Das besiedelte All ist dreißigtausend Jahre alt. Die Menschen sind von Stern zu Stern gezogen, um Reichtum und Ruhm zu ...
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Das besiedelte All ist dreißigtausend Jahre alt. Die Menschen sind von Stern zu Stern gezogen, um Reichtum und Ruhm zu finden. Das Gaeanische Ter ritorium umspannt einen beachtlichen Teil der Gala xis. Verkehrsrouten durchziehen es wie Kapillaren das Zellgewebe. Tausende von Welten wurden kolo nisiert, von denen jede sich von den anderen unter scheidet, und jede von ihnen verändert die Men schen, die sich auf ihr niedergelassen haben, auf be stimmte, jeweils verschiedene Art. Nie zuvor ist die menschliche Rasse weniger homogen gewesen. Uaia, der von den blauhäutigen Uldras und den ge heimnisvollen Windläufern bewohnte Kontinent auf Koryphon, wurde einst von interstellaren Freibeutern überfallen, die den einheimischen Uldras einen Teil ihres Territoriums raubten und sich als Landbarone niederließen. Seit Jahrzehnten gärt es unter den Uldras, die das fremde Joch abschütteln wollen, und sie finden bei den Außerweltlern Unterstützung. Als sich der »Graue Prinz« an die Spitze der Aufständischen stellt, kommt es zu bewaffneten Auseinandersetzungen.
Die Illustrationen im Text zeichnete Janos Fischer. Das Ti telbild schuf der bekannte englische Künstler Patrick Woo droffe.
Vom gleichen Autor erschienen außerdem als Heyne-Taschenbücher Start ins Unendliche · Band 3111
Jäger im Weltall · Band 3139
Die Mordmaschine · Band 3141
Der Dämonenprinz · Band 3143
Emphyrio · Band 3261
Der Mann ohne Gesicht · Band 3448
Der Kampf um Durdane · Band 3463
Die Asutra · Band 3480
Trullion: Alastor 2262 · Band 3563
Marune: Alastor 933 · Band 3580
Die sterbende Erde · Band 3606
JACK VANCE
DER GRAUE
PRINZ
Fantasy-Roman
Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
HEYNE-BUCH Nr. 3652
im Wilhelm Heyne Verlag, München
Titel der amerikanischen Originalausgabe
THE GRAY PRINCE
Deutsche Übersetzung von Lore Strassl
Die Karte auf Seite 7 zeichnete Erhard Ringer
Die Illustrationen im Text schuf Janos Fischer
Redaktion: Wolfgang Jeschke
Copyright © 1974 by Jack Vance
Copyright © 1979 der deutschen Übersetzung
by Wilhelm Heyne Verlag, München
Printed in Germany 1979
Umschlagbild: Patrick Woodroffe
Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs, München
Gesamtherstellung: Mohndruck Reinhard Mohn GmbH,
Gütersloh
ISBN 3-453-30565-5
DIE RASSEN IN UAIA AUF KORYPHON
Uldras:
Bewohner der Südküste von Uaia, den Alouanen. Sie zerfallen in DomänenUldras, die unter der Herrschaft der Landbarone (s. dort) stehen, und freile bende Stämme der Retentum-Uldras.
Windläufer:
Landsegelnde Nomaden des Palgapla teaus im Inneren von Uaia.
Ausker:
Außerweltler. Angehörige von Rassen, die weder von den Uldras noch von den Windläufern abstammen.
Landbarone:
(eng'sharatz): Nachkommen von Aus kers, ehemaligen interstellaren Frei beutern, die den sog. Domänen-Uldras das Land weggenommen und unter sich in Domänen aufgeteilt haben. Sie sind im Gegensatz zu den liberal ge sinnten Bewohnern der Insel Szintarre das konservative Element auf Kory phon.
Erjinen:
halbintelligente, über telepathische Fä higkeiten verfügende Wesen, die von den Windläufern als Reittiere abge richtet und verkauft werden.
Morphoten:
eine bösartige, unberechenbare halbin telligente Rasse, deren Angehörige sich durch außergewöhnliche Schönheit auszeichnen, aber wegen ihrer außer gewöhnlichen Grausamkeit und Blut gier gefürchtet sind.
Einführung
Das besiedelte All ist dreißigtausend Jahre alt. Die Men schen sind von Stern zu Stern gezogen, um Reichtum und Ruhm zu finden. Das Gaeanische Territorium umspannt einen beachtli chen Teil der Galaxis. Verkehrsrouten durchziehen es wie Kapillaren das Zellgewebe. Tausende von Welten wurden kolonisiert, von denen jede sich von den anderen unter scheidet, und jede von ihnen verändert die Menschen, die sich auf ihr niedergelassen haben, auf bestimmte, jeweils verschiedene Art. Nie zuvor ist die menschliche Rasse we niger homogen gewesen. Die Verbreitung der Menschheit im All verlief alles andere als gleichmäßig, und die Siedler kamen in unberechenbaren Wellen und verschwanden hin und wieder auf gleiche Wei se, der Grund dafür mochten Kriege sein, religiöse Ent wicklungen, oder aber auch völlig mysteriöse Umstände. Gerade durch diese Mannigfaltigkeit ihrer Bewohner ist Koryphon typisch für die von Menschen kolonisierten Wel ten. Auf dem Kontinent Uaia bewohnen die Uldras einen breiten Streifen entlang der Südküste, den sie Alouanen nennen, während im Norden die Windläufer ihre zweiund dreimastigen Wagen über das Palga Plateau segeln. Fast das einzige, in dem diese beiden Völker sich ähneln, ist ihre Ruhelosigkeit, ihr Nomadenleben. Südlich, jenseits des Persimmonmeers, liegt der äquatoriale Kontinent Szintarre mit seiner kosmopolitischen Bevölkerung, den Auskern*, * Ausker: Die allgemeine Bezeichnung für Touristen, Besucher, Neueinwande rer. Im weiteren Sinn alle Personen, die rassisch weder zu den Uldras noch den Windläufern gehören.
die sowohl von den Uldras als auch den Windläufern in verschiedene Kategorien von soziologischer Bedeutung ein gestuft werden. Als höchstwahrscheinlich autochthon werden die beiden halbintelligenten Rassen der Erjinen und Morphoten ange sehen. Die Windläufer zähmen und verkaufen eine beson ders kräftige und gefügige Art der Erjinen, oder vielleicht züchten und bilden sie auch völlig normale Exemplare so aus, daß sie diese erwünschten Eigenschaften annehmen. Die Windläufer sind in dieser Beziehung sehr verschwie gen, da der Handel mit diesen Erjinen ihnen Räder, Lager und Takelung für ihre Segelwagen einbringt. Bestimmte Uldras der Alouanen fangen wilde Erjinen und reiten sie zu. Sie bezähmen deren Wildheit, lenken sie und machen sie sich durch elektrische Kandaren gefügig. Sowohl die domestizierten als auch die wilden Erjinen verfügen über telepathische Fähigkeiten, durch die sie sich untereinander und mit ein paar Windläufer-Adepten verständigen. Nicht verwandt mit den Erjinen sind die Morphoten, eine bösar tige, perverse und unberechenbare Rasse, die nur ihrer un gewöhnlichen Schönheit wegen geschätzt wird. In Olanje auf Szintarre sind die Ausker soweit gegangen, Morpho ten-Besichtigungsclubs ins Leben zu rufen. Es möge nicht verheimlicht werden, daß dieser Sport der Beobachtung aufgrund der recht makaberen Gewohnheiten der Morpho ten ein außerordentlicher Nervenkitzel ist. Vor etwa zweihundert Jahren landete eine Gruppe au ßerplanetarer Freibeuter auf Uaia. Sie überraschten und überwältigten alle Uldra-Häuptlinge, die zu einer streng geheimen Versammlung zusammengekommen waren, und zwangen sie zur Überschreibung bestimmter Territorien ihrer Stämme – die berüchtigten »Übergabe-Verträge«. Auf diese Weise kam jeder Angehörige der Freibeutergrup
pe zu einem gewaltigen Landbesitz zwischen fünfunddrei ßig- und hunderttausend Quadratkilometern. Mit der Zeit wurden diese riesigen Besitze zu den großen »Domänen« der Alouanen, auf denen die »Landbarone« und ihre Nach kommen ein fürstliches Leben in prunkvollen Villen führ ten, die in ihrer Größe ihrem Besitz um nichts nachstan den. Das Leben der Stämme, die die Verträge unterzeichnet hatten, wurde durch die Überschreibung in keinem Maß beeinträchtigt, eher vielleicht sogar verbessert. Die neuen Dämme, Teiche und Kanäle waren eine zuverlässige Was serquelle für das Land; Kriege zwischen den einzelnen Stämmen wurden verboten, und die Krankenstationen der Domänen sorgten zumindest für ein Minimum an ärztli cher Betreuung. Einige der Uldras besuchten Domänenschulen. Sie wur den zu Büro- und Verkaufspersonal, als auch zu Hausan gestellten ausgebildet. Andere kamen als Ranchgehilfen unter. Trotz dieser beachtlichen Verbesserungen, die sich na türlich erfreulich auf ihren Lebensstandard auswirkten, mißfiel den Uldras die Tatsache ihres niedrigen Status. Die unterbewußte Ablehnung der Uldrafrauen durch die Land barone war möglicherweise ein weiterer Grund für ihre Verbitterung. Ein gewisses Maß an Vergewaltigungen und Verführungen wäre, wenn auch mit Protest, als un vermeidliche Folge der Landübernahme akzeptiert worden. Aber die Landbarone beachteten die Uldrafrauen überhaupt nicht. Während die Uldramänner mit ihrer großen schlan ken, sehr feingliedrigen Statur, der ultramaringefärbten grauen Haut und den scharfgeschnittenen Zügen im gro ßen und ganzen recht ansehnlich waren, konnte dasselbe von den Frauen nicht behauptet werden. Die unförmigen,
fetten Mädchen, die ihren Kopf wegen der Ungezieferplage kahlschoren, waren alles andere als ansprechend. Wenn sie ins heiratsfähige Alter kamen, blieben ihnen bedauerli cherweise die überbreiten Hüften und kurzen Beine, dafür streckten ihr Rumpf, die Arme und das Gesicht sich in die Länge. Die typische, nichts weniger als kurze Uldranase wurde zu etwas, das an einen traurig herabhängenden Eis zapfen erinnerte, die graue Haut verlor ihren Glanz, das Haar, ob nun mit oder ohne Ungeziefer, durfte zu einer schweren, orangefarbigen Struwwelpeterfrisur anwachsen. Es ist demnach verständlich, daß die auskerschen Land barone* sich nicht für diese Uldrafrauen und -mädchen in teressierten und ihnen gegenüber eine absolut gleichgültig korrekte Haltung einnahmen, was paradoxerweise wieder um von den Uldras als demütigend und beleidigend emp funden wurde. Wie schon erwähnt, im Süden, jenseits des Persimmon meers liegt die lange schmale Insel Szintarre mit ihrer reizvollen Hauptstadt Olanje, die als modischer Kurort für Außerweltler galt. Ihre gebildeten, klugen und vornehmen Bürger hatten wenig gemein mit den Landbaronen*, die sie für protzige, eingebildete Barbaren ohne Manieren, Takt und Humor hielten, und die, ihrer Meinung nach, alle an deren herumzukommandieren versuchten. Ein etwas ausgefallenes Bauwerk in Olanje, das als Hol rudehaus bekannt ist, war der Sitz der Regierung Kory phons – die Mull, der aus dreizehn Volksvertretern beste * Für die eigentliche Bezeichnung eng'sharatz (wörtlich: der verehrte Herr einer großen Domäne) gibt es keine passende Übersetzung. »Baron« oder »Lord« deutet auf Adel hin; ein »Landherr« ist Eigentümer eines kleinen Besitzes; »Gutsherr« läßt auf einen bäuerlichen Betrieb schließen. »Landbaron«, obwohl ein wenig weit hergeholt, kommt dem Begriff eng'sharatz jedenfalls noch am nächsten.
hende Rat. Nach der Verfassung hatte die Mull die Regie rungsgewalt sowohl über Szintarre als auch Uaia, tatsäch lich aber vermied sie es, sich in uaianische Angelegenheiten einzumischen. Die Landbarone erachteten die Mull als zu wenig anderem tauglich, als inkonsequente Spitzfindigkei ten auszubrüten; die Domänen-Uldras waren apathisch; die Retentum-Uldras lehnten allein schon den Gedanken an eine zentrale Obrigkeit ab; die Windläufer wußten überhaupt nichts von der Existenz der Mull oder ignorier ten sie einfach. Die kosmopolitische Bevölkerung von Olanje entwickelte einen geradezu hyperaktiven Intellektualismus. Es herrsch te ein ständiger gesellschaftlicher Unternehmungsgeist, und es gab Vereinigungen und Klubs für alle möglichen Interessen und Zwecke: ein Jachtklub; verschiedene Künstlerverbindungen; die Morphoten-Beobachter; der Szintarrische Hussadenbund; das Gaeanische Musikarchiv; ein Komitee zur Veranstaltung der Jahresfeier, Parilia; eine Dramatikschule; Dyonys, die der Hyperasthesie geweihte Bruderschaft. Andere Organisationen waren philantropi scher oder altruistischer Natur, wie beispielsweise die Ökologische Stiftung, die die Einfuhr von fremder Flora und Faune ablehnte, gleichgültig, wie wirtschaftlich oder ästhetisch diese sein mochte. Der Verband der Redemptori sten, der die Übergabe-Verträge anfocht und für die Auflö sung der uaianischen Domänen und der Rückgabe des Landes an die vertragsgebundenen Stämme war. Die Ver einigung für die Emanzipierung der Erjinen, abgekürzt VEE, verfocht die Ansicht, daß die Erjinen vernunftbegab te Wesen seien und nicht in Sklaverei gehalten werden dürften. Die VEE war vermutlich die widersprüchlichste Organisation, da eine immer größere Zahl von Erjinen aus der Palga als Hauspersonal, Rancharbeiter, für die Müll
abfuhr etc. importiert wurde. Andere Gruppen nahmen sich der Ausbildung, Arbeitsvermittlung und Unterbrin gung von Uldras an, die von Uaia nach Szintarre einwan derten. Diese Uldras, die zu etwa gleichen Teilen von den Rententum- und Domänen-Stämmen kamen, beklagten sich gewöhnlich bitter über die Landbarone. Oft waren ihre Beschwerden durchaus berechtigt, doch sehr häufig grundlos. Sie wollten nur von sich reden machen, weil an dere es auch taten. Die Redemptoristen brachten manchmal Uldra-Immigranten vor die Mull, um diesen etwas selbst herrlichen, didaktischen und unberechenbaren Rat auf Trab zu bringen. Mit der Geschicklichkeit langjähriger Erfah rung entledigte die Mull sich dieser Anforderungen, oder ernannte ein Komitee, um die Sachlage zu überprüfen. Der Befund eines solchen Komitees besagte gewöhnlich, daß die Vertragsgebiete wahre Friedensstätten seien, verglichen mit den Landen der Retentum-Uldras, wo es immer noch Blutfehden, Überfälle, Meuchelmorde, Racheakte, Aus schreitungen, Massaker, Greueltaten und Hinterhalte gab. Die Redemptoristen erklärten daraufhin dann natürlich solche Vergleiche als nicht zur Sache gehörend. Die ver tragsgebundenen Stämme, führten sie an, seien ihres hei matlichen Landes durch Gewalt und Betrug beraubt wor den. Die Fortdauer dieses Zustands sei untragbar, sagten sie, das Gewohnheitsrecht der vergangenen zweihundert Jahre dürfte eine ursprünglich ungesetzliche Situation nicht legitimieren. Der Großteil der Bevölkerung von Szin tarre schloß sich dieser Meinung der Redemptoristen an.
1
In der großen Halle des Olanjer Raumhafens muster ten Schaine Madduc und ihr Bruder Kelse einander mit wohlwollendem Interesse. Natürlich hatte Schai ne erwartet, daß sich Kelse nach fünf Jahren, oder so gar etwas mehr, verändert haben würde. Als sie ab reiste, war er ein bettlägeriger Krüppel gewesen, bleich und verzweifelt. Jetzt sah er gesund und kräf tig aus, wenn auch ein wenig hager. Er hinkte kaum mit seinem künstlichen Bein, und er konnte mit seiner Armprothese fast genauso gut umgehen wie mit sei ner gesunden Rechten. Es fiel eigentlich nur auf, weil er etwas gegen künstliches Fleisch hatte und sich deshalb den Ersatz aus Metall hatte machen lassen, den er allerdings mit einem schwarzen Handschuh bedeckte. Er war gewachsen. Damit hatte sie gerech net, aber nicht mit der Veränderung seines Gesichts, das irgendwie länger und härter geworden war und streng wirkte. Seine Wangenknochen waren unge mein ausgeprägt, genau wie das feste Kinn; seine Augen waren schmal, oder vielmehr halb zusam mengekniffen, und er hatte sich angewöhnt, aus den Augenwinkeln mißtrauisch, oder vielleicht auch her ausfordernd, nach links und rechts zu blicken. Ein Zeichen der tiefergreifenden Veränderungen in Kelse, dachte Schaine: die Verwandlung eines vertrauens vollen gutmütigen Jungen in diesen ernsten, strengen Mann, der zehn Jahre älter zu sein schien, als er war. Offenbar hatte Kelse sich mit ähnlichen Überle gungen befaßt. »Du hast dich verändert«, stellte er fest. »Irgendwie hatte ich die übermütige und ver
gnügte Schaine erwartet.« »Wir haben uns beide verändert«, murmelte sie. Kelse blickte abfällig auf seinen Arm und das Bein. »Ja, beachtlich. Du hast sie noch nicht gesehen.« »Sind sie leicht zu benutzen?« Kelse zuckte die Achseln. »Meine künstliche Linke ist stärker als die Rechte. Mit den bloßen Fingern kann ich Nüsse knacken und alle möglichen erstaun lichen Dinge tun. Ansonsten ist sie wie die Rechte.« Schaine konnte die Frage nicht unterdrücken: »Und ich, habe ich mich wirklich so sehr verändert?« Kelse blickte sie überlegend an. »Nun, du bist fünf Jahre älter und nicht mehr ganz so mager. Deine Kleidung verrät Geschmack, du siehst gut aus. Du warst natürlich immer hübsch, selbst als Wildling mit schmutzigem Gesicht und zerkratzten Armen und Beinen.« »Wildling! Ja, wahrhaftig.« Schaines Stimme klang melancholisch. Während sie durch die Halle schrit ten, wanderten ihre Gedanken zu vergangenen Tagen zurück. Das Mädchen, von dem sie sprachen, hatte es, wie ihr schien, nicht vor fünf, sondern vor fünf hundert Jahren gegeben. Es hatte in einer anderen Welt gelebt, aus der Leid und Weh ausgeschlossen waren. Alles war klar und einfach gewesen. Mor genwacht galt für sie damals als das Zentrum des Universums. Jeder dort hatte seinen festen Platz und seine feste Bestimmung. Uther Madduc war das Oberhaupt. Seine Entscheidungen – manchmal väter lich, manchmal unverständlich, manchmal schreck lich – waren so unabänderlich wie die Sonne. Und in einer Kreisbahn um diese Sonne bewegten sich Kelse und sie, und in einem etwas weniger stabilen Orbit,
manchmal näher, manchmal ferner, kreiste Tortilla, dessen Status häufig unklar war. Schaine war der Wildling gewesen – trotzdem immer hübsch und lie benswert –, genau wie Kelse stets stolz und gutausse hend gewesen war, und Tortilla immer verwegen, mutig und ausgelassen. Solche Eigenschaften waren ganz einfach nicht in Frage gestellte Bestandteile des Lebens, genau wie das unveränderliche Rosa der Sonne Methuen, und das gleichbleibende Ultramarin des Himmels. Wenn sie so die Jahre zurückschob, sah sie sich – mit Mor genwacht im Vorder- und Hintergrund – als mittel großes Mädchen, weder zu kurz noch zu lang, ein wenig schlaksig, aber mit festen Muskeln, die sie sich beim Schwimmen und Laufen und Klettern erworben hatte – alles Sportarten, in denen sie immer noch gut und so ausdauernd wie damals war. Dadurch, daß sie sich mehr im Freien als im Haus aufgehalten hatte, schimmerte ihre Haut stets in einem goldenen Bron zeton, und ihr dunkles Lockenhaar hing gewöhnlich zerzaust ins Gesicht. Sie war das Mädchen mit den sanften Lippen, die fast ständig halb geöffnet waren, als fänden sie mit jedem neuen Augenblick neue Wunder zu bestaunen. Sie war quecksilbrig gewesen, liebevoll zu den kleinen Geschöpfen, die ihr anver traut waren, und hatte stets irgendeinen Unsinn im Kopf gehabt... Jetzt war sie fünf Jahre älter und fünf Jahre klüger, letzteres hoffte sie zumindest. Kelse und Schaine traten hinaus in den milden Morgen Szintarres. Die Luft duftete nach Blumen und Blättern, genau wie Schaine sie in Erinnerung hatte. Von den dunkelgrünen Jubabäumen hingen schar lachrote Blütentrauben, die Sonne filterte durch das
dichte Laub und zauberte rosige und schwarze Mu ster auf den Asphalt der Kharanotis-Avenue. »Wir übernachten im Seeblick«, sagte Kelse. »Tante Val gibt heute nachmittag eine Willkommensparty für dich. Wir hätten natürlich auch in der Villa Mira sol bleiben können, aber...« Er unterdrückte den Rest. Schaine erinnerte sich, daß Kelse nie übermäßig von ihrer Tante Val angetan gewesen war. »Soll ich ein Taxi rufen?« fragte er gerade. »Wollen wir nicht lieber zu Fuß gehen? Ich möchte die Gegend genießen, nachdem ich eine ganze Woche auf der Niamatik eingesperrt gewesen war.« Sie holte tief Luft. »Es ist wundervoll, wieder zurück zu sein. Ich fühle mich schon fast wie zu Hause.« Kelse brummte etwas Unverständliches, dann fragte er: »Weshalb bist du eigentlich so lange fortge blieben?« »Oh – verschiedene Gründe.« Schaine hob die Schultern. »Trotz, vielleicht, Eigensinn, Vater.« »Du bist demnach also immer noch trotzig und ei gensinnig. Und Vater ist nach wie vor – Vater. Wenn du glaubst, er hätte sich geändert, muß ich dich leider enttäuschen.« »Ich mache mir keine Illusionen. Aber irgend je mand muß nachgeben, warum also nicht ich? Erzähl mir von Vater. Was macht er so?« Kelse überlegte, ehe er antwortete. Auch das war ein neuer Zug an ihn, den Schaine nicht kannte. Kel ses Jugend ist allzu schnell verflogen, dachte sie ein wenig traurig. »Vater ist im großen und ganzen, wie er immer war. Seit du fort bist, hat der Druck zuge nommen, das heißt, es ist neuer dazugekommen. Du hast doch von den Redemptoristen gehört?«
»Ja, vermutlich. Aber ich könnte nicht behaupten, daß ich viel über sie weiß.« »Es ist eine hier in Olanje gegründete Bewegung, oder wie immer du es nennen willst. Sie möchten, daß wir die Übergabe-Verträge annullieren und Uaia verlassen. Das ist natürlich nichts Neues, aber im Au genblick ist es groß in Mode, und im ›Grauen Prin zen‹, wie er selbst sich nennt, haben sie ein brauchba res Aushängeschild gefunden.« »Der ›Graue Prinz‹? Wer ist das?« Kelses Lippen verzogen sich zu einem schiefen Grinsen. »Nun – er ist ein junger Uldra, ein Gargan che, nicht ohne Bildung. Er ist redegewandt, ein we nig wunderlich, lebhaft, und der erklärte Liebling ganz Olanjes. Zweifellos hat Tante Val auch ihn zur Party heute nachmittag eingeladen.« Gemächlich spazierten sie an einer riesigen blau grünen Rasenfläche vorbei, die von der Avenue eine leichte Erhebung hochführte zu einem imposanten Haus mit fünf Giebeln, und Türmen zu beiden Seiten der Fassade, die mit senfgelben Steinplatten, unter brochen von glänzendem schwarzen Skeel, getäfelt war. Es war ein ausgesprochen ungewöhnliches Bauwerk, das durch seine Größe und einen gewissen Hauch von architektonischer Unbekümmertheit un gemein beeindruckte. Das war das Holrudehaus, der Sitz der Mull. Kelse deutete finster mit dem Kopf. »Die Redemptoristen sind gerade dort oben und ver suchen die Mull zu indoktrinieren. Das heißt, ich weiß natürlich nicht, ob sie soeben dabei sind. Vater ist jedenfalls pessimistisch. Er befürchtet, daß die Mull eine Verordnung gegen uns erlassen wird. Ich habe heute morgen einen Brief von ihm bekommen.«
Kelse fummelte in seiner Tasche. »Nein, ich habe ihn im Hotel gelassen. Vater beabsichtigt, uns in Gali gong abzuholen.« Erstaunt fragte Schaine: »Weshalb in Galigong? Dann hätte er doch auch gleich bis hierher kommen können.« »Er fliegt nicht gern nach Olanje. Ich glaube, er möchte sich nicht vor Tante Val sehen lassen, weil er Angst hat, sie könnte ihn wieder überreden, eine ih rer Partys zu besuchen. Das ist ihr nämlich voriges Jahr geglückt.« »Es würde ihm nicht schaden. Ich finde, ihre Partys sind immer recht unterhaltsam. Mir zumindest ma chen sie Spaß.« »Gerd Jemasze wird uns begleiten. Wir sind in sei nem Apex hierhergeflogen, und er wird uns dann auch nach Galigong bringen.« Schaine verzog das Gesicht. Sie hatte Gerd Jemasze nie besonders gemocht. Für ihren Geschmack war er zu sauertöpfisch. Zwei wuchtige Säulen strebten vor dem Eingang zum Seeblick hoch. Schaine und Kelse fuhren auf dem Laufband zum Vestibül. Kelse veranlaßte, daß man Schaines Gepäck vom Raumhafen hierher brachte. Dann stiegen die beiden hinaus auf die Ter rasse, die einen herrlichen Blick auf das Persimmon meer bot, und erfrischten sich mit einem großen Kelch Wolkenbeerensaft, in dem glitzernde Eisstück chen schwammen. »Erzähl mir, was sich in Morgen wacht alles getan hat.« »Oh, das übliche, zum größten Teil. Wir haben eine neue Fischzüchtung im Feensee ausgesetzt. Ich habe einen ausgedehnten Ausflug südlich der Burren ge
macht und eine alte Kachemba* entdeckt.« »Bist du hineingegangen?« Kelse schüttelte den Kopf. »Nein, irgendwie wek ken sie das kalte Grauen in mir. Aber ich habe Kur gech davon erzählt. Er meint, sie stammt von den Jirwantianern.« »Den Jirwantianern?« »Sie lebten vor etwa fünfhundert Jahren im Gebiet von Morgenwacht, ehe die Hungen sie ausrotteten. Und dann, später, vertrieben die Aos die Hungen.« »Wie geht's denn den Aos? Ist Zamina immer noch Matriarch?« »O ja, sie lebt noch. Vorige Woche erst haben sie ihr Lager in die Toterattenschlucht verlegt. Kurgech be suchte uns, und ich erzählte ihm, daß du heim kommst. Er meinte, du wärst auf Tanquil besser auf gehoben.« »Die alte Unke! Was wollte er damit sagen?« »Ich glaube nicht, daß er irgend etwas Bestimmtes damit andeutete. Er hat lediglich die ›Zukunft geko stet‹.« Schaine nahm einen Schluck ihres Saftes und blickte aufs Meer hinaus. »Kurgech ist ein Scharlatan. Er kann nicht besser als ich kaltaugendeuten, hellse hen oder Gedanken übertragen.« »Stimmt nicht. Kurgech hat ganz erstaunliche Fä higkeiten... Und Ao oder nicht, er ist Vaters bester Freund.« Schaine lachte abfällig. »Vater ist viel zu sehr Ty rann, als daß er überhaupt etwas von einem Freund * Kachemba: Ein geheimer Kultort der Uldras, der der Prophezeiung und Zauberei dient, und gewöhnlich in einer Höhle zu finden ist.
halten würde – und schon gar nicht von einem Ao.« Kelse schüttelte betrübt den Kopf. »Du verstehst ihn eben nicht. Du hast ihn nie verstanden.« »Ich verstehe ihn so gut wie du.« »Das mag stimmen. Er ist auch sehr schwer zu durchschauen. Kurgech ist jedenfalls genau der rich tige Freund für ihn.« Wieder lachte Schaine geringschätzig. »Ja, er stellt keine Ansprüche, ist treu wie ein Hund, und weiß, wie weit er gehen darf.« »Völlig falsch. Kurgech ist ein Uldra, Vater ein Ausker. Und keiner möchte es anders haben.« Mit einer weitausholenden Handbewegung leerte Schaine ihren Kelch. »Ich beabsichtige jedenfalls we der mit Vater noch mit dir zu debattieren, ganz egal worüber.« Sie stand auf. »Komm, machen wir einen kleinen Spaziergang zum Fluß. Gibt es den Morpho tenzaun noch?« »Soviel ich weiß, ja. Ich war nicht mehr dort, seit du nach Tanquil abgeflogen bist.« »Welch melancholische Erinnerung. Vergessen wir sie. Komm, suchen wir uns einen zwölfstachligen Teufelsjäger mit Trippelfächer und purpurnem Netz.«* Etwa nach hundert Meter strandaufwärts führte ein Pfad zu den Sümpfen an der Mündung des Viridians und endete an einem hohen starken Drahtzaun, an dem ein unübersehbares Schild hing: * Morphotenbeobachtung ist ein besonderer Sport. Die Morphoten sind in der Lage, ihre Gestalt zu verschönern, indem sie Stacheln bilden, abste hende Hautlappen, Fächer, Greifer, malerische Auswüchse, und so phantastische Formen annehmen. Morphotenbeobachter legten in einer ausführlichen Aufzeichnung die Vielfalt ihres Sportes nieder.
Warnung Morphoten sind gefährlich und tückisch! Achten Sie auf keines ihrer Angebote! Nehmen sie keine ihrer Geschenke an! Morphoten kommen nur aus einem Grund an diesen Zaun: um die Beobachter zu verstümmeln, zu beleidigen oder zumindest zu erschrecken. Vorsicht! Morphoten haben schon viele Menschen verletzt! Es könnte leicht geschehen, daß sie Sie töten! Eine absichtliche Belästigung der Morphoten ist strengstens untersagt. »Vor etwa einem Monat«, erzählte Kelse, »kamen Touristen von Alcide, um Morphoten zu beobachten. Während die Eltern mit einem prächtigen, rotgerin gelten Flaschenkopf am Zaun scherzten, band ein an derer Morphot einen Schmetterling an einen langen Faden und lockte damit das dreijährige Kind von ih rer Seite. Als Mama und Papa sich nach ihm umsa hen, war der Kleine verschwunden.« »Abscheuliche Biester! Die MorphotenBeobachtung sollte strenger gehandhabt werden.« »Ich glaube, die Mull beschäftigt sich gerade da mit.« Zehn Minuten vergingen, aber keiner der Mor photen kam aus dem Sumpf, um ihnen irgendwelche erschreckenden Angebote zu machen. Also kehrten Schaine und Kelse zum Hotel zurück, fuhren in das Unterwasserrestaurant hinab und speisten ein Ragout aus Langusten, grünen Pfefferschoten und wilden Zwiebeln, dazu Salat aus eisgekühlter Kresse und aus braunem Ferrismehl gebackene Fladen. Leuchtendes
Blaugrün umgab sie, und unmittelbar neben ihnen schwamm, wuchs oder trieb die Flora und Fauna des Persimmonmeers dahin: weiße Aale und elektrische Blaue Scherenfische schossen durch das Dickicht des Wasserkrauts; ganze Schwärme von blutroten Fun kenfischen huschten zwischen Gruppen von grünen Schlangen und gelben Twittern hindurch, daß ein wundervolles, glitzerndes Farbenspiel entstand. Dreimal stießen in gewissen Abständen purpursilber gestreifte Kreaturen, und solche mit zehn Fuß langen Zangen, oder mit Stacheln, Widerhaken und gefährli chen spitzen Zähnen, heftig gegen das dicke Glas, vom Wunsch getrieben, einen der in dem romanti schen Dämmerlicht Speisenden selbst zu verspeisen. Einmal streifte der gigantische Leibe eines schwarzen Matadors die Scheibe, und in der Ferne konnten sie einen sich durchs Wasser schnellenden Morphoten sehen. Ein junger Mann, etwa zwei oder drei Jahre älter als Kelse, kam an den Tisch. »Hallo, Schaine.« »Hallo, Gerd«, erwiderte Schaine den Gruß kühl. Aus Gründen, die sie selbst nicht genau definieren konnte, hatte sie ihr Leben lang eine Abneigung für Gerd Jemasze empfunden. Er benahm sich gewöhn lich reserviert, obgleich seine Manieren untadelig wa ren. Er sah nicht besonders auffallend aus. Seine Züge waren ein wenig grob geschnitten. Sein dichtes, schwarzes Haar war über der flachen, breiten Stirn zurückgekämmt. Seine Kleidung – ein dunkelgraues Westenhemd und eine blaue Hose – war nach den Maßstäben Olanjes, wo jeder möglichst grelle Farben und ausgefallenen Schnitt trug, von hervorstechender Nüchternheit. Plötzlich glaubte Schaine zu verstehen, weshalb er sie abstieß – ihm fehlten jegliche verrückte
kleine Eigenheiten und liebenswerte Untugenden, die ihr ihre anderen Bekannten sympathisch machten. Gerd Jemasze war nicht übermäßig groß oder kräftig, aber bei jeder Bewegung spannte seine Kleidung sich mit seinem Muskelspiel. Genauso, dachte Schaine, versteckt sein unbewegtes Gesicht seine innere Arro ganz. Sie wußte jetzt auch, weshalb ihr Vater und Kelse sich mit Gerd Jemasze so gut verstanden. Er war in Einstellung und Widerstand gegen Verände rungen noch starrer als sie und würde eine einmal ge faßte Meinung nie ändern. Gerd Jemasze setzte sich zu ihnen. Aus Höflichkeit fragte Schaine ihn: »Wie sieht es in Suaniset aus?« »Alles beim alten.« »In den Domänen tut sich nie etwas«, brummte Kelse. Schaine blickte von einem zum anderen. »Ihr wollt mich wohl auf den Arm nehmen?« Gerd Jemasze versuchte ein Lächeln. »Nein, nicht wirklich. Wenn was geschieht, dann so verstohlen wie möglich.« »Und was passiert so verstohlen?« »Nun – Wittols* aus dem Retentum schleichen sich durch die Domänen und wiegeln die Uldras zur Ko * Wittols: Von etwa tausend Uldras wird einer albinitisch, eunuchoid, von gedrungener Gestalt und mit rundem Kopf geboren. Diese nennt man Wittols und begegnet ihnen mit einer Mischung aus Abscheu, Verach tung und abergläubischer Furcht. Man schreibt ihnen einfache magische Kräfte zu. In manchen Fällen handeln sie mit Liebes- und Gifttrünken, Bannsprüchen und Verhexungen. Größeren Zauber dürfen nur die Me dizinmänner der einzelnen Stämme ausüben. Die Wittols bestatten Ver storbene, foltern Gefangene und dienen als Verbindungsleute zwischen den Stämmen. Sie allein können sich unbesorgt durch die gesamten Alouanen bewegen, da kein Uldra es wagen – oder sich dazu herablas sen – würde, einen Wittol zu töten.
alition unter dem Grauen Prinzen auf. Uns wollen sie vermutlich ins Meer jagen. In letzter Zeit ist es auch zu vielen Angriffen von Flugwagen durch die Luft haie** gekommen. Erst vorige Woche wurde Ariel Farlock von Carmione abgeschossen.« »Ja, es herrscht eine merkwürdige Stimmung über ganz Uaia«, sagte Kelse ernst. »Jeder spürt es.« »Sogar Vater«, warf Schaine ein. »Er amüsiert sich über seinen ›großartigen Witz‹. Hast du eine Ahnung, was er so komisch findet?« »Ich weiß nicht einmal, wovon du sprichst«, erwi derte Gerd Jemasze. »Ich bekam einen Brief von Vater«, erklärte Kelse. »Ich erwähnte doch, daß er die Palga hoch ist. Die Reise scheint jedenfalls seine Erwartungen noch übertroffen zu haben.« Kelse holte den Brief hervor und las: »Ich habe einige bemerkenswerte Abenteuer erlebt und kann Dir eine wundervolle Geschichte erzählen – ein Witz sondergleichen, ja ein wahrhaftig großartiger Witz, der mich um gut zehn Jahre jünger gemacht hat.« Kelse überflog ein paar Zeilen. »Dann schreibt er: Ich werde Euch in Galigong abholen. Nach Olanje komme ich lieber nicht, denn ich möchte es vermeiden, noch mal zu einer von Valtrinas Monsterpartys geschleift zu werden, mit ih ren Leisetretern, Logikzerhackern, Ästheten, Prahlern, Schaumschlägern, Lüstlingen und Kriechern, die sie sich in Szintarre zusammensucht. Sieh zu, daß Gerd mit uns nach Morgenwacht kommt. Was ich zu erzählen habe, wird ihm nicht weniger gefallen als Dir. Und vergiß nicht, ** Lufthai: Ein primitives Einmannflugzeug, das aus nicht viel mehr als ei ner motorisierten Plattform, bestückt mit einer Kanone oder anderen Waffe, besteht, die normalerweise von Uldra-Edlen für Angriffe auf feindliche Stämme, oder für Duelle benutzt wird.
Schaine zu sagen, wie sehr ich mich freue, daß sie wieder zu Hause ist... Der Rest ist weniger interessant für dich«, schloß Kelse. »Sehr mysteriös«, murmelte Gerd Jemasze. »Ja, das finde ich auch. Was kann es dort oben auf der Palga geben, das Vater so erheitert? Er ist nicht gerade für seinen Humor bekannt.« »Morgen werden wir mehr wissen.« Gerd erhob sich. »Wenn ihr mich bitte entschuldigen würdet, ich möchte noch Besorgungen machen.« Er verbeugte sich vor Schaine. »Wir sehen uns doch auf Tante Valtrinas Party?« erkundigte sich Kelse schnell. Gerd Jemasze schüttelte den Kopf. »Nein, ich fühle mich dort fehl am Platz.« »Ach komm doch mit«, bat Kelse. »Vermutlich wird der Graue Prinz ebenfalls dort erscheinen – und andere von Rang und Namen.« Gerd Jemasze überlegte eine Weile, als hätte Kelse ein gutes Argument zur Sprache gebracht, schließlich nickte er. »Also gut. Ich werde kommen. Wann und wo treffen wir uns?« »Um vier, gleich in der Villa Mirasol.«
2
Die Straße zur Villa Mirasol, von der KharanotisAvenue aus, führte zwischen Gonaiv-, einheimischen Teak-, Langtang- und Muskatbäumen in Spiralen zum Panoramaberg hoch, durch einen breiten Torbo gen hindurch, schlug einen Bogen um einen weiten Rasen und endete an der Villa. Die Villa war ein ele gantes Bauwerk aus Glas, kannelierten Säulen, wei ßen Mauern, einem vielwinkligen, über mehrere Ebe nen reichenden Dach und im großen ganzen im ver spielten Stil des Rokokos gehalten. Valtrina Darabesq, Schaines und Kelses Großtante mütterlicherseits, begrüßte die beiden voll Freude, die trotz ihres fast übertriebenen Überschwangs echt war. Schaine hatte die Energie und bemerkenswerte Geselligkeit ihrer Großtante immer bewundert. Kelse dagegen hielt sie für zu modebewußt, in jeder Bezie hung, auch was die Auswahl ihrer Bekannten betraf, aber trotzdem gefiel ihm ihre durchaus nicht berech nende Großzügigkeit. Kelse und Schaine waren na türlich beide darauf vorbereitet, daß sie versuchen würde, sie zu überreden, vom Seeblick zur Villa Mi rasol umzuziehen und eine Woche, zwei Wochen, ei nen Monat, bei ihr zu bleiben. »Ich habe euch beide ewig nicht mehr gesehen. Schaine, es müssen doch schon... Wie viele Jahre sind es?« »Fünf.« »So lange? Wie doch die Zeit verfliegt! Ich habe wirklich nie verstanden, weshalb du dich unbedingt nach Tanquil zurückziehen mußtest. Euer Vater ist natürlich ein Dinosaurier, aber doch wenigstens von
der erträglichen Sorte, auch wenn er sich weigert, sich in Olanje sehen zu lassen. Ich möchte wissen, was ihn an Uaia so fasziniert. Es ist doch eine Wildnis! Eine trostlose Öde!« »Komm, komm, Tante Val! So schlimm ist es wahr haftig nicht. Du mußt selbst zugeben, daß Uaia male rische Flecken hat.« »Möglich. Aber ich verstehe trotzdem nicht, wes halb Uther und die anderen darauf bestehen, dort draußen zu leben, wo sie nicht erwünscht sind. Mor genwacht ist ja wie eine Grenzfestung.« »Du solltest uns wirklich einmal besuchen«, lud Kelse sie ein. Valtrina schüttelte energisch den Kopf. »Als kleines Mädchen war ich das letztemal in Morgenwacht. Eu er Großvater Norius war ein Gentleman vom Scheitel bis Sohle, obwohl auch er ein Landbaron war. Er gab einige Partys – allerdings recht steife Gesellschaften, wenn ich ehrlich sein will – und machte ein Picknick mit uns bei einem riesigen säulenähnlichen Felsen aus rotem Gestein – wie hieß er doch schnell?« »Der Skaw.« »Ja, natürlich, der Skaw. Und als die Eingeborenen vorbeikamen und uns anstarrten, uns, die Fremden, die ihnen ihr Land weggenommen hatten, fürchtete ich mich und fühlte mich in die Enge getrieben, trotz des weiten Landes. Mir war, als belagere man uns.« »Wir hatten nie Schwierigkeiten mit unseren Aos«, sagte Kelse nachsichtig. »Wir helfen ihnen, sie helfen uns. Keiner legt dem anderen Steine in den Weg, oder verachtet ihn.« Valtrina schüttelte lächelnd den Kopf. »Mein lieber Junge, niemand weiß, was im Kopf eines Uldras vor
geht. Es gefällt ihnen absolut nicht, daß ihr euch als Herren in ihrem Land aufspielt, auch wenn sie es euch nicht zeigen. Ich weiß es, denn ich habe viele Freunde unter den Uldras. Aber ich sollte mich des halb wirklich nicht mit dir streiten. Du bist noch so jung. Kommt mit, ihr zwei, ich möchte euch mit mei nen Gästen bekanntmachen. Oder vielleicht wollt ihr euch lieber so umsehen?« »Ja, wir schauen uns ein wenig um«, erwiderte Kelse. »Wie ihr wollt. Laßt euch von Alger einen Drink mixen. Und Kelse, bitte zieh nicht deine Pistolen, um meine Erjinen zu erschießen. Ihre Namen sind Sim und Slim, ich hätte sie gern noch länger, sie haben mich viel Geld gekostet. Später unterhalten wir drei uns dann in aller Ruhe miteinander.« Valtrina drehte sich um und begrüßte eine neuangekommene Grup pe von Gästen. Kelse nahm Schaines Arm und führte sie zur Bar, wo Alger, Valtrinas Butler, Getränke nach uralten, sonst überall längst vergessenen Rezepten mixte. Kelse und Schaine wählten Punsch aus, dann blickten sie sich mit ihren Kelchen in der Hand um. Schaine sah niemanden unter den Gästen, den sie von früher kannte. Ein halbes Dutzend Uldras waren an wesend, alle hochgewachsen, hager, mit langnasigen, verwegenen Gesichtern, die schiefergraue Haut ul tramarin gefärbt, und ihre Büschel rotbraunen Haares durch mit hohen Metallspitzen verzierte Kopfbänder zusammengehalten. Kelse murmelte Schaine zu: »Tante Val beweist mal wieder ihre modische Aufgeschlossenheit. In Olanje dürfen auf einer Party die Uldras keinesfalls fehlen. Ein oder zwei sind das mindeste.« »Und weshalb sollte man sie nicht einladen?« kon
terte Schaine. »Sie sind doch schließlich menschlich.« »Nur in etwa. Ihr Weldewist* ist völlig anders als unseres. Sie haben sich in ihrer Evolution beachtlich von uns entfernt.« Schaine seufzte und betrachtete die Uldras. »Ist ei ner von ihnen der Graue Prinz?« »Nein.« Valtrina näherte sich ihnen mit einem gutausse henden Mann mittleren Alters, der fast sichtbar Wür de ausstrahlte. Er trug einen dunkelgrauen, mit hell grauer Applikation verzierten Anzug. Valtrina machte ihn mit den Geschwistern bekannt. »Erris, meine Nichte und mein Neffe, Schaine und Kelse Madduc. Schaine kam heute erst aus Tanquil zurück, wo sie die Schule besuchte. Schaine, Kelse, das ist Erris Sammatzen, ein Angehöriger der Mull, und eine bedeutende Persönlichkeit.« Mit vielleicht einer Spur Bosheit fügte sie hinzu: »Schaine und Kel se leben in der Morgenwacht-Domäne in den Aloua nen, von denen sie behaupten, sie seien überhaupt der einzige bewohnbare Teil Koryphons.« »Vielleicht wissen sie mehr als wir.« »Sind Sie geborener Olanjer, Dm.** Sammatzen?« * Weldewist: Ein Wort aus dem Lexikon der Sozialanthropologie. Es dient zur Zusammenfassung der komplexen Vorstellung des einzelnen, was seine Einstellung gegenüber seiner Umwelt betrifft; seiner Auslegung der Ereignisse seines Lebens; seines kosmischen Bewußtseins, seines Charakters und seiner Persönlichkeit aus der Sicht vergleichender Kul turen. ** Die beiden üblichsten Anreden im Gaeanischen Territorium sind Dm., die Abkürzung für Domine, mit der man gewöhnlich alle Personen hö heren Standes tituliert; und Vv., eine Zusammenziehung von Visfer (ur sprünglich Viasvar), ein Angehöriger der alten Legion der Wahrheit, danach die Bezeichnung für einen Grundbesitzer und schließlich die allgemein übliche Höflichkeitsanrede.
fragte ihn Schaine. »Nein, ich bin Ausker, wie die meisten. Ich kam vor zwölf Jahren hierher, um mich zur Ruhe zu set zen. Aber von wirklicher Ruhe kann wohl keine Rede sein, wenn Valtrina und ein Dutzend Gleichgesinnte darauf bestehen, mich auf Trab zu halten. Die Gesell schaft hier ist wohl die betriebsamste, intellektuell ge sehen, die ich je gekannt habe. Wirklich anstrengend, glauben Sie mir.« Valtrina bat eine große Frau mit langen blonden Ringellocken, sich zu ihnen zu gesellen. Ihre großen, groben Züge waren durch eine zu verschwenderische Anwendung von Kosmetika zu einer Clownmaske erstarrt. Schaine fragte sich, ob sie damit die Welt oder sich selbst verspotten wollte. Valtrina stellte sie in ihrem heisersten Alt vor: »Das ist Glinth Isbane, eine unserer gefeiertsten Persönlichkeiten. Sie lehrte drei Morphoten Desisto spielen und erwarb sich dadurch allerlei seltsame Dankesgeschenke. Sie ist Schriftführerin der GFS und bedeutend tiefgründiger, als sie sich rein äußerlich gibt.« »Was ist GFS?« erkundigte sich Schaine. »Verzei hen Sie meine Unwissenheit, aber ich bin eben erst nach Koryphon zurückgekommen.« »GFS bedeutet ›Gesellschaft für ein freies Szintar re‹.« Schaine lachte ungläubig. »Ist Szintarre denn jetzt nicht frei?« »Nicht ganz. Nicht so, wie es sein sollte«, erwiderte Glinth Isbane mit kühler Stimme. »Niemand mochte – ich sollte vielleicht besser sagen, niemand würde zugeben, daß er es möchte –, also, niemand mochte
die Arbeit und Unannehmlichkeiten anderer ausnut zen, um daran zu verdienen. Aber jeder weiß, daß das häufig der Fall ist. Die Arbeiter haben sich des halb zu ihrem Schutz zu Gilden zusammengeschlos sen. Und können Sie mir sagen, wer jetzt seine unge heure Macht mehr ausnutzt als der Vorstand der Ver einigten Gilden? Ich brauche doch wirklich nicht nä her darauf einzugehen! Die GFS hat jedenfalls aus diesem Grund Kräfte mobilisiert, mit denen wir hof fen, den Überschreitungen der Gilden entgegenwir ken zu können.« Noch jemand hatte sich inzwischen der kleinen Gruppe angeschlossen: ein großer junger Mann mit arglosen grauen Augen, weichem Blondhaar, ange nehmen, humorverratenden Zügen, die Schaine so fort sympathisch fand. »Beide Gruppen«, bemerkte er, »sowohl die GFS, als auch die Vereinigten Gilden, unterstützen meine Organisation. Folgedessen müs sen beide im Grund genommen vernünftige Ansich ten haben, und ihre kleinen Meinungsverschieden heiten sind nichts weiter als Mißverständnisse.« Glinth Isbane lachte. »Beide Parteien fördern die VEE, aber aus völlig verschiedenen Gründen. Unsere sind jedenfalls uneigennützig.« Schaine wandte sich an Valtrina. »All diese Gesell schaften oder Parteien, oder was immer, verwirren mich. Was ist VEE?« Anstatt selbst darauf einzugehen, nahm Valtrina den jungen Mann am Arm und deutete auf Schaine. »Elvo, ich möchte, daß Sie meine Nichte kennenler nen, die heute erst aus Tanquil zurückgekommen ist.« »Es ist mir eine besondere Freude.«
»Schaine Madduc – Elvo Glissam. So, Elvo, und jetzt erklären Sie Schaine bitte, wofür VEE steht. Aber lassen Sie mich dabei aus dem Spiel, und auch meine teuren Diener, sonst müßte ich Sie von ihnen auf die Straße setzen lassen.« »VEE ist die Vereinigung für die Emanzipierung der Erjinen«, erklärte Elvo Glissam. »Bitte halten Sie uns nicht für verrückt. Wir kämpfen tatsächlich gegen eine echte Ungerechtigkeit an: die Versklavung intel ligenter Wesen! Valtrina mit ihren Erjinen-Dienern gehört zu jenen, die wir angreifen.« Er lächelte. »Wir werden unsere geschätzte Freundin schon noch hin ter Gitter kriegen. Außer sie beweist Reue und gibt ihre Sklaven frei.« »Ha! Erst müssen Sie mir zweierlei, nein, dreierlei beweisen. Als erstes, daß Sim und Slim tatsächlich vernunftbegabte Wesen sind und nicht nur domesti zierte Tiere. Zweitens, daß sie überhaupt emanzipiert sein möchten. Und dann verlange ich persönlich noch, daß Sie mir Ersatz für sie besorgen – zwei Die ner, die genauso brauchbar, gefügig und zuverlässig sind wie meine schwarz-braunen Schönen. Lassen Sie sich gesagt sein, daß ich sogar beabsichtige, noch drei oder vier Erjinen zu kaufen, um sie als Gärtner aus bilden zu lassen.« Einer der Erjinen-Diener hatte soeben den Saal be treten und schob einen Servierwagen vor sich her. Schaine schauderte unwillkürlich, als sie über die Schulter blickte und ihn sah. »Puh! Mir jagen sie Angst ein. Der Bulle, der Kelse gerissen hat, war be stimmt nicht größer als der da.« »Wenn ich etwas zu sagen hätte, ich würde sie alle samt erschießen«, murmelte ihr Bruder.
Glinth Isbanes Stimme klang schneidend. »Wenn sie tatsächlich intelligent sind, wäre es Mord. Wenn nicht, ist es auf jeden Fall grausam.« Kelse zuckte die Achseln und drehte sich um. Kurz zuvor war Gerd Jemasze eingetroffen. »Wir fürchten die Erjinen«, sagte er jetzt. »Sie offenbar nicht. Übri gens, wie sieht es mit einer Gesellschaft aus, die sich dafür einsetzt, daß den Uldras ihre Erjinen-Reittiere weggenommen werden?« »Weshalb gründen Sie keine?« fauchte Glinth Isba ne. Erris Sammatzen grinste. »Nun, was die Erjinen und Vv. Glissams VEE anbelangt, sind die Vereinig ten Gilden verständlicherweise interessiert. Die Er jinen sind schließlich billige Arbeitskräfte. Vv. Glis sams Motive für die Emanzipation der Erjinen sind vermutlich anderer Art.« »Allerdings. Die Gaeanische Karta verbietet Skla verei, und die Erjinen sind Sklaven. Hier in Olanje ist ihre Sklaverei gewiß erträglicher als auf Uaia, aber trotzdem! Und was die Windläufer betrifft, die je dermann übergeht, sie sind die ärgsten Sklavenhal ter.« »Oder Tierzähmer – wenn sie die Erjinen lediglich als kluge Tiere betrachten.« Schaine sagte: »Ich verstehe nicht, wie Erjinen ge zähmt werden können. Um ehrlich zu sein, ich glaube es auch nicht. Ein Erjin ist wild und blutrünstig und haßt die Menschen!« »Sim und Slim sind durchaus nicht wild, im Ge genteil, sie sind sehr gefügig«, warf Valtrina ein. »Wie sie so geworden sind und weshalb, weiß ich natürlich nicht.«
Sim, der Erjinen-Diener, rollte seinen Wagen gera de hinter ihnen vorbei. Er sah prächtig aus in seiner Livree. Schaine fiel der verschleierte Blick unter den schwarzen Wimpernbüscheln auf. Sie hatte das Ge fühl, daß der Erjin genau verstand, worüber sie sich unterhielten. »Vielleicht haben sie etwas dagegen, daß man sie kastriert, einer Gehirnwäsche unterzieht und sonstwie verändert – was immer die Windläufer mit ihnen machen.« »Frag Sim doch«, schlug Valtrina vor. »Aber wie könnte ich das?« »Also dann, weshalb sich Gedanken machen?« Valtrinas Stimme klang nun fast ein wenig von oben herab. »Sie brauchen nicht hier zu bleiben, sie können weg, wann sie wollen. Ich halte sie schließlich nicht in Ketten.« Sie wandte sich an Elvo Glissam. »Und wis sen Sie, weshalb sie für mich hier arbeiten? Weil sie Villa Mirasol den Wüsten Uaias vorziehen. Niemand beschwert sich, außer den Vereinigten Gilden, die die Erjinen als Bedrohung ihrer absurd hohen Lohntarife betrachten.« Valtrina warf den Kopf zurück und schritt mit königlicher Haltung quer durch den Saal zu einer weiteren kleinen Gruppe um zwei Uldras. Gerd Jemasze wandte sich an niemanden direkt, als er brummte: »Ich möchte nicht unbedingt behaupten, daß all diese Rederei reine Zeitverschwendung ist, denn offensichtlich macht sie den Leuten hier Spaß.« Mit eisiger Stimme sagte Glinth Isbane: »Durch Worte werden Ideen ausgedrückt. Ideen wiederum sind Teile des Intellekts, der den Menschen vom Tier unterscheidet. Wenn Sie gegen den Austausch von Gedanken sind, lehnen Sie – im Grund genommen – die Zivilisation ab.«
Jemasze erwiderte mit unbewegter Miene: »Das wäre vielleicht gar keine so schlechte Idee, wie Sie zu denken scheinen.« Glinth Isbane drehte sich brüsk um und schloß sich wieder Valtrina an. Jemasze und Kelse traten an die Bar, wo Alger ihnen Drinks mixte. Schaine bewun derte einen Satz Uldra-Lampen, die im unverkennbar kühnen, asymmetrischen Stil der Uldras aus roten Chertblöcken gehauen waren. Elvo Glissam folgte ihr. »Gefallen Ihnen diese Lampen?« »Sie sehen sehr interessant aus«, erwiderte Schaine. »Mein Geschmack sind sie allerdings nicht.« »Oh? Ich finde sie ungemein elegant und unge wöhnlich.« Schaine nickte ein wenig widerwillig. »Ich fürchte, bei mir wirkt das Vorurteil aus meiner Kindheit noch nach, als man alles, was von den Uldras stammte, als erratisch, wirr und irr ansah. Jetzt weiß ich natürlich, daß die Uldras Symmetrie und Gleichmaß als persön lichkeitsbeengend erachten und ihren Individualismus eben deshalb in Unregelmäßigkeit ausdrücken.« »Möglicherweise versuchen sie die Regelmäßigkeit auf andere Weise darzustellen, durch verfeinerte Technik vielleicht.« Schaine verzog ganz leicht das Gesicht. »Ich be zweifle, daß die Uldras so methodisch denken. Sie sind außergewöhnlich stolz und herausfordernd, be sonders die Retentum-Uldras. Ich würde sagen, gera de das drückt ihre Kunst aus. Mir ist, als hörte ich den Lampenmacher sagen: ›Ich forme die Lampe, wie es mir gefällt, da lasse ich mir von keinem dreinre den. Wenn sie euch so nicht paßt, dann sucht an derswo nach Licht‹.«
»Richtig, das ist genau der Eindruck den sie er weckt. Betrachtet man sie wohlmeinend, ist sie groß artig. Mit kritischen Augen gesehen, verrät sie über triebenen Eigensinn.« »Und drückt dadurch genau das Wesen der Uldras aus.« Elvo Glissam musterte unwillkürlich die zwei in der Nähe stehenden Uldras. Schaine, ihrerseits, be trachtete ihn aus dem Augenwinkel. Er gefällt mir, dachte sie. Er schien gütig, humorvoll und unauf dringlich in seinen Ansichten zu sein. Außerdem sah er gut aus mit seinem weichen blonden Haar und den angenehmen, regelmäßigen Zügen. Er war vielleicht um ein paar Zentimeter größer als der Durchschnitt, wirkte geschmeidig sportlich. Offenbar spürte er ihre Musterung, denn er wandte sich wieder ihr zu und lächelte ein wenig verlegen. Hastig sagte Schaine: »Sie sind aber nicht von Szintarre.« »Ich bin von Jennet auf Diamantha. Eine trostlose Stadt auf einer langweiligen Welt. Mein Vater ist Herausgeber eines pharmazeutischen Journals. Ver mutlich würde ich gerade einen Artikel über die neuesten Fußpuder schreiben, wenn mein Großvater mir nicht ein Lotterielos zum Geburtstag geschenkt hätte.« »Es war ein Treffer?« »Es brachte mir hunderttausend SAE* ein.« »Was haben Sie damit getan?« * SAE: Standard-Arbeits-Einheit – die Währung des Gaeanischen Territo riums, die nach dem Stundenwert eines ungelernten Arbeiters bei Stan dardbedingungen berechnet ist. Diese Währung verdrängte alle ande ren Währungseinheiten, da sie als einzige nach dem gleichbleibenden Wertmaßstab im menschlichen Universum berechnet wird: der Arbeit.
