MARTIN CAIDIN
und die weiße Hexe
Roman Deutsch von Bettina Zeller
GOLDMANN
Eine Jahrhunderte alte Karte von unschätz...
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MARTIN CAIDIN
und die weiße Hexe
Roman Deutsch von Bettina Zeller
GOLDMANN
Eine Jahrhunderte alte Karte von unschätzbarem Wert ist verschwunden. Auf ihr soll der Weg zu einem sagenhaften antiken Goldschatz verzeichnet sein, in dem magische Münzen aus den ersten Tagen der Christenheit vermutet werden. Als Indiana von dieser Karte erfährt, steht sein Entschluß fest: Zusammen mit seiner Kollegin, der Archäologin Gale Parker, macht er sich auf die Suche nach dem legendären Schatz. Doch die beiden sind nicht die einzigen. Ein skrupelloser und macht besessener Verbrecher nimmt die Verfolgung auf und jagt sie über den gesamten Erdball. Er ahnt nicht, daß Indiana Jones über Waffen verfügt, denen kein Gegner gewachsen sein kann: die magischen Kräfte der weißen Hexe vom Glauben der Wicca und das sagenumwobene Schwert des weisen Merlin...
Scan by Keimchen
Bereits erschienen Rob MacGregor Indiana Jones und der letzte Kreuzzug (9678) • Wolfgang Hohlbein Indiana Jones und die Gefiederte Schlange (9722) • Wolfgang Hohlbein Indiana Jones und das Schiff der Götter (9723) • Wolfgang Hohlbein Indiana Jones und das Gold von El Dorado (9725) • Wolfgang Hohlbein Indiana Jones und das Schwert des Dschingis Khan (9726) • Wolfgang Hohlbein Indiana Jones und das verschwundene Volk (41028) • Wolfgang Hohlbein Indiana Jones und das Geheimnis der Osterinseln (41052) • Wolfgang Hohlbein Indiana Jones und das Erbe von Avalon (41144) • Wolfgang Hohlbein Indiana Jones und das Labyrinth des Horus (41145) • Rob MacGregor Indiana Jones und das Orakel von Delphi (42328) • Rob MacGregor Indiana Jones und der Tanz der Giganten (42329) • Rob MacGregor Indiana Jones und die Herren der toten Stadt (42330) • Rob MacGregor Indiana Jones und das Geheimnis der Arche Noah (42824) • Rob MacGregor Indiana Jones und das Vermächtnis des Einhorns (43052) • Rob MacGregor Indiana Jones und die Macht aus dem Dunkel (43162) • Martin Caidin Indiana Jones und die Hyänen des Himmels (43163) • Martin Caidin Indiana Jones und die weiße Hexe (43534) • Max McCoy Indiana Jones und der Stein der Weisen (43535) • Max McCoy Indiana Jones und die Brut des Sauriers (35301) Indiana Jones Sammelbande Wolfgang Hohlbein Indiana Jones und das Schwert des Dschingis Khan/Indiana Jones und das Geheimnis der Osterinseln (11608) - Rob MacGregor Indiana Jones und der Tanz der Giganten/Indiana Jones und das Orakel von Delphi (13172) Wolfgang Hohlbein Indiana Jones und die Gefiederte Schlange/Indiana Jones und das Gold von El Dorado (13194) Weitere Bande sind in Vorbereitung
EINS Dreitausend Fuß hoch über den zerklüfteten Furchen und den dichten Wäldern des New Forest in Südengland legte Gale Parker die Hand auf die Drosselklappe des kleinen Übungsflugzeuges. Der Wind bauschte ihr leuchtendrotes Haar auf. Das leise Motorengeräusch und der weich über die Flügel und durch die Leitungen pfeifende Wind ließ eine Unterhaltung zwischen den beiden Cockpits zu. Indiana Jones, den die unerwartete Stille nach dem lauten Motorenlärm, den er in dieser Höhe als selbstverständlich vorauszusetzen gelernt hatte, beunruhigte, warf seiner rotmähnigen Lehrerin einen irritierten Blick zu, als sie sich zu ihm umdrehte. Bevor sie etwas sagen konnte, schlug er mit der Faust auf die Cockpitpolsterung. »Schalte ihn wieder ein!« rief er ihr zu. Er beobachtete, wie die Flugzeugspitze unter den Horizont absackte, als sie zu einem Gleitflug nach unten ansetzten. Das gefiel ihm überhaupt nicht. Er wollte den Motor hören, seine Vibrationen spüren, die Abgase riechen. All das verschaffte ihm ein Gefühl von Sicherheit, während diese Ruhe ihn in Angst versetzte. Gale schenkte ihm ein Lächeln. »Kein Grund zur Beunruhigung, Indy!« rief sie nach hinten. »Ich muß dir was sagen.« »Unterhalte dich mit mir, wenn wir festen Boden unter den Füßen haben!« brüllte er zurück. Mit weit aufgerissenen Augen sah er, wie die Baumwipfel bedrohlich näher kamen, wie das Flugzeug auf den Wald zuhielt. »Das ist deine erste Unterrichtsstunde!« rief sie nach hinten. Ein Flügel neigte sich zur Seite. Indy klammerte sich so fest, bis die Knöchel an seinen Händen weiß hervortraten. Mit einer lässigen Handbewegung brachte Gale das Flugzeug wieder in die Horizontale zurück. »Bist du sicher, daß du dich für fliegerische Kunststücke begeisterst?« fragte sie ihn, wobei der Wind ihre Stimme dämpfte.
