C.H.GUENTER
Die drei aus dem Osten
ERICH PABEL VERLAG GMBH, 7550 RASTATT
1. Die Frühlingsstürme in Finnland brachte...
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C.H.GUENTER
Die drei aus dem Osten
ERICH PABEL VERLAG GMBH, 7550 RASTATT
1. Die Frühlingsstürme in Finnland brachten meist viel Schnee. Dann lag er kniehoch in den Straßen, schmolz aber schneller weg als im Januar. Slane Porter, Korrespondent des Washington Star in Helsinki, stand am Fenster seines Hotelzimmers und starrte hinaus in die frühe Dunkelheit. Seit Stunden schneite es. Inzwischen lag der weiße Dreck, der sich Schnee nannte, fünfzig Zentimeter hoch. Von den Pflügen war nichts zu sehen. Die Autos auf der Mannerheimstraße taten sich schwer mit dem Vorwärtskommen. Porter goß noch für zwei Schlucke Bourbon ins Glas und rauchte eine Zigarette. Eigentlich konnte er zufrieden sein. Sein letzter Bericht über die Ostseekonferenz war über Telex hinausgegangen. Morgen flog er für eine Woche nach Stockholm, im Juni an die Riviera. Aber irgend etwas erzeugte Unbehagen in ihm. War es der Gedanke, daß in Washington schon bald Sommer war, daß in den Parks die Mimosen blühten und daß die Mädchen dünne Kleider trugen und nicht so vermummt waren wie die Frauen hier im Nordosten? Oder lag es daran, daß das Zimmer einfach überheizt war? - In diesem Punkt übertrieb das Hotel Vaakuna gerne. Die Heiz3
körper ließen sich nicht regulieren. Sie würden das automatisch tun, hieß es, aber die Automatik arbeitete ungenügend. Im Begriff, eines der Fenster zu öffnen, hörte Porter das Telefon summen. Wer rief um diese Zeit an? - Um 17.00 Uhr saßen die Kollegen meist in den Bars, oder sie lagen irgendwo bei einem Mädchen. 17.00 Uhr, das war keine gute Zeit zum arbeiten. Wieder summte das Telefon. Washington, die Redaktion? - Nein, wohl kaum. In Washington war jetzt früher Morgen. Journalisten nahmen nicht schon um acht Uhr ihre Schreibtische ein. - Es konnten also nur jene Leute sein, für die er diesen Sonderjob erledigte. Zum drittenmal summte das Telefon. Langsam ging er hinüber. Sie waren so arrogant, daß sie glaubten, er sei nur im Nebenberuf Journalist und in der Hauptsache für sie tätig. Sie irrten sich gewaltig. Schreiben war wichtiger für ihn als das andere. Sollten sie denken, was sie mochten. Durch sie hatte er Zugang zu Informationen, die auf andere Weise nicht zu kriegen waren. Außerdem bedeutete es eine Stange Dollars zusätzlich. Er setzte sich aufs Bett, ließ den Apparat noch einmal summen und hob ab. Niemand meldete sich. Er wartete, rief dann die Zentrale an. Dort sagte man ihm, daß sich der Anrufer später noch einmal melden werde. Dieses Verfahren entsprach den Regeln. Wenn einer anrief und auflegte oder die Nachricht hinterließ, daß er es später noch einmal versuchen würde, dann war 4
es einer, der die Regeln beherrschte. Also hatte es mit seinem Nebenjob zu tun. Slane Porter legte sich hin. Warten hatte wenig Sinn. Meist verstrichen zwischen dem ersten und dem zweiten Anruf mehrere Stunden. Als es finster wurde und die Lichtreklamen ansprangen, spürte er, daß er seit dem Frühstück nichts anderes als ein paar Drinks zu sich genommen hatte. Er kleidete sich an, das heißt, er wählte eine andere Krawatte, schlüpfte in den Sakko und in den pelzgefütterten Trenchcoat. Unten an der Reception wandte er sich an die Hotelsekretärin. „Wenn man nach mir fragen sollte oder wenn ein Anruf kommt, ich bin im Teatterikuja." „Im Theatergrill", bestätigte das Mädchen auf englisch. „Ich notiere es, Sir." Eigentlich wollte Porter zu Fuß gehen. Aber bei dem Pappschnee war es mühsam. Er wartete, bis ein Taxi hielt und Gäste vor dem Vaakuna ablud. Es dauerte nicht lange. Der Theatergrill wurde gerne von Journalisten besucht. Von morgens zehn Uhr bis Mitternacht war der Laden immer gerammelt voll. Jeder fand, was er suchte. Bildhübsche Tänzerinnen, nassauernde Schauspieler, streitsüchtige Regisseure, neunmalkluge Dramatiker, andere Lebenskünstler und Bühnenpersonal machten das Lokal zur größten Gerüchteküche Finnlands. Kaum einer nahm hier ein Blatt vor den Mund. Jeder hatte irgendwo Freunde, Bekannte in der Poli5
tik, in der Wirtschaft, in der Forschung, beim Militär. Wer es verstand, ein Dutzend Informationen so zu sieben, daß am Ende noch ein Körnchen Wahrheit übrigblieb, für den war der Theatergrill eine Fundgrube. Deshalb verkehrten auch eine Menge Zeitungsleute dort. Also nicht allein wegen der schönen Blondinen. Für Slane Porter hatte sein größter Coup im Teatterikuja den Anfang genommen. Er war erst drei Wochen in Helsinki, und seine Ausbeute war mehr als mager gewesen, als er diesen Choreographen kennengelernt hatte. Bei irgendeiner technischen Einheit der Armee war er entlassen worden, wegen Trunkenheit, wie er behauptete. Tatsache war, daß er hochgradig schwul war, was bei der Armee nicht geduldet wurde. Aber der Junge war helle und ging mit offenen Augen durch die Gegend. Da er beim Ballett erst wieder Fuß fassen mußte und kaum über Geldmittel verfügte, hatte Porter ihn zum Essen eingeladen. Als sie sich wieder trafen, hatte der Junge zu erzählen begonnen. Von sowjetischen U-Booten, so groß wie Schlachtschiffe, von den neuen Raketen, die die neuen Raumstationen, von denen Teile auch in Helsinki gebaut wurden, in die Umlaufbahn beförderten. Er erzählte von einem Röntgenlaser, wie er auch auf dem SDI-Programm der USA stand und den die Russen angeblich schon lange hatten. Er behauptete sogar, daß die Russen den USA in allem echt voraus lägen. Natürlich nicht bei den 6
Mikrocomputern, aber die würden sie sich in Japan besorgen. Das alles hörte sich so an, als habe die UdSSR das, was die Amerikaner mit einem gigantischen Einsatz von Dollarmilliarden bis zur Jahrtausendwende erreichen wollten, längst geschafft. In einigen Punkten war ihm nicht zu widersprechen. Es gab die 35 000-Tonnen-U-Boote, und die Russen verfügten über Raumstationen, wie sie in Kalifornien gerade erst gezeichnet wurden, Slane Porter war der Sache weiter nachgegangen. Weil er das Talent besaß, Fakten von Fiktionen zu trennen, hatte er einen sehr guten Bericht verfaßt. Als er fertig war, stand er allerdings vor der Frage, an wen er ihn senden sollte. An seine Zeitung oder an seinen zweiten Arbeitgeber. Er hatte sich entschlossen, mehrere Fassungen zu schreiben. Eine gemäßigte für die Öffentlichkeit und eine harte für den internen Gebrauch der anderen Leute. Die Sache war recht gut angekommen. Nur seine Freundschaft mit dem Tänzer war ziemlich schnell zu Ende gegangen. Der Junge hatte mehr von ihm gewollt, als ab und zu ein Abendessen und einen Drink. Für Männerliebe hatte Slane Porter ganz und gar nichts übrig. Sie sahen sich manchmal noch, riefen Hallo - und das war es dann auch. An diesem Abend war der Tänzer nicht im Grill. Slane Porter wartete an der Bar, bis ein Platz frei wurde. Er bevorzugte einen bestimmten Tisch in der 7
Nische, von dem aus das Lokal gut zu überblicken war. Neben ihm stand eine junge Schauspielerin, die er kürzlich in Maxim-Gorki gesehen hatte. Er sagte ihr, wie hervorragend sie gewesen sei. Das gefiel ihr. Sie tranken, rauchten und redeten. Sie war recht charmant und witzig. Porter überlegte, ob er es soweit treiben sollte, mit ihr etwas Festes anzufangen, als der Oberkellner herübereilte. „Telefon für Sie, Mister Porter." Porter schaute auf die Uhr. Knapp zwei Stunden waren seit dem Anruf im Hotel vergangen. Vielleicht war es sein Kontaktmann, Jetzt kam es nur noch auf den Code an. - Nun, man würde sehen. Er trat in die Zelle und zog die Tür zu. „Slane Porter?" „Nebel über dem Wolgatal." Der Mann sprach mit Akzent, aber englisch. Gemäß den Regeln fragte Slane Porter nicht, wer er sei, sondern antwortete verabredungsgemäß: „Sonne über dem Ohio." Dieser Code galt für die ungeraden Tage dieses Jahres. Der andere kannte ihn, Porter kannte ihn und hatte die Antwort gegeben, die der Anrufer, wer immer er war, ebenfalls kennen würde. Er schien zufrieden zu sein, denn er fuhr fort: „Drei Falken fliegen nach Westen." Slane Porter wiederholte. Da der andere schwieg, fragte Porter: „Noch etwas?" „Nichts sonst." 8
„Danke." Der Anrufer legte auf. Slane Porter horchte noch einige Sekunden in die Leitung. Ferngespräche wurden hier meist noch handvermittelt. Er glaubte, neben mehreren Sprachfetzen auch russische zu vernehmen. Unter anderem Worte wie Leningrad und Moskau. Demnach war das Ferngespräch über diese Ämter gelaufen. Das Freizeichen kam überlaut. Er hängte ein. Die Schauspielerin ließ sich inzwischen von einem anderen einladen, von einem französischen Kollegen. Der Platz in der Nische war jetzt frei. Slane Porter begnügte sich jedoch mit einem kurzen Imbiß an der Bar. Er hatte es plötzlich eilig. Und wer es eilig hatte, der stellte sich nicht auf ein viergängiges Menü ein. Er bestellte Blini mit Poronpaisti, Das waren Pfannkuchen mit Wildragout. Dazu nahm er ein Bier. Kontaktzeit war 21.00 Uhr, früher Nachmittag in Washington. Porter bezahlte und verließ den Theatergrill. Es hatte aufgehört zu schneien. Straßen und Gehsteige waren geräumt. Er würde die zwei Kilometer bis zum Hotel rechtzeitig schaffen. Auf seinem Zimmer trank er noch einen Bourbon und wählte die Doppelnull der Telefonzentrale. „Ein Gespräch nach Washington", bestellte er. „Zimmer drei neun. Porter." Die Telefonistin erkannte ihn an der Stimme. „Die übliche Nummer in Washington, Sir?" Sie meinte die Nummer seiner Redaktion beim Star. 9
Idiot, dachte er, du mußt besser aufpassen. Warum telefonierst du nicht von der Zentralpost? Sie notiert alle Nummern und hört wahrscheinlich auch in die Gespräche hinein. Der sowjetische Geheimdienst KGB war auch in Finnland allgegenwärtig. Aber die Sache eilte. Und was er durchgeben würde, war codiert und klang harmlos. „Nein, eine andere Nummer." Er nannte sie ihr. Sie wiederholte. „Kann zwanzig Minuten dauern, Sir." Zwanzig Minuten wären eine gute Zeit, dachte er. Die Verbindung kam schon eine Viertelstunde später. Er nannte seinen Klarnamen. Slane Porter. „He, Slane!" rief einer am Drahtende. „Wie geht's?" Slane erzählte, was überall in den Zeitungen stand, erwähnte, daß der Winter zurückgekommen sei, daß aber weiter südlich im Wolgatal wohl Nebel herrsche. Die Falken flögen nach Westen. Drei Stück habe man beobachtet. Er flocht es unauffällig ein, erzählte noch ein paar Stories aus Helsinki und hoffte, daß ihn der Mann bei CIA-Headquarters in Langley verstanden hatte. Und, daß der Lauscher im Draht keinen Verdacht schöpfen würde. Als Korrespondent verlor man schnell seine Arbeitserlaubnis und wurde außer Landes verwiesen. In der vergangenen Woche war es einem deutschen Kollegen so ergangen. Binnen achtzehn Stunden mußte er Finnland verlassen, und nur, weil er 10
behauptet hatte, der Staatspräsident habe einen leichten Schlaganfall erlitten. Es entsprach der Wahrheit, aber die war hier nicht gefragt. Im Hauptquartier des amerikanischen Geheimdienstes wurde die Nachricht des Mitarbeiters in Helsinki zunächst als Routinemeldung behandelt. Doch als sie durch den Computer gelaufen und mit dem Codespeicher abgeglichen war, schrillten mit einemmal die Alarmglocken. Colonel Jan Vanderwell, zuständig für die Kommunikation zwischen dem Agentennetz Osteuropa und der Zentrale, bat sofort um einen Termin beim CIAChef. Vanderwell hatte einen direkten Draht zum Direktor. Da er ihn nicht überstrapazierte, fand das Gespräch schon eine Stunde später statt. Der CIA-Chef empfing ihn sitzend zwischen seinem Schreibtisch und der US-Flagge. Er bat den Abteilungsleiter Platz zu nehmen und sagte: „Es kommt selten vor, Colonel, daß Sie etwas auf dem Herzen haben. Also muß es wichtig sein. Schießen Sie Ihr Pulver ab!" Während der CIA-Chef ganz Ohr war, kniff der rundköpfige, ehemals rothaarige Oberst - sein Haar nahm immer mehr die Fellfarbe eines alternden Fuchses an - sorgfältig einen Knitter aus der Bügelfalte. Dann präsentierte er es so, wie der oberste CIA-Chef es gern hatte, nämlich katastrophenmäßig. Lieber etwas dicker auftragen, man konnte es später zurücknehmen. „Der Drei-Falken-Code kam durch, Sir." 11
Der Direktor bewegte mehrmals rasch die Lider. Er konnte nichts damit anfangen. Kein Wunder. Die CIA-Chefs kamen und gingen, die Abteilungsleiter hingegen waren meist altgedient. Sie hatten sich hochgearbeitet und blieben, wenn sie dem CIA nicht etwas besonders Schlimmes einbrockten. Manchmal konnte ein CIA-Boss seinen Sessel über die Amtsperiode des Präsidenten hinwegretten, manchmal aber wechselte ein Präsident in vier Jahren zweimal den CIA-Boss aus. Viele hatten sich gerade eingearbeitet, schon fielen sie einer neuen Strategie zum Opfer. Der Direktor konnte also gar nicht wissen, was es mit dem Drei-Falken-Code auf sich hatte. „Drei Falken fliegen nach Westen", wiederholte Vanderwell den ganzen Funkspruch. „Und das bedeutet, bitte?" Der Colonel erläuterte nicht die Bedeutung, sondern antwortete: „Es ist die letzte Stufe unter dem Code: Ein Adler fliegt nach Westen, Sir." Über das Gesicht des CIA-Chefs huschte ein Leuchten von Verständnis. „Verstehe. Eine Taube, zwei Tauben, drei Tauben. Ein Falke, zwei, drei Falken. Ein Adler, zwei, drei Adler. So lautet die Wertskala." Der Colonel nickte. „Würden Sie nun bitte" - die Stimme des grauhaarigen Gentleman im Nadelstreifenzweireiher nahm deutlich an Schärfe zu - „würden Sie mir bitte erklären, was es mit diesen idiotischen Vögeln, die 12
da in unterschiedlicher Anzahl nach Westen unterwegs sind, auf sich hat." „Die Information kam von einem Moskauer VMann", berichtete der Colonel, „dessen Code in Ordnung geht." „Sind Sie sicher?" „Es ist der Wolga-Ohio-Code, Mister Director." „Wolga, Ohio", murmelte Vanderwells Vorgesetzter. „Erst Vögel, dann Flüsse. Darf ich jetzt freundlicherweise erwarten, daß Sie mir nicht noch weitere ornithologische oder geographische Rätsel aufgeben, Oberst Vanderwell." Dies versuchte der Colonel. „Der Wolga-Ohio-Code ist das Erkennungszeichen für eine Reihe von V-Leuten in der UdSSR. Man meldet sich mit: Über dem Wolgatal ist Nebel. Wir antworten: Über dem Ohio scheint die Sonne. Dann wissen Anrufer und Angerufener, daß man sich vertrauen kann." Der CIA-Chef lehnte sich im Sessel so weit zurück, daß sein Hinterkopf fast die Stars and Stripes berührte. „Ich nehme an, die beiden haben sich vertraut, und es kam zum Austausch der Falken-Information." „In der Tat, Sir." „Und was bedeutet sie im Klartext? Könnten Sie bitte zur Sache kommen, Vanderwell. Ich bin zum Lunch mit dem Präsidenten im White House verabredet." Doch der Colonel machte es gerne spannend. 13
„Die Steigerung von Falke ist Adler", wiederholte er. „Die Adlerskala lautet wie folgt: Ein Adler fliegt nach Westen heißt, daß der Start einer Rakete mit scharfem Atomsprengkopf unmittelbar bevorsteht. Zwei Adler bedeuten, sowjetische Atom-U-Boote und Fernbomber sind zum Angriff auf die USA unterwegs. Bei drei Adlern hat sich die Heereswalze der sowjetischen Panzerarmeen gen Westen in Marsch gesetzt." Der CIA-Direktor war beeindruckt. „Aber noch sitzen die Adler im Horst", bemerkte er. „Dafür kommen drei Falken, Sir." „Sie sind etwas weniger hochrangig als Adler." „Aber bereits unterwegs, Sir." Dem Direktor schien der Geduldsfaden zu reißen. Doch ehe er aufbrausen und sagen konnte, was, zum Teufel, bedeuten also die Falken, antwortete Vanderwell. Es gehörte zu seinen besonderen Gaben, daß er stets den äußersten Punkt anvisierte und auch erreichte. „Falken sind Aktivagenten, Sir. Spitzenleute des sowjetischen Geheimdienstes KGB, betraut mit hochkarätigen Aufgaben, die ihrer Qualifikation entsprechen." „Saboteure?" fragte der Direktor nach. „Und Spione." „Etwa auch Killer, Brandstifter, Terroristen?" „Die ganze Skala, Sir. Diese Leute werden speziell 14
für ihre Aufgaben trainiert und sind gewohnt, sie auch durchzuführen. Gegen alle Widerstände, mit einer Erfolgsquote von über achtzig Prozent. Dies aber nur, wenn wir eine Chance haben, ihre Ziele und Absichten zu identifizieren. Andernfalls liegt ihre Erfolgsquote nahe hundert Prozent." „Woher", wollte der Direktor wissen, „beziehen Sie diese niederschmetternden Erkenntnisse?" „Aus der Statistik, Sir." „Doch wohl mehr aus unserer Pannenstatistik, die der Erfolgsstatistik der anderen Seite entspricht." „Alle großen Affären fingen mit solchen Falkenflügen an, Sir. Die Falken sind die Späher, die Wegbereiter der nachfolgenden Adler. So war es schon vor vierzig Jahren, als man uns das Patent für die Wasserstoffbombe stahl, so war es beim Mauerbau in Berlin, später in Prag, in Vietnam, in Afghanistan, im Falklandkrieg. Immer gingen diesen Operationen Falkeneinsätze voraus." Der CIA-Direktor erhob sich. Als er stand, wirkte er kleiner, als man ihn schätzte, solange er saß. Man war ein wenig enttäuscht, daß er nur knapp einssiebzig maß. Es lag am Mißverhältnis zwischen Oberkörper und Beinen. „Gut, daß Sie mich sofort informiert haben, Vanderwell", sagte der Direktor. „Ich werde den Präsidenten einweihen. Allerdings sind dazu noch einige Details mehr erforderlich. Ich kann nicht zu ihm kommen und sagen: Mister President, drei Agenten sind von Moskau in Richtung Westen abgereist. Er 15
würde mich auslachen." „Mit Sicherheit sind es Spitzenleute, Sir", behauptete Vanderwell. „Okay, aber was sind die extrem gefährdeten Punkte, die für was auch immer - sei es Sabotage, Zerstörung oder ein Angriff - in Frage kommen? Sind es Waffendepots, die Einsatzzentrale von NORAD, Regierungssitze, Forschungslaboratorien, Flottenoder Luftwaffenstützpunkte? Was biete ich an, was antworte ich, wenn der Präsident danach fragt?" In diesem Punkt mußte Vanderwell passen. „Näheres haben wir bis zur Stunde nicht, Sir", erklärte er. „Was die Gefahr naturgemäß noch vervielfacht." Der CIA-Chef stand am Schreibtisch, die Fäuste aufgestützt, das Managerkinn vorgestreckt. „Das wissen Sie, das weiß ich, aber der Präsident möchte Bilder sehen. Eine anonyme Gefahr ist schwer vorstellbar." Er setzte sich wieder und starrte seinen Abteilungsleiter an. „Was meinen die anderen Ressorts dazu?" „Wir analysieren noch, Sir." „Wie lange dauert das?" „Mehrere Tage, Sir." „Und wir können gar nichts unternehmen?" „Derzeit wenig, Sir." Der CIA-Direktor dachte nach und faßte einen Entschluß. 16
„Koordinieren Sie die Recherchen, Colonel. Geben Sie Druck. Ich beauftrage Sie mit der Lösung dieser Aufgabe im Bereich unseres Dienstes. Wenn Sie weitere Kompetenzen brauchen, Sie kriegen sie. Aber folgendes bitte ich zu bedenken: Ohne Einzelheiten betreffs Falkenflug, wo Sie Ihr Opfer finden werden, welches Wild Sie jagen, kann und darf ich den Präsidenten nicht damit behelligen." Das war die Stunde, in der beim US-Geheimdienst die ersten roten Lampen blinkten. 2. An den Wochenenden im Vorsommer war nie viel los. Dann hingen die Nachtwächter, der MontecatiniStahlwerke meist schläfrig herum. Sie gingen zwar ihre Runden durch die Werkanlagen am westlichen Ufer der Lagune, mitunter gönnten sie sich aber auch einen Schluck Vino oder gar ein Nickerchen. Im Stehen zwischen den Lagertanks, in einer Nische der Walzwerkhalle oder draußen am Verladepier. Nachts war der Pier ein beliebter Ort, weil meist kühler Wind die Adria heraufwehte und man die Lichter von Venedig glitzern sah, einer brillantenbesetzten Krone gleich, die aus dem Meer wuchs. Um 23.40 Uhr an diesem Freitagabend wurde der Schäferhund des Wächters Sergio Catani unruhig. Catani glaubte zuerst, der Hund habe eine Katzenspur aufgenommen. Aber gegen niederes Getier wie Katzen, Ratten und Mäuse war er eigentlich stumpftrainiert. 17
Also ließ Catani sich von seinem Wachhund in die gewünschte Richtung ziehen. Zwischen Schuppen IV und der Kläranlage kamen sie heraus. Es war das helle Singen eines hochtourigen Bootsmotors, das die Hundeohren schon lange vor seinem Führer wahrgenommen hatten. Vom Canale del Burchi her, einem der Fahrwasser, die man in die seichte Lagune gebaggert hatte, näherte sich etwas Flaches, Dunkles. Das mißfiel Catani, denn überall in der Lagune gab es gelbe Warnschilder auf Pfählen, die darauf hinwiesen, wie gefährlich es war, sich dem Montecatini-Pier zu nähern. Außerdem herrschte bei den Wächtern Terroristenangst. Immerhin lagerten im Werk Millionen von Litern Flüssiggas für die Hochöfen und die Warmbandstraßen. Dazu giftige Chemikalien, Heizöl und andere Brennstoffe. Der Wächter Catani handelte gemäß Vorschrift. Er schaltete sein Sprechfunkgerät ein und rief Posten drei, Posten vier und die Wachzentrale. „Fahrzeug nähert sich Pier elf." „Wird ein Fischer sein", kam es zurück. „Oder ein Flugzeug, dessen Geräusch man für ein Boot hält. Das hatten wir doch schon oft." „Was soll ich tun?" fragte Catani. „Abwarten." „Wir kommen", sagte Posten vier, der seinen Sektor ganz in der Nähe hatte. Er würde sich auf sein Fahrrad schwingen und in wenigen Minuten bei 18
seinem Kollegen sein. Aber das Boot draußen kam rasend schnell näher. War es erst nahe genug am Pier, dann konnte es in das unübersichtliche Dickicht von Beton-, Eisen- und Eichenpfählen schlüpfen, auf die das Werk gebaut war. Vor einer Bombe in diesem Irrgarten von mehr als zwanzigtausend Pfählen hatten sie die größte Angst. Catani rannte los, kletterte auf einen der Kräne und schaltete den Scheinwerfer ein. Der Hund bellte, irgendwo knallte es, als würde geschossen. Der Scheinwerfer warf einen hellen Kreis auf das schwarze Wasser. Catani richtete den Strahl auf die Stelle, wo er das Boot zuletzt gesehen zu haben glaubte. Und da war auch ein Boot. Flach, breit, stromlinienförmig, eines von den sehr schnellen. - Aber wo steckte der Bootssteuerer? Wer immer an Bord war, er riß das Boot jetzt scharf herum. Catani verlor es aus dem Scheinwerferkegel und suchte nach ihm, indem er der weißen Kielwasserspur folgte. Als er das Boot endlich hatte, befand es sich schon am Rande der Leuchtgrenze seines Scheinwerfers und auf dem Weg nach Venedig hinüber. Catani glaubte, noch irgendwo einen Schuß fallen zu hören. Danach kehrte Stille ein. Die Zentrale meldete sich. „Was war das?" „Da wollte uns einer besuchen." In der Zentrale bezweifelte man das. 19
„Gewiß nicht in böser Absicht. Sonst hätte er sich leise angeschlichen." „Ich erfaßte ihn, als er noch achtzig Meter vom Pier entfernt war. Das Licht hat ihn verscheucht. Für mich besteht kein Zweifel." „Worüber?" fragte die Wachzentrale. „Daß er sich nicht einfach in der Lagune verirrt hatte. Er kam mitten im Fahrwasser daher. Der Bursche hatte ein bestimmtes Ziel, nämlich den Pier vor Schuppen sieben." „Du siehst Gespenster, Catani." „Und wer hat geschossen, bitte?" fragte der Wächter über Funk. „Wir haben nichts gehört." „Aber ich." „Va bene, dann wird das überprüft." Catani blieb noch einige Minuten auf dem Kran, dann stieg er ab, band die Leine des Hundes von einer Strebe und dachte: Macht was ihr wollt! Wenn ihr glaubt, ich hätte fantasiert oder geträumt, dann ist das eure Sache. Für ihn war es ein flaches Rennboot gewesen, mit ziemlich tief herumgezogener Windschutzscheibe und hinten einem Trumm von Heckmotor, mindestens hundertfünfzig PS. Wenn man ihn fragte, würde er antworten. Aber er würde den Schnabel halten, wenn man den Zwischenfall als unwichtig ansah. Zwei Tage später entdeckte die Wasserschutzpolizei im Canale Secondo ein treibendes Motorboot. 20
Sie glaubten zuerst, der Mann an Bord würde der Länge nach an Deck liegen, um sich zu sonnen. Dann fiel einem Beamten die Meldung der MontecatiniWerkwache ein. „Die Beschreibung des Bootes paßt", äußerte er. „Es ist schwarz. Die Montecatini-Leute behaupten, es sei weiß gewesen." „Nachts, wenn Scheinwerferlicht auf schwarzen Lack fällt, reflektiert er ebenso wie helle Farbe." „Schön, fahren wir hin", entschied der Sergente, der das Wachboot befehligte. Beim Näherkommen fiel ihnen auf, daß die Person im Boot weder auf das Motorengeräusch noch auf den Anruf reagierte und daß sie merkwürdig verrenkt im Boot lag. Der Beamte neben dem Rudergänger stellte die Schärfe seines Fernglases nach. „Tot", sagte er. „Kopfschuß, wenn mich nicht alles täuscht." „Dann muß ihn eine Kugel der Montecatini-Wächter erwischt haben." „Nicht ihn", antwortete der Beamte, „sondern sie. Es ist nämlich eine Frau. Blond, fast nackt." Sie gingen längsseits und machten fest. Aber sie kletterten nicht hinüber, damit sie keine Spuren verwischten. Das war jetzt Sache einer anderen Abteilung. Sie meldeten den Fund. In der Polizeizentrale glaubte man nicht daran, daß es sich um ein und dasselbe Boot handle. Immerhin lag das Stahlwerk auf der anderen Seite der Brücke, 21
die Mestre mit der Insel Venedig verband. Das Boot trieb aber weit nördlich davon. „Ganz einfach", sagten die Wasserpolizisten. „In der Strömung ist es unter den Brückenbögen hindurch nach Norden abgetrieben. Wir hatten Südwind und Hochwasser. So kam es über das Seichte hinweg und in den Secondo-Kanal." „Wir verständigen die Mordkommission", antwortete die Zentrale. „Nehmt das Boot in Schlepp und bringt es herein." Das erledigten die Wasserpolizisten dann auch sachgemäß. Wie die Mordkommission später feststellte, stammte die Kopfverletzung bei der Toten nicht von einem Schuß, sondern von einem Aufschlag gegen eine Eisen- oder Steinkante. Papiere hatte die Tote nicht bei sich. Ihrer Kleidung war jedoch zu entnehmen, daß es sich um eine Person mit deutscher Staatsangehörigkeit handelte. Shorts und T-Shirt trugen das Herstelleretikett einer Berliner Firma für Damenoberbekleidung. Die Polizei ging alle Vermißtenmeldungen durch. Es gab jedoch keine, die auf die Tote zutraf. Weder Privatpersonen noch Hotels meldeten sie als abgängig. „Verständigen wir vorsichtshalber Interpol", riet einer der Beamten. Der Commissario hatte eine bessere Idee. „Warum den Umweg? - Ich kenne ein paar Leute beim Bundeskriminalamt." 22
