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Info: Die Kampfansage der Phantasie an die schnöde Wirklichkeit ! In der Halle der Schläfer ruhen sieben Personen und erschaffen mit ihrem Traumbewusstsein die Realität. Doch der Schein der friedlichen Idylle trügt: Wissenschaftler wollen das geheimnis des Phänomens lüften und bringen einen gigantischen Wecker in Anschlag. Sollten die Schläfer erwachen, würde sich das Traumland in nichts auflösen... Ein wunderbarer Roman ! "Alice im Wunderland geht mit Gulliver auf Reisen und landet auf der Scheibenwelt ...“ Locus
Die Halle der Schläfer ist eine bizarrvergnügliche Reise durch eine fantastische Welt, eine Mischung aus den Xanth-Romanen von Piers Anthony und der Unendlichen Geschichte.
Scan, Korrektur, Layout by Larentia Februar 2003 Diese digitale Kopie ist NICHT für den Verkauf bestimmt !
JODY LYNN NYE DIE HALLE DER SCHLÄFER Roman Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/9061 Titel der Originalausgabe WAKING IN DREAMLAND
Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Joachim Pente Das Umschlagbild malte Jody A. Lee/Agentur Schluck Umwelthinweis: Dieses Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt. 2. Auflage Deutsche Erstausgabe 3/2001 Redaktion: Joern Rauser Copyright © 1998 by Jody Lynn Nye Dieses Werk wurde vermittelt durch die literarische Agentur Thomas Schluck GmbH, Garbsen Copyright © 2001 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München, http://www.heyne.de Printed in Germany 2001 Umschlagbild: Nele Schütz Design, München Technische Betreuung: M. Spinola Satz: Schaber Satz- und Datentechnik, Wels Druck und Bindung: Eisnerdruck, Berlin
ISBN 3-453-17878-5
1. KAPITEL Roan flog hoch über das Traumland hinweg, die Arme in den Winden ausgebreitet. Er genoss das Gefühl der kühlen Luft, die ihm über das Gesicht strich und seinen langen Körper umhüllte wie ein sanftes Daunenkissen. Roan schwelgte im Hochgefühl des Höhenflugs. Tausende von Fuß unter ihm lag die Landschaft zu einem prachtvollen Panorama ausgebreitet. Hinunterschauen zu können auf die sanft gewellten grünen Weiten, verlieh ihm das Gefühl, ein Engel zu sein - oder ein Halbgott. Er atmete in der klaren Luft, leicht wie das Licht, berauschend wie Mondenschein. Streifen graubraunen Waldes machten dem frischen, zartblassen Gold von Getreidefeldern Platz. Roan fühlte, dass die Kälte ihn wie eine Feder kitzelte, als er über das Kataleptengebirge hinwegflog, das zweithöchste Massiv im Traumland - nach den großen Mysterien, die den Kontinent ringförmig umschlossen. Die Katalepten waren dreifarbig: unter den weißen Schneekoppen kam das Braungelb der Hänge, das nach unten hin immer heller wurde und sich schließlich in ein sattes, leuchtendes Grün verwandelte, das sich bis zu ihrem Fuße hinunterzog und schließlich in die windgeschützte Ebene der zentralen Provinz Celestia überging, in der die Hauptstadt Mnemosyne lag. Die Katalepten teilten sich, um dem Lullayflusse Passage zu gewähren, dem gebieterischen Strom, der sich weigerte, Hemmnisse in seinem Lauf zu dulden. Beide Seiten des breiten, geraden silbernen Bandes waren dicht gesäumt von Dörfern, die aus der Höhe anmuteten wie der funkelnde Juwelenbesatz auf einem Silberreif. Fünfzehnhundert Meilen südlich von Roan befand sich die Grenze der nächstgelegenen Provinz, Somnus. Nachdem er diesen Weg auf der Hinreise zu Fuß zurückgelegt hatte - und nicht nur auf dieser, sondern auf vielen Hin- und
Rückreisen quer durch das Traumland im Auftrage des Königs, genoss er es in vollen Zügen, dass er nun so leicht wie ein Vogel darüber hinwegfliegen konnte. Roan machte einen Schwenk und folgte dem Lullay. Er jauchzte vor Freude, als er den geschwungenen Haarstrich-Fuß des S in Celestia wiedersah, seiner Heimatprovinz. Er war wieder im Zentrum der Welt. Er war fast zu Hause. Der Lullay bildete einen Teil der Grenze zwischen Celestia und den Provinzen, die es umgaben. Der große Strom wand sich von seiner Quelle in der Gebirgskette an der nördlichen Grenze des Traumlandes aus spiralförmig herein und vollführte eineinhalb Kehren, bis er sich eng um Celestia wand, die Zentralprovinz und Kapitale, die er auf einem geraden Pfad von Süden her gewann. In der Ferne deutete der Fluss auf einen hellen Fleck genau in der Mitte des Traumlandes, der wie ein Diamant glänzte und funkelte. Es war der Nachtlilien-See, der gleich nördlich des Schlosses der Träume lag. Auf beiden Seiten des Lullays, hier und an der Grenze nach Somnus, überspannten zahllose Brücken aller Art die tiefe Schlucht. Sie wurden täglich von Reisenden benutzt, waren aber hauptsächlich als Fluchtweg von Provinz zu Provinz für den Fall einer Naturkatastrophe oder eines Umbruches gebaut worden. Ähnliche Brücken überspannten auch die tiefen Abgründe, die die Grenzen zwischen jeder der anderen Provinzen im Traumland markierten, wo jedes der sieben einzelnen Königreiche von einem anderen Schläfer geträumt wurde. Das große Kollektive Unbewusste verband sie - wie die Eisenbahnbrücken - alle miteinander. Von all den Schöpferischen, deren Einflüsse im Traumland spürbar waren, waren die sieben Schläfer die wichtigsten. Roan hatte im Geschichtsunterricht in der Schule gut aufgepasst. Die Träume der Schläfer bildeten die Grundlage der sieben Provinzen des Traumlandes, in denen alle anderen träumenden Geister zusammenkamen. Keiner kannte die Namen der
Sieben. Alles, was über die physische Welt, in der Sie ihr Wachleben führten, gesammelt und in Erfahrung gebracht werden konnte, geschah durch die Bilder und Gegenstände, die im Traumland widergespiegelt und zur Erscheinung gebracht wurden, und auch die waren gefärbt von der unterschiedlichen Wahrnehmung eines jeden Schläfers. Über die Jahrhunderte hinweg hatten traumländische Philosophen und Akademiker darüber spekuliert, was real war und was Halluzination, Fantasie oder Hoffnung. Es galt allgemein als gesicherte Erkenntnis, dass alles, was in allen sieben Provinzen erschien, wahrscheinlich in der Wachwelt existierte. Fahrräder, Pferde und Züge waren real. Kleider und Schuhe und Häuser waren Tatsachen. Fernsehen schien zu unwahrscheinlich, um real zu sein, obwohl Roan von Tag zu Tag mehr Antennen aus den Dächern sprießen sah. Wie alle anderen Innovationen in der Wachwelt wurden derlei Dinge nur dann im Traumland zu etwas Alltäglichem, wenn sie dem Kollektiven Unbewussten geläufig waren. Die großen Sieben waren im Verlaufe der Geschichte nicht dieselben geblieben, so viel wusste er. In regelmäßigen Abständen kam es zu einer gewaltigen Umwälzung, dem so genannten Umbruch, der den Abgang eines der Schläfer und die Ankunft eines anderen, der seinen Platz einnehmen würde, ankündigte. Roan wusste nicht, ob diese Umbrüche geschahen, weil die Schläfer starben, oder ob sie aufwachten, oder ob sie fanden, dass es Zeit war, einen anderen Einfluss das Traumland gestalten zu lassen. Selbst die königlichen Ministerien für Geschichte und Kontinuität hatten sich dazu noch keine endgültige Meinung gebildet. In der Vergangenheit, wusste Roan, hatte es Provinzen gegeben, die, verglich man sie mit anderen, verzerrt erschienen. Die gegenwärtigen Sieben waren von solchem Geist, dass ihre Träume von Schönheit und Ebenmaß erfüllt waren. Eine Windbö schlug ihm ins Gesicht, und sein Magen schoss
ihm in den Hals, als das Windkissen, das ihn trug, sich unter ihm teilte und ihn wie einen Stein gen Erdboden fallen ließ. Roan ruderte mit den Armen, verzweifelt nach einem Halt suchend. Er fuhr Speichen seines eigenen Einflusses in den Luftstoff aus, um seinen Fall abzufangen, und nach einem kurzen, atemlosen Moment konnte er seinen Flug wieder stabilisieren. Flach lag er auf dem Kissen aus Luft, schwer atmend. Er war bloß ein paar hundert Fuß tief gefallen. Wie lange dieser wunderbare Flug dauern würde, wusste er nicht, aber er hoffte, er würde den größten Teil des Weges bis zur Hauptstadt zurückgelegt haben, bevor er landete. Flugträume waren ein seltener Genuss, aber sie waren so riskant und unsicher. Er schaute nach unten, entschlossen, dieses seltene Abenteuer zu genießen, solange es irgend ging, und die Orientierung zu behalten, sollte er gezwungen sein zu landen. Die weiten grünen Ebenen Celestias teilten sich unter ihm zu Wäldern und Feldern, Hügeln und Marschen, Städten und Seen. Ein Netz von engen weißen Straßen lag wie eingeätzt auf dem Terrain, sich liebevoll um die Füße der Hügel schlängelnd, um dann seine weiten Maschen über sanft gewellte grüne Wiesen zu werfen. Die silbern glänzenden Zwillingsbänder der Eisenbahnschienen folgten der Krümmung des Landes in einem Abstand zu den Straßen, der etwa dreißig Schritte betrug. Roan schätzte, dass er nicht weit von Nod entfernt war, einer Kleinstadt südlich von Mnemosyne. Er breitete die Arme auf dem Windpolster aus und flehte die Schläfer an, der Einfluss möge ihn den ganzen Weg bis nach Hause tragen. Endlich, endlich konnte er die hohen weißen Türme des Traumschlosses ausmachen, Symbol des Kollektiven Unbewussten aller Wesen. Der Palast glänzte in der Sonne über dem weit ausgedehnten, geschäftigen Farbenmosaik, das Mnemosyne hieß. Roan empfand ein Gefühl heißer Zuneigung für seine Stadt. Er liebte es, die Wildnis des Traumlandes zu
erkunden, aber er war immer wieder froh, wenn er nach Hause zurückkam, in das brodelnde Getriebe von einer Million Menschen, die Seite an Seite lebten. Er hatte gute Nachrichten für den König. Er musste nur noch den Albtraumwald überqueren, dann war er daheim und konnte sie überbringen. Roan fühlte das wohlvertraute Unbehagen, als das Grün sich unter ihm langsam in ein kränkliches Grau verwandelte. Als er die verkümmerten, verkrüppelten Bäume überflog, schauderte er innerlich ein wenig, als könne der fast greifbare Ansteckungsstoff der Dunkelheit, den der Wald absonderte, bis zu ihm heraufreichen. Seit seiner Kindheit hatte er Angst vor dem Albtraumwald. Dieser war ebenso sehr ein Geisteszustand wie eine physische Wesenheit. Ein Schläfer schuf zwar die grundlegende Struktur einer Provinz, aber das Land wurde durch und durch beeinflusst von den Träumen zahlloser anderer Geister aus der Wachwelt, als fügten sie diesem riesigen Wandbehang ihre Stickereien hinzu. Die geringeren Schläfer schufen Menschen, Tiere und Dinge, die im Kollektiven Unbewussten miteinander zusammenwirkten. Ihre Ängste schienen sich an grauen Orten wie diesem zu versammeln und ihn mit Furcht selbst für die eigentlichen Bewohner des Traumlandes zu erfüllen. Als Kinder hatten Roan und seine Freunde sich einander als Mutprobe aufgegeben, den Albtraumwald zu betreten und sich seinen schattenhaften Drohungen zu stellen. Er erinnerte sich an eine Neumondnacht, in der er und zwei gleichermaßen kleine Freunde sich bangen Herzens hineingewagt hatten - und wie schnell sie wieder herausgerannt gekommen waren, mit den heulenden Ängsten von Millionen geplagter Geister auf den Fersen. Roan hatte sich dabei nicht umgedreht. Schon die pure Vorstellung, verfolgt zu werden, hatte genügt, um ihm eine Scheißangst einzujagen. Jetzt, aus luftiger Höhe, erschien ihm der Albtraumwald immer noch genauso riesig und furchterregend wie damals. Fast schien es ihm sogar, als sei er
noch größer, noch bedrohlicher. Welch gütige Wirkkraft es auch immer sein mochte, die ihn jetzt durch den Äther trug, Roan beeinflusste sie mit all seiner Willenskraft, ihn schleunigst über den Albtraumwald hinweg und von ihm fort zu tragen. Er wollte keinem der Albträume seiner Kindheit wiederbegegnen. Als hätte sie seine Gedanken gelesen, reckte sich eine krallenbewehrte Skeletthand aus schmutziggrünem Nebel aus dem tausend Fuß unter ihm liegenden Wald empor und wuchs ihm entgegen. Mit wild klopfendem Herzen wälzte sich Roan auf seinem Luftkissen auf die Seite, weg von den gierig ausgestreckten Knochenfingern. Wer weiß, welches Unheil sie anrichten konnten, wenn sie ihn berührten? Die wirbelnde Nebelfahne schoss hoch wie eine Fontäne und verfehlte ihn um eine Handbreite. Mit einem Zischen schloss sich die leere Klaue um sich selbst, verlor ihre Gestalt und löste sich in Fetzen hässlichen graugrünen Dampfes auf. Roan ließ die Luft entweichen, die er angehalten hatte, und flog geradewegs in einen Einfluss der Luft vor ihm, den zu erspüren er versäumt hatte. Unversehens fand er sich inmitten eines Schwarms schnatternder Sorgenvögel wieder. Ihre schrillen Schreie drangen ihm in die Ohren, die Zweifel, die er ohnehin schon an seiner nebulösen Fortbewegungsmethode hatte, noch verstärkend. »Oh, ist es nicht hoch hier oben?«, klagten die plumpen grauen Vögel. »Wir kommen zu spät!« »Es wird gleich anfangen zu regnen, das weiß ich einfach!« »Ich frage mich, ob wir genug Luft kriegen.« »Die Luft ist ohnehin so verschmutzt, sie wird uns ganz bestimmt umbringen.« »Das Wasser ist voller Keime.« »Oh! Schaut mal da!«
Dieser letzte, von hinten kommende Ruf erschreckte Roan so sehr, dass er die Konzentration verlor. Die unsichtbare Plattform aus Luft, die ihn sicher über tausend Meilen getragen hatte, gab plötzlich unter ihm nach. Roan hangelte nach irgendeinem festen Halt, doch seine Hände schlossen sich um Leere. Die Sorgenvögel zerstreuten sich; sie wichen ihm aus, als er aus ihrer Mitte fiel. Bloß nicht in Panik geraten! befahl er sich, während der Wind an ihm vorbeirauschte. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, und er hatte Mühe zu schlucken, als der Wind ihm den Atem raubte. Denk nach! Sein Zylinderhut flog davon und seine seidene Krawatte legte sich flatternd über seinen Mund und seine Nase. Er schob sie mit der Hand beiseite. Er zwang sich dazu, sich zu konzentrieren, aber das war schwierig angesichts des Bodens, der mit beängstigender Geschwindigkeit auf ihn zugerast kam. Leichter als Luft, dachte er verzweifelt und sog gierig Sauerstoff in sich hinein. Ich bin leichter als Luft. Er streckte sich, breitete die Arme aus, parallel zur Landschaft und versuchte wieder an Höhe zu gewinnen. Roan verfügte über einen beträchtlichen natürlichen eigenen Einfluss, und er setzte alles ein, was er besaß, um sein Leben zu retten. Es nützte nichts. Die lokale Einflusswolke hinderte ihn daran, wieder zu steigen, und der Schläfer, der ihn träumte, musste in die andere Richtung blicken. Wenn er aus einer solchen Höhe auf den Boden aufschlug, würde der Fall tödlich ausgehen. »Wach auf!«, schrie er über den pfeifenden Wind, ein Stoßgebet aussendend, dass irgendein Schläfer ihn hören möge. »Wach auf! Ich falle!« Er sauste abwärts durch den klaren blauen Himmel, wie ein Blatt durch die Luft wirbelnd und sich überschlagend. Das muss sich doch abwenden lassen, dachte Roan und biss die Zähne gegen die in ihm aufsteigende Übelkeit zusammen. Lass
dir was einfallen! Die Schläfer halfen dem, der sich selbst half. Er versuchte, einen Fallschirm zu erschaffen, indem er sich den weißen Baldachin über seinem Kopf vorstellte, aber keine tröstenden Gurte erschienen um seinen Brustkorb, um seinen flatternden Mantel an seinem Körper festzuhalten. Denk nach! Rettung durch irgendeine Art wohltätiger geflügelter Kreaturen? Engel, gefiederte Schlangen, Greife, vielleicht sogar Harpyien! Doch kein geflügeltes Wesen tauchte am Firmament auf. Selbst die Sorgenvögel waren in die nächste Provinz geflüchtet, als er vor Schreck aufgeschrien hatte. Himmelshaken? dachte er, jetzt von Verzweiflung gepackt. Er zog an nahen Einflüssen und fühlte, dass sie wie Stahlbänder widerstanden. Die spielzeugähnlichen Gebäude des Schlosses und der Stadt drumherum wurden immer größer. Konnte irgend jemand dort ihn sehen? Aber niemand war nahe genug, um ihn retten zu können. Er würde zerplatzen und sich über die ganze Landschaft verteilen. Er hatte jetzt nur noch wenige Ellen zu fallen. Er konnte nicht auf Rettung hoffen. Selbst die Luft fühlte sich so nah über dem Erdboden anders an: schwerer, mit einem Geruch von Stein und Erde behaftet. Roan konzentrierte sich auf diese Wahrnehmungen, versuchte sogar, sie zu genießen. Es würden die letzten sein, die er je haben würde. Plötzlich spürte er, wie der Widerstand nachgab und die Einflüsse um ihn herum in einer fast mit den Händen zu greifenden Wahrnehmung auf ihn einstürmten. Staunend schaute er zu, wie zwei riesige, unstoffliche Hände aus hellgrauem Rauch erwuchsen und sich zu einer Schale unter ihm formten. Weniger als zehn Ellen über dem Erdboden purzelte Roan in die riesigen, schwammigen Hände und wurde sanft abgebremst. Er schluckte, um die Ohren vom Druck zu befreien, und ließ sich japsend auf den Rücken sinken, auf die kissenartige Nebelmasse starrend, während die Hände ihn vorsichtig zu Boden senkten. Dies war mehr als ein glücklicher
Umstand. Es sprach für ein Eingreifen seitens eines der großen Schläfer selbst. Er sollte wohl doch noch nicht sterben. Er atmete keuchend, das Herz klopfte ihm bis zum Halse. Als er landete, stellten ihn die Hände aufrecht auf die Füße, tätschelten ihm den Kopf und strichen behutsam mit den Fingerspitzen seine Kleider glatt. Eine Hand hob vorsichtig mit Daumen und Zeigefinger seinen Zylinderhut auf und hielt ihn ihm hin. »Danke«, sagte Roan aufrichtig, während die Wolken ihn dergestalt bedienten. Er hatte keine Ahnung, ob sie ihn hören oder verstehen konnten. »Dank den Schläfern.« Eine Hand formte Daumen und Zeigefinger zu einem >Okay... es sei denn, sie hatten Wachen auf dem Pfad zurückgelassen< blieb ungedacht, als etwas Schweres von hinten auf ihn fiel. Roan stürzte auf Hände und Knie. Er sah die Falle erst, als er schon hineingestolpert war.
7. KAPITEL Roan empfand ein gewisses Maß an Bewunderung für Brom. Wieder einmal hatte der Oberste Wissenschaftler bewiesen, dass er zwei Schritte weiter als alle anderen gedacht hatte. Für den Fall, dass einer es schaffen sollte, die Täuschung mit dem Labyrinth zu durchschauen, lag bereits ein Reserveplan vor. Die Wissenschaftler hatten sich gut vorbereitet. Sie mussten Roan beobachtet haben, seit er auf der Kuppe der letzten Düne aufgetaucht war. Ein schwerer Arm legte sich um Roans Kehle und zog ihn hoch auf die Beine. Ein zweiter Arm schlang sich um seinen Hals. Roan versuchte nach seinem unsichtbaren Peiniger zu greifen, aber der schien so groß und so stark wie eine Wand zu sein. Der Sandboden war rutschig, und Roans Bemühungen, sich aus dem eisernen Würgegriff zu befreien, endeten darin, dass er sich noch weiter strangulierte, als ihm die Füße unter dem Leib weggekickt wurden. Eine zweite riesenhafte Gestalt nahm in dem flimmernden Nichts vor ihm Gestalt an. Zu wie vielen waren sie? Er blinzelte, versuchte, um die Ränder des wabernden Geflimmers herumzuspähen. Gut, nur zwei also. Der zweite Mann, schmaler und kleiner als der Erste, erschien und zielte mit der Faust auf Roans Magengrube. Roan zog blitzschnell die Beine an, sein ganzes Gewicht auf seine Arme und seinen Hals verlagernd, was zwar höllisch wehtat, jedoch zugleich den Effekt hatte, dass er das Gesicht des Mannes, der ihn von hinten würgte, nach unten und in die Bahn der vorwärts schnellenden Faust zog. Der große Mann taumelte und knurrte eine Verwünschung. Roan riss seinen Kopf ruckartig hoch und die Ellenbogen zurück und erwischte seinen Opponenten gleichzeitig am Kinn und an den Rippen. Der Mann japste scharf auf, als ihm die Luft aus dem Brustkorb gehauen wurde, ließ Roan los - und fiel auf Roan. Beide
landeten im Sand. Der zweite Angreifer wollte Roan einen Tritt gegen den Kopf versetzen, aber Roan hatte den Sand ausreichend aufgeweicht, um hindurchschwimmen zu können, und kraulte sich hurtig aus der unmittelbaren Gefahrenzone heraus zu einer günstigeren Stellung mehrere Schritte von dem mysteriösen Geflimmere entfernt. Er zog sein Taschenmesser hervor und entfaltete es zu einem acht Fuß langen Kampfstecken. Mit diesem Stecken in den Händen nahm er eine Verteidigungsstellung ein und wartete auf den Angriff der beiden. Der erste Mann rappelte sich mühsam auf. Der zweite, kleinere, huschte hurtig zur Seite und versuchte, hinter den Rücken Roans zu gelangen. Sie schienen beide geübte Kämpfer zu sein. Er durfte sie nicht unterschätzen. Roan veränderte seine Position so, dass er die hohe Düne im Rücken hatte. Er drehte sich blitzschnell auf dem Absatz und wieder zurück, um beide Angreifer im Auge zu behalten. Würde er es schaffen, an ihnen vorbeizukommen? Er war leichter als beide. Vielleicht wäre es das Beste, wenn er zur Kuppe der Düne hinauf rennen und um Hilfe winken würde. Roan bewegte sich seitlich den Hang hinauf - und geriet in ein Einflussfeld. Es fühlte sich ein bisschen klebrig an, wie wachsartiger Dampf. Die Wachen waren nicht zurückgelassen worden - sie waren mit der Wissenschafts-Gruppe mitgewandert. Dies war ein Teil der Falte in der Realität, in der die anderen sich versteckten. Roan tastete mit einer Hand nach dem Rand der Empfindung und folgte ihr immer weiter mit einem wachsenden Gefühl von Panik. Es gab keinen Rand. Die wächserne Empfindung hatte sich um ihn herumgelegt. Er versuchte sie zu durchstoßen und prallte zurück, als wäre er gegen ein riesiges Gummiband gerannt.
»Komm her, du, hol dir deine Medizin«, rief der zweite Mann, mit beiden Händen winkend. Er hatte eine schnarrende Stimme und ein sadistisches Glitzern in seinen kleinen Augen. »Seid ihr konzessionierte Gesundheitspraktiker in einem anerkannten PPO, HMO oder einer anderen anerkannten regenschirmgemanagten Gesundheitseinrichtung?«, fragte Roan, Begriffe ausstoßend, die er in einem Bericht über eine Halluzination gelesen hatte, die ein Bürger von Mnemosyne unlängst gehabt hatte. Er trat seitlich von der Anhöhe herunter und begann sich hin und her zu bewegen, seinen Kampfstecken schwenkend. »Häh?«, fragte der zweite Mann und blinzelte ihn überrascht an. Auch der Erste machte einen beunruhigten Eindruck, aber er hatte sein Gesicht besser unter Kontrolle. »Du behältst deine Bemerkungen besser für dich«, blaffte er Roan an. Ihre Deckung war für einen Augenblick gefallen, und Roan erfuhr, was er bereits angenommen hatte. Diese Männer waren kein Teil des Zauberkreises. Nicht ein Quentchen von dem Einfluss, der ihn gefangenhielt, kam von ihnen. Sie waren nicht Herr ihres eigenen Schicksals. Nach langjähriger Erfahrung hatte Roan ein Gespür für Kraftquellen entwickelt. Diese zwei Männer waren kräftig - und sonst nichts. Sie waren die erste Energiesparmaßnahme, die Brom anwendete, und die erste Barriere, die Roan niederreißen musste. Der erste Mann machte einen Ausfallschritt nach ihm und Roan ließ den Stecken mit den Händen kreisen und zog dem Angreifer kräftig eins über die Schulter. Der Kerl jaulte auf und sprang zurück. Der zweite Mann versuchte die Gelegenheit zu nutzen und hinter Roan zu gelangen, doch der stellte sich prompt mit dem Rücken gege n die unsichtbare Wand. Sie blieb fest, was bedeutete, dass die Wissenschaftler, die sich hinter ihr verschanzt hielten, nicht vorhatten, herauszukommen und ihren
gedungenen Schlägern zu helfen. Das schützte Roan ebenso wie sie selbst und er zog Nutzen aus dem Schild, den ihre Feigheit ihm bot. Die Realität im Innern des klebrigen Kreises war frei von dem wachsartigen Gefühl. Roan raffte seinen eigenen Willen zusammen. Er würde seinen Kontrahenten kein Leid zufügen, wenn er es vermeiden konnte. Er strengte seine Fantasie an, auf dass sie ihm eine physische Gestalt präsentiere, die ihn nicht angreifen konnte, aber trotzdem lebendig und mit Bewusstsein ausgestattet war. Aha! dachte er mit einem Gefühl des Triumphes. Was bot sich in diesem Fall Besseres an? Die Materie um ihn herum fühlte sich biegsam und plastisch an und er weitete die Empfindung nach außen aus, bis sie die beiden Männer berührte und umfing. Der natürliche Widerstand von allem und jedem gegen eine Veränderung, die nicht der Laune der Schläfer unterworfen war, manifestierte sich, und die Männer jaulten und wanden sich, während sie sich verwandelten. Sie schlugen Wurzeln und wuchsen, dünne, sich immer weiter verzweigende Arme in die Höhe reckend. Ihre Haut wurde dunkler und rauher. Einen Augenblick später stand Roan allein in der Wüste - mit zwei hübsch belaubten Eichenbäumen. Er ließ seinen Stecken sinken und seufzte erleichtert. Die Veränderung war schmerzlos, sollte aber für eine Weile halten. Nun galt es, sich die feigen Wissenschaftler vorzunehmen, die sich immer noch in der Wolke versteckten. Er stocherte mit dem Zeigefinger gegen die wachsartige Barriere. Eine Reaktion wie die auf einen Stromschlag schleuderte ihn zurück und gegen die gegenüberliegende Wand. Roan fand stolpernd sein Gleichgewicht wieder und hob erneut seinen Stecken. Die Bäume waren noch immer dabei, sich zu verändern, doch statt zu wachsen, wurden sie wieder kürzer und dicker. Die Raufbolde verwandelten sich in menschliche
Wesen zurück. So rasch? Ein Gesicht erschien auf einem der Stämme. Als die harte Rinde weicher wurde, sah es ihn und grinste höhnisch. Der andere bekam Arme und Beine, mit denen er seine fußähnlichen Wurzeln aus dem Boden zog. Dergestalt befreit, kam er langsam und drohend auf Roan zugestapft. Roan wich einem Ast aus, der ihm an die Gurgel fahren wollte und duckte sich hinter den anderen Baum-Mann. Ihr Maß an Vernunft musste ziemlich hoch sein. Auch wenn sie nicht imstande waren, die sie umgebende Realität zu kontrollieren, so hatten sie doch ihre persönliche Identität im Griff, was bedeutete, dass Roan sie nicht für längere Zeit in etwas anderes würde verwandeln können. Er würde diesen Fehler kein zweites Mal machen. Einmal mehr war er beeindruckt von dem hohen Aufwand an Planung, den Brom in seine Mission gesteckt hatte. Roan flitzte hin und her und vor und zurück, während die beiden Baum-Männer mit hölzernen Bewegungen um ihn herumtappten und versuchten, ihn mit ungeschickten Asthänden zu erhäschen. Er brauchte ein Ablenkungsmanöver, um eine Chance zu bekommen, sein Gefängnis zu studieren und einen Ausgang zu finden. Sich selbst konnte er nicht verändern, und jede Veränderung, die er über seine Kontrahenten warf, würde nicht lange halten. Aber vielleicht konnte er sie zum Narren halten. Roan beschwor einen Miniatursandsturm herauf, bis seine Gegner ihn nicht mehr klar erkennen konnten und baute sich dann eine Vermummung. Die beiden anderen Gestalten fuhren fort zu schrumpfen und dicker zu werden. Er formte sich aus dem wirbelnden Sand eine baumähnliche Hülle und deutete mit jeweils einem Ast auf die Gesichter der anderen. »Mach zu!«, rief er. »Pack ihn dir! Ich helf dir!« In dem wirbelnden Staub konnte jeder der beiden Raufbolde eine Baum- und eine Mann-Gestalt erkennen. Natürlich
stürzten sich beide auf die Mann-Gestalt, die sie jeweils sehen konnten und im Nu war die schönste Keilerei zwischen den beiden im Gange. Roan grinste sich eins. Sie mochten sich vielleicht in Fleisch zurückverwandeln, aber ihr Grips war noch immer aus Holz. Roan nutzte die Gelegenheit, um sich wieder in den Sand hinein und unter der Wand, die ihn umgab, hindurch zu wühlen. Er kam hinter einer Anzahl von Leuten in weißblauen Laborkitteln heraus, die einander an den Händen haltend im Kreis um die beiden Kombattanten und die Sandhülle standen, die er zurückgelassen hatte. Die meisten der Lehrlinge schienen unter fünfundzwanzig zu sein, aber sie sahen so erschöpft aus, dass sie gut und gerne doppelt so alt hätten sein können. »Nein, ihr Idioten!«, schrie einer der Adepten. »Er ist da! In dem Baum!« »Nicht mehr«, sagte Roan. Alle Adepten zuckten zusammen, als sie seine Stimme hörten. Der ihm am nächsten Stehende wandte den Blick nach hinten und sah ihn an. Seine Augen wurden groß und er glotzte wie ein Fisch. »Tun Sie mir nichts!«, winselte er. Er war sehr dünn und hohlwangig, und seine weit aufgerissenen, glotzenden Augen wirkten rotgerändert. Roan manifestierte einen Windbeutel, den er dem anderen mit einer flinken, geübten Handbewegung ins Gesicht klatschte. Die matschige Füllung verflüchtigte sich in Sekundenschnelle, aber die überraschende Bewegung hatte den Effekt, dass der Mann die Hände der anderen losließ und sich die Hände vors Gesicht schlug. Die magische Unsichtbarkeit erlosch sofort und der Sandsturm legte sich. Die Raufbolde, die inmitten des Kreises standen und sich gegenseitig an der Gurgel gepackt hielten, glotzten sich blöde an. In der befreiten,
klaren Luft baute Roan Einfluss auf und begrub die beiden bis zum Hals im Sand. »Ich werde keinem etwas zuleide tun«, sagte Roan mit fester Stimme und wandte sich den Lehrlingen zu. »So, und jetzt lasst euch los! Auseinander mit euch, alle miteinander!« Seinen Stecken als Zeigestock nutzend, wies er sie an, sich in einer Reihe aufzustellen, und zwar in einem solchen Abstand zueinander, dass sie sich nicht berühren konnten. »So, und jetzt warten wir hier, bis das Kontingent aus dem Palast eintrifft.« Die meisten der Männer und Frauen stellten sich brav dort hin, wohin er sie dirigierte, doch der Hagere, der auch den schmucksten Kittel von allen trug, rührte sich nicht von der Stelle. Roan brauchte einen Augenblick, um in ihm Brom zu erkennen. Der Oberste Wissenschaftler hatte seine elegante Körperfülle für die Reise abgelegt. Der freundliche, unterwürfige Gesichtsausdruck, den er bei Hofe zur Schau getragen hatte, war verschwunden. An seiner Statt bemerkte Roan kalte Rücksichtslosigkeit und Selbstsicherheit. Die Ränder der Realität selbst zitterten, wo sie ihn berührten. »O nein«, sagte Brom mit einem unbekümmerten Lächeln, das im Verein mit der Kälte in seinen blauen Augen etwas Furchterregendes hatte. »Sie werden uns nicht aufhalten, junger Mann.« Roan wog den Stecken. »Ich muss es und ich werde es. Wo ist der WECKER?« »Weg.« Brom lachte, ein sprödes Lachen, das die Luft um sie herum gefrieren machte. Für einen Augenblick verschwand die Wüstenhitze und Roan lief ein Frösteln über den Rücken. »Nein, Sie werden uns nicht aufhalten.« Brom setzte sich auf einen goldenen Stuhl, der plötzlich hinter ihm Gestalt angenommen hatte. Der Stuhl erinnerte Roan an den Königsthron in Mnemosyne, mit dem Unterschied, dass dieser größer und klinisch glatt war. Auch fiel ihm auf, dass ein Teil
der Dünen und Pflanzen um sie herum plötzlich fehlte, so als hätte ein gigantischer Mund ein Riesenstück aus der Landschaft herausgebissen. Brom scherte sich nicht darum, was er veränderte oder zerstörte, solange er bekam, was er wollte. Der Sand rieselte in die Lücken und füllte sie aus, so wie Blut eine Wunde ausfüllt. »Das war schlau von Ihnen, meine Männer zu verwirren. Ich hätte nicht gedacht, dass Sie die Kraft besäßen, sie zu verändern«, sagte der Oberste Wissenschaftler und musterte Roan mit einem schiefen Lächeln. »Bäume. Das war barmherzig. Ein Fehler. Barmherzigkeit kostet Zeit. Ich an Ihrer Stelle hätte sie so zurückgelassen, dass sie mir nicht noch einmal hätten folgen können. So!« Er drückte die Fingerspitzen so aufeinander, dass seine Hände einen Ball bildeten und den warf er auf Roan. Ein Energiestoß traf Roan und ließ ihn zurücktaumeln. Er hörte ein summendes Knistern in den Ohren und fühlte ein Kribbeln am ganzen Körper. Brom wollte seine Überlegenheit demonstrieren, indem er ihn veränderte. Zuerst war Roan wütend, und dann fragte er sich, ob dieser arrogante Mensch tatsächlich etwas konnte, was noch nie jemand vermocht hatte. Er wünschte sich von ganzem Herzen, dass Brom es schaffte. Aber er schaffte es nicht, und der erstaunte Ausdruck in den Augen des Wissenschaftlers zeigte ihm, dass er damit nicht gerechnet hatte. Brom hielt inne, um zu überlegen. Roan nutzte diesen kurzen Augenblick der Untätigkeit, um Broms goldenen Stuhl in Nichts zu verwandeln, was dazu führte, dass der Oberste Wissenschaftler mit dem Hintern im Sand landete. Noch während er fiel, sprang Roan zu ihm und verwandelte seinen Stecken in einen Strick. Wenn es ihm gelänge, Brom zu überwältigen, würden die anderen mit ziemlicher Sicherheit brav bleiben. Sobald dann Bergold mit den Fahrrädern einträfe, würde Roan einen von ihnen dazu bringen, ihn zum WECKER
zu führen und die anderen unter Bewachung zum König zurückschicken. Die Hilfe konnte nicht mehr weit sein. Zu Roans Überraschung indes verbargen sich hinter Broms ektomorpher Gestalt die Tücken eines formidablen Kämpfers. In Blitzesschnelle war der Oberste Wissenschaftler wieder auf den Beinen. Roan stellte ihm ein Bein, sodass er erneut im Sand landete, und aktivierte Einfluss, um ihn zu immobilisieren. Brom wälzte sich aus dem Einflusskreis, raffte eine Handvoll Sand vom Boden auf und warf sie Roan ins Gesicht. Roan riss die Hände hoch, um seine Augen zu schützen, und sah deshalb den Schlag nicht, der ihn an einer empfindlichen Stelle unterhalb der Gürtellinie traf. Ein mörderischer Schmerz raste durch seinen Körper und er sackte mit einem Stöhnen zu Boden. Brom lachte, ein hohl klingendes Geräusch, das von hoch oben kam. Roan kämpfte den Schmerz nieder und warf sich mit ausgestreckten Armen gegen den Wissenschaftler. Es gelang ihm, Brom in einen Klammergriff zu bekommen. Sein Griff war schwächer als gewöhnlich, aber Brom war eigentlich kein Gegner für ihn. Er war zäh, wütend und kannte eine Menge schmutziger Tricks, aber er atmete bereits schwer. Lange würde er nicht mehr durchhalten. Er war außer Form, hatte viel mehr Zeit seines Lebens mit wissenschaftlicher Arbeit als mit körperlicher Ertüchtigung verbracht. »Geben Sie auf?«, fragte Roan. »Warten Sie einfach hier und wir werden erklär -« Mit einem grimmigen, hasserfüllten Blick senkte Brom den Kopf und biss Roan ins Handgelenk. Als die Sehnen in Roans Handgelenk erschlafften, keilte Brom erneut nach ihm aus, wieder auf Roans Unterleib zielend. Roan musste ihn loslassen, um dem Tritt auszuweichen, aber er stürzte sich sofort wieder auf den Wissenschaftler, und diesmal gelang es ihm, den Kerl in den Schwitzkasten zu nehmen. Brom wehrte sich verzweifelt, wild knurrend, zappelnd und auskeilend. Roan hielt ihn
eisern im Würgegriff. Er musste Brom überwältigen. Dann konnte er die anderen zusammentreiben -nein, konnte er nicht. Er musste sie schön voneinander getrennt halten, damit sie nicht wieder ihren Schmelztiegel bildeten. Am besten fesselte er jeden von ihnen an einen eigenen Baum. Er würde halt ein paar wachsen lassen müssen. Eine der wild dreschenden Fäuste eines der Adepten traf ihn, zufällig oder beabsichtigt, an der Niere. Roan stöhnte vor Schmerz laut auf und sank langsam zu Boden. Der Oberste Wissenschaftler stellte sich über ihn. Der Saum seines Kittels klatschte Roan ins Gesicht. »Ihr da«, befahl Brom schwer atmend, an seine Lehrlinge gewandt. Er deutete auf die zwei Köpfe, die aus dem Sand schauten. »Grabt die Männer aus und macht euch fertig zum Aufbruch.« »Nein!«, protestierte Roan und versuchte, sich auf Händen und Knien hochzustemmen. »Im Namen des Königs -« Brom drehte sich um und trat ihm mit voller Wucht in den Bauch. Roan fiel hin. Die Lehrlinge begannen die Männer hastig auszubuddeln. Sobald die Raufbolde die Arme frei hatten, halfen sie beim Graben mit, unter so farbenprächtigen Flüchen und Verwünschungen, dass es Schlieren in der Luft hinterließ. Roan biss auf die Zähne und versuchte die Schmerzen zu ignorieren. Er zwang sich aufzustehen. Brom wartete ein paar Schritte vor ihm, den rechten Mundwinkel zu einem hämischen Grinsen hochgezogen. Roans Strick-Stecken lag hinter Brom auf der Erde. Roan steckte zwei Finger in den Mund und pfiff ihn zu sich. Der Strick straffte sich, um wieder zum Stecken zu werden und schlug dabei Brom von hinten gegen die Kniekehlen. Der Wissenschaftler kippte hintüber und landete mit einem wütenden Brüllen abermals auf dem Hintern im Sand.
»Steht da nicht herum wie die Ölgötzen!«, brüllte er seine Adepten an, während er sich abstrampelte, um wieder auf die Beine zu kommen. »Bildet einen Kreis!« »Bleibt stehen, wo ihr seid!«, befahl ihnen Roan. Seine Stimme klang dünn und er legte mehr Kraft in sie hinein. »Seit eineinhalb Stunden trotzt ihr dem Willen des Königs. Jede weitere Handlung, die ihr begeht, steht in genauem Widerspruch zu seinen Befehlen.« Die jungen Adepten schauten unsicher von einem zum ändern und die beiden Grobiane blickten sich ebenfalls unschlüssig an. Beide, Roan wie Brom, sprachen mit Autorität, und sie wussten nicht, wem sie gehorchen sollten. Roan baute auf seinen Vorteil. »Ihr habt den Saal wahrscheinlich zu früh verlassen, als dass ihr noch hättet mitbekommen können, dass das Projekt abgeblasen worden ist«, sagte er mit ruhiger Stimme, an ihre Vernunft appellierend. »Wenn ihr jetzt umkehrt, wird die Ministerin für Wissenschaft euch für schuldlos an allen Vergehen erklären, die -« Mit einem gehässigen Knurren errichtete Brom einen schalldichten Glaskäfig um Roan, während er aufstand und seine Würde wiederherstellte. Roan, der fühlte, dass sein eigener Einfluss an diesem Ort stark war, verdünnte das Glas sogleich zu Luft und spazierte aus dem Käfig heraus. Eine wahre Willensschlacht begann. Roan taxierte Brom und fragte sich, wie stark sein Wille sein mochte. Broms Weisheit mochte er vielleicht in frage stellen, wenn er an den monströsen WECKER dachte, aber am Verstand des Mannes bestand kein Zweifel und der Verstand war der Ort, wo im Traumland die Macht lag. Um den Stoff, aus dem die Träume waren, zu beherrschen, musste man seine eigenen Parameter, um nicht zu sagen, Grenzen, genau kennen. Verfügte man über genügend Willenskraft, dann gab es keine Grenzen, außer denen der Schläfer selbst. Roan griff nach formbarer Materie und warf ganze Armladungen Einfluss auf Brom.
Handschellen aller Größen schlössen sich schnappend um die Beine, Füße, Arme, den Rumpf und den Hals des Obersten Wissenschaftlers. Sie regneten geradezu herab und begruben Brom unter einem Berg klirrenden Metalls. Das Geklirre war so laut, dass es seine wütenden Schreie übertönte. Roan wandte sich wieder den Adepten zu, aber fast sofort waren die Handschellen und Ketten wieder verschwunden. Brom knurrte ihn wütend an. Roan versuchte die Ketten zurückzurufen, aber sein Ruf verhallte ungehört. Er empfand Bestürzung. Brom verfügte über ein ebenso hohes Maß an Einfluss wie er selbst. Die jungen Adepten standen unschlüssig herum. Sie gingen zögernd aufeinander zu. »Bildet einen Kreis!«, befahl Brom. »Nein!«, schrie Roan. Keiner von ihnen besaß die Kraft oder das Talent ihres Herrn; sie waren lediglich intelligent. Die beiden Muskelmänner stürmten auf ihn zu, aber Roan zog ihnen prompt den Boden unter den Füßen weg und ließ sie in eine steilwandige Sandgrube purzeln, der er gleichwohl einen weichen Boden verlieh, damit sie weich landeten. Die kurze Ablenkung gab Brom Zeit für ein neues Manöver. Maschinengewehre erschienen in einem Ring um Roan. Er warf sich blitzschnell auf den Sandboden und ein ohrenbetäubendes Sperrfeuer brach über ihm los. Waren die Kugeln echt? Roan hielt sich schützend die Arme über den Kopf. Er wollte es lieber nicht darauf ankommen lassen, die Echtheit der Kugeln zu prüfen, indem er den Kopf hinhielt. Würde Brom so weit gehen, dass er zum Mittel des Mordes griff, um sicherzustellen, dass seine kostbare Erfindung eine Chance hatte, sich durchzusetzen? Vielfaches leeres Klicken verriet ihm, dass die Gewehre ihre Munition verschossen hatten. Bevor sie wieder laden konnten, sprang Roan auf und ließ sie mit einer Handbewegung verschwinden. Er sah keine Löcher in der Landschaft
ringsherum oder in den Adepten, die keine Chance gehabt hätten, den Kugeln auszuweichen. Das Sperrfeuer war also eine geistige Finte gewesen. Gut, das zu wissen. Unter diesen Bedingungen konnte Roan kämpfen. Die einzige Möglichkeit, einen geistig wirklich gesunden Mann zu besiegen, der wusste, wer er war, war, ihn zu verwirren. Roan erschuf mehrere Duplikate von sich und ließ sie gleichzeitig auf den Obersten Wissenschaftler eindringen. Jedes von ihnen schwang eine andere Waffe. Roan hoffte, Brom würde seine Kräfte damit verausgaben, die Sche inbilder zu attackieren. Stattdessen aber formte Brom erneut einen Trichter mit den Händen, worauf dunkelbraune Sandwolken aufwirbelten. Brom schlug Roan mit dessen eigener Waffe, nämlich der, das Terrain für sich einzusetzen. Ganz gleich, wie viele von >ihm< da waren, sie würden allesamt von dem wirbelnden Sand zerfetzt werden. Roan spähte mit zusammengekniffenen Augen durch den Sandsturm. Er glaubte, noch immer alle Wissenschaftler an ihrem letzten Standort stehen zu sehen, und erwog, jeden von ihnen dort zu fixieren, wie die Spielsteine auf einem Damespielbrett. Er war gerade dabei, die Linien in den Sand zu ziehen, als der Boden unter seinen Füßen sich zu regen begann. Er fühlte, wie er nach rechts gedreht wurde. Um seine Gefangenen nicht aus den Augen zu lassen, schwenkte er auf den linken Absatz. Der Sand drehte ihn aufs Neue nach rechts. Wieder schwenkte er nach links. Der Sand drehte sich - und ihn - weiter nach rechts. Roan schwenkte immer wieder nach links, als tanze er auf einem kreisenden Tanzboden. Falls Brom es darauf anlegte, ihn zu verwirren, dann machte er seine Sache gut, denn Roan wurde es zusehends schwindliger, obwohl er sich an ein und derselben Stelle befand. Er musste jedes Gran an Kraft, jedes Quentchen Konzentration mobilisieren, das er besaß, um seine Realität für sich zu erhalten. Hinter der Sandwolke versteckt, konnte Brom kleine Details verändern
und Roan würde es nicht merken. Die hochgewachsene Gestalt in Graublau und Weiß neigte den Kopf, und die anderen bewegten sich auf sie zu. Erschrocken hörte Roan auf, das Kreisen des Bodens mit schnellen Trippelschritten auszugleichen und ließ sich vom Sand im Kreis herumwirbeln. Er durfte auf keinen Fall zulassen, dass die Wissenschaftler sich berührten. Wie als Zuschauer einer Laterna-Magica-Vorstellung sah er Broms Adepten sich mit abgehackten Bewegungen aufeinander zu bewegen. Roan errichtete um jeden der Adepten einen Wall aus Sand und zwang diesen mit schierer Willenskraft, eine durchsichtige, steinartige Undurchdringlichkeit anzunehmen. Die Gestalten hielten inne, als sie die Grenzen ihres Gefängnisses fühlten. Roan hörte vom Tosen des Windes gedämpfte Stimmen und über allem das wütende Gebrüll Broms. Die hochgewachsene Gestalt wandte sich von ihm ab, um die durchsichtigen Wände mit den Händen abzutasten. Sie mutete dabei fast wie eine Pantomime an. Roan hatte kein Schlupfloch aus dem Gefängnis offen gelassen. Brom warf eine Geste über die Schulter auf Roan. Mit einem Blick des Abscheus musste Brom den Einfluss fahrenlassen, den er einsetzte, um aus dem Einfluss Roans auszubrechen. Der Investigator des Königs hörte so jäh auf, sich im Kreise zu drehen, dass er ein paar Schritte stolperte und auf ein Knie in den Sand sank. Doch es gelang ihm, seine ganze Konzentration darauf fixiert zu halten, dass die Wände hielten. Er musste die anderen solange an Ort und Stelle festhalten, bis endlich Hilfe einträfe. Wie lange dauert das denn noch? fragte er sich nervös. Bergold, wo bleibst du? Die Lehrlinge versuchten, aus ihrem Gefängnis herauszuklettern und Roan sah Hände über dem Rand einiger Zellen auftauchen. Er machte die Wände schlüpfriger und sie purzelten wieder herunter.
»Wann?«, schrie Brom laut. Roan fuhr hoch. Die Frage war nicht an ihn gerichtet. Einer der Adepten ließ ab von dem Versuch, aus seinem Gefängnis herauszuklettern. Er zog eine goldene Taschenuhr hervor und klappte sie auf. »Noch nicht, Herr!« »Dann warte darauf!«, rief Brom zurück. Er legte die Hände übereinander und sprengte die gläsernen Wände mit einen Ausbruch von Willensenergie. Die Zylinder zerbarsten, und die Adepten rannten durch die Scherben, die auf sie herabregneten, aufeinander zu. Roan zwang die Scherben, sich wieder zu festen Wällen um jeden einzelnen Adepten zusammenzufügen. Solange seine Kraft hielt, konnte sich der Schmelztiegel nicht neu formieren. Er dankte dem Schicksal, dass es ihm einen unveränderlichen Körper geschenkt hatte. Der Oberste Wissenschaftler versuchte es immer wieder, und als er einsah, dass es nichts fruchtete, verlegte er sich wieder darauf, Roan den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Roan torkelte wie ein Betrunkener, schwindlig von dem ständigen Geschwanke und Gedrehe - aber er durfte sich um keinen Preis von der Übelkeit übermannen lassen. Er wälzte sich zur Seite, wenn der Boden sich unter ihm auftat, und krallte sich im Sand fest, wenn er sich plötzlich unter ihm auftürmte. Er mochte zwar keinen besonders anpassungsfähigen Körper haben, doch er besaß einen hochentwickelten Selbsterhaltungstrieb. Nun komm schon endlich, Bergold! dachte er verzweifelt. Beeil dich! Ein dunkler Schatten zu seinen Füßen ließ ihn jäh nach oben blicken. Er schaffte es gerade noch rechtzeitig, sich zur Seite zu wälzen, als ein Zehn-Tonnen-Gewicht gena u an der Stelle, an der er eben noch gestanden hatte, auf den Sand krachte. Brom schien seine Handgeste dazu zu benutzen, seine geistigen Kräfte zu bündeln. Roan verwandelte die Glaswände
seines Gefängnisses in ein gläsernes Band, das den Obersten Wissenschaftler wie ein Paket verschnürte, sodass er seine Arme nicht mehr bewegen konnte. Der Adept mit der Taschenuhr schrie, ohne den Blick zu heben: »Herr! Einer von ihnen kommt... jetzt!« Roan hätte gern gewusst, wer oder was mit >ihnen< gemeint war, aber er wagte nicht, seine Konzentration zu brechen, indem er sich umschaute. Kündigte das kleine Gerät womöglich das Eintreffen Bergolds und der anderen an? Plötzlich sah er sich umringt von einer Schar von Männern in weißen Hemden, schwarzen Hosen, Schuhen und grellbunten Krawatten, die in kleine rechteckige schwarze Kästchen, die sie sich seitlich an den Kopf hielten, schrien: »IBM verkaufen! Nein, kaufen! Verkaufen, verkaufen, verkaufen! IBM kaufen! AT&T kaufen! Nein, verkaufen!« Eine Störung! Diese Zufalls-Neuralstürme waren das Produkt vereinzelter überschüssiger Stücke aktiven Einflusses, die abbrachen und durch das Traumland wirbelten. Sie tauchten fast immer im ungünstigsten Augenblick auf und störten die normale Aktivität. Roan drosch auf die Horde von Investment-Brokern ein und versuchte, über ihre Schultern zu blicken. Jemand stieß gegen seinen Ellenbogen. Er ließ seinen Stecken fallen und schaffte es in dem Gedränge nicht, sich zu bücken und ihn wieder aufzuheben. Trotz des Tohuwabohus gelang es Roan, hier und da einen Blick auf die Wissenschaftler zu erhaschen. Einer nach dem anderen befreiten sie sich aus ihren gläsernen Gefängnissen und rannten davon. Roan versuchte, ihnen seinen Willen aufzuerlegen und sie zum Stehenbleiben zu zwingen, aber jedesmal, wenn er gerade einen gepackt zu haben schien, kam ihm ein Fragment von der Störung in die Quere und unterbrach die Verbindung erneut. Ihm wurde klar, dass er sich in seiner Konzentration zu
verzetteln drohte. Statt zu versuchen, die ganze Gruppe einzufangen, versuchte er, sich gezielt auf das nächste Individuum zu konzentrieren, das er sah: einen dünnen jungen Mann, aus dessen Brusttasche eine Klarsichthülle hervorlugte. Er fixierte ihn mit seinem Blick und ließ ihn im Sande versinken. Jetzt würde er zumindest einen Gefangenen haben. Bis zu den Achselhöhlen im Sand steckend, schrie der Lehrling um Hilfe. Roan verstopfte ihm den Mund mit Watte. Die Störung schubste ihn hin und her und er verlor den Gefangenen wieder aus dem Blick. Aus dem Gewirr von Mobiltelefonen und Armani-Anzügen tauchte plötzlich das Gesicht von Brom auf und schaute ihn boshaft an. »Siehst du, junger Mann? Es gibt keinen anderen Meister als die Wissenschaft.« Roan sah noch, wie das Ende seines eigenen Steckens auf seine Stirn zugeschossen kam. Ein fürchterlicher Schmerz schoss ihm durch den Schädel und dann wurde es schwarz um ihn.
8. KAPITEL Der Himmel, der über der Wüste leer gewesen schien, war jetzt voll von zwitschernden Vögeln, die aus der Höhe herabstießen, seinen Kopf umkreisten und triumphierend wieder gen Himmel davonschwirrten. Roan stand stolz emporgereckt und hoch erhobenen Hauptes vor dem Thron. König Byron, angetan mit blauem Seidensamt und schneeweißem Hermelin, und noch königlicher ausschauend denn je, beglückwünschte ihn herzlich. »Wir sind stolz, dich in unsere Familie aufnehmen zu dürfen, mein lieber junger Mann«, sprach er und schüttelte Roans Hand mit festem Griff. »Du bist ein Held! Du hast das Traumland gerettet!« Roan lächelte und machte eine tiefe Verbeugung. Ihm wurde vor lauter Komplimenten ganz schwindlig. »Eure Majestät, es ist mir eine Ehre, mich nützlich gemacht haben zu dürfen, aber ich möchte die Gelegenheit wahrnehmen, auch denjenigen meinen Dank auszusprechen, die diese Rettungstat überhaupt erst möglich gemacht haben, indem sie mir rechtzeitig zu Hilfe eilten.« Byron lächelte zurück und reckte die Hände empor. »Deine Bescheidenheit steht in keinem Verhältnis zu deinem Mut, deiner Tüchtigkeit und deinen Fähigkeiten. Du hast alle Bedenken beiseite gewischt, die ich gegen eine Vermählung zwischen dir und meiner Tochter hatte. Die Hochzeit soll sogleich stattfinden!« Er klatschte in die Hände. »Ihre Ephemere Hoheit, die Prinzessin Leonora!«, brüllte der Herold - doch selbst er klang irgendwie elegant und war in Ellen meergrünen Samtes und goldener Spitze gehüllt. Die Prinzessin, die lieblicher und einsamer denn je ausschaute und ein hauchdünnes Spitzengewand trug, das
nahezu unstofflich und dabei doch immer noch undurchsichtig genug war, um ihre jungfräuliche Sittsamkeit zu verhüllen, trat vor und legte ihre Finger auf seinen Arm. Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und die Trompeter stimmten einen langsamen Marsch an. Sodann schritten Roan und seine Auserwählte zusammen über einen mit weißer Seide ausgelegten und mit Rosen bestreuten Gang zu einem Altar aus Gold und warmem braunem Holz. Im Hintergrund spendete ein buntes Glasfenster, das aussah wie die fein verzweigten Äste eines Baumes mit grünen Blättern vor dem Hintergrund eines prachtvoll blauen Himmels, farbenfrohes Licht. Unter feierlichem Trompetenschall wandte sich die Prinzessin zu ihm und hob ihren hauchdünnen weißen Schleier; ihre wunderschönen braunen - nein, blauen - nein, grünen Augen schienen voller Sorge, als sie ihn anschauten. »Kannst du mich hören, Roan? Bist du wohlauf, Liebling?«, Die Kopfschmerzen, die sich hinter seiner Stirn ballten, pochten bei jedem einzelnen Wort, das sie sagte. Er öffnete den Mund, um Antwort zu geben, und fragte sich, warum ihr Hochzeitskleid sich in einen schweren, dunkelgrünen Rollkragenkittel verwandelt hatte, der farblich genau zu ihren Augen passte. Anstelle des Buntglasfensters war hinter ihr ein Flechtwerk von Ästen und Zweigen zu sehen, das wie schwarze Spitze wirkte. Roan stöhnte auf. Er war nicht in Mnemosyne auf seiner Hochzeit. Er lag mitten auf einem öffentlichen Fußweg in Sichtweite eines echten Waldes. Ein großer Fischkopf beugte sich über ihn und etwas Nasses berührte seinen Mund. Roan versuchte zu trinken. Er war sehr ausgetrocknet. »Er kommt zu sich.« Es war Bergolds Stimme - den Schläfern sei Dank. Er würde ihm erklären, was geschehen war. Roan drehte den Kopf ein wenig zur Seite. Hinter dem Historiker konnte er weitere Schatten ausmachen, sowie die Umrisse einer Herde von Fahrrädern, die meisten davon
schwer bepackt. Die Rösser waren endlich zurückgekommen. »Wie fühlst du dich?«, fragte Leonora und drehte seinen Kopf sanft mit den Fingern zurück. »Kannst du sprechen?« »Was tust du denn hier?«, fragte Roan schließlich und seine Stimme klang, als wäre sie weit weg. Leonora hockte sich zurück auf die Fersen, als Bergold und die anderen Roan halfen, sich aufzusetzen. »Ich habe dir dein Fahrrad gebracht«, sagte sie mit demselben strahlenden, tiefen Lächeln, das sie in seiner Vision von ihrer Hochzeit zur Schau getragen hatte - aber in diesem Augenblick war er nicht ganz so erfreut, es zu sehen. »Es ist sehr bockig. Es wollte niemand anderen außer mir auf sich reiten lassen. Ich musste Golden Schwinn führen. Alle Rösser sind ungewöhnlich nervös. Ich weiß nicht, was Brom mit ihnen getan hat. Und wir haben deine Wegmarkierer aufgehoben. Ich dachte, du würdest sie vielleicht zurückhaben wollen.« Sie gab einem der Männer einen Wink, worauf dieser Roan die bunten pfeilförmigen Wegweiser brachte. »Du solltest besser nicht hier sein«, sagte Roan in eindringlichem Ton, seine Stimme ein wenig senkend. Sein Kopf tat ihm scheußlich weh, aber er schaffte es, ihn vorsichtig mit beiden Händen zu betasten. Er fühlte sich von außen immer noch gleich groß an, aber innen war er so aufgeblasen mit Schmerzen, dass es ausgereicht hätte, um mehrere Provinzen damit zu füllen. »Natürlich sollte ich«, erwiderte Leonora und das bübische Lächeln bekam eine leichte Schärfe. »Ich sagte dir doch bereits, dies ist genauso meine Aufgabe wie deine.« Die anderen spürten, dass da eine private Auseinandersetzung in der Luft lag und zogen sich taktvoll ein paar Schritte zurück. Roan gefiel nicht, was er ihr zu sagen hatte, aber er nahm sich fest vor, diesmal genau aufzupassen, dass er sie nicht kränkte. Er nahm ihre Hände und hielt sie fest
in seinen. »Du musst nach Hause zurückkehren, Leonora«, sagte er ernst und schaute ihr dabei tief in die Augen. »Ich danke dir dafür, dass du hergekommen bist, und ich bin sehr froh, dich zu sehen, weil ich nicht dazu gekommen bin, dir meine Gründe am Hof zu erklären.« Sein Kopf schmerzte höllisch, während er nach den richtigen Worten suchte. »Es liegen zweifelsohne große Mühen und Entbehrungen vor uns. Brom hat gezeigt, dass er - außer vielleicht vor Mord - so ziemlich vor nichts zurückschreckt, um sein Projekt zu verwirklichen. Wir müssen ihn kriegen, bevor er die Halle der Schläfer findet. Diejenigen von uns, die Erfahrung und Übung darin haben, lange, schwere Distanzen zu bewältigen, im Freien zu schlafen und mit Gewalt fertigzuwerden, sind am besten für diese Mission geeignet. Die Aufgabe würde uns viel leichter fallen, wenn wir uns nicht gleichzeitig auch noch den Kopf darüber zerbreche n müssten, wie wir dich am besten beschützen können. Bitte geh zurück zu deinem Vater, und wenn nicht mehr heute Abend, dann morgen Früh.« »Das werde ich ganz bestimmt nicht tun«, versetzte die Prinzessin mit Feuer und schlug die Hände zusammen. Sie manifestierte eine Flasche Wasser und hielt sie ihm hin. »Dies ist das Königreich meines Vaters - und eines Tages meins, wie du bereits so treffend darlegtest. Es ist nur recht und billig, dass ich mithelfe, es vor diesen Verrückten zu retten. Ich kann und werde auf mich selbst aufpassen. Hast du Durst? Du bist ganz voll Sand!« »Aber sie sind gefährlich! Schau mich nur an!« Roan tastete nach der Beule, die auf seiner Stirn prangte. Sie war zu einem prächtigen Knubbel angeschwollen und bestimmt war sie schon zu leuchtendem Blau erblüht. »Ja, aber du warst auch allein«, gab Leonora zu bedenken. »Und jetzt bist du's nicht. Ich habe ein paar von den Palastwachen mitgebracht. Zusammen brauchen wir uns vor
den Verrückten nicht zu fürchten.« »Weiß dein Vater, dass du hier bist?« »Natürlich weiß er das. Roan, damit das klar ist, ich werde nicht umkehren«, fügte sie rasch hinzu. Roan war bestürzt. Das hatte sie ihm nicht gesagt. »Um deiner eigenen Sicherheit willen, kehr um«, sagte Roan fast flehend. Leonora lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Seit sie klein war, bedeutete diese Geste, dass ihr Entschluss feststand und dass nichts sie mehr umstimmen konnte. Allenfalls ein Umbruch. Und vielleicht nicht einmal der. »Männer!« Roan stand benommen auf und winkte zwei uniformierten Gardisten zu, die bei den Fahrrädern standen. Sie hatten einen Wissenschafts-Lehrling zwischen sich. Seine Hände waren an den Spitzen der Zeigefinger gefesselt, mit einem unzerreißbaren, geflochtenen Strohhalm. Es war Hauptmann Spar höchstselbst, der auf Roans Ruf reagierte. Er ließ den Gefangenen in der Obhut von Korporal Lum und den beiden anderen Gardisten zurück, trat neben Leonora und salutierte, wobei er die Hacken so laut zusammenschlug, dass Roan zusammenzuckte, was sein schmerzender Kopf sofort mit wildem Pochen bestrafte. »Jawohl, Sir!« »Bitte geleiten Sie die Prinzessin unverzüglich nach Mnemosyne zurück. Sie wird uns nicht weiter begleiten. Ich denke, es ist noch genügend Tageslicht vorhanden, dass Sie den Palast vor Einbruch der Dunkelheit erreichen können.« »Nein!«, rief Leonora und sprang auf. Ihre Augen blitzten wild entschlossen. Die Soldaten schauten von ihr zu Roan, unschlüssig, wie sie sich verhalten sollten. »Hauptmann, vergessen Sie diesen Befehl. Roan, diese Männer sind Offiziere meines Vaters, nicht deine. Sie gehorchen mir.«
Spar warf Roan einen Blick voll von unverfälschtem Mitgefühl zu, aber er wich vor der Prinzessin zurück, die sich, die Arme in die Hüften gestemmt, vor ihm aufgebaut hatte. Leonora wirkte richtig furchteinflößend in ihrer wilden Entschlossenheit, die sie noch schöner erscheinen ließ, als sie es ohnehin schon war: Groß, blond und rüstig stand sie da, der Stoff ihres grünen Kleides umschmiegte ihre üppig geschwungenen Rundungen wie der Panzer einer Walküre und ihre kraftvoll arbeitenden Wangenmuskeln verliehen ihrem herzförmigen Gesicht etwas besonders Willensstarkes. »Du wirst dich an den Gedanken gewöhnen müssen, dass ich mit von der Partie bin«, sagte sie und hob warnend einen muskulösen Zeigefinger. »Mach das Beste draus, weil das eine Tatsache ist, an der sich nichts mehr ändern wird.« Roan öffnete den Mund - und entschied, dass er sich in diesem Augenblick nicht zutrauen konnte zu sprechen. Er hielt Ausschau nach seinem Hut. Der Wüstentick des Schläfers war vorbei. Bäume und Büsche sprenkelten dünn gesät das umliegende Grasland, das mit einem üppigen Teppich bunter Blumen geschmückt war. Roan fand seinen Hut ein halbes Dutzend Schritte entfernt in einer Traube roter Blüten wieder und klopfte ihn sich zu einer breitkrempigen Fedora mit einer Wattierung in der Krone zurecht. Was man nicht ändern konnte, musste man ertragen. Das war einer der alten weisen Sprüche, die seit unerdenklichen Zeiten von den Schläfern überliefert worden waren. Leonoras grimmige Entschlossenheit - um nicht zu sagen Starrköpfigkeit - konnte sich am Ende vielleicht sogar noch als auf der Reise vorteilhaft erweisen. Vielleicht wurde sie aber auch, wenn sie Glück hatten, des Spiels überdrüssig, bevor sie in eine gefährliche Lage kam. Er ging zurück zu ihr und sie zog eine Augenbraue hoch. »Na schön, dann versuchen wir's halt«, sagte er. »Aber wenn es richtigen Ärger geben sollte ...« »Dann werd ich mich raushalten«, sagte sie prompt; sie
spürte, dass sie gewonnen hatte. Ihr Brustpanzer verwandelte sich wieder in das grüne, zur Farbe ihrer Augen passende Kleid zurück und ihr Körper verschlankte sich zu antilopesker Gertenhaftigkeit. Wenn sie wollte, bekam sie ein neckisches Grübchen in der Wange gleich neben dem Mundwinkel - und jetzt wollte sie. »Und wenn ich mich als Problem erweisen sollte, fahre ich sofort zurück nach Hause, ohne jede weitere Diskussion. Ich verspreche dir, dir deine Entscheidung nicht vorzuhalten. Abgemacht?« Sie streckte die Hand aus und Roan schlug ein. Er kam sich mehr als nur ein bisschen töricht vor. Ihr Angebot war jedenfalls fair. Sie war wirklich vollkommen. Er schüttelte den Kopf und versuchte, mehr wie ein Führer zu denken und weniger wie ein törichtes Kalb. »Abgemacht«, sagte er. Sie grinste wie ein kleines Kind, und plötzlich sah er, wie verängstigt sie war. Sofort bekam er wieder Bedenken. Er musste sich eingestehen, dass auch er sich Sorgen machte. »Wir sollten besser alles darüber hören, was dir auf dem Weg passiert ist«, sagte Bergold, nachdem er entdeckt hatte, dass die Auseinandersetzung vorbei war. Er kam herum und klopfte Roan auf den Rücken. Der Historiker trat jetzt in der Gestalt eines Mannes mit dem Kopf eines Fisches auf. Seine Augen, links und rechts auf seinem schmalen, seitlich abgeflachten Gesicht, waren lidlos, sodass ihr gesamter Ausdruck in der Ausdehnung oder Kontraktion der Pupillen lag. Roan konzentrierte sich auf eines der großen, runden Augen und erzählte seine Geschichte. Spar, Lum und die Wachen rückten ganz nahe heran, um zu lauschen, wobei sie jedoch nicht versäumten, ihren Gefangenen im Auge zu behalten, den sie mit einem Fahrradschloss an einen Pfahl gefesselt hatten. Drea, Leonoras alte Amme und Vertraute, legte Roan einen Kopfverband an, während Colenna, eine im Ruhestand befindliche Feldbeobachterin aus dem
Geschichtsministerium, mit einer Handvoll Gaze aus ihrer verblüffend geräumigen Handtasche dabeistand. Felan, gleichfalls vom Geschichtsministerium, und Misha aus dem Kontinuitätsministerium waren zwei junge Männer, die er schon mal am Hof gesehen hatte, aber nicht wirklich kannte. Sie hörten ihm sorgfältig zu, als wollten sie sich jedes einzelne Wort für das Archiv ins Gedächtnis einprägen. Wenn diese Mission erfolgreich ausgehen sollte, würde die Geschichte davon eine im ganzen Traumland bedeutende und populäre werden. Wenn sie scheiterte... dann würde womöglich niemand da sein, der sie erzählen - oder ihr lauschen - konnte. »Dann haben sie also einen Weg gefunden, Störungen zu entdecken, nicht wahr?«, sagte Bergold, als Roan mit seinem Bericht fertig war. Er fuhr sich nachdenklich mit dem Finger an einem seiner Kiemen entlang. »Das wäre eine sehr nützliche Erfindung für uns alle gewesen. Die beklagenswerte Carodil scheint an den richtig guten Sachen nie beteiligt zu sein. Und wer ist dieser Bursche hier?« Er winkte die Wachen zu sich. Der junge Mann zwischen ihnen ließ die Füße über den Boden schleifen, während er farbenfroh in mathematischen Formeln und wissenschaftlichen Termini fluchte. »Einer von ihnen«, sagte Roan. »Behandelt ihn sanft. Er hat niemals versucht, mich anzugreifen.« »Ich bin kein Dummkopf, wenn Sie das meinen«, sagte der junge Mann. Für einen Augenblick versuchte er, Broms kühlen, intellektuellen Blick nachzuahmen, aber er hielt ihn nicht lange durch und verlegte sich wieder auf seinen eigenen Gesichtsausdruck, den eines liebenswürdigen, verängstigten, etwas schwächlichen jungen Mannes. »Ich bin ein Intellektueller.« »Wo wollen die anderen hin?«, fragte ihn Spar, wobei er ihn am Arm fasste und grob schüttelte. »Wo wollen sie hin?« »Das ist geheim«, erwiderte der junge Mann. Er wollte die
Arme verschränken, aber das war wegen der Fingerfessel unmöglich. »Sie werden mich nicht dazu bringen, dass ich meinen Führer verrate.« Er und Spar starrten sich grimmig an. »Ich würde dich dazu kriegen, Freundchen«, sagte der Hauptmann der Palastwache. »Das kannst du mir glauben. Du redest am besten sofort, solange du noch Zähne im Maul hast.« »Ich wette, Sie könnten kein Wort glauben, das er sagen würde«, ließ sich Colenna vernehmen. Sie starrte dem jungen Mann eindringlich ins Gesicht. Er ignorierte sie. »Wir haben immer noch die Fußspuren, denen wir folgen können«, wandte Roan ein. »Die kann er nicht verbergen. Brom ist zu überhastet aufgebrochen, um noch die Zeit gehabt zu haben, sie zu verwischen.« »Sollen wir diesen jungen Hanswurst mitnehmen?«, fragte Spar. »Oder sollen wir ihn zurückschicken, damit er sich seine Medizin von Carodil abholen kann?« Bei der Erwähnung des Namens der Ministerin wirkte der junge Mann zum ersten Mal nervös, aber er biss sich auf die Zähne. »Machen Sie mit mir, was Sie wollen«, sagte er standhaft. »Ich bin bereit, für die Wissenschaft zu sterben.« »Du junger Dummkopf -« begann Spar, aber Leonora legte die Fingerspitze auf seinen Arm, um ihn zu bremsen. »Bitte, lassen Sie mich mal ran«, sagte sie, sich in das Gesichtsfeld des jungen Mannes schlängelnd. Er bekam große Augen, als er die Prinzessin gewahrte, sagte aber nichts. »Sie müssen uns helfen. Sehen Sie denn nicht, dass das, was Brom vorhat, falsch ist? Er wird uns alle vernichten!« »Was macht das schon, wenn es die Wahrheit enthüllt?«, fragte der junge Mann. Er versuchte, vernünftig zu klingen, aber seine Stimme zitterte ein klein wenig. Leonora nutzte ihren Vorteil aus. Sie veränderte sich dezent.
