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DAS BUCH Nordbritannien im 6. Jahrhundert nach Christus: Während der junge Herrscher Bridei und sein...
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DAS BUCH Nordbritannien im 6. Jahrhundert nach Christus: Während der junge Herrscher Bridei und seine Feenfrau Tuala die Geschicke ihres Volkes lenken und einen Angriff gegen die gälischen Unterdrücker planen, soll die seit ihrer Kindheit am Hof von Fortriu gefangene Prinzessin Ana gegen ihren Willen an den Fürsten von Dornwald verheiratet werden. Doch schon Anas Weg in ihre neue Heimat hoch im Norden wird von dunklen Zeichen überschattet. Und auch ihr Beschützer, Brideis Leibwächter Faolan, ist nicht, was er zu sein scheint. Als Ana in Dornwald ankommt, stellt sich nicht nur heraus, dass ihr zukünftiger Bräutigam ein grausamer Tyrann ist, Ana und Faolan stoßen auf eine unglaubliche Verschwörung: der junge Piktenkönig soll verraten und ermordet werden. Als schließlich Krieg ausbricht, gerät Ana in einen schrecklichen Konflikt und sie muss sich entscheiden - zwischen ihrem Land und ihrer Liebe ... Nach »Die Königskinder« der atemberaubende zweite Roman der großen Saga um das geheimnisvolle Volk der Pikten und ihren größten König - ausgezeichnet als bester Roman mit dem renommierten Aurealis Award. DIE AUTORIN Juliet Marillier wurde in Dunedin, Neuseeland geboren. Bereits seit frühester Kindheit begeisterte sie sich für keltische Musik und irische Geschichten. Heute lebt die Mutter von vier erwachsenen Kindern mit ihrem Mann in Australien, in der Nähe von Perth. Seit ihrem ersten Roman, »Die Tochter der Wälder«, ein internationaler Bestseller, wird sie in einem Atemzug mit Marion Zimmer Bradley genannt. Heute zählt Juliet Marillier neben Elizabeth Haydon und Jennifer Fallon zu den neuen weiblichen Stars der Fantasy. Mehr über Autorin und Werk unter: www.julietmarillier.com
JULIET MARILLIER
Die Herrscher von Fortriu UNTER DEM NORDSTERN ZWEITER ROMAN Aus dem australischen Englisch von Regina Winter Deutsche Erstausgabe WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN Titel der Originalausgabe: BRIDEI CHRONICLES BOOK 2: BLADE OF FORTRIU Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100 Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier München Super liefert Mochenwangen. Deutsche Erstausgabe 09/2006 Redaktion: Ralf Reiter Copyright © 2005 by Juliet Mariliier Copyright © 2006 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH Printed in Germany 2006 Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Karte: Andreas Hancock Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN-10: 3-453-52082-3 ISBN-13: 978-3-453-52082-0 http://www.heyne.de KAPITEL EINS Im Schatten eines zugigen Korridors unterhalb der Festung Dunadd in Dalriada trafen sich zwei Männer. Dieser Ort war weit entfernt von den Augen und Ohren des gälischen Hofs und für geheime Gespräche sehr geeignet. Die Informationen, die hier ausgetauscht wurden, waren gefährlich; in den falschen Händen konnten sie tödlich sein. Die Zukunft von Königreichen hing von ihnen ab. »Und, was hast du für mich?« Solche Gespräche hatten immer ein bestimmtes Muster, und der jüngere der beiden Männer, schlank, dunkelhaarig und mit verschlossener Miene, hielt sich mit der Mühelosigkeit langer Übung daran. »Einen Namen«, sagte der andere, ein hoch gewachsener Bursche im rostbraunen Hemd der Diener an König
Gabhrans Hof. »Bridei wird sich schnell in Bewegung setzen müssen, wenn er nicht von Norden und Süden her in die Zange genommen werden will.« »Erspar mir die Analyse«, knurrte der Dunkelhaarige. »Welcher Name?« »Und was bekomme ich dafür?« . Der dunkelhaarige Mann verzog den Mund zu einer schmalen Linie. »Du erhältst deine Informationen.« In dem darauf folgenden Schweigen sah sich der hoch gewachsene Mann noch einmal nach allen Seiten um. Es war -9still. Das Mondlicht, das schräg durch den weit entfernten Eingang fiel, gestattete den beiden nicht, einander genau zu sehen. In einem solchen Licht kann es schwierig sein zu wissen, ob jemand lügt oder die Wahrheit sagt; es ist schwer zu sagen, ob man einem anderen vertrauen kann. Beide Männer waren Experten, was solche Einschätzungen anging, denn das ganze Leben eines Spions bestand aus kalkulierten Risiken. »Es geht um einen Fürsten der Caitt«, flüsterte der hoch gewachsene Mann schließlich. »Alpin von Dornwald. Er befehligt eine große Streitmacht. Der Bündnisvertrag könnte noch vor dem nächsten Frühjahr abgeschlossen werden, es sei denn, deine Leute unternehmen etwas dagegen.« Der dunkelhaarige Mann nickte. »Wer von den anderen Fürsten im Norden würde ihn unterstützen? Umbrig?« »Das glaube ich nicht. Aber sie sind verwandt. Alpin hat einen seiner Bastard-Söhne in Umbrigs Haushalt untergebracht. Ich weiß nicht, wie die anderen Fürsten zu ihm stehen. Es heißt, Alpin hat unter den Seinen sowohl Verbündete als auch Feinde.« »Ich verstehe.« »Dein König wäre gut beraten, sich schnell um Alpin zu kümmern«, sagte der hoch gewachsene Mann. »Du solltest bald mit ihm sprechen.« Die Miene des Dunkelhaarigen änderte sich nicht. »Ich bin wohl kaum in der Position, das zu veranlassen«, sagte er ruhig. »Ich verschaffe ihm nur Informationen. Ich bin kein Vertrauter des Königs.« »Da habe ich anderes gehört.« »Dann hat man dich falsch informiert«, stellte sein Gegenüber fest. »Und jetzt sag mir, was du hast.« Der Blick des Dunkelhaarigen war kälter geworden. »Gabhran sollte einen Blick auf seine östlichen Verteidigungsanlagen werfen«, sagte er. »Falls diese Sache mit den Caitt ihn - 10 nicht aufhält, könnte Bridei schon im Frühjahr des nächsten Jahres bereit sein, mit seinem großen Feldzug gegen die Galen zu beginnen. Zum Fest der Reife ist eine Ratssitzung geplant, und alle hoffen, dass Drust der Eber sich Bridei nun doch anschließen wird.« Der hoch gewachsene Mann brummte zustimmend. Es war ein gerechter Austausch von Informationen gewesen. Was sie damit anfangen würden, ging den Lieferanten nichts mehr an. Die beiden trennten sich ohne Abschiedsworte. Der dunkelhaarige Mann hatte noch einen langen Weg vor sich; der hoch gewachsene Mann war in Dunadd zu Hause, und er ging nun den dunklen Flur entlang und hinaus in den Schutz der Bäume, den Kopf schon voller Gedanken an sein Abendessen und eine angenehme Nacht im Bett einer gewissen zuvorkommenden Dame. Ein Junge, der zum Angeln hinausgegangen war, fand ihn ein paar Tage später. Die Leiche war aufgedunsen, weil sie im Wasser gelegen hatte, zum Teil unter Steine geklemmt. Man konnte gerade noch feststellen, dass er nicht ertrunken, sondern auf kundige Art mit etwas Festem und Dünnem wie einer Harfensaite stranguliert worden war. Was den Dunkelhaarigen anging, so befand er sich zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr in Dunadd, sondern eilte bereits zurück über die Grenze des gälischen Territoriums von Dalriada nach Fortriu, dem Land von Bridei, König der Priteni. Den Beutel Silber, den er von seinen Herren in Dalriada erhalten hatte, hatte er gut versteckt. Er würde noch einmal bezahlt werden, wenn er Brideis Festung am Weißen Hügel erreichte. Inzwischen hatte er an einem geheimen Ort beträchtlichen Wohlstand angehäuft, den er aber wahrscheinlich nie benutzen würde, da er weder Frau noch Kinder und auch keine Geschwister hatte, zumindest keine, die er anerkannte, nicht einmal sich selbst gegenüber. - 11 Er reiste mit dem Tempo eines Mannes, der sich durch nichts von seinem Ziel ablenken lässt. Er fand es bedauerlich, dass er seinen Kontaktmann hatte unschädlich machen müssen, aber es war nicht unerwartet geschehen. Pedar war nicht dumm gewesen, und Faolan hatte gewusst, dass er früher oder später die Wahrheit über seine enge Beziehung zu Bridei herausfand. Er hatte den Informanten leben lassen, bis der Wert dessen, was Pedar lieferte, schließlich die Gefahr einer Entdeckung nicht mehr ausgleichen konnte. Faolans Herren in Dalriada mussten unbedingt glauben, dass er ihnen treu ergeben war. Er konnte nur hoffen, dass Pedar sich fest an die Regeln der Spionage gehalten und niemandem von seinem Verdacht erzählt hatte. Dennoch würde er sich nun eine Weile aus Dunadd fern halten müssen, nur um ganz sicher zu sein. Vielleicht würde Bridei ihn für einige Zeit zu Carnachs Kriegern schicken, die sich auf den großen Krieg vorbereiteten. Oder er könnte ihn nach Rabenbrunn senden, wo eine weitere Armee für den letzten Vorstoß westwärts nach Dalriada ausgebildet wurde. Es wäre angenehm, sich eine Weile der ehrlichen Kriegskunst widmen zu können. Faolan war nun schon sehr
lange am Rande von Königshöfen umhergetanzt und hatte genug davon, ständig Masken zu tragen. Nun gut, wenn das Wetter hielt, würde er den Weißen Hügel noch vor dem nächsten Vollmond erreichen. Vielleicht, dachte Faolan, während er unter dem klaren Himmel eines frischen Frühlingstags an einem See entlang weiter nach Osten eilte, konnte er auch einfach wieder in seine alte Rolle als Leibwächter schlüpfen. In den fünf Jahren, seit Bridei unter etwas ungewöhnlichen Umständen zum König gewählt worden war, war ihm niemand nahe genug gekommen, um Hand an ihn oder seine Frau zu legen. Dafür hatte Faolan gesorgt. Wenn er selbst nicht anwesend war, gab es ein von ihm selbst aufgestelltes unfehlbares System von Stellvertretern, die in seiner Abwesenheit für die Si- 12 cherheit des Königs sorgten. Dennoch, nichts war so wirkungsvoll wie seine eigene Gegenwart an Brideis Seite. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass es sich beinahe anfühlte, als ginge er nach Hause. Ana war seit ihrem zehnten Lebensjahr Geisel am Hof von Fortriu gewesen. Nun, nach mehr als acht Jahren, wusste sie, dass etwas, was einmal eine Art Gefängnis gewesen war - wenn auch eines, in dem die Gefangene am Tisch des Königs aß und auf feinem Leinen und unter weicher Wolle schlief -, sich in ein Zuhause verwandelt hatte. Als Bridei seine neue Festung am Weißen Hügel baute und mit dem Hof von Fortriu dorthin umzog, war Ana mit allen anderen dorthin umgezogen. Brideis Frau Tuala war eine ihrer engsten Freundinnen. Das, dachte Ana nun, während sie Brideis winzigem Sohn folgte, der durch den geschützten Garten hinter der Festungsmauer stapfte, stellte für Bridei ein Problem dar. Schließlich dienten Geiseln wie Ana dem Zweck, Druck auf ihre Verwandten auszuüben. Sie stellte eine Sicherheit gegen eine mögliche Revolte ihres Vetters dar, der König der Hellen Inseln und ein Vasall Brideis war. In diesen acht Jahren hatte es kein Anzeichen von Unruhe auf ihren Heimatinseln gegeben, also hatte ihre Gefangenschaft offenbar die gewünschte Wirkung gezeigt. Andererseits hatte sich zu Hause kaum jemand für Anas Wohlergehen interessiert; es schien, als hätte ihre Familie sie vergessen. Dieser Tage war es die Festung auf dem Weißen Hügel, die sich wie ihr Heim anfühlte, und sie konnte sich nicht vorstellen, dass Bridei ihr Schaden zufügen würde, selbst wenn ihre Verwandten sich plötzlich gegen ihn wandten. »Hoppla!«, rief Ana, als Dereleis Kinderbeine umknickten und er abrupt auf sein gut gepolstertes Hinterteil fiel. Der Kleine schien einen Augenblick überrascht zu sein, schien nachzudenken, ob er nun weinen sollte oder nicht, dann - 13 streckte er ihr die Arme entgegen und machte ein Geräusch, das »Heb mich hoch!« bedeutete. »Also gut, komm.« Ana hob sich das Kind auf die Hüfte; der Junge war klein für sein Alter und hatte etwas von dem seltsamen Aussehen seiner Mutter geerbt, die Haut hell wie Milch, die Augen groß und ernst. Sein Haar hingegen war nussbraun und lockig wie das von Bridei. Wer hätte das gedacht, damals in Banmerren, als sie noch beide Schülerinnen gewesen waren? Tuala war inzwischen verheiratet und Mutter, und Ana war immer noch hier in Fortriu und unverheiratet. Von königlichem Blut von Fortriu zu sein, fühlte sich häufig mehr nach einem Fluch als nach einem Privileg an, besonders, wenn man eine Frau war. Im Land der Priteni wurde die Königswürde über die weibliche Linie vererbt: Könige wurden gewählt, und zwar nicht aus einer Gruppe von Königssöhnen - es mussten Söhne von Frauen wie Ana sein, die einer ungebrochenen Linie königlicher Frauen entstammten. Das machte sie zu einer wichtigen Figur in dem großen Spiel politischer Strategie. Wer immer Ana heiratete, konnte Vater von Königen werden. Bridei als König von Fortriu würde schließlich darüber entscheiden, wohin sie gehen würde und wann. Er würde vielleicht der Form halber die Erlaubnis ihres Vetters einholen, aber da Anas Eltern beide schon lange tot und ihre Verwandten weit weg auf den Inseln waren, war es letzten Endes Brideis Entscheidung. Als sie noch ein kleines Mädchen mit dem Kopf voller Geschichten gewesen war, hatte Ana auf Liebe gehofft. Inzwischen wusste sie, wie dumm es war, so etwas zu erwarten. Und dennoch, für einige bedeutete Liebe alles. Man brauchte sich nur Bridei und Tuala anzusehen. Dass diese beiden einmal heiraten würden, war allen unmöglich vorgekommen. Der mächtige Broichan, der Druide des Königs und Brideis Pflegevater, war dagegen gewesen. Ana schaute hinunter auf Derelei, der nun eine Strähne ihres langen - 14 Haares in der Faust hielt und seine neuen Zähne daran ausprobierte. Er erwiderte den Blick mit Augen so ernst wie die einer Eule. Es ließ sich nicht leugnen, dass er der Sohn seiner Mutter war; das Erbe der Anderwelt war ihm deutlich ins Gesicht geschrieben, und man sah es auch an den zierlichen Händen, an diesem ungewöhnlichen Ernst. Bridei hatte das Undenkbare getan, er hatte aus Liebe geheiratet, und daher hatte Fortriu nun eine vom Guten Volk als Königin. Ana lächelte. Tuala war eine gute Königin, stark, mutig und weise. Die Menschen hatten sie akzeptiert, so anders sie auch sein mochte, und ihr Mann liebte sie mit einer Ergebenheit, die jeder erkennen konnte, der die beiden miteinander sah. Dennoch, Bridei war König und herrschte über ein Reich voller mächtiger und gefährlicher Männer. Am Ende würde auch Ana nur eine weitere nützliche Spielfigur sein, die er im Augenblick in Reserve hielt, um sie einzusetzen, wenn das für ihn von Vorteil sein würde. »Mama!«, verkündete Derelei entschlossen, ließ Anas Haar los und drehte sich zu dem Torbogen am anderen Ende des Gartenwegs um. Es war ein sonniger Frühlingstag; Sonnenlicht fiel auf die Ranken, die die Steinmauer überzogen, und bildete ein Muster in Schattierungen von Grün. Niemand war zu sehen und es war auch nichts zu
hören außer den entfernten Stimmen der Bewaffneten auf den Zinnen und dem Zwitschern der kleinen Vögel, die in der Nähe nach Nistmaterial suchten. Das Kind jedoch starrte weiter zum Torbogen hin und zappelte vor Erwartung in Anas Armen. Sie wartete. Kurze Zeit darauf erschien Tuala durch den Torbogen, gefolgt von einer anderen Frau. »Mama!«, verkündete die Kinderstimme, und Derelei beugte sich gefährlich vor. Ana reichte ihn seiner Mutter. »Er wusste, dass du auf dem Weg warst«, sagte sie. »Er scheint es immer zu wissen.« »Ana, sieh nur, wer hier ist!«, sagte Tuala, setzte sich auf eine Steinbank und nahm ihren kleinen Sohn auf den - 15 Schoß. Die zweite Frau kam auf Ana zu, die erst jetzt erkannte, wen sie vor sich hatte. »Ferada! Wie schön, dich zu sehen! Du muss uns unbedingt gleich erzählen, was es Neues gibt!« Ferada, die Tochter des einflussreichen Fürsten von Rabenbrunn, war in den Tagen, bevor Bridei König wurde, zusammen mit Ana und Tuala unterrichtet worden. Unglückliche Umstände, deren Einzelheiten den meisten nicht bekannt waren, hatten verlangt, dass sie nach Hause zurückkehrte, um sich um den Haushalt ihres Vaters zu kümmern und ihre beiden kleinen Brüder großzuziehen, und es war lange her, dass sie Brideis Hof auf dem Weißen Hügel besucht hatte. Ferada sah älter aus; älter, als sie sollte, dachte Ana. Die beiden Jahre, die sie ihren Freundinnen voraus hatte, konnten unmöglich der Grund für die müden Falten zu beiden Seiten von Feradas Mund sein, und auch nicht für ihre ungesunde Blässe. Eins jedoch war unverändert: Feradas Kleid war makellos, ihr Haar sorgfältig frisiert, ihre Haltung kerzengerade. »Neuigkeiten?«, sagte Ferada und faltete die Hände im Schoß. »Ich fürchte, ich habe nichts Aufregendes zu erzählen. Ich habe gelernt, wie man Haushaltsbücher führt. Es ist mir gelungen, Uric und Bedo mit der Hilfe durchreisender Gelehrter ein wenig Weisheit beizubringen - ja, Tuala, ich habe mich in dieser Sache an Broichans Vorbild gehalten, denn ich wusste, welch hervorragende Arbeit deine alten Lehrer bei dir und Bridei geleistet hatten. Den Jungen geht es gut; Bedo kommt im Unterricht gut zurecht, und Uric wird immer besser. Inzwischen halten sie sich selbstverständlich für Männer, die über solch häuslichen Dingen stehen. Es geht fast nur noch um Pferde und Waffen. Vater glaubt offenbar, dass ein Aufenthalt bei Hof zu ihrer Bildung beitragen wird.« »Ich war immer der Ansicht, dass sie gutherzige kleine Jungen sind«, sagte Tuala. Derelei hatte sich auf ihrem Schoß niedergelassen und umklammerte eine Falte ihres - 16 Kleids; sie streichelte ihm mit der kleinen weißen Hand das lockige Haar. »Soll das bedeuten, dass Talorgen nun Bewerber für dich sucht, Ferada? Du weißt, dass hier bald eine große Versammlung stattfinden wird; viele Fürsten werden zum Weißen Hügel kommen, um über die Strategie für den Krieg zu debattieren. Es ist eine gute Gelegenheit...« »Ich glaube, alle, die Interesse an mir hatten, als ich sechzehn war, sind inzwischen verheiratet«, sagte Ferada. »Wenn Vater sich tatsächlich umsieht, dann unter den Älteren, die nicht mehr so verzweifelt darauf bedacht sind, so schnell wie möglich Väter einer großen Herde von Kindern zu werden.« Sie warf einen Blick zu Derelei, dann begegnete sie Tualas fragendem Blick und bemerkte ihre amüsierte Miene. »Nichts für ungut, Tuala. Du weißt, dass ich nicht dich und Bridei meine. Habt ihr beide nicht zwei quälende Jahre von der Verlobung bis zur förmlichen Handreichung gewartet? Aber Tatsache ist, Frauen wie Ana und ich werden vor allem als Zuchtstuten betrachtet, und wenn wir zwanzig sind, glauben alle, dass wir unsere beste Zeit hinter uns haben. Ich muss sagen, ich bin überrascht, dich immer noch hier zu sehen, Ana. Es freut mich selbstverständlich; ihr habt mir beide schrecklich gefehlt. Aber ich hätte erwartet, dass du schon vor vielen Jahren geheiratet hättest. Es gab sicher keinen Mangel an interessierten Bewerbern. Du warst schon mit dreizehn eine Schönheit und bist es immer noch.« Ana senkte den Blick. »Ich denke, Bridei hat jemanden im Sinn, einen Fürsten aus dem Norden, sagt er. Vielleicht im nächsten Sommer. Ich fühle mich tatsächlich, als hätte ich schon eine Ewigkeit gewartet.« Die Anmerkung darüber, die beste Zeit hinter sich zu haben, hatte sie beunruhigt, aber sie wollte nicht, dass ihre Freundinnen das bemerkten. Als Tochter der königlichen Linie musste sie ihre Pflicht stets über alles andere stellen, - 17 wie es Ferada selbst vor fünf Jahren getan hatte, als sie nach Hause zurückgekehrt war, um nichts weiter als eine Haushälterin zu sein. Während dieser Zeit hatte sie zahllose Gelegenheiten zur Ehe ausschlagen müssen. Wenn dies so weiterging, würden sie noch beide als zahnlose alte Weiber enden, ohne Mann und ohne Kinder. »Tatsächlich«, warf Tuala ein, »gab es an dieser Front neue Entwicklungen. Faolan ist wieder da, und Bridei möchte später mit dir sprechen, Ana. Soweit ich weiß, hat es mit diesem Fürsten Alpin zu tun. Ich habe nicht nach Einzelheiten gefragt; er wollte allein mit Faolan sprechen.« Ana schauderte. »Dieser Mann! Wenn ich ihn sehe, frage ich mich immer, wessen Blut er diesmal an seinen Händen hat und in welcher dunklen Ecke er demnächst lauern wird. Ich weiß nicht, wie Bridei ihm vertrauen kann.« Tuala sah sie an. »Bridei hat sich noch nie in einem Menschen getäuscht«, sagte sie leise. »Fehlinformationen, Täuschung, plötzlicher Tod, das ist nun einmal das Wesen von Faolans Arbeit. Er ist vor allem deshalb von hohem Wert, weil er solche Dinge so kundig und ohne Widerspruch erledigt.«
»Er hat sich gegen sein eigenes Volk gewandt«, sagte Ana. »Ich verstehe nicht, wie jemand so etwas tun kann.« »Nein?« Ferada zog die Brauen hoch. »Und was ist mit dir, die du zufrieden am Hof des Volks lebst, das dich als Geisel genommen hat, als du noch zu jung warst, um auch nur zu wissen, was das bedeutet? Du fühlst dich zu Hause bei Menschen, die dir die Gelegenheit genommen haben, bei deiner eigenen Familie aufzuwachsen. Das unterscheidet sich nicht so sehr davon, dass Faolan Informationen gegen die Galen sammelt.« »Immer mit der Ruhe«, sagte Tuala. »Ferada, ich bewundere deine Offenheit; das habe ich immer getan. Aber nun bist du hier auf dem Weißen Hügel und du solltest dich ein wenig mäßigen, selbst unter Freunden. Ana sollte kein Ur- 18 teil über den Attentäter des Königs fällen und du keins über Ana. Am Hof hat sich viel verändert, seit Drust der Stier Ana als Geisel nahm. Man kann sie tatsächlich kaum mehr als Geisel bezeichnen; ich betrachte sie eher als eine Schwester.« »Dennoch«, sagte Ferada, »fällt mir auf, dass Bridei sie nicht nach Hause geschickt hat.« Nach Hause, dachte Ana und eine Wolke der Traurigkeit schien plötzlich über ihr zu hängen. Die Hellen Inseln. In den ersten Jahren hatte sie sich danach gesehnt, in dieses Reich zurückzukehren, wo die Seen das helle Licht des offenen Himmels widerspiegelten und die grünen Hügel sanft in Weideland übergingen. Der Ort, an dem sie aufgewachsen war, war voller alter Steinhügel und geheimnisvoller Steintürme, plötzlicher Klippen und wirbelnder Meeresvögel. Aber wenn Bridei sie jetzt zurückschickte, würde es ihr vorkommen wie ein weiteres Exil. Was die andere Möglichkeit anging, die nun unmittelbar bevorstand, so wurde ihr schon bei dem Gedanken daran kalt von schlechten Vorahnungen. Die Caitt waren vom Blut der Priteni wie ihr eigenes Inselvolk. Sie musste an den einzigen Caitt-Anführer denken, den sie seit ihrer Kindheit gesehen hatte: Umbrig von Sturmklippe, groß wie ein Bär und beinahe eben so wild und zerzaust. Umbrig war unerwartet bei den Königswahlen erschienen, hatte seine Stimme für Bridei abgegeben und ihm damit geholfen, Drust den Eber, König des südlichen Priteni-Reichs von Circinn, aus dem Feld zu schlagen. Die Leute sagten, die Caitt seien alle so riesig und wild. Ana schreckte innerlich zurück vor dem Gedanken daran, mit einem solchen Mann das Bett teilen zu müssen. »Derelei ist heute den ganzen Weg entlanggegangen und hat sich dabei nur an meiner Hand festgehalten«, wechselte sie das Thema. »Er wird es bald schon ganz allein können. Er macht dir Ehre, Tuala.« »Hin und wieder erwische ich Broichan dabei, wie er ihn - 19 ansieht und zweifellos nach unheimlichen Begabungen Ausschau hält; er will offenbar wissen, wie viel von meinem eigenen Blut unser Sohn hat und wie viel von Bridei.« »Broichan kann mir nichts vormachen«, sagte Ana. »Er betet den Jungen geradezu an, soweit der Druide eines Königs überhaupt Zuneigung zeigen kann. Du solltest ihn einmal beobachten, wenn er glaubt, dass du nicht hinsiehst. Derelei ist für ihn wie ein Enkel.« »Und, hat der Kleine welche?«, fragte Ferada und betrachtete forschend den kleinen Jungen, der still auf dem Schoß seiner Mutter saß und seine Finger ansah. »Seltsame Begabungen, meine ich?« Ana setzte zu einer Antwort an, aber Tuala war schneller. »Ich wäre froh, wenn er einen Zauber heraufbeschwören könnte, der ihm das Zahnen leichter macht«, sagte sie. »Wir bekommen leider nicht genug Schlaf. Ferada, ich sehe dir an, dass du noch mehr Neuigkeiten hast. Ich habe ein Gerücht gehört, dass Talorgen die Bekanntschaft einer gewissen schönen Witwe gemacht hat. Oder ist das nur Klatsch?« Es war interessant, dachte Ana, wie geschickt es Tuala gelang, das Gespräch von möglichen besonderen Fähigkeiten ihres Sohns abzulenken, und damit auch von ihrer eigenen Begabung zu gewissen Formen der Magie. Als Königin schien sie entschlossen zu sein, solchen Themen aus dem Weg zu gehen, als könnten sie in irgendeiner Weise gefährlich werden. Ana wusste, wie hervorragend Tuala den Blick einsetzen konnte; ihre Fähigkeit, mittels einer Schale Wasser zu sehen, was in weiter Ferne, in der Vergangenheit oder der Zukunft geschah, hatte ihr in Banmerren, der Schule für Weise Frauen, einen legendären Ruf eingebracht. Und es gab eine seltsame Geschichte über die Zeit, als Tuala davongerannt war, und über das, was sie und Bridei im Wald von Pitnochie erlebt hatten, eine Geschichte, über die keiner von beiden jemals viel sprach. Dennoch, man musste sich an die Wünsche der Königin halten. Wenn sie eine - 20 ganz gewöhnliche Frau sein wollte, wenn sie es vorzog, dass ihr Sohn nichts Außergewöhnliches an sich hatte, musste man so tun als ob, zumindest nach außen hin. Ferada seufzte. »Vater möchte um die Erlaubnis bitten, seine Ehe aufzulösen«, sagte sie finster. »Wir wissen nicht, ob Mutter immer noch lebt oder wo sie sich aufhält, nur dass sie sich nicht mehr in Fortriu befindet. Vater hat gute Gründe, das zu tun. Ich höre, es ist der Druide des Königs, der über solche Dinge entscheidet. Ich denke, Broichan wird es erlauben.« »Und?«, bohrte Ana nach. »Vater möchte wieder heiraten. Der Name der Witwe ist Brethana, sie ist noch ziemlich jung. Ich mag sie, jedenfalls so weit, wie ein Mädchen die zweite Frau ihres Vaters überhaupt mögen kann. Den Jungen ist es egal. In ihrem Alter interessieren sie sich ausschließlich für ihre eigenen Aktivitäten. Sobald Vater heiratet, wird mich in Rabenbrunn nichts mehr halten.«
Es gab eine Pause, während der Tuala und Ana einen viel sagenden Blick wechselten. »Weißt du«, sagte Tuala, »ich bin ganz sicher, dass das Nächste, was Ferada uns erzählen will, nichts mit Bewerbern und Ehen zu tun hat. Ich erkenne diesen Blick bei ihr.« »Hm«, meinte Ana, »meinst du diesen Blick, den sie immer hat, bevor sie etwas vollkommen Unmögliches von sich gibt?« »Ich bin nicht sicher, ob ich es euch schon erzählen sollte«, sagte Ferada. »Ich muss erst mit Fola sprechen.« »Fola! Willst du etwa nach Banmerren zurückkehren und eine Weise Frau werden?« In Tualas Tonfall lag der gleiche Unglaube, den Ana empfand; ihre Freundin war eine ausgesprochen kluge und begabte junge Frau, aber die beiden hatten nie den Eindruck gehabt, dass Ferada eine Zukunft im Dienst der Göttin bestimmt war. - 21 Feradas Wangen röteten sich. »Ich gehe tatsächlich nach Banmerren. Oder vielleicht werde ich auch hier auf dem Weißen Hügel mit Fola sprechen, wenn sie zur Versammlung kommt. Und nein, ich habe nicht vor, Priesterin zu werden. Ich habe einen Vorschlag für Fola. Es ärgert mich, dass so viele junge Frauen aus adligem Haus bestenfalls eine halbe Ausbildung erhalten, und auch das überwiegend in Haushaltsdingen. Ich weiß, dass Fola solche Mädchen in Banmerren aufnimmt, wie sie es bei Ana und mir getan hat. Aber dem, was dort geboten wird, fehlt es an Struktur und Tiefe, und sobald eine Schülerin anfängt, sich für etwas zu interessieren, muss sie auch schon wieder nach Hause oder an den Hof zurückkehren, um dort Männern vorgeführt zu werden, oder ins Bett irgendeines Mannes, damit er sie schwängern kann. Sieh mich nicht so an, Tuala; ich weiß, du hast andere Erfahrungen gemacht, aber glaube mir, für die meisten Mädchen ist Ehe eine brutale und willkürliche Angelegenheit. Wenn es einen Ort gäbe, wo junge Frauen ein wenig länger bleiben, ein wenig mehr lernen und vielleicht so etwas wie Weisheit entwickeln könnten, bevor man sie in diese Welt der Männer stößt, hätten sie vielleicht die Möglichkeit, sich besser um sich selbst zu kümmern und eine wirkliche Rolle in der Welt zu spielen. Und das will ich tun. Ich will eine Schule gründen, oder genauer gesagt die, die Fola bereits betreibt, erweitern, um Mädchen aufzunehmen, die keine Priesterinnen werden sollen, sondern ein Leben in der Welt führen werden. Ich habe vor, Fola zu fragen, ob sie zulassen wird, dass ich so etwas organisiere, und ob sie mir die Leitung übertragen wird. Ich bin mit Uric und Bedo recht gut zurechtgekommen. Und ich lerne rasch. Was meint ihr?« Tuala lächelte. »Eine verwegene Idee und vollkommen typisch für dich, Ferada«, sagte sie. »Es würde mich überraschen, wenn Fola kein Interesse hätte. Was sagt dein Vater dazu?« - 22 »Er fühlt sich nicht so recht wohl damit, aber seine neue Ehe ist im Augenblick für ihn das Wichtigste. Außerdem ist er mir einiges schuldig. Ich habe bei der Führung seines Haushalts und der Ausbildung der Jungen gute Arbeit geleistet; ich habe ihm fünf Jahre meines Lebens gegeben.« »Du wirst sicher auf einigen Widerstand stoßen«, sagte Tuala. »Broichan wird eine solche Idee bestimmt nicht unterstützen. Er glaubt nicht daran, dass Frauen eine Ausbildung brauchen, wenn man von denen, die der Göttin dienen sollen, einmal absieht. Viele Männer werden es für unnötig, für eine Zeitverschwendung halten. Und einige werden es für gefährlich halten. Nicht alle Männer sind wie dein Vater, der dich stets ermutigt hat, offen zu sagen, was du denkst.« »Und was soll aus dir selbst werden?«, fragte Ana. »Wie sollst du einen solchen Plan durchführen, wenn du einen Ehemann und eine Familie hast, um die du dich kümmern musst? Du hast doch nicht vor, das zu opfern ...« »Opfern?« Feradas Ton war ätzend. »O Ana! Kannst du dir denn überhaupt nicht vorstellen, dass eine Frau auch ohne einen Mann tiefere Erfüllung im Leben finden kann?« Ana spürte, wie ihre Wangen zu glühen begannen. »Ich ...«, begann sie. »Es tut mir Leid«, sagte Ferada in ganz anderem Ton. »Ich habe dich gekränkt; das wollte ich nicht. Es ist so lange her, seit ich im Stande war, offen zu sprechen, und mein Kopf ist voller Ideen. Ich möchte unterrichten. Ich möchte etwas leisten. Ich möchte sicher sein, dass ich mein Leben nicht verschwende.« »Ich habe auch nicht vor, das meine zu vergeuden«, sagte Ana, die Feradas Worte nicht einfach übergehen konnte. »Dann sollest du hoffen, dass der Mann, den Bridei für dich aussucht, ein Ausbund männlicher Tugend ist«, sagte Ferada. »Tuala, wirst du mit Bridei über meine Pläne spre- 23 chen? Es würde mir gewaltig helfen, wenn er mich unterstützt.« »Selbstverständlich«, sagte Tuala. »Und du solltest ihn selbst ebenfalls fragen. Ich bin sicher, dass er dir zustimmen wird. Er bewundert dich, Ferada.« Das brachte Ferada seltsamerweise zum Schweigen, und in diesem Augenblick begann der Kleine sich zu rühren und holte mehrmals tief Luft, was wie das Vorspiel zu einem Unwetter wirkte. »Wir sollten nach drinnen gehen«, sagte Tuala, stand auf und setzte sich das Kind geschickt auf die Hüfte. »Derelei hat Hunger. Du kannst so gut mit ihm umgehen, Ana.« »Ich mag Kinder«, sagte Ana. »Es ist schön zu sehen, wie er wächst, und all die kleinen Veränderungen zu
beobachten.« »Das ist alles kein Problem, solange es anderer Leute Kinder sind«, stellte Ferada fest, »und du sie wieder abgeben kannst, wenn sie anfangen zu schreien, schmutzige Windeln haben oder mitten in der Nacht einen Wutanfall bekommen. Du kannst dich glücklich schätzen, dass du noch keine fünf oder sechs von ihnen am Rock hängen hast. Wenn sie uns verheiratet hätten, als sie angefangen haben, von Bewerbern zu sprechen, hätten wir jetzt jede eine solche Brut.« »Ich hätte nichts gegen ein weiteres Kind«, sagte Tuala lächelnd. »Wenn die Leuchtende mir eine Tochter gewährt, Ferada, werde ich sie ganz bestimmt zu dir schicken, damit du sie ausbilden kannst.« »Immer vorausgesetzt, Fola erwischt sie nicht vor mir«, sagte Ferada. Bevor der König seinen Hof auf den Weißen Hügel verlegte, hatte dort eine uralte Festung gestanden, die aus Steinen und gebranntem Holz gebaut gewesen war. Tief im Unterholz konnte man an den steilen Hängen des Hügels immer - 24 noch die Reste dieser Mauern sehen. Hier und da ließ ein bröckelnder Überrest bearbeiteten Steins im Schatten hoher Kiefern eine Zinne, einen Brunnenrand, ein Stück gepflasterten Wegs erahnen; der Bach, der in vielen Windungen über die Flanken des Weißen Hügels floss, plätscherte dabei in natürliche und in von Menschen erbaute Becken und Teiche. Brideis neue Festung wurde allgemein für uneinnehmbar gehalten. Die steilen Hänge des Hügels selbst, die schroffen, massiven Festungsmauern, die Aussicht, die durch strategische Lücken in dem Sichtschutz aus Bäumen gewährt wurde, gaben den Bewohnern bei der Verteidigung viele Vorteile. Von hier aus konnte man sowohl nach Norden zum Meer als auch nach Süden zu den wechselhaften Wassern des Schlangensees und den dunklen Hügeln am Rand des großen Tals schauen. Das Vorhandensein frischen Wassers, die breite, ebene Fläche oben auf der Hügelkuppe, nun mit Häusern und Hallen bebaut, und die innerhalb der Mauern liegenden Gärten und Werkstätten würden den Bewohnern erlauben, eine Belagerung so lange zu überstehen, bis die Angreifer ihrer müde wurden oder bis Verstärkung eintraf. Östlich des Weißen Hügels, an der Küste, stand die alte Festung von Caer Pridne, in der der königliche Hof von Fortriu unter Brideis Vorgänger und vielen anderen Königen vor ihm ein Heim gefunden hatte. Bridei war schon als junger Mann auf den Thron gelangt, war aber entschlossen gewesen, vieles zu verändern. Mit einundzwanzig, nach zwei Jahren der Herrschaft, waren die Bauarbeiten am Weißen Hügel beendet gewesen, und er hatte mit der Tradition gebrochen und sein Hauptquartier dorthin verlegt. Das erste Fest an seinem neuen Hof war seine Hochzeit mit der damals kaum sechzehnjährigen Tuala gewesen. Weitere Veränderungen folgten. Die Waghalsigste war Brideis Entscheidung, ein gewisses Ritual zu Beginn des Abstiegs des Jahres in die dunkle Zeit zu verändern. Als dies zum letzten - 25 Mal versucht worden war, hatte der beleidigte Gott schreckliche Wiedergutmachung gefordert. Aber die Fürsten und Ältesten akzeptierten Brideis Entschluss. Es war bekannt, dass sowohl er als auch sein Druide Broichan an Stelle des alten Ritus nun andere durchführten, die sehr fordernd waren. Die Menschen fragten nicht nach Einzelheiten. Sie vertrauten ihrem jungen König. Bridei hatte etwas an sich, das andere mitriss: leidenschaftliches Engagement und glühende Energie, gemildert von Vorsicht, Subtilität und Klugheit. Immerhin war Bridei als Broichans Pflegesohn aufgewachsen, und Broichan war ein mächtiger Magier und der wichtigste Berater sowohl des alten als auch des neuen Königs. Zu Anfang hatte es Geflüster gegeben. Broichan war nicht sehr beliebt; viele fürchteten seine Macht und misstrauten seinem geheimen Wissen. Einige behaupteten, Broichans Pflegesohn als König zu haben, wäre beinahe so, als säße der Druide selbst auf dem Thron. War dieser Bridei nicht nur eine sorgfältig geschaffene Marionette, die die Politik des Landes nach Broichans Plänen steuern sollte? Vom ersten Tag seines Königtums an war allerdings klar geworden, dass Bridei seinen eigenen Kopf hatte und unabhängige Entscheidungen traf. Er bildete einen Rat, in dem ein kluges Gleichgewicht aus älteren, erfahreneren Männern und jüngeren Fürsten herrschte, die bereit waren, neue Ideen zu unterstützen und kalkulierte Risiken einzugehen. Er brachte Druiden mit Heerführern zusammen, Gelehrte mit Männern der Tat. Gelegentlich holte er auch Frauen in seinen Beraterkreis; nicht nur die Priesterin Fola, die die Schule leitete, in der Mädchen im Dienst der Göttin ausgebildet wurden, sondern auch die Witwe des alten Königs, Rhian von Powys, und manchmal seine eigene Frau Tuala. Die Entscheidungen wurden zwar überwiegend auf dem Weißen Hügel getroffen, aber Bridei richtete auch anderswo Festungen ein. Caer Pridne hatte immer noch eine Gar- 26 nison, Stallungen, Übungshöfe und eine Rüstkammer. Rabenbrunn im Südwesten und Dornenband im Südosten waren strategische Außenposten unter der Führung einflussreicher, loyaler Anführer. Alle wussten, dass Bridei vorhatte, Fortriu genügend zu stärken, um gegen die Galen ziehen zu können. Alle wussten, dass dieser Zeitpunkt näher kam. Wann es jedoch tatsächlich passieren würde, war eine Angelegenheit für Wetten. Am Tag nach Faolans Rückkehr zum Weißen Hügel wurde Ana in die königlichen Gemächer gerufen. Derelei war draußen im Garten mit seinem Kindermädchen, und in dem Raum, den Bridei und Tuala für inoffizielle Besprechungen benutzten, saßen König und Königin und warteten auf die Geisel von den Hellen Inseln. Ihre ernsten Gesichter beunruhigten Ana. Sie hatte eine gewisse Vorstellung davon, was auf sie zukam, aber sie hatte
zumindest erwartet, dass Bridei die Nachricht als eine positive darstellen würde. Der kleine weiße Hund Ban, Brideis ständiger Begleiter, hatte neben dem Sessel des Königs gesessen, aber als Ana hereinkam, stand er auf und starrte sie aufmerksam an. Als er sie als Freundin erkannte, ließ er sich wieder nieder. Ana ging weiter in den Raum hinein und sah, dass eine vierte Person anwesend war: Faolan, Brideis Attentäter, Brideis rechte Hand, Brideis Spion lehnte an dem schmalen Fenster an der Wand, seine Gestalt im Schatten. Sein Blick erfasste sie, als sie sich an den Tisch setzte. Ana sah ihm ins Gesicht und erkannte dort keine Spur der Bewunderung, die andere Männer ihr entgegenbrachten, sondern kühles Abschätzen: Der Gäle kalkulierte ganz offen ihren Wert als vermarktbare Ware. »Ich nehme an, du weißt, warum wir dich gerufen haben«, sagte Bridei, während Tuala ihnen Met eingoss. Ana war plötzlich angespannt und nervös. Sie nickte knapp. Das hier waren ihre Freunde. Sie aß jeden Tag mit ihnen. Sie spielte mit ihrem Sohn. Dennoch, Bridei hatte - 27 solche Macht über ihre Zukunft, dass es ihr einen Augenblick lang Angst machte. »Ich schätze, Faolan hat Neuigkeiten von diesem Caitt-Fürsten Alpin gebracht«, sagte sie und versuchte, sich ihre Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. »Er hat vielleicht Interesse an einer Ehe gezeigt?« Kurzes Schweigen. Offensichtlich war ihre Vermutung falsch. »Wir befinden uns in einer recht schwierigen Situation«, sagte Bridei, »und deshalb möchten wir dich um Hilfe bitten, Ana. Was wir tun müssen, ist nicht einfach. Es könnte eine große Veränderung für dich bedeuten.« Ana hatte keine Ahnung, was er meinte. »Wir haben dich hierher gerufen, wo wir unter uns sind, damit wir im kleinen Kreis mit dir sprechen und dir Zeit zum Nachdenken geben können«, fuhr Bridei fort. »Heute Abend wird es eine offizielle Beratung geben, bei der wir uns in dieser Angelegenheit entscheiden müssen. Faolans neueste Nachrichten haben die Sache dringend gemacht.« »Bridei«, sagte Tuala, »ich bin sicher, Ana würde es vorziehen, wenn du einfach alles erzählst. Du verlangst viel von ihr; sie muss alles wissen.« Faolan räusperte sich. »Du weißt selbstverständlich«, begann Bridei, »von dem großen Unternehmen gegen die Galen, das wir in naher Zukunft planen. Wenn die Götter es wünschen, werden wir unsere alten Feinde ein und für alle Mal aus dem Land der Priteni vertreiben können, und ihren christlichen Glauben mit ihnen. Dabei brauchen wir alle Verbündeten, die wir bekommen können. Circinn wurde gebeten, noch vor dem Sommer zur Versammlung zu kommen, wie du ebenfalls weißt. Wir haben große Hoffnung, dass Drust der Eber dieses Mal mit uns zusammenarbeiten wird, obwohl er die Missionare des Kreuzes in sein Land gelassen hat. Ich plane auch, so viele Verbündete in den nördlichen Reichen der Priteni zu suchen wie möglich.« - 28 »Meine Verwandten auf den Hellen Inseln?« Vielleicht wollte er sie entgegen all ihren Erwartungen nach Hause schicken. »Ich habe deinen Vetter bereits um Bewaffnete gebeten. In meiner neuesten Botschaft bitte ich auch um seine offizielle Zustimmung dazu, einem bestimmten Bewerber deine Hand anzubieten.« »Ich verstehe.« »Ana«, sagte Bridei freundlich, »du wusstest schon lange, dass so etwas bevorsteht. Du bist jetzt neunzehn Jahre alt und hast das Alter, in dem du erwarten konntest zu heiraten, bereits hinter dir gelassen.« »Sag es ihr einfach, Bridei«, warf Tuala mit ungewohnter Schärfe ein. »Ich hatte vor, mir den Fürsten, den wir für dich im Sinn hatten - Alpin von Dornwald - genauer anzusehen, bevor wir ihn ansprechen«, sagte Bridei. »Bisher ist Umbrig der einzige Anführer der Caitt, der uns seine Unterstützung gegen die Galen zugesagt hat. Die Caitt sind ein seltsames, stolzes und aggressives Volk. Alpin ist vielleicht der Mächtigste unter ihnen, und er ist am schwierigsten zu erreichen, da sein Territorium nicht nur abgelegen ist, sondern sich auch in der Mitte eines beinahe undurchdringlichen Waldes befindet. Botschaften brauchen auf diese Weise viel Zeit.« Ana dachte angestrengt nach. »Halten sich die Caitt nicht im Allgemeinen aus den Auseinandersetzungen anderer heraus?«, fragte sie. »Sie kamen hin und wieder mit ihren Kriegsschiffen zu den Hellen Inseln; ich kann mich erinnern, sie am Hof meines Vetters gesehen zu haben. Er beschwichtigte sie für gewöhnlich mit Geschenken.« »Sie gehören zu unserem eigenen Volk«, warf Tuala ein. »Sie haben das gleiche Blut und die gleiche Sprache wie Priteni anderswo in Fortriu, Circinn oder auf den Hellen Inseln. Und wenn Umbrig uns Krieger versprechen kann, könnte auch Alpin das tun. Es könnte sehr wichtig für uns sein.« - 29 Ana wartete. Sie hatte das Gefühl, dass ihr irgendetwas entgangen war. »Faolan«, sagte Bridei, »jetzt erzähle Ana endlich, was du herausgefunden hast; zumindest den Teil, bei dem wir übereingekommen sind, dass es sicher ist, darüber zu sprechen.« Faolan verschränkte die Arme und starrte ins Leere. Er war ein unauffällig aussehender Mann von durchschnittlicher Größe und drahtigem Körperbau, ein Mann, der in jeder Menschenmenge problemlos verschwinden konnte. Es gab nur eins an ihm, das auffällig war: Er hatte keine Gesichtstätowierungen, was, da
er eindeutig kein Druide oder Gelehrter war, deutlich machte, dass er nicht aus dem Land der Priteni kam. Ana nahm an, dass er als Spion darauf angewiesen war, dass man sein Gesicht sofort wieder vergaß. »Ich habe gehört, dass Alpin noch ein zweites Territorium beherrscht«, sagte er, »und zwar an der Westküste, wo er über einen geschützten Ankerplatz verfügt. Wenn meine Informationen zutreffen, kann man von diesem Ort aus leicht auf dem Seeweg nach Dalriada gelangen. Dies ist die erste wichtige Information, und wir können davon ausgehen, dass wir nicht die Einzigen sind, die diesen Caitt-Fürsten mithilfe von Anreizen auf ihre Seite ziehen wollen.« Anreiz. So hatte man sie noch nie genannt. »Und die zweite Information?«, fragte sie kühl. »Du verstehst sicher«, sagte Faolan, »dass du nicht alle Einzelheiten erfahren darfst; in den falschen Händen können solche Informationen sehr gefährlich sein.« Ana war empört. »Ich mag eine Geisel sein«, sagte sie in ihrem königlichsten Tonfall, »aber man kann sich auf meine Loyalität gegenüber Bridei verlassen. Ich missbillige solche Andeutungen.« Faolan schaute durch sie hindurch. »Unter Folter kann auch die Loyalität des stärksten Mannes brechen«, sagte er tonlos. »Man wird dir sagen, was du wissen musst, und - 30 nicht mehr. Alpin ist ein mächtiger Mann, viel mächtiger, als wir zuvor angenommen haben. Ich hörte, dass er kurz davor steht, ein Bündnis mit Gabhran von Dalriada abzuschließen. Wir müssen rasch handeln. Wir können uns nicht leisten, dass dieser westliche Ankerplatz in gälische Hände fällt, und auch nicht, dass Alpins Streitmacht an der Seite unserer Feinde gegen uns in den Kampf zieht. So einfach ist das.« »Ich verstehe.« Ana bemühte sich, ruhig zu bleiben. »Also habt ihr vor, ihm eine königliche Braut anzubieten?«, fragte sie Bridei. »Um diesen Mann noch mächtiger zu machen, indem ihr ihm die Möglichkeit gebt, einen König zu zeugen.« »Alpin ist wohlhabend«, sagte Bridei. »Er hat Land, Männer, Vieh und Silber. Es gibt nicht viel, was wir ihm bieten können. Wir können nur an den beiden Tatsachen ansetzen, die Faolan bei seinen Erkundungen erfahren hat. Eine ist, dass Alpin sich offenbar mehr Respekt und Status wünscht. In der Vergangenheit wurde er von den anderen Caitt-Anführern wie Umbrig nicht sehr hoch geachtet, obwohl Umbrig Alpins unehelichen Sohn in seinem Haushalt aufgenommen hat. Und zweitens ...« »Ist er nicht verheiratet«, sagte Ana. »Genau. Er ist Witwer und hat keine Kinder aus seiner ersten Ehe. Du siehst also, was für eine Möglichkeit dies darstellt.« »Bridei versteht, wie schwierig es für dich ist, Ana.« Tuala sprach mit klarer Stimme, aber sie wirkte verlegen. »Du hast eine solche Entscheidung zwar schon lange erwartet, aber es muss für dich trotzdem beunruhigend sein, dass es jetzt geschieht. Bitte stelle alle Fragen, die du hast; ich kann mir vorstellen, dass es dir jetzt, solange wir unter uns sind, leichter fallen wird als heute Abend im Rat.« Ana schluckte. »Warum ein Rat?«, fragte sie. »Steht diese Entscheidung nicht Bridei zu?« Einer Sache war sie sich - 31 sicher: Was sie selbst wollte, hatte überhaupt nichts zu bedeuten. »Meine Berater und Heerführer müssen Faolans Nachrichten aus erster Hand hören«, sagte der König. »Das ist wichtig.« Es kam Ana so vor, als hielten sie alle etwas zurück. »Es gibt noch mehr, nicht wahr?«, fragte sie und schaute von Tualas großen, sorgenvollen Augen zu Brideis ehrlichen blauen und begegnete dann Faolans finsterem, verschlossenem Blick. »Was ist es?« »Zeit«, sagte Faolan. »Wir haben keine Zeit. Du musst sofort aufbrechen. Das ist das Problem.« Ana starrte ihn an. Bridei seufzte. »Ja, das ist es, worum wir dich bitten müssen. Faolans Informationen nötigen uns zur Eile. Ich habe bereits einen Boten zu Alpin geschickt und ihm unser Angebot unterbreitet. Es ist jedoch in unserem besten Interesse, nicht auf eine schriftliche Antwort zu warten, sondern dich sofort nach Dornwald zu schicken. Du musst bis zum Sommer verheiratet und die Übereinkunft muss unterzeichnet sein. Wir müssen handeln, bevor Alpin ein Bündnis mit den Galen schließt.« »Jetzt schon - aber ...« Ana war sprachlos. Plötzlich war sie wieder zehn Jahre alt und eine aufgeregte kleine Besucherin am Hof von Fortriu, wo sie plötzlich erfuhr, dass sie eine Geisel war und nicht wieder nach Hause zurückkehren durfte. »Aber, Bridei - Tuala - wie könnt ihr mir das antun? Es bedeutet, dass ich mich schon auf den Weg machen muss, bevor ich auch nur weiß, ob er zugestimmt hat! Was, wenn ich auf seiner Schwelle stehe und ...« Sie konnte es einfach nicht in Worte fassen. Was, wenn er mich nicht haben will? Das würde eine schreckliche Schande sein! »Ana«, sagte Bridei, »ein Mann, der eine solche Braut ablehnt, wäre ein vollkommener Narr. Glaube mir. Er braucht dich nur anzusehen. Vergiss diese Zweifel. Wir sind über- 32 zeugt, dass deine körperliche Anwesenheit in Dornwald einer unserer wichtigsten Vorteile sein wird.« Das trug nicht gerade dazu bei, dass sie sich besser fühlte. »Man könnte das alles doch sicher ein wenig vorsichtiger anfangen«, widersprach sie. »Selbst wenn euer Feldzug bereits im nächsten Frühjahr beginnt,
könnten wir nicht wenigstens warten, bis der Bote mit Alpins Antwort zurückkehrt?« Alpin würde vielleicht sogar persönlich zum Weißen Hügel reisen, um sie zu holen. Auf diese Weise hätte sie zumindest ein wenig Zeit, ihn kennen zu lernen, bevor sie sich offiziell die Hände reichten. »Dann wäre immer noch Zeit für mich, vor dem nächsten Winter nach Dornwald zu gehen«, sagte sie. »Es muss jetzt sein.« Faolans Tonfall war endgültig. »Strategische Gründe. Gründe, von denen du besser nichts weiter weißt.« »Ich verstehe.« Ana zitterte; sie ballte die Fäuste und fragte sich, ob das, was sie empfand, Zorn oder Angst war. »Und wann genau ist jetzt?« Brideis Blick war voller Mitleid. »Sobald du bereit bist«, sagte der König. »Es müssen gewisse Vorbereitungen getroffen werden; jemand vom Hof wird dich begleiten, um sich die Situation in Dornwald in Ruhe anzusehen, bevor es zu einer abschließenden Übereinkunft zwischen dir und Alpin kommt. Ich werde dafür sorgen, dass du eine Eskorte erhältst. Du wirst ein wenig Zeit zur Vorbereitung von Kleidung und persönlichen Besitztümern haben. Tuala wird sich darum kümmern, dass du jede Hilfe bekommst, die du benötigst. Faolan wird später mit dir sprechen; er wird dich wissen lassen, was du brauchst. Das Gelände ist stellenweise schwierig, also wirst du nicht allzu viel mitnehmen können.« Nun schwiegen alle. Ana schaute ihre Hände an. »Jemand vom Hof«, sagte sie schließlich. »Das ist dann wohl Faolan?« Es war unmöglich, vollständig zu verbergen, wie sehr sie diesen Mann ablehnte. - 33 »Genau«, sagte Bridei. »Er ist hervorragend geeignet, die Situation einzuschätzen, wenn ihr Dornwald erreicht, und ein wahrer Experte in Angelegenheiten persönlicher Sicherheit.« Nun blickte sie auf und sah einen Ausdruck im Gesicht des Attentäters des Königs, der ihr wie ein Spiegel ihrer eigenen Gefühle vorkam. Es verschaffte ihr eine gewisse Befriedigung, dass dieses Arrangement auch ihm alles andere als willkommen war. »Du siehst müde aus, Ana«, sagte Tuala leise. »Du musst das alles erst einmal begreifen.« Die Freundlichkeit ihrer Freundin war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ana wusste, dass sie kurz davor stand, in Tränen auszubrechen oder laut ihr Widerstreben kund zu tun. »Das ist schon in Ordnung«, sagte sie forsch. »Diese Ratssitzung heute Abend - was wird dort von mir erwartet?« »Deine offizielle Zustimmung zur Handreichung. Einige Ratsmitglieder haben vielleicht Fragen an dich oder du an sie.« »Ich verstehe.« Und sie verstand es tatsächlich - sie sah eine Zukunft, in der bestimmte Dinge geschahen, ganz gleich, was sie sich selbst wünschte; eine Zukunft, in der sie vollkommen machtlos war. Pflicht: Das war es, worum es hier ging. Sie hoffte, dass Alpin von Dornwald ein freundlicher Mann war. »Entschuldigt mich.« Mit hoch erhobenem Kopf gelang es ihr, den Raum mit unbeeinträchtigter Würde zu verlassen. Sie wartete, bis sie in ihrem Zimmer war, bevor sie sich die ersten Tränen erlaubte. »Es gefällt mir nicht«, sagte der König von Fortriu eine Weile später zu seiner Frau, als Faolan das Zimmer verlassen hatte und die beiden allein waren. »Ich hatte immer gehofft, nicht nur die richtige strategische Verbindung für Ana zu finden, sondern auch einen Mann, von dem ich wusste, - 34 dass er freundlich zu ihr sein würde. Es widerstrebt mir, jetzt alles übereilen zu müssen.« »Sie ist sehr durcheinander.« Tuala seufzte. »Sie hat ihr Bestes getan, es nicht zu zeigen - sie ist sehr gut erzogen -, aber ich konnte ihr ansehen, dass sie den Tränen nahe war. Wenn es eine Möglichkeit gibt, es ihr leichter zu machen, sollten wir unser Bestes tun, diese Möglichkeit zu finden.« »Ich weiß.« Bridei streckte die Hand aus und kraulte Ban hinter den Ohren; seufzend legte der kleine Hund den Kopf auf den Fuß des Königs. Seit dem Tag, als Ban geheimnisvollerweise aus dem magischen Teich in Pitnochie erschienen war, in diesem bedeutungsschweren Winter der Königswahl, hatte er Brideis Seite kaum verlassen. »Ich weiß, wir verlangen viel von ihr. Aber Ana ist jetzt eine erwachsene Frau, und sie hat kein Geheimnis daraus gemacht, dass sie gern eigene Kinder hätte. Es wäre gut möglich gewesen, dass man sie schon mit vierzehn oder fünfzehn verheiratet hätte, wenn zu diesem Zeitpunkt das richtige Angebot eingetroffen wäre.« »Dennoch«, sagte Tuala, »jede Frau in ihrer Situation wird sich fragen, wie es weitergeht, wenn sie Dornwald erreicht und entdecken muss, dass ihr Verlobter ein Ungeheuer ist: pockennarbig oder ein Säufer oder einer, der seine Frau schlägt. Es wäre viel besser, wenn Alpin erst herkommen könnte, damit wir herausfinden können, was für eine Art von Mann er ist. Ana ist unsere Freundin, Bridei.« Er öffnete die Augen ein wenig. Seine Frau, schlank und aufrecht, saß ihm gegenüber. Ihr dunkles Haar hatte begonnen, sich aus den ordentlichen Zöpfen zu lösen, und lockte sich um ihr Gesicht. Ihre Augen waren die gleichen wie die von Derelei, groß, hell und klar. »Ich weiß«, sagte Bridei. »Und wäre ich nur das, wäre ich nur ihr Freund, würde ich ihr raten, unsere Bitte abzulehnen. Ich würde sie davor warnen, so eine lange und gefährliche Reise an einen Ort anzutreten, wo sie sich in die Hände eines Fürsten von - 35 Alpins Ruf begibt. Aber ich bin der König. Meine Entscheidungen müssen auf dem beruhen, was das Beste für Fortriu ist.« »Bridei, du weißt, dass ich dir diese Entscheidung nicht übel nehme«, sagte Tuala leise. »Ich verstehe ebenso wie du, dass es im Interesse des großen Ganzen notwendig ist. Auch Ana weiß das. Aber sie ist erschrocken und
verängstigt, wie es jede junge Frau unter diesen Umständen wäre. Ist es wirklich so wichtig, dass sie aufbricht, bevor wir Alpins Antwort erhalten?« »Wenn man Faolan glauben darf, ja. Ich habe mit Broichan gesprochen, und er ist zu der gleichen Ansicht gelangt. Wir bereiten uns nun seit Jahren auf diesen letzten Angriff gegen die Galen vor. Alles ist an Ort und Stelle. Wir haben getan, was wir konnten, um auf alle Entwicklungen gefasst zu sein. Oder zumindest glaubten wir das. Jetzt sieht es so aus, als wäre Alpin der unberechenbare Faktor, das Element, das das Gleichgewicht in die eine oder andere Richtung verändern könnte. Bisher war uns nicht klar, welchen Einfluss er hatte. Wir wussten auch nicht, wie ernsthaft er ein Bündnis mit Gabhran in Erwägung zieht. Ana ist unsere Lösung, Tuala, und so weh es mir auch tut, wir müssen sie jetzt auf den Weg schicken. Jeder Tag, der vergeht, während sie hier auf dem Weißen Hügel wartet, ist einer zu viel.« »Es ist gefährlich, nicht wahr? Der Weg nach Dornwald?« »Faolan wird schon dafür sorgen, dass ihr nichts zustößt. Er wird sich ein Bild von Alpin und den Gefahren machen, und wir werden verlangen, dass zwischen Anas Eintreffen in Dornwald und der Handreichung eine gewisse Zeit liegen muss. Das wird Ana zumindest Gelegenheit geben, ihren Verlobten ein wenig kennen zu lernen.« »Sie verachtet Faolan. Das ist seltsam; Ana ist ein so liebenswertes, sanftmütiges Geschöpf, das nie ein böses Wort über irgendjemanden sagen würde, aber bei ihm kann sie offenbar nicht über die Art seiner Arbeit hinwegsehen.« - 36 Bridei verzog das Gesicht. »Dieses Gefühl scheint gegenseitig zu sein; Faolan würde selbstverständlich keinen Auftrag ablehnen, aber er hat es mehr als deutlich gemacht, dass es nicht zu seinen Lieblingstätigkeiten gehört, Kindermädchen für verwöhnte Prinzessinnen und ihre Mitgifttruhen im Caitt-Territorium zu spielen. Tatsächlich hat er mir diverse Gründe aufgezählt, wieso diese Aufgabe besser für einen anderen Mann geeignet sei.« »Verwöhnt?« Tuala lächelte. »Er kennt sie nicht sehr gut, oder?« »Er hat vor, ihr jeden Tag Reitunterricht zu erteilen, bis sie aufbrechen. Offenbar geht er davon aus, dass sie kaum im Stande ist, von einem Ende des Hofs zum anderen auf einem Pferd sitzen zu bleiben, ohne sich zu beklagen, dass sie vollkommen erschöpft ist oder Rückenschmerzen hat.« »Das gefällt mir alles überhaupt nicht, Bridei«, sagte Tuala ernst. »Die ganze Situation ist so unsicher! Du hättest Ana doch auch den wirklichen Grund nennen können, wieso alles nun so schnell passieren muss.« »Ich halte mich an Faolans Rat«, sagte Bridei. »Er glaubt, je weniger sie weiß, desto weniger wird es ihr auffallen, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Ich handele in Anas bestem Interesse.« »Hm«, sagte Tuala. »Ana ist nicht dumm. Männer neigen dazu, das bei einer so schönen Frau wie Ana zu übersehen. Ich nehme an, sie hat längst selbst herausgefunden, um was es geht.« Es war Abend. Ana war schlicht gekleidet, in Tunika und Rock aus blau gefärbter Wolle mit cremefarbenen Bordüren, die in dunklerem Blau bestickt waren. Das lange blonde Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten. Nun ging sie durch den Garten, vorbei an zwei Wachen und einen Steinflur entlang, in dem Fackeln in Eisenhaltern brannten, und gelangte schließlich zu der Eichentür des Zimmers, wo man - 37 sie erwartete. Vor der Tür stand ein Mann mit einem Speer: Breth, einer von Brideis Leibwächtern. »Sie warten auf dich«, sagte er und öffnete ihr die schwere Tür. Die Ratssitzung hatte offenbar schon eine Weile gedauert; Krüge und Becher standen auf dem Tisch, und Männer, die sich unterhalten hatten, brachen das Gespräch abrupt ab, als Ana hereinkam. Sie hielt sich sehr gerade und ließ sich das nervöse Brennen in ihrem Magen nicht anmerken. »Willkommen, Ana«, sagte der König und erhob sich. Ban, der neben Brideis Stuhl saß, gab ein leises, aber nicht besonders ernst gemeintes Knurren von sich. »Bitte setz dich.« Ana schaute in den Kreis von Gesichtern. Es war ein kleiner Rat mit ausgewählten Teilnehmern, in dem die mächtigsten von Brideis Beratern saßen. Tuala befand sich an der Seite ihres Mannes und lächelte Ana ermutigend zu. Fola, die Weise Frau, die früher am Tag eingetroffen war, sah Ana fragend an. Fola hatte Ana wegen ihrer Hakennase immer an einen kleinen Raubvogel erinnert. An der Feuerstelle stand Broichan, der Druide des Königs, ein hoch gewachsener Mann in dunklem Gewand, dessen Haar zu einer Unzahl von mit bunten Fäden durchzogenen Zöpfen geflochten war. Seine Miene verriet nichts; Broichans Gesichtsausdruck war stets undurchschaubar. Brideis Berater Aniel und Tharan saßen mit ernsten Mienen da, außerdem waren die Fürsten Carnach und Morleo und Feradas Vater Talorgen anwesend. Hinter dem Stuhl des Königs stand Faolan. Ana begegnete seinem Blick und schaute schnell wieder weg. »Also gut«, sagte Bridei. »Ich habe den Mitgliedern des Rats die Situation beschrieben, und Faolan hat über seine Reise berichtet und über die Informationen, die er erhalten hat. Es tut mir sehr Leid, dass wir dir nicht mehr Zeit geben konnten, über die Sache nachzudenken, Ana. Wenn du zustimmst, wird das Königreich Fortriu tief in deiner Schuld - 38 stehen. Du hattest ein klein wenig Zeit, um nachzudenken; hast du nun noch weitere Fragen an uns?« Ana räusperte sich. Sie hatte den Nachmittag damit verbracht, mit Fragen zu ringen, die sie ohnehin nicht stellen konnte, Fragen, die überhaupt nichts mit Strategie, sondern mit persönlichen Dingen zu tun hatten. »Ich möchte
gern wissen, ob einer von euch Alpin von Dornwald einmal begegnet ist. Ob es jemanden gibt, der mir ein Bild von ihm machen könnte.« Sie warf Talorgen einen Blick zu, dann Carnach. Kriegerfürsten reisten viel und begegneten vielen Menschen. »Darf ich das vielleicht beantworten?« Das war der grauhaarige Berater Aniel. Bridei nickte. »Leider müssen wir das verneinen«, sagte Aniel. »Wir kennen Alpin alle nur vom Hörensagen. Seine Leute fürchten und achten ihn. Seine Festung liegt abgelegen in dichtem Wald. Eine solche Umgebung kann leicht zu Gerüchten führen, die das natürliche Unbehagen von Menschen verstärken.« »Es ist nicht unbedingt etwas Schlimmes, wenn sich jemand entscheidet, tief im Wald zu leben«, stellte Tuala fest. »Die Territorien der Caitt sind überwiegend wild und abgeschieden, sagt man uns. Und ich nehme an, jeder Fürst ist von seinem eigenen Mantel aus Geschichten umgeben.« »Es war von Ereignissen in der Vergangenheit die Rede«, sagte Ana, die Aniels Worte wenig tröstlich fand. »Was ist geschehen?« »Nichts Besonderes«, sagte Aniel. »Einige von Faolans Gewährsleuten haben angedeutet, dass Alpin dazu neigt, seinen eigenen Weg zu gehen. Isolation führt zu solchem Denken; Männer von diesem Schlag können in Kriegszeiten gefährlich sein, es mag vorkommen, dass sie ihre Bündnisse rasch wechseln. Daher müssen wir uns unbedingt mit Alpin anfreunden. Eine Heirat im Sommer und ein Erbe innerhalb eines Jahres wären unsere beste Möglichkeit, eine feste, dauerhafte Verbindung zu schmieden.« - 39 »Entweder das, oder wir eliminieren den Burschen.« Faolan hatte das ohne besonderen Nachdruck eingeworfen. »Das solltet ihr lieber sein lassen«, erwiderte Ana, »wenn ihr seine Streitmacht an eurer Seite und nicht an der eures Feindes sehen wollt.« Faolans Blick begegnete ihrem einen Moment, und sie schauderte. Seine Augen waren wie tot. Die Augen eines Mannes, der vergessen hat, wie man fühlt. »Genau«, bestätigte Talorgen. »Tatsächlich ist es von hoher Wichtigkeit zu verhindern, dass er seine Leute mit Dalriada vereint. Wir können uns nicht leisten, dass er sich mit Gabhran verbündet.« »So viel habe ich verstanden«, sagte Ana. »Broichan, dürfte ich deine Meinung zu dieser Angelegenheit hören?« Als Druide des Königs hatte Broichan das Ohr der Göttin. Wenn es tatsächlich ihr Wunsch war, dass Ana zustimmte, musste sie es ohne Zögern tun. »Ich habe vor Faolans Rückkehr eine Weissagung vorgenommen«, sagte Broichan mit seiner tiefen, befehlsgewohnten Stimme. »Mir wurde enthüllt, dass aus dem Norden Gefahr droht. Leider ist es sehr schwierig, verlässliche Informationen über die Caitt zu erhalten. Die gesamte Region ist karg und bergig, und das Wetter schreckt selbst die erfahrensten Reisenden ab.« Er betrachtete seine schlanken, knochigen Finger; an einem glitzerte ein Silberring in Form einer winzigen Schlange mit grünen Edelsteinaugen. »Das schlechte Vorgefühl, das diese Vision bei mir hervorrief, wurde von Faolans Nachrichten noch verstärkt. Als Gäle kann er sich an Orte begeben, die wir nicht betreten können. Wir müssen rasch handeln.« Ana verschränkte die Hände auf dem Rücken. »Mir ist vollkommen klar, dass ich es tun muss«, sagte sie, hielt sich so aufrecht wie möglich und versuchte, ihre Würde zu bewahren. »Das bedeutet allerdings nicht, dass ich glücklich - 40 darüber bin. Was soll ich tun, wenn ich Dornwald erreiche und Alpin sich weigert? Es ist ein langer Weg für nichts.« »Er wird sich nicht weigern«, sagte Aniel und wiederholte damit Brideis Aussage vom Nachmittag. Die anderen Männer im Raum nickten oder murmelten zustimmend; Ana konnte ihre Blicke auf ihrem goldenen Haar, auf ihrer Figur in der blauen Tunika, auf ihrem Gesicht spüren, das ein leidenschaftlicher Verehrer einmal mit einer wilden Rose in Blüte verglichen hatte. Sie spürte, wie sie verlegen errötete. »Du verstehst sicher«, sagte Talorgen, »dass eine sehr gefährliche Möglichkeit, die uns im Kampf gewaltig schwächen könnte, ausgeschlossen wird, wenn du Alpin heiratest und er sich mit uns verbündet. Ich möchte dich nicht mit den Einzelheiten langweilen, aber ich bin sicher, auch du erkennst, wie einfach eine Streitmacht zu Schiff, die Dalriada von Alpins Ankerplatz aus unterstützt, unsere Pläne zunichte machen könnte. Wenn wir andererseits ein gewisses Maß an Einfluss auf diesen Ankerplatz erhalten, könnte sich das deutlich zu unserem Vorteil auswirken.« Ana sah ihn an. Man hätte denken sollen, dass er als Feradas Vater besser wusste, wie sie sich fühlte. Aber zumindest hielt er sie nicht für zu dumm, mit ihr über strategische Einzelheiten zu sprechen. »Das verstehe ich«, sagte sie. »Ich weiß, um was es bei diesem Krieg geht und wieso es so wichtig ist, Alpin als Verbündeten zu gewinnen. Es geht nur alles so schnell. Ich habe kaum Zeit, mich vorzubereiten...« »Der Weg nach Dornwald ist weit.« Faolans Tonfall war neutral, distanziert. »Du wirst unterwegs mehr als genug Zeit haben, darüber nachzudenken.« »Wie lange?« Sie sah ihn stirnrunzelnd an. »Für eine Gruppe Reisender, die mit Frauen unterwegs sind, mehr als ein Mond, selbst wenn das Wetter günstig sein sollte. Krieger oder Boten kommen schneller voran.« Ana wandte sich wieder Bridei zu. »Mein König, hast du
- 41 in deiner Botschaft an Alpin erwähnt, dass ich bereits auf dem Weg bin?«, fragte sie. »Sodass er es ein paar Tage vorher erfährt und Zeit hat nachzudenken, bevor ich eintreffe?« »Das habe ich getan«, sagte der König. Nun waren ihr die Fragen ausgegangen. Alle schienen darauf zu warten, dass sie mehr sagte. Die falschen Worte lagen ihr auf der Zunge, zornige Worte, gekränkte Worte, nicht die Worte einer Prinzessin der Priteni, sondern die eines verängstigten Mädchens, das zu einem vollkommen Fremden geschickt werden soll. Sie schluckte sie herunter. »Meine Zustimmung zu dieser Sache ist selbstverständlich nur eine Formalität.« Sie hörte selbst, wie angespannt sie klang, und versuchte, das zu ändern. »Ich werde morgen mit meinen Vorbereitungen beginnen. Ich hoffe, ich kann damit unserer Sache helfen. Es würde mir nicht gefallen, wenn meine Anstrengungen umsonst wären.« Niemand sagte etwas. Ana sah Tränen in Tualas Augen und einen Ausdruck resignierten Mitgefühls in denen von Fola. »Ich wünsche euch eine gute Nacht«, sagte sie. »Ich werde mich zurückziehen. Möge die Leuchtende über eure Träume wachen.« Selbst der König stand auf, als sie den Raum verließ. »Sie will nicht gehen«, sagte Tuala zu Bridei. »Das wurde bei jedem ihrer Worte deutlich. Sie hat Angst. Wer weiß schon, als was für ein Mann sich dieser Alpin erweist?« Bridei saß nachdenklich in seinem Privatgemach am Feuer und hatte seinen kleinen Sohn auf den Knien. Die Beratung war vorüber. Die künftige Braut würde sich auf den Weg machen, sobald Faolan die Eskorte zusammengestellt hatte. Als König war Bridei daran gewöhnt, Entscheidungen nach einer sorgfältigen Einschätzung von Gefahren und Vorteilen fällen zu müssen. Aber diese Entscheidung fiel ihm schwerer als die meisten anderen. - 42 »Das ist ein Grund, warum ich Faolan mitschicke«, sagte er. An seinen Schläfen begannen die Kopfschmerzen. Er schloss die Augen und lehnte sich zurück; das warme, entspannt dösende Kind auf seinem Schoss fühlte sich irgendwie tröstlich an. »Er mag diesen Auftrag für unter seiner Würde halten, aber ich verlasse mich darauf, dass er dafür sorgt, dass Ana in Sicherheit ist, bevor er Dornwald wieder verlässt. Er kennt sich gut genug aus, um einschätzen zu können, was Alpin tatsächlich vorhat, und um das künftige Verhalten des Fürsten vorherzusagen.« »Aber er wird nicht erkennen können, ob er einen guten Ehemann abgibt«, sagte Tuala leise. »Ana versteht, um was es geht«, sagte Bridei. »Sie wird so gut geschützt sein, wie es nur möglich ist. Wenn es aus irgendwelchen Gründen Schwierigkeiten gibt, kann die Eskorte sie zum Weißen Hügel zurückbringen. Faolan nimmt zehn Bewaffnete mit. Du weißt, dass er ein fähiger Mann ist.« »Das genügt nicht. Ich mache mir Sorgen, Bridei; es fühlt sich einfach nicht richtig an. Komm, gib mir Derelei. Er gehört jetzt ins Bett.« Bridei hob das schlafende Kind hoch und legte es in ihre Arme. »Er wird Ana fehlen«, sagte Tuala. »Sie hat ihn sehr gern.« »Sie wird schon bald ein eigenes Kind haben.« Tuala trug den Jungen aus dem Zimmer. Als sie eine Weile später zurückkehrte, sah Bridei das Glitzern von Tränen in ihren Augen »Du weinst«, sagte er erschrocken. So zart sie auch aussehen mochte, Tuala verfügte über eine innere Kraft, die ihn schon beeindruckt hatte, als sie fünf Jahre alt gewesen war. Sie ließ ihn nicht oft sehen, dass sie weinte. »Wegen Ana? Es tut mir Leid ... komm her...« Er nahm sie - 43 in die Arme und drückte die Wange an ihr dunkles Haar. »Ich bedauere sehr, dass es auf diese Weise geschehen muss, Tuala. Aber gleichzeitig weiß ich auch, dass ich es tun muss. Wenn ich nicht sofort etwas unternehme, um Alpin auf unsere Seite zu ziehen, gefährde ich damit das Leben von Hunderten von Männern.« »Es ist nur so ungerecht.« Tuala lehnte sich an ihn und schlang ihm die Arme um die Taille. »Dass sie und so viele andere Frauen sich auf solch lieblose Tauschhandel einlassen müssen, während du und ich... wir haben gegen so viele Regeln verstoßen, um Zusammensein zu können, Bridei. Wir haben uns nur von der Liebe leiten lassen. Wir haben uns Broichans Anordnungen und dem üblichen höfischen Protokoll widersetzt. Aber Ana lassen wir überhaupt keine Wahl. Sie ist eine meiner besten Freundinnen und war das schon seit jenen Tagen, als wir zum ersten Mal spürten, was Liebe bedeutet.« »In Banmerren?« Bridei lächelte. »Ich denke, ich habe es schon lange davor gespürt.« Die Erinnerungen an eine winzige Tuala mit im Wind wehendem Haar, die sich auf einer gefährlichen Felsspitze um ihre eigene Achse drehte, stand ihm lebhaft vor Augen, und er umarmte sie fester. »Außerdem haben die Götter auf unsere Heirat herabgelächelt. Selbst Druiden müssen sich einer solchen Autorität beugen.« Und als sie nicht antwortete, sagte er: »Tuala? Es tut mir wirklich Leid. Ich werde Faolan strenge Anweisungen geben. Wenn irgendetwas nicht in Ordnung sein sollte, wird er Ana sofort nach Hause bringen. Er hat bis jetzt noch jeden Auftrag peinlich genau ausgeführt.« Tuala löste sich von ihm, nahm seine Hände und blickte zu ihm auf. »Ich hoffe, dein Vertrauen zu ihm ist gerechtfertigt«, sagte sie. »Ich weiß, er ist dir ein guter Freund, und er kennt sich in vielen Dingen hervorragend
aus. Aber von Frauen hat er nicht die geringste Ahnung.« - 44 KAPITEL ZWEI Es kam Ana übertrieben vor, dass Faolan sie jeden Morgen und bei jedem Wetter diese ausführlichen Übungen durchführen ließ. Sie lernte, auf ein Fingerschnippen hin in den Sattel oder vom Pferd zu steigen und ihr Pony sofort zu zügeln, wenn sie ein bestimmtes leises Pfeifen hörte. Sie hatte den Verdacht, dass Faolan seinen Ärger an ihr ausließ; es war nur zu deutlich, dass er glaubte, er sollte anderswo sein, vielleicht irgendwo im Kampf, wo er anderer Männer Blut vergoss, oder, wahrscheinlicher noch, lauernd im Schatten und mit einem großen Messer in der Hand. War das nicht, was Attentäter taten? Dieser hier jedoch war außerdem auch noch ausgesprochen begabt, wenn es darum ging, mit zusammengekniffenen Augen dazustehen und eine Feindseligkeit auszustrahlen, die man beinahe anfassen konnte. Aber schon am ersten Tag unterwegs erkannte Ana, wie wichtig die Übungen gewesen waren. Als sie am Rand der Lichtung, auf der sie ihr Lager aufschlagen wollten, vom Pferd stieg, spürte sie einen dumpfen Schmerz, der sich über den unteren Teil ihres Rückens ausbreitete. Sie konnte noch gehen, aber ihre Beine fühlten sich an wie Gelee. Faolan gab den Männern der Eskorte Befehle, und Ana bemerkte, dass er sie abschätzend ansah. Sie begegnete diesem Blick kühl, dann wandte sie sich ihrem Pferd zu. Es war - 45 nicht möglich gewesen, ihr eigenes Pony mitzunehmen; Faolan hatte erklärt, das Tier sei nicht stark genug, um mit diesem Ritt zurechtzukommen. Er hatte ihr ein zottiges, kräftiges, eher stures Pferd zugewiesen, und Ana hatte dazu geschwiegen. Sie hatte sich geschworen, sich nicht ein einziges Mal zu beschweren; diese Genugtuung wollte sie ihm nicht geben. Es war deutlich genug, was er über sie dachte: Er hielt sie für verwöhnt und schwach und nahm an, dass sie nicht viel über die Welt außerhalb der schützenden Mauern des Hofs wusste. In der Nähe stand die Dienerin, die sich um Ana kümmern sollte, wie angewurzelt da, verzog das Gesicht und drückte die Hände auf den Rücken. Sie war mit einem der Männer zusammen geritten und sah ziemlich mitgenommen aus. Ana behielt ihre Gedanken für sich. Sie hatten darauf bestanden, dass sie eine Dienerin mitnahm. Es war bedauerlich, dass keines der Mädchen, die im Stande waren, sich um ihre Garderobe zu kümmern, reiten konnte. Sie hätten ihr lieber ein Bauernmädchen mitgeben sollen; was zählte es schon, ob sie die schöne Kleidung einer adligen Dame säubern und flicken konnte, solange sie im Stande war, sich nützlich zu machen, wenn es wirklich zählte. »Schon gut, Darva«, sagte Ana grimmig. »Du wirst dich daran gewöhnen.« Darva reagierte mit einem leisen Wimmern. Seufzend führte Ana ihr Pony zu den anderen, pflockte es an und begann es abzureiben. Einer der Männer kümmerte sich um das Füttern und Tränken der Tiere. Das mitgenommene Futter würde nicht lange reichen, aber diese kräftigen Geschöpfe waren daran gewöhnt, auf den Waldwegen und den kargen Hängen zu finden, was sie konnten, und würden die Reise gut überstehen. »Einer von uns kann das übernehmen, Herrin«, sagte der Mann und deutete auf das Sackleinen, das sie benutzte, um das feuchte Fell des Tieres abzureiben. - 46 »Ich bin fast fertig«, sagte sie. »Es ist besser, wenn einer von uns es macht.« Er nahm ihr das Tuch ab, und sie wusste, dass sie gegen eine Regel verstoßen hatte. Sie lächelte und trat zurück, denn sie wollte sich nicht streiten. Ein paar Männer machten sich mit Bögen in der Hand auf den Weg in den Wald, offensichtlich, um für das Abendessen zu sorgen. Das Lager war rasch aufgeschlagen: ein kleiner zeltartiger Unterschlupf für Ana und Darva, ein Feuer zwischen Steinen und ein Platz für Vorräte und Gepäck. Die Männer würden eine Decke vom Sattel abschnallen und im Freien schlafen. Ana fiel eine Frage ein, die ein wenig schwierig zu stellen sein würde. Aber bevor sie noch Zeit hatte, darüber nachzudenken, erschien Faolan so plötzlich an ihrer Seite, dass sie zusammenzuckte. Noch etwas, womit sich Spione auskannten, dachte sie säuerlich. »Du wirst einen Platz brauchen, wo du dich in Ruhe waschen kannst«, sagte er. »Dort unten bei den Bäumen gibt es einen Bach. Ich habe dreißig Schritte entfernt im Wald eine Wache aufgestellt. Geh jetzt, solange es noch hell ist.« »Kannst du auch höflich bitten, oder gibst du stets Befehle?« Sie bedauerte die Worte, sobald sie sie ausgesprochen hatte; es hatte sich unhöflich und unbeherrscht angehört. Dieser Mann förderte etwas bei ihr zu Tage, von dem sie nicht gewusst hatte, dass es existierte. »Es tut mir Leid«, murmelte sie. »Geh«, wiederholte Faolan, als hätte sie nichts gesagt. »Nimm die Dienerin mit. Immer vorausgesetzt, dass sie laufen kann. Und beeile dich.« Er wandte sich ab, ging quer über die Lichtung und fing an, sich um andere Dinge zu kümmern. Die Bewaffneten folgten gehorsam seinen Befehlen. In der kurzen Zeit war es nur möglich, einen behelfsmäßigen Platz im Gebüsch zu finden, sich rasch Gesicht und - 47 Hände zu waschen und Kleidung und Haar ein wenig zu ordnen. Darva musste auf Anas Arm gestützt mithinken; es würde ihr am nächsten Morgen sehr schwer fallen, in den Sattel zu steigen. Sie würden drei solche Tage haben und dann eine Unterbrechung, denn am vierten Morgen sollten sie die Festung Abertornie erreichen, das Heim des Fürsten Ged; dort würden sie richtige Betten und warmes Wasser bekommen. Ana bezweifelte sehr, dass Faolan ihnen mehr als eine Nacht in solchem Luxus gönnen würde.