Er benutzte den direkten Draht Venedig - Wiesbaden. 3. Der BND-Agent Robert Urban war in Oberitalien unterwegs. Diesmal in eigener Sache. Ein Mädchen, das er nicht kannte, versuchte, ihm die Vaterschaft an einem Kind unterzuschieben, das nicht seinen Lenden entstammte. Es handelte sich um ein bildhübsches Baby im Alter von drei Wochen. Schwarzlockig, blauäugig, mit angenehmer Stimme, selbst wenn es schrie. Aber Urban mußte bedauern. Die Sache löste sich alsbald in Wohlgefallen auf. Die Mutter zog die Suchanzeige nebst Vaterschaftsklage zurück. Sie war Robert Urban im Leben noch nie begegnet. Von dem Burschen, der sie im letzten Sommer geschwängert hatte, wußte sie nur, daß er Bob hieß, mit Nachnamen Urban, und in München wohnte. Urban stellte ihr seine Hilfe zur Verfügung. Das Foto des Vaters kabelte er mit Telefax nach München. Die Suche ergab folgendes: Der Vater war Student an der Medizinischen Fakultät. Er nannte sich Bob. Sein voller Name lautete nicht Robert, sondern Beppo. Außerdem schrieb er sich Hurpan, In Italien, wo es kaum ein Wort mit dem Buchstaben H am Anfang gab, hatte man ein Urban rekonstruiert, zudem mit weichem B. Urban hatte herumtelefoniert, den wahren Vater so lange bearbeitet, bis der sich 23
bereit erklärte, nach Bergamo zu kommen und die Vaterschaft notariell anzuerkennen. Daraufhin hatten ihm Kindsmutter und Eltern in überschwenglichem Dank ein Essen mit unzähligen Gängen gegeben. Kurz bevor er das Hotel verließ, um nach Hause zu fahren, war dann dieser Anruf erfolgt. Also schlug er vom Autobahnkreuz Verona nicht die Richtung Norden, sondern die nach Venedig ein. Gegen Mittag stand er im Leichenschauhaus der Stadt Mestre vor der Toten. Man deckte die nackte Frauenleiche ab. Eine Blondine, ungefärbt und rundum blond, vielleicht achtundzwanzig Jahre alt. Die Haut zeigte typische Merkmale, wie man sie bei Frauen fand, die zu lange und zu oft in der Sonne lagen. Eine Art Sprunglackeffekt, die Falten noch sehr fein, aber schon in Ansätzen erkennbar. „Eigentlich ist Venedig zuständig", sagte der Angestellte im Schauhaus. „Aber bei Ausländern gibt es eine spezielle Regelung. Erstens wegen der beschränkten Friedhofskapazität in der Lagune, zweitens werden Touristenleichen oft in deren Heimat verbracht." „Falls es gelingt, sie zu identifizieren", fügte Urban hinzu. „Si, Dottore, das ist das Problem", bemerkte der Kripobeamte, der Urban begleitete. Sie kannten sich von irgendeiner alten Sache her. Es kam häufig vor, daß Leute, die lange genug dabei waren - das zog sich quer durch Polizei, Staatsschutz 24
und Interpol bis zu den Geheimdiensten -, sich wieder über den Weg liefen. Dann halfen sie sich gegenseitig. Der Italiener nannte Urban einmal Dottore, dann wieder Colonello, was in beiden Fällen zutraf. Was nicht zutraf, war die Behauptung, daß sie die Tote sorgfältig untersucht hatten. Unten am Fuß, zwischen Ferse und Ballen, fand Urban einen hautfarbenen Klebestreifen. „Ein Pflaster", vermutete der Italiener. Das Pflaster sah aus, als befinde es sich in Auflösung, zumindest begannen sich die Ecken einzurollen. „Schnitt oder Stich?" fragte Urban. „Hautverletzung, steht jedenfalls im Befund." Urban zog den etwa fingerlangen und daumenbreiten rosa Streifen weg, sah aber nichts an der darunterliegenden Haut. Bei Leichen verschwanden sehr oft kleine Verletzungen, insbesondere Hautschnitte, die nicht mehr bluteten. Druck-, Würge- und Schlagspuren hingegen verfärbten sich gerne schwarz. „Nichts zu sehen." Urban ließ sich ein Vergrößerungsglas geben. Aber auch damit ließ sich nichts erkennen. Im Begriff, der Sache keine tiefere Bedeutung beizumessen, geriet ein Stück des Schnellpflasters unter die Vergrößerung. Sofort fiel Urban der goldene Schimmer auf. Er zog den Streifen ab und konnte einen Stempel entziffern. 25
Sein Lächeln verstärkte sich zu einem Grinsen. „Das ist kein Leukoplast", stellte er fest, „sondern der Werbeaufkleber eines Schuhladens, wie er oft an der Innensohle befestigt wird." Der Italiener stellte gar nicht erst die Frage, wie der Aufkleber an den Fuß der Toten gelangt sei. Wahrscheinlich hatte auch er schon Teile davon an den Füßen gehabt. „Wenn Schuhe feucht werden, passiert das", sagte er. „Aber sie trug keine Schuhe, Dottore." „Nicht auf dem Boot. An Bord herrschen strenge Bräuche. Bei Seglern, überhaupt bei Wassersportlern, verstößt es gegen den guten Stil, mit etwas anderem als Segelschuhen ein Deck zu betreten." Mit Hilfe des Italieners gelang es Urban, Namen und Adresse des Schuhladens zu buchstabieren, obwohl der Goldschnitt schon stark verblaßt war. „Campo San Polo!" Der Italiener überlegte. „Das ist drüben in Venedig. Wenn Sie von der Piazza Roma quer durch zur Rialto-Brücke gehen, liegt er ein wenig rechts." Urban klärte die Kompetenzen ab, „Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich darum kümmere?" „Hatten wir etwas dagegen, daß man uns statt eines BKA-Mannes einen BND-Agenten vorbeischickte, Dottore?" „Wir sind eben im Ausland zuständig." „Nicht, bei nur Mord." Urban wunderte die Ausdrucksweise: Nicht, bei 26
nur Mord. „Richtig", sagte er plötzlich. „Nicht, bei nur Mord. Wenn es nur Mord war, übergebe ich die Sache sofort an Interpol." „Und was gibt es Schlimmeres als Mord?" „Vielleicht einen Mord, der geschah, um damit etwas zu vertuschen, das zu einer Vielzahl von Morden führen könnte." „Sie denken an Rauschgiftgeschäfte, Colonello?" „Ich denke an vieles mehr", gestand Urban. „Das fängt bei Terrorismus an und hört bei Umweltvergiftungen großen Ausmaßes noch lange nicht auf." Der Italiener hatte verstanden. Doch offenbar wollte er damit nichts zu tun haben. Nicht mit Sachen von dieser Dimension, die ihn möglicherweise daran hinderten, zweimal täglich, seine Pasta zur gewohnten Stunde in Ruhe einzunehmen. „Machen Sie ruhig am Campo San Polo weiter", erwiderte der Commissario. „Wir haben nichts dagegen." Signora Donati, die Schuhverkäuferin, erinnerte sich gut. Sie zeigte Urban auch das Modell, das die Bionda bei ihr gekauft hatte, eine hochhackige Riemensandale in Weiß und Rot. Die Werbeeinkleber waren identisch. „Sie war Deutsche?" fragte Urban. „Nein, keine Deutscherin", erfuhr er. „Schwedin." „Kennen Sie den Namen?" „Ich nicht", bedauerte die Verkäuferin. „Kam sie allein?" 27
„Einmal sah ich sie mit einem Herrn über die Piazza gehen." Urban ließ sich den Mann beschreiben. Er dürfte schon älter gewesen sein, war ziemlich konservativ gekleidet, heller Sommeranzug, Hemd und Krawatte, rötliches Gesicht. Offenbar kein Italiener. Mehr wußte Signora Donati nicht. Doch dann fiel ihr noch etwas ein. Sie telefonierte und kam wieder. „Meine Kollegin weiß, wo die Schwedin wohnt. Bei der Witwe eines Tischlers. Die vermietet Zimmer. Gleich um die Ecke, neben der Brücke." Urban hakte nach und erfuhr, woher die Verkäuferin davon Kenntnis hatte. Für die stattlichen Füße der Schwedin waren die italienischen Nummern zu klein gewesen. Sie benötigte Größe sechs, was einer schwedischen 40er entsprach. Die hatte man besorgt und ins Haus geliefert. Urban ertappte sich bei dem Gedanken, daß es gar nicht besser laufen konnte, drängte ihn aber beiseite, denn auf jeden Schritt vorwärts kamen erfahrungsgemäß zwei Schritte zurück. Aber noch lief es wie geschmiert weiter. Die Tischlerwitwe kannte den Namen der Schwedin. Sie hieß Freda Soerensen und kam aus einem Vorort von Göteborg. Daß ihre Mieterin seit drei Tagen nicht mehr nach Hause gekommen war, wunderte sie zwar, aber so sehr, daß sie sich deswegen Sorgen machte, nun auch wieder nicht. „Ach wissen Sie", sagte die Witwe, „diese blonden Frauen aus Skandinavien und unsere dunkelhaarigen, 28
temperamentvollen Männer - für die sind das Göttinnen. Gegen Ende des Sommers sind diese Damen aus dem Norden ja ziemlich entzaubert, aber zu Anfang der Saison ist es immer sehr schlimm. Und wir haben erst Spätfrühling. Oder?" „Darf ich das Zimmer sehen?" bat Urban. Sie hatte nichts dagegen. Urban konnte es in aller Ruhe durchsuchen. Oberflächlich betrachtet, fand er alles bestätigt. Name Freda Soerensen aus Göteborg, Produktionssekretärin im Volvo-Automobilwerk. So stand es in ihrer Kennkarte. Doch später, als er zwischen Matratze und Stahlfedergewebe des italienischen Bettgestells griff, entdeckte er noch etwas. Unter der alten rosa Sportzeitung aus dem Jahr 1972, die verhindern sollte, daß Matratzenstaub auf die Bodenfliesen fiel, lag ein dünnes Buch mit blauem Pappdeckeleinband. Darauf die vier Buchstaben CCCP in Goldprägung. Ein sowjetischer Paß also. Und kein gewöhnlicher. Die Reisepässe für das niedere Volk waren rot. Nur Funktionäre und Mitglieder der Nomenklatura verfügten über blaue Pässe. Urban blätterte das etwa dreißig Seiten starke Dokument durch. Das Foto zeigte eine gewisse Ähnlichkeit mit der Toten. Gesichtsschnitt, Haarfarbe und Augen konnten hinkommen. Alter einunddreißig Jahre, geboren in Leningrad, Beruf Diplomingenieurin. Ein im Paß eingeklebter Voucher wies sie als Lehrbeauftragte an der technischen Universität aus. - Eine Hochschulprofessorin also. Name Lara Ferropol. Urban steckte den Paß ein. 29
Als er das Haus verließ, mußte er an den italienischen Polizeikollegen denken. Rein gefühlsmäßig und wie es aussah, war es wirklich nicht nur Mord. Es steckte mehr dahinter. Warum hatte sich diese Frau als Schwedin getarnt? Sicher deshalb, weil sie es als unauffällige Touristin in Italien leichter hatte. Wobei? Bei der Durchführung einer Aufgabe, deren Erledigung ihr als Russin bedeutend schwerer gefallen wäre. Aber um welche Art Auftrag hatte es sich gehandelt? Laut Polizeiprotokoll war das Motorboot von Sicherheitskräften der MontecatiniWerke verscheucht worden, als es versuchte, unter die Pier des Werkes Mestre zu gelangen. Warum hatten sie eine Wissenschaftlerin eingesetzt und sie einem Spezialtraining unterzogen? Immerhin hatte sie recht gut italienisch gesprochen. Wenn Urban diese Fakten aufeinanderlegte und durchkopierte, kam etwas Hochinteressantes dabei heraus. Lara Ferropol war als KGB-Spezialagentin unterwegs, um im Westen irgendwelche Technologien auszukundschaften. Die Qualitätsanforderungen für solche Jobs waren so hoch, daß nur Wissenschaftler dafür eingesetzt wurden. Logischerweise schloß sich die Frage an, was beim Stahlkocher und Blechhersteller Montecatini Geheimes entwickelt wurde. Darüber würde er den BNDComputer befragen, und falls der nicht antwortete, den technisch-wissenschaftlichen Experten des BND, Professor Stralman. Noch benahm Urban sich so, als läge nur ein 30
einfacher Mord vor. In Mestre fuhr er bei der Kripo vorbei und erzählte ihnen alles, bis auf die Sache mit dem sowjetischen Paß. Am Abend fuhr er nach München zurück. Für seinen, wenn auch altgedienten, aber noch munteren 250-PS-BMW eine Sache von vier Stunden – rechnete er. Er mußte gelegentlich den Tacho austauschen lassen. Bei Hundertsiebzig fing die Nadel an zu zittern, und bei Hundertachtzig pendelte sie in starken Ausschlägen. Aber bei diesem Tempo war es ohnehin gleichgültig, ob man zehn mehr oder zehn weniger fuhr. Oder, dachte Urban, du behältst den Tacho und tauschst das Auto aus. Irgendwann war er damit dran. Zwar päppelten sie im BMWWerk den 633 CSi fahrwerk-, getriebe- und motormäßig immer wieder auf, aber das Drumherum hatte auf 250 000 Kilometern zwischen Nordcap und Sizilien, zwischen Lissabon und Athen ziemlich gelitten. Alles konnte man eben doch nicht mit dem Flieger erledigen. Aber dann gab es noch diese idiotische Gefühlskomponente. Mitunter begann er, Dinge, mit denen er tagtäglich umging, als ein Stück von sich anzusehen. Er wußte genau, daß er die Karre behalten würde, bis sie auseinanderfiel. Einerseits liebte er sie, andererseits wünschte er, sie würde gelegentlich zusammenbrechen, tot umfallen wie ein gutes Rennpferd im Ziel. Aber das Coupé tat ihm den Gefallen nicht. Es lief wie in seinen ersten Tagen, als würde es ahnen, daß seine Zeit bald zu Ende ging. Urban steckte sich eine MC an, bei Trient 31
noch eine und nahm einen Schluck aus der silbernen Reiseflasche. Längst hing er anderen Gedanken nach, da mit einemmal dieser schmerzende Knall. Er hörte sich an, als hätte ihm eine Tellermine die Hinterachse weggefetzt. Der Wagen fuhr weiter auf vier Rädern, nur dröhnte jetzt der Motor zehnmal so laut, und etwas schleifte mit. Funken sprühten vom Heck, als würde eine Silvesterrakete gezündet. Er rollte rechts heran, bremste vorsichtig, kam zum Stehen und stieg aus. Hinten unten sah er die Bescherung. Der Auspufftopf war bis zum Vorschalldämpfer weggerissen, und der wiederum war geplatzt bis hinauf zum Hosenrohr. So etwas kam vor. Aber nicht bei nagelneuen Anlagen. Der Auspuff war erst letzte Woche erneuert worden. Montagefehler schloß Urban aus. Sie hätten sich nicht erst nach zweitausend Kilometern gezeigt. Er riß die Trümmer weg und untersuchte sie im Licht der Scheinwerfer. Das Material kam ihm merkwürdig ausgefranst vor. Er schnupperte daran. Was da so stank kam nicht nur von den Auspuffgasen. Da war auch Sprengstoff dabei. Ganz ordinärer Sprengstoff. Ekrasit, ein Stäbchen Ceresit oder irgendein Kaugummisprengstoff, der auf Wärme reagierte und im fünfhundert Grad heißen Auspuff explodierte. - Kein Problem. Es gab Plastiksprengstoffe, die waren wie Brotteig, man konnte sie auswalzen, dünn rollen und in Rohre hineinschieben. Aber wer machte so etwas? Und vor allem, wer kam 32
an solchen Sprengstoff heran? Urban saß da, am Rand der Autostrada. Die Autos zischten mit Hundertfünfzig vorbei. Wenn die Sattelschlepper herandonnerten, bebte die Erde. Wer hatte es auf ihn abgesehen? Das Mistzeug von Sprengstoff konnte erst in Mestre eingebaut worden sein. - Hatte jemand seine Aktivitäten beobachtet? War es eine Warnung oder, wenn man korkenzieherartig psychologisch dachte, sogar eine Aufforderung, nun erst recht weiterzumachen? Dann kannte der Täter seine Mentalität sehr genau. - Aber war es nicht die übliche, allgemein bekannte Mentalität von Agenten? Urban kroch unter das Auto. Wichtige Organe, wie Bremsleitungen, Benzinleitung, Tank, Hydraulik, waren nicht beschädigt. Dank der Unterbodenplatte, die immerhin aus fingerdickem Duraluminium bestand. Er sammelte die Trümmer ein, warf sie in den Kofferraum, zwecks späterer Analyse, startete und fuhr weiter, so cool und easy wie möglich. Der BMW rannte wie immer, nur der Motor dröhnte wie die Wurlitzer Orgel, wenn man die tiefen Baßregister alle gleichzeitig aufzog. Robert, überlegte er, in welchen Misthaufen fängst du wieder an hineinzutreten? Bei der Fahrbereitschaft im BND-Hauptquartier München-Pullach ließ Urban die Auspuffreste sicherstellen. Wenig später wurden sie im Labor 33
untersucht. Als er am nächsten Tag anrief, hieß es: „Könnte auch ein Faschingsknaller gewesen sein." „Einer? Doch wohl eine ganze Familie, Großvater, Vater und Sohn." „Wo hast du es bemerkt?" „Vor Trient." „Und wo kamst du her?" „Aus Mestre." „Liegt das nicht bei Venedig?" „Na wenn schon." „Dann ist das Sprengmittel möglicherweise vom Karneval in Venedig übriggeblieben." „Na schön, der war aber im Februar zu Ende." „Hat sich eben einer einen späten Scherz erlaubt." „Du denkst, er benutzte mich als Entsorgungsfahrzeug für feuchtgewordene Donnerschläge", spottete Urban. „So ist es", erhielt er als Antwort. Und der Kollege meinte es todernst. Soviel Einfalt fühlte er sich nicht gewachsen. Also vergaß er die Angelegenheit und ließ sich den vierten Auspuff montieren. Einer war durchgerostet, einen hatte er sich im Gelände abgerissen, der dritte war explodiert. Er war neugierig, wie lange der vierte halten würde. Doch bald nahmen Entwicklungen ihren Anfang, gegen die ein Auspuff wirklich in Vergessenheit geriet. Urban wurde nach London zu einer Konferenz von 34
first-class-Agenten delegiert.
aus
dem
NATO-Bereich
4. Das strenggeheime Gespräch fand bei MI-6 in London statt. Sechs Topagenten der NATO-Mitgliedstaaten Amerika, England, Frankreich, Italien, Spanien und Deutschland trafen sich im Bürohaus Westminster Bridge Road Nr. 100. Die britische Hauptstadt war nicht aus Kompetenzgründen ausgewählt worden, sondern einfach deshalb, weil London unter Berücksichtigung des europäischen NATO-Übergewichts etwa im Schwerpunkt lag. Nur Colonel Jan Vanderwell von der CIA, von dem die Anregung ausging, hatte einen etwas längeren Anreiseweg. Kaum hatte der letzte Delegierte, der Spanier, den abhörsicheren Raum betreten, erhob sich der Amerikaner und kam zur Sache. „Gentlemen" - obwohl alle einander kannten, stellte er sich vor - „mein Name ist Jan Vanderwell. Ich leite in Langley die Sektion EOE, Enemy Operations East, feindliche Operationen Ost. Warum ich Sie hierherbat, wissen Sie aus Telefongesprächen und Fernschreiben. Angesichts der Tatsache, daß von Moskau aus eine Geheimoffensive läuft, sind wir zu hoher Wachsamkeit und Zusammenarbeit ge35
zwungen. Wir werden der Sache wohl nur Herr, wenn wir gemeinsam gegen sie antreten." Er sprach ruhig, fast kühl. Worte, die Emotionen hervorriefen, hob er sich entweder für später auf oder unterließ sie gänzlich, denn mit Gefühlen war bei erfahrenen Geheimdienstagenten ohnehin nichts auszurichten. Vanderwell begann mit einer Schilderung der Vorfälle in Helsinki, wo ein V-Mann der CIA, der als Journalist in Finnland arbeitete, den Anruf eines Maulwurfs aus Moskau erhalten hatte. Nach CIACode bedeutete Falke große Gefahr. Höchste Gefahr wie Ausbruch von kriegerischen Aktivitäten wurde hingegen durch Adler ausgedrückt. „Der Code lautete: Drei Falken fliegen nach Westen." Der Nichtraucher Vanderwell blickte mißbilligend seine Kollegen an, die entweder an Zigaretten, Zigarren oder Pfeifen nuckelten, und ganz besonders Oberst Urban, der sich schon die dritte Goldmundstück MC ansteckte. Wer in diesen Kreisen nicht rauchte, der entdeckte einfach keinen Geschmack daran. Überlegungen, ob Nikotin das Leben eventuell um drei Monate verkürzte, fanden im Kreis von Männern, die ständig dem Tod ins Auge blickten, keinen Nährboden. Nachdem Vanderwell Urban bereits auf der Netzhaut hatte, zog er das, was eigentlich erst später folgen sollte, um einige Kapitel vor. „Daß die Falken nach Westen geflogen sind, kann 36
mir der Delegierte des BND, unser geschätzter Freund Bob Urban - oder darf ich dich Mister Dynamit nennen? - bestätigen." Urban reagierte überhaupt nicht. Weder durch Zustimmung noch durch Heben einer Schulter oder der Hand. Der Zusammenhang zwischen Falken und Venedig war möglich, aber nicht bewiesen. Der Amerikaner fuhr fort: „Falken sind immer Experten der Stufe eins. Nach unseren Analysen haben Falkenflüge stets Krisen ausgelöst." Er zählte einige davon auf: „Die Falkenflüge sind wie gutliegende Artilleriesalven. Sie bewirken stets Schaden. So eine Granate im falschen Moment an einer ungünstigen Stelle placiert, kann das ganze Munitionsdepot in die Luft blasen. Und dann gnade uns der Herr im Himmel." „Ist der Augenblick ungünstig?" fragte der Italiener. „Wann ist er es nicht", bemerkte der Franzose, der auch die Benelux-Länder vertrat. „Das Wort Artilleriesalve in Verbindung mit Falkenflug hätte ich gerne genauer definiert", warf der Engländer ein und goß Tee aus der Kanne nach. Da er Gastgeber war, fragte er, wer noch Tee wünsche. Doch die Gentlemen hielten sich lieber an Whisky, Kaffee oder an Kaffee mit Whisky. Nicht, daß der CIA-Colonel jetzt ins Stottern geriet, er sprach nur langsamer und rang ein wenig um Fakten. „Wir sind sicher, daß die Sowjetunion gewisse 37
Präventivmaßnahmen gegen unsere Rüstung oder Forschung veranlaßte." „Gegen welches Projekt, zum Beispiel?" „Projekte, in denen sie zurückliegen." „Man hört, sie lägen gar nicht so weit zurück." „Vielleicht bei Marschflugkörpern." „Genauer, bei der Mikroelektronik", warf Robert Urban ein. „Sie kaufen sie zwar weltweit zusammen, aber sie ist nicht maßgeschneidert. Ich meine, vier Meter Tuch allein geben noch keinen Anzug. Du kannst sie dir umhängen, aber ein eleganter Zweireiher sieht anders aus." Da nicht zu ermitteln war, wo sich die Falken niedergelassen hatten - denn jedes NATO-Land betrieb in irgendeiner Ecke Rüstung und Forschung, von der die Partner bestenfalls etwas ahnten -, mußte man das Problem von einer anderen Seite her aufrollen. „Eh bien", rief der Franzose. „Sie können nach Bonn, Paris, Oslo, Rom, Amsterdam, Madrid, Lissabon, London oder New York geflogen sein, aber auch zu einer Reihe anderer interessanter Ziele. Möglicherweise kommen wir dem näher, wenn wir uns die Falken genauer ansehen. Was sind das für Leute? Wissenschaftler, politisch geschulte oder einfach Killerfalken?" Vanderwell blickte so eindringlich auf Urban, daß dieser sich äußern mußte. „Wohl eher Wissenschaftler," „Fachrichtung?" 38
„Molekularphysik." „Das hast du nicht aus dem Kaffeesatz gelesen, Dynamit", vermutete der Spanier. „Nein, aber aus dem Paß einer toten Blondine in Venedig, die man für eine Deutsche hielt, obwohl sie sich als Schwedin ausgab, jedoch einen russischen Paß besaß, den sie dummerweise nicht zu Hause in Leningrad ließ." „Darf man den Namen erfahren?" „Lara Ferropol", antwortete Urban. „Diplomingenieurin, Lehrbeauftragte an der Universität Leningrad. Dort tätig am Institut für Hochenergiephysik." „Ist das Starkstromtechnik?" „Ein bißchen mehr." Urban berichtete, was er herausgefunden hatte. Für die Frage, was die Frau bei Montecatini in Mestre gesucht habe, war ein anderer zuständig. „Keine Ahnung'', antwortete der Italiener an Urbans Stelle. „Ob es nur ein Scheinangriff war", überlegte der Spanier, „um abzulenken?" „Dann opferte man durch diesen Scheinangriff das Leben eines der Falken." „Vorausgesetzt, Mestre war überhaupt ein Falkenziel." „Man kann an allem zweifeln, Gentlemen." „Ich zweifle lieber erst einmal", gestand Urban. „Aber völlig außer acht lassen sollte man den Zwischenfall in der Lagune nicht." „O bella Venezia", stöhnte der Engländer. „Die 39
Herren Sowjetagenten spazieren dort in der Sonne, und wir quetschen uns hier die Hintern breit." „So kommen wir nicht weiter", nahm Vanderwell die Diskussion wieder in den Griff. „Wir müssen Vorsichtsmaßnahmen beschließen. Ferner eine Stelle, wo sämtliche Informationen über Ereignisse, die mit dem Falkenflug in Zusammenhang stehen können, zusammenlaufen. Drittens ..." Der Spanier unterbrach ihn. „Bei uns gibt es ein Sprichwort: Eine Senorita wird nicht schwanger, wenn der Wind den Geruch eines Mannes zu ihr hinträgt. Und kein Stier stirbt schon beim Anblick eines Matadors." Der Engländer hatte seinen Kollegen entweder nicht verstanden, weil er nicht gut genug Spanisch sprach - der Spanier hatte nämlich in seiner Muttersprache zitiert -, oder er begriff nicht, worauf der Kollege hinauswollte. „Soll heißen?" fragte er also. Dies wiederum brachte den Spanier in Verlegenheit, denn er war ziemlich neu in diesem Kreis. Urban leistete ihm Formulierungshilfe. „Er schlägt vor, daß wir dem Geruch des Mannes nachspüren, den der Wind herüberträgt. Die CIA möge in Moskau Recherchen anstellen, ob die Information zutrifft, ehe wir hier reihenweise in Hysterie verfallen." Der Franzose nickte zustimmend. „Der Wahrheitsgehalt einer Information ist so wichtig wie der Alkoholgehalt bei altem Calvados." 40
Wenn sie glaubten, den CIA-Abgesandten damit provoziert zu haben, dann irrten sie sich. Colonel Vanderwell verzog nur das Gesicht zu voller Breite. „Keine Sorge", teilte er der Runde mit. „Die Überprüfung unseres Informanten in Moskau läuft seit sechsunddreißig Stunden." Der Taxifahrer Serge Kyroff verdiente, wenn er Tag und Nacht fuhr, ungefähr neunhundert Rubel im Monat. Seit einigen Jahren ließ Serge Kyroff es ruhiger angehen. Er beförderte nicht mehr sechzehn Stunden täglich Leute durch Moskau, sondern konnte auf die eine oder andere Fuhre verzichten. Manchmal gönnte er sich auch eine halbe Woche Urlaub. Trotzdem hatte er sich im Winter ein neues LadaTaxi zugelegt. Seinen neidischen Kollegen erzählte er von Nebenverdiensten. Angeblich arbeitete seine Frau als Köchin in einem Prominentenlokal, und er, Serge Kyroff, ein gelernter Gärtner, kümmere sich am Wochenende um die Rosensträucher der Funktionärsdatschas. Das war alles ein bißchen zusammengelogen. Notgedrungen. Schließlich konnte Serge Kyroff seinen Kollegen nicht anvertrauen, daß er für den amerikanischen Geheimdienst CIA arbeitete und dafür tausend Dollar in bar erhielt, was beim derzeitigen Kurs ungefähr siebenhundert Rubel entsprach. Kontakt mit seinen Auftraggebern zu halten, war für einen Taxifahrer, der pro Schicht dreihundert Kilometer 41
kreuz und quer durch Moskau zurücklegte, kein Problem. Am Morgen erst war sein Kontaktmann, ein U.S.Botschaftsangestellter, an der Stanislavsky Ulica zugestiegen. Der Amerikaner hatte ihm einen Umschlag in die Hand gedrückt und ihm eine Adresse genannt. Der taxifahrende V-Mann hatte Name und Anschrift wiederholt. „Das behalte ich bis zum Löschen", sagte er. „Und was soll ich dort, bitte?" „Du fährst hin und behauptest, er hätte ein Taxi bestellt. Ist er nicht da, wiederholst du das so lange, bis du ihn antriffst." „Bis ich ihn antreffe. - Wie sieht er aus?" „Er hat ein wenig kirgisische Züge." „Das hilft mir wenig. Ist er groß, klein, dunkel, hellhaarig, schlank, kräftig? Wie kleidet er sich, wie ein Arbeiter oder wie ein Angestellter?" Sie kamen an einer Reklamewand vorbei, wo ein Soldat für die Armee warb. Der Fahrgast deutete nach rechts, „So, wie dieser Junge dort, nur ohne Pelzmütze und Uniform. Ja, ungefähr so und fünf Jahre älter." Der Taxifahrer war noch nicht zufrieden. „Ich werde ihn finden. Aber wenn ich ihn habe, was dann?" „Dann stellst du ihm nur eine Frage." „Wie lautet sie?" „Im Ohiotal herrscht Nebel. Warum fliegen die 42