Ihr glänzendes Haar löste sich und fiel ihr in dicken, seidigen Locken über den Rücken. Das schwere, dicke Tuch ihres grünen Waffenrockes verdünnte sich, bis es mehr so aussah wie das Gewand, das sie bei Hofe getragen hatte. Es schmiegte sich sanft an ihre Rundungen, während gleichzeitig ihr Umhang sich mit Hermelinborten säumte. Das kleine Goldmedaillon an ihrem dünnen Halskettchen wurde zu einem königlich goldenen Anhänger mit einem leuchtenden Diamanten in seinem Herzen. Roan hörte hinter sich leises beifälliges Murmeln von den anderen. Der Lehrling schluckte heftig, aber er hielt das Kinn hochgereckt. »Sie sind ein loyaler Bürger des Traumlandes«, sagte Leonora, jetzt mehr ein schimmerndes Traumbild als eine Frau aus Fleisch und Blut. Sie war das Symbol alles Guten und alles Schönen. Niemand, ob Mann oder Weib, konnte sie anschauen, ohne tief berührt zu sein. Ihre Stimme, schmeichelnd und sanft, drang durch Roans Bewusstsein. Er wünschte sich sehnlich, er wäre das Ziel ihres säuselnden Bemühens. »Sie wollen, dass es fortbesteht. Wir alle wollen das. Ich würde es als einen persönlichen Dienst betrachten, wenn Sie uns hülfen. Mein Vater würde mit Wohlgefallen auf sie herabblicken, ja Ihnen sogar zum Dank für Ihre Hilfe eine Wohltat erweisen.« Sie ging noch einen halben Schritt näher an ihn heran, und sogar Roan konnte spüren, wie der Blutdruck des jungen Mannes stieg. »Ich wäre Ihnen so dankbar. Ich brauche Ihre Unterstützung. Um des Traumlandes willen.« Der Lehrling starrte sie an, verzweifelt und mit hochrotem Gesicht. »Ich ... ich kann ... nicht... mehr sagen.« Er wandte sich ab und schlug die Hände vors Gesicht. Leonora trat einen Schritt zurück, nun wieder sterblich und verletzlich, den Mund vor lauter Schock und Entsetzen offen. Roan eilte zu ihr, um ihr den Arm um die Schulter zu legen und er fühlte, wie der Stoff ihres Gewandes sich wieder verdickte. Sie war verletzt. Noch nie, solange Roan sie kannte, war ein solcher Appell,
gegründet auf der machtvollen Kombination aus Patriotismus und der Ausstrahlungskraft ihrer Persönlichkeit, unerhört geblieben. Entweder musste Brom unverbrüchliche Loyalität in seiner Truppe wachgerufen haben, oder die natürlichen Instinkte und Regungen des Mannes waren bei diesem armen Kerl abgestorben. Leonora sah Roan mit traurigen, betörenden Augen an und Roan schüttelte den Kopf. Es war nicht ihre Schuld. Sie schenkte ihm ein strahlendes, frisches Lächeln aus einem Antlitz, das aussah wie das einer Porzellanpuppe. »Ach, zum Kuckuck, was soll's! Wenn dieser junge Fanatiker partout nicht reden will, dann wird er eh nur eine Last für uns sein. Und warum sollten wir dann unsere Reiserationen mit ihm teilen?«, fragte Bergold mit einer wegwerfenden Handbewegung in die Richtung des Lehrlings. »Bringt ihn zurück zum Schloss. Misha, würdest du das übernehmen? Du siehst so aus, als würdest du leicht mit diesem jungen Lümmel fertig.« »Gern«, sagte Misha, dessen natürliche Gestalt kräftig und robust war. Er baute sich vor dem Lehrling auf. »Ich könnte es noch vor Einbruch der Dunkelheit bis Mnemosyne schaffen«, sagte er, an Roan und Bergold gewandt. »Ich komme dann später nach.« »Folg einfach der Spur«, sagte Roan. Sie fesselten den Lehrling mit langen Grashalmen an den Händen und setzten ihn auf den Rücken eines der Packtiere. Misha strampelte davon, den Gefangenen an einer Leine führend. Bergold verdrehte eines seiner großen, platten Augen, während er in der Tasche kramte, die er über der Schulter trug. »Aha!«, sagte er und schwenkte einen säuberlich gefalteten Packen Papier vor Roans Gesicht. »Romney hat uns eine Kopie der Großen Karte mitgegeben.« Bergold faltete sie ein Stück auseinander, damit jeder das Segment sehen konnte, das zeigte, wo sie sich befanden. »Du hast ein ordentliches Stück zu Fuß
zurückgelegt, mein Freund.« »Nicht genug«, sagte Roan mit grimmigem Gesichtsausdruck und rieb sich die Stirn. »Ich habe sie nicht aufgehalten. Aber ich bin Romney dankbar.« »Die Kopie wird sich jedesmal erneuern, wenn auch die Große Landkarte aktualisiert wird. Wir sind gehalten, Romney zu verständigen, wenn sich irgendetwas an der Landschaft verändert.« »Das werden wir, wenn wir können«, sagte Roan. »Beeilt euch«, drängte Leonora. »Es beginnt bereits zu dämmern. Brom entkommt uns am Ende noch.« »Nein, das wird er nicht, Eure Hoheit«, sagte Hauptmann Spar. »Sie sind zu Fuß unterwegs und tragen den schweren WECKER«, erinnerte sie Roan, während Bergold sich damit abmühte, die Landkarte wieder zusammenzufalten. »Keine Angst, wir werden sie noch vor Einbruch der Dunkelheit einholen.« Roan brauchte einen Augenblick, um die Pfeilzeichen wieder zu kleinen Steinkugeln zu komprimieren. Diese ließ er zurück in seine Tasche gleiten. Man konnte nie wissen, ob sie nicht noch einmal nützlich sein würden. Lum brachte Roan sein Ross. Cruiser war noch immer nervös. Er tänzelte und bockte ein halbes Dutzend Mal, ehe Roan sich endlich in den Sattel schwingen konnte. »Nun mach schon!«, drängte Leonora. »Können Sie die Spur erkennen?«, fragte Leonora und richtete sich in den Pedalen auf, um fester treten zu können. »Ich kann sie nicht mehr sehen.« »Es ist alles in Ordnung, Eure Hoheit«, versicherte ihr Lum, der vorneweg ritt. Er wandte den Blick zurück und nickte ihr aufmunternd zu. Er war ein sehniger Mann von dreißig Jahren
und gutherziger Natur. Sein dichtes dunkles Haar war unter seinem Uniformhelm kurz geschnitten, und seine dunklen Augen hatten lange Wimpern, die tief in die Winkel hineinreichten und ihnen so ein mandelförmiges Aussehen verliehen. Der Lichtkegel seines Fahrradscheinwerfers warf ein zitzenartiges Muster auf den Pfad vor ihnen, aber er war in der Lage, das zu lesen, was der Pfad an Zeichen und Spuren aufzuweisen hatte. Ein Experte im Orientieren und Spurenlesen, hatte er die Führung übernommen, als Roan eine Pause benötigt hatte, um seine Augen zu schonen. Roan fühlte sich wie betäubt, so als wäre er jahrelang ohne Unterbrechung durch einen langen, dunklen Tunnel geritten. Die Sonne war im Westen versunken und war nur mehr ein Schimmer am Horizont. Lum stieß einen Freudenschrei aus. »Ich hab unsere Burschen hier. Diese tiefen Fußabdrücke dort sind unverkennbar.« Der junge Korporal hob eine Hand, um sich die Augen zu reiben. »Es war ein langer Tag. Werden wir bald Halt machen, Herr Hauptmann?« »Das können wir nicht!«, rief die Prinzessin erschrocken. »Bitte lassen Sie uns weiterreiten! Sie sind doch noch nicht richtig müde, oder? Ich bin es jedenfalls nicht.« »Nun, in Ordnung, Eure Hoheit«, sagte Lum gehorsam und zog scharf nach rechts hinüber. Er überquerte den Rand, wo sich zwei Fußwege trafen und gab den anderen ein Zeichen. »Nach rechts, bitte! Ich hätte fast den Pfad hier übersehen. Sie sind abgebogen.« Roan schrak aus seiner Benommenheit hoch, dankbar für die Abwechslung, die diese plötzliche Richtungsänderung bot. Er schüttelte sich in dem Versuch, seine abgestumpften Nerven wieder wach zu bekommen. »Sind Sie sicher?« »Ganz sicher. Sieht so aus, als wollten sie nach Osten.« »Sind Sie sicher?«, echote Felan, eine schlanke Silhouette hinter seiner Fahrradlampe. »Ich meine, ich hätte gerade eben
weiter rechts plattgetretenes Gras gesehen. Die gehen immer noch nach Süden.« »Tatsächlich?«, fragte Roan. »Zeigen Sie's mir. Vielleicht haben sie sich getrennt. Lum, kommen Sie mit mir. Spar, Sie reiten weiter. Wir kommen gleich nach.« »Jawohl, Sir«, rief der Hauptmann. Der Rest der Gruppe radelte hinter ihm her; die Reifen ihrer Räder zischten über den Kies und das Gras. »Hier, Roan«, sagte Felan. Er betätigte den Rücktritt und streckte den Arm aus, um hinunter auf das Gras zu zeigen. »Sehen Sie, wie es plattgedrückt ist? Die Spur weist in diese Richtung.« Er unterstrich seine Worte mit einer Armgeste. Roan richtete seinen Fahrradscheinwerfer in die angegebene Richtung und spähte mit zusammengekniffenen Augen. Ein starkes Fluidum von Einfluss lag über diesem Teil des Landes und entschwand in die Ferne. Roan spähte so weit hinaus, wie der Schein seiner Fahrradlampe reichte. Das Gras war plattgetrampelt und das vor noch nicht allzu langer Zeit. »Ich bemerke nichts, Sir«, sagte Lum im Brustton der Überzeugung. »Sehen Sie denn nicht, wie das Gras niedergedrückt ist, Mann?«, fragte Felan gereizt. »Kommen Sie mit.« Roan hörte hinter sich das Geräusch von Fahrradreifen auf dem Gras. Einer der Gardisten, Soldat Hutchings, kam schlitternd neben ihm zum Stehen, sein Rad mit dem Fuß abbremsend. »Hauptmann Spar möchte wissen, was Sie meinen«, meldete er atemlos. »Die Spur führt hier entlang«, sagte Felan. »Hauptmann Spar meint, die Spur, der er folgt, sei nicht überzeugend«, japste der Soldat und holte tief Luft. »Er sagt, Fräulein Colenna sei ihm im Wald vorausgeeilt und hätte sich verirrt und um Hilfe
gerufen, und als er sie gefunden und zurück in die Gruppe geholt hätte, wäre keine Spur mehr von der Spur zu finden gewesen, ganz gleich, in welcher Richtung er auch gesucht hätte, und nun will er wissen, ob wir zu Ihnen stoßen - oder ob wir bis zum Anbruch des Tages warten sollen.« Roan sah die beiden anderen an, und aus ihren Mienen war klar zu ersehen, dass sie davon ausgingen, dass er die Führung übernahm. Felan deutete auf das plattgedrückte Gras, das nach Süden führte und hob fragend die Brauen. Lum stand teilnahmslos über dem Rahmen seines Fahrrades und wartete auf Befehle. »Sagen Sie ihm, er soll umkehren und zu uns stoßen«, sagte Roan. Sie radelten scheinbar endlos weiter. Die Sonne war hinter den Bergen versunken. Selbst die Sterne blieben hinter einer dicken Wolkendecke versteckt, sodass allein der Schein ihrer Fahrradlampen sie immer weiter nach Süden geleitete. Roans Konzentration war auf die schmalen, wippenden Lichtkegel zusammengeschrumpft. Er fühlte sich, als ob der Körper, den er bewohnte, nicht mehr sein eigener wäre. Wenn er jetzt aufhören würde in die Pedale zu treten, würden die Räder sich auch so, ganz von selbst, weiterdrehen, weil der Pfad ihn an seinen Augäpfeln vorwärtszöge. Donner grollte drohend an den Grenzen seines Hörvermögens. Urplötzlich zerriss ein gleißender Blitz den Himmel von oben nach unten und erfüllte ihn mit einem kalten, blauen Glanz. »Schauen Sie doch!«, schrie Spar. »Der Pfad führt geradewegs auf ihn zu«, sagte Felan. Roan löste den Blick vom Pfad und schaute nach vorn und sein Herz füllte sich mit Verzweiflung. Wieder peitschte ein Blitz und sein gleißendes Licht illuminierte für einen Sekundenbruchteil die groteske Front des Albtraumwaldes.
9. KAPITEL Alle bremsten scharf und schauten hinauf zu den verkrüppelten und grotesk verzerrten klauenartigen Ästen, deren totes, aschfahles Grau sich gespenstisch gegen den nachtdunklen Himmel abhob. Die Stämme waren dräuende Schatten. Hunderte von Augenpaaren, in denen sich der Schein der Fahrradlampen widerspiegelte, tauchten plötzlich zwischen ihnen auf und verschwanden ebenso schnell wieder, bevor irgendjemand Mutmaßungen darüber anstellen konnte, zu wem oder zu was sie gehörten. »Ich bin sicher, sie sind da reingegangen«, beharrte Felan und setzte den Fuß auf das Pedal. »O nein!«, stöhnte Roan. »Nicht in den Albtraumwald!« »Doch!«, sagte Felan, auf den Boden deutend. »Schauen Sie doch, Mann.« »Wenn ihre Spur dort hineinführt, dann müssen wir ihr wohl folgen«, erklärte Bergold mit sichtlichem Unbehagen. »Da rein? Im Dunkeln?«, fragte Soldatin Alette und ihre Stimme steigerte sich zu einem erstickten Quieken. »Wir können doch nicht... Ich habe gehört, wenn man... nach Einbruch der Dunkelheit da reingeht... kommt man nie wieder raus.« »Man kann da wieder raus«, sagte Roan, seine Stimme mühsam kontrollierend, damit sie nicht zitterte. All seine Kindheitsängste hämmerten wie wild in seiner Brust - in dem verzweifelten Versuch, ihr zu entfliehen. »Ich habe es geschafft. Aber es war hart.« »Dann lasst uns gehen«, entschied Spar. Aber keiner machte Anstalten, seiner Aufforderung zu folgen. »Wir müssen weiter«, sagte Leonora mit bebender Stimme.
»Wenn wir zusammenbleiben, müssten wir es schaffen.« Roan wertete seine nächste Handlung später als das Tapferste, das er je vollbracht hatte. Ganz bedächtig stieg er von seinem Rad und schob es unter das düster dräuende Dach aus knorrigen, verdrehten Ästen. Dann schaute er über die Schulter zurück zu den anderen. »Nun macht schon«, rief er. »Ich bin knapp hinter dir«, sagte Leonora und folgte ihm hastig mit Golden Schwinn. Roan konnte das unbehagliche Rasseln von Speichen hören, als das königliche Ross vor Angst erzitterte. Leonora brachte es mit einem leisen »Psst!« zum Verstummen und redete besänftigend auf es ein. Der Klang ihrer Stimme hatte auch auf Roan eine beruhigende Wirkung. Dieser Augenblick ähnelte vielen in ihrer Kindheit, als sie zusammen die Schatten herausgefordert hatten, wenngleich jene Mutproben vergleichsweise kleine Fingerübungen gewesen waren, begangen in den zahlreichen dunklen Winkern und Kellern des Schlosses, die mit den Jahrhunderten zahm geworden waren. Dieser Wald jedoch war ungezähmt und furchterregend. Er hielt sich dicht vor ihr, damit jede Gefahr, die sie bedrohte, zuerst durch ihn würde hindurchgehen müssen. Hinter den Führern folgten die anderen in einer Traube. Sie hielten sich so dicht beieinander, wie es gerade noch möglich war, ohne dass man sich gegenseitig in die Hacken trat. Einzig Spar schien von der lauernden Bedrohung unberührt. »Es sind doch bloß Bäume!«, knurrte er verächtlich, als die anderen mit weit aufgerissenen Augen um sich spähten. »Lebendiges Brennholz. Baustoff. Die Vorstufe von Papier.« Die verwirrenden Einflüsse, die Roan und Felan gefunden hatten und die zu dem Wald geführt hatten, verloren sich in dem Augenblick, als sie den Wald selbst betraten. Abgebrochene Zweige und die verräterisch tiefen Fußabdrücke
der WECKERträger waren ein klarer Hinweis darauf, dass etwas Schweres hier durchgekommen war. Vielleicht sogar mehrere schwere Lasten, nach dem Zustand des Geläufs zu urteilen. Die Laubschicht auf dem Boden wirkte aufgewühlt, das Unterholz teilweise plattgetrampelt oder regelrecht zerfetzt. Die Fährte endete jäh vor einem engen, undurchdringlichen Dickicht am Fuße eines riesenhaften, bedrohlich anmutenden Baumes. »Wo sind sie hingegangen?«, fragte Leonora, von hinten über Roans Schulter spähend. »Wie sind sie hier rausgekommen?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Roan. Er ließ Cruiser bei Golden Schwinn stehen und reckte sich mit seiner Lampe um beide Seiten des großen Baumes herum, um zu erkunden, wohin die Fährte führte. Der Baum verlagerte sein Gewicht ein wenig nach hinten und Roan sprang erschrocken zurück. Weitere drei Zoll aufgerissenen Bodens erschienen unter seinen Wurzeln. »Er hat sich bewegt!«, rief Leonora. Mit einem unguten Gefühl blickte Roan an dem Baum hinauf. »Ich glaube, wir sind die ganze Zeit der Fährte dieses riesigen Burschen gefolgt.« »Nicht wütend werden«, warnte ihn Bergold. »Das ist eine im wahrsten Sinne des Wortes - verrückte Eiche. Sie reagieren sehr langsam, aber sie sind das Stärkste, was es auf der Welt gibt - gleich nach einer Lawine.« »Keine Angst, das werde ich bestimmt nicht«, sagte Roan ganz ruhig, den Blick nicht eine Sekunde von den dicken Ästen über seinem Kopf wendend. Vorsichtig zog er seine Hände von der Rinde weg und bewegte sich langsam rückwärts. »Alle Mann umkehren, aber bitte ganz vorsichtig und behutsam, bis wir außerhalb der Reichweinte seiner Aste sind. Und nicht die Wurzeln berühren!« Aber es war schwierig für eine große Gruppe von Menschen
mit Fahrrädern, ohne einen einzigen Unfall im Dunkeln an einem fremden Ort auf dem Absatz kehrtzumachen. Roan schlug Cruisers Lenker bis zum Anschlag ein und schob ihn vorsichtig herum, langsam einen Fuß vor den anderen setzend. Cruiser quietschte protestierend. Und dann begann das Stechen. Summende Plagegeister ließen sich auf seinen entblößten Händen und auf seinem Gesicht nieder. Wo sie ihn berührten, erhoben sich schmerzende, juckende Pöckchen, bevor er die Biester mit der Hand wegwischen konnte. »Au!«, schrie Leonora und schlug auf ihre Arme. »Da beißt mich etwas!« »Schütze dich, meine Teure«, sagte die Amme mit fester Stimme. Sie stand hinter Roan und der Prinzessin. »Wir hätten besser eine Schutzsalbe aufgetragen, bevor wir nach draußen gehen, nicht wahr?« Solch prosaischer Rat beruhigte die Gruppe für den Augenblick. Roan zog einen Schleier des Einflusses wie eine Plane über sich. Die Insekten zogen sich unter wütendem Summen zurück. Roan machte dem Wald im Geiste eine lange Nase. »Weitergehen«, sagte Bergold. Seine sonst so fröhliche Stimme klang ernst. »Wir werden gleich wieder hier raus sein.« »Passen Sie doch auf, wo Sie hinfahren!«, schrie eine Stimme hinter ihnen und Roan hörte ein lautes Krachen. Er blickte über die Schulter nach hinten. Felans Ross und das von einem der Gardisten, der Soldatin Alette, hatten sich mit den Lenkern ineinander verhakt. Beide Räder bockten und sprangen, um sich wieder zu befreien, während ihre Reiter vergeblich versuchten, sie auseinander zu zerren. »He, Sie!«, schrie Spar seine Gardistin an. »Soldatin Alette! Bringen Sie Ihr Reittier unter Kontrolle!« »Das versuche ich ja, Sir!«, rief die junge Frau mit heiserer
Stimme, am Rahmen ihres Streitrosses zerrend. Sie schaute zu ihrem Hauptmann auf, und ihre Augen weiteten sich angesichts von etwas, das sich hinter ihm befand, zu Untertassen. Roan blickte nach oben. Zwei riesige, verkrümmte Äste reckten sich hinunter zu den ineinander verhakten Fahrrädern. Leonora stieß einen schrillen Warnschrei aus. Felan ließ sein Ross los und zeigte auf den Baum, allen Einfluss auf ihn richtend, der ihm zu Gebote stand. Doch der Albtraumwald erwies sich als stärker denn jedes Einzelwesen. Die Äste fegten ihn und Alette zur Seite, schnappten sich die beiden Fahrräder und schleuderten sie weit weg in die Dunkelheit. Vor Angst laut wiehernd, rissen sich die anderen Rösser von ihren Reitern los und traten auf dem schmalen Pfad den Rückzug an, in ihrer Panik über die Füße ihrer Besitzer rollend. Roan haschte nach Cruiser und verfehlte ihn. Das silberfarbene Rad brach krachend ins Unterholz, mit einem laut um Hilfe quietschenden Golden Schwinn im Schlepptau. Einen Augenblick später waren sie alle verschwunden. »Haltet sie auf!«, schrie Leonora. »Bleib hier bei Spar!«, schrie Roan ihr zu. Er rannte hinter den durchgegangenen Fahrrädern her in den Wald. Ihr angstvolles Gequietsche entfernte sich in unterschiedliche Richtungen. Roan blieb einen Augenblick lang stehen, unschlüssig, wohin er sich wenden sollte, dann folgte er kurzerhand dem lautesten Quietschen. Schon nach wenigen Schritten wurde ihm klar, dass er einen Fehler begangen hatte. Alles, was die Gruppe an Lampen bei sich trug, war entweder an den Rädern befestigt oder befand sich in ihrem Gepäck. Keiner von ihnen war im Augenblick im Besitz seiner Lampe. Er stand allein im Dunkeln inmitten des Albtraumwaldes. Er wandte sich zum Umkehren - und musste zu seinem Schrecken erkennen, dass er nicht wusste, aus welcher Richtung er gekommen war. Ein tiefes Rumpeln ließ den Boden unter seinen Füßen erbeben und in den Baumkronen hoch über ihm erhob sich
unheilvolles Flüstern. Sofort fühlte er sich wieder um zwanzig Jahre zurückversetzt, und die Schreie, die er hörte, waren die Stimmen seiner zwei kleinen Freunde. Sie hatten sich gegenseitig dazu angestachelt, den verwunschenen Wald zu betreten. Es war töricht von ihm, dass er sich zum Mitmachen hatte überreden lassen. Die Bäume erschienen im Dunkeln alle so viel größer und er konnte den Himmel nicht mehr sehen. Roan schlang die Arme ganz fest um seinen Oberkörper und konzentrierte sich darauf, seinen eigenen Einfluss bei sich zu behalten. Er war kein kleiner Junge mehr, sondern ein erwachsener Mann, und was ihn da umringte, war nichts weiter als Schatten und Bäume. Und das Wispern kam vom Wind, der durch die Äste strich. Es gab nichts, wovor er sich hätte fürchten müssen. Das Lachen wurde lauter und rauher. Nein, der Wald bezog alle Macht, die er brauchte, aus den Ängsten von Millionen von träumenden Geistern, und er machte kurzen Prozess mit allen Barrieren, die Roan errichtete. »Na schön«, schrie er zornig. »Ich bin immer noch ein verängstigter kleiner Junge. Aber ich gehe!« Er tastete blindlings um sich nach dem Weg zurück zu den anderen. Sie würden bis zum Tagesanbruch darauf warten müssen, dass die Fahrräder wieder zurückkamen. Eine weitere Verzögerung. Er hoffte nur, dass Broms Vorsprung noch nicht allzu sehr gewachsen war. Seine tastenden Hände stießen gegen einen Baumstamm nach dem ändern, aber er fand keine Lücke zwischen ihnen. Die Bäume standen in einem dichten undurchdringlichen Ring um ihn herum. Wie hatte er hierher gelangen können, wenn es keine Lücke zwischen den Bäumen gab, die groß genug gewesen wäre, dass sein Körper hindurchgepasst hätte? Ach, richtig, er hatte ganz vergessen, dass sie sich bewegen konnten. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit,
was freilich alles nur noch schlimmer machte. Er konnte schemenhaft die spitzen Äste erkennen, die um ihn herumwedelten. Ein klauenartiger Ast tastete nach seinen Augen und er fegte ihn mit dem Arm beiseite. Schattenhafte Äxte sausten über seinen Kopf hinweg; Arme schwangen Schwerter; Keulen pfiffen gefährlich nah an seinem Ohr vorbei; bösartig leuchtender grüner Schleim tropfte aus mysteriösen Bechern und zischte laut auf, wo er hinfiel; Steuererklärungsformulare raschelten vor seinem Gesicht. Roan wehrte sie mannhaft ab, aber hinter ihnen lauerten schon neue Greuel. Dann landete etwas auf seiner Hand und Roan zuckte zusammen. Auf Myriaden von Krabbelbeinen krabbelte das Etwas hurtig davon, bevor er nach ihm schlagen konnte. Ein anderes Etwas von derselben Größe fiel ihm auf den Kopf. Er schaute hoch und zwei weitere Exemplare fielen auf sein Gesicht und krabbelten blitzartig weg. Immer mehr von den Viechern fielen von den Bäumen. Es waren Tausende, Zehntausende, Hunderttausende. Sie regneten von den Bäumen herab oder kamen an den Stämmen heruntergekrabbelt und füllten langsam, Schicht um Schicht mit ihren krabbelnden Leibern, den Ring, in dem er stand. Nicht mehr lange und er würde in Ungeziefer versinken. »Hilfe!«, schrie er. »Kann mich irgendjemand hören?« Leises, krächzendes Gelächter erhob sich um ihn herum in der Schwärze und Roan ging in Hab-Acht-Stellung. Er erinnerte sich, dass sein Taschenmesser über eine kleine Notlampe verfügte und holte es hervor. Als er es aufklappen wollte, sah er plötzlich ein Paar roter, böse blickender Augen vor sich auflodern und im selben Augenblick schlug ihm ein Ast das Messer aus der Hand. Er kniete nieder, um es zu suchen, aber eine knotige Wurzel glitt darüber und begrub es unter sich. Roan scharrte an der rauhen Rinde und das Gelächter verspottete ihn.
»Sind Sie da, Sir?«, fragte eine Männerstimme. Roan stand auf. »Ja! Kommt her und helft mir!« »Roan?«, rief eine Frauenstimme - Leonoras Stimme. »Wo steckst du?« »Hier!«, rief er in die Dunkelheit und schlug mit den Fäusten gegen den nächstbesten Baum. »Ich sitze in einer Falle! Ich komm hier nicht raus! Bringt eine Axt mit!« Ein dünner Lichtfinger durchbohrte die Dunkelheit und tastete sich einen Weg zwischen zwei Baumstämmen hindurch. Roan streckte einen Arm aus und winkte, um den Suchern zu zeigen, wo er war. »Hier!« »Da sind Sie ja, Sir!«, rief Hauptmann Spars Stimme, und die vertraute Silhouette des Gardisten tauchte zwischen den Bäumen auf, gefolgt von dem schlanken Schatten der Prinzessin. »Keine Angst, wir werden diese hölzernen Burschen verscheuchen. Ich habe eine große, scharfe Axt, die nur darauf wartet, in sie hineinzubeißen.« Er leuchtete mit seiner Lampe durch die Lücke an Roan vorbei.' Im Schein der Lampe sah Roan, wie der Hauptmann die Brauen hob. »Sir«, sagte er mit einer gänzlich veränderten Stimme. »Warum sind Sie nicht einfach dort rausgegangen?« Seine andere Hand kam heraus und zeigte auf einen Punkt hinter Roan. Roan drehte sich um. Der Weg war offen. Es gab keine Bäume hinter ihm. Ein paar zottige Schößlinge klammerten sich im Schein der Lampe so fest aneinander wie zu Tode verängstigte Rehe. »Aber sie hatten mich umzingelt!«, protestierte Roan. »Sie waren riesengroß. Sie haben mir mein Messer aus der Hand geschlagen und sich mit einer Wurzel darauf gestellt. Ich saß in der Falle! Wirklich!«
Spar legte den Kopf schief. »In der Dunkelheit passieren manchmal seltsame Dinge«, sagte er, und seinem Tonfall war zu entnehmen, dass er damit mehr meinte als bloß wandernde Bäume. »Kommen Sie, Meister Roan. Ist das nicht Ihr Messer da auf dem Boden?« Der Lichtkegel senkte sich nach unten und blieb an einem Finger aus Rot und Silber hängen. Roan bückte sich, hob es auf und strich mit dem Finger über das Gehäuse. Es war mit einer dicken Moosschicht bedeckt, eine kleine Stichelei zum Abschied von den Bäumen. Er wandte sich um, um es Spar zu zeigen, aber der Hauptmann hatte bereits kehrtgemacht und war auf dem Weg zurück zu der kleinen Lichtung. Roan kam sich ziemlich dämlich vor, als er an den wenigen Bäumen, die von dem Ring übriggeblieben waren, vorbei ging und sich den anderen anschloss. »Bist du wohlauf?«, fragte Leonora leise. Sie ließ sich ein Stück zurückfallen und hakte sich bei Roan unter. »Abgesehen von meiner verletzten Würde bin ich wohlauf, ja«, versicherte Roan ihr. »Sind die Fahrräder zurückgekommen?« »Nein«, antwortete die Prinzessin. »Ist das nicht seltsam? Es ist schon das zweite Mal heute, dass sie vor Schreck durchgegangen sind. Wenigstens haben die Bäume nicht auch noch ein paar Menschen durch die Luft geworfen.« Für eine wohlerzogene Dame von edlem Geblüt, für die der größte Horror darin bestand, mit zu Besuch weilenden Würdenträgern tanzen zu müssen und sich von Privatlehrern Abschlussprüfungen abnehmen lassen zu müssen, schlug sie sich bemerkenswert gut. »Wir werden wohl zu Fuß hier raus müssen«, sagte Spar. »Die Rösser werden bei Tageslicht rauskommen, wenn sie können. Sonst werden wir halt schneller marschieren, bis wir Ersatz kriegen. Antreten!« »Sir!«, sagte Lum, der neben ihm auftauchte, mit einem
zackigen Salut. »Wir haben sie gefunden!« »Die Fahrräder?«, fragte Roan. »Nein, Sir, die Wissenschaftler!«, sagte Lum, hocherregt. Alette und Hutchings, die hinter ihm standen, nickten bestätigend. Sie hatten sich verändert: Sie waren jetzt größer und stärker und ihre Uniformen bestanden aus dunkeloliv tarnfarbenen Hemden und Hosen. Außerdem trugen sie runde, netzüberzogene Stahlhelme. »Ich habe ihre Stimmen gehört, in westlicher Richtung, Sir. Wir alle haben sie gehört. Stimmen und Maschinengeräusche. Sie müssen es gewesen sein, Sir.« »Gut«, sagte Leonora. »Ich werde Meister Brom ein paar deutliche Worte zu sagen haben; von wegen, uns hier im dunklen Wald herumtapern zu lassen. Ich bin hier nie gern gewesen!« Spar runzelte die Stirn, während seine Uniform sich der seiner Truppe anglich. »Können Sie die Stelle wiederfinden, Korporal? Der Pfad ist in ständiger Bewegung.« »Ganz sicher, Sir«, sagte Lum. »Wir sind meinem Kompass hierher zurückgefolgt. Wenigstens der ist standhaft geblieben.« Der Hauptmann rieb sich die Hände und bog seine Finger hin und her, dass die Gelenke knackten. »Dann hätte sich das hier ja doch noch gelohnt. Was sagen Sie, Meister Roan.« »Wir kaufen sie uns«, sagte Roan. »Gehen Sie voran, Korporal!« »Jawohl, Sir!«, sagte Lum. Er richtete den Strahl seiner Lampe nach rechts, wo die Bäume weiter auseinander standen. »Hier entlang.« Einen Schritt dahinter fand Roan es leichter, im Dunkeln zu manövrieren. Leonora schloss zu ihm auf und hakte sich bei ihm ein. Im Schein der Lampe, die sie sich von einem der Gardisten ausgeliehen hatten, konnte er ihre Augen erkennen. Sie waren riesengroß und hellwach.
Die Bäume warfen furchterregende Schatten auf ihren Pfad, aber Roan richtete immer wieder den Lichtkegel der Lampe auf sie und reduzierte sie auf das, was sie waren: Äste und Blätter. Der schrille Ruf eines Nachtvogels ließ sie beide auffahren und dann nervös lachen. Leonora hielt sich fest bei ihm eingehakt. »Wie weit ist es noch, Korporal?«, fragte Roan nach einer Weile. »Nicht mehr weit«, sagte Lum. »Wenn Sie ganz leise sind, können Sie ihre Stimmen fast schon hören.« »Ich kann nicht viel hören - bei dem Lärm, den wir machen«, brummte Spar von hinten. »Psst!«, zischte Leonora unwirsch. »Hört doch!« Roan lauschte angestrengt, um das leise Stimmengemurmel zu verstehen, das von weiter vorn kam. Nach und nach waren erste Wortfetzen auszumachen. »Kehrt um ... eine Falle ... verloren ... ihr werdet hier umkommen ... umkommen.« War das eine Warnung, oder nur die natürliche Boshaftigkeit des Albtraumwaldes?« »Habt ihr das gehört?«, fragte Roan. »Was gehört?«, fragte Spar. »Das ist nur der Wind in den Wipfeln, Sir.« »Ich hör es«, sagte Hutchings. »Klingt wie Drohungen. Der Wald will nicht, dass wir hier sind. Er wird uns töten.« Die Gardistin schluchzte leise in sich hinein. »Ich habe mich hier schon einmal verirrt, als ich noch ein Kind war. Die Stimmen haben mich fast in den Wahnsinn getrieben. Die Worte!« »Es ist schon gut«, sagte Roan besänftigend und legte die Hand auf ihre Schulter. »Wir sind doch bei Ihnen. Wir müssen nur dicht beisammen bleiben.« Unter Aufbietung von allem, was Licht spendete - Laternen,
Taschenlampen, Taschenmesserlampen, ja sogar Geistesblitzen - und den Weg ausleuchtete, marschierte der kleine Trupp tapfer voran. Die Nadel in dem Miniaturkompass, der in das Gehäuse von Roans Taschenmesser eingesetzt war, zeigte nach rechts, zum Schloss der Träume. Also marschierten sie in westliche Richtung» Der Untergrund war trocken und einigermaßen eben, Ein Etwas mit Dutzenden von kalten, kitzelnden Beinen landete mit einem >plopp< auf Roans Handrücken und vor Schreck ließ er fast das Messer fallen. Nicht schon wieder! dachte er. Er schlug auf seine Hand, traf aber nur sein eigenes Fleisch. Da war nichts. Wohl eine weitere Sinnestäuschung. Etwas anderes kitzelte ihn an seinem Hals gleich unter dem rechten Ohr. Er zuckte hoch und drehte sich um. Ein leuchtendes Gesicht grinste ihn höhnisch an. Roan japste und das Gesicht verschwand wieder. Ein paar der Soldaten schrien. Roan wandte sich um, und ein anderes Gesicht tauchte vor ihnen auf, mit leeren Augenhöhlen und grinsendem Maul. Lum hob seinen Stab und schlug nach dem Gesicht, aber er traf nur Äste und Blätter. Die leuchtende Maske verschwand mit einem schaurigen Lachen. Eine Gargoyle-Fratze mit Hörnern, spitzen Ohren und einer gespaltenen Zunge, noch schauerlicher als die ersten beiden, erschien unmittelbar vor Roan, der entsetzt zurückprallte. Leonora kreischte. »Albträume«, rief eine vertraut klingende Stimme fröhlich. »Harmlos.« Roan atmete erleichtert auf. »Bergold. Du hast dich schon wieder verändert.« »Hmm«, sagte Bergold. Er kratzte sich am Ohr und runzelte die Stirn, als er die Spitze obendrauf entdeckte. »Schlimm?« »Grauenerregend«, sagte Leonora in entschiedenem Ton. »Du leuchtest im Dunkeln.« »Interessant«, sagte Bergold, unbeeindruckt. »Dann sollte ich vorausgehen und mein Antlitz dieser Expedition leihen.« Er
schob sich nach vorn und ging neben Lum. »Immer ganz locker bleiben«, sagte Bergold. »Warte! Brr! Halt!« Zwischen dem >warte< und dem >brr< bewegte sich der Boden unter Roans Füßen und wölbte sich zu einem Hügel auf. Als Bergold bei >halt< ankam, war er bereits rückwärts auf seinen Freund gefallen, der seinerseits gegen Rea fiel, die in die Reihe der Gardisten purzelte. Und dann fielen sie alle aufeinander in eine Mulde, die voller kratziger Baumwurzeln war. »Das war eben noch nicht hier!«, rief Lum. »Wir sind vorhin noch an dieser Stelle vorbeigekommen und da war sie so platt wie ein Pfannkuchen. Ich bitte Sie in aller Form um Verzeihung, Eure Hoheit«, fügte er hinzu, während er mit vor Verlegenheit hochrotem Kopf von den Beinen der Prinzessin herunterstieg. »Ist der Boden lebendig?«, fragte Leonora, während sie sich wieder aufrappelte. Sie hatte den auf ihr liegenden Lum in dem Durcheinander gar nicht richtig bemerkt. Ihre Amme war neben ihr und half ihr beim Aufstehen. Sie kletterten so rasch sie konnten aus der Mulde heraus. »Wenn die Bäume sich bewegen können, kann das auch der Boden«, erklärte Bergold. Er schnitt eine Grimasse und zeigte ungefähr achtzig spitze Zähne. »Er ist nicht in dem Sinne lebendig, wie wir es verstehen, aber er hat eine Art von Bewusstsein und einen Sinn für boshaften Unfug. Nicht sehr nett, nicht? Ist irgendjemand verletzt?« »Nein, Sir«, sagte Spar. Er zählte Köpfe und Nasen und fand von beiden eine gleich große Anzahl vor. »Da! Seht doch!«, sagte Felan hinter ihm. »Ein Licht! Sie sind hier!« »Das ist es, Sir!«, rief Lum. »Das ist das, was wir gesehen haben!«
»Psst!«, zischte Roan. »Broms Leute werden Sie noch hören!« »Die werden nichts hören«, murmelte Leonora neben ihm. »Hör doch nur, was für einen Lärm sie machen.« Roan lauschte. Er hörte viele Stimmen, die leise miteinander sprachen, und dazu viele andere Geräusche, die ihm nicht vertraut waren: flüssiges Gurgeln, mechanisches Kichern und sonderbare, blecherne Musik. Aber es war nichts von Unruhe oder Zeitdruck zu spüren. »Die haben sich so richtig häuslich eingerichtet«, sagte Spar leise. Roan hielt die Hand vor seine geborgte Lampe, damit die anderen sie sehen konnten, und signalisierte ihnen, näherzukommen. »Sie wissen nicht, dass wir hier sind«, flüsterte er. »Wir machen uns bereit und dann stürmen wir ihr Lager. Denkt daran, wir wollen den WECKER zerstören oder funktionsuntüchtig machen. Und achtet darauf, dass die Gruppe nicht zu dicht zusammenkommt. Ihr Einfluss ist ungeheuer stark, wenn sie sich gegenseitig berühren.« »Ich erinnere mich«, zischte Spar. »Ein Drachen, einfach so aus dem Nichts.« Er zückte sein Schwert und gab seinen Soldaten ein Zeichen, es ihm gleichzutun. Roan klappte sein rotes Taschenmesser auf. Diesmal wählte er eine schwere, mit Eisennoppen bewehrte Keule. Die Prinzessin rückte ins hintere Glied in die Obhut Bergolds, der sie als geflügelter Gargoyle wenn nötig - beschützen konnte. »Wir greifen erst an, wenn wir sehen, wo jeder einzelne ist«, warnte Roan. »Wir müssen aufpassen, dass keiner sich heimlich an uns vorbeischleicht und entkommt.« Die Lichtung vor ihnen war erhellt von einem weißblauen Licht, das so grell war, dass es Roan schwerfiel, von seiner Warte aus genauere Einzelheiten auszumachen. Seltsam
abgemagert wirkende Gestalten bewegten sich vor der Lichtquelle hin und her. Die Maschinengeräusche waren ihm fremd, aber das war nicht weiter überraschend. Nur die Schläfer allein wussten, was Brom noch so alles in petto hatte. Roan wäre jede Wette eingegangen, dass die Wissenschaftler mehr an technischen Innovationen zu bieten hatten, als sie dem König je zeigen würden. Als sich seine Augen an das grelle Licht gewöhnt hatten, hielt er nach dem WECKER Ausschau. Eine leichte Berührung von Lum auf seinem Arm ließ ihn nach rechts schauen. Ein paar der Gestalten bewegten sich um einen buckligen Schatten. Er sah ziemlich groß aus. Roan nickte dem Korporal zu, worauf der leise auf Zehenspitzen ins Unterholz zurückschlich. Kurz darauf spürte Roan drei leichte Schläge zwischen den Schulterblättern. Mit einer Bewegung, die darauf angelegt war zu erschrecken, brach Roan aus dem Wald und in die Lichtung. Gelähmt vor Schreck, drehten die schattenhaften Gestalten sich um und starrten ihn an. Er sah ihre Augen, groß und dunkel in ihren Gesichtern. > »Meine Damen und Herren! Im Namen des Königs - Sie sind festgenommen!«, verkündete Roan und hob seine Keule. »Bitte unternehmen Sie keinen Fluchtversuch. Wenn Sie sich kooperativ zeigen und widerstandslos mitkommen, wird es besser für Sie sein.« »Haltet Sie auf!«, schrie Felan, eine Silhouette zu Roans Linken. »Sie laufen weg!« »Schnappt sie euch!«, brüllte Spar und stürmte auf die Lichtung. »Im Namen des Königs!« Er machte sich an die Verfolgung der Gestalten, die über die offene Lichtung huschten. Roan schloss sich ihm an. Broms Adepten hatten zwar einen kleinen Vorsprung, aber auf seinen langen Beinen würde er nicht lange brauchen, bis er sie gestellt hatte. »Dort vorn ist eine Höhle!«, schrie Lum und zeigte auf einen flachen, dunklen Halbkreis ein Stück voraus. Die Wissenschaftler rannten in diese Höhle hinein. Im Schein des
Lichts hatte Roan einen Augenblick lang den Eindruck, sie wären unbekleidet. War er in irgendein geheimnisvolles wissenschaftliches Ritual hineingeplatzt? »Gleich haben wir sie«, rief Spar vergnügt und schwang sein Schwert. Er gab seinen Soldaten ein Zeichen. »Ihr zwei, bleibt hier draußen und bewacht den Eingang. Lum, Sie gehen mit mir rein!« »Nein!«, schrie Leonora und ihre helle Stimme übertönte ihre Schlachtrufe. »Nicht reingehen! Seht doch!« Roan, der nur noch wenige Schritte vom Höhleneingang entfernt war, ruderte mit den Armen, um sich zum Stehen zu bringen. Er war jetzt nah genug, um eine der Gestalten sehen zu können, die er gejagt hatte. Sie wandte ihm ihr bestürztes, aschfahles Gesicht zu. Die riesigen Augen gehörten keinem der Adepten des Ministeriums für Wissenschaft, den er je gesehen hatte. Die Kreatur hatte schmale Lippen und keine Nase, und die Höhle, auf die es zurannte, war im Innern nicht dunkel. Überall leuchteten juwelfarbene Lichter, und in der Mitte der Höhle stand ein flacher, altarartiger Tisch, der von einem gleißenden weißen Lichtkegel angestrahlt wurde. Vier der weißgesichtigen Gestalten standen um ihn herum und bedeuteten Roan näher zu kommen. Roan wich hastig zurück. Jetzt war plötzlich er der Gejagte und sie waren die Jäger. Eine Handvoll von den seltsamen Wesen grapschte nach seinen Armen und Beinen und versuchten ihn in die Höhle zu zerren. Roan warf sich auf den Boden und rollte sich weg, ihre langen, zerrenden Finger auf seinen Schultern, an seinem Mantel und in seinem Haar spürend. Leonora schrie, als die Soldaten ihn erreichten und aus den zerrenden Händen befreiten. Das letzte der Wesen huschte zurück in die Höhle, während Roan sich wieder hochrappelte. Eine Tür glitt vor den Höhleneingang und schloss ihn hermetisch ab und gleich darauf begann der ganze Hügel unter einem ohrenbetäubenden Brummen zu vibrieren. Rote und weiße Lichtstrahlen und Blitze jagten sich gegenseitig über
seine Oberfläche, und der gesamte Hügel und das umgebende Terrain, einschließlich der Stelle, an der Roan gerade noch gestanden hatte, schoss in die Luft. Roan und die ändern standen da und glotzten ungläubig nach oben. Die untertassenförmige Masse verharrte für eine Weile in etwa tausend Fuß Höhe über ihren Köpfen und schoss dann unter Absonderung eines fünftonmusikalischen Lärmstoßes nach Süden davon. »Du meine Güte!«, brach Bergold das atemlose Schweigen. Roan blinzelte und kam auf die Erde zurück. Das Gargoylegesicht seines Freundes war von einem glückseligen Lächeln umkränzt. »Wo ist mein Notizbuch? Ich muss das zu Papier bringen, bevor ich auch nur ein einziges Detail vergesse!« »Nehmen Sie meins«, sagte Colenna und kramte in ihrer voluminösen Handtasche herum. Sie winkte einen der Gardisten zu sich, auf dass er ihr mit seiner kleinen Laterne leuchte. Der gelbe Lichtschein erschien plötzlich ziemlich kümmerlich und unbedeutend nach dem blendenden weißen Glast, aber er war viel freundlicher und anheimelnder. Bergold nahm das Notizbuch, das Colenna ihm hinhielt, entgegen und begann vor sich hin zu kritzeln, wobei er leise Selbstgespräche führte. »Nun, das waren sie denn wohl doch nicht«, sagte Felan. »Was nun?« »Ich habe langsam das Gefühl«, begann Roan, »dass Brom und seine Leute diesen Wald überhaupt nie betreten haben. Wenn, dann hätten wir zumindest inzwischen eine Spur von ihnen gefunden. Womöglich haben sie sich sogar mit...« - er deutete nach oben - »mit dem da oben zusammengetan, was auch immer das war. Wir sollten uns glücklich schätzen. Lasst uns zusehen, dass wir so schnell wie möglich wieder aus diesem Wald herauskommen und das Nachtlager aufschlagen.«
»Sie haben Recht«, sagte Hauptmann Spar mit entschlossener Miene und steckte sein Schwert zurück in die Scheide. »Ich für mein Teil habe Hunger und Durst und ich könnte eine Runde Schlaf gut vertragen. Korporal!« »Sir?«, sagte Lum. Er trat vor ihn und salutierte. »Führen Sie uns hier wieder raus.« Spar ließ alle in Zweierreihe hinter seinem Korporal antreten. Er selbst bildete die Nachhut. Wieder versuchte der Wald, ihnen den Weg zu verbauen und sie zu verwirren, aber diesmal waren seine Bemühungen halbherzig. Er schien sein Pulver tatsächlich verschossen zu haben. Alle blieben dicht beisammen; keiner ließ sich absondern, um sich alleine terrorisieren zu lassen. Roan stellte fest, dass er weniger Angst hatte vor den unsichtbaren Spinnen, die auf ihn fielen, vor den Phantom-Steuerprüfern, die ihm ins Ohr tuschelten, vor Popmusik-Rätseln, die ihm vor die Nase gehalten wurden, vor den Monstren, die die Gruppe mit Drohmienen begleiteten. Er begriff, dass er rennen musste, damit sie ihn jagten. Also rannte er nicht. Er war zu müde, um Angst zu haben. Nach sehr kurzer Zeit merkte die Gruppe, dass sie allein war. »Psst!«, sagte Bergold und spitzte sein spitzes Ohr nach links. »Ich höre ein Rascheln!« »Seht nach, was es ist!«, befahl Korporal Lum seinen Soldaten. Sie quetschten sich durch die Büsche, aber die anderen hielten die Lichtkegel ihrer Lampen auf ihren Rücken gerichtet. Kurz darauf hörte Roan freudige Ausrufe und Alette kam zurück, über das ganze Gesicht strahlend. »Es sind die Rösser!«, sagte sie. »Wirklich?«, fragte Leonora, sogleich besorgt. »Sind sie wohlauf?« »Ja, Eure Hoheit! Hier entlang!« Leonora und Roan folgten Alette in eine kleine Senke, in der die vier verschollenen Fahrräder ängstlich beieinander kauerten. Leonora kniete sich
zwischen Cruiser und Golden Schwinn, tätschelte sie und redete besänftigend auf sie ein, bis sie sich an ihre Schultern kuschelten. »So«, sagte Leonora zufrieden. »Jetzt geht es ihnen wieder gut.« Roan kontrollierte die Satteltaschen und Gepäckträger. »Es ist noch alles da«, sagte er. Er gab Cruiser einen liebevollen Klaps, froh, seinen silbern lackierten Freund wiederzuhaben. Sie folgten den Lichtern zurück auf den Pfad. Korporal Lum übernahm wieder die Führung. Hundert Schritte weiter konnte Roan die Sterne durch die Wipfel blitzen sehen. Plötzlich krachte ein zehn Fuß langer Stamm unmittelbar vor Lum auf den Boden und verstreute überall seine stacheligen Äste. Die Rinde war dicht gespickt mit fingerlangen Dornen. Die Fahrräder stiegen auf dem Hinterrad hoch und schrien. Roan legte die Hand auf Cruiser und Golden Schwinn und tätschelte sie beruhigend, damit sie nicht noch einmal durchgingen. Er warf den Kopf in den Nacken. »Okay!«, schrie er, an die Adresse des Waldes gewandt. »Du hast gewonnen! Du hast es geschafft, uns zu vertreiben! Wir gehen. Wir können deine Schrecknisse nicht länger ertragen. Wir wollen nur noch eins: raus aus dir!« Der abgebrochene Stamm hielt in seinem Schaukeln inne, wie als dächte er über Roans Worte nach. Dann - ebenso plötzlich, wie er gefallen war - zerbrach er in zwei Hälften. Jede der Hälften, innen hohl wie eine Eierschale, schaukelte einen Augenblick auf ihrem stachligen Äußeren und zerbrach dann in mehrere Stücke, nicht dicker als Rinde, eine Wolke vermoderten Holzstaubes in alle Richtungen versprühend. Lum bekam eine volle Ladung davon ins Gesicht und wurde von einem Hustenanfall heimgesucht. Colenna sprang herbei und schlug ihm auf den Rücken, bis er wieder Luft bekam.
