Atlan ‐ Im Auftrag der Kosmokraten Nr. 703 Das neue Konzil
Die Harmonie von Bakholom von Arndt Ellmer
Zwei ...
5 downloads
435 Views
783KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Atlan ‐ Im Auftrag der Kosmokraten Nr. 703 Das neue Konzil
Die Harmonie von Bakholom von Arndt Ellmer
Zwei Fremde in der Prächtigen Stadt
Die überhastete Flucht des »Erleuchteten«, des mysteriösen Herrschers der Galaxis Alkordoom, bringt Atlans Wirken in jenem Bereich des Universums zu einem abrupten Ende. Auf Terra schreibt man gerade die Jahreswende 3818/19, als der Arkonide, eben noch dem sicheren Tode nahe, sich nach einer plötzlichen Ortsversetzung in einer unbekannten Umgebung wiederfindet, wo unseren Helden alsbald ebenso gefährliche Abenteuer erwarten wie etwa in der Sonnensteppe von Alkordoom. Atlans neue Umgebung, das ist die Galaxis Manam‐Turu. Und das Fahrzeug, das dem Arkoniden die Möglichkeit bietet, die fremde Sterneninsel zu bereisen, um die Spur des Erleuchteten, seines alten Gegners, wiederaufzunehmen, ist ein hochwertiges Raumschiff, das Atlan auf den Namen STERNSCHNUPPE tauft. Das Schiff sorgt für manche Überraschung – ebenso wie Chipol, der junge Daila, der zum treuen Gefährten des Arkoniden wird. Die Daten des Psi‐Spürers der STERNSCHNUPPE bringen Atlan dazu, den Planeten Cairon anzufliegen. In der Maske eines Eingeborenen besucht er diese Welt, deren Bewohner, wie er meint, vom Erleuchteten bedroht werden. Atlan gelangt in die Prächtige Stadt und erlebt DIE HARMONIE VON BAKHOLOM …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan ‐ Der Arkonide will die Stadt Bakholom vor einem Angriff warnen. Chipol ‐ Atlans junger Gefährte. Ardechain ‐ Ein Händler. Fallin ‐ Ein Bathrer aus Dschadhalon. Rungaron ‐ Oberster Priester von Bakholom.
1. An diesem Morgen brannte Tsybaruul ungewöhnlich heiß auf die Steppe herab. Die Sonne stand eine Handbreit über dem Horizont und schnitt wie Feuer in die Augen. Der Himmel über Cairon war eine einzige Lohe, und das Brausen des Windes, der von Westen her über die Steppengräser fuhr und weit im Osten gegen die Berge prallte, hörte sich wie das Gejammer von Sterbenden an. Es jaulte und ächzte, und Chipol trieb sein Vleeh ein wenig stärker an und kam an meine Seite. »Sie verfolgen uns«, sagte er. »Wahrscheinlich sind es nur wenige, denn die meisten sind auf dem Weg zum Tal der Götter. Aber es wird genügen. Wir sind nicht so stark bewaffnet, daß wir ihnen standhalten könnten!« Auf dem Kamm einer Bodenwelle hielt ich mein Reittier an. Das Vleeh grunzte Unwillig und stampfte mit den Hufen. Vleehs waren grobschlächtige Säuger von Kamelgröße, mit zwei spitzen, geraden Hörnern und rauhem, kurzem Fell. Sie waren selbst in gezähmtem Zustand noch störrisch. Ich wandte mich im Sattel um und blickte in die weite Steppe hinein. Nichts war dort zu sehen, nur das Jaulen des Windes erweckte den Eindruck, als sei die Luft um uns herum belebt. Die Steppe versank in der Ferne im Bodennebel. Sie war ein milchiger, wabernder Vorhang, durch den nichts zu erkennen war. »Nein, Chipol«, sagte ich. »Wenn sie uns verfolgen würden, hätten
sie uns gestern nacht bereits eingeholt und überwältigt!« Irgendwann in der Nacht waren wir matt und schläfrig zwischen ein paar Büsche gesunken und hatten ausgeschlafen, bis der Tag graute. Die Vleehs waren beim Erwachen noch da, und ich stellte fest, daß Chipol sie noch vor dem Einschlafen angebunden haben mußte. Jetzt warf ich ihm einen dankbaren Blick zu, und er schien in meinen Augen zu erkennen, was ich meinte. Ein flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht, und die schmalen, dunklen Augen wurden noch ein wenig enger. Der Daila deutete auf den Boden, wo die Sonne lange Schatten warf und unsere Abbilder verzerrte. Wir waren zwei dunkle Hominiden, die mit ihren Reittieren verschmolzen waren. Schattenzentauren. »Weißt du, was die Nomaden über stehende Schatten in der Steppe sagen, Atlan?« fragte er. »Stehende Schatten zerbröckeln. Der Wind treibt sie gegen die Berghänge, wirbelt sie hoch über die Gipfel. Er nimmt die Seelen derer mit, die die Schatten werfen. Deshalb rasten die Nomaden höchst selten, solange sie einen Schatten abgeben!« Ich lachte dem Jungen ins Gesicht. »Dann nichts wie los!« rief ich. Ich gab meinem Vleeh die Fersen, und es machte einen Satz und stürmte die Bodenwelle hinab und in die Ebene hinaus. Chipol verharrte verdutzt und starrte mir nach. Erst nach einer Weile hetzte er mir hinterher. »Du bist ein Spaßvogel«, brüllte er. »Aber paß lieber auf, daß wir keine zu deutlichen Spuren hinterlassen.« Es war nicht das erste Mal, daß wir unangenehm aufgefallen waren. Die Stadt Umharaton, unser erstes Ziel nach unserem Eintreffen auf Cairon, durften wir nicht mehr betreten. Und bei den Nomaden hatte uns dieser Keldarol die Suppe eingebrockt, und wir mußten uns hüten, uns nochmals in der Nähe der Deombarer blicken zu lassen. Schlechte Aussichten, überhaupt etwas über den Erleuchteten zu erfahren, warf mein Extrasinn ein. So schlecht waren sie gar nicht. Während uns die Vleehs über die
abwechselnd grüne und gelbe Steppe trugen, größeren Buschgruppen instinktiv auswichen und immer wieder elegant über kleine Rinnsale oder Bodensprünge setzten, rechnete ich zusammen, was wir bisher in Erfahrung gebracht hatten. Meiner Ansicht nach waren wir gerade rechtzeitig nach Cairon gekommen. Seit unserer Landung hatten wir die ersten deutlichen Veränderungen erlebt. In Umharaton und anderen Städten waren Priester verschwunden, und einige waren auf rätselhafte Weise ihres Wahakú beraubt worden. Bei den Nomaden hatten wir weitere Vorgänge beobachten können. Traditionen waren seltsam verändert, und die Krieger benutzten Waffen, die unmöglich auf Cairon hergestellt worden waren. All das deutete auf den Erleuchteten hin, und ich war mir sicher, daß er im Begriff stand, sich der Bewohner des Planeten zu bemächtigen. Das Tal der Götter ging mir im Kopf herum. Die Nomaden hatten andere Götter als die Bewohner der Stadtstaaten. Sie waren weniger zivilisiert und zogen das ganze Jahr über umher. Sie waren kriegerisch veranlagt, während die Städter unter Anleitung ihrer Priester der Harmonie und damit dem Frieden frönten. Eigentlich hätte das Tal der Götter unser nächstes Ziel sein müssen. Die Umstände brachten es mit sich, daß wir uns nicht dorthin wandten, sondern uns den Bergen näherten, um die Stadt Bakholom zu warnen. Vor Anbruch der Nacht hatten wir in einer Senke ein ganzes Heerlager von Nomaden ausgemacht, Krieger von vielen Stämmen, die sich versammelt hatten. Wir hatten an die Stadt Bakholom gedacht, die keine zwei Tagesreisen von diesem Heerlager entfernt war. Und wir hatten uns aufgemacht, die Stadt zu erreichen und ihre Bewohner zu warnen. »Wir werden dennoch verfolgt«, beharrte Chipol, nachdem er eine Weile schweigend neben mir geritten war. »Ich sehe schon unsere Köpfe fallen. Wir mußten all unser Hab und Gut zurücklassen. Wir haben nichts mehr, was uns als Händler ausweist!«
»Unsere Kleidung haben wir noch«, widersprach ich. »Aber wir werden schon zurechtkommen. Und wenn wir erst in Bakholom sind, dann wird es uns leichtfallen, uns nicht als Händler auszugeben!« »Warum?« Chipol begriff nicht, was ich meinte. »Wie könnten wir eingelassen werden, wenn wir uns nicht als Händler ausgäben?« »Überlege einmal scharf«, sagte ich. »Wir sind auf dem Weg, um die Stadt zu warnen. Wären wir Händler, müßten wir uns an die ungeschriebenen Gesetze unserer Zunft halten, die uns verbieten, uns in die Angelegenheiten anderer einzumischen.« »Dann hat es wenig Sinn, nach Bakholom zu reiten«, erwiderte der Junge. »Wenn wir keine Händler sind, dann lassen sie uns erst gar nicht ein. Die alte Stadt hat strenge Prinzipien. Wir werden unsere Warnung nicht an den Mann bringen können!« »Wir werden uns etwas einfallen lassen«, lachte ich. »Aber du scheinst recht zu haben. Wir werden verfolgt!« Der Bodennebel über der Steppe hatte sich ein wenig gelichtet, und wir sahen mehrere dunkle Punkte, die sich hinter uns durch die Ebene bewegten. Der junge Daila stieß einen Ermunterungsruf aus, und die Vleehs streckten sich und rasten pfeilschnell über die Ebene, einem fernen Wäldchen zu, das sich als einziges in Sichtweite befand und sich uns als Versteck anbot. Vielleicht hatten uns die Verfolger noch nicht ausgemacht, aber es war unwahrscheinlich. Nach einer halben Stunde erreichten wir die ersten Bäume und sprangen ab. Wir brachten die beiden Reittiere ein Stück in den Wald hinein und erkundeten rasch unsere Umgebung. Niemand befand sich hier, und wir kehrten an den Waldrand zurück. Chipol erklomm einen Baum. Gelenkig wie eine Katze kletterte der Junge empor und hielt nach den Verfolgern Ausschau. »Sie kommen aus allen Richtungen«, sagte er. »Das Wäldchen ist ihr Ziel!« Es waren also Nomaden, die uns folgten. Es konnte nicht mehr
lange dauern, bis sie uns erreicht hatten. Wir hatten zwei Möglichkeiten. Entweder flohen wir im Schutz des Waldes, indem wir ihn zwischen uns und die Verfolger brachten. Das würde uns einen kleinen Aufschub verschaffen. Oder wir versteckten uns und die Vleehs so gut wie möglich und hofften, daß die Verfolger an uns vorbeizogen. Letztere Möglichkeit war die gefährlichere, aber sie verschaffte uns die Gelegenheit, im Rücken der Nomaden einen Umweg einzuschlagen und Bakholom mit Verspätung zu erreichen. Es gibt eine dritte Möglichkeit. Sie ist die wichtigste! Welche? Es sind Späher, die das Gelände um Bakholom erkunden. Sie werden nicht auf euch achten, sondern unbefangen tun und weiterreiten. Das hatte ich nicht bedacht. Es gab uns die Chance, unentdeckt zu bleiben. Es würde aber schwierig sein, an ihnen vorbeizukommen und Bakholom so rechtzeitig zu erreichen, daß wir die Stadt warnen konnten. Spätestens am Gebirgsrand würden die Späher dafür sorgen, daß niemand Verrat begehen konnte. Doch die Nomaden kamen nicht. Ich schickte Chipol erneut auf den Baum hinauf, und er berichtete, daß sie immer noch weit draußen in der Ebene waren und nur langsam näher kamen. Da konnte etwas nicht stimmen. Ich verließ die Deckung der Bäume und wagte mich bis zum Waldrand vor. Ich musterte die dunklen Flecke, die sich gegen den Horizont abzeichneten. Und dann wußte ich, womit wir es zu tun hatten. »Komm herab«, sagte ich. »Es besteht keine Gefahr. Du hast recht gehabt und dich doch geirrt. Es sind keine Nomaden, die uns verfolgen. Es sind Händler mit Karren, vor die sie Xarrhis gespannt haben.« Dennoch war es merkwürdig. Die Händler kamen aus allen Richtungen. Von Südwest bis Nordwest. Das Wäldchen schien sie magisch anzuziehen. Ein alter Treffpunkt, Atlan. Sie suchen ihn nur in bestimmten Fällen auf.
Ein solcher muß eingetreten sein. Wir holten die Vleehs und banden sie am Waldrand an. Gegenüber den Händlern war es angebracht, mit offenen Karten zu spielen, so gut es ging. * Die Händler nahmen im Land der Bathrer eine wichtige Stellung ein. Sie waren das Bindeglied zwischen den Nomaden und Städtern, und sie transportierten nicht nur Waren, sondern auch Informationen. Sie genossen eine traditionelle Immunität und durften sich nicht in die Auseinandersetzungen zwischen den beiden Volksgruppen verwickeln lassen. Es ging das Gerücht, daß die Händler im öden Ostteil des Gebirges feste Stützpunkte hatten, sogar eigene Städte, aber Genaues wußte niemand darüber. Und die Händler schwiegen sich aus. Es war jedoch Tatsache, daß sie oft auf Engpässe in der Versorgung reagierten und zum richtigen Zeitpunkt mit Waren auftauchten, die knapp waren. Dennoch wurden sie überall mit Mißtrauen betrachtet. Es waren eben Außenseiter, die weder zu den Städtern, noch zu den Nomaden gehörten. Der erste der Karren erreichte den Waldsaum. Ein muskulöser Mann mit wettergebräuntem Gesicht stieg vom Kutschbock herunter und sah sich prüfend um. Zuerst entdeckte er die beiden Vleehs, dann uns beide, die wir uns neben einer Buschgruppe niedergelassen hatten. Augenblicklich riß er Pfeil und Bogen heraus und legte an. Dann erst sah er, daß wir wie er die Kleidung der Händler trugen, kurze Stiefel aus weichem Leder, Hosen aus gewebtem Stoff und kurze, mit einem Ledergürtel zusammengehaltene Umhänge mit angenähten Kapuzen. Der Händler legte die Waffen weg und kam mit langen Schritten
auf uns zu. »Alles Böse weiche mit dem Wind«, sagte er eine Grußformel, die mir bisher nicht begegnet war. Ich hob irritiert die Augenbrauen, aber Chipol, der mit seiner Familie bereits früher auf Cairon gewesen war, antwortete schlagfertig. »Bakholom ist nicht weit«, sagte er fast heiter. »Was glaubst du, Händler, was sie dort mit dir machen, wenn du ihnen mit solchen Worten kommst. Es gibt nichts Böses unter der Sonne, außer man redet es herbei!« Ein befreiendes Aufatmen war zu hören. Der Händler streckte mir die rechte Handfläche entgegen, und ich legte die meine darauf. Ebenso machte er es mit Chipol. »Nimm Platz«, sagte ich. Ich bemerkte seinen Blick, mit dem er die Vleehs betrachtete. Er hielt nach etwas Ausschau, und ich nahm an, daß er unseren Karren und die Xarrhis suchte. »Verzeiht mein Mißtrauen, Freunde«, sagte er dann. »Ich bin Ardechain. Ich hatte erwartet, als erster hier am Brunnen der Hoffnung, zu sein. Nun sehe ich euch. Ihr tragt die Kleidung der Händler, aber ihr führt keine Waren mit euch. Wollt ihr es mir erklären?« »Selbstverständlich«, sagte ich. »Du hast ein Recht darauf, Bruder. Wir sind bei den Deombarern und ihren Gästen, den Yanthurern gewesen. Wir mußten fliehen und alles zurücklassen, was wir besaßen. Es ist uns gelungen, die beiden Vleehs zu stehlen. Jetzt sind wir auf dem Weg nach Bakholom!« Ardechain ballte die Hände zu Fäusten. Er stieß etwas zwischen den Zähnen hindurch, das wir nicht verstanden. »Über dreißig sind es, die wir bisher aufgelesen haben«, sagte er. »Nicht alle befanden sich in so guter Verfassung wie ihr. Acht waren so schwer verwundet, daß sie gestorben sind. Die anderen sind auf viele Karren verteilt, die alle hierher zum Brunnen kommen!« Also waren auch sie auf der Flucht. Ich begriff und mußte wieder an das Heerlager denken, das wir entdeckt hatten. Ich berichtete
dem Händler davon. Ardechain hustete laut. »Flucht ist das einzige, was uns rettet«, erklärte er. »Die Händler verlassen die Ebene, so schnell es geht. Die Nomaden rüsten zum Kampf, so wird überall erzählt. Sie dulden keine Fremden mehr in ihrer Nähe, und wir sind es unseren eigenen Gesetzen schuldig, daß wir uns aus dem vermutlichen Kampfgebiet entfernen.« »Ihr flieht auch in die Berge«, erkannte ich. »Unser Ziel ist Bakholom. Wir wollen dort unterkommen.« Wohlweislich verschwieg ich ihm unsere wahre Absicht. »Auch unser Weg führt dorthin!« Er deutete hinter sich, wo das Rumpeln der Karren erklang. Sie trafen kurz vor dem Wäldchen zusammen und näherten sich in einer langen Doppelreihe. Es mußten über fünfzig sein, die sich am Brunnen der Hoffnung trafen. Die Xarrhis hielten an und begannen zu weiden, während die Händler abstiegen und herankamen. Es gab eine länger anhaltende, stumme Begrüßung, dann setzten sich alle um uns herum. »Es ist das Schicksal dieser Zeit«, erhob Ardechain seine Stimme. »Es gibt Einsiedler in der Steppe, die sagen, daß jetzt alles anders wird im Land der Bathrer. Daß die Priester in den Städten bald ganz verschwunden sein werden und ihre Macht erlischt. Daß die Nomaden alle Städte zerstören werden. Wer glaubt schon daran! Niemand, auch kein Nomade, würde die Götter auf so schändliche Weise herausfordern!« Es stecken nicht die Nomaden dahinter! hätte ich hinausschreien mögen. Es ist eine andere Macht, die das bewirkt! Die Nomaden sind nur die Verführten, die Handlanger einer Macht, die sich der Erleuchtete nennt! Ich schwieg, denn ich hätte den Beweis für meine Anschuldigungen nicht erbringen können. Und das, was ich wußte, hätte sich in den Ohren der Händler so unglaublich angehört, daß sie mich für verrückt erklärt hätten. Ich warf dem jungen Daila einen warnenden Blick zu. Chipol senkte leicht den Kopf. Er hatte verstanden.
»Die Götter werden sie bestrafen«, sagte ich in der Hoffnung, einiges für die Bereinigung der Verhältnisse tun zu können. Allerdings war ich mir auch bewußt, daß es mir in Manam‐Turu ähnlich wie in Alkordoom ergehen konnte. Dort hatte ich auch ein großes, unbestelltes Feld zurücklassen müssen. Da gab es in den Herrschaftsbereichen der einzelnen Facetten so viele unbewältigte Probleme, daß ich die Celester und alle ihre Helfer wahrlich nicht darum beneidete, die Entwicklung endgültig in eine positive Richtung zu führen. »Was der Wille der Götter ist, wird geschehen«, erklärte Ardechain mit fester Stimme. Er erhob sich und deutete nach Osten, wo das Gebirge mit den zweihundert Städten lag. »Laßt uns aufbrechen«, rief er. »Der Brunnen hat uns mit Hoffnung erfüllt, wenn er auch kein Wasser für die Zugtiere gibt. Aber ein Stück im Süden liegt eine Quelle. Dorthin wollen wir uns wenden. Laßt uns ohne Verzug aufbrechen, damit uns die Nomaden nicht einholen!« Zustimmendes Gemurmel erklang. Die Händler entfernten sich zu ihren Wagen, und Ardechain blieb mit in die Hüfte gestützten Händen stehen, bis alle aufgesessen waren und sich in Bewegung gesetzt hatten. »Und ihr?« fragte er jetzt. »Wollt ihr nicht mit zur Quelle kommen und euch erfrischen?« »Die Vleehs haben bereits getrunken«, sagte ich. »Wir benötigen nichts. Unsere spärlichen Vorräte werden ausreichen, bis wir Bakholom erreicht haben. Wir danken dir, aber du wirst verstehen, daß wir es eiliger haben als ihr. Ein Händler, der keine Ware besitzt, muß schnell sein!« »Das ist wahr!« Wir blickten ihm nach, wie er als letzter mit seinem Gespann davonfuhr. Chipol zupfte an seinen dichten Haaren. Er hatte irgend etwas auf dem Herzen, und ich wartete, bis er sich dazu durchgerungen hatte, zu sprechen.
»Es ist der Erleuchtete«, stellte er fest. »Er ist für all das verantwortlich, ich weiß es. Er begnügt sich nicht nur mit meiner Familie, nein, er macht auch die Völker dieses Planeten unglücklich. Meinst du, wir werden ihn bald finden? Im Tal der Götter vielleicht?« »Wir haben seine Spur, Chipol. Und dieser Spur werden wir folgen, bis wir ihn gefunden haben. Und dann kommt die Stunde der Abrechnung!« Ich sprach absichtlich nicht von Rache. Ich wollte dem jungen Daila ein Vorbild sein. Er hatte in der kurzen Zeit, die wir zusammen waren, schon einiges von mir angenommen. »Der Erleuchtete führt die Nomaden gegen die Städte«, fuhr ich fort. »Er wird sie ihrer Priester berauben, weil diese übernatürliche Kräfte besitzen. Und wir werden ihn erwarten. Die Bewohner von Bakholom werden uns helfen, eine Falle für ihn zu errichten!« Bist du da so sicher? wollte der Extrasinn wissen. Schätzt du die Bathrer nicht falsch ein? Immerhin weißt du, wie sie dich in Umharaton behandelt haben! Bakholom war nicht Umharaton. Und selbst wenn. Wir hatten es dort falsch angefangen. Diesmal würden wir eine Möglichkeit finden, die Priester zu überzeugen. Wir banden die Vleehs los und setzten unseren Weg fort. Die Ebene hinter uns blieb leer. Die letzten Händler mußten bereits vorbeigezogen sein, und von den Nomaden war auch weit und breit nichts zu sehen. Tsybaruul stieg immer höher am Himmel hinauf und brannte mit unerbittlicher Härte auf uns herab. Obwohl wir uns in der klimatisch gemäßigten Zone befanden, kam ich mir vor, als hätte ich einen Ritt durch die Wüste unternommen. Es wurde unerträglich heiß, und als die Mittagszeit vorüber war und der Stern den Zenit überschritten hatte, da lief uns der Schweiß aus allen Poren, und Mund und Rachen waren ausgetrocknet wie schon lange nicht mehr. »Das Angebot Ardechains, wir hätten es annehmen sollen«,
meinte Chipol düster. »Es liegt etwas in der Luft! Der Wind hat gedreht!« Er blies plötzlich von Ost nach West, und er brachte Heißluft mit sich. Rasch rief ich mir in Erinnerung, was ich aus den Daten der Daila über Cairon gelernt hatte. »Sandhitze!« stieß ich hervor. Chipol spuckte sandigen Speichel aus und nickte. »Sandhitze bedeutet Sturm! Der Wind bläst vom Meer jenseits des Gebirges herüber. Er erhitzt sich beim Überqueren des öden Berglands und führt eine Menge Sand mit sich. Wir bekommen Sturm!« »Wir sollten schnellstens eine brauchbare Deckung aufsuchen!« stieß der Junge hervor. Aber so sehr wir die Augen auch anstrengten, die Ebene blieb glatt und ohne Vertiefungen. Keine einzige Bodenwelle gab es, lediglich ein paar Büsche, die vereinzelt herumstanden. Und in der Ferne, wo die Spitzen des Gebirges über den Horizont ragten, färbte sich der Himmel dunkelgelb. * Das Unheil kam schneller als erwartet über uns. Es dauerte keine halbe Stunde, dann hatte uns der Sandsturm erreicht. Die Vleehs stemmten sich mit aller Kraft gegen die Gewalt des Windes, aber sie schafften es kaum. Sie wurden langsamer und langsamer, brüllten zornig auf und blieben dann stehen. Wir streichelten sie, schrien ihnen Befehle in die Ohren und versetzten ihnen Klapse auf den Hintern. Sie ließen sich durch nichts mehr bewegen, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Der Sturm begann. Wir konnten uns kaum mehr im Sattel halten, und ich preßte die Lippen zusammen und machte Chipol Zeichen, abzusteigen. Wir nahmen die Tiere an den Zügeln und führten sie.