»Ja,ja «, rief er. »Aber ich möchte jetzt keine Zeit verschwenden. Um Gottes willen, schalte endlich wieder den Motor ein!« »Der läuft doch, der läuft doch, Indy«, rügte sie ihn. »Im Leerlauf. Das ist etwas, was du ebenfalls lernen mußt. Es wäre mir lieber, wir würden ganz sacht beginnen!« »Nichts als Worte!« rief er laut. »Hör auf, wie eine Frau zu reden, und fang endlich an, wie ein Pilot zu fliegen.« Als sie lächelte, strahlten ihre weißen Zähne in der Nachmittagssonne. »Wie du willst, Schätzchen!« erwiderte sie gutgelaunt. Sie richtete den Blick wieder nach vorn und drehte sich dann noch mal zu ihm um. »Vergiß nicht, Indy, leg deine Hände auf die Steuerruder und mach alles wie ich. Verstanden?« Er umklammerte das Ruder und stellte beide Füße auf die Ruderpedale. »In Ordnung.« »Mach mir alles nach, aber komm mir auf keinen Fall in die Quere, indem du eigenmächtig handelst!« »Das werde ich nicht tun, verdammt noch mal«, rief er empört. »Jetzt flieg schon.« Der Ruderknauf unter seiner linken Hand bewegte sich langsam nach vorn. Mit minimaler Verzögerung erwachte der Motor lautstark zum Leben, und die Flugzeugnase richtete sich wieder gerade aus. Ihre Stimme wurde zu ihm nach hinten getragen. »Alles okay, mein Lieber! Siehst du? Ich halte meine Versprechen immer!« Die Flugzeugnase fiel steil ab. Sie schienen schnurstracks auf die Baumwipfel zuzuhalten. Der Wind heulte in seinen Ohren. Hatte sie den Verstand verloren? Was hatte sie jetzt wieder vor? Das Ruder in seiner rechten Hand wurde so stark zurückgerissen, daß ihm ein stechender Schmerz durchs Handgelenk jagte. Ehe er sich versah, verschwanden die Bäume aus seinem Sichtfeld. Jetzt waren nur noch der blaue Himmel und die weißen Wolken zu sehen. Er hatte das Gefühl, als hätte sich urplötzlich ein Elefant mit seinem breiten Hinterteil auf seiner Brust, seinem Kopf und seinen
Armen niedergelassen. Seine Füße waren von bleierner Schwere, als Gale zu einem engen Looping ansetzte. Das Flugzeug rauschte nach oben, immer und immer weiter. Durch den Aufstieg drückte die Zentrifugalkraft ihn tief in seinen Sitz. Ihm fiel die Kinnlade runter. Tränensäcke bildeten sich plötzlich unter seinen Augen. Und dann ließ der Druck schlagartig nach. Er hing mit dem Kopf nach unten. Jetzt mußte er jeden Augenblick aus dem Flugzeug fallen! Aber das tat er nicht. Der Sicherheitsgurt um seine Taille, das Gurtgeschirr an seinen Schultern hielten seinem Gewicht stand, sonst wäre er bestimmt aus dem Flugzeug gepurzelt. Sein Magen regte sich, ihm wurde ganz mulmig. Auf einmal verstummte das Motorengeräusch wieder, das Ruder wanderte nach vorn, dann wieder zurück, und der Wind toste lärmend, als sie in weitem Bogen nach unten fielen. Indy hatte einen Kloß im Hals. Er versuchte, sich auf die Bedienung der Kontrollen zu konzentrieren. Er biß die Zähne zusammen, nachdem er sich eben entschlossen hatte, den besten Schüler zu mimen, den der Rotschopf jemals gehabt hatte. Sie kehrten in den Horizontalflug zurück. Gale betätigte das Ruder, während er sich vom Motorlärm beruhigen ließ. Kaum hatte er sich gefangen, spürte er, wie das linke Ruderpedal ohne Vorwarnung hinuntergedrückt wurde. Das rechte Pedal hob sich, schob sein Bein zurück, sein Knie hoch, und im gleichen Moment schlug das Ruder hart gegen seinen Körper. Gale ließ das Übungsflugzeug eine wilde Spirale beschreiben. Die Maschine drehte kurz hintereinander mehrere Kreise. Der Horizont verschwamm dabei zu einer zitternden Linie. Mit rasender Geschwindigkeit zischten Himmel, Wolken und Bäume an Indys Blick vorbei. Er hatte keine Ahnung, wo er war und was er tat. Gale setzte zu einer zweiten Spirale an, ehe sie das Flugzeug in die Waagerechte zurückbrachte. Dann schaltete sie den Motor in den Leerlauf, drehte den Kopf und blickte ihm in die Augen. »Wie geht es dir, Schätzchen?« rief sie ihm zu.
Er schluckte den bitteren Geschmack hinunter, der sich in seinem Mund breitgemacht hatte, und spürte, wie sein Herz laut pochte. Vor Schreck hatte er sich auf die Zunge gebissen, die nun leicht blutete. Gezwungenermaßen rang er sich ein Lächeln ab. Doch Gale hatte die Gabe, die Zeichen lesen zu können. Indys Haifischgrinsen ließ eher auf einen Mann in Todesangst schließen als auf jemanden, der die Situation genoß. Er meinte, das Wort Hammerkopf gehört zu haben, bevor das anschwellende Brummen ihre Stimme übertönte. »Hammerkopf?« Was hatte ein Haifisch mit all dem zu tun? »Uhhh.« Entgeistert registrierte er, wie ihm dieser Ton über die Lippen kam, als sie das Ruder hochriß und sie wieder nach oben schössen, und »Wir sind zu langsam!« brüllte er unsinnigerweise gegen den lauten Wind und den Motorenlärm an. Das Flugzeug zog in einer geraden Linie nach oben, als wäre es am Propeller aufgehängt. Als die Geschwindigkeit nachließ, spürte er das Vibrieren und Zittern, und da wußte er, daß sie die Kontrolle über die Maschine verloren hatten. Der ganze Rumpf erschauderte, und dann wich das linke Ruderpedal unter seinem Fuß abrupt zurück. Das Flugzeug beschrieb einen Halbkreis, den man im Fachjargon Hammerkopfmanöver nannte. Gale sorgte dafür, daß das Flugzeug steil aufstieg und ebenso steil abfiel, und brachte es dann in eine Lage, in der sich die Tragflügel vertikal zum Boden stellten. Sie setzte zu einer Art ruckartigem Salto an, drehte bei, wirbelte die Maschine herum, zog das Ding wieder steil nach oben, reduzierte die Geschwindigkeit drastisch und trat mit voller Wucht aufs linke Ruderpedal. Die Well spielte verrückt, als sie ins Trudeln gerieten. Er glaubte, seinen Augen nicht trauen zu können. Trotz des wehenden roten Haarschopfes und der sich drehenden Propellerflügel konnte er erkennen, daß die Erde sich blitzschnell um die eigene Achse drehte, während sie direkt darauf zuhielten. Aber das konnte doch gar nicht sein! Er zwang sich zu denken, was ihm wegen all der
