etwas von ihrer Qual zu bemerken. Vielleicht hatte er auch gar nichts bemerken wollen. Und jetzt hatte er ihr dieses Herz geschenkt, dieses Herz mit den wunderbaren Worten. Nun wußte sie, daß Colin nach wie vor nur sie liebte. Unwillkürlich mußte Patricia an die Weissagung der Zigeunerin denken, die sie vor drei Monaten aufgesucht hatte. Die Worte der Alten hatten sich in ihr Gedächtnis eingegraben: Gespenstische Ereignisse werfen ihre unheilvollen Schatten voraus. Entsetzliches Leid und Unrecht wird Dir widerfahren. In Deiner größten Not wirst Du ganz allein sein. Das Grauen wird Dich verschlingen. Du wirst spüren, wann es soweit ist. Bete, Unglückliche, bete. Colin sah Patricia besorgt an. »Gefällt es dir denn nicht?« fragte er. Patricia küßte ihren Mann sanft auf beide Wangen. »Verzeih mir, Col, ich war ganz in Gedanken. Natürlich gefällt mir dein Geschenk. Du weißt gar nicht, wie sehr.« »Aber dich bedrückt doch etwas, Liebes. Ich fühle es. Willst du nicht mit mir darüber sprechen?« »Doch, ich…«, begann Patricia, aber dann zögerte sie. Irgend etwas hinderte sie daran, mit Colin wieder über die Zigeunerin und deren Worte zu sprechen. »Es ist so schwierig, Colin! Bitte, versteh mich. Ich brauche ein bißchen Zeit.« »Gut, Patricia«, gab er schließlich nach. »Ich respektiere deinen Wunsch. Wir werden uns also morgen darüber unterhalten.« »Ja«, antwortete sie schwach. »Heute möchte ich früh zu Bett gehen. Die Aufregung…« »Ich kann dich verstehen«, unterbrach Colin seine Frau.
»Hoffentlich bist du mir jetzt nicht böse?« »Ich bin dir nicht böse«, wehrte Colin ab. Aber es klang nicht sehr überzeugend. Ein kaltes Funkeln war in seinen Augen.
*
Am nächsten Morgen erwachte Patricia sehr früh. Durch einen schmalen Spalt in den Gardinen drang die Morgensonne in den Raum. Patricia richtete sich auf und gähnte herzhaft. Sie fühlte sich frisch und ausgeruht. Eine Weile blieb sie noch träge liegen, um die Ruhe zu genießen, dann aber hielt sie es nicht mehr aus im Bett. Sinnend blickte Patricia aus dem Fenster. Dort unten war der Stadtpark, der Kiesweg, der zum Haus führte. Welch schreckliche Angst hatte sie gestern vor den kahlen Sträuchern und Bäumen gehabt. Und jetzt, im Licht des beginnenden Tages, sah alles so harmlos und friedlich aus. Da bemerkte Patricia eine rasche Bewegung im Park. Sie kniff die Augen zusammen, um genauer sehen zu können. Als Patricia den Mann erkannte, hatte sie plötzlich das Gefühl, als würde sie in sumpfigen Boden einsinken. Drückende Beklemmung legte sich wieder um ihr Herz, und sie mußte die Hände vor den Mund pressen, um nicht laut aufzuschreien. Langsam, wie eine Marionette, wich sie von dem Fenster zurück. Und erst jetzt merkte sie, daß das Bett ihres Mannes unberührt war. Er war also wieder weggewesen. Und diesmal kehrte er erst im Morgengrauen zurück. Dann war das Geschenk von gestern abend nichts weiter als blanker Hohn gewesen, eine, mitleidige
Geste, um sie zu beruhigen? Trockenes Schluchzen schüttelte den Körper der verzweifelten Frau. Wie sollte sie jetzt reagieren? Sollte sie sich wieder nichts anmerken lassen, wieder gute Miene zum bösen Spiel machen? Nein! entschied Patricia hart. Sie würde hinuntergehen und mit Colin sprechen. Sie würde eine Erklärung von ihm verlangen. Patricia zog einen leichten, seidenen Hausmantel über, der ihre vollendete Figur gut zur Geltung brachte. Dann verließ sie das Zimmer. Mit eiligen Schritten durchquerte sie die Halle, schloß die Eingangstür auf und öffnete sie. Als Patricia in die Morgensonne hinaustrat, war sie einen Moment lang geblendet, dennoch begann sie zu laufen. »Colin!« rief sie mit rauher, veränderter Stimme. Colin hatte seine Frau gesehen und stand stocksteif. Sein Gesicht war geisterhaft bleich, und um seine Augen lagen dunkle Ringe. Patricia zögerte plötzlich, eine jähe Unruhe überfiel sie. Sie hatte eine Entscheidung gewollt, aber jetzt fürchtete sie sich davor. Einen Moment lang gab sie sich dem Widerstreit ihrer Gefühle hin, dann ging sie mit langsamen Schritten zu Colin, der jetzt nur noch acht oder neun Meter entfernt stand. Patricia nahm wahr, wie sich seine Augen vor Schreck weiteten. Ein entsetzter, gequälter Schrei brach von seinen Lippen. »Patricia!« Zuerst wunderte sie sich, aber dann bemerkte sie, daß Colins starrer Blick an ihr vorbeiging. Und da hörte Patricia das Hecheln – das drohende Knurren hinter sich! Blitzschnell drehte sie sich um, und im Bruchteil einer Sekunde erkannte sie die tödliche Gefahr, in der sie schwebte! Ein riesiger Hund, eine Dogge, hatte sie beinahe erreicht…
Instinktiv riß sie beide Arme vor ihr Gesicht, und dann prallte der massige Tierkörper auch schon gegen sie. Patricia verlor das Gleichgewicht und stürzte mit einem erstickten Schrei zu Boden. Ein stechender Schmerz fuhr durch ihren Arm, und dann schlug der stinkende, heiße Atem der Bestie in ihr Gesicht. »Hilf mir, Colin! Bitte…«, flehte sie. Aber er stand wie erstarrt. Die Prophezeiung der Zigeunerin erfüllte sich. Ich bin verlören! dachte Patricia voll Grauen. Dann wurde es dunkel um sie herum, und eine gnädige Ohnmacht erlöste sie. Das Pochen des Blutes dröhnte in ihren Ohren, es war, als drücke jemand ihre Kehle zu. Patricia schrie, wußte aber anschließend nicht, ob sie tatsächlich geschrien hatte. Alles war so verwirrend, so unwirklich. Mit dem Erwachen kamen die Schmerzen. »Mein Gesicht«, stöhnte sie. Die Erinnerung an das furchtbare Erlebnis im Park kehrte schlagartig wieder zurück. Patricia zitterte am ganzen Körper. Mühsam setzte sie sich auf und tastete mit den Fingern ihr Gesicht ab. Als sie den dicken Verband wahrnahm, ahnte sie, daß die Dogge ihr Gesicht verstümmelt hatte. Hemmungsloses Schluchzen schüttelte Patricias Körper, als sie sich der Tragweite des Geschehens klar wurde. Was gab es Schrecklicheres, als ein von häßlichen Narben entstelltes Gesicht? Und Colin? Was würde er sagen? Wie würde er reagieren? Würde er jemals wieder ihre Wangen zärtlich streicheln, ihr voll Liebe in die Augen sehen? Warum hatte er nichts unternommen, um die Bestie von ihr abzulenken? Der Raum schien plötzlich zu schwanken. Alles drehte sich um die verzweifelte junge Frau.
»Colin«, flüsterte sie immer wieder. Allmählich konnte sie wieder klarer denken, und sie schämte sich ihrer Schwäche und ihrer Tränen. Ich muß jetzt stark sein, dachte sie. Das Leben wird weitergehen, und Colin wird mir beistehen, weil er mich liebt. Ein schwaches Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, als sie daran dachte, unter welch seltsamen Umständen sie ihren Mann kennengelernt hatte… Sie war damals Studentin und hatte kurzfristig einen Job als Gesellschaftsdame bei Mrs. Mallory, einer reichen Witwe aus Plymouth, angenommen, weil sie das Geld dringend benötigte. Das Studium war teuer, und mit der Miete für ihre kleine Zweizimmerwohnung war sie bereits drei Monate im Verzug. Und dann kam dieser schicksalhafte Tag. Mrs. Mallory war an diesem Tag sehr nervös gewesen, Patricia erinnerte sich noch ganz genau daran. »Ich werde dir heute einen Mann vorstellen, liebste Patricia, und ich will, daß du dir ein Urteil über ihn bildest«, teilte ihr Mrs. Mallory mit leiser Stimme mit. Patricia sah ihre Arbeitgeberin fragend an. »Ich verstehe nicht…« »Es ist nicht nötig, daß du verstehst«, entgegnete Mrs. Mallory mit einem verschmitzten Lächeln. Dann wendete sie entschlossen ihren Rollstuhl und fuhr auf den Korridor hinaus. »Es bedeutet mir sehr viel, daß du diesen jungen Mann kennenlernst«, sagte Mrs. Mallory, die Patricia vorausfuhr. »Er ist jung?« »Ich hoffe, daß du dich daran nicht störst.« Patricia mußte lachen. »Aber nein!« »Es wäre wohl auch höchst seltsam gewesen«, erwiderte Mrs. Mallory amüsiert, und damit hielt sie vor einer Tür, die, wie Patricia bereits festgestellt hatte, bisher immer verschlossen gewesen war.
»Würdest du bitte anklopfen?« Zögernd trat Patricia an die Tür und klopfte. »Herein! Es ist nicht abgeschlossen«, rief eine dunkle Stimme. Mrs. Mallory öffnete die Tür, und Patricia trat stillschweigend ein. Staunend blickte sie sich in dem riesigen Zimmer um, das im Viktorianischen Stil eingerichtet war. Sie fühlte sich unbehaglich. Trotz mehrerer heller Lampen gab es überall dunkle Ecken und tiefe Schatten, die ihr Furcht einflößten, und die altmodischen Möbel wirkten in dieser Umgebung wie erstarrte Ungeheuer. Da vernahm sie links neben sich ein Geräusch und fuhr zusammen. »Hoffentlich habe ich Sie nicht erschreckt!« Patricia drehte sich um. In einem Ohrensessel saß ein junger Mann. Er war groß, schlank, hatte dunkles, leicht gewelltes Haar und rauchgraue Augen… »Nein, natürlich nicht. Ich meine…«, stotterte sie verwirrt. Mrs. Mallory hatte sie einen Augenblick eingehend gemustert, dann sagte sie: »Du brauchst keine Angst vor ihm zu haben.« Es klang wie ein Befehl. Patricia nickte geistesabwesend und starrte den Mann an. Sie mußte sich eingestehen, daß er ihr sympathisch war, und mit feiner, weiblicher Intuition merkte sie, daß auch er an ihr Gefallen gefunden hatte. Da war etwas in der Art, wie er sie ansah… »Sie erlauben, daß ich mich vorstelle?« Der Mann erhob sich geschmeidig. Er deutete eine Verbeugung an. »Mein Name ist Stuart. Colin Stuart.« »Ich… Mein Name ist Patricia Lauerdale.« Sie sah Colin an. Ihre Blicke trafen sich. Mrs. Mallory schien das zu merken, denn sie hatte es plötzlich sehr eilig und drängte Patricia förmlich aus dem Zimmer. »Es ist genug!« wiederholte sie dabei immer wieder.
Patricia hatte abermals überhaupt nichts mehr verstanden. Sie hatte nur an Colin denken müssen, wie er einsam und ein bißchen verwirrt in dem riesigen Zimmer zurückgeblieben war. Am nächsten Tag war das Zimmer wieder abgeschlossen, und Patricia fragte sich, ob sie den geheimnisvollen Mr. Stuart wohl jemals wiedersehen würde. Sie wünschte es sich sehr. Vier Wochen vergingen, und sie hatte vergeblich auf eine Nachricht von ihm gewartet. Patricia war tief enttäuscht, und Mrs. Mallory, die jedes Gespräch über Colin Stuart kategorisch abgelehnt hatte, schien zu wissen, warum. Patricia haßte Mrs. Mallory wegen ihrer Grausamkeit, und Mrs. Mallory schien diesen Haß – warum auch immer – zu erwidern. Das innige Verhältnis zwischen den beiden Frauen war geschwunden, und schließlich ließ Mrs. Mallory Patricia von Susan, dem Küchenmädchen, die Kündigung übergeben. Voll Bitterkeit packte Patricia ihre Sachen und ging ohne ein Wort des Abschieds. Es war ein regnerischer Aprilabend, und die Natur schien Patricias Verzweiflung widerzuspiegeln. Da stand plötzlich Colin vor ihr. »Ich konnte es nicht mehr aushalten. Ich – ich mußte Sie einfach sehen, mit Ihnen sprechen«, sagte er mit einem schüchternen Lächeln. »Hoffentlich sind Sie mir nicht böse. Ich meine, weil ich hier auf Sie gewartet habe.« Patricia brauchte eine Weile, um sich von der freudigen Überraschung zu erholen, dann erwiderte sie sein Lächeln. »Ich freue mich sehr, Sie wiederzusehen, Colin.« »Sie haben sich meinen Namen gemerkt? Wenn das kein gutes Omen ist!« »Es ist ein gutes Omen, Colin«, erwiderte sie. »Ich mußte immerzu an dich denken…« Sie hatten den Funken beide gespürt, der Mann und das Mädchen. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. »Colin, ich liebe dich«, flüsterte sie.
Und dann geschah etwas, wonach sie sich so gesehnt hatte. Colin nahm sie in seine Arme, und er küßte sie erst sehr zart, dann immer fordernder. Nach langer Zeit machte er sich sanft von ihr los. »Wir werden heiraten, Patricia, ob meine Mutter nun einverstanden ist oder nicht.« »Warum sollte deine Mutter nicht einverstanden sein?« »Sie will nicht, daß ich jemanden heirate, der… Nun, der arm ist. Sie ist sehr standesbewußt.« »Wie Mrs. Mallory«, bemerkte Patricia. Colin nickte. Ein Schatten flog über sein Gesicht. »Mrs. Mallory ist meine Mutter. Ich bin ihr unehelicher Sohn.« Eine Woche später heirateten sie bereits. Mit seinen guten Beziehungen hatte Colin den Heiratstermin beschleunigt und alle Formalitäten in kürzester Zeit erledigt. Es wurde jedoch eine einsame Hochzeit, denn Patricias Eltern waren bereits vor zehn Jahren an den Folgen eines schrecklichen Unfalls gestorben, und Mrs. Mallory war nicht erschienen. Die Flitterwochen verbrachten sie auf der Insel Penang in Malaysia. Colin hatte Patricia zwar nicht gefragt, wohin sie fahren wollte, und sie war darüber ein bißchen traurig gewesen. Aber als sie den herrlichen Sandstrand Penangs erblickte, war sie begeistert und froh, ihrem Mann die Auswahl überlassen zu haben. Es wurden herrliche Flitterwochen, denn Colin war ein aufmerksamer und liebevoller Ehemann. Er besaß Humor und verstand es, ein Mädchen davon zu überzeugen, daß es zerbrechlich war und seines Schutzes bedurfte. Patricia hätte am liebsten immer so weitergelebt, glücklich und zufrieden und ohne Sorgen. Aber es kam alles ganz anders.
Am 13. Tag beendete ein Telegramm das Idyll. Colins Mutter, Mrs. Mallory, hatte Selbstmord begangen…
*
»Sie sind also aufgewacht. Na endlich.« Eine dicke Frau, die ganz in Weiß gekleidet war, trat neben ihr Bett und blickte sie besorgt an. »Ich bin Schwester Clare«, stellte sie sich mit ihrer dunklen, fast männlichen Stimme vor. »Wie fühlen Sie sich?« »Wie fühlt sich eine Frau normalerweise in meiner Situation?« antwortete Patricia mit einer Gegenfrage. Dann zuckte sie die Schultern. »Verzeihen Sie meinen Sarkasmus, Schwester. Ich bin so verzweifelt. Mein Mann…« Patricia zögerte, dann blickte sie die Schwester durchdringend an und fragte: »Hat mein Mann nach mir gefragt?« Schwester Clare hustete unbehaglich. Es war klar, daß sie damit Zeit gewinnen wollte. »Nun mal langsam, Kindchen«, besänftigte sie Patricia. »Zuerst werde ich Ihnen ein paar Fragen stellen müssen. Wir kennen nämlich weder Ihren Namen noch wissen wir, wo Sie wohnen.« Sekundenlang war Patricia völlig verwirrt. Ihre Augen wanderten ziellos umher, als versuche sie, zu verstehen. Die Schwester bemerkte es auch. »Was haben Sie denn?« Eine Spur von Ungehaltenheit war in ihrer Stimme. »Nichts, nichts«, beeilte Patricia Stuart sich zu antworten. »Ich heiße Patricia Stuart, und ich wohne in Kinnington, Elworth Road 129, direkt am Vauxhall Park.« »Und dann wundern Sie sich, warum Ihr Mann noch nicht nach Ihnen gefragt hat?«
»Wie meinen Sie das?« »Eine ältere Dame hat Sie im James Park nahe dem Buckingham Palace gefunden – mehr als zehn Meilen vom Vauxhall Park entfernt. Sie trugen keinerlei Ausweispapiere bei sich. Und deshalb konnten wir Ihren Mann noch gar nicht benachrichtigen.« »Er hat also nicht nach mir gefragt«, stellte Patricia mit tonloser Stimme fest. Sie versank in grüblerisches Nachdenken. »Ich berichtete Ihnen doch…« Patricia schüttelte heftig den Kopf. Es war eine impulsive Bewegung gewesen, und sofort waren die Schmerzen wieder da. »Schwester Clare«, sagte Patricia eindringlich, »mein Mann war dabei, als es passierte. Er muß mich doch zu Ihnen gebracht haben…« Sie verstummte, als sie den mitleidigen Blick der Krankenschwester bemerkte. Schwester Clare glaubte ihr nicht! »Eine ältere Dame hat Sie gefunden und uns benachrichtigt. Ich sagte es bereits.« Patricia war so sehr aus der Fassung gebracht, daß sie die Augen niederschlug. Sie konnte einfach nicht glauben, daß Schwester Clare die Wahrheit sprach, denn das würde doch bedeuten, daß Colin sie im St. James Park ihrem Schicksal überlassen hatte. »Sie müssen sich beruhigen, Patricia. Sie werden sehen, alles klärt sich auf.« Schwester Clare lächelte mitleidig, und ihr Gesicht wurde beinahe mütterlich, als sie Patricia ansah – wie man ein etwas zurückgebliebenes, aber trotzdem liebenswertes Kind ansieht. »Ich bin nicht verrückt, wenn Sie das meinen, Schwester. Ich erinnere mich sehr genau an das Geschehen«, entgegnete Patricia energisch.
Schwester Clare zuckte kaum merklich zusammen. »Wie Sie meinen«, ging sie scheinbar gleichgültig darauf ein. »Dann wird wohl Mrs. Mallory lügen, die Schwester vom Frühdienst ebenfalls – und auch unsere beiden Männer des Notdienstwagens.« »Mrs. Mallory, sagten Sie?« »Ja, so heißt die Dame, die Sie gefunden und uns benachrichtigt hat. Mrs. Mallory. Kennen Sie sie?« Patricia zitterte wie Espenlaub, als sie nickte. Dann stieß sie mit schriller Stimme hervor: »Aber Mrs. Mallory ist tot, verstehen Sie doch, Schwester! Sie ist tot, tot, tot! Sie hat sich umgebracht, als ich mit Colin in den Flitterwochen war…« »Mrs. Stuart, bitte versündigen Sie sich nicht!« »Sie ist tot, ich weiß es«, wiederholte Patricia und war plötzlich ganz ruhig und beherrscht. Sie mußte das Vertrauen der Schwester gewinnen, sonst steckte man sie noch in eine Irrenanstalt. »Bitte, glauben Sie mir doch, Schwester Clare!« »Natürlich glaube ich Ihnen«, versicherte die Schwester. »Wir werden die ganze Angelegenheit überprüfen. Bitte, beruhigen Sie sich jetzt. Ich werde den Doktor rufen.« »Aber warum? Ich…«, protestierte Patricia ärgerlich und erhob sich. Aber die Krankenschwester drückte sie mit sanfter Gewalt zurück. Dann wandte sie sich um und ging aus dem Raum. Aufschluchzend warf Patricia sich dann im Bett herum, sie achtete nicht auf die rasenden Schmerzen, die sie wieder zu überwältigen drohten. Erst als Schwester Clare mit einem hochgewachsenen Mann das Krankenzimmer betrat, kam sie wieder zu sich. »Guten Tag, Mrs. Stuart. Ich bin Dr. Leran. Schwester Clare bat mich, nach Ihnen zu sehen.«
Dr. Leran war etwa vierzig Jahre alt und mit seinem kurzen, stämmigen Hals wirkte er trotz seiner Größe kompakt und unbeholfen. Leran wirkte überhaupt nicht wie ein Arzt, eher wie ein Dandy. Diesen negativen ersten Eindruck unterstrich der nachlässig geöffnete weite Arztkittel noch. Dr. Leran hatte schneeweiße Hände mit ziemlich langen, spitzen Nägeln. Patricia graute es vor diesen Händen, sie flößten ihr Ekel ein – einen körperlichen Widerwillen. Aber als Lerans Finger behutsam über ihr bandagiertes Gesicht fuhren, verflog ihre Abneigung. Sie hielt sich vor, daß es nicht allein auf das Äußere eines Menschen ankam. Schließlich war sie selbst jetzt ein Mensch, dessen Äußeres abstoßend und sogar furchterregend sein mußte. Leran nickte, als er seine Untersuchung beendet hatte. »Sie werden es schaffen, Mrs. Stuart. Sie müssen nur den Willen dazu haben, schnell wieder gesund zu werden.« »Wir werden indessen Ihren Mann benachrichtigen. Sicherlich macht er sich schon große Sorgen um Sie«, warf Schwester Clare ein, die bisher schweigend neben Dr. Leran gestanden hatte. Dr. Leran nickte. »Und Sie werden jetzt schlafen. Das ist im Moment die beste Medizin, die ich Ihnen verordnen kann.« »Aber ich kann jetzt nicht schlafen«, stieß Patricia hervor. Dr. Leran richtete sich auf und warf Schwester Clare einen undefinierbaren Seitenblick zu. Die Krankenschwester nickte und reichte dem Doktor eine Spritze, die sie in der hohlen Hand gehalten haben mußte. »Ich will keine Spritze«, wehrte sich Patricia. »Aber Mrs. Stuart, wir wollen Ihnen doch nur helfen.« Schwester Clare zog die Decke mit einem harten Ruck beiseite, gleichzeitig beugte sich Dr. Leran in einer geschmeidigen Bewegung über sie und band ihr den linken
Arm ab. Patricia bäumte sich auf und schrie. Ihre Stimme überschlug sich. »Sie sind hysterisch, Patricia«, fuhr Schwester Clare sie an und hielt sie mit eisernem Griff fest. Dr. Leran setzte die Spritze an, stach die Kanüle in die Armvene und drückte langsam eine farblose Flüssigkeit in ihre Blutbahn. »Was – was geben Sie mir?« hauchte Patricia, während sie mit geschlossenen Augen in die Kissen zurücksank. Schwester Clares Griff lockerte sich. »Zählen Sie bitte bis zwanzig«, bat Dr. Leran und ging auf Patricias Frage nicht ein. »Bitte entspannen Sie sich, es ist doch nur zu Ihrem Besten.« Schwester Clare schob mit sanfter Hand Patricias Kopf wieder in eine gerade Lage. Patricia spürte, wie sie ruhiger wurde. Lieber Himmel, dachte sie, was ist mit mir los? Warum vertraue ich Dr. Leran nicht? Er will mir doch nur helfen. »Ich werde tun, was Sie von mir verlangen, Doktor«, murmelte Patricia. Dann begann sie zu zählen: »Eins, zwei, drei, vier, fünf – sechs – acht – neu…« Patricias Stimme versagte, als sie eine seltsame Schwäche in ihren Muskeln spürte. Sie schien plötzlich zu schweben. Der Doktor beugte sich über sie, hob mit dem Daumen seiner linken Hand ihr rechtes Augenlid an. »Sie ist hinüber. Sie wird jetzt mindestens zwölf Stunden schlafen. Und danach wird ihr alles wie ein Traum vorkommen.« »Du meinst, daß sie dann unsere Geschichte glaubt?« Die Stimme der Schwester klang seltsam verzerrt und ernst. »Ich hoffe es«, erwiderte Dr. Leran besorgt. Dann fügte er leiser sprechend hinzu: »Ich hoffe es für Mrs. Stuart. Sollte sie
nämlich zweifeln, sind Colins Anweisungen eindeutig. Ein kleiner Unfall, verstehst du…« Patricia konnte Clares Antwort nicht mehr verstehen. Ihr Gehirn war nicht mehr fähig, das Gehörte zu verarbeiten. Das Narkosemittel, das Dr. Leran ihr zweifellos gespritzt hatte, wirkte bereits. Mit letzter Kraft versuchte Patricia die Augen zu öffnen. Es gelang ihr, aber nur für Sekunden. Hinter unendlich schweren Lidern sah sie zwei gespannt beobachtende Gesichter über sich. Und plötzlich erkannte sie ein drittes Gesicht! Es war Colins Gesicht, und es war zu einem hämischen Grinsen verzerrt.