»Der ist ja völlig abgestorben!«, schrie Spar überrascht. »Sehen wir zu, dass wir hier rauskommen, bevor noch etwas anderes auf uns fällt«, sagte Leonora. »Da haben Sie Recht, Eure Hoheit.« Die Gruppe bewegte sich vorsichtig auf Zehenspitzen über die Überreste des Baumes, wachsam nach weiteren Sprengfallen Ausschau haltend, aber Roan wusste, dass es keine mehr geben würde. Der Wald hatte sie endlich freigelassen. »Puh!«, sagte Bergold und klopfte sich ab, als sie den letzten überhängenden Ast passierten. Das phosphoreszierende Leuchten begann aus seinem Gesicht zu verschwinden, bis er schließlich nur noch grotesk ausschaute. Langsam aber sicher verwandelte er sich wieder in einen gewöhnlichen Mann, diesmal mit einem dichten Schöpf schwarzen, von ersten grauen Fäden durchzogenen Haares und einer Hakennase. »Wie hast du das gemacht, Roan?« »Ich habe eine Lektion gelernt«, sagte Roan bescheiden. »Zeig Respekt und eine Bedrohung verliert jede Macht über dich. Ich wünschte, ich hätte das schon vor zwanzig Jahren gewusst.« Er hatte das Schreckgespenst seiner Kindheit nicht völlig verbannt, aber er hatte es für diesmal zurückgeschlagen. »Wir stehen wieder genau an der Stelle, wo wir hineingegangen sind«, sagte Spar verärgert. »Reine Zeitverschwendung. Sie sind nie hier entlanggekommen. Brom muss den Wald umgangen haben. Er ist gar nicht durch ihn hindurchgegangen.« »Nein, aber wir mussten sichergehen und nachschauen«, sagte Roan. »Es tut mir aufrichtig Leid«, erklärte Felan zerknirscht und schlug sich mit der flachen Hand auf die Wange. »Die Spur schien so klar.«
»Wir hätten der Spur folgen können, die der Baum gemacht hat«, sagte Roan. »Ich habe es auch geglaubt.« »Nun, solange Sie mir verzeihen«, sagte Felan mit einem verschämten Grinsen. »Was mir so unglaublich erscheint«, begann Roan nachdenklich, »ist, dass Brom und seine Adepten, nachdem sie mir entkamen, bis zum Albtraumwald marschiert und dann wieder umgekehrt sind.« Bergold schürzte die Lippen und stieß einen langen Pfiff aus. »Meine Güte«, rief er. »Ich hatte die Schwierigkeiten einer solchen Expedition nicht bedacht. Die Wissenschaftler verfügen in der Tat über beträchtliche Macht.« »Einzigartig«, sagte Felan in leisem, respektvollem Ton. »Nun, für heute Nacht haben wir sie verloren«, sagte Bergold und warf die Hände in die Luft. »Ich fall vor Müdigkeit gleich um. Machen wir Schluss für heute und gehen wir morgen früh zurück zu der Stelle, wo wir sie verloren haben.« »Einverstanden«, sagte Roan. »O nein!«, protestierte die Prinzessin. Sie schien sich wieder erholt zu haben, nachdem sie den Wald verlassen hatten, doch jetzt machte sie erneut ein besorgtes Gesicht. »Wir können uns keine Ruhepause erlauben! Sie werden weitermarschieren. Wir können ihre Fährte finden, jetzt, da wir wieder draußen sind.« »Meine Liebe, wir müssen unbedingt schlafen, wenn wir morgen zu irgendetwas nutze sein wollen«, sagte Bergold und nahm ihre Hand. Leonora schaute hilfesuchend von einem zum anderen. Alle schüttelten den Kopf, wie zur Entschuldigung. »Brom wird bestimmt auch eine Rast einlegen«, bemerkte Roan in begütigendem Ton. »Er und seine Leute benötigen sogar mehr als wir eine Ruhepause. Sie werden von uns gehetzt,, schleppen schwere und empfindliche Ausrüstung
durch gefährliches Terrain und sie erhalten diese Verbindung untereinander aufrecht. Darüber hinaus müssen sie sich ständig unsichtbar machen, damit wir sie nicht aufspüren. All das zusammengenommen mus s sehr anstrengend für sie sein. Sie werden schlafen, das verspreche ich dir. Wir brauchen eine Ruhepause und müssen etwas essen, sonst haben wir morgen nicht die Kraft, in die Pedale zu treten.« »Und wenn sie nun irgendwo einen Zug erwischt haben?«, protestierte sie hilflos. Roan konnte jetzt sehen, wie groß ihre Angst war - und dass sie gerade genug erschöpft schien, um nicht mehr vernünftig zu denken. »Was, wenn dieser Schmelztiegel sie die ganze Nacht ',, hindurch wachhalten kann?« »Selbst wenn er das könnte - die Schläfer können sie heute nacht auf keinen Fall mehr erreichen«, sagte Roan im Brustton der Überzeugung. »Ich glaube, sie wollen zu den Bergen, und das ist von hier aus noch ein weiter Weg, ganz gleich, zu welcher Gebirgskette. Wir können jedenfalls nicht mehr weiter. Die Fahrräder werden streiken, wenn wir ihnen keine Ruhepause gönnen«, fügte er hinzu, seinen Cruiser liebevoll tätschelnd. Das Ross schmiegte sich an seine Beine, als wolle es ihm seine Dankbarkeit für die Verschnaufpause zeigen. Leonoras Golden Schwinn kippte plötzlich um und blieb liegen; sein Vorderrad drehte sich noch ein paarmal müde. Sie schaute ihn an, und ein kleines, wehmütiges Lächeln kräuselte ihre Mundwinkel. »In Ordnung denn«, sagte Leonora. »Sie können wirklich nicht mehr. Und ich bin auch müde. Aber wir ziehen gleich morgen früh weiter, nicht wahr?« »Natürlich, Hoheit«, bestätigte Roan und entbot ihr ein Lächeln und eine tiefe Verbeugung. »Sollen wir unser Lager ein Stück weiter weg vom Waldrand aufschlagen?«
10. KAPITEL »Glinn! Glinn!«, schnitt Broms Stimme scharf durch das Zwielicht. »Hier, Herr!«, rief Glinn. Er ließ die kleine Prozession anhalten und klomm auf einen Hügel auf dem Feld neben dem Weg, sodass sein heller Mantel aus jeder Richtung zu erkennen war. Taboret spähte mit zusammengekniffenen Augen den Hügel hinunter und zog den Daumen aus dem Tragegurt ihres Rucksacks, um auf die stockdünne Gestalt zu zeigen, die mit rudernden Ellenbogen auf sie zugehastet kam. »Da kommt er«, sagte sie, überflüssigerweise, denn jeder konnte ihn sehen. So wie er leuchtete, einer flackernden Flamme gleich, musste er schon meilenweit zu sehen gewesen sein. »Er zehrt von der Vorfreude auf unseren Erfolg«, murmelte Glinn, als könne er in ihren Gedanken lesen. »Muss gut gegangen sein da hinten.« Mehrere gestaltlose Schatten schleppten sich hinter ihm her. »Sie sehen nicht gerade glücklich aus«, sagte Dowkin, von einem Fuß auf den anderen tretend, um den Druck der Lade, die auf seinen Schultern ruhte, ein wenig zu lindern. »Nicht ein Stück«, bestätigte sein Bruder am anderen Ende der Lade, auf der der WECKER stand. Brom überbrückte den Rest der Distanz auf seinen langen, spindeldürren Beinen, und Glinn sprang herunter, um ihn zu begrüßen. »Bericht!«, bellte Brom Glinn an. »Ist alles in Ordnung?« »Ja, Herr«, antwortete der junge Mann. Er war ernst und gutaussehend, und manchmal ein schrecklicher Langweiler, wenn er über die Theorie der Grundursachen, sein Lieblingsthema, schwadronierte. Im Großen und Ganzen aber
mochte Taboret ihn. Sie hatte schon immer seine Fähigkeit bewundert, sein Denken in Kästchen einzuteilen, sodass es den Anschein hatte, als ob er sich auf mehr als eine Sache gleichzeitig voll konzentriere. Eine solche Fähigkeit war eine wichtige Stütze im Labor. Er war stets anständig und freundlich - im Gegensatz zu anderen, die sie gekannt hatte. »Keine ungehörigen Einflüsse oder Störungen. Wir sind in ein Wettermuster geraten, aber wir haben es nach Südwesten abgelenkt.« »Zu viert?« Brom sah ihn scharf an. »Ohne Geschwindigkeitsverlust?« »Ohne Geschwindigkeitsverlust«, sagte Glinn stolz. Ja, dachte Taboret. Sie hatten nicht nachgelassen und sie hatte neben der Lade herrennen und sich mit Dowkin und Doolin an den Händen halten müssen, während sie sie trugen. Taboret hatte sich so geschwächt gefühlt, als die Energie des Schmelztiegels in zwei Richtungen gleichzeitig gesogen wurde, dass sie kurz davor gewesen war, ihre Stellung auf der Stelle zu kündigen und allein nach Mnemosyne zurückzulaufen. Zum Glück hatte sie sich für die Reise eine gute Form und prächtige Beinmuskulatur zugelegt. Sie hatte eine lange Mähne dunkelblonden, zu einem Zopf geflochtenen Haares und klare, haselnussbraune Augen in einem herzförmigen Gesicht. Nicht gerade wunderschön, dachte sie, aber auch nicht unansehnlich. »Gut«, sagte Brom, einen kurzen, flüchtigen Blick über den Rest werfend. »Wir machen gute Fortschritte auf dem Weg zur Fernsteuerung. Wir haben Dalton verloren. Der PalastInvestigator ist uns gefolgt und hat Dalton während einer Störung, die wir als Tarnung nutzten, um von ihm wegzukommen, festgenommen.« »Roan?«, fragte Glinn überrascht. »Wie hat er unsere Fährte gefunden? Wir haben die Fußspuren auf eine Länge von
hundert Schritten hinter dem Schlosstor verwischt.« »Ich weiß nicht, wie«, erwiderte Brom kurzangebunden. »Jedenfalls sind wir ihn jetzt los.« Taboret schluckte nervös ob der Endgültigkeit in Broms Stimme. Sie hoffte, dass Roan nichts Schlimmes widerfahren war. Sie mochte den Sohn des Historikers. Er war ein netter Mann, wenn auch etwas seltsam in seiner Unwandelbarkeit. Sie wollte, dass das Projekt ein Erfolg wurde, aber nicht auf Kosten des Lebens anderer Personen. Urplötzlich fuhr Brom auf dem Absatz herum und starrte mit lodernden Augen auf sie herunter. Sie japste erschrocken nach Luft: Hoffentlich hatte er ihre Gedanken nicht gelesen! Er zeigte mit dem Finger erst auf sie und dann auf einige der anderen. »Wir werden gleich hinter der Kuppe dieses Hügels unser Nachtlager aufschlagen. Sie und Sie, Sie helfen den Männern, das Gerät abzuladen. Aber vorsichtig!« »Jawohl, Herr«, sagte Taboret, während ihr das Herz bis zum Halse schlug. Er hatte sie nicht bei ihren schlechten Gedanken ertappt. Glück gehabt. Sie stapfte den Hügel hinunter - hinter der Lade her, durch ein kleines Gehölz auf eine Lichtung, die angenehm nach Blumen und süßem Gras duftete. Brom bedeutete ihnen anzuhalten und zeigte auf die Lichtung. »Hier«, sagte er. Taboret blieb in respektvollem Abstand hinter ihm stehen. Sie musste besser aufpassen, um ihren mentalen Tonus locker und gedämpft zu halten. Der Boss hatte bereits mehrfach unter Beweis gestellt, dass er durch die Verbindung manchmal die Gedanken der anderen lesen konnte. Sie hatte mehr als nur ein bisschen Angst vor ihm. Mit dreiundzwanzig schätzte Taboret sich glücklich, einen Beruf ausüben zu können, den sie liebte. Sie liebte das euphorische Gefühl, um die Richtigkeit wissenschaftlichen Forschens zu wissen, und das Kribbeln, das
ihr über den Rücken lief, wenn eine Theorie sich als richtig erwies. Die alten Bücher zu lesen und zu sehen, wie die großen Wissenschaftler der Vergangenheit zu ihren Schlussfolgerungen gekommen waren, war das größte Abenteuer, das sie sich vorstellen konnte. Bei Brom ging die Hingabe noch tiefer. Er schien einen unmittelbaren Zugang zu den Wegen des Schicksals selbst zu besitzen. Seine Vision verzehrte ihn von innen, und er fand, dass jeder genauso begeistert von seinem Projekt sein sollte, wie er es allzeit war. DenSiebenseidank war seine telepathische Gabe schwankend und nicht besonders akkurat. Brom schien Gefühle besser auffangen zu können als Worte; also hielt sie eine Hülle freudiger Erregung um sich herum aufrecht. Das meiste davon war jetzt echt. Sie war noch nie so weit von Mnemosyne fort gewesen und das Land um sie herum schien ihr fremdartig und neu. Es wurde allmählich zu einer so guten mentalen Vermummung, dass sie Brom gelegentlich dabei ertappte, wie er sie mit seinem wahnsinnigen Blick anstarrte. Taboret zuckte leicht zusammen, als sie merkte, wie der Boss sie jetzt musterte. Sie ging zu Glinn und half ihm, das Joch von den beiden Männern abzuschnallen, die es trugen. Dowkin und Doolin waren Zwillinge, stur wie Ochsen. Wann immer das Schicksal sie schlug und sie sich veränderten, sie blieben sich stets gleich. Unter den Lehrlingen, überwiegend ein geselliges Völkchen, hielten sich die Brüder immer abseits, als wäre der jeweils andere alles, was sie je an Gesellschaft brauchten. Sie waren so unfreundlich und eklig, dass Taboret, wann immer sie konnte, einen großen Bogen um sie machte. Brom behielt sie nur, weil sie brillante Gelehrte und zudem stark wie Bullen waren. »Pass doch auf, du hast mir in die Schulter gekniffen!«, beschwerte sich Doolin, als sie eine der schweren Schnallen an seinem Tragegurt löste.
»Pass auf, was du mit meinem Bruder machst!«, blaffte Dowkin sie an, während Glinn ihn von seinem Tragegurt befreite. »Sie hat ihm doch gar nichts getan«, versicherte ihm Glinn, während er das Geschirr anhob, sodass Dowkin darunter wegschlüpfen konnte. Die Brüder starrten sie gleichwohl mit wütendem Blick an und Taboret zog sich zur Seite des Rahmens zurück. »Danke«, sagte Taboret und warf ihm unter der Trage hindurch einen kurzen Blick zu, den die Brüder nicht sehen konnten. »Ist schon gut«, sagte Glinn. »Alle sind ein bisschen gereizt übermüdet.« Taboret ließ einen langen Seufzer entweichen. »Ich auch.« »Und jetzt alle zusammen«, sagte Glinn und die Gruppe nahm die Trage und stellte den WECKER auf die Erde. Brom gluckste wie eine Henne um sie herum und zog eine Grimasse, als das riesige Ding sich auf das Gras senkte. Die großen Glocken oben auf dem Gehäuse schwangen leicht auf ihren Stangen und berührten sanft den Hammer zwischen ihnen, ein leises Summen erzeugend. Sie machten Taboret nervös. Hin und wieder läuteten sie zusammen unter dem Segeltuch. Der Schall der metallenen Kuppeln hallte in ihrem Kopf wider, bis sie das Gefühl hatte, er würde ihr jeden Augenblick zerspringen. Taboret wollte weglaufen, ihren Teil in der Kette auflösen. Sie zwang den Gedanken aus ihrem Kopf, als der auf ihr ruhende Blick des Bosses etwas Fragendes, Spekulatives bekam, und bückte sich, um die Segeltuchhülle weiter unter das Gehäuse zu stopfen. Sie hatte sich - wie die restlichen Adepten und die beiden gedungenen Schläger - dazu verpflichtet, bis zum erfolgreichen Ende dieser Mission mitzumachen. War sie erst erfolgreich abgeschlossen, stand es ihnen frei, weiter im Dienste des Wissenschaftsministeriums zu
bleiben oder mit einem Zeugnis in der Hand fortzuziehen. Aber solange das Projekt lief, gab es kein Aussteigen. Hätte Taboret in diesem Augenblick die freie Wahl gehabt, sie wäre wahrscheinlich umgekehrt. Noch nie in ihrem Leben war sie so erschöpft gewesen. Ihre Pflichten und Aufgaben als Auszubildende im Wissenschaftsministerium waren gewöhnlich leicht und mit keinen sonderlichen Anstrengungen verbunden. Messungen durchführen, Daten aufzeichnen, Botengänge für Brom und die anderen Vorgesetzten erledigen, sich um die Ausrüstung eines sich im Gange befindlichen Experiments zu kümmern - nichts, was ihr besondere Anstrengungen abverlangt hätte. Carodil sagte ihnen immer, eines schönen Tages werde der Augenblick kommen, da sie ihre überlegenen Fähigkeiten, deretwegen sie aus den Tausenden von Bewerbern ausgewählt worden seien, würden anwenden können. Und dann war Brom mit seinem Angebot gekommen: vermehrte schöpferische Kraft jetzt und sofort für eine ausgewählte Gruppe von Lehrlingen, ein Verfahren, das sie für immer würden verwenden können, wenn sie ihm bei einer komplexen und faszinierenden Untersuchung halfen. Taboret hatte dieser Kombination nicht widerstehen können. Ein Traumländer mochte ohnehin nur über begrenzten Einfluss verfügen, aber sie wusste, dass sie nicht einmal so viel besaß wie manche anderen Leute. Die Verlockung, ihre persönliche Kraft zu vergrößern, war unwiderstehlich. Sie hatte sich sofort freiwillig gemeldet. Die Art und Weise, wie Brom seine These dargelegt hatte, hatte die Zweifel ans Licht gebracht, die Taboret stets bezüglich der Schläfer gehegt hatte. Sie war sich nicht sicher, ob sie wirklich an sie glaubte. Sie waren Teil eines Märchens, das ihre Eltern immer mit ehrfürchtig gedämpfter Stimme erzählt hatten. Taboret hielt nichts von Märchen. Sie glaubte an das, was sie sehen, berühren und beweisen konnte. Die Kraft der Verbindung war wahrnehmbar und spürbar. Sie hörte die
Gedanken anderer. Sie sah Dinge aus dem Äther kommen, die zu komplex und zu umfangreich waren, als dass ein einzelner Geist, ganz gleich wie mächtig er auch war, sie allein hätte erschaffen können. Infolgedessen hatte sie die Theorie des Bosses begierig aufgesogen, wenn auch nur auf hypothetischer Basis. Behauptung: Wenn die Schläfer existierten, dann bestand die berechenbare Chance, dass sie sich ganz so verhielten, wie die Legenden es durchgehend beschrieben. Sie schliefen. Wenn ein Lebewesen schlief, dann war es ein Gebot der Logik, dass es mit größter Wahrscheinlichkeit auch wieder aufgeweckt werden konnte. Das hieß, dass die Schläfer, so sie denn real waren, wahrscheinlich aufgeweckt werden konnten. Deshalb lag es auf der Hand, dass jemand sie aufsuchte und auch versuchte, sie zu wecken. Und dann würde man ja sehen, was passierte. Taboret war von dem Entsetzen in den Gesichtern im Audienzraum überrascht gewesen, als Brom seinen Vorschlag unterbreitet hatte. Ihr war gar nicht in den Sinn gekommen, wie sehr das Unbekannte den Leuten Angst machte. Warum waren sie nicht fasziniert von der Möglichkeit? Wollten sie denn nicht die Wahrheit über ihre größte Legende erfahren? Sie war nicht in dem Team gewesen, das den WECKER gebaut hatte. Das Gerät war bereits im Bau gewesen, im geheimsten und bestabgeschotteten Laboratorium von Mnemosyne. Der WECKER war etwas komplett Neues im Traumland, etwas, das planvoll gebaut worden war - nicht gefunden, nicht vom Willen geformt, nicht erträumt von den Schläfern und das nirgends in den Aufzeichnungen über frühere Erfindungen auftauchte. Das Vorgehen des Bosses war revolutionär gewesen. Das Innenleben war in mühevoller Kleinarbeit Zahnrad für Zahnrad aus einem eigens für das Projekt geschmiedetem Metall gefräst worden, welches aus einem Erz gewonnen worden war, das tatsächlich jemand aus einem Berg herausgegraben hatte. Der Boss hatte das Uhrwerk
einer Taschenuhr kopiert. Das Gerät musste vollkommen zuverlässig sein, weil es erst in dem Augenblick wirklich für den Ernstfall getestet werden konnte, wenn es zum Einsatz kam, der Ernstfall also eingetreten war. Es konnte sein, dass es seine Gestalt veränderte, wie es alle anderen Dinge im Traumland taten, aber die Form folgte der Funktion. Es würde seinen Zweck erfüllen, ganz gleich wie es aussah. Brom scheuchte sie mit einer Handbewegung von der Trage weg, um mit seiner grandiosen Erfindung allein sein zu können. Taboret ging zu den anderen und half beim Aufschlagen des Lagers. Die erste Nacht war weniger durchplant, als es die folgenden Nächte sein würden, um den Lehrlingen die Gelegenheit zu geben, mit SchmelztiegelEnergien zu arbeiten und zu lernen, wie sie sich anfühlten. Brom hatte sie dazu ermuntert, ihre Ressourcen zu nutzen und Fähigkeiten zu entwickeln. Die grasbewachsene Mulde war breit und fiel sanft zu einem seichten Bach hin ab. Der Koch hatte sich den flachsten Teil der Lichtung gleich am Bach für seine improvisierte Küche ausgewählt. Basil, ein dicker, dunkelhaariger Lehrling mit einem Händchen für Nahrungszubereitung, hatte den Job des Kochs übernommen. Mithilfe einiger der anderen Lehrlinge stellte er einen voll funktionstüchtigen vierflammigen Herd auf und errichtete aus einer riesigen Felsplatte und zwei umgefallenen Baumstämmen einen langen schmalen Eßtisch mit Sitzbänken auf beiden Seiten. Basil hatte aus einem Netz von Reben, die von einem Baum neben ihm herunterhingen, ein Lochbrett für seine Utensilien gefertigt. Als Taboret erschien, schaute er vom Zwiebelschneiden auf und lächelte sie an. Eigentlich hätte die Anwendung von Schmelztiegelkraft das Zerkleinern der Zwiebeln wie überhaupt jede körperliche Arbeit überflüssig gemacht, aber Basil kochte nun einmal leidenschaftlich gern. Für ihn war es keine Arbeit. Taborets Aufgabe beim Aufschlagen des Lagers bestand
darin, für die persönliche Hygiene zu sorgen. Sie entnahm ihrem Rucksack eine Waschschüssel aus Keramik und einen Zinkeimer mit Deckel und stellte beides ein halbes Dutzend Schritte vom Bach entfernt auf die Erde. Sie schaute sich um, ob irgendjemand in der Nähe war, der ihr helfen konnte. Dowkin und Doolin, die Zwillinge, saßen auf einer der Bänke und schauten Basil zu. Als könnten sie erraten, was sie dachte, warfen sie ihr gleichzeitig einen verächtlichen Blick zu und kehrten ihr den Rücken. Basil schüttelte den Kopf und zeigte mit seinem Messer auf Carina und Gano, die gerade mit dem Herstellen von Feldbetten fertig waren und zum Tisch strebten. »Natürlich helfen wir dir«, sagte Gano mit einem schelmischen Grinsen. Sie hatte rote Haare und volle Wangen, die sich kräuselten, wenn sie lächelte. Carina war älter und kleiner, mit dicken braunen Haaren und pechschwarzen Augenbrauen. »Dann dürfen wir auch als Erste drauf. Bekommt es auch eine Dusche?« »Das ist die effizienteste Form von Bad«, sagte Taboret, »aber ich hoffe, wir kriegen noch was Besseres zustande. Hier ist mein.Plan.« Sie entrollte ihre Blaupause und dann fassten sich die drei Frauen bei den Händen und bildeten einen Kreis. In kürzerer Zeit, als sie es je für möglich erträumt hätte, war das Bad fertig. Die Transformation von einem ähnlichen Gegenstand in einen anderen mit der gleichen Funktion war erheblich leichter, als sein Wesen selbst innerhalb der Grenzen des gewöhnlichen Einflusses zu verändern, aber die Waschschüssel wurde zu einer formschönen Marmorwanne und einer Dusche mit Chromarmaturen. Der Zinkeimer wuchs zu einem Tank mit einer Kette und einem reich verzierten Sitz, der, nun ja, ein bisschen wie ein Thron aussah. Der gesamte Prozess war so nah daran, magisch zu sein, wie ein rationaler Verstand es nur zuließe. Schmelztiegelkraft war verblüffend effizient. Taboret zog einen Schleier aus Moos herunter, der von dem Baum über ihren Köpfen hing, und machte daraus
einen hübschen Duschvorhang, während Gano und Carina aus einem Pappkarton die Wände des Badezimmers fertigten. Sie grinsten sie kameradschaftlich an, als sich ihre Blicke trafen; sie schienen immer im gleichen Augenblick wie sie aufzublicken. Es steckte eine fast mit den Händen greifbare Freude in dem gemeinsamen Schöpfungsprozess. Wenn Brom nichts anderes bewirkt haben sollte, so hatte er doch eine Umgebung erzeugt, in der Teamwork gefördert und unterstützt wurde. Nur die Zwillinge waren abscheulich und unkooperativ. »Es ist schön geworden«, sagte Carina und stellte sich in die Mitte des Badezimmers, um ihre Arbeit zu bewundern. »Das ist es in der Tat«, bestätigte Taboret. »Ich kann es kaum erwarten, in die Wanne zu steigen.« »Ich darf als Erste rein«, sagte Gano und zog ein flauschiges Badetuch aus dem Wäscheschrank neben dem Spiegel. »Und danach ich«, sagte Carina und hob die Hand, bevor Taboret etwas sagen konnte. »Na schön, dann gehe ich halt als letzte rein«, fügte sich Taboret gutmütig. Sie trat aus der Tür und verschloss sie hinter sich. »Sagt mir Bescheid, wenn ihr fertig seid.« Kaum draußen, wurde ihr plötzlich übel, und sie musste die Augen schließen, um das schwummrige Gefühl in der Magengegend zu unterdrücken. Sie machte einen Schritt von dem Bad weg und das Gefühl verschwand. Sie ging wieder zurück und ihr Magen drehte sich in die andere Richtung. Aus irgendeinem Grunde fühlten sich die Einflüsse in der unmittelbaren Nähe des Bades merkwürdig an. Sie fragte sich, ob irgendetwas bei der Errichtung schiefgegangen sein mochte, aber aus den Hähnen strömte kaltes und warmes Wasser, die Toilettenspülung funktionierte perfekt und aus der Dusche schoss ein wunderbar heißer Strahl. Sie kam zu dem Schluss, dass sie einfach müde und erschöpft war. »Klasse Job!«, rief Glinn ihr zu. Er kniete auf dem Boden im
heimeligen roten Schein von dreißig geschmackvoll getönten Laternen, die rings um die Lichtung in den Bäumen hingen. Taboret vergaß ihre Übelkeit, als sie die wundersame Verwandlung des Lagers auf sich wirken ließ. So unsozial und eklig die Zwillinge auch sein mochten, sie waren harte Arbeiter. Sie hatten die zwölf Feldbetten aufgestellt, jedes ausgestattet mit einem Moskitonetz. Lurry, ein hagerer, langnasiger Lehrling, dessen latente Pyromanie ständiger Anlass zum Tadel im Laboratorium war, saß rittlings auf einem Ast und hängte die letzten Laternen auf. Bolmer und Mamovas, ein Mann und eine Frau, beide schlank und dunkelhaarig, legten letzte Hand an einen dünnen Vorhang-Wall, der das Lager umfriedete, um Tiere und Insekten fernzuhalten und das Licht nach außen abzuschirmen. Glinn grinste Taboret an, als sie zu ihm herübergeschlendert kam, um zu sehen, was er tat. »Ich freue mich schon auf ein Bad«, sagte er. »Ich bin wund von den Fersen bis zu den Ohren. War ein harter Tag heute. Und Basil ist ein echter Sklaventreiber. Ich habe ihm geholfen, seine Küche einzurichten. Nach dem Getue, das er dabei veranstaltet hat, hätte man denken können, er baue eine sterile Einrichtung.« »Der Tag heute war schlimm«, erklärte Taboret emphatisch. »Wir können nicht ewig zu Fuß weitermarschieren. Wir kommen wegen dieses... Dings nur so langsam voran. Wenn wir so weitermachen, wird uns noch irgendeiner einholen.« »So leicht werden wir nicht zu fassen sein«, sagte Glinn fröhlich und wuchtete seinen Rucksack auf den Boden. »Außerdem gehen wir nicht zu Fuß weiter. Voilä! Unser Transportmittel!« Taboret beugte sich hinunter und schaute auf den Haufen kleiner Säcke. »Büroklammern?«, fragte sie und ließ eine Handvoll davon durch ihre Finger gleiten. »Du bist verrückt. Die brauchen ja ewig, bis sie reif sind.« Eines der wissenschaftlichen Prinzipien
bezüglich Metalls, die sie seinerzeit in der Grundschule gelernt hatte, war, dass Fahrräder die Erwachsenenform von Büroklammern waren. »Das wird Monate dauern!« Ein vernünftiger Mensch lagerte niemals zuviele Büroklammern beieinander, denn wenn der Tag kam, da man eine brauchte, war keine mehr vorhanden, sondern stattdessen ein Knäuel von Kleiderbügeln, die im Kleiderschrank hingen. Die Larvenform liebte diese Art von dunklem, trockenem Plätzchen; dort konnte sie am besten reifen. Bis dann eines schönen Tages die Kleiderbügel ebenfalls verschwinden würden und man über ein Knäuel Fahrräder stolperte, wenn man hinaus vor die Türe trat. Taborets erstes Rad hatte von einem Abfallhaufen vor dem Haus nebenan gestammt. Sie wunderte sich, weshalb Glinn grinste. »Aha«, sagte er und tippte sich an die Stirn. »Du denkst noch in Prä-Schmelztiegel-Kategorien. Wir können das praktisch über Nacht bewerkstelligen.« Taboret zog die Brauen hoch. Das stimmte. Er hatte Recht. Deshalb war er Broms Stellvertreter und sie bloß im zweiten oder dritten Glied. »Okay«, sagte sie, den Kopf über ihre eigene Begriffsstutzigkeit schüttelnd. »Aber ich will ein blaues.« »Frivolität?«, fragte Brom, der urplötzlich zwischen ihnen aufgetaucht war. »Dies ist eine ernsthafte wissenschaftliche Expedition, junge Frau.« »Jawohl, Herr«, erwiderte sie und zwang sich, ihm in die Augen zu blicken. »Das werde ich auch weiterhin beachten, Herr. Ich versuche lediglich, den Reisestress durch kontrollierte Sorglosigkeit zu lindern.« Es klang auch in ihren eigenen Ohren wie ein Haufen philosophischen Dünnseichs, schien aber den Boss zufriedenzustellen. »Solange, wie Sie wissen, was Sie tun«, sagte Brom in seiner gewichtigen Dozentenmanier. »Passen Sie auf, dass die ...
Sorglosigkeit nicht mit Ihnen durchgeht.« »Ja, Herr.« »Es ist meine Schuld, Herr«, sagte Glinn. Er stand auf und stellte sich ritterlich zwischen Taboret und ihren Vorgesetzten. »Ich habe sie dazu ermuntert. Ich schäkere halt gern ein bisschen, rein kameradschaftlich, versteht sich und das besonders gern mit Taboret. Sie könnten sie glatt als Kandidatin für den Posten eines Moral-Offiziers ins Auge fassen.« »Dies ist keine militärische Organisation«, erwiderte Brom in belehrendem Ton, doch die Krise war vorüber. Er winkte die anderen, die in der Nähe waren, zu sich und bedeutete ihnen, einen Kreis rings um die Säcke mit den Büroklammern zu bilden. Die kleinen Metallklammern waren auf dem besten Wege, auf die Größe von Akten-Clips anzuschwellen, als der Kreis brach. Taboret war froh, als Basil mit seinem Kochlöffel gegen ein Triangel schlug, um sie zum Abendessen zu rufen. Während des Essens und der darauffolgenden Spül- und Aufräumarbeiten hatte Taboret ständig das Gefühl, von Blicken verfolgt zu werden. Jedesmal wenn sie sich umdrehte, sah sie sich von Brom beobachtet. Als sie ihre Tischabfälle in Kompost verwandelte, als sie aus dem Bad kam, sogar, als sie ihr Feldbett aufdeckte, stand er in der Nähe, unter einer der Hängelampen und starrte zu ihr herüber. Was hab ich getan, fragte sie sich. »Ich habe dich gehört«, sagte Glinn, der unerwartet neben ihr auftauchte, leise. Sie fuhr erschrocken zusammen. »Denk nicht so, wenn du es irgendwie verhindern kannst. Die Verbindung wird stärker. Kannst du das nicht fühlen?« »Doch, das kann ich«, sagte Taboret und dachte an ihr Erlebnis mit Carina und Gano. »Aber warum beobachtet er mich die ganze Zeit so?« »Er beobachtet jeden. Er will sich vergewissern, dass unter
uns keine Spione des Königs sind.« »Was? Wer von uns sollte denn das Projekt gefährden wollen?« Glinn zuckte mit den Schultern. »Nun, es könnte passieren. Du hast ja gesehen, was sich am Hofe abgespielt hat. Wir erhielten den Befehl, das Projekt einzustellen und die Finger davon zu lassen, richtig?« »Sehr kurzsichtig«, schnaubte Taboret. Sie spürte, wie der Knoten der Anspannung sich wieder löste. Sie setzte sich auf ihr Feldbett und zog ihre Stiefel aus. Wenn das Broms Problem war, dann konnte sie ihn sofort eines Besseren belehren. »Die Schläfer könnten sich eines Tages im Bett umdrehen und sich gegenseitig aufwecken. Dann wären wir alle weg - vielleicht und keiner wüsste, warum. Wir wollen es unter kontrollierten Bedingungen tun, damit jeder weiß, was tatsächlich passiert.« »Genau«, sagte Glinn mit einem tiefen Seufzer. Andere kamen jetzt in den Schlafbereich und er senkte seine Stimme noch mehr. »Aber Brom macht sich Sorgen. Das würdest du auch.« »Niemand würde ihn verraten«, sagte Taboret im Brustton der Überzeugung. Sie erinnerte sich daran, wie der Blick des Bosses sich in sie hineingebohrt hatte. »Sie hätten viel zu viel Angst.«
11. KAPITEL Die Sonne schlich leise auf Zehenspitzen über den Horizont und piekste Roan schalkhaft mit einem Finger aus Licht ins Auge. Er schrak im Schlaf zusammen und wachte schlagartig auf, das Gesicht mit einem Stöhnen von dem grellen Licht abwendend. Der Lichtfinger zuckte zurück und stahl sich davon, um sich einen anderen Schläfer zu suchen, den er ärgern konnte. Roan streckte sich, um die Verspannung in seinem Rücken zu lockern. Das nette flache Stückchen Erde, auf dem er seinen Schlafsack ausgerollt hatte, schien vom Albtraumwald Unterricht im Wellenwerfen bekommen zu haben. Er war auf lahmenden Kamelen schon bequemer geritten. Den Mienen der anderen, die noch in ihre Decken eingehüllt dalagen, nach zu urteilen, schliefen sie auch nicht besser. Das sich unruhig hin und her wälzende Bündel neben ihm war Bergold. Roan schaute gebannt zu, wie die Nase oder die Ohren seines Freundes ständig ihre Größe veränderten oder sich aufwärts bogen, um nicht mit dem steinigen Untergrund in Berührung zu kommen. Zu seiner anderen Seite stand ein weißes Zelt mit quadratischer Grundfläche, das die Prinzessin und ihre Amme Drea beherbergte. Die zierliche Gestalt, die Roan durch den durchsichtigen, hängenden weißen Flor erkennen konnte, machte, eng in sich zusammengekauert, wie sie auf ihrer Pritsche dalag, einen erbarmungswürdigen Eindruck. Das bescheidene Obdach war weit karger als das, was Leonora gewohnt war, aber die Gruppe war zu dem Zeitpunkt, da sie sich zu der nächtlichen Rast entschlossen hatte, einfach zu erschöpft gewesen. Sie hatten jedem Bestandteil des Zeltes alle erdenkliche Aufmerksamkeit gewidmet, doch es war trotz
alledem bestenfalls ein Provisorium geworden. Im Licht der aufgehenden Sonne sah es aus wie verblichene Lumpen, die von einer Wäscheleine hingen. Aufgrund der vorgerückten Stunde dazu gezwungen, das erste halbwegs taugliche Terrain für die Errichtung ihres Lagers zu wählen, das auf ihrem Weg lag, hatten sie sich mehr auf den Aspekt der Sicherheit als auf den der Bequemlichkeit konzentriert. Mit dem bisschen an Kraft, das ihnen noch geblieben war, um Einfluss zusammenzuraffen, hatten Roan und die anderen einen unsichtbaren, aber durchaus stabilen Schutzwall um die Stelle gezogen, an der sie zu schlafen beabsichtigten. Zwei Wachen waren für eine sehr kurze erste Schicht an dem Wall postiert worden, während die anderen sich so rasch wie möglich zur Ruhe gebettet hatten. Das war das letzte, woran Roan sich erinnern konnte, bis die Sonne ihn aufgeweckt hatte. Und noch während er zum langsam heller werdenden Himmel empor schaute, schob sich ein großes Hindernis zwischen ihn und die Landschaft und blickte grinsend auf ihn herab. »Guten Morgen«, sagte Misha. »Du bist früher hier, als ich erwartet habe«, sagte Roan, zu dem großgewachsenen jungen Mann hinaufblinzelnd. Sein Haar hatte die Farbe des Sonnenscheins, seine Augen leuchteten in einem klaren, ungetrübten Blau und seine Wangen waren rosig. Er sah geradezu widerlich gesund aus für jemanden, der die Reise nach Mnemosyne und zurück in der Zeit bewältigt hatte, die Roan und die anderen gebraucht hatten, um sich im Albtraumwald zu verirren und eine Nacht miserablen Schlafes zu durchleiden. »Ein scheußlicher Tag für einen Ritt«, sagte der junge Kontinuator und reichte Roan die Hand, um ihm beim Aufstehen zu helfen. »Ich habe nur deshalb keinen wunden Hintern, weil die Rösser heute Pferde sind.« Er zeigte auf die Baumgruppe, wo die Fahrräder am Abend zuvor angebunden
worden waren. Anstatt auf zwei Rädern standen sie jetzt allesamt auf vier Beinen. »Ich habe die Nacht in einem Bett im Palast verbracht, und ich bin seit der Morgendämmerung unterwegs, aber ich brauchte nicht eine Elle in die Pedale zu treten.« »Den Schläfern sei Dank für kleine Gefälligkeiten«, sagte Roan gähnend. »Meine Waden wünschten sich, sie wären aus Gusseisen, und ich bin an lange, scharfe Ritte gewöhnt. Die anderen sind zweifellos in schlimmerer Verfassung als ich. Was kannst du mir über den Mann sagen, den du zum Palast zurückgebracht hast?« »Als ich losritt, hatten sie es noch immer nicht geschafft, irgendetwas aus ihm herauszukriegen«, sagte Misha kopfschüttelnd. »Jedenfalls nichts, mit dem man irgendetwas hätte anfangen können. Er hat nur wiederholt, was wir ohnehin schon wissen: dass Brom vorhat, die Schläfer zu wecken. Die Vernehmer müssen zu drastischen Taktiken Zuflucht suchen. Der diensttuende Sicherheitschef hat nach seiner Mutter geschickt.« »Brr!«, sagte Roan und schauderte vor lauter Mitgefühl mit dem Gefangenen zusammen. »Ist sonst noch jemand auf?« »Fast alle. Spar und die Gardisten exerzieren dort unten an einem Bach«, sagte Misha, mit der Hand deutend. »Felan ist auf der anderen Seite der Rösser und schreibt ganz wild. Ich habe ihn überrascht, als ich angeritten kam.« »Er schreibt, sagst du?«, fragte Roan und hielt inne, um sich erneut kräftig zu recken. »Ja, ich schreibe«, sagte Felan, als Roan den Hügel heruntergestapft kam, um ihn zu fragen. Felans kurzsichtige blaue Augen blickten durch eine goldgeränderte Halbbrille. Er hielt ein Pergament hoch, halb bedeckt mit winziger Schrift. »Ich verfasse gerade eine Botschaft für Micah. Irgendjemand muss ja den Hof über den Fortgang unserer Mission in
Kenntnis setzen.« Er deutete mit seinem Gänsekiel über die Schulter auf den Rand des Gehölzes. »Sie können sich erst einmal waschen, wenn Sie möchten. Ich schreibe nur rasch diese Botschaft zu Ende und schicke sie ab.« »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein, Meister Felan?«, fragte Roan und beugte sich über die Schulter des Historikers, um das Dokument zu lesen. »Eigentlich nicht.« Felan blickte zu Roan hinauf und zog verwirrt die Brauen zusammen. Er rückte seine Brille zurecht. »Werden Sie es nicht Leid, jeden Tag dasselbe Gesicht zu rasieren?« »Eigentlich nicht«, sagte Roan unbehaglich. Er entfernte sich wieder, und Felan widmete sich wieder seiner Botschaft, nicht ahnend, was er mit seiner Frage angerichtet hatte. Roan hasste es, sich unter gewöhnlichen Traumländern wie ein Monstrum zu fühlen. Gewöhnlich war er auf seinen Reisen nie lange genug mit irgendeinem von ihnen zusammen, dass ihnen hätte auffallen können, dass er sich nie veränderte. Er fühlte sich, als hätte er den Hof mitgebracht. Ich bin tüchtig, verantwortungsbewusst und gut angesehen, dachte er zähneknirschend, während er den Hügel wieder hinaufstapfte. Der König höchstselbst hat mich mit dieser Mission betraut. Warum beraubt mich meine Einförmigkeit des Respekts, den ich mir ehrlich verdient habe? Von den Bäumen, just außerhalb der Reichweite der Pferde, hing ein Vorhang, der aussah, als wäre er aus jemandes Umhang gefertigt worden. Roan schob ihn zur Seite und fand einen Krug und eine Schüssel, die auf einem Baumsrumpf standen. An den Pfützen und dem matschigen Boden, die das von dem Vorhang umfriedete Areal umgab, sah Roan, dass das Wasser schon mehrmals gewechselt worden war. Hinter dem Baumstumpf war ein Loch im Boden, über dem sich ein wackliger, behelfsmäßiger Sitz erhob. Neben diesen kruden sanitären Anlagen lag ein großes, dünnblättriges Buch, aus dem
bereits mehrere Seiten herausgerissen worden waren. »All die Annehmlichkeiten wie zu Hause«, sagte Misha fröhlich. »Ich seh mal zu, dass ich was zu trinken besorge. Ich habe was zum Knabbern vom Palastkoch mitgebracht.« »Da freu ich mich schon drauf«, sagte Roan und ging zurück zu seinem Schlafplatz, um sein Rasierzeug und seine Waschutensilien zu holen. »Egal, was es ist, Hauptsache, ich werd davon wach. Wir müssen uns so früh wie möglich auf den Weg machen.« Sich in einer kleinen Schüssel waschen zu müssen, war etwas, das Roan nie gefiel, wenn er auf Reisen war. Er fand es unbequem und umständlich. Deshalb nahm er stattdessen den Krug und bearbeitete ihn so, dass er als behelfsmäßige Dusche diente, die sich ständig aufs Neue aus dem Becken speiste, das er vergrößerte, um darin stehen zu können. Das Wasser war kalt, und der Duschvorhang wehte ihm ständig gegen den Körper, aber er fand es erfrischend, wieder sauber zu sein. Er hängte den Spiegel am Henkel des Kruges, der jetzt ein längliches, am Duschrohr befestigtes Porzellanohr war, auf, und rasierte sich, während das Wasser auf seinen Kopf prasselte. Er schob den Vorhang zur Seite, um das schmutzige Wasser auszuschütten, als Misha gerade zurückkam. Der junge Historiker machte große Augen, als er die Duschvorrichtung sah. »Lass es doch bitte so für mich.« »Ein Komfort ganz wie zu Hause«, sagte Roan. Roan fand Spar und die anderen auf einem flachen Felsen um die Landkarte herum versammelt. Colenna lächelte ihn freundlich an; ihre grauen Augen strahlten aus einem wettergegerbten Gesicht, das schlanker und schärfer geschnitten war als jenes, das sie bei Hofe trug. Sie war eine alte Freundin und eine Verbündete gegen solche Verleumder wie Datchell. Ihr graues Haar, das heute länger war als üblich,
hatte sie zu einem Zopf geflochten, der von einem ledernen Band gehalten wurde. Felan begrüßte Roan, indem er eine Braue hob. »Guten Morgen«, sagte Roan freundlich. »Habt ihr alle gut geschlafen?« »Mein Rücken bringt mich fast um«, erklärte Colenna mürrisch. »Es ist lange her, seit ich das letzte Mal auf dem nackten Boden geschlafen habe. Zu viele Steine.« »Sie hätten sie ja ein bisschen aufweichen können«, hielt ihr Felan vor. Sie warf ihm einen entsetzten Blick zu. »Junger Mann, aus Ihnen würde wohl nie ein Feldbeobachter. Berühren, aber nicht verändern. Ich musste Schmerzkiller gegen schmerzende Beine und Hintern verteilen«, sagte sie, wieder an Roan gewandt. »Zum Glück hatte ich ein paar bei mir.« »Du bist immer gut ausgerüstet, Colenna«, sagte Roan. Colenna schnitt ihm eine freundschaftliche Grimasse. »Lum ist gerade vom Kundschaften zurückgekehrt, Sir«, sagte Spar. Er drehte die Landkarte Roan zu, der sich hinkniete, um sie zu studieren. »Wir haben die Fährte gestern Abend verpasst. Sie sind Meilen vorher abgebogen. Ungefähr hier.« Er setzte den Daumennagel auf die Stelle auf der Karte, an der der Pfad aus einem kleinen Wald herauskam, auf zwei Dritteln des Weges von Mnemosyne zum Albtraumwald. »Wir müssen diesem Baum den ganzen Weg gefolgt sein«, sagte Lum mit einem entschuldigenden Achselzucken. »Meine Schuld, Herr Hauptmann«, bekannte Roan. »Ich habe schließlich darauf bestanden, dass wir die südliche Route versuchen.« »Meine Gardisten haben keine Fehler zu machen«, sagte Spar streng. »Das ist eine ernste Sache.« »Das ist es in der Tat«, stimmte Roan ihm zu. »Aber wir
müssen einen langen Weg gemeinsam gehen. Konzentrieren wir uns darauf, die Probleme zu lösen, die vor uns liegen, statt uns über vergangene Fehler zu ärgern.« »Wie Sie meinen, Sir«, sagte Spar mit ausdruckslosem Gesicht. »Leiten Sie diese Expedition?«, fragte Misha. »Nein, er«, antwortete Spar, mit dem Kopf in Richtung Roan nickend. »Der König selbst hat ihm den Auftrag dazu erteilt.« »Ach, ich wollte es bloß wissen«, sagte Misha. »Ich war nicht dabei.« »Ich hoffe, du hast nichts dagegen einzuwenden«, sagte Roan. »Nein, überhaupt nicht«, sagte Misha fröhlich. »Übrigens, die Königliche Geografin sagt, es müsse damit gerechnet werden, dass die Dinge in dieser Gegend heute sehr wandelbar sind und wir daher vorsichtig sein sollten.« »Ich habe Hutchings an der Stelle zurückgelassen, wo die beiden Wege sich kreuzen, für den Fall, dass die Straße versucht, sich zu verlagern«, sagte Lum, seinem gewöhnlich fröhlichen Gesicht einen ernsten Ausdruck verleihend. »Arlette ist dem zweiten Pfad ein Stück gefolgt, um sicherzugehen. Diesmal wird er uns nicht entwischen, Sir.« »Gut gemacht«, sagte Roan. »Vielen Dank für die Sorgfalt, mit der Sie meine Fehler ausbügeln.« Lum errötete unter Spars durchbohrendem Blick und sagte steif: »Das ist nett von Ihnen, Sir.« »Wir werden das im Kopf behalten«, sagte Roan. »Wir sollten uns so bald wie möglich auf den Weg machen.« Drea, Leonoras Amme, stolzierte ins Blickfeld und nickte würdevoll auf sie herab. Die alte Frau zog eine große lederumhüllte Feldflasche aus ihrem Tornister und bückte sich, um sie an dem Bach zu füllen.
»Ist ihre Hoheit schon wach?«, fragte Roan. »Meine Herrin ist noch nicht bereit, Besucher zu empfangen«, erwiderte die Amme frostig. Sie drehte Roan den Rücken zu und entschwand mit der Flasche. In ihren Händen sah sie wie ein ätherischer Kristallflakon aus. Für niemand anderen, sondern allein für die Prinzessin würde sich Drea um eine solche Verwandlung bemühen. Wo Roan sie >nur< liebte und verehrte, betete die alte Amme sie geradezu wie eine Göttin an. Kein Wunder, dass wenn Leonora schon mit nur einer einzigen Dienerin von Mnemosyne aufgebrochen war, und nicht mit den Heerscharen, die sie üblicherweise im Schlepptau hatte, diese einzige Dienerin Drea war. Sie hatte Leonora schon als Kind ständig in den Armen und auf dem Schosse gewiegt und seither niemals aufgehört, sie zu verhätscheln. Fast schon eine fleischgewordene Kuscheldecke. »Es dürfte jetzt nicht mehr lange dauern«, sagte Colenna. »Wie viele von ihnen sind da?«, fragte Felan Lum. »So etwa zehn bis zwölf, würde ich sagen«, antwortete der Korporal. »Es ist schwer zu sagen, weil ich glaube, dass sie sich mit dem Tragen der Last ständig abgewechselt haben. Die Fußabdrücke verändern sich immer ein wenig, wenn sie das tun, da sie sich verwandeln, um das Gewicht besser tragen zu können. Aber ich schätze, wir sind in der Unterzahl. Sollen wir Verstärkung anfordern?« »Wir werden uns nicht auf einen Kampf mit ihnen einlassen«, sagte Roan. »Das einzige, worauf es uns ankommt, ist, diesen Apparat zu zerstören. Wenn der nicht mehr funktionstüchtig ist, können sie tun und lassen, was sie wollen.« »Aber dann werden sie gleich wieder einen neuen bauen!« »Das bezweifle ich«, sagte Roan. »Wenn sie so leicht einen neuen bauen könnten, dann brauchten sie den, den sie haben, nicht quer durch das ganze Land zu schleppen. Dann wären sie
ganz einfach zur Halle der Schläfer gegangen und hätten den WECKER dort gebaut.« »Guten Morgen allerseits«, sagte Bergold, der den Hang heruntergestapft kam. Er hatte sein Erscheinungsbild heute Morgen um einen kurzgeschnittenen Vollbart bereichert, um sich die Mühe des Rasierenmüssens unter primitiven Bedingungen ersparen zu können. »Ich bin der Letzte, nicht?« »Nicht ganz«, sagte Misha. »Ihre Hoheit hat noch immer mit ihrer Morgentoilette zu tun.« »Was für eine Nacht! Meine Finger sind noch ganz verkrampft vom vielen Schreiben.« »Meine auch«, sagte Felan und schüttelte sein rechtes Handgelenk aus. »Ich bin fertig mit meinem Bericht.« Er griff in seine Tasche und zog ein Heftchen Briefmarken hervor. Er riss eine heraus, fuhr mit der Zunge einmal über die Gummierung auf der Rückseite und klebte sie auf die obere rechte Ecke seines sorgfältig zusammengefalteten Pergaments. Sofort begann die Briefmarke sich auszudehnen, bekam einen Rumpf - und ein Gefieder und erwuchs zu einem kahlköpfigen Adler. Der weißköpfige Raubvogel nahm den Umschlag zwischen seine Krallen, breitete mit einem grimmigen Blick auf die umstehenden Menschen seine Schwingen aus und hob ab. Über ihren Häuptern machte er einen Schwenk und flog nach Norden davon. Nach wenigen Augenblicken war er außer Sicht. »Es geht doch nichts über Luftpost«, sagte Bergold. »Wir müssen uns unter einer beliebten Route befinden. Ich sah erst vor kurzer Zeit einen anderen Luftpostadler über unsere Köpfe hinwegfliegen.« »Wäre es nicht schön, wenn wir uns einfach selbst eine Briefmarke aufkleben und uns per Luftpost zu Brom befördern könnten?«, fragte Lum mit nachdenklichem, fast wehmütigem Gesichtsausdruck.
Felan grinste ihn mit einer Miene des Bedauerns an. »Dafür habe ich leider nicht genug Porto mitgebracht.« Roan spähte den Hang hinauf, aber von der Prinzessin war noch immer nichts zu sehen. Während sie weiter darauf warteten, dass Leonora ihre Morgentoilette beendete, nahmen sie ein leichtes Frühstück zu sich und brachen das Lager ab. Die Gardisten demontierten den unsichtbaren Schutzwall, wobei sie jeden einzelnen Abschnitt mit großer Behutsamkeit und übertriebenen Bewegungen abbauten. Hauptmann Spar hatte davor gewarnt, wie gefährlich es sei, während der Nacht zufällig gegen den Wall zu laufen, und sorgfältig die Ausgänge so gekennzeichnet, dass die anderen sie sehen konnten. Roan fragte sich kurz, was wohl passieren würde, wenn einer der Soldaten einen der unsichtbaren Blöcke fallenlassen sollte. Wahrscheinlich, vermutete er, würde es eine Explosion geben, wie sie sie noch nie zuvor erlebt hatten. Aber würde, da die Steine unmöglich waren, die Explosion es nicht auch sein? Er rollte sein Schlafzeug und seine Essvorräte zusammen und faltete sie zu einem so kleinen Päckchen, dass es in seine Satteltaschen passte. Bergold half ihm, das Lagerfeuer zu löschen und faltete es zu einem Päckchen aus roter und silberner Folie zusammen. Dies warf er dem Soldaten zu, der die Packtiere belud. Colenna besaß die interessanteste Outdoor-Ausrüstung. In ihrem Gepäck hatte sie je ein Teil von allem, was als Grundlage zur Verwandlung in alles, was sie nach menschlichem Ermessen unterwegs würde brauchen können, verwendet werden konnte. Roan hatte die hübsche Steinguttasse, die sie jetzt wegpackte, schon als Schüssel, als Kochtopf und als Fußbadewanne gesehen. Der Gegenstand, um den Roan sie am meisten beneidete, war ein raffinierter kleiner Herd, der sowohl als Nachtlampe oder als Taschenlampe als auch als Feuerzeug und als Bettwärmer verwendbar war. Der das Ding für sie angefertigt hatte, musste ein sehr geschickter
Handwerker gewesen sein. Seine Ausgangsform musste Feuer in seiner reinsten Form gewesen sein. Als Roan um die kleine Baumgruppe herumging, um seine Habseligkeiten in Cruisers Satteltaschen zu verstauen, sah er, dass die Waschstelle für die Prinzessin umgestaltet worden war. Der Vorhang, der als spanische Wand gedient hatte, war zu einer festen, undurchdringlichen Mauer geworden, ausgestattet mit einer schmalen, aber funktionstüchtigen Tür. Roan hörte Leonora fröhlich zur Begleitung von plätscherndem Wasser summen. Er ging hinüber, um an die Tür zu klopfen. Bevor er sie erreichen konnte, drängte die Amme ihn ab. »Was glaubst du, wohin du da gehst?«, herrschte sie ihn an und starrte ihm herausfordernd ins Gesicht. Sie hatte einen Packen Kleider über dem Arm und stopfte hastig ein paar spitzenbesetzte, hauchdünne Dessous zwischen die anderen Sachen, als sie Roans neugierigen Blick bemerkte. »Ich wollte ihrer Hoheit bloß sagen, dass die anderen bereit sind aufzubrechen, wann immer es ihr beliebt«, sagte Roan freundlich. Drea schaute ihn mit gekränktem Blick an. »Meine Herrin hat noch nicht gefrühstückt«, sagte die alte Frau. Sie zeigte auf einen kleinen Tisch und einen Stuhl. »Dies mag ja ein dringendes Unternehmen sein, aber es gibt bestimmte Dinge, die Vorrang haben! Ma kann nicht von ihr verlangen, dass sie sich ohne ein ordentliches Frühstück aufs Pferd setzt!« »Nun, gewiss nicht«, sagte Roan verlegen. Er schaute zurück zu den anderen, wohl wissend um ihre - und um seine eigene Ungeduld, endlich aufzubrechen. »Wird es noch lange ... können wir bald mit ihr rechnen?« »Man kann Essen nicht einfach herunterschlingen«, sagte Drea in bester Ammentradition. Roan fühlte sich zurechtgewiesen wie ein kleiner Junge, aber im selben
Augenblick bemerkte er, dass das Summen aufgehört hatte. Leonora war hinter ihrer Badezimmerwand verstummt, um ihrer Unterhaltung zu lauschen. »Wollen Sie dann bitte ihre Hoheit bitten, dass sie uns wissen lässt, wann sie bereit zum Abmarsch ist?«, fragte Roan, bemüht, jegliche Spuren von Gereiztheit aus seiner Stimme herauszuhalten. »Es ist schon zehn Uhr«, murmelte Hutchings hinter ihm. »Sie braucht erstaunlich viel Zeit, um sich zu waschen.« Roan wandte sich um und warf ihm einen warnenden Blick zu, aber es war zu spät. Sie hörten ein Rascheln aus dem Badezimmer. »Wie können Sie es wagen, so über meine Herrin zu sprechen!«, herrschte Drea den Gardisten an und baute sich drohend vor ihm auf. Statt wie ein Knödel sah sie jetzt wie ein Drachen aus. Hutchings wich hastig zurück. »Drea!«, rief die Prinzessin. Sofort verschwanden die Krallen und Flügel wieder. Drea trippelte zum Bad und schlüpfte mit einem Armvoll Kleider durch die Tür, die sich hinter ihr fest schloss. Roan bedeutete den anderen, sich wieder an ihre Arbeit zu begeben und die Pferde zu bepacken. Zu ihrer Ehre muss gesagt werden, dass sie beschämt dreinblickten, besonders Hutchings, der sich gesenkten Blickes seinen Pflichten zuwandte. Kurz darauf trat Leonora aus dem Bad heraus, den blauen Umhang über ihrer Schulter befestigend. Die anderen bemühten sich, sie nicht anzustarren, aber sie war sich bewusst, dass sie sie aus dem Augenwinkel musterten. Sie schaute ihnen allen der Reihe nach mit einem starren kleinen Lächeln in die Augen, aber ihre Wangen waren gerötet. »Mein Küken, sie können dich nicht so behandeln. Du bist eine Prinzessin und somit über jeden Tadel erhaben. Sie müssten das eigentlich wissen«, sagte Drea, während sie hinter
der Prinzessin hertrippelte, ihre Nachtwäsche auf dem Arm tragend. »Sei still«, blaffte Leonora. »Bitte.« »O ja, gewiss, meine Herrin, aber du weißt, dass es stimmt.« Roan lächelte und streckte Leonora die Hand hin, aber die Überraschung über ihr jähes Erscheinen hatte ihn für einen Augenblick stocken lassen und er wusste, dass sie sein Zögern bemerkt hatte. Sie war vor Scham den Tränen nahe. Sie hielt das Haupt stolz erhoben, das Kinn nach vorn und die Schultern nach hinten gereckt. »Es wird nicht wieder vorkommen«, sagte sie und stolzierte an Roan vorbei, ohne ihn zu berühren. »Hier, nimm mir das mal einer ab«, sagte Bergoldj gereizt. Der Wust aus zickzackförmig gefaltetem Papier in seinen Händen hing wie eine Girlande über ihm und seinem Pferd. »Ich kann damit nichts anfangen.« Er stieß die Landkarte weg. Lum nahm sie. Der junge Gardist schüttelte sie auf und faltete sie sorgfältig neu zu einem hübschen kleinen Päckchen zusammen. Er strahlte, als Bergold sie ihm wieder wegnahm. »Bei den Sieben, ich hoffe, das ist nicht Ihr einziges Talent«, sagte der Historiker. Roan, der das kleine Spielchen über die Schulter verfolgt hatte, verbarg ein Lächeln vor seinem alten Freund. »Haben wir uns verirrt?« »Wir sind auf dem richtigen Pfad«, sagte Lum und lenkte sein Ross an den Rand des Trampelpfades, um nach Norden zu deuten. Sein Pferd tänzelte und kurbet-tierte ob dieses neuerlichen Wechsels in der Gangart. »Es ist immer noch ein Stück in diese Richtung, Sir.« »Wir sind eine große Strecke im Dunkeln geritten«, sagte Roan, bemüht, Frieden zu stiften. »Gib Lum nicht die Schuld daran. Es war mein Fehler.« »Nun, wir bewegen uns im Kreise«, raunzte Spar von der Spitze der Kolonne, wo er neben Colenna ritt.
»Nein, Sir, tun wir nicht«, beharrte Lum. Aber es sah in der Tat so aus, als täten sie es doch. Roan war sicher, die kleine Gruppe blaugrüner Fichten zu seiner Linken schon mehrere Male gesehen zu haben. Am Ufer des Baches zu seiner Rechten gab es einen Ring von Giftpilzen, und ein Stück weiter eine Gänseblümchenwiese, auf der Kaninchen herumhoppelten - ganz so wie die, die Meilen hinter ihnen lag. Gleichwohl waren sie eine Stunde lang stets nach Norden geritten, mit der Sonne zu ihrer Rechten. Sie stand jetzt genau über ihnen am klaren blauen Himmel und die Hitze machte alle reizbar und nervös. »Schluss jetzt damit!«, sagte Colenna und streckte beschwichtigend die Arme aus. »Wir haben ein Deja-vuErlebnis, das ist alles.« »Nein, das haben wir nicht«, beharrte Spar. »Dieser junge Narr hier hat lediglich die Orientierung verloren.« »Hab ich nicht, Sir. Der Pfad ist genau hier auf der Karte verzeichnet.« »Es ist ein Deja vu«, wiederholte Colenna. »Ihr werdet sehen.« Roan rieb sich die Augen. »Wir werden da schon wieder rauskommen. Reitet einfach weiter.« Neben ihm stieß Golden Schwinn mit dem Huf gegen einen Stein. Das Pferd scheute, brach aus und sprang auf ein Stück sumpfigen Grases am Wegesrand. Die Prinzessin, eine exzellente Reiterin, schaffte es, ihr Reittier wieder unter Kontrolle zu bekommen und lenkte es zurück auf den Pfad. Als Nächstes trat Schwinn auf einen Knollenblätterpilz. Roan war sicher, dass es derselbe war, den das Ross schon dreimal zertrampelt hatte. Der Pfad machte eine Kurve nach links und stieg an, weg von dem Bach. Die Gruppe ritt schweigend dahin. Trotz der Gefahren, die überall lauerten, wäre Roan fast dazu bereit gewesen, das
Risiko des Alleinreisens auf sich zu nehmen, nur um dem ewigen Gezanke zu entrinnen. Colenna tat der Rücken weh. Es war lange her, seit die Senior-Historikerin so eine lange Reise unternommen hatte. Drea brach ständig aus der Reihe aus, um nach vorn zu gehen und irgendwelches Aufhebens um ihre Herrin zu veranstalten. Leonora, die nach der peinlichen Situation am Morgen lieber in Ruhe gelassen werden wollte, fühlte sich von den ständigen Bemutterungsversuchen ihrer Amme gestört und scheuchte sie jedesmal wieder weg, was die alte Frau nur umso mürrischer machte. Die Prinzessin selbst warf hin und wieder einen verstohlenen Blick in Roans Richtung, doch jedesmal wenn er versuchte, ihr in die Augen zu schauen, wandte sie jäh den Kopf wieder nach vorn und starrte hochmütig und unnahbar vor sich hin. Heute sah sie aus wie ein Marienbild in einem jahrhundertealten Kirchenmessbuch: ätherisch und fast geschlechtslos. Ihr Antlitz war lang, schmal und blass, mit einer hohen, kahlen Stirn, schmalen Augenbrauen, schwerlidrigen Augen und einem kleinen, verkniffenen Mund. Es war kaum Farbe in ihrem Gesicht, außer in ihren Augen, die braun und wachsam waren. Für Roan, der sie seit ihrer Kindheit kannte, war dies das Zeichen für eine besonders schlechte Laune. Sie hatte ihr Frühstück herunterschlingen müssen, ihr Pferd benahm sich schlecht, und sie war von der ganzen Gruppe, die, wie sie wusste, sie ohnehin nicht dabeihaben wollte, in Verlegenheit gebracht worden. Darüber hinaus hatte sie Colennas freundliches Angebot, ihr mit einem Heilmittel gegen die schmerzenden Muskeln auszuhelfen, barsch zurückgewiesen, obwohl sie sich so bewegte, als ob sie dringend eines brauchte. Roan traute sich nicht, sich ihr zu nähern und ihr ein Gespräch anzubieten. Sogar der gewöhnlich so heitere Bergold war übelgelaunt; die Landkarte, die die Geografin ihnen mitgegeben hatte, weigerte sich standhaft, sich von ein und derselben Person
zweimal auf die gleiche Weise zusammenfalten zu lassen. Er hatte sich abermals in einem Wust aus akkordeonartig gefaltetem Papier verheddert, während sein Pferd nervös den Pfad hinauf und hinunter wanderte und gelegentlich gegen Lums geduldiges Reittier stieß. »Also ich sage, wir bewegen uns im Kreise«, sagte Spar, nach vorn deutend. »Seht doch, da sind schon wieder diese Bäume!« »Es ist ganz im Bereich des Möglichen, dass ein Merkmal einer Landschaft sich wiederholt«, sagte Bergold, ohne hinter der Landkarte hervorzukommen. »Solche Dinge sind in der Geschichte nicht unbekannt. Denkt doch nur an den Bauboom vor fünfzig Jahren!« »Dazu sind diese Kinder doch alle noch zu jung«, wandte Colenna mürrisch ein und verlagerte ihre Hüfte, um sich nach Roan umzudrehen. »Nach den Zweiten Schlammschlachten begann das Traumland sich mit Parzellen und Aberparzellen gleicher Häuser zu füllen. Selbst meines fiel in dieses Schema, gleich hier in Mnemosyne. Es war jeden Abend das Gleiche: Man wusste nie, ob man nach Hause kam oder bei irgendjemandem einbrach. Ich war froh, als das vorbei war und wir wieder zu einer gewissen Individualität beim Bauen zurückkehrten.« »Schön, aber wer macht sich gleichende Ringe von Giftpilzen?«, fragte Alette, als Golden Schwinn zum vierten oder fünften Mal auf den gleichen Knollenblätterpilz trat. »Der hier ist nicht bloß ähnlich. Es ist derselbe«, behauptete Spar. »Warten wir's ab«, sagte Colenna. »Wo genau sind wir jetzt?«, fragte Roan, sein Ross neben das von Bergold lenkend. Der Historiker reckte seinen Kopf aus dem Papierwust heraus und zeigte auf eines der mittleren Segmente des Dokuments, welches sich auf der Innenseite des
Zeltes über seinem Kopf befand. »Wir sind hier. Wenn ich dieses verflixte Ding bloß zusammengefaltet kriegen würde ...« Roan nahm ihm die Karte ab und kraft des Schicksals faltete sich die Karte gehorsam zu einem sauberen Päckchen zusammen. »So eine Frechheit!«, rief Bergold. »Warte nur, wenn ich Romney in die Finger kriege!« Roan lächelte und studierte die Karte. Wenn er den geografischen Features trauen konnte, die er um sich herum sah, hatten sie von der Stelle, an der sie ihr Lager aufgeschlagen hatten, bis zu dem Punkt, wo sie sich jetzt befanden, lediglich zehn Meilen zurückgelegt. Er fuhr mit dem Finger die Linie des Baches entlang, der parallel zum Weg verlief, und kam an die Stelle, wo sie sich fast berührten. »Ist dieses Deja vu eine Überraschung, die Brom für uns vorbereitet hat, damit wir hineinlaufen?«, fragte Roan und reichte Bergold die Karte zurück. »Eine Falle?« »Überhaupt nicht«, sagte der Historiker. »Dies sieht mir sehr nach einem natürlichen Phänomen aus.« Bergold zog einen schmalen Band aus seiner Satteltasche und blätterte in ihm herum. »Ja. Deja vu. Ja, Colenna hat Recht. Hmm. Könnte ein Trick sein.« »Ja, in der Tat. Wir winden - oder besser: ziehen - uns wie ein Uhrwerk in der Realität auf«, bemerkte Colenna, das Kinn auf der Schulter. »Indem wir nach Norden reiten - und genau das tun wir ja -, bauen wir eine gewaltige Vorwärts-Energie auf, die gefangen ist wie das Potenzial in einer gespannten Flitzebogensehne. Physisch reiten wir durch dasselbe Terrain, aber in Linearzeit sind wir ganz weit von hier entfernt. Bereitet euch vor. Wenn die Energie sich entlädt, könnte die Reaktion eine gewaltige sein.« »Ah!«, sagte Misha, der am Ende der Reihe ritt.