Falken?" Der Taxifahrer wiederholte. Er fragte nicht nach dem Sinn. Danach fragte er nie. Man durfte nie versuchen, zwischen den Aufträgen und dem, was man sich unter. Feindspionage vorstellte, irgendwelche logischen Zusammenhänge herzustellen. „Ohiotal.. - Nebel... Falken", murmelte er. Der Fahrgast stieg an der Peiruvka Brücke aus. „In zwei Tagen", sagte er, „um die gleiche Zeit hier an der Moskwa." Der Taxifahrer nahm keine neue Fuhre auf, sondern steuerte sofort die genannte Adresse an. Er wollte die Sache hinter sich bringen. Auch wenn er sie für einen kleinen Routineauftrag hielt. In die Zablikovo Berge zu fahren und zu zählen, wieviele strategische Bomber auf dem Flugfeld der Luftbasis standen, war bedeutend schwieriger. Er wendete am Trubnajya Platz und nahm den Petrosky Boulevard in Richtung Metropol. Beim Gum-Warenhaus bog er links ab, noch ehe die Kremlmauer in Sicht kam. Nun ließ er den Lada laufen, bis weit hinaus ins Neubauviertel, das die Moskauer Staraja nannten. Kurz vor Staraja stand eine Reihe älterer Wohnhäuser; noch aus der Zarenzeit. Sie sollten abgerissen werden, aber in der Stadtverwaltung stritt man sich noch darum. Es gab eine Gruppe, die sich für die Sanierung einsetzte. Bei diesen Häusern bog Kyroff wieder ab und noch einmal links. Die Adresse war ein älteres Haus, unten Stein, oben Holz, mit schiefen Baikonen und Fenster43
läden, die krumm in den Angeln hingen. Ein Wohnsilo mit zwanzig Stockwerken wäre ihm lieber gewesen. Er hielt an, rauchte eine Zigarette, ging hinüber und klingelte. Keiner öffnete ihm. Am Nachmittag versuchte er es noch einmal, konnte aber seine Frage wieder nicht anbringen. Am Abend fuhr er erneut die Adresse an. Das ergab sich so, weil ein älteres Ehepaar zu einer hoben Nummer am Wolgagrader Prospekt hinauswollte. Wieder traf er den V-Mann nicht an. Erst tags darauf, beim viertenmal, klappte es. Der Gesuchte wohnte im ersten Stock des Hauses in einer kleinen Wohnung, die durch Vierteilung der Etage entstanden war. Er sah aus wie beschrieben, wie ein eher schüchterner Magistratsangestellter. „Sie haben ein Taxi bestellt", sagte Kyroff. „Habe ich eigentlich nicht", antwortete der etwa dreißigjährige Bursche und rückte seine Brille zurecht. „Es wurde aber telefoniert." „Ich besitze gar kein Telefon." „Dann muß wohl ein Irrtum vorliegen." Der Taxifahrer glaubte, daß jetzt der Augenblick gekommen sei, beiläufig das Kennwort fallen zu lassen. „Wieder ein Nebel heute, wie im Ohiotal." Plötzlich bekam der andere schmale Augen. „Sagten Sie Nebel?" „Ja, Nebel." „Und Ohiotal?" „Warum fliegen die Falken, Genosse?" 44
Er flüsterte es, als stehe jemand auf der Treppe und belausche sie. Der andere schien die Verhältnisse in diesem Haus besser zu kennen. Ziemlich laut erwiderte er: „Im Ohiotal herrscht Nebel. Warum fliegen die Falken?" „Sie haben mich verstanden." „Kommen Sie herein, Genosse." Der Taxifahrer folgte ihm durch einen schmalen, dunklen Flur in den Wohnraum. Das Zimmer lag nach Norden, der Himmel war bedeckt, es fiel wenig Licht herein. Trotzdem sah der Taxifahrer die vier Männer. Zwei von ihnen trugen schwarze Ledermäntel. Die anderen beiden hatten Trenchcoats an, einer war der amerikanische Botschaftsangestellte, der mit ihm Kontakt hielt. Die in den Ledermänteln hatten Pistolen in den Händen. Zweifellos Leute vom KGB oder von der Spionageabwehr. Bis Kyroff begriffen hatte, daß das eine Falle und die Spionagezelle längst aufgeflogen war, verging knapp eine Sekunde. Er machte kehrt, stürzte hinaus und hoffte, bis zu seinem Taxi zu kommen. Natürlich kannten sie ihn jetzt und auch seine Wagennummer, doch einer wie er, der hier geboren war, konnte in Moskau untertauchen. „Stoi!" schrien sie. „Bleib stehen, Kyroff!" Sie schossen, aber sie trafen ihn nicht. Auf der Straße, als er die wenigen Meter vom Haus zu seinem Lada hinüberrannte, schossen sie wieder. Diesmal vom Fenster aus. Und jetzt trafen 45
sie ihn. Zwar nur in den Oberschenkel, aber es warf ihn um. Er kroch auf allen vieren, kam noch ein Stück, doch bis zu seinem Taxi schaffte er es nicht. Schon waren sie über und neben ihm. Warum, dachte er, wütend und den Schmerz verbeißend, warum schießen sie immer nur auf die Beine und nicht ins Herz, wo sie dich ja doch töten werden - entweder in ihren Verhörkellern oder in irgendeinem Straflager in Sibirien? „Ein Glück", sagte der Geheimpolizist zu seinem Kollegen, „daß es Doppelagenten gibt." Der andere spuckte die Machorkakippe aus. „Verräter sind sie alle", bemerkte er abfällig und rief über Sprechfunk die Einsatzfahrzeuge. Zwei Tage nach der London-Konferenz rief Colonel Vanderwell in München an. „Der Matador hat dem Stier den Degen gezeigt, aber der Stier hat ihn auf die Homer genommen und getötet. Trotzdem: The Show must go on." „Soll das heißen, die Dame ist abermals schwanger, und wir erwischen den Verursacher nicht?" Vanderwell lachte, aber nicht fröhlich, eher zynisch. „Die Kontrolle der Station, die den Falkenflug meldete, wurde ein Reinfall. Man hat die ganze Gruppe verhaftet." „Und woher habt ihr das in so kurzer Zeit? Moskau pflegt über derlei Vorfälle Schweigen zu bewahren." „Der Kontaktoffizier der Gruppe wird seit zwei 46
Tagen von der Botschaft vermißt. Recherchen ergaben, daß er bei der GRU einsitzt." „Ist Verrat im Spiel?" „Das befürchten wir. Irgendeiner muß die Spionageabwehr in Moskau informiert haben." Urban überlegte nur kurz. „Wenn die Russen dermaßen hart und schnell zuschlagen, könnte das, nach den bisherigen Erfahrungen, die Bestätigung dafür sein, daß die Falken gelandet sind. - Muß aber nicht." „Siehe Venedig." „Ja, es fühlt sich an, als gehöre Venedig dazu. Aber was bedeuten schon Gefühle." „Und der Sprengstoff in deinem BMW?" „Ein Bubenstreich oder deutliche Warnung. Daran grübeln wir noch." „Das heißt, ihr vernehmt die Worte, allein euch fehlt der rechte Glaube." „Vorsicht ist aller Laster Anfang." Der Amerikaner schien zu resignieren. „Warten wir den nächsten Schlag ab. Vielleicht sind wir dann in der Lage, euch Zweifler bei den NATO-Geheimdiensten zu überzeugen. So bitter es klingt, ich wünsche den nächsten Schlag geradezu herbei. Hoffen wir, daß er nicht allzusehr schmerzt und daß er verfolgbare Spuren hinterläßt, bezüglich der Ziele und Nistplätze der drei Falken." „Zwei Falken", verbesserte Urban. „Falls Professor Ferropol dazugehörte." „Tänzerin im Bolschoiballett ist sie mit Sicherheit 47
nicht gewesen." Der Amerikaner wirkte ein wenig ratlos. „Man hat mir die Sache übertragen. Ich trage die Verantwortung. Und heute ist es so verdammt still." „Wie vor dem Sturm, meinst du." „Und morgen schon kann uns der Teufel holen", befürchtete Vanderwell. „Es sei denn", tröstete Urban ihn, „wir selbst sind der Satan." 5. Er wirkte kränklich. Er war blaß und ging langsam, als koste ihn jeder Schritt Kraft, als schaffe er alles nur mit hohem Energieeinsatz. Vielleicht war es aber auch seine besondere Art, sich zu bewegen, und er fühlte sich so wie jeder andere. Niemand wußte es, denn er sprach mit keinem darüber. So echsenhaft betulich, wie er äußerlich wirkte, sprach er und nahm auch Nahrung und Getränke zu sich. Daß er im Denken fixer war, ließ sich nur vermuten, denn es gab kein äußeres Anzeichen dafür. - Wenn man davon absah, daß er es im Leben zu etwas gebracht hatte. An einem trüben Tag, der sich nicht entscheiden konnte, ob er nicht doch noch regnen lassen sollte, bewegte dieser Mann einen 86er Chevrolet durch den Osten des US-Staates Pennsylvania. Das Tempo, mit dem er seinen Wagen auf der Route Nr. 22 in Richtung Pittsburg rollen ließ, entsprach seinem Temperament. Die dunkelrote 48
Limousine fuhr gut zehn Meilen unter der erlaubten Höchstgeschwindigkeit, die ohnehin nur fünfundfünfzig Meilen betrug. Zur antrainierten Vorsicht des Mannes kam hinzu, daß er in Pennsylvania fremd war, und nicht nur dort, sondern in ganz Amerika. - Er kam aus Übersee. Die Straße zog sich in weiten Kurven aus den Vorbergen der Appalachen in ein weites Tal. Irgendwann, bei jedem Wetter, tauchte dann ein schmaler Strich am Horizont auf. Der Strich wurde zur deutlich abgetrennten Dunstschicht. Darunter lag Pittsburg, die Stahlstadt. Der Mann im Cevrolet überlegte, warum die Amerikaner gerade hier ihren besten Stahl kochten. Dabei kam er zu dem Ergebnis, daß es in der Nähe Kohle und Erze geben müsse, einen Fluß und bis hinauf zum Eriesee einen Schiffahrtskanal. Vom Eriesee gelangten die Frachten dann über Buffalo in den Ontario, von dort über den Sankt-Lorenz-Strom in den Atlantik. - Ja, das war wohl der Grund, warum hier die größten Hüttenwerke der Welt standen. Die ersten Vororte tauchten auf. Am Rand der Durchgangsstraße wirkten sie meist verwahrlost, die Hütten, die kleinen Häuser, die Tankstellen, die Imbißstuben, die Busstationen, die schmutzigen Fabriken, der Abfall, der Dreck. Der Mann im Chevrolet ging vom Gas, weil er von weitem das Schild eines Gebrauchtwagenhändlers sah. Er wechselte die Spur und bog hinter einem 49
Schulbus auf das Gelände. Ungefähr sechs Dutzend Personenkraftwagen aller Farben und Typen standen herum. Aus einem Wohntrailer stieg ein hünenhafter Farbiger. Zwischen seinen Beinen zwängte sich ein Hund heraus. Der Farbige trug zum rosa Anzug ein grünes Hemd. Der Hund bellte nicht, er hechelte nur. „Was kann ich für Sie tun, Sir?" fragte der Neger. „Sie führen nur Personenautos", stellte der Mann im Chevrolet fest. Der Schwarze, offenbar mit einem musikalischen Gehör ausgestattet, merkte sofort, daß der Kunde nicht aus der Gegend stammte. Entweder kam er aus dem Südwesten oder überhaupt nicht aus den Staaten. „Nur ist gut." Der Neger grinste. „Vom Volkswagen bis zum Dreivierteltonner ist alles da, Sir. Sogar ein Cadillac-Pullman, zwei Pick-up, Geländewagen. Jede Menge Fullsizings und Sportflitzer." „Ich sehe es", antwortete der Kunde. „Aber, sorry, ich suche einen Truck. Pritsche, Fünftonner." Der Schwarze dachte nach. „Einen Dreitonner kriege ich demnächst herein." „Wie viele Achsen?" „Zwei." „Ich brauche einen Dreiachser." „Diesel oder Benzin?" „Das ist egal." Wieder überlegte der massige Schwarze. 50
„Kipper?" „Nicht unbedingt nötig," „Also Fünftonner, Dreiachser, Benzin oder Diesel. Nur einen Wagen, um in der näheren Umgebung herumzuturnen, oder darf es etwas Besseres sein?" Der Fremde nickte. „Bis Detroit sollte er es schon schaffen." Der Autoverkäufer bedauerte und klatschte laut mit seinen fleischigen Händen. Er tat es, weil der Hund an ihm hochsprang. Und dann klatschte er sich gegen die Stirn. Seine dunkelbraunen Hände waren innen so hell wie Katzenpfoten. „He, ich habe da 'nen Kumpel, Mann, der macht nur in Lastwagen." „Wo?" „In Old Castle, ungefähr fünfzehn Meilen die Route neunzehn lang." Der Fremde schien nachzudenken. Gewiß gab es viele Lastwagenhändler in der Nähe. Doch ob die hatten, was er suchte? - Vielleicht war es besser, den Wagen ein wenig abseits zu kaufen. Er nickte und sagte: „Rufen Sie ihn an und fragen Sie, ob er hat, was ich suche," Der Hund war schneller als sein Herr. Noch vor ihm sprang er in den Trailer. Man hörte den Händler telefonieren. Es dauerte ziemlich lange. Erst kam der Hund wieder, dann sein Herr. Er ballte die Faust und streckte den Daumen hoch. 51
„Geht okay, Sir. Fünfundsiebziger Ford. Viereinhalb Tonnen. Diesel, Dreiachser. Zwei Achsen angetrieben. Pritsche. Von 'nem Gartenbaubetrieb. Hat erst vierzigtausend Meilen. Preis um vier Mille Verhandlungsbasis.'' Der Schwarze strich um den nagelneuen dunkelroten Chevi herum. „Den nimmt er gewiß in Zahlung." „Nicht nötig", sagte der Fremde und ließ sich den Weg nach Old Castle beschreiben. Am nächsten Morgen kam das Geschäft zustande. Der Mann im dunkelroten Chevrolet, er nannte sich Graham oder so ähnlich, drückte den Preis auf dreitausendfünfhundert Dollar. Der Verkäufer tat so, als verliere er viel Geld, war am Ende aber doch zufrieden. Der Lastwagen wurde bar bezahlt. Der Verkäufer versprach, ihn noch einmal durchzuchecken. Mister Graham wollte ihn in den Abendstunden holen. Als Graham gegen 17.00 Uhr mit dem Taxi kam, stand der Dreiachser gewaschen und übernahmefertig da. „Öl, Wasser, Luft, Batterie, alles okay", erwähnte der Händler. „Die Reifen halten noch drei Jahre. Die Bremsen habe ich selbst ausprobiert. Motor läuft wie Butter. Der Wagen ist noch zugelassen Und für einen Monat versichert." Mister Graham stieg hinein, ließ an und fuhr los. Graham fuhr sofort nach Norden. Nach drei Stunden hatte er hundert Meilen zurückgelegt. 52
Es begann zu dämmern. Er fuhr noch eine Stunde, bis über die Staatsgrenze von New York und suchte sich dann ein abseits gelegenes Motel. Mit Hilfe einer Tablette schlief er tief und fest, erwachte aber nicht sonderlich erfrischt. Auch das Frühstück mit labbrigem Kaffee trug nicht dazu bei. Schon um sieben Uhr ließ er den Diesel wieder an und nahm die letzten achtzig Meilen bis Buffalo unter die Räder. Die Sonne schien auf den Eriesee, die Küstenstraße war angenehm zu fahren, aber Graham schien die Schönheiten der Natur nicht zu bemerken. Neben sich hatte er den Stadtplan von Buffalo liegen. Der kürzeste Weg durch die City zum Hafen war grün eingezeichnet. Er kam glatt durch und übernahm bei der Seespedition Routhman einen Container. Der Spediteur hatte alle Formalitäten für ihn erledigt. Graham brauchte nur die Einfuhrumsatzsteuer und den Zoll zu bezahlen. Die Gebühr für düngerartige Torferde war nicht sehr hoch. Nur 1,5 Prozent. Der Lagerverwalter im Büro schien sich für den Dünger zu interessieren. „Ich habe auch einen Garten", sagte er. „Bei mir wächst nicht mal Gras. Die Siedlung ist auf Sand und Schotter gebaut." „Versuchen Sie es mit Torf", riet Graham. „Alles schon probiert, Sir." „Die amerikanischen Torfe sind nicht richtig behandelt." 53
„Kaufen Sie deshalb in Holland, Sir?" Mister Graham nickte. „In Friesland", sagte er. „Der Container kommt zwar aus Amsterdam, aber der Inhalt stammt aus der Oldenburger Gegend." Der Name war dem Angestellten kein Begriff. „Was ist so anders an diesem Produkt?" „Es wird sorgfältig bearbeitet, aus dem Moor gestochen, zerbröselt, mit Kalk, Kali, Phosphat und Stickstoffdünger angereichert. Dann kommen noch gewisse Komponenten hinzu, die ihn feucht und klebrig halten. Damit bringen Sie Mimosen auf Kunststoffperlen zum blühen." „Kann ich einen Sack davon abbekommen, Sir?" „Beim nächstenmal", versprach Graham. „Nächste Woche kommt wieder ein Container." „Ich verlaß mich drauf", sagte der Verwalter. „Ich wurde Ihnen heute schon einen Sack verkaufen, aber da müßte ich den Container öffnen. Leider habe ich wenig Zeit." „Dann bis zum nächstenmal, Sir." In einem Schnellimbiß an der Route Nr. 90 bestellte Graham Hühnerragout mit Pommes, dazu ein Bier. Am frühen Nachmittag war er wieder in der Nähe von Pittsburg. Er kaufte Lackbeizmittel und Farbe. Dunkelblau und weiß. Jetzt fing die eigentliche Arbeit an. Weit draußen, hinter einer aufgelassenen Mülldeponie, wusch er mit dem ätzenden Abbeizmittel erst den Firmennamen des Vorbesitzers und dann das Firmenzeichen, die drei 54
Tannenbäume, ab. Er mußte mehrmals drübergehen, bis er auf Grund kam. Mit Wasser aus einem Tümpel spülte er die Farbreste und Chemikalie herunter. Dann rauchte er eine Zigarette, bis die Sonne Holz und Blech getrocknet hatte. Das gekaufte Blau entsprach der ursprünglichen Lackierung des Lastwagens. Der Einfachheit halber strich er den kompletten Aufbau, also Fahrerhaus, Motorhaube und Pritsche völlig neu an, und zwar mit einem breiten Pinsel. Es ging schneller als mit dem Spritzkompressor, weil er Fenster, Gummi, Metallteile und Räder nicht erst umständlich abzudecken brauchte. Gegen 16.00 Uhr war der Anstrich staubtrocken. Aus einer Plastiktüte nahm er nun zwei vorgeschnittene Schablonen. In jede der Schablonen waren die Buchstaben PSC, ein wenig verschlungen, hineingeschnitten. Die große Folie befestigte er an der Seitenwand und sprühte mit der Farbdose in strahlendem Weiß das Firmenzeichen der Pittsburg-Steel-Corporation auf. Dies ebenso auf der rechten Seite und hinten. Für beide Fahrerhaustüren nahm er die kleinere Schablone. In seinem dunklen Blau und mit dem PSC-Zeichen versehen, war der Dreiachser von anderen Fahrzeugen aus dem Wagenpark der größten Pittsburger Stahlhütte nicht zu unterscheiden. Mister Graham betrachtete sein Werk mit Wohlgefallen. Die Hauptarbeit war damit getan. Jetzt begann 55
der Feinschliff. Graham fuhr den Dreiachser bis in die Nähe des Motels, wo er übernachtete. Er parkte ihn neben der Lagerhalle eines Moniereisenhändlers, bestieg seinen Chevrolet und fuhr noch einen Happen essen. Danach holte er im Motel seinen Reisekoffer und den schmalen im Citycase-Format. Zurück bei seinem Lastwagen, verstaute er den schmalen Koffer unter dem Beifahrersitz zwischen Batterie und Kabinenrückwand. Aus dem Koffer heraus zog er eine stegleitungsähnliche Strippe durch ein vorbereitetes Loch nach hinten, unter der Pritsche entlang und in deren Mitte abermals durch ein vorgebohrtes Loch nahe dem Container wieder nach oben. Es war eine komplizierte Fummelei, aber schließlieh klemmten die Sicherheitsstecker am Kabelende in zwei kaum sichtbaren Bohrungen des Containers. Graham öffnete den Koffer handbreit und betätigte einige Schalter. Eine gelbe und eine blaue Leuchtdiode blinkten auf. Strom war da. Die lautlose Digitaluhr des Zünders lief. Letzte Korrektur. Realtime 19.34 Uhr. - Als Zündzeitpunkt wählte er 4,00 Uhr amerikanischer Sommerzeit vor. Als es dunkel war, fuhr er den Chevrolet durch den Tunnel unter dem Rangierbahnhof hindurch zum Flußhafen, und dort über die Ohio-Brücken ins Industrierevier. Der Himmel war rot vom Feuer der Hochöfen, der Glashütten und der Aluminiumwerke. 56
Auf dem Parkplatz eines Supermarktes ließ Graham die Limousine stehen und nahm den Bus zurück in die City. Dort stieg er in einen Vorortbus um. Da es noch nicht spät genug war, nahm er in einer Bar einen Kaffee mit Cognac, schlenderte zu seinem Lkw, prüfte noch einmal die Papiere und startete. Um 22.30 Uhr stand er am Werktor des Pennsylvania-Steel. Seine präzisen Vorarbeiten hatten zur Folge, daß der Nachtwächter das erste Tor öffnete und ihn hineinrollen ließ. Der Schlagbaum blieb allerdings noch geschlossen. Der Wächter trat näher. „Sind Sie der Container, den man uns avisiert hat?" „Vom Werk Cleveland." Der Posten bat um das Permit. Neben ihm tauchte einer vom Werkschutz auf. Er ging um den Truck herum und prüfte dann ebenfalls Frachtbrief und Transportbegleitzettel. „Was ist im Container?" „Ferrostaub, sagte man mir." „Wohin kommt er?" „Zum Laborblock C." „Wir haben keinen mehr da zum Abladen." „Der Containerinhalt wird morgen früh um vier Uhr gebraucht. Deshalb mache ich die Nachtfahrt. Und nicht zu meinem Vergnügen." „Der Wagen bleibt also bis vier Uhr im Gelände." „Bis er abgeladen ist." „Und Sie?" 57
„Ich haue mich solange längs. Ist ja nicht kalt." Der vom Werkschutz sprach mit dem Nachtwächter. „Okay, wir hatten einen Anruf von der Verwaltung. Laß ihn durch!" Der rot-weiß lackierte Schlagbaum schwang hoch. Graham kuppelte, schaltete, gab Gas und fuhr hinein. Das Werk lag auf einer Flußinsel, umspült von Ohio und Alleghany. Bei einer Größe von neun Quadratmeilen hatte es die Abmessungen einer kleinen Stadt. Aber es gab keine Straßenschilder und keine Hausnummern. Die einzelnen Bereiche trugen Buchstabenkombinationen. Graham verfügte über eine Karte, gezeichnet nach der Vergrößerung des Luftfotos aus einem Werbekatalog. Er fand das Forschungsinstitut und parkte den Ford zwischen Labor B und C. Bevor er den Lkw verließ, kontrollierte er noch einmal die Funktion des Zündprogramms. Dann schlich er sich davon. Mehrmals mußte er vor den lautlosen Elektrokarren der Nachtwächter Deckung suchen. Um 23.00 Uhr erreichte er den Fluß und schwamm hinüber ans andere Ufer. Das Wasser war kalt. Die halbe Meile bis zu seinem Chevi nahm er im Laufschritt. Dort angelangt, wärmte er sich mit Cognac, kleidete sich um und fuhr sofort los. Als fünf Stunden später bei der Pittsburg-Steel eine Tonne TNT-Sprengstoff mit Donner und Blitz explo58
dierte und das Forschungszentrum sowie alle Anlagen im Umkreis von hundertzwanzig Metern in Schutt verwandelte, war Graham schon in New York. Ganz gegen seine Natur war er in dieser Nacht ziemlich schnell gefahren. Die Schäden im Forschungsinstitut der Pittsburger Stahlindustrie waren erheblich. Die Arbeiten an einem streng geheimen Rüstungsprojekt konnten nicht fortgeführt werden. Wie die Polizei ermittelte, handelte es sich um einen Terroranschlag. Deshalb schaltete sich automatisch das FBI, die Bundeskriminalpolizei, ein. Deren Experten wiederum stellten fest, daß das Hochenergielabor völlig, die EDV-Abteilung und das Lager mit den Computerprogrammen größtenteils zerstört waren. Der Wiederaufbau würde ein Jahr in Anspruch nehmen, denn die von Pittsburg-Steel selbst entwikkelten Spezialvorrichtungen mußten erst gebaut und die zu ihrem Bau notwendigen Konstruktionspläne erst neu gezeichnet werden. Hochgerechnet belief sich der Schaden auf hundert Millionen Dollar. Im Verbund mit dem SDI-Programm, das ebenfalls gebremst wurde, war der Schaden überhaupt nicht berechenbar. Genaugenommen, sogar unermeßlich. Dazu kam noch dieser Anruf im Büro des Chairman von PSC: „Wir haben euch gewarnt. Noch vor dem Urgewitter werdet ihr alle sterben." 59
Der Anruf wurde bis in die letzte Frequenz analysiert. Der Unbekannte, der die zwölf Worte übermittelte, sprach kein akzentfreies Englisch. „Das ist Absicht", äußerte der FBI-Spezialist im Brustton der Überzeugung. „Es wäre den Gangstern ein leichtes gewesen, einen Amerikaner diesen Satz auf Band sprechen zu lassen." „Ein Asiat?" erkundigte sich Colonel Vanderwell von der CIA. „Eher Europäer. Osteuropäer." „Slawe?" Beim FBI kannte man das Problem, mit dem sich die CIA seit der Falkenflugmeldung auseinandersetzte. „Eher Russe. Wir fertigen soeben Audiogramme an. Stimmformbilder." „Was meinte er mit Urgewitter?" wollten die FBILeute wissen. Colonel Vanderwell konnte ihnen auch nichts sagen. „Keine Ahnung. Das ist royal-secret. Eine völlig neuartige Waffe, so revolutionär wie die Atombombe gegen Ende des zweiten Weltkrieges." „Ob uns das Pentagon weiterhilft?" „Die Forschungen werden allein von der Industrie betrieben." Man rätselte herum. „Wenn jeder einen Teilabschnitt übernommen hat", sagte einer der anwesenden CIA-Experten, „dann 60
arbeiten sie bei Montecatini in Mestre möglicherweise am selben Projekt." „Die Italiener entgingen dem Anschlag." „Der Agent ist tot." „Der Agent, der es in Pittsburg schaffte, lebt noch." „Woran also wird in Mestre geforscht?" „Alles super-super-geheim, Gentleman", bedauerte Vanderwell. Einer fluchte. „Wie, zum Teufel, sollen wir da vorwärtskommen. Die Geheimhaltung für, nennen wir es einmal Projekt Urgewitter, muß gelockert werden, damit wir feststellen können, ob es Parallelen gibt oder nicht. Wurde die Katastrophe in Pittsburg von den drei Falken ausgelöst, oder hat sie nichts damit zu tun? Verdammt, wie sollen wir das Rennen gewinnen, wenn man vor uns die Straße verbarrikadiert." Die Diskussion lief endlos weiter und wurde nur von einlaufenden Meldungen unterbrochen. Aus den Resten des Lastwagens war es gelungen, bis zu dessen Besitzer durchzustoßen. Die Spur führte über den Lkw-Händler zu einem Mister Graham, Seine Beschreibung entsprach ungefähr der von zehn Millionen Amerikanern. Und von dem roten Chevrolet kannte niemand das Kennzeichen. „Außerdem hat er den Wagen längst gewechselt", befürchteten die Fachleute des Federal-Bureau of Investigation. Trotzdem wurde der Mann fieberhaft an der Ostküste gesucht. 61
Und die Drei-Falken-Akte beim Geheimdienst füllte sich schnell um weitere zehn Seiten. 6. Der BND-Agent mit der Nummer 18, Robert Urban, wollte es zunächst nicht glauben, aber bei der toten Blondine in der Lagune von Venedig handelte es sich wirklich um eine schwedische Touristin. „Wer hat ihr den CCCP-Paß untergejubelt?" fragte Oberst a.D. Sebastian, der Operationschef. Urban umging die Antwort, die er nicht geben konnte, mit einer anderen Frage. „Haben wir es nun doch wieder mit drei Falken zu tun?" „Sie meinen, diese Freda Soerensen habe mit dem Falkenflug nichts, aber auch gar nichts zu tun?" Urban zögerte sehr. „Zu tun schon, aber nur insofern, als ihre Leiche dazu diente, uns auf eine falsche Spur zu lenken. Nehmen wir an, die Leiche der Schwedin sei bereits vorhanden gewesen. Sie starb aus irgendwelchen anderen Gründen, und man bediente sich ihrer nur." Der Alte hieb sofort in die Lücke. „Und war dabei so idiotisch, den Paß, der ihr gar nicht gehörte, zu hinterlassen." Das machte Urban allerdings nachdenklich. „Man bezweckte etwas damit. Gibt es einen in der Gruppe, der uns Hinweise liefern wollte? Oder war es Dummheit, unprofessionelles Verhalten, Zeitdruck 62
- vergaß man den Paß einfach nur?" Sebastian, ein untersetzter, kurzbeiniger, zur Fettsucht neigender Mann mit Dackelgesicht und Igelfrisur, stand auf und trat ans Fenster. „Im Vergleich zu dem, was in Pissburg an Vorbereitung, Organisation und Logistik notwendig war, hätte die Gruppe es in Mestre kinderleicht gehabt." „Falls es Parallelen gibt", schränkte Urban ein. „Natürlich gibt es die", behauptete der Operationschef, ohne es beweisen zu können. „In Mestre betreibt man metallurgische Forschungen, in Pissburg auch." Abermals sagte er Pissburg, sei es aus Unkenntnis oder aus Verärgerung. „In diesem Fall geht es nicht um neue Stahl- oder Aluminiumlegierungen.'' Sebastian fuhr ruckartig herum. „Um was dann, bitte?" Sebastian brauste deshalb auf, weil man ihn stündlich mit drängenden Fragen löcherte. Und wer sie an ihn richtete, waren, vom Präsidenten bis zum Kanzleramts- und Verteidigungsministerium, sehr einflußreiche Männer, Urban steckte sich eine Goldmundstück MC an, rauchte ein paar Züge und stellte fest, daß die Zigarette besser schmeckte, wenn er sie mit dem Geschmack von Kaffee abrundete. Also goß er sich aus der silbernen Thermoskanne eine Tasse voll und setzte sich auf das abgeschabte, ehemals schwarze Rindsledersofa. 63