Watte in seinem Kopf ziemlich schwerfiel. Entsetzt bemerkte er, daß sein Magen in Aufruhr war, und er sagte sich immer wieder, daß es sich bei den Bildern vor seinen Augen nur um eine optische Täuschung handeln konnte. Nicht die Erde drehte sich um ihre eigene Achse, sondern sie. Gale trat auf das rechte Ruderpedal, schob das Handruder vor, woraufhin die Drehbewegung schlagartig aufhörte. Dabei schlug Indy mit dem Kopf gegen die Cockpitwand. Endlich wieder in der Horizontalen! Als Gale sich zu Indy umdrehte, sah sie, daß er ganz grün im Gesicht war. Diese Reaktion war ihr nicht unbekannt. » Oh, nein!« rief sie laut und machte sich sofort an den Kontrollen zu schaffen - gerade noch so rechtzeitig, daß Indy den Kopf über den Rand halten konnte, um die Welt unter ihnen an der Mahlzeit teilhaben zu lassen, die er vor dem Flug zu sich genommen hatte. Er fühlte sich hundeelend. Während er nach einem Taschentuch suchte, hatte er das Gefühl, daß er sabberte. Sein Magen hatte sich noch nicht beruhigt. Er glaubte zu schielen. Aber nachdem er sich erbrochen hatte, fühlte er sich schon wesentlich besser, und Er mußte sich wieder übergeben. Er lehnte sich weit über Bord, würgte und hustete und schämte sich insgeheim. Eigentlich war sein Magen schon leer, aber sein Körper spielte immer noch verrückt. Und dann hing er wie ein ausgewrungenes Handtuch auf seinem Sitz und starrte auf den dichten Wald unter ihnen. Sie kreisten immer noch über dem New Forest. Trotz des Schleiers vor seinen Augen erkannte er die Gebäude des kleinen Dorfes St. Brendan Glen. Allmählich kehrten seine fünf Sinne wieder zurück. Aber irgendetwas stimmte dort unten überhaupt nicht. In dem Augenblick, wo sich sein Unwohlsein legte, sein Magen sich beruhigte, begann sein Verstand wieder zu arbeiten. Lichtblitze zuckten mitten im Wald auf, rote Flammen züngelten an den Baumstämmen hoch. Ungläubig blickte er nach unten. Die Baumwipfel schwankten wie bei einem Erdbeben. Das dort unten war Caitlin St. Brendans
Heimat. Ihr Dorf ... Explosionen und sich schnell ausbreitende Flammen rasten über den Ort. Mit der Faust hämmerte Indy auf den Metallrumpf des Flugzeuges. Gale drehte sich um und grinste ihn an. Als sie seinen besorgten Gesichtsausdruck sah, veränderte sich ihre Miene. So laut es ging, rief er ihr zu: »Reduziere die Geschwindigkeit!« Sie kam seiner Aufforderung, ohne eine Frage zu stellen, nach. Er zeigte nach unten. »Caitlin!« rief er. »Gale, sieh doch nach unten! Das sind Explosionen!« Dicke Rauchschwaden hingen über den Bäumen. »Oh, nein«, murmelte Gale. »Wir müssen sofort dorthin!« schrie sie Indy zu. »Halt dich fest, Indy! Wir werden in zehn Minuten landen!« Zum ersten Mal hatte er nichts gegen ihre Flugkunst einzuwenden. Mit Vollgas hielt sie auf das grasbewachsene Rollfeld auf der Salisbury Plain zu. Die Verzweiflung, die in ihrer Stimme mitgeschwungen hatte, war ihm nicht entgangen. Dort unten im vom dichten Wald geschützten St.-Brendan-Tal lebten Gales älteste und engste Freunde. Allen voran Caitlin, die ihr mehr als eine Freundin war und näher als eine Schwester stand. Die beiden Frauen waren Seelenverwandte. Irgendetwas Grauenvolles ereignete sich dort unten zwischen diesen Bäumen. Indy kannte sich mit den Detonationen explosiver Sprengstoffe und den darauf folgenden Erschütterungen sehr gut aus. Instinktiv wußte er, daß der abgeschiedene Weiler aus unerklärlichem Grund von unbekannten Angreifern attackiert wurde. Indy zog den Kopf ein. Der Wind pfiff während des rücksichtslosen und gefährlichen Abstiegs ohrenbetäubend laut. Ein tiefer Seufzer kam ihm über die Lippen. Monatelang hatte er sich darauf gefreut, den Pflichten, die er der Anstellung an zwei Universitäten zu verdanken hatte, entfliehen zu können. Nur widerwillig hatten ihm Princeton und die Universität von London ein paar Tage Urlaub bewilligt, und nun, wo er gerade einmal ein paar Stunden ausgespannt hatte, wußte er tief in seinem Herzen, daß das, was sich dort unten im New Forest
zutrug, die Ruhe, die sich gerade eingestellt hatte, unwiederbringlich zerstören würde. Ihn beschlich die Vorahnung, daß er sich in Zukunft noch nach der Abgeschiedenheit der Lehrsäle sehnen würde. Normalerweise führte Indy ein Leben inmitten efeubewachsener Wände, ein Dasein, das wenig mit dem eines Forschers und reiselustigen Archäologen zu tun hatte, dessen Wohlergehen und Überleben oftmals von seiner Kenntnis lokaler Gepflogenheiten und Sprachen, von seiner schnellen Auffassungsgabe und dem körperlichen Training eines Mannes abhing, der Berge besteigen und auf Langlaufskiern einsame und arktische Weiten überwinden konnte. Sein anderes, wesentlich abenteuerlustigeres Leben hatte er zum Großteil der Gabe zu verdanken, hervorragend mit seiner Peitsche und seiner Webley, Kaliber .44, umgehen zu können, die er immer dann einzusetzen gezwungen war, wenn der drohende Tod sein Begleiter war. Aber in der akademischen Welt war er Professor Henry Jones, der an der Princeton-Universität mittelalterliche Literatur lehrte, ein großgewachsener Mann, der Anzüge aus grobem Tweed bevorzugte, ein Bücherwurm, der seine Studenten eulenhaft über den Metallrand seiner Brille anschielte. Diese Studenten und die Fakultät in Princeton wußten nie, ob Professor Jones gemäß dem Stundenplan auftauchte, um die jungen Menschen, die ihn sehnsüchtig erwarteten, zu unterrichten. Princeton unterhielt eine besondere Beziehung zu Sir William Pencroft, dem barschen und an den Rollstuhl gefesselten Direktor der Archäologieabteilung an der Londoner Universität. Diese Verbindung erlaubte es Pencroft, in Princeton anzurufen und um Professor Jones' Dienste zu bitten, wann immer eine Feldforschung in unwirtlichen Gegenden in Planung war. Jones' bemerkenswerte Fähigkeiten auf dem Feld alter Sprachen waren in der Welt der archäologischen Studien weithin bekannt. Mit einer fast beiläufigen Lässigkeit tauchte er in die Vergangenheit ein, weshalb er sich zwischen uralten Ruinen ebenso heimisch fühlte wie in einem der Lehrsäle. Durch seine
