Gruselspannung pur!
Die Hexe aus dem Todessee
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann Ich steckte in der Klemme und...
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Gruselspannung pur!
Die Hexe aus dem Todessee
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann Ich steckte in der Klemme und starrte dem Tod ins Gesicht! Angekettet war ich an einen feuchten, kalten Felsen. Verzweifelt zerrte ich an meinen Fesseln, doch es war sinnlos. Das häßliche Kichern meiner Gegnerin machte mir das deutlich. »Sieh es endlich ein. Du wirst mir nicht entkommen. Du hattest deine Chance und hast sie nicht genutzt. Jetzt gehörst du mir, Mark Hellmann! Mit Haut und Haaren!« Ihr kreischendes Gelächter hallte laut in dieser düsteren Grotte. Am Eingang der Höhle klatschte fahlgrünes Wasser gegen die Felswand. Auch der Boden der Grotte war mit Wasser bedeckt, das meine Waden umspülte. Meine schöne Gegnerin leckte sich über die Lippen und wog den grünschillernden Dreizack in der Hand. Sie warf den Kopf hoch. »Die Hölle wird mir ewig dankbar sein!« schrie sie und holte aus. Im nächsten Moment raste der schimmernde Spieß auf mich zu… Mark Hellmann - die Gruselserie, die Maßstäbe setzt!
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Ein alter Fischer sah sie zuerst. Er saß schon die ganze Nacht am Ufer des Zierker Sees und hatte die Pfeife nur selten aus dem Mund genommen. Der alte Mann genoß die Stille, die nur von Fröschequaken und dem Plätschern der Wasservögel unterbrochen wurde. Ihm war es gleichgültig, ob die Fische bissen oder nicht. Hier war er weitab von der Hektik und dem Lärm des Alltags. Schlafen konnte er ohnehin nicht mehr gut, also verbrachte er viele Sommer- und Herbstnächte am See. Der Alte paffte und ließ seinen Blick über die glatte Wasseroberfläche gleiten, die im Mondschein glitzerte. Wenn ich malen könnte, würden mir die Touristen dieses Motiv aus den Händen reißen, dachte er. Dann wäre ich wohl der reichste Rentner hier in der Gegend. Aber er konnte nicht malen. Leider. Traurig starrte er auf seine abgearbeiteten Hände, an denen sich bereits die Gicht zeigte. Das laute Plätschern, das jetzt die Stille durchbrach, riß ihn aus seinen Gedanken. Sein fast kahler Kopf ruckte hoch; die hellen Augen suchten den See ab. Nichts. Alles war ruhig. Leichte Nebelfetzen waberten und flirrten über die Wasserfläche. Weit hinten am anderen Ufer des Sees konnte der Alte einen Kranich erkennen, der mit einem Bein im Wasser stand und sich putzte. »Du bist aber früh auf, mein Junge. Kannst wohl auch nicht schlafen?« nuschelte der alte Angler. Wie zur Bestätigung quakte in seiner Nähe ein Frosch. »Halt die Klappe, du warst nicht gefragt«, brummte der Petrijünger. Und wieder kehrte Stille ein. Als er das Singen hörte, glaubte der Fischer zunächst, sich geirrt zu haben. Mit angehaltenem Atem lauschte er. Die Stimme klang glockenhell. Die Melodie war wunderschön. Der Alte schüttelte den Kopf. Er war doch allein hier. Seit er hier saß, hatte er keine andere Menschenseele bemerkt. Wo kam der Gesang also her? Blieb nur eine Erklärung. Der See! Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Nee, Hannes. Fang jetzt nur nicht auf deine alten Tage an zu spinnen! Auf dem See ist niemand, also kann der Gesang auch nicht von dort kommen!« schalt er sich. Doch der Alte irrte sich. Eine bleiche, schlanke Hand durchbrach die Wasseroberfläche, gefolgt von einem schwarzen Haarschopf. Und dann sah er die Frau. Sie war unbeschreiblich schön. Das Haar fiel ihr in Strähnen bis auf die nackten Hüften. Sie hatte eine atemberaubende Figur. Der alte Hannes hatte nie zuvor eine schönere Frau gesehen. Ihr glockenheller Gesang 3
drang zu ihm herüber. Der alte Fischer war ganz hingerissen von der Schönheit dieser Frau, die ihm jetzt lächelnd zuwinkte und dann mit einem hellen Lachen wieder in den Fluten versank. »Mensch, du hast heute doch noch gar nichts getrunken, Alter!« brummte Hannes vor sich hin. »Und mit offenen Augen hast du auch noch nie geträumt! Wirst wohl langsam alt, was?« Bei diesen Worten mußte Hannes lachen, bis er hustete. Er war schon hoch in den Siebzigern. Der alte Fischer kicherte immer noch, als das Wasser vor ihm zu sprudeln begann. Er kicherte auch noch, als er unter der Wasseroberfläche einen Schemen bemerkte, der sich ihm rasch näherte. Als der Schemen vor ihm aus dem Wasser auftauchte, kicherte Hannes nicht mehr. Er schrie! Die Gestalt vor ihm war genau das Gegenteil zu der strahlend schönen Frau im See. Nie zuvor hatte Hannes ein häßlicheres, widerlicheres Wesen gesehen. Eine graue, kalte Klauenhand schloß sich um sein Fußgelenk. Die Schreckensgestalt stieß ein schrilles Fauchen aus. Eine Wolke stinkenden, fauligen Atems schwebte auf den alten Fischer zu und umnebelte seinen Kopf. Angewidert wandte Hannes den Kopf ab und wurde mit einem gewaltigen Ruck von seinem Klapphocker gerissen. Hart krachte er zu Boden. Die Schreckensgestalt zog ihn ins Wasser. Hannes schrie verzweifelt auf. Diesmal in Todesangst. Er krallte seine Finger im Ufergras und im Schilf fest, doch das grauenhafte Wesen vor ihm war stark. Unheimlich stark. Der alte Mann begann zu strampeln und wild um sich zu schlagen. »Laß mich los, du Miststück!« klang es aus seinem zahnlosen Mund. »Verschwinde! Laß mich in Ruhe!« Ein heftiger Tritt traf mitten in die abgrundtief häßliche Fratze. Die Schreckensgestalt warf den Kopf zurück und lachte kreischend. »Laß endlich los, hab ich gesagt!« brüllte Hannes und placierte einen Tritt gegen die Brust des Wesens. Er hatte alle Kraft in den Tritt gelegt, und das Unglaubliche gelang. Der Griff der Klauenhand lockerte sich, und Hannes kam frei! So schnelles seine alten Knochen erlaubten, warf sich Hannes herum und krabbelte das Ufer hoch zu dem Wanderweg, der rings um den See führte. Keuchend kauerte er auf dem Boden und starrte zum Wasser. Er sah gerade undeutlich, wie die Kreatur des Schreckens in die Fluten eintauchte und verschwand. Jetzt erst wurde ihm der Schmerz an seinem Fußgelenk bewußt. Hannes starrte nach unten und hob das Hosenbein. Spitze Klauennägel hatten tiefe, blutige Furchen an seinem Bein hinterlassen, als er sich losriß. 4
Hastig raffte sich der alte Hannes auf und stolperte den Weg entlang bis zum Anlegeplatz des Bootsverleihers, der auch das See-Restaurant betrieb. Hannes kannte den Wirt gut. Sie waren schon ewig befreundet. In der Gaststube brannte Licht. Keuchend lehnte sich Hannes gegen die Tür und schlug mit der geballten Faust dagegen. An einem Fenster neben der Tür erschien eine breitschultrige Gestalt und rief: »Wir haben noch geschlossen! Und öffnen erst um neun!« »Martin, mach auf! Ich bin es, Hannes!« Der Wirt brummte etwas, aber kurz darauf drehte sich der Schlüssel im Schloß, und die Tür wurde aufgezogen. Der Wirt prallte zurück, als er das schreckensbleiche Gesicht des Alten sah. »Mensch, Hannes, ist dir nicht gut? Du siehst ja aus wie der leibhaftige Tod!« Mit diesen Worten zog er seinen Freund in die Gaststube. »Ich bin ihm begegnet«, flüsterte der Alte und ließ sich auf einen Stuhl am Stammtisch sinken. »Ich bin dem Tod begegnet!« Martin brachte eine Flasche und zwei Gläser zum Tisch und goß zwei Klare ein. »Nun erzähl schon!« forderte er Hannes auf. »Was war denn?« Der Alte starrte Martin an. »Sie ist wieder da«, brachte er mit rauher Stimme heraus. »Wer ist wieder da?« »Die Nixe. Die Teufelsnixe aus dem Glambecker See!« Der Wirt schüttelte den Kopf und grinste. »Du hast wohl heute schon ein paar zuviel getrunken, Hannes. Teufelsnixe! So ein Blödsinn! Das sind Ammenmärchen, mit denen mich meine Mutter als Kind zur Räson bringen wollte.« Martin schenkte wieder ein. »Hier, nimm dir noch einen zur Brust, damit du wieder einen klaren Kopf kriegst!« Der alte Mann legte seine gichtkrummen Finger auf die Hand des Wirts und schaute ihn offen an. »Ich habe es mir nicht eingebildet, Martin. Ich bin noch nicht so plemplem wie andere in meinem Alter. Die Teufelsnixe gibt es wirklich! Ich habe sie vorhin gesehen.« Als er Martins zweifelnden Blick bemerkte, setzte Hannes seinen Fuß auf die Stuhlkante und schob das Hosenbein hoch. »Sie wollte mich ins Wasser ziehen. Ich konnte mich gerade noch losreißen und hab das hier zurückbehalten.« Er deutete auf die blutenden Furchen an seinem Bein. Der Wirt betrachtete erschrocken die Wunde. Hannes griff mit zitternder Hand zum Schnapsglas und kippte die klare Flüssigkeit hinunter. »Sie ist wieder da«, murmelte er erneut. »Und sie wird ihre Opfer fordern.« Tränen standen ihm in den Augen. Urplötzlich war das Grauen in seine friedliche Welt eingebrochen. 5
* Manfred Leuper hatte alles für den nächtlichen Spaziergang vorbereitet. Der Wirt am See hatte ihn zwar befremdlich angeschaut und sogar versucht, ihn von dem Ausflug abzubringen, doch Leuper hatte seinen Willen durchgesetzt. Mit seinen beiden Kindern Tina und Jochen radelte er also los. Die Teenager folgten ihm mit gemischten Gefühlen. Sie hatten die Naturverbundenheit ihres Vaters und seine Angelleidenschaft immer als Spinnerei angesehen und keine große Lust gehabt, ihn in aller Herrgottsfrühe zum See zu begleiten und sich langweilige Vorträge über die Reize der Natur anzuhören. An einem Waldparkplatz stellten die drei Nachtwanderer ihre Räder ab. Von hier aus würden sie um den See wandern. Manni Leuper ließ seine Schritte weit ausgreifen. Jochen warf seiner Schwester einen ergebenen Blick zu, hob die Schultern und folgte ihm. Tina Leuper war unschlüssig. Sie hatte keinen Bock, nachts um den See zu bummeln, aber sie wollte ihren Vater auch nicht enttäuschen. Dieser Ausflug schien ihm viel zu bedeuten. Und allein zurückbleiben wollte sie auch nicht. Deshalb marschierte die Siebzehnjährige mit. Manni Leuper legte den Arm um seine Tochter. »Ich hab noch eine kleine Überraschung für dich«, sagte er leise. Er war froh, daß ihn seine Sprößlinge begleiteten. Sein Job als Redakteur bei einer Dresdner Tageszeitung ließ ihm wenig Zeit für die Familie. Da blieb es nicht aus, daß man sich mit der Zeit ein wenig entfremdete. Mit solchen gemeinsamen Trips versuchte er gegenzusteuern. Manfred Leuper brachte tatsächlich das Kunststück fertig, die beiden Teenager zu begeistern. Er ging völlig in seiner Rolle auf, konnte ihnen zahlreiche Frösche, Fische und Vogelarten zeigen und erzählte ihnen zu jedem gezeigten Tier alles, was er darüber wußte. Und das in recht unterhaltsamer Weise. Als er auch noch damit anfing, Vogelstimmen zu imitieren, brachen Tina und Jochen schließlich in lautes Gelächter aus. »Das ging aber gewaltig in die Hosen, Paps«, meinte Tina. »Da mußt du aber noch üben.« Manni Leuper zwinkerte ihr zu. »Das werde ich. In den nächsten Ferien werdet ihr mich nur noch Die Nachtigall nennen.« »Also ist dein Zeitungsjob doch nicht so stressig, wie du immer tust«, vermutete Jochen. »Sonst hättest du wohl kaum Zeit für sowas.« Der Junge sprang grinsend zur Seite, um den Wasserspritzern auszuweichen, mit denen ihn sein Vater bedachte. 6
Manni führte die beiden Teenager um den halben See, bis sie das SeeRestaurant mit dem Bootsverleih erreichten. An einem der Anlegestege dümpelte ein Ruderboot vor sich hin. »Dann steigt mal ein, ihr beiden«, sagte Manni und machte eine einladende Handbewegung. »Das ist meine kleine Überraschung.« »Wir können doch nicht einfach das Boot klauen, Paps«, meldete Tina Bedenken an. »Tun wir auch nicht«, entgegnete Manni Leuper. »Ich hab alles arrangiert. Das Boot ist extra für uns reserviert.« Er zwinkerte seiner Tochter zu. Die Siebzehnjährige lächelte und schüttelte den Kopf. »Du hast dir wirklich was einfallen lassen. Alle Achtung! Da kommt keine Langeweile auf.« Manfred Leuper war stolz. Auf seine Kinder und auch ein wenig auf sich selbst, daß er es tatsächlich geschafft hatte, den beiden ein tolles Erlebnis zu bereiten. Er wußte, daß besonders Tina sehr romantisch veranlagt war. Und was bot sich da besser an, als eine Bootsfahrt auf einem stillen See? Der aufgehenden Sonne entgegen. Der Zeitungsmann nahm neben seinem Sohn Platz. »Leg dich in die Riemen, Junior!« gab er das Kommando. »Zeigen wir der jungen Dame mal, was wir so drauf haben!« »Aye, Aye, Käpt'n!« salutierte Jochen und zog den Ruderholm kräftig zu sich heran. Sekunden später glitt das Boot gleichmäßig über die glatte Oberfläche des Zierker Sees. Still saßen die drei Menschen im Boot und betrachteten den vom ersten Tageslicht matt beschienenen See, über dessen Oberfläche leichte Nebelfetzten waberten. Die Stille war berauschend. Ringsum erkannten sie die dunkle Wand des umliegenden Waldes. An manchen Stellen reichte dichtes Schilf bis in das Wasser hinein. Die Stille wurde nur von den Wasservögeln und hin und wieder auftauchenden Fischen unterbrochen, die mit leisem Glucksen die Wasseroberfläche durchstießen. »Es ist wunderschön!« flüsterte Tina Leuper. »Ich wollte, Mam könnte das sehen.« »Ich bin froh, daß es dir gefällt«, sagte Manni und legte seiner Tochter die Hand auf das Knie. »Deine Mutter ist eben keine Frühaufsteherin. Zumindest nicht im Urlaub. Aber sie hat Ruhe verdient. Es tut ihr ganz gut, wenn sie sich mal richtig ausschlafen kann.« »Es ist, als sei die Zeit stehengeblieben, Paps. Keine Hektik, kein Krach. Nur Frieden und Stille. Es ist unvorstellbar!« Manni ließ die Unberührtheit der Natur noch etwas wirken, bevor er ernst sagte: »Das war aber nicht immer so.« 7
Jochen hob den Kopf. »Was meinst du damit?« Leuper schaute seine Kinder bedeutungsvoll an. »Nun, es gibt da gewisse Gerüchte. Aber ich will euch nicht mit alten Geschichten langweilen.« »Och, Paps, komm schon! Raus mit der Sprache!« forderte Tina. »Wer Amore sagt, muß auch Bambino sagen!« »Den Spruch vergißt du am besten gleich wieder…« Tina Leuper senkte den Blick und schmunzelte. »Keine Angst, Paps, du wirst nicht so schnell Opa. - Nun schieß aber los mit dieser Geschichte.« »Also, es gibt eine alte Legende, die besagt, daß es in dieser Gegend nicht immer so ruhig und friedvoll zuging wie jetzt.« Jochen Leuper lachte. »Paß auf, Tina, jetzt folgt Jurassic Park Teil 3. Als die Dinos in Mecklenburg herrschten!« rief er. Dafür kassierte er von seinem Vater einen Rippenstoß. »Ich rede nicht von Dinosauriern, mein Junge. Ich spreche von der Zeit vor knapp tausend Jahren.« »Ach so. Da waren die ollen Germanen hier zugange und haben Met gesoffen.« »Richtig. Ungefähr jedenfalls. Also, damals war die Gegend hier von Wenden besiedelt. Aus den Wenden gingen die Sorben hervor.« Manni Leupers Augen glühten. Er war in seinem Element. »Den ollen Germanen, wie du sie nennst, Jochen, waren die Wenden natürlich ein Dorn im Auge.« »Also haben sie sich gegenseitig verdroschen, bis die Wenden die Schnauze voll hatten und die Schwänze einzogen«, vollendete Jochen Leuper die Story. »Deine Art der Geschichtsbetrachtung gibt mir schon zu denken, Jochen. Was soll Tina bloß davon halten?« »Keine Sorge, Paps. Von seinem Geschwafel krieg ich keine roten Ohren mehr. Du solltest mal einen Tag bei uns in der Schule zubringen. Da gehen noch ganz andere Dinger ab. Dagegen ist Jochens Gequatsche echt schlaff.« »Danke, das werde ich mir dann also nicht antun«, wehrte Manni Leuper lachend ab. »Mir genügt, was ihr zuhause so von euch gebt.« Er wurde wieder ernst. »Gut, die Wenden haben also den Rückzug angetreten, und die sogenannte Zivilisation hat hier Fuß gefaßt. Und das war dann die Zeit, als die ersten Menschenopfer gebracht wurden.« »Menschenopfer? In einer zivilisierten Welt? Wo die Leute an Gott glaubten und Kirchen bauten?« »Die Opfer hatten keinen religiösen Hintergrund, Tina. Es ging darum, das schreckliche Wesen zu besänftigen, das in der Tiefe des Glambecker Sees hauste.« »Na und? Das war am Glambecker See, mitten in Strelitz. Wir sind hier außerhalb. Was hat das mit dem See hier zu tun?« fragte der Junior. 8
»Darauf komme ich gleich. Also, man munkelt, daß im Glambecker See zur damaligen Zeit eine Nixe hauste, die Angst und Schrecken unter der Bevölkerung verbreitete. Um sie zu besänftigen, brachte man ihr einmal im Monat Menschenopfer dar. Man soll die bedauernswerten Opfer am Seeufer gefesselt ausgesetzt haben, wo sie dann von der Nixe geholt und lebendig verspeist wurden.« »So ein Schwachsinn!« rief Jochen. »Nixen gibt es nicht, das weiß jedes Kind. Und menschenfressende Nixen schon gar nicht. Wenn du mir jetzt noch weismachen willst, daß es sich bei den Opfern um hübsche Jungfrauen gehandelt hat, krieg ich einen zuviel. Echt!« Sein Vater schüttelte den Kopf. »Über Jungfrauen ist mir nichts bekannt, Jochen. Die Nixe war nicht wählerisch. Sie hat alles genommen, was sie kriegen konnte. Das ging dann so bis ins vierzehnte Jahrhundert.« Tina Leuper schlang die Arme um ihren Oberkörper und beugte sich vor. Sie fröstelte und schaute gebannt auf ihren Vater. »Und was passierte dann?« wollte sie wissen. »Dann hörten die Menschenopfer auf, weil die Landesherren und Besitzer der Stadt die Opfer untersagten und einen Bürgermeister einsetzten, der für Recht und Ordnung zu sorgen hatte. Von dieser Zeit an suchte sich die Nixe ihre Opfer selbst. Sie soll fürchterlich gewütet haben.« »Und was ist nun mit dem Zierker See?« drängte Jochen. »Eines Tages bereiteten die Landesherren dem Grauen ein Ende, indem sie zur Jagd auf die Nixe bliesen. Von jenem Tage an war Ruhe im Glambecker See. Zumindest vorübergehend. Was aber niemand wußte, war, daß die Nixe nicht nur den See in Strelitz unsicher machte, sondern auch den größten See der Gegend. Und das war der Zierker See.« »Und wenn sie nicht ersoffen ist, wütet sie noch heute«, erklärte Jochen. Seine Schwester warf ihm einen bitterbösen Blick zu. »Genau. Auch in mancher blöden Bemerkung steckt ein Körnchen Wahrheit«, dozierte der Vater der beiden. »Über die Jahrhunderte hielt sich hartnäckig das Gerücht, daß die Nixe immer noch im Zierker See haust und dort auf ihr nächstes Opfer lauert.« Manni starrte seine Tochter aus weit aufgerissenen Augen an und senkte die Stimme, bis er fast flüsterte. »Man kann nie sicher sein. Achte auf das Gluckern der Fische. Bist du sicher, daß es ein Fisch war? Achte auf das Unken der Frösche. Bist du sicher, daß es nicht die Nixe war? Jedes Plätschern kann ein Schlag ihres Fischschwanzes gewesen sein.« Tina Leuper hielt den Atem an und lauschte. Eine Gänsehaut kroch ihr über den Rücken. »Und wenn sie auftaucht, dann schaukelt das Boot!« rief Manni Leuper und brachte den Kahn zum Schwanken. 9
Tina Leuper schrie gellend auf, fiel nach vorn und klammerte sich an ihren Vater. Der Journalist lachte. »Ich wußte gar nicht, daß du so schreckhaft bist, Tina«, bemerkte er und wischte sich die Freudentränen aus den Augen. Auch sein Sohn kringelte sich vor Lachen und hieb sich auf die Schenkel. »Ihr Scheusale! Das hat man nun davon, wenn man als Mädchen zwei solchen Kindsköpfen ausgeliefert ist! Ich hätte einen Herzschlag kriegen können! Rudert sofort zurück! Ich fühle mich erst wieder sicher, wenn ich festen Boden unter den Füßen habe! Wenn ich erzähle, daß ich hier mitten in der Nacht auf einen See rausgerudert bin, um mir dämliche Geistergeschichten anzuhören, glauben alle, ich sei bekloppt!« rief das blonde Mädchen. Doch wenig später mußte sie selbst lachen. Es dauerte noch eine Weile, bis sie sich beruhigt hatten. Ein letztes Mal genossen sie die Stille auf dem See, bevor Vater Leuper das Kommando zur Rückkehr gab. Das laute Plätschern in der Nähe des Bootes ließ ihn Sekunden später aufblicken. Aufmerksam schaute er sich um, doch die Wasseroberfläche war ruhig. »Was war das?« fragte Tina. »Wahrscheinlich die Nixe. Sie will dich zum Frühstück verspeisen«, meinte Jochen und kicherte. »Blödmann! Ich finde das nicht besonders lustig«, gab Tina zurück und starrte wie die anderen beiden auf das Wasser. Das laute Platschen ertönte nun direkt an der Bootswand. Manfred Leuper fuhr herum und richtete sich auf. Zu Tode erschrocken, denn er sah sich dem Grauen gegenüber. Zwei bleiche Hände mit langen Krallenfingern schossen aus dem Wasser. Sie gehörten zu einer schrecklichen Gestalt. Es war eine Frau mit langem, strähnigem Haar. Ihr schmutziggrauer, nackter Körper war von unzähligen Runzeln übersät. Am schlimmsten aber war ihr Gesicht. Die Fratze der Schreckensgestalt war so ziemlich das Abstoßendste und Widerlichste, was die drei Menschen im Boot jemals gesehen hatten. Ein kreischendes Lachen erfüllte die Nacht. Jochen sprang auf und zog eines der Ruder aus den Dolmen, während Tina Leuper gellend aufschrie. Die kalten, nassen Hände der Schreckensgestalt legten sich um Manfred Leupers Kehle, ohne daß er sich dagegen wehren konnte. Dann zerrte die eine Hand des Monsters an seinen Haaren. Der Junior wollte seinem Vater beistehen. Mit dem Ruderblatt drosch der Junge auf die Unheimliche ein. Doch das Geschöpf des Grauens zeigte sich gänzlich unbeeindruckt. Mit einer beinahe lässigen Bewegung löste sie ihre 10
Hand aus Manfred Leupers Haar, packte das Ruder und riß das schwere Teil mit einem einzigen Ruck aus Jochens Händen. Hilflos mußten die beiden Teenager mit ansehen, wie das gierige Schreckenswesen ihren Vater aus dem Boot zog. Ein letztes Glucksen, dann war der heftig strampelnde Körper des Zeitungsmannes im Wasser verschwunden. Tina Leuper begann zu heulen. Ihr Körper wurde von Weinkrämpfen geschüttelt. Jochen Leuper starrte einen Moment lang fassungslos auf das Wasser, dann hechtete er über Bord. »Jochen! Bleib hier!« schrie Tina. Doch die Siebzehnjährige erhielt keine Antwort. »Nicht du auch noch!« stöhnte sie leise und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Ihr Bruder tauchte zweimal prustend auf und versank wieder. Tina hob' den Kopf und beobachtete den See. Die Wasseroberfläche lag Sekunden später wieder ruhig da. Zu ruhig. Nicht weit entfernt trieb das Paddel, das die Schreckensgestalt ihrem Bruder aus der Hand gerissen hatte. Tina überlegte, ob sie versuchen sollte, das Paddel zu holen und zum Ufer zu rudern. Die Entscheidung wurde ihr abgenommen, als das Paddel versank. Plötzlich begann das Wasser zu sprudeln, und es färbte sich blutrot. Inmitten des sprudelnden Wassers tauchte Jochen Leuper auf und schwamm mit schnellen Zügen zum Boot. Als sich seine klammen Finger der linken Hand um den Bootsrand krallten, stieß Tina Leuper einen schrillen Schrei aus. Denn Jochen hielt den Arm seines Vaters umklammert und zog den Torso aus dem Wasser… Schockiert ließ Jochen den leblosen Körper seines Vaters los und zog sich an Bord. Hilflos schaute er zu, wie eine bleiche Krallenhand den Körper packte und nach unten zog. Gleichzeitig hallte wieder das kreischende Lachen über den See. Wie Jochen es schaffte, das Boot zum Anlegesteg zurückzubringen, konnte er später nicht mehr sagen. Tina Leuper schrie immer noch, als sie auf den Steg kletterten. Und Jochen liefen die Tränen über die Wangen. Mit taumelnden Schritten wankten die Geschwister zur Tür des SeeRestaurants. Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit wurde der Wirt aufgeschreckt. Als er die bleichen, tränenüberströmten Gesichter vor seiner Tür sah, wußte er, daß wieder etwas Schreckliches am See passiert war. Er führte die Teenager in die Gaststube, wo sie sich abtrocknen konnten. So saßen sie noch und starrten ausdruckslos aus dem Fenster zum See hinüber, als der alte Hannes im See-Restaurant auftauchte. »Sieh mal zu, ob du aus den beiden was rausbekommst«, raunte Martin. »Mir erzählen sie ja nichts.« Der alte Mann setzte sich zu den beiden Teenagern und schlürfte seinen 11
Milchkaffee. »Ihr habt sie gesehen, nicht wahr?« fragte er leise. »Mein Vater - er ist - sie hat ihn - sein Kopf…« kam Jochens unzusammenhängende Antwort. »Jetzt hat die alte Hexe also ihr erstes Opfer geholt«, murmelte der alte Mann mit zahnlosem Mund. »Schlimme Zeiten stehen uns bevor, Schlimme Zeiten!« * Als ich die Redaktionsräume der Weimarer Rundschau betrat, hatte ich gleich ein ungutes Gefühl. Nicht etwa, weil heute Montag war und der Wetterbericht Außentemperaturen von fünfunddreißig Grad aufwärts angesagt hatte. Damit konnte ich leben. Nein, es war eine unterschwellige Unruhe, die in den Büros herrschte. Eine beklemmende Atmosphäre, die von drohendem Unheil erfüllt schien. »Hallo, Mark!« rief eine Blondine, als ich an ihrer offenen Bürotür vorbeiging. »Auch mal wieder im Lande?« Sie hieß Lisa Kern, hatte ein hübsches Gesicht voller Sommersprossen und einen hinreißenden Körper. Was sich unter dem knappen T-Shirt bei jedem Atemzug abspielte, war schon sensationell. Leider verhüllten die langen, blonden Haare viel von der Pracht. Lisa trug einen Minirock, der nichts anderes als ein etwas breiterer Gürtel war und ihre langen Beine voll zur Geltung brachte. Ich pfiff anerkennend durch die Zähne. »Mit dem Outfit verwirrst du die ganze Männerriege. Kein Wunder, daß hier so ein komisches Klima herrscht. Wahrscheinlich paßt jeder auf jeden auf, damit sich ja keiner traut, dich anzubaggern.« Lisa schenkte mir ein strahlendes Lächeln und ging mit grazilen Bewegungen zu ihrem Schreibtisch, auf dem ein Tischventilator auf Hochtouren lief und ihr langes Haar auf den Rücken wirbelte. Endlich! Als sie sich vorbeugte, um einen Kaffepot aus dem Seitenfach des Schreibtisches zu angeln, gewährte sie mir atemberaubende Einblicke auf ihren braungebrannten Oberkörper. Mir wurde heiß, und das lag nicht an der Sommerhitze. »Kaffee?« fragte sie, ohne auf mein »Nein« zu warten. »Man sieht dich in letzter Zeit so selten, Mark«, sagte sie und ließ sich auf einer Ecke ihres Schreibtisches nieder, wodurch sie Unmögliches möglich machte: Ihr Rock rutschte noch höher. »Tja, du kennst mich ja. Wenn ich mich mal an einer Story festgebissen habe, gebe ich nicht auf, bis ich alle Einzelheiten kenne. Und das kostet 12
eben Zeit«, antwortete ich ausweichend. Ich konnte ihr ja schlecht erzählen, daß ich mich meistens mit Dämonen und anderen Schwarzblütern herumschlug und meine Reportertätigkeit bei der Rundschau dadurch ein wenig vernachlässigte. Das hätte sie mir wahrscheinlich sowieso nicht geglaubt. »Das kannst du mir nicht erzählen, Mark«, gurrte Lisa, erhob sich und preßte ihren Wahnsinnskörper an mich. »Du hast mehr als genug Freizeit, die du bestimmt nicht allein verbringst, so wie du aussiehst.« Sie schaute mir tief in die Augen und strich mit ihren langen Fingern sanft über meine Brust. »Ich frage mich, warum wir beide noch nie was miteinander unternommen haben.« Das Schlucken fiel mir plötzlich schwer. Ich nahm ihre Hand und zog sie sachte von meiner Brust weg. »Es hat sich eben nie ergeben, Lisa«, meinte ich. »Wer weiß, vielleicht kommt mal der Tag.« Sie wandte sich hastig um, ging zu ihrer Kaffeetasse zurück und sagte: »Wenn du glaubst, ich bleibe schön zuhause sitzen und warte auf dich, hast du dich geschnitten, Mark Hellmann!« Eigentlich war es schade. Aber ich konnte und wollte mich im Moment wirklich nicht mit einer anderen Frau einlassen. Ich mußte an meine Freundin Tessa Hayden denken, mit der ich seit mehr als zwei Jahren zusammen war. Gut, ich hatte anfangs auf einer offenen Beziehung bestanden und in dieser Zeit bestimmt nichts anbrennen lassen, was Tessa wiederum zu regelmäßigen Eifersuchtsszenen veranlaßt und unsere Beziehung stark gefährdet hatte. Aber ich war die ewigen Streitereien leid gewesen und hatte schon vor ein paar Monaten beschlossen, Tessa treu zu bleiben. Zumindest wollte ich es versuchen. Wie sagt ein deutsches Sprichwort so schön? Etwas Besseres kommt nicht nach! Ich hatte feststellen müssen, daß es irgendwie stimmte. »Ist der Chef hinten?« wechselte ich rasch das Thema, um auf andere Gedanken zu kommen. »Kannst du rausfinden, indem du selbst nachsiehst«, kam Lisas schnippische Antwort. »Da sieht man sich nach Wochen zum ersten Mal, und alles, was dich interessiert, ist die Arbeit und der schnöde Mammon.« »Hin und wieder muß ich mich ja auch um mein Bankkonto kümmern, Süße«, meinte ich entschuldigend. »Oder bevorzugst du Männer, die arm sind wie Kirchenmäuse?« Lisas Antwort wartete ich nicht ab, sondern ging den Korridor entlang zu einem kleinen Büro, in dem Max Unruh, der Chefredakteur der Rundschau, hinter seinem mächtigen Schreibtisch thronte und seine Mitarbeiter dirigierte. Bevor mich seine Sekretärin anmelden konnte, war ich schon in sein 13
Reich vorgedrungen. Auf seinem Schreibtisch herrschte das übliche heillose Durcheinander. Vor sich und an den Seiten hatte er zudem Papierstöße aufgestapelt, hinter denen er nur schwer zu erkennen war. »Tag, Chef!« grüßte ich. Es war, als hätte ich einen Einsiedlerkrebs aus seinem Mittagsschlag geweckt. Plötzlich bewegte sich etwas hinter dem Schreibtisch, es raschelte, und Max Unruhs Kopf wurde sichtbar. »Mund zu! Tür zu! Setzen!« brummte er kurz angebunden und ließ sein Haupt wieder verschwinden. Ich zuckte die Achseln. Mir war egal, in welcher Reihenfolge er seine Anweisungen befolgt haben wollte, also entgegnete ich: »Wie der Herr und Meister befehlen«, drückte die Tür ins Schloß, warf einen Papierstapel vom Besucherstuhl und nahm Platz. Max Unruh war schlichtweg das, was man unter einem Egozentriker versteht. Er hatte so viele Eigenarten, daß man sie gar nicht aufzählen konnte. Aber für mich war er mehr als nur ein Vorgesetzter. Mit seiner väterlichen Art hatte er mich damals, nach meinem Studium, gefördert, als ich mit dem Staatsexamen in Völkerkunde bei ihm anklopfte, um als freier Journalist für die Rundschau und später auch für andere Blätter zu arbeiten. Unter Unruhs Anleitung hatte ich alles gelernt, was man in diesem Job lernen kann. Er hatte mir all seine Tricks und Kniffe beigebracht, was dazu führte, daß meine Reportagen bei den Lesern gut ankamen. Damit hatte er sich allerdings auch das Recht zugesprochen, die besonders kniffligen Geschichten für mich zu reservieren. Ich fragte mich, was er diesmal für mich in petto hatte. Nach einer knappen Viertelstunde räusperte ich mich, um ihm zu zeigen, daß ich noch unter den Lebenden weilte. Keine Resonanz. Als ich mir gerade überlegte, ob ich einen regelrechten Hustenanfall bekommen sollte, um ihn auf mich aufmerksam zu machen, raschelte es wieder hinter dem Schreibtisch. Zwei Arme schoben vorsichtig die beiden Papierstapel zur Seite, hinter denen er sich versteckt hatte. Ich erschrak, als ich ihn sah. Sein dünnes Haar hing wirr vom Kopf. Seine Augen waren rot unterlaufen, seine Gesichtshaut leuchtete unnatürlich blaß. »Ist Ihnen nicht gut, Chef?« fragte ich besorgt. »Soll ich einen Arzt rufen lassen?« »Blödsinn!« brummte er und richtete sich auf. Dann griff er in die Seitenlade seines Schreibtisches und holte einen Cognacschwenker hervor. »Auch einen?« fragte er, als er sich mit trauriger Miene einen Doppelstöckigen genehmigte. 14
Ich nickte, obwohl mir Kaffee lieber gewesen wäre, und sagte: »Ich höre, Chef.« Max Unruh nahm einen Schluck und hustete. Er kramte in irgendwelchen Papieren herum und warf mir schließlich eine Dresdner Tageszeitung herüber. Das Blatt war an einem ganzseitigen Nachruf aufgeschlagen. »Wir
trauern um unseren langjährigen Kollegen, Herrn Manfred Leuper, Chefredakteur«, las ich. »Herr Leuper hat sich um unsere Zeitung in besonderem Maße verdient gemacht…«
