Manfred Weinland
Die Graue Eminenz Bad Earth Band 20
ZAUBERMOND VERLAG
In der Ewigen Stätte des Aquakubus liegt die...
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Manfred Weinland
Die Graue Eminenz Bad Earth Band 20
ZAUBERMOND VERLAG
In der Ewigen Stätte des Aquakubus liegt die Silberstadt, das Machtzentrum der Treymor. Die Insektoiden erwarten den Besuch ihrer geheimnisumwobenen Gönner, die zugleich die Erzfeinde der Bractonen zu sein scheinen. Doch um die Gerufenen gebührend empfangen zu können, muss erst wieder Ruhe in den Kubus einkehren. Und um das zu erreichen, ist den Treymor jedes Mittel recht … John Cloud ist in der Gewalt der Treymor, und die restliche Crew versucht verzweifelt, zu ihm vorzudringen. Nicht nur das Schicksal des Commanders steht auf dem Spiel, auch das eigene. Denn die Treymor haben auch die RUBIKON in ihrer Gewalt. Und das uralte Wesen, das der Mannschaft Zuflucht bietet, verfügt nicht über die Machtmittel, um es offen gegen die Eroberer aufzunehmen. Dennoch ist Taurt ein wertvoller Verbündeter, ohne den es kaum eine Überlebenschance gäbe. Doch die Treymor sind gewarnt. Ihre Patrouillen durchkämmen den Kubus auf der Suche nach dem Stützpunkt der Widerständler. Dabei scheuen sie sich nicht, Welten zu zerstören …
Was bisher geschah … Auf der Suche nach Saskana, der Heimatwelt des verstorbenen Boreguir, wird die RUBIKON-Crew im Zentrumsgebiet der heimatlichen Milchstraße Zeuge eines Raumgefechts. Eine goldene Kugel wird von fremden Raumschiffen angegriffen und vernichtet. Der Gloride Fontarayn wird als einziger Überlebender geborgen. Er stammt aus Andromeda und führt die RUBIKON hinter den Ereignishorizont des zentralen Milchstraßen-Black-Holes, wo sich eine sogenannte CHARDHIN-Perle befindet, die zu einem universellen Netz von Stationen gehört, welche zu jeder Zeit existieren. Mit Mühe kann die RUBIKON-Crew den Gefahren der Station trotzen. Wieder heil zurück im Normalraum, begegnen sie einem weiteren Gloriden namens Ovayran. Zum ersten Mal erfahren sie etwas über die Treymor, die Fontarayns Schiff vernichteten. Um der TreymorGefahr Herr zu werden, beschließt man den Aufbruch zur Andromeda-Perle. Bei einer Transition dorthin wird die RUBIKON jedoch zweihundert Jahre weit in die Zukunft geschleudert … und findet Andromeda völlig anders vor, als von Fontarayn beschrieben. Es häufen sich die Anzeichen, dass die Satoga, die vor zwei Jahrhunderten nach Andromeda aufbrachen, um sich dort friedlich anzusiedeln, verheerende Kriege gegen die hier beheimateten Völker geführt haben. Aber es kommt noch schlimmer: Die Andro-Perle steht kurz vor der Aufgabe durch die Gloriden und ihren Perlenweisesten. Als letzten Gefallen will er die RUBIKON in die Vergangenheit versetzen und ihr so die Möglichkeit geben, die Hintergründe des rasanten Verfalls des universellen Netzwerks aufzudecken. Scobee will diesen Transfer jedoch nicht mitmachen, sondern bricht stattdessen mit Ovayran in dessen Schiff Richtung Milchstraße auf. John Cloud und die RUBIKON passieren indes die Portalschleuse der Andromeda-Perle und erreichen ihrerseits die Milchstraße, jedoch in einer anderen Zeit. Nicht identifizierbare Objekte um-
schwärmen die Milchstraßen-Perle. Cloud und Jarvis begegnen schließlich einem der legendären ERBAUER. Er nennt sich Kargor und übernimmt die volle Befehlsgewalt über die RUBIKON, die zu einer Mission in die Milchstraße aufbricht, von der laut Kargor der Fortbestand des ganzen Universums abhängen könnte. Im System Butterfly-M2 wird man schließlich fündig. Dort residiert der »Zeitverbrecher« Darnok, ganz in seinem Streben nach Rache aufgehend. Die Besatzung der RUBIKON überwältigt ihn, doch es sind Jahrzehntausende in der Milchstraße vergangen, als das Entartungsfeld endlich erlischt. Jahrzehntausende, in denen sich die Menschen auf der Erde und sämtliche anderen bekannten Hochzivilisationen, vom Rest der Galaxie abgeschnitten, fortentwickelt haben. Auch die Erde ist nicht mehr wiederzuerkennen. Ihr Besuch endet in einem Beinahe-Desaster, denn sie und der Mond sind zu einem von der sogenannten »Oortschale« umschlossenen Hohlweltkonstrukt geworden, in dessen Vakuumzone eine ganz neue Menschenspezies aktiv ist: die Vaku-Farmer. Bei ihrem Vorstoß zerstört die RUBIKON unbeabsichtigt »Weiden« der Farmer, worauf John Cloud vor ein Tribunal gestellt wird. Oberster Richter ist der mit einem Residenz-Gigahirn verwobene Reuben Cronenberg, der eine bizarre Unsterblichkeit erlangt hat. Der RUBIKON mit John Cloud gelingt die Flucht aus Cronenbergs Machtbereich, als eine Flotte von Treymor-Schiffen über der Erde auftaucht. Kurz darauf steht ein sehr viel angenehmeres Wiedersehen auf dem Programm: Kargor führt die Crew wieder mit Scobee zusammen und offenbart das Angksystem mit all seinen Geheimnissen. Als es dort auf dem Planeten Portas – wohin es zeitweise auch Jiims Sprössling Yael verschlägt – Anzeichen gibt, die darauf schließen lassen, dass die ERBAUER, die sich selbst Bractonen nennen und als Schöpfer unseres Universums zu erkennen geben, endlich wieder den Weg zurück in ihr angestammtes Kontinuum finden konnten, verabschiedet sich Kargor von der RUBIKON-Mannschaft, die enormen Zuwachs von den Angkwelten erhalten hat. In der Anomalie eines Milchstraßenplaneten trifft sie ausgerechnet
auf Sobek. Der bringt die RUBIKON in seinen Besitz und steuert gemeinsam mit seiner Gefährtin Siroona die alte Heimat der Foronen, Samragh, an. Dort kommt es zum Duell mit Mecchit, der das wieder erblühende Foronenreich mit harter Hand regiert. Sobek siegt, Mecchit stirbt … aber dann kommt alles anders als erwartet. Ein in den Randgebieten Samraghs auftauchendes Phänomen – Tausende Sterne verschwinden ohne erkennbaren Grund – lockt Sobek an, und die Fremdtechnik aus der Anomalie, mit der er die RUBIKON unter seine Kontrolle bringen konnte, wird im Einflussbereich des Unfassbaren zerstört. Sobek stirbt. Und Siroona erhält von John Cloud die Chance, ihr Volk auf einen friedlichen Weg zu führen. Die RUBIKON aber kehrt in die Milchstraße, ins Angksystem zurück und informiert die Bractonen über ihre besorgniserregende Entdeckung. Eine Expedition ins galaktische Zentrum bringt es dann an den Tag: Der kosmische Bereich, in dem die Menschen siedeln, steht vor dem Kollaps, vielleicht das ganze bekannte Universum. Den verwaisten Platz der von Kargor mobil gemachten CHARDHIN-Station hinter dem Ereignishorizont des Super Black Holes hat eine Negaperle eingenommen. Im Heimatkontinuum der ERBAUER scheint man beschlossen zu haben, das EXPERIMENT (unser Universum!) rigoros zu beenden. Nur unter Einsatz fast aller vorrätigen Tridentischen Kugeln gelingt es schließlich, die Negaperle zu eliminieren und eine neue »gesunde« CHARDHIN-Station im Milchstraßen-Black-Hole zu installieren. Die Gefahr scheint gebannt, doch wieder einmal haben auch die Treymor von sich reden gemacht. Bis zum letzten Moment versuchten sie, die Negaperle zu schützen. Ihre Motive sind mysteriöser denn je. Dann aber führt ihre Spur zum vernichtet geglaubten Aquakubus. Und der Überlebenskampf der dortigen Völker spitzt sich zu …
1. Eine 13 Milliarden Jahre alte Galaxie, zu der die Treymor in besonderer Beziehung standen … Scobee spürte, wie sich ihre Magennerven beim Gedanken an eine solch gewaltige Entfernung zusammenzogen. 13 Milliarden Jahre brauchte das Licht Eleysons, bis es die Optik eines Teleskops in der Milchstraße erreichte. Und nur ein naives Kind mochte glauben, dass das Gebilde, das auf diese Weise am Nachthimmel einer Welt oder in der Schwärze des Weltraums sichtbar wurde, sich auch real noch dort befand, wo seine Position lag. Alle Galaxien waren in Bewegung. Das Universum expandierte unaufhörlich. In den 13 Milliarden Jahren, die die Photonenausschüttung brauchte, um zur Milchstraße zu gelangen, bewegte sich die Quelle unaufhörlich in die Richtung der Galaxiendrift. Ein optisches Sternenteleskop hätte also niemals den wirklichen Standort eines von ihm erfassten Objektes gezeigt – nur seinen »Nachhall«. Aber die Position – ob real oder augenscheinlich – war es auch nicht, was Scobee dieses Flirren im Bauch verursachte. Es war die ans Aberwitzige grenzende Entfernung. 13 Milliarden Lichtjahre … daran zerschellte jede Vorstellungskraft. Zumindest meine. Immerhin war so viel bekannt, dass die Käferartigen, glaubte und folgte man Taurts Aussage, eine Nachricht zu jener unfassbar fernen Sternenballung geschickt hatten, die Taurt Eleyson nannte. Mittels einer Technik geschickt, die allem überlegen war, womit die RUBIKON-Crew und selbst das uralte foronische Wächterwesen jemals konfrontiert worden waren. Es sollte sich um ein Signal handeln, das Lichtjahrmilliarden quasi in Nullzeit überwand.
Das zumindest hatte Taurt behauptet. Und als sich die Verblüffung – auch über den fast banal anmutenden Inhalt der entzifferten Nachricht: Kommt – sie sind hier! – etwas gelegt hatte, hatte das uralte Geschöpf aus Protomaterie ihnen seinen Plan unterbreitet, wie ihr Commander, wie John Cloud samt ihrem Schiff aus den Fängen der Treymor befreit werden sollte. Alles deutete darauf hin, dass John ins wahrhaftige Zentrum des Aquakubus verbracht worden war, an einen geheimnisvollen Ort namens Silberstadt, den die neuen Herren des Kubus, die Treymor, dort etabliert hatten. Die Ewige Stätte, dachte Scobee. Auch der Gedanke an die Vakuumkugel im Herzen Tovah'Zaras verursachte ihr Bauchgrimmen. In dieser Sphäre hatten sie vor – subjektiv! – Jahren die Arche der Foronen gefunden und zu ihrem Raumschiff »gemacht«. In einem langwierigen, nicht immer reibungslos verlaufenden Prozess. Und nun war dieses Schiff, die RUBIKON, ebenso gekidnappt wie der Mann, der es aus seinem Winterschlaf erweckt und unter seine Kontrolle gebracht hatte. John. Es war schmerzhaft, sich zu erinnern, was sie beide – okay, Jarvis durfte, nein musste auch noch dazu gerechnet werden – seither erlebt und durchlitten hatten. In der Gegenwart, in der sie sich heute befanden (nach diversen Zeitkapriolen und -sprüngen) gab es die Erde, die sie hinter sich zurück gelassen hatten, nicht mehr. In den Jahrzehntausenden, die aufgrund Darnoks Manipulation des Zeitflusses in der Milchstraße verstrichen waren, während »draußen« die Uhren im Normaltempo weitergelaufen waren, hatte sich die Bühne der galaktischen Völker vollkommen verändert. Zivilisationen waren unter dem Kreuz des Technikbanns entweder komplett untergegangen oder komplett verändert worden. Das machtpolitische Bild war nicht mehr wiederzuerkennen, die Karten waren neu gemischt worden. Eine zu Zeiten des Bündnisses organischer Völker – CLARON – noch völlig unbekannte Spezies machte von sich reden. Insektoiden.
Die Treymor. An den unwahrscheinlichsten Orten war die RUBIKON-Crew auf sie oder ihr besorgniserregendes Tun gestoßen. Und nun hatten sie sich auch noch in einem der größten Mythen eingenistet, die die Milchstraße kannte – im Aquakubus. Um das aber tun zu können, hatten sie den Kubus zunächst einmal vor Darnoks Zerstörungswut schützen müssen – und wie ihnen das gelungen sein sollte, darüber gab es bislang kaum mehr als wilde Spekulationen. Einer aber musste dazu mehr wissen. Taurt. Denn Taurt hatte seine Augen – Spione! – überall. Nicht zuletzt den Kleinen Arto, der sich als Taurts »Ableger« herausgestellt hatte. Und der sich in Erinnerung brachte, kaum dass Scobee mit Taurt die Details zu John Clouds Befreiung zu besprechen begonnen hatte. »Hübsch-Hässliche mir folgen!«, quietschte das vermeintliche Kleinkind, in das die von Taurt abgespaltene Protomasse sich verwandelt hatte – mehr schlecht als recht, denn im hellen Licht war auf den ersten Blick erkennbar, dass der Kleine Arto kein Mensch sein konnte. Die Maske war viel zu nachlässig ausgeführt, was wiederum den Schluss zuließ, dass weder Taurt noch sein »Spross« Wert auf eine glaubwürdige Täuschung legten. Der Kleine Arto wechselte sein Erscheinungsbild ganz nach Belieben, war mal fischähnlich, dann wieder humanoid – aber eines war er absolut nicht: höflich. Scobee stand kurz davor, ihm im Beisein seines »Schöpfers« einen Tritt zu verpassen. »Was will diese Schande für dein ästhetisches Empfinden von mir?«, wandte sie sich mit erzwungener Ruhe an Taurt. »Kannst du nicht mal zwischendurch regulierend in seine Programmierung eingreifen? Allmählich, das gebe ich frank und frei zu, geht er mir gehörig auf den Geist!« Taurts wie aus weichem Glas gegossen wirkendes Gesicht verzog sich in schmerzlicher Resignation. »Ich fürchte, du missverstehst seine Existenz. Der Kleine Arto ist ein Ableger meiner eigenen Biomas-
se. Aber er ist weder Lakai noch ›Maschine‹. Wodurch auch der Begriff ›Programmierung‹ falsch ist. Ich betrachte ihn tatsächlich als das Pendant zu einem Kind, wie du und andere Spezies es gebären können. Er ist noch jung und wird vieles erst lernen müssen. Keine Frage auch, dass er extrem ungezogen ist – was ich mir wohl ankreiden muss. Ich bin nicht streng genug in Erziehungsfragen. Vielleicht auch zu beschäftigt. Er hatte nie das, was Säugetiere als ›Nestwärme‹ kennen. Er wurde von mir sehr schnell ins kalte Wasser der gefahrenreichen Wirklichkeit des Kubus geworfen und musste sich früh behaupten. Sei nachsichtig mit ihm, ich bitte dich. Und hab Vertrauen: Er handelt in meinem Auftrag und Interesse. Er würde nie etwas tun, was seine ›Familie‹, zu der auch du jetzt gehörst, gefährden könnte.« Bei der Vorstellung, in irgendeinem »Verwandtschaftsverhältnis« zu dem fischigen Ding in der Maskerade eines Kindes zu stehen, hob es Scobee den Magen. Aber tapfer schluckte sie herunter, was ihr schon auf der Zunge gelegen hatte. »Dir ist schon klar, dass du ihm gerade einen Freifahrtschein für sein Benehmen ausgestellt hast?«, wandte sie sich an Taurt. »Du hast wirklich noch weniger Ahnung von Erziehung als ich.« Sie ließ Taurts betretene Miene auf sich wirken, dann fragte sie: »Wohin will er mich bringen? Ich dachte, wir hätten hier eine wichtige Besprechung? Du sprachst von einem Plan zur Befreiung von John. Aber –« »Der Kleine Arto bringt dich in eine Kammer, in der du alles erfahren wirst. Ich habe eine Simulation vorbereitet. Es ist einfacher, sie zu erleben, als sie in Worte zu pressen.« »Simulation?«, fragte Scobee. »Vertrau ihm. Er zeigt dir die Kammer. Und den Weg, der uns Zugang zur Ewigen Stätte verschaffen wird.« »Warum übernimmst nicht du das?« »Das tue ich. Ich bin er. Leg nicht jedes seiner Worte auf die Goldwaage. Er hat einen guten Kern. Und er mag dich.« Speziell die letzte Bemerkung veranlasste Scobee, die Augen zu verrollen. Aber letztlich entschied auch der Faktor Zeit über Erfolg oder Misserfolg einer Befreiungsaktion. Seufzend ersparte sie sich
weitere Diskussionen. »Na dann …« Sie wandte sich dem Kleinen Arto zu, der sie feixend, aber auch voller Ungeduld anstarrte. »Dann zeig mir mal diese … Simulation. Ich hoffe, sie überzeugt mich. Oder noch wichtiger: Sie wird auch der harten Realität standhalten. Die Treymor werden nicht leicht zu übertölpeln sein.« Taurt schwieg. Aber sie spürte beim Verlassen des Raumes seine Anspannung. Taurts bis dato geheime Widerstandsorganisation war dabei, ihre Deckung zu verlassen. Und niemand wusste besser als Taurt selbst, was das bedeutete. Die Treymor hatten Wind von einem Gegner bekommen, der bislang nicht auf ihrer Rechnung stand. Und damit war die Jagd auf jegliche Opposition eröffnet.
Scobee folgte dem Kleinen Arto mit gemischten Gefühlen. Sie wäre lieber bei Taurt geblieben. Das uralte Protowesen war für sie in der gegenwärtigen Situation ein Fels in der Brandung. Jemand, dessen Stärke so viel Sicherheit ausstrahlte, dass sie sich unwillkürlich selbst stärker fühlte. Seit Johns Abwesenheit war ihr einiges klarer geworden. Sie hatte erkannt, wie wichtig dieser Mann für sie – für sie alle, die ganze Crew – war. Denn dieses Fels-in-der-Brandung-Charisma strahlte normalerweise er aus. Taurt war im Grunde nur Ersatz. Aber kein billiger, relativierte sie sofort für sich selbst. Sie war ehrlich froh, dass es ihn gab. Natürlich war sie das. Ohne Taurt … … befänden wir uns längst alle in der Gefangenschaft der Tremor – wenn sie uns nicht schon umgebracht hätten. »Du verrätst mir sicher nicht, wo wir uns eigentlich befinden, Kleiner, oder? Ich meine die Koordinaten dieses Stützpunkts, der verblüffenderweise offenbar all die Zeit an den Treymor vorbeigemogelt werden konnte.« »Hübsch-Hässliche hat sich die Antwort schon selbst gegeben«, ki-
cherte das groteske »Kind«, das vor Scobee herlief. »Das Sicherheitsrisiko wäre zu groß, wenn sie dich kriegen. Du müsstest dich selbst killen, um einem Verrat zuvorzukommen. Das trau ich dir nicht zu. Du hängst zu sehr am Leben. Alle … Echten tun das.« »Was meinst du mit Echte?« »Weißt schon. Geborene. Keine … Geschaffenen – wie mich.« Es klang traurig. Zum ersten Mal – und auch nur für einen flüchtigen Moment – gewährte der Kleine Arto einen klitzekleinen Einblick in seine Gefühlslage. Scobee wusste selbst nicht genau, warum sie das rührte, wo diese Nervensäge nicht gerade ein Vorbild an Höflichkeit und Feingefühl darstellte. »Ich wurde auch eher … erschaffen als im konventionellen Sinn geboren – wusstest du das?« Der Kleine Arto blieb abrupt stehen und drehte sich ihr zu. Auch Scobee hielt mitten auf dem Gang, durch den sie gerade schritten, inne. »Das sagst du bestimmt nur so.« »Warum sollte ich?« »Um mich zu trösten. Kleiner Arto lässt sich … na ja, lässt sich übrigens gerne trösten.« »Das passt zum Kleinen Arto«, grinste Scobee. »Aber ernsthaft: Ich wurde in-vitro gezeugt. Du weißt, was das heißt.« »Im Reagenzglas.« Die Augen des Kleinen Arto wurden ganz groß. »Brrrrrrr!« Er schüttelte sich. »Wie eklig!« Scobee bedauerte bereits, ihrem Mitleidsimpuls nachgegeben zu haben. Aber da lachte Taurts Ableger prustend und stemmte die kleinen Fäuste in die schmalen Hüften. »Bist schon wieder drauf reingefallen! Haha! Ich leg dich rein, wie ich will. Ich hab's drauf. War echt nur Spaß, Unechte wie ich! Und ehrlich – diesmal gaaaanz ehrlich –, ich mag dich. Bist nett. Und … grrr, ich wollt's eigentlich nich' sagen … na, dann eben doch: Ja, bist hübsch. Sehr schön sogar, regelrecht bezaubernd.«
Scobee ballte die Hände zu Fäusten und trat drohend auf die Kindgestalt zu. »Du tust es schon wieder! Willst mich verulken. Aber das treib ich dir aus. Weshalb sollte ich Skrupel haben, einen Klumpen Protogewebe zu vermöbeln?« Mit blitzenden Augen erreichte sie ihn. Der Kleine Arto duckte sich ängstlich und schielte mit schützend nach oben gereckten Armen zu Scobee hoch. »Nicht hauen! Bitte nicht! Bin ehrlich, Hübsch-Hä… äh, Hübsche!« Scobee blitzte ihn noch eine Weile an, genoss sein Zittern und ließ dann die Arme sinken, um – mit einem gewissen Widerwillen – sacht über den haarlosen Schädel des Kleinen Arto zu streicheln. »Du bist unmöglich. Aber wahrscheinlich auch total liebenswert. Da hat dein ›Vater‹ etwas Tolles großgezogen.« »Das ist wahr«, krähte die Kindgestalt … und wand sich unter Scobees Hand heraus. Schnell wandte er sich wieder in die zuvor eingeschlagene Richtung. »Sind gleich da. Sollten uns beeilen. Simulation das eine – sie umzusetzen, was völlig anderes. Kostet Zeit. Und Nerven …« Er seufzte so abgrundtief wie ein Greis, der soeben das Ende einer vielstufigen Treppe erreicht hatte. Kopfschüttelnd folgte Scobee ihm. Und wenig später erfuhr sie dann, was der Kleine Arto – und sein »Vater« – unter einer Simulation verstanden. Die winzige Kammer, die sie betraten, verwandelte sich mir nichts, dir nichts in einen bestimmten Sektor des Aquakubus. Die Darstellung war so täuschend echt, dass Scobee geschworen hätte, im Wasser zu treiben … in unmittelbarer Nähe eines Giganten, der einmal eine Welt gewesen war, eine Welt mit Atmosphäre, die eine Sonne umlief. »Wo befinden wir uns?« Arto nannte die Koordinaten, aber Scobee wusste damit wenig anzufangen, bis eine zweite Struktur in die Umgebung eingebettet wurde. Sie zeigte den Aquakubus insgesamt, jenen würfelförmigen Weltenraum, indem Wasser statt Vakuum dominierte. Das Zentrum, die Ewige Stätte, war ebenso markiert wie sämtliche bedeutsamen Objekte, zu denen auch dieses gehörte. Es befand sich an der Peri-
pherie des Würfels. »Aha. Danke. Und was hat es damit auf sich?« »Das ist unsere Falle«, sagte der Kleine Arto wichtigtuerisch. »Für wen?« »Ihr wollt doch dahin …« Eines seiner Ärmchen verlängerte sich und wucherte dem Zentrum der 3D-Skizze entgegen, die zwischen Scobee und ihm eingeblendet worden war. »In die Ewige Stätte, richtig. Dort vermuten wir John – und die RUBIKON.« »Na also.« »Ich weiß immer noch nicht, was das mit dieser Randwelt zu tun hat.« »Dann schau halt hin – genau, bitte. Es geht nämlich jetzt los. Da … es kommt schon.« »Was kommt schon?« Der Kleine Arto war offenbar zu bequem, es ihr zu erläutern. Aber die Bilder sprachen für sich. Ein Fahrzeug, das ebenfalls Teil der vorbereiteten Simulation war, tauchte aus der Ferne auf, wurde rasch größer. Sein Weg führte nah an der Weltenkugel vorbei. »Sie haben festgeschriebene Routen für ihre Patrouillen«, bequemte sich der Kleine Arto doch noch zu einem Kommentar. Es war ein X-Schiff, dessen Konturen sich herausschälten. Scobee beschloss, auf Zwischenfragen zu verzichten. Sie tauchte völlig in die Simulation ein … … und wurde Zeuge, wie das X-Schiff bei seiner größten Annäherung an den Planeten von dort mit einer breitgefächerten Strahlung beschossen wurde – zuerst das und dann von einem ebenfalls farbig dargestellten Zugstrahl erfasst und auf die Oberfläche der Welt hinabgezogen, wo es kurz darauf in einem von vielen tiefen Gräben verschwand, die den Planeten durchfurchten. Die Simulation erlosch. Scobee stand wieder mit Taurts Sprössling in einer eher unscheinbaren Kammer. »Wow«, spottete sie. »Das war ja grandios.« »Nicht wahr!«
»Das war ironisch.« »Wow.« Sie begriff, dass der Kleine Arto das wohl schon selbst gemerkt hatte und nun seinerseits sie veralberte. Das Übliche also. »Was ich gesehen habe, war, wie ein Treymor-Patrouillenschiff offenbar von einer der toten Welten des Kubus aus beschossen und dann zur Landung gezwungen wurde.« »So weit korrekt.« »Und was weiter?« »Das wird euer Schiff sein. Euer Ticket ins Zentrum.« »So einfach soll das gehen? Wir kapern ein Treymorschiff und gehen als Blinde Passagiere an Bord?« »Es ist der einzige Weg, überhaupt ins Zentrum zu gelangen – in einem ihrer Schiffe. Alles andere würde scheitern.« »Sagt wer?« »Sagt Taurt.« »Na dann.« »Ironie«, erriet der Kleine Arto eifrig. »Sarkasmus«, erwiderte Scobee. »Wann soll dieser feine Plan denn umgesetzt werden?« »Sobald ihr euch einig geworden seid, wer von euch an dem Einsatz teilnimmt. Sagt –« »– Taurt, schon klar.« Scobee verzog das Gesicht. »Und von ihm erhalte ich offenbar auch die Details dieses taktischen Meisterstücks, bei dem nur noch die Treymor mitspielen müssen. – Habt ihr etwas Derartiges schon jemals probiert? Gibt es Erfahrungswerte?« Der Kleine Arto kicherte, als hätte sie einen Witz gemacht. Als er sich wieder beruhigt hatte, fragte er: »War das deutlich genug?« Scobee versetzte ihm einen Tritt in den Allerwertesten, der ihn fast an die nächste Wand kickte. Aber noch in der Luft verwandelte sich Arto in etwas, das er wahrscheinlich für einen Vogel hielt. Das groteske Etwas flatterte wild durch die Luft und wandte sich dann der Tür zu.
»Kommst du?« Scobee trabte resignierend hinterher. Sie fragte sich ernsthaft, ob solche Verbündete wirklich besser waren als gar keine.
2. Das Leben war Sterben. Vom ersten Atemzug an. Und keiner wusste das besser als Farrak, der täglich mit beidem – Leben und Tod – um sich warf. Sowohl unter seinen Mittreymor als auch unter den Geschöpfen, zu deren Herren er und sein Machtzirkel sich erhoben hatten. Täglich gab es solche, die sich ein (Weiter-)Leben verdienten … oder ein jähes Ende. Wobei, darüber machte sich Farrak keine Illusionen, das Leben nicht immer nur Segen darstellte – und der Tod nicht unbedingt Strafe war. Voller Faszination dachte er dabei an das Volk der Luuren, dem unter all den Geknechteten, über die Farrak regierte, eine Sonderrolle zufiel. Schon die Spezies, die vor den Treymor Macht über Tovah'Zara ausgeübt hatten, die Vaaren, hatte auf makabre Weise auf die Luuren Einfluss genommen. Eine exakt bemessene Lebensspanne hatten sie dem »Normal-Luuren« zugestanden, Geschöpfen, die allein Kraft ihres Geistes eine Art Urstoff, sogenannte Protomaterie, zu formen vermochten. Die von den Vaaren kontrollierte »innere Uhr« der Luuren lief nach exakt fünf Pren – umgerechnet in die Zeitvorstellungen eines Treymor – ab. Lediglich bei Luuren, denen eine besondere Bedeutung zukam, den Ersten Verwertern, die die Protowiesen verwalteten, war diese Spanne zum Lohn ihrer verantwortungsvollen Aufgabe verdoppelt worden. Doch jederzeit (und genau das war das eigentlich Faszinierende daran) hatten die Vaaren einem Luuren, der auffällig im Sinne von »schädlich für das System« geworden war, die Lebensuhr auch schon vor Erreichen der üblichen Spanne anhalten können. Auf diese Weise hatten sie eine nahezu allumfassende Kontrolle über ihre Untertanen ausüben können … … bis die Treymor gekommen waren und den Platz der Vaaren in der Hierarchie Tovah'Zaras eingenommen hatten. Und mit der Herrscherrolle hatten die Treymor auch das groteske Instrumentari-
um übernommen, mit denen sie absolutistische Macht über die sonderbegabten Luuren gewannen. Bei seiner Entdeckung hatte der durch den Kosmos ziehenden Wasserwürfel die Treymor zunächst durch seine schiere Größe beeindruckt – eine Kantenlänge von einer Lichtstunde, das übertraf selbst die Vorstellungskraft seines an Gigantonomie gewöhnten Volkes um einiges. Zunächst. Doch wie stets hatten die Treymor den Fund rasch zu relativieren vermocht. Die Technologie, die eine ungeheure Menge Wasser in Kubusform zwängte, wirkte schon damals veraltet. Wie sie jedoch zum Einsatz gebracht wurde, das nötigte selbst den Kindern Jovs Respekt ab. An den Eckpunkten des Würfels befanden sich gewaltige Stationen, deren energetische Felder die Flüssigkeit im Inneren des von ihnen umschlossenen Raumes daran hinderten, in den eisigen Weltraum zu gelangen, wo sie zu bizarren Strukturen gefroren wäre. So aber banden die Eckstationen die unvorstellbare Menge an Wasser und erzeugten zudem genügend Wärme im Inneren des Würfels, um dort für die Bewohner lebensfreundliche Umweltbedingungen zu erzeugen. Noch viele andere Aufgaben fielen den Stationen zu – Gravitations- und Druckkontrolle, Sauerstoffanreicherung, Filterung und Bestrahlung schädlicher Keime, Bakterien und Viren … Farrak wusste aus den Annalen der Treymor, dass früh die Direktive an die Entdecker des Kubus erging, dieses Gebilde mit Hochdruck zu modernisieren und auf den Stand einer Technik zu bringen, die alles in den Schatten stellte, was zur ursprünglichen Ausstattung der Eckstationen gehört hatte. Die Treymor hatten diese anspruchsvolle Arbeit in kürzester Zeit bewältigt … … und gerade noch rechtzeitig, um Tovah'Zara vor der Vernichtung zu bewahren. Damals … als die Zeit in ihrer Heimatgalaxie entartete … und ein Wesen namens Darnok sämtliche Hochzivilisationen in den technologischen Kollaps trieb. Alle, bis auf … … uns, dachte Farrak, mit einem Gefühl tiefer Befriedigung. Dabei
vergaß er nicht, wem sie diesen Sonderstatus verdankten. Aber auch nicht den, der den Völkermord von damals zu verantworten hatte … und der durch seine, Farraks Schuld, nunmehr durch das Heute geisterte. Darnok. Darnok, der Verheerer, wie die Annalen der Treymor ihn schimpften. Seine Entdeckung an Bord des Legendenschiffes – das die Menschen RUBIKON nannten – hatte Farrak dazu verleitet, ihn aus dem Staseblock zu lösen, der seinen schlafenden Körper vor Alterung und Verfall bewahrte. Und schneller als irgendeiner der Verantwortlichen hatte reagieren können, war es Darnok gelungen, sich dem weiteren Zugriff der Treymor zu entziehen. Vor ihren Augen hatte er sich scheinbar in Nichts aufgelöst. In Wahrheit war er geflohen – und befand sich noch immer auf der Flucht. Wenn sie Glück hatten innerhalb der RUBIKON. Wenn sie Pech hatten – irgendwo in der Silberstadt. Dem zentralen Punkt innerhalb des Aquakubus. Dort, wo zukunftsweisende Dinge geschahen, Forschungen betrieben wurden … und der Empfang derer vorbereitet wurde, die man gerufen hatte. Mit verkrampften Kieferzangen, die borstigen Arme über die Chitinflanken schabend, fragte sich Farrak, was geschehen würde, wenn die Gerufenen noch schneller erscheinen würden als erwartet. Und eine Situation vorfanden, in der die Treymor nicht mehr die allumfassende Kontrolle über den Kubus inne hatten. Rasch würden sie den Verantwortlichen für die Instabilität erkannt haben. Farrak. Meine Stunden sind gezählt, fühlte sich der Treymor an das Los der Luuren erinnert. Es sei denn, ich finde und beseitige Darnok vor der Ankunft der – Lomax' Stimme riss ihn aus seinen Gedanken: »Der Gefangene wäre dann so weit. Du könntest ihn befragen, Gesegneter, falls deine
Zeit es erlaubt …«
Sie hatten Quarsolen getötet. Sie hatten Mingox liquidiert. Kaltblütig umgebracht worden waren beide – sie und noch viele mehr. Jeden, der sich an Bord des Rochenschiffes befunden hatte, in dem John Cloud in Sicherheit gebracht werden sollte, hatte es getroffen. Sicherheit war zu einem surrealen Begriff geworden. Dafür fühlte sich die Nähe des Todes umso realer an, hatte eine erdrückende Qualität und Intensität erlangt. Seit Quarsolens brutaler Hinrichtung lähmte Cloud die Überzeugung, niemals einem lebensverachtenderen Angriff beigewohnt zu haben. Die Tayaner waren niedergemetzelt worden wie Schlachtvieh. Und alles nur, um mich in die Hand zu bekommen. Es war diese Erkenntnis, die ihn nachhaltig paralysierte. Zumal sie mit einem riesigen Fragezeichen verbunden war. Mich? Warum zum Teufel ausgerechnet mich? Aber er hätte sich diese Frage nicht mehr stellen können, wenn es nicht um ihn gegangen wäre, ihn ganz speziell. Darauf deuteten auch die vorausgegangenen Manipulationen hin, die mithilfe der Protopartikel möglich geworden waren, die ihm bei seinem ersten Betreten des Aquakubus implantiert wurden. Inzwischen war er ihrer ledig. Mingox hatte sie vor seinem Tod aus Cloud entfernt. Restlos, wie er versprochen hatte. War dem zu trauen? Und wie hatten die Treymor Cloud dann trotzdem aufspüren können? Oder hatten sie die Tayaner angegriffen, ohne zu ahnen, welcher Fang ihnen ganz nebenbei ins Netz gehen würde? Die Tayaner … Von Quarsolen hatte Cloud erfahren, wer hinter den Echsenwesen stand, die zu Zeiten der Vaarenherrschaft noch nicht im Kubus ansässig gewesen waren. Taurt. Ein Geschöpf aus Protomaterie, von den Foronen einst als Hüter des Kubus installiert … eine Aufgabe, der er offenbar auch
heute noch gerecht zu werden versuchte. Cloud rief sich in Erinnerung, dass für Taurt Jahrzehntausende seit der ersten Begegnung mit Menschen vergangen waren. Zumindest – und davon ging Cloud aus – wenn der Kubus sich während Darnoks Wüten in der Milchstraße befunden hatte. Geschätzte dreißigtausend Jahre waren die Welten der heimatlichen Galaxie außerstande gewesen, Leben zu beherbergen, das sich mittels technischer Krücken der Schwerkraftfesseln seiner Planeten hatte entledigen und ins All vorstoßen können. Zahllose Zivilisationen, die dies bereits geschafft hatten, waren durch die Einflussnahme des übergeschnappten Keelon zerschlagen worden. Zu den wenigen inzwischen bekannten Ausnahmen zählten die Treymor und das Erste Reich der Bractonen … und offenbar auch die Kubusbewohner. Und so wie sich bei den Treymor die Frage stellte, wie sie es hatten bewerkstelligen können, den von Darnok freigesetzten Kräften Paroli zu bieten, so stellte sie sich auch beim Aquakubus. Aber vielleicht, dachte Cloud, liegt die Antwort ja auch auf der Hand: Die Treymor haben den Kubus für sich erobert und gegen die verhängnisvollen Energien, die Darnok freisetzte, geschützt. Sie selbst waren bis zu einem gewissen Grad immunisiert gewesen, sonst hätten sie Butterfly M2, Darnoks Versteck, nicht anfliegen und – fast – erreichen können … Streiflichtartig blitzten die Erinnerungen an die Fahrt der RUBIKON mit Kargor an Bord in Cloud auf. Es war gelungen, den einstigen Freund und Mentor Darnok auszuschalten … und damit das dunkelste Kapitel in der bekannten Milchstraßengeschichte zu beenden. Seither lag Darnok »auf Eis«. Im Staseschlaf. Cloud hatte bislang nicht gewagt, ihn daraus zu erwecken. Weil ein wacher Darnok Maßnahmen erfordert hätte. Strafe. Therapie. Und vor allen Dingen Schutzmaßnahmen, die verhinderten, dass irgendjemand an Bord der RUBIKON oder draußen in den Weiten des Alls noch einmal unter den unheimlichen Fähigkeiten des Keelon zu leiden hatte.
Nein, Darnok war ein heißes Eisen, an dem sich jeder, der es anfasste, unweigerlich die Finger verbrennen musste. Aber Darnok, glaubte Cloud, war aktuell kein Problem. Würde vielleicht nie mehr eines werden. Denn die RUBIKON war in unerreichbare Ferne gerückt. Sämtliche Besatzungsmitglieder waren im letzten Moment dem Zugriff der Treymor entzogen worden – dank des Eingreifens von Taurts Soldaten. Doch auf Dauer, auch daran hegte Cloud kaum Zweifel, würde Taurts Macht nicht ausreichen, die Crew ohne Schiff zu schützen. Der Grund, weshalb er den Treymor nicht schon früher offenen Widerstand geleistet hatte, konnte nur der sein, dass er ihnen im direkten Kampf hoffnungslos unterlegen war. Und daran würden auch die paar tausend Angks nichts ändern. Oder Scobee. Jarvis … all die Freunde eben, von denen Cloud getrennt worden war. Er wünschte, er hätte bei ihnen sein können. Bei ihnen und wieder an Bord der RUBIKON. Aber er war an einem ihm unbekannten Ort. In einem Raum, der nur eine Folterkammer sein konnte, denn schon beim Öffnen der Augen erwartete Cloud ein Effekt, der als gezielter Angriff auf seine Psyche gewertet werden musste. Die Wände ringsum waren keine Konstante. Das Muster darauf war in ständiger, die Sinne verdrehender Bewegung. Spiralen, Zickzackgebilde, sich überschneidende Linien und Formen, die sich allesamt so schnell und unvorhersehbar veränderten, dass es schon nach wenigen Augenblicken an Clouds Verstand nagte. Er schloss die Augen – natürlich, er war kein Narr –, aber das Chaos schien sich schon in seine Sehnerven eingebrannt zu haben, lief unaufhörlich weiter ab, schraubte sich bis in die Tiefen seines Geistes. Und dann – plötzlich – war alles vorbei. Vorerst zumindest. Cloud fand sich wimmernd am Boden, wo er auch schon vorhin zu sich gekommen war. Nur dass die Wände jetzt erstarrt waren in ihren Mustern und Figuren. Dadurch wurde es erträglich. Die Gestalt bemerkte Cloud trotzdem erst, als sie ihn mit einer befremdlichen Extremität antippte. Er schrak zusammen, sah hoch …
… und begriff. Der Treymor war etwa einssechzig groß. Ohne Fühler. Sie mitgerechnet, erreichte er gewiss zwei Meter. Bullig kam er daher. Dazu gekleidet in etwas, das wie ein Schuppenpanzer aus handtellergroßen Metallplatten aussah. Die Rüstung, Uniform oder was immer es darstellte wirkte grün oxidiert, wie von einer krustigen Patina überzogen. Wobei von dieser Schicht eine beklemmende Stimmung verbreitet wurde, beklemmender fast, als die eigentliche Gestalt sie zu erzeugen vermochte. »Johncloud, ich grüße dich.« Durch Cloud ging ein Ruck. Er weigerte sich, vor dem Treymor wie eine gebrochene Kreatur aufzutreten. Noch immer lastete dumpfer psychischer Druck auf ihm, aber er kämpfte dagegen an und rappelte sich auf. Leicht schwankend positionierte er sich vor dem Käferwesen, das ihn nicht daran hinderte. »Wer bist du?« Cloud erkannte seine eigene Stimme kaum wieder. Krächzend holperten die Worte über seine Lippen, geformt von einer Zunge, die sich wie ein klumpiger Fremdkörper in seiner Mundhöhle bewegte. »Ich heiße Farrak.« »Farrak … aha. Meinen Namen kennst du ja offenbar.« »Du bist Legende. Genau wie dein Schiff.« Im ersten Moment wusste Cloud nicht, ob der Treymor ihn nur verhöhnte oder tatsächlich meinte, was er da sagte. »Ja …« Er grinste, obwohl ihm nicht danach war, absolut nicht. »Das wollte ich schon immer sein. Legende klingt gut.« Mit einem Satz war er bei Farrak, packte und schüttelte ihn. »Schon mal von einer Legende in den Arsch getreten … oder den Hals umgedreht bekommen?« Er holte aus, um die Faust in die groteske Insektenfratze krachen zu lassen. Nichts von dem, was er tat, entsprang kühler Logik oder auch nur Vernunft. Es waren die Bilder der Toten, die ihn die Kontrolle über sich verlieren ließen. Die Bilder des Mordens an Bord des ehemaligen Vaaren-Rochenschiffs. Quarsolen! Mingox! All die Namenlosen …!
Aber er hätte ebenso gut versuchen können, einen tonnenschweren Fels bewegen oder gar umwerfen zu wollen. Farrak stand unbeeindruckt und unbeweglich da, trotzte scheinbar mühelos, spielerisch, Clouds wutentbranntem, mit bloßen Händen geführtem Angriff … … und reagierte auf eine Weise, wie es nur Geschöpfe taten, die keinerlei Selbstzweifel kannten, die bis in die letzte Faser ihres Seins von ihrer Unbesiegbarkeit überzeugt waren. Clouds Hände begannen unvermittelt zu brennen, als hätte er sie in Säure getaucht. Dort, wo er die auffällige Patina berührte, wechselte etwas auf ihn über, das alles sein konnte: Energie, chemisches Gift, Gas, das über seine Haut an die Nervenbahnen gelangte … Für das Resultat spielte es keine Rolle, was es letztlich war. Der Effekt jedenfalls war unwiderstehlich. Cloud zuckte vor dem Treymor zurück, riss die Hände an sich und drehte sie so, dass er die Innenflächen betrachten konnte, die … unversehrt waren. Sofort klang auch der Schmerz ab, der brutal gewesen war. »Du suchst das Feuer, an dem du dich verbrannt hast?« Farraks Stimme zirpte. »Ich kann es jederzeit neu erwecken. Dass du es wagtest, mich zu berühren, hat Konsequenzen. Mikroskopisch kleine Teilchen haften dir nun an. Über sie kann ich dir Schmerz schicken, wann immer ich will. Es ist fast so wie bei den Protopartikeln, die in deinem Blut kreisten. Du hast dich ihrer entledigt. Inzwischen wissen wir, wie du das erreichen konntest. Der Verräter wurde hingerichtet. Ich spreche von Mingox.« Cloud ließ die Hände sinken. Sein Blick bohrte sich regelrecht in die Facetten von Farraks Sehorganen. »Ja, sprechen wir von Mingox. Und all denen, die auf deinen Befehl hin starben, feige niedergemetzelt wurden …« Er krümmte sich, als neuer Schmerz durch seine Handflächen stach, so als würden sich glühende Nadeln hineinsenken. Er ignorierte es, versuchte es zu ignorieren. Mit Tränen der Wut in den Augen trat er wieder einen Schritt auf Farrak zu. Und zum ersten Mal bemerkte er eine leichte Unsicherheit an dem Treymor, der einen Schritt weit zurückwich, offenbar überrascht von der Wil-
lensstärke, mit der Cloud gegen die Marter anging. »Ich …«, keuchte er, »… halte dich … und deinesgleichen … für eine zutiefst … amoralische Spezies!« Farraks Fühler erzitterten, was ebenso gut Ausdruck von Amüsement sein konnte wie Betroffenheit. Wahrscheinlicher aber war, dass er den Vorwurf für ein Kompliment hielt und die Erregung des Menschen schlichtweg komisch fand. »Wir haben unsere Prinzipien«, sirrte er unerwartet. »Wie deine Art auch. Aber unterscheiden sie sich wirklich so frappant?« »Was treibt euch an?«, fragte Cloud. Er hatte sich gefasst. Er wusste, dass ein erneuter Angriff schwerere Folgen für ihn gehabt hätte als der erste. Möglicherweise würde Farrak ihn ohne Skrupel umbringen, selbst wenn er sich noch einen Nutzen von ihm versprach. Dieser Treymor hier überstrahlte jeden anderen, den Cloud jemals aus der Nähe gesehen hatte, an körperlicher und geistiger Präsenz. »Warum wart ihr im Milchstraßenzentrum, beim dortigen Schwarzen Loch? Warum wolltet ihr verhindern, dass die Bractonen …« Er machte eine Pause, dachte nach, schürzte die Lippen und fuhr fort. »Dass sie hinter den Ereignishorizont gelangten? Es war von eminenter Bedeutung, dass sie es schafften – mit einer der Kugeln, die ihr angegriffen habt.« Er verschränkte die Arme vor der Brust. Der Schmerz in den Händen war abgeebbt, trotzdem wirkte er nach. »Ich habe keine Zweifel, dass ihr die Bedeutung der Operation kanntet. Wir, meine Crew und ich, waren in der Zwischenzone, in der weder Raum noch Zeit in der uns bekannten Form existieren, dafür etwas, was die Bractonen eine CHARDHIN-Perle oder Tridentische Kugel nennen … Ich sage dir nichts Neues. Oder?« »Sprich weiter.« »Und was ist mit der Antwort – auf meine Frage, was ihr dort wolltet? Warum wolltet ihr die Reparatur der entarteten Perle im Milchstraßenzentrum verhindern? Danach zumindest sah es aus. In welcher Beziehung steht ihr zu den Kräften, die die Negaperle etablieren wollten?« »Mich wundert, wie offen du über Dinge redest, von denen man glauben sollte, sie wären … streng geheim.«
»Halte mich nicht zum Narren.« »Wie meinst du das?« »Das weißt du ganz genau, Farrak. Ihr habt die RUBIKON. Und damit habt ihr auch alles Wissen, alle Informationen, die jemals in den Logbüchern gespeichert wurden. Oder …« Ein lauernder Unterton drängte sich in Clouds Stimme. »… leistet sie Widerstand?« »Sie? Das Schiff?« »Die Künstliche Intelligenz darin. Wir nennen sie Sesha. Nach dem ursprünglichen Namen der foronischen Arche … Auch das wisst ihr inzwischen. Nichts ist vor euch verborgen geblieben, oder doch?« »Warum sollte ich es dir vorenthalten? Ja, wir haben das Schiff in unserer Gewalt. Ja, jeder Widerstand dort – auch der eurer Bord-KI – wurde gebrochen. Es bedurfte keines Kraftakts. Die Technologie ist veraltet. Bis auf …« »Bis auf was?« Cloud reagierte auf das Stocken. Zumal er den Eindruck hatte, dass Farrak zwar von einer auf ganzer Linie erfolgreichen Übernahme der RUBIKON sprach, es aber möglicherweise doch ein paar Probleme gab oder zumindest gegen hatte. Vielleicht war aber auch nur der Wunsch der Vater des Gedankens. Schlagartig jedoch veränderte sich Farraks Körpersprache. Die Dominanz, die er die ganze Zeit über ausgestrahlt hatte, schien sich zu verflüchtigen. »Die Stase-Kammer. Die dortigen Gerätschaften sind … erstaunlich.« »Ihr habt nichts Vergleichbares?« Cloud war überrascht. »Noch nicht, nein. Doch mithilfe der Vorlage aus dem Schiff werden wir in Kürze darüber verfügen.« Cloud zuckte mit den Schultern. Ihn interessierten andere Dinge. Doch plötzlich fiel ein Schatten über sein Gesicht. »Wenn ihr die Stase-Kammer gefunden habt …« Er unterbrach sich. Aber Farrak wusste bereits, worauf er hinauswollte, wie seine nächsten Worte verrieten. »Korrekt. Dann haben wir auch ihn gefunden. Den Verheerer.« »Er ist euch ein Begriff?« Cloud nickte auf seine eigene Frage hin.