Forschung und Ausgrabungen hatte er Europa, die Vereinigten Staaten, die Diamantminen in Südafrika und sogar verschiedene asiatische Kulturen besucht und kennengelernt, die anderen Ethnographen immer noch fremd waren. Was das betraf, war Professor Jones, der draußen unter dem Namen Indiana Jones bekannt war, ein Name, den er seiner Berufsbezeichnung vorzog, so etwas wie ein zeitreisender Detektiv. Alte Sprachen, Artefakte, längst vergessene Städte erwachten vor seinen Augen zu neuem Leben, und gerade wegen dieser Fähigkeit schätzte Sir William ihn als unersetzlich ein. Aber Indy konnte nicht gleichzeitig überall sein. In den letzten Jahren hatte er immer wieder den Versuch unternommen, fliegen zu lernen. Wenn er diese Fähigkeit besaß, stand ihm die Möglichkeit zur Verfügung, Entfernungen schneller überwinden zu können, neue Sichtweisen zu eröffnen und lange, zähe Stunden einzusparen, die er normalerweise auf dem Landweg verlor. Bei seinem letzten Abenteuer hatte er sich an die Fersen einer kriminellen Vereinigung gehängt, die ökonomische, militärische und industrielle Macht erlangen wollte. Was dazu geführt hatte, daß er nicht nur Europa und Nordamerika, sondern auch den Atlantischen Ozean in einem häßlichen dreimotorigen Biest von einem Flugzeug überquert hatte. Die Zeit, die er in der Ford Trimotor verbracht, und die Gelegenheiten, bei denen er die Gewalt über das Flugzeug gehabt hatte, hatten ihn nur in seiner Absicht bestärkt, selbst Pilot zu werden. Deshalb flog er nun in einer Höhe von ein paar tausend Fuß über den dicht bewaldeten Landstrich des New Forest in Südengland und landete auf der Salisbury Plain. Natürlich hatte er nicht mal im Traum daran gedacht, daß sein Lehrer eine Frau sein würde! Auf der anderen Seite setzte er großes Vertrauen in den feurigen Rotschopf. Sehr jung, noch als Teenager, hatte sie das Fliegen gelernt und konnte mit jeder Maschine - angefangen von einem kleinen Sportflugzeug bis hin zu einer großen Luftfrachtmaschine - umgehen, die vom Boden abhob. Während ihres letzten Abenteuers, das ein Fehlschlag gewesen war und sich auf verschiedenen Kontinenten abgespielt hatte, war Gale Parker in vieler Hinsicht
seine Partnerin geworden. Das war außergewöhnlich für einen Mann wie Indy, der es eigentlich vorzog, auf eigene Faust zu agieren, ohne sich um andere Menschen kümmern und sorgen zu müssen. Doch je mehr Zeit er mit dieser bemerkenswert kühnen und selbständigen Frau verbrachte, desto größer wurde sein Respekt für sie. Sie waren sich zufällig im New Forest über den Weg gelaufen. Indy suchte dort nach alten Ruinen. Sie war auf der Jagd und nur mit Pfeil und Bogen bewaffnet. Ein leichtes Rascheln in den Bäumen ließ sie schneller, als er es für möglich gehalten hatte, auf dem Absatz herumwirbeln. Dann löste sich ein Bolzen, und das Tier fiel mit einem Metallstift im Kopf um. Als es sich dann unvermutet wieder aufrichtete, hatte es Indy mit seiner Peitsche kampfunfähig gemacht. Unter Gales Pfeilen war es schließlich verendet. Sie faszinierte ihn. Sorgsam studierte er ihre Gesichtszüge und überraschte sie mit einer Frage. »Wie heißen Sie -« »Gale Parker.« »Das ist nicht Ihr Name«, erwiderte er kühl. »Ach nein?« Ihre Augenbraue wanderte nach oben,- sie neigte den Kopf und betrachtete den Fremden, den sie vom ersten Augenblick an gut leiden konnte. Dieser Mann hatte etwas Besonderes an sich, eine gewisse Selbstsicherheit, die sich in jeder seiner Bewegungen bemerkbar machte. Und seine Augen! Sie schienen nichts zu übersehen, nicht mal in jenem Sekundenbruchteil, in dem sie einander kritisch beäugten. Sie bohrten sich wissend in sie. »Dann sagen Sie mir, Fremder -« »Jones, Indiana Jones.« »Wirklich ein eigenwilliger Name.« »Aber längst nicht so eigenwillig wie Ihrer.« Er lachte. »Warum«, fragte sie langsam, »stellen Sie meinen Namen in Frage?« »Weil er englisch ist, und in Ihren Adern fließt Blut, das nicht aus diesem Land stammt.«
»Sie sind sehr aufmerksam.« Er zuckte mit den Achseln, wartete. Über sich selbst staunend, antwortete sie ihm. »Ich bin Mirna Abi Khalil. Das ist der Name meines Vaters.« »Beduine?« »Ein Herrscher. Entstammt einem jahrhundertealten Geschlecht.« Wieder betrachtete er sie in aller Ruhe. »Aber Ihre Mutter -« »Sybil Saunders.« Mit dem Arm beschrieb sie einen weiten Kreis. »Das hier ist ihre Heimat, und auch ihr Geschlecht hat mehr als tausend Jahre überdauert, hier im New Forest. Sie stammt von den frühen Wicca ab.« Neugierig schaute sie ihm ins Gesicht und wartete darauf, daß sich darin seine Gedanken widerspiegelten. Sie entdeckte Wissen und Respekt. Er nickte bedächtig. »Eine alte Religion«, sagte er. »Dann ist es bestimmt Ihre Mutter gewesen, die veranlaßt hat, daß Sie sich den Namen Gale Parker nehmen.« »Die Familie einer Hexe ist in der heutigen Welt mit gewissen Problemen konfrontiert.« »Dem stimme ich zu«, sagte er. Er schaute sich um. »Und der New Forest ist Ihre Heimat?« »Ich bin hier aufgewachsen, habe aber vier Jahre in Deutschland bei meinen Cousins gelebt. Das war eine harte Schule. Ich habe das Segelfliegen und mehrere Sprachen gelernt. Mit achtzehn bin ich nach Hause zurückgekehrt. Hierher, in meine wahre Heimat. Die meiner Familie.« »Sie leben nicht in den Wäldern«, behauptete er, ohne den Blick von ihr abzuwenden. »Nicht?« Sie grinste höhnisch. »Hätten Sie dann vielleicht die Freundlichkeit, mir zu sagen, wo ich lebe?« »Dort, wo Ihre Freunde sind, wo Sie nicht auf Behaglichkeit verzichten müssen, wo es wunderbares Essen gibt und Sie im Einvernehmen mit der Natur leben und« - er hielt inne und fixierte sie - »mit dem, was jenseits dessen liegt,