»Dann baut sich also um uns herum die Kollateralkraft auf. Wie geben wir sie frei?« »Das werden wir nicht brauchen. Das Traumland selbst wird sie auslösen, oder irgendeine Störung oder ein Einfluss oder einer der Schläfer, der seine Meinung ändert. Wir wissen es nicht. Wir müssen halt vorbereitet sein.« »Die Spannung ist fürchterlich«, sagte Felan mit seiner gelangweilten Stimme. »Schaut, wir sind eine Menge starker, einflussreicher Köpfe. Lasst uns die Bindung doch selbst brechen.« »Junger Mann! Und Sie bezeichnen sich als Historiker?«, rief Colenna entrüstet. Sie wandte sich voll in ihrem Sattel um und starrte ihn an, bis ihre Augen glutrot wurden. »Dies ist der Wille der Schläfer! Man muss nehmen, was kommt, wenn es kommt.« Unbeeindruckt schnalzte Felan mit der Zunge. »Tsk, tsk, tsk. All dieser Eifer wegen nichts.« Colenna starrte ihn wütend an. Roan glaubte, dass es Felan Spaß machte, sie zu ködern. Es war seine Art, die Zeit totzuschlagen. Sie ritten am Bach entlang und Golden Schwinn zertrat erneut einen Knollenblätterpilz. Vielleicht war es auch wieder derselbe. Als der Weg eine Kurve machte und anstieg, verwandelten sich die Pferde in Fahrräder. »Und auch noch im unpassendsten Augenblick!«, sagte Felan gereizt und richtete sich im Sattel auf, um den Anstieg zu bewältigen. »Das war eine fundamentale Veränderung«, sagte Colenna und hob sich noch ein Stück höher aus dem Sattel. Roan fühlte Kräfte an seinen Wangen vorbeistreichen - wie warmer Wind. »Hier ist ein starker Einfluss am Werke«, erklärte Roan beunruhigt. »Ein sehr fremdartiger. Spürt ihr das auch?«, fragte er.
»Ja! Wir kommen an seinen Rand«, sagte Colenna, als sie die Hügelkuppe erreichten. »Haltet euch gut an euren Lenkern fest und seht zu, dass ihr nicht runter-faaa...!« Colennas letzte Worte dehnten sich zu einem Schrei, als ihr Ross von einer unsichtbaren Hand erfasst und vorwärts gerissen wurde. Es schoss mit unglaublicher Geschwindigkeit den Hügel hinunter. »Also, seht euch das aaaa ...«, konnte Spar noch herausbringen, ehe auch er von dem Einfluss erfasst wurde. Die anderen sahen sich erschrocken an, als sie den Hauptmann im Schlepptau von Colenna entschwinden sahen. »Hilfe, es hat mich erwiiii...«, schrie Leonora. Sie schaffte es noch, sich an der Lenkstange Golden Schwinns festzuklammern, dann wurde auch sie weggefegt. Roan versuchte noch, sie festzuhalten, aber er verfehlte sie. »Halt dich feee ...«, war alles, was er noch herausbringen konnte, bevor die Luft, die er ausatmete, ihm von dem Wind regelrecht in den Mund zurückgepresst wurde, der ihm ins Gesicht blies. Er krallte sich an der Lenkstange fest und zog mit aller Kraft die Bremshebel gegen den Lenker. Die Landschaft jagte einem verschwommenen Band gleich an ihm vorüber. Er erhaschte kurze Ausblicke auf Bäume, Hügel, Flüsse und Tiere. Kleine Lehm- und Strohhütten in der Ferne schienen zu ganzen Häuserterrassen langgezogen. Roan befahl seiner Hutkrempe, sich über seine Augen zu legen, um sie zu schützen, da er nicht wagte, die Hände vom Lenker zu nehmen. Er schoss immer schneller vorwärts, bis schließlich die Landschaft um ihn herum nur mehr ein Mischmasch aus tausend Farben ohne erkennbare Merkmale war. Und dann wurde alles dunkelgrün, und die Luft war erfüllt von einem berauschenden Duft, der ihn japsen ließ. Just in dem Augenblick, als er das Gefühl bekam, er würde von der ungeheuren Zentrifugalkraft ohnmächtig, spürte er, wie die
Bremshebel sich unter dem Druck seiner Finger gegen den Lenker bewegten. Er schob ihn zurück. Er befand sich inmitten eines immergrünen Waldes, was die Farbe der Landschaft erklärte. Seine Füße und die Reifen ruhten auf einer dicken Schicht vergilbter Fichtennadeln, die ihren schweren, harzigen Geruch verströmten. Die Reiter, die vor ihm fortgerissen worden waren, warteten auf ihn, dem Anschein nach alle wohlbehalten, bis auf die Tatsache, dass die Haare der Prinzessin wild zerzaust waren und Spar noch griesgrämiger dreinschaute als gewohnt. Drea raste kreischend auf sie zu. Sobald sie zum Stillstand kam, klappte ihr Mund zu. Sie sprang von ihrem Ross und hastete zur Prinzessin, um sich um ihr Wohlergehen zu kümmern. Obgleich ihr eigenes Haar sich durch den Fahrtwind zu einer Art Vogelnest gebauscht hatte, war das Erste, was sie tat, Leonoras Haar in Ordnung zu bringen und ihren Schleier zurechtzuzupfen. »Lass mich in Ruhe, Drea«, beschied ihr Leonora unwirsch. »Du kannst doch so nicht Weiterreisen, Hoheit«, blieb die Amme unbeirrt. Roan sah, wie Leonora zu den anderen blickte, die hastig den Blick abwandten, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass sie sie anstarrten, worauf ihre Wangen noch rosiger wurden, als sie das durch den Wind ohnedies schon waren. »Wuuu-huuu-huuu!«, kam Bergold angerauscht, das Gesicht ganz platt von den Beschleunigungskräften, die auf ihn einwirkten. »Was für ein Ritt!« Dicht hinter ihm kamen Lum und die anderen Gardisten; ihre Knöchel traten weiß hervor, so kräftig betätigten sie die Felgenbremsen. Felan kam einen Augenblick später angesaust. Sein Gesichtsausdruck war mürrischer denn je. »So«, sagte Colenna, während sie mit zufriedener Miene ihren langen grauen Zopf glattstrich. »Wir sind rausgeschossen. Und da ist der Pfad.«
»Alles umsonst«, erklärte Spar. »Nein«, korrigierte ihn Bergold mit einem Lächeln, das buchstäblich von einem Ohr zum anderen reichte. Er holte die Karte hervor und faltete sie auf, bis er das entsprechende Segment gefunden hatte. »Hier stünden wir jetzt, wenn wir weiter geradeaus geritten wären.« Er zeigte auf einen Punkt auf der Karte, der an der südlichen Ausfallstraße der Kapitale lag. »Und dies ist, falls ich in diesem verflixten patentgefalteten Atlas nicht all meiner Fähigkeiten im Kartenlesen verlustig gegangen sein sollte, die Stelle, an der wir uns jetzt befinden.« Er tippte mit dem Finger auf einen Punkt viel weiter nördlich. »Bemerkenswert«, sagte Roan. »Ich habe schon das gesamte Traumland kreuz und quer bereist, bin aber noch nie auf diese Weise vorangetrieben worden.« »Du reist ja gewöhnlich auch allein«, bemerkte Misha. »Größere Gesamtmasse bedeutet auch größere Energie. Je mehr von uns vorhanden sind, desto größer ist die Kraft eines Deja vu.« Roan zog die Augenbrauen hoch, neugierig. »Kann man die Wirkung künstlich verdoppeln?« »Fragen Sie doch Brom, wenn Sie ihn das nächste Mal sehen«, sagte Felan mit einem boshaften Blick. »Das liegt eindeutig außerhalb unseres Faches, nicht wahr, Colenna?« »Sie sind respektlos, Sie jämmerlicher Youngster«, sagte die ältere Frau. »Wenn ich irgendwann auf dieser Reise noch einmal groß genug werden sollte, werd ich Sie über's Knie legen.« »Wir müssen das Ereignis dokumentieren«, sagte Bergold. »Micah wird großes Interesse an einem Deja vu haben. Felan, Sie sollten es in Ihren nächsten Bericht aufnehmen.« »Das werd ich ganz gewiss«, antwortete der jüngere Mann und zog sich seine Manschette über den Handrücken, um Platz zum Schreiben zu haben. Er zog einen Bleistift hinter dem Ohr
hervor und machte sich ein paar Notizen. »Wir sind an der Stelle vorbei, an der wir abgebogen sind«, sagte Lum, nachdem er sich kurz über Bergolds Schulter gelehnt hatte, um einen Blick in die Karte zu werfen. »Heißt das, wir müssen wieder umkehren? In dieses - diesen Effekt?«, fragte Leonora mit großen Augen. Sie hatte vor lauter Neugier ihre verdrießliche Laune vergessen. »Der Effekt ist vorüber«, versicherte ihr Colenna. »Es ist ein Zeiteffekt - sehr instabil. Wir haben nichts mehr von ihm zu befürchten.« »Wir könnten das Gebiet umgehen«, schlug Roan vor. Dabei blickte er verstohlen zur Prinzessin, um zu sehen, wie sie darauf reagierte. Sobald sie merkte, dass er sie anschaute, hob sie die Nase. Roan seufzte. »Das ist aber der Pfad, Sir«, meldete Lum mit einem Ausdruck der Verwirrung in seinem freundlichen Gesicht. »Schon gut«, sagte Roan verlegen. »Es war bloß so eine Idee. Wir kehren um.« Sie fanden die Abzweigung zur Straße nach Osten ohne Schwierigkeiten. Roan erkannte sofort die tiefen Fußabdrücke der WECKERträger wieder, und er fragte sich, wie er jemals Baumwurzeln für diese Fußabdrücke gehalten haben konnte. Spar sagte nicht ein Wort. Er pedalte bloß stumpf an der Spitze des Feldes dahin. Colenna machte trotz ihrer Rückenschmerzen einen frischeren Eindruck. Ihr Blick glitt über jeden Hügel, jede Wiese, jede Baumgruppe, an der sie vorbeifuhren. Ihr entging nichts. Dann und wann, wenn sie einen Blick über die Schulter zu Roan warf, lächelte sie ihm kameradschaftlich zu. Er war ihr dankbar. Ihre Philosophie, sich mit dem abzufinden, woran man nichts ändern konnte, war seinen Nerven bei weitem zuträglicher als der ewige Missmut des Hauptmanns der Garde. »Riechen Sie das auch?«, fragte Lum, als sie ein tiefes Tal
verließen und sich an einen langen Anstieg machten. »Da brennt irgendetwas. Etwas Großes.« Roan schnupperte und ein scharfer Geruch kräuselte die Härchen in seinen Nasenlöchern. Es roch nicht nach brennendem Holz oder angebranntem Essen. Der Geruch hatte eine metallische Schwere, die ihm Unbehagen bereitete. Der Geruch wurde deutlicher, als sie die Anhöhe erreichten und auf eine kleine Lichtung kamen. Er war jetzt so stark, dass er bei Roan einen Würgereiz auslöste. Sie hatten das Lager der Wissenschaftler gefunden. »Keine fünf Meilen von der Stelle entfernt, wo wir sie verloren haben!«, knurrte Spar mürrisch und hustete. »Wir hätten das letzte Nacht schon erledigen können.« »Sie sind bereits lange weg, Sir«, sagte Alette und ließ den Blick über die Lichtung schweifen. »Ein Albtraum!«, sagte Misha, auf die Lichtung starrend. Auch Roan war entsetzt über den Zustand des Lagers. Das Gras war gründlich zertrampelt, und an Dutzenden von Bäumen rings um die Mitte gab es Brandstellen; sie stammten offenbar von Laternen, die dort gehangen hatten. Er fand zwei weitere verbrannte Stellen, beide vor« beträchtlicher Größe. Die eine, die sich in der Nähe eine langen, klinisch aussehenden Steintisches befand, war von Fettspritzern und verkohlten Essensresten umgeben in der Mitte eines Steinhaufens, der als behelfsmäßige« Herd gedient haben musste. Die andere, von rechteckigen Form, befand sich am anderen Ende der Lichtung. Von beiden Stellen stieg noch immer Rauch auf. Neben dem Bach, der in der Nähe des Tisches floss, war der Boden zu einem Ring aus erstarrtem Matsch aufgewühlt, der aussah, als wäre ein Zylinder aus Erde heruntergeschmolzen. Ein Vorhang aus totem und verrottendem Moos lag über den Matschring drapiert. »Sie müssen letzte Nacht hier kampiert haben, aber man hat
das Gefühl, als wäre das Lager schon vor Jahren verlassen worden«, sagte Roan. »Es ist wie eine Geisterstadt.« »Alle Lebenskraft ist aus dieser Stätte herausgesogen«, sagte Bergold und zuckte mit seiner runden Nase. »Sie rottet vor sich hin.« »Erhaltung der Energie«, sagte Misha kopfschüttelnd. »Sie brauchen eine Menge Energie für ihre Tricks, nicht wahr? Die muss ja von irgendwo her kommen. Was sie tun, saugt das Leben geradezu aus dem Land.« Colenna betrachtete kopfschüttelnd den Steintisch. »Sie haben diesen Tisch nur für die eine Nacht gebaut. Was für eine Verschwendung!« »Bestimmt können andere damit noch etwas anfangen«, sagte Felan, der hinzugetreten war, um sich den Tisch anzuschauen. »Sehr hübsches Design.« »Es ist kalt«, ließ sich Leonora mit leiser Stimme vernehmen. Sie stand allein in der Mitte der ruinierten Lichtung. »So, jetzt hört ihr aber alle sofort damit auf, meiner Herrin Angst einzujagen!«, platzte Drea wie eine wütende Taube dazwischen. »Sie kann diese Art von Angst nicht ertragen. Sie will nicht schlafen. Schluss jetzt damit! Sofort!« »Nicht, Drea«, sagte Leonora leise. Die Amme legte den Arm um ihre Schutzbefohlene. »Ich will dich doch nur beschützen, meine Teure.« Leonora entzog sich ihrem Arm. »Ich brauche keinen Schutz!«, sagte sie, ein klein wenig ungestüm. »Das Traumland braucht Schutz, nicht ich!« »Du denkst nicht an dich selbst«, sagte Drea. »Das wird auch nicht von mir erwartet! Und jetzt lass mich in Ruhe!« Leonora reckte das Kinn vor und schlang die Arme noch fester um ihren Oberkörper. Sie wandte Drea den Rücken
zu. »Ja, lass mich allein. Geh weg!« Die Amme schüttelte den Kopf und machte Anstalten, sie erneut in den Arm zu nehmen. »Du kannst doch nicht wollen, dass ich dich jetzt allein lasse, Darling. Nicht in dieser ganzen Trostlosigkeit.« Leonora riss sich erneut los. »Doch! Doch, ich will, dass du mich in Ruhe lässt. Geh jetzt und komm nicht wieder«, sagte die Prinzessin. Sie hatte Tränen in den Augen. Roan machte einen Schritt auf sie zu, um sie in den Arm zu nehmen, aber ihre abweisende Körperhaltung ließ ihn zurückschrecken. »Ich will dich nicht mehr, Drea. Ich brauche dich nicht mehr.« »Nun, mein Kätzchen, wenn es das ist, was du mir sagen willst...« »Ja, genau das will ich dir sagen«, blaffte Leonora. »Und ich meine es ernst. Ich komme allein zurecht. Und tituliere mich nicht mit Kosenamen.« Die alte Amme schaute traurig aus, aber es lag auch so etwas wie Zufriedenheit in ihren Augen. »In Ordnung, Eure Hoheit. Du wirst es ja selbst am besten wissen. Du bist ja jetzt erwachsen, nicht?« »Ja!«, keifte Leonora, ohne wirklich hinzuhören. »Und jetzt hau endlich ab!« Drea schüttelte noch ein letztes Mal freundlich den Kopf, und dann verschwand sie in einer Dampfwolke, die nach frisch gebügelter Wäsche und Hafergrütze mit Zimt duftete. Tränen quollen aus Leonoras Augen und liefen über ihre Wangen. Sie stand neben ihrem Fahrrad inmitten des Verfalls und der Trostlosigkeit und sah niedergeschlagen und verloren aus. Die Luft schien kälter denn je. Nun, da der Bann gebrochen war, eilten Roan und Bergold zu ihr, um sie zu trösten. Sie ließ sich zitternd in Bergolds Arme sinken, nicht länger ein entrücktes Symbol, sondern eine verängstigte junge Frau. »Ach, Bergold, sie haben dieses Tal zerstört«, schluchzte sie
kummervoll. »Es wird alles im Nu wieder gut werden«, sagte der Historiker und tätschelte ihr aufmunternd den Rücken. »Der Schläfer wird es wieder in Ordnung bringen, sobald sich seine Laune verändert.« »Oder es wird ein Einfluss durchkommen«, erwog Roan. »Du weißt, wie schnell Dinge sich ändern können. Es wird nicht lange dauern.« »Aber es ist so trostlos!«, schluchzte Leonora, das Gesicht in Bergolds Schulter vergraben. Roan legte tröstend die Hand auf ihren Arm. Er verstand sie nur zu gut. Es war nicht nur, dass die Wissenschaftler einen Saustall hinterlassen hatten, irgendetwas stimmte nicht an dem Ort, irgendetwas war falsch. Die Farben wirkten matt. Die Blätter und Blumen waren dünn wie Papier und fühlten sich künstlich an. Wie die Wüste, durch die Roan Brom und seine Günstlinge während der ersten Stunden verfolgt hatte, war auch dieses Lager bar jeden Lebens. Nicht einmal das Summen von Insekten war zu hören. Leonora musste die Zerstörung noch deutlicher, noch schmerzlicher gespürt haben als er. Der König war das Herz des Traumlandes und sie war des Königs Tochter. Der Schläfer musste einen stechenden Schmerz des Unbehagens in diesem Bereich seines Traums gespürt haben, denn ein leichter Wind erhob sich in diesem Augenblick und bewegte das Gras zu ihren Füßen. »Da, siehst du das?«, sagte Roan. »Er hat dich gehört.« Die Prinzessin blickte auf. Ihr Gesicht war traurig; ihre Augen waren größer als zuvor und von einem tiefen, kummervollen Blau. Aber sie schaute in die Richtung, in die er zeigte. Während der Wind leise in den Wipfeln rauschte, verwandelte sich die moosige Lichtung in eine Gänseblümchenwiese. Es war, als falle ein Vorhang über den
Schauplatz eines Unfalls. Die Sonne brach durch die Wolken und ließ das Gras smaragdgrün aufleuchten. Vogelgezwitscher betörte sie mit seiner klaren Schönheit und die Sänger schwebten auf ausgebreiteten Schwingen über ihre Köpfe hinweg. Der scheußliche Gestank verflog. An seiner statt roch Roan Wildblüten und den satten, würzigen Duft von Erde nach einem Regenschauer. Auch die Menschen blieben nicht unberührt vom Wind des Wandels. Die Uniformen der Palastwachen verwandelten sich in hellrote Waffenröcke und schwarze Hosen; ihre Hüte bekamen flache Krempen und hohe Kronen und ihre Gesichter wurden edler. Der Rest der Gruppe mutierte ebenfalls, wenn auch nur geringfügig. Die Menschen wurden eine Spur schöner oder ansehnlicher, die Fahrräder bekamen neuen Glanz, so als wären sie frisch geputzt worden. Roan blieb wie immer derselbe, aber er fühlte sich sauberer durch den frischen Wind. Der Kummer in den Augen der Prinzessin linderte sich ein wenig. »Das ist doch schon viel besser, nicht wahr?«, fragte Roan sie in banger Hoffnung. Ein großer Teil des Schadens war verschwunden, aber die Gänseblümchen hatten immer noch etwas grundlegend Falsches an sich: zuviele Blütenblätter oder die falsche Farbe. Es würde mehr als eines heilenden Windhauches seitens der Schläfer bedürfen, um das zu beheben, was hier angerichtet worden war. Er und Bergold wechselten einen Blick über den Kopf der Prinzessin hinweg. Sie sollten besser weitergehen, bevor sie merkte, dass der Schaden mitnichten behoben war. »Wir müssen weiter«, sagte Roan. Er fasste Leonora unter den Ellenbogen und geleitete sie hurtig zurück zu Golden Schwinn. Sobald sie aus dem Dunstkreis der Zerstörung heraus war, gewann Leonora ihre Würde wieder zurück und entzog sich Roans Griff.
»Danke für deine Höflichkeit«, sagte sie kühl. »Schwinnie!« Das goldene Ross löste sein Vorderrad von dem Cruisers, an das es sich gelehnt hatte und kam zu ihr herübergerollt. Leonora plazierte das Fahrrad zwischen sich und Roan und schob es weg. Roan gaffte Leonora bestürzt hinterher und Bergold zog ihn weg. »Sie redet immer noch nicht mit mir«, sagte Roan. »Dabei sind seit heute früh doch schon Stunden vergangen. Was kann ich nur machen? Was hätte ich tun sollen?« »Ach, komm, Junge«, sagte Bergold geduldig, die Hände über seinem kugelrunden Bauch gefaltet. Sein Haar war zu Rot verblichen und platt und ölig nach hinten gekämmt, und seine Wangen waren rosig und dick. »Sie ist eine bessere Behandlung von dir gewohnt. Du hättest sie in Schutz nehmen müssen.« »Aber sie hat uns doch alle aufgehalten!«, verteidigte sich Roan hilflos. »Sie hat uns schließlich ein Versprechen gegeben.« »Und du willst ein verliebter Mann sein«, sagte Bergold kopfschüttelnd und schlenderte zu dem Ring aus getrocknetem Matsch hinüber, um ihn sich näher anzuschauen. Er war jetzt mit Grassämlingen bedeckt. Felan gesellte sich zu ihnen. »Was meint ihr, was das war?«, fragte er. »Ich würde sagen, eine Art Klo«, sagte Roan. »Es ist vom Schlafbereich aus leicht zu erreichen - wenn ich davon ausgehe, dass dies der Schlafbereich ist - und stromabwärts von der Kochstelle.« »Glauben Sie, sie haben es zerstört, damit wir es nicht sehen, oder hat es sich selbst zerstört?« »Ich glaube, dass alle ihre Konstruktionen in sich zusammenfallen, sobald die Energie aufgebraucht ist«, mischte
sich Colenna ein. Sie stand in der Mitte der Lichtung, die Arme um ihren Oberkörper geschlungen. »Hütet euch vor der Arroganz der Verschwendung.« »Und was halten Sie von alledem?«, fragte Felan Roan, mit einer kleinen, fast versteckten Geste auf das Areal um sie herum weisend, um die Prinzessin nicht noch mehr zu beunruhigen. Leonora stand allein am Rande der Lichtung. Hauptmann Spar hatte Alette verstohlen ein Zeichen gegeben, sich hinter der Prinzessin zu postieren und sie im Auge zu behalten. »Irgendetwas, das Brom tut, pervertiert die Landschaft, wohin auch immer sie kommen«, sagte Roan, seine Stimme bewusst gedämpft haltend. Eines der Gänseblümchen zu seinen Füßen warf plötzlich all seine Blütenblätter ab. Roan und Felan wechselten einen Blick, und Roan übte ein wenig Einfluss aus, um sie wieder festzukleben. »Ich beobachte das schon von Anfang an, seit ich ihm folge«, sagte er. »Die Dinge verzerren sich, wo sie vorbeigekommen sind.« »Aber wird diese Schweinerei jemals wieder verschwinden?«, fragte Felan. »Sie haben doch den Wind der Veränderung gesehen. Er hat nur ganz wenig von dieser Entweihung ausgetilgt! Ich fürchte mich vor etwas, das einen solchen Schaden anrichten kann, dass selbst die Schläfer ihn nicht gänzlich beheben können.« »Es wird eine Weile dauern, bis es verheilt ist«, sagte Bergold begütigend. »Wenn nicht heute, dann irgendwann später.« »Äußerst beunruhigend«, sagte Felan. »Was, wenn sie das auch mit dem übrigen Traumland tun, Fräulein Colenna? Sie sind ebenfalls natürliche Wesen. Ist nicht das, was sie tun, Teil des Planes der Schläfer?« »Wenn wir dazu ausersehen sind, sie aufzuhalten, dann werden wir sie aufhalten«, sagte Colenna gewichtig, mit
professoralem Air. »Wenn nicht, dann ist auch das die Absicht der Schläfer. Aber ich glaube, wenn wir uns nicht einmischen, werden wir den Plan der Schläfer vollkommener sehen.« »Es muss sehr tröstlich für Sie sein, alles so klar geordnet und gefügt zu sehen«, sagte Felan angewidert. »Brom scheint Ihre Weltsicht aber nicht zu teilen. Was, wenn sie die Schläfer aufwecken?« »Auch das«, sagte Colenna betrübt. »Es steht uns weder zu Gebote, noch haben wir das Recht, Dinge zu verändern.« »Aber hat Brom das Recht dazu?« »Das habe ich nicht gesagt!« Wir werden versuchen, ihn aufzuhalten. Wenn wir das nicht können, dann ist es Schicksal.« Roan war zwar von einem streng traditionell ausgerichteten Historiker erzogen, aber immer dazu ermuntert worden, sich seine eigenen Gedanken zu den Dingen zu machen und er stimmte nicht mit Colenna überein. Aber dies war nicht der rechte Augenblick, das zu sagen. »Schaut nur!«, sagte Bergold, ein kleines Nest im Gras aufdeckend. Unter einem breitblättrigen Unkraut versteckt, ähnelte es einer kleinen grauen Faltschachtel aus gekauten Fasern. In ihr befanden sich Dutzende von fingernagellangen Büroklammern. Bergold nahm ein paar heraus und schaute sie sich genauer an. Die anderen, die seinen Ausruf gehört hatten, drängten sich jetzt um ihn und seine Entdeckung. »Was ist das?«, fragte Lum. »Büroklammern!«, antwortete Roan. »Brom hat hier Fahrräder abgeholt. Suchen Sie nach Spuren. Nicht nach Fußspuren - nach Reifenspuren. Sie sind nicht mehr zu Fuß.« Bergold sah sich die Schachtel näher an, dann schlug er sein Taschen-Ortslexikon auf. »Merkwürdig ist, dass diese hier nicht in dieser Gegend
beheimatet sind«, sagte der Historiker. »Es sind ganz und gar keine Mountainbikes. Seht ihr?« Er zeigte ihnen Farbtafeln mit vergleichbaren Arten. »Das hier sind Allzweck-Klammern, für jedes Gelände tauglich. Sie sind frisch ausgelegt worden.« »Könnte nicht irgendein Vogel oder ein zufällig vorbeikommender Camper eine einzelne Klammer...?«, begann Leonora, aber sie brachte den Satz nicht zu Ende. Sie wusste es besser. »Es muss eine deutliche Menge von Klammern vorhanden sein«, erinnerte Misha sie mit ernster Stimme. »Sonst passiert nichts. Eine reicht nicht aus, um weitere zu erzeugen.« »Sie haben die Vorfahren aus Mnemosyne mitgebracht«, sagte Roan niedergeschlagen. »Gereift in einer einzigen Nacht.« Der Geschwindigkeitsvorteil, den er gegenüber der Wissenschaftlergruppe zu erlangen gehofft hatte, war dahin. »Mein Respekt vor Brom wächst«, sagte Bergold. Er steckte die winzigen Drahtklammern wieder in die Schachtel und klappte sie zu. »Ich hoffe nur, er ist nicht so gut im Wecken von Leuten wie im Planen einer Expedition.« Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, rannten Spar, Lum, Felan und Misha zu ihren Rädern und radelten hastig in entgegengesetzte Richtungen davon, um die Spur zu suchen. Doch war es schließlich Colenna, die den Weg fand; er führte, ausgehend von dem Steintisch, nach Nordosten. »Wie verschwenderisch«, sagte sie kopfschüttelnd, als sie zurück auf die Lichtung schaute. »Sie zerstören so viel und mit so wenig Grund.« »Sie wollen die Schläfer aufwecken, nur um eine Frage beantwortet zu bekommen«, sagte Roan, der hinter ihr her fuhr. »Ich hatte eigentlich nicht vorgehabt, eine Querfeldeintour zu machen«, sagte Felan, sobald die Gruppe unterwegs war. Dieser neue Weg war zu beiden Seiten von acht Fuß hohen Hecken gesäumt, die jeden, der vorbeikam, unsichtbar
machten. »Wir hätten sie inzwischen eingeholt haben müssen. Wo im Namen der Sieben wollen sie bloß hin?« »Zur Halle der Schläfer«, rief Spar. »Das haben sie jedenfalls gesagt.« »Aber wo liegt die? Sie ist auf keiner unserer Karten verzeichnet.« »Darüber habe ich während der letzten vierundzwanzig Stunden immerzu nachgedacht«, sagte Roan, kräftig in die Pedale tretend. »Ich habe eine Theorie. Wir müssen so denken wie Brom, uns in ihn hineinversetzen. Was wissen wir über die Schläfer?« »Es sind sieben«, sagte Lum. »Es sind nicht immer dieselben. Jeder von ihnen träumt eine Provinz.« »Ja«, sagte Bergold. »Von den frühesten Aufzeichnungen an, die wir haben, wissen wir, dass die Menschen, sobald sie anfingen, zwischen den Provinzen zu unterscheiden, entdeckten, dass es sieben Über-Bewusstseine gab. Das war nie strittig. Die Sieben ist eine wichtige Zahl im Traumland. Beobachter stellten fest, dass die Provinzen Umbrüche unabhängig voneinander erlitten, dass diejenigen, die über die Schluchten und Flüsse von einem sich verändernden Land in ein stabiles flüchteten, so blieben, wie sie waren. Bei einem Umbruch verändert sich der gesamte Charakter einer Provinz. Alle Provinzen unterscheiden sich voneinander - nur dort nicht, wo sie gleich sind, was im Allgemeinen auf ähnliche Erfahrungen hindeutet.« »Die Schläfer, ihre Anzahl und ihr Charakter, wenngleich nicht die einzelnen Individuen selbst, sind in der gesamten Geschichte unverändert geblieben, richtig?«, fragte Roan. »Richtig.« »Wir suchen also nach etwas, das sich nicht verändert hat«, sagte Roan.
Felan blies spöttisch Luft durch die Lippen. »Aber alles im Traumland verändert sich mit der Zeit. Goldminen werden zu Sandsteinhöhlen; Häuser, Paläste und Hütten werden mal zu dem einen, mal zu dem andern - und umgekehrt; Vögel und Bienen können sich paaren, weil beides Luftgeschöpfe sind.« »Aber was verändert sich nicht?«, fragte Roan. »Nichts«, antwortete Felan lakonisch. »Was?«, fragte Misha, der sich für die Geschichte zu interessieren begann. »Die Grenzen«, sagte Roan. »Aber von denen am deutlichsten die Berge. Ich gehe jede Wette ein, dass sich die Mysterien seit dem Anbeginn der Zeit nicht wesentlich verändert haben. Das Traumland hat bei all seiner Veränderlichkeit eine feste, natürliche Grenze.« »Wir bekommen ständig Besuche aus den anderen Königreichen«, gab Felan zu bedenken. »Ja, man kann die Mysterien überqueren, aber ich wette, man kann sie nicht verändern«, beharrte Roan. »Sie sind so ewig wie ...« » ... wie Ihr Gesicht«, ergänzte Felan angriffslustig. »Na und?« »Brom will zu den Bergen«, sagte Roan, über das hochnäsige Grinsen des Mannes hinweg. »Die Halle der Schläfer muss unterhalb von ihnen liegen.« »Die Berge!«, rief Leonora, so überrascht, dass sie ihr Schweigen für einen Moment vergaß. Sie warf Roan einen vernichtenden Blick zu und schaute hastig wieder weg, die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst. »Schön, aber welche?«, wollte Colenna wissen. »Zu welchen Bergen sind sie unterwegs?«
»Bestimmt haben die alten Namen irgendeine Bedeutung«, sagte Bergold. »Auch die sind in den historischen Aufzeichnungen seit dem Beginn der Geschichtsschreibung unverändert. Die Tiefen Mysterien, die Hohen Mysterien, die Heiliger Mysterien, die Dunklen Mysterien -« »-die Großen Mysterien, die Kleineren Mysterien und die Verbotenen Mysterien«, fiel ihm Misha eifrig ins Wort. »Sie sind alle so unterschiedlich wie die Sieben selbst.« Er schaute nach vorn und nach hinten zu den anderen. »Richtig?« »Ja, natürlich. Wir haben alle Erdkundeunterricht in der Schule gehabt. In welchen aber befindet sich nun die Halle der Schläfer?«, fragte Felan. »Ich habe keinen blassen Schimmer«, sagte Bergold und hob die Handflächen. »Sie sind alle gleich und gleich verschieden.« »Ich weiß es auch nicht«, sagte Roan. »Ich hatte gehofft, irgendeiner von euch hätte vielleicht eine Idee.« »Ach, das ist aber nett«, sagte Felan gereizt und ließ sich zurückfallen. »Jetzt bin ich auch nicht klüger als vorher.« Colenna an der Spitze des Feldes schnaubte. »Hat niemand je einen Unterschied in der Menge an Einfluss beobachtet, der von einem bestimmten Gebirgszug ausgeht?«, fragte Roan. »Darüber findet sich überhaupt nichts in den Geschichtsbüchern«, sagte Bergold, nachdem er sein Buch zu Rate gezogen hatte. »Keine Aufzeichnungen. Deshalb war ich auch so überrascht, als du so etwas erwogst, doch es erscheint mir durchaus sinnvoll.« »Dann denkt nach, alle miteinander«, sagte Roan. Er brütete über Cruisers Lenkstange, versuchte sich an alles zu erinnern, was er in der Schule gelernt hatte. Bergold blätterte in seinem kleinen Buch, wobei er leise vor sich hin murmelte. »Schauen Sie, Sir«, sagte Lum, die Stirn gedankenschwer in
Falten gelegt, »wenn Sie vom Zentrum aus nach außen fahren, werden Sie irgendwann auf Berge stoßen. Was ist, wenn sie alle gleich sind, wie dieses Deja vu, das wir erlebt haben? Können wir nicht einfach geradeaus bis zum Perimeter des Traumlandes weiterfahren, ganz gleich, wo wir ankommen?« »Die Berge sind nicht alle gleich«, warf Spar ein, zum ersten Mal zu diesem Thema Stellung nehmend. »Ich bin in der Nähe der Alten Mysterien aufgewachsen, in der Provinz Elysien. Mein Vater nahm uns einmal zu den Dunklen Mysterien und zum Großen Meer mit. Es ist unmöglich, die beiden miteinander zu verwechseln.« »Aber die Form folgt nur der Funktion«, wandte Misha ein, zum Hauptmann der Garde aufschließend. »Es wirken viele Einflüsse auf ein geografisches Gebilde ein, nicht zuletzt auch die Stimmung der Schläfer selbst. Innerlich könnten sie einander alle gleich sein.« »Die Berge verändern sich nicht«, sagte Spar. »Sie sind, wie sie sind und wie sie immer gewesen sind.« »Das bringt mich zu einer höchst bedauerlichen Schlussfolgerung«, sagte Roan und starrte düster auf die Mutter, die Cruisers Lenkstange hielt. »Es wird nicht möglich sein, Brom zuvorzukommen, weil wir keine Möglichkeit haben vorauszusagen, wohin er geht. Wir haben keine andere Wahl, als ihm weiter zu folgen. Ich hoffe, wir finden niemals heraus, wohin sie gehen wollen, weil ich vorhabe, sie aufzuhalten, bevor sie dort ankommen.« »Sekundiert«, sagte Hauptmann Spar. »Das ist etwas, das ich verstehen kann.« »Hört, hört«, stimmten die anderen ein. »Aber ich will nicht noch einmal so einen Reinfall erleben wie zuletzt«, sagte Felan. »Können wir ganz sicher sein, dass sie diesen Weg genommen haben?« Ein kleines Tier huschte quer über den Pfad und ins
Unterholz, als die Fahrräder sich näherten. Bevor es verschwand, erhaschte Roan einen kurzen Blick auf die rote Haube, die rote Brust und den gelben Schnabel eines Kardinals und die braunen Pfötchen und den buschigen Schwanz eines Eichhörnchens. »Ja«, sagte er. »Ich bin ganz sicher.« Während sie so dahinrollten, versuchte Roan, die Prinzessin in ein zwangloses Gespräch zu verwickeln. Sie rollte zwar neben ihm her, hielt sich aber exakt in der Mitte ihrer Spur, als wäre der Pfad nur so breit und als existiere rechts von ihr nichts als die Hecke. Sogar Golden Schwinn hielt sich von Cruiser fern und dabei waren die beiden seit ihren Kleiderbügeltagen dicke Freunde. Mit den anderen führte Leonora indes angeregte Unterhaltungen - aber sie klang nach Roans Empfinden eine Spur zu fröhlich, zu gut gelaunt. Sie war immer noch wütend auf ihn und sie wollte, dass er das wusste. Roan war niedergeschlagen, er begann sich aber zu fragen, ob er nicht wirklich im Unrecht war. Wenn man bedachte, dass sie sich ewige Treue geschworen hatten, hatte sie ein Recht darauf, wütend darüber zu sein, dass er sie nicht vor den anderen in Schutz nahm. Er wünschte, sie würde ihm eine Chance geben, sich ihre Vergebung zu verdienen. Obwohl die Sonne schien, war es ein kalter Ritt für ihn. Er hatte das Gefühl, dass die Temperatur jedesmal ein wenig sank, wenn sie in seine Richtung blickte. Diese Art des Benehmens kannte er nicht von ihr. Er wusste, dass Leonora im Laufe der Jahre schlimmere Zurechtweisungen hatte erleiden müssen. Ihr Unterricht in Diplomatie hatte sie in Situationen mit männlichen Staatsgästen hineingezwungen, die rundweg beleidigend gewesen waren. Dennoch hatte sie Haltung an den Tag gelegt. Er wusste, dass sie wusste, dass es nicht in seiner Absicht gelegen hatte, ihre Gefühle zu verletzen. Ihre Stimmung musste tiefere Ursachen haben als diese kleine Nachlässigkeit auf
seiner Seite. Er schlug sich im Geiste an den Kopf und begriff. Die Prinzessin hatte Angst. Sie war eingeschüchtert und überwältigt von Broms Drohung, und sie musste schreckliche Angst davor gehabt haben, die Sicherheit ihres Zuhauses zu verlassen, um sich in ein unbekanntes Abenteuer zu stürzen. Er hatte zwar zähneknirschend eingewilligt, dass sie mitkam, aber er hatte ihr nicht im Geringsten dabei geholfen, sich auf diese für sie fremde Lage einzustellen. Roan fühlte sich noch schlechter als vorher, als er nur geglaubt hatte, sie sei wütend. Er reiste seit vielen Jahren ständig durch das ganze Traumland, stieß auf Gefahren und verließ sich auf seinen Grips und seine Erfahrung, um diesen Gefahren zu entrinnen. Sie dagegen war noch nie mit weniger als zehn Bediensteten und einem ganzen Tross von Packtieren irgendwohin gereist. Sie hatte bewusst nur ihre Amme mitgenommen. Dies war ihre erste Nacht außerhalb des Palastes, die sie nicht unter dem Dach ihres eigenen Zeltes verbracht hatte, einem wunderschönen Pavillon, der ebenso gut ausgestattet war wie der Palast, und ohne von den Höflingen ihres Vaters umgeben zu sein. Und jetzt hatte sie zu allem Überfluss auch noch ihre Amme in die Wüste geschickt. Das war ein Akt, der von allergrößtem Vertrauen in seine Führungsfähigkeiten zeugte. Roan begriff in diesem Augenblick, welche Opfer die Prinzessin auf sich genommen hatte, um ihn auf dieser gefährlichen Mission zu begleiten. Es war sehr mutig von ihr gewesen, von ihrem Podest herunterzusteigen. All ihre gewohnten Annehmlichkeiten hatte sie zurückgelassen, selbst die letzten. Es war hart für sie, endlose Stunden zu reiten, in unbekannte Gefahren hinein. Sie wusste, dass die anderen sie nicht dabeihaben wollten, aber er verstand auch, warum sie glaubte, mitkommen zu müssen. Ihr Vater, der König, hatte höchstwahrscheinlich genauso empfunden. Er hätte sein Reich bestimmt auch gern persönlich verteidigt, aber als der kluge
und erfahrene Mann, der er war, hatte König Byron diese Aufgabe anderen übertragen, wohl wissend, dass er seine weiteren Pflichten und Verantwortlichkeiten nicht vernachlässigen konnte. Und hier war Leonora, verwundbar wie ein neugeborenes Kind, ohne Ausbildung oder Erfahrung, beseelt von dem Wunsch zu helfen und gleichzeitig wissend, wie sehr ihre Gegenwart von den anderen als hinderlich empfunden wurde. Sie war noch nie mit wirklichen Problemen konfrontiert gewesen, geschweige denn mit der Möglichkeit einer welterschütternden Katastrophe. Ihre Fähigkeit, Materie zu beeinflussen, würde im Unglücksfall eine wichtige Hilfe für sie sein, aber sie fürchtete das Unbekannte. Roan schämte sich. Sie war viel tapferer als er. Sie verdiente seine volle, rückhaltlose Unterstützung und er hatte sie ihr nicht angeboten. Was für ein Tölpel er doch war! Er schwor, dass sie niemals in Gefahr geraten würde, solange sie in seiner Obhut war. Er drehte sich im Sattel um und wartete, bis er ihren Blick erhaschte, und dann schenkte er ihr ein zärtliches Lächeln, in das er sein ganzes Herzblut hineinlegte. Sie erwiderte es zögernd, scheu. Die Hecken öffneten sich schlagartig zu offenen Feldern voller Rebstöcken, die sogleich anfingen zu summen - vor lauter Glück und Wunder. Roan war verliebt und er wollte, dass die ganze Welt es wusste. Er streckte die linke Hand aus und fühlte, wie ihre schlanken Finger in seine schlüpften. Die Wärme in seinem Herzen breitete sich in seinem ganzen Körper aus und er seufzte vor Glück. Seite an Seite ritten sie eine Weile schweigend dahin. Roan war glücklicher, als er es jemals gewesen war. Colenna sah die Blicke, die zwischen den beiden jungen Leuten hin und her huschten und sie räusperte sich. »Dies ist Ihre erste lange Reise, nicht wahr, meine Liebe?«, fragte sie Leonora. »Es war bis jetzt ein schlimmer und anstrengender Ritt, nicht? Ich finde bestimmte Teile des Reisens auch weit erfreulicher als andere, das kann ich Ihnen
versichern. Ich erinnere mich noch gut an meine erste Reise im Auftrage des Ministeriums - und das war auch ein undankbarer Haufen.« »O nein, das waren sie doch bestimmt nicht«, wandte Leonora höflich ein. »Ha! Sie kennen die Bürokraten nicht!« Colenna hob zu einer lebhaften Schilderung ihrer Reise in die sechste Provinz, Oneiros, an, die sie im Auftrage des Geschichtsministeriums gemacht hatte, um Dokumente abzuholen, die dort entdeckt worden waren und von denen man glaubte, sie seien über fünftausend Jahre alt. »Ich war noch ein junges Ding«, erinnerte sich die Feldbeobachterin, »und glaubte, ich könne so bequem durchs Traumland reisen, als reite ich auf einem fliegenden Teppich. Ich brannte darauf, Dinge zu sehen, die noch nie jemand gesehen hatte, und war von dem Ehrgeiz erfüllt, diejenige zu sein, deren Name eines Tages auf Steintafeln und Palimpsesten stünde. Aber es war beileibe nicht alles so nett wie die ersten paar Minuten, als ich frohen Mutes vom Schlosse wegritt - o nein!« Fröhlich schilderte sie, wie sie in verschiedene haarige Situationen geraten und sich wieder aus ihnen gerettet hatte - und das ziemlich geschickt, wie Roan fand. »Und seitdem«, schloss Colenna triumphierend, »gehe ich nirgendwo mehr ohne einen Schneebesen und ein Allzweckmesser hin. Ich nehme alles mit, egal ob ich weiß, ob ich es brauchen werde oder nicht! Ich bin gerne auf alles vorbereitet, Eure Hoheit. Sie können alles, was Sie wollen, in einer Stadt bekommen, aber zwischen den einzelnen bevölkerten Zentren gibt es eine Menge leerer Flächen.« »Manchmal«, erinnerte sie Bergold. »Ja, ich weiß, du alter Erbsenzähler«, sagte Colenra unwirsch und wandte sich wieder der Prinzessin zu »Finden Sie heraus, was Sie unbedingt brauchen, und nehmen Sie es
mit. Reisen Sie nie mit mehr, als Sie selbst tragen können.« Dann schaute sie ein wenig verzagt drein, aber Leonora merkte es nicht. Sie nickte. »Ich würde es als eine Ehre betrachten, die Habe ihrer Hoheit transportieren zu dürfen«, rettete Misha Colenna galant die Situation. »Ich auch«, sagte Roan, der bedauerte, nicht als Erster gesprochen zu haben. »Ihr seid sehr freundlich«, sagte Leonora und schaute alle drei an - Roan jedoch ganz besonders warm. Er fühlte, wie seine Hoffnungen schüchtern auf Zehenspitzen zurückkehrten. »Es tut mir sehr Leid, wie ich mich heute Morgen benommen habe.« »Unerfahrenheit, das ist alles, wenn Sie mir vergeben, Eure Hoheit«, sagte Colenna. »Nun, ich denke, bis wir wieder nach Mnemosyne zurückkommen, werden Sie ein echter Profi sein.« Leonora lächelte, wobei das Grübchen an ihrem Mundwinkel wieder erschien und ihr Gesicht entspannte sich: Aus dem wächsern-mediavalen Madonnenantlitz wurde ein liebliches, weiches Frauengesicht. Ihre Lippen wurden rot und voll, und ihre Augen weiteten sich so, dass die langen Wimpern, die sie umringten, mehr wie ein Rahmen erschienen denn wie ein Käfig. Roan schaute Misha dabei zu, wie er die Verwandlung verfolgte, und bemerkte den Moment im Gesicht des jungen Mannes, als dieser sich hoffnungslos in sie verliebte. Jeder verliebt sich in sie, dachte Roan kopfschüttelnd. Er war einfach der, der am meisten Glück hatte, da sie seine Zuneigung erwiderte. »Was ist das Wichtigste, das ich tun muss, um ein, wie Sie es ausdrücken, Profi zu sein?«, fragte Leonora ernst. »Halten Sie die Augen offen«, sagte Colenna. »Seien Sie vernünftig. Sie sind jetzt nicht zu Hause, müssen Sie wissen.« »Ich weiß.«
»Und lassen Sie die Dinge so, wie Sie sind! Hinterlassen Sie keinen Saustall. Nehmen Sie nicht mehr mit als eine Erinnerung oder eine Fotografie und hinterlassen Sie nicht mehr als Ihre Fußspuren.« »Ich habe es immer vorgezogen, Fußspuren mitzunehmen und Fotos zu hinterlassen«, sagte Roan, der sich wieder mehr so fühlte wie früher, vor der gegenwärtigen Krise. »Ich habe eine große Sammlung.« Von da an ging alles weitaus fröhlicher vonstatten. Sie kamen hervorragend voran. Misha widmete sich voll und ganz Leonora; er erzählte ihr Witze und machte ihr kunstvolle, elegante Komplimente, die sie ebenso zum Lachen brachten wie die Witze. Als die Gruppe am Ufer des Baches neben einer schönen alten Holzbrücke unter schattenspendenden Beerensträuchern eine Erfrischungspause einlegte, erzählten die anderen Geschichten. »Ich war zurzeit des letzten Umbruchs in Rem noch ein Knirps. Zum Glück gab es viele Vorboten«, sagte Lum und kratzte sich am Ohr, um seiner Erinnerung auf die Sprünge zu helfen. »Mein Dad packte uns in einen Karren und fuhr uns über die Brücke. Ich wollte draußen bleiben und zuschauen, aber er ließ mich nicht. Er sagte zu mir, ich wäre ein dummer Bengel. Heute hätte ich viel zu viel Angst, um mich in die Nähe eines Umbruches zu trauen.« »Ich auch«, sagte Misha, der nach wie vor um Leonora herumscharwenzelte. Er schenkte ihr Fruchtnektar in ihren Kelch. Das Packtier, das Drea zurückgelassen hatte, trug immer noch sämtliches Gepäck der Prinzessin, einschließlich ihres Tafelgeschirrs. »Klingt, als wären Sie vernünftig geworden«, sagte Spar. »Haben Sie schon einmal einen Umbruch gesehen?«, fragte Leonora Colenna. »Nein, noch nie«, antwortete Colenna. »Ich habe mich von
solchen Dingen immer tunlichst ferngehalten. Das ist nur vernünftig. Ich gefalle mir so, wozu ich neige zu sein. So viel ich weiß, hat Ihr Verehrer aber schon einmal einen erlebt.« »Sie?«, fragte Felan. »Das stimmt«, gab Roan zu und wandte den Blick ab. »Das war vor deiner Zeit in Mnemosyne, Felan«, bemerkte Bergold. »Ich kann wohl sagen, dass das Ereignis und das, was darauf folgte, die erstaunlichste Geschichte war, die ich jemals gehört habe, und zugleich das Schmählichste, was ich je erlebt habe. Vor zwei Umbrüchen, genau gesagt.« »Als ich ein kleiner Junge war, lebten wir in Somnus«, erklärte Roan, während er den Kanten Brot niederlegte, den er gerade mit Butter bestrich. »Mein Vater ließ mich alleine herumlaufen, während er seine Arbeit für das Ministerium erledigte. Es ging das Gerücht, dass ein Umbruch bevorstehe, Gerumpel und Gedröhn und so weiter. Aber da die Störungen örtlich begrenzt waren, sagte die Erfahrung, dass die Störungen wahrscheinlich auf einen Persönliche-Krise-Traum zurückzuführen waren. Der zuständige Schläfer hatte schon seit längerem eine Neigung zu dieser Art von Problem entwickelt, und mein Vater hoffte, den Krisenpunkt ausbrechen sehen zu können.« »Ich erinnere mich daran aus dem Kontinuitätsunterricht auf der Schule«, sagte Misha nickend. »Ein interessantes Phänomen, wenngleich ich persönlich immer lieber die Halluzinationen eines Pepperoni-Albtraums sehen wollte.« Roan grinste. »Halt dich eine Weile am Nordwestende von Celestia auf und dein Wunsch geht in Erfüllung. In der Gegend scheint es eine regelrechte Eruption zu geben. Jedenfalls beobachtete mein Vater die Erscheinungen. Ein paar von den örtlichen Kontinuitoren und Historikern hatten ihn mit Leuten zusammengebracht, die von den Umständen einer Persönlichen Krise betroffen waren. Sehr interessant.
Personenverwechslungen, grassierende Ablehnung und so weiter. Ehepaare kamen abends von der Arbeit nach Hause und waren außerstande, ihren jeweiligen Partner wiederzuerkennen, obwohl, wie ihr wisst, man fast immer sagen kann, wer wer ist, selbst nach einer Veränderung. Ich hatte auf der Reise nach dort unten ein bisschen in den historischen Dokumentationen über Persönliche-Krise-Träume gelesen - es gibt halt für einen kleinen Jungen auf einer langen Zugreise nicht viel zu tun aber für mich war da etwas nicht ganz stimmig. Es gab nämlich andere Manifestationen, die nicht mit den Beschreibungen in den alten Büchern übereinstimmten.« »Jeder Schläfer hat halt eine andere Persönlichkeit«, gab Alette zu bedenken. »Aber die Historiker dokumentieren nur solche Charakteristika, die immer dann erscheinen, wenn ein Fall eintritt«, sagte Roan. »Das ist ihre Wissenschaft, wenn ihr so wollt. Es gab Erdbeben und Gewitter. Nun können Sie sagen, beides sei typisch für eine Menge von Traumereignissen«, sagte er, die Hand hebend, als die Gardistin zum Sprechen ansetzte. »Aber diese waren nicht normal. Sie erschienen mir irgendwie... fundamental. Ich versuchte, meinen Vater zu finden, um es ihm zu sagen, als die Erde sich plötzlich vor mir auftat. Die Leute fingen an zu schreien und in Panik umherzuirren. Ein Mann sah, wie ich dastand und zuschaute, und warnte mich davor, die Grenze zu überqueren, sonst würde ich diskontinuieren. Er war sicher - so wie ich plötzlich auch -, dass ein Umbruch im Gange war.« Die anderen hielten den Atem an und Roan nickte. »Für mich bedeutete das das Zweitschlimmste nach dem Tod, meine ganze Identität zu verlieren, also hörte ich auf, nach meinem Vater zu suchen und rannte um mein Leben. Ich war sicher, dass er die Zeichen erkannt haben würde - wenigstens hoffte ich es - und dass wir uns wohlbehalten auf der anderen Seite, in Oneiros,
wiederträfen. »Alle waren in Panik. Viele waren verwirrt; sie rannten von der Brücke weg. Ich brachte sie dazu, wieder umzukehren. Bevor es mir so recht bewusst wurde, dirigierte ich einen Strom von Flüchtlingen. Die Menge wurde immer größer. Alles schrie wild durcheinander. Der Boden begann unter meinen Füßen zu rumoren, also begann ich ebenfalls zu rennen. Dann zuckte ein greller Blitz, gefolgt von dem Geräusch von Explosionen, die sich wie ein Echo fortpflanzten.« Roan fühlte, wie sich angesichts der Erinnerung sein Inneres verdrehte. Jahre waren seitdem vergangen, und immer noch durchlebte er es jedesmal wieder in voller Intensität, wenn er daran zurückdachte. »Ich dachte später immer, ich hätte mir das alles bloß eingebildet, aber ich wusste, ich fühlte den Schmerz von Tausenden von Männern, Frauen, Kindern, Tieren, Pflanzen - den des Landes selbst! Und dann«, sagte Roan, wie erleichtert, »trat ein träumerischer Friede ein, eine fast ohrenbetäubende Stille. Ich befand mich inmitten einer Menschenmenge auf der gegenüberliegenden Seite der Brücke und hatte nicht die geringste Ahnung, wie ich dorthin gelangt war. Sie hatten den Umbruch aus sicherer Entfernung beobachtet. Sie sagten, ich wäre einfach über die Brücke marschiert, mitten durch die Explosionen hindurch.« »Ich glaube Ihnen nicht«, sagte Felan mit gerunzelter Stirn. »Sie haben das alles in einem Buch gelesen.« Roan schaute ihm in die Augen. »Ich könnte mir eine solche Geschichte niemals ausdenken, Felan. Ich ... ich erinnere mich, dass ich meine Hände betrachtete. Sie schienen mir vertraut, aber sicher war ich nicht.« »Du standest unter Schock«, bemerkte Colenna klug. »In gewisser Weise«, entgegnete Roan nachdenklich und lehnte sich an einen der Brückenpfeiler, den Schatten der
Brücke suchend, damit die Sonne ihm nicht auf den Hinterkopf schien, »war es ein Augenblick großer Gelassenheit. Ich habe nie wieder einen solchen Frieden empfunden. Die Leute begannen über die Brücke auf uns zuzuschlendern. Ich erkannte nicht einen von ihnen wieder. Der Umbruch hatte sie voll erwischt. Sie gingen bald wieder zurück nach Somnus. Sie gehörten jetzt dorthin. Sie waren so verändert worden, dass sie sich in die Visionen des neuen Schläfers fügten.« »Aber du nicht«, sagte Misha. »Hast du dich überhaupt verändert?« »Nein«, seufzte Roan. »Nicht ein Stück.« »Ich glaube Ihnen nicht«, wiederholte Felan. »Nun, das tat keiner«, sagte Roan. »Mein Vater war rechtzeitig entkommen. Als Thomasen mich wiederfand, brachte er mich zurück zum Ministerium, damit sie mich zu meinem Erlebnis befragen konnten. Eine Reihe von ihnen bezichtigten uns - wie Sie - der Täuschung; sie führten als Argument ins Feld, da ich mich nicht verändert hätte, könnte ich nicht mitten in einem Umbruch gewesen sein. Noch nie seit Beginn der Aufzeichnungen habe jemand so etwas erlebt wie das, was ich erlebt hätte, ohne auf irgendeine Weise anders zu werden. Einige der Chefhistoriker, darunter auch Micah, neigten zu der Annahme, ich sei lediglich von den Nachwirkungen erfasst worden und hätte dabei das Bewusstsein verloren.« »Und was taten sie?«, fragte Felan. Roan schnitt eine Grimasse und Bergold warf ihm einen mitfühlenden Blick zu. »Das nächste Mal, als in Rem ein Umbruch drohte«, sagte der Historiker, »machte man Roan zu einem Mitglied der Delegation, die ausgesandt wurde, ihn zu beobachten, und ein paar meiner Kollegen, die hier trotz ihrer bodenlosen Feigheit anonym bleiben sollen, schlossen ihn dort ein, im Zentrum des
Geschehens. Und dann ging alles drunter und drüber. Das Land spielte regelrecht verrückt. Als er auch diesmal wieder unverändert daraus hervorkam, mussten sie ihm einfach glauben. Tatsächlich waren sie sprachlos und schämten sich ihrer selbst, weil sie gezielt versucht hatten, das Schicksal eines von den Schläfern erschaffenen Wesens zu verändern. Aber sie haben sich dafür nie bei dir entschuldigt, oder?« »Das ist jetzt nicht wichtig«, sagte Roan, peinlich berührt. Er aß den Kanten Brot auf und griff nach einem neuen. »Das dürfte der gewesen sein, vor dem wir weggerannt sind, Sir«, sagte Lum mit einem Nicken. »Wie war das?«, fragte Misha. »Schrecklich«, sagte Roan lakonisch. »Aber sehr aufregend. Die Welt schmolz dahin - nein, das ist nicht das richtige Wort. Es war, als werfe sie eine alte Haut ab und lege eine neue an. Und ich hatte die Chance, das Ganze zu beobachten.« »Sie sind also eine Art Monstrum oder sowas«, sagte Felan, während er sich ins Gras zurücksinken ließ und die Hände hinter dem Kopf verschränkte. »An der Stelle festgeklebt, heh?« Roan starrte ihn mit offenem Mund an, zu keiner Erwiderung fähig. Felan hatte ihn an seiner empfindlichsten Stelle getroffen. »Er ist kein Monstrum«, sagte Leonora und sprang auf. Sie blickte zu Roan; ihre Augen leuchteten vor Stolz. »Wir werden schließlich alle von verschiedenen Schläfern geträumt. Roan ist bloß ... beständiger als die meisten, das ist alles.« Felan schnaubte. »Was war das?«, fragte Leonora und ihr Ton wurde schlagartig scharf. Das Marmorpodest erschien unter ihren Füßen und hob sie drei Fuß hoch in die Luft. Sie sah hinreißend, kühl, unnahbar und sehr mächtig aus, wie sie so dastand, als Schattenriss gegen den Himmel abgehoben. Felan setzte sich sofort auf und erhob sich auf ein Knie, um ihr seine
Ehrerbietung zu erweisen. »Was haben Sie da gerade gesagt?« »Eh... Sie haben Recht, Hoheit.« Jegliche Spur von Schnoddrigkeit war aus seiner Stimme und aus seiner Körperhaltung verschwunden. Demutsvoll senkte er den Kopf. Er hatte vergessen, mit wem er sprach und Roan empfand fast so etwas wie Mitleid mit ihm. »Ich weiß«, sagte Leonora gütig. Das Podest schrumpfte wieder in sich zusammen und verschwand im Gras. Die Prinzessin reichte Roan die Hand, auf dass er ihr von ihrem Sockel herunterhelfe. »Dieses Ding erfüllt gelegentlich seinen Zweck. Ich denke, wir sollten jetzt weitergehen, meinst du nicht auch?« »Ich danke dir«, flüsterte Roan ihr zu. Leonora schaute Roan unter ihren Wimpern hindurch an, dann blickte sie weg, beobachtete ihn aber weiterhin aus dem Augenwinkel. »Ich bin stolz auf dich«, sagte sie. »Ich liebe dich so, wie du bist.« Die Liebeserklärung hätte ihn eigentlich mit Freude erfüllen müssen, aber sie erinnerte ihn bloß daran, dass er anders war. Leonora musste seine Gedanken erraten haben. Sie schüttelte den Kopf mit einem wehmütigen kleinen Lächeln. Roan senkte den Kopf. Er fühlte sich mehr geehrt, als Worte es je vermocht hätten. Sie sah so bezaubernd aus, dass er seufzen musste und die Sträucher rings um ihn herum erblühten mit einem Schlag. Vögel stießen vom Himmel herab und umkreisten sie zwitschernd. Leonora errötete und versuchte, das Lächeln aus ihrem Gesicht zu verbannen, doch gab sie es gleich wieder auf. Ihre Wangen färbten sich zu einem zarten Rosa, und Roan konnte sehen, dass sie sich freute. »Würdest du mir auf mein Fahrrad helfen?«, säuselte sie. Roan hörte in der Ferne romantische Musik erklingen. »Aber sicher«, sagte er. »Von ganzem Herzen.«
12. KAPITEL »Seht euch das an!« Bolmer, der vor Taboret ritt, deutete aufgeregt zum Wegesrand. »Eine Camellia nutrans! Eine der seltensten Pflanzen auf der Welt! Unverwechselbar. Bei meinem Hut! Ich habe seit zehn Jahren keine mehr gesehen und das war in den Sümpfen der vierten Provinz.« Er verrenkte sich den Hals, um einen zweiten Blick auf die Pflanze zu erhaschen. Taboret hatte eine halbe Sekunde, um sich die seltsame, vasenförmige Pflanze, die da aus dem Gras hervorlugte, anzuschauen, ehe auch sie an ihr vorbei war. »Unglaublich!«, sagte sie, aber im hinteren Winkel ihres Bewusstseins empfand sie Langeweile. Etwas sagte ihr: »Ich habe das schon mal gesehen. Und zwar auch in einem Sumpf.« Dabei wusste Taboret, dass sie noch nie eine Blume mit vier spitzen, pinkfarben getüpfelten Blütenblättern gesehen hatte. Sie hatte noch nie viel für Botanik übrig gehabt. Unter den Lehrlingen war allein Bolmer ein solcher Pflanzenfreak. Ein anderes Zwicken in ihrem Hinterkopf sagte ihr, sie solle nicht so negativ über die Interessen anderer Menschen denken. Es war nicht gerecht. Sie wurde von Carina ausgemeckert, ohne überhaupt auch nur den Mund aufgemacht zu haben! Solche Dinge waren im Verlaufe des Tages immer häufiger passiert, zuerst so hintergründig, sodass sie es kaum merkte, und dann immer offensichtlicher, auffälliger, so wie jetzt. Ihre Erinnerungen, ja sogar ihr Bewusstsein, verbanden sich immer stärker mit dem der anderen. Taboret fühlte eine Woge der Angst in sich aufsteigen, die sie sofort unterdrückte. Wenn eine Entdeckung nicht mehr neu war, wenn Informationen sofort mitgeteilt oder erfahren werden konnten, ohne dass man sie überhaupt kannte, wo war
da die Freude? Wo der Spaß, wo die Erregung? War sie dabei, ihre Identiät zu verlieren? Nicht einmal Broms Verheißung, große Macht zu erlangen, reichte aus, um das wettzumachen! Glinn bemerkte ihre Unaufmerksamkeit und er stupste von hinten ihr Fahrrad mit seinem Vorderrad an. Erschrocken fuhr sie aus ihren Träumen auf und konzentrierte sich darauf, im Einklang mit den anderen zu fahren. Rechter Fuß runter, linker Fuß runter, rechter Fuß runter. Sie warf einen kurzen Blick nach hinten und murmelte ihm ein »Danke« zu. Er nickte und zog seinen Helm ein Stück tiefer in die Stirn, damit sie seine Augen nicht sehen konnte. Rechts, links, rechts, links. Der Boss bestand darauf, dass sie im Gleichschritt in die Pedale traten. Warum erlaubte er nicht, dass sie den Pfad erkundeten oder von Zeit zu Zeit der Gruppe ein Stück vorausfuhren? Was sollte daran so schlimm sein? Auf ihrem Rad konnte sie in wenigen Sekunden wieder zurück im Pulk sein. Aber der Boss beharrte darauf, dass diese Übung, das Fahren in gemeinsamer Formation, die Lehrlinge mehr zu einer Einheit formen würde. Wenn sie sich im gleichen Rhythmus bewegten, dann war es nur noch ein kleiner Schritt bis dahin, dass sie auch im gleichen Rhythmus dachten. Dann würden sie die mächtigste Einzelgestalt sein, die in dem immateriellen Reich existierte. Falls sie die Existenz besagten Reiches nicht beendeten, indem sie ihr Experiment vollendeten. Taboret erschauerte. Rechts, links, rechts, links ... »Zeit zum Ablösen!«, verkündete Brom. Basil und Carina brachten dankbar ihre Räder zum Stehen und warteten geduldig, während die anderen ihnen halfen, die Trage mit dem WECKER von ihren Schultern zu hieven. Glinn und Taboret übernahmen die schwere Last. Taboret übernahm turnusmäßig die hintere Position, was ihr sehr gelegen kam, weil es bedeutete, dass Brom ihr Gesicht nicht sehen konnte. Sie wollte nachdenken, solange sie noch konnte, ohne dass er sie der Selbstständigkeit verdächtigte.