*
Patricia erwachte übergangslos aus ihrem tiefen Schlummer. Sie fühlte sich beobachtet, meinte, die Nähe eines anderen Menschen zu spüren, der neben ihrem Bett stand. Mühsam öffnete sie die Augen und schaute sich um. Aber außer ihr war niemand im Zimmer. Dann fiel ihr ein, was geschehen war. Dr. Leran hatte ihr ein Schlafmittel gegeben… Als ihr das Gespräch einfiel, das sie belauscht hatte, beschlich sie eine fürchterliche Angst. Man wollte sie verwirren, man wollte, daß sie sich nicht mehr erinnerte, an den Hund, den Unfall, der sie ihre Schönheit gekostet hatte. Und hinter all dem steckte Colin, ihr eigener Mann, den sie von ganzem Herzen liebte. Er aber wollte sie offenbar loswerden. Um dieses Ziel zu erreichen, war ihm offenbar jedes Mittel recht. Mit vorsichtigen Schritten ging sie zur Tür, öffnete sie behutsam und lauschte.
Kein Ton war zu hören, und der ganze Flur lag im Dunkel. Als Patricia ihr Zimmer verlassen wollte, vernahm sie Stimmen. Sie schluckte, kalter Schweiß bildete sich auf ihrem Rücken, als sie daran dachte, daß Dr. Leran auf dem Weg war, sie wieder zu narkotisieren. Nur das nicht, betete sie. Er darf mich hier nicht sehen… Irgendwo quietschte eine Tür, Schritte näherten sich. Im gleichen Augenblick hörte sie die Stimme des Arztes: »…wird sicherlich in den nächsten Minuten aufwachen, denn das Mittel war genau dosiert. Und dann wird alles von dir abhängen, Col. Hoffentlich bist du ein guter Schauspieler.« »Warum bist du so ängstlich?« »Weil ich nicht gern der Mittäterschaft bei Mord angeklagt werden möchte.« Colin lachte rauh. »Wo kein Kläger ist, da ist auch kein Richter. Das ist ein altes Sprichwort.« In diesem Moment ging das Flurlicht mit einem scharfen Klicken an. Die Schritte waren bedenklich nahe, gleich mußten die beiden Männer um die Ecke kommen und sie sehen. Patricia besann sich der Gefahr, in der sie schwebte, wenn sie von Dr. Leran und Colin entdeckt wurde. Sie drehte sich um und zog sich in ihr Krankenzimmer zurück. Mit bebenden Händen zog sie die Tür hinter sich ins Schloß und hoffte, daß die Männer das metallische Geräusch nicht gehört hatten. Sie hastete, so schnell sie konnte, zum Bett und ließ sich hineinfallen. Und in diesem Moment stand ihr Plan fest. Sie würde Colins Spiel mitspielen und sich nichts anmerken lassen. Nur so hatte sie eine Chance, das Rätsel um Colins Verhalten zu lösen – und zu überleben.
Patricia schloß die Augen und bemühte sich, ruhig zu atmen. Welch eine Ironie des Schicksals, dachte sie. Nicht von Colins Schauspielkunst hängt alles ab, sondern von meiner! Da öffnete sich leise die Tür. »Sie schläft noch«, stellte Dr. Leran zufrieden fest. »Hoffentlich nicht mehr lange. Ich habe nicht viel Zeit, ich muß gleich wieder zurück.« Colins Stimme hallte in Patricias Ohren nach. »Carol wartet auf mich, weißt du.« »Pst!« zischte Leran wütend. Patricia gab einen tiefen Seufzer von sich, während sie sich streckte. »Ganz ruhig«, flüsterte Dr. Leran. »Mrs. Stuart, können Sie mich hören?« Patricia murmelte etwas Unverständliches und hoffte, daß es echt wirkte. »Sie wird gleich aufwachen, Col.« Vorsichtig öffnete Patricia ihre Augen, tat verwirrt, als sie Dr. Leran sah, dessen Gesicht halb im Dunkel lag. In dem matten Licht hinter dem Doktor erkannte sie ihren Mann. »Colin«, flüsterte sie erfreut und erhob sich mit einem erleichterten Seufzer. »Ich bin da, mein Liebes!« »Das ist schön. Ich fürchtete schon, du kämst nicht.« »Ich bin sofort losgefahren, nachdem Schwester Clare mich angerufen hat. Sie hat mir von dem Unfall erzählt.« »Bitte, Colin, sprechen wir jetzt nicht darüber. Es – es ist so schrecklich. Mein Gesicht…« Sie sprach nicht weiter. Colin blickte sie seltsam forschend an. »Wie ist es passiert?« fragte er dann mit schneidender Stimme. »Ich erinnere mich nur schwach. Ich ging im St. James Park spazieren. Plötzlich hörte ich ein Rascheln hinter mir. Und dann – dann war diese Bestie auch schon heran! Ich stürzte… Von da an weiß ich nichts mehr. Ich muß wohl ohnmächtig
geworden sein.« Patricia stöhnte laut auf und preßte ihre rechte Hand vor den Mund. »Es war furchtbar, Colin.« »Das glaube ich dir«, entgegnete er mitfühlend. »Und jetzt – jetzt ist mir, als wenn ein undurchdringlicher Schleier vor meiner Erinnerung liegt. Ich – kann mich nur sehr schwer an alles erinnern. Du wirst mich doch nicht im Stich lassen, nicht wahr? Du wirst mich doch weiter liebhaben?« »Bei Gott, natürlich werde ich dich weiterhin liebhaben. Wie kommst du auf solche Gedanken, Patricia?« erwiderte Colin eine Spur zu hastig. Patricia tat beruhigt und tastete nach seiner Hand, um sie zu streicheln. Äußerlich war sie völlig ruhig und beherrscht, aber ihre Gedanken waren in wildem Aufruhr. Wie leicht ihm die Lügen über die Lippen kamen… »Wie lange bin ich schon im Krankenhaus?« lenkte Patricia von Colins Frage ab. »Es ist heute der dritte Tag«, antwortete Dr. Leran schnell. »Sie waren fast zwei Tage ohne Bewußtsein.« »Drei Tage…« Patricias Stimme klang schwach, ihre Kehle war wie zugeschnürt. »Aber keine Sorge, Sie sind bei uns gut aufgehoben«, fuhr Leran fort, als er Patricias nachdenkliches Gesicht bemerkte. »Sie sind in einer der besten Privatkliniken Englands, Mrs. Stuart. Bei Professor Calwin.« Patricia war ehrlich überrascht, aber dann sagte sie sich, daß alles zusammenpaßte. Sie hatte sich schon gewundert, daß Schwester Clare und Dr. Leran mit Colin gemeinsame Sache machten. Offensichtlich waren beide bestochen worden, was bei einer privaten Klinik ohne größeres Risiko möglich war. Schließlich gab es dort nicht so viele neugierige Augen und Ohren wie in einem Krankenhaus. Colin hatte an alles gedacht, ein weiterer Beweis dafür, wie ernst er es meinte.
Dr. Leran legte Colin die Hand auf die Schulter. »Es ist weit nach Mitternacht, Mr. Stuart. Ihre Frau ist sehr erschöpft, wir müssen sie schonen«, mahnte er sanft. »Ja, Sie haben recht, Doktor.« »Bitte bleib doch noch, Colin«, flehte Patricia. »Sie wollen uns doch keinen Kummer machen, Mrs. Stuart?« lachte Dr. Leran mit sonorer Stimme. »Ich werde brav sein und Ihnen keinen Kummer machen, Dr. Leran. Zufrieden?« »Dann werde ich jetzt gehen, Patricia«, murmelte Colin scheinbar bedrückt. »Aber morgen werde ich wieder zu dir kommen. Ich nehme mir ein paar Tage Urlaub.« »Ja«, erwiderte Patricia. »Das wäre schön.« Sie senkte die Lider. »Schläfst du?« fragte Colin leise. Patricia antwortete nicht, wartete nur ab. Was würde geschehen? Würde ihr Dr. Leran wieder eine Spritze geben? Eisiger Schrecken durchzuckte sie bei diesem Gedanken. Aber dann spürte sie Colins Atem über ihrem Gesicht. Er küßte sie flüchtig, fast furchtsam auf die Wange. Seine Lippen waren trocken und rauh. »Du weckst sie wieder auf!« Dr. Lerans Stimme war ungehalten. Colin richtete sich auf. »Du hast recht. Ich habe völlig vergessen, daß ich meine Rolle als fürsorglicher Ehemann nur zu spielen brauche, wenn sie wach ist.« »Schon gut, gehen wir jetzt.« »Gibst du ihr heute keine Spritze?« »Nein, die erste hat ihre Wirkung bereits getan. Deine Frau glaubt Schwester Clares Version des Unfallhergangs. Sie kann Wirklichkeit und Lüge nicht mehr unterscheiden. Das erste Stadium ist damit mühelos erreicht. Das ist mehr, als wir uns erhoffen durften.«
»Patricia war schon immer leicht zu beeinflussen und naiv.« Colin lachte glucksend. »Und das erleichtert deinen Plan ganz erheblich, nicht wahr?« »Natürlich!« Endlich hörte Patricia, wie die Schritte der beiden Männer sich entfernten. Sie lag ganz still und wagte kaum zu atmen. Die Sekunden wurden quälend langsam zu Minuten. Das Licht wurde gelöscht, dann fiel die Tür sanft ins Schloß. Patricia lag noch eine ganze Weile reglos, bevor sie es riskierte, die Augen wieder zu öffnen. Erleichterung und Genugtuung erfüllten sie. Es war ihr gelungen, Dr. Leran und Colin zu täuschen – dieses eine Mal wenigstens. Doch Patricia gab sich keinen Illusionen hin. Solange sie in dieser Privatklinik lag, war sie dem teuflischen Plan ihres Mannes und der Willkür des korrupten Arztes Leran auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Sie mußte fliehen!
*
Vorsichtig tastete sich Patricia in der Dunkelheit vor, stieß gegen etwas Hartes und schrie leise auf. Sie mußte vor einem größeren Tisch stehen. Suchend fuhren ihre Hände über die Tischplatte und fanden eine kleine Lampe. Die Vorhänge waren zugezogen, Patricia mußte nicht befürchten, durch den Lichtschein verraten zu werden. Erleichtert seufzte sie auf und knipste das Licht an. Dann trat sie an den Wandschrank und öffnete ihn. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen, als sie sah, daß ihr das Glück hold war.
Zwei Regenmäntel hingen dort, und auf dem Boden des Schrankes standen zwei Paar Schuhe. Ohne zu überlegen zog sich Patricia einen Mantel über und schlüpfte in die Schuhe. Sie drückten zwar ein bißchen, aber das ließ sich aushalten. Hauptsache, sie entkam aus dieser seltsamen Klinik! Patricia zuckte zusammen, als sie ein Geräusch vernahm. Draußen auf dem Flur klangen schwere Schritte, und sie näherten sich zweifelsohne dem Zimmer, in dem sie sich aufhielt. Patricia löschte das Licht. Jetzt waren die Schritte direkt vor der Tür. Patricia wich zurück, fieberhaft überlegte sie sich eine glaubhafte Ausrede. Aber in diesem Augenblick begann draußen laut und eindringlich eine Sirene zu heulen, und die Dinge überstürzten sich in wenigen Sekunden. Die Schritte entfernten sich hastig. Und plötzlich gellte ein Schrei auf, der durch Mark und Bein ging, ein Schrei, den ein unsagbar gequälter Mensch ausgestoßen haben mußte. Angst stieg in Patricia auf. Es war ihr, als ob jemand mit einem Eiszapfen über ihren nackten Rücken strich. Ihre Kopfhaut zog sich zusammen, und die Wunden in ihrem Gesicht pulsierten, die Schmerzen wurden unerträglich. »Haltet ihn!« schrie eine aufgeregte Stimme. »Er ist wahnsinnig, er glaubt der Henker von Dartmoor zu sein… Alle Wärter zu mir! Um Himmels willen…« Wieder erklang ein durchdringender Schrei. »Er ist im dritten Stock…« Die hysterische Stimme des Mannes ging unter in dem nun einsetzenden Tumult. Wie unter dem Druck einer unsichtbaren Hand ging Patricia zur Tür und öffnete sie. Vorsichtig spähte sie hinaus auf den jetzt hell erleuchteten Korridor. Nach etwa fünf Minuten tauchten vier Männer in weißen Kitteln auf, die einen großen Mann mühsam mit sich zerrten. Der Mann tobte und schrie. Schaurig hallte seine sich überschlagende Stimme durch die
langen Flure. »Ich werde euch alle hinrichten! Ihr alle seid des Todes, denn das heilige Gericht hat es so beschlossen! Ich werde euch töten, so, wie es mir aufgetragen wurde von höchster Stelle…« Endlich verstummte das Geschrei des Wahnsinnigen. Eine schwere Tür irgendwo in den Untergeschossen der CalwinKlinik fiel ins Schloß. Die abrupt wiedergekehrte Stille zerrte an Patricias Nerven. Wenn sie daran dachte, daß der Wahnsinnige noch vor wenigen Minuten vor der Tür zum Aufenthaltsraum gestanden hatte… Ein heftiges Zittern überlief sie. Erst jetzt würde ihr klar, in welch schrecklicher Gefahr sie geschwebt hatte, und mit dieser Erkenntnis veränderte sich Patricias Stimmung mit einem Schlag. Furcht und Resignation wollten den Optimismus verdrängen, mit dem sie ihre Flucht begonnen hatte. Aber dann sagte sie sich, daß sie nichts mehr zu verlieren hatte, und trat entschlossen auf den Korridor hinaus. Sie erreichte die Treppe und sie rannte hinab. Patricia bog um eine Ecke und stand im Foyer der Klinik. Zehn Schritte vor ihr war der Ausgang. Eine hohe, breite Glastür. Sicherlich war sie abgeschlossen. Links neben dem Glasportal reihten sich mehrere Telefonzellen, davor standen bequeme Besuchersessel und Tischchen, und genau gegenüber befand sich eine Tür, über der groß und deutlich das Wort »Anmeldung« stand. In dem Zimmer brannte Licht, und Patricia konnte leises Stimmengemurmel hören. Mühsam schluckte sie den Klumpen hinunter, der plötzlich in ihrer Kehle steckte. Wenn sie jetzt ein lautes Geräusch verursachte, dann… Neben dem Anmelderaum folgten mehrere Türen, die keinerlei Bezeichnung trugen. Drei der Türen waren abgeschlossen, aber bei der vierten hatte Patricia Glück. Wie
ein Schatten huschte sie in den dunklen Raum, durchquerte ihn, öffnete das Fenster und stieg hinaus. Der Wind hatte sich gelegt, dennoch war es empfindlich kalt. Dicke graue Nebelschwaden hingen dicht über dem Boden und vermittelten eine unheimliche Stimmung. Noch vor wenigen Tagen – vor ihrem Unfall – hätte ihr das Grauen die Kehle zugeschnürt, aber jetzt erschien ihr der Nebel wie ein zuverlässiger Freund und Verbündeter. Die Privatklinik, ein imposantes U-förmig angelegtes Gebäude, lag dunkel hinter ihr und strahlte Ruhe und Frieden aus. Man hatte ihre Flucht also noch nicht bemerkt. Zufrieden ging Patricia weiter. Wie, lange sie lief, wußte sie später nicht mehr zu sagen. Site wußte nur, daß sie kurz nach ein Uhr die Klinik verlassen hatte. Und irgendwann erblickte sie die Lichter der Stadt vor sich, spärliche Lichter, aber für Patricia erfüllten sie die Nacht mit strahlendem Glanz. Zehn Minuten später war ihr der Ort vertraut, den sie erreicht hatte – Soho, das Vergnügungsviertel Londons. Ganz in der Nähe mußte also auch die Bond Street liegen, Londons eleganteste Geschäftsstraße. Früher war sie dort oft mit Colin spazierengegangen, und es hatte ihnen Spaß gemacht, die sündhaft teuren Auslagen der Juweliere und Boutiquen anzusehen. Ganz in Gedanken versunken setzte sie einen Fuß vor den anderen, und sie erschrak fürchterlich, als plötzlich ein Wagen mit kreischenden Rädern neben ihr hielt. Ein junger Mann stieg aus und lächelte sie an. »Kann ich Ihnen behilflich sein? Sind Sie verletzt?« fragte er und deutete auf den Verband, der nach wie vor Patricias linke Gesichtshälfte bedeckte. Sie zuckte zusammen, aber sie ließ sich ihre Bestürzung nicht anmerken.
»Ich hatte einen Unfall«, erwiderte sie und strich sich das Haar aus dem Gesicht. Der Mann nickte verständnisvoll und zündete sich eine Zigarette an. »Wenn Sie wollen, nehme ich Sie gern ein Stück mit. Die Straßen Sohos sind gefährlich, besonders um diese Zeit, und ganz besonders für eine hübsche junge Frau wie Sie.« Patricia zögerte, aber dann nahm sie die Einladung des gutaussehenden Mannes an. Er lief um den Wagen und öffnete ihr galant die Tür. »Ich bin Anthony Barron«, machte er sich bekannt, bevor er losfuhr. Auch Patricia nannte ihren Namen. Sie war dem Mann dankbar, daß er keine Fragen stellte. Die Fahrt verlief schweigend. Anthony Barron fuhr schnell und sicher. »Wo darf ich Sie hinbringen, Mrs. Stuart?« erkundigte er sich schließlich, als sie an der National Gallery vorbei in Richtung Whitehall fuhren. Patricia überlegte kurz. »Ich müßte nach Kennington«, sagte sie leise. »Dort habe ich Verwandte. Aber ich kann doch nicht verlangen…« »Ach was«, wehrte Barron ab. »Wenn wir über die Westminster Bridge fahren, sind wir in ein paar Minuten dort. Es macht mir keine Umstände, müssen Sie wissen.« »Sie sind sehr freundlich, Mr. Barron.« »Schon gut.« Barron drückte die Zigarette aus und schaltete das Radio an. Glenn Millers Moonlight-Serenade erklang. Patricia lehnte sich in dem bequemen Sitz zurück und versuchte, sich zu entspannen. Es gelang ihr jedoch nicht, denn immer wieder beschäftigten sich ihre Gedanken mit ihr ein Vorhaben.
*
Sie blickte dem davonbrausenden Wagen Anthony Barrons nach, bis die roten Schlußlichter von der Dunkelheit verschluckt wurden. Plötzlich fühlte sie sich sehr einsam und verlassen. Sie mußte sich – wenn auch widerstrebend – eingestehen, daß ihr der zurückhaltende junge Mann mit dem sympathischen Lächeln gut gefallen hatte. Barron war höflich und hilfsbereit gewesen, er hatte aus ihrer Notlage keinen Vorteil ziehen wollen. Er war – trotz seiner Jugend – ein vollendeter englischer Gentleman gewesen. Vielleicht hätte sie sich ihm anvertrauen sollen? Nachdenklich nahm Patricia den Weg, den sie vor wenigen Tagen noch gegangen war. Wieder fühlte sie eine leise Furcht in sich hochkriechen, aber diesmal nicht wegen der raunenden, kahlen Äste des Vauxhall Parks. Sie mußte an die riesige Dogge denken… Eine innere Stimme riet ihr, davonzulaufen, irgendwohin. Aber Patricia blieb beherrscht, und dann sah sie auch bereits die hochaufragende Fassade des Stuart-Hauses. Im ersten Stock brannte noch Licht. Patricia wurde leichenblaß, als sie feststellte, daß es das Licht in ihrem Schlafzimmer war. Colin hatte in der Calwin-Klinik den Namen Carol erwähnt. Patricia fragte sich jetzt, ob diese Carol inzwischen bereits ihre Stelle an Colins Seite eingenommen hatte. Sie ahnte nicht, wie nahe sie mit diesem Gedanken der Wirklichkeit kam. Patricia stieß das schmiedeeiserne Tor auf und näherte sich dem Eingang des Gebäudes. Schwarz und drohend türmten sich die hohen, efeubewachsenen Mauern vor ihr auf. Patricia fühlte sich unbehaglich, aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Jetzt mußte sie ihren verzweifelten Plan in die Tat umsetzen, denn später würde sie nicht mehr den Mut dazu aufbringen, dessen war sie sicher. Sie mußte mit ihrem Mann in aller Ruhe sprechen, ihn bitten, sich auszusprechen, ihr alles zu erklären, ihr zu vertrauen. Patricia hatte beschlossen – ein letztes Mal, so
nahm sie sich fest vor – um die Liebe ihres Mannes zu kämpfen, um den Fortbestand ihrer Ehe. Sie wollte Colin eine Chance geben, alles wiedergutzumachen. Und wenn Colin gar nicht will, daß alles wieder gut wird? flüsterte eine skeptische Stimme in ihr. Patricia holte tief und zitternd Atem, denn sie wußte keine Antwort auf diese rein rhetorische Frage. Patricias Hand lag bereits auf dem imposanten Klingelknopf, als sie es sich anders überlegte. Ich werde Colin überraschen, nahm sie sich vor. Im gleichen Augenblick jedoch, noch während sie das dachte, schalt sie sich eine Närrin, daß sie so albern war, sich selbst zu belügen. Sie mißtraute Colin, und sie wollte feststellen, ob dieses Mißtrauen gerechtfertigt war. Sie wollte Klarheit haben. Deshalb klingelte sie nicht. Patricia umrundete das große Haus, wobei sie sich bemühte, so leise wie möglich zu sein. Sie erreichte eine steil abwärts führende Treppe, die von außen in den alten Keller des StuartHauses führte und schon jahrelang nicht mehr benutzt worden war. Natürlich war die Kellertür verschlossen, doch sie wußte, daß Colin in einem raffinierten Versteck einen Schlüssel hinterlegt hatte. Wie oft hatte er sich auf diesem Weg ins Haus geschlichen, nachdem er eine ganze Nacht weggewesen war. Vorsichtig stieg sie die nassen, glitschigen Stufen hinunter und tastete sich mit beiden Händen an den kalten, feuchten Wand entlang. Endlich stand sie vor der Kellertür. Irgendwo in der Nähe krächzte ein Nachtvogel. Erschrocken fuhr Patricia zusammen und blickte nervös um sich. Nichts war zu sehen, und so begann sie mit der Suche nach dem Schlüssel. Kurze Zeit später hatte sie ihn gefunden, aber sie zögerte, ihn zu benutzen. Das heisere Krächzen des Vogels kam ihr wie eine Warnung vor. Sekundenlang überlegte sie, ob sie nicht doch so schnell wie möglich diesen Ort verlassen
sollte. Wenn Colin ihr Böses antun wollte, worauf alle bisherigen Indizien hinwiesen, war es sehr leichtsinnig, sich allein hierherzuwagen. Patricia erschauderte. Dann öffnete sie kurz entschlossen die schwere Tür und trat ein. Sie machte einige Schritte, und ihre Augen gewöhnten sich allmählich an das Dunkel. Der alte Keller war riesengroß, die Decke jedoch kaum höher als sie selbst. Es gab keine Fenster und in diesem Teil auch keine Lampe. Es roch nach Feuchtigkeit und Fäulnis, hin und wieder war ein feines Fiepen zu hören. Ratten! durchzuckte es sie voll Grauen. Reglos stand sie in der Dunkelheit, als hinter ihr die Tür knarrend zufiel. Jetzt, wo die Tür geschlossen war, konnte sie nicht mehr das geringste sehen. Nacktes Entsetzen griff nach Patricia, und sie stürzte die Treppe hoch. Kurz darauf befand sie sich in der überdimensionalen Empfangshalle. Erschöpft lehnte sie sich gegen die Wand. Dann faßte sie sich ein Herz, um nach oben in ihr Schlafzimmer zu gehen. Sie mußte unbedingt ergründen, warum dort oben noch Licht brannte. Als sie im Vorübergehen in den Venezianischen Spiegel blickte, hielt sie entsetzt den Atem an. Ihre Haare waren zerzaust, und der Verband und ihr Gesicht total verschmutzt. Auf dem Mantel klebten Spinnweben. Sie sah aus wie eine Hexe… Patricia schluckte hart und senkte den Kopf. Dann stieg sie nach oben.