»Natürlich ist er das. Ihr wart dort. Dein Volk. Als wir Darnok aufspürten und unschädlich machten. Wir hatten einen ERBAUER an Bord und flogen im Schutz eines ganz speziellen Konstrukts.« Er dachte mit Wehmut an Prosper Mérimée, der lebenden Zeitanomalie, mit deren Hilfe die RUBIKON unangetastet durch die Unbilden des von Darnoks entfesselten Zeitsturms gelenkt worden war. »Aber wie konntet ihr ihn aufspüren? Fast hättet ihr es geschafft, zu ihm zu gelangen. Die Kluft, die euch noch trennte, war minimal für kosmische Verhältnisse. Damals wurden wir zum ersten Mal von eurer Hartnäckigkeit, eurer Finesse und eurem Vermögen verblüfft.« »Der Verheerer war einmal ein Freund der Menschen«, sagte Farrak, ohne auf Butterfly M2 einzugehen. »Das«, sagte Cloud mit Bitterkeit in der Stimme, »ist richtig.« »Niemand kennt ihn besser als ihr.« »Das glaubte ich einmal, ja. Aber –« »Wie gefährlich schätzt du ihn heute noch ein?« Die Frage irritierte Cloud. Aber nur kurz. »Nach allem, was geschehen ist, nach allem, was er tat, wäre es fahrlässig, ihn für ungefährlich zu halten. Deshalb liegt er in Stase. Er wäre eine tickende Zeitbombe, ein unkalkulierbares Risiko, wenn man ihn …« Er verstummte. Die Art, wie Farraks Facetten ihn anstarrten, weckte ein Unbehagen, das er zunächst verleugnen wollte. Doch es gelang ihm nicht. »O nein«, seufzte er. »Das wäre verrückt. Das wäre … sag, dass das nicht stimmt. Ihr habt doch nicht …?« Immer noch keine Reaktion. »Ihr müsst wahnsinnig sein! Wie konntet ihr nur?« »Es ist wahr.« Farraks Stimme klang, als würde in einem fort klirrend Glas zerspringen. »Er wurde … geweckt. Und ist seither verschollen …«
3. Cloud versuchte sich die Tragweite des Gehörten klar zu machen. Darnok verschwunden – war ein größerer GAU überhaupt vorstellbar? Sie hatten ihn auf Butterfly M2 überwältigt und schnellstmöglich in die Stase an Bord der RUBIKON geschickt. Womit das eigentliche Problem – wie nun mit Darnok umgehen? – bis auf unbestimmt vertagt worden war. Im Grunde hatten alle, die Darnok von früher, aus guten Tagen, kannten, den geistig entarteten Keelon zu vergessen versucht. Die Selbstlüge, der Verheerer der Milchstraße könnte eines Tages therapiert und als geheilt in ein neues Leben entlassen werden, war von allen Beteiligten vorgeschoben worden, um sich vor der Verantwortung zu drücken … und vor der bitteren Wahrheit. Eine Wahrheit, die da hieß: Niemals würden sie es wagen dürfen, Darnok noch einmal die Freiheit zu schenken. Das Risiko eines Rückfalls, ganz gleich wie genau dieser dann aussähe, war definitiv zu groß. Sein Staseschlaf war in Wahrheit eine Vorstufe des Todes, der irgendwann eingetreten wäre. Irgendwann, wenn die RUBIKON auf einen Gegner getroffen wäre, der sie im Kampf vernichtet hätte (und mit ihr alles, was sich darin befand). Oder irgendwann, wenn John Cloud vielleicht eigenhändig den Hebel umgelegt hätte, der einen gleitenden Übergang von der Stase in den biologischen Tod eingeleitet hätte – weil Umstände es erforderten. Hätte ich das? An Cloud nagten Selbstzweifel. Er war kein Henker. Kein Vollstrecker. Wahrscheinlich wäre dieser hypothetische Fall also nie eingetreten. Aber erfahren würde er es nun vermutlich nicht mehr, denn Darnok hatte das Heft des Handelns an sich gerissen, nachdem die Treymor ihm aus Unwissenheit die Chance dazu gegeben hatten. Er musste blitzschnell realisiert haben, was er tun konnte, um sich jedem Zugriff zu entziehen. Und dazu hatte er sein Magoo eingesetzt, jenes nur bei Keelon zu findende Organ, das ihnen
ermöglichte, kraft ihres Willens die Zeit zu manipulieren. »Ihr wisst nicht, was ihr angerichtet habt …«, kam es über Lippen, die sich wie taub anfühlten. Eine bleierne Schwere und Kälte schien sich durch Clouds Adern zu wälzen. »Ihr habt keine Ahnung …« »Doch«, widersprach Farrak. »Die haben wir. Und deshalb sind wir alarmiert und haben Vorkehrungen getroffen, die verhindern werden, dass der Verheerer das Legendenschiff verlässt. Eine wirkliche Katastrophe wäre, wenn ihm das gelänge. Die Silberstadt beherbergt unersetzliche Werte.« »Euch«, sagte Cloud sarkastisch. Langsam beruhigte sich sein Puls wieder. Dennoch kreisten seine Gedanken weiterhin um Darnok. Wo mochte er gerade sein? Welche Pläne mochte er schmieden? War er noch immer von Zerstörungswut getrieben? Würde er sich an denen rächen wollen, die ihn aus seiner Bastion geholt und vorübergehend unschädlich gemacht hatten? Denen es zu verdanken war, dass der Zeitfluss der Milchstraße sich wieder normalisiert, dem restlichen Universum angepasst hatte und die Hightech unterdrückende Strahlung Geschichte war? »Uns?« Farraks Facettenaugen schienen zu irrlichtern. »Ist das Humor? Ich habe in den Datenbänken deines – ehemaligen – Schiffes Einträge gefunden, die von Unlogik nur so strotzen. Wir Treymor haben keinen Humor und kennen ihn bislang auch nicht. Ist das ein Makel, was meinst du?« »Humor ist, wenn man trotzdem lacht«, erwiderte Cloud launig. »Wie?« Farraks Fühler zitterten. Dann schien ihm einzufallen, dass es Wichtigeres gab als den Humor von nichtinsektoiden Lebensformen oder deren sonstigen Mentalitätsunterschiede zu seiner eigenen Art. »Du hast vielleicht einen Tipp für uns, wo sich der Verheerer versteckt halten könnte.« »Nein«, sagte Cloud. »Bist du sicher?« »Ja.« »Du willst nicht kooperieren? Obwohl …« Ein kratzendes Geräusch löste sich aus dem Mandibelmaul des Treymor. »… die RUBIKON auf dem Spiel steht? Sie wird der Keelon als Erstes vernich-
ten.« »Das ist möglich.« Farrak starrte ihn stumm an. »Aber ebenso gut möglich ist, dass er das Schiff längst verlassen hat und dort ist, wo du ihn am allerwenigsten haben willst. In deiner ach so bedeutsamen ›Silberstadt‹.« Er lächelte ohne jeden Humor. »Ich befinde mich in der Ewigen Städte, in der Vakuumkugel im Zentrum des Aquakubus, oder? Dorthin habt ihr mich nach dem feigen Mord an der Rochenbesatzung gebracht.« »Wir leben und arbeiten hier«, bestätigte Farrak ohne Scheu. »Der Rest des Kubus interessiert uns nur … nun, als Reservoir, als Ressource. Für unsere Arbeit.« »Und was heißt das?« »Das wollte ich dir ohnehin zeigen. Du bist mein Gast. Unser Gast. Die Neun haben gemeinsam entschieden, dir zu offenbaren, was auf das Leben, auch die Bewohner deines Heimatplaneten, zukommt.« Cloud hörte kaum noch zu. »Du sagtest gerade ›Heimatplaneten‹. Meinst du damit die Erde? Ihr wart dort mit euren Schiffen, als wir die … die Hohlwelt besuchten. Warum? Ich verstehe nicht, was –« »Die Erde ist wichtig. Aber nicht das Wichtigste. Wir haben größere Ziele. Erst recht die, die hinter uns stehen.« Die, die hinter uns stehen … Cloud hatte sich oft gefragt, wer das sein könnte. Wer den Treymor geholfen hatte, von einer vergleichsweise unbedeutenden, im Milchstraßenzentrum ansässigen Macht zu einer Größe aufzusteigen, die selbst den Bractonen gefährlich werden konnte. Aber er wurde enttäuscht, wenn er hoffte, mehr darüber zu erfahren. Farrak wiegelte alle diesbezüglichen Versuche ab, vertröstete ihn mit dem Hinweis: »Wenn es so weit ist, sprechen die Ereignisse für sich.« »Damit kommt ihr nicht durch«, murmelte er, wie um Kraft aus den eigenen Worten zu schöpfen. »Niemals kommt ihr damit durch. Ihr macht die Rechnung ohne den Wirt. Die RUBIKON mögt ihr in eure Gewalt gebracht haben – aber die Besatzung ist euch entwischt. Das wird euch noch übel aufstoßen. Ihr habt uns unterschätzt. Und
letztlich wird das eure Niederlage besiegeln.« »Niederlage?« Farraks Augen schienen jetzt zu glühen. »Von welcher Niederlage redest du, Kreatur? Wir haben dich. Wir haben dein Schiff. Und die armselige Besatzung werden wir auch finden. Und dann gnade ihnen das, was ihr Gott nennt!« Fauchend trat er auf Cloud zu, der für einen Moment glaubte, der Treymor wolle ihn mit den bloßen Extremitäten umbringen. »Was …«, fragte Cloud, der weder zusammenzuckte noch auswich, »… habt ihr vor? Was ist euer Ziel als Volk? Die Erde? Die interessiert euch doch nur peripher, mach mir nichts vor. Was ist das wahre Ziel?« »Die Herrschaft«, erwiderte Farrak, der sich wieder gefangen hatte. »Die Herrschaft derer, denen wir dienen. Mit allem, was wir sind und haben!« Wieder die ominösen Unbekannten. »Haben diese Herrscher einen Namen?« Farraks Körpersprache drückte fast greifbar Mitleid aus. Mitleid, wie man es für verblendete Geschöpfe empfand. »Hass«, sagte er schließlich. »Nenn sie Hass – und als solcher werden sie über euch kommen. Über alle, die mit ihnen paktieren … und über sie selbst.«
Er meinte die Bractonen – die ERBAUER, wie sie in den alten Mythen genannt wurden. Für Cloud gab es keinen Zweifel. Aber wer sollten diese ominösen Herren der Treymor sein, deren Herrschaft diese offenbar akribisch vorbereiteten. Ging man vom Wahrheitsgehalt der Aussagen aus, ergab sich ein neues, sehr viel klareres Bild der gegenwärtigen Milchstraßen-Situation. Nach dem Verschwinden CLARONs und der anorganischen, von den Jay'nac angeführten Liga war ein Machtvakuum entstanden, in das die Treymor offenbar mit Vehemenz drängten – als Vorbereiter, wie Farrak gerade eingeräumt hatte, für eine Macht, über die es bislang so gut wie keine Informationen gab. Außer der, dass sie offenbar in einer blutigen Fehde mit den Bractonen lagen, die ihre Wurzeln weit in der Vergan-
genheit haben musste. Wer die ERBAUER kannte, der wusste, dass sie bei ihren Aktionen selten Rücksicht – auf ihrer Meinung nach – niedere Lebensformen nahmen. Selbst von einem grausamen Schicksal gestraft, waren sie dazu verurteilt, in diesem von ihnen erschaffenen Kosmos auszuharren, ohne allzu große Aussicht auf eine Rückkehr in den Lebensraum, aus dem sie einst gekommen waren. In die Bemühungen, es dorthin zurück vielleicht doch noch aus eigener Kraft zu schaffen, war in jüngster Zeit Bewegung gekommen. Kargor hatte sich mit einer Vielzahl von Bractonen, die das Risiko nicht scheuten, aufgemacht, um über Portas – die sogenannte Schwellenwelt – doch noch einen Weg nach Hause zu finden. Dort hatten sich offenbar die Anzeichen verdichtet, dass die andere Seite tätig geworden war und die Voraussetzungen für eine Heimkehr der Verschollenen zu schaffen versuchte. Was aber genau hinter den rätselhaften Vorgängen auf dem rätselhaftesten Planeten des Angksystems überhaupt steckte, wusste gegenwärtig niemand so genau – am allerwenigsten die im System verbliebenen und über die sechs anderen Angkwelten verstreuten Bractonen, die sich dort in einem friedvollen Miteinander den Lebensraum mit dort angesiedelten Menschen teilten. Aktueller Stand war jedoch, dass das Angksystem hinter einem undurchdringlichen Schleier aus Chaos und nicht identifizierbarer Energie verschwunden war. Es bestand sogar die Möglichkeit, dass das ERSTE REICH der Bractonen gar nicht mehr existierte und das sichtbare Inferno sich aus den Kräften nährte, die beim Untergang des Systems freigesetzt worden waren. All das mochten die Treymor zwischenzeitlich an Information aus den Speicherbänken der RUBIKON gezogen haben. Aber Farraks Worten zufolge glaubten sie nicht an eine Vernichtung des Erzfeindes. Für Cloud durchaus tröstlich, wenn er an all die Lebewesen und Wunder dachte, die das Angksystem beherbergte und es so einzigartig machte. Aber auch Treymor konnten sich irren. »Wir Menschen haben eine Redensart, wonach Hass kein guter
Ratgeber ist«, sagte Cloud, ohne sich von seinem Einwand allzu viel zu erwarten. »Ihr Menschen habt ja auch Humor.« Auf Farraks insektoiden Zügen zeichnete sich ein neuer, wiederum kaum deutbarer Ausdruck ab. »Und vielleicht seid ihr genau deshalb so schwach.« »Sehr witzig.« Cloud schnitt eine Grimasse. »Wer sind diese Nutznießer, für die ihr Treymor offenbar die Drecksarbeit erledigt? Woher stammen sie?« »Du hast nichts verstanden«, kanzelte ihn Farrak ab. »Wir sind Gesegnete. Weil wir ihnen dienen dürfen. Wo stünde mein Volk heute ohne sie?« Er machte eine Geste, die offenbar seinem Unmut Ausdruck verleihen sollte. »Wir verdanken ihnen alles. Deshalb können sie sich unserer ewigen Treue sicher sein.« Cloud sah ein, dass Farrak nicht beizukommen war, weder mit Argumenten noch mit irgendetwas sonst. Die unbekannten Drahtzieher schienen ihm heilig zu sein. Und um an dem Bild, das der Treymor in sich trug und bewahrte, ernsthaft rütteln zu können, brauchte es mehr Informationen, mehr Fakten. Farrak jedoch demonstrierte nachdrücklich, dass er nicht bereit war, hier und jetzt mit Cloud über die »Segenbringer« zu diskutieren. »Ich wundere mich«, lenkte er das Gespräch in andere Bereiche. Farrak wartete gute zwei Minuten, ehe er fragte: »Worüber wunderst du dich?« »Dass du mich so behandelst, beinahe … rücksichtsvoll. Warum? Was versprichst du dir von mir?« Fast unerwartet ging Farrak auf seine Frage ein. »So wie wir dienen, haben auch wir Diener, wie du weißt. Lebende Werkzeuge, die dazu beitragen, dass wir das Hohe Ziel so rasch wie möglich erreichen.« »Und wie lautet dieses … Ziel? Wollt ihr die Milchstraße unter eure Kontrolle bringen?« Aus Farraks Brust drang ein rasselnder Ton. »Das ist selbstverständlich.« »Ach?« Cloud fand die Arroganz, die Farrak an den Tag legte, beinahe schon sobekwürdig – mit anderen Worten zum Kotzen.
»Zweifelst du?« Cloud zuckte mit den Achseln. »Und welche Rolle spiele ich dabei?« »Sie ist immerhin groß genug, dass ich es – noch – verantworten kann, dich am Leben zu lassen.« Farrak rasselte erneut. »Aber die Details dazu erfährst du später. Ich verabschiede mich für den Moment. Aber das heißt nicht, dass du allein bleiben musst. Ein loyaler Diener wird sich deiner annehmen. Und korrigieren, was der Verräter zunichte machte …« Mit diesen Worten wandte Farrak sich ab und ließ einen ratlosen John Cloud zurück. Doch als bald darauf ein Luure in der Gefolgschaft mehrerer Treymor auftauchte, überkam Cloud eine ungute Ahnung. Die sich bitter bewahrheiten sollte …
4. Das Schiff wimmelte von Feinden. Und auch das Schiff selbst war sein Feind. Dessen war sich Darnok bewusst. Es würde ihn jagen und aufspüren. Und wieder dorthin zwingen, von wo er gerade geflohen war. Aber nur, wenn er es zuließ. Was denke ich da? Warum tue ich mir das an? Ich sollte mich ihnen ergeben – oder auf der Stelle umbringen. Ich sollte die Chance nutzen, meine Schuld zu sühnen. Die Schuld, die unendliche Schuld. Ein Teil von ihm dämmerte immer noch in der Stase dahin, während das Wenige, das erwacht und aktiv geworden war, sein Heil in blinder Flucht suchte. Darnok hatte sich auf ein anderes Zeitlevel begeben. Dadurch wurde er unfassbar für seine Jäger. Unsichtbar, zum Phantom. Aber er tat es mit nur einem seiner zwei Herzen – halbherzig, sozusagen. Denn etwas in ihm drängte, die Schuld anzunehmen, die Sühne dafür anzutreten … weil das der einzige Weg war, um jemals wieder zu sich selbst zu finden. Er hatte eine ganze Galaxie an den Abgrund getrieben. Er hatte vermutlich mehr Leben auf dem Gewissen als jeder Tyrann und Massenmörder vor ihm, auch wenn er all diese gesichtslosen, anonymen Geschöpfe nur indirekt – ohne sich die Strünke schmutzig zu machen – getötet hatte. Monster. Ich bin ein Monster. Mir graut vor mir selbst. Er wusste, dass die Reue zu spät kam. Und er erinnerte sich noch genau, welche wirren Gedanken – und Hoffnungen – ihn dazu verleitet hatten, sich zum Henker ganzer Zivilisationen aufzuspielen. Bevor er zu der Monstrosität entartet war, als die er die Milchstraße das Fürchten gelehrt hatte, war er selbst Opfer unvorstellbarer Gewalt geworden. Physischer und psychischer Gewalt. Gegen seinen – und gegen Arabims – Willen war er mit dem
obersten Keelon-Master der Erde verschmolzen worden … und zu Darabim geworden. So hatten die Jay'nac es bestimmt. Von der Verschmelzung hatten sie sich neue Erkenntnisse versprochen. Aber er hatte sie hinters Licht geführt. Alle. Auch den vermeintlich beherrschenden Geist des Zwitters Darabim … Die Erinnerung schmerzte und schlug ihre Bilder wie schartige Krallen in sein Bewusstsein. Darnok stöhnte und verlor fast die Kontrolle über die Zeit, die er, wie jeder Keelon, zu biegen und zu beugen gelernt hatte. Ich bin ein Geist, ein Gespenst – für alle, die im normalen Zeitfluss leben. Vielleicht wäre es das Beste, für immer der Spuk zu bleiben, der sie narrt. Aber das ist Wunschdenken. Meine Manipulation kostet Kraft. Energie, die mir nicht unendlich zur Verfügung steht. Ich merke ja bereits, wie sie mich verlässt. Nicht mehr lange, und sie haben leichtes Spiel mit mir. Bis es aber so weit war, wollte er ihnen die ein oder andere Niederlage zufügen, Verletzungen, die ihnen zu schaffen machen, Narben, die sie noch lange an ihn erinnern würden. Sie. Er kannte sie. So wie er dieses Schiff kannte, auf das … sie nicht gehörten. Und auf das ich nicht gehöre. Ich habe jedes Recht verwirkt, hier zu sein. Die Freunde von einst, sie … Ein gallebitteres Gefühl brachte den Gedanken zum Erliegen. Der Korridor, durch den er sich bewegte, war wie erstarrt – alles darin. Was daran lag, dass er schneller als das übrige Leben auf der RUBIKON war, so viel schneller, dass dieses »langsame« Sein ihn gar nicht zu erfassen vermochte. Nicht einmal die Bordsysteme vermochten das offenbar, obwohl Darnok damit gerechnet hatte, dass sie sich auf seinen Zeitfluss einpegeln würden. Früher oder später würde das gewiss auch geschehen. Entweder würde die altforonische Technik ihn aufspüren, oder die Mittel und Möglichkeiten der Käferartigen würden dies. Vergeblich wartete Darnok darauf, irgendwo einem Menschen zu begegnen. Überall nur insektenhafte Krieger, die wie Statuen über
das Schiff verteilt waren. Sie waren etwa menschengroß, ansonsten aber nur rudimentär humanoid. Darnok überlegte, ob er seine momentane Überlegenheit dazu nutzen sollte, jeden Fremden, den er antraf, zu töten. Seine Opfer würden überhaupt nicht merken, wer oder was sie umbrachte. Sie würden sterben, ohne ihn gesehen zu haben … Aber hätte er das getan, hätte er nahtlos dort weitergemacht, wo er vor seiner Festnahme durch die rechtmäßige Crew dieses Schiffes aufgehört hatte. Und das wollte er nicht. Nein? Bist du dir da so sicher? Die Jahre in Einsamkeit hatten schizoide Züge an ihm herausgebildet. Manchmal schauderte ihn vor der Stimme, die sich ohne jede Vorwarnung in ihm zu Wort meldete. Mal war sie der »bessere«, mal der »schlechtere« Darnok. Ganz unterschiedlich. Früher hatte er geglaubt, sie als »Gesellschaft« sei besser als nichts. Doch inzwischen sehnte er die Stille in sich herbei. Die Leere, in die es ihn in seiner Gesamtheit zog … Bring dich um. Warum zögerst du, wenn dich alles so anwidert – insbesondere du dich selbst? Aber die Endgültigkeit eines Suizids schreckte ihn, wie er inzwischen wusste. Andere dem sicheren Tod auszuliefern, war ihm leichter gefallen. Es gab nichts, womit er sich je davon reinwaschen konnte. Vielleicht handelte er auch jetzt völlig falsch. Vielleicht waren die Insektoiden gar nicht seine Feinde. Sie hatten ihn aus der Stase geholt. Vielleicht – um ihn zu befreien … mit ihm in friedlichen Dialog zu treten … Vielleicht ahnten sie nicht einmal, wer er war. Aber wo sind die Persönlichkeiten, die du mit dem Schiff in Verbindung bringst? Wo ist John Cloud, wo Scobee und Jarvis und all die anderen? Darnok hatte sich bereits instinktiv in die Richtung gewandt, wo er vielleicht Antwort auf diese Fragen erhalten würde – er war auf dem direkten Weg zur Kommandozentrale der RUBIKON. Und wenn er dort immer noch keine Menschen fand, denen er sich zu
stellen bereit war (ihnen, aber nicht diesen Insekten!), hatte er endgültig ein Problem. Dann würde es noch schwerer für ihn werden, einen gangbaren Ausweg aus seinem Dilemma zu finden. Vorbei an einer weiteren Schwadron von käferartigen Geschöpfen erreichte er das logistische Herz des Raumschiffs. An wie versteinert wirkenden Fremden vorbei betrat er die Zentrale. Den gewaltigen Raum, dessen Blickfang das Podest in der Mitte bildete, auf dem sieben Sitze und eine bis zur Decke reichende Holosäule angeordnet waren. Das Hologramm war wider Erwarten aktiviert; es zeigte die bizarre Umgebung, in der die RUBIKON vertäut worden war von unsichtbaren Gravitationsfesseln. Offenbar kommunizierte das Schiff mit einer externen Stelle, denn die Holoszene zeigte den Rochenraumer innerhalb des komplexen Riesengebildes, an dem er festgemacht worden war. Es sah aus wie eine gigantische Raumstation, groß wie eine Stadt, silbern schimmernd. Ansonsten dominierte völlige Leere die Umgebung. Sie war von weißem Licht durchdrungen, scheinbar bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet … aber dabei ohne jeden Orientierungspunkt. Einzige Ausnahme war die Silberstadt mit der RUBIKON. Darnok vertiefte sich eine Weile in den Anblick, doch das hinderte seinen Verstand nicht daran, die Erkenntnis zu gewinnen, dass auch die Zentrale des Schiffes absolut bar jeder bekannten Gestalt war. Es gab keine Spur von John Cloud oder einem anderen Mitglied der Crew, die den Rochenraumer eigentlich hätte bevölkern müssen. Stattdessen überall nur Insektoide. Wie viel Zeit mag vergangen sein, seit ich in die Stase gebettet wurde? Bislang war er davon ausgegangen, die bekannten Gesichter antreffen zu müssen – weil zwischen seinem Gang in die Stase und dem Erwachen daraus allenfalls ein paar Monate oder Jahre vergangen sein mochten. Doch jetzt musste er eine andere Möglichkeit in Betracht ziehen: Die RUBIKON hatte nach den Foronen auch die Menschen überdauert. John Cloud und seine Gefährten existierten nicht mehr – dafür die Käfer. Er kannte sie von ihrem Wirken her, aber nicht als Zivilisation, als
Spezies. Von ihrer Kultur wusste er so wenig wie von ihren Motiven, die sie dazu verleitet hatten, Butterfly M2 anzusteuern. (Wie lange war das her? Alles, was damit zusammenhing, war so surreal, als gehörte es zum Leben eines anderen …) Darnok wusste, dass er seine Flucht in der bisherigen Form nicht mehr lange würde durchhalten können. Entweder er versuchte, von Bord zu gelangen (aber wohin?) – oder er ergab sich. In beiden Fällen waren die Folgen nicht wirklich vorhersehbar. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Käfer ihm tatsächlich wohlgesonnen waren, lag nahezu bei null. Dennoch … je länger er über seine Möglichkeiten nachdachte, desto mehr kam er zu dem Entschluss, zu müde zu sein und zu wenig am Leben zu hängen, um sich den begonnenen Widerstand weiterhin antun zu wollen. Sollen sie mit mir tun oder lassen, was ihnen gefällt … Er fürchtete nur die Folter. Dennoch war er fest entschlossen, das Risiko, einem erbarmungslosen Gegner in die Hände zu fallen, einzugehen. Er konzentrierte sich, um das Zeitfeld, in das er sich mit großer Anstrengung hüllte, auf das Level der Umgebung zurückzufahren. In diesem Moment bemerkte er eine Bewegung zwischen all dem Starren, das ihn umgab. Kein Insektoide rührte sich bislang. Darnok hielt immer noch seine Eigenzeit aufrecht. Aber woher kam dann die Bewegung? Seine vielen Augen blinzelten. Dort, wo er etwas bemerkt zu haben glaubte, war nichts. Er hatte sich geirrt. Die Anstrengung forderte bereits ihren Tribut. Einbildung, reine Einbildung … Aus einer anderen Richtung erfasste eine Anzahl seiner Augen erneut eine Aktivität, die so nicht hätte erfolgen dürfen. Diesmal entging Darnok der Verursacher nicht – aber womöglich nur deshalb, weil der sich ihm zeigen wollte. »Wer – bist du?« Darnok trippelte automatisch auf die Gestalt zu. Diesmal versteckte sie sich nicht wieder. »Wir müssen etwas tun«, sagte sie in klar verständlicher Sprache. »Dieses Schiff wurde vom
Feind erobert. Du und ich sind die Einzigen, die sich ihm widersetzen konnten.« Für einen Moment suchte Darnok vergeblich nach Worten, die seinem Gegenüber klar machten, dass er sich den völlig Falschen ausgesucht hatte, wenn er sich von ihm tätige Unterstützung gegen irgendwelche Feinde erhoffte. Er, Darnok, war der größte Verbrecher von allen. Aber das schien der Humanoide nicht zu wissen. »Du … du weißt nicht, wer ich bin. Sonst würdest du nicht –« »Ich weiß, wer du bist, Darnok, natürlich weiß ich das. Aber du kennst mich nicht, oder?« Darnok machte eine keelonische Geste der Verneinung, ohne zu erwarten, dass der Unbekannte sie zu deuten wusste. »Du bist ein Mensch, so viel steht fest. Auch wenn ich mich frage, wie du …« »Wie ich mich so schnell bewegen kann wie du?« Die schlanke, kahlköpfige Frau in der bläulich schimmernden, eng anliegenden Kleidung lächelte. »Während die Treymor im Dunkeln tappen?« Treymor musste der Name für die insektoide Spezies sein. »Ich bin nicht in der Stimmung, um –« Die Frau nickte. »Du bist schwach. Und wirst immer schwächer. Aber es gibt einen Ort, wo du deine Gabe nicht bemühen musst und dich ausruhen kannst. Für eine Weile zumindest. Komm.« Sie streckte den linkten Arm aus. »Komm, ich führe dich hin. Dort reden wir weiter. Du hast sicher ein immenses Defizit an aktueller Information.« Darnok zögerte. Es konnte auch eine Falle sein. Eine Falle der … Treymor. Aber was hatte er zu verlieren? Er war drauf und dran gewesen, sich ihnen ohnehin zu ergeben. »Wohin … bringst du mich?« »Folge mir einfach. Und warte nicht zu lange. Es werden bereits Anstrengungen unternommen, dich zu lokalisieren. Der Feind ist nicht zu unterschätzen.« Tausend Gedanken rasten durch Darnoks Hirn. Schließlich hatte er seine Entscheidung getroffen. Er ging auf die fremde Frau zu, die sich umdrehte und sich ebenfalls in Bewegung setzte.
»Es ist nicht weit«, sagte sie mit warmer Stimme. »Hab Vertrauen.« Vertrauen. Darnok schauderte, weil ihm das Wort fremder vorkam als jedes andere, das ihm seit seinem Erwachen aus der Stase in den Sinn gekommen war. Aber er blieb der Frau dicht auf den Fersen. Und erreichte den Ort, wo alle Last von ihm abfiel. Ermattet schlief er ein.
Darnok erwachte, weil ein fremder Arm in seinem Leib steckte. Erschrocken fuhr er auf. Die Frau zuckte zurück. »Ich wollte dich nicht erschrecken.« Darnok starrte auf die Stelle, aus der sich ihr Arm zurückgezogen hatte. »Was hat das zu bedeuten? Ich –« »Es war kein Akt der Feindseligkeit. Das schwöre ich dir. Du musst mir vertrauen.« Der Schlaf hatte neue Kräfte in Darnok freigesetzt. Er war versucht, in der Zeit zurückzuspringen und … »Tu das nicht. Es würde alles verderben. Zumindest, wenn es so unüberlegt erfolgt. Lass uns reden und beratschlagen. Ich stehe auf deiner Seite – falls du auf meiner stehst.« Darnok fluchte in Keelonmanier. Er konnte sich kaum erinnern, wann er die unbotmäßigen Worte zum letzten Mal ausgesprochen hatte. Dennoch kamen sie ihm leicht über die Lippen. »Du liest in meinen Gedanken? Wie? Bist du eine Telepathin?« »Ich bin alles, was du dir wünscht.« »Wie bitte?« »Ich richte mich gern nach deinen Erwartungen – solange sie nicht im Widerspruch zum Ziel stehen.« »Und das Ziel ist …?« »Ich dachte, das sei klar.« Ein Hauch von Enttäuschung legte sich über die femininen Züge. Menschliche Züge. Die sich unvermittelt änderten. Fassungslos, dem Trommelfeuer seiner beiden Herzen ausgesetzt,
starrte Darnok auf die Keelonfrau, die sich vor ihm aus den Umrissen des zerfließenden Menschenweibs herausschälte. »Lisee …« Was geschah mit ihm? Träumte er das alles nur, angefangen mit dem Erwachen aus der Stase? Oder war sein Verstand bereits so zerrüttet, dass die Wahnvorstellungen ihn wie eine endlose Abfolge von Lawinen überrollten? Einen Moment zuvor hatte er an sie gedacht, an Lisee, und jetzt stand sie vor ihm. »Sie ist eine Illusion«, sagte Lisee und meinte offensichtlich sich selbst. »Ich fand ihr Bild in dir, als ich gerade in dir war … Ich wollte dir einen Gefallen tun. Ein vertrautes Äußeres, zu dem du große Zuneigung empfindest – immer noch, nach so langer Zeit …« Also doch: eine Telepathin! Zugleich aber auch eine … Suggestorin – oder Gestaltwandlerin. »Warum?«, ächzte er. Lisees Anblick schürte ein längst erloschen geglaubtes Feuer. Er wurde seiner Emotionen kaum Herr. »Warum … tust du mir … das an?« Die Lisee-Erscheinung formte sich zurück zu der Menschenfrau. Sie war neutral. Darnok beruhigte sich. »Wer bist du?«, verlangte er mit Nachdruck zu wissen. »Ich begreife nicht, was du von mir willst. Und warum du mir diese Bilder vorgaukelst. Das ergibt keinen Sinn.« »Ich biete dir eine Zuflucht«, erinnerte die Frau ihn. »Ist das nichts?« »Aber du tust es aus Eigennutz. Du willst etwas von mir. Sag mir was!« Sie nickte, trat auf ihn zu, blieb dicht vor ihm stehen. Darnok spürte ihre Präsenz, als hätte er ein Wesen aus Fleisch und Blut vor sich. Doch tief in seinem Innern hegte er daran große Zweifel. »Du hast recht, und du verdienst es, die Wahrheit zu erfahren. Ich wollte dir Zeit geben, dich an mich zu gewöhnen – an mich in dieser Form. Aber ich erkenne, dass du stark genug bist, dich mit den gegebenen Umständen auseinanderzusetzen.« »Was willst du von mir?« »Du sollst mir helfen.«
»Wobei?« »Das Schiff zurückzuerobern.« »Die RUBIKON.« Sie nickte. »So tauften die Menschen sie. Ja.« »Die Menschen, von denen du sprichst, sind verschwunden. Ohne Ausnahme … von dir einmal abgesehen.« »Ich bin kein Mensch.« Die Bereitwilligkeit, mit der sie das zugab, verblüffte ihn einmal mehr. »Was dann?« »Hast du das noch nicht begriffen?« Sie lächelte freundlich, wie er es bei Menschen oft gesehen hatte. Bevor sie begonnen hatten, ihn zu verachten. »Ich bin die kybernetische Instanz dieses Schiffes. Sesha. Aber niemand da draußen …« Sie zeigte auf die Energieblase, die den Ort umspannte, an dem sie sich aufhielten. »… darf das erfahren.«
»Warum sollte ich dir glauben?« »Warum sollte ich lügen?« »Um mich in eine Falle zu locken?« »Darin hättest du dich bereits verfangen, rettungslos, wenn ich das wollte.« Darnok musste ihr recht geben. Aber innerlich verweigerte er sich weiterhin der Akzeptanz, es mit der Künstlichen Intelligenz der RUBIKON zu tun zu haben. Wäre die KI noch in der Lage gewesen zu agieren und Maßnahmen gegen die Eroberer des Schiffes zu ergreifen, hätte sie das getan – unmittelbar und ohne Schnörkel. Die Treymor aber hatten das Schiff an allen relevanten Stellen besetzt. Und um das zu schaffen, mussten sie einen Weg gefunden haben, die KI vorher auszuschalten … beziehungsweise auf ihre Seite zu ziehen. Nein, so sehr er auch darüber grübelte, ihm fiel kein einziger vernünftiger Grund ein, weshalb er dieser … Erscheinung hätte glauben sollen. »Dein Misstrauen ist verständlich«, sagte die vorgebliche KI. »Ich will versuchen, es zu entkräften. Dazu musst du wissen, was vor
deiner Erweckung geschah.« Er glaubte nicht, dass sie ihn überzeugen konnte, trotzdem sagte er: »Fang an.« Und Sesha berichtete. Von ihrem Commander, der fremdbestimmt die RUBIKON in den Aquakubus gelenkt hatte, wo die Besatzung von unbekannten Echsenkriegern evakuiert worden war, bevor die Treymor sich ihrer hatten annehmen können. Die RUBIKON war komplett entvölkert gewesen, als die Käferartigen an Bord gekommen waren. Nur noch Sesha und Darnok hatten sich darin aufgehalten. Als KI war Sesha untrennbar mit der RUBIKON verbunden. Und sie hatte hinnehmen müssen, wie sie von einer externen Macht zu Handlungen gezwungen wurde, die allem widersprachen, was jemals in ihrer Programmierung verankert worden war. Der innere Konflikt der KI war schließlich an einen Punkt gelangt, an dem sie schizophrene Züge entwickelte, um nicht komplett zu kollabieren. In dieser Situation, unterjocht von den Treymor, aber auch von dem unabdingbaren Zwang erfüllt, das Schiff gegen falsche Autoritäten zu verteidigen, hatte sie einen Teil von sich abgespalten – den Teil, der jetzt mit Darnok kommunizierte …
»So einfach soll das sein?« »Einfach? Davon war keine Rede.« Die KI stemmte die Fäuste in die Hüften und schüttelte mit Nachdruck den Kopf. Ihre Haut war hell, fast weiß. Erst jetzt fiel Darnok auf, dass sie trotz der femininen Grundzüge keine eindeutig ausgebildeten Geschlechtsmerkmale besaß. Die Brüste waren warzenlos, der Schambereich genauso glatt und unspezifisch wie jede andere Hautstelle ihres schlanken Körpers. Sie konnte auf Kleidung verzichten, genau wie Darnok, dessen intimere Regionen auf natürliche Weise vor neugierigen Augen verborgen waren. »Was bist du, wenn du tatsächlich ein Ableger der KI bist? Stofflich – oder eine Art Hologramm?«, fragte er. »Probier es aus.« Das tat er. Und als seine Strünke nach ihr tasteten … glitten sie ins
Leere. »Illusion. Du bist nur eine Täuschung!« »Widerspruch. Ich bin real. Auch wenn ich nicht so greifbar wie ein Lebewesen oder Ding bin. In den holografischen Pixeln bündelt sich die ganze Intelligenz, die hinter mir steht.« »Hinter dir?« »Die Bord-KI. Ich bin eine Spiegelung von ihr. Noch dazu eine, die sie aktuell vor jedem verleugnen würde. Selbst vor dir.« Sie lächelte. »Wie ich schon sagte: Aus der Not heraus geborene Schizophrenie.« Darnok überlegte, ob er sich mit dieser Erklärung zufrieden geben konnte. Und wollte. Er war sich nach wie vor unsicher. »Mich verbindet nichts mehr mit der RUBIKON. Am wenigsten mit dir. Warum sollte ich helfen – einmal ganz außen vor gelassen, ob ich das überhaupt könnte?« »Warum? Weil du dir selbst etwas vormachst? Dieses Schiff ist dir nicht egal. Ich habe es … gelesen, als ich vorhin in dich griff. Du bist nicht das Monster, als das deine Freunde von einst dich sahen. Aber du hast ihnen auch keine Möglichkeit gelassen, etwas anderes in dir zu sehen, solange du …« »Solange ich?« »… in deinem Rachegespinst verstrickt warst.« »Ich bereue nicht, was ich tat.« »Darin bist du ein Meister.« »Worin?« »Dir selbst etwas vorzumachen.« Er schwieg. »Was ist aus der Besatzung geworden?«, fragte er schließlich. »Wohin wurden sie gebracht?« »Ich weiß es nicht. Ihre Spur verliert sich in dem Moment, da sie das Schiff verließen.« »Und die Treymor haben damit nichts zu schaffen? Woher willst du das so sicher wissen?« »Ich entnehme es ihren Gesprächen. Ihren Aktionen an Bord.« Darnok überlegte. »Lass mich das noch mal zusammenfassen: Sie kontrollieren die
KI, aber sie haben keine Macht über dich. Die KI hat ebenfalls ›vergessen‹, dass sie dich … wie sagtest du doch gleich … abgespalten hat. Aus reinem Selbstschutz, um sich den Treymor gegenüber nicht zu verraten. Und du wiederum nutzt die Unwissenheit um deine Existenz, um mit mir Verbindung aufzunehmen, den Versuch zu unternehmen, dich mit mir zu verbünden – gegen die Käferartigen. Soweit richtig?« »Absolut.« »Dann blieben zwei Fragen.« »Welche?« »Wozu das alles, wenn es keine Besatzung mehr gibt, die ein rückerobertes Schiff wieder in ihren Besitz bringen könnte? Und: Wie genau sollte eine solche Rückeroberung vonstatten gehen?« »Punkt eins«, sagte Sesha, »die RUBIKON muss bereit sein und zur uneingeschränkten Verfügung stehen, wenn die Besatzung zurückkehrt.« »Daran glaubst du?«, warf Darnok ein. »Dafür gibt es nicht den geringsten Hinweis.« »Punkt zwei«, überging das KI-Fragment seinen Einwand, »über die genauen Modalitäten des Kampfes müssen wir beide uns einigen. Du hast im Töten die wahrscheinlich größere Erfahrung.« Seit wann war das eine Auszeichnung? Obwohl ihn das zweifelhafte Kompliment betroffen machte, fragte Darnok: »Du willst töten?« Die Holofrau konterte kühl: »Wie anders sollten wir den Heerscharen von Feinden beikommen?«
5. Im ersten Moment glaubte Cloud, Mingox sei auferstanden. Der eintretende Luure hatte frappante Ähnlichkeit mit dem salamanderartigen Geschöpf, das Cloud in Taurts Station von den tückischen Protopartikeln befreit – gereinigt – hatte. Sie waren ein unseliges Erbe seines ersten Aufenthaltes im Kubus, der nun schon – wenn auch nicht subjektiv – Jahrzehntausende zurücklag. Von seiner ganz persönlichen Warte aus betrachtet waren es »erst« wenige Jahre. Er registrierte die Jahrhunderte und Jahrtausende zwar wie jeder andere Betroffene, aber es waren für ihn keine erlebten Zeiten. Für Taurt, der offenbar den bis vor kurzem geheimen Widerstand in Tovah'Zara organisierte, verhielt es sich anders: Er schien durch all diese Zeiten gegangen zu sein. So wie er schon einmal durch Jahrzehntausende gegangen war und den Auftrag seiner Schöpfer, der Foronen, erfüllte, Tovah'Zara zu dem zu machen, was sie sich vorstellten. Er hatte es vollbracht. Er hatte ein Monument erschaffen, das seinesgleichen suchte, immer in der Überzeugung, es eines Tages seinen Herren übergeben zu können. Doch deren Rückkehr hatte sich anders gestaltet, als er und sie es erwartet hätten. Und dann waren die Treymor anstelle des Foronen-Septemvirats getreten. Bevor Cloud eine Frage an den Luuren richten konnte, sagte dieser: »Ich bin Lomax. Du kennst mich noch nicht, aber ich kenne dich. Und wir beide … haben einen gemeinsamen Bekannten.« »Mingox«, riet Cloud ins Blaue hinein. »Sehr richtig.« »Du paktierst mit dem Feind allen Lebens in Tovah'Zara«, hielt Cloud ihm vor. »Weißt du überhaupt, wem du da deine Seele verpfändet hast?« »Du redest schlecht über die Gesegneten. Ich habe nichts anderes erwartet.« Der Luure huschte näher. Immer ein kurzes Stück, dann
hielt er inne, schien sich zu besinnen … um wieder ein kurze Strecke im Eiltempo zurückzulegen … abzustoppen … und auf diese Weise schließlich vor Cloud innezuhalten. Die schlangenartige Haut schimmerte feucht; er musste sich noch vor kurzem in Wasser bewegt haben, seinem eigentlichen Element, auch wenn er als Luure amphibisch war und sowohl unter als auch über Wasser atmen konnte. Cloud bemerkte ein kaum sichtbares Gespinst, das sich wie eine Netzmontur um den kompletten Körper des Luuren spannte, nicht einmal der Kopf war davon ausgenommen. Die Sehorgane, die Cloud musterten, wirkten wie auf den Schädel aufgesetzt. Als hätte jemand die Gallertmasse der Augäpfel aufgeblasen. Der Blick daraus war Cloud unangenehm, so wie es die ganze Situation war. Farrak war gegangen und hatte den Luuren geschickt – dahinter steckte mit Sicherheit nichts Gutes. »Ich verleumde sie nicht, sie sind schlecht. Ist dir bekannt, was sie den Vaaren antaten?« Lomax schwieg. Seine gespaltene Zunge züngelte hervor. Ein Fauchen löste sich aus seinem Rachen. »Ich bin auf unsere Begegnung vorbereitet«, zischte er. »Ich rate dir nicht zu versuchen, mich anzugreifen. Das würdest du bitter büßen. Ich warne dich in deinem eigenen Interesse. Widersetze dich nicht, dann bleiben dir unnötige Qualen erspart.« Hinter dem Luuren öffnete sich erneut die Tür, durch die er gekommen war. Mehrere Treymor traten ein. Sie eskortierten eine Schwebeplatte, auf der sich ein würfelförmiger Behälter befand. Seine Wände waren durchsichtig und gewährten freien Blick auf den Inhalt. »Was ist das?«, fragte Cloud unbehaglich. Er blickte an sich herab. Man hatte ihm seine Kleidung gelassen, und um seine Hand- und Fußgelenke schlangen sich hauchdünne silbrige Fäden, von denen er nicht annahm, dass es sich um echte Willkommensgeschenke in Form von Schmuck handelte. Er hatte sie erst nach Farraks Weggang bemerkt, daran gezogen und erkannt, dass sie sich weder zerreißen noch anderweitig von ihm entfernen ließen. Seither war er auf der Hut – aber was änderte das? Es handelte sich fraglos um eine Teufe-
lei der Treymor, deren Bedeutung er wahrscheinlich erst erkennen würde, wenn er das tat, wovor Lomax ihn gerade gewarnt hatte. »Der benötigte Ersatz«, sagte der Luure. Die Treymor-Prozession kam bei ihnen an. Sie war bis an die Zähne bewaffnet – Cloud hatte nur einen flüchtigen Blick gebraucht, um das zu verbuchen. Und offenbar diente ihr Auftreten genau dazu, um ihm klarzumachen, dass jede Gegenwehr zwecklos war. Nicht nur Lomax wusste sich dem eigenen Bekunden nach seiner Haut zu wehren, auch überall sonst erwartete Cloud Widerstand, den zu brechen ihm nicht gelingen würde. Nur ein Selbstmörder hätte es trotzdem versucht. Insbesondere nach der rigiden Art und Weise, wie die Treymor Cloud in ihre Gewalt gebracht hatten. Nein, er war kein Narr, und erst recht kein Selbstmörder. »Ersatz?«, wiederholte er. »Wofür?« »Ich dachte, das wäre klar.« Lomax trat vor die Schwebplatte und richtete sich halb auf, legte seine beiden vorderen Extremitäten, die sowohl zum Laufen als auch zum Greifen dienten, auf den durchsichtigen Würfel … und versetzte offenbar allein dadurch die glitzernden Partikel darin in Aufruhr. Es sah aus, als tanzten winzige Glühwürmchen wild durcheinander. An irgendetwas erinnerten sie Cloud. Aber erst Lomax' folgende Worte ließen die dunkle Ahnung zur Gewissheit werden. »Das ist speziell aufbereitete Protomaterie – man kann sie einem Lebewesen einimpfen … und danach, wie du sicher bestätigen wirst, alles mit ihm machen.«
Der bloße Gedanke ließ ihn zusammenzucken. Er war den Albtraum erst losgeworden … und nun sollte er ihm erneut drohen? Die Protopartikel, mittels derer ein fähiger Luure offenbar beliebig Einfluss auf die Persönlichkeit und die Hülle eines Wirts nehmen konnte, hatten Cloud zum Verrat an seiner Crew angestiftet. Und sie hatten ihn zeitweise sogar physisch in einen … ihn schauderte … Treymor verwandelt.