Fragend schaute ich auf. »Er war wie ein Bruder für mich«, sagte Max Unruh leise. »Wir haben den Job zusammen angefangen. Manni und ich, wir waren ein tolles Gespann. Wir haben uns regelmäßig getroffen, gingen zusammen angeln, machten zusammen Ausflüge. Klar, es waren meist noch andere Freunde dabei, aber Manni war etwas Besonderes. Hinterläßt eine Frau und zwei Kinder.« »An was ist er denn gestorben?« fragte ich. »Krebs? Herzinfarkt? Überarbeitung?« Unruh schüttelte den Kopf. »Das ist es ja, was ich nicht begreife, Mark. Vor ein paar Tagen hat er mich noch besucht und mir erzählt, daß er mit seiner Familie rauf zu den Strelitzer Seen fährt. Er hielt nicht viel vom sonnigen Süden, wollte seiner Familie lieber die Schönheiten unseres Landes zeigen. Und jetzt ist er tot. Ermordet.« »Wer hat ihn denn umgebracht? Ist er jemandem auf die Füße getreten? Hatte er was mit Zuhältern zu schaffen? Oder mit der Russen-Mafia?« »Unwahrscheinlich. In den letzten Jahren war Manni eher für kulturelle Angelegenheiten zuständig.« Unruh machte eine Pause und leerte die Kaffeetasse. »Nur sein Torso ist gefunden worden. Der Kopf fehlt«, sagte er heiser. »Die Tat eines Wahnsinnigen?« »Das denkt die Polizei auch. Den Zeugenaussagen nach war es eine Frau.« »Zeugenaussagen? Hat etwa jemand den Mord beobachtet?« Unruh nickte. »Seine Kinder, sechzehn und siebzehn Jahre jung, waren mit ihm zusammen, als es geschah. Sie machten wohl eine Nachtwanderung und ruderten auf den See hinaus. Und dort hat es ihn dann erwischt.« Seine Stimme versagte, und er schüttelte fassungslos den Kopf. »Es klingt aber unglaubwürdig, daß eine Frau ausgerechnet während der nächtlichen Bootsfahrt unbemerkt an das Boot herangekommen sein soll, um Ihren Freund - abzuschlachten. Das scheint etwas weit hergeholt.« Ich war schon mit vielen unglaubwürdigen Ereignissen konfrontiert worden, 15
doch hier bezweifelte ich, daß die Hölle ihre Hand im Spiel hatte. »Das ist nicht zu weit hergeholt, wenn die Täterin eine Nixe war«, informierte mich Unruh indirekt. Ich hätte beinahe das Mineralwasser ausgespuckt. »Sagen Sie das noch mal!« »Laut Aussage der Kinder war die Mörderin eine Nixe oder eine Hexe, oder sowas Ähnliches«, meinte der Chefredakteur. Ich starrte ihn ungläubig an. Also hatten die Schwarzblüter doch was mit Leupers Tod zu tun. »Das ist natürlich alles Mumpitz«, meinte Unruh. »Alles billige Effekthascherei und Sensationsmache. Du kannst dir denken, wie sich die Kollegen von der Blut-Zeitung auf die Story gestürzt haben.« »Und wenn doch was dran ist? Ich meine, wenn es diese - mordende Nixe tatsächlich gibt?« ließ ich vorsichtig anklingen. »Mark, wir sind hier nicht in der Märchenstunde. Außerdem bist du wohl aus dem Alter raus, wo man an sowas glaubt. Für uns zählen nur…« »Fakten, Fakten und nochmals Fakten«, vollendete ich seinen Satz. »Genau. Und damit wären wir bei dir, mein Junge.« Ich stutzte. »Wieso? Was hab ich damit zu tun?« »Du bist doch hergekommen, um auf eine interessante Story angesetzt zu werden. Das heißt, du hast im Moment nichts zu tun, was dich in Weimar halten würde. Richtig?« Mir schwante Fürchterliches. »Richtig«, gab ich zögernd zu. »Du wirst also Urlaub machen. An der Strelitzer Seenplatte. Und so ganz nebenbei findest du heraus, was hinter der Geschichte steckt.« »Ist das nicht Sache der Polizei?« fragte ich wenig begeistert. Max Unruh lehnte sich zurück und legte die Fingerspitzen aneinander. »Diese Frage war überflüssig, Mark. Du bist lange genug in dem Job, um zu wissen, wie die Beamten in solchen Fällen vorgehen.« Das waren nun nicht gerade schmeichelhafte Worte, die mein Chef für die hiesigen Gesetzeshüter übrig hatte. Ich schrieb es seiner Aufregung und seinem Schmerz zu, daß er so reagierte. Wenn ich an Tessa Hayden dachte, die als Fahnderin bei der Kripo tätig war, und an meinen Freund und Kampfgefährten Peter Langenbach, seines Zeichens Kripohauptkommissar, wußte ich, wie falsch der Chefredakteur mit seiner Meinung lag. »Ich soll also einen Privatschnüffler spielen, eine Mörderin fangen und Ihnen eine Top-Geschichte abliefern.« Der Anflug eines verschmitzten Lächelns huschte über seine Leichenbittermiene. »Korrekt. Und was die Bezahlung angeht, Mark: Du wirst dich nicht beklagen können. Ich will wissen, was da oben wirklich 16
passiert ist. Bitte, Mark. Das bin ich Manni schuldig.« Ich hatte längst angebissen. Es ging um Nixen oder Hexen, also Wesen aus der Schattenwelt. Allein das war für mich Grund genug, nach Norden zu fahren. Nur sollte mein Chef nicht den Eindruck gewinnen, daß er bei mir leichtes Spiel hatte. Ich ließ ihn noch ein paar Minuten schmoren. »Also gut«, sagte ich schließlich. »Ich schaue mich in Strelitz für Sie um, Chef.« Er sprang auf, lief auf seinen kurzen, flinken Beinen um den Schreibtisch und drückte mir die Hand. »Ich habe doch gewußt, daß du mich nicht hängen läßt, mein Junge. Soll ich dir jemanden mitgeben, der dir zur Hand geht?« Sein Angebot stieß mir bitter auf. »Nein, danke, Chef! Das letzte Mal, als Sie mir diese Praktikantin aufgedrängt haben, hätten uns beinahe ein paar Pitbulls zum Nachtisch verspeist. Lassen Sie mal, ich komme schon allein zurecht.« (Siehe MH 17, Der Leichenzug) »Wenn du meinst«, murmelte Unruh. »Aber mir wäre es lieber gewesen, wenn du noch jemanden mitgenommen hättest.« »Ich melde mich, sobald ich was rausgekriegt habe«, sagte ich zum Abschied. Auf direktem Weg fuhr ich in meine Wohnung im Weimarer Westen. Die Reisetasche war schnell gepackt. Ich war schon auf dem Sprung nach draußen, als das Telefon klingelte. Ich hob ab, doch es meldete sich niemand. »Hallo!« rief ich in den Hörer. »Sagen Sie doch was!« Wie aus weiter Ferne hörte ich eine verzerrte Stimme. »Mark…« Es zischte und knisterte, dann kristallisierte sich auch mein Nachname heraus. »…Hellmann…!« »Hören Sie, für diese Spielchen habe ich keine Zeit! Wer sind Sie - und was wollen Sie?« Zunächst antwortete mir nur Knistern und Zischen. Ich war stinksauer und nahm, den Hörer vom Ohr. »Mark!!!« schrie es plötzlich ganz deutlich aus dem Hörer. Sofort lauschte ich wieder. »Mark, hüte dich!« Knistern. Die Stimme wurde mal lauter und wieder leiser. Ich hätte nicht sagen können, ob es sich um eine Frauen- oder eine Männerstimme handelte. »Denk an Griselda…!« Griselda? Wer, zum Teufel, ist Griselda? ging es mir durch den Kopf. Durch das Knistern in der Leitung hörte ich mehrmals, wie die Stimme noch etwas sagen wollte, das allerdings unverständlich blieb. »Habe ich den Namen richtig verstanden? Griselda? Wer oder was ist Griselda?« fragte ich. Schlagartig verschwand das knisternde Geräusch aus der Leitung. Nichts war mehr zu hören. Ich rief in den Hörer, doch meine Stimme verhallte im Nichts. 17
Unbewußt nahm ich das Prickeln an meinem rechten Ringfinger wahr. Ich senkte den Blick und schaute auf den Siegelring aus massivem Silber, der zu prickeln begann, sich erwärmte und ein leichtes Glimmen erzeugte. Der Ring, durch dessen Besitz ich zu einem Kämpfer gegen das Böse geworden war, zeigte dämonische Ausstrahlung an! Verwirrt schüttelte ich den Kopf. Ich war doch allein in der Wohnung. Wieso konnte der Ring auf schwarzmagische Einflüsse reagieren? Ein kreischendes Lachen drang aus dem Hörer und riß mich aus meinen Gedanken. Immer lauter wurde das Gelächter und schien bald den gesamten Raum zu erfüllen. »Ich bin Griselda!« schrie mir eine hohntriefende Stimme entgegen. »Du wirst vor mir zittern, Mark Hellmann, wie alle vor mir zittern!« Die gellende Stimme zerriß mir beinahe das Trommelfell. Ich wollte den Hörer vom Ohr nehmen, doch er war wie festgewachsen. Mit beiden Händen und unter Einsatz meiner ganzen Kraft konnte ich den Hörer schließlich von meinem Ohr zerren und hielt das zitternde, vibrierende Teil in Augenhöhe fest. Es gelang mir nicht, den Hörer aufzulegen. Zwischen den Löchern in der Hörmuschel war ein grünlich schillernder Schimmer zu erkennen, der sich zu einer Art Schleier verdichtete, aus dem Hörer drang und auf mich zu schwebte. Der Schleier wurde länger und glitt einmal um meinen Kopf. Sekunden später veränderte sich der Schleier. Er wurde zu einem grellgrünen Schlangenleib! Die ausdruckslosen Augen des Reptils schienen mich anzustarren. Eine feurige Zunge glitt aus dem Maul. Die Zeit schien stillzustehen. Reglos verharrte das Reptil in der Luft und starrte mich an, als wolle es mir seinen Willen aufzwingen. Ich hielt weiterhin den Telefonhörer umklammert, in dem es erneut grünlich schimmerte, und ließ die Schlange vor mir keinen Moment aus den Augen. Weit öffnete sich das Schlangenmaul und zeigte mir die nadelspitzen, giftsprühenden Zähne. Und dann zuckte der dreieckige Kopf des Reptils auf mich zu! * Mir blieb nur ein Ausweg. Ich ließ mich nach hinten fallen. Der Teppich dämpfte meinen Fall etwas. Über mir schoß der Kopf des Reptils ins Leere. Ich rollte mich herum, riß den Telefonhörer hoch und drosch auf das Biest ein, doch es war ein sinnloser Versuch. Die Schläge trieben das Reptil zwar zurück, machten es aber nur noch aggressiver. Aus dem Hörer hatte sich eine zweite Schlange materialisiert, und soeben 18
tauchte ein dritter Schleier auf. Ich schleuderte den Hörer von mir, drehte mich um und versuchte, zu meinem Einsatzkoffer zu gelangen, der neben der Reisetasche in der Diele stand. Von drei Seiten zischten die Höllenschlangen nun auf mich zu. Ich brach in die Knie, und wieder verfehlten sie mich knapp. Dafür erhielten sie Unterstützung von unerwarteter Seite. Hinter mir hörte ich ein pfeifendes Geräusch. Bevor ich mir über seine Ursache im klaren war, wickelte sich die Spiralschnur des Telefonhörers um meinen Hals. Ich krallte meine Finger um das Kabel, aber meine Bewegung kam zu spät. Die Telefonschnur war bereits zu straff gezogen. Ein gewaltiger Ruck riß mich nach hinten. Ich wand mich auf dem Boden und versuchte verzweifelt, die Schnur um meinen Hals zu lösen. Und weil das dauerte, wurde mir die Luft knapp. Hitzewallungen rasten durch meinen Kopf. Über mir erkannte ich durch einen Vorhang aus schwarzen und roten Sternen die leuchtend grünen Leiber der drei Schlangen. Der Koffer! schrie es in mir. Du mußt den Koffer erreichen! In wilder Verzweiflung warf ich mich nach vorn, stemmte mich gegen die Kraft des Telefonkabels und krabbelte auf den Einsatzkoffer zu. Kurz darauf erfuhr ich wieder mal, welche Freude es den Schwarzblütern bereitete, mit ihren Opfern zu spielen und sie zu quälen. Schweißüberströmt gelangte ich bis zur Wohnzimmertür. Es fehlten nur noch zwei Armlängen, dann hatte ich den Koffer erreicht. Dann wäre ich gerettet gewesen. Schon streckte ich den Arm nach dem Koffer aus, als die Schlangen zu Boden fielen und sich drohend vor dem Einsatzkoffer aufrichteten. Mit wildem Fauchen zuckten ihre Köpfe auf mich zu. Rasch zog ich den Arm zurück. Plötzlich machte sich die Telefonschnur wieder bemerkbar. Meine Kräfte verließen mich, und ich wurde zu einem Spielball der dunklen Mächte. Die Schnur riß mich hoch, ließ mich durch das Zimmer taumeln und gegen die Wände krachen. Das Telefon schepperte zu Boden und wurde am langen Telefonkabel mitgeschleift. Wie eine Flipperkugel prallte ich von den Wänden und Regalen ab und wurde auf die andere Seite des Raumes getrieben. Ich hob die Arme, um wenigstens meinen Kopf halbwegs zu schützen. Die dunklen Schleier vor meinen Augen wurden immer dichter. Die Umrisse des Raums und der Möbel verschwammen vor meinen Augen. Als mich die unsichtbare Kraft, die das Telefonkabel beherrschte, wieder durch den Raum schleuderte, tauchte vor mir wie ein dunkler, unendlich tiefer Abgrund der Durchgang zum Schlafzimmer auf. Ich nutzte den Schwung aus und warf mich in den schwarzen Schlund. 19
Mit meinem ganzen Gewicht prallte ich auf die Matratze des Futonbettes, wurde zur Seite geschleudert, rollte runter und krachte mit den Schultern gegen den Nachttisch. Das Möbelstück war dem ungeheuren Aufprall nicht gewachsen und brach zusammen. Die Schublade ging halb auf, und ihr Inhalt verteilte sich rings um mich auf dem Boden. Und dann bot sich mir die Lösung! Meine Augen erfaßten den glitzernden Kristallflakon, der aus der Nachttischlade gerollt war. Ein letzter Hoffnungsstrahl durchzuckte meine Gedanken. Ich erinnerte mich schwach an den Tag, an dem ich für Notfälle den Weihwasserflakon in den Nachttisch gelegt hatte, da ich schon mehrfach unangenehmen Besuch in meiner Wohnung erhalten hatte. Buchstäblich in den letzten Augenblicken, bevor ich den Kampf gegen die drohende Bewußtlosigkeit verlieren würde, packte ich den Flakon, riß mit zitternden, fast gefühllosen Fingern den Stöpsel heraus und spritzte die klare, gesegnete Flüssigkeit über meinen Hals und in mein Gesicht. Eben noch hatte mich die unheimliche Kraft, die in dem Kabel ruhte, vom Boden hochzerren wollen, um mir den Rest zu geben. Kaum trafen die ersten Weihwassertropfen das Kabel, als diese Kraft erlahmte und der Druck um meinen Hals verschwand. Ich zerrte hastig die Telefonschnur von meinem Hals weg und atmete tief durch. Mein Hals brannte. Ich mußte husten. Mir war hundeelend. Der dunkle Vorhang vor meinen Augen zerriß, mein Blick wurde allmählich klar. Ich stemmte mich auf das Futonbett und zog mich hoch. Langsam spürte ich das Kribbeln in meinen Armen und Beinen, mit dem sich meine zurückkehrenden Kräfte ankündigten. Die Schlangen! durchzuckte es mich. Die verdammten Viecher waren immer noch im Wohnzimmer! Es war wohl nur noch eine Frage von Sekunden, bis sie mitbekamen, daß ich dem Tod entronnen war. Ich beschloß, ihrem Angriff zuvorzukommen, zerrte die Tagesdecke vom Bett und hielt sie an meiner Seite, während ich zögernd zur Tür trat. Langsam streckte ich meinen Kopf vor, konnte jedoch keine der grünen Bestien im Zimmer entdecken. Meine Nackenhaare stellten sich. Eine Gänsehaut kroch über meinen Rücken. Ich hatte inzwischen eine Art sechsten Sinn für die Tricks der Schwarzblüter entwickelt und ahnte, daß im Wohnzimmer eine weitere Todesfalle auf mich wartete. »Nicht mit mir, Griselda!« schrie ich, nahm Anlauf und hechtete durch die Türöffnung. Dabei hielt ich die Tagesdecke wie einen Schutzschild vor mich. Ich war schnell. Verdammt schnell sogar. Aber die Schlangen hätten mich doch beinahe erwischt. Von oben und von den beiden Seiten neben dem Türrahmen stießen die grünen Reptilien auf mich zu und verfehlten mich 20
quasi um Haaresbreite. Ich rollte mich gekonnt ab, kam hoch und flitzte in die Diele. Zischend und fauchend jagten sie hinter mir her. Ich riß den Koffer hoch und ließ ihn in einem Rundumschlag kreisen. Die Schlangenleiber prallten gegen den Koffer und wurden gegen die Wände geschleudert. Zwei Schlangen kamen sofort wieder auf mich zu. Ich hob die Decke hoch und warf sie wie ein Netz über die beiden Reptilien. Endlich hatte ich mir genug Luft verschafft, um den Koffer zu öffnen und den armenischen Silberdolch mit den eingravierten mystischen Symbolen herauszunehmen. Die Pistole mit den Silberkugeln ließ ich, wo sie war, denn die Schlangen boten ein zu schlechtes Ziel, das sich zudem ständig in Bewegung befand. Ich rechnete mir mehr Chancen aus, wenn ich versuchte, sie mit dem Dolch zu erwischen. Die Schlangen hatten es geschafft, sich unter der Tagesdecke hervorzuwinden. Sie schwebten nach oben, um mich erneut anzugreifen. Ich wartete nicht erst auf den Angriff, sondern warf mich auf die teuflischen Reptilien. Die rasiermesserscharfe Schneide des Dolches trennte einer Schlange den Kopf vom Rumpf und spießte den Leib des zweiten Reptils in der Mitte auf. Während die kopflose Schlange zu Boden fiel und sich in einer grünlichen Rauchwolke auflöste, wand sich der zweite Schlangenleib auf der Dolchklinge. Angewidert warf ich ihn zu Boden und fegte das zuckende Reptil mit einem Fußtritt zur Seite. Fehlte noch die dritte Schlange! Ich wirbelte herum, starrte in das weit aufgerissene Schlangenmaul, sah die nadelspitzen Zähne auf mich zukommen und schrie. Sekundenbruchteile später bohrten sich die Giftzähne in meinen Hals. Ein brutaler Schmerz jagte bis in die letzten Fasern meines Körpers. Ich brach in die Knie, packte den Schlangenleib mit einer Hand und hackte mit dem Dolch hinein. Immer wieder. Eine Mischung aus Todesangst, Ekel und ohnmächtiger Wut beherrschte meine Gefühle. Grüner Rauch trat aus den zahlreichen Stichwunden, die ich der Schlange zugefügt hatte, aus. Längst hing der Leib des Reptils schlaff und leblos an meinem Hals. Ich packte den Schlangenkopf, drückte die Kiefer auseinander und schleuderte das Höllengeschöpf von mir. Keuchend kniete ich auf dem Boden und stützte mich mit beiden Armen ab. Schmerzwellen durchzuckten meinen Körper. Ich wurde von Krämpfen geschüttelt. »Jetzt - habt ihr - es - doch geschafft, verdammte Brut!« brachte ich krächzend hervor. Ich würgte. Sämtliche Muskeln spannten sich bis zum Zerreißen und entkrampften sich wieder. Vor meinen Augen wirbelte alles durcheinander. Die vergehenden Schlangenleiber, der Teppich und die Tagesdecke bildeten einen 21
unübersichtlichen Wirrwarr, der sich wie ein Kreisel vor mir drehte. Ich bekam Übergewicht und fiel auf den Rücken, wo ich mich aufbäumte und verzweifelt nach Atem rang. Aus! dachte ich. Sie waren stärker. Jetzt
lassen sie dich hier krepieren!
* »Sie gehen also von einem Serientäter aus?« fragte Kripohauptkommissar Peter Langenbach. Hartmut Nannen, sein Kollege von der Kripo Neubrandenburg, nickte. »Drei ungeklärte Todesfälle respektive Vermißtenfälle im Gebiet der Kleinseenplatte«, meinte er. »Immer bei Nacht oder in den frühen Morgenstunden. Die Umstände ähneln sich zu sehr, um nicht an einen Serientäter zu glauben.« »Ein Psychopath?« »Höchstwahrscheinlich. Er schlägt wahllos zu. Manfred Leuper war Redakteur bei einer Zeitung. Winfried Jakobsen war Rentner und passionierter Angler. Und Christoph Engler war Autoverkäufer. Die drei Opfer hatten nichts gemeinsam, kannten sich nicht mal. Es gibt keine Verbindung und somit auch kein Motiv.« »Dann ist also mit weiteren Verbrechen zu rechnen«, sagte Langenbach. Nannen senkte seinen kantigen Schädel mit dem schütteren Blondhaar. »Wir gehen im Moment davon aus, daß der Täter nur nachts zuschlägt. Das ist allerdings keine Garantie dafür, daß er nicht auch am hellichten Tag ein Opfer findet. Das Gebiet um die Seen ist groß und unübersichtlich. Er kann praktisch jederzeit und überall zur Tat schreiten.« Nannen schüttelte betrübt den Kopf. »Und das mitten in der Ferienzeit. Wenn wir den Kerl nicht bald schnappen, gibt es eine Katastrophe.« Peter Langenbach war rein zufällig mit der Angelegenheit konfrontiert worden. Er leitete am Polizeipräsidium in Neubrandenburg ein Seminar über Vorgehensregeln bei Ausschreitungen von politischen Extremisten. In der Kantine hatte Hauptkommissar Nannen die Vorfälle in dem wenige Kilometer entfernten Neustrelitz erwähnt und damit Peter Langenbachs Neugier geweckt. Mysteriöse, unerklärbare Vorfälle übten einen besonderen Reiz auf den Weimarer Kripobeamten aus. Er führte dies unter anderem auf seine Freundschaft mit Mark Hellmann zurück, der als Träger des Rings sein Leben dem Kampf gegen die Mächte der Hölle gewidmet hatte. Durch diese Freundschaft war auch Peter Langenbach schon mehrmals mit den Wesen aus dem Schattenreich aneinandergeraten und hatte am eigenen 22
Leib erfahren müssen, daß es Dinge gab, die mit einem nüchtern denkenden Verstand nicht zu erfassen waren. »Haben Sie schon Anhaltspunkte? Spuren? Hinweise aus der Bevölkerung?« fragte Langenbach. »Von wegen Hinweise aus der Bevölkerung. Die Tat geschieht entweder mitten in der Nacht oder vor dem Morgengrauen. Da schlafen die meisten Leute. Und die Frühaufsteher haben natürlich nichts gesehen oder gehört. Nicht mal der Wirt vom See-Restaurant, obwohl der eine ziemlich hirnverbrannte Geschichte erzählt hat. Von einer menschenfressenden Nixe oder so. Also nichts Brauchbares.« Peter Langenbach war hellhörig geworden. »Wie war das? Eine Nixe?« hakte er nach. Hartmut Nannen zuckte die Schultern. »Und eine Kannibalin noch dazu«, bestätigte er. »Ein alter Angler hat das Gerücht in die Welt gesetzt, daß eine Nixe aus grauer Vorzeit zurückgekehrt ist und Menschen frißt. Ich habe ihn wiederholt ermahnt, diese Geschichte zu vergessen, aber er macht sich weiterhin zum Gespött der Leute. Rennt rum und scheucht die Touristen auf. Der Alte gehört in die Klapsmühle, wenn Sie mich fragen.« »Aber der Seewirt hat die Geschichte auch erzählt?« »Er und der Alte sind schon lange befreundet. Der Alte hat ihm den Floh ins Ohr gesetzt, und der Wirt plappert die Geschichte nach. So einfach ist das.« Ein wenig zu einfach, Kollege! dachte der Weimarer Kripomann. »Gibt es sonst noch Hinweise?« »Negativ. Die beiden einzigen Zeugen, die Kinder des ersten Opfers, stehen wohl noch unter Schock. Sie faseln übrigens ebenfalls was von einem Monster, das aus dem See aufgetaucht ist und ihren Vater geholt hat.« Nannen schüttelte wieder den Kopf. »Die Kids von heute hängen zuviel vor der Glotze rum. Da ist es doch ganz natürlich, daß sie auf solche Phantastereien kommen.« Wenn du wüßtest, Mann! dachte Langenbach, sagte aber nichts. Hartmut Nannen erhob sich. »Ich will Sie nicht mit meinen Problemen langweilen, Kollege. Sie haben genug mit Ihrem Seminar zu tun. Obwohl Ihr Ruf als Spezialist für knifflige Fälle auch bis hierher gedrungen ist«, fügte er hinzu. Nannen hätte durchaus nichts dagegen gehabt, wenn sein Weimarer Kollege in den Fall eingestiegen wäre, aber er war zu stolz, Langenbach um Hilfe zu bitten. Peter Langenbach winkte ab. »Das Seminar läuft uns nicht weg. Es ist noch eine Menge Papierkram zu erledigen. Dafür gibt es Nachwuchsbeamte, die sich ein paar Lorbeeren verdienen wollen. Ich würde mich gerne mal an den Tatorten umschauen, Nannen. Vielleicht fällt 23
mir doch noch was auf.« »Tun Sie, was Sie nicht lassen können, Kollege. Aber machen Sie sich nicht allzu viele Hoffnungen. Wir verstehen auch ein wenig von dem Geschäft.« Nannen grinste. »Wenn Sie auf diese Nixe stoßen sollten, schnappen Sie sich das Fischweib! Ja? Ich kenne sowas nur aus Märchenbüchern.« Peter Langenbach grinste zurück. »Und wenn ich Ihnen Ihren Serienmörder bringe?« fragte er. »Dann nehme ich freiwillig an Ihrem Seminar teil, Langenbach!« versprach Nannen, dem derartige Schulungen ein Greuel waren, da er sie als pure Zeitverschwendung ansah. »Spitzen Sie schon mal Ihren Bleistift«, gab Langenbach zurück und schaute dem Kollegen nach, der das Büro verließ. »Mal sehen, was Freund Nikolaus davon hält«, murmelte Peter Langenbach, während er Mark Hellmanns Nummer in Weimar wählte. Er spielte damit auf Marks zweiten Vornamen an, der den Kommissar hin und wieder zu bissigen Bemerkungen veranlaßte. Von wegen Sack auf dem Rücken und so. Langenbach hörte das rapide Tuten des Besetztzeichens und versuchte es noch ein paarmal, jedoch ohne Erfolg. Der Hauptkommissar ahnte nicht, daß Mark Hellmanns Leben in diesem Moment an einem hauchdünnen seidenen Faden hing… * Hauptkommissar Langenbach hatte den ganzen Nachmittag über versucht, Mark Hellmann an die Strippe zu bekommen. Er hatte kein Glück gehabt. Gegen Abend beschloß Peter Langenbach, den Seen um Neustrelitz einen Besuch abzustatten. Die Abendsonne sorgte immer noch für hohe Temperaturen, als der Kripomann seinen Wagen am Parkplatz des Zierker Sees abstellte. Er lockerte den Krawattenknoten, wickelte die Hemdsärmel hoch und schlenderte den Wanderweg entlang. Schon nach wenigen Schritten klebte sein Hemd am Körper. »Verdammte Hitze!« fluchte er leise vor sich hin. An einigen Stellen ging Langenbach bis dicht an das Wasser heran, beschattete die Augen und schaute auf den See hinaus. Vereinzelte Ruderboote waren zu erkennen. Baden war hier verboten, deshalb konnte Langenbach auch keine Menschen im Wasser entdecken. Der Hauptkommissar war fix und fertig, als er das See-Restaurant erreichte. Er suchte sich einen Tisch im Schatten. Martin Lüders, der Wirt, wieselte herbei. »Was darf ich bringen, der Herr?« fragte er 24
dienstbeflissen. »Eine kühle Blonde wär schon recht.« Der Wirt drehte sich um und wies zum Seeufer, wo sich zahlreiche Menschen in der Sonne ausgestreckt hatten, um etwas sommerliche Farbe zu bekommen. »Suchen Sie sich eine aus«, meinte er trocken. »Es liegen ja genug herum.« »Spaßvogel«, brummte der Kripomann. »Bringen Sie mir ein Kristallweizen.« Der Wirt grinste über seinen Witz, verschwand im Restaurant und kehrte wenig später wieder zurück. Das Weizenbier war wunderbar kalt und genau das Richtige gegen den Durst. »Wünschen der Herr die Speisekarte?« versuchte Lüders sein Glück. Langenbach schüttelte den Kopf. »Später, Chef. Aber ein Weizen ist noch drin, trotz der Promillegrenze. Gönnen Sie sich eins auf meine Rechnung.« Solche Gäste liebte Martin Lüders. In Rekordzeit war er wieder da und setzte sich dem Kommissar gegenüber. »Auf Ihr Wohl, Meister!« prostete er und leerte das Weizenglas zur Hälfte. »Es gibt nichts Besseres bei dieser Affenhitze.« »Obwohl es einem in letzter Zeit ziemlich kalt den Rücken runterlaufen kann, nicht wahr?« deutete Peter Langenbach an. Der Wirt hob die Augenbrauen. »Wie soll ich denn das verstehen, Meister?« »Na, wegen dem Mann, der vor ein paar Tagen auf dem See verschwunden ist. Überall hört man davon. Unten am Fürstensee soll auch einer verschwunden sein. Und sogar im Glambecker See in Strelitz.« »Ist schon komisch, was man so alles hört, nicht?« meinte der Wirt lakonisch. Du machst es mir aber verdammt schwer, mein Junge! Langenbachs Geduld ging langsam zur Neige. Der Bursche wußte was, aber er rückte nicht mit der Sprache raus. Jetzt wunderte sich Langenbach nicht mehr, daß sich die Neubrandenburger Kollegen mit der Aufklärung der Verbrechensserie schwer taten. Sie wurden wahrlich nicht gerade mit Informationen überschüttet. Versuchen wir es eben mal andersrum! »Was können Sie denn empfehlen?« fragte der Hauptkommissar. »Bitte?« Der Wirt schien überrumpelt zu sein. Offenbar hatte ihn Langenbachs Frage aus seinen Gedanken gerissen. »Auf Ihrer Speisekarte, Chef. Ich habe nun doch Hunger bekommen. Muß wohl an der Luft liegen.« »Ach so.« Die bedrückte Miene des Wirts hellte sich auf. »Also, da hätten wir Zanderfilet oder gebratenen Hecht, dazu zarte Kartoffeln mit 25
Kräuterrahm oder Dillsoße. Oder unser Räucherfisch. Was ganz Besonderes. Wird täglich frisch geräuchert und zergeht auf der Zunge.« Langenbach entschied sich für Zanderfilet. Er bestellte noch ein Mineralwasser für sich und ein Weizenbier für den Wirt. »Sagen Sie, diese Leute, die auf dem See verschwunden sind, waren die hier in der Gegend bekannt?« fragte er zwischen zwei Bissen. - Der Wirt hatte nicht übertrieben. Der Fisch schmeckte ausgezeichnet. »Was heißt bekannt? Sie sind hier ein paarmal eingekehrt, haben was gegessen, wenn Sie das meinen.« »Was halten Sie von der Geschichte, Chef?« Der Wirt zuckte die Achseln. »Entweder sind sie verunglückt, oder…« »Oder ermordet worden«, beendete Langenbach den Satz. »Was ist Ihrer Meinung nach wahrscheinlicher?« »Keine Ahnung.« »Nun kommen Sie schon. Unfall oder Verbrechen?« Martin Lüders gab keine Antwort, sondern konzentrierte sich auf sein Bier. »Ich kann dazu nichts sagen, Meister«, sagte er schließlich. Seine Stimme klang endgültig. Für ihn war das Thema vom Tisch. »Nun sag es ihm schon, Martin«, mischte sich jemand in die Unterhaltung ein. Peter Langenbach sah auf und bemerkte einen alten, hageren Mann, der an einem Tisch hinter dem Wirt saß und das Gespräch anscheinend verfolgt hatte. »Du weißt genauso wie ich, was mit den Leuten passiert ist.« Der Alte nuschelte und bedachte den Kripomann mit einem breiten, zahnlosen Grinsen. »Halt dich da raus, Hannes«, brummte der Wirt. »Langweile meine Gäste nicht mit deinen Ammenmärchen.« »Aber das sind keine Märchen, Martin! Du hast selbst erlebt, was mit den beiden Kindern war. Sie haben ausgesehen, als wäre ihnen der Leibhaftige begegnet. Oder willst du das etwa bestreiten?« »Das war der Schock. Sie haben miterlebt, wie ihr Vater ertrank.« »Papperlapapp!« sagte der Alte. »Ich weiß es besser, und du ebenfalls. Sie ist wieder da. Sie wird bald noch mehr Menschen holen, und niemand kann es verhindern.« »Halt jetzt endlich die Klappe, Hannes, oder du fliegst hier raus! Mit deinem blöden Geschwätz vergraulst du mir noch die Gäste!« fauchte der Wirt. Der Alte winkte besänftigend ab und kicherte. Peter Langenbach schob den leeren Teller zurück und lehnte sich zurück. »Kompliment an Ihren Küchenchef«, sagte er. »Das war eine Mahlzeit für Feinschmecker.« Lüders strahlte. »Mit dem Küchenchef bin ich schon fünfzehn Jahre verheiratet. Ich gebe das Lob gerne weiter.« Mit einem wütenden 26
Seitenblick auf Hannes nahm er den leeren Teller und sein Bierglas und verschwand in der Gaststube. Peter Langenbach erhob sich und setzte sich zu dem alten Mann an den Tisch. »Was trinken Sie?« fragte er leise. Hannes hob den Kopf. »Bei der Hitze löscht ein kaltes Bier den Durst am besten«, nuschelte er. Der Wirt kam mit einem Tablett heraus, stutzte und trat zu den beiden. Er hatte einen Klaren eingeschenkt. »Zur Verdauung, Meister. Mit besten Empfehlungen der Wirtin.« »Für Sie und den Herrn hier auch einen. Und noch eine Runde Bier. Das heißt, für mich noch ein Mineralwasser.« Lüders schaute sich rasch um. Die wenigen Gäste im Biergarten schienen versorgt zu sein. Wenig später war er wieder da, stellte die Getränke ab und setzte sich neben den alten Hannes. »Sie sind aber mächtig neugierig, Meister«, meinte er. »Sind Sie von der Presse?« Langenbach schüttelte grinsend den Kopf und zückte seinen Dienstausweis. Er hatte beschlossen, mit offenen Karten zu spielen. Vielleicht kam er bei den Männern damit doch einen Schritt weiter, obwohl die Kollegen sicherlich bereits ihre Fragen gestellt hatten. Der Wirt starrte auf den Ausweis. »Polizei? - Ihre Kollegen waren vor ein paar Tagen schon da. Ich habe denen alles gesagt, was ich weiß. Nämlich nichts.« Langenbach prostete ihm zu. »Das glaube ich Ihnen nicht, Chef«, sagte er ruhig und schaute den Wirt über den Rand seines Glases offen an. »Ich will Ihnen sagen, was ich denke. Sie und Ihr Freund hier wissen etwas, das Sie der Polizei aber bisher verschwiegen haben. Ich will wissen, was es ist und warum Sie darüber schweigen.« Sein Blick wurde eiskalt. »Freunde, ich kann hier mit euch beiden gemütlich sitzen und mir eure Geschichte anhören. Oder wir können es offiziell machen. Mit Vorladung und so. Ihr habt die Wahl.« »Du mit deinem blöden Schandmaul«, zischte Lüders dem Alten zu. Langenbach gab ihnen ein paar Minuten und beugte sich schließlich vor. »Ich lausche, meine Herren!« sagte er eindringlich. »Sie werden uns sowieso nicht glauben. Sie werden uns für Spinner und Lügner halten und uns Scherereien machen. Sie werden mir den Laden dichtmachen, Herr Kommissar!« winselte der Wirt. »Lassen Sie es darauf ankommen.« Langenbach gab nicht nach. Er hatte die beiden Fische am Haken, und er würde sie an Land ziehen. »Der alte Hannes hier weiß, was passiert ist«, murmelte der Wirt. »Behauptet er zumindest.« »Ich behaupte es nicht nur, ich bin ganz sicher«, bestätigte Hannes. Er nahm einen kräftigen Schluck. »Wenn ich Ihnen erzähle, was ich weiß, 27
kriege ich dann noch eins?« fragte er und grinste verschmitzt. Der Hauptkommissar mußte lächeln. Der Alte hatte es faustdick hinter den Ohren. »Kriegen Sie. Dann schießen Sie mal los.« »Die drei Leute sind nicht verunglückt, Herr Kommissar. Sie sind umgebracht worden.« »Was macht Sie so sicher?« »Sie ist zurückgekehrt und hat sich ihre Opfer geholt.« »Und wer ist sie?« »Die Wasserhexe!« kam die bedeutungsvolle, genuschelte Antwort. Peter Langenbach musterte die beiden Männer eingehend. Sie machten nicht den Eindruck, als wollten Sie ihn auf den Arm nehmen. »Sie glauben ihm nicht so recht, Chef«, sagte Langenbach zum Wirt, der mit gesenktem Kopf am Tisch saß. »Ich kenne Hannes mein ganzes Leben lang, Herr Kommissar. Früher hat er uns Kindern unheimliche Geschichten erzählt. Auch die Geschichte von der Teufelsnixe oder Wasserhexe. Aber es ist eine Legende, nichts weiter. Wer glaubt schon, daß sowas wirklich wahr sein könnte? Aber neulich, als Hannes totenbleich in aller Frühe zu mir kam und mir erzählte, daß ihn die Hexe angegriffen hat, wurde mir doch unheimlich.«
Wenn wirklich eine Hexe im Spiel ist, muß Mark her, und zwar schleunigst! ging es dem Hauptkommissar durch den Kopf.
