Die heimliche Heirat Sondra Stanford
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Die heimliche Heirat Sondra Stanford
Julie hat mit Steven eine Nacht voller Leidenschaft verbracht und glaubt, daß sie in der Zukunft nichts mehr trennen wird. Doch sie scheint sich da zu sicher zu fühlen, denn eines Tages wird ihr etwas Ungeheuerliches zugetragen: Steven soll der wunderschönen Rosalind die Ehe versprochen haben…
© 1981 by Sondra Stanford Unter dem Originaltitel: „Storm’s end“ erschienen bei Silhouette Books, a Simon & Schuster Division of Gulf & Western Corporation, New York Übersetzung: Trude Burkardi © Deutsche Erstausgabe 1982 by CORA VERLAG GmbH & Co. Berlin Übersetzung: Viktoria Werner Alle Rechte vorbehalten. NATALIERomane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Satz: Axel Springer Verlag AG, Kettwig Druck: Druckerei Ernst Klett, Stuttgart Printed in Western Germany
1. KAPITEL „… daher ist diese Lösung für uns beide am besten und vernünftigsten. Meinst du nicht auch?“ Ronald Sutton sprach so leise, daß das Quietschen der Schaukelketten seine Stimme fast übertönte. „Und selbst, wenn deine Mutter die Operation gut übersteht, was ich von ganzem Herzen hoffe, wird es eine Weile dauern, bis sie wieder auf den Beinen ist und sich um Bobby kümmern kann. Du hast also in der nächsten Zeit mit den beiden alle Hände voll zu tun. Und ich möchte ein eigenes Geschäft aufbauen, falls ich das notwendige Geld zusammenbekomme. Im Moment sehe ich absolut nicht, wie wir unsere Heiratspläne verwirklichen sollen. Unser gemeinsamer Anfang wäre mit zu vielen Schwierigkeiten belastet, die keiner jungen Ehe guttun. Du verstehst doch, wie ich es meine?“ „Natürlich“, entgegnete Julie Barclay, „du hast ganz recht.“ Sie war stolz auf sich, weil sie ihre Stimme vollkommen in der Gewalt hatte. Dabei war eben ihre Welt wie ein zu Boden stürzendes Kristallglas in tausend Scherben zerbrochen. Julie biß sich auf die Unterlippe, die verräterisch zuckte. Im Moment war ihr nichts wichtiger, als möglichst unbeteiligt zu erscheinen, koste es, was es wolle. Sie entzog Ronald ihre Hand, streifte langsam den schmalen Verlobungsring mit dem kleinen Brillanten vom Finger und hielt ihn ihrem Verlobten schweigend hin. Ronald nahm ihn ihr ab. Einen Augenblick lag der Ring auf seiner ausgestreckten Hand und glitzerte im Sonnenlicht, bevor er die Hand schloß und der Ring vor Julies Augen verschwand. Er räusperte sich nervös. „Vielleicht solltest du ihn doch behalten“, seine Stimme klang leicht geniert. „Vielleicht können wir ja in ein paar Monaten darauf zurückkommen.“ Aber Julie schüttelte stolz den Kopf. „Nein.“ Nur mit Mühe konnte sie ihrer Stimme einen festen Klang geben. Sie schloß die Augen und holte tief Luft. Sie wagte nicht, Ronald anzublicken, denn dann würde sie unweigerlich in Tränen ausbrechen. Als sie die Augen wieder öffnete, starrte sie an ihm vorbei auf einen Zaunpfahl. „Nein“, wiederholte sie gefaßter, „ich möchte ihn nicht behalten. Und jetzt gehst du besser, Ronald.“ Angespanntes Schweigen herrschte zwischen dem jungen Paar. Nur die Ketten der alten Holzschaukel quietschten und knarrten. Als Ronald ruckartig aufstand, schwang sie gefährlich zur Seite. „Sieh mich an, Julie“, sagte er bestimmt. Julie schluckte und richtete zögernd ihren Blick auf sein Gesicht. Ronalds rötlichbraunes Haar schimmerte kupferrot in der Sonne, und seine grünlichen Augen schienen dunkel wie der Grund eines Teiches. Sein sympathisches, wenn auch nicht ausgesprochen gut aussehendes Gesicht war unverändert, nämlich glatt und ansprechend. Allerdings war das ewige Lächeln daraus verschwunden. „Es tut mir so leid“, sagte er leise. „Wirklich, Julie. Aber wir haben unsere Hochzeit nur aufgeschoben, nicht wahr? Nur solange, bis wir alles ins reine gebracht haben. Ich lasse dich nicht fallen.“ Irgendwie erwachte in Julie genug Stolz, um die Tränen zurückhalten zu können. „Mach dir nichts vor, Ronald“, widersprach sie, „mit uns ist es aus. Wie du sagst, haben wir beide zu viel Verantwortung zu tragen. Ich bezweifle aber, daß die Probleme in ein paar Monaten gelöst sind. Es hat keinen Zweck, den Kopf in den Sand zu stecken.“ Sie blickte auf ihre Hände, die ineinander verkrampft in ihrem Schoß lagen. Ihre linke Hand kam ihr richtig nackt vor, der fehlende Verlobungsring hatte einen schmalen weißen Streifen am Ringfinger hinterlassen. Dann hob sie stolz den Kopf und lächelte. „Es war schön, mit dir befreundet gewesen zu sein, Ronald. Und jetzt geh bitte.“
„Kann ich dich denn allein lassen?“ Er runzelte die Stirn. Julie brachte sogar ein dünnes Lächeln zustande. „Warum denn nicht? Aber sicher doch. Also dann leb wohl, Ronald.“ Entschlossen drehte sie den Kopf zur Seite. Sie wartete, daß er sie endlich allein ließ. Nach ein paar Sekunden, die ihr wie eine Ewigkeit vorkamen, sagte Ronald mit schwerer Stimme: „Auf Wiedersehen, Julie.“ Wie erstarrt blieb sie auf der Schaukel sitzen und lauschte auf seine Schritte, die sich entfernten. Als sie gleich darauf ein Auto davonfahren hörte, wußte sie, daß er endgültig gegangen war. Julie war mit ihrer Fassung am Ende. Ihre Schultern sackten nach vorn, sie verbarg das Gesicht in den Händen. Trotz der glühend heißen Sommersonne von Oklahoma war kalte, finstere Nacht um sie, die niemals mehr dem hellen Morgen weichen würde. Julie hatte das Gefühl, als liege die Last der ganzen Welt auf ihr, eine Last, die für ihren zierlichen, schlanken Körper viel zu schwer war. Alle Tränen, die sie in den letzten schrecklichen Wochen zurückgedrängt hatte, stürzten jetzt aus ihren Augen, begleitet von hemmungslosem Schluchzen. Julie wollte sich nicht mehr zusammenreißen müssen. Zum erstenmal seit einer Woche war sie allein. Ihre Mutter würde sicher noch eine Stunde lang Mittagsruhe halten, während Bobby zu einem Freund zum Spielen gegangen war. Niemand war Zeuge ihrer Verzweiflung. „Wissen Sie was?“ ertönte plötzlich eine erbarmungslose Stimme hinter ihr. „Sie sind ein ausgemachter Dummkopf, wenn Sie einem solch hohlen Menschen wie Ihrem Exverlobten auch nur eine Träne nachweinen.“ Julie hob den Kopf und drehte sich um. Im Gebüsch hinter der Schaukel stand ein Mann in einem tadellos sitzenden Straßenanzug. Er mochte Anfang Dreißig sein. Im Unterbewußtsein registrierte Julie, daß er groß und gutgewachsen war. Sie hatte ihn nicht kommen hören. Zornig starrte sie ihn an, während sie sich die Tränen abwischte und ihr langes braunes Haar hinter die Ohren legte. „Dies ist ein Privatgrundstück“, informierte sie den Fremden mit schneidender Stimme. „Wenn Sie nicht auf der Stelle verschwinden, rufe ich die Polizei!“ Der Mann schien von dieser Drohung völlig ungerührt. Statt dessen verzog er den Mund zu einem schmalen Lächeln. „Also gut, Sie wollen die Polizei rufen“, entgegnete er mit arroganter Stimme, die an Julies Nerven zerrte. „Und was wollen Sie ihr sagen? Daß ich zufällig Zeuge wurde, wie dieser Hohlkopf Sie hat sitzenlassen? In dieser kleinen Stadt würde eine solche Neuigkeit schnell die Runde machen, noch vor dem Abend vermutlich.“ Julie ballte die Hände zu Fäusten, während sie von der Schaukel aufstand. „Was haben Sie hier zu suchen? Außer den Horcher an der Wand zu spielen bei Dingen, die Sie nichts angehen?“ Der Mann lächelte breit. „Wenn Sie mich so freundlich fragen, werde ich Ihnen gern antworten. Ihre Mutter hat mich hergeschickt, um Sie zu holen.“ „Meine Mutter?“ Julies lange Wimpern senkten sich über ihre grauen Augen, mißtrauisch sah sie zu dem Fremden auf. „Wer sind Sie eigentlich? Und was haben Sie mit meiner Mutter zu tun? Wenn Sie ein Hausierer sind, der etwas verkaufen will, kann ich Ihnen gleich sagen…“ „Das bin ich nicht. Sie können sich Ihre Worte sparen“, unterbrach er Julie und musterte sie aufmerksam. Seinen dunkelbraunen Augen entging weder ihr tränenverschmiertes Gesicht, noch das zerknitterte rosaweiße Sommerkleid. „Ich bin hergekommen, weil Ihre Mutter mich darum gebeten hat. Ich habe schon eine Stunde lang mit ihr gesprochen. Dann sollte ich Sie holen, denn Ihre Mutter möchte auch mit Ihnen reden. Als ich allerdings an diesem Gebüsch angelangt war“, er wies auf die Sträucher, zwischen denen er stand, „und hörte, was hier vor sich ging, hielt ich es nicht für den richtigen Zeitpunkt, Sie
anzusprechen.“ „Dann sind Sie also geblieben und haben alles mit angehört, anstatt sich taktvoll, wie jeder andere es getan hätte, zurückzuziehen?“ rief Julie voll Zorn. „Nein, ich blieb in der Hoffnung, daß die bewegende kleine Szene bald ein Ende hätte. Andernfalls hätte ich ins Haus gehen und Ihrer Mutter mitteilen müssen, warum ich Sie nicht holen kann. Und ich hielt es nicht für meine Aufgabe, Ruth von Ihrer geplatzten Verlobung zu unterrichten.“ „Vielen Dank für soviel Rücksichtnahme“, entgegnete Julie mit beißendem Spott und ging vor diesem arroganten, unsympathischen Mann dem Haus zu. Obwohl es an die vierzig Grad Hitze sein durften, wirkte er in seinem blaugrauen, eleganten Anzug gepflegt, während sie vermutlich wie ein welker Salatkopf aussah. Darüber hinaus war er Zeuge ihrer persönlichen Tragödie geworden, und aus diesen beiden Gründen lehnte sie ihn rundheraus ab. Rasch ging sie auf das Haus zu, um bloß aus seiner Nähe zu kommen. Vor dem Haus hatte er sie eingeholt und öffnete die Tür. Einen Augenblick sahen sie einander an. „Es wäre eine gute Idee“, schlug er lächelnd vor, „wenn Sie Ihr verweintes Gesicht waschen würden, bevor Sie zu Ihrer Mutter gehen. Aufregung tut ihr gar nicht gut.“ Als ob sie das nicht wüßte! Ohne zu antworten, betrat Julie erhobenen Hauptes das Haus, ging dann aber doch ins Badezimmer. Ein Blick in den Spiegel sagte ihr, wie recht dieser Mann hatte. Sie wusch das Gesicht mit kaltem Wasser und legte ein wenig Makeup auf, um die Tränenspuren zu beseitigen. Dabei fragte sie sich zum erstenmal, wer dieser fremde Mann sein mochte und warum er gekommen war. Anscheinend wußte er von der Herzkrankheit ihrer Mutter, sonst hätte er nicht darauf hingewiesen, daß man ihr jede Aufregung fernhalten müsse. Sie schlüpfte in eine frische Bluse und einen leichten Sommerrock und bürstete das Haar, bis es wieder in seidigen Wellen auf die Schultern fiel. Sie hatte schon vorteilhafter ausgesehen, aber nun waren die schlimmsten Spuren beseitigt! Ihre Mutter würde nicht merken, daß sie vor wenigen Minuten einen bösen Schicksalsschlag hatte hinnehmen müssen. Julie betrat das Wohnzimmer. Ihre Mutter saß in einem weichen Sessel mit vielen Kissen am Fenster und sprach mit dem Fremden. Sofort wandte sie sich an ihre Tochter: „Bist du endlich da, mein Schatz?“ Lächelnd streckte sie ihr die Hand entgegen, die Julie herzlich ergriff. „Julie, ich möchte dich mit Steven Richard bekannt machen“, fuhr sie fort. Julie stand wie vom Donner gerührt und blickte ihre Mutter mit großen, erschrockenen Augen an. „Warum ist er gekommen?“ fragte sie rundheraus. „Warum hast du ihn ins Haus gelassen?“ Ruth Wilder lächelte still vor sich hin und streichelte beruhigend die Hand ihrer Tochter. „Weil ich ihn darum gebeten habe, mein Kind. Setz dich, ich werde dir alles erklären.“ „O ja, bitte“, antwortete Julie mit schwacher Stimme. Sie setzte sich neben Steven Richard auf das Sofa, aber so weit entfernt wie möglich, und richtete die Augen auf ihre Mutter. Nachdenklich musterte Ruth Wilder ihre Tochter. Ihr kurz geschnittenes, nußbraunes Haar leuchtete golden in der Sonne auf, die durch das Fenster flutete. Sie machte ein ängstliches Gesicht, als wisse sie nicht, wie sie beginnen solle. Julie fühlte sich unter diesem Blick der Mutter leicht unbehaglich. „Ich habe an deinen Großvater geschrieben“, begann Ruth Wilder endlich. „Ich habe ihm mitgeteilt, daß ich keine Einwände mehr habe, wenn er dich
kennenlernt, ja, daß ich es sogar von ganzem Herzen wünsche.“
„Aber, aber warum das?“ stammelte Julie. „Du warst doch immer strikt dagegen
– wie ich!“ Sie warf einen geringschätzigen Blick auf den Mann, der nur einen knappen Meter entfernt neben ihr saß. „Ich lege keinen Wert darauf, ihn kennenzulernen, weder ihn noch seinen Stiefsohn!“ Ihre Mutter seufzte hörbar auf. Da schaltete sich Steven Richard ein. „Würdest du mich alles erklären lassen, Ruth?“ Ruth Wilder nickte. „Bitte ja, Steven. Du kannst es bestimmt besser als ich.“ Steven Richard schlug die Beine übereinander. „Ihre Mutter hat uns mitgeteilt, Julie, daß sie sich einer Herzoperation unterziehen muß. Sie macht sich große Sorgen wegen der Belastungen, die auf Sie zukommen. Während sie in Houston operiert wird, wie Ihr Hausarzt es für notwendig hält, sollen Sie hier Ihrer Arbeit nachgehen und für Ihren kleinen Bruder sorgen. Ruth macht sich auch Sorgen um den Ausgang der Operation. Sollte sie sterben, würden Sie und Bobby mutterseelenallein auf der Welt zurückbleiben. Aber Sie sind nicht allein, Julie. Ihr Großvater möchte Sie schon seit vielen Jahren kennenlernen. Ihre Mutter meint nun, daß es an der Zeit sei, vergangenes Unrecht zu vergessen und euch beide zusammenzubringen. Dad möchte Ihnen jede Unterstützung zukommen lassen, auf die Sie als eine Barclay Anspruch haben.“ „Ich danke, ich brauche keine Unterstützung von Andrew Barclay“, entgegnete Julie verletzend. Dann wandte sie sich an ihre Mutter: „Ehrlich, Mom, ich verstehe nicht, warum du mit ihm Verbindung aufgenommen hast. Wir sind die ganzen Jahre ohne die Barclays zurechtgekommen und werden es auch in Zukunft.“ „Bitte, Julie“, bat ihre Mutter. „Dein Großvater ist heute in unserer Stadt. Er wartet in seinem Motelzimmer auf einen Anruf von Steven, ob du ihn besuchen möchtest.“ „Er ist hier?“ fragte Julie ungläubig. „Ja, und heute abend habe ich ihn eingeladen, damit auch ich ihn begrüßen und er Bobby kennenlernen kann. Aber zunächst möchte er dich allein sehen. Steven wird dich zu ihm bringen.“ „Andrew Barclay soll ruhig weiter auf mich warten“, erwiderte Julie hart. „Und außerdem habe ich heute abend schon etwas vor. Mutter, wenn du ihn nach all dem, was er dir und Dad angetan hat, wiedersehen willst, ist das deine Sache. Aber ich habe nicht die Absicht, ihm jemals die Hand zu geben. Er ist kein Verwandter von mir.“ „Daß ich nicht lache“, mischte sich Steven Richard ein. „Sie haben nicht nur seine Augen geerbt, Julie, sondern in erster Linie auch sein Dickköpfigkeit.“ „Was fällt Ihnen ein?“ brauste Julie auf. „Ich habe die Augen meines Vaters, und ich bin nicht dickköpfig!“ Aber Steven kreuzte nur die Arme und lächelte sie breit an. Voller Zorn fragte Julie ihre Mutter: „Können wir diese Angelegenheit nicht unter uns diskutieren?“ „Tut das.“ Steven Richard stand auf und blickte auf Julie hinab. „Ich komme in einer halben Stunde zurück, um eure Entscheidung zu hören. Aber vorher möchte ich noch eine Sache klarstellen. Sie sind eine Barclay, ob Sie nun wollen oder nicht, Julie. Daher ist Dad willens, sich in finanzieller Hinsicht sehr großzügig zu zeigen. Er möchte Ihnen, Ihrer Mutter und Bobby die vor Ihnen liegenden Wochen erleichtern, aber nur, wenn Sie ihn kennenlernen und in seinem Leben den Platz seiner Enkelin einnehmen wollen. Bevor Sie also hochnäsig seine Hilfe ablehnen, sollten Sie wissen, daß Ihre Entscheidung auch Ihre Mutter und Bobby betrifft.“ Er nahm Ruth Wilders zierliche Hand zwischen seine breiten Hände und drückte sie herzlich. „In einer halben Stunde bin ich wieder da, Ruth.“
Kaum hatte sich die Tür hinter Steven Richard geschlossen, fragte Julie: „Mom, wie konntest du dich nur mit Andrew Barclay in Verbindung setzen? Ich verstehe dich nicht! Ich hasse diesen Menschen!“ Ruth Wilder lächelte schwach und schüttelte den Kopf. „Ich hasse Andrew nicht mehr.“ Als Julie sie unterbrechen wollte, hob sie die Hand. „Nach zweiundzwanzig Jahren haben sich die alten Wunden geschlossen. Stimmt, ich liebe Andrew Barclay auch nicht. Aber in den letzten Jahren hege ich keine bösen Gedanken mehr gegen ihn. Außerdem weißt du, daß ich seit deinem achtzehnten Geburtstag nichts mehr gegen einen Kontakt zwischen euch beiden habe.“ „Das weiß ich, Mutter, aber ich habe nie auch nur einen Gedanken an diese Möglichkeit verschwendet.“ „Das ist mir nicht neu“, entgegnete ihre Mutter niedergeschlagen, „und letzten Endes ist es meine Schuld. Es war falsch von mir, Julie, dich deinen Großvater hassen zu lehren. Es war auch falsch, daß ich dir überhaupt von den Ereignissen erzählt habe.“ Ruth lächelte traurig. „Andrew Barclay und ich haben ein gemeinsames Erlebnis, das uns immer leid tun wird. Aber es ist dumm, ein Leben lang zu hassen und nicht zu verzeihen, das habe ich inzwischen gelernt. Ich frage mich sogar, ob dieser furchtbare Haß, den ich so lange mit mir herumgetragen habe, nicht auch an meinem derzeitigen Gesundheitszustand schuld ist“, fügte sie nachdenklich hinzu. „Fast bin ich überzeugt, daß es so ist.“ „Mutter…“ Aber Ruth Wilder fiel ihrer Tochter ins Wort. „Ich will soviel wie möglich wiedergutmachen, deshalb habe ich auch an deinen Großvater geschrieben. In zwei Wochen werde ich operiert, und nur Gott weiß, ob ich es überlebe oder nicht. Ich will Bobby und dich nicht allein zurücklassen, und daher ist es an der Zeit, daß ihr euren Großvater kennenlernt. Steven hat schon gesagt, daß er seine großzügige Hilfe angeboten hat. Noch wichtiger aber ist mir die Tatsache, daß du eine Familie hast, bei der du einen Rückhalt findest.“ „Ich brauche keinen Rückhalt, Mom!“ rief Julie. „Ich bin schließlich einundzwanzig, und Bobby und ich, wir werden ganz prima zurechtkommen, bis du wieder zu Hause und gesund bist! Denn du wirst gesund werden! Ich weiß, daß es Probleme gibt und wir uns nach der Decke strecken müssen, aber wir werden es schaffen, genau wie andere auch. Übrigens, wenn ich jetzt meinen Großvater aufsuche und seine Hilfe annehme, wird er denken, daß ich es nur wegen des Geldes tue. Und damit hätte er recht.“ Ruth Wilder nickte. „Das ist mir auch klar, Julie, aber deswegen solltest du dir keine Gewissensbisse machen. Wenn der Reichtum von Andrew Barclay jemandem zugute kommen sollte, dann dir. Aber das ist es nicht allein. Du mußt vor allem endlich Drews Vater kennenlernen, das bin ich dem Andenken deines Vaters schuldig. Ich bitte dich, deinen Großvater nur dieses eine Mal aufzusuchen. Wenn du ihn dann nicht mehr wiedersehen willst, werde ich deine Entscheidung respektieren. Aber bitte, tu mir diesen einen Gefallen.“ Julie stand auf und ging nervös im Zimmer auf und ab. Sie faßte hier nach einer Vase, spielte dort mit der Gardinenschnur und legte endlich die Zeitschriften auf dem kleinen Tischchen zusammen. Wie konnte ihre Mutter sich nur derart in ihren Ansichten gewandelt haben. Von klein an hatte Julie gewußt, daß ihr Vater, Drew Barclay, noch vor ihrer Geburt bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Als sie sechzehn Jahre alt war, hatte sie die ganze traurige Geschichte erfahren. Damals war gerade Tom Wilder, der zweite Ehemann ihrer Mutter und Bobbys Vater, gestorben. Ruth Wilder, eine Vollwaise, hatte als Kellnerin gearbeitet, als sie Drew Barclay kennenlernte, und schon nach wenigen Wochen hatten die beiden geheiratet.
Aber als Drew seine junge Frau in das Haus seines Vaters Andrew Barclay nach Baton Rouge brachte, war dieser entsetzt. Als wohlhabender Industrieller hatte er ehrgeizige Pläne mit seinem Sohn; vielleicht würde dieser eines Tages sogar auf dem Gouverneurssessel von Louisiana sitzen, wer konnte es wissen? Aber zu diesem Plan paßte nicht irgendeine hergelaufene Ehefrau. In den kommenden Wochen versuchte Andrew Barclay alles, um seinen Sohn und Ruth auseinander zu bringen. Schließlich zerstörte er wissentlich die junge Ehe, und dies genau an jenem Tag, an dem Ruth ihrem Mann strahlend erzählt hatte, daß sie ein Kind erwarte. An jenem Abend saß Ruth im Nachthemd vor ihrem Frisiertisch, als plötzlich Andrews Gärtner mit nacktem Oberkörper hereinstürzte und Ruth stürmisch umarmte. Sie wehrte sich heftig, aber er fuhr mit seinen unverschämten Attacken fort. Da betrat Drew das Schlafzimmer. Der Gärtner flüchtete, und Drew, rasend vor Eifersucht, warf seiner Frau vor, daß der Gärtner der Vater ihres Kindes sei. Er ließ sie nicht zu Wort kommen und befahl ihr, noch am selben Abend das Haus seines Vaters zu verlassen. Julie war etwas über ein Jahr alt, als Andrew Barclays Privatdetektiv Ruth in Oklahoma City aufspürte, wo sie in einem Warenhaus arbeitete. Andrew schrieb ihr, er habe an jenem Abend den Gärtner bewogen, diese Szene in ihrem Schlafzimmer zu spielen. Er erklärte weiter, daß er nicht gewußt habe, daß sie schwanger gewesen sei. Voller Gewissensbisse habe er alles seinem Sohn gebeichtet, der daraufhin sofort das Haus seines Vaters verlassen habe. Drei Monate später sei Drew bei einem Autounfall ums Leben gekommen, der offiziell als Unfall aufgenommen worden sei. Aber er, Andrew, sei sicher, daß sein Sohn sich das Leben genommen habe. Andrew Barclay bat in seinem Brief, daß Ruth mit dem Baby nach Baton Rouge kommen möge. Sie solle ihm gestatten, sie beide bei sich aufzunehmen. Aber Ruth, stolz und voller Haß, hatte jegliche Unterstützung abgelehnt, und nie hatte sie dem Großvater das Vorrecht einräumen wollen, seine Enkeltochter zu sehen. Seither hatte sie nur von jenen Barclays freundlich gesprochen, die gar keine richtigen Barclays waren: von Andrews zweiter Frau Evelyn und deren Sohn aus erster Ehe, Steven Richard. Julie blickte zum Fenster hinaus. Sie wollte weder mit den echten noch den unechten Barclays etwas zu tun haben. Sie hatte schon gemerkt, was für ein Widerling dieser Steven Richard war, und ihr Großvater war und blieb ein Ungeheuer für sie. Er hatte vor Jahren bösartig das Leben ihrer Mutter ruiniert, und Julie hatte nicht die Absicht, diesen Menschen noch einmal Einfluß auf ihr Leben nehmen zu lassen. „Es tut mir leid, Mom“, sagte Julie leise und kniete sich neben den Stuhl ihrer Mutter. Plötzlich fühlte sie, wie schutzbedürftig diese zarte Frau in ihrem Sessel war. Aus Ruth Wilders Gesicht war alle Farbe gewichen, und die Falten um ihren Mund sprachen von den Schmerzen der letzten Wochen. „Ich habe dich lieb, Mutter, und du weißt, daß ich alles für dich tun würde. Aber das hier…“ Julie schüttelte den Kopf, „das kann ich einfach nicht. Er hat bereits einmal dein Glück zerstört, und er darf dich nicht ein zweites Mal verletzen. Wenn du ihn heute abend eingeladen hast – gut, aber ich werde nicht da sein. Vielleicht kannst du ihm verzeihen. Ich aber kann niemals vergessen, was er dir und Dad angetan hat.“ „Julie!“ rief ihre Mutter mit schwankender Stimme. „Was ist bloß los? Du klingst so bitter und unnachgiebig.“ Da betrat der zehnjährige Bobby das Zimmer, er spielte mit einem Baseballhandschuh. „Vielen Dank, Sir, daß Sie mir diesen Trick gezeigt haben“, sagte er über die Schulter.
Eine Sekunde später kam Steven Richard ins Wohnzimmer und nickte den beiden Frauen zu. „Ich bin ein paar Minuten zu früh zurückgekommen und traf Bobby vor der Tür. Da haben wir eben ein paar Bälle gewechselt.“ Er hatte einen Baseball in der Hand, den er jetzt in Bobbys Handschuh fallen ließ. „Dein Sohn hat einen guten Schlag, Ruth, in ein paar Jahren wird er in den besten Mannschaften spielen.“ Ruth musterte lächelnd ihren kleinen Sohn, seine zerzausten blonden Haare und die schmutzigen Jeans. „Bobby, ich wäre glücklich, wenn du dich waschen und dir saubere Sachen anziehen würdest.“ „Aber ich wollte Mr. Richard noch ein paar Fragen stellen.“ Steven lächelte Bobby zu, und Julie staunte über sein freundliches Gesicht. Zu ihr war dieser Mensch ungeduldig und kalt, mit ihrer Mutter ging er sehr herzlich um, während er zu Bobby ausgesprochen freundlich und verständnisvoll war, ohne gönnerhaft zu wirken. „Das geht schon in Ordnung, Bobby. Ich bin heute abend zum Dinner bei euch eingeladen. Wir haben also noch Gelegenheit, miteinander zu reden.“ „Super“, freute sich Bobby, „bis dann also.“ Fröhlich hüpfte er aus dem Wohnzimmer. Er war glücklich, einen neuen Freund gefunden zu haben. Mit seinen zehn Jahren interessierte es ihn nicht, wer dieser Mann war. Er akzeptierte ihn ganz einfach, weil er ihn nett fand. Sowie Bobby außer Hörweite war, wandte sich Steven an Ruth und Julie. „Und was habt ihr nun beschlossen?“ „Ich gehe nicht mit“, antwortete Julie trotzig. „Ich habe alles versucht“, seufzte Ruth. „Vielleicht kannst du sie zur Einsicht bringen, Steven?“ Er zog die dichten Augenbrauen hoch. „Ist sie denn überhaupt eine einsichtige Person?“ „Natürlich bin ich das“, brauste Julie auf, „aber das hier…“ „… ist von großer Wichtigkeit für Ihre Mutter. Sie aber spielen die Selbstgerechte und schlagen Ruths Bitte ab, anstatt ein wenig nachzugeben. So ist es doch“, unterbrach er sie. „Tut mir leid, Ruth, daß Bobby kein Barclay ist, er ist schwer in Ordnung.“ Er lächelte Ruth Wilder zu. „Dann gehe ich jetzt. Wenigstens darf Dad heute abend zum Dinner kommen. Ich weiß, wieviel ihm das bedeutet.“ Als er zur Tür ging, sprang Julie auf. „Warten Sie! Ich – ich komme doch mit.“ Sie schluckte schwer und zwang sich zu einem Lächeln. „Wenn es dir soviel bedeutet, Mom, gehe ich zu Andrew Barclay.“ In Ruths Augen glänzten Tränen. „Es bedeutet mir fast soviel wie mein Leben“, sagte sie kaum hörbar. Als Julie neben Steven Richard im Wagen saß, lächelte er sie an. Zum erstenmal spürte sie seinen männlichen Charme, den er bisher für Bobby und ihre Mutter aufgespart hatte. Eine makellose Zahnreihe blitzte auf, gab seinem strengen Mund einen weichen Zug und zauberte Wärme in die dunkelbraunen Augen. „Ich bin froh, daß Sie sich anders besonnen haben“, sagte er. Julie wandte den Kopf zur Seite. Irgendwie mußte sie sich gegen dieses Lächeln schützen. „Ich tue es nur für Mutter“, sagte sie spröde. „Schon verstanden.“ Schweigend fuhren sie durch die Straßen. Aber schon nach wenigen Minuten konnte Julie ihre Neugierde nicht mehr bezähmen. „Wie ist mein Großvater?“ wollte sie wissen. Steven lächelte. „In zwanzig Worten oder weniger?“ Er schüttelte den Kopf. „Er ist eine komplexe Persönlichkeit. Ich fürchte, niemand hat ihn bisher durchschaut. Am besten bilden Sie sich eine eigene Meinung.“ „Ist Ihre Mutter mitgekommen?“
Er sah sie erstaunt an. „Meine Mutter? Sie ist vor zehn Jahren gestorben.“ „Das tut mir leid“, entgegnete Julie entschuldigend, „das wußte ich nicht. Wenn Mutter überhaupt von den Barclays sprach, fand sie nur für Ihre Mutter freundliche Worte. Und natürlich auch für Sie“, fügte sie rasch hinzu. Steven nickte. „Ja, meine und Ihre Mutter haben sich immer gut verstanden. Ich war damals noch ein Kind und habe die ganze tragische Geschichte erst später erfahren.“ „Dann sind also nur noch Sie und mein Großvater übrig?“ fragte Julie. „Besitzen die Barclays noch die Fabrik?“ „Ja, eine Fabrik für synthetischen Gummi. Dad hat sich weitgehend vom Geschäft zurückgezogen, obwohl er noch Präsident und Vorstandsvorsitzender ist. Ich bin der Geschäftsführer. Und dann ist da noch Clive.“ „Clive?“ Das Fragezeichen war unüberhörbar. „Ihr Bruder?“ „Nein, Clive ist Ihr Vetter, ein Sohn von Dads Nichte. Sie und ihr Mann sind auch schon seit Jahren tot. Dad hat also nur zwei Blutsverwandte, Sie und Clive. Clive ist Verkaufsleiter der Firma.“ Bei den letzten Worten bildeten Stevens Lippen einen schmalen Strich. Aber Julie hatte keine Zeit mehr, darüber nachzudenken, denn er fuhr bereits auf den Parkplatz des Motels. Voller Spannung ging Julie auf die Tür des Motels zu. Gleich würde sie ihrem Großvater gegenüberstehen. Sie war sehr nervös, denn dieser Mann hatte ihrer Mutter zu übel mitgespielt. Steven klopfte an. Sofort wurde die Tür geöffnet, als habe Andrew Barclay sie bereits durch das Fenster beobachtet. Er und seine Enkelin blickten einander wortlos in die Augen. Julie war nicht sicher, was sie erwartet hatte. Nach allem, was sie von ihm wußte, mußte er ein vitaler, dynamischer Geschäftsmann sein, imponierend und großgewachsen. Nun war Andrew Barclay alles andere als klein, aber doch längst nicht so groß wie Steven. Er neigte zur Fülle, jedenfalls spannte sich die Weste seines dunklen Anzugs über der Leibesmitte. Über runden roten Wangen blickten sie scharfe, klare graue Augen an, neben denen sich kleine Fältchen zeigten. Auch die Stirn war voller Falten. Haare und Augenbrauen waren grau, drahtig und dicht. Julie fand, daß dieser grausame Mann eher gutmütig aussah, fast wie der Weihnachtsmann persönlich, nur der Bart fehlte. „Kommt herein“, begrüßte er sie mit tiefer, sonorer Stimme. Julie war froh, daß er keine Anstalten traf, sie in die Arme zu schließen. Er streckte ihr nicht einmal die Hand entgegen, was ihr nur recht sein konnte. Im Zimmer angekommen, musterten Großvater und Enkeltochter einander eingehend, als stünden sich zwei Gegner, aber keine nahen Verwandten gegenüber, die sich endlich gefunden hatten. „Wollt ihr bitte Platz nehmen?“ Andrew Barclay deutete höflich auf die Sitzecke. Julie wählte den Stuhl neben dem Fenster und blickte sich ein wenig neugierig um. Wie alle Hotelzimmer wirkte auch dieses sehr unpersönlich. Außer einem Jackett, das achtlos auf dem Bett abgelegt war, deutete nichts auf einen Bewohner hin. Steven wählte den Stuhl neben Julie, während sich Andrew Barclay langsam auf einem Sessel ihnen gegenüber niederließ. Zwischen ihnen stand eine Tischlampe, über die hinweg Andrew Barclay freimütig seine Enkeltochter musterte. Julie gab seinen Blick voll zurück. „So“, begann er nach einem langen Schweigen, „du bist also meine Enkeltochter.“ „Jedenfalls hat man mir dieses mitgeteilt“, antwortete Julie trocken und schlang
die Hände ineinander. „Du bist bildhübsch.“ Andrew Barclay erlaubte sich die Andeutung eines winzigen Lächelns. „Fast so hübsch wie deine Mutter, als sie dein Alter hatte. Allerdings besitzt du nicht ihre goldblonden Haare und den hellen Teint. Das hast du von den Barclays geerbt.“ „Leider.“ „Leider?“ Ihr Großvater hob fragend die Brauen. Sie hatte das Gefühl, daß er sich darüber lustig machte. „Wenn ich die Wahl gehabt hätte, hätte ich mir nichts von den Barclays vererben lassen“, antwortete Julie scharf. Die dichten grauen Brauen senkten sich, bis von den darunter liegenden Augen nur noch Schlitze zu sehen waren. „Hm, wenigstens nimmst du kein Blatt vor den Mund.“ Julie zuckte mit den Schultern. „Vermutlich. Aber ich war auch nicht darauf gefaßt, daß Sie von mir gespieltes Entzücken erwarten würden, weil ich Sie endlich kennenlernen darf.“ „Ja, aber warum bist du dann zu mir gekommen?“ fragte er mit einer unglaublichen Ruhe. „Um meiner Mutter einen Gefallen zu tun“, antwortete Julie mit verletzender Ehrlichkeit. „Ich verstehe nicht, warum Mom darauf bestanden hat. Aber da ihr diese Sache so am Herzen lag, habe ich nachgegeben. Von allein wäre ich sicher nicht gekommen.“ „Und du warst kein bißchen neugierig?“ Jetzt spielte ein Lächeln um Julies Mund. „Kaum, denn was ich von Ihnen gehört habe, Sir, hat nicht gerade den Wunsch in mir geweckt, Ihre Bekanntschaft zu machen.“ Zu ihrer Überraschung nahm Andrew Barclay diese Worte mit einem Schmunzeln auf. „Wie ich sehe, hast du deinen eigenen Kopf, und das gefällt mir. Diese Eigenschaft ist typisch für die Barclays, ob du das nun hören willst oder nicht.“ „Ich habe wohl bereits klargestellt, daß ich nie etwas von den Barclays wollte oder will, auch in Zukunft nicht.“ „Meinst du nicht, daß du dich ein wenig zu dickköpfig und stolz gibst?“ sagte Andrew Barclay. „Deine Mutter hat mir von ihrem Problem berichtet, und wenn du damit einverstanden bist, kann und will ich helfen. Ich bin ein wohlhabender Mann, Julie. Sogar sehr wohlhabend. Als dein Großvater möchte ich deiner Familie jede Unterstützung und Hilfe zukommen lassen, die für Geld zu haben ist.“ „Wir brauchen Ihr Geld nicht!“ fauchte Julie wütend. Sie sprang auf und starrte in funkelnde graue Augen, die genauso wütend wie ihre blickten. „Sie denken wohl, mit Ihrem Geld alles kaufen zu können? Dann hören Sie gut zu: Mich können Sie nicht kaufen!“ „Nein?“ erklang die schneidende Stimme ihres Großvaters. „Nur um mich zu kränken, willst du alle Hilfe für deine Mutter und deinen Bruder ablehnen? Bist du so selbstsüchtig? Dadurch schadest du in erster Linie Ruth, nicht mir. Du möchtest mit den Barclays nichts zu tun haben? Dabei willst du eben jetzt deiner Mutter das gleiche antun wie ich vor Jahren. Damals hätte ich ihr und meinem Sohn die Wege ebnen müssen, statt dessen habe ich durch meinen Egoismus alles zerstört. Jetzt will ich, soweit es möglich ist, das Vergangene gutmachen. Und nun wehrst du dich dagegen, Ruth das Leben zu erleichtern. O ja, meine Liebe“, schloß er wütend, „du bist eine echte Barclay. Wir waren schon immer eine selbstsüchtige, charakterlose Bande.“ Julie hatte eine scharfe Entgegnung auf der Zunge, die sie bei den letzten Worten
ihres Großvaters herunterschluckte. Sie atmete heftig und schloß für einige Sekunden die Augen, um sich zu fassen. „Sie sagten, wenn ich damit einverstanden wäre“, entgegnete sie gefaßt. „Was soll das heißen?“ Langsam glitt ein Lächeln über das Gesicht des alten Mannes. Er sah Julie mit merkwürdig blitzenden Augen an, die gleich darauf zu Steven wanderten und wieder zu ihr zurückkehrten. Dann sagte er klar und deutlich: „Ich möchte, daß du meinen Stiefsohn Steven heiratest.“
2. KAPITEL „Das soll wohl ein Scherz sein!“ rief Julie, als sie sich von ihrer Verblüffung erholt hatte. Blitzschnell drehte sie sich zu Steven um. Dieser war aufgesprungen und sah ziemlich entgeistert aus. Der Vorschlag ihres Großvaters mußte ihm genauso unerwartet gekommen sein wie ihr. „Dad“, keuchte er, „hast du den Verstand verloren?“ „Ich versichere euch, daß ich weder Scherze mache noch verrückt bin“, sagte Andrew Barclay nachdrücklich. „Setzt euch wieder hin und hört mir erst mal zu.“ „Ich will mir aber keinen verdrehten Unsinn anhören!“ sagte Steven heftig. „Wir sind keine Kinder, die sich herumkommandieren lassen. Du hast deinen Spaß gehabt, Dad, und wenn Julie einverstanden ist, fahre ich sie jetzt nach Hause.“ Er ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab, während Julie mit weichen Knien auf ihren Stuhl zurücksank. „Sie geht, wenn ich es für richtig halte, Steven, und keine Sekunde eher!“ brüllte Andrew Barclay. Die Haut über seinem Kinn spannte sich. „Setz dich endlich, bis ich fertig bin!“ Einen Augenblick lang starrten die beiden Männer einander an. Julie dachte schon, daß Steven nicht nachgeben würde, aber schließlich zuckte er mit den Schultern und setzte sich. „Dann schieß mal los, Dad, obwohl jedes Wort an uns verschwendet ist.“ „Abwarten“, erwiderte der alte Mann besänftigt und wandte sich an Julie. „Fangen wir bei dir an, Mädchen. Ich weiß, daß die hiesigen Ärzte Ruth zu einer Herzoperation durch ein Spezialistenteam in Houston raten.“ Julie nickte. „Vermutlich wird sie vier bis sechs Wochen im Krankenhaus bleiben müssen. Selbst wenn ihr versichert seid, kommen enorme Kosten auf euch zu. Dann sind da noch du und dein Halbbruder. Ich habe erfahren, daß du als Kontoristin ein bescheidenes Gehalt beziehst. Du bist auf das Geld angewiesen, kannst also nicht kündigen, während Ruth im Krankenhaus ist. In dieser Zeit kann sich niemand um deinen Bruder kümmern.“ Julie rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. „Wir werden es schon schaffen. Bobby ist ganz vernünftig. Er kommt gut allein zurecht, während ich arbeiten muß, und abends bin ich natürlich zu Hause.“ Andrew Barclay nickte. „Ich bin sicher, daß er ein zuverlässiges Kind ist, aber ein zehnjähriger Junge braucht Aufsicht, vor allem jetzt in den Sommerferien. Er kann sich sonstwo herumtreiben, krank werden, vielleicht sogar in schlechte Gesellschaft geraten.“ „Sie haben ja recht, Sir, aber viele Kinder seines Alters sind sich selbst überlassen, während die Mutter arbeitet.“ „Stimmt, aber Bobby wird die Mutter sehr fehlen, und sie wird sich im Krankenhaus Sorgen um ihn machen. Bist du überhaupt sicher, daß er dir genauso gehorcht wie Ruth?“ Julie wurde zornrot. „Vielleicht nicht, aber wir haben keine Wahl. Ich wäre froh, wenn Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten kümmern würden.“ Andrew Barclay ging das Problem von einer anderen Seite an. „Du bist dir doch klar darüber, daß Ruth nicht springlebendig aus dem Krankenhaus kommen wird und sofort ihre Aufgaben als Mutter und Hausfrau übernehmen kann. Auch zu Hause wird sie noch Pflege brauchen. Wie willst du das machen? Kannst du eine Krankenschwester einstellen?“ „Sie wissen genau, daß wir uns das nicht leisten können“, fuhr Julie ihren Großvater an. „Macht es Ihnen Spaß, Sir, mich mit der Nase auf meine Probleme zu stoßen?“
„Keineswegs“, ihr Großvater klang überraschend sanft, „ich will dir nur zeigen, daß du jetzt Hilfe brauchst und ich sie dir geben kann.“ „Schon, aber um welchen Preis?“ fragte Julie bitter. „Daß ich den da heirate?“ Sie zeigte vage in Stevens Richtung. „Und was soll für ihn dabei herausspringen?“ Steven Richards lächelte dünn. „Diese Frage liegt mir schon die ganze Zeit auf der Zunge. Was kommt bei diesem merkwürdigen Handel für mich heraus?“ Andrew Barclay lehnte sich bequem zurück und blickte auf seinen Stiefsohn. „Was hältst du von der Idee, wenn ich meiner Enkeltochter, deiner künftigen Frau, bedeutende Firmenanteile überschreibe?“ Nun schien auch der letzte Tropfen Blut aus Stevens Gesicht zu weichen. Sein Kopf glich einem Marmorbild. „Eine schmutzige Idee“, preßte er hervor. Der alte Mann lächelte, während Julie von Wut geschüttelt wurde. Ihr Großvater genoß diese Situation sichtlich, er wollte sie und Steven manipulieren, in eine unmögliche Lage bringen. Genauso war er vor Jahren mit ihren Eltern umgesprungen. „Ich will keine Anteile…“ begann sie wütend. „Du wirst mir wenigstens eine Erklärung gestatten“, schnitt er ihr das Wort ab. „Wenn du meine Enkeltochter heiratest, Steven, werde ich von den vierzig Prozent Aktien, die ich an der Firma besitze, fünfunddreißig an Julie und die verbleibenden fünf Prozent dir überschreiben. Da du bereits dreißig Prozent der Firmenaktien hast, würdet ihr dann Aktien zu gleichen Teilen besitzen.“ „Und wenn ich nicht zustimme?“ fragte Steven gepreßt. Nur mit Mühe konnte er seinen Ärger unterdrücken, die Pulsadern an seinen Schläfen klopften heftig. „Wenn du nicht zustimmst, erhält Julie zehn Prozent, und die restlichen dreißig gehen an Clive“, kam die ruhige Antwort. Nun explodierte Steven. Er war aufgesprungen und blickte seinen Stiefvater mit unverhohlenem Zorn an. „Du würdest also Clive insgesamt sechzig Prozent der Firmenanteile überlassen?“ fragte Steven mit erstickter Stimme. „Du meine Güte, Dad, siehst du denn nicht, daß das den Ruin der Firma bedeuten würde? Clive würde entweder derart expandieren, daß wir nie aus den Schulden herauskämen, oder er würde deine Fabrik an irgendeinen Interessenten verschleudern. Das kann doch nicht dein Ernst sein!“ „In meinem ganzen Leben war ich nicht ernster als jetzt, mein Sohn“, entgegnete Andrew Barclay. „Ich bin müde, so einfach ist das. Du bist zwar der Geschäftsführer, aber ich stehe noch immer als Puffer zwischen dir und meinem Neffen. Ich kenne Clives Wünsche, was die Zukunft der Firma angeht, und ich billige sie keineswegs. Aber ich bin es müde, dauernd neue Vorschläge von ihm anhören zu müssen, ich will mir dieses Problem vom Halse schaffen. Clive ist der Ansicht, daß ihm der Löwenanteil der Firma zusteht, weil er mein Blutsverwandter ist. Du, Steven, bist zwar nur mein Stiefsohn“, die Stimme des alten Mannes wurde heiser, „aber ich liebe dich wie mein eigenes Kind. Und dann ist da noch Julie.“ Seufzend blickte er auf seine schlanke Enkelin, die kerzengerade auf ihrem Stuhl saß. „Ich habe mich entschlossen, Julie, die mir dem Verwandtschaftsgrad nach am nächsten steht, den gleichen Anteil wie euch beiden zu geben – wenn sie sich nach meinen Wünschen richtet.“ „Natürlich muß Julie einen gerechten Firmenanteil erhalten, Dad, aber sie weiß nichts, aber auch gar nichts von deiner Firma. Wie soll sie ihr Stimmrecht als Aktionärin vernünftig geltend machen?“ „Genau hier beginnt deine Aufgabe. Wenn Julie deine Frau ist, sind ihre Interessen gut vertreten in der Firma, denn du wirst sie fachmännisch beraten können. Auf diese Weise hätte Clive keine Möglichkeit, sie zu beeinflussen oder
gar unter Druck zu setzen.“ „Wie können Sie da so sicher sein?“ fuhr Julie auf. „Nur weil ich mit Steven verheiratet bin, soll ich mich auf sein Urteil verlassen?“ „Natürlich kann ich da nicht sicher sein“, gab ihr Großvater zu, „aber denke einmal nach. Wenn du meinen Stiefsohn heiratest und mir eine Enkelin sein willst, bekommt deine Mutter ein schönes Heim mit allen Bequemlichkeiten und aller Pflege, die sie vorerst braucht. Für Bobby würde ich eine Ausbildungsversicherung abschließen, damit seine akademische Erziehung gesichert ist. Außerdem könnte er eines Tages, falls er die Neigung verspürt, einen glänzenden Posten in der Firma übernehmen. Ich kann mir also nicht vorstellen, daß du leichtfertig mit deiner Verantwortung für die Firma umgehen würdest, denn das würde gerade den Menschen schaden, die du Hebst.“ „Aber warum dann diese Heirat?“ Andrew Barclay zuckte mit den Schultern. „Nur so kann ich sicher sein, daß meine Firma unter verantwortlicher Leitung als gesundes Unternehmen weiterbesteht. Ich kann verstehen, daß ihr euch sträubt, jemand nahezu Unbekannten zu heiraten. Setzen wir doch einfach ein Limit von, sagen wir mal, drei Jahren fest. Bis dahin sind alle anstehenden Probleme mit der Firma geregelt, und Clive wird sich an Stevens Führungsstil gewöhnt haben. Bis dahin hätte Julie auch genug über die Firma gelernt, so daß sie selbständige Entscheidungen treffen könnte, ohne deine Hilfe, Steven. Wenn ihr euch nach drei Jahren trennen wollt, werde ich keine Einwände machen.“ „Das ist doch alles Unsinn!“ rief Julie. „Erpressung ist es!“ fauchte Steven. „Ich will mich aber nicht erpressen lassen!“ „Ich auch nicht. Ich kann sehr gut allein für mich sorgen, ohne daß jemand von Ihrer Familie…“ „Ich weiß.“ Andrew Barclay winkte müde ab. „Du hast es bereits mehrmals erwähnt. Aber deine Mutter und dein kleiner Bruder sind nicht in dieser glücklichen Lage. Ich biete ihnen die Sicherheit meines Hauses und meines Vermögens an. Wenn du es ihnen vorenthalten willst, Julie, mußt du das mit deinem Gewissen abmachen. Ich habe das Meinige getan.“ „Dad, sei doch vernünftig!“ rief Steven verzweifelt. „Du willst doch niemals Clive das Ruder überlassen. Du hast die Firma aus dem Nichts aufgebaut und hängst zu sehr an ihr, als daß du zusehen könntest, wie sie zugrunde geht. Und ich hänge zu sehr an der Firma, als daß ich das zulassen könnte. Ich…“ „Ich habe meine Bedingungen genannt“, unterbrach Andrew Barclay seinen Sohn mit unnachgiebiger Härte, „und dabei bleibt es. Ihr könnt annehmen oder ablehnen.“ Er sah auf seine goldene Armbanduhr. „Geht jetzt irgendwo hin und entscheidet euch. Ich gebe euch eine Stunde Zeit. Ich möchte alles geklärt wissen, bevor ich heute abend Ruth aufsuche.“ Eine Stunde, um eine lebenswichtige Entscheidung zu treffen, von der die Zukunft mehrerer Menschen abhing! Julie wurde schwindelig, als sie aufstand. Da begann Andrew Barclay noch einmal: „Ich möchte noch sagen, Julie, daß für den Fall deiner Zustimmung Mittel bereitstehen, damit du in Houston bleiben kannst, solange Ruth im Krankenhaus liegt. Ruth wird dankbar sein, dich vor und nach der schweren Operation in ihrer Nähe zu wissen, während für Bobby in Baton Rouge gesorgt wird.“ Obwohl Andrew Barclay auf den ersten Blick wie ein Weihnachtsmann ausgesehen hatte, blieb er für Julie das zweiköpfige Ungeheuer, für das sie ihn immer gehalten hatte. Er bot ihrer Mutter ein sorgloses Leben, aber nur, wenn sie, Julie, eine unmögliche Bedingung erfüllte!