Es war wie das Anrennen gegen eine Wand. Bald ging der Wind so heftig, daß er uns von den Füßen riß und zwischen die Beine der Vleehs schleuderte. Wieder blieben die Tiere stehen, und diesmal war es endgültig. Ihr Instinkt sagte ihnen, daß sie in Gefahr schwebten, und da sie in keiner Richtung einen Ausweg erkennen konnten, blieben sie da, wo sie waren. »Runter!« schrie ich in das Toben der Naturgewalten hinein. Um uns herum verdunkelte sich die Landschaft. Sand lag in der Luft, und der Wind wurde immer heißer. Er trug feinen Mehlsand mit sich, der in unseren Gesichtern rieb und innerhalb kurzer Zeit die Haut aufplatzen lassen würde, wenn wir nichts dagegen unternahmen. Wir zerrten an den Zügeln, und diesmal gehorchten die Vleehs. Sie ließen sich zu Boden sinken und legten sich auf die Seite. Wir schoben und drehten, bis sie mit dem Kopf in Lee lagen und uns mit ihren Körpern einigermaßen deckten. Wir preßten uns gegen sie und erhielten von den heftig gehenden Bäuchen ständig Schläge gegen den Körper, aber es war besser zu ertragen als das, was der Sturm uns bescherte. Plötzlich wurde es still. Die Natur hielt den Atem an, die Luft bewegte sich nicht mehr. Ich zog die Kapuze weit über den Kopf und deckte das Gesicht damit zu, schob gleichzeitig den Zipfel des Gewandes über Mund und Nase, um die Atemorgane so gut wie möglich vor dem Sand zu schützen. Ein Donnerschlag erschütterte die Ebene. Es war, als bräche der ganze Planet auseinander. Mit unheimlicher Gewalt wurden wir gegen den Boden gedrückt, und die Vleehs krümmten sich instinktiv zusammen und schlossen uns voll mit ihren Körpern ein. Hoch über uns explodierte eine Sandwolke. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Ich sah es auch nicht, denn ich hütete mich, die Augen frei zu machen. Ich preßte im Gegenteil die Augenlider fest zusammen und drückte die Hände in Gesichtshöhe gegen den Stoff
meines Gewandes. Ich ahnte, was sich ereignete. Und der kurz danach einsetzende Sandregen bestätigte meine Vermutung. Es begann zu prasseln, als Milliarden feiner und feinster Sandkörnchen zu Boden regneten und sofort alles mit einem mehligen Teppich zudeckten. Die Büsche bogen sich unter der unerhofften Last, und ich hörte das Brechen von Ästen aus einem kleinen Gesträuch, das sich in unserer Nähe befand. Dann setzte der Wind wieder ein. Die Luft hatte mindestens vierzig Grad Temperatur, und augenblicklich brach mir der Schweiß aus. Das Vleeh rührte sich nicht mehr. Es schien nicht einmal mehr zu atmen, und vielleicht hielt es tatsächlich die Luft an, um nicht am Sand zu ersticken. Ein Orkan brach los, und er zerrte uns davon. Ich hielt mich an den Beinen und dem Bauchgurt des Sattels fest, aber ich konnte nicht verhindern, daß ich wie eine Puppe hin und her geschleudert wurde, während das Vleeh aufgrund seines höheren Körpergewichts wie ein Schlitten durch den Sand glitt. Eine Ewigkeit schien zu vergehen. Der Sand drang durch die Kleidung und setzte sich in die Nase, obwohl ich sie zuhielt. Er drang in die Ohren ein und sogar unter die Augenlider. Meine Augen begannen zu tränen, aber ich hielt sie geschlossen. Meine Muskeln wollten mir nicht mehr gehorchen, aber wenn ich losließ, würde es meinen Untergang bedeuten. Also klammerte ich mich eisern fest und verlor langsam jedes Gefühl für den Körper. Und noch immer peitschte der Wind den Sand auf uns herab, wurden wir ab und zu von fliegenden Dünen begraben und langsam wieder freigelegt. Ich atmete so flach wie möglich, aber die Atemnot wurde immer größer, der Druck des Sandes stärker. Aber das war plötzlich vorbei. Von einer Sekunde auf die andere ließ der Druck nach, fegte der Wind davon, wurde es kühler. Ich blieb ungläubig liegen und befreite erst einmal die Nase vom Sandmehl. Ich schneuzte mich und atmete dann tief ein. Dann hob ich vorsichtig den Kopf und machte die Augen frei. Ich sah alles
verschleiert, aber der Sturm war vorüber. Der Sand trieb in einer riesigen Wolke über die Ebene dahin nach Westen, und ihm folgten dicke, schwarze Regenwolken. Ich stand auf und schüttelte mich. Das Vleeh rührte sich noch immer nicht, und ich gab ihm einen Schlag auf die Nüstern. Es sprang ungestüm auf und schnaubte und nieste wie ein Weltmeister. Dabei schüttelte es den Kopf, und sein Speichel flog nach allen Richtungen davon. Es geiferte und leckte sich mit der langen Zunge die Nüstern ab. Ich suchte nach Chipol, aber er war verschwunden. Mit seinem Reittier verschwunden. Ich begann heiser nach ihm zu rufen und zu suchen, aber erst nach einer Weile entdeckte ich ihn dreihundert Meter entfernt in einem Sandhaufen. Er war bewußtlos geworden, und ich zog ihn vorsichtig heraus und reinigte ihm Nase, Mund und Augen. Er zuckte ein paarmal, dann erwachte er aus seiner Bewußtlosigkeit. Er wollte etwas sagen, aber mehr als ein Krächzen kam nicht heraus. »Nicht sprechen!« mahnte ich leise. »Schau hinauf! Bald kommt Wasser!« Der Sandsturm hatte die kühleren J Schichten der Atmosphäre erwärmt und sie herangetrieben. Dort, wo kalte und warme Massen aufeinandertrafen, entstand ein Gewitter. Wir konnten es genau beobachten. Statt des Sandes zuckten plötzlich Blitze über den Himmel, und dann setzte der erlösende Regen ein. Chipol jubelte auf. Er riß sich die Kleider vom Leib, als die ersten schweren Tröpfen fielen. Es war klares Wasser, das da vom Himmel kam, und enthielt kein bißchen Sand. »Tu es mir nach, Atlan«, rief er. »Du mußt den Körper abwaschen, sonst wirst du in ein, zwei Stunden verrückt, weil der Sand überall reibt und klebt!« Ich befolgte seinen Ratschlag, und danach schüttelten wir unsere Kleider aus und wuschen sie ebenfalls. Die Vleehs hatten sich aufgerichtet, und Chipol sammelte in einer Decke Wasser für sie, damit sie trinken konnten. Auch wir sogen das Naß gierig in uns
hinein, und als nach einer guten Stunde der Regen aufhörte und sich die Wolkenfront mit einem letzten Donnern verzog, da kehrte die Sonne zurück und trocknete im Nu unsere Kleider. Wir sahen, daß der Regen den Sand bereits in den Boden gewaschen hatte. Das Steppengras richtete sich wieder auf, und wir traten zu unseren Tieren und klopften ihnen das struppige Fell aus. Alles gehörte auf dieser Welt zusammen. Das kurze Fell der Tiere zu den Sandstürmen und der Sand zum Regen, der ihn in den Boden wusch und damit zur Fruchtbarkeit der Ebene beitrug. Auf Cairon war die Natur noch harmonisch, und hier lebten die Nomaden mit ihr, und auch die Bathrer trugen auf ihre Weise den natürlichen Gegebenheiten Rechnung. Mit Hilfe ihrer Priester schufen sie für sich einen Zustand der Harmonie. Das Kriegsglück der Nomaden bei ihren Überfällen auf die Städte hielt sich in Grenzen, es wurden gelegentlich Vorräte gestohlen, aber nicht sinnlos gekämpft und gemordet. Dazu besaßen weder die Bathrer noch die Nomaden die Waffen. Jetzt allerdings drohte das Gleichgewicht aus den Fugen zu geraten. Der Erleuchtete griff auf Cairon ein und kümmerte sich einen Dreck um die Verhältnisse. Er tat, was ihm selbst Nutzen brachte. Und er würde gewissenlos jeden anderen Planeten dieser Galaxis vergewaltigen. Wir schwangen uns auf die Vleehs. Ich wandte mich nach Norden, aber Chipol rief mich zurück. »Der Sand hat dir das Gehirn verdorrt, Atlan«, sagte er und preschte an meine Seite. Im jugendlichen Ungestüm griff er mir in die Zügel, aber ich legte ihm die linke Hand gleich einer eisernen Fessel um den Oberarm, daß er sie mit einem Schmerzensschrei fahren ließ. »Warum?« fragte ich. »Weil Bakholom im Osten liegt!« Er deutete mit der Hand in die entsprechende Richtung. »Es hat einen Grund«, mahnte ich. Ich bog den Kopf zur Seite und
lauschte. Von irgendwoher hatte der Wind einen Laut an meine Ohren getragen und mich zu der Richtungsänderung veranlaßt. Es hatte wie das Jammern eines Wesens in Not geklungen. Jetzt hörte ich es wieder. Auch Chipol vernahm es. Diesmal kam es von Süden. Entschlossen nahm ich das Vleeh herum und setzte es in Trab. 2. Der Wind legte sich. Die letzten Wolken verschwanden am westlichen Horizont, und von dem Sandsturm und dem nachfolgenden Regen war nicht viel übriggeblieben. Langsam kühlte die Luft des Frühsommertags auf die gewohnten Temperaturen ab, und unsere Kleidung war fast schon trocken. Von den Nomaden und ihrem Heer war jetzt erst recht nichts zu sehen. Der Sturm hatte sie aufgehalten, und ich konnte wieder hoffen, daß wir Bakholom so rechtzeitig erreichen würden, daß die Bewohner der Stadt genug Zeit hatten, die Vorbereitungen für die Verteidigung zu treffen. Ich musterte die Ebene. Wieder hörten wir einen Klagelaut, und dann sahen wir auch das Bündel, das mitten in der Ebene lag. Ein Kind? War es verlorengegangen? Wir erreichten es und stellten fest, daß es ein erwachsener Mann war. Er hatte sich in sein Gewand eingerollt, aber das hatte ihm nichts geholfen. Ich sprang ab und beugte mich über ihn. Er hielt die Augen geschlossen, und sein Atem ging stoßweise und rasselnd. Feiner Sand rieselte aus der Nase. Vorsichtig hob ich das Gewand ein wenig an. Das Gesicht des Mannes war vom Sandrieb zerschunden, und auch die Arme und die Unterschenkel wiesen handflächengroße Hautabschürfungen auf. Stellenweise hatte sich der Sand in den Muskelfasern abgesetzt,
die bloßlagen. Ich berührte eine der Wunden. Der Mann stöhnte laut auf, dann öffnete er mit einem Ruck die Augen. Sie waren verkrustet und trüb, und ich wandte mich rasch um und gab Chipol ein Zeichen, bei den Vleehs zu bleiben. Es hatte ihn schwer erwischt. »Wasser«, ächzte er kaum vernehmlich. »Chipol, die Flasche«, rief ich. Der junge Daila griff in seine Satteltasche, aber ich schüttelte den Kopf. »Nimm meine Flasche, bitte!« Er brachte den mit Bast umhüllten Schlauch aus Xarrhidarm, und ich zog den Stöpsel heraus und wies den Jungen an, den Kopf des Mannes in die Arme zu nehmen und ihn etwas hochzuheben. Dann flößte ich ihm schluckweise das Wasser ein. Ich wusch seine Augen aus und ließ auch ein wenig in die Nasenlöcher hineinlaufen. Anschließend kühlte ich seine Fleischwunden. Und wieder ächzte er und trank weiter, einen Schluck nach dem anderen, bis die Flasche leer war. »Es ist furchtbar«, hauchte Chipol. Immer wieder wandte er den Kopf zur Seite, um den Anblick nicht ertragen zu müssen. »Vergiß nie, daß dieser Mann durch einen Sturm verletzt wurde. Um wieviel grausamer muß es dann sein, dem Erleuchteten in die Hände zu fallen!« Das war eben ein Fehler, Arkonide! sagte der Extrasinn. Der junge Daila ließ den Kopf des Mannes fahren und sah mich aus weit aufgerissenen Augen an. »Du machst mir Angst, Atlan«, stöhnte er. »Was ist aus meiner Sippe geworden? Was hat der Erleuchtete mit der Familie Sayum angestellt?« Er wußte aus meinen Erzählungen, welche Erfahrungen ich mit dem Erleuchteten in der fernen Galaxis Alkordoom gemacht hatte, von der ich nicht einmal die Entfernung zu Manam‐Turu wußte, geschweige denn ihre intergalaktische Position.
»Denke nicht daran«, erwiderte ich. »Es war dumm von mir, darüber zu sprechen. Aber vergiß nicht, daß der böse Gegner es nur auf die Psipotentiale abgesehen hat. Vielleicht sind alle Mitglieder deiner Familie inzwischen so normal wie du. Wäre das nicht gut?« »Nein«, sagte er mit fester Stimme. »Es würde ihnen etwas fehlen. Was sagtest du über die Plasma‐Psi‐Torsi?« Narr! Wechsle endlich das Thema! Ich winkte ab und beugte mich wieder über den Verletzten. Er begann laut zu schreien und verstummte so plötzlich, daß wir dachten, er sei gestorben. Aber sein Atem ging danach ruhiger und gleichmäßiger. »Vielleicht sind sie bereits in das große Feuer eingegangen«, fuhr Chipol fort. »Alle, sogar mein Vater. Vierleicht gehören sie jetzt zu dem alles durchdringenden Geist, der Manam‐Turu erfüllt!« Die Mythologie der Daila war mir bekannt. Manam‐Turu bedeutete in ihrer Sprache »Rauchstreifen vom verlöschenden Feuer«. Einst hatte es nach ihrer Aussage statt der vielen Sterne am Himmel ein einziges großes Feuer gegeben, an dem alle Götter, Geister und Dämonen sich wärmen konnten. Dann aber hatte es Streit gegeben, weil die unterschiedlichen Gruppen ein eigenes oder das eine Feuer ganz für sich haben wollten. Und sie legten viele kleine Feuer an und entzogen dem großen Feuer immer mehr von seiner Kraft, bis es endgültig erlosch und nur sein Rauch als ewiges Mahnmal am Himmel erhalten blieb. Rauch der Götter nannten sie jene nebligen Zonen, die in sternenklaren Nächten zu beobachten waren. Und Chipol hatte berichtet, daß mancher der Gelehrten der Daila auf ihrem Heimatplaneten Aklard offen davon sprach, daß irgendwann am Ende der jetzigen Zeit sich alle die kleinen Feuer wieder zu einem einzigen großen vereinigen würden, aus dem dann ein neuer Götterhimmel hervorgehen würde. Ich wurde einer Antwort auf Chipols trübsinnige Vermutungen enthoben, denn der Blick des Mannes klärte sich. Er bewegte den Körper ein wenig und hob leicht den Kopf.
»Scharwyn, bist du das?« fragte er. Etwas war nicht in Ordnung mit seiner Stimme, es war deutlich zu hören. »Nein«, sagte ich leise. »Wir sind Atlan und Chipol, zwei Händler. Wir haben dich gefunden!« »Scharwyn, ich habe ihn verloren«, hauchte er. »Das ist das Ende!« »Nichts ist verloren«, sagte Chipol schwer. »Nie ist etwas verloren, weder eine Familie, noch ein Freund, noch ein Leben. Alles hat seinen Sinn!« Er bemühte sich, seiner Stimme einen festen Klang zu geben. Der Mann schwieg eine Weile. Er streckte seine Arme aus und betrachtete sie. Er sah das rote Fleisch und lachte bitter auf. »Feuer aus dem Tempel, ich sehe Feuer aus dem Tempel. Es gibt nichts, womit wir nicht gezeichnet wären!« Chipol deutete auf einen der Fetzen, die von den Ärmeln des Gewandes übrig geblieben waren. Ich erblickte ein Wappen. Es stellte einen Turm dar, der von einem Graben umgeben war. Es konnte auch eine der Städte sein, denn hinter dem Turm ragten zehn spitze Gipfel auf. Unter dem Turm leuchtete eine schwarze Lilie auf rotem Grund. Zumindest sah die Pflanze einer Lilie sehr ähnlich. »Kennst du das Wappen?«fragte ich leise, damit der Verwundete es nicht hören sollte. Es lag nicht in meiner Absicht, unser Unwissen und damit unsere Fremdartigkeit in der Öffentlichkeit unter Beweis zu stellen. »Nein«, flüsterte er. »Aber Wappen an den Gewändern ist nur bei den Städten des Südens üblich. Und höchstens noch bei der Verfluchten!« Die Verfluchte? »Scharwyn«, murmelte der Mann wieder. Er versuchte, sich ganz aufzurichten, aber ich schob ihn sanft zurück. »Bewege dich nicht. Wir werden dir aus Tüchern eine Hängematte machen und dich mitnehmen!« »Du willst ihn transportieren, Atlan?«
»Wir hängen ihn zwischen die Vleehs, damit er die Erschütterungen nicht spürt!« Sehr gut wußte ich, was das bedeutete. Wir kamen mit dem Verwundeten nur im Schrittempo voran und konnten Bakholom frühestens in zwei Tagen erreichen. Und das auch nur, wenn wir ohne Rast auch die Nächte durch ritten. Bis dahin hatten uns die Nomaden eingeholt. Der Sandsturm soll sie mitnehmen, weit nach Westen bis ans Ende des Kontinents! fluchte ich innerlich. Der Mann hob eine der blutenden Hände empor. »Ja, seht nur«, jammerte er. »Das Feuer des Tempels ist gierig. Es frißt die Menschen, ohne daß sie es merken. Schmerz und Leid bleiben zurück. Ich, Gerislag, sage es euch. Wer einmal mit diesem Feuer in Berührung kommt, der wird es nie vergessen. Es frißt und stiehlt dich, aber dein Körper bleibt zurück!« Er streckte sich und fiel in einen tiefen Schlaf, und ich hoffte, daß er irgendwann wieder erwachen würde. »Er ist ein Priester«, meinte Chipol. »So wie er spricht, ist er ein Geweihter, ein Mann mit übersinnlichen Fähigkeiten!« Davon war wenig zu spüren gewesen. Er hatte vom Feuer gesprochen, und ich brauchte Zeit, um die Aussage so zu verstehen, wie sie wahrscheinlich gemeint war. »Wenn es ein Priester ist, dann hat ihm der Erleuchtete sein Wahakú geraubt«, sagte ich. »Das Feuer, das ihn gefressen und nur seinen Körper zurückgelassen hat, kann nur der Erleuchtete gewesen sein!« Wir begannen, die Satteltaschen unserer Vleehs auszupacken und ein paar kurze Schnüre, zu einem Seil zusammenzuknüpfen. Wir zogen unsere Kapuzenumhänge aus und knoteten sie zu einer Hängematte zusammen, die aber mehr einem Sack glich. Wir drapierten sie ein wenig mit einem Seil und knüpften es dann an die Sattelgurte. Hufschlag klang auf. Eine Gruppe von acht Personen kam durch
die Ebene auf uns zu. Was mich daran störte, war, daß sie nicht vor den Nomaden floh, sondern in Richtung von den Bergen in die Ebene hinausritt. Der Kleidung nach waren es keine Nomaden, sondern Städter. Sie preschten heran und umringten uns. »Da liegt Gerislag!« rief einer. »Sie haben ihn ausgeraubt und zusammengeschlagen!« Die acht Männer sprangen von ihren Vleehs und umringten uns. Sie zogen Messer, Knüppel und Stricke hervor, und noch ehe wir etwas sagen konnten, hatten sie sich auf uns geworfen und uns gefesselt. Ich war so überrascht, daß ich nicht die geringste Gegenwehr leistete. Die Männer waren Bathrer, Leute aus den Städten. Sie gehörten offensichtlich zu Gerislag. Sie machten einen kriegerischen, rohen Eindruck. Sie benahmen sich nicht wie Bathrer, die im Bann der Harmonie lebten und der Vervollkommnung entgegenstrebten. »Ihr habt ihn halb totgeschlagen«, stellte der kleine, stämmige Hominide fest, der ihr Anführer zu sein schien. »Wer seid ihr überhaupt? Ich sehe es euch an. Ihr tragt die Kleidung der Händler, habt aber keine Waren bei euch. Ihr seid vermutlich ausgeraubt worden und trachtet nun danach, so schnell wie möglich zu Reichtum zu kommen. Dabei sind euch alle Mittel recht. Und die Vleehs habt ihr wohl auch gestohlen!« Wenigstens das stimmte halbwegs, aber ich gab ihm noch immer keine Antwort. Ich nahm mir Zeit, jede Einzelheit zu beobachten, jede ihrer Bewegungen und jedes ihrer Worte. Die Männer waren Krieger, aber sie waren auch Städter. Ein furchtbarer Gedanke durchzuckte mich. War die Entwicklung so weit fortgeschritten? War ich doch zu spät nach Cairon gekommen? War das, was ich bisher miterlebt hatte, lediglich das Ende eines Vorgangs und nicht der Anfang, wie ich gehofft hatte? »Hört mich an«, bat ich, »Ihr seid Städter, und ihr tragt Wappen an den Ärmeln. Ihr werdet den Sandsturm beobachtet haben, vielleicht hat er euch nur gestreift oder ganz verschont. Dieser hier«, ich
deutete mit dem Kopf auf Gerislag, »hatte weniger Glück. Er war den Naturgewalten voll ausgeliefert. Wir haben ihn gerettet. Welchen Lohn haben wir dafür von euch zu erwarten?« Jemand versetzte mir einen Tritt in den Rücken. »Sandsturm, daß ich nicht lache. Schaut euch doch die Wunden an. Ihr habt ihn mißhandelt!« Gegenüber soviel Ignoranz zog ich es vor, weiter meinen Mund zu halten. Ich blickte scharf umher und wartete auf eine Gelegenheit, mich meiner Fesseln entledigen zu können. »Es sind Verrückte, Atlan«, rief Chipol mir zu. Er erhielt einen Schlag auf den Kopf und wurde ein Stück weggeschleift, wo man ihn zu Boden fallen ließ. Die acht Männer packten verschiedene Dinge aus und kümmerten sich um Gerislag. Dieser wollte und wollte nicht erwachen. Wenn er starb, würde er das Geheimnis seiner Errettung mit ins Grab nehmen. Kosmokraten! dachte ich. Was habt ihr euch dabei gedacht? Wie soll es weitergehen, wenn sie mich totschlagen? Und was wird aus Chipol? Ich beschloß, die Männer um Nachsicht für den Jungen zu bitten, wenn es soweit war. Und zudem hatte ich noch immer einen Trumpf im Ärmel. Ich konnte mit den Nomaden drohen, die bald anrücken würden. Die Männer waren nicht in der Lage, die Wunden ihres Kumpans richtig zu deuten. Sie wären wohl zum ersten Mal in der Steppe, und ich beschloß, ihnen mit den Nomaden einen gehörigen Schrecken einzujagen. »Er schläft tief«, stellte der Anführer fest. Zurufen entnahm ich, daß er Fallin hieß. Er trat zu mir und versetzte mir erneut einen Tritt. »Wir werden über euch zu Gericht sitzen«, verkündete er. »Wir werden ein gerechtes Urteil fällen und es vollstrecken! Und danach werden wir weiterreiten und Jagd auf die Nomaden machen. Verstehst du das, Händler? Jeder von uns hat einen Mandaten mit
den Nomaden zu rupfen!« Nichts ist es mit der Drohung vor den Nomaden, stellte der Extrasinn fest. Du solltest dir bald eine Lösung deines Problems einfallen lassen. Ich wäre recht froh gewesen, wenn es allein mein Problem gewesen wäre. Suche doch du nach einer rettenden Idee, forderte ich ihn auf. Du bist doch sonst nicht auf den »Mund« gefallen! Ich wälzte den Körper herum und verfolgte, wie die Männer sich ein wenig entfernten und sich dann in einem Kreis niederließen. Eine Gerichtssitzung und ein Urteil. Das konnte ja heiter werden. * Es dauerte nicht lange. Die Männer waren sich sofort einig, und Fallin sprang auf und stapfte zu mir herüber. »Die Entscheidung ist gefallen«, verkündete er. »Magorweit wird mit dir kämpfen!« Er deutete auf den größten und stärksten Begleiter. »Warum nicht du?« fragte ich. Er zuckte bei dem Spott in meiner Stimme zusammen und streckte seinen etwas klein geratenen Körper. »Du hast darüber nicht zu entscheiden. Sei froh, daß wir dir den Zweikampf gewähren. Du sollst beweisen können, wie feige du wirklich bist. Aber denke daran, daß dir die Flucht nicht gelingen wird. Du wirst ständig von bewaffneten Rächern umgeben sein!« Er bückte sich und löste meine Fesseln. Ich schielte zu Chipol hinüber. Der junge Daila verfolgte alles aufmerksam. Er kniff das eine Auge zusammen. »Nur Mut, Atlan«, rief er. »Noch kein Gegner hat dich bisher überwunden!« In meinen Augenwinkeln entstand ein winziges Lächeln. Chipol war mit allen Wassern gewaschen. Er wußte, daß diese Worte aus