»Ich möchte diese Legende hören, Hannes. Die Geschichte von dieser Nixe oder Hexe. Alles, was Sie wissen«, forderte Langenbach. Und der alte Hannes erzählte… *
Lange saßen sie danach schweigend am Tisch und starrten auf ihre Gläser. Hannes schmatzte mit seinem zahnlosen Mund und rutschte ungeduldig auf seinem Stuhl herum. Langenbach schaute auf und nickte dem Wirt zu, der eilfertig neue Getränke besorgte. »Ich möchte den Platz sehen, wo Ihnen die Hexe begegnet ist«, sagte Langenbach. Ein Glitzern trat in die hellen Augen des Alten. »Sie glauben mir?« »Sagen wir mal so: Im Augenblick ist es die einzige konkrete Spur, die wir haben. Und der muß ich nachgehen.« »Wann soll ich Ihnen die Stelle zeigen?« »Morgen früh. Vor Sonnenaufgang.« Der Alte wurde blaß. »Ausgeschlossen! Ich bin doch nicht lebensmüde!« »Sie glauben also, daß sie es erneut versucht?« 28
»Ganz sicher.« »Keine Angst. Ich passe auf Sie auf, Hannes!« Es gelang dem Kripomann nach längerem Hin und Her, den alten Mann zu überreden. Sie vereinbarten, sich kurz vor vier am nächsten Morgen am Bootssteg zu treffen. Die Nacht hatte kaum Kühlung gebracht, und doch tanzten hauchzarte Nebelschleier über der stillen Wasserfläche des Zierker Sees, als Peter Langenbach am Bootssteg eintraf. »Hannes?« rief er leise. »Wo stecken Sie denn? Hannes!« Er konnte den Alten nirgendwo entdecken. Mißmutig schaute Langenbach in den beiden Ruderbooten nach, die am Steg lagen. Von Hannes keine Spur. Der Hauptkommissar überlegte, ob er im Restaurant nachfragen sollte, aber er verwarf den Gedanken wieder. Er wollte den Wirt nicht unnötig beunruhigen. Langenbach schlenderte am Seeufer entlang und hoffte, dem alten Mann doch noch zu begegnen. Allmählich wurde er wütend auf den Alten. Der Kripomann aus Weimar trug zweckmäßige Kleidung, Polo-Shirt und Jeans, um sich möglichst frei bewegen zu können, falls er der Hexe begegnete. Die Pistole trug er in einem Gürtelholster. Vorsichtshalber hatte er ein Magazin mit geweihten Silberkugeln eingesteckt, um der Hexe nicht völlig wehrlos gegenüberzustehen. Aus seinen Abenteuern mit Mark Hellmann hatte der Hauptkommissar gelernt, immer mit dem Unerwarteten zu rechnen, vor allem bei Schwarzblütern. An einer Stelle, an der die Büsche und Bäume zurücktraten und eine Wiese bis an das Wasser heranreichte, blieb Langenbach stehen und schaute auf den See. Alles war ruhig. Matt schimmerte die Wasserfläche. Leise klatschte das Wasser an den Uferrand. Mensch, Alter, du hast vielleicht Nerven! tadelte Peter Langenbach den alten Hannes in Gedanken. Hier schlug er sich für nichts und wieder nichts die halbe Nacht um die Ohren und kam sich so richtig verschaukelt vor. Ein lautes Platschen und das peitschenknallartige Brechen eines Astes ließen Langenbach herumfahren. Erneut hörte er ein platschendes Geräusch. Für den Hauptkommissar gab es kein Halten mehr. Er rannte auf den Wanderweg zurück und hastete den Geräuschen entgegen. Noch während er rannte, hallte ein gellender Angstschrei durch die morgendliche Stille. »Neeiin!« brüllte die Stimme, und Peter Langenbach wußte sofort, wer hier schrie. Es war Hannes! Panik und Todesangst schwangen in seinem Schrei mit. Augenblicke später gelangte Peter Langenbach an einen breiten, grasbewachsenen Uferstreifen, der von Bäumen gesäumt wurde. Auf der linken Seite der Uferwiese erkannte er die hagere Gestalt des alten 29
Hannes, der auf dem Boden lag, einen abgebrochenen Ast umklammerte und von einer unsichtbaren Kraft zum Wasser geschleift wurde. Der Alte wand und wehrte sich heftig, doch seine Gegenwehr war zwecklos. Unaufhaltsam rutschte er dem Wasser entgegen. Der Hauptkommissar zögerte nicht. Mit langen Sätzen rannte er über die Wiese und hechtete auf den alten Mann zu. Er krallte seine Finger in die Hemdbrust und um den Hosengürtel des Alten und zog. Zentimeter um Zentimeter schaffte er es, den Mann wieder an Land zu ziehen. Doch die unheimliche, unsichtbare Kraft, die Hannes gepackt hielt, spielte nur mit den beiden Männern. Als sie die ersten Bäume erreichten, wurden Langenbachs Bemühungen mit einem gewaltigen Ruck zunichte gemacht, der Hannes wieder zum Wasser zerrte und Langenbach von den Beinen riß und mitschleifte. »Helfen Sie mir, Kommissar! Die Hexe hat mich erwischt! Ich will nicht sterben! Helfen Sie mir! Lassen Sie nicht zu, daß sie…« Weiter kam der alte Hannes nicht. Das Wasser begann zu sprudeln, und zwei schemenhafte Gestalten hoben sich aus den Fluten. Zunächst waren sie nur undeutlich zu erkennen. Doch wenig später manifestierten sie sich zu zwei wunderschönen, splitternackten Frauen mit grünlich schimmernder Haut. Wassertropfen perlten an den Körpern. Bleiche Lippen lächelten sanft. Eine der beiden Frauen streckte die Arme nach Hannes aus. Ihre Begleiterin näherte sich Peter Langenbach. Der Hauptkommissar riß sich von dem Anblick los, packte Hannes am Arm und zog ihn auf die Beine. »Weg hier!« zischte er. »Aber wieso? Die beiden tun uns bestimmt nichts! Schauen Sie sich doch mal diese Mädchen an, Kommissar. Sie sind schön, wunderschön.« Die grünen Augen der Mädchen hielten den alten Hannes in ihrem Bann. Hannes streckte den Arm aus und ergriff die kalte Hand der bleichen Schönheit, die auf ihn zutrat. Das Lächeln auf seinem zahnlosen Mund verschwand. Maßloser Schrecken trat in seine Augen. Und Hannes schrie! Kaum hatte er die Hand des Mädchens berührt, als sich die Schöne veränderte. Die zartgliedrige Hand wurde zu einer harten, krallenbewehrten Pranke. Der Körper erschien nun schuppig und graugrün; das schöne Gesicht wurde zu einer von unzähligen Warzen und Knoten bedeckten Fratze. Gefühllose Fischaugen starrten den Alten an, und ein mit Raubfischzähnen bewehrtes Maul stieß ein gräßliches Fauchen aus. Peter Langenbach warf sich zurück, als die Klauen der zweiten Schreckensgestalt auf ihn zuschossen. Nur um Haaresbreite wischten die scharfen Krallen an seinem Hals vorbei. Die Bestie vor ihm stieß ein unwilliges Knurren aus. Die gequälten Schreie des Alten hallten über den See. Die Krallenpranke 30
des Höllenwesens hatte ihn nach vorn gerissen. Mit dem Gesicht war er gegen die feuchte, modrige Schuppenhaut geprallt. Nur Zentimeter trennten seinen Hals von den Reißzähnen im Fischmaul der Kreatur. Mit ungeheurer Kraft zerrte die Schreckensgestalt den alten Mann zum Wasser. Peter Langenbach tauchte unter den Hieben seiner dämonischen Gegnerin weg und rammte ihr den Kopf in den Leib. Die Dämonin taumelte zurück. Der Hauptkommissar sprang hoch und traf die Schwarzblüterin mit beiden Beinen vor der schuppigen Brust. Eine Kralle zuckte blitzschnell vor, zerriß ihm das Hosenbein und zog blutige Striemen über seine Wade. Die Kratzer brannten wie Feuer. Langenbach fiel zurück und biß die Zähne zusammen. Die Dämonin stolperte auf ihn zu und wischte wieder mit ihren Krallen durch die Luft. »Mal sehen, wie dir das schmeckt, Fischkopf!« brummte Langenbach, zog die Pistole und jagte zwei Kugeln in den schwammigen Fischleib. Die Kreatur stieß einen spitzen Schrei aus, als die Wucht der Geschosse sie zurücktrieb. Peter Langenbach wußte aus Erfahrung, daß er mit herkömmlicher Munition höchstens etwas Zeit gewann, den Dämonen aber keinen nennenswerten Schaden zufügen konnte. So war es auch hier. Die Dämonin starrte auf die beiden Kugellöcher in ihrer Brust, die sich fast augenblicklich wieder schlossen. Sie kicherte und schüttelte den Kopf. Mit fliegenden Finger ließ Langenbach das Magazin aus dem Pistolengriff gleiten und riß den Streifen mit der Silbermunition, die ihm sein Freund Mark mal zugesteckt hatte, aus der Tasche. Sein Atem ging stoßweise, sein Puls raste. Gerade als er das Magazin in den Griff der SIG Sauer schieben wollte, stürzte sich das dämonische Fischweib auf ihn. Das Magazin wurde ihm aus den Fingern geprellt. Mit einem wilden Schrei drosch er die Pistole in die Dämonenfratze. Seine Finger krallten sich in die Kehle des Fischweibs und drückten den häßlichen Kopf zurück. Doch die Dämonin verfügte über unmenschliche Kräfte, und das wußte auch Langenbach. Lange würde er ihr nicht standhalten können. Er mußte sie abschütteln, mußte irgendwie an die Silberkugeln gelangen! Er hörte die gellenden Schreie des alten Hannes und das Plätschern, als die dämonische Kreatur mit ihrem Opfer ins Wasser stieg. Peter Langenbach verdoppelte seine Kräfte, gab alles. Der Schweiß rann in Bächen über sein Gesicht. Stinkender, modriger Atem stieß auf ihn nieder. Angewidert drehte Langenbach den Kopf zur Seite. Keinen Augenblick zu spät! Die Krallenfinger der Dämonin rasierten an seinem linken Ohr vorbei und bohrten sich in den weichen Uferboden. Peter Langenbach drosch erneut zu, immer wieder. Aber es war sinnlos. 31
Die Höllenkreatur über ihm würde in den nächsten Sekunden kurzen Prozeß machen. Mit einem verzweifelten Aufschrei riß Langenbach seine Hand vom Hals der Kreatur und stieß seine gestreckten Finger in die vorquellenden Augen der Dämonin. Das Fischweib stieß einen unwilligen Knurrlaut aus, warf den Oberkörper hoch und fuchtelte mit den Armen herum. Peter Langenbach setzte noch einen drauf, packte eines der schuppigen Handgelenke und zog der Dämonin ihre eigenen Krallen über das Gesicht. Eines der Fischaugen wurde getroffen und zerplatzte. Die Haut des Fischgesichts platzte auf. Schwarzgrünes Dämonenblut quoll aus den tiefen Kratzern. Der Schrei der Dämonin ging Peter Langenbach durch Mark und Bein. Der Hauptkommissar schob sich unter dem Fischleib hervor und rammte beide Füße gegen den Körper der Kreatur. Sofort suchte er nach dem Magazin mit den Silberkugeln. Nur mit dieser Munition würde er jetzt noch eine Chance haben. Der Haß der fischköpfigen Dämonin war unbeschreiblich. Das verbliebene Fischauge starrte Peter Langenbach an. Die Dämonin stieß einen letzten, durchdringenden Schrei aus und setzte zum Sprung an. Jetzt hat sie dich! jagte es durch Peter Langenbachs Kopf. Jetzt bist du Fischfutter! Er nahm das leise Sirren kaum wahr. Das einzige, was er sah, war der Fischleib der Dämonin, der auf ihn zuraste, plötzlich in der Bewegung verharrte und sich mit einem gequälten Stöhnen aufbäumte. Drei metallene Spitzen bohrten sich von innen durch die schuppenbedeckte Brust. Dämonenblut lief in langen Bächen am Körper der Kreatur herunter. Peter Langenbach fragte nicht lange, warum die Dämonin von einem Dreizack, der aus dem Nichts kam, aufgespießt worden war. Er wartete auch nicht, bis der Körper der Fischkreatur im Todeskampf nach vorn sank, sondern wälzte sich herum und suchte weiter fieberhaft nach dem Magazin. Hart prallte die Dämonin neben ihm auf den Boden und blieb zuckend liegen. Nicht weit von ihr entdeckte der Hauptkommissar endlich den Munitionsstreifen, rammte ihn in die Pistole und stürzte zum Ufer. »Laß ihn los!« brüllte er und richtete die Waffe auf die Dämonin. Die Kreatur war verwirrt. Sie schaute sich suchend um, konnte jedoch nicht erkennen, woher der dreizackige Speer kam, der ihre Begleiterin getötet hatte. Jetzt kam auch noch dieser Menschenwurm und hatte die Stirn, sie mit diesem blöden Ding zu bedrohen, das Blitze und Donner spuckte und doch nichts gegen sie ausrichten konnte. Als Antwort für Peter Langenbach hob sie den alten Hannes am Hals hoch, bis seine Füße aus dem Wasser kamen, und stieß ein wildes Knurren 32
aus. Peter Langenbach meinte, so etwas wie ein Kichern zu hören. »Dir wird das Lachen gleich vergehen, Fischauge!« stieß er hervor und drückte ab. Die Silbergeschosse fuhren in den schuppigen Leib der Fischdämonin, schüttelten sie durch und ließen sie nach hinten taumeln. Der Griff ihrer Krallenhand löste sich vom Hals des alten Hannes. Der Alte sackte am Ufer zusammen und beobachtete aus weit aufgerissenen Augen den Todeskampf der höllischen Kreatur, die das Wasser aufwühlte. Die Kraft des geweihten Silbers leitete einen sofortigen Auflösungsprozeß ein. Das Wasser schimmerte hellgrün, als die Dämonin verging. Auch die Schreckenskreatur auf der Wiese war verschwunden, und mit ihr der Dreizack, der Peter Langenbach das Leben gerettet hatte. »Sind Sie - jetzt - überzeugt?« brachte der alte Hannes krächzend heraus und rieb sich seinen malträtierten Hals. Langenbach nickte. »Kommen Sie, Hannes. Ich glaube, Sie haben sich einen Klaren verdient. Mehr als einen«, sagte er leise. »Und ich rede mit dem Wirt, daß Sie soviel Fisch essen können, wie Sie wollen, Alter.« »Tun Sie mir einen Gefallen, Herr Kommissar?« bat Hannes. »Gebrauchen Sie nie mehr dieses Wort in meiner Gegenwart.« »Welches Wort?«
»Fisch!«
Peter Langenbach schüttelte den Kopf und lachte noch, als sie wenig später den ersten eiskalten Klaren kippten. * Schmerzwellen rasten durch meinen Körper. Meine Brust brannte wie Feuer. Ich hatte das Gefühl, an den Rand eines Abgrunds zu wanken. Vor mir tat sich ein bodenloser, dunkler Schacht auf. Ich wußte, daß ich rettungslos verloren war, wenn ich in diese unergründliche Tiefe stürzte. Schwindel befiel mich. Eine furchtbare Übelkeit stieg in mir hoch. Ich krümmte mich zusammen. Gedanken jagten sich in meinem Kopf. Ich sah die grünen Schlangen vor mir durch die Luft schweben und mit weit aufgerissenen, giftsprühenden Mäulern auf mich zu sausen. Ein Werwolf erschien aus dem Nichts und jagte auf mich zu. Ich schrie, als sich der geifernde Rachen des Lykanthropen auf mich senkte, doch kein Ton war zu hören. Ich sah lebende Tote, mit bleichen, knöchernen Gesichtern und leeren Augen, die tief in den Höhlen lagen. Skelette in zerrissenen Leichengewändern stolperten auf mich zu. Ich sah mich in einer Reihe mit 33
zerlumpten Piraten stehen, und der kopflose Körper unseres Kapitäns, Klaus Störtebeker, taumelte an uns vorbei… (Liebe Leser, erinnern sie sich noch an MH10?) Leichenfresser schwenkten abgerissene Gliedmaßen wie eine Keule und winkten mir zu. Riesige Ratten mit glutroten Augen sprangen an meinem Körper hoch und verbissen sich in meiner Kleidung, an Armen und Beinen, um im nächsten Augenblick wieder verschwunden zu sein. Ein dumpfes, melodiöses Geräusch und ein Pochen drangen zu mir herüber und schienen sich mit meinem rasenden Herzschlag ein Wettrennen liefern zu wollen. Immer wieder brandeten die Schläge auf und erzeugten einen schmerzhaften Druck in meinem Kopf. Hexen mit bleicher, grünlicher Haut tanzten auf Besen vor mir her. Eine wunderschöne Frau mit langem, leuchtend rotem Haar trat auf mich zu und winkte mir. Und dann begriff ich. Die Dämonen, gegen die ich als Träger des Rings angetreten war, gaben sich ein Stelldichein! Wie in einem 3-D-Film passierten die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit vor meinem geistigen Auge Revue. »Mark!« hörte ich eine Stimme aus weiter Ferne. »Mark! Junge!« Die Rothaarige vor mir winkte erneut und tauchte ganz aus dem Abgrund auf. Sie war so schön. Ich richtete mich auf. Meine Übelkeit schien wie weggeblasen. Sie wollte, daß ich zu ihr kam. Ich machte einen Schritt auf den Abgrund zu. Ein anderes Gesicht tauchte vor mir auf. Eine hübsche Frau mit kurzen, braunen Haaren und grünen Augen. »Tessa!« brüllte ich, doch ich hörte meine Stimme nicht. »Tessa! Hier bin ich!« Die Rothaarige hatte mich fast erreicht, streckte mir ihre Hände entgegen und lächelte mich auffordernd an. Es war wie ein Zwang. Ich schob meine Arme nach vorn, wollte ihre Hände ergreifen und ihr über den Rand des Abgrunds folgen. Ein Schritt. Nur ein kleiner Schritt, und alles war vorbei. »Mark! Komm endlich zu dir! Gib dich nicht auf, verdammt! Hörst du, Mark? Du - darfst - dich - nicht - aufgeben!« Da war die Stimme wieder. Sie war eindringlich, fordernd, streng. Mit jedem Wort fühlte ich, wie ein Ruck durch meinen Körper ging. Die rothaarige Schönheit trat zurück und blieb abwartend stehen, und meine Übelkeit und die Schmerzwellen kehrten zurück. Ich wandte mich um und trat auf wackligen Beinen vom Rand des Abgrunds zurück. Die dunklen Schleier vor meinen Augen wurden dünner und zerrissen sogar an einigen Stellen, um sich etwas weiter entfernt wieder zu verdichten. Ich brach in die Knie und krümmte mich zusammen. Mein Blick wurde 34
klar. Über mir erkannte ich das Gesicht eines älteren Mannes, der mich besorgt musterte. Das weiße Haar, der dichte Schnauzbart, die Hornbrille. Ich kannte diesen Mann. Es war - Ulrich Hellmann. Mein Vater! In mir regte sich etwas. Niemals aufgeben! Das war immer die Devise meines Vaters gewesen, die er mir in all den Jahren eingetrichtert hatte.
Niemals aufgeben!
Er streckte mir seine Hand entgegen. Ich fühlte seinen starken Griff. Ich konnte wieder klar denken. Für einen kurzen Moment nur, doch das genügte.
Du mußt es schaffen! Du mußt das Gift aus deinem Körper bekommen! Gib nicht auf, verdammt noch mal! Du bist der Träger des Rings! toste es
in meinen Gedanken. Die Schmerzen in meinem Körper, und vor allem in Brust und Kehle, waren schier unerträglich. Mit Ulrich Hellmanns Hilfe stemmte ich mich hoch. »Bad!« krächzte ich. »Muß - ins - Bad!« Für mich klang der Satz wie ein gutturales Kauderwelsch aus dem Dschungel. Vater schien mich jedoch zu verstehen. Obwohl er selbst durch eine Versteifung an der linken Hand und am rechten Fuß gehandicapt war, unterstützte er mich mit besten Kräften. Wie zwei Stockbesoffene taumelten wir durch die Diele zum Badezimmer. Mit letzter Kraft stürzte ich durch die Tür und fing mich eben noch am Waschbecken ab. Ulrich Hellmann griff mir unter die Schultern und richtete mich auf. Der Mann, der mir aus dem Spiegel entgegensah, war mir völlig fremd. Ich sah ein fahles, verschwitztes Gesicht. Die blonden Haare klebten auf der Stirn. Die Haut hatte einen grünlichen Schimmer angenommen. Eine schreckliche Wunde klaffte dicht über der linken Schulter. Die Wundränder waren schwarz und sonderten ein grünweißes Sekret ab. »Hemd - auf!« formulierte ich mit dicken, pelzigen Lippen. Ulrich Hellmann riß das Hemd über meiner Brust auseinander. Ich sah das siebenzackige Mal auf meiner linken Brust, das irgendwie zu pulsieren schien. Woher ich dieses Mal hatte, wußte ich nicht. Als man mich damals, in der Walpurgisnacht 1980, nackt und allein aufgefunden hatte, besaß ich nur den silbernen Siegelring mit dem stilisierten Drachen und den Buchstaben M und N, nach denen ich die Vornamen Markus Nikolaus erhalten hatte. Das Ehepaar Ulrich und Lydia Hellmann hatten mich damals an Kindes Statt angenommen und mir ein Heim und elterliche Liebe gegeben. Inzwischen wußte ich, daß ich als Träger des Rings dazu auserwählt war, den Mächten der Finsternis den Kampf anzusagen. Ich hatte Mephisto, dem Höllenfürsten, mehrfach gegen den Bocksfuß getreten, und nun sollte einer dämonischen Giftschlange das gelingen, was der Herr der Hölle nicht 35
geschafft hatte, nämlich mich zu töten!
Von wegen! Mit achtundzwanzig trete ich noch nicht ab! Noch kriegt ihr meine Seele nicht, Dämonenbrut!
Ein Gedanke hatte sich in meinem Gehirn festgefressen. Ein Mittel gab es noch, um mich einem schrecklichen Tod und den ewigen Qualen in den Dimensionen der Hölle zu entreißen. Wozu war ich schließlich der Träger
des Rings?