Als sie und Steven das klimatisierte Motelzimmer verließen, traf sie die Hitze des Spätnachmittags mit voller Wucht. Verstohlen blickte Julie zu Steven hinüber und bemerkte die angestrengten Linien um seinen Mund. Auch für ihn war diese Lage mehr als mißlich. Plötzlich fühlte sie ein wenig Mitleid mit diesem Mann. Schließlich saßen sie beide in einem Boot, ob es ihr nun gefiel oder nicht. Als Steven den Wagen anließ, fragte er: „Kennen Sie ein Restaurant hier in der Nähe? Dann könnten wir während unserer Aussprache wenigstens etwas trinken.“ Fünf Minuten später betraten sie ein hübsches, kühles Lokal in der Nähe der Hauptstraße. Da noch nicht Dinnerzeit war, waren sie fast die einzigen Gäste. Sie wählten einen Ecktisch. Julie bestellte Eistee, Steven nahm Kaffee. Dann richtete er seinen Blick auf Julie und meinte mit einem bitteren Zug um den Mund: „Ich hatte keine Ahnung, was Dad von uns verlangen würde. Entschuldigen Sie, ich habe wirklich geglaubt, daß er nur seine Enkelin kennenlernen wollte.“ „Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Sie sind ja genauso aus den Wolken gefallen wie ich. Was sollen wir bloß tun?“ Ängstlich sah sie Steven an. Dieser zuckte ratlos die Schultern. „Ich weiß es nicht.“ Er holte ein Päckchen Zigaretten aus seiner Jackentasche und bot Julie eine an, die aber dankend den Kopf schüttelte. Dann steckte er sich selbst eine an. „Wir haben ihm ja beide mitgeteilt, daß wir seine Bedingungen nicht annehmen, aber er hat unser Nein nicht akzeptiert. Er weiß, daß wir erst über die Folgen nachdenken müssen.“ „Und sind Sie sicher, daß er es ernst meint? Vielleicht blufft er ja nur? Wenn ihm so daran liegt, daß Sie der Boß sind, kann er doch nicht einfach das entscheidende Aktienpaket meinem Vetter vermachen, nur weil Sie mich nicht heiraten wollen!“ Steven preßte die Lippen zusammen. „Nein, Dad blufft nicht. Es ist ihm todernst, diesem alten Dickschädel. Wenn wir nicht seinen Willen akzeptieren, läuft alles so, wie er gesagt hat. Er wird mich zu Clives Gunsten ausbooten und Ihre Familie ohne jede Hilfe sitzenlassen. Genau so.“ Julie musterte Steven nachdenklich, der einen Schluck Kaffee trank. Dann fragte sie zögernd: „Und die Firma? Ich nehme an, sie bedeutet Ihnen sehr viel. Aber könnten Sie nicht auch einen anderen Job finden?“ Steven lachte bitter auf. „Das wäre nicht schwierig, nehme ich an. Aber seit meinem achtzehnten Lebensjahr arbeite ich in Dads Firma, zunächst nur als Teilzeitarbeiter während der Sommermonate, solange ich studierte. Vor zwei Jahren hat Dad sich so gut wie zurückgezogen, und seither bin ich praktisch der Chef des Unternehmens. Jetzt soll ich das alles sausen lassen?“ fügte er leise hinzu. „Wäre es schrecklich für Sie, wenn Clive alles bekäme?“ „Es wäre die Hölle für mich“, gab er unumwunden zu. „Und Sie, Julie? Sie brauchen doch im Moment dringend Hilfe.“ Julie sah auf ihr Teeglas. „Ja“, erwiderte sie leise. „Natürlich kämen wir auch allein zurecht, aber es würde sehr schwer werden.“ Ihre Stimme begann zu zittern. „Mom macht sich solche Sorgen um mich und Bobby. Ich weiß, daß das Gift für ihr Herz ist. Sie hat solche Angst, daß sie sterben könnte und uns allein zurücklassen würde. Ich weiß auch, daß sie Angst vor der Operation hat und davor, ganz allein in Houston zu sein. Aber wir haben einfach das Geld nicht, daß ich mit ihr reisen und bei ihr bleiben könnte.“ Ihre Stimme erstarb. „Ihre derzeitigen Probleme wären also nur halb so groß, wenn Sie zustimmen würden?“ Stevens Stimme klang erstaunlich weich. Julie nickte. Ihr Ja war kaum hörbar, ein kleiner, verlorener Ton. Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, dann meinte Steven unvermittelt:
„Ich schlage vor, wir akzeptieren.“ Julie riß die Augen auf und blinzelte. „Wa – was haben Sie gesagt?“ Sie hatte wohl nicht richtig gehört. „Ich sagte, daß wir Dads Bedingungen akzeptieren sollten.“ Steven lehnte sich vor und legte seine Hand auf ihren Arm. „Er hat uns wirklich in eine unmögliche Lage gebracht, mit der wir aber doch drei Jahre lang fertig werden sollten. Da wir uns fremd sind, wird keiner von uns außergewöhnliche Ansprüche an den anderen stellen, und jeder könnte so leben, wie er will. Ruths und Ihre unmittelbaren Probleme wären gelöst, und Dads Aktiengesellschaft bliebe sicher in meinen Händen. Also, was meinst du, denn ,du’ darf ich doch jetzt sagen?“ Julie nickte. „Ich weiß gar nichts mehr. Das schlimmste ist und bleibt, daß wir gar nichts voneinander wissen.“ Steven lachte verständnisvoll. „Ich kann dir versprechen, daß ich kein gefährlicher Irrer bin. Weder verstreue ich schmutzige Socken auf dem Fußboden, noch esse ich Erbsen mit dem Messer. Aber wie kann ich mir bei dir sicher sein?“ Julie kicherte trotz allem in sich hinein und wurde mit einem herzlichen Lächeln belohnt. „So ist es schon besser“, fuhr er fort. „Also, was meinst du? Ich gebe zu, daß wir beide einen Griff in den Schlangenkorb tun, aber eines kann ich dir versichern: Ich gehöre nicht zu den Leuten, die sich um ihre Verantwortung herumdrücken und ausrasten, wenn Schwierigkeiten auftauchen, wie dein dahingegangener, beklagenswerter Verlobter.“ Julie lief es kalt den Rücken herunter, als sie an Ronald erinnert wurde. Sie entzog Steven ihren Arm und fragte leise: „Und wie steht es mit dir? Es gibt in deinem Leben doch bestimmt eine Frau?“ „Ja, stimmt“, er machte gar nicht den Versuch zu leugnen. „Und?“ „Und was?“ Sein Gesicht war unbeweglich. „Ich bin nicht mit ihr verlobt, falls du das wissen willst. Wenn wir heiraten, würde ich kein Versprechen brechen müssen.“ „Aber du kannst doch unmöglich diese Heirat wünschen, wenn du eine andere Frau liebst?“ „Wer, zum Teufel noch mal, wünscht schon diese verrückte Heirat?“ entgegnete er verärgert. „So gesehen, liebst du schließlich auch einen anderen, aber wir können doch wegen der merkwürdigen Launen eines alten Mannes nicht alles vor die Hunde gehen lassen!“ Er warf einen Blick auf die Uhr. „Du hast noch zwanzig Minuten Zeit, um dich zu entscheiden.“ Er musterte sie. Julie fühlte sich unter seinem abschätzenden Blick unbehaglich. Alles erschien ihr so falsch, so kaltblütig eingefädelt. Sie verachtete Steven, weil er sie wegen der Firma heiraten wollte. Sich selbst aber verachtete sie noch mehr, weil sie diese Möglichkeit überhaupt erwog. Sie war genauso schwach wie er, denn plötzlich wußte sie, daß sie zustimmen würde. Andrew Barclay schuldete ihrer Mutter zuviel, und jetzt sollte er zahlen! Sie schluckte schwer. „Ich werde dich heiraten“, sagte sie hastig, als könne sie sich doch noch anders besinnen. „Aber ich stelle eine Bedingung. Wenigstens für ein paar Monate müssen wir diese Heirat geheimhalten. So sehr wir im Moment auf die Hilfe meines Großvaters angewiesen sind, würde Mutter doch nicht einen Cent von ihm annehmen, wenn sie wüßte, daß er mich genauso kaltblütig zu einer Ehe zwingt, wie er seinerzeit ihre Ehe zerstört hat. Wir müssen so tun, als ob wir…“ „… uns ineinander verliebt hätten?“ Steven nickte. „Richtig, nur so wäre alles für Ruth akzeptabel. Und wenn sie dann glaubt, daß wir einander lieben, können wir ihr sagen, daß wir heimlich geheiratet haben.“ Er stand auf und hielt ihr die Hand hin. „Komm, wir wollen Dad unsere Entscheidung mitteilen. Bestimmt geht er
Ruths wegen auf deine Bedingung ein.“ Nachdem die Würfel gefallen waren, überstürzten sich die Ereignisse. Julie hatte kaum darüber nachdenken können, ob ihre Entscheidung richtig war oder nicht. Sie konnte nur beten, daß sie ihrer Mutter wegen das Richtige getan hatte. Noch am selben Abend war Andrew Barclay strahlend bei Ruth aufgetaucht und hatte sie um Verzeihung gebeten. Dann bot er ihr an, auf immer bei ihm zu wohnen. Er hatte beredte Argumente zur Hand: Endlich könne er dann seine Enkelin richtig kennenlernen, weiter könne er vieles an Ruth wiedergutmachen. Außerdem sei dies eine ausgezeichnete Chance für Bobby. Um sein Haus, Magnolia Way, gebe es genug freies Feld und frische Luft, er hätte sogar Reitpferde. Und schließlich würde nicht nur Julie, sondern auch seine Wirtschafterin den Jungen unter ihre Fittiche nehmen. Ruth war ganz überwältigt von dem Erfolg ihres Briefes an ihren Schwiegervater. Und obwohl Julie ihr ganzes schauspielerisches Talent aufbieten mußte, konnte sie die Mutter davon überzeugen, daß sie sich auf ihr neues Leben in Baton Rouge freue. Am Abend kam ihre Mutter auf Ronald zu sprechen. Julie berichtete, daß sie die Verlobung mit ihm im beiderseitigen Einverständnis gelöst hätte. Am nächsten Morgen flog Andrew Barclay nach Louisiana zurück, um dort alles für ihre Ankunft herzurichten. Steven blieb in Oklahoma und half bei den Umzugsvorbereitungen. Binnen kurzem organisierte er alles. Er sorgte dafür, daß Ruths kleines Haus einem Makler zum Verkauf übergeben wurde, bestellte den Möbelwagen, sprach mit Ruths Arzt über den notwendigen Transport nach Houston und erledigte tausend Kleinigkeiten, damit Ruth sich schonen konnte. „Ich weiß gar nicht, wie wir ohne dich fertig geworden wären“, meinte Ruth am Vorabend ihrer Abreise nach Louisiana. „Du hast alles wunderbar geregelt.“ Dabei nahm sie ihm die Formulare ihrer Bank ab, die sie unterzeichnen mußte, damit ihr Geld auf eine Bank nach Baton Rouge überwiesen werden konnte. „War er nicht unersetzlich, Julie?“ Julie war gerade dabei, das Porzellan ihrer Mutter in eine Kiste zu packen. „Ja, unersetzlich“, erwiderte sie kurz, aber ihre Augen straften ihre Worte Lügen. Ihr war es gar nicht recht, daß Steven alles in die Hand genommen hatte. Denn seitdem er alles regelte, war Ruth nicht mehr von Julies Ratschlägen abhängig. Wann immer Steven das Zimmer betrat, strahlte Ruth. Dann hieß es: „Steven, sollen wir das so machen?“ oder: „Steven, diese Angelegenheit muß noch geregelt werden.“ Und jedesmal lächelte Steven beruhigend und sagte: „Mach dir keine Sorgen, Ruth, es ist alles in bester Ordnung.“ Und Bobby war keinen Deut besser. Irgendwie mußte Steven den Jungen hypnotisiert haben. Er war inzwischen davon überzeugt, daß es nach Skateboard Fahren nichts Schöneres gab, als nach Louisiana zu übersiedeln. Er verfolgte Steven mit seinen Fragen nach der BaseballMannschaft an der Staatsuniversität von Louisiana, nach der berühmten Fastnacht, nach Sümpfen und Alligatoren, und jedesmal gab Steven geduldig Antwort. Als sie schließlich zu viert das Flugzeug von Oklahoma City nach Baton Rouge bestiegen, bestand Julie nur aus innerem Widerstand. Gestern abend hatte Steven sein autoritäres Verhalten sogar bei ihr herausgekehrt. Als sie ihrer besten Schulfreundin Ann Rollins einen Abschiedsbesuch machen wollte, hatte er sich ihr in den Weg gestellt. „Komm nicht zu spät zurück“, hatte er gesagt. „Wir müssen morgen früh aus den Federn. Außerdem wird deine Mutter kein Auge zutun, bevor du nicht zu Hause bist. Und sie braucht ihre Nachtruhe dringend.“ „Wer bist du eigentlich, daß du über mich bestimmen willst?“ hatte sie ärgerlich
erwidert. „Zufällig bin ich dein Verlobter“, war seine trockene Antwort gewesen. „Dabei wollte ich dir nur klarmachen…“ „Nein, du willst genauso mein Leben bestimmen, wie du es bei Mom und Bobby tust. Das aber werde ich nicht dulden, Steven Richard, auch nicht, wenn wir verheiratet sind!“ Hocherhobenen Hauptes hatte sie das Haus verlassen. Dennoch kam sie rechtzeitig nach Hause, weil sie ihre Mutter nicht beunruhigen wollte. Hinzu kam, daß ihr Besuch bei Ann nicht so schön gewesen war, wie sie gehofft hatte. Natürlich wußte Ann nichts von ihrer merkwürdigen Verlobung, aber sie hatte Steven bei Julie kennengelernt. Und nun plapperte sie drauflos, was für einen guten Fang Julie mit ihm machen könnte, wo doch ihre Verlobung mit Ronald auseinandergegangen sei. Steven wäre der reinste Märchenprinz. Ihr wohlgemeintes Geschnatter hätte jeden erschöpft. Jedenfalls ging Julie mit Kopfschmerzen und einem Stich Neid auf Ann nach Hause. Ihre Freundin hatte genau das, was Julie sich wünschte: einen Verlobten, den sie seit der Schulzeit kannte und der sie auf Händen trug. Die beiden würden niemals im Geld schwimmen, aber sie besaßen etwas, das mehr zählte als Geld und Gut, nämlich Liebe füreinander. Wenn Julie Anns Zukunft mit ihrer verglich, konnte sie kaum die Tränen zurückhalten. Hätte doch Ronald zu ihr gehalten, dann befände sie sich jetzt nicht in dieser ausweglosen Situation. Während Ruth und Bobby ihren ersten Flug genossen, hatte Julie nur das dumpfe Gefühl, daß sie einer düsteren Zukunft entgegenflog. Steven benahm sich schon jetzt so diktatorisch. Wie sollte es erst werden, wenn er ihr Ehemann war? Sie würden manchen Kampf miteinander auszufechten haben. Friedlich würde es sicher nicht zugehen. Am Spätnachmittag landeten sie auf dem Flughafen von Baton Rouge. Die Stadt bereitete ihnen keinen freundlichen Empfang, es goß in Strömen. Wenige Minuten später fanden sie sich im Flughafengebäude wieder, wo ein junger Mann auf sie zukam. „Hallo“, begrüßte er sie. „Onkel Andy hat mich geschickt, um euch abzuholen.“ Er richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf Julie und ließ Steven links liegen. „Ich bin Clive Mitchell, dein Vetter.“ Er schüttelte Julie, Bobby und Ruth herzlich die Hand. Er hatte ein etwas eckiges, aber sehr ansprechendes Gesicht und konnte nicht viel älter als Julie sein. Sie fand, daß er zu den bestaussehenden Männern gehörte, die ihr bisher über den Weg gelaufen waren. „Es freut mich, eure Bekanntschaft zu machen. Wollen wir das Gepäck holen und dann nach Hause fahren? Ruth, ich muß mich für das fürchterliche Wetter entschuldigen. Louisiana ist ein regenreicher Staat, aber ich verspreche, daß wir auch sehr schöne Tage haben werden. Es wird dir dann bestimmt bei uns gefallen.“ „Ich kann mich noch gut erinnern“, lächelte Ruth, „vor allem an die blühenden Azaleen und den Duft von Gardenien und Magnolien. Aber dafür ist es jetzt schon zu spät, da hätten wir im Frühjahr kommen müssen. Doch es ist schön, wieder hier zu sein. Ich bin darüber sehr glücklich.“ Lachend nahm Clive ihren Arm. „Ich habe ganz vergessen, daß du hier eine Zeitlang gelebt hast, Ruth.“ Als sie aus dem Flughafengebäude traten, ließ Julie ihren Blick verstohlen über Stevens Gesicht gleiten. Er sah ärgerlich aus, seine Lippen waren zu einem dünnen Strich zusammengepreßt. Offensichtlich mißfiel ihm der Charme, den Clive rundum versprühte. Aber was ging es sie an, wenn zwischen den beiden Männern ein Konflikt bestand? Sie jedenfalls fand Clive freimütig, offen und sympathisch. Es freute sie, daß dieser stattliche junge Mann ihr Vetter war.
Der Regen goß in Strömen und hatte alles, Straßen, Parkplätze und Vorgärten, unter Wasser gesetzt. Der Chrysler, Stevens Wagen, wie sich herausstellte, bahnte sich langsam seinen Weg durch die mit Autos verstopften Straßen. Die sieht war katastrophal. Julie saß vorn neben Steven. Widerstrebend mußte sie zugeben, daß er sehr gut Auto fuhr, langsam und reaktionssicher. Obwohl die Scheibenwischer so gut wie nichts ausrichteten, war er der Lage durchaus gewachsen. Langsam entspannte sich Julie. Bald fuhren sie durch kleinere Vororte, die in Eichen und Pinien eingebettet waren. Julie wollte Steven, der sich voll konzentrieren mußte, nicht stören, also wandte sie sich an Clive: „Ich dachte, mein Großvater wohnt in Baton Rouge, dabei haben wir die Stadt schon hinter uns. Ist es denn noch sehr weit bis zu unserem Ziel?“ „Das Haus liegt etwa dreißig Meilen von der City entfernt.“ „Und lebst du auch bei meinem Großvater?“ Clive schüttelte den Kopf. „Nicht mehr. Vor einem Jahr bin ich in die Stadt gezogen. Ich war mit dem Lebensstil in diesem Haus nicht einverstanden“, fügte er mit einem feindseligen Blick auf Steven hinzu. Clives Blick hielt Julie davon ab, weitere Fragen zu stellen. Zweifellos konnten sich Clive und Steven nicht leiden. Da fiel Julieein, warum sie überhaupt hierwar: Sie wollte nicht nur ihrer Mutter helfen, sondern Clive sollte auch die Möglichkeit genommen werden, die Leitung der Firma an sich zu reißen. Dabei schien ihr Clive so sympathisch! Julie war müde nach dem langen Tag und blickte immer wieder besorgt zu ihrer Mutter zurück. Da endlich bog Steven von der Straße in einen Kiesweg ein, der sich unter Bäumen dahinschlängelte. „Willkommen in Magnolia Way“, sagte er. Es war das erste Wort, das er seit ihrer Ankunft in Baton Rouge gesprochen hatte. In dem strömenden Regen und der beginnenden Dunkelheit war nicht viel zu sehen. „Sind das Magnolienbäume?“ wollte Julie wissen und deutete auf die einzig sichtbaren Umrisse. Steven nickte, fuhr um eine weitere Kurve und hielt vor einem sehr großen, zweistöckigen Haus aus rotem Ziegelstein. Ungläubig betrachtete Julie den stattlichen Bau. Das also war ihre neue Heimat. „Autsch“, entfuhr es Bobby, „ein ganzes Schloß hatte ich nun nicht erwartet.“ Julie warf ihm ein verständnisvolles Lächeln zu. Er hatte genau ihre Gedanken ausgedrückt. Sie wußte, daß ihr Großvater wohlhabend war, aber so etwas Überwältigendes hatte sie nicht erwartet. Auf beiden Seiten des Eingangs erhoben sich hohe weiße Säulen, ganz im Stil der alten Häuser der Plantagenbesitzer. Andrew Barclay begrüßte sie in der weitläufigen Eingangshalle. Er griff nach Ruths Händen. „Ruth, meine Liebe, sei willkommen zu Hause.“ Ein wenig Rührung klang in seinen Worten mit. „Danke, Andrew“, erwiderte Ruth einfach. „Ich freue mich, hier sein zu dürfen, und ich meine ehrlich, was ich sage.“ Der alte Mann lächelte so herzlich, daß Julie ganz verblüfft war. „Mrs. Landry ist mit allem fertig und wird das Dinner servieren, sobald ihr soweit seid. Ich habe sie um ein frühes Abendessen gebeten, damit du bald ins Bett kommst, Ruth. Ich hoffe, daß der Flug dich nicht zu sehr angestrengt hat. Es wird nicht allzulange dauern, bis du dich ausruhen kannst.“ In den nächsten anderthalb Stunden stürmte so viel Neues auf Julie ein, daß sie gar nicht zum Nachdenken kam. Mrs. Landry zeigte ihr ein Zimmer, das im
entgegengesetzten Flügel lag, in dem Bobby und ihre Mutter einquartiert wurden. Dort war zwar noch ein Zimmer frei, aber das war für die Privatpflegerin bestimmt. Sie würde eintreffen, sowie Ruth aus Houston zurückkam und ihrer Hilfe dann sicher dringend bedurfte. Die Mahlzeit mit mehreren Gängen verlief ohne Aufregungen. Auch Clive blieb zum Abendbrot. Gleich nach Tisch aber verabschiedete er sich, da er noch den ganzen Weg in die Stadt zurück mußte. Auch Ruth zog sich in ihr Zimmer zurück, während Bobby in die Garage lief, um Stevens Hündin und ihren Jungen einen ersten Besuch abzustatten. Also blieben zum Kaffee nur noch Julie, Steven und Andrew Barclay im Wohnzimmer. Andrew lehnte sich in seinem Stuhl zurück und musterte beide nachdenklich. „Das Aufgebot ist bestellt“, sagte er beiläufig, „und ich habe euch für morgen früh acht Uhr auf dem Standesamt zur Eheschließung angemeldet.“ Julie hatte nicht gedacht, daß sie so schnell beim Wort genommen werden würde. Morgen nachmittag sollte sie bereits mit ihrer Mutter nach Houston fliegen, und sie hatte mit der Eheschließung nicht vor ihrer Rückkehr gerechnet. Nach dieser Ankündigung erhob sich der alte Herr, nickte den beiden freundlich zu und verließ das Wohnzimmer. Julie blickte über den Tisch zu Steven. Ihr Mund war trocken. Steven hatte nur ein sprödes Lächeln für sie übrig. „Anscheinend“, meinte er mit flacher Stimme „ist für uns die Sanduhr schon abgelaufen.“
3. KAPITEL „Sie müssen jetzt gehen, Miß Barclay“, sagte die Krankenschwester. „In wenigen Minuten wird Ihre Mutter in den Operationssaal gebracht.“ „Gut“, sagte Julie gepreßt. Ihr Hals war wie zugeschnürt. Sie warf einen letzten Blick auf ihre Mutter, die bereits eine Beruhigungsspritze bekommen hatte und die Augen geschlossen hielt. Julie wußte nicht, ob ihre Mutter noch bei Bewußtsein war, aber sie war an ihrem Bett sitzengeblieben und hatte Ruths Hand gehalten. Jetzt drückte sie die zierliche, warme Hand. „Ich liebe dich, Mom“, flüsterte sie. Die schweren Augenlider hoben sich, und Ruth Wilder lächelte schläfrig. „Ich dich auch, Julie. Und Bobby. Sage ihm…“ Ihre schwache Stimme verstummte. Ruth war vom Schlaf übermannt worden. „Ja“, versprach Julie heiser. „Ich richte es ihm aus.“ Sie ließ die Hand der Mutter los und trat einen Schritt vom Bett zurück. „Ich sehe dich dann später wieder.“ Während sie auf den Flur hinausging, erschienen zwei Pfleger, um Ruths Bett in den Operationssaal zu rollen. Julie ging rasch weg, denn wenn sie jetzt noch blieb, würde sie in Tränen ausbrechen. Im Wartezimmer sank sie auf einen der hellen, orangefarbenen Plastiksessel. Zu dieser frühen Morgenstunde war sie allein in dem Raum. Sie fühlte sich allein und voller Angst. Lange Stunden bangen Wartens lagen vor ihr, die sie leichter durchstehen würde, wenn jemand diese Stunden mit ihr geteilt hätte. Vor zwei Tagen waren sie in Houston angekommen. Ruth war sofort, ins Krankenhaus gegangen, wo mit den erforderlichen Untersuchungen vor der Operation begonnen wurde. Julie hatte zwei schlaflose Nächte in einem Hotelzimmer verbracht und fühlte jetzt die Auswirkungen des fehlenden Schlafs und der ständigen Anspannung und Angst. Die Operation würde Stunden dauern. Julie versuchte, nicht daran zu denken, was in eben diesem Moment im Operationssaal vor sich gehen mußte. So viel hing von dem Wissen und der Geschicklichkeit der Chirurgen ab. Wenn ihre Mutter nun sterben würde… Julie fuhr zusammen. Daran wollte sie nicht denken. Sie konnte sich eine Welt ohne Mom einfach nicht vorstellen, eine Welt, in der sie und Bobby nur noch sich haben würden. Dabei war das eigentlich nicht mehr richtig, wenn sie ehrlich sein wollte. Bobby hatte sich auf das neue Leben in Magnolia Way wie ein Hund auf einen saftigen Knochen gestürzt. Schon am ersten Abend hatte er verkündet, Mrs. Landry, die rundliche Wirtschafterin mit dem freundlichen Gesicht, sei „stark“. Julie lächelte vor sich hin. Vor dem Schlafengehen hatte Mrs. Landry Bobby noch mit einem Milchmixgetränk und einem Stück Apfeltorte verwöhnt und ihm gebratenes Hühnchen für den nächsten Tag versprochen. Ihren Großvater hatte Bobby schon am zweiten Tag zärtlich seinen Grandpa genannt. Julie hatte Bobby beiseite genommen und ihm klargemacht, daß der alte Herr nicht sein Großvater sei. Er solle Andrew Barclay respektvoller anreden. Aber Bobby hatte nur ein Achselzucken für ihre Erklärungen übrig gehabt und erklärt, daß Grandpa höchstpersönlich um diese Anrede gebeten habe. Julie mußte sich geschlagen geben. Es war ihr aber nicht recht, daß Andrew Barclay so leicht ein vertrautes Verhältnis zu Bobby gefunden hatte. Eines ist sicher, sagte sie sich, während sie die grüngestrichene Wand des Wartezimmers anstarrte, ich habe nicht vor, Bobbys Beispiel zu folgen. Sie hatte ihren Großvater bisher nicht anders als „Mr. Barclay“ oder noch einfacher mit
„Sir“ angeredet, und dabei würde sie bleiben. Ein so grausamer Mann, der die Menschen um sich herum wie Marionetten tanzen ließ, würde für sie niemals ein Grandpa werden. Die Anrede setzte eine herzliche, vertraute Beziehung voraus, aber sie fühlte nur kalte Abneigung gegen diesen Mann. Der Gedanke an ihren Großvater führte Julie unweigerlich zu Steven. Sie öffnete ihre Handtasche und hohe ein weißes Schächtelchen heraus, dessen Deckel sie aufschnappen ließ. Dann betrachtete sie die beiden Ringe auf dem weißen Samt. Der eine war ein einfacher schmaler Goldreif, der andere hatte einen großen, funkelnden Brillanten. Sie konnte kaum glauben, daß sie jetzt eine verheiratete Frau war. Wenn nicht die Ringe vor ihr lägen, käme ihr alles wie ein bloßer Traum vor: das Zimmer des Standesbeamten mit der Holzverkleidung und den dunklen Vorhängen, Andrew Barclay im feierlichen schwarzen Anzug, der gelangweilte Bürodiener, der nur mühsam ein Gähnen unterdrückte, und schließlich der Standesbeamte selbst, der mit den Worten, die er vorlas, ihr Leben mit dem eines Mannes verband, den sie nicht liebte und der auch sie nicht liebte. Julie schloß die Augen und dachte an Steven. An ihrem Hochzeitstag hatte er in seinem dunklen Straßenanzug besonders gut ausgesehen. Sein Gesicht war blasser gewesen als gewöhnlich, seine Augen hatten wie zwei dunkle Kohlenstücke gefunkelt. Aber trotz aller Strenge hatte er alles getan, um ihr über die Situation hinwegzuhelfen. Er hatte ihr gesagt, wie hübsch sie in ihrem weißen Sommerkleid mit dem weiten Rock und den weiten Ärmeln aussehe, und er hatte ihr dabei einen Strauß aus weißen und rosa Rosenknospen überreicht. Die Ringe waren eine Überraschung für sie gewesen, vor allem der herrliche Brillant, den Steven ihr nach der Trauzeremonie an den Finger gesteckt hatte. Julie hatte dagegen protestiert, denn unter diesen Umständen schien er ihr fehl am Platz. Aber er hatte entgegnet, daß sie auch einen ordentlichen Verlobungsring bekommen müsse und damit punktum. Am lebhaftesten erinnerte sie sich an seinen Kuß nach der Trauung. Es war ihr erster Kuß gewesen. Julie hatte nur eine flüchtige Berührung ihrer Lippen erwartet, weil ein Kuß nun einmal zu einer Trauung gehört. Statt dessen war es ein herzlicher sanfter Kuß gewesen, der eine Woge warmer Empfindungen in ihr geweckt hatte. Und als sie sich trennten, hatte er sie genauso angelächelt, wie sie es sich immer von ihrem Ehemann am Hochzeitstag erträumt hatte. Nur, daß dies kein richtiger Hochzeitstag gewesen war. Sobald sie mit Andrew Barclay im Wagen gesessen hatten und nach Magnolia Way zurückgefahren waren, hatte sich Steven wieder angenehm höflich, aber distanziert gegeben. Zu Hause war sie sofort in ihr Zimmer gelaufen, um das weiße Kleid auszuziehen und die Ringe vom Finger zu nehmen. Als sie wieder herunterkam, war Steven wie gewöhnlich in die Fabrik gefahren. Wenige Stunden später bestieg sie mit ihrer Mutter die Maschine nach Houston. Als wolle Julie alle Gedanken an diese unselige Trauung verbannen, schloß sie energisch den Deckel des Schmuckkästchens und stopfte es in ihre Handtasche zurück. Dann blickte sie auf die große Wanduhr. Zwanzig Minuten, mehr Zeit war nicht verstrichen, seit sie das Zimmer ihrer Mutter verlassen hatte. Mit sinkendem Mut dachte sie, wie es wohl am Ende dieses Tages in ihr aussehen würde. Da hörte sie auf dem Flur den Aufzug gehen, und automatisch blickte sie zur offenen Tür. Mehrere Leute strömten aus dem Lift. Julie riß die Augen auf, als sie Steven unter ihnen entdeckte. Er trug blaue Hosen, einen blaßblauen leichten Pullover mit Kragen und ein helles Jackett. Sein bloßer Anblick gab ihr einen freudigen Stich in der Herzgegend. Er sah umwerfend gut aus, und seine selbstbewußte Haltung strahlte Stärke und Zuversicht aus. Julie fühlte sich ein
ganzes Stück wohler, nur weil sie ihn vor Augen hatte und weil sie wußte, daß sie nicht mehr allein war. Steven sah sie nicht, sondern steuerte auf das Schwesternzimmer zu, das am Flurende lag. Julie sprang augenblicklich auf und lief durch das Wartezimmer. „Steven!“ rief sie, als sie in seiner Hörweite war. Er blieb sofort stehen und drehte sich um. „Da bist du ja“, meinte er. „Ich dachte, du würdest vielleicht im Zimmer deiner Mutter warten. Ich nehme an, daß die Operation schon begonnen hat?“ fügte er ernst hinzu. Julie nickte und schluckte schwer. „Ich denke doch. Vor einer halben Stunde haben sie sie in den Operationssaal gebracht.“ Sie fühlte, wie ihre Knie nachgaben und sie sich an ihn lehnte. „Ich hatte keine Ahnung, daß du kommen würdest.“ Er nahm ihre Hand und drückte sie herzlich. „Freust du dich darüber?“ fragte er leise. „O ja, es ist so – so schrecklich, hier ganz allein herumzusitzen.“ „Ich hatte auch nicht die Absicht, dich in diesen Stunden allein zu lassen“, entgegnete Steven ruhig, während er eine Hand auf ihre Schulter legte und sie zu ihrem Stuhl zurückführte. „Eigentlich wollte ich längst hier sein, aber ich wurde auf der Stadtautobahn aufgehalten. Ein Unfall hatte zu einem Stau geführt, der sich erst nach einer Dreiviertelstunde auflöste. Aber was sehe ich da?“ sagte er plötzlich leise. „Tränen?“ Er hob eine Hand und wischte einen Tropfen von ihrer Wange. „Entschuldigung“, murmelte Julie und senkte den Kopf. Sie hatte nicht solche Anteilnahme von Steven erwartet. Ihr war, als sei eine Last von ihren Schultern genommen, und ein Gefühl der Dankbarkeit durchflutete sie. Aber sie schüttelte den Kopf und hielt die Tränen mit Macht zurück. Denn niemals hätte sie Steven mit Worten sagen können, was sie im Moment fühlte. „Keine Angst“, sagte er mit fester Stimme, „sie wird alles glänzend überstehen, Julie, glaub mir.“ „Ich kann es nur hoffen.“ Julies Stimme zitterte. „Nicht hoffen, Julie, wissen“, befahl Steven. Aufmunternd sah er sie an: „Sei mal optimistisch. Und nun wüßte ich gern, ob du schon gefrühstückt hast.“ Julie schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin sehr früh aufgestanden, außerdem habe ich keinen Hunger.“ „Das hat nichts zu sagen“, entgegnete er entschieden. „Du mußt etwas essen, und ich habe Hunger. Außerdem haben wir dann wenigstens etwas zu tun. Wir müssen noch lange genug warten.“ Er stand auf, nahm ihren Arm und zog sie in die Höhe. „Komm, Julie, unten habe ich ein kleines Frühstücksrestaurant entdeckt.“ „Nein, bitte nicht. Was ist, wenn mich einer der Ärzte sucht?“ „Das dauert noch Stunden, wie du weißt. Aber wenn es dich beruhigt, sage ich im Schwesternzimmer Bescheid, wo wir zu finden sind.“ Er ließ sie los und ging den Flur hinunter. Als er zurückkam, stand Julie immer noch an derselben Stelle. „Das wäre geregelt, und jetzt sei ein gutes Kind und komm mit.“ „Ich habe keinen Hunger, glaub mir doch.“ Allein der Gedanke an Essen war ihr widerlich. Und mit einemmal war sie genauso verärgert über Steven, wie sie sich über sein Auftauchen gefreut hatte. Warum konnte er nicht verstehen, daß sie ruhig hier sitzen und warten wollte? Statt dessen zog er sie zum Aufzug und ging auf ihre Einwände gar nicht ein. Wenige Minuten später saßen Julie und Steven an einem Tisch, der mit Würstchen, Eiern und Kaffee beladen war. Nun verspürte Julie doch Appetit.