Ein Geräusch wie von einem dicken Brummer setzte in der Ferne als leises Summen ein und schwoll zu einem ohrenbetäubenden, himmelfüllenden Röhren an. Maniune, einer der bezahlten Schläger, kam herangerast und brachte sein Ross schlitternd zum Stehen, eine gewaltige Dreckwolke aufwirbelnd. Sein Reittier war zu einer von Broms neuen Erfindungen umgerüstet worden, einem Motor-Rad. Es war zehnmal schneller und zehnmal aggressiver als unmodifizierte und nicht von Motorkraft angetriebene Transportmittel. Derlei Dinge gab es in den Archiven, und sie wurden sogar von Tag zu Tag üblicher, aber die von Brom ersonnenen waren garantiert immun gegen jede Art von Einfluss. Sie würden diese Form behalten. Als sei es sich seines Status der Unveränderbarkeit bewusst, tänzelte und kurbettierte das Motorrad und erschreckte die Rösser der Lehrlinge. Ganos grünes Fahrrad stieg hoch und warf seine Reiterin in das Dorngestrüpp, das den Weg säumte. Maniune grinste. Seine Zähne blitzten weiß durch die schwarzen Stoppeln an seinem Kinn. »Schluss damit!«, befahl Brom und Maniune setzte sein Ross ein Stück zurück, in dezenten Abstand zu seinen verschreckten unmotorisierten Artgenossen. Carina schwang sich aus dem Sattel, um Gano auf die Beine zu helfen. Die kleinere Frau hatte Kratzer an den Händen und im Gesicht und warf dem Söldner einen vernichtenden Blick zu. Das taten auch die restlichen Lehrlinge. Taboret fand, dass die Anwesenheit von Söldnern ihrem hehren gemeinsamen Ziel irgendwie hohnsprach. Außerdem benahmen sie sich genauso grob wie die Zwillinge, mit dem Unterschied, dass diese wenigstens schweigsam waren. Die beiden Schläger hingegen blieben unverhohlen aggressiv und eklig. »Meldung!«, raunzte Brom.
»Sie folgen uns noch immer, Sir«, brüllte Maniune, um das Röhren seines Reittieres zu übertönen. »Habe gerade eine Nachricht erhalten. Die Ablenkung hat wie ein Zauber gewirkt - hat sie den ganzen weiten Weg bis zum Wald geschickt -, aber sie sind wieder umgekehrt.« »Wie viele?«, fragte Brom, eine Augenbraue hebend. »Zehn. Vier Soldaten von der Palastwache, darunter Hauptmann Spar selbst. Drei Historiker.« »Zu viel!«, höhnte Brom. »Sie werden sich zu einem Knoten aus Protokoll und Unentschlossenheit verheddern. Roan hätte besser daran getan, uns auf eigene Faust zu verfolgen. Ich habe einigen Respekt vor seiner Beharrlichkeit. Wir werden Plan B anwenden müssen: Tempo erhöhen und die Verfolger aufhalten.« »Und noch etwas«, sagte Maniune. »Prinzessin Leonora ist bei ihnen.« »Was?«, fragte Brom und sein hageres Gesicht wurde noch hohlwangiger. »Das ... damit habe ich nicht gerechnet.« Er legte das Kinn in die Hand und senkte die Augenbrauen, bis Taboret dachte, sie würden seine Nase bürsten. »Sie tauchte in meinen Berechnungen der Risiken nicht auf... Wie auch immer«, er reckte trotzig den Kopf hoch, »wir können uns durch ihre Gegenwart nicht aufhalten lassen. Macht weiter mit dem Plan. Haltet die Verfolger auf. Jeder hat seine Anweisungen. Wo ist Acton?« »Er bewacht noch immer den Weg, Sir«, sagte Mariune. »Gut! Wie weit hinter uns ist Roan?« »Stunden. Sie sind noch auf der anderen Seite von Hark.« »Ausgezeichnet. Seht zu, dass sie den Abstand nicht verringern. Setzt die Mittel ein, die ihr für notwendig haltet, aber stets nur gerade so viel, wie erforderlich ist. Lurry, Sie gehen mit ihnen.«
»Ja, Herr.« Der Lehrling schaute hinunter auf sein Fahrrad und dann mit fragendem Blick hinauf zu Brom. Der nickte. »Formt den Schmelztiegel«, befahl der Boss der Wissenschaftler. »Wir werden noch ein Motorrad machen und dann weiterfahren.« Keiner sagte etwas, aber Taboret fühlte, wie ein kollektives Stöhnen durch die Gruppe ging - was Brom klar spürte, denn er sandte einen grimmigen Blick an alle. Gehorsam saßen alle bis auf Taboret und Glinn ab und legten die rechte Hand übereinander. »Gano, wir werden Ihr Reittier transformieren«, sagte Brom. »Jeder konzentriert sich jetzt auf das grüne Tier. Sie alle kennen die Design-Parameter. Lassen Sie sich Zeit. Dies ist eine heikle Aufgabe. Wir wollen ja nicht, dass das Tier verendet. Wir haben nicht die Zeit, es zu ersetzen. So, langsam und vorsichtig jetzt! Wir haben keine Zeit zu verschwenden.« »War es dann nicht ein Fehler, für Proviant anzuhalten, Herr?«, fragte Bolmer. »Das hat uns Zeit gekostet und wir haben Zeugen zurückgelassen.« »Unsinn«, sagte Brom. »Wir haben ihren Geist hinreichend verwirrt. Es wird jedem, der uns gesehen hat, schwer fallen, uns zu beschreiben. Wir können einen Teil der Schmelztiegelenergie dazu verwenden, Roan in seinem Vorwärtskommen zu hemmen.« Er lächelte, und jenes träumerische, entrückte Licht war wieder in seinen Augen. »Wir werden sehen, ob wir unser eigenes Ärgernis erschaffen können. Ja, wir werden das als Erstes tun. Glinn, Sie übernehmen die Überwachung.« »Jawohl, Herr«, sagte Glinn. Der vordere Teil der Trage verrutschte ein wenig auf Taborets Schultern, als ihr Partner in seine Tasche griff und den Detektor hervorholte, den er mit sich führte. Taborets blaues Reittier tänzelte ungehalten unter ihr und
gab ein knarrendes Geräusch von sich. Das vereinte Gewicht eines Menschenwesens und eines halben philosophischen Geräts zu tragen war ein bisschen viel verlangt von einem neuen Fahrrad. Sie blickte sehnsüchtig in die Richtung Maniunes und wünschte sich, sie besäße auch ein Motorrad. Maniune, ein dunkelhaariger Grobian mit rohen Gesichtszügen, missdeutete ihren Gesichtsausdruck und machte einen Kussmund in ihre Richtung. Sie verzog angewidert das Gesicht und zog sich hinter den WECKER zurück. Wenn sie bei der Erzeugung des Ärgernisses nicht jedes Erz an Einfluss aus sich würde herausquetschen müssen, würde sie ihn mit dem, was übrigblieb, knöcheltief in Ameisen vergraben. Brom schnippte mit den Fingern, um Aufmerksamkeit zu erheischen. »Alle zusammen jetzt!« Die jungen Leute schlossen die Augen und konzentrierten sich. Taboret fühlte, wie sich die mentale Verbindung bildete, die sie mit den anderen verknüpfte. Außerstande, sie physisch zu berühren, hatte sie keine Kontrolle darüber, wie ihr Einfluss verwendet werden würde, aber sie konzentrierte sich gleichwohl darauf, ein Ärgernis zu erzeugen. Wie sah nun aber ein Ärgernis aus? Verschwommene Bilder begannen sich in ihrem Geist zu formen. Ein Ärgernis war eine vierschrötige, übelriechende Person, die sich im Bus ständig an einem rieb. Ein Ärgernis war eine Büchsenaufziehlasche, die beim Hochknicken abbrach. Ein Ärgernis war eine Reifenpanne, ein plötzlicher Windstoß, der einem die kunstvolle Frisur ruinierte, ein verlorener Notizzettel mit einer Wegbeschreibung drauf, ein Stoß gegen den Musikantenknochen. Kurz - und hier spürte Taboret Broms etwas präzisere Vorstellung - ein Ärgernis war eine Maßeinheit von auf ärgerliche Art und Weise vergeudeter Zeit und genau das war es, was hier auf dem Spiel stand: Zeit. Sie spähte aus einem Auge auf den Schmelztiegel, der sich über den aufeinanderlegenden Händen bildete. Etwas nahm
dort Gestalt an, etwas, das ganz aus verschwommenen Farben und undefinierbaren, rauhen Lauten bestand und Richtung Süden davonflog. Ohne die Augen zu öffnen, schnippte Brom erneut mit den Fingern. »Glinn! Meldung!« Die Stimme ihres Kollegen klang gedämpft. »Es ist ein Ärgernis, Herr. Ich weiß nicht, wie stabil es ist, oder ob es auch wirklich dorthin gehen wird, wo wir es hingesandt haben, weil es nun halt einmal ein Ärgernis ist. Es ist wirklich ein echtes Ärgernis«, beendete Glinn seine Meldung mit einem Schlucken. »Sehr gut«, sagte Brom und fuhr sogleich fort, ohne sich mit irgendwelchen Selbstbeglückwünschungen aufzuhalten: »Und jetzt das Motorrad! Konzentriert euch!« Für diese Transformation brauchten sie ihre Fantasie nicht. In Taborets Geist durchlief das grüne Fahrrad präzise Umwandlungsschritte bis hin zu dem hellen Scheinwerfer, der die abnehmbare Lampe am vorderen Rahmenrohr ersetzte. Das neu geschaffene Motorrad gab ein kerniges Röhren von sich und ließ mehrmals hintereinander den Motor aufjaulen. Taboret schlug die Augen auf. Die anderen hatten das inzwischen auch getan. Gano trat zu ihrem grünen Ross und berührte es mit einem ehrfürchtigen Gesichtsausdruck. Erneut stieß es ein Brüllen aus, voller Freude über seine neue Stimme. »Durchchecken!«, bellte Brom. Gano schwang sich in den Sattel ihres Reittieres und drehte eine große Runde. Dann ließ sie eine Reihe von Manövern folgen, mit denen sie seine Reaktion prüfte. Sie trug ein breites Grinsen zur Schau, als sie sich wieder zu den anderen gesellte. »Nun, wenn wir das so gut hingekriegt haben, warum dann nicht auch ein Luftschiff?«, fragte Taboret, vor lauter Neid ganz vergessend, wie müde sie war. »Dann wären wir in wenigen Stunden am Ziel.«
»Nein!«, sagte Brom scharf. Er wirbelte herum und richtete seinen langen, knochigen Zeigefinger auf sie. »Das ist zu riskant. Wir müssten eins bauen, auf dessen Funktionstüchtigkeit wir uns hundertprozentig verlassen können sollten. Ein solches Schiff zu entwerfen, würde zuviel Zeit kosten. Ich lasse mich auf keine Unwägbarkeiten ein. Ich werde auf keinen Fall riskieren, dass meine kostbare Vorrichtung in der Luft zuschanden kommt. Fahrräder sind verlässlich. Sie existieren allenthalben, eine zuverlässige Erfindung. Motorräder sind eine erhebliche Verbesserung von Fahrrädern. Wir werden bald alle eins haben.« »Hoffentlich«, sagte Carina und rieb sich die schmerzende Schulter. »Meine Beinmuskeln werden vom vielen Strampeln langsam sauer. Ich hoffe, wir geraten möglichst bald in irgendeinen Einfluss, wo dieses Ding hier endlich seine eigene Fortbewegungskraft bekommt.« »Pferden muss man zu fressen geben«, erinnerte sie Basil. »Und man muss ihnen Ruhepausen gönnen.« »Das Gleiche muss man auch mit mir machen«, versetzte sie bitter. »Ich wusste, dass du das sagen würdest«, erwiderte Taboret überrascht. »Und ich wusste, dass du das sagen würdest«, fauchte Carina zurück. »Kümmere dich um deinen eigenen Kram! Halt dich aus meinen Gedanken raus!« »Ich wünschte, ich könnte es«, erwiderte Taboret. Sie nahm jetzt ständig ein unterschwelliges Summen wahr, das sich aus den Gedanken ihrer Kollegen zusammensetzte. Broms Bewusstsein war ein lautes Dröhnen, das sie alle übertönte, freilich noch nicht klar erkennbar als Worte oder Gedanken. Sie kauerte sich unglücklich hinter den WECKER. »Schluss jetzt mit dem Gezänk!«, befahl Brom und fuhr unwirsch mit der Hand über die Lenkstange seines eleganten
Gefährts. Es war mehr als ein Fahrrad, wenn auch immer noch weniger als ein Motorrad, und trotzdem schien er nicht besonders oft in die Pedale treten zu müssen, um voranzukommen. Wahrscheinlich, dachte Taboret, befand es sich noch im Entwicklungsstadium, und er würde es ihnen präsentieren, sobald es soweit war. »Lurry, kommen Sie mit Ihrem Reittier nach vorn!« Unter Broms Anleitung formten sie sein Fahrrad zu einem Beiwagen um, den sie an Maniunes Motorrad montierten. Taboret zuckte innerlich zusammen, als das Ross laut aufschrie, während es in seine neue Form gequetscht und geknetet wurde. »Wir müssen unser Tempo erhöhen«, sagte Brom, als der Schmelztiegel zerbrach. »Das reicht fürs erste. Wir werden weitere Motorräder herstellen, sobald wir können. Jetzt müssen wir erst einmal zusehen, dass wir weiterkommen. Maniune, Sie erstatten bei unserem nächsten Aufenthalt Bericht. Sie haben Ihre Instruktionen. Sorgen Sie dafür, dass sie den Abstand nicht verringern können. Lurry ist mit einem gewissen Quantum an Einfluss ausgestattet, über den Sie frei verfügen können. Ich selbst will nicht gestört werden.« »Aber diese gemeinen schmutzigen Tricks könnten die Prinzessin verletzen!«, protestierte Taboret und wusste im selben Augenblick, dass ihre Sorgen von den anderen geteilt wurden. »Oder... oder sogar umbringen.« Brom schaute sie an; sein Gesichtsausdruck wirkte unbesorgt. »Wenn sie nicht verletzt werden wollen, werden sie umkehren.«
13. KAPITEL »Haben Sie das gesehen?«, fragte Lum mit weit aufgerissenen Glotzaugen. »Ja«, sagte Bergold, sehr erfreut, während er dem großen, viereckigen Vehikel hinterherschaute, bis es in der Ferne verschwunden war. »Da ist gerade eine Straßenbahn vorbeigefahren. Wir müssen der Zivilisation näherkommen.« »Aber es gibt keine Schienen!« »Die braucht sie nicht«, sagte Bergold fröhlich. »Bloß eine Straße und die haben wir ja.« Er faltete im Fahren die Karte auf seiner Lenkstange auf. »Dann lassen Sie mich mal schauen. Wenn ich mich nicht sehr vertue, befinden wir uns in der Nähe von Hark.« »Nie gehört«, sagte Colenna. »Kein großer Ort«, sagte Misha, der über Bergolds Schulter auf die Karte schielte. »Sieht so aus, als wäre es etwa so groß wie sein Name. Wa - Wooaa!« Der junge Mann stieg hoch in die Luft, im Sattel seines Rades sitzend. Wild torkelnd und hin und her wackelnd ruderte er einen Augenblick lang mit den Armen in der Luft, dann klammerte er sich verzweifelt an seinem Lenker fest, um nicht aus dem Sattel geworfen zu werden. Eine Weile lang sah es so aus, als wolle Mishas sonst so sanftmütiges Pferd seinen Reiter abwerfen. Stattdessen jedoch wuchs das Vorderrad auf seinen doppelten Umfang an, während gleichzeitig das Hinterrad auf die Größe eines Desserttellers schrumpfte. Misha behielt den Lenker fest im Griff und fuhr in Schlangenlinie weiter, immer noch in die Pedale tretend, die indes an der Achse des Vorderrades saßen, während die Form des Fahrrades sich abmühte, Stabilität zu erlangen.
»Alle Mann anhalten!«, befahl Roan. »Absitzen, schnell!« Roans Warnung kam gerade noch rechtzeitig. Binnen weniger Sekunden formten sich alle anderen Rösser in Hochräder um. Spar starrte bestürzt zu seinem Reittier hinauf. Der Sattel war auf einer Höhe mit seinem Kopf. »Jemand soll das Ding wieder in seine alte Form zurückbringen«, klagte er. »Ich kann es so unmöglich reiten. Es ist unwürdig.« »Gern«, sagte Bergold, der sein Haar jetzt glatt zurückgekämmt trug und sich mit einem prachtvollen Schnauzbart mit gewachsten und hochgezwirbelten Enden präsentierte. Er ließ sein eigenes Tier in Lums Obhut und legte die Hände auf Spars Fahrrad. Roan fühlte, wie die Einflusswellen aus der Aura seines Freundes herausströmten, kraftvoll genug, um notfalls sogar einen ganzen Bach umzuleiten, aber sie blieben ohne Wirkung auf das Fahrrad. Stattdessen wurden einige der Pflanzen und Felsen hinter dem Fahrrad kleiner und bekamen eine symmetrische Form. »Tut mir Leid, mein Freund«, sagte der Historiker und zwirbelte verlegen an einem seiner Schnauzbartenden. »Es ist der Wille des Schläfers. Das Design der Räder muss im Einklang mit der Stimmung des Schläfers sein, der heute Hark träumt.« »Uuuh!«, krähte Leonora erschrocken. Roan wirbelte auf dem Absatz herum, bereit, sie vor jeder Bedrohung zu beschützen. Die Prinzessin hatte beide Hände an ihrer Taille, die selbst für ihre Verhältnisse unnatürlich schlank erschien. »Das Korsett«, japste sie. »Sie sind enger, als ich dachte. Große Illusionen!« Ihre Hände flogen zum Kopf hinauf. Ihr Haarzopf hatte sich gelöst und plumpste auf ihren Kopf, wo er sich zu einer dicken Masse in der Form eines Katenbrotes rundete. Die bequeme Reisekleidung, die sie trug, begann sich ebenfalls zu verändern. Ihre Reithose formte sich
zu einem langen, weiten Rock um und ihre Tunika zu einer enganliegenden Leibbinde nebst Jacke. Eine Turnüre platzte mit einem vernehmlichen >plopp< so plötzlich hinten heraus, dass Alettes Hochrad scheute. Die Kapuze, die auf ihrem Rücken hing, wurde zu einem Strohhut, der an einem Band baumelte. Statt der Juwelenfarben, die sie bevorzugte, war ihr Aussehen von einem dunklen Pflaumenton. »Oh, wie schwer das ist!«, sagte Leonora und blickte mit bestürzter Miene an sich herunter. »Und wie langweilig und unelegant!« Sie breitete die Hände aus und zwischen ihnen begann sich das stumpfe Pflaumenviolett zu einem etwas freundlicheren Rotton aufzuhellen. »Nein, nicht!«, sagte Roan hastig. »Wir wollen uns, wenn wir können, unauffällig unter die Stadtleute mischen. Wir müssen so schnell wie möglich hier durch - die Spur wiederfinden und dann nichts wie weiter.« »In Ordnung, aber gefallen tut mir das ganz und gar nicht«, sagte Leonora. Sie presste die Handflächen zusammen und die helle, warme Farbe wurde wieder dunkel und matt. Die kunstvollen Stickereien an den Handgelenken und an der Hüfte ließ sie freilich fortbestehen. »Solange wir durch Hark fahren«, sagte Colenna, »sollten wir Vorräte aufnehmen. Ich hoffe, sie haben dort Kaffee, aber jeder andere Wachmacher täte es auch.« »Gute Idee! Dann kann ich mir noch ein paar Briefmarken besorgen«, rief Felan mit einem beifallheischenden Blick zu Roan. »Da wir nicht wissen, wann wir Brom einholen werden, ist es am besten, wir sind vorbereitet«, fügte Colenna hinzu. »Ich für mein Teil habe drei Tagesrationen eingepackt.« »Ein ausgezeichneter Vorschlag«, sagte Roan mit einem höflichen Nicken und einer Verbeugung vor der älteren Frau. »Dies ist für eine Weile die letzte größere Stadt, zumindest auf
dieser Strecke.« Colennas Kluft ähnelte der von Leonora, aber mit mehr Spitze am Hals und an den Ärmeln. Auch die Kleider der Männer hatten sich verändert. Spar schaute in seiner schwarzblauen Wolluniform mit einer doppelten Reihe von Messingknöpfen auf der Brust ziemlich unbehaglich drein. Der stattliche flachkrempige Hut, den er seit der Transformation an der Stätte des Lagers der Wissenschaftler getragen hatte, war zu einer neckischen Kappe mit einer Spitze vornedran geworden. Lum sah so aus, als gefalle ihm sein Kostüm. Seine Kopfbedeckung war jetzt ein Helm. Alette, ebenfalls in Uniform, erschien zu einem Mann mit einem prachtvollen Schnauzbart unter der Nase verwandelt. Bergold, Felan und Misha fanden sich ausstaffiert mit holzkohlegrauen knielangen Mänteln und gleichfarbigen Hosen, deren Beine sich zu den Knöcheln hin röhrenartig verjüngten. Roan veränderte seine Kleidung dergestalt, dass sie zu der der drei Männer passte, und stellte fest, dass sie sich gar nicht so sehr von dem unterschied, was er gewöhnlich bei formellen Anlässen trug. Seinen Reisehut formte er zu einem Zylinder zurück. »Nun, da wir passend dafür gekleidet sind«, sagte Roan und schwang sich in Cruisers Sattel, »lasst uns nach Hark fahren.« »Unbequeme, wacklige Missgestalt«, nörgelte Spar, während er auf den Sitz seines Rosses kletterte. »Komme mir vor wie auf dem Präsentierteller.« Sie holperten über die Eisenbahngleise und um den Bahnhof herum, ein großes, hübsches rotes Ziegelgebäude mit weißgestrichenen Fensterläden und Blumenkästen. Niemand wartete auf dem Bahnsteig, und Roan fiel ein rotgestreiftes Handsignal ins Auge, das heruntergezogen werden musste, wenn der Zug für einen Fahrgast halten sollte. Die Stadt Hark musste ziemlich klein sein. Nichtsdestoweniger war es ein Ort, der vor Geschäftigkeit
nur so brodelte. In den engen Straßen drängten sich dicht an dicht Handkarren und Pferdefuhrwerke sowie ein paar wagemutige und lärmende Motorwagen, die mit einem Knüppel gesteuert wurden. Zahllose adrette kleine Läden säumten die Hauptstraße. Offenbar war Markttag und wahrscheinlich sogar schulfrei. Die Bürgersteige waren voll von anmutigen Damen, die mit Körben bewaffnet in langen Röcken dahinglitten, und Scharen von Kindern, die an Vogelschwärme erinnerten. Roan sah eine Frau, die offenbar beim Einkaufen war, hinter der zwei kleine, haarige Tiere herliefen. Eines von ihnen riss mit seiner furchterregenden Klaue einen Stein aus dem Pflaster des Bürgersteigs, biss ein Stück davon ab, spuckte es angewidert wieder aus und warf dann mit dem Stein nach der anderen Bestie, sie nur um Haaresbreite verfehlend. Letztere grapschte im Vorbeigehen eine Apfelsine von einem Handkarren und klatschte sie ihrem Artgenossen ins Gesicht. Die beiden kleinen Monster begannen sich daraufhin zu zanken und zu balgen, bis ihre langmütige Mutter sich schließlich umdrehte und die Streithähne lauthals trennte. Eine andere Frau trat aus einer Konditorei und nickte der ersten Frau zu, als sie aneinander vorbeikamen. Ihr folgte ein kleiner Engel, komplett ausgestattet mit sämtlichem einschlägigem Zubehör - wie wallendes weißes Gewand, Schwingen und Heiligenschein. Er lächelte die andere Mutter und ihre missgeschlachte Brut geziert an und schwebte vorüber, ohne den Boden zu berühren. Die beiden kleinen Monstren wechselten einen kurzen Blick, und sobald die zwei Mütter beide woandershin schauten, schnappten sie sich Blumentöpfe von der Auslage eines Gemüsehändlers und warfen dem kleinen Engel Hände voll Blumenerde mit tödlicher Treffsicherheit auf den Rücken. Der stieß einen schrillen Schrei aus und verwandelte sich in eine Miniaturfurie mit Fledermausschwingen und nagelscharfen Klauen und
Zähnen, während er sich auf die beiden kleinen Bestien stürzte, die ihn mit Dreck beworfen hatten. Roan blieb nicht stehen, um sich den Ausgang des Zwistes anzuschauen. »Wie halten die Frauen es bloß in solchen Kleidern aus?«, ächzte Leonora, als sie auf den Hauptmarktplatz zuritten. »Ich werde gleich ohnmächtig von der Hitze!!« »Nicht verzagen, Hoheit«, sagte Colenna, die ihre enge Leibbinde und das blaue Kostüm mit Anmut und Würde trug. »Wir können ja einen Augenblick absitzen und verschnaufen.« »Der Rest von uns besorgt dann rasch die Vorräte«, sagte Roan. Er schaute sich um. »Sucht euch ein Plätzchen, wo ihr euch ausruhen könnt.« »Lieber Himmel!«, sagte Bergold. »Dieser Ort ist wie eine Zeitkapsel. Diese Kleider waren vor einem Jahrhundert in Mode. Und ich sehe nirgends Anzeichen von moderner Technologie.« »Die Dinge verändern sich in Kleinstädten langsamer als in Großstädten«, erklärte Roan. »Schaut doch«, sagte da gerade Felan und zeigte mit dem Finger auf einen offenen Platz am Ende des Blocks. »Ein Bauernmarkt. Ich würde gern das Feilschen übernehmen, wenn es euch Recht ist. Habt ihr Geld?« »Ich werde auf der Fährte bleiben«, schlug Misha vor. »Wir wollen uns nicht noch einmal verlaufen.« »Nimm ein paar von den Wachen mit«, schlug Roan vor. »Dann kannst du, falls nötig, einen Boten zu uns zurückschicken.« »Gut, Sir«, sagte Spar. »Hutchings und ich werden hier bei den Pferden bleiben.« Der Hauptmann zeigte auf Alette und Lum, die ihre hohen, wackligen Fahrräder umdrehten, um Misha zurück zu der Stelle zu folgen, an der sie die Stadt betreten hatten. Die
anderen folgten Felan zu dem Markt, wo die Budenbesitzer ihre Zelte größer machten oder sie vor andere schoben, um die Aufmerksamkeit der Kunden auf sich zu ziehen. »Geht weiter«, sagte Felan, während er auf den ersten Gemüsestand zusteuerte. »Mir wäre lieber, wenn ihr mir nicht über die Schulter blickt, während ich feilsche. Kiebitze bringen mir immer Pech. Geht woanders hin.« »Vergessen Sie den Kaffee nicht!«, sagte Colenna. »Und was zum Naschen dazu. Kekse vielleicht.« »Husch! Weg mit Ihnen!«, scheuchte Felan sie fort. »Diskontinuieren Sie!« »Hmmf!«, schnaubte Colenna. Felan sammelte von den anderen Geld ein. Er schüttelte die Münzen einmal kurz in der hohlen Hand und ließ sie dann in seine Tasche gleiten. »Gebt mir eine halbe Stunde für alle Einkäufe«, sagte er. Zielstrebig stapfte er zu den Ständen. Roan spähte um die Ecke des Platzes und bemerkte ein handgeschriebenes Schild, auf dem >Diverses< stand. Im Schaufenster stand eine große Auswahl frischer Schnittblumen in leuchtenden Farben. Er blickte verstohlen zu Leonora und sah, dass sie es noch nicht bemerkt hatte. Roan tippte Bergold auf die Schulter. »Ich bin gleich wieder zurück. Ich muss noch kurz ein paar Sachen besorgen.« Der Historiker ließ seinen Blick in die Richtung schweifen, in die Roan schaute und lächelte. »Ich würde es als eine Ehre ansehen, die Damen ein wenig herumzuführen, bis du zurückkommst.« »Alles, was ich will, ist, mich auf etwas zu setzen, das sich nicht bewegt«, erklärte Colenna, sich mit der Hand frische Luft ins Gesicht fächelnd. »Und ein kaltes Getränk könnte mir auch gefallen.«
»Das ist eine gute Idee«, pflichtete Leonora ihr bei. Roan verneigte sich, bemüht, Bergolds Augenzwinkern nicht wahrzunehmen. »Wenn ihr mich dann entschuldigen wollt...« Der kleine Laden erwies sich als so gut sortiert wie ein Basar. Nachdem er einen hübschen Strauß pinkfarbener Rosen für die Prinzessin ausgesucht hatte, schlenderte er an den hohen Holzregalen entlang, während der dicke Ladenbesitzer die Blumen in grünes Papier einwickelte. »Ich tauche sie mit den Stielen ein bisschen in Wasser, damit sie nicht so schnell austrocknen«, sagte der Mann. »Schöner Tag, nicht?« »Ein prächtiger Tag«, sagte Roan. Da er die anderen nicht so lange allein lassen wollte, suchte er noch rasch ein paar Süßigkeiten aus sowie einige Schachteln Feueranzünder und Salbe gegen Muskelkater, deren Tubenaufdruck kühn versprach: >So gut, dass Sie gar nicht merken, dass Sie einen Körper haben. < Er legte die Sachen auf die Theke, jedesmal wenn er an ihr vorbeikam. »Waren Sie schon mal in Hark?«, fragte der Ladenbesitzer leutselig. Ein ausgeklügeltes Arrangement von Spiegeln ermöglichte es ihm, trotz der Regale und Displays stets in Blickkontakt mit dem Kunden zu bleiben. Roan war überrascht, fast jedesmal, wenn er aufschaute, den freundlichen Blick des Mannes auf sich ruhen zu sehen. »Nein, noch nie«, sagte er zu dem kleinen runden Spiegel über dem Rasierbedarf. »Es ist ein hübscher Ort. Klein natürlich. Der Bahnhof ist das größte Gebäude der Stadt. Aber es gibt eine Art von Menschlichkeit in einer Kleinstadt, wie Sie sie in der Großstadt niemals finden werden.« »Mm-hmm«, grunzte Roan unverbindlich, während er den Blick weiter über die Auslagen schweifen ließ. Gemäß Colennas Diktum wollte er sichergehen, dass er nichts vergaß, was für die Mission wichtig war. Aber er sah nichts, was ihn
dazu veranlasst hätte, sich mit der Hand an die Stirn zu schlagen. Er hatte wirklich an alles gedacht. Sie waren gut gerüstet. Nachdem er eine weitere Regalreihe abgeschritten hatte, kam er an einen Tisch mit einer großen Auswahl von Allzweckmessern von der Art, wie er selbst eines besaß. Eine vorzüglich gestaltete Illustration zeigte alle Klingen und sonstigen nützlichen Vorrichtungen, mit denen das Spitzenmodell aufwartete: Dosenöffner, Korkenzieher, Säge, Spazierstock, Regenschirm und tausend andere erstaunliche Dinge. »Ah«, machte die Stimme des Ladeninhabers aus der Ferne und seine Augen leuchteten aus einem viereckigen Spiegel zu Roans Linken. »Es ist wirklich kaum zu glauben, was sie so alles an nützlichen Sachen in diese kleinen Dinger hineinstopfen. Wirklich fantastisch.« Roan griff nach einem zierlichen Messer, dessen Gehäuse die Lieblingsfarbe der Prinzessin, Immergrünblau, hatte. Er zählte die Klingen und seine Augenbrauen hoben sich. »Ja«, sagte der Ladeninhaber, Roans stumme Frage beantwortend. »Es hat alles, was dazugehört. Allerbeste Qualität.« »Wie viel?«, fragte Roan. »Fünfzehn Hühner, der Herr.« Nicht zuviel für ein Versöhnungsgeschenk, dachte Roan. Und damit wird sie sich mehr als Teil der Gruppe fühlen, auch wenn sie noch nie im Leben eine Klinge auch nur herausgeklappt hat. »Ich nehme es«, sagte er. Er brachte das Messer unter den tausend Augen des Ladeninhabers zur Theke. Der hatte in der Zwischenzeit seine anderen Einkäufe hübsch in braunes Packpapier eingewickelt und mit einer Kordel verschnürt. »Dankeschön, der Herr« und mit geübten Handbewegungen schlug er das kleine Taschenmesser in weißes Seidenpapier
ein. »Soll es ein Geschenk sein, der Herr?« »Ja. Für eine Dame«, sagte Roan, gebannt von den flinken Händen, die hurtig zu einem Regal mit Kästchen und Schachteln an der Seite der Theke huschten und eine kleine schmale Schachtel auswählten. »Haben Sie heute schon andere Kunden gehabt? Fremde, meine ich. Blauweiß gekleidet und mit Taschenschonern?« »Taschenschonern?« Der Ladeninhaber blickte neugierig auf, während er die Schleife der Kordel festzog und Roan die Geschenkschachtel überreichte. »Jetzt, da Sie es erwähnen, es waren tatsächlich heute ein paar da, die so aussahen. Sie waren ziemlich pingelig.« Er schaute an Roan vorbei und seine Augen wurden groß. »Uh-oh, zwei Minuten vor zwölf! Ich muss pünktlich um zwölf zumachen. Wenn es Ihnen nichts ausmacht ...« Roan kramte in seiner Tasche nach Geld. Der Ladeninhaber schaute zur Decke. »Moment, das macht zwei Kugelschreiber und einen Bleistift für die Süßigkeiten, eine Zeitung und einen Bleistift für die Blumen -sie sind heute im Angebot; einen Laib Brot und einen Kugelschreiber für die Salbe, und die Feueranzünder kosten einen Bleistift das Stück, der Herr. Zusammen mit dem Messer käme das dann fünfzehn Hühner zwei Laib Brot eine Zeitung und einen Kugelschreiber.« »Können Sie eine Sonntagsausgabe wechseln?«, fragte Roan, während er drei Fünf-Hühner-Münzen und eine Handvoll Silbergeld aus seiner Tasche hervorkramte. »Nein, Augenblick, warten Sie, da ist noch ein Huhn.« Er hielt dem Ladeninhaber die große Goldmünze hin. Der Mann gab ihm drei Bleistifte Wechselgeld zurück. »Nun, diese anderen Kunden - was wollten sie?«, fragte Roan. »Vielen Dank für Ihren Einkauf, der Herr. Wir würden uns freuen, wenn Sie mal wieder hereinschauen würden, wenn Sie das nächste Mal in Hark sind«, sagte der Ladenbesitzer und
bugsierte ihn zur Tür. Er drückte die Pakete, die er zuvor in einen sauberen Mehlsack gesteckt hatte, Roan in die Hand und legte den Strauß Rosen obendrauf. »Sie sollten jetzt besser gehen. Vielen Dank für Ihren Einkauf, der Herr.« Er schloss die Tür und hängte ein Schild mit der Aufschrift >Geschlossen< an die Innenseite der Scheibe. »Aber ...« Roan drehte sich auf der Schwelle um, aber das Geschäft löste sich in Luft auf, eine Lücke in der Geschäftszeile hinterlassend - wie ein ausgefallener Zahn. »Gütiger Himmel, es hat diskontinuiert!«, rief Bergold hinter ihm. »Ich hab ihn nach Brom gefragt«, sagte Roan bekümmert. »Ich hoffe, ich habe ihn nicht in die Nichtexistenz geängstigt.« »Den? Keine Sorge.« Eine Frau, ganz ähnlich angezogen wie Leonora, den weißen Strohhut fest auf ihren kürbisähnlichen Haarturm gepfropft, verlangsamte ihren Schritt am Rande des so plötzlich ledig gewordenen Grundstücks. »Den nicht«, wiederholte sie. »Der existiert mittwochs nur halbtags. So ein Ärger. Ich wollte noch schnell ein paar Zeitschriften und Dochte für meine Gasleuchten kaufen.« »Er existiert nicht die ganze Zeit?«, fragte Colenna. »Nein«, sagte die Frau, wobei sie leicht angewidert den Mundwinkel verzog. »Lohnt sich nicht, vermute ich. Er war schon immer ein fauler Strick. Guten Tag auch.« »Guten Tag«, sagte Roan und lüftete höflich seinen Hut, als sie davonrauschte. »Zu schade auch. Der Ladeninhaber hat Brom tatsächlich bedient. Die sind übrigens für dich«, sagte er und überreichte Leonora mit einer Verbeugung den Rosenstrauß. »Wie aufmerksam von dir«, sagte sie und schaute ihn mit leuchtenden Augen an. Sie stellte sich in ihren spitzen Schuhen
auf die Zehenspitzen, um ihn zu küssen. »Irgendwas für mich dabei?«, fragte Bergold neckisch. »Feueranzünder«, sagte Roan und drückte seinem Freund den Sack in die Hand. Die kleine Geschenkschachtel steckte er in seine Hosentasche, um sie später zu überreichen, in einem passenderen Moment, wenn sie unter vier Augen waren. »Eure Hoheit! Eure Hoheit!« Ein gut gekleideter Mann mit einem Zylinderhut auf dem Kopf kam auf sie zugestürmt, hastig seine Krawatte in eine Amtskette umwandelnd. Er war offenbar kurzfristig aus seinem Amtssitz geholt worden. Mehrere Männer und Frauen folgten ihm, ebenfalls mit ihrer Amtstracht angetan. »Eure Hoheit! Gütiger Himmel, wir dachten uns schon, dass Sie es sind! Überall in der Stadt ging das Gerücht. Ich bitte um Vergebung«, schwallte er und blieb völlig außer Atem vor der Prinzessin stehen. Er machte eine tiefe Verbeugung und schwenkte seinen Hut elegant an seinen Knien vorbei. »Ich bin Bürgermeister Georgeton, Oberhaupt der schönen Stadt Hark. Es ist mir eine große Ehre, Sie kennenzulernen, Madame. Darf ich Ihnen den Stadtrat vorstellen? Was führt Euch dazu, unser bescheidenes Nest mit Ihrem Besuch zu beehren?« Die Menge hinter ihm erwies der Prinzessin ihren Respekt: die Männer mit einer Verbeugung, die Frauen mit einem Knicks. Leonora lächelte ihnen huldvoll zu und bot ihre Hand, die der Bürgermeister mit einer Art von erstauntem Vergnügen ergriff. Ein liebenswürdiger Mann mit weißem Haar und buschigen Augenbrauen und freundlichen hellblauen Augen Roan fand ihn auf den ersten Blick sympathisch. Das Gleiche galt für Bergold, der sich sofort zu verändern begann, bis er dem Mann ähnelte. »Nun, ich bin ... auf der Durchreise«, sagte Leonora, über den Kopf des Bürgermeisters hinweg zu Roan blickend, der ihr das Wort soufflierte. »Incognito, Euer Ehren.«
»Incognito! Gewiss nicht«, sagte der Bürgermeister galant. »Wie könnte man eine so königliche Schönheit dergestalt vermummen, dass sie nicht auf den ersten Blick wiederzuerkennen wäre! Ich kränke Sie doch hoffentlich nicht, wenn ich das sage!« »Nun, nein, Sie kränken mich ganz und gar nicht«, versicherte ihm Leonora mit einem verstohlenen Blick zu Roan, der seinen Gesichtsausdruck höflich neutral hielt. »Ich danke Ihnen.« »Ah, nun, da wir Ihre Verkleidung nun schon einmal durchschaut haben, können wir uns eine solche Gelegenheit wie diese nicht entgehen lassen. Sie müssen unbedingt zum Lunch kommen. Es wird nicht so fein sein, wie wir es gerne gehabt hätten«, sagte der Bürgermeister mit einem Anflug verständlichen Bedauerns in der Stimme. Doch hellte sich seine Miene gleich wieder auf. »Vielleicht kommen Sie ja eines Tages noch einmal zu uns, und dann können wir Ihnen das Bankett bieten, das Ihnen gebührt...« Leonora schien kurz davor, die Einladung anzunehmen, aber die peinliche Situation vom Morgen war ihr noch immer gegenwärtig. Roan sah die Enttäuschung in ihren Augen, als sie den Kopf schüttelte. »Es tut mir Leid, aber wir können nicht bleiben.« »O bitte, Eure Hoheit!«, ließ der Bürgermeister nicht locker, und die Ratsmitglieder taten das ihre, um der Prinzessin die Entscheidung schwer zu machen. »Tee? Champagner? Bitte gewähren Sie uns doch diese Ehre!« Roan suchte ihren Blick und er nickte und zuckte reumütig mit den Achseln. Er wusste, dass die Pflege guter Beziehungen zu ihren Untertanen eine genauso wichtige Funktion erfüllte wie jede andere, die ihnen oblag, zum Beispiel die Rettung der Welt vor der Zerstörung. Leonora lächelte wie die aufgehende Sonne und wandte sich dem Bürgermeister zu.
»Nun denn, Euer Ehren. Meine Freunde und ich nehmen die Einladung der Bürger von Hark zum Tee mit dem größten Vergnügen an«, sagte sie. Georgeton strahlte. »Vielen herzlichen Dank, Eure Hoheit! Hier entlang bitte! Hier entlang!«, schwallte Georgeton und deutete mit einer schweifenden Geste zum nördlichen Ende des Platzes. »Die Vorbereitungen haben bereits begonnen!« Roan gesellte sich zu Leonora und bot ihr seinen Arm an. Sie hakte sich bei ihm unter und schmiegte sich eng an ihn, immer noch den freudig erregten Städtern zulächelnd, die um sie herumtollten wie ein Rudel junger Welpen. »Können wir ihnen nicht sagen, warum wir hier sind?«, fragte sie Roan leise. »Haben sie nicht ein Recht darauf, zu erfahren, dass sie vielleicht in Gefahr schweben?« »Haben wir ein Recht darauf, es ihnen zu sagen und ihr Leben zu zersprengen?« Roan schaute sich um. Bei all dem sorgfältig gepflegten viktorianischen Charakter der Stadt waren die Häuser letztlich doch aus Resten und Überbleibseln zusammengezimmert. »Diese Menschen sind nicht Herren ihres Schicksals. Sie sind es, mit denen Dinge passieren. Wenn wir es ihnen sagen, wird die Warnung nichts weiter bewirken, als dass sie beunruhigt sind, und es ist ja durchaus möglich, dass überhaupt nichts geschieht.« »Es würde ihnen nur Angst machen«, sekundierte Bergold. Sein Bürgermeistergesicht tauchte plötzlich neben ihnen auf und ließ Leonora vor Schreck hochfahren. »Und wenn wir versagen, werden sie es niemals erfahren, das ist alles.« »Sie sind diejenigen, die wir retten müssen«, sagte Roan. »Und das werden wir«, sagte Leonora und reckte entschlossen das Kinn vor. »Das schwöre ich.« Auf dem nächsten Platz war ein Tisch aufgestellt worden. Er war lang genug, schätzte Roan, um der gesamten Bevölkerung der Stadt Platz zu bieten. Auf einem weißen Tischtuch waren
riesige Sträuße Immergrün um das Gedeck in der Mitte des Tisches an der Stelle aufgehäuft, an der freudestrahlende Städter im Sonntagsstaat darauf warteten, die Prinzessin zu platzieren. Ihre geschmacklichen Vorlieben waren im ganzen Königreich wohlbekannt. Das makellose Porzellan passte zwar farblich nicht so recht dazu, aber diesen kleinen Makel hatte man geschickt zu kaschieren verstanden, indem man auf jeden Teller ein Sträußchen blauer Blumen gelegt hatte. »Eure Hoheit, wenn Sie bitte hier Platz nehmen würden«, komplimentierte der Bürgermeister sie gestenreich zu dem blumenumkränzten Ehrenplatz. Er bot ihr den Arm, empfand die Geste aber im gleichen Augenblick als zu kühn und sprang wieder weg, ehe ihre Fingerspitzen ihn berührten. Mit einem Lächeln in Richtung Roan ließ Leonora den albernen Strohhut zu einem eleganten Stirnreif werden, der wunderbar zu ihrer aufgeblasenen Turmfrisur passte. Roan wurde von einer uniformierten Magd zu einem der hinteren Enden der Tafel geleitet, da die Stadtleute natürlich darauf erpicht waren, so nah bei der Prinzessin zu sitzen, wie das Protokoll es gestattete. Die Balgerei um die besten Plätze hatte zur Folge, dass die Reisegruppe beisammenblieb. Felan, der die Pakete in einer riesigen Einkaufstüte bei sich trug, wurde ans Ende der Schlange gescheucht. Er packte Roan beim Arm. »Was geht hier vor sich?«, fragte er. »Ihre Hoheit hat Hark großmütig erlaubt, sie zum Teel einzuladen«, klärte ihn Roan auf. »Aber wir müssen rasch weiter«, sagte Felan. »Ich weiß«, sagte Roan, »aber es dürfte nicht allzu lange dauern.« Ihre Gefährten fanden sie und setzten sich zu ihnen. Colenna ließ sich zwischen Bergold und Roan nieder und schaute in erwartungsvoller Vorfreude, als Bedienstete in kurzen weißen Mänteln Tee, Kaffee und Limonade aus
silbernen Karaffen einschenkten und mit silbernen Zangen Sandwiches und Backwerk austeilten. »Seht nur!«, sagte sie. »Sie servieren Ihrer Hoheit die Leckereien von goldenen Tabletts. Wie lieb von ihnen. Es ist schön, zu sehen, dass diese wunderbaren alten Bräuche noch nicht überall ausgestorben sind.« Sie nickte, als die Zange der Bedienung über einem Sahne-schnittchen, einem SchokoHimbeertörtchen und einem schneeweißen Baiser verharrte. »Wunderbar! Seht nur, welch herrliche Köstlichkeiten!« Roan ließ sich eine Tasse Tee und einen Teller voll von den kleinen Delikatessen servieren, dann warteten er und die anderen. Von der Stelle aus, an der er saß, konnte er die StadtOffiziellen nicht sehen, die es als einen Verstoß gegen die guten Manieren betrachten würden, wenn jemand vor dem Ehrengast mit dem Essen begann. Dann, allmählich, wie eine langsam ansteigende Welle, nahmen die Speisegäste einer nach dem anderen ihr Besteck zur Hand und begannen zu essen. Roan stach dankbar mit seiner Gabel in das Stück Käsekuchen auf seinem Teller und nahm einen herzhaften Bissen. Er beäugte Bergold aus dem Augenwinkel. Der Historiker ließ sich sein Zitronensorbet schmecken. »Interessant, nicht?«, sagte Bergold vorsichtig. »Höchst ungewöhnlich«, meinte Roan. Der Käsekuchen hatte nach Stampfkartoffeln geschmeckt. Er brach ein Stück von einem Croissant ab und kostete es. Es sah aus wie ein Buttercroissant, aber es hatte den unverwechselbaren Geschmack von Sodabrot. Roan und die anderen tauschten Blicke aus. In ihrem Ehrgeiz, ihren Gästen etwas Besonderes zu bieten, hatten die Bürger von Hark alles, was an Eßbarem aufzubieten war, dergestalt umgeformt, dass es das Aussehen von köstlichen Spezereien hatte, aber es hatte ihnen letztlich die Kraft gefehlt, den >Köstlichkeiten< auch den entsprechenden Geschmack mitzugeben. Colenna zuckte mit den Schultern. »Es ist ein feiner Schmaus, und sehr nett von ihnen, findet ihr nicht?«,
sagte sie und nahm sich ein weiteres Sandwich vom Tablett des ihr am nächsten stehenden Kellners. »Essen ist Essen, also was soll's?« »Ja, natürlich«, sagte Roan. Nachdem er den ersten Schock überwunden hatte, schmeckte der Stampfkartoffelkäsekuchen gar nicht mal so schlecht; der eilige Koch hatte viel Butter und Milch für das Rezept verwendet. Der Soda-Croissant war ein bisschen dröge, was sich aber mit einem ordentlichen Schlag Konfitüre aus den Porzellanschälchen auf dem Tisch tadellos ausgleichen ließ. Die Konfitüre schmeckte tatsächlich wie Konfitüre, auch wenn es sich um ordinäre Trauben- und Apfelkonfitüre handelte und nicht um die exotischen Früchte, die die bunten Farben suggerierten. Roan rief sich noch einmal in Erinnerung, dass dies keine reiche oder mächtige Kommune war; trotzdem hatten sich die Bewohner große Mühe gemacht, um den unverhofften Gästen etwas zu bieten. Er spürte leise Gewissensbisse wegen seiner Mäkeligkeit und empfand ein Gefühl tiefer Zuneigung für diese Leute. Sie bemühten sich. Sie waren nett und freundlich. Um ihretwillen, für Menschen wie sie, unternahm er diese Anstrengung, Brom aufzuhalten. Der Gedanke löste sogleich wieder Ungeduld in ihm; aus. Sie mussten weiter. Brom und der WECKER dehnten ihren Vorsprung mit jeder Sekunde, die verstrich, weiter aus. Die anderen mussten das Gleiche gedacht haben, denn sie beendeten ihre Mahlzeit so schnell sie konnten und machten deutlich, dass sie bereit waren aufzustehen, sobald Roan das Zeichen zum Aufbruch gab. Er wollte sich gerade erheben, da gingen die Trinksprüche los. »Meine sehr verehrten Damen und Herren!«, bölkte der Bürgermeister und erhob sich mit seinem Glas in der Hand. »Sehr verehrte Damen und Herren, erheben Sie Ihre Gläser! Auf Seine Ephemere Majestät!« »Auf den König!«, riefen alle im Chor. Roan stimmte mit ein und trank aus seinem Glase. Wenigstens der Wein war echt.
»Auf Ihre Strahlende Majestät!« »Auf die Königin!«, röhrte es aus dreihundert Kehlen. »Und auf unseren illustren Gast, Ihre Königliche Hoheit, die Prinzessin Leonora!« »Auf Prinzessin Leonora!« Alle leerten ihr Glas und stellten es auf die weiße Tischdecke. Der Bürgermeister, dessen Pokal ebenfalls leer war, schnippte mit den Fingern und drei Kellner eilten mit Karaffen zu ihm. Jetzt erhoben sich die Mitglieder des Rates und brachten der Reihe nach ihren Toast aus, mit dem gleichen vielstimmigen Echo wie zuvor beim Stadtoberhaupt. Wenn einem der Toaster nichts Gescheites einfiel, brüllte er -oder sie - einfach: »Auf den König!« Während die Gläser zum zweiten Mal wiederaufgefüllt wurden, glitt Roan von seinem Stuhl und bahnte sich seinen Weg an der langen Tafel entlang zur Prinzessin. Der Bürgermeister und die Ratsherren und - frauen plauderten mit ihr. Roan sah Leonora lächeln und freundlich nicken, aber er konnte ihre Antworten nicht hören. Die Stadtleute, die ihnen am nächsten standen, lauschten dem Geplauder stumm und mit großen, staunenden Augen und wagten vor lauter Ehrfurcht ob der Nähe zur Thronerbin kaum zu atmen. Vielleicht lag es aber auch an Sauerstoffmangel. Als Roan sich dem Ehrenplatz näherte, schien die Luft irgendwie dünner zu werden. Als er die Prinzessin schließlich erreichte, war sie so dünn, dass er kaum noch atmen konnte. Der Bürgermeister schaute sich zu ihm um, als er neben Leonoras Stuhl niederkniete. »Ach, mein lieber Herr Bürgermeister, darf ich Ihnen Meister Roan vorstellen? Er ist der Investigator des Königs«, sagte Leonora. Roan nickte, ganz darauf konzentriert, Sauerstoff aufzunehmen, ohne ins Hecheln zu geraten. »Wie ungeheuer interessant!«, sagte Bürgermeister Georgeton, sichtlich desinteressiert an der Präsenz des Eindringlings. »Eure Hoheit, som prenoplig Venre dimal
simcot lomp ital.« Leonora lachte. »Venitre dimal midgal nomig silomp. Roan moktu Benek op Lur.« »Som Poplu vog, dewep?« Georgeton wandte sich seinem Rat zu, der weise nickte. »Wie bitte?«, fragte Roan, bestürzt darüber, dass er nicht ein Wort von dem, was sie sagten, verstehen konnte, Georgeton drückte sich absichtlich so hochgestochen aus, dass keiner, der nicht von seinem oder höherem Rang war, ihn verstehen konnte. Leonora warf ihm einen entschuldigenden Blick zu. »Findest du nicht auch, dass es mehr Freude macht, so zu reisen, dass man das Traumland wirklich erleben kann, statt einfach den Zug zu nehmen?«, fragte sie, ganz langsam und sorgfältig artikulierend, und bemüht, ihn in das Gespräch einzubeziehen. »Ich sagte gerade, dass du während der vergangenen Jahre viele Reisen unternommen hast und dich dabei vieler unterschiedlicher Transportmittel bedient hast.« »Ja, das habe ich in der Tat«, antwortete Roan, nach Luft ringend. »Du könntest ihnen einmal erzählen, scov batiluh sminit combulon da. eno, virda?« Leonora hatte ihn erneut verloren, als sie sich umwandte, um die anderen mit einzubeziehen. »Vobla Bam dininat moper Waga.« »Somibuno«, pflichtete ihr Georgeton höflich bei. »Nun«, setzte Roan an, verzweifelt nach einer Geschichte suchend, die sie belustigen würde. »Pofi nipt Jabal!«, unterbrach ihn eine blonde Ratsherrin mittleren Alters und gab wort- und gestenreich eine eigene Anekdote zum Besten. Was sie erzählte, klang interessant, und Roan mühte sich, sie zu verstehen. Er hatte das Gefühl, als müsse er lediglich seine Wahrnehmung seitwärts richten und schon würde der Wortwirrwarr sich klären. Außerdem spürte er
jedesmal, wenn er Luft holte, ein Stechen in der Seite, eine Folge des Sauerstoffmangels. Er befürchtete, wenn er irgendjemandem eine ausführlichere Antwort geben musste, würde ihm schwarz vor Augen werden. Er stand auf, um sich wieder zu entfernen. Die Prinzessin legte eine Hand auf seinen Arm. »Sami peh«, sagte sie in flehendem Ton. Er verstand die Worte nicht, aber ihre Bedeutung war klar. Geh nicht weg. Mit einem Seufzen hockte er sich wieder hin. »Roan!« Er vernahm einen Ruf vom Rande des Platzes und stand auf. Misha und seine zwei Begleiter kamen mit wehenden Rockschößen auf ihren Rädern herangeprescht. Der junge Mann, mit hochrotem Kopf und völlig außer Atem, sprang noch im Fahren von seinem Rad und bremste es im Laufen ab, bis er neben dem Tisch zum Stehen kam. Roan zog ihn beiseite und bedeutete ihm mit einer Geste, leise zu sprechen. »Wir haben die Stelle gefunden, an der sie die Stadt verlassen haben«, japste Misha schweratmend und seine langen Beine knickten fast unter ihm weg. Leonora beobachtete die beiden von ihrem Platz an der Tafel. Ihre Augenbrauen telegrafierten die Frage: »Was ist passiert?« Roan hob die Hand, um ihr zu signalisieren, sie möge noch einen Augenblick warten. »Wir sollten uns sputen und uns schnell wieder auf den Weg machen, bevor er erneut zu wandern anfängt. Es ist ein sehr aktiver Weg. Er ist überall zu finden. Er führt nach Norden.« »Bist du sicher, dass es ihre Fährte ist?« »Ja, Sir«, antwortete Lum für Misha. »Sie haben die Eisenbahngleise gekreuzt, Sir.« »Wie können Sie das wissen?«, fragte Roan, neugierig geworden. »Das mit dem >Kreuzen< ist wortwörtlich zu verstehen«,
sagte Misha. »Die eine Schiene liegt über der anderen wie ein X.« »Der WECKER entstellt die Natur immer mehr, je weiter sie gehen«, sagte Roan. »Ich hole die anderen.« Aber ihre Gefährten am Ende des Tisches hatten den Voraustrupp bereits kommen sehen und waren sofort zu ihm geeilt. Auch Spar hatte die Späher von seinem Ende der Hauptstraße aus gesehen und die Rösser heruntergeführt, um zu ihnen zu stoßen. Roan nahm einen tiefen Atemzug und ging zurück in die luftfreie Zone im Bereich der Prinzessin. »Ich bitte um Verzeihung«, sagte er und machte eine tiefe Verbeugung vor dem Bürgermeister und den Ratsmitgliedern. »Eure Hoheit, womit kann ich dienen?« Leonora telegrafierte eine Frage mit den Augenbrauen und Roan nickte, den Kopf zurück in Richtung Misha neigend. Sie blickte zu ihnen hinüber, dann wandte sie sich dem Bürgermeister zu und streckte ihm die Hand hin. »Mein Herr, es war mir eine Ehre, dies Geschenk der Gastfreundschaft und Freundlichkeit von Ihnen entgegennehmen zu dürfen. Es war eine höchst willkommene Unterbrechung unserer Reise. Ich fühle mich erfrischt. Ich hoffe sehr, eines Tages wiederkommen zu können.« Der Bürgermeister und die anderen rappelten sich hastig auf, als Leonora sich von ihrem Platz erhob. Die übrigen Stadtbewohner standen in einer nach außen schwappenden Wellenbewegung von ihren Plätzen auf. »Eure Hoheit, wir sind es, die sich geehrt fühlen«, sagte Georgeton und strahlte sie an, nicht ohne jedoch vorher einen wehmütigen Blick auf Roan zu werfen. Er beugte sich über ihre Hand. »Ich danke Ihnen, dass Sie uns diese Chance gegeben haben, unsere Wertschätzung für Sie und Ihren königlichen Herrn Vater zu zeigen. Sind Sie sicher, dass Sie nicht noch ein bisschen länger bei uns verweilen können? Wir
hätten da noch ein paar weitere Toasts, die wir gerne auf Sie ausbringen würden.« »Nein!«, sagte Leonora entschieden und zog ihre Hand zurück. »Vielen Dank. Leben Sie wohl.« »Und darf ich sagen«, fragte Roan, während er dem Bürgermeister die Hand schüttelte, »dass es schmati gobbeldiguck binreeta?« »Was?«, fragte einer der Ratsherren. »Was hat er gesagt?« Mit einem königlichen Lächeln gestattete Leonora Roan, sie zu Golden Schwinn zu geleiten und ihr beim Aufsitzen zu helfen. »Auf Wiedersehen!«, rief Georgeton und winkte ihnen mit seinem Taschentuch hinterher, als sie vom Platz ritten. »Auf Wiedersehen!«, riefen die Stadtbewohner. »Süße Träume!« »Passt gut auf euch auf!« »Lasst euch nicht von den Wanzen beißen!« »Ich wünschte, es wären bloß Wanzen«, seufzte Bergold. »Warum war Misha so aufgeregt?«, fragte Leonora Roan leise, während sie durch die verlassenen Straßen neben ihm her rollte. Sobald sie den Blicken der Harkianer entschwunden war, teilte sie ihre lästige Kluft in eine lange, leichte Hose aus glänzend weißer Seide und entledigte sich der lästigen Turnüre. Den Stirnreif ließ sie so, wie er war, und um Roans Blumenstrauß schlang sie ein Bändchen, sodass sie ihn am Ärmel tragen konnte. »Sie werden es gleich sehen, Eure Hoheit«, sagte Misha, der hinter ihnen ritt. »Da, schauen Sie!« Baken und eine geöffnete Schranke markierten die Stelle, an der die Eisenbahngleise die Straße kreuzten, die aus der Stadt führte. Der Bahnhofsvorsteher, ein hagerer alter Mann in einem blauen Uniformrock stand inmitten des Unkrauts, die Uniformmütze in der Hand, und kratzte sich den Kopf,
während er auf die Gleise zu seinen Füßen starrte. »Ich habe das Signal auf Rot gestellt«, sagte er, als Roan und die anderen ihre Fahrräder neben ihm abbremsten. »Das wird den Fahrplan völlig über den Haufen werfen.« Roan stieg vom Rad, um sich den Schlamassel näher anzuschauen. Wie Misha gesagt hatte, lag eines der Gleise über dem anderen. Das Metall war glatt und wies keinerlei Spuren von Werkzeugen auf. Alles sah vollkommen normal aus, nur dass die Schienen halt über Kreuz lagen, ohne den geringsten Hinweis darauf, wie es dazu gekommen war. »Der WECKER«, flüsterte Bergold Roan zu. »Unglaublich!« »Gibt es weiter oben auf der Strecke eine weitere Verschlingung?«, fragte Roan. »Nein, nur diese eine hier, mein Junge«, sagte der Bahnhofsvorsteher. »Ich habe die Strecke in beide Richtungen eine Meile abgeschritten. Zum Glück gibt es nur diese eine Verschlingung. Meine Männer können das wieder in Ordnung bringen, sobald sie aus der Stadt zurück sind. Sie haben sich einfach davongemacht, um mit den anderen an dem Festschmaus zu Ehren der Prinzessin teilzunehmen - oh, hallo, Eure Hoheit!«, sagte er und machte eine halbe Verbeugung. »Wissen Sie, das ist ja alles schön und gut, Bankette und königlicher Besuch, aber die Züge müssen pünktlich sein.« »Funktioniert die Nachrichtenübermittlung denn noch?«, fragte Leonora mit einem besorgten Blick auf die verdrehten Schienen. »Bitte senden Sie eine Botschaft an meinen Vater, den König. Er wird Ihnen Techniker schicken, die Ihnen helfen.« »Das kriegen wir schon selbst wieder hin, Kindchen«, sagte der Mann mit einem väterlichen Lächeln. »Wir werden mit Veränderung fertig. Sie liegt halt in der Natur der Dinge.« »So ist es«, sagte Colenna mit beifälligem Nicken.