Er ging kein Risiko ein, nicht einmal zu Beginn der Reise. Es gab zehn Bewaffnete, und offensichtlich würden einige von ihnen die ganze Nacht rings um das Lager Wache stehen. Ana konnte sich nicht vorstellen, welche Gefahren sie nur einen Tagesritt vom Weißen Hügel entfernt erwarteten. Nach ihrer Ansicht sollten die Männer lieber schlafen, solange sie noch Gelegenheit hatten. Sie aßen am Feuer; zu Brot und Käse vom Weißen Hügel gab es Hasenfleisch, das auf den Kohlen gebraten wurde. Die Männer sprachen nicht viel. Faolan beobachtete Ana, als sie eine saubere Serviette aus ihrem Beutel nahm und sich Fett von Mund und Fingern wischte. Dann zogen sie und Darva sich ins Bett zurück, wenn man es denn ein Bett nennen konnte; zwischen ihr und dem festen Boden lag kaum mehr als eine gefaltete Decke, und an ihrem ganzen Körper, der noch vom Ritt des Tages wehtat, schien es keine Stelle zu geben, die nicht schmerzte. Die erschöpfte Darva schlief rasch ein. Ana spähte zwischen den Decken hindurch, die vor dem Unterstand hingen. Fünf Männer lagen am Feuer, die anderen fünf standen Wache. Faolan saß da und starrte in die Flammen, die seine finsteren Züge in ein flackerndes Muster aus Licht und Schatten verwandelten. Während Ana sich rastlos hin und her wälzte, blieb er reglos sitzen. Hin und wieder schaute sie erneut nach draußen, aber er bewegte sich bis auf die Augen offenbar nicht. In diesen Augen stand - 48 etwas, das Ana nicht verstand, eine Trostlosigkeit, die sie erschreckte. Sie schlief schließlich unruhig und schreckte immer wieder aus dem Schlaf. Mitten in der Nacht, als im Wald die Nachttiere lebendig wurden, riefen, zwitscherten, schrien, huschten, raschelten, sah sie, wie er mit einer fließenden Bewegung aufstand, sich streckte und die anderen weckte. Die Wache wechselte; fünf Männer kehrten ins Lager zurück, um sich hinzulegen, und fünf gingen davon, Messer oder Speere in der Hand. Faolan blieb am niedergebrannten Feuer, nun stehend, das Gesicht im Schatten. Ana erkannte, dass er es offenbar für seine Aufgabe hielt, sie zu bewachen. Sie fand das zutiefst beunruhigend. Kurz vor der Dämmerung schlief sie zum Geräusch von Darvas anhaltendem Schnarchen wieder ein. Sie zogen nach Norden und landeinwärts. Am dritten Tag überquerten sie einen breiten Fluss, dessen Wasser bis über die Pferdebeine reichte und die Stiefel der Reiter durchtränkte. Faolan ritt von Ana aus gesehen flussabwärts und behielt sie auf ihrem Pony genau im Auge. Auf der anderen Seite stieg sie ab, um sich das Wasser aus dem Rock zu wringen, und als sie ihn in der Nähe sah, sagte sie gereizt: »Ich kann reiten; das solltest du inzwischen wissen.« »Dennoch«, sagt Faolan. »Das hier war nur die erste Furt.« Sie stieg wieder auf, und die Reise ging weiter. Eine andere Frau hätte vielleicht ein Feuer verlangt, um sich zu trocknen, dachte sie, oder Ruhe, etwas zu essen oder etwas zu trinken. Eine andere Frau würde vielleicht zu dem Schluss kommen, dass sie auf keinen Fall weiter als bis Abertornie ziehen konnte, und wenn Alpin von Dornwald sie nicht genügend haben wollte, um dorthin zu kommen und sie zu holen, würde er eben ohne sie leben müssen. Ferada hätte sich ganz bestimmt schon längst widersetzt, da - 49 war Ana sicher. Ana würde das nicht tun. Sie richtete den Blick auf den geraden, irgendwie Ablehnung ausstrahlenden Rücken von Faolan, der vor ihr ritt, um abzuschätzen, wie sicher der Weg war, und sie kam zu dem Schluss, dass sie hier etwas beweisen musste, nicht nur ihm, sondern auch sich selbst. Man hatte sie zu ausgeprägtem Pflichtgefühl erzogen. Da gab es ihre Pflicht gegenüber Bridei und Tuala, die ihr ein Zuhause und so etwas wie eine Familie gegeben hatten. Und noch wichtiger war ihre Pflicht gegenüber Fortriu. Als Frau aus der königlichen Linie war sie verpflichtet, zu heiraten und Kinder zu bekommen: Ihre Söhne würden einmal das Recht haben, sich zur Königswahl zu stellen, und die Töchter könnten strategische Ehen eingehen wie sie selbst. Ihre Familie auf den Hellen Inseln würde das von ihr erwarten. Ihre Familie ... Sie hatte sie seit ihrer Kindheit nicht mehr gesehen. Ihr Vetter, Brideis Vasall, ihre älteren Brüder, das waren in ihrer Kinderwelt ohnehin nur entfernte Präsenzen gewesen. Dann gab es eine Tante, die sie nach dem Tod ihrer Eltern aufgezogen hatte. Und ihre kleine Schwester Breda, die ihr am meisten fehlte. Ana erinnerte sich an Sommertage am Wasser, wo sie beide unter einem weiten hellen Himmel Muscheln gesammelt hatten, an Winternachmittage am Herdfeuer, wenn sie Leinentücher bestickten; Tante hatte so getan, als bliebe sie wach in ihrem Sessel, und Ana hatte heimlich Bredas schiefe Stiche berichtigt. Breda würde jetzt sechzehn sein, alt genug, um selbst zu heiraten. Vom Weißen Hügel war es nicht allzu weit bis zu den Inseln. Aber für eine Geisel waren sie eine ganze Welt entfernt. Ana verbrachte den größten Teil des Tages damit, sich von der Kälte des Winds auf ihrer feuchten Kleidung und den Schmerzen in ihren Knochen abzulenken, indem sie sich selbst Geschichten von Helden, Drachen und seltsamen Waldgeschöpfen erzählte. Sie sang auch leise vor sich hin, damit sie nicht zu oft an ihr Elend denken musste. Sie 50 lang das ganze Repertoire kleiner Lieder durch, die sie Derelei vorgesungen hatte, Zählreime, Schlaflieder, Lieder zur Aussaat, zur Ernte, zum Fischfang. Die Inseln waren voll solcher Melodien, und jede hatte ihren bestimmten Zweck. Der Ritt ging weiter; der Weg war nun steiler, die Pferde suchten sich ihren Weg über steinigen Boden. Im Westen tauchten mit Kiefern überzogene Hänge auf. Hinter dem Wald konnte Ana hohe, dunkle Berge erkennen,
einsam und mit verschneiten Gipfeln. Sie begann nun, ein längeres Lied zu summen, eine Ballade, in der es um einen Reisenden in fernen Landen und um die seltsamen, wunderbaren Völker ging, denen er unterwegs begegnete. Mit einigem Glück würden die Dutzende Strophen ausreichen, bis sie wieder ebenen Boden erreichten und Faolan beschloss, dass sie Rast machen konnten. Beträchtliche Zeit später, gerade als Ana zu der Stelle gekommen war, wo der Held den Drachen tötete, erreichten sie den Fuß des Hügels, und die Männer zügelten ihre Pferde und sammelten sich um Faolan. Als Ana näher kam, hörte sie ihn sprechen. »... gut vorangekommen. Ich denke, wir können Abertornie vor Einbruch der Dämmerung erreichen, wenn wir schnell weiterreiten. Dann brauchen wir kein Lager mehr aufzuschlagen. Und das wiederum bedeutet, dass wir noch bei gutem Wetter über die Grenze kommen können.« Die Männer nickten. Ana warf einen Blick zu Darva, die kreidebleich hinter einem hoch gewachsenen Bewaffneten auf einem Pony mit breitem Rücken saß. Darva hatte dunkle Ringe unter den Augen, und sie sah aus, als würde sie gleich das Bewusstsein verlieren. »Wir müssen eine kurze Rast einlegen«, sagte Ana entschlossen. »Wir frieren und sind müde. Wir müssen uns strecken und etwas essen und trinken. Es braucht nicht lange zu dauern. Mir ist klar, dass wir unser Ziel erreichen - 51 müssen, solange es noch hell ist. Wir tun unser Bestes, aber wir sind nicht alle Krieger.« Faolan sah erst sie an, dann Darva, die im Sattel schwankte, dann wieder Ana. »Möchtest du lieber hier ein Lager aufschlagen?«, fragte er zu ihrer Überraschung. »Einen weiteren Tag zur Reise hinzufügen? Du willst es doch sicher auch so schnell wie möglich hinter dich bringen.« Ana blinzelte überrascht. Der Weg nach Dornwald war lang, länger als einen Mond, hatte er gesagt. »Soll das heißen, ich kann es mir aussuchen?«, fragte Ana und zog die Brauen hoch. »Wenn wir heute weiterziehen, kommen wir schneller weiter als geplant.« »Und ich bin sicher, du kannst es kaum erwarten, diesen Auftrag hinter dir zu haben.« Faolans Miene änderte sich nicht. »Dein musikalisches Repertoire ist vielleicht nicht mehr so interessant, wenn es zu häufig wiederholt wird«, sagte er. Zu ihrem gewaltigen Ärger spürte Ana, wie sie rot wurde. »Stör dich nicht daran«, sagte Faolan. »Wer bin ich schon? Und, was soll es sein? Schlagen wir ein Lager auf, oder ziehen wir weiter?« »Wir ziehen weiter«, sagte Ana grimmig. »Nachdem wir eine kurze Rast eingelegt haben. Die Aussicht auf zivilisierte Gesellschaft lässt Abertornie jeden Augenblick reizvoller erscheinen.« »Ich würde dir ja gerne noch mehr Männer mitgeben«, sagte Ged von Abertornie entschuldigend und griff nach Faolans Becher, um ihm Bier nachzugießen. »Man weiß nie, was einem in dieser Gegend begegnet. Clan gegen Clan, Freund gegen Freund, Bruder gegen Bruder. Manchmal scheinen sie aus keinem anderen Grund zu kämpfen, als weil sie es können. Denk nur, was Bridei mit solchen Männern anfangen könnte! Aber Umbrig ist der Einzige, der - 52 bisher wirkliches Interesse an einer Zusammenarbeit an den Tag legte. Die anderen sind wie ein Rudel Wildkatzen. Oder sie wären es, wenn solche Geschöpfe Rudel bilden würden. Dort im Norden steht jeder Mann für sich; es ist ein Land einsamer Jäger, die alle ihr eigenes Revier schützen. In Alpins Fall handelt es sich allerdings um ein sehr großes Revier. Groß und gut geschützt. Das ist eine jämmerliche Eskorte, die du da hast, Faolan. Das Mädchen ist verwundbar.« Faolan betrachtete schweigend seinen Becher. Die beiden saßen nach dem Abendessen in einem kleinen Nebenraum der Halle von Geds Haus in Abertornie. Die Tür war geschlossen, und auf der anderen Seite stand eine Wache. »Wie ich schon sagte«, fuhr Ged fort, »ich hätte dir helfen können, wenn du zu einem anderen Zeitpunkt eingetroffen wärst. Ich habe hier Männer, die das Gelände recht gut kennen, obwohl keiner je den ganzen Weg zu Alpins Territorium zurückgelegt hat. Verlässliche Bergführer. Du brauchst einen von denen. Aber ich kann dir keinen mitgeben. Wir ziehen alle in ein paar Tagen nach Süden. Die paar, die nicht mit mir kommen, müssen hier bleiben, um Haus, Frauen und Kinder zu bewachen.« Er seufzte ausgiebig und trank einen Schluck Bier. Ged war ein kräftig gebauter Mann und trug an diesem Abend Hemd und Hose mit einem verblüffenden Muster aus Karos und Streifen, bunt gefärbt in Scharlachrot, Grün und Blau. Seine Männer, die Faolan in den Höfen von Abertornie gesehen hatte, wo sie sich auf den Feldzug vorbereiteten, waren alle ähnlich bunt gekleidet. Wenn seine Bergführer die gleiche Uniform anhatten, dachte Faolan, würde man sie aus der Ferne schon sehen können. Der einzige Ort, an dem einem dieser Aufzug Tarnung bot, war ein bunter Blumengarten. »Es ist meine eigene Entscheidung, nicht mehr Leute mitzunehmen«, sagte er. »Sie sind alle handverlesen. Ana wird sicher sein.« - 53 »Unterschätze nicht die Wichtigkeit dessen, was du da überbringst, Junge«, sagte Ged und sah ihn nachdenklich an. »Für mich«, sagte Faolan, dem man trotz seiner Bemühungen eine gewisse Anspannung anmerkte, »ist sie nur
eine Frau. Wir sind alle ersetzbar.« »Unsinn. Diese junge Dame vom Weißen Hügel nach Dornwald zu bringen, ist so, als eskortierte man eine Ladung Goldstücke oder eine Truhe mit kostbaren Edelsteinen. Tatsächlich ist sie sogar noch wichtiger, und ganz bestimmt ist die gesamte Mission gefährlicher. Wenn es stimmt, was du mir erzählt hast, stellt Alpin eine große Gefahr für unsere Sache dar. Die Verwandtschaftsverbindungen durch diese Heirat werden dem Burschen einen Status geben, den er sich nie hätte träumen lassen. Außerdem sind Anas persönliche Reize, nun, sagen wir einmal, mehr als durchschnittlich. Es besteht kein Zweifel daran, dass sie Alpin auf unsere Seite ziehen kann. Das Mädchen ist buchstäblich sein Gewicht in Gold wert, Faolan. Nein, mehr als ihr Gewicht, denn sie ist eher ein schlankes Ding. Ersetzbar? Wohl kaum. Deine Aufgabe ist lebenswichtig. Das ist zweifellos der Grund, wieso Bridei sie ausgerechnet dir übertragen hat.« Faolan holte tief Luft. Was er persönlich von diesem Auftrag hielt, war irrelevant. Er hatte sich Bridei anvertraut; anderswo darüber zu sprechen, wäre illoyal. Er hatte zugestimmt, diesen Auftrag auszuführen, und daher würde er es tun. Und zwar perfekt. »Ja, und er hat es mir überlassen, was ich als Sicherheitsmaßnahmen für notwendig halte. Zehn Männer genügen. Ich erwarte, spätestens zum Mittsommer wieder am Weißen Hügel zu sein. Auf dem Rückweg werden wir ohne die Frauen erheblich schneller vorankommen.« »Selbstverständlich.« Ged beobachtete ihn immer noch genau, als hätte nichts, was Faolan gesagt hatte, ihn wirk- 54 lieh überzeugt. »Und du wirst sicher so schnell wie möglich zurückkehren wollen. Sag mir, weiß die junge Dame, was für den Sommer geplant ist?« »Es ist sicherer, wenn sie es nicht weiß. Bridei hat ihr mitgeteilt, dass strategische Gründe diese Eile verlangen. Sie versteht, dass Alpin sich auf jede Seite schlagen könnte. Und sie war klug genug, nur wenige Fragen zu stellen.« »Hm«, sagte Ged. »Ich muss zugeben, mir tut die junge Ana ein wenig Leid. Sie ist ein gutes Mädchen. Sie hat Besseres verdient.« Faolan schwieg. »Zumindest können wir dich ausrüsten«, fuhr der Herr von Abertornie fort. »Trockenfleisch, Käse, was immer deine Packtiere tragen können. Ist dir klar, dass ihr nicht den ganzen Weg reiten könnt? Ein Teil der Pfade wird verlangen, dass deine Männer die Pferde führen, und die Frauen werden zu Fuß gehen müssen. Wenn die Situation anders wäre, würdest du den Weg entlang den Seen und den Fünf Schwestern nehmen können. Dennoch, du möchtest sicher nicht einer Armee begegnen, die aus der anderen Richtung kommt. Wir leben in bedeutungsschweren Zeiten. Wer hätte gedacht, dass Bridei schon so bald zuschlagen will?« Faolan antwortete nicht, es gab nichts zu sagen. Innerhalb von zwei Monden würde er in Dornwald sein und eine junge Braut ins Haus eines Fremden führen, und Bridei würde kurz davor stehen, seine Streitmacht durch das Große Tal in den Kampf ihres Lebens zu führen. Dass Bridei es so geplant hatte, dass er die ganze Zeit schon vorgesehen hatte, dass Faolan in diesem Augenblick der Wahrheit nicht an seiner Seite sein sollte, machte die ganze Sache noch schlimmer. Faolan nahm sich vor, sich nur noch nur auf die Tatsachen zu konzentrieren. Er war ein Söldner, und er würde dafür sorgen, dass er das Silber, das sie ihm zahlten, auch wert war. Die Tür öffnete sich knarrend, und der Wachposten - 55 schaute herein. »Die junge Dame möchte mit dir sprechen, Herr.« Ana stand in der Tür. Sie war blass und bedrückt gewesen, als sie vor einiger Zeit in Abertornie angekommen waren. Nun trug sie eine saubere Tunika und einen Rock in hellem Blau, und ihr blondes Haar war zu einem Kranz von Zöpfen frisiert und glänzte im Lampenlicht. Es schien kaum der Mühe wert, dachte Faolan, da sie ja morgen wieder aufbrechen würden. Beide Männer erhoben sich. Ged sprang auf, Faolan bewegte sich langsamer. »Bitte bleibt sitzen«, sagte Ana. »Es wird nicht lange dauern.« Ged bat sie, sich hinzusetzen, und goss ihr Bier ein. Sein Blick war offen bewundernd. Verheiratet oder nicht, er war bekannt dafür, dass er die Gesellschaft schöner Frauen genoss, besonders, wenn sie auch noch klug waren. »Danke.« Ana trank einen höflichen Schluck, setzte den Kelch dann ab und sah Faolan an. »Es geht um Darva«, sagte sie. »Sie kann nicht mitkommen.« Das ließ sich nicht abstreiten. Faolan hatte gesehen, dass die Dienerin bei ihrer Ankunft mehr oder weniger vom Pferd gefallen war und ins Haus getragen werden musste. »Sie wird es nicht durchstehen«, fuhr Ana fort. »Sie sollte sich am besten hier ausruhen und dann bei einer passenden Gelegenheit zum Weißen Hügel zurückkehren.« »Wir können sie zweifellos hier in Abertornie unterbringen«, sagte Ged. »Aber...« »Ich hoffe«, sagte Faolan zu Ana, »du willst nicht vorschlagen, dass wir deshalb später aufbrechen. Ich hatte angenommen, du würdest eine Gefährtin aussuchen, die zumindest ein bisschen reiten kann.« Er sah, wie Anas Wangen sich rosig färbten; sie konnte das offenbar bewusst bewirken. »Verzeih mir«, sagte sie. »Ich bin davon ausgegangen, - 56 dass du für dieses Unternehmen zuständig bist und nicht ich. Du hast mich vor unserem Aufbruch genügend
gedrillt. Wie kommt es, dass ausgerechnet ein so verlässlicher Mann es versäumt, die Qualifikation meiner Dienerin zu überprüfen?« Selbstverständlich hatte sie Recht. Es war seine Verantwortung, und er hatte die Situation falsch eingeschätzt. Er sah ihr ins Gesicht, bemerkte das kleine Stirnrunzeln, die Falte zwischen den elegant geformten Brauen. Es war von Anfang an klar gewesen, dass diese königliche Braut nicht lieber nach Dornwald reiste als er. Jetzt ignorierte sie ihn und wandte sich an Ged. »Ich wollte fragen«, sagte sie, »ob es hier in Abertornie ein Mädchen gibt, das an Darvas Stelle mit uns kommen kann. Es ist nicht so wichtig, ob sie eine fähige Dienerin ist; solche Dinge kann ich ihr mit der Zeit beibringen. Sie muss reiten können, und ich meine wirklich reiten, und sie muss im Stande sein zu lächeln, ganz gleich, wie schwierig die Situation wird.« Als wollte sie diesen Punkt noch einmal betonen, wandte sie sich Faolan zu und bedachte ihn mit einem Lächeln von berechnendem Strahlen, das irgendwie gleichzeitig von freundlicher Anerkennung und vollkommener Falschheit sprach. Unwillkürlich begannen seine Mundwinkel zu zucken. Ged brüllte vor Lachen. »Ich habe deine Frau bereits gefragt«, sagte Ana dem Fürsten, »und sie hat versprochen, ein passendes Mädchen zu finden, eins, das nichts gegen ein Abenteuer hat. Wir brauchen nur noch deine Zustimmung. Wir wollen allerdings morgen früh gleich aufbrechen. Sie wird schnell packen müssen; sie wird nicht viel Zeit haben, um sich zu entscheiden.« Wieder hatte sie Faolan überrascht. Er hatte zumindest erwartet, dass sie darum bitten würde, eine weitere Nacht bleiben zu können. Die Männer hätten nichts dagegen gehabt. - 57 »Ihr legt ein schnelles Tempo vor«, brummte Ged. »Ich bin sicher, Loura wird ein Mädchen für dich finden. Es gibt genug davon in dieser Gegend.« »Danke«, sagte Ana. »Es ist nicht so, als ob ich wirklich eine Dienerin brauchte; ich komme ganz gut allein zurecht und habe nicht viel mitgebracht, was Arbeit machen würde, da man mir befohlen hat, so viel wie möglich zurückzulassen. Ich brauche dieses Mädchen vor allem aus Gründen der Angemessenheit.« Ged grinste. »Was, mit dem da als Anführer? Keiner würde es wagen, einen falschen Schritt zu tun oder einen frechen Blick zu riskieren. Aber du hast Recht. Ich habe ihm bereits gesagt, dass die Eskorte zu klein ist. Drei oder vier Frauen, die dich bedienen, und dazu zwanzig Bewaffnete, das wäre besser. Es gibt Damen, die eine Wäscherin, eine Näherin und einen Barden zusätzlich verlangen würden.« »Sie braucht keinen Barden«, sagte Faolan zu seinem eigenen Erstaunen. »Die Dame sorgt für ihre eigene Unterhaltung.« Ana warf ihm einen erbosten Blick zu; er achtete darauf, dass seine Miene ausdruckslos blieb. Anas Singstimme war leise, aber klar, und sie traf jeden Ton präzise; nachdem er sie mit Worten, die ihm unwillkürlich über die Lippen gekommen waren, zum Schweigen gebracht hatte, mit Worten, von denen er wusste, dass sie grausam waren, waren die Lieder dennoch in seinem Kopf hängen geblieben und folgten ihm selbst in seinen kurzen Schlaf. Sie riefen Erinnerungen an ältere Lieder in einer anderen Sprache hervor, an eine Musik, die zu einem anderen Leben gehörte, einem, das er vergessen haben sollte. Er hätte sie angefleht, nicht zu singen, aber die Regeln, denen er sich selbst unterwarf, verbaten solche Ehrlichkeit. »Ich habe Recht, oder?«, fragte sie ihn jetzt. Ihre Wangen waren nicht mehr so rot und ihre grauen Augen ruhig und kühl, als sie ihn jetzt ansah. »Wir sollten so bald wie mög- 58 lieh weiterziehen, weil wir vielleicht später von schlechtem Wetter aufgehalten werden.« Er nickte. »Morgen«, sagte er. »Du wirst deinen neuen Mann so bald wie möglich kennen lernen wollen.« Etwas flackerte in ihrem Blick. »So bald wie möglich«, wiederholte sie. »Nein, so würde ich es nicht ausdrücken. Aber ich habe eine Pflicht zu erfüllen, und da man mir gesagt hat, dass Geschwindigkeit von Nöten ist, werde ich mich an den Marschplan halten. Das ist alles.« Faolan antwortete nicht. Anas Stimme war kühl gewesen, anders als die Stimme, mit der sie sang, um ihre Müdigkeit zu vergessen. Pflichtgefühl jedoch verstand er. Pflichterfüllung war für ihn eine recht komplexe Sache. »Es wird vielleicht gar nicht so schlimm, Mädchen«, sagte Ged, legte die Hand auf Anas Knie und zog sie mit einem Blick auf Faolan sofort wieder zurück. »Dieser Alpin ist zumindest wohlhabend. Und noch nicht zu alt. Du könntest es sehr gut getroffen haben.« Es war schwer zu sagen, ob Creisa, das neue Mädchen, für ihr Unternehmen eine Hilfe oder ein Hindernis sein würde. Sie besaß ihr eigenes Pony und ein Schultertuch in den Regenbogenfarben, die Angehörige von Geds Haushalt überall auffallen ließen, wenn sie unterwegs waren. Creisa konnte zweifellos reiten, und sie schnarchte auch nicht. Es war ihre Wirkung auf die Männer von Anas Eskorte, die Anlass zur Sorge bot. Sie war jung und hatte etwas Frisches an sich, das an eine Frühlingsprimel erinnerte: rote Wangen, volle Lippen, große braune Augen mit langen Wimpern. Ihre Figur war üppig und zeigte sich zu ihrem Vorteil, wenn sie hoch zu Pferd saß, der Rücken gerade, die Schultern beweglich, mit der unbewussten Anmut einer geborenen Reiterin. Am Abend unterhielt sie sich mit den Männern am Feuer und hielt sie vom Schlafen ab. Bei Tag scherzte sie mit ihnen, und die handverlesene Eskorte reagierte und begann um ihre , - 59 Aufmerksamkeit zu wetteifern, bis Faolan alle mit einem barschen Befehl zum Schweigen brachte. Darauf folgte
dann eine kurze Zeit von Ruhe und Ordnung, bis Creisa eine weitere beiläufige Bemerkung oder einen kichernden Vorschlag machte und alles von vorne anfing. Faolan entwickelte eine kleine Falte zwischen den Brauen, und passend dazu wurde sein Mund, der ohnehin alles andere als entspannt war, noch schmaler. Ana fand die Kabbeleien von Mädchen und Männern amüsant und harmlos - alle wussten, dass es auf einer solchen Reise nicht mehr als das geben konnte. Nachdem Faolan die Männer angefaucht hatte, fühlte sie sich versucht anzumerken, dass ihm dies doch sicher angenehmer war als ihr Gesang, aber sie hielt den Mund, denn sie wollte ihn nicht wissen lassen, dass seine Bemerkung sie gekränkt hatte. Sie hatte Derelei häufiger in den Schlaf gesungen, als sie sich erinnern konnte, und seine kindliche Wärme, sein vertrauensvolles Lächeln fehlten ihr. Vor langer Zeit hatte sie ihrer kleinen Schwester die gleichen Lieder beigebracht. Musik war Liebe, Familie, Erinnerung. Sie wusste nicht, wie jemand sie derart abtun konnte. Abertornie war das letzte Haus eines Verbündeten gewesen, die letzte Übernachtung innerhalb fester Mauern. Faolan hielt es für zu gefährlich, bei den unbekannten Bewohnern der wilden nördlichen Täler Unterkunft zu suchen, von denen es ohnehin nur wenige gab. Ein ungeplanter Besuch in der Festung eines Caitt-Anführers, besonders, wenn eine der Reisenden eine junge Frau von großem strategischen Wert war, konnte gut damit enden, dass die ganze Gruppe als Geiseln genommen wurde oder noch Schlimmeres. Es war es nicht wert, um einer bequemen Unterkunft, sauberer Kleidung oder eines besseren Abendessens willen ein solches Risiko einzugehen. Also zogen die Reisenden weiter und kamen gut voran, während der Mond erst halb voll, dann voll wurde und wieder begann abzu- 60 nehmen. Jeden Tag schienen der Weg steiler und die Wälder dunkler zu werden, das Unterholz dichter und die Hänge gefährlicher. Das Wetter war günstig für sie und blieb überwiegend trocken, wenn auch kalt. Nachts schliefen Ana und Creisa unter den gleichen Decken und hielten einander warm. »Das ist besser als nichts, Herrin«, flüsterte Creisa, als die Männer sich vor ihrem kleinen Unterschlupf rund um das Feuer niederlegten und die Nachttiere ihre geheimnisvollen Dialoge im Wald begannen. »Sicher, ich würde mich lieber an einen dieser Männer kuscheln, zum Beispiel an diesen Kinet, er hat breite Schultern und ein nettes Lächeln, oder vielleicht an Wrad - hast du bemerkt, wie dreist er mich ansieht? Wenn wir unser Ziel erreichen, wird einer von ihnen eine angenehme Überraschung erleben. Im Augenblick kann ich mich aber noch nicht entscheiden, welcher.« »Still«, zischte Ana, hin und her gerissen zwischen dem Bedürfnis, die Dienerin zu tadeln, wie eine Herrin es tun sollte, und solch dummem Geschwätz ein Ende zu machen, und einer Art von Neid, weil das Mädchen so offen und mit so offensichtlichem Genuss über Dinge sprechen konnte, die für Ana trotz ihrer neunzehn Jahre noch immer ein Geheimnis waren. »Du solltest nicht so sprechen, Creisa. Es gehört sich nicht.« »Es tut mir Leid, Herrin«, sagte Creisa leise. Sie schwieg eine Weile, dann fing sie wieder an. »Selbstverständlich können die Stillen, Verschlossenen auch die Aufregendsten sein, wenn man es erst einmal schafft, dass sie sich für einen interessieren. Ich weiß, mit wem ich wirklich eine Nacht allein verbringen möchte. Ich denke, dieser Faolan wüsste genau, was er tun muss.« Eine Art von Schweigen hinter der Öffnung ihres behelfsmäßigen Zelts sagte Ana, dass sie jetzt sofort eine gute Antwort finden musste. »Faolan ist König Brideis persönlicher Botschafter. Er ist - 61 ein guter Freund des Königs. Du wirst nicht wieder so respektlos über ihn sprechen, Creisa. Ich hoffe, ich brauche es dir nicht zweimal zu sagen.« »Nein, Herrin.« Man hörte Creisa an, dass sie im Dunkeln lächelte. »Dennoch...« »Das reicht jetzt!«, fauchte Ana laut genug, dass jeder es hören konnte, der zufällig in der Nähe war. Creisa schwieg schließlich, und schon bald sagten ihre Atemgeräusche Ana, dass sie eingeschlafen war. Ana selbst schlief nicht. Sie dachte über Creisas Leben nach, wie es gewesen sein musste, auf Geds Bauernhof aufzuwachsen, in Küche und Gärten zu arbeiten und offenbar diverse beiläufige Affären mit eifrigen jungen Männern zu haben. Sie fragte sich, ob Creisa sich keine Gedanken machte, dass sie schwanger werden könnte. Und würde ein solch lüsternes Verhalten nicht ihre Chancen verringern, einen verlässlichen Ehemann zu finden? Aber über all die wirren Gedanken und Gefühle hinweg, die Creisas Albernheiten in ihr geweckt hatten, erkannte Ana, dass sie neidisch war: neidisch auf die Leichtigkeit, mit der die junge Dienerin von der Vereinigung von Mann und Frau sprach, und noch neidischer auf die Tatsache, dass solche Vereinigungen, wenn man denn Creisa glauben durfte, für sie nicht brutal und unwillkürlich waren, etwas, das man ertragen musste, sondern ausgesprochen angenehm, unbeschwert und natürlich. Für eine Frau ihrer eigenen Stellung, dachte Ana, war es selten so einfach. Aus Liebe zu heiraten, wie Tuala es getan hatte, war eine Möglichkeit, die Personen von königlichem Blut selten hatten. Ana wünschte sich beinahe, den freundlichen, höflichen Bridei selbst geheiratet zu haben, wie es viele, der Druide des Königs unter ihnen, vorgezogen hätten. Sie selbst hatte ebenfalls einige Zeit ernsthaft über diese Möglichkeit nachgedacht, aber nur, bis sie zum ersten Mal gehört hatte, wie Bridei Tualas Namen aussprach und Tuala den seinen. Von diesem Zeitpunkt an - 62 hatte Ana die Unvermeidlichkeit der Dinge erkannt, denn zwischen diesen beiden bestand eine Verbindung, die über das Übliche hinausging. Ein winziger verborgener Teil von Ana sehnte sich jedoch immer noch nach einer
Liebe wie in diesen alten Geschichten, machtvoll, zärtlich und leidenschaftlich. Bevor sie Dornwald erreichten, sagte sie sich grimmig, sollte sie lieber jede Spur von solcher Sehnsucht ersticken, denn diese albernen Neigungen konnten einem nur Kummer machen. Als die Reise weiterging, wurden sie alle immer schmutziger, müder und stiller, selbst Creisa. Es gab keine Gelegenheit, Kleidung zu waschen, und nur wenige Möglichkeiten, sich selbst zu säubern. Für Ana, die daran gewöhnt war, einigermaßen regelmäßig in warmem Wasser zu baden und ihre Hemden, Röcke und Unterwäsche von anderen gewaschen zu bekommen, waren dies Tage, in denen ihr die Schicht von Schmutz und Schweiß auf ihrer Haut und das damit verbundene Jucken und Kribbeln unangenehm bewusst wurden, ebenso wie die Schlammflecken am Saum ihres Rocks und - am schlimmsten - ihr strähniges, fettiges langes Haar, das sie jetzt nur noch fest geflochten und aufgesteckt tragen konnte, denn sie fand es widerwärtig, wenn es ihren Nacken berührte. Eines Nachmittags machten sie an einem tiefen Waldteich zwischen Felsen Halt, und Ana verspürte sofort das intensive Bedürfnis, sich zu waschen. Creisa war ganz dafür, sich auszuziehen und ins Wasser zu springen. Faolan erlaubte es nicht. Als Ana widersprechen wollte, schnitt er ihr scharf das Wort ab. »Es ist vielleicht Frühling, aber das Wasser ist kalt. Was, wenn du krank wirst? Das können wir nicht riskieren. Außerdem würde es uns verwundbar machen. Wenn man uns angreift, während ihr beiden im Teich planscht, wären wir im Nachteil. Die Männer haben schon genug zu tun. Mach ihre Arbeit nicht noch schwerer.« - 63 »Den Männern könnte ein Bad ebenfalls nicht schaden«, murmelte Creisa trotzig. »Planschen?«, wiederholte Ana. »Ich möchte mich nur säubern. Was glaubst du, was für einen Eindruck es machen wird, wenn ich so nach Dornwald komme, von dem Geruch gar nicht zu reden?« Faolans Mundwinkel zuckten; aber er beherrschte sich, bevor es zu einem Lächeln wurde. »Ich nehme an, du hast saubere Kleidung beiseite gelegt, etwas in diesem Bündel auf dem armen Packpferd«, sagte er. »Da wir zwischen hier und Dornwald wahrscheinlich auf keine Waschfrauen stoßen und immer noch viele Reisetage vor uns haben, schlage ich vor, du wartest, bis wir beinahe dort sind. Dann kannst du mich noch einmal danach fragen. Du hast selbstverständlich Recht; das hier ist ein Handelsunternehmen, eine Tatsache, die ich beinahe vergessen hätte. Und als Anführer bin ich dafür verantwortlich, die Ware in bestem Zustand abzuliefern.« Creisa kicherte. Zorn ließ Anas Wangen glühen; Faolans Unhöflichkeit und reine Frustration bewirkten, dass sie ihn am liebsten angekeift hätte wie ein Fischweib und ihm in sein heuchlerisches Gesicht gespuckt hätte. Zu ihrem Entsetzen kam ihre Stimme allerdings zittrig und jämmerlich heraus, als wäre sie den Tränen nahe. »Es ist nicht notwendig, so unhöflich zu sein. Ich habe nicht versucht, die Dinge für dich schwieriger zu machen. Das hier war doch sicher nicht zu viel verlangt.« In dem darauf folgenden kurzen Schweigen sah Faolan sie forschend an, und sie tat ihr Bestes, um seinem Blick ruhig zu begegnen. Wie immer hatte sie nicht die geringste Ahnung, was er dachte. Ihr eigenes Gesicht, fürchtete sie, war gerötet und schmutzig und erinnerte in nichts mehr an Rosenblüten. »Es tut mir Leid«, sagte Faolan angestrengt, drehte sich auf dem Absatz um und wandte sich anderen Dingen zu. - 64 Ana starrte ihm hinterher. Eine Entschuldigung war die letzte Reaktion, die sie erwartet hätte. »Wir könnten es trotzdem tun, Herrin«, flüsterte Creisa. »Ich weiß nicht, wie es Euch geht, aber für sauberes Haar und eine Gelegenheit, meine Unterwäsche zu waschen, würde ich auch eine Standpauke von diesem langgesichtigen Galen ertragen können. Ich könnte ein paar Dinge auswaschen, sie über einen Busch hängen ...« »Wir müssen tun, was er sagt.« Unhöflich oder nicht, Ana zweifelte nicht daran, dass Faolan ein verlässlicher und erfahrener Anführer war und dass sie davon ausgehen mussten, dass er wusste, was das Beste wäre. »Dennoch, ich habe tatsächlich Unterwäsche zum Wechseln in meiner großen Tasche auf dem Packpferd. Ich könnte vielleicht sogar etwas für dich finden, wenn du selbst nichts hast. Lass uns zumindest die Unterwäsche waschen; wir trocknen sie, so gut wir können. Vielleicht am Feuer ...« Creisa begann wieder zu kichern. »Das wird den Männern etwas zu denken geben, Herrin. Ich hole die Tasche, und dann sehen wir, was wir tun können.« »Und Creisa?« »Ja, Herrin?« »Bitte sprich nicht von Faolan als dem langgesichtigen Galen. Es ist vielleicht die Wahrheit, aber es klingt nicht gerade respektvoll. Nur weil er seine Manieren vergisst, müssen wir es ihm nicht nachtun.« Creisas weiße Zähne blitzten zu einem entzückenden Grinsen auf. »Ja, Herrin.« Es gelang ihnen, sich aus Hemden und Unterhosen zu winden und dabei einigermaßen bedeckt zu bleiben. Faolan hatte wohl mit den Männern gesprochen, denn sie blieben auf dem Hügel außer Sichtweite und bereiteten das Lager vor, und es gab nur einen Wachposten, der den Frauen den Rücken zuwandte. Die beiden Frauen wuschen sich Gesichter und Arme, wateten bis zu den Knien in den - 65 Teich und kamen einem Bad so nahe, wie es möglich war, ohne Faolans Befehle vollkommen zu missachten. Creisa wollte nicht zulassen, dass Ana ihre Wäsche selbst wusch; sie schlug das weiche Leinen mit einem glatten, runden Stein aus, schrubbte das Tuch und wrang es mit solcher Kraft, dass sie dabei sich selbst und Ana nass spritzte. Ana saß auf einem flachen Stein und sah zu, wie Creisa mit den schweißgetränkten
Kleidungsstücken ihre Magie wirkte. Schließlich begannen die kleinen, stechenden Insekten, die sich Frühjahr und Sommer an solchen Orten aufhielten, zu schwärmen, summten um die Frauen herum, und es war Zeit, sich zurückzuziehen. In dem frisch aufgeschlagenen Lager war die Mahlzeit schon vorbereitet, und jemand hatte ein Seil zwischen Büschen aufgehängt, auf dem die Damen ihre Wäsche trocknen konnten. Creisa hängte Hemden und intimere Kleidungsstücke über diese Leine, ohne dabei auch nur im Geringsten verlegen zu wirken. Die Männer strengten sich an, die Sachen nicht anzusehen. Ana nahm an, dass Bewaffnete bei solchen Unternehmen tagein, tagaus dieselbe Kleidung trugen und ihnen nichts darüber einfiel. Sie fragte sich, ob Faolan wohl je zuvor mit Frauen gereist war. Tatsächlich fragte sie sich, ob er überhaupt irgendetwas von Frauen verstand. Er musste eine Mutter gehabt haben und vielleicht Schwestern. Eine Frau? Eine Liebste? Vielleicht hatte er sie zurückgelassen, als er sich gegen die Seinen wandte. Als er beschlossen hatte, ein Verräter zu werden. Es war beinahe unmöglich zu glauben, dass er einmal eine Familie gehabt hatte. Ana versuchte, sich einen winzigen Faolan vorzustellen, so groß wie Brideis kleiner Sohn Derelei, dem sie Schlaflieder gesungen hatte, dessen Hände sie festgehalten hatte, als er Laufen lernte. Faolan würde sich von niemandem die Hand halten lassen. Er hatte wahrscheinlich ganz allein Laufen gelernt. - 66 Tuala hatte Anweisungen für die Gästeräume am Weißen Hügel gegeben; sie hatte Mara, Broichans strenge und tüchtige Haushälterin aus Pitnochie, gebeten, die Vorbereitungen für den erwarteten Besucherstrom zu treffen. Da die Versammlung nun so kurz bevor stand, war es wichtig, alles richtig zu machen. Einige königliche Gattinnen hätten die Vorbereitung von Unterkunft, Versorgung und Unterhaltung bei einem solchen Ereignis über alles andere gestellt. Aber Tuala wusste, dass ihre Hauptpflicht darin bestand, Bridei als Stütze und Zuhörerin zu dienen. Er war stark und fähig und für einen Mann seines Alters von erstaunlicher Reife. Aber er war auch verwundbar; Tuala, die ihn ihr Leben lang gekannt und geliebt hatte, wusste um all seine schwachen Stellen, sie hatte versprochen, immer für ihn da zu sein, und Tuala brach ihre Versprechen nicht. Als Nächstes kam ihr Sohn Derelei. Weil die königliche Thronfolge über die weibliche Linie verlief, würde Derelei niemals König sein, aber er musste dennoch mit Liebe und Weisheit, Ausgeglichenheit und Urteilsvermögen aufgezogen werden, wie es jedes Kind verdiente. Er stand nur deshalb an zweiter Stelle, weil es im Augenblick auch andere gab, die ihm geben konnten, was er brauchte. Derelei wurde im Haushalt des Königs von allen geliebt. Die Frauen wetteiferten um die Gelegenheit, mit ihm zu spielen und sich um seine kleinen Bedürfnisse zu kümmern, die Männer spielten mit ihm, und häufig war es für Tuala nicht einfach, ihren Sohn einmal für sich zu haben, damit sie mit ihm sprechen, ihm vorsingen, ihm Geheimnisse ins Ohr flüstern oder einfach still dasitzen konnte, das Kind in den Armen, um über das Wunder dieses neuen Segens zu staunen, den die Götter ihr gewährt hatten. Immerhin wären sie und Bridei beinahe für immer voneinander getrennt worden. Tuala hatte kurz davor gestanden, sich in eine Welt ohne Schmerz oder Kummer zu flüchten. Wenn sie nicht einen Augenblick gezögert hätte, - 67 wenn Bridei nicht nach ihr gerufen hätte, wäre sie dorthin gegangen und unsterblich geworden. Das hatten sie ihr gesagt, ihre Besucher aus der Anderwelt, die in den dunklen Tagen und unruhigen Nächten dieser schwierigen Zeit über ihre Schritte gewacht und ihr ins Ohr geflüstert hatten. Sie hätte ewig leben können. Aber dazu hätte sie Bridei allein lassen müssen. Und es hätte keinen Derelei gegeben. Das war jetzt undenkbar. Am Ende war Bridei gekommen und hatte nach ihr gesucht, hatte sie gerettet, und die Dinge hatten den Lauf genommen, der von den Göttern bestimmt gewesen war. Tuala nahm an, dass die Leuchtende mit ihren Entscheidungen zufrieden war. Derelei war bei Vollmond auf der Welt eingetroffen, was vollkommen angemessen schien, da die Göttin von Anfang an ein besonderes Interesse an Tualas Leben gezeigt hatte. Was Bridei anging, so hatte er als König von Fortriu einen guten Anfang genommen. Nach nur fünf Jahren der Herrschaft stellte er nun seine Streitkräfte gegen die Galen auf. Wer hätte geglaubt, dass es schon so bald geschehen würde? Auch der Flammenhüter musste froh sein. Als Gott der Männer, des Muts und des tapferen Kampfs musste er sich in diesem jungen, starken Anführer wahrhaft angemessen verkörpert sehen, in dem jungen König, dessen leuchtende Augen und offenen Worte im Herzen eines jeden Mannes den Funken göttlicher Inspiration entzündeten. Bei all dem jedoch blieb für Tuala eine Frage unbeantwortet und beunruhigte sie. Sie hatte nie herausgefunden, wer sie wirklich war. Ihre Besucher aus der Anderwelt hatten ihr nicht erklärt, wer denn nun zu dem Schluss gekommen war, sie als Kind mitten im Winter auf Broichans Schwelle in Pitnochie zurückzulassen. Und sie wollte es wissen. Sicher, sie hatte sich vorgenommen, ihre magischen Begabungen des Blicks und der Verwandlung, der Kommunikation mit den Geschöpfen des Waldes, der Beschwö- 68 rung von Licht und Schatten nicht mehr anzuwenden. Wenn solche Informationsquellen in der Vergangenheit Antworten geliefert hatten, waren sie häufig rätselhaft und schwierig gewesen, eher weitere Fragen als Antworten. Das bedeutete nicht, dass Tuala nicht dennoch hin und wieder den Drang verspürte, es zu versuchen. Sie gab dem Bedürfnis einfach nicht nach. Sie wusste, wie gefährlich es war, als Frau vom Guten Volk Königin von Fortriu zu sein. Es würde immer Menschen geben, die versuchten, Brideis Autorität zu untergraben, und sie war entschlossen, diesen Personen keine Gelegenheit zu geben, sie zu diesem Zweck zu benutzen. Das hielt sie
allerdings nicht davon ab, sich nach der Wahrheit zu sehnen, einer Wahrheit, die auch ihr Sohn wissen musste, wenn er erwachsen wurde. Tuala sprach über diese Dinge nicht, nicht einmal mit Bridei. Sie flüsterte manchmal ein Gebet und hoffte, dass die Leuchtende sie erhörte, denn diese Göttin hatte stets freundlich auf sie herabgeblickt. Bisher hatte die Leuchtende ihr jedoch keine Enthüllungen beschert. Was die beiden seltsamen Geschöpfe anging, die Tuala geneckt und verlockt, schikaniert und geprüft hatten, das Mädchen Weide mit ihren seltsamen Augen und fließenden Gewändern und den Jungen Geißblatt mit der nussbraunen Haut und den Locken aus Efeu, so waren sie nie wiedergekommen. Sobald Tuala sich entschieden hatte, ein Mensch zu sein und in dieser Welt zu leben, waren die beiden verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Manchmal fragte sie sich, ob dieser ganze seltsame Verlauf von Ereignissen nichts weiter als ein verrückter Traum gewesen war. Es war früher Nachmittag, und Derelei spielte wahrscheinlich im Garten unter der Obhut der jungen Dienerinnen. Mara hatte Tuala mehr oder weniger weggescheucht, als wäre sie immer noch fünf Jahre alt und nur in ihrer Phantasie Königin. Mara hatte sich seit diesen frühen Tagen wenig verändert, sie zog es vor, allein für einen Haushalt ver- 69 antwortlich zu sein, und erledigte ihre Aufgaben mit säuerlicher Tüchtigkeit. Broichans alte Haushälterin ließ sich von der Verantwortung für einen königlichen Haushalt, der so viel größer war als der in Pitnochie, nicht abschrecken. Schon scheuchte sie Diener in alle Richtungen, um frische Binsen zu holen, Böden zu schrubben, Spinnweben von der Decke zu fegen und Decken auszulüften. Tuala ging durch die Flure der Festung auf dem Weißen Hügel, vorbei an der geschlossenen Tür des Raums, in dem Bridei sich mit den Fürsten beriet. Sie bereiteten sich auf die Ankunft einer Delegation aus dem südlichen Königreich Circinn vor, Besucher, die immer eine Herausforderung und unter den derzeitigen schwierigen Umständen eine besondere Prüfung darstellten. Tuala ging einen gepflasterten Weg zwischen kleinen grasigen Bereichen und Beeten mit Kräutern, Wurmholz, Kamille und Lavendel entlang. Es gab hier Steinbänke, die so standen, dass man auf ihnen in der Nachmittagssonne sitzen konnte, und kleine Statuen von Göttern und Tieren waren um Teiche und in Nischen an der Steinmauer aufgestellt, die den Garten umgab und ihn vor dem heftigen Nordwind schützte. Es war ein Ort der Ruhe. Ana hatte den Garten gemocht; sie hatte hier viele glückliche Tage verbracht, sich mit Tuala unterhalten, mit Derelei gespielt und an ihren zarten Stickereien gearbeitet. Tuala vermisste ihre Freundin. Sie fragte sich, wie weit Ana bereits gekommen war und wie ihr die Reise gefiel. Vielleicht waren sie bereits in Dornwald. Vielleicht war Alpin ja ein freundlicher Mann, ein Mann wie Bridei. Ana hatte beim Abschied geweint, trotz ihrer offensichtlichen Anstrengungen, sich zusammenzunehmen. Sie war bereit gewesen, ihre Pflicht zu tun, aber auch traurig und verängstigt. Tuala wusste, wie ihre Freundin sich fühlte. Sie wünschte sich von ganzem Herzen, dass es nicht notwendig gewesen wäre, Ana so schnell und so grausam wegzuschicken. Aber sie hatten es nicht vermeiden können. Die - 70 ganze Angelegenheit war zu wichtig. Sie mussten Alpin auf ihre Seite ziehen, bevor Brideis Streitmacht gegen die Galen von Dalriada antrat. Und anders, als es die Gerüchte verlauten ließen, die sie ausgegeben hatten, würde das nicht erst im nächsten Frühjahr geschehen. Die Beratung würde nicht zum Fest der Reife stattfinden, sondern zum Aufstiegsfest, wenn der Frühling sich dem Sommer zuwendete. Die Männer von Fortriu würden im Herbst marschieren, zwei Jahreszeiten eher, als ihre Feinde annahmen. Sie würden in großer Zahl nach Westen eilen, und bis Gabhran von Dalriada davon erfuhr, würde es schon zu spät sein, dass die Galen eine starke Gegenwehr aufstellen konnten, zu spät für Gabhran, seine Verwandten aus Ulaid und Tirconnell zu rufen, um seine Armee zu unterstützen. Diesmal würden sie die Galen besiegen. Diesmal würden sie sie aus Fortriu vertreiben. Selbst wenn Circinn sich weigerte, Bridei zu helfen, würde der junge König mit diesem Ziel in den Krieg ziehen. Sie hätten es Ana sagen sollen, dachte Tuala. Es nicht zu tun, war, als hielten sie diese königliche Braut für zu dumm, über Angelegenheiten von solch strategischer Wichtigkeit Schweigen zu wahren. Und nicht nur das, es ließ die Entscheidung, Ana so schnell ins Land der Caitt zu schicken, grausam und unnötig wirken. Welche Braut wollte schon ihrem vorgesehenen Ehemann vor Augen treten, bevor er der Heirat zugestimmt hatte? Damit forderte man eine Demütigung wirklich heraus. Welche junge Frau möchte einen Mann heiraten, von dem sie nichts weiß, außer dass es in seiner Vergangenheit gewissen Fragen gab? Eine arrangierte Ehe war eine Sache; das hier ging weit darüber hinaus. Tuala ging durch den Torbogen und blieb stehen. Die Dienerin war nirgendwo zu entdecken. Aber Tuala sah ihren Sohn kerzengerade im Gras sitzen, die kleinen Hände in die Luft gestreckt und in eine Art von Spiel versunken. Ihm gegenüber saß im Schneidersitz Broichan, der Druide des - 71 Königs, in seinem dunklen Gewand. Es war ein Zeichen der Macht, über die dieser Mann verfügte, dass er selbst in einer solch würdelosen Pose und nur in Gesellschaft eines kleinen Kinds distanziert, ernst und Furcht einflößend aussah. Tuala hatte die Angst vor ihm nie verloren. Sie beobachtete die beiden und ließ sich zunächst nicht sehen. Diesmal hatte Derelei ihre Nähe nicht gespürt. Sowohl Druide als auch Kind waren sehr konzentriert, und nun konnte Tuala sehen, dass Broichan eine Hand vor Derelei bewegte und die Finger auf eine bestimmte Weise bog, und dass ihr Sohn nicht ganz so zufällig in der Luft herumfuchtelte, wie es kleine Kinder tun. Derelei hatte den Blick auf Broichans Gesicht fixiert, und er kopierte die Geste des Druiden. Die winzige
Hand mit den dicklichen Fingern bewegte sich ebenso anmutig wie ein Möwenflügel, ahmte Broichans lange, knochige Finger nach, die sich bogen, streckten, vor sein Gesicht hoben. Ein Vogel landete auf der Mauer neben ihnen und plusterte sich auf. Ein anderer, kleinerer Vogel erschien einen Augenblick später und landete mit erstaunter Miene neben dem ersten. Derelei gluckste entzückt. Broichan senkte den Kopf, sodass seine langen Zöpfe nach vorn fielen und man sehen konnte, dass es zwischen den dunklen Strähnen und den bunten Fäden auch weißes Haar gab, und er sprach leise auf das Kind ein. Derelei streckte nicht die Hände aus und packte zu, wie er es für gewöhnlich tat, wenn etwas Interessantes in Reichweite kam. Er blieb, wo er war, blickte angespannt auf und sagte etwas in seiner geheimnisvollen Kindersprache. Bisher beherrschte er nur wenige erkennbare Wörter. »Ein Kreis, so ...«, sagte Broichan und benutzte erneut die Finger, um etwas vorzuführen, machte ein Zeichen, eine Handspanne oberhalb des Grases. Derelei tat es ihm nach, die kleine Hand ausgestreckt, und vollzog einen Kreis. Das Gras legte sich gehorsam nieder, und ein kleiner Ring entstand. - 72 Tuala war schockiert. Sie war wütend. Ihr erster Instinkt bestand darin, auf den Druiden zu zu eilen. Wer hat dir gestattet, meinen Sohn zu unterrichten? Wie kannst du es wagen? Bei aller Angst, die sie vor dem Mann hatte, sie hätte es getan. Dereleis Fähigkeiten überraschten sie nicht; sie hatte bereits gesehen, was er tun konnte, welche Begabung ihr eigenes Blut ihm verliehen hatte, und wenn sie gewollt hätte, dass er diese Talente so früh entwickelte, hätte sie ihn selbst unterrichtet. Dass Broichan sich hier ohne ihre oder Brideis Genehmigung einmischte, war nicht nur unverschämt, es war beunruhigend. Das hier war ihr Kind, nicht seines. Er hatte Bridei genug geschadet. Bei seinen Anstrengungen, seinen Pflegesohn zum perfekten König zu machen, hatte Broichan einen jungen Mann geschaffen, der verzweifelt allein gewesen war. Selbstverständlich ließ Bridei sich von seiner Ergebenheit gegenüber den uralten Göttern von Fortriu nicht abbringen. Er war ein ausgesprochen gelehrter Mann, er war mutig und vollkommen geeignet, dieses Königreich anzuführen - in dieser Hinsicht hatte Broichan sein Ziel vollkommen erreicht. Er war nur unfähig zu erkennen, wo seine Irrtümer lagen. Aber Tuala blieb stehen, schwieg und fühlte sich von etwas festgehalten, das sie nicht benennen konnte. Die beiden, Mann und Junge, vollzogen Geste um Geste. Sie verwandelten Blüten in leuchtende, geheimnisvolle Insekten und ließen Schatten über das Gras schleichen und sich wieder zurückziehen. Eine Kröte sprang auf Dereleis Knie, dann verschwand sie. Eine Maus lief an Broichans Arm entlang und verschwand in der Kapuze seines Gewands. Es war nicht die Magie, nicht wie leicht sie sie wirkten, was Tuala wie erstarrt stehen bleiben ließ. Es war die unwahrscheinliche Ähnlichkeit zwischen den beiden, was Haltung, Bewegung und Ausdruck anging, die Art, wie der kleine Junge sich bei allem Kontrast zwischen einem hoch gewachsenen, in ein dunkles Gewand gehüllten Magier und - 73 einem kurzbeinigen Kind in Windeln exakt so bewegte wie der Druide. Es war geradezu unheimlich. Es war beunruhigend. Was sie dort sah, war von seltsamer Schönheit und von großer Symmetrie; es war der Stoff einer unmöglichen Geschichte oder eines verstörenden Traums. Tuala spürte ein merkwürdiges Kribbeln im Nacken, beinahe wie damals, als sie am dunklen Spiegel, diesem geheimen Teich im Wald, gesessen hatte und zum ersten Mal dem Guten Volk begegnet war. »Mama«, sagte Derelei nun, drehte sich zu Tuala um, und der Bann war gebrochen. Die Vögel flogen davon, und Broichan stand auf, wenn auch nicht so leichtfüßig, wie er es einmal getan hätte. Tuala war endlich fähig, sich zu bewegen, kniete sich neben ihren Sohn und sprach den Druiden höflich an. »Wo ist Orva, meine Dienerin?« »Sie ist nicht weit, sie sitzt dort an dem lang gezogenen Teich. Ich wollte sie wegschicken, aber sie weigerte sich, den Jungen aus den Augen zu lassen.« Derelei war jetzt müde; er schmiegte sich in Tualas Arme. Solch konzentrierte Übung der Magie war anstrengend. Es war zu viel für ein kleines Kind. Tuala holte Luft, um es Broichan zu sagen, und selbst jetzt noch brauchte es all ihren Mut, um sich gegen ihn zu stellen. »Es ist nur gut«, sagte Broichan, bevor sie sprechen konnte, »dass er kein Kandidat für den Thron sein kann. Dieses Kind hat eine Zukunft, vielleicht eine außergewöhnliche. Es sollte in den Nemetons erzogen werden.« »Er wird nirgendwo hingehen«, fauchte Tuala und zog ihren Sohn so fest an sich, dass er begann, erschrocken zu wimmern. »Schon gut«, murmelte sie und tätschelte ihn, »es ist alles in Ordnung.« »Es ist noch Zeit«, sagte Broichan. »Er brauchte nicht zu gehen, bevor er sechs oder sieben Jahre alt ist; die Ausbildung ist anstrengend und sollte warten, bis er stark genug - 74 ist. Du kannst nicht abstreiten, dass er über eine natürliche Begabung verfügt, Tuala.« »Das tue ich nicht«, sagte sie. »Aber er ist noch klein, und er kann alles sein, was er will, ein Gelehrter, ein Krieger, ein Reisender, ein Handwerker. Und selbstverständlich auch ein Druide, wenn das der Weg ist, für den er sich entscheidet.« »Wird er mit sechs Jahren eine weise Entscheidung fällen können? Wird diese Wahl nicht eher von denen, die älter sind als er, für ihn getroffen?« Tuala dachte an das Kind Bridei und an die Entscheidungen, die es nie hatte selbst fällen können. »Es wird wohl Sache seines Vaters und seiner Mutter sein, ihn anzuleiten«, erklärte sie entschlossen. »Ich glaube nicht, dass
Bridei es gern sehen würde, wenn sein Sohn in so jungem Alter weggeschickt wird. Seine Familie ist für ihn sehr wichtig.« Broichan schwieg einen Augenblick. Er drehte den silbernen Schlangenring und runzelte die Stirn. Er sah Tuala nicht an. Nach einiger Zeit sagte er: »Ich könnte ihn unterrichten. Mit Brideis Erlaubnis. Und der deinen. Dann wäre es nicht nötig, ihn wegzuschicken, zumindest nicht, bis er alt genug ist, sich selbst zu entscheiden.« Tuala war verblüfft, und zwar ebenso darüber, dass er ihre Erlaubnis suchte, als über den Vorschlag selbst. Sie bezweifelte nicht, dass ihrem Sohn eine Zukunft bevorstand, in der er seine besonderen Talente nutzen würde. Nein, sie wollte bestimmt nicht, dass er Krieger wurde. Sie hatte die jämmerlichen, gebrochenen Überlebenden gesehen, die nach Fortrius Begegnung mit seinen Feinden nach Hause hinkten oder getragen wurden, und sie wusste nicht, wie eine Mutter es ertragen konnte, dass ihr Sohn Krieger wurde. Druide, Gelehrter, Handwerker, das waren gute Beschäftigungen. Es gab nur ein Problem. »Er ist der Sohn des Königs ...«, begann sie. - 75 »Ja«, stimmte Broichan ihr ernst zu, »und er ist dein Sohn, und wir wissen beide, was ich über dieses Thema denke, obwohl ich nicht öffentlich darüber spreche, weil ich es Bridei vor so langer Zeit versprochen habe. Es gibt keinen Grund, wieso der Sohn eines Königs nicht in den Dienst der Götter treten kann. So etwas ist schon öfter geschehen. Und wenn die Begabung, die das Kind hier heute gezeigt hat, ein wenig ... anderweltlich ist ... was wäre besser, um Aufmerksamkeit für deine eigene Herkunft zu vermeiden, als die Verantwortung für die Anleitung des Jungen in meine Hände zu legen? Ich kann dir versichern, dass er lernen wird, seine Kraft zu beherrschen und seine Fähigkeiten zu den richtigen Zwecken einzusetzen. Ich kann ihm beibringen, seine Begabung zu beherrschen und sie zum Wohl von Fortriu zu nutzen. Damit werde ich sowohl dein Kind als auch deinen eigenen Ruf schützen.« Tuala antwortete nicht. Er riss alles an sich, wie er es immer tat, er würde ihren Sohn stehlen und Derelei sein Eigen machen. Wenn er Derelei erzog, würde der Kleine die gleiche Art Kindheit erleben wie Bridei. »Du traust mir nicht. Das ist nichts Neues, und ich traue dir ebenso wenig. So ist es nun eben zwischen uns. Sprich mit deinem Mann. Stelle Bedingungen, wenn du willst. Es ist wichtig, Tuala.« »Ich möchte, dass mein Sohn glücklich ist«, sagte sie. »Ich möchte, dass er umgeben von seiner Familie aufwächst, mit Brüdern und Schwestern, wenn die Göttin sie uns gewähren sollte. Kinder brauchen nicht nur Bildung und Anleitung. Sie brauchen Liebe.« Broichan schwieg einen Augenblick. »Ich bin mir deiner Ansicht über meine Mängel als Pflegevater bewusst«, sagte er steif. »Ich kann das nicht ernst nehmen. Bridei ist alles, was er sein sollte.« Tuala nickte. »Ja«, sagte sie. »Und er ist sehr fähig, wenn es darum geht, zu verbergen, wie viel es ihn kostet. Du hast - 76 ihm seine Kindheit genommen. Ich werde nicht zulassen, dass du sie auch seinem Sohn raubst.« »Zulassen?«, zischte Broichan, und Tuala zuckte bei seinem Blick zusammen. Die Luft um ihn herum schien zu funkeln, und sein Schatten wurde größer. Derelei fing an zu weinen. »Er ist müde; er braucht sein Schläfchen«, sagte Tuala und spürte selbst, dass sie plötzlich erschöpft war. Orva, die Dienerin, kam rasch herangeeilt und wollte den Jungen nehmen, aber Tuala schickte sie auf ungewöhnlich barsche Weise weg. »Nein, Orva, ich brauche dich nicht. Geh schon, ich bin sicher, Mara wird andere Arbeit für dich finden. Ich bringe ihn jetzt nach drinnen«, fügte sie mit einem Blick zu Broichan hinzu. »Bo«, sagte Derelei deutlich und streckte die Hände nach dem Druiden aus. Er hatte einen neuen Namen gelernt. Tuala schauderte, als Broichan die eigene Hand hob und sie sanft auf die wirren braunen Locken des Kinds legte, nicht ganz ein Streicheln, aber so nah, wie ein solcher Mann einer liebevollen Geste kommen konnte. »Ich bitte dich nicht darum, weil ich mehr Macht wünsche, Tuala«, sagte der Druide leise. »Bitte sprich mit Bridei.« »Dann sag mir«, forderte Tuala, »warum du zuerst mit mir sprichst und nicht direkt zu Bridei gehst.« »Weil ich weiß, dass er nicht zustimmen wird, wenn du es nicht willst. Würdest du es vorziehen, dass ich mich selbst an ihn wende?« »Nein. Er hat im Augenblick ohnehin genug zu tun. Ebenso wie ich - er wird bald in den Krieg ziehen, und ich habe die gleichen Ängste wie alle Frauen in solchen Zeiten.« »Ja.« Broichans Stimme war wie Laut gewordener Schatten; wie ein tiefer Brunnen voller Geheimnisse. »Wirst du dich nicht versucht fühlen, ihm zu folgen und mithilfe des - 77 Blicks Trost zu suchen? Sie werden lange weg sein, eine Jahreszeit oder länger. Dies stellt doch sicher eine große Versuchung für dich dar.« »Nicht so groß, dass ich mich nicht widersetzen könnte«, erklärte Tuala finster. »Im Gegensatz zu allem, was du denkst, habe ich nie vergessen, welches Glück ich habe, dass diese Menschen mich als Brideis Frau akzeptieren. Ich habe nicht vor, ihnen Grund zu geben, an meiner Eignung für diese Aufgabe zu zweifeln. Mein Mann braucht mich. Ihm gilt meine erste Treue, ihm und dem, was er sein muss.« »Dann wäre es sehr weise von dir, meiner Bitte zuzustimmen. Du kannst den Jungen nicht selbst ausbilden, es sei denn, du nutzt diese geheimen Künste sehr viel mehr. Ich hingegen kann es tun, ohne dass sich jemand daran stieße. Solche Dinge sind für einen Druiden das tägliche Brot.«
»Es besteht keine Eile. Er ist noch ein kleines Kind.« Sie wandte sich ab, um zu gehen. »Tuala«, erklang Broichans Stimme nun sehr leise hinter ihr. In diesem Ton schwang etwas Neues mit, etwas, das bewirkte, dass sie stehen blieb. »Ich habe nicht so viel Zeit für diese Aufgabe, wie ich mir wünschen würde«, sagte er. »Lass mich dem Kind geben, was ich kann.« Und als sie über die Schulter zurückschaute, bemerkte Tuala, wie blass sein langes, schmales Gesicht war, wie die Knochen von Nase und Wange sich unter der Haut abzeichneten; sie sah die Falten zwischen Mund und Nase, die nicht immer so tief gewesen waren, die Lippen nicht so streng umgeben hatten. Es kam ihr vor, als stünde unterdrückter Schmerz in den dunklen Augen und als lehnte der Druide sich auf seinen Stab, wie ein viel älterer Mann es tun würde - zum ersten Mal, seit sie sich erinnern konnte, benutzte er diesen Stab nicht nur als Werkzeug seines Handwerks, sondern schlicht als Stütze. - 78 »Ich ...«, setzte sie an und schwieg wieder, als sie seinen Blick sah. »Wie du schon sagtest...« Seine Stimme war nur ein Flüstern. »Bridei hat mit dem kommenden Krieg und der Versammlung, die eine große Herausforderung darstellen wird, viel zu tun. Wir wollen ihn zu einer solchen Zeit nicht mit anderen Sorgen belasten. Sprich mit ihm nur über seinen Sohn und darüber, was das Beste für Derelei ist.« - 79 KAPITEL DREI Faolan folgte einer Landkarte in seinem Kopf, die er zusammengesetzt hatte aus seinen eigenen wenigen Beobachtungen in dem Gelände nördlich des großen Tals und dem, was er von Informanten erfahren hatte. Außerdem ergänzte er sie ständig mithilfe seiner Aufmerksamkeit gegenüber Warnzeichen in Wetter und Gelände. Er konnte die Feuchtigkeit auch im geringsten Wind spüren, konnte spüren, was hinter einem sich bewegenden Schatten, einem Abkühlen der Luft stand. In Abertornie hatten er und Ged noch bis lange in die Nacht hinein mit einem erfahrenen Führer zusammengesessen und über den Weg gesprochen, den Faolan und seine Leute durch die Berge nehmen mussten. Sie sprachen über steile Schluchten, gefährliche Abhänge, über die man nicht reiten konnte, über die Stellen, wo man nur allzu leicht vom Weg abkam. Bisher hatte diese Vorbereitung den Reisenden gut gedient. Es gab allerdings auch einige Schatten auf Faolans Landkarte, Orte, die er im Geist nicht klar sehen konnte. Furten, die schon Leben gekostet hatten. Berghänge, an denen es häufig zu Gerölllawinen kam. Enge Täler, die für einen Hinterhalt hervorragend geeignet waren. Und am Ende würden sie den Wald selbst erreichen: den Dornwald, einen Ort, an dem angeblich sehr seltsame Dinge geschahen. Er drängte seine Gruppe, sich so schnell zu bewegen, wie - 81 sie konnten. Die Männer waren gut, und die Dienerin Creisa war zumindest fähiger als ihre Vorgängerin. Sie konnte reiten, und ihre frische Kompetenz im Lager glich ihre flinke Zunge und ihr Schäkern beinahe wieder aus. Außerdem konnte man schließlich kaum erwarten, dass eine königliche Braut nur von Männern begleitet reiste. Er wusste nicht, was er von Ana halten sollte. Manchmal forderte sie ihn heraus, zeigte Geist und Kraft. Häufiger war sie still und fügsam und nahm ihr Schicksal so resigniert hin, dass es ihn geärgert hätte, wenn solche Dinge ihn interessierten. Sie war wie ein Tier, das zum Schlachter geführt wird, ganz große Augen, goldenes Haar und auf ihre Sauberkeit bedacht, wenn sie doch kurz davor stand, einem Krieger von zweifelhaften Ruf übergeben zu werden, der sie wahrscheinlich so rau behandeln würde wie irgendein schmutziges Geschöpf am Weg... Faolan erwischte sich dabei, dass er seine Gedanken umherschweifen ließ; er verstieß gegen seine eigenen Regeln. Also ritt er an die Spitze der Gruppe und konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt. Er hatte sie nicht missverstanden, diese kleine Spur von Feuchtigkeit in der Luft. Es würde regnen, wenn nicht heute, dann morgen; wenn nicht morgen, dann einen Tag oder zwei später. Sie waren gut vorangekommen, und er nahm an, dass sie den Dornwald kurz vor Neumond oder ein wenig danach erreichen würden, in etwa acht oder neun Tagen. Wenn er sich seine Landkarte richtig vorstellte, gab es im Nordwesten einen Fluss und eine Furt, von der Geds Mann beunruhigende Dinge erzählt hatte. Faolan wäre, wenn der Regen begann, gerne schon auf der anderen Seite gewesen. Er rief Wrad und Kinet zu sich und sprach kurz mit ihnen. Angesichts des dicht bewaldeten Lands, das sie gerade durchquerten, der kleinen Seenkette im Süden, den dunstigen Konturen der weit entfernten Berge, kamen sie alle zu dem Schluss: Es waren noch zwei Tagesritte bis zur Furt. Vielleicht würde es bis dahin noch nicht regnen. - 82 Vielleicht würden die Pferde schnell genug vorankommen. Wenn Bridei hier gewesen wäre, hätte er die Götter um ihre Hilfe bitten können, sie sicher über das Wasser und zum Dornwald zu bringen. Faolan jedoch glaubte nicht an Götter oder an Glück, nur an gute Organisation. Er sammelte die ganze Gruppe auf dem Waldweg um sich. Die Kiefern waren hier hoch, und im Schatten darunter war es seltsam still, als lauschte der Wald, als atmete, als wartete er. Faolan würde froh sein, wenn er diesen Auftrag endlich hinter sich hatte. »Wir reiten weiter, bis wir kein Licht mehr haben«, sagte er. »Heute gibt es keine Jagd; wir werden nach Einbruch der Dunkelheit ein paar von unseren Vorräten essen. Sobald es am Morgen heller wird, machen wir uns
wieder auf den Weg.« »Aber ...«, begann Creisa und schwieg, als sie seinen Blick bemerkte. »Es ist wichtig, dass wir uns rasch weiterbewegen«, sagte Faolan. Er würde nicht erklären, warum. Es hatte keinen Sinn, die Frauen zu beunruhigen. Die Männer würden es schon selbst herausfinden. »Besteht die Gefahr, dass wir hier in einen Hinterhalt geraten?«, fragte Ana zu seiner Überraschung. »Wie kommst du auf die Idee?« Sie zögerte, bevor sie sprach. »Es ist ein dichter Wald, der gute Deckung bietet. Und es heißt, es gibt hier rivalisierende Stämme, Fürsten, die miteinander im Krieg stehen ...« »Wenn er halbwegs bei Verstand ist«, sagte Faolan, der seine eigenen Worte nicht glaubte, »wird Alpin unsere Ankunft erwarten und hat bereits die notwendigen Schritte unternommen, um unseren Weg sicherer zu machen. Er sollte die Botschaft des Königs, die ihm ankündigt, dass wir auf dem Weg nach Dornwald sind, inzwischen erhalten haben.« »Selbstverständlich.« - 83 Etwas an Anas Tonfall beunruhigte ihn. Er sah sie forschend an und stellte fest, dass sie blasser war als sonst; sie sah müde aus. »Hast du verstanden?«, fragte er. »Wir müssen reiten, bis es dunkel wird; wir müssen so weit wie möglich kommen.« »Selbstverständlich verstehe ich das!«, fauchte sie und überraschte ihn erneut; sie hatte die guten Manieren einer Frau von Stand und verstieß selten dagegen, selbst wenn sie ernsthaft versucht war, wie bei der Sache mit dem Baden. »Ich bin nicht dumm. Regen steht bevor, und wir müssen eine Furt überqueren. Selbst ein Kind würde das verstehen.« Wieder wollte Creisa etwas sagen. Diesmal war es Ana, die sie mit einer scharfen Geste aufhielt. »Also gut«, sagte Faolan, »sehen wir, wie weit wir kommen, solange es noch hell genug ist.« Als die Sonne tief am Himmel stand und die dunklen Bäume lange Schatten über den schmalen Weg mit seinem Nadelteppich warfen, erreichten sie ein Flussufer. Der Weg folgte dem Fluss und wand sich zwischen Erlen und Weiden einher. Das Flussbett war breit und steinig, die Strömung stark. Faolan schickte Kinet mit einem Stab in der Hand hinein. Sie sahen zu, wie der Mann zwei vorsichtige Schritte tat, dann drei, dann stand er bis zur Taille im Wasser und musste sich anstrengen, gegen die Strömung anzukommen. Faolan und Wrad halfen ihm nach draußen. »Die Furt liegt sicher stromabwärts«, sagte Faolan und versuchte, die Stelle auf seiner vorgestellten Landkarte festzulegen. »Kommt weiter; wir müssen vor Einbruch der Dunkelheit hinüber.« Das da konnte nicht der Fluss sein, von dem Geds Führer gesprochen hatte. Sie waren gut vorangekommen, aber nicht so gut. Er war sicher, dass das Haupthindernis noch Tage vor ihnen lag und sich in einem breiteren Tal als dieser waldigen Schlucht befand. »Bewegt euch!«, fauchte er, als er sah, wie die Frauen zurückfielen und offenbar nur widerstrebend weiterritten. Sie waren im - 84 Wald verschwunden, als Kinet das Wasser prüfte, und nun stiegen sie nicht sofort wieder auf die Pferde. Sie unterhielten sich leise, dann half Creisa Ana in den Sattel, bevor sie auf ihr eigenes Pony stieg. »Fallt nicht zurück«, warnte Faolan. »Wir können es uns nicht leisten, nach Einbruch der Dunkelheit hier festzusitzen. Wir müssen eine Furt finden. Bleibt in Sichtweite.« Creisa sah ihn erbost an. Ana ritt ohne ein Wort weiter. Bildete er sich nur ein, dass sie blass war? Verflucht sollte dieser Auftrag sein! Er hatte ihr Tempo bereits der Schwäche der Frauen angepasst. Mit einer Gruppe, die nur aus Männern bestand, wäre diese Reise relativ einfach gewesen, und die größte Gefahr hätte in einem Hinterhalt bestanden. Faolan war im Stande, mit Schwierigkeiten zurechtzukommen. Er hatte schon früh gelernt, dass die praktischen, alltäglichen Dinge im Vergleich mit den verblüffenden Schlägen, die das Schicksal austeilen konnte, ausgesprochen banal waren. Früher einmal hatte es Menschen, Beschäftigungen, Ideen gegeben, die für ihn von Bedeutung gewesen waren. Nun gehörte so etwas der Vergangenheit an. In der Zeit, die es für eine einzige Entscheidung brauchte, mit nur einer einzigen Tat, war dieser Teil von ihm gestorben. Bevor er Bridei begegnet war, hatte er lange Zeit nichts weiter gekannt als die Notwendigkeit, den nächsten Atemzug zu tun, einen Fuß vor den anderen zu setzen und sich weiterzubewegen. Bridei hatte ihm ein Ziel gegeben, hatte ihm eine Freundschaft angeboten, die Faolan nicht erwidern konnte. Stattdessen gab er, was er leisten konnte: Treue und perfekte Arbeit. Daher dieser Auftrag. Er war vielleicht nicht nach seinem Geschmack, aber er würde ihn perfekt ausführen. Die Frauen waren zweifellos müde von den unbequemen Nachtlagern im Wald, aber er konnte nicht zulassen, dass sie die Gruppe aufhielten. Sie folgten dem Flussufer, während die Sonne tiefer sank und das Tal dunkler wurde. Nun gab es neben den vertrau- 85 ten Kiefern auch andere Bäume, seltsame Gewächse mit gewundenen Ästen und krallenden Zweigen, die sich über den Weg streckten, Pferde und Reiter kratzten und versuchten, sie aufzuhalten. Der Boden wurde rutschig, statt über Gras oder Kiefernnadeln bewegten sie sich nun über eine glatte, schlammige Oberfläche; hier hatte es bereits geregnet. Faolan drängte sie weiter. Sie mussten dieses Tal durchqueren und auf höheres Gelände
gelangen. Nur ein Narr würde ein Nachtlager an einer solchen Stelle aufschlagen. Ein- oder zweimal fielen die Frauen zurück, und Faolan schickte einen Mann, um sie anzutreiben. Es fiel ihm schwer, den Mund zu halten. Er gab sich allerdings nicht die Mühe, seine zornige Miene zu beherrschen. Er hoffte, er würde es nicht aussprechen müssen: Regen, ein Fluss mit viel Wasser, eine enge Schlucht im Dunkeln. Ein festgelegter Weg, bewaldete Hügel, die Deckung boten, ein perfekter Ort für einen Hinterhalt. »Bewegt euch!«, rief er erneut, und zur gleichen Zeit hörte er von weiter vorn einen Ruf. Wrad, den er ausgeschickt hatte, um sich zu überzeugen, dass der Weg frei war, rief: »Die Furt!« Hinter einer Biegung wurde der Fluss breiter, teilte sich in vier Arme, die kleine, steinige Inseln umschlossen. Auf der anderen Seite zog sich der Weg den Hügel hinauf, unter die Bäume. Sie machten Halt. Kinet, der der Größte von ihnen war, stieg vom Pferd und überquerte den Fluss zu Fuß, einer, zwei, drei, vier kleine Flussarme; er erreichte die andere Seite, ohne dass das Wasser ihm höher als bis an die Knie ging. Hinter den Kiefern ging die Sonne unter. Der Himmel wurde dunkler. »Vorwärts«, sagte Faolan. »Reitet langsam, und sobald ihr auf der anderen Seite seid, zieht direkt den Weg entlang nach oben.« Er schaute sich um und sah die Ponys der Frauen nebeneinander stehen, ihre Reiterinnen waren verschwunden. Er schluckte einen Fluch hinunter. »Wo ...« - 86 »Sie sind im Wald«, sagte ein Bewaffneter namens Benard. »Ich glaube, die junge Dame hat Bauchschmerzen. Es war vielleicht der Hase, den wir letzte Nacht gegessen haben; er war ein wenig alt.« »Bei allem, was heilig ist«, murmelte Faolan und zwang sich, gleichmäßig zu atmen. »Wrad, du wartest bei mir; ihr anderen macht euch schon auf den Weg und sucht ein Lager für heute Abend, es wird bald dunkel sein. Macht ein Feuer.« Er und Wrad warteten scheinbar unendlich lange. Männer, Ponys und Packtier überquerten den Fluss und verschwanden den Weg entlang. Es wurde dunkler. Die Steine der Furt leuchteten blass in den Schatten. Als die Frauen wieder erschienen, stand Faolan um Haaresbreite vor einem Wutausbruch. »Das war wirklich ein hervorragender Zeitpunkt für solche Dinge«, sagte er. »Wollt ihr in diesen Wäldern zurückbleiben? Steigt wieder auf! Wir müssen den Fluss jetzt ohne weitere Verzögerung überqueren.« Noch während dieser Worte begann Ana zu schwanken, knickte in den Knien ein und fiel auf den schlammigen Boden neben ihrem Reittier. Creisa stieß einen erschrockenen Schrei aus, hockte sich neben sie und legte ihr eine Hand auf die Stirn. Faolan stieg ab und sprach die Dienerin scharf an. »Ist sie krank? Was ist los?« Creisas Ton war anklagend. »Du hättest sie nicht zwingen sollen weiterzugehen. Du kannst eine Dame nicht so behandeln, als wäre sie einer von deinen Bewaffneten. Sie hat Krämpfe. Und sie ist müde.« »Krämpfe?« Im trüber werdenden Licht war immer noch zu sehen, wie Creisa verlegen rot anlief. »Frauenangelegenheiten. Sie gehört zu denen, denen es dann wirklich schlecht geht; zu Hause würde sie mindestens zwei Tage im Bett bleiben müssen. Sie ist sehr zart. Eine echte Dame. Die Schmerzen - 87 sind schrecklich - nicht, dass du etwas darüber wüsstest. Du hättest sie nicht zwingen dürfen zu reiten.« Ana lag schlaff da, ihr Kopf auf den Knien der Dienerin, ihr Gesicht ein bleiches Oval in der Dämmerung. »Sie hätte es mir sagen sollen«, murmelte Faolan. »Wie sollte das geschehen?«, zischte Creisa. »Eine Dame spricht nicht mit Männern über solche Dinge. Ich hätte es gesagt, aber sie wollte es nicht zulassen. Und was jetzt, da du ja offenbar auf alles eine Antwort weißt?« Faolan sah sie an. »Jetzt machst du dich nützlich«, sagte er. »Wrad, komm her. Die Dame wird den Fluss mit mir überqueren müssen. Hilf mir, sie hochzuheben - vorsichtig- genau so.« Ana kam langsam wieder zu sich, aber sie konnten nicht darauf warten. Sie hoben sie seitwärts auf Faolans Pferd, und er stieg hinter ihr in den Sattel, hielt sie mit einem Arm an sich gedrückt und packte die Zügel mit der anderen Hand. »Los!«, rief er. »Wrad, du führst das Pony der Dame. Creisa, du folgst ihm und hältst den Mund. Ich muss langsam reiten, wartet nicht auf mich und geht weiter zu den anderen. Wir müssen sehen, dass wir so schnell wie möglich aus diesem Tal herauskommen.« Sie gehorchten schweigend, und ihre Pferde durchquerten mit stetigem Schritt die Flussarme. Faolan lenkte sein Tier mit den Knien vorwärts. Als sie ins Wasser kamen, rührte sich Ana in seinen Armen, streckte die Hand aus. »Was ...«, murmelte sie erschöpft, die Augen immer noch geschlossen. Faolan packte sie fester; er musste dafür sorgen, dass sie sie in ihrer Verwirrung nicht beide ins Wasser riss. Krämpfe. Sie hatte also geblutet, und er hatte sie den ganzen Tag reiten lassen. Er erinnerte sich daran, wie blass sie gewesen war und dass er bewusst nicht gefragt hatte, was los war. Er erinnerte sich, wie leichtfertig er alles als unbedeutend abgetan hatte. Er wusste nicht viel von solchen Dingen, aber die Beweise - 88 standen ihm deutlich vor Augen: ihr geisterhaft bleiches Gesicht, die umschatteten Lider, die vor Erschöpfung hohlen Wangen. Ihr Haar hatte sich zum Teil aus dem Zopf gelöst und fiel über seine Brust und sein Knie, ein Wasserfall silbrigen Mondlichts. »Wie ...«, murmelte sie. »Schon gut«, sagte er. »Wir sind beinahe drüben.« Sie hob die Hand und klammerte sich an seinen Umhang, wie sich ein Kind an seinen Vater klammert, an seine Mutter, als Trost in der Dunkelheit. Nein, es war überhaupt nicht so. Er spürte, wie sie sich bewegte, wie sie den
Kopf an seine Schulter legte und er hörte sie seufzen. Er spürte, wie sein Herz begann schneller zu schlagen, ein Rhythmus der Warnung, der unerwarteten Gefahr. Im Halbdunkel, den Arm fest um Ana geschlungen, lenkte er das Pferd weiter und erinnerte sich daran, dass er ein Mann war, der es sich nicht leisten konnte, etwas zu empfinden. Seine Aufgabe bestand darin, diese Frau nach Dornwald zu bringen. Wenn er damit fertig war, würde Bridei ihm einen anderen Auftrag erteilen. Ein Fuß vor den anderen, Schritt für Schritt. Genau so, wie man eine Furt durchquerte. Er hatte nur dafür Platz und für nichts weiter. Dennoch, als sie in der Abenddämmerung weiterritten und ihr Körper dicht an seinem das einzig Warme in der Kälte des Waldtals war, erklang ein Lied in Faolans Kopf, das Flüstern einer Melodie von vor langer Zeit, aus der Zeit, die er geglaubt hatte, vergessen zu haben ... Wie Frühling war ihre rosige Haut, wie Sommer war ihr langes Haar ... und so vergaß Fionnbharr seine Reise ganz und gar... In dieser Geschichte ging es selbstverständlich um eine Feenfrau, um eine von den Daoine Sidhe. Ana war echt, sie war lebendig, er konnte ihren sanften Atem spüren, konnte ihren Duft riechen, der trotz der langen Reise süß und angenehm war. Sie war echt, und ein kleiner Teil von ihm wollte, dass diese Flussüberquerung ewig dauerte, etwas tief in ihm wünschte sich, dass es nur noch diesen Augenblick gab und nichts weiter. - 89 Ana regte sich in seinen Armen. »Ruhig«, sagte er, »bewege dich nicht. Wir sind beinahe in Sicherheit.« »Was ...« »Du hast das Bewusstsein verloren. Ich wusste nicht, dass du krank bist.« »Oh - o ihr Götter, oh, es tut mir so Leid ...« »Still.« Er verlagerte das Gewicht und schob sie zurecht, während das Pferd aus dem letzten Flussarm stapfte und begann, den steilen Pfad auf der anderen Seite hinaufzuklettern. Es gab kaum noch genug Licht, um den Weg zu erkennen. »Du hast gesungen«, sagte Ana leise, als wäre sie nicht sicher, ob sie träumte oder wach war. »Ich?«, erwiderte Faolan und fragte sich, ob er tatsächlich laut gesungen hatte und nicht nur, wie er geglaubt hatte, in seinem Kopf. »Wohl kaum. Du bist diejenige, die singt.« Er schaute nach unten, begegnete ihrem Blick, ihren grauen Augen, die trotz all der müden Schatten, die sie umgaben, groß und klar waren. Er fragte sich, ob er sie sogar im Dunklen sehen könnte. »Es tut mir so Leid«, sagte sie und versuchte sich aufzusetzen. Es war ihr unangenehm, nahm Faolan an, sich in seinen Armen wieder zu finden, als wären sie zwei Liebende, die ein Pferd teilten, nur damit ihre Körper einander berühren, sich aneinander schmiegen, die berauschende Wärme spüren konnten wie feinen Met, der noch Besseres versprach. »Ich habe uns aufgehalten«, fuhr Ana fort. »Ich werde morgen versuchen, Schritt zu halten. Ich weiß, wie wichtig es ist.« »Still«, sagte Faolan wieder. Er hörte, wie angespannt ihre Stimme war, hörte die Schmerzen, die nicht allzu tief unter der Oberfläche lagen. »Die Männer schlagen jetzt ein Lager auf. Morgen früh ist noch Zeit genug, um Entscheidungen zu treffen. Und wenn sich jemand entschuldigen muss, - 90 dann bin ich es. Ich war unachtsam. Als Anführer kann ich mir so etwas nicht erlauben. Ich bedauere es.« Es war vielleicht keine besonders gute Entschuldigung. Er hatte nicht ausgesprochen, was er wirklich sagen wollte. Aber es war ungefährlich. Es war, was er gesagt hätte, bevor sie den Fluss überquert hatten. »Wir sind beide schuld«, sagte Ana. »Und gleichzeitig auch wieder nicht, denn es ist mir klar, dass keiner von uns wirklich hier sein möchte.« Darauf fiel Faolan keine Antwort ein. Er wusste nicht mehr, worin die Antwort bestand. Es war dunkel. Die Männer waren erschöpft; man merkte ihnen die Anstrengung jetzt deutlich an. Er teilte sie in drei Schichten ein, um ihnen mehr Ruhe zu erlauben. Die, die keine Wache halten mussten, schliefen ein, sobald sie sich hingelegt hatten. Faolan selbst würde vor Morgengrauen schlafen, während Wrad und Kinet, die er für die Verlässlichsten hielt, Wache hielten. Er hatte geplant gehabt, früh aufzubrechen und rasch zum nächsten Fluss zu reiten. Das ging jetzt nicht mehr. Im Dunkeln spürte er die Kälte in der Luft, den Geschmack nach Regen. Ana lag im Unterstand, einen gewärmten Wasser schlauch auf dem Bauch. Sie tat nur so, als schliefe sie; er konnte an ihrem Atem hören, dass sie wach war und immer noch Schmerzen hatte. Creisa war in tiefen Schlaf gesunken. Die Nacht ging weiter. Die erste Wachschicht kam zurück und legte sich schlafen. Die zweite Schicht ging hinaus in die Dunkelheit. Es gab in diesem Teil des Waldes viele Vögel, Faolan wusste nicht, von welcher Art. Etwas, das nachts jagte, vielleicht Eulen. Ihre Rufe waren hohl und tief und bewirkten, dass sich seine Nackenhaare sträubten. Es gab noch andere Geräusche in diesen Wäldern, seltsame Geräusche, die er bei all seinem Wissen über die Wildnis nicht deuten konnte: Raunen, Zischen, Flüstern. Er konzentrier- 91 te sich auf die Probleme, die vor ihm lagen: der Regen, die Furt, die Frau, von der man nicht verlangen konnte, dass sie am Morgen weiterzog. Er bedauerte zutiefst, dass er keine Götter hatte, an die er glaubte, keine Gottheit und keinen Geist, den er höflich bitten konnte, den Regen noch zurückzuhalten, nur ein oder zwei Tage, damit sie sicher an den Rand des Dornwalds gelangten.