Ein letztes Mal nahm ich alle Kraft zusammen und preßte den Siegelring gegen das pulsierende Hexenmal auf meiner Brust. Der stechende Schmerz, der sofort durch meinen Kopf zuckte, war nichts im Vergleich zu den Schmerzen, die mir der Schlangenbiß verursachte. Der Siegelring reagierte wie wild, zitterte an meinem Finger, wurde heiß und strahlte hell. Ich drehte mich etwas zur Seite und schrieb mit dem Lichtstrahl die Runen des Futhark-Alphabets für das keltische Wort Heilung über meinen Hals und meine Brust. Die Runen waren ziemlich verzerrt zu sehen und verliefen im Halbkreis am Hals entlang, über die Bißwunde bis zu dem siebenzackigen Mal. Jetzt konnte ich nur noch warten. Wie ein Fanal brannten die Runen auf meiner Haut. Vor meinen Augen verschwamm alles. Ich sah nur noch, wie die Bißwunde an den schwarzen Rändern Bläschen aufwarf. Dann wurde es Nacht. Als ich die Augen aufschlug, sah ich über mir eine holzgetäfelte Zimmerdecke. Ich wandte den Kopf. Ulrich Hellmann saß auf einem Stuhl und grinste mich an. »Da bist du dem Teufel wohl gerade noch mal von der Schippe gesprungen«, meinte er. »Im wahrsten Sinne des Wortes«, gab ich zurück. Die Schmerzen waren verschwunden, ebenso die Atemnot. Ich fühlte mich fit wie nach einem tiefen Schlaf. Jetzt erst bemerkte ich, daß ich auf meinem Futonbett lag. Vater mußte mich hierhergeschleppt haben. »Wie kommt es eigentlich, daß du ausgerechnet in dem Moment aufgetaucht bist, als es mir am dreckigsten ging?« wollte ich wissen. »Du kennst doch deine Mutter. Sie ist immer um dein leibliches Wohl besorgt, Junge. Es ist noch Grillfleisch vom Wochenende übriggeblieben, und da meinte sie, du solltest zum Essen kommen. Ich mußte sowieso in die Stadt und dachte, ich schaue bei dir vorbei. Du hast auf Klingeln und Klopfen nicht geöffnet, aber ich habe durch die Tür Geräusche gehört. Also bin ich mit dem Ersatzschlüssel rein.« »Ich sage nie mehr was gegen Mutters übertriebene Fürsorge«, versprach ich. Mein Magen knurrte hörbar. »Wie spät ist es eigentlich?« fragte ich. Ulrich Hellmann schaute auf die Armbanduhr. »Kurz nach elf.« 36
»Dann wollen wir Mutter nicht länger warten lassen«, sagte ich und schwang mich aus dem Bett. »Was ist eigentlich genau passiert?« erkundigte sich mein Vater, als ich aus der Dusche trat und mich ankleidete. »Das erzähle ich dir unterwegs, Vater. So, wie es aussieht, werde ich sowieso deinen fachlichen Rat benötigen.« Ich legte ihm die Hand auf die Schulter. »Übrigens: Danke!« Ulrich Hellmann grinste. »Bedanke dich lieber bei deiner Mutter. Ohne ihre Einladung…« Er beendete den Satz nicht, sondern verbesserte sich. »Andererseits, laß es lieber bleiben, Junge. Wenn du dich bedankst, will sie wissen, wofür. Und wenn sie es erfährt, ist sie wieder wochenlang aus dem Häuschen.« »Und du bist dann der Leidtragende, ich weiß«, sagte ich und drückte ihm erneut dankbar die Schulter. * »Ich wollte dich eigentlich schon gestern zum Grillen einladen, aber du bist ja so schwer zu erreichen, mein Junge.« Lydia Hellmanns Stimme klang vorwurfsvoll, als sie mich zur Begrüßung umarmte. »Du läßt dich viel zu selten bei uns sehen.« »Ich werde mich bessern, Mutter.« Lydia Hellmann kannte meine Berufung, den Mächten der Finsternis in den Weg zu treten, war aber alles andere als begeistert darüber. Da auch mein Vater die Macht der Hölle am eigenen Leib erfahren und dabei die Behinderungen an Hand und Bein davongetragen hatte, war Lydia ständig besorgt, daß mir noch weitaus Schlimmeres widerfahren könnte. Deshalb erzählte ich ihr auch nicht von all meinen Begegnungen mit den Schwarzblütern und verschwieg natürlich auch den Angriff der Geisterschlangen, um Mutter nicht unnötig zu beunruhigen. Die größte Sorge aber bereitete ihr die Tatsache, daß ich noch nicht verheiratet war. Mit achtundsechzig wünschte sie sich sehnlichst eine Schwiegertochter und Enkelkinder. Die Ehe mit ihrem drei Jahre jüngeren Mann Ulrich war kinderlos geblieben. Obwohl sie mich, das zehnjährige Findelkind, damals adoptiert hatten, sehnte sich Lydia Hellmann wieder danach, Kinder hüten zu dürfen. Nur mußte ich sie da leider enttäuschen, denn dazu konnten sich meine Freundin und ich noch nicht durchringen. »Wie geht es Tessa?« erkundigte sie sich prompt nach meiner Dauerfreundin. »Sie ist in Dresden«, antwortete ich. »Undercover-Einsatz bei den 37
Obdachlosen.« »Wenn du mich fragst, hat das Mädchen den falschen Beruf. Immer unterwegs, immer in Gefahr. Wenn ich daran denke, daß sie sich mit Mördern und Zuhältern herumschlagen muß, wird mir ganz anders. Sie ist so ein liebes Mädchen. Wenn ihr mal heiratet und ihr was passiert…« Ich streichelte sanft über ihre Arme. »Du machst dir zu viele Sorgen, Mutter. Noch denken wir nicht ans Heiraten. Und Tessa kann sehr gut auf sich aufpassen. Ihr Job ist auch nicht gefährlicher als meiner.« »Das ist es ja gerade! Es genügt ja wohl, wenn einer von euch beiden ein gefährliches Leben führt! Ihr solltet endlich heiraten und Kinder kriegen, dann wäre wenigstens Tessa aus der Schußlinie…« »Und würde sich zu Tode langweilen, weil du den ganzen Tag deine Enkel hüten würdest«, unterbrach Ulrich Hellmann ihren Redefluß. »Dräng den Jungen nicht, Lydia. Er ist noch jung und hat im Augenblick wichtigere Aufgaben, als eine Familie zu gründen.« Lydia Hellmann senkte den Kopf und starrte vor sich hin, bevor sie sich abwandte. »Ich hole den Kartoffelsalat«, verkündete sie und rauschte in die Küche. »Danke, Vater. Sie hatte mich quasi mit dem Rücken an der Wand«, meinte ich, trat zu ihm an den Gartentisch und goß mir ein Glas Tee ein. Ulrich Hellmann grinste. »Manchmal muß man bei ihr eben die Zügel straffziehen, sonst hört sie mit ihrem Lieblingsthema gar nicht mehr auf.« Ich ging zum Rand der Terrasse, wo Steaks und Würste auf einem Holzkohlegrill brutzelten, und wendete das Fleisch. »Die Steaks sind bald soweit!« gab ich bekannt. »Gestern hättest du hier sein sollen, Junge. Wir hatten ein paar Nachbarn eingeladen. Aber die essen ja wie die Spatzen. Was gefehlt hat, war ein richtiger Esser wie du, Mark. Du hättest sicherlich ein paar Steaks vertragen können, bei dem synthetischen Zeug, das du sonst in dich reinstopfst!« meldete sich meine Mutter zurück und hatte auch gleich ihr zweites Lieblingsthema angeschnitten: meine Ernährung. Wenn Sie in meinen Kühlschrank schaute, spottete sie. Sie konnte nicht begreifen, daß es Menschen gab, die sich nicht die Zeit zum Kochen nahmen, sondern einfach ein Tiefkühlgericht in die Mikrowelle schoben. Ich schaute zum Himmel und verdrehte die Augen. »Nun laß den Jungen doch, Lydia. Freu dich lieber, daß er heute nachholt, was er gestern versäumt hat«, beschwichtigte mein Vater. Endlich schien sie einzusehen, daß sie gegen uns nicht ankam. Das Essen verlief harmonisch und schmeckte hervorragend. Wir redeten über Belangloses, und ich erfuhr den neuesten Klatsch aus der Nachbarschaft. »Du hast keine Ahnung, wer dich angerufen haben könnte, bevor die 38
Dämonenschlangen auftauchten?« fragte Ulrich Hellmann, als meine Mutter das Geschirr in die Küche trug und Kaffee aufbrühte. Die Geschichte, die ich ihm auf der Fahrt zu seinem Haus erzählt hatte, beschäftigte ihn immer noch. »Ich habe nicht den geringsten Anhaltspunkt, Vater. Vorläufig gibt es nur einen Namen. Griselda.« Mein alter Herr schüttelte den Kopf. »Nie gehört.« »Je mehr ich darüber nachdenke, komme ich zu der Überzeugung, daß mich jemand von der anderen Seite warnen wollte.« Ulrich Hellmann strich nachdenklich über seinen dichten Schnurrbart. »Das wäre durchaus möglich. In alten Schriften ist oft von Machtkämpfen innerhalb der Dämonenhierarchie zu lesen. Warum sollte es nicht möglich sein, daß diese Griselda irgendeinem Dämon im Wege ist, der dich dazu benutzen will, sie zu vernichten?« »Moment, Vater. Das geht mir viel zu schnell. Ich hatte vor dem Angriff der Schlangen von dieser Griselda noch nichts gehört, wußte nicht mal, daß es sie gibt oder gab. Ich kann mir keinen Reim darauf machen, warum sie ausgerechnet jetzt in Erscheinung tritt und mir ihre Giftschlangen auf den Hals hetzt.« Ich stand auf und ging auf der Terrasse auf und ab. Langsam trank ich den kalten Tee und starrte in den Garten hinunter, ohne wirklich etwas zu sehen. »Außer vielleicht…« begann ich nachdenklich, verwarf aber den Gedanken sofort wieder. »Sprich weiter, Junge, auch wenn es im Augenblick noch so abwegig klingen mag.« Ich füllte mein Glas auf und nahm einen kräftigen Schluck. »Heute morgen war ich in der Redaktion«, erzählte ich. »Max Unruh war am Boden zerstört. Er hat mich auf eine Sache angesetzt, die unmöglich etwas mit den Giftschlangen zu tun haben kann.« »Laß hören!« »Ein enger Freund von Max wurde in der Gegend von Neustrelitz ermordet. Laut Aussage der Kinder des Toten, die Zeugen des Verbrechens waren, soll der Mord von einer Nixe oder einer Hexe begangen worden sein.« »Könnte diese Griselda mit der Mörderin identisch sein?« »Selbst wenn dem so wäre, wie sollte sie ausgerechnet jetzt auf den Gedanken kommen, daß ich in Neustrelitz Nachforschungen anstellen will?« meldete ich Zweifel an. »Der Informationsdienst der Hölle funktioniert besser als jeder unserer Geheimdienste, vergiß das nicht«, meinte Ulrich Hellmann und erhob sich. »Der Teufel hat seine Ohren überall.« »Dann müßte Griselda ja inzwischen wissen, daß ihr Mordanschlag 39
schiefgegangen ist«, sagte ich und grinste. »Hoffentlich ist sie vor Wut geplatzt.« »Das hättest du wohl gerne, was? Griselda zerreißt es, du hast eine Gegnerin weniger und ihre Helfershelfer können die Sauerei wegwischen. Ich glaube nicht, daß man es dir so leicht macht, mein Junge.« Ich folgte meinem Vater in sein Arbeitszimmer im rückwärtigen Teil des Hauses, das mit Büchern und Schriften über Parapsychologie und Okkultismus vollgestopft war. Mein alter Herr schritt an den Bücherregalen entlang und ließ seine Blicke konzentriert über die Buchrücken wandern. »Wir müssen uns beeilen«, murmelte er. »Deine Mutter soll ja nicht unbedingt spitzkriegen, was wir beide schon wieder aushecken.« An einem Regal blieb er kurz stehen, holte ein Buch heraus und schob es gleich wieder kopfschüttelnd zurück. »Hier ist es«, sagte er kurz darauf. Er brachte ein relativ dünnes Büchlein zum Vorschein, das ganz in dunkelbraunes Leder gebunden war. »Darin sollten wir eigentlich einen Hinweis finden.« Von denen Nyxen und Wassergeystern lautete der Titel des Buches. Es war in mittelalterlichem Deutsch abgefaßt und wies viele lateinische Begriffe auf. Ich war froh, daß mich mein Vater bei der Suche nach Hinweisen unterstützte, denn mit meinen Lateinkenntnissen war es nicht mehr allzu weit her. Mit den Blicken folgte ich dem Zeigefinger meines Vaters, wie er über das Inhaltsverzeichnis strich. Bald hatte Ulrich das betreffende Kapitel gefunden. Er las es im Schnelldurchgang und klappte das Buch anschließend wieder zu. »Und?« fragte ich. »Irgendwas über Griselda?« Vater schüttelte den Kopf. »Aber es gab anscheinend in grauer Vorzeit tatsächlich Nixen und Wassergeister in den Seen und Flüssen um Strelitz. Normalerweise geht aus den Überlieferungen immer hervor, daß Nixen an und für sich friedliebende Wesen waren. Es muß aber auch bösartige Seejungfrauen gegeben haben, denn einer von ihnen, der Nixe aus dem Glambecker See, wurden Menschenopfer dargebracht, um sie zu besänftigen. Erst Mitte des vierzehnten Jahrhunderts unterbanden die Grafen von Fürstenberg die Opferungen. Danach soll die Nixe angeblich grausam gewütet und in unregelmäßigen Abständen Menschen in den See gezogen haben. Das ging so über mehrere Hundert Jahre, bis ein Priester aus Cammin bei Neubrandenburg die Nixe in die Tiefe eines Sees bannte, von wo sie nie mehr erschienen sein soll. Aber jedesmal, wenn jemand auf den Seen verunglückte, hieß es, die Nixe hätte ihn geholt.« »Wenn der Bann gebrochen und die Nixe wieder aufgetaucht ist, hätte sie sich keinen ungünstigeren Zeitpunkt dafür aussuchen können. Es ist 40
Ferienzeit, und dort oben wimmelt es von Touristen. Die Nixe könnte aus dem vollen schöpfen und ein regelrechtes Gemetzel anrichten.« Mein Vater nickte. »Falls es sich tatsächlich um die Nixe aus dem Glambecker See handelt, könnte das böse Folgen haben. Das heißt aber noch lange nicht, daß nicht andere Dämonen hinter dem Mord stecken. Wir können auch nicht ausschließen, daß ein Kapitalverbrechen vorliegt.« »Wenn wir davon ausgehen, daß die Nixe zurück ist«, meinte ich, »wie passen dann die Anrufe und die Schlangen ins Bild?« Ulrich Hellmann zuckte ratlos die Achseln. »Ich denke, du findest die Antwort auf diese Frage oben in Neustrelitz«, sagte er. Ich schaute zu, wie er das Buch zurückstellte. »Na ja«, sagte ich, »zumindest bin ich nicht unvorbereitet. Und wenn mir diese Nixe tatsächlich die Giftschlangen geschickt hat, ziehe ich dem Fischweib die Schuppen vom Schwanz!« »Du solltest die Wassergeister nicht unterschätzen, Mark. Die Nixe hat früher zahlreiche Menschenleben gefordert und vielleicht heute morgen bewiesen, über welche Macht sie verfügt. Nimm sie bloß nicht auf die leichte Schulter«, warnte mein Vater. »Keine Sorge. Du kennst mich doch.« »Eben, drum«, gab Ulrich Hellmann zurück. Meine Mutter kam uns entgegen, als wir das Arbeitszimmer verließen. »Ihr braucht wohl immer eine Extraeinladung, was?« fragte sie vorwurfsvoll. »Der Verdauungskaffee ist schon eine ganze Weile fertig. Wenn ihr euch hinter den Büchern versteckt, könnte die Welt untergehen, und ihr würdet es nicht bemerken.« »Ganz so schlimm ist es nun doch nicht, Lydia«, besänftigte Ulrich Hellmann seine Frau. »Es hat ja nicht allzu lange gedauert.« »Männer!« murmelte Lydia nur, schüttelte den Kopf und ging vor uns her zur Terrasse. Nach zwei Stück Erdbeertorte mit Schlagsahne war ich restlos bedient. »Von wegen Verdauungskaffee!« stöhnte ich. »Ich komme mir vor wie eine Weihnachtsgans!« »Mark, du weißt, ich mag es nicht, wenn du von unangenehmen Dingen sprichst«, beschwerte sich Mutter. »Was ist an einer Weihnachtsgans unangenehm?« fragte ich verwirrt. »An der Gans selbst nichts. Dafür an ihrem Schicksal. Oder findest du es angenehm, wenn man dir die Rübe abhackt und dich in einen Backofen schiebt?« antwortete hinter mir eine weibliche Stimme. Ich drehte mich um und starrte die Blondine an, die freudestrahlend am Rande der Terrasse stand. »Genau. Und wenn man von unangenehmen Dingen spricht, passieren 41
sie einem meistens auch«, pflichtete meine Mutter der Blondine bei. »Ich wußte gar nicht, daß du so abergläubisch bist, Mutter«, brummte ich. »Willst du uns die junge Dame nicht vorstellen?« fragte mein Vater. Ich stand auf und rückte einen Gartenstuhl für die Blondine zurecht. »Natürlich. Das ist Lisa Kern, eine Kollegin von der Rundschau. Wieso kommst du hierher?« fragte ich heiser. »Du warst nicht zuhause, also habe ich es hier versucht. Die Adresse habe ich vom Chef. Hat lange gedauert, bis er zugestimmt hat, daß ich dich begleite.« Langsam sickerten ihre Worte in meinen Verstand. »Wie bitte? Du willst mich begleiten?« Ich schüttelte heftig den Kopf. »Das kommt überhaupt nicht in die Tüte. Ausgeschlossen!« »Ich muß dich begleiten. Befehl vom Chef.« »Geht mich nichts an, ich arbeite allein.« »Ist er eigentlich immer so dickköpfig?« fragte Lisa meine Eltern und ignorierte mich dabei. Mein Vater grinste nur, und meine Mutter hatte anscheinend schon wieder eine potentielle Schwiegertochter ins Auge gefaßt. Das Glitzern in ihrem Blick sagte alles. »Nun laß deine nette Kollegin doch mitfahren«, forderte meine Mutter. »Da hast du wenigstens eine angenehme Reisebegleitung.« »Mutter, darum geht es doch gar nicht. Es geht darum, daß ich Recherchen anstellen muß, bei denen mir Lisa nur ein Klotz am Bein wäre.« Meine Mutter warf mir einen strafenden Blick zu, während Lisa deklamierte: »Ich und ein Klotz am Bein. So hat mich noch keiner bezeichnet.« Hilflos wandte ich mich an Ulrich Hellmann. »Sag doch auch mal was.« »Wieso? Die Sache scheint ohnehin entschieden zu sein. Je mehr du dich sträubst, desto unangenehmer wird es für dich. Ich an deiner Stelle wäre froh, mit einem so hübschen Mädchen auf Dienstreise gehen zu können.« Lisa bedankte sich bei meinen Eltern für Speise, Trank und Fürsprache, stand auf und wandte sich mir zu. »Meine Reisetasche steht bei deinem Wagen. Können wir?« »Kinder, ich habe einen Vorschlag. Warum vertilgen wir heute abend nicht noch den Rest, setzen uns zusammen und plaudern ein wenig? Ihr bleibt über Nacht hier, und morgen könnt ihr ausgeruht nach Strelitz fahren«, rief meine Mutter. Ich schaute demonstrativ auf meine Armbanduhr. Es war kurz nach halb vier. Wenn wir heute noch ans Ziel kommen wollten, mußten wir uns 42
beeilen. Die blonde Reporterin beobachtete mich und schien bemerkt zu haben, daß mir der Vorschlag meiner Mutter überhaupt nicht gefiel. Natürlich war Lisa sofort Feuer und Flamme. »Danke, das ist sehr freundlich, Frau Hellmann. Wenn es Ihnen nicht ungelegen kommt, nehme ich Ihre Einladung gerne an. Oder was meinst du, Mark?« »Ich wollte eigentlich…« setzte ich an, doch mein Protest wurde überhört und ich überstimmt. Lisa half meiner Mutter mit dem Geschirr. »Verräter!« zischte ich meinem Vater zu, als die beiden Frauen in der Küche verschwanden. Ulrich Hellmann lehnte sich zurück und grinste nur. Wir kamen am nächsten Morgen natürlich später weg als vorgesehen. Blondie ließ sich Zeit mit dem Frühstück… Kurz nach neun lenkte ich endlich den BMW Richtung Autobahn. Die harmonischen Klänge irischer Folkmusik drangen aus den Lautsprechern. Lisa hatte sich umgezogen. Sie lehnte sich zurück und öffnete die obersten Knöpfe ihrer dünnen Bluse. »Kannst du das Gedudel nicht mal abstellen?« fragte sie und strich ihr blondes Haar zurück. »Mir gefällt es.« Sie drückte auf den CD-Auswurf. Ich legte die CD wieder ein. Soviel zum Thema Angenehme Reisebegleitung. Die Fahrt nach Neustrelitz wurde zu einem regelrechten Höllentrip. Ohne irische Folklore. * Ich hatte das Gaspedal bis zum Bodenblech durchgetreten und den Wagen über die Autobahn gejagt, um diese Schreckensfahrt so schnell wie möglich hinter mich zu bringen. Lisa Kern schien sich außerordentlich wohl zu fühlen. Sie versuchte zunächst, mich in belanglose Plaudereien zu verwickeln, beugte sich dann mit weit geöffneter Bluse unnötig weit vor, legte ihre Hand auf mein Knie und so weiter und so weiter. Doch ich wollte nicht. Liebte Tessa so sehr wie nie zuvor und hatte einen Auftrag, der mir alles abverlangte. Dennoch huschte ein siegessicheres Lächeln über Lisas Gesicht. Es war bereits Nachmittag, als wir in der ehemaligen Residenzstadt Neustrelitz eintrafen. Am Markt, mitten im Zentrum der Stadt, stellte ich den BMW ab. Lisa räkelte sich, daß die Gelenke knackten. »Es ist immer noch furchtbar heiß«, sagte sie. »Wie wäre es, wenn wir rasch ein paar Runden schwimmen gehen? Nach der langen Fahrt ist etwas Abkühlung genau das Richtige.« 43
»Wir sind nicht zum Vergnügen hier, Lisa!« entgegnete ich. »Sehen wir zu, daß wir Zimmer bekommen!« Das Stadtzentrum wimmelte von Menschen. In den Biergärten und Eiscafes herrschte Hochbetrieb. Ich schob mich durch die Menschenmenge zum nächstbesten Hotel, wurde aber enttäuscht. »Tut mir leid, der Herr. Wir sind restlos ausgebucht«, bekam ich von der Empfangsdame zu hören. Man verwies mich an andere Hotels und fragte dort sogar telefonisch für mich nach. Die Empfangsdame teilte mir schließlich mit, daß im Schloßgarten-Hotel eine Übernachtungsmöglichkeit bestand. »Wie ich höre, haben Sie zwei Zimmer für uns«, sagte ich zu dem Mann an der Rezeption. Ich kam mir langsam vor wie ein Bettler, der um ein Almosen fleht. Der freundliche Herr mit dem dünnen Schnurrbart und der Nickelbrille schüttelte den Kopf. »Leider nein, mein Herr.« »Aber Ihre Kollegin im Louisenhof sagte doch, daß Sie zwei Betten frei haben«, widersprach ich. »Das ist richtig. Aber in einem Doppelzimmer.« »Okay, dann muß ich leider passen. Trotzdem vielen Dank für die Mühe, Chef.« »Aber wieso denn?« fragte Lisa Kern und trat an den Empfangstisch. »Wir nehmen das Zimmer selbstverständlich. Wo Sie sich unseretwegen schon solche Mühe gegeben haben.« Sie bedachte den Portier mit ihrem strahlendsten Lächeln. Ich nahm Lisa am Arm und zog sie zur Seite. »Auf keinen Fall werden wir uns ein Doppelzimmer teilen!« zischte ich. »Benimm dich hier nicht wie die Unschuld vom Lande!« fauchte sie zurück. »Wir sind schließlich erwachsene Menschen, und Einzelzimmer gibt es in dieser Stadt nun mal nicht. Es ist Hochsaison! Also reiß dich zusammen. Was soll denn der Portier von uns denken?« Sie ging zum Empfang zurück und füllte die Anmeldung aus. Ich nahm mir vor, Max Unruh den Hals umzudrehen, sobald ich wieder in Weimar war. »Was hast du jetzt vor? Willst du etwa noch arbeiten?« fragte Lisa aus dem Badezimmer, während ich ein frisches Hemd aus der Tasche nahm. »Ich schaue mich in der Stadt um«, gab ich zurück. »Und mit den Kindern des Toten möchte ich auch noch sprechen.« »Hat das nicht Zeit bis morgen?« hauchte Lisa. »Du könntest das herrliche Wetter nutzen und mit ins Strandbad gehen.« Ich war gerade dabei, mir das Hemd über den Kopf zu streifen, als ihre Finger sanft über meinen nackten Rücken strichen. Ich bekam eine Gänsehaut und griff hastig zu dem Ersatzhemd. Lisa nahm es mir aus der Hand und warf es auf das Bett. Ihre Finger spielten mit meinen Nackenhaaren. Sie drehte mich zu sich 44
um und preßte sich an mich. Dann fuhr ihre Zungenspitze langsam über meine Lippen. Ich drehte den Kopf weg und schob Lisa von mir. »Du begreifst es wohl nie, was?« fragte ich und zog mein Hemd vom Bett. »Warum bist du so abweisend, Mark? Gefalle ich dir denn überhaupt nicht?« Lisa stand am Fußende des Doppelbetts und hatte eine Hand an die Hüfte gelegt. »Du willst doch nicht etwa so zum Schwimmen gehen?« fragte ich. »Du kannst von Glück sagen, wenn Sie dich nicht wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses einbuchten!« »Wieso? Die Zeiten haben sich geändert. Die Menschen sind lockerer und toleranter geworden.« »Mit dem Aufzug überschreitest du die Toleranzgrenze aber gewaltig.« Lisa Kern trug ein Nichts von einem Bikini. Wenn sie sich so am Badesee blicken ließ, würden etliche Männer Probleme bekommen. »Das kann dir ja egal sein. Du willst ja ohnehin nichts von mir wissen. Eunuch!« erwiderte sie schnippisch, streifte ein hauchdünnes Strandkleid über, warf ein Badelaken in ihre Tasche und ging zur Tür. »Überarbeite dich nicht, Mark! Wir sehen uns dann heute nacht!« Mit diesen Worten war sie verschwunden. Von einem Kollegen in der örtlichen Lokalredaktion erfuhr ich, daß Manfred Leuper nicht der einzige Tote in den letzten Tagen war. Noch zwei Menschen waren spurlos in den Seen um Neustrelitz verschwunden. Die Polizei vermutete, daß ein Serientäter sein Unwesen trieb. Der Kollege teilte mir mit, wo ich die Hinterbliebenen von Manfred Leuper finden konnte. Sie hatten die Stadt noch nicht verlassen, da sie sich für weitere Aussagen zur Verfügung halten sollten. Außerdem war Manfred Leupers Torso noch nicht zur Bestattung freigegeben worden. Sie wohnten in einem Hotel an der Zierker Straße, nicht weit vom See. An der Rezeption erkundigte ich mich nach Tina und Jochen Leuper. »Die Herrschaften haben bereits Besuch«, erfuhr ich. »Sie befinden sich im Biergarten.« Der Angestellte wies mir den Weg zur Rückseite des Hauses. Sämtliche Tische des Biergartens waren besetzt. Eine vorbeieilende Bedienung fragte ich nach den Leupers. Sie deutete in die hinterste Ecke des Biergartens, der von Sonnenschirmen beschattet wurde. Die beiden Teenager und ein Mann schienen in ein Gespräch vertieft zu sein. Die Frau neben ihnen war wohl ihre Mutter. »Sie wissen, daß ich Ihnen diese Fragen stellen muß«, sagte der Mann, als ich mich dem Tisch näherte. »Wenn wir herausfinden sollen, was wirklich in jener Nacht geschah, müssen Sie mir alles erzählen, woran Sie 45
sich erinnern. Jede Einzelheit kann wichtig sein.« Er wartete einen Moment, bevor er die erste Frage abschoß. »Also, wie war das nun mit dieser Nixe?« »Das möchte ich auch gerne wissen«, sagte ich und trat an den Tisch. Der Mann zuckte zusammen und fuhr herum. Die beiden Teenager starrten mich verwundert an, und ihre Mutter, die ebenfalls am Tisch saß, erschrak. Mein alter Freund und Spezi, Hauptkommissar Pit Langenbach, sprang auf. »Manchmal hast du die unangenehme Angewohnheit meiner Schwiegermutter«, sagte er grinsend. »Man weiß nie, wann und wo sie auftaucht. Mensch, Alter, was machst du denn hier oben?« »Dasselbe wie du, Pit. Ich will rausfinden, was hier abläuft.« Er schlug mir auf die Schulter. »Vergiß das mit der Schwiegermutter. Ich bin froh, daß du da bist, Mark. Alles deutet darauf hin, daß du wieder was zu tun bekommst.« Er stellte mich Manfred Leupers Hinterbliebenen vor. »Herr Hellmann ist sozusagen fachlicher Berater der Kripo«, erklärte er. »Besonders, wenn wir es mit scheinbar unerklärlichen Phänomenen wie beispielsweise einer Nixe zu tun haben«, fügte er bedeutungsvoll hinzu. Ich winkte einer Bedienung, bekam einen Stuhl und bestellte eine Apfelschorle. »Wollen Sie damit sagen, daß Sie die Geschichte der Kinder glauben?« fragte Frau Leuper. »Um ehrlich zu sein, bin ich wohl der einzige Kripobeamte in der Gegend, der die Geschichte von der Nixe ernst nimmt«, meinte Pit. »Aber ich habe meine Gründe. Sie dürfen mir also ruhig alles erzählen. Ich werde Sie nicht für Phantasten oder Wichtigtuer halten.« »Es war schrecklich«, begann Tina Leuper. An ihrem Gesicht konnte man immer noch den Schock und das grauenhafte Erlebnis ablesen. Sie trank von ihrem Mineralwasser. »Dieses Wesen, das Ihren Vater in den See gezogen hat. War es nun eine Nixe?« »Na ja, sowas Ähnliches jedenfalls«, sagte Jochen Leuper. »Sie wissen, wie man sich die Nixen in den Märchenbüchern vorstellt. Schöne Frauen mit Fischschwanz und Schwimmhäuten. So war sie nicht. Sondern ausgesprochen häßlich und hatte einen faltigen, grauen Körper.« »Und keinen Fischschwanz?« »Ich habe keinen bemerkt.« »Könnte es eine Hexe gewesen sein?« fragte ich dazwischen. Jochen Leuper schüttelte den Kopf. »Auch nicht so, wie man sich Hexen vorstellt. Sie hatte keine Hakennase und ritt nicht auf einem Besen durch die Luft. Und ich habe noch nie von einer Hexe im Wasser gehört. Vielleicht war es eine Mischung von beidem. Eine Nixe mit der Häßlichkeit einer Hexe.« »Sie sind sich absolut sicher, daß Ihr Vater nicht einfach das Übergewicht 46
bekommen hat, in den See fiel und ertrunken ist?« hakte Pit nach. »Mein Mann war ein passionierter Angler und ein hervorragender Schwimmer, Herr Kommissar«, antwortete die Witwe an Stelle der Geschwister. »Außerdem hat mir dieses Wesen das Ruder aus der Hand gerissen, als ich damit zugeschlagen habe.« Jochen Leuper schnippte mit den Fingern. »Einfach so.« »Was meinen Sie dazu, Tina?« fragte der Hauptkommissar. »Es ist so, wie Jochen gesagt hat. Dieses Ungeheuer im Wasser hat Paps umgebracht. Es hat seinen Kopf…« Sie konnte nicht mehr weitersprechen. Tränen rannen über ihre Wangen. Pit drückte sanft die Hand des Mädchens. »Vater hat uns die Legende von der menschenfressenden Nixe erzählt, bevor sie ihn holte«, sagte Jochen Leuper. Ich hob die Augenbrauen. »Könnte es sein, daß diese mordende Nixe nur durch die Erzählung Ihres Vaters in Ihrem Gedächtnis herumspukt?« wollte ich wissen. »Nein, Herr Hellmann. Vater kannte viele solcher Geschichten. Er hat sich immer mit den Naturschönheiten unseres Landes und den damit verbundenen Sagen und Legenden befaßt und uns die Geschichten erzählt. Und uns damit manchmal ganz schön genervt.« »Warum hat er ausgerechnet in jener Nacht von der Nixe erzählt?« fragte Pit. »Er hatte die Bootsfahrt als Überraschung für Tina geplant. Meine Schwester ist eine hoffnungslose Romantikerin. Wissen Sie, mein Vater hatte sich ziemlich Mühe gegeben, um uns zu dem Spaziergang am See zu überreden. Sowas artete bei ihm immer zu einer kleinen Vortragsreise aus. Aber es war toll. Er hatte riesigen Spaß dran, und uns beiden hat es auch gefallen. Im Boot hat er dann von der Nixe erzählt, um Tina zu erschrecken. Wir haben uns totgelacht!« »Jochen, bitte!« rief Frau Leuper. Jetzt erst merkte Jochen, wie makaber sein letzter Satz geklungen hatte. Er wurde rot und senkte den Kopf. »Tut mir leid«, murmelte er. »Aber wenn es doch so war…« »Und gleich darauf kam die Nixe?« »Zuerst erhielt das Boot einen Schlag. Vater beugte sich über den Bootsrand, um nachzusehen. Dann kam dieses Scheusal aus dem Wasser und zerrte ihn zu sich runter.« Wir tranken schweigend. Pit Langenbach warf mir einen fragenden Blick zu. Ich nickte langsam. Die Geschichte des Jungen klang für mich plausibel. Ich hatte schon zu oft erlebt, wie unberechenbar die Hölle war. Warum sollte nicht auch diesmal eine Legende auf grausige Weise Wirklichkeit geworden sein? 47