Elvo Glissam machte eine beiläufige, oder vielleicht auch bescheidene Geste. »Nichts Besonderes. Ich be zahlte die Schulden der Familie, kaufte meiner Schwester einen Wolkenhüpfer, und den Rest habe ich angelegt. Von den Zinsen lebe ich, ohne daß ich hungern müßte.« »Und was tun Sie, um die Zeit zu vertreiben?« »Oh, verschiedenerlei. Ich arbeite für die VEE, wie Sie wissen. Außerdem stellte ich eine Sammlung von uldraischen Kriegsliedern zusammen. Die Uldras sind die geborenen Musiker und komponierten wun dervolle Lieder, die leider nicht so bekannt sind, wie sie es verdienten.« »Ich wuchs mit ihnen auf.« Schaine lächelte. »Ich könnte Ihnen ein paar so richtig blutrünstige vorsin gen, wenn ich in der richtigen Stimmung dazu wäre.« »Vielleicht ein andermal?« Jetzt lachte Schaine laut. »Ich habe selten das Be dürfnis, meine Feinde einen nach dem anderen zu verbrennen – ›mit sechstausend Feuern und sechstau send Qualen‹.« »Haben Sie gehört, daß auch der Graue Prinz ein geladen ist?« »Der Graue Prinz, das soll doch der Messias der Uldras sein, eine Art Volksaufrührer oder so was Ähnliches, nicht war?« »Soviel ich weiß, ja. Er predigt den ›Panuldrais mus‹. Er will den Zusammenschluß aller RetentumStämme, die dann auch die Domänen-Stämme auf nehmen sollen. Sein Ziel ist, die Landbarone aus Uaia zu vertreiben. Er wird von den Redemptoristen un terstützt, das heißt soviel, wie von fast allen Bewoh nern Szintarres.«
»Sie eingeschlossen?« »Nun, es fällt mir schwer, das der Tochter eines Landbarons gegenüber zuzugeben.« Schaine seufzte. »Es stört mich nicht wirklich. Ich werde nach Morgenwacht zurückkehren und dort le ben. Und ich habe beschlossen, nicht mit meinem Vater zu streiten.« »Begeben Sie sich da nicht in eine – nun, sagen wir, nicht gerade beneidenswerte Lage? Ich habe das Ge fühl, daß Sie viel von Gerechtigkeit und Anständig keit halten...« »Mit anderen Worten, Sie mochten wissen, ob ich innerlich ein Redemptorist bin? Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Ich bin in Morgenwacht zu Hause, es gehört uns – in diesem Glauben wuchs ich jedenfalls auf. Aber würde ich es behalten wollen, wenn wir tatsächlich kein Recht darauf hätten? Um offen zu sein, ich bin sehr froh darüber, daß meine Meinung nicht ausschlaggebend ist. Denn so kann ich ohne schlechtes Gewissen nach Hause zurückkehren.« Elvo Glissam lachte. »Zumindest sind Sie ehrlich. Wäre ich an Ihrer Stelle, würde ich vielleicht genauso denken. Kelse ist Ihr Bruder? Wer ist der dunkelhaa rige Bursche, der so aussieht, als hätte er Bauchweh?« »Gerd Jemasze von Suaniset, der nächsten Domäne östlich von uns. Solange ich mich erinnern kann, wirkt er mürrisch und ein wenig hochnäsig.« »Ich glaube, jemand – vermutlich Valtrina – er wähnte, daß Kelse von einem Erjin überfallen wurde.« »Ja, es war grauenhaft. Seither habe ich eine furcht bare Angst vor diesen Tieren. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß es wirklich zahme gibt.« »Es gibt ja schließlich auch viele verschiedene Ar
ten von Menschen, weshalb könnte das bei den Er jinen nicht auch der Fall sein?« »Vielleicht... Aber immer, wenn ich diese gewalti gen Rachen und die schrecklichen Klauen sehe, denke ich an den armen kleinen Kelse, wie er so blutüber strömt...« »Es ist ein Wunder, daß er den Angriff überlebt hat.« »Das verdankt er einem Uldrajungen, den wir Tor tilla nannten. Er erschoß den Erjin. Armer Kelse! Wohl auch armer Tortilla, wenn man es recht be denkt.« »Was ist ihm passiert?« »Das ist eine lange, unschöne Geschichte. Ich möchte nicht gern darüber sprechen.« Eine kurze Weile schwiegen beide, dann schlug El vo Glissam vor: »Gehen wir doch auf die Terrasse und schauen hinaus aufs Meer, über das Sie morgen nach Hause fliegen werden.« Schaine hielt es für eine gute Idee. Sie traten in die angenehm warme Nacht hinaus. Durch das Laub der Kampander sahen sie die Lichter Olanjes in einem weiten, unregelmäßigen Halbmond verteilt. Über ih nen funkelten die Sterne des Gaeanischen Territori ums. Für die Welten, denen sie Sonne waren, hatten sie ihre eigene Sprache, und wenn man sie länger be trachtete, schienen sie ihre Geschichte zu erzählen.* * Auf den Welten des Gaeanischen Territoriums und des AlastorSternhaufens, vor allem jenen mit ländlicher Bevölkerung, hatte sich ein neuer Beruf eingebürgert: der des Sternenweisen, der die Namen der Sterne aufzählte und Legenden und Sagen über sie zu berichten wußte. Man lädt ihn zu nächtlichen Veranstaltungen, bei denen er für ein Ho norar mit seinen wundersamen Geschichten und Beschreibungen jener Welten der für die Andächtigen sichtbaren Sterne unterhält.
»Vor einer Stunde waren Sie noch nicht einmal ein Name für mich«, murmelte Elvo Glissam. »Jetzt habe ich Schaine Madduc kaum kennengelernt und weiß bereits, daß sie mir fehlen wird. Sind Sie ganz sicher, daß sie Uaia Olanje vorziehen?« »Ich kann es kaum erwarten, wieder nach Hause zu kommen.« »Ist Uaia nicht eintönig und düster und bedrük kend?« »Wie kommen Sie denn darauf? Wer hat Ihnen ei nen solchen Unsinn erzählt? Unser Kontinent ist großartig! Der Himmel ist unendlich, der Horizont so fern, daß sich die Berge, Täler, Wälder und Seen in der ungeheuren Weite zu verlieren scheinen. Alles schwimmt in Licht und Luft. Vielleicht ist das nicht sehr gut ausgedrückt, aber ich kann es nicht besser. Ich weiß nur, daß Uaia wundervoll ist, daß es mir das Herz verkrampft, wenn ich nur daran denke. Ich hatte schreckliches Heimweh nach Morgenwacht in all den fünf Jahren.« »Wenn man Sie so hört, klingt es ja direkt, als sei Uaia doch interessant.« »Das ist es auch, aber vielleicht kein gerade be quemer Ort. Uaia kann sehr grausam sein. Wenn Sie sehen würden, wie die wilden Erjinen in unseren Rinderherden wüten, wären Sie vielleicht nicht mehr so hundertprozentig für diese Bestien.« »Aha! Sie haben mich also völlig mißverstanden. Ich habe nie behauptet, daß ich für die Erjinen bin! Aber ich bin hundertprozentig gegen die Sklaverei! Und Erjinen werden schließlich als Sklaven gehalten!« »Nicht die wilden. Obgleich es besser wäre, wenn man es täte.«
Elvo Glissam zuckte die Achseln. »Ich habe noch nie einen wilden Erjin gesehen und werde vermutlich auch kaum je die Gelegenheit dazu haben. In Szintar re gibt es sie nicht.« »Dann kommen Sie doch mit uns nach Morgen wacht, dort können Sie mehr wilde Erjinen sehen, als Ihnen vielleicht lieb ist.« Mit fast sehnsüchtigem Glanz in den Augen mur melte er: »Ich würde Ihre Einladung annehmen, wenn sie ernst gemeint wäre.« Schaine erwiderte mit nur unmerklichem Zögern, denn sie hatte natürlich nicht damit gerechnet, daß er sie beim Wort nehmen würde: »Aber selbstverständ lich meine ich es ernst.« »Und was ist mit Kelse? Und Ihrem Vater?« »Sie haben ganz sicher nichts dagegen. Gäste sind auf Morgenwacht immer willkommen.« Elvo Glissam überlegte einen Augenblick. »Wann reisen Sie ab?« »Gleich in der Früh. Wir fliegen mit Gerd Jemasze nach Galigong an der Grenze zum Retentum. Dort holt uns Vater ab. Gegen Sonnenuntergang sind wir bereits auf Morgenwacht.« »Ihr Bruder würde mich sicher für unverschämt halten.« »Aber nein! Weshalb sollte er denn?« »Also gut. Ich nehme Ihre großzügige Einladung nur zu gern an. Ich muß gestehen, ich bin schrecklich aufgeregt!« Elvo Glissam richtete sich von der Balu strade auf, gegen die er sich gestützt hatte. »Dann werde ich wohl die Party am besten gleich verlassen, um ein paar Sachen zusammenzupacken und noch einiges zu erledigen. Ich komme morgen in aller Frü
he zu Ihnen ins Hotel.« Schaine gab ihm die Hand. »Also dann, bis mor gen.« Elvo Glissam drückte die Lippen auf ihre Finger. »Gute Nacht.« Er drehte sich um und eilte davon. Schaine blickte ihm mit einem fast zärtlichen Lächeln nach, und ihr Herz schlug unerwartet heftig. Nach einer Weile kehrte auch sie ins Haus zurück und wanderte von Zimmer zu Zimmer, bis sie zu dem Raum kam, den Valtrina Kachemba, nach den heiligen Orten der Uldras, nannte. Kelse und Gerd Jemasze betrachteten dort Valtrinas alte Fetische und debattierten über ihre Echtheit. Kelse hob eine Blasphemiemaske* ans Gesicht. »Sie riecht zweifellos nach Gabhautrauch, und an den Na senöffnungen klebt eine dünne Schicht, die wie Dilf aussieht.« Schaine kicherte. »Ich möchte nicht wissen, wie viele Masken in wie vielen Kachemben nach euch an gefertigt sind.« »Ich würde nicht bezweifeln, daß es einige gibt«, sagte Gerd. »Unsere Faz sind so gefügig wie eure Aos, aber trotzdem... Voriges Jahr schaute ich an den Zimtbreiten in eine Kachemba. Sie hatten sie doch tatsächlich Suaniset nachgebildet.« »Und wie sah es mit den Masken aus?« »Es gab nur zwei: eine, die meinen Vater darstellen * Blasphemiemaske: Die Uldra-Schamanen fertigen den Zügen ihrer Feinde ähnelnde, gebrannte Tonmasken an. Diese Masken tragen sie mit was immer sie sich von den betreffenden Feinden beschaffen können, zu sammen mit deren Kastenquasten; dann suchen sie die Kachemba, den geheimen Schrein, des Stammes ihrer Feinde auf und schänden dort de ren Fetische, in der Annahme und Hoffnung, daß diese sich an demje nigen rächen werden, dessen Maske sie tragen.
sollte, und die andere, mich. Vaters Maske hatten sie eine rote Mütze aufgesetzt – erledigt!« Vor zwei Jahren etwa hatte Kelse Schaine geschrie ben, daß Palo Jemasze, Gerds Vater, durch einen Himmelshai getötet worden war. »In diesem Fall durch einen HimmelshaiAnschlag«, warf Kelse ein. Jemasze nickte. »Ein- oder zweimal pro Woche steige ich mit meiner Dacy zur Jagd auf. Aber bisher hatte ich noch kein Glück.« Schaine beschloß, das unerfreuliche Thema zu wechseln. »Kelse, ich habe Elvo Glissam nach Morgenwacht eingeladen.« »Elvo Glissam? Der VEE-Mann?« »Ja. Er hat noch nie einen wilden Erjin gesehen. Ich versicherte ihm, daß er bei uns mehr finden könnte, als ihm vielleicht lieb ist. Du hast doch nichts dage gen?« »Weshalb sollte ich? Er schien mir recht sympa thisch zu sein.« Die drei kehrten in den Saal zurück. Als Schaine sich umschaute, bemerkte sie einen großen jungen Uldra im Gewand eines Alouanen-Häuptlings, wenn auch das Gewand statt des üblichen Rot oder Rosa tons ein düsteres Grau war. Mit seiner Haut so blau wie das Meer und das Haar glänzend weiß gebleicht, sah er erstaunlich gut aus. Schaine starrte ihn un gläubig und fast erschrocken an. Dann wandte sie sich mit geweiteten Augen an Kelse. »Wie kommt denn er hierher?« »Das ist der Graue Prinz«, erwiderte ihr Bruder. »Man trifft ihn jetzt in Olanje überall.«
»Aber wie – weshalb...« »Irgendwie«, brummte Kelse, »wurde er ermutigt, der Erlöser seiner Rasse zu werden.« Gerd Jemasze grinste ganz offensichtlich spöttisch amüsiert. Schaine ärgerte sich so sehr über die bei den, daß ihr das Blut in den Kopf stieg. Gerd war un verbesserlich und einfach unerträglich! Und Kelse hatte sich zum gleichen intoleranten Querkopf ent wickelt, wie ihr Vater es war... Sie bemühte sich, ihren Unmut zu beherrschen. Kelse hatte schließlich einen Arm und ein Bein verloren. Ihr eigener Verlust, wenn »Verlust« die passende Bezeichnung dafür war, er wies sich daneben vergleichsweise unbedeutend... Der Graue Prinz, der sich ebenfalls gerade umsah, hatte nun Schaine entdeckt. Er beugte den Kopf vor, dann hob er ihn in freudiger Überraschung. Er durchquerte den Saal mit Riesenschritten und blieb vor Schaine stehen. Mit gelangweilter Stimme sagte Kelse: »Hallo, Tor tilla. Was führt dich hierher?« Der Graue Prinz warf den Kopf zurück und lachte. »Mit ›Tortilla‹ ist es vorbei. Ich muß schließlich Rück sicht auf mein öffentliches Image nehmen.« Eine Spur von Uldraakzent gab seiner Stimme einen vergnügten und eindringlichen Klang. »Für die Gefährten meiner Kindheit bin ich ›Jorjol‹. Oder, wenn ihr auf Förm lichkeit besteht, dann ›Prinz Jorjol‹.« »Weshalb sollten wir?« Kelse deutete mit dem Kopf. »Du erinnerst dich gewiß an Gerd Jemasze von Suaniset?« »Ich erinnere mich in jeder Einzelheit«, versicherte Jorjol. Er beugte sich zu einem Handkuß über Schai nes Finger. »Wenn du möchtest, darfst du mich na
türlich gern auch weiterhin ›Tortilla‹ nennen, aber...« Er schaute sich im Saal um. Sein Blick streifte über Kelse und Gerd hinweg, als wären sie nicht vorhan den. »... hier würde ich es vorziehen, wenn du davon Abstand nimmst. Wo warst du denn? Es sind gewiß fünf Jahre...« »In etwa.« »Mir scheint es eine Ewigkeit. Soviel hat sich geän dert.« »Für dich zweifellos zum Besten. Ganz Olanje spricht von dir, wie ich höre – nur wußte ich bisher nicht, daß es sich bei dem Grauen Prinzen um dich handelt.« »Ja, ich bin die Leiter hochgeklettert. Und ich beab sichtige, noch höher zu steigen – selbst auf die Gefahr hin, daß ich damit meine alten Freunde in Verlegen heit bringe.« Jetzt sah er auch Kelse und Gerd an, doch gleich wanderte sein Blick zu Schaine zurück. »Und was wirst du tun?« »Ich kehre morgen nach Morgenwacht zurück. Wir treffen Vater in Galigong und fliegen von dort aus nach Hause.« »Als ›Intransigent‹?« »Was ist ein ›Intransigent‹?« »Das Gegenteil von ›Redemptorist‹, nehme ich an«, erwiderte Kelse mit gelangweilter Stimme. »Als ich, und sonst nichts«, erklärte Schaine fest. »Ich habe nicht vor, mich mit irgend jemandem her umzustreiten.« »Das dürfte gar nicht so leicht sein, wie du glaubst.« Schaine schüttelte lächelnd den Kopf. »Vater und ich werden schon miteinander auskommen. Er ist
weder boshaft noch uneinsichtig. Das wißt ihr doch selbst.« »Er ist ein Naturelement! Stürme, Blitze, Fluten – sie sind ebenfalls nicht boshaft oder uneinsichtig, aber auch sie kann man nicht durch Güte oder Ver nunft schlagen.« Schaine lachte gezwungen. »Und du beabsichtigst, meinen armen Vater zu schlagen?« »Das muß ich. Ich bin ein Redemptorist. Es ist mein Ziel, für mein Volk die Ländereien zurückzugewin nen, die es durch die Gewaltmaßnahmen eurer Leute verloren hat.« Gerd blickte stumm und mit halbabgewandtem Gesicht zur Decke. Kelse warf ein: »Da wir von Vater sprechen, ich habe heute einen Brief von ihm be kommen, einen sehr merkwürdigen. Er erwähnt auch dich. Hör zu, was er schreibt: Vielleicht siehst du diesen Spitzbuben Jorjol. Wenn ja, versuch ihn zur Vernunft zu bringen, zu seinem eigenen Besten. Vermutlich legt er jetzt keinen Wert mehr auf einen guten Job auf Morgenwacht, aber du kannst ihm trotzdem sagen, daß er, wenn seine Seifenblase platzt, immer hier willkommen ist – weshalb, brauche ich wohl nicht zu erwähnen. Ich bin gerade von den Volwoden zurückgekommen. Ich habe einige bemer kenswerte Abenteuer erlebt und kann Dir eine wundervolle Geschichte erzählen – einen Witz sondergleichen, ja einen wahrhaftig großartigen Witz, der mich um gut zehn Jahre jünger gemacht hat. Auch Du wirst Dich bestimmt dar über amüsieren, und für Jorjol dürfte er lehrreich sein... Das andere wird dich kaum interessieren.« Jorjol hob die gebleichten weißen Augenbrauen. »Welche Art von Witz? Ich bin nicht an Späßen inter essiert.«
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung, bin aber nicht weniger gespannt als du.« Jorjol zog an seiner langen Nase, die offensichtlich durch eine Schönheitsoperation von der uldraischen Hakenspitze befreit worden war. »Soweit ich mich entsinne, war Uther Madduc nicht gerade mit Humor gesegnet gewesen.« »Stimmt«, erwiderte Kelse. »Aber seine Persönlich keit ist noch komplexer, als du vielleicht glaubst.« Jorjol dachte einen Augenblick lang nach, dann murmelte er: »Ich erinnere mich hauptsächlich, daß euer Vater sich in seinem Benehmen streng an die von ihm adoptierte Etikette hielt. Da ist es schwer zu sagen, welche Art von Mensch er wirklich ist.« »Uns alle haben äußere Umstände geformt«, mur melte Kelse. Jorjol grinste. Seine Zähne, die noch weißer als sein Haar waren, blitzten. »Nicht mich! Ich bin ich, weil ich ich sein will!« Schaine konnte ein nervöses Lachen nicht unter drücken. »Bei den Sternen, Tortilla – Jorjol – Grauer Prinz – wie immer du dich nennen willst –, du er schreckst uns mit deinem Selbstbewußtsein!« Jorjols Grinsen schwand ein wenig. »Du weißt doch, daß ich schon immer selbstbewußt war.« Valtrina rief ihn aus einer Ecke im Saal. Er verabschiedete sich mit einer höflichen Verbeugung vor Schaine. Schaine seufzte. »Stimmt. An Selbstbewußtsein hat es ihm nie gemangelt.« Erris Sammatzen schloß sich der kleinen Gruppe an. »Sie kennen den Grauen Prinzen offenbar recht gut.« »Ja, er ist Tortilla«, erklärte Kelse. »Vater fand ihn
an der Grenze zum Retentum, als er noch klein war. Man mußte ihn dort ausgesetzt haben. Vater brachte ihn mit nach Hause und übergab ihn der Fürsorge ei nes Ao-Verwalters. Wir wuchsen miteinander auf.« »Vater hatte immer viel für Tortilla übrig«, erin nerte sich Schaine. »Wenn wir wirklich einmal etwas Schlimmes angestellt hatten, bekamen Kelse und ich Ohrfeigen, oder er legte uns übers Knie. Tortilla da gegen las er lediglich die Leviten.« »Das dürfte aber weniger mit Zuneigung zu tun haben als mit der Etikette, von der Tortilla gerade sprach. Man schlägt einen Blauen ganz einfach nicht!« Sammatzen schaute durch den Saal auf die anwe senden Uldras. »Sie sehen auch nicht so aus, als ob sie sich so leicht schlagen ließen. Ich persönlich möchte mich jedenfalls nicht mit ihnen anlegen.« »Wenn Sie einem eine Ohrfeige gäben, würde er nicht zurückschlagen, sondern Sie auf der Stelle mit dem Messer töten. Bei den Uldras kämpfen nur die Frauen mit den Händen. Frauenkämpfe finden bei ihnen übrigens großen Zulauf.« Sammatzen blickte Kelse forschend an. »Sie mögen die Uldras offenbar nicht besonders?« »Einige von ihnen doch. Unsere Aos wissen sich zu benehmen. Kurgech, ihr Schamane, gehört zu Vaters Freunden. Wir haben auf Morgenwacht mit den Frauenkämpfen und noch einigen anderen unschö nen Gebräuchen aufgeräumt. Mit Zauberei beschäfti gen sie sich allerdings immer noch, und dagegen können wir auch nicht an.« »Ich würde annehmen, daß Jorjol nicht als Uldra erzogen wurde?«
»Er wuchs mit uns auf. Er wohnte bei dem AoVerwalter, aber er erhielt Unterricht mit uns, spielte mit uns und trug die gleiche gaeanische Kleidung wie wir. Wir betrachteten ihn eigentlich auch nie als Blau en.« »Ich habe ihn bewundert«, gestand Schaine, »be sonders nachdem er Kelse vor dem Erjin rettete.« »Ah! War das der Kampf, bei dem Sie Ihren Arm und Ihr Bein verloren?« Kelse nickte nur und hätte gern das Thema ge wechselt, aber Schaine fuhr fort: »Es passierte etwa drei Kilometer südlich unseres Hauses. Ein Erjin kam um den Skaw und stürzte sich auf Kelse. Jorjol rannte auf die Bestie zu und jagte ihr eine Kugel in den Schädel. Und gerade noch rechtzeitig, sonst wäre Kelse jetzt nicht hier. Vater wollte etwas für Jorjol tun...« Sie hielt inne, und ihre Gedanken wanderten fünf Jahre zurück zu den damaligen Geschehnissen. »Aber es gab emotionelle Probleme. Jorjol wurde aurau*. Er rannte weg, und wir sahen ihn nie wieder. Von Kurgech erfuhren wir, daß er über die Domä nengrenze zu den Retentum-Uldras ging und sich den Garganchen anschloß. Er war gebürtiger Gargan che, das wußten wir von seiner Geburtstätowierung, also bestand keine Gefahr, daß sie ›landsäuberten‹.« »›Landsäubern‹ ist etwas, das die Blauen mit frem den Stammesangehörigen tun«, erklärte Kelse. »Aber nicht das einzige, muß ich noch erwähnen.« Schaine blickte durch den Saal auf Jorjol. »Und * Aurau: unübersetzbar. Wird für einen Stammesangehörigen mit einem Anfall sichtlicher Abscheu vor zivilisationsbedingten Schranken be nutzt; manchmal auch für in Käfigen gefangengehaltene Tiere, die sich nach Freiheit sehnen.
heute sehen wir ihn in der Villa Mirasol wieder. Wir erwarteten natürlich, daß er es zu etwas bringen würde, aber doch nichts Dergleichen.« Kelse warf trocken ein: »Vater dachte eher an Vieh züchter oder Verwalter.« »Sie müssen zugeben«, bemerkte Sammatzen, »daß es für einen ehrgeizigen Uldra sehr wenig Gelegen heit gibt, sich wirklich zu verbessern und aufzustei gen.« Gerd Jemasze schnaubte abfällig. »Der ehrgeizig Blaue denkt hauptsächlich daran, zu plündern, zu er pressen oder genügend Geld zu stehlen, um sich ei nen Himmelshai anschaffen zu können. Er interes siert sich etwa soviel dafür, Lehrer oder Techniker zu werden, wie Sie auf einem Erjin reiten möchten.« »Das wäre wohl mein letzter Wunsch!« »Eben. Überlegen Sie doch«, forderte Kelse ihn auf. »Die Blauen können jederzeit nach Szintarre kom men, wenn sie wollen. Es hindert nichts und niemand sie daran, die Schulen in Olanje zu besuchen und ei nen Beruf zu erlernen. Wie viele tun es? Kaum ein paar. Alle Blauen in Olanje sind Agitatoren und strei chen den Redemptoristen um den Bart. Ihr einziger echter Ehrgeiz ist, die Landbarone aus den Domänen zu vertreiben.« »Sie sind der nicht unbegründeten Ansicht, daß das Land von Rechts wegen ihnen gehört.« »Es gehört ihnen, wenn sie es fertigbringen, uns mit Gewalt zu verjagen«, erwiderte Kelse finster. »Wenn nicht, bleibt es unser Besitz.« Sammatzen zuckte die Achseln und gesellte sich zu einer anderen Gruppe. Kelse wandte sich an Schaine. »Ich glaube, es ist besser, wir ziehen uns jetzt zurück.
Wir haben morgen einen langen, anstrengenden Tag vor uns.« Schaine pflichtete ihm bei. Mit Gerd Jemasze ver abschiedeten sie sich von Valtrina und verließen die Villa Mirasol. Es war schon spät, aber Schaine fand keinen Schlaf. Sie ging hinaus auf den Balkon unter dem sternenbe deckten Himmel. Das Meer war ruhig, die Stadt still und friedlich, nur ein paar Lichter glitzerten noch durch die Baumkronen am Hügel. Kein Laut war zu hören, außer dem sanften Seufzen der Brandung... Ein ereignisreicher Tag! Kelse, Gerd Jemasze, Tante Val, Tortilla (der Graue Prinz!) – alle ein Teil ihrer Kindheit, und jetzt alle in ihrem Grundcharakter weiterentwickelt, intensiviert. Die Ruhe und der Frieden, die sie zu Hause erhofft hatte, schienen für immer verloren. Sie ließ die Gesichter vor ihrem gei stigen Auge vorüberziehen. Kelses: angespannter und zynischer, als zu erwarten gewesen war. Kelse hatte seine Jugend übersprungen. Von seinem früheren Charme war nichts geblieben. Gerd Jemaszes: hart und brüsk, ein barscher Mann, mit einem Herzen aus Stein. Tortillas, oder Jorjols, wie sie ihn jetzt nennen mußte: so galant und klug wie immer. Welche Ironie, daß gerade das, dem er das Leben, seinen Unterhalt, seine Erziehung zu verdanken hatte, nämlich Mor genwacht und sein Herr, jetzt das Angriffsziel der Redemptoristen war! Dann dachte sie an Elvo Glis sam, und wieder stieg ihr das Blut warm in den Kopf. Sie hoffte, er würde Wochen, ja Monate auf Morgen wacht bleiben. Sie würde ihm die Opalgruben zeigen, den Schleiersee, die Sanhredinlichtung, den Zauber
wald und die Hütte auf dem Mount May. Sie würde Kurgech bitten, ein Grand Karoo* zu veranstalten. El vo Glissam würde ein wenig Freude nach Morgen wacht bringen, wo es seit fünf Jahren – fünf bittere, vergeudete Jahre – keine mehr gegeben hatte.
* Karoo: Uldra-Festlichkeit mit Musik, Tanz, üppigen Speisen, alkoholi schen Getränken, Rezitationen und sportlichen Wettbewerben. Ein normales Karoo dauert gewöhnlich einen Tag und eine Nacht, ein Grand Karoo drei Tage und Nächte oder sogar länger. Die Karoos der Retentum-Stämme sind wild und oft makaber.
3
Der Apex A-15, der plumpe, unelegante Gebrauchs luftwagen von Suaniset, flog über das Persimmon meer. Schaine vermutete, daß Gerd Jemasze absicht lich damit gekommen war, um den Olanjern seine Verachtung für ihren Pomp zu zeigen. »Dein Apex ist ja durchaus nicht unbequem«, wandte sie sich an Gerd, »aber wo hast du denn euren Salonhybro?« Jemasze stellte den Autopiloten auf Galigong und drehte sich in seinem Sitz um. »Der Hybro ist in der Werkstatt. Ich muß warten, bis die Ersatzdexoden endlich kommen.« Schaine erinnerte sich noch aus ihrer Kindheit an den suaniseter Hybro. Sie fragte Kelse: »Ich nehme an, Vater fliegt nach wie vor unseren alten Sturdevant mit dem zerbrochenen Fenster?« »Ja. Er ist nicht kaputtzukriegen. Das Fenster habe ich allerdings voriges Jahr repariert.« Schaine sah Elvo Glissam an. »Bei uns auf den Do mänen verläuft das Leben so langsam, daß sich scheinbar überhaupt nichts verändert. Unsere Vor fahren waren tüchtig und klug. Was für sie gut genug war, ist es für uns ebenso.« »Du darfst nicht übertreiben«, warf Kelse ein. »Ganz zum Stillstand ist es auch bei uns noch nicht gekommen. Vor zwölf Jahren haben wir beispielswei se hundert Morgen mit Weinstöcken bepflanzt, und nächstes Jahr werden wir bereits mit dem Keltern be ginnen.« »Das hört sich gut an«, freute sich Schaine. »Es sollte uns ohne weiteres gelingen, die Importeure zu
unterbieten. Möglicherweise werden wir noch zu Weinmillionären.« »Ich dachte, Sie seien alle Millionäre, mit soviel Land, Bergen, Flüssen und Bodenschätzen«, sagte El vo Glissam. Kelse grinste schief. »Wir sind nichts weiter als Farmer, die von den Früchten ihres Landes leben. Bargeld sehen wir so gut wie nie.« »Vielleicht könnten Sie uns einen Tip geben, wie man in der Lotterie gewinnt?« sagte Schaine lächelnd. »Das dürfte schwierig sein«, erwiderte Glissam, »aber vielleicht einen anderen Rat. Wie wär's, wenn Sie anderswo Geld investierten? Eine der kleinen, wunderschönen Inseln dort unten als Erholungsort für Jachtsportler einrichten – was halten Sie davon?« »Auf dem Persimmonmeer zu segeln ist ziemlich gefährlich«, erklärte Kelse. »Die Morphoten machen sich nämlich ihrerseits einen Sport daraus, an Bord zu klettern, alle umzubringen und dann mit der Jacht davonzusegeln.« »Dürfte ein komisches Bild abgeben«, brummte Gerd Jemasze. Elvo Glissam verzog das Gesicht. »Koryphon ist ei ne grausame Welt.« »Auf Suaniset ist es recht friedlich«, versicherte ihm Jemasze. »Auf Morgenwacht nicht weniger«, warf Kelse ein. »Jorjol versuchte unseren Aos einzureden, wie schlecht sie es haben, aber sie begriffen nicht, wovon er sprach. Also gibt er sich jetzt in Olanje seiner Auf wiegelei hin.« »Jorjol scheint mir alles andere als ein klassischer Reformator zu sein«, gab Elvo Glissam zu bedenken.
»Er ist eine ganz erstaunliche Persönlichkeit. Was sind wohl seine Motive? Immerhin verdankt er Ihrem Vater doch sehr viel.« Schaine schwieg. Gerd Jemasze starrte mit finste rem Gesicht auf die Mermioninseln hinunter. Schließlich sagte Kelse: »So überraschend ist es gar nicht. Vater hat äußerst strenge und starre Ansichten. Es mag vielleicht den Anschein gehabt haben, daß Jorjol, Schaine und ich als ebenbürtige Spielkamera den aufwuchsen. Aber es wurde nie ein Versuch ge macht, die wirkliche Situation zu beschönigen. Wir waren Ausker, Jorjol ein Blauer. Nie durfte er mit uns in der großen Halle essen. Er mußte seine Mahlzeiten mit den Dienstboten in der Küche einnehmen. Ich bin sicher, das schmerzte ihn mehr, als er je zugegeben hätte. Und im Sommer, wenn wir Tante Val in Olanje besuchen durften, wurde Jorjol vom Verwalter in die harte Schule genommen, weil Vater wollte, daß Jorjol später Viehzüchter oder zweiter Verwalter würde.« Elvo Glissam nickte. Er hatte verstanden und stellte keine weiteren Fragen mehr. Die rosige Sonne wanderte den Himmel empor. Der Apex stieß durch die dichten Kumuli, und nun sahen sie die gewaltige Landmasse von Uaia am nördlichen Horizont. Allmählich zeichneten sich durch den Dunst Einzelheiten ab: Küste, Klippen, Vorgebirge. Die Farben wurden deutlicher: bleiches Gelb, Ocker, Schwarz, Schmutzigweiß und Braun. Die Küste kam näher, eine Halbinsel ragte aus der Masse des Konti nents und umschloß eine lange schmale Bucht. An ih rer Spitze drängte sich ein halbes Dutzend Lagerhäu ser, ein paar Katen und Blockhäuser, ein herunterge
kommenes Hotel aus weißgetünchtem Holz, das zum Teil aufs Wasser hinausragte und durch hohe, schiefe Stelzenbeine gestützt wurde. »Das ist Galigong«, er klärte Kelse. »Der Haupthafen des Retentums.« »Und wie weit ist es noch bis Morgenwacht?« »Etwa dreizehnhundert Kilometer.« Kelse blickte durch das Fernglas. »Ich sehe den Sturdevant nicht, aber wir sind ja auch ein bißchen früh dran. Die Hil gaden halten gerade ein Karoo in ihrem Küstenlager ab. Ich glaube, es findet soeben ein Frauenkampf statt.« Er streckte Elvo Glissam das Glas entgegen. Glissam nahm es und war nicht unglücklich darüber, daß er auf die Entfernung von dem Frauenkampf nicht viel mehr als ein paar verschwommene blau häutige Gestalten in weißen, rötlichen und beigen Gewändern sehen konnte. Der Luftwagen landete. Die vier stiegen auf das kalkhaltige Gestein Uaias und eilten durch das grelle, blendende Rosa in den Schutz des Hotels. Sie betra ten eine düstere Stube, in die nur durch eine Reihe von Bullaugen aus grünem Glas ein wenig Licht fiel. Freundlich begrüßte der Wirt sie, ein kleiner, korpu lenter Ausker mit spärlichen braunen Locken, einer Knollennase und nach außen leicht schrägen, melan cholischen rehfarbenen Augen. »Haben Sie Nachricht aus Morgenwacht für uns?« erkundigte sich Kelse. »Nein, Sir, kein Wort.« Kelse schaute auf seine Uhr. »Es ist wohl immer noch ein bißchen früh.« Er schritt zur Tür und suchte den Himmel ab. Dann kehrte er zurück. »Wir sollten vielleicht einstweilen einen Bissen zu uns nehmen. Was haben Sie Gutes?«
Der Wirt schüttelte betrübt den Kopf. »Sehr wenig, fürchte ich. Ich könnte Ihnen vielleicht Spernum bra ten. Dann hätte ich noch ein Glas eingeweckten Tin tenfisch. Und ich könnte den Boy um Rockwortsalat schicken. Als Nachspeise gäbe es noch den Kuchen dort auf der Theke. Aber ganz frisch ist er nicht mehr.« »Tun Sie Ihr Bestes, wir verlassen uns ganz auf Sie. Bringen Sie uns einstweilen schon jedem ein Glas kühles Bier.« »So kühl wie es hier möglich ist, Sir.« Das Essen wurde aufgetragen. Es war reichhaltiger, als die Worte des Wirtes hatten annehmen lassen. Die vier hatten es sich auf dem Pier im Schatten des Ho tels bequem gemacht. Es bot sich ihnen hier ein Aus blick nördlich über das Wasser auf das Hilgadenla ger. Der Wirt bestätigte, daß dort ein Karoo gefeiert wurde. »Aber lassen Sie sich nicht von Ihrer Neugier verleiten«, warnte er. »Der Raki ist ihnen bereits in den Kopf gestiegen. Man würde Sie nicht gerade freundlich behandeln, wenn Sie sich in ihre Nähe be gäben. Drei Frauenkämpfe haben heute morgen be reits stattgefunden und acht Raskoladen. Und heute abend werden sie Radschleudern.« Er machte das Zeichen der Vorsicht und kehrte ins Innere des Hotels zurück. »Das sind für mich alles völlig fremde Ausdrücke«, gestand Elvo Glissam. »Und keiner hört sich sonder lich erfreulich an.« »Da täuschen Sie sich auch nicht«, versicherte ihm Kelse. Er deutete auf die sonnengedörrten Hänge. »Nehmen Sie das Fernglas. Sehen Sie die kleinen Kä fige und Verschläge? Darin warten die Gefangenen,
daß man sie auslöst. Nach etwa einem Jahr, oder auch erst nach zwei Jahren, wenn kein Lösegeld für sie be zahlt wurde, holt man sie heraus und schickt sie über eine Rennstrecke. Man gibt ihnen nur einen geringen Vorsprung, dann werden sie von mit Lanzen bewaff neten Kriegern auf Erjinen verfolgt. Erreichen die Ge fangenen das Ende der Rennstrecke, gibt man sie frei. Das ist eine Raskolade. Und das Rad – sehen Sie das hohe Gerüst dort mit dem Gegengewicht am Rad? Das Gegengewicht wird hochgezogen, dann bindet man den Gefangenen an das Rad. Wenn man das Ge gengewicht losschneidet, dreht das Rad sich. An ei nem bestimmten Punkt löst sich der Gefangene und wird auf die Riffe dort im Meer geschleudert. Manchmal landet er im Wasser, dann erwischen ihn die Morphoten. Dieser Spaß dauert solange, bis kein Gefangener mehr übrig ist. Und während dieser gan zen Zeit schlagen sich die Feiernden die Mägen mit gegrillten Morphoten voll, leeren Krug um Krug von Schädelbrecher in sich hinein und überlegen, wie sie an weitere Gefangene kommen können.« Schaine gefiel das Gesprächsthema absolut nicht. Sie wollte nicht, daß Kelse und Gerd Jemasze den noch aufgeschlossenen Elvo Glissam mit ihren Vor urteilen vergifteten. »Die Hilgaden sind keine Mu sterbeispiele der Uldras«, erklärte sie deshalb. »Tat sächlich könnte man sie sogar als Parias unter den Uldras ansehen.« »Parias vielleicht deshalb, weil sie kein traditions reiches Land und keine Kachemben haben«, konterte Gerd Jemasze. »Nicht, weil ihre Sitten und Gebräuche ungewöhnlich sind.« Schaine wollte erwidern, daß diese Bemerkung nur
auf die Retentum-Stämme zutraf, während die Do mänen-Uldras, wie die Morgenwacht-Aos, beispiels weise, bedeutend weniger unzivilisiert und grausam waren, aber als ihr Jemaszes spöttischer Blick auffiel, schwieg sie. Die Stunden vergingen. Am Nachmittag setzte Kel se sich mit Morgenwacht in Verbindung. Auf dem staubigen und von Insekten beschmutzten Bildschirm nahm das Gesicht Reyona Werlas-Madducs Form an. Sie war die Haushälterin auf dem Gut und eine ent fernte Kusine von Schaine und Kelse. Ihre Stimme vi brierte aus den alten Lautsprechern des Geräts. »Er ist noch nicht in Galigong? Seltsam! Er müßte schon längst dort sein. Er ist bereits in aller Frühe aufgebro chen.« »Ja, sehr merkwürdig. Hat er vielleicht erwähnt, daß er unterwegs irgendwo Station machen würde? Oder noch etwas erledigen wollte?« »Nein, zu mir hat er jedenfalls nichts gesagt. Ist Schaine bei dir? Ich möchte sie gern sprechen.« Als die beiden sich begrüßt und ein paar Worte gewechselt hatten, schob Kelse seine Schwester wie der zur Seite. »Wenn Vater sich melden sollte, sag ihm, daß wir im Hotel von Galigong auf ihn warten.« »Oh, er müßte wirklich jeden Augenblick bei euch sein... Hm! Möglicherweise hat er einen kurzen Ab stecher nach Trillium gemacht, um bei Dm. Hugo ei nen Schluck zu sich zu nehmen?« »Kann ich mir nicht vorstellen«, brummte Kelse. »Nun ja, wir werden eben warten müssen, bis er end lich hier ist.« Der Nachmittag verging. Die Sonne versank zwi
schen rotglühenden Wolken mit letzten feurigen Strahlen im Persimmonmeer. Schaine, Kelse, Elvo Glissam und Gerd Jemasze saßen am Kai und starrten westwärts über das stille Wasser. Alle waren sichtlich beunruhigt. »Soviel Zeit würde er sich nicht lassen, außer es ist ihm etwas zugestoßen«, sagte Kelse düster. »Ich bin sicher, daß er irgendwo unterwegs notlanden mußte. Und zwei Drittel der Strecke ist Garganchen-, Hun gen- und Kyanen-Gebiet.« »Aber warum hat er sich dann nicht über Funk gemeldet?« fragte Schaine besorgt. »Vielleicht funktioniert sein Gerät nicht. Alles mögliche kann geschehen sein«, warf Gerd Jemasze ein. »Aber wir finden ihn ganz sicher irgendwo auf dem Weg zwischen hier und Morgenwacht.« Kelse fluchte. »Im Dunkeln entdecken wir ihn be stimmt nicht. Wir müssen also bis zum Morgen war ten.« Er ging ins Hotel, um den Wirt nach Zimmern zu fragen, und kehrte mit noch bedrückterer Miene zurück. »Er hat zwei Zimmer mit Betten, und er kann uns außerdem zwei Hängematten zur Verfügung stellen. Aber er weiß nicht, ob seine Vorräte noch für ein Abendessen für uns reichen werden.« Trotzdem bestand das Abendessen aus einer reich lichen Platte in Seewasser gekochter Sandkriecher, appetitlich mit kalten Gemüsen und Salaten garniert. Dazu gäbe es eine gedünstete Kohlwurst. Nach dem wirklich schmackhaften Mahl setzten die vier sich wieder auf den Pier. Irgend etwas bewegte den Wirt dazu, eine Tischdecke über seine Köderkiste zu wer fen und eine Nachspeise aus Biskuitschnitten mit Dörr obst und aromatischem Eisenkrauttee zu servieren.
Die Unterhaltung der vier kam ins Stocken. Eine Weile loderten die Hilgadenfeuer noch hoch, dann brannten sie allmählich nieder und schließlich sprühten nur noch rote Funken auf. Seufzend schmiegten die Wellen sich an die Pierstützen. Die er sten Sternbilder zeichneten sich am dunkelnden Himmel ab: die herrlichen Griffeiden; Orpheus mit seiner Laute aus acht blauen Sternen; die Zauberin Miraldra mit dem glitzernden Fenim als Diadem; und tief im Südosten der Sternenschleier des Alstorhau fens. Wie wunderschön könnte dieser Abend sein, dachte Schaine, wenn nicht die Sorge um Vater wäre. Sie war bedrückt, und nicht nur aus Angst um Uther Madduc. Ihr geliebtes Morgenwacht hatte zu einem Aufruhr unerfreulicher Emotionen Anlaß gegeben, und sie war sich der Richtung ihrer eigenen Sympa thien selbst nicht sicher. Sie fürchtete jedenfalls, daß sie sich nicht mit denen ihres Vaters vereinbaren lie ßen. Doch das spielte keine ausschlaggebende Rolle, sie liebte ihn auch so. Aber weshalb dann, fragte sie sich, lehnte sie Gerd Jemasze so sehr ab? Seine An sichten unterschieden sich in nichts von denen Uther Madducs. Er war auch nicht weniger tüchtig und ge nauso selbstherrlich. Sie blickte zum Geländer, wo Elvo Glissam und Gerd Jemasze sich miteinander unterhielten. Sie waren ungefähr gleich alt, beide sa hen gut aus, beide waren selbstsichere Persönlich keiten. Elvo war warmherzig, impulsiv und strahlte eine innere Zufriedenheit aus. Er war mitfühlend, ein Idealist, und setzte sich für die Gerechtigkeit ein. Im Gegensatz zu ihm verbarg Gerd Jemasze seine Ge fühle hinter einer unbewegten Maske. Sein Humor war spöttischer Natur, sein Ehrenkodex – wenn man
es so nennen konnte – basierte auf einem eigennützi gen Pragmatismus... Sie nahm ein paar ihrer Ge sprächsfetzen auf. Die beiden unterhielten sich über Morphoten und Erjinen. Schaine hörte ihnen jetzt zu. »... etwas ungewöhnlich«, sagte Gerd Jemasze ge rade. »Die Paläontologen hatten keine Schwierigkei ten, die Evolution der Morphoten durch Fossili enfunde zurückzuverfolgen – bis zu einer Kreatur ähnlich dem Sandkriecher, den wir heute zum Abendessen verspeisten. Von den Erjinen dagegen gibt es keine Fossilien. Ihre spröde Knochensubstanz löst sich nach dem Tod innerhalb weniger Jahre völlig auf. Man weiß also so gut wie nichts über ihre Ent wicklung, ja nicht einmal, wie sie sich fortpflanzen.« »Die Windläufer wissen es bestimmt«, warf Kelse ein. »Wie domestizieren die Windläufer sie eigentlich? Fangen sie junge Erjinen ein? Oder zähmen sie aus gewachsene?« »Darüber kann Ihnen Uther Madduc vielleicht mehr erzählen. Er kehrte gerade aus der Palga zurück.« »Vielleicht hängt sein ›großartiger Witz‹ damit zu sammen«, meinte Kelse. Gerd Jemasze hob die Schultern. »Soviel ich weiß, brüten die Windläufer die Erjineneier künstlich aus und ziehen die Nestlinge groß. Die wilden Erjinen haben telepathische Fähigkeiten. Möglicherweise ge lingt es den Windläufern irgendwie, sie abzuschir men. Ob das so ist, und wenn ja, wie sie es machen, habe ich nicht die leiseste Ahnung.« Kelse und Gerd Jemasze zogen es vor, auf den breiten Sitzen des Apex zu nächtigen, und zogen sich schon
bald zurück. Elvo und Schaine spazierten zum Ende des Piers und setzten sich auf einen kielobenliegen den Kahn. Sterne spiegelten sich im dunklen Wasser. Von den Hilgadenfeuern sprühten nur noch verein zelte Funken. Musik erklang irgendwo entlang des Strandes. Es war ein zitterndes Wimmern, immer wieder von dröhnenden Bässen übertönt. Elvo Glis sam schüttelte den Kopf. »Schauderhafte Töne«, kommentierte er. »Als Sammler ihrer Lieder wissen Sie ja sicher, daß die Musik der Blauen nie beschwingt ist«, sagte Schaine. »Unsere betrachten sie als die Ohren schmerzendes Geklimper.« Allmählich erstarben auch die Hilgadenklänge. Die beiden saßen und lauschten den sanften Wellen unter dem Pier. »Ich fürchte, für Sie ist das alles eine große Enttäuschung. Wir hatten natürlich nicht mit solchen Unannehmlichkeiten gerechnet.« »Wenn es nicht mehr ist, nehme ich sie gern in Kauf«, erwiderte Elvo Glissam. »Ja, ich hoffe sehr, daß es nichts Schlimmes ist. Glücklicherweise trägt Vater immer Waffen und weiß sich zu schützen. Wie Gerd schon sagte, wir werden ihn morgen sicher finden, wenn er irgendwo notlan den mußte.« »Ich bin ja wirklich kein Pessimist, aber wie können Sie so sicher sein? Es ist doch ein langer Weg nach Morgenwacht, und ein weites Gebiet, das er überflo gen haben kann.« »Wir schalten immer den Autopiloten ein, schon allein aus dem Grund, weil wir vielleicht notlanden müssen. Das ist eine Vorsichtsmaßnahme, die wir nie außer acht lassen. Wir werden uns auch morgen ge
nau nach dem geraden Flugkurs richten. Falls Vater nicht irgendwie einen Umweg oder Abstecher ge macht hat, können wir ihn gar nicht verfehlen.« Sie stand auf. »Ich glaube, wir sollten auch ins Bett ge hen.« Elvo erhob sich ebenfalls und küßte sie auf die Stirn. »Schlafen Sie gut, und machen Sie sich keine Sorgen – in keiner Beziehung.«
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Das Meer lag unbewegt unter dem grauen und rosi gen Morgenhimmel. Aus dem Hilgadenlager trieb Rauch über die schmale Bucht und brachte einen an genehm würzigen Geruch mit sich. Brummend und gähnend tischte der Wirt ein Früh stück aus gekochten Muscheln, gerösteten Haferflok ken und Tee auf, das die vier in aller Eile zu sich nahmen. Kelse ließ sich die Rechnung geben, und wenige Minuten später hob der Apex sich bereits in den Himmel. Jemasze stellte den Autopiloten auf die Koordinaten von Morgenwacht ein. Das Luftfahrzeug machte sich nordwestlich auf den Weg, quer über die Bucht und das Hilgadenlager. Krieger rannten herbei, schwangen sich auf ihre Erjinen und trieben sie mit den elektrischen Geißeln an. Hopsend, springend und auf ihren Hinterbeinen laufend, die gewaltigen Schä del vorgestreckt, folgten die Reittiere dem Apex auf dem Boden, während die Krieger wütende Flüche hinaufschrien. Die Hilgaden blieben zurück. Das Flugzeug stieg höher auf, um über die felsigen Klippen hinwegzu kommen, dann hielt es eine gleichbleibende Höhe von fünfhundert Metern ein, um einen maximalen Überblick auf die Strecke zu haben, die Uther Mad duc hätte kommen müssen. Die Alouanen dehnten sich bis weit außer Sichtweite aus – eine schwach hü gelige Ebene mit vereinzelten Gruppen von grauen, dornigen Flaschenbüschen und hin und wieder einem Hexenbaum mit mächtigem Stamm und Ästen, die aussahen, als wollten sie sich in den Himmel krallen.
Der Apex flog langsam, so daß den vieren kein Qua dratmeter Boden entging. Kilometer um Kilometer und Stunde um Stunde legten sie zurück. Die Ebene wurde zu einer unge heuren mit Hitzeflimmern gefüllten Mulde mit Salz löchern wie Pockennarben. Voraus erhoben sich die weißen Felsen des Luzimergebirges. »Kein sehr ein ladendes Gebiet«, bemerkte Elvo Glissam. »Vermut lich gehört es deshalb noch zum Retentum.« »Die Kyanen fühlen sich dort recht wohl.« Kelse grinste. »Also dürfte jeder zufrieden sein.« »Dann sind sie wohl sehr genügsam«, meinte Glis sam. »Ich kann mir nicht einmal vorstellen, daß Ei dechsen dort unten überleben könnten.« »Wir haben Trockenzeit. Die Kyanen halten sich jetzt in den Bergen im Westen auf. Während der Re genzeit leben sie in den Kalkbergen dort drüben, wo sie auch ihre Kachemben haben.« »Haben Sie schon einmal eine Kachemba er forscht?« Kelse schüttelte den Kopf. »Jedenfalls nicht gründ lich. Sie brächten mich um.« »Wie würden sie denn davon erfahren?« »Ich weiß es nicht, aber irgendwie ganz sicher.« »Da wir sie nicht in unseren Wohnzimmern will kommen heißen, laden sie uns auch nicht in ihre Ka chemben ein«, meinte Schaine. »Also hat einer dem anderen nichts vorzuwerfen.« »Und, wie ich schon des öfteren sagte, jeder ist da mit zufrieden«, brummte Kelse. »Außer Jorjol«, murmelte Schaine. Beim Überfliegen des Luzimergebirges verringerte Jemasze die Geschwindigkeit, damit sie die Hänge
und Schluchten besser überblicken konnten. Doch nirgends entdeckten sie auch nur eine Spur von Uther Madducs Sturdevant. Jenseits des Gebirges lag eine wellige Steppe. Dut zende von kleineren Wasserläufen zogen sich wie ein Netz hindurch und vereinten sich schließlich zur breiten Lela. Dichtes Gebüsch wuchs an ihren Ufern. Jemasze verringerte die Geschwindigkeit des Apex noch mehr, bis er sich kaum noch zu bewegen schien. Aber auch hier war der Sturdevant nicht zu entdek ken. »Ist das immer noch das Retentum?« erkundigte sich Elvo Glissam. »Ja. Hungen-Territorium. Etwa hundertfünfzig Kilometer östlich liegt Trillium. Nach Morgenwacht sind es immer noch über sechshundert in nördlicher Richtung.« Das Land kroch unter ihnen vorbei. Aus der Steppe wurde dürres, mit Rauchkraut bedecktes Flachland. Am Horizont kauerte ein Dutzend eigentümlich ge formte Berge, die aus der Ferne wie eine Gruppe monströser grauer Tiere aussahen. Jemasze stieg ein wenig auf, um einen weiteren Überblick zu bekom men. Sie überflogen die seltsamen Berge, dann wurde das Flachland zu einer zerklüfteten Öde mit ausge trockneten Flußbetten und steinigen Hügeln, die dem dürren Land durch Gruppen von Knoten- und Sei denbäumen und vereinzelten Geißbäumen mit ihren nachtschwarzen Stämmen und den flatternden senf farbenen Kronen Farbe verliehen. Dramalfo hieß die ses langgezogene Gebiet. Zwei Stunden nach Mittag, nahe am Rand des Domänenterritoriums, etwa hun
dertfünfzig Kilometer südlich von Morgenwacht, stießen sie auf den Sturdevant. Er schien zerschmet tert, als wäre er von großer Höhe wie ein Stein in die Tiefe geplumpst. Nichts bewegte sich in seiner Nähe. Jemasze ließ den Apex über dem geborstenen schwarzen Luftfahrzeug schweben und studierte das Gelände ringsum mit dem Fernglas. »Das kommt mir alles recht merkwürdig vor«, murmelte er. Er hatte das Glas jetzt westwärts gerichtet und stellte es schär fer ein. »Blaue – etwa dreißig«, erklärte er. »Sie reiten in Richtung auf den Sturdevant.« Er senkte den Apex zum Wrack des Flugzeugs hin ab, während Kelse die Reiter beobachtete. »Sie nähern sich schnell«, sagte er aufgeregt. »Als ob sie wüßten, was sie hier finden werden.« »Beute.« »Das bedeutet, daß sie von dem Wrack wissen.« »Und das wiederum läßt auf Himmelshaie schlie ßen.« Jemasze betrachtete den Himmel in allen Rich tungen. Abrupt griff er nach den Kontrollen. Doch nicht schnell genug. Ein ohrenbetäubender Knall, das Ächzen und Stöhnen von Metall, der Apex erbebte und sackte heckvoraus in die Tiefe. Von der Seite brauste ein Himmelshai herbei – eine schmale Plattform mit gewölbter Windschutzscheibe und ei nem langen, konkaven Bugkegel, der sowohl als Schußwaffe, als auch als Lanze diente, das letztere, wenn der Pilot im Nahkampf den Feind rammen wollte. Der Himmelshai wendete und schoß in Spiralen in die Höhe. Der Apex wurde mit dem Heck immer schneller nach unten gezogen. Jemasze versuchte verzweifelt, die Fallgeschwindigkeit abzubremsen.