Als sie die Furt überquerten, hatte er einen Entschluss gefasst. Sie mussten mindestens einen Tag Rast einlegen und Ana Ruhe gönnen. Regen oder nicht, er konnte sie nicht weiterreiten lassen, bevor diese Krämpfe vorüber waren. Seine Aufgabe bestand nicht nur darin, innerhalb eines gewissen Zeitraums Alpins Festung zu erreichen, er musste auch einen Schatz von großem Wert und großer Zartheit dort abliefern. Wenn er zwar rechtzeitig ankam, aber mit beschädigter Fracht, würde das bedeuten, dass er seinen Auftrag nicht perfekt ausgeführt hatte, und das war undenkbar. Sie würden warten. Damit verringerten sie ihre Möglichkeiten. Wenn ein Fluss anschwoll, hatten auch alle anderen Hochwasser. Wenn es tatsächlich regnete, würden sie vielleicht in der Falle sitzen und nicht mehr vor und zurück können. Ein Kribbeln auf der Haut, ein vages Unbehagen sagte Faolan, dass sie nicht allein in diesem Wald waren. Er glaubte nicht sonderlich an Geschichten über anderweltliche Präsenzen. Sehr viel wahrscheinlicher war, dass ein unternehmungslustiger hiesiger Anführer, begleitet von seinem Kriegshaufen, die Reisenden zu einem Punkt verfolgte, wo er ihnen gut auflauern konnte. »Was ist das für ein Geruch?« Das war Anas Stimme; sie richtete sich auf. Er sah, wie sie nach einem Schultertuch griff, es sich umwickelte und dann den Unterstand verließ. Sie setzte sich leise neben die schlafenden Männer ans Feuer. Ihr helles Haar leuchtete im Licht des abnehmenden Monds. Das Glühen der Holzkühle verlieh ihrem erschöpften, abgehärmten Gesicht eine falsche Rosigkeit. - 92 »Einer meiner Männer hatte Kräuter in seinem Gepäck, angeblich eine schmerzlindernde Mischung«, sagte Faolan und hob ein kleines Töpfchen vom Rand des Feuers, wo das Gebräu abgekühlt war. »Ich dachte, es könnte dir vielleicht helfen. Ist es sehr schlimm?« »Ich bin daran gewöhnt. Ich weiß nicht, ob ich trinken kann. Manchmal kann ich vor Schmerzen nichts bei mir behalten.« Faolan goss das Gebräu in einen Metallbecher. Er schwieg. »Ich werde es versuchen, wenn du willst«, sagte Ana. »Ich kann nicht schlafen. Vielleicht hilft es ja.« Er reichte ihr den Becher. Als seine Finger ihre berührten, spürte er, wie ein Schauder durch seinen Körper zuckte. Er atmete vorsichtig, versuchte, den Blick aufs Feuer zu konzentrieren. Was immer ihm bei der Flussüberquerung zugestoßen war, es war nicht nur unwillkommen. Es war unerträglich. »Es tut mir Leid, dass ich eine solche Last bin«, sagte Ana höflich und trank einen kleinen Schluck. Ihre Fingerknöchel waren weiß, als sie mit einer Hand den Becher umklammerte und mit der anderen das Tuch um sich zog. Ihr Haar war jetzt offen, vollkommen seinen üblichen Fesseln entflohen, ein schimmernder Fluss, der ihr ein etwas unwirkliches Aussehen verlieh: eine Gestalt aus einem Traum. Faolan war den größten Teil eines Monds in ihrer Gesellschaft unterwegs gewesen. Und selbstverständlich hatte er sie in den Jahren, seit er nach Fortriu gekommen war, oft genug am Hof gesehen und nicht weiter an sie gedacht. Sie war eine Geisel gewesen, ein Mädchen mit hellem Haar, Tualas Freundin. Nichts weiter. Nichts, was ihn anging. Plötzlich fiel es ihm schwer, sie nicht anzusehen. »Du entschuldigst dich oft.« Das entschlüpfte ihm gegen seinen Willen. »Wie meinst du das?« Sie klang nicht gekränkt, nur miss- 93 trauisch. Sie sprach leise, ebenso wie Faolan, um die Männer nicht zu wecken. »Es wäre vollkommen vernünftig gewesen, mich zu bitten, das Lager früher aufzuschlagen, damit du dich ausruhen kannst. Aber ich wusste es nicht. Ein Mann kann solche Dinge nicht erraten.« Ana sah ihn an. Ihre Augen erschienen ihm tief, geheimnisvoll und dennoch klar, wie ein Gezeitentümpel im Sommer, voller Geheimnisse. Ein Mann müsste ein Narr sein, dort hineinzuschauen; er lief Gefahr unterzugehen. »Du hältst mich für dumm und verwöhnt«, sagte Ana. »Dessen bin ich mir sehr bewusst. Und du hast deine Ansichten von Anfang an klar gemacht, als du darauf bestandest, dass ich Reitstunden brauche, ohne mich zu fragen, ob ich nicht vielleicht schon reiten kann. Ich habe nicht das Leben eines Mannes geführt. Ich weiß wenig vom Leben eines Mannes, wie du einer bist, eines Mannes, der seinen eigenen Regeln folgt und seine eigenen Entscheidungen trifft. Aber ich bin nicht vollkommen dumm und verfüge über ein gewisses Maß an gesundem Menschenverstand. Ich weiß, warum wir weiterziehen müssen. Ich habe schon vor zwei Tagen gerochen, dass es regnen wird. Ich habe die Geräusche im Wald gehört. Dir zu sagen, dass ich ... indisponiert war ... wäre unvernünftig und eigensüchtig gewesen. Es hätte uns wertvolle Zeit gekostet.« Faolan sah sie an. »Das wird es ohnehin tun«, stellte er fest. »Ich kann morgen weiterreiten ...« Sie brach ab, verzog das Gesicht, stellte den Becher ab und drückte sich die Hand auf den Bauch. »Unsinn«, sagte Faolan. »Das werde ich nicht zulassen. Du bist eindeutig nicht dazu in der Lage. Du brauchst mindestens noch einen Tag Ruhe, vielleicht zwei. Du hättest es mir auch gleich sagen und dir einen unangenehmen Tag ersparen können.« - 94 Eine Weile schwieg Ana. »Wie meintest du das«, fragte sie schließlich, »mit dem Entschuldigen? Man hat mir gute Manieren beigebracht, etwas, das du vielleicht öfter einsetzen könntest.« Faolan spürte, wie seine Mundwinkel zuckten. Er zwang sich, an Dornwald zu denken, an Alpin von den Caitt. Sein Bedürfnis zu lächeln verschwand. »Ich wollte dich nicht kränken«, sagte er, »es beunruhigt mich einfach zu sehen, wie bereitwillig du dein Schicksal akzeptierst, ganz gleich wie unangenehm, wie - geschmacklos es sein
mag. Dir gefällt der Weg nicht, den andere für dich wählten, aber du folgst ihm dennoch demütig. Du bedauerst uns zu verlangsamen, wenn jede vernünftige Person schon viel früher verlangt hätte, dass wir ein Lager aufschlagen.« »Ich bin eine Frau«, sagte Ana schlicht. »Ich bin von königlichem Blut, eine Handelsware. Ich bin es meinen Verwandten, Bridei und der Zukunft von Fortriu schuldig, das zu tun, was man mir sagt. Ich bin es den Göttern schuldig.« Faolan dachte eine Weile über diese Antwort nach. »Was würdest du tun«, fragte er, »wenn du nicht von solchen Dingen eingeschränkt wärst? Durch Geburt, durch Pflicht? Welche Entscheidungen würdest du treffen? Welchem Weg würdest du folgen?« Ana schwieg lange. Faolan beschäftigte sich mit dem Feuer, legte genügend Holz nach, um es in Gang zu halten, ohne dass es zu hoch aufflackerte. Als er wieder aufblickte, sah er das Glänzen von Tränen auf ihren Wangen. »Ich weiß es nicht«, flüsterte sie. »Ich würde sicher nicht diesen Weg gehen.« »Aber du versuchst nicht, etwas daran zu ändern.« »Ich tue, was von mir erwartet wird.« Sie blinzelte ein paar Mal, rieb sich die Wangen und richtete sich gerade auf. Das königliche Blut, dachte Faolan, war nie deutlicher in ihr als jetzt; es war trotz der Tränen, trotz ihres blassen - 95 Gesichts, trotz des ungekämmten Haars und des hastig umgelegten Tuchs sichtbar. »In meinem Fall gibt es keine Wahl«, fuhr Ana fort. »Ich nehme an, für dich ist es anders. Du kannst deine eigene Zukunft bestimmen. Du bist nur dir selbst gegenüber Rechenschaft schuldig.« Dafür gab es keine Antwort. Er konnte ihr nicht die Wahrheit sagen. Dies zu tun, verstieß gegen die Regeln, die ihm halfen zu überleben. Dieses Gespräch hätte nie stattfinden dürfen. Er hatte geglaubt, den Fluss erfolgreich überquert zu haben. Nun schien es, dass er bei dieser Überquerung Hals über Kopf versunken war. »Was ist denn? Habe ich etwas Falsches gesagt?« Ihr entging nichts; selbst im Dunkeln hatte sie gesehen, dass sich etwas in seiner Miene veränderte. »Du solltest versuchen zu schlafen«, sagte Faolan. »Ich habe hier noch mehr von diesem Gebräu; gib mir den Becher, ich fülle ihn neu.« Sie saßen noch eine Weile schweigend da und lauschten dem leisen Schnarchen der Männer und weiter draußen, hinter dem sicheren Kreis des Feuerlichts, den geheimen Geräuschen des Waldes. Ana hielt den Becher in eleganten, blassen Händen, und selbst nach dem langen Ritt, nach all diesen Lagern im Wald, waren ihre Nägel glänzende, perfekte Ovale. Seine eigenen Nägel waren abgebrochen, schmutzig und abgekaut. Die Hände eines Mörders. Es hatte Zeiten gegeben, in denen das nicht so gewesen war. Es hatte Zeiten gegeben, in denen seine Hände einem anderen Handwerk dienten. »Wer war Fionnbharr?«, fragte Ana nach langem Schweigen. Ihre Frage überraschte Faolan vollkommen, und er antwortete ohne nachzudenken. »Ein Reisender. Er wurde von einer Frau der Daoine Sidhe verzaubert, einer Feenfrau, und reiste neunundneunzig Tage lang über diese Welt hinaus.« - 96 Zu spät erkannte er, was Frage und Antwort gezeigt hatten. »Aha.« Mehr sagte sie nicht. Für eine Frau war sie überraschend zurückhaltend. Dafür war er zutiefst dankbar. »Sprichst du Gälisch?«, fragte er und nahm sich vor, in Zukunft seine Zunge besser im Zaum zu halten. »Nur ein paar Worte. Wir haben zu Hause die Sprache der Priteni gesprochen, aber es gab christliche Mönche auf unserer Heimatinsel. Sie waren Galen wie du.« »Du solltest schlafen«, sagte er abermals. »Wenn du noch in den Wald gehen musst, bevor du dich wieder hinlegst, werde ich Wache für dich halten. Es ist nicht nötig, das Mädchen zu wecken.« Ana nickte. »Sie schläft sehr tief, nicht wahr? Danke. Wann wirst du schlafen?« »Darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen.« »Da bin ich anderer Meinung. Immerhin bist du der Anführer dieser Gruppe, und unsere Sicherheit hängt davon ab, wie aufmerksam du bist.« Es dauerte einen Moment, bis er erkannte, dass sie ihn neckte; ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen, ein Grübchen zeigte sich neben ihrem Mundwinkel. Auf ihrem Gesicht waren immer noch Tränenspuren zu sehen. Es war ein merkwürdiger Anblick. Faolan fühlte sich sehr seltsam. Wahrscheinlich hatte sie Recht. Was außer extremer Erschöpfung konnte ihn so durcheinander bringen? »Ich werde schlafen, wenn die letzte Schicht Wache hält. Da wir noch einen Tag pausieren werden, haben wir viel Zeit.« »Du bist auch nur ein Mensch«, sagte Ana. »Daran solltest du manchmal denken.« »Gibst du mir etwa Befehle?« »Hast du mich nicht gefügig genannt? Die Gefügigen geben keine Befehle. Ich weise dich nur darauf hin, was nütz- 97 lieh sein könnte. Du bist derjenige, der hier das Sagen hat. Sollen wir gehen?«
Sie gingen ein Stück in den Wald hinein. Er wartete, während sie verschwand, um private Dinge zu tun. Einmal zuckte er zusammen, als ein Vogel dicht an seinem Gesicht vorbeiflog; das Tier erschien so plötzlich, dass Faolan keine Zeit hatte auszuweichen. Der Vogel landete auf einem nahen Baum, ein Wirbel aus Federn und Schatten. Sein Schnabel war feindselig, sein seltsames, wildes Auge wie das eines Sehers in Trance. Als Ana zurückkehrte, sagte sie: »Hast du das gesehen? Diesen Vogel ... ich glaube, es war eine Krähe. Er flog so dicht an uns vorbei. Dieser Ort ist voller Präsenzen. Und wir sind noch nicht einmal im Dornwald.« »Wenn ein Vogel das Schlimmste ist, worauf wir stoßen, bin ich zufrieden.« Zurück im Lager dankte sie ihm auf ihre höfliche Weise und zog sich in den Unterstand zurück, um sich auf die Decken zu legen, während Faolan wieder ans Feuer ging. Es widerstrebte ihm, Kinet und Wrad zu wecken, die schwer gearbeitet hatten und todmüde waren. »Gute Nacht«, sagte er leise in die Richtung des Unterstands. »Gute Nacht, Faolan.« Ihre Stimme war leise, aber klar. Er mochte, wie sie seinen Namen aussprach. »Möge die Leuchtende deine Träume hüten.« Er kannte die richtige Antwort. Man lebte nicht an Brideis Hof, ohne sich des gesamten Musters förmlicher Grüße und Abschiedsworte und der Rituale der Priteni bewusst zu werden. Die korrekte Antwort lautete Möge der Flammenhüter dein Erwachen beleuchten. Aber er glaubte nicht an Götter, weder an die von Brideis Volk noch an die arroganten, flüchtigen Gottheiten seiner Heimat. Ein solcher Segen war in seinem Fall nicht angemessen. Keine Gottheit hatte die Macht, die dunklen Heimsuchungen seiner Näch- 98 te zu läutern. Sie waren stets bei ihm, seine selbst hergestellte Hölle. Er sollte Ana verfluchen statt sie zu segnen. Sie hatte etwas in ihm geweckt, das er nicht wollte, eine Erinnerung, die er lange mit aller Kraft niedergehalten hatte. Er konnte das nicht brauchen. Er konnte es nicht zulassen. Er wollte nur Befehle, Aufgaben, makellose Ausführung. Dann die nächsten Befehle. »Schlaf gut«, sagte er dennoch und sah, wie sie sich unter der Decke zusammenrollte, den blonden Kopf auf eine Hand gestützt. Er wartete, bis er wusste, dass sie eingeschlafen war. Dann weckte er die dritte Schicht und schickte sie auf Wache. Über ihnen, auf dem Ast eines knorrigen, verkrüppelten Baums, beobachtete eine Krähe mit glänzenden Augen jede Bewegung. Am nächsten Tag lag Ana im Unterstand und lauschte dem Geräusch des Regens auf dem geölten Tuch und den Lauten des Lagers. Kein Augenblick der unerwarteten Rast wurde verschwendet. Wild wurde gejagt, zerlegt, gebraten. Waffen wurden geschärft, Wasserschläuche gefüllt und Pferde gestriegelt. Ein paar Männer schliefen, aber nur mit Faolans Erlaubnis. Ana selbst schlief hin und wieder ein; das übel schmeckende Kräutergebräu, von dem Faolan noch mehr zubereitete, hatte tatsächlich eine beruhigende Wirkung. Als es Abend wurde, kochten sie ihr Haferbrei, und Ana stellte fest, dass sie Hunger hatte. Am nächsten Morgen brachen sie das Lager ab und ritten weiter nach Westen. Anas Krämpfe hatten nachgelassen. Sie war immer noch müde und schwach, aber sie konnte den Blick in Faolans Augen sehen und tat ihr Bestes, selbstsicher und stark zu wirken. Der Regen war nicht heftig, noch nicht. Zumindest nicht hier. Aber es war noch ein weiter Weg zum Fluss, wenn Faolans Einschätzung stimmte, und in diesem immer grimmiger werdenden Hochland rauschten viele Bäche in die Täler, schäumten über Felssimse, gurgelten durch geheime - 99 Schluchten oder breiteten sich hier und da zu Sümpfen aus, die auf Pferd und Reiter lauerten. Im Norden drängten sich dunkle Wolken. In der Luft über den Reitern erklangen die Alarmrufe vieler Vögel. So viele Vögel; es wimmelte nur so von ihnen, von solchen, die Ana kannte, Falken, Bussarden, Lerchen und anderen, die ihr neu waren. Hin und wieder sah sie einen Vogel wie den, der sie im Wald an der Furt erschreckt hatte, es musste eine Krähe sein, aber dieser Vogel hatte einen einzigartigen Blick. Seine Augen waren misstrauisch und wissend. Als sie die dichteren Regionen des Waldes verließen und dem Weg einen steilen, kargen Hang hinauf folgten, hatte sie schon dreimal einen Vogel dieser Art gesehen und fragte sich, ob es immer der Gleiche gewesen war, der ihnen folgte, einmal hoch über ihnen flog und dann wieder auf einem großen Stein am Wegesrand saß und die Reisenden mit seinem durchdringenden Blick beobachtete. Einer der Männer holte eine Schlinge heraus und hob einen Stein auf. »Nein«, sagte Faolan. »Wir haben genug Fleisch für eine paar Mahlzeiten. Lass ihn in Ruhe.« Sie hörten den Fluss schon, bevor er in Sicht kam. Zunächst war es ein Flüstern, dann ein Murmeln, dann ein beharrliches Trommeln, das beinahe ihre Stimmen übertönte. Anas Haut wurde klamm vor Angst. »Fürchte dich nicht.« Faolan kam neben sie. »Wenn das Wasser zu hoch ist, werden wir irgendwo auf dieser Seite ein Lager aufschlagen und warten. Ich werde nicht versuchen, den Fluss zu überqueren, ehe ich sicher sein kann, dass wir es auch schaffen. Ich werde unser Leben nicht aufs Spiel setzen, nur damit wir rechtzeitig unser Ziel erreichen.« »Ist es nicht wichtig, dass wir genau das tun?«, fragte Ana. »Überlass es mir einzuschätzen, was wichtig ist«, erwiderte er. Seine Miene war nun wieder starr; sie hätte nicht - 100 sagen können, was er dachte. Dieses seltsame Gespräch, das sie beide im Dunkeln geführt hatten, kam ihr immer mehr wie ein Traum vor. »Geds Führer sagte, dass man diese Furt durchqueren kann, solange man Vorsichtsmaßnahmen ergreift. Vertrau mir.«
Ohne auf eine Antwort zu warten, ritt er weiter an die Spitze. »Es gibt ein Wort für solche Männer«, stellte Creisa, die hinter Ana ritt, fest. »Aber du würdest es nicht gerne hören, Herrin, also behalte ich es für mich.« »Er weiß, was er tut«, sagte Ana. »Wenn wir weiterziehen, dann weil das die beste Entscheidung ist, nachdem er alles überdacht hat.« »Ja, Herrin.« Der Tonfall legte nahe, dass Creisa alles andere als überzeugt war. Sie hatte ihren Rock ein wenig höher gezogen, als unbedingt notwendig war, um reiten zu können. Die Männer in der Nähe warfen immer wieder einen Blick auf dieses interessante Stück wohlgeformten bestrumpften Beins; wenn ihre Pferde trotzdem auf dem steinigen, schmalen und immer steiler werdenden Weg nicht ins Rutschen gerieten, war das kaum ihren Reitern zu verdanken. Ana sehnte sich ungemein danach, dass all dies vorüber wäre. Ihr Rücken tat weh, ihr war schwindelig und immer noch übel. Sie wünschte sich ein warmes Bad, frische Luft, frische Kleidung und ein bequemes Bett, in dem sie schlafen konnte, ohne dem Wetter ausgesetzt zu sein. Allein. Sobald sie sicher nach Dornwald gelangten, würde sie diese einfachen Dinge nie wieder für selbstverständlich halten. Eine leise Stimme in ihrem Hinterkopf flüsterte, dass sie, wenn sie erst mit Alpin verheiratet war, nicht mehr oft allein schlafen würde. Sie schob diesen Gedanken weg. Sie konnte einfach nicht an diese Dinge denken. Der Weg zog sich an der Flanke eines Tals entlang; hier war das Land wieder bewaldet, dunkle Kiefern weiter oben - 101 und eine Mischung aus kleineren Bäumen nahe dem Fluss, sodass man ihn nicht sehen konnte. Die Stimme des Flusses war allerdings beharrlich; irgendwo da unten musste es Stromschnellen geben. Ana hörte, wie Faolan einen Befehl gab und die Männer begannen, hinter und vor ihr schneller zu reiten. Ihr eigenes Pony tat es den größeren Tieren nach. »Die schwarze Krähe stehe uns bei!«, rief Creisa. »Ich werde blaue Flecke an Stellen haben, über die ich noch nie nachgedacht habe!« Dann rief Faolan wieder etwas, und ihnen blieb kein Atem mehr, um sich zu beschweren; auf dem schmalen Weg zu bleiben brauchte alle Energie. Ana wurde schwindelig. Sie biss die Zähne zusammen und richtete sich auf. Das hier war nicht der Zeitpunkt, Schwäche zu zeigen. Eine letzte Biegung, ein steiler Abstieg über einen gefährlich kiesigen Hang, und die Furt kam in Sicht, gesäumt von Weiden. Vögel schössen über das Wasser, wobei ihre Wege sich in einem kunstvollen Tanz kreuzten und wieder kreuzten. Es gab hier einen einzelnen breiten Kanal, ungebrochen von sichtbaren Felsen. Die Wasseroberfläche war glatt, die Strömung schien nicht allzu heftig zu sein. Ana dachte, dass es sicherer aussah als das schiefrige Flussbett, das sie zuvor überquert hatten. Es regnete sanft, aber anhaltend. Wenn sie den Fluss überqueren wollten, war nun wahrscheinlich ihre letzte Gelegenheit. Kinet stieg ab, nahm den Stab in die Hand, und auf Faolans Nicken watete er vorsichtig ins Wasser. Es wurde sofort deutlich, dass die Strömung hier stärker war, als es aussah. Kinet taumelte, stieß den Stab fest nach unten und gewann sein Gleichgewicht wieder. Das Wasser reichte ihm bis an die Oberschenkel. »Weiter«, rief Faolan über das Geräusch der Strömung hinweg. »Prüfe den ganzen Weg, wenn du kannst.« Es war schwierig. Dreimal wäre Kinet beinahe gestürzt, und er war ein großer, kräftiger Mann. Creisa biss sich auf - 102 die Knöchel. Schließlich erreichte Kinet die andere Seite, nass bis beinahe zur Taille. Faolan winkte ihm zu, zurückzukehren. Die Männer unterhielten sich leise, während die Frauen warteten. Auf einem gebogenen Ast, halb verborgen hinter den zarten Blättern einer Weide, saß ein Vogel, klaräugig und seltsam ruhig im Schatten. Ana starrte ihn an; sie wurde immer sicherer, dass es das gleiche Tier war, das ihnen folgte. Wenn sie über Tualas Fähigkeiten verfügt hätte, hätte sie vielleicht sagen können, was der Vogel dachte, hätte seinen Schrei interpretieren können. Sie erinnerte sich, was die Mädchen in Banmerren über ihre anderweltliche Mitschülerin gesagt hatten, wie Tuala ihnen beigebracht hatte, nach den Stimmen von Marder, Aal, Insekt und Vogel zu lauschen, oder wie man die tiefen, trägen Gedanken einer Eiche verstand. Ana verfügte nicht über solche Fähigkeiten. Der Vogel beunruhigte sie. »Was willst du?«, flüsterte sie. »Was bist du, eine Art Spion?« Der Blick des Tiers verharrte auf ihr, intensiv, ohne ein Blinzeln. Es war verstörend. Sie sah, dass Faolan ihr winkte, und ritt zu den Männern zurück, gefolgt von Creisa. »Also gut«, sagte Faolan mit strenger Miene. »Wir ...« Ana fand nie heraus, was er beschlossen hatte, ob er weiterziehen oder warten wollte. Es gab ein Schwirren und ein Klatschen, und Kinet, der gerade wieder aus dem Fluss gekommen war, fiel zu Boden, die Augen vorquellend, einen blau gefiederten Pfeil im Hals. Creisa schrie. Die Männer bewegten sich blitzschnell und bildeten einen schützenden Kreis um die Frauen, während zwei von den Pferden sprangen, um zu dem gestürzten Mann zu eilen. Ana hörte Wrad sagen: »Er ist tot«, und Creisa schluchzte unterdrückt. Einen Augenblick später kam ein zweiter Pfeil aus einer anderen Richtung und bohrte sich in Faolans Oberarm. Er warf einen Blick darauf, nahm mit kaltblütiger Distanziertheit, die Ana trotz ihrer Angst beeindruckte, den Schaft in die Hand und - 103 zog den Pfeil heraus. Die Spitze glitzerte scharlachrot. Die Männer hielten ihren Kreis, die Waffen nach außen
gerichtet. In dem Wald waren nun Geräusche zu hören, Zweige knackten, Büsche raschelten, man hörte Schritte; eine Streitmacht von beträchtlicher Größe näherte sich aus mehreren Richtungen, immer noch unsichtbar und tödlich. Es gab nur einen Ausweg. »Über den Fluss«, fauchte Faolan. »Wrad, du nimmst Creisa hinter dich. Ana, zu mir. Schnell!« Jemand hatte ihm ein Stück Tuch zugeworfen, das er sich um den Arm wickelte, noch während er sprach. Einen Augenblick später saß Ana wieder auf Faolans Pferd, diesmal hinter ihm, und er lenkte das Tier mit einer Hand. Sie ritten in den Fluss. Als wollten sie diese Entscheidung verspotten, rollten dunkle Wolken heran, und der Regen verwandelte sich von dauerhaftem Nieseln in eine Sintflut. »Halt dich fest.« Ana konnte Faolans Worte über die Stimme des Flusses und das Trommeln des Regens hinweg gerade noch hören. »Der Boden ist uneben, und das Wasser steigt.« Ana warf einen Blick über ihre Schulter. Hinter ihnen war Wrad in die Furt geritten, und Creisa klammerte sich an ihn. Benard führte das Packtier, ein anderer Mann ging neben einem Pferd, über das man die schlaffe Gestalt von Kinet gelegt hatte. Die anderen waren immer noch am Ufer, die Waffen bereit, und starrten in den Wald. Die Angreifer waren noch nicht aufgetaucht. Ana schaute wieder nach vorn, durch den Regenvorhang in das schattige Dunkel am anderen Ufer. Würden dort mehr Männer warten, um sie einen nach dem anderen zu töten, wenn sie aus der Furt ritten? Sie hoffte, dass Faolan an so etwas gedacht hatte. Schaudernd summte sie leise vor sich hin, ohne wirklich zu merken, was es für ein Lied war, nur in der Hoffnung, dass es ihr helfen würde, mutig zu sein. Eins, zwei, drei, vier, Hühner picken an der Tür. Fünf, sechs, sieben, acht, Krähen - 104 halten draußen Wacht... Es hatte geholfen, als sie klein gewesen war und sich fürchtete, wenn sie allein im Dunkeln darauf wartete, einzuschlafen. Sie schaute wieder nach hinten. Sie waren jetzt alle im Wasser. Ana glaubte, dunkel gekleidete Gestalten unter den Bäumen am östlichen Ufer zu sehen, die aus der Deckung ins Freie kamen. Es sah aus, als trügen sie blaue Stirnbänder. Durch den Regen glaubte sie einen Mann entdecken zu können, der den Bogen hob, einen Pfeil auflegte. »Sie sind direkt hinter uns«, sagte sie. »Am Ufer.« Faolan nickte. Auf ein Zeichen, das Ana nicht bemerkt hatte, bewegte sich das Pferd rascher vorwärts. Es stolperte, Ana sah, dass das Wasser noch höher angestiegen war. Faolans Körper spannte sich deutlich an, als er sich anstrengte, dem Pferd bei der Wiedererlangung seines Gleichgewichts zu helfen. Die Strömung fühlte sich an wie klammernde Hände, wie eine feindliche Macht, die versuchte, sie abwärts zu ziehen. Dann stolperte das Tier plötzlich auf einen kiesigen Strand und eine grasige Erhebung hinauf, und sie waren in Sicherheit. Faolan schwang sich aus dem Sattel, ein wenig ungeschickt mit dem verwundeten Arm. Blut drang durch den behelfsmäßigen Verband, der Ärmel seines Hemds war rot. »Führe das Pferd am Zügel. Geh höher den Weg hinauf«, sagte er. »Das Wasser steigt rasch. Hier.« Er nahm etwas von seinem Gürtel, drückte es ihr in die Hand: ein Messer ohne Scheide, eine ernsthaft aussehende Waffe mit gezähnter Klinge. »Nimm es. Wenn notwendig, benutze es. Versteck dich und warte auf uns. Geh!« »Was willst du ...« »Ana, geh!« Sie sah in seine Augen und erkannte, dass Gehorsam die einzige Möglichkeit war. Über seine Schulter hinweg konnte sie die lange Reihe von Reitern über die ganze Breite der Furt sehen. Sie kamen nur langsam voran, das Wasser war - 105 bereits sichtlich tiefer, und die Pferde hatten offensichtlich Schwierigkeiten. Sie sah zu, wie Faolan wieder zum Ufer ging und dort wartete, deutlich sichtbar für jeden, der einen weiteren Pfeil abschießen wollte. Er wartete, bis all seine Männer sicher die Flussmitte hinter sich hatten. Dann nahm Ana das Pferd am Zügel und begann, den Hügel hinaufzusteigen. Sie war noch nicht weit gekommen, als sie ein Geräusch hörte, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Sie wusste nicht, was es war, nur dass es sich um die Stimme der Katastrophe handeln musste. Sie drehte sich um und spähte aus der Deckung der dichten Büsche hervor, um einen klaren Blick auf die Furt zu erhalten. Das Geräusch war ein Rauschen, ein Tosen, ein gewaltiges Grollen wie von einem sich nähernden Ungeheuer. Die Männer im Wasser schauten flussaufwärts; Ana sah ihre Gesichter in dem Augenblick, bevor es sie traf, bleich, erschrocken, in den Augen die Erkenntnis des bevorstehenden Todes. Dann kam die Welle, eine Flut, die irgendwo weiter flussaufwärts gefangen gewesen sein musste und plötzlich befreit wurde, als eine Barriere unter ihrem Druck nachgab und die Wassermasse flussabwärts rauschen ließ. Das Wasser riss alles mit, das in seinem Weg stand: massive Baumstämme mit Wurzeln wie greifende Finger, Steine, Erde, Büsche, Tiere, alles in einem wilden Wirbel. Es würde lange dauern, bis das Land hier wieder heilte. Ana sah ungläubig zu, wie die Welle über die Furt hinwegtobte; innerhalb von einem Augenblick waren Männer, Frau und Pferde darin verschwunden, ihre Schreie erstickt von dem wilden Tosen und in dem brüllenden Wahnsinn davongetragen. Der Regen hatte ein wenig nachgelassen und Ana konnte klar über das Wasser zur anderen Seite schauen. Das Ufer auf der anderen Seite war unterspült. Der Fluss hatte einen gewaltigen Biss davon genommen. Es war niemand mehr zu sehen. Von einer Seite zur anderen war das Tal mit rauschendem Wasser gefüllt. - 106 -
Ana konnte das hohe, keuchende Geräusch ihres eigenen Atems hören. Sie spürte das dröhnende Klopfen ihres Herzens. Einen Augenblick stand sie da, gelähmt von der schrecklichen Endgültigkeit dessen, was geschehen war. Dann hängte sie die Zügel des Pferds über einen Zweig, raffte den Rock in den Gürtel und rannte den Weg hinunter. Das Wasser hatte die alten Grenzen des Flusses ausgelöscht. Er floss um Baumstämme und durch Dickichte und rauschte über Felsvorsprünge. Die Dinge, die er mit sich trug, bildeten eine neue Gefahr: Baumstämme rasten heran und krachten gegen die Bäume, die immer noch gegen die Flut standhielten, und lose Steine rollten in der mächtigen Strömung. Ana konnte niemanden sehen. Nicht einen einzigen Menschen. Draußen in der Flussmitte, gefangen in einem Ast, bewegte sich etwas Kleines, Buntes wild im wirbelnden Wasser: ein Fetzen von Creisas buntem Schultertuch. Ana konnte nicht weiter gehen, ohne nach den anderen zu suchen, so unwahrscheinlich es auch war, dass sie jemanden finden würde. Das Ufer war ein Albtraum, nur abbröckelnder Boden und sich verschiebende Steine, rutschige Blätter und brechende Äste. Ana suchte sich ihren Weg flussabwärts und merkte sich bestimmte Dinge am Weg: hier eine einzelne Eiche am Hang über ihr, dort einen weißen Felsen in Form einer Ziege, da eine tiefe Narbe, in den Boden gerissen, wo ein Bach seinen eigenen Beitrag zu der Vernichtung geleistet hatte. Sie rief, und ihre Stimme klang schwach und einsam vor dem triumphierenden Lied des Flusses: »Faolan! Wrad! Creisa! Ist jemand da?« Sie würde nicht darüber nachdenken, wo sie sich befand, nicht an diese Männer mit den Pfeilen, nicht daran, dass sie hier allein war und fror, dass sie durchnässt war und keinerlei Ausrüstung und keine Ahnung vom Weg hatte. Sie würde suchen, bis ihr vor der Dunkelheit gerade noch Zeit blieb, um zur Furt und zum Pferd zurückzukehren. Darüber hinaus wollte sie nicht nachdenken. - 107 Die Zeit verlor jede Bedeutung. Sie fand einen Weg, wo es scheinbar keinen gegeben hatte. Sie ignorierte die Kratzer und blauen Flecken, die sie von dornigen, zerrissenen Büschen und zerklüfteten Steinen hinnehmen musste. Ihr Hals tat ihr vom Schreien weh. Sie weinte, und ihre Nase lief. Sie ging weiter, bis sich vor ihr ein Hindernis auftat, an dem sie nicht vorbeikommen würde. Der angeschwollene Fluss stürzte in einem weißen, schäumenden Wasserfall abwärts, und zu beiden Seiten bildeten hohe Felswände eine beeindruckende Barriere. Es hatte keinen Sinn, es mit Klettern zu versuchen. Was sie suchte, würde sich am Flussufer befinden oder nirgendwo. Wenn irgendwer in dieses wirbelnde Chaos weißen Wassers gesaugt worden war, wenn irgendjemand so lange überlebt hatte, waren sie nun weit über Anas Reichweite hinaus. Es war Zeit umzukehren. Das Gefühl der Niederlage war überwältigend. Ana setzte sich auf einen Stein und starrte blicklos in den Fluss. Wenn sie nicht ohnmächtig geworden wäre, wenn Faolan ihr nicht einen Tag Ruhe gestattet hätte, wären sie sicher über den Fluss gekommen. Creisa würde noch leben, ebenso wie Wrad und Kinet und all die anderen jungen Männer. Sie waren wegen ihr gestorben. Weil sie schwach gewesen war. Und Faolan, der den Fluss sicher überquert hatte - er hätte leben können und war gestorben, weil er sich um seine Männer sorgte. Er hatte auf die anderen gewartet, und der Fluss hatte ihn mitgerissen. Seine Ergebenheit an die Pflicht hatte ihn sein Leben gekostet und das ihre gerettet. Ihr blieb nichts anderes: Sie musste umkehren. Hier konnte sie nichts mehr tun. Grimmig begann Ana über die praktischen Dinge nachzudenken. Faolans Pferd hatte Satteltaschen; vielleicht gab es dort ein paar Sachen, die sie brauchen konnte. Sie blutete immer noch. Sie musste ihr Hemd zerreißen, nass wie es war, um es als Verband zu benutzen. Alles andere hatte sich auf dem Packpony befunden: ihre Habe, die Kleidung, die sie für die Hochzeit ge- 108 packt hatte, die kleinen Kleidungsstücke, die sie im Laufe der Jahre bestickt hatte, für die Zeit, wenn sie einmal Kinder haben würde. Alles war weg. Alles weggefegt. »Mach schon, Ana«, befahl sie sich, schniefte und wischte sich die Tränen von den Wangen. Sie kam zittrig auf die Beine, und in diesem Augenblick flog die Krähe an ihr vorbei, so nahe an ihrem Gesicht, dass sie mit einem Keuchen zurückwich. Der Vogel flog hinunter zum Wasser und krächzte dabei laut, und als Ana ihm hinterher starrte, sah sie, was sie zuvor auf ihrem quälenden Weg an der Flanke des Tals entlang nicht bemerkt hatte. Etwas war dort zwischen ein paar zerklüfteten Felsen eingeklemmt. Der Fluss schäumte an dieser Stelle, als wäre er zornig, dass jemand gegen ihn Bestand haben sollte. Am Ufer lehnte sich ein großer Baum, halb umgerissen von der Flut, auf die felsige Insel zu und klammerte sich auf der anderen Seite immer noch an die Erde. Unter ihm hatte das Wasser das Ufer weggerissen. Hier hing eine wirre Masse von Wurzeln halb ins rauschende Nass hinab. Mehr Schutt war dort angespült, abgebrochene Äste, ausgerissene Büsche, Stöcke und Blätter. Ana schaute wieder zu den Felsen hin. Ganz unten konnte sie etwas Dunkles im Wasser erkennen, das nasse, fleckige Hemd eines Mannes. Und etwas Bleiches: ein erschöpftes, halb bewusstloses Gesicht. Eine Hand tastete, klammerte sich gegen den heftigen Sog der Strömung verzweifelt an einen festgeklemmten Ast. Sie rannte los, stolperte über die Steine, und das Herz schlug ihr bis zum Hals. Faolan lebte noch. Er klammerte sich fest. Es gab doch noch etwas, was sie aus diesem Albtraum retten konnte. Der Vogel setzte sich auf die oberen Äste des halb umgestürzten Baums, den Blick auf den Mann im Wasser gerichtet. Ana kletterte unter den umgekippten Stamm und rutschte über das sich auflösende Ufer. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Die Stelle, wo Faolan sich ver- 109 -
zweifelt an diesen Ast klammerte, befand sich zweimal ihre Körperlänge weit im Wasser; sie konnte ihn nur erreichen, wenn sie selbst hineinwatete. Aber das Wasser war tief; Faolan konnte den Boden offenbar nicht berühren und auf diese Weise hinausgelangen. Sobald seine Hände den Halt verloren, würde er mitgerissen werden. Flussabwärts gab es weitere Steilfelsen; er würde wahrscheinlich an ihnen vollkommen zerschlagen werden, noch bevor er Zeit hatte zu ertrinken. Das Wasser strömte um ihn herum, riss an seiner Kleidung, riss an seinem Haar. Er hatte die Augen geschlossen, und sein Gesicht war kreidebleich. Die Zähne hatte er fest zusammengebissen, seine Hand krallte sich immer noch grimmig um den Ast. Wenn sie jetzt riefe, würde sie ihn aufschrecken? Würde er loslassen? Über ihr stieß der Vogel ein schrilles Krächzen, aus und Faolan öffnete die Augen. »Faolan, ich bin hier am Ufer! Ich kann dich erreichen!«, rief Ana mit falscher Selbstsicherheit. »Halte dich fest!« Sie sah sich nach etwas Brauchbarem um, nach irgendetwas, womit sie die Kluft überbrücken konnte. Es gab ein Durcheinander von Dingen, die sich unter den schlammigen Überhang, wo der Fluss das Ufer unterwühlt hatte, festgeklemmt hatten: Äste, Wurzeln, kleine Büsche, tote Dinge, die sie lieber nicht näher betrachten wollte. Und ... ja! Ein Stück Holz, das einmal zu einer Scheune, einem Schuppen oder einem Haus gehört hatte; bearbeitetes Holz, eine dicke Planke von vielleicht einer Handspanne Breite. Ana nahm an, dass sie lang genug war. Wenn sie ein Stück davon unter die Wurzeln klemmen konnte, die sich immer noch an das abbröckelnde Ufer klammerten, und das andere Ende dort auflegte, wo er war, hatte sie mit dieser Brücke zumindest eine Chance, dort hinauszukommen und ihm zu helfen. Sie sah vor ihrem geistigen Auge, wie sie die Arme nach unten strecken und seine Hände packen würde, wie er in diesem Augenblick seinen Griff löste, um sich an ihr fest- 110 zuhalten, und die Kraft der Strömung sie beide mitreißen würde. Es würde nicht funktionieren. Sie konnte ihn gegen die Strömung nicht halten, und er würde auch nicht die Kraft haben, wieder ans Ufer zu gelangen, selbst wenn sie es konnte. Im Augenblick sah Faolan sogar noch schwächer aus, als sie sich fühlte; sie glaubte zu sehen, wie seine Finger abrutschten, wie seine Augen glasig wurden und sich wieder zu Bewusstlosigkeit verdrehten. Das Stück Holz würde stark genug sein, wenn sie es an die richtige Stelle brachte. Aber nichts war stärker als der Fluss ... Dann wusste sie es. Sie musste diese zerstörerische Strömung nutzen, um ihnen zu helfen. Sie musste ihre Brücke zu den Felsen legen, die flussabwärts von Faolan drohten, und wenn er dann losließ, würde das Wasser ihn fest gegen das Holz drücken, während sie ihn hochzog. Sie sah sich den Fluss noch einmal an, wenn auch mit Bangen, denn sie befürchtete, Faolan könnte in dem Augenblick, wenn sie ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes richtete, lautlos unter der Wasseroberfläche verschwinden. Sie wusste, was geschehen konnte; sie sah es als Bild vor sich. Aber sie gestattete diesem Bild nicht, in ihrem Kopf zu verharren. »Faolan!«, rief sie so laut sie konnte, um über das rauschende Wasser verständlich zu sein. Er war zu erschöpft, um zu sprechen, er bewegte den Kopf im Versuch eines Nickens. »Beweg dich nicht!«, schrie sie und wusste gleichzeitig, wie dumm das klang. »Ich komme und hole dich!« Leicht gesagt. Das Brett war schwer; sie konnte kaum glauben, wie schwer es war. Sie balancierte an den seichteren Stellen und kam gefährlich nahe daran, ins tiefere Wasser zu rutschen, bevor es ihr endlich gelang, das Holz zu heben und es umzudrehen. Sie schob das Ende zwischen die höheren Wurzeln am Baumstamm, wählte den richtigen Winkel, damit es festhielt, und ihre Arme und Schultern brannten vor Schmerzen. So, jetzt war es so weit. Nun das - 111 andere Ende; sie musste das Holz herumschwingen, es aus dem Wasser heben, es um jeden Preis von Faolans Kopf fern halten... »Ah!«, keuchte Ana, als ihr Fuß in den Schlamm rutschte und sie auf ein Knie fiel, was ihre Hüfte gegen das Holz drückte. Die Umklammerung des Flusses war erschreckend, ihr Herz klopfte heftig. Sie kämpfte sich wieder hoch, packte die Planke erneut und manövrierte sie, bis das andere Ende mit, wie sie hoffte, so etwas wie Sicherheit zwischen den kleineren Steinen unterhalb von Faolans Position ruhte, um die das Wasser brodelte und schäumte. Sie überprüfte ihre Behelfsbrücke. Sie wackelte, schien aber zu halten. »Ich komme jetzt raus!« Es regnete immer noch. Alles war nass. Ana stieg auf die Planke, die Hände um das Holz geklammert, den Rock so weit in den Bund gestopft, wie es ging, und kroch vom Ufer weg. Das Holz war direkt über dem Wasser, und ihr Gewicht bog es tiefer nach unten, je weiter sie kroch. Die Strömung zupfte an ihr, zog an ihr, und sie spürte, wie ihr Herz so fest klopfte, dass es beinahe barst. Sie versuchte, nicht nach unten zu schauen. Hinter sich konnte sie spüren, wie sich Dinge bewegten und unter der Beanspruchung ächzten und knarrten, sie glaubte nicht, dass das Brett lange an den Baumwurzeln hängen bleiben würde. Ein wenig weiter, noch ein wenig, Hand, Knie, Hand, Knie ... Ihr Herz war eine Trommel, die einen Rhythmus schieren Entsetzens schlug. Dennoch, irgendwo tief in ihr brannte ein leidenschaftlicher Wille. Sie würde ihn retten. Sie würde es schaffen. Dann erreichte sie das Ende der Planke. Zitternd und umgeben von rauschendem Wasser, befand sie sich nun flussabwärts von Faolan. Er konnte sein Gesicht kaum mehr aus dem Wasser heben; er sah bereits halb ertrunken aus. Wie konnte sie von ihm erwarten loszulassen? Er würde wahr- 112 -
scheinlich direkt unter ihrer Planke hindurch flussabwärts gerissen werden. Ihre Rettungsaktion schien zum Versagen verurteilt. Nein, sie würde daran nicht denken. Sie hatte nur diese eine Möglichkeit, und wenn sie das Risiko nicht einging, würde sie bald auch diese Chance verlieren. »Faolan«, rief sie, »hör zu! Ich bin direkt flussabwärts, zwei Armeslängen von dir entfernt. Ich habe eine Planke vom Ufer aus über das Wasser gelegt. Lass noch nicht los. Wenn du die Planke erreichen und dich festhalten kannst, kann ich dich rausziehen. Warte, bis ich es dir sage. Kannst du deinen linken Arm überhaupt benutzen?« Der verwundete Arm bewegte sich träge im Wasser; die Hand kam hoch, die Finger bleich und verschrumpelt, um schwach nach den Wurzeln zu greifen. Sie musste die Anweisungen schlicht halten. »Gut. Du musst dich beeilen. Sei bereit, mit beiden Händen zuzufassen. Störe dich nicht daran, wenn es wehtut. Du musst mir so gut helfen wie möglich.« »Du ... fallen ...« Seine Stimm war fadendünn. »Sei nicht albern!« Sie schwankte, als sie um besseres Gleichgewicht rang; die Brücke bot nur wenig Halt, und es gab nichts anderes, woran sie sich klammern konnte. Sie steckte einen Fuß in einen Riss zwischen den Felsen unter Wasser und balancierte mit dem Bauch auf dem Holz, wodurch sie beide Arme frei hatte. Das Wasser rauschte unter ihr hindurch. »Wenn ich es dir sage, wirst du tief Luft holen und loslassen und dann mit beiden Händen zufassen. Wenn du die Arme nach oben strecken kannst, wird es einfacher sein. Hast du verstanden?« Ein Zucken auf den bleichen Zügen; sie musste es als ein Ja deuten. »Gut. Ich werde bis drei zählen.« Sie atmete so schwer, als hätte sie ein Rennen hinter sich. Das Wasser brodelte um sie herum, sie hing mehr als bis zur Hälfte im Fluss. »Eins, zwei, drei, los!« - 113 Er ließ los. Einen Augenblick später krachte er gegen die Planke und riss den Arm hoch, um sich festzuhalten. Ana packte zu und hielt ihn. Es war ein Krieg, sie gegen den Fluss, und die Beute war das Leben eines Mannes. Sie betete, ein lautloser Schrei zum Flammenhüter, tief aus ihrem Herzen. Es fühlte sich an, als würden ihre Arme aus den Gelenken gerissen, ihr Bein war kurz davor, zu brechen, wo es zwischen den Felsen steckte. Sie ließ nicht los. Es war ein Augenblick, der sich wie eine Ewigkeit anfühlte. Sie zog und spürte Faolans verzweifelte Anstrengung, ihr mit seiner letzten, nachlassenden Kraft zu helfen. Es schien, als würde er unter die Behelfsbrücke gerissen werden, denn das Wasser rauschte über seinen Kopf hinweg, als er versuchte, beide Arme um das Holz zu schlingen. Ana hielt ihn, wo sie konnte, an einem Stück Tuch, einer Hand voll Haar, ihr Griff wechselte hektisch mit seinen Bewegungen, und dann zog er sich selbst auf die Brücke, suchte Halt auf den Felsen und dem Schutt der kleineren Insel, einer flüchtigen Zuflucht, die noch während Ana ihn am Arm nahm und irgendwie neben sich hoch zog, drohte weggespült zu werden. Dann lag er auf der Planke, die Augen geschlossen und schwer atmend. Anas eigene Atemzüge waren ein lautes Keuchen, sie spürte die Wärme von Tränen auf ihren Wangen. Ihr Rücken schmerzte. Ihre Beine waren eine Masse blutiger Schnitte. Ihre Schultern brannten, und ihre Arme fühlten sich taub an. Über ihnen sickerte das Licht aus einem bereits wolkenschweren Himmel. »Faolan!« Er lag schlaff da, die Hände offen im Wasser, gehalten nur von seinem eigenen Gewicht und ihrem schwächer werdenden Griff. Erneut stieg Entsetzen in Ana auf. Wenn er jetzt das Bewusstsein verlor, waren sie so gut wie verloren. »Faolan, wach auf!« Er reagierte nicht. Irgendwo in der Nähe brach etwas und gab nach. Wasser lief über seinen Körper. - 114 »Faolan!« Ana schlug ihm fest auf die Wange. »Wach sofort auf! Du bist im Dienst, erinnerst du dich? Was ist mit deinem Auftrag?« Ein leises Stöhnen, eine geringfügige Bewegung. Anas Herz blutete für ihn, aber sie beschwor ihren herrischsten Tonfall herauf. »Mach schon, Faolan! Es ist beinahe dunkel. Ich brauche dich!« Sie krochen zurück über die zerbrechliche Brücke, Faolan als Erster, Ana hinter ihm, und immer wieder befahl sie ihm, sich zu bewegen. Faolans schwereres Gewicht bewirkte, dass die Planke sich Unheil verkündend tief ins Wasser bog, aber sie hielt. Als sie im Schlamm des unterspülten Ufers standen, brach er in die Knie. Ana zog ihn hoch, zerrte seinen unverletzten Arm um ihre Schultern. Über ihnen beugte sich der Baum nun in einem absurden Winkel auf den Fluss zu. Er grüßte seinen bevorstehenden Untergang mit einem knarrenden, ächzenden Lied der Qual. Ana hörte Flügel flattern; sie spürte die Krähe eher, als sie sie sah, als sie von ihrem Ast aufflatterte und davonflog. Ihr Auftrag, wenn sie denn einen gehabt hatte, war erfüllt. Ana wünschte sich, sie könnte das Gleiche für sich selbst sagen. »Du kannst hier nicht liegen bleiben«, fauchte sie. »Es sei denn, du willst, dass dir ein Baum auf den Kopf fällt. Wir müssen gehen. Gehen, eins, zwei, komm schon! Wir müssen das Pferd holen, einen trockenen Platz finden und Feuer machen.« Ihr Götter, sie hoffte so sehr, dass das Pferd noch da war. Dass es einen Feuerstein in der Satteltasche gab. Dass Faolan mit ihr zusammen das Pferd erreichen würde. »Komm schon, beweg dich!«, befahl sie. »Ich helfe dir, aber ich kann nicht alles tun. Ich bin nur eine verwöhnte Prinzessin, erinnerst du dich? Du bist es, der hier der Anführer sein soll. Du sollst auf mich aufpassen. Vorsicht, hier ist eine sumpfige Stelle ...« Vielleicht war ihr Gebet erhört worden. Vielleicht war es
- 115 an die Ohren des Flammenhüters gelangt, eines Gottes, der Mut und Zähigkeit schätzte. Es blieb hell genug, bis sie wieder den Weg an der Stelle erreichten, wo es einmal eine Furt gegeben hatte. Die Dämmerung senkte sich herab, als sie den Hügel hinaufkletterten, wo Faolans Pferd immer noch geduldig dort wartete, wo Ana es verlassen hatte. Es gab noch ein klein wenig Licht, als sie langsam weiter nach oben stapften, zu beiden Seiten des Pferds, getröstet von seiner Wärme, seiner Festigkeit in einer Welt, wo alles andere unsicher war. Sie fanden eine Stelle, wo eine Felswand einen Überhang bildete; darunter gab es ein wenig halbwegs trockenen Boden mit schützenden Büschen auf beiden Seiten und einer Reihe von Kiefern vor ihnen. Faolan wurde immer wieder von heftigem Schaudern geschüttelt. Als Ana die Satteltaschen abschnallte und sie zu ihm brachte, zitterten seine Hände zu sehr, als dass er ihr beim Auspacken helfen konnte. Hinter dem Sattel war eine Decke aufgerollt. Ana holte auch sie, dann pflockte sie das Pferd an und überließ es ihm selbst, etwas zu fressen zu finden. Es gab genug Gras; das Tier würde sich besser ernähren können als sie. Inzwischen dachte Ana kaum mehr über das nach, was sie tat. Ihr Körper erledigte die notwendigen Arbeiten einfach in der Reihenfolge, die er für das Beste hielt. Faolan war bleich und zitterte, und der Ausdruck in seinen Augen beunruhigte sie mehr, als sie zugeben wollte. Sie löste die Schnur um die Decke; wo der Stoff fest zusammengerollt gewesen war, war er einigermaßen trocken, wahrscheinlich der trockenste Gegenstand, über den sie verfügten. Jedes einzelne Kleidungsstück, das sie trugen, war klatschnass. Und es wurde schnell kälter. »Hier«, sagte sie. »Zieh die Jacke und das Hemd aus. Wickle dich in die Decke. Und sag mir, dass es irgendwo in diesen Taschen einen Feuerstein gibt.« »Du ...«, brachte Faolan heraus, als sie ihm die Decke reichte. - 116 »Ich muss Feuer machen. Zieh dich aus. Wir sind hier nicht am Weißen Hügel. Wenn du mir überhaupt helfen willst, musst du erst einmal warm werden.« Er starrte sie an, die Augen schattendunkel in einem immer noch farblosen Gesicht. Er versuchte nicht, sich seiner nassen Kleidung zu entledigen. »Muss ich dich auch noch ausziehen wie ein Kind? Lass es mich ganz einfach ausdrücken: Ich werde es nicht allein nach Dornwald schaffen. Faolan, ich brauche dich. Und jetzt tu, was ich dir sage. Wenn ich ein Feuer machen kann, können wir unsere Sachen vielleicht ein bisschen trocknen. Wo ist der Feuerstein?« Er zeigte mit einer zitternden Hand. »Holz ... nass ...«, murmelte er und verzog das Gesicht, als er versuchte, die Jacke über den verletzten Arm zu ziehen. »Ach, sei still!«, sagte Ana, fand den Feuerstein und zu ihrer immensen Erleichterung ein Bündel trockenen Zündmaterials in einer Tasche Öltuch. »Es gibt ein wenig altes Holz hier unter dem Felssims; vor uns müssen schon andere diese Nische genutzt haben. Ich bin nicht dumm.« Es brauchte ein paar Versuche, bis das Feuer brannte; ihre eigenen Hände waren alles andere als stetig und ihre Arme so müde, dass es ihr schwer fiel, auch nur die Kraft aufzubringen, die es brauchte, um einen Funken zu erzeugen. Während der Flammenhüter hinter den Rand der Welt sank und es Nacht wurde, flackerte ihre eigene kleine Flamme auf, und das trockene Scheit, das sie in die Mitte des Bereichs unter dem Felsüberhang gezogen hatte, begann zu brennen. Sie suchte nach anderen Dingen, die als Brennstoff dienen konnten: Überall in dieser flachen Nische lagen Zweige und genug Büsche und Nadeln, die vielleicht andere für ein solches behelfsmäßiges Lager gesammelt hatten. Faolan hatte sich kaum gerührt. Sein nasses Hemd und die Jacke lagen auf einem Haufen, er hatte die Decke um die Schultern gezogen und starrte ins Feuer. Ana fragte sich, ob - 117 ihr wohl je wieder warm werden würde. Faolan hatte kein Wort über das gesagt, was geschehen war. Es war nicht notwendig, darüber zu sprechen, dachte Ana. Es stand alles in seinen Augen. Seine Satteltaschen waren die eines erfahrenen Reisenden. Ana holte heraus, was nützlich sein würde: einen vollen Wasserschlauch, ein Päckchen mit Trockenfleisch, das dunkel und ledrig aussah, ein schlichtes Hemd, das aber offenbar aus sehr gutem Leinen bestand. Eine Hose aus dunkler Wolle. Die Sachen waren alle gut eingepackt gewesen und beinahe trocken. Seine guten Sachen für Dornwald. Immerhin war er der persönliche Botschafter des Königs. »Du«, sagte Faolan, »zieh es an. Trocken.« »Ich?« Ana starrte ihn an. »Das sind deine Sachen. Und außerdem...«Irgendwo im Kopf hatte sie ein Argument, das damit zu tun hatte, was einer Dame angemessen war und was die Leute denken würden. Aber nach diesem Tag schien das sinnlos zu sein. »Du solltest es selbst anziehen«, sagte sie. »Du frierst.« »Zieh es an«, sagte Faolan. »Ich habe die Decke. Mach schon.« »Ich glaube nicht...«, widersprach sie. »Zieh es an, Ana. Ich werde nicht hinsehen.« Also zog sie die Sachen an, und es fühlte sich sehr seltsam an, wie ein Mann gekleidet zu sein, obwohl ihr die Hose eine Bewegungsfreiheit gab, die es sehr viel einfacher machte, Holz zu holen und die nasse Kleidung nahe dem Feuer aufzuhängen. Ana setzte sich neben das Feuer, ihr nasses Hemd in einer Hand und das Messer, das Faolan ihr gegeben hatte, in der anderen, und zerschnitt das Kleidungsstück in kurze, brauchbare Stücke. Zumindest diese Stücke konnten rasch getrocknet werden. Faolan beobachtete sie, eine Frage in den Augen.
»Frauenangelegenheiten«, sagte sie und dachte, dass et- 118 was, was gestern noch viel zu peinlich gewesen war, um es auch nur zu erwähnen, jetzt viel normaler wirkte. »Ich werde die hier noch einen oder zwei Tage brauchen.« Er schwieg. »Es tut mir Leid«, sagte er dann so leise, dass sie ihn kaum hören konnte. »Was? Dass wir jetzt so offen von solchen Dingen sprechen müssen? Dass ich meine schönen Sachen für einen solch banalen Zweck zerstören muss?« Er schwieg. Das Unausgesprochene stand zwischen ihnen wie ein dunkler Schatten. »Es war nicht deine Schuld, Faolan«, sagte Ana in anderem Ton; die herrische Stimme, die sie so lange aufrechterhalten hatte, war plötzlich verschwunden. »Es ist einfach passiert. Ich könnte eher mir die Schuld geben, weil ich dafür verantwortlich war, dass wir die Furt erst so spät erreichten. Es ist alles sinnlos. Wir sind hier. Aus einem Grund, den nur die Götter wissen, haben wir überlebt. Wir müssen weitermachen. Wir können nichts anderes tun. Hier.« Sie reichte ihm einen Streifen von dem feinen Leinen. »Halte es hoch, damit es trocknet. Wir müssen deinen Arm ordentlich verbinden.« »Das ist nichts. Eine Fleischwunde.« »Dennoch, ich würde es vorziehen, sie so sauber wie möglich zu halten. Ich kann mir vorstellen, dass du deinen Arm gerne wieder vollständig benutzen möchtest. Wenn schlechte Körpersäfte in die Wunde geraten, könnte das unangenehm werden. Ich werde ihn verbinden, sobald der Stoff trocken ist.« Es gab Dinge zu tun, kleine Aufgaben, um den Zeitpunkt hinauszuschieben, an dem es nichts mehr geben würde als die Dunkelheit und die Bilder des Tages. Sie zwangen sich, etwas von dem Trockenfleisch zu essen, obwohl sie beide keinen Appetit hatten. Sie tranken aus dem Wasserschlauch. Regenwasser hinterließ hier und da zwischen den Felsen Pfützen; sie und das Gras würden für das Pferd ge- 119 nügen. Ana verband Faolans Wunde trotz seiner Behauptung, er könne das selbst tun. »Was ist das?«, fragte sie, als sie das Tuch sorgfältig um den muskulösen Arm band und sah, dass er über der zerrissenen Haut und dem blutenden Fleisch der neuen Wunde eine ältere Narbe von einer tieferen, lange schon verheilten Wunde hatte. »Das da? Als ich Bridei zum ersten Mal gesehen habe, erwischte er mich mit einem Pfeil. Zum Glück hatte er es nicht darauf angelegt, mich ernsthaft zu verwunden, er wollte mich nur verlangsamen.« »Bridei? Wieso sollte er so etwas tun?« Ana konnte sich das nicht vorstellen. Faolan war Brideis treuester Anhänger. In der Vergangenheit hatte sie das für seine einzige gute Eigenschaft gehalten. »Er mochte den Klang meiner Stimme nicht.« Faolans Tonfall war barsch; die Geschichte würde warten müssen, bis sie Bridei selbst oder Tuala fragen konnte. Nein, das würde nicht geschehen. Einen Augenblick hatte sie vergessen, wo sie war und wo sie hingehen musste. Es konnte Jahre dauern, bis sie ihre Freunde wieder sah. Abrupt kehrte alles zurück: Dornwald, Alpin, eine Zukunft unter Fremden. Die Tatsache, dass ihre eigene Familie der Heirat zugestimmt hatte, ohne auch nur wissen zu wollen, was sie selbst davon hielt. Es war, als hätte sie aufgehört zu existieren und wäre nur noch eine Spielfigur. Aber heute, angesichts von so viel Trauer und Entsetzen, hatte sie sich wirklicher gefühlt als je zuvor. »Was ist?« Faolans Blick ruhte auf ihr, als sie die Enden des Verbands verknotete und sich zurück auf die Fersen setzte. »Nichts.« Sie konnte spüren, dass sie den Tränen nahe war: Wie dumm, nach all dem jetzt noch einmal mit Weinen anzufangen. »Es muss etwas gewesen sein. Du bist bedrückt.« - 120 Sie würde ihm nicht die Wahrheit sagen; die Wahrheit wäre schwach und jämmerlich. »Diese Männer, die uns angegriffen haben - was, wenn sie uns hier finden?« Faolan dachte einen Augenblick darüber nach, bevor er antwortete. »Ich werde dich nicht mit einer Lüge trösten«, sagte er, »denn ich weiß, dass du sie durchschauen würdest. Tatsächlich bin ich im Augenblick zu schwach, um dich zu verteidigen, selbst gegen einen einzigen bewaffneten Mann. Ich würde tun, was ich könnte. Morgen werde ich stärker sein. Es ist allerdings wahrscheinlich, dass sie keine Verbündeten auf dieser Seite des Flusses haben. Geds Mann sagte, der Fluss sei eine Grenze zwischen den Territorien rivalisierender Anführer.« »Oh«, Ana dachte nach. »Heißt das, dass wir uns jetzt auf Alpins Land befinden? Im Dornwald?« »Wir müssen zumindest nahe daran sein. Ana, du solltest versuchen zu schlafen. Du bist erschöpft.« »Du ebenfalls. Aber das Feuer - wir müssen Wache halten ...« »Ich schlafe nie viel. Hier.« Er nahm die Decke ab, hielt sie ihr hin. Ana sagte sich, dass unter diesen Umständen der Anblick seines nackten Oberkörpers nichts Besorgniserregendes sein sollte. Sie konnte sich vorstellen, was Creisa sagen würde. Creisa ... so lebendig, so jung ... »Leg dich hin«, sagte Faolan. »Versuche zu schlafen.« Sie sah ihn an, die Decke in einer Hand, und er erwiderte den Blick. Das Feuerlicht flackerte auf seiner Haut. Er strengte sich an, sein Zittern zu unterdrücken. »Faolan«, sagte Ana. Er schlang die Arme um den Oberkörper; in diesem Augenblick sah sie einen anderen Mann vor sich, einen, der
jung war, müde und verzweifelt allein. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass du dich besser fühlst als ich«, sagte sie. »Es ist schrecklich kalt. Es wäre dumm, nur um der Angemessenheit willen an einer Erkältung zu - 121 sterben. Ich denke, wir sollten die Decke teilen. Niemand wird es je erfahren.« »Ich brauche nicht zu schlafen.« »Wenn du das glaubst, dann kann ich mir nicht vorstellen, wieso Bridei dir diese Aufgabe hier anvertraut hat. Betrachte es auf diese Weise - ich friere bis ins Mark, und ich brauche sowohl dich als auch diese Decke, um mich warm zu halten. So unangemessen und geschmacklos es auch sein mag, wenn du deinen Auftrag ausführen und mich nach Dornwald bringen willst, musst du es tun.« »Das sind die Worte einer wahren Prinzessin.« Ana spürte, dass sie rot wurde. »Ich tue nur, was meine Freundin Ferada tun würde, wenn sie hier wäre. Die alte Ana, die Fügsame, die gerne stickt und Lieder singt, das ist die echte.« Sie spürte, wie die Tränen überflössen, und hob die Hand, um sie wegzuwischen. »Ich bin bereit, Befehle zu befolgen, wenn sie vernünftig sind«, sagte Faolan. »Komm.« Es erstaunte Ana, wie gut es sich anfühlte, neben ihm zu liegen, an ihn geschmiegt, mit der Decke über ihnen beiden. Der Boden war hart. Die flache Höhle war voll flüsternder Zugluft, trotz der schützenden Bäume und des glühenden Feuers. Unwillkommene Bilder drängten sich in ihren Kopf und ließen die Tränen rasch fließen. Dennoch, es war gut. Sein Arm um sie, sein Herzschlag an ihrem Körper schienen schützende Kräfte von großer Macht zu sein. Er sagte etwas. »Was?« »Wie hast du das gemacht? Wie konntest du die Kraft haben, mich sicher hochzuziehen, gegen diese Strömung?« »Ich habe gebetet. Die Götter haben mir geholfen. Der Flammenhüter lässt einen Mann mit großem Herzen nicht so leicht gehen. Er war es, der dich gerettet hat, nicht ich.« Er schwieg. Sie konnte seinen Atem spüren, der nicht ganz gleichmäßig war; sie nahm an, die Bilder, die ihn - 122 heimsuchten, waren noch viel finsterer als ihre eigenen. Sie wusste bereits, dass er vor allem an seinen Auftrag dachte, hatte das sogar genutzt, um ihn anzuspornen, als seine Kraft nachließ. Er musste glauben, schrecklich versagt zu haben. Er hatte seinen König enttäuscht. Seinen Freund enttäuscht. »Ich verlasse mich nicht auf Götter«, sagte Faolan. »Das hält sie nicht davon ab, dir zu helfen. Oder dich zu lieben.« »Dann sind die Götter dumm. Etwas stimmt nicht mit ihrem Urteilsvermögen. Ich bin kein Mann mit großem Herzen, Ana. Ich bin nicht wie Bridei.« »Ich hoffe, eines Tages wirst du erkennen, wie sehr du dich irrst. Das hier war ein Unfall, ein schreckliches Zusammentreffen. Es ist nicht deine Schuld.« »Es gibt keine Götter«, murmelte er und drehte sich auf den Rücken. »Nicht für mich. Sie haben mich schon lange beiseite geworfen.« »Aber...« »Was heute geschehen ist, ist meine Verantwortung und nicht die von anderen. Auf meiner Berührung liegt ein Fluch, eine Finsternis.« Ana schwieg. Ihr war klar, dass er nicht von heute sprach, sondern von der Vergangenheit, von etwas, was er mitgebracht hatte, vielleicht der gleichen Sache, die ihn in all diesen Nächten am Feuer wach gehalten hatte, wo er über sie wachte, während seine Männer schliefen. Sie bat ihn nicht, es zu erklären. »Mir ist kalt«, sagte sie nach einiger Zeit. »Könntest du wieder ein wenig näher heranrücken?« Als er das tat und wieder schützend den Arm um sie legte, war die Verwirrung von Gefühlen, die sie überfiel, zu viel für sie. Sie fing an zu weinen wie ein Kind, schluchzte ohne jede Zurückhaltung. »Es ist schon gut«, sagte Faolan, und sie spürte, wie er die - 123 Hand hob, um ihr Haar zu streicheln. Er sagte noch etwas, aber es war gälisch, und sie verstand nur hier und da ein Wort von dieser Sprache. Vielleicht erzählte er eine Geschichte; der sanfte, rhythmische Fluss seiner Worte beruhigte sie, obwohl ihre Tränen noch schneller flössen. Bald schon schien sie keine Träne mehr in sich zu haben, und sie blieb still liegen, die Wärme seiner Berührung und der Klang seiner Stimme ein Schutz gegen die Unsicherheit der Nacht und des kommenden Morgens. Noch später, als er vielleicht glaubte, dass sie schlief, sang er ein paar Zeilen des gleichen Lieds, das sie schon von ihm gehört hatte, als sie diesen anderen Fluss überquerten, dieses Lied über einen Reisenden und seine Liebste aus der Anderwelt. Ana hatte zu Hause am Königshof der Hellen Inseln die besten Barden gehört. Sie hatte gehört, was sehr fähige Musiker in Brideis Haushalt am Weißen Hügel darboten. Aber nie in ihrem Leben hatte sie eine solche Stimme vernommen, so süß und so voller Kummer. Es zählte nicht, dass sie die meisten Worte nicht verstand. Sie wusste, dass er von vergeblicher Hoffnung, von erschütterter jugendlicher Begeisterung sprach, vom Band der Liebe, das grausam durchtrennt wurde. Und dennoch war sein Lied etwas Verzauberndes, als käme es von der anderen Seite der
Grenze und riefe sie in eine andere Welt. Der klare, traurige Klang umhüllte sie wie ein weicher Umhang, und sie schlief ein. - 124 KAPITEL VIER König Bridei muss mich für dumm halten«, stellte Alpin von Dornwald fest und stützte das Kinn und die gerötete Wange auf eine Hand, als er in seinen Bierbecher starrte. »Glaubt er etwa, die Art seines Angebots macht einen nicht neugierig, wieso er es so eilig hat?« Der Mann, mit dem er zusammensaß, schürzte die Lippen und runzelte die Stirn. »Er handelt in Reaktion auf Informationen, die er erhalten hat«, sagte Odhar. »Wahrscheinlich Informationen aus Dalriada. Ich frage mich, wer da geredet hat. Ich hätte nicht geglaubt, dass jemand außer uns und den Fürsten der Ui Neill von unseren Verhandlungen wüsste. Kann es im Herzen von Dunadd ein Auge für die Priteni geben? Ist König Bridei ein Magier, dass er Dinge herausfindet, die sonst vor allen geheim gehalten werden?« »Es heißt, er wurde von einem Magier aufgezogen«, sagte Alpin bedrückt. »Ein Bursche namens Broichan; mächtig und tückisch. Das lässt vermuten, dass mehr an ihm ist, als wir zunächst dachten. Könnte es sein, dass sie vorhaben, schon früher zuzuschlagen? Vielleicht schon vor dem nächsten Frühjahrstauwetter?« »Oder noch früher«, spekulierte Odhar, ein dünner Mann in der abgerissenen Kleidung eines Hausierers. Er war die Art von Mensch, dem niemand einen zweiten Blick gönnt. - 125 Er hatte sich sehr angestrengt, ein solches Aussehen zu pflegen. Alpin zog ungläubig die dunklen Brauen hoch. »Noch vor dem Winter? Das kann ich mir nicht vorstellen. Es heißt, Fortriu hat für das Fest der Reife eine Ratssitzung geplant. Sie erwarten den König von Circinn persönlich. Welchen Sinn sollte eine solch großartige Konferenz haben, wenn nicht den gemeinsamen Angriff auf Gabhran im Westen zu planen? Bridei kann das kaum im Herbst schon tun wollen, wenn er sich erst zur Erntezeit mit Drust dem Eber besprechen will.« Odhar nickte. Er trank nicht viel; er hatte noch einen langen Weg vor sich. »Das klingt vernünftig, Alpin. Dennoch, du darfst nicht vergessen, dass all dies auch eine bewusste Anstrengung sein könnte, dich zu verwirren. Ein Trick, den Brideis Berater entwickelt haben: Druiden, Magier und Weise Frauen. Sie geben schwierige Feinde ab. Dieser Kerl hat sogar eine Frau vom Guten Volk geheiratet. Was für ein König würde das tun? Es klingt, als wäre er sehr jung und dumm.« »Aber?« »Du weißt, was man flüstert. Dass dieser neue König etwas in Fortriu geweckt hat, etwas Altes und Gefährliches. Dass die Leute zu seiner Fahne strömen. Dass er derjenige sein könnte, dem gelingt, was noch kein König der Priteni geschafft hat: ein vollkommener Sieg über die Galen von Dalriada.« »Und nun bietet er mir eine Braut an, einfach so. Hält mir einen hübschen Bissen vor die Nase, um mich von einem Bündnis mit Gabhran wegzulocken. Neunzehn Jahre alt und von seltener Schönheit, steht in dem Brief. Das ist zweifellos gewaltig übertrieben. Wenn sie eine so seltene Schönheit ist, wieso ist sie nicht schon irgendwann in den letzten sechs Jahren verheiratet worden?« »Du wirst dich selbstverständlich weigern«, sagte Odhar, - 126 und das war nicht unbedingt eine Frage. »Schick sie sofort wieder zurück.« Alpin verzog die fleischigen Lippen zu einem Lächeln. »Nicht unbedingt«, sagte er. »Ich werde sie mir erst einmal ansehen. Immerhin bin ich tatsächlich unverheiratet und habe keine legitimen Erben, und wenn die Botschaft stimmt, hat dieses Mädchen eine makellose Abstammung, direkt aus der königlichen Linie von Fortriu. Ich werde vielleicht beschließen, Brideis großzügiges Geschenk zu behalten.« »Aber ...«, begann Odhar, dann überlegte er es sich anders. »Zieh keine übereilten Schlüsse, mein gälischer Freund«, sagte Alpin. »Ich bin gerissener als dieser Kindkönig. Wenn ich alles richtig mache, werde ich mein Ziel erreichen und außerdem das Recht haben, Vater eines künftigen Königs der Priteni zu werden. Wenn mir das Mädchen gefällt, werde ich sie ausprobieren und sehen, ob sie Jungen zur Welt bringt. Wenn sie mir nicht gefallen sollte, schicke ich sie nach Hause und gebe ihr einen Brief an Bridei mit, dass er sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern soll. Ich kann eigentlich nur gewinnen. Wenn ich erst mit dem Mädchen geschlafen habe, kann Bridei sie wohl kaum zurückverlangen, wenn er zu dem Schluss kommt, dass ich nicht ganz der neue Freund bin, den er sich wünschen würde.« »Stellt er in seinem Brief Forderungen in Bezug auf Dalriada? Ist das Angebot daran gebunden, dass du dich vollkommen aus dem Konflikt heraus hältst?« »Das wurde nur angedeutet und nicht ausdrücklich gesagt. Wenn Bridei dieses Mädchen nicht bereits auf den Weg geschickt hat...« Ein leises Klopfen an der kleinen Tür ließ beide Männer zusammenzucken. Sie hatten ungestört miteinander sprechen wollen und eine Wache vor die Haupttür des Zimmers - 127 gestellt, in dem sie ihr Bier tranken. Odhars Besuch in Dornwald fand im Geheimen statt; nur wenige im Haushalt hatten je das Gesicht des Mannes gesehen. »Ich will nicht gestört werden«, knurrte Alpin.
Es klopfte abermals. »Ich sagte keine Störung!« Alpin erhob sich, ein Furcht erregender Bär von einem Mann, der durch sein dichtes Haar und den wallenden Bart noch bärenhafter wirkte. Er nahm einen Schlüssel aus dem Beutel, ging zu der kleinen Tür hinten im Zimmer, schloss sie auf und öffnete sie einen Spalt weit. Odhar hinter ihm zog die Kapuze vor, um sein Gesicht zu verbergen. »Ich hoffe, es ist wichtig!«, fauchte Alpin. »Ich berate mich gerade mit diesem Mann.« »Ich bedauere die Unterbrechung, Herr.« Der Mann vor der Tür war klein, kahlköpfig und hatte breite Schultern und eine breite Brust. Er trug ein langes, dunkles Gewand, an den Seiten geschlitzt, und darunter eine weite Hose. In der Hand hielt er einen Stab. »Dein Bruder will dich sehen. Er sagt, es ist dringend.« »Mein Bruder kann warten«, zischte Alpin und warf einen Blick über die Schulter zu seinem Besucher. »Du weißt, dass du mich nicht einfach bei jeder seiner Launen aufsuchen sollst, Deord. Ich komme nach dem Abendessen zu ihm, wie ich es immer tue. Es kann warten.« Deord blickte zu ihm auf. Er war ein Mann, dessen entspannte Haltung und ruhiger Blick ihn viel größer wirken ließen, als er tatsächlich war. »Er sagt, es kann nicht warten, Herr. Ich hätte dich ansonsten nicht gestört. Er sagt, es ist etwas, um das man sich sofort kümmern muss ...« »Hast du mich nicht gehört? Später!« »Reisende«, sagte Deord leise, als Alpin die Tür schon halb geschlossen hatte. »Ein Mann und ein blondes Mädchen von ungewöhnlicher Schönheit. Ihre Eskorte wurde an der Furt von den Blauen überfallen.« Die Tür verharrte. »Und?«, wollte Alpin wissen. - 128 »Drustan kann es dir sagen«, sagte Deord. »Es war nicht ich, der es gesehen hat. Sie brauchen Hilfe.« Alpin fluchte leise. Deord wartete schweigend. »Sag meinem Bruder, ich komme bald«, knurrte der Fürst. Deord verbeugte sich und ging. Die Tür fiel zu. »Verfluchte Diener«, sagte Alpin. »Ich fürchte, ich muss gehen. Sind wir fertig?« »Ob wir fertig sind oder nicht, ich muss mich ebenfalls auf den Weg machen«, sagte Odhar. »Ich will wenigstens noch ein Stück weit nach Süden kommen, bevor es dunkel wird. Deine Botschaft bleibt also unverändert? Dieses Angebot von Bridei ändert nichts an deiner Entscheidung?« Alpin lächelte. Sein Blick war kalt. »Überhaupt nichts. Außer, dass ich vielleicht daran denke, meine Männer schon etwas früher als beabsichtigt zu schicken. Die Flotte wird bereit sein; meine Leute werden den Sommer über auf den Booten arbeiten. Ich erwarte schon bald weitere Informationen. Die Quellen dafür sind vielleicht schon näher, als ich dachte.« »Ich glaube nicht, dass wir uns so bald wieder sehen werden«, sagte Odhar und stand auf. »Das Schlachtfeld ist nicht meine Einflusssphäre.« »Wer weiß?« Alpins Ton war unbeschwert. »Lebe wohl. Ich wünsche dir eine sichere Reise.« Nachdem sein Gast sich verabschiedet hatte, ging der Fürst von Dornwald mit langen, ungeduldigen Schritten in den abgelegenen Teil seiner Festung, wo sein Bruder Drustan untergebracht war. Es war ein weiter Weg, vorbei an Anbauten und durch schmale Durchgänge, alle hinter dem verschlossenen Eingang, den man von seinen eigenen Privatgemächern aus erreichte. Niemand würde Drustans Quartier zufällig finden. Der letzte Teil des Weges führte Alpin einen schmalen Weg zwischen hohen Steinmauern mit schmalen Schlitzfenstern entlang. Durch jedes dieser Fenster konnte man einen kurzen Blick auf die Welt drau- 129 ßen werfen: ein wenig sonnenfleckiges Grün, das dunklere Grün der Kiefern, das Aufblitzen von Wasser unter der Frühlingssonne. Oberhalb der Mauern reckten die hohen Ulmen ihre Wipfel in den hellen Himmel. Vögel flogen zwitschernd umher. Dieses Geräusch verursachte Alpin eine Gänsehaut. Er hasste es, hierher zu kommen. Es gab zu viele Erinnerungen. Seine Hände fingen an zu zittern, und er ballte sie zu Fäusten. Wenn er dem allem doch nur ein Ende machen könnte! Weitermachen, einen neuen Anfang finden ... Eine Frau. Eine schöne, junge Frau. Das wäre ein wichtiges Werkzeug für eine Veränderung. Aber nicht, solange sein Bruder wie eine Last an seinem Hals hing. Nicht, solange Drustan hier war und ihn immer wieder nach unten zog. Warum war er auf diese Weise verflucht? Was hatte er getan, um die Götter so zu erzürnen? Die Mauern bogen sich, und der Weg folgte ihnen, bis schließlich ein eisernes Gittertor in Sicht kam, das mit Ketten und Riegeln verschlossene Tor zu dem abgeschlossenen Bereich, in dem Drustan mit seinem Hüter lebte. Alpin war der Ansicht, dass er einen guten Platz für seinen Bruder gefunden hatte, wenn man die Umstände bedachte. Der Bereich war sauber, abgeschieden und einigermaßen geräumig. Draußen gab es ein wenig Gras, eine Bank und einen kleinen Teich. Alles war selbstverständlich von Mauern umschlossen und mit einem Eisengitter abgedeckt. Das machte den kleinen Garten ein wenig dunkel. Drustan würde die Leuchtende nie wieder vollständig sehen, nur noch unterteilt von den Gittern dieser offenen Zelle. Und das war gut so. Bei Vollmond war er am unzuverlässigsten. Alpin wusste, er hätte erheblich weniger großzügig sein können. Es gab Männer, die seinen Bruder in einen Kerker geworfen hätten, damit er das Tageslicht nie wieder sah. Das Verbrechen, das er begangen hatte, verlangte eine solche Strafe. Aber Alpin hatte es nicht getan; Drustan war bei all seinen Verbrechen und seiner Seltsamkeit immer noch - 130 ein Verwandter. Sollte er den Himmel doch sehen, solange er nicht davonfliegen konnte.