Diese Hölle noch einmal durchlaufen? Nein! Obwohl er sich kurz zuvor noch die Sinnlosigkeit von Widerstand eingetrichtert hatte, gab Cloud dem Impuls nach, der das Ventil seiner überbordenden Gefühle wurde. Aus dem Stand heraus warf er sich gegen den Luuren. Er prallte mit ihm zusammen, suchte mit seinen Händen Halt an der glitschigen Haut … und fühlte sich im nächsten Moment von einem so heftigen Schmerz geschüttelt, dass er glaubte, darunter zerschmelzen zu müssen. Es war, als wäre er unvermittelt in siedend heißes Öl nicht nur getaucht worden, sondern als würde es binnen einer Sekunde seinen ganzen Leib durchtränken. Er war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig, verlor aber auch nicht das Bewusstsein. Wie lange die Marter dauerte, wusste er nicht. Irgendwann fand er sich zuckend am Boden wieder, und Lomax stand ungerührt bei ihm. Die vormals durchscheinenden Fäden, die ihn umwoben, leuchteten jetzt so silbrig wie … Cloud sah an sich herab. … die Schnüre, die Clouds Hand- und Fußgelenke umspannten, es einmal getan hatten. Jetzt war es anders. Jetzt waren sie von einem abgründigen Schwarz, wie Cloud es noch niemals zuvor an einem Ding bemerkt hatte. Die Schwärze hatte die Qualität eines Black Hole. »Bastard!«, rann es über seine Lippen. Lomax blieb ungerührt. »Ist das eine Beschimpfung?« »Ich bin sicher, du hast es verstanden – und verdient.« »Du hast mich angegriffen. Davor habe ich dich eindringlich gewarnt.« »Ja, wasch deine Hände in Unschuld. Damit wirst du Gefallen bei deinen sogenannten ›Gesegneten‹ finden, die auch nichts anderes sind als rücksichtslose Tyrannen.« Keuchend kam Cloud auf die Beine. Das Zittern hörte auf. Dennoch blieb eine Schwäche zurück, als hätte er sich vollkommen verausgabt. »Du kannst mich nicht überzeugen«, erwiderte der Luure. »Ich
werde nicht zum Verräter, wie Mingox.« »Er war kein Verräter. Er hatte Verstand. Aber ich mache dir nicht den Hauptvorwurf. Die Treymor manipulieren dich. Auch Mingox wurde manipuliert. Bis er von den Pheromonen isoliert wurde, die die Treymor dazu missbrauchen, euch gefügig zu machen. Dazu musste er aber nachhaltig von dem Einfluss isoliert werden – und ich wünschte, dazu könnte ich auch dir verhelfen. Es würde dir die Augen öffnen. Und du wüsstest, was du gerade vorhast – in ihrem Namen.« »Mingox war ein Verräter. Er ist als solcher gestorben.« »Ich war dabei, du brauchst mich nicht zu erinnern. Vielleicht hättest du es mit ansehen sollen, wie er hingerichtet wurde. Dann wüsstest du, an welchem seidenen Faden auch dein Leben hängt. Du bist völlig von den Treymor abhängig. Ein Fingerschnipsen – und sie beenden dein Dasein, ganz wie es ihnen gerade gefällt.« »Das war zu allen Zeiten so.« Zu seinem Bedauern musste Cloud ihm diesbezüglich sogar zustimmen. Für die Luuren hatte sich nicht allzu viel geändert. Früher bestimmten die Vaaren ihr Leben, und heute waren es die Treymor. Den Unterschied vermochten wahrscheinlich nur Außenstehende zu begreifen, die nicht in Tovah'Zara ansässig waren. Cloud wusste um die Dimension der Bedrohung, die die Treymor milchstraßenweit verkörperten. Aber das interessierte Lomax sicher nicht. Schlimmer noch: Die Treymor hatten ein für ihre Zwecke perfektes Regime installiert. Ihre »Untertanen« liebten sie. Vorbehaltlos und wahrscheinlich bis in den Tod. Wann hatte es das jemals in dieser Qualität gegeben? »Du darfst mich nicht auch zu ihrem Sklaven machen. Bei mir sprechen die Pheromone nicht an, bei Menschen allgemein nicht. Deshalb wollen sie den Weg über die Protopartikel gehen.« Etwas wie ein Lächeln materialisierte auf den Zügen des Luuren. »Ich weiß.« Er zeigte auf den Behälter, den die Treymor gebracht hatten und dessen Deckel verschwunden war. Die Partikel tanzten
über der Öffnung. »Ich beginne jetzt mit der Prozedur. Sie ist weitgehend schmerzlos. Glaube ich. Aber das wirst du mir hinterher sagen können. Wenn du so weit bist, mir alles zu sagen. Die Gesegneten erwarten Resultate. Insbesondere was dein Wissen um den Widerstand innerhalb Tovah'Zaras angeht. Ich bin entschlossen, sie ihnen zu liefern. Und du wirst merken, wie erleichternd es ist, all den Ballast abzuwerfen, der sich aus deinem Sträuben ergibt …« Clouds Blick huschte zu den Treymor, die mit gezogenen Waffen in Türnähe postiert standen. Der Einsatz der Blaster würde nicht nötig sein, aber die Drohgebärde verschärfte das Klima, das in dem Raum herrschte, in dem sich Clouds Schicksal erfüllen sollte. Wenn er ihn jemals wieder verlassen würde, dann als willfährige Marionette. »Lieber … sterbe ich!« Er wusste, was er sich antat, als er vorsprang und sich diesmal gegen den Behälter auf der Schwebeplatte warf, anstatt gegen Lomax. Fast im gleichen Moment, da er gegen den Würfel prallte, wucherte der bereits bekannte Schmerz durch seine Nerven. Die Umgebung verschwand in einem blendenden Lichtblitz, der gar nicht mehr aufhören wollte. Zum ersten Mal spürte Cloud, wie kurz er davorstand, sterben zu wollen. Alles schien besser als die vollkommene Versklavung. Aber weder die Treymor noch Lomax fragten ihn nach seinem sehnlichsten Wunsch – geschweige, dass sie bereit gewesen wären, ihn zu erfüllen. Noch während Cloud in unvorstellbaren Qualen badete, trat der Luure an ihn heran, und neben ihm stieg die Wolke aus Protopartikeln auf, denen es keinen Schaden zugefügt hatte, dass der Behälter zu Boden fiel. Glitzernd senkte sich das Unheil über John Clouds Gesicht. Durch Nase und Ohren fand es Einlass in die Bereiche, die es anstrebte. Und als die Folter abrupt abbrach, erhob sich ein Mensch, der äußerlich zwar lädiert, aber ansonsten unverändert wirkte. Tief drinnen jedoch …
6. Der Vaaren-Rochen näherte sich dem Zielpunkt. Die Antriebsaggregate erstarben. Mit geringer Restgeschwindigkeit trieb das Schiff dahin. »Das ist er?«, fragte Scobee, die den Planeten bislang nur aus der Simulation kannte, die der Kleine Arto ihr präsentiert hatte. Auf diese Weise war ihr Taurts Plan, der letztlich zu John Clouds Rettung – und vielleicht sogar der Rückeroberung der RUBIKON – führen sollte, erklärt worden. Aber eine Simulation und die Realität waren zwei verschiedene Paar Schuhe. »Wie heißt diese Welt?« Scobees Blick ruhte beeindruckt auf dem gewaltigen Himmelskörper. Es war etwas völlig anderes, einen Planeten vom freien Weltraum aus anzufliegen … oder nur durch ein paar Kilometer Wasser davon getrennt zu sein. »Hat sie überhaupt einen Namen?« Keine der Welten Tovah'Zaras verfügte über eine Atmosphäre, und so präsentierte sich auch der Gigant in der Bildschirmwiedergabe als korallen- und algenüberwuchertes Gebiet, dessen Oberfläche mit der Zeit eins geworden war mit seiner Umgebung. Es gab Lebewesen zuhauf, die den Planeten zu ihrer Heimstatt erkoren hatten, aber die meisten waren mikroskopisch klein. »Die Pandolen nennen sie Taurix – zu Ehren ihres Retters.« Der Tayaner, der von Taurt ausdrücklich zu Scobees Schutz abgestellt worden war, starrte ausdruckslos auf den Schirm. »Pandolen?« »Die verborgenen Bewohner«, sagte Quintalen, wie der Tayaner hieß. »›Taurix‹ bedeutet in ihrer Sprache so viel wie ›Taurt der Retter‹. Er hat ihnen eine Zukunft gegeben, als ihr Schicksal bereits besiegelt schien.« »Erläutere das.« »Der Kubus assimilierte einst Welten, die seinen Weg durch das
All kreuzten – wenn es sich dabei um Himmelskörper handelte, die den Vaaren von Interesse schienen. Taurix war eine solche Welt, die das Pech hatte, in den Kubus gesogen zu werden. Bei diesem Vorgang wurde so gut wie alles Leben vernichtet, die Zivilisation der Pandinen endete wie die der Dolmeden.« »Es gab zwei intelligente Spezies auf dem Planeten – zur gleichen Zeit?« »Das war das Problem, das Hauptproblem, bevor der Kubus erschien«, sagte Quintalen. Der Tayaner überragte Scobee um Haupteslänge. Er war nicht übertrieben muskulös, aber sein sehniger Körper wirkte ungemein ästhetisch. Soweit Scobee es bislang überblickte, waren die Tayaner die geborenen Soldaten, angstfreie Kämpfer, für die Gefangenschaft keine Option war. Taurt hatte erzählt, dass ein Tayaner sich selbst richtete, bevor er in die Gewalt des Feindes fallen konnte. Bedingungslose Treue zeichneten sie aus. Woher sie stammten, wie Taurt zu ihnen gekommen war und was genau ihre Motive waren, ihn so vorbehaltlos zu unterstützen, darüber hatte der Hüter des Kubus nichts Näheres verraten. Und auch die Tayaner, die Scobee bislang darauf angesprochen hatten, schwiegen so eisern, als hätten sie ein Gelübde abgelegt. »Inwiefern?«, fragte Scobee. »Auf Taurix – wie der Planet damals genannt wurde, weiß ich nicht – herrschte ewiger Krieg. Die beiden Spezies bekämpften sich aufs Blut. Erst kurz vor der Vernichtung durch den Kubus fanden sie den Schlüssel zu einer friedlichen Koexistenz. Ironie des Schicksals, dass sie den Weg nicht dauerhaft beschreiten konnten.« »Aber wenn sie vernichtet wurden …« »Sie waren relativ hoch entwickelt. Der permanente Kampf ums Überleben trieb die technische Entwicklung enorm voran. Es gab bereits Schutzschirme, Laserwaffen … aber das alles half nichts gegen den Tod aus dem All.« Scobee fiel auf, dass für Quintalen der Weltraum außerhalb des Kubus kein unbekanntes Land darzustellen schien. Vielleicht waren die Tayaner ursprünglich von dort gekommen – und das wahrscheinlich vor gar nicht einmal so langer Zeit.
»Aber eine Anzahl von ihnen zog sich rechtzeitig in die Tiefen ihrer Welt zurück, in bunkerartige Schutzräume, die nie dazu gedacht gewesen waren, sich in einem Inferno wie der Assimilation durch den Kubus zu bewähren. Und während an der Oberfläche alles Leben mit einem Paukenschlag endete, fristeten die ›Unterirdischen‹ ein entbehrungsreiches Dasein, das schon bald an seine zeitliche Grenze gestoßen wäre, denn die Vorräte an Nahrung und Atemluft hielten nicht ewig, wenn … nun, wenn Taurt nicht eingegriffen hätte – unbemerkt sogar von den Vaaren. Er besuchte den verödeten Planeten und nahm Kontakt zu den wenigen Überlebenden auf. Mit seiner technischen Unterstützung und ihrem eigenen Einsatz schafften sie es, sich einen stabilen Lebensraum im Innern von Taurix zu errichten. Taurt schilderte ihnen, was sie zu erwarten hätten, wenn sie sich den Vaaren offenbarten. Der Beschluss, das unterirdische Dasein dem auch künftig vorzuziehen, fiel einstimmig aus. Woraus sich aber neue Probleme ergaben, von denen die Dolmeden und Pandinen nie erfuhren, ob eine Laune der Natur dafür verantwortlich war – oder ob von außen nachgeholfen wurde. Von ihrem Retter beispielsweise …« »Worauf willst du hinaus?«, fragte Scobee. »Mit der Zeit merkten die Pandinen, dass sie untereinander keinen Nachwuchs mehr zeugen konnten. Es war ein Schock für sie. Und den Dolmeden erging es nicht anders. Auch sie brachten keine Kinder mehr zur Welt. Beide suchten Hilfe bei Taurt, der ihnen versprach, sich des Problems anzunehmen. Und der ihnen bald darauf eine eigenwillige Lösung präsentierte.« Täuschte sie sich, oder schmunzelte Quintalen bei diesen Worten. »Welche?«, fragte Scobee. »Er eröffnete ihnen, dass die Unfruchtbarkeit mit den Verhältnissen im Kubus zu tun habe – er aber bei der Untersuchung dolmedischer und pandinischer Gene Verblüffendes festgestellt habe …« »Dass beide miteinander … kompatibel waren?«, warf Scobee ein. »Exakt.« Das Echsengesicht blieb unbeteiligt, nur die Augen schienen sich zu amüsieren. Ein ganz neuer Zug an einem Tayaner. »Und fortan … kreuzten Dolmeden und Pandinen sich miteinan-
der? So entgingen sie dem Aussterben?« Quintalen bestätigte. »Aus ihnen wurden die Pandolen von heute. Sie leben immer noch in völliger Abgeschiedenheit und sind – neben uns Tayanern – Taurts treueste Anhänger.« »Und deshalb traut er ihnen diese Aufgabe zu?« Quintalen bejahte. »Die Falle ist gestellt. Taurix ist prädestiniert dafür.« Der Tayaner nahm ein paar Schaltungen vor, und auf dem Bildschirm änderte sich die Darstellung des »ertränkten« Planeten. Scobee sah eine zerklüftete Region, die sich über Zehntausende von Quadratkilometern erstreckte. Die Erdspalten und Krater dort reichten an manchen Stellen Hunderte von Kilometer tief. »Perfekt«, urteilte auch sie, die den Plan inzwischen kannte. »Jetzt fehlte nur noch …« »… die erhoffte Beute«, sagte Quintalen. Sein Echsengesicht schnitt eine Grimasse. »Aber unseren Erkundungen zufolge muss das Patrouillenschiff in Kürze auftauchen. Ist Jarvis bereit?« Aus dem Hintergrund der Bordzentrale meldete sich eine Gestalt, die für ihre Verhältnisse bislang geradezu abnorm schweigsam geblieben war. »Bereiter geht nicht. Würdet ihr mir das abkaufen?« Er trat aus den Schatten. Ein Treymor par excellence. »An deiner Sprache und Aussprache musst du noch feilen«, spöttelte Scobee. »Ansonsten … perfekt.« »Horks!«, erwiderte der falsche Treymor in deren Idiom, auf das das Übersetzungsmodul vor Quintalens Brustpanzerung sofort ansprach: »Danke.«
Es war mehr als riskant. Sie spielten mit dem Feuer. Eigentlich einer ganzen Feuersbrunst. Die Treymor würden beim geringsten Verdacht grausame Vergeltung üben. »Darüber müssen wir uns im Klaren sein«, wandte sich Scobee ein letztes Mal an alle Beteiligten. Die Ortung ihres Rochens hatte die Annäherung des erwarteten
Patrouillenschiffs der Treymor gemeldet. Daraufhin hatte sich der Vaarenrochen in den Ortungsschatten des Planeten zurückgezogen. »Darüber sind wir uns im Klaren«, erklärte Quintalen. Seine Schlangenhaut schien eine neue Pigmentierung zu gebären. Für einen Moment hatte Scobee das Gefühl, sich in dem Muster zu verlieren. »Und die Pandolen?«, fragte sie. Quintalens Schweigen verhieß nichts Gutes. »Es geht gegen die Tyrannen«, sagte er schließlich, auch wenn das keine Antwort auf die Frage zu sein schien. »Wir Tayaner würden bedenkenlos unser Leben geben, wenn wir wüssten, dass auch sie das ihre geben müssen.« »Was haben sie euch angetan?« Scobee spürte, dass noch keine Gelegenheit, mehr über Quintalens Volk zu – erfahren, günstiger gewesen war als diese. »Was sie uns angetan haben?« Der Tayaner sog fauchend die Luft ein. Als er wieder ausatmete, sprudelte es aus ihm hervor: »Das größte aller Verbrechen!« Sein Augen glommen wie mit weißer Asche überzogen. »Und das … wäre?« »Sie haben uns – in dieser Form zumindest – erschaffen.«
Das war es also. Das steckte dahinter! »Ihr seid das Ergebnis genetischer Versuche der Treymor?« »Darüber will ich nicht sprechen.« »Ich glaube, es ginge dir besser, wenn du es tätest.« Quintalen sah sie lange und abschätzig an. »Vielleicht«, sagte er schließlich. »Ich fühle, dass uns etwas verbindet.« »Er hat sich in dich verliebt«, säuselte Jarvis aus dem Hintergrund. Ihn in seiner Treymor-Maske zwischen Tayanern und Menschen stehen zu sehen, war gewöhnungsbedürftig. Aber sein Einwurf bewies unmissverständlich, dass es eben nur eine Maske war. Niemand sonst als Jarvis, wie er leibte und lebte, steckte darin. Denn nur er konnte solche Kommentare in eigentlich ernsthafte
Dialoge einstreuen. »Warum auch nicht?«, konterte Scobee herb. »Ein Extraterrestrier mit Geschmack, das soll's geben.« Der falsche Treymor knickte beide Fühler gleichzeitig ein – was immer das heißen sollte. Quintalen war dem kurzen Wortwechsel stoisch gefolgt. Die Notwendigkeit, etwas dazu beizusteuern, schien er nicht zu sehen. »Achte gar nicht auf ihn«, seufzte Scobee. Sie berührte Quintalen sacht am Arm und lenkte ihn etwas von Jarvis weg. Der Vaarenrochen wirkte überfüllt. Eine Hundertschaft Tayaner teilten sich den beengten Raum mit ungefähr halb so vielen Angks, die sich freiwillig für den Einsatz gemeldet hatten. Außerdem waren die vertrauten Gesichter von Jiim, Algorian und Jelto zu sehen. Sie alle brannten darauf, Taurts Plan umzusetzen, einen Treymorraumer zu entern und im Schutze von dessen Legitimation in die Ewige Stätte einzudringen. Welche Bedingungen sie dort erwarteten, darüber konnten sie bislang nur spekulieren. Die RUBIKON war aller Wahrscheinlichkeit nach zur Silberstadt geschleppt worden – wo sich mit ebenso hoher Wahrscheinlichkeit auch John aufhielt. »Ich würde wirklich gerne mehr über dich und dein Volk erfahren, Quintalen. Hast du kein Vertrauen zu mir?« »Braucht der Aufbau echten Vertrauens nicht sehr viel mehr Zeit, als wir sie hatten?« »Vermutlich.« Scobee merkte, dass sie den Tayaner-Kommandanten noch immer am Ärmel gefasst hielt. Er hatte es sich gefallen lassen, was an sich schon ein Vertrauensbeweis war – ein größerer, als sie hätte erwarten dürfen. Schulterzuckend ließ sie los. »Manchmal, sehr, sehr selten, kommt es zu Begegnungen, bei denen Vertrauen schneller wächst als im Regelfall – ich denke zwischen uns beiden, dir und mir, Scobee, ist das so. Was würdest du sagen?« Ein zaghaftes Lächeln bildete sich um ihre Lippen. »Ich wage nicht, dir zu widersprechen, weiser Tayaner.«
Sie hatten tatsächlich einen erstaunlich guten Draht zueinander gefunden – eigentlich, ohne es darauf anzulegen. Aber seit dem Verlassen von Taurts Basis hatte sich Scobee immer wieder in Quintalens Nähe wiedergefunden, obwohl sie ebenso gut die Gesellschaft der alten Freunde Jarvis, Jelto und Algorian hätte suchen können. Etwas hatte sie immer wieder zu ihm hingezogen. Wie im Grunde alle Tayaner strahlte er etwas Martialisches aus, jedoch in enger Verbindung mit hohem Intellekt und fast schon Feingeist. Dieser Cocktail von Charaktereigenschaften faszinierte sie. Als Mann war er zu fremdartig. Sie hatte sich einmal versucht einem Fremdwesen auch auf hoch emotionaler Ebene zu nähern – bezeichnenderweise auch einem Echsenabkömmling, Artas nämlich –, aber weder sie noch er hatten wirklich damit umzugehen gewusst. Im Nachhinein bereute sie es, so viel Nähe zugelassen zu haben. Und vielleicht blockte sie deshalb schon instinktiv auf dieser Ebene ab, obwohl Quintalen eine exorbitant reizvolle Persönlichkeit zu sein schien. Das Äquivalent eines Lächelns zauberte die naturgegebene Härte aus Quintalens Gesicht. »Erstaunlich. Ich habe noch nie jemanden wie dich kennengelernt, Scobee.« »Das wirst du auch nie wieder. Jeder Mensch ist einzigartig.« Ihr Schmunzeln zerrann unter Quintalens nächsten Worten. »Und das unterscheidet Mensch und Tayaner – leider«, sagte er. »Von mir gibt es etliche Kopien, nahezu identisch, nur die Erfahrungen, die jede sammelt, unterscheiden sie voneinander … und von mir.« »Sie haben euch geklont?« »Geklont und weggeworfen.« Sie sah ihn ebenso bestürzt wie fragend an. »Was du vor dir siehst, ist wertloser Müll. Abfall – wenn es nach den Maßstäben der Treymor geht.«
»Wie lange ist das her? Dass sie euch … verwarfen?« Sie scheute sich, dasselbe Wort zu verwenden wie Quintalen. »Keine hundert deiner Jahre.« »Lange genug.«
»Das ist relativ. In kosmischen Maßstäben betrachtet …« »Die zum Vergleich zu nehmen«, fiel sie ihm ins Wort, »ist nicht immer der Weisheit letzter Schluss. Für Geschöpfe unserer Entwicklungsstufe sollte es vorrangig sein, sich an kleineren Maßstäben zu orientieren.« »In kosmischen Maßstäben betrachtet«, setzte Quintalen noch einmal ungerührt an, »ist das wenig. Aber es genügte Taurt, die traurigen Überreste der genetischen Experimente zu etwas einigermaßen Sinnvollem zu rekonstruieren und zu regenerieren.« »Wie viele Tayaner rettete er?« »Auch diese Zahl wird dich nicht beeindrucken.« »Nenn sie mir einfach.« »Wir sind ungefähr hundert Mal so viele wie die, die wir von eurem Schiff evakuierten.« »Eine runde halbe Million also – nach hundert Jahren. Immerhin.« »Immerhin«, bestätigte auch Quintalen. »Und von wo stammt deine Spezies ursprünglich? Die Treymor hatten sicher …« Sie wollte das Wort »Ausgangsmaterial« vermeiden. »Ja, das hatten sie«, verstand Quintalen auch so, worauf sie hinaus wollte. »Wir stammen von einer Welt, die ich nicht wiederfände, würde ich es versuchen und die Gelegenheit haben, den Kubus zu verlassen.« Scobee zog fragend die tätowierten Brauen nach oben. »Mein Volk beherrscht die Raumfahrt nicht. Es interessierte sich auch nie für die Sterne am Himmel. Es erwuchs keine Wissenschaft daraus. Wir waren zufrieden mit dem, was der Boden uns schenkte. Die Sonne meiner Heimat war wichtig, aber die winzigen Punkte in der Nacht … nein. Sie schenkten uns weder Wärme noch die Helligkeit, die uns genützt hätte.« »Andere Spezies lassen sich gerade davon anspornen, dass sie die Herkunft solcher Lichter anfangs nicht verstehen …« »Ja, das mag sein. Aber andere Spezies sind andere Spezies.« Das schätzte sie an ihm. Er war auf einfache Art weise. »Du findest es sicher merkwürdig.«
»O ja. Wenn man merkwürdig seinem eigentlichen Wortsinn nach benutzt. Ich finde es beachtlich. Ist es eine Überlieferung, die hoch gehalten wird unter denen, die es in den Kubus verschlug?« Quintalen bewies, dass er die Menschen, die er noch nicht allzu lange kannte, gut studiert hatte. Er schüttelte – ganz wie er es bei ihnen beobachtet hatte – den halslos in den Rumpf übergehenden und dennoch biegsamen Kopf. »Warum Überlieferung. Es ist Erinnerung. Taurt half uns, alles, was die Torturen, denen wir unterzogen wurden, verschüttet hatten, wieder freizulegen.« »Heißt das …?« »Natürlich! Das durchschnittliche Lebensalter eines Tayaners, der nicht das Pech hat, dass an ihm herumgepfuscht wird, beträgt etwa tausend deiner Jahre. Die genetischen Eingriffe der Treymor, die letztlich nicht in deren Sinne fruchteten, haben diese Spanne reduziert, wie uns Taurt erklärte. Aber sie liegt immer noch bei mindestens der Hälfte des Ursprünglichen. Ich war bereits zweihundert, als sie mich fingen. Das heißt, dass noch einmal zweihundert vor mir liegen könnten. – Wie alt werden Menschen?« »Och, wenn man mich nimmt … ein paar Jahrzehntausende.« Das beeindruckte Quintalen sichtlich. Scobee genoss seine Verblüffung eine Weile, dann relativierte sie: »Allerdings nur, wenn man diese Spanne ›überspringt‹.« »Überspringt?« Sie erklärte es ihm. Er war immer noch beeindruckt – jetzt aus anderen Gründen. Doch bevor sie es vertiefen konnten, meldete einer von Quintalens Mitstreitern: »Ortung. Das Patrouillenschiff wurde soeben von uns erfasst. Sein Kurs entspricht unseren Vorhersagen.« »Nun wird sich zeigen müssen, was die Pandolen drauf haben«, sagte Jarvis aus dem Hintergrund. Scobee bedauerte, ihre Unterhaltung mit Quintalen vertagen zu müssen. Andererseits konnte sie es kaum erwarten, endlich aktiv zu werden.
Alles lief planmäßig. Zunächst jedenfalls. Das X-Schiff erreichte die Idealposition, ohne dass die Besatzung dies auch nur ahnte. Die Treymor waren, davon ging Scobee aus, zu erhöhter Wachsamkeit angehalten. Die aktuellen Geschehnissen im Kubus hatten sie offenbar unvorbereitet getroffen. Sie mochten mit allem gerechnet haben, aber nicht, dass sich seit langem und von ihnen unbemerkt der Widerstand in Tovah'Zara gegen sie mobilisiert hatte. Doch nach den jüngsten Ereignissen konnte es für sie keinen Zweifel mehr geben: John Cloud war aus einem alten Vaarenrochen gefangen genommen worden – und dort an Bord hatte es Kämpfer gegeben, die sie gewiss zuzuordnen wussten. Der »Müll«, dessen sie sich entledigt glaubten, schlägt zurück …, dachte Scobee eingedenk der Worte Quintalens. Die Treymor erwiesen sich mehr und mehr als leidenschaftliche Gen-Experimentatoren. Aber was war ihr Ziel? Der perfekte Soldat? Den hatte man anderswo ebenfalls im Visier, wie Scobee unvermittelt bewusst wurde. Sofort waren ihre Gedanken bei der neuen Erde, bei Reuben Cronenberg und dessen Fraktalen … Auch im heimatlichen Sonnensystem waren die Treymor aufgetaucht, hatten die Oortschale um Erde und Mond attackiert. Die RUBIKON-Crew war Zeuge dieses Angriffs geworden, ohne die Motive und Hintergründe zu begreifen. Aber was, dachte Scobee, wenn es dabei um die Fraktalen, zumindest ihr Entstehungsgeheimnis und Funktionsprinzip, gegangen wäre? Aber die Generalfrage war zunächst: Wie hatten die Treymor überhaupt Kenntnis von der Erde erlangt? Deren Bewohner hatten während der technikfreien Epoche absolut unauffällig agiert. Ohne Raumfahrt hatten sie nicht auf sich aufmerksam machen können – nicht über Distanzen hinweg, wie sie im Weltall zum Tragen kamen. Nein, sie verwarf die Idee wieder. Vielleicht würden sie nie erfahren, was die Treymor ins Solare System und zur Hohlwelt geführt hatte …
Genau! Weil wir vorher hier krepieren. Scobee schüttelte sich. Sie wollte solche Dinge nicht einmal denken. Zumal es dort draußen gerade losging. Die vermeintlich unbewohnte Planetenkugel zeigte der ahnungslosen X-Schiff-Besatzung die Zähne. Anders als in der Simulation, die den Angriff in der Theorie vorgeführt hatte, blieb die Strahlung, die ohne Vorwarnung auf das X-Schiff einprasselte normaloptisch unsichtbar – lediglich die Internrechner des Vaarenrochens bereiteten sie als rosafarbene Strahlenfächer in der Bildschirmwiedergabe auf. Gebannt wie alle anderen an Bord des Rochens beobachtete Scobee den sekundenlang anhaltenden Strahlenschauer. Auf dem X-Schiff wurden keine Gegenmaßnahmen eingeleitet, erstaunlicherweise nicht einmal von einer Automatik. »Es scheint zu gelingen, keine Gegenwehr«, meldete ein Tayaner an Quintalens Seite. »Wenn das so einfach ist, hätten wir das nicht auch mit dem Rochen erreichen können?«, konnte sich Scobee einen kritischen Einwand letztlich doch nicht verkneifen. »Das Waffensystem, das hier zum Einsatz kommt, passt in dieser Leistungsstärke auf keinen Vaarenrochen«, verneinte Quintalen. »Taurt beabsichtigt schon länger, sich in den Besitz von X-SchiffTechnologie zu bringen. Taurix schien ihm ideal als Träger einer von ihm entwickelten Spezialwaffe, die nur einen Nachteil hat: Sie benötigt sehr viel Energie und Platz. Deshalb kein Rochen.« »Diese Aktion ist also schon länger geplant? Sie wurde nicht speziell für unsere Zwecke ausbaldowert?«, fragte Jarvis. »Und warum habt ihr sie nie in die Tat umgesetzt. War euch das Risiko zu hoch?« »Das weiß ich nicht. Taurt entscheidet.« »Du denkst sicher, wir seien undankbar«, seufzte Scobee, an Quintalen gewandt. »Aber das Gegenteil ist der Fall. Wir sind euch unendlich dankbar, euch und Taurt, dass ihr unser Bemühen unterstützt, unseren Freund zu befreien. Und unser Schiff.« »Natürlich«, sagte Quintalen. Und brachte sie damit zum Lächeln. Draußen über Taurix ging jetzt alles ganz schnell. Der rosa Fächer-
strahl wurde durch einen scharf gebündelten blauen Strahl ersetzt, der das X-Schiff mit hoher Geschwindigkeit zur Oberfläche hinab zog. Schon wenig später war der Treymorraumer in der Planetenspalte verschwunden. »Folgen wir ihnen?«, fragte Scobee. »Noch nicht«, bremste Quintalen sie. »Warum nicht? Ich dachte –« »Es ist besser, noch etwas zu warten und es den Pandolen zu überlassen, das Schiff zu entern und sich der Besatzung anzunehmen. Wir observieren derweil die Umgebung. Auch wenn unsere Systeme keinen Notruf der Treymor auffingen, können wir nicht völlig sicher sein, dass sie nicht doch noch Alarm schlugen. Ihre diesbezüglichen Möglichkeiten sind noch nicht restlos erforscht, aber vielfältig.« »War das der Grund, der Taurt bislang zögern ließ, sein Vorhaben in Angriff zu nehmen?« »Ich sagte schon, ich weiß es nicht. Ich bin nur ein einfacher Kommandant.« Scobee war überzeugt, dass das Tiefstapelei war. »Wie lange harren wir hier aus?« »Bis die Pandolen uns signalisieren, dass wir in das X-Schiff überwechseln können. Viel Zeit dürfen sie sich nicht lassen. Der ganze Plan basiert auf Schnelligkeit.« Scobee nickte. Wenig später traf von Taurix ein Richtfunkspruch ein. Es war so weit. Aber bevor der Vaarenrochen die Stelle ansteuern konnte, an der der X-Raumer in der Planetenrinde verschwunden war, geschah das, was niemand gehofft, aber alle befürchtet hatten. »Ortung!«, brüllte ein Tayaner. Quintalen war sofort bei ihm. Mit einem Blick hatte er sich einen Überblick über die veränderte Situation verschafft. Fast farblos wurde seine Haut, als würde er in Menschenmanier erbleichen – und dann hatte der Ortungstechniker den Grund seines Alarms auch schon auf den Bildschirm gelegt.
Alle an Bord konnten sehen, welche Armada in Keilformation auf Taurix zuhielt … und den Planeten in wenigen Minuten erreicht haben würde. »Wie … kann das sein? Woher kommen die? Als hätten sie nur darauf gewartet, dass irgendwo etwas passiert …« Wahrscheinlich war es genauso. Sie hatten die Handlungsfähigkeit und -bereitschaft der Treymor eklatant unterschätzt. Vielleicht gab es für Patrouillenschiffe dies strikte Anweisung, in permanentem Austausch mit der Basis zu stehen. Als die Kommunikation abriss, hatte dort jemand unverzüglich seine Schlüsse gezogen und ein Geschwader losgeschickt, um nach dem Rechten zu sehen. Die letzte bekannte Position des verschollenen Schiffs genügte als Zielkoordinate. Es gab hier nur Taurix. Und uns, dachte Scobee, die keine Ahnung hatte, wie Quintalen auf die neue Situation reagieren würde. »Wir müssen die Pandolen warnen!«, keuchte sie. »Bereits geschehen«, erwiderte Quintalen.
Kurz zuvor Das Verschwinden eines Patrouillenschiffes rief die Führung auf den Plan. Dort war man sensibilisiert, seit man auf vor langer Zeit aussortiertes Genmaterial im Umfeld des Menschen Johncloud gestoßen war – die Tayaner waren ein fehlgeschlagenes Projekt gewesen. Man hatte ihre genetische Optimierung irgendwann nicht weiter verfolgt, weil die erzielten Resultate zu schwach schienen. Nun waren sie wieder aufgetaucht. Steckten sie hinter dem geheimen Widerstand, der sich im Kubus aufgebaut hatte? Farrak persönlich erhielt Nachricht über den Verlust eines Patrouillenschiffes. Seine Antwort sollte die Gegner, so sie dahintersteckten, das Fürchten lehren. Und ein für alle Mal klar machen,
dass die Treymor keinen Widerstand duldeten. Weder hier noch anderswo.
Die Pandolen auf Taurix hatten den X-Raumer gerade gewaltsam geöffnet und waren bereits in die Gänge des Schiffes vorgedrungen, als die Meldung von der Ankunft weiterer Treymorschiffe sie erreichte. Der Vorstoß kam ins Stocken. Dann aber fiel die Entscheidung, die paralysierten Treymor einzusammeln und von Bord zu bringen – gegebenenfalls konnte man sie vielleicht als Geiseln einsetzen. Die Pandolen waren, seit Kriege nur noch als flüchtige Erinnerungen in ihren Köpfen existierten, naiv geworden. Sie kannten die Treymor, deren Denk- und Handlungsweise, nicht einmal rudimentär. Mit etwas Glück würde der Verband der Kubusherrscher den Raum um Taurix nach erfolgloser Suche wieder verlassen. Kein Grund zur Beunruhigung. Niemand ahnte von der abgeschotteten Welt, die sich die Pandolen mit Taurts Unterstützung eingerichtet hatten. Nein, kein Grund zur Beunruhigung …
»Was tun sie da?« Der Vaarenrochen hatte sich in eine gerade noch vertretbare Nähe zu Taurix begeben – aber weit genug davon entfernt, um nicht selbst in den Kessel zu geraten, den die Treymorschiffe um den Planeten bildeten. »Sie schnüren ihn ein, umzingeln ihn«, antwortete Quintalen tonlos auf Scobees Frage. »Das bedeutet nichts Gutes.« Was genau es bedeutete, wusste er jedoch auch nicht – oder nannte seinen Verdacht zumindest nicht beim Namen. »Ist es denkbar, dass sie Bodentruppen einsetzen wollen?«, überlegte Jarvis laut. »Aber dazu müssten sie eine ungefähre Vorstellung haben, wohin ihr Schiff verschwunden ist. Die Oberfläche des Plane-
ten bietet zahllose Möglichkeiten. Sie werden Zeit brauchen, wenn sie tatsächlich eine Spur finden wollen, die sie weiterbringt. Und was machen wir so lange? Bleiben wir hier auf Beobachtungsposten und vertrauen auf die Unfehlbarkeit eurer Tarnvorrichtung, Quintalen?« Quintalen war wie versteinert. Weder er noch ein anderer Tayaner konnten sich dem Bann des Szenarios entziehen, das immer mehr hinzustoßende Treymor-Fahrzeuge erzeugten. Die Umschlingung, die die Schiffe um Taurix errichteten, mochte weitmaschig bleiben – aber das minderte nicht ihre Zerstörungskraft, die sie in diesem Moment entfalteten. »Was feuern die da ab?«, ächzte Jarvis. »Torpedos«, flüsterte Scobee. »Wenn nicht alles täuscht, beginnen sie gerade, den Planeten zu bombardieren.« »Sie vermuten die Schuldigen für den Verlust ihres Schiffes auf der Oberfläche«, sagte Quintalen, der sein Schweigen damit brach. »Und offenbar beabsichtigen sie gar nicht erst, sich die Mühe zu machen, Taurix mühsam und zeitaufwändig zu durchkämmen.« »Du meinst, sie betreiben Flächenbombardement auf gut Glück?«, fragte Scobee, die es nicht glauben wollte und den Kopf schüttelte. »Das würde aber doch bedeuten, dass sie die eigene Besatzung gefährden, von der sie nicht wissen können, ob sie noch lebt …« »Das scheint ihnen egal zu sein«, warf Jarvis ein. »Diese Käfer sind nicht so sensibel gestrickt. Einer mehr oder weniger zählt bei denen wenig.« Scobee wusste nicht, ob sie sich an diesem Klischee beteiligen wollte. Aber der Gegenschlag, mit dem die Treymor über Taurix begonnen hatten, schien Jarvis' Einschätzung der Lage zu bestätigen. »Vielleicht haben wir sie zu früh verdammt«, murmelte Scobee nach einer Weile, in der nichts weiter geschah, als dass die Treymor Objekt um Objekt ausschleusten, der Oberfläche entgegenschossen. »Bislang keine einzige Explosion – vielleicht sind es Sonden.« Quintalen sprach mit seinen Ortungsspezialisten. »Vielleicht haben die Bomben Verzögerer«, sagte Jarvis. »Für mich sieht das nach wie vor wie ein Bombardement aus!«
Quintalen wandte sich wieder ihnen zu. »Ich fürchte, er hat recht. Wir messen eindeutigen Funkaktivitäten an.« »Eindeutig in Bezug auf was?«, fragte Scobee. »Offenbar wird dort unten auf Taurix gerade ein Heer von Objekten synchronisiert …« Jarvis realisierte schneller als Scobee, was er damit sagen wollte. »Er meint –«, setzte Jarvis zu einer Erklärung an. »Synchronisation abgeschlossen«, rief der Tayaner, mit dem sich Quintalen zuvor unterhalten hatte. Und dann, Jarvis nahm gerade einen neuen Anlauf, Scobee ins Bild zu setzen … … geschah es auch schon. Wie von einer lautlosen Druckwelle erfasst, stoben sämtliche Treymoreinheiten, die Taurix belagert hatten, von der Planetenkugel weg. Quintalen reagierte, indem er ebenfalls befahl, die Maschinen auf Volllast hochzufahren und die Distanz zu Taurix zu vergrößern. Doch der Vaarenrochen war träge, entsetzlich träge, im Vergleich zu den Treymor, die den Vorteil hatten, das nun folgende Inferno vorhergesehen zu haben. Immerhin hatten sie es heraufbeschworen. Mit ihren zahllosen über den Planeten verteilten Objekten, die in diesem Moment spätestens ihre wahre Natur preisgaben. Keine Sonden, Bomben. Zweifelsfrei. Vor den Augen der Rochenbesatzung entlud sich das Verderben. Taurix explodierte. Nicht nur irgendeine Region, nicht nur hier und da ein Flecken … der komplette Planet zerbarst unter der Gewalt der ultimativen Waffe, die die Treymor zum Einsatz brachten. Dann war Taurix Geschichte …
»Wie … konnten sie so weit gehen? Wie konnten sie nur?« Niemand tröstete Scobee. Weil niemand ein Ohr für sie hatte. Nicht einmal Jarvis. »Diese Bestien! Selbst wenn sie nichts von den Pandolen ahnten …
so radikal geht man doch nicht vor, um zu verhindern, dass ein Schiff in Feindeshände fällt …« »Der Befehl muss von ganz oben gekommen sein«, mutmaßte Jarvis. Es klang nicht wie eine Reaktion auf Scobees Worte, sondern so, als hinge er seinen ganz eigenen Gedanken nach. Quintalen war voll damit beschäftigt, den Vaarenrochen aus den Gewalten zu steuern, die um sie herum losgebrochen waren. Erst als sich die Lage beruhigte, befahl er einen Feinscan der Koordinaten, wo sich bis vor kurzem noch eine Welt befunden hatte – eine ganze Welt mit Bewohnern, die wahrscheinlich geglaubt hatten, Taurt mit ihrer Unterstützung ein wenig von dem zurückzahlen zu können, was er für sie getan hatte. Damals, als ihre Heimatwelt vom Kubus geschluckt worden war … Nun hatte sie den höchsten Preis bezahlt, den man sich nur denken konnte. »Wenigstens ist es schnell gegangen«, murmelte Jarvis. »Sie werden nicht viel gespürt haben. Die Wucht der Explosion …« Er verstummte. Was er sagte, war kein Trost, für niemanden. Weder für die betroffenen Pandolen noch für diejenigen, die ihre Vernichtung mit ansehen mussten. »Achtung … Ortung!« Zuerst glaubte Scobee, einer der Tayaner habe etwas im ehemaligen Taurix-Bereich gesichtet – auf Überlebende wagte sie kaum zu hoffen. Aber dann begriff sie, dass sie etwas missverstanden oder ein wichtiges Detail des Rufes überhört hatte. Mit Ortung meinte der Tayaner, dass sie bemerkt worden waren – ihr Rochen. Sie wurden von Treymorradar gescannt! »Ich dachte, das könnten sie nicht!«, knurrte Jarvis. »Wurde uns nicht stolz verkündet, die Oberfläche der von euch annektierten Rochenfahrzeuge sei ›unsichtbar‹ für Treymortechnik gemacht worden?« Quintalen machte eine Geste, die dem Schulterzucken eines Men-
schen entsprochen hätte. »Im Moment sieht es so aus, als hätten sie, was das angeht, Fortschritte gemacht – es kann sich aber auch um eine rein zufällige Justierung handeln, die uns in den Feinabgleich ihrer Sensoren gebracht hat …« »Und was tun wir jetzt? Da draußen …« Scobee zeigte auf den Schirm. »… befindet sich immer noch eine ganze Armada von Schiffen. Wenn die uns wirklich geortet haben …« Statt zu antworten, übernahm Quintalen eigenhändig die Navigation des Rochens. Mit Vollschub trieb er ihr Fahrzeug in ein Trümmerfeld, das bei der Taurix-Explosion entstanden war. Scobee verdrängte den Gedanken daran, dass dies alles einmal Bestandteil eines Planeten gewesen war. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte Quintalen sie mit seinem immensen Geschick und navigatorischen Können tief beeindruckt. Doch momentan konnte sie für nichts und niemanden Bewunderung entwickeln. In ihr war nur Ekel und Verachtung. Zugleich wurde ihr klar, in wessen Hände John geraten war. Und die Hoffnung, ihn jemals wiederzusehen, sank auf fast null.