»Es gibt also nichts, worum Sie sich kümmern müssten, Eure Hoheit«, sagte der Bahnhofsvorsteher und lächelte sie väterlich an. »Aber es ist nett von Ihnen, dass Sie solchen Anteil nehmen.« »Es ist unsere Pflicht«, sagte Leonora. »Aber falls Sie doch Hilfe brauchen sollten, zögern Sie nicht, uns zu bitten.« »Ich ... habe schon von Eurer Hoheits Vater gehört«, sagte der Bahnhofsvorsteher mit einem forschenden Blick auf Leonora. »Wir erhielten eine Botschaft mit allen Arten von Einzelheiten, gestern Abend schon. Soll ich ihm sagen, dass ich Sie gesehen habe, Hoheit?« »Sagen Sie ihm nur, dass ich wohlauf bin«, sagte sie, während sie sich hastig abwandte und Spar einen vielsagenden Blick zuwarf. Der Hauptmann der Garde nahm seinen Platz als Kopf der Gruppe ein. »Danke für Ihre Dienste.« Der Bahnhofsvorsteher machte eine tiefe Verbeugung vor ihrem Rücken. »Du hast deinem Vater nicht gesagt, dass du gehst, stimmt's?«, fragte Roan, als sie über die Gleise ritten. »Jetzt weiß er's eben«, erwiderte Leonora ziemlich kurzangebunden. »Wichtig ist doch, dass ich helfe, eine Bedrohung abzuwenden und unsere Heimat zu retten.« Und das ist es, dachte Roan. Der Augenblick markierte auch für ihn eine Entscheidung. Wenn er sie nach Hause zurückschicken wollte, dann wäre dies der richtige Zeitpunkt gewesen. Er hätte sie sicher und wohlbehütet hier in Hark auf den nächsten Zug warten lassen können - wann immer der auch gekommen wäre. Alle Eisenbahnlinien führten nach Mnemosyne. Doch er wusste, er konnte sie nicht zwingen zurückzukehren. Trotzdem machte er sich noch immer Sorgen, dass er sie unnötig gefährdete. Sein Gewissen quälte ihn. Wenn er auch nur einen Funken Vernunft hatte, hätte er sie bitten müssen, hier auf den nächsten Zug
nach Hause zu warten. Georgeton wäre entzückt gewesen, sie in seine Obhut zu nehmen, und hätte sie im größten Stil beherbergt und bewirtet, dessen seine kleine Stadt fähig war. Doch dann wieder sah er ein, dass für Leonora ebenso viel auf dem Spiel stand wie für jeden anderen. Sein Dilemma blieb ungelöst. Sie saß schweigend auf dem ungefügen und unbequemen Hochrad und starrte geradeaus vor sich hin, während Spar sie aus der Stadt geleitete. Sie blinzelte nicht ein einziges Mal mit den Augen, bis Roan sie schließlich aus ihren Träumen riss. »Hat es dir gut gefallen in Hark?«, fragte er. Sie blinzelte und schrak hoch. »O ja. Ja, es hat mir gut gefallen. Die Leute dort waren sehr nett, nicht wahr?« »Sie waren ganz versessen auf dich«, sagte Roan. Sie wandte den Blick zu ihm. Ihre Augen waren groß und sorgenvoll. »Wir müssen sie beschützen, Roan. Ich habe gerade darüber nachgedacht, wie schrecklich es wäre, wenn sie alle ... weggehen würden. Wir müssen Brom aufhalten.« »Das versuchen wir«, versicherte Roan ihr. »Wir werden alles tun, was wir können, um ihn aufzuhalten.«
14. KAPITEL Gleich hinter der Stadtgrenze von Hark verbreiterte sich die Straße zu zwei großzügigen Spuren. Nach den schmalen Waldpfaden und Stadtstraßen genossen Roan und die anderen es, sie in ihrer ganzen Breite auszunutzen und sich endlich einmal gegenseitig ausreichend Platz lassen zu können. Schon nach hundert Schritten verwandelten sich die Hochräder wieder. Roan hielt jäh mit dem Strampeln inne, als Cruiser sich einmal mehr als prächtiges Ross manifestierte und mit lautem Wiehern dagegen protestierte, dass Roan ihm mit seinen Stiefeln an den Flanken entlangschrammte. »Ah!«, rief Bergold und machte es sich glücklich im Sattel seines pink und grau gescheckten Palominos bequem. »Jetzt können wir einen kräftigen Zahn zulegen!« Die Pferde waren glücklich, nach der drangvollen Enge der Stadt endlich wieder Platz zu haben und ihre Beine einmal so richtig strecken zu können. Mishas verspieltes Tier ließ seine Beine ganz lang werden und preschte mit zwei langen, spinnenartigen Sätzen nach vorn, weit vor die ändern. Die seltsame Gangart erschreckte Colennas Mähre, die in einen wilden Galopp fiel und mit ihr durchging. Sie stürmte an dem jungen Kontinuitor vorbei und jagte davon. »Huu-aaah!«, schrie Colenna und zerrte verzweifelt an den Zügeln. »Halt! Stop!«, schrie Misha und ließ die Zügel schießen, um die Verfolgung aufzunehmen. Aber offenbar fand sein Ross, dass es die Beine genug ausgestreckt hatte, und verwandelte sich in einen hölzernen Sägebock. Misha suchte verzweifelt nach einem Halt, aber er fand keinen und flog im hohen Bogen über den Kopf des Pferdes und landete im Dreck. Das Pferd wieherte vor Lachen. Als Spar und Roan an ihm vorbeiritten,
stand er auf und klopfte sich den Staub von den Kleidern, mit einem Blick, der nichts Gutes für sein Ross verhieß. Die beiden Männer trieben ihre Rösser an, um Colenna einzuholen, die weit vor ihnen in einer Staubwolke verschwand. Ein Stück vor ihr konnte Roan eine Kurve ausmachen. Bäume verhinderten die Sicht auf das Terrain dahinter. Es konnten Steine sein oder ein Sumpf oder eine Felsenklippe, hinter der niemand etwas träumte. Die alte Dame verlor ihren Strohhut, und ihr langes Haar wehte hinter ihr her, bei jedem Galoppsprung auf und ab wippend. Roan spornte Cruiser zu höchstem Tempo an. Schließlich holte er Colenna ein. Als er neben ihr dahinjagte, eine Kopflänge vor ihr, fiel er der Mähre in die Zügel. Gleichzeitig bremste er Cruiser langsam ab. Der durchgegangene Gaul fiel erst in Trab, dann in Schritt, heftig prustend und schnaubend. Die alte Frau hing über die Mähne geduckt und lachte. Ihr Gesicht war jetzt um Jahrzehnte jünger als ihr silbergraues Haar. »Meine Träume, das fühlte sich aber gut an!«, sagte Colenna und richtete sich auf, als die Stute schweratmend stehenblieb. »Sie hätten sich den Hals brechen können!«, knurrte Spar, und Roan begriff, dass er sich persönlich um Colennas Sicherheit sorgte. »Oh, mir geht es prächtig«, sagte sie, spielerisch den Arm des Hauptmanns der Garde tätschelnd. Er grunzte und wandte hastig den Blick ab. Colenna schüttelte den Kopf und flocht sich das Haar wieder zum Zopf. Erleichtert, dass sie nicht in Gefahr war, sah Roan sich die Straße an. Sie war gut gebaut, mit einem Bett aus Steinen, das von einer Schicht gesiebten Kieses bedeckt war, und verlief über Meilen unter einer Arkade von weit auseinander stehenden Bäumen. Ein Stück voraus kreuzte eine weitere, ganz ähnliche Allee die ihre im rechten Winkel. Die restlichen Reiter schlossen jetzt zu ihnen auf. Misha hatte Colennas Hut geborgen und überreichte ihn ihr mit einer galanten
Verbeugung. »Vielen Dank, mein Lieber«, sagte Colenna und setzte ihn sich wieder auf. »Tut mir Leid, euch allen einen solchen Schreck eingejagt zu haben, aber ihr müsst zugeben, diese Allee eignet sich hervorragend für ein Rennen.« »Ich dachte wirklich, Sie brächen sich den Hals«, sagte Leonora. »Die doch nicht«, sagte Felan düster. »Eher wären wir vor Angst gestorben.« »Es ist nett, dass ihr euch so um mich sorgt«, sagte Colenna ohne eine Spur von Sarkasmus in der Stimme. Felan schaute verdutzt drein, dann wendete er hastig sein Ross und ritt zurück ans Ende der Reihe. Colenna schaute ihm lächelnd nach und trabte dann friedlich an der Seite Spars zu der Kreuzung. »Korporal! Welchen Weg?«, bellte Spar. Lum kam nach vorn geritten und schwang sich aus dem Sattel, um die Straße in Augenschein zu nehmen. Roan bewunderte sein Orientierungsgeschick; auf Fuß oder Reifenabdrücke konnten sie auf der festgewalzten Kiesdecke nicht hoffen. Lums Brauner tänzelte nervös am Ende seiner Zügel. Der Korporal der Garde spähte in beide Richtungen und schüttelte den Kopf. »Es ist noch immer derselbe Weg, Sir«, sagte er. »Die Verwirrung geht nur voraus.« »Die Verwirrung ist überall, wenn Sie mich fragen«, sagte Felan leise. »Sie sind nicht seitlich abgebogen?«, fragte Roan, die Allee hinunter spähend. »Nein, Sir! Wir haben eine hübsche klare Fährte, der wir folgen können«, beharrte Lum. »Sie sind auf dieser Straße hier. Sie brauchen eine gute Straße für ihre schwere Last.«
»Also weiter dann«, sagte Roan. Spar schnalzte mit der Zunge und sein Pferd trabte voran. Von neuer Zuversicht erfüllt, ritten sie weiter, die schönen grasbewachsenen Hügel und Senken bewundernd. Die Allee wurde noch breiter, aber auch kurvig und bald konnten sie nicht mehr weit vorausschauen. Die Bäume wurden kleiner und spärlicher. »Wrrroooooawwww!« Die Pferde tanzten und scheuten, als ein riesiges schwarzes Automobil aus der Kurve vor ihnen gerast kam und geradewegs auf sie zuhielt. Roan griff geistesgegenwärtig in Golden Schwinns Zügel und zog Leonora gerade noch rechtzeitig von der Straße, als das Auto vorbeiraste, schwarzen Qualm aus dem Auspuff speiend. »Da hat's aber jemand verdammt eilig!«, sagte Alette wütend. Sie hatte wieder weibliche Gestalt angenommen, als sie Hark verlassen hatten, ihre Uniform aber anbehalten. Der zweireihige Wollmantel mit seinen silbernen Knöpfen stand ihr sehr gut. »Wenn von denen zu viele unterwegs sind, sollten wir besser runter von der Straße, Herr Hauptmann.« »Lasst uns weiterreiten«, sagte Bergold und lenkte sein Pferd zurück auf die Straße, deren Belag jetzt aus schwarzem Asphalt bestand, »sonst haben wir keine Chance, Brom noch vor Einbruch der Dunkelheit einzuholen.« »Keine Sorge«, sagte Lum. »Das schaffen wir schon, auf dieser vorzüglichen Straße.« Das Klapperdiklapp der Hufe war ein friedlicher Klang unter dem klaren, vogelreichen Himmel. Die Straße blieb nicht nur asphaltiert, sondern wurde sogar noch breiter. Ein weißer Streifen lief durch die Mitte jeder Seite und teilte die bisherigen zwei Spuren in deren vier. Statt wie bisher in Zweierreihe reiten zu müssen, konnte die Gruppe jetzt nach Belieben die ganze Breite der Straße ausnutzen. Als Misha ein
Witz einfiel, den er der Prinzessin erzählen wollte, konnte er einfach zu ihr an ihre Seite reiten, ohne Roan in den Graben abdrängen zu müssen. Nur Spar und Colenna trabten, ohne irgendjemandem von den anderen besondere Aufmerksamkeit zu widmen, weiter Seite an Seite an der Spitze des Pulks. Roan sah keine Notwendigkeit, sie zu stören. Sie kamen zügig voran. » Wrooooaaaaw!« Beim Geräusch eines weiteren, diesmal von hinten nahenden, Automobiles, gab Roan jedem das Zeichen, auf das Bankett der Straße auszuweichen. Ein kleiner grauer Wagen schoss an ihnen vorbei und verschwand hinter dem Hügel. »Tüüüüüütüüüüüt!«, machte seine Hupe, als er vorbeifuhr. Gerade als Roan sie wieder auf den Macadam zurückwinken wollte, kam ein weiteres Automobil, ein rotes diesmal, laut hupend an ihnen vorbeigesaust. Unmittelbar danach fuhren drei Fahrzeuge, ein blaues, ein rotes und ein grünes, ihnen Seite an Seite auf der anderen Seite der Straße entgegen, die sich dienstbeflissen eiligst auf sechs Spuren verbreiterte. Aus beiden Richtungen kamen jetzt Autos, erst vereinzelt, dann in dichter Folge, bis sie alle Spuren füllten und Roan und seine Gruppe von der Fahrbahn drängten. Die Pferde kauerten sich ängstlich auf dem Kiesbankett zusammen, als schließlich Tausende von PKWs und Lastkraftwagen in einer ununterbrochenen Schlange in beide Richtungen unablässig an ihnen vorbeidonnerten. Ein schriller Hupton ließ Roan zusammenfahren. Cruiser bockte unter ihm und er konnte ihn nur mit großer Mühe unter Kontrolle bringen. Golden Schwinn war ganz von der Straße geflüchtet, und sie mussten mit Engelszungen auf ihn einreden, um ihn aus dem flachen Graben neben der Straße wieder zurück auf das Bankett zu locken. Roan ließ Leonora am äußeren Rand des Banketts reiten und schob sich und sein Reittier zwischen sie und die vorüberdonnernden Stahlkästen. Spar und seine Soldaten schirmten derweil die anderen gegen
den Verkehrsstrom ab. »Ist das ein Ärgernis?«, schrie Roan über den Motorenlärm hinweg zu Bergold hinüber. »Nein«, schrie der Historiker zurück. Er schob die Schutzbrille hoch, die jetzt seine Augen bedeckte. Sein Mantel hatte sich in einen langen weißen Wischlappen umgewandelt und er trug eine Kappe mit einer breiten Spitze an der Vorderseite und einem Schleier für die Nackenpartie. »Dies ist eine Vision aus der Wachwelt. Sie ist real. Man nennt es Verkehr. Es scheint ein allenthalben wachsendes Phänomen zu sein!« »Scheußlich!«, rief die Prinzessin. Roan starrte auf das bestürzende Spektakel endloser Autokolonnen, die stinkenden Qualm in die Luft pusteten und mit ihren Motoren einen unglaublichen Lärm erzeugten. Spar beorderte die fast schon panisch werdenden Pferde in eine Zweierreihe und geleitete sie nordwärts, sich am äußersten Rand des Banketts haltend. Autos fauchten und hupten sie wütend an. Die Pferde scheuten und bockten und zeigten das Weiße in ihren Augen. Roan fand, dass ihre Reiter genauso bange dreinblickten. Sie ritten voller Unbehagen neben dem gefährlichen Strom aus Stahl. Roan wurde Zeuge Hunderter Beinahe-Unfälle, wo die übelgelaunten Vehikel mit quietschenden Reifen beschleunigten, um einander auf einer einzigen engen Spur zu überholen. Ein tiefergelegtes rotes Fahrzeug mit getönten Scheiben, die so dunkel waren, dass man von außen nicht hineinschauen konnte, röhrte an ihnen vorbei, fuhr auf ein anderes Fahrzeug auf und geriet ins Schleudern. Es drehte sich, rutschte von der Fahrbahn und kam wenige Schritte vor Spar zum Stehen, mit der Schnauze in seine Richtung weisend. Seine Scheinwerfer starrten sie mit irrem Blick an und Dampf zischte links und rechts aus den Radkästen der Vorderräder. Es
ließ seinen Motor zwei, dreimal aufheulen. Es hatte vor, sie zu überrollen! Roan stürmte vorwärts, seinen Schlagstock aus dem roten Allzweckmesser ausklappend, um sich schützend zwischen das metallne Monstrum und die Prinzessin zu werfen. »Tretet zurück!«, schrie er. Die Soldaten und ihr Hauptmann gingen links und rechts neben ihm mit gezückten Schwertern in Kampfstellung, als das Auto mit durchdrehenden Hinterrädern beschleunigte und auf sie zuraste. Sein von dem Aufprall beschädigter Kühlergrill grinste sie mit einem verzerrten Totenkopflächeln an. Aus dem Nirgendwo hörte Roan plötzlich eine Trompete zum Angriff blasen. Er wappnete sich gegen den Zusammenprall, wild entschlossen, dem Monstrum den grinsenden Kühlergrill einzuschlagen. Er wusste, dass die Bestie seinen Stock in Splitter zermalmen konnte. Er wünschte, er hätte irgendeine formidablere Waffe, aber er war nicht gewohnt, eine tragen zu müssen. Sekunden bevor es sie gerammt hätte, zog das rote Monstrum scharf nach rechts und drängelte sich zurück in den Verkehrsstrom. »Puuuh!«, pfiff Lum. Er blies die Flammen an seinem Schwert aus und schob es in die Scheide zurück. »Ich dachte schon, wir müssten es mit der Waffe in der Hand zurückschlagen.« »Schade, dass wir keine Automobile haben«, sagte Felan mit neidvollem Blick auf den endlosen Fahrzeugstrom zu seiner Linken. »Dann könnten wir die Meilen richtiggehend fressen. Können wir das nicht irgendwie bewerkstelligen?« »Ausgezeichnete Idee!«, lobte Bergold. »Wir können's versuchen.« Roan dachte an den weißen Sportwagen, mit dem der Bote des Königs zum Schloss der Träume gekommen war, und versuchte, Cruiser durch schiere Willensanstrengung in eine
ähnliche Form zu bringen. Er konzentrierte sich voll, dachte an Breitreifen, Sportfelgen und Fünfganggetriebe anstelle von Hufeisen und Muskeln. Die Gestalt des Rosses schwankte und pendelte zwischen Tier und Maschine. Roan ließ sich tatsächlich für einen kurzen Augenblick in einen Schalensitz sinken, ehe Cruiser entschlossen wieder Tiergestalt annahm. Er wandte den Kopf über die Schulter und sah seinen Herrn mit vorwurfsvollem Blick an. »Ich kann's nicht«, sagte Roan. »Das Paradigma ist außerhalb meiner Kräfte. Hat irgendeiner von euch mehr Erfolg?« Die anderen schüttelten den Kopf. Das einzige, was passiert war, war, dass die Uniformen der Gardisten sich in Khakijacken und -hosen verwandelt hatten und an ihren Schwertgürteln plötzlich alle Arten von mysteriösen kleinen Beuteln und Taschen aus Leder und Stoff hingen. Roan war fasziniert von der runden blauen Kuppel, die ihre Sattelhörner ersetzte. »Wir werden uns wohl damit abfinden müssen, dass wir nur langsam vorankommen«, sagte Bergold. »Haltet nur alle wachsam die Augen offen.« Und Roan hielt die Augen offen. Er wurde Zeuge von zwei weiteren Beinahe-Auffahrunfällen, etwa einem Dutzend kleinerer Kollisionen mit geringen Blechschäden und noch einem >Abflugstromabwärts< war das Wasser in die sanitären Anlagen kanalisiert worden, aber hier schien es noch so gut wie unverändert. Taboret war froh, dass in den Plänen des Bosses ein Bad mit inbegriffen war und sie sich nicht selbst eines machen musste. Sie war müde. Sie hatte nicht ein Fünkchen Energie mehr in sich, ganz gleich wofür auch immer. Ausgestreckt auf dem Bauch auf ihrer Koje liegend, tunkte
sie die Finger in das Wasser. Ungefähr neunundfünfzig Grad, schätzte sie. Reinheit 97%, bräunliche Färbung, wahrscheinlich aufgrund einer Kombination von Flechten und Mineralien. Mit hoher Sicherheit trinkbar. »Fühlt sich das gut an?«, fragte Glinn unvermittelt. Sie wandte den Kopf. Er stand neben ihr und beobachtete sie. »Gut?«, fragte Taboret, überrascht. Sie zog die Beine an, schwang sich herum und setzte sich auf. »Ich denke schon. Kannst du es nicht sagen?«, fügte sie hinzu, mit mehr Nachdruck in der Stimme, als sie beabsichtigt hatte. Glinn schaute weg, ein wenig verlegen. »Ich... ich habe plötzlich Kühle an meinen Fingern gespürt und ich wollte wissen, wo sie herrührte.« »Es tut mir Leid«, sagte Taboret, schlagartig von Reue erfüllt. »Du musst das auch wissen. Entschuldige. Ich wollte nicht grob sein. Stört es dich nicht, dass jeder alles weiß, was du fühlst oder denkst, wenn du in der Gestalt bist?« »Nun«, sagte Glinn und setzte sich auf das Feldbett neben ihrem. »Nicht alles.« Seine Wangen wurden rot. »Ich meine ... es gibt bestimmte Dinge ...« Er lächelte sie an und in seine sanften braunen Augen trat ein hoffnungsvoller Ausdruck. »Ich weiß, was du meinst«, sagte Taboret hastig. Ihr wurde erneut bewusst, wie sehr sie anfing, ihn zu mögen. Mit der wachsenden Stärke der Verbindung konnte sie das nicht länger vor ihm verbergen – oder vor irgendeinem anderen in der Gruppe. Und es fühlte sich, es fühlte sich fast so an, als ob er sie auch mochte. Tat er das? »Glinn, ich habe ...« »Sind wir fertig eingerichtet?«, fragte Brom. Er erschien plötzlich an ihrer Seite und baute sich vor ihnen auf. Taboret starrte hinauf zu seinen glitzernden Augen - wie eine Maus, die gebannt in die Augen eines Raubvogels blickt. »Ja, Herr«, sagte Glinn und sprang auf. »Gut! Dann lasst uns noch rasch unsere letzten kleinen Annehmlichkeiten herstellen,
bevor wir diesen Ort abschotten, damit wir nicht gestört werden.« Brom starrte auf Taboret hinunter. »Es bedarf dazu nicht des Einflusses jedes einzelnen. Dies sind kleine Aufgaben. Sie können sich ausruhen.« Taboret machte es sich dankbar auf ihrer Koje bequem und schaute zu. Ihr tat Glinn leid, der so müde ausschaute, wie sie sich fühlte. Er und der Boss machten die große steinerne Tür zu und verschlossen sie mit einem großen Schlüssel, den Glinn aus dem Schlüsselloch zog und sich um den Hals hängte. »Wollen Sie nicht den großen WECKER stellen? Ha ha ha!«, rief Lurry aus seiner Ecke des Schlafbereiches und die Zwillingsbrüder lachten. Brom warf ihnen einen eisigen Blick zu, der sie sofort zum Verstummen brachte, und Taboret kroch in ihre Koje und zog sich die Decke über den Kopf, um sich bewusst gegen ihren Anblick abzuschotten. Trotz der frühen Stunde war sie zum Schlafen bereit. Der Boss hatte die herrlich gemütliche Stimmung gründlich verdorben. Er hatte ein Talent dafür, immer gerade dann aufzutauchen, wenn sie und Glinn endlich einmal Gelegenheit für ein richtiges Gespräch hatten. Taboret bedauerte, dass sie nie erfahren würde, was entweder sie oder Glinn hatten sagen wollen, bevor Brom dazwischenplatzte. Sie hatte gewusst, was Glinn dachte, zumindest bis zu einem bestimmten Grade. Konnte er ihre Gedanken lesen? Ahnte er womöglich, dass sie die Mission verraten hatte? Taboret wusste, dass sie eigentlich Gewissensbisse oder Angst hätte empfinden müssen, aber es erschien in diesem Augenblick einfach nicht so wichtig. Sie hoffte, dass niemand ihre Träume lesen würde.
16. KAPITEL Blitze zuckten und tauchten verfallene alte Häuser auf den Gipfeln der Hügel ringsum in grelles Licht. Auf den ausgedörrten Feldern erhaschte Roan hier und da im gleißenden Licht der Blitze einen Blick auf Skelette, die an Querbalken baumelten. Kahle Bäume knarrten und ächzten im Wind. Roan spähte unter der steifen Krempe seines Hutes hervor auf die Straße. Obwohl es seit Stunden regnete, hinterließ die Fährte, der sie folgten, nur einen ganz schwachen Abdruck auf dem vollgesogenen Geläuf, so als hätten Broms Leute den Boden kaum berührt. Lum war von dieser Anomalie beunruhigt, aber Roan vermutete wieder mal eine von Broms Manipulationen dahinter. Die Rösser hatten sich in Fahrräder verwandelt, als der Regen kalt geworden war. Roan wünschte sich, er könne seine Nervenenden nach Belieben abstumpfen und trotzdem seine volle Funktionstüchtigkeit bewahren. Seine Kleider waren völlig durchgeweicht, trotz einer rasch vorgenommenen Imprägnierung und der breiten Krempe seines Hutes, die viel von dem prasselnden Regen ableitete. Neben ihm pedalte die Prinzessin tapfer und unverdrossen auf Golden Schwinn dahin. Ihr Haar war plattgedrückt von der Kapuze und kräuselte sich an ihren Schläfen zu dunklen Ringellöckchen. Es sah ganz hinreißend aus. Er hätte nichts lieber getan, als so mit ihr übers Land zu reiten, wären da nicht mehrere Faktoren gewesen, die ihm den Spaß nachhaltig verdarben: der Regen, ihre Mission und die Unannehmlichkeiten, die ein so weiter und so langer Ritt mit sich brachte. Leonora merkte, dass er sie von der Seite anschaute und klimperte das Wasser von ihren Wimpern. »Wir müssen aus diesem Unwetter raus«, sagte sie. »Im Augenblick würde es mir nichts ausmachen, wenn Brom uns
eine Bombe auf den Kopf würfe.« Roan nickte und spähte durch den strömenden Regen nach vorn, auf der Suche nach irgendeiner Zuflucht. Auf dem Scheitel der nächsten Anhöhe glaubte er rote Streifen am Himmel ausmachen zu können. »Ich glaube, ich sehe dort oben trockenes Wetter«, rief er zu Spar hinüber. »Können wir nicht ein bisschen schneller machen?« »Hah! Nichts lieber als das!«, rief der Hauptmann der Garde zurück. Er hob die Hand und gab den anderen das Zeichen, ein bisschen kräftiger in die Pedale zu treten. Der Regen peitschte Roan ins Gesicht, als seine Reifen bergab surrten. Dann und wann tauchten Bilder von Lastwagen aus den Träumen geringerer Schläfer auf dem schmalen Pfad auf und drängten die Reiter an den Rand. Die Gruppe formierte sich zu einer Einerreihe, wobei Colenna und Leonora zwischen Spar und Roan fuhren, während Drea sich zwischen Bergold und Lum eingeordnet hatte. Roan warf erneut einen Blick nach oben zu den Wolken, nach dem schmalen Streifen von Rot fahndend, den er kurz zuvor gesehen hatte. Einen Augenblick zuvor war er noch dagewesen, nahe dem nordöstlichen Horizont. Das Wetter war so unberechenbar. Wenn sie dieses Hochdrucksystem nicht bald erreichten, würden sie irgendwo Schutz suchen und warten müssen, bis der Regen aufhörte. »Wwiiiinggg«, jaulte vorwurfsvoll ein Kleinlaster, während er an ihnen vorbeizog. Ein zweiter folgte ihm dichtauf. »Woiiiingggg.« »Der Verkehr wird wieder stärker«, schimpfte Felan, laut schreiend, um den Wind und den prasselnden Regen zu übertönen. »Außerdem habe ich das Gefühl, dass die Straße enger wird!« Der Junior-Historiker hatte Recht. Die Straße verengte sich zusehends unter ihren Rädern. Schon bald schien sie nicht
mehr breiter als ein straff gespanntes Seil zu sein. Die Rösser hielten nur mit Mühe die Balance auf dem schmalen Grat. Ein weiteres Fahrzeug kam ihnen entgegen. Spar entfuhr ein heiserer Schrei. Der LKW wich im letzten Moment zur Seite. Das graue Band der Fahrbahn dehnte sich wie Gummi unter seinen Rädern und er verfehlte sie nur um Haaresbreite. »Haltet durch!«, rief Roan seinen Leuten aufmunternd zu, obwohl ihm das Herz bis zum Halse schlug. »Das trockene Wetter ist nur noch ein kleines Stück voraus!« »Hart nach rechts!«, schrie Spar. Ein Paar leuchtender gelber Kugeln kam ihnen in rasendem Tempo entgegen, die gesamte Breite der Fahrbahn einnehmend. Es war ein großer LKW, der sich mit dröhnendem Motor näherte. »Springt, Leute!« Er schickte sich an, nach rechts zu schwenken, in das rote Band, von dem Roan glaubte, es sei ein Hochdruckgebiet, aber dort, wo ein H hätte sein müssen, war ein wirbelnder, irgendwie fettig aussehender weißer Glanz. »Was ist das?«, kreischte Leonora. »Das ist ein Loch!«, schrie Bergold. »Fahrt bloß nicht da rein!« Roan japste vor Schreck und griff nach dem hinteren Schutzblech von Leonoras Fahrrad. Er verschätzte sich und quetschte sich fast die Hand zwischen Reifen und Schutzblech. Er spornte Cruiser zu schnellerer Gangart an, um an ihre Seite zu gelangen, und schubste das verängstigte Ross zur Seite, aus der Gefahrenzone. Aber der rote Begrenzungsrand stülpte sich nach außen wie ein offener Mund. Der LKW donnerte heran und drängte sie hinüber - in den Mund hinein. Die Räder quietschten vor Angst, als ihre Reifen den Rand streiften. Roan riss heftig am Lenker und zwang beide Rösser zurück, weg von dem roten Band, aber es schnellte auf sie zu, um sie zu umschlingen. Sie wurden geblendet von einem wilden Wirbel. Der Glanz verblasste, und sie fanden sich auf einer Straße,
die genauso aussah wie die, die sie gerade verlassen hatten, außer, dass es zu regnen aufgehört hatte. Roan ließ sein Rad ausrollen und sah sich um. »Was war das?«, fragte er Bergold. »Ein Loch in der Wirklichkeit«, sagte der Senior-Historiker. »Wir hatten Glück. Dieses war noch sehr mild. Uns ist nichts passiert.« »Aber wo sind wir?«, wollte Leonora wissen. »Genau da, wo wir vorher auch waren«, antwortete Bergold. »Aber die Dinge um uns herum haben sich verändert.« »Das ist nicht möglich«, sagte Lum und runzelte die Stirn. »Soldat, alles ist möglich«, belehrte ihn Spar. »Was zum Albtraum ist das denn da?« Er zeigte auf eine Baumgruppe, die umgeben war von einem breiten Band, das sich von einem Fuß über der Erde so weit nach oben erstreckte, dass Roan es mit ausgestrecktem Arm gerade noch erreichte. »Ich habe keine Ahnung«, sagte Roan. Bergold schlug sein Büchlein auf und blätterte es durch. »Ist es da, um die Bäume zu schützen?«, fragte Hutchings. Er streckte die Hand aus. In dem Augenblick, als er das Band berührte, gab es einen lauten Knall, und er wurde mitsamt seinem Ross in hohem Bogen durch die Luft geschleudert, quer über die Straße, gegen eine andere, ebenfalls von einem breiten Band zusammengehaltene Baumgruppe. Die gab einen ebenso lauten Knall von sich und schleuderte ihn ihrerseits weg. Er flog auf eine dritte Baumgruppe zu, landete aber zu seinem Glück ein Stück vor ihr auf der Erde, sodass keine Berührung erfolgte. Roan und die anderen stürzten sofort zu ihm, um ihm aufzuhelfen. Ein lautes Klicken oder Knacken war zu hören, aber Roan konnte die Quelle des Geräusches nicht ausmachen. »Faszinierend!«, sagte Bergold, während er interessiert um sich blickte. »Ich habe schon von dem Bally-Effekt gehört, aber selbst gesehen hatte ich ihn bis jetzt noch nie.«
»Das könnte einen glatt umbringen«, murmelte Hutchings, während er taumelnd auf die Beine kam. Er war ganz bleich vor Schreck und sein hellbraunes Haar stand ihm zu Berge. Sein Ross, leicht angeschlagen, kreischte wild, als Misha ihm aufhalf. »Passt gut auf, dass ihr keine weiteren berührt«, mahnte Bergold. »Wir müssen zusehen, dass wir aus diesem Effekt wieder herausfinden. Haltet nach dem Schriftzug >Game over< Ausschau.« Den Bäumen auszuweichen war gar nicht so einfach. Der Wald war dicht von ihnen bewuchert. Die Gruppe musste höllisch aufpassen und sich ganz schön dünn machen, um sich zwischen zwei Gruppen hindurchzulavieren, die die Straße flankierten. Lum fuhr vorneweg, tief über seine Lenkstange geduckt und wachsam von links nach rechts schielend, als fürchte er, die Bänder könnten jeden Augenblick nach ihm ausschlagen und ihn wegkicken. Roan trat ganz vorsichtig in die Pedale, die Knie so dicht wie möglich am Rahmen haltend. Bergold zwängte seine gewohnte bequeme Leibesfülle in eine hohe, schlanke Gestalt, bis sie schließlich eine große Wiese erreichten, wo der Weg in sicherem Abstand zu irgendwelchen Bäumen verlief. »Gut gemacht, alle miteinander«, sagte Roan und wandte sich im Sattel um. Aber er hatte sich zu früh gefreut. Felan, der als letzter durch die Lücke schlüpfte, berührte ein Baumband mit dem Saum seines Ärmels. Roan hörte nur halb den Knall, während er und alle anderen so hart zurückprallten, dass sie vom Weg fort und auf eine weitere Baumgruppe zu geschleudert wurden. Hals über Kopf kullerten sie umeinander, karambolierten mit vorspringenden Felsen - und auch miteinander -, ließen Wiesenblumen aufflackern wie Kerzen. Roan rappelte sich auf, und wandte sich gerade noch rechtzeitig zu der laut kreischenden Prinzessin um, um zu sehen, wie etwas, das aussah wie ein dreieckiges Tor, auf sie zu
geschwungen kam. Es erwischte sie hart am Hinterteil und beförderte sie kopfüber mitten in eine sehr komplizierte Baumgruppe, die sie in unterschiedliche Richtungen kickte. Felsen, Hügel, ja selbst Büsche waren mit den Kraftbändern umwickelt. Jedes Band, das sie berührten, schoss sie erneut quer über die Wiese. Hilflos wie Murmeln flogen sie hin und her und kreuz und quer. »Hört auf, euch zu bewegen!«, keuchte Bergold. »Haltet euch an irgendwas fest! Haltet durch!« Roan schaffte es irgendwie, auf die Knie zu kommen, als Leonora erneut auf eines der dreieckigen Tore zukatapultiert wurde. Es öffnete sich, wie als rüste es sich dafür, ihr wieder einen mächtigen Schlag zu versetzen, der sie quer über die Wiese werfen würde. Roan sprang, schleuderte sich todesmutig auf sie - und landete halb auf ihr, halb auf Golden Schwinn. Er half ihr auf die Beine, und sie standen einen Augenblick lang da, einander fest umklammernd. Schwinn lehnte an ihren Beinen, ein krächzendes Wimmern von sich gebend. Das Tor schwenkte wieder in seine ursprüngliche Lage zurück. Fast konnte man meinen, es sei enttäuscht, dass es Leonora nicht erwischt hatte. »Bist du okay?«, fragte Roan. Leonora nickte, löste sich aus seinem Griff und fasste nach dem Fahrradlenker, um nicht gleich wieder umzufallen. Sie zitterte. Sobald er sicher war, dass sie sich allein auf den Beinen halten konnte, eilte er den anderen zu Hilfe. Bergold und Misha hatten es irgendwie geschafft, sich gegenseitig an den Beinen festzuklammern, gleichsam ein lebendes Rad formend. Als sie an Roan vorbeikullerten, passte er genau den richtigen Moment ab und stieß sie um. Das Rad kippte auf die Seite und kam schlitternd zum Stillstand. Die beiden Männer sprangen auf und Bergold stellte seinen üblichen rundlichen Körpertypus wieder her.
»Puh!«, sagte er und tätschelte sich den Bauch. »Es bringt keinen Vorteil, so eine Bohnenstange wie du zu sein.« Misha grinste, und die drei trennten sich, um ihre restlichen Mitstreiter zu retten. Spar hatte das Pech gehabt, genau zwischen zwei Baumgruppen zu geraten. Sie warfen ihn wie einen Spielball zwischen sich hin und her, untermalt von ohrenbetäubendem Geklapper und Geklingel. Roan stürmte zu ihm, als er gerade mitten durch die Luft segelte und riss ihn mit einem Hechtsprung zu Boden. Hastig zerrte er ihn an eine Stelle, die außerhalb der Reichweite der beiden Baumgruppen lag. Als Nächstes befreiten sie Colenna, die sich in ähnlich prekärer Lage befand: Sie war genau ins Zentrum eines Dreiecks von Baumgruppen geraten. Sie stand stocksteif da, die Arme fest um den Oberkörper geschlungen, aus Angst, sie könne einem der wildgewordenen Bänder zu nahe kommen. Mit Roans Hilfe ließ Spar sich ganz lange, dünne Arme wachsen, mit denen er die Ärmste blitzschnell aus der Gefahrenzone pflückte. Sie hielt sich an ihm fest, bis sie das Gleichgewicht wiedererlangt hatte und auf eigenen Beinen stehen konnte. »Wonach suchen wir?«, fragte Roan, als die Gruppe sich schließlich wieder zusammengefunden und in sicherem Abstand zum nächsten Band versammelt hatte. »Nach den Toren«, sagte Bergold und schaute sich mit suchendem Blick um. »Wenn dies ein echter Arcade-FlipperTraum ist, müssen wir durch ein Paar Tore hindurch, um hier wieder rauszukommen. Den Angaben zufolge, die in den akaschischen Aufzeichnungen stehen, ist das Gelände in Richtung der Tore abschüssig. Das wäre schon einmal ein wichtiger Anhaltspunkt.« »Nach dorthin fällt das Gelände ab«, sagte Lum und deutete mit einer Kopfbewegung nach Südwesten. »Und die Straße dort ist auch abschüssig. Ich bin ein bisschen hin und her geschmissen worden, deshalb weiß ich das.«
»Welchen Weg nehmen wir nun?«, fragte Spar Roan. Roan studierte das Gelände. Der Untergrund unter dem Gras war hart. In dieser Falte der Realität würde es keine Spur von Brom zu sehen geben. Sie würden sich schlicht erneut auf die Suche nach der Fährte begeben müssen, sobald sie erst wieder hier raus waren. »Die Richtung scheint mir die vielversprechendste zu sein«, sagte er, die Längsachse der Wiese entlang nach unten deutend. »Kommen Sie bloß nicht noch mal an irgendwas dran«, sagte Spar zu Felan. Der junge Mann starrte den Hauptmann wütend an. »Denken Sie vielleicht, ich hätte das absichtlich getan?«, fragte er empört. Spar erwiderte darauf nichts, sondern schaute ihn bloß an. »Erfolg!«, schrie Bergold, nach vorn gestikulierend. Vor ihm, am Ende eines langen, sanft abfallenden Hanges, gab es zwei dreieckige, paddelförmige Gebilde, von Bändern umschlungen wie die Bäume und mit leuchtenden Blumen besetzt. Roan beäugte sie skeptisch. Als er sich ihnen näherte, begannen sie sich aufeinander zuzubewegen. »Wir werden es nicht schaffen«, sagte er. »Die Lücke wird zum Durchschlüpfen zu eng sein.« Gerade als er das sagte, bewegten sich die Tore wie der zurück nach außen, aber dafür wuchsen bunte Felsen mit leuchtenden Blumen aus der Erde und versperrten ihnen den Durchgang. »Es vollzieht sich rhythmisch«, bemerkte Misha. »Seht ihr das? Wenn wir unsere Flucht richtig ansetzen, werden sie uns nicht berühren.« »Passt bloß alle gut auf«, warnte Bergold. »Ich habe keine Lust, noch einmal mit irgendwelchen Bäumen zu karambolieren.«
Der Lärm in der Umgebung der Paddel war ohrenbetäubend. Wann immer einer aus der Gruppe auf eine neue Stelle auf dem Boden trat, leuchteten weitere Blumen und Bäume auf, begleitet von lautem Gebimmel, Gerassel, Geklapper, Gesumme, Gepfeife und dem nun schon vertrauten Geklicker. All diese Faktoren erfüllten den Zweck, Eindringlinge zu verwirren. Roan machte sich Sorgen, sie könnten ihn davon ablenken, sicher zwischen den Toren hindurchzuhuschen. Auch machte er sich bange Gedanken darüber, was hinter den Toren lauerte. »Soll ich als Erster durch, Sir?«, fragte Hutchings und reckte die Schultern, bis er mehr nach einem mathematischen Konstrukt als nach einem Menschen aussah. »Nein«, sagte Roan. »Ich gehe als Erster.« Er schwang sich auf den nervös tänzelnden Cruiser. Durch scharfes Beobachten hatte er festgestellt, dass es einen Augenblick gab, da es möglich war, den gesamten Weg zum Tor gerade zurückzulegen, ohne gegen ein einziges Band zu stoßen. Es bedurfte genauesten Timings. Er beruhigte das ROSS mit einem sanften Druck seiner Knie, holte tief Luft und trat in die Pedale. Kaum hatte er sich in Bewegung gesetzt, da bewegten die Tore sich wieder aufeinander zu. Die Lücke zwische n ihnen wurde immer enger, bis sie schließlich nur noch knapp sechs Fuß breit war. Roan strampelte kräftiger. Wenn seine Beobachtungen stimmten, dann würde sie ihren engsten Punkt erreichen, kurz bevor er sie erreichte, und sich in dem Augenblick wieder öffnen, da er hindurch schoss. Wenn seine Berechnungen falsch waren und sie sich noch weiter schloss, würde er zwischen den Paddeln steckenbleiben. Ein Aufprall bei dem Tempo, verbunden mit einem Rückstoß auf so kurze Entfernung, würde ihm wahrscheinlich das Rückgrat brechen. Alles schien indes nach Plan zu laufen, bis er plötzlich über eine kleine Vertiefung im Rasen fuhr. Cruiser schaffte es zwar,
die Spur zu halten, als er über sie hinwegholperte, aber die Erschütterung schien irgendeine Art von Reaktion in dem seltsamen Wald ausgelöst zu haben. Ein runder Pfeiler, breit wie ein Haus, sprang plötzlich vor ihm aus dem Boden und türmte sich genau zwischen ihm und den Toren auf. Cruiser quietschte erschrocken und bäumte sich auf seinem Hinterrad auf. Roan mühte sich, das Ross unter Kontrolle zu bekommen, und drehte sich mit einem artistischen Schwenk einmal auf dem Hinterrad, um einen Sturz zu vermeiden. In akrobatischer Schräglage lenkte er das Rad um den mit einer Bande versehenen Pfeiler herum, der ihn schrill anbimmelte. Die Tore hatten sich unterdessen so weit geöffnet, wie es nur möglich war und sie begannen sich gerade wieder zu schließen. Roan trat wuchtig in die Pedale, schlängelte sich mit einem letzten artistischen Wedler zwischen den glitzernden Felsen und Hügeln hindurch und schoss durch die Lücke in die Dunkelheit. Sofort verloren sie den Boden unter den Füßen. Cruiser stieß einen schrillen Schrei aus. Roan klammerte sich am Lenker fest. Sie fielen mehrere Fuß tief. Cruiser landete hart auf einem glatten Untergrund. Roan schaute nach oben und sah, dass die Öffnung der Grube vollkommen rund war. Er hatte keinerlei Verletzungen davongetragen, obwohl ihm bei dem Fall fast das Herz stehengeblieben war. Er öffnete den Mund, um eine Warnung nach oben zu rufen. Im selben Augenblick fiel Felan fast auf ihn drauf. »Hirngespinste!«, fluchte Felan, den Rahmen seines Rosses umklammernd. Er landete aufrecht, auf beiden Rädern, und das überraschte Fahrrad sprang wie ein Ball noch einmal kurz in die Luft, ehe es zum Stehen kam. »Achtung!«, schrie Roan und stieß Felan von der Stelle weg, an der sie gestanden hatten. Der Rest der Gruppe kam einer nach dem ändern in die Grube geplumpst, begleitet von dem schon vertrauten schrillen Geklimper und Geklirre.
»Meine Sterne!«, japste Bergold, sobald sein Ross zum Stillstand gekommen war. Als der letzte heruntergeplumpst kam, knatterte eine regelrechte Salve von Klickgeräuschen los und an der Decke leuchtete in riesigen roten und gelben Lettern auf: >revO emaG.< Roan konnte die Schrift nicht entziffern. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass sie verkehrt herum war. »Da steht >Game over
»Dieses Arcade-Ding hat uns schön vom Weg abgebracht, nicht wahr? Die Frage ist nur: Sind wir gefallen oder wurden wir gestoßen?« »Sie meinen, Brom steckt dahinter?«, fragte Colenna. Bergold zog die Stirn kraus. »Das wäre mit einem ungeheuren Kraftaufwand verbunden«, sagte er. »Das Arcade ist ein natürliches Phänomen. Es kommt und geht überall im Traumland. Ich bezweifle, dass er so etwas für seine Zwecke nutzbar machen könnte.« »Ich halte das für möglich«, sagte Roan. »Oder vielleicht konnte er es zwar bisher nicht, aber jetzt. Es könnte doch sein, dass der Einfluss des Schmelztiegels zunimmt.« »Eine erschreckende Vorstellung«, sagte Leonora mit großen blauen Augen. »Wir müssen ihn schnappen, bevor sie so mächtig werden, dass wir sie nicht mehr aufhalten können, selbst wenn wir's wollen.« »Dann lasst uns keine Zeit verlieren«, sagte Spar grimmig und führte sie hinaus in den Regen. »Wohin?« Der einzige Weg, der sich anbot, war eine einspurige Straße, die sich hinauf in die Berge oberhalb des Flippertales schlängelte. Sie endete an einem Weg, der dahin zurückführte, von wo sie gekommen waren. Sie folgten der Straße. Die erste Biegung, die sie nahmen, auf leicht abschüssiger Straße, führte sie in eine Sackgasse, die an einem schroff abfallenden Felsvorsprung endete, unterhalb dessen sich dichter Wald erstreckte. Weder Roan noch Lum waren überzeugt, dass sie auf dem richtigen Weg waren, wenngleich genügend Verzerrung in der Landschaft war, um den Versuch gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Sie saßen neben einer kahlen Felswand ab, an deren Fuß ein Quell entsprang. Es schien, als wäre irgendwann ein bereiftes Transportfahrzeug mit der richtigen Art von Reifenprofil hier vorbeigerollt, aber
es hatte keine klare Spur hinterlassen, aus der hervorgegangen wäre, wohin es danach gefahren war. Die Spur hörte neben der Felswand plötzlich auf, als wäre sie abgeschaltet worden. Es gab sogar einen halben Fußabdruck. Roan prüfte den Kies neben dem Abdruck mit einem Zeh. Sein Abdruck lief sofort mit Regenwasser voll. Während der letzten Stunden zumindest war hier nichts vorbeigekommen. »Könnten sie von hier aus geflogen sein?«, fragte Colenna. »Das bezweifle ich«, sagte Roan, während er unter seine Krempe hervor hierhin und dorthin spähte. »Wenn sie vorher nicht geflogen sind, müssen sie einen guten Grund haben, warum sie es auch weiterhin nicht tun, sondern weiter zu Lande reisen. Aber wohin sind sie gegangen?« »Das Land könnte sich verschoben haben«, erwog Misha, während er die Spuren untersuchte. »Ich habe so etwas schon mal bei Gütertrennungen gesehen, wo jeder Partner die Hälfte vom gesamten Besitz erhält.« »Ich glaube kaum, dass Brom mitten in Wocabaht bei strömendem Regen eine Scheidungsvereinbarung ausgehandelt hat«, sagte Felan mit einem verächtlichen Grunzen. »Es gefällt mir hier nicht«, sagte Leonora und raffte ihr Cape noch ein Stück fester um die Schultern. »Es fühlt sich irgendwie... verwunschen an. Irgendetwas stimmt nicht mit dem Land.« »Das ist die Verzerrung«, sagte Lum. »Es kam mir dort oben stärker vor, bevor wir abgebogen sind.« Er zeigte auf die letzte Anhöhe. »Dann sind sie auf der Straße geblieben«, sagte Felan ungeduldig. »Wir haben den falschen Weg gewählt. Was halten Sie davon?« Roan war verwirrt. »Ich könnte schwören, dass wir doch den richtigen Weg genommen haben«, sagte er.
Bergold hob den Saum seines großen Ponchos an und entfaltete die Landkarte. Wasser floss von ihr herunter, als er sie ihnen so hinhielt, dass sie einen Blick auf sie werfen konnten. »Also, das hier ist auf mehrere Meilen nach Osten oder Westen die einzige große Straße. Sie müssen sie nehmen, um weiter nach Norden vorwärtszukommen. Wenn wir auf ihr bleiben, können wir sie kriegen.« »Mein Korporal ist nicht so blöd, wie Sie alle denken«, sagte Spar mit einer ungeduldigen Geste. »Sie könnten irgendwo hier sein.« Er wischte sich den Regen vom Gesicht. »Soldaten! Sucht nach Spuren!« »Boss!«, schrie Mariune. Der Schrei riss Taboret aus tiefem Schlaf. Sie schoss erschreckt hoch. Aller Augen ruhten auf dem großen Söldner, der an der Tür Wacht hielt. »Sie sind da draußen! Sie haben uns gefunden!« »Roan? Hier?« Broms langer Laborkittel flatterte hinter ihm her, als er hinübereilte, um sich zu vergewissern. Er spähte durch das .Guckloch in der Tür zur Rechten. »Der Mann ist wirklich hartnäckig. Sie haben es geschafft, die ersten Rätsel, vor die wir sie gestellt haben, zu überwinden.« »Sie werden versuchen, reinzukommen«, sagte Acton und zückte sein Schwert. »Stecken Sie das Ding weg«, sagte Brom, das Auge nach wie vor am Guckloch. Acton schob die Waffe in die Scheide zurück, doch nicht ohne einen Ausdruck des Bedauerns. »Sie wissen nicht, dass wir hier sind. Diese Festung sieht von außen aus wie ein Berg. Es ist purer Zufall, dass sie hier sind.« »Ja, aber sie gucken schon.« »Wir sollten ihnen den Garaus machen«, sagte Maniune. »Jetzt gleich.«
Taboret starrte den Söldner entsetzt an. Den Garaus machen? Der Prinzessin? All diesen unschuldigen Menschen?« »Unsinn«, sagte Brom zu ihrer großen Erleichterung. Er wandte sich von seinem Beobachtungsposten ab und schaute seinen Henker wütend an. »Ein unangemessener Einsatz von Kraft? Und wie sollen wir dann mit unserem kleinen Spiel fortfahren?« »Ja, aber schauen Sie sie sich doch an«, sagte Acton, während er durch das Guckloch in der linken Tür schaute. »Was ist denn mit ihnen?«, fragte Brom. »Was, wenn sie uns entdecken? Wir sollten sie davon abbringen.« »Nun denn«, sagte Brom mit Belustigung in der Stimme, wenn auch nicht in seiner Miene, »dann sollten wir das mit Köpfchen machen. Warum einen Buick nehmen, wenn eine Fliegenklatsche es auch tut?« »Was ist denn ein Buick?«, fragte Acton. Brom wischte die Frage unwirsch weg. »Wir wenden die Gestalt an. Das sollte reichen, um sie zu verscheuchen, bevor sie unseren Schlupfwinkel entdecken. Viel Kraftaufwand werden wir dafür nicht benötigen. Dowkin, Doolin, ihr übernehmt das! Kommt her!« Die Zwillinge, die gerade mal wieder mitten in einer ihrer privaten Grollsitzungen waren, blickten auf. »Warum gerade wir?«, fragte Doolin. »Wieso müssen ausgerechnet wir zusätzliche Arbeit leisten? Warum nicht irgendeiner von den anderen?« »Weil ihr genügend Kraft habt, um eine kleinere Aufgabe durchzuführen. Jetzt kommt endlich her! Wird's bald!« Die Brüder, die mehr denn je wie zwei Esel aussahen, kamen zu Brom geschlurft. Die beiden Söldner gingen auf sichere Distanz. Sie hatten mittlerweile großen Respekt vor der Macht der Gestalt bekommen, erlebten sie doch täglich, zu was allem sie fähig war. Taboret hatte inzwischen gelernt, die beiden Männer besser zu verstehen. Hatte sie anfangs nur schreckliche
Angst vor ihnen gehabt, so wusste sie jetzt, in einem abgelegenen Teil ihres Bewusstseins - der, wie sie vermutete, Brom gehörte -, dass man sie zahm halten konnte, wenn man ihnen mit Selbstbewusstsein entgegentrat. Widerstrebend hielten Dowkin und Doolin ihre rechte Faust hin. Brom legte seine eigene Hand auf ihre und die weiße Wolke erschien über ihnen. Taboret fühlte, wie ihre eigene Energie angezapft wurde, und konzentrierte sich darauf, sie zu geben, statt sich darüber zu ärgern, dass sie aus dem Schlaf gerissen worden war. Sie konzentrierte sich ganz stark auf den Gedanken, die Anstrengung zu einer gutartigen zu machen, die der Prinzessin oder einem ihrer Begleiter nicht wehtun würde, und hoffte inständig, dass ihr Wille einen Einfluss auf das Ergebnis haben würde. Der Prozess dauerte nicht lange. Brom zerbrach die Verbindung wieder und schickte die Zwillinge zurück in ihre Kojen. »So«, sagte er. »Das wird ihnen das Äquivalent von geistigen Hummeln im Hintern geben. Wir wollen, dass sie sich sofort aufmachen. Außerdem haben wir noch ein paar Ablenkungsmanöver für sie inszeniert, damit sie Energie verschwenden, indem sie einem verworrenen Pfad folgen.« Maniune blieb unbeeindruckt. Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir können sie immer noch allemachen, Boss«, sagte er hoffnungsvoll. Acton bekräftigte dies mit einem heftigen Nicken und legte die Hand an sein Seitengewehr. Broms Lider senkten sich halb über seine glitzernden Augen. »Nicht nötig. Es ist ein Spiel, ein Wettbewerb und wir sind auf der Gewinnstraße. Sie haben unsere Spur mit ziemlich hoher Sicherheit endgültig und unwiderruflich verloren. Sie sind jetzt vor uns. Wir können unbehelligt unser Ziel ansteuern. Geht jetzt schlafen. Wir haben morgen viel vor uns. Wir werden früh aufbrechen.«
»Nichts«, sagte Spar frustriert, als er zu Roan zurückkam. Die Prinzessin und Colenna kauerten im Schütze eines kleinen Felsüberhangs am Rande des Weges und teilten sich einen Regenschirm. Efeu und andere üppig wuchernde Pflanzen boten ihnen Windschutz - so dick wie eine Laube auf der Südwestseite des Weges. »Sie sind spurlos verschwunden.« »Es ist dieser Regen«, sagte Misha. »Wir könnten sie vielleicht wiederfinden, wenn er aufhört.« »Wir müssen eine Stelle für unser Nachtlager finden«, bemerkte Roan. Er sah sich um. »Warum nicht hier?«, fragte Felan und machte eine schweifende Handbewegung. »Das Gelände ist eben. Und von hier aus könnte ich auch gut eine Botschaft an den Palast absenden.« »Das ebene Gelände, auf das Sie hinweisen«, sagte Bergold sehr geduldig, »ist eine öffentliche Straße, mein Freund.« »Es ist eine Sackgasse«, erwiderte Felan. »Hier wird niemand vorbeikommen.« »Ich möchte lieber nicht hier bleiben«, meldete sich Leonora zu Wort, den Griff ihres Regenschirmes mit beiden Händen umklammernd. »Mir gefällt die Atmosphäre nicht. Irgendetwas fühlt sich falsch an. Die Rösser spüren es auch.« »Mir gefällt es selbst auch nicht sehr«, sekundierte Spar. Roan nickte, dabei Regentropfen versprühend. »Irgendetwas Böses ist hier vorgefallen; jedenfalls fühlt es sich so an. Es gefällt mir nicht, dass ich nicht überallhin schauen kann. Gehen wir.« »Ja, wir sollten besser weiterziehen«, sagte Bergold. »Ich bin nass bis auf die Haut und eine Ruhepause käme mir sehr gelegen. Aber nicht hier.« Roan merkte plötzlich, dass er es gar nicht abwarten konnte weiterzuziehen. »Einverstanden«, sagte er und schwang sich
auf Cruiser. »Es geht zwar bergauf, aber die Steigung ist eher sanft.« »Und was ist mit der Botschaft?«, fragte Felan. »Setzen Sie Ihre Botschaft ab und kommen Sie nach«, sagte Roan voller Ungeduld. »Wir dürften leicht zu finden sein. Es gibt nur die eine Straße. Hutchings, Sie bleiben bei ihm.« »Jawohl, Sir«, sagte der Gardist und zog ein klägliches Gesicht. Die Gruppe hatte keine andere Wahl, als weiter dem Regen zu trotzen und bergauf zu strampeln. Der Regen hatte zwischenzeitlich ein wenig nachgelassen, dann aber in voller Stärke wieder eingesetzt. Cruisers Reifen rutschten immer wieder auf dem Kiesuntergrund weg. An der ersten Kreuzung ließ Roan sie nach rechts abbiegen. Der Karte zufolge bewegten sie sich grob in Richtung NordNordost. Der bleigraue Himmel bot keine Orientierungshilfe; er zeigte weder die Sonne noch Kompasspunkte unter den blauen Isobaren. Sowohl der linke Pfad als auch der rechte schienen weiter nach oben zu führen. Roan hatte das Gefühl, als ob die Steigung in dem Augenblick schärfer wurde, als er mit dem Aufstieg begann. Die nächste Biegung bot nur noch weitere steile Anstiege. »Ich kann mich nicht an so hohe Berge auf der Karte erinnern«, schnaufte Bergold. »Ich glaube, ich hatte Recht mit meiner Vermutung«, sagte Misha nach einer Weile. »Diese Berge bewegen sich. Wir müssten eigentlich bergab rollen, aber wir strampeln noch immer bergauf.« »Die Landschaft spielt mit uns«, sagte Colenna stoisch. »Strampelt weiter. Das ist alles, was wir im Augenblick tun können.« Inzwischen wusste Roan nicht mehr, ob er vom Regen oder
vom Schweiß durchgeweicht war. Die anderen ermüdeten zusehends und der Himmel wurde dunkler. Leonora hielt sich wacker und strampelte heldenhaft, aber schließlich besaß sie einfach nicht mehr die Kraft, um ihr goldenes Ross weiter bergan zu wuchten. Roan knotete ein Seil an Schwinns Rahmen und half ihnen, eine besonders giftige Steigung hinaufzukommen, bis auch er endgültig nicht mehr konnte. Alle saßen erschöpft ab und schoben ihre müden Rösser bergauf. Weiter oben sah Roan einen flachen Berggipfel, der von Bäumen mit regenschweren Kronen geschützt war. »Wie war's damit?«, rief Bergold und knuffte ihm von hinten in die Rippen. »Das sieht ganz gut aus«, sagte Roan. »Muss es auch. Ich hoffe nur, es klart bis morgen früh wieder auf.« Auf dem Gipfel angekommen, drehte Roan sich um und ließ den Blick über das Terrain schweifen, das sie gerade durchmessen hatten. Von dieser hohen Warte aus sah die Landschaft in dem Regen ziemlich hübsch aus, wie eine Wasserfarbenmalerei. Die steilen Hänge, die sie sich hinaufgerackert hatten, hatten sich zu grünen und goldenen Wiesen und Senken abgemildert. Er hoffte, dass das nicht bedeutete, dass das Traumland selbst sich gegen sie verschworen hatte, um Brom zu ermöglichen, sein Ziel zu erreichen. Konnte es sein, dass sogar die Schläfer selbst neugierig auf die Theorie des Wissenschaftlers waren? Obwohl es immer noch heftig regnete, gaben sich Roan und die Gardisten die größte Mühe, um der Prinzessin ein angemessenes Obdach zu errichten. Sodann setzten Roan, Misha und Bergold gemeinsam ihren gesamten Einfluss ein, um alle ihre Mäntel und Capes zu einer einzigen großen wasserdichten Plane zu verschmelzen, die dem Rest von ihnen Schutz gegen den Regen bieten sollte. Sie befestigten sie mit Seilen an den Bäumen ringsherum und spannten sie zu einem notdürftigen Dach. Für die Rösser reichte der Platz freilich
nicht ganz aus, sodass diesen nichts anderes übrigblieb, als sich draußen im Regen aneinander zu drängen. »Hoffentlich fangen sie bis morgen früh nicht an zu rosten«, sagte Felan, während er seinem Ross einen letzten Klaps gab. »Es dürfte ihnen eigentlich nichts anhaben«, meinte Lum. »Es sind schließlich Allwettertiere. Meines hat jedenfalls schon Schlimmeres durchgemacht.« Mit ihrem Allzweckfeueranzünder entfachte Colenna ein mächtiges Lagerfeuer und zündete die Kohlenpfanne im Zelt der Prinzessin an. Leonora bedankte sich bei allen und zog sich in ihr kleines Zelt zurück. Die an deren machten es sich rings um das Lagerfeuer bequem dankbar für die Wärme, die es spendete. Sie ließen ihre Oberkleider ein wenig trocknen, bevor sie sich auszogen und in ihre Schlafsäcke krochen. Roans Muskeln schmerzten höllisch. Er dachte an die Tube Salbe in seiner Tasche, aber er war zu müde, um aufzustehen und sich einzureihen. Er lauschte dem Trommeln des Regens auf der Plane und dem Murmeln des Windes in den Wipfeln. »Ich glaub, ich kann mich nie wieder bewegen«, sagte Felan, als er mit einem Seufzer in seinen Schlafsack schlüpfte. »Mir ist schleierhaft, wie Brom mit seiner schweren Last einen solchen Vorsprung auf uns herausarbeiten konnte.« »Wir müssen ihn morgen einholen«, rief ein paar Schritte weiter Spar aus seinem Kommiss-Schlafsack. »Ich habe ein Wörtchen mit diesem Brom zu reden. Ein ganz persönliches Wörtchen - unter Männern.«
17. KAPITEL Ein zartes Klirren weckte Roan. Er war froh, aus dem beunruhigenden Traum zu entfliehen, den er gerade gehabt hatte. Es war der gleiche wie in der Nacht zuvor. Er hatte unter tosendem Beifall mit Dutzenden von Eiern gleichzeitig jongliert. Er wusste, wenn er eines davon fallenließe, würde er die Welt vernichten. Gleichzeitig empfand er sich als einen Schwindler, der sich für den eigentlichen, den echten Jongleur ausgab. Jeden Augenblick, fürchtete er, würde das Publikum den Schwindel durchschauen und ihn ausbuhen. Er horchte. Der Regen hatte aufgehört. Es herrschte fast vollkommene Stille auf dem Berggipfel. Er vernahm lediglich ganz leises Vogelgezwitscher in einem Baum gleich über ihm, aber das war nicht das Geräusch, das ihn geweckt hatte. Die Luft war trocken und duftete nach Blumen - und noch nach etwas anderem. Er sog tief Atem ein. Es war der betörende Duft von heißem Toast und Rührei, der ihn in der Nase kitzelte. Der warme Geruch kam näher, vermischt mit einem unbeschreiblichen, exotischen Parfüm. Er schlug die Augen auf. Leonora stand über ihn gebeugt. Sie trug ihre Reisekleider. Sie kniete sich neben ihn und legte einen Finger auf ihre Lippen. »Möchtest du mit mir frühstücken?«, fragte sie ihn im Flüsterton. Roan nickte. Er schlug seinen Schlafsack auf und rollte sich auf die Füße. Es war kurz vor dem Morgengrauen. Im fahlen, rosafarbenen Licht konnte Roan die Schatten, die die anderen in ihren Schlafsäcken warfen, sehen. Er ging ganz vorsichtig, um sie nicht zu wecken. Die Prinzessin geleitete ihn auf Zehenspitzen zu ihrem Zelt. Im Innern des kleinen Zeltes war ein zierlicher Tisch für
zwei gedeckt. Der warme Schimmer zweier Kerzen fiel auf silberne Wärmepfannen, eine Porzellanschale voller Beeren nebst einem dazu passenden Krug, funkelndes Silberbesteck, eine kristallne Konfitüreschale nebst passendem Löffel, Porzellantassen, spitzenbesetzte Servietten, ein Väschen mit einer einzelnen Rose und eine Wasserkaraffe aus geschliffenem Kristall. Roan half Leonora, Platz zu nehmen, und wartete, dass sie nickte, zum Zeichen, dass auch er sich setzen dürfe. Ihm fiel auf, dass leise Musik spielte, leise genug, um das morgendliche Vogelgezwitscher nicht zu übertönen. »So!«, sagte die Prinzessin, ihre Serviette mit froher Zufriedenheit aufschlagend. »Jetzt können wir ein schönes, gemütliches Frühstück genießen, ohne irgendjemanden damit aufzuhalten. Darf ich dir von den Beeren auftragen?« »Wenn du gestattest«, sagte Roan und griff nach dem silbernen Servierlöffel. Er war voller Bewunderung für sie. Nach zwei Tagen strapaziösen Reisens war sie früh aufgestanden, um ihre Morgentoilette zu machen und dieses königliche Arrangement mit all dem Drum und Dran, das sie von daheim gewohnt war, vorzubereiten. Leonora hielt ihr Versprechen - auf ihre ganz eigene Weise. Sie würde vielleicht in einem Zelt mitten in der gottverlassensten Einöde wohnen müssen, aber sie würde es in vornehmem, königlichem Stil tun. »Das ist das mindeste, was ich tun kann.« »Lass es mich ruhig machen«, sagte Leonora und nahm ihm den Servierlöffel mit einer zierlichen Handbewegung wieder ab. Sie füllte Beeren in zwei Schälchen und goss aus dem Krug reichlich Rahm über beide Portionen. »Wie lange musst du schon wach sein, um das alles vorbereitet zu haben?«, fragte Roan und schaute bewundernd zu, mit welcher Eleganz sie ihre zierlichen Hände bewegte. »Bestimmt mehrere Stunden.«
»Ich bin sicher, ganz so lang war's nicht. Möchtest du Zucker?« »Nur ein bisschen. Und ich bin sicher, dass es Stunden waren«, sagte Roan. »Es ist, als ob ein ganzes Heer von Bedienst -« Er hielt inne. »Nein«, sagte Leonora, sein plötzliches Stocken elegant übergehend. »Nur ich.« Sie griff nach einer silbernen Kanne. Duftender Dampf stieg aus ihrer Tülle. »Kaffee, Tee oder Kakao?«, fragte sie. »Kaffee«, sagte Roan. Sie schenkte ihm Kaffee ein, und nach einer kurzen Pause, in der die Silberkanne sich leicht verdickte und sich eine breitere Tülle zulegte, sich selbst Kakao. Beides duftete ambrosisch. Roan trank einen kleinen Schluck und seufzte wohlig. »Köstlich!« Leonora strahlte ihn zwischen den Kerzen hindurch an. »Du siehst bei Kerzenschein fürwahr wunderschön aus, meine Liebe«, sagte er. Das Grübchen erschien in ihrer Wange. »Danke. Du bist sehr galant für eine so frühe Stunde.« »Du inspirierst mich halt«, sagte Roan. Hastig aß er einen Löffel Beeren. »Wünschst du dir nicht, du könntest hinter Brom herfliegen, so wie du es getan hast, als du das letzte Mal nach Mnemosyne zurückgekehrt bist?«, fragte Leonora, wobei sie ihn neckisch über ihre Schokoladentasse hinweg anschaute. »Nein«, sagte Roan, der den intimen, fast zärtlichen Klang ihrer Stimme ebenso sehr genoss wie den köstlichen Geschmack der Beeren. Ihr Streit vom Vortag war vorbei, vergeben und vergessen. Er war glücklich. »Ich kann mir beim besten Willen nichts vorstellen, was mir mehr Freude gemacht hätte als diese Mission.« »Trotz all der Gefahren, die sie mit sich bringt, trotz der
Furcht, dass dies das Ende des Traumlandes bedeuten könnte?« »Ich würde mit Freuden auf allen Komfort verzichten - für einen Augenblick wie diesen, wo ich mit dir allein sein kann«, sagte Roan, sein ganzes Herz in seine Worte legend. »Wenn die Welt jetzt unterginge, hätte ich nicht das Gefühl, irgendetwas versäumt zu haben.« Leonora schüttelte ungehalten den Kopf, beunruhigt von einem Gedanken, der ihr plötzlich gekommen war. Roan nahm ein Stück Brot und knetete es mit Daumen und Zeigefinger zu einem Taler, den er Leonora anbot. Sie nahm ihn mit einem leisen Schmunzeln über diesen kleinen Brauch aus ihrer Kindheit entgegen, aber ihr Gesichtsausdruck blieb besorgt. Roan wartete geduldig. Schließlich brach sie das Schweigen. »Roan, ich habe Angst.« »Ich auch, meine Liebe«, sagte er. »Wir können nur alles versuchen, was in unserer Macht steht.« »Wir müssen mehr als das«, beharrte Leonora. »Wir müssen erfolgreich sein.« Roan nickte resolut. »Dann werden wir das auch. Wenn ich es schaffe, Brom einzuholen, wird nichts mich daran hindern, ihn davon abzuhalten, seinen furchtbaren Plan in die Tat umzusetzen.« »Und mich auch nicht«, sagte Leonora mit einem zaghaften Augenaufschlag. »Ja«, begann Roan mit entschlossener Stimme. »Du bist Teil dieses Teams. Übrigens, ich habe ein Geschenk für dich.« Leonora schnurrte vor Entzücken, als er ihr die kleine weiße Schachtel überreichte. Sie löste das Band und er bewunderte die glatte Haut ihrer Wange und den zarten Schwung ihrer Wimpern im Schein der Kerzen. »Du liebe Güte, was ist das?« Sie blickte mit einem
Augenzwinkern zu Roan auf, als sie das Taschenmesser aus seinem Wattenest lupfte. Sie klappte aufs Geratewohl eine der Klingen heraus; es war eine Fünfzehn-Zoll-Schrotsäge. Vorsichtig strich sie mit dem Finger über einen der scharfen Zähne. »Nicht gerade das übliche Geschenk für eine junge Dame.« »Aber sehr passend für eine Gefährtin und Partnerin«, sagte Roan. Leonoras Wangen erröteten vor Freude. »Ich muss ein ernstes Wort mit meinem Vater reden«, sagte sie unvermittelt. »Es ist absurd, dass er dich so um meine Hand zappeln lässt. Er macht dir überhaupt keine Hoffnungen. Ich will das nicht. Wo finde ich einen Prinzen, der all die gleichen guten Eigenschaften hat wie du? In der Wachwelt vielleicht? Dass ich nicht lache!« Sie lachte. Ihr Lachen weckte die anderen. »Ein Witz?«, fragte verschlafen Bergolds Stimme. »Ein privater«, rief Roan, über den Tisch hinweg Leonora anlächelnd. »Oh. Oh! Das sieht aber gut aus!«, sagte Bergold. Er lugte in das Zelt. Mit seinem glatten, runden Gesicht, dem lockigen Haar, dem längsgestreiften Nachthemd und der Nachtmütze sah er aus wie ein Riesenbaby. »Lass es dir schmecken.« »Danke, mein Freund«, sagte Roan. Er schaute Leonora an, deren Augen groß und dunkel vor Rührung waren - und wunderschön. »Das werd ich.« Der Historiker nahm seine Tasche und bahnte sich seinen Weg quer durch das Lager zum Waschbereich. Roan wandte den Blick wieder auf Leonora. Ihre Augen, von einem gedankenvollen Dunkelblau ausgefüllt, waren auf ihn gerichtet. »Armer Roan«, sagte sie. »Nicht nur, dass du uns führen musst, du musst auch noch mit unseren Hoffnungen und Ängsten und Launen fertigwerden.«
»Und mit meinen eigenen dazu«, sagte er. »Ich befürchte fast, dass diese ganze Mission zu nichts führt. Einige der anderen denken das auch. Ich kann es jedesmal, wenn ich eine Entscheidung fälle, in welche Richtung wir uns wenden sollen, an Felans Blick sehen. Er hält mich für einen Betrüger. Ich bin der einzige von uns, der Brom woanders als in Mnemosyne gesehen hat. Ich könnte genausogut sein Agent sein, der euch an der Nase herumführt, bis er es schafft, den WECKER losschrillen zu lassen - zum Guten oder zum Schlechten.« »Unsinn«, sagte Leonora. »Ich weiß, dass du aufrichtig und redlich bist. Ich sehe, wie du dich sorgst und quälst. Du bist ein guter Führer, ein besserer, als du glaubst. Nochmals vielen Dank für dieses schöne Ding«, sagte sie und hielt das blaue Taschenmesser hoch. »Es bekommt einen ganz besonderen Ehrenplatz.« Sie zog das kleine Goldmedaillon mit dem eingravierten großen L aus dem Ausschnitt ihrer Seidentunika und klappte es auf. Roan schaute hinüber. Es war ein ganz besonderes Medaillon, ein Geschenk ihrer einzigen Tante, der Herzogin von Elysien, einer Frau, die er sehr verehrte, obwohl sie ihm in seiner Kindheit des öfteren was mit dem Kochlöffel auf die Pfoten gegeben hatte. Leonora bewahrte ihre besonderen persönlichen Schätze in dem kleinen Schmuckstück auf. »Erinnerst du dich noch an die hier?«, fragte sie und zog eine zerknüllte und fast vertrocknete Blumenkette aus dem Medaillon hervor. »Die hast du an meinem sechzehnten Geburtstag für mich gemacht. Ich hab's dir nie gesagt, aber ich glaube, sie gefiel mir mehr als alle anderen Geschenke, die ich an dem Tag bekam.« Roan, der sich an einen Sommertag voller Erdbeerer mit Schlagsahne, Luftschlangen, Girlanden und Ballons, an einen prachtvollen, romantischen Sonnenuntergang und seinen ersten Kuss erinnerte, schüttelte erstaunt den Kopf. »Was hast du sonst noch alles da drin?«
Sie zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier heraus, und Roan erkannte darin den Liebesbrief wieder, den er ihr während seiner ersten selbstständigen langen Reise als Investigator des Königs geschrieben hatte. Leonora entfaltete ihn und las die wenigen Zeilen still noch einmal für sich. Ihre Lippen öffneten sich zu einem sanften Lächeln. Roan brauchte den Brief nicht noch einmal zu lesen, um sich an das zu erinnern, was er geschrieben hatte. Sie faltete ihn wieder zusammen und legte ihn mit einem zarten Klaps neben sich auf den Tisch. »Ich hatte damals Angst, du würdest vielleicht nie mehr zurückkommen«, sagte sie. »Und ich hatte Angst, ich würde es nicht zurück schaffen«, gestand Roan. »Ich glaube, das war auch der Grund, warum ich mich traute, so viel zu sagen. War ich zu vermessen?« »Nicht vermessen genug, wie ich fand«, sagte Leonora, schelmisch eine Braue hochziehend. Das kleine goldene Döschen enthielt außerdem ein hübsches Portrait ihrer Eltern, eine winzige juwelenbesetzte Brosche, eine Rolle Pfefferminz, ein Parfümfläschchen und einen Diamantohrring. »Dahin hatte ich den also verkramt!«, rief sie, den Ohrring mit Daumen und Zeigefinger aufhebend. »Den suche ich schon seit Monaten! Und dabei lag er die ganze Zeit in meinem Medaillon!« »Den Schläfern sei Dank«, sagte Roan. Er verputzte den letzten Bissen von seinem Toast. »Wir sollten langsam mal los. Die Sonne geht gleich auf. Ich muss die anderen aus dem Bett scheuchen.« Er schaute ihr dabei zu, wie sie ihre Schätze wieder in das Medaillon zurücksteckte, das Messer als letztes. »Ich bin beeindruckt, was da alles reinpasst«, sagte er. »Ach, das ist noch gar nichts«, erwiderte Leonora. »Du solltest mal in Colennas Handtasche schauen.«
»Das hab ich schon einmal, danke«, sagte Roan mit einem Grinsen. »Es geht das Gerücht, dass sie verheiratet war und dass ihr Mann da reingefallen ist, als er nach einem Taschentuch suchte und bis heute noch irgendwo da drin steckt.« Leonora bekam einen sentimentalen Ausdruck in den Augen. »Glaubst du, sie und Spar könnten heiraten? Er ist ein guter Mann und sie ist so furchtbar nett.« »Ich hoffe es«, sagte Roan. Er nahm ihre Hand und küßte sie. »Nach meiner Erfahrung ist sie stets auf alle Eventualitäten vorbereitet, noch vor allen anderen. Wie ich sie kenne, hat sie die Hochzeitsfeier wahrscheinlich schon minutiös durchgeplant. Er weiß es bloß noch nicht.« Leonora lachte, und Roan stand auf, immer noch ihre Hand haltend. Es gab noch viel zu tun, aber es widerstrebte ihm, sie zu verlassen. Er fühlte sich gefestigt und bestärkt durch ihre Wertschätzung und war glücklich und froh über die außerordentliche Mühe, die sie sich gemacht hatte, sich in die Gruppe einzufügen. Er liebte sie wirklich sehr. Sie inspirierte ihn immer wieder aufs Neue. Das mindeste, was er tun konnte, war, ihrem Beispiel zu folgen. Er wollte gehen und sich für den Tag frisch machen und dann die Gegend ein wenig erkunden, bevor die anderen bereit zum Abmarsch waren. Er beugte sich zu ihr hinunter und küßte noch einmal ihre Hand. Sie war warm und weich und an einem Finger klebte ein winziger Klecks Himbeermarmelade. Er straffte sich und blickte ihr tief in die Augen. »Ich ... ich hoffe, sie werden so glücklich werden, wie du mich machst.« Leonora stand auf und nahm ihn in die Arme und er beugte sich und berührte ihre Lippen mit seinen. Ihr Haar fühlte sich wie Seide unter seiner Hand an, und die Kurven ihres Rückens schmiegten sich in seine Arme, als wären sie ein einziges Stück
warmen, liebenden Fleisches. Roan hatte das Gefühl, als zerplatzten; Feuerwerkskörper und erblühten zu prachtvollen, himmelfüllenden Kunstwerken. Und er hörte tosende Orchestermusik, als sie sich küßten. »Schon gut! Es reicht!«, protestierte Felan. Er saß aufrecht in seinem Schlafsack und hielt sich die Ohren zu. »Hört auf damit! Ich bin wach! Bei den Schlafgöttern, es ist noch vor Sonnenaufgang!« »Und wohin nun?«, fragte Spar, als alle kurz nach Sonnenaufgang abmarschbereit waren. Lum fing an, nach der Fährte Ausschau zu halten. »Wir halten uns wieder nach Nordosten«, sagte Roan. Er fühlte sich nicht sonderlich sicher mit dieser Entscheidung und das war ihm offenbar anzusehen. »Unser Weg müsste die ganze Zeit bergab gehen, nach gestern Abend.« »Woher wollen Sie das wissen?«, fragte Lum. Sein ehrliches Gesicht schien verwirrt. »Es gibt keine Verzerrung oder Merkwürdigkeit, der wir folgen könnten. Noch irgendwelche Spuren.« »Nun, es ist halt die einzige Hauptstraße in dieser Gegend«, sagte Roan, dem es widerstrebte, seine Erwägungen zu erläutern. »Brom ist aus dieser Richtung gekommen, und er muss auf dieser Straße weitergehen, falls er nicht vorhat, umzukehren und fast die ganze Strecke bis zur Brücke zurückzugehen. Ich bezweifle, dass er sich die Zeit nehmen will, noch einmal den gleichen Weg zurückzugehen, den er gekommen ist.« »Und woher wollen Sie das wissen?«, fragte Felan misstrauisch. »Ohne irgendwelche Spuren oder Hinweise?« »Schauen Sie sich doch einmal die Landkarte an«, sagte Roan. Bergold hielt sie Felan zuvorkommend hin, aber der winkte unwirsch ab.