„In Mestre", sagte er, „wäre es wirklich um den Faktor Wurzel aus neun hoch vier leichter gewesen. Die Falken hätten sich nur ein Schlauchboot mit Elektroantrieb zu beschaffen brauchen. Auch Schwimmen hätte die Distanz zugelassen. Statt dessen benutzen sie ein übermotorisiertes Rennboot mit einer Maschine, so laut wie eine Kreissäge. In Pittsburg hingegen - Vanderwell berichtete es mir - waren dazu ein Lastwagen, ein Container voll Sprengstoff, gefälschte Papiere, vorbereitende Anrufe und so fort erforderlich. In Pittsburg ging es den Falken um das Forschungsinstitut, aber um was, bitte, ging es ihnen in Mestre? Auf dem Hennboot fand man außer der toten Schwedin nicht mal eine Damenhandgranate." Sebastian hatte heute seinen guten Tag. Immer wieder kam er zum Punkt. „Was also haben Mestre und Pissburg gemeinsam?" „Falls wir eine Gemeinsamkeit entdecken, hätten wir immerhin eine Art Beweiskette." „Und was noch?" „Man könnte die Kette dorthin verlängern, wo ein ähnliches Produkt entwickelt wird. Entweder parallel oder gemeinsam mit PSC und Montecatini. Sei es in England, im Ruhrgebiet oder in Barcelona." „Irgendwo droht der nächste Anschlag", murmelte Sebastian. „Wir sollten etwas tun." Im Klartext bedeutete das: Machen Sie weiter, Nr. 18, es ist Ihr Fall. Tun Sie irgend etwas, aber gefälligst umgehend. 64
„Ich habe mit Professor Stralman darüber gesprochen." Sebastian vollführte eine militärische Kehrtwendung. „Und?" „Zum erstenmal, daß er mir nicht helfen konnte." Urban berichtete von seinem Gespräch mit dem Chef der technisch-wissenschaftlichen Abteilung des BND. Stralmans Wissensstand auf dem Gebiet von Forschung und neuester Technologie war so umfassend, wie kaum bei einem anderen. Für Grenzgebiete hatte Stralman Experten zur Hand. Sebastian wischte sich übers Gesicht. „Stralman bleibt eine Antwort schuldig? Das gibt es nicht." „Auf Anhieb wollte er sich nicht dazu äußern." „Was bedeutet auf Anhieb? Heißt das sofort, nach zehn Minuten oder nach einer Stunde?" „Er bat mich, ihm bis zum Abend Zeit zu lassen. Er wollte herumhorchen, notfalls einige Quellen anzapfen, beim Forschungsministerium, bei Universitäten, bei der Industrie, bei der Bundeswehr in Koblenz und so weiter." „Stralman", bemerkte der Oberst kopfschüttelnd, „wird auch langsam alt. Das wäre ihm früher nicht passiert." „Die Sache ist royal-secret", erinnerte Urban. „Man muß ihm Zeit lassen." „Aber in Pissburg fummelten sie daran herum. Warum gelingt es der CIA nicht, eine Lücke 65
aufzubrechen. Oder hält Ihr Freund Colonel Vanderwell Informationen zurück?" ,,Vanderwell ist nicht mein Freund'', betonte Urban. „Ob Sie glauben, daß er Informationen zurückhält, würde ich gerne von Ihnen hören." „Wir halten auch welche zurück", stellte Urban fest. „Nicht in diesem Fall. Wenn es wirklich zum Hauen und Stechen kam, waren wir Bundesgenossen gegen über immer frank und frei." „Ja, das ist eine echte Volksseuche bei uns." Sebastian durchschaute nicht ganz, wie Urban dies meinte. „Sie", sagte er, „Nummer achtzehn, Sie sind auch schon einer von diesen alten Nußknackern." Urban stimmte ihm zu. „Okay", sagte er. „Spielen wir die Nußknackersuite." Im tausend Quadratmeter großen Basement, wo die BND-Forschung und -Entwicklung untergebracht war - Insider nannten sie nur die Fabrik -, saß Professor Stralman in seinem Büro. Er wirkte ein wenig blau im Gesicht. Verzweifelt deutete er nach oben zur Decke und nicht auf seinen Chiemseer Bauernschrank, wo die berühmten Schnäpse lagerten. „Sie haben mir eine neue Leuchtstoffröhre reingeschraubt, weil bei der alten die Drossel defekt war. Sie hat einen Blaustich. Da war mir die flackernde 66
zuckende Vorgängerin noch lieber. Ich habe eine Röhre für rosa Licht beantragt. Rosa verschönt meine Haut. Aber eher kriegt die Bundesmarine einen Raketenzerstörer genehmigt, als wir hier eine passende Lampe." Sein weißer Laborkittel, den er alternierend mit dem hellbraunen trug, strahlte helles Violett aus. Die Stahlsessel, der Stahlschreibtisch mit Glasplatte, die modern gestylten Aktenablagen, alles wirkte ein wenig gespenstisch in dem Neonlicht. Nur auf den alten Bauernschrank hatte es keinen Einfluß. Er stand da, so unbeeindruckt wie er die letzten zweihundert Jahre über sich hatte ergehen lassen, Stralman nahm den Goldrandzwicker ab und massierte die Klemmstellen beiderseits der Nase. „Kam von den Amis ein Tip?" fragte er. „Ich sprach noch einmal mit Colonel Vanderwell." „Zum Thema Forschung in Pittsburg?" „Er behauptete, selbst die CIA würde auf Granit stoßen." „Dann tut mir die CIA wirklich leid", meinte Stralman. „Wir kennen das doch", erwiderte Urban. „Wenn sie stur sind, sind sie stur. Selbst auf einer grünen Wiese sitzend, leugnen sie die Anwesenheit von Gras." „Schätze, du läßt sie auch mal verhungern." „Kommt darauf an, ob es mir nützt oder schadet", gestand Urban, der Stralman noch immer mit Sie und Professor anredete, während sich der Wissenschaftler 67
von Anfang an ein vertrautes Du und Junge gestattet hatte. Auf irgendeine Weise hatte er Urban als seinen Sohn adoptiert. Wenn auch nicht notariell, so doch gefühlsmäßig. „Vielleicht hilft uns Peterkorn", sagte Stralman. „Peterkorn", wiederholte Urban, „ist das eine neue Getreidesorte, ein Nachname oder zwei zusammengezogene Namen?" Stralman erklärte es ihm lächelnd. „Natürlich heißt er Peter Korn. Doktor Peter Korn. Wir studierten gemeinsam einige Semester in Heidelberg. Sein Verbindungskürzel lautete Peterkorn. Nenn es meinetwegen auch Telegrammanschrift. Ich habe ihn gebeten herzukommen. Er arbeitet am MaxPlanck-Institut. Ein erstklassiger Mann, nobelpreisverdächtig. Aber erschrick nicht, wenn du ihn siehst. Er wirkt ein bißchen wie die Typen, die man früher als Karussellschieber bezeichnete." Es dauerte nicht lange, dann wurde Doktor Peter Korn gemeldet. Er wartete oben am Haupttor. Stralman schickte einen Assistenten los, um den Wissenschaftler in Empfang zu nehmen. Während Urban noch dabei war, Stralman zu überreden, daß es vielleicht doch ratsamer sei, Dr. Korn lieber Kaffee anzubieten statt einen seiner Selbstgebrannten Obstschnäpse, summte der Lift. Sie hörten Schritte. In der Tür stand ein Mann, der zwar so alt war wie 68
der Professor, aber durch die Jeans, die er trug, die schmutzigen Tennisschuhe, das T-Shirt mit der Aufschrift Kansas-Rangers und der Jacke, die aussah als hätte er sie zum Reinigen einer Dampfmaschine benutzt, zehn Jahre jünger wirkte. Stralman und Korn umarmten einander und klopften sich auf die Schultern. Auch Korn sah jetzt ein wenig blaugefärbt aus. Er deutete auf Stralmans Lippen. „Bist du herzkrank? Was für eine Farbe!" „Dort ist der Spiegel", sagte Stralman. Korn entdeckte die Lampe und nickte. Er verzichtete darauf, erst eine Stunde lang in Studentenabenteuern zu schwelgen, sondern kam zur Sache, und dies auf überraschende Weise. „Wir arbeiten auch daran", sagte er, „aber nur in der Grundlagenforschung, also ausschließlich, was die physikalischen Probleme betrifft. So ein Wahnsinn würde bei uns nie durchentwickelt werden." Stralman hob die buschigen Brauen. „Aber dieser Wahnsinn interessiert uns mächtig. Vorausgesetzt, er breitet sich in Mestre ebenso aus wie in Pittsburg." „Hm", antwortete Peter Korn. „Für Pittsburg kann ich gradestehen. Daß man auch in Mestre daran bastelt, ist mir neu." „Bastelt, woran?" ,,Nun, weiterbastelt, würde ich sagen. Denn aus dem Experimentierstadium ist man schon seit, schon seit. . . also gewiß seit gut und gern vierzig Jahren 69
heraus." „Vierzig Jahre", staunte Urban. „Das fällt beinah noch in den zweiten Weltkrieg." Peter Korn streichelte seinen Kinnbart, der an den Seiten bis zu den Koteletten wucherte und nahtlos in sie überging. Eigentlich sah man wenig von seinem Gesicht, nur klare helle Augen und schlechte Zähne. „Die Sache fiel damals einem Hochenergieexperten ein. Man führte Versuche durch, aber bald geriet das Ganze unter jenen Führerbefehl, wonach Rüstungsprojekte, die nicht binnen zwei Jahren frontreif waren, gestoppt werden mußten." Inzwischen war ihre Neugier so aufgeheizt, daß Stralman direkt fragte: „Die Atombombe ist es nicht gewesen?" „Nein, die gaben wir schon viel früher auf. Aber weniger wirkungsvoll als die Atombombe ist die Sache auch nicht. Ich würde sagen, sie übertrifft bei entsprechender Konstruktion die Atombombe um eine Zehnerpotenz." Urban, ein technisch stark interessierter Mann, geriet schier in Atemnot. „Wollen Sie uns nervlich fertigmachen, Doktor Korn?" „Mit größtem Vergnügen", erwiderte der Wissenschaftler spöttisch und trieb die Spannung noch ein Stück weiter. „Man behauptet, die Explosion einer Atombombe irgendwo auf der Erde, sei so wirkungsvoll, als würde man in einer Sporthalle ein Streichholz 70
anzünden. Ich meine, was die Abgabe von Hitze, Fallout, Erschütterungen und Umweltschäden betrifft." „Ja, das sagt man", bestätigte Stralman. „Und es soll Leute geben, die das sogar glauben", fügte Urban hinzu. „Was dieses Ding, das möglicherweise in Pittsburg und anderswo ausgebrütet wird, betrifft, wird das Streichholz in der leeren kalten Sporthalle schon zu einem Scheiterhaufen, an dem man Sommersonnenwende feiern könnte." „Oder um Jeanne d'Arc zu verbrennen", bemerkte Stralman zynisch. „Oder auch die ganze Sporthalle", ergänzte Peter Korn. Allmählich gewann er den Eindruck, daß es Zeit sei, Tacheles zu reden. Doch die Tasse Kaffee, vergiftet von Stralmans schwarz gebranntem Schnaps aus türkischen Rosinen, der schon auf der Zunge wie Salzsäure brannte, lenkte ihn ab. „Bevor du mich umbringst, Prahlhans . . .", sagte er und hielt erschrocken inne. Urban bemerkte den Versprecher. „Ist Prahlhans seine studentische Telegrammadresse", fragte er, „wie Ihre Peterkorn ist?" Stralman hob erschrocken die Hände. „Zugegeben", sagte er, „es gab einige böse Zungen, die sich dieser herabwürdigenden Verhohnepipelung meines schönen Namens bedienten, doch nur 71
deshalb, weil ich gelegentlich behauptete, nach einer Flasche Wodka noch mit dem Fahrrad nach Hause zu fahren." „Er war voll bis Oberkante Unterlippe", erinnerte sich Dr. Korn, „und radelte nach Hause. Aber er versuchte abzukürzen, indem er quer durch den Neckar fuhr - was ihm natürlich mißlang. Bei Ilversheim fischten sie ihn aus den Fluten." Urban zog einen Freudschen Schluß. „Deshalb seine Affinität zu Schnäpsen. Er wird das Trauma nicht los." „Nach einer Flasche Schnaps fahruntüchtig zu sein." Stralman nahm es lächelnd hin. „Deshalb trainiere ich seit damals hart, aber noch schaffe ich es nicht." „Heute hast du ein Dienstfahrrad." „Von Mercedes", sagte Stralman. „Und du hast mich bei meinem Sohn für alle Zeiten lächerlich gemacht. Das kostet dich die Pittsburg-Information." Ohne erst Luft zu holen, servierte Korn es ihm schlenkerlos. „Habt ihr schon von der Elektrobombe gehört?" „Nur von einer Eisbombe", erklärte Urban. „Erdbeer, Vanille und Schokolade." Wie eine Eiskrembombe hergestellt wurde, wußten sie alle. Aber von der Elektrobombe wußten sie noch immer sehr wenig, obwohl Dr. Korn die schwarze Tafel mit Ziffern, Zahlen und Buchstaben bemalt hatte. Er wischte aus, skizzierte neu, rechnete, 72
wischte aus und wiederholte alles. Endlich stand die Formel da. „Kapiert?" „Nein", sagte Stralman. „Ich auch nicht. Es gibt da eine Grenze, die wir nicht zu überschreiten vermögen. Den Amerikanern gelang es vielleicht." Urban faßte zusammen: „Man schickt also eine Rakete, gefüllt mit spezieller Materie, an den Rand der Stratosphäre und löst dadurch Gewitter aus, die sich über die ganze, in der Atmosphäre vorhandenen elektrischen Energien erstrecken. Dies so schnell und so unaufhaltsam, wie bei einer Kettenreaktion." „Weil es sich ebenfalls um einen molekularen Vorgang handelt." „Hier aber um eine Reaktion globalen Ausmaßes." „Die alles verbrennt, alles verdampfen laßt." „Eine Rundum-Bombe." „Die möglicherweise in einer Wasserstoffusion endet. Das würde bedeuten, die Erde wird zur Tochter der Sonne." „Aber welche Initialzündung ist dazu nötig?" „Ich fürchte, sie paßt in eine Rakete von mittlerer Größe." „Materie welcher Art?" „Mit Energie angereichertem Goldstaub etwa." „Mit Energie welcher Art?" „Negativ-Ladung." „Antimaterie." 73
Dr. Korn nahm noch einmal den Schwamm, wischte die Tafel sauber, ergriff die Kreide und legte erneut los. Nach einiger Zeit gab er endgültig auf. „Nein", sagte er. „So geht es nicht. Alles nur Hypothese." Er saß da, ein wenig zusammengesunken. Seine Zehen spielten unter dem dünnen Segeltuch der Turnschuhe. Urban brach das Schweigen. „Und wer ist als erster darauf gekommen, Doktor?" ,,Eine belgische Physikerin. Ich glaube ihr Name ist Ursula De Loon." „Kann man sie befragen?" „Sie dürfte damals um die Vierzig gewesen sein. Nein, sie lebt nicht mehr. Sie kam, wie man hört, bei Kriegsende oder unmittelbar danach ums Leben." „Hatte sie Familie? Kinder?" ,,Davon ist mir nichts bekannt. Ich weiß nur, daß wir uns um die De-Loon-Arbeiten bemühten und daß wir Teile davon im Staatsarchiv in Berlin ausgruben. Aber die wirklich bedeutenden Unterlagen haben die Alliierten damals konfisziert." „Und daran weitergearbeitet." „Zunächst wohl auf kleiner Flamme. Aber seit einiger Zeit mit voller Power." „Die Elektro-Bombe", wiederholte Urban. ,,Na fabelhaft!" „Die Russen haben es nicht und deshalb Angst davor." „Sie wollen sie kriegen oder den Bau verhindern", 74
ergänzte Urban. „Jetzt weißt du wo es langgeht", sagte Stralman. Doch Peter Korn hob beschwörend die Hände. „Noch ist alles Theorie, Freunde. Vermutungen und allerdings", gestand er, „auch konkrete Befürchtung." Auf diesen Schock hin brauchten sie einen Schluck. Stralman goß tüchtig ein und nach. Sie schütteten den Hochprozentigen hinunter. „Danke, jetzt reicht es", sagte Dr. Korn. „Du weißt, Prahlhans, ich vertrage nichts." „Richtig, du bist schon seit dem fünften Semester Physik hinfällig, existierst aber bis heute noch recht deutlich." „Und ich würde es gerne noch eine Weile tun", betonte Dr. Korn. „Bis zur Explosion der ersten Elektrobombe", rief Stralman. „Prost!" „Danke", antwortete der Physiker. „Dann lieber noch einmal Adolf Hitler inklusive Hin- und Rückfahrt. Hitler hat nur die. halbe Erde angezündet - und es gab einige Leute, die den Brand löschen konnten. Die erste Elektrobombe jedoch, über einem der Pole gezündet, das wäre der letzte aller Tage. Dann wäre Totensonntag." Noch spät in der Nacht rief Colonel Vanderwell von der CIA an. „Du hast neue Erkenntnisse angekündigt, Dynamit", begann er. „Wer sitzt eigentlich mitten im Konzertsaal", erwi75
derte Urban, „und hört die Symphonie im Originalton? Ich vernehme nur die Radioübertragung." „Die Töne kommen zur selben Sekunde an." „Bei mir offenbar nicht." „Ich sitze vielleicht im falschen Konzert." „Oder du bist taub, Vanderwell." „Im Gegenteil, ich habe ein äußerst empfindliches Gehör." „Dann stellst du dich taub, Jan", sagte Urban. „Es ist einfach unvorstellbar, daß wir hier Informationen kriegen, wenn auch nur sehr vage und die CIA, die kaum dreihundert Meilen vom Ort der Ereignisse entfernt sitzt, mit den größten Ohren der Menschheit ausgestattet, hört nichts." „Das ist der sogenannte Blindeffekt gegen Naheliegendes." Er sprach so lange auf Urban ein, bis der ihm einiges, aber nicht alles, von der Unterhaltung mit Dr. Korn preisgab. „Wir tippen hier auf Elektrobombe", sagte Urban, „was immer das sein mag. In jedem Fall verbirgt sich dahinter die Endzeitwaffe." „Elektrobombe", wiederholte Vanderwell. „Ist euer Informant auch seriös?" ,,Er arbeitet am Max-Planck-Institut und gehört zur vordersten Linie der deutschen Wissenschaftler." „Schon ein älterer Herr?" „Nun, er mag an die Sechzig gehen." „In diesen Jahren sind Physiker längst out. Sie bringen nur bis Ende Zwanzig Kreativität, dann 76
lassen sie nach. Dann kauen sie immer wieder eigene Erkenntnisse. Sie kauen sie fein." „Mitunter kommt doch noch Beachtliches zustande." „Vielleicht ist es dann verdaulicher. Aber die wirklich großen Ideen haben diese Leute nur in den Jahren unmittelbar nach dem Examen." Urban verspürte wenig Lust, mit Vanderwell über die Schaffenskraft von Physikern unter Berücksichtigung ihres Alters zu diskutieren. Er diskutierte überhaupt nicht gern mit ihm. Das heißt, er schätzte ihn nicht sonderlich. Aber sie bildeten in der Falkenkiste ein Sechsergespann und waren aufeinander angewiesen. „Hoffentlich", sagte Urban, „kommen auch von euch mal Fakten herüber." „War Pittsburg etwa eine Zeitungsente?" „Was ihr daraus macht, nämlich nichts, ist verdammt wenig." „Wir werden uns Mühe geben", versprach der Amerikaner. Am nächsten Tag traf eine Nachricht ein, die Urban nicht an die CIA weitergab, Weil er noch keinen Zusammenhang zwischen ihr und dem anstehenden Fall sah. Dr. Peter Korn war plötzlich und unerwartet verstorben. An Fleischvergiftung, wie es hieß. - Und das am Freitag, wo gläubige Katholiken wie Dr. Korn nur Fisch zu sich nahmen. 77
Als Korns Exkommilitone, Professor Stralman, davon hörte, war er entsetzt, teilte aber Urbans Bedenken, an der Sache könnte etwas faul sein, nicht. „Die Ärzte im Starnberger Kreiskrankenhaus werden die Symptome schon richtig erkannt haben und sie zu deuten verstehen." „Freitag war Fischtag." „Dann starb er eben an Fischvergiftung. Soll es ja auch geben. Wann ist die Beerdigung?" „Wie in Deutschland üblich", sagte Urban. „Binnen drei Tagen." 7. Im schottischen Hochmoor, nördlich Inverness, besaß Lord Caledon nahezu tausend Hektar Land. Wald, Wiesen und Seen. Steuerlich wies er den Besitz als Versuchsgut für seine Unternehmen aus. Jedermann aus Caledons Gesellschaftskreisen glaubte aber zu wissen, daß das Gelände nur der Befriedigung der Jagdleidenschaft des Adligen diente. Die Gentlemen, die solche Gerüchte verbreiteten, irrten sich. - In einem abgeschiedenen Tal des eingezäunten Territoriums befand sich ein hochmodernes Forschungsinstitut. Keine Straße führte dorthin. Es gab nur einen Hubschrauberlandeplatz. Deshalb hielt man das Labor, umgeben von neun Quadratmeilen Wald, Bergen, Schluchten und Sümpfen, für ziemlich sicher. 78
An den Wochenenden, wenn die dort tätigen Wissenschaftler nach Hause zu ihren Familien flogen, bewachten zwei Exsergeants der schottischen Highlanders das Revier. Sie lösten einander im AchtStunden-Rhythmus ab. An diesem Samstag hatte Lord Caledon sogar die Posten abziehen lassen. Er vertraute völlig auf das unwegsame Gelände und die umfangreichen Alarmanlagen. Außerdem hatte er etwas vor, wofür er keine Augenzeugen gebrauchen konnte. Aber noch war es nicht soweit. In seinem Schloß Caledon Castle wartete er auf einen Gast aus Frankreich. Mehrmals schaute er auf die Kaminuhr des Arbeitszimmers. Um Punkt acht sei der Firmenjet des Loire-RhôneKonzerns in Paris gestartet, hatte man ihm durchtelefoniert. Die Mystere brauchte von Paris bis Inverness ungefähr einhundertundzehn Minuten. Sein Chauffeur wartete mit dem Bentley am Airport. Eine halbe Stunde fuhr James vom Airport bis Caledon Castle. Er würde also gegen halb elf eintreffen. Jetzt war es zwei Minuten nach halb elf. Lord Caledon trat an das Fenster des Arbeitszimmers. Um bis zur Parkeinfahrt am Ende der Ulmenallee blicken zu können, benutzte man am besten ein Fernglas. Das Glas lag immer griffbereit. Sir Edward führte es an die Augen. Bald sah er die silbergraue Limousine in der Allee um den 79
Goldfischteich kurven. Er trat an den Spiegel, strich über das scharfgestutzte Menjoubärtchen und ging durch die Bibliothek in die Halle, um seinen Gast und Geschäftspartner zu empfangen. Der Bentley rollte vor und hielt an. Der Chauffeur kam herum und öffnete die hintere rechte Fondtür. Der Lord stand oben an der Freitreppe, bereit, dem Gast entgegenzugehen, aber auch bereit, erst den Anblick seiner Beine zu genießen. Sein Gast war Lorrene Deloire, eine der vermögendsten und einflußreichsten Frauen Frankreichs. Daß diese Frau auch noch erregend rassige Beine hatte, versprach sich durchaus nicht von selbst. Aber sie hatte sie. Sie zeigte diese von hauchdünnen, schwarzen Strümpfen umhüllten Beine und einen Augenblick lang auch die Knie, ehe sie im Freien stand und der Rock aus Mohairseide sie wieder bedeckte. Sie war groß und sehr schlank. Unter dem schwarzen, breitrandigen Hut trug sie das Haar wie eine enganliegende, goldene Kappe. Obwohl erst um die Dreißig, führte sie den Weltkonzern so sicher und so straff wie ihr vor kurzem verstorbener Vater. Ist sie nicht fabelhaft? fragte sich Caledon. Warum ist sie unverheiratet? - Vielleicht ist sie es, um so fabelhaft zu bleiben. Oder hat sie gar keine Zeit für eine Familie, wie auch ich nie Zeit gehabt habe. Konzerne mit mehr als hunderttausend Mann Beleg80
schaft fraßen einen auf. Sie waren eine zu große Aufgabe für einen Mann. Und erst recht für eine Frau. Er küßte ihr die Hand. - Was für einen Duft strömte allein schon das Nappaleder aus. „Sie sehen fabelhaft aus, Lorenne", stellte er fest. „Hoffentlich können wir das heute abend auch noch behaupten, Edward." „Ich werde mein Bestes tun", versprach er. „Wir nehmen doch erst einen Imbiß?" Lorenne Deloire reichte den Hut dem Butler. „Ich muß um einundzwanzig Uhr wieder in Paris sein, Edward", bedauerte sie. „Wo kann ich mich umkleiden?" Ein Stubenmädchen ging mit dem kleinen Koffer von Madame voraus in den Gästeflügel. Eine halbe Stunde später fuhren Lorrene Deloire und Lord Caledon im Range-Rover querfeldein. „Schön, daß Sie gleich gekommen sind, Lorrene", sagte Sir Edward. „Immerhin stecke ich mit hundert Millionen Francs in dem Projekt." Der schottische Adlige winkte ab. „Ich mit zehn Millionen Pfund." „Damit haben wir beide noch nicht die Hälfte der Anteile." „Nein, die Majorität liegt bei Pittsburg-Steel." „Die PSC ist derzeit ja wohl raus aus dem Zeitplan. Diese Autobombe soll erheblich gewütet haben." Der Lord nahm etwas Gas zurück, weil sich der 81
Geländewagen auf Bodenwellen aufschaukelte. Dann kam ein Steilhang von fünfundvierzig Grad, und er gab dem Achtzylinder volle Kraft. Sie durchquerten sumpfige Abschnitte, erreichten einen See. Nun ging es eine Weile an dessen kiesigen Ufern entlang. „Pittsburg hat mir versichert, daß sich am Zeitplan nichts ändert", erklärte Caledon. „Wie ist das möglich?" „Sie sind mit der Endphase unter die Erde gegangen. In einen alten Kohleflöz, mehrere tausend Yards tief. Aber das weiß niemand." „Laufen dort die letzten Versuche?" ,,Yes, in diesen Tagen", bestätigte der Lord. „Weswegen ich mich veranlaßt sah, auch hier damit zu beginnen. Wir dürfen uns nicht abkoppeln lassen." „Die Amerikaner sind unsere Partner", wandte Madame Deloire ein. „Aber ich hörte, es seien Bestrebungen im Gange, uns rauszukaufen." „Für wieviel?" wollte die Französin, kühl kalkulierend, wissen. „Ich steige nicht aus, nicht jetzt, wo wir vor der Realisierung stehen. Und Sie, meine Liebe?" „Ich schon", erklärte die Französin. „Wie wäre Ihr Preis?" „Der doppelte." „Darüber sollte man reden." „Lassen Sie erst mal sehen, Edward, wie weit Sie sind." „Wie weit wir sind", verbesserte der Schotte. 82
„Denn ohne Ihre mikroanalytischen Vorarbeiten wären wir mit der Ionisierung nicht weitergekommen." Um den sinnlichen Mund von Lorrene Deloire zuckte es spöttisch. „Ich kam nicht hierher, um Schmeicheleien zu hören, sondern um Testergebnisse zu sehen." „Sie mögen mich nicht, Lorrene", stellte Caledon fest. „Ich mag Sie sehr", erklärte die Französin. „Als Geschäftspartner.'' „Und weniger als Mann?" Sie wollte es ihm schon lange sagen. Heute sagte sie es ihm, denn er hatte ein Recht zu wissen, warum sie gegen sein Werben immun war. „Edward", setzte sie an, „mein Lieber, es ist doch einfach so, daß Sie sich nie wirklich entscheiden können. Mögen Sie nun Frauen mehr als Männer oder umgekehrt. Wenn Sie eine Frau umarmen, denken Sie an einen hübschen Jungen, und wenn Sie einen . . . Nun, Sie wissen selbst, was ich meine. Das ist kein Vorwurf, nur insofern eine Feststellung, als ich mich, wenn überhaupt, dann nur für eindeutig hundertprozentige Mannsbilder interessiere oder erwärme." „Für einen Macho." Sie nickte und war jetzt sehr offen. „Warum nicht? Tut mir leid." Der Jagdanzug aus hellgrünem Popeline saß faszinierend eng auf ihrem Körper. Oberschenkel, Gesäß, 83
Brüste zeichneten sich auf eine Weise ab, daß sie deutlichere Formen annahmen als bei nackter Haut. „Schade", sagte der Lord. „Bei den Gewinnen, die Sie erwirtschaften, Edward, und bei dem Vermögen, das Sie bereits besitzen, ist doch so gut wie alles käuflich." „Nur Sie nicht, Lorrene." Sie lachte, hell wie ein Schellenbaum. „Im Bett", rief sie, „bin ich sogar ganz umsonst. Schwierigkeiten gibt es nur bei der Verfügbarkeit des Partners." „Bei dem Vermögen, das Sie besitzen", der Lord benutzte ihre Worte, „ist doch so gut wie jeder käuflich." Sie winkte ab, Thema beendet, und steckte sich eine Zigarette an. „Fast alles." „Der Richtige etwa nicht?" „Ich weiß nicht einmal, wie er heißt, wo er sich gerade aufhält und wie er aussieht. Nein, der Richtige leider nicht." An dem Betonbunker vor dem dreifachen Zaun hatte Caledon die Stahltür geöffnet und dann per Spezialschlüssel und eingetastetem Neuner-Code die Alarmanlage außer Betrieb gesetzt. Das Tor summte auf. Der Range-Rover fuhr durch die Schleuse, das Tor schloß sich hinter ihnen. Überall brannten wieder die roten Lampen. „Sie gehen sehr sorgfältig mit unserem Geld um", stellte Lorrene fest. 84