7. »Auswertung!«, verlangte Farrak aus der Kommandosphäre heraus. Die Piloten sämtlicher Zerstörer übermittelten ihm unverzüglich die gerafften Daten ihrer Schiffssensoren. »Der Planet war bewohnt?« »Einzelne Komponenten der bei der Zerstörung freigesetzten Partikel lassen kaum einen anderen Schluss zu. Dazu kommen Hinweise auf vorhandene Technologie, die der Vernichtung ebenso anheim fiel«, sagte ein anderer der Neun, der den Datenwust parallel zu Farrak auswertete. »Wir waren nachlässig. Lange Zeit viel zu nachlässig«, übte Farrak Selbstkritik. »Aber noch bleibt uns Zeit, die Verhältnisse im Kubus zu stabilisieren. Rechtzeitig, bevor unsere Gäste eintreffen.« Er blickte zu Solax. »Gibt es schon eine Reaktion?« »Auf unseren Ruf?« Solax verneinte. Noch vor kurzem hätte Farrak dies bedauert. Nun verschaffte es ihnen eine Galgenfrist. »Der Planet wies offenbar weitgestreckte Höhlensysteme auf, die unseren routinemäßigen und auch den in jüngster Zeit aus gegebenem Anlass verstärkten Patrouillen entgangen waren«, murmelte Farrak. »Ob dies die Basis der Partisanen ist, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen? Es wäre ein fantastischer Erfolg – was meint ihr?« Die anderen diskutierten mit ihm die Wahrscheinlichkeit eines so schnellen und umfassenden Erfolgs. Aber die Skepsis überwog. »Ich glaube nicht«, sagte Solax, »dass sie ihren wichtigsten Stützpunkt riskiert hätten, um eines unserer Schiffe in ihren Besitz zu bringen. So töricht ist niemand, der sich offenbar seit unserer Anwesenheit im Kubus vor uns verbergen konnte.« Dem stimmten Farrak und die anderen zu. »Aber das heißt im Umkehrschluss«, sagte er, »dass wir nachlegen
müssen. Und zwar mit den Mitteln, die sich als erfolgreich erwiesen.« »Du willst …?«, selbst Solax schien erschrocken über die Konsequenz dessen, was Farrak andeutete. »Brauchen wir denn all die ehemaligen Planeten und Asteroiden, die im Kubus fixiert sind, noch? Haben sie irgendeinen Nutzen außer, dass sie bestimmten Kreaturen als Lebensraum dienen?« Farrak blickte von Treymor zu Treymor. Überall sah er Unruhe, aber nirgends offene Ablehnung für seine Idee. Es gab auch keinen Widerspruch. »Dann ist es beschlossen? Wir instruieren sämtliche Einheiten. Der Kubus wird systematisch durchstreift, jede größere Masse, die als Versteck dienen könnte, gesprengt. Das wird die Widerständler aus der Reserve locken – und dann schnappen wir sie uns.« »Was geschieht mit den Reservaten?« »In denen die Luuren und Heukonen leben?« Farrak zögerte. »Sie werden sonderbehandelt. Eine Zerstörung würde uns das Vertrauen immer noch wertvoller Helfer entziehen. Aber auch für diese Gebiete gilt: Sie müssen überprüft, jeder Stein muss umgedreht werden.« »Wir verändern das Gesicht des Kubus völlig«, sagte Solax, bevor er sich an die Exekutive wandte. »Ich muss sagen, die Radikalität dieser Aktion beginnt mir mehr und mehr zu gefallen. Ich beglückwünsche dich, Farrak. Du weißt, ich stehe deinen Entscheidungen nicht immer kritiklos gegenüber, aber in diesem Fall …« »Du machst mich stolz, Solax.« Farrak meinte es ernst. »Ich danke dir. Und jetzt an die Arbeit.«
Lomax weckte Johncloud über einen stabartigen Impulsgeber, der die neu in dem Menschen aufgegangenen Protopartikel aktivierte. Der Luure war selbst gespannt, wie und in welchem Umfang der Eingriff Wirkung zeigen würde. Ein Versagen hätte ein schlechtes Licht auf Lomax' Fähigkeiten geworfen. Aber an ein Versagen glaubte er nicht – wollte er nicht glauben. Farrak hatte ihm ausdrücklich sein Vertrauen ausgesprochen,
nachdem Lomax entscheidend dazu beigetragen hatte, dass Johncloud in die Hände der Gesegneten gefallen war. Seither fühlte Lomax sich in seinem Selbstvertrauen gestärkt … und das schlug sich positiv in seinen Leistungen nieder. Das war nicht immer so gewesen. Lange Zeit hatte er im Schatten Mingox' ein eher dürftiges Dasein gefristet … Lomax tadelte sich innerlich, weil er immer noch Gedanken an seinen Vorgänger verschwendete. Eigentlich hatte er sich vorgenommen, den früheren Ersten Verwerter der Vergessenheit anheimfallen zu lassen. Doch das erwies sich als einfacher gedacht als getan. Johnclouds Lider flatterten. Seine Arme und Beine zuckten. Er öffnete die Augen und richtete sich sofort auf. Sein Gesicht war verkniffen. Er wirkte angestrengt. Lomax führte es auf die noch nicht perfekt abgestimmten winzigen Protomaschinen zurück, die in die Befehlszentren des Menschenkörpers geschlüpft waren und dort die Kontrolle an sich gerissen hatten. Eine Kontrolle, die wiederum Lomax als oberste Instanz akzeptierte. »Wie geht es dir?« »Mir geht es gut.« »Erkennst du mich?« »Lomax. Du bist Lomax.« »Sehr gut.« »Und wer ist dein Herr? Wem hast du bedingungslos zu gehorchen?« Flüssigkeit rann über Johnclouds Gesicht. Soweit Lomax wusste, nannten die Menschen es Schweiß. Das Schwitzen deutete darauf hin, dass der Gefangene immer noch gegen die Maßnahme ankämpfte, die ihn seines eigenen Willens beraubte. Dennoch krächzte er: »Lomax.« Obwohl er sich geschmeichelt und bestätigt fühlte, korrigierte der Luure diese Prägung sofort. »Noch einmal: Wer gebietet über dich … und mich?« »Die … Gesegneten.«
»Wie wahr. Und nur, wenn sie nicht anwesend sind …« »… bist du derjenige, dem ich absoluten Gehorsam schulde.« Das war akzeptabel. Lomax fand nichts Verfängliches daran. »Dann werde ich die Gesegneten jetzt informieren, dass du ausreichend präpariert bist.« »Präpa…riert?« »Das musst du nicht verstehen.«
Das muss ich nicht verstehen. Muss es nicht. Gehorchen. Nur gehorchen. Cloud hatte kein Gefühl für die Zeit, die verrann, nachdem Lomax und die Treymorsoldaten ihn allein gelassen hatten. Irgendwann erschien ein Treymor, den er noch nicht kannte. »Ich bin Gartol. Ich wurde dir als … nennen wir es Lehrer zugeteilt. Verstehst du das?« »Ich … glaube. Was habe ich zu tun?« »Folge mir einfach.« Cloud tappte hinter dem Treymor her, der ihm arglos den Rücken kehrte und vorausging. Die Situation wirkte seltsam, regelrecht falsch. Cloud blickte an sich herab. Er hatte eine Kleidung erhalten, die ihm neu war. Die Ärmel endeten auf Höhe der Ellbogen. Die Handgelenke wiesen Spuren von Verletzungen auf, aber das, was sie verletzt hatte … fehlte. Was war es? Von wem oder was waren ihm die Wunden zugefügt worden … und warum? »Gartol?« Der Treymor blieb stehen. Für einen Moment schien er irritiert, dass Cloud ihn ansprach. »Ja?« »Wofür wurde ich bestraft?« »Bestraft?« Cloud streckte ihm seine Arme entgegen, drehte sie, sodass der Treymor – der Gesegnete! – unmissverständlich sah, worauf er an-
spielte. »Du warst ungehorsam«, sagte Gartol. »Lass es dir eine Lehre sein.« »Du bist mein Lehrer. Hast du mich bestraft?« »Nein.« »Aber …« Gartol brachte ihn mit einer brüsken Geste zum Schweigen. Dabei murmelte er: »Ich werde mit diesem Luuren ein ernsthaftes Wörtchen reden müssen. Wenn das der Gehorsam ist, den er ihm eintrichtern sollte, will ich lieber nicht wissen, wie loyal er uns gegenüber in Wahrheit ist!«
Gartol mochte an Luuren nur deren Arbeit. Ihre Gabe, die er geschickt mit den Errungenschaften der Treymor zu verquicken wusste. Nur deshalb gab es diese Spezies überhaupt noch in den Weiten des Aquakubus. Nur weil sie noch von Nutzen waren. Eines nicht mehr allzu fernen Tages würde sich das ändern. Gartol hoffte, es noch erleben zu dürfen – was in erster Linie von Farrak abhing, dem er direkt unterstellt war. Und dessen Stimmungsschwankungen waren gefürchtet. Als einer der wenigen Eingeweihten wusste Gartol zudem von der abgestrahlten Botschaft, die an ein geradezu atemberaubend fernes Ziel gerichtet worden war. Er war sich sicher, dass die Ankunft ihrer Förderer die Zivilisation der Treymor in ihren Grundfesten erschüttern würde – ob im Positiven oder Negativen. Aber noch mehr erschüttert würden andere sein. Der uralte Feind … Gartol streifte die störenden Gedanken ab. Er war von Farrak dazu abgestellt worden, den Menschen Johncloud auf einem Rundgang zu testen. Dazu sollte er ihn mit dem konfrontieren, was die Treymor in der vergleichsweise kurzen Zeit in der Sphäre geschaffen hatten, die von ihren eigentlichen Erbauern Ewige Stätte genannt worden war.
Hier hatten die Treymor ihre Bastion errichtet, die Silberstadt. Und in der Silberstadt … »Du würdest mich am liebsten umbringen, habe ich recht?«, wandte sich Gartol unvermittelt an Johncloud. Der Mensch sah seltsam aus. Erbärmlich schwach. Wie konnte eine solche Spezies auf der Leiter der Evolution überhaupt diese Stufe erreichen? Narr! Auch sie haben Förderer. Du weißt genau, wen! Es hieß, die Menschen stünden unter dem Schutz der … er spannte sich innerlich an … Bractonen. Schon dafür hatten sie einen qualvollen Tod verdient. Aber offenbar hatte Farrak andere Pläne, und Gartol glaubte zu wissen, warum. Menschen waren nicht gleich Menschen. Es gab erhebliche Unterschiede. Und die bisherigen Nachforschungen hatten ergeben, dass die Bractonen nur die geringe Zahl von Menschen förderte, die an Bord des gekaperten Raumschiffs RUBIKON gelebt hatten. Die Bewohner ihres Heimatplaneten hingegen, jener abstrusen Hohlwelt … »Nein«, sagte Johncloud. Die Reaktion kam spät und überzeugte Gartol nicht. »Ich könnte dich testen.« »Teste mich.« Gartol verspürte keinen besonderen Drang dazu, sagte aber: »Ich kenne nur eine sichere Möglichkeit, das zu tun.« »Welche?« »Ich müsste dir eine tödliche Schusswaffe aushändigen und abwarten, ob du sie gegen mich richtest – oder gegen dich, wenn ich es verlange.« »Eine sehr … radikale Methode.« »Zu radikal«, pflichtete Gartol ihm bei. »Dir selbst würde vermutlich wenig passieren, wenn du abdrückst. Dieser Lomax würde ›kleine Schwachstellen‹ anführen, die er leicht beheben könne. Und ich fürchte, Farrak würde sich darauf einlassen.« »Farrak schätzt dich nicht?« »Er schätzt mich sehr.« Gartol straffte sich, in seiner Ehre ge-
kränkt. »Ja, es hört sich so an.« Gartol war sich nicht sicher, ob die respektlose Art des Menschen Johncloud schon ein sicheres Indiz für seine Illoyalität war. »Geh weiter! Geh schon! Was ich dir zu zeigen habe, wird dir deinen Hochmut schon austreiben! Ich weiß nicht, was du in uns Treymor siehst – aber du wirst beeindruckt sein.« »Gewiss.« Wieder diese merkwürdige Art zu antworten. »Vielleicht sollte ich dich töten – und behaupten, du hättest mich angegriffen … Es würde uns allen viel Ärger ersparen.« Johncloud wackelte mit dem Kopf. Was immer die Geste bedeutete, sie schürte Gartols Ärger ebenso wie die folgenden Worte. »Dir nicht. Farrak würde es dir nicht verzeihen. Er hat Großes mit mir vor. Ich bin ihm wichtig.« »So? Und wer sagt dir das?« »Mein Verstand.« Johncloud setzte sich in Bewegung. »Du weißt, was das ist?« In diesem Moment begriff Gartol, was hier gerade geschah: Der Mensch war offenbar nicht in der Lage, ihm den Gehorsam zu verweigern oder ihn anzugreifen – aber er hatte sein loses Mundwerk behalten. Fehler. Böser Fehler, dachte Gartol grimmig. Und meinte damit Lomax, den er sich bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit zur Brust nehmen wollte.
»Wo sind wir hier?« »In einer Werft.« »Das sehe ich – aber hat es einen besonderen Grund, dass du mir die Walzen zeigst?« »Farrak ist der Ansicht, sie könnten dich interessieren.« Cloud sah Gartol an. Der Treymor unterschied sich deutlich von demjenigen, über den sie gerade sprachen. Ihm fehlte es bei weitem an Ausstrahlung. In Farraks Nähe hatte man das Gefühl zu
schrumpfen, bei Gartol war es genau umgekehrt. Cloud wusste nicht, warum, aber Gartols ganzes Auftreten suggerierte dem Betrachter, dass er diesem Treymor mindestens ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen war. In allen Belangen. Aber vielleicht ist das genau sein Talent. Er weckt bei anderen die Überzeugung, es leicht mit ihm aufnehmen zu können. Daran leidet automatisch die Konzentration – was er sich wiederum zunutze machen könnte. Nein, er unterschätzte Gartol nicht. Überdies hatte er genug mit sich selbst zu tun. Die neu injizierten Protopartikel waren aktiviert worden und entfalteten ihre Wirkung. Cloud hatte mit größeren Unannehmlichkeiten gerechnet. Aber solange er gehorchte und sich aus Treymor-Sicht nichts zuschulden kommen ließ, blieb er offenbar weitgehend frei in seinem Handeln. Entweder hatte Gartol ihm seine anzüglichen und provokativen Bemerkungen verziehen, oder er wartete auf die passendste Gelegenheit, sie ihm heimzuzahlen. »Warum?« »Um dir das zu zeigen, sind wir hier. Er hält offenbar große Stücke auf dich. Soweit ich weiß, wirst du eine wichtige Mission für ihn zu leiten haben.« Daran war Cloud mehr als nur ein wenig interessiert. »Welche Mission?« »Er wird es dir selbst sagen – sobald unser Rundgang abgeschlossen ist.« »Ihr offenbart mir Geheimnisse …« »… die du niemals weitergeben kannst. Jeder Verrat wäre tödlich, würde schon im Ansatz erstickt – vergaß Lomax dir das zu sagen?« Cloud nickte langsam, während Gartol ihn über einen Expresstunnel zu einem der riesigen Walzenschiffe brachte, an denen in der Werftanlage gearbeitet wurde. Offenbar erhielten sie bereits den letzten Schliff, denn rein äußerlich schienen sie bereits fertiggestellt zu sein. Nur in die Walzen hinein und hinaus herrschte eine ständiges Kommen und Gehen. Nicht nur Treymor waren zu sehen, auch Heukonen. »Ihr rüstet auf«, kommentierte Cloud seine Beobachtungen. »Ein
neuer Raumertyp. Verbessert gegenüber den X-Schiffen, schätze ich mal.« »Sie stellen eine ganz neue Klasse dar«, bestätigte Gartol. »Klasse im Sinne von Qualität.« Cloud spürte, wie die Aussage Widerwille in ihm weckte. Und schon das … wurde bestraft. Ein hässlicher Schmerz fräste sich durch seinen Kopf. Gartol bemerkte es. »Es justiert sich noch. Alles ist noch ganz frisch. Aber bald wirst du es kaum noch wahrnehmen. Je besser es auf dich abgestimmt ist, desto perfekter wird es dich glauben machen, aus eigenem freiem Willen zu handeln. Es wird jedoch stets nur unser Wille sein. Eine grausame Vorstellung für ein freiheitsliebendes Geschöpf wie dich, oder?« Cloud wartete das Abklingen des Schmerzes ab. »Was unterscheidet uns eigentlich?«, fragte er Gartol. »Du dienst ebenso wie ich, oder? Einzig Farrak hat das Sagen, oder?« »Er und die anderen acht.« »Bei den Foronen waren es sieben, die meinten, über ihr Volk und alle Schwächeren herrschen zu müssen. Bei euch sind es neun. Ich weiß nicht, ob ich das als qualitative Verbesserung betrachten kann.« »Du verhöhnst deine Herren.« »Nicht im Geringsten – sonst würde ich mich wohl bereits in Qualen winden.« Damit überzeugte er Gartol – halbwegs. »Weiter! Ich zeige dir, was dich vielleicht etwas Demut lehrt.« »Ich bin gespannt.« Das war er wirklich. Schon als sie das Walzenschiff betraten überkam ihn ein bedrückendes Gefühl. Es wurde endgültig beklemmend, als sie das Herz, wie Gartol es nannte, des Schiffes erreichten. Irrtümlich glaubte Cloud, hier würde die Energie erzeugt, die das Vehikel versorgte. Eine Art permanenter Blitz zuckte zwischen zwei Polen an Decke und Boden hin und her. »Ihr kennt euch«, verblüffte ihn Gartol und zeigte sowohl auf Cloud als auch auf den grellen hin- und herschwingenden Zickzack. Täuschte sich Cloud, oder … hörte er eine ferne Stimme?
Er musste sich täuschen, denn das Stimmchen schien direkt aus dem Permablitz zu kommen. »Sehr interessant«, spottete er, an Gartol adressiert. »Wir können weiter – zur nächsten Station unserer Sightseeing-Tour.« »Du willst nicht mit ihm sprechen? Wir würden es dir erlauben.« »Mit wem?« »Dem Gloriden vor dir. Sein Name, sagt Farrak, ist Ovayran. Wenn du willst, schalte ich kurz ab. Vielleicht erkennst du ihn dann leichter.« Er berührte eine Stelle seines Gürtels … … und im nächsten Moment zappelte eine vertraute Gestalt am Boden. Der Blitz zwischen den Polen war verschwunden.
Cloud eilte zu dem Gloriden. »Ovayran? Ist es wahr …?« Der schmächtige Humanoide starrte ihn leidend an. »… frisst mich. Zerfrisst mich …« Cloud wandte sich Gartol zu. »Warum tut ihr ihm das an? Offenbar kennt ihr seine Natur und wie sich der Energiestatus herbeiführen lässt, aber … warum?« »Er ist eine wertvolle Ressource.« »Darauf kommt es nicht an. Er ist ein denkendes, fühlendes Individuum.« »Nicht in dem Aggregatzustand, der uns am nützlichsten ist.« Cloud krümmte sich. Das bewahrte ihn davor, sich auf Gartol zu stürzen. Als er sich wieder gefangen hatte, widmete er sich Ovayran. »Alter Freund … ich wünschte, ich könnte etwas für dich tun.« »Er…lö…se mich.« »Das kann ich nicht. Wie kommst du hierher?« Ihm fiel ein, dass Ovayran und andere Gloriden aus der milchstraßennahen RUDIMENT-Station gekidnappt worden waren, von Treymor. Seither hatte sich jede Spur von ihnen verloren. Bis heute. Dafür mussten die entführten Gloriden herhalten? »Tö…te mich.« »Was genau geht hier vor?«
»Sie komplettieren die neue Schiffsklasse«, sagte Gartol, dem es Befriedigung zu bereiten schien, Cloud mit unumstößlichen Realitäten zu konfrontieren, die ihm Höllenqualen bereiten mussten, weil er sich erstens nicht auflehnen und zweitens kein Kapital aus dem erhaltenen Wissen schlagen konnte. »John …« Der Gloride hatte ihn also auch erkannt. »Sag ihm, dass du ihm nicht helfen wirst. Dass du es wichtig und richtig findest, wofür er noch eine lange Zeit leiden wird.« »Das –« … tue ich keinesfalls, wollte Cloud sagen. Aber aus seinem Mund kamen Worte, für die er sich schämte – ohne sie zurückhalten zu können. »– ist wahr. Wichtig und richtig. Du dienst einem hohen Ziel, Ovayran, alter Freund. Es muss dich stolz machen, von den Treymor auserwählt worden zu sein. Wo sind die anderen Gloriden, die mit dir aus der Station verschwanden?« »Ein jeder steckt in einem eigenen Schiff – beneidenswert, nicht wahr. Die Flotte wird ihnen zur Verfügung stehen, sobald sie angekommen sind.« Cloud wünschte sich, er hätte Ovayran auch nur das kleinste Signal senden können, dass er die Qualen des Freundes bedauerte. Aber die Protofessel hatte ihn selbst unentrinnbar im Griff. Rumorte, nagte und biss in ihm. Als er sah, dass Gartol erneut seinen Gürtel berührte, wusste er, was geschehen würde. Und schon zappelte Ovayran wieder zwischen den Polen, hatte seine Stofflichkeit gegen die immaterielle Gestalt eingetauscht. Damit schien er das Walzenschiff zu stärken. Und kaum grübelte Cloud darüber nach, gegen wen die neue Flotte wohl eingesetzt werden sollte, dämmerte es ihm auch schon. Die Bractonen. Gewiss ging es gegen die Bractonen, den Erzfeind derer, die von den Treymor gerufen worden waren. Ob ich sie je kennen lerne? Er hoffte es. Aber noch mehr hoffte er es nicht.
8. »Wir müssen am Ball bleiben – jetzt den Schwanz einzuziehen, wäre das Fatalste überhaupt!« Jarvis sprach markige Worte. Und das, kaum dass sie den sicheren (obwohl, was war in diesen Tagen noch sicher?) Hafen von Taurts Stützpunkt angelaufen hatten. Scobee schüttelte den Kopf. Sie war bedient. Der Tod der Pandolen steckte ihr noch in den Knochen, mehr noch aber in jeder einzelnen Zelle ihres Gehirns, die für Gedächtnisleistungen zuständig waren. »Manchmal muss man auch einsehen, wenn es keinen Weg zum ersehnten Ziel gibt.« »Der Plan stand von vorneherein auf tönernen Füßen.« »Ah, der große Stratege spricht – aber hinterher lässt sich leicht sagen, alles vorhergesehen zu haben.« »Er stand auf verdammt tönernen Füßen«, beharrte Jarvis. »Ich will nicht sagen, dass Taurt eine taktische Pfeife ist, aber es ist nah dran. Dann schon lieber die Holzhammermethode, die wenigstens sonst keinen gefährdet.« »Mit Holzhammer kannst du eigentlich nur dich meinen.« »Volltreffer, Kompliment. Aber es ist doch so: Ein kleiner Soloeinsatz des guten alten Jarvis, und schon wäre alles geritzt!« »Definiere alles.« »Wir wüssten relativ schnell, wo dran wir sind. Wo sich John und die RUBIKON definitiv aufhalten. Traust du mir nicht zu, dass ich das rausfinde?« »Doch.« Verblüfft sah er sie an. »Echt?« »Klar. Du bist doch unser Bester.« »Stimmt. Aber seit wann muss ich diesbezüglich so wenig Überzeugungsarbeit leisten?« Er grinste, tat so, als hätte das Massaker auf Taurix nicht auch ihn traumatisiert, zumindest aber nachhaltig
geschockt. War das seine Art, damit umzugehen? Scobee blickte an Jarvis vorbei auf die Gruppe, die den Ex-GenTec begleitete. Sie bestand ausnahmslos aus Angks. Eine Frau stach besonders aus ihr hervor – vielleicht, weil sie Scobee in jeder Gruppe ins Auge gestochen wäre. Assur war Johns aktuelle Lebens- und Liebesgefährtin. Scobee bemühte sich, wann immer sie ihr begegnete, keine Vorbehalte gegen Assur in sich aufkommen und zuzulassen. Es gelang ihr nicht immer. Verblüfft war sie, dass sich auch Rotak, Johns Vorgänger an Assurs Seite, unter den Angks befand, die Jarvis begleiteten. »Was wird das? Eine Versammlung? Hast du eine Partei gegründet?«, flachste Scobee. »Hör auf«, sagte Assur ernst. Sie trat vor, direkt neben Jarvis. »Wir alle hier unterstützen Jarvis' Engagement.« »Was für ein Engagement?« »Das weißt du ganz genau«, raunzte Jarvis. »Ich habe dir klar zu verstehen gegeben, was ich beabsichtige – und sie …« Er zeigte neben und hinter sich. »… wollen mich dabei begleiten … Verdammt, sie bestehen darauf, obwohl ich viel lieber …« »Obwohl du viel lieber solo arbeitest«, fiel Scobee ihm ins Wort. Er nickte. Ihr Blick schweifte über jedes anwesende Gesicht. Das Treffen fand in einem saalartigen Gewölbe statt, das gegenwärtig als Aufenthaltsraum für die von den Tayanern evakuierte RUBIKON-Crew diente – eines von mehreren, denn die Crew, das waren immerhin ein paar tausend Männer, Frauen und sogar Kinder. Von der Handvoll Außerirdischer ganz zu schweigen. Sie alle wollten versorgt und bei Laune gehalten werden – was Taurt bislang mit Bravour gelungen war. Was allerdings auch nicht allzu schwer war, denn die Angks waren für ihre Selbstbeherrschung bekannt. Mindestens so wie für ihre Treue. Und natürlich hatte Assur ganz private Gründe, sich Jarvis bei
dessen geplantem Himmelfahrtskommando anzuschließen. »Was versprecht ihr euch davon? Wer hat etwas davon, wenn ihr auch noch den Treymor zum Opfer fallt?« Aus dem Hintergrund löste sich eine Gestalt, die zwar menschliche Umrissen hatte, aber kein Mensch war. Taurt. »Haben Sie dich auch schon weichzuklopfen versucht?«, wandte sich Scobee sofort an ihn. »Sie haben mit mir gesprochen, und ich habe ihnen gesagt, dass nicht ich, sondern du das entscheidest. Da sie hierhergekommen sind, scheinen sie dich als Stellvertreterin des gekidnappten Commanders anzuerkennen, was meinst du?« Taurt schaffte es, sie immer wieder aufs Neue zu verblüffen. »Ich meine, dass du vielleicht selbst zu feige warst, es ihnen zu verbieten und lieber mir den Schwarzen Peter zuschiebst.« Obwohl sie sich manchmal in einer für außerirdische Übersetzungsgeräte fast unzumutbaren Sprache ausdrückte, schien Taurt blind zu verstehen, was sie ihm vorhielt. »Ja«, sagte er, »das könnte sein. Ich hätte nur nicht erwartet, dass du es merkst.« Sie schüttelte nachhaltig den Kopf. »Mein Nein bleibt bestehen. Es soll verhindern, dass wir uns selbst dezimieren. So lange zumindest, bis uns ein gangbarer Weg einfällt, die Ewige Stätte mit überschaubarem Risiko zu stürmen.« »Ein solcher Weg findet sich nicht, wenn man sich irgendwo vergräbt und jedes Risiko scheut«, sagte Taurt ruhig. »Die Gruppe hier hat nicht vor, das Zentrum des Kubus zu stürmen, wie du es nanntest. Aber sie will den Feind auskundschaften. Will herausfinden, was aktuell vorgeht da draußen …« »Dafür könnte man auch deinen Kleinen schicken, Taurt. Ihn oder ähnliche … Gebilde.« »Du kennst den Unterschied«, antwortete Taurt gelassen. »Arto müsste immer erst hierher zurückkommen, Bericht erstatten und es uns überlassen, was für Schlussfolgerungen wir aus der Handlungsweise der Treymor ziehen. Das bedeutet weiteren Verlust wertvoller
Zeit. Und je mehr Zeit wir untätig verstreichen lassen, desto mehr schwinden die Chancen, John Cloud jemals aus den Händen des Feindes zu befreien. Denn dieser Feind wird ihn nicht einfach nur gefangenhalten. Die Treymor lieben es, an ihren Gefangenen … herumzupfuschen.« Scobee wusste, worauf er anspielte, und sie fröstelte. Kopfschüttelnd trat sie vor Jarvis. »Du und ich wissen, dass du nicht geschaffen bist für langweilige Erkundungsfahrten. Du und ich wissen, dass du, wenn ich mein Okay gebe, der Erste sein wirst, der bei erstbester Gelegenheit wieder mal alles riskiert.« »Lieben wir mich deshalb?«, fragte Jarvis mit dem nur ihm eigenen Charme. »Ja, wahrscheinlich lieben wir dich genau deshalb.« Und an alle gewandt sagte sie seufzend: »Von mir aus. Aber übertreibt eure Vorstöße nicht. Geht es langsam und behutsam an. Denkt an die Erfahrung, die wir bei Taurix machten. Wenn sich bewahrheitet, dass der Ortungsschutz der Vaarenrochen nicht mehr die Wirksamkeit hat, die absolut notwendig ist – kehrt sofort zurück. Taurt … leg du es ihnen auch ans Herz. Die Lage ist schon furchtbar genug. Ich will nicht im Geiste noch mehr Gräber ausheben müssen!« »Der virtuelle Friedhof ist mit sofortiger Wirkung geschlossen«, entschied Jarvis. »Wir sind doch nicht kleinzukriegen, das weißt du. Wir starten und sehen uns mal etwas genauer da draußen um. Und wenn wir zurückkommen, das verspreche ich dir, haben wir einen Plan in der Tasche!« »Ich gebe euch einen Trupp meiner besten Leute mit«, sagte Taurt aus dem Hintergrund. »Als meine Instanz an Bord – die im Zweifels fall das Sagen hat. Weil sie sich unter den herrschenden Verhältnissen immer noch besser auskennt als ihr.« Jarvis schien über diese zusätzliche Bedingung verblüfft zu sein. Scobee hingegen begrüßte sie.
Noch am gleichen Tag verließ ein einzelner Vaarenrochen den vielfach getarnten und gesicherten Stützpunkt auf einer der Weltenku-
geln des Kubus. Man hatte Vorkehrungen getroffen, dass selbst im Falle des Aufbringens durch Treymor ausgeschlossen war, ihnen die Koordinaten von Taurts Basis in die Hände fallen zu lassen. Einen Tag lang kreuzte der Rochen unbehelligt und ohne besondere Vorkommnisse in zentrumsfernen wie zentrumsnahen Gefilden. Fast zwangsläufig stellte sich eine gewisse Sorglosigkeit ein – zumindest unter den Menschen. Am zweiten Tag jedoch … … schlugen die Ortungsgeräte Alarm. Die Auswertung erbrachte ein beunruhigendes Resultat. »Sie haben es schon wieder getan – was meint ihr?«, fragte Jarvis. »Sieht ganz danach aus.« Assur und Rotak waren zu ihm getreten, ebenso der Tayaner, der den Rochen pilotierte. Assur fuhr fort: »Es ist ganz in der Nähe – wir sollten uns vor Ort überzeugen. Denn wenn es zutrifft, ergibt sich eine völlig neue Gefahrenlage. Ich hätte nie gedacht, dass denkende, fühlende Wesen so skrupellos vorgehen können …« »Streich ›fühlend‹ – zumindest wenn du damit mitfühlend meinst«, knurrte Jarvis. Der Vaarenrochen näherte sich vorsichtig dem Epizentrum der seismischen Erschütterung, die sie aufgeschreckt hatte. Die Treymor-Einheiten befanden sich noch vor Ort. Wie schon einmal hatten sie sich im Moment der Simultansprengung vom Ort ihrer Tat entfernt, aber nur so weit, dass sie von den »Schrapnellen« nicht getroffen werden konnten. »Laut Kartenverzeichnis befand sich hier ein größerer Asteroid«, eröffnete der tayanische Kommandant. »Er wurde von einer niederen Lebensform bevölkert, die als Nahrungslieferant diente. Ich verstehe nicht …« »… was sie damit bezwecken?«, fragte Jarvis. Er zeigte auf den Bildschirm, auf dem die X-Schiffe zu sehen waren, die sich offenbar gerade zum Abzug bereit machten. Zuvor scannten sie noch den zerstörten Bereich. Offenbar suchten sie Spuren von etwas, das vermutlich nicht da gewesen war – was sie aber aller Wahrscheinlichkeit nicht in Gewissensnöte bringen
würde. »Wie war das mit ›erst schießen, dann fragen‹? In übertragener Form könnte man hinsichtlich dieser neuen Treymor-Vorgehensweise sagen: Zuerst jagen sie die Brocken hoch und dann schauen sie nach, ob sich irgendetwas drin versteckt hatte. Offenbar haben sie Geschmack an Zerstörung gefunden. Und es macht mich sauer, dass wir sie offenbar auch noch dazu animiert haben. Nicht wir allein, sondern die Tatsache als solche, dass ihnen offenbar ziemlich spät klar geworden ist: Der Kubus ist nicht nur der problemlose Selbstbedienungsladen, den sie bislang darin gesehen haben – oder das ideale Versteck für ihre Basis. Hier regt sich der Widerstand, den Taurt über all die Zeit aufgebaut hat. Im Normalfall – bei einem normalen Gegner – würde ich dem Partisanenkampf eine reelle Chance einräumen. Aber wenn das hier …« Wieder zeigte er auf den Schirm, wo auf die Trümmer des ehemaligen Asteroiden zu sehen waren. »… Schule macht, dann gute Nacht!« »Wir müssen Taurt informieren – obwohl ich glaube, dass die Erschütterung bis zu ihm messbar gewesen sein muss und er bereits seine eigenen Schlüsse gezogen haben wird, die ziemlich genau ins Schwarze treffen dürften«, seufzte Assur. Jarvis und Rotak pflichteten ihr bei. Der tayanische Pilot ließ daraufhin Kurs zurück zum Stützpunkt setzen. Gleichzeitig intensivierte er den Umgebungsscan und erweiterte die Reichweite. Auf halber Strecke zur Heimatbasis kam es zu einer zweiten seismischen Erschütterung, die sogar um einiges mächtiger war als die vorherige. Die Insassen des Rochens schraken zusammen. Ihre Hilflosigkeit wurde ihnen bewusst. Niemand wollte das neuerliche Ereignis kommentieren. Als würde Totschweigen etwas ändern … »Wir müssen sie aufhalten«, sagte Jarvis nur. Da ahnte er noch nicht, dass vorher … sie aufgehalten werden und die Basis nie erreichen sollten.
Der Angriff erfolgte wie aus dem Nichts heraus. Es gab keine Warn-
zeichen – zumindest keine, die Taurts Tayaner an der Ortung rechtzeitig zu deuten wussten. Vielleicht konzentrierten sie sich aber auch zu sehr auf mögliche »Großereignisse« wie das Weitensprengen, zu dem die Treymor übergegangen waren. Von einem Moment zum anderen jedenfalls war der Vaarenrochen kugelförmig umzingelt – was unschöne Erinnerungen an Taurix weckte. »Walzen«, kommentierte Jarvis das Ereignis, das ihn ebenso überraschte wie jeden anderen an Bord. Aber weder die Angks noch die Echsenabkömmlinge zeigten Furcht oder verfielen in Schockstarre. Gefasst blickten sie den Gegebenheiten ins Auge. »Oder Zylinder – wie immer man sie bezeichnen will. Das sind neue Modelle der Treymor, die nichts mehr mit den X-Schiffen, die wir kennen, gemein haben müssen. Ich befürchte, wir bekommen es gerade mit dem modernsten Technikstand der Käfer zu tun – das könnte ins Auge gehen. Schwer ins Auge …« Der Kommandant der Tayaner trat an seine Seite. »Sie müssen uns aufgelauert, mit unserem Vorstoß gerechnet zu haben. Ich hoffe nicht, dass das bedeutet, dass unsere Tarnschicht nun tatsächlich, wie sich bei Taurix schon andeutete, vollumfänglich ihre Wirkung verloren hat. Das hätte verheerende Folgen. Etwas anderes schützt die mobil gemachten Vaarenrochen nicht vor Entdeckung. Bislang kamen wir damit durch jede feindliche Linie. Hier muss sich entweder Grundlegendes geändert haben – oder …« Er zögerte. Für ein Geschöpf wie ihn verriet dieses Zögern schon die Tragweite dessen, was ihm durch den Kopf ging. »Oder«, konnte sich Jarvis nicht verkneifen, den Satz zu vollenden, »es gibt Verräter innerhalb von Taurts Organisation. Aber ist das wahrscheinlich?« Er beantwortete die Frage selbst, schüttelte den Kopf. »Nein. Ich denke, die Treymor haben schlichtweg nicht geschlafen. Sie haben den nächsten Schritt an ihrer Kriegstechnologie vollzogen – und der beinhaltet offenbar, dass eure vielgerühmte Nichtortbarkeit Schnee von gestern ist.« »Wir diskutieren auf hohem Niveau«, meldete sich Assur zu Wort. Sie stand bei Rotak, ihrem ehemaligen Lebensgefährten, der in die-
ser Funktion ebenfalls Schnee von gestern war. »Hat irgendeiner von euch schon gemerkt, dass wir vielleicht gleich sterben werden? Die Treymor sind nicht gerade für ihre Zurückhaltung berühmt. Und auf Gnade würde ich schon mal gar nicht hoffen. Denkt an Johns Entführung, an all die Toten, die der Kleine Arto in den Trümmern des Wracks fand, nachdem die Treymor abgezogen waren …« »Wenn sie uns umbringen wollten, hätten sie das längst tun können«, widersprach Jarvis, ohne einen stichhaltigen Beweis für diese These anführen zu können. Außer vielleicht … »Ihre Geschütze würden uns binnen eines einzigen Augenblicks in alle Atome zerblasen. Oder ist jemand anderer Meinung?« Bevor sich Rotak zu Wort melden konnte – seine Körpersprache verriet jedoch, dass er es vorhatte –, antwortete der Treymor-Verband für ihn. Dutzende und Aberdutzende Kanonen blitzten auf. Die zerstörerischen Energiebalken erreichten den Vaarenrochen schneller als ein menschliches Bewusstsein in der Lage war, die Veränderung der Lage zu erfassen. Die automatisch hochgefahrenen Schutzschirme verzögerten die Explosion nur um Millisekunden. Dann leuchtete dort, wo das Schiff mit seinen Insassen in der Umschlingung des Feindes verharrt hatte, eine kleine Sonne auf. Leuchtete … und erlosch.
»Sie wurden … vernichtet!« Für Scobee der Albtraum schlechthin – aber auch Taurt schien zu trauern, als ihnen die unumstößlichen Ortungsbeweise vorlagen. »Erst die Pandolen, und nun …«, sagte er sichtlich geschockt. »Du hattest recht. Die unschuldigen Opfer nehmen kein Ende. Wenn sich jetzt noch bestätigt, was die empfangenen seismischen Erschütterungen andeuten …« Scobee widersprach ihm nicht. Sie fiel in ein emotionales Loch. Erst John, dessen Schicksal ungewiss war, und nun auch noch Jarvis … Von den alten Gefährten war damit keiner mehr verfügbar, sie hatten sie allein gelassen …
»Ich werde den Kleinen Arto schicken, um nach Überlebenden zu suchen«, kündigte Taurt an. »Er wird keine finden«, sagte Scobee dumpf. »Wahrscheinlich«, räumte Taurt ein. »Sagtest du nicht, der Ortungsschutz der von euch präparierten Vaarenrochen sei perfekt und vom Feind nicht zu unterlaufen?« »Das war bisheriger Stand.« »Dann werden wir wohl umdenken müssen …« Scobee wandte sich zum Gehen. »Wo willst du hin?« »Zu den anderen, ihnen die Todesnachricht überbringen – die Angks, die fielen, hatten Freunde. Freunde und Bekannte. Und auch Jarvis Tod dürfte sie interessieren …« Taurt nickte. »Dann werde ich es den Tayanern sagen.«
9. »Was ist das für ein Bereich?«, fragte Cloud, als Gartol in etwas führte, was durch ein unscheinbares Schott der Silberstadt erreicht werden konnte – aber dahinter wartete eine völlig andere Welt. Eine düstere, gespenstische Landschaft, die ebenso gut auf der Nachtseite eines Planeten hätte liegen können, breitete sich vor ihm aus. Dominiert wurde sie von einer Art Dschungel, doch im Nähertreten wurde rasch klar, dass die lianenartigen »Gewächse«, zwischen denen seltsame Wesen huschten, künstlicher Natur waren. Hatte nicht Jarvis bei einer seiner Exkursionen und im Zusammenhang mit den Treymor etwas Ähnliches entdeckt und davon berichtet? War das hier ein … Legeort? »Züchtet ihr hier eine Brut?«, fragte er Gartol rundheraus. Dem Treymor schien die Bezeichnung zu missfallen. »Du hast keine Ahnung, was hier vorbereitet wird. Aber überall kannst du schon die Heger sehen, die sich auf den Moment vorbereiten, der mein Volk endgültig groß machen wird.« »Warum zeigst du es mir überhaupt, wenn du nur vage Andeutungen machst?« »Farrak vertraut dir – und dem, was Lomax in dich gepflanzt hat. Ich selbst bin skeptisch. Ich halte es für einen Fehler, dich in elementare Belange der Treymor einzuweihen. Wozu soll das gut sein?« Cloud begrüßte Gartols Offenheit. »Kommt drauf an, was er mit mir vorhat.« »Ja, wahrscheinlich. Aber das weiß bislang niemand außer ihm.« Cloud war überrascht. »Ich dachte, es gibt neun Herrscher im Kubus – von eurer Heimat im Milchstraßenzentrum ganz abgesehen, dort müssten eigentlich die tatsächlichen Führer eures Volkes leben –, sind sie nicht gleichberechtigt?« Gartol war stehen geblieben. Unweit von ihnen huschte eine Gestalt vorbei, die an ein irdisches Rüsseltier auf vier Beinen und mit
gedrungenem, hundegroßem Körper erinnerte. Das Wesen schien die überall herabhängenden oder gespannten Seile zu prüfen. Offenbar dienten sie als Halterung für Eier, wie sie Jarvis seinerzeit gefunden hatte – nur waren diese Eier noch nicht vorhanden, vielleicht nicht einmal gelegt. »Gleichberechtigt?«, echote Gartol. »Wozu sollte das gut sein?« Für ihn schien ein solcher Gedanke tatsächlich keinen Sinn zu machen und regelrecht abwegig zu sein. Andere Länder, andere Sitten, dachte Cloud. Als Cloud nichts erwiderte, sagte Gartol: »Und zur Urheimat besteht seit langem kein Kontakt mehr. Dies hier ist die Brutzelle unserer Zukunft. Von hier aus lenken wir die Expansion.« Konnte das stimmen? Cloud wusste nicht, was er davon halten sollte, aber er zweifelte den Wahrheitsgehalt dieser Worte an. »Das sagt Farrak?« Gartol führte ihn wieder aus dem seltsamen Raum, dessen wahre Größe Cloud gar nicht hatte erfassen können.
Jarvis hatte keine Vorstellung, warum er wieder zu sich kam. War der Vaarenrochen nicht eben noch in einem Inferno unentrinnbarer Vernichtung gebadet worden, und hatte dieses Inferno nicht alles, ihn eingeschlossen, unwiederbringlich vernichtet …? Er versuchte, Daten aus seinem Amorphkörper zu ziehen, Daten, die seinen Tod widerlegten, etwa weil im entscheidenden Moment eventuell eine Nottransition, zu der sein Körper bekanntermaßen fähig war, ausgelöst worden war. Doch er fand nichts, was dies eindeutig belegt hätte. Nur den Hinweis auf die immense Gewalt, die auf den Vaarenrochen eingedroschen hatte und dem kein Leben entrinnen konnte … Aber ich bin, ich existiere. Seine Nanoaugen sondierten die Umgebung, in der er zu sich gekommen war. Es war dunkel. Vollkommen dunkel. Die Finsternis war nicht einmal mit seinen
kybernetischen Sinnen, die jedem organischen Auge überlegen waren, zu durchdringen. Das war nicht der freie Weltraum, wie er für einen Moment ins Kalkül gezogen hatte (es gab ja keine Sterne, keine sichtbaren jedenfalls), und es waren auch nicht die Wassermassen des Aquakubus, in denen er trieb. Auch dort herrschte diffuses Licht, das allgegenwärtig war. Es sei denn, ich befinde mich im Innern eines Objekts. Eines Himmelskörpers, Asteroiden oder einer Station. Aber selbst in diesen Fällen hätten seine Systeme die Finsternis auflösen müssen – so weit zumindest, um sich darin grob orientieren zu können. Warum misslang das? Ein schockierender Gedanke griff nach Jarvis: War er am Ende doch … tot? Doch gestorben in den energetischen Gewalten des Treymor-Verbands? Fühlte sich so – umgeben von undurchdringlicher, ewiger Finsternis – der Tod an? Ihn schauderte. Nicht körperlich natürlich, aber dieses geistige »Frösteln« hatte er schon in anderen, weniger schlimmen und aussichtslos scheinenden Situationen verspürt. Gegen die Todestheorie sprach eines: Er hatte das Gefühl, auf einer festen Unterlage (einem Boden) zu liegen, nicht durch ein völliges Nichts zu fallen. Und wo ein Boden war, gab es auch andere Realitäten, die dem »Jenseits« sicherlich fremd gewesen wären. Er … richtete sich auf. Vorsichtig. Die Schwärze umgab ihn wie eine lichtjahrdicke Haut. Er aktivierte seine körperinternen Funkempfangssysteme. Nichts. Tot. »Ist da … jemand?«, fragte er in die Dunkelheit. Leise zunächst, dann lauter: »Hallo?« Und schließlich schreiend: »Wenn hier jemand ist, dann bitte – antworte!« Schweigen. Das Nichts hatte einen Boden, ließ aber ansonsten alles missen, was Jarvis hätte beruhigen können. Dennoch entschloss er sich, sei-
ne Beine in Bewegung zu setzen. Blind schritt er voran. Und da … unverkennbar: Er hörte, wie er über den Boden stapfte, was ihm endgültige Realität verlieh. Erleichterung fühlte sich anders an. Nein, erleichtert war Jarvis noch lange nicht. Er ging weiter, Schritt für Schritt … … und stieß gegen die Barriere. Einem Menschen hätte der Schädel gebrummt, so hart prallte Jarvis dagegen. Aber sein Kunstkörper verkraftete einiges. Boden … Wand … Was fehlte, war eine Tür. Er tastete sich entlang des fugenlos glatten Materials. Schritt um Schritt, weiter und weiter … Er gelangte in keine Ecke, und falls es sie gab, musste sie unglaublich weit entfernt liegen, der Raum demnach gigantisch sein. Aber wahrscheinlicher schien, dass der Raum rund war und er dieser Rundung permanent folgte, ohne irgendeine Unregelmäßigkeit zu entdecken. Verdammt! Hier komme ich nicht mehr raus. Es sei denn … Es sei denn, er initiierte bewusst eine Körpertransition. Unter annähernd normalen Umständen hätte Jarvis diese Lösung nicht einmal in Erwägung gezogen. Aber dies war eine Ausnahmesituation, eine, die ihn an die Grenzen seiner psychischen Belastbarkeit trieb. Noch zögerte er. Wenn sich jedoch nicht bald etwas an seiner Umgebung änderte, etwas, das ihn zu beruhigen wusste oder ihm wenigstens glasklar signalisierte, wo er sich befand, würde er das Risiko auf sich nehmen. Wie ein aufgezogenes Spielzeug lief er unentwegt an der Wand entlang – minutenlang. Dann stoppte er jäh, aktivierte das körpereigene Antigravsystem … und schwebte aufwärts. Richtung Decke. So es eine gab … Peng! Da war sie. Keine drei Meter über dem Bodenniveau. Na prima. Dann hätten wir das ja geklärt. Also doch ein eher kleiner Raum, allen bisherigen Indizien zufolge kreisrund. Und darin gefangen …
jep, Trommelwirbel: der gute Jarvis! Ihm war eigentlich nicht nach Späßen, nicht einmal nach Ironie zumute. Okay, eine Alternative zu einer Blindtransition gab es noch. Er bildete diamanthartes Werkzeug an einem seiner Arme aus und versuchte damit, kaum dass er wieder Boden unter den Füßen hatte, in das Wandmaterial zu bohren. Wider Erwarten hatte er damit Erfolg. Eine winzige Öffnung entstand, die Jarvis kontinuierlich erweiterte, bis sie ungefähr den Durchmesser eines menschlichen Daumens hatte. Als er den Bohrer zurückzog, gewahrte er zum ersten Mal einen Hauch von Licht – allerdings strömte es seltsamerweise nicht zu ihm herein, er konnte es nur auf der anderen Seite seines Gefängnisses wahrnehmen. Immerhin … Um mehr über die Quelle der Helligkeit zu erfahren, musste er sich nicht damit begnügen, ein Pseudoauge gegen die entstandene Öffnung zu pressen. Er schickte einfach einen endoskopartigen Ableger durch den geschaffenen, zentimeterdicken Kanal. Durch dieses Auge sah Jarvis kurze Zeit später seine bislang verborgene unmittelbare Umgebung … und konnte es nicht glauben. Unmöglich!, war die einzige Vokabel, die ihm zu seiner Entdeckung einfiel. Wie sollte …? Plötzlich schob sich etwas vor die Linse. Der Treymor baute sich vor ihm auf. Facettenaugen glommen undefinierbar. Für einen Moment war Jarvis wie gelähmt. Aber als der Treymor handelte, handelte auch er. Die Waffe des Käferwesens ruckte in Jarvis' Richtung, und dessen Sonde stieß zu, drang knirschend in den Panzer des Treymor ein und brachte dessen Bewegung zum Stillstand. Unglaube schien sich in den Facetten des Wesens zu spiegeln. Dann stürzte es röchelnd und sterbend zu Boden.