seinem jugendlichen Mund besser wirkten, als hätte ich selbst sie als Drohung ausgesprochen. Fallin führte mich hinüber zu dem Platz, an dem sie über mich zu Gericht gesessen waren. Er deutete auf die Stelle, wo ein kleines Stück Holz lag. »Hier stell dich hin und rühr dich nicht«, sagte er. Dann führte er Magorweit zu einem anderen Fleckchen Gras, das sich etwa fünf Meter von mir entfernt befand. »Beginnt auf mein Zeichen!« rief er. Ich sah, daß der Kämpfer sein Messer bei sich hatte. Ich selbst war waffenlos. Ich machte Fallin auf dieses Mißverhältnis aufmerksam. Er lachte und hob die Hand. »Beginnt!« meinte er. Offensichtlich, war er davon überzeugt, daß der Zweikampf nicht lange dauern konnte. Und, das sollte zu meiner Entlastung ruhig gesagt werden, ich gab ihm recht. Zunächst jedoch beschloß ich, Magorweit ein wenig nervös zu machen, um seine Reaktionen besser abtasten zu können. »Wo bleibst du?« rief ich. »Ist dir das Herz in die Hosen gerutscht, Magorweit? Etwas Dümmeres konnte dir nicht passieren, als gegen mich zum Kampf ausgewählt zu werden! Weißt du, daß ich in jungen Jahren gegen den Riesen Iwolein gekämpft und ihn mit einem einzigen Schlag ins Reich der Träume geschickt habe?« Er könnte nicht wissen, wer Iwolein war. Ich selbst hatte nur durch Zufall an jene alte Geschichte gedacht, die mir im Großen Imperium von Arkon widerfahren war, als ich als junger Kristallprinz von einem zum anderen Planeten geflogen war, um Abenteuer zu erleben. Vielleicht rutschte ihm jetzt wirklich das Herz in die Hose, denn ich sah, wie er sein Messer hob und es abwehrend von sich streckte. Ein Kämpfer unter den Bathrern. Da ich überzeugt war, daß auch er bis vor nicht langer Zeit unter dem Einfluß der Priester gelebt hatte, konnte es mit seiner Kampferfahrung nicht weit her sein. »Komm!« lockte ich. »Sei nicht so schüchtern. Ich bin dir sogar
gefällig!« Ich sprang auf ihn zu und riß den linken Arm empor. Er wich aus und schnellte sich zur Seite. Der Arm mit dem Messer stieß nach vorn, aber der Stich ging ins Leere, weil ich nämlich hinter ihm stand. Ich klopfte ihm sacht gegen den Rücken und machte seine Körperdrehung mit. »Etwas schneller, Magorweit! Ich bin schließlich kein Sandkriecher!« Er schnellte rückwärts und stach mit dem Messer nach hinten, aber da hatte ich ihn bereits halb umrundet und stand in drei Meter Entfernung vor ihm. »Chipol und ich haben diesen Gerislag vor dem Tod gerettet«, sagte ich. »Begreifst du das? Schau doch mal nach meiner Wasserflasche, die dort drüben liegt. Sie ist leer. Oder glaubst du, ich habe das kostbare Gut einfach weggeschüttet?« Ich sah, wie seine Augen sich verengten. Er nahm die Hand mit dem Messer zurück. Dann schnellte sie vor, aber er warf sich nicht auf mich. Er schleuderte mir das Messer entgegen, und ich ließ mich nach hinten fallen und entging der Waffe. Sie blieb neben mir im Gras stecken, und ich nahm sie an mich und sprang auf und zur Seite. Magorweit stürzte an mir vorbei, und ich stieß blitzschnell die rechte Hand vor und brachte einen Dagorgriff an seinem Hals an. Wie vom Blitz gefällt brach er zusammen und blieb liegen. Das war alles so schnell gegangen, daß die Bathrer es gar nicht recht mitbekamen. Fallin warf sich auf mich. »Du hast ihn getötet!« tobte er. Ich hielt ihn mühelos mit der linken Hand von mir ab. Ich zeigte ihm das Messer. »Wo ist denn Blut an der Klinge?« fragte ich, drückte ihm die Waffe in die Hand und schritt hinüber zu Chipol. Ich löste die Fesseln des Jungen und zog ihn mit zu unseren Vleehs. »Noch Fragen?« erkundigte ich mich. Stumm sahen mich die Bathrer an. Sie schienen es nicht fassen zu können. Schließlich schien es ihnen doch langsam zu dämmern, was wirklich geschehen war,
oder sie zogen es vor, sich lieber nicht weiter mit mir anzulegen. Einer von ihnen trat zu dem Verwundeten. »Die Wunden sind ausgewaschen worden«, stellte er fest. »Wir waren blind, daß wir es nicht gesehen haben. Und wo ist Gerislags Mandalon?« Aus der gekrümmten Hand des Verwundeten zog er ein Stück Riemen heraus und betrachtete ihn. »Gerissen!« nickte er. »Der Mandalon hat sich losgerissen. Gerislag war dem Sandsturm schutzlos preisgegeben. Ich glaube, was der Händler sagt, stimmt! Hoffentlich überlebt der Torwächter!« Jetzt war es an mir, herbeizutreten und Fragen zu stellen. »Gerislag ist Torwächter, kein Priester?« erkundigte ich mich. »Nein. Oder hast du die Fähigkeiten eines Priesters an ihm entdeckt?« konterte Fallin. Ich sah es ihm an, daß er nicht wußte, was er denken sollte. Er ging zu dem Schlafenden hinüber und rüttelte ihn vorsichtig. Langsam kam Gerislag zu sich. Er öffnete die Augen und erkannte Fallin. »Endlich seid ihr da«, hauchte er. »Habt ihr Scharwyn gefunden?« »Ganz ruhig, Gerislag«, sagte der Bathrer. »Scharwyn ist nicht zurückgekehrt. Vielleicht hat der Sturm den Mandalon getötet. Aber kennst du den Silberhaarigen dort?« »Mein Retter!« hauchte der Torwächter. »Er hat mich gefunden!« Erneut sank er zurück und schloß die Augen. Die Bathrer drängten sich ratlos zusammen. Die Unsicherheit stand ihnen in den Gesichtern geschrieben. Minuten des Schweigens vergingen, bis sich Fallin endlich ein Herz faßte und zu uns trat. Er bot mir die Handfläche zum Gruß, und ich erwiderte die Geste. »Verzeiht uns«, sagte er. »Wir waren blind. Der Sturm und dann der Anblick des Verletzten, es war zuviel für uns. Wir haben etwas getan, was wir nicht gutmachen können. Mein Leben gehört dir, wenn du Wert darauf legst!« »Behalte es«, sagte ich. »Wir sind zwei friedliche Händler, die ebenfalls vom Sturm überrascht wurden. Wir verzeihen dir, denn es
ist zum Glück alles gutgegangen. Magorweit wird bald aufwachen und ein paar Stunden Schmerzen im Nacken haben. Mehr nicht!« Er lud uns zum Sitzen ein, und wir nahmen an. Eine Last war von mir genommen worden. Jetzt, nachdem ich wußte, daß Gerislag kein Priester war, war die Vermutung hinfällig, daß der Erleuchtete auch jene Stadt heimgesucht haben könnte, aus der die Bathrer kamen. Und dennoch, ihr Benehmen ließ mich nicht zur Ruhe kommen. War nicht doch etwas geschehen? »Woher kommt ihr?« sagte ich. »Ich kenne das Wappen nicht, das ihr tragt!« »Oh, das ist kein Wunder. Wer kümmert sich schon um die Verfluchte!« erwiderte Fallin. Die Verfluchte! Chipol hatte also recht gehabt mit seiner Vermutung. Aber welche Stadt war die Verfluchte? * Der vierte Planet der Sonne Tsybaruul besaß acht Kontinente. Einer davon war besiedelt, und er trug den schlichten Namen Land der Bathrer. Er lag in der nördlichen Hemisphäre und ähnelte in seiner Form einer in Nordsüdrichtung liegenden Banane. Seine nördlichsten Ausläufer tangierten den Polarkreis, während er im Süden bis in die tropische Zone reichte. Im Osten wurde das Land der Bathrer von einer Gebirgskette begrenzt, die sich über die ganze Länge des Kontinents hinzog. Der größte Teil dieses Gebirges war öde und unfruchtbar, nur im Westen gab es einen Streifen mit relativ üppiger Vegetation. Dort lagen die Stadtstaaten der Bathrer. rund zweihundert an der Zahl. Dort waren die Ruinen alter Städte ebenso zu finden wie junge, gerade erst im Aufbau befindende Anwesen, ein deutliches. Zeichen, daß die Kultur daran war, sich über den Kontinent auszubreiten. Die südlichste Stadt wurde »Land der Sonne«
genannt, Cainaruul. Die nördlichste hieß »Die Tapfere«, was in der Sprache der Bathrer Lyngoron hieß. Umharaton und Bakholom, die »Stadt über dem Fluß« und »Die Prächtige«, lagen ungefähr in der Mitte des Landes in der gemäßigten Klimazone. Westlich des Gebirges lagen weite Ebenen, in denen die Nomaden mit ihren Herden hausten. Tief im Gebirge jedoch, weit im Osten, wo der Boden kaum mehr fruchtbar war, lag »Die Verfluchte«, Dschadhalon. Wie ein Geschwür ragte sie aus ihrem Berg heraus, auf den und in den sie gebaut worden war. Viele Bathrer wußten nicht einmal, daß Dschadhalon noch bewohnt war, und hätte einer der Weisen oder der Chronisten eifriges Quellenstudium betrieben, wäre er zu dem Schluß gekommen, daß Dschadhalon eine sterbende Stadt war. »Jetzt weißt du es«, sagte Fallin und setzte sich zurecht. Wir hatten uns im Kreis niedergelassen, und der Anführer der Bathrer berichtete. »Es beantwortet aber nicht alle unsere Fragen«, sagte ich. »Warum seid ihr unterwegs, um euch zu rächen? Was ist mit den Priestern in eurer Stadt?« »Du hast scharfe Gedanken, Atlan«, stellte der Bathrer fest. »Aber ich habe keinen Grund, es dir zu verschweigen. Dschadhalon hieß nicht immer ›Die Verfluchte‹, aber sie war seit jeher eine verrufene Stadt, in der es immer zu wenig Priester gab. Viele Bewohner wollten sich mit diesem Zustand nicht abfinden und wanderten aus in andere Städte. Und die, die bis zu uns kamen, waren meist Ausgestoßene, die wir nicht aufnehmen durften und denen das Schicksal vorschrieb, entweder Einsiedler oder Händler zu werden. Ob es manchmal Ausnahmen gegeben hat, ist uns nicht bekannt. Darüber könnten höchstens die Chronisten im Hügelland Auskunft geben. Aber vergiß das besser. Es ist nichts von Bedeutung. Wichtig ist allein, daß ›Die Mutige‹, wie die Stadt damals hieß, langsam ihren Halt verlor, weil die Umgegend immer öder und dürrer wurde. Aus unbegreiflichen Gründen führten die Bäche weniger
Wasser, und eines Tages begann die Stadtflucht, sprach es sich herum, daß man dort nur karg leben konnte. Und von diesem Zeitpunkt an wurden weniger Höherbegabte geboren, die später einmal die Laufbahn der Priester einschlagen konnten. So wurde die Stadt zu Dschadhalon, und das ist sie seit vielen Generationen. Die wenigen Priester kämpften einen verzweifelten Kampf, und nie gelang es ihnen, eine vollendete Harmonie herzustellen.« Mir wurde einiges klar. Die Männer aus dieser Stadt legten doch auffällig unbathrische Verhaltensweisen an den Tag, was auf diese Schwierigkeiten zurückzuführen war. »Es kommt noch schlimmer, Atlan«, fuhr Fallin fort. »Eines Tages, es muß etwa vierzig Sonnenaufgänge her sein, fielen alle Bewohner Dschadhalons nachts in einen tiefen Schlaf. Selbst die Wachen waren davon betroffen. Als sie wieder zu sich kamen, da schickte sich Tsybaruul gerade an, wieder hinter den Horizont zu sinken. Sie erhoben sich verwundert und wollten den Priestern Meldung machen, aber die Priester und alle ihre Schüler waren verschwunden. Niemand hatte gesehen, wohin sie gegangen waren. Schnell machte die Botschaft die Runde, daß die Nomaden schuld daran seien, und es brach ein Aufruhr los. Wir wissen seit langem, daß die Nomaden mit den Bösen Geistern im Bund sind. Sie hatten mit deren Hilfe die Stadt überfallen, ihre Bewohner mit einem Bann belegt und die Priester geraubt. Seither, Atlan, sind die Bewohner unterwegs, um sich an den Nomaden zu rächen. Und du sage mir, ob wir richtig handeln oder nicht!« Ich schluckte und machte eine Geste der Sanftmut. Ohne ihre Priester waren die Bewohner von Dschadhalon nicht mehr in der Lage, eine harmonische Lebensweise anzustreben oder durchzuführen. »Es ist nicht bewiesen, daß es die Nomaden waren«, erklärte ich. »Es kann durchaus eine andere Macht gewesen sein, von der ihr und wir nichts wissen. Ich kann euch deshalb nur raten,
umzukehren. Dir rennt in euer Verderben, denn die Nomaden sammeln sich in der Ebene und rüsten sich zum Sturm gegen Bakholom.« »Wie sie es mit Dschadhalon getan haben!« »Warum sollten sie zuerst die entlegenste und ödeste Stadt angreifen, die über keine Schätze und nur wenig Vorräte verfügt?« hielt ich entgegen. Mein Argument schien Fallin zu beeindrucken, denn er wurde nachdenklich und sagte eine Weile nichts. »Ihr denkt zu oberflächlich«, fuhr ich fort. »Ihr kommt damit nicht weit. Und eure Priester werden dadurch auch nicht zurückkehren!« »Es spielt keine Rolle, was wir tun«, warf Magorweit ein. Er war zu sich gekommen und saß bei uns. Immer wieder massierte er seinen Nacken. »Du meinst, ob ihr Nomaden für eure Rache sucht oder euch an den Händlern bereichert, das bleibt sich gleich«, sagte ich. »Was ihr uns zunächst vorgeworfen habt, wollt ihr selber tun!« »Nein!« stieß Fallin hervor. »Wir nicht. Allerdings gibt es Bewohner unserer Stadt, die aus diesem Grund ausgezogen sind!« »Sie werden wenig Glück haben, denn die meisten Händler haben sich aus ihren Arbeitsgebieten zurückgezogen. Sie sind verschwunden wie ein Spuk!« Fallin sprang auf. »Atlan, es ist genug geredet. Ich kann nichts anderes tun, als dich nochmals um Verzeihung zu bitten. Wir brechen auf, denn wir haben keine Zeit zur Muße. Wir nehmen Gerislag mit uns, und wir werden dafür sorgen, daß er schnell wieder gesund wird!« Sie erhoben sich und knüpften in aller Eile eine ähnliche Hängematte, wie wir sie vorbereitet hatten. Sie legten den Verwundeten hinein, und nach einem letzten Gruß saßen sie auf und ritten davon, immer nach Westen und wahrscheinlich den Nomaden in die Arme. »Da gehen sie hin und rennen blind in ihr Verderben«, rief Chipol aus. »Warum sind sie so stur?«
»Der Böse Geist hat sie verwirrt, und es ist nur gut, daß wir wissen, worum es sich bei ihm handelt!« Es konnte nur der Erleuchtete gewesen sein, der sich die abgelegene Stadt ausgesucht hatte, um die Bathrer näher unter die Lupe zu nehmen. Offenbar war der Versuch positiv ausgefallen, denn er hatte gleich alle Priester samt ihren Schülern mitgenommen. Und wie würden wir sie wiedersehen, wenn wir das Versteck oder Depot fanden? Als Plasma‐Psi‐Torsi und entseelte Körper? Mir wurde Angst um Chipol und das, was ihm vielleicht eines Tages bevorstand. »Vierzig Tage ist es her«, fuhr ich fort. »Eine lange Zeit. Wir müssen umdenken. Was wir bisher in Umharaton und bei den Nomaden erlebt haben, waren nicht die ersten Versuche des Erleuchteten. Es hat eher den Anschein, als würde er immer wieder Stichproben machen. Und er braucht Zeit, um die nächste Stufe seines Unternehmens vorzubereiten. Komm, hilf mir!« Wir knüpften unsere Gewänder wieder auf und zogen sie an. Nachdem wir auch die übrigen Dinge verstaut hatten, saßen wir auf und machten uns auf den Weg. Durch das Zusammentreffen mit den Händlern und jetzt den Rächern hatten wir mehrere Stunden verloren, die wir kaum mehr einholen konnten. Es sei denn … »Wie fühlst du dich?« fragte ich Chipol. Der junge Daila reckte sich im Sattel und lachte befreit auf. »Wie neu geboren«, meinte er. »Wir hatten Zeit, uns auszuruhen. Warum fragst du?« »Weil ich dir dieselbe Frage kurz nach Mitternacht noch einmal stellen will.« »Du willst also durchreiten bis Bakholom?« »Wenn es geht, ja. Aber das hat noch ein paar Stunden Zeit.« Immer wieder hielten wir an und musterten den Horizont hinter uns. Tsybaruul neigte sich ihm immer mehr entgegen, und wir waren geblendet und konnten nichts Genaues erkennen. Als der Stern dann untergegangen war, war von den Nomaden noch immer
nichts zu sehen. Es beruhigte uns ein wenig, und wir ritten in die Dämmerung hinein und später in das Dunkel, während vor uns die Berge langsam in den finsteren Himmel wuchsen. Den größten Teil des Weges, wußten wir, hatten wir bereits hinter uns. 3. Ich wußte nicht, woran es lag, daß mich Cairon auf eine unaussprechliche Art zu faszinieren begonnen hatte. Es konnte nicht daran liegen, daß der Erleuchtete diese Welt zum Untergang verdammt hatte. Schon eher mochte es die Harmonie sein, die mich beeindruckte und in meinem Innern an einer Saite zupfte und sie klingen ließ. Ich lag in Gedanken versunken auf dem Rücken des Vleehs und lauschte der Musik nach, die aus einem unbekannten Raum in mein Gehirn strömte. Die Klänge entrückten mich der Wirklichkeit, und ich sah mich auf dem Rücken eines Pferdes über ein weites Land reiten, das ich sofort als Bestandteil der Erde erkannte. Eine Schar von zwölf Rittern begleitete mich, und sie hatten ihre Visiere zurückgeklappt und redeten auf mich ein. Ich sah, wie sie die Lippen bewegten, aber ich verstand sie nicht. Ich merkte nur, daß ich ihnen Antwort gab. Sie schienen zufriedengestellt, und nach einer Weile überholten sie mich und deuteten voraus auf den weißen Turm, der unser Ziel war. In ihm waren die Geheimnisse der Templer aufbewahrt, und wir waren gekommen, um sie zu finden und zu enträtseln. Meine Augen brannten. Ich rieb das salzige Sekret heraus und lachte dröhnend auf. Ich besaß den Schlüssel für diesen Turm, und es war der einzige Grund, warum mich meine Begleiter bisher nicht getötet hatten. Sie wollten an die Schätze heran. Flieg! dachte ich, ohne auf den eindringlichen Ruf des Extrasinns zu hören. Flieg hinweg!
Das kybernetische Pferd, ein Geschöpf Ricos, hob sich in die Luft und entführte mich von diesem Kontinent bis auf eine Insel, und das zornige Gebrüll der Ritter hallte noch lang in mir nach. Atlan, es ist Zeit aufzuwachen! Ich blinzelte. Die Helligkeit hatte abgenommen, aber ich erkannte, daß dies eine optische Täuschung war. Wir ritten in den Morgen hinein, und ich kehrte mit meinen Sinnen in die Wirklichkeit zurück und sah mich um. Es konnte nicht lange gewesen sein, daß ich von längst vergangenen Zeiten geträumt hatte. Ein paar Sekunden vielleicht. Um uns herum ragten die Gipfel des Gebirges auf. Sie waren grün und waldreich, nur in der Ferne ragten ein paar kahle Gipfel auf, die Berge des Ostens, an deren Hängen es keine Vegetation mehr gab. Was war los? fragte ich lautlos. Du bist in jenen Traumzustand verfallen, in dem dein Unterbewußtsein gern Teile deiner Erinnerung freigibt. Du hast zu erzählen begonnen. Was ist der Auslöser gewesen? Die Umgebung? fragte der Extrasinn zurück. Etwas in deinem Innern, worüber ich keine Kontrolle habe? Ich schüttelte den Kopf, wischte den trüben Schleier hinweg, der mich noch immer gefangenhielt. Ich wandte den Kopf und sah Chipol an. Der junge Daila lag mit dem Kopf auf dem Hals des Vleehs und schaukelte mit dem Körper hin und her. »Sayum!« sagte ich. »Es ist Zeit, aus den Träumen zurückzukehren. Wie geht es dir?« Er rührte sich nicht, und ich beugte mich hinüber zu ihm und berührte ihn leicht. Augenblicklich schrak er empor und starrte mich schlaftrunken an. Seine Augäpfel leuchteten gespenstisch und verblaßten langsam im einfallenden Tageslicht. »Wo sind wir?« wollte er wissen. »Unterwegs im Gebirge«, lächelte ich. »Hast du gut geschlafen?« Er schien mit sich zu Rate zu gehen und senkte nach einer Weile den Kopf.
»Ich habe tatsächlich geschlafen, Atlan. War das schlimm? Bestimmt hast du die Übersicht behalten!« »Bestimmt!« erwiderte ich. Es konnten wirklich nur Sekunden gewesen sein, die ich geträumt hatte. »Es kann nicht mehr weit sein bis Bakholom«, meinte der Daila. »Hast du nichts entdeckt, einen Wegweiser oder so? Oder ist uns jemand begegnet, den du nach dem Weg fragen konntest?« »Niemand und nichts, Chipol.« Der junge Mann aus der Sippe der Sayum richtete sich auf und streckte sich im Sattel. Er stieß eine Folge wohliger Laute aus, so daß das Vleeh verwundert die Ohren spitzte. Es drehte den Kopf und versuchte, nach der Quelle der Urlaute Ausschau zu halten. Es gelang ihm nicht, deshalb blieb es einfach stehen, krümmte den Rücken und warf Chipol aus dem Sattel. Der Daila landete im hohen Gras, überschlug sich einmal und kam benommen auf dem Rücken zu liegen. »Hast du dir weh getan?« fragte ich. Er schüttelte den Kopf. »Alle bösen Geister müssen in das Vieh gefahren sein«, knurrte er. »Was ist mit dem Vleeh los?« »Es hat deine Äußerungen falsch verstanden«, vermutete ich. »Sieh nur, wie seine Augen glitzern. Du mußt es besänftigen!« Chipols Laute mußten das Tier an etwas erinnert haben. Etwa an einen längst ausgestorbenen Gegner aus Urzeiten, der ähnliche Laute ausgestoßen hatte. Oder an eine Wildkatze, der es nur mit knapper Not entkommen war. Es spielte auch keine Rolle, Chipol würde sich in Zukunft besser beherrschen, wenn er nicht erneut abgeworfen werden wollte. Er trat zu dem Vleeh und streichelte den struppigen Pelz. Er redete auf es ein, und das Glitzern in den Augen verschwand. Chipol stieg kopfschüttelnd auf. »Chkur azzay yumud«, fluchte er in der Sprache seines Volkes, was so viel hieß wie: »Der Schinder soll dich holen.« Die Berge um uns herum waren immer enger zusammengerückt.