„Nun, wir haben hier stromführenden Stacheldraht, Infrarot-, Radar- und Lichtschranken, Ultraschallsperren und Selbstschußanlagen." „Und wenn doch einmal etwas passiert?" Lord Caledon deutete nach oben auf die Spitze eines Gittermastes. „Die Schüssel dort oben sendet einen Richtfunkstrahl nach Fort Rose. Mit dem Hubschrauber sind sie in fünfzehn Minuten da." „Tag und Nacht?" „Sommer und Winter. Wir haben es getestet, Der Polizeiservice kostet zwar einiges, aber Ende des Jahres läuft das Programm ja ohnehin aus." Lorrene Deloire war vor zwei Jahren schon einmal hier gewesen. Damals hatte sich alles noch im Aufbau befunden. Der Aluminiumbungalow, der Labortrakt, die Mühlen in den Bunkern, das kleine Kraftwerk. Nun war sie neugierig, ob alles zutraf, was ihr Caledon in Paris erzählt hatte. Ob es auch im Großen so funktionierte wie im Glaskolben. In einem der Labors ließ Sir Edward das Stahlrollo hochgehen. Vor der Scheibe, etwa fünfzig Meter entfernt, gut in der Mitte dieser Anlage, schimmerte grau eine Betonplatte. Im Labor trat Caledon nun vor einen grünen Kasten. Er sah aus wie das Fernsteuergerät eines Spielzeugautos, nur fünfmal so groß und mit entsprechend mehr Knöpfen, Stufenschaltern, Kontrollampen und Anzeigeinstrumenten versehen. Caledon steckte eine Magnetkarte in einen Schlitz. 85
Das Gerät war unter Strom. - Er drückte Kipphebel und bediente einen Drehschalter, bis dessen Zunge auf der Markierung IV einrastete. Unter der Erde summte etwas. Der Lord deutete nach draußen. „Die Platte!" „Ich hielt sie eher für einen Hubschrauberlandeplatz.'' „Dazu dient sie normalerweise auch." Die Platte bewegte sich zur Seite und gab eine tiefe, etwa sechs mal sechs Meter messende Öffnung im Boden frei. Das Geräusch wurde durch ein Schalterklicken beendet. Ein anderes Relais sprang an. Neue Motoren summten. Der Zeiger zitterte bei einem Hydraulikdruck von vierzig Bar. Erst langsam, dann schneller, hob sich aus der Bodenöffnung ein Kasten. Ein Würfel, ganz aus Glas, bis auf die Kanten, die mit Stahlprofileisen zusammengefügt waren. Der riesige Würfel hatte die Oberfläche erreicht. Die Motoren schalteten ab. Die Sonne spiegelte sich mit grellbunten Reflexen im Glas. „Inhalt zweihundertfünfzig Kubikmeter", sagte der Lord. „Saphirglas." „Nein, das wäre für Versuchszwecke zu teuer. Es ist ganz normales technisches Glas, allerdings die eher zähe als spröde Variante. Scheibenstärke zwei Zentimeter." 86
„Dann wiegt das einiges." „Es hat auch einiges auszuhalten, Madame." „Sind wir hier sicher?" fragte Lorrene Deloire. „Diese Scheibe vor Ihnen, Lorrene, besteht aus Dreischichten-Panzerglas, neunzig Millimeter. Man kann sagen, sie ist granatenfest. Aus Sicherheitsgründen werden wir uns aber in den Bunker begeben." Der Lord erläuterte in knappen Sätzen das Experiment. „Ich simuliere hier, den Weltuntergang in der Nußschale. Die Bedingungen sind die gleichen wie beim Großtest. Vakuum, Antimaterie, Ionisierung, Zündung." „Bei Einsatz welcher Menge unseres Produktes?" „Etwa ein hundertstel Gramm." „Ist das abmeßbar?" „Selbst bei feinster Mahlung besteht ein hundertstel Gramm immer noch aus mehreren zehntausend Teilchen." Caledon ging an den Safe, schloß auf und nahm eine Glasampulle heraus. Eigentlich war in ihr gar nichts zu erkennen, nur eine leicht farbliche Trübung des Glases ließ darauf schließen, daß irgend etwas in der Ampulle vorhanden war. Vermutlich in nahezu gasfeinem Zustand. „Es handelt sich aber um Materie", garantierte der Lord. „Sie wurde genau portioniert. Ich lege die Ampulle, so wie sie ist, in den Würfel. Da sie bei atmosphärischem Druck gefüllt wurde, wird sie bei Unterdruck zerplatzen und ihren Inhalt freigeben." 87
„Wenn ich überschlägig rechne, im Verhältnis eins zu vierhundert Millionen", bemerkte Lorrene Deloire. „Ja, das ist etwa der Faktor." Der Lord verließ das Labor, ging hinaus und Öffnete an der linken unteren Würfelecke eine dort eingeschweißte Verschraubung. Vorsichtig schob er die Ampulle durch die Öffnung und drehte die Schraube mit einem Ringschlüssel in der Dichtung wieder fest. Dann prüfte er zwei Kabel, ein dickes, silbernes und ein dünnes, rotes, die ebenfalls durch die Kanten ins Innere des Würfels liefen. Wieder im Labor, erklärte er: „Durch die silberne Panzerleitung sauge ich jetzt die Luft ab. Wenn wir das Minimum erreicht haben, erfolgt die Zündung." „Wieviel Volt?' „Lächerliche vier. Kaum ausreichend, um eine Puppenhauslampe zum Glühen zu bringen." Die Hochdruckvakuumpumpe lief. Sie standen im Bunker und warteten. „Absolutes Vakuum läßt sich ja nicht erzielen", bemerkte der Lord. „Aber was sage ich Ihnen, Sie sind selbst Physikerin." Es dauerte immerhin zwanzig Minuten, bis die Pumpe den Würfel soweit luftleer gesaugt hatte, daß der erforderliche Wert, wie er in einer bestimmten Höhe über der Erde herrschte, erreicht war. Das Pumpsystem stellte automatisch ab, wohl 88
wegen Überhitzung irgendeiner Stufe. Es sprang aber wieder an, nachdem die Ventilatoren ihre Drehzahl erhöht hatten. Endlich war der Lord mit den Werten zufrieden. ,,Es soll schließlich funktionieren'', betonte er. „Sonst halten Sie uns noch für Betrüger." „Was", wollte seine Partnerin nun wissen, „werde ich im Detail erleben, Edward?" „Genaugenommen nur eine Energieentladung." „Eine Art Kernfusion." „Das nicht, aber Sie werden staunen, Lorrene, wie sich ein hundertstel Gramm unseres Produktes, verdünnt zu nur wenigen Atomen pro Kubikmillimeter, bei kaum meßbarer Energiezufuhr, benehmen wird." „Und wie ist sein Benehmen?" „Es strahlt in hellstem Sternenweiß." „Wie lange?" „Stundenlang." „Ohne neue Energiezufuhr?" „Die Energie ist immer im Raum. Hier um uns, um die Erde herum, im Weltall." „Ohne erneute Energiezufuhr also. Das bedeutet aber auch - wenn dieses Licht nicht eingesperrt, sondern entfesselt ist und die ganze Erde umhüllt wie eine mörderische Aura - den Tod." „Das", antwortete der Lord, „ist nicht mehr unsere Sache, Gnädigste." „Aber wie kann man das Produkt vermarkten?" „Es gibt Hunderte von Möglichkeiten. Auch in der zivilen Anwendung." 89
„Und wer garantiert dies? - Niemand, siehe Atombombe." Caledon reichte der Französin die Schutzbrille. Dann schloß er die Bunkertür. Dies für alle Fälle, obwohl er behauptete, das Experiment sei angesichts der geringen Dosierung ungefährlich. Er entsicherte den Stromschalter, klappte die Schutzhülle weg, las die Spannung ab. - Vier Volt. „Ich zünde jetzt." Die Französin stand am Bunkerschlitz, mit der zwei Millimeter schmalen Sichtblende. „Ich bitte darum, Edward." Caledon löste aus. Sie warteten eine Sekunde, zwei, drei Sekunden. Nichts geschah. Der Lord prüfte seine Instrumente. „Die Zündung erfolgte." „Offenbar nicht." „Ein Leitungsdefekt." Caledon öffnete die Bunkertür. „Ich halte es zwar nicht für möglich, aber beim Absaugen der Luft kann sich durch die rhythmischen Bewegungen des Panzerschlauches das rote Zündkabel für die Glühwendel gelöst haben." „Seien Sie vorsichtig, Edward!" rief Lorrene Deloire. Sie sah ihn nach oben gehen, in seinem properen weißen Labormantel. Es war absolut still. Ein kleiner Vogel schwirrte heran und ließ sich auf dem Glaswürfel nieder, 90
ahnungslos, welche Energien sich in ihm angesammelt hatten. Der Lord blickte nach oben. Er schien den bunten Vogel zu sehen. Nun beschattete er die Augen mit der Hand, weil die Sonne vom Würfel her stark blendete. Während er weiterging, blickte er immer dem Vogel nach, und dann glaubte Lorrene, er sei plötzlich gestolpert. Sir Edward fing sich wieder, indem er die nordwestliche Kante des Würfels zu fassen bekam. Danach sah Lorrene Deloire ihn nie wieder. Das Letzte, was sie noch wahrnahm, war ein grellweißer Feuerkubus. Noch gefesselt im Glas, schien er den Würfel auszubeuten, kugelig zu formen, bis er donnernd zerplatzte. Im heißen Licht, im Feuer, im Druck, wurde Lord Caledon atomisiert. Die Druckwelle versetzte den Bunker in ein Vibrato, unter dessen Wahnsinnsfrequenzen Lorrene Deloire das Bewußtsein verlor. Die Explosion im Caledon-Forest zerstörte auch den Mast mit dem Sender für die Richtfunk-Alarmstrecke. Dadurch schnappte in Fort Rose ein Relais und löste rotes Blinklicht aus. Der Hubschrauber startete trotz aufkommenden Nebels und landete zwanzig Minuten später innerhalb der Umzäunung des Forschungsinstituts. Dort brannte und schwelte nichts mehr. Es sah aus, als wäre alles plattgewalzt und niedergestampft 91
worden. Neben der Betonplatte gähnte ein tiefes schwarzes Loch. Da die Polizisten nicht glauben mochten, daß es sich um eine der üblichen Wochenendkatastrophen handelte, ausgelöst durch eine überhitzte Klimaanlage oder einen defekten Kühlschrank, suchten sie das Gelände ab. Im Bunker fanden sie eine bewußtlose Frau. Sie brachten sie ins Hospital nach Bealy. Noch während des Fluges erwachte sie aus dem Schock. Im Hospital stellte man fest, daß sie nahezu unverletzt war. Man wollte sie aber zur Beobachtung drei Tage dabehalten. Doch da hatten sich die Ärzte bei Madame Deloire verkalkuliert. „Es ist wegen der Versicherung, Madam. Sie haben ein Schleudertrauma erlitten." „Quatsch, Versicherung!" entgegnete sie. ,,Ich besitze meinen eigenen Versicherungskonzern." Sie gab ihre Aussage zu Protokoll, so wie es ihr angemessen schien, um so wenig wie möglich über das Forschungsprojekt preiszugeben. Dann ließ sie sich zum Inverness Airport fahren. Auf dem Weg vom Polizeifahrzeug zu ihrem Jet sagte sie zu dem sie begleitenden Constable: „Senden Sie mir ein Telex, wann Lord Caledon bestattet wird. Falls man noch etwas Bestattungsfähiges von ihm findet." „Yes, Madam", versprach der Polizeibeamte. 92
„Meine Adresse ist Deloire, Loire & Rhône, Paris." Der Constable salutierte. „Und möglichst nichts an die Presse." Der Beamte bedauerte. „Das, Madam, wird sich nicht vermeiden lassen." „Von mir aus." Die Französin bestieg ihren Mistere-Jet, der wenige Minuten später startete und Kurs auf Paris nahm. Die Komponenten paßten zusammen wie die zwei Hälften eines Reißverschlusses. Kaum hatte die MI-6-Zentrale in London von dem Zwischenfall in Schottland Nachricht erhalten, stellte man fest, daß der Caledonia-Konzern, eine Gruppe von NE-Metallhütten und Walzwerken, stark mit Pittsburg-Steel liiert war. Man hätte sogar daran gedacht, die beiden Giganten zu fusionieren, wenn in den USA nicht Probleme mit dem Anti-Trust-Gesetz aufgetaucht wären. Daß beide Finnen in der Forschung, speziell auf rüstungstechnischem Gebiet, zusammenarbeiteten, wurde dem britischen Geheimdienst erst jetzt bekannt. Man zählte eins und eins und noch mal eins zusammen. „Ein Anschlag in Pittsburg", sagte der Chefanalysator, „gestern einer in Schottland und vorher der Versuch eines Anschlags in Mestre." „Was hat Montecatini mit Pittsburg zu tun?" 93
„Nur insofern ein bißchen, als Loire & Rhône an Montecatini beteiligt ist und Montecatini über Frankreich und Schottland mit den USA kooperiert." Bei MI-6 fand man es an der Zeit, die CIA zu informieren. Da Colonel Vanderwell nicht erreichbar war, unterrichtete man erst den BND MünchenPullach und den in dieser Sache federführenden Oberst Urban. Urban reagierte auf seine Weise. Er fragte sich, wer ist tot und wer lebt. Nur Lebende kann man befragen. - Es gab einen Zeugen, den Hauptaktionär und Generaldirektor von Loire & Rhône. Urban zog einige weitere Informationen ein und flog sofort nach Paris. Der Mittwoch war in Paris ein strahlender Tag unter blauem, wolkenlosen Himmel, kühl noch, aber trocken. Vor einen eleganten Friseursalon am Boulevard Courvelles rollte ein dunkelblauer Mercedes 600. Es war Punkt siebzehn Uhr. Sekunden später tauchte Lorrene Deloire unter dem Baldachin vor dem Eingang auf. Sie trug ein schwarzes Schlangenhaut-Cape, das, wegen der Kühle am Morgen und am Abend, mit Zobel gefüttert war. Mit raschen Schritten ging sie auf die Mercedeslimousine zu, um, wie stets, hinten rechts einzusteigen. Aber die Fondtür war verschlossen. Statt dessen stand, was völlig ungewöhnlich war, die Tür rechts 94
vom Fahrer einen Spaltbreit offen. Wütend nahm sie neben dem Chauffeur, der sofort losfuhr, Platz. „Bois!" zischte sie, was zu bedeuten hatte, daß sie in ihr Stadtpalais, das am Boulogne lag, gebracht zu werden wünschte. Dann fügte sie noch in scharfem Ton hinzu: „Sie werden nachlässig, Pierre. Warum haben Sie mir nicht die Fondtür geöffnet?" „Weil ich nicht Pierre bin, Madame", antwortete Bob Urban. Erst jetzt schien sie zu bemerken, daß sie neben einem völlig fremden Menschen saß. „Was fällt Ihnen ein!" „Ich bin Pierres Ersatzmann." „Halten Sie sofort an! Wo ist mein Chauffeur?" Sie blickten sich herzschlagkurz in die Augen. Urbans Informant hatte nicht übertrieben. Diese Frau war schön und sich ihrer Schönheit bewußt. Sie war außerdem arrogant und herrisch und sich auch all dieser Eigenschaften bewußt. ,,Pierre sitzt im Büro des SDECE", sagte Urban, „falls Sie wissen, was das ist." „Der französische Geheimdienst", äußerte sie. „Ich werde mich beim Präsidenten beschweren. Ich kenne ihn gut." Urban hatte sich in den fließenden Verkehr eingeordnet. „Später, Madame", bemerkte er in entschiedenem Ton, „wenn wir miteinander gesprochen haben. Außerdem ist es der Innenminister, der mich schickt." 95
Der Innenminister war Vorgesetzter des SDECEChefs. Damit hatte er dieser Dame schon einen Trumpf aus der Hand genommen. Offenbar war sie mit der Art und Weise, wie er den 600er bewegte, zufrieden. Ebenso mit seinem Aussehen, das Offenheit vortäuschte und die List, die in ihm steckte, verbarg. Wie er sich kleidete, gefiel ihr scheinbar ebenfalls, denn sie war in der Lage, einen handgearbeiteten Schuh von einem aus der Fabrik zu unterscheiden. Außerdem war der Weg, den er beschritt um Kontakt aufzunehmen äußerst ungewöhnlich. Aber all das zeigte sie nicht. Im Gegenteil. „Ein Anruf des Ministers in meinem Sekretariat hätte genügt." „Wofür?" fragte Urban. „Um nächste Woche einen Termin zu kriegen? Dafür ist die Angelegenheit zu heiß, Madame." „Normalerweise würde ich Sie hinauswerfen", sagte sie, als sei das Gespräch mit diesem Mann schon zu weit gegangen. Urban wendete an der Kreuzung Rue de Clichy und fuhr nun den Boulevard Batignolles in Richtung Bois. „Und warum tun Sie es nicht?" fragte er. Sie antwortete nicht, sondern nahm eine Zigarette aus einem Platinetui und suchte nach dem elektrischen Anzünder. Da sie es nicht gewohnt war, vorne zu fahren, fand sie ihn jedoch nicht. Urban ließ sein Dunhill schnappen. 96
„Ich will Ihnen sagen, warum Sie nichts unternehmen werden, Madame", erklärte er. „Wegen der ungewöhnlichen Dinge, die sich in den letzten Tagen ereigneten." „Mein Leben ist stets sehr hektisch", tat sie es ab. „Ich meine in Schottland. Letztes Wochenende." Sie schlug die Beine hoch übereinander. - Möglicherweise war, angesichts ihres Ranges in der französischen Wirtschaft, der Nadelstreifenrock ein wenig zu kurz. Aber jede Frau mit solchen Beinen konnte sich das erlauben. Welches Parfüm sie benutzte, dahinter kam Urban im Moment nicht. Irgend etwas von Yves Saint Laurent, schätzte er. ,,Wer sind Sie?" wollte sie wissen. „Tut das etwas zur Sache?" „Oui, oder ich steige an der nächsten Ampel aus und nehme ein Taxi. Ich pflege nicht. . ." „Robert Urban", stellte er sich vor. „Ich gehöre einem NATO-Geheimdienst an." „Sie sind nicht in Paris geboren." „Die letzte Spur von Akzent ist schwerer zu beseitigen, als eine Sprache perfekt in Wort und Schrift zu erlernen." Er steckte sich ebenfalls eine Zigarette an, was einem Chauffeur nicht erlaubt gewesen wäre. Sie sah, daß seine Montechristo ein Goldmundstück hatte. „Wo kriegt man die noch?" fragte sie. „Nirgendwo, Madame." 97
„Ach, Sie drehen sie per Hand." „Ich lasse sie anfertigen, Madame, von ägyptischen Jungfrauen. Das Gold ist handgemalt." „Pardon", entschuldigte sie ihre Neugier. „Dies nur nebenbei." Der Grund dafür war wohl der, daß sie unter anderem auch die Aktienmehrheit an Zigarettenfabriken besaß. „Stichwort Schottland", kam er wieder zur Sache. Sie lächelte. Er nahm an, daß es von diesem Lächeln drei Varianten gab. Die überhebliche, die unverbindliche und die ganz private. Sie zeigte die arrogante Variante. „Darüber ist schon alles gesagt worden." „Bei der Polizei." „Genügt das nicht. Gibt es etwa noch Amtlicheres?" ,,Es war mir zu wenig, Madame." Sie starrte geradeaus und äußerte dann: „Ich habe es satt. Ich bin knapp mit dem Leben davongekommen. Ich sehe keinen Anlaß, Sie über Dinge zu informieren, die Sie nichts angehen. Beschaffen Sie sich Ihre Informationen gefälligst auf andere Weise, Monsieur." ,,Das wurde schon versucht, Madame." „Ich sage kein Wort mehr. Alles wurde schriftlich niedergelegt. Und jetzt fahren Sie rechts heran und halten Sie!" „Wir sind noch nicht da, Madame." Bis zu ihrem Stadtpalais waren es ungefähr noch 98
zwölfhundert Meter. Er hatte es ebenso vorausberechnet, wie er alles andere so arrangiert hatte, daß er annehmen durfte, es sei der kürzeste Weg zu dieser Frau. Plötzlich hatte sie eine Waffe in der Hand. Aus Sicherheitsgründen trug sie stets eine 6,35er Automatic in der Handtasche. Sie besaß einen Waffenschein dafür. „Los, anhalten und aussteigen - oder ich werde die Waffe benutzen!" „Ich traue es Ihnen zu", erwiderte Urban. „Zum Teufel, warum halten Sie dann nicht an?" rief sie ein wenig hysterisch. Er versuchte jetzt, ebenso arrogant zu lächeln wie sie. „Weil ich Ihnen noch mehr zutraue, Madame." „Ihr Geschwätz interessiert mich nicht." „Ich traue Ihnen zu, Madame", er sprach es todernst aus, „daß Sie bald sterben müssen." Der Druck des Laufes der Waffe in seiner Hüfte verringerte sich. Er hatte angehalten und den Motor abgestellt. „Fahren Sie weiter!" zischte Lorrene Deloire nach einer Weile. Sie machte eigenhändig die Drinks hinter der holzgeschnitzten Bar. Die Stühle sahen aus wie die der Chorherren in einem alten Kapuzinerkloster. Das ganze Palais wirkte mittelalterlich, ein wenig düster, aber ihr Lachen war so hell wie ein viersitzi99
ges offenes Cabriolet. „Ich möchte gerne noch eine Weile leben", sagte Lorrene Deloire. „Das dachte ich mir." Sie reichte ihm den Drink. Etwas mit viel Gin und wenig Martini. „Sie liegen selten daneben, Monsieur Urban?" „Extrem selten", antwortete er und trank. Irgend etwas hatte sie dazugemixt, etwas Exotisches. Nur wenige Tropfen. Aber meist kam es gerade auf das wenige an. Da sie ebenfalls einen tiefen Schluck von der honigfarbenen Flüssigkeit zu sich nahm, hoffte er, daß sie ihm keine Killertropfen hineingeträufelt hatte. Dann saßen sie da und redeten, und schließlich sagte er: „Nun haben Sie alles über Schottland noch einmal erzählt, Madame, alles, was in den Protokollen steht." „Mehr weiß ich nicht." „Aber es ist Ihrer Intelligenz nicht angemessen, Madame, sich wörtlich zu wiederholen." ,,Mehr weiß ich nicht", beteuerte sie noch einmal. „Sie wissen mehr, als Sie ahnen, Madame." „Das behauptet man nur so." ,,Einmal ist der Punkt erreicht, wo es auf die Wahrheit ankommt, Madame. Ich sage nur MestrePittsburg-Schottland." Er versuchte es immer wieder. Jeder Schritt vor100
wärts kostete Mühe. Mitunter kam er sich vor wie eine Mücke auf Fliegenleim. „Die Loire & Rhône-Compagnie steht in enger Verbindung mit Caledonia Inc., Madame." „Schon seit den Zeiten unserer Großväter." „Stiegen Sie deshalb in das Projekt ein?" „In welches Projekt?" „Lord Caledon bat Sie, nach Inverness zu kommen, um Ihnen den Stand der Dinge vorzuführen. Bei diesem Experiment kam er ums Leben." „Wir befassen uns stets mit einer Reihe gemeinsamer Projekte. Forschung ist heute nur noch im Firmenverbund möglich. Die Konkurrenz ist stark und hellwach. Wir stehen vor neuen Technologien. Bald ist die Zeit von Stahl und Metall zu Ende. Sie werden durch Kunststoff und Keramik ersetzt." „Es ging in Schottland nicht um neue Werkstoffe, Madame", unterbrach er sie. „Um was dann, bitte?" „Das möchte ich gerne aus berufenem Munde erfahren." Sie stand auf, schritt erregt hin und her. „Und wenn das alles streng geheim ist?" „Geheim, auf welche Weise?" fragte er. „Ein staatliches oder ein Firmengeheimnis? Um ein Staatsgeheimnis dürfte es sich wohl nicht handeln, denn weder die italienische noch die französische, weder die britische noch die US-Regierung sind eingeweiht." „Oder sie geben nur vor, nichts zu wissen", wandte 101
Madame ein. „Das würde bedeuten, sie verschleißen ihre Geheimdienste bei der Jagd nach einem Phantom. Non, Madame, wir gehen davon aus, daß es sich um Firmengeheimnisse handelt, die man knacken muß, falls das Endergebnis der Allgemeinheit schaden könnte." „Nur weil Terroristen uns zu stören versuchen, ziehen Sie derartige Schlüsse?" „Nicht allein deshalb", erwiderte er. Sie blieb vor ihm stehen. Ihr Körper war gespannt wie eine Feder. „Warum dann, bitte?" „Falls es sich", formulierte er jetzt offen, „um die Elektrobombe handelt, hat die Weltöffentlichkeit ein Recht mitzureden. Durch diese Entwicklung könnte sehr schnell der letzte Tag der Menschheit heraufdämmern." Sie suchte einen Fixpunkt im Raum, wohl um eine gewisse Hilflosigkeit zu überspielen. Sie fand den Punkt in einem Degas-Gemälde, das eine nackte Frau auf einem Diwan zeigte. „Elektrobombe", wiederholte sie. „Nie davon gehört." „Vielleicht wollen Sie es nur nicht. Oder fehlt Ihnen der technische Durchblick?" „Ich bin Physikerin, Monsieur." „Um so gravierender", sagte Urban, „wenn Sie etwas wissen und es leugnen." Sie mixte noch einen Drink und leerte ihn in einem 102
Zug. Es schien, als habe sie ihn nötig gehabt. Wenige Augenblicke später hatte sie sich wieder gefangen. ,,Au revoir, Monsieur Urban", sagte sie plötzlich und streckt ihm ihre Rechte entgegen. Er nahm ihre Hand. Sie fühlte sich heiß und klebrig an, wie ein Gummibärchen. Das bewies ihm, daß er dabei war, sie in die Enge zu treiben und daß nicht viel fehlte, und er hatte sie dort. „Ich gehe, Madame", sagte er, „weil Sie es wünschen. Aber ich komme wieder. Vielleicht in einer Stunde, in der Sie alles andere mehr wünschen, als mich zu sehen." Er verließ das pompöse Stadtpalais, über dessen säulengestütztem Eingang in Marmor gemeißelt und vergoldet stand: Erbaut von Jean Deloire MDCCCXXXVI. - Hundertfünfzig Jahre existierte er also schon, der Granitsteinkasten. Der Springbrunnen war noch nicht in Betrieb. Die Rosen setzten Knospen an und der Jasmin brach auf. Der feine Kies knirschte unter Urbans Schuhen. Etwa zwanzig Meter hatte er noch zu dem schmiedeeisernen Tor im Eisenzaun mit den vergoldeten Spitzen, als er Schritte hinter sich vernahm. Es war der Diener. Er atmete schwer. „Madame läßt noch einmal bitten, M'sieur." Zögernd folgte Urban dem Mann. Sein Angriff war also wirkungsvoll gewesen. Lieber hätte er einen neuen Angriff gegen diese Frau gefahren und sie mit Breitseiten eingedeckt. 103
Aber möglicherweise hätte Madame es vorgezogen, mit unbekannter Adresse zu verreisen. Und wer fand schon eine Frau wie sie, die überall in der Welt Büros und Besitz hatte. Gewiß war es besser so. Außerdem interessierte ihn, was sie noch auf dem Herzen hatte. Sie war nicht mehr im Salon. Die Gläser standen noch da, und auch der Duft ihres schweren Parfüms hing noch im Raum. Das Telefon, ein Antikmodell aus weißem Achat, die Metallteile vergoldet, summte. Der Diener hob ab. „Für Sie Monsieur." Urban meldete sich. Die Stimme von Lorrene Deloire klang dunkel und verheißungsvoll. „Formulieren Sie Ihre Fragen, Monsieur", bat sie ihn. Das war schnell getan. „Geht es um die Elektrobombe, und wann finden die ersten Tests statt und wo?" Sie antwortete nicht. Er wartete. „Sind Sie noch da, Madame?" Abermals keine Antwort. „Soll ich wiederholen?" Endlich vernahm er ihren Atem. „Kommen Sie herauf, Monsieur." Er hängte ein und blickte den Diener an. „Nach oben!" Der alte Butler geleitete ihn bis zu der Treppe, die von der Halle zur Galerie führte und breit genug war, 104
um eine Militärkapelle aufmarschieren zu lassen. Die Stufen bestanden aus weißem Marmor, der Teppich war ein königsblauer Velour mit gelben Mäanderstreifen an den Seiten, von vergoldeten Stäben in vergoldeten Ösen gehalten. Auf Höhe des Kronleuchters angekommen, erkannte Urban erst, was für ein ungeheures Ding dieser Lüster war. Mindestens achtundvierzigarmig. Das alles erinnerte ihn an die Kruppvilla. Vermutlich konnten Bosse, die mit Erz und Kohle umgingen, gar nicht anders bauen als monumental. Daß die Villa in der oberen Etage modernen Bedürfnissen angepaßt worden war, darüber bestand kein Zweifel. Die Türen bestanden nicht mehr aus dunkler Eiche, sondern waren , elfenbeinschleiflakkiert, mit Schnitzereien versehen und vergoldet. Eine der Türen stand offen. Sie führte in einen Raum mit rosa Tapeten, zarten wolkenartigen Vorhängen, einer Menger Spiegel, zierlichen hellblauen Polstermöbeln und einem gigantischen Bett. - Drei mal vier Meter, mit Baldachin und Bergen von Seidenkissen, - So was gab es heutzutage nicht einmal mehr in Hollywood. Aber Madame glänzte mit Abwesenheit. Urban schaute sich um. Der Raum hinter der halbrunden Glastür war ebenfalls völlig verspiegelt. Möglicherweise das Badezimmer der Stahlkönigin. Obwohl nicht ein Windhauch ging, bewegte sich einer der Glasflügel ein wenig. Urban sah einen Schatten, dann ihren Rücken im Spiegel. - Der 105
Rücken war nackt. Sie war überhaupt nackt, wenn auch unter einem spinnwebendünnen Hauch von Negligé. Sie massierte irgend etwas auf ihr Gesicht. „Monsieur Urban", rief sie. „Sie wollten meine Fragen beantworten, Madame." „Sehen Sie den Champagner im Kühler?" „Sie meinen den Ponsardin?" „Würden Sie die Flasche bitte öffnen?" Er lockerte den Drahtverschluß, nahm die Serviette, stülpte sie über den Korken und begann, ihn ein wenig zu drehen, bis er herauskam. Dann goß er ein. Zwei Gläser voll. „Monsieur Urban", rief sie, „ist der Wein in Ordnung?" Er versuchte einen Schluck. „Ich denke schon, Madame." „Ist es zuviel verlangt . . . Ich möchte Sie nicht zum Domestiken degradieren, aber würden Sie mir wohl ein Glas . . ." „Warum nicht." Weit brauchte er damit nicht zu gehen. Madame stand in der offenen Badezimmertür. Was sie anhatte, senkte die Schamgrenze eher noch, als daß es sie anhob. Das Gewebe schien keine Struktur zu besitzen. Von ihren Brüsten sah man jede Pore, jede winzige Linie der Spitzen und vom ausrasierten Schamhaar einen blonden Schimmer. Er war überrascht. Im engen Kleid wirkte sie überschlank bis mager. Tatsächlich waren ihre For106