»Hilft Ihnen die Aussage meiner Kinder weiter, Herr Kommissar?« brach Frau Leuper das Schweigen. Gespannt schaute sie Pit Langenbach an. »Ich denke schon«, antwortete Pit. »Im wesentlichen deckt sich die Geschichte mit anderen Aussagen. Ich werde meine Ermittlungen nun gezielt in dieser Richtung weiterführen. Es ist allerdings gut möglich, daß die Kollegen aus Neubrandenburg noch einige Fragen haben. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich weiterhin zur Verfügung halten würden.« »Wann - kann ich mit einer Freigabe des - meines Mannes rechnen?« erkundigte sich die Witwe stockend. »Dazu muß ich Sie leider an Hauptkommissar Nannen von der Mordkommission verweisen, Frau Leuper. Verstehen Sie das bitte. Ich bin lediglich bei den Ermittlungen behilflich. Die Entscheidungen obliegen den hiesigen Kollegen.« Wir bedankten und verabschiedeten uns. »Ich würde gerne mal die Stelle sehen, wo Leuper verschwunden ist«, sagte ich auf dem Weg zum Parkplatz. »Aber gerne. Ich wollte dich sowieso anrufen, aber du führst ja Dauergespräche, wenn man dich mal braucht!« »Du hast wahrscheinlich angerufen, als ich gerade mit dem Telefon um mein Leben kämpfte.« Ich grinste, als ich sein Gesicht sah. »Verscheißern kann ich mich selbst, deswegen hättest du dich nicht herbemühen müssen.« »Sehe ich aus, als ob ich Witze mache?« Der Hauptkommissar blieb stehen. »Och nee, Mark, das geht nun wirklich zu weit. Ich bin zwar einiges gewöhnt, aber ein Todeskampf gegen ein Telefon? Nee, Alter, aber das ist nun wirklich albern!« »Es kommt noch besser«, sagte ich und erzählte ihm von den dämonischen Giftschlangen. Pit Langenbach war bleich geworden. »Sorry, Mark. Ich nehme alles zurück und behaupte das Gegenteil! Meinst du, der Anschlag hat was mit dem Auftauchen dieser Nixe zu tun?« »Ich bin mir nicht sicher. Das können wir im Prinzip nur rausfinden, indem wir diese blutrünstige Seejungfrau danach fragen.« »Oder einen ihrer Helfershelfer. Die sind mir nämlich letzte Nacht begegnet.« »Schlimm?« Pit nickte. »Verdammt knapp, Mark. Aber ich hatte Hilfe. Irgend jemand hat einen der Fischköpfe mit einem Dreizack erledigt. Zu sehen war allerdings niemand.« Ich erinnerte mich an den seltsamen Anruf, den ich kurz vor dem Anschlag erhalten hatte. Man hatte versucht, mich zu warnen. Und jetzt 48
hatte man Pit Langenbach das Leben gerettet. »Je länger ich darüber nachdenke, Pit, komme ich zu der Überzeugung, daß wir Verbündete von der anderen Seite haben. Ich könnte mir denken, daß der Anruf bei mir mit deiner Rettung zusammenhängt.« Pit Langenbach schaute sich suchend um. »Das würde bedeuten, daß man uns beobachtet. Big Brother is Watching! Die Hölle startet zum großen Lauschangriff! Na prima. Jetzt können wir nicht mal mehr einen fahren lassen, ohne daß es der Teufel mitkriegt!« »Reg dich ab, Pit. Die Hölle ist sowieso über alles informiert, was hier abgeht. Aber früher oder später werden sich unsere unsichtbaren Freunde zeigen, und dann wissen wir mehr.« Ich folgte Pit zu dem Waldparkplatz, von wo Manfred Leuper mit seinen Kindern gestartet war. Pit zeigte mir den Bootssteg, das See-Restaurant und die Uferwiese, wo er gegen die fischköpfigen Dämonen gekämpft hatte. Wir ruderten auf den See hinaus, um die Stelle zu besichtigen, wo Manfred Leuper verschwunden war. Nichts deutete auch nur annähernd darauf hin, daß in den Tiefen des Sees das Grauen hauste! »Den alten Hannes stelle ich dir morgen vor. Willst du die anderen Seen auch noch besuchen?« fragte Pit. »Heute nicht mehr. Laß uns zurückfahren und irgendwo noch was trinken gehen. Morgen schaue ich mich im Stadtarchiv um. Am Nachmittag kannst du mir die Stellen zeigen, wo die anderen Opfer verschwunden sind.« »Ich habe auch noch ein Seminar zu leiten, vergiß das nicht«, erinnerte Pit. Er schaute dabei allerdings überhaupt nicht glücklich. »Hier geht es um Menschenleben. Da mußt du die Theorie halt verschieben.« Wir kehrten im Klabautermann im Zentrum der Stadt ein. Ich hatte Hunger gekriegt, und Pit hielt wacker mit. Er ließ es sich nicht nehmen, mich einzuladen. »Na, dann…« sagte ich und prostete ihm zu. »Und wer lädt mich ein?« fragte jemand hinter mir. Ich verschluckte mich an meinem Wein und stellte hastig das Glas ab. »Fühlt man sich frei und unbeschwert, taucht Lisa auf - und stört!« brummte ich. »Seit wann bist du unter die Dichter gegangen, Mark? Das sind ja ganz neue Seiten, die ich an dir noch gar nicht kenne! Willst du mich deinem Freund nicht vorstellen?« »Nein!« Der Hauptkommissar war die Höflichkeit in Person und machte sich mit der Reporterin bekannt. Sie ließ sich unaufgefordert am Tisch nieder und 49
streckte sich. »Ach, das Wasser hier ist wirklich herrlich!« schwärmte sie. »Was trinken Sie?« fragte Pit. »Nichts!« sagte ich. »Wir gehen!« »Aber Mark! Ich bin doch gerade erst gekommen! Du hast dir den Bauch vollgeschlagen, und ich habe auch Hunger!« Sie lächelte Pit über den Tisch hinweg an. »Ein Weizenbier, bitte.« Es blieb natürlich nicht bei einem Bier. Je mehr Gerstensaft Blondie intus hatte, desto aufgekratzter wurde sie. Kurz nach Mitternacht hatte sie endlich genug. Pit begleitete sie ins Hotel und ließ sie in meine Arme fallen. »Allseits angenehme Nachtruhe!« wünschte er, zwinkerte mir zu und trollte sich. Ich hatte alle Mühe, die schwankende Blondine auf unser Zimmer zu bringen. »Wo schläfst du?« fragte sie mit schwerer Zunge. »Links oder rechts?« »Mir egal.« »Auch gut«, lallte sie und wankte zu einem Stuhl in der Nähe des Fensters, wo sie ihre Sandalen abstreifte. Ich verschwand im Bad und kam zurück, als sie ihr Strandkleid abstreifte und achtlos zu Boden gleiten ließ. Sie torkelte auf mich zu, hakte das Bikinioberteil auf und ließ es vor meine Füße flattern. »Ups!« machte sie, als sie stolperte und sich an mir festhielt. Ich schob sie von mir und zog mich aus, während sie im Bad verschwand. Gleich darauf war sie wieder da, streifte sich das Höschen ab und warf es mir zu. Kichernd verriet sie: »Das hatte ich ganz vergessen zu sagen, mein Lieber, ich schlafe immer nackt. Das stört dich doch hoffentlich nicht?« Dieses raffinierte Biest! Sie läßt aber auch nichts aus! dachte ich und verdrehte die Augen. Als sie neben mir auf das Bett plumpste, knipste ich die Nachttischlampe aus. Darauf schien sie nur gewartet zu haben. Ihr Körper schmiegte sich an mich, ein langes Bein schwang sich über mich, und ihre Hand ging auf Wanderschaft. »Jetzt ist aber Schluß, verdammt!« rief ich. »Ich schlafe nicht mit dir, Lisa! Sieh es endlich ein!« »Ich mag Männer, die sich sträuben«, hauchte sie. Mit einem Fluch sprang ich aus dem Bett, nahm mein Bettzeug mit und verbrachte die Nacht in der Badewanne. * Nach einer unruhigen Nacht wartete ich nicht, bis Lisa Kern ihren Schwips ausgeschlafen hatte. So leise wie möglich kleidete ich mich an, 50
nahm den armenischen Silberdolch, ein geweihtes Holzkreuz und einen Weihwasserflakon aus dem Einsatzkoffer, um für die Bootsausflüge am Nachmittag gerüstet zu sein, und ging frühstücken. Die Pistole ließ ich auf dem Zimmer zurück. Sie hätte ich nicht auch noch bei der sommerlichen Hitze am Mann verstecken können. Gegen zehn hatte ich mich dann zum Stadtarchiv durchgefragt und mich dem zuständigen Beamten der Stadtverwaltung als Berater der Kripo vorgestellt. Er wunderte sich zwar, daß sich die polizeilichen Ermittlungen auch auf historische Ereignisse in Strelitz erstreckten, war mir aber trotzdem behilflich. Mit Hilfe des Archivars trug ich alte Schriften und Berichte zusammen, die großteils in dicken, staubigen Büchern gebunden waren, und brachte sie zu einem Tisch in der Nähe des Fensters, wo ich sie nebeneinander ablegte. »Wenn Sie noch einen Wunsch haben, wenden Sie sich bitte an meine Mitarbeiterinnen«, sagte der Archivar und zog sich zurück. Ich ackerte die alten Dokumente durch, die zum Teil noch aus der Strelitzer Gründerzeit um das Jahr 1328 stammten. Nirgends fand ich einen Hinweis auf Menschenopfer, die man einer Nixe darbrachte, oder auf eine Frau namens Griselda. Es war zum Verzweifeln. Die einzige Spur, die ich hatte, schien hier schon wieder im Sande zu verlaufen. Vielleicht hatte diese Griselda ja tatsächlich nichts mit der menschenfressenden Nixe zu tun. »Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?« fragte eine junge Angestellte, die unbemerkt den Raum betreten hatte. Ich akzeptierte dankend. Grübelnd schlürfte ich den Kaffee, als die Angestellte erneut hereinkam. »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?« fragte sie. »Sie sehen aus, als hätten Sie ein Problem.« »Das kann man wohl sagen«, murmelte ich. Sie kam näher, und ich bemerkte, wie hübsch sie war. Ihr Gesicht, das von langen, pechschwarzen Haaren umrahmt wurde, hatte eine beispiellose natürliche Schönheit. Die strahlend grünen Augen erinnerten mich an eine amerikanische Filmschauspielerin, deren Augen ebenso hell strahlten. »Was macht eine Schönheit wie Sie eigentlich an so einem staubigen Ort?« wollte ich wissen, um irgendwas zu sagen. »Archivieren«, gab sie lachend zurück. »Die Antwort hätte ich mir auch selbst geben können.« »Nein, im Ernst. Ich interessiere mich für die Geschichte dieser Gegend. Außerdem darf man heutzutage nicht wählerisch sein, was die Jobs anbelangt.« »Da haben Sie auch wieder recht, Mädchen.« »Ich heiße Aurelia«, sagte sie. 51
»Ein seltener Name. Und ein schöner dazu. Er paßt zu Ihnen.« »Danke. Also, kann ich Ihnen helfen?« Ich leerte die Kaffeetasse und richtete mich auf. »Vielleicht. Haben Sie jemals den Namen Griselda gehört?« »Meinen Sie die Wasserhexe?« Ich fiel beinahe vom Stuhl. »Wie kommen Sie darauf?« »Weil sie die einzige Person mit diesem Namen ist, der ich jemals begegnet bin.« Ich war wirklich total von den Socken. Urplötzlich hatte sich die Spur verdichtet, hatte ich die erste Bestätigung für die Existenz der mordenden Nixe erhalten. Und zum ersten Mal kristallisierte sich ein Zusammenhang zwischen dem Mordanschlag auf mich und dem Auftauchen der Nixe in den umliegenden Seen heraus. »Können Sie mir mehr darüber erzählen?« fragte ich Aurelia. Lächelnd trat sie an den Tisch und suchte einen bestimmten Dokumentband heraus. Ich beobachtete ihre zarten Hände, die das Buch aufschlugen und darin blätterten, bis die gesuchten Seiten gefunden waren. »Hier finden Sie alles über Griselda«, sagte das Mädchen mit dem ungewöhnlichen Namen leise. Das Dokument trug den Titel Niederschrift über das teuflische Treyben der Hexe Griselda zu Strelitz. Es wurde geschildert, wie Griselda als strahlend schöne Nixe in der Stadt bekannt war, später jedoch als Wasserhexe die Stadt mit ihrer Schreckensherrschaft heimsuchte und unzählige Opfer forderte. Auch der Bann, den der katholische Pater Conrad aus Cammin bei Neubrandenburg über die Hexe verhängt hatte, wurde erwähnt. Nach vielen lateinischen Floskeln endete der Bannspruch mit den Worten: »Schändliches Weib, das mit Satanas, dem Teufel, gebuhlet und
Gott, dem Allmächtigen, abgeschworen - weiche hinweg! Auf ewig seist du gebannet an diesen Ort, auf daß du nie mehr Plag und Unheil bringen mögest über Gottes Kinder!«
Ein Holzschnitt zeigte die Verbannung der Hexe im See. Auf einer anderen Abbildung war die schöne Nixe zu sehen, wie sie aus dem See stieg und in Menschengestalt den Ort besuchte. »Wo genau hat diese Griselda gehaust?« fragte ich. »Im Glambecker See«, antwortete Aurelia. »Aber als sie sich von den Nixen abgewandt hatte, weitete sie ihr Reich auf die übrigen Seen und Gewässer um Strelitz aus.« Ich strich über die Seiten des Buches und berührte das Bildnis der schönen Nixe Griselda. Mein Siegelring begann sich leicht zu erwärmen. Ich mußte vorsichtig sein. Vielleicht reichte die Macht der Wasserhexe bis hierher. Aufmerksam musterte ich die Frau mit dem schönen Namen, doch 52
ich war fast davon überzeugt, es bei ihr nicht mit einer Dämonin zu tun zu haben. Und doch - als sie ebenfalls über Griseldas Bildnis strich, reagierte der Ring noch stärker. Ein wehmütiger Ausdruck lag auf dem Gesicht der Archivarin. »Wissen Sie, wie es dazu kam, daß aus der liebenswürdigen Nixe Griselda eine blutrünstige Hexe wurde?« erkundigte ich mich. Ein Ruck ging durch den Körper der jungen Frau. Sie schaute mich einen Moment lang aus verschleierten Augen an. Dann schüttelte sie den Kopf. »Tut mir leid. Darüber kann ich Ihnen nichts sagen, Mark.« Sie wandte sich hastig ab und ging zur Tür. »Sie müssen mich jetzt entschuldigen. Ich muß gehen«, murmelte sie. »Warten Sie, Aurelia! Sie wissen mehr über Griselda. Sie müssen mir alles erzählen!« Sie drehte sich zu mir um und schaute mich bedauernd an. »Es tut mir leid«, sagte sie wieder. Im selben Augenblick knallte die Tür zu! Aurelia wirbelte herum und rüttelte an der Stahltür des Archivs, doch sie ließ sich nicht öffnen. Panik überfiel sie. Sie rannte auf mich zu. »Unternehmen Sie was, Mark! Griselda wird uns töten! Sie ist stärker und mächtiger als je zuvor!« Ich packte die junge Frau an den Schultern und schob sie auf den Schreibtischstuhl. »Was Wissen Sie, Aurelia? Wieso sind Sie so sicher, daß Griselda uns hier eingeschlossen hat?« fragte ich eindringlich. »Weil ich…« Weiter kam sie nicht. Ich erhielt von unsichtbarer Faust einen Stoß vor die Brust und wurde gegen die Wand getrieben. Aus dem Holzschnitt, der die Verbannung der Wasserhexe zeigte, löste sich ein grünlicher Nebel, der einen Augenblick wie ein dichter Schleier über dem Tisch waberte und sich dann teilte. Ich kannte das Phänomen bereits: Griselda schickte ihre Giftschlangen! Doch diesmal hatte sich der Schleier gevierteilt. Aus verschiedenen Richtungen schwebten die blaßgrünen Teile auf mich zu, verharrten wenige Schritte vor mir und begannen sich zu verändern. Wassertropfen platschten auf den Linoleumboden, als sich die Schleier zu Gestalten formten und verdichteten. Sekunden später stand ich vier gräßlichen Gestalten gegenüber, die nur einem Alptraum entstammen konnten. Ich erinnerte mich an Pit Langenbachs Schilderung seines Kampfes am Zierker See und wußte, wen ich vor mir hatte. Es waren dämonische Fischweiber, die Schergen der Wasserhexe Griselda! Sie griffen sofort an! »Gehen Sie in Deckung, Aurelia!« schrie ich und tauchte unter den Klauen der Dämonenweiber hinweg. Ein harter Tritt traf eines der 53
Fischweiber vor die Brust und warf es zurück. Ein weitere Tritt rammte direkt zwischen die gefährlichen Reißzähne in einem Dämonenmaul. Dabei hatte ich mich jedoch verrechnet, denn die Raubfischzähne hieben in den Absatz meines Schuhs und hielten fest. Mit einem unwilligen Knurren schüttelte das Fischweib den Kopf und brachte mich aus dem Gleichgewicht. »He, laß das! Davon wird mir schlecht!« schrie ich und hüpfte auf einem Bein vor der Dämonin hin und her. Der Fischkopf dachte nicht daran, mich loszulassen. Ganz im Gegenteil. Die Klauenhände zuckten wieder auf mich zu. Ich ließ mich zurückfallen, prallte gegen ein zweites Fischgesicht, riß den anderen Fuß hoch und trat der Dämonin vor mir mit voller Wucht gegen die Stirn. Die Kreatur fauchte schrill und wütend, als ich mich aus ihrem Biß befreite. Die Höllenkreatur hinter mir war von meiner Aktion völlig überrascht worden. Endlich begriff sie, daß sie mich eigentlich nur umarmen mußte, um mich kampfunfähig zu machen. Doch das ließ ich nicht mit mir machen. Als sich die Schuppenarme um meinen Brustkorb schließen wollten, rutschte ich an dem Fischleib abwärts, landete auf dem Hosenboden und beobachtete, wie die Dämonin ihre Arme um den eigenen Leib schlang. Ein Laut, der entfernt wie ein überraschtes »Oh!« klang, entwich dem Maul der Kreatur, dann traf sie auch schon meine Schuhspitze unter dem Kinn und riß ihren Fischkopf nach hinten. Ein vierstimmiges Knurren, Fauchen und Geheul erfüllte den Archivraum. Ich kam auf die Füße, zog den Weihwasserflakon aus der Tasche, entstöpselte ihn und spritzte der Kreatur etwas von der Flüssigkeit ins weitaufgerissene Maul. »Man sollte nie die Schnauze zu weit aufreißen!« sagte ich, wirbelte herum und rammte der Kreatur hinter mir den Kopf vor die Brust. Der wuchtige Rammstoß ließ die Dämonin gegen ein Regal taumeln. »Paß auf, Mark! Hinter dir!« hörte ich Aurelias Stimme, aber da war es bereits zu spät. Ich duckte mich und kreiselte herum, sah noch, wie etwas aus den Handflächen der beiden anderen Fischköpfe zuckte, dann senkte sich das Netz über mich. Griseldas Schergen stimmten ein wahres Triumphgeheul an, als sie mich niederzerrten und auf den Boden drückten. Je heftiger ich gegen das Netz und die Kreaturen ankämpfte, desto mehr verwickelte ich mich in den Maschen des Netzes. Ich hörte Aurelia schreien und sah gleich darauf, wie ihr schlanker Körper gegen einen Aktenschrank krachte. Sie mußte einen fürchterlichen Hieb eingesteckt haben. Ich lag still. Mein Atem rasselte. Die stickige Luft und der bestialische Gestank, den die Fischkopfdämonen absonderten, ließen meinen Magen revoltieren. Über mir baute sich die Dämonin auf, der ich schon mehrfach 54
in die Fratze gehauen hatte. Sie kicherte hämisch. Langsam hob sie eine krallenbewehrte Pranke und spreizte die Finger mit den langen, scharfen Nägeln. Eine schwarze, wurmartige Zunge erschien zwischen den Reißzähnen und klatschte ihr ins Gesicht. Offenbar leckte sich die Dämonin ihre nicht vorhandenen Lippen. »Prost Mahlzeit!« höhnte ich und gelangte mit den Fingerspitzen endlich an den Griff des Silberdolchs. Mit einem Ruck riß ich die Klinge heraus und führte sie gegen die Maschen des Netzes. Unter der rasiermesserscharfen Schneide zerteilten sich die Netzschnüre und schrumpften zusammen. Die Dämonin über mir erkannte die Gefahr und gab ein schrilles Fauchen von sich. Hoch reckte sie ihren Arm nach oben, um Schwung zu holen, und stieß dann die Krallenfinger auf mich zu. Ich war zu sehr damit beschäftigt gewesen, das Netz zu zerschneiden, anstatt mich auf die Dämonin zu konzentrieren. Doch es gab jemanden, der jede Bewegung des Fischweibes verfolgt hatte. Aurelia! Ich sah, wie anstelle von Aurelia ein hellgrüner, leuchtender Schemen am Regal hochkroch, sich um die eigene Achse drehte, bis er eine Art Speer bildete und auf die Dämonin zuflitzte. Die Fischkopffrau riß noch den gräßlichen Schädel hoch, aber jede weitere Reaktion kam zu spät. Der grüne Speer rammte in den schuppigen Körper, durchbohrte ihn vollkommen und fuhr am Rücken wieder hinaus. Ein etwa faustgroßes Loch zog sich quer durch den Leib der Dämonin. Schwarzgrünes Blut spritzte. Fetzen von Dämonenfleisch regneten zu Boden und lösten sich auf. Die Dämonin starb einen schrecklichen, qualvollen Tod. Ich wartete nicht, bis sich die beiden anderen Fischweiber von ihrem Schrecken erholt hatten. Die Klinge des Dolchs stieß nach oben und traf eine der beiden Dämoninnen in die Stirn. Ich stemmte mich hoch, brachte mich mit einer Rolle vorwärts außer Reichweite des letzten Fischweibes, zog das Kreuz aus geweihtem Rosenholz aus der Tasche und stieß es Griseldas Dienerin zwischen die Zähne. Ein Wimmern klang zu mir herüber. Ich setzte über die zerfallenden Dämonenleiber hinweg und war an Aurelias Seite. Der grüne Speer hatte sich wieder in einen Schleier und dann in eine wunderschöne junge Frau mit grünlich schimmernder Haut und hellen grünen Augen verwandelt. Das lange, schwarze Haar fiel über ihren nackten Körper. Ich erkannte die Schwimmhäute zwischen den Fingern und Zehen. Augenblicke später verblaßte der grüne Schimmer, und Aurelia, die hübsche Archivarin, kauerte vor mir. »Danke«, sagte ich leise. »Du hast mir das Leben gerettet, Aurelia.« Ihre Hand strich sanft über meine Wange. »Das war nur ein kleiner 55
Vorgeschmack, Träger des Rings«, hauchte die Nixe. »Der Teufel hat Aurelias Macht gefestigt. Nicht nur die Menschen schweben in tödlicher Gefahr, sondern auch meine Schwestern. Wir sind nur noch wenige und tun, was wir können. Doch Griselda setzt alles daran, uns zu vernichten. Wir sind ihr nicht gewachsen.« Sie erhob sich und zog die Stahltür auf, die sich nun problemlos öffnen ließ. »Nur du, Mark Hellmann, kannst Griselda bezwingen. Nur du kannst sie für immer vernichten.« »Warte, Aurelia. Wo ist Griseldas Schlupfwinkel? Wie kann ich in ihr Reich vordringen?« »Ich muß gehen, Mark. Wenn die Zeit gekommen ist, wirst du wissen, was du zu tun hast.« Sie winkte mir zu und war verschwunden. Ich hob den Dolch und das Kreuz auf. Von den Dämonenweibern war nichts übriggeblieben. Nur ein paar Wassertropfen auf dem Boden zeugten von ihrer Anwesenheit. Ich las noch ein paarmal die Seiten in dem Dokumentenbuch durch, das von Griselda und ihrer Verbannung handelte, fand aber keinen Hinweis auf ihren Schlupfwinkel. Resigniert klappte ich das Buch zu und räumte die Folianten in die Regale zurück. Mit Pit Langenbach hatte ich den Klabautermann als Treffpunkt vereinbart. Gegen zwei Uhr nachmittags holte er mich dort ab. »Hast du es also doch geschafft, deinen Zuhörern zu entkommen«, begrüßte ich ihn. »Leicht war es nicht, das kann ich dir sagen. Bist du startklar?« »Sicher. Wo fangen wir an?« Er führte mich zum Städtischen Strandbad von Neustrelitz, an den Glambecker See. Hier hatte vor einigen Hundert Jahren die Nixe Griselda gehaust, ehe sie mit Mephistos Hilfe ihr Reich vergrößern konnte. Wir gingen dicht am Wasser entlang. Überwiegend Kinder und Jugendliche planschten übermütig im See herum. An einigen Stellen hatten sich auch Erwachsene ins erfrischende Naß begeben, doch die meisten von ihnen lagen auf ihren Strandtüchern und Luftmatratzen, um sich von der Sonne braten zu lassen. »Wenn die Hexe hier noch mal zuschlägt, dann gute Nacht«, sagte ich. »Die Kids hätten kaum eine Chance gegen sie oder ihre Helfer.« »Bis jetzt hat sie sich nicht an Kindern vergriffen, sonst hätten wir hier die reinste Massenpanik. Ich hoffe, daß es auch nicht dazu kommt. Vielleicht will sie erst noch ihre Macht testen und sucht sich ihre Opfer an ruhigeren Stellen aus.« »Wo liegt unser nächstes Ziel?« »Etwas außerhalb, im Stadtteil Fürstensee.« Auf dem Weg dorthin erzählte ich Pit Langenbach von meiner Begegnung mit Griseldas Schergen. »Ich weiß jetzt auch, wer unsere Verbündeten 56
sind, die dir in jener Nacht geholfen haben.« »Dann laß mal hören.« »Nixen. Es gibt nur noch wenige von ihnen, die sich gegen Griselda und ihre Brut gestellt haben. Allein kommen sie nicht zurecht. Sie sind nicht stark genug, um etwas gegen Griselda auszurichten, und hoffen, daß ich die Wasserhexe vernichte. Deshalb haben sie mich wohl gewarnt, als Griselda ihre Schlangen auf mich gehetzt hat.« »Woher weißt du das alles?« »Aurelia, die Archivarin, ist eine von ihnen.« »Hoffentlich sind sie auch zur Stelle, wenn Griselda das nächste Mal zuschlägt und wir sie stoppen wollen«, meinte Pit. »Einmal in den Klauen der Fischweiber zu hängen, genügt mir.« »Wo bleibt dein Vertrauen, Pit?« »Ich soll jemandem vertrauen, den ich noch nie gesehen habe? Du hast vielleicht Nerven, Mann!« Der Parkplatz am See war überfüllt. Mit viel Mühe konnte Pit den Wagen in einer Seitenstraße abstellen. Hier war es noch viel schlimmer als im Strandbad in Strelitz. Wie die Grillwürstchen lagen die Sonnenhungrigen auf den Uferwiesen und brutzelten vor sich hin. Wir gingen am Ufer entlang und erreichten irgendwann einen ruhigeren Strandabschnitt, wo auch etliche Nacktbader ihre Körper der Sonne aussetzten. »Alles ruhig«, meinte Pit. »Wir sollten vielleicht doch besser nachts Patrouille laufen.« Kaum hatte er ausgesprochen, als ein markerschütternder Schrei über die Wiese hallte! * »Und was fangen wir jetzt mit dem angebrochenen Nachmittag an?« fragte Silke Löffler. Sie saß auf einer Bank vor dem IL GELATO, dem beliebten italienischen Eiscafe im Zentrum von Neustrelitz, und ließ sich eine große Portion Fruchteis mit Sahne schmecken. Die beiden braungebrannten, muskulösen Jungs vor ihr überlegten. »Wir könnten eine Radtour ins Naturschutzgebiet machen«, schlug der blonde Thorsten Kleye vor. Silke schaute zu ihm hoch. »Das ist doch wohl nicht dein Ernst, Thorsten«, sagte sie. »Ich schwitze ja schon vom Eisessen, und du willst dich abstrampeln. Ohne mich!« Sie schüttelte den Kopf. »Außerdem genügt es vollkommen, wenn die anderen Gruppenmitglieder auf Vogelpirsch gehen.« 57
Die drei waren mit einer Jugendfreizeit nach Neustrelitz gekommen und hatten sich unterwegs angefreundet. Silke gefielen die beiden auf Anhieb. Sie zog zwar den dunkelhaarigen Ralf Dierkes ein wenig vor, aber Thorsten war der Charmantere von beiden. Die Siebzehnjährige konnte sich nicht zwischen den beiden Jungs entscheiden. Und wenn sie ehrlich war, wollte sie es auch gar nicht. »Bei der Hitze gibt es eigentlich nur eines: Baden gehen«, sagte Ralf Dierkes. »O Mann, wir waren jetzt wirklich oft genug im Strandbad. Ich hab keine Lust, mich von den ganzen Kids nerven zu lassen. Da komm ich mir vor wie im Kindergarten«, maulte Silke. »Wer spricht denn vom Strandbad?«, fragte Rolf und zwinkerte Thorsten zu. »Wir gehen natürlich an den Fürstensee. Dort liegen die Leute wenigstens nicht wie Ölsardinen nebeneinander. Wir suchen uns ein lauschiges Plätzchen, wo wir ganz für uns sind, ja?« »Das könnte euch so passen, Jungs. Ihr habt euer Vergnügen, und wo bleibe ich?« Ralf grinste. »Wir cremen dir auch den Rücken ein und tragen dich auf Händen ins Wasser. Thorsten cremt, und ich trage.« Er warf seinem Freund und Rivalen einen vielsagenden Blick zu. »Wieso nicht umgekehrt? Ich kann Silke genausogut auf Händen tragen!« wehrte sich der blonde Thorsten. »Da bin ich mir nicht so sicher. Du läßt sie doch schon nach zwei Schritten fallen.« »Vielen Dank. So schwer bin ich ja nun doch nicht!« meldete sich die Siebzehnjährige. »Sorry, war nicht so gemeint!« entschuldigte sich Ralf. Silke schwieg und schaufelte das Eis in sich hinein. »Also, was ist jetzt? Gehen wir?« »Mach keinen Streß, Alter! Ich werde doch noch in Ruhe mein Eis essen dürfen, oder?« Silke warf ihre schulterlangen, brünetten Locken nach hinten. Geduldig warteten die beiden Jungs, bis Silke den Eisbecher geleert hatte. Dann gingen sie zu ihren Rädern. Die Badesachen waren schnell geholt. Da die übrigen Mitglieder der Jugendgruppe eine Wanderung zur nahegelegene Wasservogelwarte unternommen hatten, bekam niemand mit, wohin die drei jungen Leute wollten. »Wenn wir mit dem Rad zum Fürstensee fahren, sind wir fix und fertig, bis wir dort ankommen«, meinte Silke. »Kommt, wir nehmen ein Taxi!« »Klar!« stimmte Thorsten zu. »Aber Ralf und ich zahlen. Du bist selbstverständlich eingeladen!« Ralf Dierkes bemerkte Silkes dankbares Lächeln und verzog das Gesicht. 58
