Eric Clark
Die fünfte Geisel
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Eine Concorde wird entführt. Ein russischer Diplomat, ein ...
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Eric Clark
Die fünfte Geisel
scanned by ab corrected by kb
Eine Concorde wird entführt. Ein russischer Diplomat, ein weltbekannter Filmstar, der Sohn eines amerikanischen Millionärs und ein französischer Großindustrieller befinden sich in der Hand von Terroristen. Als das Flugzeug gestürmt wird, fehlen jedoch fünf Passagiere. Die Identität der fünften Geisel ist weder den Entführern noch der Öffentlichkeit bekannt. Nur die wenigen Eingeweihten in der amerikanischen Machtzentrale wissen, daß sie sofort handeln müssen... ISBN 3-404-11438-8 Titel der Originalausgabe: SEND IN THE LIONS Aus dem Englischen von Wulf Bergner Juli 1989 Gustav Lübbe Verlag GmbH Einbandgestaltung: Rudolf Schaber
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Autor Eric Clark, 1937 in Birmingham geboren, begann mit 16 Jahren als Journalist zu arbeiten. Nach dem großen Erfolg seines ersten Romans FREUND ODER FEIND (11289) wurde er freier Schriftsteller. Inzwischen hat er mehrere Romane veröffentlicht, die in elf Sprachen übersetzt wurden. Clark lebt mit seiner Familie im Seebad Brighton. Von Eric Clark sind außerdem erschienen: 11213 Der Mann im Netz 11289 Freund oder Feind
Prolog Nordspanien, Anfang Januar 1988 Die Mönche setzten ihren verstorbenen Mitbruder bei. Fast einen ganzen Tag und eine ganze Nacht lang war der Leichnam vor dem Hauptaltar der schmucklos strengen gotischen Kirche aufgebahrt – mit einem Kruzifix und der brennenden Osterkerze zu seinen Füßen. Er war keinen Augenblick allein gelassen worden. Eine endlose Reihe von Menschen in weißen Zisterzienserkutten hatte vor dem Toten gekniet, um zu beten oder Psalmen zu singen. Nun war der Nachmittag des Tages nach seinem Tode gekommen, und der Seelengottesdienst war bei der abschließenden Aussegnung angelangt. Der ohne Sarg aufgebahrte Leichnam wurde mit Weihwasser besprengt, während die Stimmen der Mönche sich im Chor erhoben: »Der Herr behüte dich vor allem Übel, er behüte deine Seele; der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit …« Hundert Meter entfernt hatten sich neun weitere Männer, von denen keiner ein Mönch war, im ersten Stock eines anderen Gebäudes versammelt, das die vierte Seite des Klosterkomplexes bildete. Bis dorthin drang kein Laut aus der Kirche; die einzigen Geräusche waren die Stimmen der debattierenden Männer und prasselnde Regenschauer gegen das Rundbogenfenster. Am Fenster stand ein Mann und blickte über den bewaldeten Hang hinweg ins Tal hinab und zu den Ausläufern des Gebirges hinüber. 3
In etwa fünfzig Meter Entfernung sah er die niedrige Steinmauer des Klosterfriedhofs mit seinen Reihen von schmucklosen schwarzen Grabkreuzen und dem frisch ausgehobenen Grab, neben dem ein Schubkarren mit Erde bereitstand. Während er ins Tal hinabstarrte, begann das Glockengeläut, das eigentümliche Totengeläut, bei dem die größere Glocke hin und her geschwungen und die kleinere nur angeschlagen wurde. Der Leichenzug zum Friedhof hatte begonnen. Der Mann, ein Ire namens Michael O’Dare Flynn, erschauderte aus Angst vor seinem eigenen Tod. In dem Raum hinter ihm herrschte plötzlich Schweigen, so daß er sich unwillkürlich umdrehte. Wie das übrige Kloster war auch dieser Raum spartanisch schlicht. An den weißgekalkten, unverputzten Steinwänden