Sie frühstückten schweigend. Dann bestellte Steven frischen Kaffee, lehnte sich lächelnd zurück und blickte Julie mit leisem Spott an. „Also, du hattest doch absolut keinen Hunger.“ Julie zog die Nase kraus. „Nun reicht’s aber, Mr. Besserwisser.“ Steven lachte. „Erzähl, was hast du gestern abend gegessen?“ „Rinderbraten mit Gemüse und…“ „Lügnerin!“ unterbrach er sie mit milder Stimme. „Also gut“, gab sie reumütig zu, „ich habe gestern abend ganz vergessen, etwas zu essen. Aber schließlich geht dich das gar nichts an.“ Er sah sie an. „Nicht? Wen ginge das mehr an als deinen Ehemann?“ Julie schüttelte den Kopf. „Ehemann nur auf dem Papier. Außerdem räumt dir das kein Recht ein, dich in meine Lebensweise einzumischen.“ Da erschien die Kellnerin mit dem Kaffee, und Steven dankte ihr mit einem charmanten Lächeln. Julie war es gar nicht recht, daß die hübsche junge Kellnerin strahlend zurücklächelte und sich an ihrem Tisch zu schaffen machte. Als sie endlich gegangen war, richtete Steven seine Aufmerksamkeit wieder auf Julie. „Wenn ich mich nicht um dich kümmern soll, bist du vermutlich auch nicht daran interessiert, was ich für deinen Aufenthalt in Houston arrangiert habe.“ „Was hast du arrangiert? Du machst mich ziemlich neugierig.“ Steven verrührte eifrig den Zucker in seiner Tasse. „Du hast doch befunden, daß ich kein Recht hätte…“ „Was du arrangiert hast, will ich wissen!“ Steven blickte lachend auf. „Du bist besonders süß, wenn du ärgerlich wirst. Wußtest du das eigentlich?“ Julie hob die Augen flehend zur Decke und fragte zum drittenmal: „Was hast du arrangiert?“ „Ich habe eine Wohnung für dich gemietet“, antwortete Steven. „Ich dachte mir, daß du da sehr viel besser und gemütlicher als im Hotel untergebracht bist. Ich habe gestern dort schon übernachtet.“ „Du hast eine Wohnung für mich gefunden?“ Julies Augen leuchteten auf. „Das finde ich herrlich. Aber wenn du schon gestern abend in Houston warst, warum hast du mir nicht Bescheid gesagt?“ „Ich bin erst sehr spät gekommen.“ „Mit dem Auto?“ Steven nickte. „Ich lasse dir meinen Wagen da, wenn ich wieder nach Baton Rouge zurück muß. Ich kann dort immer Dads Auto nehmen. Die Wohnung hat mir ein Geschäftsfreund sozusagen untervermietet, der ein paar Monate in Südamerika verbringt. Aber ich wollte dir erst davon erzählen, wenn alles fest abgemacht war. Außerdem mußten noch das Telefon und der elektrische Zähler wieder angeschlossen werden. Ich denke, daß sie dir gefallen wird“, fügte er hinzu. „Sie liegt näher am Krankenhaus als das Hotel, und Läden zum Einkaufen sind auch in der Nähe.“ „Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll“, erwiderte Julie gerührt. „Ich bin dir wirklich dankbar. Das ist natürlich viel schöner, als die ganzen Wochen im Hotel sitzen zu müssen.“ „Genau das, habe ich mir gedacht“, sagte Steven. „Wie schön, daß du dich so freust. Heute nachmittag machen wir einen Großeinkauf im Lebensmittelladen und legen einen Vorrat für dich an.“ „Fährst du heute abend wieder zurück?“ fragte Julie vorsichtig. „Ich weiß noch nicht, wann ich wieder weg muß. Wir wollen erst einmal abwarten, wie es mit Ruth weitergeht, bevor ich eine Entscheidung treffe.“ Er warf einen Blick auf ihre Kaffeetasse. „Fertig? Dann schlage ich vor, daß wir
wieder hinauffahren.“ Die Zeit im Wartezimmer zog sich endlos in die Länge. Die Zeiger der großen Uhr schlichen voran, und Julie wurde mit jeder Minute zappeliger. Die Angst lag ihr wie ein Stein im Magen, nur Stevens beruhigende Anwesenheit gab ihr Halt. Er erzählte ihr dies und das und entlockte ihr manchmal sogar eine Antwort. Aber später hätte sie nicht mit Bestimmtheit sagen können, worüber sie eigentlich gesprochen hatten. Gegen Mittag tauchte einer der Ärzte im Wartezimmer auf. Als Julie ihn sah, wich alle Farbe aus ihrem Gesicht. Unbewußt griff sie haltsuchend nach Stevens Hand. „Mrs. Wilder liegt jetzt auf der Intensivstation“, berichtete der Arzt. Er sah müde aus. „Sie braucht im Moment die besondere Pflege und Aufmerksamkeit dieser Station. Aber allein die Tatsache, daß sie die Operation überstanden hat, spricht für eine gute Konstitution und gesunden Lebenswillen. Wir dürfen also Hoffnung haben, daß sie sich ganz erholen wird.“ Nun lächelte er Julie zu. „Warum gehen Sie nicht für ein paar Stunden an die frische Luft und kommen heute abend wieder? Dann dürfte die Patientin aufgewacht sein und Sie ein paar Minuten lang sehen können.“ Es blieb Steven überlassen, dem Arzt zu danken, denn Julie brachte kein Wort hervor. Sie wußte nicht, daß ihr die Tränen über die Wangen liefen, bis Steven ein Taschentuch nahm und sie sanft abwischte. Dann schloß er sie einfach in seine Arme und hielt sie an sich gedrückt. Julie ließ alles widerspruchslos geschehen: Hier gehörte sie hin, in diese kräftigen, warmen Arme, das Gesicht an Stevens muskulöse, schützende, breite Brust gelehnt. Sie hätte auch gar nicht protestieren können. Die durchlittene Angst um ihre Mutter hatte sie ausgehöhlt und geschwächt. Sie brauchte im Moment nichts dringender als das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, und beides fand sie bei Steven. Als Julie sich endlich wieder aufrichtete, blickte sie in dunkelbraune, weiche Augen. „Besser?“ wollte Steven wissen. Als sie nickte, fuhr er fort. „Gut, dann wollen wir gehen. Heute abend sind wir wieder da.“ „Ich möchte lieber bleiben, für den Fall, daß…“ Aber Steven schüttelte energisch den Kopf. „Du kommst jetzt mit. Du kannst deiner Mutter nicht helfen, indem du hierbleibst. Außerdem hat der Arzt es so angeordnet.“ Er beugte sich nieder und nahm ihre Handtasche auf. „Zuerst aber“, sagte er mit einem winzigen Lächeln, „solltest du ein gewisses Örtchen aufsuchen, um die Spuren deines Tränenstroms zu beseitigen.“ Steven und Julie fuhren zuerst zum Supermarkt, wo sie Lebensmittel für mehrere Tage einkauften. Dann zeigte er ihr die Wohnung. Sie war mittelgroß, hatte zwei Schlafzimmer, ein großes, helles Wohnzimmer und eine praktisch eingerichtete kleine Küche. Sie wirkte sehr gemütlich. „Glaubst du, daß du dich hier ein paar Wochen wohl fühlst?“ fragte Steven, während Julie sich in dem gelb und weiß eingerichteten Wohnzimmer umblickte. Sie nickte strahlend. „Aber bestimmt. Vielen Dank, Steven.“ Er setzte sich in einen bequemen Sessel neben dem Telefontisch. Während er den Hörer abnahm, sagte er über die Schulter: „Während du die Lebensmittel auspackst, teile ich Dad und Bobby mit, daß die Operation gut verlaufen ist. Danach fahren wir ins Hotel und holen deine Sachen.“ „Gut.“ Julie ging in die Küche und verstaute die eingekauften Sachen in den Wandschränken und im Kühlschrank. Sie war froh, daß sie nicht mit ihrem Großvater sprechen mußte.
Als Steven wenige Minuten später in die Küche kam, war sie fast fertig. „Ich soll dir von Dad ausrichten, daß Bobby sich prima eingewöhnt. Einen knappen halben Kilometer von Magnolia Way entfernt wohnt ein Junge seines Alters, mit dem er sich schon angefreundet hat.“ „Das ist eine gute Nachricht“, meinte Julie. Wie schön, wenn Bobby in der Nähe einen Freund hätte. „Ich soll dir weiter ausrichten, daß Dad glücklich ist, wie gut deine Mutter alles überstanden hat, und daß er für ihre baldige Genesung betet.“ Julie drehte Steven den Rücken zu und sagte verächtlich: „Ich bezweifle, daß ihm Mutters Gesundheit so am Herzen liegt.“ Ohne ein warnendes Wort riß Steven sie herum. Er hatte sie hart am Arm gepackt, seine Kinnmuskeln spannten sich. „Du bist doch die Undankbarkeit in Person! Wie kannst du es wagen, so etwas zu behaupten?“ Jetzt wurde auch Julie zornig. Ihr Mund zuckte heftig. „Ich gebe ja zu, daß er viel für Mom, für uns alle getan hat, in finanzieller Hinsicht. Aber was heißt das schon? Er kann es sich ja leisten. Das bedeutet aber noch lange nicht, daß er sich geändert hat und daß ihm wirklich an Mutters Wohlbefinden liegt. Sie war ihm vor zweiundzwanzig Jahren mehr als gleichgültig, und so ist es geblieben. Es hat doch keinen Zweck, so zu tun, als sei nun alles in Ordnung.“ „Du kannst wohl niemals die Vergangenheit vergessen!“ stieß Steven hervor. „Warum sollte ich?“ Julie versuchte mit aller Macht, sich aus seinem harten Griff zu befreien. Schmerzhaft hatten sich seine Finger in ihren Oberarm gekrallt. Da ließ er sie plötzlich los, Julie stolperte und wäre um ein Haar gegen den Herd gefallen. Als sie wieder auf festen Füßen stand, musterte Steven sie mit unverhohlener Mißachtung. Aufrecht stand er vor ihr. „Ja, warum solltest du eigentlich?“ erwiderte er. „Seit einundzwanzig Jahren sehnt sich Dad danach, sein einziges Enkelkind kennenzulernen. Seit zweiundzwanzig Jahren leidet er unter dem, was er seinem Sohn und seiner Schwiegertochter angetan hat. Niemand kann ihn mehr strafen, als er sich selbst gestraft hat, aber du willst das dennoch versuchen. Wenn du mich fragst, so hat Dad den schlimmsten Teil bei dieser Sache abbekommen, nicht du oder deine Mutter. Gut, er hat uns zu einer Heirat gezwungen, die wir beide nicht wollten, aber in drei Jahren ist ein Ende dieses unmöglichen Zustandes abzusehen. Und du willst ihn zu einer nie endenden Hölle verdammen. Weißt du was? Du bist ganz anders als deine Mutter oder dein kleiner Bruder.“ „Das ist doch nicht zu glauben!“ rief Julie wütend. „Du weißt genau, daß Mutter all die Jahre genauso gedacht hat wie ich. Und sie würde noch immer so denken, wenn sie nicht krank geworden wäre und Angst haben müßte, Bobby und mich zurückzulassen. Ohne diese Herzkrankheit würde sie bis heute nichts von Andrew Barclay wissen wollen!“ „Da denkst du grundfalsch“, erwiderte er kalt. „Ruth ist viel weicher und sensibler als du. Vielleicht überrascht es dich zu erfahren, daß sie in den ganzen Jahren Fotos von dir an Dad geschickt und von deiner Entwicklung berichtet hat, obwohl sie ihn nicht sehen wollte.“ Julie starrte Steven an. „Das glaube ich nicht, das hat Mom niemals getan!“ „Nein? Als du zehn Jahre alt warst, hast du dir den Arm gebrochen, weil du vom Baum gefallen bist. Mit fünfzehn hast du einen Preis für den besten Aufsatz gewonnen, und bis zu deinem elften Lebensjahr etwa klaffte eine große Lücke zwischen deinen beiden Vorderzähnen.“ Julie atmete tief ein. Offensichtlich wußte Steven, wovon er sprach. Ihre Mutter konnte unmöglich in den geschäftigen zwei Wochen alle Einzelheiten über ihre Kindheit erzählt haben. Tatsächlich hatte ihre Mutter die ganzen Jahre über die
Verbindung zu Andrew Barclay aufrechterhalten und sogar alle Einzelheiten über die Kinder berichtet. Als Steven ihre Verwirrung sah, wurde er nicht nachgiebiger. „Du kannst dir wohl kaum vorstellen, daß Ruth Mitleid verspürt hat? Du bist eben genauso wie dein Großvater, hart und dickköpfig und außerstande, auch nur ein Quentchen deiner Vorurteile aufzugeben.“ „Ich bin nicht wie er!“ rief Julie wütend. Sie wollte um nichts in der Welt mit ihrem Großvater verglichen werden. „Das nicht!“ Sie hob den Arm, aber bevor ihre Hand ihr Ziel erreichen konnte, war ihr Handgelenk wie von einem Schraubstock umklammert. Steven brachte sein Gesicht nahe, sehr nah an ihres. Seine Lippen waren blaß vor Zorn. „Ich kann dir nichts versprechen“, sagte er gefährlich ruhig, „wenn du mich schlägst, wird es dir leid tun.“ Julie trat einen Schritt zurück. Der flammende Zorn in seinen Augen ließ sie augenblicklich zu sich kommen. Steven würde wahrmachen, was er sagte. Vor ihr stand nicht mehr jener feinfühlige, verständnisvolle Freund, der den Morgen an ihrer Seite im Krankenhaus verbracht hatte. Das war ein eiskalter, gefährlicher Fremder, den sie im Moment noch mehr haßte als ihren Großvater. Eine lange Minute sahen sie sich in die Augen, zwischen ihnen knisterte es. Dann durchbrach Steven den Bann, indem er sich eine Zigarette anzündete. „Wenn du soweit bist“, sagte er ruhig, „fahren wir ins Hotel und holen deine Sachen.“ Julie riß sich zusammen. Egal, wie sehr sie diesen Mann auch verabscheute, bis auf weiteres mußte sie mit ihm auskommen. Da war es vernünftiger, wenn sie Gleichmut bewahrte und sich nicht zu solchen Ausbrüchen hinreißen ließ. Sie nickte steif. „Ich bin fertig.“ Nachdem Steven die Hotelrechnung beglichen und Julies Gepäck im Kofferraum des Autos verstaut hatte, suchten sie ein Restaurant. Gegen sechs Uhr waren sie wieder im Krankenhaus. Als sie an Ruths Bett traten, war Julie sehr bestürzt. Ihre Mutter war an die verschiedensten Apparaturen angeschlossen, und das Gesicht war weißer als das Laken. Sie war zu schwach, um zu sprechen, aber als sie Julie erkannt hatte, leuchtete ein winziges Lächeln in ihren Augen auf. „Der Arzt hat gesagt, daß du wieder ganz auf die Beine kommst“, meinte Julie ermutigend und ergriff sanft die Hand ihrer Mutter. Dann zwang sie sich zu einem Lächeln. „Sieh mal, wer mitgekommen ist.“ Steven stellte sich dicht neben Julie und legte zu ihrer Überraschung einen Arm um ihre Schulter. Julie machte sich ganz steif, aber Stevens warnender Druck hieß sie schweigen. „Ich habe heute nachmittag mit Dad telefoniert und ihm von der gelungenen Operation berichtet. Er läßt dir ausrichten, daß er dir zu Weihnachten einen Nerzmantel schenken möchte, wenn du versprichst, so schnell wie möglich gesund zu werden.“ Dieses Versprechen erschien Julie im Moment so unangemessen, fast albern und frivol, daß sie glaubte, es würde ihre Mutter gar nicht berühren. Statt dessen erschien ein kleines Lächeln auf Ruths Lippen. „Und Bobby schickt tausend Grüße. Dad meint, Mrs. Landry habe ihn schon derart verwöhnt, daß du besser schnell nach Hause kommst, bevor er ein hoffnungsloser Fall geworden ist.“ Er beugte sich nieder, um Ruths bleiche Wange zu küssen. „Und ich kümmere mich hier um Julie. Deine einzige Sorge ist also, so schnell wie möglich wieder zu Kräften zu kommen.“ Dann sagte er zu Julie: „Ich warte draußen auf dich.“ Julie blieb, bis die Schwester sie aus dem Zimmer komplimentierte, und auch dann ging sie nur mit Widerstreben. Wie Steven küßte sie ihre Mutter zart auf die
Wange. „Ich komme gleich morgen wieder zu dir.“ Damit ging sie. Vor dem Krankenhaus schlug Steven vor, ob sie nicht in ein Kino gehen wollten. Seine Stimme klang ganz freundlich und erinnerte in nichts mehr an ihre Auseinandersetzung. Julie nickte, sie fühlte sich erleichtert und gelöst wie seit Wochen nicht mehr. Das Schlimmste war überstanden, auch wenn ihre Mutter noch nicht ganz über den Berg war. Steven plädierte für ein Lustspiel mit gänzlich unwahrscheinlicher, dummer Handlung. Aber er hatte besser als Julie selbst gespürt, was sie heute abend brauchte. Er kaufte eine große Tüte voll Popcorn und zwei Büchsen CocaCola, und sie kicherten und lachten den ganzen Film hindurch wie zwei Teenager. Julie vergaß alle Probleme. Und als Steven später ihre Hand fest in seine nahm, fand sie das angenehm und richtig. Ein warmes Gefühl durchströmte sie dabei, das sie nicht zerstören wollte, indem sie nach den Gründen fragte. Als sie durch die laue Nacht zur Wohnung fuhren, war Julie ganz entspannt. Sie wechselten kein Wort, und Julie hatte auch nicht das Bedürfnis danach. Ein wohltuendes Schweigen lag zwischen ihnen, das ihr Herz ruhig und zufrieden schlagen ließ. Vergessen war die häßliche Szene von heute nachmittag. Steven war gekommen, um ihr über den Tag zu helfen. Sie hatte seinen Beistand bitter nötig gehabt und würde ihm immer dafür dankbar sein, und das war schon genug. Als er ihre Koffer im Wohnzimmer abstellte, bat Julie: „Trage sie doch bitte in eines der Schlafzimmer. Möchtest du noch Kaffee?“ Steven nickte. „Das täte gut. Während du ihn durch die Maschine laufen läßt, rufe ich im Krankenhaus an und frage, wie es deiner Mutter geht.“ Julie ertappte sich dabei, wie sie in der Küche leise vor sich hinsummte, während sie das Kaffeepulver in die Filtertüte tat und Tassen und Löffel zurechtstellte. Sie war froh, daß Steven noch ein bißchen blieb. Sie war zwar müde und am Ende ihrer Kraft, wollte aber nicht allein sein. Solange Steven bei ihr war, schien ihr jedes Problem nur halb so groß, denn geteilte Last war schließlich nur halbe Last. Steven kam in die Küche und lehnte sich gegen den Tisch. Er hatte das Jackett ausgezogen, seine braungebrannten Arme schienen unter dem kurzärmeligen, hellblauen Hemd noch dunkler als sonst. „Die Schwester sagt, daß Ruth gut schläft und keinerlei Komplikationen aufgetreten sind.“ „Gott sei Dank.“ Julies Gesicht leuchtete auf. Steven nickte und setzte sich, während Julie den Kaffee einschenkte. Er gähnte herzhaft und streckte die Arme über den Kopf. „Wie gut, daß Kaffee mich nicht vom Schlafen abhält. Ich bin ehrlich geschafft. Und du?“ Julie setzte sich ihm gegenüber. „Mir macht Kaffee auch nichts aus“, meinte sie gähnend. Dann fing sie an zu lachen. „Du bist schuld. Gähnen steckt an.“ Steven lächelte zurück. „Ich glaube, je eher wir in die Federn kriechen, desto besser. Wir beide haben in der letzten Nacht nicht viel geschlafen, ich wegen der Fahrerei, und du mußtest ja schon vor Tau und Tag im Krankenhaus sein.“ Julie rieb sich den steifgewordenen Hals. „Du hast recht. Wohnst du hier in der Nähe?“ Steven sah erstaunt auf. „In der Nähe? Warum das? Ich bleibe natürlich hier.“ „Hier? Bei mir?“ Julie schüttelte energisch den Kopf. „Du machst wohl Witze! Natürlich bleibst du nicht hier.“ Aber Steven lachte nur. „Ich höre wohl nicht recht. Hast du vielleicht schon vergessen, daß wir verheiratet sind?“ Das hatte sie tatsächlich. Es war ihr nicht möglich, diesen Mann, den sie kaum kannte, als ihren Ehemann anzusehen, aber das wollte sie jetzt nicht zugeben. „Das tut doch nichts zur Sache“, meinte sie entschlossen. „Das ist keine echte
Ehe, und du wirst weder heute noch an einem anderen Abend hier übernachten.“ „Ich werde jetzt bestimmt nicht wegen eines blöden Hotelzimmers durch die Gegend laufen, Julie, zumal hier mehr als genug Platz für uns beide ist.“ Seine Blicke wanderten langsam von ihrem Gesicht bis zum Busen. Ein maliziöses kleines Lächeln trat auf seine Lippen. „Du brauchst dir auch keine Sorgen zu machen“, fügte er spöttisch hinzu. „Bei mir bist du ganz sicher, auch wenn wir verheiratet sind. Zwar ist dein Äußeres ziemlich ansprechend, vielleicht sogar sexy auf eine jungmädchenhafte Art. Aber“, und nun kehrte sein Blick wieder zu ihrem Gesicht zurück, „du bist nicht mein Typ, dazu bist du viel zu abweisend und hart. Ich mag die Frauen weich, warm und anschmiegsam, lauter Eigenschaften, die du, meine gute Ehefrau, nicht aufzuweisen hast.“
4. KAPITEL „Würdest du dich vielleicht ein bißchen beeilen?“ Stevens Faust donnerte gegen die Badezimmertür. „Ich würde mich gern vor dem nächsten Sommer rasieren und mir die Zähne putzen.“ „Wie reizend!“ Julie hielt einen Moment lang mit dem Abtrocknen inne und streckte der Tür die Zunge heraus. „Geh weg von der Tür“, rief sie. „Ich komme hinaus, wenn ich fertig bin, und keine Sekunde eher!“ Da keine Antwort von der anderen Seite kam, nahm Julie an, daß Steven gegangen war. Ein verärgertes Lächeln lag auf ihren Lippen, während sie in ein winziges Höschen schlüpfte. Wie gut, daß die Tür einen Riegel hatte. Es hätte Steven ähnlich gesehen, einfach hereinzuplatzen. Er war es offensichtlich gewohnt, seinen Kopf durchzusetzen. Wie beispielsweise mit seinem Aufenthalt in Houston, überlegte Julie, während sie den Büstenhalter zuhakte. Er hatte kategorisch erklärt, daß er bleiben würde, in ihrer Wohnung. Und genau das hatte er getan, nichts hatte ihn davon abhalten können. Das war vor einer Woche gewesen, als er sie so schrecklich beleidigt hatte. Seine Worte klangen noch in ihren Ohren. Julie drehte sich zum Spiegel, um die Haare zu bürsten. Sie fragte sich, wie eine Frau wohl aussehen mußte. um den hohen Ansprüchen eines Steven Richard zu genügen. Was hatte er noch gesagt? Weich, warm und anschmiegsam? Voller Hohn lächelte sie ihrem Spiegelbild zu. Wenn er diese Eigenschaften wünschte, würde sie alles tun, um niemals so zu erscheinen. Kritisch musterte sie ihr Gesicht. Soweit sie sehen konnte, sah es mit dem glatten, goldbraunen Teint weich genug aus. Ihre Lippen waren voll und rund, vor allem die Unterlippe. Meine Figur ist in Ordnung, fand sie, während sie sich vor dem Spiegel drehte. Die Brüste waren voll und gut entwickelt, die Taille beneidenswert schlank, die Hüften waren verführerisch gerundet. Darunter die wohlgeformten, schlanken Beine mit schmalen Fesseln. Sie verstand nicht, wieso ein Mann sie nicht weich und anschmiegsam fand. Tatsache aber war, daß Steven nicht zu diesen Männern gehörte. Seufzend begann Julie, ihr Haar zu bürsten. Steven hatte natürlich auf ihren Charakter und nicht auf den Körper angespielt, das wußte sie. Er hatte es deutlich ausgesprochen. Aber war sie wirklich hart und abweisend? Wenn sie ehrlich war, neigte sie vielleicht ein klein wenig in diese Richtung, sobald es um ihren Großvater ging. Schon der Gedanke an ihn ließ ihre negativen Eigenschaften zum Vorschein kommen. Aber sie hatte auch noch nie eine so tief verwurzelte Abneigung gegen jemanden verspürt. Jeder einsichtige Mensch muß meine Haltung Andrew Barclay gegenüber verstehen, sagte sich Julie tröstend. Steven war uneinsichtig, nicht sie. Schließlich nahm er es bei aller Liebe seinem Stiefvater doch auch übel, daß er sie zu dieser Heirat gezwungen hatte. Warum sah er nicht ein, daß sie gleich zwei Gründe hatte, diesen Menschen abzulehnen? Und was in aller Welt sollten Gefühle, die sie für ihren Großvater hegte, mit ihrem SexAppeal als Frau zu tun haben? Diese Verbindung war doch absurd, wenn man logisch dachte. Julie warf die Bürste unsanft auf die Konsole und schlüpfte in einen leichten Morgenrock aus Batist, knotete den Gürtel sorgfältig um die Taille, drückte die Klinke herunter und zog die Tür auf. Steven stand vor ihr auf dem Flur mit bloßem Oberkörper, die Arme über der Brust verschränkt. Er sah genauso unbeweglich wie ein Berg aus. „Das wurde aber Zeit“, knurrte er. „Was haben Frauen bloß den ganzen Tag im Badezimmer zu suchen?“
Julie zuckte achtlos mit den Schultern. „Nun übertreib mal nicht. Ich habe nicht lange gebraucht, du weißt das ganz genau. Wie wäre es, wenn du mich durchlassen würdest, damit ich mich anziehen kann? Und beeil dich bitte im Bad. Ich hatte noch keine Zeit für mein Makeup, weil du immerfort und unüberhörbar gegen die Tür gehämmert hast.“ Aber anstatt einen Schritt zur Seite zu gehen stemmte Steven die Hände rechts und links gegen die Türpfosten. Nun hatte er Julie erst recht den Weg abgeschnitten und dabei noch sein Gesicht ganz nahe an ihres gebracht, indem er den Oberkörper vorlehnte. „Weißt du was?“, erwiderte er mit einem unangenehmen Lächeln, „zum erstenmal fühle ich mich richtig verheiratet. Um solche blöden Kleinigkeiten, wer wann das Bad benutzen darf, streiten sich Eheleute. Stimmt doch?“ Plötzlich fiel Julie auf, wie notdürftig sie unter dem durchsichtigen Morgenrock bekleidet war, und daß Steven noch weniger anhatte. Wie von einem Magneten wurden ihre Blicke von seiner dunkel behaarten Brust angezogen. Außerdem stand er so nah vor ihr, daß sie seine Körperwärme spürte. „Das – das weiß ich gar nicht“, erwiderte sie, ihr Atem ging unregelmäßig. „Und möchtest du gern der Sache mit dem Verheiratetsein auf den Grund gehen?“ fragte er leise. „Ich meine, auf einem anderen Weg als durch Streit?“ Julie hob die Augenlider und entdeckte, daß Stevens unrasiertes Gesicht nur den Bruchteil eines Zentimeters von ihrem entfernt war. Seine Augen blitzten auf, während er sie intensiv musterte und seine Blicke nachdenklich auf ihren vollen Lippen verharrten. Langsam breitete sich eine wohlige Wärme in Julies Körper aus, die sie ganz schwach machte. Ihr Herz begann heftig zu schlagen. Wenn er sich nur noch ein kleines bißchen zu ihr neigte, würden sich unweigerlich ihre Lippen berühren. „Nein“, keuchte sie heiser. Sie senkte blitzschnell den Kopf und schlüpfte unter seinem Arm hindurch. „Zieh dir ein paar Sachen über, Kind!“ rief Steven ihr nach. „Und wenn du nicht noch einmal in eine solche Situation geraten willst, mit der du nicht fertig wirst, sei in meiner Gegenwart lieber anständig angezogen.“ In ihrem Schlafzimmer schossen Julie vor Ärger und Enttäuschung die Tränen in die Augen. Sie hatte sich wirklich wie ein ängstliches Kind angestellt, anstatt wie eine reife Frau zu reagieren. Und sie haßte Steven, weil er sie in diese Lage gebracht hatte. Was hätte sie aber tun sollen? Sich an seine Brust werfen? Nein, niemals! Steven hatte ihr schon vor einer Woche mitgeteilt, wie er über sie dachte. Und wenn er heute morgen zur Abwechslung sein Spielchen mit ihr treiben wollte, hieß das doch nicht, daß er seine Ansicht über sie geändert hatte. Als Julie und Steven am späten Vormittag ins Krankenhaus kamen, wartete eine Überraschung auf sie. Ruth lag nicht mehr auf der Intensivstation, sondern hatte ein Einzelzimmer bezogen. „Mom!“ rief Julie überglücklich. Ihre Mutter saß im Bett gegen einen Kissenberg gelehnt. Sie trug ihr eigenes himmelblaues Nachthemd, das Haar war frisch gewaschen und hübsch frisiert, und sie lächelte strahlend. „Mom, hast du das gestern schon gewußt?“ Ruth nickte, ihre Augen funkelten vor Freude. „Ich wußte, daß ich vielleicht heute auf dieses Zimmer käme, aber ich wollte es nicht sagen, bevor es nicht ganz sicher war. Jetzt zähle ich wirklich wieder zu den Lebenden“, fügte sie hinzu. „Bisher kam ich mir wie eine Maschine vor, die ständig beobachtet und gewartet werden muß, damit sie funktioniert.“ Steven lachte Ruth an. „Du siehst großartig aus, Ruth. Selbst deine Wangen
haben Farbe bekommen.“ „Lauter Rouge“, antwortete Ruth schelmisch. „Die Schwester hat mir dabei geholfen, denn heute ist ein Feiertag.“ „Es sieht so aus, als helfe dir außer uns noch jemand feiern.“ Julie trat zur Fensterbank, auf der zwei riesengroße Blumensträuße standen, einer aus dunkelroten Rosen und einer aus zauberhaften Maßliebchen in einem Korb. Auf der Intensivstation war kein Platz für Blumen gewesen. Julie betrachtete neugierig die schönen Sträuße. „Richtig“, entgegnete Ruth. „Die Blumen sind vor wenigen Minuten gebracht worden. Ein Strauß ist von Andrew, der andere von Bobby.“ „Und wie konnten sie wissen, daß du ein Fest feierst, während wir im dunkeln tappen?“ fragte Steven mit gespieltem Vorwurf. Ruth lachte auf. „Andrew hat gestern abend auf der Intensivstation angerufen, und ich habe Oberschwester Maggie gebeten, ihm die Neuigkeit mitzuteilen. Daraufhin hat er nicht nur telegrafisch diese Blumen geschickt, sondern er hat mich auch vor wenigen Minuten selbst angerufen.“ Ruth wies auf das Telefon auf ihrem Nachttisch. „Aha, hier überschlagen sich die gesellschaftlichen Ereignisse, und wir sind nicht einmal eingeladen“, beklagte sich Steven. „Stimmt“, pflichtete Julie todernst bei. „Weißt du was? Ich glaube, bei uns ist Mutters Familiensinn ins Gegenteil umgeschlagen. Sie hat uns satt.“ „Redet doch keinen Unsinn“, sagte Ruth lachend. „Ihr wißt genau, daß ich die letzten Tage nicht ohne euch überstanden hätte. Ich wollte euch nur überraschen.“ „Das ist dir gelungen, Mom.“ Julie lächelte und küßte ihre Mutter auf die Stirn. Steven verließ die beiden, damit sie ein wenig allein sein konnten. Wie er behauptete, wollte er auf dem Flur eine Zigarette rauchen. Aber Julie wußte, was er eigentlich vorhatte. Er wollte ihnen nicht nur ein paar Minuten unter vier Augen verschaffen, sondern er wollte auch den Arzt sprechen. Julie empfand dies nicht mehr als Einmischung in ihre Belange. Im Gegenteil, sie war dankbar, daß er wortlos so viele Dinge übernahm, die sie hätte regeln müssen. Mochten sie auch oft und heftig aneinandergeraten, so war sie doch nicht blind für seine guten Eigenschaften. Steven besaß ein ausgesprochenes Verantwortungsgefühl gegenüber den Menschen, die ihn brauchten. Er machte keine großen Worte, sondern tat einfach, was nötig war, ohne etwas dafür zu erwarten. Als er nach kurzer Zeit wieder ins Krankenzimmer trat, stand Julie auf. Beide verabschiedeten sich von Ruth mit dem Versprechen, am Abend wiederzukommen. „Und was hat der Doktor gesagt?“ fragte Julie begierig, als sie den Aufzug betraten. „Er ist mehr als zufrieden über Ruths Fortschritte. Natürlich ist er noch so vorsichtig zu sagen, daß ein Rückfall nicht ausgeschlossen ist, aber sie schwebt nicht mehr in Lebensgefahr. Es gehe ihr schon sehr viel besser, als wir hätten annehmen dürfen, so hat er sich ausgedrückt.“ Julies Augen leuchteten auf. „Ich bin ja so glücklich.“ „Julie“, erwiderte Steven fast feierlich. „Da es Ruth jetzt so gut geht, möchte ich für morgen meinen Rückflug buchen.“ Julies Herz setzte einen Schlag aus. Natürlich hatte sie mit Stevens Abreise gerechnet, und dennoch durchflutete sie eine Welle der Enttäuschung. Mit einem Mal fühlte sie sich alleingelassen, und dieses Gefühl gab ihr einen Stich. Aber sie wußte auch, daß Steven sie genau beobachtete. Also schluckte sie den Kloß in
ihrem Hals herunter und setzte ein strahlendes Lächeln auf. Um nichts in der Welt wollte sie ihn merken lassen, wie sehr er ihr fehlen würde. „Aber natürlich“, stimmte sie mit gespielter Leichtigkeit zu. „Niemand kann erwarten, daß du ewig hierbleibst, mich zum Krankenhaus fährst und Ausflüge nach San Jacinto, ins Planetarium oder nach Galveston Beach mit mir unternimmst. Du willst zu deiner Arbeit zurück und…“ Sie zögerte einen Moment, „zu anderen Dingen. Ich verstehe das vollkommen.“ Der Aufzug blieb rumpelnd stehen, die Tür öffnete sich. Sie waren im Erdgeschoß angelangt. Julie trat hastig auf den Flur hinaus. Steven sollte ihr Gesicht nicht sehen. „Julie…“ Steven griff nach ihrem Arm und hielt sie zurück. Sanft drehte er sie zu sich um und blickte sie zärtlich an. „Ich fahre nicht nach Hause, weil ich dich im Stich lassen will“, sagte er ruhig. „Aber ich muß an meinen Schreibtisch zurück, wo mehr als ein Problem auf mich wartet. Sollten doch noch Komplikationen bei Ruth eintreten, brauchst du mich nur anzurufen. Dann komme ich sofort nach Houston. Hast du mich verstanden?“ Julie nickte. „Aber sicher, das habe ich doch eben schon gesagt. Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen, Steven, ich komme prima zurecht. Es tut mir nur leid, daß du hier so lange angebunden warst.“ Steven packte sie an der Schulter und schüttelte sie sanft. „Ich fahre nicht freiwillig weg“, sagte er nachdrücklich. „Ich habe mich hier auch nicht angebunden gefühlt. Ich bin nach Houston gekommen, weil ich es wirklich wollte. Glaubst du mir, Julie?“ Aber Julie glaubte ihm kein Wort. Steven war nur aus Pflichtbewußtsein so lange geblieben. Jetzt, wo ihre Mutter außer Gefahr war, wünschte er nichts sehnlicher, als zu seinem eigentlichen Leben zurückzukehren. Dennoch nickte sie. Sie wollte diese Unterhaltung beenden. Die vorübergehenden Leute drehten sich schon nach ihnen um. Der Rest des Tages war für Julie verdorben. Die letzten gemeinsamen Stunden verstrichen zu schnell, und der Moment, in dem Steven sie verlassen würde, rückte immer näher. Mit jeder Stunde wurde ihr Herz schwerer. Dabei hatte sie immer gewußt, daß sie allein sein würde, solange Mutter im Krankenhaus lag. Julie war froh, daß der Tag mit Besorgungen angefüllt gewesen war, so hatte sie keine Zeit gehabt, den Kopf hängen zu lassen. Am schwersten war es gewesen, ihre gedrückte Stimmung vor Steven zu verheimlichen, aber sie war finster entschlossen, ihm ihre Gefühle nicht zu zeigen. Julie wählte ein kanariengelbes Kleid, das ihren sonnenbraunen Teint gut zur Geltung brachte und einen goldenen Schimmer in ihr nußbraunes Haar zauberte. Zwei schmale Träger hielten das enganliegende Oberteil, das ihren vollen Busen und die schmalen Hüften betonte. Das wellige Haar bildete einen dunklen Rahmen um ihr zartes Gesicht mit den klaren grauen Augen. Als Makeup wählte sie nur einen Hauch Maskara und korallenfarbenen Lippenstift. Julie wußte, daß sie heute abend hübscher denn je aussah, aber sie konnte sich nicht darüber freuen. Sie hatte sich nur Mühe gegeben, damit Steven sich ihrer nicht zu schämen brauchte, wenn er mit ihr ausging. Er wartete auf sie im Wohnzimmer. Als sie hereinkam, legte er die Zeitung beiseite und stand sofort auf. Anstelle der üblichen saloppen Strickhemden und Jacketts trug er heute abend einen dunklen Anzug, der tadellos über seinen breiten Schultern und den langen schlanken Beinen saß. Er lächelte Julie anerkennend zu, während seine Augen wohlgefällig auf ihrer Erscheinung ruhten. „Sie sind heute abend besonders schön, Mrs. Richard“, sagte er lachend.