Wir befanden uns tief in der Gebirgsregion und schätzungsweise zweihundert bis dreihundert Meter höher als die Ebene. In der Nacht hatten die Vleehs mehrmals steile Pfade erklimmen müssen, aber die meiste Zeit war das Gelände sanft und gleichmäßig angestiegen. Wir ritten auf eine Felsenge zu. Die Bergflanken links und rechts rückten immer weiter aneinander und wurden steiler, bis sie senkrecht abfielen. Zwischen ihnen schlängelte sich der Pfad entlang, und er war von herabgestürztem Geröll bedeckt. Ein Turm schob sich in unser Blickfeld. Er leuchtete weiß über der braunen und grünen Landschaft. Er warf das Licht der Sonne zurück und stand mitten auf dem Pfad. An seinem Fundament gähnte ein dunkler Fleck, der sich alsbald als Zugbrücke herausstellte. Wir ritten hin und blieben in Rufweite halten. »Wächter, laß die Brücke herab!« rief ich. »Hier sind zwei beraubte Händler auf der Durchreise!« In der weißen Wand öffnete sich eine Klappe, und ein runzliges Gesicht tauchte auf, das von einem weißen Bart eingerahmt wurde. »Verschwindet!« keifte eine schrille Stimme. »Bei allen bösen Geistern der öden Regionen, was wollen zwölf Ritter hier und auch noch du!« Ich zuckte zusammen. Verdammt, das konnte nicht sein. Der weiße Turm der Templer! »Chipol!« hauchte ich. »Was siehst du?« »Einen Alten, der wüste Beschimpfungen losläßt. Was meint er mit zwölf Rittern?« Ich richtete mich in den Steigbügeln auf, um besser in die Luke blicken zu können. Ich musterte das Gesicht, aber ich konnte mich nicht an es erinnern. Es war ein fremdes Gesicht, das ich noch nie irgendwo gesehen hatte. Woher auch. Wir sind in Manam‐Turu! »Kennst du mich?« fragte ich laut. »Was weißt du über mich?« Schrilles Gelächter war die Antwort. Die Klappe fiel zu, und wir hörten, daß die Stimme sich entfernte. Es wurde still, aber dann
erklang das Schaben und Rasseln von Winden und Ketten. Knarrend setzte sich die Zugbrücke in Bewegung und senkte sich ächzend zum Boden herab. Sie gab den Weg frei, und wir ritten in den Tunnel hinein, der durch den Turm führte, und machten an seiner Hinterseite halt. Das Gesicht tauchte auf. Es gehörte zu einem dürren Körper, der in einer roten Kutte steckte. Wenn er sich bewegte, schlackerte das Gewand hin und her, als besäße es ein eigenes Leben. Ein Einsiedler! Einer der Verstoßenen, die sich in die Berge zurückgezogen haben! »Ja, ja«, erhob sich die Stimme erneut. »Wundert euch nicht, edle Ritter aus dem Templerland. Es ist alles möglich!« Ich sprang ab und trat auf ihn zu. Ich faßte ihn an. Er war ein Wesen aus Fleisch und Blut, und er war ein Bathrer. Er konnte seine Herkunft nicht leugnen. Und dennoch … Wieder lachte er und gab uns Rätsel auf Rätsel auf. »Du kannst diese Dinge nicht wissen«, stellte ich fest. »Ich habe nur daran gedacht, nicht davon gesprochen.« Oder hatte ich doch laut geredet? Aber wie hatte er es erfahren? Hatte er uns die ganze Zeit beobachtet oder beobachten lassen? Wie so oft kommt man nicht auf den Gedanken, der am nächsten liegt. Ich wurde nicht schlau aus dem Kerl. Erst Chipol half mir weiter. Der junge Daila sprang ebenfalls ab und trat zu uns. »Diese Augen, Atlan«, sagte er. »Sieh dir nur seine Augen an. Erinnere dich an Umharaton!« Noch immer wollte ich nicht begreifen. Langsam erst dämmerte es mir, und ich starrte diese lebhaften Kugeln an, aus denen mich der Einsiedler beobachtete. Er wußte von meiner Erinnerung, aber er konnte sie nicht auf telepathischem Weg erlangt haben, da ich mentalstabilisiert war. Es sei denn, ich hatte den Block unbemerkt gelockert und ihm damit eine Gelegenheit gegeben, Dinge zu empfangen, die ihm unbekannt …
»Ein Priester!« fuhr Chipol fort. »Er hält die Hände wie ein Priester verschränkt!« Der Alte veränderte die Stellung seiner Hände rasch, aber mir hatte ein kurzer Blick genügt. Ich verstand jetzt, was los war. »Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die sind schwer zu glauben«, sagte ich. »Du bist also ein Priester, und du hast deine empathischen Fähigkeiten dazu benutzt, meine Gedanken zu interpretieren. Du hast sie richtig erkannt. Aber warum sitzt du hier in diesem Turm?« Welche Frage, Atlan! Er ist ein Verstoßener! »Es gibt ein altes Gesetz im Land der Bathrer«, erwiderte der Einsiedler. »Nach ihm sollst du nie einen Ausgestoßenen nach dem Warum und dem Wieso fragen. Du scheinst diese Sitte nicht zu kennen, Händler. Was soll ich daraus schließen?« »Ich kenne sie«, lenkte ich hastig ein. »Denn schließlich waren auch meine Vorfahren Ausgestoßene, die sich den Händlern anschlossen. Aber du hast mich verwirrt, indem du meine Gedanken ausgesprochen hast, die doch nur für mich bestimmt waren.« »Händler!« rief er mit eigenartiger Betonung. »Ich bin doch kein einfältiger, alter Mann. Du Wesen von einem fremden Planeten!« Jetzt war alles verraten. Ich sah aus den Augenwinkeln, wie Chipol zusammenzuckte. Er wollte sich auf den Einsiedler stürzen, aber ich winkte ihn zurück. »Nicht so hastig. Wir wollen ihn lieber fragen, was er mit seinem Wissen anfangen will.« »Ich bin ein Ausgestoßener«, sagte der Bathrer. »Die Gedanken an die einstige Größe Bakholoms in mir haben keinen Wert mehr. Niemand fragt mich um Rat, obwohl ich einst die stärkende Kraft des geistigen Zentrums war. Die Prächtige hat meine Dienste verschmäht, und jetzt sitze ich hier im Turm des ehernen Wissens und öffne ab und zu den Reisenden. Erst in den vergangenen Stunden sind viele Dutzend Händler mit ihren Karren
vorbeigekommen. Von ihnen habe ich das erste Mal erfahren, daß zwei Ausgeraubte kommen werden. Ihr seid es, und ihr dürft euch nicht ängstigen. Alles, was in meinem Innern verwahrt ist, liegt dort gut. Das Gesetz aller Ausgestoßenen gebietet es, keinen Verrat zu üben. Man wird mich nach euch fragen, und ich werde antworten, daß zwei Händler vorbeigekommen sind. Ist euch das recht, ihr Ritter?« »Wir danken dir, Alter.« Ich war erleichtert. Nichts hätte unserer Mission hinderlicher sein können als die Aufdeckung unserer Identität. Unser Ziel konnten wir nur dann erreichen, wenn wir unerkannt blieben und weiter für Händler gehalten wurden. »Lebt wohl«, sagte der Einsiedler. »Ich glaube nicht, daß wir uns wiedersehen!« Er verschwand in seinem Turm, ohne auf unsere Fragen einzugehen und eine Erklärung für seinen Abschiedsgruß hinzuzufügen. Krachend fiel die schwere Holztür ins Schloß, und wir saßen auf und ritten weiter. Die Felsenge verbreiterte sich nach einer Viertelstunde und gab den Blick auf ein blühendes Tal frei, das sich in Nord‐Süd‐Richtung entlangzog und von zahlreichen Korn‐ und Gemüsefeldern durchzogen war. Da die Bathrer den größten Teil ihrer Lebensmittel auf den Dächern ihrer Städte anbauten, deuteten die Felder darauf hin, daß in Bakholom eine große Anzahl von ihnen lebte. Das Tal offenbarte sich uns als kleines Paradies, und wir hielten an dem Pfad an, der hinunterführte. »Siehst du sie?« fragte Chipol beinahe ehrfürchtig. »Dort drüben liegt sie. Das ist Bakholom!« * Bakholom die Prächtige, eines der Wunder der Harmonie. Fasziniert blickten wir über das Tal hinüber an die gegenüberliegende Steilwand eines sandsteinroten Berges. Gleich
einer Trutzburg klebte die Stadt an dieser Wand, von hohen, prächtigen Mauern aus weißem, marmorähnlichem Gestein umgeben. Wie alle anderen Städte war Bakholom an den Steilhang und in ihn hinein gebaut worden. Wir sahen eine einzige schmale Straße, die hinauf zu diesen Mauern führte und sich schräg in den Steilhang hineinzog. »Wie ein Schwalbennest. Meinst du nicht auch?« Chipol sagte Virachuzza, aber es war ein Synonym für Schwalbennest. Auf Aklard gab es ähnliche Vögel, und sie unterschieden sich in ihrer Nestbauweise nicht von terranischen Schwalben. Hier auf Cairon waren es die Bathrer, die so bauten. Uralten Traditionen folgend, hatten sie ihre Städte so angelegt, daß sie nur schwer angegriffen und erobert werden konnten. Zwar hatten sich die Nomaden immer wieder etwas Neues einfallen lassen, um Beute zu machen, und manchmal hatten sie auch Erfolg gehabt. Aber das Gleichgewicht war immer gewahrt geblieben, und noch nie war eine der Städte zerstört worden. Mit Ausnahme von Dschadhalon, die aus sich selbst zerfiel. Da drüben lag also unser Ziel, und ich gab dem Vleeh die Fersen und trieb es den Pfad hinab in das Tal. Von Karren ausgefahrene Wege kreuzten sich zwischen den Feldern, und wir folgten ihnen hinüber bis an jenen Abschnitt, wo die Straße hinauf zur Stadt begann. Niemand nahm von uns Notiz, obwohl etliche hundert Bathrer und Bathras in den Feldern arbeiteten. Es hatte sich bereits herumgesprochen, daß die Händler sich auf der Flucht befanden. Wir erreichten eine Steinmauer. Sie war im Halbkreis aufgeschichtet und bot den bathrischen Wächtern Deckung bei der Abwehr eines überraschenden Angriffs. Mehrere Harnische glänzten uns entgegen, und wir zügelten die wilden Reittiere. Langsam sanken die uns entgegengestreckten Speere mit den Metallspitzen nach unten. »Händler, wie ich sehe«, klang die Stimme eines der Wächter auf. »Habt ihr eine Empfehlung oder eine Losung?«
»Es gibt nichts Böses unter der Sonne, außer man redet es herbei«, wiederholte ich Chipols Worte, die der Junge gegenüber dem Händler Ardechain gebraucht hatte. »Das ist unsere Losung.« Die Wächter wichen auseinander, und wir setzten die Vleehs in Bewegung und ritten langsam den Pfad hinauf, der sich in Serpentinen in die Höhe schlängelte und nicht breiter als zwei Manneslängen war. Ein Händlerkarren, von zwei Xarrhis gezogen, paßte gerade noch darauf. Mit den Vleehs konnte man bequem zu zweit nebeneinander reiten, aber bei Gegenverkehr wurde es schon schwierig. Die Vleehs waren in solchen Situationen unberechenbar. Immer wieder legte ich den Kopf in den Nacken und blickte hinauf. Chipol tat es mir nach, und er deutete hierhin und dorthin und begann wie ein Wasserfall zu reden. Die Faszination des Anblicks hielt ihn in ihrem Bann, und ich muß gestehen, daß es mir genauso erging. Je höher wir kamen, desto weiter wuchs die Stadt aus dem Hang heraus, desto gewaltiger leuchteten die weißen Mauern über unseren Köpfen. Die schmale Straße grub sich immer wieder weiter in den Hang hinein, und wir ritten unter dem Boden der Stadt entlang, und die vordersten Teile des Mauerwerks befanden sich direkt über unseren Köpfen. Wenn wir unsere Augen darauf hefteten, entstand der Eindruck, als würde es auf uns herabstürzen. Chipol ritt ein wenig schneller, und nach einer halben Stunde hatten wir endlich das Eingangstor zur Stadt erreicht. Es stand in einer Nische, die in den roten Stein der Bergwand gehauen war. Es verdeckte den Blick auf die Stadt fast völlig, und doch ging uns das gewaltige Bild nicht mehr aus dem Sinn. Hier hatten Lebewesen für die Ewigkeit gebaut. Man hatte uns beobachtet und gesehen, daß wir nur zu zweit waren. Ein kleines Seitentor öffnete sich und ließ uns ein. Vier Bathrer nahmen uns schweigend die Zügel der Vleehs ab und führten uns in einen kleinen Innenhof hinter dem Tor. Jetzt erst ragte die eigentliche Stadtmauer vor uns auf. »Steigt ab«, wiesen uns die Wächter an. »Wascht im Brunnen eure
Füße und wartet dort auf der Bank, bis der oberste Torwächter kommt!« Wir taten, wie uns geheißen, und sahen zu, wie man die Vleehs durch einen überdachten Gang wegbrachte und mit ihnen auch unsere Waffen und das, was wir in den Satteltaschen bei uns geführt hatten. Waffen hatten in einer Stadt der Harmonie nichts zu suchen, und ich war mir sicher, daß der oberste Torwächter zuerst alles genau untersuchen würde, bevor er uns die Erlaubnis zum Betreten der Stadt gab. Kamen wir rechtzeitig? Konnten wir die Priester warnen und damit verhindern, daß der Erleuchtete sich ihrer Psi‐Potentiale bemächtigte? Frühzeitig hatte ich erkennen müssen, daß der Psi‐Spürer der STERNSCHNUPPE auf den Erleuchteten und EVOLO nicht ansprach. Ich war auf Vermutungen angewiesen und konnte nicht einmal sagen, ob sich der Gegner zur Zeit tatsächlich auf Cairon aufhielt, oder ob er seine eigentliche Basis auf einem anderen Planeten hatte. Die Lösung zumindest eines Teils dieser Frage war im Tal der Götter zu suchen, und dorthin würden wir reiten, sobald wir hier unser Vorhaben ausgeführt hatten. Es galt nicht nur, die Priester vor der bevorstehenden Gefahr zu warnen, sondern sie auch dazu zu veranlassen, Verteidigungsmaßnahmen einzuleiten. Letzteres würde der schwierigste Teil der Aufgabe sein. Es dauerte nicht lange, bis ein hochgewachsener Bathrer erschien. Wie die Wächter war er waffenlos, und er winkte uns, ihm bis an die Brüstung zu folgen, unter der der Abgrund vor dem Steilhang lag. »Der Abgrund ist tief«, brummte er. »Ein Sturz hinab absolut tödlich. Ich hoffe, ihr seid euch dessen bewußt!« Ich zog die Stirn in Falten. Da jeder Bewohner der Stadt ein Jünger der Harmonie war, handelte es sich um eine leere Drohung. »Du scherzst«, stellte ich fest. »Wir sind Händler, denen die Nomaden ihr Hab und Gut gestohlen haben. Wir suchen Schutz in dieser Stadt!«
»Bakholom gewährt jedem Schutz, der sie um Hilfe bittet. Und Osharnor sagt euch, daß ihr willkommen seid. Nicht, weil ihr allein kommt, sondern weil sich ein Händler namens Ardechain hier befindet. Er kennt euch und hat uns auf eure Ankunft vorbereitet!« Ardechain! Er war also da, und wahrscheinlich alle Händler mit ihm. Sie hatten den Sandsturm überstanden. Und Ardechain hatte es uns ermöglicht, ohne Schwierigkeiten in die Stadt zu kommen. Es hatte sich ausgezahlt, daß wir ihm gegenüber ehrlich gewesen waren. Zumindest in dem Maß, wie unsere Tarnexistenz es uns erlaubte. »Folgt mir!« Osharnor führte uns zu einer kleinen Pforte, die in der dicken Stadtmauer eingelassen war. Wir betraten einen Gang, der von kleinen Öllichtern erhellt wurde. Fast zehn Meter dick war die äußere Stadtmauer an dieser Stelle. Hinter ihr lag ein weiterer Hof, aber er war schmal und zog sich an der Innenseite der Mauer entlang. Er wurde auf der Rückseite von den Gebäuden begrenzt, die an den Steilhang gebaut waren und in einladenden Farben leuchteten. Sieh an, dachte ich. Die Harmonie beginnt in den Farben der Gebäude und endet in den Tiefen der Seelen ihrer Bewohner. An einer Stelle verbreiterte sich der Hof zu einem Platz, und von dort drang geschäftiger Lärm an unsere Ohren. »Der Markt«, sagte Osharnor. »Hier in diesem Gebäude werdet ihr wohnen. Der Hausmeister hat zwei Kammern für euch hergerichtet. Ihr werdet beköstigt und könnt euch auf dem Markt tummeln. Da ihr Händler seid, wird euch das erfreuen. Aber mischt euch nicht in die Angelegenheiten der Stadt!« »Wir sind Händler und suchen keine Händel«, erwiderte Chipol und sah den Bathrer dabei mit dem unschuldigsten Gesicht der Welt an. »Dennoch haben wir eine Bitte an dich«, fiel ich ein, als der oberste Torwächter sich zum Gehen anschickte. »Wir sind aus der Ebene
geflohen und bringen allerhand Wissenswertes über die Nomaden. Was wir zu verkünden haben, dürfte auch für den Obersten Priester der Stadt interessant sein. Gibt es eine Möglichkeit, ein Gespräch mit ihm zu führen?« Osharnor machte eine heftige Bewegung. Seine Augen rollten, und er wirbelte mit den Armen durch die Luft, als müsse er sich verteidigen. »Vergiß es, Händler Atlan«, verlangte er. »Du bist nicht unser Gast, um Forderungen stellen zu können. Mittellose Händler sollten froh sein, wenn man ihnen wenigstens Unterschlupf gewährt!« Er wandte sich abrupt ab und eilte davon in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Ich blickte Chipol an, und der Junge hatte ein anzügliches Grinsen aufgesetzt. Ich stieß ihn an und deutete zur Eingangstür der Herberge. So und nicht anders hatte ich es erwartet. Kein Bathrer konnte über seinen Schatten springen, aber diesmal würden wir es geschickter anfangen als in Umharaton. Wir öffneten die Tür und gelangten in die Gaststube. Der Wirt erwartete uns bereits. Sein blondes Haar leuchtete im Zwielicht, und seine blasse Gesichtsfarbe wies darauf hin, daß er selten für längere Zeit mit der Sonnenstrahlung zu tun hatte. Wir nahmen dankbar den Imbiß an, den er uns reichte. Es gab verschiedene Sorten Fisch und Gemüse. Als Getränk erhielten wir schweren Rotwein, und nach dem Essen sanken wir acht Stockwerke höher auf unsere Lager und schliefen sofort ein. Der anstrengende Ritt und der Wein forderten ihren Tribut. Unsere Körper brauchten dringend Erholung. 4. Das also war Bakholom. Im Schein der Lichter, die nachts die schmalen Gassen vor dem Steilhang erhellten, schimmerten die Erker, Vorsprünge und Mauerkronen in mattem Goldlicht. Die
Dächer und Dachrinnen aus Stein und Holz waren ziseliert und wirkten verspielt. Überall waren wertvolle Figuren aus jenem weißen Gestein zu sehen, aus dem auch die Stadtmauern bestanden. Die meisten Häuser zeugten von dem Reichtum, den diese Stadt besaß, und ich konnte mir gut vorstellen, daß Bakholom tatsächlich die wichtigste aller Städte war. Nach einem weiteren Mahl – es gab wieder Fisch – machten wir uns auf einen Rundgang. Als schutzsuchende Händler mußten wir uns an die Auflagen halten, die man uns gegeben hatte. Wir durften den Bereich des Marktes und die Nähe des Tores nicht verlassen, konnten also nicht überall in der Stadt herumlaufen und schon gar nicht in jene Bereiche vordringen, die den Hauptteil Bakholoms ausmachten: die Höhlen und Labyrinthe. Die Städte der Bathrer waren eigentümliche Gebilde, regelrechte Stadtberge, die weit in den Fels hineingebaut worden waren. Was von außen zu sehen war, war lediglich ein verschwindend geringer Teil. Was wir aus Umharaton wußten, schien auch auf Bakholom zuzutreffen, und ich schätzte, daß in dieser Stadt etwas über zehntausend Bathrer leben mochten. Was Bakholom von Umharaton unterschied, hatten wir bereits vom anderen Ende des Tales her festgestellt. Es gab hier keine nachträglich auf den Berg aufgesetzten künstlichen Höhlensysteme. Die Stadt hing mitten am Berg, der von keiner Seite aus bestiegen werden konnte außer auf der Straße, die wir gekommen waren. Am Rand des jetzt stillen Marktes blieben wir stehen. Die Händler hatten ihre Stände und Karren abgedeckt, und unter ein paar der verstreut errichteten Planen dröhnte das Schnarchen der Besitzer hervor. Chipol stieß mich mit dem Ellenbogen an. »Sollen wir Ardechain suchen und ihn begrüßen?« hauchte er. Ich verneinte. Ich war froh, dem Händler jetzt nicht unter die Augen treten zu müssen. Er würde mich nach unseren weiteren Plänen fragen, und ich müßte ihm eine ausweichende Antwort
geben. Chipols Frage brachte mich jedoch auf eine Idee. »Du kehrst allein in die Herberge zurück«, sagte ich. »Wenn du in der Nacht oder morgen früh gefragt wirst, wo ich bin, dann sage einfach, ich sei auf dem Markt, um nach Ardechain zu suchen!« »Was hast du vor, Atlan?« »Ich werde den Weg zu den Gewölben der Priester und nach einem Unterschlupf suchen, in dem wir uns verstecken können. Wenn es möglich ist, werde ich auch gleich die Priester aufsuchen und ihnen berichten. Wenn alles gelingt, bin ich nach Sonnenaufgang zurück!« »Ich komme mit!« Ich schüttelte energisch den Kopf. Ich wußte, daß der junge Daila nie von meiner Seite weichen würde, allein schon, damit er eine Spur seiner Familie finden würde. Nach meinen Erfahrungen mit den Priestern Umharatons jedoch hielt ich es für richtiger, ihn aus dem Spiel zu lassen. Jemand mußte in der Herberge bleiben und dort seine Ohren offenhalten. Ich brachte es ihm eindringlich bei, und schließlich gab er seufzend nach. »Also gut, wenn es notwendig ist, werde ich warten«, meinte er. »Aber du mußt spätestens zwei Stunden nach Aufgang Tsybaruuls zurück sein!« »Bis dahin ist alles gelaufen«, sagte ich, ohne im mindesten zu ahnen, daß bis dahin tatsächlich alles gelaufen sein würde. Ich huschte davon. Chipol kehrte langsam in Richtung der Herberge zurück, und nach einer Weile verlor ich ihn aus den Augen. Ich tauchte im Schatten eines Karrens unter und orientierte mich. Das Tor, durch das wir gekommen waren, stand auf der Nordseite der Stadt. Ich mußte mich folglich nach Süden wenden, wenn ich in das Zentrum des Außenbaus und von dort in die zentralen Höhlensysteme und zu den Gewölben der Priester kommen wollte. Ich verließ den Rand des Marktes und machte mich auf den Weg. Ich drang in eine der Gassen ein, die hinter der Herberge
entlangführten. Sie änderten oftmals die Richtung, und ich mußte mich immer wieder an den riesigen Schatten über mir orientieren. Dort, wo die hochstöckigen Gebäude endeten, endete auch das Licht. Dort begann die Wand des Steilhangs, an den die Stadt regelrecht angeklebt war. Die Gasse, in der ich mich befand, verengte sich und endete in einer Treppe, die steil nach unten ging und schätzungsweise sechs Stockwerke unter dem eigentlichen Boden endete, auf dem ich mich bisher bewegt hatte. Längst waren die Öllämpchen verschwunden, und die letzte Fackel an den obersten Stufen der Treppe gab gerade noch genügend Licht, daß ich mich leidlich orientieren konnte. Zwei Pfade führten von der Treppe weg. Das weiße Gestein schimmerte leicht fluoreszierend. Offensichtlich befand ich mich direkt auf der Innenseite des kolossalen Mauerwerks, das Bakholom nach außen hin abschirmte. Der eine Pfad führte als fester Gesteinssims mit einem Geländer parallel zum Berg weiter. Der andere war eine Brücke ohne Geländer, die über einen endlos erscheinenden Abgrund zu führen schien. Sie endete im Dunkeln, und ich entschied mich bereits für den Sims, als ich das Licht sah. Es schwankte hin und her, und es wurde nach kurzer Zeit größer. Ich vernahm leise Stimmen und zog mich rasch in eine Nische am Fuß der Treppe zurück. Zwei Bathrer näherten sich. Sie kamen über die Brücke, und ich erkannte sie an ihren Gewändern als Priesterschüler. Sie unterhielten sich über ihren Unterricht, und an der Treppe trennten sie sich. Während der eine hinaufstieg, wandte sich der andere dem Sims zu. Er hielt eine nicht qualmende Fackel in den Händen. Ich streckte mich und schnellte vorwärts. Es war die Chance für mich, und ich würde so schnell keine zweite erhalten. Ein Griff und ein kaum hörbarer Seufzer, dann sank der Schüler in meine Arme. Ich nahm ihm die Fackel ab und verdeckte sie mit dem Körper. Reglos wartete ich, bis der andere am oberen Ende der Treppe verschwunden war. Ich zog den Ohnmächtigen ein Stück über den
Sims und machte mich auf den Weg über die Brücke. Sie war gar nicht hoch. Der Boden befand sich höchstens drei Meter unter ihr, und ich vermutete, daß er zu jenen Bereichen des äußeren Mauerwerks gehörte, die wegen der Statik des Gesamtwerks nicht betreten werden durften. Bloß, warum hatte man an die schmale Brücke dann kein Geländer gemacht? Warum wohl, Barbar! meldete sich der Extrasinn. Glaubst du etwa, die Harmonie der Stadtstaaten erlaubt ein Straucheln oder Gleichgewichtsstörungen? Hier ist alles ausgeglichen! Es war wohl so. Die Brücke endete wie erwartet am roten Gestein der Bergwand. Es war künstlich geglättet und mit einer Glasur überzogen worden. Im Abstand von einem Meter befanden sich mehrere Eingänge in die Höhlensysteme. Keiner war beschriftet oder sonstwie gekennzeichnet. Ich überlegte. Die Bathrer waren ursprünglich Höhlenbewohner und hatten im Rahmen eines Evolutionssprungs diese Art des Städtebaus begonnen. Jene Stadtteile, die im Berg selbst lagen, bildeten ein Gewirr von Gängen, Kammern und größeren Räumen, von Treppen, Türmen und Sackgassen, ein regelrechtes Labyrinth, in dem sich außer den Bewohnern niemand zurechtfinden konnte, der kein photografisches Gedächtnis besaß. Ich entschied mich für den Eingang ganz links und drang vorsichtig in den Korridor ein. Er führte eben in den Berg hinein, und nach zehn Metern gelangte ich an die erste Tür. Ich lauschte. Nichts rührte sich hinter ihr, nur ab und zu vernahm ich ein leises Geräusch wie ein Schleifen. Eine Schlafkammer? Ich ging weiter. Eine Treppe tauchte vor mir auf. Ich stieg sie hinauf. Am oberen Ende trat mir ein Bathrer entgegen. Er hatte sich in einer dunklen Nische aufgehalten und stand mit erhobenen Händen vor mir. »Händler«, sagte er. »Sei mir willkommen im Innern der Stadt. Ich werde dich gern führen!«
Ich hätte ihm am liebsten geantwortet, daß ich mich allein zurechtfand. Es hätte jedoch nicht den Tatsachen entsprochen, und mit einem Führer konnte ich schneller an mein Ziel kommen. »Führe mich«, sagte ich. »Interessiert es dich, warum ich mitten in der Nacht hier eindringe?« »Du bist ein Händler. Ihr Händler wollt alle dasselbe. Ihr interessiert euch für die Einrichtungen unserer Wohnungen und wollt wissen, was an den Gerüchten dran ist, die es überall im Land der Bathrer über Bakholom gibt. Ob du bei Tag oder bei Nacht kommst, welchen Unterschied macht es hier?« »Es ist wahr«, erwiderte ich. »Ihr kennt das Tageslicht nur unvollkommen. Es blendet eure Augen!« »Die Dunkelheit, nur erfüllt vom ruhigen Schein der Lichter und Fackeln, ist ein Teil der Harmonie. In den Gewölben der Priester ist es die meiste Zeit dunkel bis auf das Feuer der Harmonie!« »Kannst du mich hinführen zu diesem Feuer?« Der Bathrer lachte. Er musterte mich aus großen Augen, in denen die geweiteten Pupillen besonders deutlich in Erscheinung traten. »Niemand gelangt dorthin, wenn es die Priester nicht wünschen, Fremder. Keiner hat dich gerufen, also gib dich mit den äußeren Bezirken der Stadt zufrieden. Hat Osharnor dir nicht befohlen, den Bereich des Marktes nicht zu verlassen?« »Er hat. Und in anderen Gegenden und Ländern hätte er mich bereits mit Gewalt zurückgeholt!« »Hier wacht die Harmonie über deine Schritte. Komm!« Ich folgte ihm einen Gang entlang, der an einer Galerie endete, die an der Wand einer geräumigen Höhle entlangführte. Wir stiegen eine Wendeltreppe hinab und standen vor einem Teich oder einem Wasserbecken, in dem Bathrer badeten. Als sie uns sahen, begannen sie ein Lied zu singen, und mein Führer zupfte mich am Ärmel und bedeutete mir, mich auf dem Boden niederzulassen. »Hör genau zu, was sie singen!« forderte er mich auf. »Dann weißt du, was du wissen wolltest!«
Ich war mir nicht sicher, ob das zutraf. Ich war schließlich kein richtiger Händler, sondern hatte eine fest umrissene Absicht. Und ich mußte mich beeilen. Die Nomaden waren mit Sicherheit nicht mehr fern. Dennoch hörte ich zu. Die Bathrer sangen von ihrer Vergangenheit. Bakholom, die Prächtige, war nicht nur die größte Stadt im Land der Bathrer, sondern auch die älteste von allen. So berichtete die Sage. Vor langer Zeit hatte hier ein Eremit gelebt, dem sich der Geist der Harmonie offenbarte und ihm den Auftrag gab, in diesem Tal zu bleiben und in diesen Berg eine Stadt zu bauen. Der Eremit hatte geklagt und gejammert, gab es doch in dem Tal keinen einzigen grünen Fleck und kein Wasser. Naß vor Tränen war er in Schlaf gesunken, und als er am nächsten Morgen erwachte, da plätscherte ein klarer Bach an ihm vorbei über den Sand und das Geröll, und im Lauf der Jahre grünte das Tal, und der Eremit legte den Grundstein für Bakholom und trat seine Wanderung über das ganze Gebirge an. Überall verbreitete er die Lehre der Harmonie, und als er in das voll erblühte Tal zurückkehrte, war er ein alter Mann geworden. Aber er brachte andere Bathrer mit, die nach seinen Anweisungen Bakholom vollendeten und viele andere Städte bauten. So entstand die Kultur der Bathrer. Ich lauschte dem vielstimmigen Gesang, dessen Akkorde sich einprägten und eine bestimmte Regung hervorriefen. Sie besänftigten und förderten die Harmonie. Das war es nicht, was ich hatte wissen wollen, aber die Informationen über die Geschichte Bakholoms und der Bathrer waren trotzdem wichtig und lehrreich. Ich lernte ihre Kultur besser kennen, und bei dem Gedanken daran, was der Erleuchtete hier durch sein Wirken zerstören konnte, wurde mir heiß vor Zorn. Ich blickte um mich und sah einen der Bathrer aus dem Wasser steigen. Sein weißes Gewand klebte vor Nässe an seinem Körper, und er begann langsam im Kreis zu schreiten. Dazu bewegten sich seine Lippen lautlos.