men jedoch nicht knochig, eher wohlgerundet - und was für fleischig muskulöse Schenkel sie hatte. Sie nahm das Glas. Ihr Zeigefinger berührte den seinen. Er wirkte kühl im Vergleich zu vorhin. Trotzdem hatte er sich nicht geirrt. Sie hatte ihn weggeschickt, weil er sie verwirrt hatte. Daß sie sich gefielen, kam noch hinzu. Das hätte ein Blinder bemerkt. Kaum daß er gegangen war, hatte sie alles ganz sachlich durchkalkuliert. Sie hatte etwas, das er haben wollte. Warum sollte sie es nicht teuer verkaufen? - Gegen welchen Preis? Frauen wie sie litten erstaunlicherweise oft an einem starken Erotik-Minus. Sie trank und blickte ihm dabei in die Augen. „Das Produkt also", sagte sie und setzte bei jedem Wort neu an, „die Testzeit und den Testort." „So lauten meine Fragen." „Meine Antwort wird nicht billig sein, Monsieur." Ihre Lippen waren feucht vom Champagner. „Das ist mir klar." „Musik?" fragte sie. Er winkte ab. „Die mag ich nicht mal im Kino, wenn es spannend wird." „Wird es denn spannend?" Sie schwebte durch den Raum und goß sich Champagner nach. Er beobachtete sie und ließ sich von ihrer Ausstrahlung faszinieren. „Was war es doch gleich, was Sie am meisten 107
quält?" wollte sie wissen. „Welchen Intimspray Sie verwenden, Gnädigste." „Warum fragen Sie so etwas, Robert?" „Dachte, das wäre eine gute Fährte zum Ziel." Er trank und lächelte. „Welchen Intimspray, Madame", wiederholte er, „würden Sie benutzen, wenn morgen die Elektrobombe explodierte und die Welt unterginge?" Sie setzte das Glas ab und kam sehr nahe zu ihm hin. Ihre Brüste berührten seine Brust, ihr flacher Bauch seinen Unterkörper, sie schlang die Arme um seinen Hals. „Dich!" Sie küßte ihn und ließ das Gewand fallen. Als er sie nahm, zuckte sie zusammen. Ihr Stöhnen war nicht nur Lust, sondern auch angenehmer Schmerz. Es war wie ein scharfer Ritt über ausgetrocknetes Land. Die Dürre mußte Madames Provinzen so heimgesucht haben, daß sie nach jedem Tropfen Zärtlichkeit gierte. Seine Haut auf der ihren war wie Regen, und jeder neue Schauer ließ sie vor Lust erbeben. Wenn es die Sintflut gewesen wäre, sie wäre mit Genuß darin ertrunken. Zwischendurch nahm sie einen Schluck Champagner. „Im ersten Augenblick tat es weh", gestand sie. „Der Motor stand wohl zu lange unbenutzt." „Aber jetzt schnurrt er wieder." „Auf höchsten Touren." 108
Sie warf das Glas weg und wälzte sich auf ihn. „Überdreh den Motor nicht gleich", riet er ihr. „Es ist eine Rennmaschine. Sie hält was aus." Sie kam rasch auf höchste Drehzahl und hielt sie erstaunlich lange durch. Dann, nach kurzem Stop, starteten sie zum dritten Rennen. Erst danach legte sie eine kleine Pause ein. „Wieviel Uhr, Chérie?" „Gleich neun. - Einundzwanzig Uhr", verbesserte er sich. „Jetzt findet der Empfang am Quai d'Orsay statt, mit einflußreichen Staatsgästen aus unseren wichtigsten Exportländern. Eigentlich schwänze ich die Schule." „Die sitzen noch um Mitternacht beisammen", meinte Urban. „Aber wie fürchterlich heruntergekommen und verlebt werde ich bis dahin aussehen, wenn wir es so weitertreiben." „Es wird so weitergehen." „Das hoffe ich", flüsterte sie. „Deshalb hätte ich auch jede Einladung zu einer Krönung in London oder wer-weiß-wo sausen lassen." Sie richtete sich auf. „Du gefällst mir, Robert." „Ich merke es." „Und wie gefalle ich dir?" „Ebenso." „Ich möchte es genauer", bat sie. „Werde ich es irgendwann erfahren? Es muß ja nicht sofort sein. Früher hatte der Einklang der Seelen Vorrang, heute 109
die Harmonie der Körper." „Es trägt zur Gesundheit bei, und Gesundheit ist das höchste Gut." „Stell dir vor, ich begehre einen Mann wie keinen anderen auf der Welt, und im Bett merke ich, er ist ein Schlappi." „Echt tragisch. Ein Gefühl wie von hundert auf null Bock." „Allerdings passen sich Seelen schneller an." „Ja", schränkte er ein. „Sie belügen sich auch leichter." Als habe sie sich zu tief in ihr Innenleben blicken lassen, wechselte sie das Thema. „Was verdienst du, Robert?" Er saß im Bett, den Rücken am gepolsterten Wandteil. Ihre Finger spielten auf seiner nackten Brust. „Genug." „Ich biete dir die Position eines Direktors. Jahresgehalt zwei Millionen Francs." Ein gutes Angebot. Als Bundeskanzler mußte man mächtig strampeln, um auf ein Drittel davon im Jahr zu kommen. Er seufzte, um seiner Ablehnung Gewicht zu geben. „Ich habe Verträge." „Die kann man lösen. Ich kaufe dich heraus." „Ein Job muß auch befriedigen, Madame." „Kannst du dir eine schönere Befriedigung vorstellen als mit mir?" „Im Augenblick nicht", gestand er. „Einen wie dich habe ich all die Jahre gesucht." 110
„Eh bien. Darüber reden wir ein anderes Mal." Lorrene hob den Kopf. Ihr messingblondes Haar streifte ihn sanft. „Und über was möchtest du jetzt reden?" „Ich habe schwere Sorgen", äußerte er. Sie verstand. „Du meinst, das im Bett war nur die halbe Miete." Er trank und steckte sich eine MC an. In Frankreich rauchte jeder im Bett, nur in Deutschland hatten sie Angst, im Bett zu verbrennen. „Die drei Fragen", erinnerte er. „Frage eins, ja", antwortete sie spontan. „Ihr baut also die Elektrobombe." „Frag schnell weiter, ehe das Zaubernetz zerreißt." „Wann ist der Test?" „Bald." „Wo findet er statt?" „Das weiß ich nicht" „Noch nicht oder überhaupt nicht?" bohrte er. „Es muß dir genügen, wenn ich sage, daß ich es nicht weiß." Er zögerte und überlegte, wie weit er bei ihr gehen konnte. Wie es aussah, ziemlich weit. „Was würdest du sagen, wenn ich behaupte, daß ich dir nicht glaube?" Sie reagierte, indem sie ein wenig heftiger atmete. „Die Loire & Rhône", fuhr er fort, „hängt mit einigen hundert Millionen Francs in dem Projekt. Man wird doch zumindest den Vorstandsvorsitzenden von L&R informieren." 111
Offenbar war damit die Linie überschritten. Sie löste sich von ihm und bekam ihren Sklavenhalterblick. „Man informiert mich nicht", erklärte sie. „Und wenn man es täte, würde ich es an jeden weitergeben, aber nicht an dich. Du gingst mit mir nur ins Bett, um mich auszuhorchen." „Und warum gingst du mit mir ins Bett?" fragte er. „Allein wegen der Lust?" „Nur deswegen." Sie stand auf und eilte wütend ins Badezimmer. Er hörte das Bidet rauschen, dann die Dusche prasseln. Er stand ebenfalls auf und zog sich an. Als er ins Badezimmer kam, stand Lorrene am Spiegel und frischte ihr Make-up auf. „Was hast du vor?" „Ich fahre zum Quai d'Orsay. Der müdeste Penner dort ist wichtiger, als du mir je sein wirst." „Dann viel Spaß", wünschte er. Sie zog ihre Lippenränder mit Konturenstift nach. „Würdest du jetzt bitte mein Haus verlassen", zischte sie. Aber da war er schon gar nicht mehr da. 9. Zwischen Grönland und dem Nordkap herrschte seit Wochen eine beständige Hochdruckwetterlage. Sie reichte hinauf bis achtzig Grad und bis in die 112
Barentssee hinein. Die Menschen auf Spitzbergen konnten sich kaum erinnern, je einen wärmeren Mai erlebt zu haben. Gegen Mittag kletterte das Thermometer bis auf fünf Grad plus. Der Schnee taute schneller weg, die Primeln blühten schon, und die Lachse kamen früher als gewöhnlich. Im Tower des Flugplatzes der Bergbaustadt Longyearbyen wollten die norwegischen Lotsen gerade Schluß machen, als noch ein Funkspruch durchkam. „Eine C-5B im Anflug", meldete der Mann von der Radiostation. „Woher?" „Aus Island." „Wann landet sie?" „In fünfzig Minuten." „Dann ist hier Nacht, und auf der Piste liegt Nebelglätte." Sie schickten den Tankwagen los, der ein Taumittel über die Landebahn sprühte. Sie wollten nicht, daß das Flugzeug drüben auf der anderen Seite der Insel bei den Russen landete. Der junge Fluglotse - er kam frisch von der Schule in Oslo - wandte sich an den Mann, der hier seit zwanzig Jahren seinen Dienst versah. „Was kostet die Eisbeseitigung?" „Dreihundert Dollar." „Und wer trägt die Kosten?" „Zur normalen Flugzeit, wenn der Platz offen ist, übernimmt das der Flughafenbetreiber. Ab neunzehn 113
Uhr nordeuropäischer Zeit ist der Platz geschlossen. Wer da noch hereinkommt, ist kostenpflichtig." „Und wenn er sich das nicht leisten kann?" „Wer eine C-5B besitzt", antwortete der alte Lotse, „hat auch die paar Groschen für die Enteisung übrig." „Den Typ C-5B hatten wir im Kurs nicht. Ist das eine neue Maschine?" Der erfahrene Fluglotse wunderte sich ein wenig. Da kamen diese Burschen mit Abschlußdiplom und wußten vom größten Flugzeug der Welt nichts. „Du kennst die Galaxy?" „Den schweren strategischen Transporter der USA? Wer kennt den nicht." „Und die C-5B ist die verbesserte Version." „Dachte, der Bau der alten Galaxy ist eingestellt worden." „Ja, nach achtzig Maschinen, weil Lockheed Aircraft mit den Flügelproblemen nicht klarkam. Jetzt haben sie die Struktur verbessert und die Serie wieder aufgenommen." „Demnach ist es ein militärischer Transporter." „Nein, ein ziviler." Der junge Lotse blätterte in einem zerschlissenen Handbuch. „Gegen die Galaxy ist ein Jumbojet doch eher..." „Eher was?" „Nicht gerade ein Winzling, aber das Ding wiegt vierhundert Tonnen und kostet Hunderte von Millionen Dollar." 114
Der alte Lotse grinste jetzt verstohlen. „Das wollte ich damit ausdrücken, daß es dem Eigner der Maschine wohl auf die Enteisungsgebühr nicht ankommt. Glaub mir, mein Junge, irgendeine lahme alte Kiste, die hätte ich rüber zu den Russen geschickt. Sie freuen sich über jede Start- und Landegebühr, die in Westwährung entrichtet wird." Sie schalteten die Landebahnbefeuerung ein. Der Sprühwagen beendete seine Tour. Bald vernahmen sie die erste Durchsage des Galaxy-Piloten über Sprechfunk: „Hier A-H Foxtrott sero seven der PennsylvaniaAirline. Bitten um genaue Position." Er bekam Höhe, Distanz und Gradzahl genannt. „Wir holen Sie mit ILS herein", sagte Spitzbergen. „Roger!" bestätigte der Pilot. „Verstanden!" Der vierdüsige Riesenvogel mit einer Spannweite von nahezu siebzig Metern, der Länge von fünfundsiebzig Metern und der Leitwerkhöhe eines sechsstöckigen Hauses war polarweiß lackiert. Im Gegensatz zu anderen Flugzeugen auf der Nordroute, die eine grelle Bemalung bevorzugten, damit man sie im Falle einer Notlandung leichter fand, hatte diese Maschine fast Tarnanstrich. Auf Schnee, Eis oder einem Gletscher würde sie nicht zu erkennen sein. Die Galaxy verhielt sich auch anders als neunundneunzig von hundert in Spitzbergen landenden Flugzeugen. Der Pilot bat um einen Stellplatz, soweit wie 115
möglich abseits von Hangar und Abfertigung. „Wie lange bleiben Sie hier?" fragte der Lotse. „Zwei bis drei Tage." „Dann brauchen Sie Ver- und Entsorgung." „Nur Kerosin", hieß es, ,,Frischwasser und den Schmutzwasserwagen." Wunschgemäß wurde der Galaxy eine Position am nördlichen Ende des Airport zugewiesen. Der Lotse schickte einen Jeep hinaus, der das Flugzeug an der Runaway einwies. Die ganze Kommunikation wurde über Funk abgewickelt. „Wünschen Sie die Reservierung von Hotelbetten?" fragte die Flughafenverwaltung. „Danke, da sind wir Selbstversorger." „Oder Telefonanschluß?" „Wir verfügen über Radiotelefon und Funkfernschreiber. Danke, Gentlemen." Spätabends kam einer der Galaxy-Piloten mit einem Schneemobil herübergefahren und übergab den Blankoscheck für die anfallenden Kosten. Der Scheck war von einer großen amerikanischen Bank, der Manhattan Central, bestätigt. Der Pilot wurde zu einem Drink im Casino eingeladen, lehnte aber ab. „Nicht mal einen Bourbon, Captain?" „Danke, ich bin Antialkoholiker." „Dürfen wir Ihnen und Ihrer Crew frischen Lachs anbieten?" „Danke, wir führen Verpflegung in ausreichender 116
Menge mit uns." Den Leuten in Spitzbergen war daran gelegen, zu erfahren, wie viele Personen sich an Bord befanden. Aber nicht einmal das war herauszufinden. „Warum geht es erst übermorgen weiter?" erkundigten sie sich beiläufig. „Wir erwarten noch eine Spezialsendung." „Und wohin geht es dann?" Die Antwort kam zu schnell, um wahr zu sein. „Wir umrunden den arktischen Bereich auf fünfundachtzig Grad Breite, zur Durchführung von Schwerkraftmessungen.'' „Dann kommen Sie also nach zehn Stunden wieder zurück?" „Nein, wir fliegen Fairbanks in Alaska an." Einer fragte: „Ihre Maschine ist eine aus der neuaufgelegten Serie. Dachte, damit wird vordringlich die US-Airforce bedient." „Wir gehören nicht zur amerikanischen Luftwaffe", versicherte der Pilot. „Zu einer Privatfirma also." „Zum Percy-Costermoore-Laboratorium für Strahlenforschung." „Percy-Costermoore", murmelte einer. „Nie gehört." „Hoffentlich", bemerkte der Pilot spöttisch, „raubt Ihnen das nicht den Schlaf, Gentlemen." Mehr war nicht aus ihm herauszuholen. Er hatte nichts gesagt, was die Spitzbergen-Leute erfahren 117
wollten, sondern nur das, was er preiszugeben bereit war. Er verließ das Flughafenbüro, stapfte durch den knirschenden Schnee und startete wieder das Schneemobil, um hinaus zu seinem Flugzeug zu schlittern. Die Temperatur sank bis auf minus vierundzwanzig Grad in dieser mondhellen Nacht. Zwei Pelztierjägern, die auf der sowjetischen Bergbaustation im Nordosten der Insel lebten, war die Nacht nicht zu kalt. Da sie getarnte KGB-Agenten waren und von ihrer Radarstation erfahren hatten, daß sich ein Großflugzeug Spitzbergen genähert hatte, machten sie sich auf den Weg. Ein Hubschrauber brachte sie erst über die Fjorde, über das Bergland und den Gletscher, Die Tundra war noch schneebedeckt. Also holten sie die Motorschlitten aus dem Helikopter. Bei Mondlicht erreichten sie gegen 1.00 Uhr einen Punkt östlich des Flugplatzes von Longyearbyen. Mit ihren Nachtsichtgeräten erkannten sie die Umrisse des Transportflugzeugs. „Sie haben noch die Kabinenlichter brennen." „Aber die Blenden sind heruntergezogen", bedauerte der andere Agent, der einen dicken Pelzanorak trug. „Die ovale Spur rund um die Maschine, woher stammt sie wohl?" „Fußabdrücke des Wächters." 118
„Sie haben also Posten aufgestellt. Warum?" „Warum steht die Galaxy nicht eine Meile weiter im Süden bei den Hangars?" „Kein Flugzeug hier im Norden trägt die Farbe von Eisbären. Nicht mal unsere." „Und warum bringen sie Fracht per Jet, jetzt, wo die Häfen offen sind?" „Kannst du das Kennzeichen lesen?' „Nein." „Warten wir die Dämmerung ab. Im Fernglas ist es vielleicht möglich. Der Hubschrauber wartet. Wir müssen noch bei Dunkelheit über die Meerenge und zurück." Der zweite Pelztierjäger sprach seine Beobachtungen in ein kleines Tonbandgerät, das wegen der Kälte aber bald den Dienst einstellte. „Ob das eine Militärmaschine ist?" „Das sollen sie in Moskau analysieren." „AWAC-Radar führen sie nicht." „Diese Amerikaner denken sich doch immerzu neue Schweinereien aus." Sie blieben so lange liegen, bis sie beinahe festfroren. Sie glaubten, nichts übersehen zu haben, machten aber noch Aufnahmen mit sehr empfindlichem Filmmaterial. Als sie drei Stunden später den Hubschrauber erreichten, hatte dieser Startschwierigkeiten. Der Motor war bis auf fünfundzwanzig Grad abgekühlt. - Schließlich sprang er doch noch an. Während des Rückfluges machte sich einer der Pelztierjäger, Major Bronsky, Notizen 119
für den Funkspruch nach Moskau. In der alten KGB-Zentrale in der Moskauer Dzerzhinskystraße am Roten Platz hatten die versammelten Funktionäre jenes Stadium, wo man sich nur Gedanken machte, beendet. Die Informationen aus dem Westeuropa-Netz und die letzten aus Spitzbergen machten Gegenmaßnahmen erforderlich. Im inneren Führungszirkel - er trat nach stalinscher Gepflogenheit noch immer in den Stunden nach Mitternacht zusammen - drängte der KGB-Chef auf einen Beschluß. „Genossen", wiederholte er eindringlich. „Unsere Quellen in Washington, London, Rom, Madrid und Bonn kamen zu einer überraschenden Übereinstimmung. Angeblich sollen die Ereignisse in Oberitalien, ich meine bei Montecatini in Mestre, im Westen der USA, ich meine Pittsburg in Pennsylvania, und in Schottland, ich meine Inverness, auf die Tätigkeit unserer Sabotageeinheit zurückzuführen sein. Die Operation wurde via Moskau-Helsinki der CIA unter dem Code Falkenflug angekündigt. Wir alle hier wissen...", der General nahm einen Schluck Tee. „Wir alle wissen, daß es diese Operation Falkenflug nicht gibt." Kaum einer reagierte. Vielleicht waren die Anwesenden auch übermüdet. Die meisten von ihnen waren aus einer ZK-Sitzung herbeigeeilt, denn der General hatte die Sache dringend gemacht und ihr die Stufe Staatswichtig gegeben. 120
„Um was geht es denn, Genosse?" fragte einer. „Angeblich um eine neue Waffenentwicklung." „Welcher Art? Atomar?" Der zuständige Experte winkte ab. „Atomar ist alles ausgereizt. Bis auf die Kernfusion, möchte ich einschränken. Aber die Fusion ist waffentechnisch wohl erst in hundert Jahren realisierbar. Nein, es geht um etwas, das gerüchteweise als Elektrobombe bezeichnet wird." „Und wie funktioniert das?" „Angeblich sollten das unsere Falken ermitteln." Der Frager musterte erstaunt die Runde. „Wenn es aber die Falken nicht gibt, wie man mir hier glaubhaft zu machen versucht, was dann? - Oder gibt es sie vielleicht doch? Ist es eine supergeheime Operation, von der nur drei, vier Leute in der Regierung und im Politbüro wissen?" Der KGB-Chef äußerte sich nicht näher dazu. Sei es aus Angst, man könnte ihm Versagen vorwerfen, oder weil er etwas zu verschweigen hatte. Aber sie trieben ihn in die Enge. „Man muß neue Maßnahmen ergreifen", wand er sich heraus. „Soll das heißen, daß die alten Maßnahmen für die Katz waren?" „Sie genügten nicht." „Und was halten Sie für ausreichend, General?" „Drei Agenten stehen bereit." „Um was zu tun?" „Licht in das Dunkel zu bringen, Genossen." 121
„In welches Dunkel, General?" „Mestre - Pittsburg - Inverness", faßte es der Adjutant des KGB-Chefs zusammen. Einer der einflußreichsten Männer aus dem Politbüro warf seinen Bleistift wütend auf die Filzdecke des Konferenztisches. „Zum Teufel - falls es ihn gibt - warum erst so spät?" „Wir wußten nicht, was sich daraus entwickeln würde." „Dann wird es Zeit, endlich aufzuholen." „Die bereitstehenden Agenten sind unsere besten Sprinter." Es ging lange hin und her. Manchmal fielen auch böse Worte. „Wann starten die drei?" „Morgen früh." „Wie stehen ihre Chancen, diese Panne auszubügeln?" „Sechzig Prozent." Der Maßnahmenkatalog des Generals wurde gegen 2.00 Uhr mehrheitlich angenommen. Es gab noch Kaviartoast und Wodka, aber kaum einer griff zu. Bevor sich die Runde auflöste, wandte sich der stellvertretende Verteidigungsminister an den KGBChef. „Die Amerikaner haben zwei Codes. Adlerflug und Falkenflug. Adlerflug bedeutet einen Angriffskrieg." „Und Falkenflug die Vorbereitung eines solchen." „Dann müssen wir verdammt scharf aufpassen." 122
„Ja, es darf uns nichts entgleiten." „Und womit garantieren Sie das, General?" fragte der Vizeminister. Der KGB-Chef strich sich über die Glatze. Dabei lächelte er müde. „Mit meinem Kopf, würde ich sagen", antwortete er. „Aber was bedeutet schon der Kopf eines sechzig Jahre alten Mannes? Da er nur noch künstliche Zähne aufweist, taugt mein Schädel nicht einmal mehr für die Medizinische Fakultät." „Sehen Sie zu, Genosse General", riet der Mann aus dem Politbüro, „daß er fest auf Ihrem Halse bleibt." Nichts wäre dem KGB-Chef wichtiger gewesen, als das. 10. Gemäß der Londoner Absprache hatte der BNDAgent Robert Urban die Verbündeten unterrichtet. In England, Spanien und Italien nahm man seine Informationen zur Kenntnis. Der Kommentar von Oberst Vanderwell klang eher bösartig. „Die Reise nach Paris hättest du dir sparen können, Dynamit." „Sie war insofern wichtig", entgegnete Urban, „als ich jetzt sicher bin, daß diese Frau mehr weiß, als sie zugibt." „Du hast sie unter Druck gesetzt." „Mitunter ist Angst größer als Drohungen." 123
„Erlaubst du", fragte Vanderwell, „daß auch wir einen Versuch starten?" „Sie gehört euch", erwiderte Urban. „Aber setzt nicht gerade einen Donald Duck auf sie an." „Du meinst, ein deutscher Geheimagent genügte ihr bereits." „Vanderwell", warnte Urban. „Unterschätz diese Frau nicht." „Auch bei ihr ist fünf mal fünf fünfundzwanzig." „Irrtum", entgegnete Urban. „Nach neuesten Erkenntnissen ist fünf mal fünf siebenundzwanzig, besonders in unserem Job." „Oder null." Der Amerikaner versprach, sich wieder bei Urban zu melden, und zwar mit besseren Fakten, als er sie angeblich bekommen hätte. Ein Tag verging. Urban hörte nichts. Dann dieser merkwürdige Anruf. Es war bereits nach 24.00 Uhr, als in seinem Schwabinger Penthouse das Telefon schrillte. Das Läuten klang so nach Ferngespräch, daß Urban neugierig abhob. Noch bevor er sich meldete, vernahm er eine ihm fremde, heisere Stimme. „Mister Dynamit?" „Sie wünschen?" Indem er seine Frage wiederholte, vergewisserte der Anrufer sich, ob die Verbindung in Ordnung war. „Mister Dynamit?" Er sprach leicht rückwärts, wie ein Pole, der seit vielen Jahren in Deutschland lebte. 124
„Was kann ich für Sie tun?" Der Anrufer schwieg. Urban legte auf. - Minuten später erneut das scharfe Telefonklingeln. „Mister Dynamit!" Urban war nahe daran, unhöflich zu werden. Immerhin ging es auf 1.00 Uhr. „Sagen Sie, was Sie wünschen, oder ich lege auf und hebe nicht wieder ab." „Madame... Madame Deloire, ist in großer Gefahr." Der Unbekannte sprach nicht nur wie ein Pole, der seit vierzig Jahren in Deutschland lebte, sondern wie ein Pole, der zudem noch in Friesland lebte. „Äußern Sie sich näher", bat Urban. Nun war es der andere, der aufgelegt hatte. Urban massierte sein Kinn. Daß Lorrene in der Schußlinie stand, war nichts Neues. Alle, die in das Projekt Elektrobombe investiert hatten, sei es mit Forschung oder Finanzierung, wurden von den Ostfalken aufs Korn genommen. Daß man Lorrene nicht ausklammerte, stand für Urban fest. Aber wer, außer den am E-BombenProjekt Beteiligten und den Kollegen bei den Geheimdiensten, konnte davon wissen? - Daß einer der Falken bei ihm anrief, durfte man hundertprozentig ausschließen. Es mußte also noch eine Person geben, die mehr oder weniger im Bilde war. - Vielleicht wußte sie sogar mehr als sie alle. Urban überlegte, wie vorzugehen sei. 125
Lorrene Deloire lag jetzt irgendwo in ihrem Bett und schlief. Er glaubte sie dort relativ sicher. Die östlichen Superagenten drangen nicht in Villen ein und töteten Gegner im Schlaf. Wenn Lorrene gefährdet war, noch stärker als bisher, dann erst ab morgen früh. - Demnach hatte er noch Zeit, sie zu warnen. Urban wählte die Nummer des BND-Hauptquartiers und verlangte, daß sie für ihn Pauli Vogt auftrieben ganz egal wo. Vogt war Ingenieur und ihr derzeit bester Mann auf dem Gebiet der modernen Kommunikationstechniken. Es dauerte ungefähr zwanzig Minuten, dann meldete sich seine verschlafene Stimme. Mit wenigen Worten machte Urban ihm klar, um was es ging. „Ich hatte soeben einen Anruf, sagte er, „und muß wissen, woher er kam." Der Fachmann Vogt gähnte noch einige Male herum, was Urban nicht ausstehen konnte, begriff dann aber ziemlich schnell. „Selbstwählgespräche, woher sie auch kommen, sind kaum rückverfolgbar." „Kaum ist mehr als überhaupt nicht", machte Urban ihm Beine. „Versuch's! Es klang wie handvermittelt." „In Europa gibt es nur noch drei Dörfer mit Handvermittlung." „Dann wirst du jetzt gemeinsam mit der Bundespost diese drei Dörfer überprüfen, Junge." 126
„Aber keine Handvermittlung nach zweiundzwanzig Uhr. Wann kam der Anruf?" „Soeben." „Was heißt soeben?" „Vor einer halben Stunde." „Das ist nicht soeben." „Wenn ich zwanzig Minuten dazu brauche, um dich zu erwischen, dann schon." Vogt notierte Urbans Nummer und die Zeit des Anrufs. Er wollte sofort etwas veranlassen und dann in die Stadt fahren, war also für Urban nicht mehr erreichbar. Aber er würde sich melden, wenn die Nachforschungen technisch möglich seien. Urban machte sich Kaffee, rauchte eine Zigarette und legte eine Disc auf. Flamencomusik, spanisch, aber von einem erstklassigen amerikanischen Swingexperten neu arrangiert. Er saß da, dachte über den Fall nach, schaute immer wieder auf die Uhr, rauchte, trank einen Bourbon. Dabei stellte er sich die Frage, ob man vielleicht lieber auf Scotch umsteigen sollte. Nicht einmal die Kanadier gaben sich noch Mühe mit ihren Whiskeys. Das Telefon ging. Er hatte es mit an die Couch genommen. „Zum Glück", berichtete Vogt, „wird um diese Zeit nicht mehr allzu heiß telefoniert, und die Post stellt nur langsam auf das Digitalverfahren um. Die alten Drehwählschalter bleiben in der letzten Position stehen, ehe ein neuer Durchruf erfolgt." 127
„Leider habe ich in Pullach angerufen." „Und dann rief ich dich an", sagte Vogt. „Macht nichts. Im Unteramt Schwabing konnten sie noch eine Leitung zurückverfolgen. Einige Drehwähler standen auf der Nummernfolge bis zur vorletzten Ziffer deines Anschlusses. - Angesichts der späten Stunde gehen sie davon aus, daß es sich um das ominöse Ferngespräch handelt. Die Leitung ist zum Hauptamt leicht und von dort aus etwas mühsamer weiterzuverfolgen. Der Anruf dürfte aus Norddeutschland gekommen sein. Mindestens aber aus dem Westen der Bundesrepublik." „Nicht schlecht", staunte Urban. „Wie ich eben höre, tippen sie auf Aachen." „Der Anrufer könnte Ausländer sein." ,,Über Aachen läuft eine der Hauptlinien von Belgien herein." „Ist das unsere Chance?" Urban bat, man möge ihm das erklären. „In Belgien, oben in Flandern, gibt es noch Dörfer mit Handvermittlung. Die Postämter dort notieren stets den Namen des Anrufers, den gewünschten Teilnehmer, die Zeit des Gesprächs und die angefallenen Einheiten." „Dachte, Handvermittlung geht nur bis zweiundzwanzig Uhr." „Größere Ämter unterhalten Nachtdienste." „Versucht es weiter", bat Urban. „Eine Menge hängt davon ab." Bis zum frühen Morgen hörte er von Pauli Vogt 128