*
Die Tür zu ihrem Schlafzimmer stand einen Spalt offen, und Patricia blieb zutiefst verwirrt stehen, als sie die laute Musik hörte. Ihr Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. Dann vernahm sie leises Lachen und einen Satzfetzen: »… ist so gemütlich hier. Ich könnte mich gewiß daran gewöhnen, hier zu leben. Oh, Colin, bitte küß mich…« »Nein, meine Süße, ich habe jetzt Wichtigeres zu tun«, erklang Colins Stimme. Patricia bemerkte, daß es ihrem Mann schwerfiel, diesen Satz zusammenhängend auszusprechen. Colin war betrunken! »Natürlich liebe ich dich, Carol.« »Nein!« Rascheln von Stoff war zu hören, dann klirrte Glas auf den Boden, und Colin schrie wütend: »Laß mir doch endlich meine Ruhe! Ich kann dein Geschwätz nicht mehr hören!« Patricia konnte sich nicht erinnern, ihren Mann jemals so betrunken und unbeherrscht gesehen zu haben. Immer war Colin ruhig und besonnen gewesen, und ihr war es immer schwergefallen, zu erraten, was hinter seiner hohen Stirn vorging. Und jetzt dies… Patricia preßte ihr Ohr näher an den Türspalt, aber eine Weile war es still, diese gräßliche Musik übertönte alles. »Du bist ein ekelhafter Mensch, Colin Stuart! Ich hätte es wissen müssen, oh, ich hätte es sofort wissen müssen, als ich damals erfuhr, was du mit deiner Frau vorhast.« »Sei still!« Colins Stimme klang plötzlich vollkommen nüchtern. »Sprich nie wieder in meiner Gegenwart von meiner Frau, hörst du?« »Du hast wohl ein schlechtes Gewissen?« Die Stimme der Frau wurde höhnisch. »Aber nein, das kann nicht sein, weil du ja gar kein Gewissen besitzt. Sicherlich ist es also nur die
Angst davor, daß dein schmutziges Spiel rechtzeitig durchschaut wird.« Plötzlich war ein wütender Aufschrei zu hören, dann ein lautes Klatschen, ihm folgte ein schriller Schmerzensschrei. Jetzt hielt es Patricia auf ihrem Lauscherposten nicht mehr aus. Sie drückte die Tür auf und trat über die Schwelle. Mit einem Blick erfaßte sie die Situation. Ein heilloses Durcheinander herrschte in dem Zimmer. Überall standen und lagen leere Sekt- und Weinflaschen, und auf einem niedrigen, fahrbaren Tischchen waren Überreste eines kalten Büfetts. Eine junge Frau lag quer über ihrem, Patricias, Bett und hielt sich schützend die Hände vors Gesicht. Colin, der Patricia noch nicht bemerkt hatte, kniete halb über der Frau und schlug auf die Wehrlose ein. Zuerst war Patricia von der Gewalttätigkeit Colins zu entsetzt, um reagieren zu können, aber dann warf sie sich bedenkenlos auf ihn, um ihn von der wimmernden Frau zurückzureißen. Mit einem unwilligen Knurren drehte sich Colin herum, in seinen dunklen Augen loderte ein zorniges Feuer, das sofort verschwand, als er Patricia erkannte. Die Überraschung war perfekt. Colin ließ von der jungen Frau, die sicherlich seine Geliebte war, ab und erhob sich. Er schaute Patricia wie ein Gespenst an. Sein Gesicht war aschfahl. »Du?« murmelte er schließlich fassungslos. »Ja, ich«, erwiderte Patricia tonlos. »Wie – wie kommst du denn hierher?« »Das ist doch jetzt unwichtig, Colin.« »Aber ich… Pat, das darfst du nicht sagen. Du mußt wissen…« Patricia unterbrach ihren Mann mit eisiger Stimme: »Ich weiß, was ich wissen muß, Colin.« Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie versuchte, sie zu unterdrücken. Mühsam
kämpfte sie um ihr inneres Gleichgewicht und wich Colins Blicken aus, weil sie fürchtete, schwach zu werden. Mit schmerzlicher Trauer erkannte Patricia, daß sie ihren Mann immer noch liebte. Sogar jetzt noch, wo seine Schuld doch unwiderruflich feststand. Als sie sich wieder gefaßt hatte, ging sie zu der jungen Frau, die sich inzwischen aufgerichtet hatte und sie aus großen, staunenden Augen ansah. Widerstrebend mußte Patricia sich selbst gegenüber zugeben, daß ihre Rivalin wunderschön war, viel schöner, als sie selbst je gewesen war. Ihr Gesicht war zart wie Meißner Porzellan, es wurde umrahmt von duftigem, honigfarbenem Haar, das in sanften Wellen bis auf ihre schmalen Schultern hinunterfiel. Der volle, schöngeschwungene Mund war eine Spur zu rot geschminkt. Und sie hatte immer geglaubt, daß Colin ihre frische Natürlichkeit liebte. Patricia fand nur schwer in die Wirklichkeit zurück. »Sind Sie verletzt?« erkundigte sie sich, und im gleichen Moment kam sie sich lächerlich vor und dumm. Wie konnte sie ihre Rivalin so etwas fragen! Konnte es ihr nicht recht sein, wenn diese Carol endlich einsah, wie brutal Colin war? Verlegen schlug Patricia die Augen nieder. Sie wußte einfach nicht, wie sie sich jetzt verhalten sollte, und durch ihre Unentschlossenheit wurde alles nur noch schlimmer. »Ich – ich bin in Ordnung«, erwiderte Carol endlich. »Verschwinde!« befahl Colin ihr mit barscher Stimme. »Auf was wartest du noch?« Carol starrte ihn feindselig an. »Ich verstehe schon. Ich bin jetzt überflüssig«, stellte sie fest und zwang sich zu einem strahlenden Lächeln, das so falsch war wie ein unechter Edelstein. Colin schaute sie nur eisig an, und in seinem Blick lag eine unverhohlene Drohung.
»Ich gehe also«, gab Carol mit vibrierender Stimme nach. »Aber du wirst noch bereuen, mich so weggeschickt zu haben.« Mit diesen Worten erhob sie sich, ergriff eine wertvoll aussehende Nerzjacke und schlüpfte, während sie zur Tür ging, hinein. An der Tür blieb sie stehen, drehte sich noch einmal um und musterte Patricia mit einem undefinierbaren Blick. Dann verließ sie, ohne ein weiteres Wort zu sagen, das Zimmer. Wenig später fiel unten die Eingangstür ins Schloß. Colin sah Patricia, die sich erschöpft auf das Bett gesetzt hatte, schweigend an. Patricia erwiderte seinen Blick irritiert. Aber dann durchströmte sie plötzlich Angst, als Colin langsam auf sie zukam. Lieber Himmel, was soll ich tun, überlegte sie krampfhaft und wich langsam zurück. Würde Colin sie jetzt töten? Hatte er seine Geliebte weggeschickt, um keine unliebsame Zeugin seiner Missetat zu haben? »Patricia.« In seiner Stimme lag etwas, das ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Sie versteifte sich, als er ihr einen Arm um die Schulter legte und sich zu ihr setzte. »Ich bereue, was ich getan habe«, murmelte er. Patricia wandte sich angewidert von ihm ab. Der Drück von Colins Arm verstärkte sich. »Warum willst du mir nicht glauben?« Sein Atem war warm und sehr nahe, und plötzlich konnte sich Patricia nicht mehr gegen dieses Gefühl wehren, das sie immer in Colins unmittelbarer Nähe überwältigte. »Ich kann dir nicht glauben«, hauchte sie schwach. Dann mußte sie an all ihre Vorsätze denken, mit denen sie hergekommen war. Sie hatte Colin bitten wollen, sich auszusprechen, ihr alles zu erklären… Jetzt merkte sie, daß sie im Grunde gar keine Erklärung mehr wollte. Sie wollte nur die
Liebe ihres Mannes, und die bot er ihr an. Er hatte versichert, daß er alles bereue. »Ich will dir ja glauben, Colin. Wirklich, ich will es«, stammelte sie, glitt in seine Umarmung und schmiegte sich an ihn. Nach einer Weile löste sie sich aus seinen starken Armen und blickte ihn ernst und traurig an. »Aber wirst du mich nicht wieder enttäuschen?« Colin gab ihr keine Antwort, sondern betrachtete sie nur stumm. Dann zog er sie wieder an sich und küßte sie zärtlich auf den Mund, Hätte er in diesem Moment einen Versuch gemacht, sie zu töten, sie hätte ihn wahrscheinlich, gewähren lassen und wäre noch glücklich dabei gewesen. Colins Küsse wurden immer fordernder, und Patricias letzte Ängste und Befürchtungen lösten sich in Nichts auf, zerschmolzen in Liebe. Sie war glücklich und fühlte sich unendlich erleichtert. Aber dieses Gefühl sollte nicht lange anhalten.
*
Wochen und Monate glitten vorbei, und die Wunden in Patricias Gesicht verheilten langsam. Dennoch war es offenbar, daß häßliche Narben zurückbleiben würden. Diese Erkenntnis war für Patricia sehr schwer zu ertragen, aber Colin versuchte in rührender Weise, sie zu trösten. Er war wieder der vorbildliche Ehemann, der er früher immer gewesen war. Sie arbeitete in ihrer Freizeit für einen Verlag, und sie hatte bereits mehrere Kurzgeschichten verkaufen können. Der Lektor des Verlages hatte sie sogar gelobt und sie ermutigt, doch einmal einen Roman zu schreiben. Natürlich hatte sie
dieses Angebot sehr gereizt, aber ihre Ehe war ihr wichtiger als eine Karriere. Niemals hatte sie Colin von ihren kleinen Erfolgen als Schriftstellerin erzählt, aus Angst, er würde sich übergangen fühlen. Sie legte auch mehr Wert auf ihre Kleidung, und sie hatte auch Professor Davids konsultiert, einen der bekanntesten und besten Londoner Ärzte, eine Koryphäe auf dem Gebiet der kosmetischen Chirurgie. Mitte Januar teilte ihr der Professor nach zahllosen Untersuchungen und Tests mit, daß er eine Operation für durchführbar halte und ihr sogar gute Erfolgschancen gab. An diesem Tag war Patricia der glücklichste Mensch der Welt. »Wir werden Ihr Gesicht wieder so schön machen, wie es vor dem bedauernswerten Unfall war, Mrs. Stuart«, versicherte ihr Professor Davids mit einem ermutigenden Lächeln. Dann gab er Patricia einen Termin und bat sie, auf ihre Gesundheit Rücksicht zu nehmen. »Die Operation wird nicht einfach sein, Sie müssen psychisch und physisch sehr stark sein, Mrs. Stuart«, gab er ihr eindringlich zu bedenken. Patricia nickte. »Ich werde alles tun, was Sie mir sagen, Herr Professor.« Er lächelte wieder. »Dann wird alles gut werden.« An diesem Tag hatte sich Patricia nicht – wie sonst immer – nach Hause fahren fassen. Heute ging sie zu Fuß, und die zum Teil neugierigen, zum Teil bestürzten Blicke der Männer, die sich an den Narben in ihrem Gesicht festsaugten, waren ihr gleichgültig. Zu Hause angekommen, bereitete sie Colins Lieblingsessen zu: In Kräuterbutter gebratene Seezunge mit Sauce Tatar. Die Uhr unten in der Halle hatte gerade fünf geschlagen, als es klingelte. Patricia lächelte. Sicherlich hatte Colin wieder seinen Schlüssel vergessen.
Immer noch lächelnd verließ sie die Küche und bemühte sich dabei, sich nicht zu sehr zu beeilen. Schließlich durfte sie ihren Mann nicht zu deutlich merken lassen, wie sehr sie sich gerade heute auf ihn freute. Sie konnte es kaum erwarten, ihm die Nachricht von der bevorstehenden Operation mitzuteilen. Sie öffnete ihm die Tür und empfing ihn mit feierlicher Stimme: »Guten Abend, Mr. Stuart.« Colin nickte nur kurz, trat ein und entledigte sich seines Regenmantels. Draußen hatte es begonnen zu schneien, und die weißen Flocken wirbelten übermütig vom Himmel. Patricia fühlte, wie sich in ihrer Kehle ein Kloß bildete. Erst nach einer ganzen Weile hatte sie sich wieder gefaßt und ging zu Colin, der es sich im Wohnzimmer bequem gemacht hatte. »Was ist denn mit dir?« fragte sie beunruhigt und versuchte, zu lächeln. Colin erwiderte nichts, aber sein Gesicht war düster und feindselig, wie in der Nacht, als er seine Geliebte fortgeschickt hatte. Plötzlich konnte Patricia das Gefühl nicht loswerden, daß ihr lediglich eine Galgenfrist gewährt worden war, daß ihr noch mehr Unheil bevorstand. Endlich fragte Colin: »Was gibt es zu essen?« Sie sagte es ihm. Er nickte gleichmütig und ging ins Eßzimmer. Während des Essens hüllte er sich weiterhin in tiefes Schweigen, und Patricia wagte nicht, dieses Schweigen zu brechen. Das Essen schien sich endlos in die Länge zu ziehen, aber sie beherrschte sich und hielt die bitteren Tränen zurück. Später, als sie sich die Acht-Uhr-Nachrichten im Fernsehen ansahen, wollte Colin unvermittelt wissen: »Du liebst mich, nicht wahr?«
»Aber das weißt du doch«, antwortete Patricia etwas verstört, weil sie den Sinn dieser Frage nicht verstand. Colin nickte, und dann kam er ohne Umschweife zum Thema: »Ich werde mich von dir scheiden lassen. Ich halte es nicht mehr aus, jeden Tag dein Gesicht zu sehen, dieses Gesicht mit den häßlichen, angeschwollenen Narben…« Er unterbrach sich und strich sich über die Stirn. Dann fuhr er fort. »Versteh mich, Patricia, ich bin jung, ich möchte ausgehen, ich möchte, daß meine Frau mich überallhin begleiten kann.« »Hättest du damals, als mich der Hund anfiel, etwas unternommen, dann könntest du heute wahrscheinlich noch mit mir ausgehen«, brauste Patricia empört auf. »Du weißt…« »Ja, ich weiß. Dr. Lerans Tricks haben nicht genügt, um dieses Wissen aus meinem Gedächtnis zu streichen!« Colin blickte sie einen Moment verblüfft an. In seinem Gesicht arbeitete es. Schließlich schien er seine Überraschung überwunden zu haben. »Ich will dennoch meine Freiheit wieder. Ich vertrage es nicht, so zu leben, wie ich in den letzten Wochen zu leben gezwungen war.« »Ich habe dich zu nichts gezwungen«, wandte Patricia schwach ein. »O doch, du hast es prächtig verstanden, mein Mitleid auszunutzen.« »Colin, bitte sag doch nicht so etwas! Sag mir, daß du es nicht so meinst. Ich habe doch eine so gute Nachricht für dich. Ich…« »Ich will nichts hören!« wehrte Colin scharf ab und blickte Patricia mit undurchdringlichen Augen an. »Für mich gibt es nur noch eine gute Nachricht aus deinem Mund. Du weißt, was ich meine… Jetzt kannst du deine Liebe zu mir beweisen,
indem du mich freigibst. Wir werden gute Freunde bleiben und ich werde natürlich für dich sorgen. Du wirst es gut haben…« Er unterbrach sich und nahm einen tiefen Schluck aus der vor ihm stehenden Whiskyflasche. »Aber es geht natürlich auch anders…« »Ich verstehe«, erwiderte Patricia und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Schließlich erhob sie sich. »Ich werde mit einer Scheidung nicht einverstanden sein«, teilte sie ihm dann kalt mit. »Wenn du also unbedingt frei sein willst, dann mußt du mich schon umbringen. Ob du dann aber deine sogenannte Freiheit noch lange genießen kannst, ist sehr fraglich, mein lieber Colin. Ich habe nämlich einen Brief geschrieben und an einen Rechtsanwalt geschickt, der sehr zuverlässig ist. Sollte mir zufällig etwas zustoßen, dann wird er den Brief öffnen…« Patricia wandte sich zum Gehen und hoffte, daß Colin auf den Bluff mit dem Brief hereinfiel. Im tiefsten Innern ihres Herzens tat es ihr weh, so mit ihrem Mann zu sprechen, aber gleichzeitig war sie sich darüber im klaren, daß sie auf diese Art wenigstens ihr Leben retten konnte. Ihre Ehe war mit keinem Bluff der Welt mehr zu erhalten, das hatte sie inzwischen einsehen müssen. »Du hinterhältige…« Colin vollendete den Satz nicht. Er stand auf. Er schwankte bedrohlich. Patricia sah ihn voller Verachtung an. Diesen Mann hatte sie geliebt? Diesem Mann hatte sie immer und immer wieder verziehen? In diesem Moment konnte sie sich selbst nicht mehr verstehen. Tränen schossen ihr in die Augen, ihr Blick verschwamm, und wie durch einen Nebel hindurch gewahrte sie sein von ohnmächtigem Haß verzerrtes Gesicht. »Und wenn mir nun dieser Brief, den du angeblich geschrieben hast, völlig gleichgültig wäre?« fragte Colin
spöttisch und kam langsam näher. »Denn eigentlich kann er mir gleichgültig sein. Niemand wird dir glauben. Ich kann mit Leichtigkeit beweisen, daß du unter Verfolgungswahn leidest und daß du schon mehrmals in einer psychiatrischen Klinik in Behandlung warst. Es werden sich auch genügend glaubwürdige Zeugen finden, die meine Worte bestätigen werden.« Ein teuflisches Grinsen flog über Colins Gesicht, als er fortfuhr: »Niemand wird deinem Schreiben Beachtung schenken. Vorausgesetzt natürlich, daß so ein Schreiben überhaupt existiert.« Patricia starrte ihn mit angstgeweiteten Augen an. Colin lachte triumphierend. Er stand jetzt dicht vor ihr und berührte ihre unversehrte Wange. Es war fast wie eine Liebkosung, aber Patricia empfand seine Berührung als widerlich und schlug die Hand mit einer Heftigkeit von sich, die sie selbst verblüffte. »Rühr mich nicht an!« fauchte sie und wich zurück. »So gefällst du mir«, lachte Colin. »Fast tut es mir leid, daß sich unsere Wege nun trennen.« Er spielte mit ihr wie eine Katze mit einer verletzten Maus. Und offensichtlich machte es ihm Spaß. »Du fürchtest dich vor mir, nicht wahr?« »Nein.« »O doch, ich sehe es genau, daß du dich fürchtest. Und das ist gut so. Ich werde dich zwar jetzt nicht töten, aber du mußt immer darauf gefaßt sein…« »Du Scheusal«, hauchte sie tonlos. »Sei vorsichtig mit dem, was du von dir gibst«, erwiderte er düster, und in seiner Stimme lag eine unüberhörbare Drohung. Er faßte sie mit hartem Griff am Arm. Patricia wurde von blinder Panik ergriffen, was ihr ungeahnte Kräfte verlieh. Ihre Finger fuhren in Colins Gesicht und hinterließen rote Kratzer. Mit einem überraschten Stöhnen ließ er sie augenblicklich los.
Patricia nutzte diese Chance und rannte davon. Aber schon hörte sie Colins Schritte hinter sich – sie wußte, daß sie die Sicherheit ihres Zimmers nicht rechtzeitig genug erreichen würde. Schweißgebadet und vor Angst zitternd blieb sie stehen und drehte sich um. Seelisch hatte sie sich bereits damit abgefunden, daß nun ihre letzte Stunde geschlagen hatte. Hämisch lächelnd ergriff er wieder ihren Arm und zog sie mit sich aus dem Wohnzimmer. Patricia unternahm keinen Versuch mehr, sich von ihm loszureißen. Voller Verzweiflung stellte sie fest, daß sie einer Ohnmacht nahe war. »Warum quälst du mich so?« fragte sie mit versagender Stimme. »Aber Liebling«, antwortete Colin zärtlich, »du hattest wieder einen Anfall. Du bist schwach. Ich will dich doch nur in dein Zimmer bringen.« Patricia stöhnte aus tiefster Seele auf. Sie wunderte sich, ob sie sich tatsächlich alles nur eingebildet hatte, die häßlichen Worte ihres Mannes, seine Forderung nach Scheidung, seine bedrohliche Haltung. Sie biß sich so heftig auf die Lippe, daß ein greller Schmerz sie durchfuhr. Da plötzlich durchschaute sie den teuflischen Plan ihres Mannes. Er wollte sie in den Wahnsinn treiben… Das Blut pochte in ihren Schläfen und rauschte in ihren Ohren wie ein Ozean. Wie aus weiter Ferne hörte sie, daß Colin wieder etwas zu ihr sagte. »So, da wären wir schon. Am besten, du legst dich gleich hin und versuchst zu schlafen. Schlaf ist immer das beste Heilmittel. Du wirst sehen, daß du dich morgen schon wieder viel besser fühlst.« Genau das hat mir Dr. Leran auch einmal suggeriert, dachte Patricia. Wie in Trance ging sie in ihr Schlafzimmer und verschloß die Tür hinter sich.
Zweifel überkamen sie. Was war, wenn sie sich tatsächlich alles nur einbildete? Schluchzend sank sie auf ihr Bett nieder. Es dauerte nicht lange, bis ein unruhiger Schlaf sie übermannte. Aber immer wieder schreckte sie aus ihren wirren Träumen auf und lauschte. Im Haus war es still. Draußen war es mondhell, und es hatte aufgehört zu schneien. Und dann drohte ihr Herz plötzlich stillzustehen! Im fahlen Schein des Mondes erblickte sie eine verschleierte Gestalt, die vor ihrem Bett stand! Patricia wollte schreien, aber sie brachte nur einen krächzenden Ton heraus. Sie begann am ganzen Leibe zu zittern und schloß die Augen. Ein seltsames Fluidum breitete sich im Raum aus, dann vermeinte Patricia plötzlich die Stimme der toten Mrs. Mallory zu hören: »Du mußt gehen… Nur so rettest du dein Leben. Zögere nicht länger!« Die Stimme, die direkt in ihrem Kopf zu erklingen schien, war unendlich sanft und von Mitgefühl erfüllt. Patricia öffnete ihre Augen wieder, doch die Erscheinung hatte sich aufgelöst. Nur die sanfte Stimme klang noch nach… Wie ein Schleier fiel die Müdigkeit und die Schwäche von Patricia ab. Sie erhob sich und begann, einen leichten Reisekoffer zu packend Sie nahm nur das Notwendigste. Als sie eine halbe Stunde später das düstere Stuart-Haus verließ, blickte sie nicht mehr zurück. Diesmal war alles ganz anders als bei ihrer Flucht aus der Calwin-Klinik. Diesmal hatte sie ein Ziel, und sie hatte genügend Bargeld und Schecks mitgenommen, um dieses Ziel zu erreichen. Das schmiedeeiserne Tor fiel mit einem harten Klicken hinter Patricia ins Schloß.
Der Morgen graute, und es begann wieder zu schneien. Patricia stampfte durch den Schnee, der auf dem Parkweg schon sehr hoch lag. Sie lächelte entschlossen, als sie daran dachte, daß heute ihr neues Leben begann.
*
Sie war den Pfad in den vergangenen drei Jahren fast täglich gegangen, und doch war sie jedesmal, wenn sie auf dem Plateau des Teufelsfelsens ankam, schweißgebadet und völlig außer Atem. Dennoch ging sie gern hier spazieren. Mit einem Seufzer der Erleichterung erreichte Patricia das Ende des steil bergan führenden Hohlweges. Hier oben gab es nur dürftige Zwergsträucher und halbverdorrte Gräser, über die im Herbst der Wind hinwegfuhr. Es war kein romantisches Fleckchen Erde, das sich hier den Augen bot, eher ein Ort der Düsternis und der Trostlosigkeit. Aber Patricia liebte es vielleicht gerade deshalb, hierherzukommen. Hier gelang es ihr, sich zu entspannen, und hier fand sie Ruhe vor den Gedanken, die sie quälten. Noch immer hatte sie es nicht überwunden, daß Colin nicht davor zurückgeschreckt war, zu versuchen, sie in den Wahnsinn zu treiben. Und daß er sein Ziel bald erreicht hätte, das wußte Patricia leider nur zu genau. Als sie damals, einige Wochen nach ihrer Flucht aus dem Stuart-Haus, in Candelan angekommen war, hatte sie sich immer wieder gefragt, ob sie sich Colins drohendes Verhalten nicht doch nur eingebildet hatte. Es war eine furchtbare Zeit gewesen, eine Zeit des Zweifelns an sich selbst, an den eigenen geistigen Fähigkeiten. Sie hatte sich in ihre Arbeit gestürzt, nur um nicht ins Grübeln zu
kommen. In einem dunklen, unbehaglichen Zimmer im einzigen Gasthof Candelans hatte sie damals ihren ersten Roman geschrieben. Der ganz große Erfolg war zwar ausgeblieben, aber das war nicht anders zu erwarten gewesen. Inzwischen hatte sie es aber geschafft, sich eine Existenz als Schriftstellerin aufzubauen. Ihre finanzielle Unabhängigkeit war gesichert, denn ihr zweiter Roman war sowohl beim Publikum als auch bei der Kritik sehr gut angekommen. Ein kühler Wind kam auf, Patricia strich sich die langen blonden Haare aus dem Gesicht und lächelte traurig. Ja, sie war erfolgreich, aber offenbar war es ihr von einer höheren Macht versagt, glücklich zu sein. Von der Bevölkerung Candelans wurde sie gemieden, und Patricia wußte, daß das Gerücht umging, sie sei eine Hexe und stehe mit dem Teufel im Bunde. Patrick McCoy, der hübsche Sohn des Bürgermeisters, grüßte sie zwar immer höflich und war freundlich und zuvorkommend, wenn sie in das Dörfchen kam, um einzukaufen oder Post abzuholen, aber außer Mrs. Maurus, ihrer Haushälterin, hatte sie keine Menschenseele, mit der sie sich unterhalten konnte. Patricia seufzte und trat auf das winzige Plateau des Teufelsfelsens hinaus. Dicht vor ihr gähnte der gräßliche Abgrund, aber das machte ihr gar nichts aus. In vollen Zügen sog sie die herrliche, frische Luft in ihre Lungen. Eine Weile genoß sie so den großartigen Ausblick über das nordschottische Hochland, dann beschloß sie, sich auf den Rückweg zu machen. Der Himmel war plötzlich von riesigen schwarzen Wolken bedeckt, und kein Lüftchen regte sich mehr. Hoffentlich beginnt es nicht zu regnen, dachte Patricia und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, um nicht zu stürzen. Der Pfad, der an der Flanke des Berges, an welcher
der Teufelsfelsen herausragte, hinunter führte, war von kleinen und größeren Gesteinsbrocken und lockerem Geröll übersät, und nur zu leicht konnte es geschehen, daß man ausglitt und sich den Fuß verstauchte oder gar brach. Wohlbehalten erreichte sie den Weg am Fuße des Felsens. Jetzt konnte sie schneller gehen, und so erreichte sie bereits nach fünfzehn Minuten die Hängebrücke, die über eine tiefe Schlucht führte. Patricia betrat die leicht schwankende Brücke, und als sie ungefähr die Mitte erreicht hatte, blieb sie stehen und blickte auf das wilde Wasser, das tief unten donnernd und tosend über zahllose große und kleine Felsblöcke talwärts floß. Schaudernd erinnerte sie sich daran, daß sie vor ungefähr einem halben Jahr auf den glitschigen Holzplanken der Brücke ausgerutscht und beinahe in die reißenden Wassermassen hinuntergestürzt wäre. Seitdem bewegte sie sich äußerst vorsichtig auf der Brücke, und hielt sich zudem an den Drahtseilen, die beidseitig in Hüfthöhe gespannt waren, fest. Ein grollender Donnerschlag rief Patricia wieder in die Gegenwart zurück. Sie riß sich von dem grandiosen Naturschauspiel los und ging rasch weiter. Sie wollte jetzt so schnell wie möglich nach Hause. Mrs. Maurus würde sicherlich schon besorgt sein und händeringend am Fenster stehen, um nach ihr Ausschau zu halten. Bei diesem Gedanken mußte Patricia unwillkürlich lächeln. Die gute Mrs. Maurus, immer war sie besorgt um sie. Wenig später bog sie in den schmalen Weg ein, der in südlicher Richtung direkt zu ihrem Haus führte. Links und rechts erstreckte sich die für das schottische Hochland typische Heidelandschaft. Der Boden federte unter ihren Schritten, und Patricia fand dieses Gefühl schön. Es war, als ginge man auf einem besonders flauschigen Teppich.