was andere sehen.« »Sie gehen nicht gerade behutsam vor.« »Warum auch?« erwiderte er gelassen. »Dazu besteht überhaupt kein Grund. Ich verstehe. Ich bin schon mal hier gewesen. Mit den Roma -« »Die zeigen an Fremden wenig Interesse«, gab sie zu bedenken. »Ich sagte, ich bin bei ihnen gewesen, habe an ihren Lagerfeuern gesessen, ihre Namen erfahren, ihre Freundschaft genossen.« »Bemerkenswert für -« Da riß sie die Augen weit auf und bohrte ihren Finger in Indys Brust. »Ich kenne Sie!« Sie korrigierte ihre Aussage mit einem unvermuteten Kopfschütteln, woraufhin ihr rotes Haar sich wie ein feiner Nebel über ihr Gesicht legte. »Ich meine, ich habe von Ihnen gehört. Sie sind dieser Professor aus Amerika -« Wieder schüttelte sie den Kopf, als fiele es ihr schwer, ihren eigenen Vermutungen Glauben zu schenken. »Sie waren bei den Riesen in Stonehenge.« »Ja.« »Nachdem, was ich gehört habe, haben Sie sich nicht, ich meine, hat sich Ihre Anwesenheit nicht negativ auf den Tanz der Hundert Jahre ausgewirkt.« »Da haben Sie recht. Ich hatte keinen negativen Einfluß«, antwortete er leicht gekränkt. »Und ja, ich wurde schließlich akzeptiert.« »Dann müssen wir uns unbedingt die Hand geben!« Sie reichten sich die Hände. »Ich werde Ihnen mit dem Wildschwein helfen», bot er an. »Sie möchten mit mir essen?« »Aber sicher«, erwiderte er. »Es wäre mir eine große Ehre.« »Dann essen wir hier«, verkündete sie. »Sehen Sie sich um, Indiana Jones. Die Dämmerung setzt ein. Und Nebel, der uns die Rückkehr unendlich erschweren würde. Wenn es erst mal dunkel ist, werden die Dornbüsche unsere Kleider in Fetzen reißen. Nein, wir werden uns an dem Tier gütlich halten, ein Feuer machen und essen, wie das die Menschen hier vor tausend, nein, fünftausend Jahren gemacht haben.« Ihr Lächeln strahlte eine Wärme aus, die
sich wohltuend gegen die Kühle der einsetzenden Nacht abhob. »Ich verspreche Ihnen ein herzhaftes und köstliches Mahl.« Zum Dank für ihre Gastfreundschaft verbeugte er sich und legte dann seinen Rucksack ab. »Ich reise gut vorbereitet«, sagte er. »Was heißt das?« Er plazierte einen Salz- und Pfeffersteuer auf einem Ledertuch. »Rotwein und ein Laib Brot«, zählte er auf. »Und etwas Käse, falls Ihnen der Sinn danach steht.« »Ein wahres Festessen«, rief sie erfreut und klatschte in die Hände. »Wundervoll.« Seine Hand fiel auf das Holster. Schneller als ihr Blick folgen konnte, hielt er die Webley in der Hand und hatte den Hahn gespannt. »Was wollen Sie erschießen, mein amerikanischer Freund?« »Ich habe gehört, wie sich etwas im Gebüsch bewegt hat.« Er zeigte in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. »Falls das der Partner dieses Wildschweins ist, könnten wir verletzt werden, bevor wir Zeit zum Reagieren haben.« »Danke«, erwiderte sie ungewöhnlich ruhig. »Aber dazu besteht kein Grund. Was Sie gehört haben, das Rascheln in den Bäumen, wurde zweifelsohne von denen produziert, die unsere Beute mit uns teilen möchten.« »Wer ist das?« Ihr Lachen klang wie das Läuten silberner Glocken. »Natürlich das Volk der Waldnacht. Wir haben es uns zur Angewohnheit werden lassen, mit ihnen zu teilen. Stecken Sie Ihre Waffe weg. Das sind Freunde. Außerdem, das, was Sie gehört haben, war das Zerteilen des Wildschweins. Aber sie werden das beste Fleisch für uns übriglassen.« »Das Volk der Waldnacht?« wiederholte er und musterte ungläubig ihr Gesicht. »Kennt man sie auch unter der Bezeichnung Kleines Volk?« »Vielleicht.«
»Sie sind auch so eine Art Kobold, Gale Parker.« »Würden Sie bitte ein Feuer machen? ... Sie stellen wirklich viele Fragen!« Es gab kein Mahl, das besser schmeckte. Der Geschmack des Wildschweins wurde durch die Gewürze und den Wein, den er immer auf solche Erkundungsstreifzüge mitnahm, nur noch hervorgehoben. Nachdem sie aufgegessen hatten, sammelte Gale Farnblätter und Moos. »Wir werden heute nacht hier schlafen. Die Augen werden Sie nicht mehr lange offenhalten können, mein neuer Freund, und dann werden Sie tief und fest schlafen.« »Was macht Sie so sicher?« fragte er mit einem Gähnen. Er war müde. »Der Zauber, was sonst.« Ihm fiel es schwer, die Augen nicht zu schließen. »Zauber?« »Sie sind akzeptiert worden. Wir haben nichts zu fürchten. Das Kleine Volk wird dafür sorgen, daß uns nichts zustößt.« »Das ist doch läch...« Indy erwachte in einem Meer aus dahin treibendem, goldenem Nebel. Blinzelnd versuchte er sich daran zu erinnern, wo er war. Weiches Moos war ihm ein komfortables Kissen gewesen. Langsam setzte er sich auf und sah das helle Glühen der aufsteigenden Sonne durch die Bäume fallen. Gale saß an einen Felsen gelehnt und beobachtete ihn. Ihr Lächeln war in seinen Augen der schönste Morgengruß, den er sich vorstellen konnte. Später marschierten sie durch den New Forest zu einem pittoresken kleinen Dorf, das dem Aussehen nach fernab der modernen Zivilisation existierte. Jeder schien Gale zu kennen, nickte oder winkte ihr freundlich zu. Sie führte Indy in eine kleine Bäckerei, wo sie ofenwarme Hefestückchen und zwei große Tassen Kaffee bestellten. In den darauffolgenden Tagen beeindruckte diese junge Frau ihn immer mehr. Hinter der beherzten Jägerin, der er im Wald begegnet war, trat eine Persönlichkeit mit wendigem Geist und einem beachtlichen Potential an Fähigkeiten hervor. In Geologie kannte sie sich hervorragend aus. Sie kannte
den Namen, die Geschichte und die Heimat jeder Pflanze, jedes Busches und jedes Baumes, den sie sahen. Seine augenfällige Überraschung belustigte sie. »Wenn man in diesem Wald aufwächst, dann lernt man all das schon von Kindesbeinen an. Es wird einem zur zweiten Natur. Man lernt, sich vom Land zu ernähren, und daß der Wald es gut mit einem meint, wenn man sich ihm gegenüber entsprechend verhält.« »Meinen Sie damit auch das Kleine Volk?« sagte er, halb im Spaß. Sie warf ihm einen skeptischen Blick zu. »Ja.« »Wie nennen Sie sie?« wollte er erfahren. »Oh, es gibt auf der Welt unzählige Namen für sie«, sagte sie leichthin. »Elfen, Gnome, Zwerge -« »Troglodyten haben Sie nicht aufgeführt.« »Ach, das sind doch die Bösen.« Sie grinste. »Die gemeinen Bewohner der dunklen Wälder.« »Sie scheinen nicht an deren Existenz zu glauben.« »Ich bin bisher keinem von ihnen begegnet.