hingen lediglich ein hölzernes Kruzifix und einige gerahmte Gebete und Bibelzitate. Die Einrichtung bestand aus einem großen Refektoriumstisch mit einfachen Holzstühlen. Eine Tür führte auf einen Korridor hinaus, an dessen Ende der in Zellen unterteilte Schlafsaal lag, in dem die Männer – als einzige Gäste des Klosters – die vergangenen drei Nächte verbracht hatten. Eine weitere führte zu einer steinernen Wendeltreppe zu den Erdgeschoßräumen, von denen aus der eigentliche Klosterbereich zugänglich war. Sieben der Männer saßen an dem großen Tisch, der – für diese Umgebung etwas unpassend – mit Papieren bedeckt war, zwischen denen Aschenbecher, Gläser und zwei entkorkte Flaschen Cognac Soberano standen. Normalerweise wären die Männer dieses Risiko nicht eingegangen, aber an diesem Nachmittag wußten sie, daß keine Störung zu befürchten war. 4
Der achte Mann, der Baske Montoya, legte im offenen Kamin Holz nach. In dem Raum war es bereits drückend heiß – ein weiterer Grund für Flynn, etwas näher ans Fenster zu treten. Der Ire nahm die leidenschaftliche Diskussion, die nach dem kurzen Schweigen erneut aufgeflammt war, nur teilweise wahr. Sie wurde an diesem Tag von Hassan, dem Araber, geleitet. Er hatte Schwierigkeiten, den Deutschen Greif und den Ukrainer Titow daran zu hindern, sich ständig in die Haare zu geraten. Die neun Männer waren bereits zum zweiten Mal hier im Kloster zusammengekommen. Flynn zweifelte nicht daran, daß sie sich noch mehrmals an diesem Ort treffen würden. Zur Tarnung hatten sie sich alle in die Einsamkeit des Klosters zurückgezogen, um durch Gebet und Meditation neue geistige Kräfte zu sammeln. Sobald sie jedoch im Schlafsaal oder in diesem Raum allein waren, sprachen sie nicht über Gott, sondern von Mord, Zerstörung und Revolution. Der Deutsche hielt jetzt eine Zeitung hoch. Flynn brauchte nicht zuzuhören, um zu wissen, was der andere sagte. Wie die übrigen Zeitungen war das Blatt, das Greif in der Hand hielt, sechs Tage alt. Die Schlagzeile galt der Unterzeichnung der Antiterrorkonvention in Genf. Die Großmächte hatten sich erstmals auf eine Art Übereinkunft geeinigt – was nicht einfach gewesen war, weil der Terrorist des einen Landes von einem anderen unweigerlich als Freiheitskämpfer angesehen wurde. Die rasche Zunahme und geographische Ausbreitung des Terrorismus in den vergangenen zwei Jahren hatte jedoch alle wichtigen Staaten an den Verhandlungstisch gezwungen. Selbst Libyen, lange Zeit der beste Freund aller Terroristen, hatte die Konvention unterzeichnet, um 5
nicht von westlicher Technologie, auf die es angewiesen war, abgeschnitten zu werden. Ebenso dramatisch war auch der Entschluß der Sowjetunion gewesen, der Konvention beizutreten, nachdem zunehmende ausländische Hilfe und Unterstützung für Dissidentengruppen im eigenen Lande zu einer Serie politisch motivierter Gewaltakte geführt hatten. Deshalb entbrannten bei diesem Treffen so leidenschaftliche Diskussionen; deshalb forderten Greif und seine Anhänger Taten, um der Welt zu beweisen, daß ihre Aktionsmöglichkeiten ungeschmälert weiterbestanden. Flynn drehte sich wieder zum Fenster um. Unter ihm bewegte sich der Leichenzug in den Regen hinaus: Der Weihwasserkessel, die Kerze und das Kruzifix wurden vor dem Leichnam hergetragen, dahinter folgten der Abt und seine Mönche mit dem ältesten Bruder an der Spitze. Füße in Ledersandalen stiegen die kurze Treppe zum Garten hinab und bewegten sich gemessenen Schritts