Da brauste der Himmelshai wieder herab, und der Apex erbebte unter einer zweiten Erschütterung. Je masze fluchte zwischen zusammengebissenen Zäh nen. Der Boden kam ihnen entgegen. Gerd nutzte al les an Schub, was der Apex noch zu geben hatte, um den Sturz zu mildern, und drehte das Flugzeug dabei fast auf den Rücken. Schließlich landete der Apex doch einigermaßen sanft auf dem steinigen Boden. Jemasze löste ein Gewehr aus der Halterung und sprang hinaus. Aber der Himmelshai verschwand in zwischen westwärts. Kelse torkelte zum Funkgerät und hantierte mit fliegenden Fingern. »Nichts zu machen«, brummte er schließlich. »Kein Strom.« »Er hat uns das Heck abgeschossen, um uns zur Landung zu zwingen, nicht um uns zu töten«, sagte Gerd Jemasze nachdenklich. »Wie schön!« stöhnte Kelse. »Wir erfahren viel leicht mehr über die Raskoladen, als wir möchten.« »Nehmt euch die Schußwaffen aus dem Schrank«, forderte Jemasze die anderen auf. »Es müßte auch ein Granatwerfer dabei sein.« Schaine, Elvo und Kelse schlossen sich Jemasze im Freien an. Kelse ging hinüber zum Wrack des Sturde vant und spähte hinein. Mit grimmigem Gesicht kehrte er zurück. »Er ist im Wagen. Tot!« Elvo Glissam starrte verwirrt von dem zerschmet terten Sturdevant zum notgelandeten Apex und dann zu Kelse. Er wollte etwas sagen, doch dann biß er sich auf die Lippe. Schaine blinzelte, um die Tränen zu rückzuhalten. Fünf Jahre auf Tanquil vergeudet! Fünf Jahre aus Arroganz und dummem Stolz und Unver nunft verronnen – und jetzt würde sie nie wieder mit
ihrem Vater sprechen, ihm sagen können, daß sie ihn lieb hatte. »Hast du die Blauen erkennen können?« wandte Gerd Jemasze sich an Kelse. »Höchstwahrscheinlich Hungen. Aos ganz sicher lich nicht. Die Erjinen haben weiße Krausen, also wa ren es keine Garganchen.« »Ihr drei zieht euch hinter den Apex zurück«, be stimmte Jemasze. »Wenn sie um die Biegung kom men, dann eröffnet das Feuer. Ich verstecke mich dort drüben, um sie aufzuhalten und vielleicht so die Chance für uns zu erhöhen.« Kelse stapfte hinter den Apex. Schaine folgte ihm dichtauf, Elvo ein wenig zögernder. Er blickte Jemas ze zweifelnd nach, der gebückt auf einen Sandhügel etwa vierhundert Meter westlich zurannte. »Warum läuft er dorthin?« »Um ein paar Blaue zu erwischen«, erwiderte Kel se. »Können sie mit einem Gewehr umgehen?« »Ich fürchte nicht.« »Es ist ganz einfach. Sie brauchen nur den gelben Punkt auf das Ziel richten und dann auf diesen Knopf hier drücken. Die Schußbahn wird automatisch be rechnet. Die Ladung besteht aus OB-16 Explosivku geln, die einen Blauen und seinen Erjin gleichzeitig schaffen müßten.« Elvo Glissam betrachtete unglücklich die Waffe. »Sind Sie sicher, daß sie uns feindlich gesinnt sind?« »Wenn es sich um Hungen handelt, dann zweifel los. Sie haben auf Dramalfo nichts zu suchen, denn das gehört zum Garganchen-Gebiet. Selbst wenn es Garganchen sein sollten, sind sie feindlich, außer sie machen einen Bogen um uns. Sie kennen die Regeln.«
»Wenn es wirklich dreißig sind, kann ich mir nicht vorstellen, daß wir im Kampf eine Chance gegen sie haben. Sollten wir nicht lieber versuchen, mit ihnen zu verhandeln?« »Zwecklos. Was die Chancen betrifft, das ist der Grund, weshalb Gerd zu dem Hügel läuft. Er wird sie für uns erhöhen.« Als Jemasze auf der Kuppe ankam, versteckte er sich zwischen den Zwerggeißbäumen. Die Uldras waren noch etwa eineinhalb Kilometer entfernt, nä herten sich aber im Galopp und schwangen ihre alten Zweisternthios. Jemasze suchte den Himmel ab. Von dem Hai war nichts zu sehen. Vermutlich hing er, im Sonnenglast nicht erkennbar, irgendwo in dem grel len Rosa. Die Uldras näherten sich. Gerd erkannte, daß es sich tatsächlich um Hungen handelte. Sie kamen di rekt auf den Hügel zu. Offenbar dachten sie über haupt nicht an die Möglichkeit eines Hinterhalts – was Jemasze natürlich bestens in den Plan paßte. Er machte es sich auf dem Boden zwischen den Bäumen so bequem wie möglich, baute den Granatwerfer ne ben sich auf und brachte sein Gewehr in Anschlag. Die Hungen kamen herbeigaloppiert. Er hörte bereits die keuchenden Schreie ihrer Erjinen. Jemasze nahm ihren Führer aufs Korn – ein besonders großer Uldra in flatterndem graugelben Gewand mit einem Kopf schmuck, der aus einem Menschenschädel geschnitzt war. Gerd drückte auf den Auslöser, dann zielte er sofort wieder und schoß erneut, und immer wieder. Bei den Explosionen kreischten die Erjinen empört und hielten abrupt an, indem sie sich auf alle viere niederließen und ihre Klauen in den Boden krallten.
Jetzt feuerte Jemasze mit dem Granatwerfer auf die dichte Gruppe der Reiter. Ein ohrenbetäubender Knall zerriß die Luft, und die Überlebenden rissen ih re Tiere zur Seite. Jemasze erhob sich und schoß auf die sich verstreuenden Uldras... Zuckende und brül lende Erjinen lagen auf dem Boden. Ein verwundeter Blauer tastete nach seinem Gewehr und legte auf den Ausker an. Die Kugel pfiff dicht an Jemaszes Kopf vorbei. Hastig feuerte er eine zweite Granate ab, und jegliche Bewegung erstarb. Eine Druckwelle zischte über ihn hinweg. Er wußte sofort, was geschehen war, noch ehe er sich umdreh te. Der Himmelshai war aus seiner Sonnendeckung herabgetaucht, und Kelse, der damit gerechnet hatte, hatte sofort auf ihn gezielt. Jemasze blickte hoch. Wie erwartet trudelte die Flugplattform. Der Pilot hatte offenbar die Kontrolle über sie verloren. Doch als Je masze auf sie schoß, torkelte sie bereits außer Schuß weite in westlicher Richtung davon. Jemasze rannte den Hügel hinunter zu den Toten. Vierzehn der Blauen waren getroffen, doch genauso viele waren entkommen. Er sammelte die Waffen ein, legte sie auf einen Haufen und vernichtete sie mit ei ner Granate, dann kehrte er auf die Kuppe zurück. Etwa drei Kilometer entfernt hatten die Hungen an gehalten, um sich zu beraten. Jemasze zielte auf sie und zog dabei auch die leichte Brise in Betracht, trotzdem traf die Kugel nicht. Jemasze rannte zu seinem beschädigten Luftwagen zurück. Kelse, Schaine und Elvo Glissam waren gera de dabei, ein Grab in dem sandigen Grund auszuhe ben, und benutzten Stecken, um die Erde zu lockern. Kelse und Gerd Jemasze holten den toten Uther
Madduc und legten ihn in das Grab. Schaine starrte in den Himmel, während Elvo Glissam verlegen neben ihr stand. Kelse und Gerd füllten das Grab auf und beschwerten es mit Steinen. Was immer der großarti ge Witz gewesen sein mochte, von dem Uther Mad duc ihnen hatte berichten wollen, aus seinem Mund würden sie ihn nicht mehr erfahren. Gerd Jemasze und Kelse durchstöberten sowohl den Sturdevant als auch den Apex und holten heraus, was sie brauchen konnten: Uther Madducs Waffen und den Inhalt seines Wassertanks – etwa vier Liter; dann aus dem Apex eine Karte, einen Kompaß, die eiserne Ration und weitere achtzehn Liter Wasser. »Wir haben etwa hundertfünfzig Kilometer vor uns, dazu brauchen wir querfeldein etwa vier bis fünf Tage«, sagte Jemasze. »Das könnten wir schaffen – wenn die Blauen nicht zurückkommen. Aber ich fürchte, genau das haben sie vor. Haltet also die Au gen offen und achtet auf Staubfahnen oder Bewegung am Horizont.« »Können wir denn nicht durch Funk Hilfe herbei rufen?« erkundigte sich Elvo Glissam. »Leider nicht«, erwiderte Jemasze. »Unsere Ener gieaggregate sind mit dem Heck abgeschossen wor den. Der Angreifer wollte uns ganz offenbar lebend in die Hand bekommen, sonst hätte er anders ge zielt.« Kelse schnallte sich einen Packsack auf den Rük ken. »Je eher wir aufbrechen, desto früher kommen wir an.« Schaine blickte ihn besorgt an. »Glaubst du denn, daß du mit deinem Bein durchhältst?« »Ich hoffe es zumindest.«
Die vier brachen in nördlicher Richtung auf und waren erst etwa eineinhalb Kilometer gekommen, als die Hungen am Horizont auftauchten. Sie reihten sich in einer Linie auf: sechzehn Silhouetten auf unruhi gen Erjinen, die ihre Arme und bärtigen Köpfe vor streckten, und auf ihren Rücken die Hungen. Sie starrten völlig unbewegt und stumm über die Ebene, und gerade diese Ruhe wirkte bedrohlicher als Kriegsgebrüll. Elvo Glissam fragte unsicher: »Was sollen wir tun, wenn sie angreifen?« »Sie werden nicht angreifen«, versicherte Kelse ihm kurz. »Nicht hier, zumindest. Ihre alten Zweisterner treffen nicht auf die Entfernung. Sie werden warten, bis sie uns einen Hinterhalt legen oder uns eventuell bei Nacht überfallen können.« Jemasze deutete auf eine Gruppe vom Wind gro tesk geformter Sandsteinfelsen. »Und dort ist genau die richtige Gegend, uns aufzulauern.« »Sie befinden sich etwa fünfzehn Kilometer von hier«, schätzte Kelse. »Wir werden ungefähr drei Stunden brauchen, also etwa eine Stunde vor Son nenuntergang dort sein.« Die vier stapften quer durch die Öde. Die Uldras beobachteten sie noch etwa zwei Minuten, dann wendeten sie und verschwanden nördlich außer Sichtweite. »Sie werden sich lange an Ihre Reise nach Uaia er innern«, sagte Schaine zu Elvo Glissam. »Wenn ich am Leben bleibe.« »Oh, das werden Sie sicher. Dafür sorgt schon Gerd Jemasze. Sein Selbstvertrauen würde ja einen Knacks bekommen, wenn uns etwas zustieße.«
Elvo Glissam blickte sie von der Seite an, schwieg jedoch. Während ihres Marsches tauschten Kelse und Gerd Jemasze hin und wieder Bemerkungen aus und wie sen für die beiden anderen auf irgendeinen interes santen Punkt der Landschaft. Im Schatten eines He xenbaums mit breiter Krone machten sie Rast. Kelse wandte sich an Elvo Glissam und Schaine. »Wir müs sen die Felsen dort voraus umgehen, denn da könn ten die Blauen uns zu leicht auflauern. Der einzelne Fels ziemlich rechts dürfte weniger gefährlich sein, da seitlich offenes Gebiet ist. Wir werden um ihn herum ein Stück und dann in östlicher Richtung marschie ren.« Weiter stapften die vier durch den heißen Nach mittag. Schaine fiel auf, daß Kelse stärker hinkte als zuvor... Sie kamen zu einem ausgetrockneten Fluß lauf mit einem sandigen Bett, dessen Ufer mit gifti gem Kasander und Plunderbeerbüschen bewachsen war. Jemasze winkte die anderen in den Schatten des purpurnen Kasanderlaubs. »Sie sind uns möglicher weise vorausgeritten und haben das Flußbett durch quert. Wenn ja, warten sie höchstwahrscheinlich hinter der gegenüberliegenden Uferböschung auf uns, um uns abzuknallen, wenn wir hinüber wollen. Ich glaube, es ist besser, wir bleiben noch zwei oder drei Kilometer auf dieser Seite.« »Und dann?« fragte Elvo Glissam. »Dann werden wir weitersehen.« Wachsam und innerlich unruhig machten sie sich wieder auf den Weg. Nach nicht ganz zwei Kilome tern deutete Jemasze auf die Spuren im Sand des Flußbetts. »Hier sind sie hinüber. Sie lauern uns jetzt
dort drüben auf.« Er dachte kurz nach. »Ihr drei folgt dem Ufer hier bis zu dem großen Seidenbaum.« Die drei stapften weiter. Jemasze duckte sich und schlich an einer Stelle durchs Flußbett, wo er vom jenseitigen Ufer aus nicht gesehen werden konnte. Nach ungefähr dreihundert Metern kletterte er vor sichtig die Uferböschung wieder hoch. Er blickte hinter sich, dann spähte er hinüber zum anderen Ufer. Nichts rührte sich dort, und er hatte auch nicht das Gefühl drohender Gefahr. Er wartete eine Minute lang, dann rutschte er die Böschung wieder hinunter und rannte tief geduckt über den rosa Sand und die winzigen Quarzsteinchen zum gegenüberliegenden Ufer. Angespannt wartete er darauf, jeden Augen blick ein Gewehr knallen zu hören, obgleich sowohl sein Verstand als auch sein Instinkt ihm versicherten, daß die Hungen keine Posten zurückgelassen hatten, um diesen Teil des Flußlaufes zu bewachen. Ohne unangenehme Überraschungen erreichte er die ande re Böschung und kroch dankbar durch die Deckung der Plunderbeerbüsche. Als er oben ankam, hielt er verborgen Ausschau in nördlicher Richtung nach den Hungen. Und wie erwartet, entdeckte er sie tatsäch lich in etwa gegenüber dem riesigen Seidenbaum, wo inzwischen Kelse, Schaine und Elvo Glissam ange kommen waren. Jemasze kehrte ins Flußbett zurück und rannte im Schutz der Büsche gut hundert Meter nordwärts, dann sah er sich erneut oben auf der Böschung um. Er war noch zu weit entfernt. Wieder eilte er hinunter und kroch weitere hundert Meter an den Büschen entlang. Als er jetzt von oben Ausschau hielt, befanden die Hungen sich kaum noch hundert Meter entfernt.
Er beobachtete sie kurz, dann legte er auf den Rei ter an, der der neue Anführer zu sein schien. Ohne Vorwarnung eröffnete er das Feuer. Drei Blaue stürzten reglos auf den Boden. Die Erjinen kreischten vor Wut und Schrecken. Die Überlebenden ergriffen sofort die Flucht. Sie rasten durch das Gebüsch die Böschung hinunter ins Flußbett, das sie im Zickzack geradewegs auf den Seidenbaum zu überquerten, während sie im Reiten schossen. Jetzt begann auch Kelse zu schießen. Er blickte Elvo Glissam auffordernd an, der fasziniert, aber wie ge lähmt, auf die herbeieilenden Hungen starrte. »Schießen Sie schon, Mann! Schießen Sie!« schrie er. Elvo Glissam schüttelte sich, dann biß er die Zähne zusammen und drückte auf den Auslöser. Kugeln pfiffen über ihre Köpfe hinweg. Das Fluß bett schien bedeckt mit um sich schlagenden Erjinen und sterbenden Blauen. Die fünf, die überlebt hatten, kletterten durch das Buschwerk hoch. Schaine und Kelse hatten sie genau im Visier. Drei näherten sich dem oberen Ende der Böschung. Elvo Glissam, den eine merkwürdige Mischung aus Mut, Scham, Angst und Wut übermannte, stieß einen schrillen Schrei aus und warf sich auf den Rücken eines der Blauen, dabei zerrte er ihn von seinem Reittier herunter. Die beiden rangen zwischen den Plunderbeeren miteinander. Der Erjin zischte und brüllte, stampfte, ohne einen Unterschied zu machen, auf beide ein, ehe er die Bö schung hinunter- und mit Riesenschritten durch das Flußbett davonrannte. Der Blaue zog seinen Dolch und schlitzte Elvos Arm auf, der um seinen Hals ge schlungen war. Jemasze eilte herbei. Er schlug dem
Blauen den Lauf seines Gewehrs über den Schädel, und der Hunge sank in das Gebüsch. Keiner sagte ein Wort. Nur das Keuchen der rei terlosen Erjinen war zu hören, und ihr Scharren, als sie sich von ihrem Zaumzeug und den elektrischen Fesseln zu befreien versuchten, indem sie beides ge gen die Steine rieben. Elvo Glissam starrte stumm auf das Blut, das aus einem Unterarm quoll. Schaine murmelte erschrocken etwas Unverständliches und rannte auf ihn zu. Kelse brachte eine Flasche All zweckheilmittel zum Vorschein und besprühte damit den tiefen Schnitt, der daraufhin sofort zu bluten auf hörte. Als sich die Schutzschicht gebildet hatte, goß Schaine Wasser über Elvos Arme, um das Blut abzu waschen. Mit leicht zitternder Stimme murmelte er: »Tut mir leid, daß ich so – so benommen bin. Ich fürchte, ich habe bisher ein allzu beschütztes Leben geführt.« »Es ist der Schock«, versicherte ihm Schaine. »Das könnte jedem passieren. Sie sind sehr tapfer.« Jemasze machte sich daran, seinen Packsack zu holen, und als er zurückkehrte, stapften sie wieder in nördlicher Richtung weiter und ließen den ausge trockneten Flußlauf mit den toten Blauen zurück. Methuen ging hinter dem Luzimergebirge unter. Die vier schlugen ihr Lager auf dem Hang eines Hü gels auf. Um keine Uldras auf sich aufmerksam zu machen, falls noch irgendwelche in der Nähe waren, zündeten sie kein Feuer an. Sie stärkten sich mit Not proviant und Wasser. Der Himmel färbte sich zinno ber-, dann scharlach- und rubinrot, und wurde schließlich zu einem tiefen Purpur. Die Dämmerung senkte sich herab. Schaine setzte sich neben Elvo Glis
sam. »Wie geht es Ihrem Arm?« Elvo blickte hinab auf den jetzt geschlossenen Schnitt. »Er tut noch ein bißchen weh. Aber es könnte schlimmer sein. Mehr ärgere ich mich, daß dieser Er jin mich in die Rippen trampelte.« Schaine murmelte bedrückt: »Ich frage mich, ob Sie mir je verzeihen können, daß ich Sie nach Morgen wacht einlud.« Elvo Glissam antwortete ihr und leitete damit ein Gespräch ein, das ihm später, wenn er daran zurück dachte, noch unwirklicher und widersinniger als jeg licher andere Aspekt des Abenteuers erschien. »Ich vergebe Ihnen hier und jetzt«, versicherte er ihr. »Wenn schon nichts anderes, ist diese Reise un gemein belehrend – oder sollte ich lieber sagen, er zieherisch? – für mich. Ich sehe mich jetzt selbst aus einer völlig neuen Sicht.« Schaine widersprach ihm heftig. »Aber nein. Die Umgebung, die Umwelt hat sich verändert. Sie sind immer noch derselbe.« »Das kommt im Grund genommen auf das gleiche heraus. Sensibilität ist keine große Hilfe, wenn man um sein Leben kämpfen muß.« Schaine blickte von Kelse, der sich gegen einen Baumstamm lehnte und, wie sie vermutete, spöttisch grinste, zu Gerd Jemasze, der, beide Arme um die Knie geschlungen, auf einem flachen Stein saß und grübelnd in die wachsende Dunkelheit starrte. Gera de durch die Haltung der beiden empfand sie es als ihre Pflicht, Elvo Glissam moralisch zu unterstützen. »Unter normalen Umständen, in einem Leben in der Zivilisation, ist es auch nicht notwendig, um sein Le ben zu kämpfen«, erklärte sie fest.
Kelse lachte freudlos. Schaine blickte ihn böse an. »Habe ich etwas Dummes gesagt?« »Eine Feuerwehr ist solange unnötig, bis es brennt.« »Die Zivilisation ist die normale Umwelt für einen normalen Menschen«, sagte Schaine heftig. »Zivili sierte Menschen brauchen nicht um ihr Leben zu kämpfen.« »Nicht oft«, erwiderte Kelse lakonisch. »Aber im Notfall kann man eben keinen Blauen durch Ab straktionen töten.« »Habe ich das vielleicht angedeutet?« »In gewisser Weise.« »Dann muß ich wohl verwirrter sein, als ich dachte, denn ich kann mich an nichts dergleichen erinnern.« Kelse zuckte die Achseln und hob die Augen zum Himmel, als wolle er andeuten, daß er keine Lust ha be, dieses Thema weiter zu erörtern. Aber er sagte: »Du benutzt das Wort ›Zivilisation‹, das doch nichts weiter als Abstraktionen, Ideen, Symbole, Konventio nen bezeichnet. Sie ist stellvertretend für Erfahrung; Emotionen werden schon im vorhinein geordnet; Ide en scheinen echter als die Wirklichkeit.« Schaine war ein wenig betroffen. »Das ist doch wohl etwas zu verallgemeinernd.« »Das würde ich nicht sagen«, erwiderte Kelse sanft. »Ich verstehe Ihre Ablehnung von Abstraktionen nicht«, warf nun Elvo Glissam ein. »Ich auch nicht«, murmelte Schaine. »Ich glaube, Kelse gibt sich hier irgendwelchen Hirngespinsten hin.« »Durchaus nicht«, versicherte ihnen Kelse. »Die Städter sind so sehr mit Ideen und Abstraktionen be
schäftigt, daß sie immer wirklichkeitsfremder wer den. Und wenn dann tatsächlich einmal ein Riß in der Struktur der Zivilisation entsteht, sind sie so hilflos wie ein Fisch auf dem Trockenen.« Elvo Glissam seufzte tief. »Was könnte unwirkli cher sein, als hier in der Wildnis über Zivilisation zu debattieren? Nebenbei möchte ich bemerken, daß ge rade Kelse durch seine Worte ein beachtliches Ge schick in städtischen und zivilisationsbedingten Ab straktionen beweist.« Kelse lachte. »Auch ich möchte nebenbei etwas bemerken: daß gerade die Städter die Mitgliedschaft des Verbands der Redemptoristen, des Vitatis Cults, des Panorthismus, und einem Dutzend weiterer Ver einigungen ausmachen – alle von Abstraktionen ge leitet, die fünf- oder sechs Ebenen von der Wirklich keit entfernt sind.« »Selbst die sogenannte Wirklichkeit ist eine Ab straktion«, gab Elvo Glissam zu bedenken. »Eine Abstraktion mit einem großen Unterschied, denn sie kann physische Schmerzen zufügen. Bei spielsweise wie bei uns, wenn man notlanden und dann hundertfünfzig Kilometer durch die Wildnis marschieren muß. Das ist wirklich. Tante Vals Raum der Winde in der Villa Mirasol ist es nicht.« »Du schüttest das Kind mit dem Bad aus«, sagte Schaine erbost. »Nur weil jemand Ideen nachgeht, heißt das noch lange nicht, daß er sich nicht zu helfen weiß.« »In einer zivilisierten Umwelt ist er durchaus si cher, und er kann ein Vermögen zusammenraffen. Aber eine solche Umwelt ist so empfindlich wie Spinnweben, und wenn sie zusammenbricht, herrscht
Chaos!« brummte Kelse. Nun beteiligte sich auch Gerd Jemasze an der Un terhaltung. »Denkt doch nur an die menschliche Ge schichte.« »Das habe ich getan«, versicherte ihm Kelse. »Ge rade in der Geschichte findet man die Vernichtung einer langen Reihe von Zivilisationen, weil die Bürger Intellektualismus und Abstraktionen pflegten und darüber die Ausübung und Vervollkommnung kör perlicher Fähigkeiten, vor allem der Selbstverteidi gung und des Kämpfens, völlig vergaßen.« »Du bist schon genauso engstirnig und querköpfig wie Vater, Kelse«, sagte Schaine mißbilligend. »Du bist ein wahrer Abklatsch von ihm.« »Ihre Theorie hat auch noch eine andere Seite«, er innerte ihn Elvo Glissam. »Aus deren Blickwinkel ge sehen, ist die Geschichte eine Ansammlung von Fäl len, in denen Barbaren der Wildheit entsagten und großartige Zivilisationen schufen.« »Und gewöhnlich dabei ältere Kulturen zerstör ten«, warf Kelse ein. »Oder andere, weniger fähige Barbaren ausnutzten. Nehmen wir Uaia. Eine Gruppe sogenannter Zivili sierter griff die Barbaren an und beraubte sie. Die Barbaren waren hilflos gegenüber den Energiewaffen und Himmelswagen der Ausker – die allein aufgrund von Abstraktionen erst hatten geschaffen werden können – durch Zivilisierte.« Gerd Jemasze grinste. Und Schaine ärgerte sich darüber. »Das sind Tatsachen«, sagte sie. »Aber das sind nicht alle«, erinnerte sie Jemasze. »Die Barbaren wurden nicht ausgeraubt. Sie nutzen ihr Land noch so unbeschränkt wie zuvor. Dafür wurden
Folterei und Sklaverei so gut wie abgeschafft.« »Also gut«, brummte Elvo Glissam. »Stellen Sie sich vor, Sie seien ein Uldra. Sie haben kein Wahl recht und unterstehen fremden Gesetzen. Was wür den Sie tun?« Gerd Jemasze überlegte kurz, dann antwortete er: »Das kommt ganz darauf an, was ich möchte. Das, was ich möchte, würde ich natürlich versuchen zu er reichen. Und dafür kämpfen.« Noch vor Morgengrauen waren die vier bereits wie der unterwegs. Eine riesige Wolkenbank verbarg den östlichen Himmel, und sie marschierten in rötlicher Düsternis. Gegen Mittag schossen Blitze über die nun in südlicher Ferne liegenden Felsen hinweg, und Bö en feuchter Luft bliesen über die Ebene. Am Mitt nachmittag goß es in Strömen, bis die kleine Gruppe bis auf die Haut durchnäßt war, dann bahnte die Sonne sich einen Weg durch die Wolken und badete den aufgeweichten Boden mit ihren rosigen Strahlen. Jemasze schritt voran und achtete darauf, daß Kelse, dessen Hinken immer stärker wurde, auch ohne Schwierigkeiten mitkam. Schaine und Elvo Glissam gingen hinter ihnen. Wären die Umstände anders, ihr Vater noch am Leben, und täte Kelse sich nicht so schwer, hätte Schaine das Abenteuer vermutlich so gar Spaß gemacht. Die Ebene senkte sich nun zu einem Becken aus bleichem getrockneten Lehm. An seinem ihnen ge genüberliegenden Rand standen mehrere Sandstein felsen und darunter eine steile Böschung aus rosigem, hellviolettem und rotbraunem Sandstein. Schaine rief Kelse zu. »Dort ist Grundrand!«
»Dann sind wir ja schon fast zu Hause!« »Morgenwacht beginnt hinter dem Rand der Bö schung«, erklärte Schaine aufgeregt Elvo Glissam. »Von dort ab ist alles unser Land – bis nach Norden zu den Volwoden.« Elvo Glissam schüttelte ein wenig traurig abwei send den Kopf, und Schaine blickte ihn verwundert an. Sie dachte einen Augenblick nach, was sie gesagt hatte, dann lachte sie, ohne das Thema weiterzuver folgen. Ganz sicherlich war sie weder aus Instinkt noch aus innerer Überzeugung ein Redemptorist... Wie ließe ihre Liebe zu Morgenwacht sich mit dem leichten Schuldbewußtsein vereinbaren, daß sie kein Recht auf diesen Besitz hatte? Kelse und Gerd Jemas ze kannten keine solchen Gewissensbisse. Impulsiv fragte sie Elvo Glissam: »Angenommen, Morgen wacht gehörte Ihnen, was würden Sie tun?« Elvo Glissam lächelte und hob die Schultern. »Es ist immer einfacher, das Eigentum eines anderen aufzu geben... Ich möchte gern glauben, daß meine Prinzi pien stärker sind als mein Besitzerstolz.« »Sie würden also Morgenwacht aufgeben?« »Ich weiß es ganz ehrlich nicht. Ich hoffe, daß ich es täte.« Schaine deutete in die Richtung mehrerer Tungkä ferhaufen, etwa hundert Meter westlich. »Schauen Sie! Dort, rechts im Schatten! Sie wollten doch einen wilden Erjin sehen – da ist einer!« Der Erjin war gut zwei Meter dreißig groß und hatte kräftige Arme mit schwarzgelben Fellstreifen. Goldenfarbene Büschel steifen Haares standen hoch aufgerichtet auf dem Kopf. Die vier kleinen Augen im Hals, unter dem vorragenden Kinnknochen, waren
hinter den Waffenmetallstreifen fast völlig verborgen. Das Tier, das sie ebenfalls bereits entdeckt hatte, zeigte weder Furcht noch Feindseligkeit. Jetzt sahen auch Gerd Jemasze und Kelse es. Kelse starrte es wild an und brachte sein Gewehr in Anschlag. »Er wird doch nicht schießen!« rief Elvo Glissam empört. »Es ist ein so herrliches Geschöpf!« »Er hat Erjinen immer gehaßt – um so mehr, seit er Arm und Bein verlor.« »Aber dieser hier bedroht uns doch nicht! Das ist ja fast Mord!« »Passen Sie auf!« Gerd Jemasze wirbelte plötzlich herum und schoß auf ein Paar Erjinen, die aus einem Fettbuschdickicht heraussprangen. Einer rannte weiter und fiel kaum einen Meter vor Schaine und Elvo Glissam zu Boden. Nur noch seine sechsfingrigen Hände zuckten. Der andere schlug einen grotesken Purzelbaum rück wärts, ehe er leblos liegenblieb. Der erste Erjin, der als Lockvogel gedient hatte, versteckte sich eilig hinter den Tungkäferhaufen, bevor Kelse noch auf ihn zie len konnte. Jemasze rannte nach rechts, um einen besseren Schußwinkel zu erreichen, aber inzwischen hatte die Kreatur sich schon aus dem Staub gemacht. Elvo Glissam blickte fasziniert auf den zuckenden Er jin zu seinen Füßen. Er betrachtete die Hände, die so feingliedrig wie menschliche waren, und die Krallen, die herausglitten, wenn der Erjin die Hand zur Faust ballte. Er untersuchte die fast stachligen goldbronze farbigen Haarbüschel, die manche für Gedankenre zeptoren hielten. Nur einen Sprung mehr, und die Kreatur hätte ihn erwischt! Mit leicht verlegener Stimme wandte er sich an Gerd Jemasze. »Das war
knapp... Wenden Erjinen häufig solche Tricks an?« Jemasze nickte. »Sie sind intelligente Bestien, und unversöhnlich. Wie man sie domestizieren kann, ist mir ein Rätsel.« »Vielleicht fand Uther Madduc die Lösung, und das war sein ›großartiger Witz‹?« »Ich weiß es nicht. Aber ich beabsichtige, es her auszufinden.« »Wie stellst du dir das vor?« fragte ihn Kelse. »Sobald wir Morgenwacht erreicht haben, fliegen wir zu dem Sturdevant zurück und holen uns das Logbuch«, erklärte Gerd Jemasze. »Dann erfahren wir, wo dein Vater gewesen ist.« Der Nachmittag näherte sich seinem Ende. Bei Sonnenuntergang schlugen sie ihr Lager zwischen den Sandsteinfelsen auf. Die Grenze der Morgen wacht-Domäne lag nicht mehr ganz fünf Kilometer nördlich. Jemasze erlegte einen zehnpfündigen Bu stard, einen verwilderten Abkömmling einer vor lan ger Zeit von fremden Sternen importierten Geflü gelart. Schaine und Elvo sammelten trockene Zweige und machten ein Feuer, über dem sie den gevierteil ten Vogel grillten. »Morgen kommen wir an Frischwasser«, sagte Gerd. »Wenn ich mich recht entsinne, fließen drei oder vier Bäche quer durch Südmorgenwacht.« »Es sind noch etwa fünfzehn Kilometer bis zur Südstation«, erklärte Kelse. »Es gibt dort eine Wind mühle und vielleicht ein paar Lager. Aber kein Radio, dummerweise.« »Wo sind die Aos?« »Sie können überall sein, aber ich fürchte, sie be finden sich zur Zeit im Norden. Von ihnen werden
wir also wohl keine Hilfe erwarten können. Und es liegen immer noch fast hundert Kilometer vor uns.« »Wie geht es Ihrem Bein?« »Nicht besonders gut. Aber ich werde schon durchhalten.« Elvo Glissam legte sich auf den Rücken und blickte hinauf zu den Sternen. Sein eigenes Leben, dachte er, war doch verhältnismäßig einfach, verglichen mit dem eines Landbarons... Schaine! Was wohl in ihrem Kopf vorging? Einen Augenblick schien sie so unge mein sanft und mitfühlend, dann naiv, und dann wiederum von irgendeiner Gefühlsregung erfüllt, die er nicht verstand. Zweifellos war sie tapfer, gütig und humorvoll. Er konnte sich vorstellen, daß er ein Le ben lang gut mit ihr auskommen würde... In Mor genwacht? Da war er nicht so sicher. Aber würde sie sich entschließen können, irgendwo anders zu leben? Auch dessen war er nicht so sicher... Noch drei Tage dieses anstrengenden Marsches. Er wünschte, er könnte Kelse irgendwie helfen. Vielleicht würde er in der Frühe möglichst unauffällig einen Teil von Kelses Sachen in seinem Packsack verstauen und für ihn tra gen. Elvo Glissam dachte auch am Morgen noch daran. Kelse bemerkte es und protestierte, aber Glissam sagte: »Ich tue es aus reiner Selbstsucht. Sie leisten ohnehin doppelt soviel wie ich, und es ist schließlich in unser aller Interesse, wenn Sie bei Kräften bleiben.« Gerd Jemasze pflichtete ihm bei. »Glissam hat recht, Kelse. Ich trage lieber dein Gepäck als dich.« Kelse schwieg, und die vier machten sich wieder auf den Weg. Nach etwa einer Stunde erreichten sie
das Tal vor dem Südrand. Durch eine trockene Klamm stiegen sie gut hundertfünfzig Meter auf, dann kletterten sie mühsam die restlichen fünfund dreißig Meter eine gefährliche Wand aus Bruchstei nen hoch, bis sie endlich erleichtert aufatmend am oberen Rand standen. Hinter ihnen verlor sich das Retentum im Süden im Dunst, vor ihnen fiel das Land allmählich zu einem wunderschönen Tal ab mit Grüngummi, Drachenaugen, schlanken schwarzgrü nen Gadronen und herrlichen Büschen orangefarbe ner Vandalien. Eineinhalb Kilometer nördlich spie gelte sich die Sonne in einem seichten Teich. »Mor genwacht!« rief Schaine mit belegter Stimme. »Wir sind zu Hause!« »Ja, wir haben nur noch hundert Kilometer zu mar schieren«, sagte Kelse trocken. Jemasze blickte zurück über das Retentum. »Das Schlimmste haben wir hinter uns. Von jetzt an dürf ten wir leichter vorankommen.« Einen Tag lang schleppten sie sich fast schweigend über die Südprärie, einen weiteren plagten sie sich die Turmalinberge hoch und wieder hinunter. Kelse bewegte sich nun fast nur noch einseitig hüpfend. Der Morgenmarsch durch die Moore nördlich des Himmelblumensees war besonders anstrengend. Ge gen Mittag bahnten sie sich einen Weg durch ein Dik kicht zäher Ranken, dann endlich erreichten sie wie der wegsameres Gebiet. Hier machten sie Rast. Kelse blickte geradeaus. »Noch zweiundzwanzig Kilometer – bis heute abend schaffen wir es nie. Vielleicht solltet ihr lieber vorausgehen und einen Wagen schicken, um mich abzuholen?«
»Ich bleibe bei dir«, erklärte Schaine. »Es ist eine gute Idee.« »Das wäre es vielleicht – wenn man uns nicht stän dig beobachtete«, widersprach Gerd Jemasze. Er deutete hoch. »In den letzten beiden Tagen habe ich bereits dreimal einen Himmelshai, halbverborgen in den Wolken, gesehen.« Nun blickten alle hoch. »Ich sehe nichts«, murmelte Schaine. »Im Augenblick ist er hinter dem Kumulus dort!« »Aber was beabsichtigt er? Wenn er ein Feind ist, weshalb versucht er dann nicht, auf uns zu schie ßen?« »Ich nehme an, daß er uns lebend haben will. Oder zumindest einen oder auch mehrere von uns. Wenn wir uns trennten, würden wir ihm die Sache nur er leichtern. Möglicherweise lauert uns sogar noch ein Trupp Hungen irgendwo zwischen hier und Mor genwacht auf.« »Glaubst du wirklich, sie würden sich so weit vom Retentum hierher wagen?« fragte Schaine erschrok ken. »Brächten unsere Aos sie denn nicht um?« »Der Himmelshai kann die Aos im Auge behalten und die Hungen rechtzeitig warnen.« Elvo Glissam benetzte die Lippen. »Ich möchte nicht gern jetzt noch gefangengenommen oder gar getötet werden.« Kelse erhob sich schwerfällig. »Also, dann wollen wir wieder aufbrechen.« Zwanzig Minuten später spähte Jemasze erneut durch das Fernglas. Als er es nach Nordwesten rich tete, rief er: »Uldras! Etwa zwanzig!« Schaine starrte müde durch den rosigen Staub
schleier. Wieder kämpfen, wieder töten müssen! Und hier in diesem Gebiet, das von Vandalienbüschen nur so überwuchert war, die dem Gegner Deckung boten, hatten sie kaum eine Chance, einen Angriff abzuweh ren. Zweiundzwanzig Kilometer nach Morgenwacht – so nah und doch so fern! Elvos Gedankengang glich offenbar ihrem. Seine Züge waren angespannt, sein Blick stumpf. Verge bens unterdrückte er ein Stöhnen. Gerd Jemasze justierte das Glas. »Sie reiten Kripti den!« Schaine atmete erleichtert auf. »Dann sind es Aos!« Gerd Jemasze nickte. »Ja, ich erkenne jetzt auch ih ren Kopfschmuck. Weiße Federbüsche! Es sind Aos!« Schaine schluchzte vor Freude. »Sind sie feind lich?« erkundigte sich Elvo Glissam heiser. »Nein«, erwiderte Kelse kurz. Die Reiter näherten sich in einer Staubwolke. Gerd Jemasze studierte den Himmel durch das Glas. »Ah, er zieht sich zurück!« Er deutete auf einen winzigen Punkt zwischen den Wolken, der mit hoher Ge schwindigkeit in Richtung Westen verschwand. Die Aos ritten in einem rituellen Kreis um die Gruppe. Die leisefüßigen Kriptiden* rannten sanft auf dem Boden. Nun hielten sie an. Ein alter Mann, ein wenig kleiner und kräftiger als der Durchschnitt suldra, stieg von seinem Kriptiden. Schaine streckte ihm die Hand entgegen. »Kurgech! Ich bin wieder nach Hause gekommen!« * Kriptid: Eine lang und niedrig gewachsene Variante des terranischen Pferdes, mit weichen Ballen statt Hufen. Die Retentum-Uldras lehnen die Kriptiden ab. Sie betrachten sie als Reittiere für Wittols, sexuell Ab artige und Frauen.
Der Ao berührte ihren Kopf – eine Geste, die halb Liebkosung, halb formeller Gruß war. »Es ist uns eine Freude, Sie wieder zu Haus zu haben, Herrin.« »Uther Madduc ist tot«, sagte Kelse abrupt. »Er wurde über dem Dramalfo von einem Himmelshai abgeschossen.« Kurgechs graues Gesicht – er verwendete kein Azuröl – verriet keinerlei Regung. Schaine nahm an, daß sein Geist diese Information bereits aufgenom men hatte. »Weißt du, wer ihn getötet hat?« fragte sie. »Nein. Dieses Wissen ist noch nicht zu mir ge kommen.« Kelse humpelte dicht zu ihm und sagte heiser: »Su che danach, Kurgech. Und laß es mich wissen, wenn es zu dir gekommen ist.« Kurgech nickte flüchtig, was alles mögliche be deuten mochte, und wandte sich an vier seiner Be gleiter, die daraufhin abstiegen und ihre Reittiere nä her brachten. Gerd Jemasze half Kelse in den Sattel. Schaine mahnte Elvo Glissam: »Sitzen Sie ganz ruhig und halten Sie sich fest. Der Kriptid braucht keine Führung.« Jetzt schwangen auch sie und Gerd Jemasze sich auf ihre Tiere, und die vier Aos setzten sich jeder hinter einem Kameraden in den Sattel. Dann ritten sie nordwärts nach Morgenwacht. Zwei Stunden später, als sie am Skaw vorbei waren und die Südsavanne überquert hatten, sah Schaine ihr Vaterhaus. Sie blinzelte, um nicht in Tränen auszu brechen, aber sie konnte ihre so lange unterdrückten Gefühle nicht mehr zurückhalten. Sie blickte aus dem Augenwinkel auf Kelse, der neben ihr ritt. Sein Ge sicht war schmerzverzerrt und fast so grau wie Kur
gechs. Auch in seinen Augen glänzten Tränen. Gerd Jemaszes Gesicht war unbewegt. Wer konnte diesen Mann durchschauen? Elvo Glissam, der viel zu höf lich war, seine Erleichterung offen zur Schau zu tra gen, verhielt sich zurückhaltend und schwieg. Schai ne beobachtete ihn verstohlen. Obwohl er nichts von der Wildnis verstand, hatte er sich keine Blöße gege ben, oder war den anderen zur Last gefallen. Kelse mochte ihn ganz offensichtlich, und selbst Gerd Je masze behandelte ihn mit freundlicher Höflichkeit. Wenn er Uaia verließ und nach Olanje zurückkehrte, würde er genügend Erinnerungen für ein ganzes Le ben mitnehmen. Und dort vor ihnen lag nun Morgenwacht einla dend zwischen den hohen, zerbrechlichen Grün gummibäumen, den mächtigen transstellaren Eichen, dem Chip-chap, der sich gemächlich daran vorbei schlängelte. Es war ein Anblick, der wundervolle Er innerungen weckte und der ihr immer teuer sein würde. Und wieder stiegen die Tränen ungebeten in Schaines Augen.
5
Über zweihundert Jahre lang war Morgenwacht ge baut und renoviert, angebaut und umgebaut und Dutzenden von Neuerungen und Verbesserungen unterzogen worden, und jeder Sohn, der das Haus von seinem Vater übernahm, trug dazu bei, ihm et was von seiner Persönlichkeit mitzugeben. Morgen wacht fehlte deshalb eine exakte Stilrichtung und sah aus jedem Blickwinkel anders aus. Das Dach des Mittelbaus war hoch und steil, mit einem Dutzend schmaler Giebelfenstern, einem niedlichen Vorbau, der auf den Wiedehopfweiher hinausragte, und ent lang des hohen Firstes gab es ein paar schwarze Klee blätter, die böse Geister vertreiben sollten. Auf jeder Seite erstreckte sich ein langgezogener zweistöckiger Flügel mit einer Veranda im Parterre und Balkon im ersten Stock. Der doppelte Säulengang war mit Ara bellawein überwuchert. Die kunstvoll geschnitzten Stützbalken waren aus den Bäumen des Feenwalds, die Dachschindeln aus nicht weniger haltbarem Grüngummiholz, die Treppen, Balustraden, Böden, Vertäfelungen im Innern aus Eiche, Perlsachuli, Ver ban und szintarrischem Teak. Die Kronleuchter, Mö bel und Teppiche waren importiert, nicht aus Olanje (was von dort kam, wurde als billig und geschmack los erachtet), sondern von den fernen Alten Welten. Der Mittelbau enthielt die Große Halle, das Herz Morgenwachts, in der Feste und Familienanlässe ge feiert wurden, wo man Gäste empfing und das Abendessen in einer schrecklich förmlichen Atmo sphäre einnahm – wie Schaine sich erinnerte. Jeder
mußte sich dafür extra umziehen, die Tafel wurde mit dem besten Silber, dem feinsten Porzellan und kost barsten Kristall gedeckt. Die Unterhaltung widmete sich nur würdigen Themen. Jeder mußte sich absolut nach der Etikette benehmen. Als Kind hatte Schaine diese Dinner immer schrecklich gefunden, und sie hatte nicht verstanden, weshalb Tortilla nicht daran teilnehmen durfte. Sein Benehmen und seine kleinen Späße hätten die Atmosphäre zweifellos aufgelockert. Aber nein, Tortilla wurde in die Küche verbannt. Als Schaine elf war, ertrank ihre Mutter bei einer Kahnfahrt auf dem Schattensee. Von da an wurden die Dinner in der Großen Halle düsterer und weniger pompös, und Uther Madduc – für Schaine unerklär lich – mürrisch und unberechenbar. Wie oft hatte sei ne Laune Schaine wütend gemacht und zur Rebellion gereizt. Nicht, daß sie ihren Vater nicht geliebt hätte, Schaine war viel zu warmherzig, etwas, das in ihr Le ben gehörte, von ihrer Liebe auszuschließen. Trotz dem beschloß sie, daß man ihrem Vater eine Lektion erteilen mußte, wie man mit den Menschen auskom men sollte und daß man nicht so arrogant gegen die Uldras sein durfte, besonders gegen Tortilla. Uther Madduc war damals eine beachtliche Er scheinung gewesen. Er war hochgewachsen, von ge rader Haltung, dichtem grauen Haar, in eleganter Einfachheit frisiert, klaren, grauen Augen und Zügen von geradezu klassischer Regelmäßigkeit. Er war weder kontaktfreudig noch war es leicht, mit ihm auszukommen. Schaine erinnerte sich an ihn als Per sönlichkeit, die ihren Grübeleien nachhing, plötzli chen Impulsen nachgab, gleichzeitig ruhig und doch ruhelos war und keinerlei Begabung noch Toleranz
für Frivolitäten kannte. Sein Ärger, den er selten zeigte, war kalt und beherrscht und hatte keine spür baren Nachwehen. Nie hatte er ihn an Schaine oder Kelse ausgelassen, außer vielleicht in jener unvergeß lichen Nacht, als er sie bestrafte, wenn man es Strafe nennen konnte, daß sie in ein teures Mädchenpensio nat auf Tanquil geschickt wurde. Wirklich, dachte Schaine, ich war ein arrogantes, wütendes, von der eigenen Wichtigkeit überzeugtes, kleines Biest... Und doch, und doch... Kelse und Gerd waren mit dem MorgenwachtTransporter in den Süden geflogen, um den Apex und den Sturdevant abzuholen. Zwei von Gerd Je maszes Vettern und zwei Aos von der Ranch hatten sie begleitet. Vorsichtshalber hatte man eine automa tische Kanone auf das Frachtdeck montiert, um An griffen von Himmelshaien begegnen zu können. Man hatte Elvo Glissam nicht gebeten, an dem Ausflug teilzunehmen, und selbst hatte er sich nicht angebo ten. Mit Schaine frühstückte er geruhsam unter den Grüngummis. »Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf darüber, wie Sie mich am besten unterhalten kön nen«, sagte er zu ihr. »Ich weiß, daß hunderterlei Dinge Sie beschäftigen.« Schaine lächelte. »So schwierig ist es sicher nicht, Sie zu unterhalten, daß ich mir den Kopf darüber zerbrechen müßte«, erwiderte sie. »Ich versprach, Ih nen wilde Erjinen zu zeigen, das habe ich bereits ge tan, und die hunderterlei Dinge, die mich beschäfti gen, verschiebe ich auf jeden Fall noch ein paar Tage. Wer weiß, ob sie mir dann noch wichtig sind. Viel leicht tue ich in den nächsten Wochen überhaupt nichts.«
»Wenn ich so zurückdenke«, murmelte Elvo Glis sam, »kann ich mir gar nicht vorstellen, daß alles wirklich geschehen ist. Und doch besteht kein Zwei fel daran.« »Es ist auch eine Art, sich kennenzulernen«, mur melte Schaine. »Während eines Fünf-Tage-Marsches kommt man sich unausbleiblich näher.« »Ja, Ihnen zumindest, und Kelse. Bei Gerd Jemasze weiß ich es nicht so recht. Er gibt mir Rätsel auf.« »Mir nicht weniger, dabei kenne ich ihn schon mein Leben lang.« »Ich könnte schwören, es macht ihm Spaß, Uldras zu töten«, sagte Elvo Glissam leise. »Es ist vielleicht nicht schön, an seinen Motiven herumzukritteln. Er hat uns schließlich heimgebracht – genau wie Sie sagten.« »Er ist nicht blutdürstig, wenn Sie das meinen«, sagte Schaine. »Er betrachtet die Hungen ganz ein fach nicht als menschliche Wesen, vor allem nicht, wenn sie uns angreifen.« »Gerade das bestürzt mich an ihm so sehr«, meinte Glissam nachdenklich. »Töten gehört einfach nicht zu meinen Fähigkeiten.« »Oh, Sie haben sich sehr gut gehalten«, versicherte ihm Schaine. »Sowohl Kelse als auch Gerd empfinden Hochachtung für Sie. Also quälen Sie sich nicht mit irgendwelchen Minderwertigkeitskomplexen.« »Das tue ich keineswegs. Nur wüßte ich wirklich nicht, womit ich mir ihre Hochachtung verdient hätte.« »Sie haben nicht geklagt. Sie haben Ihren Anteil an der Arbeit, und sogar mehr als nötig war, getan. Sie waren immer guter Laune. Ich halte das für sehr er wähnenswert.« »Alles nicht der Rede wert«, erwiderte Elvo Glis
sam wegwerfend. »Aber jetzt bin ich wieder in einer gewohnten Umwelt, wie ich sie vorziehe, und selbst wenn ich irgendwelche guten, ungeahnten Eigen schaften in diesen fünf Tagen bewiesen hätte, werden sie wieder in der Versenkung verschwinden.« Schaine blickte über die Südsavanne. »Gefällt es Ihnen hier auf Morgenwacht wirklich?« »Ja, natürlich.« »Und Sie langweilen sich nicht?« »Nicht mit Ihnen an meiner Seite«, versicherte er ihr mit einem unmißverständlichen Blick. Schaine lächelte abwesend, während sie in die Fer ne blickte. »Es war sehr ruhig hier auf Morgenwacht, seit meine Mutter starb. Zuvor hatten wir jede Woche eine Party, und immer Gäste von anderen Domänen und von Olanje, ja sogar von fernen Welten. Ein paarmal im Jahr veranstalteten die Aos ein Karoo. Oft stiegen wir hinauf zur Zwillingshütte oder der Schneeblumenhütte in den Suanisetbergen. Wir hat ten viel Spaß und es war immer etwas los, solange meine Mutter noch lebte. Sie dürfen nicht glauben, daß wir hier wie die Einsiedler leben.« »Und dann – nach dem Tod Ihrer Mutter?« »Vater entwickelte sich zum – nun ja, Eremiten ist wohl zu kraß. Ich wurde nach Tanquil geschickt, und in den letzten fünf Jahren war es sehr still auf Mor genwacht. Kelse sagte, Vaters engster Freund wäre Kurgech gewesen!« »Und jetzt?« »Ich möchte, daß auf Morgenwacht wieder fröhli ches Leben herrscht.« »Das wäre natürlich erfreulich, nur...« Elvo Glissam hielt inne.