»Ich werde diese Reise nicht weiter mitmachen, wenn Sie mir nicht wenigstens einen handfesten Anhaltspunkt liefern.« Leonora stand daneben und ermunterte ihn stumm mit den Augen. Ihr Reiseumhang war unter dem Kinn zugeschnürt und ihr gesamtes Gepäck ruhte bereits auf dem Rücken ihres Rosses. Sie konnte ihm nicht helfen und das wusste er. Wenn er ausschließlich auf ihre Unterstützung baute, würden die anderen ihn niemals für voll nehmen. Trotzdem war er unglücklich darüber, dass seine Führerschaft angezweifelt wurde. Er hasste es, im Rampenlicht zu stehen. Es wäre umso vieles leichter gewesen, wenn er allein hätte reisen können. Er war immer dann am besten, wenn er allein im Auftrag des Königs reiste, denn wenn er falsch abbog oder eine falsche Entscheidung traf, war niemand anders davon betroffen. Außerdem vermochte er, auf sich allein gestellt, ein Geheimnis sowohl zu kennen als auch zu bewahren, etwas, das nicht passieren konnte, wenn er ihnen erzählte, warum er wusste, was er tat. »Vertrauen Sie mir, Meister Felan«, sagte er, so viel Zuversicht versprühend, wie er konnte. »Es ist nur logisch. Er weiß, dass wir ihm auf den Fersen sind. Er muss zusehen, dass er so schnell wie möglich sein Ziel erreicht, ohne irgendwelche Umwege.« Aber Felan war nicht überzeugt. Er fuhr fort, Roan mit seinen haselnussbraunen Augen anzustarren, so als ginge ihm das Wort >Missgeburt< durch den Kopf. Colenna und Bergold warteten einfach nur. Es fiel schwer, sich daran zu erinnern, dass erst zwei Tage vergangen waren und er musste sich als Führer eindeutig erst noch das Vertrauen seiner Gruppe verdienen. »Wir haben uns die ganze Zeit nach Spuren und Fährten gerichtet«, sagte Felan. »Warum sollen wir jetzt plötzlich blind drauflos marschieren?«
»Wir marschieren nicht blind drauflos«, gab Roan schließlich zu. Die Wahrheit zu verraten, konnte womöglich die Quelle seiner Hinweise gefährden. Er setzte zum Sprechen an, hielt erneut inne und biss sich auf die Lippe, unschlüssig, und traf dann, angesichts des Zweifels, den er in Spars und Felans Augen sah, seine Entscheidung. Er winkte sie zu sich und vergewisserte sich, dass kein Lauscher in der Nähe war, der mithören konnte. »Also«, begann Roan. »Ich erhalte seit einiger Zeit Mitteilungen von ... jemandem vor uns. Ich habe heute Morgen noch nichts von ... dieser Person gehört, aber mehrfach eindeutige Hinweise gefunden. Ich habe im Augenblick zwar keine handfeste Spur, aber ich weiß sehr wohl, in welche Hauptrichtung sie sich bewegen. Wir können sicher sein, dass wir die Spur bald wiederfinden. Es gibt in dieser Region nur eine begrenzte Anzahl von Straßen, die in der Lage sind, sie zu tragen. Nötigenfalls können wir uns in mehrere Gruppen aufteilen, um alle Straßen abzudecken.« »Von jemandem vor uns?«, fragte Felan. Der Rest der Gruppe starrte Roan mit offenem Mund an. »Sie meinen, jemand aus Broms Gruppe?« »Ein Spion?«, fragte Spar. »Sie haben einen Spion in Broms Lager?« »Einen Freund«, sagte Roan. Spar fing an zu lachen. »Sie gerissenes Bürschchen, Sie.« »Hauptmann Spar!«, rief Leonora schockiert. »Entschuldigung, Eure Hoheit, ich bitte um Verzeihung«, sagte der Hauptmann der Garde, immer noch mit einem Grinsen in seinem zerklüfteten Gesicht. »Und Sie haben uns die ganze Zeit kein Sterbenswörtchen davon gesagt. In Ordnung. Dann folgt meinem Führer. Gardisten! Aufgesessen!«
18. KAPITEL Mittag. Taboret fühlte, wie die Sonne ihr aus einem unerbittlichen Himmel auf den Kopf brannte. Wenigstens brauchte sie nach ihrer langen Schicht vom Vortag zumindest für ein paar Tage den WECKER nicht mitzutragen. Diese Freiheit bedeutete, dass sie als Bauarbeiterin eingesetzt werden konnte. Sie wusste nicht mehr, wann sie sich das letzte Mal richtig wohl und ausgeruht gefühlt hatte. Zum Glück schien ihr Körper, schlank und stark, wie er war, gut gerüstet für harte körperliche Arbeit. Ihre sonnengebräunten Arme, entblößt bis zu den Schultern, waren muskulös. Ein ziemlicher Unterschied zu dem bleichen, schlaffen Akademikerkörper, den sie gewöhnlich in Mnemosyne ausfüllte. Sie verdrängte immer wieder den Gedanken aus ihrem offenen Geist, dass es kurzsichtig von Brom war, Roan an einem Ort, an dem es nur eine Straße gab, vorzulassen. Nun mussten sie sich ihre eigene Straße durch unwegsames Terrain bahnen, um ihren Vorsprung wiederzuerlangen. Das Formen ihres Nachtlagers hatte eine Menge Schmelztiegelkraft aufgebraucht; die Aufgabe, die jetzt vor ihnen lag, sog die Gestalt bis zur Neige leer und schürfte gierig noch tiefer, gewissermaßen durch den Boden des Fasses hindurch. Aber es war zwecklos, Brom zu behelligen. Er hatte schon genug Dinge am Hals, die ihn ärgerten, da brauchte er nicht noch zusätzlichen Kummer von ihr. Der Boden hier war felsig, aber auch brüchig, fast bar jeder Vegetation. Bolmer hatte eine Ablagerung von Nebulosität in der engen Schlucht entdeckt. Die Lehrlinge gruben sie aus und schusterten daraus einen passablen Fahrdamm über die hohen Spitzen der Felsen zusammen. Nebulosität fühlte sich angenehm und weich unter den Füßen an, oder besser: unter den Rädern. Als Bestandteil des Fahrdamms sah das meiste
davon wie schwarzer Teerbeton aus, aber anfühlen tat es sich wie Schaumgummi. Mit riesigen, überdimensional aufgeblasenen Reifen an ihren aufgemotzten Fahr- und Motorrädern kurvten diejenigen Lehrlinge, die das Glück hatten, nicht den WECKER schleppen zu müssen, über die hüfthohen Felsbrocken und gähnenden Schlünde hinter die Trage, um die bereits befahrenen Nebulositätssegmente aufzusammeln und nach vorn zu transportieren, wo sie wieder für den nächsten Streckenabschnitt drangestückelt wurden. Taboret schätzte, dass sie jedes der federleichten Segmente schon mindestens tausendmal in der Hand gehabt hatte. Es war nicht so sehr das Tragen, das ihr auf den Geist ging, als vielmehr das ständige Bücken, Aufheben und wieder Bücken. Das ging unendlich langsam vonstatten und sie langweilte sich zu Tode. »Pass auf!«, schrie Glinn. Taboret fühlte, wie der WECKER klingelte, noch bevor sie es tatsächlich hörte und riss ihr scheuendes Ross von dem Nebulositätsfahrdamm herunter und auf den nächstbesten echten Fels. Ein wilder Schrei ertönte, unmittelbar gefolgt von einem schrecklich schrillen Quieken. Sie spürte Schrecken und Entsetzen, aber es war nicht ihr eigenes. Sie riss ihr Ross herum und brauste hin, um zu sehen, was passiert war. Bolmer lag auf der Sohle des Tals, ein Dutzend Fuß unter ihnen. Sein Ross war mit ihm in die Tiefe gestürzt und hing, in zwei Stücke zerbrochen, über dem Grat eines scharfkantigen Felsbrockens. Sie drehte die Maschine ihres Bikes hoch und fuhr zu ihm hinunter. Basil warf das Nebulositätssegment, das er gerade nach vorn trug, beiseite und klomm über die Felsen. »Was ist passiert?«, rief sie. »Er wollte sich gerade hinüberbeugen, um ein Segment vorne dranzulegen, als plötzlich der WECKER klingelte«, sagte Glinn grimmig. Er schwang sich von seinem Motorrad
und kletterte hinunter, um Bolmer zu helfen. »Es hat sich aufgelöst und er verlor das Gleichgewicht.« Bolmer setzte sich gerade auf. Vorsichtig betastete er seinen Kopf mit den Fingerspitzen. Er hatte rasendes Kopfweh und eine ganze Latte anderer Schmerzen, die sich durch das unsichtbare Band zu den anderen fortpflanzten. Taboret stieß ein Zischen aus, gleichermaßen vor Schreck wie vor Schmerzen. Nebulosität war äußerst empfindlich gegen den Klang von Glocken und reagierte sehr merkwürdig darauf. Manchmal veränderte sie sich nur, meistens aber löste sie sich schlicht in Nichts auf. »Wir können nichts dafür«, sagte Doolin wütend und schob seine kantige Kinnlade vor. Er war an der Vorderseite der Trage festgegurtet. »Wir sind über eine vorstehende Fuge gestolpert. Dieser Untergrund ist nicht glatt genug.« »Nein«, pflichtete Dowkin ihm bei. »Jeder versucht uns hier ein Bein zu stellen.« Schock und Empörung rasten wie eine Welle durch das unsichtbare Band. Die Brüder spürten es und saßen mit verschränkten Armen und zusammengepressten Lippen da, als alle sie anstarrten. »Wie könnt ihr es wagen, dazusitzen und zu versuchen, euch reinzuwaschen, wenn er hätte umkommen können!«, schrie Taboret sie an. Sie wollten cool wirken, aber sie konnte spüren, dass sie Angst hatten. »Genug!«, rief Brom und richtete sich in den Steigbügeln seiner Maschine auf. Er erschien mehr verärgert und genervt denn besorgt und sie alle fühlten sein Missfallen. Taboret schluckte und verstummte. »Sie, Sie und Sie«, wies er sie und die beiden ihr am nächsten stehenden Lehrlinge an, »helfen Glinn, ihn aufzuheben und sein Ross wieder hier hochzuschaffen. Wir werden den Schmelztiegel bilden und die erforderlichen
Reparaturen durchführen.« Mithilfe der restlichen Nebulosität fertigten sie Leitern und Traggurte und hievten Bolmer behutsam aus der Schlucht und betteten ihn auf eines der intakten Fahrbahnsegmente. Glinn half ihm, sich flach hinzulegen und ermittelte das Ausmaß seiner Verletzungen. Abgesehen von seinen Blessuren am Kopf hatte er sich auch noch ein Bein gebrochen. Er stöhnte vor Schmerzen und mit jedem Schmerzstich veränderte er sein Aussehen. »Lass das«, sagte Carina und legte die Hände auf ihn, damit er still lag. Sie verfügte über umfassende Erste-HilfeKenntnisse. »Ich kann dein Bein nicht richten, wenn du ständig herumzappelst.« »Es tut weh, verflucht nochmal!«, beschwerte er sich. »Alles tut weh.« Taboret kniete sich neben ihn und spendete ihm ein wenig von ihrer persönlichen Kraft, um die Schmerzen zu lindern und er schaute sie mit dankbaren Augen an. »So, das ist schon besser«, sagte Carina. Sie bedeutete Taboret, sich auf Bolmers Brust zu setzen, und gemeinsam zogen sie und Glinn an Bolmers Bein, bis der Knochen mit einem schnappenden Geräusch wieder einrastete. Sodann nahm sie ein wenig Nebulosität und formte daraus einen Gipsverband, den sie ihm anlegte. »Können wir nicht ein wenig Gestaltenergie verwenden, um den Knochen wieder zusammenzufügen?«, fragte sie Brom, der ihre Arbeit auf dem nächsten Fels stehend überwachte. »Natürlich. Und wir müssen auch sein Fahrrad wieder zusammenfügen«, erwiderte er. Er streckte die Hand aus und die anderen scharten sich um ihn. Taboret warf über die Schulter einen Blick auf ihn, als sie ihre Position in der Formation einnahm. Seine Augen waren halb geschlossen. Er dachte überhaupt nicht an den armen Bolmer. Er war mit
seinen Gedanken ganz woanders, nämlich beim Ersinnen neuer tückischer Fallen. Es schauerte sie. Nach der Reparatur wimmerte Bolmers Ross und hielt sich dicht bei seinem Herrn, misstrauisch gegen alles, was sich bewegte. Es klapperte die anderen Reittiere bissig an, wenn sie ihm zu nahe kamen. Bolmer selbst sah aus, als hege er einen soliden Groll. Taboret wusste, dass dieser sich gegen die Brüder richtete, aber wegen des Bandes teilten sie alle die Schuld. »Bolmer, seien Sie so gut und bleiben Sie neben der Trage und lotsen Dowkin und Doolin, damit sie nicht noch einmal über einen Hubbel stolpern«, befahl Brom. »Dafür werd ich schon sorgen«, sagte Bolmer grimmig. »So, und jetzt alle an die Arbeit! Wir haben heute noch ein ordentliches Stück Weges vor uns, wenn wir im Zeitplan bleiben wollen.« Taboret, die gerade ein nebulöses Straßenbelagsegment aufhob, das so groß war wie sie selbst, hatte ein kurzes mentales Bild von einer Landkarte. Ein X in der Mitte von Nirgendwo zeigte ihre momentane Position an. Die Entfernung, die hinter ihnen lag, von dem Punkt aus, an dem sie die Hauptstraße verlassen hatten, war größer als die bis zu dem Punkt, an dem sie wieder auf sie stoßen würden. Sie war erleichtert, bis ihr geistiges Auge die Zeichenerklärung zu den betreffenden Entfernungen las. Was sie sah, ließ sie mit den Zähnen knirschen. Ihr Ziel war immer noch sehr, sehr weit entfernt, besonders wenn sie jede einzelne Elle der Wegstrecke mühsam selber erschaffen mussten. Da einige der Fahrbahnsegmente unwiederbringlich verschwunden waren, als der WECKER geklingelt hatte, waren die Lehrlinge gezwungen, weitere Nebulosität zu finden und zu formen. Lurry entdeckte solche nicht allzu weit von ihnen entfernt. Diese spezielle Ablagerung war indes widerspenstig;
sie wollte unbedingt ihre Form von Rasen mit Blumen drauf behalten. Die Lehrlinge schafften es zwar, sie zu rechteckigen Segmenten umzuformen, aber die wurden mit jedem Mal, das sie hin und her getragen wurden, brüchiger. Acton und Maniune hielten zu beiden Seiten Wacht und schauten ihnen bei der Arbeit zu. Nachdem sie wieder einmal ihre Last abgeladen hatte, schaute Taboret auf, als sie sich zurück auf ihr motorisiertes Fahrrad schwang. Maniune bemerkte es und zwinkerte, als sich das nächste Mal ihre Blicke trafen, übertrieben deutlich mit dem Auge. Taboret blickte sofort weg, wütend auf sich selbst, dass sie überhaupt einen Blick an die beiden Söldner verschwendet hatte. »Warum können uns diese Kraftmeier nicht helfen?«, fragte Gano, als sie an Taboret vorbeikam, während diese gerade von hinten ein neues Segment holte. »Sie sind größer und kräftiger als wir alle«, pflichtete ihr Basil bei, als er seinerseits mit einem Segment in jeder Hand an ihr vorbeikam. »Sie haben ihren eigenen Job zu erledigen«, sagte Brom. (»Ja, faul herumhängen«, murmelte Basil.) »Wenn wir ein Stück näher an die Straße herangekommen sind, werden sie losfahren und Roan daran hindern, uns zu passieren, bis wir wieder auf ihr sind. Es wird eine Übung im Ablenken sein.« »Wenn sie überhaupt zur Hauptstraße gelangen können«, sagte Glinn mit einem Blick zurück auf den Weg, den sie gekommen waren. Da sie die Straße mitgenommen hatten, gab es hinter ihnen keine Fahrbahn. Es würde eine mühselige Plackerei werden, wenn auch nicht so anstrengend wie ihr jetziges Vorankommen. Brom spürte die heftige Verzweiflung und musterte sie alle mit forschendem Blick. Jeder widmete sich energisch seiner jeweiligen Arbeit und mied seinen Blick. Nicht zum ersten Mal wünschte sich Taboret, sie wäre wieder in Mnemosyne und würde das Schloss der Träume vermessen.
»Mamovas!«, rief Brom. »Ich möchte, dass Sie Maniune und Acton begleiten. Wir brauchen Verzögerungstaktiken, die Roan daran hindern, auf dem jenseitigen Teil der Hauptstraße auszukommen, bevor wir ihn erreicht haben. Sie werden mit der Fähigkeit ausgestattet, Kraft von uns abzuziehen. Nutzen Sie Ihre Erfindungsgabe.« Mamovas grinste und zog ihre dünnen schwarzen Augenbrauen hoch. Taboret wusste, dass es ihr Vergnügen bereiten würde, den nichtsahnenden Verfolgern Fallen zu stellen. Sie hatte einen bösartigen Sinn für Humor, der an Sadismus grenzte, und würde in der Lage ein kompliziertes Spiel erkennen. »Warum nicht ich, Herr?«, fragte Taboret aus einem spontanen Impuls heraus und hob die Hand. »Sie?«, fragte Brom. »Ja, Herr. Ich würde gute Straßensperren bauen. Ich habe eine Menge guter Ideen.« Sie versuchte, nüchtern und geschäftsmäßig dreinzuschauen und präzise und logische Gedanken zu denken. Brom schaute fast freundlich auf sie herab. »Ihr Ehrgeiz ehrt Sie, aber vielleicht ein andermal«, sagte er. »Ich möchte in dieser speziellen Situation lieber auf Mamovas' besondere Talente zurückgreifen.« »Ich danke Ihnen, Herr«, sagte Taboret und stob auf ihrem Ross davon, um ein neues Fahrbahnsegment zu holen. Sie wollte nicht, dass irgendjemand die Besorgnis in ihrem Gesicht sah. Wie konnte sie die Prinzessin vor Gefahr warnen, wenn sie nicht einmal vor Ort sein würde? Sie hoffte nur, dass Roan ein so großer Überlebenskünstler war, wie es die Gerüchte im und um den Palast herum besagten. Sie hoffte, er würde all sein Können, all seine Fähigkeiten und Fertigkeiten einsetzen, um die Prinzessin vor Schaden zu bewahren. Viele Segmente später sah Taboret erneut das geistige Bild
der Landkarte vor sich. Das X war inzwischen viel näher daran, sich mit der Straße zu schneiden. »Es wird Zeit, dass ihr losfahrt«, wies Brom die Söldner an. Er winkte Mamovas zu sich. Sie fügte ihr letztes Segment Nebulosität an und kam dann auf ihrem mechanischen Reittier an Broms Seite gebraust. »Zu dem Zeitpunkt, da Sie ihre Arbeit erledigt haben und wieder zu uns stoßen, werden wir nur noch ein ganz kurzes Stück vor der Hauptstraße sein. Ich muss sicher sein können, dass wir ausreichend Zeit haben, einschließlich einer zusätzlichen Marge für Fehler und Irrtümer.« »Jawohl, Herr«, sagte Mamovas. Sie sonnte sich ganz unverhohlen in der Wichtigkeit, die der Auftrag ihr verlieh und das Kribbeln der Vorfreude übertrug sich auch auf Taboret. Mamovas würde die erste sein, die eine Fernsteuerung des Schmelztiegels ausprobierte. Das Gefühl ließ ein wenig nach, als die drei Rösser über die Felsbrocken davonholperten. Auf eine Weise war Taboret erleichtert, da Acton und Maniune ihr nun nicht mehr ständig über die Schultern schauten, aber es bedeutete auch, dass auf die restlichen Lehrlinge ohne Mamovas nun erhebliche Mehrarbeit zukam. Die Landkarte verzeichnete noch ein gutes Stück schwierigen Terrains zwischen ihrem derzeitigen Standort und der Hauptstraße. »Zeit für die Ablösung«, kündigte plötzlich Doolin an. Brom blickte von seiner Karte auf. »Nein, es ist noch nicht so weit.« »Doch, ist es wohl«, beharrte Doolin. Er nahm die Hände von den Tragholmen und verschränkte die Arme. »Ist es wohl«, echote Dowkin. »Wir haben gestern Abend Überstunden für die Gestalt gemacht und außer uns brauchte das kein anderer zu tun.« »Wir haben errechnet, dass der zusätzliche Aufwand an
Anstrengung eine Stunde und zwanzig Minuten ausmacht, und wir fordern, dass unsere Schicht um diese Zeit gekürzt wird«, sagte Doolin. Er zog eine Uhr aus seiner Tasche und warf einen Blick auf das Zifferblatt. »Das wäre vor fünf Minuten gewesen; wir haben also schon wieder eine Weile über die Zeit gearbeitet, ohne uns zu beschweren.« Broms seltsames Ross trug ihn in einer Schleife zurück zu den Brüdern. Seine Reifen schwollen oder schrumpften in ihrer überdimensionierten Gabel je nach der Beschaffenheit des Geländes, sodass der Oberste Wissenschaftler stets auf Augenhöhe zu den Brüdern ritt. Taboret vermutete, dass dies den Zweck hatte, dass er sie effektvoller anstarren konnte. Seine Augen waren von hinten beleuchtete Rubine. »Meine Herren«, sagte er mit gefährlich ruhiger Stimme. »Ihr Betragen ist nicht kooperativ. Denken Sie an Ihre Mitlehrlinge und wie hart sie sich abplacken.« »Keiner denkt an uns«, erwiderte Dowkin. »Ich kann sie hören. Und Sie können sie auch hören.« »Da hat er Recht«, stimmte Doolin ihm zu. »Und jetzt starren Sie uns nicht so an, Boss!« Er reckte sich vor Brom auf, sodass die Trage auf seiner Schulter sich leicht verschob. »Wir können es nicht haben, wenn uns jeder so in unseren Geist glotzt!« »Das ist Teil des Projektes«, erklärte Brom, immer noch in ganz ruhigem, nüchternem Ton. Durch das Band aber toste bereits deutlich spürbar ein Sturm. Taboret fühlte, wie ihre Nervenenden sich regelrecht sträubten. »Meine Herren«, fuhr Brom fort, »Sie haben den Bedingungen vor langer Zeit zugestimmt. Sie hatten genug Zeit, um alle Einzelheiten genau abzuwägen. Ich darf Sie daran erinnern, dass Sie von dem Konzept begeistert waren.« »Gut, aber das war, bevor wir es in seiner fortgeschrittenen Form erlebten«, versetzte Doolin, wobei er die Brauen
zusammenzog. »Es gibt überhaupt keine Intimsphäre mehr! Ihr alle lauscht jedem Gedanken, den wir haben!« »Das stimmt nicht«, verwahrte sich Glinn. »Wir empfangen Gefühlseindrücke und gelegentlich ein visuelles Bild, aber das ist auch schon alles.« »Ha! Wir wetten, ihr lest unseren persönlichen Äther!«, sagte Dowkin. Er errötete und versteckte den Kopf in einer Stofffalte. Taboret empfing keinerlei Bilder, aber sie vermutete, dass es irgendetwas mit seinem Liebesleben zu tun hatte. Ausgerechnet diese langweiligen Tugendbolde ... Als ob irgendjemand ein Interesse daran hätte, in dieser Art von Details herumzuschnüffeln! Glinns Augenbrauen hoben sich. »Erlebt ihr zwei vielleicht eine fortgeschrittenere Art von Gedankenübertragung?« Er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen, nach der Tiefe des Rots zu urteilen, in dem Doolins Gesicht erglühte. »Das geht dich überhaupt nichts an!« »Sehr interessant, finden Sie nicht auch, Herr?«, fragte Glinn. »Ja, das finde ich auch. Die Verzweigungen, hmm ...« Brom strich sich über das Kinn, für einen Augenblick verwirrt. Dann wurde sein Gesicht puterrot und Dampf quoll zischend aus seinen Ohren. »Unsinn! Wir haben keine Zeit zu verschwenden!« »Das interessiert uns nicht, oder?«, fragte Doolin, den Kopf zurück zu seinem Bruder neigend. »Nöh«, sagte Dowkin, so kampfeslustig wie eh und je aus seiner Segeltuchfalte hervortauchend. »Fair ist fair. Entweder löst uns jemand ab, oder Sie schicken uns nach Hause zurück.« »Meine Herren«, sagte Brom, wieder unter eiserner Selbstbeherrschung. Das Dampfablassen schien ihm gut getan zu haben. Er war wieder ganz der überzeugende Alte. »Wir
können Sie jetzt nicht nach Hause schicken. Sie sind Teil der Gestalt. Sie sind Teil dieser Gruppe. Wir brauchen Sie.« »Dann zeigen Sie uns, dass Ihnen etwas an unserem Beitrag liegt«, sagte Doolin. »Wir treten mit sofortiger Wirkung in Streik.« Er rührte sich nicht mehr von. der Stelle. Taboret fühlte, wenn Brom wollte, dass sie sich bewegten, würde er einlenken müssen. Ein kurzes Zucken der Zustimmung durch das Band sagte ihr, das alle anderen das auch dachten. Die Brüder, die das Gleiche spürten, grinsten gehässig. »Und wir wollen nicht mehr auf Fahrrädern fahren müssen«, fügte Dowkin hinzu. »Wir fordern, dass unsere in Motorräder umgewandelt werden, wie die der anderen auch. Es ist viel zu anstrengend, in die Pedale zu treten und dabei gleichzeitig noch dieses Ding zu schleppen. Also, Motorräder ab unserer nächster Schicht.« Taboret fühlte die Rechtmäßigkeit, die in ihrer Forderung lag. Inzwischen waren sämtliche Rösser motorisiert, bis auf die der Brüder. Aber sie bezweifelte, das die Gestalt noch Kapazitäten dafür übrig hatte, war sie doch schon bis ans Limit ausgelastet mit den übler Streichen, die Mamovas sich anschickte, der Prinzessir und ihren Begleitern zu spielen und dem kontinuierlichen Auf- und Abbauen ihrer eigenen Fahrbahn. »Wir werden Sie von Ihrer Last befreien«, lenkte Brom schließlich ein. »Das nächste Paar, das turnusmäßig dran ist, wird Ihren Platz sofort übernehmen.« Gano und Lurry stöhnten auf. Brom hob bloß die Brauen und die beiden kuschten sofort. Sie brausten auf ihren Motorrädern heran, und die beiden Brüder lenkten ihre Rösser vorsichtig zur Seite, um ihnen Platz zu machen. Es war wenig Platz auf der Fahrbahn und das Umladen der Trage gestaltete sich schwierig. Taboret beging den Fehler, über die Schulter in den Abgrund zu blicken. Das schwummrige Gefühl in ihrer Magengrube, das
der Blick in die Tiefe auslöste, übertrug sich sofort auf alle anderen. »Tu das nicht!«, bat Carina und umklammerte die Tragholme so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. »Es ist schon schlimm genug, das auf einem Hochseil tun zu müssen.« Sobald sie von der Last befreit waren, begannen die Brüder sogleich mit Streck- und Dehnungsübungen, um ihren Blutkreislauf wieder in Gang zu bringen. Ihr Rücken und ihre Arme verschlankten sich wieder zu üblichen Proportionen. »Okay«, sagte Doolin und klatschte in die Hände. »Und jetzt zu den Motorrädern.« »Das wird leider im Augenblick nicht möglich sein«, sagte Brom. »Bitte steigen Sie auf, damit wir weiter können.« »Wir lassen uns nicht behandeln wie zweitklassige Mechaniker«, sagte Dowkin und runzelte die Stirn, bis seine Brauen ganz dick wurden und sich über der Nasenwurzel trafen. »Na los, nun kommen Sie schon; wir haben noch genügend Kraftreserven.« »Darf ich es erklären, Herr?«, sagte Glinn mit einem fragenden Nicken zu Brom, der es ihm mit einer gebieterischen Geste gestattete. Glinn wandte sich daraufhin mit ernster Miene an die Brüder. »Wir sind im Augenblick bis an die Grenzen der Belastbarkeit beansprucht. Sollte plötzlich eine Störung oder ein Ärgernis oder ein Stimmungswandel bei einem der Schläfer auftauchen, dann würden wir diese Reserven dringend benötigen. Schaut«, sagte er, auf ihre Füße deutend. »In der Zeit, die wir gebraucht haben, um diese ... Unterhaltung zu führen, hat die Nebulosität schon wieder angefangen, sich zu verändern.« Taboret hatte es nicht einmal bemerkt, aber jetzt, da sie drauf achtete, sah sie, dass Glinn Recht hatte. Aus dem Fahrbahnsegment, auf dem sie standen, hatte Gras zu sprießen begonnen, unmittelbar unter ihren Füßen. Einige der anderen
Segmente hatten ihre Form völlig verändert. Eines war zu einer Frauenstatue mit abgebrochenen Armen geworden, eines sah aus wie der Bug einer Kogge und zwei weitere hatten sich zu goldenen Bögen verformt. Ein anderes war völlig von seinem Platz verschwunden. Taboret schaute nach unten auf den Grund des Tales. Der nebulöse Stein war zu Hunderten von Doughnuts zerborsten. »O nein, nur das nicht!«, stöhnte Basil mit einem Blick auf die Trage. »Jetzt müssen wir die alle wieder neu formen!« »Wir haben Stunden durch diese lächerliche Auseinandersetzung verloren!«, sagte Brom. Sein Gesicht, sonst eher eine hagere Totenmaske, wurde voller, sodass die Wangen herunterhängen konnten. Er schwenkte den Arm in Richtung der Nebulositätssegmente. »Dies könnte uns noch einen weiteren Tag zurückwerfen! Fangt sofort damit an, die wieder flach zu machen!« »Jawohl, Herr«, sagte Glinn. Wie immer mit gutem Beispiel vorangehend, saß er ab, stieg hinunter zur Talsohle und begann Stücke aufzuheben und wieder zusammenzufügen. Taboret warf ihm einen liebevollen Blick zu, bevor sie ihm folgte. Sie begannen damit, die wieder in Form gebrachten Segmente erneut anzufügen und die Prozession setzte sich wieder in Bewegung. Straßenbau in der heißen Sonne hatte wahrlich nichts Vergnügliches, aber Taboret empfand urplötzlich ein Gefühl von unbändiger Freude. Ebenso jäh begann der Motor ihres Rades zu stottern und ging aus - und verschwand ganz. In Sekundenschnelle verwandelte sich das Bike von einem motorisierten in ein unmotorisiertes und wieder zurück in ein motorisiertes. »Oh!«, rief Gano, obgleich es mehr wie ein Stöhnen klang. »Was geht da vor sich?« Alle Augen richteten sich auf Brom, dem ein Ausdruck von
tiefer innerer Glückseligkeit im Gesicht stand. »Mamovas hat soeben ihre erste Falle gestellt.« Taboret fühlte, wie ihr Herz sich zusammenkrampfte. Sie strengte sich an, eine bildliche Vorstellung von dem zu bekommen, was Mamovas getan hatte, aber die andere Frau war offenbar kein so starker visueller Projektor wie Brom. Ihr Geist war eine entmutigende Öde. Taboret rutschte schuldbewusst auf ihrem Sattel hin und her. Brom richtete seinen düsteren Blick auf sie; er hielt ihr Unbehagen für Ungeduld. »Sie werden Ihre Chance bald bekommen«, versprach er. Taboret lächelte ihn beklommen an.
19. KAPITEL Die Tiere kamen in hellen Scharen aus den ockergelben Schluchten hervorgequollen, fast unter den Hufen von Spars Ross. Der Hauptmann der Garde warf eine Hand hoch und riss an den Zügeln, bis sein Ross auf dem Hinterrad hochstieg und auf der staubigen Straße tänzelte, gerade noch rechtzeitig, um eine Kollision zu vermeiden. Die anderen Reiter kamen schlitternd hinter ihm zum Stehen und starrten auf die ovalohrigen, gelbbraunbepelzten Viecher, die da über die Straße hoppelten. »Was sind das für welche?«, wollte die Prinzessin wissen. »Ich habe noch nie Riesenratten gesehen, die auf Pogostöcken springen und Handtaschen tragen!« »Die sieht aus wie Ihre«, sagte Felan zu Colenna, auf die braune Ledertasche deutend, die eines der Tiere in der Pfote hielt. »Irgendwo hier in der Nähe befindet sich eine illusionäre Ratte, die ihre Handtasche sucht. Sie sollten sie ihr zurückgeben.« »Unverschämter Rotzjunge«, sagte Colenna, »das sind alles natürliche Geschöpfe. Ich war schon mal in Wocabaht. Sie tragen ihre Jungen in diesen Taschen.« »Natürliche Geschöpfe! Ganz bestimmt nicht«, sagte Misha hoffnungsvoll. »Sie müssen ein Zeichen der Verzerrung sein. Sind sie das nicht?« »Es gibt hier keine Verzerrung«, sagte Lum entschieden, über den Boden schauend. Er straffte sich, als wäre ihm plötzlich bewusst geworden, dass er Roan unabsichtlich beleidigt hatte. »Es ist schon lange her, Sir. Alles schaut zu natürlich aus.« »Ich weiß, Korporal«, sagte Roan, der sich weigerte, Anstoß zu nehmen. »Wir werden die Fährte bald wiederfinden.«
»Nun, in Ordnung, Sir, gewiss«, sagte Lum unsicher. Roan mochte den jungen Mann. Lum war redlich und penibel und er besaß die Gabe der Loyalität. Er hatte Roan die Ehre erwiesen, ihm diese seine Loyalität anzubieten, obwohl Roan kaum glaubte, dass er sie verdient hatte. Insgeheim begann er sich Sorgen zu machen. Seit Meilen hatten sie keine Spur mehr von Brom oder dem WECKER gesehen. Hatten die Wissenschaftler gelernt, seine Spuren zu verbergen? Oder war Roan auf dem falschen Weg, wie Spar und Felan nicht müde wurden zu wiederholen? Er hatte nicht mehr als unbestimmte Hinweise von der mysteriösen Kontaktperson vor ihnen erhalten. War es ein Fehler gewesen, ihr zu trauen? Roan widerstrebte der Gedanke zutiefst, dass er einen seiner glühendsten Anhänger enttäuschte, aber was konnte er als Gegenleistung anderes anbieten als Hoffnung und eine Handvoll Luft? »Weiterreiten, Sir?«, fragte Spar ungeduldig. »Ja«, sagte Roan. »Es ist zu kalt hier, um die Pferde stehen zu lassen.« Er spornte Cruiser zum Trab an und die anderen schlossen sich ihm an. Die Gegend sah zwar aus wie eine Savanne oder eine Wüstenebene, aber den Temperaturen nach war es Spätherbst oder Winter. Der Wind war eisig. Sein Ross liebte Wärme -und er auch. »O nein!«, rief Leonora. Sie kam an Roans Seite geritten und zupfte an seinem Ellenbogen. »Sieh dir das an!« Roan wandte den Blick in die Richtung, in die die Prinzessin wies und bekam große Augen. Von links kam eine riesige graue Staubwolke auf sie zugewalzt, die sich aus der Nähe betrachtet als ein wirbelnder Schwarm von Pelztieren entpuppte, die wie kleine Bären mit sehr langen schwarzen Nasen aussahen. Waren es ...? Nein, das konnten sie nicht sein ... Aber sie tanzten Walzer, paarweise, und zu einer Musik, die nur sie hören konnten. »Das ist noch ein Ärgernis«, sagte Bergold. »Es wird gleich den Pfad vor uns kreuzen und uns wer weiß wie lange
aufhalten. Legt einen Zahn zu, vielleicht können wir ihm noch ausweichen!« »Beeilung!«, rief Leonora. Sie spornte Golden Schwinn erst zum Trab, dann zu einem schnellen Kanter an. Roan und Cruiser hielten mit ihnen Schritt. Colenna und Spar galoppierten vorneweg. Die Wolke aus walzertanzenden Bären kam rapide näher. »Achtung!«, schrie Spar mit heiserer Stimme. Roan starrte mit weitaufgerissenen Augen auf eine rasch heranrückende gelbe Wand. »Sandsturm!« Der Sturm kam zu schnell, als dass sie ihm noch hätten ausweichen können. Der wirbelnde Staub verschlang Spar und Colenna. Drei Schritte später war Roan die Sicht von einer gelben Wand versperrt. Er hob die Arme, um seine Augen gegen die pieksenden Sandkörner abzuschirmen, aber er fühlte nur den eisigen Wind, der durch seinen dicken Umhang und seine Reithose drang. Er bibberte mächtig und hielt Cruisers Zügel fest umklammert. Der Sturm entpuppte sich als nicht sehr dicht. Nach wenigen Augenblicken war er durch ihn hindurch. Erleichtert sah er, dass die anderen auch wohlbehalten waren. Spar und Colenna schienen unversehrt - mit einer bemerkenswerten Veränderung: sie ritten ... nackt. Ihre sämtlichen Kleider waren verschwunden. Colenna blickte an sich herunter, kreischte und hielt ihre Handtasche wie einen Schild vor ihren wogenden Busen. Spar brachte sein Pferd zum Stehen, drehte sich im Sattel um und starrte entrüstet auf die andern, so als wären sie für diesen Skandal verantwortlich. »Oh!«, entfuhr es im selben Augenblick Leonora. Roan wandte sich zu ihr - und schaute so hastig wieder weg, dass er sich den Nackenmuskel zerrte. Sie war nackt; ihre zarte Haut war vor Kälte gerötet. Ihr Gesicht war ebenfalls rot angelaufen, gleichermaßen vor Scham wie vor Kälte. Sie aktivierte rasch
ihren eigenen Einfluss, und dichter Nebel hüllte sie ein. Felan zügelte sein Pferd und saß im Sattel, scheinbar unbeeindruckt von der Kälte oder seiner eigenen Nacktheit und starrte Leonora unverhohlen an. Die Prinzessin schaute mit königlicher Herablassung auf ihn herab und verdichtete ihre Nebelhülle zu nahezu vollkommener Undurchsichtigkeit. Sie kramte in Golden Schwinns Satteltaschen herum, den Historiker ignorierend. Felan machte ein enttäuschtes Gesicht. »Es ist tatsächlich jedes bisschen Kleidung verschwunden!«, rief Leonora. »Ich werd Ihnen was leihen, Schätzchen«, sagte Colenna. Nach einer kurzen Visitation ihrer Satteltaschen und ihre Handtasche schaute sie auf. »Ich hab selber auch nichts mehr. Nicht ein Stück!« »Wir müssen ihr sofort was zum Anziehen besorgen«, sagte Roan. Der scharfe Wind kam wieder auf Touren. Auch er fror jämmerlich, aber Leonoras Wohlbefinden hatte Vorrang. Er griff nach dem Verschluss seines Umhangs, um ihn auszuziehen und ihr um die Schultern zu legen, aber er fühlte nur nackte Haut. Wie merkwürdig! Er fühlte an seiner Brust, um sicherzugehen, dass er sich nicht irrte. Er blickte an sich herunter, dann schaute er auf jeden seiner Arme und jedes seiner Beine und seine Verblüffung steigerte sich mit jedem Blick auf seine bloßen Gliedmaßen. Er konnte gar nicht nackt sein. Es war unmöglich. Aber er war nackt, wie alle anderen. Seine Taschenuhr und die Kette lagen, ohne Knopfloch oder Tasche, die sie hätten halten können, auf seinem Oberschenkel. Sein Portemonnaie lag ein paar Schritte hinter ihm auf der Erde. Er konnte unmöglich absitzen und es aufheben, nicht so, nicht vor allen anderen. Dies war ein demütigend peinlicher Traum. So etwas war ihm noch nie zuvor widerfahren. Was hatte Leonora gesehen? War sie peinlich berührt? Sie schaute ihn nicht an. Bestimmt absichtlich, dachte er. Er beugte sich vornüber, um seine Blöße zu verbergen, dann fürchtete er, dass
er auf diese Weise noch mehr Aufmerksamkeit auf sie lenkte. Er bedeckte sie mit einer Hand und setzte sich zimperlich wieder gerade. »Bergold«, rief er heiser. Der Senior-Historiker hatte sich gerade von seinem eigenen Zustand vergewissert und kramte in seinem Gepäck nach irgendetwas, womit er seine Blöße bedecken konnte. Er blickte auf, und sein Gesicht wurde oval, als seine Kinnlade herunterfiel. »Du auch?«, fragte er verblüfft und musterte Roan mehrmals von Kopf bis Fuß, als traue er seinen eigenen Augen nicht. Roan errötete. Er wusste, dass alle ihn anstarrten. »Ich hab immer gedacht, das sei unmöglich. Das muss aber wirklich ein verdammt machtvoller Einfluss gewesen sein!« »Herr!« Ein fremder Mann trat aus dem Gebüsch am Rande des Weges und winkte. »Herr! Bitte!« Und dann wurden seine Augen ganz groß, als er die zehn nackten Menschen zu Pferde sah. »Huuch!« Spar lenkte sein Ross ganz dicht an ihn heran, sodass der Mann zu ihm aufschauen musste. Roan bewunderte Spars Selbstbeherrschung. Er wusste, dass er errötete. Der Hauptmann der Garde hatte jeglichen Ausdruck aus seinem Gesicht verbannt. »Was ist Ihr Problem, Herr?«, fragte er, mit einer starken Betonung auf dem Wort >Ihrechten< Gruppe, die sich mit ihnen vermischt, beziehungsweise, verwechselt haben, an ihrer Statt ins Nichts laufen lassen. Entschuldige«, sagte er, an den Bergold linkerhand gewandt, der sein gefiedertes Haupt auf und ab wippen ließ, um zu zeigen, dass er ihm seine Worte nicht übelnahm. »Wir gehen am besten alle zusammen weiter.« Achtzehn Leute und zwei Eulen setzten sich wieder in Bewegung, jeder Seite an Seite mit seinem Doppelgänger. Anfangs empfand Roan die Straße als überfüllt, doch dann begann er Vorteile in der Vielzahl zu sehen. Die Lums ritten vorneweg und hielten nach >Verzerrung< Ausschau. Beide Roans achteten auf Hinweise, die ihr Verbündeter in Broms Gruppe eventuell für sie hinterlassen hatte. Sechs Gardisten anstelle von deren drei hielten nach beiden Seiten der Straße hin die Augen offen, bereit, sofort zu reagieren, falls irgendwelche Bedrohungen auftauchten. Die anderen unterhielten sich miteinander, manche eher scheu und zurückhaltend, andere durchaus angeregt. Gelegentliche Wanderer oder Reisende, die ihnen zu Fuß oder zu Ross entgegenkamen, starrten mit großen Augen auf die lange Reihe gleicher Gesichter und beschleunigten ihren Schritt, aus Furcht, der Effekt könne womöglich ansteckend sein. Der andere Roan musste ihre Gedanken aufgefangen haben, denn er grinste sie schief von der Seite an. Sollten sie bei der nächsten Person, die ihnen begegnete, so tun, als belegten sie sie mit dem Fluch des Zwillingstums? Es machte eigentlich großen Spaß. Roan wünschte fast, der Effekt würde anhalten. Falls Broms Macht noch größer werden sollte, würden sie mehr Hilfe brauchen, um ihm das Handwerk zu legen, wenn sie ihn endlich eingeholt hatten. Andererseits würde es dann zwei Leonoras und zwei Colennas geben, die sie zu beschützen hätten, wodurch sie ihre Aufmerksamkeit unnötig würden teilen müssen. Die Prinzessinnen führten eine lebhafte Diskussion über Mode, ein Thema, in dem sie, was nicht überraschte,
vollständig übereinstimmten. Roan hörte nur mit halbem Ohr zu. Er hoffte noch immer, klare Hinweise auf Broms Route zu finden. Der andere Roan sah ihn gelegentlich an und schüttelte wortlos den Kopf. Auch er sah nichts. » ... Aber ich finde den noditischen Brauch mit den bedruckten Stirnbändern für Babys ziemlich albern«, sagte Leonora und hielt sich einen Armvoll Falten zur Illustration vor die eigene Stirn. »Wo sie sie doch noch gar nicht lesen können ... Sie ist weg!« »Sie ist mit Ihnen verschmolzen«, sagte Misha, vor Überraschung ganz heiser. »Gerade eben. Als sie sich den Stoff vors Gesicht hielten. Mitsamt Pferd und allem Drum und Dran! Hat sich einfach ganz plötzlich auf sie zubewegt, und schwupp, war nur noch eine von Ihnen da!« »Schade«, sagte Leonora leise und legte die Hände auf das Sattelhorn. »Wir hatten gerade so viel Spaß miteinander.« Roan spähte die Reihe rauf und runter. Alle Duplikate waren verschwunden. Zehn war ihm anfangs als eine so große Zahl erschienen. Nach dem Verschwinden des Verdopplungseffekts sah die Gruppe plötzlich so klein und einsam aus. Er fühlte sich verletzlich, so allein hier draußen mitten im Nirgendwo. Leonora spornte Schwinn an, setzte sich neben Cruiser und bot Roan ihre Hand an. Er ergriff sie und drückte sie dankbar. Was für eine wundervolle Frau sie war! Wie schrecklich es wäre, wenn sie jetzt fortgehen und nach Hause zurückkehren würde. Er hatte noch immer Angst, sie in Gefahr zu bringen, aber er würde sie fürchterlich vermissen, wenn sie nicht da wäre. »Bin ich der Richtige?«, fragte Lum, unsicher seine Arme schwenkend. »So etwas ist mir noch nie passiert.« »Ich fühle mich genauso, Korporal«, sagte Roan. »Es ist ein gutes Zeichen, wenn man sich über seine eigene Gesellschaft freuen kann«, sagte Colenna in begütigendem Ton. Bergold kratzte sich seinen gefiederten Bauch mit einer
Kralle und sagte: »Er wusste alles, was ich wusste. Wie merkwürdig, wie ungewohnt. Ich habe noch nie eine solche Geistesverwandtschaft mit jemandem erlebt. Ich hab's wirklich genossen.« Spar war sehr besorgt. »Könnte dies ein Zeichen dafür gewesen sein, dass wir im Begriff sind, in einen Umbruch hineinzureiten?« »Nein, es war bloß ein Ärgernis«, sagte Bergold mit einem Seufzen. »Ein freundliches zwar, aber im Großen und Ganzen eine gewaltige Zeitverschwendung.« »Es fühlt sich so an, als wäre es hierher gezerrt worden«, sagte der Kontinuitor, die Luft prüfend. »Oder geschoben. Da ist so etwas wie Spannung in den Fasern der Luft.« »Es ist jedenfalls ganz eindeutig künstlich«, sagte Colenna. »Brom versucht, unsere Psyche zu zermürben.« »Aber wie schafft er es, hierherzukommen und wieder wegzugehen, ohne Spuren zu hinterlassen?«, fragte Lum. »Wir kriegen nicht mehr den durchgehenden roten Faden von Verzerrung, den wir vorher bekommen haben. Ich habe ein bisschen Verzerrung nahe der Stelle gesehen, an der wir in das Ärgernis hineingerieten, aber das ist auch schon alles. Sie müssen auf der Straße bleiben, richtig? Aber sie tun's nicht. Die meisten Dinge sind wie immer und sie hinterlassen keine Reifenspuren.« »Wenn diese Ablenkungen zu uns hin geschoben worden sind, dann haben wir keine Vorstellung davon, von wie weit weg«, sagte Bergold. »Wir müssten die ganze Wildnis absuchen und würden den Ausgangspunkt womöglich niemals finden.« »Es könnte aber auch ein natürliches Phänomen sein. Es könnte mit einem sehr aktiven Teil des Geistes des Schläfers in Zusammenhang stehen«, sagte Felan, wobei er zum Himmel hinaufstarrte und auf ein unsichtbares Dokument in seinem geistigen Archiv schielte. »Ich habe schon von bis zu fünf
gleichzeitigen ...« »Unwahrscheinlich«, sagte Colenna. »Nun, es ist jedenfalls nicht so, wie es war, als wir der Fährte vorher folgten«, sagte Spar, wobei ihm deutlich anzusehen war, dass es ihm widerstrebte, seiner Angebeteten zu widersprechen. »Und wir haben keine Reifenspuren mehr gesehen, seit wir an dieser Felswand vorbeikamen.« »Ich nehme an, es wäre zuviel gehofft, dass dieser Steinschlag auf sie runtergegangen ist«, sagte Felan missmutig. »Ganz gewiss nicht!«, entgegnete Colenna. »Diese zwei Ärgernisse so dicht hintereinander beweisen, dass sie noch sehr lebendig und aktiv sind und dass wir hinter ihnen sind. Ist das nicht richtig, Roan?« Roan war dankbar für die Zuversicht, die sie verbreitete. Er fühlte sich seiner selbst sehr unsicher. Wenn sie den Glauben an ihn verlören, würden sie vielleicht umkehren. Spar würde darauf bestehen, dass die Prinzessin ihn zurück nach Mnemosyne begleitete. Roan hätte den Wunsch, den er ein paar Tage zuvor geäußert hatte, allein weiterzugehen. Er wollte diesen Wunsch nicht mehr und hatte keine Lust auf die Aussicht, der Gestalt allein entgegenzutreten. »Wir müssen Brom zu nahe gekommen sein«, sagte Bergold, seine orangefarbenen Augen zur Hälfte mit den Lidern verschleiernd. »Aber wann? Warum wussten wir nicht, dass er ganz in der Nähe war?« »Das spielt doch keine Rolle«, sagte Leonora aus tiefer Überzeugung und mit einem zuversichtlichen Blick auf Roan. »Jetzt sind wir jedenfalls sicher, dass er immer noch vor uns ist. Das war es doch, was wir wissen müssten.« »Beeilung! Kannst du nicht schneller?«, schrie Basil. »Ich mach ja schon, so schnell ich kann«, fauchte Taboret patzig zurück, ohne ihn anzusehen. Sie fügte einen Block Nebulosität an. »Meinst du vielleicht, du könntest das besser?«
Sie spornte ihr Motorrad an und knatterte in einem weiten Bogen vom vorderen Ende der Fahrbahn zurück zum hinteren, sodass sie Basils Erwiderung nicht hören konnte. Geschwächt durch Bolmers Verletzung und Mamovas' Abwesenheit, müssten die Lehrlinge doppelt so hart reinklotzen wie vorher. Die Sturheit der Zwillingsbrüder hatte sie Stunden hinter Broms Zeitplan zurückgeworfen. Der Boss war gereizt; er fragte sich, ob sie es jetzt trotz der Fallen, die Mamovas Roan gestellt hatte, um ihn aufzuhalten, noch vor ihm bis zur Straße schaffen würden. Wegen des schwierigen Geländes waren die Söldner den ganzen Nachmittag weggeblieben. Brom hatte keine neue Botschaft von seinem Spitzel erhalten. Er mochte es nicht, keine Informationen zu haben und sie alle wussten das. Wut wogte und brauste durch das geistige Band, bis Taboret das Gefühl hatte, dass wenn irgendeiner sie jetzt auch nur schief ansah, sie ihn in die Fahrbahn einbetonieren würde. Sie würden ihre Straße heute nicht mehr fertig kriegen und wenn der Boss noch so herumbrüllte. Es ging auf die Dämmerung zu. Kraft, Wille und Moral waren bis zum Äußersten beansprucht und sie waren immer noch Meilen von der Hauptstraße entfernt. Mindestens sechsmal im Laufe des Nachmittags hatten sie die schmerzvolle Erschöpfung gespürt, die bedeutete, dass Mamovas sie angezapft hatte, um Fallen und Ablenkungen zu erschaffen. Die letzte war eine Stunde zuvor gewesen, und so stark, dass Taboret sich hatte setzen und nach Atem ringen müssen. Seitdem hatte es keinen Energiediebstahl mehr gegeben. Ob das bedeutete, dass Mamovas und die Söldner sich auf dem Rückweg befanden? Ja, sie spürte im Geist ein Antwortecho auf diese Frage. Wenige Minuten später hörte sie das rasch sich nähernde Motorengeräusch der drei Motorräder. Brom gab das Zeichen zum Anhalten. Es dauerte nicht lange, bis sie die drei
Motorradfahrer sehen konnten. Mamovas sah bloß erschöpft aus, und Acton leer und ausgebrannt, aber Maniunes Gesicht war grimmiger als üblich. »Schlechte Nachrichten, Boss«, sagte er. »Wir haben von unserem Freund hinter uns gehört. Sie haben einen Spitzel in unserer Gruppe.« Brom war so überrascht, dass der rote Funke in seinen Augen für einen Augenblick erlosch. »Was? Das ist unmöglich!« »Nein, es ist nicht unmöglich«, gab Maniune kurzangebunden zurück. Taboret vermutete, dass Mamovas auch von ihm Kraft abgezapft hatte und er war nicht daran gewöhnt. Die Müdigkeit hatte sogar seine Aggressivität gemildert. »Sie bekommen Hilfe von einem von uns. Ich weiß nicht, von wem, aber ich garantiere, dass die Botschaft nicht verstümmelt war.« »Nun denn«, sagte Brom. Er wandte sich an die Lehrlinge und klatschte in die Hände. »Alle Mann aufhören mit dem, was ihr gerade tut. Ich will, dass ihr mir zuhört! Irgendjemand von uns sendet Informationen an unsere Verfolger. Das ist eine Aktivität, die ich keinesfalls gutheißen kann. Der Spitzel soll sofort vortreten! Auf der Stelle!« Taboret fühlte Broms überlegene Willenskraft durch das geistige Band strömen und ihre eigene unterdrücken. Er verstärkte den Druck, mahlte sich in ihre bewussten Gedanken wie ein Drillbohrer. Gestehe! Bekenne! Taboret fasste sich an die Schläfen, versuchte, mit den Fingerspitzen die Schmerzen aus ihrem Kopf zu pressen. Sie wünschte sich, sie hätte irgendetwas zu gestehen und sei es nur, um den Druck zu lindern. Und dann fiel ihr ein, dass sie in der Tat etwas zu gestehen hatte. Konnten sie ihren Ausrutscher gemeint haben? Es war nur jenes einzige kleine Mal, jenes winzige kleine Zeichen auf einem einzigen Baum, das ebensogut ein Unfall
hätte gewesen sein können. Sie strengte sich an, nicht daran zu denken, und versuchte, ihre Schuldgefühle zu unterdrücken, indem sie sich darauf konzentrierte, andere zu verdächtigen. Es könnte Lurry gewesen sein, der sie verpetzt hatte, dachte sie angestrengt. Oder Gano. Die war ohnehin ein höchst verdächtiger Charakter! Ihre Bemühungen schienen zu fruchten. Sie sah, wie Glinn sie mit einem neugierigen Ausdruck in den Augen ansah und versuchte kühl zurückzustarren - aber sie machte sich Sorgen. »Keiner will vortreten? Keiner will seinen Freunden und Kameraden die Peinlichkeit eines Verhörs ersparen? Na schön. Ich werde die Wahrheit schon früh genug herausfinden«, sagte Brom und hob die Hand zum Zeichen, dass sie weitermachen sollten. »Weitermachen!«
21. KAPITEL Nach einem zeitigen Frühstück bei Sonnenaufgang blies Roan zum Aufbruch. Keiner weinte dem ungemütlichsten Lagerplatz, an den man sich erinnern konnte, auch nur eine Träne nach. Alle waren erschöpft und reizbar, wie kleine Kinder. Da das Wetter noch immer herbstkalt war, musste Leonora sich zwischen ihrem Zelt und ihren Kleidern entscheiden. Roan und Misha halfen mit, aus Blättern und Ranken ein neues Zelt für sie zu fertigen. Es war sehr anstrengend, mithilfe von Einfluss etwas herzustellen, das mit etwas zusammenpasste, das jemand anderes machte. Das Ergebnis war nicht gerade berauschend gewesen, aber sie hatte sich mit keinem Wort beklagt. Für einen Augenblick bedauerte Roan, dass die Gestalt zerstört werden musste, sobald sie Brom einholten, weil das Konzept, Kräfte miteinander zu vereinen und zu bündeln, vom Grundgedanken her fantastisch war. Es war eine schlimme Nacht gewesen, voller Zufallsgeräusche und -kreaturen, die, wenngleich fremdartig in ihrer Erscheinung, gewöhnliche Traumbestien waren, wie Hedder-Fledermäuse, die sich ständig im Kopfhaar verhedderten, oder junge Monstren-im-Wandschrank, die sich mit Vorliebe in Rucksäcken und Körben einnisteten. Sie hatten nicht leicht Schlaf gefunden, trotz des anstrengenden Tages, der hinter ihnen lag, und als der Schlummer endlich gekommen war, war er voller wirrer Träume und Nachtmahre gewesen. Und zu allem Überfluss hatten sie dann auch noch mitten in der Nacht mit ihrem Lager umziehen müssen, als sich der Hügel, den sie ausgewählt hatten, als Ameisenhügel entpuppt hatte und zwar mit nachtwachen Ameisen. Und immer noch gab es keine verlässlichen Spuren von
Brom. Nach der Dämmerung war Bergold die Eule mehrere Male zu einem Erkundungsflug über die Gegend aufgebrochen, um nach Broms Gruppe zu suchen. Die Wüste und die Savanne waren kreuz und quer von Reifenspuren durchzogen, aber keine davon sah so aus, als sei der WECKER dort vorbeigekommen. Im fahlen Licht des Morgens galoppierte die Gruppe auf der Straße dahin, in der Hoffnung, auf ein weiteres Zeichen künstlicher Interferenz zu stoßen, auf eine Verzerrung oder ein Ärgernis. Roan hasste das Gefühl ständiger Vorahnung, so als käme jeden Augenblick etwas hinter einem Baum hervorgesprungen und riefe laut >Buh!Hier Sind Sie Entlanggekommen.< Leonora schaute zu Roan auf, die Lippen zu einem Lächeln geöffnet, in den Augen ein freudiges Funkeln. »Was ist?«, fragte Bergold. Sie gab ihm die Karte und er ließ ein fröhliches Kichern hören. Jeder wollte es sehen und
grapschte die Karte aus den Händen des Letzten, der sie hielt, bis sie schließlich bei Colenna ankam. »Das war vom Schicksal so bestimmt«, sagte die ältere Frau mit einem zufriedenen Nicken. Sie beugte sich vor und zwinkerte an der Reihe vorbei Roan zu. Leonora streckte die Hand aus und die Karte wanderte wieder zurück zu ihr. »Du hattest Recht, mein Junge. Gut, dass du so beharrlich warst.« »Es mag vorherbestimmt gewesen sein«, sagte Roan, »aber das bedeutet nicht, dass wir uns jetzt bequem zurücklehnen können. Hier entlang bitte, Skor. Wir fahren in Richtung Reverie.« »Wird gemacht, mein Freund«, sagte Skorvald. Er hieb den Schalthebel nach vorn, dass es krachte. Leonora ging aufmerksam mit dem Finger auf der blauen Linie jeder Kurve nach, die die Straße machte, und nickte bei jedem Markstein, der hinter der breiten Windschutzscheibe auftauchte und wieder verschwand. Der LKW rumpelte auf eine Gabelung zu. »Jetzt rechts«, sagte Leonora, die einen Pfeil neben der rechten Abzweigung auf ihrer Landkarte sah. Skor betätigte folgsam den Blinkerhebel an der Lenksäule und der Lastwagen schwenkte nach rechts ab. Die Prinzessin und Roan wechselten einen kurzen Blick. Wenn sie ihm nicht gesagt hätte, er solle abbiegen, wäre er womöglich nicht den richtigen Weg gefahren. Sie waren Herr ihres Schicksals. Niemand leitete sie. Obwohl das Los des Traumlandes auf ihren Schultern ruhte, mussten sie gleichwohl immer noch die richtigen Entscheidungen für sich selbst treffen. Diese Erkenntnis sorgte bei Roan für nachdenkliches Schweigen, während der riesige LKW die Straße entlangbrummte. »Wir passieren jetzt die Stelle, wo die blaue Linie mit der Landstraße 2 zusammentrifft«, sagte Leonora.