Ich sprang auf und eilte zu ihm hinüber. »Priester«, rief ich aus. »Ich bin nur ein einfacher Händler, aber ich habe eine wichtige Botschaft für Bakholom. Bitte, höre mich an!« Kräftige Arme rissen mich zurück. Es war mein Führer. Er zog mich in Richtung Wendeltreppe davon. »Unhold!« zischte er mir ins Ohr. »Du entweihst die heilige Stätte der Verkündung! Was willst du von dem Priester? Er spricht mit der Harmonie. Es wäre ein Verbrechen, ihn zu stören!« »Das ist nicht meine Absicht«, zischte ich zurück. »Also gut! Führe mich zu einem anderen Priester oder den Oberpriestern oder dem Ältesten. Die Nomaden bedrohen Bakholom!« Der Führer zog mich an der Treppe vorbei zu einer Tür, die angelehnt war. Er schob sie auf, und wir setzten unseren Weg durch das Labyrinth Bakholoms fort. Wir gelangten in einen Teil, der bewohnt war. In einer riesigen Höhle aus rotem Naturstein standen Häuser und Türme aus weißem Stein. Teilweise waren die Wände bemalt wie draußen am Tageslicht. Große Schalen mit Öl verbreiteten Dämmerschein über dieses Stadtviertel. Wir schritten die Straßen entlang, bis wir in der Ferne einen Lichtschein ausmachten. Darauf hielt mein Führer zu. »Du hast die Sagen über Bakholom gehört«, sagte er. »Es war dir nicht genug. Du willst auch noch die Priester sprechen. Das ist nicht möglich, aber ich werde dir das Feuer der Reinigung zeigen!« Wir gelangten an einen Abgrund mitten im Berg. Heiße Schwaden stiegen aus der Tiefe empor, Wasserdampf aus unterirdischen Geysiren. Der Dampf hatte fluoreszierende Moose an den Wänden gebildet und regte diese zum Leuchten an. Das war der helle Lichtschein, den wir gesehen hatten. »Willst du mich nicht hinabführen an den Ursprung dieser Quelle?« fragte ich. Der Bathrer schüttelte den Kopf. »Bei der Harmonie, nein. Dort unten leben die Priester, und man gelangt nur über die schwankenden Brücken zu ihnen!« »Danke!« Ich packte meine Fackel fester und ließ ihn stehen. Ich
rannte zu dem Stadtviertel zurück und tauchte zwischen den Gebäuden unter. Der Bathrer folgte mir, aber er fand meine Spur nicht mehr. Nur seine Worte hörte ich noch. »Versündige dich nicht, Fremder!« rief er mit zittriger Stimme. »Störe nicht die Harmonie! Du bist doch kein Böser Geist!« Die Bathrer waren harmlos, die reinsten Friedensengel. In Bakholom war die Harmonie so intensiv, daß es keine bösen Dinge und auch keine bösen Einwohner gab. Niemals hätte der Bathrer mich mit Gewalt gehindert. Zumindest nicht, solange er nicht von den Priestern den Auftrag erhielt. Die psibegabten Wesen übten einen umfassenden Einfluß aus, der allerdings positiv war und die Harmonie überall im Land der Bathrer vervollkommnete. Ein Teil der Höhle ist nicht bebaut, sagte der Logiksektor. Dort halten sich auch keine Bathrer auf. Es könnte die Spur sein, die du suchst! Ich schlich mich davon in die Dunkelheit und hielt die Fackel so, daß ihr Licht möglichst wenig erkannt werden konnte. Vorsichtig tastete ich mich zu jener Wölbung der Höhle hinüber, die freilag. Ich mußte gut eine halbe Stunde suchen, bis ich die Schräge fand, die in die Tiefe führte. Ich roch leichten Schwefeldampf, ein Zeichen, daß es von hier eine Verbindung zu den Geysiren gab. Die Wände um mich herum waren behauen und glasiert, wie ich es überall beobachtet hatte. Das Labyrinth war weitgestreckter, als ich es mir vorgestellt hatte. Bakholom war die größte Stadt, wie es geheißen hatte. Der rote Berg war zu einem guten Teil von künstlichen Höhlen, Schächten und Gängen durchzogen. Wie weit ich in die Tiefe stieg, wußte ich nicht. Vor mir tauchte ein brodelnder Abgrund auf. Eine schwankende Hängebrücke führte hinüber, und ich zog zunächst einmal an den Stricken, die sie hielten. Sie erschienen mir widerstandsfähig zu sein. Ich vertraute mich ihnen an und turnte hinüber. Eine breite Treppe lag vor mir, der einzige Weg weiter hinab. Links und rechts an der Treppe brannten Lichter, die mich an elektrische Lampen erinnerten. Es waren jedoch öllampenähnliche Gebilde, die lediglich von
durchsichtigen Schirmen umhüllt wurden. Und ich hörte das Plätschern von Wasser. Mit geschärften Sinnen setzte ich meinen Weg fort. * »Man hat dir den Zutritt untersagt. Warum bist du gekommen?« Die Wächter trugen keine Waffen. Aber sie hielten sich an den Händen und bildeten eine Kette, die mir den Zugang zum Tor versperrte. Hinter mir brodelte der Geysir, und neben mir schob sich ein schwerer Stein vor die Treppe, die ich herabgekommen war. »Ich habe den Priestern eine wichtige Mitteilung zu machen. Das Schicksal Bakholoms hängt davon ab!« »Das Schicksal dieser Stadt hängt allein von der Harmonie ab!« erhielt ich zur Antwort. Ich machte einen Schritt vorwärts. »Laßt mich vorbei. Bringt mich zu den Priestern!« Sie machten keine Anstalten, meinem dringenden Wunsch nachzukommen, also verschaffte ich mir Zutritt, indem ich sie auseinanderschob und das Tor öffnete. Ehe sie reagierten, war ich bereits hindurch. Ich schloß und verriegelte es. »Es tut mir leid«, sagte ich. »Ich weiß, daß ich in euren Augen die Harmonie störe, aber es muß sein. Schlimmeres steht der Stadt bevor, wenn ich nicht eingreife!« Ihr Schweigen symbolisierte Verständnislosigkeit, und ich setzte meinen Weg fort, begleitet vom Klingeln einer Glocke. Ich entdeckte die Schnur oben an der Decke. Eine Alarmglocke, die die Priester auf das Eindringen eines Fremden aufmerksam machte. Ich trat in eine Wohnung, die an dem Korridor lag, den ich benutzte. Ein Bathrer erhob sich und erschrak bei meinem Anblick. Er war durch das Klingeln wach geworden. Abwehrend streckte er mir die Handflächen entgegen. »Hab keine Angst. Ich bin kein Nomade und will dir nichts tun.
Ich bin Atlan, der Händler, und bringe eine wichtige Botschaft.« »Weiche, du böses Geschöpf«, erhielt ich zur Antwort. »Oder siehst du nicht, mit wem du es zu tun hast?« Er warf sich den Priesterumhang über. »Ich bin Taphyro, einer der Berater des Ältesten. Ich entscheide, wer Zutritt zu den Gewölben nimmt. Du gehörst nicht dazu!« Ich spürte die Ausstrahlung der Harmonie, die von dem psionisch begabten Bathrer ausging. Der Priester wirkte in keiner Weise verschüchtert. Er war so erhaben über alles Böse, daß er den Teufel nicht fürchtete. »Dann wird Bakholom untergehen«, sagte ich und ließ es zu, daß er eine Gruppe von zehn Bathrern rief, die mich in die Mitte nahmen. Sie führten mich ab, aber nicht zum Ausgang, sondern tief in die Gewölbe hinein. Nach einer Weile kam Taphyro nach. Er hatte sich gewaschen und gekämmt. »Der Älteste und Oberste Priester wird über dich entscheiden«, verkündete er. »Folgt mir!« Sie brachten mich in den Lebensbereich der Priester. Ich erkannte es an der kargen Einrichtung der Räumlichkeiten und an den vielen weißen Gewändern, die mir begegneten. Unter einer von Hunderten von Fackeln erhellten Gewölberundung hielten meine Bewacher an und öffneten den Kreis. Ich sah ein metallenes Gestell vor mir, eine Seltenheit im Land der, Bathrer. Das Gestell diente als Halterung für eine flache Schüssel, die frei hängend darin befestigt war. In der Schüssel saß mit untergeschlagenen Beinen ein uralter Bathrer. Längst waren ihm die letzten Haare ausgefallen, und die Hautfalten auf seinem Schädel erinnerten an lebloses Gewebe. Die Augen lagen tief in ihren Höhlen, und die Wangenknochen traten streng hervor. Der dünnlippige Mund war wie zu einer Frage geöffnet. »Ein ausgeraubter Händler, der um Zuflucht gebeten hat«, stellte Taphyro mich vor. »Er hat unsere Gastfreundschaft dazu mißbraucht, um in die heiligen Bezirke der Stadt vorzudringen. Er
hat es geschafft. Bestimme du, weiser Rungaron, was mit ihm geschehen soll!« Die Augen des Alten leuchteten auf. Sie drangen bis in mein Inneres vor und konnten doch nichts erkennen. Die Psikräfte der Bathrer beschränkten sich auf empathische und hypnotische Fähigkeiten. Telepathie war ihnen nicht möglich. Dennoch hatte uns das Zusammentreffen mit dem Einsiedler im Weißen Turm gezeigt, wie intensiv Empathie gehen konnte, wenn sie richtig geschult und angewandt wurde. Rungarons Augen begannen zu lächeln. »Ein Händler mit versteckten Gedanken«, stellte er fest. Seine Stimme klang sicher und voll. Ihr war keine Spur des Alters anzumerken. »Was mag er denken?« »Nenne mich Atlan, weiser Rungaron«, sagte ich. »Ich bin kein Eindringling, sondern ein Bote, der dich und alle Bathrer in Bakholom warnen will.« »Ich glaube ihm nicht«, rief Taphyro aus. »Wovor will er uns warnen, was wir nicht längst wüßten!« Eungaron hob eine Hand. Sie war mager, fast skelettartig. Aber sie drückte Entschiedenheit und Entschlossenheit aus. Die Schale, in der der Oberste Priester saß, begann sich ein wenig schneller hin und her zu bewegen. »Der Fremde fasziniert mich«, murmelte er. »Es ist, als sei er gar kein Fremder, sondern etwas höchst Vertrautes für mich. Und doch ist er nur ein Händler, der seine innersten Gedanken verstecken will.« Er wurde lauter. »Oder verstecken kann. Ist es das, Atlan?« »Ich habe nichts zu verbergen«, gab ich zur Antwort. »Aber bitte, prüfe mich. Ich kann und will es dir nicht verwehren. Doch höre dir zunächst meine Botschaft an!« Rungaron nickte, aber seine Augen schienen mich zu verschlingen. Ich wußte, daß ich jetzt keinen Fehler machen durfte. Sonst war meine Mission genauso sinnlos wie in Umharaton. »Sprich!« sagte er. »Aber denke deutlich dabei!«
* Eine Stunde nach Atlans Weggang verließ Chipol heimlich die Herberge. Er stieg aus dem Fenster und schlich über ein Schrägdach bis zu einem Mauervorsprung, von dem aus Stufen nach unten führten. Unten an der Mauer kam in Abständen von zehn Minuten ein Nachtwächter vorbei. Chipol kletterte hinab und huschte davon. Er hatte die Kapuze seines Umhangs tief in die Stirn gezogen, um nicht erkannt zu werden. Den jungen Daila hielt es nicht in seiner Kammer. Er wußte Atlan irgendwo drinnen in der Stadt, und er dachte daran, daß hier vielleicht Spuren des Erleuchteten zu finden waren oder Hinweise auf seine Familie, die verschleppt worden war. Der Gedanke an seine Familie brannte wie Feuer in dem jungen Hominiden. Er war sich bewußt, daß er mit seinem Handeln Atlan möglicherweise Scherereien bereitete oder das Unternehmen zu einem Fehlschlag werden ließ. Es konnte aber genausogut umgekehrt sein. Daß er etwas entdeckte, das ihnen half. Daß er eine Spur fand, die sie beide an ihr endgültiges Ziel führte. Atlan zum Erleuchteten, und ihn zur Familie Sayum. Chipol wandte sich nach Süden, wie Atlan es getan hatte. Zwischen den Gebäuden kletterte er in die Stadt empor, und einmal benutzte er die Außentreppe eines Hauses, um in die Höhe zu kommen. Zwölf Stockwerke über dem eigentlichen Stadtgrund mit den Höfen betrat er einen Weg, der in das Gestein des Berges eingehauen war. Er schlich an den Türen und Toren entlang, die ihm den Zutritt zu den innerirdischen Teilen der Stadt ermöglichten. Er zögerte, denn er traute sich nicht, aufs Geratewohl eine der Türen zu öffnen und seinen Weg fortzusetzen. Er kam an eines der Gebäude, die sich mit der Rückwand an den Steilhang
lehnten, und stieg durch ein offenes Fenster ein. Das Gebäude besaß innen keine Rückwand, sondern setzte sich in den Berg hinein fort. Chipol folgte einem Korridor, der tief in den Berg führte. Er nahm eine der Fackeln an sich, die in regelmäßigen Abständen in Halterungen an der Wand steckten. Sie qualmten nicht und brannten sehr langsam. Sie gaben Licht, das einen wenigstens die Umrisse der Räumlichkeiten erkennen ließ. Chipol schritt durch ein weitläufiges Gebäude, ohne daß er sich dessen bewußt war. Manchmal entdeckte er schmale Schächte, die selbst für seinen Körper zu eng waren. Er spürte Luftzug und erkannte die Schächte als Abzüge für die verbrauchte Luft. Vermutlich dienten ein paar auch dazu, frische Luft aus dem Tal zuzuführen. Der Junge erreichte das Ende des Gebäudes. Der Korridor hatte keine Mauer, die sein Ende markierte. Der Fußboden hörte einfach auf, und im schwachen Schein der Fackel versuchte Chipol die Tiefe zu ergründen, die vor ihm lag. Täuschte er sich, oder hörte er das Plätschern von Wasser? Er beschloß, einen Versuch zu wagen. Er beschaffte sich eine zweite Fackel und warf diese in die Finsternis hinaus. Sie trudelte nach unten, stürzte und stürzte, bis sie mit einem dumpfen Schlag irgendwo aufkam. Ein Schrei klang auf, und Chipol zuckte zusammen. Hatte er einen Bathrer getroffen? Wieder plätscherte Wasser, und dumpfe Stimmen drangen zu dem jungen Daila herauf. Er zog sich von dem Abgrund zurück und öffnete eine der Türen, an denen er vorbeigekommen war. Er fand sich am oberen Ende eines Treppenhauses wieder, und von unten hörte er leichtfüßige Schritte. Er wandte sich um und stürzte auf den Korridor hinaus. Aber da hatte der vermutete Verfolger das Treppenende bereits erreicht und sprang heraus auf den Korridor. »Wer bist du?« fragte der Bathrer keuchend. Er hatte eine helle Stimme, und Chipol sah, daß es ein Junge etwa in seinem Alter war. Schnell schlug er die Kapuze zurück.
»Ich heiße Chipol und bin ein Händler«, sagte er zerknirscht. »Es tut mir leid. Ich wollte niemand verletzen!« »Es ist niemand verletzt worden. Aber du hast uns einen schönen Schrecken eingejagt. Nie kommt jemand hier oben an den Abgrund oder wirft gar eine Fackel hinab. Wir wußten sofort, daß es nur ein Fremder sein konnte! Wir Fischer haben eine Nase dafür!« »Fischer?« Chipol dachte an den kleinen Bach, der durch das Tal floß. Dort konnten unmöglich so viele Fische leben, damit sich alle Bathrer davon ernähren konnten. Der Junge nahm ihn an der Hand und führte ihn zur Treppe zurück. »Ich bin Tachiloro, der Sohn des Reusenmachers«, sagte er. »Ich möchte, daß du mein Gast bist und an unserem Tisch mit uns ißt!« Chipol willigte ein. Er hatte nichts gegen eine Mahlzeit, und Jungen in seinem Alter essen sowieso wie die Scheunendrescher. Er folgte Tachiloro hinab, und als sie das Fußende der Treppe hinter sich gelassen hatten, da befanden sie sich in einer völlig anderen Welt. In einer weiten Höhle, deren Begrenzungen nicht erkennbar waren, standen etliche Dutzend Hütten aus Holz und Bast. Zwischen ihnen standen Tische und Stühle, an denen Männer und Frauen saßen. Tachiloro führte Chipol an einen Tisch, an dem seine Familie aß. Rasch wurde ein Stuhl für ihn herbeigeschafft, und dann aß der junge Daila zum dritten Mal seit seiner Ankunft in Bakholom Fisch. Und er lauschte auf das Plätschern des Wassers, während ihn Tachiloros Familie Löcher in den Bauch fragte. Woher er komme? Aus einer der Südstädte natürlich. Aber sein Vater sei verstoßen worden, und so trage er das Gewand der Händler und auch kein Wappen mehr auf den Ärmeln. Ob er sich an seine Kindheit in der Stadt erinnern könne? Chipol log und berichtete von einer Stadt, die wie ein Nest auf der Spitze eines Berges saß. Ein Schacht führte hinab und verband die Stadt mit dem Tal. Ja, Chipol erfand sogar einen Namen für diese Stadt und nannte sie Fjurallen, die Himmlische, denn sie war dem Himmel
von allen Städten am nächsten. Wen wunderte es, daß die Bathrer in Bakholom noch nie etwas von dieser kleinen Stadt gehört hatten? Warum er hierher gekommen sei? Oh, das wüßten sie nicht? Ein ganzer Schwarm Händler befand sich doch in der Stadt. Sie waren vor den Nomaden geflohen, die sich in unübersehbaren Heerscharen in der Ebene sammelten und kein anderes Ziel als Bakholom kannten. Nein, das wußten die Fischer von Bakholom tatsächlich noch nicht. Sie lachten über den vermeintlichen Scherz der Händler und standen von ihren beendeten Mahlzeiten auf, um die Reusen zu putzen oder die Netze zu flicken, die an langen Gestellen aufgehängt waren. Tachiloro führte Chipol an das Ufer des Sees, an dem die Fischerhütten standen. Dort lagen ein paar Boote, und der junge Bathrer sprang in eines hinein und lud seinen neuen Freund zu einer kleinen Fahrt durch die unterirdischen Wasserläufe ein. Chipol dachte an Atlan und daran, daß er ihm ja helfen wollte. Er zögerte, aber dann setzte er sich doch in das Boot. Wenn er die Kavernen im Berg kennenlernte, würde er sein Wissen irgendwann verwenden können. »Die Fische kommen aus diesen Wasser laufen«, erriet er. Tachiloro lachte. »Bakholom mit seinem weit verzweigten Höhlensystem liegt über einem ganzen System unterirdischer Wasserläufe«, eröffnete er seinem Begleiter. Er tauchte die Ruder ein, und das Boot glitt auf das Wasser hinaus. Der junge Bathrer wies Chipol an, das Feuerholz zu nehmen und die Fackel am Bug anzuzünden. Als sich der Lichtschein über das Wasser verbreitete, fuhr Tachiloro fort: »Einst fand ein Einsiedler diesen Berg. Die Harmonie führte ihn, und er legte hier den Grundstein für Bakholom. Es geht die Sage, daß der Stein irgendwo in einem dieser Flußläufe liegt. Diese Wasser dienen als Speicher für Trinkwasser, als Nahrungslieferant und werden für sanitäre Einrichtungen eingesetzt. Bakholom ist von
einem Netz mechanischer Wasserpumpen durchsetzt. Speziell in der Winterzeit, wenn die Nomaden die Stadt belagern, sind diese Reservoire von großer Bedeutung. Die Flußläufe münden in einem Tal, das jenseits dieser Bergkette liegt, und dienen bei Gefahr als Notausgang, aber auch, um bei Belagerungen neue Vorräte wie Korn, Gemüse und Früchte in die Stadt zu schaffen.« »Wenn die Nomaden herausfinden, wo diese Eingänge sind, werden sie durch die Höhlen in die Stadt eindringen«, warnte Chipol. Er lauschte, während Tachiloro ruderte, und ein paarmal hörte er tatsächlich Geräusche in der Ferne. Waren sie das bereits? Der junge Bathrer lachte. »Bei der Harmonie, was glaubst du denn? Nomaden sind Bewohner der weiten Ebenen im Westen. In unterirdische Flußläufe würden sie sich nie hineinwagen. Wie sagt mein Vater immer: Sie würden lieber sterben, als in die Höhlen einzudringen!« »Ich will mit deinem Vater sprechen«, sagte Chipol nach kurzem Zögern. »Laß uns zum Ufer zurückkehren!« Tachiloro kam der Bitte nach, aber es stand deutlich in seinem Gesicht geschrieben, daß er am Geisteszustand seines Gastes zweifelte. Das Boot legte am Ufer an, und sie stiegen aus und rannten zum Reusenmacher hinüber. Und Chipol stellte ihm eine Reihe von Fragen, die den Fischer verwundert den Kopf schütteln ließen. »Du bist erstaunlich weise für dein Alter«, meinte er. »Sind alle Kinder der Händler so? Nein, was du vermutest, ist völlig undenkbar. Wenn die Priester davon erfahren, lachen sie über solche Dummheit.« »Ihr Fischer wißt wenig über die Nomaden«, entgegnete der junge Daila. »Bisher waren sie in zahllose, untereinander verfeindete Stämme geteilt. Jetzt halten sie Friedensmähler ab und verbünden sich. Ist das nicht verdächtig? Was geschieht, wenn sie plötzlich auch die Angst vor Flüssen und Höhlen ablegen? Vergeßt nicht, daß
sie über die einzige Straße Bakholom nicht erobern können. Auch die vielen Fußpfade, die vom Tal herauf zum Tor führen, sind nicht genug, da dort keine Vleehs mitgenommen werden können. Wenn sie aber in großen Scharen durch die Höhlen kommen, haben sie leichtes Spiel!« Der Fischer lachte. Er nahm eine der Reusen auf und probierte den Mechanismus aus. Befriedigt setzte er das Fanggerät auf einen Stapel und stieß einen lauten Ruf aus. Mehrere Fischer kamen und transportierten die Reusen zu den Booten. »Wir laufen bald aus, kommst du mit?« fragte Tachiloro. Er wollte, daß Chipol da blieb. Der junge Daila lehnte ab. »Ich bin nicht allein in der Stadt«, sagte er. »Wenn ich zu lange ausbleibe, wird man mich suchen. Ihr könnt mich irgendwo in der Nähe eines Hauses absetzen!« »Am besten in den Korridoren, die zur Galerie führen«, meinte der Vater Tachiloros. Chipol nickte. »Oder dort, wo man weiter nach Bakholom hineingelangt«, erwiderte er. »Das sind dieselben Korridore«, fügte Tachiloro hinzu. * Chipol hatte keine Ahnung, wie nahe er den an der Außenseite des Berges gelegenen Stadtteilen war. Er hatte auch jedes Zeitgefühl verloren und kam sich allein gelassen vor. Immer wieder mußte er sich einreden, daß er eine Aufgabe besaß. Vor ihm erweiterte sich der Gang, den er entlangschritt. Häuserwände wuchsen links und rechts vor ihm auf, und unter den Fenstern sah er Bathrer, die Betten ausschüttelten und Teppiche klopften. Der Staub, den sie erzeugten, stieg in die Höhe und verschwand in einem Kamin, der sich in der Decke befand, die den
Gang und die Häuser nach oben hin abgrenzte. In diesem Teil der Stadt begann gerade der Tag, und Chipol sah sich plötzlich von etlichen Dutzend jungen Bathrern umringt, die ihn neugierig und aus schlaftrunkenen Augen musterten. »He, Händler!« riefen sie. »Was hast du uns anzubieten? Was machst du für ein Gesicht? Ist dir nicht gut?« »Nein, danke. Es geht mir gut. Aber ich habe keine Waren bei mir. Ich gehöre zu den Händlern, die von den Nomaden beraubt worden sind!« »Ein Beraubter. Er war bei den Nomaden!« Die Kunde verbreitete sich wie ein Lauffeuer, und in weniger als einer Minute war Chipol von einer unüberschaubaren Horde junger Bathrer umringt, die ihn Löcher in den Bauch fragten. »Wie sehen sie aus? Haben sie Raubtiergebisse, und essen sie rohes Fleisch? Haben sie euch gefoltert?« Die Fragen kamen aus jugendlichen, unbekümmerten Mündern, und erwachsene Bathrer kamen herbei und lösten die Meute auf. Sie redeten von der Harmonie und daß es besser war, solche Dinge nicht zu erzählen. Chipol nutzte die entstehende Verwirrung. Er zog einen Jugendlichen zur Seite und legte ihm verschwörerisch den Finger auf den Mund. »Hilf mir, Freund«, sagte er. »Ich suche einen Weg zu den Priestern. Weißt du Rat?« Der Junge, dessen Blicke voller Verwunderung, aber auch voller Wißbegier leuchteten, gab fast mechanisch Antwort. Er flüsterte ihm etwas zu, und Chipol nickte mehrmals zum Zeichen, daß er sich die Beschreibungen einprägte. Dann jedoch wurden sie auseinandergerissen, und er hörte einen der Erwachsenen Fragen stellen. Wieder gab der junge Bathrer bereitwillig Auskunft. Er war sich nicht bewußt, etwas Unrechtes getan zu haben. »Haltet den Händler fest!« brüllte eine tiefe Stimme. »Er will die Priester stören!«
Der Daila war bereits in der Menge untergetaucht. Er arbeitete sich bis zu einer Seitengasse durch, die ihm bezeichnet worden war. Er verschwand darin. Hinter ihm klang das einsetzende Getrampel der Verfolger auf. Etliche Dutzend Bathrer mußten es sein, die sich an seine Verfolgung machten. Sie wurden durch die eigenen Kinder behindert, die nicht verstanden, was da vor sich ging. Chipol grinste breit und fand jene Tür, an der das goldene Wappen Bakholoms eingeritzt war, wie es aus der Frühzeit der Gründung existierte. Auch jetzt, wo die Nordstädte und die der gemäßigten Klimazone längst keine Wappen mehr führten, besaß es seine Gültigkeit, und der Hinweis des jungen Bathrers, daß das alte Wappen die Eingänge in die Gewölbe der Priester markierte, war Gold wert. Chipol berührte den metallenen Ring, der durch den Türknauf gezogen war. Er drehte ihn, und die Tür schwang fast geräuschlos auf und ließ ihn hindurch. Wie überall im Stadtberg war der dahinter liegende Korridor von nicht qualmenden Fackeln erhellt, eine Einrichtung, die notwendig war, damit die Bathrer nicht in ihren eigenen Höhlen erstickten. Es wäre einer wissenschaftlichen Untersuchung wert gewesen, die Fackeln auf ihre Zusammensetzung zu untersuchen, aber daran dachte Chipol in diesen Augenblicken am wenigsten. Er stürmte den Korridor entlang und suchte nach der Markierung, die der Junge ihm genannt hatte. Drei Abzweigungen passierte er. An der vierten endlich erblickte er den Stab, der aus dem Fels herausgehauen war. Er zeigte auf die gegenüberliegende Wandseite, wo sich ein feiner Riß im Fels befand. Chipol streckte sich. Er trat an den Riß. Hinter ihm kam das Getrampel der Verfolger näher. Er zwängte sich in den Riß und schob sich solange vorwärts, bis er durch war. Vor ihm war das Plätschern von Wasser, er befand sich also in etwa auf der Höhe der Etage, in der er die Fischer getroffen hatte. Bis hierher hatten ihn die Hinweise des Jungen geführt.