nichts mehr. Ab 6.00 Uhr wurde Urban selbst aktiv. Er rief in Paris bei Madame Deloire an. Der Butler bedauerte. Madame sei am Vorabend nach Genf gereist. Ja, mit dem Firmenjet. Nein, das Hotel, wo sie wohnte, sei ihm nicht bekannt, das pflege das Sekretariat zu organisieren. Dort sei aber erst ab neun Uhr jemand erreichbar. Also telefonierte Urban mit Genf-Cointrin, und dort mit der Flughafenpolizei. Wenn die Schweizer das Wort Sabotage nur hörten, reagierten sie äußerst heftig. Inmitten eines von Terror heimgesuchten Europa, sollte die Schweiz noch immer als Hort der Sicherheit gelten. Schon wegen der gigantischen Geldgeschäfte, die dort abgewickelt wurden. Das galt speziell für Zürich und Genf, wo stets starker Verkehr mit Geschäftsreiseflugzeugen herrschte. Urban hatte einiges über Typ und Registriernummer des L & R-Jets in seinen Unterlagen. „Wir schicken sofort eine Gruppe zum Hangar", versprach der Schweizer. „Was aber, wenn der Anschlag auf ein Automobil, im Hotel oder anderswo erfolgen solle?" „Irgendwo muß man beginnen", erwiderte Urban. „Flugzeuge sind meist bevorzugte Objekte." Die Schweizer wollten auch versuchen, Madame Deloire aufgrund der Hotelmeldungen ausfindig zu machen. Zehn Minuten später rief Urban wieder in Genf an. „Der Pilot sitzt bei uns im Büro", hieß es. „Das 129
Flugzeug wird soeben von Mechanikern durchgecheckt." „Ich möchte den Piloten sprechen", bat Urban. Der Franzose wirkte gelassen und eher zurückhaltend. Urban wollte lediglich von ihm wissen, wann er Order habe, die Maschine startklar zu halten und wohin der Weiterflug ging. „München", sagte der Pilot. Daß Lorrene nach München kam, damit hatte Urban nicht gerechnet. Denn daß sie seinetwegen herüberflog, war kaum gänzlich von der Hand zu weisen. - Aber sie hatte bis jetzt nicht angerufen. Nun, für Überraschungen war diese Frau immer gut. „Wann?" fragte Urban den Piloten. „Ab acht Uhr." Plötzlich schaltete sich der Schichtleiter der Flughafenpolizei ein. „Soeben kommt eine Sprechfunkdurchsage von den Abstellplätzen. Wir müssen davon ausgehen, daß sich im Fahrwerkschacht der Mystere eine Sprengladung befindet." „Dann wurde sie erst bei Ihnen in Genf eingebaut." „Vorausgesetzt, es ist eine Höllenmaschine." „Was sollte es anderes sein? Ein Feuerlöscher?", entgegnete Urban. Im Hintergrund ging es jetzt hektisch zu. Urban vernahm Gesprächsfetzen, Türenschlagen, Telefon130
klingeln, Fernschreiberticken. Dann wieder der Beamte: „Bedaure, es ist eine Sprengladung. Mit dreifachem Zündkreis. Durch Fahrwerkeinzug wird sie geschärft, Vorlauf fünfzehn Minuten oder Zündung per Druckdose bei Sinkflug unter dreitausend Fuß. Sehr professionell gemacht, das Ganze." „Sie haben die Bombe sichergestellt?" „Entschärft und sichergestellt", wurde bestätigt. „Die Herkunft des Materials würde mich interessieren", erklärte Urban. „Gibt es Verdachtsmomente?" fragte der Mann in Genf. „Möglicherweise KGB-Arbeit. - Aber es muß nicht unbedingt so sein", fügte Urban noch hinzu. Dann bat er den Piloten, ihn sofort zu verständigen, wenn Madame Deloire in Cointrin eintreffe. Mit einemmal hatte er jenes steinartige Gefühl unterhalb des Brustkorbes, das meist dann entstand, wenn es enger wurde und eine Sache sich zuspitzte. Urban traf zur gleichen Zeit wie Pauli Vogt im Hauptquartier ein. Aus dem Auto heraus machte ihm der Techniker ein Zeichen. Am Parkplatz sprachen sie dann miteinander. „War das eine Nacht", jammerte Vogt, aber sein Gejammere klang zufrieden, wie bei einem Erfolgserlebnis. „Erst schien es unmöglich, aber mit tausend Tricks kriegen wir ihn." „Wie weit seid Ihr gekommen?" 131
„Bis Nordflandern. Belgisch-holländisches Grenzgebiet." „Der Anrufer kann also ebenso in Belgien wie in Holland sitzen." „Da laufen Hauptstränge durch. Wir bleiben am Ball." „Legt noch ein paar Briketts in den Trickofen", bat Urban. Oben im Büro hatte man eine Nachricht für ihn. „Kam eben aus Genf durch. Madame Deloire hat darauf verzichtet, das Flugzeug zu benutzen. Sie ist mit einem Wagen ihrer Firmenniederlassung weitergefahren." „Wohin?" „Das wußte der Pilot auch nicht." „Ruft bei Loire & Rhône in Genf an." „Ist bereits geschehen", erklärte der Assistent der Operationsabteilung. „Dort weiß man ebenfalls nichts.'' Damit war Lorrene möglicherweise für einige Zeit aus der Gefahrenzone. Kaum hatte Urban den Trench ausgezogen und an den Haken gehängt, kam Pauli Vogt hereingestürmt. Er wirkte atemlos. „Terneuzen!" rief er. „Holland?" „Ja, auf der Strecke Antwerpen-Vlissingen. Wenn du nach Holland hineinkommst, gleich rechts, der erste größere Ort. Aber die Fabrik liegt in einem Nest, ungefähr fünf Kilometer davon entfernt." 132
„Handvermittlung", bemerkte Urban. „Was für eine Fabrik?" „So eine chemische Klitsche. Sie stellt Reinigungsmittel, Farben und Imprägnierungsöle her, aber alles auf umweltfreundlicher Basis." „Name der Fabrik?" „De-Loon-Werke." „Inhaber?" „Ein gewisser De Loon." „Das klingt nicht flämisch, eher wallonisch." „Mehr war beim besten Willen nicht zu ermitteln. Wir sind Techniker und keine Interpolisten." Urban sah jetzt die nächsten Schritte vorgezeichnet. Er sprach mit dem BND-Archiv. „Daß über einen De Loon aus Terneuzen in Holland nichts vorliegt, ist anzunehmen. Aber ihr wißt, wo man, wenn überhaupt, etwas findet. Vielleicht beim BKA, bei Interpol Paris, notfalls beim holländischen Geheimdienst. Es ist dringend." „Wieviel Zeit haben wir?" Urban rechnete, wie lange er bis an die Nordseeküste brauchte. Mit dem Flugzeug und zweimal umsteigen in Frankfurt, Brüssel oder Amsterdam, dann weiter mit dem Leihwagen, das dauerte zirka einen halben Tag. Dann konnte er gleich seinen BMW anlassen. „Zehn Stunden", gab er ihnen. „Verständigt mich über Autotelefon." Er war nahe daran, das BND-Dienstflugzeug zu beantragen. Aber mit den wenigen Fakten, die er 133
hatte, würde er die Maschine nicht genehmigt bekommen. Er meldete sich bei Sebastian ab. „Bitte um Kurzinformation unserer Companeros in Madrid, Paris, Rom, London und Washington. Versuchter Bombenanschlag auf den Loire & Rhône Generaldirektor in Genf vereitelt. Spur führt nach Südholland." „Genügt das?" fragte der Alte. „Es genügt." „Mir genügt es nicht." „Mir auch nicht", erwiderte Urban. „Aber vorerst habe ich nicht mehr als das." 11. Der kleine Ort an der Scheide bestand aus der Chemischen Fabrik De Loon und einer Siedlung von vielleicht drei Dutzend adretten Klinkerhäusern, die der Inhaber der Fabrik für seine Arbeiter gebaut hatte. Dies aber schon vor dem Zweiten Weltkrieg, soweit Urban das nach dem Baustil beurteilen konnte. Wenn er in Griete herumfuhr, recherchierte und überall Fragen stellte, würde das Mijnheer De Loon mit Sicherheit in Windeseile übermittelt werden. Deshalb legte er sich Zurückhaltung auf. Er beobachtete die De-Loon-Villa, bis es dämmerte. Dann fuhr er am Kanal entlang durch die Pappelallee nach Terneuzen hinüber. 134
In einer Cafeteria, rechts an der Straße, wenn man in den Ort hineinfuhr, nahm er einen Kaffee. „Wissen Sie", fragte er die Inhaberin, „ob bei De Loon in Griete Leute eingestellt werden?" „Eher das Gegenteil", sagte die Kellnerin. ,,De Loon entläßt welche." „Der Chemie geht es doch gut." „Davon verstehe ich nix", sagte die blonde, hagere Wirtin. „Es heißt, seitdem er auf umweltfreundliche Produkte umgestellt hat, soll das Zeug nichts mehr taugen. Mögen Sie etwa dünnen Kaffee und trockenen Kuchen? Wenn der Absatz nachläßt, klingelt die Kasse nicht, und es geht den Berg runter, oder?" „So ist es", bestätigte Urban. „Also hat es wenig Sinn, sich dort zu bewerben." „Sind Sie Chemiker?" „Biologe." „Dieses biologische Zeug ist es, was ihn in die Pleite treibt." „Sie meinen Pieter De Loon." „Gibt ja nur noch den." „Hat er das Werk gegründet?" „Sein Vater oder der Großvater wohl. Aber die kamen alle aus Belgien. Sie haben damals vor fünfzig Jahren die Fabrik nach Holland verlegt, und ich sage Ihnen auch warum: Weil die Holländer fleißig und sauber sind, die Belgier aber faul und schmutzig." „Wie alt ist De Loon?" „Satte fünfzig", schätzte die Wirtin. „Ich sehe ihn 135
manchmal in seinem alten Wagen vorbeifahren. Er fährt stets langsam, immer umweltbewußt. Ein Spinner in meinen Augen." Urban bat um eine Beschreibung, denn man hatte ihm kein Foto beschaffen können. „Ein alter, kranker Mann. Schon seit Kindesbeinen soll er blutarm und schwächlich sein. Hager, blaß, dünnes rotgraues Haar, kurzsichtig. Er stottert ein bißchen, hatte nie eine Frau. Die wäre ihm sowieso davongelaufen. Er trägt - so spottet man - die Anzüge seiner Vorfahren auf. Aber das waren alles kräftige Kerle, also hängen die Klamotten an ihm dran wie an einer Vogelscheuche." Das waren recht brauchbare Auskünfte. „Was spricht man sonst noch über ihn?" „Mijnheer", sagte die Wirtin mißtrauisch. „Sie sind nicht Biologe, sondern von der Polizei." „Wäre das so schlimm?" „Polizisten mögen wir nicht sonderlich. Hier an der Grenze wird kräftig geschmuggelt. Aber Sie kommen aus München, das ist weit weg. Wie lautete also Ihre Frage?" „Was man noch so über De Loon redet." „Daß er eigentlich längst tot sein müßte. Immer ist er krank, liegt häufig im Hospital, ist meist auf Kur oder im Sanatorium." Das deckte sich mit Urbans Informationen. Der Niedergang der De-Loon-Werke war angeblich dadurch entstanden, daß sich der Direktor oft wochenlang nicht um das Werk kümmern konnte. 136
Beim Veiligkeit-Bureau, dem Geheimdienst in Den Haag war man allerdings der Meinung, De Loon sei gar nicht so hinfällig, sondern reise ganz einfach gern. Er täusche seine Krankheiten nur vor, kuriere sie gar nicht aus, sondern fahre in der Welt herum. Urban hatte eine Liste seiner letzten Reisen vorliegen. Leider war sie weder vollständig noch verläßlich. De Loons Lieblingsland war Italien. Das galt für viele Holländer. Er hatte aber auch eine Affinität zu Frankreich und England. Wohl um den Rest Europas kennenzulernen, war er in den letzten Jahren nach Norwegen gefahren, nach Schweden, Finnland und Rußland. „Früher war er schwerreich", bemerkte die Wirtin, am Fenster stehend und auf Gäste wartend. „Er erbte alles von seinem Großvater." „Gibt es noch Geschwister?" „Nicht aus der ersten Ehe seiner Mutter. Sie soll später noch einmal geheiratet haben, als De Loon bei einem Brand auf der Englandfähre umkam." „Wann war das ungefähr?" „Als die Nazis in Berlin ans Ruder kamen. Ich war damals noch nicht geboren. Meine Mutter erzählte mir davon, wie man eben über reiche Leute gerne tratscht." „Madame De Loon hat also noch einmal geheiratet." „Sie verließ die Gegend und zog wohl nach Amsterdam. Das Werk wurde von einem Direktor 137
geleitet. Es wuchs im Krieg ziemlich. Ich glaube, sie stellten Sprengstoff her." „Und Pieter De Loon, wann trat er in die Fabrik ein?" Die Wirtin zuckte mit den Schultern. „Etwa um diese Zeit." „Anno vierzig?" „Oder etwas später. Er war noch jung an Jahren." Dann ist er heute mindestens sechzig, rechnete Urban. Die Kaffeemaschine blies Dampf ab. Die Wirtin eilte hinter die Theke und hantierte am Ventil. Danach wischte sie die feuchten Hände an der weißen Schürze ab. Urban zahlte. „War der Kaffee nach Ihrem Geschmack?" „Sicher." „Wenn Sie als Deutscher das sagen, ist das ein Kompliment. Die Deutschen trinken starken Kaffee im Vergleich zu den Belgiern oder Franzosen." „Wie heißt das beste Hotel in der Stadt?" fragte Urban. Als könne sie, Urbans Gedanken erraten, sagte die Holländerin: „Mijnheer De Loon ist übrigens zu Hause. Ich sah ihn heute morgen vorbeifahren." Dafür bekam sie zwei Gulden Trinkgeld. Urban wendete das BMW-Coupe und fuhr durch die schmale Pappelallee am Kanal entlang nach Nordosten. 138
Die De-Loon-Villa, ein breitgebautes Klinkerhaus, lag am Ortsausgang nahe dem Seedeich. Das Gartentor stand offen. Urban lenkte sein Auto hinein und stellte es neben den alten Mercedes Diesel. Auf sein Läuten wurde sofort geöffnet. Eine ältere Dame ließ ihn ein und bat in die Wohnhalle. Trotz der hohen Fenster wirkte der Raum düster. Es lag wohl an der niederen Balkendecke, den roten Fliesen und den schwarzen Hölzern. Über dem Kamin hing ein Gemälde. Es zeigte eine Frau mit zwei Kindern. Gemalt war das Bild in Öl im fotografischen Stil. Die Frau hatte schulterlanges, braunes Haar und trug Brille. Die Brille störte die Ebenmäßigkeit des Gesichts. Urban fragte sich, warum der Maler sie mit Brille dargestellt haben mochte. Doch dann waren es die Knaben zu beiden Seiten der Mutter, die ihn beschäftigten. Der eine war rothaarig, der andere braun. Altersunterschied zwischen den beiden mindestens zehn Jahre. Urban vernahm Schritte. Kein Zweifel, der Mann an der Treppe war De Loon. Ein bißchen erinnerte er an Don Quichotte aus der Mancha, den Ritter von der traurigen Gestalt, als hätte ihn sein Diener Sancho Pansa soeben verlassen. De Loon hob die lang herabhängenden Arme, breitete sie aus, ließ sie dabei aber in Gürtelhöhe und zeigte seine Hände. Es sah aus, als hieße er den Gast willkommen. 139
„Sie sind Mister Dynamit", stellte er fest. „Sie haben mich heute nacht angerufen." „Und ich habe Sie erwartet." De Loon hatte helle, wässerige Augen. Er bewegte sich unsicher, tastete nach dem Sessel und bat Urban, sich ebenfalls zu setzen. „Ich fühle mich krank", gestand er. „Mein Besuch, Mijnheer, erfolgt nicht von ungefähr." „Das ist mir klar." „Mijnheer", setzte Urban erneut an. „Sie wissen viel über geheimdienstliche Vorgänge." „Ja, in Ost und West." „Sie besitzen Kenntnisse über eine Operation, die den Code Falkenflug trägt." „Nicht nur darüber." „Ich glaube, Sie könnten uns weiterhelfen, was bestimmte Vorgänge in Venedig, in Pittsburg, in Schottland und in Genf betrifft." „So ist es", bestätigte De Loon. „Sie wissen, in welcher Sache ich für den Bundesnachrichtendienst tätig bin. Sie sind über die gemeinsamen Maßnahmen von MI-six, CIA, SDECE und Sismi-Rom im Bilde." Der Chemiker bestätigte es durch Schließen und öffnen der Lider. „Fragen Sie, ich antworte", setzte er mit großer Mühe, wie es Urban schien, hinzu. Urban fürchtete, De Loon könne jeden Augenblick umkippen. 140
„Bitte", flüsterte De Loon, „ein Glas Wasser." Urban rief nach der alten Dame. Sie kam mit Wasser und einem Tablett, auf dem sich mehrere würstchenförmige Medikamente befanden. Sie bestand darauf, daß De Loon sie in bestimmter Reihenfolge schluckte. Und dann bestand sie darauf, daß er sich hinlegte. Urban und die Haushälterin brachten ihn in sein Schlafzimmer. De Loon legte sich angekleidet aufs Bett und schloß die Augen. „Jetzt schläft er", stellte die Haushälterin fest. Doch De Loon murmelte: „Nein, er schläft nicht. Er ruht nur." Seine Hand tastete nach der von Urban. „Kommen Sie in zwei Stunden wieder. Zum Dinner." „Gern." „Bis einundzwanzig Uhr, ja?" „Ich bin pünktlich zur Stelle", versprach Urban, „und wünsche Ihnen gute Besserung." „Dann erfahren Sie alles. Sie bekommen Einblick in sämtliche Unterlagen, Dokumente, Beweisstücke ..." Die Haushälterin zog Urban aus dem Zimmer. „Es hat ihn wohl sehr aufgewühlt", befürchtete sie. „So starke Anfälle hat er selten." „Herz?" „Nicht nur. Es gibt kaum etwas in ihm, das noch ordentlich seinen Dienst versieht." „Sollte man nicht den Arzt rufen", schlug Urban vor. Jetzt, so kurz vor dem Ziel, lag ihm viel daran, daß 141
De Loon die Nacht überstand. „Merken Sie sich eins, junger Mann", antwortete die Dame resolut. „Leute, die ständig krank sind, leben ewig. Er hat in seinem Leben mehrere Waggonladungen Tabletten geschluckt. Eine echte Killerkrankheit wagt sich gar nicht an seinen Organismus heran. Nur die Gesunden, Starken fällt der Blitz." „Passen Sie trotzdem gut auf ihn auf", bat Urban. Um 21.00 Uhr, als der BND-Agent Robert Urban wieder in der Villa De Loon vorsprach, konnte man nur noch den Tod des Chemikers feststellen. Allerdings war es nicht sein Hausarzt, der diese traurige Aufgabe zu erfüllen hatte, sondern der Polizeiarzt. Er war mit der Mordkommission von Rosendaal herübergekommen. Die Mordkommission wiederum war von der Polizei in Terneuzen gerufen worden, und zwar unmittelbar nach dem Anruf von De Loons Haushälterin. Sie hatte im Haus Geräusche gehört. Später war ein Schuß gefallen. Sie hatte noch den Schatten des Killers gesehen. Vielmehr glaubte sie ihn gesehen zu haben. Urbans bester und wohl einziger Informant war tot. Nun blieb ihm nur noch eines. Die Spur des Mörders. - Im Garten nahm er sie auf. Die schwarze, frischgehäufelte Erde bei den Ginsterbüschen zeigte die Abdrücke von Elefantenfüßen. „Kein normaler Mensch hat eine solche Schuhgröße." 142
„Mindestens ein Zweiundfünfziger mit Raupenprofilsohle." „Motorradstiefel", ergänzte Urban und versuchte, aus der Haushälterin einige Hinweise herauszuholen. Es war mühsam, ihre Weinkrämpfe mit Fragen zu durchdringen. Doch als sie begriffen hatte, worum es ging, nämlich, ob sie nach dem Schuß das Brummen eines Automotors oder eher ein Knattern vernommen hatte, meinte sie, letzteres träfe wohl eher zu. Der Täter müsse durch den Garten über die hintere Terrasse ins Haus eingedrungen sein. Urban holte seine Autokarte aus dem BMW. Von Griete, so hieß der Vorort, gab es nur wenige Wege, um von dem schmalen holländischen Küstenstreifen wegzukommen. Daß der Täter in Holland blieb, widersprach der Erfahrung und Logik. Jeder Killer versuchte, zwischen sich und sein Opfer so viele Meilen wie möglich zu bringen. Der holländische Kriminalkommissar deutete auf das blau eingezeichnete Band der Wester-Scheide, einen Meeresarm, auf dem Seeschiffe bis Antwerpen liefen. „Wir erwischten gerade noch die letzte Autofähre von Hansweer nach Perkpolder." ,,Dann muß er über die Grenze nach Belgien gefahren sein." „Es gibt nur zwei Übergänge in der Nähe. De Klinge, an der Straße nach Antwerpen, oder Zelzate, Richtung Gent - Brüssel." „Am besten versteckt man sich in Großstädten", 143
bemerkte Urban. Sie telefonierten mit den in Frage kommenden Grenzübergängen. In Zelzate wurden sie fündig. Der Kommissar sprach mit dem Kollegen von der dortigen Polizei in einem für Urban kaum verständlichen Flämisch und übersetzte zwischendurch. „Vor einer Stunde etwa kam einer durch. Auf einer schweren Kawasaki." „Das einzige Motorrad heute abend?" „Seit zweiundzwanzig Uhr." „Die Beschreibung des Fahrers?" „Grauer Lederanzug mit beiderseits roten Streifen, silbergrauer Sturzhelm. Er zeigte einen französischen Paß vor. Sie winkten ihn durch." „Kennzeichen?" wollte Urban wissen. Der Kommissar fragte, antwortete, fragte erneut. „Möglicherweise mit Endnummer fünfundsiebzig, also Paris. Aber das ist nicht sicher." Ein Mann vom Erkennungsdienst unterbrach sie. „Unter dem Bett stand ein Tonbandgerät", meldete er. „Das Kabel mit dem Mikrofon lief an der Seite hinauf ins Bett." „Ist eine Spule oder Kassette im Apparat?" „Die Kassette wurde aus dem Recorder entnommen." „Dann sucht sie." Nachdem alle Spuren gesichert waren, begannen sie das Schlafzimmer und die anderen Räume nach der Kassette abzusuchen. „Ist es möglich", wandte sich der Kommissar an 144
Urban, „daß De Loon vor seinem Tod noch etwas diktierte?" Urban zögerte mit der Antwort. „Er war in schlechter Verfassung, und es sah aus, als würden wir eine ziemlich intensive Unterhaltung haben. Vielleicht dachte er, es sei besser, im Bett liegend das Nötigste auf Band zu sprechen." Doch zunächst konzentrierten sie sich weiter auf alle Fahndungsmöglichkeiten. „Wenn der Killer aus Paris kommt", schlußfolgerte Urban, „will er nach Paris zurück. Und zwar auf dem schnellsten Weg." „Also über die Autobahn." „Richtung Frankreich führen zwei Autobahnen, die sich bei Amiens zur E-10 vereinen. Die eine Autobahn kommt aus Nordbelgien, die andere aus Ostbelgien. Die Grenzübergänge liegen nördlich von Lilie und nördlich Valenciennes. Die genauen Orte sind Neuville und St. Aybert." In der Annahme, daß es dem Toten recht war, wenn man sein Telefon benutzte, rief Urban in Brüssel die Zentrale des belgischen Geheimdienstes an und erhielt von dort jede Unterstützung zugesagt. Sie wollten alle Grenzübergänge für einen Motorradfahrer, auf den die Beschreibung paßte, schließen lassen. „Nehmt ihn sofort fest." „Wir verständigen auch die Franzosen. Wann ist er zu erwarten?" „Vielleicht schon in der nächsten Stunde." 145
„Und wenn er auf ein Automobil umgestiegen ist?" „Dann sind wir schlecht dran. Dann kann er ebensogut in Belgien untertauchen oder einen Haken über die Bundesrepublik schlagen. Dann kriegen wir ihn nicht so schnell, fürchte ich." Sie veranlaßten das Nächstliegende. Wenn sie Glück hatten, wurde es eine Bilderbuchfahndung. Wenn sie Pech hatten, ging ihnen der Kerl durch die Lappen. Inzwischen war die Villa weitgehend abgesucht worden. „Nur ein paar Musikkassetten", übermittelte man Urban als Ergebnis. „Alle beschriftet. Sie lagen bei seinen Schallplatten." Urban winkte ab. Wenn De Loon in der letzten halben Stunde seines Lebens noch ein Geständnis auf Band gesprochen hatte, dann lag die Kassette nicht vierzig Meter vom Tatort entfernt. „Kann ich noch etwas für Sie tun?" fragte Urban den Holländer. „Ja, schnappen Sie den Täter." „Ich beeile mich", versprach Urban. Sie hatten wieder die typische halbe Portion Glück. Etwas weniger als das Erhoffte, aber etwas mehr, um nicht völlig niedergeschlagen zu sein und alles hinzuschmeißen. Es war gerade soviel, daß man weitermachte, wenn auch lustlos. Zweimal auf seiner Nachtfahrt quer durch Belgien zwischen der holländischen und der französischen 146
Grenze rief Urban an. Es war immer die gleiche Nummer der Geheimdienstzentrale in Brüssel. Dort liefen die Fäden zusammen. Beim ersten Anruf lag noch nichts vor. Beim zweiten Anruf - der Tankwart drüben zapfte seinen BMW voll, und aus dem Kaffeeautomaten tröpfelte braune Brühe in den Pappbecher - erfuhr Urban die Bombennachricht. „Sie haben ihn." „Was für ein glorreiches Ende eines Tages voller Niederlagen", kommentierte Urban. „Ist er es auch?" „Alle Parameter stimmen. Lederanzug, Kawasaki, Pariser Kennzeichen. Er steht noch an der Schenke. Sie checken ihn eben durch." „Wo?" „Neuville." „Er nahm also den kürzesten Weg. Bin in vierzig Minuten dort." Falls ich mich nicht verfranze, setzte Urban in Gedanken hinzu. Belgien war hier oben, zwischen Holland und Frankreich, nur etwas über hundert Kilometer breit. Aber es gab ein Gewirr von Durchgangs-, Überlandund autobahnähnlichen Straßen. Urban warf noch einen Blick auf die Karte, prägte sich die Namen der Orte ein, die an der Hauptroute lagen und raste wieder hinaus in die Nacht. Es fing zu regnen an. Leider nur dünn, was unangenehmer war, als wenn es anständig duschte und die Scheibenwischer für klare Verhältnisse sorgten. So schlierten sie, und er mußte 147
ständig Wasser nachsprühen. Gegen 23.00 Uhr tauchte die Douane auf. Ein moderner Grenzübergang. Man hatte ihn genau auf den Strich gebaut. Belgier und Franzosen versahen in einem langgestreckten Gebäude nebeneinander ihren Dienst. Trotz der späten Stunde hatte sich eine Schlange gebildet, Urban scherte aus und fuhr bis zur Station durch. Was er sah, deutete nichts Gutes an. Sie hatten ihre Tiefstrahler eingeschaltet. Unter dem breiten Vordach, wo die Autos vorbei mußten, stand ein Krankenwagen mit Drehlicht. Polizei war auch zur Stelle. Die herabgelassene Grenzschranke sah aus wie ein abgeknickter rot-weißer Bleistift. Urban schlenderte hinüber und sagte, wer er sei. Sie hatten ihn erwartet. „Dürfte aber zu spät sein, Colonel", befürchteten sie. „Was ist geschehen?" „Wir winkten ihn nicht durch, wie er gehofft hatte. Das machte ihn nervös. Als wir seinen Ausweis verlangten, drehte er das Gas auf und haute ab. Die Franzosen ließen geistesgegenwärtig die Schranke herunter. Er donnerte voll gegen das Stahlrohr. Mit solcher Wucht, daß sie einknickte. Das hält kein Kopf aus, auch nicht mit Schutzhelm." Die Kawasaki lag drüben in Frankreich. Der Schwerverletzte war nicht ganz soweit gekommen und daher noch Sache der Belgier. Sie schoben die Trage gerade in den Notarztwagen. Urban durfte ihn sprechen. Der Arzt hielt den Fall 148
für hoffnungslos. „Schwere innere Verletzungen. Aber im Kopf ist er seltsamerweise klar. Schlechtes Zeichen. Es geht zu Ende." Urban setzte sich neben ihn. Von einer Flasche an der Decke lief ein Schlauch in die Armvene des etwa fünfundzwanzig Jahre alten, dunkelhaarigen Burschen. „Du hast De Loon getötet", sagte Urban. „Ich wollte das nicht." Er sprach Französisch mit Akzent. „Was dann?" „Nur die Papiere." „Bekamst du sie?" „Er wehrte sich. Ich schoß und haute ab." Urban glaubte ihm nicht. „Wo ist das Tonband?" Die Augen des Schwerverletzten bewegten sich. Er suchte etwas. Als er seinen Lederanzug, aus dem sie ihn herausgeschnitten hatten, liegen sah, versuchte er, auf ihn zu deuten. Urban fand einen festen braunen Umschlag in der Knietasche. Als er ihn betastete, fühlte er darin eine normale Recorderkassette. „Weiß nicht, was drauf ist", murmelte der junge Mann. „Aber er wollte sie mir wieder entreißen." „Wer hat dich beauftragt?" „Kenne ihn nicht." „Wie kamst du zu dem Job?" „Durch Vermittlung. Ich war blank und nahm ihn 149
an." „Wer vermittelte ihn dir?" „Freunde aus dem Quartier." Er meinte wohl die Szene, die Unterwelt. „Du hast schon in einer Strafanstalt eingesessen?" Der junge Man nickte. „Nicht hier, drüben." „Pole?" „Russe", sagte der Motorradfahrer. Wahrscheinlich hatte man einen Russen ausgewählt, um alles so durchzuziehen, wie es begonnen hatte. Aber das entsprach nicht mehr dem Stand der letzten Erkenntnisse. Urban stellte eine neue Frage, bekam aber keine Antwort mehr. Der Schwerverletzte hatte die Augen geschlossen und begann, heftig stoßend zu atmen. „Es geht zu Ende", bemerkte der Arzt. „Jetzt ist er weggetreten. - Sauerstoff!" Er schob Urban beiseite und kümmerte sich um den Sterbenden. Urban hatte, was er brauchte. Er verließ den Rettungswagen und rief noch einmal in Brüssel an. „Ich fahre weiter nach Paris", sagte er. „Verständigt SDECE. Werde mich dort melden." „Gibt es Hinweise auf Paris?" „Bis jetzt nicht." Dabei verschwieg er ihnen, was er mit Staunen gelesen hatte, nämlich die Aufschrift auf dem braunen Umschlag, der das De-Loon-Tonband enthielt. 150