Seine Worte gaben ihr einen Stich. Überrascht hielt sie den Atem an. Ein unerklärliches, warmes Gefühl stieg in ihr auf, und ohne bewußte Anstrengung erwiderte sie sein Lächeln. „Vielen Dank, Mr. Richard, auch Sie sehen umwerfend gut aus.“ Steven verbeugte sich spielerisch. „So, nachdem wir alle Komplimente ausgetauscht haben, sollten wir losziehen. Es ist spät, und deine Mutter wartet sicher auf uns. Sehr lange können wir sowieso nicht bleiben, denn unser Tisch ist für acht Uhr reserviert.“ Julie trat einen Schritt zur Tür, blieb aber gleich wieder stehen. „Fast hätte ich die Geschenke für Mom vergessen.“ Sie ging auf ihre Schlafzimmertür zu. „Julie?“ Stevens Tonfall ließ sie augenblicklich stehenbleiben. Sie drehte sich halb zu ihm um. Er stand unmittelbar hinter ihr, in seinen Augen glomm ein seltsames Licht, das so unergründlich war wie eine samtene, dunkle Nacht. „Würdest du mir einen Gefallen tun?“ „Und welchen?“ „Könntest du deine Ringe mitnehmen und nach dem Besuch bei Ruth anstecken?“ Ein winziges Lächeln umspielte seinen Mund. „Heute abend sollen alle wissen, daß du meine Frau bist.“ Julies Herz begann schnell und leicht zu schlagen. Stevens ungewohnter Gesichtsausdruck übte einen seltsamen Zauber auf sie aus. Es schien ihr sinnlos und töricht, aber sie hatte plötzlich den Wunsch, Steven zu gefallen. Er sollte sie weiter bewundernd ansehen. Zum Teufel mit den Konsequenzen! „Danke“, sagte Steven einfach, als sie das Schmuckkästchen geholt hatte. Seine Stimme vibrierte und jagte Julie einen Schauer über den Rücken. Der Abend war so schön, als sei er eigens für Steven und Julie gemacht. Die warme Luft hüllte sie wie in Seide ein, das Essen war köstlich, der Wein würzig. Aber ohne Steven hätte das alles keine Bedeutung gehabt, fand Julie. Während des Essens erzählte er von seiner Kindheit und fragte sie nach ihren Jugendjahren. So erhielt Julie einen Einblick in die Umstände, die ihn zu dem gemacht hatten, was er heute war. Julie wünschte sich, sie hätte ihn schon früher gekannt. Dabei zählte nun nur das Hier und Jetzt, denn Steven sah sie so an wie ein Mann, wenn er eine Frau bewundert und begehrt. Nach dem Essen gingen sie tanzen, und jetzt fühlte sich Julie der Wirklichkeit ganz entrückt. Sie lag in Stevens Armen und vergaß alles um sich herum. Es tat gut, sein Gesicht an ihren Haaren zu spüren, während ihre Körper in vollkommenem Gleichklang zu der sanften, sinnlichen Musik dahinglitten. Kurz vor Mitternacht kamen sie nach Hause. Julie hatte das Gefühl, als schwebe sie. Für sie zählten nur noch diese Wohnung, diese Nacht und dieser Mann. Als Steven sie in die Arme nahm, war sie weder überrascht, noch wehrte sie sich dagegen. Den ganzen Abend hatte sie tief in ihrem Innern die Gewißheit gehabt, daß dieser Moment kommen mußte. Und ohne Zögern oder Nachdenken gab sie sich ihm hin. Steven blickte sie voller Zärtlichkeit und Leidenschaft an. Langsam senkte er den Kopf, sein Mund suchte den ihren. Julies weiche Lippen bebten, dann gab sie seinem Drängen nach und gab sich ganz der Süße seines fordernden Kusses hin. Sie drohte in einer Flut von Gefühlen zu versinken. Stevens Küsse brannten wie Feuer auf ihrer empfindsamen Haut, auf ihren Augen, den Wangen, ihrem Ohr, dann wieder auf ihrem Mund, dem Hals, bis hinunter zum Ansatz ihres Busens. Sie zitterte, das Blut jagte durch ihre Adern, und sie fühlte sich so verwundbar wie noch nie. Nun schlang sie ihre Arme um seinen Hals, ihre Finger spielten in
seinem dichten Haar, und sanft zog sie seinen Kopf zu sich herunter. Steven schob einen der schmalen Träger von ihrer Schulter. Seine lange schmale Hand glitt unter den Stoff und suchte und fand ihre Brüste. Die andere Hand hatte er auf ihre Hüfte gelegt und zog sie eng an sich. Sein kräftiger, harter Körper lag warm an ihrem. „Ich begehre dich mit jeder Faser meines Körpers“, flüsterte Steven heiser, als er schließlich den Kopf hob. „Ich möchte dich sehen, dich halten, dich besitzen.“ Seine Hände wanderten auf ihren Rücken, fanden richtig den Reißverschluß, und einen Moment später glitt ihr Kleid zu Boden. Nun lag sein Blick auf ihren vollen, hellen Brüsten. „Wie schön du bist, mein Liebling“, sagte er, bevor er sie wieder an sich zog. Julie versuchte ein Lachen, während sie nach Atem rang. „Das ist nicht fair“, erwiderte sie unsicher. Sie trat einen Schritt zurück, öffnete sein Jackett und machte sich an seinem Schlips zu schaffen. Mit zärtlichamüsiertem Blick sah Steven zu, wie sie sein Hemd aufknöpfte und nun seine nackte Brust streichelte. Das Gefühl seiner warmen Haut und der harten, gekräuselten Brusthaare an ihren Handflächen erweckten in Julie eine Sinnlichkeit, die ihr völlig neu war. Impulsiv hauchte sie einen Kuß auf seine Brust. Lachend nahm Steven ihre Hand und führte sie an seine Lippen. „Wir verschwenden hier nur unsere Zeit“, sagte er mit heiserer Stimme. „Ich möchte dich lieben, ganz und richtig – im Bett.“ Eine Sekunde später hatte er sie hochgehoben. Ihre Gesichter waren auf gleicher Höhe, und Julie las in Stevens Augen Begehren und Leidenschaft. „Meinst du etwa, ich könnte nicht mehr laufen?“ neckte Julie ihn, während sie seinen lachenden Mund musterte, der jegliche Härte verloren hatte. Steven schüttelte den Kopf. „Du könntest dich verlaufen“, sagte er zärtlich. „Und ich will dich nicht verlieren, jetzt, wo ich dich endlich gefunden habe.“ „Nein?“ Sie hob fragend die Brauen und zog ein Schmollmündchen, während Steven in gespieltem Zorn die Stirn runzelte. „Du stellst viel zu viele Fragen. Halt lieber den Mund und küß mich.“ Julie gehorchte, aber kaum hatten ihre Lippen seinen Mund berührt, da riß die schrille Telefonklingel sie aus allen Träumen. „Verdammt“, knurrte Steven, „wir gehen einfach nicht ans Telefon.“ „Das dürfen wir nicht“, meinte Julie hilflos, „schließlich könnte es das Krankenhaus sein.“ Steven stieß einen hörbaren Seufzer aus und stellte Julie auf die Füße. Sie vergaß ganz, daß sie halbnackt war. Rasch nahm sie den Hörer ab, weil sie näher am Telefon stand. Die vergangenen Minuten waren wie ausgelöscht, sie war ganz auf eine schlechte Nachricht gefaßt. Wer sollte zu dieser späten Nachtstunde anrufen, wenn nicht ein wichtiger Grund vorlag? „Hallo“, brachte sie heiser und sehr leise hervor. „Hallo?“ Die weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung klang tief und verführerisch. „Dies ist ein Ferngespräch. Ist Steven zu sprechen?“ Julies Blut erstarrte. Da trat Steven zu ihr. Als sie zu ihm aufsah, war alle Leidenschaft aus ihren Augen verschwunden. „Ja“, antwortete sie mit flacher Stimme in den Apparat, „eine Sekunde bitte.“ Steif reichte sie Steven den Hörer. „Deine Freundin“, sagte sie leise. Sie war absolut sicher, daß es niemand anders sein konnte. Während Steven den Hörer ans Ohr legte, bückte sie sich wenige Schritte weiter nach ihrem Kleid, das noch immer zerknüllt am Boden lag. „Julie, warte“, flehte Steven. Aber sie blickte nicht einmal mehr in seine Richtung, sondern stürzte aus dem Wohnzimmer.
In ihrem Schlafzimmer warf sie das schöne Kleid achtlos zu Boden, ging zur Kommode und holte ein Nachthemd heraus. Sie flog am ganzen Leib. Fast hätte sie sich Steven hingegeben! Was war sie doch für ein ausgemachter Dummkopf! Sie hatte ganz vergessen, daß es in seinem Leben bereits eine Frau gab. Sie aber war, ohne auch nur nachzudenken, zu allem bereit gewesen. Und alles nur wegen eines gutgewachsenen männlichen Körpers und eines zärtlichspöttischen Lächelns. Da ging die Tür auf, und Steven kam herein, noch immer mit unbekleidetem Oberkörper. „Julie“, sagte er und trat auf sie zu. Julie wich zurück. Plötzlich wurde ihr klar, daß sich ihr Körper unter dem hauchdünnen Stoff des Nachthemds klar abzeichnete. Sie griff nach ihrem Morgenmantel und preßte ihn als Schutz gegen ihren Oberkörper. „Laß mich allein!“ sagte sie heftig. „Das kann doch nicht dein Ernst sein, Julie.“ Er streckte eine Hand aus und berührte leicht ihre Schulter. Als sie sich ihm augenblicklich entzog, zog er die Brauen zusammen. „Hör mir doch wenigstens zu“, bat er halb verärgert, halb bittend. „Mir tut es ja auch leid, daß der Anruf dazwischengekommen ist, aber das ändert doch nichts zwischen uns.“ „Es ändert alles!“ rief Julie. „Dieser Anruf hat mich wieder zu Verstand gebracht.“ „Du weißt genau, daß du mich begehrt hast“, erwiderte Steven heiser, „und ich dich. Noch vor wenigen Minuten hast du es selbst gewollt, daß wir uns lieben.“ „Erinnere mich nicht daran!“ Sie wandte den Kopf ab und schloß einige Sekunden lang die Augen. Dann zwang sie sich, ihm wieder ins Gesicht zu sehen. „Bitte, verlaß mein Zimmer.“ „Aha“, Stevens Stimme klang jetzt hart. „Ein paar Minuten lang hast du mich doch tatsächlich zum Narren gehalten.“ „Ich weiß nicht, was du meinst.“ „Ein paar Minuten lang hast du dich wie eine normale Frau benommen, du warst weich und warm und anschmiegsam. Aber du hast dich wohl nur verstellt.“ Jetzt klang seine Stimme verletzend. „Du hast mich die ganze Zeit nur an der Nase herumgeführt, du hattest von Anfang an die Absicht, es nicht zum Letzten kommen zu lassen.“ Sein Gesicht war wutverzerrt. „Du hast dich lustig über mich gemacht, junge Dame, aber die Gelegenheit gebe ich dir nicht noch einmal.“ Er schüttelte leicht den Kopf. „Ich hätte mir gleich denken können, daß eine frigide Frau wie du niemals ein normales menschliches Verhalten an den Tag legen kann.“ „Ich bin nicht frigide!“ „Nein?“ Er hob eine Braue, kreuzte die Arme über der Brust und sagte provozierend: „Dann beweise es doch.“ Julie blickte ihn wuterfüllt an. „Ich muß hier überhaupt nichts beweisen“, entgegnete sie hitzig, „vor allem dir nicht! Nur weil ich gezwungen wurde, dich zu heiraten, muß ich wohl nicht deine Lüste befriedigen. Und ich beabsichtige auch nicht…“ Plötzlich sprach sie in die leere Luft hinein. Steven hatte das Zimmer verlassen und die Tür mit lautem Knall hinter sich zugeschlagen. Julie zitterte vor Wut. Sie schob einen Stuhl unter die Türklinke, obwohl sie sich höchst töricht dabei vorkam. Nach dieser Szene würde Steven sicher nicht noch einmal in ihr Zimmer kommen. Dennoch wollte sie kein Risiko eingehen. Dann kroch sie ins Bett. Sie fühlte sich hundeelend. Sie löschte das Licht und rollte sich wie eine Katze unter der Decke zusammen. Frigide hatte Steven sie genannt. Etwas Schlimmeres und Beleidigenderes konnte ein Mann einer Frau nicht an den Kopf werfen. Dabei hatte Steven wider besseres
Wissen gesprochen, denn ihr Körper hatte sie rückhaltlos verraten. Auf jede seiner Berührungen, auf jede Liebkosung hatte sie mit schamloser Hingabe reagiert. Wären sie nicht durch das Telefon gestört worden, hätte sie sich diesem Mann vollen Herzens hingegeben. Dann hatte er ihr ins Gesicht geschleudert, daß sie nur einen Narren aus ihm machen wollte. Das genaue Gegenteil traf zu. Steven war es, der eine andere liebte, nämlich jene Frau, die gerade im richtigen Moment mit ihrem Anruf das Schlimmste verhindert hatte. Mit ihr, Julie, hatte er sich bloß amüsieren wollen, auf ihre Kosten. Er wollte seinen Vorteil daraus ziehen, daß sie verheiratet waren, nur deshalb wollte er ihren Körper besitzen. Sein Herz und seine Liebe gehörten einer anderen. Julie haßte sich, weil sie diese Tatsache vergessen hatte. Denn Steven war ein ausgesprochener Opportunist, dem ihre Gefühle gleichgültig waren. Wenn sie nun mit ihm ins Bett gegangen und Steven in Louisiana zu dieser anderen Frau zurückgekehrt wäre? Julie wußte, daß sie sich von dieser Enttäuschung nie wieder erholt hätte. Denn sie war nicht wie Steven, bei ihr sprachen die Gefühle mit. Ihre Gefühle? Julie schreckte auf. Wie hatte das geschehen können? Noch vor kurzem war sie mit Ronald verlobt gewesen, hatte geglaubt, nur ihn zu lieben. Und nun beschäftigte ein ganz anderer Mann ihre Gedanken und ihre Träume. Es war unmöglich, daß sie diesen Mann liebte. Steven war freundlich zu ihr gewesen, daher hatte sie ihren Widerstand gegen ihn aufgegeben. Ja, sie mußte zugeben, daß er ein Mann war, der sie körperlich anzog. Das war aber auch alles. Es ging um bloße sexuelle Anziehungskraft, nur darum.
5. KAPITEL Als Julie am nächsten Morgen aufwachte, war es bereits halb zehn Uhr. Wie konnte sie nur so lange schlafen! Sie schlüpfte in ihren Morgenrock und in die Hausschuhe und ging auf den Flur hinaus. In der Wohnung war es totenstill. Auf dem Wohnzimmertisch lag ein Zettel von Steven mit seinen kühnen Schriftzügen. Der Inhalt war unmißverständlich. „Habe ein Taxi zum Flughafen genommen.“ Unterschrieben hatte er nur mit den Anfangsbuchstaben seines Namens. Neben dem Zettel lagen seine Wagenschlüssel und die Papiere. Julies Gefühle waren gemischter Natur. Zunächst war sie sehr erleichtert, daß Steven abgereist war. Aber als sich Tag an Tag reihte und aus den Tagen Wochen, schließlich ein ganzer Monat wurde, mußte sie sich eingestehen, daß er ihr fehlte. Mit Ausnahme der täglichen zwei Besuche im Krankenhaus war sie allein und fühlte sich einsam. Es war schwierig, nicht an die schöne Woche mit Steven zu denken. Er hatte sie überredet, etwas Vernünftiges zu essen. Mit ihm war selbst ein simpler Einkauf im Supermarkt ein fröhliches Unternehmen gewesen. Und wenn sie gar einen Tagesausflug wie ganz gewöhnliche Touristen gemacht hatten, war es ein richtiger Festtag gewesen. Julie tat alles, damit ihre Mutter nicht merkte, wie einsam sie sich fühlte. Außerdem war sie verstimmt, weil Steven regelmäßig mit Ruth telefonierte, während sie von ihm kein Sterbenswörtchen hörte. Dabei hätte sie gar nichts zu sagen gewußt, wenn er tatsächlich einmal bei ihr anrufen sollte. Nach dem, was zwischen ihnen vorgefallen war, gab es nichts mehr zu sagen. In jener einen schrecklichen Nacht war alles zwischen ihnen entschieden worden. Andererseits fürchtete Julie mit jedem Tag mehr den Augenblick, wenn sie nach Baton Rouge zurückkehren mußte. Denn dann würde sie Steven wiedersehen. Und wie, um Himmels willen, sollte sie drei lange Jahre unter einem Dach mit ihm durchstehen? Nur zwei Dinge waren tröstlich: Einmal mußte sie nicht die liebende Ehefrau spielen, solange ihre Ehe geheimgehalten wurde, und zum anderen wußte kein Mensch, wie töricht sie sich in jener für sie so erniedrigenden Nacht verhalten hatte. An einem heißen Sommertag Ende Juli wurde Ruth endlich aus dem Krankenhaus entlassen. Sie legte die kurze Strecke nach Baton Rouge mit dem Flugzeug zurück, weil die Ärzte von der anstrengenden Autofahrt abrieten. Also setzte sich Julie allein in Stevens Chrysler und fuhr über die Autobahn nach Osten. Es war nach sieben Uhr abends, als sie schließlich vor Magnolia Way anhielt. Heute sah das Haus ganz anders aus als bei ihrer ersten Ankunft im strömenden Regen. Die Abendsonne wärmte noch immer, nur die tintenblauen Schatten unter den Magnolien und den moosbehangenen Eichen versprachen angenehme Kühle. Das Haus selbst schimmerte einladend im rötlichen Licht unter der goldenen Abendsonne. Julie war müde und rieb sich die steifen Nackenmuskeln, während sie die Eingangsstufen hinaufstieg und klingelte. Einen Augenblick später öffnete Mrs. Landry die Tür. Ihr freundliches Gesicht legte sich in tausend Lachfältchen. „Kommen Sie herein, Cherie. Ihre Mutter hat den Flug gut überstanden. Die neue Schwester hat dafür gesorgt, daß sie sich erst einmal ausruht, aber jetzt sitzt die ganze Familie bei ihr im Zimmer.“ Julie konnte nur hoffen, daß Familie nicht auch Steven bedeutete. Sie war verschwitzt, müde, sah ungepflegt aus und hatte keine Lust, sich seinen kritisch vorwurfsvollen Blicken auszusetzen. Das Zimmer ihrer Mutter war voller Menschen. Bobby saß auf dem Bett, gleich daneben stand eine junge Frau in weißer Tracht, die nur die Pflegerin sein
konnte. Andrew Barclay saß auf einem Stuhl neben dem Bett, während Steven am Fenster stand. Außerdem schwamm das Zimmer in einem Meer von Blumen, in Gladiolen, Rosen, Dotterblumen, Stiefmütterchen und Margeriten, während unter der Decke bunte Luftballons und Papierschlangen hingen. Über Ruths Bett prangte ein großes Schild, offensichtlich ein Machwerk von Bobby, mit den Worten „Willkommen zu Hause, Mom.“ Julie blieb zögernd im Türrahmen stehen und betrachtete die glückliche Familienszene. Ihre Mutter strahlte über das ganze Gesicht, aber Julie beschlich ein Gefühl, als gehöre sie nicht hierher. „Julie, mein Kind, da bist du ja endlich!“ rief Ruth, als sie ihre Tochter an der Tür entdeckte. „Nur herein, wir feiern eine richtige Party“, meinte ihr Großvater mit einladendem Lächeln. „He, Julie“, erklang es fröhlich von Bobby. „Wie findest du mein Schild? Ich habe es ganz allein gemalt.“ Bevor Julie antworten oder einen Schritt in das Zimmer hinein tun konnte, verließ Steven seinen Platz am Fenster und kam schnell auf sie zu. „Auch von mir ein fröhliches Willkommen zu Hause“, sagte er. Dabei blickte er sie warnend an, was nicht recht zu seinem herzlichen Lächeln passen wollte. „Du hast mir gefehlt“, fügte er laut und deutlich hinzu. Dann beugte er sich unversehens zu ihr hinunter und küßte sie auf die Lippen. Julie erstarrte unter diesem Kuß zur Salzsäule. Aber da flüsterte ihr Steven auch schon befehlend ins Ohr: „Jetzt müssen wir uns ineinander verlieben, erinnerst du dich?“ Damit waren Julie die Hände gebunden. Unter den neugierigen Blicken der anderen trat sie an Ruths Bett und zwang sich zu einem Lächeln. Noch nie in ihrem Leben war ihr ein kleines Lächeln so schwergefallen. Julie wachte auf, weil jemand sang, laut sang. Als sie die Augen aufschlug, mußte sie sich erst zurechtfinden. Sie dachte zunächst, sie sei in ihrer Wohnung in Houston, denn es war Steven, der da unter der Dusche sang. Es dauerte ein Weilchen, bis ihr einfiel, daß sie sich in ihrem Zimmer in Magnolia Way befand. Aber warum klang Stevens Stimme so nah? Julie runzelte nachdenklich die Stirn, bis ihr des Rätsels Lösung einfiel. Er befand sich im Badezimmer neben ihrem Schlafzimmer. Sie starrte auf die Tür zum Bad und war zunehmend verärgert und gleichzeitig überrascht. Als man ihr vor Wochen dieses Zimmer zugewiesen hatte, war sie leicht verstimmt gewesen, weil ihre Mutter und Bobby in einem anderen Flügel des Hauses untergebracht waren. Aber sie hatte damals keinen Gedanken daran verschwendet, wo Steven schlief. Jetzt wußte sie es. Sein Zimmer lag auf der anderen Seite des Bades. Das Badezimmer war von beiden Schlafzimmern aus zu erreichen. Das alles konnte nur auf Andrew Barclays Anweisung hin geschehen sein, der sie beide getrennt von den anderen hatte unterbringen wollen. Mit dem Rauschen des Duschwassers verstummte auch der Gesang. Julie blieb still liegen. Am liebsten wäre sie noch einmal eingeschlafen, aber jetzt war sie hellwach. Sie legte einen Arm unter den Kopf und sah sich im Zimmer um. Es war ganz anders als die winzige Stube, die sie zu Hause bewohnt hatte. Es war auch größer als ihr Schlafzimmer in Houston. Dieses Zimmer war sonnig und geräumig und in fröhlichem Weißgelb mit apfelgrünen Vorhängen und einer gleichfarbigen Tagesdecke ausgestattet. Eine bequeme Chaiselongue, ebenfalls in Grün und Weiß, stand neben dem breiten Fenster. Neben der Tür zum Bad befand sich ein großer Kleiderschrank, und auf dem Boden lag ein dicker apfelgrüner Teppich. Das Zimmer ist wunderschön, fand Julie widerstrebend, ein Zimmer, das seinen Bewohner in gute Laune versetzt. Zu dumm, daß sie nicht in
der richtigen Stimmung war, es zu genießen. Nach ein paar Minuten hörte sie, wie die andere Badezimmertür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Steven war also in sein Zimmer gegangen. Julie befürchtete nicht, daß er in das Bad hineinplatzen würde, während sie es benutzte. Aber sie wollte lieber erst hinuntergehen, wenn er schon gefrühstückt hatte. „Feigling“, sagte eine innere Stimme in ihr, und Julie konnte ihr nur Recht geben. Sie wollte keinesfalls eine Wiederholung des Kusses von gestern abend, vor allem aber wollte sie nicht mit Steven allein sein. Nach dem schrecklichen Erlebnis an ihrem letzten gemeinsamen Abend in Houston war es am sichersten, ihn möglichst selten zu sehen. Eine halbe Stunde später ging sie langsam die Treppe hinunter. Sie hatte Jeans mit einem weißen, rot abgesetzten Strickhemd angezogen und die Haare im Nacken zusammengebunden. Das Frühstückszimmer neben der Küche war leer. Auf der Anrichte fand sie in gedeckten Schüsseln warme Speisen, und sie bediente sich mit Rührei, Toast und Kaffee. Julie hatte sich gerade an den Tisch gesetzt, als Mrs. Landry das Frühstückszimmer betrat. „Guten Morgen.“ Sie warf einen Blick auf Julies Teller und nickte zufrieden. „Wie ich sehe, haben Sie alles gefunden, meine Liebe.“ „Ja, vielen Dank“, antwortete Julie. „Haben die anderen schon gefrühstückt?“ „Nur Bobby und Steven. Mr. Barclay ist noch nicht heruntergekommen, und die neue Krankenschwester, Miß Lejeune, hat sich eben ein Tablett in der Küche geholt und Ihrer Mutter das Frühstück hinaufgebracht.“ „Und wo ist Bobby?“ Mrs. Landry lachte. „Er ist draußen bei Amiee und ihren Jungen. Ich soll Ihnen ausrichten, daß Sie nach dem Frühstück zu ihm kommen möchten. Bobby ist um diese Hundebabys so besorgt, als wären es seine eigenen Kinder.“ Auch Julie mußte lachen. „Dann werde ich sie über die Hutschnur loben und besonders süß finden.“ Mrs. Landry ging in die Küche zurück. Wenige Minuten später erschien Andrew Barclay. „Guten Morgen, Julie.“ Er nickte ihr zu und ging zur Anrichte. „Guten Morgen, Sir“, erwiderte Julie kühl. Sie hatte ihr Frühstück beendet und wollte sich eigentlich noch eine Tasse von dem starken Kaffee, wie man ihn in Louisiana trank, einschenken. Aber nachdem ihr Großvater das Zimmer betreten hatte, wollte sie lieber auf den Kaffee verzichten. Sie rückte ihren Stuhl ab und machte Anstalten, aufzustehen. „Bleib hier“, meinte ihr Großvater in einem Ton, der jeden Widerspruch ausschloß. „Ich habe mit dir zu reden.“ Julie unterdrückte einen Seufzer. Es verlangte sie genauso wenig nach der autoritären Gesellschaft ihres Großvaters wie nach Stevens. Aber da sie keine Wahl hatte, blieb sie sitzen und wartete. Andrew Barclay schien es nicht eilig zu haben. Er nahm die silberne Kaffeekanne von der Wärmeplatte und goß sich Kaffee ein. Dann füllte er, ohne zu fragen, auch Julies Tasse nach und bestrich sich eine Scheibe Toast mit Butter und Gelee. Nun erst richtete er seine durchdringenden Augen auf sie und begann: „Ich nehme an, daß du dich in Houston soweit wohl gefühlt hast?“ „Doch, das habe ich.“ Dann fügte sie widerstrebend hinzu: „Vielen Dank für alles, was Sie für uns getan haben.“ Schließlich hatte er bereits sehr viel Geld für sie und ihre Mutter ausgegeben. Der alte Herr zuckte mit den Schultern. „Das war nur recht und billig“, winkte er ab. „Sag mir aber, wie kommst du mit meinem Stiefsohn zurecht?“ Diese Frage ließ Julie bitter auflachen. „So gut wie gar nicht“, erwiderte sie
wahrheitsgemäß. „Hm, dabei hat er dich gestern abend, als du angekommen bist, vor uns allen geküßt. Und du hattest anscheinend keine Einwände.“ „Was sollte ich denn tun? Ihm ins Gesicht schlagen? Wenn Sie die Wahrheit wissen wollen, er tat es nur wegen Mutter. Der Grund für diese rührselige Szene ist, daß sie denken soll, wir verlieben uns allmählich ineinander. So war es doch wohl ausgemacht?“ Andrew Barclay seufzte tief. „Etwas Ähnliches hatte ich mir schon gedacht. Ich habe Steven mitgeteilt, daß eure Eheschließung so bald wie möglich bekanntgemacht werden soll. Ich weiß, daß deine Mutter sehr krank war, während Steven bei dir in Houston war, so daß man es ihr nicht sagen konnte. Aber jetzt, wo ihr beide wieder hier seid und es deiner Mutter besser geht, möchte ich, daß die Angelegenheit vorangetrieben wird.“ „Und warum diese Eile?“ Julie klang alles andere als erfreut. „Ich will die Sache hinter mich bringen“, erklärte Andrew Barclay. „Wie die Dinge stehen, glaubt Clive noch immer, ich sei der Hauptaktionär der Firma. Ich kann ihm also schlecht sagen, daß er mit seinen Vorschlägen und Forderungen zu Steven gehen soll. Je eher eure Heirat bekannt wird, desto besser ist es für uns alle. Ich will endlich klare Verhältnisse. Außerdem widerstrebt es mir, Ruth im Ungewissen zu lassen.“ „Das also soll der Grund sein?“ fragte Julie sarkastisch. „Sie haben sich über Mutter keine Gedanken gemacht, als Sie diese Heirat ausgebrütet haben. Sie hatten auch keine Gewissensbisse, vor vielen Jahren meinen Vater zu hintergehen.“ Der alte Mann schien getroffen zu sein. Plötzlich schämte sich Julie. Zwar konnte sie diesen Mann, der ihr eigen Fleisch und Blut war, nicht lieben, aber das gab ihr noch lange nicht das Recht, ihn vorsätzlich zu verletzen, indem sie ihn immer wieder auf die Vergangenheit hinwies. Damit zeigte sie nur, daß sie auch nicht besser war als er. „Entschuldigung“, sagte sie leise. Sie blickte auf die Hände in ihrem Schoß. „Ich hätte das nicht sagen sollen.“ „Schon gut. Du hast mir nichts gesagt, was ich mir selber nicht schon tausendmal vorgeworfen habe.“ Nach einer Pause fuhr er fort: „Julie, sag mir, findest du Steven nicht liebenswert?“ Überrascht blickte Julie auf. Diese Frage hatte sie nicht erwartet. „Das ist es nicht“, erwiderte sie aufrichtig. „Ich finde ihn schon sympathisch, aber wir kommen eben nicht miteinander aus. Und ich fürchte, so wird es auch bleiben.“ Andrew Barclay schüttelte resigniert den Kopf und legte die Gabel nieder, als habe er den Appetit verloren. „Das habe ich befürchtet“, gab er leise zu. „Und doch hatte ich es gehofft. Es war mein innigster Wunsch, daß…“ „Daß was?“ Plötzlich stieg in Julie der Ärger hoch. „Daß wir einander in die Arme sinken, verliebt bis zum Wahnsinn?“ Sie schüttelte heftig den Kopf. „Sie wollen den lieben Gott spielen, Sir, und das geht nicht. Sie können die Menschen Ihrer Umgebung nicht nach Ihrem Willen prägen, begreifen Sie das denn nicht?“ Sie schob den Stuhl zurück und stand auf. Dann holte sie tief Luft, um ihre Erregung niederzukämpfen. „Wollten Sie sonst noch etwas mit mir besprechen?“ fragte sie unsicher. Auch Andrew Barclay erhob sich. „Nein, ich werde jetzt deine Mutter für ein paar Minuten besuchen. Möchtest du mitkommen?“ „Nein, lieber nicht. Bobby wartet draußen auf mich. Ich sehe später nach Mom.“ Julie blieb auf der Terrasse hinter dem Haus einen Moment lang stehen, bevor sie sich auf die Suche nach Bobby machte. Was war dieser Andrew Barclay doch für
ein unmöglicher Mensch! Er manipulierte alle in seiner Umgebung, brachte sie in unmögliche Situationen und erwartete dann noch, daß sie glücklich sein sollten! Er hatte soviel Hoffnung an den Kuß von gestern abend geknüpft, aber doch nur, weil er ihre Ehe mit Steven öffentlich bekanntgeben wollte. Dabei hatte sie diese Bekanntmachung so weit wie möglich hinausschieben wollen. Denn wenn sie auch vor der Öffentlichkeit Stevens Frau war, mußte sie noch mehr Theater als jetzt spielen. Und da sie mit ihrer Mutter unter einem Dach lebte, würde es mit jedem Tag quälender, ihre Ehe als normal und glücklich hinzustellen. Aber auch für Steven wird es nicht leicht werden, überlegte Julie weiter. Gestern abend hatte er seine Rolle zwar gut gespielt, sich dann aber sehr bald einer wichtigen Verabredung wegen entschuldigt. Sie war sicher, daß diese wichtige Verabredung in Zusammenhang mit der Frau stand, deren aufregend heisere Stimme sie am Telefon gehört hatte. Ehrlich gestanden, war ihr das auch ganz gleichgültig. Als sie Steven kennengelernt hatte, hatte er schließlich unumwunden zugegeben, daß ihm diese Frau etwas bedeutete. Julie ging über den Rasen auf die Garage zu. Es war ein klarer Sommertag, der sicher noch sehr heiß werden würde. Trotz aller Verstimmung konnte Julie nicht umhin, den schönen Garten ihres Großvaters zu bewundern. Der smaragdgrüne Rasen zog sich einen Abhang hinunter und endete an einem Flüßchen, das sich unter Zypressen dahinschlängelte. Die Terrasse hinter dem Haus war mit den üppig blühenden Kamelien in Rosa, Rot und Weiß ein Paradies für Blumenliebhaber. Am Zaun standen Azaleenbüsche, allerdings waren sie schon verblüht. Ein Myrtenbaum prangte im Schmuck seiner hellrosa Blüten, Rosen leuchteten in allen Farben. Auf dem Rasen spendeten Eichen mit hängendem spanischen Moos genügend Schatten. Julie fand diese Bäume besonders geheimnisvoll. Sie stöberte Bobby in der Garage auf. Er saß mit einem Jungen seines Alters auf dem Zementboden, und die jungen Hunde tollten neben ihnen herum. Die Mutter, eine herrliche CollieHündin, lag im Korb und ließ Kinder wie Besucher nicht aus den Augen. „Hallo“, sagte Julie. Bobby wandte sich um und lachte sie an. Dabei hielt er ihr ein quicklebendiges Bündel entgegen. „Möchtest du mal einen auf den Arm nehmen?“ „Aber sicher.“ Julie nahm den Hund und ließ sich mit gekreuzten Beinen neben ihrem kleinen Bruder nieder. „Das sind also Amiee und ihre Jungen“, meinte sie und warf einen vorsichtigen Blick auf die Mutter. „Sie ist hoffentlich freundlich?“ „Aber ja, sie hat nichts dagegen, wenn wir ihre Kinder auf den Arm nehmen“, versicherte Bobby, indem er sich nach vorn beugte und Amiees Kopf streichelte. „Nicht wahr, du hast uns gern?“ „Und wer ist dein neuer Freund?“ „Das ist Tony. Wir beide kommen im Herbst in dieselbe Klasse.“ „Prima. Und wo wohnst du, Tony?“ Tony wies mit der Hand vage über seine Schulter. „Da hinunter, nur ein kleines Stück. Rate mal, was Steven gesagt hat: Ich darf einen kleinen Hund haben, wenn sie alt genug sind.“ Julie blickte nachdenklich auf die Jungen. „Das kann nicht mehr lange dauern, sie sehen schon ziemlich groß aus.“ „Vielleicht noch zwei Wochen, dann ist es soweit“, erklärte Bobby. „Steven sagt, daß ich auch einen haben darf, die anderen muß er allerdings weggeben.“ Plötzlich strahlte sein Gesicht auf. „Vielleicht kannst du Steven fragen, ob er dir
nicht auch einen gibt, Julie? Warum nimmst du nicht Porky?“ Er wies auf ein besonders rundliches Hündchen, das gerade an Bobbys Zehen nagte. Julie überlegte. Steven um einen Gefallen zu bitten, war das letzte, was sie wollte. „Ich weiß nicht recht, Bobby“, meinte sie, „natürlich hätte ich auch gern einen Hund. Aber vermutlich will Steven nicht drei Hunde auf dem Grundstück haben. Warum zeigst du mir nicht mal die Pferde?“ Sie wollte Bobby schnell auf ein anderes Thema bringen. Eine halbe Stunde später ging Julie wieder ins Haus. Bobby hatte ihr alles gezeigt, die beiden Pferde, das Flüßchen und sogar ein verstecktes Baumhaus. Dabei hatte er ständig Kommentare hervorgesprudelt, wie: „Grandpa sagt, daß im Fluß Katzenwelse schwimmen, die man angeln kann“, oder: „Nur Steven reitet auf Lightning, denn der würde mit jedem anderen durchgehen. Aber er hat gesagt, daß Thunder mir gehören soll. Kannst du dir das vorstellen, Julie?“ Oder: „Und Grandpa hat erlaubt, daß ich einen Stall baue und Kaninchen halten darf.“ Nach einer kurzen Minute ging es weiter: „Steven hat mir sein Baumhaus gezeigt. Er hat es gebaut, als er noch klein war. Jetzt ist es mein und Tonys Clubhaus.“ Es war sonnenklar, daß sich Bobby noch nie so wohl gefühlt hatte. Er liebte sein neues Zuhause, seine neue Familie, den kleinen Freund. Sollte er Heimweh nach Oklahoma haben, so konnte sie wenigstens nichts davon bemerken. Julie beschloß, den Besuch bei ihrer Mutter lieber gleich hinter sich zu bringen. Bestimmt würde sie nach Stevens Kuß fragen. Gestern abend war sie nicht eine Minute mit ihr allein gewesen, also mußte sie jetzt Rede und Antwort stehen. Es war sinnlos, diese Aussprache noch weiter hinauszuschieben. Sie fand ihre Mutter in einem Liegestuhl auf dem Balkon vor ihrem Schlafzimmer. Sie trug einen leichten Morgenrock und hatte das Gesicht der Sonne zugewandt. „Also hier bist du“, sagte Julie betont munter. „Du aalst dich in der Sonne. Aber dafür bist du gar nicht richtig angezogen. Soll ich dir in der Stadt einen Badeanzug besorgen?“ Ruth lächelte nur und wies auf einen leeren Stuhl neben sich. „Komm, setz dich. Hast du dich von der Fahrerei von gestern erholt?“ „Ich fühle mich wie neugeboren“, entgegnete Julie. „Viel wichtiger ist, wie du den Flug überstanden hast.“ „Blendend. Aber kaum war ich gestern hier im Haus, hat mich dieser Feldwebel von Schwester sofort zu einem Mittagsschlaf verdonnert. Ich konnte kaum Bobby guten Tag sagen. Und um neun Uhr abends hat sie ihn und Andrew aus dem Zimmer gescheucht, damit ich Ruhe hätte. Weißt du was? Ich fürchte, sie ist noch strenger als die Ärzte und Schwestern im Krankenhaus.“ „Richtig so. Wenn sie dafür sorgt, daß du hübsch langsam und vorsichtig Fortschritte machst, wirst du wieder ganz gesund, und wir brauchen uns keine Sorgen mehr um dich zu machen. Aber wo ist die Schwester jetzt?“ „Sie ist hinuntergegangen. Ich glaube, sie trinkt eine Tasse Kaffee. Jedenfalls habe ich ihr gesagt, daß sie das ruhig tun soll. Sie scheint ein sehr liebenswertes junges Mädchen zu sein, Julie, und ich habe sie gern um mich. Aber ich möchte nicht, daß sich jede Minute jemand um mich kümmert. Schließlich bin ich nicht mehr im Krankenhaus.“ Julie lachte. „Anscheinend geht es dir noch besser, als wir denken. Denn du wirst schon wieder selbständig und launisch.“ „Ich hoffe nicht, daß ich Launen entwickle. Ich hasse launische Menschen“, lachte Ruth. Jetzt wurde Julie ernst. „Bist du froh, hier zu sein, Mom? Ich denke jetzt nicht daran, daß du aus dem Krankenhaus heraus bist, aber fühlst du dich in Magnolia
Way zu Hause?“ „O ja“, sagte Ruth, „von ganzem Herzen. Ich sehe, wie wohl sich Bobby hier fühlt, und wenn du Andrew besser kennengelernt hast, wird es noch schöner für mich. Dann sind wir eine richtige Familie. Andrew ist sehr großzügig und freundlich. Schau dir nur einmal die ganzen Blumen in meinem Zimmer an. Und hast du schon gesehen, was er mir heute geschenkt hat? Einen Farbfernseher.“ „Er ist wirklich großzügig“, sagte Julie leise. „Das ist er, Julie. Ich weiß, daß du diesen Umzug nicht gutheißen konntest, meinetwegen. Dabei wünsche ich nichts mehr, als daß auch du dich wohl fühlst. Dies ist dein Zuhause, dein Großvater, und er liebt dich von ganzem Herzen. Der Gedanke, daß du ungern hier bist, wäre mir schrecklich.“ „Ich bin gern hier“, entgegnete Julie ein wenig zu schnell. „Großvater und ich, nun, wir werden schon miteinander auskommen. Das braucht alles seine Zeit, Mom, mach dir also keine Gedanken. Außerdem, wer würde sich in diesem schönen Haus mit dem wunderbaren Garten nicht wohl fühlen?“ „Und Steven?“ Nun hatte ihre Mutter das gefürchtete Thema angeschnitten. „Was hältst du von ihm?“ „Meinst du, weil er mich gestern abend geküßt hat?“ „Was sonst? Wenn ein junger Mann meine Tochter vor der ganzen Familie umarmt, werde ich natürlich neugierig.“ Julie hob die Schultern. „Es ist noch zu früh, um genau sagen zu können, wie ich zu ihm stehe oder er zu mir. Aber, Mom – na gut, wir finden uns ganz anziehend.“ Das ist wenigstens nicht gelogen, tröstete sich Julie. Zwischen ihnen bestand eine Anziehungskraft, die sie nie wieder die Oberhand gewinnen lassen wollte. Aber das konnte sie wohl kaum laut sagen. Im Gegenteil, ihre Mutter sollte an eine wachsende Liebe zwischen ihr und Steven glauben. Julie mochte viele Fehler haben, aber ein gegebenes Versprechen hatte sie noch immer eingelöst, so auch diesmal. So verfahren ihre Lage war, sie würde die verlangte Rolle spielen. Also gab sie sich einen Ruck, versuchte, so gelassen wie möglich zu klingen, und fragte: „Hättest du denn Einwände gegen Steven?“ Ruth sah sie nachdenklich an, dann schüttelte sie den Kopf. „Nein, ich habe keine Einwände, Steven ist in Ordnung. Ich habe schon immer viel von ihm gehalten. Aber du hast erst vor wenigen Wochen deine Verlobung mit Ronald gelöst. Bevor du eine übereilte Entscheidung fällst, die dir hinterher leid tun könnte, erforsche erst in aller Ruhe dein Herz.“ Dazu ist es schon zu spät, dachte Julie traurig, als sie wenige Minuten später ihre Mutter verließ. Sie war verletzt worden, zutiefst verletzt, zunächst von Ronald und nun von Steven, durch sein kaltes, abweisendes Verhalten. Sie fragte sich sogar, ob sie jemals imstande wäre, ein enges, vertrauensvolles Verhältnis zu einem Mann aufzubauen, eine wirkliche Liebe, wie sie sie immer erträumt hatte. Julie spürte einen Stich. In welche Richtung ließ sie nur ihre Gedanken wandern? Liebe kam in ihrem Vertrag mit Steven nicht vor. Hier ging es nur um ein kaltes, hartes Geschäft. Sie beide wünschten etwas, das sie nur bekamen, wenn sie einander heirateten. Gut, es bestand zwischen ihnen eine gewisse körperliche Sympathie, aber von Zärtlichkeit und Liebe war nicht die Rede. Am Abend kam Julie als letzte ins Wohnzimmer, wo sich die Familie vor dem Dinner zu versammeln pflegte. Auch die Krankenschwester, Sarah Lejeune, war da. Sie sah in dem blumenbedruckten Sommerkleid besonders jung und hübsch aus. Andrew Barclay saß in seinem Lieblingssessel. Bobby sah in einem tadellosen frischen Hemd, ebensolchen Hosen und ordentlich gekämmten Haaren ganz ungewohnt aus. Clive und Steven vervollständigten die Runde. „Ah, da kommst du ja!“ rief ihr Andrew Barclay entgegen. „Ich wollte schon einen
Suchtrupp nach dir losschicken. Wenn du noch einen Cocktail möchtest, warten
wir noch einen Moment mit dem Essen.“
„Vielen Dank“, wehrte Julie ab. Dann richtete sich ihr Blick fast gegen ihren
Willen auf Steven. Er stand am anderen Ende des Zimmers vor dem Kamin.
Seine Augen ruhten auf ihr, dunkel und unergründlich. Er neigte leicht den Kopf
in ihre Richtung, sagte aber kein Wort zu ihrer Begrüßung.
„Tagchen, Julie“, statt dessen stand nun Clive neben ihr.
Julie zwang sich, ihren Blick von Steven zu lösen. Sie lächelte ihren Vetter an:
„Guten Abend, Clive. Ißt du mit uns zu Abend? Davon wußte ich ja gar nichts.“
„Enttäuscht?“ Sein Lächeln strafte seine Vermutung Lügen.
„Natürlich nicht, wieso das? Ich freue mich, dich wiederzusehen.“
„Wir wollen endlich ins Eßzimmer gehen, ich bin am Verhungern“, meldete sich
Bobby.
„Kannst du dir nicht vorstellen, daß es Wichtigeres als Essen gibt?“ fragte Clive
den Jungen. Er ließ seine Blicke über Julies Erscheinung wandern, vor allem über
ihre bloßen Schultern in dem türkisfarbenen Sommerkleid, das nur von dünnen
Trägern gehalten wurde.
Da verließ Steven seinen Platz neben dem Kamin und trat auf Julie zu. „Für einen
Jungen von zehn Jahren gibt es nur wenig, was noch wichtiger wäre als Essen“,
meinte er lachend. Er griff nach Julies Ellbogen. Ein Schauer lief durch ihren
Körper, während sich seine Finger besitzergreifend um ihren Arm schlossen.