Neugierige Jugendliche waren bis hierher vorgedrungen, aber nicht weiter. Vielleicht fürchteten sie sich vor dem Wasser, oder es gab andere Gründe. Das Licht der Fackeln blieb hinter ihm zurück. Auch der Lärm der Verfolger ebbte ab. Sie waren an dem Riß im Fels vorbeigeeilt und wähnten Chipol noch vor sich. Der junge Daila lachte unterdrückt. Einen Händler hätten sie vielleicht eingefangen, nicht aber einen Jungen aus der Familie Sayum. Chipol dachte an die Zeit zurück, in der er im Kreise seiner Familie auf Joquor‐Sa gelebt hatte. Er war sich immer als ein Außenseiter vorgekommen, und nichts hatte ihn mehr geschmerzt als die Herablassung und fast traurige Zurücksetzung, die er von seinem eigenen Vater erfahren hatte. Alle Sayums waren psibegabte Wesen außer ihm, und Chipol hatte das Manko durch besondere Gewitztheit und einen stark ausgeprägten Instinkt wettzumachen versucht. Diese Fähigkeiten kamen ihm jetzt auf Cairon zugute. Er wollte alle Möglichkeiten ausschöpfen, etwas über seine Familie zu erfahren, an der er nach wie vor hing. Atlan war für ihn ein guter Gefährte, ein Freund, aber er konnte ihm Sayum nicht ersetzen, denn er war ebenfalls ein Fremder für Chipol, so wie alle Bathrer und was da noch so auf dem vierten Planeten der Sonne Tsybaruul kreuchte und fleuchte. Und erleuchtete. Mit zusammengebissenen Zähnen setzte Chipol seinen Weg in die Dunkelheit fort. Er tastete mit den Fußspitzen, und er fand das Ufer des Wassers und auch den schmalen Steg, der am Wasser entlang in die Felswand gehauen war. Der steinerne Pfad war schlüpfrig, und Chipol mußte sich mit den Fingern an der Wand ankrallen, um nicht abzurutschen. Aus der Ferne drang langsam anschwellendes Donnern an seine Ohren, und er arbeitete sich unter Anstrengung darauf zu. Die Muskeln in seinen Gliedern wollten zu Eis erstarren, und die einsetzende Feuchtigkeit drang in seine Kleider ein und danach in die Haut. Er begann zu frösteln und verfluchte jenen
Augenblick, in dem er sich auf den Weg in das Labyrinth gemacht hatte, dem die Bathrer den Namen Bakholom gegeben hatten. »Atlan«, flüsterte er, und das Echo kam aus mehreren Richtungen zu ihm zurück, ein deutliches Zeichen, daß er sich in einem Gewölbe befand. Er mußte den Arkoniden finden. Vielleicht war er den Priestern begegnet und sie hatten ihm nicht geglaubt. Vielleicht erging es ihm wie in Umharaton. Das durfte nicht sein. Er, Chipol, würde dafür sorgen, daß es kein Fiasko gab wie in jener Stadt. Er näherte sich einem Katarakt. Das Wasser stürzte aus großer Höhe herab in den See oder Fluß, an dessen Rand sich der Daila befand. Er hörte das Donnern und atmete unwillkürlich auf, als der steinerne Sims vom Ufer wich und sich in einen höhlenartigen Gang veränderte, der langsam anstieg. In der Ferne gab es Lichtschein, und Chipol schüttelte den Frost und die Beklemmung von sich ab und rannte vorwärts. Langsam wurde ihm wieder warm, und er blieb am Fußende einer Treppe stehen. Er sah Priester in weißen Gewändern. Sie hielten Fackeln in den Händen, und in ihrer Begleitung befanden sich die Bathrer, die ihn verfolgt hatten. Sie suchten nach ihm. Sie schritten Korridore ab und kehrten immer wieder zurück. Mit keinem Gedanken waren sie bei dem Gang, der hinunter zum Wasser führte. Offenbar kannten sie die Gefährlichkeit des Pfades und waren nicht in der Lage, sich vorzustellen, daß man ihn überhaupt begehen konnte. Chipol lachte in sich hinein. Er wartete einen günstigen Augenblick ab, in dem sich niemand mehr in dem Bereich der Treppe befand. Er stürmte empor und verschwand in einer Ecke hinter einem Standbild, das überlebensgroß aufragte. Er kauerte sich eng zusammen, weil die Bathrer zurückkehrten. Er wußte, daß die Priester ihn mit Hilfe ihrer empathischen Fähigkeiten entdecken würden, wenn sie ihm nahe genug kamen. Er hoffte, daß ihm inzwischen die Flucht in die Gewölbe gelingen würde. »Es ist nicht der einzige«, hörte er einen Priester sagen, als sie
erneut zurückkehrten. »Der Händler Atlan hat uns aufgesucht. Dieser Junge wird zu ihm gehören!« Sie kamen in die Nähe des Standbilds, und die Priester erstarrten plötzlich. »Er ist in der Nähe«, sagten sie. »Hier irgendwo! Hinter dem. Standbild!« Chipol warf sich aus der Deckung und hetzte in eine Höhle hinein, in deren Wände links und rechts tempelartige Gebäude eingemeißelt waren, die ihn wie fremdartige Gesichter angrinsten. Er rannte, wie er noch nie in seinem Leben gerannt war. Er wußte, daß Atlan hier irgendwo war. Der Arkonide mußte unbedingt erfahren, was Chipol über die unterirdischen Flußläufe Bakholoms in Erfahrung gebracht hatte. 5. »Wir kommen aus der weiten Ebene und sind mehreren Stämmen der Nomaden begegnet«, begann ich meine Erzählung. »Wir haben seltsame Dinge beobachtet, die uns zu dem Schluß kommen ließen, daß sich Dinge tun, die von großer Bedeutung für das ganze Land der Bathrer sind. Deombarer und Yanthurer haben sich versöhnt und die Versöhnung mit einer Hochzeit besiegelt. Sie haben uns alle unsere Waren samt dem Karren und den Xarrhis geraubt, so daß uns nur unser Leben und die Flucht blieben. Ein solcher Raub ist nichts Ungewöhnliches, ich weiß. Aber wisset, daß wir auf unserer Flucht ein unüberschaubares Heer von Nomaden entdeckten, das mitten in der Ebene lagerte und dessen Vleehs in der Richtung weideten, in der es weiterziehen wollte. Es gibt nur eine Stadt im ganzen Umkreis, die das Ziel dieser Horde sein kann: Bakholom. Die Stadt ist in Gefahr!« Rungarons metallene Schüssel schaukelte wieder heftiger. Der alte Priester bewegte sich hin und her. Seine Wangenmuskeln zuckten,
aber seine Augen verstrahlten jenen Glanz, den ich bereits als Ausdruck verinnerlichter Harmonie zu deuten wußte. »Es fällt mir schwer, dies zu glauben«, stellte er fest. Seine Augen ließen mich nicht aus ihrem Bann, und ich versuchte, meine Gedanken so zu gestalten, daß er meine Ehrlichkeit und die Wahrheit meiner Aussagen empfinden konnte. »Und dennoch, Atlan, hast du recht. Die Nomaden planen einen Überfall auf Bakholom. Und sie sind der Stadt vielleicht schon so nahe, daß der Überfall jederzeit beginnen kann. Aber du vergißt, daß Bakholom so gut wie uneinnehmbar ist. Das ist es doch, was uns so sicher macht. Wie viele Vleehs können gleichzeitig das äußere Tor erreichen?« »Zwei«, gab ich zu. »Das ist richtig. Aber es gibt auch die Fußpfade. Auf ihnen könnten ein paar Nomaden im Schutz der Nacht heraufsteigen und sich heimlich in die Stadt schleichen, um ihren Genossen das Tor zu öffnen!« Taphyro lachte laut auf. Er wedelte mit den Armen und deutete dann anklagend auf mich. »Händler sind nützlich, aber manchmal töricht«, verkündete er. »Wir haben Osharnor. Er hat die Wachen im Griff, und es gibt nichts, was ihm entginge. Wenn die Nomaden heraufsteigen, weiß er es bereits und trifft seine Vorbereitungen für ihren Empfang!« Ich dachte nach. Die Nomaden wußten doch, wie schwer Bakholom zu betreten war. Wenn sie angriffen und vor allem mit einem solchen Heer, dann konnte keine Dummheit dahinterstecken. »Überlegt genau«, sagte ich. »Denkt nach. Wozu ein solches Heer, wenn es keinen Sinn hat. Gibt es keine Möglichkeit, die Stadt auf einem anderen Weg zu betreten? Von oben herab etwa?« Die Schüssel stellte alle ihre Bewegungen ein. Rungaron rührte sich nicht mehr, und die anwesenden Priester warteten schweigend auf die Antwort des Alten. Minuten vergingen. Mir brannte die Zeit unter den Nägeln. Ich glaubte schon den Lärm zu hören, mit dem die wilden Barbaren sich Zutritt in die innersten Viertel der Stadt verschafften.
Sie werden dir nicht glauben, stellte mein Extrasinn fest. Wie in Umharaton! Es durfte nicht sein. Es mußte eine Möglichkeit geben, die Bathrer zu motivieren. Ich entschloß mich, aufs Ganze zu gehen und im Notfall mit der gesamten Wahrheit herauszurücken. Rungaron erschien mir als ein weiser Mann, der Argumenten zugetan war, auch wenn sie ihm unwahrscheinlich vorkamen. Ich sollte mich jedoch in ihm getäuscht haben. »Es gibt keinen anderen Weg, Atlan«, sagte er jetzt. »Unser Bakholom schwebt in keiner ernsthaften Gefahr. Nichts und niemand kann es so stark bedrohen, daß wir uns darum kümmern müßten. Im Gegenteil. Wir wollen alle unsere Sinne zusammenhalten, um die von dem beabsichtigten Überfall aufgerüttelten Bewohner so rasch wie möglich wieder unter die Fittiche der Harmonie zu holen. Harmonie ist die Erfüllung des Lebens, das Ziel der Existenz. Alles geschieht durch sie, und niemand ist stark genug, sie zu beseitigen!« Doch! schrien meine Gedanken. Es gibt eine Macht, die dazu in der Lage ist. Sie ist mitten unter euch und zieht ihre Fäden. Und die Nomaden sind ihr willfähriges Werkzeug. Etwas verschloß mir den Mund. Ich schluckte und schluckte, und Rungaron merkte, daß ich innerlich aufgewühlt war und an das glaubte, was ich vorgetragen hatte. »Wie können wir dir helfen, Atlan, und dich von deiner Wahnidee befreien?« erkundigte er sich freundlich. Sie konnten es nicht. Aber es hatte auch keinen Sinn, es ihnen begreiflich zu machen. Für ein paar Augenblicke verwischten sich die Wirklichkeiten in meinem Bewußtsein, und ich starrte den Obersten Priester flehend an. Hatte er recht, und ich verwechselte tatsächlich, was real und was eingebildet war? Konzentriere dich, Atlan. Noch ist nicht alles verloren. »Du willst oder kannst es nicht begreifen«, fuhr der Alte fort. »Du bist eben ein Händler, der nur an das glaubt, was er in Form von
Jaculruns auf der Hand sieht. Wir sind dir nicht böse deswegen. Ich will dir ein letztes, überzeugendes Argument liefern, warum uns vor einer Bedrohung durch die Nomaden nicht bange ist. Diese haben seit eh und je Überfälle auf die Städte unternommen, um sich im Winter die Vorräte der Bathrer unter den Nagel zu reißen. In manchen Fällen ist ihnen das sogar gelungen. Es hat die Harmonie nicht beeinträchtigt, und mancher bathrische Priester hat, erfüllt vom Licht der Harmonie, geäußert, daß es ein Teil eines umfassenden Planes sei, den die Harmonie mit uns vollzieht. Recht oder Unrecht, jetzt haben wir Frühsommer, und da gibt es überall in der Ebene bis hin zu den Wassern genug Nahrung für alle. Für die Nomaden wäre es reine Zeitverschwendung, eine Stadt, und ausgerechnet noch Bakholom, zu überfallen. Du irrst dich, Händler, und ich hoffe, daß du deinen Irrtum endlich einsiehst!« Ich war nicht in der Lage dazu. »Falls er überhaupt ein Händler ist«, meldete Taphyro sich. Ich hatte Mühe, die Fassung zu bewahren, obwohl ich insgeheim ständig mit einer solchen Situation gerechnet hatte. »Wie meinst du das?« rief ich aus. »Willst du meine Ehre als Händler in den Schmutz ziehen? Willst du das Böse herbeireden?« »Niemand will so etwas«, fuhr die milde Stimme Rungarons dazwischen. »Was meinst du damit, Taphyro?« Der Priester fuhr sich mit den Händen durch das Haar. Er deutete anklagend auf mich. »Er mischt sich in die Angelegenheiten der Bathrer und der Nomaden. Er wird damit dem ehernen Gesetz aller Händler untreu. Ich frage mich, warum er das tut.« Jetzt blieb mir nichts anderes übrig, als endgültig Farbe zu bekennen. Verraten durfte ich nicht, daß ich von einer fremden Welt kam. Sie hätten mich für verrückt erklärt. Also mußte ich auf die alte Masche zurückgreifen, mit der ich es bereits in Umharaton versucht hatte. Dort hatte ich damit Schiffbruch erlitten. Auch jetzt war mir nicht wohl bei der Sache.
»Es ist keine Angelegenheit, die nur Bathrer und Nomaden betrifft«, begann ich vorsichtig. »Es steckt mehr dahinter. Es gibt eine andere Macht. Sie veranlaßt die Nomaden, sich zu einem großen Heer zu vereinigen und trotz des Frühsommers gegen Bakholom zu ziehen. Das ist es, was Chipol und ich bei den Deombarern in Erfahrung bringen konnten. Und diese Macht kommt von den Sternen!« Unter den versammelten Priestern brach Unruhe aus. Sie begannen, erregt miteinander zu tuscheln, bis sich Rungaron Gehör verschaffte. »Seid still«, mahnte er. »Auch der geringste Händler hat ein Recht darauf, gehört zu werden.« Er wandte sich wieder an mich. »Wie stellst du dir das vor, Atlan? Was würdest du dagegen tun? Von den Sternen kommen zwei Mächte, wie jeder weiß. Einmal die gute Macht der großen Harmonie, und einmal die schlechte Macht der Bösen Geister. Letztere hat nichts anderes im Sinn, als die Sterblichen zu verwirren. Und mir scheint es, als hat sie dich bereits verwirrt!« »Du irrst!« platzte ich heraus. »Ich habe den Scharfblick, der dir fehlt. Und ich mache dir einen Vorschlag. Die Nomaden werden kommen, du wirst es bald sehen. Sie werden Bakholom angreifen. Deshalb müßt ihr die Stadt in allen Teilen sichern, egal ob tief im Berg oder an der Außenmauer. Und wenn die fremde Macht kommt und sich eurer Priester bemächtigen will, dann bietet ihr als Köder einige davon an. Ich werde zu dieser Gruppe gehören, und du wirst sehen, daß es mir gelingen wird, alles zum Guten zu wenden.« Die bathrischen Städte waren untereinander durch ein Botensystem verbunden. Man wußte in Bakholom, daß in mehreren Städten Priester und Priesterschüler spurlos verschwunden waren, daß Priester ihr Wahakú verloren hatten. Bakholom selbst war noch nicht betroffen, aber ich war mir sicher, daß die Nomaden in Bakholom nur ein Ziel hatten. »Es ist genug!« schrillte Taphyro.
»Du glaubst tatsächlich, die Nomaden wollten uns entführen oder uns das Wahakú rauben?« erkundigte sich Rungaron. Seine Stimme bebte sichtlich. »Der Gedanke ist ungeheuerlich. Niemand, auch keine böse Macht, wird es wagen, die älteste aller Städte anzugreifen und die Harmonie zu gefährden. Was willst du wirklich, Atlan?« »Er ist selbst ein böser Geist, ein Störenfried. Ich habe es von Anfang an gespürt«, rief Taphyro aus. »Glaube mir, weiser Rungaron, er ist eine Gefahr für Bakholom. Er will uns einer bösen Macht ausliefern, deshalb sein Vorschlag. Ich durchschaue ihn!« Die Anschuldigung war hart, und ich wußte, daß ich sie durch Worte allein nicht widerlegen konnte. Und für die Existenz des Erleuchteten fehlten mir nach wie vor die Beweise. Was blieb dann? Ich konnte es mir ausmalen, und Taphyro nahm mir die Worte buchstäblich aus dem Mund. »Unterzieht ihn der Geisterprobe!« verlangte er. Schweigen kehrte ein, und ich nahm mich zusammen und nickte Rungaron zu. »Taphyro selbst scheint mir vom bösen Geist besessen«, sagte ich. »Er weiß nicht, was er redet!« »Das ist Lästerung, Sakrileg!« rief der Älteste zornig aus. »Ein Priester der Harmonie kann nicht vom Bösen besessen sein. Folglich bist du der böse Geist oder gar die Macht selbst, die die Nomaden schickt. Wenn du ein böser Geist bist, wirst du dahin zurückkehren müssen, woher du gekommen bist. Bist du ein guter Geist, wirst du uns auch verlassen, aber du wirst die Kraft haben, uns vorher ein Zeichen zu geben!« Damit war die Entscheidung bereits gefällt. Rungaron würde mich der Geisterprobe unterziehen. »Bis dahin wird es zu spät sein«, mahnte ich. Ein ungutes Gefühl machte sich in meinem Magen breit, als ich daran dachte, wie es in Umharaton gewesen war. Dort hatten die Priester gedroht, Chipol umzubringen, wenn ich meine Mentalblockierung nicht aufhob. Ich hatte mich damals mit der Harmonie noch nicht so gut ausgekannt
und war ihrer Forderung nachgekommen. Inzwischen wußte ich, daß sie Chipol nicht getötet hätten. Die Priester Bakholoms würden einen anderen Weg finden, mich gefügig zu machen. Und was war mit der Absicht, mich an meinen Ausgangsort zurückzuschicken, in den Wasserpalast auf Khran? In Umharaton hatte ich nicht nur das Kodewort »Varnhagher‐Ghynnst« gedacht, sondern meine Rückkehr intensiv gewünscht. Ich war auf einem schaukelnden Wagen zu mir gekommen. Es hatte nicht geklappt. Irgend etwas hatte mich immer wieder zurückgeworfen, so als sollte es nicht sein. Mein Gefühl, daß seit meiner Versetzung nach Manam‐Turu etwas nicht stimmte, hatte sich bestätigt. War ich der Kontrolle der Kosmokraten entglitten, oder durfte ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht zurückkehren? Ich konnte mich auf das Kodewort nicht länger verlassen und beschloß daher, es bei der bevorstehenden Geisterprobe erst gar nicht zu verwenden. Ich war wie so oft auf mich allein gestellt. Die Chancen, den Erleuchteten zu finden und EVOLO unschädlich zu machen, rechnete ich mir lieber nicht aus. »Es ist ein Fehler«, sagte ich. »Ehe die Geisterprobe durchgeführt ist, werden die Nomaden die Stadt überflutet haben!« »Wie denn?« keifte Taphyro. Ich zuckte mit den Schultern. Ich wußte es selbst nicht, und doch war ich mir sicher, daß es geschehen würde. Etwas gab es in Bakholom, was mir nicht bekannt war. Es mußte eine Möglichkeit bestehen, heimlich in die Stadt einzudringen. Rungaron nochmals danach zu fragen, hatte keinen Sinn. Der Älteste hatte eine abweisende Miene aufgesetzt und flüsterte mit seinen Beratern. Sie wurden sich lange nicht einig, aber dann verschaffte sich der Älteste mit einer Handbewegung Ruhe. »Wir werden darüber beraten«, eröffnete er. »Bis dahin schafft den Händler in eine der Höhlen neben dem Tor. Sobald wir uns einig sind, werden wir weitersehen!« Das bedeutete die Geisterprobe. Es gab keinen Ausweg. Ich konnte von Glück reden, daß die Bathrerpriester keine direkten Telepathen
waren. Sie hätten aus den blockierten Teilen meines Gehirns Dinge erfahren, die sie nicht hätten verkraften können. Sie wären unter dem neuen Wissen zusammengebrochen, und die Zivilisation der Harmonie von Bakholom hätte ein unerwartetes Ende gefunden. Durch mich. Mehrere Bathrer traten zu mir und führten mich ab. Sie brachten mich durch eine Siedlung, die voll beleuchtet war und mich durch die Schönheit ihrer Steinfiguren und ihrer anderen Kunstwerke beeindruckte. Hier bekam ich zum ersten Mal einen richtigen Eindruck, welche Kultur im Innern der Berge tatsächlich existierte. Die Bathrer hatten sich von primitiven Höhlenbewohnern zu zivilisierten Bergbesiedlern entwickelt, und der Vergleich mit den Nomaden in der Ebene war irgendwie unpassend. Bakholom war in jeder Beziehung die Prächtige. Auch in der Vollkommenheit der Harmonie. Und irgendwo in der Stadt steckte Chipol. Während mich die Bathrer in eine leere Höhle sperrten, in der lediglich eine einzige Fackel brannte, dachte ich an den jungen Daila. Er würde bis zum Morgengrauen auf mich warten und mich dann suchen, wenn ich nicht verabredungsgemäß zurückgekehrt war. Aber am Morgen war es womöglich zu spät. Meine Kenntnisse über die Kriegsgepflogenheiten wilder Völker hatten mich im Laufe meines langen Lebens gelehrt, daß diese immer zu ganz bestimmten Zeiten angriffen. In der zweiten Nachthälfte oder im Morgengrauen. Damit rechnete ich auch bei den Nomaden von Cairon. Ich mußte einkalkulieren, daß Chipol und ich durch die Ereignisse getrennt wurden. Für immer vielleicht, wenn wir uns nicht fanden oder irgendwann die Gelegenheit erhielten, die STERNSCHNUPPE aufzusuchen. Aber das war Theorie. Jetzt ging es um handfestere Dinge. Ich setzte mich auf den trockenen Steinboden und wartete auf die Rückkehr der Bathrer und auf die Geisterprobe.