Weder erklang ein Donnergrollen, aber diesmal war es weiter weg. Die düstere Wolkendecke des Himmels riß an einigen Stellen wieder auf. Wenige Minuten später sah Patricia auch schon ihr Haus, das sich hinter einigen großen Trauerweiden auf einer kleinen Anhöhe erhob. Das Haus war nicht sehr groß, und es hatte merkwürdige, wuchtige Proportionen, die auf den ersten Blick abstoßend wirkten. Aber dies war Patricia gleichgültig gewesen. Sie hatte kein Haus gewollt, um damit repräsentieren zu können. Ihre kleine, trutzige Burg, wie sie das Gebäude beinahe liebevoll nannte, besaß große, helle Räume, und es war wohnlich und äußerst behaglich eingerichtet. Obwohl Patricia die Einsamkeit manchmal bedrückend fand, lebte sie gern hier. Denn hier draußen gab es keine Leute, die voller Entsetzen oder Mitleid auf die Narben in ihrem Gesicht starrten, oder hinter ihrem Rücken tuschelten. Und das Dörfchen Candelan mit seinen abergläubischen und mißtrauischen Bewohnern war zwei Meilen entfernt… Patricia sagte sich, daß sie hier alles hatte, was sie sich wünschen konnte – eine landschaftlich prachtvolle Umgebung und die nötige Ruhe, die sie zum Schreiben brauchte. Aber eine leise Stimme tief in ihrem Innern fragte, ob dies wirklich alles war, was sie brauchte. Patricia vergaß diesen Gedanken, als sie Mrs. Maurus erblickte, die gerade damit beschäftigt war, Wäsche von der Leine abzunehmen. Mrs. Maurus war eine ältere Frau, und sie war schon seit zwei Jahren Patricias Haushälterin. Sie war mollig und wirkte ein bißchen einfältig. Dieser erste Eindruck wurde jedoch sofort von ihren wachen blauen Augen Lügen gestraft. Unbemerkt erreichte Patricia den Hof, der ihr Haus umgab. Sie fühlte sich herrlich beschwingt, und so war es lediglich der
Übermut, der sie bewog, leise hinter Mrs. Maurus zu treten und ihr leicht auf die Schulter zu tippen. Hätte Patricia geahnt, was sie mit ihrem vermeintlichen Scherz anrichtete, hätte sie sich geohrfeigt. Wie von der Tarantel gebissen zuckte die dickliche Frau zusammen und drehte sich – am ganzen Leibe zitternd – um. Als sie Patricia erkannte, atmete sie merklich auf, dennoch stand das blanke Entsetzen in ihren Augen. Nur langsam gewann sie ihre Fassung wieder zurück. »Aber liebe Mrs. Maurus, ich wußte gar nicht, daß Sie so ängstlich sind«, lachte Patricia und legte ihrer Haushälterin beide Hände auf die Schultern. »Sie werden sich doch nicht vor mir fürchten?« »Nein, natürlich nicht«, erwiderte die Haushälterin mit bewegter Stimme. »Aber ich dachte schon, daß sie gekommen sind, um mich zu benachrichtigen…« »Von wem sprechen Sie, um Gottes willen?« »Es existiert eine Legende. Die Legende von den Moortoten, die zu den Lebenden kommen, sie berühren und ihnen befehlen, des Nachts ins Moor zugehen.« Unwillkürlich erschauderte Patricia bei diesen Worten. »Was reden Sie da, Mrs. Maurus«, tadelte sie schließlich. »Gespenster und Kobolde gibt es doch nur in Romanen und Märchen.« »Das sagen Sie, die Sie jung und unerfahren sind und zudem noch aus der Stadt kommen.« Mrs. Maurus bekreuzigte sich und schaute sich nervös um. In ihrem Gesicht arbeitete es. Patricia war beunruhigt. Sie mußte plötzlich wieder an die Erscheinung der Mrs. Mallory denken, die sie damals bewogen hatte, das Stuart-Haus so schnell wie möglich zu verlassen. Konnte sie da die Existenz von Geistern so einfach abtun? Mrs. Maurus unterbrach ihre Gedanken. »Ich könnte Ihnen von Ereignissen erzählen, die noch gar nicht so lange
zurückliegen, und die Ihnen das Blut in den Adern erstarren ließen.« »Ich will nichts davon hören«, stieß Patricia heftiger hervor, als sie gewollt hatte. Mrs. Maurus senkte den Kopf. »Bitte, verzeihen Sie. Ich wollte nicht…« Die Haushälterin wandte sich um und verschwand im Haus. Kopfschüttelnd folgte Patricia ihr, nachdem sie die Wäsche vollends abgenommen hatte. So verstört hatte sie Mrs. Maurus in all der Zeit noch nicht erlebt, und sie beschloß, mit ihr zu reden. »Mrs. Maurus?« Patricia erhielt keine Antwort, und so ging sie die Treppe hoch, die ins Obergeschoß führte, wo Mrs. Maurus ihr Zimmer hatte. Aber sie war nicht dort. Am Ende des Flures lag das Bad. Es war von innen abgeschlossen. Patricia klopfte an, und als niemand antwortete, rief sie: »Mrs. Maurus, bitte, es tut mir leid. Ich möchte gern mit Ihnen sprechen.« Ein unterdrücktes Schluchzen war zu hören. Patricia wartete geduldig, und schließlich vernahm sie Mrs. Maurus’ Stimme: »Ich – ich werde sofort kommen. Ich muß mir nur noch das Gesicht waschen.« »Es ist gut. Ich werde im Wohnzimmer warten.« Patricia ging hinunter und setzte sich in den bequemen Sessel vor den aus Feldsteinen gemauerten offenen Kamin. Linker Hand, vor der Wand mit Bücherregalen, die vom Boden bis zur Decke hinaufreichten, stand eine hohe Stehlampe und ein kleines gläsernes Lesetischchen. Draußen hatte es zu regnen begonnen, und das monotone Plätschern machte Patricia schläfrig. Sie lehnte sich in dem Sessel zurück.
Fünf Minuten mochten vergangen sein, als Mrs. Maurus das Wohnzimmer betrat. Patricia bemerkte sofort, daß die Frau geweint hatte. Mrs. Maurus’ seltsames Verhalten befremdete Patricia, und sie wußte nicht so recht, wie sie sich verhalten sollte. »Bitte, setzen Sie sich doch«, bat sie und deutete auf die Couch. Nachdem die Haushälterin umständlich Platz genommen hatte, entstand ein unangenehmes Schweigen. »Wollen Sie nicht mit mir sprechen?« fragte Patricia leise. Die Haushälterin wich ihrem Blick aus. »Ich weiß nicht. Ich kann nicht.« »Haben Sie doch Vertrauen zu mir«, beschwor Patricia sie. Mrs. Maurus zögerte, aber dann schien sie sich doch einen Ruck zu geben. »Ich vertraue Ihnen.« »Dann erzählen Sie mir bitte, was Sie bedrückt.« »Es ist wegen meines Bruders. Er will nicht, daß ich länger für Sie arbeite. Ich soll kündigen, hat er von mir verlangt.« Patricia sah Mrs. Maurus bestürzt und verwirrt an. »Aber warum will er das denn?« »Er sagt, daß… Nun, er meint…« Die Haushälterin kam ins Stottern, sie vermied es, Patricia in die Augen zu sehen. »Es ist, weil ein Gerücht in Candelan umgeht, nicht wahr?« stellte Patricia ruhig fest. Mrs. Maurus nickte stumm. »Aber das ist doch Unsinn! Das müssen Sie doch am allerbesten wissen, Mrs. Maurus, denn schließlich sind Sie nun schon zwei Jahre bei mir beschäftigt.« »Mein Bruder behauptet, daß Hexen es sehr geschickt verstehen, ihr wahres Wesen zu verbergen. Er sagt, daß sie ihren ahnungslosen Opfern ihren Willen aufzwingen und dann völlig Gewalt über sie erhalten.« »Das hört sich ja an, als ob…«
Mrs. Maurus unterbrach sie. »Die Leute reden auch schon über mich. Sie sagen, ich sei Ihre Gehilfin. Und deshalb will mein Bruder, daß ich kündige.« Mrs. Maurus seufzte tief, dann fügte sie leise hinzu: »Ich bitte Sie, haben Sie Verständnis für meine Lage.« Patricia erhob sich und wanderte im Zimmer ruhelos auf und ab. »Sie glauben Ihrem Bruder also den Unsinn, den er über mich erzählt. Und ich habe immer angenommen, daß Sie mir vertrauen, daß ich mehr für Sie bin als nur die Arbeitgeberin.« »Verstehen Sie mich doch, Miss Patricia. Es geht nicht darum, was ich glaube oder nicht glaube. In dieser einsamen Gegend gibt es noch einen sehr stark ausgeprägten Familiensinn. Die Männer bestimmen, was zu tun ist, und ich kann mich dieser Tradition nicht verschließen. Ich muß gehorchen, denn mein Bruder und die anderen würden mir meinen Ungehorsam niemals verzeihen.« »Ihr Bruder und die anderen Männer und Frauen von Candelan sind abergläubisch und töricht! Sie glauben an Moortote und Hexen und an das Böse. Sie versündigen sich vor Gott! Sie wissen das, Mrs. Maurus.« Mrs. Maurus nickte. »Ja, ich weiß es, und ich bete zum Allmächtigen, daß er uns verzeiht. Aber ich bin machtlos. Wir leben in einer geheimnisumwitterten Gegend, fernab von aller Zivilisation. Mein Bruder, ich und all die anderen Candelaner sind hier geboren und aufgewachsen. Man kann uns nicht verbieten, an die Geheimnisse dieser Gegend zu glauben.« Sie biß sich auf die Lippe und wandte sich ab, fast schien es, als schämte sie sich, so zu Patricia gesprochen zu haben. Patricia schluckte. »Ich habe verstanden.« Es klang resigniert. »Wann werden Sie aufhören?« »So bald wie möglich. Natürlich werde ich vorher noch alle anstehenden Arbeiten erledigen.« »Das ist freundlich von Ihnen.«
Mrs. Maurus erhob sich und Patricia sah, daß Tränen in ihren Augen schimmerten. »Es tut mir leid, Miss Patricia.« »Schon gut«, erwiderte sie. »Ich glaube, Sie sollten sich nun hinlegen und versuchen zu schlafen. Das Ganze wird Sie wohl sehr mitgenommen haben. Und vielleicht überlegen Sie sich Ihren Entschluß noch einmal. Es würde mich freuen, das wissen Sie.« Mrs. Maurus errötete, aber sie entgegnete nichts. Leise verließ sie das Wohnzimmer und schloß behutsam die Tür hinter sich. Patricia holte tief Atem. Ihre Gefühle waren in Aufruhr, denn niemals hatte sie damit gerechnet, daß Mrs. Maurus sie einmal verlassen würde. Nun würde sie ganz allein sein, allein mit sich und ihren Gedanken… Mechanisch schaute sie auf die Uhr. Es war beinahe sechs. Eigentlich hatte sie heute noch arbeiten wollen, aber jetzt war es ihr unmöglich, sich zu konzentrieren. Sie ging in die kleine, rustikal eingerichtete Küche und holte sich die Flasche Kognak, die sie vor einigen Monaten von ihrem Verleger geschenkt bekommen hatte. Patricia hielt nichts vom Alkohol, noch weniger von Leuten, die im Alkohol Zuflucht suchten. Aber heute leerte sie zwei Gläser, und daraufhin fühlte sie sich etwas besser. Ihre innere Verkrampfung löste sich, und Patricia beschloß, sich hinzulegen. Sie ging in ihr Schlafzimmer hoch und schloß die Tür hinter sich. Einen Moment setzte sie sich aufs Bett, dann kleidete sie sich rasch aus und machte ihre Abendtoilette. Als sie wenig später unter der Decke lag, begann der zu hastig getrunkene Kognak zu wirken. Übergangslos schlief Patricia ein.
*
Als sie am nächsten Morgen erwachte, war sie deprimiert und hatte starke Kopfschmerzen. Ein Blick auf ihren Wecker zeigte, daß es bereits kurz nach acht war. Stöhnend stand Patricia auf, duschte und kleidete sich an. Dann ging sie in die Küche hinunter. Mrs. Maurus hatte den Frühstückstisch bereits gerichtet und war soeben im Begriff, Kaffee zu kochen. »Guten Morgen«, wünschte Patricia, und sie versuchte dabei, sich nicht anmerken zu lassen, wie ihr zumute war. Leise erwiderte Mrs. Maurus ihren Gruß. Als sie Patricia fünf Minuten später Kaffee eingoß, zitterte ihre Hand. Patricia sah Mrs. Maurus an, sagte aber nichts. Schweigend frühstückte sie, und die angespannte Atmosphäre, die im Raum herrschte, war fast unerträglich. Patricia mußte seltsamerweise an ihr letztes Abendessen mit Colin, vor drei Jahren, denken… Nach dem Frühstück zog Patricia sich in ihr Arbeitszimmer zurück und versuchte, sich auf die Handlung ihres neuesten Romans zu konzentrieren. Aber es gab zu viele Gedanken und Überlegungen; die sie ablenkten, und so wurde die Arbeit zur Qual. Schließlich hielt sie es in dem Raum nicht mehr aus. Sie erhob sich und ging hinaus. Mrs. Maurus war irgendwo im Haus beschäftigt, und Patricia war froh, ihr nicht zu begegnen. Die Kopfschmerzen machten sich wieder bemerkbar. Sie trat vor das Haus. Der Himmel war bewölkt und alle Anzeichen deuteten daraufhin, daß es bald wieder regnen würde, denn es war windstill und unnatürlich schwül. Patricia setzte sich in einen der Korbstühle, die Mrs. Maurus hier jeden Tag aufstellte, sofern das Wetter es zuließ. Sie war völlig in Gedanken versunken, als Mrs. Maurus plötzlich vor ihr stand und sie verwirrt anstarrte.
»Bitte, entschuldigen Sie, wenn ich Sie störe«, stammelte die Frau. »Ich – ich wollte Sie bitten, mir für heute nachmittag freizugeben. Es ist für mich sehr wichtig, und die Arbeit im Haus ist getan.« Patricia überlegte nur kurz, dann nickte sie. Mrs. Maurus bedankte sich und versprach, bis zum Abend wieder zurück zu sein. Dann kehrte sie wieder ins Haus zurück. Patricia blieb noch eine Weile in dem bequemen Korbstuhl sitzen und ließ ihren Blick über die Landschaft wandern. Nach einer Weile stand sie auf. Eine nervöse Unruhe, die sie sich selbst nicht erklären konnte, quälte sie. Warnte sie ein siebter Sinn vor herannahender Gefahr? Oder fürchtete sie sich vor dem Alleinsein? Das wäre dumm, überlegte sie. Nach Mrs. Maurus’ Kündigung mußte sie sich langsam mit dem Gedanken abfinden, in Zukunft völlig allein hier zu leben. In ihrem Arbeitszimmer setzte sie sich vor die Schreibmaschine. Gedankenverloren starrte sie auf das Blatt Papier, das seit gestern eingespannt war, und schließlich begann sie zu schreiben. Sie arbeitete den ganzen Morgen, und als an die Tür geklopft wurde und Mrs. Maurus eintrat und meldete, daß das Mittagessen fertig sei, war sie ganz verwundert. Die Zeit war wie im Fluge vergangen. Nach dem Essen verabschiedete sich Mrs. Maurus mit einem gezwungenen Lächeln. »Also, dann gehe ich jetzt.« »Es ist gut«, antwortete Patricia. »Passen Sie auf sich auf. Es wird heute sicherlich noch regnen.« »Ja, da haben Sie recht«, pflichtete ihr Mrs. Maurus bei. Patricia schwieg. »Soll ich Ihnen etwas mitbringen?« »Danke, nein, brauche nichts.«
Die Haushälterin nickte und verabschiedete sich dann. »Ich werde mich beeilen, damit ich bis zum Abend rechtzeitig wieder bei Ihnen bin.« Sie hat ein schlechtes Gewissen, dachte Patricia, und für einen kurzen Moment huschte ein belustigtes Lächeln über ihr Gesicht, und die Narben auf ihrer linken Wange kräuselten sich. Dann trat sie ans Fenster und blickte Mrs. Maurus traurig nach, die soeben den Weg einschlug, der an ihrem Haus vorbei nach Candelan führte. Sehr lange stand Patricia am Fenster, und als sie sich endlich abwandte, war die gedrungene Gestalt der Haushälterin schon längst nicht mehr zu sehen. Eine entsetzliche Übelkeit stieg plötzlich in Patricia auf, und einen Moment lang fürchtete sie, sich übergeben zu müssen. Sie trank einen Kognak, und als sie sich ein wenig besser fühlte, eilte sie in ihr Arbeitszimmer. Sie arbeitete bis in den Abend hinein, und als sie dann in der Küche sich etwas zu essen machte, bemerkte sie, daß es draußen in Strömen regnete. Patricia machte sich Sorgen um Mrs. Maurus. Hoffentlich war sie nicht von diesem scheußlichen Regen überrascht worden! Der Weg war sicherlich kaum mehr zu erkennen, und nur leicht könnte sie sich verirren. Mit Schrecken fiel ihr das Moor ein. Sie begann zu zittern, und es dauerte eine geraume Zeit, bis sie sich wieder einigermaßen in der Gewalt hatte. Unruhig wanderte sie in der Küche auf und ab. Plötzlich ließ sie ein dumpfes Knarren zusammenfahren. Patricia lauschte einen Moment, und als sich das Geräusch nicht wiederholte, schlich sie zur Tür. Ihre Muskeln und Nerven waren zum Zerreißen gespannt, obwohl sie sich einzureden versuchte, daß sicherlich Mrs. Maurus, die aus Candelan zurückgekehrt war, das Geräusch verursacht hatte. Leise öffnete Patricia die Küchentür. Im Haus war es finster, und das bedeutete, daß die Haushälterin hoch nicht zurück war.
Ein Schauer durchfuhr Patricia, als sie an die Haustür dachte, die nicht abgeschlossen war. Patricia knipste Licht an und verschloß alle Türen, die ins Freie führten. Aber wenn bereits jemand im Haus war? Sie wischte sich den Angstschweiß von der Stirn. Immer wieder hielt sie sich vor, daß sie sich beherrschen müßte, wollte sie nicht von ihrer Angst überwältigt werden. Im Wohnzimmer bewaffnete sie sich mit einem Schürhaken, dann machte sie sich daran, sämtliche Räume des Hauses zu durchsuchen. Aber sie fand nichts Ungewöhnliches. Voll angekleidet lag sie schließlich auf ihrem Bett. Im Zimmer war es behaglich warm, und durch das Fenster klang das monotone Prasseln des Regens. Ihre Augenlider wurden bleischwer, und sie konnte sie kaum noch offenhalten. Es dauerte nicht lange, bis sie einnickte. Plötzlich schreckte sie mit rasendem Herzklopfen aus ihrem unruhigen Schlummer hoch. Sie wußte nicht, wie lange sie geschlafen hatte, und sie wußte auch nicht, wovon sie aufgewacht war, denn weit und breit war außer dem Geräusch des niederströmenden Regens kein Laut zu hören. Leise glitt Patricia vom Bett, ging hinüber zu den Fenstern und blickte in die Dunkelheit hinaus. Sie erkannte die Umrisse der Trauerweiden, die sich unter den Regenböen zu ducken schienen. Tagsüber waren die Bäume wunderschön anzusehen, aber nun waren sie pechschwarz und glichen riesigen Gestalten mit langen Armen… Schon wollte sich Patricia fröstelnd abwenden, als sie ein Feuerzeug aufflammen sah. Sie glaubte innerlich zu versteinern. Sie preßte ihr erhitztes Gesicht gegen die Fensterscheibe und starrte in die stürmische Regennacht hinaus. Für einen Moment rissen die tief schwarzen Wolken auf, und bleiches Mondlicht brach durch. Patricias Augen
weiteten sich. Sie hatte sich nicht getäuscht! Im Schutz der Trauerweiden stand jemand und schaute zweifellos zu ihrem Schlafzimmerfenster hoch! Aber noch ehe sie erkennen konnte, wer der nächtliche Beobachter war, schloß sich der Wolkenvorhang wieder. Patricias Herz klopfte, als ob es zerspringen wollte. Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt, und ihre Hände verkrampften sich ineinander. Vielleicht ist es Mrs. Maurus, überlegte sie. Aber sofort verwarf sie diesen Gedanken wieder, denn sie wußte, daß die Haushälterin einen Schlüssel besaß. Vorsichtig entfernte sich Patricia vom Fenster und setzte sich im Dunkeln auf ihr Bett. Die seltsame Unruhe, die sie während des ganzen Tages verspürt hatte, machte sich jetzt wieder bemerkbar. Und jetzt konnte Patricia sie lokalisieren: Es war die Vorahnung, daß sich in der nächsten Zeit Schlimmes ereignen würde. Mit zitternden Fingern griff sie zu der Nachttischlampe und knipste sie an. Als es im Zimmer hell wurde, fiel ihre Angst ein wenig von ihr ab, dennoch dauerte es noch eine ganze Weile, bis sie sich halbwegs beruhigt und sich eingeredet hatte, daß der Unbekannte auf keinen Fall ins Haus gelangen konnte. Sämtliche Türen waren verriegelt, und die Fenster im Erdgeschoß waren vergittert. Er mußte schon wie ein Geist durch die Wände gehen können, um sie zu bedrohen. In diesem Moment knarrte es direkt über ihrem Kopf. Mit laut klopfendem Herzen blickte sie zur Decke hoch. Es war, als ob auf dem Dachboden langsam jemand auf und ab ging. Ganz klar und deutlich vernahm sie Schritte in der Stille der Nacht, plötzlich wurde es still. Irgend jemand befand sich außer ihr im Haus, und dieser Jemand wollte sie mit dem nächtlichen Spuk ängstigen.