„Sollen wir nicht hinübergehen, bevor Mrs. Landrys Dinner kalt wird?“
6. KAPITEL Steven setzte sich neben Julie, während Clive, Bobby und Sarah ihnen gegenüber Platz nahmen. Andrew Barclay, im dunklen Anzug, nahm als Familienoberhaupt das Kopfende des Tisches ein. Trotz Mrs. Landrys nicht zu übertreffenden Kochkünsten fühlte sich Julie unbehaglich. Es gab überbackene Langusten in einem dampfenden Reisrand und zum Nachtisch Nußtorte. Es schmeckte vorzüglich, aber Julie konnte das Essen nicht unbeschwert genießen. Nicht einen Augenblick konnte sie Steven neben sich vergessen, der verärgert war und Clives Aufmerksamkeit für sie mißbilligte. Tatsächlich bestritt Clive die gesamte Unterhaltung bei Tisch. Erst flirtete er mit Julie und dann mit Sarah. Julie fand ihren Vetter amüsant und hätte gern über seine Blödeleien gelacht, aber Stevens Spannung ging auch auf sie über. Dazu kam das steife und humorlose Verhalten ihres Großvaters. Selbst Bobby schien seine gute Laune verloren zu haben, er ließ die Schultern hängen und starrte verdrossen auf seinen Teller. Nur Sarah war gelöst und nahm Clives platte Komplimente so auf, wie sie gemeint waren: als muntere Tischunterhaltung und nicht mehr. Als endlich eine Pause in der Unterhaltung eintrat, schaltete sich Steven ein. Julie war überrascht und wider Willen gerührt, weil er sich an Bobby und nicht an einen Erwachsenen wandte: „Wie geht es Amiee und den Jungen, Bobby?“ Zum erstenmal an diesem Abend leuchteten Bobbys braune Augen auf. „Spitze geht es ihnen, aber Mensch, können die ein Durcheinander anrichten! Heute nachmittag habe ich neue Zeitungen auf dem Fußboden ausgelegt, und schon wieder sind nur noch Fetzen übrig. Sowie ich hier fertig bin, muß ich hinaus und aufräumen.“ Er hielt inne, seine Blicke wanderten zwischen Julie und Steven hin und her. „Julie hätte auch gern einen von den Welpen“, sagte er dann entschlossen. „Aber sie meint, daß du vielleicht nicht noch einen dritten Hund auf dem Grundstück haben willst. Kann Sie nicht doch einen bekommen, Steven?“ Steven sah Julie an. „Möchtest du auch einen Hund haben?“ „Ich…“ Julie wurde vor Verwirrung und Ärger knallrot. Verdammt noch mal, dieser Bobby! Nahm er einfach die Dinge in seine Hand. Aber sie konnte ihren kleinen Bruder nicht als Lügner bloßstellen, nur um sich aus der Affäre zu ziehen. „Ja, ich hätte gern einen“, sagte sie zögernd. „Wenn es dir recht ist?“ Steven zog die Brauen hoch. Das halbe Lächeln auf seinen Lippen zeigte deutlich, daß er sie durchschaut hatte. Er wußte, warum sie ihn nicht selbst darum gebeten hatte. „Natürlich ist es mir recht. Such dir nur einen aus.“ Dann sagte er leise an ihrem Ohr, so daß niemand am Tisch seine Worte verstehen konnte: „Was meins ist, ist auch deins. Wußtest du das nicht?“ Julie machte nicht einmal Anstalten, darauf einzugehen. Sie versuchte seinen herben männlichen Geruch möglichst zu ignorieren und sich nur auf das Essen zu konzentrieren. Gleich nach Tisch lief Bobby in die Garage, während Andrew Barclay mit Clive und Steven im Arbeitszimmer verschwand. Zum erstenmal war Julie mit der Pflegerin allein. Schon nach wenigen Minuten fand sie sie sehr sympathisch. „Vermutlich lernen Sie viele interessante Leute in Ihrem Beruf kennen?“ fragte sie Sarah. Sarah schüttelte den Kopf. „Nein, ich arbeite hier zum erstenmal als Privatpflegerin. Bisher hatte ich eine Stelle in einer Arztpraxis. Aber ich heirate in zwei Wochen und ziehe dann nach Kentucky. Mein Chef hat schon eine Nachfolgerin für mich eingestellt, und als Mr. Richard eine Pflegerin für Ihre Mutter suchte, habe ich sofort zugegriffen. Einmal verdiene ich hier mehr, und
zum anderen konnte meine Kollegin gleich ihre neue Stellung antreten. Und schließlich habe ich so noch zwei freie Wochen, um alles für meine Hochzeit vorzubereiten.“ „Ich freue mich für Sie“, entgegnete Julie aufrichtig, dachte aber mit Wehmut an ihre eigene ungewisse Lage. Wenige Minuten später tauchten die drei Männer wieder auf. Ihre ernsten Gesichter verrieten, daß die Unterredung nicht gerade fröhlich verlaufen war. Aber Clive schüttelte rasch allen Ernst ab. „Habt ihr zwei in meiner Abwesenheit wenigstens über meinen umwerfenden Charme gesprochen?“ neckte er. Julie mußte lachen. „Wir haben nicht mal einen Gedanken daran verschwendet, wenn wir aufrichtig sein sollen. Im Gegenteil, wir haben von Sarahs bevorstehender Hochzeit und ihren Zukunftsplänen gesprochen.“ Sarah stand auf. „Dabei fällt mir ein, daß ich meinen Verlobten anrufen muß. Ich will es lieber gleich tun, bevor ich mich wieder um meine Patientin kümmere. Gute Nacht.“ Sie lächelte allen zu und verließ das Wohnzimmer. Nun setzten sich auch Steven und Andrew Barclay, während Clive mit breitem Lächeln zu Julie sagte: „Erzähl doch mal, Kusinchen, wie konnten diese Dummköpfe in Oklahoma eine solche Schönheit wie dich nach Louisiana gehen lassen? Also, wenn ich nicht dein leiblicher Vetter wäre…“ Julie mußte laut lachen. Da ertönte die Hausglocke. Andrew Barclay war über die Störung nicht gerade erfreut. Steven erhob sich und ging öffnen. Als er gleich darauf mit einer jungen Frau zurückkam, schien ihr Großvater richtig verärgert zu sein. Stevens Besucherin war auffallend schön, wie Julie feststellen mußte. Sie hatte nachtschwarzes, elegant hochgestecktes Haar und einen makellosen Teint. Das blaßblaue Kleid umhüllte schmeichelnd und verführerisch einen vollkommenen Körper. „Guten Abend, Mr. Barclay“, sagte sie und streckte dem alten Herrn die Hand entgegen. Julie entging nicht ihre tiefe, leicht rauchige Stimme. „Julie“, Stevens Stimme klang beherrscht wie immer und verriet nichts von dem, was im Moment in ihm vorgehen mußte. Schließlich machte er seine Freundin mit seiner Ehefrau bekannt. „Ich möchte, daß du Rosalind York kennenlernst. Rosalind, das ist Dads Enkeltochter Julie Barclay.“ Julie faßte sofort eine völlig unbegründete Abneigung gegen diese Frau, die sie sich aber nicht anmerken ließ. Sie gab sich betont liebenswürdig. „Ich freue mich, Sie kennenzulernen“, sagte Rosalind und schüttelte Julie die Hand. Sie lächelte Clive zu und wandte sich dann an Steven. „Hoffentlich komme ich nicht ungelegen, Liebling?“ Steven schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. „Aber nicht doch, wir freuen uns immer über dich. Kann ich dir etwas zu trinken holen?“ Rosalind setzte sich in den Sessel, den Steven für sie herangerückt hatte, und nickte. Dann schlug sie anmutig ihre langen Beine übereinander. „Wie ich höre, geht es Ihrer Mutter endlich besser“, wandte sie sich an Julie. „Ja, das ist richtig.“ „Das freut mich.“ Nach einem kehligen Lachen fuhr sie fort: „Allerdings habe ich nicht ganz verstanden, warum Steven in Texas sein mußte, als sie operiert wurde. Schließlich waren Sie doch da.“ „Ich bin nach Houston gefahren, weil ich Lust dazu hatte“, sagte Steven. Rosalind öffnete weit die Augen. „Aber natürlich, Liebling, ich will dich auch nicht kritisieren. Ich wollte damit nur sagen, daß ich dich in dieser Woche schrecklich vermißt habe.“ Dann wandte sie sich wieder an Julie. „Und wie gefällt Ihnen Ihr Besuch in Louisiana? Hier ist doch sicher vieles anders als in Oklahoma.“ „Mein Besuch?“ fragte Julie verblüfft.
Nun war Rosalind verwirrt. „Aber es handelt sich doch um einen Besuch. Gehen Sie denn nicht nach Oklahoma zurück, wenn Ihre Mutter wieder gesund ist?“ „Meine Enkelin, ihre Mutter und ihr Bruder sind ganz zu uns gezogen“, schaltete sich Andrew Barclay in verletzend kaltem Ton in die Unterhaltung ein. „Steven und ich freuen uns sehr darüber.“ Er warf seinem Stiefsohn einen beredten Blick zu. Stevens Blick streifte Julie, bevor er nickte und gehorsam antwortete: „Ja, wir freuen uns sehr.“ Nun war die Situation vollkommen verfahren. Rosalind merkte, daß sie etwas Falsches gesagt hatte. Nachdenklich nahm sie einen Schluck, während peinliches Schweigen herrschte. Nachdem sich Andrew Barclay verabschiedet hatte, lastete das Schweigen noch schwerer, bis Clive Julies Hand faßte und fragte: „Wie wäre es mit einem Spaziergang?“ Julie war nur allzu bereit dazu. Zwar konnte sie Stevens mißbilligenden Blick fühlen, aber sie zwang sich, nicht in seine Richtung zu sehen. Mit einem höflichen „Auf Wiedersehen“ zu Rosalind stand sie auf, fest entschlossen, heute abend dieses Zimmer nicht mehr zu betreten. Sollte sich Steven allein mit seiner Freundin amüsieren, sie würde sicher nicht die eifersüchtige Ehefrau oder Anstandsdame spielen. Clive und Julie gingen am Fluß entlang. Sie sprachen über die neuesten Filme, und Julie fragte ihren Vetter nach den Karnevalsveranstaltungen am Mardi Gras in New Orleans. Clive gab bereitwillig Auskunft. Als sie zum Haus zurückkehrten, machte er einen Vorschlag: „Im nächsten Jahr kommst du mit nach New Orleans. Ich bin dort immer eine ganze Woche mit meinen Freunden, dann können wir auf einige Maskenbälle und zu den Umzügen gehen.“ Julie konnte sich das alles gut ausmalen: bunte, ausgefallene Kostüme, den berühmten Schiffskorso, Blasmusik, einen Karnevalsumzug und Tausende von fröhlichen Zuschauern auf der Straße. „Das klingt alles sehr verlockend“, meinte sie, „fahren Großvater und Steven auch zur Fastnacht nach New Orleans?“ Clive schnitt eine vielsagende Grimasse. „Fragst du etwa im Ernst? Onkel Andy ist viel zu alt, um solche Menschenansammlungen schön zu finden, und Steven“, Clive lachte höhnisch auf, „Steven kann sich gar nicht eine Woche lang amüsieren. Die Firma könnte doch ohne ihn Pleite machen.“ Das stimmt nicht gerade mit meinen eigenen Erfahrungen überein, fand Julie, während sie Clives Auto nachwinkte. Steven war zwar in erster Linie aus Verantwortungsgefühl nach Houston gekommen, aber die ganze Woche über hatte er ausgesprochene Ferienlaune verbreitet. Bis auf den letzten Abend. Leise ging sie ins Haus und die Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer. Hier schlüpfte sie in einen Schlafanzug, der aus einem kurzen Höschen und einem Oberteil mit winzigen gelben Schleifen bestand. Dann ging sie zum Zähneputzen ins Bad. Als sie zurückkam, blieb sie wie angewurzelt stehen. Da saß doch tatsächlich Steven auf ihrer Bettkante! Jackett und Schlips hatte er abgelegt, sein Hemdkragen stand offen, die Ärmel waren hochgerollt – so als hätte er alles Recht dieser Erde, hier zu sitzen. „Was willst du denn hier?“ fragte sie unwirsch. „Ich wollte dich sprechen“, entgegnete er ruhig. „Und ich dachte, du säßest noch immer unten mit Rosalind.“ „Nun, da hast du falsch gedacht.“ Steven stand auf und trat auf sie zu. Erst jetzt fiel Julie ein, daß sie nur sehr wenig anhatte. Jedenfalls musterte Steven ungeniert jede Einzelheit ihres kaum bedeckten Körpers. Bevor sie zum Schrank gehen konnte, hatte er sie am Handgelenk gepackt. „Ich wollte dich nur warnen, daß du dich nicht zu eng an Clive anschließt.“
„Wer bist du eigentlich, daß du glaubst, mir Vorschriften machen zu können?“ fragte sie zornig und entwand ihm ihren Arm. „Zufällig finde ich Clive nett, und ich sehe keinen Grund, warum ich nicht freundlich zu ihm sein sollte. Schließlich ist er mein Vetter.“ Steven lachte sarkastisch auf. „Dein Clive würde auch mit dem Teufel Süßholz raspeln, wenn es ihm etwas einbrächte.“ „Willst du damit etwa sagen, ich sei ein Teufel?“ Steven grinste breit und blickte auf ihren Busen, der durch den dünnen Stoff hindurchschimmerte. „Auf jeden Fall bist du sehr verführerisch in dem hauchdünnen Nichts, das du anhast.“ Dann blickte er wieder in ihr Gesicht. „Tatsache ist, daß Clive weiß, daß auch du Aktien von Dad erhalten sollst. Also versucht er, dich auf seine Seite zu ziehen, damit du in seinem Interesse stimmst, wenn es soweit ist.“ „Ich bin nicht auf den Kopf gefallen und kann selbst entscheiden. Ich brauche weder deine noch Clives Hilfe.“ Steven schüttelte den Kopf. „Du weißt aber nicht das geringste von der Firma.“ „Stimmt, aber ich kann lernen, und das werde ich auch. Übrigens hat mir mein Großvater schon angedeutet, daß ich gegen Bobby und Mutters Interessen handele, wenn ich verantwortungslos mit meinen Firmenanteilen umgehe. Das soll mich aber nicht davon abhalten, mit Clive befreundet zu sein.“ Zornig verzog sie den Mund. „Du solltest dich lieber einmal fragen, warum dein Stiefvater so abweisend war, als deine entzückende Freundin hier aufkreuzte.“ Wieder stieg ein bitteres Lachen aus Stevens Kehle. „Es gibt ein paar Dinge, die selbst ein Andrew Barclay nicht regeln kann, und zu denen gehört mein Liebesleben. Ich habe mich bereit erklärt, dich zu heiraten, damit die Firma wegen Clives Plänen nicht vor die Hunde geht. Aber so lange unsere Ehe geheim ist und ich mit einem Eisberg verheiratet bin, nehme ich mir menschliche Wärme, wo ich sie finde.“ „Eisberg!“ rief Julie empört. „Was weißt du denn von mir? Nichts, aber auch gar nichts! Ich hasse dich wegen deiner vorschnellen Urteile!“ Plötzlich schlang er seine Arme um ihren Körper und zog sie an seine harte, muskulöse Brust. „Dann sollst du noch einen Grund haben, um mich zu hassen.“ Julie wollte den Kopf abwenden, aber seine Lippen lagen schon auf ihrem Mund, nicht sanft und verführerisch, sondern brutal und fordernd. Umsonst hämmerte Julie mit beiden Fäusten gegen seine Brust. Schließlich nahm er ihre Hände und führte sie um seinen Hals. Dann zog er sie wieder an sich, aber diesmal sanft und wie bittend. Seine Lippen liebkosten ihr Gesicht, und Julie fühlte allen Widerstand schwinden. Stevens Hände glitten zu ihren Schultern und lösten die Schleifen ihres Oberteils. Es fiel zu Boden, und Steven streichelte zärtlich über ihre schönen, nackten Brüste. „Mein Gott“, flüsterte er mit schwankender Stimme, „du treibst mich noch zum Wahnsinn.“ Und wieder suchte und fand er ihren Mund, während sie sich wie eine Verdurstende an ihn drängte. Und wie damals in Houston, nahm er sie auf seine starken Arme und trug sie zum Bett. Da kam Julie zur Besinnung. Der Rausch, die Verzauberung waren vorbei. Vor ihr stand Rosalinds Bild. Steven liebte sie ja nicht wirklich, nicht, solange er eine so schöne Frau wie Rosalind zur Freundin hatte. Mit ihr, Julie, trieb er nur ein Spiel. Als sie ihn in Houston abgewiesen hatte, hatte sie seinen Stolz als Mann verletzt, und jetzt wollte er sich rächen. Julie rollte auf die andere Seite des Bettes hinüber, stand schnell auf und griff nach einer Decke. „Mach, daß du fortkommst“, keuchte sie. „Geh nur zu Rosalind York zurück, da
gehörst du hin.“ Dann brach ihre Stimme fast: „Laß mich allein.“ Auch Steven atmete schwer. Er sah so ratlos aus, daß Julie am liebsten aufgelacht hätte, wenn sie nicht so unglücklich gewesen wäre. „Du bist gehemmt und frigide“, stieß Steven hervor. „Kein Wunder, daß dein Verlobter mit dir gebrochen hat. Wenn du eine wirkliche Frau wärst, hätte er auch deine familiären Probleme nicht gescheut, nur um dich zu besitzen.“ Mit langen Schritten ging er zur Tür. „Dieser Bursche ist mit einem blauen Auge davongekommen, er hat verdammtes Glück gehabt!“ Julie schlenderte ziellos um das Haus in den Garten. Sie fühlte sich überflüssig. Im Hintergrund sah sie den Gärtner mit dem summenden Rasenmäher, im Haus brummte der Staubsauger. Oben saßen ihre Mutter und Sarah, beide bestens beschäftigt. Sarah stickte eine Tischdecke, während ihre Mutter zwischen lauter Wollknäueln im Bett saß, aus denen eine Sofadecke für Sarahs Aussteuer werden sollte. Bobby schließlich war für den ganzen Tag zu Tony gegangen. Julie blieb neben einem Rosenstrauch stehen und knipste in Gedanken eine abgeblühte Knospe ab. Sie langweilte sich, und Langeweile war eine tückische Krankheit, die ihr in letzter Zeit ständig zusetzte. Natürlich hätte sie sich zu ihrer Mutter und Sarah setzen können, aber Handarbeiten hatten sie schon immer zur Verzweiflung getrieben. Da sah sie ihren Großvater unten auf dem Rasen seinen Morgenspaziergang machen. Er ging an einem Stock. Julie wußte von Mrs. Landry, daß er an Arthritis litt und einen Stock benutzte, wenn er außer Haus war. Als er Julie sah, winkte er ihr grüßend zu. Sie winkte zurück und schritt impulsiv auf ihn zu. Er stand jetzt unter einer der großen Eichen und lächelte ihr freundlich zu. „Du siehst viel frischer aus, als ich mich fühle“, meinte er und zeigte auf ihre weißen Shorts und den ärmellosen gelben Sommerpullover. „In der Kleidung seid ihr Frauen doch sehr viel ungezwungener als wir armen Männer.“ „Das muß nicht sein, schließlich gibt es Bermudashorts für Herren. Sie könnten sie doch mal ausprobieren.“ „Nicht bei meinen knubbeligen Knien“, lachte er. „Und bitte, gestehe mir ein wenig mehr Würde in meiner Kleidung zu.“ Julie lächelte. Dann fragte sie höflich: „Und wie geht es Ihnen heute morgen, Sir?“ „Gut, gut.“ Er nahm den Spazierstock von der rechten in die linke Hand. „Ich mache meinen Morgenspaziergang, bevor es zu heiß wird. Und du?“ Julie zuckte mit den Schultern und ging langsam neben ihrem Großvater her. „Offen gestanden, langweile ich mich zu Tode“, sagte sie aufrichtig. „Vielleicht könnte ich in Ihrer Firma einen Job bekommen?“ Wache graue Augen musterten sie, in denen ein winziges Lächeln spielte. „Dir steht alles zur Verfügung, was für Geld zu haben ist, in Grenzen natürlich. Und doch möchtest du arbeiten? Was ist denn los? Kannst du nicht genießen, einen wohlhabenden Mann zum Großvater zu haben?“ Um Julies Mundwinkel zuckte es, obwohl sie es nicht wollte. „Das ist eine schwierige Frage, und ich bin heute morgen nicht in der Laune zu streiten.“ „Das ist gut, denn ich habe auch keine Lust dazu. Dieser Morgen ist viel zu schön für böse Worte. Aber nun mal im Ernst. Suchst du wirklich eine Arbeit? Ich dachte, du wärst zufrieden so, mit deiner Mutter und Bobby, die dich beide brauchen.“ „Das ist es ja, sie brauchen mich eigentlich gar nicht. Mom hat Sarah, und Sie wissen ja, daß die beiden die reinsten Busenfreundinnen sind, während Bobby nur mit Tony beschäftigt ist. Ich bin gern mit ihnen zusammen, wenn sie es
wollen, aber das füllt meine Tage nicht aus. Und Mrs. Landry findet meine Versuche, im Haushalt zu helfen, auch nicht umwerfend. Außerdem, wenn ich tatsächlich in absehbarer Zeit zum Aufsichtsrat der Firma gehöre, sollte ich etwas von synthetischem Gummi verstehen.“ „Da stimme ich mit dir überein“, kam die überraschende Antwort. „Wenn du etwas lernen willst, sollst du es auch. Ich habe im Arbeitszimmer Unterlagen, die du lesen kannst. Und dann mußt du die Fabrik besichtigen. Wir können heute vormittag hinfahren. Steven wird dir sicher gern alles zeigen.“ Das war genau das Letzte, was Julie nach dem neuerlichen Auftritt von gestern abend wünschte. Er hatte ihr so verletzende Worte an den Kopf geworfen, daß sie ihn nicht so bald wiedersehen wollte. „Ich…“ Die Worte blieben ihr im Hals stecken. Der durchdringende Blick ihres Großvaters machte sie ganz nervös. Stumm schüttelte sie den Kopf. Sie wußte nicht, daß ihr die blanke Not im Gesicht geschrieben stand. „Hast du mit Steven wieder Streit gehabt?“ fragte Andrew Barclay ruhig. „Woher – woher wissen Sie das?“ fragte Julie leise. „Hmm, man braucht kein Genie zu sein, um zu merken, daß zwischen euch nicht alles stimmt. Steven kommt knurrig zum Frühstück und hat nur kurze, scharfe Bemerkungen für mich, während du bei dem bloßen Gedanken, ihn zu sehen, kreidebleich wirst.“ Der alte Mann war stehengeblieben. „Vielleicht habe ich einen Fehler gemacht, einen furchtbaren Fehler.“ Das hast du, dachte Julie. Und nichts läßt sich daran ändern. Sie fühlte sich elend. Aber das Unglück war nun einmal geschehen. Ihr Leben war an einen Mann gebunden, der sie verabscheute, sogar haßte. Er verachtete sie, weil sie sich ihm nicht hingeben konnte. Dabei nahm er das Recht für sich in Anspruch, eine andere zu lieben. Das gab doch alles keinen Sinn. Sie fragte sich weiter, warum Steven sie so tief verletzen konnte. Gestern abend wäre es ein Leichtes gewesen, seinen Wunsch zu erfüllen. Ihr ganzer Körper strebte zu diesem Mann hin, denn er hatte ein Feuer in ihr entfacht, das nun in ihren Adern brannte. Wie gut, daß sie nicht die letzte Konsequenz gezogen hatte. Sie hätte ihre Selbstachtung und allen Stolz verloren, wenn sie dem Verlangen ihres Körpers blind gefolgt wäre. Am Nachmittag rief Clive an und lud Julie zum Abendessen ein. Sie zögerte, denn sie konnte sich nur allzu leicht Stevens ärgerliche Reaktion vorstellen. Auf der anderen Seite wäre es wenigstens mal eine Abwechslung, und schließlich war Clive ihr Vetter. Steven kam und ging sowieso, wie er wollte, also konnte sie ein Gleiches tun. „Ich nehme gern an, Clive“, antwortete sie. „Vielen Dank für die Einladung.“ „Sehr gut. Gegen sieben hole ich dich ab.“ Als Julie am Abend die Treppe hinunterging, hoffte sie, das Haus verlassen zu können, ohne Steven zu begegnen. Aber das Glück war gegen sie. Als sie durch die Eingangshalle ging, trat Steven aus dem Arbeitszimmer. Er blieb stehen, als er sie sah, und musterte ihr beiges, weichfließendes Kleid, die weißen Sandalen und ihre Handtasche. „Gehst du aus?“ fragte er. „Erraten.“ Ihr ganzer Körper spannte sich, ihre Augen blickten wachsam. „Würdest du mir vielleicht sagen, mit wem?“ „Ungern.“ Er trat zur Seite. „Julie, wegen gestern abend…“ „Ich möchte nicht mehr darüber reden“, ihre Stimme klang belegt. „Du hast mich schon genug gequält.“ „Ich hätte dich gequält?“ Er klang ungläubig. „Und was hast du mit mir getan?“ Er trat einen Schritt näher, in seinen Augen lag ein drohender Ausdruck, der Julie
zurückweichen ließ. „Erst heuchelst du Leidenschaft, und dann sagst du…“ Er brach ab, denn hinter ihm war die Haustür gegangen. „Hallo.“ Es war Clive mit einem lässigen Lächeln auf den Lippen. „Wie ich sehe, bist du schon fertig, Julie. Das kann nur heißen, daß du genauso hungrig bist wie ich.“ Julie wußte nur zu gut, daß Steven nah bei ihr stand. Sie wurde dunkelrot und brachte nur ein schwaches Lächeln in Clives Richtung zustande. Steven zog die Brauen zusammen. „Ihr beide geht aus? Abendessen?“ Er sah Julie an. „Stimmt auffallend“, antwortete Clive an ihrer Stelle, er sah sehr streitlustig aus. „Einwendungen von deiner Seite?“ Stevens Blicke wanderten von Julie zu Clive. „Natürlich nicht“, sagte er gleichmütig. „Viel Spaß.“ Damit wandte er ihnen den Rücken zu und verschwand wieder in seinem Arbeitszimmer. An diesem Abend sollte Julie einen ersten Blick auf die Barclay Rubber Manufacturing Company werfen. Unterwegs fiel Clive ein, daß er noch etwas in der Fabrik zu erledigen hatte. Als sie am Tor ankamen, winkte der Pförtner sie herein. Vor ihnen lagen mehrere Gebäude mit weißen Metallfassaden. „Willst du mit hineinkommen?“ fragte Clive, während er den Wagen parkte. Julie schüttelte den Kopf. „Es wird ja nicht lange dauern.“ „Nur ein paar Minuten“, versprach er und stieg aus. Julie wartete lieber im Auto. Sie wollte die Fabrik gern sehen, aber die Gebäude lagen jetzt im Dunkeln und schreckten sie ein wenig ab. Außerdem würde sie nur die Büros zu sehen bekommen. Sie beschloß aber, so bald wie möglich das Material von Andrew Barclay durchzusehen. Bislang hatte sie nur ein paar Seiten durchgeblättert. Worte wie Styrob, Butadien und Isobutyen waren erschreckend genug gewesen, so daß sie die Akten erst einmal in die Schublade gestopft hatte. Da sie aber Firmenteilhaberin werden sollte, mußte sie sich damit befassen, und das würde sie auch. Wie versprochen, war Clive bald zurück. Während sie durch die Stadt fuhren, hatten sie einen schönen Blick auf den Mississippi und den malerischen Turm vom Kapitol weiter unten am Fluß, dem Wahrzeichen der Stadt. Sie wählten ein Fischrestaurant auf dem Florida Boulevard. Beim Cocktail fragte Clive im leichten Plauderton: „Und was hältst du von der Fabrik, Julie?“ „Nicht sehr viel, was das Äußere angeht. Da gleicht sie eher einem langweiligen Buchdeckel.“ Sie sah neugierig zu Clive hinüber. „Arbeitest du gern in der Firma?“ Clive steckte sich eine Zigarette an. „Teils, teils. Du weißt wohl, daß Steven Geschäftsführer der Fabrik ist. Ich bin Verkaufsleiter und Onkel Andy Aufsichtsratsvorsitzender. An sich hält er das Ruder noch in der Hand, aber Steven scheint das manchmal zu vergessen und trifft Entscheidungen, zu denen er nicht berechtigt ist, beispielsweise die Expansion des Betriebes. Es ist Jahre her, seit wir uns vergrößert haben. Dabei könnte ich unseren Absatz verdoppeln, wenn wir mehr produzieren würden. Aber Steven ist dagegen.“ „Und warum? Wenn die Firma doch mehr Profit machen könnte?“ Clive verzog den Mund. „Wenn wir expandieren, müssen wir natürlich einen Millionenkredit aufnehmen. Steven denkt, wir würden uns dabei übernehmen und die Investitionen nie wieder hereinholen, weil wir eine eigenständige Firma mittlerer Größe sind und nicht zu einem Konzern gehören. Er spinnt natürlich. Ich kenne einen großen Industriekonzern, der uns mit gutem Profit aufkaufen möchte. Würde die Konzernleitung das wollen, wenn sie nicht der Meinung wäre, wir könnten unsere Produktion steigern? Ich habe versucht, Onkel Andy zu
überreden, daß wir entweder expandieren oder verkaufen und damit absahnen, solange es noch geht. In unserem Land ist einfach kein Platz mehr für kleine und mittlere Betriebe. Die großen Konzerne schlucken über kurz oder lang alles.“ „Da bin ich nicht so sicher“, entgegnete Julie. „Schließlich ist Amerika noch immer ebenso das Land der kleinen mittelständischen Unternehmen wie der großen Konzerne. Solange die Firma einen vernünftigen Profit abwirft…“ „Das kann aber nicht so bleiben“, fiel ihr Clive ins Wort. „Früher oder später erdrücken die Großen die Kleinen. Würden wir expandieren, hätten wir ungeahnte Chancen, und wenn wir verkaufen, könnte jeder von uns ein genügend großes Aktienpaket behalten, von dem es sich bequem leben läßt. Keiner von uns müßte mehr arbeiten.“ „Vielleicht niemand von den Barclays“, antwortete Julie nachdenklich. „Was aber wird aus den Angestellten und Arbeitern?“ „Ach, die kommen schon zurecht“, warf Clive hin. „Der neue Besitzer würde sowieso die meisten übernehmen. Wenn überhaupt, müßten wir nur wenige Leute entlassen.“ „Und was wird aus diesen Wenigen?“ Clive zuckte verstimmt mit den Schultern. „Du kannst nicht an jeden einzelnen denken, wenn es ums große Geschäft geht, Julie. Du mußt immer das Wohl des Ganzen im Auge haben, selbst wenn es Opfer fordert. So ist das nun mal. Anscheinend kennst du dich in der Geschäftswelt nicht aus.“ „Anscheinend“, stimmte Julie wortkarg zu. Sicherlich verstand sie nichts davon, vor allem nicht, wenn es darum ging, verantwortungslos gegenüber Arbeitern und Angestellten zu handeln. Aber sie sagte es nicht laut. Sie wollte mit Clive nicht streiten. Aber sie ahnte jetzt, warum Steven und ihr Großvater die Zügel keinesfalls ihrem Vetter überlassen wollten. Clive lächelte sie gewinnend an. „Ich kann dich ja in die Geheimnisse des Geschäfts einführen. Da dich Onkel Andy in den Schoß der Familie zurückgeholt hat, wird er dir auch Anteile an der Firma überschreiben, genau wie Steven und mir. Verlaß dich ruhig auf mich“, fügte er selbstherrlich hinzu, „dann kannst du nichts falsch machen.“ Julie erwiderte sein Lächeln, schwieg aber. Clive wußte ja nicht, daß ihr Großvater bereits alles in die Wege geleitet hatte, um ihr und Steven den Löwenanteil zukommen zu lassen. Aber solange ihre Ehe noch geheim war, sollte das niemand wissen, und am wenigsten Clive. Er wollte sie offensichtlich dazu bringen, in seinem Sinne zu entscheiden, wenn es soweit war. Was würde er wohl tun, wenn er erfuhr, daß sie und Steven als Eheleute die absolute Mehrheit der Stimmrechte auf sich vereinten? Kurz nach zehn waren Clive und Julie wieder in Magnolia Way. Sie fanden nur Steven und Rosalind im großen Wohnzimmer vor. Julie zwang sich zu einem freundlichen Lächeln. Rosalind, die eine weiße Hose und eine schwarze Spitzenbluse trug, sah wieder blendend aus. Lächelnd saß sie auf dem Sofa und schien sich ganz wie zu Hause zu fühlen. Steven war in Freizeitkleidung und hatte in einem Stuhl neben ihr Platz genommen. Er machte einen entspannten und sehr zufriedenen Eindruck. Clive wollte noch seinen Onkel sprechen. Als er hörte, daß dieser schon zu Bett gegangen war, meinte er: „Auch gut, dann fahre ich eben nach Hause.“ Er warf Julie ein strahlendes Lächeln zu. „Wie wär’s, sollen wir am Sonntag mit den Autoreifen aufs Wasser?“ Julie sah ihn verständnislos an. „Was meinst du damit?“ „Man kann hier in der Nähe Autoreifen mieten und sich in ihnen den Tickfaw River heruntertreiben lassen. Viele Leute tun das, es macht großen Spaß.
Kommst du mit?“ Julie überlegte noch, was sie antworten sollte, als Steven ihr die Entscheidung abnahm. „Warum gehen wir nicht alle zusammen? Du auch, Rosalind? Wir können auch Bobby mitnehmen, er fände es bestimmt ganz toll.“ Rosalind schien nicht sehr begeistert, meinte aber: „Wenn es dir Freude macht, komme ich natürlich mit, Liebling.“ „Sehr gut.“ Damit war für Steven alles gelaufen. „Wir bitten Mrs. Landry, uns ein paar Sandwiches einzupacken, dann können wir den ganzen Tag wegbleiben.“ Julies Meinung war nicht mehr gefragt. Clive und Steven besprachen schon die Einzelheiten, Julie hörte kaum noch zu. Beiden schien es keine Frage, daß sie mitkam. Als sie Clive zur Haustür brachte und sich noch einmal für seine Einladung bedankte, sagte er leise zu ihr: „Als ich den Ausflug zum Fluß vorgeschlagen habe, dachte ich natürlich nur an uns beide. Wenn alle mitkommen, wird es nur halb so schön.“ „Das weiß ich nicht“, antwortete Julie zögernd. „Ich glaube, Bobby wird großen Spaß daran haben.“ Sie würde nie zugeben, daß sie nur ungern einen ganzen Tag mit Steven und Rosalind verbrachte. Aber als sich die Haustür hinter Clive geschlossen hatte, fiel ihr ein, daß Steven niemals ihren kleinen Bruder vergaß. Und während sie die Treppe zu ihrem Zimmer hinaufging, wünschte sie, daß ein bißchen von dieser Freundlichkeit auch für sie abfallen möchte. Da es noch zu früh war, um zu Bett zu gehen, schrieb Julie einen Brief an ihre Freundin Ann in Oklahoma. Aus Houston hatte sie ihr zweimal geschrieben. Jetzt konnte sie endlich berichten, wie gut es ihrer Mutter ging und daß sich Bobby in seiner neuen Umgebung so wohl wie ein Fisch im Wasser fühlte. Von sich selbst schrieb sie kaum etwas, und Steven erwähnte sie gar nicht. Sie war versucht, Ann in das Geheimnis ihrer Ehe einzuweihen, aber irgend etwas hielt sie davor zurück. Zum Schluß schrieb sie noch: „Hörst Du etwas von Ronald? Geht es ihm gut?“ Diese Frage beruht auf einer ganz natürlichen Neugierde, sagte sie sich, während sie den Umschlag zuklebte. Gefühlsmäßig war sie nicht mehr an Ronald gebunden, aber manchmal mußte sie doch noch an ihn denken. Ob er es bereute, ihre Verlobung gelöst zu haben? Doch wenn Julie genau in sich hineinhorchte, wußte sie den wahren Grund, warum sie nach Ronald gefragt hatte. Als er ihr so gänzlich unerwartet alles vor die Füße geworfen hatte, hatte er auch ihren Stolz zutiefst verletzt. Es war nur menschlich, wenn sie wünschte, daß ihm dieser Schritt inzwischen leid tat. Das würde ihr in ihrer derzeitigen Lage guttun. Denn sie war in geheimer Ehe an einen Mann gebunden, der sie verachtete und in aller Öffentlichkeit mit einer anderen Frau flirtete, während sie allein blieb. Und diese Tatsache schmerzte sie am allermeisten.