»Mann, sind wir heute aber wieder großzügig«, brummte er sarkastisch. Wenig später setzte sie ein Taxi auf dem Parkplatz des Fürstensees ab. Ralf Dierkes hatte recht behalten. Es gab noch genügend Stellen, an denen die Badegäste nicht so dichtgedrängt lagen. Ralf deutete zum hinteren Teil der Liegewiese. »Dort drüben, unter den Bäumen, wären wir für uns. Was meint ihr?« Silke und Thorsten waren einverstanden. Die drei jungen Leute stiegen über sonnengebräunte und sonnenverbrannte Körper hinweg und erreichten bald einen Teil der Uferwiese, der weitgehend im Schatten riesiger Laubbäume lag. Ralf und Thorsten breiteten die mitgebrachten Decken aus. Silke schnappte sich ihr Badelaken und ging ein paar Meter weiter, wo sie aus ihren Klamotten stieg, um sich zu sonnen. Sie trug jetzt nur noch einen knappen hellblauen Bikini, der sich eng um ihre Rundungen schmiegte. »Die Kleine ist eine Wucht, Alter. Jede Wette, daß ich spätestens heute abend eine neue Freundin namens Silke habe«, raunte Ralf Dierkes. Silke hakte das Oberteil auf und beugte sich zu ihrer Badetasche nieder, holte die Flasche mit dem Sonnenöl heraus und schwenkte sie in der Luft. Die beiden Jungs gerieten bei ihrem Anblick arg ins Schwitzen. »Ich dachte, ihr wolltet mir den Rücken einreiben!« rief Silke zu den erstarrten Knaben. »Euer Service läßt aber zu wünschen übrig.« Thorsten Kleye »erwachte« als erster. »Bin schon da!« rief er und war mit zwei Sätzen neben der Angebeteten. Silke lächelte ihn an, legte sich auf den Bauch und genoß es, Thorstens sanfte Hände auf ihrem Rücken zu spüren. Ralf Dierkes ließ sich auf der Decke nieder und schmollte. Eifersüchtig beobachtete er seinen blonden Rivalen, der es sichtlich verstand, Silke mit seiner Rückenmassage Wohlbehagen zu bereiten. Nach einer Weile drehte sich das Mädchen um. »Und jetzt vorne!« bat sie. Thorsten war verwirrt. »Ich - äh - also, das machst du vielleicht besser selbst…« »Hör mal, du bist doch kein Masseur für Rückseiten. Ein Masseur muß alles können. Also stell dich nicht so an!« sagte Silke und grinste verschmitzt. »Oder soll ich Ralf darum bitten?« Der blonde Junge schluckte, aber seine Kehle war wie ausgetrocknet. »Nein, ich mach ja schon«, brachte er krächzend heraus. Er goß ein wenig Sonnenöl in seine Handfläche und begann, Silkes Oberkörper einzureiben. Als seine Hand sanft über ihre Brust strich, stand Ralf Dierkes plötzlich neben ihnen. »Ich glaube, ihr beide habt eine Abkühlung bitter nötig«, sagte er heiser. »Gehen wir schwimmen?« 59
Thorsten zog hastig seine Hand von Silkes Brust. Das Mädchen schaute zu Ralf auf. »Okay. Du gibst ja sonst sowieso keine Ruhe!« Sie stemmte sich hoch. Die beiden Jungs rannten zum Ufer. »He! Jemand hat mal gesagt, daß ihr mich auf Händen tragen wollt! Wie sieht es denn damit aus?« rief sie. Ralf war sofort bei ihr. »Dein Wunsch wird prompt erfüllt, mein Schatz!« sagte er, hob Silke hoch und trug sie ohne sichtliche Anstrengung zum Wasser. Kaum stand er bis zu den Knien im See, stolperte er und fiel vornüber. Mit einem spitzen Schrei tauchte Silke in die Fluten. Prustend kam sie wieder hoch. »So hatte ich mir das aber nicht vorgestellt, mein Lieber! Thorsten hat sich wesentlich mehr Mühe gegeben«, kritisierte sie. »Seht mal, dort drüben!« rief Thorsten, um vom Thema abzulenken. Etwas weiter vom Strand entfernt trieb eine hölzerne Plattform auf dem See, die den Schwimmern als Ruhepunkt oder als Sonnendeck diente. »Wer als erster am Floß ist«, rief Thorsten, »kriegt von Silke einen Kuß!« »Und was ist, wenn ich gewinne?« fragte das Mädchen. »Dann darfst du dir aussuchen, wen du küssen willst!« Unter lautem Gelächter schwamm das Trio los. Die beiden Jungs waren gleichzeitig am Floß und zogen sich hinauf. Silke kraulte keuchend hinter ihnen her und hielt sich am Rand der Plattform fest. »Ihr könntet mir ruhig hinaufhelfen!« sagte sie. »Nur, wenn wir beide geküßt werden. Wir waren gleich schnell!« verlangte Ralf. Silke schaute von Ralf zu Thorsten und wieder zurück. »In Ordnung!« sagte sie und reichte Ralf die Hand. Als er sie ergriff, zog sie ihn mit einem Ruck ins Wasser. Thorsten Kleye strahlte über das ganze Gesicht und half Silke auf das Floß. Wassertropfen perlten über ihren nackten Oberkörper. Der Anblick brachte sein Blut zum Kochen. Silke lächelte ihn an, schmiegte sich an ihn und küßte ihn sanft. »He! Das ist nicht fair!« rief Ralf vom Wasser her. Die beiden auf dem Floß beachteten ihn nicht. Wütend hieb Ralf Dierkes mit der flachen Hand auf die Wasseroberfläche und tauchte unter. Ein heftiger Schlag ließ die Plattform erzittern. Silke löste sich aus Thorstens Armen. »Was zum Teufel war denn das?« fragte sie und beugte sich vor. »Wenn Ralf dahintersteckt, kann er was erleben!« Ein weiterer Schlag hob das Floß an und ließ es wieder auf das Wasser fallen. »He, du Vollidiot! Das ist nicht witzig!« schrie Silke und klammerte sich am Rand der Plattform fest. Ralf war unter dem Floß hindurchgeschwommen und tauchte vor Silke auf. »Kriege ich jetzt auch einen Kuß?« fragte er. Bevor ihm Silke die Meinung geigen konnte, bemerkte sie einen 60
graugrünen Schatten, der unter Wasser auf Ralf zuglitt. Die Augen des Mädchens wurden groß. Als die grauenhafte Kreatur mit dem fischähnlichen Kopf und dem Raubfischgebiß hinter Ralf Dierkes aus dem Wasser schoß, stieß Silke Löffler einen gellenden Schrei aus. Eine klauenbewehrte Pranke legte sich um Ralfs Kopf und zog den jungen Mann unter Wasser. Sekunden später tauchte er prustend auf und wollte etwas rufen, doch es gelang ihm nicht mehr. Die Kreatur packte seine Füße und zerrte ihn erneut nach unten. Aber es war noch nicht vorbei. Zwei weitere Fischköpfe brachen durch die Wasseroberfläche und griffen nach Thorsten Kleye und dem Mädchen. Silke zog sich in die Mitte der Plattform zurück. Thorsten war nicht schnell genug. Eine Klauenhand krallte sich um seinen Knöchel und zog ihn zum Rand der Plattform. Der blonde Junge wehrte sich verzweifelt, spannte all seine Muskeln an, doch der Kraft des Dämonenweibes hatte er nichts entgegenzusetzen. Unaufhaltsam zog sie ihn auf das Wasser zu. Thorsten nahm alle Kraft zusammen und trat in die grauenhafte Fratze der Dämonin. Die Reißzähne des Scheusals fetzten ihm die Ferse auf. Blut strömte in das Maul der Höllenkreatur. Thorsten Kleye kam für einen Augenblick frei und richtete sich auf. Doch die Bestie hatte Blut geleckt und war nicht mehr zu halten. Blitzschnell fuhr der Fischleib aus dem Wasser, die Klauenhand zuckte vor, und die scharfen Krallen durchbohrten Thorsten Kleyes Körper. Mit einer einzigen, kräftigen Armbewegung hievte die Dämonin den schreienden Jungen ins Wasser und tauchte hinterher. Die Fluten sprudelten und färbten sich rot. Silke Löffler schrie sich die Seele aus dem Leib. Sie schrie noch, als ein halbes Dutzend graugrüner Schatten zu der Plattform schwammen und sich die ersten Krallen in das Holz bohrten… * Lisa Kern war frustriert. All ihre Verführungskünste hatten bei Mark Hellmann nicht gefruchtet. Er hatte sie eiskalt abblitzen lassen, und das war ihr noch bei keinem Mann passiert. Es war zum Heulen. Da arbeitete sie schon mal mit einem so gutaussehenden Mann wie Mark zusammen, aber ausgerechnet er wollte nichts von ihr wissen. Und jetzt hatte er sich auch noch aus dem Staub gemacht, ohne ihr zu sagen, was er vorhatte. Sie waren ein Team, also wollte sie auch in seine Pläne eingeweiht werden. Lisa hielt nichts mehr in dem Hotel. Sie hatte sich während des Frühstücks ein wenig beim Personal umgehört und von den schrecklichen 61
Ereignissen in den umliegenden Seen erfahren. Vieles war natürlich in der Gerüchteküche gekocht worden, wie die Geschichte von der mordenden Nixe. Aber Lisa hatte angebissen. Endlich bot sich ihr die Chance, Mark Hellmann zu beeindrucken. Sie würde vor Ort recherchieren. Vielleicht fand sie einen Hinweis, der dazu beitrug, den Fall zu klären. Mark würde sie dann ganz sicher mit anderen Augen betrachten. Der letzte Vermißtenfall war am Fürstensee aufgetreten. Lisa Kern warf sich in Bikini und Strandkleid, schnappte sich ein Badetuch und rief ein Taxi. Sie hatte sich bereits eine ganze Weile am See aufgehalten und den Badenden zugeschaut, dabei auch die nähere Umgebung in Augenschein genommen, aber es schien alles in Ordnung zu sein. In jedem männlichen Badegast sah sie zwar einen potentiellen Täter, doch niemand benahm sich merkwürdig oder auffällig. Bald hatte Lisa die Lust verloren, hier nach irgendwelchen Spuren zu suchen. Am hinteren Ende der Liegewiese fand sie eine Ecke, die vom Ansturm der Sonnenhungrigen noch verschont geblieben war. Hier konnte sie sogar auf ihren Bikini verzichten und sich nahtlos bräunen lassen… Den drei jungen Leuten, die sich in ihrer Nähe niederließen, schenkte die Reporterin kaum Beachtung. Sie hatte die Augen geschlossen und träumte davon, wie schön es wäre, jetzt und hier mit Mark am See zu liegen. Der gellende Schrei, der vom See herüberdrang, riß die Reporterin aus ihren Tagträumen. Sie richtete sich auf und blinzelte. Als weitere markerschütternde Schreie erklangen, beschattete sie die Augen und starrte zu der schwimmenden Plattform hinüber. Sie erkannte ein halbnacktes Mädchen, das anscheinend von seltsamen, grünschimmernden Gestalten bedrängt wurde. Den angsterfüllten Hilfeschreien des Mädchens entnahm die Reporterin, daß es sich hier nicht mehr um ein Spiel, sondern um blutigen Ernst handelte. Sie mußte diesem Mädchen helfen! Lisa sprang hoch und rannte auf das Wasser zu. Nackt wie sie war. Von links eilte ein großer, muskulöser Mann auf sie zu und packte sie am Arm. Dieser Mann war ich! »Bleib hier, Lisa! Das ist nichts für dich!« rief ich und stürmte in Richtung Wasser. Griseldas Schergen waren im Begriff, ein weiteres Opfer zu holen, und ich mußte das verhindern. Pit und ich waren genau zum richtigen Zeitpunkt am See angekommen, um Zeuge von Griseldas blutigem Terror zu werden. Hemd und Schuhe hatte ich blitzschnell abgestreift und hetzte auf das Ufer zu, als ich Lisa erkannte, die wohl ebenfalls dem Mädchen da draußen zu Hilfe eilen wollte. Ich nahm mir nicht die Zeit, Lisa lang und breit alles zu erklären, sondern riß sie einfach zur Seite und hechtete ins Wasser. »Verdammt, Mark! Du hast mir nichts zu befehlen!« schrie mir Lisa Kern 62
hinterher, dann hörte ich das laute Platschen, mit dem sie sich hinter mir in die Fluten warf. Ich kümmerte mich nicht weiter darum. Als ehemaliger Zehnkämpfer legte ich die Distanz zu der schwimmenden Plattform mit kräftigen Kraulstößen in Rekordzeit zurück. Kurz bevor ich das Floß erreichte, tauchte ich unter und schoß wie ein Pfeil auf die grünlichen Fischkreaturen zu. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel fuhr ich zwischen die Dämonenweiber. Der Silberdolch blitzte auf und fand seine Ziele. Die Klinge fraß sich durch die Kehlen und Gesichter der Fischköpfe. Drei Schreckensgestalten rissen die Klauenarme hoch und sanken in die Tiefe. »Bleiben Sie, wo Sie sind!« rief ich dem Mädchen auf der Plattform zu. »Wenn eines der Wesen zu Ihnen raufklettern will, stoßen Sie es zurück!« Ich wußte nicht, ob sie mich verstanden hatte. Ich kam auch nicht mehr dazu, nachzufragen, denn ein schuppiger Arm legte sich von hinten um meinen Hals, zwei muskulöse Beine umklammerten mich, und ich ging unter. Eine zweite Höllenkreatur näherte sich mir von vorn und packte ebenfalls zu. Die beiden Dämoninnen hatten Bärenkräfte. Immer tiefer sank ich. Die Luft wurde mir knapp. Eine Klaue hielt mein Handgelenk umklammert, so daß ich den Dolch nicht bewegen konnte. Ich starrte in, den Rachen der Gestalt vor mir. Mein Körper wurde schlaff. Wie ohnmächtig hing ich im Griff der Höllenwesen und ließ meinen Kopf zur Seite fallen. Die beiden Dämonenweiber mußten den Eindruck gewinnen, daß ich die Besinnung verloren hatte. Meine Rechnung ging auf. Das Fischweib vor mir ließ mich los, und die Dämonin in meinem Rücken lockerte ihren Griff. Der Dolch fuhr nach vorn und bohrte sich in den Schuppenleib der Schwarzblüterin. Der Griff um meinen Hals spannte sich sofort wieder, doch mein Arm war frei. Ich stach nach hinten und traf mitten in eines der hervorquellenden Fischaugen. Augenblicklich kam ich frei und schwamm mit kräftigen Stößen nach vorn. Undeutlich sah ich zwei Schatten, die sich heftig bewegten. Obwohl meine Lungen brannten, schwamm ich auf die beiden Gestalten zu. Ich erkannte einen jungen, dunkelhaarigen Mann, der sich heftig gegen ein Dämonenweib zur Wehr setzte. Griseldas Dienerin warf den Kopf zurück und stieß ein dumpfes Grollen aus, das wohl ein Schrei hatte sein sollen, als die Silberklinge tief in ihren Rücken sank. Ich packte das Haar des Jungen, schlitzte den Rücken der Dämonin auf, stieß mich in einer Wolke von Dämonenblut an ihrem Körper ab und sauste mit dem Jungen nach oben. 63
Keuchend durchbrachen wir die Oberfläche. »Schwimm - zum Ufer! Suche - Kommissar Langenbach!« brachte ich heraus und warf mich den Dämonenweibern an der Plattform entgegen. Während ich mit zwei Fischköpfigen kämpfte, sah ich Lisa Kern, die auf die Plattform geklettert war und sich um das verängstigte Mädchen kümmerte. Ich wollte ebenfalls versuchen, auf das Floß zu gelangen, doch damit waren Griseldas Schergen nicht einverstanden. Sie klammerten sich an meine Arme und Beine und zerrten mich von der Plattform weg. Wie besessen hieb ich mit dem Dolch um mich. Das Wasser färbte sich dunkel vom Dämonenblut. »Mark!« Lisa Kerns gellender Schrei ließ mich herumfahren. Die Plattform hatte zu schaukeln begonnen. Eine unsichtbare Kraft hievte das Floß aus dem Wasser und ließ es wieder zurückfallen. Die beiden Frauen schrien und versuchten verzweifelt, sich festzuhalten. Griseldas Schergen formierten sich zwischen mir und dem Floß. Sie würden auf keinen Fall zulassen, daß ich mich der Plattform näherte. Und dann kam sie. Griselda, die Wasserhexe! Sie tauchte blitzschnell in einer gewaltigen Wasserfontäne auf. Ich konnte sie nur undeutlich erkennen, aber sie mußte es einfach sein. Sie war größer und massiger als ihre Dienerinnen. Der riesige, graugrüne Schuppenleib hob sich aus dem Wasser. Lange, filzige Haarsträhnen umgaben den Oberkörper wie ein Vorhang. Starke, krallenbewehrte Arme schossen vor und packten die beiden Frauen an den Haaren. Beide kreischten erschrocken, doch einen Sekundenbruchteil später schlugen die Fluten des Sees über ihnen zusammen und verschluckten ihre Schreie. Ich tauchte unter und schwamm der Wasserhexe und ihren Gefangenen hinterher. Sofort nahmen Griseldas Schergen die Verfolgung auf. Weit vor mir konnte ich die Umrisse der beiden strampelnden und um sich schlagenden Frauen sehen. Hinter mir pflügten die dämonischen Fischweiber durch das Wasser und näherten sich mir rasend schnell. Ich war mir bewußt, daß ich Griselda nicht einholen konnte. Ihr Vorsprung war zu groß und meine Verfolger zu schnell. Ich konnte nur hoffen, den Zugang zu Griseldas Unterschlupf zu entdecken und mir die Stelle zu merken, um später mit einer Taucherausrüstung wiederzukommen. Ich holte sämtliche Kraftreserven aus meinem Körper. Immer tiefer sank Griselda mit ihren beiden Gefangenen, denen inzwischen sicherlich die Luft ausgegangen war. Ich konnte mir jedoch nicht vorstellen, daß die Wasserhexe Lisa und das Mädchen nur geholt hatte, um sie qualvoll ertrinken zu lassen. Nein, sie hatte was anderes mit ihnen vor. Der Druck 64
um meinen Körper und in meinen Lungen war kaum noch zu ertragen. Hilflos mußte ich erleben, wie Griselda mit ihren beiden Gefangenen in der trüben Tiefe verschwand. Es war sinnlos. Ich mußte die Verfolgung abbrechen und schickte der Wasserhexe einen lautlosen Fluch hinterher und strebte der Oberfläche zu. Aber ich hatte Griseldas Schergen vergessen. Die Krallenhand, die sich um mein Fußgelenk schloß und mich wieder nach unten zog, brachte mir die dämonischen Verfolger wieder ins Bewußtsein zurück. Unbändiger Zorn packte mich. Die Hilflosigkeit und Verzweiflung, die ich in diesen Augenblicken empfand, entluden sich in einem kraftvollen, gnadenlosen Gegenangriff meinerseits. Dadurch begab ich mich jedoch direkt in die Fänge der Dämoninnen. Ich konnte zwar ein paar von ihnen erledigen, doch die Übermacht war zu stark. Sie hingen an mir wie die Kletten, fletschten ihre Reißzähne und zogen tiefer. Als ich dann auch noch die Netze sah, die sich aus ihren Handflächen zu lösen begannen und sich über mich senkten, geriet ich in Panik. Ich wollte hier nicht jämmerlich ersaufen, sondern die beiden Frauen retten und Griselda vernichten! Ich kam mir vor wie der buchstäbliche Fisch im Netz.
»Hab keine Angst, Träger des Rings! Begib dich in unsere Hände. Noch ist nichts verloren!« Die glockenhelle Stimme durchdrang das Tosen in
meinen Ohren. Ich hätte nicht sagen können, woher die Stimme kam. Ich wußte nur, daß Hilfe unterwegs war. Ein grelles, grünes Leuchten erfüllte das Wasser ringsumher. Aber nur einen winzigen Moment lang. Es war wie das Aufblitzen einer Leuchtkugel, das sich zu Strahlen bündelte. Der grelle Lichtkern sandte die Strahlen aus, und jeder Strahl hatte ein bestimmtes Ziel: Griseldas Schergen! Die Leiber der Dämonenbrut wurden von den grünen Strahlen durchbohrt. Ähnlich wie die grüne Lanze, die im Stadtarchiv durch den Körper der Dämonin gefahren war, vernichteten die Strahlen auch hier in der Tiefe des Fürstensees die teuflischen Kreaturen. Die Strahlen zuckten durch die Fischleiber hindurch, verharrten im Halbkreis um uns herum und manifestierten sich zu Gestalten. Es waren Frauen, und eine war schöner als die andere. Sie lächelten mich freundlich an und winkten mir zu. Zwischen ihren Fingern spannten sich hauchdünne Schwimmhäute. Aus dem grünen Lichtkegel löste sich eine Frauengestalt mit langem, schwarzem Haar. Aurelia schien vor mir im Wasser zu schweben, ergriff meine Hand und zog mich sanft mit sich. »Folge uns, Mark Hellmann! Dir wird nichts geschehen!« erklang ihre Stimme. Sie näherte sich mir und preßte ihre Lippen auf meinen Mund. Der Schmerz in meinen Lungen verschwand. Der Druck um meine Brust 65
löste sich. Mir schien es, als könnte ich frei atmen. Aurelia lächelte mich an und bedeutete mir, ihr in die Tiefe des Sees zu folgen. Wir schwammen um Felsbrocken herum und durch dichtes Seegras. Irgendwann öffnete sich vor uns ein Spalt zwischen zwei Felsen, und wir schoben uns hindurch. Aurelia eilte auf eine Öffnung im Boden zu und tauchte hinein. Ohne zu zögern, folgte ich ihr. Wir gelangten in einen röhrenartigen Schacht. Ich schob mich mit den Händen an den Felswänden weiter, um den Anschluß nicht zu verlieren. Es schien unendlich lange zu dauern, bis der Schacht in ein riesiges Gewölbe mündete. Ich schaute mich erstaunt um und kam mir vor wie in einer anderen Welt. Mein Blick fiel auf ein hohes Podest, auf dem ein hochlehniger, mit glitzernden Edelsteinen verzierter Stuhl stand. Eine Nixe mit blonder Lockenpracht und prachtvollem Gewand saß in dem Sessel und neigte zur Begrüßung den Kopf. Hübsche, nackte Mädchen huschten durch das Gewölbe. Ihre Haare umwehten sie wie hauchdünne Schleier. Auf einmal wußte ich, wo ich mich befand. Im Thronsaal der Nixen! * Lisa Kern und Silke Löffler hatten längst das Bewußtsein verloren. Sie bekamen nicht mit, wie die Wasserhexe sie in einen unterirdischen Gang zerrte und dort einem röhrenartigen Schacht folgte. Nur führte dieser Stollen nicht in den Thronsaal der Nixen, sondern in den Palast der Wasserhexe. »Schafft sie in ein Verlies!« herrschte Griselda ihre Dienerinnen an, die auf ihre Rückkehr gewartet hatten. Achtlos ließ sie die beiden Frauen zu Boden sinken. Die fischköpfigen Dämonenweiber packten Lisa und Silke und warfen sie in eine Felsenkammer, die sie mit einem Eisengitter verschlossen. Zwei Fischköpfe blieben als Wachen zurück. Griselda schritt zu ihrem Thron. Er stand auf einem Podest aus Totenschädeln. Dutzende leerer Augenhöhlen glotzten ihr entgegen, als sie die riesige Höhle durchquerte. Griselda ergötzte sich jedesmal an dem Anblick der unzähligen bleichen Schädelknochen. Es waren die Schädel ihrer Opfer, zum Teil schon Jahrhunderte alt. Aber was bedeutete schon Zeit? Zeit existierte für Griselda und ihre Dienerinnen nicht. Die Wasserhexe hatte sich verändert. Sie war zu einer schönen Frau geworden, mit langen, schwarzen Haaren, einer atemberaubenden Figur und verführerischen, blutroten Lippen. Sie trug einen langen Umhang aus 66
schwarzem Samt, der am Hals von smaragdgrünen Spangen zusammengehalten wurde und locker um ihren nackten Körper fiel. Griselda ließ sich auf ihrem pechschwarzen Lehnstuhl, der mit der Haut ihrer Opfer bezogen war, nieder und atmete tief durch. Dieser dreimal verfluchte Hundesohn! dachte sie und sah in Gedanken Mark Hellmann vor sich. Sie legte ihre Hände auf die beiden bleichen Totenschädel, die den Abschluß der Armlehnen bildeten. »Du hast ihn unterschätzt, nicht wahr?« Die Stimme kam aus dem Nichts. Es war eine tiefe, rauchige Stimme, in der unterdrückte Sinnlichkeit und Lust mitschwangen. Sie dröhnte laut und erfüllte die Höhle. »Obwohl ich dich warnte, Griselda, hast du ihn unterschätzt!« »Er ist nur ein Mensch!« wehrte sich die ehemalige Nixe. »Noch nie war ein Mensch stärker als ich. Auch Mark Hellmann wird meine Macht spüren!« Die rauchige Stimme lachte. »Närrin! Mephisto, unser Meister, gab dir vor Jahrhunderten die Macht. Du hast sie nicht genutzt und wurdest verbannt. Auch damals war es ein Mensch, der dich besiegte. Wieso glaubst du, daß ausgerechnet du Mark Hellmann töten kannst?« »Der Meister hat mich aus dem Bann befreit und mir mehr Macht und Kraft verliehen als jemals zuvor. Er wußte, daß dieser Hellmann ein gefährlicher Gegner ist. Und deshalb werde ich Mephisto nicht enttäuschen!« »Er ist deinen Giftschlangen entronnen, oder etwa nicht? Er hat deine Dienerinnen reihenweise abgeschlachtet, richtig? Wie kannst du so überheblich sein und behaupten, daß er dir unterliegen wird?« Griselda trommelte mit ihren Fingerspitzen auf den Totenschädeln herum und grinste siegessicher. »Ich habe zwei Frauen entführt. Hellmann wird nichts unversucht lassen, sie zu befreien. Er muß zwangsläufig herkommen, und er wird unvorsichtig sein. Ist er einmal hier, wird er diesen Ort nicht lebend verlassen.« »Er ist der Träger des Rings«, erinnerte die sinnliche Stimme. »Er wird sich nicht so leicht in die Falle begeben.« »Pah! Was bedeutet das schon? Von mir aus kann er an jedem Finger einen magischen Ring tragen. Ich werde ihn trotzdem in die Knie zwingen. Er wird vor mir kriechen und mir die Füße küssen. Und dann, wenn ich ihn so sehr gedemütigt habe, daß er nicht mehr wert ist als die Algen am Grund des Sees, erst dann werde ich ihn töten!« Griselda hob den Kopf und lachte kreischend. »Vielleicht behalte ich ihn auch eine Weile zum Zeitvertreib! Wir werden sehen.« »Ja, wir werden sehen, Cousine! Aber übernimm dich nicht! Du weißt, 67
Mephisto hat dir die Gunst gewährt, deine Schreckensherrschaft zu erneuern. Aber nur, weil ich mich für dich eingesetzt habe. Wenn dein Plan mißlingt, kannst du keine Hilfe von mir oder dem Meister erwarten. Solltest du versagen, und Mark Hellmann läßt dich am Leben, wird unser Zorn keine Grenzen kennen!« Die Wasserhexe fuhr von ihrem Sessel hoch. »Willst du mir etwa drohen?« schrie sie. »Hellmann hat keine Freunde - außer diesem Polizisten. Gut, der Mann hatte Glück und entging meinen Dienerinnen. Aber das nächste Mal kommt er nicht so leicht davon. Meine lieben Freundinnen lechzen bereits nach seinem Blut. Hellmann steht also auf verlorenem Posten. Wer sollte ihm jetzt noch beistehen?« »Deine Schwestern…« »Die Nixen?« Wieder lachte Griselda höhnisch, daß es an den Felswänden widerhallte. »Sie sind keine Gefahr für mich. Sie werden sich nicht gegen mich, ihre Schwester, stellen! Sie waren schon immer zu gutmütig und hatten nur das Wohl der Menschen im Sinn! Wenn sie es wagen sollten, sich mir entgegenzustellen, werde ich sie zerquetschen oder sie mir zu Sklaven machen!« »Deine Überheblichkeit widert mich an, Cousine!« Griselda stampfte mit dem Fuß auf. »Ich habe genug von deinem Gewäsch, Cousine! Laß mich jetzt allein und wage es nicht, mich anzusprechen, bevor Mark Hellmann in meiner Gewalt ist! Ich habe Wichtigeres zu tun, als mir deine Vorwürfe anzuhören!« schrie sie. Ihre Stimme überschlug sich. Ein rauchiges Kichern antwortete ihr und wurde immer leiser. »Wir werden sehen, ob es richtig war, meine Worte als Gewäsch abzutun. Wir werden sehen, Griselda…« Die Stimme verhallte. Es war totenstill in der riesigen Höhle. Die ehemalige Nixe schäumte vor Wut. Wie konnte ihre Cousine es wagen, sie derart herablassend zu behandeln und ihre Macht in Frage zu stellen? Zugegeben, sie genoß die Gunst Mephistos, des Obersten aller Teufel, doch hatte sie damit gleichzeitig das Recht, eine Verwandte zu beleidigen? Griselda war der Ansicht, daß niemandem dieses Recht zustand. Auch nicht einem Günstling der Hölle. Die Wasserhexe schrie nach einer Dienerin. Eine fischköpfige Dämonin näherte sich ihr mit ehrfurchtsvollen Verbeugungen. »Laß den Unsinn!« keifte Griselda, daß die Wände wackelten. »Ich will wissen, was mit diesem Hellmann geschehen ist!« »Sehr wohl, Herrin!« Die Dämonin verbeugte sich erneut. »Der Freund von Hellmann, dieser Polizist, der dort oben rumschnüffelt ihr könnt ihn haben! Obwohl ihr diese Belohnung nicht verdient habt!« 68
»Wir danken dir, Herrin!« »Was nützt mir euer Dank, Närrin? Ich will Mark Hellmann! Wenn ihr euch das nächste Mal wieder so dämlich anstellt, zerreiße ich euch in tausend Stücke und werfe euch den Hechten zum Fraß vor!« »Wie du befiehlst, Herrin!« »Verschwinde! Laß mich allein!« schrie Griselda und winkte ihre Dienerin hinaus. Lange saß sie auf ihrem Thron und überlegte sich tausend Qualen für diesen unverschämten Mark Hellmann. Schließlich stand sie auf, schritt durch die Höhle und näherte sich dem Verlies, in dem Lisa Kern und Silke Löffler kauerten. Die beiden Wachtposten zogen sich zurück. Griselda stand vor dem Verlies und umklammerte die Gitterstäbe. »Nun, meine Täubchen, wie gefällt euch euer neues Zuhause? Habt ihr es euch gemütlich gemacht?« fragte sie höhnisch. Lisa Kern sprang auf und trat an das Gitter heran. Das halbnackte Mädchen im Hintergrund weinte hysterisch. »Wer sind Sie? Wieso haben Sie uns hier eingesperrt?« wollte die Reporterin wissen. »Verzeihung, daß ich mich nicht vorgestellt habe, Täubchen. Ich heiße Griselda und lege viel Wert auf eure Gesellschaft.« »Sie lassen uns sofort frei, oder…« »Oder was?« fragte die Wasserhexe und hob die Augenbrauen in gespieltem Erstaunen. »Willst du mir tatsächlich drohen, Täubchen? Schau dich an. Du bist in einem Kerker, hinter dicken Eisengittern. Deine Drohung ist geradezu lächerlich!« Griselda lachte kreischend. Ihre Augen glitzerten, als sie Lisa Kern anstarrte. »Du gefällst mir. Wer weiß - wenn dieser Hellmann vor mir auf den Knien rutscht, werde ich dir vielleicht die Haut abziehen lassen, damit er sich an deinen Schmerzensschreien ergötzen kann.« Sie schob ihre Hand zwischen den Gitterstäben hindurch und ließ sie über Lisas nackte Haut gleiten. »Sie sind ja vollkommen übergeschnappt!« schrie die Reporterin, packte Griseldas Hand und drehte sie herum. Jeder normale Mensch hätte jetzt vor Schmerzen brüllen müssen, doch Griselda war eine Dämonin. Mit unbewegtem Gesicht starrte sie Lisa Kern an. »Du tust mir leid, Schätzchen. Glaubst du wirklich, du kannst mich damit beeindrucken?« meinte sie. Mit der linken Hand ballte sie eine Faust, deutete damit auf Lisa und spreizte die Finger. Ein unsichtbarer Fausthieb rammte gegen Lisas Brustkorb und schleuderte sie an die Wand des Verlieses. Mitleidslos betrachtete Griselda die beiden Gefangenen und gab den Wachtposten ein Zeichen. »Für dich habe ich noch eine Überraschung, mein kleines Täubchen!« rief sie und deutete auf Silke Löffler. »Du möchtest sicher wissen, was mit deinem blonden Freund geschehen ist.« 69