Deord schloss auf Alpins Ruf die Eisentür auf und verschloss sie wieder hinter dem Anführer. »Wo ist er?« Alpin war bereits unruhig. »Ich habe nicht viel Zeit.« »Dort an der Mauer.« Alpin spähte in die schattige Ecke des Gartens, in die Deord mit dem Stab zeigte. »Ist er angekettet?« Die Spur eines Gefühls zuckte über das Gesicht des kleineren Mannes. »Wir befolgen wie stets deine Befehle, Herr.« Alpin warf ihm einen scharfen Blick zu, weil dieser beflissene Tonfall ihn misstrauisch machte, aber Deord wirkte so ruhig und entspannt wie eh und je. Für einen Mann von solch muskulösem Körperbau, einen Mann, bei dem jede Bewegung von Kraft sprach, hatte Drustans Bewacher ein erstaunlich ausgeglichenes Gemüt. Alpin hielt diese Kombination für ideal für diese Stellung. Er fragte sich manchmal, ob mehr an Deord war, als man auf den ersten Blick annahm, aber der Mann verriet nicht viel von sich. Alpin ging auf die Ecke zu, wo Drustan nun als Gestalt im Schatten sichtbar wurde, ein hoch gewachsener Mann, so groß wie sein Bruder, aber nicht annähernd so breit wie er. Dichtes, hellbraunes Haar fiel ihm bis auf die Schultern. Die Finger hatte er fest verschränkt. Er lehnte sich gegen die Steinmauer, den Kopf zurückgelehnt, die Augen geschlossen. In der Nähe hockten in einer Nische drei Vögel in einer Reihe und starrten ohne zu blinzeln auf Alpin nieder: eine Krähe, ein Kreuzschnabel und ein winziger Zaunkönig. Alpin starrte sie an. Er hasste die Vögel, die diesen Ort heimzusuchen schienen, die durch die kleinen Öffnungen des Gitters hinein und hinaus schlüpften; ihre unnatürliche Ruhe machte ihn nervös. Drustan bewegte sich ein wenig, als Alpin näher kam, und Metall blitzte auf. »Endlich!«, rief Drustan und öffnete die Augen, diese hel- 131 len, wilden Augen, die Alpin stets schaudern ließen. »Sie ist in Gefahr - verirrt und verängstigt - sie braucht Hilfe ...« »Immer mit der Ruhe«, versuchte Alpin einen beruhigenden Tonfall, wie man ihn gegenüber einem bekümmerten Kind oder einem temperamentvollen Pferd anschlägt, »immer langsam, Drustan. Komm, setz dich hier auf die Bank, hol tief Luft und ...« »Die Furt - die Blauen haben sie erwischt, ein Mann ist gefallen, und dann hat der Fluss sie weggerissen ...« »Drustan!« Der Tonfall hatte sich verändert; nun sprach Alpin in scharfem Kommandoton, als hätte er einen ungehorsamen Hund vor sich, und zeigte auf die Bank. Sein Bruder bewegte sich; ein metallisches Klirren folgte ihm, als die dünne Kette, die von der Verbindungskette zwischen den Eisenfesseln um seine Handgelenke ausging und auf der anderen Seite an einem Ring in der Steinwand befestigt war, sich neben ihm her schlängelte. Drustan setzte sich nicht, konnte sich vielleicht nicht setzen, denn er wurde nun sehr ruhelos und trat von einem Fuß auf den anderen, bewegte die Hände, brachte das Metall zum Klirren. »Hör auf!«, fauchte Alpin gereizt. »Also, was hast du gesehen? Erzähl es mir in einfachen Worten, als wäre es eine Geschichte. Wer war dort? Eine Frau, hat Deord gesagt. Welche Frau? Ich muss alles wissen, und langsam, Drustan.« »Eine Gruppe von Reisenden. Ein Angriff. Ich konnte ihnen nicht helfen. Ich konnte sie nicht warnen, ich habe es versucht, aber ich konnte es nicht. Die Blauen haben sie überfallen. Ein Mann ist tot, ein anderer verwundet. Eine Flut - eine schreckliche, plötzliche Welle, wie der Zorn der Knochenmutter - so viele mitgerissen, verstreut... alle weggefegt, alle flussabwärts gerissen...« »Und dann?«, fragte Alpin seufzend. »Sie war tapfer. So tapfer. So schön. Wie eine Prinzessin in einem Lied. Sie hat einen Mann gerettet. Die Knochen- 132 mutter hätte ihn beinahe geholt. Der Fluss hätte ihn beinahe verschlungen. Sie hat ihn gerettet. Alle anderen sind weg, Pferde, Männer, Gepäck, nichts ist ihnen geblieben. Sie frieren ... sie sind durchnässt... allein ... du musst ihr helfen, Alpin. Mach dich sofort auf den Weg. Sofort!« »Diese Frau. Du sagst, sie sei schön wie eine Prinzessin. War sie jung? Gut gekleidet?« Drustan schwieg. Sein Blick veränderte sich, wurde wärmer. »Drustan!« »Eine Prinzessin.« Seine Stimme war nun ruhiger. »Haar wie ein Fluss aus Gold, Augen voller Mut. Jung, ja, und traurig.« »Wo sind sie jetzt?« »Auf dem Weg hierher. Auf dem alten Weg. Eine Frau, ein Mann, ein müdes Pferd. Ein kleines Feuer bei Nacht. Du musst gehen, Bruder, gehen und sie suchen. Sie friert.« »Ein Mann. Was für ein Mann?« Drustan schwieg. »Was für ein Mann, Drustan? Die schwarze Krähe behüte uns, du hast genug zu sagen, wenn es dir passt, warum kannst du nicht einfach normale Antworten geben?« Deord verlagerte ein wenig das Gewicht. Er sah aus der Ferne zu, mit gleichmütiger Miene, den Stab in der Hand. Alpin begrüßte das. Er war nie ganz sicher, was sein Bruder tun, wie er sich bewegen würde. Und Drustan war schnell. Er war immer schnell gewesen. »Ein dunkler Mann«, sagte Drustan. »Ihr Begleiter.« »Ein Bewaffneter?« »Ihr Begleiter.«
»Gut gekleidet? Bewaffnet? Ein Krieger? Ein Höfling?« »Ein dunkler Mann«, wiederholte Drustan. »Geh jetzt, Alpin! Hilf ihr!« »Es ist seltsam«, sagte Alpin und stand auf, »aber dieses eine Mal bin ich deiner Meinung. Es muss die Braut sein, - 133 die König Bridei von Fortriu mir schicken wollte. Jung, schön und auf dem Weg hierher - ich kann mir keine andere Erklärung denken. Ich werde ihnen Leute entgegenschicken. Oder ... warum eigentlich nicht? Ich werde gehen und sie selbst hierher holen.« Sechs Nächte verbrachten sie auf diese Weise, sechs Nächte an kleinen Feuern, während derer sie sich gegenseitig unter der einzigen Decke wärmten. Faolan kam langsam wieder zu Kräften. Sein Arm heilte gut, und es half, dass Ana jeden Morgen darauf bestand, ihn frisch zu verbinden. Dass er nicht mehr die erschöpfende Verzweiflung der ersten Nacht spürte, war in gewisser Weise unbequem. Sobald diese Erschöpfung verschwunden war, meldete sich körperliches Begehren, und seine Anstrengungen, dies vor Ana zu verbergen, wenn sie sich halb schlafend an ihn schmiegte, hielten ihn lange wach. Er konnte sich kaum weigern, neben ihr zu liegen; die Nächte waren kalt. Und er konnte es ihr ganz bestimmt nicht erklären. Sie war neunzehn Jahre alt, aber immer noch unschuldig, und er war sicher, sie würde schockiert und verängstigt sein, wenn sie die Wahrheit erführe. Unter diesen Umständen wäre es nur zu einfach, sie auszunutzen. Dass er überhaupt über solche Dinge nachdachte, zeigte, wie weit seine Selbstdisziplin geschwunden war. Dann kam ein Morgen, an dem sie beide nicht den Drang spürten, weiterzuziehen. Die Taubheit nach ihren Verlusten an der Furt war im Lauf der Tage nach und nach einer Art von Akzeptieren gewichen; ihnen war klar, dass die Geschehnisse die Regeln und Zwänge ihrer Mission vollkommen geändert hatten. Es gab eine neue Offenheit bei ihren Gesprächen, ein neues Vertrauen, mit dem sie die Verantwortungen des Tages teilten. Sie hatten in einer grasigen Senke oberhalb eines kleinen Bachs ihr Lager aufgeschlagen, und die Sonne war zu einem - 134 Tag voller Frühlingsversprechen aufgegangen: Die Vögel lärmten in den Bäumen am Wasser, kleine helle Blüten zeigten sich hier und da im Gras, und in der Luft hing der frische Duft nach Neuem. Aber Faolans Herz war voll von einer neuen Schwere, belastet von etwas, das er nicht mit Worten ausdrücken wollte, nicht einmal für sich selbst. Nach seinen Berechnungen mussten sie sich nun recht nah an Alpins Festung befinden. Innerhalb von ein oder zwei Tagen sollten sie sie erreichen, und damit wäre der größte Teil seiner Mission ausgeführt. Er konnte es keinen Erfolg nennen, nicht nach solch schweren Verlusten. Aber er würde die Braut abliefern. Er würde dieses Bündnis für Bridei besiegeln und die Nachricht davon zurück zum Weißen Hügel bringen. Als er zu Ana hinschaute, die am Feuer saß und mit dem kleinen Knochenkamm, den er in seinem Gepäck gehabt hatte, versuchte, die verfilzten Stellen aus ihrem langen Haar zu kämmen, verspürte er jedoch den intensiven Wunsch, diesen Auftrag nicht auszuführen. Er wollte sie keinem Mann übergeben, den sie nicht einmal kannte, wollte nicht, dass sie den Rest ihres Lebens unter Fremden verbringen musste. Sie blickte auf, hatte vielleicht seinen Blick bemerkt. »Faolan?« »Hm?« »Wie lange wird es wohl noch dauern? Wir müssten inzwischen doch nahe am Rand des Dornwalds sein, oder?« Er versuchte ein Lächeln. »Hast du Hunger?« Ana sah ihn an. »Ich hätte sicher nichts dagegen, einmal etwas anderes als diese Lederstreifen zu essen. Aber deshalb frage ich nicht.« »Vielleicht noch zwei Tage«, sagte er. »Wir müssen durch dichten Wald ziehen; wir finden vielleicht nicht gleich den richtigen Weg und werden noch länger unterwegs sein. Das mit dem Essen tut mir Leid. Wenn ich einen Bogen mitgebracht hätte ...« - 135 »Würde der uns bei deinem verletzten Arm auch nicht viel nützen«, sagte Ana unbeschwert. »Ich habe nicht erwartet, dass du mir üppige Mahlzeiten und ein weiches Federbett lieferst, Faolan. Ich bin auf den Inseln aufgewachsen. Es war kein besonders verwöhntes Leben.« »Dennoch«, sagte er, »ich wünschte, ich könnte besser für dich sorgen. Bisher habe ich jämmerlich versagt.« »Falls es dir hilft«, sagte Ana, »kann ich dir eins verraten: Sollte ich jemals wieder eine solche Reise unternehmen müssen, bist du von allen Menschen, die ich kenne, derjenige, den ich jederzeit wieder an meiner Seite und als meinen Beschützer haben möchte. Keinen anderen.« Er schwieg. »So war es nicht, als wir vom Weisen Hügel aufbrachen. Ich habe mich über diese Reitstunden geärgert. Du hattest eine derart missbilligende Haltung, und es gefällt mir nicht, wenn Menschen mich beurteilen, die nicht einmal versucht haben, mich kennen zu lernen. Es tut mir Leid, dass du nicht länger in Dornwald bleiben kannst.« »Mir nicht«, sagte er, denn er empfand eine intensive Abneigung gegen die Aussicht, sie einen Mann heiraten zu sehen, der sie nur wegen ihrer Herkunft schätzte; er kam zu dem Schluss, dass er unterwegs offenbar ein wenig verrückt geworden sein musste, denn solche Gedanken hatten keinen Platz im Kopf eines bezahlten Leibwächters. Und nachdem er sich entschieden hatte, seine Vergangenheit vollkommen hinter sich zu lassen, war er nichts anderes.
»Oh«, sagte Ana und ließ den Kopf hängen wie eine welkende Blüte. »Ich wollte nicht - ich wollte ...« »Ich verstehe, Faolan«, sagte sie höflich und griff wieder nach dem Kamm. »Du musst zum Weißen Hügel zurückkehren. Du musst Bridei die Nachricht von unseren schrecklichen Verlusten bringen und ihn wissen lassen, dass das Bündnis mit Alpin besiegelt ist.« - 136 »Ich werde mindestens noch einen Mond bleiben. Brideis Anweisungen waren sehr präzise. Er wünscht keine offizielle Handreichung, ehe ich nicht von Alpins Loyalität überzeugt bin.« Dazu hatte Ana nichts zu sagen. »Oder falls du ... solltest du ...« Nein, er würde es nicht in Worte fassen. »Falls ich ihn nicht leiden kann? Ich glaube nicht, dass das je ein Faktor war«, sagte Ana angespannt. »Ana...« »Was?« Faolan hatte ein Blatt zwischen den Fingern; er drehte es hin und her. »Ich habe dich schon einmal gefragt, aber ich frage dich nochmals. Wenn du ... wenn es keine Pflicht gäbe, wenn du dich frei entscheiden könntest, was würdest du jetzt tun?« Sie schwieg einen Augenblick und dachte über die Frage nach. Dann sagte sie im Flüsterton: »Ich kann dich nicht belügen. Ich würde dich bitten, mich nach Hause zu bringen. Nach Hause zum Weißen Hügel. Ich glaube, ich würde lieber als Dereleis altjüngferliche Tante alt werden, als diese Reise fortzusetzen. Im Herzen bin ich ein schrecklicher Feigling. Und was ist mit dir?« »Mit mir?« »Wenn du die Wahl hättest, was würdest du tun?« »Das kann ich dir nicht sagen«, erklärte er. »Außerdem habe ich keine Wahl. Ich habe solche Entscheidungen schon vor langer Zeit aufgegeben.« »Um Bridei zu dienen?« Er schüttelte den Kopf. »0 nein. Das war tatsächlich eine Art von Befreiung. Ich spreche von etwas, das viel früher geschehen ist. Als ich ein Junge war.« »Wirst du es mir erzählen?« Ihre Stimme war sehr süß für seine Ohren; er spürte die Gefahr und riss sich von der Schwelle zurück. »Warum Zeit - 137 damit verschwenden?«, fragte er. »Wir haben zwei Tage; dann wirst du wieder die Herrin sein, und ich verschwinde in der Anonymität von Alpins Haushalt, um die Arbeit zu leisten, für die Bridei mich bezahlt.« »Ich bin froh, dass du noch ein Weilchen bleiben wirst«, erklärte Ana. »Bridei bezeichnete dich als einen guten Freund, und ich habe ihm gesagt, es fiele mir schwer, das zu glauben. Aber jetzt glaube ich es.« »Bridei ist nur zu bereit, auch Personen als Freunde zu bezeichnen, die nichts weiter sind als treue Diener.« »Das ist Unsinn, wie du sehr genau weißt«, sagte Ana. »Er verlässt sich auf deinen guten Rat, deine Kraft, deine Unterstützung. Er schaut hinter die Mauern, die du um dich selbst errichtest. Und ich glaube, du hast in Zeiten schweren Selbstzweifels treu an seiner Seite gestanden.« Faolan erinnerte sich an den Winter, als man ihm zum ersten Mal befohlen hatte, den jungen Bridei zu bewachen; er und die anderen Leibwächter hatten sich nach seinem ersten und letzten Opfer am Tortag, am Brunnen der Schatten, um den erschütternden, angewiderten jungen Adligen gekümmert. Er erinnerte sich an einen verzweifelten Ritt durch den Schnee von Caer Pridne nach Pitnochie, an ein tapferes altes Pferd, das ihn gerade noch rechtzeitig an Brideis Seite getragen hatte, um den künftigen König halb ertrunken aus dem Teich der Seher zu ziehen. Ana war klug; sie sah, was er für gut verborgen gehalten hatte. »Ich möchte dich um einen Gefallen bitten«, sagte sie nun. »Welchen Gefallen?« »Wenn wir in zwei Tagen dort eintreffen, sollte ich versuchen, mich zu säubern. Ich wäre gerne präsentabel, wenn Alpin mich zum ersten Mal sieht. Bachabwärts gibt es einen Teich, und es fühlt sich an, als würde es heute warm werden. Ich möchte später baden, mir das Haar waschen und meine alten Kleider anziehen. Du kannst diese Sachen - 138 hier zurückhaben; sie sind sauberer als das, was du trägst. Du könntest ebenfalls neue Wäsche brauchen.« Er sah sie an und stellte sich vor, was Alpin wohl denken würde, wenn sie aus dem Wald und zum Festungstor kämen. Ana war sehr blass und ihr Gesicht verschmiert mit Asche vom Feuer. Sie trug sein Hemd und seine Hose, mit seinem Gürtel um die schmale Taille, aber sie sah dennoch wie eine Frau aus. Selbst die zu großen Kleidungsstücke konnten nicht vollkommen die anmutigen Wölbungen ihres Körpers verbergen, die hohen, runden Brüste, die geschwungenen Hüften, die wohlgeformten Oberschenkel. Jetzt war sie damit beschäftigt, ihr Haar neu zu flechten. Der Staub der Reise hatte es von seinem ursprünglichen Aschblond zur Farbe von Honig nachdunkeln lassen und seine überschäumende Lebendigkeit gebändigt, aber es war immer noch ein reizender Anblick, ein seidiger Wasserfall, ein Tuch aus lebendigem Licht, ein Umhang von Frühling. Er sah ihr in die Augen, diese ehrlichen, klaren grauen Augen, deren Blick ihm direkt ins Herz ging. »Deine Sorgen sind grundlos«, sagte er. »Alpin wird zufrieden sein, glaube mir.« Und er wollte ihr sagen: Du bist wunderschön, aber
er schluckte diese Worte herunter, bevor sie ihm über die Lippen kommen konnten. Eine zarte Röte stieg in Anas Wangen; sie sah ihn forschend an, als wollte sie herausfinden, ob er tatsächlich im Stande wäre zu lügen, nur um ihr eine Freude zu machen. »Ich würde mich trotzdem gern waschen«, sagte sie. »Um meiner selbst willen ebenso sehr wie für Alpin. So gut wie möglich auszusehen, würde mir ein wenig Mut geben.« »Du brauchst noch Mut, nach allem, was du getan hast? Nach dem, was du an der Furt geleistet hast? Du hast dein Leben aufs Spiel gesetzt, um mich zu retten.« Er konnte es einfach nicht glauben. Ana schaute auf ihre Hände hinunter. Als sie antwortete, klang ihre Stimme wie die eines Kindes. »Ich habe große - 139 Angst, Faolan. Ich brauche alle Hilfe, die ich bekommen kann.« Sie blieben am Bach und warteten, dass es wärmer wurde. Sie sprachen wenig, ruhten sich einfach nur aus und waren zufrieden mit der Gesellschaft des anderen. Das Pferd graste ungebunden in der Nähe; hier in dieser sanften Senke wuchs das Gras süß und üppig, und das Tier hatte keinen Grund, weiter wegzugehen. Es war ein Tag, dachte Faolan, den er in seiner Erinnerung verschließen und wie einen kostbaren Talisman aufbewahren würde, für die Zeit, wenn das hier vorbei war. Er wusste, dass es für ihn nie wieder einen solchen Tag geben würde, eine kurze Zeitspanne, die sich vollkommen außerhalb des gewöhnlichen Lebens von Mann oder Frau befand; ein Tag, der nicht Teil des turbulenten Alltagsflusses war, sondern schlicht ein Geschenk. Gegen Mittag war es warm genug, dass er Stiefel und Jacke ausziehen und sich in seinem von der Reise schmutzigen Hemd und der Hose ins Gras legen konnte. Ana saß auf den Steinen am Bach, ließ die nackten Füße ins Wasser hängen und summte vor sich hin. Faolan stand auf und wollte ihr sagen, dass jetzt ein guter Zeitpunkt wäre, wenn sie tatsächlich baden wollte. Er hatte gerade erst einen Schritt auf sie zu gemacht, als ein Geräusch ihn an Ort und Stelle erstarren ließ. Auch Ana rührte sich nicht mehr; sie hatte es ebenfalls gehört. Etwas bewegte sich im Wald hinter ihrer kleinen Zuflucht; es gab Stimmen, Hufschlag, das Klirren von Zaumzeug. Sie hatten versucht, sich auf eine Situation wie diese vorzubereiten, so müde sie in den ersten Tagen an der Furt nach der Katastrophe auch gewesen waren. Als die Reiter zwischen den Kiefern auf dem Hügel über ihnen in Sicht kamen, stand Faolan stark und trotzig da, ein Wurfmesser in der linken Hand, das kurze Schwert in der rechten, und Ana befand sich hinter ihm mit der Waffe, die er ihr gegeben hatte. - 140 Die Reiter näherten sich in einer Reihe hintereinander. Die Männer trugen nicht die blauen Stirnbänder der früheren Angreifer. Rot schien ihre Farbe zu sein, man sah es auf ihren Waffenröcken in Form eines scharlachroten Hundes, was sie als Männer eines Fürsten kennzeichnete, dessen Verwandtschaftszeichen der Hund war. Es waren große, kräftige Männer, wie es für die Caitt typisch war, hoch gewachsen, breitschultrig, mit langem Haar und dichten Bärten, die einige geflochten und andere wild und buschig trugen. Sie kamen den Hügel hinab und zügelten ihre Pferde, stellten sich so auf, dass ihr Anführer auf beiden Seiten von einem Mann flankiert war, und richteten ihre Wurfspeere und die Spitzen ihrer Schwerter präzise auf Faolans Herz. Der Gäle stand entspannt da, berechnete den Flug seines Wurfmessers und wusste, dass er es nicht benutzen würde, nicht mit Ana hinter sich. Sich jetzt zu verteidigen, würde zweifellos zu seinem eigenen Tod und ihrer Gefangenschaft führen. »Sieh mal an«, sagte der Mann in der Mitte mit schleppender Stimme und grinste. »Was haben wir denn da?« Er schien nicht vom Pferd steigen zu wollen. »Dein Name und Ansinnen?« Das kam in einem anderen Tonfall heraus, scharf und gefährlich. »Ich könnte dich das Gleiche fragen«, sagte Faolan ruhig. »Wie du siehst, habe ich eine Dame bei mir, und wir hatten einige Schwierigkeiten, nachdem wir an der Furt ein paar Tagesritte von hier entfernt ein schweres Unglück erlebten. Die Dame ist schwach und von den Entbehrungen erschöpft. Wir brauchen eure Hilfe und keine Fragen.« Der Caitt-Anführer sah ihn genauer an. Seine Miene war alles andere als freundlich. »Nur ein Narr versucht, die Furt bei Tauwetter zu überqueren«, sagte er. »Was wollt ihr hier? Wo sind deine Kriegerzeichen? Du siehst aus wie ein Gäle, und dein Akzent passt dazu. Und was ist das mit dieser Frau?« - 141 »Ich bin ...«, begann Faolan, und dann kam Ana hinter ihm vor, das Messer in der Hand, und alle Blicke richteten sich auf sie. Der Anführer der Caitt betrachtete sie von oben bis unten, abschätzend, neugierig; er zog verächtlich die Brauen hoch und die Nase kraus, als hätte er einen unangenehmen Geruch wahrgenommen. Wilder Zorn erfasste Faolan und er packte sein Messer fester. »Ich grüße dich«, sagte Ana freundlich. »Ich bin eine Verwandte von Bridei, König von Fortriu, und auf dem Weg nach Dornwald. Unser Missgeschick hatte nichts mit dem Tauwetter zu tun. Wir wurden angegriffen, und es blieb uns nichts anderes übrig, als zu versuchen, die Furt zu überqueren. Es gab eine...« Sie wusste nicht weiter. »Eine Flutwelle«, sagte Faolan. »Unsere Eskorte wurde weggeschwemmt.« Der Anführer stieg ab; seine beiden Leibwächter blieben sitzen, die Speere weiterhin in der Hand, und hinter ihnen kamen andere näher.
»Ich ziehe es vor, mit der Dame zu sprechen«, sagte der Anführer mit einer leichten Betonung des Worts Dame, die zutiefst beleidigend war. Faolans Finger zuckten; er hätte den Mann nur zu gern mit einem raschen Schlag an die Kehle zum Schweigen gebracht. Es hätte nicht lange gedauert. »Und du heißt, meine Liebe?«, fragte der Mann. Ana holte tief Luft. »Du beleidigst mich«, sagte sie ruhig. »Ich bin niemandes >LiebeNie wieder»Am Frühlingsmorgen zog sie aus ...Es ist nicht meine Entscheidung, Jungesondern deine. Schneide deinem Bruder die Kehle durch, und ich befehle meinen Männern, alle in diesem Raum freizulassen und ihnen keinen Schaden zuzufügen, immer vorausgesetzt, deine Familie mischt sich nicht mehr in meine Angelegenheiten ein. Weigere dich, und ich werde es an deiner Stelle tun. Und danach bringen meine Männer alle anderen um.< Die Mutter gab einen schrecklichen Laut von
sich, ein Stöhnen tief aus dem Bauch, der Großvater fluchte, und man versetzte ihm einen festen Schlag gegen das Kinn, der ihn in die Knie brechen ließ. >Nein, vielleicht nicht alleSie werden wir mitnehmen, damit sie uns heute Nacht Gesellschaft leistet; es ist eine Schande, etwas so Viel versprechendes zu verschwenden. Und selbstverständlich werden wir dir ebenfalls nichts tun.< Er schaute wieder den jungen Barden an, der bebend neben seinem Bruder stand. Das Messer zitterte so heftig in der Hand des jungen Mannes, dass er es kaum hätte benutzen können, selbst wenn er es gewollt hätte. >Töte ihn, und du rettest den anderen Familienmitgliedern das Leben. Wehre dich, und du wirst sie sterben sehen, einen nach dem anderen. Du wirst weiterleben und es sehen, wieder und wieder, jede Nacht in deinen Träumen. Zeige uns, woraus du gemacht bist, hübscher Junge.< Der Barde starrte seinen Vater an und suchte Anleitung, aber sein Vater hatte die Augen geschlossen. Selbst der weiseste Brithem der Welt kann keine solche Entscheidung treffen. Tränen liefen dem Gesetzesmann über die bleichen Wangen. Seine Lippen bewegten sich im Gebet. Tu es nicht, Faolan!Verschaffe diesem Abschaum nicht solche Befriedigung!< Dann brachte man auch sie mit einem Schlag zum Schweigen. Der Barde schaute das Messer an. Er konnte es nicht ruhig halten; es zuckte und zitterte in seiner Hand, als eine Welle von Ekel ihn durchlief. Dann sprach sein Bruder. >Stell dich hinter mich. Setz die Spitze des Messers unter meinem linken Ohr an. Zieh es in einer stetigen Bewegung über meine Kehle und achte darauf, fest zuzudrücken. Du bist stark, Faolan. Du wirst es schaffend >Aber ...< Alles was der Barde herausbrachte, war ein ersticktes Krächzen. Seine Kehle war wie zugeschnürt, sein Kopf fühlte sich an, als würde er gleich explodieren. Sein Herz hämmerte, als wollte es zerspringen. Seine Handflächen waren nass von Schweiß. Er suchte verzweifelt nach Lösungen: Echen angreifen, davonlaufen, das Messer gegen sich selbst richten ... Es war klar, dass nichts davon seine Familie retten würde. Aber das hier ... das hier war Dubhän! >Beeil dichDu bist ein Mann, FaolanTu es.Durchsucht das HausSucht nach unseren Messern und Bögen und bringt auch alles andere, was interessant sein könnte.< Die Familie wartete wie erstarrt. Das Blut der Großmutter lief in die Tücher, die sie auf ihre Brust drückten. Der Großvater hob die Hand seiner Frau an seine Wange. Kurz darauf kehrten Echens Männer zurück und brachten die dritte Schwester mit, diejenige, die an diesem Abend früh zu Bett gegangen war... sie war die Jüngste, noch ein Kind in einem langen Nachthemd, die Augen dunkel und verängstigt, das Haar wirr auf die Schultern fallend. >AhEin verborgener Schatz. Wir nehmen sie mit, ich erinnere mich, dass ich zwar versprochen habe, alle in diesem Raum zu verschonen, aber nichts über den Rest des Hauses sagte. Eine kleine Perle. Wie alt ist sie, - 572 zwölf? Frisch. Verlockend. Hol dem Püppchen einen Umhang, Conor, wir wollen doch nicht, dass sie sich erkältet. Lebe wohl, Brithem. Ich denke, dein Sohn hier hat eine Zukunft, aber nicht als Musiker.< Als er den Barden betrachtete, stand in seinem Blick Überraschung, ja beinahe Bewunderung; offenbar war sein Experiment nicht so ausgefallen, wie er es erwartet hätte. Er wandte sich wieder dem Vater zu. >Ich will nie wieder von dir hören. Das nächste Mal werde ich weniger großzügig sein.< Als sie gingen und das Mädchen mit sich zerrten, warf sich der junge Mann auf sie, verzweifelt, es irgendwie richtig zu machen und zumindest seine Schwester zu retten, obwohl der Albtraum ihm erhalten bleiben würde. Echen lachte, ich kann dieses Lachen immer noch hören. Dann schlug jemand dem Jungen fest auf den Kopf, und eine Weile war er bewusstlos.« Es gab nichts, was Ana sagen konnte. Sie saß einen Augenblick wie gelähmt da, dann legte sie den Arm um Faolan und lehnte den Kopf an seine Schulter. »Faolan, das ist... es ist unvorstellbar. Niemand sollte je ... niemand ...« Und ein wenig später: »Was ist danach passiert? Was hast du getan?« »Ich war vor Hass wie besessen.« Er tat nicht mehr so, als erzählte er die Geschichte eines anderen. »Als ich zu mir kam, wollte ich nur noch meine Schwester retten und Echen ein Messer ins Herz stoßen. Aber das erlaubte man mir nicht. Als ich aus dem Schlafraum kam, warteten meine Eltern auf mich. Meine Mutter hatte ein kleines Bündel mit Essen gepackt. Mein Vater gab mir einen Ring, den er von seinem Großvater erhalten hatte, Silber mit einem Stein darin. Meine Harfe befand sich bereits in ihrem Beutel. Ich musste gehen, davongehen und nicht zurückkehren. Sie sagten nicht viel. Ich sah im Gesicht meiner Mutter, dass sie mich nach dem, was ich getan hatte, nicht mehr in ihrem Haus sehen wollte. Mein Vater war plötzlich ein alter Mann. Ich protestierte, wer
sollte Äine retten, wenn nicht ich? Vater verbot mir, es zu versuchen. Er erklärte, die Gewalttätigkeit - 573 müsse ein Ende haben. Er sagte, es sei bereits zu spät für sie. Es lag eine Distanziertheit in seinem Ton, wie ich es nie zuvor gehört hatte. Meine anderen Schwestern kamen nicht heraus, als ich ging. Bevor die Sonne aufgegangen war, hatte ich die Grenzen von Echens Land hinter mir gelassen. Ich gab das Brot und den Käse einem Bettler am Weg und band das Tuch an eine Eibe, wenn auch nicht als Opfer an die Götter; von dieser finsteren Nacht an wollte ich weder Göttern noch Menschen trauen. Ich tauschte den Ring meines Vaters gegen eine Überfahrt nach Fortriu ein. Ich ließ sie alle hinter mir. Seitdem habe ich nichts mehr von ihnen gehört. Aber sie sind nie weit von mir entfernt. Wenn ich Harfe spiele, sehe ich meine kleine Schwester in den Händen dieser Männer. Ich höre meine Mutter schreien. Wenn ich mich abends niederlege, spüre ich Dubhäns Blut auf meinen Händen, und ich höre meinen Vater mit mir sprechen, als wäre ich ein Fremder.« »O Faolan ... es tut mir so Leid ... ich weiß nicht, was ich sagen soll...« »Es gibt nichts zu sagen. Was ich getan habe, war unverzeihlich. Ich habe die falsche Entscheidung getroffen. Ich habe meine Familie ebenso wirkungsvoll zerstört, wie Echen Ui Nöill es mit seinen Bewaffneten getan hätte.« »Warum bist du nie zurückgekehrt? Wolltest du nicht Frieden mit deiner Familie schließen? Wolltest du nie herausfinden, was aus ihnen geworden ist?« Faolans Ton war bitter. »Ich habe Dubhän angebetet. Er war mein großer Bruder. Ich habe ihm bis zum Letzten gehorcht. Und ich gehorchte meinem Vater, als er sagte, ich solle davongehen und nicht wiederkommen. Seitdem habe ich meinen Lebensunterhalt nicht mit Musik verdient, sondern mit den beiden Dingen, die ich an diesem Tag so gut gemacht hatte: Befehle befolgen und Kehlen durchschneiden.« Der Selbsthass in seiner Stimme ließ Ana verstummen. - 574 »Ich bin zurückgekehrt«, sagte Faolan, »nicht nach Hause, aber nach Laigin. Echens Schergen versuchten, mich zu rekrutieren. Er hatte vielleicht gehört, dass der hübsche Junge nützliche Fähigkeiten entwickelt hatte. Ich weigerte mich. Deshalb kam ich nach Felsental. Viele Männer starben an diesem Ort vor Verzweiflung. Ich habe überlebt. Ich war bereits über Verzweiflung hinaus, ich hatte alle Fähigkeit zu fühlen verloren. Das machte mich zu einem schlechteren Barden, aber zu einem besseren Mörder. Ich habe nicht für Echen gearbeitet, aber für alle anderen: die Fürsten der Ui Neill, sowohl im Norden als auch im Süden, die Fürsten von Ulaid, den König von Dalriada. Und jetzt für Bridei.« »Du hast die Fähigkeit zu fühlen nicht verloren«, sagte Ana. »Und auch nicht die, bei anderen Gefühle zu erwecken. Was ist mit deiner Musik? Selbst Alpins Jäger hatten Tränen in den Augen.« »Bis ich dir begegnet bin«, sagte er leise, »hatte ich sie verloren. Ich werde nicht wieder spielen. Es ist falsch, mit diesen Händen Musik zu machen, da sie mit dem Lebensblut meines Bruders besudelt sind.« »Was für ein Unsinn!«, fauchte Ana, ehe sie sich bremsen konnte. »Du sagtest zuvor, dass du die falsche Entscheidung getroffen hast, aber Faolan, es gab keine richtige Entscheidung! Dein Vater, ein Mann des Gesetzes, wusste das. Wie auch immer du dich entschieden hättest, das Ende wären Kummer und Tod gewesen. Du warst sehr jung. Dieser Mann hatte nicht das Recht, dir so eine schreckliche Last aufzuerlegen.« »Ich hätte es dir nicht erzählen dürfen. Jetzt wirst auch du davon träumen.« »Ich habe meine eigenen beunruhigenden Träume. Ich bin froh, dass du es mir erzählt hast, Faolan. Es brauchte Mut, diese Worte zu finden. Du bist der mutigste Mann, den ich kenne.« - 575 Er antwortete nicht. »Faolan?« Ein Nicken. »Du musst nach Hause zurückkehren. Das weißt du, oder? Wenn du je deinen Frieden mit dem machen willst, was geschehen ist, musst du dich als Erstes mit deiner Familie aussöhnen.« »Das hier ist kein Märchen.« »Ich sage nicht, dass die Erinnerungen verschwinden werden, oder dass aller Schmerz sofort vergeht. Ich weiß, dass es dafür zu kompliziert ist. Ich weiß jedoch ebenfalls, dass sie dich sehen wollen: dein Vater und deine Mutter, deine Schwestern ... Es ist lange Zeit vergangen, seit du weggegangen bist. So, wie du es erzählst, sind sie gute Menschen, starke, gerechte Menschen. Sie werden inzwischen verstehen, welch unmöglicher Entscheidung du gegenüberstandest und warum du getan hast, was du tatest. Die Liebe zwang dich dazu. Du musst zurückkehren. Deine lange Abwesenheit wird ihnen wehtun, besonders deinem Vater.« »Ich werde nie zurückkehren.« »Dann bist du weniger mutig, als ich dachte. Der größte Mut liegt darin, weiterzumachen und zu tun, was man tun muss, selbst wenn die Aussicht einen erbeben lässt.« »Hast du dich so gefühlt, als du mich an der Furt aus dem Wasser zogst?« Ana schauderte bei der Erinnerung. »Für kurze Zeit ja; aber sobald ich dich sah, schien es ohnehin keine andere Möglichkeit mehr zu geben. Ich musste das Einzige retten, was mir geblieben war, das einzig Gute. Wäre ich grausamer, dann würde ich jetzt sagen, dass du es mir ebenso wie Deord schuldig bist, mit dieser Vergangenheit zurechtzukommen. Dir selbst eine Zukunft zu geben.«
»Ich habe eine Zukunft. Ich bin immer noch Brideis Leibwächter.« - 576 »Wenn du es nicht tust, wirst du nie wirklich ehrlich zu dir sein.« »Als ich dir meine Geschichte erzählte, erwartete ich keine Anweisungen darüber, wie ich mein Leben führen soll.« Er rutschte von ihr weg und ließ ihre Hand los. »Wir sind Freunde, Faolan«, sagte Ana leise. »Echte Freunde. Ich werde dir nie Anweisungen geben. Aber ich glaube tatsächlich, dass du diesen Weg nehmen solltest, damit du nicht von Selbsthass zerfressen wirst. Ich sehe den Menschen hinter diesem Schein von Gleichgültigkeit. Ich möchte, dass die Welt ihn ebenfalls sieht. Ich möchte, dass du erfüllt und glücklich bist.« Im Mondlicht erkannte sie seine verzerrte Grimasse von einem Lächeln. »Du verlangst das Unmögliche«, sagte er. »Ich dachte«, flüsterte sie, »du wärst die Art von Mann, dem nichts unmöglich ist. Ich hoffe, dass du irgendwann beweisen wirst, dass ich Recht hatte.« Am Ende des dritten Tages der Suche rief Alpin seine Jäger zusammen und führte sie wieder nach Hause. Dort füllte er einen Rucksack mit Vorräten für einen Mann, der allein eine weite Entfernung zurücklegen will, und übergab seinen Haushalt den fähigen Händen von Orna. Er hinterließ Anweisungen bei Dregard und andere bei Mordec, dem Hauptmann seiner Bewaffneten. Er nahm sein Schwert, seine Messer und seine Armbrust, und am nächsten Morgen kehrte er zurück in den Wald. Wo eine Gruppe von Jägern mit Hunden und Pferden nicht einfach hingelangen konnte, konnte ein geschickter Mann zu Fuß sich immer noch schnell und lautlos bewegen und andere verfolgen. Der Gäle und die königliche Braut hatten vielleicht seine Grenzen überquert, und sein Bruder war im Wald verschwunden, aber Alpin gab sich noch nicht geschlagen. Er wollte Ana haben, so besudelt sie inzwischen auch sein mochte. Sie gehörte ihm, man hatte sie ihm geschickt, damit sie seine Frau wurde, und er wür- 577 de sie haben, koste es, was es wolle. Er war es sich selbst schuldig, Rache an diesem verrückten Drustan, an diesem elenden, verräterischen Galen und schließlich auch an dem König von Fortriu zu nehmen, der all dies mit seinem schlecht beratenen Versuch, ein Bündnis mit Dornwald abzuschließen, in Gang gesetzt hatte. Nun, das Bündnis würde weiter bestehen, dachte Alpin, während er rasch über die gefährlichen Waldwege stapfte und seinen eigenen Weg zurückverfolgte bis zu der Stelle, an der Deord gestorben war. Dort stellte er erheitert fest, mit welcher Sorgfalt man den Burschen zur Ruhe gebettet hatte, und er folgte einer neuen Spur zum Hochland über dem Wasserfall, einer Stelle, die seine Jäger abgetan hatten, weil sie glaubten, dass es einer Frau unmöglich sei, sich hier zu bewegen. Er hatte sie und er war auf ihrer Spur. Es würde Zeit brauchen, die Flüchtlinge zu verfolgen und sich ihnen heimlich zu nähern. Aber das war gleich. Er konnte es sich leisten, eine Weile nicht nach Hause zurückzukehren. Es war nicht notwendig, seine Armee, seine Flotte, seine beträchtliche Streitmacht zu mobilisieren; noch nicht. Vielleicht würde er es überhaupt nicht tun müssen. Die Lösung seines Problems, das wusste er, lag nicht in einem bewaffneten Überfall, sondern in seinem zweiten Plan, einem, den er schon vor einiger Zeit in Gang gesetzt hatte: Er verfügte über eine geheime Waffe, von der niemand etwas wusste außer ihm selbst, Dregard und den Bewaffneten, denen er am meisten vertraute. Und selbstverständlich dem Sohn, der sich entgegen aller Erwartungen nun doch als nützlich erwies. Als zuerst Ana und dann Faolan von Brideis mächtiger Präsenz gesprochen hatten, von seinen Fähigkeiten als Anführer, seiner Wichtigkeit für sein Volk, war Alpin immer deutlicher geworden, dass der Erfolg jedes Vorstoßes der Priteni gegen Dalriada gewaltig von diesem einen Mann abhing, diesem so genannten Schwert von Fortriu. Alpin kam - 578 zu dem Schluss, dass diese Abhängigkeit so stark war, dass die ganze Sache in sich zusammenbrechen würde, wenn man Bridei entfernte. Also hatte er dem jungen König ein kleines Geschenk geschickt - wie praktisch, dass der Junge bereits zu Umbrigs Leuten gehört hatte. Hargest war nur zu bereit gewesen zu gehorchen, der Junge sehnte sich verzweifelt nach Alpins Anerkennung. Wahrscheinlich betrachtete er sich als den rechtmäßigen Erben von Dornwald. So, wie es mit Ana weitergegangen war, war er im Augenblick zumindest der einzige Erbe. Das würde sich allerdings schon bald ändern, dachte Alpin grimmig. Er würde seine königliche Braut bekommen und sie behalten. Sie würde ihm so viele Söhne schenken, wie er wollte, und durch diese Söhne würde er in den Ländern des Nordens unvergleichliche Macht erhalten. - 579 KAPITEL FÜNFZEHN Ein beeindruckendes Gefolge«, stellte Fola fest, als Tuala und ihre Leute vor den Toren von Banmerren erschienen. Die Königin hatte nicht nur den bleichen Broichan mitgebracht, sondern auch den Leibwächter Garth, seine Frau Elda und ihre Zwillinge und eine junge Dienerin. Und selbstverständlich Derelei, der nun von dem Wagen heruntergehoben wurde, auf dem Kinderfrau und Kinder gereist waren. »Du erinnerst dich hoffentlich daran, dass Druiden die einzigen Männer sind, die in unser Heiligtum eingelassen werden?« Tuala lächelte ihre alte Lehrerin an. »Wie könnte ich das vergessen?«, sagte sie und musste an eine Nacht denken, in der Bridei mit einem Seil über die Mauer geklettert war, um sie zu besuchen. War das wirklich erst
fünf Jahre her? Zwischen diesem Tag und der Gegenwart schienen Welten zu liegen: Sie hatten beide hoch über dem Boden auf den Ästen der Eiche gesessen, und dieser erste Kuss ... »Ich dachte, wir anderen könnten uns in Feradas Domäne niederlassen. Ich werde mit ihr sprechen, während Garth und Elda das Gepäck abladen.« Als sie sich dem kleinen Weg um die hohe Steinmauer zuwandte, sah sie, dass Fola Broichans Arm nahm und ihn durch das Tor ins Heiligtum der Weisen Frauen führte. Ein Stück den Pfad entlang hatte man die Mauer weiter- 581 gezogen, rings um ein Gelände mit einem lang gezogenen Wohnhaus in einem frisch gepflanzten Garten. Ein eisernes Tor in der Mauer öffnete sich, als Tuala es aufschob; auf der anderen Seite der Wiese gab es einen Torbogen in der Seitenmauer, der zum Gelände von Folas Schule führte. Tuala ging in den neuen Garten. Sie war nicht allein hier, Ferada saß auf einer kleinen Bank, ein Buch aufgeschlagen in der Hand, und am Torbogen war die kräftige Gestalt des königlichen Steinmetzes Garvan zu sehen, der auf einer hölzernen Plattform neben einem riesigen Felsblock stand und etwas mit einem Meißel machte. Ein Junge, offensichtlich sein Helfer, sortierte Werkzeuge auf einer Bank. Es war ein schöner Tag, die stille, fleißige Szene war in warmes Sonnenlicht gehüllt. Im Gras bildeten kleine Blüten helle Punkte in Rosa und Blau. Ferada war barfuss, und sie hatte ein Bein auf der Bank unter sich gezogen und ließ das andere baumeln. Ihr Haar war offen und fiel ihr in einem feuerroten Strom über den Rücken. Garvan, ein Mann, dessen Züge etwas von einem unberührten Steinblock hatten, pfiff bei der Arbeit leise vor sich hin. »Es tut mir Leid, diese friedliche Szene zu stören«, sagte Tuala, als sie lächelnd über das Gras auf ihre alte Freundin zuging. »Ich fürchte, du hast Besuch: vier Erwachsene und drei ziemlich aktive kleine Jungen. Wir werden versuchen, sie von den Werkzeugen fern zu halten.« Es gab keinen einfachen Weg zwischen Dornwald und dem Weißen Hügel. Wo das Hochland nicht bewaldet war, fegte eisiger Wind über steinige Wiesen und zerklüftete Berggipfel, was sie selbst im Sommer unwirtlich bleiben ließ. Wo es keine breiten Bäche und rauschenden Wasserfälle gab, die man überqueren musste, hatte man es mit Steilhängen, Schluchten und abbröckelnden Felsvorsprüngen zu tun. Es gab Sümpfe. Es gab Wildschweine. Nachts heulten die Wölfe. Sobald Faolan sicher war, dass Alpin ihre Spur verloren - 582 hatte, erlaubten sie sich nachts ein kleines Feuer. Er war gerade erst damit fertig geworden, das erste dieser Feuer anzuzünden, während Ana ihr Messer benutzte, um einen Streifen des getrockneten Hammelfleischs klein zu schneiden, das ihre einzige Nahrung darstellte, als der Falke eine Weile davonflog und im Zwielicht mit einem fetten Kaninchen zurückkehrte. Faolan hätte gerne gewusst, wie viel Drustan verstand, wenn er diese Gestalt hatte; ob er mit den Worten von Menschen etwas anfangen konnte, ob er Ansichten hatte, Freude oder Trauer verspürte, plante, Strategien verfolgte und träumte wie ein Mensch. Er fragte sich, woran Drustan sich erinnern würde, wenn er sich zurückverwandelte. Im Augenblick war er ihnen in Vogelgestalt nützlicher, denn so war er im Stande, hoch in den Himmel aufzusteigen und Wege zu finden, die ein Mensch nie gefunden hätte; er konnte jagen und brauchte dazu keine anderen Waffen als Schnabel und Krallen. Wann würde Drustan zu dem Schluss kommen, dass es Zeit war, sich Ana zu zeigen? Ihr die volle Wahrheit über sich zu verraten? Fürchtete er wirklich so sehr, dass sie ihn abweisen würde, dass er bis zum Weißen Hügel die Falkengestalt beibehalten wollte? Faolan fand, dass einem Liebenden, der nicht vertrauen konnte, etwas Wesentliches fehlte. Dennoch, es war eine seltsame Sache, eine bizarre Sache. Man konnte nicht sagen, wie Ana darauf reagieren würde. Ana zerlegte das Kaninchen kundig und briet es über dem Feuer. Einen Teil ließ sie roh und legte ihn auf einen umgestürzten Baum, wo der Vogel ihn sich holen konnte. Der Falke fraß geschickt und hielt eine Kaninchenkeule in den Klauen, während er mit dem Furcht erregenden Schnabel einen Streifen Fleisch nach dem anderen abriss. Krähe und Kreuzschnabel sahen aus der Ferne zu; sie schienen keinen Hunger zu leiden. Faolan nahm an, dass das langsame Tempo menschlicher Füße den beiden genügend Zeit gab, sich unterwegs Futter zu verschaffen. - 583 Ein- oder zweimal, während sie weiterzogen und ein Tag mit dem anderen verschmolz, war Faolan versucht, eine Möglichkeit zu finden, allein mit dem Falken zu sprechen, sich darauf zu verlassen, dass er ihn verstehen konnte, und vorzuschlagen, dass Drustan Ana die Wahrheit sagte, denn er sah, wie sehr sie litt. Ein- oder zweimal holte er den einzelnen Handschuh heraus, den Deord in seinem Gepäck getragen hatte, und zog ihn auf die rechte Hand. Aber dann verfolgte er diesen Gedanken nicht weiter. Warum die Dinge übereilen? Je länger Drustan sich Zeit ließ, desto wahrscheinlicher war es, dass Ana ihre Gefühle für ihn als jugendliche Begeisterung erkannte, als die impulsive Großzügigkeit einer Frau, der es nur zu leicht fiel, jemanden zu bemitleiden, der ungerecht behandelt wurde. Je länger sich Drustan Zeit ließ, sein Geheimnis zu enthüllen -falls er es je tun sollte -, desto mehr Zeit hatte Faolan mit ihr allein. Und während seinem Verstand nur zu klar war, dass es nie mehr als Freundschaft zwischen ihm und Ana geben konnte, genoss sein Herz diese kostbaren Tage, wie eine Blüte die Wärme der Sonne genießt. Dass sie beide froren, schmutzig und erschöpft waren und noch ein sehr weiter Weg vor ihnen lag, tat dem keinen Abbruch. Im Augenblick, für diesen kleinen Zeitraum, hatte er Ana ganz für sich. Er war nun vorsichtiger und traute sich nicht zu, nachts neben ihr zu liegen, aber er konnte sie ansehen, mit ihr sprechen, sich jeden einzelnen Augenblick für eine Zukunft einprägen, in der ihre Wege sich wieder trennen würden, so sicher, wie die Sonne am Abend unterging. Er hatte ihr den dunkelsten Teil seiner selbst offenbart,
einen Teil, von dem er geglaubt hatte, dass er für immer weggeschlossen war. Sie hatte dieses Geschenk angenommen; auch nachdem sie das Schrecklichste wusste, was er je getan hatte, war sie seine treue Freundin geblieben. Wenn dieses zerbrechliche Glück durch Drustans Rückkehr zerstört würde, dann doch zumindest noch nicht jetzt. - 584 Ana schlug sich gut, hielt Schritt und beschwerte sich nicht einmal, wenn ihre Füße wehtaten. Als sie die Stiefel auszog und Faolan die Blasen an ihren Füßen sah, ordnete er einen Ruhetag an. Sie widersprach; er bestand darauf. Es war ihm klar, dass sie den Weißen Hügel nicht vor Ende des Sommers erreichen konnten. Er hoffte, dass Drustan wusste, was er tat. Vielleicht spielte er sein eigenes Spiel. Regenwetter hatte sie verlangsamt, und die warme Jahreszeit ging rasch vorüber. Es half dabei nicht, dass ihr Führer die unangenehme Eigenschaft hatte, ohne Ankündigung zu verschwinden und sie einen oder zwei Tage warten zu lassen, bis er zurückkehrte und sie die Reise fortsetzen konnten. Sie hatten zwei Tage in einer verfallenen Schäferhütte auf einer Hochweide verbracht und auf die Rückkehr des Falken von einer dieser Abwesenheiten gewartet. Faolan wusste kaum, welchem Weg sie folgen sollten, und das Gelände war gefährlich. Dennoch stand er kurz davor, die Geduld vollkommen zu verlieren und von diesem Punkt an den Weg selbst zu suchen. Ana zog sich immer mehr zurück, und ihm fiel auf, wie hohl ihre Wangen geworden waren und dass ihre Augen sich auf eine Art verändert hatten, die ihn beunruhigte. Sie hatte erheblich abgenommen - wenig überraschend bei nur einer Mahlzeit am Tag. Der Falke hatte ihnen diesmal zwei Hasen gebracht, bevor er verschwunden war, als ob er gewusst hätte, dass er eine Weile nicht zurückkehren würde. »Wir warten noch eine Nacht«, sagte Faolan, als sie sich im Schutz eines Felsens niederließen und im seltsamen Halbdunkel der Sommernacht den Hang hinunterschauten. »Wenn er bis dahin noch nicht zurück ist, werde ich den Weg selbst suchen. Wenn wir uns nach Südosten halten, sollten wir irgendwann in der Nähe von Abertornie auf die Küste stoßen.« »Faolan?« »Hm?« - 585 »Es wird noch lange dauern, nicht wahr? Den ganzen Weg zurückzulegen, meine ich.« Faolan dachte an all die Dinge, die er ihr nicht gesagt hatte: Wie schwierig es war, ohne Bogen oder Speer etwas Essbares zu beschaffen, die Tatsache, dass das Trockenfleisch bestenfalls noch sieben Tage reichen würde, die nicht zu leugnende Wahrheit, dass sie selbst im Sommer breite Flüsse überqueren müssten. »Es wird langsamer gehen als zu Pferd«, sagte er. »Aber wir werden es schon schaffen. Wie sehen deine Stiefel aus?« Ana zeigte sie ihm. Der linke hatte Löcher bis durch die Sohle, der rechte löste sich auf, wo das Oberleder auf den Absatz stieß. Kein Wunder, dass ihre Füße wehtaten. Das Hochzeitskleid war fleckig und zerrissen. Seine eigene Kleidung sah kaum besser aus. »Hm«, sagte er. »Wir werden ein schönes Bild abgeben, wenn wir auf dem Weißen Hügel erscheinen.« Erst war es still, dann hörte er das unmissverständliche Geräusch unterdrückten Weinens. »Tut mir Leid«, murmelte Ana. »Es geht um ihn, nicht wahr?«, fragte Faolan tonlos. »Drustan. Du weinst immer noch um ihn. Die Seuche soll ihn holen.« »Ich kann nichts dagegen tun, Faolan. Ich wünsche mir so, dass er hier wäre, bei uns. Bei mir. Ich hoffte ... ich habe so sehr gehofft...« Faolan bemerkte, dass ihr schönes Haar ihr in schlaffen, leblosen Strähnen auf die Schultern fiel, und sie hielt sich auch nicht mehr so königlich gerade. Er sehnte sich danach, sie in die Arme zu nehmen und an sich zu drücken. »Ich mache mir Sorgen um ihn, Faolan«, sagte sie kläglich. »Er ist so verwundbar. Wenn er zu seinem eigenen Territorium zurückgekehrt ist, ins Träumende Tal, könnte man ihn wieder gefangen nehmen oder sogar töten. Alpins Männer herrschen dort nun. Was wenn ...« - 586 »Ana«, sagte Faolan, »wir können nichts dagegen tun. Du musst mir glauben: Er kommt mit seinen Problemen zurecht.« Insgeheim begann er, daran zu zweifeln. Er hatte keine Ahnung, wo Drustan jetzt war oder was er vorhatte. »Ich wollte ihm helfen.« Sie starrte hinauf in den Nachthimmel, als könnte sie dort eine Antwort finden. »Ich will es immer noch. Er ist so schrecklich allein. Wo immer er hingehen wird, was immer er tun möchte, ich möchte bei ihm sein, an seiner Seite, damit er nicht mehr allein ist. Es muss ebenso ein Fluch wie ein Segen sein, von Geburt an anders zu sein als andere. Sein Großvater hat das verstanden. Es sieht so aus, als hätte niemand anders das getan. Außer vielleicht Deord.« »Anders?« Faolan fragte sich, was genau Drustan ihr gesagt hatte. »Ich denke, es ist wie bei einem Seher. Diese Anfälle, die er hat und die Alpin als Wahnsinn bezeichnete, bringen ihm anscheinend eine Art von Vision, und er wandelt eine Weile in einer anderen Welt. Er hatte sie schon als Kind. Einige Menschen kommen mit solcher Seltsamkeit nicht zurecht.« »In der Tat«, sagte Faolan und dachte, dass sie keine Ahnung hatte, wie seltsam der Mann wirklich war. Was würde sie wohl von der Idee halten, Kinder zu haben, denen jeden Augenblick Schnäbel und Federn wachsen
konnten? »Faolan?« Er wartete. »An jedem Tag, an dem wir unterwegs sind, mit jedem Schritt weiter nach Osten fühle ich, wie mein Herz ein Stück weiter zerrissen wird. Ich dachte, dass diese Gefühle nach einer Weile schwächer würden und es nicht mehr so wehtäte. Aber es wird immer schlimmer. Wie konnte ich ihn zurücklassen? Etwas stimmt nicht. Er wäre nicht ohne mich gegangen. Er sagte die Wahrheit, als er behauptete, mich zu - 587 lieben, das habe ich an seiner Stimme erkannt. Warum sollte er bei so etwas lügen?« »Menschen lügen«, sagte Faolan. »Das tun sie die ganze Zeit.« »Nicht Drustan.« »Ein Mann von vorbildlicher Tugend.« Er konnte seine Bitterkeit nicht verbergen. »Hör auf, Faolan. Man könnte fast glauben, dass du eifersüchtig bist.« Er schwieg. Je länger das Schweigen dauerte, desto intensiver betrachtete ihn Ana, und an einem bestimmten Punkt musste er sich abwenden, um nicht eine dumme Antwort zu geben, es abzustreiten, seine Gefühle zu erklären oder eine verletzende Bemerkung zu machen. Es hatte ohnehin keinen Sinn, etwas zu sagen. Es war ihm vollkommen klar, dass sie endlich verstanden hatte, was er empfand. »Es tut mir Leid«, sagte sie schließlich leise und liebevoll. »Es tut mir so Leid, Faolan.« »Nun ja«, er versuchte ein Lächeln. »Ich bin immerhin nur ein Leibwächter. Es steht mir nicht zu, Gefühle zu haben. Denk nicht mehr daran. Dein Leben ist bereits kompliziert genug.« »Du bist ein guter Freund«, sagte Ana, »und mein treuer Beschützer auf dem Weg. Ich hätte es schon eher erkennen müssen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es mir entgangen ist. Du weißt, dass ich dir vertraue, Faolan, und dich achte und mich auf dich verlasse ... Ich hätte nie geglaubt, einen solchen Freund zu finden, und ich danke den Göttern, dass du an meiner Seite bist. Aber... was ich für Drustan empfinde, ist ganz anders. Es ist zu stark, um es abzustreiten. Es ist - eine Welle, eine Flut...« »Du meinst, es zerstört.« »Mag sein. Er ist weg, und ich fühle mich, als würde ich zerbrechen. Es tut mir Leid, wenn das für dich alles noch - 588 schwieriger macht. Als ich von ihm und von meinen Gefühlen sprach ... das muss dir schrecklich wehgetan haben.« Faolans Stimmung wurde bei diesen Worten etwas besser. Selbst in dieser extremen Situation blieb sie durch und durch eine Dame. »Ich möchte, dass du etwas für mich versuchst«, sagte er. »Was?« Er griff nach seiner Tasche und holte den schweren Lederhandschuh heraus. »Zieh den an und steh auf.« »Warum?« Sie tat, um was er sie bat, und sah ihn fragend an. »Und jetzt rufe ihn. Den Falken. Ruf ihn zu dir.« »Ich weiß nicht, wie. Ich weiß nicht, was ich tun soll.« »Kannst du pfeifen?« »Nicht besonders laut. Ich kann es versuchen, aber sieh mich nicht an, oder es geht nicht.« Das Geräusch, das sie hervorbrachte, war in der Weite der Hügellandschaft, die sich vor ihnen erstreckte, kaum zu vernehmen, ein kleiner Pfiff, nur zwei Töne. Es war die Art von Pfiff, mit der eine Dame vielleicht ein Kätzchen oder einen gut dressierten Schoßhund zu sich rief. Sie hielt einen Augenblick inne und lauschte, dann versuchte sie es noch einmal. Es war, als hielte die Nacht den Atem an. Dann hörte man Flügelschlagen im Halbdunkel, eine leichte Veränderung der Luft wurde wahrnehmbar, und der Vogel kam aus der Nacht heraus auf ihre Hand geflogen. Krallen bohrten sich in den Handschuh, die wilden Augen begegneten Anas Blick, strahlend und undurchschaubar. Sie hielt den Arm weiterhin hoch, stützte das Gewicht des Falken und ihre eigenen Augen waren voller Staunen. »Er ist zurückgekehrt«, hauchte sie. »Woher wusstest du, dass er das kann?« »Es war nur eine Vermutung«, sagte Faolan, der die Veränderung in ihrer Stimme bemerkt hatte. Spürte sie die Wahrheit? »Intuition.« - 589 Ana hob die Hand, um den Falken zu streicheln, die langen starken Flügelfedern, die Daunen an seinem Kopf. Ihre Hand kam nah an diesen gefährlichen Schnabel; es schien ihr nicht aufzufallen, dass das Tier ihr jederzeit die Hand zerreißen konnte. Faolan hielt den Mund. Er würde seine Finger nicht gefährden, wenn er es vermeiden konnte, aber er wusste, dass dieser Vogel Ana nie etwas zu Leide tun würde. »Das bedeutet, wir können weiterziehen«, sagte sie. »Wir hatten ohnehin nichts mehr zu essen, oder?« »Ich hätte schon etwas gefunden«, sagte Faolan, ohne den Vogel anzuschauen, für den Fall, dass seine Ablehnung ihm zu deutlich ins Gesicht geschrieben stand. Ana hatte selbstverständlich Recht, es war Drustan, der dafür sorgen würde, dass sie sicher nach Hause gelangten. »Ich fühle mich ein wenig besser«, sagte Ana und legte die Wange einen Augenblick an die Federn des Vogels. »Wenn sie alle drei bei uns sind, bedeutet das, dass Drustan mich noch nicht völlig vergessen hat, selbst wenn er
nicht hier sein kann. Wenn sie zusammenbleiben, denke ich immer, er muss noch am Leben und in Sicherheit sein. Ich werde jetzt schlafen, Faolan.« »Also gute Nacht.« »Möge die Leuchtende dir schöne Träume schenken.« »Du wünschst das Unmögliche für mich. Ich nehme an, du wirst nur von einer Sache träumen.« Sie setzte sich im primitiven Schutz eines kleinen Felsüberhangs auf den Boden, die Decke fest um die Schulter gezogen. Die drei Vögel blieben in ihrer Nähe, hockten sich auf Steine, ein Trio winziger Wächter, die Visionen einer uralten Geschichte über Magie heraufbeschworen. Ana schwieg eine Weile, und Faolan glaubte schon, dass sie eingeschlafen war. Aber dann sagte sie: »Spotte nicht über meine Träume, Faolan. Außer den Vögeln sind sie alles, was mir von ihm geblieben ist.« - 590 »Es tut mir Leid«, sagte er, aber Ana antwortete nicht. Viel später, als er wusste, dass sie eingeschlafen war, griff er nach einem Stein und wog ihn in der Hand. Er lauschte Anas langsamem, stetigem Atem. Krähe und Kreuzschnabel hatten sich an sie geschmiegt, rührten sich nicht und hatten die Köpfe unter die Flügel gesteckt. Der Falke hielt Wache, eine Handspanne von Anas Schulter entfernt. Faolan dachte über den möglichen Wurf nach, schätzte Wucht und Entfernung ab. Wenn er schnell war, würde es in einem Augenblick vorüber sein. Er würde die beiden nie wieder zusammen sehen müssen, er würde nie sehen müssen, wie dieser Mann sie berührte, und daneben stehen, als ginge es ihn nichts an. Dunkelheit wallte in seinem Herzen auf, er schloss die Finger um den Stein. Ana seufzte und drehte sich im Schlaf um. »Sag es ihr«, verlangte Faolan und ließ den Stein fallen. »Sag ihr die Wahrheit, lass sie ihre eigene Entscheidung treffen. So kann es nicht weitergehen. Du wirst ihr das Herz brechen.« Der Falke betrachtete ihn mit undurchschaubarem Blick. »Verwandle dich, zeige ihr, was du bist. Wenn du den Mut dazu nicht hast, hast du sie nicht verdient. Dann könntest du genauso gut davonfliegen und uns verlassen. Wir kommen schon zurecht. Wir sind zuvor zurechtgekommen, und wir werden es wieder schaffen.« Es gab keine Antwort außer diesem unverwandten Blick, einem Blick, der Faolan zutiefst gefährlich vorkam. Dieser Mann war ein wildes Tier. In seinem ganzen Wesen lag Gefahr. »Worauf wartest du?«, fragte Faolan herausfordernd. »Sie ist hier, sie liebt dich, sie ist die vollkommenste Frau, auf die ein Mann hoffen könnte. Was hält dich zurück?« Es gab keine Reaktion, kein plötzliches Aufflattern, keine Verwandlung. Der Vogel wandte nur den Kopf ab. »Du hast Angst, oder?«, fragte Faolan. »Du hast Angst, - 591 dass sie sich von dir abwenden wird, sobald sie es weiß. Also bestrafst du sie, du unterziehst sie dieser Folter, bei der sie sich um deine Sicherheit und deine Zukunft sorgt, bei der sie sich fragt, wieso du sie verlassen hast, bei der sie immer schwächer wird und nur noch Haut und Knochen ist, weil sie nichts Richtiges zu essen hat. Wenn du wirklich ein Mann bist, handle wie einer. Vertraue ihr mit der Wahrheit.« Alpin war gebaut wie ein Bär. Dennoch, in Dornwald aufzuwachsen, hatte ihm eine Gewandtheit vermittelt, die für einen solch großen, kräftigen Mann ungewöhnlich war. Der Wald war ein gutes Jagdgelände, und Alpin hatte früh gelernt, sich beinahe lautlos zu bewegen und schwieriges Gelände rasch zu durchqueren. Er hatte gelernt, wie man eine Spur findet und sie nicht wieder verliert, obwohl Deords einsame Flucht durch den Wald ihn eine Weile von dieser Witterung abgelenkt hatte. Nun hatte er sie wieder aufgenommen und folgte den Flüchtlingen unauffällig und mit tödlicher Entschlossenheit. Während er nach Nordosten eilte, beschäftigte er sich im Geist nicht mit dem Wetter, dem Gelände oder den Spuren, all dies nahm er ohne nachzudenken auf. Stattdessen erklang in ihm eine wilde Hymne an die Rache, ein Lied des Hasses, der Begierde, der Bereitschaft zu foltern und zu vernichten. Er sah Ana auf dem Rücken liegen und seinen Bruder auf ihr und dann den Galen und dann wieder diesen widerwärtigen, verrückten Drustan. Wenn sie ein Kind im Bauch hatte, wenn er sie nach Hause brachte, würde er es töten müssen, ihr Erbe musste eindeutig von seinem eigenen Blut sein. Bei allen Göttern, nach diesem Ärger sollte sie ihm lieber Söhne schenken. Er würde ihr den Trotz schon austreiben. Er würde dafür sorgen ... andererseits würde er sich eine Weile zurückhalten müssen. Er musste seinen Zorn mäßigen, nachdem er Ana nach der Rückkehr in die Festung zunächst einmal bestra- 592 fen würde. Er hatte die Geduld bei Erisa einmal zu oft verloren, und es hatte zu nichts Gutem geführt. Die dumme Gans hatte versucht, vor ihm davonzulaufen, und als sie stürzte, hatte sie seinen Sohn ebenso umgebracht wie sich selbst. Wenn sein verrückter Bruder nicht zufällig in der Nähe gewesen wäre, was ermöglicht hatte, ihm die Schuld zu geben, hätte er alles verlieren können. Drustan ... Ihr Götter, warum war er so großzügig zu ihm gewesen? Er hätte ihn sofort loswerden und sich nicht wegen ihrer Verwandtschaft zurückhalten sollen. Nun war Drustan frei, und wenn er sich erinnerte, wenn er es jemandem sagte ... Nein, das würde nicht geschehen. Die Leute wussten, dass Drustan verrückt war; niemand würde ihm glauben. Es gab niemanden mehr in Dornwald, der ihn unterstützen würde, niemanden, der sich an die Zeiten erinnerte, in denen er bei Verstand gewesen war. Die alte Bela war geflohen, sobald es geschehen war. Sie war inzwischen wahrscheinlich tot, und die anderen waren alle verschwunden, alle bis auf Orna, die wusste, wie man den Mund
hielt. Alpin hatte sich um alle gekümmert. Dennoch, er würde nicht ruhen, bis er die Hände um den Hals seines Bruders legen und hören konnte, wie der letzte Atemzug aus ihm entwich. Und was den Galen anging ... dem Galen konnte er nicht trauen. Er wäre als Spion nützlich gewesen, aber nun musste er ihn loswerden. Alpin malte sich aus, wie er das tun würde, während er weiter durchs Hochland zog und dann Halt machte, um in einer verfallenen Hütte Spuren zu überprüfen. Es gab Asche von einem kleinen Feuer, ein paar blonde Haare, die Knochen eines kleinen Tieres, ordentlich abgenagt. Sie waren hier gewesen. Vor nicht zu langer Zeit. Seine Hände sehnten sich danach, sie zu bestrafen. Er würde sich erst um die beiden Männer kümmern. Dann würde er Ana nehmen, gleich an Ort und Stelle; er wollte sie haben, und es gab nur eine Möglichkeit, dieses Bedürfnis zu befriedigen. - 593 Bridei hatte früh gelernt, vorsichtig zu sein. Der erste Anschlag auf sein Leben hatte stattgefunden, als er noch ein kleiner Junge gewesen war, und Donal hatte ihn abgewehrt. Jahre später, als jene, die ihn nicht als König sehen wollten, es wieder versuchten, war Donal an seiner Stelle gestorben. Beim dritten Mal war es Faolan gewesen, der ihn vom Rand des Todes zurückgerissen hatte. Er hatte gelernt, niemandem zu schnell zu vertrauen, selbst wenn sein Instinkt ihn zur Freundschaft neigen ließ. Er mochte Hargest. In der Unsicherheit des Jungen und seinem ununterbrochenen Drang, sich hervorzutun, erkannte er sich selbst wieder. Es kam Bridei so vor, als balancierte Hargest zwischen einem Vater, der nur zu bereit gewesen war, ihn wegzuschicken, und einem Pflegevater, der ihn vielleicht übermäßig vorsichtig behandelt hatte, auf seinem Weg zur Reife und zum Erwachsenwerden auf einem sehr schmalen Grat. Der Junge war voller Widersprüche: Er wollte es allen recht machen, er fürchtete, schwach oder unfähig zu wirken, er wollte sich als überlegen erweisen. Und hinter allem stand das verzweifelte Bedürfnis nach Liebe: der Liebe eines Vaters. Bridei hatte Breth und die anderen angewiesen, den jungen Mann an ihren täglichen Kampfübungen teilnehmen zu lassen und ihn zu ihren Erkundungen zum Rand des Territoriums von Dalriada mitzunehmen. Hargest wurde immer streng überwacht, obwohl sie es ihn nicht wissen ließen. Er war nie allein mit Bridei, aber der König hatte sich angewöhnt, ihn bei Gesprächen mit einzubeziehen, und fragte häufig nach seinen Fortschritten. Während der Zeit, die sie in Rabenbrunn verbrachten, lernten die Männer Hargest nach und nach zu akzeptieren, und sie sprachen nicht mehr über ihn, als wäre er ein Außenseiter. Einer oder zwei von ihnen stellten fest, dass er sich, wenn er an ihrer Seite in den Kampf marschierte, als große Hilfe erweisen könnte. Zunächst einmal war er doppelt so groß wie jeder Gäle auf - 594 dem Schlachtfeld. Und sein Schwertarm war etwas, mit dem man rechnen musste. Bridei hatte eine Botschaft mit Orbenn zurückgeschickt und darin auch Hargests Pflegevater gefragt, was er von der Bereitschaft des Jungen zum Krieg hielt. Als Umbrig schließlich antwortete, überließ er die Entscheidung Bridei selbst. Wenn der König den Jungen für nützlich hielt, sollte er ihn nehmen. Wenn nicht, konnte er Hargest zurück nach Sturmklippe schicken, um seine Kampfeslust ein wenig abzukühlen. Die Möglichkeit, dass Hargest zu seinem Vater zurückkehrte, wurde nicht erwähnt, obwohl er jetzt ein junger Mann war. Als daher der Sommer sich dem Ende näherte und sie von Rabenbrunn aus mit dem ersten Stadium des langen Vormarschs begannen, nahm Hargest seinen Platz in der kleinen persönlichen Streitmacht des Königs von Fortriu ein, eine stolze, hoch aufgerichtete Gestalt, einen Kopf größer als die meisten anderen Männer, und er trug seinen Speer, sein Schwert, den Bogen und den Köcher, als wäre das etwas, was er jeden Tag tat und womit er recht vertraut war. Breth, der an der Seite des Königs ritt, wirkte unruhig. Er traute dem Jungen nicht, und er machte kein Geheimnis daraus, dass es ihm nicht passte, dass Hargest sich Brideis Bewaffneten so schnell hatte anschließen dürfen. Die Männer flüsterten, dass der Leibwächter des Königs seine Stellung bedroht sah. Hargest, sagten einige, war der offensichtliche Kandidat - jung, gesund, begeistert und stark -, um einmal Brideis wichtigster Leibwächter zu werden. Bridei hörte all das und hielt es für Unsinn. Breth wusste, dass seine Stellung so sicher war, wie die eines Mannes auf dem Weg in einen bewaffneten Konflikt sein konnte. Was Hargest anging, so hielt ihn Bridei an einer kürzeren Leine, als die anderen bemerkten. Der verzweifelte Wunsch des Jungen, es ihm recht zu machen, war die wirkungsvollste Kontrolle, über die er verfügte; er würde sie benutzen, um - 595 zu verhindern, dass der Junge umgebracht wurde, bevor er die Möglichkeit hatte, aufzuwachsen und zu erfahren, was in ihm steckte. So waren sie nun also in Bewegung und durchquerten das gleiche Gelände, durch das Bridei marschiert war, als er als schlichter Fußsoldat in Talorgens Armee auf dem Weg zu seinem ersten Geschmack davon war, was der Krieg Männern antat. Er erwartete, dass Hargest bei all seinem aufgesetzten Mut davon zutiefst verstört sein würde. Bridei hoffte, dass er hinterher Zeit haben würde, mit dem Jungen zu sprechen und zuzuhören, wenn Hargest mit dem fertig werden musste, was er gesehen und getan hatte. Was er gezwungen gewesen war zu tun. Krieg konnte das Beste in einem Mann zu Tage fördern. Leider gab es auch andere, in denen er Grausamkeit weckte, und wieder andere, die schlicht unter diesem Schrecken zerbrachen. Wenn dieses große Unternehmen so verlief, wie sie es geplant hatten, würde es vielleicht lange Zeit nicht mehr notwendig sein, dass die Männer von Fortriu wieder in den Krieg zogen. Vielleicht würde es lange Jahre des Friedens geben, nachdem die Galen aus
dem Land der Priteni verschwunden waren, und die Männer würden sich um ihr Vieh kümmern, säen, ernten und mit Ahle, Zangen und Hammer ihrem Handwerk nachgehen können, ohne darauf zu warten, dass wieder jemand an ihre Tür klopfte und sie zu den Waffen rief. Bridei betete um ein solches Ergebnis, nicht um seiner selbst willen, nicht um seines Ruhmes willen, sondern für das Wohl seines Volkes. Wenn er die Galen besiegt hatte, konnte er seine Aufmerksamkeit der großen Aufgabe zuwenden, die die Götter ihm aufgetragen hatten: Circinn und Fortriu wieder im alten Glauben zu vereinen. Während Brideis Leute in westlicher Richtung zum Rand von Gabhrans Territorium zogen, näherten sich auch von anderen Seiten Dalriadas aus Truppen von Priteni-Kriegern den Galen. Gabhran und seine Unterführer hätten sich nie - 596 einen solch massiven, komplizierten Angriff, solche Einigkeit und solche Präzision der Zeitabstimmung vorstellen können. Bridei und seine Anführer hatten alles getan, damit die Armeen bis zum letzten Augenblick unentdeckt blieben. Sie hatten einkalkuliert, dass einzelne Gruppen aufgehalten wurden: Mit Krankheit, ungünstigem Wetter und Hinterhalten musste man rechnen. Jeder Fürst hatte einen anderen Mann ausgewählt, der an seine Stelle treten konnte, falls er getötet oder gefangen genommen wurde. Die Falle, in der sie den gälischen König fangen wollten, war wie eine Klauenhand, die sich um Dalriada schloss. Jeder Finger musste an Ort und Stelle sein, jeder musste sich auf die anderen verlassen können, damit keine Lücke, keine Schwachstelle entstand, durch die Gabhran und seine Leute entkommen konnten. Brideis Anführer und ihre Männer waren mehrere Tagesreisen voneinander entfernt, und dennoch hing jede Gruppe von den anderen ab, damit die Falle sich am Ende erfolgreich schloss. Bridei hatte nun seit fünf Jahren ihre Freundschaftsbande gepflegt. Sie kannten einander gut. Sie waren wie Brüder, jeder stolz und unabhängig, jeder vollkommen er selbst, von dem wilden Fokel von Galany bis zum ruhigen Talorgen, vom Aufsehen erregenden Ged bis zum zurückhaltenden Morleo verfolgten sie alle das gleiche Ziel, das Ziel ihres Königs. Sie waren schon öfter von Dalriada geschlagen worden; die älteren Fürsten, Talorgen und Ged, hatten über die Jahre viele Kämpfe gesehen. Diesmal schien es anders zu sein. Auch wenn sie von Rückzügen und Notfallplänen sprachen, glühte das Licht eines sicheren Siegs in ihren Augen. Bridei schauderte. Es war manchmal beunruhigend, all das zu sehen und zu wissen, wie viel dabei von ihm abhing. Er war der König, von Göttern und Menschen auserwählt, Fortriu in den Sieg zu führen. Diese Männer, diese erfahrenen, umsichtigen Anführer glaubten, dass er es schaffen - 597 konnte. Sie glaubten, dass Bridei selbst den Unterschied zwischen einer weiteren mörderischen Niederlage und einen endgültigen Sieg gegen die Eindringlinge darstellte. Er hatte versucht, ihnen zu geben, was sie erwarteten. Er hatte den Plan so wasserdicht gemacht, wie es möglich war. Wenn er im Morgengrauen zum Flammenhüter und in der Abenddämmerung zur Leuchtenden betete, erwartete er, dass die Götter immer noch auf ihn herablächelten. Dennoch, es war eine schwere Last, und es gab Zeiten, in denen er sich so danach sehnte, zu Hause zu sein, dass sein Herz wehtat. Er wollte mit Tuala am Feuer sitzen und zusehen, wie sie mit langen, gleichmäßigen Strichen ihr Haar bürstete. Er wollte seinen Sohn in den Armen halten und Dereleis seltsames kleines Lächeln sehen, seine großen Augen, in denen so viele Geheimnisse standen. Er wünschte sich, Broichan wäre bei ihm, Broichan, dessen ernster Rat ihm so oft geholfen hatte, den Weg zur Lösung eines verstörenden Problems zu finden. Aber nun war er König, er ritt in den Krieg, und es würde lange dauern, bis er einen von ihnen wieder sah: sein Heim, seine Lieben. Es würde lange nach der Herbst-Tagundnachtgleiche sein, selbst wenn alles gut ging. Er fragte sich, ob sein Sohn sich an ihn erinnern würde. Sie lagerten in den Wäldern oberhalb der Fuchsfälle und warteten darauf, dass Fokel von Galany sich ihnen anschloss. Nachdem sie gegessen hatten - eine Suppe mit Fleisch von Hasen, Waldtauben und Igeln -, ging Bridei mit Breth durchs Lager und sprach mit so vielen Männern, wie er konnte. Sie brauchten jetzt keine kriegerischen Ansprachen; wenn sie ebenso empfanden wie er, würden sie lieber freundliche Worte und Trost hören. Er lauschte ihren Sorgen mit höflicher Aufmerksamkeit, widmete jedem von ihnen ein wenig Zeit und verließ sie, wie er hoffte, mit dem Wissen, dass der König ihnen vertraute. Es wurde spät, und die meisten Männer legten sich hin und wickelten sich in - 598 Decken oder Umhänge. Die Wachposten standen rings ums Lager, lautlose Schatten unter einem zunehmenden Mond. Bridei und Breth kehrten in den kleinen Unterstand zurück, der für den König vorbereitet worden war und vor dem Uven, einer der Männer aus Pitnochie, Wache stand. »Breth, du solltest jetzt schlafen«, sagte Bridei. »Überlass Uven die erste Wache. Ich muss meinen Frieden mit den Göttern machen, bevor ich mich hinlege. Es wird nicht lange dauern.« »Wenn du sicher bist.« Breth unterdrückte ein Gähnen. »Das bin ich. Leg dich hin. Sobald Fokel eintrifft, was durchaus schon morgen passieren könnte, werden wir alle weniger Ruhe haben. Uven, du weckst ihn, wenn es Zeit zum Wachwechsel ist.« »Ja, Herr.« Die Männer aus Pitnochie kannten Bridei, seit er ein Kind von vier Jahren gewesen war. Sie verhielten sich ihm gegenüber beinahe besitzergreifend, aber es mangelte ihnen nie an Respekt. Er hatte sich ihre Loyalität über