auf den Klosterfriedhof zu. Das Glockengeläut war verstummt, der Leichenzug legte die letzte Wegstrecke still zurück. Der Ire hob den Blick, um das Gelände jenseits des Friedhofs zu beobachten. Dort bewegte sich nichts. Dies war wirklich ein guter Treffpunkt. Für ihre Zwecke ideal geeignet: einsam, nicht weit von der Grenze mit ihren alten Schmugglerpfaden entfernt und von bewaldeten Hügeln umgeben, auf denen Gesinnungsgenossen Wache halten konnten. Mit halbem Ohr hörte er, wie der Araber die anderen ermahnte, sich nicht gegenseitig zu bekämpfen. Aber er achtete nicht weiter auf die Diskussion, denn die eigentliche Entscheidung, um die es bei ihrem Treffen gegangen war, stand bereits fest. Die Mehrheit hatte für Aktionen votiert 6
– nur nicht sofort. Morgen würden sie alle auseinandergehen. Diese Diskussion wurde lediglich um ihrer selbst willen fortgeführt. Außerdem interessierte ihn die Beisetzung. Lag das daran, daß er als Katholik aufgewachsen war? Konnte man sich davon sein Leben lang nicht mehr frei machen? Oder faszinierte ihn der Tod an sich? Der Leichnam, den noch immer kein Sarg umgab, wurde mit unbedecktem Gesicht so ins Grab gesenkt, daß der Kopf nach Osten, in Richtung Sonnenaufgang wies. Der Abt streute etwas Erde ins Grab; dann begannen Mönche, die Grube mit vom Regen schwarzer und schwerer Erde zuzuschaufeln. Ein Windstoß trieb den Regen gegen das einen Spalt weit geöffnete Fenster, so daß der Ire instinktiv den Kopf zur Seite drehte. Dabei fiel ihm etwas auf – weit jenseits des Friedhofs, wo die Bäume begannen. Es war so unerwartet, daß er mehrere Sekunden brauchte, um zu begreifen, was er gesehen hatte: einen von Baum zu Baum hastenden Mann. Flynn wartete eine weitere Minute. Er sah keine Bewegung mehr, aber was er beobachtet hatte, genügte schon. Er hielt noch sein Glas in der Hand. Jetzt trat er an den Tisch und stellte es behutsam ab, bevor er sich an den Basken wandte. »Du hast Posten aufgestellt?« fragte er. Seine Stimme klang nüchtern, aber in ihm kribbelte es bis in die Fingerspitzen. Montoya, den diese Frage sichtlich überraschte, nickte wortlos. »Würde einer von ihnen über eine Lichtung hetzen und dabei hierher sehen?« Drei der Männer wollten sofort ans Fenster stürzen, aber die Stimme des Iren hielt sie zurück. »Zeigt ihnen um Himmels willen nicht, daß wir wissen, daß sie draußen lauern! Das ist unser einziger Vorteil.« 7
»Irgend jemand hat uns verraten!« behauptete der Deutsche anklagend. »Nicht unsere Männer.« »Hört auf mit dem Quatsch! Konzentriert euch lieber darauf, hier rauszukommen!« Noch während dieser kurzen Debatte hatten die Männer sich mit ihren Pistolen bewaffnet, die in einer Truhe neben der Tür versteckt gewesen waren. »Ich sehe einen … noch einen. Sie bewegen sich nur langsam«, berichtete der Franzose Séverine, der jetzt am Fenster stand. In der nun folgenden kurzen Pause drang ein Bruchstück eines Psalms in den Raum: »Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser …« Dann hatte Flynn des Rätsels Lösung gefunden. »Die Bestattung!« sagte er. »Sie warten das Ende der Beisetzung ab. Sie hören so gut wie wir, daß sie noch im Gange ist.« Er begann zu lachen. »Sie sind alle gute Katholiken, Gott segne ihren Glauben!« Stimmengewirr, als ein rascher Kriegsrat stattfand. Ideen wurden spontan geäußert: Flucht durch die Kirche und zum Ostportal hinaus, von dem aus die Gutsgebäude nach kurzem Spurt zu erreichen waren … in den Südflügel hinüber, an der Bibliothek vorbei, durch die Waschküche ins Freie und die Obstgartenmauer entlang … hierbleiben und bis zur letzten Patrone kämpfen … Zeitnot erzwang eine Entscheidung. Die Männer verließen den Raum und stiegen hintereinander die Wendeltreppe hinab. Der Ire kam als letzter – er war stehengeblieben, um noch einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Die Bestattung ging weiter; die Mönche schienen nicht zu ahnen, was um sie herum geschah. 8