Patricia wußte, daß sie sich nicht nur eingebildet hatte, Schritte zu hören. Aber gleichzeitig wußte sie, daß sie vorhin, als sie das Haus durchsuchte, auch auf dem Dachboden gewesen war, und nichts und niemanden entdeckt hatte. Wie war es möglich? Wo hatte sich der Eindringling versteckt gehalten? Die einfachste Antwort auf diese Frage lautete, daß es in ihrem Haus tatsächlich spukte… Obwohl Patricia bei diesem Gedanken ein kalter Schauer über den Rücken rieselte, wollte sie nicht daran glauben. Sie vermutete vielmehr, daß es jemand aus Candelan war, der sie auf diese niederträchtige Art einschüchtern wollte. Vielleicht war es sogar Mrs. Maurus’ Bruder, denn der könnte ohne nennenswerte Schwierigkeiten mit dem Schlüssel seiner Schwester ins Haus eingedrungen sein. Patricias Angst wich einem Gefühl des Zorns und der bitteren Entschlossenheit. Sie stand auf, schlüpfte in ihre Hausschuhe und verließ – mit dem Schürhaken bewaffnet – ihr Zimmer. Leise schlich sie über den Flur und die schmale, steile Treppe hinauf, die auf den Dachboden führte. Den Schürhaken hielt sie mit der rechten Hand umkrampft, denn sie erwartete, jeden Moment heimtückisch angegriffen zu werden. Die Tür zum Dachboden war verschlossen, und Patricia erinnerte sich, daß sie dies vorhin nach erfolgter Durchsuchung getan hatte. Mit klopfendem Herzen stand sie vor der Tür und überlegte fieberhaft, sollte sie aufschließen und nachsehen? Sie zögerte. Wenn der Eindringling wirklich aus Fleisch und Blut war, dann war er auf dem Dachboden gefangen. Vielleicht hatte er die Geräusche nur verursacht, um sie zum Nachsehen zu verleiten… Und wenn sie die Tür aufsperrte, dann würde er sich auf sie stürzen, um sie zu töten. Reglos verharrte Patricia
vor der Tür. Nein, ich werde nicht aufschließen! entschied sie, und ließ die Hand mit dem Schürhaken sinken. »Wer immer Sie auch sind, ich werde es morgen erfahren. Denn ich werde in Candelan die Polizei bitten, diese Tür zu öffnen«, rief sie. Sie erhielt keine Antwort. In ihrem Schlafzimmer verschloß sie die Tür und stellte einen ledernen Lehnstuhl davor. Dann ging sie zu Bett. Fast erwartete sie, wieder die unheimlichen Schritte zu hören, doch alles blieb still, und draußen hatte es sogar aufgehört zu regnen. Dennoch fiel es Patricia schwer, einzuschlafen. Sie wälzte sich hin und her, und immer wieder mußte sie an den Mann im Regen und an ihren Gefangenen auf dem Dachboden denken und daran, was dieser Eindringling wohl im Sinn hatte. Schließlich übermannte sie die Müdigkeit. Doch es war kein ruhiger und erholsamer Schlaf, in den sie gesunken war. Sie wurde von furchtbaren Alpträumen gequält, und immer wieder schreckte sie hoch, weil sie glaubte, von einem Wesen ohne Gesicht gewürgt zu werden.
*
Sie erhob sich, als der Morgen graute, und ihr erster Gedanke galt Mrs. Maurus. War sie inzwischen aus Candelan zurückgekommen? Hoffentlich! Patricia schlüpfte in Hausschuhe und Morgenmantel, eilte zu Mrs. Maurus’ Zimmer und klopfte an. Sie erhielt keine Antwort. Ihr war, als ziehe sich eine Schlinge immer fester um ihren Hals zusammen. Nervös lief sie in die Küche hinunter. In dem kleinen Raum war es an diesem nebligen Morgen ziemlich
dunkel, und ihr war unheimlich zumute. Auch hier keine Spur von Mrs. Maurus. Patricias Unruhe wuchs von Minute zu Minute, und sie beschloß, so bald wie möglich im Dorf nach ihrer Haushälterin zu fragen. Krampfhaft versuchte Patricia, sich mit diesen Überlegungen zu beruhigen, aber es gelang ihr nicht. Als sie im Bad in den Spiegel sah, merkte sie, daß sie ganz blaß war und um ihre Augen dunkle Schatten lagen. Die Narben in ihrem Gesicht waren gerötet und noch häßlicher anzusehen als sonst. Später machte sie sich in der Küche an die Arbeit und spülte das Geschirr ab. Schreiben konnte sie jetzt sowieso nicht, dazu war sie viel zu durcheinander und nervös. Nachher würde sie sich auf den Weg nach Candelan machen. Ihr schauderte bei dem Gedanken an all die unfreundlichen und abschätzenden Blicke, denen sie ausgesetzt sein würde. Aber das, so sagte sie sich, war immer noch besser, als einen langen, stillen Tag in völliger Ungewißheit um das Schicksal der Mrs. Maurus zu verbringen. Und dann war da auch noch ihr Gefangener auf dem Dachboden… Patricia schloß die Augen und wischte sich übers Gesicht. In einem plötzlichen Anflug von Schwäche fragte sie sich, ob ihre Flucht in die Abgeschiedenheit des nordschottischen Hochlandes nicht doch ein Fehler gewesen war. Gut, sie hatte ein neues Leben beginnen wollen, aber im Grunde ihres Herzens war sie ein Großstadtkind, und die Einsamkeit, von der sie sich neue Kräfte versprochen hatte, bewirkte jetzt, nach drei Jahren, genau das Gegenteil. Patricia war verzweifelt. Als die alte Türglocke anschlug, schrak sie zusammen. Wer konnte das sein? Mrs. Maurus?
Patricia erhob sich, band die Schürze ab und glättete ihr Haar, während sie zur Tür ging, um zu öffnen. Die Türglocke erscholl erneut. »Wer ist denn da?« fragte Patricia. »Polizei!« erwiderte eine Männerstimme. »Bitte öffnen Sie!« Patricia war verblüfft, und einen Moment lang war sie zu keiner Bewegung fähig. Es klingelte wieder. Patricia öffnete. Vor ihr standen zwei Männer, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Einer von ihnen wies sich als Polizeibeamter aus. Er hieß Stephan Marten und war noch jung. Seine sanften braunen Augen bildeten einen erstaunlichen Kontrast zu seinem Gesicht, das harte und entschlossene Züge trug. »Können wir hereinkommen?« bat Marten und blickte Patricia durchdringend an. Sie nickte, und es war ihr unbehaglich zumute, was sie sich aber nicht anmerken ließ. Patricia führte die beiden Herren ins Wohnzimmer und bot ihnen an, Platz zu nehmen. Dabei musterte sie verstohlen den Begleiter des Polizeibeamten, der sich noch nicht vorgestellt hatte, der aber zweifellos aus Candelan stammte. Er war groß und muskulös, hatte einen dichten Vollbart, und seine kleinen, farblosen Augen versteckten sich beinahe unter schwarzen, buschigen Brauen. Er war ein typisch männlicher Vertreter des Dorfes, verschlossen und mürrisch. Patricia wunderte sich, warum der Polizeibeamte gerade ihn mitgebracht hatte. In diesem Moment räusperte sich Stephan Marten vernehmlich. »Dieser Mann hier ist Mr. Corndale, er ist der Bruder Ihrer Haushälterin Elisabeth Maurus«, begann er das Gespräch. »Und er hat mich gebeten, mit zu Ihnen zu kommen, weil er den dringenden Verdacht hegt, daß Sie seine Schwester
hier gegen ihren Willen festhalten oder gar umgebracht haben. Was haben Sie dazu zu sagen?« Patricias Augen weiteten sich. Lieber Gott, bitte hilf mir! flehte sie innerlich. »Mrs. Maurus hat vorgestern ihre Stellung bei mir gekündigt«, erwiderte sie mit stockender Stimme. »Sie wollte aber noch die anstehenden Arbeiten erledigen.« »Und wo ist sie nun?« »Gestern bat sie mich überraschend, ihr einen halben Tag freizugeben. Sie wollte, wie sie mir erzählte, nach Candelan gehen und abends wieder zurück sein. Sie ist jedoch nicht wiedergekommen.« Corndale stieß ein brüllendes Gelächter aus. »Da hören Sie es. Sie hat sich eine vorzügliche Geschichte ausgedacht, um das Verschwinden meiner Schwester zu erklären. Sie hat sie getötet und irgendwo vergraben!« »Nein!« schrie Patricia entsetzt. Tränen stiegen in ihre Augen, und die Narben auf ihrer Wange spannten sich schmerzhaft. »Wie können Sie etwas so Schreckliches behaupten?« Corndale wich ihrem Blick aus. Patricia wandte sich an Marten. »Sie werden doch diesem Mann nicht glauben, Inspektor? Mrs. Maurus sorgt wie eine Mutter für mich, und sie arbeitet gern hier. Warum hätte ich sie töten sollen?« »Weil Sie Ihnen gekündigt hat«, antwortete Corndale gefährlich ruhig und ballte die Fäuste. Einen Moment lang schien es, als wollte er sich auf Patricia stürzen. »Ich war traurig, als Mrs. Maurus mir mitteilte, sie müsse kündigen. Aber ich habe ihre Kündigung akzeptiert, weil ich nicht wollte, daß sie meinetwegen Schwierigkeiten bekommt. Ich habe sie nicht getötet, das kann ich bei Gott schwören!«
»Warum kündigte Mrs. Maurus?« erkundigte sich Marten, nachdem er sie einen Augenblick lang nachdenklich betrachtet hatte. »Ihr Bruder verlangte es von ihr. Sie hatte Angst vor ihm und den anderen aus Candelan.« Inspektor Marten hob die Augenbrauen. »Es stimmt, Inspektor. Ich habe meiner Schwester befohlen, bei dieser Hexe zu kündigen. Ich konnte es einfach nicht zulassen, daß Elisabeth dem unheilvollen Einfluß dieser Frau völlig verfällt. Ich mußte sie aus dem Bann dieser Hexe befreien.« »So plötzlich?« fragte Marten scharf. »Immerhin arbeitete Ihre Schwester – wie Sie vorhin erwähnten – bereits zwei Jahre für Miss. Lauerdale.« »Ich befahl meiner Schwester immer wieder, diese Stellung aufzugeben«, erwiderte Corndale grimmig. »Aber sie wollte nicht auf mich hören. Und jetzt ist sie tot!« »Das steht noch nicht fest. Sie ist verschwunden, das muß aber noch lange nicht bedeuten, daß sie tot ist.« Inspektor Marten rieb sich nachdenklich das Kinn, und schließlich erhob er sich. »Ich muß Ihre Angaben vorerst akzeptieren, Miss Lauerdale. Aber es kann sein, daß ich sehr bald wiederkomme, und daher muß ich Sie bitten, sich bis auf weiteres zu meiner Verfügung zu halten und nicht zu verreisen.« Patricia nickte schwach. »Sie verhaften sie nicht?« rief Corndale überrascht. Der Inspektor schüttelte den Kopf. »Nein«, entgegnete er ruhig. »Denn solange ihre Schuld nicht eindeutig bewiesen ist, ist sie genauso unschuldig wie Sie und ich. Kommen Sie, gehen wir!« Corndale erhob sich und murmelte etwas Unverständliches vor sich hin. Patricia fühlte den Haß dieses Mannes fast körperlich, und sie verstand es nicht, warum er sie haßte.
Patricia begleitete die beiden Männer bis vor die Haustür und sah zu, wie sie in einen alten Jeep mit Soltaner Kennzeichen kletterten und dann losfahren. Soltan war ungefähr zwölf Meilen entfernt und die nächste größere Stadt mit eigenem Polizeirevier. In Candelan gab es nur einen alten Dorfpolizisten, und der war ständig betrunken, wie Mrs. Maurus einmal erzählt hatte. Patricia wollte gerade ins Haus zurückkehren, als sie bemerkte, daß der Jeep wieder anhielt. Inspektor Marten stieg aus und kam zurück. »Fast hätte ich vergessen, Ihnen etwas Wichtiges zu sagen«, schnaufte er, als er schließlich vor ihr stand. Sie blickte ihn fragend an. »Ich glaube nicht an Geister und Hexen. Und es tut mir leid, daß Ihnen in Candelan so viel Mißtrauen entgegengebracht wird.« »Mißtrauen?« stieß Patricia bitter hervor. »Die Leute hassen mich, und ich weiß nicht einmal, warum!« Verlegen starrte der Inspektor zu Boden. »Ich hoffe sehr, daß sie Mrs. Maurus finden, und daß sie am Leben ist!« Patricias Stimme klang inbrünstig. » Sie ist immer gut zu mir gewesen. Sie war der einzige Mensch, mit dem ich in dieser Einsamkeit reden konnte und der mit mir sprach.« »Ich kann verstehen, wie Ihnen zumute ist, Miss Lauerdale. Sie können mir glauben, daß ich in dieser Angelegenheit mein Bestes tun werde.« »Ich danke Ihnen.« »Schon gut!« winkte der Inspektor ab. Dann schaute er auf seine Armbanduhr. »So, jetzt muß ich mich aber wirklich verabschieden. Mein Fahrgast wird schon ungeduldig werden.« Marten drückte Patricias Hand, dann ging er mit weit ausgreifenden Schritten zum Jeep, stieg ein und fuhr davon.
Patricia trat ins Haus zurück und verschloß die Eingangstür hinter sich. Und in diesem Moment durchfuhr es sie eiskalt! In der Aufregung hatte sie völlig vergessen, dem Inspektor von ihrem Gefangenen zu erzählen! Patricia rannte zur Tür und schloß mit zitternden Fingern auf. Aber es war bereits zu spät, denn der Jeep mit dem Inspektor und Mr. Corndale war schon zu weit weg. Was sollte sie jetzt tun? Sie besaß kein Telefon, und ins Dorf konnte sie jetzt nicht gehen. Sicherlich hetzte Corndale die Leute noch mehr gegen sie auf. Patricia zitterte am ganzen Leib so sehr, daß sie sich auf das Treppengeländer stützen mußte. Aber sie überwand die Furcht, die wie mit eiskalten Händen nach ihr griff, und dann faßte sie einen mutigen Entschluß. Ohne weiter nachzudenken, holte sie den Schürhaken, den sie bereits gestern abend als Waffe gewählt hatte. Dann stieg sie, innerlich zitternd, aber doch entschlossen, die Treppe zum Dachboden hinauf und öffnete die Tür. Nichts geschah. Patricia atmete unwillkürlich auf, ließ aber keine Sekunde in ihrer lauernden Wachsamkeit nach. Sie machte einen vorsichtigen Schritt vorwärts, und ihre linke Hand tastete nach dem Lichtschalter. Das Licht der trüben Lampe erhellte den großen Dachboden nur schwach, und die tiefen Schatten ließen sie zögern. Sicherlich hatte sich der Eindringling irgendwo versteckt und beobachtete sie nun… Patricia fühlte, wie ihre Kopfhaut sich zusammenzog und sie plötzlich fror. Da hörte sie ein Schaben!
Nie hätte Patricia gedacht, daß sie so viel Geistesgegenwart besaß. Schnell drehte sie sich in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Linker Hand von ihr befanden sich ein paar größere Kisten, und dahinter stand ein großer, wurmstichiger Schrank. Patricia war sicher, daß das Geräusch von diesem Schrank gekommen war. Vielleicht sind es nur Ratten, tröstete sie sich. Langsam ging sie an den Schrank heran, und ihr Herz klopfte wild und hart, als sie sah, daß sich die Schranktür langsam öffnete. Guter Gott, laß mich meinen Mut nur jetzt nicht verlieren, flehte sie in Gedanken. Und dann vernahm sie eine krächzende Stimme: »Bitte – bitte, nicht schlagen!« Patricia war viel zu überrascht, um noch Entsetzen oder gar Furcht empfinden zu können. Alles hatte sie zu sehen erwartet, nur das nicht. In dem Schrank erkannte sie eine untersetzte Gestalt. Es war ein Mann, der sich furchtsam gegen die hintere Wand des Schrankes kauerte und die Hände schützend vor sein Gesicht hielt. »Bitte schlagen Sie mich nicht«, flehte er wieder. »Ich wollte nichts stehlen.« Patricia erholte sich nur langsam von ihrer Überraschung. »Ich werde Sie nicht schlagen. Aber kommen Sie jetzt endlich aus dem Schrank heraus«, sagte sie und war bemüht, ihrer Stimme einen festen, energischen Klang zu geben. Als der Mann vor ihr stand, den Blick schüchtern zu Boden gesenkt, regte sich tiefes Mitleid in Patricia. Ihr Gegenüber war ein Krüppel, sein massiger Körper war vornüber gebeugt, und auf seinem Rücken trug er einen gewaltigen Buckel. Die
Augen des Mannes lagen tief in den Höhlen, und seine Gesichtsfarbe war grau. »Kommen Sie«, forderte sie ihn auf. Schon längst hatte sie die Hand mit dem Schürhaken sinken lassen, denn instinktiv wußte sie, daß ihr dieser Mann kein Leid zufügen würde. Gemeinsam gingen sie hinab ins Wohnzimmer. Patricia ließ ihn Platz nehmen und bat ihn, einen Moment zu warten. In der Küche bereitete sie ein einfaches Essen, weil sie annahm, daß ihr seltsamer Gast sicherlich hungrig war. Immerhin war er fast vierundzwanzig Stunden auf dem Dachboden eingeschlossen gewesen. Als sie ins Wohnzimmer zurückkam, schreckte der Bucklige hoch. Patricia lächelte ihm beruhigend zu. »Ich habe Ihnen etwas zu essen gemacht.« »Warum tun Sie das für mich?« fragte der mißgestaltete Mann leise. »Warum sollte ich das nicht für Sie tun?« »Ich bin wie ein Dieb in Ihr Haus eingedrungen…« Patricia nickte. »Aber ich bin sicher, daß Sie mir eine zufriedenstellende Erklärung geben können.« »Der Regen… Ich fürchtete, mich zu verirren. Überall war plötzlich nur noch Nebel und dieser entsetzliche Regen. Man konnte kaum mehr die Hand vor Augen sehen. Und dann stand ich vor Ihrem Haus, und die Tür war nur angelehnt.« »Warum kamen Sie heimlich herein?« wollte Patricia wissen. »Sie hätten klingeln oder anklopfen können.« Der Bucklige zuckte die Schultern. »Ich hatte Angst davor, weggeschickt zu werden. Ich bin ein häßlicher Krüppel, und die Leute fürchten sich vor mir. Sie meiden mich. Überall, wo ich bisher angeklopft und um ein Nachtlager und ein bißchen zu essen gebeten habe, wurde ich abgewiesen.
In den letzten drei Monaten lebte ich in einer Höhle, weil ich es einfach nicht mehr ertragen konnte, von allen Menschen nur Verachtung entgegengebracht zu bekommen.« Die Stimme des Mannes klang resigniert. Mit einer müden Geste schob er den Teller beiseite und machte dann Anstalten, sich zu erheben. »Ich werde jetzt gehen. Sie hatten durch mich schon genug Unannehmlichkeiten.« »Bitte, bleiben Sie sitzen. Ich möchte, daß Sie hierbleiben.« Auf dem hageren, von Entbehrungen gezeichneten Gesicht des buckligen Mannes erschien ein überraschter Ausdruck. »Ich meine es ernst«, bekräftigte Patricia ihre Worte. »Sie können hierbleiben, wenn Sie wollen.« Der Bucklige starrte sie zuerst ungläubig an, dann schimmerten Tränen in seinen Augen. Patricia sah den gerührten Mann mitfühlend an. Nur zu gut konnte sie verstehen, was in ihm vorging. »Sie bleiben also«, stellte sie schließlich fest und lächelte. Der Bucklige nickte schüchtern. »Das freut mich sehr.« Es war dem Mann anzusehen, wie es in ihm arbeitete, wie er sich bemühte, die richtigen Worte zu finden. Und nach einer kleinen Weile, in der sie nichts sprachen, flüsterte er ergriffen: »Danke.« Dann schien ihm einzufallen, daß er sich noch gar nicht vorgestellt hatte. »Ich heiße William. William Coogan«, und er reichte Patricia die Hand. Als sie seine dargebotene Hand ergriff, entspannte ein stilles Lächeln Coogans Züge, und Patricia ahnte, daß es das erste Lächeln seit vielen Jahren war.
*
In den folgenden vier Tagen regnete es nahezu ununterbrochen, und Patricia nutzte die Zeit, um die versäumte Arbeit an ihrem Roman nachzuholen. Abends unterhielt sie sich mit William, der ein überaus intelligenter und aufmerksamer Gesprächspartner war und seine Scheu fast völlig verloren hatte. Patricia wäre wunschlos glücklich und zufrieden gewesen, wäre nicht die Ungewißheit um Mrs. Maurus’ Schicksal gewesen, die sie tief beunruhigte. Den Mann, der in jener Regennacht vor vier Tagen zu ihrem Schlafzimmerfenster hochgestarrt hatte, hatte sie völlig vergessen – ein Fehler, den sie noch bitter bereuen sollte. Als Patricia am fünften Tag erwachte, erfüllte strahlender Sonnenschein ihr Zimmer. Sie beschloß, noch eine Weile im Bett liegenzubleiben und die Ruhe des beginnenden Tages zu genießen. Ihre Gedanken wanderten zurück in die Vergangenheit, zu jenem schicksalhaften Oktobertag, der genauso friedlich begonnen hatte. Im Geiste sah sie sich auf Colin zurennen, sah, wie sich sein Gesicht vor plötzlichem Schrecken verzerrte… und dann erlebte sie wieder, wie schon so oft in den letzten drei Jahren, den raubtierhaften Angriff des Hundes… »Neon«, hauchte sie, und dieser Laut holte sie in die Realität zurück. Sie verbannte den Gedanken an Colin und den Unfall aus ihrem Kopf und erhob sich. In diesem Moment wurde von draußen gegen die Tür geklopft. Es war William. »Ich bin es, Miss Patricia. Darf ich hereinkommen?« fragte er ein wenig schüchtern. »Einen kleinen Moment, bitte.« Patricia schlüpfte in ihren Morgenmantel. Dann öffnete sie William die Tür. »Guten Morgen«, grüßte er freundlich. »Ich wollte Ihnen das Frühstück ans Bett bringen. Kaffee, Orangensaft, Eier und
Brot. Sie arbeiten so viel, daß ich mir schon Sorgen um Ihre Gesundheit machen muß.« Mit diesen Worten deutete er auf das Tablett mit dem Frühstück, das er wie ein gelernter Kellner vor sich hielt. »Das ist aber lieb von Ihnen!« Patricia fühlte jetzt erst, wie hungrig sie war. »Es freut mich, wenn ich Ihnen eine kleine Freude bereiten kann.« Patricia lächelte, während sie hinter William herging. »Sie stecken voller Überraschungen«, bemerkte sie. William stellte das Tablett ab, wünschte ihr einen guten Appetit und verließ das Zimmer. Immer noch lächelnd setzte sich Patricia ans Frühstück, es schmeckte vorzüglich. Nachdem sie sich vollständig angezogen hatte, ging sie hinunter, um William mitzuteilen, daß sie für eine Weile spazierenging. Sie fand ihn jedoch nirgends im Haus und wollte gerade draußen nach ihm rufen, als sie an der Haustür ein Geräusch – wie von einem harten Schlag hörte. »William?« rief sie fragend. Sie erhielt keine Antwort. Eine unruhige Nervosität beschlich sie, als sie die Hand auf die Türklinke legte, um zu öffnen. Niemand stand vor der Tür, und doch hatte Patricia den Schlag ganz genau vernommen. Wollte ihr jemand aus dem Dorf einen Streich spielen? Patricia verwarf den Gedanken, denn wer würde wohl eine Wanderung von zwei Meilen auf sich nehmen, nur um an ihre Haustür zu klopfen und dann zu verschwinden? Sie schaute sich aufmerksam um, aber weit und breit erstreckte sich nur die unberührte Natur. Ganz in der Ferne, dort, wo das Moor begann, war feiner Nebel zu erkennen, der langsam stieg. Es war ein unbeschreiblich romantisches Bild, ein Bild der Ruhe und des
Friedens, und sekundenlang gab sich Patricia den auf sie einstürmenden Emotionen bedingungslos hin. Als sie sich dann umwandte, um ins Haus zurückzugehen, sah sie es! Im Holz der Haustür steckte ein scharfgeschliffener Dolch, an dem ein Zettel befestigt war. Rund um die Waffe waren seltsame Zeichen gemalt, die Patricia noch nie zuvor gesehen hatte. Zögernd ergriff sie den Dolch und zog ihn aus dem Holz. Die Schrift auf dem ‘Zettel war nur sehr schwer zu entziffern. Aber Patricia gelang es schließlich, sie zu enträtseln, und ihr Herz drohte auszusetzen. Immer wieder las sie die furchtbare Drohung: »Verschwinde, Hexe, oder Du wirst den Hexentod sterben!« Sie war derart verwirrt, durcheinander und ratlos, daß sie begann, hemmungslos zu schluchzen. »Miss Patricia, was haben Sie denn?« rief William erschrocken aus, als er ein wenig später aus der Küche kam. Wortlos deutete Patricia auf den Dolch und den Zettel. Beides hatte sie angewidert auf den Boden geschleudert. Als William die Drohung gelesen hatte, schüttelte er empört den Kopf. »Wer kann nur so böse sein und so etwas schreiben?« Patricia zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht, William. Irgend jemand muß mich unsagbar hassen, und ich habe keine Ahnung warum. Ich habe keinem Menschen etwas zuleide getan.« William setzte sich zu ihr und berührte sie sanft am Arm. »Sie dürfen sich keine Selbstvorwürfe machen«, beruhigte er sie. »Ich weiß, daß Sie ein guter Mensch sind, und irgendwann werden das auch die Candelaner erkennen.« »Daran glaube ich nicht mehr«, erwiderte Patricia bitter. »Sie müssen aber daran glauben!«
»Vielleicht haben Sie recht, William«, seufzte sie. »Aber es ist so bedrückend zu wissen, daß man verachtet und gehaßt wird.« William nickte stumm. Nach einer Weile fügte er nachdenklich hinzu: »Es könnte dieser Mr. Corndale gewesen sein, von dem Sie mir erzählt haben. Wahrscheinlich hat er die Drohung geschrieben.« Jeder aus Gandelan könnte es gewesen sein. Patricia winkte resignierend ab. »Ich will keinen Unschuldigen verdächtigen. Es steht mir nicht zu.« William blickte Patricia in die Augen. »Sie sind zu gut«, bemerkte er. »Wahrscheinlich ist das Ihr Fehler.« Patricia nickte nur zu seinen Worten. Ob die Zeichen an der Haustür wohl einen Zauberspruch darstellten, der Unglück und Leid auf sie herabbeschwor? Patricia schloß die Augen, als könnte sie so diesen furchtbaren Gedanken vertreiben. William erhob sich. »Ich schlage vor, daß wir uns draußen einmal umsehen. Vielleicht finden wir Fußspuren.« Patricia folgte dem Buckligen. Draußen trennten sie sich und suchten systematisch die Umgebung des Hauses nach Spuren ab. Patricias Suche war erfolglos, aber William schien etwas gefunden zu haben, denn er rief aufgeregt nach ihr. Hastig lief Patricia auf die andere Seite des Hauses. William saß auf dem Boden und betrachtete sinnend einen Gegenstand. Er hielt ihr seinen Fund entgegen. Es war ein kleines silbernes Pillendöschen, und auf dem Deckel waren die Initialen E. M. eingraviert. Patricia erkannte dieses Döschen sofort. »Es gehört Mrs. Maurus«, flüsterte sie. »Sie trug es immer bei sich.« »Warum? Mußte sie regelmäßig Medikamente nehmen?«
Ein Schatten flog über Patricias Gesicht. »Ich weiß es nicht. Mrs. Maurus wich meinen Fragen danach immer aus. Ich weiß nur, daß sie niemals ohne dieses Döschen war. Es muß ihr viel bedeutet haben.« William untersuchte das Döschen. »Es ist leer«, murmelte er ganz in Gedanken. »Auch sonst kann ich nichts Besonderes daran entdecken.« Er gab es Patricia. »Fest steht nur, daß es noch nicht allzu lange hier liegt. Höchstens ein paar Stunden«, sagte er dann mit Bestimmtheit. »Woher wollen Sie das wissen?« »Das Döschen lag aufgeklappt auf dem Boden. Obwohl es in den letzten Tagen fast ununterbrochen geregnet hat, war es nicht mit Wasser gefüllt.« »Das würde ja bedeuten, daß Mrs. Maurus lebt, daß sie hier war.« Patricias Stimme brach abrupt ab, die kühne Kombination raubte ihr den Atem. »Es wäre denkbar«, pflichtete William ihr schwach bei. »Aber es gibt noch eine zweite Möglichkeit, und die halte ich unter den gegebenen Umständen für wahrscheinlicher.« »Welche?« fragte Patricia aufgebracht. Ihre heftige Reaktion überraschte sie selbst. William lächelte dünn. »Jemand, der genau weiß, daß Mrs. Maurus tot ist, war hier«, erwiderte er. »Dieser Jemand hinterlegte das Döschen, um den Verdacht des Inspektors eindeutig auf Sie zu lenken.« Sie starrte ihn ungläubig an. »Sie glauben also, daß Mrs. Maurus umgebracht wurde?« »Ja.« »Aber warum denn nur?« Patricia war verzweifelt. »Ich weiß es nicht. Es ist nur so eine Ahnung.« Patricia nickte. »Es ist schon gut, William. Gehen wir ins Haus zurück.«
Schweigend machten sie sich auf den Weg ins Haus. Als Patricia Inspektor Marten erblickte, der vor ihrer Haustür stand und neugierig die seltsamen Zeichen studierte, zuckte sie zusammen. »Herr Inspektor?« Marten blickte über seine Schulter und lächelte knapp. »Ah, guten Tag, Miss Lauerdale. Da sind Sie ja. Ich war eben im Begriff, wieder zu gehen«, bemerkte er leichthin. Dann fragte er lauernd: »Sie haben Besuch?« »Ja«, erwiderte Patricia und stellte ihm William Coogan vor. »Ich habe schon von Ihnen gehört, Mr. Coogan«, erwähnte Marten später, als sie im Wohnzimmer saßen. William runzelte die Augenbrauen. »Das kann nicht sein, Herr Inspektor. Ich bin erst seit fünf Tagen bei Miss Lauerdale.« »Ich weiß. In Candelan heißt es, daß sie sich eine Höllenkreatur zum Schutz gezaubert hätte, aber das ist natürlich Unsinn.« »Woher wissen die Candelaner, daß Mr. Coogan bei mir wohnt?« erkundigte sich Patricia verstört. Der Inspektor zuckte die Schulter. »Sie wissen es jedenfalls.« Er lächelte und blickte William lange und bohrend in die Augen. »Darf ich fragen, weshalb Sie hier sind?« »Er hilft mir im Haushalt«, antwortete Patricia schnell. »Nachdem Mrs. Maurus nicht mehr da ist.« »Ich verstehe«, warf der Inspektor ein. »Bitte, verzeihen Sie meine Neugier, aber Sie werden verstehen, es gehört zu meinem Beruf, neugierig zu sein. Apropos, was bedeuten die Zeichen eigentlich, die auf Ihre Tür gemalt sind?« »Das ist das Werk eines heimlichen Besuchers«, erwiderte Patricia bitter. »Und das hier ebenfalls.« Sie holte den Dolch und den Zettel und hielt beides dem Inspektor hin.