Zögernd nickte die Siebzehnjährige. Ihr Körper wurde von stummem Schluchzen geschüttelt. »Nun, er hat seinen Platz im Leben gefunden!« sagte Griselda und kicherte, als hätte sie einen besonders guten Witz erzählt. »Er wird meinen Thron zieren!« Sie streckte den Arm aus und nahm etwas von den Wachtposten entgegen. Im nächsten Moment starrte Silke Löffler in das blutige Gesicht und die toten Augen von Thorsten Kleye, dessen Kopf Griselda vor den Gitterstäben herumschwenkte. Silke Löfflers hysterisches Kreischen mischte sich in das sadistische Gelächter der Wasserhexe, das noch lange in dem Stollen nachhallte. * Ich lag auf einem weichen Bett aus Seegras und Tang. Eine hauchdünne Decke aus zarter Fischhaut breitete sich unter mir aus. Aurelia saß neben mir auf dem Lager und bestrich die Kratzer, die ich beim Kampf mit Griseldas Dienerinnen davongetragen hatte, mit einer Heilsalbe. Sanft kreisten ihre Finger über meine Brust. Ihre Lippen hauchten Küsse auf mein Gesicht und meinen Mund. »Als wir uns das erste Mal sahen, habe ich gleich gewußt, daß du ein ganz besonderer Mensch bist, Mark«, flüsterte die bezaubernde Nixe. Ihr nackter Körper schmiegte sich an mich. Ich strich zärtlich ihre Wangen und sagte ruhig: »Du weißt, daß es nicht möglich ist, Aurelia.« Ihr Finger malte Kreise auf meiner Brust. »Was ist nicht möglich?« »Zwischen uns darf es nie mehr als Freundschaft geben.« Tiefe Traurigkeit lag in ihren grünen Augen, als sie zu mir aufschaute. »Es ist ein Traum, Mark. Ein wunderschöner Traum. Ich hatte mir so sehr gewünscht, daß er in Erfüllung ginge, aber es soll nicht sein.« Sie nickte. »Es darf nicht sein. Du bist der Träger des Rings. Wir stehen auf verschiedenen Seiten.« »Es ist nicht deswegen, Aurelia. Aber du bist eine Nixe und gehörst in deine Welt. Ich bin ein Auserwählter und stehe in ständigem Kampf mit der Hölle. Ich habe nicht das Recht, dich aus deiner Welt herauszuholen und dich für immer unter die Menschen zu holen. Du würdest dort auf Dauer nicht existieren können.« Tränen glitzerten in ihren Augen. »Es stimmt, was du sagst, Mark. Es würde niemals gutgehen. Aber es schmerzt, einen Traum zerplatzen zu sehen.« Sie holte tief Luft, küßte mich noch mal und richtete sich auf. »Deine Freundschaft bedeutet mir sehr viel, Mark Hellmann. Ich werde 70
immer für dich da sein. Und nicht nur ich, sondern auch meine Schwestern.« Sie machte eine weit ausholende Bewegung mit der Hand und deutete auf die Schar der Nixen, die sich im Thronsaal tummelten. »Wir sind die letzten unseres Volkes, Mark«, erklärte Aurelia und erhob sich. Sie nahm meine Hand und führte mich zu dem Thron in der Mitte des Gewölbes, wo sie mich ihrer Gebieterin vorstellte. Die Führerin dieser kleinen Nixenschar versicherte mir, daß ich jederzeit auf ihre Hilfe vertrauen konnte. »Viele von uns sind versprengt worden«, erklärte Aurelia. »Einige leben in allen Teilen des Landes, oft allein, manchmal in kleinen Gruppen. Wir bewegen uns frei unter den Menschen, wie wir es zu allen Zeiten getan haben. Niemand weiß von unserer Anwesenheit, und nur Eingeweihte wie du können mit uns Kontakt aufnehmen.« »Aber manche deiner Schwestern haben auch geheiratet und leben unter den Menschen«, sagte ich. »Wenn man den Überlieferungen Glauben schenken kann.« »Das ist richtig, aber es sind Einzelfälle. Und meistens wurden diese Nixen nie richtig glücklich, denn es zog sie immer wieder zurück in unser Reich. Wir wollen den Menschen nichts Böses, doch sie können unsere Existenz nicht akzeptieren. Sie verstehen uns nicht.« »Intoleranz ist eine schlechte Eigenschaft der Menschen«, stimmte ich zu. »Nur werden wir beide daran niemals etwas ändern können, Aurelia.« Sie nickte. »Leider.« Wir nahmen an einer reich gedeckten Tafel Platz. Köstliche Fischgerichte und ein wunderbarer Wein wurden uns serviert. Ich ließ es mir schmecken. Die Nixen hatten mich erwartungsvoll beobachtet und stimmten einen Freudengesang an, als sie merkten, daß mir die Speisen mundeten. »Sie haben sich sehr viel Mühe gegeben«, erklärte Aurelia. »Du hättest ihnen kein größeres Lob erteilen können.« »Hat Griselda eigentlich auch hier gelebt?« fragte ich zwischen zwei Bissen. Aurelias Gesichtszüge verdüsterten sich. »Ich spreche nicht gerne darüber«, sagte sie leise. »Ich möchte alles über Griselda wissen«, bat ich. Die Nixe nahm einen kräftigen Schluck Wein. »Sie war blutjung und wunderschön, als sie vor langer Zeit hier lebte. Viele ihrer Schwestern beneideten sie um ihre Schönheit.« »Obwohl jede von euch eine Schönheit ist«, meinte ich. »Das ist Ansichtssache, Mark. Jedenfalls lebte sie behütet und mit ihren Schwestern im Fürstensee und im jetzigen Müritzer Naturschutzgebiet. Bis zu dem Tag, als sie sich mit ihren Schwestern überwarf.« »Wie kam das?« 71
»Griselda war mit ihrem Leben nicht zufrieden. Sie wollte mehr. Sie hatte dieses riesige Reich erkundet und beschlossen, die Herrschaft zu übernehmen. Alle lachten sie aus. Sie hielten Griseldas Vorhaben für das Hirngespinst einer jungen, unerfahrenen Nixe.« Aurelia senkte den Kopf. »Sie alle haben sich geirrt.« »Griselda erflehte den Beistand der Hölle, nicht wahr?« forschte ich. Es war das alte Lied. Die Gier nach Macht und Einfluß und die falschen Versprechungen der Hölle, von denen selbst die gutmütigen Nixen nicht verschont blieben. »Sie wandte sich an unsere Cousinen aus der Schattenwelt. Die Hexen. Lilith selbst, die Mutter aller Hexen, muß ihre Hand über Griselda gehalten haben, denn eines Tages besaß Griselda Macht und ungeahnte Kräfte. Diese Kräfte nutzte sie, um Böses zu tun. Sie drangsalierte ihre Schwestern und peinigte die Menschen in der ganzen Umgebung. Als wir dahinterkamen, daß sie die Gunst des Teufels besaß, war es bereits zu spät.« »Gab es keine Möglichkeit, Griselda aufzuhalten?« Aurelia schüttelte traurig den Kopf. »Sie war zu stark. Griselda sagte sich von ihren Schwestern los. Die Hölle stellte eine Hexenarmee ab, die furchtbar unter den Nixen wütete. Wir gaben schließlich auf und zogen uns hierher in die Höhlen unter dem Fürstensee zurück. Griselda ließ uns hier in Ruhe, doch sie bestand darauf, daß wir niemals den Fürstensee verließen. Was dann geschah, weißt du.« »Sie verbreitete Angst und Schrecken in der Bevölkerung. Ihre Hexendienerinnen wurden zu Fischdämonen und wüteten grausam. Menschenopfer wurden ihr dargebracht, um sie zu besänftigen, doch damit gab sie sich nicht zufrieden. Das ging so, bis ein Priester sie in den Glambecker See verbannte«, beendete ich die Geschichte. »Falsch«, widersprach Aurelia. »Der Priester bannte sie in die Tiefe des größten Sees der Gegend. Griselda hatte sich ihr Domizil im Glambecker See gesucht, doch verbannt wurde sie in den Zierker See. Dort mußte sie hausen, bis der Bann von ihr genommen war.« »Und wieso ist sie jetzt frei?« »Der Bann wurde von einem katholischen Priester verhängt. Er endete mit dem Zeitpunkt, an dem die betreffende Pfarrei verlegt wurde. Das war Jahrhunderte später. Griselda hat davon nichts mitbekommen. Sie wagte sich nur hin und wieder aus ihrem Palast und suchte sich ein Opfer auf dem Zierker See, ohne Gefahr zu laufen, den Zorn der Kirche auf sich zu ziehen. Mephisto muß sie mit neuen Kräften ausgestattet und ihr große Versprechungen gemacht haben.« »Damit sie meinen Kopf dem Oberteufel auf dem Silbertablett serviert. 72
Jetzt ergibt die Geschichte einen Sinn.« Ich leerte mein Glas. »Griselda hält einen Köder für mich bereit. Die beiden Frauen, die sie entführt hat, sollen mich in ihren Palast locken. Und genau das wird ihnen auch gelingen.« Die Nixe bekam große Augen. »Du willst in Griseldas Palast eindringen?« Sie schüttelte den Kopf. »Das ist dein sicherer Tod, Mark!« »Es gibt keine andere Möglichkeit. Griselda will mich, also wird sie mich bekommen. Mir fällt schon noch was ein, um den Spieß umzudrehen. Mach dir keine Sorgen!« »Gut. Ich hoffe für dich, daß du weißt, was du tust. Aber ich komme mit.« »Nein, Aurelia. Deine Schwestern brauchen dich hier dringender. Außerdem ist es viel zu gefährlich für dich.« Mit einiger Mühe gelang es mir, die Nixe zu überreden, mir den Palast der Wasserhexe zu zeigen. Dann sollte sie sofort zu ihren Schwestern zurückkehren. Wir wollten uns gerade auf den Weg machen, als eine Nixe auf Aurelia zustürzte. Sie flüsterte Aurelia etwas ins Ohr und zog sich zurück. »Schlechte Neuigkeiten?« fragte ich. »Dein Freund, dieser Kommissar - er ist in Lebensgefahr!« sagte Aurelia ernst. Ich wurde blaß. »Pit? Verdammt, wir müssen ihm helfen!« »Es kann auch ein Ablenkungsmanöver von Griselda sein«, meinte die Nixe. »Du wirst dich entscheiden müssen. Dein Freund oder die beiden Frauen. Was ist wichtiger?« »Zuerst Pit. Danach nehme ich mir die Wasserhexe vor!« entschied ich. Aurelia lächelte. »Diese Entscheidung hatte ich von dir erwartet«, meinte sie, nahm mich bei der Hand und lief zum Ausgang des Gewölbes. Sie winkte einige Nixen herbei und erteilte ihnen kurze und präzise Anweisungen. Kurz darauf waren wir in dem Stollen und schwammen den Tiefen des Sees entgegen. Am Stollenausgang erwartete uns bereits der Tod! * »Die beiden Frauen sind also vor Ihren Augen entführt worden, und zwar von grünen Gestalten mit Fischköpfen?« Hartmut Nannen schaute den Weimarer Hauptkommissar oberkritisch an. »Sagen Sie, Kollege, kann es sein, daß Ihnen die Hitze nicht bekommt?« »Die Lage ist zu ernst, um darüber Witze zu machen, Nannen!« gab Peter Langenbach eisig zurück. »Zwei Frauen schweben in Lebensgefahr. Entweder Sie glauben mir und lassen ein paar Taucher den See absuchen, oder ich übernehme das. Und zwar allein. Außerdem ist mein Freund Mark 73
Hellmann von den Entführern in den See verschleppt worden. Sie haben bestimmt schon von Mark gehört.« »Hellmann? Ist das nicht dieser Kerl, der schon öfter als Berater für die Polizei tätig war? Und von nichts anderem als von Geistern und Dämonen redet.« »Genau. Ein Kollege gewissermaßen. Das sollte ein zusätzlicher Ansporn für Sie sein, die Froschmänner einzusetzen.« Hartmut Nannen überlegte. »Von einem Kollegen ist dieser Hellmann aber weit entfernt«, meinte er. »Aber ich werde Ihrer Bitte entsprechen. Warum, weiß ich selbst nicht. Wenn sich das Ganze allerdings als Schlag ins Wasser entpuppt…« »…gehe ich auch baden«, setzte Pit Langenbach den Satz fort. »Das Risiko trage ich gern.« Der Hauptkommissar aus Neubrandenburg befragte noch Ralf Dierkes, der ihm ebenfalls von graugrünen, scheußlichen Gestalten berichtete, die ihn unter Wasser gezerrt hatten. Sind denn hier alle vollkommen verrückt geworden? fragte sich der Kripomann. Doch die Aussagen des Jungen deckten sich weitgehend mit denen des Weimarer Kollegen, auch wenn Ralf Dierkes immer noch unter Schock stand. Wenig später beobachteten die Badegäste gespannt, wie vier Froschmänner in einem Schlauchboot auf den See hinausfuhren und sich in der Nähe der Plattform ins Wasser fallen ließen. Pit Langenbach hatte keine Lust, am Ufer auf das Ergebnis der Suche zu warten. Er lief zu einem zweiten Schlauchboot und startete den Motor. »He, Langenbach! Warten Sie, ich komme mit Ihnen!« schrie Nannen und schaffte es gerade noch, sich in das Boot zu werfen, bevor Pit auf den See hinausbrauste. »Ich glaube immer noch nicht so recht an die Geschichte mit den grünen Gestalten. Tut mir leid, aber da könnte ich genausogut denken, die kleinen grünen Männchen vom Mars wären für den Schlamassel hier verantwortlich«, sagte Nannen, als das Schlauchboot nicht weit vom Floß entfernt auf dem See trieb. »Es handelt sich hier nicht um Außerirdische, sondern um Dämonen. Wesen aus der Hölle. Das ist ein himmelweiter Unterschied«, erklärte Pit Langenbach. »Hören Sie auf, Kollege. Am Ende wollen Sie mir weismachen, daß der Teufel persönlich seine Hand im Spiel hat!« entrüstete sich Nannen. »Wenn Sie wüßten, was ich schon alles erlebt habe, würden Sie anders denken«, murmelte Pit. Ihm ging Hartmut Nannens ewige Zweiflerei gewaltig auf den Zeiger. Die Wasseroberfläche war ruhig. Nicht mal Luftblasen von den Tauchern waren zu sehen. Quälend langsam vergingen die Minuten. Hartmut Nannen 74
rutschte ungeduldig auf der Sitzbank herum Krawattenknoten. »Scheiß Hitze!« maulte er.
und
lockerte
den
Und im Winter beschwerst du dich, daß es zu kalt ist! dachte Peter Langenbach grimmig. Aber ihm ging es auch nicht anders. Neben dem Boot blubberte es. Gespannt schauten Pit und sein Kollege dem Taucher entgegen, der jeden Augenblick zu sehen sein mußte. Aber die beiden Kripobeamten wurden enttäuscht. Der Froschmann blieb unsichtbar. »War wohl nichts«, meinte Pit lakonisch. Es blubberte erneut. Luftblasen trieben an die Oberfläche und zerplatzten. Das Wasser begann zu sprudeln, aber von einem Taucher war weit und breit nichts zu sehen. Hartmut Nannen schlug sich auf den Schenkel, daß es knallte. »Wenn die mich hier zum Narren halten wollen, haben sie den Richtigen gefunden. Ich schwitze mir hier in dieser Affenhitze die Pfunde vom Leib, und diese Spinner wissen nichts Besseres, als Verstecken zu spielen!« Ohne Vorwarnung durchbrach der Kopf eines Tauchers die Wasseroberfläche. Hinter der Tauchermaske waren die Augen des Mannes weit aufgerissen. Panik lag in seinem Blick. »Da ist was faul!« brachte Pit Langenbach noch heraus, bevor eine grüne, schuppige Krallenhand aus dem Wasser schoß, den Kopf des Froschmannes packte und ihn nach unten zog. Hartmut Nannen sprang auf und riß die Pistole aus dem Schulterhalfter. »Was, zum Teufel, war denn das?« brüllte er. »Setzen Sie sich hin, verdammt!« schrie Pit zurück und ließ den Außenbordmotor an. Das Schlauchboot machte einen Satz nach vorne. Hartmut Nannen kauerte sich nieder. Pit beschrieb einen weiten Kreis und lenkte das Boot auf das Ufer zu. Dabei fuhr er wieder über die Stelle, an der die Krallenhand den Taucher gepackt hatte. Viel weiter kam das Schlauchboot nicht. Pit Langenbach spürte den Ruck, als etwas von unten gegen das Boot rammte und es aus dem Wasser hob. Hart prallte das Schlauchboot zurück. Die beiden Männer wurden durchgeschüttelt. Die grüne Klaue bemerkte Pit zu spät. »Festhalten!« schrie er, dann rammte er die Klauenhand. Das häßliche Geräusch, mit dem die langen Krallennägel die Luftkammern des Bootes aufschlitzten, ging einem durch Mark und Bein. Eine grüne Klaue bohrte sich von unten durch den Boden und tauchte direkt zwischen Hartmut Nannens Beinen auf. Mit einem Schreckensschrei warf sich der Kripomann zurück und feuerte auf die Klaue. Seine Kugeln richteten nichts aus. Das Schlauchboot neigte sich zur Seite. »Raus!« schrie Pit Langenbach 75
und hechtete ins Wasser. »Versuchen Sie, ans Ufer zu gelangen!« rief er Hartmut Nannen zu und warf sich auf ein fischköpfiges Wesen, das neben ihm aufgetaucht war. Der Hauptkommissar wußte, daß er gegen die Dämonin kaum eine Chance hatte, doch er würde auf keinen Fall kampflos aufgeben. Die Klaue krallte sich um Peter Langenbachs Kehle und drückte erbarmungslos zu. Gleichzeitig zog ihn die Dämonin nach unten. Das letzte, was Pit erkennen konnte, ehe die ersten dunklen Schleier vor seinen Augen tanzten, war das schreckliche Gebiß der Bestie. Der grelle, grüne Lichtblitz schmerzte in seinen Augen. Verdammt, mach doch mal einer das Licht aus! dachte er und bekam nicht mal mit, wie sich die Bestie vor ihm aufbäumte. Im nächsten Moment war Pit Langenbach frei und sauste nach oben. Keuchend schnappte er nach Luft, als sein Kopf ins Freie stieß. Nicht weit entfernt hatten sich zwei Fischkopfdämonen auf Hartmut Nannen gestürzt. Der Kripomann kämpfte verzweifelt gegen die beiden Schwarzblüter an, doch er mußte bald erkennen, daß er seine Kräfte verschwendete. Starr vor Schreck hing er im Griff einer Dämonin und schaute zu, wie die Krallenhand der anderen Höllenkreatur auf ihn zu schoß. Den Schrei, der sich in seiner Kehle geformt hatte, brachte er nicht heraus. Im letzten Moment schloß Hartmut Nannen die Augen. Die tödliche Krallenhand erreichte ihr Ziel nicht. Die silberne Klinge eines Dolchs drang von hinten in den Hals der Dämonin. Die Krallenhand verharrte in der Luft. Die Dämonin spuckte einen Schwall schwarzgrünes Blut und versank. Bevor die zweite Schwarzblüterin mit Hartmut Nannen abtauchen konnte, warf sich Mark Hellmann vor und rammte ihr den Dolch zwischen die Reißzähne. »Mark, du verdammter Rumtreiber! Bin ich vielleicht froh, dich zu sehen!« rief Pit Langenbach. »Das nächste Mal legst du aber einen Zahn zu, Junge!« »Sorry, Pit, aber es ging nicht früher.« Neben Mark Hellmann tauchte eine hübsche, schwarzhaarige Frau auf. »Übrigens, das ist Aurelia«, sagte Mark Hellmann grinsend. Im nächsten Augenblick wimmelte das Wasser von fischköpfigen Dämoninnen, und Pit Langenbach hatte keine Gelegenheit, die schöne Nixe näher kennenzulernen. * Wie
Pfeile
schossen
wir
durch 76
den
Stollenausgang.
Unser
Empfangskomitee, das aus einem knappen Dutzend Fischkopfdämonen bestand, erwartete uns mit Netzen, Dreizackspießen und ihren Krallenhänden. Doch wir waren zu schnell. Die Netze verfehlten uns, und den Spießen und Klauen entgingen wir um Haaresbreite. Dafür fand mein Dolch etliche Ziele. Dann griffen die Nixen in den Kampf ein. Grüne Blitze bohrten sich in die Schuppenleiber der Dämoninnen und vernichteten sie. Aurelia ergriff meine Hand und deutete nach oben. Ich nickte und folgte ihr, so schnell ich konnte. Wieder verlieh sie mir mit ihrem Kuß die Fähigkeit, unter Wasser zu atmen. Wir kamen gerade zurecht, als Pit Langenbach und ein weiterer Mann von Griseldas Schergen bedrängt wurden. Ich kümmerte mich um Pits Begleiter, während Aurelia meinem Freund und Spezi zu Hilfe eilte. Und dann wimmelte es um uns herum von Fischkopfdämonen! Das Wasser brodelte. Ein verletzter Froschmann trieb an mir vorbei. Eine Dämonin stieß ihn aus dem Weg und kassierte dafür einen Stich mit dem Silberdolch. Ich kämpfte wie ein Besessener. In meiner Hosentasche steckte noch das Kreuz aus geweihtem Rosenholz. Ich drückte es Pit Langenbach in die Hand, der sogleich regen Gebrauch davon machte. Er rammte das Kreuz in die Fischmäuler und Augen der Dämoninnen und nahm ihnen jegliches weitere Interesse an ihm. Ich schnappte mir Pits verwirrten Begleiter und schob ihn auf meinen Freund zu. »Bring ihn zum Floß!« rief ich. »Ich versuche, die Froschmänner rauszuhauen!« Pit machte sich sofort auf den Weg. Ich schwamm zu dem verletzten Froschmann und zog ihn auf die Plattform zu. Aurelia hatte mitbekommen, was ich vorhatte, und nahm mir den Mann ab. »Kümmere dich um die anderen!« rief sie. Ich warf mich wieder ins Kampfgetümmel. Die zierlichen Nixen schlugen sich wacker. Blitzschnell sausten sie zwischen den Dämonen hin und her und durchbohrten die Fischleiber. Nicht weit entfernt bemerkte ich drei Köpfe mit Taucherbrillen. Ich kraulte auf sie zu und riß dem erstbesten Froschmann die Maske vom Gesicht. »Rüber zum Floß! Anweisung von Hauptkommissar Langenbach! Beeilung, meine Herren!« rief ich. Die Taucher setzten sich sofort in Bewegung. Ich hielt die Dämonenweiber, die den Tauchern auf den Fersen waren, mit gezielten Dolchstößen auf und schaute mich nach Aurelia um. Sie nahm die Froschmänner in Empfang und winkte mir zu. Ein Hilfeschrei ließ mich herumfahren. Drei Nixen wurden von einer Horde Dämoninnen bedrängt. Eine Nixe, die zu Hilfe eilen wollte, wurde von einer Krallenhand quer über der Brust erwischt und sank wehrlos in die Tiefe. Ich fuhr wie der Blitz zwischen die Fischweiber. Der Dolch schlitzte, stach und schnitt auf die Schwarzblüter ein. Das 77
Wasser ringsum färbte sich dunkel. Die Nixen warfen mir dankbare Blicke zu und eilten ihrer verletzten Schwester nach. Griseldas Schergen unternahmen einen letzten Versuch, die Menschen auf der Plattform doch noch zu töten. Aurelia half gerade dem dritten Froschmann auf das Floß und hing mit dem Oberkörper am Rand der Plattform, als die Dämonenweiber angriffen. In einer geschlossenen Formation tauchten sie aus dem Wasser auf und schlugen ihre Krallen in das Holz der Plattform! »Aurelia!!« brüllte ich, als eine Dämonin die Nixe umschlang und von der Plattform zerrte. Während ich mich nach vorn warf und die Dämonin förmlich mit dem Dolch aufspießte, flirrten die Körper der Nixen als grüne Lanzen und schillernde Dreizackspeere durch die Luft und bohrten sich in die Schwarzblüter. In Sekundenschnelle war es vorbei. Griseldas Schergen lösten sich auf. Vereinzelte Dämoninnen, die dem Gefecht entronnen waren, suchten ihr Heil in der Flucht. Ich hielt Aurelia in den Armen und war froh, daß ihr nichts passiert war. »Wenn du immer noch zu Griseldas Palast willst, sollten wir uns jetzt auf den Weg machen«, sagte die Nixe. »Klar. Aber du verziehst dich dann. Du hast es versprochen!« Ich informierte Pit über mein Vorhaben und tauchte unter. Weit vor uns bewegten sich die Fischkopfdämonen. Aurelia hielt mich bewußt zurück, um sie in Sicherheit zu wiegen. Sie kannte zwar auch den Weg zu Griseldas Palast, doch jetzt bot sich mir vielleicht die Gelegenheit, gleich hinter Griseldas Schergen in den Schlupfwinkel der Wasserhexe einzudringen. Von einem Augenblick zum nächsten verschwanden die Dämonenweiber. Ich schwamm über der Stelle, an der ich sie zuletzt gesehen hatte, im Kreis und suchte nach Spuren. Doch nirgends zeigte sich eine Höhle oder ein Schlupfloch. Aurelia tauchte bis zum Grund und glitt durch Sand und Seegras. Behutsam schob sie die langen, wiegenden Grashalme zur Seite und winkte mir. Ich kauerte an ihrer Seite und folgte mit den Blicken ihrem ausgestreckten Arm. Zwischen dichtem Seegras entdeckte ich eine schmale, dunkle Öffnung, die in eine Grotte zu führen schien. Die Nixe lächelte mir zu und schob sich durch die Öffnung. Ich stieß mich ebenfalls ab und tauchte in das dunkle Loch. Absolute Finsternis umgab uns. Ich tastete umher. Meine Finger glitten über rauhe, glitschige Felswände. Vorsichtig schob ich mich weiter. Vor mir fühlte ich eine strudelartige Strömung, in die ich hineingesogen wurde. Wie in einer gigantischen Waschmaschine wurde ich herumgewirbelt und schließlich in ruhigeres Gewässer gespien. Hatte ich 78
mich kurz zuvor durch eine undurchdringliche Finsternis getastet, umgab mich nun klares, hellgrünes Wasser, das an die Lagunen der Karibik erinnerte. Ich tauchte auf und fand mich in einer riesigen Höhle wieder. Aurelia stieg aus dem Wasser und folgte einem schmalen Felsensims, der in eine kleinere Grotte führte. Ich hastete ihr nach. »Wo sind wir hier eigentlich?« fragte ich leise. Meine Stimme brach sich tausendfach an den Wänden. Ich hatte das Gefühl, gebrüllt zu haben. »Diese Grotten führen zu einem unterirdischen Fluß«, erklärte die Nixe. »Der Fluß mündet in einer kleineren Höhle. Dort gibt es einen Durchgang zu Griseldas Palast.« »Gut. Dann kannst du jetzt umkehren.« »Auf keinen Fall, Mark. Ich führe dich bis zu dem Durchgang. Keine Widerrede!« Und schon sprang sie leichtfüßig vor mir her. Die Grotten waren schnell überwunden, und die Flußströmung half mir, Kräfte zu sparen. Aurelia wartete am Rand eines Höhlensees auf mich. Sie saß auf dem Felsenrand und ließ ihre zierlichen Füße im Wasser baumeln. »Wenn man dich so sieht, könnte man meinen, du fühlst dich sauwohl«, sagte ich. »Dies war einmal das Reich der Nixen. Hier war einer meiner Lieblingsplätze. Aber das ist schon lange her. Griselda hat alles an sich gerissen. Meine Schwestern wagen sich nicht hierher. Es ist viel zu gefährlich. Nur ich bin ab und zu hergekommen.« »Du hast eine Menge riskiert, Aurelia.« Sie antwortete nicht, sondern zeigte auf den Eingang einer weiteren kleinen Grotte, der vom Wasser umspült wurde. »Wenn du dort hineingehst, wirst du den Stollen finden, der dich zu Griselda führt«, sagte sie. Ich schwang mich zu ihr auf den Felsenrand und umarmte sie. »Du hast mir sehr geholfen, Aurelia. Ich werde es niemals vergessen.« »Sei vorsichtig, Mark! Du kennst Griseldas Macht! Sie ist skrupellos und ohne jegliches Gefühl.« »Keine Angst, Aurelia. Es wird schon klappen.« Ihre Hand strich über meine Wange. »Griseldas Unterschlupf hat einen zweiten Ausgang, eine Art Kamin. Er führt direkt zur Oberfläche des Zierker Sees«, sagte die Nixe leise, dann tauchte ihr schlanker Körper in das klare Wasser und entschwand meinen Blicken. Ich verlor keine Zeit. Das Wasser am Eingang der Grotte reichte mir bis zu den Hüften. In der Grotte selbst bedeckte es etwa kniehoch den Boden. Das Innere der Grotte wurde schwach von grünem Licht erhellt. Riesige Felsbrocken lagen in der Grotte verstreut. Vorsichtig schritt ich an ihnen vorbei und entdeckte die dunkle Öffnung des Stollens. Mein Pulsschlag erhöhte sich, die Anspannung nahm zu. Meine Hand 79
suchte den Griff des Silberdolchs in meinem Gürtel. In wenigen Augenblicken war es soweit. Endlich würde ich der Wasserhexe gegenüberstehen! Ich mußte ihre Macht brechen, mußte sie vernichten, bevor sie erneut das ganze Land mit ihrer Schreckensherrschaft heimsuchte. Was vor vielen hundert Jahren in Strelitz und Umgebung geschehen war, durfte sich nicht wiederholen! Aber Lisa Kern und das junge Mädchen hatten Vorrang. Bevor ich mich um Griselda kümmern konnte, mußte ich zusehen, daß ich die beiden Gefangenen befreite und aus dem Gefahrenbereich brachte. Ich konzentrierte mich ganz auf mein Vorhaben und hastete auf den Stollengang zu. Die schuppige, grüne Krallenhand schoß hinter dem Felsen hervor und traf mich mit einem gewaltigen Hieb am Kopf. Ich wurde zur Seite geschleudert und prallte gegen rauhes Gestein. Mein Schädel dröhnte. Schwindelgefühl überkam mich. Benommen schüttelte ich den Kopf. Drohend baute sich die dunkle Gestalt einer Dämonin vor mir auf und fauchte mich mit ihrem Fischmaul an. Ihre Klaue vergrub sich in meinem Haar, riß mich hoch und warf mich mit einer lässigen Bewegung in den Stolleneingang. Und hier warteten weitere Dämoninnen. Im Dunkel nahm ich schattenhafte Bewegungen wahr. Krallenhände streckten sich aus, packten meine Arme. Es schien, als wollten sie mir die Arme aus dem Körper reißen. Ich wurde hin und her geworfen, prallte gegen harte Felswände, gegen Schuppenleiber und auf den feuchten Boden. Als ich wieder mal auf allen vieren am Boden kauerte und versuchte, die dunklen Schleier vor meinen Augen zu zerreißen, senkte sich ein Netz über mich. Sie bogen mir die Arme schmerzhaft auf den Rücken und zerrten meinen Kopf nach hinten. Ich hing derart fest in ihrem Griff, daß ich nur noch die Beine bewegen konnte. Mit Schlägen und Fußtritten trieben sie mich voran. Wenn ich nicht schnell genug lief, schleiften sie mich über den Boden. Wir kamen an einer Felsnische vorbei, die von einem Eisengitter versperrt war. Griseldas Schergen warfen mich gegen die Gitterstäbe und drückten mein Gesicht zwischen zwei Stäben hindurch. Undeutlich erkannte ich die beiden Frauen, die an der hinteren Wand hockten. »Lisa!« brachte ich heiser hervor. »Bist du in Ordnung?« »Mark!« rief sie überrascht und lief mir entgegen. »Du hättest nicht herkommen sollen, Mark! Sie hat es nur auf dich abgesehen! O Gott!« Lisa verbarg ihr Gesicht in den Händen. Mit wütendem Knurren zerrten mich die Häscher vom Gitter weg und 80
trieben mich in eine gewaltige Höhle. In der Mitte des Raumes warfen sie mich zu Boden. Mein Siegelring vibrierte heftig und wurde heiß. Sein helles Glimmen drang durch die Maschen des Netzes. Mühsam schälte ich mich aus dem Netz und schaute auf. Ich starrte nun in die grinsenden Fratzen von unzähligen Totenschädeln! Die Schädel bildeten das Podest für einen schwarzen Thron, der ebenfalls mit Schädelknochen verziert war. Mein Blick fiel auf wohlgeformte, nackte Beine, die von einem schwarzen Samtumhang umgeben waren. Der Umhang verdeckte einen schlanken Frauenkörper. Feingliedrige Hände lagen auf den Totenschädeln, die den Abschluß der Sessellehnen bildeten. Als ich nach oben blickte, nickte mir eine wunderschöne Frau mit langen, pechschwarzen Haaren zu. Ihre grünen Smaragdaugen waren zu schmalen Schlitzen verengt. »Willkommen, Mark Hellmann! Willkommen in meinem Reich!« Ihre Stimme klang stolz und gebieterisch zugleich. Das war sie also. Das war Griselda, die Wasserhexe! * »Ich bin überrascht, Hellmann! Du hast es tatsächlich geschafft, meinen Schlangen zu entgehen. Es ist dir gelungen, viele meiner Dienerinnen zu vernichten. Du hast dir die Hilfe der Nixen zunutze gemacht, um mir schwere Schläge zu versetzen. Und bei all deiner Stärke hast du doch versagt und bist mir in die Falle gegangen. Warum?« »Du hast zwei Menschen entführt, die mir wichtig sind. Ihretwegen bin ich hier, Hexe!« Griselda lachte. »Hexe! Wie sich dieses Wort aus deinem Munde anhört! Du kannst mich nicht beleidigen, Hellmann! Ich bin eine Königin! Ich besitze ein gewaltiges Reich und die Macht der Hölle! Du solltest mir huldigen, aber du ziehst es vor, mich zu beleidigen! Was bildest du dir ein, Wicht?« »Du bist nichts weiter als ein blutrünstiges Dämonenweib, das sich aus lauter Machthunger und Gier der Hölle unterwarf! Du verbreitest Angst und Schrecken unter den Menschen und tötest sie! Ist es das, was du dir immer erträumt hast, Hexe?« Griselda sprang auf und ballte die Faust. »Es ist die Macht! Ich beherrsche die Seen und Flüsse! Niemand wagt es, sich mir entgegenzustellen. Es bereitet mir Vergnügen, mit den Menschen da oben zu spielen und ihnen zu zeigen, wie hilflos sie sind. So hilflos wie die Fische, die in ihren Netzen zappeln! Sie müssen wieder lernen, mich als 81