viele Jahre hinweg verdient. Bridei ging auf einen kleinen Hügel nicht weit vom Lager, einen Ort, an dem das Licht der Leuchtenden durch die weit ausgestreckten Arme der Eichen fiel und einen Fleck moosiger Steine und die herzförmigen Blätter einer Kriechpflanze beleuchtete, die sich entlang der Risse im Felsen zog. Er kniete zum Gebet nieder, und Uven, der großen Respekt vor dieser Verbindung zwischen König und Göttern hatte, hielt sich ein paar Schritte entfernt, den Speer in der Hand, mit wachsamem Blick. Für einen Mann, der von Druiden aufgezogen und mit der uralten Überlieferung genährt worden war, hielt er sein Gebet recht schlicht. Morgen, am nächsten Tag und viele Tage danach würden Männer auf beiden Seiten sterben, weil er beschlossen hatte, dass es Zeit zum Krieg war, Männer wie die guten Seelen, mit denen er heute Abend ge- 599 sprachen hatte. Als König war er es, dessen Überzeugung sie nach Westen zog, der dieses Leuchten der Begeisterung für ihre Aufgabe auf ihre schlichten, ehrlichen Gesichter brachte. Viele würden nicht zurückkehren. Es würde Frauen, Mütter, Kinder geben, deren Warten ein Leben lang dauern würde. Dann gab es jene, zu denen nur das gebrochene Wrack eines Mannes zurückkehren würde. Selbst wenn die Streitkräfte der Priteni einen großen und edlen Sieg erkämpften, würde das so sein, denn Krieg war grausam und unparteiisch. Im Toben einer Schlacht gab es keine guten und schlechten Männer, nur zwei Armeen aus Vätern, Söhnen und Brüdern, die ihr Leben aufs Spiel setzten, weil ihr Anführer sie davon überzeugt hatte, dass es richtig war. Er, Bridei, war dieser Anführer. Er bat die Leuchtende nicht, ihm die Last abzunehmen, die er auf den Schultern trug, eine Last, die mit jedem Tag des Konflikts schwerer werden würde. Er bat sie nur, ihn stark genug zu machen, um sie tragen zu können. Er bat sie nicht, seine Freunde, Breth, Talorgen, die Männer aus Pitnochie zu verschonen, nur darum, dass sie, wenn sie starben, sauber und für ein Ziel sterben würden. Was ihn selbst anging, so hoffte er, wieder nach Hause zum Weißen Hügel zurückkehren und seine Frau und seinen Sohn in den Armen halten zu können. Aber das gehörte nicht in sein Gebet. Er würde nichts für sich erbitten, wovon er wusste, dass es nicht jedem Mann in der Armee gewährt werden konnte. Er betete, dass der Weg, den er gewählt hatte, ein guter Weg war. Er empfahl Tuala der Obhut der Göttin und bat die Leuchtende, seinem kleinen Sohn schöne Träume zu schicken. Dann blieb er eine Weile schweigend knien, die Arme ausgestreckt, und versuchte, seinen Atem zu beruhigen. Etwas regte sich hinter ihm. Sofort war Bridei aufgesprungen und griff nach dem Messer. Einen Augenblick später stürzte Uven auf die Lichtung, den Speer bereit. »Es ist in Ordnung, Uven.« Bridei musste sich Mühe ge- 600 ben, mit ruhiger Stimme zu sprechen. »Es ist nur Hargest. Bei den Göttern, du kannst dich für einen so großen Mann wirklich lautlos bewegen!« »Was hast du dir dabei gedacht, dich hier so anzuschleichen?«, fragte Uven den jungen Mann wütend. »Einen Augenblick noch, und ich hätte dich erstochen.« »Ein Augenblick genügt für einen Attentäter, um zuzuschlagen«, stellte Hargest fest und zeigte auf das Messer in seinem Gürtel. »Herr, deine Leibwächter sind nicht gut genug.« »Du kleiner...« »Schon gut, Uven«, sagte Bridei. »Ich werde mit Hargest über seine Manieren sprechen, es ist nichts passiert. Wenn ich ihn selbst nach Broichans Ausbildung nicht hören konnte, dann konntest du es ganz bestimmt nicht. Unser Druide würde sich heute Abend für mich schämen. Komm, Hargest, ich bin hier fertig. Wir kehren ins Lager zurück und unterhalten uns.« Sie stellten sich an das kleine Feuer, das in der Nähe von Brideis Zelt brannte: Uven, angespannt vor Ärger und Unbehagen, Hargest mit verschränkten Armen und einer kriegerischen Miene, Bridei mit seiner gut eingeübten Ruhe. Hargest entschuldigte sich nicht. Vielleicht, dachte Bridei, war ihm nicht klar, wie nahe er einem Messer im Herzen gewesen war. Und wenn das der Fall war, hatte der Junge weniger gelernt, als es in seiner Zeit mit den Bewaffneten des Königs hätte passieren sollen. »Hargest«, sagte er leise, »es ist nicht klug, die Reaktionen meiner Leibwächter zu prüfen, indem du dich an mich anschleichst. Sie haben den Befehl zu töten, und ich bin gut ausgebildet, mich selbst zu verteidigen. Mein Pflegevater hat mich gelehrt, meine Ohren zu benutzen wie ein Tier. Wäre ich nicht tief in Meditation versunken gewesen, hätte ich dir meinen Dolch ins Herz gestoßen, bevor ich die Möglichkeit hatte herauszufinden, wer du bist.« - 601 »Dann sollten deine Wachen doppelt aufmerksam sein, wenn du betest.« »Gib Uven nicht die Schuld.« Bridei seufzte. »Er tat sein Bestes, ein Gleichgewicht zwischen Wachsamkeit und Diskretion zu finden. Meine Männer kennen mich gut, Hargest. Es gibt Zeiten, in denen ich zumindest eine Illusion von Einsamkeit brauche, und sei es nur um meines geistigen Friedens willen.« »Sie sagen, dass du die Götter liebst. Dass der Flammenhüter dich als seinen Lieblingssohn betrachtet.« »Ich hoffe, alle Männer hier lieben die Götter. Und was Lieblingssöhne angeht, kann ich nur hoffen, dass der Flammenhüter unser Unternehmen unterstützt und mich für würdig hält, es anzuführen. Und jetzt sag mir, warum du hier bist und nicht bei deiner Truppe? Warum hast du dich so angeschlichen? Ich nehme an, es ging
dir nicht nur darum, die Aufmerksamkeit auf die Schwäche meiner Verteidigung zu lenken.« »Ich wollte mit dir allein sprechen.« Hargests Stimme war ein Knurren, er warf einen Blick zu Uven. »Über Privatangelegenheiten.« »Unmöglich«, fauchte Uven. »Er hat Recht.« Bridei bemerkte die geballten Fäuste und die zusammengebissenen Zähne des Jungen. »Gerade im Hinblick auf das, was du uns eben gesagt hast, musst du deinen König für einen Dummkopf halten, wenn du glaubst, dass er seinen einzigen Leibwächter wegschickt und mitten in der Nacht im Wald ein Gespräch mit einem Mann führt, den er nur seit... wie lange? Seit einem Mond kennt? Nicht einmal so lange, glaube ich.« Unbehagliches Schweigen breitete sich aus. »Bitte, Herr.« Hargests Stimme war etwas ruhiger geworden. Er starrte seine Stiefel an. »Geh ein paar Schritte weiter, Uven. Und jetzt, Hargest, sag mir, um was es geht. Machst du dir Sorgen wegen des - 602 Kampfes? Habe ich die falsche Entscheidung getroffen, als ich dir erlaubte, dich meiner Armee anzuschließen?« »Nein, Herr.« Der junge Mann richtete sich gerade auf. »Damit ist alles in Ordnung. Ich werde meinen Platz einnehmen. Ich möchte über das sprechen, was danach geschieht.« »Danach? Danach gibt es einen weiteren Kampf, Hargest, und noch einen Marsch und dann noch einen Kampf. Darum geht es im Krieg. Es ist blutig und Ekel erregend. Wir tun es, weil wir es tun müssen. Glaub mir, Götter oder nicht, es ist überhaupt nicht nach meinem Geschmack. Wenn es vorbei ist und du das Glück hattest zu überleben, wirst du nach Sturmklippe zurückkehren und erkennen, dass jeder Tag des Friedens, den die Götter dir gewähren, ein kostbares Geschenk ist.« »Ich würde gern ... was, wenn ...« »Was immer es ist, sprich es aus, Hargest. Es ist spät, und ich muss zumindest so tun, als ob ich mich heute Nacht ausruhe, oder Breth wird sehr verärgert sein.« »Es besteht die Möglichkeit, dass einer deiner Leibwächter im Kampf getötet oder verwundet wird. Wenn das geschieht, könntest du ...« Bridei konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Die Übungen in Rabenbrunn haben einen besseren Krieger aus dir gemacht, die Männer sind voll des Lobes für dich. Aber es sieht aus, als hätten wir die Ausbildung in Diplomatie vergessen. Bist du so versessen darauf, mein Leibwächter zu werden? Sie sagen mir immer, es sei eine undankbare Aufgabe: wenig Schlaf, ununterbrochene Unruhe, keine Zeit für sich selbst. Und die Bezahlung ist nicht mehr als durchschnittlich, es sei denn, du hast etwas Besonderes zu bieten. Mein Hauptleibwächter, der jetzt im Norden ist, ist ein erfahrener Übersetzer und verfügt außerdem über andere Fähigkeiten. Was Breth angeht, so will ich die Götter nicht herausfordern, indem ich versuche, sein Schicksal im - 603 Kampf vorherzusagen. Ich habe mehrere andere Männer, an die ich mich wenden könnte, wie Uven hier. Männer, denen ich vertraue.« »Du kannst mir ebenfalls vertrauen, Herr.« Hargests Stimme war heiser vor Eifer. Er klang sehr jung. »Ich habe gesehen, was du für diese Männer bist: ein König, ein Anführer, ein Freund. Sie blicken zu dir auf wie zu ihrem älteren Bruder, ihrem Vater. Sie schauen in deine Augen und sehen den Blick des Flammenhüters. Du weißt, dass ich ein guter Kämpfer bin, Herr. Ich bin gesund, ich bin schnell. Ich bin furchtlos. Gib mir eine Chance, und ich werde beweisen, wie gut ich als Leibwächter sein kann. Ich werde besser sein als alle anderen.« »Das ist nicht notwendig«, sagte Bridei ruhig. »Ich bin mehr als zufrieden mit den Männern, die ich habe. Sie haben ihren Wert über lange Zeit hinweg bewiesen - im Fall von Uven hier beinahe ein Leben lang.« »Jeder muss irgendwo anfangen, Herr. Lass es mich versuchen, bitte. Du wirst es nicht bedauern.« Die Stimme des Jungen bebte vor Gefühlen. So jung, so voller Leidenschaft. »Eine der geforderten Eigenschaften ist die Fähigkeit, auch in schwierigsten Situationen vollkommen ruhig zu bleiben«, sagte Bridei. »Dann prüfe mich.« »Du bist mutig, so viel ist klar. Zu mutig, würden meine Berater mir sagen.« »Bitte, Herr. Ich werde es dir beweisen. Das schwöre ich bei der Männlichkeit des Flammenhüters.« »Warte, bis wir Galanys Höhe erreichen«, sagte Bridei und fragte sich, ob diese explosive Ansammlung von Jugend, Ehrgeiz und Heldenverehrung am ersten Tag einer wirklichen Schlacht gebrochen oder überleben würde, um die Zukunft zu erreichen, nach der er sich offenbar so sehr sehnte. »Wir werden sehen, wie du dich dort schlägst, und vielleicht werde ich dir dann eine Gelegenheit geben. Du - 604 wirst allerdings damit leben müssen, dass Breth darüber nicht erfreut sein wird.« »Ja, Herr.« Die Augen des jungen Mannes strahlten vor Hoffnung, und ein Grinsen reinen Entzückens trat auf seine Lippen und ersetzte für einen Augenblick die übliche Miene schmollender Feindseligkeit. »Danke, Herr. Ich schwöre, du wirst es nicht bereuen ...« »Lass uns zunächst einmal Galany überleben.« Bridei war plötzlich müde. »Ich unterschätze absolut nicht, was du mir anbietest, Hargest, das solltest du wissen. Ich respektiere deinen Mut und deine Offenheit, und ich hoffe, der Flammenhüter wird seine Hand über dich halten, wenn wir in den Krieg ziehen. Du musst ein gewisses Maß
an Takt lernen, wenn du mit meinen Männern umgehst. Und du solltest dich auch daran erinnern, dass ich König von Fortriu bin. Breth, Uven und die anderen erlauben sich gewisse Vertraulichkeiten, wenn sie mit mir allein sprechen. Sie haben sich das Recht dazu in vielen Jahren treuen Dienstes erworben. Vielleicht wirst auch du dir eines Tages dieses Recht erwerben. Und jetzt geh schlafen. Möge die Leuchtende dir schöne Träume schenken.« »Gute Nacht, Herr.« Hargest deutete eine Verbeugung an. Als er sich wieder aufrichtete, war sein schiefes Grinsen das eines schelmischen Sohns, der sich über einen Scherz freut, den ein strenger, aber liebevoller Vater gemacht hat. Bridei konnte einfach nicht anders, er musste das Lächeln erwidern. In der langen Abenddämmerung des Sommers schlugen Faolan und Ana ein Lager am Rand eines Kiefernwaldes auf, hoch über dem Tal eines einsamen Sees. Sie hatten zuvor am Tag ein paar Adler in der Luft gesehen, auf dem Weg zu den kargen Gipfeln, die hinter der Hochebene aufstiegen, und sie sagte zu Faolan, das müsse ein gutes Zeichen sein. »Es ist Brideis Königszeichen, und zwei von ihnen sind - 605 eine besonders viel versprechende Botschaft der Götter«, sagte sie, als sie Holz für ihr kleines Feuer sammelten und sich um das abendliche Geschenk des Falken kümmerten, einen fetten Vogel von einer Art, die keiner von ihnen kannte. Kreuzschnabel und Krähe schauten ruhig zu, wie Ana das Wild rupfte und ausnahm; ein weiterer Beweis dafür, dachte sie, wie sehr sie sich von anderen Vögeln unterschieden. »Mhm«, brummte Faolan und schlug mit seinem Messer auf dem Feuerstein Funken. »Ich würde mich besser fühlen, wenn ich genau wüsste, wo wir sind und wie weit wir noch gehen müssen. Wenn die Götter uns wirklich helfen wollen, könnten sie uns das vielleicht sagen. Unser Führer dort führt uns in einem seltsamen Tanz; es ist beinahe so, als wollte er nicht, dass wir nach Hause gelangen. Vielleicht ist es Zeit, uns seiner Dienste zu entledigen.« »Das wäre keine besonders gute Idee, wenn du nicht weißt, wo wir sind, Faolan. Und außerdem...« Ana hielt inne. Er war nicht besonders gut gelaunt, und sie wusste, dass es ihn ärgerte, wenn sie von Drustan sprach. Drustan... seine Abwesenheit tat mit jedem Schritt, den sie sich von Dornwald entfernte, mehr weh. Die Zeit heilte diese Wunde offenbar nicht. »Außerdem sind die Vögel alles, was dir von ihm geblieben ist, ich weiß, ich weiß.« Faolan blies auf die Zündspäne und begann, Zweige darauf zu legen. »Aber sie werden nicht ewig bei uns bleiben. Und sie helfen nicht viel; wir sind hier zweifellos zu weit im Norden und werden uns sicher verirren, wenn wir auf dem Weg zur Küste durch diesen Wald ziehen müssen. Ich denke ernsthaft daran, den Weg selbst zu suchen und sie gehen zu lassen.« »Wie würdest du sie dazu bringen, davonzufliegen? Sie gehorchen doch sicher nur Drustan.« »Ich würde ihnen sagen, dass sie gehen sollen. Oder noch besser, du würdest es ihnen sagen. Denk doch daran, wie - 606 der Falke auf deinen Handschuh fliegt, so gehorsam wie ein gut dressierter Beizvogel. Befiehl ihm zu gehen, und ich wette, die drei würden verschwinden.« Ana sagte nichts. Die Beute des Falken, auf einen Stock gespießt, war bereit, gebraten zu werden. Anas Hände waren voller Blut, Eingeweide und Federn. Wenn sie je zum Weißen Hügel zurückkehrte, würde sie über Fähigkeiten verfügen, von denen sie nie erwartet hätte, dass sie sie entwickeln musste. Was ihre drei Wächter anging, so waren sie ihr sehr vertraut geworden, und jeder Tag war geprägt von dem eleganten Flug vom Handschuh zum Himmel, von der sanften Berührung von Daunenfedern an ihrer Wange oder ihren Händen, von den leisen Geräuschen, die die Vögel achts machten, und dem geheimnisvollen Wissen in ihren wilden, klaren Augen. Ana wusste, ohne sie würde ihr Leben unvollständig sein. Sie waren ihre Begleiter und Freunde. Falls der Falke sie im Kreis herumführte, hatte er einen Grund dafür. Vielleicht gab es auf einem geraderen Weg größere Gefahren, vielleicht gab es keinen kürzeren Weg als den, den sie nicht nehmen konnten, den Weg über die Furt. Das Land der Caitt war so schwierig, wie man überall hörte, es gab tiefe Täler und hoch aufragende Berge, dichte, dunkle Wälder und weite, windgepeitschte Seen. Es war gewaltig und überwiegend unbewohnt. Hier konnte das Echo eines Hilfeschreis für immer unbeachtet verhallen. Hier leben und starben Hirsch, Eber und Wolf, ohne je so etwas die Angst vor Jägern zu erleben. Wenn die Hand irgendeiner Gottheit sich über diesen großen, wilden Ort erstreckte, dachte Ana, dann war es sicher die der Knochenmuter, dieser Göttin der Träume und Hüterin der uralten Erde. Sie schauderte und rückte dichter ans Feuer. Die Knochenmutter hütete das Portal zwischen dieser Welt und der nächsten; ihre Entscheidungen legten fest, wie lange ein Leen dauerte. In diesem weiten, einsamen Nordland konnte die Göttin sie und Faolan so schnell zum Erlöschen bringen - 607 wie zwei Kerzen neben einem Bett. Sie würden einfach verschwinden, ihr Tod nie bemerkt, ihre Leichen nie gefunden werden. Ihr Fleisch würde sich dunkel färben und schließlich unter diesen Bäumen in Humus verwandeln, und Vögel würden ihre Knochen verstreuen. »Was ist denn?«, fragte Faolan und sah sie an, als sie den aufgespießten Vogel über dem Feuer balancierte. »Nichts«, murmelte Ana. In der Ferne erklang ein Schrei im Wald, ein Gruß und eine Herausforderung: die unheimliche Musik der Wölfe. In den letzten Tagen hatte Ana hin und wieder das Gefühl gehabt, sie würden verfolgt, beobachtet. Sie hatte noch keine Schritte gehört und kein Knistern im Unterholz, aber sie hatte es trotzdem gespürt. Sie hoffte, Faolan würde eine seiner tröstlichen Bemerkungen machen, wie zum Beispiel: »Sie
sind weiter weg, als es sich anhört«, aber er schwieg. In diesen Sommernächten herrschte an den Hügeln ein trübes, kühles Licht, das für gewöhnlich bis Mitternacht anhielt, und es war nur kurze Zeit wirklich dunkel. Für gewöhnlich war Ana nach einem Tag des Wanderns so erschöpft, dass sie einschlief, sobald sie ein Feuer gemacht und gegessen hatten. Die Unbequemlichkeit eines Betts auf Steinen, Erde oder Laub genügte nicht mehr, sie von dem tiefen Eintauchen in den Brunnen des Schlafs abzuhalten. Sie wusste, dass sie jetzt viel dünner war; sie spürte den Druck des festen Bodens an Knien und Ellbogen, an Hüften und Schultern, die das schützende Polster gesunden Fleischs verloren hatten, und sie war froh, dass es hier keine Spiegel gab. Bei Faolan bemerkte sie Ähnliches. Seine Wangen waren hohl, ihm war ein dunkler Bart gewachsen, und er wirkte gereizt und gefährlich, sah aus wie ein Mann, der fürchtet, die Kontrolle über eine Situation zu verlieren. An diesem Abend konnten sie nicht schlafen. Nachdem sie die Knochen ihres mageren Abendessens abgenagt hatten, saßen sie dicht an ihrem Feuer und lauschten dem Heu- 608 len. Es lag ein Muster darin: ein Ruf, eine Antwort. Ein Befehl, dann die Zustimmung. Das Rudel kam näher. Der Mond hing tief am Himmel, beinahe voll, eine bleiche Präsenz, die man in dem kalten Graublau der Sommernacht eher erraten als sehen konnte. Die Kiefern schienen höher, dicker und Unheil verkündender als jeder Baum, den Ana zuvor gesehen hatte; der Raum unter ihnen bestand aus geheimen Senken, klaffenden Mäulern, bewohnt von unbekannten Wesen, die bereit waren, jeden Eindringling zu verschlingen. Ana blickte auf zu den Vögeln. Der Falke saß hoch oben, er war in dieser Nacht ruhelos, bewegte sich auf dem Ast hin und her, zwei Augen, dunkles Gefieder. Krähe und Kreuzschnabel hatten sich aneinander gekuschelt wie zwei Küken. Vom tiefen Wald glaubte sie Rascheln und Knurren zu hören, die Schritte vieler Pfoten. »Wir sollten ein größeres Feuer haben.« Faolans Ton war lobenswert fest. »Wir brauchen genug Holz, damit es bis zum ersten Licht brennt. Du wirst wach bleiben und mir helfen müssen, Wache zu halten.« Ohne ein Wort stand sie auf und half ihm, Brennholz zu sammeln, wagte sich aber nicht zu dicht an den Waldrand. Als sie sich bewegten, brachen Zweige unter ihren Füßen und Unterholz raschelte und der Wald schien plötzlich zu schweigen, ebenso wie die Wölfe. Als Ana und Faolan ans Feuer zurückkehrten, begannen die Tiere wieder mit ihrem Jagdlied, und nun waren sie näher. »Was, wenn sie ...« Anas Zähne klapperten und sie biss sie zusammen, um damit aufhören zu können. »Das Feuer wird sie zurückhalten.« »Aber wenn sie kommen, wenn sie angreifen?« »Messer in einer Hand, Feuer in der anderen - nimm ein Scheit, einen Ast wie den hier...« Er griff nach einem brennenden Scheit, packte das unverbrannte Ende. Ana sah, dass er das Feuer in einer Weise aufgebaut hatte, dass es ihnen einen Vorrat solcher Äste lieferte. Er erwartete also - 609 einen Angriff, so ruhig er sich auch gab. Er glaubte, dass die Wölfe heute Nacht kommen würden. »Wir könnten auf einen Baum steigen«, sagte sie, und das war nicht unbedingt ein Scherz. Faolan betrachtete die hohen Kiefern, an deren Stämmen es bis weit über ihre Köpfe keine nützlichen Äste gab. »So, wie dieser Wald aussieht«, sagte er, »gebe ich mich lieber mit den Wölfen ab. Ana?« »Was?« »Etwas bewegt sich dort unter den Bäumen hinter dir. Bleib ruhig und nimm dir ein Feuerscheit; wenn du dich umdrehst, hältst du es vor dich. Vergiss nicht, es ist die Barriere zwischen dir und dem Wolf. Lass dich nicht verleiten zu laufen. Bleib mit dem Rücken zum Lagerfeuer. Benutze das Messer nicht, ehe du keine andere Wahl hast. Bist du bereit?« Bereit? Wie konnte man je für so etwas bereit sein? »Ja«, sagte sie, drehte sich um und sah sie. Sie bewegten sich verstohlen unter den Bäumen, keine zwanzig Schritte entfernt, und man konnte ihre Augen als leuchtende Punkte im Feuerlicht erkennen, während ihre Gestalten sich mit der vielschichtigen Dunkelheit des nächtlichen Waldes mischten, hundert Schattierungen von Grau. Ana versuchte, sie zu zählen und ihr wurde übel vor Angst, als sie feststellte, dass es zu viele waren, die sich immer wieder hin und her bewegten, aneinander vorbeigingen, sich zu Gruppen zusammenfanden und sich wieder trennten, wie Tänzer in einer eleganten Parade von langgliedriger, scharfzähniger Anmut. Der Falke stieß in den Ästen über ihnen einen lauten Schrei aus, und die Wölfe zogen sich einen Schritt oder zwei zurück, dann bewegten sie sich lautlos und erwartungsvoll wieder nach vorn. Der Falke stieß zu, eine plötzliche Bewegung, und fegte eine Handspanne vor den verblüfften Augen des ersten Wolfs vorbei, die Krallen ausgefahren. Der Wolf schnappte zu; Federn flogen. Der - 610 Vogel flatterte auf und außer Reichweite, dann stieß er wieder herab. »Sie kommen auch von hinter uns.« Faolan stand an seiner Seite, ebenfalls einen brennenden Ast in der Hand. »Vergiss nicht...« »Mit dem Rücken zum Feuer zu bleiben«, murmelte Ana, während die Angst die Klauen in ihre Eingeweide schlug. Einen Augenblick später rannte eine der lang gestreckten grauen Gestalten in einer Finte auf sie zu, und Ana stieß den brennenden Ast nach ihr. Das Wissen, dass sie tatsächlich um ihr Leben kämpfen musste, lag im Widerstreit mit der Unwirklichkeit, der albtraumhaften Qualität dieser Szene. Der Vogel stieß erneut zu, und diesmal fanden seine Klauen ihr Ziel. Ein Schmerzensschrei erklang, und der Wolf, der sie angegriffen hatte, fiel zurück. Sie konnte Faolan nicht sehen, aber hinter sich, auf der anderen Seite des Feuers, hörte sie ihn stolpern und
fluchen, und dann begann er zu schreien, als könnte er die Tiere mit seiner Stimme in Schach halten. Ein anderer Wolf schoss auf sie zu, Zähne schnappten, und sie schwang den brennenden Ast, kämpfte um ihr Gleichgewicht und um ihre Position, damit die Angreifer nicht zwischen sie und das Feuer schlüpfen konnten. Der Falke war aus ihrem Blickfeld verschwunden. Krähe und Kreuzschnabel waren nirgendwo zu sehen. Ana schrie etwas, irgendetwas, stach mit dem Feuerstock zu und hörte, wie jämmerlich und schrill und vollkommen wirkungslos ihre Stimme klang. Es war wie das leise Quieken einer Maus, bevor die Eule sie verschlang, wie der Schrei eines Kaninchens, wenn sich die Kiefer des Jagdhundes um den zerbrechlichen Schädel schlössen. Umdrehen, zustoßen, schreien; ausweichen, zustoßen, schreien. Erst war es nur einer, dann waren es zwei, dann kamen drei abwechselnd auf sie zu, schneller und schneller, Schnappen, ein kurzer Lauf, Beißen, Springen ... Ihr Götter, wenn einer von ihnen sie an der Kehle erwischte, wäre alles in einem einzigen Augenblick vorüber. - 611 Der intensive Gestank der Tiere umgab sie auf allen Seiten, ihr Knurren füllte ihre Ohren. Ana konnte das Dröhnen des Herzschlags in jedem Teil ihres Körpers spüren, ihre Knie waren so weich wie Wasser. Ausweichen, umdrehen, zustoßen, schreien... Ein lautes Brüllen, dann war Faolan an ihrer Seite, riss seinen eigenen Feuerbrand herum, und drei Wölfe wichen zurück, als die Spur der Flamme sie verbrannte. Dann war er wieder weg, und Ana hörte erneut die Geräusche seines eigenen Spiels von Angriff und Verteidigung hinter sich. Sie holte keuchend und würgend Luft und veränderte ihren Griff an dem Ast. Er verbrannte schnell; bald würde sie irgendwie eine Möglichkeit finden müssen, sich einen anderen zu nehmen. Wieder kamen die drei Wölfe näher, diesmal langsam, jede Bewegung ein Meisterstück kontrollierter Spannung. Ihre Stimmen vereinten sich zu einem unheimlichen fauchenden Knurren. Faolan gab ein Geräusch von sich, einen erstickten Fluch, und sie wusste sofort, dass er verletzt war. Sie konnte sich nicht umdrehen, sie konnte nicht einmal hinsehen, ganz davon zu schweigen ihm zu helfen. Sie stieß mit der Fackel nach einem Wolf, dann dem nächsten, dann riss sie wild das Messer nach vorn. Am äußeren Rand des Kreises waren jetzt immer mehr Wölfe zu sehen, die Falle schloss sich. Ana konnte ihren eigenen Atem hören, flach, keuchend, nicht mehr stark genug, einen trotzigen Schrei herauszubringen. Nicht mehr gleichmäßig genug für ein letztes verzweifeltes Gebet. Sie ließ sich auf ein Knie nieder, das Messer nach außen gerichtet, und riss einen neuen Ast aus dem Feuer. Der Leitwolf spannte sich an, bereit zu springen. »Drustan! Komm her und hilf uns!«, brüllte Faolan, bewegte sich wieder in ihr Blickfeld und warf etwas - einen Stein? - nach ihren Angreifern. »Sei ein Mann!« Es gab keine Zeit, darüber nachzudenken, wie seltsam das war. Er hatte ihr den Augenblick Zeit gegeben, den sie - 612 brauchte, um aufzustehen und sich den Wölfen mit neuem Feuer zu stellen. Sie wartete, die Fackel vor sich, während sie auswichen und wieder neu Position bezogen. »Drustan!« Faolans Stimme war ein mächtiger Schrei tief aus dem Bauch. »Tu es! Mach schon! Komm her und hilf uns, oder wir sterben beide! Welchen Preis verlangst du für deine Skrupel, du Narr?« Und dann, o dann ... plötzlich erschien wie aus dem Nichts eine dritte Gestalt, fuhr herum, drehte sich, einen brennenden Ast in jeder Hand, und verblüffte das Wolfsrudel mit seinen raschen, fließenden Bewegungen zu staunendem Starren, ein hoch gewachsener, breitschultriger Mann mit einer Mähne von Haar so wild und rot wie das Feuer, das er in seinen Händen hielt. Faolans Worte hatten ihn aus dem Nichts heraufbeschworen. Anas Herz hätte beinahe ausgesetzt, der Atem blieb ihr in der Kehle hängen. Drustan war hier. Er war zurückgekehrt, und ihre Welt war neu erstanden. Aber selbst er konnte die Tiere nicht lange aufhalten. Wieder begannen sie sie zu umkreisen, die Zähne gefletscht, die Stimmen ein drohendes Knurren. Mit drei Personen am Feuer war es jedoch viel schwieriger für die Wölfe, ein Ziel zu finden, zu täuschen und zuzuschlagen. Gegenüber diesem wirbelnden Feuer, den wechselnden Gestalten im flackernden Licht, zogen die Jäger sich zurück, einige schlichen den Hügel hinauf, um sich neben einem Felsvorsprung zu ducken, die anderen begaben sich in den Schutz der Kiefern, wo sie sich in einer langen Reihe ausstreckten und warteten. »Nimm ein neues Scheit.« Faolans Stimme war angespannt. Er war offenbar sowohl am Bein als auch an der Schulter verwundet. »Sie werden bald zurückkehren.« Er warf einen Blick zu Drustan, der ein Stück entfernt vornüber gebeugt stand und versuchte, zu Atem zu kommen. »Du hast dir Zeit gelassen«, sagte er. - 613 Anas Herz war so voll, dass sie keinen Platz für Angst hatte. Es gab jetzt keine Zeit für Fragen: Wo war er gewesen? Woher hatte Faolan gewusst, dass er sich in der Nähe aufhielt? Drustan war am Leben, und er war hier. Nichts anderes zählte. Sie trat an seine Seite, und er richtete sich auf. Sie streckte die Hand aus, plötzlich seltsam schüchtern, und berührte seine Wange. Drustan zog ihre Finger an seine Lippen, nur einen Augenblick, dann ließ er sie los und trat zurück. Im unsicheren Feuerlicht war es nicht möglich, ihren Verdacht zu bestätigen, dass er errötete. »Mehr Holz«, fauchte Faolan. »Wir brauchen ein größeres Feuer. Wenn du irgendetwas finden kannst, das brennt, bring es her. Ana, bleib am Feuer, mach dich nicht zum Ziel.« »Ich möchte helfen.«
»Ruhe dich aus, solange du kannst, Ana«, sagte Drustan. Ihr Name auf seinen Lippen war der beste Balsam für ihr Herz. Sie sah ihn an und lächelte. Er verzog den Mund zu einer seltsam zögernden Reaktion, bevor er sich abwandte, um Faolan bei der Suche nach Brennholz zu helfen. Die beiden Männer konnten gemeinsam einen schweren Kiefernast zum Feuer ziehen, er würde lange brennen. Sie legten mehr kleinere Äste bereit, die sie als Fackeln nutzen konnten; dann räumten sie alle erdenklichen Hindernisse aus dem Bereich um das Feuer, damit keiner von ihnen stolpern und dadurch verwundbar wurde. Wölfe konzentrierten sich auf die Schwächsten; Ana wusste ohne jeden Zweifel, dass sie das war. »Jetzt warten wir«, sagte Faolan und kehrte zu ihr zurück. Er hatte eine Hand auf die Schulter gedrückt und versuchte, sein Hinken zu verbergen. »Faolan, du bist verwundet! Lass mich sehen ...« »Es ist nur ein Kratzer. Er wird mich nicht umbringen. Aber sie haben Blut gewittert. Das wird dafür sorgen, dass sie hier bleiben, bis es hell wird, Feuer oder nicht. Bleibt ein- 614 fach ruhig und aufmerksam. Nun, da unser Freund hier sich entschieden hat, uns mit seiner Gegenwart zu beglücken, haben wir die Chance, bis zum Morgen zu überleben.« Sein Verhalten war seltsam, beinahe beleidigend. »Du hast ihn selbst hergerufen«, sagte Ana. »Ich kann sie sehen«, murmelte Drustan. »Ana, ich will nicht, dass du versuchst zu kämpfen. Bleib hinter mir, ich werde dafür sorgen, dass sie dir nichts tun ...« »Gib ihr keine Befehle.« Faolans Stimme war kalt wie Stein. »Sie kann uns helfen, lass sie es tun.« Es wurde still. Ana spähte im Halbdunkel den Hügel hinab. Die schattenhaften Gestalten waren näher gekommen; sie konnte das rote Glitzern der Flammen in ihren Augen sehen. Die Angst kehrte zurück. Es war noch lange bis zum Morgen. »Bitte streitet euch nicht«, sagte sie leise und bückte sich, um einen weiteren Stock aus dem Feuer zu nehmen. Der Rudelführer stürzte knurrend vorwärts, und alles begann von vorn. Sie verlor jedes Gefühl für die Zeit. Es fühlte sich an wie endlos: überall nur Knurren und Winseln, dazu die Flüche und das Schreien der beiden Männer, ihre eigenen jämmerlichen Versuche, die Angreifer mit ihrer heiseren, atemlos gewordenen Stimme abzuschrecken. Das schwere, splittrige Gefühl des brennenden Stocks in ihrer Hand, die Hitze, die ihr Gesicht versengte, der Anblick von Drustan ganz in ihrer Nähe, eine Fackel in jeder Hand, die er nun hoch warf und wieder auffing in einer wirbelnden Vorstellung, die die Wölfe rings um ihn her zu betäuben schien. Von den dreien schien er am wenigsten gefährdet zu sein. Ana bewegte sich auf Faolans Seite des Feuers. Drei Wölfe griffen ihn immer wieder an, lange Schnauzen, gefletschte Zähne, sabbernde Zungen und angespannte, erwartungsvolle Körper. Faolan stand ungeschickt da, schonte ein Bein und bewegte seine Fackel mit beiden Händen vor sich her. Die Wölfe beobachteten ihn genau. Sie schienen den geeigneten Augenblick berechnen zu wollen. Ana stieß - 615 ihre eigene Fackel vorwärts, blinzelte gegen einen Funkenschauer. Der Rauch biss ihr in die Nase, ihre Augen brannten, sie konnte nicht mehr klar sehen. »Lasst ihn in Ruhe!«, schrie sie den Angreifern zu, »Verschwindet! Weg mit euch!«, und fegte den Feuerstock hin und her. Die Blicke der Wölfe wanderten zu ihr, konzentriert, nachdenklich und vollkommen mitleidlos. »Du solltest lieber tun, was er sagt«, Faolans Stimme war ein Keuchen. »Lass ihn dich verteidigen... beste Chance ...« »Du bist verwundet«, murmelte Ana, »du kannst kaum aufrecht stehen.« »Geh ... andere Seite ... Drustan ...« »Hör auf!«, fauchte sie. »Wir sind Freunde, oder? Gefährten. Also, mach weiter. Die Sonne muss irgendwann aufgehen.« Eine Weile sah es so aus, als könnten sie es vielleicht schaffen, als könnten sie weiterkämpfen, bis die Morgendämmerung sie rettete. Manchmal fielen die Wölfe zurück, und die Verteidiger am Feuer erhielten eine Chance, Luft zu holen, den großen Ast weiter ins Feuer zu schieben, eine neue Fackel zu packen. Aber diese kurzen Ruhezeiten wurden kürzer und weniger. Faolan musste sich mehr und mehr anstrengen, sein Atem war schwer, sein verwundetes Bein jedes Mal weniger stetig, wenn eine neue Welle von Angreifern auf sie zustürzte. Drustan sah müde aus, er war kreidebleich im Mondlicht, seine Augen wirkten eingesunken. Ana spürte die Erschöpfung in jeder Faser ihres Körpers. Es war anstrengend zu atmen, schwer aufzustehen, eine Prüfung, die Kraft aufzubringen, auch nur einen Ast aus dem Feuer zu ziehen. Hinter dem Kreis aus Licht, den ihr kleines Feuer warf, schien es jedes Mal, wenn sie hinsah, noch mehr Wölfe zu geben. Wurde der Himmel heller? Sie versuchte sich einzureden, dass sie eine Spur von wärmerer Farbe in dem Schiefergrau der Sommernacht bemerkte. Aber sie wusste, dass das nicht stimmte. - 616 Sie erwarteten einen weiteren Angriff, als der Regen zu fallen begann, der leichte Nieselregen, der selbst im Sommer ein- oder zweimal täglich auf diese Hügel niederging. Das Feuer fing an zu zischen. Im Wald wurden die Vögel ruhelos. Die Wölfe kamen wieder näher, eine hungrige, graue Flut. So zu sterben, würde wahrhaft grausam sein. Die Götter spielten ein seltsames Spiel mit ihnen. Warum hatten sie und Faolan das Wasser überlebt, warum war Drustan dem Griff seines Bruders entflohen, warum hatte man ihnen gestattet, einander zu
lieben, wenn sie nun doch blutig und unter Schmerzen sterben und keinen anderen Zweck erfüllen würden, als Futter für ein Tier darzustellen? »Das kann so nicht weitergehen«, murmelte Drustan und nahm eine neue Fackel aus dem Feuer. »Es muss eine andere Möglichkeit geben.« »Wenn wir drei fliegen könnten«, sagte Faolan verbittert, als der Regen intensiver wurde, »gäbe es zweifellos eine. Aber da das nicht der Fall ist, müssen wir so gut weiterkämpfen, wie wir können.« Drustan sah ihn an. »Wir können nicht weitermachen, wenn das Feuer ausgeht«, sagte er. »Ich werde etwas anderes versuchen. Gib mir deinen Feuerstock.« »Was ...« Bevor Faolan mehr sagen konnte, hatte Drustan ihm den Feuerbrand aus der Hand gerissen und ging allein davon, hinunter auf den Wald zu, direkt in den Ring von Wölfen. »Nein!«, schrie Ana, wollte ihm folgen und wurde von Faolan am Arm zurückgerissen. »Tu das nicht«, zischte der Gäle. »Wenn er sich umbringen lassen will, gut, aber er wird dich nicht mitnehmen.« Sie konnte ihr eigenes wortloses Schluchzen hören, sie spürte Faolans festen Griff um ihren Arm, als sich die Wölfe auf allen Seiten zu bewegen begannen. Sie folgten dem rothaarigen Mann, als er auf die Bäume zuging und dabei geschickt mit dem Feuer jonglierte. Was hatte er vor? Er - 617 würde doch sicher nicht sein eigenes Leben aufs Spiel setzen, damit sie und Faolan in Sicherheit wären, wie Deord es getan hatte? Was könnte einen Mann zu solch unglaublichem Mut veranlassen? Sie sahen, wie Drustans hoch gewachsene Gestalt beinahe mit dem Schatten der Kiefern verschwamm. Der Regen löschte das Lagerfeuer langsam, aber seine Fackeln brannten immer noch, während sie sich hoben und senkten, ihr Muster nun ein Rad, dann ein Netz, dann eine Blüte, verwirrend und seltsam. Die Wölfe hatten sich um ihn gesammelt; Ana konnte ihr Knurren hören, sie wartete darauf, dass der erste zusprang, die anderen folgten. Sie wartete darauf, dass der Mann, den sie liebte, vor ihren Augen zerrissen wurde. Wenn die Wölfe mit ihm fertig waren, konnten sie auch sie nehmen, sie würde nicht mehr leben wollen. Die Wölfe spürten, was geschah, bevor Ana es hörte oder sah. Das Knurren wurde zu einem dünnen Winseln, die Tiere drückten sich an den Boden, legten die Ohren an. Ein unheimliches Geräusch erklang aus dem Wald, ein gewaltiges Rascheln, als wollten die Bäume selbst sich aus dem Boden erheben und vorwärts marschieren. Einen Augenblick später kamen aus den dunklen Kiefern Vögel; ein großer, dichter Schwärm, mehr, als Ana je zuvor an einem Ort gesehen hatte, selbst wenn im Frühjahr die Gänse in das Feuchtgebiet bei Banmerren zurückkehrten. Sie waren eine wirbelnde Wolke, ein Chor schriller Stimmen, das gefährliche Fegen eines magischen Umhangs. Sie schössen dicht über die Köpfe der geduckten Wölfe, bildeten einen fließenden Kreis, in dessen Mitte der Mann mit dem Feuer in den Händen stand, der Mann, der irgendwie diese seltsame Armee aus Eulen und Schwalben, Braunellen und Zeisigen, Drosseln und Rotschwänzchen zu seiner Hilfe heraufbeschworen hatte. Faolan löste seinen Schraubstockgriff und legte den Arm um Anas Schulter, vielleicht, um sie zu trösten, vielleicht auch nur, damit er stehen bleiben konnte. Sie sah verblüfft - 618 zu, wie die Vögel noch einmal in ihrem Kreis umherfegten und dann wieder im tiefen Wald verschwanden. Dann kehrte Drustan vom Waldrand zurück, seine Fackeln qualmten im Regen. Von den Wölfen gab es keine Spur mehr. Ana schaute in die andere Richtung, den Hügel hinauf zu den Fels vorsprängen, wo sich mehrere von ihnen niedergelassen hatten. Auch dort rührte sich nichts mehr, die Stille war absolut. Und dann kamen so plötzlich, wie die Sonne aus aufreißenden Wolken späht, zwei kleine Gestalten aus der Nacht und landeten auf Anas Schultern: der Kreuzschnabel auf der einen, die Krähe auf der anderen Seite. Sie wartete auf den Falken, aber er erschien nicht, nur Drustan, der zu ihrem sterbenden Feuer zurückkehrte, mit Regentropfen auf dem rotbraunen Haar. Man sah seinen Bewegungen an, wie vollkommen erschöpft er war. »Sie sind weg«, murmelte er, und einen Augenblick später setzte er sich auf den Boden und schlug die Hände vors Gesicht. »Drustan! Bist du verletzt?« »Nein, Ana, ich brauche nur ein bisschen Zeit, das ist alles.« Der Regen ließ langsam nach, und der Kiefernast schwelte noch. Was sollte sie als Erstes tun: sich um Faolans Wunde kümmern, versuchen, das Feuer zu retten, wachsam bleiben, falls die Wölfe zurückkamen? Oder sollte sie beginnen, Drustan all die Fragen zu stellen, die sich in ihrem Kopf überschlugen, oder ihn einfach umarmen und ihm dafür danken, dass er ihnen das Leben gerettet hatte? »Das Feuer«, murmelte Faolan, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Er nahm seinen Arm von ihren Schultern und versuchte, den Ast herumzudrehen, die glühenden Kohlen zu schüren, die im Regen zischelten. Ana hörte sein schmerzerfülltes Keuchen, als er sich hinhockte, das Feuerlicht fiel auf die Blutflecken auf seiner zerrissenen Kleidung. - 619 »Haben sie dich gebissen? Wie schlimm ist es? Wir sollten versuchen, die Wunden zu säubern und sie zu verbinden ...« »Es ist nichts.«
»Zeig es mir.« »Erst das Feuer«, sagte Faolan. »Wenn es ausgeht, werden sie zurückkehren.« Sie versuchten, das Herz ihres schwindenden Feuers vor dem schlimmsten Regen zu schützen. Nach kurzer Zeit stand Drustan auf und holte mehr Holz vom Hügel, vom Waldrand, wo es trockener war. Diesmal versuchte Ana nicht, ihn aufzuhalten, sondern sah ihm nur staunend hinterher. »Sie haben nicht einmal versucht ihn anzugreifen«, sagte sie. »Er kann gut mit Feuer umgehen, das muss ich ihm lassen.« In Faolans Tonfall lag eine säuerliche Note, sie konnte das nicht vollkommen der Tatsache zuschreiben, dass er Schmerzen hatte. »Du hast ihn gerufen«, sagte Ana. »Ich habe dich gehört. Du hast ihn gerufen, und plötzlich war er hier. Wie konnte das sein? Wo ist er hergekommen?« »Ich bin nicht derjenige, den du fragen solltest.« Faolan hatte sein Hosenbein aufgerollt und betrachtete die Wunde in dem schlechten Licht; an der Innenseite seines Oberschenkels war ein blauer Fleck zu sehen, zusammen mit einer Masse von trocknendem Blut. Ana wurde übel. Hundebisse waren stets gefährliche Wunden, selbst wenn man sauberes Wasser und Heilkräuter hatte. Oft drangen schlechte Körpersäfte in solche Wunden ein, und das Fieber, das sie begleitete, war häufig tödlich. Faolan musste ihre Miene gesehen haben. »Ich habe schon Schlimmeres erlebt«, sagte er. »Denk nicht mehr daran. Es hat aufgehört zu bluten. Ich kann immer noch laufen. Sei froh, dass wir noch leben. Das war ziemlich knapp.« »Faolan?« »Hm?« - 620 »Wie hast du das gemeint, dass du nicht derjenige bist, den ich fragen soll? Du musst gewusst haben, dass er in der Nähe war, um ihn so zu rufen. Hast du mir etwas vorenthalten?« »Frag deinen kostbaren Drustan. Ich denke, du wirst feststellen, dass er nicht ganz ehrlich mit dir gewesen ist. Jetzt ist er hier, jetzt hast du, was du wolltest, und es ist Zeit, dass er dir die ganze Geschichte erzählt.« Das war seltsam, aber vielleicht nicht allzu sehr, es bedeutete nur, dass Faolan etwas über Drustan wusste, das er ihr bisher vorenthalten hatte. Ein seltsamer Verdacht kam ihr, einer, der ausgesprochen verblüffend und wunderbar war und vieles erklärte. Beide schwiegen, als Drustan in den schwächer werdenden Regen zurückkehrte. Der Mond leuchtete silbern auf seinen feuchten Locken. Er brachte einen großen Arm voll Bruchholz. »Er ist stark«, stellte Faolan fest. »Das wird nützlich sein.« »Du bist so zornig. Ich kann es beinahe spüren. Er hat uns gerade das Leben gerettet.« »Frag ihn nach der Wahrheit. Frag ihn, wo er war und warum er erst erschienen ist, als wir dem Tod gegenüberstanden. Frag ihn, ob es das ist, was ein Mann einer Frau antut, wenn er sie wirklich liebt.« Drustan kam näher, ließ seine Last fallen und bückte sich, um mit dem Feuer zu helfen. »Wir müssen dafür sorgen, dass es weiterbrennt«, sagte er. »Ich glaube nicht, dass sie zurückkommen werden. Aber du hast keine warme Kleidung, Ana, und ihr beide seht aus, als wärt ihr halb verhungert und erschöpft. Hier ...« Er zog seine Tunika und das schöne Wollhemd aus, das er darunter trug, reichte Ana das Hemd und zog sich dann wieder die Tunika über den Kopf. »Zieh das an, bitte. Dein Kleid ist klatschnass. Du musst frieren. Ich fürchte, wir haben immer noch einen weiten Weg vor uns.« - 621 »Du kennst den Weg?«, fragte sie und spürte wieder diese seltsame Spannung zwischen ihnen, die zum Teil mit körperlicher Begierde zu tun hatte, die durch Hunger, Kälte und Schock nicht vollkommen gedämpft wurde, und zum Teil mit einer Art Widerstreben, einer Schüchternheit, die die Worte zurückhielt, die sie so gern ausgesprochen hätte. Zu sagen, was in ihrem Herzen war, was jeden Augenblick in ihrem Körper erwachte, schien gefährlich zu sein. Es war zu früh. »Ich kann euch zur Ostküste führen«, sagte Drustan. »Ich kann euch zu einer Stelle führen, wo zwei Flüsse sich treffen, und von dort aus wird es leicht sein, nach Süden zu Brideis Hof zu finden. Ich werde auch bald einen Unterschlupf für uns finden, gutes Essen und warme Kleidung. Hier oben gibt es leider nichts davon.« Ana schmiegte sich in das Hemd, das immer noch warm von seinem Körper war und lang genug, um sie beinahe bis zu dem ausgefransten abgeschnittenen Saum ihres Kleids zu bedecken. Sie blickte auf zu Drustan und er sah sie aus strahlenden Augen an, ernst und ein wenig misstrauisch. »Danke«, sagte sie, »das ist wunderbar. Und danke, dass du uns gerettet hast. Ich weiß nicht, wie du es getan hast, aber es ... es war wie Magie. Schön und geheimnisvoll.« »Du musst der Dame etwas erklären.« Faolan sah Drustan an. Drustan starrte ins Feuer. »Das werde ich morgen tun«, sagte er leise. »Aber es sollte an einem anderen Ort geschehen als hier, einem sicheren Ort im Sonnenschein, nachdem Ana sich ausgeruht und etwas gegessen hat. Ich werde es ihr sagen. Aber nicht heute Nacht. Noch nicht.« Er streckte die Hand aus, nahm Anas Hand und zog sie herunter, damit sie sich neben ihn ans Feuer setzte. Der Regen hatte aufgehört, und das Feuer wärmte ihre kalten Hände und ihr Gesicht. Ihnen gegenüber ließ sich Faolan ungeschickt nieder und streckte sein verwundetes Bein. Drustan legte den - 622 -
Arm um Anas Schultern. Sie spürte seine Berührung im ganzen Körper, sie, die so lange zu müde, traurig und hungrig gewesen war, sich etwas anderes zu wünschen als das magere Abendessen des nächsten Tages, den unbequemen Schlaf der nächsten Nacht. Das Blut rauschte ihr in die Wangen, sie legte den Kopf an seine Schulter und schloss die Augen. »Drustan«, sagte Faolan, »ich muss dir sagen, dass Deord tot ist. Alpin hat ihn getötet. Er ist mutig gefallen.« Drustan nickte, als wüsste er das bereits. »Ein schwerer Verlust«, sagte er. »Er hatte ein Leben verdient, er verdiente die Freiheit, die er uns gewonnen hat.« Nach kurzer Zeit fragte Faolan: »Du sagst, du kannst uns nach Osten führen. Bedeutet das, dass du nicht mit uns zum Weißen Hügel kommen wirst?« »Das hängt von einigen Dingen ab.« Drustans Stimme war sehr leise geworden. »Wovon?« »Davon, was Ana möchte. Es hängt davon ab, was morgen geschieht.« Ana holte tief Luft. Die beiden Männer schienen versunken in einem geheimnisvollen Spiel, das sie nicht verstand. Ihr blieb nichts weiter, als offen und ehrlich zu sein. »Ich möchte, dass du mit uns kommst, Drustan«, sagte sie. »Ich möchte, dass du nie wieder weggehst.« Eine Welle von Spannung durchzuckte ihn, verblüffend in ihrer Intensität. Dann sagte er: »Wenn du das auch morgen noch sagst, wenn wir an unserem Feuer sitzen und zusehen, wie die Vögel sich zur Nacht niederlassen, dann werde ich dir sagen: Ja, ich werde dich nie verlassen, in meinem ganzen Leben nicht. Wenn du es nicht kannst, werde ich euch sicher auf den Weg nach Süden bringen und ins Träumende Tal zurückkehren und mich dort um mein Land kümmern. Nein ...«, sagte er, als sie zum Widerspruch ansetzte, »sag jetzt nichts mehr. Wir sind alle müde. Warten - 623 wir auf die Sonne, und dann sollten wir uns eine Zuflucht suchen. Einen Ort, wo uns die Wölfe nicht erreichen können.« Im Morgengrauen löschten sie ihr Feuer und marschierten weiter. Kreuzschnabel und Krähe begleiteten sie und schössen hin und wieder davon. Ana fragte nicht, wo der Falke war. Sie war sehr still geworden; Faolan fragte sich, was sie dachte und wie viel sie bereits erraten hatte. Sie gingen nicht weit. Nach dieser Nacht der Angst und des Kampfs waren sie alle müde. Faolans verletztes Bein war beunruhigend steif geworden, und es fiel ihm schwer zu gehen. Anas stolpernde Bewegungen sahen aus, als schliefe sie im Gehen ein. Sie folgten einem Bach, der durch den Wald rauschte, und dann machten sie Rast auf einer Lichtung, wo das Sonnenlicht durch Erlen- und Weidenzweige fiel. Faolans Knie wollte sich nicht beugen lassen, und als er schließlich doch saß, bemerkte er, dass die beiden anderen ihn anstarrten. »Es ist nichts«, fauchte er. »Dennoch«, sagte Drustan, »ein Verband mit Heilkräutern könnte dir helfen. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns. An diesem Bach dort gibt es wahrscheinlich ein paar nützliche Pflanzen, darunter auch einige, die gegen Fieber helfen.« »Das ist nicht nötig.« Faolan zuckte zusammen, als er nach hinten griff, um seinen Rucksack abzusetzen; seine Schulter war eine glühend schmerzende Masse. »Du brauchst die Kräuter jetzt gleich, Faolan«, sagte Ana. »Sei nicht dumm, indem du so tapfer tust. Lass dir von Drustan helfen.« »Weißt du, was gebraucht wird?« Faolan sah Drustan skeptisch an. »Ich kenne mich gut genug aus, um dir keinen Schaden zuzufügen, ja«, sagte Drustan lächelnd. »Ruh dich jetzt aus; - 624 ich bin bald wieder zurück. Wenn ich zurückkehre, werde ich eine Weile Wache halten. Von uns allen brauche ich am wenigsten Schlaf.« Er ging davon, seine Schritte auf dem Waldboden kaum hörbar. Ana und Faolan ließen sich so gut wie möglich nieder. Es sollte nicht schwer sein, wach zu bleiben, bis der Vogelmann zurückkehrte, dachte Faolan. Die Schmerzen genügten, um selbst den ruhigsten Mann nervös zu machen. Er lauschte Anas sanftem Atem, betrachtete ihre reglose Gestalt: Sie hatte den Kopf auf die Hände gestützt, die Augen geschlossen, die kleine Decke über sich gebreitet. Er schaute hinauf in die Baumwipfel, sah Krähe und Kreuzschnabel, die vollkommen still nebeneinander hockten. Einen Augenblick später war er eingeschlafen. Faolan erwachte von zudrückenden Händen an seinem Hals, ein Mann kniete über ihm und flüsterte heiser: »Stirb, Gäle!« Durch seine Benommenheit spürte er einen plötzlichen, leidenschaftlichen Drang, am Leben zu bleiben. Sein Herz klopfte laut und er versuchte sich umzudrehen, und brennende Schmerzen stachen in sein Knie. Er bockte und trat, während Alpins wütendes Gesicht über ihm klarer wurde und dann wieder verschwamm. Er stand kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren, er war wegen des Fiebers nur langsam erwacht. Hinter Alpins verrückten Augen, dem verzerrten Mund sah er Bewegung: Ana war schweigend erwacht; sie kam auf die Knie hoch, die Augen entsetzt weit aufgerissen, dann packte sie ein Stück Bruchholz und hob es, um zuzuschlagen... Faolan ließ sich plötzlich schlaff werden, gegen alle Instinkte verdrehte er die Augen, dann schloss er die Lider.
Einen Augenblick später ließ sein Angreifer los, sprang auf und aus dem Weg von Anas behelfsmäßiger Waffe. »Oh, du wirst jetzt also gegen mich kämpfen?«, spottete Alpin und drehte sich zu ihr um. »Nun, dein Gäle ist erledigt und mein Bruder nirgendwo zu sehen, also sind wir allein, - 625 meine Liebe. Bei allen Göttern, darauf habe ich viel zu lange warten müssen...« Als sie den Ast wieder schwang, packte er das andere Ende und riss es ihr aus den Händen. Faolan hinter ihm tastete nach seinem Messer. Sein Knie würde sein Gewicht nicht tragen; er konnte nicht aufstehen, und er würde nicht kämpfen können. Sobald sich Alpin umdrehte und ihn sah, war er tot. Das Messer war in seinem Rucksack, nahe, so nahe ... Er konnte es nicht erreichen, ohne über den Boden zu kriechen und Lärm zu machen ... wenn Alpin ihn hörte, wenn Alpin ihn umbrachte, war Ana verloren. Lauf!, dachte er. Wehre dich nicht, lauf. Suche Drustan. Lauf weg. Sie lief. Aber sie war aus zu wenig Schlaf erwacht, war zu verängstigt, und sie stolperte. Einen Augenblick lang stand Alpin mit den Händen auf den Hüften da und lachte sie aus, dann machte er sich auf, sie zu verfolgen. Faolan rollte auf die Seite, streckte den Arm aus. Nur ein wenig weiter ... »Du!« Es war Drustans Stimme, vollkommen erstaunt, und Faolan, der endlich seine Finger um die Waffe schließen konnte, sah, wie Drustan zwischen Bäumen hervorkam, Kräuter in den Händen, einen Vogel auf jeder Schulter. Er starrte seinen Bruder an, als hätte ihn eine finstere Erleuchtung getroffen, als schaute er in einen Abgrund. In der Mitte der Lichtung hatte Alpin Ana erreicht, packte sie von hinten, ein Arm um ihre Taille, der andere um ihren Hals. »Nur eine Bewegung, Vogeljunge«, sagte er, »und ich werde sie zerbrechen.« »Du ...« Drustan war erstarrt, seine Miene die eines Sehers in Trance. »Es ist wie an diesem Tag am Nebelfall«, flüsterte er, »genau so ... laute, zornige Stimmen ... Erisa, die davonläuft... du verfolgst sie ... ich habe dich gesehen ...« Dann konzentrierte sich sein Blick plötzlich, seine Miene wurde wütend, sein Ton zu einem Kriegsschrei. »Bei allem, - 626 was heilig ist, es war eine Lüge! Du hast sie umgebracht. Ich habe dich gesehen. Lass Ana los! Lass sie sofort los, oder ich werde dich mit bloßen Händen erwürgen, Bruder oder nicht!« »Nein, das wirst du nicht tun«, sagte Alpin und machte ein paar Schritte zurück, Ana immer noch in seinen Armen. »Du wirst mich nicht umbringen, denn wenn ich sterbe, werde ich sie mitnehmen. Und was Erisa angeht, das wirst du nie beweisen können. Wer wird schon glauben, was ein Verrückter sagt, wenn ich das Gegenteil behaupte? Eine Illusion, das ist alles, was es war.« Drustan machte einen langsamen, entschlossenen Schritt auf Alpin zu, dann einen weiteren. Sein Blick war nun tödlich ruhig. Treib ihn auf mich zu, wollte Faolan ihn durch Gedanken zwingen, gib mir ein klares Ziel. »Du glaubst, ich würde es nicht tun?«, fragte Alpin. »So sehr will ich sie auch wieder nicht haben, kleiner Bruder. Nicht, nachdem ihr sie beide vor mir hattet. Wenn du noch einen Schritt näher kommst, werde ich einfach fester zupacken, etwa so ...« Drustan warf sich nach vorn, stürzte sich mit Händen, die wie Krallen ausgestreckt waren, auf Alpin. Ein Bruder sollte seinen Bruder nicht töten. Diese Schuld wog zu schwer auf dem Gewissen eines Mannes. Faolan warf sein Messer. Bevor Drustan Alpin auch nur berühren konnte, sackte der Fürst zusammen, die Waffe ragte aus seinem Rücken, und Ana war unter ihm eingeklemmt. Einen eisigen Augenblick lang befürchtete Faolan, sein Messer hätte auch sie erreicht. Dann rollte Drustan die schlaffe Gestalt seines Bruders von Ana herunter, und sie kam zitternd auf die Beine. Auf ihrem Gewand war ein roter Fleck. »Ich bin in Ordnung«, sagte sie, bevor einer der Männer sprechen konnte. »Ihr Götter... wie konnte er... er kam aus dem Nichts ...« Dann drückte sie sich die Hand auf den - 627 Mund, taumelte zum Rand der Lichtung und würgte ihren Mageninhalt ins Unterholz. »Ein sauberer Tod«, sagte Faolan, kam mühsam auf die Beine und hinkte mit brennendem Knie vorwärts. »Besser, als er verdient hat. Gnädiger, als er es Deord zugestanden hat. Ich muss mich bei euch beiden entschuldigen. Ich bin auf der Wache eingeschlafen. Das war unverzeihlich.« Alpins Augen waren offen. Selbst im Tod war ihr Unheil verkündendes Starren verstörend. Drustan kniete neben ihm nieder und schloss sie recht sanft. »Wir hätten ihn alle umgebracht«, sagte er. »Für Deord, für Ana, für Erisa ...« »Wie hast du das gemeint?« Ana war zurückgekehrt und wischte sich den Mund am Ärmel ab. Sie sah jämmerlich aus, war kreidebleich und hatte die Augen weit aufgerissen. »Das mit dem Nebelfall und Erisa? Erinnerst du dich endlich? Sagtest du, er sei verantwortlich?« »Er hat gelogen.« Drustan kniete immer noch an der Seite seines Bruders, als wäre er unsicher, was jetzt passieren sollte. »All diese Jahre hat er gelogen, um sich selbst zu retten. Als die beiden mich riefen«, er warf einen Blick zu den zwei Vögeln, »als ich zurückkam und sah, wie er hinter dir herrannte ... es war das Gleiche, genau das Gleiche ... sie hatten sich gestritten, sie lief vor ihm davon, er folgte ihr... und sie fiel. Er hatte nicht
vor, sie umzubringen. Selbst er hätte seinen ungeborenen Sohn nicht getötet. Es war ein Unfall. Aber es war seine Schuld. Seine, nicht meine ... Ihr Götter, mich jetzt zu erinnern, nach all diesen Jahren ... er hatte Recht. Wer wird mir glauben? Es gibt keine Möglichkeit, meine Unschuld zu beweisen.« »O doch«, sagte Ana. »Such diese alte Frau, Bela. Höre, was sie zu sagen hat. Jetzt, wo Alpin tot ist, wird sie es vielleicht aussprechen. Tu das, und die Leute werden dich zumindest anhören.« »Eine bemerkenswerte Geschichte«, sagte Faolan. »Ich bin traurig, dass Deord sie nicht hören konnte; er hat an - 628 dich geglaubt, Drustan. Er sagte, aus dir könnte ein großer Mann werden. Dieser Tod«, er berührte die Leiche mit der Stiefelspitze, »wird die Dinge für dich allerdings noch komplizierter machen.« »Was sollen wir jetzt tun?«, fragte Ana mit zitternder Stimme. »Gehen wir weiter? Kehren wir zurück?« Die beiden Männer sahen sie an. »Wir begraben ihn«, sagte Faolan. »Dann gehen wir weiter. Du und ich jedenfalls. Ihr könntet mich nicht einmal mit Gewalt an diesen Ort zurückzerren. Drustan muss seine eigene Entscheidung treffen.« »Ich werde euch mindestens bis zur Küste begleiten«, sagte Drustan. »Im Augenblick ändert sich daran nichts. In der Zukunft wird sich alles ändern. Es ist zu viel, um es jetzt zu begreifen.« Er hatte die leblose Hand seines Bruders ergriffen. Faolan sah in seiner Haltung gleichzeitig Liebe und Abscheu, Erleichterung und Qual. »Zu solchen Zeiten«, sagte Faolan, »ist praktische Arbeit sehr nützlich. Ich brauche diese Kräuter immer noch; mein Knie fühlt sich an, als würde es gleich aufbrechen. Ana weiß vielleicht, wie man eine Kräuterkompresse anlegt. Sie wurde immerhin von Weisen Frauen ausgebildet. Und wir beide müssen ein Grab ausheben. Und Ana muss sich ausruhen, bevor wir weiterziehen, in der Tat sollten wir das alle tun. Du möchtest vielleicht in paar Gebete sprechen, förmliche Abschiedsworte. Ich weiß nicht, ob du ein gläubiger Mann bist.« »Ich hätte ihn getötet«, sagte Drustan und stand auf. »Wenn du in diesem Augenblick nicht gehandelt hättest, hätte ich jetzt das Blut meines Bruders an meinen Händen.« Er sah Faolan mit seinen seltsamen leuchtenden Augen an. »Genau. Sei froh, dass ich auch das Handwerk eines Attentäters beherrsche«, sagte Faolan. »Ich hätte ihn ebenfalls getötet.« In Anas Stimme schwangen sowohl Entsetzen als auch ein gewisser Stolz mit. - 629 »Wenn ich ein wenig stärker gewesen wäre ... wir sind alle dafür verantwortlich. Ich denke, wir sollten ihn begraben, ein Gebet sprechen und uns auf den Weg machen. Wir können erzählen, dass wir seine Leiche im Wald gefunden haben. Die Menschen erleiden in diesem Teil des Landes häufig Unfälle.« Faolan war erstaunt darüber, wie kühl, wie geistesgegenwärtig sie war. »Diese Reise hat dich verändert«, sagte er. »Du schlägst vor, dass Drustan lügen soll?« »Nicht unbedingt«, sagte Ana und legte ihre Hand auf Drustans Schulter. »Aber es gibt Zeiten, in denen nicht die ganze Wahrheit ausgesprochen werden muss. Zeiten, in denen es das Beste ist, weiterzumachen und die Dinge loszulassen. Wenn Alpin diesem Rat gefolgt wäre, wäre er noch am Leben.« Sie schauderte. »Ihr glaubt doch nicht, dass er noch andere bei sich hatte? Einen Jagdtrupp, so weit entfernt von Dornwald?« »Ich habe auch schon daran gedacht«, sagte Faolan. »Aber wenn er seine Männer bei sich gehabt hätte, dann wären sie jetzt schon hier. Dennoch, wir sollten tun, was du gesagt hast. Wir sollten es am besten hinter uns bringen und weiterziehen.« Danach sprachen sie nur wenig. Drustan grub ein flaches Grab; Ana und Faolan sammelten Steine. Wenn Gebete über den Verstorbenen gesprochen wurden, dann geschah es schweigend. Dann ließ sich Faolan Kräuterverbände an Knie und Schulter anbringen. Drustan sagte, er würde später auch einen Trank brauen, der das Fieber senken und Faolan ein wenig Ruhe geben sollte. Aber nicht jetzt. Sie wollten nicht länger an diesem Ort bleiben. Sie gingen nur ein relativ kurzes Stück weiter. Es war Faolan klar, dass er sie aufhielt, und er biss die Zähne zusammen und tat sein Bestes, sich weiterzuschleppen, aber es gelang ihm nicht besonders gut. Als sie die andere Seite des Waldes erreichten, wo ein offenes Tal vor ihnen lag und Fel- 630 sen Schutz vor dem Wind boten, schlugen sie ihr Lager auf. Drustan machte ein Feuer und braute, wie er versprochen hatte, einen Kräutertrank, eine Flüssigkeit von bitterem Geschmack und schlammigem Aussehen. Er wartete neben Faolan, bis der Verletzte alles getrunken hatte. Während seine Müdigkeit größer wurde und sich mit dem schwindeligen, heißen Gefühl in seinem Kopf vermischte, fragte sich Faolan, wie Drustan sich wohl entscheiden würde: Würde er Ana hungern lassen oder seine andere Gestalt enthüllen, damit er jagen und sie versorgen konnte? Aber bevor er Gelegenheit hatte, das herauszufinden, war er auch schon eingeschlafen. Am nächsten Tag schien die Sonne, die Wolken verschwanden, und die Reisenden gingen ins Tal hinunter. Drustan schien unermüdlich. Die Kräuter hatten Faolans Unbehagen gemildert, und er konnte besser laufen. Dennoch hätte er an diesem Tag die Schmerzen beinahe willkommen geheißen, er konnte alles brauchen, was ihn von dem Anblick von Drustan und Ana zusammen ablenkte. Am Nachmittag erreichten sie ein geschütztes Seeufer, wo das Sonnenlicht auf die hellen Stämme und die glänzenden Blätter von Birken fiel und seine Wärme wie einen Segen über das silbrige Wasser ausbreitete. Mit jedem Schritt, den sie machten, kam es Faolan so vor, als vergrößerte sich der Abstand zwischen ihm und den beiden anderen, ein Abstand, der sich nicht in Schritten messen ließ, sondern in etwas weniger Fassbarem. Drustan und Ana bewegten sich in einer anderen Welt als er,
einer Welt, in der alles gut und freudig und leicht zu verstehen war. Sie sprachen nicht viel, sie gingen nicht Hand in Hand, sie umarmten einander nicht. Es waren nur sehr kleine Dinge, die es ihm sagten: das nicht ganz zufällige Berühren von Fingern, von Körpern, die Art, wie Drustans Hände an Anas Taille verharrten, als er ihr von einem steilen Felsen half. Die Farbe in - 631 ihren Wangen und das Strahlen in ihren Augen. Ihre versunkenen Blicke. Ein- oder zweimal gingen sie vor ihm, denn sein Bein verlangsamte ihn immer noch. Kreuzschnabel und Krähe blieben dicht bei ihm. Faolan fragte sich, ob Drustan diesen beiden aufgetragen hatte, auf ihn aufzupassen, da er ihn selbst nicht ständig im Auge behalten konnte. Es war gut so, musste Faolan zugeben. Trotz der finsteren Eifersucht, die Drustan in ihm erweckte, war es erheblich besser, die Hilfe des Mannes anzunehmen, als als Futter für die Wölfe zurückgelassen zu werden. Später an diesem Nachmittag gingen Drustan und Ana am Ufer entlang und suchten nach einem Lagerplatz, denn Drustan hatte vorgeschlagen, dass sie sich heute schon früher ausruhen sollten. Es war für ihn offensichtlich, dass Faolan nicht viel weiter kommen würde. Für Faolan war es bitter, nun das schwächste Glied zu sein. Er hoffte, dass seine Wunden schnell heilen würden. Er war immer noch Brideis Botschafter. Es war schlimm genug, zum Weißen Hügel zurückkehren und die Nachricht überbringen zu müssen, dass seine Mission in einer Katastrophe geendet hatte, und es wäre ihm lieber, bei dieser Gelegenheit nicht auch noch glühend vor Fieber in die Festung getragen zu werden und sein Überleben allein diesem seltsamen Vogelmann zu verdanken, diesem Geschöpf, das ihm Ana wegnahm, einen unvermeidbaren Schritt nach dem anderen. Nein, das war dumm. Sie hätte ihm nie gehören können. Er war Gäle. Er war ein Attentäter, ein Mann, dessen ganzes Leben von seiner Unauffälligkeit abhing. Er hatte seine Familie zerstört, er hatte alles zerstört, was ihm lieb war. Und er war ein Verwandter des Königs von Dalriada. Ob es ihm gefiel oder nicht, er war ein Ui Neill. Das bildete eine beeindruckende Liste von Gründen, nicht auf die Weise an sie zu denken, wie er es tat. Leider interessierte sich sein Herz nicht für Logik. Das Herz flüsterte, dass er - 632 diesen Stein hätte werfen sollen, als er noch Gelegenheit hatte. Faolan bog um ein Birkengehölz und sah die beiden am Wasser, dicht nebeneinander, aber ohne sich zu berühren. Beide hatten die Stiefel ausgezogen, standen bis zu den Knöcheln im Wasser und wuschen sich die müden Füße. Sie hatten miteinander gesprochen, aber als er näher kam, schwiegen sie. Er versuchte, so wenig wie möglich zu hinken. »Sieh nur, Faolan«, sagte Ana lächelnd, »auf der anderen Seite des Sees dort drüben - dort steigt Rauch auf. Drustan glaubt, dass es dort eine kleine Siedlung gibt. Wir werden deine Wunden heilen und unter einem richtigen Dach schlafen können. Es ist so lange her, dass ich mich kaum erinnern kann, wie sich das anfühlt. Geht es dir gut? Tut es sehr weh?« Er schüttelte den Kopf und beobachtete staunend, wie sie sich verändert hatte. Sie war immer noch hager und müde, aber ihre Miene sprach von solchem Glück, und in ihren Augen stand wieder der alte gelassene Ausdruck. Selbst ihre Haltung war anders, ihr Rücken gerade, die Schultern nicht mehr gebogen. Es war Drustan, der diese Magie gewirkt hatte, Drustan, der jetzt an ihrer Seite stand, mit leicht geröteten Wangen und mit dem gleichen stillen Strahlen in seiner ganzen Haltung. »Wir sollten uns hier eine Weile ausruhen«, sagte Drustan. »Du musst das Gewicht von diesem Bein nehmen. Ich glaube, ich habe weiter oben ein paar Haselnüsse gesehen; wir könnten eine Mahlzeit zubereiten.« »Solange sie auch für Menschen essbar sind und nicht nur für Vögel.« »Sie sind für Menschen essbar, Faolan. Würde ich denn versuchen, dich zu vergiften? Du bist Anas Freund gewesen, ihr Hüter, ihr Lebensretter. Ohne dich wären wir beide nicht zusammen. Du bist für mich wie ein Bruder.« - 633 Faolan wusste nicht, was er sagen sollte. Das Gewicht von Dubhäns Tod, von Alpins Tod und eines Lebens voller Möglichkeiten hing zwischen ihnen und ließ ihn schweigen. Er warf einen Blick zu Ana, die sich ins Gras am Seeufer gesetzt hatte, mit dem rot gefiederten Kreuzschnabel auf der Hand. Sie streichelte den Kopf des Vogels mit einem Finger und pfiff leise. Ihr kurz geschnittenes Haar leuchtete trotz allen Mangels an Pflege im Nachmittagslicht wie dunkles Gold. Sie saß im Schneidersitz da, und ihre hellen, nackten Füße schauten unter dem langen Hemd hervor, das Drustan ihr gegeben hatte. Ihre Wangen waren rosig, ihre Wimpern schirmten ihre Augen ab, als sie die Aufmerksamkeit nur dem kleinen Vogel zuwandte. Etwas veränderte sich in Faolan. Er erkannte, dass Anas Glück ihm wichtiger war als alles andere. Sie liebte Drustan, oder zumindest liebte sie den Mann, für den sie ihn hielt. Sie hatte wieder Hoffnung auf eine schöne Zukunft: diese mutige, gelassene, schöne Frau, die sein eigenes Herz gefangen hatte, bevor sie nach Dornwald gekommen und in diese seltsame Geschichte von Bruder gegen Bruder verwickelt worden waren. Er hatte kurz davor gestanden, Drustan wieder herauszufordern, denn der Tag war fortgeschritten, die Sonne schien, und sie würden bald eine Unterkunft finden. Die Worte hatten auf seinen Lippen gelegen: Sag ihr jetzt die Wahrheit. Er konnte sie nicht aussprechen. Er konnte ihr neu gefundenes Glück nicht zerstören. Wie würde er es ertragen können zu sehen, wie dieses kleine Lächeln verging, die rosigen Wangen wieder blass wurden, die stolzen Schultern verzweifelt nach unten sackten?