Er ergriff zuerst den Dolch und betrachtete ihn aufmerksam. Dann erst las er den Zettel mit der Drohung. »Kann ich beides vorläufig behalten?« fragte er schließlich mit unbewegtem Gesicht. »Ich will sie auf Fingerabdrücke hin untersuchen lassen.« »Ich habe zwar keine großen Hoffnungen, daß Sie damit etwas erreichen, aber Sie können sie behalten«, versetzte Patricia gleichmütig. Inspektor Marten bedankte sich. Dann saß er eine Weile gedankenverloren da, den Blick nach innen gerichtet. Und plötzlich erkundigte er sich, ob er sich in der Nähe des Hauses umsehen dürfe. Patricia war zutiefst überrascht, aber sie brachte fertig, sich nichts anmerken zu lassen. »Natürlich. Soll ich Sie begleiten?« »Nein, das ist nicht nötig«, bedankte sich der Inspektor höflich. »Wie Sie meinen.« Der Beamte verabschiedete sich von William, und Patricia begleitete ihn bis zur Haustür. »Warum sind Sie eigentlich heute gekommen?« fragte sie, als Marten sich auch von ihr verabschieden wollte. Einen Moment lang musterte er sie schweigend, dann lächelte er und hob die Hände. »Ich will das mysteriöse Verschwinden Ihrer Haushälterin aufklären«, erwiderte er ernst. »Und ein anonymer Anrufer riet mir vorhin, mich in der näheren Umgebung Ihres Hauses umzusehen. Das tue ich nun…« »Ich verstehe«, erwiderte Patricia steif und reichte dem Inspektor die Hand. »Hoffentlich finden Sie das, wonach Sie zu suchen haben.« »Das hoffe ich nicht, denn dann müßte ich Sie verhaften, Miss Lauerdale. Und das, obwohl ich genau wüßte, daß Sie das Opfer einer hinterhältigen Verschwörung sind. Man will Ihnen
einen Mord anlasten.« Mit diesen Worten wandte sich der Inspektor zum Gehen. »Auf Wiedersehen, Miss Lauerdale. Ich hoffe, daß ich den wahren Täter ausfindig machen kann.« »Ja«, raunte Patricia niedergeschlagen, und ihre Handflächen waren von Nervosität ganz feucht. Dann ging sie ins Haus zurück. Der Verzweiflung nahe schloß sie die Tür hinter sich und lehnte sich dagegen. Sie fror plötzlich, obwohl es im Haus warm war. William kam aus dem Wohnzimmer. »Sie hatten mit Ihrer Vermutung recht, William«, sagte sie mit bebender Stimme. »Jemand will, daß ich wegen Mordes verhaftet werde.« William schlug betrübt seinen Blick nieder. »Es wäre mir lieber gewesen, wenn ich nicht recht behalten hätte.« Patricia entgegnete hierauf nichts. Sie schloß sich in ihr Arbeitszimmer ein und begann zu arbeiten. Der Rest des Tages verlief ohne besondere Ereignisse.
*
Am nächsten Tag spazierte Patricia trotz Williams Bedenken zum Plateau des Teufelsfelsens hinauf. Lange stand sie auf dem Felsvorsprung und blickte über das weite, sonnenbeschienene Land. Da knackte hinter ihr ein Zweig, und dieses unerwartete Geräusch ließ sie erschrocken herumfahren. Nur wenige Meter von ihr stand ein hochgewachsener Mann mit breiten Schultern und schmalen Hüften. Er hatte ein markantes, gutgeschnittenes Gesicht, und in seinen grünen
Augen lag ein humorvolles Zwinkern. Das volle, dunkelblonde Haar trug er mittellang. »Ich hoffe sehr, daß ich Sie nicht zu Tode erschreckt habe«, entschuldigte er sich. Patricia spürte, wie der würgende Kloß in ihrer Kehle verschwand. »Wie Sie sehen, bin ich noch sehr lebendig«, erwiderte sie spitz und bereute es sogleich wieder. Aus einem ihr unerklärlichen Grund wollte sie nicht, daß er sie für eingebildet hielt. Der Mann lächelte, als hätte er ihre Gedanken erraten. »Wenn ich eine der hier üblichen Traditionen verletzt haben sollte, dann verzeihen Sie mir. Ich bin erst seit zwei Tagen in dieser Gegend.« »Sie haben keine Tradition verletzt«, widersprach ihm Patricia lächelnd. »Sie haben mich nur erschreckt.« Sie entfernte sich vom Abgrund. »Es tut mir leid, ehrlich«, versicherte er und reichte ihr die Hand. »Schon gut«, wehrte sie ab. »Ich bin John Fenton. Und Sie müssen Miss Patricia Lauerdale sein.« »Wie kommen Sie darauf?« Sie war verblüfft. »Die Leute in Candelan haben Sie mir sehr plastisch beschrieben und mich eindringlich vor Ihrem bösen Blick gewarnt.« Patricia strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Die Candelaner hassen mich.« »Das habe ich bemerkt. Warum eigentlich?« Patricia zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht. Vielleicht wegen der Narben in meinem Gesicht. Die Leute hier sind sehr abergläubisch, sie beurteilen den Menschen ausschließlich nach seiner Äußerlichkeit.« Fenton wechselte das Thema.
»Haben Sie sich inzwischen einigermaßen von Ihrem Schrecken erholt?« »Ich denke schon.« »Dann darf ich Sie wohl ein Stück begleiten? Ich würde mich gern noch mit Ihnen unterhalten. Und vor Ihrem bösen Blick«, fuhr er scherzend fort, »fürchte ich mich nicht.« »Sie machen sich lustig über mich.« »Aber nein!« Patricia blickte ihn forschend an, und er erwiderte ihren Blick, ohne verlegen zu werden. »Also gut, ich glaube Ihnen«, sagte sie. Nachdem sie ein paar Minuten schweigend nebeneinanderher gegangen waren, stellte Patricia fest: »Wenn jemand aus Candelan Sie mit mir zusammen sieht, wird es heißen, daß Sie von mir verzaubert wurden.« »Vielleicht haben Sie mich tatsächlich verzaubert.« Sie schaute ihn verstohlen von der Seite an, überging aber seine Bemerkung. »Sie könnten Schwierigkeiten bekommen.« Der Mann lächelte jungenhaft. »Daran bin ich gewöhnt.« Patricia wollte etwas entgegnen, stolperte aber in diesem Augenblick über eine Wurzel und wäre schmerzhaft zu Boden gefallen, wenn John Fenton nicht blitzschnell reagiert und sie gehalten hätte. Als sie wieder einigermaßen sicher auf den Füßen stand, fragte er besorgt: »Alles okay?« »Ja, ich danke Ihnen.« Patricia verzog das Gesicht. »So oft bin ich diesen Weg nun schon gegangen, und noch nie bin ich gestrauchelt.« »Pssst!« zischte John Fenton plötzlich. Dann ergriff er Patricias Arm und zog sie ohne ein Wort der Erklärung in das dichte Unterholz, das den Weg an dieser Stelle säumte. Aufbrausend wollte Patricia fragen, was das solle, als sie Schritte vernahm, die sich schnell näherten.
Neugierig hob sie den Kopf, um zu sehen, wer außer ihr und John Fenton heute noch zum Teufelsfelsen hinaufging. Es dauerte nicht lange, und ein großer, schlanker Junge mit schwarzem kurzgeschnittenem Haar tauchte auf. Es war Patrick McCoy, der Sohn des Bürgermeisters. Auch John Fenton mußte ihn erkannt haben. »Was will denn der hier oben?« fragte er Patricia mit flüsternder Stimme. »Ich weiß es nicht. Vielleicht folgt er Ihnen im Auftrag seines Vaters? Der alte McCoy ist Fremden gegenüber sehr mißtrauisch, weil vor vielen Jahren einmal einer sein Haus angezündet hat. Dabei kam seine Frau ums Leben.« Fenton schüttelte verständnislos den Kopf. »Ihnen mißtrauen die Candelaner wegen ein paar Narben und mir, weil ich fremd bin. – Wem vertrauen diese Leute eigentlich?« Patricia zuckte die Schultern. »Vermutlich niemandem, der anders ist als sie. Ich lebe jetzt drei Jahre hier, und nichts hat sich im Verhalten der Candelaner mir gegenüber gebessert. Im Gegenteil…« Patricia unterbrach sich. »Aber ich will Sie nicht mit meiner Lebensgeschichte langweilen. Gehen wir weiter?« »Ja, ich denke, daß die Luft jetzt wieder rein ist.« Nach einer Weile überquerten sie die Hängebrücke. Obwohl sie auch diesmal hin und her schwang, als sie darübergingen, fürchtete Patricia sich nicht. Die Nähe John Fentons beruhigte sie, und im geheimen gestand sie sich ein, daß ihr der Mann und seine unbekümmerte Art gefiel. Und so war sie dann auch ein wenig traurig, als sie sich an der Weggabelung voneinander verabschieden mußten. »Es würde mich freuen, wenn wir uns bald wiedersehen könnten«, sagte er hoffnungsvoll. Patricia nickte erfreut. »Dem steht nichts im Wege. Sie können mich gern jederzeit besuchen.« »Ich werde Ihrer Einladung ganz gewiß bald folgen.« Er drückte sanft ihre Hand und hielt sie dann länger als nötig.
»Auf Wiedersehen, Miss Lauerdale.« »Auf Wiedersehen.« Sie blieb noch einen Augenblick stehen und sah ihm nach, wie er mit kräftigen Schritten in der Richtung verschwand, in der Candelan lag. Dann wandte sie sich um, und bald war sie zu Hause.
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Eigentlich hatte Patricia damit gerechnet, daß John Fenton bereits am nächsten Tag kommen würde, um sie zu besuchen, und so war sie auch nicht sonderlich überrascht, als es gegen Mittag klingelte. Erfreut ging sie zur Tür und öffnete. Es war tatsächlich John Fenton, aber fast hatte sie ihn nicht wiedererkannt. Sein Gesicht war zerschlagen und zerkratzt, und das linke Auge war fast völlig zugeschwollen. Entsetzt schrie Patricia auf. »Was haben sie denn mit Ihnen gemacht?« »Gestern – auf dem Rückweg ins Dorf – wurde ich von fünf maskierten Männern überfallen«, antwortete John lakonisch. »Ich hätte doch besser auf Ihre Warnung hören sollen.« Er versuchte ein schwaches Grinsen, was ihm aber mißlang. Patricia war ganz aufgeregt, und ihr Gesicht war gerötet. »Kommen Sie doch bitte herein«, drängte sie. »Sie sind sehr freundlich«, entgegnete Fenton und trat ein. Patricia führte ihn ins Wohnzimmer und bat ihn, sich zu setzen. »Ich werde…« Fenton winkte ab, und diesmal gelang es ihm, zu lächeln. »Es ist halb so schlimm, wie es aussieht. Wenn Sie mir vielleicht
zuerst etwas zu trinken gäben, damit ich den bitteren Geschmack, den ich im Mund habe, hinunterspülen kann.« »Aber natürlich, ich bringe Ihnen einen Kognak.« Patricia eilte in die Küche, holte die Kognak-Flasche und stellte sie im Wohnzimmer auf den Tisch. Dann reichte sie John Fenton ein Glas und füllte es bis an den Rand. Er nahm einen tiefen Schluck und lehnte sich zurück. »Wohnen Sie ganz allein in diesem großen Haus?« erkundigte er sich. »Nein«, antwortete sie. »William Coogan wohnt noch hier. Er ist heute nach Candelan gegangen, um die Post zu holen.« »Ist er mit Ihnen… ich meine…« Patricia unterbrach ihn: »William ist ein guter Freund, nicht mehr, nicht weniger. Ich bot ihm an, hier zu wohnen. Sie wissen ja inzwischen, wie hartherzig die Menschen sein können. Und gegenüber körperlich Mißgestalteten sind sie noch viel schlimmer.« »William ist ein Krüppel?« »Ja.« »Sie sind sehr großherzig«, stellte Fenton fest. »Vielleicht«, entgegnete Patricia. »Aber für mich sind Begriffe wie Mitleid und Nächstenliebe nicht nur leere Phrasen. Außerdem… nach dem geheimnisvollen Verschwinden meiner Haushälterin war ich glücklich, einen Menschen hier zu haben, mit dem ich sprechen konnte und der mich anhörte.« Fenton nickte verstehend, dann holte er aus seiner Jackentasche eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug. Er bot Patricia eine Zigarette an, doch sie lehnte ab. »Aber Sie erlauben doch, daß ich rauche?« bat er höflich. Patricia nickte. »Natürlich.« Er zündete sich umständlich eine Zigarette an und machte einen tiefen Zug.
Patricia bemerkte, daß Fentons Hände leicht zitterten. »Was werden Sie jetzt tun?« fragte sie schließlich, als er keine Anstalten machte, ein Gespräch zu beginnen. John Fenton zuckte die Schultern. »Ich werde nach London zurückkehren und meinen Auftrag vorläufig als gescheitert betrachten müssen.« »Ihren Auftrag?« »Ich bin Naturforscher«, berichtete Fenton. »Ich sollte die langfristigen Einflüsse des ozeanischen Klimas auf Flora und Fauna untersuchen. Aber dazu braucht man eine Unterkunft, Ruhe und die Unterstützung der hier lebenden Menschen, und all das habe ich nicht mehr. Die Maskierten, die mich überfielen, drohten, mich zu töten, wenn ich weiter in Candelan bliebe.« »Aber das ist ja furchtbar«, flüsterte Patricia bestürzt. »Und an all dem bin nur ich schuldig.« »Nein, das stimmt nicht«, verwahrte sich John Fenton energisch. »Der verdammte Aberglauben der Leute hier ist daran schuld – und ein paar Männer und Frauen, die diesen Aberglauben schüren und ausnützen.« Hastig inhalierte er den aromatischen Rauch seiner Zigarette. »Was würden Sie eigentlich davon halten, wenn ich Sie zum Essen einlade? Wir könnten nach Soltan fahren. Ich kenne dort ein sehr gemütliches kleines Speiselokal.« Patricia war von diesem unerwarteten Vorschlag verwirrt, und sie wußte nicht, wie sie darauf reagieren sollte. »Aber… ich…« Fenton lächelte, und seine grünen Augen funkelten. »Ich würde mich sehr freuen, Patricia.« Nur mühsam konnte sie ein Erröten verbergen. Sie wußte nicht so recht, wie sie sich dem gutaussehenden John Fenton, der sich ganz offenbar in sie verliebt hatte, gegenüber verhalten sollte. Einerseits fühlte sie sich zu ihm hingezogen,
andererseits jedoch schreckte sie vor dem Gedanken an eine neue Bindung zurück. Außerdem war sie nach wie vor mit Colin Stuart verheiratet, auch wenn sie wieder ihren Mädchennamen angenommen hatte. Aber schließlich folgte sie dem Drängen ihres Herzens. »Also gut, ich nehme Ihre Einladung an«, stimmte sie übermütig ein. »Fein. Ich hole Sie um sechs Uhr ab. Einverstanden?« Patricia nickte. »Es macht mich glücklich, daß wir gute Freunde werden, bevor ich abreise. Das macht es zwar nicht leichter, aber…« John Fenton brach ab und lächelte verlegen. Dann führte er wieder die Zigarette zum Mund. »Aber?« echote Patricia sanft. »Ich rede zuviel«, wich John aus. Er stand auf und ging unruhig im Zimmer auf und ab. Patricia beobachtete ihn. Ihr Blick wurde zärtlich. Sie fühlte mehr als bloße Freundschaft zu diesem Mann, dessen war sie sich plötzlich ganz sicher. Sie hatte das Bedürfnis, ihn zu umarmen und zu liebkosen, und sie sehnte sich nach seiner Zärtlichkeit. Ihr Herz klopfte schneller, als sie daran dachte. Sie lehnte sich zurück und genoß dieses Gefühl des Verliebtseins. Sie fühlte sich geborgen, und dies, obwohl sie sich nach der Trennung von Colin sicher gewesen war, solche Gefühle nie wieder empfinden zu können… John Fenton mit seinem sympathischen Wesen hatte ihr Herz im Sturm erobert. Einen kurzen Augenblick wollte sie sich noch dagegen wehren, aber dann wünschte sie sich nur noch sehnlichst, daß auch er sie liebte. Johns Stimme entriß sie ihren Gedanken. »Ich werde mich jetzt auf den Weg machen und den Jeep holen, damit wir heute abend unser kleines Unternehmen auch durchführen können.« »Es wird sicher wundervoll werden«, entgegnete Patricia.