»Nur was?« »Ich fürchte, die Tage der großen Domänen sind bald vorbei.« Schaine zog eine Grimasse. »Welch schrecklicher Gedanke!« Kelse und Gerd Jemasze kehrten mit den Wracks des Apex und des Sturdevants zurück, die der Transpor ter auf Schwebeplattformen gezogen hatte. In einem Sarg aus weißem Glas ruhte Uther Madduc. Und Kel se hielt ein Notizbuch in der Hand, das er in einem der Schränke gefunden hatte. Zwei Tage später fand die Beerdigung statt. Uther Madduc wurde im Familienfriedhof auf der anderen Seite des Chip-chaps im Park neben dem Feenwald beigesetzt. Zweihundert Freunde der Familie, Ver wandte und Nachbarn aus den benachbarten Domä nen waren gekommen, um Uther Madduc die letzte Ehre zu erweisen. Elvo Glissam war fasziniert. Er staunte über das Verhalten dieser Menschen, die so ganz anders waren als er. Die Männer wirkten schon rein äußerlich ab solut nüchtern. Und den Frauen fehlte irgendeine charakterliche Eigenschaft, die er nicht ganz definie ren konnte. Verspieltheit? Übermut? Koketterie? Selbst Schaine war ihm ein wenig zu direkt und ließ ihm so wenig Spielraum für Neckereien, einen harmlosen Flirt und andere kleine Feinheiten, die das Stadtleben so amüsant machten. War das besser oder schlechter? Eine Anpassung an die Umwelt? Nur ei nes wußte er sicher, daß er Schaine so schön wie ein großartiges Naturereignis fand, wie einen Sonnen aufgang, beispielsweise, die Brandung an den Klip
pen oder die Sterne am mitternächtlichen Himmel. Er lernte unzählige Menschen auf der Beerdigung kennen: Kusinen, Vettern, Tanten, Onkel, mit ihren Söhnen und Töchtern, Vätern und Müttern und wei teren Kusinen, Vettern, Onkeln und Tanten, deren Gesichter er sich nicht merken konnte. Bei keinem bemerkte er auch nur eine Spur von Trauer, ja nicht einmal Wut auf den Attentäter. Die vorherrschende Stimmung verriet eher ein unterschwelliges düsteres Glimmen, das nach seiner Ansicht nichts Gutes für die Redemptoristen verhieß. Er fing unwillkürlich ein paar Worte eines Ge sprächs zwischen Kelse Madduc und Lilo Stenbaren von der Doradus-Domäne auf. Kelse sagte gerade: »... keine unüberlegte Handlung. Es war zweifellos ge nau geplant. Erst Uther Madduc, dann wir.« »Was ist mit dem ›großartigen Witz‹, den er in sei nem Brief erwähnte? Besteht eine Verbindung dazu?« »Das ist unmöglich zu sagen. Wir haben den Auto piloten aus dem Sturdevant ausgebaut und werden Vaters Route zurückverfolgen. Vielleicht kommen wir so doch noch hinter seinen ›großartigen Witz‹.« Kelse sah Elvo Glissam und stellte ihn vor. »Ich be dauere, sagen zu müssen, daß Elvo Glissam, ohne sich dessen zu schämen, zugibt, Redemptorist zu sein.« Dm. Stenbaren lachte. »Vor vierzig Jahren gab es eine ›Gesellschaft für uaianische Gerechtigkeit‹, zehn Jahre später eine ›Liga gegen Landräuber‹ und ir gendwann danach eine Partei, die sich lediglich ›Apotheosis‹ nannte. Und jetzt natürlich die ›Re demptoristen‹.« »Die im Grunde das gleiche formulieren. ›Anstän
digkeit‹, ›Sicherheit vor räuberischen Annexionen‹, ›Rückgabe von beschlagnahmtem Eigentum‹, ›Ge rechtigkeit‹ – all das sind zeitlose Losungen.« »Losungen stören uns nicht«, versicherte ihm Dm. Stenbaren. »Soweit es mich betrifft, dürfen Sie ruhig weiterhin damit um sich werfen.« Am Morgen nach der Beerdigung schoß ein glitzernd blaues Hermes-Flugboot mit silbernen Streifen aus dem Himmel. Es ignorierte das Landefeld seitlich des Hauses und setzte direkt auf der Promenade vor dem Mittelbau auf. Schaine, die gerade an einem Fenster in der Bi bliothek vorbeikam, sah das Flugboot auf dem ge pflegten Spazierweg und dachte, daß Kelse sich über diese Unverschämtheit ärgern würde, um so mehr, da der Pilot Jorjol war, der es wirklich besser hätte wis sen müssen. Jorjol sprang auf den Boden und betrachtete das Haus, als überlege er, ob er es kaufen sollte. Er trug einen Schlitzrock aus hellem Leder, leichte Sandalen, eine Kristallscheibe auf seiner rechten großen Zehe und den Festhut eines Garganchen-Kriegers: ein kompliziertes Gebilde aus silbernen Stäben, in das Jorjols weißgebleichtes Haar gesteckt und geflochten war. Er hatte sich mit frischem Azuröl eingerieben, daß seine Haut nun genauso blau glänzte wie das Email seines Hermes. Schaine schüttelte ein wenig verwirrt, aber auch amüsiert den Kopf über Jorjols Unverschämtheit und trat durch die Haustür, um ihn zu begrüßen. Er kam mit schnellen Schritten auf sie zu, nahm ihre Hände und beugte sich zu ihr hinab, um sie auf die Stirn zu
küssen. »Ich erfuhr vom Ableben eures Vaters und möchte euch mein Beileid ausdrücken.« »Danke, Jorjol. Aber die Beerdigung war gestern.« »Ich weiß. Doch da warst du mit Dutzenden der langweiligsten Leute beschäftigt gewesen. Ich wollte mich dir gegenüber allein ausdrücken.« Schaine lachte. »Also gut, dann drück dich aus.« Jorjol legte den Kopf schief und musterte Schaine durchdringend. »Was deinen Vater betrifft, ist Be dauern angebracht. Er war ein starker Mann, der Re spekt verdiente – obgleich ich, wie du ja weißt, seinen Ansichten konträr gegenüberstand.« Schaine nickte. »Weißt du, daß er starb, noch ehe ich eine Gelegenheit hatte, mit ihm zu sprechen? Ich kam in der Hoffnung nach Hause, daß er ein wenig weicher, toleranter geworden sei.« »Weicher! Toleranter? Gerechter? Hah!« Jorjol warf seinen Kopf fast abfällig zurück. »Ich glaube nicht, daß er sich auch nur eine Spur verändert hatte – ge nausowenig wie Kelse sich ändern wird. Wo ist er übrigens?« »Im Büro. Er sieht die Bücher durch.« Jorjols Blick streifte von oben bis unten über die malerische Fassade von Morgenwacht. »Das Haus sieht so freundlich und einladend aus wie eh und je. Ich frage mich, ob du überhaupt weißt, wie benei denswert du bist.« »O ja, das weiß ich.« »Und ich muß unter diese Ära einen Schlußstrich ziehen.« »Ach komm, Jorjol, du kannst mir doch nichts vormachen. Du bist Tortilla, wenn auch in anderem Habitus.«
Jorjol grinste. »Ich muß gestehen, ich kam hierher, nicht nur, um euch meines Beileids zu versichern, sondern um dich zu sehen, dich zu berühren.« Er trat einen Schritt näher, und Schaine einen zurück. »Du darfst nicht so impulsiv sein, Jorjol.« »Ich bin gar nicht impulsiv! Ich bin entschlossen, ich weiß, was ich will. Und du weißt, was ich für dich empfinde.« »Ich weiß, was du für mich empfunden hast«, murmelte Schaine. »Aber das liegt fünf Jahre zurück. Ich werde Kelse jetzt sagen, daß du hier bist. Er wird dich sehen wollen.« Jorjol griff nach ihrer Hand. »Nein, laß Kelse ruhig noch ein wenig über seiner Buchführung brüten. Ich bin deinetwegen hierhergekommen. Machen wir ei nen Spaziergang am Fluß entlang, wo wir allein sein können.« Schaine blickte hinunter auf seine schmale blaue Hand mit den langen Fingern und schwarzen Nägeln. »Es ist gleich Zeit zum Essen, Jorjol. Vielleicht nach dem Lunch. Du ißt doch mit uns?« »Es wird mir ein Vergnügen sein.« »Schön, ich hole Kelse. Und hier ist Elvo Glissam, du hast ihn ja bei Tante Val kennengelernt. In ein paar Minuten bin ich zurück. Er wird dir einstweilen Gesellschaft leisten.« Schaine betrat das Büro. Kelse blickte von seinem Handcomputer auf. »Jorjol ist hier«, sagte Schaine. Kelse nickte. »Was will er?« »Er hielt eine hübsche Trauerrede für Vater. Ich habe ihn zum Lunch eingeladen.« Jorjol und Elvo Glissam kamen gerade über den Rasen an einer Gruppe Schirmbäume vorbei, die vom
Fenster aus zu sehen waren. Kelse brummte etwas und erhob sich. »Ich gehe hinaus und spreche mit ihm. Wir werden den Lunch auf der Ostterrasse einnehmen.« »Warte, Kelse. Wir wollen nett zu Jorjol sein. Er verdient es, wie jeder andere Gast auch behandelt zu werden. Es ist ein warmer Tag, und die Große Halle wäre genau geeignet.« »In all den zweihundert Jahren hat nie ein Uldra seinen Fuß in sie gesetzt«, sagte Kelse geduldig und belehrend wie zu einem kleinen Kind. »Ich möchte diese Tradition nicht brechen. Auch nicht für Jorjol.« »Aber es ist eine unschöne Tradition und nicht wert, daß man sie aufrechterhält. Wir sind doch keine Fanatiker, du und ich – selbst wenn Vater es war. Wir wollen schließlich unser Leben vernünftig gestalten.« »Ich bin kein Eiferer und durchaus vernünftig. Ich würde sogar sagen, Jorjol hat mit voller Absicht den Augenblick gewählt – heute, einen Tag nach der Be erdigung –, um uns zu überrumpeln, damit wir klein beigeben. Aber er hat sich getäuscht.« »Ich verstehe dich nicht!« rief Schaine heftig. »Wir kennen Jorjol, seit wir laufen lernten. Er hat dir dein Leben unter eigener Lebensgefahr gerettet! Ich finde es absurd, daß er nicht wie jeder andere auch mit uns essen kann.« Mit gehobenen Brauen betrachtete Kelse seine Schwester von oben ins unten. »Ich bin erstaunt, daß dir die Bedeutung des Ganzen nicht klar wird. Wir halten Morgenwacht nicht durch die Duldung ande rer, sondern weil wir stark genug sind, unser Eigen tum zu schützen.« Verärgert fauchte Schaine: »Du hast mit Gerd Je
masze gesprochen. Er ist noch schlimmer in seinen Ansichten als Vater.« »Schaine, meine naive kleine Schwester, du ver stehst ganz einfach nicht, was hier vorgeht.« Schaine versuchte sich zu beherrschen. »Ich weiß jedenfalls soviel, daß Jorjol, der Graue Prinz, überall in Olanje willkommen ist. Um so merkwürdiger scheint es mir deshalb, daß er nicht hier, wo er auf wuchs, als Ebenbürtiger behandelt werden kann.« »Die Umstände sind anders«, erklärte ihr Kelse ge duldig. »In Olanje haben die Menschen durch ihn nichts zu verlieren, sie können sich den Luxus ab strakter Prinzipien leisten. Wir dagegen sind Ausker mitten in den Alouanen. Wenn wir nur eine Spur von Schwäche verraten, sind wir erledigt.« »Ich verstehe trotzdem nicht, weshalb wir Jorjol nicht auf zivilisierte Weise behandeln können.« »Weil er nicht auf zivilisierte Weise, wie du so schön sagst, hier ist! Er kam als Blauer aus dem Re tentum. Wäre er in Ausker-Kleidung gekommen und benutzte er Ausker-Manieren und stänke nicht nach Azuröl – mit anderen Worten, wäre er hier als Ausker erschienen, hätte ich ihn auch als solchen behandelt. Aber er denkt ja gar nicht an Kompromisse. Er protzt mit seiner Uldra-Aufmachung, seiner blauen Haut, seinen redemptoristischen Vorurteilen – kurz, er for dert mich unübersehbar heraus. Also reagiere ich dar auf. Wenn er sich Ausker-Privilegien erfreuen will, wie beispielsweise in der Großen Halle zu dinieren, dann muß er sich entsprechend verhalten. So einfach ist das!« Schaine fiel keine Entgegnung ein. Sie drehte sich um. Kelse rief ihr nach: »Geh, frag Kurgech nach sei ner Meinung. Wir werden ihn übrigens auch zum
Lunch bitten.« »Nun beleidigst du Jorjol aber wirklich.« Kelse lachte bitter. »Was willst du eigentlich? Wir sollen den einen Uldra nicht einladen, weil wir damit den anderen beleidigen!« »Du vergißt Jorjols Selbsteinschätzung – sein Image.« »Und er will, daß ich dieses Image anerkenne. Das tue ich aber nicht. Ich habe ihn nicht hierhergebeten. Da er uneingeladen kam, muß er sich nach uns rich ten, nicht wir uns nach ihm.« Schaine lief aus dem Büro hinaus auf die Veranda, wo sich inzwischen Jorjol mit Elvo Glissam wieder eingefunden hatte. »Kelse steckt bis über die Ohren in seiner Buchführung«, wandte sie sich an Jorjol. »Er läßt sich einstweilen entschuldigen, freut sich jedoch schon, dich beim Lunch zu sehen... Kommt, ihr zwei, gehen wir zum Fluß.« Jorjols Gesicht zuckte. »Wie du möchtest. Es wird mir eine Freude sein, alte Erinnerungen meiner sehr glücklichen Kindheit hier wieder aufzufrischen.« Die drei spazierten den Fluß bis zum Schattensee hoch, wo Uther Madduc ein Bootshaus gebaut hatte, in dem ihre drei Segelboote untergebracht waren. El vo Glissam war ausgeglichen wie immer. Jorjols Lau ne änderte sich mit jeder Minute. Hin und wieder rasselte er Unsinn herunter, mit der gleichen Unbe kümmertheit und demselben Charme wie Elvo Glis sam. Dann seufzte er herzzerreißend, wurde melan cholisch über irgendeine Kindheitserinnerung, um gleich darauf mit intensiver Wildheit ein unwichtiges Thema mit Glissam zu debattieren. Schaine beobach
tete ihn fasziniert und staunte über die Emotionen, die durch den schmalen, stolzen Schädel jagten. Al lein wäre sie mit ihm bestimmt nicht spazierengegan gen, denn er wäre zweifellos zudringlich geworden. Jorjol war über Glissams Anwesenheit alles andere als erfreut, aber er versuchte es mit lauten Bemerkun gen zu überspielen. Ein paarmal hatte Schaine das Gefühl, daß er nahe daran war, Glissam zu bitten, sie allein zu lassen, dann lenkte sie ihn schnell ab. Schließlich fand Jorjol sich damit ab, daß er nicht mit ihr allein sein konnte, und entwickelte neue Lau nen. Er wurde leicht spöttisch, bemitleidete sich selbst und benahm sich immer sentimentaler, je mehr die Umgebung ihn an seine Kindheit erinnerte. Schaine war nervös und verlegen. Zweifellos spielte Jorjol sich nur auf. Sie wollte ihn necken und von sei nem hohen Roß herunterholen, aber wie leicht mochte sie ihn dabei ungewollt verletzen und ein neues, noch leidenschaftlicheres theatralisches Be nehmen heraufbeschwören. Also schwieg sie. Elvo Glissam, der sich nichts anmerken ließ, hielt die Ge sprächsthemen so unpersönlich wie möglich, was ihm abfällige Blicke von Jorjol einbrachte. Schaine überlegte inzwischen, wie sie am taktvoll sten darauf hinweisen könnte, daß der Lunch nicht in der Großen Halle eingenommen werden würde. Aber das Problem löste sich von selbst, als sie zum Haus zurückkehrten und der gedeckte Tisch auf der Ostter rasse nicht zu übersehen war. Kelse stand ganz in der Nähe davon und unterhielt sich nicht nur mit Kur gech, sondern auch mit Julio Tanch, dem Aufseher für die Herden. Sowohl Julio als auch Kurgech trugen Ausker-Kleidung: Twillhose, Stiefel und loses weißes
Hemd. Keiner der beiden hatte die Haut geölt. Jorjol blieb abrupt stehen, als er die drei sah. Dann schritt er langsam auf sie zu. Kelse hob die Hand in höflichem Gruß. »Jorjol, du erinnerst dich doch an Kurgech und Julio.« Jorjol nickte. »Ich entsinne mich an beide sehr gut. Viel Wasser ist den Chip-chap hinuntergeflossen, seit wir uns das letztemal sahen.« Er richtete sich zu vol ler Größe auf. »Veränderungen fanden statt. Es wird noch zu weiteren kommen.« Kelses Augen funkelten. »Wir werden die Anschlä ge vom Retentum stoppen. Das ist eine Veränderung. Es könnte leicht geschehen, daß das Retentum ver schwindet und es in den ganzen Alouanen nur noch Vertragsland gibt. Das wäre eine weitere.« Schaine rief schnell: »Kommt, wir wollen uns zum Lunch setzen.« Jorjol blieb steif stehen. »Ich esse nicht wie ein Dienstbote im Freien. Ich ziehe es vor, mein Mahl in der Großen Halle einzunehmen.« »Ich fürchte, das ist nicht möglich«, erwiderte Kelse höflich. »Keiner von uns ist dafür passend gekleidet.« Schaine legte ihre Hand auf Jorjols Arm. »Tortilla, mach keine Schwierigkeiten. Kein einziger hier ist ein Dienstbote. Wir essen bei diesem herrlichen Wetter gern im Freien, weil es angenehmer ist.« »Das tut nichts zur Sache. Ich habe meinen Ruf zu wahren. Ich bin so gut wie jeder Ausker, und ich verlange, daß man mich mit Achtung behandelt.« Mit unbewegter Stimme erwiderte Kelse. »Wenn du in Ausker-Kleidung hierherkommst und selbst Achtung für unsere Gefühle und Traditionen zeigst, wirst du die Situation verändert vorfinden.«
»Ah, so ist das also! Aber wie steht es dann mit Kurgech und Julio? Sie erfüllen doch deine Bedin gungen. Bring sie in die Große Halle und laß ihnen dort servieren, ich werde allein hier essen.« »Das wird sich zum richtigen Zeitpunkt sicher er geben, aber nicht heute.« »In diesem Fall«, erklärte Jorjol, »kann ich den Lunch nicht mit euch einnehmen. Ich werde mich verabschieden, um meinen Geschäften nachzuge hen.« »Wie du willst.« Schaine begleitete Jorjol zum Hermes. Mit leiser Stimme sagte sie: »Es tut mir leid, daß die Sache so ausgegangen ist. Aber wirklich, Tortilla, du hättest dich nicht so aufspielen sollen!« »Pah! Kelse ist ein undankbarer Narr. Glaubt er vielleicht, seine große Armee kann mir Angst einja gen? Er wird noch sehen, wieweit er damit kommt.« Er faßte sie an den Schultern. »Du bist meine süße Schaine. Komm mit mir! Steig in den Hermes und wir vergessen sie alle.« »Aber Tortilla, sei doch vernünftig. Ich würde nicht im Traum daran denken.« »Einmal hast du es getan!« »Das ist lange, lange her.« Sie machte einen Schritt zurück, als Jorjol sie zu küssen versuchte. »Tortilla, hör auf!« Die Emotionen überschlugen sich in Jorjol. Seine Finger krallten sich in ihre Schultern, daß sie vor Schmerz aufschrie. Da hörten sie ein Geräusch. Jorjol blickte wild über die Schulter zurück zum Haus und sah Kurgech, der offenbar in Gedanken versunken den Weg entlang kam. Schaine riß sich von Jorjol los.
Jorjol sprang wütend in den Hermes und raste den Wolken entgegen. Schaine und Kurgech schauten dem Luftwagen nach, bis er im Westen verschwand. Dann blickte das Mädchen in das faltenreiche graue Gesicht. »Was ist über Jorjol gekommen? Er ist so wild, so zügellos!« Aber noch während sie sprach, erinnerte sie sich, daß Jorjol immer wild und zügellos gewesen war. »Er riecht nach Verhängnis und trägt auch das Un heil auf dem Rücken wie ein Tier sein Junges«, brummte Kurgech. »Veränderungen liegen in der Luft«, murmelte Schaine. »Ich spüre sie. Sie drücken auf uns alle her ab. Sag mir, was meinen die Aos? Wollen sie, daß wir Morgenwacht verlassen?« Kurgech blickte südwärts über das Land, das Tau sende von Jahren den Aos gehört hatte. »Bestimmte junge Männer hören auf die Wittols. Sie ahmen den Grauen Prinzen nach und nennen sich die Avantgar de der Nation der Uldras. Andere sind der Ansicht, daß die Alouanen zu groß sind, als daß Worte sie verändern könnten. Wenn die Ausker das Land als ihres betrachten, schön und gut, mögen sie doch. Es kostet uns nichts, im Gegenteil, wir haben Vorteile dadurch. Dann brüllen die Avantgardisten: ›Und was ist mit der Zukunft, wenn Hunderte von neuen Häu sern gebaut werden und man uns in die Wüste hin austreibt? Das ist unser Land, das man uns unrecht mäßig wegnahm und das wir nun wiedergewinnen müssen!‹ Und die andere Gruppe meint: ›Diese Hun derte von neuen Häusern sind überhaupt noch nicht geplant. Gibt es denn nicht schon genug Unruhe und Schwierigkeiten auf der Welt, ohne noch weitere her
aufzubeschwören?‹ Ja, und so geht das Argument weiter.« »Und was sagst du zu heute, als Jorjol verlangte, den Lunch in der Großen Halle einzunehmen?« »Jorjol ging zu weit.« »Was ist mit euch? Möchtet ihr nicht auch gern in der Großen Halle speisen?« »Würde ich eingeladen, ich empfände es als große Ehre und nähme gerne an. Die Große Halle ist wie ein Heiligtum, das niemand entehren sollte. Uther Mad duc wußte, wo sich unsere Kachemben befinden, und er hätte sie viele Male entweihen können, doch tat er es nie. Wenn er sich bestimmten Ritualien unterzo gen, das Zeremoniengewand getragen und sich dar auf eingestellt hätte, hätte er jeden unserer heiligen Orte betreten dürfen, außer jenen, die sich mit ihm befaßten, und auch nur, um seine Sicherheit nicht zu gefährden. Und gewiß hätte er mir Ausker-Kleidung geliehen und mich in die große Halle geführt, wenn ich ihn darum gebeten hätte.« Schaine verzog ein wenig zweifelnd das Gesicht. »Vater war sehr strikt.« »Eines Tages werden Sie die Wahrheit erfahren.« Sie blickte ihn verwirrt an. »Die Wahrheit wor über?« »Auch das werden Sie erfahren.« Der Lunch wurde von Wonalduna und Saravan ser viert, zwei der ständig wechselnden Ao-Mädchen, die freiwillig ein oder zwei Jahre im großen Haus Dienst leisteten, um zu Geld zu kommen. Die Köchin von Morgenwacht war Hermina Lingolet, eine entfernte Kusine von Kelse und Schaine, die sich wie Reyona
Werlas-Madduc als Familienangehörige und nicht als Angestellte betrachtete. Zum Lunch hatten sie ein pfefferscharfes Halasch, eine Art Gulasch, auf Ao-Art zubereitet, das sie mit Petersilie garnierte, und dazu gab es kampfende Graupen und einen Salat aus fri schen Kräutern vom Küchengarten. Durch Jorjols Aufbruch war die Stimmung ein wenig bedrückt. Erst als Elvo Glissam Erjinen und ihre Intelligenz er wähnte, kam ein lebhafteres Gespräch auf. Kurgech erzählte ein paar Anekdoten über Erjinen: wie einmal vier, die sich telepathisch untereinander verständigt hatten, versuchten, einen Trupp Somaji-Reiter in ei nen Hinterhalt zu locken; von einem Kampf zwischen Erjinen und Morphoten; und wie er einmal ganz un erwartet auf einem Bergpfad einem Erjin gegenüber stand. So verging der Lunch. Ohne sichtliche Verständi gung erhoben Julio und Kurgech sich gleichzeitig, bedankten sich für das Mahl und baten die Anwe senden, sie zu entschuldigen. Kelse, Elvo Glissam und Schaine blieben in der angenehmen Kühle im Schatten der Grüngummi sitzen. »Lunch ist vorbei«, murmelte Schaine, »und wieder einmal wurde Tor tilla aus der Großen Halle ausgeschlossen. Ich möchte gern wissen, was in seinem Kopf vorgeht.« »Der Teufel soll Tortilla – Jorjol – den Grauen Prin zen holen, wie immer er sich auch zu nennen be liebt«, knurrte Kelse gereizt. »Ich wollte, er würde nach Olanje zurückkehren und sich dort niederlassen. Er mag so viele Ausker-Partys besuchen, wie er nur will.« »Er ist ein Päckchen Dynamit, gelinde ausge drückt«, sagte Elvo Glissam vorsichtig.
»Er ist geisteskrank«, knurrte Kelse. »Verblendet, größenwahnsinnig, hysterisch!« Schaine blickte über die Savanne. »Was hat er mit deiner ›großen Armee‹ gemeint, Kelse?« Kelse grinste säuerlich. »Seine Spione berichten ihm mehr, als wir selbst wissen. Die ›große Armee‹ ist nicht mehr als ein paar Zeilen auf einem Stück Papier. Gerd und ich haben an einem Plan gearbeitet, den wir hofften, wenigstens noch ein paar Wochen geheim halten zu können.« »Ich bin nicht wirklich an euren Geheimnissen in teressiert.« »Es ist auch nicht direkt ein Geheimnis. Es ist ein offensichtlicher Schritt, den wir schon vor Jahren hätten tun sollen: eine politische Organisation. Gerd und ich haben an einer Satzung für eine Föderation gearbeitet.« »Das ist eine beachtliche Aufgabe«, meinte Elvo Glissam. »Da dürften Sie beide ja ziemlich beschäftigt gewesen sein.« »Jemand muß schließlich einmal etwas unterneh men. Wir haben uns mit allen Domänen in Verbin dung gesetzt. Jeder, ohne Ausnahme, war für einen politischen Zusammenschluß. Jorjol hat etwas davon gehört und nimmt natürlich an, daß unser beabsich tigtes Bündnis militärischer Natur ist.« »Das dürfte wohl nicht ganz unrichtig sein«, mur melte Schaine. Kelse nickte. »Wir beabsichtigen natürlich, uns zu schützen.« »Was ist mit der Mull?« fragte Elvo Glissam. »Ist sie denn nicht auch für die Vertragsländer zustän dig?«
»Theoretisch, ja. In der Praxis, nein. Wenn die Mull sich auf ihre eigenen Angelegenheiten beschränkt, tun wir es auch mit unseren.« Elvo Glissam schwieg. Schaine seufzte schwer. »Alles scheint so zerbrechlich, so ungewiß. Wenn wir uns nur sicher sein könnten, daß Morgenwacht auch wirklich uns gehört.« »Es gehört uns, bis wir zulassen, daß jemand es uns wegnimmt. Und das werden wir nicht!« brummte Kelse.
6
Schaine und Elvo ritten auf zwei Kriptiden aus. Kelse bestand darauf, daß sie Schußwaffen mitnähmen und sich von zwei Ranch-Uldras begleiten ließen, was Schaine gar nicht gefiel. Aber während sie südwärts zu den Skaws ritten, sah sie doch ein, daß die Vor sichtsmaßnahmen gut gemeint waren. »Wir befinden uns gar nicht so weit vom Retentum entfernt«, sagte sie zu Elvo Glissam. »Und Sie wissen, was alles pas sieren kann.« »Ich beschwere mich nicht«, versicherte er ihr. Im Schatten des großen Skaws – ein spitz zulau fender, etwa fünfundsechzig Meter hoher Sandstein felsen mit Schichten in Beige, Hellgelb, Rosa und Grau – machten sie Rast. Morgenwacht war unter den bleichen Grüngummibäumen und den dunkleren transstellaren Eichen kaum zu sehen. Jenseits davon schob die noch dunklere Linie des Feenwalds sich bis zum Horizont. Westlich schlang der Chip-chap sich in Mäandern durch das Tal und verschwand südlich außer Sicht, wo er in den Massakersee mündete. »Als wir noch klein waren«, erklärte Schaine, »ka men wir oft hier heraus zu einem Picknick oder um nach Turmalinen zu suchen. Dort drüben ist ein Gra ben im Pegmatit... Da hat übrigens der Erjin Kelse angefallen.« Elvo sah sich um. »Hier?« »Auf dem Pegmatit. Kelse und Tortilla kletterten den Felsen hoch. Der Erjin kam aus der Kluft und stieg den Jungen nach. Er erwischte Kelse und zog ihn hinunter. Ich hörte den Lärm und rannte herbei,
um zu helfen, aber da hatte Tortilla den Erjin bereits erschossen. Er lag da, wo Sie jetzt stehen, in seinen letzten Zuckungen. Kurgech kam sofort herbeigelau fen, als er den Schuß hörte. Er verband Kelses Arm und Bein und trug ihn nach Hause. Tortilla wurde der große Held. Für etwa eine Woche.« »Was geschah dann?« »Oh – es gab einen großen Streit. Ich wurde nach Tanquil verbannt. Tortilla zog sich aufs Retentum zu rück, und jetzt ist er der Graue Prinz.« Schaine blickte sich um. »Ich glaube, es gefällt mir hier doch nicht mehr... Armer Kelse.« Elvo Glissam blickte unruhig über die Schulter. »Kommen oft Erjinen hierher?« »Hin und wieder, wenn sie sich für unsere Rinder herden interessieren. Aber unsere Aos sind besser als Spürhunde. Sie können Fährten verfolgen, die ein anderer überhaupt nicht sieht. Das haben die Erjinen zu fühlen bekommen und daraus gelernt. Jetzt blei ben sie hauptsächlich in der Wildnis.« Als sie nach Morgenwacht zurückkehrten, sahen sie Gerd Jemaszes alten, klapprigen Daxy-Luftwagen auf dem Landeplatz. Kelse und Gerd beschäftigten sich so intensiv in der Bibliothek, daß sie sich erst zum Dinner in der Großen Halle sehen ließen. Nach Morgenwacht-Sitte trugen alle Abendkleidung. Für zufällige Besucher wurde immer passende Kleidung bereitgehalten, wie Gerd und Elvo sie jetzt trugen. Es ist wirklich wahr, dachte Schaine, daß diese Tradition feierlich stimmt. Es war eine Sache des Geschmacks, der Ästhetik. Straßenkleidung und Ungezwungenheit hätten ganz einfach nicht zu den hochlehnigen Stüh len, dem riesigen alten Tisch aus Umbraholz, dem
Kronleuchter von den Zitschen Glaswerken in Gil haux auf Darybant und den alten vererbten Gedecken gepaßt. Heute hatte Schaine sich besondere Mühe mit ihrem Aussehen gegeben. Sie trug ein einfaches, dun kelgrünes langes Kleid und eine Hochfrisur nach Art der Pharistaner Nymphen mit einem großen, facet tiertem Smaragd auf der Stirn. Reyona Werlas-Madduc hatte bereits mit Hermina Lingolet gespeist. So saßen an der großen Tafel nur die vier, die der 150-Kilometer-Marsch durch die Öde verband. Als sie ihren Wein tranken, lehnte Schaine sich zurück und betrachtete die Männer durch halb geschlossene Lider. Um sie objektiver beurteilen zu können, stellte sie sich vor, sie wären alle Fremde. Kelse, dachte sie, sah viel älter aus, als er den Jahren nach war. Er würde nie ein so stattlicher und beein druckender Mann werden wie ihr Vater. Sein Gesicht war schmal, die Züge scharf geschnitten, und um sei nen Mund hatten sich tiefe Falten eingegraben. Im Gegensatz zu ihm sah Elvo Glissam ausgeglichen und innerlich zufrieden aus, als kenne er keine Sorgen. Gerd Jemasze wirkte, in Schaines objektiver Betrach tung, erstaunlich elegant. Er drehte den Kopf, und ih re Blicke trafen sich. Schaine empfand, wie üblich, ei ne Spur von Abneigung oder Herausforderung, oder einer ähnlichen, unbestimmbaren Emotion. Gerd Je masze senkte die Augen und griff nach seinem Wein glas. Schaine war sowohl amüsiert als auch erstaunt, daß er sich ihrer Gegenwart bewußt geworden war, obgleich er sie ihr Leben lang ignoriert hatte. »Der Satzungsentwurf geht nun von Domäne zu Domäne«, sagte Kelse. »Wenn er allgemeine Aner kennung findet, was wir annehmen, werden wir, ipso
facto, eine politische Einheit.« »Und was, wenn es nichts wird mit der allgemei nen Zustimmung?« fragte Schaine. »Das wäre äußerst unwahrscheinlich. Wir haben mit jedem bereits gesprochen.« »Und wenn ihnen die Gliederung eurer Satzung nicht gefällt und sie auf Änderungen bestehen?« »Unser Entwurf hat keine Gliederung und ist auch keine normale Satzung. Es ist lediglich eine Erklärung unseres gemeinsamen Zieles, ein Einverständnis, sich dem Willen der Mehrheit zu beugen. Das ist der erste Schritt, den wir unternehmen müssen. Danach erst können wir eine detailliertere Gliederung aufstellen.« »Ihr müßt also jetzt warten. Wie lange?« »Zwei Wochen, vielleicht auch drei.« »Lange genug, jedenfalls«, meinte Gerd Jemasze, »um die Tatsachen hinter Uther Madducs ›großarti gem Witz‹ herauszufinden.« Elvo Glissam war sofort interessiert. »Und wie be absichtigen Sie das zu tun?« »Ich folge seiner Route. Irgendwo entlang des We ges werde ich schon entdecken, was er so erheiternd fand.« »Und was ist diese Route?« erkundigte sich nun Schaine. »Von Morgenwacht aus flog er fünfhundert Kilo meter nach Norden und siebenundzwanzig nach Nordosten – also genau zu Palga Depot Nr. 2. Dort landete er.« Gerd Jemasze holte Uther Madducs No tizbuch hervor. »Hört euch das an: Niemand wagt es, die Palga zu überfliegen. Ein er staunliches Paradoxon! Die Windläufer, so sanftmütig, so friedfertig, werden beim Anblick eines Flugzeugs zu Beses
senen. Sie eilen zu den alten Lichtkanonen und schießen den Luftwagen ab. Ich fragte Filisent: »Weshalb schießt ihr auf die Flugwagen?« ›Weil sie blaue Räuber sein können.‹ ›Oh‹, sagte ich. ›Wann haben die Uldras euch denn zum letztenmal überfallen?‹ ›Nicht, solange ich selbst mich zurückerinnern kann, auch nicht zu meines Vaters Zeit«, erwiderte er. »Trotz dem muß es so sein. Wir dulden keine Flieger in unserer Luft.‹ Er gestattete mir, seine Kanone zu betrachten. Sie ist ein wahres Kunstwerk. Ich frage mich, wer wohl eine so wir kungsvolle Waffe hergestellt haben mochte. Filisent konnte mir wenig darüber sagen. Die Kanone mit ihren schönen und wunderlichen Ziselierungen ist ein Erbstück, das im mer vom Vater auf den Sohn weitergegeben worden war, und niemand konnte sich mehr an ihren Ursprung erin nern. Sie mag sehr wohl mit der ersten, lange vergessenen Forschungsexpedition nach Koryphon gelangt sein. Wer kann das schon wissen?« Gerd Jemasze blickte auf. »Er schrieb dies offenbar ein paar Tage nachdem er am Depot Nr. 2 gelandet war. Bedauerlicherweise kommt nicht mehr viel nach. Die Palga, steht noch hier, ist ein ungemein erstaunliches Land und Filisent ein ungemein erstaunlicher Bursche. Wie alle Windläufer ist er ein sehr geschickter und leiden schaftlicher Dieb, deshalb muß man ständig auf sein Eigen tum aufpassen. Aber ansonsten ist er ein guter Kerl. Er be sitzt eine Bark und siebenunddreißig Parzellen Land, die er während des Dahinsegelns bestellt. Wie eng verbunden diese Menschen doch mit Wind, Sonne, Wolken und Regen sind! Sie am Steuerruder zu sehen, mit den geblähten Se geln über ihnen und den rollenden großen Rädern, erinnert
an Gläubige während eines religiösen Rituals. Fragst du sie jedoch, ob dreimal zwei sechs ist, starren sie dich ver ständnislos an. Fragst du sie über die Erjinen, wer sie zähmt und wie, wird ihr Blick noch verwirrter. Und fragst du sie, wie sie für ihre schönen Räder, das Segeltuch und die Metallteile für ihre Wagen bezahlen, bedenken sie dich mit einem Blick, der dir sagt, daß sie dich für nicht ganz bei Trost halten.« Gerd Jemasze drehte die Seite um. »Hier ist ein Teil, den er Notizen für eine Abhandlung nennt: Srenki: diese erstaunliche und schreckliche Kaste, oder ist es ein Kult? Das Wissen kommt zu dem Kind durch sich wiederholende Träume. Es wird blaß und dünn und unruhig und wandert schließlich von seinem Wagen weg. Es führt seine erste böswillige Tat aus. Danach konzen triert es sich, in diesem seltsamen, ruhigen Land, auf sich selbst und zieht die elementare Schlechtigkeit aller anderen auf sich. Und diese wiederum betrachten die so entstandene Kreatur des Grauens voll Mitleid und Nachsicht. Srenki gibt es nicht viele, in der ganzen Palga vielleicht nicht mehr als hundert, allerhöchstens aber zweihundert. Es ist leicht zu verstehen, wie furchtbar und tief die Saat des Bö sen in ihnen verwurzelt sein muß.« Niemand sprach, als Gerd Jemasze wieder von dem Notizbuch aufblickte. Nach einer Weile des Schweigens blätterte er weiter. »Das hier ist das letz te. Er schreibt: Der Mann heißt Poliamides. Ich habe ihn mit Kurgechs Trick hereingelegt, daraufhin hat er zugegeben, daß er das Erjinen-Trainingslager gesehen hat. ›Dann bring mich hin‹, befehle ich ihm. Er weigert sich. Ich drehe den Kristall, und meine Stimme kommt zu ihm
aus dem Himmel innerhalb seines Gehirns. ›Bring mich hin!‹ Jetzt ist meine Stimme die eines sonnenäugigen Gottes! Poliamides findet sich mit dem Unvermeidlichen ab, ob gleich er weiß, daß er dadurch eine Million Schicksale in eine chaotische Brühe taucht. ›Wohin und wie weit?‹ frage ich. ›Geradeaus und dann noch ein gutes Stück.‹ ›Nun ja, wir werden sehen.‹« Wieder blätterte Gerd Jemasze weiter. »Danach kommt noch eine Seite mit Zahlen, die ich nicht deu ten kann, und das ist so ziemlich alles, abgesehen von der letzten Seite. Zuerst zwei Worte: Pracht! Wunder! Und dann: Von aller bittersüßen Ironie ist dies das Größ te! Wie langsam doch die Glocken der Jahrhunderte schla gen! Wie stark und süß ist die Gerechtigkeit ihrer Töne! Und dann ein letzter Absatz: Die Lage ist so klar, daß eine Demonstration wohl kaum nötig ist; doch dieser wundervolle Beweis existiert, und wenn irgend jemand es wagt, unser Recht und unsere Ge rechtigkeit in Zweifel zu ziehen, kann und werde ich ihn an die Wand seiner eigenen doktrinären Absurdität nageln.« Gerd Jemasze klappte das Notizbuch zu und warf es auf den Tisch. »Das ist alles. Er kehrte zum Sturde vant zurück. Der Autopilot zeigte an, daß er direkt nach Morgenwacht zurückflog. Zwei Tage später wurde er über dem Dramalfo ermordet.« »Weshalb er wohl ursprünglich zur Palga ist?« fragte Elvo Glissam. »Um zu handeln?« »Seltsamerweise auf eine Mission, die auch Ihrem Herzen nahe ist«, erwiderte Kelse. »Im vorigen Früh jahr besuchte er Tante Val und interessierte sich für ihre Erjinen. Niemand schien auch nur eine Ahnung zu haben, wie sie gezähmt werden, also flog Vater
zur Palga hoch, um es herauszufinden.« »Und hat er es herausgefunden? Ist das sein ›groß artiger Witz‹?« Kelse zuckte die Achseln. »Das wissen wir nicht.« »Die Palga muß eine sehr bemerkenswerte Land schaft sein.« »Ich erinnere mich an seltsame Geschichten«, er zählte Schaine. »Die Hälfte davon sind sicher reine Fabelmärchen. Babys werden untereinander ausge tauscht, nach der Theorie, daß ein von seinen eigenen Eltern aufgezogenes Kind zu sehr verwöhnt wird.« »Erinnerst du dich an unsere alte Kinderschwester Jamie?« fragte Kelse. »Sie erschreckte uns zu Tode mit ihren Gutenachtgeschichten über die Srenki.« »Und wie ich mich an sie erinnere!« versicherte ihm Schaine. »Eines Abends erzählte sie uns, wie die Windläufer ihre Toten an die Bäume hängen, damit die wilden Hunde nicht an sie herankönnen. Wenn man dort durch einen Wald geht, grinst von jedem Baum ein Gerippe auf einen herab.« »Und nicht nur Leichen hängen sie an die Bäume«, warf Jemasze ein. »Auch die kranken alten Großel tern wandern die Äste hoch, damit man sich die Mü he erspart, extra zum Wald mit ihnen zurückzukeh ren, wenn sie auf normale Weise das Zeitliche geseg net haben.« »Welch reizende Leute«, murmelte Elvo Glissam. »Also was beabsichtigen Sie zu tun?« »Ich fliege zum Depot Nr. 2 und werde dort auf die eine oder andere Weise Uther Madducs Spur schon entdecken.« Kelse schüttelte den Kopf. »Es ist zuviel Zeit ver gangen. Du wirst sie nie finden.«
»Ich nicht, aber Kurgech.« »Kurgech?« »Er möchte mitkommen. Er war nie oben auf der Palga und sagte, ihn interessierten die Windwagen.« »Ich würde auch gern mitkommen, wenn ich Ihnen behilflich sein kann, oder zumindest nicht zur Last falle«, sagte Elvo Glissam. Schaine preßte die Lippen zusammen. Sie konnte doch unmöglich protestieren oder erwähnen, wie ge fährlich und anstrengend es war, ohne Elvo in Verle genheit zu bringen, noch konnte sie auf taktvolle Weise darauf hinweisen, daß er bereits mehrere Glä ser des ziemlich schweren bernsteinfarbigen Weines getrunken hatte. Eine Regung, so schwach, daß vermutlich nur Schaine sie bemerkte, zog sich über Gerd Jemaszes Gesicht. Ihr immer glühender Funke der Abneigung für ihn flammte auf, aber sie konnte sich beherrschen und schwieg auch jetzt. Jemasze sagte höflich: »Ihre Gesellschaft ist uns selbstverständlich recht. Ich muß Sie nur darauf hinweisen, daß wir eine Woche oder länger unterwegs sein werden, möglicherweise unter sehr ungünstigen Bedingungen.« Elvo Glissam lachte. »Es kann wohl kaum schlim mer werden als der Marsch von Dramalfo hierher.« »Ich hoffe es nicht.« »Nun, ich bin nicht gerade gebrechlich, und ich ha be ein besonderes Interesse an dieser Sache.« Kelse sprach mit ernstester Stimme, die Schaine noch mehr erboste: »Elvo möchte sich persönlich von der Versklavung der Erjinen überzeugen.« Elvo grinste ohne jegliche Verlegenheit. »Genau so ist es.«
Nicht gerade begeistert brummte Gerd Jemasze. »Ich nehme an, Kelse kann Ihnen Stiefel borgen und was Sie sonst noch brauchen werden.« »Aber sicher, daran soll es nicht scheitern«, sagte Kelse. »Also gut. Wir brechen morgen früh auf, wenn ich Kurgech finden kann.« »Er dürfte mit seinem Stamm in der alten Apfel plantage sein.« Einen kurzen Augenblick überlegte Schaine, ob sie nicht ebenfalls mitkommen sollte, doch dann schob sie, wenn auch ungern, den Gedanken beiseite. Es wäre unfair, Kelse gegenüber, zur Palga zu fliegen und ihn allein zu lassen.
7
Der Luftwagen flog nördlich über ein Gebiet mit sanften grünen Hügeln, weiten Tälern, sich gemäch lich dahinwindenden Flüssen, Wäldern mit Gadroo nen, Flammenbäumen, Mangeoneelen und hin und wieder einem gigantischen uaianischen Jinko. Elvo Glissam empfand ein Gefühl der Unwirklichkeit. Er bezweifelte bereits, ob es gestern abend richtig gewe sen war, sich aufzudrängen. Er blickte den Weg zu rück, den sie gekommen waren... Ja, sagte er sich fest, es war richtig. Er hatte sich der Expedition aus aus reichenden und guten Gründen angeschlossen: um die Tatsachen über die Versklavung der Erjinen zu er forschen. Dazu war er moralisch verpflichtet. Aber es gab auch noch einen anderen, für ihn sehr wichtigen Grund: was Gerd Jemasze tun konnte, konnte auch er. Elvo Glissam blickte durch den Wagen. Gerd Je masze war etwa zwei Zentimeter oder so kleiner als er, dafür hatte er breitere Schultern und einen kräfti geren Brustkasten. Seine Bewegungen waren ent schlossen und zielbewußt. Bei ihm gab es keine un nötigen Gebärden oder besondere Gesten, wie man che Menschen sie sich angewöhnten und die für sie typisch sind. Der erste Eindruck, aber vermutlich auch der zweite und dritte, den man sich von Gerd Jemasze machte, war der einer mit Gefühlen sparsam umgehenden Persönlichkeit. Dazu wirkte er unauf fällig, ja farblos und grimmig. An ihm war nichts Leichtes, Beschwingtes. Elvos Einstellung gegenüber der Welt war optimistisch, positiv, konstruktiv: Ko
ryphon, ja das gesamte Gaeanische Territorium mußte zu seinem Bessern reformiert werden, und nur durch die Bemühungen wohlmeinender Bürger konn ten diese Veränderungen ins Rollen gebracht werden. Gerd Jemasze, obgleich er höflich und zuvorkom mend war, könnte man nie als anteilnehmende Per sönlichkeit bezeichnen. Und zweifellos sah er das Universum durch eine egonzentrische Brille. Aus die sem Grund war er auch absolut selbstbewußt. Die Möglichkeit, er könnte bei irgend etwas versagen, war ihm zweifellos noch nie in den Sinn gekommen. Elvo empfand eine Spur von Neid oder Gereiztheit, vielleicht sogar Abneigung – doch sofort wurde ihm bewußt, wie unwürdig ein solches Gefühl war. Wenn Gerd Jemasze nur nicht gar so arrogant in seinen un bewußten Ansichten und weniger unschuldig wäre – denn Gerd Jemaszes übertriebenes Selbstvertrauen konnte doch schließlich nichts anderes als Naivität sein! Auf Hunderten von Gebieten würde er sich blamieren. Er wußte so gut wie gar nichts von den menschlichen Leistungen in der Musik, Mathematik, Literatur, Optik, Philosophie. Von jedem normalen Standpunkt aus gesehen müßte Gerd Jemasze sich Elvo Glissam gegenüber unsicher und neidvoll füh len, und nicht umgekehrt. Elvo lächelte säuerlich. Aber die Lage war, wie sie war, er konnte nichts dar an ändern. Er blickte wieder hinunter auf das Terrain, das sie überflogen. Wenn er darum bat, erklärte, daß er sich nicht wohl fühle, würden sie ihn sicher auch jetzt noch zurückbringen. Gerd Jemaszes einzige Reaktion wäre sicher leichte Verwunderung. Um sich zu är gern, war er zu uninteressiert an ihm... Elvo runzelte
die Stirn. Genug dieser Selbstbemitleidung und des Händeringens. Er würde sein Bestes tun, ein fähiger Begleiter zu sein. Wenn er versagte, versagte er eben, was ließ sich daran schon ändern? Er weigerte sich, noch weiter darüber nachzugrübeln. Gerd Jemasze deutete in die Tiefe, wo drei giganti sche graue Tiere sich in einer Lehmkuhle wälzten. Ei nes erhob sich und stapfte schwerfällig aus der Mul de. Es starrte zu dem Luftwagen hoch. »Panzertiere. Nahe Verwandte der Morphoten«, erklärte Gerd Jemasze. »Nur hat die Evolution sie weit zurückgelassen.« »Aber keine Verbindung zu den Erjinen?« »Nicht die geringste. Manche Leute glauben, die Erjinen hätten sich aus den Berggeroiden entwickelt. Die Geroiden ähneln halb Ratten und halb Skorpio nen. Andere zweifeln diese Theorie an. Zu beweisen ist sie nicht, da es keine Erjinenfossilien gibt.« Der Luftwagen flog gleichmäßig nordwärts. Vor aus war bereits die Palga zu sehen, wo die Volwoden sich in den westlichen Himmel zu bohren schienen. Gerd Jemasze stieg höher und flog nun unmittelbar unter den weitgestreckten Kumuli, die die Sonne in ihren Strahlen badete. Der Grund unter ihnen schien sich wie unter großem Druck zu bewegen und sprang plötzlich um gut tausend Meter in die Höhe. Die ge waltige Felswand zeigte Tausende von Schluchten und Klüften und schmäleren Sprüngen. Dahinter und weit, weit bis zum sonnigen Horizont, dehnte sich die Palga aus. Am Rand des Felsabsturzes kauerten sich etwa ein Dutzend weißgetünchte Bauten mit schwarzbraunen Dächern aneinander. »Depot Nr. 2«, rief Gerd Jemas
ze über die Schulter zurück. »Sie werden vermutlich ein paar Exporterjinen sehen – es dürfte angebracht sein, daß Sie Ihre Empörung zügeln.« Elvo gelang ein gutmütiges Lachen. »Ich bin nur als Beobachter hier.« Ihm fiel auf, daß er Gerd Jemas ze nie seine Meinung über die Versklavung der Er jinen hatte äußern hören. »Wie stehen Sie zu der Sa che?« fragte er deshalb jetzt. »Was halten Sie davon?« Gerd Jemasze überlegte einen Augenblick lang. »Ich persönlich wäre sehr dagegen, versklavt zu wer den.« Er schwieg wieder. Nach einem Moment wurde Elvo Glissam klar, daß Jemasze nicht die Absicht hatte, sich weiter darüber auszulassen. Möglicher weise hatte er sich überhaupt keine Meinung gebil det. Dann ärgerte Elvo sich über seine eigene Schluß folgerung und korrigierte sich. Gerd Jemasze hatte seine eigene Art, sich auszudrücken. Vermutlich hat ten seine kurzen Worte soviel bedeutete, wie: »Im Augenblick kann ich nur sagen, daß die Situation un erfreulich ist und es ein schmutziges Geschäft zu sein scheint. Aber da wir so wenig über das Ganze wissen, möchte ich mich mit einer endgültigen Meinung noch zurückhalten. Was die Beunruhigung der Olanjer Gilden anbelangt, und die zarten Gefühle der Verei nigung zur Emanzipierung der Erjinen, kann ich nur sagen, daß es mir unmöglich ist, sie ernst zu neh men.« Elvo grinste. Ja, das in etwa, in die Sprache der Villa Mirasol übersetzt, war Gerd Jemaszes Meinung. Der Luftwagen landete auf dem mittleren Feld vor Depot Nr. 2. Links streckte sich ein langes, ungleich mäßiges Bauwerk aus zementvermischtem Lehm aus, das weiß getüncht war und ein vielwinkliges Dach mit den verschiedensten Flächen hatte, das mit dik
ken Stangen gestützt war. Offenbar war das ein Gast haus. Geradeaus, entlang dem westlichen Rand des Feldes, standen drei schuppenähnliche Bauten mit hohen Türen vorne und hinten, die offen waren und einen Blick auf eine Anzahl von Fahrzeugen boten, an denen gearbeitet wurde. Auf einem Regal lag etwa ein Dutzend großer, leichter Gummiräder, manns groß oder noch größer. Dahinter und durch die Schuppen oder Hallen konnte man weitere Fahrzeuge sehen, die mit Masen, Spieren, Sprieten und Takelung ausgestattet waren. Rechts, am nördlichen Rand des Feldes, standen ebenfalls Schuppen mit offenen To ren. In einigen befanden sich leere Käfige, andere hatten Gitter, durch die ein Dutzend Erjinen stumpf sinnig herausschauten. In den Werkstattschuppen hatten die Männer ihre Arbeit eingestellt. Fünf oder sechs kamen heraus und näherten sich dem Flugwa gen. Es waren kräftige, aber nicht sehr große, braune Männer. Einige trugen einen Kopfschmuck, den Elvo Glissam absolut lächerlich fand. Es handelte sich da bei um je eine horizontale Holzscheibe, etwa einen Meter dreißig im Durchmesser und zweieinhalb Zen timeter dick. Sie war an einem eisernen Helm befe stigt, der mit Riemen um den Hals geschnallt war. Wie konnte man mit einem so unförmigen, schweren Ding auf dem Kopf arbeiten? Gerd Jemasze tat nun etwas sehr Merkwürdiges. Als die Männer näher ka men, hob er einen kleinen Stecken auf und kratzte ei nen Kreis rund um den Luftwagen in den weichen Boden. Die Arbeiter blieben stehen, dann kamen sie langsam näher und hielten außerhalb des Kreises an. Sie waren die ersten Windläufer, die Elvo Glissam je vor die Augen gekommen waren: die Angehörigen
einer Rasse, die sich völlig von den Uldras unter schied. Ihre hellbraune Haut schien von einem inne ren Pigment, nicht von der Sonne, gebräunt und war erstaunlicherweise völlig gleichmäßig getönt. Einige der Männer trugen Stoffmützen, andere die schon be schriebenen Helme mit den Holzscheiben. Das Haar, wo überhaupt etwas davon zu sehen war, war hell braun und dicht gelockt und nicht zu irgendeiner be sonderen Frisur gelegt. Ihre Züge waren grobge schnitten, das Gesicht schmal, doch ihr Kinn breit und schwer. Ihre Augen waren von einem merkwür digen, eindringlichen Blaßgrau. Ein paar der Männer schmückten Schnurrbärte, einige hatten sich die Au genbrauen ausgezupft, was ihren Gesichtern einen sanften, leicht komischen Ausdruck verlieh. Alle wa ren mit kurzen blauverwaschenen, grauen oder fahl grünen Hosen und losen Hemden aus ähnlichem Material und in unauffälligen Farben bekleidet. Alle trugen in ihrem Haar oder auf ihren Mützen etwas, das wie zu den kompliziertesten Formen geblasener Glasschmuck aussah und mit bunten Bändern ver ziert war und festgehalten wurde. »Viel Glück und allen guten Wind«, sagte Gerd Je masze zum Gruß. Die Arbeiter murmelten eine Art Segensgruß. Einer fragte: »Kommt ihr zu handeln oder zu kaufen?« »Mein Geschäft wurde mir noch nicht klargemacht. Es wird mir im Traum kommen.« Die Arbeiter nickten verständnisvoll und murmel ten miteinander. Elvo schloß die Lippen, die er vor Überraschung geöffnet hatte. Eine solch ungewöhnli che Rede von dem Tatsachenmenschen Jemasze hatte er nicht erwartet. Gerd deutete jetzt auf den Kreis.