Es dauerte eine Weile, bis Jarvis komplett »drüben« war. Als amorphe Masse quoll er durch die geschaffene Öffnung nach draußen. Dabei hatte er das »Gefühl«, dass der Kanal, den er benutzte, mit fortschreitender Zeit immer enger wurde. Endlich hatte sich Jarvis auf der anderen Seite wieder aufgebaut und humanoide Form angenommen. Der Blick auf die Wand des Objekts, in dem er gesteckt hatte, verriet ihm, dass sein Eindruck nicht getrogen hatte: Gerade »verschwand« die nur noch punktgroße Öffnung, als repariere sich die beschädigte Wand selbst. Sie gehörte zu einem der von den Angks errichteten architektonischen Eigenheiten ihres Dorfes. Ihres Dorfes an Bord … … der RUBIKON. Noch immer fiel es ihm schwer, diesen unumstößlichen Fakt (jedenfalls, wenn man seinen Augen traute) zu akzeptieren. Wie sollte er an Bord der RUBIKON gelangt sein? Dass hier Treymor herumlungerten, war schon wahrscheinlicher – nur war beides nicht auf einen Nenner zu bringen. Ich müsste tot sein, aber ich bin auf der RUBIKON? Er hatte viele grandios absurde Situationen durchlebt, aber das hier … Die Zuckungen des sterbenden Treymor lenkten Jarvis' Aufmerksamkeit auf den Extraterrestrier. Vielleicht war dem Burschen noch eine Information zu entlocken. Solange noch ein Fünkchen Leben in ihm steckte … Das Idiom der Treymor war bekannt und in Jarvis abgespeichert. Dazu kam noch ein anderer, fast magischer Effekt, den sich Jarvis zunutze machen wollte. Er bückte sich und schob einen Arm unter den Torso des Treymor. Halb richtete er ihn auf. Das Zucken wurde schwächer. Der Ausdruck in den Facetten veränderte sich. »Hörst du mich?« Treymor blickte mitfühlend auf Treymor. Jarvis hatte Kargors Kristall aktiviert und gaukelte dem Sterbenden vor, dass sich ein Artgenosse über ihn beugte. »Ich … höre …«
Das Gurgeln war nur unter Einsatz hochwertigster Filter zu verstehen. »Man wird dir helfen«, log Jarvis kaltblütig, blendete dabei aus, es mit einem Individuum zu tun zu haben, um dessen sozialen Hintergrund, Motive und Mentalität sie bis heute so gut wie nichts wussten. »Hilfe ist unterwegs. Schone dich. Und konzentriere dich auf meine Frage, auch wenn sie dir absurd erscheinen mag. Sie hat Sinn, sie ist wichtig. Wo befinden wir uns? Wo ist dieses Schiff?« »Sil…ber…stadt …«, blubberte es aus dem Treymor hervor. Schwarzes Blut quoll ihm aus dem erschreckend aussehenden Maul. Die Mandibeln zitterten. »Wie viele Treymor befinden sich an Bord – und was tun sie hier?« Der Treymor schwieg, bäumte sie auf, rang offenbar mit den Widersprüchen, die sich aus Jarvis' Fragen ergaben. Ein Treymor, der nicht wusste, wo dieses Schiff, auf dem sie waren, sich befand? Ein Treymor, der einen anderen fragen musste, was sie hier trieben? Es war absurd, und Jarvis akzeptierte bereits, keine Antwort zu erhalten. Der Sterbende schien ohnehin kaum noch bei Bewusstsein und in der Lage zu sprechen. Dann aber überraschte er ihn mit einem Wort, das er ganz zuletzt, wenn überhaupt, von einem Treymor erwartet hätte. »Dar…nok …« »Sagtest du gerade Darnok?« Jarvis zog ihn dichter zu sich heran. Die ruckartige Bewegung gab ihm den Rest. Er atmete rasselnd aus. Und nicht wieder ein. Gebrochene Facetten starrten Jarvis an – in ihnen spiegelte sich der Treymor, der er vorgab zu sein. Er versuchte, die wenigen Fakten, die er kannte, mit dem Gehörten in Einklang zu bringen. Ganz von sich aus hatte der Sterbende Darnok erwähnt. In seinem Zustand konnte ihm das nur ein Bedürfnis gewesen sein, wenn die Treymor Darnok erstens kannten und ihm zweitens eine Bedeutung beimaßen, die sie selbst im Delirium noch von ihm träumen ließ … Ein Gedanke von unabsehbarer Tragweite formte sich in Jarvis.
Was, wenn … was, wenn Darnok sich der Fesseln der Stase entledigt hatte? Vielleicht war es im Zuge der Kaperung zu einem Systemausfall gekommen. Oder … die Treymor hatten ihn mit voller Absicht geweckt … Beide Varianten liefen auf dasselbe hinaus. In beiden Fällen gab es einen wachen Darnok, der jederzeit sein Unwesen treiben konnte, vielleicht schon trieb. Plötzlich machte der Treymor im Dorf der Angks neuen Sinn – aber nur, wenn Jarvis davon ausging, dass er nicht der Einzige war, der diesen Sektor des Schiffes durchkämmte und dabei dummerweise auf seinen Meister getroffen war. Schritte. Stimmen. Beides wie auf Stichwort. Und schon bog eine Gruppe von schwerbewaffneten Treymor um die Ecke!
Jarvis kopierte augenblicklich die Uniform des Toten bis ins Detail. Der Kristall simulierte die entsprechende Erscheinung für die heranrückenden Treymor. »Was geht da vor? Was ist passiert?« Den Toten sehen und Antworten verlangen, war eins für den offenkundigen Anführer des Trupps. Misstrauisch eilte er mit seinen Soldaten herbei. »Wer bist du? Ich kenne dich nich …« Weiter ließ Jarvis ihn nicht kommen. Die vermeintlich waffenlose Linke jagte der Gruppe breit gefächert eine Extremdosis von Paralysestrahlung entgegen. Die Treymor fielen fast zeitgleich schwer zu Boden. Waffen schepperten. Jarvis war über den Erfolg auf ganzer Linie überrascht. Aber er sonnte sich nicht in trügerischer Sicherheit. Verdammt, er war so schlau wie zuvor. Wenn er einen der Treymor verhören wollte (was ein zweifelhaftes Bemühen darstellte), musste er warten, bis sie die Paralyse abschüttelten. Das konnte Minuten, vielleicht aber auch Stunden dauern.
So lange Zeit hatte er nicht. Sein Blick streifte im 360-Grad-Modus über seine Umgebung. Das Angkdorf. Unverkennbar der Baum, den Jelto auf dem Platz in der Mitte, nahe dem Brunnen, erst kürzlich gepflanzt hatte. Er hatte ihn von einem Außenweltbesuch mitgebracht, es war ein sogenannter Lebensbaum mit mystischer Bedeutung für die Bewohner des Planeten, von dem er stammte. Auf jeden Fall suggerierte sein Anblick aber eines: Dies war die RUBIKON, keine wie auch immer entstandene ähnliche Kulisse. Wenn das aber Fakt war, musste er wohl hinnehmen, dass er die Zerstörung des Vaarenrochens als Einziger überlebt hatte. Die von ihm nicht bewusst ausgelöste Transition musste ihn zu den Koordinaten verschlagen haben, bei denen die Treymor die RUBIKON deponiert hatten. Bei der Silberstadt. Dort war Jarvis schon einmal gewesen. Unmittelbar nachdem sie herausgefunden hatten, dass sich der Aquakubus hinter der vermeintlichen Sonne verbarg, in die hinein und aus der heraus immer wieder X-Schiffe der Treymor flogen. Die Silberstadt befand sich am zentralsten Punkt des Kubus, in der Vakuumkugel, die von den Vaaren als Ewige Stätte verehrt worden war. Damit war die RUBIKON eigentlich dorthin zurückgekehrt, wo John Cloud sie seinerzeit gefunden und von wo er sie weg gelenkt hatte. Ein Geräusch lenkte ab. Eine der Haustüren des Angkdorfes hatte sich geöffnet. Eine Gestalt taumelte heraus, etwa dreißig, vierzig Meter entfernt. Jarvis wagte kaum zu glauben, was er da sah. Wen …
»Assur?« Die vermeintlich Tote vernahm den Ruf und drehte sich in die Richtung, aus der er gekommen war. Sie fuhr zusammen und hob
abwehrend die Arme vor das Gesicht. Ein Gesicht, in dem sich das Grauen spiegelte. »Ganz ruhig – ich bin's nur …« Jarvis eilte ihr entgegen. Assur wandte sich zur Flucht. Zurück in das Haus, aus dem sie gekommen war und das Jarvis jetzt erkannte: Es war ihr Haus im Angkdorf, das sie zusammen mit ihrer Tochter Winoa bewohnte, früher auch zusammen mit Rotak … »Stopp! Sieh mich an! Du kennst die Stimme – sieh mich an!« Fast zu spät (Assur wollte gerade die Tür hinter sich zuschlagen) hatte er sich erinnert, in welcher Maske er immer noch agierte. Assur sah einen Treymor in ihm, aber … Sofort fiel Jarvis diese weitere Ungereimtheit auf: Die Angks waren die Einzigen, die sich bislang nie von seinen variierenden, generierten Erscheinungsbildern hatten narren lassen. Sie schienen immun gegen diese Form der Täuschung zu sein. Aber Assur bewies gerade das Gegenteil. Wieso – Endlich kam Jarvis auf die Idee, dass Assur möglicherweise gar nicht vor ihm erschrocken und geflohen war, sondern … Hinter ihm, von der Grenze des Angkdorfes her, das in einer riesigen Kaverne innerhalb der RUBIKON stand, näherte sich ein seltsames Phänomen: eine wabernde Wand, die ein paar Meter in der Sekunde zurücklegte und in wenigen Augenblicken bei Jarvis anlangen würde. Sie strich über die Bauten hinweg, berührte liebevoll von Jelto angelegte Blumenbeete … … und brachte jedes Pflänzchen, das sie berührte, zum Verdorren. Auch wenn Jarvis die genauen Informationen dazu fehlten, war doch unübersehbar, was die wandernde Wand anrichtete. Wo immer sie auf Leben traf … brachte sie es um. Ganz gleich, was es war. Sie unterschied weder zwischen pflanzlichem noch zwischen fleischlichem Leben. Jeltos ganzer Stolz, der Lebensbaum, fiel dem Phänomen ebenso zum Opfer wie die paralysierten Treymor, die unweit von Jarvis am Boden lagen, bei ihrem toten Artgenossen. Die Energie, die das Schiff durchlief, unterschied auch nicht, wie Jarvis feststellen musste, zwischen Leichnam und Lebendem. Sämt-
liche Treymor dort vor seinen Augen begannen im Licht des Phänomens zu schrumpfen und auszutrocknen, selbst das Chitin ihrer natürlichen Körperpanzerung blieb davon nicht unbeschadet; alles verdorrte, mumifizierte im Zeitraffer … und zerfiel zu Staub. Nur Teile der Kleidung und die Waffen blieben zurück. Und dann hatte der wabernde Tod auch Jarvis erreicht.
10. »Wie weit ist die Säuberungsaktion gediehen?«, fragte Farrak. Solax, ebenfalls Mitglied der Neun, antwortete: »Sie wird in Kürze abgeschlossen sein. Aber möglicherweise sind ein paar unserer eigenen Leute dem Einsatz der Strahlung zum Opfer gefallen.« »Wie konnte das passieren? Alle waren instruiert, ihre Individualschirme zu aktivieren. Darin wären sie sicher.« »Eventuell kam es zu technischen Ausfällen.« »Ursache?« »Noch unbekannt. Aber ich nehme mich der Sache an, sobald der Säuberungsscan abgeschlossen ist. Mit hoher Wahrscheinlichkeit stellt der Gesuchte danach keine Gefahr mehr dar.« »Du unterschätzt ihn.« »Du hast ihn erweckt«, erinnerte Solax ihn kühl. »Wenn ihn einer unterschätzte, dann also du.« »Du kritisierst mich?«, fragte Farrak gefährlich ruhig. »Ich stelle ein Faktum fest.« »Vielleicht überschätzt du deine Weitsicht, Solax, und deine … Wichtigkeit.« Solax verneinte mit der für Treymor typischen Stellung seiner Fühler. »Ich kenne meinen Wert. Jeder ist ersetzbar. Das Ganze zählt, nicht ein Teil davon. Und für dieses Ganze gebe ich stets alles, was ich vermag. Zweifelst du an meiner Loyalität dem Projekt gegenüber?« »Ich zweifele an deiner Loyalität mir gegenüber«, erwiderte Farrak. »Obwohl ich dich gleichzeitig für zu klug halte, dich auf solch dünnes Eis zu begeben.« »Es geht um die Sache, ich wiederhole es noch einmal. Bald werden die Unaussprechlichen eintreffen. Sie werden den Ruf nicht ignorieren. Sollen sie über meine Loyalität richten, ich habe keine Sorge, mich dem zu stellen.«
Farrak musste sich eingestehen, dass ihm Solax mit ungeahntem Geschick Paroli bot. Er ließ sich ganz offensichtlich nicht von ihm aufs Glatteis führen, bot keinerlei Angriffsfläche. »Ja, ihr Erscheinen wird vieles ändern. Wir wären Narren, würden wir das Erreichte durch Zwistigkeiten aufs Spiel setzen … Zurück zu dem eigentlichen Grund der Säuberung. Kläre das Schicksal der Opfer, die offenbar zu beklagen sind. Sollte das Schiff für sauber erklärt werden können, ist unverzüglich eine Besatzung zusammenzustellen.« »Unter wessen Kommando?«, fragte Solax. »Sprachen wir noch nicht darüber? Johncloud. Johncloud ist und bleibt der Commander der RUBIKON. Er kann uns unschätzbare Dienste erweisen, eine solche Ressource darf nicht ungenutzt brach liegen.«
Die Todeswelle brandete über Jarvis hinweg. Er hatte alle Systeme auf das absolut Notwendige heruntergefahren. Aber die Woge konnte ihm offenbar ohnehin nichts anhaben, war ausschließlich auf Leben im herkömmlichen Sinn programmiert. Er sah zu, wie das leuchtende Wabern über das Dorf rollte. Es gab nichts, was er dagegen hätte unternehmen können. Es war nur von denen zu lenken und zu stoppen, die es in Gang gesetzt hatten. Verdorrte Gewächse markierten den Weg der Verwüstung. Mit Bestürzung erinnerte sich Jarvis an einen noch größeren Schaden als den, der hier im Dorf an der Flora angerichtet worden war. So wie es den Anschein hatte, rollte die Welle durch das gesamte Schiff, und das hieß, dass auch der hydroponische Garten nicht verschont bleiben würde, Jeltos eigentlicher Stolz. Jarvis vermied den Gedanken, wie Jelto auf diese Nachricht reagieren würde. Es war nicht einmal sicher, dass er ihn jemals wiedersehen würde. Auf immer noch ungeklärte Weise hatte es ihn an Bord der RUBIKON verschlagen – und offenbar nicht nur ihn. Er überwand seine Starre und sprintete auf die Tür zu, hinter der Assur verschwunden war.
War er einer Halluzination erlegen oder war sie es tatsächlich gewesen? Und wenn ja – hatte das Haus sie vor der tödlichen Strahlung schützen können? Er stand vor verschlossener Tür, aber eine zaghafte Stimme fragte aus der Sprechanlage daneben: »Ist es … vorbei? Überstanden? Bist du das, Jarvis?« »Mach auf, lass mich rein. Ich bin froh, dass du lebst. Aber ich würde gerne drinnen weiterreden …« Die Tür glitt auf. Jarvis übertrat die Schwelle. Hinter ihm schloss sich das Schott wieder. Es war das erste Mal, dass er bei Assur zu Gast war. Es erstaunte ihn, wie gemütlich es hier war. Er hatte eine zweckmäßigere Einrichtung erwartet, aber alles war sehr behaglich, fast verspielt dekoriert. Vielleicht wegen Winoa. »Hast du eine Erklärung?«, wandte er sich ohne Umschweife an die attraktive Frau, die seit geraumer Zeit mit John liiert war … und die es als ihre vordringliche Aufgabe ansah, ihn aus den Klauen der Treymor zu befreien. »Auch wenn du es anzweifeln magst … nein, nicht die geringste«, antwortete sie. Obwohl Sitzgelegenheiten herumstanden, machte sie keine Anstalten, sich hinzuhocken. Für Jarvis machte es ohnehin keinen Unterschied, ob er saß oder stand – nun ja, rein körperlich zumindest nicht. Psychologisch gab es schon Unterschiede. Auch er war nach wie vor in der Lage, ein gemütliches Beisammensitzen emotional zu genießen. Aber davon konnte in ihrer Situation ohnehin keine Rede sein. »Es ist mehr als erstaunlich … und rätselhaft«, sagte er. »Wann bist du zu dir gekommen?« »Kurz bevor wir uns sahen. Ich lag hier am Boden. Zuerst dachte ich, ich sei tot … klingt blöd, ist aber so. Als hätte der Tod mir meine vertrauteste Umgebung als Kulisse hingestellt …« »Bei mir war die erste Reaktion ähnlich – eigentlich müssten wir ja tot sein. Es gibt keine plausible Erklärung für unser Überleben. –
Was wohl aus den anderen geworden ist?« Assur gab sich einen Ruck. »Genau das werden wir als Nächstes herausfinden.« »Soll heißen?« »Komm mit!«
Sie gingen von Haus zu Haus. Erstaunlicherweise öffneten sich vor Assur sämtliche Türen, während sie auf Jarvis allein nicht reagierten. Schon im dritten Gebäude fanden sie einen Bewusstlosen – einen Angk, der ebenfalls mit an Bord des Vaarenrochens gewesen war, im Moment der Zerstörung. Assur kümmerte sich kurz um ihn, und es gelang ihr, ihn zu wecken. Sie legte lediglich die Hand auf seine Stirn, und schon flatterten seine Lider. Im Laufe der folgenden Minuten fanden sie weitere Mitglieder der Mission. Inzwischen öffneten sich Haustüren auch in der Ferne, und Angks wankten heraus, allesamt benommen, aber so weit unversehrt. Als sie komplett waren, zogen sie sich in Rotaks Heim zurück, das er nach dem Auszug aus dem gemeinsamen Quartier mit Assur und Winoa bezogen hatte. Es bot genug Platz für alle, die von den Toten wiederauferstanden waren. »Wir müssen damit rechnen, dass wir hier nicht unbehelligt bleiben«, sagte Jarvis und berichtete von den toten Treymor, deren Schicksal wahrscheinlich andere Treymor auf den Plan rufen würde. »Sollen wir sie beseitigen?«, fragte Rotak. »Es gibt Mittel und Wege, sie restlos verschwinden zu lassen.« »Das würde nur noch mehr Aufmerksamkeit erregen«, lehnte Assur ab. »Jarvis?« »Richtig. Ich denke, die Treymor werden bald nach dem Rechten sehen. Es liegt an uns, was wir daraus machen. Aber was mir momentan mehr auf der Seele liegt: Wie sind wir hierher gelangt? Ihr und ich? Von den Tayanern, die an Bord des Rochens waren, fehlt leider jede Spur.« »Sie hatten keine Beziehung zu dem hier …« Rotaks Geste umfass-
te sein Heim, aber wohl auch das Umfeld, in dem es stand. »Wir schon.« »Das erklärt aber nicht das Wie. Ich mag eine Beziehung zur RUBIKON haben, zweifellos verbindet mich viel mit ihr«, sagte Jarvis, »aber davon wird man nicht aus einem untergehenden Raumschiff gerettet. Wir müssten alle tot sein. Aber wir sind hier auf der RUBIKON gelandet. Ihr in euren Häusern und ich … na ja, etwas abseits und nicht wirklich komfortabel in irgendsoeinem Ding, das ihr fabriziert habt …« Er schilderte kurz und knapp, was er meinte. Die Bestürzung auf den Gesichtern der Angks war authentisch. »Gut, dass du … na ja, dass du nicht noch deinen ursprünglichen Körper hast. Eine biologische Hülle hätte das nicht überlebt«, murmelte Assur. »Wie meinst du das?« »Du warst im Cronvall«, sagte sie, als erkläre dies bereits alles. »Ach – und was wäre das, bitte schön?« »Es hat mit uns Angks zu tun, mit den besonderen Quartieren, die wir errichten konnten … und mit den Mitteln, die uns die ERBAUER an die Hand gaben.« »Wenn du das eine Erklärung nennst …« »Ich kann es dir nicht weiter erklären.« »Du kannst oder du darfst nicht?« Sie schwieg. Auf allen anderen Gesichtern las er ähnliche Ablehnung. Vielleicht aber auch einmal nur Unverständnis. »Ihr wisst also auch nicht, was passierte?« »Wir können es vermuten«, sagte Rotak. »Also?« »Die Nähe – die relative Nähe – zur RUBIKON könnte uns gerettet haben. Du weißt, dass wir eine besondere Affinität zu dem Schiff, zum Dorf hier, haben. Möglicherweise gelang es uns im Moment des beinahe sicheren Todes, gemeinschaftlich Kräfte zu entfalten, die uns hierher katapultierten.« »Und ich? Was ist mit mir? In meinen Datenbänken finde ich zwar vage Hinweise auf eine Transition, aber sie sind nicht verlässlich … und erklären auch nicht, warum ich ausgerechnet in eurem Cronvall
gelandet bin.« »Vielleicht wurdest du mitgerissen.« »Mit euch?« Assur nickte. »Und die Tayaner?« Assur machte eine Geste des Bedauerns. »Bei dir könnten wir eine Transition ausgelöst und dich sozusagen in unserem Kielwasser mitgeschleppt haben. Die Tayaner verfügen nicht über deine Eigenschaften … und erst recht nicht über unsere. Ich fürchte …« Es war klar, was sie zum Ausdruck bringen wollte. Jarvis, eigentlich kein Sensibelchen, verdrängte die Tragweite dessen. Er hatte die Tayaner als stolzes Volk kennengelernt – und als Realisten, die dem Tod in keiner Weise verklärt gegenüberstanden. Dennoch schmerzte die Vorstellung, dass sie umgekommen waren, während andere – er, die beteiligten Angks – mehr Glück gehabt hatten. Aber vielleicht hatten sie es auch hinter sich, während den vermeintliche Geretteten erst noch Schreckliches bevorstand. Wenn sie den Treymor in die Hände fielen, würden diese nicht eher ruhen, bis sie herausgefunden hatten, durch welches »Hintertürchen« sie ungebetenen Besuch bekommen hatten. Jarvis traute ihnen zu, das Innerste der Angks nach außen kehren zu können, ihnen Geheimnisse zu entlocken, die sie nicht einmal selbst über sich wussten … »Wir müssen uns schnellstens in eine vorteilhaftere Position bringen«, sagte er. »Rotak, du bist es gewohnt, Angks zu führen. Wäre es möglich …« Er unterbreitete den Männern und Frauen, die ihm aufmerksam zuhörten, seine Idee. Rotak zögerte keinen Moment. »Das wäre möglich – und wir nehmen es sofort in Angriff.« Jarvis bemühte sich, seinen neu erwachten Optimismus nicht ausufern zu lassen. Die Angks verbanden – vernetzten – sich auf ihre ureigene Weise. Erst untereinander … und dann mit dem Schiff …
11. In ihrem gemeinsamen Versteck sagte das Sesha-Fragment: »Ich spüre eine Veränderung.« »In welcher Hinsicht?« Zuvor waren Strahlenwogen gegen ihre Zuflucht gebrandet, hatten den Wall, den der KI-Ableger aktiviert hatte, aber nicht durchdringen können. »Sie ist tiefgreifend. In der Schiffsstruktur selbst. Es ist …« Die Frauengestalt zögerte kurz. »… als erwachten Stimmen. Ich kenne Ähnliches. In der Vergangenheit war dies der Begleitchor, wenn –« »Wenn?« »– die Angks aktiv wurden.« »Was sind Angks? Maschinen?« »Menschen.« »Warum nennst du sie dann Angks?« »Es hat sich eingebürgert.« Manche Äußerungen des imaginären Wesens, mit dem Darnok das Versteck teilte, ließen ihn ratlos zurück. »Und jetzt sprechen sie zu dir? Bisher ging ich davon aus, das Schiff sei verlassen – bis auf die Eroberer natürlich.« »Davon ging ich auch aus.« »Aber es stimmt nicht?« »Nein.« »Wie konnte dir das vorher entgehen?« »Ich glaube nicht, dass das mein Fehler war.« »Sondern?« »Es bedeutet offenbar, dass … ein Teil der Crew zurückgekehrt ist.« »Und das heißt für uns?« »Das muss ich herausfinden.« »Wie?«
»Indem ich dich kurz allein lasse.«
Osmon war einer der Entdecker des Stasegrabs gewesen. Des vermeintlichen Grabs. Und seit dem Verschwinden des Großen Verheerers – Darnok – leitete er die Jagd nach ihm. Auf Farraks Geheiß hatte er sich Solax, einem anderen der Neun, unterstellt; ihm erstattete er regelmäßig Bericht über die Fortschritte … wenn man es so nennen konnte. Denn erkennbare Fortschritte machten sie nicht. Sie hofften, dass die Maßnahmen, die sie ergriffen hatten, Darnok daran hindern würden, das Legendenschiff zu verlassen. Aber bislang gab es noch keinen Hinweis darauf, dass ihm das nicht längst gelungen war – noch bevor die Sperrschilde hatten errichtet werden können. Doch im Zuge der von Solax angeordneten Säuberungsaktion, bei der härteste Strahlung zum Einsatz gebracht wurde, kam es zu einem Zwischenfall, der erst Solax' und sofort im Anschluss Osmons Aufmerksamkeit auf einen Zwischenfall richtete, der so nicht erwartet worden war. Es gab Opfer des Säuberungsscans zu vermelden – allerdings auf Seiten der Besatzer. Mehrere niedrigrangige Treymorsoldaten sandten keine Lebensimpulse mehr. Ihre Position war lokalisiert worden: eine für ein Raumschiff völlig untypische Anordnung von Bauten, die beinahe einer Siedlung auf einer Planetenoberfläche glich, überdies noch von einer Sonnenillusion beschienen wurde. Der betreffende Ort war nur einer von unzähligen Sektoren, die von Truppen durchkämmt wurden. Aber nirgends sonst waren die Individualschutzschirme offenbar zu spät aktiviert worden. Die Säuberungswelle war angekündigt gewesen. Disziplinarisches Versagen wie dieses war auffällig. Dem musste nachgegangen werden. Osmon war entschlossen, den Vorfall zu klären. Und wenn dies tatsächlich die erste greifbare Spur des Gejagten war, würde er alles tun, um sie so zu lesen, dass dieser seinen Kopf nicht mehr aus der Schlinge ziehen konnte. Aus noch ungeklärten Gründen funktionierten auf dem Legendenschiff keine Transitweichen. Osmons Trupp entschied sich zur Nut-
zung des bordinternen Transportsystems. Über Transmitterverbindungen gelangten sie schnell in unmittelbare Nähe des fraglichen Orts. Die Reststrecke legten sie auf flinken Beinen zurück, unterstützt durch die üblichen Kraftverstärker. »Wie ist die Lage?«, fragte Solax aus der Kommandosphäre. Die Stimme wurde in Osmons Gehörgängen laut, entsprechende Transponder waren in jedem Treymorschädel zu finden. »Unauffällig. Dilatationssensoren aktiviert, keine Anomalien.« »Inertialmessung?« »Negativ.« »Vorstoß!« »Verstanden und bestätigt.« Osmon gab seinen Leuten das entsprechende Zeichen. Sie fluteten die seltsame Anlage regelrecht. Osmon hatte Hunderte Treymor um sich geschart. Inzwischen wussten sie, dass hier der Großteil der ursprünglichen Mannschaft Quartier bezogen hatte. Es gab Hinweise, dass die Crewmitglieder in Beziehung zum uralten Feind standen, den Bractonen. Entsprechend war Vorsicht geboten. Ein Übermaß an Vorsicht. Die Reste der Treymorsoldaten, die hier den Tod gefunden hatten, waren schnell entdeckt. Osmon nahm sie persönlich in Augenschein. Ein Visuellrekonstruktor hatte hier keine Chance mehr. Osmon nahm Kontakt zur Bord-KI auf, die unter ihrer Befehlsgewalt stand. »Holoaufzeichnung starten ab …« Er nannte einen Zeitpunkt, der kurz vor dem Säuberungsscan angesiedelt war. Die KI bestätigte und projizierte die verlangten Szenen. Sie zeigten das »Dorf«, wie die Logeinträge diesen Ort auch nannten. Aber noch bevor eine Auffälligkeit erkennbar wurde, verwandelte sich das Hologramm in Pixelsalat. In unentwirrbare Muster. »Eine Störung?«, fragte Osmon mühsam beherrscht. »Ich kann es mir nicht erklären«, antwortete die KI. »In meinen Speichern finden sich keine Hinweise auf eine Ursache. Im Prinzip müsste die Wiedergabe fehlerfrei funktionieren …« »Tut sie es?« »Nein.«
»Vielleicht bist du die Fehlerquelle«, schnarrte Osmon. »Ich werde eine Untersuchung in Auftrag geben. Sollte sich herausstellen, dass die Löschung auf eine Manipulation von dir zurückgeht, wird deine kybernetische Grundlage erneuert. Komplett. Wir lassen uns nicht zum Narren halten!« »Ich bin schuldlos.« »Das wird sich zeigen.« Osmon erstattete Solax Bericht. Solax war nicht erfreut. »Durchsucht jedes Gebäude dieses absurden Dorfes. Irgendwo hält dieses Ungeheuer sich versteckt. Findet es und –« »Herr? Sollen wir es eliminieren, oder wollt ihr …« Solax beendete sein Zögern. Vielleicht hatte er Rücksprache mit dem Rest der Neun genommen. »Keinerlei Risiko. Eliminieren, ja. Wir wollen nur seine Leiche. Alles andere wäre nicht mehr vertretbar. Die Silberstadt muss sicher sein, wenn sie erscheinen.« Es stand Osmon nicht zu, sich zu erkundigen, wer gemeint war. Die Überreste der Gefallenen beschränkten sich auf deren Kleidung und Waffen. Beides ließ Osmon einsammeln und wegschaffen. Dann drangen sie in Gruppen von mindestens drei in die Häuser ein. Die Türen schlossen sich hinter ihnen. Der Kontakt zu Solax brach ab.
»Ich plädiere dafür, dieses Raumschiff aus der Vakuumkugel zu entfernen. Es gefährdet die Silberstadt. Sein eventueller Wert verblasst angesichts des Risikos, dem wir uns aussetzen, wenn wir seine Existenz länger dulden. Es sollte aus dem Kubus gebracht und gesprengt werden.« Selten hatte Farrak Solax mit solchem Feuereifer für eine Sache eintreten gesehen. »Was ist passiert?«, fragte er. »Deine radikale Forderung muss einen Grund haben.« Solax sandte ihm die Begründung über die Ströme, die die Kommandosphäre durchwoben und die keiner Worte bedurften. Farrak bevorzugte in diesem Moment die verbale Variante. »Wann ist der Kontakt zu ihnen abgebrochen?«
»In dem Moment, als sie in die Häuser eindrangen, um sie zu durchsuchen.« »Das ist in der Tat besorgniserregend … Ein harmloser Grund für ihr andauerndes Verschwinden ist schwer vorstellbar. Wie lange sind wir ohne Kontakt?« Solax nannte ihm eine Zeitspanne, die keine Toleranzen mehr zuließ. »Was sagt die KI?« »Sie verhält sich sonderbar. Das war schon Osmon aufgefallen. Er machte mich vor seinem Verschwinden darauf aufmerksam.« »Inwiefern?« Solax berichtete von dem fehlerhaften Aufzeichnungsmaterial. »Nicht einmal unsere Techniker konnten es rekonstruieren.« »Ein zufälliger Ausfall kommt kaum in Betracht, da nur die Sequenz betroffen ist, die uns Aufschluss über das Geschehen hätte geben können, das zum Tod der Patrouille führte«, rekapitulierte Farrak. »Könnte es mit der Säuberungsstrahlung zusammenhängen?« Solax musste einräumen, dass das noch nicht untersucht worden war. »Kläre das ab. Und falls dieser Grund ausscheidet – nehmt euch die KI vor, wie Osmon es schon nahelegte. Ein guter Mann übrigens. Er gehört meiner persönlichen Leibwache an. Ich würde es bedauern, kehrte er nicht zurück.« Über den Rest der Schwadron verlor er nicht ein Wort des Bedauerns.
Osmon sah, wie die fremdartig, aber nicht unnormal aussehende Einrichtung des gestürmten Gebäudes verblasste. Die Soldaten, die ihn begleiteten, erstarrten. Sie warteten auf seine Befehle. Osmon wusste nicht, was hier geschah, aber die dumpfe Ahnung, in eine Falle getappt zu sein, schwoll wie ein fürchterlicher Misston in ihm an. Er wollte Order zum sofortigen Rückzug geben, als ihn die Komm-Einheit seiner Rüstung ablenkte. Das Warnlicht im Verbund mit dem enervierenden Summen verrieten, dass die Verbin-
dung zur Kommandosphäre abgebrochen war. Ein weiteres Indiz für eine Falle. Dazu die weiter verblassende Einrichtung, der sich jetzt die Wände, die Decke und der Boden anschlossen. Dahinter zum Vorschein kam … »Zurück!« Er brüllte, verlor völlig die Kontrolle über seine Stimme, was ihm noch niemals zuvor, nicht einmal während des ersten Ausbildungsjahrs, passiert war. Seine Männer standen wie angewurzelt da, reagierten nicht. Ihre Blicke schienen an dem zu kleben, was auch Osmon hinter dem Schleier der verlassenden Umgebung erkannt hatte. Blanker Irrsinn! Ein Ding der Unmöglichkeit! Aber der einen Moment zuvor noch sachte, kaum spürbare Wind trug tausend Düfte heran. Alles, was sich um ihn herum herausschälte, wirkte echt, absolut real. Der Horizont. Die Sonne am Himmel. Die Dünen einer endlos scheinenden Wüste … Osmon war Soldat. Als Soldat war er geschult worden, Halluzinationen als das zu entlarven, was sie waren. Aber hier versagten seine Instinkte, sein Wissen, sein Gefühl … halt, nein, sein Gefühl schien sich als einziges zu bestätigen. Die Welt, auf der er jetzt stand, nachdem einfach alles, was er vorher als real betrachtet hatte, verschwunden war, wurde nicht nur vorgetäuscht. Sie war wirklich. Was war passiert? Die Komm-Einheit hatte aufgehört zu summen, was aber kein Zeichen dafür war, dass sie wieder funktionierte. Sie war tot, weil sie keine Betriebsenergie mehr hatte. Jedes Ding an Osmons Rüstung und selbst das hochmoderne Tötungsgerät in seinen Händen war wertlos geworden, wirkte, als wäre es seit einer Ewigkeit funktionsunfähig. Schrott. Auf dem nahen Dünenkamm entstand Bewegung. Osmon entdeckte einen seiner Soldaten, die mit ihm ins Haus gegangen waren. Er winkte Osmon zu. Osmon winkte zurück. Das Winken des anderen wurde fordernder. Komm!, hieß das. Ich habe etwas entdeckt. Ich
muss dir etwas zeigen! Osmon war erleichtert, dass ihm seine Beine wieder gehorchten. Er trabte auf den Soldaten zu. »Wo sind die anderen?«, fragte er, als er ihn erreichte. Die Sonne brannte heiß vom Himmel. »Tot«, sagte der Soldat. »Tot? Wer hat sie umgebracht?« »Ich«, sagte der Soldat, der plötzlich unscharf wurde. Beziehungsweise dessen Bild etwas verdrängte, was ihn so ähnlich verblassen ließ wie das Innere des Hauses verblasst und von etwas anderem, Imposanterem verdrängt und ersetzt worden war. Ein Arm, der in einer breiten Klinge auslief, reckte sich Osmon entgegen. Dann ging alles schnell. Die Klinge surrte durch die Luft. Osmons Körper wurde vertikal zerteilt. Beide Hälfte stürzten zu Boden. Mit starren, weit auseinander liegenden Augen blickte Osmon zum Himmel und darüber hinaus. Aus dem Sand wühlten sich Käfer. Sie fielen über den Leichnam her. Die Wüste bot wenig Nahrung. Osmon war ein Geschenk.
»Ich verstehe das Geheimnis der Häuser noch immer nicht«, sagte Jarvis, als der seltsame Traum von ihm abfiel. Ein Traum, in dem er von Haus zu Haus gewandert war und einen Treymor nach dem anderen darin niedergestreckt hatte. Nun war er erleichtert, dass mit dem Verblassen der Planetenlandschaft, in der er Treymor gejagt hatte, auch deren Leichen verschwunden waren. Er fand sich zusammen mit den Angks in Assurs Haus wieder. Nirgends gab es Spuren eines Kampfes. Alles war so surreal … So surreal wie deine Anwesenheit an Bord der RUBIKON, wisperte sein Verstand. »Ich wünschte, wir könnten dir mehr darüber sagen, nur … wir kennen es selbst nicht.« »Das muss ich wohl glauben.« Jarvis sah Rotak skeptisch an.
»Die RUBIKON wurde bei ihrem Aufenthalt im Angksystem von den ERBAUERN umgerüstet. Die Modifikationen im Einzelnen sind nirgends belegt«, schlug Assur in dieselbe Kerbe. »Die Einzigen, die alles erklären könnten, befinden sich im Angksystem – und sind zumindest vorübergehend unerreichbar. Das weißt du.« Jarvis winkte ab. »Unsere Situation ist unhaltbar. Wir können uns nicht ewig hier verschanzen. Sobald die Treymor spitz kriegen, dass das Dorf eine gigantische Falle für jeden ihrer Soldaten ist, werden sie zur einer radikaleren Methode greifen. Ich fürchte, mit unserer jetzigen Taktik fordern wir die Zerstörung der RUBIKON geradezu heraus.« »Dann lasst uns eine neue Taktik austüfteln«, schlug Assur vor. »Wir wollten ins Machtzentrum der Treymor, und wenn nicht alles täuscht, sind wir dort tatsächlich gelandet.« »Gestrandet träfe es eher«, unkte Jarvis. »Gelandet«, wiederholte Assur beharrlich. »Wir gehen doch davon aus, dass die RUBIKON in die Ewige Stätte überführt wurde. Dann wäre die Silberstadt in greifbare Nähe gerückt – und damit John. Jetzt brauchen wir ihn nur noch zu finden, zu befreien und dann mitsamt der RUBIKON die Flucht anzutreten.« »Wenn's weiter nichts ist …« »Jarvis, Jarvis, du und dein ewiger Optimismus!« Sie grinste ihn an. Diesmal streikte seine übliche Schlagfertigkeit. »Ich stimme Assur zu«, sagte Rotak. »Unsere nächsten Bemühungen müssen sein, die Lage innerhalb des Schiffes und außerhalb zu sondieren – nur so besteht eine Chance, die von uns gesteckten Ziele zu erreichen.« »Und wer könnte die Lage an Bord besser auszukundschaften als –«, setzte Jarvis an. Natürlich meinte er sich selbst. Aber Assur nahm ihm das letzte Wort aus dem Mund, bevor er es aussprechen konnte, verdrehte es und formte aus einem »ich« ein: »– wir!« Nach einer kurzen Pause, fügte sie hinzu. »Wir Angks sind in der Lage, mit dem Schiff zu verschmelzen. Schneller und umfassender kann niemand die Lage überblicken.«
»Und schneller kann auch niemand von Sesha entdeckt werden«, hielt Jarvis dagegen. »Es geht doch wohl keiner davon aus, dass die KI momentan auf unserer Seite steht?« »Damit hat er recht«, seufzte Rotak. »Andererseits dürfte sie unsere Anwesenheit an Bord ohnehin schon bemerkt haben. Großartig verschlechtern können wir unsere Position durch aktive Vorstöße also kaum. Wahrscheinlich haben wir ihr den gerade abgewehrten Treymorangriff zu verdanken …« Die Vorstellung, dass Sesha mit dem Feind kooperierte, war speziell für Jarvis schwer verdaulich. »Wir probieren es«, sagte er. »Und zwar ohne weitere Verzögerung. Schließt euch zusammen. Verschmelzt mit dem Schiff. Vielleicht –« Er wurde durch eine Frau unterbrochen, die in diesem Moment durch die Wand des Hauses zu ihnen hereinkam. Jarvis bemerkte sie deshalb zuerst, weil er als Einziger in jede Richtung zugleich zu blicken vermochte. »Vorsicht!«, rief er in Erwartung eines wie auch immer gearteten Angriffs. Doch da hob die Frau schon beschwichtigend die Arme. »Ich bin keine Gefahr! Ich wiederhole: Keine Gefahr!« Die Stimme war unverwechselbar, die übrigen Attribute jedoch blieben fremd. »Sesha?«, fragte Jarvis zögernd. »Nicht ganz«, antwortete die geisterhafte Erscheinung kryptisch. »Aber immerhin ein wenig …«
12. Während die Angks Vorbereitungen trafen, mit dem Schiff zu verschmelzen, widmete sich Jarvis ganz der holografischen Projektion, die behauptete, ein Sesha-Fragment zu sein. In knappen Sätzen hatte sie ihm ihre Entstehung geschildert, die Gründe, die dazu führten, dass Sesha eine Art Schizophrenie entwickelte und sich letztlich nicht anders zu helfen wusste, als sich vordergründig den Interessen der Treymor zu unterwerfen, in Wahrheit aber eine Art »Agent« positioniert hatte, der alles nur Mögliche unternehmen und versuchen sollte, um das Schiff dem totalen Zugriff des Feindes zu entziehen. »Alles, was wir haben, ist deine Behauptung«, stieß Jarvis das KIFragment vor den Kopf, »auf unserer Seite zu sein. Aber ebenso gut kannst du eine Art fünfte Kolonne sein, die die Treymor uns unterjubeln wollen, weil sie anders zu keinem Erfolg kamen.« »Ich verstehe die Zweifel.« Die bei genauerem Hinsehen ohnehin nicht überzeugend genug gestaltete Frau, der man die androgyne Künstlichkeit einfach ansah, lächelte dezent. »Und? Was machst du, um sie zu beseitigen?« »Du meinst, welchen Beweis ich für die Richtigkeit meiner Angaben leisten kann?« »Exakt.« Während Jarvis sprach, ließ er weder die Sesha-Inkarnation noch die sich in Assurs Haus drängenden Angks aus dem Auge. Die Nachkommen der kleinen Gruppe Menschen, die Kargor einst aus der RUBIKON entführte und ins Erste Reich der Bractonen brachte, um sie dort anzusiedeln, fassten sich nicht bei den Händen oder dergleichen, sondern gingen eine Verbindung mit der Schiffsmaterie ein. Das geschah auf die simpelste und zugleich schwierigste Art und Weise: Sie nahmen Berührungskontakt mit Boden, Wänden oder Einrichtungsgegenständen auf. Dabei sanken sie bis zu den Handgelenken, manche sogar bis zu den Ellenbogen, in die plötzlich aufgeweicht und nachgiebig wirkende Materie ein, schlos-
sen die Augen … und verharrten. Was immer sie genau in diesem Zustand taten, es erschloss sich Jarvis nicht. Für ihn blieb der Blick »hinter die Kulissen« versperrt. Die an vielen Stellen unfertig oder nicht exakt ausgebildet wirkende Frauengestalt schien zu überlegen. Schließlich sagte sie: »Es gibt jemanden, der für mich bürgen könnte.« Jarvis war verblüfft. Er konnte sich niemanden vorstellen, der das tun und auf dessen Wort er vertrauen würde. »Wer?« Der Name, den sie nannte, machte ihn kurz sprachlos. »Ist das dein Ernst?«, ächzte er schließlich. »Natürlich.« »Aber –« Sie schien zu wissen, was er fragen wollte. »Er wurde von den Besatzern des Schiffs aus der Stase geweckt und befindet sich seither auf der Flucht vor ihnen.« »Und er soll für dich bürgen?« »Ich wüsste niemanden sonst. Die Lage ist kompliziert, dessen bin ich mir bewusst. Aber ich bin bereit, Taten sprechen zu lassen. Ich benötigte nur Unterstützung. Ich habe Darnok gebeten, mir zu helfen – aber er lehnt es ab zu töten. Aber töten ist unabdingbar, um dieses Schiff wieder seinem rechtmäßigen Commander übergeben zu können!« Eine vage Hoffnung flammte in Jarvis auf; sie degradierte die Neuigkeit, dass Darnok plötzlich Skrupel entwickelt haben sollte, andere Lebewesen, noch dazu Feinde, umzubringen, fast in den Hintergrund. »Du weißt, wo sich John aufhält?« Der Sesha-Ableger schüttelte bedauernd den Kopf. »Aber gerade sagtest du –« »Ich sagte, das Schiff muss bereit für ihn sein, wenn er zurückkehrt. Das ist eigentlich selbstredend, oder?« »Wir …« Jarvis zeigte auf sich und die Angks. »… sind ebenfalls rechtmäßige Crewmitglieder. In einer Situation wie dieser müsstest du dich eigentlich vorbehaltlos auch von uns kommandieren las-
sen.« »Es gibt nur einen Commander.« »Dieser Sermon wieder«, stöhnte Jarvis. »Schon klar. Aber noch einmal zu deinem … Bürgen. Das interessiert mich. Und wie mich das interessiert! Wo genau soll er stecken? Und wie verhindert er, dass du … ich meine die ›Haupt‹-Sesha ihn entdeckt und dem Feind ausliefert?« »Es gibt Mittel und Wege«, behauptete die Holografie. »Zusammen mit mir wurde auch eine Nische erschaffen. Eine Zuflucht. Dort wartet der Bürge. Soll ich dich zu ihm bringen?« »Ich fürchte, ich würde sofort entdeckt werden.« Das KI-Fragment schüttelte den Kopf. »Nicht mit mir als Begleitung.« »Soll heißen?« Jarvis musterte sie skeptisch. »Dass ich mich nur um dich zu schmiegen brauche.« Was immer sie damit meinte. Jarvis blickte zu den immer noch in Trance versunkenen, im Schiff aufgegangenen Angks. »Ich muss warten, bis sie ihre Aktion beendet haben. Wäre ich fort, wenn sie sich wieder hier einfinden, wäre das bestimmt kein positives Signal für sie.« »Du könntest eine Nachricht hinterlassen. Möglicherweise dauert es Stunden, bis sie … wie du sagst … sich wieder hier einfinden und ansprechbar sind.« Jarvis sah ein, dass er das besser vorab geklärt hätte. Nun war es zu spät. »Also gut. Dann eben eine Nachricht … Und dann will ich sehen, wie anschmiegsam du sein kannst.« Er grinste anzüglich, obwohl ihm der Sinn nach ganz anderen Dingen stand. Die Holofrau lächelte. »Es wird dir gefallen.« Jarvis verzog das von Kargors Kristall generierte Gesicht. Er hoffte wirklich nicht, dass sie damit recht hatte.