»Ja«, sagte John zärtlich. »Und auf der Rückfahrt werde ich Ihnen zeigen, wie schön diese Landschaft im Mondlicht ist.« Patricia entgegnete nichts, aber sie lächelte. Und sie hoffte, daß John Fenton ihr Lächeln richtig verstand. Es schien so, denn beim Abschied schaute er sie lange und zärtlich an, bevor er ihr einen flüchtigen Kuß auf die Stirn hauchte. »Der Abend wird wundervoll werden.« Es klang wie ein Versprechen. »Ich weiß es.« Nachdem er davongegangen war, kehrte Patricia, schnell ins Haus zurück, denn diesmal wollte sie ihm nicht nachsehen. Das Herz wäre ihr zu schwer geworden. Und sie wollte nicht traurig sein, nicht jetzt. Dazu würde sie noch Zeit genug haben, wenn John Fenton nach London abgereist war… Sie mußte an Johns liebevollen Kuß denken, und ihr wurde ganz leicht ums Herz. Alle Schatten, die das unerklärliche, scheinbar unbegründete Verhalten der Candelaner, oder das geheimnisvolle Verschwinden von Mrs. Maurus auf ihr Leben geworfen hatten, waren mit einem Schlage nicht mehr vorhanden. Die tiefe Liebe, die sie zu John Fenton fühlte, und die, wie sie wußte, erwidert wurde, überstrahlte alles. Patricia war so in Gedanken versunken, daß sie William gar nicht hörte, wie er das Haus betrat. Er stand plötzlich vor ihr und lächelte. »Sie sehen sehr glücklich aus, Miss Patricia«, freute er sich. Patricia nickte lächelnd. »Das stimmt, William. Ich könnte die ganze Welt umarmen!« Sie sprang auf und drückte ihm einen herzlichen Kuß auf die Wange. Er wurde ganz verlegen und schlug den Blick nieder. »Ich bin verliebt, so verliebt!«
»Nun«, William schluckte, und sein großer Adamsapfel hüpfte auf und nieder. Er wußte offensichtlich nicht, wie er sich dazu stellen sollte. Patricia lächelte. »Er wird heute abend kommen und mich abholen. Er hat mich zum Essen eingeladen. Wir fahren nach Soltan.« »Er?« wiederholte William neugierig. »John Fenton. Er ist Naturforscher und kommt aus London.« Patricia erzählte William, unter welch abenteuerlichen Umständen sie John kennengelernt hatte, und davon, daß er von maskierten Männern, die sehr wahrscheinlich aus Candelan stammten, überfallen worden war. Auch die Drohung der Maskierten, ihn zu töten, falls er Candelan nicht sofort verließ, verschwieg sie dem Krüppel nicht. »Er ist ein wunderbarer Mann, und ich werde ihn sehr vermissen, wenn er nicht mehr hier ist«, schloß sie schließlich ihren Bericht. Williams Augen leuchteten warm. »Warum schlagen Sie Mr. Fenton nicht einfach vor, bei Ihnen zu wohnen?« fragte er. »Platz genug haben Sie doch.« Patricia schaute William verblüfft an. »Daran habe ich nicht gedacht.« »Vielleicht kann ich Mr. Fenton bei seiner Arbeit sogar unterstützen. Ich kenne mich in dieser Gegend sehr gut aus und wäre gern bereit, mich ihm als Fremdenführer zur Verfügung zu stellen.« »Sie sind ein Schatz, William!« »Ich tue es gern, wenn es Ihnen eine Freude macht, und wenn ich Mr. Fentons Arbeit erleichtern kann.« »Das können Sie ganz sicher, denn er berichtete mir, daß er auf die Hilfe der hier lebenden Menschen angewiesen sei. Und das kann doch nur bedeuten, daß er einen tüchtigen Assistenten braucht.«
Patricia war begeistert. Bei dem Gedanken, daß John Fenton vielleicht doch längere Zeit bleiben würde, klopfte ihr Herz so laut und schnell, daß sie meinte, das ganze Zimmer müsse davon widerhallen. »Gleich heute abend werde ich mit ihm darüber reden.« Und jetzt konnte sie es erst recht nicht mehr erwarten, bis John endlich wiederkam. Aber an den Zeigern der Uhr schienen unsichtbare Bleigewichte befestigt zu sein, so langsam bewegten sie sich vorwärts. Bereits eine Stunde vor der verabredeten Zeit machte Patricia sich schön. Nachdem sie ausgiebig geduscht hatte, legte sie ein wenig Rouge auf, schminkte sich die Lippen und kämmte ihr langes Haar, bis es weich und seidig auf ihre Schultern fiel. Dann zog sie ein einfaches weißes Leinenkleid an, das ihre Figur gut zur Geltung brachte. Als sie später zu William hinunterging, der in der Küche saß und mit sich selbst Schach spielte, stellte sie fest, daß sie sich in den zwei Tagen, seit sie John Fenton kannte, sehr verändert hatte. Sie legte plötzlich wieder Wert auf ihre Kleidung, und sie schminkte sich sogar. Das häßliche Entlein will sich zum schönen Schwan mausern, dachte sie. Unwillkürlich fuhren ihre Finger über die Narben auf ihrer Wange. Und in diesem Augenblick erwog sie wieder – wie vor drei Jahren –, sich einer kosmetischen Operation zu unterziehen. Aber dann stellte sie diesen Gedanken zurück und trat in die Küche. William blickte von seinem Schachspiel auf, und in seinen dunklen Augen glomm Überraschung auf. »Gefalle ich Ihnen, William?« fragte sie und drehte sich. »Sie sind wunderschön, Miss Patricia«, bestätigte er anerkennend. »Wenn Mr. Fenton nicht schon sehr in Sie verliebt ist, dann wird er es jetzt sein.«
»Das haben Sie schön gesagt«, seufzte sie. Ihr Blick irrte wieder zur Uhr. Es waren nur noch wenige Minuten bis sechs, und da klingelte es auch schon. Patricia lief aus der Küche, um zu öffnen. Sie wollte John so vieles erzählen. Aber als er dann vor ihr stand, brachte sie kein Wort heraus, sie starrte ihn nur entzückt aus leuchtend braunen Augen an. Fenton trug einen dunklen Anzug, der seine sportliche Erscheinung vorteilhaft unterstrich. Er verbeugte sich sehr galant und überreichte Patricia einen Strauß duftender wilder Blumen. »Guten Abend, Patricia«, begrüßte er sie mit weicher Stimme. Sie erwiderte seinen Gruß und bat ihn, einzutreten. Dann stellte sie ihm William vor. Die beiden so ungleichen Männer gaben sich die Hand und wechselten einige belanglose Worte miteinander. Patricia stellte die Blumen in eine handbemalte Vase. Schließlich warf Fenton einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr und erhob sich. »Lieber Mr. Coogan, es tut mir leid, aber ich werde Ihnen Patricia nun entführen.« Er zwinkerte William vertraulich zu. Dann legte er seinen starken Arm um Patricias Schulter. Ein prickelndes Gefühl durchrieselte sie, und sie wünschte sich, John würde sie immer so halten. William lächelte. »Ich beneide Sie unendlich, Mr. Fenton.« Seine Stimme klang beinahe wehmütig. Etwas in seinem Tonfall ließ Patricia erstaunt aufhorchen. Sollte sich William etwa in sie verliebt haben? Nein, das war absurd, dachte sie und verwarf den Gedanken. Sie ahnte in diesem Moment nicht, wie nahe sie der Wirklichkeit gekommen war. William begleitete sie bis vor die Haustür. »Ich werde einstweilen auf Ihr Haus achtgeben«, versprach er ihr. Und
nachdem sich John Fenton und Patricia von ihm verabschiedet hatten, fügte er leise hinzu: »Und ich wünsche Ihnen, daß dieser Abend so verläuft, wie Sie es sich ersehnen.« Aber diese Worte hörte Patricia schon nicht mehr. Die Fahrt nach Soltan verlief schweigend, und Patricia musterte immer wieder liebevoll das markante Profil von Johns Gesicht. Sie hätte gern gewußt, was er in diesen Minuten wohl dachte und fühlte. John Fenton fuhr schnell, aber sicher, und obwohl der Weg vom langen Regen in den vergangenen Tagen aufgeweicht war und John oft erst in letzter Sekunde großen Schlaglöchern ausweichen konnte, fürchtete sie sich keine Sekunde. Sie waren nur noch wenige Meilen von Soltan entfernt, als die Dämmerung hereinbrach und die flache Landschaft in ein geheimnisvolles Licht hüllte. Trotzdem konnte man aber noch sehr weit sehen, und Patricia ließ ihre Blicke über das Land schweifen. Linker Hand lag einsam ein Bauernhof, der von einer dunklen, massiv aussehenden Mauer und verwildertem Dickicht umgeben war. Wenige Minuten später hatten sie Soltan erreicht. Es war inzwischen völlig dunkel geworden. John stellte den Jeep vor einem sehr nett aussehenden Lokal ab. »So, da wären wir«, bemerkte er aufatmend, und machte eine Geste, die ganz Soltan umschloß. Er bot Patricia den Arm, aber sie zögerte plötzlich. »Ich habe Angst…« »Aber warum denn?« Er war erstaunt. »Die Leute werden mich anstarren.« Ihre Stimme wurde zusehends leiser. »Ich möchte nicht, daß du dich meinetwegen schämen mußt.« »Unsinn!« entgegnete er heftig. »Warum sollte ich mich deinetwegen schämen müssen? Natürlich werden dich alle anstarren – die Männer, weil du ihnen gefällst, und die Frauen,
weil sie eifersüchtig sind. Mich werden die Leute auch anstarren, aber nur, weil sie mein zugeschwollenes Auge faszinierend finden.« Patricia mußte lächeln. »Na, siehst du, jetzt lächelst du schon wieder.« Er drückte sie zärtlich an sich. Arm in Arm betraten sie das Lokal, und Patricia hatte ihre Furcht völlig vergessen. Alles war so leicht, wenn John bei ihr war… Das Lokal war rustikal, aber sehr gemütlich eingerichtet. John mußte Plätze reserviert haben, denn als der beleibte Wirt sie sogleich begrüßte und sie dann in ein kleines Nebenzimmer führte, war der Tisch bereits für zwei Personen gedeckt, und das blütenweiße Tischtuch, das schwere Silberbesteck und die sechs ruhig brennenden Kerzen verliehen dem kleinen Raum eine festliche Note. »Wie schön!« entfuhr es Patricia. John rückte ihren Stuhl zurecht und setzte sich dann ihr gegenüber. Weiche, romantische Musik erklang von draußen, und einen Moment lang schloß Patricia die Augen und wunderte sich, ob sie nicht alles nur träumte. Aber es war kein Traum… Zärtlich ergriff John ihre Hände und streichelte sie. »Wie zart deine Hände sind. Die Hände einer Künstlerin.« Dann kam der Wirt und brachte original schottische Cocktails. Nachdem sie sich zugeprostet und getrunken hatten, gab John mit der selbstverständlichen Nonchalance eines Weltmannes die Bestellung auf. Patricia bewunderte John insgeheim, weil er es verstand, so gut mit Menschen umzugehen. Als er ihren Blick auf sich ruhen sah, lächelte er. »Bist du glücklich?« fragte er leise. Sie nickte. »Sehr.«
Wenig später brachte eine gertenschlanke Bedienung die bestellten Steaks, und Patricia und John aßen schweigend. Nach dem Essen lehnte Patricia sich zurück. »Das war das beste Steak, das ich jemals gegessen habe«, seufzte sie zufrieden. John legte ihr die Hand auf den Arm. Nachdem sie noch einen guten Kaffee getrunken hatten, bezahlte John und sie verließen das nette Lokal. Danach fuhren sie die kurvenreiche Straße zurück. Sie schwiegen wieder, und es war ein angenehmes Schweigen, bei dem beide wußten, daß Worte überflüssig waren. John hatte seinen Arm um ihre Schultern gelegt und fuhr langsam. Als John den Wagen schließlich vor Patricias Haus anhielt, seufzte er. »Macht der Mondschein dieses Land nicht majestätisch schön, auch dort, wo es tagsüber nur schön ist?« fragte er. Patricia wollte ihm beipflichten, aber da drehte er sich zu ihr und sah ihr tief in die Augen, bevor er sie sanft an sich zog und ihr einen liebevollen Kuß auf den Mund gab. Sie schloß ihre Augen, und obwohl sie seine fordernden Lippen auf den ihren spürte, konnte sie ihr Glück noch gar nicht fassen. »Ich liebe dich«, flüsterte er, nachdem er sich sanft von ihr losgemacht hatte: »Ich liebe dich auch«, erwiderte sie. Ganz fest schmiegte sie sich wieder an ihn, so als ob sie ihn niemals mehr loslassen wollte. »Wir sind verrückt, weißt du das?« murmelte er nach einer Weile. »Warum?« »Wir lieben uns, und gleichzeitig wissen wir, daß morgen alles vorbei sein wird. Weil ich weg muß.«
Patricia legte ihm sacht die Finger auf den Mund. »Nichts wird vorbei sein«, versicherte sie weich. »Du wirst bei mir wohnen. Und William kann dich bei deiner Arbeit unterstützen, denn er kennt sich in dieser Gegend aus wie kein anderer.« »Aber…« »Pst. Nicht reden, lieber John. Freue dich über meine kleine Überraschung.« Er nahm sie wieder in die Arme und küßte sie. Und sie gab sich verzückt dem überschäumenden Glücksgefühl hin, das sich in ihrem Herzen breitmachte. Schließlich lösten sie sich voneinander. Auf dem Weg zur Haustür bemerkte Patricia eine rasche Bewegung an einem der Fenster im ersten Stock. Sollte William sie beobachten? Wieder mußte sie daran denken, wie sehnsüchtig seine Stimme geklungen hatte, als er vorhin sagte, daß er John beneide. Im Haus war alles dunkel und still, und Patricia glaubte, daß sie sich getäuscht hatte. Die Schatten der Nacht hatten ihr etwas vorgegaukelt. Sie zeigte John sein Zimmer – es war von William bereits hergerichtet worden – und wünschte ihm dann mit einem verliebten Kuß eine gute Nacht.
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Die folgenden Wochen waren für Patricia wie ein Traum. Gemeinsam mit John unternahm sie ausgedehnte Spaziergänge. Abends fuhren sie oft nach Soltan oder in das noch weiter entfernte Städtchen Corney. Und einmal machten sie sogar einen Ausflug zum Loch Ness.
Patricia war glücklich, und sie wünschte sich nur, weiterhin so glücklich sein zu können. Aber die Würfel des Schicksals waren bereits gefallen, und Patricia mußte dies mit schmerzlicher Klarheit begreifen, als in einer Nacht Unbekannte mit faustgroßen Steinen die Fensterscheiben ihres Hauses einwarfen. Mit einem Schlag setzten sich die geheimnisvollen Ereignisse, die seit Johns Anwesenheit aufgehört hatten, wieder fort, und das, was geschehen war, drang erneut in ihr Bewußtsein ein. Mrs. Maurus’ immer noch ungeklärtes Verschwinden, die Drohung, die mit einem Dolch an ihre Haustür geheftet worden war, die seltsamen Zeichen an der Tür… Aber John beruhigte sie. »Sie wollen dir Angst einjagen, das ist alles. Sie werde nicht wagen, dir ein Haar zu krümmen, denn immerhin sind William und ich bei dir.« »Hoffentlich hast du recht«, antwortete Patricia mit abwesender Stimme. »Du wirst sehen.« John war zuversichtlich. »Ich bin der Ansicht, daß man etwas unternehmen müßte«, warf William ein, der sich bis jetzt schweigend im Hintergrund gehalten hatte. »Was wollen Sie gegen ein ganzes Dorf unternehmen?« fragte John ungehalten. »Die Leute halten zusammen wie Pech und Schwefel!« »Die Leute werden von einer Minderheit aufgehetzt.« »Aber das ist doch nicht wahr!« Patricia war überrascht. Sie wandte sich an John Fenton. »Damals, einen Tag, nachdem dich die Maskierten überfielen, warst du aber der Meinung, daß der Aberglaube der Candelaner von einigen Männern und Frauen geschürt wird. Und der Haß gegen mich resultiert aus diesem Aberglauben.«
»Ich habe meine Meinung inzwischen geändert«, versetzte er heftig. »Aber bitte, wenn du unbedingt darauf bestehst, daß wir etwas gegen ein ganzes Dorf unternehmen…« William räusperte sich. »Sie und Miss Patricia könnten mit dem Bürgermeister reden. Ich traf ihn, als ich in Candelan Miss Patricias Post abholte. Er scheint mir ein gerechter Mann zu sein.« Patricia nickte. »Diesen Eindruck hatte ich auch.« »Du willst also tatsächlich nach Candelan und mit diesen Verrückten reden?« »Ja«, antwortete Patricia entschlossen. »Und du mußt mich begleiten, Liebster!« »Hast du vergessen, daß sie mir gedroht haben, mich zu töten, wenn ich mich wieder in Candelan blicken lasse?« »Nein, das habe ich nicht vergessen.« Patricia ergriff Johns Hand und drückte sie beschwichtigend. »Aber wir müssen ein Wagnis eingehen, wenn wir in Zukunft in Ruhe und Frieden hier leben wollen«, mahnte sie eindringlich. John zögerte mit der Antwort. Aber schließlich lächelte er. »Also gut, ihr beide habt mich überzeugt. Wann sprechen wir mit dem alten McCoy?« »So bald wie möglich, damit uns der Mut nicht wieder verläßt«, fügte sie lächelnd hinzu. »Dann würde ich vorschlagen, daß wir morgen in aller Frühe fahren.« »Gut«, pflichtete Patricia John bei. William leerte sein Glas und erhob sich. »Es wird erst in einigen Stunden hell und ich denke, daß es das beste sein wird, wenn wir versuchen, noch ein bißchen zu schlafen.« Patricia und John nickten gleichzeitig. John begleitete Patricia zur Tür ihres Schlafzimmers, und bevor sie eintrat, flüsterte er: »Ich hoffe, daß das, was wir morgen tun wollen, richtig ist.«
»Das hoffe ich auch, John.« Sie seufzte und lehnte sich gegen ihn. Er strich ihr sanft über das Haar, schließlich löste er sich von ihr. »Geh nur zu Bett und schlafe gut.« John Fenton wartete, bis sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte. Patricia legte sich in ihr Bett, aber sie konnte in dieser Nacht kein Auge mehr zutun. Als der Morgen graute, erhob sie sich und fühlte sich wie gerädert. Sie machte sich fertig, dann ging sie in die Küche, um das Frühstück zu bereiten. Etwas später kam John und begrüßte sie mit einem Kuß auf den Mund. »Das riecht ja herrlich!« rief er aus und setzte sich an den gedeckten Tisch. Patricia lächelte und gab Schinken und Ei auf seinen Teller. »Der Kaffee ist auch gleich fertig«, bemerkte sie eifrig. Wenig später gesellte sich auch William hinzu, und sie frühstückten gemeinsam. Sie unterhielten sich über Nebensächlichkeiten, denn jeder vermied es, das Gespräch auf die Fahrt nach Candelan zu bringen. John Fenton gab sich überraschenderweise gutgelaunt und aß, ebenso wie William, mit gutem Appetit, während Patricia bereits nach wenigen Bissen satt war. Nach dem Essen lehnte sich John zurück, zündete sich eine Zigarette an. Patricia war es, die das Schweigen brach. »Ich würde vorschlagen, daß wir uns auf den Weg machen.« Ihre Stimme zitterte leicht, und sie gestand sich ein, daß sie Angst hatte, nach Candelan zu gehen. Sie hoffte, daß es John und William nicht bemerkten, aber John warf ihr einen vielsagenden Blick zu und erhob sich dann.
»Ich hole die Regenmäntel«, bot er sich an und ging aus der Küche. William lächelte. »Es wird gutgehen, Miss Patricia«, beruhigte er sie.
*
»Der Bürgermeister muß Ihnen einfach glauben. Er wird dafür sorgen, daß die Unruhestifter Sie nicht mehr belästigen.« Patricia nickte stumm. Einige Minuten später saß sie mit John im Auto, und sie fuhren die Straße entlang, die ins Dorf führte. Vereinzelt schwebten Nebelfetzen dicht über dem Boden, und die Landschaft wirkte wie verzaubert. Sie wandte sich an John, der ein sehr ernstes Gesicht machte. »Du glaubst nicht, daß wir etwas erreichen, wenn wir mit Mr. McCoy sprechen«, stellte sie ruhig fest. »Ich halte es für unwahrscheinlich, daß ein Gespräch alle bisherigen Vorbehalte und Aversionen beseitigt.« Sie lächelte traurig. »Es freut mich, daß du so ehrlich zu mir bist.« Er warf ihr einen seltsamen Seitenblick zu, entgegnete aber nichts. Patricia beschloß, das Thema zu wechseln. »Was hältst du von William?« fragte sie. John lächelte kühl. »Er ist dir treu ergeben«, antwortete er. »Aber mich scheint er nicht sehr zu mögen. Manchmal kommt es mir sogar so vor, als ob er mich bespitzeln würde.« »Wie kommst du denn auf diese Idee?« »Er ist immer da, wo ich auch bin. Und dann sieht er mich so seltsam an, wenn er sich unbeobachtet glaubt…« John unterbrach sich, schaltete in den ersten Gang und wich einem
großen Schlagloch aus. Dann fuhr er fort zu sprechen. »Weißt du eigentlich, woher er kommt?« »Warum sollte ich das wissen?« entgegnete Patricia heftig. »Nun, vielleicht ist William gar nicht so harmlos, wie er tut. Man sollte sich bei den entsprechenden Stellen über ihn erkundigen.« »Hör auf, so von William zu sprechen!« protestierte sie empört. »Ich vertraue ihm, und du solltest das auch tun, denn immerhin war es William, der mich auf den Gedanken brachte, dich einzuladen, bei mir zu wohnen.« »Das wußte ich nicht«, sagte John überrascht. »Jetzt weißt du es«, antwortete sie spitz. John sah sie kurz an, und Patricia spürte, daß er einen inneren Kampf mit sich ausfocht. Schließlich bemerkte er lakonisch: »Du wolltest meine Meinung über William hören.« Sie nickte. »Ja, aber du hast nur haltlose Verdächtigungen geäußert, John. Du tust ihm unrecht.« Inzwischen hatten sie Candelan erreicht, und John verlangsamte die Geschwindigkeit. Der Wagen rollte über holpriges, nasses Kopfsteinpflaster, bis sie vor dem hübschen Haus anhielten, das der Bürgermeister mit seinem Sohn bewohnte. »Wir sind da«, stellte John überflüssigerweise fest, als er den Motor abstellte. »Du bist auf mich böse.« Patricia blickte ihn ernst an. »Nein«, sagte er. »Nur beunruhigt, weil du diesem Krüppel offenbar blindlings vertraust – mehr als mir, wie es scheint.« Ohne ihre Entgegnung abzuwarten, stieg er aus. Patricia folgte ihm nachdenklich. John war in den letzten Tagen mürrisch und verschlossen geworden, und sie konnte nicht verstehen, warum er sich so drastisch verändert hatte. War es die Sorge um ihr und sein Leben? Oder war er etwa eifersüchtig auf William?
Vor dem Haus des Bürgermeisters standen zwei Frauen, die sich angeregt unterhalten hatten. Als sie aber Patricia und John erkannten, verstummten sie abrupt. Patricia grüßte freundlich, erhielt jedoch keine Antwort. Sie glaubte, die unsichtbare Mauer fast greifen zu können, die die beiden Frauen zwischen sich und ihr aufrichteten. Ihr Schweigen war wie ein undurchdringlicher Panzer. John stand inzwischen vor der Haustür des Bürgermeisters und klingelte, und Patricia folgte ihm schnell nach. Es dauerte eine Weile, bis sich im Haus etwas rührte, und Patricia ahnte, daß die beiden Frauen jetzt neugierig herüberstarrten. Der Sohn des Bürgermeisters öffnete. Er war sichtlich überrascht. »Guten Morgen, Patrick«, begrüßte ihn John mit fester Stimme. »Wir möchten gern mit Ihrem Vater sprechen.« Patrick McCoy nickte. »Kommen Sie doch bitte herein«, lud er sie höflich ein und führt sie in eine große Halle, die Patricia an die düstere Empfangshalle des Stuart-Hauses in London erinnerte. Patrick nahm ihnen die Trenchcoats ab, bevor er sie bat, einen Moment zu warten. »Vater ist in der Bibliothek. Ich werde Sie anmelden. Er kann nämlich sehr ungehalten sein, wenn man ihn dort stört«, entschuldigte er sich. Patricia warf John einen schnellen Blick zu. Er lächelte knapp und strich ihr über das Maar. Nach zwei Minuten kam Patrick wieder und brachte sie in die Bibliothek. Als sie eintraten, erhob sich Geoffrey McCoy aus einem Lehnstuhl und begrüßte sie mit distanzierter Höflichkeit. Dann deutete er auf die ihm gegenüberstehende Couch. »Setzen Sie sich.« Und im gleichen Atemzug wandte er sich an
seinen Sohn, der abwartend an der Tür stand. »Ich brauche dich jetzt nicht mehr, Patrick.« Der Bürgermeister von Candelan war ein mittelgroßer, hagerer Mann mit einem schmalen Gesicht und einem imponierenden grauen Schnurrbart, der ihn älter machte, als er tatsächlich war. Sein Haar war ebenfalls ergraut und an manchen Stellen stark gelichtet. »Sie kommen wegen des Vorfalls in der vergangenen Nacht«, stellt McCoy fest, nachdem sich Patricia und John gesetzt hatten. Johns Lächeln verstärkte sich. »Sie haben bereits davon gehört?« Seine Stimme klang spöttisch. Der Bürgermeister überhörte Johns Äußerung. »Ich hoffe, daß niemandem ein Leid geschehen ist«, sagte er steif zu Patricia. »Noch nicht«, erwiderte sie bitter. »Aber ich fürchte, daß sich der Vorfall, wie Sie es nennen, Mr. McCoy, wiederholen wird. Die Leute, die gestern nacht nur Fensterscheiben zerstörten, können schon in dieser Nacht wiederkommen, diesmal um zu töten… Sie sind aufgehetzt. Irgend jemand in Candelan muß mich abgrundtief hassen, und zwar grundlos, denn ich habe keinem Menschen etwas getan.« McCoy räusperte sich. Unbeirrt sprach Patricia weiter: »Herr Bürgermeister, man schreckt nicht einmal vor massiven Morddrohungen gegen mich oder Mr. Fenton zurück.« Ihre Wangen glühten. Sie berichtete McCoy von den bisherigen Geschehnissen, die gegen sie oder John gerichtet waren. »Und daß das unsinnige Gerücht umgeht, ich sei eine Hexe und für schlechtes Wetter, Viehsterben, harmlose Kinderkrankheiten und vieles andere Unerfreuliche verantwortlich, das wissen Sie sicherlich auch. Hoffentlich glauben wenigstens Sie nicht daran«, beendete Patricia hitzig ihren Bericht.
»Ich habe davon gehört«, gab Geoffrey McCoy zu. »Mr. Marten von der Soltaner Polizei hat sich mit mir unterhalten.« »Und dennoch unternehmen Sie nichts?« warf John scharf ein. Der Bürgermeister zuckte resigniert die Schultern. »Was sollte ich unternehmen? Ich bin kein Übermensch, der den Wind einfangen kann.« »Sie sind der Bürgermeister von Candelan und demnach für das Leben und die Sicherheit aller hier lebenden Menschen verantwortlich«, beharrte John. Patricia setzte hinzu: »Sprechen Sie mit den Bürgern von Candelan, Mr. McCoy, bitte…« Sie sah ihn aus großen Augen flehend an. Der Bürgermeister erhob sich und ging, die Hände auf dem Rücken verschränkt, im Zimmer auf und ab. Schließlich blieb er vor dem Fenster stehen und starrte düster hinaus. Patricia spürte, wie es in dem Mann arbeitete. John trat zu ihm und ergriff ihn hart am Arm. »Mr. McCoy, was überlegen Sie? Es geht darum, Menschenleben zu schützen. Könnten Sie es vor Ihrem Gewissen verantworten, an Miss Lauerdales, Mr. Coogans oder meinem Tod indirekt mitschuldig zu sein?« McCoy seufzte. Einen kurzen Moment blickte er John Fenton merkwürdig an, dann Patricia. Ihr war plötzlich, als wollte er ihr etwas Wichtiges mitteilen, etwas, das ausschließlich für ihre Ohren bestimmt war. John mußte diesen Blick auch bemerkt haben, er erhob sich abrupt. »Ich sehe, daß Sie uns nicht helfen wollen«, beendete er das Gespräch schroff. Zu Patricia gewandt fuhr er fort: »Es wird besser sein, wir gehen. Hier vergeuden wir nur unsere Zeit.« Patricia zögerte, aber dann folgte sie John, der bereits aus der Bibliothek gestürmt war.