»Beachtet diesen Fiap. Nicht Ahariszeio schützt ihn, sondern wir selbst, unsere Fäuste und der Stachel un serer Gewehre. Verstanden?« Die Arbeiter zuckten die Achseln, traten von einem Bein aufs andere und streckten den Hals, um den Luftwagen und seinen Inhalt besser sehen zu können. »Wo ist der Priester?« fragte Jemasze jetzt. »Dort! In seinen Räumen, hinter dem Gasthaus.« Jemasze blickte auf Kurgech, der sich an den Luft wagen lehnte und offen eine Pistole in der Hand hielt. Jemasze wandte sich wieder an die Windläufer. »Ihr könnt euch ohne Bedauern zurückziehen. Unser Ei gentum ist weder unbeaufsichtigt noch frei, sondern sorgfältig bewacht.« Die Arbeiter machten höfliche Gebärden und kehrten zu den Schuppen zurück. Elvo fragte ver wirrt: »Was bedeutet das alles? Ich komme nicht mit.« »Die Windläufer stehlen, was sie in ihre Hände be kommen können«, erwiderte Gerd Jemasze. »Die Schutzzauber und -zeichen oder Talismane heißen hier Fiap. Sie werden sie überall sehen. Die Windläu fer tragen sie auf dem Kopf.« »Weshalb schleppen sie diese riesigen Holzschei ben mit sich herum?« »Sie haben gegen irgendein religiöses Gesetz ver stoßen. Es gibt hier keine Ordnungshüter, keine Amtsgewalt, außer der Priesterschaft.« Elvo brummte: »Ich bekomme schon Kopfschmer zen, wenn ich an die schweren Dinger nur denke.« »Manchmal sind die Scheiben zehn Zentimeter dick, oder sogar fünfzehn. In einem solchen Fall stirbt der Bestrafte innerhalb einer oder auch zwei Wochen, außer es kümmert sich jemand um ihn.«
»Und welche Verbrechen bringen ihm eine solche Scheibe ein?« Gerd Jemasze zuckte die Achseln. »Gegen den Wind spucken. Im Schlaf reden... Ich bin nicht so vertraut mit den Gesetzen der Windläufer. Kommen Sie, wir gehen zu dem Priester und besorgen uns ein paar Fiaps.« Der Priester trug ein weißes Gewand, sein pech schwarz gefärbtes Haar reichte bis zu den Schultern und endete in kleinen Onyxkugeln. Sein rundliches Gesicht war völlig haarlos, und er hatte sich schwarze Kreise rund um die Augen gemalt, die ihm einen Ausdruck eulenhafter Eindringlichkeit verliehen. Er verriet keine Überraschung beim Anblick von Gerd Jemasze und Elvo Glissam, obgleich er auf seinem Lager geschlafen hatte, als die beiden eintraten. Gerd Jemasze begann ein Gespräch, das Elvo Glis sam wieder zutiefst überraschte. »Gute Winde für Euch, Priester. Wir brauchen einen Satz Fiaps, der uns gegen alle Eventualitäten schützt.« »Natürlich, natürlich«, erwiderte der Priester. »Be absichtigt ihr zu handeln? Ihr werdet nicht viele Fiaps benötigen.« »Wir sind keine Händler. Wir kommen zum Ver gnügen und aus Interesse zur Palga.« »Hiho! Dann müßt ihr leicht zufriedenzustellen sein! Wir haben hier weder Volksfeste noch Sing- und Tanz mädchen und auch keine Bankette mit fettem Fleisch. Tatsächlich kommen nur sehr wenige eurer Art hier her.« »Mein Freund Uther Madduc kam erst vor kurzem bei Euch vorbei«, versicherte ihm Gerd Jemasze. »Er er zählte, daß Ihr ihm Fiaps und guten Rat gegeben habt.«
»Nicht ich, nicht ich. Das war zu Poliamides Zeit. Ich bin Moffamides.« »In diesem Fall möchten wir gern Poliamides unse re Aufwartung machen.« Moffamides' Augen wurden rund und glänzend. Er spitzte die Lippen und schüttelte mißbilligend den Kopf. »Poliamides hat sich als unbeständig erwiesen. Er hat die Priesterschaft aufgegeben und ist auf die Sarai*. Vielleicht war er zu empfänglich für euren Freund Uther Madduc.« »So gebt Ihr uns im Namen Ahariszeios Fiaps, und macht sie extra stark.« Der Priester öffnete einen schwarzen Lederkoffer, der mit rosa Samt gefüttert war. Etwa ein Dutzend Kristallscheiben lag darin. Er berührte sie, veränderte ihre Lage und zuckte, einen überraschten Schrei aus stoßend, zurück. »Die Zeichen sind ungünstig! Ihr müßt zu den Alouanen zurückkehren.« »Ihr habt die Scheiben falsch behandelt«, sagte Gerd Jemasze brüsk. »Die Zeichen sind günstig!« Moffamides warf ihm von der Seite einen tadelnden Blick zu. Die Achatperlen in seinem schwarzen Haar klickten und klirrten leicht. »Wie kannst du das sagen? Bist du vielleicht ein Priester?« Gerd Jemasze schüttelte kurz den Kopf. »Uther Madduc ist tot, wie Ihr wißt.« Moffamides' Augen traten ihm in offensichtlich ehrlicher Überraschung aus den Höhlen. »Woher * Sarai: unübersetzbar. Eine grenzenlose Weite von Horizont zu Horizont, aus Land oder Wasser, die keinerlei Hindernisse für den Reisenden bietet, und von der ein unwiderstehlicher Drang ausgeht, einen Fuß vor den anderen zu setzen, um ein bekanntes oder auch unbekanntes Ziel zu erreichen.
sollte ich das wissen?« »Durch Telepathie, derer ihr Priester alle fähig seid, wie ich gehört habe.« »Nur unter bestimmten Voraussetzungen, doch nicht Dinge auf den Alouanen betreffend, von denen ich nicht mehr weiß, als ihr über die Palga.« »Uther Madducs Geist legte uns eine Verpflichtung auf. Er und Poliamides wurden Gefährten, und jeder gestattete dem anderen als Bürgschaft eine Probe sei ner Seele.« Elvo Glissam lauschte mit geweiteten Augen. Und da hatte er Gerd Jemasze für phantasielos und gleich gültig gehalten! Moffamides hatte sich niedergesetzt und die Eu lenaugen jetzt nachdenklich halb geschlossen. »Da von habe ich nichts gehört.« »Man hat es Euch berichtet«, sagte Jemasze scharf. »Wenn wir jetzt ohne Uther Madducs Seele zu den Alouanen zurückkehren müssen, verlange ich von Euch, daß Ihr mitkommt und den Geist beruhigt.« »Völlig unmöglich!« protestierte der Priester. »Ich kann es nicht wagen, die Palga zu verlassen.« »In diesem Fall müssen wir mit Poliamides spre chen.« Moffamides nickte langsam und überlegend, seine Augen stierten ins Nichts. »Erst«, sagte Jemasze, »müßt Ihr uns mit guten Fiaps versorgen.« Moffamides schien sofort wieder wach. »Fiaps wel cher Art?« »Stellt uns einen zusammen, daß wir mit unserem Luftwagen über die Palga fliegen können.« Moffamides zog die Mundwinkel nach unten und
streckte seinen Zeigefinger hoch. »Treibstoffgestank und heulende Maschinen auf den heiligen Winden Ahariszeios? Undenkbar! Auch werde ich euch kei nen Fiap für faires Wagnis geben, denn ich bin mir der Zeichen und Umbra sehr wohl bewußt, und nicht alles mag gutgehen. Ich kann euch höchstens einen allgemeinen Talisman überlassen, der euch Aharis zeio vielleicht geneigt machen wird.« »Sehr gut. Wir werden Euch für diesen Fiap dank bar sein. Zusätzlich muß unser Luftwagen jedoch vor jeglicher Art von Beschädigung, Unglücksfall, ein schließlich Diebstahl, Zerstörung oder Abschleppung geschützt werden. Für meine Gefährten und mich benötige ich Fiaps, die uns vor Belästigung, Schaden, Verletzungen, Zauberei, Täuschung, Ausnutzung, Gefangennahme oder Erstarrung und die verschiede nen Stadien und Umstände des Todes bewahren. Au ßerdem brauchen wir einen geeigneten Satz Fiaps für unser Fahrzeug, der uns gute Winde sichert, eine glatte Strecke, Stabilität und eine angenehme Fahrt zu einem guten Ziel.« »Ihr verlangt viel.« »Für einen Priester, der Ahariszeio so nahe ist wie Ihr, sind unsere Wünsche gering. Wir könnten noch mehr verlangen.« »Das genügt völlig. Ihr müßt eine Gebühr dafür bezahlen.« »Wir werden es bei unserer Rückkehr besprechen, wenn die Fiaps ihren Wert bewiesen haben.« Moffamides öffnete den Mund, um zu protestieren, doch dann schloß er ihn wieder. »Wie weit wollt ihr fahren?« »So weit es notwendig ist. Wo ist Poliamides?«
»Nicht sehr nahe.« »Dann müßt Ihr uns den Weg zu ihm weisen.« Moffamides nickte nachdenklich. »Ja, ich werde euch sagen, wohin ihr euch begeben müßt, und ich werde euch die gewünschten Fiaps anfertigen. Sie müssen stark sein, und ihre Kraft darf nicht nachlas sen. Morgen werde ich sie laden.« Gerd Jemasze nickte kurz. »Gebt uns jetzt einst weilen einen Fiap, um den Luftwagen zu sichern, und weitere, um uns selbst und unser Eigentum über Nacht zu schützen.« »Schafft euren Flugwagen hinter die Werkstätten. Ich werde euch die Fiaps bringen.« Gerd Jemasze kehrte zum Luftwagen zurück und flog ihn über die Schuppen zum angewiesenen Ort, einer Art Park- oder Ausstellungsplatz für Dutzende von Fahrzeugen verschiedenster Bauweise und Grö ße, alt und neu, von Frachtschonern mit drei Masten auf acht 3-Meter-Rädern bis zu dreirädrigen Flitzern mit einem umlegbaren Mast. Jeder der Wagen war wie ein Weihnachtsbaum mit seltsam geformten Glaskugeln und -stäben in allen möglichen Farben ausgestattet, von denen bunte Bänder bis über die Seiten der Fahrzeuge hingen. Moffamides erwartete sie mit einem Korb. »Hier sind Fiaps von allgemeiner Schutzkraft.« Er kramte die Gegenstände hervor. »Dieser rot-grüne Fiap ist Standardausrüstung. Er wird euren Luftwagen unbe schränkt bewachen. Diese blau-weißen werden euer Eigentum schützen, solange ihr euch im Gasthaus aufhaltet. Dieser schwarz-grün-weiße Fiap wird die sen Uldra vor Rache, Arglist und Geistergriff bewah ren. Die zwei schwarz-blau-gelben Fiaps genügen für
euch Ausker.« Jemasze befestigte den rot-grünen Fiap am Flug wagen, und verteilte die anderen an Elvo Glissam, Kurgech und sich selbst. »Richtig«, lobte Moffamides, dann verließ er ohne ein weiteres Wort den Platz. Jemasze betrachtete die Fiaps ein wenig zweifelnd. »Ich hoffe, sie sind tatsächlich funktionsfähig und nicht nur Plunder.« »Es sind gute Fiaps«, versicherte ihm Kurgech. »Sie strahlen Zauberkraft aus.« »Ich spüre gar nichts«, murmelte Elvo. »Ich fürchte, meine diesbezüglichen Sinne sind etwas zurückge blieben.« Jemasze ging nicht darauf ein, sondern betrachtete eine hochmastige Schaluppe auf vier 2-Meter-Rädern mit einem geflochtenen Deck und einer kleinen Ka jüte. »Mein ganzes Leben wollte ich einen dieser Wa gen segeln. Die Schaluppe hier ist vermutlich zu leicht und zu klein, aber die Ketsch dort dürfte geeig net sein.« Die drei zogen sich in das Gasthaus zurück. Sie be traten einen Vorraum, der nur durch eine brusthohe Theke aus blankgescheuertem hellen Holz von der Küche getrennt war. Ein untersetzter brauner Mann mit schweißglänzendem nackten Oberkörper paßte dort auf ein Dutzend eiserne Töpfe auf, in denen es brodelte, brutzelte und dampfte. Und jetzt schob er frisches Holz in den eisernen Herd. Die drei sahen ihm interessiert zu, bis er ihnen einen ungehaltenen Blick zuwarf und nach einem Riesenmesser griff, mit dem er Petersilie zu hacken begann. Eine große, schlanke junge Frau, mit einem so un
bewegten Gesicht wie eine Schlafwandlerin, kam auf sie zu. Elvo, der immer an neuen, ungewöhnlichen Menschen interessiert war, musterte sie fasziniert. Mit nur ein wenig sichtbarem Leben wäre diese junge Frau von ungewöhnlicher Schönheit gewesen, von der Anmut einer Wasserlilie und der Geschmeidig keit eines flinken weißen Wintergeschöpfes. Aber ihr Gesicht war leer, und so fehlte ihm die Schönheit. Oder fast, dachte Elvo. Möglicherweise war sie gera de deshalb, auf seltsamere Weise, nur durch Andeu tung, vielleicht, vorhanden. Ihre elfenbeinfarbige Haut wirkte heller als die des durchschnittlichen Windläufers und wies einen kaum merklichen Hauch einer undefinierbaren Farbe auf. War es Blau? Blau grün? Grünviolett? Unmöglich zu sagen. Ihr dunkel braunes Haar hing bis zu den Schultern und wurde über der Stirn von einem schwarzen Band mit einem purpur-schwarz-scharlachroten Fiap am Hinterkopf gehalten. Mit weicher Stimme fragte die Frau nach ihren Wünschen, und Gerd Jemasze erklärte ihr brüsk, daß sie drei Betten, Abendessen und Frühstück brauchten. Elvo wunderte sich über seine Barschheit. Die Frau zog sich so anmutig wie eine sanfte Welle zurück und bat sie, mit ihr zu kommen. Die drei Männer folgten ihr in die riesige dämmrige Gaststube, die seltsame Schatten noch dunkler erscheinen ließen. Graue Steinplatten bedeckten den Boden. Säulen aus rauch geschwärztem Holz stützten die Decke, von der, kaum sichtbar, Hunderte von Fiaps hingen. Ein lan ger Lichtgaden aus hundert purpurnen und braunen Glasscheiben ließ ein warmes bräunliches Licht her ein, das das Holz der Stützbalken, Träger und der Tä
felung verschönte, genau wie das dunkelrote Tuch auf allen Tischen. Es fiel auch auf die anderen Gäste im Raum und dramatisierte ihre Züge. Diese anderen waren fünf Männer, die sich an einem breiten Tisch mit einem Spiel beschäftigten und mit den Fäusten ihrem Unmut oder ihrer Freude Ausdruck gaben, aber auch laut fluchten, während ein Schankbursche in weißer Schürze Krüge mit schäumendem Bier auf den Tisch stellte. Die junge Frau führte die drei durch diese Gaststu be, dann einen kurzen Korridor entlang und hinaus auf einen Balkon, von dem aus man, wie es schien, nur den Himmel sehen konnte. Elvo beugte sich über die Brüstung. Das Gasthaus war direkt an den Rand der Felswand gebaut, und der Balkon hing über der Leere. Zwischen der Hauswand und mehreren Pfo sten waren Hängematten befestigt, die, wie die Frau andeutete, den Gästen zur Verfügung standen. Ein schmaler Gang, er wurde durch lange dünne Balken gestützt, führte den Abgrund entlang zu einem Klo sett, das lediglich aus einer Stange über dem windi gen Nichts bestand und aus einer Röhre mit kaltem Wasser. Tief unten konnte man als dünnen Strich ei nen Fluß oder Bach sehen. Das ist hoffentlich nicht die Quelle des Chip-chaps, dachte Elvo Glissam. Die drei Männer holten sich Krüge mit Bier auf den Balkon: es war ein helles Gebräu, das nach dem Son nenschein der Palga und Warzenbeeren roch. Die drei tranken schweigend, während die Sonne Methuen mit einem Bersten von Scharlachrot, Rosa und Hellrot unterging, wie ein König, der seinem Ende entgegen schreitet.
Immer noch sprachen sie nicht. Die große Frau kam heraus und füllte die Krüge nach, dann blickte sie auf den Sonnenuntergang, als hätte sie in ihrem ganzen Leben noch nie etwas so Beeindruckendes gesehen. Erst nach ein paar Minuten kehrte sie stumm in die Gaststube zurück. Elvo Glissam, leicht beschwipst vom Bier und dem großartigen Sonnenuntergang, vergaß alle seine Äng ste und Zweifel. Er erlebte den schönsten Augenblick, solange er sich zurückerinnern konnte – und das in einer so bizarren Umgebung und mit Gefährten, die er sich normalerweise nicht ausgesucht hätte. Fragen schossen durch seinen Kopf. Er wandte sich an Kur gech: »Werden die Windläufer tatsächlich durch die Fiaps geleitet?« »Sie kennen keine andere Kontrolle.« »Was geschähe, wenn einer nicht auf einen Fiap achtete, ihm zuwiderhandelte?« Kurgech machte eine Geste, die besagte, daß eine solche Frage unnötig war. »Wer dagegen verstößt, muß leiden und findet oft einen nicht sehr angeneh men Tod.« »Woher wußten Sie, daß die Fiaps des Priesters zauberkräftig sind?« Kurgech hob stumm die Schultern. »Wenn Sie an einem Ort leben, wo Magie unbe kannt ist, werden Sie sie nie erkennen«, brummte Gerd Jemasze. Elvo blickte über den weiten Himmel. »Ich hatte noch nie etwas mit Zauber zu tun – bis jetzt.« Die Dämmerung verwischte die Konturen. Die Frau kam in königlicher Haltung heraus und erklärte, daß das Abendessen bereit stünde. Die drei Männer
folgten ihr in die Gaststube und aßen mit Appetit sal ziges Brot, dicke Bohnen und Wurst, Gurken mit un gewohnten Zutaten eingelegt und einen Salat aus sü ßen Gräsern. Die Spieler kümmerten sich um nichts als ihr Spiel, für das sie zehn Zentimeter lange Stäbchen aus glänzendem Holz benutzten, die an ih ren beiden Enden in unterschiedliche, grelle Farben getaucht waren und von denen die meisten, aber nicht alle, von einem zum anderen Ende farblich dif ferierten. Jeder Spieler nahm, wenn er an der Reihe war, ein Stäbchen aus einem Behälter und verbarg die Enden vor den anderen Spielern, bis er nach einiger Überlegung eines der beiden Enden in seinem Stän der herzeigte. Nach jedem Zug konnte man sich ent scheiden, ob man das Stäbchen behalten oder auf dem Tisch offen vor sich ablegen wollte. Letzteres ge schah gewöhnlich mit einem herzhaften Fluch oder einem wütenden Faustschlag. Das Spiel schaffte sichtlich Spannung, und die drei bemerkten, daß die Spieler des öfteren sehr erstaunt dreinblickten oder nachdenklich die Stirn runzelten. Jemasze und Kurgech zogen sich bald in ihre Hän gematten zurück. Elvo blieb und sah weiter dem Spiel zu, das sich als viel komplizierter herausstellte, als er es zuerst gehalten hatte. Die hundertundfünf Stäbchen waren in einundzwanzig verschiedene Sor ten aufgeteilt und differierten durch ihre unter schiedlichen Streifenkombinationen in den Farben Rot, Schwarz, Orange, Weiß, Blau und Grün. Zu An fang des Spiels wurden alle Stäbchen in einen Behäl ter gegeben, der dann gedreht wurde, bis eines der Stäbchen durch eine Öffnung rutschte, aber so, daß die beiden Enden unsichtbar blieben. Der Spieler, der
den Behälter gedreht hatte, nahm das Stäbchen, be trachtete es, ohne daß die anderen die Enden sehen konnten, dann steckte er es mit einem Ende durch ein Loch in dem Ständer auf dem Tisch vor sich. Jeder Spieler durfte der Reihe nach den Behälter drehen und ein Stäbchen ziehen, das er behielt oder ablegte, bis jeder fünf in verschiedenen Farbvariationen aus seinem Ständer ragen hatte, während die Farben der unteren Enden im Ständer nur dem Spieler bekannt waren. Nach jeder Runde machten die Spieler ihren Einsatz, erhöhten ihn manchmal oder schieden, je nach ihren Chancen, aus. Dann zog jeder Spieler ein weiteres Stäbchen, das er entweder ablegte oder in seinen Ständer steckte. Tat er letzteres, legte er dafür ein anderes aus seinem Ständer ab. Das ging so fort, bis alle Stäbchen gezogen, ausgewählt oder abgelegt waren. Nun studierten die Spieler die abgelegten Stäbchen der anderen, und die Farben, die über den Ständern herausragten, und versuchten danach die verborgenen Farben zu erraten. All das diente als Grundlage für den abschließenden Einsatz. Erst als er gesetzt war, wiesen die Spieler die verborgenen En den ihrer Stäbchen vor. Die höchste Kombination hatte gewonnen, und der glückliche Gewinner strich den gesamten Einsatz ein. Elvo, den die Flüche, das Brummen und die Fausthiebe nicht gerade ermun terten, beschloß seiner Neugier keinen größeren Lauf zu lassen und hielt sich deshalb in respektvoller Ent fernung von den Spielern und stellte ihnen auch vor sichtshalber keine Fragen. Deshalb wurde ihm auch nicht klar, welches die höchsten Kombinationen wa ren, obwohl es ihn brennend interessiert hätte. Die junge Frau brachte ihm ungebeten einen weite
ren Krug Bier, den er gern annahm. Er versuchte ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, um sich ein we nig mit ihr zu unterhalten, als ein neuer Gast die Stu be betrat, ein Mann von ungewöhnlicher Erscheinung und Miene. Sein übergroßes Gesicht hatte ungleich mäßige, plumpe Züge, ein seltsam geformtes, breites Kinn, einen weiten, sehr beweglichen Schlitz von Mund, der zu einem geistlosen Grinsen verzerrt war. Seine runden, blaßgrauen Augen blinzelten und zuckten, als störe das Licht sie. Lange, schwere Arme baumelten von kräftigen Schultern. Muskeln und Knochen hoben sich gleichermaßen aus dem Rumpf ab. Die stämmigen Beine endeten in riesigen Füßen. Er sieht sowohl wie ein Schwachkopf als auch wie ein verschlagener Fuchs aus, dachte Elvo Glissam, dumm, aber eingebildet. Die Spieler warfen ihm nur einen Blick aus den Augenwinkeln zu, achteten jedoch nicht weiter auf ihn. Der Schankbursche tat, als wäre er nicht vorhan den. Der Mann ging auf die Frau zu und sprach zu ihr. Mit einem sanften, betrübten Lächeln holte er plötzlich aus und schlug sie ins Gesicht. Allein das Geräusch der Ohrfeige drehte Elvo Glissam den Ma gen um. Die Frau fiel durch die Wucht des Schlages auf den Boden. Jetzt trat der Mann ihr den Fuß in den Hals. Elvo wußte, daß er dieses Bild nie wieder verges sen würde. Die bleiche junge Frau lag auf den Stein fliesen, Blut rann ihr aus dem Mund, während ihr Gesicht völlig unbewegt war und ihre Augen blicklos in die Luft starrten. Der Mann schaute mit stolzer Freude auf sie hinab und hob den Fuß zu einem wei teren Stoß, wie ein Mann, der einen neuen, grotesken
Tanzschritt ausprobierte. Die Spieler warfen zwar weiter Seitenblicke auf die Szene, aber sie mischten sich nicht ein. Elvo Glissam saß vor Entsetzen wie er starrt. Und dann plötzlich, zu seinem eigenen Erstau nen, griff er nach dem Fuß und zog daran, daß der Mann ebenfalls auf den Boden stürzte, jedoch sofort mit unvorstellbarer Behendigkeit wieder aufsprang. Immer noch mit dem sanften betrübten Lächeln wie eingefroren auf seinem Gesicht, holte er mit dem Bein aus, um nach Elvos Kopf zu schlagen. In seinem gan zen Leben hatte Elvo noch nie mit bloßen Händen gekämpft. Er wußte nicht, was er tun sollte, außer rückwärts auszuweichen, so daß der Tritt ins Leere ging. In seiner Verzweiflung packte er den Fuß und rannte damit vorwärts. Der Mann, dessen Gesicht jetzt plötzlich vor Schrecken verzerrt war, hopste mit einem Fuß hinterher, bis er sich befreit hatte, dann sprang er eigenartig hüpfend zur Hintertür hinaus auf den Balkon und über die Brüstung in die Tiefe. Elvo wankte zu seinem Platz zurück. Er keuchte heftig und leerte schließlich seinen Krug mit einem Zug. Die Spieler beschäftigten sich weiter mit ihren Stäbchen. Die Frau schwankte aus der Gaststube. Au ßer den Geräuschen der Spieler war es völlig still in dem großen Raum. Elvo rieb sich die Stirn und starrte in seinen leeren Krug. Die ganze Episode mußte zweifellos eine Halluzination gewesen sein... Mehrere Minuten lang blieb er reglos sitzen. Ein eigentümli cher Gedanke machte sich in ihm breit. Der Mann hatte keine Fiaps getragen, keine Schutzzauber. Elvo schob nachdenklich den Krug zur Seite, dann stand er auf und ging hinaus zu seiner Hängematte.
8
Am Morgen wurde der Zwischenfall mit keinem Wort erwähnt. Der Wirt servierte das Frühstück, be stehend aus Brot, Tee und kaltem Braten, selbst und nahm auch die Bezahlung für Unterkunft und Ver pflegung von Gerd Jemasze entgegen. Die drei ver ließen den Gasthof zum Segelmacher und gingen zum Platz hinter den Werkstätten. Der Luftwagen stand noch so, wie sie ihn verlassen hatten. Jemasze wandte seine Aufmerksamkeit den Segelwagen zu. Einem großen achträdrigen Bierkarren mit drei Ma sten und einer Unzahl von Segeln, Spieren und Tauen widmete er nur einen flüchtigen Blick. Mehr Interesse zeigte er für die sechs- und vierrädrigen Hauswagen. Ihre Gummireifen waren mindestens zwei Meter fünfzig hoch. Das Haus selbst ruhte auf gut gefeder ten Aufhängungen nicht mehr als siebzig Zentimeter über dem Boden. Die meisten dieser Hauswagen wa ren wie Schoner oder zweimastige Brigantinen geta kelt. Wie die Frachtwagen schienen sie eher für Fahrten mit den Monsunen geeignet denn für Schnel ligkeit oder Manövrierfähigkeit. Jemasze widmete sich jetzt einem Landewer von etwa zehn Meter Länge, mit vier austauschbaren Rä dern und flacher Lage, mit je einem Paar Kajüten am Heck und am Bug. Der Vormann aus der Werkstatt hatte ihn unauffällig beobachtet. Nun kam er herbei, um Jemasze nach seinen Wünschen zu fragen. Die beiden besprachen sich und handelten fast eine ganze Stunde miteinander, bis Gerd Jemasze eine vernünf tige Mietgebühr für den Landewer ausgefeilscht hatte
und der Vormann sich in die Werkstatt begab, um Segel für das Fahrzeug zu holen. Jemasze und Kur gech kehrten in den Gasthof zurück, wo sie Proviant erstanden, während Elvo ihr Gepäck aus dem Flug wagen in den Ewer schaffte. Der Priester Moffamides kam über den Hof ge schlendert. »Ihr habt einen guten Wagen für eure Rei se ausgesucht«, lobte er Elvo. »Stabil, mit guter Lage, schnell und leicht.« Elvo Glissam nickte dankend. »Welche Art von Se gelwagen hat Uther Madduc benutzt?« Moffamides blickte ihn nicht an. »Einen ähnlichen, nehme ich an.« Mehrere Arbeiter kamen aus der Werkstatt mit den Segeln, die sie gleich an den Masten befestigten. Mof famides sah wohlwollend zu. Elvo überlegte, ob er etwas von dem Zwischenfall in der vergangenen Nacht erwähnen sollte, der ihm allmählich völlig unwirklich erschien. Er entschied sich dagegen. Doch über irgend etwas sollte er sich wohl mit dem Priester unterhalten. Er bemühte sich um besondere Beiläu figkeit im Ton, als er sagte: »Ich lebe auf Szintarre, in Olanje. Man sieht dort viele Erjinen. Wie schaffen Sie es nur, sie zu zähmen?« Moffamides drehte langsam den Kopf und mu sterte Elvo durch halbgeschlossene Lider. »Es ist ein äußerst komplizierter Prozeß. Wir fangen mit Nest lingen an und bilden sie aus, daß sie unseren Befeh len gehorchen.« »Genauso dachte ich es mir. Aber wie kann aus ei nem so wilden Tier ein halbintelligenter Hausdiener werden?« »He ho! Diese wilden Tiere sind von Anfang an
halbintelligent. Wir überzeugen sie davon, daß sie ein besseres Leben als Uldra-Reittiere führen können, denn als halbverhungerte nackte Wilde in der Wüste und ein noch besseres als Diener für Ausker.« »Dann können Sie sich also mit ihnen verständi gen?« Moffamides hob die Augen zum Himmel. »In ge wisser Weise.« »Durch Telepathie?« Moffamides runzelte die Stirn. »Wir sind keine echten Adepten.« »Hmm. Eine bedeutende Gesellschaft in Olanje be absichtigt mit der Versklavung von Erjinen Schluß zu machen. Wie denken Sie darüber?« »Dummheit! Den Erjinen geht es dann nur schlechter, und sie sind von keinerlei Nutzen für ir gend jemanden. Wir müssen auch an unseren Handel denken, denn für sie bekommen wir gute Räder und die Metallteile für unsere Wagen.« »Finden Sie denn nicht, daß dieser Handel unmo ralisch ist?« Moffamides blickte Elvo erstaunt an. »Es ist eine Arbeit, die Ahariszeio gutheißt.« »Ich würde gern die Laboratorien oder Lager, oder wie immer man sie auch nennt, besuchen. Ließe sich das ermöglichen?« Moffamides lachte brüsk. »Keinesfalls! Hier sind Ihre Freunde.« Jemasze und Kurgech kamen zu dem Landewer. Moffamides grüßte sie unbefangen. »Euer Wagen ist bereit und sehnt sich schon nach der Sarai. Der richti ge Wind weht. Es ist Zeit für euch aufzubrechen.« »Alles gut und schön«, wehrte Jemasze ab, »erst müs
sen wir wissen, wie wir Poliamides finden können.« »Ihr tätet gut daran, ihn zu vergessen. Er ist weit, weit weg. Wie alle Ausker grübelt ihr zuviel über das Unbedeutende.« »Das gebe ich zu. Wo ist Poliamides?« Moffamides machte eine nichtssagende Geste. »Das kann ich nicht sagen. Ich weiß es nicht.« Kurgech beugte sich vor und blickte den Priester fest in die blaßgrauen Augen. Moffamides' Gesicht wurde bleich. Kurgech murmelte sanft: »Ihr lügt!« »Versuche keine deiner Blauen Magie hier in der Palga!« rief der Priester wütend. »Wir sind nicht ohne Schutz dagegen!« Sofort fing er sich wieder. »Ich ver suche nur, euch zu helfen. Die Zeichen sind schlecht. Uther Madduc kam zu Schaden. Und jetzt wollt ihr seine Unbedachtheit wiederholen. Ist es ein Wunder, daß ich falsche Winde spüre?« »Uther Madduc wurde von einem Blauen getötet«, sagte Gerd Jemasze. »Soweit wir wissen, gibt es keine Verbindung zwischen seinem Tod und seiner Reise über die Palga.« Moffamides lächelte. »Vielleicht täuscht ihr euch.« »Vielleicht. Nun, beabsichtigt Ihr uns zu helfen oder zu behindern?« »Ich helfe euch am besten, indem ich euch dränge, zu den Alouanen zurückzukehren.« »Welcher Gefahr würden wir denn begegnen? Die Palga ist bekannt für ihre Friedlichkeit.« »Man darf den Srenki nicht in die Quere kommen«, murmelte Moffamides. »Sie üben ihre tragischen Ta ten aus und schützen dadurch uns alle.« Plötzlich verstand Elvo. Der schreckliche Mann von der vergangenen Nacht war ein Srenki gewesen. Wollte
Moffamides sie warnen oder ihn zurechtweisen? »Sie tragen ihr unglückliches Geschick mit Schmer zen«, fuhr Moffamides leiernd fort. »Mißhandelt man einen von ihnen, rächen die anderen sich.« »Damit haben wir nichts zu tun«, brummte Jemas ze. »Weist uns den Weg zu Poliamides, dann brechen wir auf.« Elvo Glissam blickte mit gerunzelter Stirn in den Himmel. Moffamides erklärte: »Segelt nordost auf der breiten Bahn. Biegt in die dritte Spur ein, auf die ihr am dritten Tag stoßen werdet. Folgt diesem Weg vier Tage bis zum Aluban – das ist ein großer Wald – und fragt bei der weißen Säule nach Poliamides.« »Sehr gut. Habt Ihr unsere Fiaps fertig?« Moffamides blieb einen Augenblick stumm stehen, dann drehte er sich um und schritt davon. Fünf Mi nuten später kehrte er mit einem Weidenkorb zurück. »Hier sind sehr wirksame Fiaps. Der grün-gelbe schützt euren Landewer. Der orange-schwarz-weiße ist für euren persönlichen Schutz. Ich wünsche euch den Genuß welch guter Winde euch Ahariszeio auch senden mag.« Dann schritt Moffamides über den Hof davon. Elvo, Kurgech und Gerd Jemasze stiegen in den Landewer. Jemasze ließ den Hilfsmotor an, und der Wagen rollte hinaus auf die Sarai. Aus dem Süden blies der Monsun. Elvo übernahm das Steuer, wäh rend Kurgech und Jemasze den Klüver, das Großund Besansegel setzten. Und nun rollte der Wagen über den nachgiebigen Soum*. Elvo lehnte sich im *
Die dicken, zähen Flechten, die den größten Teil der Palga bedecken.
Sitz zurück. Er blickte zum Himmel hoch und be trachtete dann die Landschaft, deren einziger Kon trast von den Schatten der über ihr dahinziehenden Wolken kam, und schließlich schaute er über die Schulter zurück zum immer kleiner werdenden De pot Nr. 2. Freiheit! Hinaus auf die windige Sarai, mit endlosem Raum um sich! Wie herrlich war doch das Leben eines Windläufers! Jemasze braßte die Segel. Der Landewer schoß vorwärts und erreichte eine Geschwindigkeit, die El vo auf etwa fünfzig Stundenkilometer schätzte. Um die Steuerung brauchte man sich kaum zu kümmern. Elvo stand auf und befestigte das Steuer rad mit einem krallenförmigen Gerät, dann genoß er das sanfte Rollen des Ewers. Kurgech und Jemasze empfanden wie er. Kurgech stand am Großmast, der Wind spielte mit seinen spärlichen hellbraunen Lok ken. Jemasze hatte es sich im Cockpit bequem ge macht und zapfte gerade eines der Fässer Bier an, die er im Gasthof erstanden hatte. »Gibt es ein herrliche res Leben?« fragte er. Methuen stieg höher. Das Depot Nr. 2 war schon längst achteraus verschwunden. Die Sarai hatte sich nicht verändert: sie war ein graubraunes Flachland, dem da und dort einige Büschel steifen gelben Strohs und ein paar vereinzelte niedrige Blumen Farbe ver liehen. Die Schatten der Wolken strichen über den Soum, die Luft war frisch, weder zu kühl noch zu warm, und roch ganz leicht nach Stroh und dem würzigen, aber schwachen Duft der Flechten. Es gab im Grunde genommen nichts zu sehen, trotzdem fand Elvo die Landschaft alles andere als eintönig. Sie
veränderte sich ständig auf eine Weise, die er nur schwer definieren konnte. Vielleicht machten das die Wolken und ihre Schatten? Die Räder, die bei der eingehaltenen Geschwindigkeit zu flüstern schienen, hinterließen eine dunkle Spur im Soum. Hin und wieder stießen sie auf ähnliche, nicht mehr ganz so tiefe Fährten, die verrieten, daß vor kurzem andere Segelwagen diesen Weg gekommen waren. Elvo bemerkte, daß Kurgech und Jemasze mitein ander sprachen und dabei achteraus blickten. Er stand auf und suchte den südlichen Horizont ab. Aber er sah nichts, also ließ er sich wieder auf seinem Sitz nieder. Da weder Kurgech noch Jemasze es für nötig hielten, ihn zu informieren, stellte er auch keine Fragen. Etwa gegen Mitte des Nachmittags erhoben sich am Horizont kleine Buckel, die sich beim Näher kommen als recht beachtliche Hügel entpuppten und von Feldern und Gärten umgeben waren. Getreide und Melonen wuchsen dort, Obstbäume, Brot-undButter-Pflanzen, Pfefferbüsche, Elixierranken. Die Fel der beziehungsweise Gärten waren jeweils etwa einen Morgen groß und wurden durch ein Netzwerk von Röhren bewässert, die strahlenförmig aus einem Wei her führten. Sehr auffällige Fiaps schützten sie alle. Es war jetzt Spätnachmittag, und da der Weiher zu einem Bad geradezu einlud, beschloß Jemasze, dort zu lagern. Elvo blickte verlangend auf die Obstbäu me, aber Gerd deutete warnend auf die Fiaps: »Las sen Sie sich nicht in Versuchung führen!« »Die Früchte sind reif! Sie werden alle verderben! Einige sind schon ganz verfault!« gab Elvo zu beden ken.
»Ich rate Ihnen trotzdem, die Hände davon zu las sen.« »Hmm. Was würde passieren, wenn ich, sagen wir, eine von den Mandarinen äße?« »Ich weiß nur, daß Ihr Irrsinn oder Tod uns Unan nehmlichkeiten bereiten würde. Ich bitte Sie deshalb, Ihren Appetit zu zügeln.« »Ja, natürlich«, murmelte Elvo steif. »Selbstver ständlich.« Die drei refften die Segel und blockierten die Rä der. Dann badeten sie im Weiher, bereiteten sich ihr Abendessen über einem Lagerfeuer zu und genossen bei einer Tasse Tee in aller Ruhe den herrlichen Son nenuntergang. Aus der Dämmerung wurde Nacht. Sterne ohne Zahl funkelten am Firmament. Im Zenit leuchtete das Stern bild Gyrgus, südwestlich davon Pendadex und im Osten in feuriger Pracht der Alastor-Sternhaufen. Die Männer breiteten lose mit Aerosporen gefüllte Matten auf dem Deck des Ewers aus und legten sich zur Ruhe. Gegen Mitternacht erwachte Elvo und dachte schlaftrunken über den Zwischenfall des vergange nen Abends nach. War er Wirklichkeit gewesen? Oder eine Halluzination...? Draußen auf der Palga ertönte ein sanftes, aber gespenstisches Pfeifen, dem kurz darauf ein ähnliches aus einer anderen Richtung antwortete. Elvo erhob sich so lautlos wie nur mög lich und trat an den Großmast. Ein Mann schaute im Sternenlicht auf ihn herab. Elvos Herz setzte einen Schlag lang aus, und er schrie unwillkürlich er schrocken auf. Der Mann brummte verärgert etwas Unverständliches. Jetzt erst erkannte Elvo Kurgech. Er flüsterte: »Haben Sie das Pfeifen gehört?«
»Insekten.« »Warum stehen Sie dann hier?« »Die Insekten pfeifen, wenn sie aufgescheucht werden – durch einen Nachtfalken oder einen Sprin ger, vielleicht.« Aus einer Entfernung von nicht mehr als zehn Metern erklang jetzt ein flötendes Trillern. »Gerd Je masze ist dort unten«, murmelte Kurgech. »Er beob achtet den Horizont.« »Weshalb?« »Um möglicherweise festzustellen, wer uns gefolgt ist.« Kurgech und Elvo Glissam blieben still im Sternen licht stehen. Eine halbe Stunde verging. Der Ewer knarrte ein wenig. »Nichts«, hörten sie Jemaszes Stimme. »Ich habe auch nichts gespürt«, versicherte ihm Kurgech. »Ich hätte einen Satz Sensoren mitbringen sollen«, brummte Jemasze. »Dann hätten wir wenigstens ru hig schlafen können.« »Die Signalkäfer leisten uns recht gute Dienste.« »Ich dachte, die Windläufer belästigen nieman den«, sagte Elvo erstaunt. »Dafür die Srenki wie es ihnen gerade gefällt.« Jemasze und Kurgech kehrten auf ihre Matten zu rück. Elvo Glissam folgte ihnen nach einer Weile. Der Morgen überflutete den Osten mit brennend rosigem Licht. Die Wolken glühten scharlachrot, und die Sonne ging auf. Nicht der Hauch einer Brise spielte mit den Segeln des Ewers, also ließen die drei sich Zeit beim Frühstück. Da die Flaute noch anhielt, stieg Elvo auf die Kup
pe eines nahegelegenen Hügels und auf der anderen Seite gemächlich hinunter. Hier entdeckte er eine Gruppe wilder Papayen. Diese Melonenfrüchte schienen reif und saftig zu sein. Es waren rote Bälle mit orangefarbigen Sternenstielen, die von schwar zen, zusammengerollten Blättern umgeben waren. Obgleich ihm die Früchte das Wasser im Mund zu sammenlaufen ließen, pflückte er keine. Als er um den Fuß des Hügels zurückkehrte, be gegnete er Kurgech mit einem Sack voll Krebse, die er aus einem Bewässerungsgraben geholt hatte. Elvo erwähnte die Papayen, und Kurgech meinte, sie wür den gut zu den gekochten Krebsen passen. Also be gleitete er Elvo zurück zu den Melonenbäumen. Kur gech hielt Ausschau nach Fiaps, und als er nirgendwo in der Nähe welche entdeckte, pflückten die beiden Männer so viele der Melonenfrüchte, wie sie nur tra gen konnten. Zurück auf dem Ewer stellten sie fest, daß alle tragbaren Geräte, die Ausrüstung und der gesamte Proviant verschwunden waren. Kurz nach ihnen kam auch Gerd Jemasze von seinem Morgenbad aus dem Weiher zurück und blickte sich genauso entgeistert um wie die beiden anderen. Kurgech stieß eine Reihe von zischenden Uldraflü chen aus, die alle Moffamides galten. »Seine Fiaps sind so zerfließend wie Wasser. Er schickte uns nackt aus.« Gerd Jemasze antwortete mit dem für ihn charakte ristischen Nicken. »Kam natürlich nicht ganz uner wartet. Was liest du aus den Spuren?« Kurgech untersuchte den Soum. Seine Nase zuckte. Er beugte sich dichter über den Boden und studierte
ihn. »Ein einzelner Mann kam und ging.« Er verfolgte die Fährte etwa zwanzig Meter. »Hier ist er in seinen Wagen gestiegen und in dieser Richtung aufgebro chen.« Er deutete westwärts, zum Fuß des Hügels. Jemasze überlegte. »Der Wind ist immer noch nicht aufgekommen. Seine Geschwindigkeit kann demnach nicht sehr groß sein.« Er kniff die Augen halb zu sammen und betrachtete die Spuren des Fahrzeugs, drei dunkle Streifen auf dem Soum. »Sie machen ei nen Bogen. Er fährt also um den Hügel herum. Kur gech, du verfolgst die Spur, ich steige über den Hü gel. So müßten wir ihn auf der anderen Seite erwi schen. Elvo, Sie bleiben und bewachen den Ewer, ehe der auch noch gestohlen wird.« Die beiden Männer machten sich auf den Weg. Kurgech trottete auf der Spur, Jemasze kletterte den Hügel hoch. Kurgech entdeckte den Wagen des Diebes als er ster. Es war ein kleines, hochmastiges Boot mit drei dünnen Rädern und schlaffen Segeln, das sich kaum schneller als ein Fußgänger bewegte. Als sein Steu ermann Kurgech sah, drehte er das Segel, blickte su chend in den Himmel und studierte schließlich den Horizont ringsum, doch außer Gerd Jemasze, der ausgerechnet aus der Richtung kam, in die er fuhr, sah er nichts und niemanden. Jemasze erreichte den kleinen Wagen noch vor Kurgech. Er hob die Hand. »Halt!« Der Steuermann und einzige Passagier, ein Mann mittleren Alters und nicht sonderlich groß, musterte mit seinen blaßgrauen Augen Jemasze von oben bis unten. Dann luvte er sein Segel an und bremste. »Wes halb stellst du dich mir in den Weg?« brummte er.