7. KAPITEL Als Julie am Sonntagmorgen zu ihrer Mutter kam, fand sie das Zimmer bereits voller Besucher. Ihr Großvater saß wie immer auf dem Stuhl neben dem Bett, Bobby stand dahinter, den Arm auf die Rückenlehne gestützt, während Steven am Fußende von Ruths Bett zu finden war. „Ich weiß nicht recht“, meinte Ruth mit gefurchter Stirn, „mir scheint das doch ziemlich gefährlich zu sein.“ „Aber Mom“, protestierte Bobby. „Ruth“, mischte sich Steven beruhigend ein. „Der Fluß ist nur an wenigen Stellen wirklich tief. Außerdem sind viele Leute da. Falls Bobby in eine mißliche Lage geraten sollte, ist immer jemand in der Nähe, der ihm helfen kann. Zudem hat er mir gesagt, daß er gut schwimmen kann.“ „Das stimmt, aber Julie nicht. Ich kann mich einfach nicht mit dem Gedanken anfreunden, daß ihr allesamt mitten auf dem Wasser schwimmen wollt. Was kann da nicht alles passieren!“ „Nichts wird passieren“, versicherte Steven. Julie hatte sich neben ihn an das Fußende des Bettes gestellt, und er legte wie zufällig einen Arm um ihre Schulter. „Ich verspreche, auf Julie besonders aufzupassen.“ Julie erstarrte unter seiner Berührung. Zum erstenmal seit jenem Abend in ihrem Schlafzimmer hatte er sie wieder angefaßt, und sie war wütend. Dabei lächelte er sie so herzlich an, daß jeder glauben mußte, er hätte sie wirklich gern. Diese Heuchelei war mehr, als sie ertragen konnte. Sie schlüpfte unter seinem Arm hindurch und brachte sich auf der anderen Seite des Bettes in Sicherheit. Ihr Gesicht glühte. Sie tat alles, damit niemand ihren Ärger bemerkte. Sie nahm die Hand ihrer Mutter. „Es geht bestimmt alles gut, Mom, ehrlich. Clive sagt, daß der Fluß so seicht ist, daß man an fast allen Stellen stehen kann. Außerdem sind wir ja zu mehreren. Mach dir keine Sorgen um uns, es besteht gar keine Gefahr.“ Aber Ruth war noch nicht überzeugt. Sie warf einen hilfesuchenden Blick zu Andrew Barclay hinüber. Julie war erstaunt, wie sehr sie neuerdings auf dessen Urteil vertraute. „Was meinst du?“ fragte sie ihren Schwiegervater. Er lächelte ihr beruhigend zu. „Ich finde nicht, daß du dir Sorgen machen mußt, Ruth. Steven ist sehr verantwortungsbewußt, genau wie Julie. Sie werden schon aufpassen, daß Bobby nichts passiert. Laß ihn nur mitgehen, er wird viel Spaß haben.“ „Wenn du meinst.“ Ruths sorgenvolle Augen leuchteten auf, sie nickte. „Aber bitte seid vorsichtig. Und Steven, ich nehme dich beim Wort, daß du besonders Julie im Augen behältst.“ „Mutter!“ rief Julie verzweifelt. „Ich bin doch kein Kind, das beaufsichtigt werden muß.“ Eine solche Bemerkung wäre immer peinlich gewesen, aber bei dem derzeitigen gespannten Verhältnis zwischen Steven und ihr war sie einfach unerträglich. Ihr Großvater schmunzelte. „Weißt du nicht, daß für eine Mutter Kinder nie erwachsen werden?“ Bei dieser Binsenweisheit konnte Julie nur das Gesicht verziehen. Es war ihr unmöglich, zu Steven hinüberzusehen, sicher lag in seinen Augen nichts als Spott. Als er das Wort ergriff, richtete sie sich kerzengerade auf, bis sie merkte, daß er nicht sie, sondern Bobby meinte. „Warum läufst du nicht schnell zu Tony und fragst, ob er mitkommen darf?“
„Ehrlich?“ Bobby sprang vor Freude in die Höhe und war schon aus dem Zimmer. Julie sah besorgt auf ihre Mutter. „Und was wirst du den ganzen Tag über tun? Soll ich nicht lieber zu Hause bleiben, weil Sarah ihren freien Tag hat?“ „Nun mach mal einen Punkt, Julie“, entgegnete ihr Großvater. „Ich leiste Ruth Gesellschaft, und Mrs. Landry ist auch im Haus. Ich verspreche, daß sich Ruth zwischen unseren verbissenen Schach und Rommepartien genug ausruht.“ „Dabei wirst du nach unserem nächsten Rommespiel eine Verschnaufpause brauchen“, lachte Ruth. „Weißt du nicht mehr, wer das letzte Mal wen aufs Kreuz gelegt hat?“ Sie machte eine Handbewegung, als wolle sie Julie und Steven entlassen. „Dann mal los, ihr beiden, und viel Vergnügen.“ Julie eilte aus dem Zimmer und lief in ihr Schlafzimmer. In den letzten Tagen kam sie sich wie ein verschrecktes Kaninchen vor, weil sie ständig vor Steven auf der Flucht war. Sie zog sich schnell aus und holte aus ihrer Kommode einen korallenfarbenen Bikini, über den sie ein paar Jeans und ein Hemd ziehen wollte. Die Tür wurde aufgerissen. Julie erstarrte und zerknüllte das Bikinihöschen in der Hand, als sie Steven sah. Gleich darauf trat er ganz ins Zimmer und schlug die Tür mit dem Fuß hinter sich zu. Der Blick seiner blitzenden dunkelbraunen Augen tauchte in ihre grauen Augen, in denen sich gleichfalls ein Gewitter zusammenzubrauen schien. Die Atmosphäre war so geladen, daß es knisterte. Dann wanderten seine dunklen Augen über ihren unbekleideten Körper, ohne eine Einzelheit auszulassen. Sein ungenierter Blick brannte auf Julies Haut. „Sofort gehst du aus meinem Zimmer! Du hast kein Recht, hier so einfach hereinzuplatzen!“ „Nein?“ Seine dichten Brauen hoben sich fragend. „Schließlich bin ich dein Ehemann.“ „Das bist du nicht, oder nur auf dem Papier. Hinaus jetzt!“ Aber Steven trat drohend auf sie zu, so daß Julie zurückwich und fast im offenen Kleiderschrank landete. „Verlaß mein Zimmer, oder ich schreie“, sagte sie unsicher. „Tu das nur“, antwortete Steven gelassen. „Dann wissen endlich alle Bescheid, das verspreche ich dir. Es kommt mir nicht darauf an, Ruth mitzuteilen, daß wir verheiratet sind, und warum.“ Julie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und holte tief Luft. „Also, was willst du?“ „Ich wollte dir nur mitteilen, daß du in Gegenwart deiner Mutter freundlicher zu mir sein könntest. Auch in Gegenwart der anderen. Wie du weißt, wird unsere Eheschließung bald bekanntgegeben werden. Und auch der Dümmste wird sich fragen, wie es dazu kommen konnte, wenn du nicht einmal ertragen kannst, daß ich einen Arm um deine Schulter lege. Und ich habe nicht vor, wegen deiner Undiszipliniertheit irgendwelche Geschichten zu erfinden.“ „Dann faß mich nicht mehr an“, zischte Julie. „Ich werde ganz freundlich sein, wenn die anderen dabei sind, solange du mich nicht anrührst.“ Wieder wanderten seine Blicke schamlos und langsam über ihren Körper, von dem schmalen Hals über die weißen, vollen Brüste, den flachen Bauch und die Rundungen der Hüften, bevor er wieder in ihr Gesicht schaute, aus dem alle Farbe gewichen war. „Und wie kommst du darauf, daß ich dich gern berühren möchte?“ fragte er mit grausamer Offenheit. „Ich habe kein Verlangen nach einem Eisberg.“ Sein Lachen jagte Julie einen kalten Schauer über den Rücken. „Nicht nur Dad hat sein Fett abbekommen, weil er dich nach Hause geholt hat, ich auch, bei Gott. Armer Dad. Er hat sich auf eine herzliche, liebevolle Enkeltochter gefreut. Und was hat er sich eingehandelt? Eine abweisende, unhöfliche Schmarotzerin, jawohl, eine Schmarotzerin“, wiederholte Steven mit
Nachdruck, als sie den Mund zu einer Entgegnung öffnete. „Du hast schon soviel von ihm genommen. Und was hast du ihm dafür gegeben? Gut, du hast mich geheiratet, aber liegt dir vielleicht das geringste an deinem Großvater? Nein und wieder nein. Ich habe auch viel von ihm bekommen und angenommen, aber zufällig habe ich ihn auch gern. Du aber liebst keinen Menschen außer dich selbst.“ „Das stimmt nicht“, keuchte Julie. Sie bekam Angst vor dem Bild, das Steven da von ihr zeichnete. „Das stimmt überhaupt nicht, und es ist widerlich, wenn du so etwas behauptest. Ich hasse dich, Steven Richard!“ Steven aber zuckte nur mit den Schultern. „Na und? Das hast du mir schon öfter gesagt, und offen gestanden: Ich finde dich auch nicht sehr sympathisch. Von mir aus könnten die drei vor uns liegenden Jahre schon vorbei sein.“ Damit machte er auf dem Absatz kehrt und ging zur Tür. Schmarotzer! Schmarotzer! Schmarotzer! Das häßliche Wort ließ Julie nicht los, während Clives Wagen mit hoher Geschwindigkeit über die Autobahn brauste. Vor ihnen fuhren die vier anderen, Bobby und Tony auf dem Rücksitz, Steven vorn am Steuer und neben ihm Rosalind York. Steven hatte ihr seit ihrer Bekanntschaft so viele schreckliche Dinge an den Kopf geworfen. Sie sei frigide, abgebrüht, ein Eisberg, und nun sogar ein Schmarotzer. Die Liste schien ihr genauso lang wie die Straße vor ihnen, und zum erstenmal dachte sie wirklich darüber nach, ob Stevens Anschuldigungen nicht doch begründet waren. Frigide war sie sicher nicht. Das hatte die Reaktion ihres Körpers auf Stevens leidenschaftliche Zärtlichkeit bewiesen, egal, was er sagen oder denken mochte. Aber ein abgebrühter Schmarotzer? War das so unrichtig? Gedankenverloren kaute Julie an einem Fingernagel. Zunächst hatte sie in ihrem Großvater tatsächlich nur einen Feind gesehen, wegen der schrecklichen Geschichte mit ihren Eltern und dann wegen dieser sinnlosen Heirat, zu der er sie gezwungen hatte. Aber seit sie ihn besser kennenlernte, verschwand ihr Haß allmählich. Sie war Zeuge, wie sich zwischen ihm und ihrer Mutter eine echte Freundschaft entwickelte und wie er Vergangenes gutmachen wollte. Jeden Morgen erschien er bei Ruth mit einem Geschenk, mit einem Fläschchen Parfüm, einem Buch oder einer sinnlosen, verspielten Kleinigkeit, wie einem Paket Kaugummi oder einem Stofftierchen. Auch zu Bobby war er großzügig und freundlich. Julie wußte, daß zwischen dem alten Mann und dem Kind ebenfalls eine aufrichtige Zuneigung wuchs, die selbst den Generationsunterschied überbrückte. Und schließlich kam auch sie nicht umhin, Andrew Barclay jeden Tag sympathischer zu finden. Er war ihr gegenüber immer herzlich und freundlich. Bestimmt wollte er ihre Zuneigung erwerben, hielt sich aber wegen ihrer eigenen Reserve zurück. War sie also ein Schmarotzer, ein Parasit? Sie hatte vieles von Andrew Barclay angenommen, aber hatte sie in den letzten Tagen nicht ein wenig davon zurückgezahlt? War sie nicht mit ihm durch den Garten gewandert? Hatte sie sich nicht freundlich mit ihm unterhalten? Und hatte sie ihm nicht auch mehrmals ein aufrichtiges Lächeln geschenkt? „Du bist heute sehr schweigsam.“ Clives Stimme schreckte sie aus ihren düsteren Überlegungen auf. „Stimmt was nicht?“ „Nein, es ist alles in Ordnung. Es tut mir leid, wenn ich ein langweiliger Mitfahrer bin.“ Sie hatte noch keine Antwort auf ihre Fragen gefunden, aber im Moment mußte sie dieses Problem zurückstellen. Nach einer halben Stunde parkte Steven seinen Wagen neben anderen Autos auf
einer Grasnarbe unter einer Brücke. Clive hielt direkt hinter ihm und sagte Julie, daß sie aussteigen müßten. „Den Rest des Weges fahren wir in Stevens Auto mit.“ „Ja, sind wir denn noch nicht am Ziel?“ Clive schüttelte den Kopf. „Nein, wir müssen noch zehn Meilen flußaufwärts fahren, dort mieten wir die Autoreifen. Die Strömung bringt uns dann langsam aber sicher zu dieser Brücke zurück.“ Als sie schließlich angekommen waren, fand sich Julie zu ihrer Überraschung zwischen vielen Menschen in Ferienlaune wieder. Alle lachten, tranken gekühlte CocaCola aus Büchsen und waren mit Kühltaschen und Autoreifen beschäftigt. Rasch zogen sie die Kleider aus und liefen im Badeanzug zum Flußufer hinunter. Julie mußte lachen, als sich Steven und Clive abmühten, ihre Kühlbox mit Sandwiches und Getränken an einen Reifenschlauch zu binden, den sie nur für diesen Zweck gemietet hatten. Clive hielt den Schlauch fest, während Steven ein Seil um das schwarze Ungetüm band, an dem die Kühlbox befestigt wurde und der Reifen mitgezogen werden konnte. Steven blickte zu ihr auf. „Was ist da komisch?“ „Wenn ihr wüßtest, wie albern ihr ausseht, wie zwei kleine Jungs.“ „Mach dich ruhig über uns lustig“, warnte Steven mit drohend erhobenem Finger. „Dann darfst du diesen Reifen hinter dir herziehen.“ „Nun kommt doch endlich!“ rief Bobby. Er und Tony standen bereits im Wasser, die Arme hatten sie durch ihre Autoreifen gesteckt. „Wir kommen gleich!“ rief Steven. „Saust schon mal los! Aber vergeßt eins nicht: Ihr beide müßt immer in Sichtweite von einem von uns bleiben, und wenn ihr zu weit voraus seid, müßt ihr auf uns warten. Abgemacht?“ Die Jungen nickten. Mit ihren nassen Köpfen, die aus den glänzenden schwarzen Autoreifen herausguckten, sahen sie wie zwei kleine Seehunde aus. Und nun wateten auch die vier anderen in die Mitte des Flußes und legten sich auf ihre Reifen. Der Tag war wie geschaffen für dieses kleine Abenteuer. Der Fluß war voller Menschen. Pärchen, lärmende TeenagerGruppen, ältere Ehepaare und ganze Familien mit Kindern ließen sich fröhlich den Fluß hinuntertreiben, und jeder zog eine Kühltasche hinter sich her. Julie gab sich ganz diesem Vergnügen hin. Arme und Beine baumelten über den Rand des Reifens im warmen Wasser. Die Sonne schien. Hier hatte der Fluß eine gleichmäßige Strömung, so daß sie sich gemächlich treiben lassen konnte. Dann kamen sehr flache Stellen, wo man leicht auf einer Sandbank steckenblieb. Später wurde das Flußbett wieder tiefer und die Strömung stärker. An manchen Stellen schließlich war der Fluß voller Geäst, da hieß es, höllisch aufzupassen, damit man nicht umkippte. Am Ufer zogen üppig wachsende Zypressen, Eichen und Pinien vorüber. Jetzt wußte Julie auch, warum Steven den Jungen befohlen hatte, in ihrer Nähe zu bleiben. Durch die Flußwindungen und unterschiedlichen Strömungsverhältnisse wurden sie dauernd voneinander getrennt. Wenn sie eben noch nebeneinander hergeschwommen waren, konnte im nächsten Moment einer von ihnen einige Meter abgetrieben werden oder sogar in einem Gewirr von Zweigen umkippen. Dann hieß es, sich schnell zu fangen und den davonschwimmenden Autoreifen einzufangen. Nach einer halben Stunde hielten sie an einer flachen Uferböschung, um zu picknicken. Nur Rosalind hatte angeblich keinen Appetit. „Ich möchte zum Auto zurück, Steven“, maulte sie. „Warum?“
„Warum wohl!“ Rosalind musterte Steven, der in der Kühlbox wühlte, ein cellophanverpacktes Sandwich zu Tage förderte und es Tony gab. „Schau dir mein Bein an, Steven. Ich habe es an einem Zweig aufgerissen, außerdem ist mir ein Fingernagel abgebrochen, und meine Frisur ist auch hin.“ Julie blickte verwundert auf Rosalind. Der Kratzer an ihrem Bein war kaum zu sehen, und der Fingernagel würde wieder nachwachsen. Ihr schönes, rabenschwarzes Haar, das sie heute in offenen Locken getragen hatte, hing tatsächlich strähnig und tropfnaß um ihr Gesicht, aber das war doch zu erwarten gewesen. Warum war Rosalind mitgekommen, wenn sie sich davor scheute, naß zu werden? „Es tut mir leid, Rosalind“, entgegnete Steven. „Aber wir kommen nur zum Auto, indem wir uns weiter flußabwärts treiben lassen. Wir sind seit über einer Stunde auf dem Wasser, und der Rückweg wäre zu lang, selbst wenn wir durchs Unterholz gehen. Hier, nimm ein Sandwich.“ Rosalind kreuzte die Arme über ihrem knappen Oberteil und blickte Steven finster an. „Ich habe doch schon gesagt, daß ich keinen Appetit habe“, preßte sie durch die Zähne hervor. „Komm, Rosy, beruhige dich und genieße den Tag“, sagte Clive begütigend. „Steven hat ganz recht. Wir können jetzt nicht mehr zurück, und du kriegst bestimmt bald Hunger. Hier, der Hühnersalat ist phantastisch. Versuch mal.“ Überraschenderweise ließ sich Rosalind besänftigen. Sie aß das belegte Brot, ignorierte aber Steven von nun an. Als sie wieder in den Fluß wateten, ging sie mit Clive, der jetzt an der Reihe war, den Reifen mit der Kühlbox hinter sich herzuziehen. Steven schien ganz ungerührt. Die Jungen waren schon vorausgeschwommen, so daß er und Julie allein waren. Sie war gerade dabei, einen nassen Schnürsenkel an ihrem Turnschuh zuzubinden. „Fertig?“ fragte er mit freundlichem Lächeln. Wenig später ließen sie sich Seite an Seite gemächlich treiben. Julie kam der letzte Streit in ihrem Schlafzimmer nur noch wie ein böser Traum vor. Steven hielt ihren Reifen mit einer Hand fest, und sie plauderten über dieses und jenes, über den gelungenen Tag, einen Vogel, der plötzlich vor ihnen aufflog, und über Erlebnisse aus ihrer Kindheit. Die anderen hatten sie schon seit geraumer Zeit aus den Augen verloren, aber das war Julie im Moment gleichgültig. Es gab nur noch Steven und sie auf dem kühlen Wasser. Friedlich schwammen sie unter den überhängenden Zweigen dahin, als könne es gar nicht anders sein. Julie gab sich dem schönen Augenblick hin, ohne nach dem Warum zu fragen. Plötzlich blieb ihr Reifen an einem Zweig hängen, und sie fiel ins Wasser. Als sie mit dem Kopf wieder auftauchte, hatte sie den Reifen verloren. Sie schüttelte die klitschnassen Haare und wischte sich mit den Händen das Wasser aus den Augen. Steven war zwei Meter von ihr entfernt und hatte ihren Reifen gepackt. Nun machte er kehrt und watete gegen die Strömung mit beiden Reifen auf sie zu. „Alles in Ordnung?“ fragte er. „Aber ja“, lachte Julie, „nur nasser bin ich geworden.“ Er lächelte zurück, dann beugte er aus heiterem Himmel den Kopf zu ihr hinunter und gab ihr einen zärtlichen, langen Kuß. Instinktiv legte Julie ihre Hand auf seine Brust, und als sie sich endlich trennten, hielt Steven ihre Hand fest. Eine kleine Ewigkeit lang sahen sie einander stumm in die Augen, ihre strahlenden Gesichter machten Worte unnötig. Steven drückte sanft ihre Hand, bevor er sie wieder losließ. „Ich würde gern hierbleiben und dich weiter küssen“, sagte er mit belegter Stimme, „aber ich glaube, wir schwimmen lieber weiter. Die anderen sind schon weit voraus.“ Julie nickte, und wenig später trieben sie wieder den Fluß hinunter. Diesmal
schien sie ein Zauber Seite an Seite zu halten, denn sie berührten einander nicht. Stevens leuchtende Blicke ruhten unverwandt auf ihrem Gesicht, und Julie war sicher, daß Steven auch in ihren Augen das unerwartete Glücksgefühl las, das sie durchflutete. Als sie eine Minute später um eine Flußwindung schwammen, durchbrach eine tiefe Frauenstimme den Zauber dieser Minuten. „Steven“, rief Rosalind, „kommst du überhaupt noch mal? Ich warte hier schon eine Ewigkeit auf dich!“ Julie schlüpfte in ihre Shorts, eine leichte Hemdbluse und die Sommersandalen. Als sie vor den Frisiertisch trat, um sich die Haare zu bürsten, fiel ihr ein, daß Steven heute nach Hause kommen wollte. Bei diesem Gedanken setzte ihr Herz einen Schlag aus. Seit jenem denkwürdigen Kuß auf dem Tickfaw River hatte sie ihn nur einmal allein gesehen, und auch da nur für einen kurzen Moment. Das war nun schon zwei Wochen her. Am Montag nach ihrem Ausflug zum Fluß hatte Steven eine Geschäftsreise antreten müssen. Sie waren wenige Minuten allein beim Frühstück gewesen, bevor Andrew Barclay auftauchte. Steven hatte sie nachdenklich, fast feierlich angesehen und leise mit ihr gesprochen. „Wenn ich wiederkomme, Julie, müssen wir entscheiden, wie es mit uns weitergeht. Wir können nicht drei Jahre lang so weitermachen.“ Und nun fragte sie sich zum hundertstenmal, was er mit diesen Worten gemeint haben mochte. Das blasse Gesicht mit den großen fragenden Augen, das ihr aus dem Spiegel entgegensah, wußte keine Antwort. Julie ließ die Haarbürste sinken und wandte sich ab. Hatte Steven andeuten wollen, daß er den ganzen Handel mit Andrew Barclay satt hatte? War er zu dem Schluß gekommen, daß er doch nicht drei lange Jahre an sie gebunden sein konnte, weil er Rosalind liebte? Oder hatte er das Gegenteil gemeint? Julie seufzte, sie wußte es nicht. Es war alles so kompliziert. Als sie die Treppe hinunterging, eilte Clive durch die Halle. Er schien durch und durch verärgert zu sein. „Guten Morgen!“ rief ihm Julie fröhlich zu. Clive blickte auf. „Morgen“, brummte er. „Wo fehlt es denn?“ fragte Julie teilnehmend. „An allen Ecken und Kanten“, fauchte Clive. „Der alte Herr ist senil, das ist es. Er will keine Vernunft annehmen.“ „Und worum geht es?“ Clives Augen wurden zu Schlitzen. „Die Wyndover Company hat uns ein neues Angebot unterbreitet. Kein normaler Mensch würde nein sagen. Aber der Starrkopf da“, er wies mit dem Daumen über die Schulter, „will nicht verkaufen. Er will nicht einmal darüber sprechen, solange Steven nicht hier ist. So geht uns der gute Handel durch die Lappen. Die warten nämlich nicht ewig.“ „Nun, Steven kommt doch heute abend zurück und…“ „Und genau nichts ist! Er ist ja noch verbohrter als der alte Mann da drinnen, er ist ganz gegen Verkaufen.“ Clive musterte Julie aufmerksam. „Warum versuchst du nicht mal, Onkel Andy Vernunft beizubringen? Vielleicht kriegst du ihn herum?“ Aber Julie schüttelte lachend den Kopf. „Du machst dich wohl über mich lustig, Clive. Ich verstehe doch gar nichts davon. Ich würde nur einen Narren aus mir machen, wenn ich so täte, als ob.“ „Stimmt, aber du könntest ihm deine Meinung darlegen. Wenn wir das WyndoverAngebot annehmen, bedeutet das sehr viel Geld, auch für deine Tasche. Schließlich bist du Andrews Enkelin.“
„Tut mir leid, Clive, ich versuche bestimmt nicht, ihn in irgendeiner Richtung zu beeinflussen.“ Damit ging sie die letzten beiden Stufen herunter und verschwand im Frühstückszimmer. Andrew Barclay saß noch am Tisch. Sein Gesicht war puterrot, eine Hand lag neben dem Teller, er konnte sie nicht stillhalten. Das Essen war unberührt. Zum erstenmal machte sich Julie ernstliche Sorgen wegen seines Gesundheitszustandes. „Geht es Ihnen nicht gut?“ fragte sie besorgt und trat zu ihm. Er wischte sich mit dem Taschentuch über die Stirn. „Doch“, antwortete er mit unsicherer Stimme, „oder wenigstens wird es gleich vorüber sein. Es ist nur wegen dieses Burschen.“ „Clive?“ Er blickte überrascht auf. Julie nickte. „Ich weiß Bescheid. Ich traf ihn eben in der Eingangshalle. Was ist denn passiert? Habt ihr euch angeschrien? Ihr Gesicht ist so rot, als kämen Sie aus einem Backofen.“‘ Andrew Barclay lächelte etwas gequält und deutete auf den Stuhl ihm gegenüber. „Ich fürchte, wir haben uns tatsächlich angebrüllt. Zumindest haben wir die Stimme erhoben, wie man so schön sagt.“ „Offensichtlich konnten Sie lauter schreien als Clive“, meinte Julie trocken und griff nach der Kaffeekanne. „Er sah nicht gerade siegessicher aus.“ Ihr Großvater schmunzelte. „Ich glaube auch, daß ich gewonnen habe.“ Dann holte er tief Luft und starrte in seine Tasse, die Julie nachgefüllt hatte. „Ich bin einfach zu alt für solche Meinungsverschiedenheiten, das ist alles, Julie. Es gab Zeiten, da habe ich mich mit Freuden jedem Widersacher, jedem Problem gestellt, je schwieriger und unlösbarer, desto besser. Aber heute nicht mehr. Ich bin müde, ich möchte nur noch darüber nachdenken, wie ich Ruth das nächstemal im Schach schlagen kann; oder ich will zusehen, wenn Bobby seinen heißgeliebten Kaninchenstall baut.“ Der alte Herr lächelte und schüttelte leicht den Kopf. „Vermutlich hältst du mich für verrückt, daß ich nicht mehr will.“ „O nein, schließlich haben Sie in langen Jahren alles erreicht, was Sie wollten. Jetzt möchten Sie sich ausruhen und die Früchte ihrer Arbeit genießen. Und warum sollten Sie nicht? Wieso lassen Sie sich eigentlich von Clive derart in Rage bringen? Sie hätten doch einfach sagen können, daß die Entscheidung nicht mehr in Ihrer Hand liegt.“ Andrew Barclay schüttelte den Kopf. „Nein, so nicht. Nicht, wenn ich mich mit meinem Neffen anschreie. Freitag tritt der Aufsichtsrat zusammen, dann will ich alles bekanntgeben. Auch du mußt anwesend sein.“ Er verzog das Gesicht. „Aber ich sage dir gleich, daß es kein Vergnügen wird.“ Julie nickte. Sie hatte begriffen, daß ihr Großvater Clive bei aller Liebe ein wenig fürchtete. Er fürchtete seine Ansichten, sein aufbrausendes Temperament, seine scharfe Zunge. Endlich sah sie auch ein, warum sie und Steven hatten heiraten sollen. Wenn sie nicht verheiratet wären, würde Clive nach Andrews Tod unter Umständen bis vors Gericht gehen, um sich dagegen zu wehren, daß sie und Steven die Aktienmehrheit geerbt hatten. Schließlich war er ein Blutsverwandter ihres Großvaters, Steven nicht. Und niemand würde erwarten, daß sie, Julie, die Firma leiten konnte. Durch ihre Heirat mit Steven war dessen Position unantastbar, wenigstens, solange sie ihm zur Seite stand. Ihr Großvater hatte sich auf ein ungeheures Risiko eingelassen. Bisher wußte er doch nur, daß seine Enkelin ihn ablehnte. Selbst jetzt war er nicht sicher, ob sie nicht doch in Clives Sinne stimmen und damit sein Lebenswerk zerstören würde. Julie blickte nachdenklich auf ihren Großvater. In diesem Moment schwor sie sich, nach bestem Wissen und Gewissen für die Firma zu entscheiden, ob sie nun verheiratet blieb oder nicht. Außerdem sollte sie ihm sein Vertrauen
zurückzahlen. Wenn sie ihn von ihrer Aufrichtigkeit überzeugte, würde er vermutlich auch seine Drohung nicht wahr machen. Nie würde er Clive die Leitung der Firma überlassen, selbst wenn Steven ihre Ehe lösen sollte. Denn Clive würde die Fabrik verkaufen, und das war gegen seine Wünsche. Sie räusperte sich, legte den Arm über den Tisch und nahm die Hand ihres Großvaters. „Grandpa, ich – ich möchte dir nur sagen, daß ich, egal, was auch geschieht, immer alles tun werde, um die Firma so zu erhalten, wie du es dir vorstellst. Steven wird mit Clive schon fertig. Und ich bin auch hartnäckig, egal, wie laut Clive brüllt. Ich fürchte mich nicht vor einer heftigen Auseinandersetzung. Auch ich bin eine Barclay.“ „Julie“, erwiderte ihr Großvater bewegt, sein Kinn zitterte leicht, „vielen Dank.“ Sie lächelten einander herzlich und offen an. Sie wußten beide, daß dieses einfache „vielen Dank“ unendlich viel bedeutete. Zum erstenmal hatte sie ihn als ihren Großvater anerkannt, und damit hatte sich auch ihre Beziehung grundlegend verändert. Der Tag sollte noch mehr Überraschungen bringen, auch wenn der Vormittag wie gewöhnlich verlief. Julie saß ein Stündchen bei ihrer Mutter, ging mit ihrem Großvater spazieren, spielte mit den jungen Hunden und sah eine Zeitlang Bobby und Tony zu, die hart an ihrem Kaninchenstall arbeiteten. Nach dem Lunch verschwand sie im Arbeitszimmer und ging die Geschäftsunterlagen durch, die ihr Großvater ihr gegeben hatte. Sie konzentrierte sich auf ihre Arbeit. Noch vor dem Wochenende sollte Steven sie durch die Fabrik führen. Es war ihr heute früh, als sie mit Grandpa geredet hatte, sehr ernst gewesen. Je eher sie die verschiedenen Aspekte des Firmenmanagements durchschaute, desto besser war sie gerüstet, die richtige Entscheidung zu fällen. Weder Clive noch Steven sollte für sie denken. Sie wollte ein gut unterrichtetes, aktives Aufsichtsratmitglied sein, nicht nur ein dekoratives Beiwerk. Oder ein Schmarotzer. Julie zuckte zusammen, als ihr dieses Wort wieder einfiel. Nie wieder sollte Steven Veranlassung haben, ihr dieses Wort an den Kopf zu schleudern. Als ihr Großvater gegen drei Uhr ins Arbeitszimmer schaute, saß sie noch immer über den Akten. „Was tust du da?“ fragte er. „Ich lerne alles über synthetischen Gummi, was sonst?“ erwiderte sie mit gespieltem Ernst. Er lachte. „Gut so. Aber du mußt nicht alles an einem Nachmittag schaffen. Komm lieber mit hinaus. Bobby und Tony sind mit ihrem Stall fertig und brauchen dringend Bewunderer.“ Langsam schlenderten sie über den Rasen hinter das Haus, wo die beiden Jungen stolz neben ihrem Werk standen, das wirklich Beifall verdiente. „Das ist einfach Spitze“, meinte Julie aufrichtig. „Ich hatte keine Ahnung, daß ihr so tüchtig seid.“ „Naja, Grandpa hat uns etwas geholfen.“ „Aber wirklich nicht viel“, wehrte Andrew Barclay ab, „sozusagen nur in beratender Funktion. Ich verdiene kein Lob. Ihr Jungs habt hart gearbeitet und gute Arbeit geleistet. Gleich morgen früh kaufen wir die Kaninchen, Bobby.“ Julie betrachtete die heißen Gesichter der Kinder. „Ich finde, daß muß gefeiert werden. Wie wäre es mit eisgekühlter Limonade? Ich hole welche.“ „Bring auch ein paar Kekse mit!“ rief Bobby. „Ich verhungere sonst.“ „Das ist mir nichts Neues“, neckte Julie, bevor sie zum Haus ging.
8. KAPITEL Bald saß Julie mit ihrem Großvater und den beiden Jungen gemütlich unter einer
mächtigen Eiche. Die beiden Kinder hatten sich auf den Boden gehockt, und Julie
reichte einen Teller mit Keksen herum. Plötzlich tat ihr Herz einen kleinen
Sprung, denn über den Rasen kam Steven auf sie zu.
„Seit wann bist du zurück, mein Sohn?“ fragte Andrew.
„Seit ein paar Minuten. Ich habe nur Ruth guten Tag gesagt, dann bin ich gleich
in den Garten gegangen.“
„Und wie war die Reise?“
„Erfolgreich. Und hier? Alles in Ordnung?“ Er blickte von einem zum anderen.
Bobby sprang auf. „Du mußt dir unbedingt den Kaninchenstall ansehen, den Tony
und ich gebaut haben. Komm, Steven.“
„Möchtest du ein Glas Limonade, bevor dich die Kinder entführen?“ fragte Julie.
„Nur zu gern.“ Er lächelte ihr zu. In seinem Gesichtsausdruck lag etwas, das ihr
Herz höher schlagen ließ.
Sie stand auf und blickte zu ihrem Großvater hinüber. „Soll ich dir nachschenken,
Grandpa?“
Andrew hielt ihr nickend sein Glas hin, während Steven sie überrascht anschaute.
„Grandpa?“ murmelte er fragend vor sich hin, so daß nur sie es verstehen
konnte.
Julie lächelte statt einer Antwort und ging ins Haus. Es würde Steven ganz
guttun, wenn er noch ein wenig zappeln mußte, bevor er erfuhr, was sich alles
während seiner Abwesenheit verändert hatte.
Als sie mit einem beladenen Tablett wieder in den Garten trat, wartete Steven
auf sie. Er hatte Jacke und Schlips abgelegt und die Hemdsärmel bis über die
Ellbogen aufgerollt. So lehnte er lässig neben der Terrassentür. „Kann ich dir
helfen?“ fragte er.
Julie schüttelte den Kopf und trat hinter ihn. „Ich werde schon fertig, vielen
Dank.“
Trotzdem nahm er ihr das Tablett ab und ging nun neben ihr her. „Jetzt heißt es
also Grandpa?“ fragte er leichthin. „Und wie konnte dieses Wunder geschehen?“
Mit einem Achselzucken meinte Julie: „Das ist kein Wunder. Ich hatte es satt,
dauernd Sir zu ihm zu sagen.“
Steven grinste breit, in seinen dunkelbraunen Augen tanzten kleine Lichter. „So
ist das also? Dann bist du wenigstens kein hoffnungsloser Fall. Und da du endlich
dieses ,Grandpa’ gelernt hast, könntest du vielleicht daran gehen, ,Darling
Steven’ zu üben.“
„Oh, könnte ich das? Und kannst du mir einen Grund sagen, warum ich das üben
sollte?“ Sie konnte nur hoffen, daß er nicht ihr starkes Herzklopfen hörte,
schließlich machte er sich ja nur über sie lustig.
Sein Lächeln wurde noch breiter, eine blendendweiße Zahnreihe blitzte in seinem
Gesicht auf. „Du bist schließlich meine Ehefrau, und ich habe läuten hören, daß
manche Ehefrauen ihren Mann so anreden. Sag mir, Eheweib, hast du mich
vermißt?“
Julie lachte. „Na gut, vielleicht so viel.“ Sie zeigte ungefähr einen halben
Zentimeter mit Daumen und Zeigefinger. Nichts in der Welt konnte sie dazu
bringen, ihm zu sagen, wie sehr er ihr gefehlt hatte, wie schal ihr jeder Tag ohne
ihn vorgekommen und wie schön der heutige Nachmittag war.
Steven schüttelte den Kopf in gespieltem Entsetzen. „Dir ist es wirklich gegeben,
das Selbstbewußtsein eines Mannes zu stärken.“
Die Jungen waren weg, nur Andrew saß noch unter der Eiche. Offenbar hatte er
den letzten Teil der Unterhaltung gehört, denn er fragte: „Braucht dein Selbstbewußtsein denn eine Stärkung, mein Sohn?“ Steven lachte vor sich hin. „Wenn ich es brauche, habe ich mich jedenfalls an die falsche Adresse gewandt. Ich habe eher einen Dämpfer als eine Stärkung erhalten.“ „Julie hat dir wohl einen verpaßt?“ lachte Andrew. „Vielleicht tut es dir ganz gut. Mit mir ist sie damals genauso umgesprungen, weißt du noch? Sie hat mir ins Gesicht gesagt, daß sie nichts mit den Barclays zu tun haben will. Das war auch nicht gerade schmeichelhaft.“ Julie wurde dunkelrot, als sie an die Dinge dachte, die sie ihrem Großvater an den Kopf geworfen hatte. Wie recht hatte Steven. Sie war uneinsichtig und nicht bereit gewesen zu vergeben. Jetzt schämte sie sich deswegen. „Bitte vergiß es doch, Grandpa“, bat sie. „Es tut mir aufrichtig leid, daß ich so schreckliche Sachen gesagt habe.“ Der alte Herr lachte. „Das ist schon in Ordnung, mein Kind. Ich hatte nichts Besseres verdient. Du und Ruth, ihr mußtet mir sehr viel mehr vergeben als ein paar zornige Worte. Aber das ist nun vorbei, jetzt zählt nur noch die Gegenwart. Jetzt sind wir eine wirkliche Familie, nur das ist wichtig.“ An diesem Abend wurden Andrew Barclays Worte voll bestätigt, wenn das überhaupt nötig war. Als die Familie wie gewöhnlich vor dem Dinner im Wohnzimmer zusammenkam, hatte Sarah Lejeune eine Überraschung für alle parat. Neben ihr auf dem Sofa saß Ruth. In ihrem langen blauen Seidenkleid sah sie unglaublich jung und hübsch aus. „Mom!“ quietschte Bobby und rannte auf sie zu. „Was tust du denn hier unten?“ Ruths Augen glänzten wie ein See in der Sonne. Sie umarmte ihren kleinen Sohn. „Ich wollte mit euch zu Abend essen, wenn ihr nichts dagegen habt“, neckte sie. „Nichts dagegen?“ Andrew ging mit strahlendem Lächeln auf sie zu. „Wir sind ganz aus dem Häuschen vor Freude, Ruth. Darf ich dir das Kompliment machen, daß du heute abend besonders hübsch aussiehst?“ „Danke, Andrew.“ Julie stand als stummer Beobachter an der Tür. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, und sie hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Da legte sich ein kräftiger Arm um ihre Taille. „Ich nehme alles zurück“, sagte Steven an ihrem Ohr. „Du bist gar nicht so abgebrüht, wie ich dachte.“ Er gab ihr einen zärtlichen Stoß. „Nun reiß dich aber zusammen und feiere mit uns.“ Und eine Feier wurde es! Während des ganzen Abendessens herrschte eine beschwingte Atmosphäre. Das Cordon Bleu von Mrs. Landry zerging auf der Zunge, auf dem schneeweißen Tischtuch glänzte das beste Porzellan und funkelte das Silber, zum Nachtisch gab es Champagner, und die Unterhaltung war fröhlich und gelöst. Es war ein denkwürdiges Essen im Familienkreis, auch bevor Mrs. Landry als Krönung einen Kuchen mit der Aufschrift „Wir gratulieren, Ruth“ hereintrug. Offensichtlich war sie schon beizeiten in das Geheimnis eingeweiht worden. Sie saßen noch bei Tisch, als Clive auftauchte. Von dem morgendlichen Disput mit seinem Onkel war ihm nichts mehr anzumerken. Er begrüßte alle, gratulierte Ruth und setzte sich mit einem Stück Kuchen an den Tisch. „Und wie war deine Geschäftsreise?“ wandte er sich an Steven, der ihm gegenübersaß. „Gut soweit. Und wie steht es in der Fabrik?“ „Wie immer. Hat Onkel Andy dir erzählt, daß Wyndover uns ein neues Angebot
unterbreitet hat?“ Steven runzelte die Stirn. „Nein. Wann kam es?“ „Gestern nachmittag. Ich habe Onkel Andy heute morgen davon berichtet.“ Clive blickte an das Kopfende des Tisches. „Anfang nächster Woche wollen sie unsere Antwort haben, ein besseres Angebot bekommen wir nie.“ „Wir sollten das in der Aufsichtsratssitzung am Freitag ausdiskutieren“, antwortete Andrew bestimmt. „Aber Onkel Andy…“ begann Clive wieder. Andrews finsteres Gesicht ließ ihn innehalten. „Heute abend feiern wir, daß Ruth bei uns ist, und ich will mir diese Stunden nicht durch das Geschäft verderben lassen. Jetzt ist weder die Zeit noch der Ort für solche Gespräche.“ Clive preßte die Lippen aufeinander, er war verärgert, sogar verzweifelt, aber er fing nicht noch einmal davon an. Dann gingen alle ins Wohnzimmer hinüber, um den Kaffee zu trinken. Nur Bobby machte sich aus dem Staub, die Unterhaltung der Erwachsenen langweilte ihn. Julie schenkte den Kaffee ein, bot reihum an und setzte sich danach neben ihre Mutter auf das Sofa. Sie fragte sich, ob sie jemals so glücklich gewesen war wie heute. Es war ein wunderbarer Tag. Einmal hatte er ihr Verständnis und wahre Freundschaft für den Großvater gebracht, zum anderen befand sich ihre Mutter endgültig auf dem Weg zur vollständigen Genesung. Und schließlich war heute Steven nach Hause gekommen. Julie hob die dunklen Wimpern und sah zu ihm hinüber, ihre Blicke trafen sich. Langsam glitt ein herzliches Lächeln über seine Züge und ließ ein warmes Gefühl in ihr aufsteigen. Da schreckte sie die Türglocke auf. Während Steven hinausging, um zu öffnen, zog sich Julies Herz schmerzhaft zusammen. Wieder hatte sie Rosalind vergessen, und wer anders konnte zu dieser Abendstunde klingeln? Sicher wollte sie Steven nach seiner Reise wiedersehen. Als Steven den Besuch ins Wohnzimmer führte, verschlug es ihr allerdings die Sprache. „Hallo, Julie“, sagte eine vertraute Stimme. „Ist das nicht eine Überraschung?“ Obwohl Julie noch immer sprachlos war, registrierte ihr Gehirn die Tatsache, daß Ronald Sutton sehr gut aussah. Zu schwarzen Hosen trug er ein cremefarbenes Sporthemd, und sein rostrotes Haar fiel ihm unternehmungslustig in die Stirn. Seine grünen Augen funkelten wie Smaragde, sie glänzten unnatürlich stark. „W – was tust du denn hier?“ brachte sie schließlich hervor. „Ahnst du nicht, warum ich gekommen bin?“ fragte Ronald vorwurfsvoll. „Ich wollte bei dir sein, du hast mir so gefehlt.“ Julie merkte, daß alle anderen höchst interessiert zuhörten. Vor lauter Verwirrung färbten sich ihre Wangen immer roter. „Also, Ronald, dann will ich dich erst einmal mit allen bekannt machen“, stammelte sie. Sie stellte fest, daß ihr Großvater Ronald nur widerwillig die Hand gab, eine steile Falte hatte sich über seiner Nase gebildet. Clive hieß den Gast höflich willkommen, er schien amüsiert, während Sarah lächelte und in Stevens unbeweglichem Gesicht nichts zu lesen war. Es glich einem verschlossenen Buch. Nur Ruth schien Ronalds Kommen mit vollkommener Gleichmut aufzunehmen. „Wie geht es Ihnen, Mrs. Wilder?“ fragte Ronald höflich. „Sie sehen aus, als hätten Sie alles gut überstanden.“ Ruth freute sich über seine Worte. „Ich bin tatsächlich bald wieder ganz hergestellt. Wollen Sie sich nicht setzen, Ronald? Und was treiben Sie? Wie geht es Ihrer Familie?“ „Danke, zu Hause geht alles gut, bei mir auch. Nur konnte ich es ohne Julie nicht mehr aushalten.“ Ronald setzte sich neben Ruth. Er schien unsicher, als wisse er nicht, ob er willkommen war.