Im Erdgeschoß öffnete sich die eisenbeschlagene, schwere Holztür zum Klosterbereich fast lautlos. Im Südflügel herrschte dämmriges Halbdunkel; durch die Schlitze der geschlossenen Fensterläden fielen nur schmale Lichtstreifen auf den Marmorboden. Die Männer bildeten wie aus einem Instinkt heraus vier Gruppen: drei zu zwei, eine zu drei Mann. Das erste Paar, der Baske und der Araber, verschwand lautlos. Es hatte sich für die Kirche und das Ostportal entschieden. Der Deutsche und der Franzose kamen als nächste. Sie entfernten sich in Richtung Bibliothek. Der Ukrainer und Martinez, der Argentinier, hatten noch gewartet; jetzt folgten sie den beiden, um den Ausgang zum Obstgarten hin zu benutzen. Flynn, der Italiener Quaroni und der Amerikaner Peters wollten es gemeinsam auf der kürzesten Route versuchen: dem Kreuzgang folgend durch den ersten Ausgang, den auch die Mönche benutzt hatten, ins Freie hinaus. Sie würden in geduckter Haltung die Friedhofsmauer entlangschleichen, die ihnen als Deckung dienen sollte, um dann im Spurt die Wirtschaftsgebäude und zuletzt die Bäume zu erreichen. Sie waren schon fast am Ausgang, als der Amerikaner, der die Spitze übernommen hatte, abrupt stehenblieb und eine Hand hob. »Sie kommen zurück!« flüsterte er warnend. »Zurück!« sagte Flynn. »Wir verstecken uns und lassen sie vorbei.« Die drei Männer traten den Rückzug an. Aber sie hatten gerade erst den Kreuzgang erreicht, als vom Gästeflügel aus ein Krachen zu hören war: Die schwere Eingangstür war aufgestoßen und gegen die Wand geschmettert worden. 9
»Sie sind drinnen!« Flynn, der seine Pistole schußbereit hielt, starrte ins Dunkel. Würde die Guardia Civil im Kloster das Feuer eröffnen? Dumme Frage! Natürlich würde sie’s tun – ohne im geringsten zu zögern. Dann fielen ihm die Kutten ein. In einem vom Kreuzgang zugänglichen Korridor hatte er einige Mönchskutten in einer Nische hängen gesehen. Er hastete voraus, und die anderen folgten ihm, weil sein Zielbewußtsein sie beeindruckte. Die drei Männer zogen Mönchskutten über ihre Kleidung, und als die schweigende Prozession vorbeigezogen war, traten sie in den Kreuzgang hinaus und schlossen sich ihr an. In der Kirche sah Flynn, daß einige der Mönche sie verwundert anstarrten, während ihr Abt das letzte Gebet sprach. Dann fielen Schüsse: zuerst im Freien, danach weitere, die durchs Kloster hallten, als seien sie im Gebäudeinneren abgegeben worden. Mehrere Mönche hoben den Kopf, aber der Abt sprach weiter, als habe er nichts gehört: »… und möge das Blut deines Sohnes, der Preis für seine Erlösung, ihn vor dem Fegefeuer bewahren. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.« Danach herrschte längeres Schweigen, bevor die Mönche hintereinander die Kirche verließen. Flynn, Quaroni und Peters folgten ihnen mit gesenkten Köpfen und versteckt schußbereiten Waffen. Peters und der Ire machten sich so bald wie möglich selbständig, indem sie in einem Seitengang verschwanden. Der Italiener war nirgends mehr zu sehen. Draußen standen Angehörige der Guardia Civil, aber die beiden Männer schritten mit wie zum Gebet gesenkten Köpfen langsam weiter. Der Ire vermutete, daß sie bald 10