»Sir, die Verzerrung!«, rief Lum. Und schlagartig spürten alle sie. Roan empfand sie als eine Art Gummihaftigkeit in der Luft, ähnlich dem wachsartigen Gefühl, das er bei seiner ersten Begegnung mit der Gestalt gehabt hatte, nur viel stärker und intensiver. Er atmete aus und ein erstaunliches Gefühl der Erleichterung nahm die Stelle des Knotens in seinem Bauch ein. »Da ist ein großer schwarzer Fleck auf der Landkarte gleich vor uns«, sagte Leonora und hielt die Karte so, dass Roan einen Blick auf sie werfen konnte. »Was ist das? Eine Stadt?« Roan blätterte zurück, um die Legende zu finden. In einer Ecke, an einer Stelle, wo die Druckerschwärze fast abgewetzt war, war ein Quadrat mit einem Verzeichnis der Symbole und ihrer Bedeutungen zu sehen. Roan fuhr mit dem Finger die Liste entlang nach unten, bis er das entsprechende Symbol fand, und zuckte zusammen. »Skor!«, schrie er. »Das ist ein Loch in der Realität!« Er hielt dem Fahrer die Karte unter die Nase. Skorvalds Augenbrauen zuckten so hoch, dass sie fast unter dem Schirm seiner Mütze verschwanden. »O nein!«, stöhnte der Fahrer, entsetzt durch die Windschutzscheibe nach vorn starrend. Und dann sah auch Roan es. Vor ihnen gähnte ein riesiges Loch in der Fahrbahn. Bäume, Häuser, sogar Vögel wurden in den wirbelnden Strudel in seinem Zentrum gesogen. Roan sah einen Laternenpfahl in ihm verschwinden. Es sah aus, als flutsche eine Spaghettinudel in einen riesigen unterirdischen Mund. Skor trat auf die Bremse und riss das Lenkrad herum, um dem Loch auszuweichen. Der Sog, den es ausübte, war so stark, dass er sogar noch durch die Seitenwände des Lastwagens zu spüren war. In der unmittelbaren Umgebung des Loches zerbrach die
Landschaft in riesige Schollen, die auf Rollen gelagert waren. Die Schollen stürzten in das wirbelnde Chaos hinunter und hinterließen dunkle Löcher, wo die Landschaft aus ihren Vertäuungen und Halterungen unter dem Himmel gerissen worden war. Dazwischen konnte Roan ein paar helle Lichter, schattenhafte Gestalten und heraushängende Kabelstränge und ausgefranste Seilenden erkennen. Skor trat das Gaspedal bis zum Bodenblech durch. Der Motor heulte auf und die Antriebsräder drehten durch. Doch als alle schon fast glaubten, der Sog risse auch sie in die Tiefe, befreite sich der LKW mit einem Ruck aus der Anziehungskraft und schoss vorwärts. »Mann, das war ja ein Riesending von einem Loch!«, sagte Bergold, aus dem Seitenfenster spähend, während die Landschaft allmählich wieder in ihren Normalzustand überging. »Es befällt alles, was sich in seiner Umgebung befindet. Und fast hätten wir dazugehört!« »Puh! Da haben wir nochmal mächtig Schwein gehabt!«, sagte Skor und wischte sich mit einem rotgepunkteten Taschentuch den Schweiß von der Stirn. »Ein Glück für mich, dass Sie die Landkarte lesen, Eure Hoheit. Das war wirklich ein Riesending. Ohne Sie wäre ich wahrscheinlich voll und ganz hineingebrettert. Ich bin Ihnen sehr dankbar.« Sie studierten die Karte mit größter Sorgfalt, aber zwischen dem schwarzen Fleck und der nächsten Stadt waren keine weiteren Katastrophen verzeichnet. Der LKW erreichte die Kuppe eines Berges, unter dem sich ein Tal mit einer großen, sauber angeordneten Stadt ausbreitete und begann mit der Abfahrt. Gemäß dem Punkt auf der Landkarte, auf dem die Fingerspitze der Prinzessin verharrte, war dies die Stadt Reverie. Die blaue Linie, die Broms Route anzeigte, verlief deckungsgleich mit der roten Linie bis hinunter in den Ortskern. Der Lastwagen rollte bergab, bis er
an eine schmale Steinbrücke kam, die über einen kleinen Fluss in die Stadt führte und hielt auf einem Parkplatz. »So, meine Freunde und Freundinnen und Eure Hoheit, da wären wir denn«, sagte Skorvald und legte den Leerlauf ein. Leonora beugte sich zu ihm hinüber, um ihm die Karte zurückzugeben und küsste ihn auf die runzlige Wange. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar wir Ihnen für Ihre freundliche Hilfe sind«, sagte sie. »Vielen, vielen Dank.« Sein Gesicht wurde noch röter, als es das ohnehin schon von der Sonne war und er zog sich verlegen den Schirm seiner Mütze in die Stirn. »Ich danke Ihnen ganz herzlich, Eure Hoheit. Es war mir ein Vergnügen. Wir haben uns gegenseitig geholfen. Ich hoffe, Sie finden, was Sie suchen.« Roan schob Cruiser über die Brücke in die Stadt, aufmerksam nach Spuren Broms Ausschau haltend. Die glatten, gepflasterten Straßen wiesen keine Reifenabdrücke auf und so mussten sie sich auf Lums Instinkt für das Aufspüren der >Verzerrung< verlassen. Seltsame kleine Abweichungen, wie Briefkästen mit Krallenfüßen oder Tauben, die Menschen fütterten, zeigten ihnen eindeutig, dass sie auf der richtigen Fährte waren. Bergold holte Romneys hilfreiche Karte hervor und schlug den Stadtplan von Reverie auf. Sie machten neben einem schmiedeeisernen Zaun Halt und entfalteten die Karte mehrere Male, bis sie den kleinstmöglichen Maßstab erreicht hatten. »Er scheint hier entlanggekommen und dann gezielt ins Stadtzentrum weitergefahren zu sein«, sagte Bergold und tippte mit dem Finger auf die Hauptstraße. Er fuhr mit der Fingerspitze die Straße entlang, vorbei an der Stelle, an der sie sich befanden, und weiter zum Hauptplatz. Ganz in ihrer Nähe läuteten Kirchenglocken die Mittagsstunde ein, und das Symbol der Kirche auf dem Stadtplan bebte aus Sympathie mit
dem Glockenturm, den sie an der nächsten Ecke aufragen sahen, gleich mit. »Leider verliert sich die Spur dort. Wo sollen wir es als Erstes versuchen?« »Dies ist eine große Stadt«, sagte Leonora mit einem Blick auf das Straßengewirr auf dem Stadtplan. »Brom kann überallhin gegangen sein.« »Sind Sie sicher, dass er überhaupt in die Stadt gekommen ist?«, fragte Felan, über Bergolds Schulter auf die Karte linsend. »Ich könnte mir denken, dass er bewohnte Gegenden lieber meidet, weil er befürchtet, dort aufgehalten zu werden. Der König hat doch sicher jede Stadt und jeden Ort im ganzen Land telegrafisch alarmiert.« »Sie werden Vorräte brauchen«, sagte Roan. »Und sobald sie die haben, werden sie unbemerkt wieder verschwinden wollen«, sagte Colenna. »Das wird nicht so leicht sein.« Misha schüttelte den Kopf. »In einer Stadt wie dieser herrscht ein ständiges Kommen und Gehen.« »Eine so große Gruppe und das Ding, das sie mit sich schleppen, werden nur schwer zu vergessen sein«, sagte Felan. »Und dann ist da ja auch noch die Verzerrung, die es verursacht.« »Es ist leichter, sich in einer Stadt zu verstecken als auf dem Lande«, wandte Misha ein. »Ich werde diese Gänseblümchen niemals vergessen«, sagte Leonora mit einem Schaudern. »Es ist eine Frage der Distanz«, sagte Bergold und faltete die Karte zurück auf einen größeren Maßstab. Er deutete mit dem Fingernagel auf mehrere mögliche Routen. »Wenn er durch Reverie fährt, statt es zu umgehen, verkürzt er damit seine Fahrzeit. Wir mussten einmal um die ganze Stadt herum fahren und hoffen, dass wir seine Fährte finden. In der Stadt sind seine Auswege begrenzt. Hier haben wir eine größere Chance, ihn zu finden.«
»Das einzige, was wir tun können, ist zu fragen«, sagte Roan. »Ihre Spur zurückverfolgen können wir dann ja immer noch.« Sie fragten eine Frau, die einen Kinderwagen vor sich her schob, aber sie schüttelte bloß den Kopf und ging weiter, ohne auch nur den Blick zu heben. Das Baby in dem Kinderwagen zuckte bedauernd mit den Achseln und warf Roan einen mitfühlenden Blick zu. Die Gruppe erreichte das Ende der Straße nahe der Kirche, ohne irgendjemanden zu finden, der Brom, die Trage oder eine Motorradgang gesehen hatte. »Vielleicht sollten wir fragen, wo der Marktplatz ist«, schlug Colenna vor, »Wenn sie Vorräte einkaufen müssen, wäre das logischerweise der Ort, an dem sie das am ehesten versuchen würden.« »Wir sind auf dem Wege dorthin«, sagte Bergold, wieder einmal mit der Karte kämpfend. Hutchings nahm sie ihm aus den Händen und faltete sie ordentlich zusammen. Er gab sie ihm zurück, bemüht, nicht triumphierend zu blicken. »Danke. Das ist besser. Man kann auf dieser Straße nur in eine Richtung gehen. Siehst du? Es gibt keine anderen Ausgänge. Geradeaus und dann die erste rechts.« »Wir sollten dort wertvolle Hinweise bekommen«, sagte Spar. »Und wir können die Gelegenheit nutzen, um für uns selbst ein paar Vorräte einzukaufen«, sagte Colenna, Felan warf ihr einen durchbohrenden Blick zu. Aber die Pfeile, die er mit den Augen abschoss, verfehlten ihr Ziel und landeten scheppernd auf dem Pflaster. Bergold blieb jählings stehen und breitete die Arme aus, um die anderen vom Weitergehen abzuhalten. »Uh - oh!«, presste der Senior-Historiker hervor, tiefe Verzweiflung in der Stimme. »Jetzt haben wir ein echtes Problem.« »Hast du Brom gesichtet?«, fragte Roan, in die Menge
spähend. »Nein, schlimmer«, sagte Bergold. »Schau doch! Da ist ein Buchladen. Ein großer.« »O nein!« Roan starrte hinauf zu dem leuchtend bunten Schild, das keine zwanzig Schritt vor ihnen über dem Bürgersteig hing. Ein Buchladen! Die größte Gefahr, die eine Stadt bieten konnte! Was sollten sie tun? Die Straße, die sie nehmen mussten, um zum Marktplatz zu gelangen, führte geradewegs an ihm vorbei. Er wandte sich in der Absicht hastig um, die Gruppe umkehren zu lassen und sie über einen Umweg zum Markt zu führen, doch zu spät: Die verlockende Aura von Vergnügen und erwartungsvoller Vorfreude, die der Buchladen verströmte, hatte ihn bereits umhüllt und gefangengenommen. Der Duft von Kaffee umwehte seine Nase. Er machte auf dem Absatz kehrt und starrte erneut auf das leuchtende Schild. Sein Geist umnebelte sich. Wie schön das wäre, dachte er sehnsüchtig, ein Weilchen herumzustöbern, sich vielleicht ein bisschen hinzusetzen und eine Tasse Kaffee zu trinken und zu schmökern... Nein! Was spann er da herum! Er befand sich auf einer lebenswichtigen Mission! Er musste das Traumland retten! Aber wer weiß ... vielleicht gab es Anleitungen zum Heldentum in der Soziologieabteilung ... Auch die anderen unterlagen dem Zauber. Die Pupillen vo n Leonoras grünen Augen dehnten sich über die Netzhaut, als sie auf das Schild starrte. Bergold schüttelte prüfend seine Schultertasche, als wolle er ermitteln, ob nicht vielleicht noch Platz für den einen oder anderen Band war. Alle traten einen Schritt näher und hoben bereits den anderen Fuß, um den nächsten Schritt zu tun. Roan zog sie zurück und der Bann brach für einen Augenblick. »Das muss ein sehr gutes Geschäft sein«, sagte Leonora,
Roans Oberarm fest mit den Händen umklammernd, wie als wolle sie sich an ihm festhalten. »Ich kann den Sog, der von ihm ausgeht, bis hierher fühlen. Halt mich fest, sonst erliege ich ihm.« »Ich auch«, sagte Bergold. »Wir müssen uns gegenseitig helfen.« Der Drang, in den Laden hineinzugehen, war überwältigend. Der Sirenenruf der Bücher war ein solch süßer Gesang in seinen Ohren, dass Roan sie sich zuhielt, um ihn auszusperren. Leonora schmiegte den Kopf an seine Schulter und schloss die Augen. Wenn sie dem Drang nachgaben und in den Buchladen gingen, würden sie für Stunden dort gefangen sein, von Regal zu Regal gezogen, ja geradezu gesogen, von der schieren Neugierde, jeden einzelnen Titel zu überfliegen oder ein besonders verlockendes Buch aus dem Regal zu ziehen und darin zu lesen, eingelullt von einer hypnotischen Atmosphäre der Muße, die sie die Sorgen des Alltags und der Außenwelt vergessen ließe. Ihre Sache wäre verloren, ihre Mission gescheitert. Roan ertappte sich dabei, wie er erneut einen Schritt in die Richtung des Ladens tat. Seine Füße bewegten sich aus eigenem Antrieb heraus über das Pflaster. Stop! dachte er zu ihnen. Stop! Sie konnten es sich nicht leisten, den Tag zu verlieren. Brom war nicht weit, das spürte er. Das Traumland, er musste an das Traumland denken und an die Bedrohung durch den WECKER! Aber seine Füße verweigerten den Befehl und machten sich auf den Weg zu dem Laden. »Wir haken uns alle gegenseitig unter«, sagte Roan und hakte sich bei Colenna unter. Die hängte sich bei Spar ein. Bergold nahm Leonoras anderen Arm und Misha hakte sich bei ihm ein. »Wir rennen schnell vorbei. Auf diese Weise vermeiden wir es, hineingesogen zu werden.« »Haltet euch fest«, rief Lum, als die anderen Gardisten
einander unterhakten. »Fertig?« »Fertig!«, sagte Bergold. Sie waren nur noch wenige Zoll von der Eingangstür entfernt. Der Sog war nahezu übermächtig. »Eins, zwei, drei - los!« Roan stürzte sich vorwärts. Als die Gruppe an der Tür vorbeistürmte, bekam sie die volle Wucht der Anziehungskraft zu spüren. Gib ihr nach, raunte es in ihren Köpfen. Du willst es doch selber! Alles andere kann warten. Der Kaffeeduft lockte betörend, bequeme Sitzpolster winkten verführerisch, die leuchtenden Farben tanzten, packende Titel und vollmundige Testimonials - >Ich habe dieses Buch in einem Zug gelesen>; Stephanie Queen - dröhnten verheißungsvoll in ihren Ohren. Roan fühlte, wie sein Schwung jäh erlahmte. Und er fühlte ebenso, wie auch die anderen ins Stocken gerieten. »Hilfe«, ächzte Colenna. »Nun denn!«, sagte Spar, mannhaft und wacker. Wie immer schien der Hauptmann der Garde unbeeindruckt von den unsichtbaren Mächten, die alle anderen lahmten. Spar marschierte rüstig zur anderen Seite des Buchladeneingangs, sein Ende der Schlange im Schlepptau. Er stemmte sich mit den Absätzen gegen die Kante einer etwas hervorstehenden Gehwegplatte und zog. Die anderen kamen ihm entgegengeflogen wie Korken aus einer Flasche. Roan kam stolpernd zum Stehen und schaffte es gerade noch, Leonora aufzufangen und sie davor zu bewahren, dass sie gegen die Wand knallte. Er keuchte vor Anstrengung. Eine Schweißperle kullerte ihm ins Auge. Felan stand schwer atmend gegen die Wand gelehnt. »So, jetzt seid ihr in Sicherheit«, sagte Spar und legte schützend den Arm um Colenna. »Sind Sie wohlauf? Meine Liebe? Eure Hoheit?« Colenna lehnte sich mit einem stummen Lächern an seinen
Arm und Leonora nickte. »Besten Dank, Herr Hauptmann«, sagte Roan. Seine Kehle war ganz trocken von den köstlichen Capuccinodämpfen. »Das gehört alles mit zu meinem Job«, sagte Spar. Er nahm Colennas Hand, klinkte sie in seine Armbeuge und marschierte weiter, stolz gereckt. Es war nur unwesentlich leichter, von dem Eingang wegzutreten, als es gewesen war, dem Drang zu widerstehen, zu ihm hin zu gehen. Überall um sie herum auf der Straße waren Dutzende von anderen, die nicht über die eiserne Selbstbeherrschung eines Hauptmann Spar geboten. Roan hatte Angst um sie. Einige klammerten sich verzweifelt an Laternenpfählen, Hydranten oder aneinander fest, um nicht von dem Sog fortgerissen zu werden. Eine Passantin, die nichtsahnend ihren Pudel auf der anderen Straßenseite spazierenführte, wurde von der verführerischen Anziehungskraft urplötzlich am Schlafittchen gepackt und quer über die Straße gezerrt, wo sie vom Eingang des Geschäfts regelrecht aufgelutscht wurde, wie eine Nudel vom saugenden Lippenpaar eines verspielten Spaghettiessers, gefolgt von ihrem ängstlich kläffenden Vierbeiner. »Das hätten genausogut wir sein können«, sagte Felan wehmütig. »Kommt, weiter jetzt«, sagte Roan, mit gutem Beispiel voranschreitend. »Wir sollten hier nicht herumstehen. Der Sog könnte uns aufs Neue erfassen.« Die Vorderfront des Buchgeschäfts war voller kleiner Schaufenster. In dem Fenster vor ihm stach Roan ein Titel ins Auge. >Das Buch der LiebeSitze< hing eine metallene Querstange zum Festhalten - das war alles, was von den Motorrädern übriggeblieben war. Die Sitze waren paarweise angeordnet: jeweils drei zu beiden Seiten eines leeren Mittelganges, der groß genug war, um ihr Gepäck und den WECKER aufzunehmen. Ein kurzer Blick durch die Runde zeigte ihr, dass sie nicht die einzige war, die sich entsetzt über das Erscheinungsbild des Gefährts zeigte. »Es wird reichen müssen«, sagte Brom, dem äußerlich nicht anzusehen war, ob er ihr Entsetzen bemerkte. »Jetzt ladet rasch eure Sachen und den WECKER auf und dann nichts wie los!« Mit diesen Worten hüpfte er auf die Plattform. Er schürzte seine Robe, um sich nicht zu verheddern und schwang sein behostes Bein über den Sattel auf der Vorderseite des Vehikels. »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Unsere Verfolger werden nicht ewig in Reverie aufgehalten werden.«
Taboret erkannte sofort, dass das Vehikel missraten war. Es besaß längst nicht diese Aura von Vollkommenheit, die ihre Lager oder auch ihre künstlichen Ärgernisse ausgezeichnet hatte. Es war schäbig anzusehen, wie als wäre es aus Ersatzteilen zusammengeschustert. Statt an anderen Reisenden mit Würde und Stil vorbeizugleiten, mussten sie befürchten, ausgelacht zu werden. Sie spürte die unterschwellige Enttäuschung der anderen, als sie ihre Plätze einrahmen. Glinn ließ sich neben ihr auf seinem Schaukelpferdsitz nieder und hielt sich an der metallnen Querstange fest. Taboret blickte zu ihm hinauf und er lächelte ihr zu. Sie war froh, in seiner Nähe zu sein. Er strahlte immer so viel Zuversicht aus. Zu ihrer anderen Seite stand, verborgen unter seiner Segeltuchplane, der WECKER, ein bösartiger, furchteinflößender Trumm. Brom trat auf ein großes Bodenpedal. Die kombinierten Motoren unter der Plattform nahmen mit einem lauten Dröhnen ihren Dienst auf und das Vehikel setzte sich mit einem Ruck in Bewegung. Groß und ungefügig, wie es war, hatte es natürlich einen riesigen Wendekreis. Brom zog es in einem weiten Bogen herum, um zurück auf die Straße zu gelangen. Unter wildem Schlingern und Schaukeln pflügte das Ungetüm durch das Sumpfgelände, das Röhricht unter seinem schieren Gewicht plattwalzend. Als es seine eigene Bahn kreuzte, sah Taboret, dass es vier Reihen Reifen unter sich hatte, die es für die Durchquerung schweren Geländes geeignet machten, nicht aber für graziöses Dahingleiten. Bräunliches Sumpfwasser spritzte rings um den Rand der Plattform auf. Brom hatte zunächst Schwierigkeiten, das Vehikel auf Kurs zu halten. Wie die Dutzend Motorräder, aus denen es sich zusammensetzte, schien es in verschiedene Richtungen gleichzeitig zu streben. Als er es schließlich schaffte, das Ungetüm unter Kontrolle zu bekommen und geradeaus zu lenken, steuerte er es zurück auf die Straße.
Es stand jetzt außer Frage, dass sie für den ganzen Rest der Strecke bis zu den Bergen auf den Hauptstraßen bleiben mussten, dachte Taboret. Zum Glück gab es bis dahin nur kleine Orte. Sie würden leicht zu verfolgen sein - und schwer zu vergessen. Sie hoffte bei den Schläfern, so sie denn existierten, dass der Investigator des Königs freikäme und sie noch rechtzeitig einholte. Aber wie ginge das? Als die Wissenschaftler aus Reverie abgehauen waren, hatte der Pöbel lautstark ihren Kopf gefordert, wegen der vermeintlichen Entführung der Prinzessin. Womöglich waren sie gelyncht worden oder lebenslänglich hinter Gittern gelandet. Sie hatte die Legenden über Roan gehört, wie er aus einigen furchterregenden Abenteuern entkommen war. Sie hoffte, er würde auch diesem entrinnen und zwar schnell. Die Plattform schwankte nach links und Glinn landete fast auf ihrem Schoß. Brom fuhr immer noch so, als wäre er allein auf der Plattform: Er nahm scharfe Kurven mit zu hohem Tempo und bremste scharf vor Hindernissen an, denen es auzuweichen galt. Sie wünschte, sie führe auf ihrem eigenen Motorrad und einen Augenblick lang glaubte sie fast zu spüren wie es nach ihr rief und sie anflehte, es aus der Zwangsverbindung mit den anderen zu befreien. Eigentlich, dachte sie, dürfte es kein individuelles Besitzstreben mehr geben, und sie tadelte sich dafür, dass sie dennoch welches empfand. Dieses Motorrad war kein langgehegtes, liebgewordenes Eigentum. Es war erst vor wenigen Tagen aus einer Büroklammer erzeugt worden. Warum bereitete es ihr solches Unbehagen, in einem Massentransportmittel zu reisen? Sie schlief in Lagern, die sie mithilfe des Schmelztiegels für sie alle errichteten. Es lag wohl daran, dass das Motorrad für sie persönlich, für ihren persönlichen Gebrauch angefertigt worden war, und es für die Gruppe zu requirieren war so, als nähme man ihr einen Teil ihrer Individualität. An dem Motorrad hing sie mehr als an
irgendeinem Bestandteil eines Lagers, wie zum Beispiel einem Kochherd oder einer Latrine. Sie spürte, dass alle anderen das Gleiche dachten. Sie alle fühlten, wie ihre Identität sich auflöste, in der Gestalt aufging und dort mit den anderen verschmolz, genau wie diese Massenmonstrosität unter ihren Füßen - und das gefiel ihnen nicht. Es machte sie grantig. Private Gedanken standen hoch im Kurs. Die Gruppe durchlief regelmäßig Phasen, wo jeder alles hören konnte, was die anderen dachten; darauf folgte dann stets eine Art von Reaktion, bei der jeder gegen das Zusammengehörigkeitsgefühl rebellierte und sich gegen alle fremden Gedanken abschottete. Taboret nutzte einen dieser kostbaren Augenblicke, um den Gedanken zu fassen, dass sie vielleicht ein weiteres Zeichen für Roan hinterlassen sollte, damit er ihnen folgen konnte. Sie hoffte bei den Schläfern, dass der Investigator des Königs sie rechtzeitig einholen konnte. Aber wie? Es beunruhigte sie, dass es so leicht gewesen war, diese Polizeibeamten in Reverie durcheinanderzubringen. Diese Reise besaß keine Ähnlichkeit mehr mit einem legitimen Experiment. Sie wurde mehr und mehr ... ungesetzlich. Roans Anschuldigungen hatten sie wirklich verunsichert. Vielleicht sollte Roan die Möglichkeit gegeben werden, sie solange aufzuhalten, bis jeder die Sache in Ruhe noch einmal durchdacht hatte. Sie begann - sehr zu ihrem Entsetzen ernsthaft an dem zu zweifeln, was Brom sagte. Der Gedanke, Mittäterin bei einer kriminellen Handlung zu sein, gefiel ihr ganz und gar nicht. Die einzige Möglichkeit dass der Investigator des Königs sie finden konnte war die, dass sie einen weiteren Fingerzeig hinterließ, der auf ihre Fährte wies. Das scheußliche Vehikel kam an eine Kreuzung, und Brom stoppte, um eine Schar von Gänsen vorbeizulassen. Taboret ergriff den Moment von Privatheit in ihrem eigenen Geist.
Sollte sie? Brom bemerkte ihre Unsicherheit. Er wandte sich um und schaute ihr voll ins Gesicht. Seine leuchtenden Augen loderten vor Argwohn. Taboret fühlte, wie ihr das Herz bis zum Halse schlug. Sie wollte die Augen schließen, besaß aber nicht die Kraft, sich von Broms durchdringendem Blick zu lösen. Sie hatte das Gefühl, als würde sie jeden Augenblick vor Entsetzen in Ohnmacht fallen. Furcht war genauso ansteckend wie Gähnen. Ein anderer wurde von ihrer Furcht berührt und sandte einen eigenen emotionalen Eiszapfen durch das geistige Band. Taboret japste, als ein unbekanntes Gefühl von Entsetzen zu ihr zurückkam, und fuhr herum, um zu schauen, wo es herrührte. Gab es da noch etwas anderes, das sie bedrohte? Die Unsicherheit jedes einzelnen brach wie ein Schwall hervor und ergoss sich in die emotionale Suppe. Was taten sie da? Wer waren diese Fremden, mit denen sie da reisten? Das Experiment konnte doch eigentlich gar nicht gelingen, oder? Das Feedback der Angst raste immer schneller durch den Kreis. Wenn Fahrräder durch den Schmelztiegel zu einem einzigen Vehikel vereint werden konnten, konnte das Gleiche dann nicht auch mit Menschen geschehen? Mit ihnen? Brom spürte, was sich da zusammenbraute. Er stand auf und hob beschwichtigend die Arme. »Ruhe! Ich verlange Ruhe!«, schrie er. Aber es war zu spät. Die Plattform begann unter seinen Füßen zu beben und sich aufzuwölben. Taboret wurde aus ihrem Sattel-Sitz am äußersten linken Rand des Vehikels geschleudert und landete hart in dem flachen Graben neben der Straße. Sie vernahm ein lautes Krachen gleich hinter sich, gefolgt von dem unverkennbaren Dröhnen einer WECKERglocke. Sie umschlang ihren Kopf mit beiden Armen und blieb still liegen, bis das Geräusch aufhörte.
Dann wälzte sie sich herum, sodass sie auf Händen und Knien lag und verharrte für einen Augenblick kopfschüttelnd in dieser Stellung. Das Haar, das um ihr Gesicht herum hing, war rot, nicht blond, wie es seit dem Morgen gewesen war. Sie mussten wieder in eine Einflusswolke geraten sein. Aber nein, das stimmte nicht. Als sie aufschaute, hatte sich das Vehikel erneut in eine klappernde Herde einzelner Motorräder zurückverwandelt, in deren Mitte die Trage mit bedenklicher Schlagseite, hing. Acton und Maniune waren sofort zur Stelle und halfen, Brom und die anderen aus dem Schlamassel zu befreien. Einige von ihnen waren wie sie aus dem Sattel geworfen worden, aber die, die weiter innen gesessen hatten, in der Nähe des WECKERS, hatten Pech gehabt. Sie steckten in der Straße fest, die vom Läuten der Glocken in Sirup verwandelt worden war. Aber der Schaden beschränkte sich nicht auf die Straße. Die Pflanzen um sie herum waren mutiert, von Gummibäumen zu ... künstlichen Gummibäumen mit Rinde aus buntem Papier und Blättern aus Folie; und durch das Unterholz rannten kleine Tiere, bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Glinn hob den Arm, zum Zeichen, dass er Hilfe brauchte und Taboret und zwei von den anderen bahnten sich über umgestürzte Motorräder einen Weg zu ihm. Alle hatten Prellungen und Schürfwunden davongetragen und die Motorräder waren allesamt verkratzt und verbeult. Brom sprang auf und zog die Plane vom WECKER. Er schien unversehrt, abgesehen von einem kleinen Kratzer am Gehäuse, aber schon diese kleine Macke schien den Obersten Wissenschaftler regelrecht zur Raserei zu treiben. »Ihr Narren!«, schrie er und Dampf entwich zischend aus seinen Ohren. »Ist euch eigentlich klar, was ihr mit eurem Gefühlsausbruch hättet anrichten können? Schaut euch das an!«
»Das kriegen wir wieder wegpoliert, Herr«, sagte Glinn, der geduldig wartete, während Basil und Carina ein Motorrad von seinem Bein hoben. »Wir haben Metallpolitur und Polierwatte in unserem Werkzeugkasten.« Seine ruhige Stimme schien Brom für den Augenblick zu besänftigen, aber nur solange, bis er sich umwandte und Taboret zu Gesicht bekam. Sie zuckte unter seinem lodernden Blick zusammen und wich zurück, wohl wissend, dass sie an dem Zusammenbruch schuld war. Glinn musste ihre Angst gespürt haben, denn er streckte den Arm aus und legte die Hand auf ihren Arm. »Es hat weder Knochen- noch Kurbelwellenbrüche gegeben. Es gibt lediglich eine kleine zeitliche Verzögerung, Herr. Wir können schon in ein paar Minuten weiter.« »In Ordnung«, sagte Brom, unbesänftigt, die Augen halb geschlossen. »Aber wir werden das Ganze noch einmal von vorn beginnen müssen. Und diesmal werden sich alle voll konzentrieren. Es darf keine Uneinigkeit mehr geben.« Wieder starrte er Taboret mit funkelnden Augen an, aber Glinns warme Hand auf ihrem Arm bewahrte sie davor, in Panik auszubrechen. »Jawohl, Herr«, sagte Taboret gleichmütig. Und in der Tat empfand sie jetzt nicht einmal mehr Angst vor Brom. Von dem Augenblick an, als Glinn sie berührt hatte, hatte sie jenes fast telepathische Gemeinschaftsempfinden erlebt, das der Gestaltverbindung folgte, und sie hatte gewusst, dass er sie mochte und sie intelligent und attraktiv fand. Er fühlte, dass neben ihr auf dem kurzlebigen Bus zu sitzen mehr als angenehm war. Er sehnte sich danach, dass sich dieses Erlebnis wenn möglich wiederholte. Taboret versuchte ihre Empfindungen von Freude vor den anderen zu verbergen und gestand, dass sie ihn auch gern hatte. Sie genoss seine Gegenwart und seine Unterstützung und wusste in dem Augenblick, dass er ihre diesbezüglichen Gedanken und Gefühle aufgefangen hatte. Als
Brom sich abwandte, um jemand anderen auszuschimpfen, erhaschte Glinn ihren Blick und lächelte warm. Die tiefbraunen Augen, die er heute hatte, waren gut geeignet zum In-dieSeele-blicken. Taboret spürte ein leises freudiges Kribbeln, als sie sich erneut der Arbeit zuwandte. Sobald alle Motorräder wieder aufrecht standen, der WECKER aus dem Sirup gezogen und die Blessuren der Lehrlinge verarztet waren, ließ Brom sie erneut die Gestalt formen. »Plan 16«, sagte er. »Und diesmal macht es richtig. Die Spezifikationen sind euch bekannt.« Aber es gelang auch diesmal nicht. Taboret beobachtete mit Bestürzung, wie die Motorräder sich zusammenkauerten, müde und erschöpft ausschauend. Je mehr die Gestalt versuchte, sie zum Verschmelzen und zum Verändern ihrer Form zu zwingen, desto schlapper wurden sie. »Wir werden wohl oder übel wie bisher auf einzelnen Rössern weiterreiten müssen, Herr«, sagte Glinn und zerbrach den Kreis. Taboret empfand Erleichterung, als der weiße Dunst sich verzog, und sie spürte durch das Band, wie diese Erleichterung von den anderen geteilt wurde. »Sie können sich nicht so rasch schon wieder so drastisch verändern. Sie sind schließlich bloß Materie. Sie besitzen nur minimale eigene Energie. Wenn wir sie überbeanspruchen, riskieren wir, sie ganz zu verlieren.« Brom überprüfte die Motorräder selbst und setzte einen gelangweilten Gesichtsausdruck auf, der seine Gereiztheit kaschierte, die noch immer deutlich greifbar in der Luft hing. »Na schön. Dann versuchen wir es halt später noch einmal.« Jeder zog sein murrendes Motorrad aus der Masse der Rösser heraus und saß auf. Fast jeder hatte die eine oder andere Blessur. Jedes Motorrad wies mindestens eine Delle oder Macke auf. Basil war fast hinter dem WECKER gewesen. Er
bewegte sich sehr langsam und schonte sein linkes Bein. Bolmer hielt sich den linken Unterarm. Dies war sein zweiter schwerer Unfall und er war ziemlich bissig. »Wenn ihr euch alle nur richtig konzentriert hättet«, schimpfte er, während er sich den geschwollenen Arm massierte, »hätte das Ding gehalten und keiner von uns hätte sich wehgetan.« »Tu nicht so, als ob du der Turm der Kraft wärst«, erwiderte Carina mit verächtlichem Schnauben. »Es war ihre Schuld«, sagte Lurry, auf Taboret zeigend. »Sie hat damit angefangen.« »Freunde, bitte!«, sagte Glinn, um sie abzulenken. »Ist irgendjemand ernsthaft verletzt? Nein? Sollten wir dann nicht besser weiterfahren? Wir wollen doch bis zum Einbruch der Dunkelheit noch ein gutes Stück Weges zurücklegen.« »Ja«, sagte Gano mit einem mitfühlenden Blick auf Taboret. »Es ist ja nicht so, als ob irgendjemand sich abstrampeln müsste. Kommt, Leute.« Taboret war froh und dankbar, aber sie ließ sich ans Ende der Reihe zurückfallen. Sie hoffte, allein fahren zu können, so weit weg wie möglich von den Launen der anderen. Ihre Prellungen befanden sich größtenteils auf der linken Körperseite. Es war in der Tat ein Glück, dass sie nicht in die Pedale zu treten brauchten. Zu ihrer Bestürzung entschied sich Bolmer, auf seinem verbeulten Motorrad neben ihr zu fahren. Die Motoren sprangen an, nicht ohne das eine oder andere protestierende Stottern und die Gruppe fuhr weiter. Vorneweg, flankiert von dem Söldnerpaar, saß Brom auf seinem Ross, hoch aufgerichtet, den Hals nach vorn gereckt. Taboret wusste, dass er jetzt nicht mehr über sie nachdachte. Er war mit seinen Gedanken weit weg; wahrscheinlich war er dabei, über eine Lösung für das Massentransportproblem nachzusinnen. Bolmer begann über irgendetwas herumzunörgeln; Taboret stellte ihre
Ohren sofort auf Durchzug. Schnell, sagte ihr Gehirn, als sie spürte, wie der Druck der Beobachtung durch den Boss von ihr wich, jetzt sieh zu, dass du deinen Fingerzeig hinterlässt. Die glatte, frisch gepflasterte Fahrbahn bot keine Möglichkeit, eine Botschaft für ihre Verfolger zu hinterlassen. Es gab keine Schlaglöcher oder ausreichend breite Fugen, in denen man mit dem Reifen hätte hängenbleiben können, um einen Sturz hinzulegen. Die Bäume, die die Straße in kleinen Gruppen flankierten, waren jung und dünnstämmig. Sie waren kaum breit genug, um ACHTUNG mit dem Finger auf irgendeinen von ihnen zu schmieren. Und was würde sie sagen, wenn einer von den gedungenen Schlägern noch einmal umkehrte und ihre Botschaft sah? Nein, es müsste ein deutlich erkennbarer, bezeichnender Gegenstand sein, der sich aus keinem anderen Grund auf dieser Straße befinden konnte, und es müsste etwas sein, das als zufällig dort liegend durchgehen konnte. Sie kamen durch ein kleines Städtchen. Brom befahl ihnen, den WECKER als Heuwagen zu tarnen. Taboret hatte erst wieder Gedankenfreiheit, als sie am letzten Haus vorbei gekommen waren. Ihre Chance kam unmittelbar danach, an der nächsten Querstraße. Auf der Landkarte vor ihrem geistigen Auge, die sie mit allen anderen in der Gestalt teilte, sah sie, dass sie zur Grenze zwischen Wocabaht und Rem führte. Brom war so sehr damit beschäftigt, darauf aufzupassen, dass der WECKER ohne anzustoßen die scharfe Biegung nach links nahm, dass die Fahrer am Ende des Pulks für einen Augenblick unbeobachtet blieben. »Halt!«, rief Brom. »Lurry, Sie und Basil, strengen Sie Ihren Verstand an. Wir benötigen ein Abschreckungsmittel, das wir hier an dieser Stelle zurücklassen. Nur für den Fall, dass.« »Aber Roan und seine Leute sind in Reverie in Haft!«
protestierte Glinn. »Die Haft ist nur vorübergehend«, belehrte ihn Brom. Er wandte sich zu Basil. »Bleiben Sie hier, bis Sie den Auftrag erledigt haben und kommen dann nach.« Taboret konnte Basils Widerstreben spüren, aber er gehorchte und lenkte sein Motorrad an den Straßenrand. Kurzentschlossen riss sie den obersten Knopf von ihrer Tunika. Als sie um die Ecke fuhr, ließ sie ihn auf der neuen Straße ganz dicht an den Büschen fallen, damit die Verfolger erkennen könnten, welchen Weg sie genommen hatten, und gewarnt waren, dass sich etwas vor ihnen befand. So, jetzt war es vollbracht. Wenn Roan und seine Freunde es bis hierher schafften, würden sie es sehen. Der Rest des Nachmittages verging ereignislos. Jeder fing an, sich wieder zu entspannen und das geistige Band begann sich mit oberflächlichen Gedanken zu füllen. Taboret unterdrückte die Angst, die sie empfand, dass irgendjemand ihre hochverräterische Tat beobachtet haben konnte. Sie versuchte zu vermeiden, allzu tief in den beständig dahinplätschernden Gedankenfluss hineingesogen zu werden, aber sie musste andererseits kooperieren und Teil der Gestalt sein - oder Brom erklären, warum sie es nicht tat. Zum Glück gingen auch Gano, Basil und Carina die ständigen Übergriffe auf ihre privaten Gedanken zunehmend gegen den Strich. Und keiner verspürte ein gesteigertes Interesse, persönlich die intimen Gedanken der Zwillingsbrüder kennenzulernen, die innen genauso abstoßend und widerwärtig waren wie außen. Dank den Sieben - so sie denn existierten und Taboret hoffte inbrünstig, dass sie es taten -, dass Glinn da war. War dieses warme, flaumige, verschwommene Gefühl bloß das geistige Band, das sprach? War sie jetzt dauerhaft mit der gesamten Gruppe verbunden, im Laboratorium und außerhalb? Würden sie eine Massenehe oder irgendeine ähnlich geartete Bindung
eingehen, wenn dies alles vorbei war? Der Gedanke stieß sie zutiefst ab. Nein, dachte sie, als sie ihre Gefühle sorgfältig überprüfte, ich empfinde noch immer keine Zuneigung für Brom oder Doolin und Dowkin. Sie vermutete, dass es später dazu kommen konnte - und hoffte aufrichtig, dass es das nicht tun würde. Die Gefühle, die sie hatte, galten allesamt ausschließlich Glinn. Dann und wann fühlte sie, wie ein Funke der Erwiderung von ihm durch das Band zu ihr zurückkam. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass die Fahrt endlich zu Ende war, damit sie ihn beiseite nehmen und herausfinden konnte, ob sie sich die quälenden Bilder, die ihr im Kopf herumspukten, ausgedacht hatte. Die Vorfreude nahm sie so gefangen, dass sie die Sache mit dem Knopf ganz vergaß. Sie fiel ihr erst wieder ein, als sie die Stelle erreichten, die Brom für das Nachtlager ausersehen hatte. »Taboret, an deiner Tunika ist der oberste Knopf ab«, sagte Gano, als sie an ihr vorbeifuhr, um ihr Motorrad in dem rasch errichteten behelfsmäßigen Pferch zu parken. Taboret wurde sofort rot. »Wirklich?«, fragte sie mit Unschuldsmiene. Sie fühlte an den lose hängenden Fäden, und alle Gedanken, die sie am Nachmittag gehabt hatte, kamen wie eine Flutwelle zu ihr zurück. »Sie muss ihn in dem allgemeinen Tohuwabohu verloren haben, als die Plattform auseinander brach«, sprang Glinn ihr bei. »Es ist überhaupt ein Wunder, dass dabei niemand ernstlich zu Schaden gekommen ist.« Sie warf ihm einen dankbaren Blick zu. »Schlampigkeit«, schimpfte Brom, urplötzlich neben ihnen auftauchend. Taboret fuhr erschreckt hoch. Er musterte ihre Tunika und sah sie mit einem Blick äußersten Abscheus an. »Bringen Sie das wieder in Ordnung. Es beeinträchtigt Ihr
Erscheinungsbild.« »Eh, hm«, stotterte sie und griff sich an die Kehle Sie wünschte sich, dass Glinn ihr wieder beispringen würde, und wunderte sich gleichzeitig über die Schwierigkeiten, die sie damit hatte, etwas zu erwidern. Sie war noch nie in die Verlegenheit gekommen, jemanden zu brauchen, der für sie sprach. Was war mit ihr los? Die Anspannung begann ihr das Gehirn zu vernebeln. »Ich habe kein Nähzeug, Herr«, brachte sie schließlich heraus. »Improvisieren Sie«, sagte Brom kurzangebunden. Er ließ mittels Willenskraft einen kleinen runden Stein vom Boden in seine Hand springen. Er drückte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger platt. Zwei kleine Löcher erschienen in ihm. Er warf ihn ihr zu. Geistesgegenwärtig fing Taboret ihn auf, bevor er sie im Gesicht treffen konnte. Sie raffte allen Einfluss zusammen und vollendete die Umformung des Steines, indem sie ihn weiter abflachte und die Grate am Rand glättete. Mit einem weiteren Einflussstoß verlängerte sie sodann die herunterhängenden Fäden unter ihrem Kragen und befestigte den steinernen Knopf. Sie hatte Nähen immer gehasst. Brom wurde es überdrüssig, ihr beim Herumfummeln mit den Fadenenden zuzuschauen, und er ging weg, um nach dem WECKER zu schauen. Wenigstens hatte er sie nicht weiter wegen des verlorenen Knopfes gelöchert. Während sie den letzten Knoten abband, dankte Taboret ihrem Glücksstern -oder wem auch immer, der auf törichte junge Wissenschaftlerinnen aufpasste, und sputete sich, um ihre Pflichten beim Aufschlagen des Lagers zu übernehmen.
27. KAPITEL Roan und seine Leute ritten weiter. Er und Hutchings hatten stundenlang in vollem Galopp reiten müssen, um Bergold einzuholen. In dem Augenblick, als er aufgetaucht war, hatte Bergold seine Gestalt wieder in eine Version seiner üblichen Erscheinung zurückverwandelt: kleiner, rundlicher und entspannter. Er ritt auf seinem roten Wallach ein Stück neben Roan her. »Puh! Es ist ganz schön anstrengend, du zu sein«, sagte Bergold mit einem breiten Lächeln zu seinem Freund. »Ich hatte eigentlich nie so richtig zu würdigen gewusst, wie schwer es ist, immer gleich zu bleiben.« »Es fällt leichter, wenn du es schon lange Zeit gemacht hast«, sagte Roan leichthin. »Hast du Ihre Hoheit noch gesehen, bevor du Reverie verließest?« »Nein«, sagte Roan. »Sir Osprey ist vor euch weggefahren.« Er seufzte und starrte verloren zum fernen Horizont. Ein paar von den Pogostock-Hüpfratten sprangen durch die Landschaft, schwarze Silhouetten vor dem gelben Himmel. Die Sonne war im Untergehen begriffen. »Sie werden inzwischen zu Hause sein.« »Es wird ihr schon gut gehen, mein Lieber«, versuchte Bergold ihn aufzumuntern. Roan nickte. »Also, ich werde sie vermissen«, sagte Colenna, während sie sich im Sattel umwandte und den Ellenbogen auf ihre Handtasche stützte. »Sie war ein tapferes kleines Mädchen.« »Ich werd sie auch vermissen«, sagte Roan. Die Worte waren so unzureichend, sie fühlten sich an wie der Korken in einer Flasche - berstend voll mit Gefühlen, die mit Macht unter
ihm aufwallten. Jeden Augenblick würde der Korken hochgehen und alles würde herausplatzen in einem brodelnden Strom von bewegten Worten über wahre Liebe und heißen Trennungsschmerz Doch nein. Er fand keine Worte. Alle Worte, die er hatte waren in Reverie zurückgeblieben, auf unzähligen Bögen Papier. Alles was ihm geblieben war, waren Kummer, Sorge und Enttäuschung, die sein Herz und seinen Magen zu einem einzigen traurigen Wirrwarr verknoteten. Sein einziger Trost war, dass sie jetzt sicher war vor den Gefahren, die vor ihnen lagen. »Sie wird wissen wollen, wie wir vorankommen. Ich leihe Ihnen gern ein paar Briefmarken, wenn Sie ihr selbst eine Botschaft schicken wollen«, erbot sich Felan höflich. »Ich komm gern darauf zurück«, erwiderte Roan überrascht. Der jüngere Historiker wirkte zahmer als früher. Roan fragte sich, welche Art von Druck die anderen auf ihn ausgeübt hatten, nachdem sie Reverie verlassen hatten. Hauptmann Spar machte einen selbstzufriedenen Eindruck. Gewalt war ganz bestimmt nicht angewendet worden, aber wo Felan früher keck und aufmüpfig gewesen war, erschien er jetzt geradezu zivil und zurückhaltend. Den anderen war das auch aufgefallen. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«, erkundigte sich Colenna. »Haben Sie womöglich Fieber?« »Mir geht's gut«, erwiderte Felan ohne seine übliche Pampigkeit. »Ich bin vielleicht ein wenig müde. Ich bin das Reisen nicht gewohnt.« »Es war gut, dass Sie bei der Gruppe geblieben sind«, sagte Roan. »Trotz Hauptmann Spars sanfter Überzeugungstechniken. « »Häh?«, rief der Hauptmann der Garde von der Spitze des Zuges, eine Unschuldsmiene aufsetzend. Felan lachte. »Es war eigentlich gar nicht so schlimm. Was haben die in Reverie mit Ihnen angestellt?«
»Aufsatztest«, sagte Roan, wortkarger, als er eigentlich gewollt hatte, aber er hatte einen großen Teil seines Vokabulars bei der Prüfung aufgebraucht. Felan schauderte zusammen. »Sie haben mein Mitgefühl.« »Es wird langsam dunkel«, verkündete Korporal Lum. »Wir sollten allmählich daran denken, eine geeignete Stelle für unser Nachtquartier zu suchen. Wir könnten sonst womöglich geradewegs in eine von Meister Broms niedlichen kleinen Monstrositäten hineintappen, ohne sie zu sehen.« »Ich würde einiges darum geben, einmal zu sehen, wie er Ärgernisse kontrolliert«, sagte Bergold nachdenklich. »Das wäre eine große Hilfe.« »Brom glaubt wahrscheinlich, dass wir noch in Reverie sind«, sagte Felan. »Er ist vor uns aufgebrochen.« »Unterschätzen Sie Brom nicht«, sagte Roan, eine Augenbraue hochziehend. »Er ist intelligent und er ist listig.« Er borgte sich die Landkarte von Bergold aus und hielt Colennas Mehrzwecklampe darüber. »Nicht allzu weit vor uns befindet sich ein Hügel, der einen guten Blick über eine Kurve bietet. Falls er sich nicht in der Zwischenzeit abgeflacht oder eingeebnet hat, würde er einen guten Platz für ein einigermaßen gut zu verteidigendes und trockenes Lager abgeben.« »Da wir gerade von trockenen Lagern sprechen«, sagte Bergold und stieß Roan in die Rippen, als er sich die Karte zurückholte. »Erinnerst du dich noch, wie wir in dieser WadiStadt in der Nähe von Buchara waren?« Roan lachte, für den Augenblick aus seinem Kummer herausgerissen. »Und ob! Ich dachte, es wäre der netteste Ort, an dem ich je gewesen war, bis wir feststellten, dass das Ganze eine Fata Morgana war.« Er wandte sich zu den anderen, um es ihnen zu erklären. »Wir waren dort, um eine Flotte von Wüstenschiffen zu treffen, die eine lebende Sphinx gesichtet
hatten und uns ihren Bericht anzuhören. Wir tranken Sorbets und lagen faul am Pool eines Luxushotels herum, als plötzlich alles verschwand und wir allein platt im Sand lagen. Der echte Wadi war meilenweit entfernt.« »Du warst ja noch vergleichsweise fein raus«, sagte Bergold schmunzelnd, während er die Karte wieder zusammenfaltete, »aber ich war gerade im Wasser, als das Trugbild in sich zusammenfiel. Sand, Sand, Sand und nochmal Sand.« Er drückte Colenna die Karte in die Hand. »Könntest du das mit dem Zusammenfalten vielleicht übernehmen, meine Liebe? Die Karte mag mich einfach nicht. Ach, das waren noch Zeiten!« Roan lächelte. Das waren in der Tat glücklichere Tage gewesen als diese. Er und Bergold hatten viele schöne Zeiten miteinander erlebt. Während er sich an sie zurückerinnerte, wurde ihm einmal mehr bewusst, wie sehr er den Historiker mochte und respektierte. Es war eine große Erleichterung, ihn auf dieser Reise bei sich zu wissen. Immer wenn er kurz davor war, die Hoffnung aufzugeben, verstand es Bergold, ihn und die anderen wieder aufzumuntern. Er war ein Mann von überraschendem Einfallsreichtum. Es kam ihm geradezu unglaublich vor, dass es erst ein paar Tage her war, dass die Gruppe von der Hauptstadt aufgebrochen war. Roan fand, dass er sich seitdem verändert hatte, wenn auch ausschließlich innerlich. Er war selbstbewusster geworden - und hatte zugleich an Selbstsicherheit eingebüßt. Ersteres, weil er in die Rolle des Führers hineingewachsen war und über das Maß an Kooperationsbereitschaft, das die Gruppe ihm entgegengebracht hatte, überrascht gewesen war. Letzteres, weil ihm bis dahin nie bewusst gewesen war, was es bedeutete, für das Leben so vieler anderer verantwortlich zu sein. Der gute Bergold schien exakt derselbe zu sein, stets freundlich und durch nichts aus der Ruhe zu bringen, welches auch immer sein äußeres Erscheinungsbild war.
Roan rutschte mit seinem schmerzenden Hintern auf dem Sattel hin und her, um eine Stelle zu finden, die auf dem harten Ritt noch nicht wundgescheuert war. Er freute sich schon darauf, ihn mit der Salbe aus seinem Rucksack einzureihen, sobald sie angekommen waren. Die Dämmerung brachte eisige Kälte mit sich. Der Winter nahte mit Riesenschritten in Wocabaht. Der Wille des Schläfers beschwor Tiere und Anblicke herauf, die fremd waren für jemanden, der in Celestia aufgewachsen war. Kleine graue Bären mit doppelten Daumen, die sich an Baumstämmen festklammerten, starrten sie mit großen traurigen Augen an, als sie vorüberfuhren. Nachtvögel stießen von oben herab und schwirrten über ihre Köpfe hinweg. Mit einem erschreckten Aufschrei wich Spar einem aus, der haarscharf an seiner Kappe vorbeischoss. Die Schatten wurden zwischen den spärlichen Bäumen und Büschen tiefer und warfen seltsame, unerwartete Formen auf ihren Pfad. Die Pferde schritten behutsam vorwärts, alle Sinne auf das Äußerste angespannt. Roan dachte, dass dieser Wald so beschaffen war, wie der Albtraumwald Millennien oder Billennien zuvor ausgesehen haben musste. »Habt ihr das gehört?«, fragte Lum plötzlich in die Stille hinein, »Hörte sich an wie >bsspBsspBssp< oder vielleicht irgendein Tier->Bssp