ihre Herrin zu akzeptieren und mir ihre Opfer darzubringen!« »Das hast du vor vielen Jahren auch versucht, und es ist dir nicht gelungen.« »Ich war nicht stark genug! Jetzt aber hat mir der Meister besondere Macht und Stärke verliehen!« »Und dafür sollst du mich töten, nicht wahr?« Die Wasserhexe lachte und rieb ihre Hände aneinander. »Du bist ein schlaues Köpfchen, Mark Hellmann. Mephisto wird begeistert sein und mir einen Platz in den Reihen seiner Günstlinge zuweisen. Meine Macht wird grenzenlos sein. Aber zuvor werde ich noch eine Weile deine Gesellschaft genießen, Hellmann!« Sie schnippte mit den Fingern. Ich vernahm das metallische Klicken, als das Eisengitter nach oben glitt. Kurz darauf schleppte man die Reporterin und das brünette Mädchen in den Thronsaal und schleuderte sie in meiner Nähe zu Boden. Lisa stemmte sich hoch und kam an meine Seite. »Die Alte ist total von der Rolle, Mark! Ich weiß nicht, wo wir hier sind, aber dieses ganze Theater war offensichtlich nur inszeniert, um dich zu schnappen. Wer ist sie denn? Eine abgewiesene Liebhaberin? Nur gut, daß ich noch alle Sinne beisammen habe. Zwei von der Sorte würdest du wohl kaum verkraften.« »Sie ist eine Hexe«, antwortete ich kurz. »Spinnst du?« »Sie war mal eine Nixe und wurde zu einer Hexe. Zu einer Wasserhexe. Sie ist uralt!« Die Reporterin starrte mich an, als käme ich von einem anderen Stern. Ungläubig schüttelte sie den Kopf und schaute die schwarzhaarige Schönheit auf dem Schädelpodest an. »Kannst du mir dann mal verraten, wie du das machst, Alte? Ich meine, hast du ein besonderes Make-up oder so, um die Runzeln wegzukriegen?« fragte sie verblüfft. Griselda blitze sie wütend an. »Du freche kleine Göre!« fauchte sie, stieg vom Podest und packte Lisas blonde Haare. »Ich habe dir schon mal gesagt, was ich mit dir mache, wenn Mark Hellmann vor mir auf den Knien rutscht! Jetzt ist es soweit. Sieh genau hin, wie dein Freund kuscht und mir demütig zu Füßen liegt!« Ihr Fingernagel glitt zwischen Lisas Brüsten hindurch über den straffen Bauch. »Stück für Stück werde ich dir die Haut vom Leib reißen«, hauchte sie. »Bei jedem deiner Schreie wird mich Hellmann anflehen, ein rasches Ende zu machen. Wir werden sehen, wie lange er durchhält!« Sie versetzte Lisa einen Stoß, der die nackte Blondine quer durch die Halle trieb. »Von Demut kann keine Rede sein, Griselda!« rief ich. »Du bist feige und versteckst dich hinter wehrlosen Frauen! Warum stellst du dich nicht zu 82
einem fairen Kampf?« »Ich habe es nicht nötig, mich mit dir zu schlagen, Hellmann! Du bist in meiner Gewalt, und nichts und niemand wird dich retten! Du bist nur ein Spielzeug zu meinem Zeitvertreib. Wir werden sehen, wie lange es dauert, bis du um deinen Tod bettelst.« Unbändiger Zorn stieg in mir auf. Diese überhebliche Hexe sollte sehen, daß ich es ihr nicht leichtmachen würde. Ich warf mich auf sie und legte beide Hände um ihren Hals. An meinen Dolch dachte ich dabei nicht, und das war mein Fehler. Ich kann nicht mehr sagen, was mich dazu brachte, die Wasserhexe am Hals zu packen. Es war wohl einfach eine Überreaktion, die mich jedoch fast das Leben kostete. Griselda stierte mich an und lachte. Kein Ton kam aus ihrer Kehle, da meine Hände wie die Backen eines Schraubstocks zudrückten. Griseldas Haut wurde aschfahl. Unzählige Runzeln und Furchen bedeckten plötzlich ihr Gesicht. Ihr dichtes, schwarzes Haar wurde zu schmutziggrauen, fast durchsichtigen Strähnen. Kalte, grünschillernde Augen glühten in dunklen Augenhöhlen. Ihre wohlgeformte Nase wurde flach und breit. Anstelle der feingeschwungenen, sinnlichen Lippen gab es nur noch eine kreisrunde Öffnung, in der zwei Reihen nadelspitzer Reißzähne zu sehen waren. Die Wasserhexe stank fürchterlich, holte einmal tief Atem und sprengte meinen Griff mit einem bloßen Anspannen der Halsmuskeln. Ihre Klauenhand rammte gegen meinen Brustkorb und ließ mich durch die Halle segeln, bis ich an der gegenüberliegenden Höhlenwand zu Boden sank. Sekundenbruchteile später stand Griselda wieder als wunderschöne Frau vor mir. Stöhnend kam ich auf die Beine. »Willst du es noch mal versuchen, Hellmann? Ich hatte mir unter dem gefürchteten Träger des Rings eigentlich etwas anderes vorgestellt. Du bist ein Schwächling, der den Mund zu voll nimmt. Nun, man kann eben nicht alles haben«, drangen mir die höhnischen Worte der Wasserhexe entgegen. Griselda schnippte mit den Fingern und deutete auf das brünette Mädchen. Die Schergen der Wasserhexe setzten sich in Bewegung. »Nein! Laßt eure dreckigen Pfoten von Silke!« schrie Lisa Kern und warf ihren nackten Körper gegen die schuppigen Fischleiber der Schwarzblüter. »Ihr rührt die Kleine nicht an!« Ein Schlag fegte die Reporterin aus dem Weg. Silke wurde hochgezerrt. »Sie wird eine von uns werden!« verkündete Griselda. »Du sollst dabei zusehen, wie ich sie zu meiner Lieblingsdienerin mache. Sie wird immer an meiner Seite sein! Schafft sie in die Grotte!« Silke wurde zum Ausgang des Gewölbes geschleppt. Griselda trat zu mir heran. »Willst du wirklich sterben, Hellmann? Du könntest dies alles hier mit mir teilen! Du könntest Macht, Reichtum und eine wunderschöne Frau 83
besitzen!« Sie öffnete die smaragdgrünen Spangen, die ihren Umhang zusammenhielten, und ließ das Gewand zu Boden gleiten. Ich mußte ihr in einem Punkt zustimmen. Sie war wunderschön. Ihr bezaubernder, nackter Körper konnte einen Mann um den Verstand bringen. Ihre vollen, blutroten Lippen waren leicht geöffnet und zum Kuß bereit. Aber ich hatte solchen Versuchungen durch eine Hexe bereits erfolgreich widerstanden, als ich vor ein Hexentribunal geführt worden war (Siehe MH8, Das Blutgericht von Jena) Außerdem hatte sie mir ihre wahre Gestalt gezeigt, und allein die Erinnerung daran wirkte auf mich wie eine kalte Dusche. Angewidert spuckte ich vor ihre Füße. Griselda schrie ihre Wut hinaus. »Du wagst es, meine Schönheit und meine Macht zu verschmähen? Ich bin dir wohl nicht gut genug?« Sie packte Lisa und zerrte sie vor mich. »Sie gefällt dir wohl besser, was? Willst du sie? Du sollst sie haben, Hellmann! Stückchenweise!« Fischkopfdämonen sprangen auf uns zu und zerrten uns ebenfalls zum Ausgang des Gewölbes. Wenig später fanden wir uns in der Grotte wieder, in der mir Griseldas Schergen aufgelauert hatten. Sie warfen mich gegen einen hohen Felsen. Lisa brach vor mir in die Knie. Auf einer Felsplatte lag Silke. Das Mädchen zitterte am ganzen Leib und wimmerte leise. Griseldas Schergen waren dabei, sie mit einer Kette an den Stein zu fesseln. In diesem Moment bot sich mir die letzte Chance, mit den beiden Mädchen hier wegzukommen. Ich mußte es riskieren. Ich stieß mich vom Felsen ab und warf mich auf die Dämoninnen, die Silke fesseln wollten. Mein Dolch fetzte in ihre Schuppenleiber. Blitzschnell hatte ich Silke von der Felsplatte gezogen. »Raus hier, Lisa!« brüllte ich. Die blonde Reporterin hetzte zu mir herüber und legte einen Arm um Silkes Schultern. Ich rannte mit den beiden Frauen zum Eingang der Grotte. Wir waren nicht schnell genug. Die Wasserhexe hatte vorgesorgt. Vom Grotteneingang kamen uns vier Fischköpfe entgegen. Dicht hinter uns folgten weitere Schergen der Wasserhexe. Es war sinnlos. Sie schleiften uns in die Grotte zurück und warfen mich wieder gegen den Felsen, an dem ich vorher gelehnt hatte. Der Silberdolch wurde mir aus der Hand geprellt und klirrte auf den Boden. Griselda erschien und starrte mich an. »Narr! Du kannst von hier nicht mehr entkommen, Mark Hellmann! Du hast verloren. Deine Zeit ist um! Du kannst nur um einen raschen Tod flehen!« Sie schleuderte mir ihre geballten Fäuste entgegen und öffnete sie. In der Luft entstand ein grünes Flirren, das sich verdichtete. Magische Ketten legten sich um meine Handgelenke und banden mich an den Felsen. Sosehr ich auch zog und zerrte, ich kam nicht frei. 84
»Haltet sie fest! Sie soll zusehen!« schrie die Wasserhexe und deutete auf Lisa. Rauhe Krallenhände rissen die Reporterin hoch und zwangen sie, mich anzuschauen. Hochaufgerichtet stand Griselda vor mir und streckte die Hand aus. Eine Dienerin legte einen grünschillernden Dreizack in ihre Hand. Die Hexe wog ihn in der Hand. Ich hörte das Rauschen des Wassers, das gegen den Eingang der Grotte klatschte. Griseldas Stimme übertönte das Rauschen. »Die Hölle wird mir ewig dankbar sein!« Ihr Schrei hallte an den Wänden der Grotte wider. Mein Mund war schlagartig trocken, als ich sah, wie der Dreizack auf mich zu flog! * Lisa Kern stieß einen gellenden Angstschrei aus. Die Spitzen verfehlten mich um Haaresbreite, stießen gegen den Fels und prallten ab. Funken sprühten. Steinsplitter regneten auf mich. »Das war nur ein Hauch dessen, was dich erwartet. Ich will dich leiden sehen!« rief Griselda. Sie trat an Lisa Kern heran. »Welchen Teil dieser frechen Göre willst du zuerst, Mark?« Sie strich sanft über Lisas Gesicht. »Ich glaube, ich schenke dir heute die zarte Haut ihrer Wange!« Sie hob ihre rechte Hand, die schuppig wurde und sich in eine Klaue verwandelte. Die scharfen Fingernägel näherten sich Lisas Gesicht. Die Reporterin bäumte sich im Griff der Fischweiber auf und versuchte, den Kopf wegzudrehen, doch es gelang ihr nicht. »Wehre dich nicht, Täubchen, es ist gleich vorbei!« zischte Griselda. »Bitte - bitte nicht!« flehte Lisa Kern. Die Hexe lachte schrill. Der grelle, grüne Blitz zuckte vom Eingang her, fuhr durch die Leiber mehrerer Dämonenweiber und verdichtete sich, bevor er mit voller Wucht gegen die Wasserhexe prallte und sie zur Seite rammte. Ich erkannte Aurelia, die sich an meinen Fesseln zu schaffen machte. »Du hattest mir versprochen, nicht herzukommen«, sagte ich vorwurfsvoll. »Ich hatte überhaupt nichts versprochen«, widersprach sie. »Darauf solltest du künftig achten, wenn du mit Frauen eine Vereinbarung triffst.« Wie wahr, wie wahr! dachte ich. »Bist du nicht froh, mich zu sehen?« Ich grinste. »Heilfroh, meine Schöne!« Griselda richtete sich auf und tobte. »Schnappt euch die Nixe!« kreischte 85
sie. »Ich will sie haben. Lebend!« »Verschwinde jetzt besser«, riet ich Aurelia, doch die schöne Nixe weigerte sich. »Erst wenn du frei bist!« sagte sie. In dem Moment, als die Krallenhände der Dämonenweiber nach Aurelia griffen, gelang es der Nixe, mit einer Wolke grünen Atems die Kette an meiner rechten Hand zu sprengen. Sie wehrte sich verzweifelt, doch die Übermacht von Griseldas Schergen war zu groß. Die Wasserhexe stand vor mir und grinste höhnisch. »Ich sehe, es wäre dir beinahe gelungen, mir doch noch zu entkommen. Damit dies nicht mehr geschieht, habe ich etwas Besonderes für dich!« rief sie, löste die smaragdgrünen Spangen aus ihrem Umhang und warf sie in die Luft. Die Spangen wurden zu Schleiern, veränderten sich und schwebten langsam auf mich zu. Nur waren es jetzt keine Schleier mehr, sondern smaragdgrüne Schlangen, die ihre Mäuler weit aufrissen und mir ihre gräßlichen Giftzähne zeigten! * Ich hatte Angst. Furchtbare Angst, die mir fast den Atem raubte. Aus Griseldas Worten schloß ich, daß die Schlangen mich nicht töten, sondern nur kampfunfähig machen sollten. Ich erinnerte mich an die Qualen, die ich durch den Schlangenbiß in meiner Wohnung ausgestanden hatte. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, daß ich ähnliche Schmerzen erleiden würde, wenn ich diesmal gebissen wurde. Und Griselda würde der Anblick, wie ich mich unter Schmerzen wand, höchsten Genuß bereiten! Der Dolch! Ich muß an den Dolch ran! All meine Gedanken kreisten um die silberne Waffe. Ich suchte den Boden ab und entdeckte die Klinge. »Das Messer, Lisa!« zischte ich der Reporterin zu. »Ich brauche das Messer!« Mit dem Kopf wies ich in die Richtung, wo der Dolch lag. Einen Augenblick lang starrte sie mich verständnislos an, dann begriff sie. Ihr Kopf ruckte herum. Lisa reagierte sofort und blitzschnell. Sie duckte sich, hechtete auf den Dolch zu, riß ihn hoch und warf ihn mit dem Griff voraus zu mir herüber. »Fang auf!« schrie sie, bevor sie von Dämonen niedergerungen wurden. Sie hatte ausgezeichnet geworfen. Meine Finger schlossen sich um den Griff des armenischen Silberdolches. Die Klinge fegte durch die Luft und trennte der vordersten Schlange den Kopf ab. Der zuckende Schlangenleib fiel zu Boden und löste sich auf. Ich stieß die Dolchklinge gegen die magische Kette, die mich noch an 86
den Felsen fesselte. Blitze zuckten, Funken spritzten nach allen Seiten davon. Und die Kette fiel! Jetzt lief ich zu Hochform auf und hieb auf die Schlangen ein. Gewandt wich ich den gefährlichen Schlangenmäulern aus und stach in die Reptilienleiber. Ich tauchte unter den zuckenden Schlangen weg, warf mich nach vorn und fetzte die Dolchklinge in die Leiber der Dämoninnen, die Aurelia festhielten. Die Nixe war frei und flitzte durch die Grotte. Dabei verwandelte sich ihr Körper wieder in eine grünschillernde Lanze und kam wie ein Kugelblitz über Griseldas Schergen. Die Wasserhexe schrie wütend auf und flüchtete in den Stollen. Ich konnte gerade noch ihren nackten Rücken und die wehenden schwarzen Haare sehen. Sofort hetzte ich ihr nach. Ich kam in die riesige Halle, doch von Griselda fand ich keine Spur. Die Wasserhexe schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Hinter mir ertönten die gräßlichen Schreie und das schrille Fauchen der Dämonenweiber, die von Aurelias Lanzengestalt vernichtet wurden. Die Nixe leistete ganze Arbeit. »Griselda!« schrie ich. »Komm und stelle dich, Hexe!« Nur mein Echo antwortete mir. »Verdammt, du feiges Rabenaas, wo steckst du?« Ich näherte mich langsam dem Podest mit dem Thronsessel. Wenn Griselda nicht durch den zweiten Ausgang geflohen war und am Ufer des Sees Zuflucht gesucht hatte, konnte sie sich eigentlich nur hinter dem wuchtigen Sessel verborgen halten. Ehrlich gesagt, bezweifelte ich, daß die Wasserhexe geflohen war. Sie wartete sicherlich auf einen günstigen Zeitpunkt, um mir doch noch an den Kragen zu gehen. Mit einem gewaltigen Knall schien ein Teil des grausigen Podests zu explodieren. Bleiche Totenschädel sausten durch die Luft, prallten an den Wänden ab und rollten über den Boden. Aber das war noch nicht alles, wie ich gleich darauf feststellen mußte. Denn die Totenschädel entwickelten ein Eigenleben. Sie klapperten mit den Zähnen und griffen mich an! Ich kickte die Totenschädel zur Seite, sprang hoch und landete auf dem schwarzen Sessel. Hinter der hohen Lehne richtete sich Griselda auf. Ihre Krallenhände wischten durch die Luft. Ich wich zurück. Sie packte den Thronsessel und stieß ihn nach vorn. Ich flog durch die Luft und landete zwischen den Totenschädeln, die wie Bowlingkugeln heranrollten. Der Dolch wurde mir aus den Fingern geprellt. Mit Händen und Füßen wehrte ich die angreifenden Schädelknochen ab, griff in leere Augenhöhlen und kam mir vor wie in einem gigantischen Billardspiel mit grausigen Kugeln. Schädel zerbrachen, wenn sie gegeneinanderprallten, und Zähne flogen nach allen Seiten durch die Luft. 87
Griseldas nackter Körper stand plötzlich vor mir. Verächtlich stieß sie einige Totenschädel zur Seite. »Du hast mich herausgefordert, Mark Hellmann! Jetzt sollst du meinen ganzen Zorn spüren!« Sie verwandelte sich von der schönen Frau in die alte, runzlige Schreckensgestalt, packte mich und riß mich hoch. Ihrer Kraft war ich nicht gewachsen. Sie hielt mich hoch über ihren Kopf und versuchte, mir das Kreuz zu brechen! So ungefähr mußte sich die Folter auf einer Streckbank anfühlen. Unaufhaltsam bog sich mein Körper. Jede Sehne und jeder Muskel war zum Zerreißen gespannt. Die Gelenke schmerzten und brannten wie Feuer. Griseldas Kraft nahm zu. Mein Rücken bog sich noch weiter durch, während ihr kreischendes Lachen durch die Höhle dröhnte. Fieberhaft suchte ich nach einem Ausweg. Ich erinnerte mich plötzlich an den Bannspruch, den Pater Conrad vor mehr als sechshundert Jahren gesprochen hatte. Vielleicht konnte ich mir dadurch eine Chance verschaffen. »Schändliches Weib, das mit Satanas, dem Teufel, gebuhlet und Gott, dem Allmächtigen, abgeschworen - weiche hinweg! Auf ewig seist du gebannet an diesen Ort, auf daß du nie mehr Plag und Unheil bringen mögest über Gottes Kinder!« stieß ich die Worte des Paters hervor. Die Wasserhexe erstarrte. Ihr Griff lockerte sich. Hoffnung keimte in mir auf. Einen Moment lang sah es so aus, als würde sie mich zu Boden sinken lassen. Ein jammernder Laut löste sich aus ihrer Kehle. Die Worte des Bannspruches erinnerten sie an jenen unrühmlichen Tag, an dem sie schon einmal besiegt worden war. Aber ich hatte mich zu früh gefreut. Das Jammern wurde zu einem Wutschrei. »Fahr zur Hölle, Mark Hellmann!« kreischte sie. »Man erwartet dich dort schon sehnsüchtig!« Sie spannte erneut ihre Muskeln. Ihre Arme stießen mich nach oben und drückten meinen Rücken durch. Ich stöhnte vor Schmerzen. Das kreischende Triumphgelächter der Wasserhexe brandete auf und erfüllte die Halle. Und wieder war es die Nixe, der ich meine Rettung zu verdanken hatte. Der Bannspruch hatte Griselda lange genug aufgehalten, daß Aurelia eingreifen konnte. Die Nixe schoß in die Halle, flirrte auf die Wasserhexe zu und fetzte durch ihren runzligen Leib. Erschöpft blieb Aurelia liegen und manifestierte sich wieder zu ihrer schönen Frauengestalt. »Ich glaube - ich lasse dir - den Vortritt, Hexe!« brachte ich keuchend heraus. Griseldas Gelächter war unterbrochen worden. Steif stand sie da und hielt mich immer noch in ihrem harten Griff. Ein heiserer Laut löste sich aus ihrer Kehle. Es klang wie das Wimmern eines Kindes. Die Wasserhexe holte tief Luft und brach in die Knie. Die Kraft schien aus ihren Armen zu weichen. Ich fiel zu Boden, rollte herum und kam mit Mühe und Schmerzen auf die 88
Füße. Lisa Kern und die junge Silke stolperten aus dem Stollengang in die Halle. Ich hob meinen Dolch auf und eilte ihnen entgegen. Griselda bäumte sich auf. An ihrer Hüfte klaffte eine tiefe Wunde, aus der Dämonenblut strömte. Sie preßte eine Faust auf die Wunde und torkelte durch die Halle. »Ihr werdet nicht von hier wegkommen!« krächzte sie. »Niemals!« Ihre Krallenhand schlug nach Aurelia, die immer noch keuchend am Boden kauerte. Die Nixe entging nur mit knapper Not dem Schlag. Offenbar waren ihre Verwandlung und der Kampf gegen Griseldas Schergen über ihre Kraft gegangen. Einen weiteren Hieb der Hexe würde sie kaum überstehen. Ich schleuderte den Dolch. Die Klinge sirrte durch die Halle und bohrte sich tief in Griseldas Rücken. Das geweihte Silber mußte der Hexe irrsinnige Schmerzen bereiten. Sie bäumte sich auf und brüllte, daß die Wände wackelten. Verzweifelt grabschten ihre Hände nach dem Dolchgriff, um die Klinge aus dem Körper zu ziehen, doch sie erreichte ihn nicht. Die Wasserhexe wirbelte um die eigene Achse und taumelte auf ihren Thron zu. Ein paar Schritte vor dem Podest brach sie in die Knie. Grüner Rauch trat aus ihren Wunden, aus Mund und Nase. Sie röchelte. Und doch hatte ich das dumpfe Gefühl, daß der Dolch sie nicht vernichten, sondern nur schwächen konnte. Sonst hätte der Zerfallsprozeß längst einsetzen müssen. Ich sprang zu ihr und zerrte den Dolch aus ihrem Rücken, um erneut zuzustechen, doch ich kam nicht mehr dazu. Die Höhle begann zu beben! Ich erhielt einen Schlag, der mich von Griselda wegtrieb. Die Wasserhexe wurde von einer unsichtbaren Faust gepackt und auf ihren Thronsessel geschleudert. »Unfähige!« rief eine rauchige Stimme, die mir irgendwie bekannt vorkam. »Du hast Mark Hellmann schon wieder unterschätzt und meine Warnungen in den Wind geschlagen. Deine Machtgier und Überheblichkeit hat dich blind gemacht. Ich sehe es ein, es war ein Fehler, dich zurückzurufen. Du hast dein Spiel gespielt und verloren, Griselda. Du bist bei unserem Herrn und Meister in Ungnade gefallen! Verflucht seist du, Elende! Dreimal verflucht!« Für einen winzigen Augenblick zeigte sich das Antlitz einer bildschönen Frau mit leuchtend roten Locken und grünen Augen unter der Höhlendecke. Ich kannte sie. Es war die Frau, die mir gewunken hatte, als ich unter der Wirkung des Schlangenbisses am Rande des Abgrunds gestanden hatte. Aber ich war ihr schon früher begegnet. Sie war Tabea, die Oberhexe, deren Schwestern ich auf dem Scheiterhaufen hatte hinrichten lassen („Siehe Mark Hellmann Band 8) »Du hattest Glück, Hellmann! Großes Glück! Ich will mir nicht den Zorn aller Nixen zuziehen, sonst würde ich meine Rache an dir vollenden. Doch hüte dich vor dem Tag, an dem wir uns wieder gegenüberstehen! Meine 89
Rache wird grausam sein!« rief Tabea, warf mir einen haßerfüllten Blick zu und verschwand. »Nein! Geh nicht, Cousine! Gib mir noch eine Chance! Ich werde Hellmann töten! Ich weiß, daß er mir nicht gewachsen ist!« schrie Griselda. Aber es war zu spät. Das Beben in der Höhle wurde stärker. Ich schob die beiden Frauen vor mir her zur hinteren Wand der Halle. Aurelia begleitete uns und deutete auf einen schmalen Spalt, hinter dem ich Wasser erkennen konnte. Ich drehte mich ein letztes Mal um. Griselda schrie zum Steinerweichen. Das Podest mit den Totenköpfen war vollends zusammengebrochen. Der schwarze Thronsessel hatte Feuer gefangen. Beißender Qualm hüllte die Wasserhexe ein, die in ihrem Sessel kauerte und sich schmerzerfüllt aufbäumte. Mit dem Zorn der Hölle war wirklich nicht zu spaßen. Tabea ließ ihre Cousine im Höllenfeuer schmoren! Gab es eine grausamere Strafe für Dämonen? Ich wandte mich ab und folgte der Nixe und den beiden Frauen durch die Felsspalte. Wie Aurelia gesagt hatte, führte eine Art Kanal direkt nach oben. Wenig später durchbrachen wir die Oberfläche des Zierker Sees und atmeten tief durch. Langsam schwammen wir auf das Ufer zu. Aurelia blieb im Wasser, während ich den beiden Frauen auf die Uferwiese half. »Ihr bleibt erst mal hier. Ich gebe Pit Langenbach Bescheid«, sagte ich. Hinter mir schäumte das Wasser, und Griseldas massiger Körper wuchtete sich auf mich, bevor ich richtig wußte, was geschah. Ich fuhr halb herum und sah, daß der Körper der Wasserhexe vom Feuer arg in Mitleidenschaft gezogen worden war. Sie mußte total durcheinander sein, denn sie hatte teilweise ihre schöne Gestalt angenommen. Ihr hübscher Kopf mit den langen, schwarzen Haaren ruhte auf dem dicken, runzligen Hals. Ihr Gesicht war ebenfalls nur teilweise zurückverwandelt. Das gräßliche Maul mit den Reißzähnen entstellte sie auf furchtbare Weise. Der Oberkörper war grau, faltig und mit Runzeln, Schwielen und Brandspuren bedeckt, während sie von der Hüfte abwärts wieder den schlanken Frauenleib angenommen hatte. In ihrer Seite klaffte die scheußliche Wunde, die Aurelia ihr zugefügt hatte. Die Krallenhände der Wasserhexe legten sich um meinen Hals. Das Gebiß näherte sich mir blitzschnell, um sich tief in meine Kehle zu bohren. Es gelang mir, eine Hand unter das schwammige Kinn der Wasserhexe zu schieben und ihren Kopf zurückzudrücken. Es war nur ein müder Versuch, denn Griseldas Kraft wurde durch ihren Haß verdoppelt. Schon berührte mich das stinkende Gebiß, als ein Ruck durch den Körper der Wasserhexe ging. Sie bäumte sich auf, ließ mich los und wankte zurück. Aus ihrer Brust traten die Spitzen eines Dreizacks. Der Schaft in 90
ihrem Rücken wippte leicht, als die Wasserhexe krampfartig die Arme ausstreckte und in die Knie brach. Sie verwandelte sich ein letztes Mal in die schöne Frau, die sie einst gewesen war. Sie wollte schreien, doch nur ein Röcheln drang aus ihrem Mund. Ein schwarzgrüner Blutschwall stürzte zwischen ihren Lippen hervor. Lautlos sank sie nach hinten und verschwand in den Fluten. Ein grüner Schimmer wurde im Wasser sichtbar, der kurz darauf verschwand. Griseldas Schreckensherrschaft war endgültig vorbei. * Ich hatte mich herzlich von Aurelia verabschiedet, die den Dreizack geschleudert und Griselda damit für immer in die Hölle geschickt hatte. Wie sie an den Spieß gekommen war, würde wohl ihr Geheimnis bleiben. »Wir werden nun wieder ungehindert in den Seen und Gewässern leben können«, sagte sie mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen. »Und die Menschen können ohne Furcht die Gewässer nutzen.« Ich nickte. »Und du wirst immer an deinen Lieblingsplatz zurückkehren können«, fügte ich hinzu. »Und von dir träumen?« »Auch das.« Wir umarmten uns ein letztes Mal, und ich schaute ihr nach, wie sie im See verschwand. Vom See-Restaurant aus verständigte ich Pit Langenbach, der in Rekordzeit am See eintraf. »Mein lieber Mann, du kannst einen ganz schön auf die Folter spannen«, meinte er. »Seit Stunden sitze ich wie auf glühenden Kohlen, und du schwimmst seelenruhig hier im See rum und tust so, als sei nichts geschehen!« »Ist ja auch fast nichts passiert. Ich hab mich nur mit einer Hexe angelegt. Aber das ist jetzt vorbei.« »Erzähl mir bloß nichts von irgendwelchen Hexen«, bat Pit. »Von Schwarzblütern hab ich erst mal die Nase voll.« »Wie geht es deinen Kollegen?« »Die sind okay. Hauptkommissar Nannen ärgert sich, daß er an meinem Seminar teilnehmen muß, und zerbricht sich den Kopf darüber, was er in seinen Bericht schreiben soll, ohne sich eine Rüge einzuhandeln.« »Du kannst ihm ja dabei helfen, Alter«, sagte ich und klopfte ihm auf die Schulter. »Dir fällt doch immer was ein.« Ich reckte mich, daß die geschundenen Gelenke knackten. »So, jetzt ist erst mal Urlaub angesagt. Sonne, Strand und Faulenzen.« 91
»Von wegen Urlaub. Bei mir heißt das Seminar. Ich hab wohl doch den falschen Job«, maulte Pit. »Wo ist eigentlich deine Nixe?« »Na hier!« rief Lisa Kern, und meine Nackenhaare sträubten sich. Ich hatte als Antwort auf Pits Frage zum See gedeutet, doch die blonde Reporterin schlug meinen Arm nach unten und hängte sich an meinen Hals. »Sag ihm ruhig, daß ich deine Nixe bin, Mark«, flötete sie. »Nach allem, was wir durchgemacht haben, könntest du ruhig ein bißchen nett zu mir sein.« »Du gibst wohl nie auf, was?« »Warum sollte ich? Geteiltes Leid schweißt schließlich zusammen. Nicht wahr, Pit?« Der Hauptkommissar nickte. Ich bedachte ihn mit einem wutentbrannten Blick. »Wie war das jetzt mit Sonne, Strand und Faulenzen?« fragte Lisa und führte ihre Lippen an meinem Hals entlang. »Das paßt nicht ganz zusammen. Sonne, Strand und Streicheleinheiten wäre viel besser.« »Stimmt, aber nicht mit dir. Denn ich bin schon vergeben«, sagte ich verliebt und dachte an Tessa, mit der ich mich endlich mal wieder zusammengerauft hatte. »Oh, Mark, du bist ein furchtbarer Mensch!« schmollte Lisa. »Ich meine, du mußt keine Angst vor mir haben. Ich rühr dich bestimmt nicht an. Ehrlich. Und wenn es dir lieber ist, ziehe ich auch meinen Bikini am Strand an, damit du mich nicht ständig nackt siehst und auf andere Gedanken kommst.« Sie hob ihre Arme und verschränkte sie wieder in meinem Nacken. »Einen kleinen Kuß habe ich aber verdient, oder?« gurrte sie. Dummerweise machte sich gerade in diesem Moment die Wolldecke, mit der sie ihre Blöße bedeckt hatte, selbständig. »Das - das war keine Absicht«, stammelte Lisa und schaute an mir hinab. »Los, Mark, ab ins Wasser, wir brauchen beide dringend eine Abkühlung…«
ENDE Das Cafe Frankenstein schlug ein wie eine Bombe! Der Betreiber Mathias Kreuzer hatte es nicht nötig, für Werbung in der lokalen Presse Geld auszugeben. Seine Idee, den Gästen den nachempfundenen Horror-Keller à la Dr. Viktor Frankenstein als gastronomisch Sensation zu bieten, erwies sich als absoluter Selbstläufer. Stieg man die Treppe in die Gasträume hinab, fühlte man sich geradezu an den Schauplatz eines Gruselromans versetzt. Doch was die Leute hier erlebten, war kein böser Schein sondern grauenvolle Wirklichkeit! Wenn sie es doch alle ein wenig früher gemerkt 92
hätten! Skandal im Café Frankenstein ist nichts für schwache Nerven! Wie leicht hätten wir alle dort hineingeraten können, und wir wären unseres Lebens unseres Lebens nicht mehr froh geworden - wenn wir denn überlebt hätten!
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