* Chipol hetzte davon, aber die Priester und die übrigen Bathrer waren dicht auf seinen Fersen. Sie hatten den Vorteil, ortskundig zu sein, während er nicht wußte, wohin er sich wenden sollte. Er entdeckte eine Gasse zwischen den Tempelfluchten und bog in sie ab. Zu spät entdeckte er, daß es eine Sackgasse war. Es gab keine Ausweichmöglichkeit, lediglich eine kleine Tür, die aber verschlossen war. Hinter sich hörte er die jubelnden Rufe der Bathrer. In seiner Not klopfte der junge Daila an die Tür. Er konnte es gar nicht fassen, als er das Kreischen des Schlüssels vernahm und die Metallfläche nach innen wich. Er zwängte sich hindurch und erkannte im Halbdunkel den Zwerg, der die Pforte verriegelte und ihn aus seinem einzigen Auge scheu musterte. »Ein Jüngelchen«, sagte er guttural. »Folge mir. Niemand wird dich hindern. Die ewige Pforte hat dich verschluckt. Sie ist seit der Gründung dieser Stadt nicht mehr offen gewesen.« Er lachte unterdrückt und winkte mit einem seiner überlangen Arme. »Behaupten die Priester!« Chipol folgte dem Zwerg einen schmalen Gang entlang. Zwischen zwei Wänden ging es hinauf auf einen Balkon, von dem aus sie in eine Halle hinabblicken konnten, in dem sich die Priester und Bathrer zur Beratung versammelten. »Er ist durch die ewige Pforte gegangen«, hörte Chipol sie sagen. »Die guten Mächte haben ihn zu sich geholt. Wir haben einen Fehler begangen, als wir ihn verfolgten!« »Aber er gehört zu diesem Atlan, mit dem Rungaron die Geisterprobe machen will. Wie paßt das zusammen?« »Taphyro hat unrecht mit seiner Beschuldigung. Wir müssen den Ältesten sofort informieren!« Die Priester schickten die Bathrer weg und verschwanden durch
eine Tür in der weitläufigen Tempelanlage. »Hast du gehört?« erkundigte sich der Zwerg. »Atlan. Ein angenehmer Name. Viel schöner als meiner.« »Wie heißt du?« »Glupschbeil, der Unauffällige. Ich reinige die äußeren Tempelanlagen. Niemand weiß, daß ich Macht über die geheimen Bezirke habe, die außer mir nur der Gründer dieser Stadt gekannt hat, der ehrwürdige Bakhol.« »Ich bin Chipol. Ich danke dir, daß du mich gerettet hast. Weißt du, wo Atlan sich befindet?« »Ich weiß alles. Ich bin überall, und ich höre alles, was die Priester sprechen. Ich bin die wandelnde Harmonie. Weißt du, manchmal wissen die Priester selbst nicht, was sie sagen. Dann warten sie auf ein Zeichen der Harmonie. Sie finden es und sind froh darüber, nehmen sie es doch als lebendigen Beweis für die Existenz der guten Macht. Hi, hi, ich muß immer lachen, wenn ich daran denke, wie schnell sie sich an meine Zeichen gewöhnt haben!« »Du treibst Spott mit den ehrlichen Absichten der Priester«, stellte Chipol erschüttert fest. »Das darfst du nicht. Die Harmonie bewirkt Gutes und ist der Entwicklung der Bathrer nützlich!« Glupschbeil faßte ihn am Arm und zog ihn in eine finstere Kammer hinein, in der kein Licht brannte. Er hörte, wie der Zwerg irgendwelche Geräte bediente. Der Boden gab nach und setzte sich abwärts in Bewegung. »Ich helfe nach«, sagte der Zwerg leise. »Ich bin ein Ausgestoßener, der die Stadt nicht verlassen hat. Die Harmonie in Bakholom hat sich so weit entwickelt, daß ein Mißgestalteter nicht mehr dazu verdammt wird, in die Einöde zu gehen oder Händler zu werden. Und wer hätte mit mir schon Handel betrieben! Nein, ich darf die äußeren Tempelanlagen reinigen, und ich belohne die Priester dafür mit einem Stück Harmonie. Und Harmonie ist für alle da.« Chipol erwiderte nichts. Er hielt den Zwerg für verrückt, und
damit hatte er wohl zum Teil recht. Aber Glupschbeil war nicht aggressiv, sondern mild und verträglich wie alles, was von der Harmonie erfüllt war. Er erzählte munter drauflos, was er alles schon bewirkt hatte und was er jetzt tun wollte. »Natürlich irrt Atlan«, fuhr der Zwerg fort. »Es gibt keinen Angriff der Nomaden auf Bakholom. Aber deshalb darf Rungaron ihn nicht der Geisterprobe aussetzen. Atlan soll doch nicht verschwinden, sondern hierbleiben und mir Gesellschaft leisten.« »Das ist eine große Ehre für ihn«, meinte Chipol zweideutig. »Er wird sie zu schätzen wissen.« »Ohne Zweifel wird er das. Doch sieh nur. Was machen die Priester da?« Der Boden unter ihnen war zur Ruhe gekommen, und Chipol blickte durch ein Ziergitter hinaus in eine Kammer, in der mehrere Priester am Boden knieten und sich an den Händen hielten. Der Daila kannte diese Zeremonie bereits. Er hatte sie in Umharaton miterlebt, und eisiger Schreck durchzuckte ihn. Er hielt nach Atlan Ausschau, aber er konnte den Arkoniden nirgends entdecken. Es war also noch nicht zu spät. Die Mitteilung, daß die Priester erneut eine Geisterprobe planten, hatte ihn erschreckt. Zugleich führte ihm das Vorhaben die Aussichtslosigkeit ihres Beginnens vor Augen. Es war vergeblich, den Priestern der Harmonie das Bewußtsein für die Gefahr nahebringen zu wollen, die vom Erleuchteten ausging. »Sie bereiten die Geisterprobe vor«, hauchte er dem Zwerg ins Ohr. »Es ist bald soweit. Zeige mir endlich, wo Atlan sich befindet!« Glupschbeil zog ihn zu einem anderen Gitter, das einen Korridor und ein hohes Tor zeigte. Im Hintergrund befand sich eine Treppe. Die zweite Tür rechts hinter dem Tor war es. Dort hielten sie Atlan gefangen. »Komm, ich zeige dir den Ausgang aus diesem Geheimtrakt«, zischte der Zwerg. Er führte ihn bis zu einer Mauer, die aus lauter Kacheln zusammengesetzt schien. Es war eine Zierverkleidung, und sie ließ sich federleicht beseitigen und in die Wand schieben. Chipol
und sein seltsamer Begleiter traten hinaus auf den Gang und stießen fast mit drei Priestern zusammen. »Taphyro!« stieß Glupschbeil hervor. Es klang zornig. »Du bist ein ewiger Spielverderber. Warum läßt du mir nicht meinen Spaß? Wozu reinige ich Anlagen und mache jedes Theater mit, wenn du mir nicht einmal das gönnst!« Mehrere Arme griffen nach Chipol und zerrten ihn weg. »Tut mir leid«, rief der Zwerg ihm noch nach. »Diesmal wollte ich es besonders schlau anstellen, aber sie sind mir wieder dahintergekommen. Ich weiß nicht, wie das noch enden wird. Es ist ein Jammer mit der Humorlosigkeit der Priester!« Die Geheimtür schloß sich hinter ihm, und die Priester der Harmonie führten Chipol ab und brachten ihn zu jener Tür, hinter der angeblich Atlan zu finden war. »Bestimmt erwartet er dich schon«, murmelte Taphyro undeutlich. Das, dachte der junge Daila, war vermutlich die einzige Wahrheit, die zur Zeit Gültigkeit besaß. * »Atlan!« Ich war leicht eingedöst und schrak empor. Die Tür der mageren Zelle hatte sich geöffnet. Ich erkannte das Gesicht Taphyros und das eines anderen Priesters. Sie schoben Chipol in die Höhle und schlossen die schwere, hölzerne Tür hinter ihm. Der Junge eilte mir entgegen, während ich mich langsam aufrichtete. »Wo kommst du her?« erkundigte ich mich. »Offensichtlich hast du dich nicht an meine Anweisungen gehalten!« »Das mag schon sein«, meinte er. »Aber du wirst es mir danken. Höre mir genau zu!« Er begann zu berichten, was er ausfindig gemacht hatte. Ich fand das fehlende Steinchen in meinem Puzzle und sprang auf.
»Das ist die Lösung!« rief ich aus. »Wir müssen die Priester informieren. Die Nomaden werden durch die Wasserläufe kommen. Sie müssen rechtzeitig abgefangen werden!« Chipol schüttelte den Kopf. »Gib es auf, Atlan«, sagte er. »Du wirst genauso wenig Erfolg haben, die Bathrer zu überzeugen, wie ich. Sie werden dir kein Wort glauben, und jetzt schon gar nicht.« Er hatte recht. Aber ich wollte mich nicht damit abfinden. Alles in mir wehrte sich dagegen, daß es uns so ergehen sollte wie in Umharaton. Wir waren gekommen, um die Bathrer zu warnen, aber die Macht der Harmonie war größer. Die Hoffnung, daß mir die Bathrer in dieser Stadt beim Aufbau einer Falle für den Erleuchteten behilflich sein konnten, hatte sich nicht erfüllt. Es war zum aus der Haut fahren. Ich trat an die steinerne Wandung der Höhle. Ich klopfte, doch ich fand keine Hohlstelle, so sehr ich suchte. Es gab keinen verborgenen Ausgang aus dem Gefängnis, und die schwere Tür kümmerte sich nicht um unsere Versuche. »Was können wir jetzt noch tun?« Der junge Daila suchte ebenfalls nach einer Lösung unseres Problems. Es gab nichts, woran er sich klammern konnte. Eine Lösung vielleicht. Aber sie war nur für den äußersten Notfall gedacht. Ich konnte die STERNSCHNUPPE rufen. Sie würde über Bakholom auftauchen und die Bewohner in Angst und Schrecken versetzen. Ich konnte die Priester unter Druck setzen und meine Freilassung erwirken. Sie würden darauf eingehen müssen. Aber der Ruf, daß ich ein böser Geist sei, der gekommen war, um die Bathrer zu verderben, würde sich über alle Städte des Landes und über die Ebene verbreiten. Überall würde man mich jagen oder mich wenigstens abweisen. Viel schlimmer war jedoch, daß der Erleuchtete Nachricht über die Schlagkraft seines Gegners erhalten würde. Ganz abgesehen davon, daß er zunächst einmal zur Kenntnis nehmen mußte, daß er es mit einem Gegner zu tun hatte,
der ihn kannte. Ob er sofort an mich denken würde? Es war gleichgültig, denn all das durfte nicht passieren. Wenn ich ihn von Cairon vertrieb, dann brauchte ich viel Glück, um seine Spur durch die neue Galaxis zu verfolgen. Also blieb mir und Chipol nur eines. Alles so laufen lassen, wie es lief. Geduldig über uns ergehen lassen, was kam. Und dabei so viele Indizien wie möglich sammeln, die uns ans Ziel führten. »Wir warten ab, was die Priester mit uns machen«, sagte ich. »Wir bahnen uns einen Weg zum Tor, sobald wir aus diesem Raum heraus sind«, schlug der junge Daila vor. »Vielleicht haben wir Glück, und es ist noch nicht zu spät.« »Keine Illusionen«, warnte ich. »Die Nomaden sind da. Sie stecken schon in der Stadt und warten auf das Signal zum Losschlagen. Der Tag bricht bald an!« Wenig später erschien eine Abordnung der Priester. Sie nahmen uns in ihre Mitte und brachten uns weg. Diesmal ging es nicht in Richtung der Wohnungen der Priester, sondern dorthin, wo Chipol die Tempel gesehen und sich in ihnen herumgetrieben hatte. Glupschbeil, konnte er uns helfen? Wir brauchten ein wenig Glück. Unsere Hoffnungen erfüllten sich nicht. Der Zwerg ließ sich nicht blicken, und wir wurden in eine prächtig ausgestattete Höhle geschafft. Große Kandelaber hingen von der Decke. In ihnen brannten Kerzen und warfen tausend Schatten an die Wände und auf den Fußboden. Kostbare Teppiche dämpften unsere Schritte, und in der Mitte hing eine Gondel, einer Schiffschaukel ähnlich, in der Rungaron saß. Langsam hegte ich den Verdacht, daß der Älteste gelähmt war und nicht gehen konnte. Er hielt die Augen geschlossen und öffnete sie erst, als einer seiner Berater zu ihm trat und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Gleichzeitig betrat Taphyro die Höhle und schloß die Tür, die mit goldenen Nägeln beschlagen war. Es roch nach aromatischen Kräutern, und das symbolische Feuer der
Harmonie in einer Schale im Hintergrund knisterte geheimnisvoll, als sei es zornig über das, was vorgefallen war. Konzentriere dich. Deine Phantasie geht mit dir durch! warnte der Extrasinn. Ich schloß kurz die Augen, und als ich sie wieder öffnete, da hatte man Chipol zur Seite gebracht und ihn an einem der Stützpfeiler festgebunden. Die Pfeiler waren aus dem weißen, marmorähnlichen Gestein wie alle wichtigen Bauten in Bakholom. »Bist du bereit?« klang die Stimme Rungarons auf. »Ich muß wohl«, erwiderte ich. Zwanzig Priester kreisten mich ein. Während ich mich setzte, knieten sie nieder. Sie faßten sich an den Händen und versanken in Meditation, während ich mich bemühte, so gelöst wie möglich zu erscheinen. In Wirklichkeit war jede meiner Muskel‐ und Nervenfasern angespannt. Die Bathrer würden mit ihrer Harmonie noch den Untergang der Welt verpassen. Sie hatten es nicht einmal für nötig befunden, die Wachen an den Stadtmauern zu größerer Wachsamkeit aufzufordern. Hätte ich mich gemeldet und ihnen jetzt erklärt, daß die Nomaden durch die unterirdischen Flußläufe eindringen wollten, hätten sie das als Beweis meiner Angst vor der Geisterprobe gewertet. Automatisch hätten sie mich als bösen Geist abgestempelt, und es wäre zu einer Fehlinterpretation gekommen, die nicht nur für mich, sondern auch für die Priester fatale Folgen haben konnte. Was geschah, wenn ich tatsächlich von Cairon verschwand und irgendwo im Nichts zwischen Alkordoom und Manam‐Turu landete? Wenn ich einen Teil der Priester mitriß? Der Große Geist der Harmonie, wußte ich, stand kurz vor einer Bewährungsprobe, und ich kannte bereits den Ausgang. Die Priester, die ihre Fähigkeiten nur für friedliche Zwecke gebrauchen durften, würden nicht einmal in der Lage sein, sich gegen das zu wehren, was die Nomaden mit ihnen taten.
»Chipol!« rief ich. Der Name riß die Priester aus ihrer Konzentration, und Rungaron, der mit seinen empathischen Fähigkeiten alles überwachte, warf mir einen ärgerlichen Blick zu. »Schweig!« fuhr Taphyro mich an. »Ich weiß, was du beabsichtigst. Ich lese es in deinen roten Augen. Aber du kannst es nicht verhindern!« Damit hatte er recht. Wenn die Probe durchgeführt wurde, dann mußte ich mitspielen, ob ich wollte oder nicht. Ich konnte nur Zeit gewinnen, und ich hatte sie bereits gewonnen. Es klopfte an der Tür, und die Priester brachen ihre Konzentrationsphase endgültig ab und richteten ihre Aufmerksamkeit auf den Ankömmling. Es war ein junger Bathrer im Gewand der Priesterschüler. Er huschte herein, warf mir einen ängstlichen Seitenblick zu und beugte sich über den Ältesten. Ich sah, wie Rungaron zusammenzuckte und sich dann ruckartig aufrichtete. Er schrie etwas, was ich nicht verstand. Augenblicklich kam Leben in die Priester. Zwei eilten zu dem Alten, hoben ihn aus der Gondel heraus und trugen ihn in den Hintergrund der Höhle, wo sie mit ihm durch eine kleine Tür verschwanden. Ich hörte einen Riegel einrasten. »Packt sie!« schrie Taphyro. »Sperrt sie ein. Bestimmt hat uns dieser Atlan alles eingebrockt!« Ich handelte bereits. Ich sprang in weiten Sätzen zu Chipol hinüber und band ihn los. Einen Teil der dünnen Schnüre zerriß ich einfach. Ein ganzer Schwarm von Priestern stürzte sich auf mich, aber ich bückte mich rechtzeitig und schlüpfte zwischen ihren Beinen hindurch. Irgendwie gelang es mir auch, Chipol am Arm zu fassen und mit mir zu zerren. Ich erreichte die Eingangstür und stieß die Bathrer zur Seite, die dort auftauchten. »Haltet ihn!« kreischte Taphyro wieder, aber da waren wir bereits draußen auf dem Korridor. Es war soweit. Die Aufregung der Priester konnte nur eines bedeuten. Die Nomaden waren da. Sie hatten den Weg in die Stadt gefunden
und die Fischer wahrscheinlich überrannt, ehe diese richtig wußten, wie ihnen geschah. Ich griff mir einen Priesterschüler, der sich furchtsam in eine Ecke drückte. »Hinaus!« brüllte ich ihn an. »Zeige uns einen Fluchtweg! Die Priester müssen sofort aus der Stadt verschwinden!« »Nein«, keuchte er. »Bakholom schützt uns. Die Harmonie schützt uns. Ich bleibe, wo ich bin!« Ich schob ihn zur Seite und rannte weiter. Chipol folgte mir dichtauf. Er schrie einer Horde von Bathrern etwas zu, die unsere Verfolgung aufnahmen. Wir erreichten eine Treppe, die mir bekannt war. Sie war ich herabgekommen, als ich zu den Priestern vorgedrungen war. Ich roch auch den typischen Schwefelgeruch des Geysirs, der mir als Wegweiser gedient hatte. Wir sprangen in großen Sätzen die Stufen hinauf, nahmen immer vier auf einmal. Ungehindert erreichten wir die Hängebrücke, und ich zeigte Chipol, wie er sich am besten festhielt, um hinüberzukommen. Ich verfolgte meinen Herweg zurück bis an eine Abzweigung, die mir nicht aufgefallen war. Jetzt war es schwer zu entscheiden, welcher Weg der günstigere war. Ich entschied mich für den rechten Gang, der an einer Tür endete. Hinter der Tür lag der Innenhof eines Gebäudes, das sich im Innern des Berges befand. Mehrere Treppen führten empor zu unterschiedlichen Etagen. »Die unterste«, hauchte ich Chipol zu. Ich wollte so nah wie möglich am Boden bleiben. Wir betraten eine Wohnung, in der alle Indizien auf den überhasteten Aufbruch der Bathrer hinwiesen. Ich runzelte die Stirn. Konnte es sein, daß wir uns hinter den Nomaden befanden, daß diese so weit vorgedrungen waren, daß Teile der Stadt bereits entvölkert waren? Wir gelangten auf eine Straße, die ebenerdig zu der von uns benutzten Etage verlief. Bathrer standen ratlos herum, andere
setzten sich in einer bestimmten Richtung in Bewegung. »Händler!« wurden wir angerufen. »Was ist geschehen?« Ich entdeckte in der Ferne das weiße Gewand eines Priesterschülers. Er reckte sich und schien uns entdeckt zu haben. Rasch bog ich in eine Seitengasse ab. »Die Nomaden sind in der Stadt. Sie kommen von unten, von den Flüssen«, rief ich über die Schultern zurück. Dann waren wir durch eine Tür verschwunden und befanden uns wieder in einem Teil der Stadt, in dem es nur Korridore gab, die überall und nirgends hinführten. »Atlan, dort!« Chipol deutete auf eine wuchtige Gestalt, die uns entgegenkam. Ich atmete auf, aber der Bathrer zog einen langen Knüppel aus seinem Gürtel und drang auf mich ein. Es war Osharnor, der oberste Torwächter. »Dir haben wir das alles zu verdanken!« schrie er. »Du bist an allem schuld. Wie hast du die Barbaren in die Stadt gebracht?« Er wollte mir das Ding über den Schädel ziehen, von dem ich nicht wußte, ob es aus Holz oder Metall war. Ich duckte mich, hörte Chipols Schmerzensschrei und rammte dem Wächter den Ellenbogen von hinten in die linke Niere, daß er wimmernd zu Boden ging. Ich drehte mich um und half Chipol. Er hatte einen Streifschlag am Kopf erhalten. Die Schwellung war bereits deutlich zu sehen. »Die Nomaden kommen aus den Flußläufen«, schrie ich Osharnor an. »Und wenn deine dämlichen Priester auf mich gehört hätten, dann wäre das alles nicht passiert! Ich wußte, daß sie kommen, und habe Rungaron gewarnt!« Er kam taumelnd auf die Beine und eilte weiter, ohne sich um seinen Knüppel zu kümmern. Ich nahm die Waffe auf. »Was hat ein Händler sich in die Angelegenheiten der Priester zu mischen«, hörte ich den obersten Torwächter noch murmeln, dann hatte er sich aus unserer Nähe entfernt. Eine Tür schlug.