In Julie stieg der Zorn hoch. Ronald hatte kaltblütig ihre Verbindung gelöst, und nun tat er so, als sei nichts geschehen. Gerade wollte sie seinen Optimismus dämpfen, als ihr Großvater ihr zuvorkam. „Sind Sie nicht jener junge Mann, mit dem meine Enkeltochter verlobt war?“ fragte der alte Herr unverblümt. „Stimmt, Sir“, antwortete Ronald eilfertig. „Und wir sind noch immer verlobt“, fügte er mit vielsagendem Lächeln hinzu. „Das ist nicht wahr, und du weißt es ganz genau“, stieß Julie keuchend hervor. Wieder hatte sie den Eindruck, als wisse Ronald nicht, wie er sich geben sollte. Er blickte auf ihre Hände in ihrem Schoß und sagte leise: „Ich gebe zu, daß wir einige Probleme hatten, Julie. Aber ich bin sicher, daß sich alles wieder ausbügeln läßt. Können wir nicht irgendwo allein miteinander reden?“ „Wie lange wollen Sie bleiben?“ warf Andrew Barclay ein. Ronald zuckte mit den Schultern. „Ich habe zwei Wochen Urlaub genommen, aber wenn Julie will, bleibe ich für immer hier.“ „Ich weiß nicht, was ich von für immer halten soll“, erwiderte Andrew spöttisch. „Aber da Sie einmal hier sind, können wir Sie auch für ein paar Tage aufnehmen. Clive, würdest du bitte Mrs. Landry ausrichten, sie möchte ein Gästezimmer herrichten?“ Während Clive den Raum verließ, wandte sich Andrew an Julie: „Es wäre gut, wenn du deinen, hm, Freund ins Arbeitszimmer mitnimmst, wo ihr euch allein unterhalten könnt.“ Julie wollte sicher nicht mit ihrem ExVerlobten unter vier Augen sprechen, aber Ronald hatte bereits vor allen Ohren mehr als genug gesagt. Also stand sie auf und ging zur Tür, wobei sie sorgfältig Stevens Blicken auswich. Sie brannten auch so wie Feuer auf ihrer Haut. Sobald sie die Tür des Arbeitszimmers hinter sich geschlossen hatte, drehte sich Julie ärgerlich zu Ronald um. „Warum hast du im Wohnzimmer so viele Worte gemacht?“ fragte sie wütend. „Warum nicht? Jedes Wort stimmte. Julie, ich kann ohne dich nicht leben.“ Seine Stimme war bedrückt, er trat auf sie zu. „Du hast mir schrecklich gefehlt, und ich möchte nichts lieber als dich heiraten, am liebsten gleich morgen. Du mußt es nur sagen.“ Julie lachte laut auf und trat einen Schritt zurück. Dabei streckte sie die Hände von sich, damit er sie nicht in die Arme nehmen konnte. „Du kannst mich gar nicht vermißt haben“, sagte sie. „Du hast dir ja nicht einmal die Mühe gemacht, mir zu schreiben.“ Ronald riß die Augen auf. „Wie sollte ich denn? Ich wußte ja nicht, daß ihr weggezogen seid, geschweige denn, wohin. Hätte ich nicht Ann zufällig im Drugstore getroffen, wüßte ich bis heute nichts von dir.“ Er breitete die Arme aus. „Komm, Julie, laß uns die Vergangenheit vergessen. Ich habe einen großen Fehler gemacht, als ich dich aus meinem Leben gehen ließ, und diesen Fehler werde ich nicht ein zweites Mal machen. Jetzt möchte ich dich küssen und dir deinen Verlobungsring wieder an den Finger stecken, wohin er gehört.“ Dafür ist es schon zu spät, dachte Julie bedrückt. Ein anderer hätte sehr viel nachdrücklicher seine Rechte an ihr geltend gemacht. Aber ganz abgesehen davon hatte Ronalds unerwartetes Auftauchen nicht das geringste Herzklopfen bei ihr ausgelöst. Sie war nur erschrocken, mehr nicht. „Das wirst du nicht tun“, sagte sie scharf, „weder wirst du mich küssen, noch will ich unsere Verlobung erneuern. Es war ein Fehler von dir herzukommen, Ronald. Diese Reise hättest du dir sparen können.“ Ronald ließ die Arme sinken. „Ich dachte mir schon, daß du Schwierigkeiten machen würdest. Schließlich warst du immer leicht widerborstig. Aber bitte höre
mir zu: Es tut mir aufrichtig leid, daß ich mit dir gebrochen habe. Das heißt doch aber nicht, daß ich dich nicht mehr geliebt hätte. Ich sah nur keine Möglichkeit, wie wir unsere Probleme in den Griff kriegen sollten. Ich wollte mir ein eigenes Unternehmen aufbauen. Das hat nicht geklappt, aber das ist jetzt auch nicht mehr so wichtig. Und da es deiner Mutter wieder gutgeht, ist auch dieses Problem aus der Welt. Du kannst doch nicht vergessen haben, was wir einander bedeuteten, ebensowenig wie ich. Und damit du gleich Bescheid weißt: Noch vor Ende meines Urlaubs werde ich dich zurückgewonnen haben.“ Nach einer kleinen Pause fuhr Ronald unbefangen fort: „Heute abend will ich nicht weiter in dich dringen. Überschlafe meine Worte. Und nun habe ich eine Bitte: Meinst du, du könntest ein Sandwich auftreiben? Ich habe noch nicht zu Abend gegessen, weil ich gleich zu dir wollte.“ Als Julie mit den belegten Broten für Ronald aus der Küche ins Wohnzimmer kam, waren Ruth und ihr Großvater bereits zu Bett gegangen. Steven rauchte eine Zigarette, während sich Clive und Ronald freundschaftlich unterhielten. Bald aber verließ auch Clive das Haus, und Julie war froh, daß dieser Abend ein Ende hatte. Sie und Steven zeigten Ronald sein Zimmer im ersten Stock. Hier verabschiedeten sie sich von ihm und gingen schweigend den langen Korridor entlang. Als sie vor Stevens Tür standen, nahm er ihren Ellenbogen. „Komm doch für ein paar Minuten mit herein“, sagte er leise. „Ich möchte mit dir sprechen.“ Julie wollte widersprechen. Sie war müde, verärgert und hatte keine Lust auf eine neuerliche Szene mit Steven. Aber ein Blick in sein Gesicht sagte ihr, daß Widerspruch sinnlos war. Auch er war wütend. In seinen dunklen Augen glomm ein zorniges Feuer, und sein Kinn und Mund schienen entschlossener denn je. Wortlos betrat Julie vor ihm das Zimmer. Es war mit soliden, teuren Möbeln im Kolonialstil ausgestattet, die Läden vor den Fenstern waren geschlossen. Augenblicklich kam ihr der Gedanke, daß die Einrichtung genau seinem Charakter entsprach: Sie war solide, zuverlässig, funktionsgerecht und ohne jeden falschen Anspruch. Denn bei allen Meinungsverschiedenheiten war sie sich einer Sache bei Steven ganz gewiß: Sie wußte immer, wo sie mit ihm dran war. Und im Moment hatte Steven keine hohe Meinung von ihr, das sah sie unmißverständlich an seinem Blick. Sie gab sich so unbefangen wie möglich, obwohl sie sich keineswegs so fühlte. „Und worüber wolltest du reden? Ich bin wirklich sehr müde und möchte ins Bett, also bitte, mach es kurz.“ „Hast du ihn eingeladen?“ Stevens Frage kam wie aus der Pistole geschossen. Julie machte große Augen. „Ronald? Du weißt, daß ich das nicht getan habe. Nie in meinem Leben war ich empörter als…“ „Gut“, unterbrach Steven sie ungeduldig. „Ich gebe zu, daß du ehrlich überrascht warst, also glaube ich dir. Aber was ich eigentlich wissen will: Möchtest du wieder mit ihm anbändeln?“ „Wie könnte ich? Schließlich bin ich verheiratet.“ Sie wandte Steven den Rücken zu. „Liebst du ihn noch?“ Seine Stimme war leise und beherrscht. Nun blickte Julie ihm wieder ins Gesicht, ihre Augen funkelten vor Empörung. „Was für ein Recht nimmst du dir heraus, mich so etwas zu fragen? Schließlich könnte ich dir in bezug auf Rosalind die gleiche Frage stellen. Das geht dich gar nichts an.“ Mit einemmal ließ sie die Schultern hängen, und alle Entrüstung war verflogen. „Außerdem wäre das gleichgültig, meinst du nicht?“ fragte sie leise. „Zumindest so lange, wie wir aneinander gebunden sind.“ Und das traf zu. Die Situation war noch immer dieselbe. Sie waren verheiratet,
aber Steven liebte nicht sie, sondern eine andere. Sie selber wußte seit heute abend, daß sie Ronald nicht mehr liebte, wahrscheinlich hatte sie ihn auch nie richtig geliebt. So gesehen hatte ihr Großvater sie vielleicht vor einer unglücklichen Ehe bewahrt. Aber sie hatte nicht die Absicht, Steven dieses mitzuteilen, denn er hatte nie ein Geheimnis aus seinen Gefühlen für Rosalind gemacht. Eigentlich war sie froh, daß Ronald aufgetaucht war. Zwar hatte sie nichts mehr für ihn übrig, aber sein Kommen hatte wenigstens bewiesen, daß es doch einen Mann gab, dem sie wichtig war. Ronald war Balsam für ihr angeschlagenes Selbstbewußtsein, und das wollte sie sich nicht nehmen lassen. „Du weißt hoffentlich, daß Sutton nur gekommen ist, um abzusahnen?“ Stevens Stimme war so hart, daß Julie zusammenfuhr. „Was willst du damit sagen?“ „Vermutlich hat er von deinem vermögenden Großvater gehört. Dann hat er sich an zehn Fingern abgezählt, was für dich eines Tages herausspringen könnte, und ist zu dem Schluß gekommen, daß du keine schlechte Partie bist.“ „Du lügst!“ Julies Stimme zitterte vor Wut über Stevens kalten Zynismus. „Niemand weiß, was ich erbe, außer Grandpa und dir. Außerdem ist Ronald nicht der Typ, der sich wegen Geld an ein Mädchen heranmacht. Er hat sich in mich verliebt, als ich arm war.“ Steven nickte und lächelte gequält. „Richtig, aber er hat dich auch fallenlassen, als ihm die Probleme über den Kopf wuchsen. Hast du das so schnell vergessen?“ „Und du hast die Stirn, mich abgebrüht zu nennen!“ rief Julie. „Dann höre dir einmal selbst und deinem harten Urteil zu!“ Steven zuckte mit den Schultern. „Ich mache mir nur nichts vor.“ Er kniff die Lider zu Schlitzen zusammen. „Schmiede keine Pläne, die du nicht verwirklichen kannst. Von mir aus mach dir ein paar hübsche Tage mit deinem ExVerlobten. Aber vergiß eins nicht: Du gehörst mir!“ „O nein“, fauchte Julie, „weder heute, noch morgen, noch in Zukunft!“ „Da irrst du dich gewaltig, und es wird Zeit, daß ich es dir beweise.“ Bevor Julie ahnte, was Steven vorhatte, zog er sie heftig an sich und bedeckte ihre Lippen, ihre Augen, ihre Wangen mit heißen Küssen. Julie spannte jeden Muskel an und tat ihr möglichstes, um diesen Angriff abzuwehren. Stevens Mund wanderte besitzergreifend über ihre feuchten Lippen und den weichen Hals, voller Begehren nach ihrem Körper, so daß sie sich bald nicht mehr widersetzen konnte. Und als seine liebkosenden Hände von ihren schlanken Hüften zu den vollen Brüsten wanderten, erwachte auch in ihr der Wunsch, sich ihm hinzugeben. Sie war diesem Mann ausgeliefert. Stevens Hände glitten auf ihren Rücken und öffneten den Reißverschluß. Das Kleid fiel zu Boden, und er hob Julie auf und trug sie zu seinem Bett. Sie konnte nicht mehr klar denken. Undeutlich erinnerte sie sich an Rosalind, an Ronald, an die Tatsache, daß Steven sie nicht liebte. Aber das alles spielte keine Rolle mehr. Sie spürte ein schmerzendes Verlangen nach diesem Mann, sie sah nur noch seine dunklen, liebevollen Augen, in denen das Feuer der Leidenschaft brannte, während er sich zu ihr legte. Später lagen Steven und Julie eng umschlungen in der Dunkelheit. Julie hatte den Kopf in Stevens Armbeuge gekuschelt, ihre Hand lag auf seiner warmen Brust. Sie war gelöst und wunschlos glücklich. Wie Schuppen war es ihr endlich von den Augen gefallen: Sie liebte Steven. Wann oder wie es dazu gekommen war, wußte sie nicht, aber es war eine Tatsache. „Julie?“ fragte Steven zärtlich. „Ja?“
„Haßt du mich?“ „O nein, wo denkst du hin.“ Aber sie konnte ihm nichts von ihrer eben entdeckten Liebe zu ihm erzählen. Denn trotz des Wunders, das geschehen war, war sie sich seiner Gefühle ihr gegenüber nicht sicher. Fast konnte sie das Lächeln in seiner Stimme hören. „Das ist gut“, murmelte er, „Denn ich hasse dich bestimmt nicht. Ich nehme auch alles zurück, was ich in punkto Frigidität über dich gesagt habe.“ Julie wurde dunkelrot. Sie war dankbar, daß im Zimmer kein Licht war. Wie hatte sie nur alle Scham vergessen und sich diesem Mann hingeben können? „Ich möchte jetzt lieber in mein Zimmer gehen“, sagte sie zögernd. Aber Steven drückte sie nur enger an sich, wandte ihr den Kopf zu und küßte sie irgendwo unter ihrem linken Ohr. „Nein“, sagte er bestimmt, „du bleibst, wo du hingehörst. Und jetzt wollen wir schlafen, mein Liebling.“ Glücklich schmiegte sich Julie an ihn. Als Julie am Morgen die Augen öffnete, schien die Sonne hell ins Zimmer und spielte auf dem Kopfkissen neben ihr. Suchend streckte sie die Hand aus, griff aber ins Leere. Stevens Betthälfte war kalt, also mußte er schon vor geraumer Zeit aufgestanden sein. Die Fensterläden waren weit geöffnet, die Badezimmertür und der Kleiderschrank standen offen. Steven hatte anscheinend schon geduscht, sich angezogen und war hinuntergegangen. Julie gähnte herzhaft und setzte sich auf. Dabei glitt die Bettdecke zurück, und sie sah, daß sie nackt war. Damit erwachte die Erinnerung an gestern abend. Mit einem winzigen Lächeln stieg sie aus dem Bett und ging mit bloßen Füßen ins Bad. Unter der Dusche begann sie, leise vor sich hinzusingen. Sie war überglücklich. Alle Gewissensbisse wegen gestern abend waren wie weggeblasen. Statt dessen sah sie mit Freuden der kommenden Nacht und allem Zauber, den sie bringen würde, entgegen. Steven war der Liebhaber, den sie sich immer erträumt hatte. Er war zärtlich und leidenschaftlich, sanft aber gebieterisch, und er hatte sie zu bisher nicht gekannten Höhen der Verzückung und Erfüllung getragen. Julies Herz sang. Sie liebte diesen Mann. Und niemand konnte ihr diese Nacht nehmen. Dabei lag die Zukunft ungetrübt vor ihr. Steven hatte gestern kein Wort davon gesagt, daß er ihre Ehe lösen wollte. Statt dessen hatte er auf eine Weise von ihr Besitz ergriffen, die besagte, daß er sie nicht nur auf dem Papier, sondern tatsächlich als seine Ehefrau ansah. Und wenn er jetzt ihre Liebe noch nicht erwiderte, so konnte das in drei Jahren ganz anders aussehen. Julie drehte das Duschwasser ab und beeilte sich mit dem Anziehen. Es war noch nicht spät, und vielleicht, ganz vielleicht saß Steven noch am Frühstückstisch. Auf einmal war ihr ein Wiedersehen mit ihm sehr wichtig, und sei es nur, damit er ihr noch ein Lächeln schenkte, daß sie den Tag über wie auf Wolken gehen ließ. Sie lief die Treppe hinunter und betrat erwartungsvoll das Frühstückszimmer, aber nur, um auf der Schwelle bestürzt stehenzubleiben. Da saß Steven am Tisch, aber da saß auch Ronald. Wie konnte sie ihn nur vergessen haben! Sofort sprang Ronald auf und ging ihr entgegen. „Guten Morgen, Darling!“ rief er, „da bist du ja endlich.“ Damit schloß er sie, für Julie ganz unerwartet, ihn die Arme und gab ihr einen herzhaften Kuß. Sie war so überrumpelt, daß sie weder auf die eine noch auf die andere Weise reagierte. Als Ronald sie wieder losließ, lag nur blankes Erstaunen in ihren Augen. Denn es war nicht Ronald, der sie interessierte. Als dieser beiseite trat, sah sie in Stevens Gesicht und hätte am liebsten laut aufgeschluchzt. Sein Mund war wie versteinert, und in den geliebten dunklen Augen war auch nicht der kleinste
Funke Zärtlichkeit zu entdecken. Er sah sie nur voller Verachtung an. „Komm, setz dich, ich gieße dir Kaffee ein“, sagte Ronald. Dabei legte er seine Hand auf ihren Arm. Julie zuckte zurück, als sei sie an eine Brennessel geraten. Steven stand auf. „Ich muß jetzt ins Büro“, meinte er, ohne einen von den beiden anzusehen, und verließ das Zimmer. Daher entging ihm auch Julies flehender Gesichtsausdruck. „Ich – ach, würdest du mich bitte für ein paar Minuten entschuldigen, Ronald“, sagte sie ungeschickt. „Ich muß Steven noch etwas sagen, bevor er ins Büro fährt.“ Damit war sie schon aus dem Zimmer. Sie mußte über den halben Rasen laufen, bevor sie wenige Schritte hinter Steven war. „Steven, bitte warte doch!“ rief sie verzweifelt. Endlich blieb er unter einer mächtigen Eiche stehen. Als er sich umdrehte und sie ansah, waren seine Augen so kalt, daß Julie fror. Nach einer kurzen, gespannten Pause fragte er sachlich: „Was gibt’s?“ Ja, was eigentlich? fragte sich Julie. Sie war ihm wie unter einem Zwang hinterhergelaufen, und jetzt konnte sie unter diesen eiskalten Blicken kein Sterbenswörtchen hervorbringen. Und doch mußte sie etwas sagen, oder sie würde einen noch größeren Narren aus sich machen. „Ich – also gut, ich dachte, ob du dir heute nicht frei nehmen kannst?“ Ein flüchtiger Schimmer trat in seine Augen und war gleich wieder verschwunden, als sei für einen Moment ein Licht aufgeblitzt. „Warum?“ Steven stand stocksteif und musterte Julie. Julie blickte auf ihre Fußspitzen. „Du bist doch erst gestern von der Geschäftsreise zurückgekommen, also hast du mindestens einen freien Tag verdient. Vielleicht könnten wir nach St. Francisville fahren und Ronald die alten Plantagenhäuser zeigen? Du mußt wissen, daß ich – daß ich sie auch noch nicht gesehen habe.“ Voller Hoffnung schlug sie die Augen zu ihm auf. „Tut mir leid.“ Stevens Stimme war genauso starr und unnachgiebig wie seine Haltung. „Ich muß arbeiten. Außerdem habe ich keine Lust, zuzusehen, wie dieser Mitgiftjäger dich alle fünf Minuten abknutscht. Vor meiner Reise habe ich dir gesagt, daß wir über unser Verhältnis reden müssen, Julie. Wenn du nach der letzten Nacht nicht den Mut hast, aller Welt ins Gesicht zu sagen, daß wir verheiratet sind, dann will ich nichts mehr von dir wissen. Vielleicht glaubst du, mit mir Katz und Maus spielen zu können, aber ich werde dabei nicht mitspielen.“ Julie starrte ihn an. Nichts würde sie lieber tun, als aller Welt verkünden, daß Steven ihr Mann war. Aber wußte sie denn, ob er sie liebte? Er sah sie so feindselig an und glich in nichts jenem geliebten Mann, den sie in der vergangenen Nacht zärtlich umarmt hatte. Lautes Hupen riß Julie aus ihren Gedanken. Sie und Steven blickten auf und sahen einen Wagen die Auffahrt heraufkommen, der vor der Garage hielt. Wie betäubt sah Julie Rosalind aus diesem Auto steigen und auf sie zukommen. Sie streckte Steven beide Hände entgegen. „Steven, Liebling, ich weiß, daß du um diese Zeit in die Firma fährst, aber ich habe dich zwei Wochen nicht gesehen und hatte Sehnsucht nach dir.“ Julie hätte ebensogut ein unscheinbares Gänseblümchen unter der großen Eiche sein können. Rosalind hielt es nicht für nötig, sie überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Statt dessen schlang sie ihre Arme um Stevens Hals und küßte ihn innig auf den Mund. Er hatte einen Arm um Rosalinds Taille gelegt. Als sie zögernd ihre Arme von seinem Nacken löste, blickte er endlich wieder auf Julie. Auf seinen Lippen lag ein grausames Lächeln, das ihr überdeutlich sagte, wie unwichtig sie im Moment war. Julie machte auf dem Absatz kehrt und ging entschlossen dem Haus zu. Ich
Dummkopf, sagte sie sich bei jedem Schritt, Dummkopf und noch einmal Dummkopf! Wie hatte sie auch nur eine Minute lang glauben können, daß Steven es ernst mit ihr meinte!
9. KAPITEL Für Julie wurde es ein gräßlicher Tag. Ronald bestand darauf, daß sie für ein paar Stunden das Haus verließen. So entschied Julie, daß eine Fahrt nach St. Francisville genauso gut wie jeder andere Ausflug war. Sie wollte aber auf keinen Fall den ganzen Tag allein mit Ronald verbringen, also fragte sie Bobby, ob er nicht mitkommen wolle. Der Junge war sofort Feuer und Flamme, um so mehr, als Tony für ein paar Tage zu seinen Großeltern gefahren war. Ronald war natürlich nicht sehr glücklich über diese Lösung. „Seit zwei Monaten haben wir uns nicht mehr unter vier Augen gesehen, Julie“, murrte er, als sie im Wagen auf Bobby warteten, der sich noch von Ruth verabschieden mußte. „Warum mußt du Bobby mitnehmen und uns so den Tag verderben? Du weißt doch, daß ich mit dir allein sein will.“ Aber Julie ging auf seine Vorwürfe nicht weiter ein. „Bobby hat seinen Spaß an dem Ausflug, und außerdem lernt er etwas dabei. Wenn es mir nichts ausmacht, ihn mitzunehmen, warum beklagst du dich dann?“ Ronald schüttelte stumm den Kopf über ihre vermeintliche Verbohrtheit. Da kam Bobby auch schon angetrabt und stieg hinten im Auto ein. Das kleine Städtchen St. Francisville führt seinen Namen auf den heiligen Franziskus von Assisi zurück. Im späten achtzehnten Jahrhundert errichteten Kapuzinermönche an dieser Stelle ein Kloster, das längst zerstört ist. Trotzdem ist die Stadt für ihre Bauten berühmt, die vor dem Sezessionskrieg zwischen den Nord und den Südstaaten entstanden waren. Sie besichtigten das Städtchen mit seinem Rathaus, den alten Gebäuden und das kleine historische Museum. Bobby war von den jahrhundertealten Ausstellungsstücken fasziniert, während Ronald schlicht gelangweilt war und sehr bald vor dem Museum auf Julie und ihren Bruder wartete. Dann fuhren sie zur MyrtlesPlantage hinaus. In der Eingangshalle des Herrschaftssitzes mußten sie einige Minuten warten, bis genügend Besucher beisammen waren und die Führung beginnen konnte. „Julie“, meinte Ronald, „warum warten wir nicht draußen und lassen Bobby allein die Führung mitmachen? Dann können wir endlich in Ruhe miteinander sprechen.“ „Rede keinen Unsinn“, schnitt ihm Julie das Wort ab. „Wir können das Kind nicht allein hier drin lassen, und außerdem möchte ich auch gern das Haus sehen.“ „Und wozu? Es ist doch nur ein altes Gemäuer, vollgestopft mit ebenso altem Kram. Wen interessiert das schon? Ich möchte über uns reden. Ich bin nicht den ganzen Weg von Oklahoma hergefahren, nur um…“ „Pst.“ Julie legte einen Finger auf den Mund, der Führer hatte mit seinem Vortrag begonnen. „Später.“ Die Besuchergruppe wanderte von einem Zimmer ins nächste, während der Führer eine kleine Vorlesung über die allegorische Malerei des achtzehnten Jahrhunderts, über das Muschelornament im Rokoko und die verschiedenen Möbelstile hielt. Die ganze Zeit über blieb Ronald uninteressiert und mürrisch, er hatte einfach keinen Spaß an antiken Kostbarkeiten. Wenn er nicht dabeigewesen wäre, hätte Julie Freude an dieser Führung gehabt, so aber beeinträchtigte er ihre Laune und Aufnahmebereitschaft. „Dieses Sofa, meine Damen und Herren, stammt aus dem Schloß von Doorn in Holland…“ Dabei mußte Julie zugeben, daß ihre Kritik an Roland nicht ganz fair war. Obwohl sie sich nichts anmerken ließ, hatte auch sie in den letzten fünf Minuten nicht
mehr zugehört. Statt dessen waren ihre traurigen Gedanken zu Steven gewandert. Die Verzweiflung über ihre Lage schnürte ihr die Kehle zu. Warum, fragte sie sich mit blutendem Herzen, war sie nur so dumm gewesen, sich in diesen Mann zu verlieben? „… und obwohl die Soldaten der Nordstaaten in diesem Zimmer standen, merkten sie nicht, daß hinter den falschen Buchrücken die Kostbarkeiten des Hauses versteckt waren.“ Julie kehrte in die Gegenwart zurück, als Bobby sie am Ärmel zog und leise sagte: „He, das ist mal eine gute Idee, findest du nicht, Julie?“ Wenige Minuten später war die Besichtigung zu Ende, und Ronald ging mit ihnen gleich zum Auto. „Und wo ist jetzt dieser komische Park, in dem wir picknicken sollen?“ fragte er übelgelaunt. Julie hatte die Landkarte auf den Knien, während Ronald langsam die kurvenreiche Straße zur Autobahn fuhr. Nach wenigen Kilometern erreichten sie den AudubonNaturschutzpark. Dieses Erholungsgebiet war nach dem naturalistischen Maler John James Audubon benannt. Hier hatte er viele seiner berühmten Vogelbilder gemalt, als er Hauslehrer der Tochter des Plantagenbesitzers gewesen war. Im Park war es still und angenehm kühl. Riesige Eichen mit spanischem Moos spendeten Schatten für die Fahr und Wanderwege und die Picknicktische. Selbst Ronald vergaß seine schlechte Laune. „Dies ist ja wie geschaffen für ein Picknick und entschädigt mich für – o nein, bitte nicht noch einmal“, stöhnte er auf. Sie waren an einer Lichtung angelangt, auf der sich das herrschaftliche Haus der OakleyPlantage erhob. „Nicht noch eine Führung!“ „Du brauchst nicht mitzugehen“, versprach sie. „Falls Bobby und ich das Haus ansehen wollen, kannst du hier draußen im Schatten warten.“ „Abgemacht.“ Nachdem sie das von Julie hergerichtete Picknick verzehrt hatten, machte Bobby einen kleinen Abstecher zu einem Teich in der Nähe. Endlich war Ronald am Ziel seiner Wünsche. Er zog Julie an sich. „Du hast mir gestern abend keinen Kuß gegeben, und heute morgen war dieser Steven Richard dabei. Findest du nicht, daß du mir jetzt einen schuldig bist?“ In seinen Augen lag freundlicher Spott, er rückte näher an sie heran und beugte sich zu ihrem Mund. Julie protestierte nicht. Vielleicht würde Ronald auf diese Weise ein anderes Gesicht vor ihren Augen verdrängen und die Umarmung eines anderen Mannes vergessen lassen. Aber diese Hoffnung war vergeblich, und nach einem kurzen Moment entzog sie sich Ronald. „Ich gehe jetzt Bobby suchen“, sagte sie ruhig. „Der wird schon kommen“, Ronald klang sehr verärgert. „Nun komm doch endlich wieder zu dir, Julie. Ich verstehe, daß du mir immer noch böse bist, aber langsam gehst du zu weit. Du weißt genau, daß du mich noch immer liebst und daß ich dich liebe. Ich möchte dir den Verlobungsring wieder an deinen Finger stecken und unseren Hochzeitstag festlegen.“ Julie verschränkte die Arme auf dem Rücken und schüttelte energisch den Kopf. „Ich habe dir doch in aller Deutlichkeit gesagt, Ronald, daß ich dich nicht heiraten werde.“ Julie seufzte erleichtert auf, als sie am späten Nachmittag wieder in Magnolia Way anlangten. Ronald war den ganzen Tag über launisch gewesen. Immer, wenn er ein persönliches Gespräch mit ihr gesucht hatte, war Bobby dazwischen gekommen. Darüber hinaus war er böse mit ihr. Offenbar glaubte er tatsächlich, daß sie ihn nur hinhielt, um ihn zu strafen. Wenigstens für Bobby war der Ausflug ein Erfolg gewesen. Mom und Grandpa erhielten auf der Terrasse einen genauen Bericht des Tages. Julie hatte sich auf
die Armlehne von Ruths Stuhl gesetzt, während Ronald in sein Zimmer hinaufgegangen war. Julie war ehrlich erleichtert, sie hätte sein mürrisches Gesicht nicht länger ertragen können. Als Bobby endlich der Stoff ausgegangen war, erkundigte sich Julie nach Sarah. „Sie ist mit ihrer Mutter zur Druckerei gefahren, um ihre Hochzeitseinladungen abzuholen“, erwiderte Ruth. „Dabei fällt mir ein, daß Sarah uns schon Ende der Woche verlassen wird.“ „Bist du sicher, daß es für dich das Richtige ist, wenn sie schon so bald geht?“ Fragend blickte Julie von ihrer Mutter zum Großvater. Andrew nickte lächelnd. „Heute früh ist Sarah mit Ruth zum Arzt gefahren. Er findet, daß es ihr ganz ausgezeichnet geht. Solange sie sich nicht anstrengt, braucht sie nicht mehr so viel zu ruhen wie bisher, und eine Krankenschwester sei auch unnötig.“ „Das ist eine herrliche Nachricht. Aber Sarah wird uns fehlen, vor allem dir, Mom.“ Ruth nickte. „Das wird sie sicher, aber in zwei Wochen wäre sie sowieso gegangen. Ich habe schon mit Mrs. Landry verhandelt, weil ich Freitag für Sarah ein Abschiedsessen arrangieren möchte. Es wäre nett, wenn du morgen oder übermorgen in die Stadt fahren und ein Geschenk für sie einkaufen könntest, Julie. Ich denke an etwas für ihre Aussteuer.“ „Aber gern, Mom“, erbot sich Julie sofort. Gleichzeitig aber spürte sie den blanken Neid in sich aufsteigen. Warum hatte sie keine normale Hochzeit feiern können, mit allem Drum und Dran, den aufregenden Vorbereitungen und aller Vorfreude, die eine Verlobungszeit mit sich bringt? Wenige Minuten später entschuldigte sie sich und ging in ihr Zimmer hinauf. Sie zog ihr Kleid aus, legte sich aufs Bett und schloß die Augen. Am liebsten wäre sie für den Rest des Tages in ihrem Zimmer geblieben, aber sie wußte, daß das unmöglich war. Sie fragte sich bedrückt, wie sie heute abend Stevens Anblick ertragen sollte. Die Erinnerung an seine Hände auf ihrem Körper trieben ihr die Röte ins Gesicht und ließen sie vor Schmerz und Empörung erschauern. Würde sie jemals Stevens intime Zärtlichkeiten vergessen? Oder die Art und Weise, in der sie reagiert hatte? Oder das Glück, eng an den warmen, kräftigen Körper eines geliebten Mannes angeschmiegt einzuschlafen? Oder die Verachtung in seinen Augen, als er sie heute früh so gequält hatte? Er will unsere Heirat bekanntgeben, dachte Julie bitter. Und einen Moment später küßt er eine andere Frau, während er mir vorwirft, daß ich mich von Ronald umarmen lasse. Und überhaupt Ronald, armer Junge. Er hatte den weiten Weg gemacht, um ihre Beziehungen wieder aufzunehmen, um sie zu heiraten. Aber selbst, wenn sie noch frei gewesen wäre, war es jetzt zu spät. Inzwischen hatte sie einen dunkeläugigen Südstaatler kennengelernt, dem sie hoffnungslos verfallen war, auch wenn dieser niemals etwas davon erfahren würde. Schließlich befahl sie sich, aufzustehen und sich für das Dinner im Familienkreis anzukleiden. Sie spielte mit dem Gedanken, zu Bett zu gehen und starke Kopfschmerzen vorzutäuschen, aber das war ein feiger Ausweg. Außerdem wäre es grausam, Ronald den ganzen Abend Stevens mißbilligenden Blicken und der nur widerstrebend gewährten Gastfreundschaft ihres Großvaters auszusetzen. Als Julie wenige Minuten später das Wohnzimmer betrat, entdeckte sie, daß sie sich ganz unnötige Sorgen gemacht hatte. Steven war gar nicht da. Dafür war
Clive gekommen und unterhielt sich angeregt mit Ronald. Beide standen mit ihren Cocktailgläsern am Fenster, während Ruth und Andrew auf dem Sofa saßen. Hinter Julie betraten Sarah und Bobby das Wohnzimmer. „Wo ist Steven?“ wollte Bobby wissen. „Er hat heute nachmittag angerufen, daß er nicht zum Dinner kommt“, antwortete Andrew Barclay. Dabei sah er seine Enkelin an. Julie fühlte sich unter seinem Blick höchst unbehaglich. Machte er sie vielleicht dafür verantwortlich, daß Steven nicht nach Hause kam? Da kam Ronald auf sie zu. „Du siehst heute abend bezaubernd aus“, meinte er und ließ seine Blicke bewundernd über ihr gelbes Seidenkleid und die Haare wandern, die sie in bauschigen Locken aufgesteckt hatte. Er hatte seine gute Laune wiedergefunden, denn sein Lächeln war aufrichtig und herzlich. „Darf ich mein Mädchen heute abend vielleicht zum Dinner ausführen?“ Als Julie zögerte, wandte er sich mit gewinnendem Lächeln an Andrew Barclay: „Sagen Sie ihr doch bitte, daß sie mitkommen soll, Sir. Sie können sicher verstehen, daß ich Julie einmal für mich allein haben will.“ Andrew Barclays dichte Brauen senkten sich über die scharfen grauen Augen. „Tut mir leid“, knurrte er, „ich habe Julie einmal gesagt, was sie tun soll. Das war ein Fehler, den ich nicht wiederholen möchte. Sie ist alt genug, um allein zu entscheiden.“ Julie sah ihren Großvater überrascht an. Wollte er sich mit diesen Worten etwa entschuldigen, weil er sie zu einer Heirat gezwungen hatte, die von Anfang an unter einem unguten Stern stand? Warum? Und warum gerade jetzt? „Wovon sprichst du eigentlich, Andrew?“ fragte Ruth mit gerunzelter Stirn. „Du klingst so feierlich.“ „Tue ich das? Ist schon gut, Ruth. Also bleibt ihr zwei nun, oder geht ihr aus? Ich habe Hunger, und da steht Mrs. Landry und sagt, daß das Dinner fertig ist.“ Julie sah zu Ronald hinüber, dessen Gesicht sich leicht gerötet hatte. Vermutlich war er peinlich berührt, weil ihr Großvater keine Schützenhilfe geleistet hatte. Aber obwohl ihr Ronald leid tat, blieb sie bei ihrer anfänglichen Entscheidung. „Ich bin von unserer Besichtigungstour noch immer müde“, sagte sie mit einem gequälten Lächeln. „Ich habe wirklich keine Lust, heute noch einmal das Haus zu verlassen.“ Ronald nahm ihre Absage gleichmütig auf. „Wie du willst, Baby, dann eben ein andermal.“ Nach dem Essen ging Ruth sehr bald in ihr Zimmer, da sie fast den ganzen Tag auf gewesen war. Auch Andrew zog sich zurück, während Bobby bereits vor dem Fernseher saß und sich einen Western anschaute. Nur Sarah blieb noch zum Kaffee, und sie plauderten über dies und jenes. Nach einer Viertelstunde entschuldigte sich auch Sarah und verließ das Wohnzimmer. Nun gingen Clive, Ronald und Julie auf die Terrasse. Hier war es angenehm kühl. Julie sank auf einen Stuhl, schloß die Augen und entspannte sich zum erstenmal an diesem Tag. Ronald und Clive unterhielten sich leise, aber sie achtete nicht auf ihre Worte. Sie war dankbar, daß sich ihr Vetter um Ronald kümmerte. Clive schien überhaupt der einzige im Haus, der ein wirkliches Interesse an Ronald zeigte. Ruth war höflich, aber zurückhaltend. Julie wußte, daß ihre Mutter erleichtert gewesen war, als ihre Verlobung auseinanderging, obwohl sie den eigentlichen Grund nie erfahren hatte. Ihr Großvater war zwar ein untadeliger Gastgeber, machte aber keinen Hehl daraus, daß er diesen Gast auch gut missen konnte. Und Steven? Steven soll mir doch den Buckel herunterrutschen, sagte sich Julie trotzig. „Mit der Wyndover Company können wir die Firma unter unserer Leitung
weiterlaufen lassen“, hörte sie Clive sagen. „Wir hätten dann das Geld dieses Konzerns im Rücken und könnten unsere Kapazität verdoppeln. Wir wären zwar in unseren Entscheidungen nicht mehr frei, aber wen würde das stören? Alles wäre leichter. Wir müßten nicht mehr so hart arbeiten…“ Julie stand auf. „Ich sage Mom gute Nacht und bin gleich zurück“, unterbrach sie Clive und ging ins Haus. Clive kann einem mit seiner langweiligen Wyndover Company ganz schön auf die Nerven gehen, dachte sie ärgerlich. Immer wieder kam er darauf zurück, daß die Firma ihres Großvaters an den Konzern verkauft werden müßte. Man konnte fast den Eindruck haben, als stünde er auf der Gehaltsliste dieser Wyndover Company. Ruckartig blieb Julie stehen. Vielleicht traf diese Vermutung sogar zu? Sie würde jedenfalls klären, warum ihm dieses Thema so sehr am Herzen lag. Ob Steven wohl schon auf diese Idee gekommen war? Dann schob sie den Gedanken von sich und ging zu ihrer Mutter. Als Julie nach einer Viertelstunde wieder auf die Terrasse trat, unterhielten sich die beiden Männer noch immer lebhaft. Ronald blickte ihr entgegen. In seinen Augen lag ein eigenartiges Flackern. „Clive und ich haben einen ausgezeichneten Entschluß gefaßt“, sagte er ein wenig hektisch. „Komm, setz dich und höre uns zu.“ „Ich habe Ronald davon überzeugt“, begann Clive, „daß er einen Job in unserer Firma übernehmen sollte, da ihr beide in absehbarer Zeit heiraten wollt. Als dein Ehemann hat er ein gleiches Anrecht auf einen Posten im gehobenen Management wie Steven und ich.“ Julie sah ihren Vetter fassungslos an, sie brachte kein Wort heraus. Sofort benutzte Ronald die Pause: „Clive hat mir auch gesagt, daß dir in naher Zukunft ein Anteil der Firmenaktien überschrieben werden wird, da du Andrew Barclays Enkelin bist. Wenn wir erst verheiratet sind, wird der Alte sicher den Wunsch haben, daß sich dein Mann um deine Geschäfte kümmert. Wir, das heißt Clive, du und ich, würden über die Stimmenmehrheit verfügen, falls über einen Verkauf an Wyndover abgestimmt werden sollte. Ich würde mich rückhaltlos auf Clives Seite stellen, um deine Interessen wahrzunehmen.“ Nun stand Clive auf. „Ich muß langsam gehen. Wie ich Ihnen schon gesagt habe, Ronald, müssen Sie sich mit Steven in Verbindung setzen, denn er ist der Geschäftsführer. Er kann aber kaum Schwierigkeiten machen, da Sie bald zur Familie gehören. Gute Nacht, Julie, ich sehe euch morgen wieder.“ Sowie Clive das Haus verlassen hatte, sah Julie Ronald mit funkelnden Augen an. „Wie oft soll ich dir noch sagen, daß ich dich nicht heiraten werde! Es besteht kein Grund, daß du dich um einen Posten in der Firma bemühst, also vergiß es.“ „Das werde ich nicht“, erwiderte Ronald heftig. Er nahm ihr Handgelenk und zog sie hoch. Dann legte er einen Arm um ihre Taille. „Natürlich wirst du mich heiraten, Julie. Du liebst mich, und du brauchst mich. Du weißt anscheinend nicht, Darling, daß du bald eine wohlhabende Frau sein wirst. Du brauchst also jemanden, der sich um deinen Besitz kümmert. Und wer wäre besser dafür geeignet als ich?“ Julie konnte kaum ihre Wut über soviel Selbstherrlichkeit unterdrücken. Sie öffnete den Mund, jetzt würde sie endlich sagen, daß sie bereits einen Ehemann hatte. Nur so konnte sie Ronald zum Schweigen bringen. Da fiel ein heller Lichtstrahl auf sie. Ronald hielt sie noch immer im Arm. Die Worte blieben ihr im Hals stecken, als die Tür ganz geöffnet wurde. Da stand Steven, Rosalind neben ihm. Seine Augen, schwarz wie die Nacht, schienen sie zu durchbohren. Julie fröstelte, als sei ein kalter Wind aufgekommen.
„Du liebe Zeit“, kicherte Rosalind leise auf. „Ich fürchte, wir sind im falschen
Moment hereingeplatzt, Steven. Wir sollten lieber so schnell wie möglich wieder
verschwinden.“
Julie entwand sich Ronalds Armen und trat einige Schritte zurück, als sei sie auf
frischer Tat ertappt worden. Aber Ronald schien ihre Verwirrung nicht zu teilen.
Liebenswürdig trat er auf Steven und Rosalind zu. „Hallo“, er lächelte Rosalind
an.
„Ich bin Ronald Sutton, Julies Verlobter.“ Er hielt erwartungsvoll inne.
„Mein Name ist Rosalind York. Sie sind also Julies Verlobter. Ich freue mich, Sie
kennenzulernen.“
Nun wandte sich Ronald an ihren Begleiter. „Mr. Richard“, begann er betont
herzlich, „mit Ihnen wollte ich gerade reden. Haben Sie ein paar Minuten Zeit für
mich?“
Steven, der bisher nur Julie angesehen hatte, richtete seinen Blick zögernd auf
Ronald. „Wozu diese Eile? Ich bin sicher, daß unsere Unterredung auch bis
morgen Zeit hat.“
„Vielleicht, aber ich mache gern Nägel mit Köpfen, und zwar gleich.“
Steven musterte Ronald nachdenklich und nickte. „Gut, gehen wir ins
Arbeitszimmer.“
„Nein“, warf Julie hastig ein. „Tu es nicht, Roland, es besteht gar kein Anlaß…“
Steven sah sie mit vernichtendem Blick an. „Ich habe den Eindruck, daß Mr.
Sutton um eine private Unterredung bittet, ihr entschuldigt uns also?“ Er ging zur
Tür.
Hilflos starrte Julie auf Stevens breiten Rücken. Sie wußte, worüber Ronald mit
ihm sprechen wollte. Steven mußte annehmen, daß sie Ronalds Bitte nach einem
Posten in der Firma nicht nur billigte, sondern daß sie ihn dazu angestiftet hatte.
Und wie sollte sie Ronald von seinem Vorhaben abbringen? Sie konnte kaum
hinter den beiden herlaufen und eine Szene heraufbeschwören, sie wußte genau,
daß Rosalind ein böswilliges Interesse an ihr und ihren Reaktionen hatte.
Julie ballte die Hände. In genau diesem Moment machte Ronald aus sich und ihr
Narren, und ihr waren die Hände gebunden.
Sie zwang sich, ruhig zu erscheinen. „Wollen Sie sich nicht setzen, Rosalind?“
fragte sie höflich. „Vielleicht dauert es nicht lange.“
„Danke.“ Rosalind schritt auf einen der tiefen Gartensessel zu und ließ sich
graziös darauf nieder, wobei sie ihren schimmernden Seidenrock über den Knien
ordnete. „So können wir zwei mal miteinander reden“, sagte sie. „Ich gratuliere
Ihnen zu Ihrer Verlobung, Ronald ist ein sehr attraktiver Mann.“
Es gab nur zwei mögliche Antworten: Entweder Julie schwieg und stimmte so zu,
daß sie mit Ronald verlobt war, oder sie stritt es ab. Aber sie war nicht in der
Stimmung, ihr Privatleben mit Rosalind zu erörtern.
„Möchten Sie eine Tasse Kaffee?“ fragte sie, um Rosalind auf ein anderes Thema
zu bringen. Diese lächelte versonnen, während Julie eine Tasse vollschenkte.
„Wissen Sie“, sagte Rosalind mit ihrer aufregenden, samtenen Stimme, „wir
haben im Moment viel mehr gemeinsam, als Sie ahnen, Julie.“
Julie fiel beim besten Willen nicht ein, was sie und Rosalind verbinden könnte,
aber sie fragte: „Ja, was ist es?“
„Unsere bevorstehenden Hochzeiten natürlich“, lachte Rosalind. „Steven hat mir
heute einen Antrag gemacht.“
Rosalind hätte ihr genausogut den brühheißen Kaffee ins Gesicht schütten
können, so verletzt war Julie. Ihr Herz setzte buchstäblich aus, und als es wieder
zu schlagen begann, bummerte es dumpf gegen ihren Brustkorb. „Ich – ich
gratuliere Ihnen“, brachte sie mühsam hervor.