Die Adresse war die von Lorrene Deloire am Bois de Boulogne. Die Autoroute Lilie-Paris war um diese Stunde etwa so stark befahren wie eine niederbayerische Landstraße an einem autofreien Sonntag. Urban war der Einzige auf vielen Kilometern. Es hatte zu regnen aufgehört. Die Nachtkühle und die feuchte Luft waren ein Festmahl für seinen Motor. Es war jetzt Zeit, De Loons Tonband abzuhören. Er schob die Kassette in den Recorderschlitz. Es begann zu rauschen. Er lehnte sich entspannt in den Sitz und nahm das Tempo auf ruhige Hundertsechzig zurück. Dann hörte er auch schon De Loons typische heisere Stimme. Er begann verschwörerisch flüsternd: „Mister Dynamit! Um unsere in einer Stunde stattfindende Aussprache zu vereinfachen, fasse ich die wichtigsten Punkte zusammen. Ich habe Vertrauen zu Ihnen. Ich weiß, wer Sie sind. Ich kenne Sie seit Venedig, wo ich Sie zum erstenmal sah. Doch lassen Sie mich beim Anfang beginnen. – Meine Mutter war Ursula De Loon, eine bekannte belgische Physikerin. Sie arbeitete an den Grundlagenforschungen für Elektro-Kanonen und Elektrobomben, Bekanntlich wird die E-Kanone gerade in US-Labors entwickelt und getestet. An die Elektro-Bombe wagte sich keiner offiziell heran. Sie zu entwickeln übernahmen insgeheim einige Großkonzerne, wie Pittsburg-Steel, Caledonia Inc., 151
Loire & Rhône und vermutlich auch Montecatini. Doch kehren wir noch einmal zurück zu den Forschungsarbeiten meiner zu früh verstorbenen Mutter. Sie hinterließ grandioses Material, das leider von ihrem zweiten Ehemann bei Kriegsende entwendet und, wie ich annehme, den Alliierten in die Hände gespielt wurde. Die Alliierten jedoch betrieben die Sache nicht weiter. Sie hatten genug mit der Atomforschung zu tun, und die E-Bombe war wohl Zukunftsmusik. Selbst die Atomforschung stand damals ja erst im Anfang. - Wie Sie sicher wissen, bin ich Erbe des De-Loon-Werkes, was damals zu bösen Auseinandersetzungen mit der neuen Familie meiner Mutter führte. Aber das ist überwunden und zählt zur Vergangenheit. Aus Gewissensgründen stellte ich später unsere Erzeugnisse auf natürliche Rohprodukte um, was leider zu einem starken Rückgang der Umsätze führte. Aber noch verfügte ich über die Mittel, aufkommendes Interesse an der E-Bombe, die ich für die verheerendste aller Waffen halte, zu unterdrücken ..." De Loon sprach nicht weiter. Urban hörte nur seinen Atem gehen. Bald kam seine Stimme wieder. Doch sie wirkte angestrengt. „Da es mir auf Dauer nicht möglich war, gegen die finanzielle Macht der Konzerne deren Forschungen zu verhindern - die Patente meiner Mutter sind ja längst abgelaufen -, mußte ich etwas anderes unternehmen. - Die Maus nagt den Strick durch, an dem 152
sich der Gorilla über die Schluchten schwingt. - Ich habe, wie Sie später noch entdecken werden, ausgesprochen enge Kontakte zu gewissen Geheimdiensten. Ich kenne ihre Internas, die Verfahrensweisen im Umgang mit V-Leuten, kenne Codes. Und ich benutzte sie. Ich fingierte eine V-Mann-Meldung aus Moskau nach Helsinki. Die CIA bekam die Information Falkenflug. Damit war ihre Aufmerksamkeit sofort geweckt. Nun mußte ich meine Behauptung, die Saboteure seien nach Westen unterwegs, auch untermauern. Ich fing bei Montecatini in Mestre an. Die an einem Kreislaufkollaps verstorbene Schwedin Freda Soerensen bot sich geradezu an, sie zur Irreführung zu benutzen. Damit man sie für eine russische Expertin hielt, deponierte ich einen in Amsterdam gestohlenen und verfälschten CCCP-Paß. Später beobachtete ich Sie, als Sie die Wohnung der Schwedin durchsuchten. Um meinen Plänen Nachdruck zu verleihen, schob ich einen Sprengkörper in Ihren BMW-Auspuff. Bitte verzeihen Sie mir. Denn Sie sind keiner von den unsympathischen Agententypen." Urban ließ das Band zurücklaufen, hörte sich den letzten Satz noch einmal an. Dann ging es weiter: „In Pittsburg", erzählte De Loon, „landete ich meinen größten Coup. Dazu schickte ich einen, als Spezialdünger getarnten Sprengstoffcontainer in die USA. Der Rest ist bekannt. In diesem Zusammenhang muß ich betonen, daß ich mit dem Unfall von Lord Caledon in Inverness nichts zu tun habe. Man 153
mag mich mit einigen anderen Dingen belasten, aber ich war nie in Inverness. Von mir stammt auch nicht die Höllenmaschine im Fahrwerk des Mystere-Jet von Lorrene Deloire. Aber ich erfuhr davon und warnte Sie rechtzeitig, - Nichts zu tun habe ich ferner mit dem Tod des Doktor Peter Korn vom Max-Planck-Institut, der Sie in die Mysterien der EBombe einweihte. Das geht auf anderer Leute Konto. - Gewisse Verhaftungen in Moskau hingegen erfolgten auf meine Denuntiationen hin. Ich wollte das Gebäude meiner Maßnahmen nicht zu früh zusammenbrechen lassen. Nicht, bevor die CIA es durchschaute - und Sie, Mister Dynamit." De Loon legte eine Pause ein, atmete tief und schien zum Ende zu kommen. „Zusammengefaßt: Ich sah keine Chance, gegen diese Industriegiganten anzukommen. Also dachte ich mir eine KGB-Sabotageaktion gegen sie aus. Um die Welt vor ihrem Untergang zu bewahren, wenn Sie so wollen, wurde ich der Falke aus dem Osten selbst. Nun werden Sie gerne wissen wollen, woher ich meine Informationen über die Maßnahmen der Geheimdienste beziehe. Mein lieber Freund, ich nehme an, daß Sie sich selbst einen Reim darauf gemacht haben. Man nennt Sie nicht umsonst Mister Dynamit. Entweder Sie wissen es bereits, oder Sie werden es bald erfahren. Entweder durch feindliches Feuer, womit man Sie eindecken wird, oder Sie erfahren es ..." Das Band war zu Ende. 154
„Von Ihrem sehr ergebenen Pieter De Loon", ergänzte Urban, „leider nicht." Er ließ das Band zurücklaufen und hörte es wieder und wieder ab. Im Moment war es bedeutender als jede nur denkbare Musik. Wenige Augenblicke, nachdem De Loon das Band besprochen hatte, war der Killer eingedrungen. Er hatte bestimmte Unterlagen von De Loon gefordert. Es war zu einem Kampf gekommen, in dem der Alte unterlag. - Kein Wunder, er war nicht besonders kräftig. Zwar hatte er eine erstaunliche Menge Energie aufgebracht, aber gegen eine Kugel hatte er nichts auszurichten vermocht. Urban rechnete überschlägig: zwei Stunden bis Paris. Noch bevor die Sonne aufging, konnte er bei Cherie Lorrene sein. Urban überzog seine Zeitspanne aus technischen Gründen um eine halbe Stunde. Im Stadtpalais der Deloire brannte Licht hinter zugezogenen Vorhängen. Das Gittertor der Einfahrt war einen Spalt geöffnet, ebenso die Haustür. Urban fand das ein wenig zu einladend. In der Kaminhalle störte er dann das gesellige Beisammensein von zwei ihm recht gut bekannten Personen. Versammelt waren bei Champagner und leiser Musik die schöne Lorrene Deloire und ein Gentleman, ein Amerikaner, Colonel Jan Vanderwell von der CIA. 155
Nur einen Schönheitsfehler hatte die Party. Lorrene saß in einem schweren Stilsessel, und Vanderwell stand neben ihr. Allein daran wäre noch nichts Besonderes gewesen, wenn Lorrene in der Lage gewesen wäre, aufzustehen und ihren frühen Gast, Bob Urban, zu begrüßen. Doch daran hinderten sie zwei Dinge: Die Stricke, mit denen sie gefesselt und im Sessel arretiert war, und der Dienstrevolver des Amerikaners an ihrer Schläfe. Colonel Vanderwell ergriff sofort das Wort. „Wir haben dich erwartet, Bob." „Kannst du Gedanken lesen?" „Als die Klarmeldung meines Beauftragten nach dem Grenzübertritt ausblieb, wußte ich, daß etwas vorgefallen sein mußte." „Eine ganze Menge lief schief." Urban steckte sich eine MC an. „Ich besitze nämlich De Loons Tonbandprotokoll. Nur eine Frage blieb darin offen, die Erklärung seiner Geheimdienstkontakte. Doch ich bekam die Antwort, als ich mich an das Gruppenbild über dem Kamin erinnerte. Mutter und Söhne in familiärer Verbundenheit." „Nur, daß ihre Liebe zu dem älteren Sohn ein wenig größer war", entgegnete Colonel Vanderwell. „Nun, man liebt die Erstgeborenen eben mehr, weil es meist schmerzhafter ist, sie zur Welt zu bringen." „Dieser verdammte Bastard Pieter bekam alles", fluchte Vanderwell. „Vermögen, Fabrik, Talent, die 156
geistigen Fähigkeiten." „Deine Erbmasse war anders zusammengesetzt, Vanderwell." „Ich war der Kleine", fuhr Vanderwell fort. „Was blieb mir anderes, als mich nach dem Krieg mit den Amerikanern zusammenzutun und mich nach drüben abzusetzen." „Unter Mitnahme der E-Bomben-Papiere", ergänzte Urban. „Das war auch alles. Vierzig Jahre brauchte ich, um sie an ein Konzern-Konsortium zu verkaufen." „Was Bruder Pieter übelnahm." „Es gelang mir, seine Gegenmaßnahmen zu entschärfen." „Und heute", sagte Urban, „nimmst du die letzte Entschärfung vor. Du wirst Lorrene, die aussteigen wollte, töten." „Und anschließend dich, mein Junge. Laß deine Mauser am Magnethalfter. Ich war immer der beste Schütze. Schon auf der Universität und später bei der Army." Urban dachte nicht daran, zu ziehen und den Verräter umzulegen. Er brauchte ihn lebend. ,,Leider blicke ich erst jetzt durch", gestand Urban. „Ich durchschaue dich und deine Gegenzüge bei Doktor Korn und in Genf. In Genf hattest du zum erstenmal Pech." „Diese Frau, da", Vanderwell machte mit der Waffe an Lorrenes Schläfe eine Drehbewegung, „wollte zu dir nach München, um dich über die 157
Fortschritte unserer Arbeiten und Tests zu unterrichten. Das wird sie nun nicht mehr können. Ich wartete nur noch belastendes Material aus Holland ab. Jetzt ist es da. Du hast es bei dir. Ihr beide seid des Todes." „Ich fürchte", sagte Lorrene, „er hat die Trümpfe in der Hand." „Um unsere Gegenmaßnahmen aufzuhalten, meinst du?" Lorrene schien sich entschlossen zu haben, alles zu sagen. Sie schrie es heraus. „Die Tests finden in ..." Vanderwell preßte ihr die Hand auf ihre Lippen. Der Hahn seiner 45er Smith & Wesson bewegte sich im Spannvorgang. Urban wußte, wenn er jetzt zog und schoß, würde er den Colonel vielleicht treffen, aber vorher würde er getroffen werden, und Lorrene kam auch nicht lebend davon. „Halt!" schrie er. Das war das vereinbarte Signal, Sie mußten beobachtet haben, was im Haus geschah. „Tu's nicht, Vanderwell!" „Warum nicht?" „Laß uns reden, Mann!" „Mit einem Kojoten wie dir, spreche ich nicht." Da nur von ihm Gefahr ausging, legte er auf Urban an. Urban hechtete nach links in die dunkelste Ecke des Raumes. Vanderwell schoß. Die Kugel streifte 158
Urban irgendwo am Oberschenkel. Wieder schoß Vanderwell, diesmal vorbei. Und dann fiel ein dritter Schuß - aber nicht aus dem Revolver des Amerikaners. Er klang anders. Wer gelernt hatte, Waffen nach dem Ton des Knalles zu bestimmen, der wußte, daß es ein Gewehr war. Dann klirrte Fensterglas, Noch ein Schuß fiel. Urban sah, wie Vanderwell sich an den Kopf faßte, wie er den Revolver fallen ließ, wie er taumelte, stolperte, fiel und mit zuckenden Gliedern liegen blieb. Dann standen sie im Raum: die Scharfschützen des Einsatzkommandos von SDECE. Der französische Geheimdienst war zur Stelle. Wenn auch in letzter Sekunde. 12. Ein schweres Transportflugzeug des NATOMitgliedstaates Norwegen befand sich im Anflug auf Spitzbergen. An Bord waren einige Fallschirmspringer, Bomben, Waffen und ein Zivilist: der BND-Agent Robert Urban. Der entsprechende Tip war von Lorrene Deloire gekommen. „In Spitzbergen", hatte sie preisgegeben, „steht eine Galaxy samt Testmaterial, Ausrüstung und Wissenschaftlern. Sie warten auf optimales Wetter." Zu mehr, als einem kurzen Gespräch hatte die Zeit 159
nicht ausgereicht. Urban hatte viel Organisationsarbeit vor sich. „Komm heil zurück!" hatte Lorrene ihm nachgerufen. Die nächsten zwölf Stunden waren ausgefüllt mit Vorbereitungen, gegen die man Hektik als die reinste Waldesruh bezeichnen konnte. Aber es gelang Urban, die bürokratischen Barrieren einzureißen, denn das Wort E-Bombe elektrisierte sie alle. Jetzt ging die Herkules herunter und stieß aus den Wolken. Noch vierzig Meilen über das graue Eismeer, dann Landung. - Wenn sie Glück hatten, war in einer Stunde alles vorüber. Der Einsatzleiter, ein norwegischer Oberst, sprach noch einmal mit Urban. Er hatte die Luftaufnahmen dabei. „Ob die Leute von der Galaxy bewaffnet sind?" „Anzunehmen." „Man könnte sie bombardieren." „Wer weiß, was dann von dem Deckszeug, dem Testmaterial, frei wird." „Angenommen, sie sehen uns landen und auf sich zurollen." „Ein Notstart ist immer möglich." „Was schlagen Sie vor?" Urban wiederholte, was er schon beim letzten Einsatzgespräch vor dem Start in Tromsoe vertreten hatte. „Zuerst ein simulierter Anflug in Absprunghöhe, 160
Die Wolkendecke ist niedrig. Ihre Fallschirmjäger landen lautlos. Wer schaut schon ständig nach oben. - Ein paar Handgranaten ins Fahrwerk, und die Galaxy ist nicht mehr rollfähig. Wenn ein Dutzend Männer den Vogel umstellen, haben die Insassen nur noch wenig Handlungsspielraum. Dann zweiter Anflug, Landung und hinausrollen bis zum Objekt." Der Norweger war erst dagegen gewesen, ließ sich aber aufgrund der Wetterlage umstimmen und war jetzt dafür. Er erteilte die nötigen Befehle an die Besatzung und an seine Männer. Die Lotsen im Tower hatten über Telex Anweisung erhalten, den militärischen Transporter so herunterzusprechen, als handle es sich um eine Linienmaschine. Man befürchtete, daß von der Galaxy der Funkverkehr abgehört wurde. „Noch zwei Minuten", drang es über Lautsprecher aus dem Cockpit. Der Transporter tauchte erneut in Wolken ein. Als er sie nach einiger Zeit verließ, sahen sie 1500 Meter unter sich das Meer und die Küste. Die Piloten schwenkten zum Landeanflug ein. Die Springer, die Schneeanzüge trugen, hakten die Reißleinen der Fallschirme an die Führungsschiene. Die Piloten fuhren Fahrwerk und Klappen aus, um die Geschwindigkeit zu verringern. Dann an den Tower: „Alpha-Cäsar-seven-four. Kleines Problem in der Trimmung. Starten durch und wiederholen Anflug." Im Tower wußte man Bescheid, daß das Kommando irgend etwas versuchen würde. 161
Bevor die Piloten die Gashebel wieder vorschoben, sprangen zwölf Mann des ersten Zuges hinaus in die eiskalte Polarluft. Kaum war das Springerschott wieder dicht, beschrieben die Piloten mit dem viermotorigen Transportflugzeug eine Hundertachtziggradkurve, gingen tiefer und peilten die Landepiste an. Urban, dessen Job es hier nicht war, den Hochglanz seiner Stiefel zu erhalten, begab sich in den Laderaum. Dort flankte er in den Jeep, wo schon zwei Soldaten saßen, der Fahrer und der Schütze des schweren Maschinengewehrs. Der Fahrer fragte ihn: „Wie sieht es aus, Oberst?" „Alles klar." „Haben sich die Schirme geöffnet?" „Sie sind alle gut aufgekommen. Dicht am Objekt." Im Frachtraum der Herkules begann es zu dröhnen. Die Triebwerke bekamen noch einmal Vollgas, damit der schwere Vogel Ruderwirkung hatte und einigermaßen weich auf die Piste fiel. Trotzdem gab es einen harten Ruck. Das Fahrwerk hatte Bodenberührung. Die Reifen pfiffen, die Bremsen griffen, die Propellerturbinen heulten auf. Die C-130 wurde langsamer, kam aber nicht zum Stillstand. Die Piloten zogen sie herum und rollten hinaus zum Platzrand, wo die Galaxy stand und die Operation bereits lief. Die Herkules pflügte mit ihren siebzig Tonnen 162
durch den Schnee und stand endlich. Die Heckrampe surrte herab. Durch den Spalt drang graues Licht. Als die Rampe offen war, schimmerte immer noch alles grau in grau. - Sie fuhren die Jeeps rückwärts hinaus und staubten durch den Schnee hinüber zu der Galaxy. Dort herrschte Friedhofsruhe. Die Fallschirmspringer in den weißen Tarnanzügen hatten sich offenbar in Deckung begeben. Aber Jeeps ließen sich nicht lautlos bewegen. Als sie noch ungefähr zweihundert Meter von der Galaxy entfernt waren, bekamen sie Feuer. Das norwegische Kommando erwiderte es. Auch die Jeep-MG's schossen zurück. „Auf das Fahrwerk!" schrie Urban. Da ging schon die erste Handgranate unter der Galaxy hoch. Ein Blitz, ein schmetternder Schlag, Rauch. - Es sah so aus, als zucke der weiße Riesenvogel nur und versuche, die brutale Gewaltanwendung zu ignorieren, sackte dann aber links ein. Nur um wenige Grad. Eine weitere Handgranate explodierte, eine dritte. Das machte die Galaxy auf jeden Fall startunklar. Die Jeepscheinwerfer erfaßten die linke Seite des Flugzeugs. Eine Rumpftür wurde geöffnet, eine Gestalt tauchte auf und sprang heraus. Der Mann blieb, offenbar verletzt, liegen. Die Höhe betrug immerhin sieben Meter. Ein anderer erschien im Schott und feuerte mit der Maschinenpistole, was das Magazin hergab. Gleich163
zeitig öffnete sich im Heck ein weiteres Schott. Sie warfen die Notrutsche, dieses aufblasbare Gummiding, heraus. Die Wülste blähten sich auf. Kaum hatten sie den Boden berührt, rodelten sie herunter, drei, vier, fünf Männer, und hoben die Hände. Andere versuchten, auf der rechten Seite in Richtung Wald zu entkommen. Der Colonel im zweiten Jeep erteilte Befehle, Aus dem Schnee sprangen Fallschirmjäger auf und versperrten den Fliehenden den Weg. Schüsse gellten herüber, ein paar Schreie, dann herrschte wieder Stille. Der Jeep fuhr an die Notrutsche heran. Urban kletterte als erster an Bord. Der Laderaum der Galaxy war mit Containern vollgestapelt. Dicht bei dicht standen sie festgezurrt da. Urban zwängte sich in den schmalen Mittelgang. Plötzlich sprang aus einer Containerlücke ein bärtiger Mann. Er hatte ein Messer, stach sofort zu, kam aber auf Widerstand. Er traf Urbans Sprechgerät. Unter Urbans Handkante ging der Mann zu Boden. Im Fallen zog er die Waffe und schoß. Urban schlug mit dem Pistolenlauf wirkungsvoll nach. Dann hörte er es ticken. Hart und trocken. Er folgte dem Geräusch, suchte zwischen den Containern und entdeckte den Kasten aus mattlackiertem Blech. Mehrere Drähte führten von ihm weg und verloren sich unter den Stahlbehältern. Eine rote Diode glühte. Im Lichtkegel seiner Lampe sah Urban, daß die 164
Zündung einen Vorlauf von wenigen Minuten hatte. Vielleicht wäre er in der Lage gewesen, die Sprengung der Galaxy zu verhindern. Blitzschnell überlegte er, ob er dies auch tun müsse. Da er annahm, daß das E-Bomben-Material unter atmosphärischen Bedingungen wohl nicht reagieren würde - sonst hätte man eine Sprengung der Galaxy gar nicht erst in Erwägung gezogen -, verzichtete er darauf, irgend etwas zu unternehmen. Am besten, der ganze Dreck vernichtete sich selbst. Auch wenn eine Milliarde Dollar Forschungsaufwand dahintersteckte. Es war seine eigene, seine private Gewissensentscheidung. Niemand würde je davon erfahren. Ohne den Zünder zu berühren, zog Urban sich zurück. Er verließ die Galaxy über die Rutsche. Draußen roch es nach Sieg. Sie hatten Besatzung und Passagiere der Galaxy zusammengetrieben und versorgten die Verwundeten. Der norwegische Oberst wandte sich an Urban: „Wie schaut es drinnen aus?" „Es sieht leider so aus", sagte Urban, „daß ich Ihnen rate, Ihre Männer und die Gefangenen so schnell wie möglich eine Meile von hier wegzubringen. Sie haben ungefähr noch drei Minuten Zeit dazu." „Eine Sprengladung?" „Der Zünder läuft." „Nichts zu machen?" Urban winkte ab. 165
„Schätze, wenn ich den Zünder nur anfasse, fliegen mir, Ihnen und Ihren Männern dreihundert Tonnen Flugzeug um die Ohren." „Dann nichts wie weg!" Der Norweger gab seine Befehle. Sie warfen sich in die Jeeps. In jedem hockten acht Mann. Die Gefangenen trieben sie vor sich her. Einer stolperte und blieb keuchend liegen. Sie kümmerten sich nicht um ihn. Er schrie um Hilfe, aber sie fuhren weiter. Jetzt kam es auf jeden Meter, auf jede Sekunde an. Sie hatten den Sicherheitsabstand noch nicht erreicht, da holte sie der erste weiße Blitz, dann die Druckwelle ein. Gleißendem Licht, trommelfellzerfetzendem Donnern, lungenwürgenden Druckwellen folgte ein heißer, orkanartiger Wind. So stark, daß es die Jeeps umwarf und die Insassen der Wagen davonflogen, als hätten sie Flügel. Urban katapultierte es in weitem Bogen in den Schnee. Er kam flach auf, was die Aufprallwucht verteilte. Einigermaßen benommen verfolgte er das grandiose Schauspiel, mit dem das größte Flugzeug der Welt samt Ladung in immer neuen Explosionen in Fetzen ging, wie die Trümmer hochwirbelten, wie sie heruntertrudelten, von neuen Explosionen zum Tanzen gebracht wurden und wieder gen Himmel flogen. Bis das letzte Gramm Sprengstoff seine zerstörerische Energie verzehrt hatte. Der Rest war nur noch ein Scheiterhaufen, von Kerosin genährt. Eine 166
schwarze Wolke drehte sich empor, von den Höhenwinden zu einem Zopf geflochten. Es hatte ungefähr drei Minuten gedauert, bis der Wert, mit dem man fünftausend Einfamilienhäuser hätte bauen können, in Schutt und Asche fiel. Immerhin war die Erde noch einmal vor einer neuen Apokalypse bewahrt worden. - Fragte sich nur, für wie lange. Robert Urban kehrte mit dem NATO-Einsatzkommando nach Tromsoe Air-Base zurück. Nach Süden bis Oslo brachte ihn ein norwegisches Kurierflugzeug. Von Oslo nahm er die Lufthansa. Die Maschine nach Frankfurt ging aber erst am nächsten Morgen. Ziemlich müde und ein wenig angegammelt mietete er ein Hotelzimmer. Um 7.00 Uhr ließ er sich das Frühstück bringen. In einer Stunde wollten die Norweger einen Wagen vorbeischicken, der ihn zum Flughafen fuhr. Er war gerade bei der ersten Tasse Kaffee, als geklopft wurde. Er glaubte, der Etagenkellner würde noch etwas nachliefern, gebratenen Speck oder Räucherfisch. Ehe er ihn hereinbat, öffnete sich die Tür. Drei Männer standen erst draußen, dann im Raum. Sie trugen Anzüge von sehr urigem Schnitt und in traurigen Farben. Gewiß waren sie von guter Qualität, aber keine Fabrik für Herrenoberbekleidung im Westen konnte sich leisten, Sakkos und Hosen noch auf diese Weise zu schneidern. Urban ahnte, woher sie kamen. Der kleinste von ihnen blieb an der Tür stehen, um den anderen die Rücken freizuhalten. Er zog eine 167
Pistole, eine unförmige Makarow. Jetzt war die Palette ihrer Möglichkeiten nicht mehr allzu groß, auch wenn sie ein Auftreten hatten wie Wiener Zuhälter. Der Größere - er duftete nach Maiglöckchen und hatte hochpoliertes Schuhwerk - trat näher. Urban ließ sich nicht beim Frühstück stören. Mit ausgestrecktem Zeigefinger deutete der Russe auf ihn. „Du bist Mister Dynamit. Jetzt hör zu!" „Nein, ihr hört mir zu", antwortete Urban. „Ich will dir was sagen." Urban schluckte den Bissen runter und spülte mit Kaffee nach. „Nein, ich sage euch etwas." Der Russe daraufhin drohend: „Die Situation ist einfach und folgendermaßen." Urban wischte sich die Lippen ab und meinte grinsend: „Irrtum, sie ist höchst kompliziert und ganz anders." Er steckte sich eine MC an und fand diese hilflosen drei Agenten, denen man ansah, wie heiß für sie das Pflaster in Oslo wurde, bedauernswert, „Sie ist insofern anders, als ihr ein paar Stunden zu spät kommt, Genossen." „Colonel Urban, diskutieren ist nicht, was wir beabsichtigen." Jetzt lachte Urban so schallend, daß es sie irritierte. „Mittlerweile, irgendwann, hat der KGB spitzge168
kriegt, daß da irgend etwas läuft, und zwar an ihm vorbeiläuft, obwohl es lange so aussah, als käme es direkt aus Moskau. Drei Falken fliegen nach Westen. Nichts als das Spiel eines Verrückten." „Wir wissen nur eines, daß in Spitzbergen eine Galaxy mit tödlichem Material steht", sagte einer. Urban verbesserte den Sprecher. „Stand", sagte er und fügte noch hinzu: „Das ist, Genossen, um es in modernem Hochrussisch zu formulieren, alles ein ziemlich abgelutschertes Bonbon. Macht's gut! Grüßt mir den General. Ich habe keine Zeit mehr, muß nämlich noch aufs Klo." „So kommst du uns nicht davon!" zischte der Wortführer der drei. „Fürchte doch", entgegnete Urban und schaute auf die Platinrolex. „In fünf Minuten kommt der Chef der norwegischen Abwehr und bringt mich zum Flughafen. Wir haben noch einiges zu bereden. Auf Wiedersehen, also." „Er blufft", sagte der Russe an der Tür. „Er blufft nicht", entgegnete Urban. „Normalerweise bin ich sehr gastfreundlich. Aber leider habe ich euch nicht erwartet." Er ging hinüber ins Badezimmer, sperrte die Tür zu, ließ die WC-Spülung gehen und kletterte aus dem Fenster. Nur das Oberlicht war zu öffnen. Einigermaßen mühsam erreichte er die Treppe des Hinterausgangs. Er hatte die Absicht, die drei KGB-Kollegen, von hinten aufzurollen. Dazu genügte die Hilfe des Hotelpersonals. Er wußte, wie scheu Russen sein 169
konnten. Doch als sie vom Flur her sein Zimmer betraten, war es leer. Vor die Entscheidung gestellt, etwas zu unternehmen oder nichts zu unternehmen, hatten sie die beste Wahl getroffen. Sie hatten etwas getan. Sie waren gegangen. - Nur eine Mahorkakippe hatten sie in den Teppich getreten. Als Urban in München ankam, war er kaputt und durch den zweifelhaften Sieg, der den Bau der EBombe aufgehalten, aber wohl nicht für immer verhindert hatte, niedergeschlagen. Während er an nichts anderes dachte, als achtundvierzig Stunden Gott und der Welt adieu zu sagen, fand er die Telegramme vor. Sie kamen alle von Lorrene. Einmal telegrafierte sie, daß sie versucht habe, ihn anzurufen. Dann fragte sie an: Warum meldest Du Dich nicht? Im letzten Kabel, es kam aus Ibiza, deutete sie an, daß sie auf ihn warte. Es sei ein Haus in den Bergen, er würde sie schon finden - vorausgesetzt, er suche sie überhaupt! Er war nicht sicher, ob er es tun würde. Auf irgendeine Weise war sie in all diese Dinge verquickt gewesen. Das nahm seinen Gefühlen die Power, mehr als eine Vollbremsung mit vier Rädern. Er dachte an sie, aber die Gedanken lösten nichts aus. Es war eben wie meistens, ein Tag zu spät und um eine Mark zuwenig. ENDE 170