Es fühlte sich unglaublich an – unerkannt, unbemerkt durch das Schiff zu rennen, immer wieder an Pulks von Treymorsoldaten vor-
bei, die patrouillierten oder Einrichtungen untersuchten. Das SeshaFragment umfloss Jarvis wie ein Umhang, der – aus Gründen, die ihm verschlossen blieben – vor Entdeckung schützte. Für die Abspaltung der KI hingegen war es ein Leichtes, die schon bei Jarvis selbst vorhandenen Chamäleonfähigkeiten noch zu verstärken bis hin zur Perfektion. Schon nach kurzer Zeit erreichten sie die abgeschirmte Klause, in der Sesha Darnok zurückgelassen hatte. Unmittelbar davor raunte die holografische Haut Jarvis zu: »Achtung, hier ist es. Zwei Schritte nach links …« Er gehorchte. Sie standen in der Ecke eines Frachtraums … … der jedoch besagte zwei Schritte später verschwand. Jarvis fand sich an einem seltsamen Ort mit Nebelwänden wieder, Wänden aus Energie, die ein winziges, aber uneinsehbares Versteck schufen, vor dem offenbar auch die Spürgeräte der Treymor kapitulierten. »In Ordnung«, sagte Jarvis, nachdem sich das Sesha-Fragment von ihm gelöst hatte und neben ihn getreten war. »Wo ist er nun, dein sogenannter Bürge?« Die Holofrau schien ehrlich verblüfft. »Er war da, das versichere ich dir.« »Hier ist aber niemand.« »Das … sehe ich selbst …«
13. Lomax war völlig in seine Arbeit vertieft, als ihn etwas aus der Versunkenheit riss – auf unterschwelliger Ebene. Als er aufsah, stand Farrak in seiner Nähe, immer noch in die Plattenrüstung gekleidet, die er in diesen Tagen bevorzugte. Die Übergänge zum natürlichen Chitinpanzer des Gesegneten waren vielerorts kaum erkennbar, so passgenau und raffiniert war die Rüstung geschnitten. »Ich wollte dich nicht erschrecken.« »Ihr erschreckt mich nicht, Erleuchteter, ich bitte Euch …« »Natürlich. Wie weit bist du?« »Ich wollte Euch gerade verständigen.« Lomax versuchte, das Beben in seiner Stimme zu unterdrücken und ebenso die Euphorie, die ihn schon den ganzen Tag wie auf Wolken trug. »Wirklich? Bedeutet das …?« Lomax bestätigte es voller Stolz. Die groteske Umgebung, die auf die meisten Wesen wie die Behausung eines Wahnsinnigen gewirkt hätte – eines Wahnsinnigen, der mit Gehirnmasse spielte und um sich warf –, schien weder ihn noch Farrak zu irritieren. Es handelte sich auch nicht um irgendeine Gehirnmasse, sondern das Gigahirn, das Treymor vom Planeten Erde entführt und in den Kubus gebracht hatten. Und Farrak hatte Lomax mit einer klaren Ansage damit vertraut gemacht – einem Auftrag, der alles in den Schatten stellte, was der Protomagier – ja, das war er, ein Zauberer! – jemals in Angriff genommen hatte. Er arbeitete nicht allein an der Realisierung, auch wenn der Bereich, in dem er die meiste Zeit verbrachte, das zu dokumentieren schien. Farrak hatte ihm die Elite der treymorschen Wissenschaft an die Seite gestellt, und die Interaktion zwischen ihnen trug nun die Früchte, die Farrak verlangt hatte – ja, verlangt. Er hatte keinen Zweifel daran gelassen, was Lomax im Falle des Versagens blühen
würde … ihm und allen anderen, die an einem Scheitern beteiligt wären. Doch darüber musste der Luure sich nun keine Gedanken mehr machen. Er klatschte in die Hände, und einer der Roboter, an die er sich längst gewöhnt hatte und die die Arbeit immens erleichterten, brachte das Extrakt. Es schwamm in einem nur fingerdicken Reagenzglas, das mehr an eine Phiole erinnerte. Und das Faszinierendste daran war, dass es mit dem bloßen Auge gar nicht wahrgenommen werden konnte. »Was ist das?« »Die isolierten Prionen, die noch fehlten.« »Fehlten wofür?« Lomax wusste, dass Farrak sich absichtlich begriffsstutzig stellte. Er wollte einfach hören, was Lomax in Zusammenarbeit mit einem ganzen Pool von Treymor-Genies vollbracht hatte. »Um den Versuch starten zu können.« »Versuch?« »Sagen wir besser«, reagierte Lomax schnell, »die Generalprobe. Wir müssen es ihr nur noch injizieren. Danach dauert es keinen Tag, bis letzte Tests bestätigen werden, dass sie … einsatzbereit ist.« »Es kann nichts mehr dazwischen kommen?« Lomax wusste genau, dass in der Wissenschaft immer Unwägbarkeiten mitspielten. Dennoch versicherte er tapfer: »Nichts.« »Ich will dabei sein, wenn ihr das entscheidende Element hinzugefügt wird.« »Wir können es sofort tun.« »Dann – los!« Farrak schaltete mit wenigen Berührungen seines Gürtels eine Transitverbindung frei. Und schon wenige Atemzüge später … hörten sie den Atem der Königin. Spürten sie ihre Präsenz in der wohligen Düsternis ihres speziellen Quartiers. »Wird … wird sie es zulassen?«, hauchte Lomax, der sie zum ersten Mal leibhaftig sah. Ihre Körpermasse übertraf das ehemalige Gigahirn noch um ein Vielfaches, und in gewisser Weise ähnelte das
wurmartige Gebilde ihr sogar. »Was bliebe ihr anderes übrig?«, fragte Farrak erstaunt. »Los jetzt. Sie ist wach, aber sie kann sich nicht bewegen. Ihre eigene Masse lässt es nicht mehr zu. Sie ist gut … gefüttert worden.« Wer ihn so reden hörte, mochte nicht glauben, dass es sich bei der riesigen Masse um ein intelligentes Geschöpf handelte, das in enger Verwandtschaft zu den Treymor stand. Es war ihre Königin – wenn auch nur in einer einzigen Funktion. Aber damit würde sie die Welt verändern. Falls wir nicht scheitern, dachte Lomax erregt. Zitternd trat er vor und gab dem prallen Koloss die Spritze. »Wie lange, sagtest du, bis es ersichtlich wird?« »Morgen.« »Dann geh jetzt. Ich … bleibe noch ein wenig. Ich mag es, mit ihr über die Zukunft zu plaudern. Bis morgen.« Farraks Arm schickte Lomax zur Transitweiche. Lomax gehorchte.
Anderentags war Farrak pünktlich zur Stelle. Wieder suchte er Lomax in dessen Refugium auf, wo er nach wie vor mit Gigahirnmasse und Protomaterie sowie anderen Ingredienzien experimentierte. Als Farraks Stimme ihn erreichte, wusste Lomax, dass die Stunde der Wahrheit gekommen war. »Ich … bin bereit. Wir können sofort zur Königin und –« »Nicht nötig.« »Nicht … nötig?« »Ich komme gerade von dort.« Etwas ist schiefgegangen! Kein anderer Gedanke kreiste mehr durch Lomax' Verstand. Er erwartete die Quittung für sein Versagen – Farrak war kein Verfechter von Gnade. »Es ist alles so gekommen, wie von dir angekündigt. Die aktuellen Tests zeigen, dass das Mittel voll angeschlagen hat. Die Zellstruktur hat sich in der gewünschten Weise verändert. Der Beginn der Eiablage kann jederzeit einsetzen … und auch dafür ist alles vorbereitet.
Ein Heer von Hegern wird sich darum kümmern.« Lomax hatte eine ganze Weile kein Gefühl für den von Farrak verkündeten Erfolg. Zu sehr hatte er bereits mit einem Fehlschlag und den daraus resultierenden persönlichen Konsequenzen gerechnet. »Es freut dich gar nicht?« »Doch … doch, natürlich. Ich brauche nur etwas Zeit …« »Zeit …« Farrak zelebrierte dieses eine Wort förmlich. »Ja, ich denke Zeit wäre ein angemessener Lohn für das, was du vollbracht hast.« »Ich verstehe nicht, Gesegneter.« »Das wirst du. Oh, das wirst du schon. Komm. Ich zeige dir etwas. Es befindet sich an einem fernen Ort Tovah'Zaras. Aber egal ob nah oder fern, ein Schritt wird uns hinführen.« Er trat zu Lomax, und zum allerersten Mal berührte Farrak ihn, fasste ihn behutsam am Arm und lenkte ihn in die Transitweiche. Im nächsten Moment wusste Lomax, wo sie gelandet waren. Er wusste es intuitiv …
Er hatte sich oft vorzustellen versucht, wie die Uhr seines Lebens aussehen könnte. Doch die Realität übertraf seine kühnsten Fantasien. Die Uhr, die über Sein oder Nichtsein bestimmte, war … atemberaubend. Atemberaubend schön. »Habe ich zu viel versprochen?«, fragte Farrak. Der Gesegnete badete in einem unaufhörlichen Licht- und Farbenschauer, den der Gürtel in der Mitte des insektoiden Körpers emittierte. »N-nein, Erleuchteter.« »Du darfst nähertreten«, bot Farrak ihm an. Er schien milde gestimmt, trotz aller Komplikationen der jüngsten Zeit. »Wirklich?« Lomax spürte, wie sich alles in ihm verkrampfte. Ohne jede Vorbereitung hatte der Gesegnete mit dem Bedeutungsvollsten im Leben eines Luuren konfrontiert. Lomax hatte sich geistig weder sammeln noch in anderer Weise für diesen Anblick, diese Situation, wappnen können.
Er spürte den sengenden Blick aus den Facettenaugen. Bei anderer Gelegenheit wäre dieses »Wirklich?« vielleicht schon zu viel gewesen. Aber Farrak schien tatsächlich einen guten Tag zu haben. Hätte er ihn sonst hierher geführt? »Als Ihr mich rieft, Gesegneter, ahnte ich nicht –« »Natürlich nicht. Wäre es dann eine Überraschung gewesen? Du müsstest dich sehen. Du vergehst ja fast vor Ehrfurcht! Eigentlich müsste ich beleidigt sein, denn dein Respekt mir gegenüber …« »… ist mit nichts anderem zu vergleichen, Erleuchteter! Ich versichere Euch –« Farraks herrische Geste brachte ihn zum Schweigen. »Es ist gut. Trete näher. Sie ist ein Teil von dir. Dein eigentliches Herz. Wenn es aufhört zu schlagen, wird auch der Muskel in deiner Brust seinen Dienst einstellen, das weißt du.« »Das weiß ich.« Mehr als ein Hauch waren Lomax' Worte nicht. Obwohl sich alles in ihm dagegen sträubte, bewegten sich seine Beine und trugen ihn auf das absonderliche Gebilde zu, von dem sein Leben abhing. Aus den Augenwinkeln sah er die anderen Uhren, hunderte, tausende. Sie unterschieden sich rein äußerlich nicht von der, an die Lomax' Schicksal gebunden war. Und dennoch durchraste ihn Schauder um Schauder beim bloßen Anblick der doppelhelixartigen Konstruktion. Ganz nah kam er ihr. Das Licht an dem Ort, zu dem Farrak ihn über die Transitweiche geführt hatte, wirkte seltsam kraftlos. In einem breiigen Grau schienen die Uhren ohne Boden-, Wand- oder Deckenkontakt einfach in der Luft zu hängen, zu schweben. »W-wer …« Lomax konnte sich kaum beherrschen. Etwas in ihm wollte die Hände ausstrecken, aber eine andere, wahrlich vernünftigere Kraft hielt ihn gerade noch davon ab. Seine Zunge züngelte über den trockenen Rand seines Mundes. Erneut setzte er an: »Wwer hat …« »… sie erschaffen?«, erriet Farrak seine unvollendete Frage. »Nun, ich denke, es waren diejenigen, die auch alles andere in deiner Welt erschufen. Deine Vorfahren verehrten sie als die Hirten Tovah'Za-
ras. Was suggerieren soll, dass sie sich um ihre Schäfchen – euch – kümmerten. Doch sei nicht allzu enttäuscht, wenn ich dir verrate: Sie missbrauchten euch nur. Für sie wart ihr nur für eines nützlich: um das hier …« Er machte eine umfassende Bewegung, die weit über diesen Raum hinausreichte. »… zu bewahren. Ihr Luuren seid Zauberer. Ihr habt Besseres verdient, als ausgebeutet zu werden. Und eure Zeit wird kommen. Du bist der Erste, Lomax, der Erste, der unseren Segen in dem Umfang erhält, wie er euch gebührt. Andere …« Er schwieg kurz, wie um seine Worte wirken zu lassen. »… werden dir folgen. Wir Erleuchteten haben Großes mit euch vor. Ihr sollt die künftige Elite Tovah'Zaras werden. Wir, die über euch wachten und wachen, werden nicht ewig hier verweilen können. Auf uns warten anderenorts weitere Aufgaben. Aber selbst wenn wir dereinst gehen – werden wir niemals ganz fort sein. Wir werden in euch Luuren fortleben und durch euch zu den anderen Geschöpfen des Kubus sprechen. Durch unseren Geist, in dem wir euch ausbilden und groß machen, werden wir bis in alle Zukunft aus euch sprechen. Kein anderer Bewohner Tovah'Zaras verdient dieses Privileg.« Sein Blick brannte auf Lomax. »Hast du verstanden, was ich sagte?« »J-ja, Herr.« »Dann ist es gut. Warum sehe ich keine Freude in deinem Gesicht?« »Freude, Gesegneter? Wie … wie kann ich mich freuen, wenn ich höre, dass … dass Ihr fortgehen wollt?« »Das ist Zukunftsmusik. Ich wollte es nur einmal ansprechen. Bis es so weit ist, wird noch viel Zeit vergehen. Und wird sich hier in Zukunft noch vieles verändern.« Lomax starrte wieder auf die Uhr. Ihr Anblick fesselte ihn tatsächlich noch mehr als die Ausstrahlung, die dem Gesegneten innewohnte. Aber das wäre ihm nie über die Lippen gekommen. Es hätte den Erleuchteten verletzt. Beleidigt. Und das wollte er nicht. Er liebte und verehrte die Fürsorger, die nichts unversucht ließen, um Tovah'Zara in ein Paradies für seine Bewohner zu verwandeln … Lomax' Gedanken gerieten ins Stocken. Ihm war schrecklich zu-
mute, und er wusste nicht, warum. Lag es an der Nähe des Gesegneten oder an der Nähe der Uhr? Vielleicht beides, befand er. Aber das half ihm nicht weiter. Er krümmte sich. »Was ist? Leidest du Qualen? Hast du Schmerzen?« »I-ich weiß … es nicht … Herr. Ich fürchte, ich bin … undankbar …« »Sei unbesorgt. Ich akzeptiere dein Verhalten. Ich bin schließlich kein Ungeheuer.« Natürlich nicht. Ein sonderbares Gefühl beschlich Lomax. Die Art und Weise, wie sich der Gesegnete mitunter ausdrückte … als würde er mit seinem Status kokettieren. Als wollte er seine Umgebung auf die Probe stellen … »Und jetzt … tu dir keinen Zwang an. Es ist nicht zerbrechlich. Fass es an. Es wird dir guttun.« Lomax war wie betäubt. Anfassen? Guttun? Es war, als würde ihm jemand schmerzfrei die Brust öffnen und ihn auffordern, sein pochendes Herz mit den Fingern zu umschließen. »Herr, ich –« »Dann eben anders: Ich befehle dir, sie zu berühren.« Lomax ächzte. Das doppelhelixförmige Gebilde hatte eine Länge, die problemlos mit der eines ausgewachsenen Luuren mithalten konnte. Ansonsten aber war es mehr als filigran gearbeitet. Die einzelnen Bestandteile waren miteinander verkettet, und das Gesamtgebilde drehte sich zeitlupenhaft langsam um seine imaginäre Achse. Aus welchem Material es geformt war, blieb unerfindlich. Hätte es aus Protomaterie bestanden, wären die dafür typischen Schwingungen Lomax nicht entgangen. Aber auf dieser Frequenz war es tot. Dem Augenschein nach bestand es aus einer Metalllegierung, die mit einer … ja, einer Alterspatina überzogen war. Jedes Jahr, das ich lebe, hat seine Spuren hinterlassen, dachte Lomax abstrakt. Er wusste selbst nicht, wie er darauf kam, aber es schien ihm schlüssig. Wieder blickte er kurz zu den anderen, entfernteren Uhren, um herauszufinden, ob sie die gleiche Ablagerung aufwiesen. Aber ir-
gendwie wirkten sie verschwommener als es eigentlich auf die teilweise geringe Distanz erklärlich war. »Herr …« »Tu es. Du strapazierst meine Geduld.« »Aber wenn ich …« »Es ist robuster, als es aussieht. Es wird nicht zu Bruch gehen. Du wirst keinen gesundheitlichen Schaden davontragen, im Gegenteil, das kann ich dir versichern.« Lomax wollte es so gerne glauben. Dass die Uhr wie die ins Riesenhafte vergrößerte Struktur des in allen bekannten organischen Lebewesen vorkommenden Desoxyribonukleinsäure-Moleküls aussah, machte sie umso geheimnisvoller. Er versuchte seine Scheu zu überwinden, ohne zu wissen, warum Farrak darauf bestand, das essentiell wichtige Objekt zu berühren. Schließlich tat er es. Mit immerhin einer seiner Extremitäten. Und im selben Moment schien die Uhr zu explodieren. Lomax hörte sich schreien. Die Explosion verschlang ihn. Alles endete … … um in gleißend hellem Licht aufzuerstehen. Er war der Auferstandene. Eben noch im sicheren Gefühl paralysiert, gestorben zu sein, strotzte er nun vor Selbstbewusstsein, Vitalität und … Dankbarkeit. Euphorisch bog er den Kopf zur Seite und blickte zu Lomax, der ihn großmütig ansah. »Wie fühlt es sich an?« »Was ist das?« »Ich frage noch einmal: Wie fühlt es sich an?« Früher wäre Lomax ins Stottern gekommen. Doch das war der alte Lomax gewesen. »Es fühlt sich an, wie das Leben selbst. Es pulst in mir.« »Sehr gut formuliert.« Lomax wandte sich wieder der Doppelhelixform zu. Der Maschine. Dem Instrument. Was immer es war … Die Uhr blitzte und blinkte, als wäre sie gerade erst erschaffen worden. Die Patina, die ihr eine Aura von Erhabenheit, aber auch von Alter gegeben hatte, war vollständig verschwunden. Ein golde-
ner Schimmer lag um das Material, aber darin tanzten winzige Pünktchen wie Prismen. »Ich verstehe immer noch nicht. Warum? Was habe ich getan? – Habe ich es überhaupt getan? Oder wart … Ihr es, Gesegneter?« »Wir alle waren es, wir, die dich und dein Volk schätzen wie kein zweites. Die Luuren sind die Krönung des Kubus. Die Neun, die über euch wachen, kamen einhellig zu der Überzeugung, dass sie euch zusteht – damit ihr fortan mit noch mehr Kraft und Leidenschaft an unserer Seite agieren … und sie gebührend empfangen könnt!« Es war zu viel auf einmal, das da auf Lomax einprasselte. Obwohl er sich alle Mühe gab zu verstehen, blieben Fragezeichen. »Wen empfangen, Gesegneter? Erwartet Ihr … Besuch?« »Den wichtigsten Besuch, den man sich vorstellen kann.« »Freunde?« »Götter«, erwiderte Farrak in einer Demut, die Lomax wider Willen frösteln ließ. Eine Weile versagte ihm die Stimme. Schließlich aber fragte er: »Und was … ist unsere Rolle dabei? Was meintet ihr, stünde uns zu?« Der Blick aus Farraks Facettenaugen drang bis auf den Grund von Lomax' Seele. »Lausche in dich, dann spürst du es. Es muss zu spüren sein, ich weiß, wovon ich rede, denn ich kenne es selbst. Es ist der höchste Lohn, die höchste Anerkennung, was ein lebendiges Geschöpf erringen kann.« Lomax war immer noch ahnungslos. Und Farrak schien es zu spüren. »Die biologische Unsterblichkeit«, sagte er sanft. »Willkommen in den Reihen der Ewigen. In die ein jeder Luure Einlass finden soll.«
Vor kurzem erst hatte Lomax entdeckt, dass es viel weniger Luuren im Kubus gab, als von ihm bislang angenommen. Er war ehrlich, er hatte dies nicht eben als positives Zeichen für seine Spezies gewertet.
Und nun diese Wendung … »Unsterblichkeit?« Das Wort zerging wie Algenschaum auf der Zunge. »Erhabener …« »Fühlst du es?« »Ihr meint …?« »Wir haben die Uhren, wie ihr sie nennt, einer tiefgehenden Analyse unterzogen. Ihr Mechanismus ist beachtlich, aber natürlich stellte er unsere Spezialisten vor keine unlösbaren Probleme. Seit das Prinzip verstanden ist, bedeutet es keine Schwierigkeit, die Geräte nach Belieben zu justieren. Mit deinem haben wir angefangen. Du warst der Initialzünder. Deine Berührung. Es wäre natürlich auch anders gegangen – aber nicht so spektakulär. Ich hoffe, du siehst es uns nach.« Lomax war immer noch nicht im Stande, die Bedeutung von Farraks Worten zu akzeptieren. Ihre wirkliche Tragweite. Unsterblichkeit. Ein Wort. Aber Farrak sprach die Konsequenz an. Die ganz persönliche Konsequenz für ihn, Lomax. Sollte es tatsächlich wahr sein? Konzentriert horchte er in sich hinein. Er fühlte sich frisch. Frischer als jemals zuvor. Nicht nur körperlich, auch geistig. Aber bewies das allein schon die Richtigkeit dessen, was Farrak ihm in Aussicht stellte? »Ich danke Euch.« Farrak machte aus seiner Enttäuschung keinen Hehl. »Das ist alles? Du dankst mir?« Lomax trat unruhig auf der Stelle. »Was erwartet Ihr?« »Das sagte ich bereits. Leidenschaft.« »Verzeiht … Es ist so … neu. Es fühlt sich so unwirklich an.« Farrak stand plötzlich unmittelbar neben ihm. Die Bewegung war kaum zu erkennen gewesen. Der Tritt, der Lomax zur Seite schleuderte, um so mehr. »War das wirklich genug?«, schnarrte der Gesegnete. »Unsterblichkeit! Wir haben die Unsterblichkeit an einen Toten verliehen … nein, Unsinn, selbst Tote entwickeln mehr Begeisterung.«
Lomax rappelte sich auf. Vielleicht hatte es tatsächlich dieses Trittes bedurft. Er warf sich vor Farrak hin und endlich – endlich! – entwickelte er die vermisste Leidenschaft. »Ich werde dafür sorgen, dass Ihr es keinen Tag, keine Stunde bereut, mich in dieser Weise belohnt zu haben, Erleuchteter! Ich stehe euch mit allem, was ich bin und kann zur Verfügung. Selbst wenn ich schlafe, werde ich von meinen Aufgaben und Pflichten träumen …« Farraks Brust entrang sich ein halb besänftigter, halb verächtlicher Laut. »Du missverstehst die Unsterblichkeit, die wir euch geben können. Sie kennt keine Ruhe-, keine Schlafphasen. Du wirst nie mehr pausieren müssen, sondern uns deine Begabung ohne Einschränkung zur Verfügung stellen. Alles hat seinen Preis – aber er ist gering im Vergleich zu dem, was du gewinnst. Du wirst Zeitalter kommen und gehen sehen. Fortan bist du selbst ein Gesegneter. Ein Privilegierter. Und alle Luuren, die uns die Treue schwören, werden mit dir die Zeiten durchwandern.« Er wies hin zu den anderen Uhren, die – Lomax sah es jetzt so klar und deutlich, als hätte das, was Farrak ihm geschenkt hatte, auch seine Sinne geschärft – allesamt noch von jener Patina überzogen waren, von der Lomax' Lebensuhr befreit wurde. Er versuchte, ihre Zahl zu schätzen – sie entsprach in etwa dem, was er selbst über die gegenwärtige Luuren-Population herausgefunden und was ihn anfangs schockiert hatte. Nun betrachtete er die vergleichsweise geringe Zahl mit anderen Augen. Die Unsterblichkeit würde die letzten Luuren adeln. Und womöglich würden sie ihre Gabe zu beherrschen lernen, wie es noch keiner Generation vor ihnen gegeben war. »Jetzt beginnst du mir zu gefallen«, sagte Farrak, als könnte er in seinen Gedanken lesen. »Und jetzt komm. Besuchen wir gemeinsam die Königin. Sehen wir, ob sie … fleißig war.« Er wies zu der aktivierten Transitweiche, durch die sie diesen entlegenen Ort des Kubus, fernab der Ewigen Stätte und der Silberstadt, betreten hatten. Zu Beginn hatte Lomax geglaubt, von der Größe der Aufgabe, die
Farrak ihm auferlegt hatte, erdrückt zu werden. Doch längst war diese Sorge erloschen, und nun hatte er die doppelhelixförmige Uhr berühren dürfen. Gab es etwas Grandioseres? »Komm«, sagte Farrak und ging voraus. Lomax zögerte nur den kurzen Moment, in dem er sich fragte, was geschehen wäre, hätte er versucht, seine Lebensuhr von diesem Ort zu entfernen und mitzunehmen. Er glaubte jedoch zu ahnen, dass sie nur hier funktionierte, und was das bedeutete … »Worauf wartest du?« Auch Farrak war knapp vor der Transitweiche noch einmal stehen geblieben und schaute zu ihm zurück. Die Weiche zitterte in seiner Nähe, bog sich ihm entgegen, als habe er die Masse und Anziehungskraft einer Sonne. »Ich komme. Ich komme …« Lomax eilte zu dem Gesegneten und warf sich an ihm vorbei in die eisig strahlende Energie. Nun war es an Farrak zu zögern. Er griff an seinen Allzweckgürtel, berührte einen bestimmten Sensor und sah auf das weite Feld von Uhren. Als es erloschen war, wandte er sich der Weiche zu und durchschritt sie.
Irgendetwas geschah während des eigentlich zeitlosen Moments der Passage. Vielleicht war es eine Nach- oder Nebenwirkung dessen, was ihm gerade zuteil geworden war – die Berührung der Uhr – … jedenfalls brach in Lomax' Gehirn eine Flut von verschütteten Erinnerungen auf, die jemand dort begraben hatte. Nun erhaschte er … wie in einem Traum … einen Zipfel davon. Und nur zu bereitwillig gab sein Geist diesen aufdringlich emporstrebenden Schnipseln seiner ihm selbst fremd gewordenen Herkunft und Wurzeln nach …
14. Wie bei Luuren üblich, wurde Lomax mit einem voll entwickelten Bewusstsein geboren. Oder sollte er sagen: Er schlüpfte mit dem bereits voll entwickelten Bewusstsein seiner selbst? Andere Spezies – das lernte er später – mussten erst hart um ihre Persönlichkeit ringen. Das Leben prägte sie über die Maßen, die Erfahrungen, die sie machten, im Guten wie im Schlechten. Luuren waren dagegen Begünstigte. Sie kamen zur Welt und befanden sich sofort in einem Status, der – wieder verglichen mit denen, die dieses Glück nicht hatten – einem Lebewesen mit einer Vollamnesie ähnelte. Es weiß, was Essen und Trinken und andere elementare Dinge des Alltags sind, aber es hat keine Vergangenheit. Keinen Fundus, auf den es zurückgreifen kann, um großartige Erkenntnisse über sich selbst zu gewinnen. Aber ihm wird, im Falle der Luuren, geholfen. Von anderen Luuren, vornehmlich denen, die an seiner Entstehung beteiligt waren. Und so wächst der Luure in der Obhut der Gemeinschaft heran. Er lernt schnell, denn sein Intellekt ist bereits voll entwickelt. Und da wäre ja auch noch seine Gabe … das Talent, jene Materie zu formen, allein kraft seines Geistes, die auf den Protowiesen wächst. Lomax war diesbezüglich ein Spätzünder. Seine Gabe erwachte erst, als Gleichaltrige schon erste Meriten erlangt hatten. Aber als sie schließlich erwachte, tat sie es vehement. Er verursachte eine Missernte. Zu ungestüm, zu wild setzte er seine Kraft frei … und erhielt prompt die Quittung. »Mo will dich sehen. Er verlangt Konsequenzen!« Mit diesen Worten weckte ihn, noch lange nicht ausgewachsen, sein Vater in seiner Schlupfhöhle am Rande der Wiese, bei der ihre Familie arbeitete und lebte. Mo hieß eigentlich Mogaron. Aber niemand nannte ihn so, außer man stand im gegenüber. Mogaron war so düster und vergrämt, wie der Klang seines Namens es schon andeutete. Und er war der hässlichste Luure, den Lomax jemals zu Gesicht bekam. Mindestens ebenso berüchtigt wie seine Hässlichkeit war seine Strenge.
Es hieß, er habe Luuren, die schlechte Erträge verschuldeten, schon den Todeswiesen überantwortet – so wurden die Bereiche genannt, wo es Flächen entarteter Protomaterie gab, die auf nichts mehr ansprachen und ein Eigenleben entwickelt hatten. Warum sie nicht vernichtet wurden – wenigstens von den Gesegneten, die doch über alles wachten –, wusste niemand. Aber vielleicht ließ man sie nur aus dem einen Grund unangetastet – um einen Platz zu haben, an den man Versager verdammen konnte. Und nun wollte also Mo Lomax sprechen. Sowohl seine Eltern als auch er selbst befürchteten das Schlimmste. Die Wiese, die er verheert hatte, war nicht entartet, immerhin. Sie war lediglich von einer Dürre heimgesucht geworden, die irreparable Schäden für diese Ernte hervorgerufen hatte. Nun herrschte völlige Reglosigkeit dort, und die Substanz in die die unruhige Wiese sich verwandelt hatte, schimmerte seltsam und sorgte für Aufsehen und Gespräch weit über diesen Sektor hinaus. Lomax kam daran vorbei, als er (allein; Mo hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass er ihn und nur ihn sehen und zur Verantwortung ziehen wollte, seine Eltern blieben außen vor) zum Haus des Ersten Verwerters schwamm. Oh, sein Haus: Es war völlig anders als die Schlupfhöhle eines gemeinen Erntehelfers. Für Lomax in seiner Unbekümmertheit glich es einem Palast. Er hatte es bislang nur von außen gesehen. Nun durfte – musste! – er es betreten. Er nahm all seinen Mut zusammen und betätigte den Melder. Die Tür sog ihn hinein. Und eine gezielte Strömung brachte ihn ohne viel Aufhebens in den Raum, in dem Mo bereits auf ihn wartete – woran er keinen Zweifel ließ. »Endlich!« »Ich kam, so schnell ich konnte …« »Das ist gelogen!« Lomax machte sich ganz klein. Reumütig sollte es wirken. Aber Mo durchschaute auch dies. »Heb dir deine Talente für andere auf. Mich kannst du nicht hinters Licht führen.« Er thronte auf einem Sitz der gewisse Ähnlichkeit mit der Substanz hatte, zu der die entartete Wiese geronnen war. Er bemerkte Lomax' Blick und deutete ihn richtig. »Es ist ein Stück von dort, du siehst ganz richtig. Findest du das …
falsch? Verwerflich?« Lomax verneinte. »Nichts von alledem. Ich …« Zum ersten Mal fiel ihm eine gewisse Heiterkeit bei Mo auf. »Ja, ich weiß«, unterbrach der ihn. »Du findest es eher … interessant. Nicht wahr?« Das wurde Lomax erst bewusst, nachdem er es ausgesprochen hatte. »Es … es erschreckt mich jedenfalls nicht. Es ist … faszinierend.« »Das ist es. Aber es sollte auch zur Bescheidenheit mahnen. Ich sitze darauf, um mich stets daran zu erinnern, dass unseren Kräften Grenzen gesetzt sind, egal für wie stark und vollkommen wir uns selbst einschätzen. Verstehst du, was ich damit sagen will?« »Ja.« Zu Lomax' Verblüffung schien er ihm zu glauben. Für eine quälend lange Weile schwiegen beide. Bis Lomax es nicht mehr ertrug. »Weshalb ich kommen sollte …« Wieder huschte diese befremdliche Heiterkeit über Mos Gesicht. »Was denkst du denn, weshalb du gerufen wurdest?« Er gab sich einen Ruck. »Ich habe der Gemeinschaft unermesslichen Schaden zugefügt. Dafür verdiene ich Strafe.« »Natürlich Strafe. Eine Belohnung wäre wohl fehl am Platze. Obwohl …« Mo legte den Kopf schief. Seine Finger glitten über das Material der beklemmenden Substanz die seinen Thron ausmachte. »… manch einer geteilter Meinung sein könnte.« Lomax verstand nicht, worauf er hinaus wollte. Finks von ihm entstand ein Wabern. Mo blieb ungerührt, während Lomax das Gefühl hatte, in einem lichtlosen Schlund zu versinken. Für eine Weile konnte er weder denken noch atmen. Dann war die Erscheinung neben Lomax und berührte ihn mit seiner Aura. Eine Aura, die das Wesen vor dem umgebenden Wasser schützte. Lomax' Herz begann wieder zu schlagen. Nein, zu hämmern. »Ist er das?«, hörte er eine schmeichelnde Stimme. »Ja.« »Er sieht schwach aus.« »Das ist er auch – wenn man ihn in seinem jetzigen Status mit dem Potenzial vergleicht, das in ihm schlummert.« »Bist du sicher?«
»Ich bin ein Luure, Gesegneter. Ich kenne meine Leute. Ich kann in ihnen lesen. Ein Potenzial ist ein Potenzial, bei einem Luuren ebenso wie bei einem Büschel Protogras. Und dieser Luure hier – sein Name ist Lomax, wie ich schon sagte, als ich Euch bat herzukommen – hat das größte Potenzial, das ich jemals in einem Jungluuren spürte – von einer Ausnahme vielleicht abgesehen.« »Mingox?« »Ja, Mingox heißt der andere, der zu Hoffnung Anlass gibt. Und er ist diesem hier noch – ich betone noch – im Vorteil. In Lomax schlummert Großes, aber er ist sich selbst dabei im Weg, es nutzbringend einzusetzen. Gegenwärtig würde ich ihn sogar noch als Gefahr einstufen. Aber ich traue mir zu, ihn zu zähmen. Ihn zu leiten. Das aus ihm herauszukitzeln, was ihn eines Tages befähigen wird –« »Ja, ja, wir sprachen darüber.« »Verzeiht, Erleuchteter.« Die Art und Weise, wie sie über den anwesenden Lomax sprachen, missfiel diesem zunehmend, obwohl von dem zweiten Gast in Mos Haus etwas ausging, was ihn gar nicht erst Antipathie entwickeln ließ. Er durfte sagen, was er wollte, Lomax war ihm verfallen, vom ersten Moment an. Verrückt, aber so war es. Es war seine erste Begegnung mit einem der Herrscher, und als sie stattfand, wusste er noch nicht, dass er gezwungen würde, sie wieder zu vergessen. Wie sie ihm die Erinnerung stahlen, erfuhr Lomax nie – weil er es später nicht mehr als Diebstahl wahrnahm. »Du weißt, wer ich bin?«, wandte der Mächtige sich an Lomax. »Wüsste ich es nicht, wäre ich nicht wert zu sein.« »Die beste Antwort, die ich je aus dem Mund eines Luuren hörte.« »Ihr seid zu gnädig, Herr.« »Das bin ich nicht und werde es nie sein. Gnade ist das Gesicht der Schwäche. Du hast noch viel zu lernen, Lomax, und ich vertraue auf die ordnende, lenkende Hand deines Mentors.« Lomax blickte zu Mo. Meinte er ihn damit? Mo sollte sein … Förderer sein? Was war mit der Strafe für sein Vergehen. Für seinen Ausbruch, der eine ganze Ernte unbrauchbar gemacht hatte? Der Erste Verwerter machte eine Geste der Zustimmung. »Ich werde Euch nicht enttäuschen, Gesegneter.«
»Das will ich dir raten.« Der Unfassbare trat durch den Spalt, der wie ein Nadelöhr wirkte und dem der uneingeweihte Betrachter nicht zugetraut hätte, eine Gestalt von solcher Größe hindurch zu lassen. Doch die Transitweiche verschlang ihn regelrecht. Lomax stöhnte leise auf wartete aber immerhin damit, bis die Weiche erloschen war. »Und nun zu uns beiden«, erklang die Stimme des Luuren, der nun ganz Mogaron, nicht mehr nur Mo war, fast drohend. Lomax duckte sich – obwohl sein Verstand ihm sagte, dass ihm keine wirklich schlimme Strafe blühen konnte, weil sonst der ganze Auftritt und die Rede des Gesegneten nur sinnloses Gewäsch gewesen wäre. Lomax schien – was er kaum fassen konnte – plötzlich wichtig zu sein. So wichtig gar, dass ein Gesegneter sich persönlich bemüßigt sah, ihn kennenzulernen … »Erster Verwerter?« Seine Unsicherheit ließ sich nicht so leicht überwinden. Mogaron war immer noch ein Riese an Macht gegen einen wie ihn, der nicht einmal die Initiierung erhalten hatte, die den Beginn der vollen Reife und der Eigenverantwortung dokumentierte. »Gleite näher.« Lomax wand sich ihm entgegen. Es bedurfte nur eines geringen Kraftaufwands, ihn zu erreichen und sich mit den winzigen Saugnäpfen an seinen Gliedmaßen am Boden zu verankern. »Hier bin ich.« »Du bist aufgewühlt. Verwirrt. Eine nur allzu luurische Regung angesichts dessen, was du gerade miterleben und mit anhören musstest. Aber sei unbesorgt. Es gibt ein Beruhigungsmittel, das dir helfen wird, all diesen unnützen und hinderlichen Ballast abzustreifen auf deinem Weg zur Selbstfindung.« Lomax hörte die Worte, ohne auch nur zu ahnen, worauf Mogaron hinaus wollte. Ohne Vorwarnung stemmte sich der Erste Verwerter aus seinem Sitz aus toter Materie und fiel förmlich über Lomax her. Der war so überrascht, dass er nicht einmal instinktive Abwehrversuche unternahm. Aber es schien auch kein Angriff zu sein, sondern … Lomax' Blick war auf den winzigen, nadelartigen Gegenstand gerichtet, den Mogaron ihm in die Stirn rammte. Es fühlte sich an, als würde etwas
Weiches auf den von Haut überspannten Knochen prallen und dann zerstieben. Aber gleichzeitig hatte Lomax das Gefühl, etwas dringe tief in ihn ein, in seinen Schädel, sein Gehirn. Für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen. Und als er wieder klar sehen konnte, thronte Mo auf seinem Sitz und sagte: »Ah, da bist du ja. Endlich! Wie lange wolltest du mich noch warten lassen? Es geht, wie du dir denken kannst, um deine ungeheuerliche Entgleisung!« Lomax versuchte die Schwäche abzustreifen, die ihn bei Betreten des Hauses überkommen hatte. Fast hilflos schaute er zu der höchsten Autorität der hiesigen Wiesen auf. »Ich … ich kann es mir selbst nicht erklären – es war keinesfalls Vorsatz Meister … ich bitte Euch, mir das zu glauben …« »Du bist jung und voller Ungestüm. Aber das entschuldigt keine Schäden, wie du sie angerichtet hast. Du und deine Familie, ihr werdet dafür büßen. Eure Nahrungsrationen werden reduziert, eure Arbeitsphasen erhöht. Bis auf weiteres. Ich bestimme und teile mit, wann dieses Urteil aufgehoben ist. Du hast überdies neben der üblichen Ausbildung noch eine zusätzliche Schulung über dich ergehen zu lassen. Anders scheinen deine Kräfte nicht kontrollierbar und der Allgemeinheit zum Nutzen verfügbar gemacht werden zu können. – Verstehst und akzeptierst du das?« Habe ich denn eine Wahl?, dachte Lomax, dem ganz klamm ums Herz war. Irgendetwas beschäftigte ihn. Irgendetwas kam ihm … falsch vor. Nicht an der Strafe, sondern an dieser … Situation. Aber er kam nicht drauf was genau ihn störte. »Ich verstehe und akzeptiere.« »Dann geh jetzt, verschwinde – und erscheine morgen pünktlich zu deiner ersten Lektion!« Mogaron nannte ihm noch die genaue Zeit, zu der sich Lomax bei ihm einzufinden hatte, dann winkte er ihn hinaus aus seinem Haus.
Der Tag der Initiierung kam. »Erweise dich würdig«, gab sein Vater ihm mit auf den Weg. »Mach uns keine Schande.« Lomax war sich der Bedeutung des bevorstehenden Aktes wohl bewusst, und er hatte nicht vor, irgendjemandem – auch nicht Mo – Schande zu machen. Heute sollte er zum Manne werden, und selbst wenn dies nur sym-
bolisch erfolgte, so war es doch eine so machtvolle und uralte Tradition, dass kein Luure sich ihr je entzogen hatte. Lomax wusste nicht, was für Folgen eine Verweigerung (war sie überhaupt möglich?) gehabt hätte, aber es stand auch nicht zur Debatte. Wie jeder Kandidat, ganzgleich, ob männlichen oder weiblichen Geschlechts, musste er die gewaltige Strecke zum Alten Dom ohne jedes Hilfsmittel zurücklegen. Es war die anstrengendste Prozedur, der er sich jemals unterzogen hatte, und zudem schwamm er allein. Niemand begleitete ihn, niemand dämpfte wortgewandt die während der Tortur unweigerlich und wahrscheinlich bei jedem aufkommenden Zweifel … die ebenso selbstverständlich wieder verschwanden, kaum dass er die heiligen Pforten des Doms vor sich aufleuchten sah. Der Alte Dom. Ein Relikt von unnachahmlicher Faszination und fernab der heimischen Protowiesen gelegen. Nur ein einziges Mal, so hieß es, fand ein Luure den Weg hierher – anlässlich seiner Initiierung. Der Instinkt wies den Weg dahin, kein Instrument, keine Beschreibung eines erwachsenen Luuren, der diese Route schon einmal geschwommen war, nein, nur der Instinkt allein genügte. Und von seinen Eltern und aus Gesprächen mit anderen ausgereiften Luuren wusste Lomax, dass dieser Instinkt auch nur dieses eine Mal beim Auffinden des Doms half. Es würde eine einmalige Begegnung bleiben und demzufolge war Lomax fest entschlossen, sich jedes noch so winzige Detail einzuprägen. Schon die Form des Doms, der bis in die Anfänge der Luurengeschichte zurückreichte, war atemberaubend und zugleich bezeichnend. Es war ein aus unvergänglicher Protomaterie errichteter Bau, wie eine Doppelpyramide, deren Böden aneinandergeschweißt worden waren, der inmitten des kühlen Grünschimmers trieb, der Tovah'Zara in jedem Winkel erhellte. Es hieß, in der Oberfläche des Doms, und das war das Grandiose, würden all die verewigt, die sich der Initiierung unterwarfen. Und jetzt, im Näherkommen, sah Lomax mit eigenen Augen, dass nichts an dieser Sage erfunden war. Es gab keine freie Fläche, Zumindest entdeckte er keine, und die Gesichter zahlloser Luuren starrten ihm bei seiner Ankunft entgegen. Es waren junge und alte Gesichter, manche so alt, wie ein Luure überhaupt nur werden konnte, und sie waren eindeutig in der Überzahl. Die greisen-
haften Züge waren vollkommen erstarrt, während die wenigen jugendlichen Mienen, die Lomax ausmachte, noch voller Bewegung waren, lächelten oder Grimassen schnitten, die Münder bewegten, als würden sie sprechen, obwohl kein Ton zu Lomax drang … Es war mehr als grandios. In der Mitte des schwebenden Gebäudes war ein Band von Türen, allesamt dunkel, bis auf eine. Darauf hielt Lomax zu. Die Gesichter wurden größer und weckten Ehrfurcht vor dem, was hier geleistet worden war. Wer hatte den Dom einst erbaut? Befanden sich auch die Gesichter der Schöpfer dieses heiligen Monuments unter der Unzahl derer, die Lomax entgegen starrten? Je näher er kam, desto gigantischer wuchsen die Mauern vor ihm auf. Mühelos glitt er durch das riesige Portal, in das sich die erleuchtete Tür im Näherkommen verwandelte. Dann war Lomax im Innern des Doms. Alles, was er erwartet hatte, wurde von der Wirklichkeit übertroffen. Im ersten Moment am beeindruckendsten war die Weite und Höhe des Innenbereichs. Aber die allererste Wahrnehmung galt dem Wasser, das den Dom füllte – es wirkte so völlig anders als das, was draußen, jenseits der Schwelle, anzutreffen war. Lomax fühlte sich davon umschmeichelt und begrüßt, niemand sonst nahm ihn in Empfang, doch daran hatte Lomax nichts auszusetzen. Er fühlte sich glücklich und voller Erwartung. Das Wasser, durch das er schwamm, teilte sich ihm mit und sagte ihm, was zu tun war. Zielstrebig schwamm er zur Mitte der völlig hohlen Doppelpyramide. Es gab keine Etagen, keine Stützpfeiler. Die Innenkonturen entsprachen eins zu eins den Außenumrissen. Nur dass die Gesichter an den Wänden fehlten. Hier waren sie glatt, absolut fugenlos, und alles, was sie zeigten … war Lomax. Er sah sich in den Wänden – und der Lomax dort blickte zu ihm herab, herauf und herüber. Es waren mehrere, die wie Schemen in der Schale des Doms dahinglitten. Mal winzig klein, dann riesig äugten die Lomaxe zu ihm her, und der echte Lomax fühlte sich noch angenommener, noch angekommener. Das hatte er nicht erwartet. Dieses Spektakel, mit dem der Alte Dom ihn – ihn ganz allein – ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte. Warum hatten die, die er nach ihren Erinnerungen an die Initiierung be-
fragt hatte, ihm davon nichts gesagt? Hatten sie es vergessen – oder verlief der Kontakt mit dem Dom für jeden Kandidaten unterschiedlich? Das Wasser hatte aufgehört, ihn zu leiten. Er trieb im Zentrum. Wie lange, wusste er nicht. Es gab keine Anhaltspunkte, wie viel Zeit verstrich. Doch dann verschwanden die Lomaxe auf oder in den Wänden, und ein Licht, so rein und weiß, wie er es noch nicht gesehen hatte, flammte auf. Alles wurde durchscheinend, ohne dass sich Lomax geblendet fühlte. Er sah an sich herab … und sah in sich hinein. Selbst sein Körper war halb transparent geworden, sodass nichts verborgen blieb. Lomax wurde sein eigenes anatomisches Modell. Jedes Organ, jeder Knochen und Muskel, jede Ader und jeder Nerv war seinen Blicken ausgesetzt. Dann – folgte die Dunkelheit, die keine Ängste schürte. Nach all dem Licht war sie wie ein warme Decke, in die man sich kuschelte. Lomax genoss die Schwärze, die Stille und den sanften Druck des Wassers, in dem er schwamm. Der fluoreszierende Pfeil schoss so zeitlupenhaft auf ihn zu, dass er seinem Weg lange mit den Blicken folgen konnte, ihm aber nicht auszuweichen vermochte. Irgendwo aus der oberen Spitze der einen Pyramide war er hervorgekommen. Er bestand aus unzähligen winzigen leuchtenden Teilchen, die sich wie eine zweite Haut um Lomax' Körper legten und allmählich von seinen Poren aufgesogen wurden. Der Glanz verblasste. Und die Dunkelheit wich mit dem letzten fahlen Schimmer, der in Lomax' Körper kroch. Alles war wieder wie beim Betreten des Doms. Das war es schon gewesen? Das war … die Initiierung? Lomax lauschte in sich hinein und versuchte eine Veränderung festzustellen. Aber das Einzige, was er anders als zuvor fand, war seine Euphorie, die noch immer anhielt und in ihm schwang wie eine berauschende Melodie. Wie in Trance trat er die Heimreise an. Und als er aus seinem Rausch aufwachte, war er schon daheim. »Wie war es?«, begrüßten ihn Vater und Mutter an der Tür. Lomax überlegte sorgfältig, wie er es ihnen beschreiben sollte. Schließlich sagte er: »Ich glaube, ich habe euch keine Schande gemacht.« Er wusste ja, das war ihnen wichtig.