An der Tür holte sie der Bürgermeister ein. Er legte Patricia die Hand auf den Arm und blickte ihr in die Augen. »Ich werde alles, was in meiner Macht steht, für Sie tun«, versprach er leise. Patricia konnte nicht sofort antworten, sie war zu überrascht. »Danke«, flüsterte sie schließlich bewegt. »Aber warum…« Der Bürgermeister winkte ab. »Stellen Sie jetzt keine Fragen. Hüten Sie sich vor…« In diesem Moment kehrte John zurück, in der linken Hand hielt er Patricias Regenmantel. »Warum kommst du denn nicht?« fragte er unwillig. »Mr. McCoy hat mir gerade versichert, daß er uns helfen wird.« John Fenton blickte den Bürgermeister starr und, wie es Patricia schien, feindselig an. »Sie brauchen nichts zu sagen, Mr. Fenton«, versetzte Geoffrey McCoy. Dann ging er in die Bibliothek zurück und ließ Patricia und John einfach stehen. »Du hättest dich ruhig bedanken können«, warf Patricia John vor. John zuckte die Schultern. »Weißt du denn, ob er seine Worte auch ehrlich meint? Für meinen Geschmack hat der Alte ein wenig zu lange überlegt.« »Ein seltsamer Mann«, murmelte Patricia. »Er bat mich, daß ich…« Sie brach ab, um ihre Gedanken zu ordnen. Und dann beschloß sie, John nichts davon zu erzählen, daß der Bürgermeister sie hatte warnen wollen. »Gehen wir«, beschloß sie schließlich. Auf dem Weg nach Hause stellte sie sich immer und immer wieder dieselbe Frage: Vor wem oder was hatte McCoy sie warnen wollen? Und warum hatte er die Warnung nicht in Johns Gegenwart ausgesprochen?
Sie mußte unbedingt noch einmal mit dem Bürgermeister sprechen, und zwar unter vier Augen. Gleich morgen werde ich ihn aufsuchen, nahm sie sich vor. Aber dazu sollte es nicht mehr kommen, denn die Ereignisse fingen an sich zu überstürzen.
*
John kam die Treppe herunter und machte eine bedauernde Geste. »Er ist weg«, sagte er. Es lag eine ungeheure Endgültigkeit in dieser lapidaren Feststellung. Patricia nickte und setzte sich auf die unterste Stufe der Treppe. Verzweifelt überlegte sie, was während ihrer Abwesenheit geschehen war. William war spurlos verschwunden, und das Haus war offenbar durchsucht worden, denn eine fürchterliche Unordnung herrschte überall. Sämtliche Spiegel waren mutwillig zerstört worden. »Das ist Coogans Werk!« schimpfte John aufgebracht. »Ich habe dich vor diesem hinterhältigen Burschen gewarnt, aber du wolltest ja nicht auf mich hören.« Patricia seufzte tief. »Aber warum sollte er das getan haben?« murmelte sie schwach und schüttelte den Kopf. »Er war mein Freund, er hatte mich gern…« »Wahrscheinlich war er daher auf mich eifersüchtig«, vermutete John. Patricia fiel Williams’ sehnsüchtige Bemerkung ein. »Ich beneide Sie unendlich«, hatte er damals gesagt, als John sie zum erstenmal abgeholt hatte. Sie erhob sich. »Du wirst recht haben«, flüsterte sie. »Natürlich habe ich recht!« John lachte boshaft. »Wer sollte das hier sonst getan haben?«
Patricia warf ihm einen gepeinigten Blick zu. »Du wirst dich damit abfinden müssen, daß er dich getäuscht hat«, vermerkte John und trat vor sie. Sanft umarmte er sie und küßte sie dann. Patricia schmiegte sich aufschluchzend an ihn. »Oh, John, ich bin so verzweifelt, ich…« »Es wird wieder alles gut werden. Vielleicht kann uns der Bürgermeister tatsächlich helfen«, unterbrach er sie sanft. Patricia schloß die Augen. Lange Zeit standen sie engumschlungen, aber dann schien John plötzlich etwas einzufallen, und er löste sich von ihr. »Ich werde nach Candelan fahren und mich noch einmal mit dem Bürgermeister unterhalten«, entschied er. »Vielleicht kann er mir helfen, diesen William zu fangen.« Patricia schaute ihn besorgt an. »Warum willst du unbedingt, daß er gefangen wird?« »Er ist gefährlich. Das hast du hoffentlich inzwischen begriffen«, entgegnete John hart. »Und für das, was er hier angerichtet hat, hat er Strafe verdient.« »Du bist verbittert, John!« »Mag sein«, gab er lächelnd zu, sogleich aber wurde er wieder ernst. »Aber ich habe auch Angst. Ich glaube nämlich, daß William Coogan es war, der die Candelaner gegen dich und mich aufgehetzt und Mrs. Maurus beseitigt hat. Und nun lauert er irgendwo darauf, auch dich noch töten zu können. So, wie er es von Anfang an geplant hatte.« »Ich kann es nicht glauben«, hauchte Patricia. »Du wirst es glauben müssen«, sagte John bekümmert. »Du selbst hast mir erzählt, daß William damals, als die ominöse Drohung an deine Haustür geheftet wurde, nirgendwo im Haus zu finden war. Und einige Minuten später war er es, der zufällig Mrs. Maurus’ Pillendöschen fand. Das sind zu viele Zufälle für meinen Geschmack, liebste Patricia.«
»Aber wer hat dann die Fensterscheiben gestern nacht eingeworfen? William war doch hier!« »Das werden seine Komplicen aus Candelan gewesen sein.« »Du meinst…« »Ich bin mir ziemlich sicher. Denk an die fünf Maskierten, die mich zusammengeschlagen haben!« Patricia biß sich auf die Lippe. Sie versuchte, logisch zu denken, was ihr jetzt einigermaßen schwer fiel, denn sie war fahrig und viel zu nervös. Ihre Gefühle waren in Aufruhr. Aber schließlich kam sie zu dem Schluß, daß John recht hatte. Alles sprach gegen William. Und doch, irgend etwas tief in ihrem Herzen sträubte sich, den Krüppel für einen eiskalten, gnadenlosen Mörder zu halten. John hatte inzwischen seinen Regenmantel geholt. »Bitte, laß mich mit dir gehen«, bat Patricia kurz entschlossen. »Ich kann dich nicht mitnehmen, Liebling«, wehrte er grimmig ab. Patricia wagte nicht, ihm zu widersprechen. Nachdem John ihr noch einmal tief in die Augen gesehen hatte, ging er. Die Tür fiel mit einem dumpfen Laut hinter ihm ins Schloß. Und kurze Zeit später hörte Patricia, wie er wegfuhr. Ein unbehagliches Gefühl machte sich in ihr breit. Sie war nun ganz allein, und John würde frühestens in einer Stunde zurück sein. Wenn William tatsächlich wahnsinnig war und, wie John vermutete, sie töten wollte, dann würde er vielleicht das Haus beobachten… Und jetzt, nachdem John weggefahren war, würde er sicherlich Mittel und Wege finden, ins Haus einzudringen.
Patricias Herz begann vor Aufregung rascher zu klopfen. Sie durfte nicht allein hierbleiben! Sie eilte über den Flur und aus dem Haus. Johns Wagen war schon ziemlich weit entfernt. »John!« rief Patricia und gestikulierte mit den Armen. Sie rannte dem Jeep nach, und ununterbrochen rief sie dabei Johns Namen. Aber er schien sie nicht zu hören, und bald war der Jeep nicht mehr zu sehen. Patricia war den Tränen nahe. Warum hatte John nicht angehalten? Er mußte sie doch gehört oder gesehen haben! Während sie langsam ins Haus zurückging, fragte sie sich, ob sie sich in John getäuscht hatte. Mißbrauchte er das Vertrauen, das sie ihm entgegenbrachte? Spielte er mit ihr und ihrer Liebe, so wie ihr Mann mit ihr gespielt hatte? Sie konnte und wollte es nicht glauben. Aber hatte sie sich nicht auch in William getäuscht? In Patricias Herz machte sich ein Gefühl unsagbarer Traurigkeit breit. Im Haus verschloß sie die Tür sorgfältig hinter sich. Dennoch fühlte sie sich nicht sicher… Sie legte sich auf die Couch. Sie mußte wieder an das Gespräch mit dem Bürgermeister denken, das erst wenige Stunden zurücklag. Vor wem hatte McCoy sie warnen wollen? Ihr Herz machte einen jähen Sprung, als draußen ein greller Blitz aufzuckte und das Firmament erhellte. Ein mächtiger Donnerschlag folgte, und dann begann es übergangslos in Strömen zu regnen. Sie sandte ein Stoßgebet zum Himmel, daß John bald zurückkommen möge. Aber er kam nicht. Die Stunden verstricken im Schneckentempo, und es wurde Abend. Draußen regnete es noch immer. Und dann hörte sie, daß die Haustür aufgeschlossen wurde! Aber sie hatte kein Motorengeräusch gehört. Es konnte also nicht John sein, der da kam…
Patricia saß wie erstarrt. Panische Angst kroch in ihr hoch. Doch sie überwand diese Angst und erhob sich. Sie ging zur Tür und preßte ihr Ohr dagegen. Sie wagte kaum zu atmen, als sie hörte, wie die Haustür heftig geschlossen wurde. Schritte näherten sich rasch. Dann wurde die Klinke der Wohnzimmertür niedergedrückt… Patricia wich zurück und stieß einen schrillen, entsetzten Schrei aus. John Fenton stand in der Tür und blickte sie verwirrt und ärgerlich an. »Aber Patty, was ist denn?« fragte er etwas hilflos. »Du bist ja ganz blaß und zitterst!« »Du bist es, John!« Patricias Stimme versagte. Sie war nicht im mindesten darauf gefaßt gewesen, daß John so plötzlich vor ihr stehen würde. Er nahm sie in seine starken Arme und redete beruhigend auf sie ein. Patricia zitterte am ganzen Leib. »Wo warst du, John? Warum kommst du erst jetzt?« wollte sie stammelnd wissen. Tränen brannten in ihren Augen. John blickte sie ernst an. »Ich werde dir alles erklären, Liebling. Nachher. Wir müssen uns jetzt beeilen. Pack nur das Notwendigste zusammen!« Sie starrte ihn verständnislos an. »Stelle jetzt keine Fragen. Wir müssen so schnell wie möglich von hier verschwinden. Der Bürgermeister ist ermordet worden, und die aufgebrachte Meute wird bald hier sein. Sie glauben, daß du einen Mörder gedungen hast!« »Nein!« flüsterte sie bebend. »Es ist die Wahrheit. Leider. Komm jetzt endlich!« John packte Patricia grob am Arm und zog sie mit sich. Sie ließ es geschehen, denn sie war wie betäubt.
John packte hastig ihre Sachen zusammen. »Haben wir auch nichts vergessen? Geld, Sparbücher oder wichtige Unterlagen?« fragte er schließlich. Patricia schüttelte den Kopf. Bevor sie das Haus verließen, schlüpfte Patricia rasch in ihren Regenmantel und band sich ein Kopftuch um. Dann eilten sie in die stürmische Nacht hinaus.
*
»Der Jeep steht dort hinten. Wir sind gleich da!« Patricia entgegnete nichts. Sie bemühte sich, mit John Schritt zu halten. Endlich hatten sie den Wagen erreicht. Patricia war ganz atemlos, und ihr Herz hämmerte. »Steig endlich ein!« drängte John ungehalten. Patricia gehorchte. Er startete den Wagen und fuhr in nördlicher Richtung los. »Wir müssen einen kleinen Umweg machen«, kommentierte er beiläufig, als er ihren erstaunten Blick bemerkte. »Soltan liegt aber in entgegengesetzter Richtung.« »Ich will nicht nach Soltan!« »Aber…« »Halt endlich deinen Mund!« zischte er wütend. Patricia ließ sich nicht einschüchtern. »Was hast du vor?« fragte sie tonlos. John warf den Kopf zurück und lachte schallend. Dann hielt er den Wagen an und drehte sich zu ihr. »Ich werde dich töten«, sagte er mit unbewegter Stimme. Ungläubig und vor Grauen fast gelähmt, starrte sie ihn an. »Du?« stöhnte sie.
»Ja, ich«, antwortete er. »Seltsam, daß du mich nicht durchschaut hast. Aber bekanntlich macht Liebe blind und dumm.« Er lachte spöttisch. »Eigentlich sollte deine Hinrichtung erst in einer Woche stattfinden. Nachdem du aber heute mit dem Bürgermeister gesprochen hast und er dich sicherlich gewarnt hat, war ich gezwungen, sofort zu handeln.« »Der Bürgermeister wußte von deinem Plan?« »Er ahnte etwas, ja. Aber er konnte nichts gegen mich unternehmen. Ich hatte ihn in der Hand, weil ich genügend Beweise gegen ihn besaß. Er hatte vor Jahren nämlich sein Haus selbst angezündet und so seine Frau getötet. Dem alten Narren blieb nichts anderes übrig, als mir der Form halber zu verbieten, weiterhin in Candelan zu bleiben und die Bürger gegen dich aufzuhetzen. Da du aber so freundlich warst, mich einzuladen, bei dir zu wohnen, konnte mir das gerade recht sein.« »Aber die Maskierten, von denen du mir erzählt hast… Wer hat dich denn so furchtbar geschlagen?« John Fenton schaute sie mitleidig an. »Das waren von mir bezahlte Leute. Ich dramatisierte meine Verbannung aus Candelan natürlich. Schließlich mußte alles so überzeugend und echt wie möglich aussehen.« Der Wind rüttelte an den Türen des Jeeps, und die Fensterscheiben klapperten. »Und warum willst du mich töten?« stieß Patricia heraus. »Diese Frage habe ich erwartet.« John Fenton lachte wieder. »Sie ist einfach zu beantworten. Einerseits töte ich dich, weil ich schon lange plante, einen perfekten Mord zu begehen. Und andererseits… Nun, ich war schon immer dafür, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. Und als Colin mich bat, ihm einen Gefallen zu tun…« »Colin?« hauchte Patricia fassungslos.
John nickte. »Du hast schon richtig verstanden. Dein lieber Mann ist Initiator des Ganzen. Er ist nämlich in Schwierigkeiten. Er braucht Geld.« Patricia war am Ende ihrer Kräfte. Zitternd legte sie ihre Hände wie haltsuchend auf das kalte Metall des Armaturenbretts. »Colin steckt also dahinter. Ich hätte es mir denken können. Immer ahnte ich, daß er mich eines Tages findet…«, keuchte sie. John blickte sie an. In seinen grünen Augen war ein kaltes Funkeln. »Ja, du hättest es dir denken können«, echote er. »Aber nun ist es zu spät, meine Liebe.« Patricia starrte ihn schweigend an. Sie konnte es nicht fassen, wie sehr er sich verändert hatte. Nichts an diesem brutalen, gnadenlosen Mann erinnerte sie mehr an den John Fenton, den sie geliebt hatte. Und da fiel endlich die Starre von ihr. Blitzschnell drehte sie sich um und wollte aus dem Jeep stürzen, aber John Fenton war schneller. Er packte sie an beiden Armen und zerrte sie zurück. Verzweifelt versuchte Patricia sich loszureißen, doch er hielt sie mit eisernem Griff. Dann schlug er ihr brutal ins Gesicht, und sie sah grell leuchtende Sterne vor ihren Augen tanzen. John lockerte seinen Griff und zog einen Strick unter dem Sitz hervor. »Damit du nicht auf dumme Gedanken kommst, Liebling«, bemerkte er lächelnd, während er sie fesselte. Patricia wurde plötzlich ganz ruhig. »Man wird dich für deine Tat zur Verantwortung ziehen, John. Du entkommst der Gerechtigkeit nicht«, warnte sie und war bemüht, das Zittern in ihrer Stimme zu verbergen. John Fenton lachte höhnisch. »Du vergißt, daß alles sehr lange und gut vorbereitet worden ist.
Die Polizei weiß zum Beispiel, daß die Candelaner dich haßten, daß sie dich schon bedroht haben. Du selbst hast diesem Inspektor Marten den Drohbrief gegeben, den ich an deine Tür geheftet habe. Erinnerst du dich? Wenn du also jetzt zerschmettert am Fuße des Teufelsfelsens gefunden wirst, dann wird die Polizei annehmen müssen, daß du von den Candelanern getötet worden bist. Und sämtliche Indizien werden diese Annahme untermauern. Immerhin sind die einfältigen Dorf-Tölpel zur Zeit tatsächlich unterwegs, um dich zu töten. Sie wollen den Bürgermeister rächen…« »…den du umgebracht hast!« ergänzte Patricia eisig. »Natürlich«, gab Fenton unumwunden zu. »Der Alte mußte sterben, weil er sich entschlossen hatte, dir zu helfen, und weil ich wollte, daß der Haß der Leute gegen dich steigt. – Ich stand unter Zeitdruck…« John unterbrach sich, hielt den Jeep an und zerrte Patricia heraus. »Und nun machen wir einen Spaziergang zum Teufelsfelsen hinauf.« Er packte sie erneut beim Arm und zog sie mit sich. »Wenn du mich schon tötest, erzähle mir wenigstens alles. Was geschah mit Mrs. Maurus?« John zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht. Ihr Verschwinden kam uns aber sehr gelegen.« »Und welche Rolle spielte William in deinem Spiel?« »Überhaupt keine. Der Krüppel war mir im Wege. Meine Freunde haben ihn überwältigt, während wir beide in Candelan waren, um mit McCoy zu sprechen. William wird in den Flammen deines Hauses sterben, und auch sein Tod wird der blinden Rachsucht der Candelaner angelastet werden.« Bittere Tränen schossen Patricia in die Augen. »Du Teufel!« schrie sie angewidert. »Schrei nur!« spöttelte John. »Es wird dir nicht helfen.« Er begann abermals schallend zu lachen.
Patricia schwieg. In wenigen Minuten würden sie das Ende des Hohlweges erreicht haben. Der Wind zerrte immer wütender an ihren Kleidern, je höher sie stiegen. Und dann standen sie auf dem Plateau. In diesem Augenblick zuckte ein greller Blitz am Himmel auf, und gleich darauf folgte ein ohrenbetäubender Donnerschlag. Patricia schrie gellend auf. Verzweifelt wand sie sich, und es gelang ihr, John in die Hand zu beißen. Er stieß einen erbitterten Fluch aus. Patricia konnte sich losreißen. Sie wollte an ihm vorbei, doch sie hatte seine Reaktionsschnelle unterschätzt. Mit einem gewaltigen Satz warf er sich auf sie. Patricia stürzte zu Boden. Der Abgrund war nur wenige Meter entfernt… Voller Verbissenheit setzte sich Patricia zur Wehr, wie eine Irre schlug sie – trotz ihrer gefesselten Hände – um sich. Und plötzlich ließ John Fenton von ihr ab. Patricia richtete sich keuchend auf. Ihre Augen weiteten sich ungläubig, als sie sah, daß eine kleine, bucklige Gestalt mit John Fenton rang. William Coogan war ihr zur Hilfe geeilt! Die beiden Männer schlugen voller Haß aufeinander ein. Es war klar, daß der Krüppel gegen den muskulösen John Fenton keine Chance hatte. Da stolperte William… Fenton setzte ihm nach, warf sich auf ihn und würgte ihn. Plötzlich tauchte eine zweite Gestalt auf. Patricia glaubte, ihren Augen nicht trauen zu dürfen. Es war Inspektor Marten! Der Polizeibeamte riß Fenton herum und versetzte ihm einen gezielten Fausthieb ans Kinn. Fenton fiel um, aber er blieb nicht liegen. »Geben Sie auf, Fenton!« befahl der Inspektor mit schneidender Stimme. »Ihr Spiel ist aus!«
»O nein!« schrie Fenton und warf sich herum. In seiner rechten Hand hielt er einen Revolver. »Ich werde euch alle töten! Und die Candelaner werden es büßen müssen. Sie sind nämlich unterwegs, um Patricia zu töten… Ich bin ihnen aber zuvorgekommen…« Fenton kicherte irr. »Niemand wird mich verdächtigen. Es ist ganz unmöglich… Ich habe so lange geplant und gewartet. Und der Plan ist gut, sehr gut…« »Sie sind wahnsinnig!« rief William entsetzt. Fenton fuhr herum. »Das darfst du nicht sagen, du buckliger, böser Mann!« Langsam ging Fenton auf William zu. William konnte nicht zurückweichen, denn direkt hinter ihm war der Abgrund. Fenton legte den Revolver an. Aber da warf sich Patricia todesmutig gegen ihn. Ein Schuß löste sich, aber er verfehlte William Coogan. Fenton ließ den Revolver fallen. Mit einem tierischen Aufschrei stürzte er auf William zu, um ihm den tödlichen Stoß zu versetzen. Aber schlangengleich wand sich der Bucklige zur Seite, und John Fenton taumelte über den Rand des Abgrunds. Inspektor Marten trat zu Patricia und legte seinen Arm um ihre Schultern. »Alles in Ordnung, Miss Lauerdale?« Sie nickte wie betäubt. »Ich glaube, daß Sie und William mir einiges zu erklären haben«, sagte sie schließlich, als sie sich einigermaßen von ihrem Schock erholt hatte und ihre Fesseln gelöst waren. Der Inspektor nickte und lächelte und sah zuerst zu William, der sich inzwischen schweigend zu ihnen gesellt hatte, dann zu Patricia. »Eigentlich wollte ich Sie heute verhaften. Der Dolch, den Sie mir damals nämlich zur Überprüfung überließen, stammte
eindeutig aus London. Ich hegte also den Verdacht, daß Sie mich mit der Geschichte von den feindlichen Candelanern von Ihrer Tat ablenken wollten. Als ich in Candelan ankam, war das ganze Dorf in Aufruhr, weil der Bürgermeister überfallen und schwer verletzt worden war. Der alte McCoy konnte mir aber noch erzählen, daß John Fenton ihn hatte töten wollen. Daraufhin fuhr ich sofort zu Ihrem Haus. Ich ahnte, was der Kerl nun vorhatte. Zehn starke Männer aus Candelan begleiteten mich. Wir kamen gerade noch rechtzeitig, um Fentons Handlanger daran zu hindern, Feuer zu legen. Als wir das Haus durchsuchten, fanden wir Mr. Coogan. Er war es, der mich beschwor, hier oben nach Ihnen zu suchen.« Patricia ging zu dem Buckligen und umarmte ihn. »Danke«, flüsterte sie ergriffen. »Und jetzt ist der Teufel tot«, stellte William grimmig fest. »Niemand wird Ihnen von nun an mehr ein Leid antun wollen.« »John Fenton war ein sehr kranker Mann. Er wußte nicht, was er tat. Er wurde nur benutzt…« »Was sagen Sie da?« Inspektor Marten starrte sie verblüfft an. »Fenton sollte mich im Auftrage meines Mannes Colin Stuart beseitigen.« »Sie sind verheiratet?« fragten William und Inspektor Marten wie aus einem Munde. »Ja«, antwortete Patricia müde. »Aber ich werde mich scheiden lassen. Das ist alles, was ich tun kann. Colin wird straffrei ausgehen, denn ich habe keine Beweise gegen ihn. Nur die Aussage von John Fenton.« Inzwischen hatten sie den Jeep des Inspektors erreicht, der auf der anderen Seite der Hängebrücke stand. Und da erblickte Patricia die Bürger Candelans.
Stumm standen sie im strömenden Regen und schauten verlegen zu Boden. Alle hatten die Schuld erkannt, die sie durch ihr Mißtrauen und den blinden Aberglauben gegen Patricia auf sich geladen hatten. Schließlich löste sich eine muskulöse Gestalt aus der schweigenden Menge. Es war Mr. Corndale. »Miss Patricia… Ich – ich wollte mich bei Ihnen entschuldigen. Ich…« Der Mann unterbrach sich und blickte sich wie hilfesuchend um. Patricia folgte seinem Blick und erstarrte, als sie – Elisabeth Maurus gewahrte. »Mrs. Maurus?« hauchte sie völlig überrascht. Die untersetzte Frau eilte zu ihr und umarmte sie schluchzend. »Ich bin so froh, daß Ihnen nichts geschehen ist, Miss Patricia. Ewig hätte ich mir Vorwürfe gemacht«, stammelte sie. »Aber, ich verstehe nicht… Mrs. Maurus, wo waren Sie?« »Mein Bruder hielt mich gefangen. Ich ging an jenem Tage zu ihm, um ihm meinen Entschluß mitzuteilen, daß ich doch weiter für Sie arbeiten würde. Er wurde sehr böse und sperrte mich ein.« »Dann waren Sie derjenige, der das Pillendöschen hinterlegte und Inspektor Marten anonym anrief, um seinen Verdacht auf mich zu lenken?« Mr. Corndale nickte. »Aber ich hatte nichts mit Mr. Fenton zu tun. Ich wußte nicht, daß er…« »Bitte, verzeihen Sie ihm – und uns allen«, bat Mrs. Maurus leise. Ihr Blick wanderte langsam zu Patricias Gesicht. Es zerriß ihr fast das Herz. »Jetzt ist alles gut, liebe Mrs. Maurus«, sagte Patricia weich. »Ich danke Ihnen von ganzem Herzen«, flüsterte Mrs. Maurus. Dann fügte sie feierlich hinzu: »Sie werden es nicht bereuen, Miss Patricia, denn ich glaube, daß uns allen
klargeworden ist, daß es – außer in Romanen und Märchen – keine Gespenster und Hexen gibt.« In diesem Augenblick ließ ein gewaltiger Donnerschlag – wie zur Bekräftigung dieser Worte – die Erde erzittern.