« Diese Antwort mußte ihm genügen - mehr bekam er über dieses Thema nicht aus ihr heraus. Wenn sie vom Bergsteigen, von ihren geologischen Expeditionen, vom Fliegen und der Jagd sprach - sie hatte auch mehr als sechzig Fallschirmsprünge hinter sich gebracht -, mußte er sich unweigerlich eingestehen, was für eine talentierte und besondere Person diese Gale Parker war. Man hatte ihn mehr oder weniger dazu überredet, Institutionen wie dem amerikanischen und englischen Abwehrdienst bei der Verfolgung einer international zusammengesetzten Gruppe unter die Arme zu greifen, die nach Machtzuwachs strebte und deshalb Unmassen von finanziellem und militärischem Einfluß akkumulierte. Dabei handelte es sich um eine Gruppe, die kaltblütig tötete und Regierungen verschiedener Länder zum Narren hielt, indem sie so tat, als habe sie in einer südafrikanischen Goldmine eine geheimnisvolle Pyramide gefunden, auf der alte und unbekannte Keilinschriften eingraviert waren und die allem Anschein nach viele tausend oder sogar Millionen Jahre alt war. Diese Pyramide, die möglicherweise die Geheimnisse
einer alten, außerirdischen Zivilisation barg und den Sprung in die wissenschaftliche Zukunft erlaubte, wurde für sage und schreibe eine Milliarde Dollar angeboten. Und da kam Indy ins Spiel. Sowohl die amerikanische als auch die englische Regierung bemühten sich um eine Zusammenarbeit mit ihm, um die mysteriösen und vielleicht außerirdischen Keilschriftgravuren zu entziffern. Je tiefer Indy in die Verstrickungen dieser internationalen Intrige und in dieses Machtspiel, das von rücksichtslosen Mordanschlägen geprägt war, eintauchte, desto stärker wurde sein Bedürfnis nach der Schnelligkeit, der Vielfältigkeit und Feuerkraft einer Maschine, die fliegen, landen und fast überall abheben konnte. Die Untersuchung der anscheinend alten Gravuren führte ihn in eine Reihe unglaublich gefährlicher, lebensbedrohender Konfrontationen, bei denen Gale Indy als zuverlässige Partnerin zur Seite stand. Nachdem das Unterfangen zu Ende gebracht war, wußten die beiden, daß sie ein erstklassiges Team waren. Sie vertrauten einander blind. Das einzige, was noch an Indy nagte, war die Tatsache, daß er immer noch nicht in der Lage war, ein Flugzeug zu steuern. Er konnte jedes Fahrzeug lenken, kleine Boote und große Schiffe steuern, die steilsten Berghänge hochklettern - aber ein Flugzeug fliegen konnte er nicht. Wann immer sich eine günstige Gelegenheit bot, kam irgendetwas - manchmal sogar ein paar Schurken, die ihm nach dem Leben trachteten - dazwischen. Nachdem einige Zeit vergangen war und dieses mißliche Abenteuer weit hinter ihnen lag, waren er und Gale nach England zurückgekehrt. Sie hatten sich vorgenommen, daß die junge Pilotin ihm Flugunterricht erteilen sollte, damit er den Pilotenschein ablegen konnte. Sie waren von der Salisbury Plain aus gestartet. Indy hatte ein Cottage gemietet. Gale hatte sich vorgenommen, ihm so viel wie möglich beizubringen, sieben Tage lang, nonstop, eine Art Crashkurs. Das war genau die Methode, mit der Indy alle neuen Herausforderungen in Angriff nahm. Nun, nach der ersten Unterrichtsstunde, nachdem er darauf bestanden hatte,
daß Gale mit ihrem kleinen Übungsflugzeug Kunststücke in der Luft aufführte, war es ihm blitzschnell gelungen, im Gesicht grün zu werden, sich zu erbrechen und dann ... Dann hatte er die aufsteigenden Flammen gesehen, den Rauch, der über den Baumkronen von St. Brendan Glen im New Forest aufstieg. Wo Gales Mutter und engste Freunde lebten. Gale steuerte die Übungsmaschine auf die Grasrollbahn, drosselte die Geschwindigkeit und landete in Windrichtung. Die Landung war hart. Das Flugzeug holperte über die Unebenheiten. Sie rollten bis zum entgegengesetzten Ende der Landebahn, wo Indy seinen Sportwagen geparkt hatte. Als sie mit Tränen in den Augen aus dem Cockpit kletterte, war Indy leicht irritiert. So hatte er sie noch nie gesehen. »Sie sind tot«, brachte sie heraus. »Meine Familie ... Freunde ... tot.« »Woher willst du das wissen?« fragte er mit gespielter Ruhe. Sie atmete tief durch und wischte sich mit dem Ärmel ihres Fliegeranzuges die Tränen von den Wangen, ehe sie die rechte Hand auf ihr Herz legte. »Wenn so etwas wie das hier ... passiert«, antwortete sie mit brüchiger Stimme, »spüren wir es hier drinnen. Wie den Stich eines Messers.« Sie umklammerte seinen Arm. »Bitte, Indy. Mach schnell.«
ZWEI Mit Vollgas und quietschenden Reifen preschte Indy über die Kieszufahrt auf die Hauptstraße, die nach Westen führte. Stumm und mit leerem Blick saß Gale neben ihm und kämpfte standhaft gegen den psychischen Schmerz an. Indy mußte sich nicht lange gedulden, bis sein Bentley BG 400 die Höchstgeschwindigkeit erreichte. Sein Wagen war ein modifiziertes Cabriolet mit einem kraftvollen Achtzylindermotor, 220 Pferdestärken und hohen Drehzahlen. Aus diesen Gründen war der Bentley hervorragend geeignet für die kurvenreichen und schmalen englischen Straßen. Ungefähr zwanzig Meilen lang fuhr er über eine asphaltierte Bundesstraße; dann setzte Gale sich auf und zeigte auf eine vor ihnen liegende Abzweigung. »Bieg nach rechts ab, Indy«, dirigierte sie ihn. Er nahm den Fuß vom Gaspedal und schaltete in einen niedrigeren Gang. Der Weg, den sie ihm gezeigt hatte, war mehr ein Feldweg als eine Straße. Die Äste großer Bäume neigten sich tief herab. Er wollte ihre Entscheidung schon in Zweifel ziehen, erinnerte sich dann aber, daß sie einen Großteil ihres Lebens in diesem Landstrich verbracht hatte. So bog er ohne zu murren ab, zog wegen der herunterhängenden Zweige den Kopf ein und warf einen Blick in den Rückspiegel. Indys Augen weiteten sich. Der Straßenabschnitt hinter ihnen, der Abschnitt, den sie gerade eben noch befahren hatten, mit all seinen Biegungen und Hügeln und Senken, war verschwunden! Die Staubwolken, die der hochmotorisierte Wagen aufwirbelte, verschwanden urplötzlich, als würden sie von einer unsichtbaren Hand weggewedelt. Wieder warf er einen Blick in den Rückspiegel. Nichts änderte sich an dem, was er sah.