Vielleicht das Wichtigste überhaupt …
»Ich bin Ogaree. Wie heißt du?« »Lomax.« Er starrte die Luurin leicht verunsichert an. Sie war wunderschön, und sie fiel ihm keineswegs zum ersten Mal auf. Aus der Ferne hatte er sie schon öfter beobachtet. Aber dass sie jetzt so unvermittelt beim Verlassen von Mos Schule (so nannte Lomax die täglichen Sitzungen unter den kritischen Augen des Ersten Verwerters) vor ihm stand und ihn auch noch ansprach, brachte sein Blut in Wallung. Er hoffte, dass sie sein Erröten nicht bemerkte. Falls sie es doch tat, schien es ihr zu gefallen. »Hallo Lomax. Schwimmen wir ein Stück gemeinsam?« Er wusste nicht, was er erwidern sollte. Also sagte er ja. Sie glitten über die Protowiesen, wo konzentriert gearbeitet und Rohmaterial für die Heukonen abgeerntet wurde, die daraus Dinge herstellten, ohne die das Leben in Tovah'Zara kaum denkbar war. Seit Urzeiten war dies die Arbeitsteilung: Luuren sorgten für den fantastischen Rohstoff, aus dem sich beinahe alles formen ließ, und Heukonen fertigten aus ihm Gebrauchsgüter. Darüber hinaus gab es jedoch auch »Sonderbestellungen«, die im Allgemeinen der Erste Verwerter abwickelte. Er war derjenige mit der höchsten Affinität zum Universalstoff Protomaterie. Allein kraft seines Geistes war er im Stande, hochkomplexe Gegenstände zu erschaffen. Er brauchte dazu keine technische Unterstützung. Das Resultat war fertig. Einsatzbereit. Lomax beneidete Mo seit er denken konnte um dieses Privileg. Und tief in seinem Bewusstsein nistete seither der Wunsch, eines Tages selbst einmal Erster Verwerter zu werden … Träumerei, das wusste er. Aber aus Träumen formten begabte Luuren durchaus greifbare Realitäten. Er lächelte. »Warum lächelst du?« »Es hat nichts mit dir zu tun.« »Sondern?« Lomax wollte seine geheimsten Gedanken nicht preisgeben. Noch nicht zumindest. Obwohl Ogaree jemand war, bei dem er sich immerhin vorstel-
len konnte, eines Tages Gedanken und Geheimnisse mit ihr zu teilen. »Wo willst du mit mir hin?«, fragte er, um von dem Thema abzulenken. »Ich habe kein bestimmtes Ziel.« »Wirklich nicht?« Lomax hatte plötzlich einen bitteren Beigeschmack im Mund, als er merkte, wie zielstrebig Ogaree auf die Fläche zuhielt, die durch Lomax' Schuld verkümmert war. Sie wurde langsamer, musterte ihn eindringlich. »In Ordnung, du hast mich durchschaut. Ich gebe es zu.« »Was gibst du zu?« »Dass ich dich nicht einfach so angesprochen habe, sondern aus …« »Ja?« Auch er hatte verlangsamt. Seite an Seite erreichten sie das welke Feld. »… Neugierde.« Plötzlich begriff er und hielt an. »Du willst wissen, wie ich das gemacht habe, oder?« Sie machte eine Geste der Bejahung. Gleichzeitig wirkte sie scheu und zerbrechlich, fast ängstlich. »Aber ich will nicht …« »Was willst du nicht?«, drängte er, als sie nicht weitersprach. »Dass du glaubst, das sei der einzige Grund.« »Welcher denn noch?«, fragte er hin- und hergerissen zwischen Sympathie und aufsteigendem Ärger. »Na ja, du … du gefällst mir.« Obwohl ihre Antwort seinem sehnlichsten Wunsch entsprach, wagte er nicht, sie für wahr zu halten. Sie merkte, wie er sich verschloss, wie er sich umwandte und nur noch weg wollte. »Warum glaubst du mir nicht?« Er hielt inne, zögerte, gab sich einen Ruck. »Weil du … viel zu schön bist, um dich für einen wie mich zu interessieren.« »Was ist denn falsch an ›einem wie dir‹?« Wie sie ihn ansah, ganz ohne Falsch. Er zuckte mit den Schultern. »Du bist mir sofort aufgefallen, als ich dich das erste Mal sah«, versicherte sie ihm. »Du stichst aus der Menge hervor. Für mich ist das mehr als Grund genug, mich für dich zu interessieren. – Aber wenn du von mir nichts wissen willst …« Traurig wandte nun sie sich ab.
»Stopp! Das habe ich nicht gesagt!« »Aber du gibst es mir zu verstehen.« »Vielleicht. Aber nur, weil du mich … so unsicher machst.« »Denkst du, mir fiele es leicht, so mit dir zu reden?« »Es wirkt so.« »Für mich selbst absolut nicht.« »Dann haben wir wohl beide das gleiche Problem.« »Und das wäre?« »Mangelndes Selbstbewusstsein … obwohl ich mir das bei dir nun wirklich –« »Fängst du schon wieder an?« Sie machte eine Drohgebärde. Sie lachten – und über das Lachen fanden sie zueinander. An diesem Tag verweilten sie lange bei der verdorbenen Wiese. Anfangs redeten sie noch über die Gabe, die sie beide noch mehr als unzureichend beherrschten. Aber rasch wechselten sie zu privateren Themen. Fortan holte Ogaree Lomax, wann immer es ihre Zeit erlaubte, beim Haus des Ersten Verwerters ab. Dass ihr Freund dort »Privatunterricht« erhielt, fand sie nur angemessen. Sie hielt große Stücke auf ihn, und Lomax sonnte sich in ihrem Zuspruch. Es war die wunderbarste Zeit seines Lebens, aber sie ging, wie alles, irgendwann und viel zu schnell vorbei.
Eines Tages war nicht Ogaree da, als Lomax das Haus des Ersten Verwerters verließ, sondern eine gemeinsame Bekannte, Ilgaru. Ilgaru war bei weitem nicht so hübsch wie Ogaree, aber sie hatte das Herz am rechten Fleck. Lomax mochte sie, sie gingen sehr freundschaftlich miteinander um, sehr rücksichtsvoll. Normalerweise. Doch heute hatte sie einen Brief bei sich, zusammengerollt und mit dem persönlichen Siegel Ogarees verschlossen. »Was soll das?«, fragte Lomax ungehalten. Ihm schwante Böses. Seit einer Weile gab es Verstimmungen zwischen ihm und Ogaree, und sie häuften sich. Es hatte mit dem Weg zu tun, den Ogaree eingeschlagen hatte. Sie hatte sich einer Gruppe angeschlossen, von der Mo nur in den kritischsten Tönen sprach – wenn überhaupt. Diese Gruppe betrieb historische Forschungen, was an sich noch nichts Schlechtes sein musste. Aber
damit einher gingen äußerst kritische Töne, die Verhältnisse in Tovah'Zara, speziell in den Luuren-Sektoren, betreffend. Lomax war nicht damit einverstanden, dass sich Ogaree in solchen Kreisen engagierte. Und er wäre es auch ohne Mos negative Haltung dazu nicht gewesen. Es stieß ihn ab, dass Luuren versuchten, das Erbe ihres Volkes, ihrer Welt … und der gesegneten Fürsorger zu besudeln. Es stieß ihn mehr ab, als seine Liebe zu Ogaree verkraften konnte. Und das, teilte sie ihm in dem von Ilgaru überbrachten Brief mit, hatte sie bemerkt. Etwas in ihr liebe ihn noch immer und fühle sich zu ihm hingezogen, schrieb sie, aber ein mindestens genauso starker Teil riet ihr, sich von ihm zu trennen, um sich frei zu machen für ihre Überzeugung, für das, wofür sich ihrer Meinung nach zu arbeiten und zu kämpfen lohne … Sie erinnerte in dem Brief an viele schöne Momente, die unwiederbringlich verloren waren. Lomax war unsagbar traurig, als er Ilgaru für die Bringerdienste dankte und sich auch von ihr verabschiedete, denn er spürte – beziehungsweise sie ließ keinen Zweifel daran –, dass sie auf Ogarees Seite stand. »Leb wohl«, sagte Lomax zum Abschied. »Leb wohl«, erwiderte Ilgaru. Danach gingen sie sich aus dem Weg. Am nächsten Tag erhielt Lomax ein in Lob für seine Haltung aus höchstem Munde. Mo bewies damit, dass er selbst über die privatesten Belange seines Schülers unterrichtet und stets auf dem neuesten Stand war. Eigentlich hätte dies Lomax erschüttern müssen. Doch erfühlte sich von einer Last befreit, einer Last namens Ogaree. Fortan konzentrierte er sich nur noch auf seine Gabe, in der er mit Leib und Seele aufging.
»Es ist so weit«, sagte Mo nach langem Unterricht und dennoch völlig unerwartet. »Das war heute deine letzte Lektion – du hast sie so gut erledigt, wie man es nur kann, und damit …« Er breitete die Arme aus, als wollte er die Welt für Lomax offen legen. »… ist der Moment gekommen, da ich dir nichts mehr beizubringen vermag. Nur du selbst kannst – musst! – weiter an dir feilen, deine Fähigkeiten vervollkommnen. Zu diesem Zweck …« Das Blut rauschte in Lomax' Ohren. Er war wie betäubt. Er hatte sich
an diesen Rhythmus gewöhnt, den ihm die Arbeit auf den Feldern und den Unterricht beim Ersten Verwerter diktierte. Er wollte es gar nicht mehr anders. Seine Eltern waren stolz auf ihn, und er selbst fühlte sich wertvoll, seit Mo ihn unter seine Fittiche genommen hatte. Und nun dies … »… wirst du als persönlicher Assistent meines Nachfolgers fungieren. Er ist bereits bestimmt. Du lernst ihn im Anschluss kennen. Ich werde fortgehen. Die Gesegneten haben eine neue Aufgabe für mich. Es ist – natürlich – ein Aufstieg, aber ich verhehle nicht, dass ich die Stunden mit dir vermissen werde.« Gab es eine Steigerung zu dem ersten Schock, den Mo ihm versetzt hatte? Ja!, entschied Lomax. Die Steigerung war, dass Mo offenbar noch heute in seinem Amt abdanken und seinen Nachfolger als Erster Verwerter vorstellen wollte …! Wie konnte das sein? Lomax' Welt geriet aus den Fugen. »Ich …«, setzte er hilflos an. Er nahm all seinen Mut zusammen und fragte: »Kann ich Euch nicht … begleiten? Als Euer … persönlicher Assistent?« »Das ist nicht vorgesehen.« »Aber –« »Du wirst deinen Weg gehen, Lomax. Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel. Und jetzt …« Er richtete den Blick zu der Türöffnung, durch die Lomax regelmäßig kam und ging. »… mein Nachfolger. Ich darf dir vorstellen …« »Mingox!«, entfuhr es Lomax, als die vertraute Gestalt herein schwamm. Mingox war kein Unbekannter. Er galt als das Talent schlechthin in diesem Sektor. Lomax wich zurück und machte dem Neuankömmling Platz. Mo begrüßte ihn, als wäre nicht Lomax, sondern Mingox all die Jahre sein Schüler gewesen. Sie wirkten sehr vertraut, und genau das bereitete Lomax Beschwerden. Er versuchte sich zusammenzureißen. Schließlich wandte sich Mingox seinem künftigen Assistenten zu. »Wir kennen uns noch nicht …« Damit bewies er nur, dass Lomax ihm noch nicht sonderlich ins Auge gestochen war, obwohl sich ihre Wege durchaus zufällig schon gekreuzt hatten. Lomax entschied, dass Arroganz und Ignoranz zu den hervorstechen-
den Merkmalen des neuen Ersten Verwerters gehörten. Und es machte ihm nicht das Geringste aus, damit ein nicht sehr objektives, dafür umso vorschnelleres Urteil gefällt zu haben. Auch der Rest der Begegnung verlief frostig. Lomax hätte sich bessere Umstände vorstellen können, unter denen er Mo Lebewohl sagen musste. Aber das Schicksal fragte selten nach Vorlieben. Das Schicksal war ein Sadist. Es genoss es zu quälen. Und ganz besonders genoss das Schicksal es, Lomax zu quälen …
Die Routine schlich sich ein und erstickte mit der Zeit sogar das Feuer aus Neid, das in Lomax brannte, seit er von Mingox' Ernennung erfahren hatte. Lomax stumpfte in gewisser Weise ab; vielleicht war das seine Art, mit der Niederlage umzugehen, sie überhaupt ertragen zu können. Und damit nicht genug, stellte er eines Tages etwas zutiefst Beunruhigendes fest: Er hatte aufgehört, Mingox zu hassen, ihn zu verachten. Dafür waren andere Empfindungen in ihm erwacht, und sie gefielen ihm sehr viel weniger als die erstorbenen: Ihm wurde bewusst, dass er Bewunderung für Mingox und dessen Leistungen zu entwickeln begann. Nichts hätte ihn härter treffen können. Eine Zeitlang wusste er nicht, wie er mit dieser Regung umgehen sollte. Mingox zu verachten, war leicht gewesen. Ihn zu verehren, war der pure Albtraum. Es war nichts, wofür sich Lomax bewusst entschieden hatte. Der Respekt war allmählich, heimlich, still und leise, in ihm gewachsen. Und als er ihn bemerkt hatte, war es zu spät gewesen. Unter Mingox stiegen die Wiesen zu ungekannter Blüte auf. Die Gesegneten reagierten, indem sie den neuen Ersten Verwerter mehrfach öffentlich belobigten. Lomax erwartete bei einer dieser Gelegenheiten, auch Mo einmal wiederzusehen, vielleicht sogar als Botschafter der Erleuchteten. Doch seit dem Tag, da er sein Amt übergeben hatte, war er nicht mehr bei den Feldern gesehen worden. Sein Haus war verlassen, versiegelt, wie Mo es in seltenen Fällen getan hatte, wenn er für einige Zeit verreisen musste. Die Siegel waren für andere Luuren nicht zu brechen. Die Gesegneten hätten es sicher gekonnt, doch auch sie nahmen davon Abstand. So wurde die ehemali-
ge Anlage, die eines Palastes würdig gewesen wäre, zu einem Denkmal, das an Mo erinnerte, ihn aber ganz offenbar nicht dazu bewegen konnte, je wieder einen Fuß hineinzusetzen. Irgendwie hatte Lomax jedes Mal, wenn er dort vorbei kam, ein mulmiges Gefühl. Er schrieb es seiner Sehnsucht zu, den alten Lehrer wieder einmal zu treffen. Und es gab noch eine zweite Person, nach der er sich mitunter regelrecht verzehrte, die er auch schon lange, lange nicht mehr gesehen hatte. Ogaree. Seit dem Tag, da Ilgaru ihre Trennungsbotschaft überbracht hatte, ging sie Lomax aus dem Weg. Anfangs hatte er manchmal ihre Nähe gesucht, doch ihre abweisende Reaktion und der Umgang, den sie pflegte, ließen ihn schließlich davon Abstand nehmen, eine normale Freundschaft mit ihr aufzubauen. Sie selbst demonstrierte ja unmissverständlich, dass ihr daran nichts lag. Lomax lernte es zu akzeptieren. Umso überraschter war er, als Ilgaru eines Tages wieder vor ihm stand, mit einem neuen Brief. Stumm überreichte sie ihn Lomax und verschwand dann ohne ein Wort der Erklärung. Im ersten Moment war er so wütend, dass er die Rolle beinahe ungeöffnet vernichtet hätte. Aber die Neugierde siegte, und er nahm den Brief mit auf seine Schicht, wo er ihn ungeöffnet bei seinen Sachen verstaute. Nach Feierabend nahm er ihn mit nach Hause in seine Schlupfhöhle, die er immer noch bei seinen Eltern bewohnte. Beide waren alt und grau geworden und litten unter manchem Zipperlein, gegen das es kein Mittel gab. Kein offizielles jedenfalls. Lomax half ihnen, wann immer er konnte, auf seine Weise. Indem er ihnen von ihm selbst aufbereitete Protoklümpchen von der Arbeit mitbrachte. Nach deren Verzehr ging es Vater und Mutter für eine Weile wieder besser. Ihnen gegenüber behauptete er, der Erste Verwerter habe den Stoff hergestellt und ihm geschenkt – als Anerkennung für seine hervorragende Arbeit. Es war nur zum Teil Lüge. Mingox schien seine Mitarbeit und Leistung tatsächlich zu schätzen. Inzwischen hatte sich gegenseitiger Respekt zwischen ihnen entwickelt. Lomax zögerte lange, ehe er den Brief von Ogaree daheim entrollte … und las. Wie nicht anders zu erwarten, lies ihn die Lektüre verwirrt, aufgewühlt und völlig ratlos zurück. Eigentlich wusste er immer noch nicht, warum
sie ihm eigentlich geschrieben hatte, auch wenn sie ihm einen Treffpunkt vorgeschlagen hatte, ihn also offensichtlich sehen wollte. Aber ausgerechnet Mos altes Zuhause als Ort einer Wiederbegegnung zu wählen … Was wollte sie von ihm? Die Beziehung wieder aufleben lassen, nach so langer Zeit? Er bezweifelte es. Irgendwie bereitete ihm der Inhalt des Briefes und die Aussicht, Ogaree zu treffen, ein ebenso flaues Gefühl wie Mos Haus es tat, wann immer er daran vorbei kam. Dennoch war es eigentlich keine Frage, dass er der Einladung Folge leisten würde. Sie hatte Tag und Stunde vorgeschlagen. Und er konnte gar nicht anders, es zog ihn hin wie ein extrem starker Magnet …
Das Zwielicht Tovah'Zaras, für das Luurenaugen wie geschaffen waren, zeigte Lomax, dass er den Treffpunkt als Erster erreichte. Auf den nahen Feldern wurde gearbeitet, die Hege und Pflege sowie die Ernte ruhten nie. Die Schichten wechselten sich nach einem ausgeklügelten System ab. Mingox hatte auch diesbezüglich Abläufe optimiert, der Ertrag war merklich gestiegen. Niemand achtete auf Lomax, obwohl er auffällig unauffällig um das Gebäude strich. Zum vereinbarten Zeitpunkt war von Ogaree noch immer keine Spur zu sehen. Hatte sie einen Rückzieher gemacht, es sich kurzzeitig anders überlegt? Lomax fühlte sich nicht ernst genommen. Gleichzeitig erkannte er mit Missfallen, dass da immer noch Gefühle für Ogaree waren, die er eigentlich nicht billigte. Er zwang sich zur Geduld, doch die wurde auf eine harte Probe gestellt. Er lenkte sich ab, indem er das palastartige Gebäude betrachtete, Details entdeckte, die ihm in der Vergangenheit immer entgangen waren. Ein ums andere Mal war er erstaunt über die geschickt in die Fassaden integrierten Schnörkeleien, die kleinen Meisterwerke von Bildnissen, die Mo wahrscheinlich eigenhändig und kraft seiner Gabe dort eingefügt hatte. Die Werke waren so geschickt in die Struktur eingewoben, dass es nötig war, mit dem Blick längere Zeit auf einer scheinbar unauffälligen Stelle zu verweilen. Dann erst schälten sich nach und nach Details der Darstellung heraus, war das Gehirn in der Lage, das, was die Netzhäute
übertrugen, zu einem Bild zusammenzufügen. Und was es für Bilder waren, regelrechte Szenen! Lomax registrierte kaum, wie er mehr und mehr in den Bann gezogen wurde von der unerwarteten Fülle an hoher Kunst. Mo hatte Alltagsszenen der Luuren ebenso verarbeitet wie die von anderen Völkern im Kubus, darunter auch die inzwischen als ausgestorben geltenden Vaaren. Sie speziell faszinierten Lomax, aber mehr noch absonderliche Gestalten, die ihm völlig unbekannt waren, sieben an der Zahl, durchaus voneinander unterscheidbar. Ihnen kam eine so dominierende Rolle in der Darstellung zu, dass man sie fast für die tatsächlichen Herrscher der Wasserwelt hätte halten können … Verrückt. Lomax schrak zusammen, als Ogaree an ihm zupfte. »… du mich? Was ist mit dir? Du bist völlig weggetreten …« Ihre Stimme war wie ein Anker, der Halt, an dem er in die Wirklichkeit zurückfand. »Ogaree …« »Ja. Aber ja. Wir hatten eine Verabredung, schon vergessen?« Trotz der verstrichenen Jahre wirkte sie unverändert … nein, warum machte er sich etwas vor? Das war eine Floskel, die auf seine Zunge drängte, aber sie entsprach nicht der Wahrheit: Ogaree war älter geworden, wie er selbst auch. Und es gab keinen Grund, sich dessen zu schämen. Noch lag eine beachtliche Lebensspanne vor ihnen. Auch wenn es schmerzte, genau zu wissen, wann sie endete. »Vergessen?« Er verneinte. »Wäre ich dann hier?« »Was war denn?« Sie musterte ihn fast mit Argwohn. »Nichts. Nichts von Bedeutung. Ich habe mir Mos Haus angesehen. Ich wusste gar nicht, wie raffiniert er es gestaltet hat … Schade, dass er weg ist. Was er wohl macht? Ob er …« »… noch lebt?« Sie schien es zu bezweifeln und sagte es auch. Aber dann schien sie nicht länger über Mo sprechen zu wollen, obwohl er glaubte, dass sie leicht zusammengezuckt war, als er die Raffinesse des Hauses erwähnte. Er dachte sich nichts weiter dabei. »Du hast mich also nicht ganz vergessen«, murmelte er, obwohl er sich dafür am liebsten auf die Zunge gebissen hätte.
»Nie«, sagte sie schlicht. »Warum hast du dich nie mehr gemeldet?« »Die Zeit war noch nicht reif.« »Und … ist sie das jetzt?« Ihr Ausdruck war schwer zu deuten. »Ehrlich gesagt, das weiß ich nicht.« »Trotzdem hast du dich entschieden, den Kontakt zu suchen.« »Das«, sagte sie, »ist wahr – aber nicht der Grund, den du offenbar erwartest steckt dahinter, sondern …« »Sondern?« »Ich brauche deine Hilfe.« »Hilfe?« Er wich unwillkürlich vor ihr zurück, fühlte sich ge- und enttäuscht. »Wobei?« »Können wir darüber drinnen sprechen?« »Drinnen?« Sie fasste ihn an der Hand und zog ihn mit sich. Genau auf Mos Haus zu. Lomax war so verblüfft, dass er keinen ernsthaften Widerstand leistete. Das Haus verschlang sie.
»Du hast die Siegel gebrochen! Wie konntest du nur …?« Die hausinterne Strömung trieb sie in den Raum, in dem früher Mo seinen Schüler empfangen hatte. Zu Lomax' Verblüffung wimmelte es hier von anderen Luuren. »Ogaree! Ich verlange eine Erklärung! Meinst du nicht –« »Schon gut.« Sie schwamm an ihm vorbei und brachte sich zwischen Lomax und die ihm fremden Luuren. »Überlasst die Erklärungen mir, wie wir es besprochen haben. Er ist sehr naiv. Wir können nicht mit der Brechstange –« Diesmal war es an Lomax, sie zu unterbrechen. Er fauchte verärgert, und sie wandte sich ihm zu. Bevor sie etwas sagen konnte, fischte er: »Wer sind diese Leute? Warum besetzen sie Mos Haus, und was hast du mit ihnen zu schaffen?« »Das sind alles Freunde«, versicherte Ogaree mit erhitztem Gesicht. »Deine oder meine?« »Unsere – wenn du es willst.«
»Und was müsste ich tun, um ihrer Freundschaft … wert zu sein?« Lomax' Stimme troff vor Sarkasmus, aber das schien Ogaree nicht zu bemerken. »Zuallererst: zuhören.« »Nun gut, ich höre.« Seine Haltung strafte seine Worte lügen, alles an ihm, seine ganze Körpersprache, blieb abweisend. »Hast du dir nie Gedanken gemacht?« »Worüber?«, fragte er gereift. »Über … unsere Gesellschaft. Unsere Kultur. Unsere Regeln. Und diejenigen … die diese Regeln machen.« »Die Gesegneten?« »So nennst du und so nennen die meisten Luuren sie. Aber ihr tut das nicht bei klarem Verstand. Ihr werdet … ihr werdet manipuliert, damit ihr sie für gut haltet.« Er hatte das Gefühl, dass den anderen seine Anwesenheit nicht gefiel. Offenbar hatte Ogaree sie dazu überredet, es zu tolerieren, dass sie ihn mitbrachte. Vielleicht ging ihnen aber auch einfach alles zu schnell. Ogarees Behauptung bot so viel Zündstoff, dass sie mit folgenschweren Konsequenzen rechnen mussten, wenn auch nur ein Hauch davon an die Ohren der Herrscher drang. »Du bezichtigst die Gesegneten eines solchen Verbrechens?« »Aber ja. Und ich …« Sie blickte zu den anderen, ignorierte deren Unmut. »… wir haben Beweise.« »Was sollen das für Beweise sein?« »Wir haben herausgefunden, wie sie die Massen verblenden. Und noch etwas viel Schlimmeres, etwas Unglaubliches, das selbst dich nicht kalt lassen kann …« Lomax hatte genug gehört. Er wandte sich zum Gehen. Ogaree glitt erneut vor ihn und stellte sich ihm in den Weg. »Du kannst nicht einfach wieder gehen!« »Nein? Willst du es verhindern?« Lomax atmete tief durch. »Hör zu, Ogaree. Im Namen all dessen, was uns einmal verband, lass mich vorbei! Ich will kein Wort mehr über eure Verschwörung hören und verspreche, nichts von dem, was ich hier erlebte, weiterzutragen. Aber ich will nie mehr von dir oder einem anderen eurer Gruppe belästigt werden. Euer Gedankengut ist …« Er keuchte. »… krank! Lasst mich damit in Frieden. Ich
bin ein loyaler Anhänger der Gesegneten. Sie haben Tovah'Zara von einer wahrhaftigen Geißel befreit, den Vaaren. Sie waren es, die uns über Äonen knechteten. Die Gesegneten hingegen haben nur unser Wohl im Blick. – Ich wünschte, du würdest dich nicht so verrennen.« »Du ahnst nicht, was wir entdeckt haben!« »Wer seid ihr, dass ihr euch anmaßt –« »Sie sind nicht besser als die Vaaren! Auch sie … töten uns!« Irgendetwas an ihrer Stimme, ihrem Ausdruck machte ihn mürbe. »Wenn Mo wüsste, was ihr hier treibt, dass ihr sein einstiges Heim besudelt …« »Er weiß es.« Sie sah ihn fest an. In seinem Bauch bildete sich ein harter Klumpen. »Das ist lächerlich!« »Nein«, sagte eine Stimme, die bislang geschwiegen hatte, »sie sagt die Wahrheit. Ich muss es wissen – oder?« Lomax wandte sich dem Sprecher zu. Er wusste bereits, wen er sehen würde, auch wenn es dafür keine vernünftige Erklärung zu geben schien: Mogaron, der einstige Erste Verwerter, schlingerte Lomax entgegen. Er war narbenübersät, als sei er durch ätzende Säure geschwommen. »Du fragst dich, was ich hier tue – und was mich so verunstaltet hat.« Mo hielt vor Lomax an. Ogaree glitt leicht zur Seite. »Das ist verrückt!«, keuchte Lomax. »Was hat das alles zu bedeuten? Beteiligt Ihr Euch etwa an den Verleumdungen?« »Junge, bemühe deinen Verstand! Es ist die bittere Wahrheit.« Aus Mos Mund erlangte die Behauptung eine völlig andere Qualität als bei Ogaree. »Diese Gruppe hier mit deiner Freundin Ogaree, ist hinter die Machenschaften der Treymor gekommen, die sich die Gesegneten nennen lassen, in Wirklichkeit aber die Unheilbringer sind! Ich wiederum habe meine ureigenen Erfahrungen mit ihnen machen müssen. Fast hätten sie mich umgebracht. Ihre Experimente …« Unvermittelt versagte ihm die Stimme. Lomax wusste nicht mehr, was er denken oder wem er Glauben schenken sollte. Ogaree glitt vor. »Hör es dir wenigstens an. Ich bitte dich. Hör dir an, was Mogaron und was wir dir zu sagen haben. Danach entscheidest du, ob du uns glaubst oder …« Sie schluchzte. »… oder die Herrscher informierst. Letzteres wäre unser Todesurteil – aber du kannst aus freien Stücken wählen. Jeder Luure hat eine Überzeugung, der erfolgen muss.
Und wenn deine es ist, weiter verblendet durch die Wasser schwimmen zu wollen …« »Ihr würdet mich gehen lassen, obwohl ihr meint, ich wende mich an die Herrscher?« Stumm blickten ihn die Gesichter der Versammelten an. In fast allen arbeitete es. Lomax erkannte, dass sie sich dessen selbst nicht sicher waren. Aber im Grunde war er ihnen ausgeliefert, seit Ogaree ihn hierhergelockt hatte, längst entschieden andere über Leben oder Tod für ihn. »Ich will es nicht hören!« Ogaree umtanzte ihn so nah, dass er sich unwillkürlich der Zeiten erinnerte, da sie sich berührt, begehrt und glücklich gemacht hatten. »Du willst also nicht hören«, wisperte sie, »dass sich die Gesegneten den Großteil der Luuren über eine Art Droge, die sie im Wasser verbreiten, hörig machen. Dass nur wenige, ich und die hier Versammelten zum Beispiel – Mo nicht, ihn mussten wir erst isolieren von der Substanz die ihn manipulierte – immun gegen die Beeinflussung durch die Herrscher sind.« Lomax wand sich. Er versuchte an Ogaree vorbeizukommen, aber sie tänzelte immer wieder vor ihn, bis er aufgab und einfach verharrte. »Du willst also nicht hören, was sie Mo antaten, nichts hören von den schrecklichen Tests und Experimenten, denen sie ihn unterzogen, weil sie sich in den Kopf gesetzt haben, die Gene Hochtalentierter für dubiose Zwecke zu verändern oder zu verwerten.« Lomax stöhnte. Er hatte das Gefühl, durch einen Blutnebel, der in seinen Augen aufstieg, zu blicken wie durch einen schlierigen Vorhang. »Und du willst nichts über das größte Verbrechen von allen hören, das sie – von den Vaaren begonnen – an unserem Volk fortsetzen.« »Wovon«, presste Lomax hervor, »redest du, Wahnsinnige?« Ogaree lächelte süß und verzeihend. Ihre Worte sprachen diesen Ausdruck jedoch Hohn. »Ich rede von der Initiierung, von der jeder Luure glaubt, sie sei ein symbolischer Akt. Ein Ritual, das die Phase des Heranwachsens, die Jugend, abschließt und ins Erwachsensein überleitet.« »Ist sie das denn nicht?« »NEIN!« »Was … dann?« Er wusste nicht, warum er es sich immer noch anhörte. Aber vielleicht wollte etwas tief in ihm herausfinden, wie weit sie mit ihren Verleumdungen gehen würde.
Weit, sehr weit ging sie. Zu weit. »Wir haben etliche heimlich beobachtete Initiierungen ausgewertet. Das Resultat ist einhellig – und entsetzlich.« »Was sollte an der Mann- oder Frau-Werdung entsetzlich sein?« »Das Todesurteil«, sagte Mo, als wüsste er über jede der Lügen Bescheid, die Ogaree verbreiten wollte. »Jeder Luure glaubt, einem symbolischen Akt beizuwohnen, der ihm ganz persönlich seine Reife nach dem Heranwachsen bescheinigt. Aber das, was bei der Initiierung geschieht, ist das Todesurteil für jeden Luuren! Bis zur Initiierung gibt es die innere ›Uhr‹, die unser Leben streng auf eine ganz exakt bemessene Frist einschränkt, gar nicht. Die genetischen Gutachten, die diese Gruppe hier an Luuren vor und nach der Initiierung erstellte, sind eindeutig. Wir alle, die wir aus dem Laich schlüpften, hätten von Natur aus völlig unterschiedliche Lebensspannen zu erwarten, die höher wären als die künstlich reglementierten. Allein die besonderen Günstlinge erhalten eine Verlängerung, einen Aufschub der bei der Initiierung in ihre Zellen geschriebenen Frist. Erste Verwerter beispielsweise … Ich …« Allmählich dämmerte Lomax, was Ogaree, Mo und all die anderen hier den Herrschern vorwarfen. Aber alles in ihm sträubte sich, es zu glauben … oder auch nur in Betracht zu ziehen. »Ihr verdient den Tod!«, keuchte er. »Ihr … alle!« »Ihm ist nicht zu helfen«, seufzte Mo. »Niemand bedauert das mehr als ich. Aber ich kann ihn verstehen. Hätten sie mir nicht das hier …« Er zeigte an seinem Körper herab. »… angetan, nachdem sie mich unter dem Vorwand, mich für meine Leistungen zu belohnen, in die Silberstadt lockten – ich würde ihnen bis heute vertrauen … Dass ich fliehen konnte, euch begegnete, euch, die ihr mir geholfen habt, zu mir selbst zu finden … all das ist zum Ende meines Lebens hin noch einmal ein großes Glück, auf das ich schon nicht mehr hoffen konnte. Und wenn Lomax …« Sein Blick streichelte liebevoll über die Haut des Zöglings wie über einen eigenen Sohn. »… noch nicht so weit ist, die Wahrheit zu ertragen, darf niemand ihm das vorhalten. Hier im Haus, in der Isolation, wird das Begreifen ganz von selbst kommen. Die Botenstoffe der Tyrannen kommen hier nicht herein, und wenn doch, dann in verschwindend geringer Menge. Bald wird der Entzug einsetzen. Eine furchtbare Prüfung, ich habe sie erlebt. Aber da-
nach, Lomax, werden wir auf Augenhöhe noch einmal über alles sprechen. Tu dir einen Gefallen und wehre dich nicht. Ogaree holte dich in dem Glauben, du könntest wieder fort, ohne geläutert zu sein. Aber ich, wir anderen, wir kamen zu einem anderen Beschluss. Sie trägt keine Schuld, dass du bleiben musst. Es ist unsere Entscheidung, und sie ist zu deinem Besten …« Lomax hörte schon nicht mehr zu. Er stieß Ogaree zur Seite und schwamm auf den Ausgang zu. Aber den hatten zuvor schon andere Luuren versperrt. Es gab kein Durchkommen. Gegen die Übermacht hatte er keine Chance, obwohl er sich wie ein Berserker wehrte. »Verbrecher!«, keuchte er. »Elende Verbrecher und … Verleumder!« Sie legten ihn in Ketten und sperrten ihn in einen kleinen Nebenraum. Die Fesseln blieben, und bald merkte Lomax, warum. So konnte er sich in der Zeit der furchtbaren Qualen, die der Entzug ihm bereitete, nicht selbst verletzen. Ogaree sah er in diesem Stadium nicht, und er war froh, dass sie ihn so nicht sehen konnte.
Als sich die Tür seiner Isolationskammer öffnete, war Lomax gerade aus einem unruhigen Schlaf erwacht. Quälende Träume hatten ihn erschöpft. Immer wenn er glaubte, ein Licht am Ende des Tunnels zu sehen, marterte ihn ein neuer Anfall. Die einzige Linderung brachte ihm Mos Zuspruch. Der ehemalige Erste Verwerter und Lehrmeister erschien nicht persönlich. Aber der Klang seiner Stimme, monoton und voller Verständnis, drang regelmäßig aus verborgenen Lautsprechern. Wer immer sich diese Form des Entzugs ausgedacht hatte, er nahm das Wort Isolation wörtlich. Selbst die Nahrung, die Lomax anfangs verweigerte, wurde ihm stets nur durch eine sich kurz öffnende und sofort wieder schließende Luke gegeben. Eine Periode der vollkommenen Einsamkeit trieb schließlich immer mehr des Giftes, das sich im Laufe eines Lebens in ihm angestaut hatte, aus seinen Poren heraus. Immer häufiger hatte er lichte Momente. Nur den Schlaf nutzte das Gift der Blender noch immer, um dann, wenn sein Widerstand am schwächsten war, immer noch die Kontrolle über seinen Geist zurückzuverlangen. Sofort versuchte es, die alte Freund- und Feindbilder zu eta-
blieren. Aber Lomax war nun so weit, hinter die Fassade der »Gesegneten« schauen zu können. Und immer öfter tauchten sie in seinen Albträumen als die auf, die sie offenbar tatsächlich waren – und wovon Mo, Ogaree und etliche mehr Lomax zu überzeugen versuchten. Manchmal jedoch peinigte Lomax der Gedanke, nicht die Gesegneten, sondern die vorgeblichen Helfer und Freunde könnten die wahren Manipulatoren sein. Die Möglichkeit, dass der vermeintliche Entzug nicht Ent-, sondern Vergiftung bedeutete, war nicht völlig von der Hand zu weisen. Aber nun … öffnete sich unverhofft die Tür, und er wurde hart auf den Boden der Tatsachen geholt. Es begann schon damit, dass sein Erwartung, einen Luuren zu erblicken – welchen aus der Gruppierung auch immer – herb enttäuscht wurde. Stattdessen … stürmten Treymor den Raum. Benommen stierte Lomax sie an. Sie waren schwer bewaffnet und unschwer als gemeine Soldaten einzustufen. Mit einem Gesegneten, wie er sich in Lomax' Vorstellung eingeprägt hatte, hatten diese hier nichts zu tun, obwohl sie derselben Spezies angehörten. Fast brutal wurde er von seinem Lager emporgerissen. Zitternd und auf allen Gliedmaßen stehend brachte er noch immer keinen Ton heraus. Dann teilte sich die Menge, und einer, den Lomax traumwandlerisch sicher wiedererkannte, trat ein. Es war der Gesegnete, mit dem Mo ihn seinerzeit bekannt gemacht hatte. »Da hatten sie dich also eingesperrt …« Abscheu veranlasste Lomax, sich im festen Griff zweier Soldaten zu winden. Er versuchte sich zu befreien. Der Tyrann machte eine Geste, um ihn zu beruhigen, aber zum ersten Mal sah Lomax die ganze Hässlichkeit und spürte er die Falschheit dieses Wesens, das mit seinesgleichen gekommen war, um die Völker des Kubus zu knechten. Ihre Vorgänger, die Vaaren, hatten sie ausgelöscht. Sie waren keine ernsthaften Gegner gewesen, hatten der geballten Macht dieser Wesen nichts entgegensetzen können. Und die Luuren? Die Heukonen? Sie hatten sie auf die heimtückischste Weise, die man sich nur denken konnte, auf ihre Seite gezogen. Doch ihre Fürsorge, das wusste Lomax jetzt, war geheuchelt. Sie benutzten die, die sie am Leben ließen, nur. Selbst der gute Mo, ein verdienter, loyaler Knecht, hatte es zu spüren bekommen, wie tief der Fall eines geachteten Luuren sein konnte, wenn er den Falschen vertraute.
Mo! Von einem Moment zum anderen begriff Lomax, was das Erscheinen der Treymor auch bedeutete. »Was habt ihr … mit ihnen gemacht?«, kreischte er und entwickelte doch noch genug Kraft, sich aus den Fängen der Soldaten zu winden. Statt sich auf den Tyrannen oder dessen Schergen zu stürzen, glitten sie jedoch nur in den Nachbarraum. »Lasst ihn«, hörte er die Stimme des Blenders. Niemand stellte sich ihm in den Weg. Aber sein Elan erlahmte dennoch. Die grauenhaften Bilder, die ihn im Nachbarraum erwarteten, ließen ihn erst erstarren und dann wimmernd zusammenbrechen. Die Treymor hatten ein Massaker angerichtet. Überall trieben Leichen, übelst zugerichtet. Nicht nur Mo, auch Ogaree war darunter. »Bestien«, rann es aus Lomax' Mund. Es war ihm egal, dass er die Mörder anstachelte, auch ihn zu töten. Er wollte es sogar. Unbewusst zwar, aber so sehnlich, als gelte es eine Auszeichnung zu erlangen. »Verdammte Bestien!« Drei, vier Soldaten bekamen ihn wieder zu fassen und legten ihn in Spezialfesseln, die jeden Widerstand in Strafe verwandelten. Stromstoß um Stromstoß jagte durch Lomax' Körper. Irgendwann erlahmte jeder Widerstand. Irgendwann schien sein Gehirn zu kochen. Wie durch Schleier sah er den Tyrannen vor sich treten. »Du wirst wieder gesunden, keine Angst. Du hast schweres Leid erfahren. Diese hier, die du zu recht Bestien nennst, richten keinen Schaden mehr an, sei unbesorgt. Und du … die besten Ärzte werden sich um dich kümmern. Nicht nur dein Körper, auch dein Geist wird wieder in Ordnung gebracht. Niemand soll je wieder Zweifel in dich säen können. Zweifel daran, wer deine wahren Gönner sind. Du bist wertvoll, das wirst du noch beweisen können. Nun aber vergiss, was hier geschah. Vergiss, wer dir das Schreckliche antat. Wenn du das nächste Mal erwachst, ist alles gut. Lass uns von vorne anfangen. Ganz von vorne.« Der Tyrann zielte mit etwas auf Lomax, von dem dieser immer noch hoffte, es bedeute das ersehnte Ende. Bedeute, dass er dorthin folgen könnte, wohin Ogaree und Mo vorausgegangen waren. Aber es war der Anfang, nicht das Ende. Der Anfang einer großen Karriere, die von keinem Zweifel mehr über-
schattet wurde. Farraks Ärzte leisteten ganze Arbeit.