»Ich gehe Nüsse suchen«, sagte Drustan zerstreut. Die Krähe flog auf seine Schulter, als er auf den Hain zuging. Ana schaute ihm hinterher, und ihr ganzes Herz stand in ihren Augen. Für kurze Zeit gab es keinen Laut außer den Rufen der Vögel und weit in der Ferne dem herausfordernden Röhren eines Hirschs hoch oben am Hügel, auf der an- 634 deren Seite des Sees. Es war eine beunruhigende Mahnung, wie weit die Jahreszeit bereits fortgeschritten war; hatten sie tatsächlich den ganzen Rest des Sommers in diesen endlosen Hügeln verbracht? »Faolan«, sagte Ana leise, »er hat es mir erzählt.« Er starrte sie an. »Er hat mir die Wahrheit gesagt. Über die ... die Veränderungen ... dass er die ganze Zeit bei uns war, seit dem Wasserfall, und dass er die Gestalt wechseln kann. Irgendwie wusste ich es bereits. Der Falke hatte seine Augen. Die Wahrheit hatte sich schon eine Weile an mich angeschlichen.« Sie betrachtete stirnrunzelnd den kleinen Vogel auf ihrer Hand. »Ich kann einfach nicht glauben, was Alpin getan hat; das war so grausam und so böse. Seinen Bruder für seine eigene Missetat einzusperren, diese Lüge aufrechtzuerhalten, Drustan glauben zu lassen, dass er schuldig war... und am schlimmsten, eine solche Fähigkeit, ein Geschenk der Götter, Wahnsinn zu nennen ... das kann ich nicht verstehen. Zu Hause auf den Hellen Inseln würde man so etwas für selten und wunderbar halten, wie die Veränderungen, für die Druiden viele, viele Jahre lernen müssen, nur so viel mächtiger und so natürlich ... es gab vor langer Zeit andere in seiner Familie mit ähnlichem Talent, das hat er mir erzählt ... wusstest du, dass Drustan es zum ersten Mal getan hat, als er erst sieben Jahre alt war?« »Du akzeptierst es so einfach? Du bist nicht ...« Seine Worte verklangen. Es war klar, dass sie weder schockiert noch verängstigt war. Es war klar, dass es sie kein bisschen interessierte, ob ihre Kinder eine seltsame Mischung aus Vogel und Mensch sein würden und vielleicht lieber davonfliegen würden, um sich eine fette Maus zum Fressen zu suchen, als sich von ihren Kinderfrauen und Lehrern unterrichten zu lassen. Sie würde nie aufhören, ihn zu überraschen. - 635 »Warum lächelst du, Faolan?« »Das ist ein Lied wert, das kann ich ganz sicher sagen.« »Schreib keine Lieder über mich, ehe ich nicht einen Kamm, heißes Wasser und etwas anderes als Lumpen zum Anziehen habe«, sagte Ana grinsend. »Du bist perfekt, wie du bist«, sagte er leise. »Aber ich werde keine Lieder schreiben, meine Tage als Barde liegen hinter mir.« Dieses Lied würde nur tief in ihm erklingen, in den verborgenen Nischen seines Herzens, gleichzeitig in größter Freude und tiefstem Schmerz. Niemand außer ihm würde seine süßen Liebesworte vernehmen. Niemand außer ihm würde weinen, wenn diese Geschichte von Liebe, Schweigen und Verlust erklang. Und genau so sollte es sein. »Ich wünsche dir Glück, Ana«, sagte er. Sie sagte nichts, und kurz darauf kehrte Drustan mit einem großen Blatt zurück, auf das er eine kleine Ernte von Nüssen gehäuft hatte. Faolan fiel plötzlich ein, dass der andere Mann ihn und Ana vielleicht allein gelassen hatte, damit sie über diese Sache sprechen konnten. Er schluckte herunter, wie sehr es ihn ärgerte, dass er nun auch noch Taktgefühl zu Drustans Tugenden hinzufügen musste. »Warum bist du immer wieder weggeflogen?« Er musste diese Frage stellen, nun, da das Geheimnis gelüftet war. »Warum hast du uns allein gelassen? Und warum hast du so lange gebraucht, um uns zu finden, nachdem wir aus Dornwald geflohen waren? Deord war allein da draußen und kämpfte gegen einen ganzen Jagdtrupp.« »Hätte es ihm geholfen, wenn ich an seiner Seite gewesen wäre?«, fragte Drustan ernst. Faolan war verpflichtet, ehrlich zu antworten. »Nach meiner Ansicht nicht. Ihr wärt beide umgebracht worden. Er hätte nicht gewollt, dass einer von uns dabei war. Aber ich hätte angenommen, dass du ihm helfen würdest.« »Ich konnte ihm nicht helfen. Die Veränderung der Gestalt ist für mich nicht immer einfach. Ich war verzweifelt - 636 und verwirrt, wollte gehen, hatte Angst zu gehen, wollte unbedingt mit Ana Zusammensein und hatte schreckliche Angst davor, was ich vielleicht tun würde, wenn ich frei wäre. In dieser anderen Gestalt ist auch mein Geist verändert. Ich sehe, höre oder denke nicht genau wie ein Mensch. Manchmal erinnere ich mich nicht einmal mehr. So war es, als Erisa starb. Ich war in meiner anderen Gestalt. Ich sah sie, aber sobald ich wieder zum Menschen wurde, war die Erinnerung verschwunden. Bis gestern. Also habe ich, nachdem ihr weg wart, eine Entscheidung getroffen: Ich habe mich entschieden, zu Ana zu gehen und nicht zu Deord. Das ist es, was er gewollt hätte. Am Ende war ich es, der seinen Tod bewirkte.« »Wir alle hatten einen Anteil daran«, sagte Faolan finster. »Und die anderen Male?« Drustan räusperte sich, er wirkte nervös. Faolan verspürte seltsamerweise Mitgefühl. »Ich kann die eine oder andere Gestalt nicht zu lange aufrechterhalten, ohne ... ohne dass ich unruhig werde. Es bedrückt mich. Dies Bedürfnis, die Gestalt zu ändern, wird immer intensiver und muss befriedigt werden.« »Wirst du gewalttätig?« »Faolan!«, protestierte Ana. »Es ist schon gut; du musst es ohnehin erfahren«, sagte Drustan. »Du musst alles über mich wissen. Gewalttätig ... nur, wenn man mich einsperrt und mich davon abhält, zu tun, was Körper und Geist von mir verlangen. Alpins
Gefängnis war eine besondere Art der Folter für mich; er wusste, wie solche Gefangenschaft mich quälte. Deord hat mich gerettet. Er verstand mein Bedürfnis, frei zu fliegen. Aber es gab lange Zeiten, in denen wir nicht nach draußen gehen konnten. Er beschäftigte mich, sorgte dafür, dass ich mich bewegte. Manchmal hat es nicht genügt.« »Hast du ihn je angegriffen? Oder andere?« »Ein- oder zweimal wäre es gegenüber meinem Bruder - 637 beinahe dazu gekommen. Daher die Fesseln. Aber die Regel ist, dass ich, wenn ich zu solchen Zeiten eingesperrt werde, nur mich selbst verletze und keinen anderen.« »Wie war es vorher?« Anas Ton war sanft. »Bevor Alpin dich eingesperrt hat?« »Im Träumenden Tal kam und ging ich, wie es mir gefiel. Es ist mein eigenes Haus, meine Leute kennen mich. Ich konnte mich frei von einer Gestalt in die andere bewegen. Ich habe mir beigebracht, die Sprache der Menschen auch dann zu verstehen, wenn ich in der anderen Welt wandele. Einige Fähigkeiten habe ich in der Gefangenschaft verloren, aber ich gewinne sie rasch zurück. Ich hatte Angst, dir die Wahrheit zu sagen, Ana.« Er lächelte sie schüchtern an. »Ich habe dich falsch eingeschätzt. Wenn es also an der Zeit war, dass ich wieder ein Mensch sein musste, bin ich davongeflogen. Es gab keine Möglichkeit, euch mitzuteilen, dass ich zurückkehren würde.« Ana nahm Drustans Hand. »Ich denke wir werden alle Tage von hier bis zum Weißen Hügel brauchen«, sagte sie, »um die richtigen Worte zu finden, um diese Geschichte am Hof zu erzählen.« - 638 KAPITEL SECHZEHN Strategen sagen, wenn bei der Sicherung eines Ziels nicht mehr als einer von drei Kriegern umkommt, kann man "en Kampf als Erfolg betrachten. Bridei und Fokel verloren n dem endgültigen Entscheidungskampf um Galanys Höhe weniger als das. Die uralte Fahne von Galany wurde wieder und diesmal dauerhaft über der Siedlung gehisst; auf dem spitzen Hügel, auf dem einmal ein großer, gemeißelter Stein gestanden hatte, um diese Region als Land der Priteni zu kennzeichnen, vollzogen sie eine Dankeszeremonie für den Flammenhüter. Am Abend betete Bridei allein und schwelend, und der Mann, der seine Einsamkeit bewachte, war Elpin, der aus Broichans Haushalt kam. Bridei hatte Uven ein wenig Ruhe gönnen wollen, Zeit, die dieser nicht mehr ganz junge Krieger mit den anderen Männern verbringen würde, um mit ihnen über die Dinge zu sprechen, die sie an diesem Tag erlebt und gesehen hatten, um um Freunde zu trauern, die gestorben waren, und um die seltsame Mischung aus Trauer, Zorn und Prahlerei, aus Entschlossenheit, Mut und Unsicherheit zu erleben, zu der es bei solchen Gelegenheiten immer kam. Was Breth anging, so würde er seinen König und Freund nie wieder bewachen. Einer von dreien ... jeder Mann hätte Opfer eines schnellen Pfeils, eines zustoßenden Schwertes, eines beharrlichen Speers sein können. Bridei hatte sei- 639 nen scharfäugigen Bogenschützen irgendwo in der Mitte des blutigen Durcheinanders vor den Palisaden von Galanys Höhe verloren und ihn schlaff und mit weit offenen Augen dort wieder gefunden, nachdem die Knochenmutter das Feld gefegt und die Geister der gefallenen Söhne Fortrius davongetragen hatte. Bridei hatte Breth gekannt, seit er ein Kind gewesen war, und dieses Kind hatte einmal bewusst einen BogenschützenWettbewerb verloren, damit der Krieger seinen Stolz vor den zuschauenden Männern wahren konnte. Einer von dreien, ein Sieg. Es fühlte sich nicht so an. Nicht einmal, nachdem Galany wieder sicher in Fokels Händen lag. Nachdem er gebetet hatte, schickte Bridei Elpin davon und setzte sich eine Weile mit Hargest zusammen, den er einige Zeit zuvor hatte rufen lassen. Er wusste, er musste bald wieder in die Siedlung zurückkehren, Worte der Kraft und der Hoffnung für seine Armee finden und schnelle Entscheidungen treffen: Wer würde bleiben, um das neu eroberte Territorium zu sichern, wer würde weiter zum nächsten Ziel marschieren? Er musste entscheiden, wie man am besten mit den gälischen Gefangenen umging, mit den Frauen und Kindern und alten Männern. Er würde es tun. Aber noch nicht jetzt. »Es tut mir Leid, Herr«, sagte Hargest leise. Sie saßen zusammen bei den Ebereschen, oben auf dem Hügel, auf dem einmal der Stein der Magier gestanden hatte, am Tag würde man von hier ins Tal hinabschauen können, auf die Siedlung, das Feld, auf dem die toten Galen immer noch lagen, und das helle Wasser des Königssees, der sich nicht allzu weit entfernt nach Westen bis zum Meer zog. »Das mit Breth, meine ich.« »Hm.« Bridei dachte daran, wie jung Hargest war, viel jünger, als er selbst gewesen war, als er seine ersten Erfahrungen mit dem Krieg machte, hier, auf dem gleichen Schlachtfeld. - 640 »Man hat mir erzählt, dass du dich heute tapfer geschlagen hast. Du hast mehr getan, als du musstest.« Hargest schwieg. »Es ist ein finsteres Geschäft«, sagte Bridei. »Es sind Galen. Sie haben verdient zu sterben. Mein Herz schlug stärker bei jedem, den ich töten konnte.« Bridei sah ihn fragend an. »Wir müssen tun, was wir können, um unsere Existenz zu sichern, das ist wahr«, sagte er schließlich. »Ich bezweifle, dass du es, wenn du älter bist, weiterhin so in Schwarz und Weiß sehen wirst.« Es
wäre so viel einfacher, wenn man denken könnte, wie es dieser Junge tat, es würde die Schmerzen verringern. Er selbst war nie so sicher gewesen. Fragen, was richtig und falsch, was gerecht und ungerecht war, hatten ihn gequält, seit er zum ersten Mal einem Feind gegenüberstand. Er bezweifelte nicht die Richtigkeit dieses Auftrags, den die Götter ihm erteilt hatten: Er musste die Galen aus dem Land der Priteni vertreiben. Es war der Tod eines jeden Mannes, sei er nun aus Fortriu oder Dalriada, das Wissen um diese Verluste, das ihn belastete. Breth war ein guter Mann gewesen, loyal, ehrlich, ein treuer Freund. Aber wer konnte schon sagen, dass der Tod dieses Kriegers, der Bridei so lieb gewesen war, wichtiger oder unwichtiger war als der dieses jungen Galen mit dem Speer im Bauch oder jenes bärtigen Bogenschützen, der zu Fokels Leuten gehörte? Nur weil ein Mann nicht die uralten Götter der Priteni liebte, nur weil sein Vater an einem anderen Ort als Fortriu zur Welt gekommen war, war sein Tod kein geringeres Opfer. Bridei dachte an Faolan und wusste in seinem Herzen, dass ein guter Mann ein guter Mann war, wo immer er herkam, woran er auch glauben mochte und was sein Beruf war. »Herr?« Hargest betrachtete ihn forschend und runzelte die Stirn ein wenig. »Woran denkst du gerade? Du wirkst... zerstreut.« »Gefährliche Gedanken, Hargest. Ich muss sie von mir - 641 schieben, bis der Feldzug zu Ende ist. Was ist mit dir? Hat dich das, was du heute gesehen hast, nicht beunruhigt? Es ist ein großer Schritt vom Hüter von Umbrigs Pferden zu einem Krieger in der ersten Angriffslinie.« »Beunruhigt? Nein, Herr. Krieg ist Krieg. Menschen sterben.« Bridei nickte. »Ich habe dir etwas zu sagen, und obwohl es mir zu früh vorkommt, werde ich es jetzt tun, bevor wir wieder nach unten gehen und von Männern umgeben sind, die tausend Fragen habe. Du bist ein mutiger Junge und sehr tüchtig. Ich habe Breth verloren und ich trauere um ihn, aber wie du es so schlicht ausgedrückt hast, Menschen sterben. Wir ziehen nun in einen viel größeren Kampf, und meine erfahrenen Männer werden mittendrin sein wollen; sie werden nicht begeistert darüber sein, wenn von ihnen verlangt wird, die Sicherheit des Königs über ihre Möglichkeiten zu stellen, dem Feind im Kampf zu begegnen.« Hargest saß still da und wartete. »Ich kann dir Breths Stellung nicht anbieten«, sagte Bridei schlicht, denn der strahlende, erwartungsvolle Blick des Jungen war beunruhigend. »Du magst die Fähigkeiten haben, aber es fehlt dir an Erfahrung.« Er fügte nicht hinzu, dass es außerdem immer noch zu früh war, einem jungen Mann zu trauen, der sich gerade erst dem König seiner Wahl angeschlossen hatte und der unter den Männern für seine aufbrausende Art bekannt war. »Ich habe vor, Breths Pflichten unter den Männern aus Pitnochie aufzuteilen. Aber wir werden einen mehr brauchen, oder sie werden nicht genug Schlaf bekommen. Ich möchte, dass du dich ihnen anschließt. Keine Einzelwachen; wie du weißt, arbeiten sie in Paaren. Deine Hilfe wird es mir gestatten, ihnen hin und wieder Gelegenheit zu geben, sich aufs Kämpfen zu konzentrieren, ohne mich dabei dauernd im Auge behalten zu müssen. Würdest du das tun, Hargest?« »Ja, Herr.« Der Junge strahlte. Ein Blick auf ihn, und jeder - 642 Möchtegern-Attentäter würde es sich sicher noch einmal überlegen. »Komm«, sagte Bridei. »Wir haben heute Abend zu tun. Ein weiterer Marsch liegt vor uns, und ein weiterer Kampf. Du übernimmst zusammen mit Enfret die erste Schicht.« »Ja, Herr.« Hargests Stimme war belegt von Emotionen, wenn es auch nicht die Zweifel, die Angst und die Nervosität nach einem Kampf waren, sondern Erwartung, Entschlossenheit und eine Spur von Stolz, die beinahe selbstgefällig klang. »Du wirst es nicht bedauern, Herr.« »Wir werden sehen«, sagte Bridei. Fünfzehn Jahre alt. War es dumm von ihm, dem Jungen eine solche Verantwortung anzuvertrauen? Hargest war naiv, er war ungeduldig, er musste noch viel über Menschen und über das, was sie antrieb, lernen. Aber er war im Herzen ein guter Junge. Er brauchte nur jemanden, der ihn anleitete, der auf ihn aufpasste, bis sein kindliches Urteilsvermögen sein männliches Aussehen einholte. Trotz Hargests Ungeschicklichkeit im Umgang mit anderen und seiner mangelnden Empfindsamkeit mochte Bridei den Jungen. Auf dem Spiralweg, der sie den Hügel hinabführte, musste Bridei wieder an Faolan denken, einen Mann, der so viel schmächtiger war als dieser kräftige Junge und der so viel mehr zu bieten hatte, Faolan, dem man alles sagen konnte und der genau wusste, wann er seine einzigartigen offenen Ratschläge geben oder einfach schweigend zuhören sollte. Faolan, der inzwischen beinahe wie ein Bruder für ihn war. Faolan, ein Gäle. Ein Rätsel. Er musste solche Überlegungen beiseite schieben, bis der Frieden gewonnen war. Donal, sein alter Freund und Lehrer, hatte ihm einmal gesagt, ein Krieger könne sich nicht leisten, den Feind als Menschen zu betrachten, oder er würde nie eine Schlacht gewinnen. Im Augenblick des Kampfes musste man sich in eine kalte, tödliche Kampfmaschine verwandeln. Man musste sich, zumindest bis der Krieg vorüber war, einreden können, dass - 643 es ein gutes Ergebnis darstellte, einen Mann von dreien zu verlieren. Die Götter mochten ihm das, was geschehen würde, verzeihen; er glaubte nicht, dass er sich je selbst verzeihen könnte. Tuala hatte geplant, nur so lange in Banmerren zu bleiben, bis sie sicher war, dass Broichan das Anwesen nicht wieder verlassen würde, bevor Fola und ihre Frauen auch nur anfangen konnten, ihm zu helfen. Der Druide
machte kein Geheimnis aus seinen Zweifeln, dass die Weisen Frauen ihn heilen konnten; er hatte es selbst nicht tun können, wie sollten sie also dazu in der Lage sein? Tuala hatte sich darauf berufen müssen, dass sowohl Derelei als auch Bridei von ihm erwarteten, dass er alles tat, was er konnte, bevor der Druide schließlich mit großem Widerstreben erklärte, er sei bereit, es zu versuchen. Ferada hatte ihre Besucher großzügig aufgenommen und sie in den Räumen untergebracht, die für die im Herbst eintreffenden Schülerinnen vorbereitet waren, schlichte, helle Räume mit Fenstern zum frisch bepflanzten Garten. Aber Tuala wusste, dass Ferada die Tage zählte, bis sie das Haus wieder für sich hatte. Garvan würde bald weiterziehen, denn seine Arbeit in Banmerren war so gut wie beendet, und im Süden erwartete ihn ein neuer Auftrag. Ferada sagte nichts darüber, ebenso wenig wie der Steinmetz, aber Tuala konnte ihr Schweigen lesen. Sie ließ Garth und Elda wissen, dass sie in einem oder zwei Tagen nach Hause zurückkehren würden. Es wäre gut, wieder am Weißen Hügel zu sein, wo sie sich in Brideis Abwesenheit um die Dinge kümmern konnte. Banmerren war voller Erinnerungen schöner und schrecklicher Art; im weiten Wipfel der großen Eiche schienen stets flüsternde Stimmen zu erklingen. Sie eilte sich auch jetzt, an dem Baum vorbeizukommen, und versuchte, nicht hinzuhören. Broichan und Fola saßen in einem fensterlosen Zimmer, - 644 einem Raum, der nur von Lampen beleuchtet wurde, selbst wenn die Sonne hoch am Himmel stand. An den Wänden befanden sich Steinsimse, auf denen Fola das Material und die Werkzeuge ihres Handwerks ordentlich aufgereiht hatte. Auf einem Tisch in der Mitte stand ein Gegenstand, der unter einem dicken Tuch aus schwarz gefärbter Wolle verborgen war. Der Krug daneben verriet Tuala, um was es sich handelte und was die beiden planten, und sie machte einen Schritt zurück. »Tuala«, sagte Fola, »bitte komm herein. Wir müssen mit dir sprechen, Broichan und ich. Wir werden dich nicht zu irgendetwas zwingen, wir verstehen, wieso du dich entschieden hast, den Blick nicht mehr anzuwenden. Das Tuch wird über der Schale bleiben, bis du es anders willst.« Tuala betrat das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Zu wissen, was sich unter dem schwarzen Tuch befand, machte sie nervös. Selbst durch die dicke Abdeckung rief die Schale mit dem Wasser nach ihr, erfüllte sie mit der Sehnsucht nach Wissen. Sie hatte sich mittlerweile daran gewöhnt, den Blick selbst von Regenpfützen abzuwenden und nicht mehr am See spazieren zu gehen. Ihre Begabung als Seherin war so mächtig, dass es mehr Qual als Segen darstellte. Um eine Stille zu füllen, die vor Gefahr nur so zu knistern schien, sagte sie: »Ich habe vor, in einem oder zwei Tagen aufzubrechen. Ich muss zum Weißen Hügel zurückkehren. Es gibt so viel zu tun ...« »Könntest du dir vorstellen, Derelei eine Weile hier zu lassen?« Broichans Stimme war leise, er sah müde aus, die Falten waren seinem Gesicht tief eingeprägt. Tuala hatte nicht daran gedacht, was ihr Aufbruch für den Druiden bedeuten würde. »Derelei muss bei mir bleiben«, sagte sie. »Er ist immer noch sehr klein, seine Lektionen können doch sicher warten, bis es dir besser geht.« Es geschah selten, dass Broichan anderen gestattete, über - 645 seine Maske strenger Ruhe hinwegzusehen. Nun sah er plötzlich aus, als hätte man ihm etwas genommen. »Das Kind ist doch entwöhnt, oder?«, warf Fola ein. »Du könntest ihn mit dem Kindermädchen hier lassen. Wenn du dich um seine Sicherheit sorgst, könnten sie alle bleiben, auch Garth und seine Frau.« »Und Ferada hätte drei kleine Jungen im Haus, wenn ihre ersten Schülerinnen eintreffen?« Tuala gelang ein Lächeln, aber sie empfand tiefstes Unbehagen. Was hatten sie für Derelei gesehen, diese beiden weisen Visionäre? »Er ist in Gefahr, nicht wahr?«, brach es nun doch aus ihr heraus. »Ihr habt etwas gesehen. Sagt es mir!« Broichan seufzte. »Ich habe dir von einer Vision erzählt, einer mächtigen, verstörenden. Aber ich beherrsche den Spiegel nicht mehr so, wie es einmal war. Dieser Augenblick der Klarheit war nur eine helle Blüte in einem Feld toter Halme. Ich sehe Fragmente, Augenblicke, flüchtig und undurchdringlich.« Tuala schaute Fola an. »Leider hat mir die Leuchtende in der letzten Zeit ebenfalls nicht gegeben, was ich brauche«, sagte die Weise Frau. »Sie hat einen Schleier vor ihr Gesicht gezogen und mich im Schatten gelassen. Tuala, wir beiden alten Freunde haben über das eingeschränkte Wissen gesprochen, das die Götter uns gewährten. Was wir gesehen haben, beunruhigt uns zutiefst. Wir ahnen Schlimmes. Aber wir können nichts unternehmen, ehe der Blick uns nicht mehr Antworten gewährt, als wir bisher erhalten konnten.« Tuala musste sich zwingen nachzuhaken. »Wenn ihr Gefahr für Derelei gesehen habt, müsst ihr es mir sagen. Ich kann mehr Wachen aufstellen, ich kann ...« Folas Miene brachte die Flut der Worte zum Stillstand. »Broichan bittet nur darum, dass Derelei hier bleiben soll, weil er es nicht ertragen kann, das Kind gehen zu lassen«, sagte die Weise Frau. »Broichan wird schneller gesund wer- 646 den, wenn Derelei in der Nähe ist und er ihn weiter unterrichten kann. Aber du bist die Mutter des Kindes, du musst entscheiden. Es ist nicht Derelei, um den wir uns Sorgen machen. Es ist Bridei.«
Eine kalte Hand schloss sich um Tualas Herz. »Sagt es mir«, forderte sie. »Wie ich schon erklärte«, fuhr Fola fort, »sind die Bilder vage und unzusammenhängend. Broichan und ich glauben seit einiger Zeit, dass ein Schatten über Bridei schwebt, eine Gefahr, die über die üblichen Gefahren des Krieges hinausgeht. Weil wir nicht deuten können, was wir sehen, können wir nicht darüber hinausgehen. Ich sah eine riesige Wildkatze, die ihn verfolgt, Broichan sah einen seltsamen Raubvogel, der auf ihn herabstieß. In einer anderen Vision sah ich Ana mit einer brennenden Fackel in der Hand, die ein Rudel Wölfe abwehrte.« »Was?« »Sehr unwahrscheinlich und eher die Art von Phantasie, die eine junge Schülerin des Handwerks glaubt, im Wasser zu sehen, als ein Bild, das diese alten Augen erwartet hätten. Wenn ich hinzufüge, dass sie ein sehr kurzes Gewand trug und ein seltsam schöner junger Mann an ihrer Seite stand, wirst du mir zweifellos sagen, dass ich meine zweite Kindheit erreicht habe. Aber genau das habe ich gesehen.« Alle schwiegen einen Augenblick. »Wenn wir herausfinden, um welche Gefahr es sich handelt«, sagte Broichan, »haben wir zumindest eine Möglichkeit einzuschreiten. Du weißt, wie es ist, Tuala. Wie beide haben schon einmal gehandelt, um ihn zu retten.« Sie nickte. Es war das einzige Mal in all den Jahren gewesen, in denen Tuala in Broichans Haus in Pitnochie aufwuchs, dass sie zu einer Art Übereinkunft gekommen waren. »Ihr wollt, dass ich es wieder tue.« Sie hörte die Angst in ihrer eigenen Stimme, und die Sehnsucht. - 647 »Es wird hier vollkommen sicher sein«, sagte Fola. »Du befindest dich in einer sicheren Zuflucht, hinter verschlossenen Türen, bei alten Freunden. Bei mächtigen alten Freunden. Außerhalb dieser Mauern wird nie jemand darüber sprechen, und wenn wir es Aniel oder Tharan sagen müssen, wenn wir einen Boten schicken müssen, werden wir behaupten, dass es Broichans Vision war. Du hast seit dem Tag, als Bridei nach Pitnochie ritt, um dich zurückzuholen, nicht mehr versucht, den Blick zu nutzen. Ich denke, der Zeitpunkt ist gekommen, an dem du es wieder tun musst.« Tuala nickte. Tränen brannten in ihren Augen. »Ich sah, dass er in Gefahr war«, sagte sie. »Bevor er aufbrach, als Broichan die Birkenstäbchen warf: Sieg oder Tod, das waren die Möglichkeiten. Ich habe es ihm erklärt. Er hat sich entschieden, dennoch zu gehen.« »Warum hast du es mir nicht gesagt?« Broichans Stimme war ein schockiertes Flüstern. Tuala sah ihn an. »Es war nicht nötig, dass wir uns beide vor Sorge das Herz zerreißen«, sagte sie. »Was die Stäbchen sagten, war ähnlich wie eure Visionen, fragmentarisch und unklar. Bridei wird besonders vorsichtig sein. Er wird dafür sorgen, dass seine Leibwächter noch wachsamer sind. Ich konnte ihm nicht sagen, worin die Gefahr bestand, woher sie kommen würde oder wann. Es gab nichts, was wir hätten tun können.« »Ich hätte mit ihm gehen sollen«, murmelte Broichan. »Nein«, sagte Tuala sanft. »Du bist am besten hier bei Derelei und bei mir aufgehoben.« Sie holte tief Luft. »Also gut, ich werde es tun. Nur dieses eine Mal. Es ist so lange her, seit ich es versucht habe, und ich werde vielleicht nicht mehr Erfolg haben als ihr beiden, aber ...« Sie nahm das Tuch von der Schale, in der sich bereits sauberes Wasser befand. Es schien noch dunkler im Raum zu werden, aber das Gefäß selbst war mit Licht erfüllt, mit Farbe, mit einer wirren Menge von Bildern. Tuala beugte sich darüber. - 648 Die Vision verschlang sie sofort. Sie bemerkte kaum mehr, dass Fola und Broichan näher kamen, sich an den Tisch stellten und jeweils eine ihrer Hände ergriffen, um einen Kreis um die Kupferschale zu bilden. Folas Hand war klein, warm und entspannt, Broichans schlanke, lange Finger waren kalt, die Knöchel mager, aber sein Griff fühlte sich beruhigend fest an. Im Wasser sah Tuala ihn in jüngerer Gestalt, einen dunkelhaarigen Druiden in den besten Jahren, der tief in den Wald ging, den Eichenstab in der Hand, den Blick wie in Trance in die Ferne gerichtet. Tuala war nicht sicher, ob es sich bei dem, was sie dort sah, um eine geistige Reise handelte, die während einer langen Meditation stattfand, oder ob sich Broichan tatsächlich einmal so in den Wald begeben hatte. Sie erkannte den Schauplatz. Es war eine Stelle oberhalb von Pitnochie, nahe dem Wasserfall. Der Frühling hatte gerade erst begonnen, frische grüne Blätter sprossen aus den Birkenzweigen, aber die großen Eichenknospen schwollen immer noch und warteten auf die Berührung wärmerer Tage. Das Licht fiel schräg zwischen die Bäume, warf helle Flecken auf das weiße Gewand des Druiden und ließ sein dunkles, geflochtenes Haar glänzen. Ein weißes Gewand. Wann hatte Broichan jemals Weiß getragen? Es musste die Zeit der FrühlingsTagundnachtgleiche sein, und der Druide war wohl auf dem Weg zu seiner dreitägigen einsamen Wache unter Sonne und Sternen, zu seinem geheimen Ritual der Tagundnachtgleiche. Broichan hatte dies jedes Jahr getan. Worum es bei diesem Ritual genau ging, wussten nur Druiden. Entbehrung, Fasten, Kasteiungen - all das würde vermutlich Teil des einsamen Ritus sein. Aber in dieser Vision war Broichan nicht allein. Hinter den Buchen, halb verborgen im Muster von Licht und Schatten, beobachtete ihn jemand. Tuala bemerkte ein helles Gewand, eine zarte weiße Hand, wehendes dunkles Haar; es gab ein Schimmern, eine Bewegung der Luft. Der Druide er- 649 starrte plötzlich und lauschte, aber einen Augenblick später ging er weiter, und als er auf dem Weg unter den
Bäumen verschwand, folgte ihm jemand, klein und schlank, aber von fraulicher Gestalt, mit Locken so schwarz wie Ruß und Augen so groß und hell, als schiene die Sonne tief in einen Waldteich. Eine Person, die Tuala selbst beunruhigend ähnlich sah. Bevor Tuala Gelegenheit hatte zu blinzeln, von einer Deutung dessen, was man ihr gerade gezeigt hatte, nicht zu reden, traten andere Bilder an die Stelle des ersten. Die Schale war plötzlich voll mit sich bewegenden Männern, mit Zustechen und Zuschlagen, Abwehren und Ducken, mit zu Schmerzensschreien oder primitiver Herausforderung aufgerissenen Mündern, mit Schwertern, Speeren und Keulen, flinken Pfeilen und tödlichen Messern. Es war eine große Schlacht, das Muster veränderte sich ununterbrochen, eine wirbelnde, launische, verschlingende Flut, und selbst der fähigste Stratege in Fortriu hätte Schwierigkeiten gehabt zu sagen, welchen Befehlen die Männer folgten oder welche dieser beiden Armeen die Oberhand hatte. Tuala bezweifelte nicht, dass sie den Höhepunkt von Brideis Feldzug vor Augen hatte, einen gewaltigen Kampf von entscheidender strategischer Wichtigkeit. Sie hatte die Göttin gebeten, ihr ein wahres Bild zu zeigen und ihr deutlich zu machen, worin die Gefahr für Bridei bestand. Erfahrung . sagte ihr, dass die Leuchtende ihr entweder zeigen würde, was sie wissen musste, oder überhaupt nichts. Hier und da tauchten vertraute Gesichter im Durcheinander auf: Uven mit verbundenem Arm, Carnach zu Pferd, der Befehle gab, Talorgen, der mit beiden Händen ein großes Schwert schwang und Blut auf der Tunika hatte. Enfret war verwundet, und Cinioch versuchte, ihn in den Schutz eines kleinen Hains zu zerren. Der Kampf tobte entlang des Ufers eines breiten, flachen Bachs, viele Krieger standen bis - 650 zu den Knien im Wasser. Tuala sah, wie zumindest einer getötet wurde, weil sein Gegner ihn in den Bach drückte. Das Wasser färbte sich rot. Die Krieger kämpften auf einem Teppich gefallener Kameraden. Später würde es große Scheiterhaufen geben. Tuala murmelte leise: »Knochenmutter, nimm sie bei den Händen. Gewähre ihnen Frieden«, obwohl sie nicht wissen konnte, ob das, was sie sah, bereits geschehen war oder gerade jetzt geschah. Vielleicht lag es auch noch in der Zukunft. Endlich sah sie Bridei und hielt den Atem an. Er lag am Boden und war verwundet, vielleicht starb er bereits. Der Konflikt ging rings um ihn her weiter, aber es gab dort, wo er lag, ein wenig Platz, als wäre der König von Fortriu unbemerkt gefallen und drohte mitten auf dem Schlachtfeld zu sterben, damit die Göttin ihn ebenso mitnahm wie jeden anderen Kämpfer. Bridei war allerdings nicht ganz allein. Ein junger Mann, der wie ein Caitt aussah, ein sehr großer, kräftiger junger Mann mit durchdringenden hellblauen Augen, kniete neben ihm, einen Arm hinter Brideis Schultern. Sein Leibwächter, der ihm aufhelfen wollte oder der ihn im Arm hielt, als er starb. Es war schwer, sich zu erinnern, dass dies nur eine Vision war, gleichzeitig mehr und weniger als die schlichte Wahrheit. Tuala wusste, sie musste atmen, sie musste sich konzentrieren. Sie durfte Bridei nicht aus den Augen verlieren. Das Wasser schien zu wirbeln, und plötzlich sah Tuala die beiden von der anderen Seite. Bridei war kreidebleich, er drückte die Hände auf die Brust, und der junge Mann versuchte, die verkrampften Finger zu lösen, er versuchte, die Wunde des Königs zu überprüfen, er war ... Tuala wurde kalt. Der Junge hatte ein Messer in der Hand, und die Spitze dieses Messers war auf Brideis Brust gerichtet. Der Leibwächter half dem König nicht, er wollte ihn töten. Bridei hatte die Finger um die Handgelenke des anderen gekrallt; er war bleich, seine Züge vor Anstrengung verzerrt, ein - 651 Mann, der gegen seinen sicheren Tod ankämpfte. Sobald sein Griff schwächer wurde, würde das Messer in sein Herz dringen. Tuala keuchte entsetzt, und das Bild im Wasser begann sich aufzulösen und zu verschwinden. »Nein ...«, flüsterte sie. »Noch nicht...«, und sie versuchte verzweifelt, sich auf etwas zu konzentrieren, das ihr das Wann, Wo und Wer mitteilen würde, Antworten, ohne die es keine Möglichkeit geben würde, Bridei zu retten. Eine Gruppe von Bäumen, weit entfernt ein paar Hügel, ein Umhang, ein Banner, die Farbe von Augen, von Haar ... dann war die Wasseroberfläche wieder glatt, und die Vision war verschwunden. Die anderen ließen Tualas Hände los. Ohne ein Wort zog Broichan das dunkle Tuch über die Schale. Fola stellte einen Hocker hinter Tuala und half ihr, sich hinzusetzen. Broichan stellte einen Becher Wasser vor sie. Dann warteten sie. Alle waren in diesem Handwerk erfahren und wussten, dass es keinen Sinn hatte, eine Seherin zu drängen, selbst wenn das Wissen, das sie weitergeben musste, außerordentlich bedeutsam war. Tuala konnte nicht aufhören zu zittern. Einen Augenblick später erzählte sie alles, nicht den ersten Teil mit Broichan, denn der konnte warten, sondern das, was sie von Kampf, Blut und Mord gesehen hatte. Sie zwang sich, sich so genau wie möglich an die Szene zu erinnern, denn wenn sie herausfinden konnten, wo sie stattfand, würde ihnen das vielleicht ermöglichen, den Zeitraum einzuengen. Was den Mann anging, der ihrem Mann ein Messer ans Herz hielt, den Jungen mit den seltsam hellen Augen, die sein Opfer kaum zu sehen schienen, so würde sie ihn den Rest ihres Lebens nicht vergessen. »Er sah aus wie ein Leibwächter«, sagte sie. »Er trug eine Tunika in den königlichen Farben, wie es Breth, Garth und Faolan tun, wenn sie an Brideis Seite in den Kampf reiten. Es schien ... es schien, als wäre er jemand, dem Bridei ver- 652 -
traute. Das würde erklären, wie er ihm so nahe kommen konnte. Und dann...« »Du sagtest, dieser junge Mann sei ein Caitt? Einer von Umbrigs Leuten?« »Er sah so aus. Er war noch sehr jung, aber kräftig gebaut. Er sah sehr stark aus. Bridei hat gewaltige Willenskraft, aber ich glaube nicht, dass er ...« »Was du gesehen hast, könnte noch weit in der Zukunft liegen«, sagte Fola leise. »Es ist noch zu früh, dass Brideis Streitmacht in einem so großen Kampf stehen könnte. Hast du nicht gesagt, dass Talorgen dort war? Dann wird es tatsächlich noch ein wenig dauern, denn Talorgen wird sich vom Meer aus nähern. Bridei muss zunächst Galanys Höhe und eine andere Siedlung im Süden einnehmen. Ich glaube, wir haben noch ein wenig Zeit.« »Wenn sie ihn töten«, sagte Tuala und fühlte sich, als läge ein schwerer Stein in ihrem Bauch, »wird die Armee ihre Zuversicht verlieren. Carnach ist ein fähiger Anführer, ebenso wie Talorgen und die anderen. Aber ihr wisst genauso gut wie ich, dass keiner von ihnen Brideis Platz einnehmen kann. Er ist das Schwert von Fortriu. Er ist ihre Hoffnung und ihre Inspiration. Sie vertrauen ihm. Sie würden für ihn direkt in das klaffende Maul des Todes reiten.« »Also«, sagte Broichan, »haben wir es mit einem Feind zu tun, der entweder sehr intuitiv ist oder Informationen erhalten hat, die er gut nutzt. Jemand ist zu dem Schluss gekommen, dass der einfachste Weg, die Priteni zu besiegen, darin besteht, ihren Anführer zu entfernen. Jemand hat erkannt, was Bridei darstellt. Ein Caitt, sagst du. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Umbrig zulässt, dass sich ein Verräter in seine Reihen einschleicht. Der Mann weiß, was er tut. Ein Leibwächter. Bridei würde doch sicher zu einem solch kritischen Zeitpunkt keinen neuen Mann erproben. Ich frage mich, wo Breth war?« Keine der Frauen sagte etwas dazu, denn die wahr- 653 scheinlichste Erklärung war eine, die niemand aussprechen wollte. »Können wir ihn rechtzeitig erreichen?« Tualas Gedanken überschlugen sich, suchten nach Möglichkeiten. Es war ein langer Weg das Tal entlang, und dieses Schlachtfeld schien sich weit hinter dem Königssee zu befinden. Sie glaubte, in der Ferne ein großes Gewässer erspäht zu haben, vielleicht das Meer im Westen. Die Szene in der Vision passte nicht zu dem, was Bridei ihr von Galanys Höhe erzählt hatte, wo sie als Erstes auf den Feind stoßen würden. »Ich weiß, dass man nicht leicht dorthin reiten oder gehen kann und dass es schwierig sein könnte, sie zu finden. Und gefährlich. Aber vielleicht gibt es eine andere Möglichkeit.« Sie warf Broichan einen Blick zu. »Verflucht sei diese Schwäche!«, sagte der Druide verbittert. »Es gab Zeiten, in denen ich die Reise innerhalb eines Tages hätte zurücklegen können, auf Wegen, die gewöhnlichen Menschen nicht zugänglich sind. Ich hätte Veränderungszauber benutzen können. Nun bin ich nur noch eine machtlose Hülse dessen, was ich einmal war. Ich kann nicht einmal daran denken, Tuala, ich bezweifle, dass ich je wieder solche Fähigkeit nutzen kann. Und Uist ist leider nicht mehr unter uns. In unserer Bruderschaft waren wir die Einzigen, die zu solchen Reisen fähig waren, wenn man einmal von dem absah, der es uns beigebracht hat, und der ist schon lange von uns gegangen.« »Fola?« Die Weise Frau spreizte hilflos die Finger. »Ich mag für ein altes Weib recht schnell sein, aber nicht so schnell. Gewöhnliches Gehen ist das Beste, was ich zu Stande bringe, und ich habe nicht das Ohr der wilden Tiere wie einige. Wenn wir Uists Stute hätten, wäre das eine Lösung. Aber Gischt ist verschwunden, als der alte Mann uns verließ. Wo immer sie hingegangen ist, wir können sie nicht rufen.« »Tuala«, sagte Broichan, »verfügst du über irgendeine - 654 Möglichkeit, die du jetzt benutzen könntest und von der wir nichts wissen? Eine, die über die Fähigkeiten gewöhnlicher Menschen hinausgeht? Die schnellste Botschaft, die Aniel oder Tharan schicken könnten, würde Bridei nicht rechtzeitig erreichen, es sei denn, diese Schlacht kommt viel später zu Stande, als wir glauben. Wir müssen sofort handeln. Wenn du eine andere Lösung weißt, hoffe ich, dass du es uns sagen wirst.« Tuala schluckte. »Ich hatte nicht vor, darüber zu sprechen«, sagte sie, »aber ich sehe, dass mir nichts anderes übrig bleibt. Ich hatte ... Besucher ... als ich jünger war. Es waren zwei, Volk von hinter der Grenze, ein Mädchen und ein Junge. Sie kamen häufig, aber nicht, weil ich es wollte. Sie spielten ein gefährliches Spiel mit uns, mit mir und Bridei; an diesem Abend in Pitnochie, als Bridei und Faolan mich aus dem Wald heimbrachten, sind wir beiden dem Tod sehr nahe gekommen. Wir haben später darüber gesprochen. Wir glauben, dass es vielleicht darum ging, unsere Kraft zu prüfen: seine Eignung, König zu sein, und meine, an seiner Seite zu stehen. Ich nehme an, wir haben die Prüfung bestanden.« Broichan schwieg und sah sie nur an, seine dunklen Augen undurchschaubar. Nach einer Weile sagte Fola: »Und jetzt? Besuchen sie dich immer noch? Würden sie dir helfen, wenn du sie bittest?« Tuala spürte, wie sie Lippen zu einem bitteren Lächeln verzog. »Sie haben nie zuvor getan, was ich wollte. Ich glaube, sie sind eher Freunde als Feinde, soweit die von ihrer Art ein Konzept wie das der Freundschaft überhaupt begreifen können. Aber ich habe sie seit Jahren nicht mehr gesehen. Manchmal höre ich Flüstern, wie zum Beispiel draußen aus der alten Eiche, als ich vorbeiging. Aber vielleicht hat mich auch nur meine Erinnerung getäuscht.« »Sie kommen nicht mehr zu dir, sagst du.« Broichan sprach beinahe zögernd. »Aber sie besuchen Derelei.«
- 655 Tuala nickte. Es fiel ihr schwer zu sprechen. »Ja, das denke ich jedenfalls. Er versucht, ihre Namen zu sagen. Aber woher weißt du davon?« »Meine Fähigkeit zu beobachten ist noch nicht so abgestumpft, dass ich nicht erkennen könnte, was eindeutig eine Hälfte eines Gesprächs ist, selbst wenn der Sprecher die Sprache noch nicht ganz beherrscht. Diese unsichtbaren Präsenzen, mit denen dein Sohn redet, sind also keine eingebildeten Freunde, sondern echte. Zumindest hoffe ich sehr, dass es sich um Freunde handelt.« »Er sollte vor ihren grausamen Streichen geschützt werden.« »Sie haben vielleicht die besten Absichten für ihn, wie sie es offenbar auch für dich und Bridei hatten. Ich habe bereits angefangen, ihm Sicherheitsmaßnahmen beizubringen. Die vom Guten Volk sind nicht an die Art der Menschen gewöhnt. Ihre Ziele bleiben uns oft verborgen. Häufig jedoch handeln sie im Auftrag höherer Mächte. Die Leuchtende wird zweifellos noch etwas mit Dereleis Zukunft zu tun haben.« Tuala sah ihn an und dachte an die Visionen, die sie gesehen, aber nicht erwähnt hatte. Irgendwo in ihrem Hinterkopf erwachte eine Idee, eine verrückte Idee, die sie aber nicht vollkommen abtun konnte. Vielleicht hatte die Göttin mehr Anteil an den Dingen genommen, als ihr je klar gewesen war. »Ich kann sie nicht rufen«, sagte sie. »Sie kommen nur, wann es ihnen paßt, und nicht, wenn ich es will.« Sie erinnerte sich an den schrecklichen Heimweg im Winter nach Pitnochie, den sie ganz allein zurückgelegt hatte, eine Flucht, deren Ende sie für immer aus der sterblichen Welt gebracht hätte, und Bridei wäre zurückgeblieben. Wie hatten Weide und Geißblatt sie je überreden können, auch nur daran zu denken? »Aber ich kann es versuchen.« »Dann versuche es«, sagte Fola leise. »Denn es sieht so aus, als wäre Bridei verloren - und der Krieg mit ihm -, - 656 wenn du diese seltsamen Boten nicht durchs Tal schicken kannst, um ihn rechtzeitig zu warnen.« Während der Sommer in den Herbst überging und die Bäume des Großen Tals sich scharlachrot und golden, bräunlich und gelb verfärbten, fegten die Armeen der Priteni weiter nach Süden, und auf ihrem Weg verbanden sie sich und verschmolzen zu einer einzigen, gewaltigen Streitmacht. Bridei hatte strenge Regeln für das Verhalten im Kampf und danach erlassen. Er wollte nicht, dass der Sieg zu einer Orgie von Brennen, Plündern und Vergewaltigen führte und nur verkohlte Ruinen blieben, wo es vor der Ankunft der Galen einmal blühende Priteni-Bauernhöfe, wohlhabende Fischerdörfer und gut geschützte Außenposten gegeben hatte. Er hatte in fünf Jahren seiner Herrschaft klar gemacht, was er von einem Krieger erwartete, und jeder seiner Unterführer war verpflichtet, diese Regeln an seine Leute weiterzugeben. Man konnte nicht unbedingt mit makellosem Gehorsam rechnen, aber jene, die gegen die Regeln verstießen, wussten, dass sie bestraft würden. Das sorgte für einen ordentlichen Vorstoß, und den Besiegten erleichterte es den Schmerz der Niederlage. Wo immer Bridei vorbeizog, ließ er Männer zurück, die Ruhe und Ordnung aufrechterhielten, Männer, die seine Regeln verstanden und stark genug waren, ihre Einhaltung durchzusetzen. Dann drängten sie weiter. Elpin fiel im Kampf an einem Ort namens Zwei Flüsse. In der gleichen Schlacht erhielt Uven eine tiefe Messerwunde in den linken Arm, die er fest verband und ignorierte, um weiter mit seinen Kameraden reiten zu können. Er konnte immer noch mit den Pferden und der Ausrüstung helfen. Aber er würde den König nicht mehr bewachen und eine Weile auch nicht mehr kämpfen können. Es wurde klar, dass die sorgfältig geplante Strategie ihnen zu einem verblüffenden Erfolg verhalf. Die Galen waren - 657 nicht auf einen so frühen Angriff der Armee von Fortriu vorbereitet gewesen, nicht auf das Ausmaß und die komplizierte Durchführung, und sie retteten sich hinter Mauern und Palisaden, sobald die Nachrichten sich ausbreiteten, aber es war zu spät, mächtige Hilfe von der anderen Seite des Meeres herbeizurufen, zu spät, sich an nördliche Fürsten wie Alpin von Dornwald zu wenden, zu spät, um jede kleine Siedlung, jeden Außenposten, jede ländliche Festung zu retten, die dem disziplinierten Vormarsch von Brideis vereinten Streitkräften zum Opfer fiel. Die Krieger von Dalriada starben zu Hunderten. Manchmal ergaben sie sich, und wenn das geschah, ließ Bridei den Galen die Wahl: Sie konnten sich der Autorität seiner eigenen Fürsten und der Herrschaft des Throns von Fortriu unterwerfen, in ihren Siedlungen bleiben und weiter in Frieden leben. Die Alternative bestand in Tod für die Männer und Exil für die Frauen und Kinder jenseits der Grenzen der Länder der Priteni. Er hatte nicht vorgehabt, so großzügig zu sein, und es wurde klar, dass es sowohl die besiegten Galen als auch die siegreichen Priteni überraschte. Dass die Götter dies von ihm verlangten, hatte Bridei begriffen, als sie in die Siedlung Zwei Flüsse eindrangen, die am Weg nach Süden zur gälischen Festung von Dunadd lag. Ohne sie würde das westliche Land sein Herz verlieren. Es gab einen Mann in Zwei Flüsse, dessen Leben die Priteni verschont hatten, denn er war kein Kämpfer, sondern er sah aus wie ein Schreiber oder Lehrer und trug ein langes Gewand und keine Waffen. Als die Menschen der Siedlung sich für die förmliche Übergabe des Ortes sammelten, sah Bridei, wie dieser Mann eine Frau und Kinder dicht an sich zog, als wolle er ihnen allen Schutz bieten, den er ihnen gegen die überwältigende Flut der Armee von Fortriu geben konnte. Er sah, dass der Mann zwar die breiten Züge und das rötliche Haar so vieler Galen hatte, seine Frau aber zier- 658 -
lieh und dunkel war, eine Frau von Priteni-Blut. Der neugierige Blick des kleinen Mädchens, das noch nichts vom Tod wusste, traf die hoch gewachsenen Fremden, die mit dem Strahlen der Eroberung auf den strengen Gesichtern in ihr Zuhause einmarschierten. Sie ähnelte ihrem Vater, eine rosige, rothaarige Gälin, ihr Bruder, älter und misstrauischer, war schlank und dunkel wie die meisten Söhne des Flammenhüters. Die Frau klammerte sich an den Arm ihres Mannes; er hielt die Hand des Jungen, hatte den anderen Arm um die Tochter gelegt und beugte sich zu ihr, um tröstliche Worte in ihre hellen Locken zu murmeln. In diesem Augenblick flüsterten die Götter Bridei zu, dass er einen Kompromiss finden musste. Wenn er alle Galen aus dem Land fegte, würde er solche Gemeinden zerstören, Mütter von Söhnen, Männern von Frauen trennen und dieses Land zu einer Zeit des Chaos und der Unsicherheit verurteilen. Die Galen hatten sich vor drei Generationen hier angesiedelt, sie waren inzwischen mit den Priteni beinahe zu einem Volk verwachsen. Er musste seinen Plan abändern, und zwar sofort. Also verschonte er jene, die Frieden schließen wollten, ließ ihnen aber deutlich machen, dass jedem Versuch zu einem Aufstand mit Eisen begegnet würde. In jeder Gemeinde blieb ein kleiner Trupp Bewaffneter zurück, und die Bewohner erhielten die Versicherung, dass sie, sobald Gabhran Dalriada aufgegeben hatte, ihr altes Leben wieder aufnehmen könnten. Nur eines würde sich verändern: jede Region würde von einem Fürsten aus Fortriu beherrscht werden. Bridei sagte ihnen nicht, dass es keine öffentliche Pflege der christlichen Religion mehr geben durfte. Dazu würde noch Zeit genug sein, wenn der letzte Kampf gewonnen war. Also zogen sie weiter, und am Abend der Herbst-Tagundnachtgleiche befanden sie sich im Herzland von Dalriada. Sie hatten erfahren, dass Gabhran mit der ihm ver- 659 bliebenen Streitmacht die Festung in Dunadd verlassen hatte und nach Norden zog, um sich Bridei auf offenem Feld entgegenzustellen. Vielleicht sah der gälische König bereits, dass das Schwert von Fortriu ihn früher oder später niedermähen würde, geschärft von der bis ins Mark reichenden Sicherheit, im Auftrag der Götter zu handeln. Vielleicht war Gabhran tatsächlich dumm genug zu glauben, dass er sie immer noch besiegen konnte, dass sie in seine Domäne eingedrungen waren, wie kleine Fische in ein Netz schwimmen, und er ihnen nur den Rückweg versperren musste, um den Fang einholen zu können. Bridei traf sich mit seinen Anführern zu der vielleicht letzten gemeinsamen Beratung vor der Entscheidungsschlacht. Rings umher hatten ihre vereinten Streitkräfte ein Lager aufgeschlagen und ruhten sich in Vorbereitung auf den Morgen aus. Sie hatten das fruchtbare Tiefland nahe der Küste im Südwesten erreicht, jeder Fürst hatte seine eigene Geschichte über die Reise dorthin zu erzählen, über die gewonnenen Schlachten, die Männer, die man zurückgelassen hatte, die eigenen eilig begraben, die Feinde aufgeschichtet und verbrannt oder Krähen und Möwen überlassen. Talorgen hatte vom Meer aus angegriffen und die Küstenfestung auf der Donncha-Landzunge auf diese Weise überrascht. Er hatte sich bis zur Abenddämmerung zurückgehalten und dann die gälische Flotte versenkt, bevor der Feind auch nur mit einem Gegenangriff beginnen konnte. Es war beinahe zu einfach gewesen, da dieser Außenposten nur schwach bemannt war, denn man hatte längst die meisten von Gabhrans Männern nach Süden gerufen, wo sie Dunadd verteidigen sollten, nachdem die Nachricht, dass die Priteni kamen, sich im ganzen Land ausgebreitet hatte und die Sicherheit des Königs als höchste Priorität betracht wurde. Was Brideis eigenen Schutz anging, so übernahm Hargest - 660 nun einen größeren Anteil der Pflichten, denn Cinioch und Enfret waren die einzigen Männer aus Pitnochie, die noch nicht verwundet waren. Die Kraft und Ausdauer des Jungen hatten sich auf den langen Märschen als hilfreich erwiesen, aber Hargest war sein größter Wunsch, neben seinem König im Kampf zu stehen, noch nicht gewährt worden. Nachts standen zwei von drei Männern Wache, während der dritte schlief. So nahe am Sieg musste der König besser bewacht werden als je zuvor. Wer wusste schon, ob die Galen nicht einen geschickten Attentäter aussenden würden? Hargest beschwerte sich, dass Bridei kaum einen nächtlichen Wachposten brauchte, da er nur selten schlief; warum legte er sich nicht hin und ruhte sich ordentlich aus, statt die kostbare Zeit der Ruhe beim Gebet, in Meditation oder in Gesprächen mit denen zu verbringen, die ebenfalls die Nacht wach verbrachten? Uven, verärgert dass seine Verwundung ihn zu einer zweitrangigen Rolle verurteilte, tadelte den Jungen, weil er sich zu offen äußerte, aber Bridei lächelte nur. Der Junge verstand nicht, was es bedeutete, von einem Druiden aufgezogen worden zu sein, und er konnte sich auch nicht vorstellen, dass die Verantwortung eines Königs Bridei die Möglichkeit nahm, sich dem Schlaf hinzugeben. Für Hargest war das Leben erheblich einfacher. Er erinnerte Bridei an ein wildes Tier, vielleicht eine jagende Katze. Feinde mussten getötet werden. Wenn gute Männer dabei fielen, dann war das eben so. Essen, schlafen, weiterziehen, erneut töten... in all diesen langen Tagen des Marschs war es Bridei nicht gelungen, Hargest zu überzeugen, dass es noch mehr als das gab. An diesem Abend versammelten sich die Stammesfürsten von Fortriu im schützenden Kreis ihrer Leibwächter und legten die Strategie für den letzten Angriff fest. Außer Carnach, Ged, Morleo, Wredech und Talorgen waren noch Fokel von Galany und der große, wild aussehende Umbrig anwesend. Bridei hatte schon zuvor mit dem Caitt-Fürsten - 661 -
gesprochen und ihn um seine Erlaubnis gebeten, Hargest behalten zu dürfen, wenn der Junge selbst ebenfalls einverstanden war, Umbrig war eher erleichtert als besorgt gewesen und hatte zugegeben, dass Hargests Haltung ihn in der letzten Zeit verärgert hatte. Der Junge hatte sich intensiv an den Einschränkungen im Haushalt seines Pflegevaters gestört, war aber nie so weit gegangen, zu verlangen, dass man ihn nach Dornwald zurückschickte. Umbrig war sicher, dass die Arbeit mit den Pferden Hargests Begabung am besten entsprach, aber das war es, was der Junge am wenigsten tun wollte. Wenn Bridei ihn wollte, konnte er ihn haben. Was Alpins Erlaubnis anging, dazu bestand keine Notwendigkeit. Tatsächlich hatte Hargests Vater offenbar schon lange das Interesse an ihm verloren. Eine Schande. Umbrig glaubte, dass Hargest die feste Autorität eines Vaters brauchte. Er hatte es selbst versucht, aber der Junge war schwierig: schwierig zu disziplinieren und schwierig gern zu haben. Bridei hatte sich bei dem Caitt-Führer bedankt und nichts weiter dazu gesagt. Er hoffte sehr, dass er, wenn all dies vorüber war, im Stande sein würde, aus diesem aufbrausenden jungen Krieger einen reifen Mann zu machen. Zeit, Geduld und ein gutes Beispiel würden sicherlich das Beste in Hargest zu Tage fördern. Sie machten drei Pläne: einen für eine Begegnung auf offenem, geradem Boden, einen für einen Angriff hügelaufwärts auf eine Festung - sie hofften sehr, diesen Plan nicht umsetzen zu müssen - und einen dritten für einen Angriff hügelabwärts, bei dem sie ihre gut geübte Pikenblock-Formation vernichtend einsetzen könnten. Carnach ging davon aus, dass Gabhran ein offenes Feld vorzog, und in diesem Fall würden sie mit einem Angriff der Reiterei beginnen, komplett mit Fahnen. Sobald die erste Reihe der gälischen Streitmacht durchbrochen war, würden die Krieger hinter den Reitern den Feind angreifen. Die Größe der vereinten Armee von Fortriu erlaubte es, Dalriada von drei Seiten - 662 anzugreifen, immer vorausgesetzt, sie konnten rechtzeitig herausfinden, wo sich Gabhrans Streitmacht befand. »Die Männer können es kaum erwarten«, sagte Talorgen. »Selbstverständlich sind sie müde, nachdem sie so lange unterwegs waren und so viele gefallen sind. Aber sie riechen den Sieg, sie wissen, dass das Ende nahe ist.« »Wenn wir schnell siegen«, sagte Carnach, »ist das umso besser. Wir nutzen den Funken in unseren Männern, um die Oberhand zu gewinnen. Wenn es uns gelingt, Gabhran selbst gefangen zu nehmen, wird uns das die Möglichkeit geben, den Kämpfen ein Ende zu machen. Ich glaube, dass seine Anführer dann verhandeln würden.« »Was gäbe es denn da noch zu verhandeln?«, fragte Ged barsch. »Das Leben des Königs von Dalriada ist sicher einiges wert«, warf Morleo ein. »Was hast du vor, Bridei? Möchtest du ihm ein Ende machen, wenn er nicht auf dem Feld stirbt?« Bridei hatte eine Vorstellung davon, wie es ausgehen könnte; seine langen Nächte des Nachdenkens und der stillen Konversation mit den Göttern hatten Früchte getragen. Er war jedoch nicht sicher, ob er es schon aussprechen wollte, selbst vor seinen treuesten Anführern. »Sehen wir, wie er sich verhält«, sagte er. »Zweifelt nicht daran, dass ich nötigenfalls Gabhrans Tod anordnen werde. Zweifelt nicht daran, dass es ohne Zögern geschehen wird, wenn es notwendig sein sollte, um die Kapitulation zu sichern. Ich möchte, dass er vor mir niederkniet und die Herrschaft über Dalriada aufgibt. Er muss sich ergeben und seine Krieger hinter unsere Grenzen zurückziehen. Falls er zustimmt, bin ich bereit, über seine Zukunft und die der Ui Neill, die ihn unterstützen, nachzudenken. Es wird allerdings kein allgemeines Töten gefangener Krieger geben, solange uns Alternativen bleiben. Sie haben eine Flotte; sollen sie nach Hause zurücksegeln und nie wiederkehren.« - 663 Talorgen räusperte sich. »Tatsächlich«, warf Carnach ein, »ist nach Uerbs und Talorgens Angriff von der gälischen Flotte nicht mehr viel übrig. Dennoch, sie werden noch ein paar Schiffe im Süden haben. Sie werden schon eine Möglichkeit finden, nach Hause zu gehen, wenn man sie entsprechend ermutigt.« »Was, wenn Gabhran sich entschließt, umzukehren und sich in Dunadd zu verschanzen?«, fragte Ged. »Das könnte eine längere Belagerung werden, und wir sind weit von zu Hause entfernt.« »Zumindest gibt es hier genügend Vorräte«, sagte Umbrig. »Diese Region hat gutes Bauernland, ich hätte selbst nichts gegen einen kleinen Hof hier in der Nähe. Das Vieh ist doppelt so groß wie meines zu Hause.« »Sehen wir, wie es sich entwickelt«, sagte Bridei. »Ich werde mich zunächst um Gabhran und seine Anführer kümmern, dann müssen wir unsere Basis hier etablieren und dafür sogen, dass das Land stabil und produktiv bleibt. Und ich werde zweifellos nach Fürsten suchen, die über Autorität und über ein gesundes Urteilsvermögen verfügen, denn ich brauche starke Anführer hier im Westen. Darüber sprechen wir, wenn wir den Krieg gewonnen haben. Talorgen, wann, glaubst du, wird diese Begegnung stattfinden und wo?« »Bald«, sagte Talorgen mit grimmiger Zufriedenheit. »Ich denke, wir werden ihnen innerhalb von drei Tagen begegnen. Was den Ort angeht, wird es wahrscheinlich irgendwo passieren, wo Gabhran von unserer viel größeren Streitmacht nicht eingeschränkt werden kann. Es gibt einen Tagesmarsch südwestlich von hier ein Tal. Früher einmal war es als Dovarben bekannt, aber nun hat es zweifellos einen gälischen Namen. Durch das Tal fließt ein breiter und ziemlich träger Bach. Die Landschaft bietet nicht viel Deckung, außer an den Enden des Tals. Wenn ich der gälische König wäre, würde ich diesen Ort wählen. Wir müssen an ihm - 664 vorbeikommen, wenn wir Dunadd erreichen wollen. Um die für uns günstigste Strategie anzuwenden, müssten wir längst bevor sie eintreffen in Position sein, und wir müssen irgendwie verhindern, dass Gabhrans Späher uns
entdecken. Mit einer Streitmacht dieser Größe ist das beinahe unmöglich.« Im Halbdunkel des kleinen Feuers, das Carnachs Leibwächter Gwrad für sie angezündet hatte, vermieden die Fürsten, einander anzusehen, und das Schweigen dauerte an, als sie alle nach einer Lösung suchten. Eine offene Ebene, eingeschränkte Deckung, und wenn Gabhrans Spione ihre Arbeit taten, wussten die Galen nun, wo sich die Priteni befanden und wie groß ihre vereinigte Streitmacht war ... das stellte eine beträchtliche Herausforderung dar. »Nun gut«, seufzte Ged nach einer Weile, »es erfreut den Flammenhüter, uns solche Prüfungen zu stellen, jede ein klein wenig schwieriger als die vorhergehende. Ich höre, dass die gälischen Bogenschützen nicht schlecht sind. Wenn sie die Möglichkeit erhalten, werden sie uns erledigen, bevor wir auch nur nahe genug sind, um sie zu berühren.« Fokel von Galany hüstelte. Die anderen schwiegen. Alle Blicke wandten sich ihm zu. Anders als Ged scherzte Fokel selten; tatsächlich meldete er sich bei solchen Besprechungen nur selten zu Wort, wenn er nicht einen wichtigen und für gewöhnlich erstaunlichen Beitrag zu leisten hatte. »Einer meiner Jungs ist zufällig vor ein paar Nächten in diese Richtung gezogen«, sagte er lässig. »Wenn alles gut geht, sollte er später heute Abend zurückkehren und uns Informationen bringen: Er wird wissen, wo Gabhran sich aufhält und ob es möglich wäre, hinter ihn zu gelangen oder zumindest eine Position zu finden, um auch von der Flanke aus zuschlagen zu können. Mit eurer Zustimmung werden Umbrig und ich unsere Leute im Schutz der Dunkelheit marschieren lassen und uns eingraben. Ich habe noch an- 665 dere Männer draußen, deren einzige Aufgabe darin besteht, die Späher der Galen unschädlich zu machen, bevor wir uns in Bewegung setzen. Ich kann euch vielleicht nicht mehr rechtzeitig benachrichtigen, wo genau wir sind, aber wir werden an Ort und Stelle sein, um euren Angriff zu unterstützen, das kann ich euch versprechen.« Bridei sah ihn mit hoch gezogenen Brauen an. Ein solches Unternehmen war typisch für Fokel; man konnte ihm den Mut nicht aberkennen. Er war vielleicht nicht unbedingt ein Mann für gemeinsame Unternehmungen, aber seine taktischen Ideen waren brillant. Umbrig strahlte zufrieden. »Gut gemacht«, sagte Bridei. »Ich brauche euch beiden wohl nicht zu sagen, dass der Feind auf keinen Fall herausfinden darf, dass ihr euch so nah an seiner endgültigen Position befindet, denn das würde nicht nur eure Leute gefährden, sondern uns alle. Überraschung war bisher der Hauptgrund für unseren Erfolg. Aber mir ist klar, dass eure Männer sehr genau wissen, was sie tun, dass sie im Stande sind, unabhängig zu handeln und viele Tage und Nächte mit nur geringen Vorräten und nur wenig Ruhe zu überstehen. Ihr leistet viel. Der Flammenhüter lächelt auf euren Mut herab. Lass mich wissen, wann der Bote zurückkehrt und wann ihr aufbrechen wollt. Wenn die Götter uns gnädig sind, wird dies der letzte Kampf unseres Feldzugs sein. Eure Männer sollten mit dem Segen der Götter in ihren Herzen und der Ermutigung ihres Königs gehen.« Als der Zeitpunkt kam, sprach er zu Fokels und Umbrigs Leuten als König von Fortriu und als Waffenkamerad. Im Dunkeln sammelten sie sich um ihn, die schlanken, scharfäugigen Kämpfer von Fokels Truppe und die großen kräftigen Caitt-Krieger, vor Waffen strotzend und mit zottigen Barten und Fellumhängen, und er sprach mit ihnen, wie er mit einem Bruder sprechen würde, ehrlich und mit leidenschaftlicher Entschlossenheit. Ihr wildes Aussehen verstör- 666 te ihn nicht mehr, es war ihm auf den langen Märschen vertraut geworden, in diesen angespannten, unbequemen Nächten und erschöpfenden, blutigen Tagen. Bridei hatte gesehen, wie die Bewaffneten aus Pitnochie, Rabenbrunn und Dornenband hagerer und abgerissener wurden, je länger der Feldzug dauerte. Er wusste, wenn er sich nun bücken würde, um sein Spiegelbild in einem Teich oder einem Bach zu betrachten, würde er ganz ähnlich aussehen. Am Kinn war ihm ein wirrer Bart gesprossen, sein Haar hing ihm bis auf die Schultern, und er roch nicht besser als alle anderen. Disziplin hielt die Waffen scharf, die Klingen sauber, die Pfeile in gutem Zustand. Stiefel wurden geflickt und Lederrüstungen geschmeidig gehalten. Kleinigkeiten wie Kämmen, Rasieren und frische Unterwäsche hoben sie sich für die Zeit auf, wenn die Armee wieder auf dem Weg nach Hause war und man kurz davor stand, Frau, Liebste oder Kinder zu umarmen. Er hielt seine Ansprache kurz, und die Männer begrüßten das. Als er fertig war, betete er und bat den Flammenhüter um den Sieg. Um der Männer willen betete er auch ums Überleben und für jene, denen dies nicht gewährt werden konnte, um einen ehrenvollen, gnädigen Tod. Dann kam im Feuerlicht jeder Mann nach vorne an eine Stelle, die Bridei gekennzeichnet hatte, und jeder legte einen kleinen Stein ab. Nachdem alle von Fokels Männern ebenso wie die von Umbrigs Streitmacht, die an diesem verdeckten Ausfall teilhaben sollten, an der Stelle vorbeigegangen waren, lag ein Steinhaufen auf der Lichtung. Wenn die Hauptstreitmacht weiterzog, würden auch sie hier Steine hinterlegen, jeder Mann einen. Später, auf dem Weg nach Hause, würden die Überlebenden einen Stein zurücknehmen. Alle wussten, wenn das getan war, würde ein kleinerer Steinhaufen zurückbleiben. Jeder verbliebene Stein stünde für einen Sohn von Fortriu. Diese Lichtung würde die Erinnerung an sie durch Sommer und Winter wahren, bis die jungen Birken - 667 wuchsen, um Schatten auf das Denkmal zu werfen, und Moos und Farnkraut es langsam mit einer grünen Decke überzogen. Wenn die Männer längst aufgehört hatten, von diesen Verlusten zu erzählen, wenn sie längst vergessen waren, würden die Bäume immer noch schaudern und sich erinnern. Die kleinen Steine würden die
Erinnerung weiter bewahren, tief in ihren Herzen. Zwei Tage später marschierte die Hauptstreitmacht auf den letzten Kampf zu. Das Wetter war gut, die Vorzeichen waren wohlwollend. Einer von Fokels schnellsten Männern kehrte zurück und informierte sie, dass die gälische Armee auf genau die Stelle zumarschierte, von der Talorgen gesprochen hatte, und dass sie erheblich größer war, als Bridei und die Fürsten für wahrscheinlich gehalten hatten. Hatte Gabhran doch früh genug von dem Angriff erfahren, um Hilfe von seinen Ui-Neill-Verwandten auf der anderen Seite des Meeres herbeizurufen? Bridei hätte schwören können, dass Dalriada nichts über den Zeitplan seines Vormarschs wusste, bis vor nicht allzu langer Zeit der erste Priteni-Angriff auf eine gälische Siedlung stattfand. Faolan war ein Experte, wenn es darum ging, am Hof von Dunadd falsche Informationen zu verbreiten. Wie hätten sie es wissen können? Es war zu spät, um ausführlich darüber nachzudenken. Die Armee von Fortriu würde kämpfen müssen, tief in feindlichem Territorium, mit so großen Eroberungen hinter sich, dass sie nun alles aufs Spiel setzen und dem Feldzug auf die eine oder andere Weise ein Ende machen mussten. Die Männer waren voller Kampfesmut, ihre Augen strahlten in Erwartung des Triumphs, auch wenn sich auf ihren Gesichtern die Spuren dieses langen, schweren Feldzugs abzeichneten. Im Augenblick waren sie relativ gut ausgeruht, hatten zwei Nächte im Schutz des Birkenwalds gelagert. Noch bereiter konnten sie nicht sein, und Bridei wusste tief - 668 im Herzen, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als weiterzumachen. Er war umgeben von den Männern aus Pitnochie, Uven immer noch mit verbundenem Arm, Enfret und Cinioch wachsam. Hinter ihm saß Hargest stolz und gerade auf seinem Pferd. Sie alle, das wusste Bridei, spürten die Präsenz von Breth und Elpin wie Schatten neben sich. Die Überlebenden wollten Rache. Sie wollten, dass die Galen für den Tod ihrer Kameraden zahlen sollten. Zu solchen Zeiten war der Platz eines wahren Sohnes von Fortriu mitten im Kampf, wo er im Namen des Flammenhüters und für die Wiedereroberung des Landes seiner Ahnen zuschlug. Bridei wusste, dass er seinen Leibwächtern diese Möglichkeit bei dieser wahrscheinlich letzten Schlacht nicht verweigern sollte. Er würde sie neben Carnachs Reiterei kämpfen lassen, einen nach dem anderen. Es wäre dumm, nur mit Hargest an seiner Seite in den Kampf zu reiten, aber der Junge konnte diese Pflicht mit Enfret oder Cinioch teilen. Es war Zeit, ihm eine Chance zu geben. Brideis Instinkt sagte ihm, dass Hargest überleben würde; wenn überhaupt jemand groß und wild genug war, um angreifende Galen zu verschrecken, dann dieser Furcht erregende junge Krieger. Wenn sie erst alles hinter sich hatten, wenn sie erst wieder am Weißen Hügel waren, hatte Bridei vor, die weitere Ausbildung des Jungen Garth zu übertragen. Garth würde dafür sorgen, dass Hargest zu der Kraft und den Fähigkeiten, über die er bereits verfügte, auch noch Selbstdisziplin lernte. Er selbst würde versuchen, ihn in der Kunst der intelligenten Debatte zu unterrichten und ihm nach und nach deutlich machen, dass es zwischen Schwarz und Weiß noch viele Grautöne gab. Er würde seinen alten Lehrer Wid bitten, dabei zu helfen. »Du wirst morgen mit mir reiten«, sagte er nun, als Hargest auf einem von Umbrigs kräftig gebauten Berglandponys neben ihn ritt. »Enfret und Cinioch werden bei dem - 669 berittenen Angriff mitmachen. Wir brauchen jeden einzelnen erfahrenen Krieger. Danach werden sie sich dabei abwechseln, dich als Leibwächter zu unterstützen, je nachdem, wie die Schlacht sich entwickelt. Du kennst deine Rolle: Bleib dicht bei mir, warne mich vor Unerwartetem und bedenke, dass mein Überleben den Vorrang vor deiner Gelegenheit hat, gälische Köpfe zu nehmen. Wir werden dennoch beide am Kampf teilhaben. Ich habe mit Breth und meinen beiden anderen Leibwächtern an meiner Seite schon in vielen Kämpfen gestanden, und zusammen haben wir eine respektable Anzahl von Feinden getötet. Ich bin keiner, der sich zurückhält und seine Männer an seiner Stelle sterben lässt. Deine Aufgabe wird nicht leicht sein. Du wirst vielleicht angreifen wollen und mich vollkommen vergessen. Das kannst du dir nicht erlauben, ganz gleich, wie stark dieses Bedürfnis ist. Das Überleben des Königs ist von hohem symbolischen Wert.« »Ja, Herr.« Der Ausdruck auf Hargests breitem Gesicht war verblüffend. Seine Augen, interessant schon wegen ihrer seltsamen hellen Farbe, waren nun von einer merkwürdigen Begeisterung erfüllt, deren Ursache doch wohl kaum die Möglichkeit sein konnte, die Bridei ihm anbot. Welcher junge Krieger würde nicht vorziehen, sich in den eigentlichen Kampf zu stürzen, um sich gegen die Galen zu beweisen, wie es Cinioch und Enfret tun sollten? Bridei war verblüfft über diese Augen, die in ihrem Eifer beinahe blind schienen, über die finstere Entschlossenheit in der Linie des Mundes und des Kinns. Der Junge stammte nicht einmal aus Fortriu selbst, er war ein Caitt, aber seine Ergebenheit war beinahe beängstigend. »Immer mit der Ruhe, Hargest«, sagte Cinioch. »Heb dir diesen Blick für die Galen auf, sie werden sich schon ergeben, bevor sie auch nur die Chance hatten, ihre Schwerter zu ziehen.« »Ich tue, was man mir befiehlt.« Hargests Tonfall passte - 670 zu seinem Aussehen. Er klang, als hätte er sich ebenso gern auf Cinioch gestürzt wie auf die Galen. »Kümmere dich um deinen eigenen Auftrag und überlasse mir den meinen.« Bridei mischte sich nicht ein. Die Männer waren gereizt und nervös. Der Flammenhüter füllte ihre Adern nicht nur mit rauschendem Blut, sondern mit einem Übermaß glühender Aggressivität, die sie mit dem Namen Fortriu auf ihren Lippen und in ihren Herzen in die Schlacht tragen würde.
Seine eigenen Gedanken waren komplizierter. Hatte er sich nicht nach einem solchen Tag gesehnt, seit der Dunkle Spiegel ihm zum ersten Mal diese herzzerreißende Vision von Grausamkeit und Mut gezeigt hatte? Morgen würde Gabhran von Dalriada vielleicht auf dem Schlachtfeld vor ihm niederknien und seine Territorien im Westen aufgeben. Konzentriere dich darauf, sagte sich Bridei, während Schneefeuer ihn stetig nach Süden trug und rings um ihn her seine lang gedienten, treuen Männer und sein neuester und jüngster Leibwächter in strenger Formation ritten. Triumph. Sieg. Der Wille der Götter. Aber was er sah, war dieser Steinhaufen und eine schweigende Reihe von Kriegern, blutig und zerschlagen, die daran vorbeigingen, jeder, um einen Stein zu nehmen. Männer, in deren Augen die Erinnerung an verlorene Kameraden, an verzweifelte kleine Kämpfe, an Hunderte von Augenblicken der Angst, des Entsetzens und der Hilflosigkeit, an hundert Schläge auf Herz, Geist und Seele standen. Sie streckten die Finger aus, um andere Steine zu berühren: Den hat mein Bruder hierher gelegt, diesen mein Freund; der Mann, der diesen Stein hingelegt hat, wird nie wieder nach Hause zurückkehren. Bridei schloss einen Augenblick die Augen und dachte an Tuala, die ihm mit ernster Miene mitgeteilt hatte, dass er selbst dem Tod nahe genug kommen würde, um den Schlag seiner dunklen Flügel zu spüren. Er hörte ihre Stimme: Verliere deinen Glauben nicht, Liebster. Die Götter lächeln auf dich herab. Ziehe tapfer weiter und gewinne deinen Krieg für - 671 Fortriu. Auf dem Weißen Hügel brennt eine Kerze für dich. Und wenn es getan ist, komm nach Hanse, wo du weinen und dich trösten lassen kannst. Es war Herbst, als Ana und ihre Begleiter nach Abertornie kamen, drei müde und abgerissene Wanderer, sonnenverbrannt und abgemagert bis auf die Knochen von dem langen Weg. In den letzten Tagen hatten sie hin und wieder unterwegs ein paar Dinge erhalten. Ana trug die praktische selbstgewebte Kleidung einer Bauersfrau. Sie war froh, die fadenscheinigen Überreste dessen, was einmal ein zart besticktes Hochzeitskleid gewesen war, nicht mehr tragen zu müssen. Geds Haushalt war schockiert genug von ihrem Wiederauftauchen und der Geschichte, die sie zu erzählen hatte, aber zumindest brauchte sie das Haus nicht in Lumpen zu betreten. In Abertornie lieh sie sich ein etwas besseres Kleid, weil Geds Frau Loura darauf bestand, und ließ sich ausführlich von zwei energischen Dienerinnen waschen. Es fühlte sich seltsam an, wieder sauber zu sein. Ihr Haar war über die Schulterlänge hinausgewachsen. Nachdem es mit Kamillenwasser gewaschen und anstrengend und schmerzhaft gebürstet worden war, verwandelte es sich wieder in einen wilden Fluss goldener Fäden. Sie betrachtete ihr Spiegelbild in Louras Bronzespiegel und erkannte die seltsame Frau, die zurückschaute, nicht wieder, diese Frau mit der gebräunten Haut, so schlank, dass das Kleid in weiten Falten um sie herumhing, einen misstrauischen, fragenden Blick in den Augen. Diese tatkräftig aussehende Person war nicht die Braut, die im Frühling vom Weißen Hügel aufgebrochen war. Ana dankte den Dienerinnen und ging in den Garten. Nachdem sie so lange im Freien gelebt hatte, fühlte es sich unangenehm an, längere Zeit im Haus zu sein. Es war still im Haus, denn es war notwendig gewesen, die Nachricht vom Verlust der Eskorte zu überbringen, zu der - 672 auch das Mädchen Creisa gehört hatte, und eine Familie trauerte. Ged selbst war schon lange aufgebrochen und hatte seine Krieger mitgenommen. Brideis Armee würde inzwischen längst in Dalriada sein. Wenn alles nach Plan verlaufen war, wäre der Krieg so gut wie gewonnen. Ana empfand ein gewisses Widerstreben, das Ende dieser Reise zu erreichen, nun, da es so nahe war. Am Weißen Hügel würde sie erklären müssen, was geschehen war. Sie würde Broichan, Aniel und Tharan berichten müssen, dass sie versagt hatte und es kein Bündnis mit Alpin gab. Wahrscheinlich würden die mächtigen Männer von Brideis Hof sofort beginnen, neue Pläne für sie auszuhecken, Pläne, die einen anderen Fürsten, eine andere Heirat beinhalteten. Sie mochte auf der Reise ein wenig Mut gewonnen haben und vielleicht hatte sie gelernt, sich besser zu behaupten. Dennoch, die Versuchung war stark, den Tag, an dem sie ihnen sagen musste, dass sie nicht mehr tun würde, was sie wollten, weiter hinauszuschieben. Sie sehnte sich danach, hier eine Weile zu bleiben und sich auszuruhen. Sie sehnte sich danach, Zeit allein mit Drustan zu verbringen. Ana ging im Schatten einer Doppelreihe von Birnbäumen einher, die Wiese weich unter ihren geliehenen Pantoffeln. Der Tag war warm, der Himmel wolkenlos. Vogelgesang erfüllte den Garten, und Insekten zirpten und summten in jeder Ecke. Eine Krähe stocherte zwischen den Wurzeln eines uralten Baums und suchte nach Käfern. Ein Kreuzschnabel mit scharlachroter Kehle hockte auf den Zweigen und beobachtete Ana mit schief gelegtem Kopf. Die Männer waren von einem uralten Diener zum Baden weggeführt worden; sie sollten inzwischen ebenfalls fertig sein. Sie musste an Drustan denken und wie schwierig es am Weißen Hügel für ihn werden würde. Sie würden bleiben müssen, bis Bridei zurückkehrte. Vielleicht sogar länger. Davon einmal abgesehen, dass sie die Zustimmung des Königs für ihre Heirat erhalten wollten, mussten sie noch an- 673 dere Entscheidungen treffen. Da Alpin nun tot war, würde Drustan bald in den Norden zurückkehren und die Herrschaft in Dornwald und im Träumenden Tal ergreifen müssen. Ana hatte an die Möglichkeit gedacht, nach Hause zu gehen, wirklich nach Hause, zu den Hellen Inseln. Dort könnten sie beide sich bei ihren Verwandten ansiedeln und ein Leben frei von der Last von Alpins Verbrechen und den Zweifeln und dem Misstrauen führen, denen Drustan in Dornwald ausgesetzt wäre. Sie sprach nicht mit Drustan darüber. Später würden sie die Inseln
zumindest besuchen, und Ana könnte ihre Schwester sehen. Aber sie wusste, dass Drustan sich zunächst seinen Dämonen stellen und sie zur Ruhe betten musste. Sie würden Bela suchen. Sie würden Drustans Unschuld vor all seinen Leuten beweisen. Der Hof von Fortriu würde eine Herausforderung für ihn sein. Er hatte sieben Jahre eingesperrt verbracht, nur mit einer einzigen Person zur Gesellschaft. Sich nun in der Mitte dieses Kreises mächtiger Männer als Gegenstand von Intrigen, Gerede und Manövern zu finden, wäre ein großer Schock. Sie würde es ihm erklären müssen, würde Tuala und vielleicht Broichan von den Veränderungen erzählen müssen, von dieser Begabung, die Drustan zu dem außergewöhnlichen Mann machte, der er war, und erklären, dass er die Freiheit brauchte, sich zwischen den Welten hin und her zu bewegen. Sie würde ihnen sagen müssen, dass eine Frau vom königlichen Blut von Fortriu vorhatte, einen Mann zu heiraten, der seine Gestalt verändern konnte. »Ana?« Sie fuhr herum, aus ihren Gedanken gerissen. Es war nicht Drustan, der dort unter den Bäumen stand, sondern Faolan, glatt rasiert, das dunkle Haar gekämmt und zurückgebunden, und seine schlichte geliehene Kleidung zeigte, wie dünn er geworden war. Das Nachmittagslicht ließ die Falten von Krankheit und Erschöpfung, die sein Gesicht zeichneten, tiefer wirken. Er beherrschte seine Züge, aber - 674 Ana erkannte dort dennoch Trauer und Sorge. Er trug einen Rucksack und hatte Stiefel an den Füßen. Sie sah ihn ohne ein Wort an. Sein Lächeln war schief und selbstironisch, als er die Veränderung ihres Aussehens wahrnahm. »Das ist nicht das Bild, an das ich mich erinnern werde«, sagte er. »Wie meinst du das?« Plötzlich wurde sie von einer schlechten Vorahnung erfasst. »Ich werde am Weißen Hügel sein, und du ebenfalls, Faolan.« Er schaute auf seine Hände hinab, wollte ihrem Blick nicht mehr begegnen. »Wenn du mit ihm dort bist«, sagte er, »dann kann ich nicht am Weißen Hügel bleiben. Ich werde vorangehen. Ich werde Broichan und Tuala erzählen, was geschehen ist. Bleib du noch eine Weile mit Drustan hier. Er muss sich daran gewöhnen, wieder unter Leuten zu sein, und das wird ihm hier leichter fallen als am Hof. Kommt nach, wenn ihr beide bereit seid. Ich werde dafür sorgen, dass ich dann schon weg bin.« Sie war erschüttert. »Aber Faolan, was ist mit Bridei? Du darfst nicht weggehen, er braucht dich! Ich weiß, wie schwierig die Dinge für dich sind, aber wir sind immer noch Freunde, oder nicht? Wir haben eine lange Reise zusammen hinter uns gebracht, wir drei. Du darfst den Weißen Hügel nicht verlassen.« Er wandte immer noch den Blick ab. Seine Züge waren erschreckend verschlossen, denn er hatte die gleiche Maske aufgesetzt wie in früheren Tagen, als sie geglaubt hatte, dass er keiner Gefühle fähig sei. »Du hast vor, ihn zu heiraten, oder?«, fragte er. »Jedenfalls, wenn es dir gelingt, Bridei davon zu überzeugen, dass es eine gute Idee ist. Du hast vor, am Hof zu bleiben, bis Drustan bereit ist, nach Westen zurückzukehren und seine Ländereien zu beanspruchen. Und das bedeutet, dass ich gehen muss, Ana. Wenn ich dafür aus Brideis Dienst ausscheiden muss, dann werde ich das tun. Ich bin schließlich nichts weiter als ein Söldner und - 675 kann meinen Lebensunterhalt überall verdienen. Ein Herr unterscheidet sich nicht besonders vom anderen, solange er gutes Silber bezahlt.« Sie schwiegen einen Augenblick, dann ging Ana einen Schritt auf ihn zu und nahm seine Hände. »Das ist unsere Schuld, nicht wahr?«, fragte sie, und bittere Trauer erfüllte ihr Herz. »Drustan und ich, wir treiben dich davon. Das ist schrecklich, Faolan, es ist grausam und falsch. Ich weiß, was Bridei dir bedeutet. Du darfst nicht zulassen, dass das, was geschehen ist, diese Verbindung zerstört. Dein eigener Bruder ist gestorben, und mit der Art seines Todes hat er ein Stück von dir mitgenommen. Lass dir nicht von deinem Zorn einen Freund wie Bridei nehmen, der dir so nahe ist, wie nur ein Bruder sein kann. Vielleicht glaubst du, bei dieser Mission versagt zu haben. Bridei wäre nicht dieser Meinung. Warte zumindest am Weißen Hügel, bis er die Möglichkeit hatte, es dir zu sagen.« Faolan löste seine Hände sanft aus ihrem Griff, zog seinen Rucksack zurecht und wandte sich ab. »Einige Dinge sollten nicht in Worte gefasst werden«, sagte er. »Manchmal ist es das Beste zu schweigen. Ich muss jetzt gehen. Ich verspüre die Notwendigkeit, schnell wieder zum Hof zurückzukehren, selbst wenn Bridei nicht da sein wird. Das treibt mich mehr an als ...« »Sogar mehr als dein Abscheu davor, Drustan und mich zusammen zu sehen?«, fragte sie ihn direkt. »Welche Liebenden möchten schon einen ständigen Beobachter haben?« Sein Tonfall war bitter. »Ich wünsche dir alles Gute. Lebe wohl, Ana.« Er machte ein paar Schritte unter die Bäume und war nicht mehr zu sehen, bevor sie auch nur Luft holen konnte, um zu antworten, obwohl sie wirklich nicht wusste, wie diese Antwort lauten würde. Sie wartete auf Drustan, saß im Gras, die Knie hochgezogen, die Arme darum geschlungen, und versuchte, sich nicht in dem Gefühl zu verlieren, dass ihr immer ein we676 sentlicher Teil ihrer selbst fehlen würde, wenn Drustan und Faolan nicht beide irgendwo in der Nähe waren. Ihr Geist scheute davor zurück: Es konnte nicht richtig sein, es passte nicht zu dem, was sie erwartet hatte. Es stellte eine Unregelmäßigkeit in einem Zukunftspfad dar, der genau nach einem bestimmten Muster verlaufen sollte.