Wir wußten jetzt ungefähr die Richtung, in der es ans Tageslicht ging. Wir eilten den Korridor entlang, immer weiter und immer höher. Wir fragten uns, wo wir herauskommen würden, und nach zwei Abzweigungen und einer halben Stunde angestrengten Dahineilens fanden wir uns an jenen Häusern wieder, von denen wir gekommen waren. »Bei allen bösen Geistern Cairons«, stieß Chipol hervor. »Das hat noch gefehlt. Hier kommen wir nie mehr heraus!« Wir schöpften ein wenig Atem. Es war nicht die Angst vor den Nomaden, die uns trieb. Es war die Angst davor, etwas zu verpassen. Und ich hoffte noch immer, daß wir dem Geschehen in Bakholom eine Wende zum Guten geben und die Nomaden zurückschlagen konnten. Wenn die Bathrer uns halfen. Dazu mußte ich allerdings hinaus an das Haupttor und dort zusehen, daß ich eine Schal* kampfeswilliger Bewohner um mich scharen konnte. Es ist aussichtslos, Atlan. Das hier ist Bakholom, die Wiege der Harmonie. Du verwechselst es mit Dschadhalon. Dort hättest du schnell eine wilde Horde beisammen. Der Extrasinn hatte wieder einmal recht, und ich bewunderte ihn, wie er es manchmal fertigbrachte, mit seinen nüchternen Überlegungen selbst einem lebensfrohen Menschen wie mir jeden Mut zu nehmen. Wir hörten in der Ferne Tumult. Eine steinerne Tür mitten in einer Wand flog auf, und wir sahen im Fackelschein, daß sich dahinter eine weitere Wohnsiedlung der Stadt erstreckte. Wir erkannten die Bathrer, die sich dort zu Hunderten drängten, und wir hörten ihr Geschrei, mit dem sie die Flucht antraten. Sie wurden mitten aus der Beschaulichkeit ihres Lebens gerissen, und manche reagierten mit schockartigen Lähmungszuständen. Wir verfolgten, wie sie alle in ungefähr eine Richtung verschwanden. Wir warteten eine Weile, dann machten wir uns auf
den Weg, den wir diesmal für den richtigen Weg zur Stadtmauer hielten. Und dann trafen wir auf die ersten Nomaden. Wir trafen sie beim Plündern, und sie ließen sich durch uns weder stören noch aus der Ruhe bringen. Sie erkannten an unseren Gewändern, daß wir Händler waren, und Händler hatten sich in diese Angelegenheit nicht einzumischen, weil das schon immer so gewesen war und die ungeschriebenen Gesetze nicht gebrochen werden durften. Aber wenn der Erleuchtete das tat, durfte ich es schon lange. 6. Nomaden waren wilde Gesellen. Im Gegensatz zu den friedliebenden und zivilisierten Bathrern besaßen sie eine kriegerische Kultur, in derʹ die Betonung deutlich auf dem Kampf lag. Sie verehrten verschiedene Naturgötter, hausten in Zelten aus Tierhäuten und schliefen auf geflochtenen Matten. Sie bildeten viele kleine Stämme, die untereinander häufige Kriege führten. Als Waffen verwendeten sie Keulen, Steinäxte, Speere, ab und zu auch Pfeil und Bogen. Ganz selten waren Schwerter, die nur von den Städtern hergestellt wurden. Die Nomaden lebten von ihren Herden, sie züchteten Vleehs, Xarrhis und Mandali. Sie waren nicht seßhaft wie die Bathrer, und dieses ständige Wandertum bildete den Hauptunterschied ihrer Kultur zu der der Bathrer. Die Berührungen zwischen ʹden beiden Kulturen liefen immer nach denselben Regeln ab, und es war so gewesen, soweit man zurückdenken konnte. Einiges stimmte nicht mehr ganz. Die Nomaden, die aus den untersten Etagen in die Stadt Bakholom eindrangen, führten teilweise Waffen mit sich, die in ihrer Stärke und Ausführung sofort als fremdartig erkannt wurden. Sie jagten den Bathrern allein durch den Anblick Schrecken ein. Die Bewohner der Stadt drängten sich immer mehr in den Korridoren, Gängen und Höhlenlabyrinthen, die
hinaus ins Freie führten und damit zum Stadttor. Sie achteten teilweise überhaupt nicht auf die Nomaden, und die Nomaden suchten gar keine Konfrontation mit ihnen. Sie warteten, bis die Bewohner fluchtartig ihre Wohnungen oder Höhlenhäuser verlassen hatten. Sie standen draußen und stießen gefährliche Schreie aus, die allein schon ausreichten, um tausend von Bathrern in die Flucht zu schlagen. Sie ließen sie vorbei und hielten höchstens ab und zu mal eine Frau an, wenn diese leuchtenden Schmuck um den Hals oder an den Armen trug. Sobald sich die Häuser geleert hatten, gingen die Nomaden hinein. Sie durchstöberten die. Einrichtung und nahmen das mit, was ihnen brauchbar erschien. Dabei zerstörten sie jedoch nichts, sondern beschränkten sich darauf, Nahrungsmittel und Kleidungsstücke und andere einfache Beute mitzunehmen. »So war es schon immer«, flüsterte ich Chipol zu. »Die Nomaden nehmen nur den Überfluß, sie lassen den Bewohnern genügend zum Leben da. Es gehört zu der Harmonie, die zwischen diesen beiden Volksgruppen auf unbegreifliche Weise existiert hat und trotz des Eingreifens des Erleuchteten noch immer existiert!« Wir beratschlagten, wie wir einen Weg finden könnten, die Bathrer von der Harmlosigkeit der Nomaden zu überzeugen und sie an deren eigentliches Ziel zu erinnern. Die Priester! Bakholom war noch nie heimgesucht worden wie viele andere Städte. Hier waren in der Vergangenheit keine Priester verschwunden, hatte niemand sein Wahakú verloren. Jetzt war es anders, und ich machte Chipol ein Zeichen, mir rascher durch die Wohngänge und die anschließenden Korridore zu folgen. Wir eilten an Nomaden vorbei, die uns keines Blickes würdigten, aber jeden Bathrer, der ihnen begegnete, genau musterten. »Sie suchen nach den weißen Gewändern, Atlan!« Ich nickte und deutete nach vorn, wo eine Traube von Bathrern unschlüssig an einer Brüstung klebte. Zwei Meter darunter, auf dem
Boden einer Halle, hatten mehrere Nomaden zwei Priester gepackt und sich auf die Schultern geladen. Sie machten sich daran, die Halle zu verlassen. »Halt!« brüllte ich laut, daß es von den Wänden dröhnte. Mit der Unterstützung der Einheimischen konnte ich nicht rechnen. Ich drängte mich mühsam zwischen den Bathrern hindurch und sprang über die Brüstung hinab. Zwei schnelle Bewegungen, zwei Griffe, und vier Nomaden sanken ächzend zu Boden und blieben liegen. »Laßt die Priester los!« donnerte ich. »Ihr habt kein Recht, sie zu entführen!« Die Nomaden wichen ein wenig zurück. Sie schienen nicht mit Widerstand gerechnet zu haben, und daß ein Händler sie angriff, machte sie fassungslos. Sie verstanden die Welt nicht mehr, aber sie wußten sich in der Überzahl und fingen sich deshalb schnell wieder. »Verschwinde!« fauchte einer mich an. »Oder ich drehe dir den Kopf auf den Rücken!« »Versuche es!« forderte ich ihn auf. Seine Hände ruckten vor, aber gleichzeitig landete meine Faust an seinem Schädel, daß er die Augen verdrehte und ohne einen Laut zu Boden sank. »Verschwindet!« schrie ich. »Gebt die Priester frei und macht, daß ihr aus der Stadt hinauskommt!« Sie zogen sich noch ein wenig mehr zurück, und ich trat mit dem Rücken zur Brüstung, auf der die Bathrer standen und den Vorgang aus geweiteten Augen verfolgten. »Händler«, flüsterte mir jemand zu. »Es ist nicht richtig, was du tust. Du verrätst deine Zunft!« Das hatte ich schon ein paarmal gehört. Es war mir im Augenblick egal. Ich wollte nicht zulassen, daß der Erleuchtete einen Sieg über Bakholom feierte, durfte gleichzeitig auch mein Inkognito nicht preisgeben. Ich wollte die Spur des Erleuchteten verfolgen, ohne ihn auf mich aufmerksam zu machen. Ich zog es also vor, meine Aktivitäten zu beschränken, und sah zu, wie die Nomaden sich mit den Bewußtlosen aus der Halle
zurückzogen. Von den Priestern war nichts zu sehen, sie hatten sie längst in Sicherheit gebracht. Wir folgten ihnen in Sichtabstand, wichen dann jedoch auf einen anderen Weg aus und fanden uns plötzlich an einer Tür, die ins Freie führte. Das Tageslicht blendete uns. Der Himmel war hell, aber Bakholom lag im Schatten des Steilhangs. Die im Osten dicht über dem Horizont oder vielleicht schon über den Bergspitzen stehende Sonne war von hier aus nicht zu sehen. Wir befanden uns auf einem Erker, der gut dreißig Meter über der eigentlichen Straßenebene der Stadt hing. Unter uns klebten die Häuser mit ihren bemalten Fassaden an der Bergwand, und um sie herum zog sich wie ein dreifacher Ring das weiße Mauerwerk mit dem einzigen Tor. Es stand weit offen, und wir sahen die Ströme von Bathrern, die sich auf der schmalen Straße hinab in das Tal bewegten. Auch in der Steilwand wimmelte es überall von den Bewohnern der Stadt. Sie drängten und schoben sich gegenseitig die Fußpfade hinab, und manchmal klang das grobe Gelächter der Nomaden hinter ihnen her. »Dort!« schrie Chipol. Ich folgte seinem ausgestreckten Arm und sah zwei kräftige Krieger, die einen glatzköpfigen alten Mann trugen. Sie hatten ihm aus Stricken eine primitive Sitzgelegenheit gemacht und hatten ihn zwischen sich hängen. Es war Rungaron. Also hatten sie auch den Ältesten erwischt. Es war nicht zu verhindern, und ich zuckte nur mit den Schultern. Immer wieder leuchteten in der Menge die weißen Gewänder der Priester und ihrer Schüler auf. Die Nomaden nahmen jeden mit, den sie fanden. Die gewöhnlichen Bathrer ließen sie in Ruhe und beachteten sie auch unten im Tal nicht, wo plötzlich ganze Kolonnen reiterloser Vleehs auftauchten, die Tiere, mit denen die Nomaden in der Nacht gekommen waren. Ein paar von ihnen hatten sie aus dem Nachbartal herbeigebracht. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich, wie ein Bathrer auf einem der Fußpfade zu Fall kam. Er stürzte und glitt auf den Steilhang
hinaus, rutschte in die Tiefe und prallte immer wieder mit Artgenossen zusammen, die sich auf den Schleifen und Windungen weiter unten befanden. Niemand fand die Kraft, ihn zu halten, und er stürzte immer schneller. Sein Schicksal war besiegelt, und ein allgemeiner Aufschrei aus dem Tal signalisierte den Zeitpunkt, an dem er unten aufgeschlagen war. Ich sah noch etwas anderes. Mitten zwischen der bunten Pracht der Häuser und den mächtigen Steinfiguren lag der Markt. Die Zelte dort waren abgebrochen, die Karren zu einer Wagenburg zusammengefahren. Ich sah einen mächtigen Händler obenaufstehen und Bannsprüche gegen die Nomaden murmeln. Sie würden kaum helfen, aber ich beschloß, wenigstens ein einziges Mal noch einzugreifen, solange wir in Bakholom waren. Ich hob die Arme und winkte heftig nach unten. Er sah mich nicht, aber jemand machte ihn auf mich aufʹ merksam. Er schien mich zu erkennen, denn er gab mir Zeichen, hinabzukommen. »Laß uns einen Weg zum Markt suchen«, sagte ich zu Chipol, der aus zusammengekniffenen Augen hinab auf das Durcheinander starrte. Seine Pupillen waren kaum zu sehen. »Ich habe Ardechain Zeichen gegeben. Wir werden ihm helfen, seine Waren gegen die Nomaden zu verteidigen!« »Ja. Ich habe auch das Gebäude ausfindig gemacht, durch das ich ins Innere der Stadt gelangt bin, Atlan. Komm!« * Wir hatten Mühe, uns durch die fliehenden Bathrer und die vordringenden Nomaden einen Weg zum Markt zu bahnen. Bewaffnete Torwächter begegneten uns, aber sie waren nicht in der Lage, ihre Waffen gegen die Eindringlinge einzusetzen. Osharnors Affekthandlung mit dem Knüppel bildete eine Ausnahmetat, und wir riefen den Männern zu, sich doch endlich an die Verteidigung
der Stadt zu machen. Sie rannten mal hierhin, mal dorthin, versuchten das große Tor zu schließen und den Durchgang durch die Stadtmauer zu sperren. Es gelang ihnen nicht. Sie wurden einfach überrannt, und je mehr sie sich gegen den Flüchtlingsstrom zur Wehr setzten, desto größer wurde dessen Gewalt. Die Torwächter wurden mitgerissen und befanden sich kurz danach auf der Straße ins Tal, ohne etwas dagegen tun zu können. »Siehst du Taphyro?« Chipol stieß mich in die Seite und deutete an der Herberge vorbei. Die Nomaden brachten den Berater der Ältesten. Er hatte uns von Anfang an mit Mißtrauen behandelt, und das Glück, daß er in unserer unmittelbaren Nähe vorbeigezerrt wurde, ermöglichte es uns, mit ihm zu sprechen. »Siehst du endlich ein, daß ihr auf meine Warnung hättet hören sollen?« fragte ich ihn. Er verfärbte sich, und ich sah, wie er sich gegen die Griffe der Nomaden zur Wehr setzte. Es half ihm nichts. Die Steppenbewohner waren um einiges stärker als er. »Du lügst«, behauptete er. »Du selbst hast sie hereingelassen. Deine Warnung war nur ein Ablenkungsmanöver. Du bist ein böser Geist!« Die Nomaden packten ihn fester und lachten laut. Einer schüttelte ihn und grunzte: »Ruhig, Priester! So ist es recht. Braver Bathrer!« Chipol schickte ihm einen Fluch hinterher. »Die Angst hat dich schon verrückt gemacht, Taphyro«, fügte er hinzu, aber da war der Priester mit seinen Entführern bereits in der Menge verschwunden. Wir setzten unsere Ellenbogen in Bewegung. Eng an den Häuserwänden entlang schoben wir uns gegen den Strom, immer in Gefahr, mitgerissen zu werden. Einmal packte mich eine riesige Hand und zog mich heran. Erst, als ich mit Osharnors Knüppel daraufschlug, ließ sie los. Keine zehn Meter von uns entfernt stand die Wagenburg. Ich
bewunderte die Umsicht, mit der die Händler agiert hatten. Sie alle kamen aus der Ebene und hatten ihre Erfahrungen mit den Nomaden gemacht. Jetzt setzten sie diese in die Tat um, aber der Erfolg sprach nicht unbedingt für sie, denn Ardechains wuchtige Gestalt verschwand plötzlich von dem Karren, und in der Wagenburg begann es zu toben und zu krachen. »Rasch!« zischte ich Chipol zu. Ich drückte ihm den Knüppel in die Hand und setzte zu einem verzweifelten Durchbruch an. Glücklicherweise waren vor mir und neben mir gerade Bathrer, die hastig auswichen. Ich erreichte den ersten Karren und schlüpfte unter die Plane hinein. Dunkel umgab mich, aber aus dem Innern der Wagenburg vernahm ich den Lärm einer Auseinandersetzung. Ich schlug die Plane zur Seite. Die Händler waren in ein Handgemenge mit einer Gruppe von Nomaden verwickelt, und es war nicht möglich herauszufinden, wer die Oberhand gewinnen würde. »Feiert ihr ein Fest?« schrie ich laut. Die Köpfe der Nomaden ruckten herum, aber da hatte ich mich bereits vom Karren abgestoßen und einen der wilden Krieger zu Boden gerissen und außer Gefecht gesetzt. Augenblicklich wandte sich das Kampfgeschehen mir zu, und drei der Eindringlinge warfen sich gemeinsam auf mich. Sie kamen von drei Seiten. Es gelang mir, mich blitzschnell zur vierten Seite hin in Sicherheit zu bringen. Sie krachten mit den Köpfen aneinander und blieben verdattert liegen. Ohne die geringste Kraftanstrengung schickte ich sie ins Reich der Träume. Neben mir krachte es. Einer der Nomaden verdrehte die Augen, stieß einen gurgelnden Seufzer aus und stürzte der Länge nach hin. Ein Knüppel tauchte in meinem Gesichtsfeld auf. Es war Chipol, und der Junge ließ einen markerschütternden Kampfesruf erschallen. »Atlan!« vernahm ich zum ersten Mal Ardechains Stimme. »Kümmert euch um die Waren. Sie nehmen unsere Waren mit!«
Ich blickte mich um, konnte jedoch nichts entdecken. Die Karren waren unberührt, aber vielleicht hatten die Nomaden sie bereits geleert. Es dauerte fünf Minuten, dann hatten wir die Krieger vertrieben. Sie suchten sich andere Plätze, an denen sie ihren Kampfesmut erproben konnten. Die meisten wurden jedoch vom Flüchtlingsstrom der Bathrer mitgerissen. Einige tausend hätten die Stadt bereits verlassen, weitere tausend folgten. Es war, als schickte Bakholom sich an, alle ihre Bewohner auf einmal auszuspucken. Die Händler machten sich daran, ihre Schätze zu untersuchen. Es stellte sich heraus, daß vieles durchwühlt war, jedoch lediglich ein paar Waffen fehlten. Das war bedauerlich, wie Ardechain meinte. Die Waffen waren für die Städte im Norden bestimmt gewesen, wo die Nomaden in letzter Zeit besonders oft gewütet hatten. »Der Verlust ist noch zu verschmerzen«, meinte er dann. »Wir fahren zunächst in Richtung Osten. Wir holen einen neuen Vorrat!« Er tat, als sei es selbstverständlich, daß wir wußten, wo sein Ziel lag. Ich ließ mir nichts anmerken, denn noch immer hatten wir unsere Rolle als Händler zu spielen, wenn es auch manchmal schwer war, sie durchzuhalten. »Was habt ihr da oben in der Stadt gesucht?« wollte der Händler wissen. »Muß ich darüber sprechen?« fragte ich zurück. Ich mußte natürlich nicht, denn der Kodex der Händler war sehr demokratisch aufgebaut. Dennoch konnte ich nicht so tun, als hätte ich die Frage nicht gehört. Aus reiner Höflichkeit war es ratsam, Antwort zu geben. »Wir haben von dort oben nach etwas Ausschau gehalten«, sagte ich. »Es ist nicht gekommen. Dafür sind die Nomaden aus dem Innern der Stadt vorgedrungen und haben Verwirrung gestiftet!« »Hängt es auch mit Waffen zusammen?« forschte Ardechain. »Wartet ihr auf einen Waffenhändler?« Ich spreizte abwehrend die Finger. Fast sah es so aus, als begehrte
er zu wissen, ob wir den Bathrern Waffen liefern wollten, während die Auseinandersetzungen andauerten. So etwas war mit den Gesetzen der Händler unvereinbar. »Keine Waffen«, erwiderte ich. »Wir warten auf einen Freund, mit dem wir uns verabredet hatten. Da wir keine Waren mehr besitzen, wird er uns helfen!« »Ihr bekommt als Dank von uns einen Karren und zwei Xarrhis«, bot Ardechain an. »Denn ihr habt uns sehr geholfen!« Ich ließ meine Augen über die fliehenden Bathrer und die abziehenden Nomaden schweifen. Wir hatten in Bakholom nicht erreicht, was wir hatten erreichen wollen. Das Unternehmen hatte sich zu einem völligen Fehlschlag entwickelt. Wir waren an aer Harmonie gescheitert und hatten die Prächtige und ihre Bewohner unterschätzt. Wenn wir etwas tun konnten, um weiter auf der Spur des Erleuchteten zu bleiben, dann mußten wir den Nomaden folgen und herausfinden, wohin sie die Priester brachten. »Dein Herz quillt über vor Freundlichkeit«, dankte ich. »Aber im Augenblick wäre es wenig sinnvoll. Wir können keinen Karren gebrauchen, und die Nomaden würden ihn uns abnehmen, sobald wir die schützenden Mauern Bakholoms verlassen hätten.« Dies schien er einzusehen, aber er ließ es sich nicht nehmen, ein kleines Festmahl zu veranstalten. Die Nomaden kümmerten sich nicht mehr um die Karren, und die Bathrer hatten alles andere zu tun, als auf die Händler zu achten. Es war verrückt. Da saßen mitten im Chaos ein paar Dutzend Händler, aßen kalten Braten und tranken goldenen Wein. Sie sangen fröhliche Wanderlieder, während um sie herum das Wehgeschrei der Bathrer langsam abebbte. Und als gegen Mittag der Lärm endgültig verstummte und wir hinausgingen und uns umsahen, da war Bakholom verwaist. Keine Bathrerseele hielt sich mehr in der Stadt auf, und die Vleehs im Tal unten waren verschwunden. Die Bewohner hatten sich zwischen den Feldern versammelt oder in enge Taleinschnitte zurückgezogen. Vier Stunden etwa hatte der
Spuk gedauert, und wer jetzt in das Tal hineinritt, hätte sich gewundert, was der Volksauflauf zu bedeuten hatte. »Ardechain«, rief ich laut. »Es ist Zeit zum Aufbruch!« * Noch ehe die Händler ihre Sachen gepackt und die Xarrhis angeschirrt hatten, verabschiedeten wir uns. Wir versprachen, daß wir Ardechain bald in den Osten folgen würden, aber es mußten vorerst leere Worte bleiben. Wir durchquerten unter nochmaligen Dankesrufen der Händler die Stadtmauern und suchten den Stall auf. Unsere Vleehs waren noch da, auch die Waffen und die Vorräte. Wir stiegen auf, lenkten sie durch den Hof und das Tor hinaus auf die enge Straße im Steilhang. Wir ritten hinab und wurden unten von den Bathrern mit scheuen Blicken begleitet. »Die Händler kommen gleich«, rief ich ihnen zu. »Wartet, bis sie abgezogen sind. Dann kehrt in die Stadt zurück. Es sind keine Nomaden mehr da!« Wir schlugen einen schnellen Trab an und durcheilten die Felder, bis wir den Pfad erreichten, den wir gekommen waren. Wir erklommen ihn und blieben oben kurz halten. Wir warfen einen letzten Blick zurück über das Tal. Bakholom glänzte in der Mittagssonne, als sei nichts geschehen. Es gab keinen Hinweis auf den Überfall durch die Nomaden. »Was werden sie tun ohne Priester?« sagte Chipol. Ich zuckte stumm mit den Schultern. Ich dachte an die Bathrer von Dschadhalon, denen wir begegnet waren. Sie hatten ohne ihre Priester den letzten Rest der Harmonie verloren. Sie befanden sich auf einem Rachezug, der konfus und planlos ablief und nichts einbringen konnte. Wann würde in Bakholom dieser Verrohungsprozeß einsetzen? Wir folgten der Spur der Nomaden, die auf dem Geröll und dem
weichen Gras unseres Weges unübersehbar war. Als wir an den Turm kamen, den der Einsiedler bewohnte, fanden wir die Zugbrücke zerstört. Der Einsiedler selbst lag unweit seiner Behausung hinter einem großen Felsblock. Er war tot, ohne Gewaltanwendung gestorben. Chipol suchte noch nach einem Pulsschlag und fand ihn nicht. »Erinnerst du dich, was er beim Abschied sagte?« fragte er mich. Ich nickte. »Er meinte, wir würden uns nicht wiedersehen!« Er mußte bereits sehr schwach gewesen und seinen baldigen Tod geahnt haben. Die Aufregung mit den Nomaden hatte das altersschwache Herz zum Stillstand gebracht. Wir betteten die Leiche in einen Felsenriß und schichteten einen Steinhaufen darüber. Der Einsiedler hatte sich als äußerst begabter Bathrer gezeigt mit einem Wahakú, an das keiner der Priester von Bakholom heranreichte. Nicht einmal Rungaron. Er hatte mich entlarvt und mein Geheimnis mit in den Tod genommen. Wir verließen die Umgebung der Prächtigen endgültig. Wer weiß, vielleicht verschlug uns das Schicksal eines Tages wieder hierhin. Vielleicht gab es neue Abenteuer in Bakholom. Jetzt hatten wir nur ein Ziel. Wir wollten der Spur der Nomaden folgen und endlich den Erleuchteten finden. Alles in mir sehnte sich danach, diese Kreatur endlich zu entlarven. Bei dieser Sehnsucht war ich gleichzeitig von zwiespältigen Gefühlen beherrscht. Irgendwie spürte ich, daß ich mich auf die Versicherungen der Kosmokraten nicht so ohne weiteres verlassen durfte. Vieles hatte sich verändert, seit ich in Manam‐Turu agierte. War die Verbindung zu den Mächten jenseits der Materiequellen abgerissen, oder bestand sie in anderer Form weiter, die ich nicht erkennen konnte? Reichte es ihnen, daß ich den Erleuchteten ungefähr lokalisiert hatte? Fragen über Fragen, von denen ich wußte, daß sie nicht so schnell beantwortet würden.
Auch Chipol beschäftigte sichii Gedanken mit diesen Dingen, und während wir nebeneinander ritten, sprach er mit mir darüber. »Glaubst du, meine Familie befindet sich hier auf Cairon?« wollte er wissen. »Wäre das möglich?« Es war möglich, wenn es sich herausstellte, daß der Erleuchtete hier eine feste Basis eingerichtet hatte. Ich zweifelte jedoch daran. »Schau dort hinüber«, sagte ich. »Da fliegt ein Vogel. Er sieht einem Adler ähnlich. Er markiert uns den Weg, den die Nomaden genommen haben. Der Adler ist so einsam wie wir. Und er weiß nichts, wie wir. Was also willst du ihn fragen?« Chipol wurde ein wenig traurig, aber nach einer Weile faßte er sich und richtete sich ein wenig im Sattel auf. »Soll ich ihn herunterholen?« fragte er lebhaft. »Ich kann dir meine Bogenkunst beweisen!« »Laß ihn«, mahnte ich. »Wenn er der einzige seiner Art ist, den es noch gibt, wird er dir dankbar sein!« Der junge Daila verstand die Anspielung auf seine eigene Situation. Seine engen Augen blitzten kurz auf, dann nickte er langsam. »Aber ich werde sie finden«, flüsterte er. »Und wenn ich ein Leben lang unterwegs bin. Ich werde meine Familie nicht aufgeben!« Tsybaruul hatte den Zenit überschritten und wies uns den Weg zurück in die Ebene, in den Machtbereich der Nomaden. Wir ritten neuen Abenteuern entgegen, und eines unserer Ziele lag bereits jetzt fest. Die Ereignisse vor unserem Ritt nach Bakholom hatten es entschieden. Ich meinte das Tal der Götter, in dem wir uns Antwort auf ein paar unserer Fragen erhofften. ENDE
Wiederum zur Flucht gezwungen, übernehmen Atlan und Chipol, der junge Daila, alsbald die Rolle von Verfolgern. In sicherem Abstand folgen sie den Nomaden, die Bakholom, die Prächtige Stadt, heimgesucht haben. Ihr Weg endet im Tal der Götter … IM TAL DER GÖTTER – so lautet auch der Titel des Atlan‐Bandes 704, der von Peter Griese verfaßt wurde.