»Gale, erzähl mir von dieser Straße«, bat er seine Beifahrerin. Bedächtig hob sie den Kopf, schaute nach hinten, zuckte mit den Achseln und blickte wieder nach vorn. »Diese Straße ist nicht für jedermann«, rückte sie schließlich mit der Sprache heraus. »Das leuchtet wirklich ein.« Sein Sarkasmus war nicht zu überhören. »Ich will damit sagen, daß nur bestimmte Personen diese Straße sehen können. Normalerweise würdest du sie bestimmt nicht sehen.« Sie schürzte die Lippen, überlegte angestrengt. »Aber auf der anderen Seite wärst du vielleicht doch in der Lage, sie zu sehen. Wenn man bedenkt, wer und was du bist und wie nah du allem Ungewöhnlichen gekommen bist.« »Ich sehe sie gut genug, um darauf fahren zu können!« »Ja, weil ich bei dir bin. Anderenfalls hättest du die Abzweigung niemals gesehen.« »Aber sie verschwindet hinter uns, beim Fahren. Als ob sie sich aufrollen würde.« Er warf ihr einen Blick von der Seite zu. »Und du weißt, daß das unmöglich ist.« »Ja. Aber das ist eben eine magische Straße.« »Eine magische Straße«, wiederholte er tonlos. Was kommt als nächstes, fragte er sich. Eine Horde Zwerge, verkleidet als Straßenband, die Dudelsack bläst? »Ich will damit sagen, daß sie nur von den Menschen, die im Wald leben, benutzt wird. In Wirklichkeit ist das ein Weg für Pferdekutschen.« Schleudernd bogen sie um eine scharfe Kurve. Fast hätte Indy sich auf die Zunge gebissen. »Das will ich dir gern glauben«, grunzte er. »Aber was verleiht ihr das Magische? « »Weil nur bestimmte Menschen sie sehen können. So ist das schon seit vielen hundert Jahren. In den alten Überlieferungen heißt es, daß sie von Zauberern und Königen genommen wurde, die sich vor Banditen und Räubern schützen mußten.« »Das ist nett«, sagte er. »Überlieferungen. Märchen. Aber du hast mir keine
Antwort auf meine Frage gegeben. Wie kommt es, daß sie hinter uns verschwindet?« »Ach, jetzt verstehe ich, was du meinst. Sie verschwindet natürlich nicht. Sie ist immer noch da. Siehst du?« »Nein.« Kopfschüttelnd blickte sie zu ihm hinüber. »Indy, du müßtest das eigentlich begreifen. Wo du doch Wissenschaftlerbist.« »Erklär es mir genauer.« »Gibt es nicht Dinge im Leben, von denen wir wissen, daß sie existieren, die wir aber mit bloßem Auge nicht sehen können? Die Luft, die uns umgibt, sehen wir nicht. Radiowellen auch nicht. Und dann gibt es noch Trugbilder. Reflektionen von Dingen, die viele Meilen weit weg sind und die schimmernd auf dem Boden stehen oder am Himmel schweben. Man kann sogar mit einem Fotoapparat Bilder davon machen, aber sie existieren nicht. Es scheint nur so. Die Straße liegt immer noch hinter uns, aber man braucht ein besonderes Sehvermögen, um sie sehen zu können. Das Licht bricht sich oder beugt sich, deshalb sieht derjenige, der sie sehen möchte, nur etwas, wenn sich das Licht bricht. Ansonsten sieht er Bäume und Büsche, aber« - sie zuckte mit den Achseln und steckte die Hände mit den Handflächen nach oben weit von sich - »keine Straße. Ergibt das einen Sinn für dich?« »Seltsamerweise, ja.« »Wirklich?« Seine Antwort schien sie zu überraschen. »Sicher. Genauso, wie wenn man einen Fisch unter Wasser betrachtet und selbst über der Wasseroberfläche steht. Das Wasser bricht das Licht, verändert die Position der Strahlen. Der Fisch ist nicht dort, wo man ihn sieht. Sondern verschoben, wenn man es mal so ausdrücken möchte, aber das ist nur ein Trick, der die Augen zum Narren hält. Eine Art Verzerrung.« »Wie bei einem Prisma?« schlug sie vor. »Darauf kannst du wetten. Ich verstehe allerdings immer noch nicht,
warum ich die Straße nicht sehen kann, weil ich nicht weiß, wie du - oder sonst wer - das Licht bricht.« »Oh, das ist einfach. Das ist Zauberei. Magie, weißt du?« »Woher soll ich das wissen?« »Von all den Menschen, die außerhalb des New Forest leben, bist du, Indiana Jones, der einzige Mann, der mir jemals über den Weg gelaufen ist, der es wissen könnte. Es ist... es ist... nun« - sie suchte nach den passenden Worten - »wie wenn sich die Sonne grün verfärbt.« »Ein Sonnenaufgang, durch dichten Nebel gesehen«, antwortete er schnell. »Oder wenn der Mond sich vor die Sonne schiebt. Die Sonne scheint immer noch, aber du kannst sie nicht sehen.« »Das ist Schulphysik«, erwiderte er. »Wo kommt die Magie ins Spiel? Und wo der Zauberer?« »Wer hat in jener Nacht im Wald das Wildschwein zerteilt?« »Du hast behauptet, es wäre das Kleine Volk«, antwortete er schnell. »War es denn nicht so?« »Ich weiß es nicht, Gale. Ich habe dort niemanden gesehen.« »Dann weißt du nicht, daß es das Kleine Volk gewesen ist, oder?« »Nun, hm, eigentlich nicht, aber -« Zum ersten Mal seit ihrer hektischen Landung mit der Übungsmaschine umspielte so etwas wie ein Lächeln ihren Mund. »Nun denn, jetzt fällt mir nichts mehr ein, was ich dir sagen könnte.« Sie schaute nach vorn. »O Indy, bitte, fahr langsamer. Wir kommen an einen Fluß.« »Wir überqueren eine Brücke?« »Keine Brücke.« »Was dann? Ein Floß? Oder gibt es eine seichte Stelle, wo wir den Fluß überqueren können?« »Kein Floß, und niemand weiß, wie tief der Fluß ist.« »Vielleicht fliegen wir einfach darüber hinweg«, witzelte er. Die Unterhaltung irritierte ihn zunehmend.
Wieder ein Lächeln von ihr. »Du wirst schon sehen.« Indy trat auf die Bremse, ohne ein Geheimnis aus seiner Verwunderung zu machen. »Du spielst Wortspiele«, beklagte er sich. »Falls dort ein Fluß ist und er tief ist und du von mir erwartest, daß ich ins Wasser rausche, erwarte ich von dir konkretere Antworten als die, die du mir bislang gegeben hast.« Sie musterte sein Gesicht. Er begriff, was in dem Kopf mit dem karottenroten Haar vorging. Die tödlichen Gefahren, denen sie ausgesetzt gewesen waren, die vielen Male, wo einer dem anderen das Leben gerettet hatte. Das Vertrauen, das sie einander entgegenbrachten Offensichtlich konnte sie seine Gedanken lesen. »Vertraust du mir, Indy?« »Stell keine absurden Fragen. Wir reden hier von meinem Leben.« »Dann fahr zu«, drängte sie ihn. »Dort in die Wasserschneisen.« »Ein Bentley ist kein Kajak«, erwiderte er fast mürrisch. Und trotzdem schaltete er in einen anderen Gang, drückte den Fuß aufs Gaspedal und startete voll durch. Sie rollten einen sanften Abhang hinunter. Durch die Bäume schimmerte blaues Wasser. Der Fluß und Völlig überraschend streifte ihn eine eiskalte Brise. Ihm kam es so vor, als hätte ihn jemand in einen riesigen Gefrierschrank gesteckt. Er blickte zu Gale hinüber. Rauhreif auf ihrem Haar! Rauhreif? Vor wenigen Minuten war es noch warm und behaglich gewesen und dann plötzlich ... Er spürte seine Ohren. Sie schmerzten in der Kälte des Fahrtwindes. Seine Nase. Die Windschutzscheibe war mit Frost überzogen. Hier war es wie in der Arktis! Dann ... der Fluß. Geradeaus. Nein ... kein Wasser. Das konnte doch nicht wahr sein ... und dennoch war es so. In den wenigen Sekunden, wo er den Fluß im Blickfeld hatte, sie den Abhang hinunterfuhren, hatte das Wasser eine andere Farbe angenommen, war verblaßt zum farblosen Schimmer von Eis. Der Bentley schoß über die Eisfläche, kam ins Rutschen und Schleudern.