»Weil du unser Eigentum gestohlen hast. Dreh um.« Der Windläufer blickte ihn trotzig an. »Ich habe nur genommen, was zu holen war.« »Hast du denn unseren Fiap nicht gesehen?« »Der Fiap ist tot. Er hat seinen Zauber schon vori ges Jahr verbraucht. Ihr habt kein Recht, alte Fiaps zu verwenden. Eine solche Handlung ist das nichtsnut zige Spiel von unartigen Kindern.« »Also Fiaps vom vorigen Jahr?« murmelte Gerd Jemasze. »Woher weißt du das?« »Ist es denn nicht offensichtlich? Seht ihr denn den rosa Streifen auf dem Orange nicht? Und jetzt geht mir aus dem Weg. Ich habe keine Zeit für dummes Gewäsch.« »Genausowenig wie wir«, versicherte ihm Jemasze. »Wende deinen Wagen und segle zu unserem Ewer zurück.« »Kommt nicht in Frage. Ich tue, was mir gefällt, und ihr könnt gar nichts dagegen machen. Mein Fiap ist frisch und stark.« Jemasze stellte sich direkt vor das Boot. Er deutete auf den Hügel. »Siehst du die Steine dort? Was ist, wenn wir sie vor und hinter deinem Kahn aufhäufen? Wird dein Fiap dich darüber tragen?« »Ich werde weitersegeln, ehe ihr die Steine aufhäu fen könnt.« »Dann wirst du über mich hinwegfahren müssen.« »Na und? Dein persönlicher Fiap ist ein Witz. Wen willst du damit hereinlegen? Er hing noch vor gar nicht so langer Zeit an einem Bierfaß, um zu verhin dern, daß das Malz sauer würde.« Jemasze lachte. Er zog den Fiap über den Kopf und
schleuderte ihn von sich. »Kurgech, hol Steine. Wir werden diesen Dieb einmauern, daß er nie mehr von hier fort kann.« Der Windläufer heulte wütend auf. »Ihr seid ge tarnte Morphoten! Muß ich denn immer meinen Ge winn an Räuber verlieren? Gibt es keine Gerechtigkeit mehr auf der Palga?« »Wir werden uns gern mit Philosophie befassen, wenn wir unser Eigentum zurückhaben.« Fluchend und brummend wendete der Windläufer sein Boot und segelte den Weg zurück, den er ge kommen war. Kurgech und Jemasze stapften hinter ihm her. Nachdem der Windläufer neben dem Ewer angehalten hatte, gab er mit saurer Miene die Sachen zurück, die er sich angeeignet hatte. Jemasze fragte ihn: »Wo fährst du hin?« »Zum Depot. Wohin sonst?« »Geh zu Moffamides, dem Priester. Sag ihm, daß du uns getroffen hast. Erzähl ihm, was geschehen ist, und versichere ihm, daß wir ihn mit uns zu den Alouanen nehmen und für immer in einen engen Kä fig sperren, falls der Fiap, der unseren Luftwagen schützt, ebenso wirkungslos ist wie die anderen, die er uns gegeben hat. Er wird uns nicht entkommen, sag ihm das! Wir werden seiner Spur folgen, wohin immer er auch geht. Sag ihm auch das. Du kannst si cher sein, daß er dich anhören wird!« Der Windläufer preßte wütend die Lippen zusam men und segelte mit der frisch aufkommenden Brise südwärts. Elvo und Jemasze verstauten die zurückgewonne nen Sachen wieder, während Kurgech die Krebse kochte, damit sie sie unterwegs als Mittagessen ver
speisen konnten. Dann hißten sie die Segel, und der Ewer rollte flink nordwärts. Gegen Mittag deutete Kurgech über den Bug auf die geblähten Segel von drei hohen Brigantinen. »Die erste der Spuren.« »Wenn Moffamides uns den richtigen Weg wies.« »Das tat er. Zumindest soviel konnte ich seinem Geist entnehmen. Ich las auch, daß er uns einen Pos sen spielte. Inzwischen wissen wir ja, welchen.« »Jetzt verstehe ich, weshalb Ausker so selten über die Palga reisen«, murmelte Elvo düster. »Man sieht sie hier nicht gern, das ist richtig.« Die Brigantinen fuhren vor dem Ewer vorüber. Es waren drei Bierwagen, jeder mit drei riesigen Fässern beladen. Ihre Mannschaft blickte desinteressiert auf die Fremden und ignorierte Elvo Glissams freundli ches Winken. Der Ewer überquerte nun die Bahn – eine breite Straße aus dichtem Soum – und richtete seinen Bug erneut auf die offene Sarai. Eine Stunde später segelten sie an einem weiteren Bewässerungsnetz vorbei. Windläufer-Familien ar beiteten auf den Feldern. Sie pflügten, jäteten, ernte ten Erbsen und Bohnen, und pflückten Früchte. Ihre Segelwagen standen am Rand der Felder. Gegen Mittnachmittag überholte der Ewer einen solchen Wagen. Es war ein sechsrädriger Schoner mit zwei hohen Masten, drei Klüver und Marssegeln. Zwei Männer lehnten an der Heckreling, Kinder spielten auf dem Deck, und eine Frau blickte aus dem Bullau ge der Heckkabine, als der Ewer sich näherte. Elvo steuerte so, daß er sie mit dem Abwind überholte, was er für am zuvorkommendsten hielt. Die Wind
läufer würdigten es jedoch überhaupt nicht und auch sie ignorierten sein freundliches Winken. Merkwür dige Menschen, dachte Elvo verdrossen. Kurz danach änderte der Schoner seinen Kurs und segelte nord wärts. Er wurde allmählich zum weißen Punkt, der schließlich verschwand. Der Wind blies nun ziemlich heftig. Südlich scho ben sich schwarze Wolken über den Himmel. Jemas ze und Kurgech refften das Großsegel, ließen das Be sansegel herab und holten den Ausleger ein, trotz dem rollte der Ewer weiter auf zischenden Rädern über den Soum. Die Wolken flogen heran, und es begann zu reg nen. Die drei Männer holten nun alle Segel herunter, blockierten die Räder und zogen die Bremsen an. Dann warfen sie eine schwere Metallkette, die durch die Wanten mit dem Blitzableiter verbunden war, über Bord und zogen sich in die Heckkabine zurück. Zwei Stunden lang blitzte und donnerte es fast pau senlos, dann zog das Gewitter nordwärts weiter. Der Regen hörte auf, der Wind ließ nach und eine fast unheimliche Stille blieb zurück. Die drei Männer krochen aus der Kabine und blickten auf. Die Sonne ging hinter aufgewühlten Sturmwolken unter und verwandelte den Himmel in einen Teppich flammenden Purpurs. Während Gerd Jemasze und Elvo sich um den Ewer kümmerten, kochte Kurgech in der Kombüse am Bug eine Suppe, die sie mit hartem Brot und Papayas zu Abend aßen. Eine gemächliche, sanfte Brise blies die restlichen Unwetterwolken nordwärts. Der Himmel klarte auf und war mit funkelnden Sternen bestreut. Die Sarai schien völlig verlassen und einsam. Elvo stellte er
staunt fest, daß Kurgech ganz offensichtlich beunru higt war. Nach ein paar Minuten, als die Nervosität des anderen auch ihn angesteckt hatte, erkundigte er sich. »Was ist denn los?« »Etwas zerrt an uns.« Jemasze hob die Hand in den Wind. »Sollten wir vielleicht noch eine Stunde weitersegeln? Es dürfte hier kaum etwas geben, mit dem wir zusammensto ßen könnten.« Kurgech war sofort einverstanden. »Ich bin froh, wenn wir von hier wegkommen.« Die Segel wurden wieder gehißt, der Ewer wendete etwa neunzig Grad, dann fuhr er mit fünfzehn Stun denkilometer nordostwärts. Kurgech steuerte nach Koryphons Nordstern Tethanor, der Zehe des Basilis ken. Sie segelten vier Stunden bis Mitternacht, als Kur gech erleichtert erklärte: »Die Gefahr scheint vorbei zu sein. Ich spüre das Zerren nicht länger.« »Dann können wir ja jetzt Halt machen«, meinte Jemasze. Die Segel wurden heruntergeholt, die Brem sen angezogen, und die drei legten sich zur Ruhe. In der Dämmerung hißten sie die Segel wieder und warteten schweigend auf den Morgenwind, der sich jedoch Zeit ließ. Endlich kam der Monsun, und der Ewer rollte nordostwärts dahin. Nach einer Stunde Fahrt überquerten sie die zweite Spur. Außer einem hohen, schmalen Dreiecksegel weit achteraus war jedoch nichts zu sehen. Die Sarai wurde nun wellig, erst fast unmerklich, doch dann kamen sie in ein Gebiet mit flachkuppeli gen Hügeln und weiten Tälern. Schmale Simse schwarzen Trapps schoben sich schräg aus dem So
um. Jetzt verlangte die Navigation zum erstenmal Überlegung und Taktik. Die einfachste Route war gewöhnlich auf den Kuppen entlang, wo der Wind am stärksten blies und der Boden noch am ebensten war. Doch dummerweise verliefen diese Höhenzüge manchmal in ungünstigen Richtungen, dann mußte der Mann am Steuer den Ewer den Hang hinunter lenken und einen anderen wieder hoch. Häufig hatte der Hilfsmotor herzuhalten, um die letzten fünfzehn oder dreißig Meter zum Kamm überhaupt hochzu kommen. Ein Fluß schlängelte sich hier durch ein tiefes Tal mit Terrassenwänden, die der Ewer nicht erklimmen konnte. Sie mußten sich ganz am Rande des Tales halten, bis der Fluß eine Biegung nach Norden machte. Der Wagen, der, wie sich nun herausstellte, mehr als nur ein hohes Dreiecksegel hatte, war ihnen in zwischen verhältnismäßig nahe gekommen. Jemasze griff nach dem Fernglas und studierte ihn. Er reichte es schließlich wortlos Kurgech, der schon nach einem Blick einen Uldrafluch ausstieß. Nun blickte auch Elvo durch das Glas. Er sah einen langen, schwarzen Wagen aus drei Teilen, jeder mit einem bemerkenswert hohen Mast und schmalem Se gel. Ein Fahrzeug, das zweifellos für hohe Geschwin digkeit und große Manövrierfähigkeit geschaffen war. Fünf Männer bemerkte er in den Wanten bezie hungsweise im Cockpit. Einige hatten rote Tücher um den Kopf geschlungen. Ihre Bewegungen waren flink, aber merkwürdig ruckartig. Elvo erinnerte sich dabei gleich an den schrecklichen Mann, der das Gasthaus betreten hatte. Demnach waren diese Leute ebenfalls
Srenki: Männer, deren Tugend übertriebene Grau samkeit war, die mit finsterem Eifer Böses taten und so ihre Brüder von ihren Sünden erlösten. Elvo war, als hätte er einen eisigen Klumpen im Bauch. Er blickte auf Gerd Jemasze, der scheinbar nur am Ter rain vor ihnen interessiert war. Kurgech stand am Mast und blickte abwesend zum Himmel. Elvo spür te, wie Verzweiflung in ihm aufstieg und der kalte Schweiß seinen Rücken hinabrann. Er war aus meh reren, komplexen Gründen auf diese Expedition mit gekommen, aber ganz sicher nicht, weil er den Tod suchte. Mit weichen Knien schlurfte er zum Cockpit, wo Gerd Jemasze neben dem Ruder stand. »Das sind Srenki«, sagte er. »Genau das war auch mein Eindruck.« »Was werden Sie tun?« Jemasze blickte über die Schulter auf den flinken schwarzen Schoner. »Nichts, außer sie greifen uns an.« »Ist denn nicht gerade das ihre Absicht?« rief Elvo, und seine Stimme klang schriller, als ihm lieb war. »Es sieht ganz so aus.« Jemasze blickte zum Segel hoch. »Wir könnten ihnen vielleicht mit Rückenwind entkommen, denn ihre Segel fangen einander die Bri se ab.« »Warum tun wir es dann nicht?« »Weil in der Richtung das Flußtal liegt.« Elvo studierte den schwarzen Wagen durch das Fernglas. »Sie haben Waffen – lange Flinten.« »Deshalb schieße ich auch nicht auf sie. Sie könnten zurückschießen. Offensichtlich wollen sie uns aber lebend.« Wieder blickte Elvo auf den heranrasenden Scho
ner, bis die Gebärden und Gesichtsverrenkungen der Srenki ihm den Magen umdrehten. Mit gepreßter Stimme fragte er: »Was werden sie mit uns tun?« Jemasze zuckte die Achseln. »Sie tragen Rot. Das bedeutet, daß sie auf Rache aus sind. Irgendwie scheinen wir sie beleidigt zu haben, obgleich ich nicht die geringste Ahnung habe, wie, wo und wann.« Elvo Glissam musterte das im Abwind liegende Terrain durch das Glas. Er rief Jemasze zu. »Gerade aus ist ein Hügel. Er ist zu steil, daß wir ihn überque ren könnten, und seine Hänge führen direkt ins Flußtal. Wir müssen an ihm vorbei.« »Dann hätten sie uns in zwanzig Sekunden«, brummte Jemasze. »Aber – was können wir sonst tun?« »Segeln. Machen Sie sich bereit, die Segel zu reffen, wenn ich es Ihnen sage.« Elvo starrte Jemasze ungläubig an. »Die Segel ref fen?« »Erst, wenn ich das Zeichen dazu gebe.« Elvo stellte sich an den Mast neben die Reffwinden. Der Srenkischoner war nun bereits auf etwa hundert Meter herangekommen. Die drei hohen Segel schie nen über dem Ewer zu hängen. Zu Elvos Schrecken lockerte Jemasze die Segelleinen und bremste so den Ewer ab, wodurch er dem Schoner natürlich ermög lichte, noch schneller heranzukommen. Man konnte ihn bereits mit dem bloßen Auge in allen Einzelheiten sehen. Drei Männer standen auf dem Vorderdeck, die Oberkörper ein wenig gebeugt. Ihre hageren Gesich ter lagen im Schatten des senkrechten rosigen Son nenlichts. Unverständlicherweise lockerte Jemasze jetzt die Segelleinen noch mehr, und der Srenkiwagen
holte immer schneller auf. Elvo öffnete die Lippen, um zu protestieren, doch dann preßte er sie in stum mer Verzweiflung wieder zusammen und drehte sich um. Vor ihnen fiel der Grund nun auf einer Seite zu der Flußschlucht ab, auf der anderen erhob er sich zu ei nem rundkuppeligen Felsen. Der Ewer krängte und begann zu rutschen. Hinter ihnen raste der schwarze Schoner so dicht heran, daß Elvo die Rufe der Besat zung hören konnte. Der Hang wurde steiler, der Ewer kippte gefährlich. Elvo, der über die Reling spähte, sah den Fluß tief unten. Hastig klammerte er sich an den Mast und schloß die Augen. Der Wind fegte über den Hang hinab. Der Ewer holperte han gabwärts wie ein Krebs. »Reffen!« brüllte Jemasze. Elvo warf einen ängstli chen Blick zum Heck. Der Schoner, der ebenfalls stark krängte, kam immer näher. Ein Srenki auf dem Vor derdeck machte sich gerade daran, einen Enterhaken in das Cockpit des Ewers zu werfen. »Reffen!« don nerte Jemasze. Mit tauben Fingern drehte Elvo die Winde, und das Großsegel rollte den Mast hinunter. Eine Böe erfaßte den Ewer. Die Wetterräder hoben sich. Elvo wurde schwindlig. Auf allen vieren kroch er zur höheren Seite des Decks. Die gleiche Böe packte nun die Segel des Schoners, was zu einer unausbleiblichen Hebel wirkung führte. Als die Wetterräder den Grund ver loren, ließ der Steuermann das Ruder los, um ein Kentern zu verhindern. Der Schoner trudelte außer Kontrolle den Hang hinab. Die Räder holperten und flogen über Steine und Felsbrocken, die hohen Maste schwankten und wackelten, die Segel blähten sich
und flatterten. Bei einem heftigeren Schlingern halste der Besam, der Steuermann griff nach dem Ruder und riß es herum. Der Schoner prallte von einem Felsblock ab, flog über ein Sims und stürzte bugvor aus in den Fluß. »Tiefer reffen!« brüllte Jemasze. Elvo drehte an der Winde, bis vom Segel kaum noch etwas zu sehen war. Jetzt warf Jemasze den Hilfsmotor an. Der Ewer schaffte es den Hang hoch und bedächtig zum Flach land auf der anderen Seite hinunter. Jemasze setzte wieder Kurs Nordost wie zuvor. Der Ewer segelte über die verlassene Sarai durch einen so stillen und friedlichen Nachmittag, daß Elvo fast daran zweifelte, daß es die Srenki überhaupt ge geben hatte. Verstohlen musterte er Kurgech und Je masze, von denen einer ihm rätselhafter als der ande re vorkam. Die Sonne ging in einem klaren Himmel unter. Die Segel wurden gerefft, die Räder blockiert, und sie schlugen ihr Lager für die Nacht auf mitten in der weglosen Sarai. Nach einem Abendessen aus Dosenfleisch, Zwie back und Bier setzten die drei Männer sich mit dem Rücken gegen die Kabine auf das Vorderdeck. Elvo konnte sich einer Frage an Gerd Jemasze nicht mehr enthalten. »War es von Ihnen beabsichtigt, daß der Schoner in den Abgrund stürzte?« Jemasze nickte. »Ich verstehe nicht übermäßig viel davon, aber ich dachte mir, daß sie sich mit ihrer schmalen Bauweise und den drei hohen Masten nicht lange auf dem Hang würden halten können. Also wollte ich sie hinter uns herlocken, bis sie mit ihrem Schwung zum Fluß hinunterstürzten.«
Elvo lachte ein wenig zittrig. »Aber was, wenn sie nicht abgerutscht wären!« »Irgendwie hätten wir sie schon abgehängt«, erwi derte Jemasze gleichgültig. Elvo preßte die Lippen zusammen und dachte, daß Jemaszes Selbstvertrauen, obgleich es beruhigend wirkte, genau typisch für jene Charaktereigenschaft war, die ihn, Elvo, so reizte. Jetzt mußte er sogar grin sen. Jemasze war sich eben ganz einfach sicher, daß er mit jeder Situation fertig würde. Er, Elvo, war es nicht, und deshalb verübelte er es Jemasze, das war die bittere Wahrheit. Elvo beruhigte seine leicht ange schlagene Selbstachtung mit der Überlegung, daß er zumindest in dieser Beziehung Gerd übertraf: er war der Selbstanalyse fähig. Gerd Jemasze dagegen hatte sich sicherlich nie die Mühe gemacht, über seinen Charakter nachzudenken. Er wandte sich jetzt an Kurgech und stellte ihm ei ne Frage, die er noch vor zwei Wochen nie geäußert hätte: »Ist uns jemand auf der Spur?« Kurgech starrte in die Dämmerung. »Ich spüre kei ne nahe Bedrohung, aber ein dunkler Schleier hängt über dem Horizont, weit entfernt. Heute nacht sind wir jedoch sicher.«
9
Mit dem Morgen kam eine lebhafte, kühle Brise. Alle Segel gesetzt, rollte der Ewer über die sanftwellige Sarai, eine Landschaft, dachte Elvo, so frisch und süß wie der Frühling. Bustards flatterten hoch, wenn die singenden Räder näher kamen. Flecken von rosa und blauem Immerblüh verliehen dem sonst graubraunen Soum lustige Farbtupfer. Am Vormittag sichteten sie eine ganze Flotte von Brigantinen, die mit geblähten Segeln nordwärts fuh ren. Das bedeutete zweifellos, daß die dritte Spur na he war. Ein paar Minuten später erreichten sie sie, genau wie Moffamides vorhergesagt hatte. Zu Elvos Erstaunen führte sie jedoch nicht nordwärts, sondern zweifellos nach Nordwesten. »Wir haben einen Umweg von hundertfünfzig Ki lometer oder mehr gemacht«, beschwerte er sich. »Wenn wir vom Depot aus direkt nach Norden gese gelt wären, statt nordostwärts, hätten wir uns viel leicht einen ganzen Tag sparen können.« Jemasze nickte mit grimmigem Gesicht. »Moffami des wollte ganz offenbar, daß wir gerade diesen Weg nehmen.« Der Ewer überholte die Hauswagen. Lockenköpfi ge Kinder beugten sich über die Reling und deuteten. Männer erhoben sich in den Cockpits, um zu ihnen herüberzustarren. Frauen rannten aus den Kabinen. Ihre Miene war weder freundlich noch feindselig. Auch ihnen winkte Elvo zu, doch sie beachteten sei nen Gruß ebenfalls nicht. Die Spur führte nach einer kurzen Strecke ständi
gen Auf und Abs in ein Flachland hinab, das nord wärts bis zum Horizont reichte. In bestimmten Ab ständen glitzerte klares Wasser in flachen Teichen, von denen aus die Felder und Gärten ringsum be wässert wurden. Melonen wuchsen hier, Hülsen früchte und verschiedene Getreidearten, und alles wurde von Fiaps bewacht. Nordwestwärts segelte der Ewer über das flache Land, hin und wieder begleitet von Brigantinen mit Windläufer-Familien, doch die meiste Zeit allein. Lange sonnige Tage lösten klare Nächte mit funkelndem Sternenhimmel ab. Elvo dachte oft darüber nach, daß das Leben hier wirklich noch beneidenswert war, ein Leben ohne Einengung und keiner ermüdenden Routine. Das einzige, wonach man sich hier richten mußte, waren die Jahreszeiten und der Wind. Mögli cherweise waren die Windläufer die vernünftigsten Menschen auf ganz Koryphon, wenn sie so über die offene Weite segelten, mit freiem Himmel über dem Kopf und herrlichen Sonnenuntergängen zum Ab schluß jeden Tages. Am vierten Nachmittag auf der Nordwestspur tauchte ein dunkler Fleck am Horizont auf. Durch das Fernglas stellte er sich als Wald mit titanischen Bäu men heraus, derengleichen Elvo noch nie gesehen hatte. »Das dürfte der Alubanwald sein«, meinte Je masze. »Wir werden also bald auf den weißen Pfeiler stoßen.« Der weiße Pfeiler war eine etwa zehn Meter hohe Säule aus klumpiger stuckähnlicher Substanz. Am Fuß des Pfeilers saß ein Greis, der mit einem Stößel in einem großen eisernen Mörser rührte. Der Ewer rutschte zu einem Halt neben dem Pfeiler. Der alte
Mann sprang auf die Füße und starrte sie mit den funkelnden Augen eines Fanatikers an, während er sich gleichzeitig schutzsuchend an die Säule drückte. »Paßt mit eurem Fahrzeug besser auf«, schimpfte er. »Dies ist das große Bein! Fahrt zur Seite!« Jemasze machte eine Gebärde der Höflichkeit, die der Alte jedoch nicht erwiderte. »Wir suchen einen gewissen Poliamides«, erklärte ihm Jemasze. »Könnt Ihr uns den Weg zu ihm weisen?« Ehe der Greis sich zu einer Antwort herabließ, tauchte er einen Pinsel in den Mörser und strich erst einmal eine Lage Weiß auf einen Streifen des leicht vergilbten Weiß der Säule. Dann deutete er mit dem Pinsel auf den Wald und antwortete mit barscher, krächzender Stimme: »Folgt der Spur. Erkundigt euch beim Hexagon erneut.« Jemasze löste die Bremse. Der Ewer segelte an dem Großen Bein vorbei auf den Aluban zu. Am Rand des Waldes hielt Jemasze den Wagen an und zog die Bremsen fest. Die drei Männer kletterten wachsam heraus. Die Bäume waren von einer Größe, wie Elvo sie auf Uaia noch nicht gesehen hatte. Die knorrigen Stämme von ungeheurem Umfang und der Farbe und offensichtlicher Dichte von Eisen trugen Kronen aus wuchtigen, langausgestreckten Ästen mit blaßgrauem und graugrünem Laubwerk. Mehrere Minuten lang spähten die Männer stumm in den Wald, wo der Weg sich unter schräg einfallenden Sonnenstrahlen und schwarzen Schatten dahinwand. Eine gespenstische Stille herrschte in diesem Wald. Kurgech murmelte: »Wir werden bereits erwartet.« Elvo wurde plötzlich bewußt, daß durch wortloses Einverständnis Kurgech nun die Führung übernom
men hatte. Der Uldra flüsterte Jemasze zu: »Laß Elvo beim Wagen bleiben. Du und ich gehen weiter.« Elvo wollte protestieren, aber die Worte blieben ihm in seiner Unsicherheit im Hals stecken. In einem Anflug von erzwungener Heiterkeit sagte er: »Solltet ihr in Schwierigkeiten geraten, dann ruft mich.« Kurgech murmelte: »Es wird zu keinen Schwierig keiten kommen. Kein heißes Blut fließt in diesem hei ligen Wald.« »Ich fürchte, Moffamides hat sich einen schlechten Spaß mit uns erlaubt«, brummte Jemasze. »Das war von vornherein klar«, warf Kurgech ein. »Trotzdem ist es besser, das Spiel bis zum Ende mit zumachen, um Sicherheit zu erlangen.« Die zwei traten in den Wald, und sofort verbarg das dichte Laub den Himmel über ihnen. Der Weg wurde schmal und schlängelte sich kreuz und quer, vorbei an weichen Moosbänken und in kreisrunden Flecken wachsenden bleichen Sternenblumen, über schmale Lichtungen, zwischen dicken Stämmen hin durch, wo die Sonne hin und wieder mit rosigen Strahlen durch die Blätter spitzte. Kurgech lief leise auf den Zehenspitzen und schaute wachsam von links nach rechts. Jemasze spürte nur die Stille und den Frieden dieses Waldes, in dem keine Gefahr zu lauern schien. Auch Kurgechs Wachsamkeit war nichts weiter als eine Vorsichtsmaßnahme an einem fremden Ort. Eine Lichtung mit einem Teppich aus blaublühenden Polsterpflanzen öffnete sich vor ih nen. In ihrer Mitte erhob sich ein sechseckiges Bau werk aus weißem Gestein, von doppelter Mannshöhe, und auf allen Seiten dem würzigen Duft des Waldes offen. Auf den Stufen dieses Bauwerks erwartete sie
ein gebrechlich wirkender Priester in weißem Meß rock und mit kalten Zügen. »Ausker«, sagte er mit heiserer Stimme. »Ihr seid von weit her gekommen. Ich heiße euch willkommen, den Frieden unseres Waldes Aluban zu teilen.« »Wahrlich sind wir einen langen Weg gekommen«, bestätigte Jemasze. »Und wie Ihr wißt, auf Suche nach Poliamides. Werdet Ihr die Güte haben, uns zu ihm zu bringen?« »Gewiß, wenn das euer Wunsch ist. Kommt mit.« Der Priester schritt ohne Zögern hinein in den Wald. Jemasze und Kurgech folgten ihm. Die Sonne stand tief, es war nun dunkel unter den Bäumen. Als Je masze einmal hochblickte, blieb er unwillkürlich ste hen. Etwas Weißes, ein Skelett, kauerte auf der Gabel eines schweren Astes. Der Priester erklärte: »Dort sitzt Windmeister Boras Mael, dessen Seele durch die Blätter seufzt und der dem Großen Bein seine rechte Zehe gegeben hat.« Er winkte ihnen zu, weiterzu kommen. Jetzt bemerkte Jemasze, daß in vielen Bäumen Skelette hingen oder kauerten. Der Priester blieb stehen. Mit durchdringender Stimme sprach er: »Hier sollen alle mit Unrast und Sorgen Beladenen ihren Frieden mit Ahariszeio ma chen. Ihr vergängliches Fleisch ist begraben. Ihre Ge beine umarmen den Baum, die heilige Luft der Palga empfängt ihre geläuterten Seelen, damit sie in ewi gem Glück auf den Wolken reiten mögen.« »Und Poliamides?« Der Priester deutete in die Höhe. »Dort sitzt Polia mides.« Jemasze und Kurgech betrachteten kurz das Ske
lett, dann fragte Jemasze: »Wie ist er gestorben?« »Er ging mit solcher Inbrunst in sich, daß er zu es sen und trinken vergaß und sein Zustand sich nicht mehr von dem des Todes unterschied. Die Vergehen seines Lebensüberschwangs sind jetzt vergessen und seine Seele atmet aus den Blättern.« Mit schneidender Stimme fragte Jemasze: »Moffa mides unterrichtete Euch von unserem Kommen?« »Sprecht die Wahrheit!« sprach Kurgech schwer und eindringlich. Der Priester erwiderte: »Moffamides hat davon be richtet, wie es seine Pflicht war.« »Moffamides hat uns zum Narren gehalten«, brummte Jemasze. »Er hat uns mit voller Absicht her eingelegt. Wir haben eine beachtliche Rechnung mit ihm zu begleichen.« »Geduld, meine Freunde. Geduld und Nachsicht. Kehrt jetzt in Demut und ohne Grimm in eure Aus kerlande zurück.« »Erst werden wir uns Moffamides vorknöpfen.« »Gewiß könnt ihr keinen Groll gegen Moffamides hegen«, sagte der Priester fest. »Ihr wolltet Poliami des sehen – dort ist er –, euer Wunsch wurde erfüllt.« »Moffamides schickte uns eine ganze Woche mit unwirksamen Fiaps auf die Reise, nur um klappernde Gebeine zu finden! Er wird sich seines Triumphes nicht lange erfreuen!« »Es wäre weise, euren Ärger zu dämpfen«, mahnte der Priester ernst. »Moffamides erwies euch wahr haftig einen guten Dienst. Wenn ihr euch seinen Fin gerzeig zu Herzen nehmt, werdet ihr die traurigen Konsequenzen niedriger Neugier verstehen. Eine sol che Neugier ist ohne Wert. Seht euch, beispielsweise,
Poliamides an. Er vergaß Würde und Schicklichkeit und ließ sich von einem Ausker bestechen. Als er sei ne Schuld erkannte, quälte sein Gewissen ihn so sehr, daß er nicht mehr leben wollte.« »Ich befürchte, Ihr übertreibt die heilsame Wirkung von Moffamides' Betrug«, sagte Jemasze scharf. »Ich versichere Euch, daß er keine vertrauensvollen Frem den mehr hereinlegen wird.« »Oh, die Palga ist weit«, murmelte der Priester. »Das Fleckchen, auf dem Moffamides sich befindet, ist klein«, erwiderte Jemasze. »Wir können ihn jeder zeit durch Blaue Magie finden. Und jetzt haben wir genug von Poliamides gesehen.« Der Priester drehte sich wortlos um und schritt den Weg zum Hexagon zurück. Unbewegt lächelnd blieb er auf der weißen Treppe stehen. Kurgech blickte zu ihm hoch, dann hob er die rechte Hand. Die Augen des Priesters folgten der Bewegung. Kurgech hob die Linke, und der Priester, dessen Lächeln jetzt ange spannt wirkte, schien beide Hände getrennt, je mit ei nem Auge, zu beobachten. Aus Kurgechs Handfläche blitzte es plötzlich blendend weiß auf. Mit tiefer, ru higer Stimme rief er: »Sprecht jetzt die Wahrheit!« Als täte er es aus eigenem, freien Willen, stieß der Priester zwischen den Zähnen hervor: »Ihr werdet das Auskerland nicht mehr sehen, ihr Narren!« »Wer wird uns töten?« Doch der Priester hatte die Herrschaft über sich schnell zurückgewonnen. »Ihr habt Poliamides gese hen«, sagte er schroff. »Nun geht endlich eures Weges!« Jemasze und Kurgech kehrten auf dem jetzt in der Dunkelheit kaum noch sichtbaren Pfad zum Rand des heiligen Waldes Aluban zurück.
Elvo stand als einsame und verlassene Gestalt am Heck des Ewers. Als er Jemasze und Kurgech sah, kam er mit offensichtlicher Erleichterung auf sie zu gerannt. »Ihr wart so lange fort, ich habe mir große Sorgen um euch gemacht.« »Wir haben Poliamides gefunden«, sagte Jemasze. »Seine rechte Zehe ist Teil des Großen Beines. Oder besser gesagt – er ist ein Skelett!« Elvo starrte indigniert auf den Wald. »Weshalb hat Moffamides uns hierhergeschickt?« »Hier ist ein guter Ort für unsere eigenen Gebeine.« Elvo blickte Jemasze verwirrt an, als zweifle er am Ernst seiner Worte. Dann drehte er sich wieder dem Aluban zu und schüttelte den Kopf. »Was verspricht er sich davon?« »Ich nehme an, sie wollen nicht, daß Ausker ihre Nase in den Erjinen-Handel stecken – und schon gar nicht Angehörige der VEE.« Elvo grinste schwach über Jemaszes ungewohnten Scherz. Gerd hob die Hand in die leichte, kühle Brise, die vom Norden kam. »Sie wird kaum genügen, uns in Bewegung zu setzen«, murmelte er. »Hier ist kein guter Ort«, erklärte Kurgech. »Wir sollten auf jeden Fall fort.« Jemasze und Elvo Glissam hißten die Segel. Der Ewer reagierte schwerfällig und rollte nur langsam südwärts am Rand des Waldes entlang. Die Brise erstarb, der Wagen hielt mit schlaffen Se geln nur etwa zwanzig Meter von den düsteren Bäu men entfernt an. »Es sieht ganz so aus, als ob wir hier lagern müßten, ob wir wollen oder nicht«, brummte Jemasze. Kurgech blickte auf den Weg, aber er schwieg.
Jemasze ließ die Segel herab und blockierte die Rä der. Kurgech kramte in der Kombüse in den Vorrä ten. Vorsichtig holte Elvo einen Armvoll Brennholz vom Waldrand. Jemasze brummte mißbilligend, aber er hielt Elvo nicht davon ab, als er neben dem Ewer Feuer machte. Zum Abendessen gab es Brot, Dörrfleisch und die Reste ihrer getrockneten Früchte. Auch das letzte Bier aus dem Depot wurde brüderlich geteilt. Elvo stellte jedoch fest, daß er weder hungrig noch durstig war. Er fühlte sich schrecklich müde und konnte an nichts anderes denken, als sich neben dem Feuer auszu strecken und zu schlafen... Welch seltsames Feuer, dachte er. Die Flammen schienen nicht aus heißem, springendem Gas, sondern aus gallertigem Sirup. Sie bewegten sich schwerfällig wie die Blütenblätter ei ner monströsen roten Blume im warmen Wind. Elvo blickte träge zu Gerd Jemasze, um zu sehen, ob auch er dieses eigentümliche Phänomen bemerkt hatte... Jemasze unterhielt sich mit Kurgech. Elvo hörte, was sie sagten: »... stark und nahe.« »Kannst du es brechen?« »Ja. Hol Holz aus dem Wald – und sechs lange Äste.« Jemasze wandte sich an Elvo. »Wachen Sie auf. Man will Sie hypnotisieren! Helfen Sie mir Holz her beischaffen.« Schwerfällig taumelte er auf die Füße und folgte Jemasze in den Wald. Jetzt war er völlig wach, und eine ungeheure Wut tobte in ihm. Jemaszes Arroganz kannte keine Grenzen. Eine Unverschämtheit, wie er sich erdreistete, ihm Befehle zu erteilen! Wie wäre es
mit diesem schweren, knorrigen Ast! Er gäbe einen guten Prügel ab. »Elvo!« Jemasze schüttelte ihn. »Wachen Sie auf!« »Ich bin doch wach«, murmelte Elvo. »Um so besser, dann tragen Sie bitte das Holz zum Feuer.« Elvo blinzelte, gähnte und rieb sich die Augen. Er hatte tatsächlich geschlafen, war im Schlaf gewandelt und hatte schrecklichen Gedanken nachgehangen. Er zerrte dürre Äste zum Feuer. Kurgech schnitt sechs ein wenig krumme Äste zurecht und stieß sie in den Boden, daß sie ein Hexagon von vier Meter im Durchmesser bildeten, und verband ihre oberen En den mit einem dünnen Seil. Zwischen den Stangen zündete er kleine Feuer und an das Seil hängte er Ge genstände aller Art: Kleidungsstücke, das Fernglas, Handwaffen – alles Dinge von außerhalb der Palga. »Bleibt innerhalb des Feuerkreises«, bat Kurgech. »Wir haben das Hexagon zu fremdem Land gemacht. Sie müssen sich nun sehr anstrengen, um uns zu er reichen.« Elvo sagte ein wenig verdrossen: »Ich verstehe überhaupt nicht, was hier vorgeht.« »Die Priester wenden Geisteszauber gegen uns an«, erklärte Kurgech. »Sie benutzen dazu ihre geheiligten Gegenstände und uralte Instrumente. Damit können sie eine große Macht ausüben.« »Passen Sie auf, daß Sie nicht wieder zu träumen anfangen oder schläfrig werden«, wandte Jemasze sich eindringlich an Elvo. »Kümmern Sie sich um die Feuer.« Kurz angebunden brummte Elvo. »Ich werde mein Bestes tun.«
Minuten vergingen – zehn, fünfzehn, zwanzig... Seltsam, dachte Elvo, daß die Feuer mehr schwelen als brennen. Die Flammen flackerten in graurotem Rauch. In der Dunkelheit spürte er gedrungene For men, die ihn mit Augen wie Tintenteiche beobachte ten. »Nur keine Panik«, warnte Gerd Jemasze. »Achten Sie nicht auf sie.« Elvo lachte leise. »Mir läuft der Schweiß über den Rücken, mein Atem kommt nur keuchend, meine Zähne klappern, doch ich werde nicht in Panik aus brechen. Aber die Feuer gehen aus.« »Dann ist es wohl an der Zeit, daß ich AuskerMagie anwende«, brummte Jemasze. »Frag sie, wie ihnen ein Waldbrand gefallen würde«, bat er Kur gech. Eine unheimliche Stille herrschte plötzlich. Jemasze nahm einen brennenden Ast und machte einen Schritt auf den Aluban zu. Die Spannung brach wie ein berstender Zweig. Die Feuer brannten wieder normal. Elvo sah keine kau ernden Formen mehr, nur noch die sternenhelle Landschaft. Gerd Jemasze steckte den brennenden Ast ins Feuer zurück und beobachtete den Wald in einer Haltung geringschätziger Verachtung, die Elvo schon so oft gereizt hatte. Er hob prüfend den Arm, aber nicht das geringste Lüftchen wehte. Sie konnten also immer noch nicht hinaus in die freundliche, offe ne Weite der Sarai fahren. »Wut und Angst hängen in der Luft«, bemerkte Kurgech. »Möglicherweise greifen sie zu normaleren Mitteln.« Plötzlich sagte Jemasze drängend. »Wir ziehen uns
in den Wald zurück, wo wir zumindest vor einem Hinterhalt sicher sind.« Die drei Männer kletterten einen Baum hoch und verschwanden in dem tiefen Schatten des dichten Laubwerks. In etwa zwanzig Meter Entfernung, auf der Sarai, stand ihr Landewer allein im Schein des Feuers. Zum hundertsten Mal dachte Elvo darüber nach, wie viele Erinnerungen er nach Olanje mitneh men konnte, falls das Schicksal ihm gestattete, dort hin zurückzukehren. Er konnte sich nicht vorstellen, daß er je wieder eine Reise über die Palga unterneh men würde... Er lauschte. Fast absolutes Schweigen herrschte. Er konnte weder Kurgech noch Jemasze sehen, die sich weiter links von ihm auf den Ästen niedergelassen hatten. Elvo grinste freudlos. Die gan ze Sache erschien ihm absurd und melodramatisch – bis er sich erinnerte, wie die Landschaft rings um den Ewer auf ihn gedrückt, ihm die Kehle zugeschnürt hatte. Die Zeit verging. Sehr bequem war es hier oben nicht. Es mußte inzwischen gewiß schon Mitternacht sein. Er fragte sich, wie lange Jemasze auf dem Baum bleiben wollte. Doch hoffentlich nicht bis zum Mor gen! In fünf oder zehn Minuten würde Kurgech doch sicher festgestellt haben, daß die Gefahr nicht mehr so groß war und es Zeit wurde, sich endlich auszuru hen. Zehn Minuten verstrichen, fünfzehn, eine halbe Stunde. Elvo öffnete den Mund, um vorsichtig durch die Dunkelheit zu flüstern, wie lange die beiden noch beabsichtigten, auf dem Baum auszuharren. Doch dann unterließ er es lieber. Jemasze wäre möglicher weise nicht erfreut, wenn sie auf diese Weise ihre
Anwesenheit verrieten. Er hatte zwar nicht aus drücklich gebeten, still zu sein, aber es war höchst wahrscheinlich in ihrer Lage angebracht. Er preßte die Lippen wieder zusammen. Auch für Jemasze und Kurgech war der luftige Sitz gewiß nicht das Be quemste. Aber wenn sie es aushielten, konnte er es ebenfalls. Um den Krampf in seinen Beinen zu min dern, erhob er sich vorsichtig. Sein Kopf stieß gegen einen Zweig, der zurückschwang und seine Wange streifte. Elvo lehnte sich nach hinten und blickte hoch. Statt des Zweiges sah er ein Skelett, dessen Gebeine mit Draht zusammengehalten wurden. Unmittelbar neben seinem Gesicht baumelte der rechte Fuß. Mit heftig klopfendem Herzen kehrte Elvo hastig in seine frühere, kauernde Stellung zurück. Plötzlich vernahm er einen dumpfen Schlag, ge dämpfte Geräusche und das Knistern von Bewegun gen auf den trockenen Blättern am Boden. Elvo sprang hinunter. Jemasze und Kurgech starrten auf einen Mann, der mit dem Gesicht nach unten reglos vor ihren Füßen lag. Elvo wollte etwas sagen, doch Jemasze winkte ihm zu, zu schweigen. Stille herrsch te. Eine Minute verging. Der Mann auf dem Boden begann sich zu rühren. Jemasze und Kurgech zerrten ihn zum Ewer. Elvo hob einen länglichen, metallenen Gegenstand auf und folgte ihnen. Der Gegenstand war, wie er jetzt erst feststellte, eine Windläuferflinte. Jemasze und Kurgech ließen den Mann im Schein des Feuers fallen. Elvo glaubte seinen Augen nicht zu trauen. »Moffamides!« rief er erstaunt. Moffamides stierte ins Feuer. Er unternahm keinen Versuch, sich zu wehren, als Kurgech ihm die Fußund Handgelenke band und ihn mit Jemaszes Hilfe
wie einen Sack Bohnen auf das Deck des Ewers warf. Jemasze hißte die Segel, die sich nun in einer kalten Nachtbrise aufblähten. Der Wagen rollte südostwärts und ließ den heiligen Wald Aluban hinter sich zu rück.
10
Der Morgen überflutete die Sarai mit einem warmen, rosigen Leuchten. Ein paar Wolken im Süden und Westen glühten in tiefen Rottönen. Methuen erklomm den Himmel. Bei einer von fedrigen Akazien umgebenen Oase machten sie Halt, um zu frühstücken. Moffamides hatte die ganze Zeit keinen Laut von sich gegeben. Neben einem Teich waren ein paar verwahrloste Felder, auf denen Früchte und Beeren jetzt wild wuchsen. Die Fiaps dort waren verwittert und schon lange nicht mehr wirksam. Elvo nahm sich einen Ei mer und erntete, was immer reif war. Bei seiner Rückkehr arbeitete Kurgech an einer äu ßerst ungewöhnlichen Konstruktion. Aus Akazien ruten baute er ein würfelförmiges Gerüst mit einer Kantenlänge von etwa siebzig Zentimeter. Die Ecken band er mit Schnur zusammen. Dann zerschnitt er ei ne alte Decke und befestigte sie an diesem Gestell, daß eine Art Kiste daraus wurde. Über eine Seite die ser Kiste legte er ein Brett, durch das er ein Loch von ungefähr zweieinhalb Zentimeter Durchmesser bohrte. Diese Kiste baute er außerhalb Moffamides' Blick winkel. Elvo konnte seine Neugier nicht mehr länger zügeln. Er fragte Jemasze: »Was macht Kurgech denn da?« »Die Uldras nennen es eine Seelenkiste.« Jemaszes Antwort klang so kurz angebunden, daß Elvo, der sehr empfindlich gegenüber echter oder auch nur eingebildeter Ablehnung war, keine weite
ren Fragen mehr stellte. Aber er schaute fasziniert zu, während Kurgech aus einem Pappkarton eine Scheibe von fünfzehn Zentimeter ausschnitt und darauf weiß schwarze Spiralen malte. Elvo staunte über seine Ge schicklichkeit. Plötzlich sah er Kurgech in einem an deren Licht. Er schien ihm nun nicht mehr ein Halb barbar mit ungewöhnlichen Sitten und verrückter Kleidung, sondern ein stolzer Mann mit vielen Fähig keiten. Mit innerer Verlegenheit erinnerte er sich sei ner bisherigen, ein wenig herablassenden Haltung Kurgech gegenüber – und das trotz der Tatsache, daß er schließlich ein Redemptorist war! Kurgechs Arbeit wurde nun komplexer. Eine ganze Stunde verging, ehe er endlich mit seinem Werk zu frieden war. Die Scheibe drehte sich jetzt im Innern der Kiste und war durch eine Achse mit einem klei nen windgetriebenen Propeller verbunden. Elvo war nicht ganz einverstanden mit dieser Vor richtung und ihrem erahnten Zweck. In einer Mi schung aus Abscheu und Faszination sah er zu, wie Kurgech mit angespannter Konzentration seine See lenkiste fertigstellte. Ein wenig spöttisch fragte er: »Wird sie denn funktionieren?« Kurgech warf ihm einen etwas kühlen Blick zu. »Möchten Sie sie ausprobieren?« »Nein.« Die ganze Zeit über war Moffamides gegen die Re ling gelehnt, ungeschützt unter den Strahlen Methu ens gesessen, ohne daß er etwas zu essen oder trinken bekommen hätte. Kurgech ging nun in die Kombüse und holte aus seinen Sachen ein winziges Fläschchen mit einer dunklen Flüssigkeit. Er füllte Wasser in ei nen Krug, gab ein paar Tropfen der dunklen Flüssig
keit zu und brachte es Moffamides. »Trink!« befahl er. Wortlos gehorchte der Priester. Darauf legte Kur gech ihm eine Binde über die Augen, dann setzte er sich auf das Vorderdeck. Jemasze schwamm inzwi schen in dem Weiher. Eine halbe Stunde verging. Kurgech stand auf. Er schnitt zwei Schlitze im rechten Winkel zueinander in den dicken Wollstoff, der den Boden der Kiste be deckte, und dann ein kreisrundes Loch in die Ober seite. Dann hob er die Kiste hoch und stülpte sie über Moffamides' Kopf. Um sie zu halten, legte er zwei Stecken auf die Schultern des Priesters. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß der Propeller sich unge hindert im Wind drehen konnte, griff Kurgech in die Kiste und nahm Moffamides die Augenbinde ab. Elvo öffnete den Mund, doch Gerd Jemasze, der gerade an Bord zurückkam, winkte ihm streng zu, zu schweigen. Zehn Minuten vergingen. Kurgech kauerte sich ne ben den Priester. Mit Singsangstimme sagte er: »Frie de! Entspanne dich! Schlaf ist süß, wenn alle Sorgen geschwunden sind und keine Furcht dich mehr quält. Ja, süß ist der Schlaf, Friede ist nah. Es ist gut, sich zu entspannen, zu ruhen und zu vergessen.« Der Propeller drehte sich langsamer, als der Wind nachließ. Kurgech schob ihn mit dem Finger an, da mit er nicht stillstand. Und im Innern der Kiste krei ste die Scheibe mit den Spiralen vor Moffamides' Au gen. »Die Spirale dreht sich«, sagte Kurgech sanft und eindringlich. »Sie bringt außen nach innen. Sie dreht auch dich von außen nach innen, und du ruhst ohne
Sorgen. Von außen nach innen, von außen nach in nen, und ich sage dir: es ist wundervoll, sich auszu ruhen, wo nichts und niemand dir Leid zufügen kann. Kann irgend jemand oder irgend etwas dir jetzt noch etwas anhaben?« Aus der Kiste klang Moffamides' Stimme: »Nein, nichts.« »Nichts kann dir Leid zufügen, außer ich befehle es so. Und jetzt empfindest du Ruhe und Frieden und nur den Wunsch, deinen Freunden zu helfen. Wem möchtest du helfen?« »Meinen Freunden.« »Sie sind hier. Diese Leute hier sind deine Freunde, deine einzigen Freunde. Schau, sie befreien dich von deinen Fesseln und sorgen sich darum, daß du es be quem hast.« Kurgech durchschnitt die Stricke an Mof famides' Hand- und Fußgelenken. »Wie schön es ist, glücklich mit seinen Freunden zu sein. Bist du glück lich?« »Ja, ich bin glücklich.« »Die Spirale hat deine Aufmerksamkeit in dein Ge hirn geleitet. Die einzige Verbindung mit der Au ßenwelt ist meine Stimme. Du mußt dich jetzt den Stimmen und Gedanken aller anderen taub stellen. Nur deine Freunde, die dir Frieden und Ruhe schen ken, verdienen deine Treue. Wem vertraust du? Wem mochtest du helfen?« »Meinen Freunden.« »Und wo sind sie?« »Sie sind hier.« »Ja, das sind sie. Ich werde nun die Kiste von dei nem Kopf nehmen, und du wirst deine Freunde se hen. Früher einmal, vor langer Zeit, gab es ein paar
unwichtige Meinungsverschiedenheiten. Doch nie mand denkt auch nur noch daran. Deine Freunde sind hier. Nichts anderes ist von Bedeutung.« Kurgech hob die Kiste und stellte sie ab. »Atme tief die frische Luft ein und sieh deine Freunde an.« Moffamides holte angespannt Luft, dann blickte er von Gesicht zu Gesicht. Seine Augen wirkten leicht glasig, seine Pupillen hatten sich zusammengezogen, vermutlich unter der Wirkung von Kurgechs Droge. »Siehst du deine Freunde?« »Ja, sie sind hier.« »Natürlich sind sie hier. Du bist eins mit deinen Freunden, und du willst ihnen bei allem helfen, was sie tun. Früher war es schlecht. Deine Freunde möchten gern wissen, wie es früher war, damit du ohne Sorgen leben kannst. Zwischen Freunden gibt es keine Geheimnisse. Wie ist dein Kultname?« »Inver Elgol.« »Und dein persönlicher Name, den nur du kennst, doch den du nun auch deinen Freunden mitteilen willst?« »Totulis Amedia Falle.« »Wie angenehm es ist, seine Geheimnisse mit Freunden zu teilen. Die Seele fühlt sich gleich freier. Wohin brachte Poliamides den Ausker?« »Zu dem Ort von Rosa und Gold.« »Tatsächlich? Und was ist dieser Ort von Rosa und Gold?« »Das Ausbildungslager der Erjinen.« »Das muß ein sehr interessanter Ort sein. Wo be findet er sich?« »Bei Al Fador, in den Bergen westlich von Depot Nr. 2.«
»Und dorthin hat Poliamides den Ausker Uther Madduc gebracht?« »Ja.« »Gibt es dort Gefahren?« »Ja. Sehr viele.« »Wie können wir dort hingelangen, ohne uns die sen Gefahren auszusetzen.« »Das ist unmöglich.« »Uther Madduc und Poliamides besuchten Al Fa dor und kamen gut zurück. Könnten wir nicht das gleiche tun?« »Sie sahen Al Fador, aber sie näherten sich ihm nicht.« »Dann werden wir es ihnen gleichtun, wenn das nicht gefährlich ist. Welche Richtung müssen wir ein schlagen?« »Südwest, hart mit dem Wind.« Der Landewer schlingerte über die Sarai. Moffamides saß zusammengekauert in einer Ecke des Cockpits und stierte apathisch und schweigend vor sich hin. Elvo beobachtete ihn fasziniert. Was mochte wohl im Kopf des Priesters vorgehen? Er versuchte, sich mit ihm zu unterhalten, aber vergebens. Moffamides starrte ihn lediglich stumm an. Fünf Tage segelte der Ewer von Morgen bis Abend dahin, und länger noch, bis tief in die Nacht hinein manchmal. Wenn die Sarai dann dunkel und eben vor ihnen lag, wiesen die Sterne dem Steuermann die Richtung. Sie überquerten die beiden Spuren und fuhren zu einem Gebiet nördlich des Hügels, wo sie ihr erstes Lager aufgeschlagen hatten. Hier kamen sie auf eine öde trockene Strecke. Zentimeterhoch lag der
Staub auf dem Soum und wirbelte unter ihren Rädern auf. Die Volwoden kamen in Sicht, erst als ein ferner Schatten über dem Süden und dann allmählich als ei ne Ansammlung von stahlgrauen Felsen, die sich dem Himmel entgegenstreckten. Elvo war nun fast schon so apathisch wie Moffa mides. Er hatte jegliches Interesse an einem Kampf gegen die Versklavung der Erjinen verloren. Der mochte ohnehin sicherer von den Rednertribünen in Olanje aus geführt werden. Bis zum Depot Nr. 2 wäre es nur noch eine Tagesfahrt, aber er wagte nicht dar um zu bitten, die Reise abzukürzen. Wie immer fand er Gerd Jemaszes Haltung unerschütterlich. Was Kurgech betraf, hatte er seine früheren Meinungen über ihn geändert. Der Uldraschamane war listig und weise und wußte sich in seiner eigenen Umwelt in je der Weise und sehr geschickt zu helfen. Aber es war nicht gerade der Lebensbereich, in dem er, Elvo, sich hervortun wollte. Alles in Betracht gezogen, würde er nur zu gern und je eher, desto besser nach Olanje zu rückkehren. Schaine Madduc? Ein bezauberndes Mädchen, reizend anzusehen, mit einem Kopf voll liebenswerter Einfälle! Inzwischen dürfte sie sicher auch schon genug von Uaia haben und es mögli cherweise vorziehen, ihn nach Szintarre zu begleiten. Wenn er ihre Fahrt nach Al Fador überlebte! Elvo musterte Moffamides und machte sich Gedanken über dessen Geisteszustand. Hypnotische Beeinflus sung, hatte er zumindest gehört, mußte nicht unbe dingt so lange anhalten, wie es beabsichtigt war. Ein kluger und ihnen nicht wohlgesinnter Mann wie Mof famides mochte sie sehr wohl nur vortäuschen, um dann um so leichter sein eigenes Ziel verfolgen zu
können. Er erwähnte jedoch seinen Verdacht nicht, da Jemasze und Kurgech vermutlich soviel oder viel leicht noch mehr als er von der Sache verstanden. Die Volwoden tasteten sich hoch in den rosa-blauen Himmel. Sie waren kahle Felsen mit nur vereinzeltem schwarzen Dornengestrüpp und ein paar verkrüp pelten Sengbäumen. Als der Ewer für die Nacht an hielt, kam ein Erjin näher und beobachtete sie aus ei ner Entfernung von gut fünfzig Meter. Langsam hob er seine kräftigen Arme und streckte die Krallen in Angriffsstellung. Seine Halskrause spreizte sich. Je masze nahm das Gewehr in die Hand, und sofort verlor der Erjin seine Angriffslust. Seine Krause legte sich wieder flach, und nach ein paar Minuten trottete er davon. »Seltsames Verhalten«, murmelte Jemasze. Er blickte der merkwürdigen Kreatur nach. Elvo drehte sich um und bemerkte, daß Moffamides dem Erjin nachsah, aber durchaus nicht wie ein Hypnotisierter. Ein paar Minuten später teilte Elvo Gerd Jemasze seine Befürchtung mit. »Bis jetzt steht er noch unter Kontrolle«, murmelte Gerd Jemasze. »Kurgech hat ihn auf die Probe ge stellt. Wie es weitergeht, weiß ich nicht. Wenn ihm sein Leben lieb ist, wird er uns nicht verraten.« »Was ist mit den Erjinen? Werden sie uns nicht möglicherweise heute nacht angreifen?« »Erjinen sehen im Dunkeln schlecht. Ich glaube, wir können unbesorgt schlafen.« Trotzdem legte Elvo sich mit einem unguten Ge fühl nieder. Bis tief in die Nacht hinein lauschte er den Geräuschen der Sarai: ein leises Stöhnen aus der
Richtung der Berge, das jedoch bald verstummte; ein Zirpen ganz in der Nähe; ein erbost klingendes Schwirren in verschiedenen Lautstärken; aus der Fer ne ein gongähnliches Dröhnen, das Elvo so unheim lich schien, daß sich ihm die Härchen auf dem Nak ken aufstellten. Kurgech hatte ein dünnes Kabel von Moffamides' Fußgelenk zu seinem eigenen gespannt und es dann mit einem trockenen Lappen solange abgerieben, bis es bei der geringsten Bewegung quietschte, was Elvo entsetzlich auf die Nerven fiel. Ob wegen des Kabels oder der Nachwirkungen der Seelenkiste, jedenfalls rührte Moffamides sich die ganze Nacht nicht. Als Elvo erwachte, glühten die höchsten Spitzen der Volwoden im ersten Licht des frühen Morgens. Das Frühstück war kärglich und kurz. Moffamides wirkte noch apathischer als sonst. Er saß am Rand des Decks und stierte nordwärts, in die entgegengesetzte Richtung der Berge. Jemasze kauerte sich neben ihn. »Wie weit ist es noch bis zum Ausbildungslager?« Moffamides blickte erschrocken auf. Sein Gesichts ausdruck wechselte unheimlich schnell: von Nach denklichkeit zu finsterer Verachtung, dann zu Freundlichkeit und scheinbarer Offenheit, und flüch tig zu etwas, das fast Verzweiflung sein mochte. Elvo, der ihn beobachtete, vermutete, daß Kurgechs hyp notischer Befehl nicht mehr vollen Einfluß auf den Priester hatte. Jemasze wiederholte geduldig seine Frage. Moffa mides stand auf und deutete. »Es liegt irgendwo jen seits des Kammes dort, in Richtung der grimmigen Volwoden. Ich war nie selbst dort und kann euch
deshalb auch nicht weiter führen.« Kurgech sagte mit sanfter Stimme. »Ich sehe Spu ren. Vielleicht stammen sie von Uther Madduc.« Jemasze fragte Moffamides: »Ist das der Fall?« »Es wäre möglich.« Im scharfen Westwind folgte der Ewer dieser Fährte. Eine zweite Spur kam plötzlich dazu. Elvo Glissam rief verwirrt: »Es siehst so aus, als wäre je mand Uther Madduc gefolgt.« »Ich würde eher annehmen, es sind beides seine Fährten – die vom Hin- und Rückweg.« »Ja, vermutlich haben Sie recht.« Unter einem Felsen aus rotem und grauem Sand stein endete Uther Madducs Spur. Jemasze reffte die Segel und zog die Bremsen an. Moffamides kletterte schwerfällig aus dem Wagen und blieb mit gebeugten Schultern stehen. »Ihr braucht mich nicht mehr«, er klärte er. »Ich habe mein Bestes für euch getan und werde mich jetzt zurückziehen.« »Hier? In der Wildnis?« fragte Jemasze verblüfft. »Wie willst du da überleben?« »Ich kann das Depot in drei oder vier Tagen errei chen. Es gibt Früchte und Wasser unterwegs.« »Was ist mit den Erjinen? Sie sind hier eine wahre Landplage.« »Ich fürchte keine Erjinen. Ich bin ein Priester Aha riszeios.« Kurgech trat auf ihn zu und legte eine Hand auf Moffamides' Schulter. Der Priester beugte sich zit ternd zurück, schien jedoch nicht in der Lage zu sein, sich von der Hand zu lösen. Kurgech sagte: »Totulis Amedia Falle, du magst jetzt deine Sorgen vergessen. Du bist in der Gesellschaft von Freunden, denen du
helfen und die du beschützen willst.« Der Priester warf den Kopf zurück. Seine Augen wirkten glasig. »Ihr seid meine Freunde«, erklärte er ohne Überzeugung. »Dessen bin ich mir bewußt. Deshalb würde es mich betrüben, euch als Leichen zu sehen, und darum muß ich euch sagen, daß ihr be reits von einem Erjinenprinzen beobachtet werdet. Er hat mit meinem Geist gesprochen und gefragt, ob er jetzt angreifen soll.« »Sag ihm, nein«, befahl Kurgech. »Erkläre ihm, daß wir deine Freunde sind.« »Das habe ich bereits getan, obgleich meine Ge danken etwas verwirrt zu sein scheinen.« »Wo ist der Erjin?« fragte Jemasze. »Er steht dort zwischen den Felsen.« »Lade ihn ein, näher zu kommen«, forderte Jemas ze Moffamides auf. »Ich ziehe Erjinen, die sich offen zeigen, jenen vor, die sich verbergen.« »Er hat Angst vor euren Gewehren.« »Wir werden ihm kein Leid zufügen, wenn er seine Feindseligkeit zügelt.« Moffamides blickte zu den Felsen. Der Erjin kam näher. Er war ein großartiges Exemplar, größer als die meisten, die Jemasze bisher gesehen hatte. Auf Brust und Bauch war er senfgelb, und am Rücken und auf den Beinen braunschwarz. Die rostfarbene Krause, sie begann zwischen den herausragenden Knochen, die die optischen Organe schützte, hing bis über die knochengepanzerten Schultern. Er kam ohne Hast näher, schien weder ängstlich noch feindselig, und blieb etwa fünfzehn Meter entfernt stehen. Moffamides wandte sich an Jemasze. »Er möchte wissen, weshalb wir hier und nicht anderswo sind.«
»Erklär ihm, daß wir Reisende aus den Alouanen sind und uns für die Landschaft interessieren.« Moffamides stellte sich dem Erjin gegenüber, brei tete die Arme aus und stieß einen Satz zischender Vokabeln hervor. Der Erjin blieb unbewegt stehen, nur seine Krause richtete sich flüchtig auf. Kurgech befahl dem Priester. »Frag ihn nach dem einfachsten Weg zum Ausbildungslager.« Moffamides machte mit beiden Händen verschie dene Gebärden und gab erneut zischende Laute von sich. Der Erjin reagierte wie in einem ähnlichen Fall auch Menschen. Er drehte sich halb um und deutete mit einem seiner kräftigen Arme nach Südwesten. »Frag ihn, wie weit«, forderte nun Jemasze Moffa mides auf. Moffamides stellte die Frage. Der Erjin beantwor tete sie mit viel weicherem Zischen, als der Priester fertiggebracht hatte. »Nicht sehr weit«, übersetzte Moffamides. »Zwei Stunden etwa.« Jemasze warf einen skeptischen Seitenblick auf den Erjin. »Weshalb kam er uns hierher entgegen?« Kurgech warf mit sanfter Stimme ein. »Vermutlich hat unser Freund Moffamides eine Gedankenbot schaft vorausgeschickt.« »Reiner Zufall, sicherlich«, protestierte der Priester schwach. »Beabsichtigt er, uns anzugreifen?« »Ich kann nichts mit Gewißheit über ihn sagen.« Jemasze brummte: »Noch nie habe ich einen wilden Erjin so zugänglich gesehen.« »Die Volwoden-Erjinen sind anders als die wilden Erjinen der Alouanen«, versicherte ihm Moffamides. »Sie sind, sozusagen, nicht von der gleichen Rasse.«
Kurgech ging in die Richtung, die der Erjin ange deutet hatte, und studierte den Boden. Er rief zu Je masze zurück: »Die Spur ist hier.« Jemasze warf einen Blick auf den Ewer, dann auf Elvo, der schon erwartete, daß der andere von ihm verlangen würde, das Fahrzeug zu bewachen. Jemas ze drehte sich jedoch wieder Moffamides zu. »Wir brauchen einen Fiap, um den Wagen zu schützen, und zwar von besserer Qualität als deine anderen.« »Das Fahrzeug ist hier sicher«, erklärte der Priester. »Außer eine Bande Srenki kommt vorbei. Doch das wäre äußerst unwahrscheinlich.« »Trotzdem würde ich vorziehen, einen starken Fiap an den Ewer zu hängen.« Sichtlich widerwillig nahm Moffamides Ringe und Bänder von den alten Fiaps und setzte daraus einen neuen Talisman zusammen. »Ihm fehlt die Zauber kraft. Er kann nur als Warnung dienen. Aber das dürfte genügen.« Die vier Männer machten sich auf den Weg, eine aufwärtsführende Klamm entlang. Kurgech schritt voraus, hinter ihm Moffamides, dann kam Elvo und als letzter Jemasze. Der Erjin folgte ihnen in einiger Entfernung. Der Weg wurde allmählich steil. Die Sonne fing sich in der Klamm, und die Felswände reflektierten die Hitze. Als die Gruppe den Kamm erreichte, machten sie keuchend und schweißüberströmt halt. Der Erjin kam nun heran und blieb so dicht neben El vo stehen, daß er eine Gänsehaut bekam. Aus dem Augenwinkel betrachtete er den Arm der Kreatur mit seinen seltsamen schwarzen Krallen und den finge rähnlichen Fühlern, die an der Wurzel der Krallen
herauswuchsen. Mit einer einzigen schnellen Bewe gung, dachte Elvo, könnte er mich in Fetzen reißen. Vorsichtshalber brachte er sich ein paar Schritt seit wärts in Sicherheit und stellte sich neben Moffamides. »Weshalb ist dieser Bursche so ganz anders als die Alouanen-Erjinen?« Der Priester zeigte kein großes Interesse an diesem Thema. »Es ist kein großer Unterschied.« »Ich finde doch«, erklärte Elvo. »Dieser hier ist zahm. Wurde er domestiziert oder ausgebildet?« Moffamides stellte dem Erjin eine Frage, dann ant wortete er Elvo. »Kurgech ist der ›alte Feind‹, wie er ihn nennt, der eine ›grüne Seele‹ hat und deshalb die Tötungswut* des Erjins nicht weckt. Du und Gerd Jemasze seid Ausker und unwichtig.« »Weshalb folgt er uns dann?« fragte Jemasze. Moffamides erwiderte niedergeschlagen: »Er hat nichts Besseres zu tun. Vielleicht will er uns auch hel fen.« Jemasze lächelte spöttisch und studierte die Ge gend durch das Fernglas, während Kurgech sich in der vom Wind glattgeschliffenen Öde nach Uther Madducs Spuren umsah, ohne sie jedoch sofort zu entdecken. Der Erjin schritt an Elvo vorbei, um Moffamides' Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Ein halbtelepa thisches Gespräch fand zwischen den beiden statt. Moffamides rief Jemasze zu: »Er sagt, Uther Madduc hat das Plateau überquert und ist dann auf dem * Tötungswut: Eine schwache Übersetzung eines Wortes, das die explosive Freigabe einer gewaltigen Menge aufgestauter Emotionen bedeutet, wie beispielsweise das Durchbrechen eines Hindernisses oder das Sprengen eines Dammes.
mittleren Kamm weiter.« Der Erjin rannte über das Plateau und blieb ab wartend stehen. Als die Männer ihm nicht sofort folgten, winkte er ihnen drängend zu. Kurgech lief zu ihm, um zu sehen, auf was seine deutenden Krallen wiesen. Die anderen kamen ein wenig langsamer nach. Kurgech studierte das son nenversengte Geröll und fand etwas, das ihn ermu tigte. »Hier ist seine Spur!« rief er. Der Erjin führte sie nun zu einer wirren Ansamm lung von Granitblöcken. Ohne jegliche Anstrengung sprang er von einem zum anderen hoch, bis er ganz oben angelangt war. Hier hielt er an. Es sah fast so aus, als werfe er sich in Pose. Die Männer kamen auf dem Kamm an und legten erneut eine Rast ein. Von hier aus führte ein verhält nismäßig steiler Hang, der spärlich mit braunen Flechten und Drahtgras bewachsen war, hinab zum Rand einer großen Schlucht. Der Erjin rannte nun wieder voraus, schräg über ein Geröllfeld. Elvo Glissam staunte über das Vertrauen, das Je masze und Kurgech offensichtlich in den Erjin setzten und das sie, nach aller vernünftiger Überlegung, nur in ihr Verderben führen konnte. »Wohin, glauben Sie, bringt er uns?« fragte er Je masze. »Entlang Uther Madducs Fährte.« »Mißtrauen Sie denn seinen Absichten nicht? An genommen, er führt uns irgendwo in einen Hinter halt?« »Kurgech ist nicht beunruhigt. Und er ist der Fährtenleser.« Elvo beeilte sich, um Kurgech einzuholen. »Kam
Uther Madduc tatsächlich diesen Weg?« Kurgech nickte. »Wie können Sie so sicher sein? Auf diesen Steinen zeichnen sich doch keine Spuren ab.« »Die Fährte ist nicht zu übersehen. Schauen Sie selbst: dort ist ein Stein verrutscht. Er liegt jetzt mit seiner nicht von der Sonne verbrannten Seite nach oben. Auch die Staubschicht ist zerrissen. Der Erjin führt uns richtig.« Eine Weile ging es hangabwärts, dann, als eine Klamm einen Weg zum Grund der Schlucht bot, rannte der Erjin schnell seitwärts weiter. Kurgech hielt abrupt an. »Was ist los?« fragte Jemasze. »Madduc und Poliamides sind diese Klamm hin unter. Ihr Weg ist anders als der, den er uns führen will.« Sie blickten dem Erjin nach, der nun stehengeblie ben war und ihnen wieder drängend zuwinkte. Mof famides sagte zweifelnd: »Er führt euch dorthin, wo eure Freunde waren.« »Sie nahmen den Weg die Klamm abwärts zur Schlucht.« »Der Erjin läßt euch sagen, daß hier ein sehr schwieriges Vorankommen ist. Weiter vorn ist es leichter.« Jemasze blickte zuerst die Klamm hinunter, dann zu dem Erjin. Elvo wurde bewußt, daß er Jemasze zum erstenmal unentschlossen sah. Schließlich be stimmte Jemasze ohne große Begeisterung: »Also gut, wir wollen sehen, wohin er uns bringt.« Der Erjin führte sie einen durchaus nicht leichten Weg, einen steilen Hang von zerbröckelnden Steinen, hoch, über einen Haufen von Steinblöcken, wo Ei
dechsen sich sonnten und bei ihrem Näherkommen eilig davonhuschten, zu einem Kamm empor, und auf der anderen Seite den Hang wieder hinunter. Der Erjin rannte mit fast schwerelosem Schritt, während die Männer keuchten und sich plagen mußten mitzu kommen. Die Sonne brannte auf den Steinen, die Luft flimmerte in der Schlucht, und der Erjin tänzelte vor aus wie ein Feuerdämon. Plötzlich blieb er zweifelnd stehen, als wüßte er nicht mehr weiter. Jemasze rief mit angespannter Stimme über die Schulter zurück zu Moffamides: »Stell fest, wohin er uns bringt.« »Wohin der andere Ausker ging«, erwiderte Mof famides schnell. »Dieser Weg ist weniger anstren gend, als die Felswand hinunterzuklettern. Ihr werdet es selbst sehen.« Er deutete auf das vor ihnen liegen de Terrain. Die Schluchtwände waren hier bei weitem nicht mehr so steil wie zuvor. Der Erjin rannte wieder voraus, hinunter zum Boden der breiten Schlucht. Das Tal hier bildete einen bemerkenswerten Kontrast zu der kahlen Hochebene. Die Luft war kühl und an genehm. Ein Fluß wälzte sich träge von einem winzi gen See zum nächsten, im Schatten rosiger und pur purner Farnbäume und dunkler uaianischer Zypres sen. Kurgech studierte den hellen Sand neben dem Fluß und drückte seine offensichtliche Überraschung aus: »Der Bursche hat uns nicht in die Irre geleitet. Hier sind tatsächlich Fährten, ich bin überzeugt, die von Uther Madduc und Poliamides.« Der Erjin rannte das Tal entlang und winkte ihnen immer wieder zu, ihm zu folgen, und nicht weniger drängend als zuvor. Die Männer folgten bedächtiger,
als er es offenbar für angebracht hielt, denn er rannte weiter und blieb nur kurz stehen, um ihnen erneut zu winken. Kurgech hielt abrupt an und beugte sich über die Fährte. »Seltsam«, murmelte er. Jetzt studierte auch Jemasze die Spuren. Elvo sah ihm nur nervös dabei zu, während Moffamides noch nervöser von einem Fuß auf den anderen trat. Kur gech deutete auf den Sand. »Das ist Poliamides' Spur. Er trug die flachen Windläufersandalen. Die hier, mit den Absatzabdrücken, ist Uther Madducs. Zuvor ging Poliamides voraus, mit zweifellos vorsichtigen Schritten. Hier war Uther Madduc der erste, seine ziemlich großen Schritte verraten Aufregung und Ei le. Poliamides war hinter ihm, sieh her, hier hat er kurz angehalten, um zurückzublicken. Sie näherten sich nicht ihrem Ziel, sondern liefen vorsichtig und in aller Eile davon.« Alle drehten sich um und blickten das Tal hoch, außer Moffamides, der die Hände nervös ver krampfte und die drei anderen Männer beobachtete. Der Erjin stieß pfeifende und flötende Laute aus. »Laßt uns keine Zeit vergeuden«, bat der Priester. »Der Erjin wird ärgerlich und weigert sich vielleicht, uns weiter zu helfen.« »Wir brauchen keine Hilfe mehr«, brummte Jemas ze. »Wir wenden uns jetzt talaufwärts.« »Aber weshalb?« rief Moffamides. »Die Spuren führen doch flußabwärts!« »Trotzdem wollen wir das Tal hoch. Gib dem Erjin Bescheid, daß wir seine Hilfe nicht mehr benötigen.« Moffamides übermittelte die Nachricht. Der Erjin gab einen Laut von sich, der zweifellos seinen Miß mut ausdrückte. Der Priester wandte sich erneut an
Jemasze. »Es ist nicht nötig, in die Schlucht zu ge hen!« Aber Jemasze rannte bereits an Uther Madducs Fährte entlang. Der Erjin eilte mit langen, geschmei digen Schritten herbei, dann stieß er einen schreckli chen Schrei hervor, streckte die Arme aus und krümmte die Klauen. Elvo stand wie gelähmt; Mof famides duckte sich; Kurgech sprang zur Seite; Je masze riß seine Pistole aus der Halfter und erschoß die Kreatur, während sie noch durch die Luft sprang. Die vier Männer starrten reglos auf die Leiche. Moffamides wimmerte leise. »Still!« knurrte Kurgech. Jemasze steckte die Waffe ins Halfter zurück, dann drehte er sich um und mar schierte weiter die Schlucht empor. Die anderen folgten ihm. Moffamides schlurfte als letzter lethar gisch hinterher und blieb immer weiter zurück. Kur gech drehte sich zu ihm um und bedachte ihn mit wütendem Blick, woraufhin der Priester gehorsam schneller lief. Die Schluchtwände wurden allmählich immer steiler, bis sie eine fast gerade Wand vom Talboden bis zum oberen Rand bildeten. Sie kamen nun an kleinen Hainen mit Jinko- und Ringelfruchtbäumen, uaianischen Weiden und Blaufilz vorbei. Vor ihnen, noch in einiger Entfernung, lagen bestellte Felder, auf denen Jamwurzeln, gelbe Erbsen, reife goldene Ähren und rote Seidenbüsche mit purpurschwarzen Beeren wuchsen. Das ist ja ein verborgenes Paradies, dachte Elvo, still und friedlich. Unwillkürlich schritt er auf Zehenspitzen und hielt den Atem an, um zu lau schen. Der Pfad wurde zu einer schmalen Straße. Sie waren offenbar bewohntem Gebiet sehr nahe. Noch vorsichtiger bewegten die vier sich jetzt. Sie
hielten sich in den Schatten der südlichen Steilwand und benutzten die Bäume als Deckung. Plötzlich wurde der Boden unter ihren Füßen zu einem Pflaster aus geborstenem Marmor von verwaschenem Rosa. In der Felswand offenbarte sich ihnen eine riesige Grotte, die schützend ein tempelähnliches, äußerst kunstvolles Bauwerk aus Rosenquarz und Gold um gab. Beeindruckt näherten die vier Männer sich dem Schrein, wenn es ein Schrein war, und sahen zu ihrer größten Überraschung, daß das gesamte Kunstwerk aus einem einzigen, gewaltigen Rosenquarz mit gol denen Adern geschnitten war. Die Fassade, etwa dreizehn Meter hoch, wies sieben Stufen auf, jede mit elf Nischen. Überall leuchteten in dem halbdurch sichtigen Quarz die Goldadern, und in den Nischen hatten begnadete Künstler Reliefs geschaffen, die sich genau dem natürlichen Verlauf der Adern und der schwachen Maserung des Steins anpaßten, so daß man meinen konnte, der Stein selbst hätte sie hervor gebracht und wolle mit ihnen eine wahrheitsgetreue Geschichte erzählen. Die Reliefs stellten Schlachtenszenen von Kämpfen zwischen stilisierten Erjinen und Morphoten dar. Beide trugen eine sehr eigenartige Rüstung oder Kampfkleidung, und sie benutzten zweifellos Ener giewaffen. Elvo, der völlig hingerissen war, berührte ein Reli ef. Wo seine Fingerspitzen die Staubschicht abwisch ten, leuchtete der Rosenquarz in einem so lebendigen Licht, daß es wie pulsierendes Blut aussah. Auf der untersten Stufe oder Terrasse führten sechs Öffnungen in den Schrein. Elvo trat durch die, die
ganz auf der linken Seite lag, und kam in eine hohe schmale Halle beziehungsweise in einen Gang, der so im Bogen verlief, daß er zu der Öffnung ganz rechts führte. Das Licht in diesem Bogengang wurde durch verschiedene Scheibenfenster aus Rosenquarz gefil tert und war vom Rot schweren, alten Weines. Jeder Quadratzentimeter war mit mikroskopischer Präzisi on gemeißelt, das Gold leuchtete hell und gestattete einen Blick auf jede Einzelheit. Ehrfurchtsvoll wan delte Elvo durch den Gang. Als er durch die rechte Öffnung aus dem Schrein kam, trat er durch die nächste, der Mitte zu. Hier war das Licht heller, von Korallenrot. Dieser Bogengang hatte nur etwa zwei Drittel der Länge des ersten. Nachdem er auch hier hindurch war, betrat er den mittleren Gang, wo das Licht von rosigem Glanz war und die goldenen Ver zierungen sich funkelnd vom einfallenden Tageslicht abhoben. Wieder am Eingang angelangt, blieb er vor dem großartigen Kunstwerk stehen und betrachtete die siebenstufige Vorderseite. Ein verborgener Schatz, dachte er, wie er nirgends sonst auf dieser und allen anderen Welten des gesamten Gaeanischen Territori ums zu finden war. Er trat näher heran, um die Reli efs besser studieren zu können. Ihr stilisierter Kon ventionalismus blieb ihm so gut wie unverständlich. Es war unmöglich, sich aus der Zusammensetzung der einzelnen Teile sofort ein Bild zu machen. Es sah jedenfalls so aus, als ob Erjinen gegen Morphoten kämpften, doch die beiden Gruppen waren aufgrund ihrer Rüstung nur schwer zu erkennen. Erjinen flogen in Raumschiffen, wie man sie im Gaeanischen Terri torium noch nie gesehen hatte.