„Danke, aber Steven und ich wollen es noch eine Zeitlang geheimhalten, also bitte, reden Sie nicht darüber.“ Rosalind zuckte anmutig mit den Schultern. „Nur weil ich Sie eben mit Ihrem Verlobten gesehen habe, dachte ich, ich sollte mein Geheimnis mit Ihnen teilen, denn Sie können mein Glück besser als alle anderen verstehen.“ Ja, dachte Julie verzweifelt, vor allem kann ich verstehen, warum du deine Verlobung geheimhalten willst. Weil dein Verlobter zufällig zur Zeit verheiratet ist. Trotz aller Verzweiflung war Julie aufgebrachter denn je. Wie konnte Steven unter diesen Umständen Rosalind einen Heiratsantrag machen! Solange er mit mir verheiratet ist, hat er kein Recht dazu, schrie es in ihr. Er hatte ihr vorgeworfen, daß sie mit ihm nur spiele. Und was tat er? Er ging sogar soweit, eine andere Frau um ihre Hand zu bitten, während er bereits eine Ehefrau hatte. Das war Rosalind gegenüber grausam und unfair und beleidigend für sie selbst. Und warum hatte er sich so schnell nach der vergangenen Nacht endgültig für Rosalind entscheiden können? Julie tat das Herz weh. Tränen stiegen in ihr auf und brannten in ihren Augen. Sie schluckte schwer und sagte mit unsicherer Stimme: „Es tut mir leid, Rosalind, aber Sie müssen mich entschuldigen. Ich habe schreckliche Kopfschmerzen. Ich werde ein paar Aspirin nehmen und zu Bett gehen. Würden Sie das bitte Ronald ausrichten, wenn die beiden da drinnen fertig sind?“ „Aber gern“, entgegnete Rosalind lächelnd. „Und um mich brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen. Ich kann gut allein warten. Also dann, gute Nacht und gute Besserung.“ Julie stolperte zur Tür. Sie sah kaum, wohin sie trat, denn ihre Augen schwammen in Tränen. Als sie am Fuß der Treppe war, wurde die Tür des Arbeitszimmers aufgerissen, und sie hörte ihren Namen. „Julie, ich wollte dich gerade holen. Ich finde, du solltest an unserer Diskussion teilnehmen. Sie ist sehr interessant.“ „Jetzt nicht“, murmelte sie mit abgewandtem Gesicht. „Ich habe Kopfweh und gehe zu Bett.“ Und bei Gott, sie log nicht einmal. Ihr Kopf dröhnte als Antwort auf das, was Rosalind ihr eben mitgeteilt hatte. „Es dauert nur eine Minute“, erwiderte Steven hartnäckig. „Sutton und ich möchten beide…“ Jetzt wirbelte Julie herum und sah Steven ins Gesicht. „Es ist mir egal, was ihr wollt, alle beide!“ schrie sie, ihre Stimme überschlug sich. „Laßt mich endlich in Ruhe.“ Steven preßte die Lippen hart zusammen. Mit zwei langen Schritten stand er vor ihr und legte die Hände auf ihren Arm. „Welche Laus ist denn dir über die Leber gelaufen, Julie?“ Julie riß ihren Arm weg wie eine wütende Wildkatze. „Rühre mich nie wieder an!“ fauchte sie. „Niemals, hörst du? Ich hasse dich, ich hasse dich!“ Sie drehte sich um und stürzte die Treppe hinauf. Nur weg von Steven und in die sichere Abgeschiedenheit ihres Zimmers! Als sie die Tür hinter sich ins Schloß geworfen hatte, stürzten ihr die Tränen aus den Augen. Sie flog am ganzen Leib. „Ich hasse dich, Steven Richard, ich hasse dich“, flüsterte sie immer wieder und wußte doch, daß sie nicht die Wahrheit sagte. Am Morgen war Julies Kopfweh noch schlimmer geworden. Sie schluckte zwei weitere Aspirin und betrachtete verstört ihr Spiegelbild. Unter den verhangenen
grauen Augen zeigten sich feine blaue Ringe, der Beweis für eine schlaflose Nacht. Gedankenlos zog sie ein korallenfarbenes, zweiteiliges Sommerkleid an, doch die hellen Farben ließen ihr Gesicht noch elender erscheinen. Noch nie hatte sie so schrecklich ausgesehen. Sie versuchte, dem Problem mit etwas Makeup beizukommen, aber das Rouge sah auf ihren blassen Wangen wie zwei rote Flecke aus, die sich ein Clown ins Gesicht gemalt hatte. Schließlich wusch sie alles wieder ab. Zögernd ging sie die Treppe hinunter und durchquerte die Halle. Sie hatte überhaupt keinen Appetit. Aber sie mußte zum Frühstück erscheinen, sonst würde sie nur ein unliebsames Interesse an ihrer Person erwecken. Das Frühstückszimmer war leer, und Julie trat auf die Terrasse hinaus. Hier fand sie ihren Großvater und Steven am Tisch sitzen. Ihre Schultern strafften sich, als sie Stevens Rücken sah. Als habe er ihren Blick gespürt, drehte sich dieser sofort nach ihr um und blickte sie abschätzend aus einem finsteren Gesicht an. Eine endlose Zeit blickten sie einander in die Augen, als stünden sie unter einem alten VoodooZauber, der in Louisiana jahrhundertelang von Schwarzen wie von Weißen geübt worden war. Sie liebte und sie haßte diesen Mann gleichzeitig. Jetzt, wo sie jede Einzelheit seines Gesichtes in sich aufnahm, die gemeißelten Linien um Nase und Lippen, die kaffeebraunen Augen, das rötlich aufleuchtende braune Haar, verlangte es sie danach ihn zu berühren. Dieser Mann hatte ihr Herz erobert, auch wenn sie schon so oft miteinander gestritten hatten. Gegen ihren Willen fühlte sie sich zu ihm hingezogen. Wie freundlich und rücksichtsvoll war er in Houston gewesen, als sie so dringend einen Halt gebraucht hatte. Wieviel Mühe gab er sich, damit Bobby sich in seinem neuen Zuhause willkommen und geborgen fühlte. Sie schätzte auch Stevens Anhänglichkeit an seinen Stiefvater. Dabei hatte er genausoviel Grund wie sie, ihm wegen dieser erzwungenen Heirat böse zu sein. Andererseits haßte sie ihn, denn er spielte ein falsches Spiel mit ihr. Immer wieder hatte er ihr gezeigt, daß er sie sexuell begehrte, und als er endlich am Ziel gewesen war, hatte er ihr augenblicklich den Rücken zugekehrt. Jene Nacht, in der er sie in seinen Armen gehalten und geliebt hatte, wie ein Mann eine Frau lieben sollte, war für Julie der Beginn eines neuen Lebens gewesen. Für Steven aber bedeutete diese Nacht einen Schlußpunkt, denn schon am nächsten Tag hatte er Rosalind die Ehe versprochen. Julie fragte sich, ob sie den Schmerz und die tiefe Scham über eine solche Behandlung jemals verwinden konnte. „Guten Morgen“, erklang Andrews muntere Stimme und zerstörte den bösen Zauber, unter dem Julie stand. Langsam sah sie zu dem alten Herrn hinüber und brachte ein Lächeln zustande. „Guten Morgen, Grandpa.“ Sie ging um den Tisch herum, küßte ihn auf die Stirn und setzte sich neben ihn. „Wo sind denn die anderen? Niemand ist zu sehen.“ „Bobby hat schon gefrühstückt und füttert gerade seinen Zoo“, schmunzelte ihr Großvater. „Sarah hat ihr Frühstück mit zu Ruth hinaufgenommen, während dein Freund Ronald vor kurzer Zeit verärgert davongefahren ist. Er wird aber bestimmt bald wieder auftauchen.“ „Verärgert?“ Nun war Julie ganz Ohr. „Warum?“ Andrew warf Steven einen vielsagenden Blick zu. „Er hat mich heute früh gefragt, ob ich ihm nicht einen leitenden Posten in der Firma geben könnte. Ich sagte ihm, daß er sich deswegen mit Steven in Verbindung setzen müsse. Und Steven hatte ihm schon gestern abend die gleiche Frage mit einem deutlichen Nein beantwortet, obwohl ich da noch gar nichts von Suttons Plänen wußte.“ Andrew Barclay räusperte sich und blickte Julie in die Augen. „Es ist an der Zeit, daß die
Wahrheit auf den Tisch kommt, mein Kind. Liegt dir ernsthaft an diesem jungen Mann? Möchtest du ihn heiraten?“ Julie spürte, wie sich Steven kerzengrade aufsetzte, während er auf ihre Antwort wartete. Selbst der kühle Morgenwind schien erwartungsvoll den Atem anzuhalten. Kein Blatt rührte sich am Baum, kein Vogel zwitscherte, nur lastende Stille ringsum. Julie überlegte lange, bevor sie antwortete. Blicklos sah sie auf ihre Hände auf dem Tisch und fragte sich, was sie jetzt sagen sollte. Nach Rosalinds Mitteilung von gestern abend flüsterte ihr der Stolz zu, mit einem Ja zu antworten. Aber das wäre eine blanke Lüge gewesen, und lügen konnte sie nicht. „Nein“, entgegnete sie leise, „ich liebe Ronald nicht und möchte ihn auch nicht heiraten.“ „Dann habe ich also gar keinen so großen Fehler gemacht, als ich dich zur Ehe mit Steven gezwungen habe?“ fragte ihr Großvater. Seine Stimme klang ziemlich erleichtert. Julie hob ruckartig den Kopf, und ihre blassen Wangen röteten sich ein wenig. „Doch“, erwiderte sie mit fester Stimme, „es war ein Fehler, Grandpa. Steven liebt Rosalind. Hast du das noch nicht gemerkt? Er möchte frei sein, um sie zu heiraten. Und auch wenn das nicht so wäre, kann niemand erwarten, daß zwei Menschen glücklich werden, die ohne Liebe aneinander gebunden sind.“ Wieder spürte sie die Anspannung in Steven, aber sie konnte sich nicht überwinden, zu ihm hinzusehen. Mit äußerster Disziplin hielt sie die Augen fest auf ihren Großvater gerichtet. Jetzt mußte reiner Tisch gemacht werden, auch wenn es für alle Beteiligten mehr als unangenehm war. Andrew Barclay seufzte tief auf, während er von Julie zu Steven blickte. „Ich habe noch eine Frage“, sagte er nach längerer Pause. „Besteht die Möglichkeit, daß ihr zwei doch noch ein tiefergehendes Interesse füreinander entwickelt?“ Julie lachte schrill auf. „Ich habe doch eben gesagt, Grandpa, daß Steven Rosalind liebt. Nein“, fügte sie entschieden hinzu. „Ich kann besten Gewissens sagen, daß diese Möglichkeit auch in Zukunft ausgeschlossen ist.“ Und das ist nur zu wahr, setzte sie in Gedanken hinzu. Sie hatten beide keine Chance, in dieser Ehe glücklich zu werden. Sie hatte Steven lieben gelernt, aber das blieb ihr Geheimnis und würde für den Rest des Lebens in ihr verschlossen bleiben, denn Steven teilte ihre Gefühle nicht. Es entstand eine gespannte Pause. Dann sagte der alte Mann: „Steven? Ich möchte auch deine Meinung hören.“ Auch Steven lachte auf, es klang hart und spöttisch. Endlich blickte Julie zu ihm hin. In seine Mundwinkel hatten sich tiefe Falten eingegraben, und die Lippen schienen alle Farbe verloren zu haben. „Ich schließe mich voll und ganz meiner Vorrednerin an“, sagte er mit metallischer Stimme. Sein Blick war auf einen imaginären Punkt in der Ferne gerichtet. „Aha.“ Andrew wandte sich von den beiden ab und blickte über den grünen Rasen, der zu dem kleinen Fluß unter den Bäumen führte. Lange Zeit blieb er so sitzen, ohne sich zu rühren. Julie dachte schon, daß dieses Thema für ihn erledigt sei, als er mit heiserer, tief bewegter Stimme begann: „Ich entschuldige mich bei euch beiden. Du, Julie, hast mir einmal gesagt, ich würde versuchen, den lieben Gott zu spielen. Du hattest recht, denn ich habe denen, die ich am meisten liebe, nur Unglück gebracht.“ Er lachte voller Selbstverachtung auf. „Man sagt immer, ein alter Narr sei der größte Narr, und das stimmt. Aber“, er erhob sich schwerfällig und blickte sanft auf Julie und Steven hinab, „wenigstens kann ich diesmal die Situation noch zur Hälfte retten. Glücklicherweise weiß
niemand etwas von eurer Heirat, wir brauchen also keine langwierigen Erklärungen abzugeben. Es sollte für euch ein Leichtes sein, eine Annullierung eurer Ehe zu erwirken, da ihr nicht wie Mann und Frau zusammen gelebt habt. Und ich versichere euch, daß dieser Umstand keinen Einfluß auf den Anteil der Aktien haben wird, den ihr in der Firma besitzen werdet. Freitag setze ich wie geplant den Aufsichtsrat von den neuen Besitzverhältnissen in Kenntnis.“ Er nickte bekräftigend. „Und jetzt gehe ich zu Ruth.“
10. KAPITEL Julie war wie gelähmt nach dieser Erklärung ihres Großvaters. Sie blickte auf ein Kußröschen in einer Blumenschale neben dem Terrassentisch. Aber sie nahm die zartrosa Blüten nicht wahr. Sie versuchte zu begreifen, daß sie frei war, frei, ihr eigenes Leben zu führen, so wie sie es wünschte. „Julie?“ Wie im Traum wandte sie den Kopf und gewahrte verschwommen Stevens ernstes Gesicht. Nervös strich sie das Haar aus ihrer Stirn. In einem verzweifelten Versuch, normal zu erscheinen, lachte sie auf. „Na ja“, ihre Stimme zitterte mehr, als ihr lieb war, „das war mal eine schöne Überraschung.“ Steven legte seine Hand auf ihren Arm. Seine Augen musterten sie intensiv. „Ich kann das nicht komisch finden“, sagte er. Julie zuckte mit den Schultern und wandte den Kopf weg. Sie kämpfte mit den Tränen. Ich werde nicht weinen, sagte sie sich immer wieder, nicht jetzt, denn damit würde ich mich verraten. „Julie…“ begann Steven wieder mit zwingender Stimme. „Wünschst du tatsächlich eine Scheidung?“ Erstaunt blickte sie auf. „Ob ich – eine Scheidung wünsche? Natürlich, wir beide wollen sie!“ „Meinst du?“ sagte Steven mit merkwürdig belegter Stimme, aber Julie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. „Du weißt natürlich, daß eine Annullierung, wie Dad annimmt, nicht möglich ist.“ Das Blut schoß ihr in die Wangen, ihr wurde heiß. Sie entzog Steven den Arm und stand rasch auf. Dabei stieg eine solche Welle des Hasses in ihr auf, daß sie meinte, daran ersticken zu müssen. Warum quälte er mich mit so offensichtlichem Vergnügen, fragte sie sich voller Wut. Warum erinnert er mich jetzt an die gemeinsam verbrachte Nacht, die ihm nichts bedeutet? „O doch!“ rief sie. „Ich will die Scheidung! Je eher, desto besser. Ich werde noch heute einen Scheidungsanwalt aufsuchen.“ Mit klappernden Absätzen überquerte sie die Terrasse und betrat die kühle Eingangshalle. Sie würde auf der Stelle ins Arbeitszimmer gehen und ein paar Telefongespräche führen. Der erste Anwalt, der sie noch heute empfangen konnte, sollte den Job bekommen. Sie war so mit ihren Gedanken beschäftigt, daß sie nicht hörte, wie Steven ebenfalls das Haus betreten hatte und ihr folgte. Erst als sie die Tür des Arbeitszimmers hinter sich schließen wollte, bemerkte sie ihn. Er stand unmittelbar hinter ihr, seine Augen blitzten verärgert. Unsanft faßte er sie am Arm und zog sie heftiger denn je an sich. „Und warum willst du die Scheidung?“ fragte er heiser. „Damit du diesen Sutton heiraten kannst? Obwohl du Dad etwas anderes gesagt hast?“ „Nein“, keuchte Julie und wollte sich von ihm losreißen. Aber er hielt sie nur um so fester an sich gepreßt, als wolle er sie mit Ketten an sich binden. „Ich will gar keinen Ehemann, niemals!“ Stevens Lachen kam tief aus der Kehle, es klang eher wie ein Knurren. „Dann bist du letzten Endes doch nur ein Eisberg“, sagte er bitter, „obwohl du in der Nacht, als du bei mir geschlafen hast, eine überzeugende Vorstellung gegeben hast.“ „Vielleicht bin ich ein Eisberg“, zischte sie. Lieber wäre sie gestorben, als jetzt zuzugeben, was diese Nacht für sie bedeutet hatte. „Aber ich bin mit Ronald wenigstens ehrlicher als du mit Rosalind.“ Von seinen Augen waren nur noch zwei Schlitze zu erkennen. „Ich weiß nicht,
worauf du jetzt wieder anspielst.“ „Nein? Weißt du das nicht?“ Auf Julies Gesicht erschien ein angewidertes, ungläubiges Lächeln. „Ich habe Ronald gesagt, daß ich ihn nicht heiraten werde, du aber, du hast Rosalind um ihre Hand gebeten, obwohl du mit mir verheiratet bist. Findest du nicht, daß du ihr die Wahrheit schuldig bist?“ Mit einemmal stand Steven stocksteif. Julie konnte sich endlich aus seinem harten Griff befreien. Sie trat einige Schritte zurück, stieß gegen den Schreibtisch, blieb stehen und rieb sich den linken Unterarm. Aber Steven sah sie mit einem so merkwürdigen Blick an, daß sie ruhiger wurde. „Hier seid ihr.“ Wie ein Messer durchschnitt Clives Stimme die gespannte Atmosphäre. Wie bei einer Zeitlupenaufnahme kam in Julie und Steven langsam wieder Leben, als seien sie Schauspieler, deren Stichwort gefallen war. Ihre Emotionen von Haß und Liebe verschwanden unter einem maskenhaften Gesichtsausdruck. Steven suchte in seiner Jackentasche nach den Zigaretten, während Julie sogar ein Lächeln auf ihre Lippen zauberte. Nun trat Clive mit Ronald im Schlepptau ganz ins Arbeitszimmer. Es war nicht zu übersehen, daß beide verärgert waren. „Es wird Zeit, daß wir diese Sache klarstellen“, sagte Clive mit harter Stimme zu Steven. „Du bist dickköpfig und einfach dumm, wenn du Ronald eine führende Stellung in der Firma verweigerst. Nicht nur, daß er bald zur Familie gehören wird, er besitzt auch eine betriebswirtschaftliche Ausbildung, die uns nur nutzen kann. Ich bestehe darauf, daß du ihn einstellst, und zwar umgehend.“ Langsam zog Steven seine dichten Augenbrauen hoch. „Das ist ja seltsam“, sagte er sehr ruhig. „Ich könnte schwören, daß Julie klar und deutlich gesagt hat, daß sie Ronald Sutton nicht heiraten wird.“ Er inhalierte tief und beobachtete Ronald genau. An Ronalds Hals stieg ein dunkles Rot empor und breitete sich über sein Gesicht aus. Seine grünen Augen blitzten wütend. „Ach, Sie kennen doch die Frauen. Und Julies Temperament ist nicht anders als das aller weiblichen Wesen. Macht nichts, wir werden das bald ausgebügelt haben, und dann wird geheiratet. Als ihr Ehemann habe ich ein Anrecht auf einen guten Posten in der Firma, nur so kann ich wirksam ihre Interessen vertreten, wenn sie ihr Aktienpaket bekommt.“ Julies Augen verdunkelten sich vor Ärger. Ronald war wirklich unerträglich und anmaßend. Wenn sie mit ihm allein war, konnte sie sein Gerede leicht abschütteln. Jetzt aber hatte er zu Clive und Steven gesprochen, als könne sie nicht für sich selbst reden, als habe sie nicht einmal das Recht, eine eigene Entscheidung zu treffen. Julie öffnete den Mund, aber bevor sie ein Wort herausbrachte, gebot Steven ihr mit einer unmißverständlichen Handbewegung Schweigen. „Und wenn Julie das Aktienpaket in Händen hat, von dessen Überschreibung Sie so sicher sind“, fragte Steven, „würden Sie ihr natürlich raten, in Clives Sinn zu stimmen?“ „Ich denke doch“, entgegnete Ronald. „Der Verkauf an Wyndover würde für Julie mehr Geld und für die Firma einen großen Schritt vorwärts bedeuten.“ „Und warum nehmen Sie so sicher an, daß Julie in nächster Zeit einen bedeutenden Aktienanteil an der Firma erhalten wird?“ fragte Steven mit Unschuldsmiene weiter. „Weil Onkel Andy etwas in dieser Richtung angedeutet hat“, fiel Clive ungeduldig ein. „Schließlich ist das nur fair. Ich glaube, er wird es am kommenden Freitag vor dem Aufsichtsrat bekanntgeben. Onkel Andy ist nämlich ganz offensichtlich senil geworden. Er ist zu alt, um wichtige Entscheidungen für die Firma zu
treffen. Ich bin der ehrlichen Überzeugung, daß wir ihn für unzurechnungsfähig erklären lassen sollten, wenn Julie ihre Aktien erhalten hat. Das Gericht kann ja einen von uns als Treuhänder seines Vermögens einsetzen.“ Stevens Gesicht verdunkelte sich, während er zornig hervorstieß: „Und du glaubst, daß ich einem solchen Schritt zustimmen werde, anstatt mich ihm mit allen Mitteln zu widersetzen?“ „Du würdest einen schönen Narren aus dir machen“, höhnte Clive, „wenn du dich gegen Julie, ihren Mann und mich stellen würdest.“ „Das ist doch sonnenklar“, meinte Ronald und kräuselte seine Lippen zu einem unangenehmen Lächeln. „Das Gericht wird bestimmt eher den Blutsverwandten Glauben schenken als einem raffsüchtigen Stiefsohn, der nur sein Schäfchen ins trockene bringen will.“ In Julies Kopf drehte sich alles. Sie wollte nicht glauben, was sie eben gehört hatte. Und doch hatten ihre Ohren sie nicht getäuscht, denn da stand Ronald mit einem selbstzufriedenen Lächeln. Und Clive sah so aus, als habe er gerade in Las Vegas ein Vermögen gewonnen, während in Stevens Augen der blanke Zorn aufblitzte. Ein Zorn, der bei Julie seinesgleichen fand. Jetzt sah sie klar, daß Ronald ihr tatsächlich nur wegen Grandpas Vermögen nachgereist war. Er liebte sie kein bißchen. Vielleicht hatte er vor Monaten geglaubt, in sie verliebt zu sein, aber diese Liebe hatte nicht gehalten, als lauter Probleme und vor allem die Krankheit ihrer Mutter auf sie eingestürzt waren. Dann hatte er von Ann erfahren, daß Julie jetzt bei einem vermögenden Großvater lebte. Darin hatte er eine Chance gesehen, die er nun mit Egoismus und Skrupellosigkeit ergreifen wollte. Wie überrascht mußte er gewesen sein, als er eine Julie vorfand, die nicht mehr bereit war, in seine Arme zu sinken. Zum Glück war ihr inzwischen aufgegangen, daß sie ihn nicht mehr liebte. Aber törichterweise hatte er ihr leid getan. Jetzt lag kein Mitleid mehr in ihren zornigen grauen Augen. Sie verließ den Schreibtisch und stellte sich vor Ronald. „Wenn ich du wäre“, begann sie mit seltsam gefaßter Stimme, „würde ich mich nicht länger bloßstellen, indem ich anderen bösartige Dinge an den Kopf werfe. Du bist selbstsüchtig und raffgierig, nicht Steven. Aber du bist zu spät gekommen. Großvater hat mir bereits meinen Firmenanteil versprochen, der Rest geht an Steven. Ich brauche dich auch nicht, damit du meine Interessen wahrnimmst“, jetzt wurde ihre Stimme so geringschätzig, daß Ronald errötete, „ich bin durchaus in der Lage, meine eigenen Entscheidungen zu treffen. Und sollte ich dabei einen Rat brauchen, so habe ich dafür bereits jemanden: meinen Ehemann.“ „Deinen Ehemann?“ krächzte Ronald ungläubig, als habe er nur ihr letztes Wort mitbekommen. Julie nickte und trat einen Schritt zurück. Jetzt stand sie neben Steven, der seinen Arm um ihre Taille legte. „Steven und ich sind verheiratet“, sagte sie kühn heraus, ihre Augen lagen noch immer auf Ronald. „Und wenn du nicht augenblicklich dieses Haus verläßt, bitte ich ihn, dich hinauszuwerfen.“ Sie fühlte den Druck von Stevens Hand auf ihrer Hüfte. „Es wäre mir ein Vergnügen“, warf er trocken ein. Ronald blickte unsicher von Julie zu Steven und dann zu Clive. „Ich glaube dir nicht“, sagte er schließlich mit flacher Stimme. „Du phantasierst dir da etwas zusammen.“ Julie lachte. „Wir haben einen Trauschein, falls du einen Beweis willst. Aber offen gestanden, sehe ich keine Notwendigkeit, warum ich dir etwas beweisen sollte, Ronald.“ Zu ihrer Überraschung blickte Ronald sie flehentlich an. „Das kann doch nicht
dein Ernst sein, Julie“, sagte er aufrichtig. „Ich liebe dich, ich habe meine Stellung aufgegeben, um nach Louisiana zu reisen.“ „Das tut mir leid, Ronald.“ Julies sanfte Stimme bewies mehr als ihre Worte, daß sie die Wahrheit sagte. Dann blickte sie zu Clive, der sie mit schneeweißem Gesicht anstarrte. „Mein Großvater hat dir und Steven einen Teil der Firma geschenkt, weil er euch beide gern hat, nicht weil er dazu verpflichtet war. Und du dankst ihm seine Großzügigkeit, indem du die Firma hinter seinem Rücken verkaufen oder ihn sogar für unzurechnungsfähig erklären lassen willst.“ Julie schüttelte müde den Kopf. „Ich habe ehrliches Mitgefühl für dich, Clive, aber ich warne dich“, mit einemmal wurde ihre Stimme hart. „Wenn du auf diesem unsinnigen Plan bestehst, wird sich nicht nur Steven gegen dich stellen.“ „Stimmt es tatsächlich, daß Onkel Andy euch seine Anteile bereits überschrieben hat?“ fragte Clive. „Vielleicht seid ihr dann am Ankauf meiner Aktien interessiert? Mir will es nämlich nicht schmecken, daß ich von nun an die zweite Geige spielen soll.“ „Das ist vielleicht die beste Lösung“, schaltete sich Steven ein. „Ich möchte dir auch gleich mitteilen, Clive, daß ich gestern einen Bericht erhalten habe, aus dem hervorgeht, daß du auf der Gehaltsliste von Wyndover stehst. Wir haben außerdem eine außerplanmäßige Revision unserer MarketingAusgaben in die Wege geleitet.“ Aus Clives Gesicht wich alle Farbe. Er nickte kurz. „Mach die Papiere zum Unterzeichnen fertig, ich werde Freitag unterschreiben. Und sieh zu, daß mein Scheck bereit liegt.“ Er wandte sich zur Tür, blieb aber nach zwei Schritten erschrocken stehen. Im Türrahmen standen Andrew, Ruth und Bobby. Keiner sagte ein Wort, während Onkel und Neffe einander schweigend in die Augen sahen. Dann ging Clive wortlos an ihm vorbei aus dem Zimmer. Ronald folgte ihm. Julie erschrak, wie alt und müde ihr Großvater aussah. In den letzten Minuten schien er um zehn Jahre gealtert. „Wieviel hast du von unserer unerfreulichen Auseinandersetzung mitbekommen?“ wollte Steven wissen. „Genug“, winkte Andrew müde ab, „vielleicht sogar zuviel. Es stimmt also, daß Clive von Wyndover Schmiergelder nimmt?“ „Leider ja, ich wollte nicht, daß du es erfährst.“ Der alte Mann blickte hastig auf. „Und warum nicht? Ich bin zäh, ich werde mit der Wirklichkeit fertig. Anscheinend tritt sie mir heute in besonders häßlicher Form entgegen.“ Ruth legte ihre Hand auf Julies Arm, sie sah ganz verstört aus. „Julie, du hast Ronald gesagt, daß du verheiratet wärst. Stimmt das?“ Julie nagte verlegen an ihrer Unterlippe. Unsicher blickte sie zu Steven, der noch immer neben ihr stand und seinen Arm um ihre Hüfte gelegt hatte. Sein eben noch wutverzerrtes Gesicht hatte wieder seinen normalen Ausdruck. Vor weniger als einer Stunde hatte ihr Großvater sie freigegeben. Er hatte von ihr und Steven die Fesseln einer unerträglichen Ehe genommen. Und was hatte sie getan? Aus purem Zorn? Sie hatte alles kaputtgemacht. Wochenlang hatte sie dieses Geheimnis sorgfältig gehütet, um es in einem unbedachten Moment preiszugeben und so neue Probleme zu schaffen. Julie wünschte sich, im Erdboden verschwinden zu können. Aber der Boden tat sich nicht mitleidig auf, um sie zu verschlucken. Da stand sie wie angewurzelt, und alle Blicke ruhten auf ihr. „Ich – ich – gut, es stimmt, Mom.“ Wie sollte sie jetzt wissen, ob Steven eine Lüge von ihr erwartete oder nicht? Plötzlich war ihr seine Meinung gleichgültig. Da stand er wie ein Klotz
neben ihr und half ihr kein bißchen. Überdies hatte sie es satt, weiter die Wahrheit zu verschleiern und ständig Versteck spielen zu müssen. Bobbys Augen wurden groß und blank wie Kieselsteine, die der Regen saubergewaschen hat. „Du und Steven? Ihr seid verheiratet? Richtig miteinander verheiratet?“ fragte er ungläubig. „Ja, Bobby.“ Endlich rührte sich auch Steven. Er zog Julie fester an sich. Dann wandte er sich an Ruth. „Entschuldige bitte, wenn wir vor dir ein Geheimnis daraus gemacht haben. Aber damals warst du sehr krank, und wir fürchteten, die Aufregung könnte für dein Herz zuviel werden.“ „Aber wie?“ Ruths Augen wanderten fragend von einem zum andern. „Und wann? Ich verstehe nichts mehr.“ Steven lächelte. „Wir haben uns eigentlich auf den ersten Blick ineinander verliebt, so war es doch, mein Liebling?“ Zärtlich blickte er auf Julie hinab. „Aber, wie gesagt, wir hielten dich für zu krank. Und da wir nicht Monate warten wollten, haben wir heimlich geheiratet. Aber wir wollten dir bald alles erzählen. Hoffentlich bist du jetzt nicht böse, Ruth?“ Ruth schüttelte den Kopf. „Natürlich nicht. Im Gegenteil, ich bin glücklich, wenn ihr es seid.“ Sie drehte sich um und blickte strafend auf Andrew. „Und du hast davon gewußt?“ „Ja, ich bin der Schuldige.“ Seine Augen lagen auf dem jungen Paar vor ihm, und seine Worte galten ihm, nicht Ruth. Julie fürchtete, daß er ihrer Mutter die ganze Wahrheit sagen würde. Da rettete Bobby die Situation. „Steven, wenn du jetzt verheiratet bist, heißt das, daß du Julie küssen und lauter so dusseliges, gefühlvolles Zeug tun mußt?“ Steven lächelte breit. „Glaub mir, so schlimm ist es nun auch nicht.“ Und tausend kleine Teufelchen tanzten in seinen Augen, als er Julie zuzwinkerte. Aber Julie war nicht zum Spaßen zu Mute. Die Situation war ihr aus der Hand geglitten. Es wäre besser gewesen, wenn Mom niemals von dieser Ehe erfahren hätte. Jetzt mußte sie auch die ganze Wahrheit erfahren. Schließlich wollte sie ja so bald wie möglich den Scheidungsanwalt aufsuchen. Sie richtete sich auf. „Steven, ich fürchte, wir müssen…“ „Es tut mir leid, werte Familie“, fiel er ihr mit lauter Stimme ins Wort, „ich habe eine Verabredung in der Stadt, zu der ich schon zu spät komme. Ich hätte gern, daß Julie mich begleitet. Wir müssen noch ein paar Dinge besprechen.“ Und ohne jemand zu Wort kommen zu lassen, scheuchte er Julie aus dem Zimmer, aus dem Haus, zur Garage. „Wohin fahren wir denn?“ wollte Julie wissen, während Steven ihr die Autotür aufhielt. Steven schüttelte den Kopf. „Abwarten. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit. Wenn du jetzt nicht einsteigst, nehme ich dich auf den Arm und stopfe dich ins Auto.“ „Ich habe nicht mal eine Handtasche bei mir…“ Sie brach ab, als sie sah, daß er ärgerlich wurde. Seufzend ergab sie sich in ihr Schicksal und stieg ein. Unterwegs wollte sie immer wieder nach dem Ziel fragen, aber jedesmal schnitt ihr Steven das Wort ab. „Später“, war alles, was sie aus ihm herausbekam. So gab sie es schließlich auf. Sie quetschte sich in ihre Ecke, um möglichst viel Raum zwischen sich und Steven zu lassen, und blickte unglücklich auf die Straße. Offenbar war Steven böse, weil sie Ronald die Wahrheit gesagt hatte. Aber warum hatte er ihrer Mutter die Lügengeschichte aufgetischt, daß sie sich auf den ersten Blick ineinander verliebt hätten? Sicher, das war ihr Plan gewesen, aber jetzt hatte sich alles geändert. Bald war
er frei, um Rosalind zu heiraten, wozu dann noch diese sinnlose Erklärung? Damit hatte er das Problem nur auf die lange Bank geschoben, denn irgendwann mußte ihre Mutter die Wahrheit erfahren. Allmählich verstand sie überhaupt nichts mehr. Unter den dichten Wimpern musterte sie Steven verstohlen von der Seite. Sein scharf geschnittenes Profil zeichnete sich wie eine Silhouette gegen das Fenster ab. Das helle Sonnenlicht hob sein energisches Kinn, die Kanten und Flächen seines männlichen Gesichtes, die Kraft und Entschlossenheit, die aus diesem Gesicht sprachen, besonders hervor. Beunruhigt fragte sich Julie, wohin sie wohl fuhren. Zu ihrer Überraschung hielt Steven endlich vor einer modernen Wohnanlage mit elegantem Marmoreingang. Er stieg aus, half ihr aus dem Auto und führte sie die Eingangstreppe hinauf. Im Haus gingen sie einen langen Flur entlang und blieben vor einer der soliden Wohnungstüren stehen. Hier zog Steven einen Schlüssel aus der Tasche und steckte ihn ins Schloß. „Bitte eintreten“, sagte er und stieß die Tür weit auf. Julie schritt widerstehend über die Schwelle und hörte hinter sich die Tür ins Schloß fallen. Nun stand sie in einem großen, leeren Raum. Sie drehte sich nach Steven um. „Was soll ich hier?“ Ihre Stimme hallte in dem unmöblierten Zimmer. Stevens Augen waren undurchdringlich. „Es ist meine Wohnung, ich habe sie für ein Jahr gemietet. Komm, ich zeige dir alles.“ Er nahm ihren Arm und führte sie in das drei Stufen tiefer liegende Wohnzimmer, durch die helle Küche in Grün und Weiß, durch zwei Schlafzimmer, von denen eines besonders groß war mit anschließendem Badezimmer, und durch ein kleines Extrabad. Julies Verwunderung wuchs mit jedem Schritt, sie war ganz benommen. Sie wußte, daß sie die ganze Zeit Kommentare zu dieser wunderschönen Wohnung von sich gab, ohne zu wissen, was sie genau sagte. Ihre Gedanken beschäftigten sich ausschließlich mit der Tatsache, daß Steven diese Wohnung für sich und Rosalind gemietet hatte. Und diese Tatsache wollte ihr das Herz brechen. Als sie wieder in dem kleinen Entree standen, läutete die Türglocke. Julie fuhr zusammen, Steven dagegen schien nicht überrascht und öffnete. Für die nächsten anderthalb Stunden glich die Wohnung einem Bienenstock. Steven hat anscheinend ein Möbelgeschäft leergekauft, dachte Julie bitter, während sie zusah, wie die Lieferanten ein Stück nach dem anderen in die Wohnung trugen. Von einem eleganten weißen Samtsofa über ein riesiges Doppelbett mit limonengrünem Kopfteil bis hin zu den Tischlampen hatte Steven nichts vergessen. Als die Männer gegangen waren, stellte sich Steven mitten ins Wohnzimmer, stemmte die Hände in die Hüften und betrachtete die neuen Möbel. „Wie gefällt es dir?“ wollte er wissen. „Ein paar Dinge wie Vorhänge, Wandschmuck und hübsche Kleinigkeiten fehlen noch. Aber meinst du, daß es sonst geht?“ Geht? dachte Julie ärgerlich. Es war alles wunderschön, und Rosalind wäre in der Tat sehr verwöhnt, wenn sie sich hier nicht wohl fühlte. Steven hatte einen sicheren Geschmack, er wußte genau, was zusammenpaßte. „O doch“, erwiderte sie ungeschickt. „Es wird schon gehen. Ich hoffe, daß du hier glücklich wirst.“ Sie wandte den Kopf und starrte unglücklich auf ein leeres Bücherregal. „He!“ Sie fühlte mehr, als daß sie sah, wie Steven auf sie zukam. „Wetten, daß Bobby mehr Begeisterung zeigt als du jetzt, wenn er seine Jahresexamen in der Schule machen soll?“ „Entschuldigung“, sagte Julie matt. „Ich bin noch ganz durcheinander wegen
heute morgen. Ich habe alles in Unordnung gebracht. Gerade, nachdem Grandpa grünes Licht gegeben hatte, daß wir unsere Ehe auflösen können, konnte ich den Mund nicht mehr halten. Nun wissen Mom und Bobby Bescheid, und bald wird auch Rosalind von unserer Ehe hören und dir die Hölle heiß machen.“ Merkwürdigerweise lachte Steven befreit auf. „Das soll nicht deine Sorge sein, Julie.“ „Ist es aber! Und Mom denkt jetzt, wir seien glücklich. Wie soll ich ihr denn alles erklären? Ich weiß es nicht. Ich kann ihr doch nicht von Grandpas Bedingungen erzählen, nicht jetzt, wo die beiden so gut miteinander auskommen.“ Sie blickte zu Steven auf. „Warum hast du gesagt, wir hätten uns ineinander verliebt? Damit hast du alles nur noch schlimmer gemacht.“ Verzweifelt barg sie das Gesicht in den Händen. Nach einer kurzen Pause nahm Steven sanft ihre Hände vom Gesicht und hob ihr Kinn an, bis sie ihn ansehen mußte. „Darf ich einen Vorschlag machen?“ Julie schluckte einen dicken Kloß in ihrem Hals hinunter. „Da wir einmal verheiratet sind“, fuhr Steven fort, „da Dad es so wünscht und da auch deine Mutter einverstanden ist, warum sollten wir es nicht mit einer Probezeit versuchen?“ „Eine Probezeit?“ wiederholte sie mit schwacher Stimme. Steven nickte. „Genau das. Ich dachte an ungefähr, na, sagen wir mal, vierzig oder fünfzig Jahre. Das dürfte reichen, um festzustellen, ob uns die Ehe gefällt oder nicht. Was meinst du?“ Julie machte ein so begriffsstutziges Gesicht, daß Steven in Lachen ausbrach und sie in die Arme schloß. „Ich habe Ruth nicht die Unwahrheit gesagt. Ich habe mich eigentlich auf den ersten Blick in dich verliebt. Ich konnte deinen Mut, deine Selbständigkeit und dein Verantwortungsgefühl für deine Familie nur bewundern. Gleichzeitig aber hast du mich immer wieder gereizt, weil du mit Dad so uneinsichtig warst. Ich konnte mir also nicht eingestehen, daß ich dich liebte.“ Steven schüttelte den Kopf. „Und als Dad uns zu dieser unmöglichen Heirat erpreßte, wehrte ich mich dagegen. Ich wollte mich nicht zwingen lassen. Also konnte ich auch unsere Ehe – oder dich – nicht gutheißen. Ich wollte so viel Distanz zwischen uns legen wie möglich. Und dazu gehörte auch, daß ich mich weiterhin mit Rosalind abgab.“ „Dann aber“, Julies Lippen zitterten, „warum hast du…“ Sie wurde tief rot. Steven hatte ihre Gedanken schon erraten. „Warum ich mit dir geschlafen habe?“ Er lächelte gequält. „Weil ich das schon lange wollte. Und an jenem Abend, als Sutton aufkreuzte, war ich blind vor Eifersucht und habe meine Selbstbeherrschung verloren. Gestern mietete ich dann diese Wohnung und kaufte die Möbel, obwohl ich dir noch böse war. Aber ich dachte, daß vielleicht alles besser wird, wenn wir eine eigene Wohnung haben und uns niemand mehr hereinreden kann.“ Er blickte sie unsicher an. „Julie, hältst du es für möglich, daß du mich mit der Zeit doch noch lieben lernst? Du mußt etwas für mich empfinden, sonst hättest du mich in jener Nacht nicht mit solcher Hingabe geliebt.“ Das verlangende Feuer in seinen Blicken wurde übermächtig, und Julie senkte ihre Lider, um die wachsende Glut in ihren Augen zu verbergen. „Ich liebe dich doch, ich war nur der Meinung…“ Aber Steven war Julies Meinung gleichgültig. Sie hatte gesagt, was er hören wollte. Er schloß sie zärtlich in die Arme, sein Mund suchte durstig ihre Lippen, und nun gab es auf der ganzen Welt nur noch sie beide und ihr leidenschaftliches Verlangen zueinander. Schließlich gab Steven sie frei, und sie lächelten einander selig an. Dann aber wurden Julies Augen ernst, und Steven, der schon
verstanden hatte, fragte: „Was ist? Rosalind?“ Julie nickte. „Sie hat mir erzählt…“ Jetzt wurde auch Steven ernst. „Ich habe sie nie um ihre Hand gebeten, Julie, niemals. Und selbst, wenn ich es gewollt hätte, hätte ich es kaum getan, solange wir verheiratet waren.“ „Ja, aber – wie kam sie darauf?“ „Ich weiß es nicht. Vielleicht hat sie mein Interesse an dir gespürt und ist eifersüchtig geworden. Vielleicht wollte sie uns auf diese Weise auseinanderbringen.“ Er zuckte mit den Schultern. „Gestern abend tauchte sie in Magnolia Way auf, als ich mein Auto in die Garage fuhr. Ich habe mich über ihren unerwarteten Besuch nicht gefreut, aber ich habe die Gelegenheit beim Schopf ergriffen und ihr gesagt, daß ich sie nicht mehr sehen möchte. Ich habe ihr erklärt, daß ich dich liebe, Julie.“ Julies Augen spiegelten ihre Verblüffung wider, und Steven fuhr lächelnd fort: „Wie konnte ich nach der Nacht, die wir gemeinsam verbracht haben, mit einer anderen Frau Zusammensein? Es war mir unmöglich. Und ebensowenig könnte ich es ertragen, wenn du einem anderen Mann gehören wolltest, mein Liebling.“ Er strich zärtlich eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht und zeichnete mit dem Finger die sanfte Rundung ihre Wange nach. „Ich habe noch nie eine Frau gefragt, ob sie mein Leben teilen will, Julie, aber jetzt frage ich dich.“ Julie nahm seinen Finger von ihrer Wange und küßte ihn. „Was meintest du? Vierzig oder fünfzig Jahre?“ Nun lächelte Steven strahlend. Es war, als bräche nach einem bösen Unwetter endlich ein Regenbogen durch die aufreißenden Wolken. „Das dürfte reichen, um dich davon zu überzeugen, wie sehr ich dich liebe.“ In Julies Augen tanzten Lichter. „Und wenn diese Zeitspanne nicht reicht?“ „Dann verlängern wir sie einfach um weitere zehn oder zwanzig Jahre“, meinte Steven und schloß sie wieder in seine Arme. „Weißt du was?“ schmunzelte er. „Schließlich hat Dad doch seinen Willen durchgesetzt.“ „Ich weiß“, antwortete Julie zufrieden und rieb ihre Wange an seinem Gesicht. „Für einen dickköpfigen alten Mann finde ich ihn gar nicht so übel. Ohne ihn hätten wir uns vermutlich nie kennengelernt.“ Sie seufzte auf. „Meinst du, wir sollten jetzt zu ihm gehen und sagen, daß alles in Ordnung ist?“ Steven schüttelte energisch den Kopf. „Nachdem Ruth von unserer Ehe weiß und er denkt, daß wir sie annullieren lassen, sitzt Dad wirklich in der Tinte. Aber es geschieht ihm ganz recht, wenn wir ihn noch ein wenig darin sitzenlassen. Ich habe nämlich etwas viel Wichtigeres vor.“ Und wie schon einmal nahm Steven sie auf seine starken Arme, trug sie ins Schlafzimmer und legte sie sanft auf das Bett nieder. Endlich waren alle Mißverständnisse ausgeräumt, war aller Kummer vergessen. Diesmal breitete Julie weit und erwartungsvoll die Arme aus, als Steven, ihr Ehemann, zu ihr trat. ENDE