würden rennen müssen, denn die Tatsache, daß sie sich vom Kloster entfernten, würde sie verdächtig machen. Aber der Ruf »Halt! Stehenbleiben!« kam früher als erwartet. Flynn fuhr herum und sah einen Uniformierten auf seine Füße deuten: Dem Polizeibeamten war aufgefallen, daß er statt weißer Socken und Sandalen Straßenschuhe trug. Peters rannte bereits. Flynn gab zwei rasche Schüsse ab, folgte ihm, rutschte im nassen Gras aus und versuchte, sich im Laufen der Kutte zu entledigen. Aus allen Richtungen hallten jetzt Schüsse über die Hügel, und die Echos schienen aus dem Gebäude zu kommen, das sie soeben verlassen hatten. Was Flynn nicht wissen konnte: Von den sieben Männern, die hinter ihm zurückgeblieben waren, war einer bereits tot, zwei saßen im Hauptgebäude in der Falle, einer lag bewußtlos im Skriptorium, ein weiterer konnte seinen Zufluchtsort in einer Ecke der Kirche nicht mehr verlassen, ohne niedergeschossen zu werden, und die beiden letzten wurden in diesem Augenblick mit roher Gewalt aus einem der Wirtschaftsgebäude gezerrt. Flynn und Peters hatten inzwischen ihre Kutten abgeworfen und mit fast übernatürlicher Anstrengung die Bäume erreicht. Der Ire empfand bereits ein gewisses Triumphgefühl, aber dann sah er Peters von einer Kugel getroffen zusammenbrechen. Er blieb wie erstarrt auf dem nassen Waldboden liegen, bis der Uniformierte, der den Schuß abgegeben hatte, über dem Amerikaner stand. Jetzt schoß Flynn dreimal. Der Uniformierte war tot, als Flynn ihn erreichte; er lag aus Kopf und Brust blutend neben seinem Opfer. Peters lebte noch, aber er war zu schwer verletzt, um sich weiterschleppen zu können. Der Ire erledigte ihn mit 11
abgewandtem Blick durch einen Schuß in die Schläfe. Dann richtete er sich auf und flüchtete weiter, indem er hakenschlagend von Baum zu Baum hetzte. Nebel hüllte ihn ein, und er glaubte, die Verfolger abgeschüttelt zu haben. Er blieb mit keuchenden Lungen stehen. Die Schießerei hatte aufgehört, um ihn herum herrschte tiefe Stille. Flynn setzte sich erneut in Bewegung – diesmal langsamer, vorsichtiger. Aus dem Nebel vor ihm tauchten zwei Angehörige der Guardia Civil mit erhobenen Waffen auf. Der Ire erstarrte sekundenlang und wollte dann seine Pistole hochreißen. Auf dem Hügel hinter ihm begann wieder die große Glocke zu läuten. Das war der letzte Laut, den er vernahm, bevor der Gewehrkolben auf seinen Hinterkopf herabkrachte, aber als er im nassen, kalten Gras zusammenbrach, glaubte er noch bei schwindendem Bewußtsein den Sprechgesang der Mönche zu hören … »Ich bin gezüchtigt worden; der Herr hat mich gezüchtigt, aber nicht zum Tode verdammt.«
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1 Sonntag, 20. März 1988 Karen Huisman klappte die Concorde-Speisekarte auf und war froh, sich durch diese fast alltägliche Beschäftigung ablenken zu können. Trotzdem spürte sie die Blicke des Mannes jenseits des Mittelganges. Sie wußte, daß sie eine Frau war, die Aufmerksamkeit erregte. Sie war fast einen Meter achtzig groß und hatte ein blasses Gesicht mit großen dunklen Augen und hohen Backenknochen, das von schwarzen Locken eingerahmt wurde. Die Speisekarte, deren dunkelblauer Umschlag mit einer goldenen Krone geschmückt war, sollte den besonderen Luxus des Überschallflugs widerspiegeln. Denn trotz