Erjinen standen triumphierend über Toten von zweifellos menschlicher Gestalt. Aufgeregt wandte er sich an Gerd Jemasze. »Das muß ein Denkmal sein, eine historische Aufzeichnung! In den Gängen findet man die Einzelheiten, in den äußeren Nischen dage gen eine Art Verzeichnis oder einen Überblick oder eine Zusammenfassung.« »Sie dürften recht haben.« Kurgech hatte die Fährte weiterverfolgt. Er kam jetzt zurück und deutete auf eine Kluft, dichtgedrängt mit blauen Jinkos, über die etwa ein Dutzend rosa Schirmbäume in verrücktem Winkel hinausragten. »Dort oben auf dem Rand haben wir Uther Madducs Spur wiedergefunden. Sie führte, wie wir schon wußten, die Klamm hinunter. Poliamides brachte ihn hierher und dann das Tal hoch.« Elvo betrachtete nachdenklich den siebenstufigen Schrein aus Rosenquarz und Gold. »Ist das wohl Uther Madducs ›großartiger Witz‹?« fragte er. »Aber weshalb sollte er ihn so spaßig finden?« »Es gibt noch mehr zu sehen«, sagte Jemasze. »Wir wollen das Tal hinaufgehen.« »Mit äußerster Vorsicht«, warnte Kurgech. »Uther Madduc kehrte mit viel größerer Eile zurück, als er sich hochbegab.« Etwa vierhundert Meter führte die Spur am Fluß entlang, dann in ein Wäldchen düsterer Schwarz gummi, die dicht beisammenstanden. Kurgech schritt voraus. Methuen war unmittelbar über ihnen, aber nur vereinzelte Strahlen fielen durch die mächtigen Kronen, und die Schatten auf dem Bo den waren von samtiger Schwärze. Der Pfad führte aus dem Wald hinaus. Die vier
Männer versteckten sich hinter den Bäumen und blickten auf das Lager, das vor ihnen lag und von dem aus die Erjinen in die Sklaverei geschickt wur den. Elvos erste Gefühlsregung war Enttäuschung. War er so weit gekommen und hatte er so viel durchge macht, nur um auf ein paar unauffällige Steingebäu de um einen staubigen Hof herum zu starren? Er ahnte, daß weder Jemasze noch Kurgech die Absicht hatten, sich das Ganze näher anzusehen, und die Angst, die Moffamides verriet, war schon fast Panik. Der Priester zupfte Jemasze am Ärmel. »Komm, wir wollen schnell wieder weg von hier. Wir befinden uns in allergrößter Lebensgefahr!« »Wie seltsam! Du hast uns zuvor nicht davor ge warnt.« »Weshalb sollte ich?« sagte Moffamides trotz seiner Verzweiflung höhnisch. »Der Erjin beabsichtigte euch zu den Tanglin-Fällen zu bringen. Ihr wäret jetzt schon weit weg und lebtet vermutlich nicht mehr.« »Es gibt ja kaum etwas zu sehen«, brummte Jemas ze. »Wo liegt da die Gefahr?« »Du hast kein Recht, danach zu fragen.« »Dann warten wir eben ab.« Ein Dutzend Erjinen kam auf den Hof heraus. Sie blieben in einer lockeren Gruppe stehen. Vier Männer in weißen Priestergewändern traten aus einem der Steingebäude, aus einem anderen zwei weitere Er jinen und noch ein Priester. Ganz plötzlich rannte Moffamides aus dem Wald hinaus und rannte schrei end auf den Hof zu. Jemasze fluchte und zog die Pi stole. Er zielte auf Moffamides, doch dann brummte er etwas Unverständliches und schoß doch nicht. El
vo, der vor Schrecken wie erstarrt gewesen war, emp fand fast etwas wie Dankbarkeit gegenüber Jemasze. Es wäre nicht richtig gewesen, das Häufchen Elend, das Moffamides war, zu töten, denn er schuldete ih nen schließlich keine Loyalität. »Wir verschwinden besser, und zwar schnell«, brummte Jemasze. »Wir steigen am besten die Klamm hoch, durch die Madduc herunterkam. Das dürfte der kürzeste Weg zurück zu unserem Wagen sein.« Sie rannten durch den Wald, den Weg an den Fel dern entlang, überquerten den Fluß und hasteten zu der bewaldeten Kluft gegenüber dem Schrein. Eine Gruppe Erjinen stürmte aus dem Wald. Sie sahen die drei Männer und machten sich an ihre Ver folgung. Jemasze feuerte seine Pistole leer. Einer der Erjinen wurde von der Dexax-Ladung getroffen und brach tot zusammen. Die anderen warfen sich flach auf den Boden und legten ihre langen Windläu ferflinten an. Es gelang Jemasze, Kurgech und Elvo, hinter den Bäumen in der Kluft Deckung zu finden, ehe die ersten Kugeln durch die Luft pfiffen. Jemasze stieß ein neues Magazin in seine Waffe, zielte sorgfältig und traf einen zweiten Erjin, aber da stürzte noch etwa ein Dutzend aus dem Wald. Ent setzt schrie Elvo: »Lauft! So lauft doch! Es ist unsere einzige Chance.« Jemasze und Kurgech achteten gar nicht auf ihn. Elvo blickte sich verzweifelt um und hoffte auf ein Wunder. Die Sonne stand nun ein wenig schräg. Ihr rosiges Licht erfüllte das ganze Tal, und der sieben stufige Schrein leuchtete in unirdischer Schönheit. Selbst in seiner großen Angst fragte Elvo sich, wer ihn
wohl geschaffen haben mochte. Erjinen zweifellos. Aber wie lange lag das wohl schon zurück? Und un ter welchen Umständen hatten sie ihn erbaut? Jemasze und Kurgech feuerten pausenlos auf die Erjinen, die sich nun in den Wald zurückzogen. »Sie werden die Wand hochklettern und von oben auf uns herunterschießen«, befürchtete Jemasze. »Wir müssen vor ihnen oben sein!« Keuchend und mit heftig pochenden Herzen klet terten sie die Klamm hoch. Allmählich ließen sie die Bäume hinter sich, und der Himmel zeichnete sich über ihnen ab. Der Rand des Tafellands war schon ganz nahe. Unter ihnen knallten Schüsse, die schon ziemlich knapp einschlugen. Als Elvo hastig über die Schulter zurückblickte, sah er die Erjinen ihnen mü helos folgen. Sie schnappten kurz nach Luft, als sie den Kamm erreicht hatten. Elvo ließ sich keuchend niederfallen, doch Jemasze packte ihn an der Schulter. »Sie kom men schon. Wir müssen weg!« Elvo taumelte auf die Füße und sah ein Dutzend Erjinen am Rand des Plateaus, etwa fünfhundert Meter nördlich. Jemasze blickte sich einen Moment um. Geradeaus im Osten, hinter mehreren Hügeln und Klüften, wartete der Landewer. Würden sie je doch versuchen, in diese Richtung zu fliehen, kämen sie in Schußweite der Erjinenwaffen, und es wäre schnell aus mit ihnen. Hundert Meter südlich erhob sich eine zerklüftete Pyramide aus bröckligem Gneis: eine natürliche Redoute, die ihnen zumindest zeit weiligen Schutz bieten mochte. Die drei Männer kletterten das lose Geröll nach oben, wo ein fast fla ches Plateau von etwa sechzehn Meter im Durchmes
ser vor ihnen lag. Jemasze und Kurgech warfen sich sofort auf den Boden und krochen zum Rand, um auf die Erjinen auf der Hochebene unterhalb zu schießen. Elvo duckte sich und holte seine Waffe hervor. Er zielte, aber er brachte es einfach nicht fertig, abzu drücken. Welche Seite war denn im Recht? Sie waren als Eindringlinge hierhergekommen, durften sie denn jene erschießen, die nur ihr eigenes Recht verteidig ten? Jemasze bemerkte Elvos Unentschlossenheit. »Was ist denn mit Ihrer Pistole?« »Mit der Waffe? Nichts. Aber es ist doch alles zwecklos. Wir sitzen hier oben in der Falle. Was be deutet da schon ein toter Erjin mehr oder weniger?« »Wenn uns dreißig Erjinen angreifen, und wir dreißig töten, können wir ungestört unseres Weges ziehen«, erklärte ihm Jemasze barsch. »Töten wir nur fünfundzwanzig, dann sitzen wir, wie Sie so schön sagen, in der Falle.« »Es ist doch unmöglich, alle dreißig zu erwischen«, murmelte Elvo. »Ich hoffe aber, daß es uns gelingt.« »Und wenn es mehr als dreißig sind?« »Ich bin nicht an Hypothesen interessiert«, schrie Jemasze, »nur daran, zu überleben.« Noch während er sprach, zielte und feuerte er mit solcher Wirkung, daß die Erjinen sich zurückzogen. Kurgech blickte südwärts. »Wir sind umzingelt.« Elvo setzte sich auf eine Felsleiste. Die Sonne, die nun am westlichen Himmel stand, warf ihre Schatten über das kleine kahle Plateau. Kein Wasser, dachte Elvo. In drei oder vier Tagen würden sie tot sein. Er stützte müde die Ellbogen auf die Knie und ließ den
Kopf hängen. Jemasze und Kurgech murmelten eine Weile miteinander, dann setzte Kurgech sich so, daß er den östlichen Horizont überschauen konnte. Elvo blickte ihn erstaunt an. Gerade die Ostseite der na türlichen Pyramide war vor einem Angriff am ge schütztesten... Er atmete tief und versuchte, sich bes ser zu beherrschen. Der Tod war ihm sicher, aber er würde ihm mit soviel Würde wie nur möglich entge gensehen. Er erhob sich und spazierte über das Pla teau. Jemasze drehte den Kopf, sein Gesicht verzog sich grimmig. »Nieder!« brüllte er. »Narr!« fügte er ein wenig leiser hinzu. Eine Kugel pfiff durch die Luft. Ein heftiger, un sagbar schmerzhafter Schlag warf Elvo zurück. Er stürzte rückwärts auf den Boden und blieb in den Himmel starrend liegen.
11
Auf Morgenwacht verging ein Tag wie der andere. Schaine und Kelse studierten immer wieder die manchmal rätselhaften Notizen, die Uther Madduc hinterlassen hatte, und beschäftigten sich mit einem neuen System für die Verwaltung der Domäne. Jeden Morgen besprachen die beiden sich beim Frühstück. Manchmal verlief die Besprechung har monisch, doch des öfteren gerieten die beiden sich auch in die Haare. Schaine mußte leider feststellen, daß sie Kelse trotz ihrer natürlichen Zuneigung hin und wieder gar nicht mochte. Kelse war mürrisch, starr in seinen Ansichten und humorlos geworden, und das verstand sie nicht. Gewiß, er hatte durch den Verlust seines Armes und Beines viel mitgemacht, und es behinderte ihn in mancher Beziehung auch jetzt noch, aber trotzdem! An seiner Stelle würde sie sich davon nicht so beeinflussen lassen und ständig darüber grübeln. Da kam ihr ein anderer Gedanke. Vielleicht liebte Kelse eine Frau, die ihn wegen seiner Verkrüppelung abgewiesen hatte? Dieser Gedanke faszinierte sie ungemein. Wer könnte es sein? Das gesellschaftliche Leben zwischen den Domä nen war recht lebhaft. Es gab vergnügte Hauspartys, Bälle, Fiestas und Karoos, die allerdings blasse Imita tionen der Uldra-Karnevals der Lust waren. Kelse hatte erwähnt, daß er selten an solchen Festlichkeiten teilnahm. Als deshalb eine Einladung von der ElloraDomäne zu einem ganztägigen Picknick in dem herr lichen Ellora-Garten kam, nahm Schaine sowohl für
sich selbst als auch für Kelse an. Das Picknick war ein wundervolles Vergnügen. Zweihundert Gäste streiften durch den fünfzig Mor gen großen Park, den die Familie Lilliet schon seit zweihundert Jahren unterhielt und den jede Genera tion der Lilliets noch auf diese oder die andere Weise verschönt hatte. Schaine amüsierte sich großartig, ließ jedoch Kelse nicht aus den Augen. Wie sie erwartet hatte, machte er gar keinen Versuch, sich unter die jungen Leute zu mischen – obwohl er doch nur zwei Jahre älter als sie war –, sondern unterhielt sich aus schließlich mit den anwesenden Landbaronen. Schaine frischte viele alte Bekanntschaften auf und erfuhr, wie sie ebenfalls erwartet hatte, daß die jun gen Mädchen Kelse für scheu und abweisend hielten. Sie setzte sich neben ihn und sagte: »Ich habe gera de ein paar tolle Komplimente für dich eingeheimst. Ich sollte es vielleicht nicht erwähnen, sonst wirst du noch eingebildet.« »Kaum zu befürchten«, brummte Kelse, und Schai ne nahm es als Aufforderung, weiterzusprechen. »Ich habe mich mit Zia Forres unterhalten. Sie hält dich für ungemein attraktiv, aber sie hat Angst, mit dir zu reden, weil sie befürchtet, du würdest recht barsch und unfreundlich zu ihr sein.« »So furchterregend kann ich doch wirklich nicht sein, und eingebildet bin ich ganz sicher nicht. Wenn sie wirklich Lust hat, kann sie sich jederzeit mit mir unterhalten.« »Du scheinst nicht sehr beeindruckt von dem Kompliment.« Kelse schenkte Schaine ein schwaches Lächeln. »Es überrascht mich.«
»Nun, dann schau zumindest freudig überrascht aus, und nicht, als hätte dir jemand einen Stein auf den Fuß fallen lassen.« »Auf welchen Fuß?« »Meinetwegen auf deinen Kopf.« »Weiß du, um ganz ehrlich zu sein, meine Gedan ken sind im Augenblick ganz woanders. Es gibt Neuigkeiten von Olanje. Die Redemptoristen haben die Mull zu einem Dekret überredet – gegen unsere Interessen, natürlich.« Schaine begann den Mut zu verlieren. Wenn diese Probleme sich nur lösen würden – oder man sie we nigstens heute vergessen könnte! Resigniert fragte sie: »Welche Art von Dekret?« »Die Landbarone sollen die Auflage bekommen, sich mit einem Rat der Stammesoberhäupter zusam menzusetzen. Wir müssen jeglichem rechtlichen An spruch auf das Domänengebiet entsagen. Das Besitz recht geht auf jene Stämme über, die im Domänenge biet leben. Wir dürfen die Häuser behalten und zehn Morgen Grund ringsum. Und falls es dem Rat des oder der Stämme gefällt, dürfen wir einen Pachtver trag abschließen, für nicht länger als zehn Jahre für ein größeres Gebiet, aber nicht mehr als tausend Morgen pro Domäne.« Schaine sagte leichthin: »Es könnte schlimmer sein. Sie hätten schließlich auch noch unsere Häuser be schlagnahmen können!« »Sie haben bis jetzt überhaupt nichts beschlag nahmt. Ein Dekret ist nichts weiter als Worte. Wir halten das Land und werden es weiter behalten.« »Das ist aber unrealistisch, Kelse.« »Mir scheint es durchaus realistisch. Wir haben un
sere politische Formation für unabhängig von der Mull erklärt. Sie kann nicht mehr über uns bestim men.« »Versuche wenigstens, realistisch zu sein. Szintarre hat eine Millionenbevölkerung. Die politische For mation, von der du sprichst, umfaßt ein paar tausend Bürger. Die Mull hat viel mehr Macht. Wir müssen uns fügen.« »Du darfst Macht nicht mit der Bevölkerungszahl gleichsetzen, schon gar nicht mit der städtischen. Aber unmittelbare Schwierigkeiten gibt es ohnehin nicht, zumindest nicht von unserer Seite. Wir werden keine Redemptoristen umbringen, außer sie kommen hierher, um uns zu töten. Doch ich hoffe, das werden sie sich überlegen.« Schaine drehte sich abrupt um. Sie war furchtbar wütend auf Kelse und in der Stimmung, irgend etwas Unüberlegtes zu tun. Aber sie beherrschte sich und suchte alte Freunde, um sich mit ihnen zu unterhal ten. Doch der Tag hatte jeden Reiz für sie verloren. Als Kelse und Schaine nach Morgenwacht zurück kamen, stellten sie erstaunt fest, daß sechs Ao-Älteste auf dem Rasen vor dem Haus saßen. »Was ist pas siert?« murmelte Kelse. »Sie haben sicher auch die Neuigkeit von Olanje gehört und sind gekommen, um sich deine Unter schrift für einen Pachtvertrag zu holen.« »Sehr unwahrscheinlich.« Trotzdem zögerte Kelse, als er auf sie zuschritt. »Vorsichtshalber gehst du lie ber ins Haus«, wandte er sich vorher noch an sie. So stand Schaine jetzt in der großen Vorhalle und beob achtete Kelse, der sich den Aos näherte. Er kam schneller ins Haus zu ihr, als er zu ihnen
gegangen war. Schaine rannte ihm entgegen. »Was ist passiert?« »Ich muß sofort mit dem Standard in den Norden. Zargech hat eine Botschaft von Kurgech erhalten, eine Gedankenbotschaft, natürlich, die im großen ganzen nur besagt, daß Kurgech, Gerd und Glissam sich in Schwierigkeiten befinden.« Schaines Herz klopfte im Hals. »Wissen sie denn nichts Näheres? Wie oder weshalb, oder wo?« »Ich bin mir nicht sicher, was sie wissen. Sie wol len, daß ich sie zu den Volwoden bringe.« »Und was ist mit Gerd und Elvo?« »Davon sagten sie nichts.« »Ich komme mit dir.« »Nein, die Gefahr ist zu groß. Ich bleibe über Funk mit dir in Verbindung.« Gegen Mitternacht kam der Luftwagen mit Kurgech, Gerd Jemasze und dem bewußtlosen Elvo Glissam auf einer improvisierten Bahre zurück. Kelse hatte ihn sofort mit einem Allzweckheilmittel aus dem Standard behandelt und ihm auch noch schmerzstil lende Tabletten eingeflößt. Gerd und Kurgech trugen die Bahre in die Krankenstation, wo Cosmo Brasbane, der Domänenmediziner, Elvos Kleidung entfernte und ihn ärztlich versorgte. Kurgech machte sich daran, das Haus zu verlassen. Gerd rief ihn zurück. »Wohin gehst du denn?« »Das ist das Morgenwacht-Haus«, erwiderte Kur gech ernst. »Die Traditionen deines Volkes sind sehr strikt.« »Du und ich, wir haben soviel miteinander durch gemacht«, sagte Gerd. »Ohne dich wären wir alle tot.
Was für mich gilt, gilt auch für dich!« Schaine, die Gerd Jemasze erstaunt ansah, ver spürte plötzlich ein alles überschwemmendes Gefühl der Wärme in sich. Sie wollte gleichzeitig lachen und weinen. Natürlich! Natürlich! Jetzt wußte sie es! Sie liebte Gerd Jemasze! Ihre dummen Vorurteile und Verständnislosigkeit hatten verhindert, daß sie sich dessen eher bewußt wurde. Gerd Jemasze war ein Mann der Alouanen! Sie war Schaine Madduc von Morgenwacht! Elvo Glissam? »Nein!« Kelse sagte brüsk, und möglicherweise spürte nur Schaine das unmerkliche Zögern. »Gerd hat völlig recht. In einer solchen Situation sind Förmlichkeiten nicht angebracht.« Kurgech schüttelte lächelnd den Kopf und machte einen Schritt rückwärts. »Die Expedition ist vorbei, die Umstände sind wieder wie zuvor. Unser Leben un terscheidet sich von eurem, und so soll es auch sein.« Schaine rannte auf ihn zu. »Kurgech, sei doch nicht so formell und ablehnend. Ich möchte gern, daß du bleibst. Du bist bestimmt ebenfalls hungrig, und es gibt gleich etwas zu essen.« Kurgech schritt zur Tür. »Habt Dank, Lady Schai ne, aber ihr seid Ausker, ich bin ein Uldra. Heute abend werde ich mich unter meinen eigenen Leuten wohler fühlen.« Er verließ das Haus. Am Morgen stieg Elvo Glissam mit bandagierter Schulter und dem linken Arm in der Schlinge zum Frühstückstisch hinunter. Die anderen unterhielten sich bereits angeregt. Jeder fühlte sich insgeheim ein wenig bedrückt, bemühte sich jedoch, künstlich eine fast euphorische Stimmung aufkommen zu lassen, so
daß man alle möglichen Themen anschnitt und Mei nungen von sich gab, die man unter normalen Um ständen nicht zur Sprache gebracht hätte. Mit schwacher, aber verwundert klingender Stim me, wie jemand, der einen Alptraum beschreibt, er zählte Elvo Glissam aus seiner Sicht von den vergan genen zwei Wochen. Und so erfuhren Schaine und Kelse ein wenig ausführlicher als aus Gerd Jemaszes knappem Bericht, was die drei erlebt hatten. »Aber wo bleibt der ›großartige Witz‹? Bis jetzt ha be ich von euch noch nichts gehört, was auch nur ent fernt spaßig gewesen wäre.« »Vater hatte einen eigenwilligen Humor, wenn man bei ihm überhaupt von Humor sprechen konn te«, murmelte Kelse. »Doch, er muß ganz sicher Humor gehabt haben«, erklärte Elvo Glissam überzeugt. »Nach allem, was ich über ihn gehört habe, war er ein bemerkenswerter Mann.« »Also gut«, forderte Schaine ihn heraus. »Wo ist dann dieser großartige Witz?« »Er ist zu spitzfindig für mich«, gestand Elvo. Schaine glaubte aus dem Augenwinkel ein ver stohlenes Lächeln auf Gerd Jemaszes Zügen zu be merken. »Gerd! Du kennst ihn!« »Es ist nur eine Vermutung.« »Bitte, sprich schon!« »Laß mich erst darüber nachdenken. Ich bin mir nicht sicher, ob es ein Witz oder eine Tragödie ist.« »Erzähl! Laß uns entscheiden!« Gerd Jemasze öffnete die Lippen, aber er zögerte zu lange. Elvo, der fast berauscht vor Freude über die entspannte Situation war, sprach zuerst. »Witz oder
nicht Witz, der Schrein ist eine beachtliche Entdek kung. Morgenwacht wird bald so berühmt sein wie Gomaz und Sadhara. Von Olanje wird es in Kürze extra Flüge mit Führung geben.« »Wir könnten dort ein Hotel bauen und ein Ver mögen machen«, meinte Schaine. »Was wollen wir mit einem Vermögen?« brummte Kelse. »Wir haben soviel Geld, wie wir benötigen.« »Wenn man uns Morgenwacht behalten läßt!« »Wer sollte es uns wegnehmen? Sag nur nicht, die Mull.« »Die Mull!« »Nein!« »Ich bin für das Vermögen«, erklärte Schaine. »Wir brauchen einen neuen Salonwagen. Vergiß nicht, der Sturdevant ist ein Wrack. Wir sollten einen neuen kaufen.« Kelse schüttelte tadelnd den Kopf. »Und wie ge denkst du ihn zu bezahlen? Weißt du überhaupt, wieviel ein guter Salonwagen kostet?« »Was ist schon Geld? Wir machen unsere eigenen Führungen zu diesem wundervollen Denkmal. Und vergiß nicht: das Hotel!« »Gehört das Tal eigentlich zur Palga oder dem Re tentum, oder wozu sonst?« fragte Elvo. »Ich habe auch schon darüber nachgedacht«, ge stand Gerd Jemasze. »Die Schlucht verläuft westlich und südlich aus den Volwoden. Das ist Ao-Land und gehört zur Morgenwacht-Domäne.« »Dann dürfte es ja keine Probleme geben«, freute sich Elvo. »Ihnen gehört ein großartiges historisches Monument, und Sie haben jedes Recht, dort ein Hotel zu bauen.«
»Nicht so schnell«, unterbrach ihn Kelse. »Die Mull und die Redemptoristen behaupten, uns gehöre nicht mehr als das Hemd auf dem Rücken.« »Ja, ich pflichte Ihnen bei, daß die Sache gesetzlich geregelt werden muß«, sagte Elvo. »Doch obgleich ich ein Redemptorist bin, wünsche ich meinen Freun den hier auf Morgenwacht nur das Beste.« »Merkwürdig, daß die Aos nichts von dem Schrein wissen«, murmelte Gerd Jemasze. »Ich habe die Karte genau studiert, es ist wirklich Ao-Land.« »Er ist auch unmittelbar am Retentum«, warf Kelse ein. »Möglicherweise wissen die Garganchen darüber Bescheid.« »Ah!« rief Schaine. »Jetzt ist mir alles klar. Jorjol hat von dem Monument erfahren. Er will dort ein Hotel bauen, und deshalb ist er darauf aus, uns aus Mor genwacht zu verjagen.« »Ich traue Jorjol alles zu«, brummte Kelse. »Du tust dem armen Tortilla unrecht«, tadelte ihn Schaine. »Er ist im Grund genommen geradeheraus und offen. Ich verstehe ihn absolut.« »Dann bist du aber die einzige.« Kelse schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich kann Schaine auch nicht beipflichten«, erklärte Elvo. »Jorjol ist eine äußerst komplexe Persönlichkeit. Er hat keine Wahl. Betrachten wir ihn einmal vom Gesichtspunkt des Psychologen. Er ist gleichzeitig Ausker und Uldra. Seine Gedankengänge leiten sich gleichermaßen von beiden ab. Mit jeder Idee kommt ihm auch ein Widerspruch. Es ist ohnehin erstaun lich, daß er trotzdem so fähig ist.« »So verwunderlich ist das gar nicht«, warf Kelse ein. »Ob Ausker oder Uldra, wie man es auch drehen
mag, an erster Stelle ist Jorjol ein Egoist. Er wechselt seine Rollen, wie es ihm gerade in den Kram paßt. Im Augenblick ist er ein hundertprozentiger Garganche: der von seiner Mission überzeugte Graue Prinz. Es könnte sehr leicht sein, daß er der Pilot des Himmels hais war, der Vater abgeschossen hat, und den Apex natürlich auch.« Schaine blickte ihn abfällig an. »Welch absoluter Unsinn! Du solltest Jorjol wirklich besser kennen. Er ist stolz und ritterlich! Nie würde er einen gemeinen Anschlag verüben!« Kelse war nicht überzeugt. »Nach dem Moralbe griff der Garganchen ist gerade ein gemeiner An schlag das Zeichen von Mut, Stolz und Ritterlichkeit.« »Du bist Jorjol gegenüber einfach nicht fair!« brau ste Schaine auf. »Sein ›Mut, Stolz und seine Ritter lichkeit‹, oder wie immer man es nennen mag, haben dir schließlich das Leben gerettet. Zumindest mußt du ihm Mut zugestehen.« »Gut, das tue ich auch. Trotzdem halte ich nicht viel von seiner Loyalität.« »Loyalität für wen? Ich hatte nie Grund, mich zu beschweren.« »Natürlich nicht, du warst ja auch verliebt in ihn.« Schaine seufzte tief. »Ich würde es eher verschos sen nennen.« »Nun, jedenfalls scheint es, als wäre Vaters Hand lungsweise gerechtfertigt.« Schaine nahm sich mit Mühe zusammen, um jetzt keinen ernsthaften Streit mit Kelse anzufangen. Sie erwiderte ruhig, und, wie sie hoffte, vernünftig: »Va ter meinte es gut. Er gab Tortilla sehr viel, in einem sorgfältig berechneten Maß. Aber verständlicherwei
se sah Tortilla mehr die Beschränkung als die Groß zügigkeit. Kann man ihm das verdenken? Versetz dich doch in seine Lage: er war halb ein Angehöriger der Familie, halb ein dahergelaufener oder vielmehr aufgeklaubter Blauer, der seine Mahlzeiten in der Kü che einnehmen mußte. Er durfte zwar den Kuchen bewundern und vielleicht sogar den Teig probieren, aber nie bekam er ein Stück davon ab bildlich gespro chen, natürlich.« Elvo glaubte einen geistreichen Witz zu machen, als er sagte: »Und Sie waren der Kuchen? Nun, ich hoffe nicht.« Schaine hob die Brauen und blickte kühl zur Seite. Die Bemerkung erschien ihr geschmacklos, um so mehr, da sie Jorjol nach Kelses Rettung mehr als eine Kostprobe erlaubt hatte. Als ihr Vater dahinterkam, wäre er fast explodiert. Jedenfalls sorgte er dafür, daß Jorjol sofort in eine Richtung und sie, Schaine, zwei unddreißig Lichtjahre in eine andere abgeschoben wurden. »Es liegt schon alles so lange zurück«, sagte sie mit ruhiger Stimme. Sie erhob sich. »Das Gespräch kotzt mich an!« schrie sie.
12
Gerd Jemasze flog mit seinem jüngeren Bruder Ada re, zwei Vettern und einem Neffen mit dem Standard zur Palga hoch und hinüber, wo die Sarai am Fuß der Volwoden endete. Der Landewer stand noch, wie sie ihn verlassen hatten. Gerd und Adare Jemasze und ihr Neffe segelten mit dem Wagen nach Osten, wäh rend die Vettern mit dem Standard über ihnen flogen. Bei gutem Wind benötigte der Ewer nur einen Tag zum Depot Nr. 2. Gerd Jemasze bezahlte die Leihge bühr für den Landewer und untersuchte den DacyFlugwagen, den Moffamides' Fiap tatsächlich ge schützt hatte. Ein neuer Priester hielt Amt, ein mage rer, junger Mann mit brennenden Augen und schmalen, zitternden Lippen, der keinen Blick von ihnen ließ, ihnen aber auch kein Wort gönnte. Jemas ze fragte sich, ob Moffamides wohl inzwischen hoch auf einem Baum des Alubans thronte, aber er fragte den jungen Priester, der sie auf einer Seite des Hofes beobachtete, vorsichtshalber nicht. Gerd Jemasze war kaum nach Suaniset zurückge kehrt, als er von Morgenwacht Nachricht über einen ungewöhnlichen Einfall aus dem Retentum erhielt. Die Räuber zählten etwa vierhundert ausgesuchte Krieger der Hungen, Garganchen, Aulk und Zeffir. Der Umstand, daß sich Feinde aus Tradition hier zu sammengeschlossen hatten, war schon erstaunlich genug. Ein paar Ao-Späher wurden in ein Scharmüt zel mit der Vorhut verwickelt, zogen sich jedoch vor der Hauptmacht zurück, die zum Dorsee vorstieß, wo sie drei Ao-Kachemben entdeckten und entweihten.
Kelse rief sofort Hilfe herbei, und der Orden von Uaia sah sich zum Kampf gezwungen, ehe er noch voll etabliert war. Eine ziemlich gemischte und im provisierte Streitmacht aus Gebrauchs-, Passagiersa lon- und kleineren Luftwagen aller Art, insgesamt sechzig, mit einer Besatzung von je zwei bis acht Be waffneten, sammelte sich auf Morgenwacht-Gebiet und flog zum Dorsee, wo sie feststellten, daß die Uldra-Invasoren sich bereits über die Steinwüste westlich des Sees zurückzogen. Die Luftwaffe der Domänen griff sie mit Kanonen und Energieprojekto ren an. Sofort zerstreuten die Uldras sich in alle Richtungen. Auf ihren flinken Reittieren boten sie ein schlechtes Ziel, so daß die Strafexpedition hier nur wenig ausrichtete. Etwa zwanzig Himmelshaie stie ßen plötzlich aus den Wolken heraus und schossen in Sekundenschnelle ein Dutzend der DomänenFlugwagen ab. Noch ehe Vergeltungsmaßnahmen eingeleitet werden konnten, verschwanden die Him melshaie schon im Westen. In finsterster Stimmung kümmerten die Landbarone sich um die Abgestürz ten und kehrten in ihre Domänen zurück. Ihr Gegen angriff hatte sich nicht gerade als wirkungsvoll her ausgestellt. Die Taktik der Uldras war überlegter als ihre gewesen. Einige der Landbarone fanden sich in Morgen wacht zusammen und diskutierten über den uner freulichen Verlauf der Ereignisse. Sie waren voll Selbstüberschätzung aufgebrochen und hatten dafür bezahlen müssen. Dm. Ervan Collode, ein stattlicher Mann von hochtrabendem Auftreten, den Schaine nie gemocht hatte, gehörte zu denen, deren Luftwagen von den
Himmelshaien abgeschossen worden waren. Er war mit ein paar Blutergüssen und Prellungen davonge kommen, aber er war nun von brennendem Rache durst erfüllt. »Wir werden nie Frieden haben«, er klärte er, »ehe wir den Retentum-Stämmen nicht eine unvergeßliche Lehre erteilen. Wir müssen ihnen sol chen Respekt einflößen, daß sie nie wieder auf den Gedanken kommen, uns anzugreifen.« Dm. Joris sagte trocken: »Ich fürchte, uns fehlt die Fähigkeit, ihnen solche Angst einzujagen. Tausende von Jahren haben sie einander niedergemetzelt, und sie haben nie genug davon bekommen.« »Ja, aber sie gingen nie weit genug«, belehrte sie Dm. Collode. »Sie haben nie eine Entscheidung her beigeführt. Wenn wir ihre Herden vernichten, ihr Wasser vergiften, zwingen wir sie dazu, aufzugeben.« »Ich glaube nicht, daß eine solche Taktik bei ihnen etwas erreichen würde«, bezweifelte Dm. Joris. »Sie leben von ihren Ländern, ohne sich weiter anstrengen zu müssen, und kämen auch so zurecht. Wir würden uns die ganze Mühe umsonst machen.« »Es gibt einen wichtigen ersten Schritt, den wir keinesfalls versäumen sollten«, erklärte Jemasze. »Die Retentum-Stämme unterstehen theoretisch der Mull. Wir müssen verlangen, daß die einschreitet.« Dm. Collode zischte durch die Zähne. »Wie soll uns denn das nutzen? Die Mull wird von den Re demptoristen geführt. Haben Sie denn ihr Dekret vergessen?« Auch Kelse war gegen Gerd Jemaszes Vorschlag. »Wir können uns schließlich nicht als unabhängig er klären und im gleichen Atemzug um Hilfe ersuchen.« »Ich dachte nicht an ein Ansuchen um Hilfe«, kor
rigierte Jemasze, »sondern an eine formelle Note von einer souveränen Macht zur anderen. Ich würde sie davon benachrichtigen, daß die Retentum-Uldras nicht nur uns belästigen, sondern auch die Stamme, die in unserem Schutz stehen; daß wir beabsichtigen, entscheidende Schritte zu unternehmen die mögli cherweise die Übernahme und dauernde Machter greifung über das Retentum einschließen, falls sie ih rerseits nichts unternimmt, ihre Schützlinge in ihre Schranken zu weisen. Wenn die Mull sich nicht um unsere Note kümmert, können wir immer noch ein greifen, und sie kann dann nicht behaupten, wir hät ten sie nicht gewarnt. Sollten wir schließlich dazu ge zwungen werden, die Garganchen zu unterwerfen, haben wir dazu eine legale Grundlage.« »Was nutzt Legalität gegenüber Garganchen?« knurrte Dm. Collode. »Für einen Uldra ist nur Macht das Recht.« Schaine konnte ein sarkastisches Kichern nicht un terlassen. »Um vielleicht zu vermeiden, daß ihr euch selbst zu Narren macht, schlage ich vor, ihr steigt von eurem hohen Roß der Scheinheiligkeit. Zweihundert Jahre haben die Landbarone ihr Recht der Macht aus geübt. Jetzt, da das Blatt sich gewendet hat, braucht ihr euch über diesen Grundsatz wirklich nicht aufzu regen!« »Scheinheiligkeit steht nicht zur Debatte«, erwi derte Jemasze. »Bei jeder Auseinandersetzung zieht die schwächere Seite den kürzeren. Und da die Kräfte etwa gleich verteilt sind, ist wohl zu verstehen, daß wir vorziehen, als Sieger hervorzugehen.« »Man sollte sich auch seine Verbündeten ansehen«, mahnte Schaine und warf einen nicht gerade freund
lichen Blick auf Dm. Collode. Dm. Joris sagte schnell: »Zweifellos hat Gerd Je masze recht. Um uns ins Recht zu setzen, müssen wir als erstes die Mull verständigen.« »Wir sollten es sofort tun«, schlug Dm. Thanet von Balabar vor. »Wir sind zwar nicht gerade ein ge wählter Ausschuß, aber zweifellos können wir in die sem Fall als gesetzlich berechtigte Angehörige des Ordens von Uaia handeln.« Die kleine Gruppe zog sich in das Arbeitszimmer zurück. Kelse stellte eine Verbindung mit dem Hol rudehaus in Olanje her. Das Gesicht eines Sekretärs erschien auf dem Bildschirm. Kelse stellte sich vor. »Ich bin Dm. Kelse Madduc. Ich vertrete den proviso rischen Exekutivausschuß des Ordens von Uaia. Ich habe eine wichtige Botschaft für den Vorsitzenden der Mull.« »Der Vorsitzende der Mull, Dm. Madduc, ist in dieser Amtsperiode Dm. Erris Sammatzen. Ich freue mich, ihnen mitteilen zu können, daß er sich zur Zeit im Haus aufhält. Ich verbinde Sie.« Das Gesicht des Sekretärs verschwamm und Erris Sammatzens nahm seinen Platz ein. »Kelse Madduc? Wir haben uns doch in Villa Mirasol kennengelernt.« »Stimmt. Der Zweck meines Anrufs ist jedoch be dauerlicherweise nicht gesellschaftlicher Natur. Ich spreche für den provisorischen Exekutivausschuß des Ordens von Uaia. Ich möchte Sie darüber informie ren, daß eine große Gruppe der Uldras aus dem Re tentum, das Ihrer Verwaltungshoheit untersteht, ge stern in unser Gebiet, genau gesagt in die Morgen wacht-Domäne, eingefallen ist und dort Schandtaten, wie Mord, Plünderung und Vandalismus, verübt hat.