Gerade als er registrierte, daß er die Kontrolle verlor, erreichten sie die andere Uferböschung. Die Reifen hafteten wieder. Er gab Gas und bog um eine Kurve. Nur eine Minute später waren seine Ohren und seine Nase feucht vom aufgetauten Rauhreif, und Wassertropfen perlten an der Windschutzscheibe ab. »Wieder das Kleine Volk?« brüllte er gegen den Motorlärm und den heulenden Wind an. »Ja!« rief sie zurück. »Genau wie das Licht, das sich bricht. Sie haben die Wärme der Sonne abgestellt.« »Das ist unmöglich!« brüllte er. »Ich weiß!« erwiderte sie lachend. Gegen ihr ansteckendes Gelächter konnte er nichts machen. Und auch nichts gegen die Art und Weise, wie sie Zauberei und Magie akzeptierte, als wären sie so normal wie Blumen oder Sonnenschein. Außerdem wußte er, daß es besser war, wenn er sich nur aufs Fahren konzentrierte und sich nicht noch den Kopf zerbrach. Zu blöd, murmelte er in sich hinein, daß sie mit all ihren Zauberkünsten keine moderne Straße aus diesem gräßlichen Holperweg machen können. Was nichts daran änderte, daß er für den Nebel, das gebrochene Licht, den Sonnenschein und das Kleine Volk, das er nicht sehen konnte, mit dem Gale aber eine warmherzige und freundschaftliche Beziehung unterhielt, dankbar war. Denn während dieser kurzen Momente, wo ihre wilde Fahrt von unergründlicher Magie bestimmt war, gelang es Gale, die Niedergeschlagenheit und Furcht, die sie tief in ihrem Innern spürte, abzustreifen. Wieder hörte er sie lachen, und als sie verstummte, wußte er instinktiv, daß er das lange Zeit nicht mehr hören würde. Ja, er spürte ihre Trauer. Hin und wieder warf er Gale einen kurzen Blick zu, erkannte die Anteilnahme, die sich in ihren Gesichtszügen widerspiegelte. Je näher sie St. Brendan Glen kamen, desto deutlicher trat ihre Stimmung hervor. Er sah, wie sie erschauderte, als
schieße eine Welle des Schmerzes durch ihren Körper. Blut tropfte aus ihrem Mundwinkel. Sie hatte sich unbewußt auf die Lippe gebissen. Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße. »Gale, wie lange noch?« »Etwa zwanzig Minuten.« »Bist du in Ordnung, Mädchen?« Ihre Antwort überraschte ihn. »Nein.« Während dieser Momente versuchte er, sich an alles, was er über St. Brendan Glen wußte, zu erinnern. Er war schon einmal dort gewesen, allerdings mitten in der Nacht, zusammen mit Gale, die ihn damals über die Hauptstraße dirigiert hatte, die an dem dichten Wald und dem rauhen Terrain vorbeiführte. Außerdem hatte er im Lauf seiner Studien und während der vielen Jahre, in denen er diesen Teil von England bereist hatte, selbst ein paar Informationen zusammengetragen. Gerade den Süden von England liebte er über alles. Diese Landschaft begeisterte das Auge des Betrachters. Sie war sehr hügelig, teilweise sogar steil, und die Erde barg Erinnerungen an Völker, Kulturen und Religionen, die es längst nicht mehr gab. Dieser Landstrich war Zehntausende von Jahren ein blutiges Schlachtfeld gewesen, auf dem Männer zu Pferde, mit Schwertern und Äxten bewaffnet, im Kampf starben. Die martialischen Steinmonumente in Stonehenge hatten etwas Magisches an sich. Arthur und seine Ritter hatten hier gelebt und geliebt. Indy mußte an Camelot denken. An Utherpendragon und an Merlin, an Excalibur und Caliburn. An die Dame im See ... wie sich Mythen und Tatsachen, Überlieferungen und Realität ineinander verwoben zu etwas, das man hier unter dem Begriff ›Mother of Britain‹ zusammenfaßte. Für einen Fremden war es kein leichtes Unterfangen, eine Linie zwischen dem zu ziehen, was schlicht hartes Gestein und was ein phantastischer Berg war. Was immer hier existierte, existierte wenigstens tausend Jahre länger als Indys Heimat, die erst vor dreihundert Jahren gegründet worden war. Und was immer es war, das hier in allen Ecken und Winkeln zu spüren war, es
widersetzte sich der Wissenschaft, führte die Logik hinters Licht, bohrte sich einem ins Herz und sang vom Leben und der Liebe und der Tradition. Seit langem hegte Indy den Wunsch, hier im New Forest vom inneren Zirkel akzeptiert zu werden. Das war schon schwierig für einen Engländer und unmöglich für einen Mann, der kaum eine Stufe über den ungehobelten englischen Entdeckern stand, die vor einigen hundert Jahren ein seltsames und fernes Land namens Amerika kolonisiert hatten. Indy mußte lachen - über sich selbst. Was hätte er darum gegeben, den Geruch des Todes vertreiben zu können, den stechenden Schmerz auszulöschen, der für Gale immer unerträglicher wurde, je näher sie dem Glen kamen. »L-langsam, Indy.« Es kostete Gale einige Mühe, diese Worte über die Lippen zu bringen. Sie war kurz davor, zusammenzubrechen. »Es wäre besser«, flüsterte sie, »wenn wir die Linie überschreiten und den Kreis betreten.« In der nächsten Haarnadelkurve reduzierte Indy die Geschwindigkeit. Ein riesiger Baumstamm blockierte die Straße. Indy mußte die Bremse voll durchtreten. Durch die abgebrochenen Äste sah er, wie er und Gale von stechenden Augen beobachtet wurden. Sie erhob sich vom Beifahrersitz und blickte geradewegs in diese Augen, ehe sie sich wieder setzte. Als Indy erneut den Baumstamm betrachtete, der ihnen den Weg versperrte, begann er sich vor seinen Augen aufzulösen. Und plötzlich war er nicht mehr da. Ohne auf Gales Aufforderung zum Weiterfahren zu warten, legte er den Gang ein. Sie bogen erneut um eine Kurve. Und auf einmal hatte er den Eindruck, über ein Feld zu fahren, durch eine Art Kraftfeld. Was immer es sein mochte, ein leises Kribbeln lief über seinen Körper. Ihm standen die Haare auf seinen Armen und in seinem Nacken zu Berge. Selbst seine Zähne schienen auf diese Vibration zu reagieren, die er nicht orten konnte. Und dann war alles vorbei, und da wußte er, daß sie auf der anderen Seite dessen waren, was Gale >Kreis