Sie hatte nie geglaubt, dass sie einmal das Glück haben würde, einen Mann zu finden, den sie so lieben konnte, wie sie Drustan liebte, mit dieser berauschenden, aufregenden Leidenschaft, die alles andere aus ihrem Kopf vertrieb. Beinahe alles andere. Denn da war Faolan: ihr liebster Freund, ihr stetiger starker Gefährte, ihr Gegenstück. Er hatte sie gestützt, wenn der Weg vor ihr sich in Nichts auflöste. Seine Musik hatte sie zum Weinen gebracht. Seine Arme hatten die Dunkelheit zurückgehalten. Seine Augen hatten ihr gesagt... seine Augen hatten ihr gesagt, dass er sie liebte, wie Fionnbharr Aoife geliebt hatte, die Feenfrau, mit tiefer, stetiger Leidenschaft. Sie hatte das seit diesem Tag im Wald gewusst, als sie ihn der Eifersucht bezichtigte. Es war die Intensität ihrer eigenen Gefühle, die ihr nun neu und schockierend vorkam. Etwas hatte sich an sie angeschlichen, ohne dass sie es bemerkte, etwas, dessen volle Bedeutung sie erst jetzt erkannte, als er weg war. Die Göttin hatte mit ihr gespielt. Sie hatte Ana nicht nur einen, sondern zwei Männer gebracht, die sie lieben konnte. Und so schmerzlich es war, das zuzugeben, es kam ihr so vor, als brauchte sie beide. So etwas konnte einfach nicht sein. Faolan hatte Recht. In diesem grausamen Spiel für drei musste einer allein weiterziehen. »Ana?« Diesmal war es tatsächlich Drustan, der den Weg zwischen den Birnbäumen entlangkam, gekleidet in eine geliehene Tunika und eine Hose aus feiner Wolle, die so bunt gefärbt war wie alle Kleidung in Geds Haushalt. Er hatte die Kaskade seines leuchtenden Haars nicht ganz erfolgreich mit einer Schnur zurückgebunden. - 677 Sein Lächeln vertrieb sofort den Zweifel aus ihrem Herzen; sie sprang auf und eilte auf ihn zu, und er nahm sie in die Arme, fest und warm. Sie spürte das wilde Klopfen seines Herzens an ihrem, ein Echo ihres eigenen Herzschlags. »Du hast mir gefehlt«, flüsterte er gegen ihr Haar. »Du riechst wie Frühlingsblüten, und dein Haar fühlt sich wie Disteldaunen an.« »Hm«, murmelte Ana und genoss den Augenblick; sie waren unterwegs vorsichtig gewesen und hatten Faolans Anwesenheit respektiert. Einander jetzt so nahe zu sein, war, als gäbe man sich einem Gefühl hin wie einem aufflackernden Feuer, einer Hitze im Körper, die zu schnell so mächtig sein würde, dass es nur eine Möglichkeit gab, sie zu ersticken. Sie hob den Kopf, und einen Augenblick später begegneten sich ihre Lippen, zunächst zögernd, berührten einander federleicht. Dann berührten sie sich erneut, diesmal inniger, er hob die Hand an ihren Hals, seine Lippen teilten sich, als ihre es taten, und das urtümliche Gefühl seiner Zunge an ihrer ließ sie bis tief in den Körper erschaudern. Ihre Knie wurden weich; ihr Herz vollführte seinen eigenen verrückten Tanz. Sie legte die Hände an seinen breiten Rücken, zog ihn näher an sich. Die Krähe krächzte. Ana erinnerte sich, löste sich von ihm und legte ihre Hände über Drustans Herz. »Drustan?« »Hm?« Er nahm ihre rechte Hand, senkte den Kopf, um ihre Handfläche zu küssen und mit seiner Zungenspitze dort zu kreisen, was sie zittern ließ. »Du solltest lieber aufhören. Ich kann nicht klar denken, wenn du das tust.« Er hielt plötzlich inne. »Was ist, Ana?« »Faolan. Er ist ganz allein davongegangen.« Drustan schwieg. »Und er sagte, er wollte nicht am Weißen Hügel bleiben, wenn wir dort sind. Er will lieber das Leben, das er sich dort geschaffen hat, hinter sich lassen, und Bridei den Rücken - 678 zuwenden, seinem Gönner und gutem Freund. Er will davongehen und als Söldner, als Mörder für Geld arbeiten. Das darf er nicht tun. Nicht jetzt, nicht nachdem er seine Lieder gesungen, seine Geschichte erzählt und wieder begonnen hat zu leben. Es ist ...« Sie hielt inne. Sie konnte nicht in Worte fassen, was für eine schreckliche Verschwendung das war und wie sehr der Gedanke sie quälte. »Du weinst um ihn.« Drustans Ton war sanft, als er den Finger hob, um die Tränen von ihrer Wange zu wischen. Ana nickte, immer noch unfähig zu sprechen. »Er liebt dich, und seine Leidenschaft ist so mächtig geworden, dass er es nicht mehr vor dir verbergen kann. Er hat sein Bestes getan, es nicht zu zeigen.« »Du wusstest es?« »Seit ich ihm zum ersten Mal begegnet bin, seit ich sein Gesicht sah, als er deinen Namen aussprach. Komm, lass mich dich im Arm halten, denn auch ich kann mich beherrschen, wenn es sein muss, obwohl diese Flamme, die in mir brennt, ein grausames Vergnügen ist. Weine ruhig, wenn du willst. Was sollen wir tun? Ich hatte zumindest auf ein paar Tage hier gehofft. Ich glaube, er ist gegangen, weil er dachte, dass wir... weil er nicht hier sein wollte, wenn...« Plötzlich fehlten auch ihm die Worte. »Du bist verlegen«, sagte Ana, und sein Erröten genügte, um sie unter Tränen lächeln zu lassen. »Es ist in Ordnung, Drustan, ich bin nicht schockiert. Du musst wissen, dass das gleiche Feuer in mir brennt. Jede Berührung von dir macht es noch schlimmer. Ja, ich war einmal ein Mädchen, das sich an Regeln hielt: gehorsam, pflichtbewusst und auf jede Weise korrekt. Dieses Mädchen hätte nie daran gedacht, ihre Hochzeitsnacht vorwegzunehmen, besonders wenn sie nicht einmal die Erlaubnis des Königs zu dieser Heirat hatte. Sie hätte nicht sagen können, was ich jetzt ausspreche, ohne so rot zu werden, wie du bist.« Drustan lächelte. »Ich sehe, dass sich deine Wangen aufs - 679 -
Entzückendste rosig färben, Ana. Du siehst aus wie der Frühling, wie die Blütenreiche in sterblicher Gestalt. Und ich werde wahrscheinlich rot wie ein nervöser Junge, weil mir das alles so neu ist und ich nicht weiß, wie du antworten wirst.« »Antworten? Wie lautet denn die Frage?« Er war eindeutig ein wenig verlegen über das, was er sagen wollte. Er trat von einem Fuß auf den anderen wie ein ungeschickter Sechzehnjähriger, und Ana erinnerte sich daran, dass er sieben Jahre lang eingesperrt gewesen und noch nicht daran gewöhnt war, unter Menschen zu sein. »Du willst Faolan folgen, nicht wahr?«, fragte er. »Ich bin sicher, dass du nicht deshalb errötet bist, Drustan, aber ja, das will ich. Wir können nicht zulassen, dass er den Hof verlässt und aus unserem Leben verschwindet. Wir sind es ihm schuldig, ihm dabei zu helfen, sich seiner Vergangenheit zu stellen und die Gegenwart zu akzeptieren, selbst wenn das bedeutet, dass er Freundschaft, Liebe und Schmerz akzeptieren muss. Es ist Zeit, dass er zugibt, dass er ein Mensch ist, mit den Schwächen und Stärken eines Menschen. Er muss akzeptieren, dass Liebe wehtut und dass sie heilt.« Drustan sah sie ernst an. »Dann werden wir uns Pferde leihen und ihm sofort folgen«, sagte er. »Das sollten wir tun.« Ana hörte die Unsicherheit in ihrer eigenen Stimme. Drustans Hand lag an ihrem Nacken, streichelte die Haut unter ihrem weichen, kurzen Haar, und dieses wunderbare Gefühl machte es ihr schwer, sich zu konzentrieren. »Sofort. Er wird nicht erfreut sein, aber ...« »Also«, murmelte Drustan und nahm sie wieder in die Arme, »nicht schon heute Nacht?« Sie konnte nicht sprechen. Jede Faser ihres Wesens schrie nach ihm, mit einem machtvollen, beängstigenden Drängen. »Ich werde tun, was du willst, Ana«, sagte Drustan, und seine Hände glitten tiefer nach unten, eine zu ihrer Taille, - 680 die andere zu ihrem Po, und er drückte sie fest an sich, gegen Brust, Bauch, Lende. Die harte Form seiner Männlichkeit war verblüffend deutlich zu spüren, und noch verblüffender für Ana war ihre Reaktion, eine pulsierende Hitze, die zwischen ihren Beinen erwachte und bewirkte, dass sie sich auf eine Weise an ihn schmiegte, die sie vor noch nicht allzu langer Zeit für schockierend unanständig gehalten hätte. »Das ist ungerecht«, keuchte sie. »Du weißt, was ich wirklich will ... aber...« »Ana«, sagte Drustan, »wir können sofort aufbrechen, wenn du es wünschst. Diese Reise hat uns drei miteinander verbunden, dich und mich und Faolan. Wir werden dem nie entkommen, was immer wir tun, wohin wir auch gehen. Wir müssen tun, was du vorgeschlagen hast. Wir müssen ihm folgen, ihn finden und ihn von seinem Plan abbringen. Ich hatte wunderbare Phantasien über unseren Aufenthalt hier in Abertornie, das streite ich nicht ab. Aber ich kann warten. In sieben Jahren sollte ich zumindest das gelernt haben.« »Hm«, sagte Ana und löste sich mit einigem Widerstreben von ihm, um sich wieder aufs Gras zu setzen. »Nicht Faolans Eintreffen auf dem Weißen Hügel ist das Problem, sondern sein Abschied von dort. Er hatte vor, Broichan von uns zu erzählen. Er muss drei oder vier Tage am Hof bleiben, um mit Brideis Beratern zu sprechen. Das ist das Mindeste, was sie von ihm erwarten werden. Außerdem wird Faolan es zwar nie zugeben, aber er war sehr erschöpft und wird sicherlich heute Abend schon bald ein Lager aufschlagen und nicht vor dem Morgen weiterreiten, was bedeutet...« »Es bedeutet, dass wir unseren eigenen Abschied hier auf morgen verschieben und ihn immer noch einholen können, meine Prinzessin.« Ana grinste ihn an. »Prinzessin? Ich habe mich in diesem Lumpen von einem Gewand und umgeben von Wölfen - 681 nicht besonders prinzessinnenhaft gefühlt, und ich tue es auch jetzt nicht, Bad oder nicht.« »Für mich und für ihn«, sagte Drustan feierlich, »warst du nie weniger als das. Bist du einverstanden, noch eine Nacht hier zu bleiben?« Sie nickte, plötzlich schüchtern geworden. Seine Augen leuchteten, und sein Blick war vollkommen ernst. »Wirst du mich heiraten?«, fragte er sie. Sie starrte ihn an. Er hatte sie überrascht. »Das war nicht die Frage, die ich erwartet hatte«, sagte sie. »Sag mir, was du erwartet hast.« Ana räusperte sich. »Willst du ... willst du heute Nacht bei mir liegen?« »Ja«, antwortete Drustan sofort. »Meine Antwort lautet ebenfalls Ja. Loura wird schockiert sein.« »Das bezweifle ich«, lachte er. »Ich glaube, sie denkt bereits das Schlimmste von uns, denn man hat mir die Schlafräume gezeigt, die für uns vorbereitet wurden, und es gibt eine Tür dazwischen. O Ana, solches Glück ist mehr, als ich verdient habe. Ich möchte jubeln, singen, hoch in den Himmel aufsteigen und es herausschreien, sodass die ganze Welt mich hören kann. Solche Freude, dass ich davon bersten könnte.« Er strahlte. Es kam Ana so vor, als wären die Kränkungen, die Grausamkeit, die Schmerzen der letzten sieben Jahre in einem einzigen Augenblick weggewischt worden. Und es war sie, die das getan hatte. Sie hatte seine Welt auf den Kopf gestellt und ihn wieder gesund gemacht. Aber das hatte seinen Preis gefordert. Morgen würden sie sich Pferde leihen und sich auf den Weg machen, um etwas dagegen zu tun. Morgen. »Du ehrst mich«, sagte sie ein wenig schüchtern.
»0 nein«, sagte Drustan. »Wenn du zustimmst, meine Frau zu werden, gibst du mir ein Geschenk, das über Ehre hinausgeht.« »Ich habe bereits zugestimmt.« - 682 Er verblüffte sie, indem er auf die Knie sank, die Arme um sie legte und den Kopf an sie lehnte wie ein Kind; sie spürte eine Spannung in seinem Körper, die neu war. »Bridei wird vielleicht nicht zustimmen. Er hält mich vielleicht nicht für angemessen. Du bist meine Prinzessin. Aber du bist auch eine Prinzessin der Priteni, eine Braut von immensem Wert für das Königreich. Was, wenn ...« »Drustan.« Er schwieg. Er hatte sein Gesicht an sie gedrückt, und sie sah seine Augen nicht. »Drustan, sieh mich an. Das ist schon besser. Ich liebe dich, mein Herz.« Sie streichelte über die wilde Kaskade seines schimmernden Haars. »Mehr als den Sonnenaufgang, mehr als das Mondlicht, mehr als Vogelgesang oder Licht auf dem Wasser oder ein warmes Feuer nach einer langen Reise. Ich liebe dich mit meinem ganzen Herzen, immer und ewig. Ich möchte, dass meine Kinder deine Kinder sind. Ich will, dass wir zusammen alt werden, immer noch voller Freude in jedem Augenblick, in dem wir einander ansehen. Ich habe von einem Kind geträumt, habe ich dir das erzählt? Sie hatte dein Haar und deine wunderschönen Augen. Sie war unsere Tochter, Drustan. Ich weiß, dass es so sein soll. Ob Bridei es nun erlaubt oder nicht, ich werde den Hof mit dir verlassen. Die Götter werden verstehen, dass die Verbindung zwischen uns tiefer geht, als jede Handreichungszeremonie eines Druiden es bewirken kann.« »Und Faolan?« Er flüsterte nur. Ana seufzte. »Faolan steht mir sehr nahe. In einer anderen Welt, wenn ich dir nie begegnet wäre, vielleicht... nein, ich darf das nicht sagen. Faolan stehen noch viele Reisen auf seinem eigenen Weg bevor. Ich denke, es gibt etwas, das er tun muss und bei dem wir ihm helfen können. Ich streite nicht ab, dass ich es vorziehen würde, wenn er in der Nähe bliebe. Aber ich glaube, dass sein Schicksal fern von uns liegt.« - 683 »Und das macht dich traurig, selbst in einem Augenblick der Freude.« »Ein wenig traurig, aber ich werde das bis morgen beiseite schieben. Am Morgen werden wir ihm folgen und versuchen, ihn zur Vernunft zu bringen. Bis dahin ...« Drustan stand auf. »Wie lange, glaubst du, wird es noch bis zum Sonnenuntergang dauern?«, fragte er sie lächelnd. »Nicht so lange, wie es uns vorkommen wird«, sagte Ana. »Aber ich denke, nach all dieser Zeit können wir es ertragen. Ich hoffe, du hast vor, diese unglaubliche Tunika auszuziehen, bevor du schlafen gehst. Sie bewirkt, dass mir schwindelig wird.« »Erinnerst du dich«, sagte Drustan leise, »dass ich dich vor langer Zeit einmal gefragt habe, ob es dich freuen würde, dich vor mir auszuziehen? Wenn ich mich recht erinnere, lautete deine Antwort Ja. Oder vielleicht hast du Vielleicht gesagt.« »Du wirst es schon bald herausfinden«, sagte Ana, hakte sich bei ihm ein und führte ihn zurück zum Haus. »Vielleicht solltest du mir diese nebeneinander liegenden Schlafräume zeigen. Ich werde nicht fragen, wo Faolan schlafen sollte. Es ist mir unangenehm, daran zu denken, was Loura wohl dachte. Sie muss aufmerksamer und offener sein, als ich angenommen hätte. Aber sie ist Geds Frau. Ich schätze, sie hat schon so ziemlich alles gesehen.« - 684 KAPITEL SIEBZEHN Tuala hatte sie kommen sehen. Seit Fola und Broichan sie dazu gebracht hatten, ihr Versprechen gegenüber sich selbst zu brechen, hatte sie jeden Tag in die Schale geschaut. In ihrem Kopf gab es keinen Platz für etwas anderes als Bridei; während sie durch die Flure, Zimmer und Gärten des Weißen Hügels ging, vollzog sie seine Reise mit ihm, durch die Täler, die Pässe und das Bauernland zwischen hier und Dalriada, von einem Kampf zum Lager und zum nächsten Kampf. Sie schlief wenig, denn sie wusste, dass Bridei wach liegen und den Preis für diesen, für jenen Mann abwägen würde. Alles gewonnene Land, alle Vorteile würden für ihn niemals vollkommen den menschlichen Preis aufwiegen. Sie hatte sich schweren Herzens entschlossen, Derelei bei Broichan im Haus der Weisen Frauen zu lassen. Die Kinderfrau würde sich liebevoll um ihn kümmern, und der Druide und das Kind waren vielleicht besser dran, weil es in Banmerren friedlicher zuging. Tuala selbst war zu abgelenkt, um ihrem Sohn die Zeit zu geben, die er brauchte. Außerdem würde sie ihn bald wieder nach Hause holen. In der Zwischenzeit hatte sich Brideis kleiner Hund Ban angewöhnt, ihr überallhin zu folgen, saß zu ihren Füßen, wenn sie im Wasser nach Visionen suchte, und trabte neben ihr her, wenn sie ruhelos auf und ab ging. - 685 Tuala wusste, dass sie unauffällig bewacht wurde. Aniel hatte seine eigenen Leibwächter beauftragt, sie aus diskretem Abstand zu schützen. Tharan erschien hin und wieder, um mit ernster Höflichkeit zu fragen, wie es ihr ginge. Die beiden Berater wussten, was sie gesehen hatte. Sie hatte ihren Rat gesucht, nachdem sie vom Banmerren zurückgekehrt war, hatte entgegen aller Hoffung gehofft, dass es etwas gab, was sie übersehen hatte, und dass die Entfernung zwischen hier und dem Süden von Dalriada irgendwie rechtzeitig zurückgelegt werden
konnte. Die finsteren Mienen der beiden hatten ihr diese Hoffnung bald genommen. Selbst wenn ein Bote unversehrt nach Dalriada gelangen konnte, würde er Bridei nicht erreichen, bevor der Herbst weit fortgeschritten war. Tuala wusste tief im Herzen, dass es zu spät sein würde. Was ihre Versuche anging, das Volk aus der Anderwelt zu Hilfe zu rufen, so hatten sie sich als vergeblich erwiesen. Wie sie schon befürchtet hatte, waren ihre Bitten auf Schweigen gestoßen. Weide, Geißblatt und die anderen von ihrer Art kamen nur, wenn es ihnen passte. Was immer die Lösung sein mochte, sie lag in Menschenhänden. Ihre andere Vision, Broichan im Frühlingswald und eine Frau des Guten Volks, die ihn beobachtete, hatte sich nicht wiederholt. Wer wusste schon, was Druiden bei ihren langen, einsamen Wachen im Wald zur FrühlingsTagundnachtgleiche taten? Die Göttin verlangte Gehorsam von Geist und Seele. Und auch körperlich: Hängten sich die von der Bruderschaft nicht tagelang in die Astgabeln von Eichen, in Ochsenhaut gewickelt, um prophetische Visionen zu haben? Vielleicht gab es auch andere Möglichkeiten, den Körper eines gesunden Mannes in den Dienst der Leuchtenden zu stellen. Sie hätte gerne gewusst, aus welchem Jahr dieses Bild stammte. Sie nahm an, dass es das Jahr war, in dem Broichan nach Caer Pridne gereist und beinahe am Gift gestorben war: das Jahr ihrer eigenen Geburt. - 686 Sie sah auch nichts mehr von Bridei, aber an diesem Morgen hatte Tuala im klaren Wasser Ana auf dem Heimweg erblickt, eine seltsam veränderte Ana, die aussah, als wäre sie durch einen Feuerofen gegangen und hätte dabei alles bis auf ihren wesentlichen Kern abgestreift. Tualas Freundin war quälend dünn, und ihr schönes Haar war seltsam kurz geschnitten. In der Vision ritt sie an Faolans Seite über einen vertrauten Weg, den Hauptweg von Abertornie zum Weißen Hügel. Faolan sah elend aus: krank und besiegt. Etwas musste vollkommen schief gegangen sein, so viel war klar. Es gab nur die beiden, keine Eskorte, keine Wachen, nur den Mann, die Frau, die beiden Pferde und ... und den Falken. Ana trug einen schweren Handschuh, und darauf saß ein Geschöpf, dessen wunderbares Gefieder jede Farbe von tiefem Eichenbraun über Feuerrot zu reifem Gerstengold hatte. Seine Augen waren durchdringend, wissend, gefährlich. Der Vogel gehörte einer Spezies an, die Tuala nicht kannte; seine wunderschönen Farben und edle Haltung schienen ihn als etwas Besonderes zu kennzeichnen. Ana trug das Tier trotz seiner Größe mühelos, ihr Arm und die Schulter waren entspannt. In ihren grauen Augen hatte immer tiefe Gelassenheit gestanden; sie hatte immer ruhig gewirkt, aber irgendwie traurig. Nun gab es einen Ausdruck in ihren Augen, den Tuala dort nie zuvor gesehen hatte. Trotz dieser Rückkehr, einem klaren Zeichen, dass die Mission nach Dornwald nicht so ausgegangen war, wie Bridei es wünschte, strahlten Anas Augen mit überwältigender Freude. Tuala ging davon aus, dass diese Vision die Gegenwart zeigte, und ließ Vorbereitungen treffen, die beiden später an diesem Tag zu empfangen. Das Licht in dem Bild, das sie gesehen hatte, war das des frühen Nachmittags, ein warmer Schimmer lag auf den Buchenblättern, die Sonne streifte die Waldwege und verwandelte Anas Haar in helles Gold. Die Blätter zeigten bereits die sanften Farben des Herbstes. Der - 687 Krieg im Westen war vielleicht beinahe vorüber. Falls Bridei noch lebte. Falls die Götter ihn verschonten. Falls der große, kräftige junge Mann mit dem Messer in der Hand und dieser Entschlossenheit im Blick irgendwie aufgehalten worden war. Tuala seufzte. Die Gabe des Blicks war grausam. Das Leben war voll von Möglichkeiten, Gefahren und schnellen Entscheidungen. Wenn ein Mann nicht durch die Klinge eines Attentäters starb, bedeutete das, dass er am nächsten Tag oder dem darauf auf andere Weise umkommen konnte. Sich einzumischen, weil das Wasser etwas zeigte, was einem nicht passte, konnte dazu führen, dass man eine ganze Reihe anderer Ereignisse in Bewegung setzte, die auf ihre eigene Art katastrophaler sein konnten als das in der Vision Gesehene. Andererseits sandte die Leuchtende Tuala diese Bilder aus einem Grund. Und es ging um Bridei: Nicht nur um ihren Mann, ihren Geliebten, ihren besten Freund und den Vater ihres Kindes, sondern auch den König von Fortriu, den großen Anführer seines Volkes. Was sonst war diese Vision als ein Aufruf zu handeln? Mit diesem Dilemma in ihrem Kopf stand Tuala nun neben Aniel an den Zinnen auf der oberen Ebene des Weißen Hügels und hielt nach Reitern Ausschau. Ban saß zu ihren Füßen, der kleine Körper vor Erwartung angespannt. Tuala hatte mit Aniel gesprochen, nachdem sie Faolan im Wasser gesehen hatte, denn in der Rückkehr des Leibwächters lag auch eine gewisse Hoffnung. War Brideis rechte Hand nicht immer im Stande gewesen, auch die herausforderndsten Aufträge zu erledigen und eine Lösung für selbst die kompliziertesten Rätsel zu finden? Faolan war mutig, erfindungsreich und tüchtig. Vielleicht würde er eine Lösung finden, wo selbst Broichan keine gefunden hatte. Tuala behielt ihre Unruhe über Faolans Aussehen für sich. Sie würde diese Reisenden ihre Geschichte erzählen lassen, bevor sie ihnen die ihre mitteilte. - 688 Kurz vor der Abenddämmerung kamen die Reiter in Sicht. Tuala unterdrückte ein erstauntes Keuchen. »Hattest du mir nicht gesagt, dass Ana und Faolan allein waren?«, fragte Aniel und kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. »Wer ist dann das?« Sein Tonfall spiegelte Tualas eigene Reaktion wider. Faolan wurden nicht nur von einem Dritten begleitet, sondern er saß mit Ana zusammen auf dem Pferd und hielt sie im Arm, da sie vor ihm saß. Ihr goldenes Haar vermischte sich mit seiner eigenen Masse wilder roter Locken. Die beiden wirkten wie ein Bild aus einer alten Geschichte, ein so reizendes und erstaunliches Bild, dass man den Atem anhielt.
»Das ist kein Leibwächter«, sagte Tuala. »Ich kann nur annehmen, dass es sich um ihren Mann handelt, Alpin von Dornwald. Es sieht aus, als hätte sie besser abgeschnitten, als alle erwartet haben.« Anas Begleiter war zweifellos das erstaunlichste Beispiel männlicher Schönheit, das je den Weißen Hügel aufgesucht hatte. Selbst Tuala, die Bridei für den vollkommensten Mann in ganz Fortriu hielt, musste das zugeben. Erst jetzt fiel ihr wieder Folas Bericht über eine Vision ein, in der die Weise Frau Ana bei einem Kampf mit Wölfen gesehen hatte. Es hatte zu diesem Zeitpunkt unwahrscheinlich gewirkt. Dann bemerkte sie die Krähe, die auf der rechten Schulter des Mannes saß, und den kleineren roten Vogel auf seiner linken. Ana trug den Handschuh nicht mehr, und der Falke war nirgendwo zu sehen. An dieser Sache war etwas entschieden Seltsames. Ana lehnte sich an den jungen Mann, als wäre er ihr Heim, ihr Herd, ihre Zuflucht. Sein stützender Arm lag zärtlich und vorsichtig um ihre schlanke Gestalt in ihrer zu weiten Kleidung. Vielleicht war die Mission ja doch ein Erfolg gewesen. »Komm«, sagte Tuala zu dem Berater. »Wir müssen hinuntergehen und sie empfangen. Sie haben sicher viel zu erzählen, und ich erwarte, dass es eine seltsame Geschichte sein wird. Komm, Ban.« Der kleine Hund folgte gehor- 689 sam, aber er ließ die Ohren hängen. Tualas Herz blutete für ihn. »Hab Geduld«, flüsterte sie und bückte sich, um dem kleinen Tier den Kopf zu streicheln. »Er wird nach Hause kommen.« Möge die Leuchtende gewähren, dass es wirklich geschieht, fügte sie lautlos hinzu. Mögen die Götter ihn lebendig, gesund und siegreich nach Hause bringen, damit wir so etwas lange nicht mehr tun müssen. Möge mein nächstes Kind in eine Welt des Friedens geboren werden. Es war tatsächlich eine seltsame und traurige Geschichte, denn elf Männer vom Weißen Hügel waren an der Furt umgekommen, und man musste ihren Verwandten die schockierenden Nachrichten bringen. Tuala spürte, dass Faolan, der das meiste erzählte, nicht die ganze Geschichte wiedergegeben hatte. Er hatte den Fremden als Alpins Bruder vorgestellt, und Ana hatte ihnen mit ruhiger Sicherheit berichtet, dass sich der Fürst von Dornwald nicht als der Mann erwiesen hatte, auf den sie gehofft hatten. Alpin, sagte sie kühl, war nun tot - das Ergebnis unglücklicher Umstände. Mit der Erlaubnis des Königs würde sie stattdessen seinen Bruder heiraten. Sein Bruder: dieser gut aussehende Fremde mit den strahlenden Augen, dessen Art Tuala verwirrte und sie an jemanden erinnerte, den sie nicht benennen konnte. Die beiden Vögel blieben in seiner Nähe, selbst im Beratungszimmer, wo sich die Reisenden mit Tuala, Aniel und Tharan zusammengesetzt hatten, um zu erzählen, was ihnen zugestoßen war. Drustan hielt ganz offen Anas Hand. Die beiden sahen einander häufig an, als könnten sie es nicht ertragen, das nicht zu tun. Von einem höflichen Gruß abgesehen, hatte Drustan selbst kein Wort gesagt. Es gab hier ein Geheimnis, aber das musste warten. »Was gibt es Neues von Bridei?«, fragte Faolan. »Wo ist er? Wie weit ist die Streitmacht vorgedrungen?« Tharan räusperte sich. Aniel warf Drustan einen viel sagenden Blick zu. - 690 »Wir müssen mit dir allein sprechen, Faolan«, sagte Tuala. »Es gibt eine wichtige dringende Angelegenheit, über die wir mit dir sprechen müssen. Wir hoffen sehr, dass du helfen kannst.« »Welche Angelegenheit?« Sein Ton war scharf. »Wir werden unter uns darüber sprechen«, sagte Aniel entschlossen. »Ana ist nach dem Ritt von Abertornie hierher sicherlich müde. Ich werde für Erfrischungen sorgen und ein Zimmer für deinen ...« »Sie sollten bleiben«, sagte Faolan. »Das hier hat mit Bridei zu tun, nicht wahr? Ihr könnt offen vor ihnen sprechen; tatsächlich solltet ihr es tun. Es gibt nichts, was ihr Ana nicht anvertrauen könnt. Und Drustan ist ein Freund und Verbündeter.« Die beiden Berater starrten ihn an. Was er vorschlug, war ein vollkommener Bruch des Protokolls. Es gab vernünftige Gründe für solche Regeln, besonders in Kriegszeiten. Faolan musste besser als jeder andere wissen, welche Gefahr darin lag, wichtige Informationen zu weit zu verbreiten. »Ich habe in diesem Konflikt keine Seiten bezogen.« Drustan sprach leise. »Mein Bruder hat mein Territorium als Basis für seine Seestreitkräfte benutzt, doch das wird sich ändern, wenn ich zum Träumenden Tal zurückkehre. Nun, da Alpin tot ist, wird auch Dornwald an mich fallen. Anas Freunde sind meine Freunde. Ich stehe außerhalb des Kriegs.« »Sagt es uns«, bat Ana. »Um was geht es? Gibt es Schwierigkeiten bei Brideis Unternehmen?« »Es tut mir Leid.« Aniels Tonfall war plötzlich sehr streng. »Solche Angelegenheiten sollten in großer Abgeschiedenheit besprochen werden. Was immer Faolan denken mag, die Entscheidung steht in Abwesenheit des Königs und seines Druiden mir und den anderen Beratern zu, und selbstverständlich der Königin. Ein Mann kann nach einer kurzen Bekanntschaft oder der Annahme, dass man ihn irgend- 691 wann in der Zukunft für einen akzeptablen Bewerber um die Hand einer königlichen Geisel halten könnte, noch keinen Zugang zu solchen Besprechungen erhalten.« Der Ausdruck, der nun auf Faolans müdem Gesicht erschien, konnte nur als Furcht erregend beschrieben werden. Er ballte die Hände zu Fäusten. »Drustan«, sagte Ana ruhig, »wir beide sollten uns eine Weile zurückziehen. Aniel hat Recht, ich bin müde, und ich möchte dir außerdem den Garten zeigen, bevor es zu dunkel wird. Und dich Derelei vorstellen. Komm, wir gehen.«
»Danke, Ana«, sagte Tuala. »Derelei ist allerdings leider nicht hier, er ist mit Broichan in Banmerren geblieben. Ich werde zu euch kommen, sobald wir hier fertig sind.« Und als Ana und ihr außergewöhnlicher junger Mann hinausgingen, immer noch Hand in Hand, sagte sie: »Faolan, bitte setz dich wieder. Wir haben keine Zeit, uns zu streiten. Bridei ist in Gefahr. Wir brauchen deine Hilfe.« Er setzte sich, die Lippen fest zusammengekniffen. »Sag du es ihm, Aniel«, bat Tuala. Aniel erklärte es: die Vision - er erwähnte nicht, wessen Vision es gewesen war -, die Schlacht, der Kampf, der große, kräftige junge Mann mit dem Messer. Tuala sah, wie Faolan bleich wurde und die Zähne zusammenbiss. »Wir glauben«, erklärte Tharan ernst, »dass dies bald geschehen wird, falls es nicht bereits passiert ist. Broichan sagt uns, dass er nicht die Kraft hat, schnell nach Westen zu reisen, wie es die von seiner Art manchmal können; tatsächlich gibt es keinen Druiden mit dieser Fähigkeit in ganz Fortriu. Wir haben natürlich Reiter losgeschickt. Aber wir sind überzeugt, dass sie Bridei nicht rechtzeitig erreichen werden. Das Wetter ist derzeit besonders gut, ungewöhnlich gut für den Herbst. Die Beschreibung der Szene, das Licht, die Farben der Blätter, alles lässt ähnliche Bedingungen vermuten. Unsere Einschätzung des Schauplatzes passt - 692 zu dem Plan der Anführer aus Fortriu. Wir glauben, dass es kurz bevorsteht.« »Broichans Weissagung, bevor Bridei aufgebrochen ist, beinhaltete auch eine Warnung.« Selbst hier, umgeben von treuen Beratern, erwähnte Tuala nicht ihre eigene Rolle dabei. »Die Situation ist verzweifelt, Faolan.« »Ich sollte dort sein«, murmelte Faolan. »Ich hätte mit ihm gehen sollen.« »Wir hatten gehofft«, sagte Tuala, »dass dir etwas einfällt, was uns bisher entgangen ist. Ich kann nicht glauben, dass die Göttin ihn so leicht opfern wird, und auch nicht, dass sie uns diese Vision gewährte, wenn es keine Möglichkeit gibt, etwas zu unternehmen. Wir müssen ihn retten.« »Es gibt eine Möglichkeit«, sagte Faolan. »Sie liegt bei Drustan, dem Mann, dem ihr nicht vertraut. Ihr müsstet ihn bitten, sich in Gefahr zu begeben. Ihr müsstet Ana bitten, ihre schwer errungene Zukunft zu gefährden. Selbst wenn Brideis Leben in Gefahr ist, tue ich das ungern.« »Du sprichst in Rätseln«, sagte Tharan. »Wie kann dieser Mann uns helfen? Er ist ein Fremder. Er ist ein Caitt, und er ist der Bruder eines Mannes, der vielleicht mit Dalriada gemeinsame Sache gemacht hat. Wie können wir ihm vertrauen, selbst vorausgesetzt, dass er das Unmögliche tun kann?« Faolan antwortete nicht. »Faolan?«, fragte Tuala. »Wir haben nicht viel Zeit. Was sollen wir tun?« »Ich werde mit ihm sprechen.« Er klang widerstrebend und hatte den Blick abgewandt. »Wenn sie helfen wollen, dann müssen Ana und Drustan es euch selbst erklären. Drustan kann Bridei rechtzeitig erreichen. Ob wir ihm diese Aufgabe auferlegen sollen, ist eine andere Sache.« Sie wartete nur, bis es Tag wurde. Drustan, schweigsam und nervös, nun, da er unter Fremden war, wollte sich nicht in - 693 der Öffentlichkeit verwandeln. Ana hatte es selbst nur zwei Tage zuvor zum ersten Mal erlebt, und es war deutlich geworden, dass er seine Fähigkeit immer noch sowohl als Geschenk als auch als Last betrachtete, etwas, das ihn immer von anderen unterscheiden und für viele bedrohlich machen würde. Ana hatte es für ein ausgesprochen wunderbares und schönes Erlebnis gehalten. Als sie sich geliebt hatten, hatte sie sein doppeltes Wesen in der lebhaften Kraft seines Körpers, der federleichten Berührung seiner Hände, der fließenden, ruhelosen Begeisterung danach gespürt. Ihr Beisammensein hatte ihn mit solcher Energie erfüllt, dass er am Morgen danach gezwungen gewesen war, sich in seine andere Welt zu begeben und eine Weile der Falke zu sein, und sie hatte über den Anblick dieses hoch gewachsenen Mannes gestaunt, der auf einer Lichtung stand, die Arme ausgestreckt wie zum Gebet, die strahlenden Augen offen für Erde, Bäume und hellen Himmel, und dann war in einem Wirbel plötzlicher Bewegung der Falke in die endlose blaue Weite aufgestiegen. Er war in dieser anderen Gestalt zu ihr zurückgekehrt. Sie hatte ihn mit ihrer Stimme und mit ihrer weichen Hand beruhigt und ihn auf dem Handschuh mit solchem Stolz, solcher Ehrfurcht und solcher Zärtlichkeit nach Hause getragen, dass er wusste, dass es in ihrem Herzen keinen Platz für Ablehnung gab. Nun verabschiedete sie sich in der Abgeschiedenheit eines kleinen Hofs am Weißen Hügel von ihm, umarmte ihn und zwang sich zu glauben, dass es nicht das letzte Mal war. Sie strengte sich an, mit entschlossener Stimme zu sprechen: »Ich wünsche dir einen sicheren Flug, mein Herz. Fliege und finde Bridei. Ich werde hier warten.« Drustan drückte die Lippen auf ihr Haar. Er sagte nichts, sein Körper bewegte sich bereits auf dieses Stadium zu, in dem er die Energie, die Fähigkeit zur Verwandlung haben würde. Er hielt sie noch einen Augenblick im Arm, dann ließ er sie los und trat von ihr weg. Ana sah schweigend zu, - 694 wie er sich einmal, zweimal um sich selbst drehte; der Rand der aufgehenden Sonne zog Feuer aus seinem rötlichen Haar. Ana sah, wie die breiten Schwungfedern des Vogels sich auf und ab bewegten, und eine einzelne Feder segelte herab und landete auf den Pflastersteinen vor ihren Füßen. Er umkreiste noch einmal den Gipfel des Weißen Hügels und flog dann nach Südwesten, in Richtung Dalriada. Bis Ana sich gebückt und die rotgoldene Feder aufgelesen hatte und Krähe und Kreuzschnabel aus dem Nichts aufgetaucht waren, um auf ihren Schultern zu landen, war Drustan schon verschwunden.
Ana stand im Hof, und es widerstrebte ihr, nach drinnen zu gehen, so kalt der frühe Morgen auch sein mochte. Sie wusste, wie unsicher sich Drustan bei dieser Mission fühlte; sie spürte den Grund dafür, obwohl er nicht darüber sprechen wollte. Er war nur ein Bote. Dennoch würde er mitten in einen Krieg fliegen, um einen Mann zu suchen, der vielleicht um sein Leben kämpfte. Und sie hatte seinen seltsamen Blick bemerkt, als man ihm den Attentäter beschrieb. Sie wusste nicht, um was es dabei ging, aber Drustan war bei allen Fähigkeiten, die Deord ihm beigebracht hatte, kein Krieger. Drustan verlangte keine Rache oder Strafe. Er sehnte sich einfach nur nach seiner Frau, seinem Heim und seiner Freiheit. Sie konnte sich nicht dazu überwinden, nach drinnen zu gehen. Wenn sie hier blieb, wo sie ihn gesehen, ihn im Arm gehalten, sich von ihm verabschiedet hatte, dann würde die Entfernung nach Dalriada vielleicht nicht so weit sein, die vielen Gefahren zwischen dem Weißen Hügel und den Schlachtfeldern im Westen nicht so unüberwindlich. Ein Vogel war so zerbrechlich, ein Wunder aus Knochen, Gefieder und einem schnell schlagenden Herzen. Selbst so große Jäger wie Adler oder Falken waren gegenüber Unwettern, Kälte, einem Pfeil oder einem Steinwurf verwundbar. Außerdem musste er nicht nur sehr weit fliegen, son- 695 dem auch noch Bridei finden, und das inmitten eines Landes, das mit Kriegerlagern übersät war. Vielleicht würde er ihn im Tumult der Schlacht nicht erspähen können. Bridei war König, aber er trug keine Zeichen seines Amtes, wenn er in den Kampf ritt. Wie würde Drustan ihn erkennen? Wie würde er herausfinden können, wer dieser Mann war, den er suchte? Es war tatsächlich eine Verzweiflungsmission. Kein Wunder, dass es Faolan so widerstrebt hatte, Drustan auszuschicken. Drustan hatte ruhig zugehört, als Tuala eine ausführliche Beschreibung von Zeit und Ort, vom Aussehen des Königs und seines Angreifers gegeben hatte. Er hatte Fragen über den jungen Caitt-Krieger gestellt, wie er sein Haar trug, welche Farbe seine Augen hatten - ein helles, ungewöhnliches Blau - und hatte dann einfach nur erklärt, dass er es tun würde. Er würde Bridei warnen. Ana wusste, wieso er trotz aller Gefahren ohne Zögern zugestimmt hatte. Vielleicht war es der allgemeine Wunsch, ihnen zu helfen und Ana und Faolan ihre Freundschaft und ihr Vertrauen zurückzuzahlen. Der andere Grund jedoch war mächtiger und konnte erst in Worte gefasst werden, wenn die Tat geschehen war. Zu früh darüber zu sprechen, hätte bedeutet, die Götter zu verspotten. Aber Ana hatte es in Drustans Blick gesehen, in diesem Blick, der direkt zu ihrem Gesicht wanderte, sobald Faolan ihnen sagte, was Tuala und die anderen wollten. Drustan tat dies um ihrer beider Zukunft willen. Er hatte die volle Wahrheit über sich nicht schon so bald, nachdem sie den Weißen Hügel erreichten, enthüllen wollen. Aber am Ende hatte er keine andere Wahl gehabt. Nun war er verschwunden. Die Sonne ging auf, und während der Tag golden und hell wurde, schlichen sich Schatten in Anas Herz. Vielleicht hatte sie zu viel erwartet, zu viel gewollt. Hatte sie sich mit ihrer plötzlichen Entscheidung, sich ihrer Pflicht zu widersetzen, den Zorn der Götter zu- 696 gezogen? Vielleicht würde ihr noch heute die Knochenmutter dieses wunderbare Geschenk, dieses große Abenteuer, dieses lebhafte Geschöpf, das jeden ihrer Atemzüge mit Glück erfüllen konnte, wieder nehmen. Ana glaubte nicht, dass sie in diesem Fall fähig wäre weiterzuleben. Wenn sie ihn verlor, würde ihre Welt sich in Asche verwandeln. »Du bist traurig.« Faolan war die Steintreppe zum oberen Hof hinaufgekommen; sie wusste, dass er drunten beobachtet hatte, wie Drustan davonflog, und sich zurückgehalten hatte, damit die beiden sich verabschieden konnten. Als er nun näher kam, flatterten die beiden Vögel auf und setzten sich auf die Mauer. »Ihm wird nichts zustoßen. Er ist stark.« »Das hoffe ich, Faolan. Und ich hoffe, dass er Bridei rechtzeitig warnen kann. Ich frage mich, ob unser Leben immer so sein wird: ein Augenblick der Sicherheit, und dann stürzen wir plötzlich wieder in diesen Schrecken, und die Götter erlegen uns immer wieder neue Prüfungen auf.« »Das könnte sein«, sagte er, stellte sich neben sie und schaute hinab auf die dunklen Kiefern, die den Hang überzogen. Bei aller Helligkeit des Morgens lag Kälte in der Luft. Das Jahr würde sich bald der dunklen Zeit zuwenden. »Für mich ist es schon längst ein Muster, das ich erwarte. Ich hoffe, dein eigener Weg wird angenehmer sein. Aber euch beiden stehen noch einige Herausforderungen bevor, bevor das geschehen kann. Es wird für Drustan nicht leicht sein, seine verlorenen Territorien zurückzuerhalten.« »Wie du schon sagtest, er ist stark. Und wir können es uns leisten, ihm ein wenig Zeit zu lassen, damit er sich erholen und all diese Veränderungen begreifen kann. Ich glaube nicht, dass wir hier am Hof bleiben werden, Faolan. Wir werden anderswo ein Heim suchen, bis er bereit ist zurückzukehren. Ich habe Tuala schon gefragt, ob Broichan uns in seiner Abwesenheit vielleicht in Pitnochie wohnen - 697 ließe. Drustan fühlt sich in geschlossenen Räumen und unter vielen Menschen nicht wohl. Das wird sich vielleicht nie ändern.« Sie schwiegen einen Augenblick. »Ich hoffe, ihr wollt den Hof nicht wegen mir verlassen«, sagte Faolan. »Meine Gründe sind alle gut und basieren auf Liebe«, sagte Ana und legte die Hand auf seinen Arm. »Bitte geh noch nicht, Faolan. Bridei ist in solcher Gefahr. Wenn er umgebracht wird, wird sich hier alles verändern; es
wird sich für uns alle verändern. Du wirst dringend gebraucht. Deine Unterstützung bedeutet Tuala viel. Und wenn Bridei sicher nach Hause zurückkehrt, wird er erwarten, dass du hier bist. Er verlässt sich auf dich. Du weißt, wie wenig wahre Freunde er hat.« Sie konnte das Beben in ihrer Stimme hören, ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie blickte nicht auf, aber sie spürte das Gewicht seines Blicks auf ihr. »Du machst dir in einem solchen Augenblick Sorgen um mich?« Faolans Tonfall war gleichzeitig ungläubig und liebevoll. Ana konnte die Tränenflut nicht mehr aufhalten, und bald schon spürte er, dass er sie in den Arm nahm, und sie legte den Kopf an seine Schulter und weinte. Und ob er sie nun als Freund umarmte, als Bruder oder als ein Liebender, der versteht, dass es das einzige Mal war, dass er die Freude seines Herzens so im Arm halten konnte, war etwas, worüber sie nie mit jemandem sprach, ihr ganzes Leben lang nicht. Als sie ihre Tränen vergossen hatte, wischte Faolan ihr mit der Hand die Wange ab, sah ihr in die Augen, und sie spürte, dass er sich an ihr satt sah, sich Erinnerungen schuf, die ihn in der kommenden Zeit der Einsamkeit aufrechterhalten sollten. »Ich ...«, begann er und brach wieder ab, verzog den Mund zu einer Grimasse. »Still«, sagte Ana und berührte seine Lippen mit ihren Fingern. »Sprich es nicht aus. Ich weiß es bereits. Und jetzt - 698 gehe ich nach drinnen. Tuala war unten im Garten, um uns im Auge zu behalten, schon seit Drustan aufgebrochen ist. Geh bitte jetzt noch nicht davon. Warte ein wenig und denke darüber nach. Versprich es mir, Faolan. Bleib zumindest, bis wir wissen, dass Bridei und Drustan in Sicherheit sind.« Er grinste schief. »Ich kann dir einfach nichts verweigern«, sagte er. »Ich werde am Weißen Hügel bleiben, bis Bridei mir erlaubt zu gehen. Das verspreche ich dir.« Und er hob ihre Hand, aber nicht, um sie zu küssen, sondern um sie einfach einen Augenblick an ihre Wange zu legen, dann drehte er sich um, um zu gehen. Ana wusste, dass sie sein Gesicht in diesem Augenblick nie vergessen würde, den selbstironisch verzogenen Mund und den verzweifelten Blick. »Ana! Faolan!«, erklang Tualas Stimme von drunten, sorgfältig unbeschwert, obwohl ihr in diesen verzweifelten Zeiten die größte Gefahr drohte. »Ich dachte, wir könnten im Garten frühstücken. Wollt ihr euch zu mir setzen? Ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen, wie still es hier ohne Derelei ist.« Es war ein tapferer Versuch, so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Ana durchschaute ihn sofort. Tuala war unendlich besorgt und fühlte sich sehr allein. »Selbstverständlich«, sagte Ana, stieg die Treppe hinab und hakte sich bei der Freundin ein. »Drustan ist auf dem Weg; jetzt müssen wir warten, bis wir mehr erfahren. Faolan und ich haben dir noch mehr zu erzählen. Der Bericht von gestern war nur der erste Vorgeschmack. Ich fürchte, du wirst schockiert über mich sein, Tuala. Ich kehre als eine vollkommen andere Person zurück als die Ana, die vor Monden vom Weißen Hügel aufbrach.« Tuala und Faolan wechselten einen Blick. Ana konnte ihn nicht so recht deuten. »So würde ich es nicht ausdrücken, Ana«, sagte Tuala leise. »Es kommt mir eher so vor, als hättest du entdeckt, wer du wirklich bist.« - 699 »Wir haben uns alle verändert«, sagte Faolan. »Wir wurden im Feuer geschmiedet, auf unser wahres Wesen reduziert und neu geschaffen. Unsere Seelen wurden zu Harfensaiten gestreckt, unsere Herzen in Trommeln verwandelt. Das Schicksal spielt auf jedem von uns ein anderes Lied. Liebe, Verlust, Verrat, Erfüllung.« Tualas Augen wurden groß. »Du sprichst wie ein Barde, Faolan«, stellte sie fest. »Was geschehen ist, hat uns alle stärker gemacht«, sagte Ana. »Nun müssen wir darum beten, dass Drustan stark genug für diese Reise ist und dass die Götter immer noch auf Bridei herablächeln.« Und dann setzten sie sich alle drei in den Garten, und das lange Warten begann. Die Armee von Fortriu griff die Galen im Morgengrauen an. Gabhrans Streitkräfte hatten sich an der Südflanke eines weiten Tals aufgestellt, durch das ein breiter Bach rasch durch ein steiniges Bett floss, das nicht tiefer als knietief war. Es war unvermeidlich, dass die schwersten Kämpfe an diesem Wasserlauf stattfinden würden. Brideis Männer hatten sich im Dunkeln genähert, und im ersten Licht begannen sie einen Frontalangriff; einen berittenen Angriff mit schnellem Rückzug, dem der Angriff der Fußsoldaten folgte, die in der PikenblockFormation marschierten. Die Gegenseite, die immer noch dabei gewesen war, Verteidigungsstellungen zu beziehen, als die Reihe mit Speeren bewaffneter Reiter auf ihr Lager zustürmte, nahm bei diesem ersten Angriff schwere Verluste hin. Der Pikenblock-Angriff, der folgte, war diszipliniert und tödlich; die erste Reihe bildete mit ihren Schilden eine feste Verteidigungsmauer, die Speere der zweiten Reihe ragten über die Schultern der ersten hervor wie die Stacheln eines Igels, und die dritte Reihe war mit Wurfspeeren ausgerüstet, die sie über diese Furcht erregende Barriere hinweg nach den Fußsoldaten des Feindes schleuderte. - 700 Carnach und Bridei, die Seite an Seite auf ihren Pferden saßen und nach diesem ersten berauschenden Angriff und Rückzug noch schwer atmeten, beobachteten, wie die Dreierreihe von Männern sich stetig auf den Feind zu bewegte, hörte das Brüllen ihrer Herausforderung: »Fortriu! Fortriu!«, unterstrichen vom entschlossenen Stampfen bestiefelter Füße, dem splitternden Knirschen von eisernen Speerspitzen auf Holzschilden, dem Schwirren und Klatschen gälischer Pfeile, die zu spät abgeschossen wurden, um diese gnadenlose Flut aufzuhalten. Hargest war zusammen mit Cinioch an der Seite des Königs geritten und hatte seinen ersten Galen mit einem
geschickten Schwertschlag getötet. Nachdem der berittene Angriff vorüber war, hatte Cinioch den Platz mit Enfret getauscht, drunten, wo Carnachs Reiter sich neu gruppierten. Hargest wartete nun, jeder Teil von ihm im Schlachtenfieber angespannt, während Bridei und Carnach beobachteten, was geschah, und ihre Strategie noch einmal durchgingen. Die Galen formierten sich auf der Anhöhe neben ihrem Lager neu. Sie waren nicht vollkommen überrascht worden. Der Angriff der Priteni war einfach etwas früher am Tag erfolgt, als sie erwarteten. Es würde nicht lange dauern, bis sie sich zu einer geordneten Verteidigung sammelten. Ihre Anzahl war beträchtlich. »An einem bestimmten Punkt lassen wir uns von ihnen zum Bach zurückdrängen«, sagte Carnach. »Bist du immer noch einverstanden? Unsere Männer sollten nicht weiter als bis zu dieser Steinmauer dort vormarschieren, oder sie könnten in eine Falle geraten, jedenfalls, wenn Gabhrans Unterführer wissen, was sie tun. Wir müssen den Galen den Vorteil lassen und sie vorwärts locken.« »Aber nicht zu bereitwillig«, sagte Bridei, den Blick auf einen bestimmten Punkt gerichtet, wo ein Banner erhoben wurde, vielleicht das des Königs von Dalriada. »Es muss überzeugend wirken. Es könnte eine Weile dauern, Carnach.« - 701 »Wir werden es aushalten.« Der Fürst von Dornenband warf einen Blick zu Hargest. »Bewache den König gut, Junge. Das hier wird noch hässlich werden, bevor der Morgen zu Ende geht.« »Ich weiß, was ich tue!«, fauchte Hargest. Carnach ignorierte ihn. »Die Leuchtende möge dich beschützen, Bridei.« »Der Flammenhüter halte seine Hand über dich, mein Freund.« Dann ritten sie in entgegengesetzte Richtungen. Carnach, gefolgt von seinem eigenen Leibwächter Gwrad, folgte den Fußsoldaten vorwärts ins Gefecht, wo der Pikenblock nun zu kleineren Kampfeseinheiten von sechs oder sieben Männern zerbrochen war, die zusammenarbeiteten, um den taktischen Vorteil gegen die verwirrten gälischen Krieger zu nutzen. Sobald sie zur Mauer kamen, würde Carnach den Rückzug befehlen. Man hatte die Männer darauf hingewiesen, dass so etwas geschehen könnte, und sie würden in der Wortwahl ihres Fürsten bei dem Befehl erkennen, dass eine bestimmte Strategie ausgeführt wurde. Man hatte ihnen eingeprägt, sofort zu gehorchen, so sehr es auch gegen ihren Instinkt verstieß. Nun sammelten sie all ihren Mut und drängten beinahe schneller vor, als Carnach wollte. »Hier entlang«, befahl Bridei und lenkte Schneefeuer zu den berittenen Kriegern zurück, die den ersten Angriff überlebt hatten und nun die Schäden an Menschen und Pferden begutachteten, während die Fußsoldaten sich mit dem Feind abgaben. Viele waren einem schnell abgeschossenen Pfeil oder einem Speer mit Widerhaken zum Opfer gefallen. Ein Pferd lag um sich tretend am Boden, sein Vorderbein war gebrochen. Unter Tränen streichelte ein großer, kräftiger Krieger den Hals des Tiers mit der linken Hand und packte mit der rechten das Messer fester. Uven verband einem jungen Mann den Arm, Cinioch war - 702 abgestiegen und kümmerte sich ein reiterloses Pferd. Und Enfret... »Wir haben Enfret verloren, Herr.« Uven blickte auf, als Bridei vorbeiritt, und überbrachte ihm die Nachricht mit ruhiger Stimme. »Er wurde von einem Pfeil in den Hals getroffen; er starb kämpfend. Ich habe gesehen, wie er sein Schwert in die Brust eines Galen stieß.« Ein weiterer Mann. »Die Leuchtende möge ihm Ruhe gewähren«, sagte Bridei. »Seid stark, Männer. Haltet durch. Wir werden diese Schlacht gewinnen, für ihn und für all die Männer, die wir verloren haben. Wir stehen jetzt kurz vor dem Ende, und wir werden es schaffen.« »Herr?« Wütende Trauer lag in Ciniochs Stimme, hörbar über die Geräusche des Todes, die von allen Seiten an ihre Ohren drangen. »Ich sollte lieber in deiner Nähe bleiben. Es geht da draußen so dreckig zu wie in einem Schafsdarm. Mit ihm allein wirst du nicht sicher sein.« Er wies mit dem Kinn auf Hargest, und Hargest starrte ihn wütend an. »Aber ...« Er wischte sich wütend über das mit Schmutz und Tränen beschmierte Gesicht. »Aber dein Freund ist gefallen, und du möchtest ihn rächen«, sagte Bridei. »Das verstehe ich. Cinioch, wir brauchen jeden erfahrenen Mann, dich selbst eingeschlossen. Du bist der letzte unverletzte Mann aus Pitnochie; du musst in diesem Kampf Breth, Elpin und Enfret vertreten. Uven, ich weiß, dass du dich nützlich machen wirst, selbst mit nur einem Arm. Ich bin stolz auf euch, Männer. Betrachtet es als Belohnung für all diese Jahre, in denen Broichan euch gezwungen hat, still in Pitnochie zu sitzen und einen kleinen Jungen zu bewachen, der gern im Wald umherstreifte. Ich werde mit nur einem Leibwächter zurechtkommen. Es ist Gabhran, auf den sich alles konzentrieren wird. Ich kann sein Banner von hier aus erkennen.« »Dennoch...« »Widersprich mir nicht, Cinioch, und beweg dich. Wenn - 703 du Carnachs Befehl hörst, sei bereit, dass die Galen uns angreifen, dann werden wir einen Rückzug vortäuschen. Achtet darauf, dass unsere eigenen Speerkämpfer euch nicht in den Weg geraten, wenn sie sich zurückziehen. Und jetzt geht. Uven, tu dein Bestes, um die Verwundeten zu schützen. Mögen die Götter mit uns allen sein.« Bridei hatte Hargest seine eigene Rolle am Morgen erläutert, als die ersten Sonnenstrahlen in den jüngeren und wenig erfahrenen Kriegern eine kribbelige Ruhelosigkeit geweckt hatten, die teils Aufregung, teils Angst war. Inzwischen hatten alle Kampferfahrung gesammelt. Der Norden von Dalriada war nicht ohne schwere Gefechte
erobert worden, und alle hatten ihren Teil von Blut und Tod gesehen. Dies jedoch würde die Entscheidungsschlacht sein. Beide Armeen brachten heute ihren König ins Spiel. Für Hargest, der sich bereits im Kampf bewiesen hatte, war es eine neue Herausforderung. Ohne Bridei würde Fortriu führerlos sein und nicht mehr sicher in der Hand des Flammenhüters ruhen. Es zählte wenig, dass andere den Platz des Königs als Anführer im Kampf einnehmen konnten. Bridei war mehr als nur Herrscher von Fortriu. In seinem schlichten Lederharnisch und dem ungeschmückten Helm, der Tunika, der Hose aus grauer Wolle und den praktischen Stiefeln hätte er für einen Fremden genauso ausgesehen wie jeder andere sechsundzwanzigjährige Krieger; ein junger Mann, entschlossen und stark. Das einzige Zeichen seiner Identität, das über die Verwandtschaftszeichen auf seinem Gesicht hinausging, die ein Gäle nicht deuten konnte, war sein kantiger Holzschild mit dem Wappen des Adlers in Blau auf Weiß. Seine Augen passten zu diesem Blau; es waren die Augen eines Anführers und Gelehrten, eines Kämpfers und Friedenshüters, denn Bridei strebte an, all das zu sein. Das Schwert von Fortriu. Er fragte sich oft, was er getan hatte, um diesen Titel zu verdienen. Er war ein Mann aus Fleisch und Blut. Auf einem Schlacht- 704 feld war er ebenso verwundbar wie sie alle, und ebenso anonym. Sein Bedürfnis, nur Mann unter Männern zu sein, stellte seine Leibwächter vor eine schwierige Aufgabe. Breth und Garth hatten hin und wieder festgestellt, wie viel einfacher es wäre, wenn dieser König auf dem Schlachtfeld einen Goldhelm oder einen Silberreif trüge; wenn er sein Banner neben sich hätte oder sich von einem Schildwall aus handverlesenen Kriegern schützen ließe. Es würde es zumindest unwahrscheinlicher machen, ihn aus den Augen zu verlieren. Faolan hatte trocken bemerkt, dass der König unter dem Schutz des Flammenhüters stünde und ihre Anwesenheit ohnehin überflüssig sei. Er selbst war jedoch am geschicktesten, wenn es darum ging, mitten im Kampf an Brideis Seite zu bleiben. Hargest tat sein Bestes, aber in dem Durcheinander des Kampfs spürte Bridei, dass das Schwert des jungen Mannes seinem eigenen Kopf mehrmals gefährlich nahe kam. Einmal verhinderte nur Schneefeuers ausweichendes Tänzeln, dass der Junge den Schädel seines Königs spaltete. Einen Augenblick später wurde das Schwert zur Seite und nach unten gerissen, und ein berittener Gäle, der eine Axt hatte werfen wollen, fiel zu Boden und hielt sich die Seite. Hargest grinste; Bridei sah es und wandte den Blick ab. Dann kam ein weiterer Gäle und noch einer, und es wurde klar, dass Carnach den Befehl zum Rückzug gegeben hatte, denn eine Flut von Männern eilte von der Front zum Fluss, Priteni und Galen, in hundert kleinen, verzweifelten Kämpfen miteinander verbunden. Männer fielen, gestiefelte Füße trampelten über sie hinweg, Hufe trafen Köpfe, und der Boden verwandelte sich in ein schauerliches Durcheinander von Schlamm, Blut und Körperteilen. Hargest saß fest auf seinem kräftigen Pony, und seine Masse schützte Bridei und Schneefeuer vor der schlimmsten Menschenflut. Von Zeit zu Zeit stieß er mit dem Dolch zu oder benutzte das Schwert. Es kam Bridei bei- 705 nahe vor, als täte er das beiläufig, wie man nach Fliegen oder Mücken schlug. Er fragte sich, was dem jungen Mann durch den Kopf ging, wenn er tötete. Die Galen gewannen an Boden. Sie schlugen und hackten sich ihren Weg nach unten zum Bach. Sie trieben die Priteni auf die andere Seite des Wasserlaufs, oder zumindest würden Gabhrans Unterführer das denken, und sie würden glauben, dass sie den Tag gewonnen hätten, wenn sie diese Linie halten konnten. Carnachs Leute zogen sich so geordnet wie möglich zurück. Hier und da hielt eine Gruppe von sechs oder sieben Schilden immer noch stand, und Männer hielten ihre Formation auch noch, als die Speere der Feinde in ihre Reihen stachen und flogen. Die berittenen Krieger waren an den Flanken: Eine kleine Elite, die ihren Vorteil an Höhe und Beweglichkeit nutzte, um voranzudrängen, mörderische Schläge auszuteilen und wieder umzukehren. Die Hochlandponys aus Fortriu, viele Jahreszeiten in solchen Manövern ausgebildet, schwitzten nun und rissen die Augen auf, denn kein noch so rigoroser Drill kann ein Pferd oder einen Menschen wirklich auf die Geräusche und Anblicke einer solchen Szene vorbereiten. Die Schreie, das Stöhnen, das Kreischen von Metall auf Metall, das grausame Knirschen und Knacken von Knochen, die unter dem Angriff zerbrachen: Man hätte ein seltsames Geschöpf sein müssen, nicht davon erschüttert zu werden, nicht wieder und wieder davon zu träumen, Nacht um Nacht, selbst in Friedenszeiten. Hargest, dachte Bridei, war ein solches Geschöpf. Der Junge schien beinahe Spaß daran zu haben. Vielleicht würde er erst später begreifen, dass es Wirklichkeit gewesen war. Bridei selbst zählte jeden Galen, den er tötete; er sah jedem Mann in die Augen und strengte sich an, in diesen Kriegern den Feind zu sehen, der seine Heimat gestohlen und dem Herzen seines Volkes die schleichende Gefahr des neuen Glaubens gebracht hatte. Aber er sah immer nur Männer, die einfach nur so gut wie möglich - 706 erledigten, was man ihnen befohlen hatte. Dennoch, Bridei benutzte seine Waffen wirkungsvoll, wie sein alter Lehrer Donal ihm beigebracht hatte. Er konnte kaum erwarten, dass seine Männer kämpften, wenn er nicht bereit war, das Gleiche zu tun. Und er hielt ständig nach dem Banner Ausschau. Nach Gabhran. Er wollte, dass der König von Dalriada lebendig gefangen genommen wurde. Sie hatten den Fluss erreicht. Die Priteni waren zu einer Masse zusammengedrängt, einige im Wasser, andere am Ufer, aber sie hielten stand, obwohl die Truppen aus Dalriada sie heftig angriffen. An den Flanken kämpften Geds und Morleos Reiter heftig mit den berittenen Galen. Dalriada hatte erheblich mehr Reiter und nutzte sie
vernichtend zu seinem Vorteil. Geds Männer standen unter gewaltigem Druck; Bridei sah, wie die bunt gekleideten Gestalten eine nach der anderen fielen; er sah die reiterlosen Pferde, die über den flachen Fluss zurückrannten und schaumbedeckt und mit erschrockenen Augen flohen. Er suchte in dem Durcheinander nach Ged selbst und sah ihn auf seinem untersetzten dunklen Pferd grimmig und mit bleichem Gesicht, wie er sich stetig seinen Weg voranhackte. Talorgen war nirgendwo zu entdecken, aber die Streitmacht aus Rabenbrunn hielt ihre Stellung zwischen Mitte und Flanke und verhinderte, dass die Fußsoldaten der Priteni eingekreist wurden und am Fluss in eine Falle gerieten. Carnach schrie einen weiteren Befehl. Seine Hauptleute gaben ihn mit Stimmen wie Trompeten weiter, und die Hauptmasse der Krieger beschleunigte den Rückzug über das Wasser und verringerte den Druck auf die Verfolger. »Zurück!«, schrie Carnach. »Im Namen des Flammenhüters, zurück!« Die Galen brüllten - sie rochen ihren Sieg. Hörner erklangen, Männer schrien: »Dalriada! Dalriada!«, und wie eine zornige Flut strömten sie vorwärts und trieben die Priteni vor sich her. - 707 »Bete darum, dass das hier funktioniert«, murmelte Bridei und zügelte Schneefeuer einen Augenblick, um sich umzusehen. »Bete, dass Fokel und Umbrig ihr Wort halten konnten, oder wir haben unseren Vorteil verloren.« Noch während er das sagte, näherten sich zwei berittene Galen im Galopp, einer hatte die Pike bereit, der andere schwang eine Keule. Es gab keine Zeit nachzudenken. Donais Ausbildung bewährte sich, und Bridei lenkte Schneefeuer in einer täuschenden Bewegung in eine Richtung, dann in die andere und entging dem Mann mit der Keule, während er aus dem Augenwinkel sah, wie Hargest den Speer mit seinem Schwert abwehrte und dann den Feind mit einem geschickten, kraftvollen Manöver aus dem Sattel auf den schlammigen Boden hebelte. Der Gäle mit der Keule umkreiste Bridei und griff erneut an. Schneefeuer schnaubte und warf den Kopf zurück; Bridei ließ sich aus dem Sattel sacken, hing an der Seite und gelangte so unverletzt dicht am Feind vorbei, dann kam er mit dem Dolch in der Hand wieder hoch, während Schneefeuer eine enge Wendung vollzog. Bevor der Gäle Zeit hatte zu erkennen, was geschehen war, steckte Brideis Messer auch schon in seinem Hals, und sein Lebensblut färbte seine Tunika leuchtend rot. Der Mann fiel, und sein Pferd kam zitternd inmitten des Wirbels, der sie umgab, zum Stehen, vielleicht im Schock, vielleicht wartete es einfach auf Anweisungen, die es nicht mehr erhalten würde. Bridei stieg ab und bückte sich, um seine Waffe aufzuheben. Ganz in der Nähe war auch Hargest vom Pferd gestiegen. Bridei sah, wie der junge Mann sein Schwert in die Brust des Mannes bohrte, den er vom Pferd gestoßen hatte, nicht einmal, sondern wieder und wieder, bis sein Gegner eine zerdrückte Masse blutigen Fleischs war. Als Hargest aufblickte, war sein Gesicht kreidebleich, und seine Augen glitzerten wie Mondlicht auf tiefem Eis, ein seltsames, beunruhigendes Blau. Bridei fühlte sich bei diesem Anblick - 708 unbehaglich. Es war zu viel. Er musste dieser Sache zumindest eine Weile ein Ende machen, musste den Jungen hier herausbringen, bevor er vollkommen die Beherrschung verlor. »Hargest«, sagte er mit fester Stimme, »dieser Mann ist tot. Steig wieder auf dein Pferd und folge mir.« In dem Durcheinander kämpfender Männer und zuschlagender Waffen Platz zu finden, war nicht einfach. Bridei führte seinen Leibwächter ein Stück am Bachufer entlang und eine leichte Anhöhe hinauf zu einem Fleck ebenen Bodens zwischen Felsen. Eine Gruppe verkrüppelter Weiden wuchs hier, und die Leiche eines Kriegers aus Dalriada, dessen Kopf in einem unwahrscheinlichen Winkel am Körper baumelte, lag auf einem dunklen Grasfleck, doch ansonsten war es ruhig. Der Kampf tobte drunten weiter, man konnte zwischen den Bäumen hindurch so gerade eben seinen Fluss erkennen, und dies lieferte Bridei die Rechtfertigung dafür, Hargest vom Feld zu führen. »Deine Augen sind jünger als meine«, sagte er zu dem jungen Caitt-Krieger und erwähnte nicht, dass sein Blick von einem Druiden geschult worden war. »Schau dort hinunter und sag mir, ob du Fokels oder Umbrigs Leute siehst. Die Situation steht im Augenblick auf Messers Schneide. Wenn sie nicht bald auftauchen, wird Gabhran unsere Leute über das Wasser zurücktreiben.« »Warum siehst du mich so an? Warum bleiben wir nicht unten und kämpfen?« Hargests Stimme war sehr jung und durchdringend vor Arroganz. Und es lag noch etwas anderes darin, das Bridei nervös machte, ein seltsamer Unterton, der Unterton eines Mannes, der über alle Maßen frustriert ist. Es klang, als wäre der Junge bereit, eine Verzweiflungstat zu begehen, wie von einer Klippe zu springen oder einen kostbaren Schatz zu zerschmettern. »Weil es dir zu viel Spaß gemacht hat«, sagte Bridei tonlos. »Du bist erst fünfzehn. Ich bin für dich verantwortlich. - 709 Ich habe mehr von dir verlangt, als ich hätte tun dürfen. Du hast heute bereits deinen Anteil an Galen getötet.« Er schaute den Hügel hinab, suchte das Banner von Dalriada und fand es am Bachufer, wo das Gedränge am dichtesten war. So viele waren jetzt gefallen, dass ihre leblosen Gestalten das Wasser überbrückten und eindämmten, das rot um sie herumfloss. »Wo ist...«, begann Bridei. Der Rest seiner Worte ging in einem Keuchen unter, als ein kräftiger Arm ihn um die Brust fasste. Einen Augenblick später lag er flach auf dem Rücken, und sein Angreifer kniete über ihm und richtete einen Dolch auf sein Herz. Instinktiv packte er die Handgelenke des Angreifers, schnitt sich die Handfläche an der Klinge auf und hielt grimmig fest, drückte die Klinge so angestrengt weg, dass er das im Rücken, den Oberschenkeln, seinen zusammengebissenen Zähnen und
im Kopf spürte. Es hatte keinen Sinn, nach seinem Leibwächter zu rufen. Als Bridei ungläubig in diese eifrigen hellen Augen starrte, fragte er sich, wie lange Hargest schon vorgehabt hatte, ihn zu töten. »Was ...«, begann er, aber das Messer wurde nun fester nach unten gedrückt, und er wusste, dass er seinen Atem nicht zum Sprechen verschwenden durfte. Hargest war groß, er war gesund, er war jung. Selbst wenn Bridei so laut schrie, wie er konnte - wer würde ihn schon über den Schlachtenlärm hinweg hören? Noch ein paar angestrengte Atemzüge, dann würde er sterben; jedes Einatmen, jeder Augenblick des Widerstands ein kleiner Abschied ... Tuala ... Derelei... Broichan ... Rettet mich, betete er mit jedem Fetzen seines Willens. Rettet mich für sie and rettet mich für Fortriu ... »Es wird Zeit, dass du zahlst«, sagte Hargest mit leiser, kalter Stimme, und Bridei spürte, wie der Junge den Griff am Messer veränderte und der Druck einen Augenblick nachließ. »Du bist meiner Klinge zu oft entgangen, du jämmerlicher Ersatz für einen König. Jetzt ist es Zeit zu sterben. Es war dumm von dir, das Unvermeidliche nicht zu er- 710 kennen: Es sind die Galen, die hier siegen werden. Bis ich meinem Vater diese Nachricht bringen werde, werden sie bereits das ganze Tal erobert haben. Deine Herrschaft ist vorüber, König Bridei.« Als Bridei den Rücken durchbog und sich unter ihm vorwinden wollte, stieß Hargest den Dolch wieder nach unten, und die Spitze der Klinge drang in sein Fleisch. Noch während Bridei einfiel, dass es eine Technik gab, die Faolan ihm gezeigt hatte, einen Trick, den er hätte benutzen können, wenn er in diesem kurzen Augenblick der Entspannung bereit gewesen wäre, spürte er einen stechenden Schmerz in seiner Brust, und nun sparte er seinen Atem nicht mehr, er saugte die Luft in die Lunge und schrie: »Helft mir! Im Namen der Götter, zur Hilfe!« Hargest lächelte; das Messer stach tiefer, während Brideis schmerzhaft verkrampfte Armmuskeln begannen, ihre Kraft zu verlieren. Bridei spürte die Flügel der dunklen Göttin über sich. Ihr kalter Atem berührte seine schweißbedeckte Stirn, sie flüsterte ihm ihr unheimliches Wiegenlied ins Ohr ... Dann eine rasche Bewegung, etwas streifte sein Gesicht, Federn, Klauen, ein Schnabel, ein wildes Auge und ein Schrei, der keinem anderen gleichkam, der Schrei eines großen Raubvogels. Auch Hargest schrie, und der Druck seiner Hände ließ plötzlich nach, als die Krallen des Falken ein Muster blutiger Linien über sein Gesicht zogen. Bridei, von einem Druiden geschult, verschwendete keine Zeit damit, über diese seltsame Einmischung zu staunen. Er nutzte den Vorteil des Augenblicks, rollte sich zur Seite, rutschte, verwandelte sich in eine Schlange, einen Aal, einen Salamander, während der Vogel unter weiteren schrillen Warnschreien wieder aufflog und dann abermals zustieß und Hargest ins Taumeln brachte, die Arme erhoben, um sein verwundetes Gesicht zu schützen. Bridei kam auf die Beine, den Blick auf das Messer gerichtet, das Hargest immer noch in der Faust hielt. Der junge Mann stand nun - 711 aufrecht, und Blut lief ihm in die Augen. Er atmete schwer, aber er hielt die Waffe fest und wich nicht zurück. »Also komm«, schrie er herausfordernd und starrte Bridei wütend an. »Komm schon, nimm es mir ab!« Dann brüllte er: »Verfluchtes Vieh!«, und schlug wild zu, als der Falke erneut zustieß und drohte, ihn umzuwerfen. Rette mich für Fortriu... Bridei schoss vorwärts, packte Hargests Handgelenke, und als der Falke ein weiteres Mal herabstieß und den jungen Mann zum Stolpern brachte, schob er mit all seiner verbliebenen Kraft. Hargest fiel. Das Geräusch seines Aufpralls war etwas, wovon Bridei später träumen sollte, etwas, das er gern aus seiner Erinnerung getilgt hätte. Es hatte eine schauerliche, knirschende Endgültigkeit an sich. Dennoch bückte sich Bridei nach einem Augenblick entsetzen Erstarrt seins, um nachzusehen, während der Falke auf dem nahen Felsen landete. Es gelang ihm, sich zusammenzunehmen, obwohl ihm Galle aufstieg, als er hinschaute. Er erinnerte sich an Broichans Bemerkung, dass man aus allem etwas lernen konnte. Ja, selbst aus dem Anblick eines Jungen, der so viel versprechend gewesen war und der nun dalag mit einem Kopf, der geplatzt war wie eine überreife Frucht. Hargest hatte Pech gehabt. Vielleicht hatten die Götter den Stein dort platziert und gewollt, dass der junge Mann starb, als sein Kopf darauf prallte. Vielleicht war dies ihre nur zu einfache Antwort auf Brideis Gebet. Er kniete sich nieder, um Hargests Arme über der Brust zu falten, um das Messer an die Seite des Jungen zu legen. Die offenen Augen starrten zum Himmel, groß, blau und leer. Bridei suchte nach einem Gebet. Einen Augenblick lang fiel ihm nichts ein. Er konnte nur denken: Warum? Er konnte nur das Schlagen seines eigenen Herzens hören, einen Trommelwirbel aus Zorn und Trauer, Schock und Kränkung. - 712 »Herr! Bridei! Was ...« Ein kleiner Trupp von Männern war plötzlich neben ihm, Cinioch und drei andere, alle zu Fuß, mit gezogenen Schwertern und bleichen Gesichtern. Einen Augenblick später raschelte es hinter ihm, und als er sich umdrehte, entdeckte er etwas Wunderbares und Beunruhigendes: Der wildäugige, rötlich-braune Falke verwandelte sich vor seiner Nase in einen hoch gewachsenen, breitschultrigen Mann mit Augen, die leuchteten wie die Sterne, und einer Mähne im gleichen lebhaften Goldrot. Cinioch stieß einen Schrei aus, und die Männer stürmten vorwärts, die Waffen zum Schlag erhoben. Einer stolperte über die Leiche des toten Galen, die auf dem Gras lag. Der rothaarige Mann hob die Hände. Er hatte weder Schwert noch Messer oder Bogen. »Ich bin ein Freund«, sagte er mit bewundernswerter Ruhe, dann taumelte er, als wäre er vollkommen erschöpft, und musste sich mit einer Hand an dem Felsen abstützen.