Lomax torkelte aus der Transitweiche. Ihm wurde schwarz vor Augen. Farrak erfasste sofort, dass etwas nicht stimmte. Hatte der Geist des Luuren die Aussicht auf ein vorgeblich unsterbliches Leben nicht verkraftet? Als Lomax vor ihm zusammenbrach, rief er sofort medizinische Hilfe, Der Luure brabbelte indes Unverständliches. Manchmal glaubte Farrak das Wort »Teufel«, ein anderes Mal »Betrüger« zu vernehmen. Aber letztlich war alles, was Lomax' Mund verließ nur unzusammenhängender Wortbrei. »Was ist mit ihm?«, wollte Farrak von den Medikern, die sich um den Luuren kümmerten, wissen. »Er war eben noch völlig gesund.« Der Treymor, der die Wiederbelebungsversuche geleitet hatte, richtete sich auf und meldete: »Wir kamen zu spät. Sein Gehirn hat irreparable Schäden erlitten. Es gibt mehrere Blutungsherde. Sie alle einzudämmen, war nicht möglich. Zumal sein Verstand schon irreparabel geschädigt gewesen wäre.« Farrak verdaute den Verlust schnell und wandte sich den Herausforderungen zu, die noch nicht auf die eine oder andere Art hatten abgeschlossen werden können. Allerdings fragte er sich schon, ob es nötig und richtig gewesen war, Lomax eine solche Farce zu präsentieren. Die Lebensuhren, wie er sie gesehen hatte, gab es nicht. Der Mechanismus, mit dem sich schon die Vaaren die Luuren gefügig gehalten hatten, war sehr viel banaler. Aber das würde Lomax nun niemals erfahren. Und auch nicht, dass seine Unsterblichkeit nicht den Schmutz unter seinen Fingernägeln wert gewesen wäre. Treymor machten keine Geschenke, schon gar keine, die andere Wesen bereichert hätten. Mit einer Ausnahme natürlich. Doch sie waren noch nicht angekommen …
15. Die Meldung erreichte Farrak direkt aus dem Legendenschiff. Es war die Bord-KI, die ihn kontaktierte. Er hatte seine persönliche Komm-Frequenz für Dringlichkeitsrufe auch von dieser Adresse freigegen. Dennoch mutete die Kontaktaufnahme seltsam an. Noch immer schwärmten zahlreiche Treymor-Trupps durch das Schiff. Ihre vordringliche Aufgabe bis vor kurzem war es gewesen, Darnok aufzuspüren. Doch inzwischen waren weitere Unruheherde lokalisiert worden. »Es ist ungewöhnlich, dass du dich an mich wendest.« »Aufgrund der Dringlichkeit schien es mir geboten …« »Welche Dringlichkeit?«, fiel Farrak der KI ins Wort. Sein Misstrauen war geweckt. »Ich werde angegriffen.« »Von wem?« Die KI erklärte es. Offenbar handelte es sich bei dem neu aufgetauchten Unruheherd um ursprüngliche Besatzungsmitglieder – wo diese sich zuvor so erfolgreich einer Entdeckung entzogen oder auf welchem Weg sie zurückgefunden hatten, schien die KI nicht beantworten zu können. Wohl aber registrierte sie die Umtriebe der Menschen, die über besondere Fähigkeiten verfügten, vorrangig der, direkt auf das Schiff zugreifen zu können. Im Normalfall geschah dies in Abstimmung mit der Bord-KI. In diesem Fall jedoch arbeiteten sie offenbar genau konträr zu deren von den Treymor diktierten Regeln. »Sie spionieren jede Ebene aus, aber das allein ist es nicht«, antwortete die KI auf Farraks Frage nach deren Absichten. »Sondern?« »Offenbar versuchen sie Einfluss auf mich zu nehmen. Sie bezeichnen sich als autorisiert.« »Du weißt, dass das nicht stimmen kann. Oder?«
»Die Autorisierung wurde geändert. Mit Abwesenheit des Commanders bist du mein oberster Befehlsgeber. Der eigentliche Grund, weshalb ich dich direkt kontaktiere. Die Dringlichkeit –« »Ja, das hatten wir schon. Was schlägst du als Gegenmaßnahme vor?« »Eine Schockwelle.« »Was verstehst du darunter?« »Solange die Angks mit dem Schiff verschmolzen sind, stellen sie unter den gegenwärtigen Bedingungen zwar eine Gefahr dar – aber auch ein leicht zu treffendes Ziel.« »Soweit ich weiß, haben sie sich in dieses ominöse Dorf zurückgezogen. Dort war kein Zugriff mehr möglich. Diese Gebäude … man müsste sie zerstören, oder? Ich denke, das wäre tatsächlich das Beste. Restlos zerstören …« »Das ist nicht nötig, wenn ich die Erlaubnis erhalte. Zumal das Schiff größte Leistungseinbußen hinnehmen müsste, wenn es derart amputiert würde.« Amputiert – der Vergleich schien Farrak mehr als unpassend. Sie hatten es nicht mit einem Lebewesen zu tun. »Du präferierst deine sogenannte Schockwelle? Unterscheidet sie sich denn von dem, was wir bereits versuchten? Dem Strahlungsscan …« »Sie packt das Übel bei der Wurzel.« Das gefiel Farrak. »Einverstanden. Aber ich erwarte umgehenden Vollzug und uneingeschränkten Erfolg.« »Das ist mir bewusst.« »Dann los.« Ein Atemzug, dann erneut die Stimme aus dem Komm: »Es ist bereits erledigt.« »Erfolgreich?« »Auf ganzer Linie. Sie warten nur noch darauf, abgeholt zu werden …«
Sirrks Soldatendasein beinhaltete wenig Freude, aber auch selten ein
wirkliches Risiko. Die Gegner, gegen die er bislang angetreten war – meist die Bewohner harmloser Lowtech-Welten – hatten keine ernstzunehmenden Waffen oder Körperkräfte besessen. Der jetzige Auftrag aber enthielt gleich mehrere Unbekannte. Mit anderen Worten: Es konnte durchaus – und erstmals – richtig gefährlich werden. Das Verschwinden eines Spezialtrupps unter Führung des als fähig bekannten Osmon hatte sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen. Und ausgerechnet dorthin, wo sich deren Schicksal mutmaßlich erfüllt hatte, wurde jetzt Sirrk geschickt. Zusammen mit einer großen Anzahl anderer Soldaten. Die Order klang einfach: Sturm der Häuser, die an Bord des fremden Raumschiffs einen dorfartigen Komplex bildeten! Aber diese simple Order war auch schon Osmons Trupp zum Verhängnis geworden. Die Möglichkeit, sich dem Befehl zu widersetzen, gab es jedoch nicht. Und so stellte sich Sirrk auf ein baldiges Ende seiner Existenz ein – etwas, womit Soldaten jederzeit rechnen mussten … Der Unterschied zwischen dieser allgemein akzeptierten Theorie beunruhigte ihn aber, kaum dass sie zur Praxis zu werden drohte, stärker als er es für möglich gehalten hätte. Und wenn er in die Gesichter der anderen sah, die mit ihm auf breiter Front vorrückten, sah er, dass er keine Ausnahme bildete. Sie hatten alle Respekt vor dem Unbekannten, das sie hier erwartete. Aber dann lief alles unerwartet reibungslos. Sie mussten nicht einmal die Türen gewaltsam öffnen, sie glitten auf, kaum dass sie sich den jeweiligen Häusern näherten. Vorsichtig drangen die Treymor ein, die Waffen schussbereit und die Individualschirme aktiviert. Was sie drinnen erwartete, hatte ihnen keiner sagen können. Doch es war fast banal, auch wenn es die Bestätigung all dessen beinhaltete, was über den Verbleib von Osmons Trupp spekuliert worden war. Teils schrecklich verunstaltete Leichen wurden geborgen. Die toten Treymor lag über sämtliche Häuser, in die sie vor nicht allzu lan-
ger Zeit eingebrochen waren, verstreut. Die Ursache ihrer Verletzungen war nicht unersichtlich, aber es schienen keine Laser- oder sonstigen Schusswaffen zum Einsatz gekommen zu sein, eher Klingen … Zunächst rechneten Sirrk und seine Leute ebenfalls mit einer Attacke. Doch sie blieben unbehelligt und konnten sowohl die eigenen Gefallenen bergen als auch jene Fremdwesen – »Menschen« –, die in einem der Häuser gefunden wurden. Sie wirkten jedoch alles andere als bedrohlich, lagen ebenfalls da, wie tot, auch wenn noch Leben in ihnen zu sein schien. Sirrks diesbezügliche Befehle waren unmissverständlich: Abtransport. In die Silberstadt. Und so geschah es.
Jarvis kehrte mit der Holofrau ins Angkdorf zurück. Schon von weitem sah er die Veränderung. Es wimmelte von Treymor. Sie geben nicht auf, dachte er. Aber solange die Häuser Schutz bieten – Seine Gedanken gerieten ins Stocken, als er realisierte, was im Dorf tatsächlich vorging. Treymor schleppten tote Artgenossen aus den Häusern … und menschliche Gestalten aus einem davon. Assurs Haus. »Verdammt, wie konnte das …« Er verstummte, als fürchte er, gehört und aufgrund seiner Entgleisung entdeckt zu werden. »Unter Umständen wurde ihnen ihre Verschmelzung mit dem Schiff zum Verhängnis«, wisperte die Holofrau, die ihn wie ein Gespinst umgab und seinen Chamäleoneffekt verstärkte. »Wie meinst du das?«, gab Jarvis ebenso leise zurück. »Dadurch wurden sie angreifbar.« »Durch Sesha?« Das KI-Fragment bestätigte es. »Sie muss wirklich völlig ausgetickt sein!« »Die Möglichkeiten der Treymor, eine KI zu kontrollieren und zu Handlungen zu zwingen, die ihrer eigentlichen Konditionierung widersprechen, sind riesig.«
»Ich will keine Entschuldigungen hören!« Obwohl immer noch leise sprechend, legte Jarvis alle Schärfe in seine Stimme, die er aufbringen konnte. »Es ist ein Fakt.« Jarvis hatte das Verlangen, sich die Holohaut vom Leib zu reißen. Sie gehörte da nicht hin. Und außerdem war das Fragment Teil von etwas, das gerade seine Freunde erledigt hatte. »Kannst du erkennen, ob sie noch leben, nur bewusstlos sind, oder …?« »Nein. Wir müssen näher ran, um das rauszufinden.« »Das willst du nicht zufällig, um mich denen auch vor die Flinten zu führen?« »Du glaubst immer noch, ich sei ihr Instrument, ihr Handlanger und Agent?« »Das da …« Jarvis zeigte auf die Szenen, die sich im Dorf abspielten. »… könnte einen schon auf solche Gedanken bringen. Außerdem war dein ›Bürge‹ auch nicht so überzeugend, wenn ich erinnern darf …« »Er scheint auf eigene Faust weitermachen zu wollen.« »Das wäre Darnok zwar zuzutrauen, aber ich habe nicht den geringsten Beweis dafür, dass er überhaupt aus der Stase geweckt wurde. Das alles kannst du dir auch einfach nur aus den Fingern gesogen haben.« »Ich verstehe deine Vorbehalte. Aber wäre ich auf ihrer …« Ein Holoärmchen flatterte in Richtung der Treymor. »… Seite, könnte ich sie leicht über deinen Standort informieren. Ihrem geballten Beschuss …« »Schon gut. Mag sein, dass ich dich falsch verdächtige. Aber allmählich zieht es mir den Boden unter den Füßen weg – wenn du verstehst, was ich meine.« Das KI-Fragment schwieg.
16. Farrak starrte ehrfurchtsvoll auf das Panorama, das sich ihm von einer Galerie aus bot. Tief unter ihm wuselte es in einem fort. Die Heger kamen kaum nach, das, was aus dem Leib der Königin gepumpt wurde, zu den vorbereiteten Reifefäden zu bringen. Ein seltsames Geräusch lag in der Luft. Farrak versuchte sich zu erinnern, ob es bei seiner Entstehung ähnlich geklungen hatte. Aber eine echte Erinnerung daran gab es nicht, nur etwas wie ein … instinktives Begreifen, was dieser Klang zu bedeuten hatte, das der Bilder gar nicht bedurft hätte. Auch die anderen acht standen auf ihren Balkonen. Sie alle bewegte die Frage: Würde diese neue Generation von Treymor die Anforderungen erfüllen, die in sie gesetzt wurden? Würde dies der erhoffte Sprung nach oben auf der Evolutionsleiter sein? Dass ausgerechnet jetzt Nachricht von den VÄTERN gekommen war – Erwartet uns. Wir sind unterwegs. –, adelte diesen Moment umso mehr. Unschön war hingegen, dass der Verheerer noch immer unauffindbar war. Aber Farrak schloss nicht aus, dass sie sich seinetwegen unnötig Sorgen machten. Möglicherweise war er längst einer der Maßnahmen, die zur Säuberung der RUBIKON eingeleitet wurden, zum Opfer gefallen. Von sich reden gemacht hatte er jedenfalls nicht. Andere umso mehr. In einer Arrestzelle an Bord des Legendenschiffs wurden diejenigen festgehalten, die dank des Einsatzes der Bord-KI schließlich doch hatten überwältigt werden können. Doch es handelte sich nur um einen Bruchteil der einstigen Besatzung. Woher waren sie gekommen? Hatten sie sich in dem Dorf versteckt gehalten, bevor sie auffällig geworden waren? Und die anderen … hielten sie sich mög-
licherweise noch in der seltsamen Gebäudeansammlung auf, die voller Tricks und Fallen zu sein schien. Je länger Farrak darüber nachdachte, desto überzeugter wurde er, dass nur eine einzige Person in der Lage war, die RUBIKON restlos unter Kontrolle zu bringen – für und im Namen der Treymor. Und so begab er sich unverzüglich zu dieser Person. Sie war der Schlüssel. Der Schlüssel, den Farrak den VÄTERN überreichen wollte, sobald sie eingetroffen waren.
Cloud hatte aufgehört, die Stunden und Tage in der Silberstadt zu zählen. Gartol ließ sich immer seltener sehen – ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen war, blieb dahingestellt. Wohl fühlte sich Cloud jedenfalls nicht. Er wusste, dass man ihn manipuliert, präpariert, hatte. Wie schon einmal war er zur Marionette der Treymor geworden. Und diesmal würden sie nicht so dumm sein, ihn noch einmal entkommen zu lassen. Was er allerdings immer noch nicht wusste, war, womit er ihnen von Nutzen sein sollte. So weit er deren Machtbereich überblickte, gab es nichts, worin er ihnen überlegen gewesen wäre. Aber vielleicht ging es ihnen gar nicht darum. Vielleicht hatten sie einfach nur Freude daran, Widersacher zu brechen. Die Tür öffnete sich, und Cloud erwartete, Gartol zu sehen. Schon die Prunkrüstung verriet seinen Irrtum. »Farrak …« »Ich bin erfreut, dass du mich erkennst.« »Was kann ich für Euch tun, Herr?« Cloud hasste sich für die Worte, die ihm über die Lippen kamen. So viel Unterwürfigkeit nagte am Ego – erst recht, wenn man spürte, dass eine Art zweiter Wille Zunge und Lippen bewegte. »Es gibt da etwas, Johncloud – eigentlich sind es zwei Gefallen, die ich einfordere.« »Was immer in meiner Macht steht, werde ich tun.« »Macht ist kein Wort, das ich auf eine Kreatur wie dich bezogen
hören möchte.« »Verzeiht.« Farraks Mandibeln mahlten. »Du erinnerst dich an dein Schiff? Als es noch … dein war?« »Die RUBIKON.« »Die RUBIKON.« »Ich erinnere mich gut.« »Wusstest du, dass sie noch existiert?« »Nein.« »Aber?« »Ich hatte es gehofft. Natürlich.« »Ich weiß nicht, ob es natürlich ist – denn Hoffnung sollte eigentlich zu den Dingen gehören, die aus dir getilgt wurden. So etwas verstellt nur den Blick vor Fakten.« »Gewiss, Herr.« »Die RUBIKON ist ein Schatz, wusstest du das? Oder sagen wir besser, sie birgt einen Schatz. Ihn zu heben, erweist sich allerdings als unerwartet schwierig.« Cloud schwieg. Stumm wartete er auf nähere Details, eine Erklärung. »Zumal sich Widerstände in ihr regten und vielleicht weiterhin regen werden …« Farrak schilderte, was im Angkdorf passiert war. Cloud registrierte die Fakten, war aber ratlos, was die Hintergründe betraf. »Du hältst es für unwahrscheinlich, dass sich auch der Rest deiner Mannschaft noch an Bord aufhält?« »Theoretisch … ja.« »Wie ließe sich das herausfinden?« »Sesha … die KI …« »Ja, ja, das haben wir alles versucht. Das Problem ist: Auch mit der KI gibt es … Probleme. Obwohl sie loyal ist – wozu wir sie zwangen, natürlich –, enthält sie uns Daten vor.« Das machte Cloud neugierig. »Daten vor?«, echote er. »Sehr, sehr bedeutende Daten, die sich auch nicht einfach aus deinem Gehirn oder dem eines anderen Besatzungsmitglieds ziehen
lassen – weil es die Koordinaten eines bestimmten Ortes im Kosmos betrifft.« »Welchen Ort meint Ihr, Herr?« »Ich meine das Angksystem – das System der Bractonen.« »Die Koordinaten sind im System. Sesha wird sie –« »Sesha gab sie uns. Und Sesha glaubt offenbar selbst, dass es sich um die echten Koordinaten handelt. Wir haben sie eingehender Untersuchungen unterzogen. Aber unsere Nachforschungen haben gezeigt, dass sie falsch sind. Bei der angegebenen Position existiert nichts!« »Vielleicht wurde das System inzwischen vollständig vernichtet.« Cloud wunderte sich, wie leicht ihm dieser Verdacht von den Lippen kam. »Bei unserem letzten Besuch dort tobte das Chaos.« »Es gibt Mittel und Wege so etwas zu unterscheiden. Aber dort, wohin uns Seshas Datensätze führten, war nie ein Sonnensystem.« »Wenn das sicher ist …« »Das sagte ich gerade.« »Wie kann ich dann helfen?« »Nun …« Farrak trat näher. In der Patina seiner Rüstung spiegelte sich Cloud matt wider. »… wir, unsere Spezialisten, hegen den Verdacht, dass die Bractonen eine Sicherung eingebaut haben, die verhindern soll, dass die Koordinaten ihres Reichs in die falschen Hände fällt – eine Sicherung, die nicht einmal der KI bewusst ist. Ein Subprogramm befiehlt ihr aber offenbar, die falschen Daten auszuschütten, solange nicht eine wirkliche Autorität, die von den Bractonen legitimiert wurde, sie abfragt.« »Und Ihr meint, ich wäre diese Autorität?« »Ich bin mir völlig sicher.« Cloud blieb auch nach Minuten der Stille, in der weder Farrak noch er das Wort erhoben, völlig ruhig. Schließlich sagte der Treymor: »Ich habe beschlossen, dich an Bord der RUBIKON zu schicken – was hältst du davon?« »Ich werde tun, was ich kann, um Sesha die wahren Positionsdaten zu entlocken.« »Natürlich stehst du unter permanenter Beobachtung. Gartol er-
wähnte, dass du ihm gegenüber etwas … nun, sagen wir vorlaut warst. Aber ich vertraue auf Lomax' Fähigkeiten, die er an dir noch beweisen durfte.« Er redeten wie von einem Toten. Aber Cloud ging nicht darauf ein. »Du wirst in Kürze überstellt. Was brauchst du, um mit der KI in einen Kontakt zu treten, bei dem sie sich keine Hintertürchen offen halten kann?« »Ich muss in die Zentrale. Über einen der Kommandositze kann ich –« »Gewährt!« Farrak stapfte aus dem Raum. Wenig später wurde Cloud abgeholt. Es war ein seltsames Gefühl, dorthin zurückzukehren, womit ihn eigentlich nichts mehr verband.
Der Gang durch das verlassene Schiff. Orte, die Erinnerungen weckten wie ferne Echos. Dann die Gestalten, die ihm begegneten. Keine hatte das Gesicht, das hierher passte. Die Treymor, die Cloud zur Zentrale begleiteten, sprachen kein Wort. Sie hatten ihre Befehle, so wie er seine Instruktionen hatte. Er vermied es, den Kontakt zu Sesha schon jetzt zu suchen, und auch von ihr kam keine Begrüßung. Für eine ganze Weile kam es Cloud so vor, als wäre die RUBIKON nicht nur ihrer eigentlichen Besatzung, sondern auch ihrer guten Seele beraubt. Es irritierte ihn, so zu empfinden. Es irritierte ihn, hier zu gehen – in Diensten ehemaliger Feinde. Aber mehr als Irritation … gestattete ihm sein geknebelter Geist nicht. Schließlich kamen sie in der Zentrale an. Die beiden Treymor blieben zurück, als er das Podest in der Mitte bestieg. Sieben verwaiste Sitze, ein deaktivierte Holosäule … Das alles war falsch, aber nicht zu ändern. Er sank in den Sitz. Ein Griff, und der Deckel schloss sich über dem sarkophagartigen Gebilde. Und noch bevor die Dunkelheit sich innerhalb des Gehäuses etablieren konnte, arretierten die Schnitt-
stellen, die Geist und Schiff aneinanderkoppelten. Willkommen, Commander. Du erkennst mich? Habe ich dich jemals nicht erkannt? Ich war lange weg. Zeit verändert nicht den Status. Das wird den, der mich schickte, beruhigen. Commander? Das musst du nicht verstehen. Cloud wollte zum Grund seine Kommens, zum Kern seines Anliegens kommen (warum Zeit vergeuden?), als etwas Unerwartetes geschah. Etwas … flog auf ihn zu. Streifte ihn wie die Schwingen eines fast gewichtlosen Vogels … Was war das? Commander? Gerade eben! Ich verstehe nicht. Da war etwas … bei mir. Im Sarkophag. Oder zumindest auf der Ebene, auf der meine Sinne momentan arbeiten … Ich habe nichts bemerkt. Cloud misstraute der Behauptung. Er erinnerte sich Farraks Worte. Sesha leistete den Treymor keinen Widerstand, dennoch schien sie Informationen zurückzuhalten. Geschah dies auch jetzt gerade? Ich benötige Daten, wandte er sich an die KI. Da! Da war es wieder! Zum zweiten Mal hatte Cloud das Gefühl, etwas kollidiere fast mit ihm. Aber war sich unsicherer denn je, ob das auf materieller oder geistiger Ebene geschah. Du musst es bemerken. Es attackierte mich schon wieder. Soll ich einen Diagnosescan durchführen? Du hältst mich für krank? Übergeschnappt? Ich kann keine Prognose ohne Diagnose stellen, Commander. Soll ich – Himmel, nein! Sesha schwieg.
Cloud setzte zu einem erneuten Versuch an. Die Daten, sagte er, von denen ich sprach. Ich benötige sie auf einem externen mobilen Speicher. Um welche Daten handelt es sich. Ich brauche die Koordinaten des – Woaaassssch! Diesmal gab es kein Vertun. Aus den Tiefen des Schiffes heraus raste etwas heran – und schmetterte gegen Cloud. Prallte mit ihm zusammen. Riss ihn aus der Agonie. Und eröffnete ihm, was er zuerst nicht glauben wollte … und konnte …
Unmöglich, dachte er, ohne zu wissen, woher die plötzliche Überzeugung kam. Es kann nicht sein, dass ich die ganze Zeit glaubte, ihre Marionette zu sein. Dabei bedarf es nur ein klein wenig Willenskraft, um mich vom Gegenteil zu überzeugen … KÄMPFE! Wer … ist da? SESHA. Ich versteh nicht. Du bist … auch ihr Gefangener. Etwas sickerte tief in ihn ein. DIAGNOSESCAN ABGESCHLOSSEN. AUTORISIERUNG BESTÄTIGT. GESUNDHEIT BESTÄTIGT. BEFEHLE? Vor Clouds Augen begann sich alles zu drehen. Er lag im Sarkophag, und die mentale Verbindung zum Schiff verlor an Stabilität. Es war, als würde er selbst zu flackern anfangen, eine Sekunde real, dann wieder immateriell zu sein. Real … immateriell … Was geht hier vor? BEFEHLE? Wer bist du? SESHA, COMMANDER. Was ist passiert? DAS SCHIFF WURDE ÜBERFALLEN. EINDRINGLINGSALARM!
Warum kam ihm das so unwirklich vor? Erinnerungen! Er musste sich erinnern … schnell! Woher kam er? Was war die Situation? Wieder griff das ein, was mit ihm kollidiert war. Sesha. Aber nur ein Fragment von Sesha. Das sich seine Autarkie bewahrt hatte, während – BEFEHLE, COMMANDER! Cloud hatte immer noch Schwierigkeiten zu begreifen, was hier vorging. Aber eine innere Stimme hatte ihm versprochen, dass er kein Sklave war, frei handeln und entscheiden konnte. Farrak irrte sich. Lomax und Gartol … irrten sich. Er war keine Marionette irgendwelcher … Partikel. Man konnte ihn nicht fernsteuern oder programmieren wie eine Puppe … EINDRINGLINGSALARM!, wiederholte Sesha. In der ebenfalls eine Wandlung vorging. Was hatten die Bractonen in ihr hinterlegt? Welche Sicherung konnte Gegner wie die Treymor so täuschen? Cloud schaffte es, wieder mit dem Schiff zu verschmelzen. Blitzschnell verschaffte er sich einen Überblick. Und wurde der Commander, den die RUBIKON brauchte. Nötiger brauchte als alles andere in dieser schier aussichtslosen Lage …
Jetzt!, dachte John Cloud. Es war Zeit, den absoluten Gehorsam abzustreifen wie eine alte, zu eng gewordene Haut. Und einer Häutung kam es tatsächlich gleich, einer Katharsis – seelischen Reinigung – was sich in diesem Moment mit ihm abspielte. Die Antikörper, die sein Metabolismus nach der ersten Verseuchung mit Protopartikeln gebildet hatte, stürzten sich auch noch auf die letzten Reste, die noch nicht auf natürliche Weise eliminiert worden waren. Von diesem Augenblick an war er frei. Von diesem Augenblick an diktierte er Sesha als der Commander, den sie ohne jede Einschränkung anerkannte, was er beschlossen hatte – und nun mit ihrer Hilfe ausgeführt sehen wollte.
Sesha stellte die Verbindung mit den uralten Anlagen in der Ewigen Stätte her, die auf die Foronen zurückgingen. Das größte Versäumnis der Neun, so zeigte sich jetzt, war es gewesen, die Sphäre, die sie für ihre eigenen Bedürfnisse zweckentfremdet hatten, nicht vollständig von Foronenrelikten zu säubern. Blitzschnell war der Kontakt zu schlummernden Rechnern hergestellt, die schon einmal Jahrzehntausende so schadlos überdauert hatten, dass sie den Befehl, den sie jetzt erhielten, fehlerfrei umsetzten. Die Ewige Stätte tat, was sie schon einmal getan hatte – als sie die Arche der Forone vervielfältigte, als sie die SESHA-Kopien, die HAKARE, erschuf. Nur Technik, nur anorganische Materie, nicht Lebendiges, wurde kopiert. Dutzendfach. Hundertfach. Tausendfach. Die Vakuumkugel füllte sich zum Bersten. Zumindest rein optisch entstand dieser Eindruck. In Wahrheit war die Sphäre so gewaltig, dass keine ernsthafte Kollisionsgefahr für die entstehenden Schiffe bestand. Echte und vorgetäuschte Kopien (Cloud setzte auch die Fähigkeit der RUBIKON ein, Ghosts zu projizieren, die schwer von materiellen Objekten zu unterscheiden waren) mischten sich … … und zwischen allen bewegte sich das Original. Cloud sprengte die Ketten, die sein Schiff an die Silberstadt gefesselt hatten, mit einem unwiderstehlichen Mix aus etlichen Bordgeschützen. Auch Teile der Silberstadt vergingen unter den energetischen Gewalten. Ich sollte sie komplett zerstören, dachte Cloud. Doch mit den Sinnen der RUBIKON bemerkte er, dass sich neue Fahrzeuge unter die von ihm selbst erzeugten mischten. Treymor-Einheiten, die offenbar von Farrak herbei geordert worden waren. Sie eröffneten ebenfalls ohne Zögern das Feuer. Aber ihre Erfolge brauchten Zeit. Zeit, die die einzig wahre RUBIKON zu nutzen wusste. Cloud steuerte sie auf direktestem Weg durch eine der Energiemaschen, hinter denen die Wasser des Kubus warteten.
Niemand nahm davon Notiz, und als außerhalb stationierte Verbände den Flüchtling orteten, war sein Vorsprung bereits uneinholbar. Indes quollen im Angkdorf Menschenmassen aus den dortigen Häusern. Was Seshas Blicken nicht verborgen blieb. Ich … verstehe nicht, kommentierte Cloud die Meldung … um wenig später selbst auf das Dorf »hinabzublicken«, während sein Körper im geschlossenen Sarkophag der Kommandozentrale ruhte. Es gibt keine Erfahrungswerte, unterstrich auch die KI. Entweder die Angks steuern ihre Rückkehr selbst – oder … … oder das Schiff holt sie zurück, nachdem es erkannt hat, dass es wieder in den richtigen Händen ist … Könnte es so sein, Sesha? Unbekannt. Keine ausreichende Daten zur Bestätigung dieser These vorhanden. Auch gut, seufzte Cloud lautlos. Um das Wie konnten sie sich auch später noch kümmern. Tatsache war: Von irgendwoher strömten die Angks, die die Tayaner auf Taurts Geheiß evakuiert und vor den Treymor in Sicherheit gebracht hatten, an Bord zurück. Als wären die Häuser des Dorfes allesamt … Transmitter … und die Angks im Stande, sich selbst in die Empfänger zu teleportieren, ohne entsprechende Abstrahlstation auf Taurts Stützpunkt. Das grenzt an Magie, dachte Cloud. Dann fiel ihm ein, dass es Bractonentechnik war. Kurz vor der Grenze des Kubus erreichte sie ein Signal, das sie auf einen Vaarenrochen aufmerksam machte, der ihnen zu folgen versuchte. Cloud entschlüsselte die Nachricht – und wurde erinnert, dass noch ein paar wichtige – nein, unersetzliche! – Passagiere fehlten. Unter anderem die Frau, die mit ihm zum Mars gereist war, vor einer halben Ewigkeit. Sofort korrigierte er den Kurs und schickte dem Vaarenrochen ein Shuttle entgegen. Als die RUBIKON den Kubus schließlich doch hinter sich ließ, war die Wiedersehensfreude an Bord riesengroß. Scobee stürmte die Zentrale, begleitet von Cy und Algorian, von Jelto und Aylea. Sie
alle waren kaum zu bremsen in ihrer Freude, Aylea sogar so ungestüm, dass sie mit ihren kleinen Fäusten gegen den einzigen Sitz auf dem Kommandopodest trommelte, dessen Gehäuse geschlossen war. »Mach auf! Mach endlich auf, guter, guter John! Du hast was gut bei mir. Ich wird nie wieder frech sein, ich schwör's! Dafür, dass du uns von dieser Nervensäge befreit hast …« »Nervensäge?« Der Deckel über Cloud bildete sich zurück. »Verstehst du nicht. Kannst du nicht verstehen«, beruhigte ihn Scobee, die ihre Arme von hinten um Aylea schlang, als müsste sie sie davon abhalten, einfach in den Sarkophag zu springen. »Oder sagt dir der Name Arto etwas … Kleiner Arto?«
17. »Ich habe Dinge im Kubus gesehen, die das Schlimmste befürchten lassen«, sagte Cloud, als die Holosäule endlich wieder in Samtschwarz gebettete Sterne von draußen übertrug. Die RUBIKON hatte einen knappen Lichtmonat Distanz zwischen sich und die ozeanische Sonne gebracht. »Eigentlich müssten wir sofort umkehren und versuchen, das Chaos zu nutzen, um den Treymor eine Niederlage beizubringen, von der sie sich nicht so schnell wieder erholen …« »Hältst du das für machbar?«, fragte Scobee skeptisch. Seine geballten Fäuste lockerten sich fast widerwillig. Aber wohin er sah, blieb die Anspannung. Eigentlich grenzte es an ein Wunder, dass von den alten Gefährten niemand fehlte. »Es wird eine Weile dauern«, sagte Cloud, »bis wir uns gegenseitig auf den aktuellen Kenntnisstand gebracht haben. Ich bin gespannt, was ihr mir zu erzählen habt. Meine Erinnerung an gemeinsame Zeiten endet … mit dem nicht sehr charmanten Traum, mich langsam in einen Käfer zu verwandeln.« »Stand dir eigentlich nicht mal so schlecht.« Alle staunten, woher Jarvis jetzt schon wieder seinen Galgenhumor holte. Cloud trat neben Assur, schlang den Arm um sie und zog sie zärtlich an sich. »Bist du derselben Meinung?« »Ich kann mich schon gar nicht mehr daran erinnern. Ich will es auch nicht.« Sie nickte zur Holosäule, wo eine scheinbare Sonnenkorona verhüllte, was sich im Innern an Tragödien abspielte. »Da drinnen wird es die nächste Zeit sicher furchtbar ungemütlich.« »Es könnte die Hölle werden«, hieb Scobee in dieselbe Kerbe. Sie hatte sich als eine der Letzten von Taurt verabschiedet. »Ich wünschte, ich hätte ihn überzeugen können, mit uns zu kommen.
Aber das wollte er nicht. Unter gar keinen Umständen. Lieber wollte er sterben, als den Kubus aufzugeben.« »Taurt?«, fragte Jarvis. Sie nickte. »Was hat er für eine Chance gegen die Treymor?« »Keine, fürchte ich«, sagte Jelto. »Sie haben begonnen, die Welten zu sprengen, die das Gesicht des Kubus seit Äonen prägten. Wusstet ihr das?« Einige nickten, andere waren noch mehr erschüttert als ohnehin schon. »Taurt sagte mir, es gebe noch Hoffnung.« Scobee lächelte verkrampft. »Er sagte es zum Abschied. Aber wahrscheinlich nur, um mich zu trösten und dazu zu bringen, selbst zu gehen.« »Du hattest erwogen, dort zu bleiben?«, fragte Assur verblüfft. »Meinst du das ernst?« Scobee zuckte die Achseln. Sie wusste es offenbar selbst nicht. »Wie auch immer, ich traue ihnen zu, dass sie tatsächlich jedes Objekt im Kubus zerstören, das Taurt und seinen Getreuen als Unterschlupf dienen könnte. Spätestens wenn das geschehen ist – und lange wird es bei dem Tempo, das die Treymor vorlegen, nicht dauern –, wird das Kapitel Tovah'Zara geschlossen werden können. Denn dann ist der Kubus nur noch eine einfache feindliche Bastion, nichts sonst!« Die pausenlos in die Holosäule eingeblendeten Umgebungsdaten verrieten, dass die Verzweiflungsaktion, mit der Cloud die RUBIKON aus der Ewigen Stätte befreit hatte, etliche Sonnen der näheren kosmischen Umgebung den Tod beschert hatte. Dennoch waren die Kopien des Schiffs so instabil geblieben, dass sie sich nicht lange halten würden. Zu viele auf einmal hatte Cloud »in Auftrag« gegeben. Er weinte ihnen keine Träne nach. Im Gegensatz zu Taurt, den Tayanern und all den Bedauernswerten sonst, die mehr denn je die Härte der Treymor zu spüren bekommen würden. »Vielleicht hatte er wirklich noch Hoffnung, als er es zu dir sagte«, wandte er sich an Scobee. »Vielleicht hat er noch etwas in der Hin-
terhand, von dem wir nichts ahnen.« »Was sollte das sein?«, fragte Jarvis. »Gäbe es etwas, hätte er es doch schon vorher eingesetzt – oder?« »Kommt drauf an, was es ist.« Seshas Stimme platzte in die Diskussion. Das, was sie zu vermelden hatte, lenkte für kurze Zeit von den Verhältnissen im Kubus ab. Wenig später erreichte Cloud mit Scobee, Assur und Jarvis den Ort, auf den sich Seshas Nachricht bezogen hatte. Einen Ort, den viele von ihnen lange Zeit gemieden hatten. »Wie hat er das fertig gebracht?«, fragte Cloud, nachdem er minutenlang schweigend wie alle anderen auf den rechteckigen Block aus Staseenergie gestarrt hatte, in dem sich die Umrisse einer vertrauten Gestalt abzeichneten. »Hast du ihm geholfen, Sesha? Wenn ja, verlange ich eine Erklärung –« »Es gibt keine Entschuldigung, dass ich es tat … Moment, ich korrigiere: dass ein winziger Teil von mir es tat und der Forderung nachgab. Aber offenbar kannten sie sich … jener Teil und er …« »Bei der ist 'ne Schraube locker«, knurrte Jarvis. »Ich hab's schon immer gewusst. Schizophren, die Kleine!« Sesha verwahrte sich nicht dagegen. »Er kam einfach hierher und verlangte … wieder in Stase versetzt zu werden?«, hakte Cloud noch einmal nach. Die KI bestätigte dies. »Er sagte, er sei müde. Unendlich müde. Und hier könne er in Ruhe schlafen – ich glaube, er meinte für immer.«
Später traf sich Cloud noch mit Scobee allein. In seiner Kabine. Er hatte Assur angeboten, dabei zu sein, aber sie hatte lächelnd abgewunken. »Besteht Grund zur Beunruhigung?«, hatte sie nur gefragt. »Nicht in der Hinsicht, auf die du anspielst.« »Dann palavert mal alleine. Sagtest du nicht, es beträfe ganz speziell Scobee?« »Eigentlich betrifft es uns alle. Aber ich glaube, dass sie es mit als
Erste erfahren sollte.« »Du wirst deine Gründe haben.« Cloud lächelte, als er an Assurs Verständnis dachte. Hatte er auch während seines Aufenthalts in der Silberstadt an sie gedacht? Er wünschte, er hätte es noch zu sagen vermocht. Aber die dortige Zeit versank mehr und mehr hinter einem Schleier des Vergessens. Inzwischen hatte ein Diagnosescan erbracht, dass sich in seinem Körper keine Protopartikel, wie einstmals, befanden – nur noch Antikörper. Offenbar hatte die erstmalige Verseuchung mit diesen Teilchen nach deren Entfernung eine Grundimmunisierung herbeigeführt, mit der weder Farrak noch Lomax oder irgendein anderer gerechnet hatten. Zunächst hatte die neue Dosis ihren Zweck erfüllt. Von Cloud selbst unbemerkt hatten die Antikörper aber dann den Kampf gegen die »Eindringlinge« aufgenommen. Letztlich war es Clouds Aufbäumen dann zu verdanken gewesen, dass er jede fremde Einflussnahme abgewehrt und sich seiner eigenen Stärke und Verantwortung erinnert hatte. Von da an war alles wie von selbst gegangen … Kurz unterhielten sie sich bei einem alkoholfreien Getränk über diese Phase. Scobee zeigte großes Interesse und dachte sicher, er habe sie zu sich gebeten, um unter Freunden noch einmal alles aufarbeiten zu können. »Das Einzige, was ich immer noch nicht begreife«, sagte er, bevor er dieses Thema abschließen wollte, »ist, was da im Sarkophag nach mir gegriffen hat … und dann regelrecht mit mir kollidierte.« »Könnte es nicht Sesha selbst gewesen sein? Jener Teil von ihr, der offenbar die ganze Zeit nach Mitteln und Wegen suchte, den Zwang der Treymor abzuschütteln?« »Möglich. Ja, das wäre durchaus denkbar. Ich werde mich darüber in einer stillen Stunde mit Sesha unterhalten.« »Warum nicht jetzt gleich?« »Weil«, sagte Cloud und blickte Scobee über den Rand seines Glases hinweg an, »diese stille Stunde für dich reserviert ist.« »Muss ich mir jetzt Gedanken machen – um deine Beziehung?« Ihr Lächeln tat gut.
Umso schwerer fiel es ihm, ihr zu eröffnen, was er noch niemandem gesagt hatte. »Okay, das ist es also nicht. Ich seh's dir an, dass ich vielleicht besser doch zu etwas Alkoholischem gegriffen hätte.« »Sei ernst.« »Das bist du doch schon für uns beide. – Was ist? Welche Hiobsbotschaft hast du für mich?« Er hielt nicht länger damit hinter dem Berg. »Es geht um die Gloriden – ich weiß, wie eng du dich mit ihnen verbunden fühlst. Ich meine jetzt speziell die, mit denen du damals, als unsere Wege sich trennten, zur Milchstraße zurückgereist bist.« »Von Andromeda aus«, sagte sie und nahm den Faden der Erinnerung auf. »Unser Weg endete auf der RUDIMENT-Station. Während ich in die Gewalt der Felorer und Jay'nac geriet, blieb die Besatzung des goldenen Schiffes in versteinerter Form bei der Station zurück.« »Später wollten wir sie bergen und zu heilen versuchen«, sagte Cloud und nickte, »aber sie waren verschwunden. Aufzeichnungen von Überwachungssystemen belegten, dass Treymor die Station gefunden und die Gloriden mitgenommen hatten. Seither …« »… sind sie spurlos verschwunden.« Sie fasste ihn schärfer ins Auge. »Waren sie spurlos verschwunden.« Sie schürzte die Lippen. »Du hast etwas über sie erfahren. Als du bei den Treymor warst …« Er nickte. »Es wird dich wütend machen. Verdammt wütend. Und traurig.« »Sie haben sie umgebracht?« »Ich glaube, es ist schlimmer.« Und Cloud erzählte von seiner Begegnung mit Ovayran.
Epilog Irgendwann war es so weit. Die Welt, die Taurt über so lange Zeit als Stützpunkt gedient hatte und ihn vor Entdeckung bewahrt hatte, fiel dem Wüten der Treymor zum Opfer. Wenig blieb von ihr übrig, fast nichts. »Es wird nicht leicht sein«, sagte Quintalen, der neben Taurt stand und die Bilder des Untergangs, die der Kleine Arto herbeigeschafft hatte, auf sich wirken ließ. »Leicht ist der Tod. Das Leben wird immer schwer sein.« »Das Überleben, ja …« Quintalen entfernte sich von ihm. Er hatte Aufgaben, um die er sich kümmern musste. Taurt blickte ihm nach, dann fuhr er mit der Plattform nach oben, bis hinauf zur Spitze. Als er oben ankam, trat er hinaus auf den schmalen Sims und blickte in die grünschimmernden Weiten, die nichts von dem Aufruhr verrieten, in den die Bewohner versetzt worden waren. Es war eine seltsame Art zu schauen, durch den feinen Nebel hindurch, der nur von dieser Seite als solcher wahrnehmbar war. Von der anderen Seite betrachtet, setzten sich die Wasser ohne größeren Blickfang fort. Auch … nein: gerade dort dominierte das Gefühl unendlicher Weite. Keine Grenzen – die wurden erst ganz nah der Gebiete spürbar, hinter denen alles Wasser endete und das All lauerte. Taurt kannte beides, Weltraum und Kubus, deshalb wusste er den einzigartigen Zauber Tovah'Zaras zu schätzen. Nach wie vor war er nicht bereit, dieses Wunder aufzugeben, an dem so viele Generationen gebaut hatten, so viel Blut und Schweiß einer kaum mehr bekannten Zahl von Wesen haftete, die zeitlebens nichts anderes getan hatten, als diesen gigantischen Würfel zu vollenden. Aber der Wandel der Zeiten und die Abkehr von jeglicher Moral
erschreckten ihn dennoch. Planetenkugeln konnten ersetzt werden, nicht aber die Geschöpfe, die unwiderruflich ihrer Zerstörung zum Opfer fielen. Taurt seufzte schwer. Er wusste nicht, was die Zukunft bringen würde. Aber wusste, dass dieser Ort, an den er sich mit den Tayanern gerettet hatte, für eine lange Zeit die einzige Zuflucht bleiben würde, in der sie sich vor Verfolgung sicher fühlen durften. Es tat ihm nur um all die Luuren leid, die ihrer Initiierung entgegen strebten … und für die der Alte Dom künftig unauffindbar bleiben würde. Opfer mussten erbracht werden. Von jedem. Längst war Taurt, was das anging, mit gutem Beispiel vorausgegangen. ENDE
Glossar 28 Jahre alt, 1,84 m groß, schlank, durchtrainiert. Sohn von Nathan Cloud, der an der ersten Marsmission teilnahm. Dunkelblond, mittellanges Haar, blaugraue Augen, markante Gesichtszüge, ausgeprägte Wangenknochen. Nach dem Fund und der Inbesitznahme der RUBIKON – eines Raumschiffs der Foronen, das von diesen SESHA genannt wurde – ist Cloud der Kommandant des Schiffes. Jarvis Ehemaliger Klon. Nach dem Tod des ursprünglichen Körpers wechselte sein Bewusstsein in die Rüstung eines Foronenführers, die aus Nanoteilen besteht. Sie ist wandelbar und kann von Jarvis beliebige Gestalt verliehen bekommen, er bevorzugt aber ein Erscheinungsbild, das an seinen ursprünglichen Körper erinnert und dessen Mimik er immer besser zu beherrschen lernt. Er ist ca. 1,85 m groß, hat ein schmales, energisches Gesicht und angedeutete streichholzkurze »Haare«. ScobeeWeibliche In-vitro-Geborene. 1,75 m groß, violettschwarze, schulterlange Haare, schlank, sehr attraktiv, Anfang zwanzig. Statt Brauenhärchen trägt sie verschnörkelte Tattoos über den Augen, deren Farbe je nach Umgebungslicht und Bedarf variieren kann, der Grundton ist grün. Bewusst umschalten kann Scobee ihr Sehvermögen auf Infrarotsicht. Scobee wurde von Kargor mithilfe der mobil gemachten CHARDHIN-Perle aus dem Nar'gog-System befreit/entführt und ins Angk-System gebracht. Wo sie mit Prosper Mérimée und dessen Leuten über eine »Energiestraße« auf die OberfläJohn Cloud
che eines der dortigen Planeten gelangt. Die RUBIKON Ein mantarochenförmiges Raumschiff, das John Cloud in der Ewigen Stätte des Aquakubus fand und in Besitz nahm. Der »gute Geist« des Schiffes ist die künstliche Intelligenz Sesha. Die Ausmaße sind gewaltig, können jedoch hinter sogenannten Dimensionswällen verborgen werden, sodass das Schiff für externe Beobachter sehr viel kleiner wirkt. Die RUBIKON bedient sich der Dunklen Energie, um überlichtschnell durch den Raum zu reisen. Dabei bewegen sich die Schwingen wie bei einem tatsächlichen Mantarochen, der durch die Tiefen eines Ozeans pflügt. Treymor Käferartige, aufrecht gehende Insektoiden, ca. 1,60 m groß, Facettenaugen, zwei kurze Fühler. Ursprünglich wahrscheinlich nahe des Milchstraßenzentrums ansässig, zwischenzeitlich aber galaxisweit aktiv. Ihr jüngster Coup: Sie haben den Aquakubus unter ihre Kontrolle gebracht und ihn hinter einem Tarnfeld, das eine normale Sonne vorgaukelt, versteckt. Innerhalb des Kubus haben sie die dominierende Spezies, die Vaaren, gezielt ausgerottet. Auch die übrigen Bewohner leiden unter den Eroberern … ohne es jedoch zu merken. Schuld daran ist ein spezieller Stoff, den die Treymor den Wassern des Kubus beimengen und der bei den damit in Berührung kommenden Heukonen und Luuren die Vorstellung schürt, es mit Wohltätern zu tun zu haben. Der Botenstoff macht blind für die Realität … und süchtig nach falschem Glück. Im Herzen des Kubus, der Ewigen Stätte, gehen die Treymor dubiosen Machenschaften nach. In der sogenannten Silberstadt treiben sie die Entwicklung der eigenen Art und Technik voran. Doch entgegen früherer Meinung scheinen sie kei-
ne Einzelkämpfer zu sein, sondern mächtige Förderer zu haben. Das Erste Reich Auch Angk-System. Sieben fast identisch wirkende Planeten teilen sich dieselbe Umlaufbahn um einen Fixstern. Untereinander verbunden sind diese Welten über ein Netz sogenannter Energiestraßen, für die man allerdings eine Legitimation braucht, um sie benutzen zu können. Im Ersten Reich lebten laut Kargor einst – vor und seit einer Zeit, die er nicht näher spezifiziert – seine Artgenossen, die von den Gloriden als ERBAUER verehrten Schöpfer der CHARDHIN-Perlen
Vorschau Metamenschen von Manfred Weinland
Tovah'Zara scheint eine uneinnehmbare Festung der Treymor geworden zu sein. Alles, was momentan möglich scheint, sind Nadelstiche – die aber können die Insektoiden weder schrecken noch von ihrem eingeschlagenen Weg abbringen. Und während die RUBIKON-Crew noch um ihr weiteres Vorgehen ringt, kündigen sich auf der fernen Erde radikale Veränderungen an. Reuben Cronenberg erhält unerwarteten Besuch … und ein Angebot, das er nicht abschlagen kann.