Wir trieben die Invasoren in das Retentum zurück und wenden uns nun an Sie, um weitere Ausschrei tungen dieser Art zu verhindern.« Erris Sammatzen überlegte einen Augenblick. »Überschreitungen wie diese, falls sie tatsächlich be gangen wurden, sind eine ernste Angelegenheit und dürfen selbstverständlich nicht geduldet werden.« »Was heißt das, ›falls sie tatsächlich begangen wurden‹?« schrie Kelse aufgebracht. »Ich habe Sie doch gerade davon informiert!« »Bitte, Dm. Madduc«, sagte Erris Sammatzen, »be trachten Sie es nicht als Beleidigung. Als Privatperson glaube ich Ihnen natürlich aufs Wort. Als Vorsitzen der der Mull muß ich jedoch verständlicherweise der Sache genauer auf den Grund gehen.« »Ich verstehe Ihre Unterscheidung nicht«, schrie Kelse. »Der Orden von Uaia informiert Sie durch mich, daß dieser Einfall stattgefunden hat, und er sucht Sie, dafür zu sorgen, daß es zu keinen weiteren Ausschreitungen kommt, da wir sonst gezwungen wären, die Sache in unsere eigenen Hände zu neh men.« »Ich muß zuerst etwas richtigstellen«, erklärte Erris Sammatzen. »Darf ich Sie daran erinnern, daß die Mull die Volksvertretung für alle Bürger Koryphons ist und deshalb auch im Interesse aller handeln muß. Die Landbarone der Alouanen sind eine Minorität, selbst in den sogenannten Domänen. Sie können sich nicht einfach als autonom erklären und eine eigene Volksvertretung aufstellen. Ich erinnere Sie auch an das kürzlich erlassene Dekret der Mull, die soge nannten Domänen Koryphons betreffend, zu dem Sie sich noch nicht geäußert haben.«
Dm. Joris, der bemerkte, daß Kelse wütend auf brausen wollte, schob ihn zur Seite. »Die von Ihnen erstellten Punkte werden noch besprochen. Wir hof fen zu einer allseits zufriedenstellenden Einigung zu kommen. Ihre Bemerkungen gehen jedoch nicht auf die Erklärung ein, die Dm. Kelse Madduc Ihnen so eben übermittelte.« »Ich kann nicht darauf eingehen«, erwiderte Erris Sammatzen, »da die Mull die Voraussetzungen, auf die sie sich begründet, nicht anerkennt. Außerdem haben wir eine Nachricht erhalten, die Ihren Be hauptungen widerspricht. Ich befehle Ihnen deshalb, sich weiterer feindlicher Handlungen gegenüber den Retentum-Stämmen zu enthalten.« Kelse schluckte vor Überraschung und Grimm. »Wollen Sie damit sagen, daß mein Bericht erlogen ist?« »Ich erkläre nur, daß der Mull gegensätzliche In formationen zugingen.« Wieder übernahm Dm. Joris das Wort. »In diesem Fall bitten wir Sie, nach Morgenwacht zu kommen und Ihre eigenen Untersuchungen anzustellen. Wenn Sie sich dann überzeugt haben, daß wir die Tatsachen wahrheitsgetreu berichteten, können Sie die nötigen Schritte gegenüber den Retentum-Stämmen einlei ten.« Erris Sammatzen überlegte etwa dreißig Sekunden lang. Dann erklärte er sich einverstanden. »Ich nehme Ihren Vorschlag an und werde mit noch einigen Mit gliedern der Mull nach Morgenwacht kommen. In zwischen ersuche ich Sie, weitere Angriffe oder Ver geltungsmaßnahmen zu unterlassen. Die gleiche Auflage erhält auch die Gegenseite.«
Dm. Joris lächelte mit schmalen Lippen. »Wir sind erfreut, uns mit der Mull zu treffen und gegenseitig annehmbare Vereinbarungen auszuarbeiten. Von uns aus gesehen, je schneller, desto besser. Inzwischen – auch wenn wir Ihr Recht, uns Befehle oder Ratschläge zu erteilen, nicht anerkennen können – werden wir von Gewaltmaßnahmen gegen die Stämme des Re tentums absehen, außer selbstverständlich in der Verteidigung unseres souveränen Territoriums.« »Wann dürfen wir Sie auf Morgenwacht erwar ten?« erkundigte sich Kelse. »Übermorgen würde am besten passen.«
13
Außer Gerd Jemasze waren die Landbarone alle auf ihre eigenen Domänen zurückgekehrt, und die Nacht hatte sich über die Alouanen herabgesenkt. Schaine setzte sich auf den Rasen vor dem Haus hinaus, der einen herrlichen Ausblick auf die sternenbeschienene Landschaft bot. Die Klumpen in ihrem Hals und Ma gen begannen sich aufzulösen, und ihre widerstrei tenden Gefühle machten einem inneren Frieden Platz. Sie liebte Morgenwacht. Das war die elementare Tatsache, nichts war so wirklich wie das. Morgen wacht mit seiner Geschichte und Tradition hatte ein eigenes Leben. Morgenwacht war wie ein großartiges Geschöpf, das überleben wollte und ein Recht auf ein eigenes Leben hatte. Wenn sie in Morgenwacht blei ben wollte, mußte sie es beschützen. Hatte sie jedoch das Gefühl, daß sie sich dadurch ins Unrecht setzte, mußte sie von hier fort und irgend woanders hin – aber das war einfach unvorstellbar! Sie dachte an Elvo Glissam und lächelte. Heute, nachdem die Landbarone mit ihrer Luftwaffe aufge brochen waren, um die Uldras zu vertreiben, hatte Elvo sie gedrängt, mit ihm nach Olanje zu kommen und ihn dort zu heiraten. Schaine hatte ohne lange Überlegung abgelehnt. Elvo nahm ihr nein ohne gro ße Überraschung hin. Er äußerte nur seine Absicht, sobald wie möglich nach Olanje zurückzukehren. Auch gut, dachte Schaine, das Leben geht weiter. Sie ging wieder ins Haus. Im Arbeitszimmer brannte noch Licht. Gerd Jemasze und Kelse hatten noch viel zu besprechen. Schaine stieg die Treppe
hoch zu ihrem Schlafzimmer auf der Westveranda. Schaine erwachte. Die Nacht war dunkel und still. Trotzdem hatte irgend etwas sie geweckt. Da hörte sie ein leises Klopfen an der Tür. Verschlafen stieg sie aus dem Bett, stolperte zur Tür und öffnete sie einen Spalt. Eine hochgewachsene Gestalt, dunkler als die Schatten dort, erwartete sie auf der Veranda. Sie erkannte sie sofort, und ihre Schläfrigkeit schwand. Sie schaltete das Licht in ih rem Zimmer an. »Jorjol! Was in aller Welt machst du hier?« »Ich bin gekommen, um dich zu besuchen.« Schaine starrte verwirrt die dunkle Veranda hoch. »Wer hat dich eingelassen?« »Niemand.« Jorjol lachte leise. »Ich kletterte den Eckpfeiler hoch – wie früher.« »Du bist verrückt, Jorjol! Was willst du denn?« »Mußt du das fragen?« Jorjol lehnte sich vor, als wolle er das Zimmer betreten, aber Schaine glitt ha stig hinaus und stellte sich neben ihn auf die Veran da. Die Nacht war von friedlicher Stille. Der Arabella wein rankte sich die Säulen hoch bis zum Dach und bildete ein dichtes Netz mit weißen Blüten, von de nen ein angenehm süßer Duft aufstieg. Jorjol rückte ein wenig näher. Schaine trat an die Brüstung und blickte hinaus, doch alles lag unter dem dunklen Mantel der Nacht, nur auf dem Wil denkrakenteich spiegelten sich ein paar Sterne. Jorjol legte seinen Arm um Schaine und beugte sich zu ihr hinab, um sie zu küssen. Schaine wandte den Kopf ab. »Laß das, Jorjol. Was willst du eigentlich hier? Es
ist besser, du verschwindest wieder.« »Komm, tu nicht so!« flüsterte Jorjol. »Du liebst mich, und ich liebe dich. So war es unser ganzes Le ben lang, und daran hat sich jetzt erst recht nichts ge ändert.« »Stimmt nicht, Jorjol. Ich bin nicht das Mädchen, das ich vor fünf Jahren war. Und du bist auch nicht mehr derselbe Tortilla.« »Da hast du völlig recht. Ich bin nun ein Mann und eine bedeutende Persönlichkeit. Fünf Jahre lang ver zehrte ich mich nach dir, und seit ich dich in Olanje wiedersah, konnte ich an nichts anderes mehr den ken.« Schaine lachte unsicher. »Sei vernünftig, Jorjol! Geh jetzt und komm morgen bei Tag wieder.« »Ha! Das kann ich nicht. Ich bin doch jetzt der böse Feind, hast du das vergessen?« »Dann sieh zu, daß sich das wieder ändert. Und benimm dich! Gute Nacht! Ich bin müde und will schlafen.« »Nein!« Jorjol hielt sie zurück und legte seine ganze Seele in seine Stimme. »Hör mich an, Schaine! Komm mit mir, mein Mädchen! Ich liebe dich! Du bist nicht einer dieser pompösen Tyrannen von Landbaronen! Du bist innerlich ganz anders. Also komm mit mir und sei frei! Wir werden so glücklich wie die Turtel tauben miteinander leben, und es soll uns an nichts des Besten fehlen, das die Welt zu bieten hat! Du ge hörst nicht hierher, das weißt du so gut wie ich!« »Da täuschst du dich aber gewaltig, Jorjol. Das hier ist mein Zuhause, und ich liebe es über alles.« »Nein, du liebst mich mehr! Komm, sag es mir, meine geliebte Schaine!«
»Ich liebe dich nicht, Jorjol, nicht ein bißchen. Ich liebe einen anderen.« »Wen? Elvo Glissam?« »Nein, natürlich nicht!« »Dann muß es Gerd Jemasze sein! Sag, ist er es?« »Ist das nicht eine sehr indiskrete Frage, Tortilla?« »Nenn mich nicht Tortilla!« Jorjols Stimme klang schrill und durchdringend. »Und es ist nicht indis kret, weil ich dich für mich haben will. Du hast es nicht geleugnet. Dein neuer Liebhaber ist also Gerd Jemasze!« »Er ist nicht mein Liebhaber, weder neu noch alt. Und bitte laß mich los.« Jorjol hatte in seiner Erre gung ihre Arme umklammert. Heiser flüsterte er: »Bitte, mein Liebling, sag mir, daß es nicht stimmt. Sag, daß du mich liebst!« »Es tut mir leid, Jorjol, es stimmt aber, und ich liebe dich nicht! So, und jetzt endgültig, gute Nacht. Ich gehe ins Bett zurück.« Jorjol lachte böse. »Glaubst du wirklich, daß ich so schnell aufgebe? Du solltest mich wirklich besser kennen! Ich bin gekommen, um dich zu holen, und ich werde dich auch mitnehmen. Bald wirst du wie der nur noch mich lieben. Ich warne dich, versuche nicht, dich zu wehren!« Schaine wich erschrocken zurück, als Jorjols Finger ihre Arme wie stählerne Zangen umklammerten. Sie holte Luft, um zu schreien. Mit einer langfingrigen Hand packte Jorjol sie an der Kehle und schnürte sie zu, mit der anderen schlug er ihr unterhalb der Rip pen in die Seite, daß sie vor Schmerz in die Knie sackte... Das Verandalicht flammte auf. Schaine spürte, daß
jemand sie zur Seite zog, sah verschwommene Bewe gungen und hörte einen unterdrückten Schrei. Schaine taumelte zur Wand und lehnte sich daran. Jorjol lag auf dem Boden, mit dem Kopf gegen die Brüstung. Ein Messer steckte in der um sein Bein ge schlungenen Scheide, aus seiner Schärpe ragte der El fenbeingriff einer Pistole. Seine Hände zuckten, eine tastete sich nach der Pistole. Da trat Gerd Jemasze heran und schlug auf seinen Arm, daß die Waffe klir rend über den Boden rutschte. Schaine bückte sich und hob sie auf. Das Blut stieg ihr in den Kopf, und sie zitterte. Wieviel mochte Gerd Jemasze mitange hört haben? Jetzt standen die drei fast reglos. Jorjol war bleich, aufgewühlt von Emotionen, Jemasze finster und nachdenklich, Schaine angespannt vor Aufregung. Jorjol wandte sich ihr zu, und sie glaubte wieder Tor tilla, den Jungen von früher, zu sehen. »Schaine, geliebte Schaine – kommst du mit mir?« »Nein, Jorjol, natürlich nicht! Es ist doch absurd, auch nur daran zu denken. Ich bin keine Uldra. Ich wäre im Retentum todunglücklich.« Jorjol seufzte herzzerbrechend. »Du bist wie alle Ausker.« »Das hoffe ich nicht. Ich bin wirklich nur ich selbst.« Jorjol richtete sich steif auf. »Ich flehe dich an, beim Leben deines Bruders, das ich ihm rettete! Das ist eine Blutschuld, die man nicht verweigern darf!« Gerd Jemasze stieß einen würgenden Laut aus, als wollten die Worte in seiner Kehle sich überschlagen. Schließlich sagte er nur: »Soll ich ihr die Wahrheit er zählen?«
Jorjol blinzelte und legte den Kopf schief. »Welche Wahrheit?« »Du solltest dich besser bei Lady Schaine entschul digen und ihr versichern, daß eine solche Verpflich tung nicht existiert, und dann deines Weges gehen.« »Die Blutschuld existiert«, sagte Jorjol mit eisiger Stimme, »und ich verlange, daß sie sie bezahlt.« »Diese Schuld besteht nicht, und es gab sie auch nie. Als der Erjin Kelse angriff, bist du auf den Felsen geklettert und hast zugeschaut, während die Bestie Kelse in Stücke riß. Erst als du sahst, daß Schaine an gelaufen kam, hast du das Untier von oben erschos sen und bist schnell hinuntergesprungen, um vorzu täuschen, daß du dich selbst in Gefahr gebracht hat test. Ja, du hast dich sogar mit Kelses Blut beschmiert, weil das wirkungsvoller war. Du hast nicht versucht, Kelse das Leben zu retten. Du hast im Gegenteil zu gesehen, wie er verstümmelt wurde!« »Du lügst!« flüsterte Jorjol. »Du warst ja nicht da bei.« Jemaszes Stimme hätte nicht kälter klingen können. »Kurgech war dort. Er hat alles mitangesehen!« Jorjol stieß einen Verzweiflungsschrei aus. Er rannte zur Ecke der Veranda und schwang sich über die Brüstung. Schaine starrte Gerd Jemasze an. Ihr Gesicht war eine Maske des Entsetzens. »Ist das wahr?« »Es ist wahr.« »Es kann nicht wahr sein«, murmelte Schaine, und ihre Gedanken wanderten die Jahre zurück. »Es ist zu furchtbar, um wahr zu sein.« Es erschien ihr plötzlich so natürlich wie der Wind und das Glitzern der Ster ne am Himmel, ihren Kopf an Gerd Jemaszes Brust
zu bergen und zu schluchzen, während er tröstend die Arme um sie legte. Kelse kam langsam auf die Veranda heraus. »Es ist wahr«, versicherte er ihr. »Ich habe gehört, was du zu ihm gesagt hast. Ich habe es fünf Jahre lang vermutet. Sein ganzes Leben hat er uns gehaßt. Eines Tages werde ich ihn töten!«
14
Ein schwarz-silberner Ellux-Salonwagen kam auf Morgenwacht an. Er brachte die Delegation der Mull: Erris Sammatzen und sechs weitere. Die Ausschuß mitglieder des Ordens von Uaia, neun Landbarone, eilig durch telefonische Erklärung gewählt, waren anwesend, sie zu begrüßen. Dm. Joris hielt eine kurze und trockene Willkom mensansprache, deren Zweck es hauptsächlich war, von vornherein einen formellen Ton für die Zusam menkunft festzulegen. Aus diesem Grund trugen die Landbarone auch dunkle, fast einheitliche Anzüge und mit ihrem jeweiligen Wappen versehene Kappen. Im Gegensatz zu ihnen war die Delegation der Mull leger gekleidet. »Der Orden von Uaia heißt Sie auf Morgenwacht willkommen«, begann Dm. Joris. »Es ist unser größter Wunsch, daß diese Konferenz dazu führt, die Mißverständnisse, die zwischen unseren beiden Parteien stehen, aus dem Weg zu räumen. Wir hoffen, daß auch Sie realistisch und konstruktiv an die bevorstehenden Gespräche herangehen werden. Wir, für unseren Teil, beabsichtigen weiterhin in na her und freundlicher Verbindung mit Szintarre zu bleiben.« Sammatzen lachte. »Dm. Joris, wir danken Ihnen für Ihr Willkommen. Wie Ihnen aber sicher klar ist, kann ich Ihre weiteren Bemerkungen weder akzeptie ren noch darf ich sie ernst nehmen. Wir sind hierher gekommen, um uns mit den hiesigen Umständen vertraut zu machen, damit wir das Gebiet im besten Interesse der Majorität seiner Bewohner vertreten
können, und, wie wir sehr hoffen, schließlich zur Zu friedenheit oder zumindest im Einverständnis aller.« »Unsere Differenzen sind möglicherweise gar nicht so unvereinbar«, sagte Dm. Joris unbewegt. »Dürften wir Sie auf die Veranda bitten? Dm. Madduc hat eine kleine Erfrischung für uns bereitstellen lassen, und danach können wir, wenn es Ihnen recht ist, unser Gespräch in der Großen Halle fortsetzen.« Eine halbe Stunde unterhielten sich die Gruppen recht angeregt über allerlei Unverfängliches auf der Westveranda, dann zogen sie sich in die Große Halle zurück. Die feierliche Kleidung des Uaia-Ausschusses fügte sich gut in die Vornehmheit des Raumes, sei nem Grandeur und dem weichen Ton des alten Hol zes. Kelse bat die Mull auf eine Seite des Tisches, den Ausschuß auf die andere. Erris Sammatzen übernahm sofort den Vorsitz. »Ich will nicht vortäuschen, daß wir aus einem ande ren als dem tatsächlich angegebenen Grund hier sind«, erklärte er. »Die Mull ist die alleinige Verwal tungskorporation Koryphons. Wir sind die direkte Vertretung der Bevölkerung von Szintarre und die nen als Forum für die Bewohner von Uaia. Die Uldras stehen unter unserem lockeren Protektorat. Die Do mänen der Landbarone gehören zu unserem Ver waltungsbezirk, nach Protokoll sowohl formell als auch informell. Sie haben demnach das Recht auf Pe tition und Einspruch. Wie Sie wissen, hielten wir es für angebracht, eine Verordnung zu erlassen, deren Artikel Ihnen bekannt sind.« Erris Sammatzen sprach nun langsam und be tont. »Wir dürfen nicht, und sind auch nicht bereit, die Auflehnung von ein paar hundert eigensinnigen
Männern und Frauen hinzunehmen, die Ansprüche von Aristokraten stellen, auf die sie kein Recht haben. Ein natürlicheres und gerechtes System ist schon lan ge überfällig, und ich möchte Sie daran erinnern, daß dem absoluten Bestimmungsrecht der Landbarone über riesige Domänen, die sie sich durch Gewalt und Zwang aneigneten, hiermit ein Ende gesetzt wird. Der Eigentumsanspruch auf das Land geht wieder an jene Stämme über, die ein traditionsbedingtes und le gitimes Recht auf das Land haben. Wir beabsichtigen keine untragbare Härte für den einzelnen und wer den dafür sorgen, daß die Übergabe ohne Zwischen fälle stattfindet.« Mit völlig ruhiger Stimme antwortete Dm. Joris: »Wir erkennen Ihr Dekret nicht an. Es entstand zwei fellos aus Altruismus, den wir Ihnen hoch anrechnen, aber es geht von verschiedenen rein doktrinären Vor aussetzungen aus. Ich darf Sie darauf hinweisen, daß die Wahl der Selbstbestimmung das Recht einer jeden Gemeinschaft ist, das nicht von ihrer Größe abhängt, vorausgesetzt, es hält sich an die Charta des Gaeani schen Territoriums. Wir richten uns strikt nach ihren Grundsätzen und beanspruchen nun dieses Recht der freien Selbstbestimmung. Ich nehme an, Sie werden jetzt sagen, damit würden die Rechte der DomänenStämme geschmälert. Das absolute Gegenteil ist der Fall. Die Faktoren, die dazu beitragen, ihnen ein – wie sie selbst es nennen – optimales Leben zu ermögli chen, waren nie günstiger. Unsere Dämme und unse re Hochwasserkontrollprojekte garantieren ihnen das ganze Jahr über Wasser für sich und ihre Herden. Wenn sie Geld benötigen, um Importware zu kaufen, können sie nach Belieben eine zeitweilige oder unbe
grenzte Anstellung annehmen. Ihre Freiheit, sich aus zubreiten, ist unbeschränkt. Nur ein paar Morgen Land unmittelbar um die Domänenhäuser sind für die alleinige Benutzung der Landbarone vorbehalten. Im Effekt gehört das Land demnach sowohl ihnen als auch uns, zur beiderseitigen Zufriedenheit und bei derseitigem Profit, wie ich betonen darf. Wir nutzen niemanden aus, wir machen nur dann Gebrauch von unseren Machtbefugnissen, wenn es zum Schutz der Domänen-Stämme selbst erforderlich ist. Wir bieten ihnen ärztliche Versorgung. Wir mischen uns nicht in ihre inneren Angelegenheiten, denn sie sind durch aus fähig, ihr eigenes Recht zu sprechen. Wir haben das Gefühl, daß Sie von der Mull zu dieser unüber legten Verordnung durch die allzu übereifrige Grup pe getrieben wurden, die sich Redemptoristen nen nen und die sich mit Abstraktionen anstatt mit Tatsa chen befassen. Ich frage Sie, was erreichen Sie durch Ihr Dekret? Nichts! Was würden die Uldras gewinnen, was sie nicht bereits haben? Nichts! Im Gegenteil, sie würden viel verlieren, genau wie wir auch. Ihre Verordnung bringt uns allen nur Unannehmlichkeiten – vorausge setzt natürlich, wir würden uns damit einverstanden erklären, was wir jedoch nicht tun.« Adelys Lam, eine hagere, nervöse Frau mit knochi gem Gesicht und unruhigen Augen, antwortete Dm. Joris. Sie sprach mit eindringlicher Stimme und be tonte ihre Worte mit anklagendem Zeigefinger. »Ich beabsichtige vom Gesetz und seiner grundle genden Natur zu sprechen, Dm. Joris. Sie haben die Worte ›doktrinär‹ und ›Abstraktionen‹ im abfälligen Sinn verwendet. Ich muß Sie darauf hinweisen, daß
jegliches Gesetz, alle ethischen Systeme, alle Moral auf Doktrinen und abstrakten Grundsätzen aufbauen, durch die wir einzelne Fälle beurteilen. Wenn wir eine pragmatische Einstellung annehmen, sind wir verlo ren – und mit uns die Zivilisation. Moral wird zur reinen Zweckdienlichkeit oder zur rohen Gewalt. Die Erlässe der Mull beruhen deshalb weniger auf den Er fordernissen des Augenblicks als auf fundamentalen Theoremen. Einer davon ist, daß der Besitzanspruch auf gestohlenes, angeeignetes oder beschlagnahmtes Eigentum nie rechtmäßig wird, gleichgültig, ob in zwischen zwei Minuten oder zweihundert Jahre ver gangen sind. Reparationen, auch wenn sie sich noch so lange hinausgezögert haben, müssen gemacht werden. Sie blicken abfällig auf die Redemptoristen herab. Ich dagegen bin sehr erfreut, daß die Redempto risten so idealistisch sind und sich auch genügend für diese, ihre Ideale einzusetzen wußten, daß es ihnen gelang, die manchmal etwas bedächtige Mull zu einer entscheidenden Handlung zu drängen.« Gerd Jemasze erwiderte mit kalter Stimme. »Ihre Ideale wären vielleicht gewichtiger, handelte es sich bei Ihnen nicht um Pharisäer und Personen mit einer kleinlichen...« »›Pharisäer‹?« fauchte Adelys Lam. »Dm. Jemasze, ich bin empört über Ihre Verwendung dieses Wortes in bezug auf die Mull!« »Ich hatte gehofft, unsere Besprechung würde sich ohne Erhitzung, Beleidigungen oder Drohungen füh ren lassen«, sagte Erris Sammatzen vorwurfsvoll. »Ich bedauere, daß Dm. Jemasze sich vergessen hat.« »Soll er uns doch beschimpfen!« rief Adelys Lam erbost. »Wir haben ein gutes Gewissen, und das ist
zweifellos mehr, als man von ihm behaupten kann.« Jemasze ließ sie ungerührt ausreden. »Meine Be merkungen waren nicht als Beschimpfung gedacht«, erklärte er. »Ich weise lediglich auf beweisbare Tatsa chen hin. Sie erlassen Gesetze gegen unsere imaginä ren Verbrechen, während Sie in Szintarre und im Re tentum ein wirkliches Verbrechen dulden, das im ge samten Gaeanischen Territorium verboten ist: die Sklaverei! Ich glaube nicht, mich zu täuschen, wenn ich annehme, daß zumindest einige unter Ihnen selbst Sklavenhalter sind.« Sammatzen blickte ihn an. »Sie sprechen zweifellos von den Erjinen. Die Tatsachen in dieser Beziehung sind jedoch nicht eindeutig.« »Die Erjinen sind keine intelligenten Geschöpfe«, erklärte Adelys Lam fest, »weder nach der Definition des Gesetzes noch überhaupt irgendwie. Sie sind klu ge Tiere, nichts weiter.« »Wir können das Gegenteil über jegliches Argu ment hinaus beweisen«, versicherte ihr Gerd Jemasze. »Ehe Sie uns abstrakter Vergehen wegen verurteilen, sollten Sie erst etwas gegen Ihre eigenen, sehr realisti schen Verbrechen unternehmen.« Erris Sammatzen sagte etwas unglücklich: »Sie bringen hier einen sehr zwingenden Punkt zur Spra che. Ich kann Ihnen nicht widersprechen. Allerdings bezweifle ich, daß Sie Ihre Anschuldigung tatsächlich über alle Zweifel beweisen können.« Adelys Lam protestierte: »Ganz sicher will man uns nur von unserer eigentlichen Mission ablenken.« »Unser Zeitplan ist durchaus flexibel«, erklärte Er ris Sammatzen fest. »Ich bin gern bereit, diese ande ren Angelegenheiten ebenfalls aufzuklären.«
Der ein wenig mürrisch wirkende Thaddios Tarr, ein weiterer Angehöriger der Mull, sagte: »Wenn wir ihr nicht nachgingen, würden wir unsere Glaubwür digkeit als objektive Verwaltungskorporation in Ge fahr bringen.« Gerd Jemasze erhob sich. »Ich denke, es wird Sie sehr überraschen.« »Was?« fragte Erris Sammatzen vorsichtig. »Uther Madduc nannte es einen ›großartigen Witz‹. Aber ich bezweifle, daß Sie darüber lachen werden.« Schaine, die an einer Seite der großen Halle mit El vo Glissam saß, murmelte: »Ich begreife nicht, wes halb überhaupt jemand lachen sollte. Verstehen Sie diesen ›großartigen Witz‹?« Elvo schüttelte den Kopf. »Ich muß gestehen, ich komme da nicht mit.« Die Mitglieder der Mull stiegen in ihren schwarz silbernen Ellux-Salonwagen. Gerd Jemasze hatte sich erboten, ihn zu fliegen. Ihm folgte ein Begleitschutz von zehn schwerbewaffneten Luftwagen. Gerd Je masze steuerte nordwestwärts über das malerischste Gebiet Morgenwachts: ein Land von atemberauben der Schönheit. Der Steilhang, der die Grenze zur Palga bildete, war bereits in der Ferne zu erkennen. Die Volwoden hoben sich in den Himmel. Die Landschaft wurde nun öde und rissig. Am Grund eines weiten Tales schlängelte sich ein glitzernder Fluß dahin: der Mellorus. Jemasze änderte den Kurs. Er ging ins Tal hinab und flog nur etwa hundert Meter über dem Fluß entlang. Die Wände der Schlucht, in der das breite Tal lag,
wurden steiler und höher und verbargen einen Teil des Himmels. Ein paar Sekunden später überflogen sie bestellte Felder und bewässerte Obstgärten, die Jemasze sofort wiedererkannte. Er verringerte die Ge schwindigkeit des Ellux, bis er nur noch zu schweben schien, dann wandte er sich an die Mitglieder der Mull. »Was ich Ihnen nun zeigen werde, haben bisher nur sehr wenige Menschen gesehen. Und die meisten davon waren Windläufer – denn wir befinden uns jetzt nahe ihres Lagers, in dem sie Erjinen züchten, ausbilden und für den Export vorbereiten. Meine Demonstration ist möglicherweise nicht ganz unge fährlich, aber ich bin überzeugt, wenn Sie gesehen haben, was ich Ihnen zeigen werde, pflichten Sie mir bei, daß es richtig war, Sie hierherzubringen. Auf jeden Fall werden die Waffen unserer Begleitboote uns ausreichend Schutz bieten, und die Hülle des Ellux dürfte stark genug sein, den Kugeln der Windläu ferflinten Widerstand zu leisten.« »Ich hoffe nur«, brummte Julian Metheyr, »daß Sie uns mehr zu zeigen haben als Erjinen im Parade marsch, oder solche, die gerade lernen, ihre Hose an zuziehen.« »Ich persönlich lege keinen Wert darauf, getötet oder auch nur verwundet zu werden, nur um Ihnen einen Gefallen zu erweisen«, sagte Adelys Lam böse. Gerd Jemasze ging nicht darauf ein. Er landete den Ellux unmittelbar vor dem Schrein aus Rosenquarz und Gold. Als er die Türen und Rampen aktiviert hatte, stiegen die Mull-Leute hinunter auf den rosa Marmorboden. »Was ist das?« fragte Julian Metheyr ehrfürchtig staunend.
»Ein Tempel oder ein historisches Monument, das lange, ehe die ersten Menschen nach Koryphon ka men, schon stand. Die Einzelheiten berichten die Chronik einer Erjinenzivilisation.« »Zivilisation?« wiederholte Adelys Lam entgeistert. »Überzeugen Sie sich selbst. Es sind Erjinen abge bildet, die etwas benutzen, das nichts anderes als Raumschiffe sein können. Dann sehen Sie Erjinen, die gegen Morphoten kämpfen, die ihrerseits ebenfalls technisch hochentwickelte Waffen benutzen. Also hatten auch die Morphoten eine eigene Zivilisation. Weitere Reliefs zeigen Kämpfe zwischen den Erjinen und Menschen.« Erris Sammatzen trat wortlos näher an den Tempel und studierte die siebenstufige Fassade, ehe er die Gänge betrat. Die anderen folgten ihm. Ihr Murmeln verriet Staunen und Bewunderung, als sie die sorg fältig ausgeführten Reliefs betrachteten. Eines nach dem anderen landeten nun auch die Begleitboote, und ihre Besatzung bewunderte ebenfalls das Mo nument. Erris Sammatzen wandte sich an Gerd Jemasze. »Und das ist Uther Madducs ›großartiger Witz‹?« »Das nehme ich zumindest an.« »Was ist so witzig daran?« »Die unnachahmliche Fähigkeit der menschlichen Rasse, sich Täuschungen hinzugeben.« »Das würde ich sicher nicht als Witz bezeichnen«, sagte Sammatzen eisig. »Und wenn, höchstens als schlechten.« Er blickte Jemasze an. »Wo ist das Aus bildungslager?« »Etwa einen dreiviertel Kilometer talaufwärts.« »Gibt es einen triftigen Grund, weshalb wir uns
nicht sofort dorthin begeben und Schluß mit dem Er jinenhandel machen sollten?« Jemasze zuckte die Achseln. »Ich kann nicht für Ih re Sicherheit garantieren. Aber ich glaube, wir haben genügend Waffengewalt, uns zu schützen, wenn es sich als notwendig herausstellt.« »Was wissen Sie über dieses Lager?« »Nicht mehr als Sie. Ich habe es zum erstenmal vor etwa einer Woche gesehen.« Sammatzen rieb sich das Kinn. »Ich könnte mir vorstellen, daß die Retentum-Stämme nicht gerade er freut sein werden, ihre Reittiere zu verlieren. Was meinen Sie dazu?« Jemasze grinste. »Sie können sich Kriptiden von den Domänen kaufen.« Erris Sammatzen besprach sich mit den anderen Angehörigen der Mull. Sie argumentierten etwa zehn Minuten, dann kehrte Sammatzen zu Jemasze zurück. »Wir wollen uns das Ausbildungslager ansehen, wenn es nicht gerade mit Lebensgefahr verbunden ist.« »Wir werden sehen.« Der Hof und die langgestreckten Gebäude waren, wie Gerd Jemasze sich erinnerte, vielleicht sogar noch ein wenig verschlafener. Zwei Windläufer hockten ne beneinander an einer der Wände. Als sie den nieder gehenden Flugwagen entdeckten, standen sie auf und blickten unsicher zu ihm hoch, als könnten sie sich nicht entscheiden, ob sie abwarten oder die Beine in die Hand nehmen sollten. Jemasze landete den Ellux unmittelbar vor dem größten der steinernen Gebäude. Er öffnete die Tür,
ließ die Rampe ausfahren und stieg sie hinunter, dicht gefolgt von Sammatzen, und etwas vorsichtiger von den anderen Mull-Leuten. Jemasze winkte den beiden Windläufern zu, die sich ihnen zögernd näherten. »Wer ist der Direktor dieser Anlage hier?« fragte er sie. Die Windläufer starrten ihn verständnislos an. »Di rektor?« »Die Person, die hier die Verantwortung trägt.« Die Windläufer murmelten miteinander, dann er kundigte sich der eine: »Meinen Sie vielleicht den Alten Erjin? Wenn ja, dort steht er.« Aus dem Innern des Gebäudes tauchte wie ein Fisch aus dunklem Wasser ein ungewöhnlich großer Erjin auf. Er war völlig kahl, ohne Halskrause noch Gesichtsschopf, und seine Haut schimmerte in einem fahlen Weiß wie der Bauch einer Schlange. Noch nie hatte Gerd Jemasze einen Erjin von dieser Statur und majestätischen Haltung gesehen. Der Erjin blickte zur Seite. Einer der Windläufer zuckte wie unter einem elektrischen Schlag zusammen. Dann kam er herbei und stellte sich neben den Erjin, um dessen telepathi sche Mitteilungen in Worte zu übertragen. »Was wollt ihr hier?« fragte der Erjin. »Wir sind die Mull, das oberste Verwaltungsorgan von Koryphon«, erklärte Sammatzen. »Von Szintarre«, warf Jemasze ein. Sammatzen fuhr fort. »Die Versklavung von intel ligenten Lebewesen ist ungesetzlich, nicht allein auf Szintarre, sondern im gesamten Gaeanischen Territo rium. Wir haben festgestellt, daß die Erjinen als Reit tiere für die Uldra-Stämme und als Dienstboten und Arbeiter für Ausker auf Szintarre versklavt werden.«
»Sie sind keine Sklaven«, behauptete der Alte Erjin durch den Windläufer. »Nach unseren Begriffen sind sie Sklaven. Und wir sind hierhergekommen, um dieser Ausbeutung ein Ende zu machen. Es dürfen keine weiteren Erjinen an die Uldras und die Gaeaner auf Szintarre verkauft werden, und die bereits versklavten werden freige setzt.« »Sie sind keine Sklaven«, erklärte der Alte Erjin er neut. »Wenn sie keine Sklaven sind, was sind sie denn dann?« Der Windläufer übersetzte. »Ich wußte, daß ihr kommt. Ihr und eure Flotte von Himmelsschiffen werdet beobachtet, seit ihr im Tal des Monuments gelandet seid. Ihr werdet erwartet.« »Darum ist hier wohl so wenig Betrieb«, sagte Sammatzen trocken. »Der Betrieb, wie du es nennst, ist anderswo. Wir verkauften keine Sklaven. Wir haben Krieger ausge bildet und ausgeschickt. Diese Welt gehört uns, und wir übernehmen nun die Herrschaft darüber.« Die Männer starrten den Alten Erjin mit offenem Mund an. Durch den Windläufer fuhr er fort: »Das Zeichen wurde bereits gegeben. In diesem gleichen Augen blick vernichten die Erjinen die Uldras, die sich ihre Herren glaubten. Und jene, die ihr für eure Dienst boten hieltet, haben inzwischen die Macht über die Stadt Olanje und ganz Szintarre ergriffen.« Sammatzen blickte Joris und Jemasze mit einer Mi schung aus Ungläubigkeit und Besorgnis an. »Kann das stimmen?«
»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Jemasze. »Ru fen Sie doch Olanje über Funk und vergewissern Sie sich.« Sammatzen ging schleppenden Schrittes zum Sa lonwagen. Jemasze beobachtete den Alten Erjin nachdenklich, ehe er fragte: »Beabsichtigen Sie Ge waltanwendung gegen uns hier?« »Nicht, außer ihr beginnt damit, denn ich bin mir durchaus bewußt, daß ihr im Augenblick die besse ren Waffen habt. Also brecht wieder auf, wie ihr ge kommen seid.« Jemasze und Joris zogen sich in den Ellux zurück. Sammatzen, der noch am Funkgerät saß, drehte sich zu ihnen um. Sein Gesicht war bleich, dicke Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn. »Die Erjinen haben die Stadt tatsächlich schon so gut wie in der Hand. Es muß schrecklich dort zugehen!« Jemasze setzte sich auf den Pilotensitz. »Wir ver schwinden, ehe der Alte Erjin es sich anders über legt.« »Können wir ihn denn nicht überreden, seine Krie ger zurückzurufen?« rief Adelys Lam schrill. »Sie morden und brandschatzen! Blut fließt in Strömen! Lassen Sie mich hinaus! Ich will den Alten Erjin an flehen, Frieden zu machen.« Jemasze schloß die Tür. »Flehen und bitten wird bei ihm nichts nutzen. Wenn er bei klarem Verstand wäre, hätte er den Angriff überhaupt nicht gestartet. Wir ziehen uns zurück, ehe er auch uns umbringt.«
15
Der Erjinenaufstand erzielte die erstaunlichsten Er folge in Olanje, wo weniger als tausend Erjinen die Stadt übernahmen und die Bevölkerung in Furcht und Schrecken versetzten. Die Bürger waren vor Angst wie gelähmt, und die Erjinen konnten sie ohne Gegenwehr niedermetzeln. Manche allerdings flohen und versteckten sich in den Dschungeln; einige schafften es, sich in ihre Landhäuser in den Kameli enbergen zurückzuziehen; ein paar erreichten noch ihre Jachten oder die ihrer Freunde; andere flogen mit ihren Luftwagen zu den Persimmoninseln oder nach Uaia. Nur der minimalste Widerstand wurde gelei stet. Später, als Historiker und Soziologen sich mit diesem Aufstand befaßten und die Frage stellten: »Weshalb habt ihr nicht gekämpft und euch und euer Heim verteidigt?« erhielten sie fast von allen dieselbe Antwort: »Wir waren nicht organisiert; wir hatten keine Führung; wir wußten nicht, was wir tun sollten. Ich kann mit Waffen nicht umgehen; ich war immer friedliebend und wäre gar nicht auf den Gedanken gekommen, daß ich einmal mein Leben verteidigen müßte.« Die Landbarone der uaianischen Domänen stellten eilig eine Streitmacht von dreitausend Mann zusam men, zu der auch Uldra-Abteilungen der Stämme der Vertragsländer gehörten. Durch vorsichtige Vorstöße, Bombardements aus der Luft und Angriffe aus im provisierten Panzerwagen, wurden die Erjinen aus der einst so schönen Stadt vertrieben. Die Überleben den flohen in armseligen Gruppen und auch einzeln
durch das offene Gebiet. Weitere zwei Wochen wur den sie von Flugwagen und motorisierten Patrouillen verfolgt und vernichtet.* Dann kehrte die improvi sierte Streitmacht ohne Tamtam nach Uaia zurück, und die Szintarrer machten sich bedrückt an den Wiederaufbau. Die Uldras des Retentums litten nicht weniger an dem Erjinenaufstand als die Ausker von Szintarre. Sofort nach Erhalt des telepathischen Signals rebel lierten auch die bisherigen Reittiere. Sie kümmerten sich nicht um die elektrischen Trensen und Kandaren, sondern warfen ihre Reiter ab und zerrissen sie. Jene in den Gehegen schalteten die elektrischen Anlagen ab, die sie in den Koppeln halten sollten, brachen die Zäune nieder oder kletterten darüber. Nachdem die Uldras sich vom ersten Schock erholt hatten, leisteten sie jedoch mit einer Erbitterung Widerstand, die der der Erjinen in nichts nachstand, und verteidigten sich erfolgreich. Die abgelegeneren und primitiveren Stämme wie die Cuttacks und Nasenredner hatten die größten Verluste zu verzeichnen, während die Garganchen, die Blauen Ritter, die Hungen und die Noal glimpflich davonkamen. Zwei Wochen später rief der Graue Prinz die Gar ganchen, Hungen, Langlippen und verschiedene an * In den späteren Stadien dieser Periode, nachdem die Ausschußmitglie der der VEE (Vereinigung für die Emanzipierung der Erjinen) von ihren Verstecken nach Olanje zurückgekehrt waren, beklagten sie sich bitter über »diese Orgie unnötigen und sinnlosen Gemetzels«. Sie befürwor teten, daß die Erjinen nicht getötet, sondern gefangengenommen wür den, damit man sie umerziehen könne und sie ermutigt würden, sich in einem noch zu bestimmenden Gebiet Uaias zu einer friedlichen Ge meinschaft zusammenzuschließen. Im emotionellen Klima der Säube rungsaktion und des Wiederaufbaus bekam die VEE-Doktrin wenig Unterstützung.
dere Stämme zu einem Großen Karoo zusammen und bezeichnete den Erjinenaufstand als ein Komplott der Domänen-Ausker. Dann stieß er den blutrünstigen Haßschrei aus, mit dem die Uldra-Krieger ihren Feinden Rache schwören. Berauscht von Wut und Xheng* stimmten die Stämme in seinen Haßschrei ein, und am folgenden Tag brach die Uldra-Horde auf, um die Alouanen von den Auskern zu säubern. Kurgech informierte Kelse von dem unmittelbar bevorstehenden Einfall. Kelse benachrichtigte sofort den noch nicht aufgelösten Kriegsrat Uaias. Zum zweitenmal wurde die Luftwaffe mobilisiert. Sie flog zu den Manganklippen, einer gewaltigen Felswand aus glänzendem schwarzen Schiefer, die zu der Ebe ne der Marschierenden Gebeine hinunterblickte, auf der ein Trupp von hundert Aos auf ihren Kriptiden die Vorhut der xhengbesessenen Krieger der Reten tum-Stämme in Schach hielt. Als die Luftflotte heran brauste, stürzten Himmelshaie aus den Wolken auf sie herab. Aber diesmal hatte man sie erwartet und konnte sie durch Radargeschütze vernichten. Trotz ihres Fanatismus ergriffen die Retentum-Uldras ver einzelt die Flucht über die Ebene der Marschierenden Gebeine und suchten schließlich Deckung in einem Jinkowald am Hang der Goldenberge. Auch Kelse nahm am Luftkampf im MorgenwachtGebrauchsflugwagen teil, der zu einem Kreuzer um gebaut worden war. Seine Besatzung von zwölf Mann bestand außer ihm aus sieben seiner Vettern * Xheng: Unübersetzbar. Eine finstere, eigentümliche Emotion, die sich noch am ehesten mit »Grauenlust« übertragen ließe – ein allgemeines Verlangen, Grausamkeiten und qualvolle Mißhandlungen auszuüben, ein leidenschaftliches Bedürfnis für sadistische Ausschweifungen.
und vier Aos von der Ranch. Doch schon in den er sten Minuten bekam der Luftwagen einen Treffer ab. Eine Garganchenkugel schlug durch ein inneres Schott und drang Ernsthalt Madduc in die Schulter. Da die Luftschlacht ohnehin schon so gut wie ent schieden war, setzte Kelse sich mit dem Flottenkom mandeur in Verbindung und erhielt die Erlaubnis, mit dem Verwundeten nach Morgenwacht zurückzu kehren. Als Kelse nordwärts flog, fiel ihm dichter Rauch am Horizont auf, der ihn sofort in Alarm versetzte. Er rief Morgenwacht, doch die Verbindung war unter brochen. Seine Befürchtung wuchs. Mit Höchstge schwindigkeit brauste er auf Morgenwacht zu, das bald vor ihm auftauchte. Rauch stieg aus einem Weizenfeld am Wildenkra kenteich. Auch das kleine Holzschulhaus, in dem jene Ao-Kinder, deren Eltern es wünschten, Unterricht be kamen, stand in Flammen. Das Herrenhaus selbst schien unbeschädigt, aber als Kelse durchs Fernglas blickte, sah er einen himmelblauen Hermes auf dem Rasen vorm Haus. Kelse landete daneben. Elf Männer sprangen aus dem Kreuzer und stürmten mit den Waffen im An schlag ins Haus. In der Großen Halle saßen fünf Uldra-Führer beim besten Wein, den die Keller Mor genwachts zu bieten hatten. Jorjol hatte den Platz des Hausherrn eingenommen und die Beine auf den Tisch gelegt. Kelses Erscheinen überraschte ihn so sehr, daß er wie erstarrt sitzen blieb und nur den Mund aufriß. Kelse rannte durch die Halle und ver setzte ihm einen solchen Schlag, daß er auf den Bo den fiel. Die vier anderen Uldras stießen wilde Flüche
aus und sprangen auf die Füße. Doch als sie die auf sie angelegten Waffen sahen, blieben sie wie gelähmt stehen. »Wo ist Schaine?« fragte Kelse. Jorjol stand ein wenig schwankend auf und be mühte sich sichtlich, aber vergebens, um eine würde volle Haltung. Er deutete mit dem Daumen auf das Arbeitszimmer. Seine Zunge war schwer vom Wein. »Sie hat es vorgezogen, sich dort einzusperren. Aber sie wäre schon herausgekommen, wenn wir das Haus erst angezündet hätten.« Er taumelte einen Schritt auf Kelse zu. »Wie sehr ich dich hasse!« zischte er. »Wenn Haß aus Stein wäre, könnte ich damit einen Turm bis in den Himmel bauen. Ich habe dich immer gehaßt. Die Freude, die ich empfand, als der Erjin dich in Stücke zu reißen begann, war wie Regen auf glühenden Wüstensand, und es machte mich so glücklich wie die Aufmerksamkeit, die ich deiner Schwester widmete. Mein Leben war nicht gut, außer zu diesen beiden Gelegenheiten. Und jetzt werde ich eine dritte hinzufügen, denn nun töte ich dich. Wenn ich sonst nichts anderes mehr tun kann, werde ich zumindest das Leben aus deinem widerlichen Auskerkörper rei ßen.« Eine lange Klinge, die durch eine Feder aus seinem Ärmel gesprungen war, funkelte in seiner Hand. Er sprang. Kelse wich dem Stich aus und packte Jorjols Handgelenk mit seiner Rechten, während seine stäh lerne Linke sich um des Grauen Prinzen Kehle legte. Mit seinem Stahlarm hob er ihn hoch, taumelte zur Tür und schleuderte ihn hinaus auf den Kiesweg. Dann folgte er ihm, und als Jorjol auf die Füße tor kelte, packte er ihn erneut und schüttelte ihn wie eine
Stoffpuppe. Jorjols Augen quollen aus den Höhlen, die Zunge hing ihm aus den blau anlaufenden Lip pen. Ein Schrei gellte in Kelses Ohren. »Nicht, Kelse, nicht!« Es war Schaines Stimme. »Tu's nicht, Kelse!« Kelses Griff erschlaffte. Jorjol sank röchelnd auf den Boden. Jorjol und seine Genossen wurden in einen Schweinestall gesperrt, den zwei Aos bewachten. Doch während der Nacht gruben sie ein Loch unter der Hinterwand, erwürgten die Wachen und entka men.
16
Frieden herrschte auf Koryphon, aber es war ein auf gewühlter Frieden voll schwelenden Hasses und In toleranz. In Olanje war der durch die ErjinenRebellion entstandene Schaden behoben; die Stadt schien so fröhlich und unbeschwert wie zuvor. Valtrina Darabesq öffnete die Villa Mirasol für drei Gesellschaften unmittelbar hintereinander, um zu demonstrieren, daß der Erjinen-Aufstand ihr nicht den Mut geraubt hatte. Über dem Persimmonmeer saßen die Retentum-Stämme finster in ihren Lagern, brüteten über die ihnen angetane Ungerechtigkeit und planten Mord und Totschlag, Invasion und Raub, doch ohne besonderen Eifer. Auf der Palga stierten die Windläufer auf die leeren Sklavenkop peln und -käfige und machten sich Gedanken, womit sie jetzt ihre Räder, Kugellager und Metallteile für ih re Segelwagen kaufen könnten. Inzwischen hatten unter den Volwoden, in der Schlucht des Mellorus, Gruppen von Gelehrten bereits damit begonnen, den Schrein aus Rosenquarz und Gold zu erforschen. Der Alte Erjin und seine Genossen waren in noch abgele generen Gebieten als die Volwoden untergetaucht. Jorjol, der Graue Prinz, hatte sich von seinen Mißer folgen nicht unterkriegen lassen. Sein Fanatismus kannte keine Grenzen. Statt sich durch die Zeit abzu kühlen, wurde er immer glühender. Einen Monat nach der Vertreibung der Erjinen aus Olanje hielt die Mull eine öffentliche Sitzung im Hol rudehaus ab. Kelse, der sich die Direktübertragung nicht entgehen ließ, hörte plötzlich eine bekannte
Stimme und sah die prunkvolle Gestalt des Grauen Prinzen am Rednerpult für das Publikum. Kelse holte schnell Schaine und Gerd Jemasze. »Hört euch das an!« forderte er sie auf. »... ich betrachte diese Einstellung als defätistisch, vage und gewissenlos«, erklärte Jorjol gerade. »Be stimmte Umstände haben sich geändert – aber nicht die, die hier zur Debatte stehen! Und zwar in keinster Weise! Wandeln sich ethische Grundsätze denn über Nacht? Wird gut schlecht? Wird eine weise Entschei dung einfach zur Seite geschoben und vergessen, nur weil einige, nicht zusammenhängende Ereignisse stattgefunden haben? Ganz gewiß nicht! In ihrer Weisheit hat die Mull ein Dekret erlassen, welches das Besitzrecht der Landbarone auf un rechtmäßig erworbene Ländereien aufhebt. Die Landbarone haben sich gegen diese Verordnung wi dersetzt. Ich spreche im Namen der Bürger Kory phons, wenn ich verlange, daß diesem Dekret Nach druck verliehen wird. Was haben Sie dazu zu sagen?« Erris Sammatzen, der Vorsitzende der Mull, erwi derte: »Ihre Äußerungen klingen, ohne die Hintergründe in Betracht zu ziehen, vernünftig. Die Mull hat tat sächlich ein Dekret erlassen, das von den Landbaro nen ignoriert wurde. Und wie Sie sagen, die dazwi schengekommenen Vorfälle haben keinen Bezug dar auf.« »In diesem Fall«, verlangte Jorjol, »muß die Mull die Durchführung des Dekrets erzwingen.« »Darin liegt der Haken«, erklärte Sammatzen. »Ge rade ein Dekret wie dieses beweist, wie unsinnig es ist, Verordnungen zu erlassen, wenn wir nicht in der
Lage sind, sie durchzusetzen.« »Wir wollen die Sache in aller Ruhe besprechen«, sagte Jorjol. »Das Dekret ist wohlbegründet, dessen sind wir uns alle einig. Also gut! Wenn Sie die Durch führung dieser Verordnung nicht erzwingen können, steht außer Frage, daß ein Exekutivorgan benötigt wird, denn ohne diese ausführende Gewalt kann die Rolle der Mull auf Koryphon lediglich beratender Natur sein.« Sammatzen zuckte zweifelnd die Achseln. »Was Sie sagen, entbehrt nicht der Wahrheit, doch ich bin nicht der Ansicht, daß im Augenblick die richtige Zeit für so große Veränderungen ist.« »Die Aufstellung einer Polizeitruppe dürfte sich als durchaus nicht so schwierig erweisen, wie Sie zu denken scheinen. Ich erkläre mich hiermit bereit, mich darum zu kümmern und sie für Sie aufzustel len! Mein ganzer persönlicher Einsatz soll der Unter stützung der Mull dienen, soll ihr helfen, ihre Macht nicht nur nominell auszuüben. Geben Sie mir Voll macht! Stellen Sie mir die Gelder zur Verfügung! Ich werde dafür sorgen, daß man die Gesetze der Mull nicht länger mißachtet!« Sammatzen runzelte die Stirn und lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Das wäre zweifellos eine sehr bedeutende Entscheidung, und sie erscheint mir auf den ersten Blick zu übereifrig.« »Möglicherweise, weil Sie sich damit abgefunden haben, daß die Mull schwach und zahnlos ist.« »Nein, nicht deshalb. Aber...« Sammatzen zögerte. »Nun, beabsichtigen Sie, oder beabsichtigen Sie nicht, sich für die Durchführung Ihrer Verordnungen einzusetzen?« fragte Jorjol. »Und zwar bei reich ge
nauso wie bei arm?« »Wir beabsichtigen Gerechtigkeit und Gleichheit vor dem Gesetz für alle«, erwiderte Sammatzen ru hig. »Ehe wir jedoch entscheiden, durch welche Mit tel wir diese Ideale erreichen können, müssen wir uns erst darüber einig sein, welche Art von verfassungge bendem Organ wir sind; welche Rechte das Volk, das uns gewählt hat, uns zugesteht, und ob es überhaupt in seinem und in unserem Interesse ist, unsere Befug nisse zu erweitern.« »Ich pflichte Ihnen in jeder Beziehung bei!« rief Jorjol. »Die Mull muß sich endlich mit der Wirklich keit vertraut machen und sich ein- für allemal Ihrer Verantwortung bewußt werden.« »Das dürfte sich heute abend kaum mehr ermögli chen lassen«, sagte Sammatzen trocken. »Wir haben unsere Zeit ohnehin schon überzogen und werden die Sitzung auf morgen vertagen.« Kelse, Schaine und Gerd Jemasze beobachteten auf dem Bildschirm, wie die Mull sich zurückzog. Schai ne murmelte halb amüsiert, halb erschrocken: »Zu sätzlich zu seinen anderen Talenten stellt Tortilla sich nun auch noch als Demagoge heraus.« »Tortilla ist gefährlich«, sagte Kelse ernst. »Ich glaube, es würde mir Spaß machen, morgen ebenfalls an der Sitzung der Mull teilzunehmen«, murmelte Gerd Jemasze. »Mir ebenfalls«, versicherte ihm Kelse. »Ich halte es für an der Zeit, die Mull mit Vaters Witz zu erhei tern.« »Ich komme mit«, erklärte Schaine. »Ich werde mir doch diesen Spaß nicht entgehen lassen.«
Die Mull tagte zur angegebenen Zeit in einem Saal, der die Neugierigen kaum faßte, die alle gekommen waren, weil sie Sensationen oder zumindest aufre gende Streitgespräche erwarteten. Erris Sammatzen eröffnete die Sitzung mit dem üblichen Zeremoniell und kurzen einleitenden Worten. Jorjol, der Graue Prinz, trat sofort vor. Er verbeugte sich vor der Mull. »Meine ehrenwerten Damen und Herren. Um auf meine gestrigen Vorschläge zurück zukommen, gestatte ich mir, die Mull auf die Tatsa chen hinzuweisen, daß die Landbarone von Uaia immer noch ihre unrechtmäßigen Ansprüche auf die Gebiete geltend machen, die sie meinem Volk geraubt haben, und so gegen das Dekret verstoßen. Ich ver lange, daß die Mull sich um die Durchführung ihrer Gesetze kümmert, wenn nötig, mit Waffengewalt.« »Es stimmt, daß dieses Dekret erlassen wurde«, sagte Erris Sammatzen, »und bis zu diesem Tag noch nicht in Kraft trat. Ich möchte...« Er hielt inne, als er Gerd Jemasze und Kelse Madduc an der Schranke bemerkte, die die Mull von den Zuhörern trennte. »Ich sehe hier zwei Landbarone von Uaia«, fuhr er laut fort. »Vielleicht haben sie uns etwas in bezug auf das Dekret zu sagen.« »Das haben wir allerdings«, erklärte Gerd Jemasze. »Nämlich daß es absurd ist und Sie es besser zurück ziehen.« Sammatzen hob die Brauen, die anderen Mitglieder der Mull blickten mißbilligend auf Jemasze hinab. Jorjol stand steif und wachsam, den Kopf vorgebeugt. »Wir sind ein objektiver, integerer Ausschuß. Wir versuchen unser Bestes zu tun, aber wir sind nicht unfehlbar und machen manchmal auch Fehler. Aber
ist das Wort ›absurd‹ nicht ein wenig zu kraß? Ich fürchte, Sie haben sich eines unpassenden Adjektivs bedient.« Gerd Jemasze erwiderte genauso ruhig. »Im Hin blick auf die kürzlichen Ereignisse erscheint mir das Wort durchaus nicht als unpassend oder kraß.« Sammatzens Stimme klang schwer. »Meinen Sie damit den Aufstand der Erjinen? Aber gerade durch sie haben wir unsere Lektion gelernt. Und der Graue Prinz, der hier vor uns steht, hat uns einen Vorschlag unterbreitet, wie sich unsere Schwäche beheben lie ße.« »Sie beabsichtigen also eine Söldnertruppe aus Barbaren zu rekrutieren? Haben Sie sich das gut überlegt? Erinnern Sie sich bitte an den Ausgang Hunderttausender geschichtlicher Parallelen.« Sammatzen wollte etwas darauf erwidern, doch dann biß er sich auf die Lippe. »Die Angelegenheit ist noch nicht entschieden«, erklärte er schließlich. »Wir haben jedoch ein Urteil gefällt, daß die Landbarone ihr Besitzrecht zu den Vertragsländern abgeben müs sen. Argumente der Verjährung, die dieses Besitz recht rechtsgültig gemacht haben könnten, werden nicht anerkannt.« Jemasze grinste die Mull nun offen an. »Das ist demnach Ihr einstimmig gefaßter Beschluß?« »Das ist er allerdings.« »Dann müssen, nach genau diesen Schlußfolgerun gen, die Uldra-Stämme des Retentums ihre Gebiete jenen Stämmen zurückgeben, denen sie es wegge nommen haben. Diese Stämme ihrerseits sind ver pflichtet, dieses Land jenen Stämmen zu überlassen, denen es vor ihnen gehört hat. Letztendlich – und
hier ist der Witz, den Uther Madduc so erheiternd fand – muß alles Land an die Erjinen zurückgegeben werden, denen die ersten Menschensiedler es ur sprünglich wegnahmen. Tatsächlich haben wir ihre durchaus legitime und aus ihrer Sicht verständliche Bemühung, ihre verlorenen Gebiete zurückzugewin nen, im Keim erstickt.« Die Mullangehörigen starrten Jemasze sprachlos an. Es dauerte eine Weile, bis Sammatzen Worte fand: »Das ist eine Seite, die wir noch nicht in Betracht ge zogen haben. Ich pflichte Ihnen bei, daß das unbe dingt erforderlich ist.« Jorjol trat näher an die Schranke. »Gut, tun Sie, wie er vorschlägt. Die Uldras werden Sie unterstützen! Geben Sie ganz Uaia den Erjinen zurück, überlassen Sie ihnen das Besitzrecht! Wir werden wie zuvor durch die Wildnis streifen. Aber Sie müssen die gro tesken Häuser der Landbarone zerstören, ihre Zäune und Dämme und Kanäle! Rotten Sie jegliche Spur dieser Eiterherde aus, die durch die Ausker entstan den sind! Ja, geben Sie das Land an die Erjinen zu rück!« »Nicht so schnell«, warf Kelse ein. »Wir sind noch nicht zu Ende. Sie haben den zweiten Teil des Witzes meines Vaters noch nicht gehört.« Er wandte sich di rekt an Sammatzen. »Sie erinnern sich doch an den Erjinen-Schrein, oder das Monument – oder was im mer es auch sein mag?« »Selbstverständlich.« »Das war das ›kürzliche Ereignis‹, auf das Dm. Je masze vor ein paar Minuten anspielte – nicht der Aufstand der Erjinen, wie Sie annahmen. Vielleicht entsinnen Sie sich auch, daß die Erjinen in Fahrzeu
gen abgebildet sind, bei denen es sich zweifellos um Raumschiffe handelt? Sie wissen natürlich ebenfalls, daß keinerlei Fossilien früherer Erjinen auf Koryphon gefunden wurden. Die Folgerung dürfte doch nur allzu klar sein. Die Erjinen waren ebenfalls Invasoren. Sie kamen aus dem Raum und löschten die einheimi sche morphotische Zivilisation aus. Die Morphoten sind die einzigen Autochthonen Koryphons – was durch Fossilienfunde bestätigt wird. So hat also die Kette der Eroberer ein weiteres, bisher ungeahntes Glied. Die Erjinen haben nicht mehr Recht auf das Land als die Uldras.« »Ja«, stimmte Erris Sammatzen zu, »damit haben Sie offenbar recht.« Jorjol stieß ein wildes Gelächter aus. »Ah, nun übergeben Sie Uaia also den Morphoten! Vergessen Sie dann nur nicht, ihnen Szintarre ebenfalls zu überlassen, mit all den Villen in Olanje, den Luxus hotels und allem Eigentum, das Sie als Ihres betrach teten!« Kelse nickte spöttisch. »Das ist der dritte Teil des jetzt schon mehrfach erwähnten Witzes meines Va ters. Sie von der Mull, und alle Redemptoristen, fan den es sehr einfach, über unser Land zu bestimmen, allein aufgrund Ihrer ethischen Doktrin. Beweisen Sie nun bitte Ihre Integrität, indem Sie Ihr Eigentum aus denselben Gründen aufgeben.« Sammatzen sah ihn bedrückt, mit einem schwa chen, verzerrten Lächeln an. »Heute? Jetzt sofort?« »Wann Sie wollen, oder überhaupt nicht, wenn Sie das Dekret bezüglich unserer Besitzrechte zurückzie hen.« Stimmen erklangen nun von überall unter den Zu
hörern: protestierende, höhnische, applaudierende. Sammatzen gelang es schließlich, wieder Ordnung herzustellen. Die Mull besprach sich eine Weile flü sternd, kam jedoch ganz offensichtlich zu keiner Ei nigung. Sammatzen wandte sich wieder an Gerd Je masze und Kelse. »Ich habe das dumpfe Gefühl, daß Sie mich mit Kasuistik verwirren wollen, aber ich kann den Finger nicht darauf legen.« Adelys Lam rief erbittert: »Es ist mir nicht nur klargeworden, daß die Religion der Landbarone die nackte Gewalt ist sondern daß sie dieses Glaubensbe kenntnis auch noch mit einer Travestie ethischer Grundsätze bemänteln.« »Durchaus nicht«, widersprach Gerd Jemasze. »Diese Travestie ist lediglich erforderlich, weil ihre Abhängigkeit von Abstraktionen Ihnen die Wirklich keit unverständlich gemacht hat. Diese Streitfragen ergeben sich nicht nur hier auf Koryphon, sondern im gesamten Gaeanischen Territorium. Außer in ein paar besonderen Fällen wurde das Besitzrecht zu jedem Stückchen Grund durch mehr oder weniger gewalt same Übernahme gewonnen. Und es ist nur so rechtskräftig wie die nötige Kraft und der Wille, es sich zu erhalten. Das ist die Lehre, die Sie aus der Ge schichte ziehen müssen, ob es Ihnen nun gefällt oder nicht.« »Die Klagelieder der unterworfenen Völker, so pathetisch und tragisch sie auch sein mögen, haben keinerlei Rechtskraft«, sagte Kelse. Sammatzen schüttelte entschieden den Kopf. »Ich halte eine solche Doktrin für unmoralisch. Die Be achtung menschlicher Rechte muß auf edlerer Grundlage beruhen denn auf roher Gewalt.«
Jorjol bog sich vor höhnischem Lachen. »Sie und Ihre schafsköpfige Mull! Warum erlassen Sie nicht einfach ein Dekret in diesem Sinn?« »Wenn die Galaxis erst einmal nach einem unifor men Gesetz regiert wird, sind diese Ideale vertretbar und wünschenswert. Doch bis dahin muß das, was der einzelne, ein Stamm, eine Nation, eine Welt, ja das gesamte Gaeanische Territorium besitzt, ge schützt und verteidigt werden«, sagte Kelse. Sammatzen hob die Hände. »Ich beantrage das De kret über die Auflösung der Domänen auf Uaia zu widerrufen. Ich bitte abzustimmen. Wer ist dage gen?« »Ich!« rief Adelys Lam. »Ich bin Redemptorist, und daran wird sich auch nichts ändern! Niemals!« »Wer ist dafür?« Sammatzen blickte von einem Mitglied der Mull zum anderen. »Ich zähle elf Stim men dafür, einschließlich meiner eigenen. Das Dekret ist damit widerrufen. Ich beende hiermit die heutige Sitzung.« Jorjol schritt aus dem Saal, sein weites Gewand flatterte um seine langen Beine. Kelse, Gerd Jemasze und Schaine folgten ihm. Auf der Straße blieb der Graue Prinz stehen und blickte sie erst auf-, dann abwärts. Linker Hand führte sie zum Persimmon meer und damit nach Uaia und dem Retentum, nach rechts, nur etwa hundert Meter entlang der Kharano tis-Avenue, öffnete der Raumhafen ein Tor zu ande ren Welten. »Wie sehr er uns haßt!« flüsterte Schaine. »Überlegt doch! Im Grund genommen nährten wir diesen Haß systematisch durch unser eigenes Handeln. Wir wa ren viel zuviel stolz und eingebildet, als daß wir ei
nem Uldra-Waisen den Zutritt zu unserer Großen Halle gestattet hätten. Und denkt an all das Leid, das daraus erwuchs! Ich frage mich: haben wir eigentlich unsere Lektion gelernt?« Kelse schwieg einen Augenblick, dann murmelte er: »Das ist die Sprache Olanjes, nicht die Wirklich keit Uaias. Sie enthält nur Spuren der Wahrheit, doch nicht die ganze.« »Es gibt so viele Wirklichkeiten wie Menschen«, sagte Gerd Jemasze. »Auf Suaniset ist es jedem Eh renmann gestattet, an unserem Tisch zu sitzen und mit uns zu speisen, gleichgültig welche Hautfarbe er hat und welche Kleidung er trägt.« Kelse lachte ein wenig säuerlich. »Und auf Mor genwacht von nun ab ebenfalls. Uther Madduc hat seine private Wirklichkeit vielleicht zu weit getrieben. Er war zu streng.« »Ah, da geht Jorjol dahin«, sagte Gerd Jemasze. »Und drängt sich einer anderen Welt auf.« Denn der Graue Prinz hatte sich entschlossen, die Straße rechts, zum Raumhafen, abzubiegen. Die drei spazierten gemächlich die KharanotisAvenue entlang zum Hotel Seeblick. Ein hoher Drahtzaun trennte die Straße vom Moor, und eine Lücke im Laubwerk erlaubte einen Blick über den Sumpf, hinunter zu dem trägen Wasser des Viridians. Ein Morphot, der sich auf einem Baumstumpf ausge ruht hatte, machte eine unverständliche Gebärde und verschwand im dichten Gebüsch.