»Haltet euch zurück, Jungs«, sagte Bridei. »Ich bin in Sicherheit. Dieser Mann hat mich gerettet. Aber Hargest ist tot.« Er konnte es nicht über sich bringen, mehr zu erklären. Tatsächlich verstand er nicht einmal, was geschehen war. »Bridei, du blutest.« Cinioch machte einen Schritt auf seinen König zu, und als Bridei an sich hinabschaute, sah er einen Blutfleck, der sich auf seinem Hemd ausbreitete, durch den Schlitz, den Hargests Dolch in seinem ledernen Harnisch verursacht hatte. Seine Hand blutete ebenfalls, wo er sich an der gleichen Waffe geschnitten hatte; vor seinem geistigen Auge sah er ein Bild von Hargest, wie er abends am Feuer saß und die Klinge mit einer Konzentration schliff, die ihm Falten auf der jungen Stirn verursachte und seinen Blick glühen ließ. »Das ist nichts«, sagte Bridei, gab aber nach und ließ Cinioch den Schaden untersuchen und sich verbinden. Der - 713 Krieger erklärte, dass Bridei tatsächlich von den Göttern gesegnet war, denn wäre der Stich ein wenig tiefer gegangen, wäre er in die Arme der Knochenmutter gesunken, bevor er es noch bemerkt hätte. Ein anderer Mann rollte den toten Galen auf den Rücken, nahm ihm die Waffen ab und versetzte ihm einen Tritt. Wäre der rothaarige Mann nicht gewesen, hätten sie nicht darüber sprechen müssen, was Hargest getan hatte. Aber dieser Fremde war Zeuge geworden. Er hatte wie zur Antwort auf Brideis Gebet eingegriffen. Als Vogel. Ein Bote des Flammenhüters? Der Mann kniete nun neben Hargest, einen ernsten Ausdruck auf dem schönen Gesicht. Er schloss mit schlanker Hand die Augen des Jungen. Seine Hand zitterte ein wenig. »Wer bist du?«, fragte Bridei ihn. »Ein Bote. Ausgesandt von der Königin, deiner Frau.« »Von Tuala? Aber...« »Es gab eine Vision: Deine Freunde auf dem Weißen Hügel wussten, dass du in tödlicher Gefahr sein würdest, und niemand konnte dich rechtzeitig erreichen. Ich war dort. Ich habe angeboten herzukommen.« Nun starrten die anderen Männer ihn an. Misstrauen mischte sich in ihren Blicken mit Staunen. »Bist du ein Druide? Ein Magier?«, fragte Bridei, der nun hörte, wie sich drunten die Kampfgeräusche veränderten, und wusste, dass sie wenig Zeit für Erklärungen hatten. »Ich bin Drustan vom Träumenden Tal und von Dornwald, und ich bin weder Magier noch Druide. Ich sehe die Hand meines Bruders Alpin in dieser Tat, des Mannes, der deine königliche Geisel hätte heiraten sollen. Ich muss dir sagen, dass mein Bruder tot ist und dass er nie vorhatte, sich an den Vertrag mit dir zu halten.« Bridei schwieg einen Moment und schaute von dem Fremden zu dem gefallenen jungen Mann und wieder zurück. »Das hier ist sein Sohn, nicht wahr?«, fragte Drustan be- 714 drückt. »Hargest. Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit er ein Kind war, aber ich würde diese Augen überall wieder erkennen. Die Königin hat mir den Angreifer beschrieben. Schon zu diesem Zeitpunkt wusste ich es.« »Er war dein Verwandter«, sagte Bridei und irgendwo in seinem Kopf hörte er die Worte verrückter Onkel. »Es tut mir Leid; das war eine Entscheidung, die kein Mann treffen sollte.« »Aber, Herr«, widersprach Cinioch, »was sagst du da? Das war Hargest, dein eigener Leibwächter ...« »Das genügt im Augenblick«, sagte Bridei. »Wir müssen einen Kampf gewinnen, und ich glaube, ich kann Umbrigs Ochsenhorn trompeten hören. Drustan, du solltest die Waffen dieses Galen nehmen, denn er kann sie jetzt nicht mehr brauchen. Ob du nun hier bleiben willst oder mit uns kämpfen oder ...« Er schaute zum Himmel, fasste die dritte Möglichkeit aber nicht in Worte. »Du wirst im Stande sein müssen, dich zu verteidigen. Ich schulde dir mein Leben. Ich werde nicht zulassen, dass du von der ersten Gruppe von Kriegern, die dich findet, niedergemetzelt wirst, seien es Galen oder Männer aus Fortriu.« Schweigend nahm Drustan die Waffen entgegen, band sich den Schwertgürtel um und schulterte die Armbrust. »Danke«, sagte er. »Ich werde mit euch reiten. Da es so aussieht, als hätte mein Verwandter dich gleich zweimal betrogen, fällt es nun mir zu, Wiedergutmachung zu leisten.« »Bist du ein Krieger?«, fragte Cinioch ihn ganz offen. »Ich werde zurechtkommen«, sagte Drustan und ergriff die Zügel von Hargests Pferd. Das Tier war nervös und hatte die Augen weit aufgerissen, doch Drustan legte ihm die Hand an den Hals und murmelte ihm etwas ins Ohr, Worte in einer Sprache, die Bridei nicht verstand. »Ich werde nicht versuchen, Galen zu töten, aber ich kann an der Seite des Königs reiten und helfen, ihn zu schützen.« - 715 »Warum solltest du das tun wollen, wenn du das Ende des Kampfes einfach abwarten könntest?«, fragte einer der Männer herausfordernd. »Und wenn du mit dem da verwandt bist«, das mit einem wütenden Blick zu dem gefallenen Hargest, »und er für den Angriff auf Bridei verantwortlich war, musst du verrückt sein zu glauben, dass wir dir die Sicherheit des Königs anvertrauen.« »Gib uns einen Grund, wieso wir das tun sollten«, warf Cinioch ebenfalls mit zornigem Blick ein. »Ich habe euch bereits einen gegeben«, sagte Drustan und stieg mit einer fließenden Bewegung aufs Pferd. »Ich werde versuchen, den Verrat meiner Verwandten wieder gutzumachen. Ich gebe euch noch zwei Gründe mehr. Ich bin ein Freund des Ersten Leibwächters des Königs. Da Faolan nicht hier sein kann, wo er am liebsten sein möchte, werde ich seine Stelle einnehmen. Und das, wonach ich mich am meisten auf der Welt sehne, liegt in
König Brideis Gewalt. Wenn ich ihm Schaden zufügte oder zuließe, dass gälische Schwerter es tun, würde ich meinen Mond und meine Sterne, meine Freude und die Hoffnung auf die Zukunft verlieren. Glaubt mir, ich werde ihn gut beschützen.« Sie starrten ihn an und brachten kein Wort heraus. Dann sagte Bridei: »Wir werden später herausfinden müssen, um welchen Schatz es dir geht, denn während wir hier debattieren, wird die Schlacht verloren oder gewonnen. Männer, wo sind eure Pferde? Drunten unter den Bäumen? Sucht sie und kehrt nach dort zurück. Ich vertraue mich Drustan an. Ein Mann, der durch das gesamte Große Tal reist, um mich zu warnen, muss ein Freund sein.« Er warf dem rothaarigen Mann einen Blick zu. »Bist du bereit?« Drustan nickte ernst. »Das bin ich, Herr. Lass uns reiten.« Als die beiden ihre Deckung verließen und direkt auf die wirbelnde Masse von Kriegern am Fluss zuritten, dachte Bridei, dass der Mann an seiner Seite beinahe der Flammenhüter in Menschengestalt sein könnte, so gut gebaut - 716 und gut aussehend war er, so hinreißend mit diesen strahlenden Augen und diesem wilden roten Haar. Als Drustan aufgetaucht war, zunächst als Vogel, dann als Mensch, hatte sich Bridei einen Augenblick selbst gefragt, ob der Gott der Krieger beschlossen hatte, auf eine besonders persönliche Weise auf seinen Hilfeschrei zu reagieren. Wenn Drustan kein Druide war, was dann? Er behauptete, der Bruder von Alpin von Dornwald zu sein, also war er ein Mensch. Aber welcher gewöhnliche Mensch verfügte über solch wunderbare Kraft, sich zu verändern? Er hatte keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, sondern ritt zurück in den Kampf, wenn auch mit einiger Vorsicht. Seine verwundete Hand stellte eine Gefahr dar, und der Blutverlust von der Brustwunde würde ihn schwächen. Der rätselhafte Drustan war ihm noch zu unbekannt. Außerdem wusste Bridei nun, dass sein Überleben wichtiger war als alle Beiträge, die er und sein Leibwächter zum Kampf leisten konnten. Er musste hoffen, dass dieser Vogelmann ihm angemessenen Schutz bieten konnte. Die Gezeiten der Schlacht hatten sich gewendet. Die gut ausgebildete Streitmacht von Fokel von Galany und des Caitt-Fürsten Umbrig hatte schon gewartet, bevor die Galen das Tal erreichten, und lautlos jeden Späher von Dalriada umgebracht, der ihren Verstecken im Waldland, ein Stück weiter das breite Tal entlang, zu nahe gekommen war. Sie hatten den Augenblick gut gewählt, waren von beiden Enden am Bachufer entlanggeschlichen, während die Galen damit beschäftigt waren, Carnachs Angriff zurückzuschlagen. Nun schlössen sie sich dem Kampf an, als sich nach dem inszenierten Rückzug sowohl Galen als auch Priteni drunten am Wasser konzentrierten. Umbrigs Männer setzten ihre massiven Ochsenhörner an die Lippen. Fokels Krieger gaben einen heulenden Kampfschrei von sich, der selbst Bridei bis in die Knochen erbeben ließ, denn er klang wie eine Botschaft der schwarzen Krähe, ein Ruf über das Grab - 717 hinaus. Carnachs Leute, die sich einen Augeblick zuvor noch in schnellem Rückzug befunden hatten, hörten auf zu fliehen, drehten sich um, stellten sich auf und hoben die Waffen, die Augen vor neuer Begeisterung blitzend. Talorgen kam auf Bridei zugeritten, seine eigenen Leibwächter an seiner Seite. Der Fürst von Rabenbrunn sah finster aus; es war Blut auf seinem Gesicht und auf seiner Kleidung, aber er saß hoch aufgerichtet im Sattel. »Jetzt?«, fragte er mit einem Blick zu Bridei, dann warf er einen Seitenblick auf Drustan und runzelte die Stirn. »Jetzt«, sagte Bridei, und eine seltsame Ruhe kam über ihn, obwohl das Durcheinander von klirrendem Metall und brüllenden Männern erneut heftiger geworden war. Talorgens Leibwächter Sobran öffnete ein Bündel an seinem Sattel, holte geschickt eine Rolle weißes Tuch und drei kurze Stäbe heraus, die sich ineinander stecken ließen, und baute die Flagge mit einer Geschicklichkeit zusammen, die aus langer Übung geboren war. Nun war es Zeit, dass der König von Fortriu sich kenntlich machte. »Halte sie hoch, Sobran«, sagte Bridei, »wir reiten alle gemeinsam vorwärts.« Als das weiße Banner gehoben wurde und der Wind, der von den westlichen Inseln herkam, es flattern ließ, sah man in Blau den Halbmond und den gebrochenen Stab der königlichen Linie und darüber den Adler, Brideis eigenes Königszeichen, und plötzlich wurden alle Männer in der Nähe still. Dann hob Bridei seinen Arm, die geballte Faust zu Ehren des Flammenhüters zum Himmel gereckt, und schrie mit einer Stimme, die von außerhalb des irdischen Reichs zu kommen schien: »Fortriu!«, und aus hundert, fünfhundert, tausend Mündern, die ausgetrocknet waren von der schweren Arbeit dieses Morgens, aus tausend Körpern, erschöpft von der Prüfung im tödlichen Zweikampf, aus tausend Seelen, die den Anblick von Tod, Verlust und Schmerz noch jahrelang mit sich tragen würden, stieg ein Ruf auf, - 718 der Schrecken ins Herz eines jeden Galen an diesem Ort senkte: »Fortriu! Fortriu!« Die Männer von Dalriada kämpften tapfer, aber von diesem Augenblick an waren sie so gut wie besiegt. Die Flamme, von der Bridei vor langer Zeit erkannt hatte, dass sie selbst in den jämmerlichen Überresten einer besiegten Priteni-Armee immer noch brannte, flackerte und knisterte nun und toste schließlich in diesen müden Männern, und er glaubte, das Strahlen des Gottes auf dem Gesicht eines jeden von ihnen zu sehen, vom erfahrenen Fürsten bis zum bescheidensten Fußsoldaten. Jeder von ihnen war ein geliebter Sohn des Flammenhüters, dem der Gott vertraute und über den er seine Hand hielt. Es war das Schicksal einiger, zu fallen und nicht wieder aufzustehen. Andere würden an ihren Wunden sterben, denn sie waren weit von daheim
entfernt. Viele jedoch würden überleben, um siegreich in ihre Dörfer und in die offenen Arme ihrer Lieben zurückzukehren. Talorgen und Bridei ritten gemeinsam vorwärts. Sobran trug das Banner. Drustan erwies sich zu Brideis Überraschung als Wirbelwind an Bewegung und vollführte eine Anzahl sehr wirkungsvoller, ungewöhnlicher und tödlicher Manöver. Als Ergebnis kam nicht ein einziger Gäle nahe genug, um den König herauszufordern, obwohl Talorgen mehrmals sein Schwert einsetzen musste, als sie sich einen Weg durch das Bachbett bahnten, und dies mit der Geschicklichkeit und Entschlossenheit tat, die man von einem so erfahrenen Kriegerfürsten erwarten würde. Der König von Dalriada musste sich wie alle Anführer in einem Konflikt entscheiden, wann die Niederlage unvermeidlich wurde. Einige zogen es vor, auf dem Feld zu sterben und eine gesamte Armee der Bitterkeit der Niederlage zu opfern. Einige wogen vorsichtig die Möglichkeiten ab, selbst in dem kurzen Augenblick, den das Schicksal ihnen gestattete, während sie von ihren sterbenden Männern um- 719 geben waren, und dachten über die Zeit der Demütigung hinweg an eine Zukunft, in der Verhandlungen, Diplomatie, Neugruppierung und neue Bündnisse aus der Niederlage noch einen Sieg machen konnten. Gabhran kam zu einem Entschluss, und ein Bote wurde ausgeschickt, um diese Entscheidung durch den Aufruhr kämpfender Männer und über die Gefallenen hinweg zu König Bridei zu tragen, der nun kühl unter seinem Banner mit einer Gruppe berittener Krieger wartete. Der Bote hatte ein weißes Tuch um die Stirn gewickelt, über seinen Lederhelm, ein Zeichen, dass man ihm gestatten sollte, den König unbehelligt zu erreichen. Als er vor Bridei stand und seine Botschaft herauskeuchte, lag Schweigen über dem Schlachtfeld, denn der Anblick des Königs von Fortriu, der dort auf seinem stolzen grauen Pferd mitten im Gemetzel wartete, und der Ritt des Boten mit dem weißen Tuch lenkten den Blick eines jeden Mannes bachabwärts zu der Stelle, wo ein anderer König nun unter dem rotgoldenen Banner von Dalriada stand, einen Ausdruck in den Augen, der über Erschöpfung und würdevolle Resignation hinausging. Die hundert kleinen Kämpfe hörten nach und nach auf. Krieger traten zurück und senkten Schwerter und Speere, behielten den Feind aber weiterhin vorsichtig im Auge. Die Galen begannen, sich in die allgemeine Richtung ihres ursprünglichen Lagers zu bewegen, und wurden von einer undurchdringlichen Reihe von Fokels Männern aufgehalten, die ihren Rückzug blockierten. Sie waren umstellt. Falls Gabhran vorhatte, diesen Kampf bis zum Tod weiterzuführen, würde er jeden Einzelnen von ihnen mitnehmen. Es gab noch eine andere Gestalt, die die Aufmerksamkeit aller erregte. Als König Bridei vorwärts ritt und seine Eskorte ihm folgte, starrten die Männer aus Fortriu sie an und blinzelten, und mehr als einer murmelte ein Kindergebet, denn es schien durchaus möglich, dass die flammenhaarige Gestalt mit den strahlenden Augen, die neben dem 720 Schwert von Fortriu ritt, nichts anderes war als ihr geliebter Flammenhüter, der zu ihnen herabgestiegen war, er, der schon lange diesem jungen König seine Gunst geschenkt hatte und Brideis Frömmigkeit und seine Ergebenheit an sein Land und sein Volk hoch schätzte. Dass dieser so auffallende Mann scheinbar aus dem Nichts gekommen war, fügte der Theorie noch mehr Gewicht hinzu. An einer bestimmten Stelle stieg Bridei vom Pferd und wartete darauf, dass der gälische König zu ihm kam. Talorgen war es, der nun das königliche Banner hielt, und durch das nachlassende Chaos der Schlacht ritten andere Anführer, Morleo und Carnach, um sich dem König anzuschließen. Gabhran erschien zu Fuß, gefolgt von seinem Standartenträger, flankiert von zwei Fürsten. Worte waren kaum notwendig. Als er vier Schritte vor Bridei stand, schnallte er seinen Schwertgurt ab und legte ihn zusammen mit den Waffen auf den schlammigen Boden. Er sagte kurz etwas in Gälisch. Bridei wartete. Er verstand die Sprache gut, aber Vorsicht trieb ihn, das nicht preiszugeben. Wieder einmal bedauerte er, dass Faolan nicht an seiner Seite war. »Du brauchst eine Übersetzung«, sagte jemand in der Sprache der Priteni. Eine schlanke Gestalt mit Tonsur trat aus den Reihen der Krieger von Dalriada. »Du!«, rief Bridei unwillkürlich beim Anblick von Bruder Suibne, religiöser Berater von Drust von Circinn und ein Mann, der bei Brideis Wahl zum König keine geringe Rolle gespielt hatte. »Du bist offenbar überall!« Suibne lächelte. »Nur Gott ist überall«, sagte er. »Mein Platz am Hof von Circinn wurde von einem anderen eingenommen. Ein mächtiger Wind fegte mich nach Westen, Verkünder eines großen Erwachens zum Licht, einer neuen Morgendämmerung des Glaubens. Der König möchte deine Bedingungen für seine Niederlage hören. Er hofft, dass du - 721 großzügig sein und das Leben der Männer verschonen wirst, die noch stehen.« »Ich werde nicht fragen, wie du unbehelligt durch diese Schlacht gekommen bist«, sagte Bridei zu dem christlichen Priester, »denn ich weiß bereits, wie deine Antwort lauten wird. Sage König Gabhran, dass ich bereit bin zu reden. Er muss seinen Männern befehlen, ihre Waffen sofort vor sich auf den Boden zu legen, wie er es getan hat, und zurückzutreten. Ich werde dann meinen Leuten befehlen, nichts weiter zu tun, als den Rand dieses Bereichs zu patrouillieren, bis wir eine Übereinkunft erreicht haben. Seine Männer dürfen sich um ihre Verwundeten kümmern, meine werden das Gleiche tun. Eine falsche Bewegung, und wir beenden dies nicht in
Frieden, sondern in Blut. Sorge dafür, dass Gabhran das versteht.« Suibne übersetzte Brideis Worte akkurat, und der gälische König stimmte widerwillig zu. Eine Reihe von Befehlen wurde gegeben und zu allen Bereichen des Schlachtfelds weiter getragen. Man hätte einen gewissen Widerwillen zu gehorchen erwartet, denn immerhin hatten diese Männer gerade erst in einem verschwitzten, blutigen Zweikampf bis auf den Tod gestanden, und nun sahen sie ihre Gegner unbewaffnet nur ein paar Armeslängen entfernt und durften die Gelegenheit, ihnen ein Ende zu machen, nicht nutzen. Der Kriegsschrei hatte ihre Lippen noch nicht vor allzu langer Zeit verlassen; die Hitze der göttlichen Inspiration war in ihrer Brust noch nicht zu Asche verbrannt. Und was die Galen anging, wie konnten sie sich darauf verlassen, dass sie nicht sofort nach dem Niederlegen der Waffen von den siegreichen Priteni getötet würden? Es fiel schwer, dieses Versprechen eines uralten Feinds ernst zu nehmen. Aber dies war auch die letzte Schlacht in einem Krieg gewesen, der beinahe einen ganzen Mond gedauert hatte. Die Männer von Fortriu hatten einen langen, anstrengenden Marsch hinter sich gebracht, um Dalriada zu errei- 722 chen. Als die Krieger aus Rabenbrunn und Sturmklippe, Pitnochie und Dornenband, Abertornie und Langwasser begannen, sich auf den sanften Hängen des Tals zu verteilen, und sich hier und da bückten, um einem Verwundeten zu helfen, oder einen Mann hochhoben, der immer noch am Leben war, und die Galen vorsichtiger mit dem gleichen Prozess begannen, wurde klar, dass beide Armeen genug hatten. Bei den Priteni begannen Müdigkeit und Schmerzen durch die Begeisterung zu dringen, denn ihre Verluste waren beträchtlich gewesen; bei den Galen nahm das Überleben die Stelle des Sieges als erwünschtes Ergebnis der Schlacht ein. Sie würden sich um die Gefallenen kümmern und dann, wenn die Götter es wollten, endlich nach Hause gehen können. - 723 KAPITEL ACHTZEHN Bridei hatte einmal geglaubt, dass der Augenblick, in dem Gabhran vor ihm niederkniete und seine Herrschaft über Dalriada aufgab, die Erfüllung seiner Träume darstellen würde. Der gälische König war in einer schwachen Position, nachdem der Nordteil seines Landes bereits von Fortriu erobert worden war, und er wusste, dass auch der Rest seiner Armee niedergemetzelt würde, wenn er Brideis Bedingungen nicht zustimmte. Aber Gabhran war so ruhig und würdevoll in seiner Niederlage, dass Bridei sich fragte, ob der Mann etwas in der Zukunft sah, das ihm verhüllt blieb. Die Anführer der Priteni stellten ihre Forderungen. Bruder Suibne übersetzte sie ins Gälische und gab ihnen Gabhrans Antwort, während sich außerhalb des kleinen Zelts, in dem die Fürsten sich versammelt hatten, die Männer in dem ehemaligen gälischen Lager um die Toten und Sterbenden kümmerten und die Verwundeten so gut wie möglich zusammenflickten. Talorgen hatte seinen Wundarzt mitgebracht, und im Augenblick kümmerte sich dieser Mann um Ged. Kurz vor dem förmlichen Treffen der Fürsten hatte man Bridei benachrichtigt, dass der Herr von Abertornie schwer verwundet war und man nicht erwarten konnte, dass er überlebte. Auch Carnach hatte in seiner Truppe einen Mann, der sich mit dem Richten von Knochen aus- 725 kannte. Am Ende arbeiteten die Ärzte der Priteni auch an gälischen Verwundeten und umgekehrt, wenn auch nicht ohne zweifelndes Gemurmel der Männer. Gabhran versprach Bridei, den Titel eines Königs von Dalriada abzulegen und sich mit seinen Ui-Neill-Fürsten unter bewaffneter Eskorte nach Dunadd zurückzuziehen. Sie verpflichteten sich alle, das Land der Priteni zu verlassen. Die Ältesten, die die Siedlungen in Dalriada beherrschten, die Anführer, die für Festungen und Fischerdörfer zuständig waren, mussten alle zurücktreten, und bei der kleinsten Unruhe würde ihnen Exil oder Tod drohen. Die gewöhnlichen Leute, die nur für diesen Krieg zu den Waffen gerufen worden waren, durften in ihre Heimat zurückkehren und dort wieder mit ihrem normalen Leben beginnen, solange sie verstanden, dass der Westen von nun an unter der Herrschaft von Fortriu stand. Gabhran besprach sich mit seinen Anführern, dann setzte er mit finsterer Miene sein Zeichen unter das Dokument, das Bridei schon vor einiger Zeit vorbereitet hatte. »Und«, fügte Bridei hinzu, »selbstverständlich wird in diesem Land kein christliches Ritual mehr praktiziert werden. Eure Priester werden in ihre Heimat zurückkehren. Das Volk wird die Feste des neuen Glaubens nicht begehen und sich nicht im öffentlichen Gebet zum Christengott zusammenfinden. Auch das muss vollkommen klar sein.« Bruder Suibne beugte sich vor und sprach leise mit dem gälischen König, und Gabhran antwortete. Suibne räusperte sich. »Ich weiß, dass du dir der Präsenz unserer heiligen Männer in Circinn sehr bewusst bist. Der König fragt dich, ob du auch weißt, dass sich auf den Hellen Inseln ebenfalls eine kleine Gruppe christlicher Priester befindet, die dort vom König und seinem Volk mit Toleranz und Höflichkeit behandelt werden. König Gabhran bittet um die Versicherung, dass die Angehörigen dieser friedlichen Gemeinde weder belästigt noch vertrieben wer- 726 den. Wir wissen, dass der König der Hellen Inseln dein Vasall ist.« »Zu dieser Angelegenheit habe ich nichts zu sagen«, erklärte Bridei. »Das liegt außerhalb dieser Verhandlungen und außerhalb von Gabhrans Autorität.« »Dann«, sagte Suibne, »muss ich dich über eine weitere Komplikation informieren.« Diesmal wartete er nicht,
um mit Gabhran zu reden, sondern sprach aus eigenem Entschluss. »Weiter«, forderte Bridei. »Was ist mit den Inseln im Westen?«, fragte der Christ. »Willst du, dass alle Galen dort - und das sind mehrere Hundert in einer Anzahl kleiner Siedlungen - diese Ufer vollkommen verlassen? Wirst du auch dort neue Anführer einsetzen? Diese Dörfer, Bauernhöfe und Fischerboote sind trotz der relativ vielen Menschen, die nun dort leben, strategisch unwesentlich.« Bridei schwieg einen Augenblick. »Wieso fragst du danach?« Bridei war vorsichtig; er kannte diesen Mann bereits. Suibne stellte keine leeren Fragen. Der Priester sprach noch einmal mit Gabhran. »Es wurde ein Versprechen abgegeben«, sagte er, als er sich wieder Bridei zugewandt hatte. »Es betrifft eine sehr kleine Insel, unfruchtbar, windig und vollkommen unbedeutend. Der alte Name dieses Ortes lautet Ioua.« »Die Eibeninsel. Ich weiß davon.« Bridei war in seiner Kindheit ausführlich in Geographie unterrichtet worden. »Man sagt mir, es handelt sich um einen wunderschönen Ort; wild, voller Licht und abgelegen. Um was für ein Versprechen handelt es sich?« »Der König wurde von einem Mann angesprochen, von einem außergewöhnlichen Mann, Bridei, einem Priester, von dem selbst du, solltest du jemals das Glück haben, ihm zu begegnen, zugeben würdest, dass er mächtig im Glauben ist und dass die Gnade Gottes ihn erfüllt. Er heißt Colm; - 727 man nennt ihn Colmcille, was man als >Taube der Kirche< übersetzen könnte.« Ein Strahlen lag auf Suibnes schlichten Zügen, eine Wärme in seinem Ton, die Bridei nicht ignorieren konnte. »Was für ein Versprechen?«, fragte Carnach barsch. »Sprich weiter. Du kennst unsere Ansicht über diesen Glauben und den Schaden, den er bereits unter den Priteni angerichtet hat. Er spaltet das Volk und ist gefährlich.« »Bruder Colm sucht eine Zuflucht, einen stillen Ort, an dem er zusammen mit einer Gruppe von Brüdern ein Gebetshaus einrichten kann, eine Einsiedelei, weit entfernt von gewissen Einflüssen zu Hause. König Gabhran hat ihnen Zuflucht auf Ioua versprochen. Es ist nur ein winziger Fleck von einer Insel.« Carnach zischte, Talorgen verzog das Gesicht, und Morleo ballte die Fäuste. »Es stand König Gabhran nicht zu, Ioua zu verschenken«, sagte Bridei ruhig. »Von heute an hat er keine Macht mehr im Land der Priteni. Die westlichen Inseln stehen unter meiner Herrschaft, und ich werde entscheiden, wer dort kommt und geht. Fortriu wünscht keine weiteren eifrigen Christen, die den Geist der Menschen vergiften.« Suibne übersetzte das, und Gabhran gab eine ernste Antwort. »Der König sagt, diese große Flut kann von niemandem aufgehalten werden. Nicht einmal vom Schwert von Fortriu«, sagte der Priester. »Er hat Recht, Bridei. Wenn du wissen willst, was wir meinen, lade diesen Priester an deinen Hof auf dem Weißen Hügel ein. Lerne ihn kennen und sprich mit ihm. Ich kenne dich als toleranten Mann, der sich seine eigene Meinung bildet. Höre Bruder Colm zumindest an. Niemand kann ihn kennen lernen und unverändert bleiben.« »Was will dieser Bursche uns sagen?« Talorgen wurde unruhig, »Er ist hier, um zu übersetzen, nicht um dir seinen persönlichen Rat zu geben.« - 728 »Wir sind so etwas wie Freunde«, sagte Bridei. »Aber du hast Recht. Bruder Suibne, sag dem König, dass ich diese Bitte zur Kenntnis nehme. Im Augenblick sind wir hier fertig.« Nun sprach er Gabhran direkt an, und der Christ übersetzte leise. »Mein Heerführer und Verwandter Carnach wird eine bewaffnete Eskorte für dich aufstellen. Er wird dich persönlich nach Dunadd begleiten und sich um alles Weitere kümmern. Wir haben hier viel zu tun, es gibt Männer zu begraben, ein Ritual zu vollziehen und ein paar Entscheidungen darüber zu treffen, welche deiner Krieger dich begleiten und welche in ihre Siedlungen hier zurückkehren werden. Ich habe nichts gegen einen Mann, der sich einfach nur hier niederlassen will, solange er die Gesetze und den Glauben der Priteni respektiert.« »Herr ...« Fokel stand am Eingang zum Zelt. Sein Gesicht war bleich, seine Tunika blutüberströmt. »Ich muss gehen.« Bridei stand auf und verbeugte sich höflich. »Ein guter Freund liegt im Sterben. Ich muss mit ihm sprechen, solange ich noch kann. Auch du musst dich sicher von einigen verabschieden. Tu es schnell. Ich möchte, dass du diesen Ort verlassen hast, bevor der Tag zu Ende ist.« Ged lag auf einer behelfsmäßigen Bahre, seine schreckliche Wunde bedeckt mit einem bunten Umhang, den einer seiner Bewaffneten über seinen Oberkörper gelegt hatte. Rings um ihn her lagen andere verwundete Krieger, und die Ärzte arbeiteten angestrengt. Die Männer, die ihnen halfen, waren blass und schweigsam. Es gab nur wenig Ausrüstung; sie brauchten Sägen, Kohlebecken, Heilkräuter. In diesem Land, das ein fremdes Land geworden war, verfügten sie nur über die eingeschränkte Ausrüstung, die jeder Arzt in seiner Satteltasche trug. Die Männer mit geringeren Wunden würden vielleicht in eine Siedlung gebracht und dort behandelt werden. Viele der schwerer Verwundeten würden hier sterben, - 729 das war das Wesen eines Kriegs, der auf dem Marsch ausgefochten wurde. »Ged«, sagte Bridei, kniete sich neben seinen Freund und nahm seine Hand. »Das sind schlechte Nachrichten.«
Es hatte keinen Sinn, sich zu verstellen; Morleo hatte ihm die Wunde beschrieben, als sie sich auf die Beratung mit Gabhran vorbereiteten. »Bridei ...«, ächzte Ged. »Ein guter Kampf, nicht wahr? Wir können stolz auf unsere Jungs sein ...« »Das können wir, mein Freund. Und jetzt sag mir, gibt es etwas, was ich für dich tun kann? Hast du Botschaften auszurichten?« Ged versuchte zu lächeln, aber es war nur eine verzerrte Grimasse. »Du bist ein König, kein ... Botenjunge ... aber, Bridei... mein Sohn Aled ... er ist erst zwölf, zu jung, um Abertornie schon zu übernehmen, und die Kleinen sind alle Mädchen ... Loura sollte diese Arbeit nicht allein leisten müssen ... könntest du ...« »Ich werde mit deiner Frau sprechen. Wir schicken ihr jemanden, mach dir deshalb keine Sorgen.« Bridei konnte eine Veränderung in Geds Atem wahrnehmen und sah, wie ein anderer Ausdruck in seine Augen trat. Die Knochenmutter war nur noch um Haaresbreite entfernt. »Wir sind alle hier, Ged«, sagte er leise. »Talorgen, Morleo, Fokel und viele deiner eigenen Leute. Sie haben gekämpft, wie du sie ausgebildet hast, mit Herz, Mut und Inspiration. Der Flammenhüter möge seine Wärme in deinen Geist hauchen und dich auf deiner Reise schützen.« »Ah ...«, flüsterte Ged, »es tut weh, Bridei. Es tut mehr weh, als ich gedacht hätte. Es ist schwer zu atmen... aber es ist gut. Wir haben gesiegt... wir haben unser Land zurückerobert ... wenn es irgendetwas gibt, was es wert ist, dafür zu sterben ... dann dies ...« Seine Augen wurden glasig und blicklos, das schwache Heben und Senken der Brust fand ein Ende. Ein dünnes Blutrinnsal lief aus Geds Mundwinkel - 730 und verlor sich in dem Scharlachrot, Gelb und Grün des Umhangs. »Die Knochenmutter möge dich sanft in ihren Armen wiegen, alter Bursche«, sagte Talorgen und wandte sich ab, um sich die Augen zu wischen. »Die gesegnete Blütenreiche schenke dir Träume von den hübschesten Mädchen und schönsten Gärten in ganz Fortriu«, sagte Fokel, beugte sich vor und berührte die Stirn des Toten mit den Lippen. »Die Leuchtende möge ihr Licht auf deinen Weg scheinen lassen, bis du vorwärts in ein neues Morgengrauen marschierst.« Morleo kniete sich hin und schloss die starrenden Augen; Bridei kreuzte Geds Arme auf seiner Brust, wo das Blut den geliehenen Umhang verfärbte. Er konnte keine Worte mehr finden. Es gab hier nichts mehr zu tun. Geds Männer würden die Totenwache halten, wenn auch nur bis zum Morgengrauen, denn es gab viele zu begraben, und niemand wollte sich in dieser Region länger aufhalten. Bridei selbst hatte noch viel vor sich, er musste mit Männern sprechen und Anordnungen treffen. Es würde lange dauern, bis er allein sein und damit beginnen konnte, das Gewicht dieses Todes zu spüren. Er fand Cinioch, zog ihn beiseite und sagte ihm, dass die Szene zwischen ihm selbst, Hargest und dem geheimnisvollen rothaarigen Fremden streng geheim gehalten werden musste, zumindest im Augenblick. Cinioch sollte dafür sorgen, dass die anderen Männer, die bei ihm gewesen waren, das ebenfalls verstanden. »Ich habe es ihnen schon gesagt«, berichtete Cinioch. »Der Einzige, mit dem ich darüber gesprochen habe, ist Uven. Das musste ich tun, denn er hatte tausend Fragen über unseren unerwarteten Besucher. Er weiß, dass er es für sich behalten muss. Hast du gehört, dass Uven drei Galen getötet hat, trotz seines verletzten Arms? Wir haben nicht einen einzigen Verwundeten verloren.« - 731 »Uven ist ein tapferer Mann«, sagte Bridei. »Und was dich angeht, so höre ich, dass du dich ebenfalls sehr gut geschlagen hast.« »Was wirst du Umbrig sagen, Herr?«, fragte Cinioch ganz offen. »Wirst du ihn wissen lassen, dass der Junge, den er als Leibwächter geschickt hat, sich als Attentäter erwies?« »Still, Cinioch. Das ist meine Sache.« Bridei sah die echte Sorge in Ciniochs Gesicht und gab nach. »Tatsächlich«, fügte er hinzu, »werde ich ihm die Wahrheit sagen.« Er war schon einmal nahe daran gewesen, von einem Freund getötet zu werden, der zum Feind geworden war, und er hatte den Vater dieses Mannes angelogen, um ihn vor der Kränkung zu schützen. Talorgen hatte die Wahrheit sicher erraten, aber die Lüge hatte ihm und seinen beiden jüngeren Söhnen geholfen, besser mit ihrer Trauer zurechtzukommen. Diesmal würde Bridei nicht lügen. »Aber es ist nicht notwendig, dass die gesamte Armee es erfährt. Ich werde jetzt zu Umbrig gehen. Und wo ist...« Er sah sich in dem Bereich um, wo die Pferde aus Pitnochie angepflockt waren. Mehrere Männer, die er kannte, saßen dort und ruhten sich aus, kümmerten sich um geringfügige Wunden oder packten ihre Ausrüstung ein. Jemand hatte ein kleines Lagerfeuer errichtet und kochte, was wie Haferbrei roch. »Drustan? Der Vogelmann?« »Auch das sollte geheim gehalten werden. Ist er noch hier oder ist er davongeflogen, während wir die Friedensbedingungen aushandelten?« »Er ist da drüben, Herr. Sieht aus, als hätte er nicht die Kraft zum Fliegen, zumindest im Augenblick nicht. Bei der Männlichkeit des Flammenhüters, ich habe noch nie jemanden so geschickt kämpfen gesehen. Er ist erstaunlich begabt. Ich würde gern ein paar dieser Bewegungen lernen. Eine Weile hätte ich beinahe geglaubt...« Bridei gelang ein Lächeln. »Das haben wir vielleicht alle - 732 getan. Aber er ist ein sterblicher Mann, und die Tatsache, dass er behauptet, Faolans Freund zu sein, bestätigt das
nur. Bitte, gib ihm etwas zu essen. Er hat einen langen Weg sehr schnell zurückgelegt, um uns zu helfen. Und bitte ihn zu warten, bis ich zurückkomme. Ich möchte mich bei ihm bedanken. Und ich glaube, er hat eine Bitte an mich.« Umbrig überraschte Bridei, indem er Tränen vergoss und dann verkündete, dass er sich schon lange Sorgen gemacht hatte, dass es mit dem Jungen eine schlechte Wendung nehmen könnte; sein Vater war ein unangenehmer Mensch, und sie hatten immer befürchtet, dass Hargest ihm nachschlagen könnte. Die Nachricht, dass offenbar auch Alpin tot war, nahm Umbrig hingegen gelassen auf. Der Caitt-Fürst war der Ansicht, dass es vermutlich Alpin gewesen war, der Hargest zu seiner verräterischen Tat angestiftet hatte. Umbrig nahm an, dass die beiden sich ein- oder zweimal bei den langen Ausflügen getroffen hatten, die der Junge zu Pferd unternahm, angeblich, um das Durchhaltevermögen von Pferden zu überprüfen. Die vorgebliche Verachtung des Jungen für seinen Vater hatte nie so recht zu seinem Bedürfnis nach Anerkennung und einem Platz auf der Welt passen wollen. »Ich denke, es war ein Bedürfnis nach Liebe«, sagte Bridei leise und spürte sein eigenes Versagen wie einen Schmerz in der Brust. »Ich habe versucht, ihm zu helfen. Ich hätte noch mehr für ihn tun können, wenn er mir die Zeit dazu gegeben hätte. Hargest war viel versprechend, und er hätte nur gute Anleitung gebraucht, bis er seine eigene Menschlichkeit erkannte.« »Ich habe es versucht, Bridei«, murmelte Umbrig und wischte sich das Gesicht mit dem Katzenfellrand seines weiten Umhangs. »Ich habe es sieben Jahre lang versucht. Es gibt schlechtes Blut in dieser Familie. Seltsame Geschichten; finstere Geschichten.« - 733 »Du weißt, dass der Onkel des Jungen, Drustan, hier ist? Dass er es war, der die Nachricht von Alpins Tod brachte?« Umbrig starrte Bridei an. »Der verrückte Onkel? Tatsächlich? Auf welcher Seite hat er denn gekämpft?« »Er hat mir das Leben gerettet. Du wirst Wunden auf dem Gesicht deines Pflegesohns finden. Die hat sein Onkel ihm zugefügt. Aber die tödliche Wunde war mein eigenes Werk. Ich hatte nicht vor, ihn umzubringen, Umbrig. Ich wollte ihn nur davon abhalten, mir sein Messer ins Herz zu stoßen. Ich würde viel darum geben, noch Zeit zu haben, ihn von seinem Ansinnen abzubringen und in eine Zukunft mit strahlenden Möglichkeiten zu führen.« »Du bist kein Gott, Bridei, wenn auch manche das denken mögen. Du kannst nicht alles richtig machen. Vielleicht war es vorbestimmt, dass Hargest heute sterben sollte. Der Junge wurde von Zorn und Frustration verzehrt. Vielleicht wäre er nie zufrieden gewesen. Vielleicht hätte er nie die Tatsache akzeptiert, dass er nicht Alpins legitimer Sohn und Erbe war. Wer weiß? Wir haben heute viele gute Männer verloren. Am Ende ist der Junge einfach nur ein weiteres Kriegsopfer.« Nun flössen die Tränen ganz offen über das breite, tätowierte Gesicht. »Danke, Umbrig«, sagte Bridei und senkte den Kopf. »Ich stehe in deiner Schuld, und ich werde diese Schuld bezahlen, wenn du es brauchst. Sag mir nur schnell: Dieser verrückte Onkel, von dem wir sprachen, hat er diese Beschreibung durch sein Wesen oder eine Krankheit verdient? Drustan kommt mir kein bisschen verwirrt vor.« Umbrig verzog das Gesicht. »Ich habe ihn seit Jahren nicht mehr gesehen«, sagte er, »nicht, seit wir alle Kinder waren. Damals war er in Ordnung, ein bisschen verträumt, aber nichts Ungewöhnliches. Es heißt, er hätte Alpins Frau und Kind umgebracht, und sein Bruder hat ihn zu einer Gefahr erklärt und ihn aus Sicherheitsgründen eingesperrt. Vor sieben Jahren, kurz nachdem Hargest zu mir geschickt - 734 wurde. Er ist also frei, wie? Das wird interessant sein. Ist dir klar, dass es Drustan ist, dem der Ankerplatz im Westen gehört? Der, den Alpin für seine Schiffe benutzt hat? Und ich nehme an, Dornwald wird jetzt auch an ihn fallen. Das wird ihn zu einem der mächtigsten Fürsten im Norden machen.« »Interessant«, sagte Bridei. »Ich muss Talorgen fragen, ob unter den Schiffen, die er auf dem Weg hierher versenkt hat, auch Caitt-Schiffe waren. Aber als Erstes werde ich mit Drustan selbst sprechen und ihm ein paar Fragen stellen. Lebe wohl, Umbrig. Noch einmal, ich kann dir nicht sagen, wie Leid es mir um den Jungen tut.« »Das brauchst du auch nicht«, murmelte Umbrig. »Es steht dir ins Gesicht geschrieben. Und jetzt geh, ich habe Männer zu begraben. Ich sollte es lieber hinter mich bringen.« Drustan stand allein in einigem Abstand von dem Lagerfeuer, das Uven angezündet hatte. Es war ein sehr langer Tag gewesen. Nun dämmerte es, und der Wind war nur noch eine sanfte Brise, die den salzigen Geruch des Meeres herantrug. Viele Vögel waren unterwegs und grüßten den Abend mit ihren Rufen, und der rothaarige Mann blickte zu ihnen auf. Er hatte die Arme um den Oberkörper geschlungen. Als Bridei näher kam, bemerkte er, dass Drustan schauderte und die Zähne zusammengebissen hatte, offenbar, damit sie nicht klapperten. Eine Schale mit Essen stand auf einem flachen Stein in der Nähe, wirkte aber unberührt. »Drustan?«, fragte Bridei leise. Er war nicht allein gekommen: Cinioch und Uven waren in der Nähe und passten auf. Bridei hätte zwar gern auf diesen ununterbrochenen Schutz verzichtet, aber er akzeptierte, dass dieser Tag etwas Besonderes war. Er hatte sich entschlossen, Hargest zu vertrauen, und Hargest hätte ihn beinahe getötet. Heute hatte seine Armee Dalriada zurückerobert, und der Frieden hing von ihm ab. - 735 »Herr.« Drustan löste die Arme und deutete eine Verbeugung an. Seine Stimme war nicht vollkommen fest. »Es scheint dir nicht gut zu gehen. Sollen wir uns hinsetzen?«
»Es geht mir gut genug. Meine Gestalt zu wechseln, erschöpft mich und direkt danach in einen Kampf zu reiten, war eine schwere Prüfung. Außerdem ...« Drustan zögerte. »Komm und setz dich.« Sie ließen sich nebeneinander auf dem Boden nieder. Es gab wenig Bequemlichkeit auf diesem Feld. »Wie du zweifellos gesehen hast, wurde ich ausgebildet, um zu kämpfen«, sagte Drustan, »und kann das, was ich gelernt habe, einsetzen. Ich war sieben Jahre lang gefangen, mit nur einem einzigen Wärter. Um uns die Zeit zu vertreiben und zu verhindern, dass ich in Wahnsinn und Verzweiflung versinke, hat er mir beigebracht, was er wusste. Die Bewegungen und diese Fertigkeiten genieße ich. Es tut gut, Geist und Körper zu üben. In deinen Kampf zu reiten und es zu nutzen, um zu verstümmeln und zu töten, widerstrebt allerdings meinem Wesen. Es beunruhigt mich. Und ich bin nicht daran gewöhnt, unter Menschen zu sein. Ich muss mich entschuldigen. Deine Männer halten mich wahrscheinlich für unhöflich und undankbar.« Bridei nahm diese Ansprache auf, die mehrere Überraschungen enthielt. In der derzeitigen Situation würde er wahrscheinlich nicht die Zeit haben, diesen faszinierenden Mann besser kennen zu lernen. »Drustan«, sagte er, »es gibt so viele Fragen, die ich dir stellen möchte. In der Tat weiß ich kaum, wo ich anfangen soll. Umbrig sagte mir, dass dein Bruder dich für ein schweres Verbrechen eingesperrt hat. Ein schreckliches Verbrechen.« »Du möchtest fragen, ob das wahr ist? Warum solltest du mir mehr glauben als Umbrig, den du bereits kennst?« »Umbrig sagt mir nur, was er gehört hat. Du kannst mir sagen, was wirklich geschehen ist.« - 736 »Ich habe dieses Verbrechen nicht begangen.« Drustan richtete seine leuchtenden Augen auf Bridei. »Vertraust du Faolan?« Das kam unerwartet. »Mit meinem Leben«, sagte Bridei. »Er weiß, dass ich unschuldig bin. Er wird für mich sprechen. Ebenso wie Ana.« Etwas in Drustans Tonfall ließ Bridei aufmerksam werden. »Du sprichst von der königlichen Geisel, Ana von den Hellen Inseln, die wir geschickt haben, um deinen Bruder zu heiraten?« Drustan senkte den Blick. Ein kleines Lächeln zuckte um seine Mundwinkel. »Sie hat nie an mir gezweifelt«, sagte er. »Selbst als ich selbst unsicher war, hat sie an meine Unschuld geglaubt. Die beiden sind wahre Freunde.« »Du überraschst mich. Faolan sagt immer, er hat keine Freunde.« »Du und ich wissen das besser.« »Ich denke, du solltest mir lieber die ganze Geschichte erzählen«, sagte Bridei. »Wir haben nicht viel Zeit: Da mein Druide nicht hier ist, muss ich vor Einbruch der Nacht ein Ritual vollziehen. Und ich muss dich um etwas bitten, aber das hängt von deinen Antworten auf meine Fragen ab.« »Ich möchte dich ebenfalls etwas fragen, bevor ich unsere Geschichte erzähle: meine, die von Faolan und die von ... Ana.« Da war es wieder, dieser Name, der mit solcher Zartheit und Leidenschaft ausgesprochen wurde, dass man es nicht hören konnte, ohne dass es das Herz berührte. »Also frage.« »Du hast heute gekämpft und getötet wie wir alle. Du hast deinen Platz unter deinen Kriegern eingenommen und durch dein Beispiel geführt, wie es ein wahrer König tun sollte. Tatsächlich sieht es so aus, als hättest du dich selbst in Gefahr gebracht, die Zeichen deiner königlichen Stellung bis zum Schluss verborgen und gekämpft wie jeder andere Mann. Du warst mutig und entschlossen. Nun scheinst du - 737 ruhig und beherrscht zu sein. Aber ich sah an deinem Gesicht, dass du das Blutvergießen nicht mehr genossen hast als ich. Das interessiert mich. Dein Faolan spricht beinahe von dir, als wärst du ein Gott... nein, das stimmt nicht, er ist kein Mann, der viel auf spirituelle Dinge gibt. Er hält dich für einen unvergleichlichen Anführer, für einen Mann, dessen Beispiel in jeder Hinsicht überragend ist. Er betrachtet dich auch als Freund, selbst wenn er es nicht zugeben will.« Sie schwiegen beide. Dann sagte Bridei: »Wie lautet deine Frage?« »Wie kannst du diese Dinge miteinander vereinbaren?«, fragte Drustan und schlang die Arme um die Knie. »Wie kannst du es ertragen?« Bridei gelang ein Lächeln. »Zu solchen Zeiten«, sagte er, »nur mit großen Schwierigkeiten. Ich wurde von einem Mann aufgezogen, der verstand, was ein König sein muss; er hat mich gut vorbereitet. Es gibt Menschen am Weißen Hügel und Fürsten hier auf dem Schlachtfeld, die mich mit allem unterstützen, was sie zu geben haben. Und ich habe meine Frau. Ohne Tuala könnte ich das alles nicht begreifen. Sie ist mein Anker, mein stiller Mittelpunkt, mein Herz und das größte Geschenk, das die Götter mir gegeben haben.« Es fühlte sich merkwürdig, aber auch seltsam richtig an, Drustan dies einzugestehen, obwohl er den Mann kaum kannte. Irgendwie erinnerte ihn der Vogelmann an den alten Druiden Uist, von dem stets ein anderweltliches Strahlen ausgegangen war und der selbst in den finstersten Zeiten eine Weisheit an den Tag gelegt hatte, als stünde er außerhalb des gewöhnlichen Rechts und Unrechts menschlicher Angelegenheiten. Drustan lächelte. »Danke«, sagte er. »Ich respektiere und bemitleide dich. Wir haben alle unsere eigenen Fesseln. Ich bin den meinen mit der Hilfe von bemerkenswerten Freunden entkommen. Aber du wirst niemals fliehen können.« »Du verstehst mich falsch. Ich liebe die Götter, und ich
- 738 liebe mein Land. Die Pflicht der Führerschaft hat mich von Anfang an angezogen, und folge diesem Pfad freiwillig.« »Die Liebe hilft dir. Tuala ist eine bemerkenswerte Frau. Ich werde dir jetzt meine Geschichte erzählen.« Sein Bericht war lang, finster und seltsamer als alles, was Bridei sich hätte vorstellen können. Anas Rolle schien überhaupt nicht zu dem zu passen, was er von ihr wusste, und einige von Faolans Entscheidungen überraschten ihn, aber die Geschichte war überzeugend, und er glaubte sie. Er lauschte schweigend, bis Drustan seinen Bericht mit Tualas Bitte, dass er als Bote fungieren möge, zum Ende brachte. »Und ich wusste es«, sagte der rothaarige Mann, »ich wusste es tief im Herzen, dass dieser Attentäter kein anderer war als der Sohn meines Bruders. Sobald die Königin seine Augen erwähnte, wusste ich es. Ich habe es ihnen nicht gesagt. Es wäre besonders Faolan sehr schwer gefallen, mich zu bitten, mich in eine solche Situation einzumischen.« »Warum besonders Faolan?« »Es gibt ein Ereignis in seiner Vergangenheit, eine Erfahrung, über die ich nicht mit dir sprechen kann, denn er hat nur im Vertrauen darüber gesprochen. Faolan würde einen Mann nur sehr ungern bitten, das Leben eines Verwandten in Gefahr zu bringen. Und das war stets eine Möglichkeit, obwohl ich dich nach allem, was wir zu diesem Zeitpunkt wussten, vielleicht nur hätte warnen müssen. Ich wollte Faolan nicht wissen lassen, dass ich mit Hargest verwandt bin.« »Es tut mir Leid. Hätte ich gewusst...« »Es hätte nichts geändert, Herr. Ich habe eine Entscheidung getroffen. Dein Überleben ist so unendlich viel wichtiger als das von Hargest. Du bist das Schwert von Fortriu. Er war...« »Nur ein verwirrter und zorniger Junge? Ich kann es nicht so betrachten, Drustan. Mir kommt es so vor, als sei ein Mann ein Mann, und jeder Tod verdient das gleiche 739 Maß an Tränen. Ich hätte diesem Jungen helfen können; er hätte jemand sein können, das wusste ich. Nun hat mir ein anderer Freund seinen Sohn anvertraut, und ich fürchte, ich werde wieder zu viele Fehler machen. Ein hervorragender Anführer? In solchen Zeiten komme ich mir vor, als tastete ich allein im Dunkeln herum.« »Du brauchst deine Frau an deiner Seite. Du musst deine Tränen vergießen, ebenso wie wir alle, und du musst deine eigene Schwäche anerkennen und dir Zeit nehmen, deinen Mut wieder zu finden. Aber du hast keine Zeit dazu.« Bridei starrte ihn an. »Wie kannst du das wissen? Wie kannst du es so gut verstehen?« »Vielleicht, weil ich der Verzweiflung selbst so nahe war, Verzweiflung, Gewalttätigkeit, Selbstzerstörung ... ohne Deord hätte ich nicht überlebt. Ohne Faolan wäre ich nicht entkommen. Ohne Ana...« Der Fluss der Worte verebbte. Auf der anderen Seite des Lagerfeuers rief jemand nach Bridei. »Sprich weiter«, sagte er. »Du willst jetzt sicher deine Bitte vorbringen.« Drustan seufzte. »Ich werde es nicht tun. Nicht jetzt. Es soll warten, bis du deine Arbeit hier geleistet hast und wieder in dein Heim und zu deinen Lieben zurückkehren konntest. Man sollte von solchen Angelegenheiten nicht auf einem Schlachtfeld sprechen.« Bridei nickte. Es widerstrebte ihm, seine eigene Bitte auszusprechen, denn er würde sehr viel verlangen. Drustan sah bei all seiner Offenheit, bei all seinem Verständnis vollkommen erschöpft aus. Also fragte er stattdessen: »Welche Pläne hast du für die Zukunft? Der Weiße Hügel steht dir offen, wenn du eine Weile bei uns bleiben möchtest.« Drustan lächelte. »Ich danke dir, Herr. Die Königin hat uns ebenfalls die Gastfreundschaft deines Hofs angeboten. Ich brauche Zeit, um zu begreifen, was geschehen ist. Aber ich werde bald nach Dornwald zurückkehren müssen und dann nach Westen gehen. Ich möchte meinen friedlichen - 740 Wasserweg von den Kriegsschiffen meines Bruders befreien.« »Drustan...« »Ich werde morgen früh die Nachricht von deinem Sieg nach Hause tragen«, nahm der rothaarige Mann Brideis Bitte vorweg. »Ich werde im Morgengrauen aufbrechen. Bis zum Abend werden deine Leute wissen, dass du in Sicherheit bist.« »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« »Sag nichts. Ich habe den Blick deiner Frau gesehen. Mit jedem Atemzug wünschte sie sich dein Überleben. Außerdem habe ich eigene wichtige Gründe, schnell zum Weißen Hügel zurückzukehren.« »Drustan?« »Ja, Herr?« »An dieser Geschichte ist noch mehr, als du mir erzählt hast, nicht wahr?« Drustan schwieg einen Augenblick. Dann sagte er: »Alles, was ich selbst weiß, habe ich dir gesagt. Aber wir waren zu dritt auf dieser Reise. Jeder von uns hat eine Geschichte zu erzählen. Hör dir an, was Faolan zu sagen hat, wenn du nach Hause zurückkehrst. Immer vorausgesetzt, er ist bis dahin noch nicht gegangen.« »Gegangen? Wohin?« »Ich glaube, du wirst feststellen, dass er sich verändert hat, ebenso wie Ana und ich. Er muss unruhige Geister zur Ruhe betten, bevor er weiter seinen Weg gehen kann, und er muss sein gebrochenes Herz heilen. Er möchte
nicht, dass du ihn so schwach siehst. Ana hat ihm das Versprechen abgenommen, dass er bis zu deiner Rückkehr bleibt, aber er hat vielleicht nicht die Kraft, sich daran zu halten.« »Du beunruhigst mich, Drustan. Sprechen wir beide von dem gleichen Mann?« Drustan nickte. »Es ist der gleiche, nur verändert. Er wird versuchen, vor seinen Freunden zu fliehen, sogar vor dir. - 741 Gehe vorsichtig mit ihm um. Wir wollen ihn nicht verlieren.« »Wir?« »Ana und ich.« Das kam leise und voller Stolz heraus. »Ich verstehe«, sagte Bridei und nahm an, dass es zumindest eine Tatsache gab, die Drustan ihm noch nicht mitgeteilt hatte und dass sie viel mit der Prinzessin von den Hellen Inseln zu tun hatte. »Ich hoffe, innerhalb eines Monds zu Hause zu sein, aber es gibt hier im Westen noch viel zu tun. Bitte Faolan, auf mich zu warten, wenn du kannst. Sag ihm, es ist wichtig. Es gibt eine Sache, über die ich mit ihm sprechen möchte, eine, bei der er mich besser beraten kann als jeder andere.« »Das werde ich tun, Herr. Hast du noch andere Botschaften?« »Tuala kennt mein Herz, auch ohne dass es Worte braucht. Sag ihr einfach nur in kleinerem Kreis, dass sie mir fehlt und Derelei ebenso und dass ich die Tage zähle, bis ich wieder zu Hause bin. Und danke ihr und Broichan dafür, dass sie so weise waren, dich zu mir zu schicken.« »Ich habe deinen Druiden nicht kennen gelernt. Er war anderswo, ebenso wie dein Sohn. Aber ich werde diese Worte weitergeben.« »Du kannst auch Ana inoffiziell sagen, dass ich froh bin, dass sie nach Hause zurückgekehrt ist und deinen Bruder nicht geheiratet hat. Diese Botschaft sollte unter vier Augen ausgerichtet werden.« »Danke, Herr.« Das Lächeln war nun weniger zögernd, die Augen sehr strahlend. »Es hat hier Verluste gegeben. Ich werde bis zu unserer Rückkehr warten, mit dem Haushalt darüber zu sprechen; ich werde es dir nicht auferlegen, solch traurige Nachrichten zu überbringen. Und jetzt muss ich gehen; sie rufen mich. Wirst du an unserem Ritual für die Toten teilnehmen?« - 742 Drustan schüttelte den Kopf. »Ich hoffe, du wirst mich entschuldigen. Ich sollte heute Abend lieber allein sein, denn ich will mich ausruhen und mich auf den Morgen vorbereiten. Ich wünsche dir alles Gute, Herr.« »Du solltest mich lieber Bridei nennen. Immerhin bist du Faolans Freund, und er spricht mich immer mit meinem Namen an.« »Gute Nacht, Bridei. Du bist ein guter Mann und hast die Treue deines Volks verdient.« »Ich nehme an, am Ende können wir alle nur unser Bestes tun«, sagte Bridei, »und uns darauf verlassen, dass es den Göttern genügt. Gute Nacht, Drustan. Der Flammenhüter möge dich auf deiner Reise behüten. Und ich danke dir nochmals aus tiefstem Herzen.« Es dauerte tatsächlich mehr als einen Mond, bevor der König von Fortriu zum Weißen Hügel zurückkehrte, begleitet von den Truppen aus Pitnochie und Abertornie und einer Gruppe von Bewaffneten, die vom Hof selbst stammten. Sie mussten nicht vor den Toren warten, nicht an diesem Tag. Die Tore standen weit offen, und im Hof dahinter hatte sich der gesamte Haushalt versammelt, um Bridei und seine Krieger zu Hause willkommen zu heißen. Die schlechten Nachrichten waren erheblich früher überbracht worden, von Boten, die an jeden Ort geschickt worden waren, der Männer im Krieg verloren hatte. Das ersparte den Familien jener Krieger, die ihr Leben im Dienst des Flammenhüters gelassen hatten, auf die Rückkehr der kleinen Gruppen müder Überlebender zu warten und vergeblich zu hoffen, ein geliebtes Gesicht unter ihnen zu sehen, nur um schließlich zu erkennen, dass ein Sohn, ein Vater, ein Ehemann oder ein Bruder nie wieder nach Hause zurückkehren würde. Bei allen Verlusten war es ein großer Sieg gewesen. Ci-nioch, der nun stolz an der Spitze ritt, hielt das königliche Banner hoch. Einer von Geds Hauptleuten trug die bunte - 743 Standarte von Abertornie in Tribut an seinen gefallenen Fürsten. Später würde eine Siegesfeier abgehalten werden und alle Anführer, die bei der Wiedereroberung des Westens eine Rolle gespielt hatten, würden zum Weißen Hügel eingeladen werden, damit man sie dort ehren konnte. Aber das hatte Zeit bis zum Frühling, denn der König kehrte erst spät im Herbst zurück, und der Winter streckte bereits eisige Finger ins Land. Bald schon würde es gefährlich oder unmöglich sein zu reisen. Außerdem waren Talorgen und Carnach immer noch in Dunadd und kümmerten sich um die Verschiffung der Galen, die als gefährlich betrachtet wurden, und sorgten dafür, dass diese Region wieder fest unter die Herrschaft der Priteni gebracht wurde. Fokel und Umbrig taten im Norden von Dalriada das Gleiche, Fokel im Heim seiner Ahnen auf Galanys Höhe, und Umbrig in der befestigten Küstensiedlung auf der Donncha-Landzunge, wo es ihm recht gut gefiel. Es würde einen Zeitpunkt für alles geben, auch für den Jubel. Ohne es laut auszusprechen, waren die Anführer der Ansicht, dass die Verluste zu groß, die Veränderungen zu überwältigend waren, als dass eine Feier jetzt angemessen gewesen wäre. Es würde einige Zeit brauchen, bis sie vollkommen begriffen, was sie erreicht hatten. Der Tortag stand kurz bevor, und die Schatten der Toten waren nur einen Atemzug entfernt. Der Winter bot Gelegenheit zum Nachdenken. Es war eine Brachzeit des Geistes, in der die Saat ihren langsamen, langen Wachstumsprozess begann. Sie brauchten im Augenblick keinen Jubel, keine Musik und kein Festessen. Es
genügte zu wissen, dass, wenn es an der Zeit war, ein neuer Frühling kommen würde. Es handelte sich also bei Brideis Rückkehr nicht so sehr um den triumphalen Einzug eines siegreichen Königs, als um die Wiedervereinigung einer Familie. Der Erste, der durch das Tor rannte, um die Reiter zu begrüßen, war Ban, der kleine weiße Hund, der begeistert kläffte und vergeb- 744 lieh versuchte, seinen Körper in Einklang mit dem hektisch wackelnden Schwanz zu bringen. Schneefeuer, trittsicher wie immer, ging weiter in den Hof, ohne sich an dem Miniaturwirbelwind zu stören, der um seine Füße fegte. Schnell waren alle Reiter abgestiegen und von ihren Lieben umgeben, Frau, Mutter, Kindern, bis es überall im Hof Tränen und Lächeln, Umarmungen, freundschaftliche Schulterschläge und hier und da auch junge Väter gab, die ihre Neugeborenen zum ersten Mal sahen. Männer, deren Familien weit vom Hof entfernt lebten, wurden von Dienerinnen und Küchenhelferinnen begrüßt, die sonst niemanden zu begrüßen hatten. Fröhliches Lachen erklang. Der König musste sich selbstverständlich in der Öffentlichkeit zurückhaltender geben, selbst wenn seine Würde von einem kleinen Hund untergraben wurde, der immer wieder an ihm hochsprang und versuchte, jeden Teil von ihm abzulecken, den er erreichen konnte. Brideis eigenes Empfangskomitee stand auf der Treppe: Tuala, ernst und still, mit Derelei auf dem Arm. Das Kind sah zweifelnd aus, als wäre es nicht so recht sicher, wer dieser grimmige, müde Krieger war. Neben Tuala stand Aniel, der zu dieser Gelegenheit ausnahmsweise einmal lächelte, und neben ihm Tharan, hoch gewachsen und wachsam. Auf Tualas anderer Seite stand Broichan. Und da waren Ana und Drustan, ganz offen Hand in Hand: Bei den Göttern, sie gaben wirklich ein schönes Paar ab. Bridei sah Garth, eine Pike in der Hand und ein breites Grinsen auf den Lippen. Von Faolan gab es keine Spur. Bridei machte einen Schritt vorwärts, und Tuala kam die Treppe hinunter, und einen Augenblick später hatte er alle Angemessenheit vergessen und umarmte Frau und Sohn, denn er hatte seit seinem Abschied jede Nacht von diesem Augenblick geträumt und konnte sich jetzt einfach nicht mehr zurückhalten. Derelei erstarrte und öffnete den Mund, um ein verängstigtes Jammern auszustoßen. - 745 »Papa ist zu Hause, Derelei.« Das war Broichans Stimme, die hinter ihnen erklang. Es klang so sehr wie etwas, was Tuala sagen würde, dass Bridei erstaunt aufblickte. Das Kind blinzelte, schloss den Mund wieder und lehnte einen Augenblick später den Lockenkopf an die Schulter seines Vaters. Nach einer Weile trat Tuala zurück und wischte sich die Augen. Sie lächelte bedauernd. »Du solltest lieber auch die anderen begrüßen, Bridei. Es gab solch traurige Verluste, dein Bote hat es uns mitgeteilt. Breth ist tot, und Elpin und Enfret... und Ged, ein so freundlicher Mann ... Es ist traurig. Seine Kinder sind noch so klein.« Bridei nickte. »Er wollte, dass wir ihnen helfen, und das werden wir auch tun. Es ist so schön, euch zu sehen, ich kann dir an einem so öffentlichen Ort nicht sagen, wie schön. Aniel, Tharan, seid gegrüßt. Die meisten unserer Anführer sind noch im Westen geblieben, denn dort gibt es viel zu tun. Morgen werde ich eine Ratssitzung einberufen und euch alles erzählen.« »Ein großer Sieg, Bridei«, sagte Aniel zufrieden. »Du wandelst im Licht der Götter.« »Broichan.« Bridei nahm seinen Pflegevater am Arm, und einen Moment fehlten ihm die Worte. Der Druide sah viel abgehärmter und gebrechlicher aus als zuvor und war dennoch seinem alten Ich wieder viel ähnlicher, die dunklen Augen klar und fragend. »Ich hoffe, es geht dir gut. Ich danke dir, dass du Drustan zu mir geschickt hast. Ihr beiden habt mir das Leben gerettet.« »Den Verdienst daran trägt deine Frau«, sagte er leise. »Es erwärmt unsere Herzen, dich sicher wieder zu Hause zu sehen, Bridei.« Er sagte nichts weiter, und das an sich war schon ein Beweis dafür, dass sich etwas verändert hatte. Kein Wort über den Sieg? Kein Wort darüber, die Galen vertrieben und den Westen im Triumph wiedererobert zu haben? Das war im- 746 mer Broichans wichtigstes Ziel gewesen. Für dieses Ziel hatte er fünfzehn Jahre seines Lebens geopfert, um Bridei für den Thron vorzubereiten. »Morgen«, sagte Bridei, »möchte ich gerne über ein paar Dinge mit euch sprechen, wenn ihr alle Zeit habt. Ihr werdet nicht alle Entscheidungen, die ich für die Zukunft von Dalriada getroffen habe, billigen. Und es gibt Fragen, zu denen ich euren Rat brauche. Dieser Suibne, der einmal spiritueller Berater von Drust dem Eber war, ist an Gabhrans Seite aufgetaucht. Er hat mir ein paar beunruhigende Dinge erzählt.« Broichan nickte. »Morgen«, sagte er. »Wir haben lange genug auf Nachrichten gewartet. Wir können auch noch einen Tag länger warten, während du dir ein wenig Zeit nimmst, dich auszuruhen und zu erholen.« Garth führte Schneefeuer davon; die anderen Männer brachten ihre Pferde ebenfalls in den Stall, und die Menschenmenge begann sich aufzulösen. »Heute Abend wird es kein offizielles Festessen geben«, sagte Tuala. »Alle im Haushalt wissen, dass dieser Tag ihnen Zeit für ein Wiedersehen im Familienkreis geben wird. Unsere Gemächer sind allen Besuchern mindestens bis zum Abendessen verschlossen. Und heißes Wasser steht bereit. Ich nehme an, du würdest ein Bad und frische Kleidung willkommen heißen.« Bridei nickte. Sein Blick wanderte zu Drustan, der neben Ana auf der Treppe stand. »Ich sehe Faolan nirgendwo«, sagte er.
»Er war nicht oft hier.« Das war Ana, die antwortete. »Und selbstverständlich wussten wir nicht genau, wann du zurückkehren würdest. Er wird wiederkommen. Er hat es versprochen.« »Er wird sein Wort halten«, fügte Drustan hinzu. Es war beunruhigend. Bridei hatte erwartet, dass sein Freund hier sein würde, um ihn zu begrüßen, nüchtern und - 747 sachlich, begierig nach Neuigkeiten und bereit, ihm praktische und kluge Ratschläge zu geben. Faolan hatte ihm sehr gefehlt, und dass er jetzt nicht hier war, enttäuschte ihn. »Nun gut«, sagte er. Und dann, in verändertem Ton: »Komm, Derelei. Wir wollen mit Ban in den Garten gehen. Ich schätze, du kannst jetzt schneller laufen als er. Willst du es mir zeigen?« Als es hinter den Fenstern der königlichen Gemächer dunkel wurde, lag Bridei auf seinem Bett, hielt die dösende Tuala im Arm und ließ seine Gedanken umherschweifen. Die Zufriedenheit dieses Augenblicks glich ein wenig die Zweifel und Probleme aus, die sich nach seiner großen Eroberung ergeben hatten. Er spürte den warmen Körper seiner Frau, die sich an ihn schmiegte, zierlich und anmutig; ihr dunkles Haar fiel auf seine Brust, und er konnte ihren sanften Atem an seiner Haut fühlen. Er war kein sonderlich guter Liebhaber gewesen, denn die Begierde hatte ihn überwältigt, und das Erlebnis war eher kurz und explosiv als zärtlich und allmählich gewesen. Aber er und Tuala hatten nur darüber gelacht und einander versprochen, dass das nächste Mal ein Meisterstück an Beherrschung sein würde. Derelei, erschöpft von seinen Versuchen, den Hund zu fangen, und dann von dem Spaß, seinen Vater im Bad nass zu spritzen, schlief fest in einem Nebenzimmer unter dem wachsamen Blick der Kinderfrau. Ban hielt an der Tür Wache. »Bridei?« Tuala war aufgewacht. Er legte die Hand um ihre Brust. Die Begierde war noch nicht vollständig wieder erwacht, aber er liebte ihren zierlichen, gepflegten Körper. Sie zu berühren war jedes Mal, als käme er wieder nach Hause. »Mhm?« »Ich muss dir etwas erzählen. Ich weiß nicht, was du davon halten wirst.« - 748 »Das klingt interessant. Worum geht es?« Er spürte, wie sie tief Luft holte, als müsste sie Mut fassen, um weiterzusprechen. »Bridei, es wird dir ... verrückt vorkommen. Ich weiß wirklich nicht, wie ich es dir beibringen soll, also sollte ich es ganz direkt aussprechen. Bridei, ich glaube, Broichan könnte mein Vater sein.« Er brauchte einen Augenblick, um reagieren zu können. »Dein... aber...« »Es ist nicht wirklich so unlogisch, wie es klingt. Ich glaube, Fola hat schon in eine ähnliche Richtung gedacht. Und dann hatte ich eine Vision. Ich kann mir keinen anderen Grund vorstellen, wieso die Göttin es mir gezeigt haben sollte. Und es erklärt... es erklärt seine Verbindung zu Derelei. Beobachte die beiden zusammen, ihre Bewegungen, ihr Mienenspiel, ihre Art zu sprechen. Eine solche Ähnlichkeit ist nicht nur die eines Lehrers und seines kleinen Schülers. Es ist die Ähnlichkeit von Blutsverwandten.« »Aber ...«, begann Bridei, nicht ganz fähig zu begreifen, was sie sagte, denn es warf ein Licht auf die Vergangenheit, das beunruhigender wurde, je länger er darüber nachdachte. »Wenn das so ist, wer ist dann deine Mutter? Broichan hat keine - ich meine, er würde nicht - er ist ein Druide, Tuala. Wie könnte er ...« »Ein Druide ist ein Mensch, auch wenn er sein Leben den Göttern weiht. Wenn die Leuchtende im Verlauf eines Rituals von einem Mann einen Ausdruck seiner Liebe verlangt, der fleischlich und weltlich ist, wäre dieser Mann dann nicht verpflichtet zu gehorchen? Ich weiß wenig über das, was die Druiden in den drei Tagen am Fest des Gleichgewichts tun. Ich weiß nur, dass Broichan um diese Zeit immer allein in den Wald gegangen ist. Meine Vision zeigte ihn als Mann im passenden Alter, der im Frühjahr einen Waldweg entlangging. Und es war eine Frau dort, eine vom Guten Volk. Eine von meiner eigenen Art.« - 749 »Woher kannst du wissen ...« »Das kann ich nicht. Nur Broichan könnte es mir sagen. Und ich habe noch nicht den Mut aufgebracht, ihn zu fragen. Er wäre von solchen Nachrichten zutiefst verstört. Wahrscheinlich sogar angewidert.« »Aber Tuala, wenn das stimmt, weiß er es doch sicher, oder? Er muss es die ganze Zeit gewusst haben.« »Vielleicht auch nicht.« Ihre Stimme war leise und ruhig. »Selbstverständlich würde er es wissen. Eine solche Erfahrung im Frühling, und zu Mittwinter liegt ein Baby auf seiner Schwelle - jeder Mann, der noch bei Verstand ist, würde den richtigen Schluss ziehen. Wenn du Recht hast, bedeutet das, dass er wusste, dass du sein eigen Fleisch und Blut warst und er dich trotzdem als Gefahr behandelt hat. Er hätte dich trotzdem beinahe weggeschickt...« Nun setzte er sich gerade hin, und alle Lässigkeit war verschwunden. Sein Herz klopfte laut vor Schreck und Empörung. »Ich hätte es dir nicht sagen sollen.« Tuala schlüpfte aus dem Bett und griff nach dem Morgenmantel. »Bridei, bleib ruhig. Ich bin so gut wie sicher, dass er, falls es tatsächlich stimmen sollte, nie daran gedacht hat. Du wärst überrascht, wie blind Menschen gegenüber Wahrheiten sein können, die sie nicht für möglich halten wollen. Ich nehme an, Broichan hat das ganze Erlebnis in einer vergessenen Ecke seines Geistes verschlossen. Und mich öffentlich als seine Tochter anzuerkennen wäre das Letzte, was er tun wollte. Eine vom Guten Volk, seine Nemesis, das Kind, das er in seinem Haus aufnehmen musste, weil er weder die Göttin erzürnen noch seinen Pflegesohn gegen sich aufbringen wollte, auf dem all seine Hoffnung ruhte. Armer Broichan! Es wäre
freundlicher, es ihm nicht zu sagen. Aber es gibt Gerüchte, wenn sie auch nicht in diese Richtung gehen, sondern sich um mögliche Probleme deiner eigenen Herkunft oder der unseres Sohns drehen. Je älter Derelei wird, desto mehr Glaubwürdigkeit werden solche Gerüchte haben. Das beunruhigt - 750 mich. Diese dummen Geschichten können deine Autorität als König untergraben. Die Wahrheit auszusprechen, so schmerzlich es für Broichan sein könnte, würde einiges klären und eine Last von deinen und den Schultern unseres Sohns nehmen. Oder vielleicht unserer Söhne.« »Willst du damit sagen ...« Bridei sah sie an, schaute ihr in diese großen, seltsamen Augen, die so deutlich zeigten, dass sie etwas mehr als ein Mensch war. »Wenn alles gut geht, werden wir zu Beginn des Frühlings noch einen kleinen Sohn oder eine Tochter haben.« »Tuala! Ist das wahr? Das sind wunderbare Nachrichten!« Er stand auf und nahm sie in die Arme, spürte, wie ihm Tränen in die Augen traten. »Wie lange weißt du das schon?« »Ich hatte einen Verdacht, bevor du aufgebrochen bist, aber nichts weiter. Ich wurde sicherer, als du länger weg warst und meine Angst um dich größer wurde. Ich bin froh, dass du dich freust, und noch glücklicher, dass du zu Hause sein wirst, wenn das Kind zur Welt kommt. Ich hoffe, es wird jetzt lange Zeit keine Kriege mehr geben.« »Ich ebenfalls. Aber Tuala, diese Sache mit den Gerüchten beunruhigt mich. Wer hat solche Dinge gesagt? Aniel und Tharan hätten Maßnahmen ergreifen sollen ...« »Still, Liebster. Es besteht noch keine Gefahr.« »Aber du bist doch sicher ebenfalls beunruhigt?« »Ein wenig. Aber ich bin die Königin; ich werde mit diesen Dingen zurechtkommen. Es könnte wichtig sein, auf welche Weise ich das tue.« »Ich werde selbst mit Broichan sprechen, wenn du das vorziehst. Wenn es wahr ist, was du annimmst, muss er zur Verantwortung gezogen werden.« »Nein, Bridei. Ich muss selbst mit ihm sprechen. Und ich scheine in letzter Zeit keine Angst mehr vor ihm zu haben, ich fühle mich nur ein wenig unbehaglich in seiner Gesellschaft. Broichan war ernstlich krank. Er sollte eigentlich immer noch in Banmerren sein, denn Fola behält ihn dort - 751 unter strenger Aufsicht. Aber er wusste, dass du noch vor dem Tortag zurückkehren würdest, und er hat darauf bestanden, hierher zu kommen, um dich zu begrüßen.« »Tuala?« »Mhm?« Sie hatte den Gürtel des Mantels um ihre schmale Taille gebunden und begonnen, ihr Haar zu bürsten. Bridei betrachtete die stetige, anmutige Bewegung, die langen, dunklen Strähnen. Er fragte sich, wie er es ertragen hatte, so lange von ihr getrennt zu sein. »Du bist so weise«, sagte er. »Vielleicht ist das ein weiterer Beweis dafür, dass meine Theorie stimmt«, sagte sie grinsend. Ban kläffte warnend, und einen Augenblick später erklang Garths Stimme hinter der Tür. »Herr?« »Was ist, Garth?« »Faolan ist wieder da.« Bridei sah Tuala an. Sie erwiderte seinen Blick und sagte: »Schau mich nicht so an, wir werden später noch genug Zeit haben. Du solltest lieber gleich mit ihm sprechen. Er ist, seit er zurückgekehrt ist, nicht mehr er selbst.« »Danke, Garth«, rief Bridei. »Bitte ihn zu warten.« Er begann sich anzuziehen. »Wieso ist er nicht er selbst? Drustan hat mir erzählt, was geschehen ist, aber es wurde sehr deutlich, dass dies nur ein Teil der Geschichte war. Was hat Ana dazu zu sagen?« »Weniger, als du denken würdest. Diese Reise hat sie und Faolan sehr verändert. Seit sie zurückgekehrt sind, bilden diese drei eine abgeschlossene kleine Gruppe. Faolan geht selbstverständlich seinen alten Pflichten nach, was Garth sehr begrüßte. Aber ich sehe sie immer wieder irgendwo sitzen und sich leise unterhalten. Bei Ana und Drustan handelt es sich eindeutig um Gespräche zwischen Liebenden. Aber es passiert ebenso oft, dass ich auf Drustan und Faolan stoße, die sich angeregt unterhalten, oder dass Faolan und Ana schweigend nebeneinander stehen und in den - 752 Wald hinausschauen. Faolan ist ruhelos. Er will nicht hier sein. Ich hoffe, er wird offen mit dir reden.« Faolan wartete im Garten, wo gegen die hereinbrechende Dunkelheit Laternen angezündet worden waren. Er trug Reitstiefel und einen schweren Umhang, als wäre er gerade erst zurückgekehrt. Bridei ging zu ihm, packte seinen Unterarm und zog ihn in eine rasche Umarmung. Faolan erwiderte die Geste und machte dann einen Schritt zurück. »Du hast mir gefehlt«, sagte Bridei schlicht. Faolan nickte. Er vermied es, Bridei ins Gesicht zu sehen. An der Mauer in der Nähe stand ein kleiner Rucksack, ordentlich gepackt, und Bridei kam plötzlich der Gedanke, dass sein Freund nicht gerade eingetroffen war, sondern aufbrechen wollte. »Faolan«, sagte er, »was soll das?« »Es erwärmt mein Herz zu sehen, dass du sicher nach Hause zurückgekehrt bist«, sagte Faolan. »Aber ich
möchte aus deinem Dienst entlassen werden.« Schreck, Kränkung und Sorge machten Bridei unfähig zu reagieren. »Herr«, fügte Faolan verspätet hinzu. Bridei holte tief Luft. »Wie du weißt, ist das nicht so einfach«, sagte er. »Ich nehme an, du willst haben, was ich dir schulde. Aber bevor ich dich bezahlen kann, brauche ich einen Bericht über deine letzte Mission. Das ist notwendig, Faolan. Würdest du mit hereinkommen und mit mir am Feuer einen Becher Met trinken? Es ist kalt hier draußen.« »Nein, Herr.« Faolans Stimme war angespannt. »Es hat keinen Sinn, meinen Abschied zu verzögern. Ich brauche das Silber nicht, ich habe mehr als genug. Was den Bericht angeht, so hat Drustan dir bereits gesagt, was geschehen ist. Die Mission war eine Katastrophe. Ich habe unterwegs die gesamte Eskorte verloren. Alpin hat meine Rolle an Gabhrans Hof entlarvt und gedroht, mich öffentlich bloßzustel- 753 len. Ich war gezwungen, ihm Informationen über dein Unternehmen zu geben, die gefährlich nahe an der Wahrheit lagen, obwohl es mir gelungen ist, ihn zu überzeugen, dass du dich erst im Herbst in Bewegung setzen würdest, nicht früher. Der Vertrag wurde unter falschen Voraussetzungen unterzeichnet. Es war meine Schuld, dass Drustans treuer Wächter getötet wurde. Genügt das?« »Es scheint allerdings«, Bridei bemühte sich um einen ruhigen Ton, obwohl Faolans Bitterkeit ihn erschreckte, »dass du uns allen einen Gefallen getan hast, indem du Ana dort weggebracht und damit das Bündnis ungültig gemacht hast. Das hat Ana und Drustan geholfen, und langfristig auch mir als König von Fortriu. Es scheint, als hätte sich Alpin als sehr gefährlicher Verbündeter erwiesen.« »In der Tat. Wäre ich nicht sicher gewesen, dass er bereits zu dem Schluss gekommen war, dass du vor dem Winter marschieren würdest, dann wäre ich das Risiko nicht eingegangen, der Wahrheit so nahe zu kommen. Anas Sicherheit stand auf dem Spiel. Ich habe Alpin gegeben, was mir die Zeit verschaffen würde, sie wegzubringen. Aber es hat mir trotzdem nicht gefallen.« »Nun«, sagte Bridei, »Ana ist in Sicherheit, und der Krieg ist gewonnen, wenn auch nicht ohne traurige Verluste. Wir haben beide auf die eine oder andere Weise unsere Aufträge ausgeführt. Und es sieht so aus, als würde unsere königliche Geisel vielleicht doch noch den Fürsten von Dornwald heiraten.« »In der Tat.« Faolan starrte angespannt den Boden an; seine Stimme hatte sich wieder verändert, die Gefühle waren vollkommen beherrscht. »Um was geht es hier eigentlich, Faolan? Ich trauere ebenso wie du um die Männer, die umgekommen sind. Aber du hast dich gut geschlagen. Du hast Ana aus einer sehr gefährlichen Situation gerettet und sie nach Hause gebracht. Sie scheint sehr froh zu sein. Ich kann nicht feststellen, dass - 754 du bei der Ausführung deines Auftrags einen Fehler gemacht hast. Eine Flut ist die Tat der Götter und persönliche Verantwortung für so etwas zu übernehmen, kommt mir recht arrogant vor. Willst du nicht mehr für mich arbeiten? Wohin willst du gehen?« »Überall hin, solange ich nicht hier bleiben muss.« Bridei holte tief Luft. »Weißt du«, sagte er, »ich habe bisher noch nie erlebt, dass du dich kindisch angestellt hättest. Und ich hätte nicht gedacht, dass du lügen würdest, jedenfalls nicht mir, deinem Freund, gegenüber. Ich werde dich nicht aus meinem Dienst entlassen, ehe du mir zwei Fragen zufrieden stellend beantwortet hast.« Faolan hob den Kopf. »Dann frag«, sagte er. »Warum kannst du nicht hier bleiben, und wohin willst du gehen? Ich will die Wahrheit hören.« Er fragte sich, ob Faolan sich vielleicht einfach weigern würde zu antworten. Der Gäle wusste ebenso wie Bridei, dass er sich einfach umdrehen und davongehen könnte und dass Bridei ihn nicht aufhalten würde, wenn er keine Gewalt gegen einen treuen Freund ausüben wollte. »Du wirst über meine Schwäche entsetzt sein, Bridei.« »Darauf kannst du es ruhig ankommen lassen.« »Ich kann nicht bleiben, weil ich es nicht ertragen kann, die beiden zusammen zu sehen. Es ist eine langsame Folter. Ich bin nur noch hier, weil sie - Ana - mir das Versprechen abgenommen hat zu warten, bis du zurückkommst.« »Die beiden - du meinst Ana und Drustan? Aber ich dachte, ihr wärt gute Freunde. Tuala sagte ...« »Wir sind Freunde. Sie liebt ihn. Er liebt sie. Ich liebe sie. Das ist die schlichte Wahrheit, und ich bitte dich, mich gehen zu lassen.« Und das von Faolan, ausgerechnet Faolan? Der Mann, von dem die Leute oft sagten, dass er keine menschlichen Gefühle besaß? »Ich verstehe.« Bridei war zu verblüfft, um eine bessere Antwort zu finden. »Und die zweite Frage?« - 755 »Ich gehe nach Hause«, sagte Faolan leise. »Zurück nach Laigin. Ein Mann ist um unseretwillen gestorben, ein guter Kämpfer, ein ausgesprochen großzügiger Mann. Er hat mich verpflichtet, seinen Verwandten von seinem Tod zu berichten. Glaub mir, ich möchte wirklich nicht dorthin zurückkehren. Aber es ist eine Pflicht, die ich erfüllen muss.« »Und du wirst versuchen, dich mit deiner eigenen Vergangenheit versöhnen?«
Faolan kniff die dunklen Augen zusammen. »Wer hat dir davon erzählt?«, fauchte er. »Drustan sagte, dass es eine Sache gibt, die dich immer noch beunruhigt. Er erwähnte keine Einzelheiten, er sagte nur, dass du es ihm im Vertrauen erzählt hast. Ich schätze, du willst deine Verwandten besuchen.« »Ana will, dass ich es tue.« »Ich verstehe.« »Eine Prinzessin von königlichem Blut von Fortriu und ein gälischer Attentäter, ja, selbstverständlich verstehst du das. Du siehst vor dir einen Narren, dem es nicht gelungen ist, seine eigenen Gefühle von einem königlichen Auftrag zu trennen und der als Resultat davon alles verdorben hat. Du solltest froh sein, mich loszuwerden.« »Tatsächlich?«, fragte Bridei. »Willst du wirklich, dass ich dir sage: Also gut, geh, und wir beide begegnen uns nie wieder? Willst du wirklich davongehen und alles hinter dir lassen? Drustan und Ana werden nicht ewig hier bleiben. Und um es ganz brutal auszudrücken, sie ist nicht die einzige Frau auf der Welt. Du bist ein sterblicher Mann, Faolan. Diese Krankheit befällt Männer hin und wieder, und mit der Zeit erholen sie sich davon.« »Ich werde dich nicht fragen, ob du so etwas auch noch sagen würdest, wenn du Tuala in dieser Nacht im Wald verloren hättest. Du möchtest mich aufheitern, dafür danke ich dir. Ich streite nicht ab, dass deine Gesellschaft mir gefehlt hat und dass mir diese Entscheidung schwer fällt. Aber ich - 756 denke wirklich, dass ich gehen muss, Bridei. An jeder Wendung gibt es einen neuen Grund für mich zurückzukehren. Ich weiß, dass ich nicht hier bleiben kann. Wenn ich es tue, werde ich in eine finstere Grube zerstörerischer Eifersucht sinken. Ich liebe Ana, das kann ich ihr nicht antun.« »Ich kann kaum glauben, dass es nur ein paar Monde her ist, seit du die gleiche Frau als verwöhnte Prinzessin bezeichnet hast, die nicht einmal ordentlich reiten kann, eine Person, an deren Bewachung deine Talente verschwendet wären«, konnte sich Bridei nicht verkneifen zu sagen. »Was hat sie getan, dass sich deine Meinung so drastisch geändert hat?« »Sie hat ihren wahren Adel gezeigt: Sie ist stark, mutig, selbstlos und weise.« Er schwieg einen Augenblick. Dann fügte er hinzu: »Lass mich gehen, Bridei.« Bridei war schnell zu einem Entschluss gekommen. »Was, wenn ich dir einen neuen Auftrag anbieten würde, einen, der dich in die Region bringt, in die du ohnehin gehen wolltest, aber in meinem Auftrag und von mir bezahlt? Tuala und ich werden unser Bestes tun, Ana und ihren Gefährten irgendwo anders unterzubringen, bevor du zum Weißen Hügel zurückkehrst. Ich weiß bereits, dass das Hofleben Drustans Geschmack ohnehin nicht entspricht.« »Um was für einen Auftrag geht es?« »Du würdest mir also zumindest zuhören?« »Ich habe nicht zugestimmt. Aber du kannst mir sagen, um was es geht.« »Faolan, hast du je von einem christlichen Priester, einem Landsmann von dir gehört, der Colm heißt? Man nennt ihn manchmal Colmcille, was übersetzt bedeutet...« »Taube der Kirche.« »Du hast von ihm gehört?« Faolan nickte. »Er hat einen gewissen Ruf. Stark. Einflussreich. Schwierig. Er ist ein Verwandter des Hochkönigs in Tara. Er hat vor kurzem wegen einer weltlichen Angelegenheit - 757 Ärger bekommen, hat sich auf eine Weise in einen Territorialkrieg eingemischt, die nicht erwünscht war. Es klingt, als könnte der Mann nur Ärger machen. Im letzten Frühjahr sprachen in Dunadd alle von ihm. Was hast du gehört?« Es war interessant, dachte Bridei, wie Faolans Stimme sich veränderte und wie seine Augen wieder lebendig wurden, wenn er seine eigenen Probleme vergaß und es um eine neue Herausforderung ging. »Gabhran hat ihm eine Insel angeboten«, sagte er. »Eine von unseren. Es gibt Leute, die behaupten, dieser Colm sei die Speerspitze eines großen christlichen Vorstoßes über die Grenzen unserer Heimat hinaus; es heißt in Dalriada, er sei eine Kraft, der sich niemand widersetzen kann. Andererseits klingt es, als wollte der Bursche nur ein kleines Stück Erde, wo er zu Hause ist, und das wurde ihm bereits versprochen. loua ist ein abgelegener Ort. Und dieser schlaue Priester Suibne hat mich darauf hingewiesen, dass es widersprüchlich ist, wenn ich zulasse, dass sich Missionare auf den Hellen Inseln ansiedeln, während ich sie im Westen aus dem Land treibe. Ich möchte mehr darüber wissen, was dieser Colm vorhat. Gehört er zu den Leuten, die die ganze Hand nehmen, wenn man ihnen den kleinen Finger bietet? Bereiten diese christlichen Brüder nur eine verdeckte neue Invasion vor? Und in welchem Verhältnis stehen sie zu Circinn? Ich brauche alle Informationen, die du mir beschaffen kannst.« Darauf folgte langes Schweigen, und schließlich sah Bridei im schwächer werdenden Licht, dass Faolan lächelte. »Ich nehme an, du warst als Junge ein guter Angler«, sagte der Gäle schließlich. »Nicht besonders. Warum?« »Du weißt genau, welchen Köder du benutzen und wie du den Fisch langsam herausziehen musst.« »Mag sein. Aber ich habe nicht vor zu töten, sondern die Begabung eines Mannes aufs Beste zu nutzen. Wirst du diesen Auftrag für mich übernehmen, Faolan?« - 758 »Ich hatte vor, jetzt sofort zu gehen ...«
»Im Dunkeln, wenn der Winter vor der Tür steht? Komm schon, gesteh mir ein wenig Intelligenz zu. Warte bis zum Morgen und nimm dir Zeit, dich zu verabschieden. Auf diese Weise kann ich dir noch mehr über das erzählen, was ich gehört habe, und wir werden uns über den Umfang des Auftrags und den Zeitpunkt deiner Rückkehr einigen.« »Und über die Bezahlung«, sagte Faolan, und sein Lächeln kehrte einen Augenblick zurück. »Auch das«, erwiderte Bridei. »Und wenn du Zeit für deine Familienangelegenheiten brauchst, während du dort bist, lässt sich das machen. Du kannst wirklich nicht behaupten, dass ich ein unflexibler Auftraggeber bin. Tatsächlich tue ich mein Bestes, dich zu halten und dabei gleichzeitig ein Mindestmaß an Würde zu bewahren. Ich habe schon Breth verloren. Ich will dich nicht ebenfalls verlieren.« Als er am großen Tor der Festung auf dem Weißen Hügel stand und darauf wartete, dass die Wachen ihn durch die kleinere Tür an der Seite nach draußen ließen, hätte Faolan beinahe gegen eine seiner wichtigsten Regeln verstoßen: nie in der Öffentlichkeit die Beherrschung zu verlieren. Er machte den Fehler, sich umzudrehen. Er konnte ruhig in Brideis Augen schauen; es tat ihm Leid, seinen Freund und Wohltäter schon so bald wieder zu verlassen, aber sie verstanden einander. Bridei hatte ihm die Möglichkeit gegeben, mit Stolz und einem Ziel zu gehen. Faolan würde ihm das mit der makellosen Ausführung seines neuen Auftrags entgelten. Und indem er zurückkehrte. Er wollte zurückkehren. Wenn sie nur bis dahin weg waren. Er sah Drustan an und blieb ruhig. Er konnte Drustan nicht hassen, trotz der nagenden Eifersucht und des ununterbrochenen Bewusstseins der Unmöglichkeit, es mit einem solchen Mann aufzunehmen. Sicher, Drustan hatte - 759 ihm die einzige Frau genommen, die er je hatte lieben können. Drustan hatte ihm seinen Schatz gestohlen, und dennoch konnte er nicht anders, er mochte den Mann. Es war ein schreckliches Problem, und er würde froh sein, sich nicht mehr damit abgeben zu müssen. Dieser Abschied war nicht besonders schwierig. Aber Ana ... Ana im Morgengrauen auf dem oberen Hof, in der Kälte, wie sie seine Hände ergriff, das Glitzern von Tränen auf den Wangen. Ana, die versuchte, ihm etwas zu sagen, das mit »Wenn nur« begann, und die sich dann unterbrach und mit der Hand auf dem Mund die Worte zurückhielt, die gefährlichen Worte. Wenn nur was? Wenn es einer Frau nur gestattet wäre, zwei Männer zu lieben? Wenn sie nur an der Furt umgekehrt und nie diesen Ort betreten hätten, an dem Liebe und Verlust auf sie warteten? Oder auch nur, wenn Faolan kein Lied gesungen und keinen Fluss überquert, wenn er nicht gegen seinen Willen sein Herz verschenkt hätte? Er würde nie erfahren, was sie ihm hatte sagen wollen. Aber er wusste, dass er gehen musste, um ihrer aller willen. Als er nun zurückschaute, während die kleine Tür am Tor geöffnet wurde und es keine Ausrede mehr gab, sich weiter aufzuhalten, sah er sie noch einmal an und versuchte, nicht zu verbergen, was in seinen Augen stand, sondern ließ sie seine Liebe, seine Traurigkeit und seine Hoffnungen für die Zukunft erkennen - für ihre und Drustans Zukunft. Und was er auf ihren Zügen sah, trieb ihm plötzlich heiße Tränen in die Augen, aber er weinte erst, nachdem er ihnen den Rücken zugedreht hatte, als er draußen war und seine Füße ihn nach Westen trugen, nach Westen, nach Laigin, und zu einem Ort, der einmal sein Zuhause gewesen war.