des im Vergleich zu Großraumflugzeugen beengten Kabinenraums waren Concordeflüge in den zwölf Jahren seit der Aufnahme des Transatlantikverkehrs zu einer Besonderheit geworden, einfach deswegen, weil der übrige Luftverkehr immer gewöhnlicher und geradezu spartanisch geworden war. So waren viele Passagiere bereit, für höhere Geschwindigkeit und besonders aufmerksamen Service erheblich mehr als für ein normales Erste-Klasse-Ticket zu bezahlen. Karen warf einen Blick auf ihre Cartier-Armbanduhr, bevor sie versuchte, sich auf die Speisekarte zu konzentrieren. Die Maschine stand noch auf dem Kennedy International Airport; sie hatte bereits zehn Minuten Verspätung. Diese Tatsache steigerte Karens Nervosität. Mehrere Aperitifs standen zur Wahl, ein halbes Dutzend 13
Rot- und Weißweine klassischer Lagen. Kaviarkanapees, Gänseleberterrine, Räucherlachs, Entrecote, Kalbskoteletts, Steinbuttfilet … Sie zwang sich dazu, die Karte ernst zu nehmen und ihre Wahl zu treffen, obwohl ihr alles lachhaft und widerwärtig vorkam und obgleich sie damit rechnete, keinen Bissen davon essen zu können. Genau siebzehn Minuten nach der vorgesehenen Startzeit wurde das Überschallflugzeug von einem Schlepper in Rollposition gezogen. Schuld an der Verspätung waren zusätzliche Sicherheitsüberprüfungen wegen einiger besonders prominenter Fluggäste an Bord der Concorde, aber das hinderte den Captain nicht daran, sich in dem beengten Cockpit fluchend bei seinem Kopiloten und dem Flugingenieur zu beschweren. Zu den Prominenten gehörten Jennifer North, Filmstar in zwei Dutzend Kassenschlagern, zum fünften Mal verheiratet und in die London Clinic unterwegs, um sich einer vierten in der Presse breitgetretenen Operation zu unterziehen; Andrew Muntwick Jr., Sohn des angeblich reichsten Mannes der Vereinigten Staaten und – im Gegensatz zu seinem Vater – lebenslustig und publicitysüchtig; und Viersternegeneral Ogden Peters, der inkognito mit seiner neuen Frau zu Flitterwochen in Europa unterwegs war. Beim Einchecken hatten zwei Männer Verdacht erregt. Am Terminal waren die Codebuchstaben ZTZ eingegeben worden, um die Wachen am Flugsteig zu alarmieren, und die beiden Fluggäste waren abgefangen und einer genauen Leibesvisitation unterzogen worden. Die Durchsuchung war ergebnislos geblieben, aber die Zeit war 14
unwiederbringlich verloren. In letzter Minute war dann ein weiterer Prominenter an Bord geleitet worden: Anatoli Wolkow, der stellvertretende sowjetische Außenminister, der darauf bestanden hatte, mit der Concorde zu fliegen, als seine Aeroflotmaschine – zu diesem Zeitpunkt das einzige sowjetische Flugzeug auf dem Kennedy International Airport – wegen eines technischen Defekts nicht hatte starten können. Keineswegs das geringste Problem ergab sich aus seiner Begleitung durch einen bewaffneten Leibwächter. Es war schließlich durch eine Art Kompromiß gelöst worden: Der Leibwächter hatte sich dazu bereit erklärt, seine MakarowPistole gegen eine speziell für den Einsatz in Flugzeugen konstruierte Waffe des Kalibers 38 zu vertauschen. Sie verschoß ein lediglich auf Entfernungen unter fünfzehn Metern tödliches Spezialgeschoß. Die Startfreigabe wurde erteilt. Das Flugzeug beschleunigte auf Startbahn 3 IL, einer der beiden von der Concorde benutzten Bahnen. Als der Kopilot »Rotation!« rief, hob es ab und begann mit 200 Knoten TAS zu steigen. Der Captain dachte nicht mehr an die Startverzögerung, während er sich jetzt darauf konzentrierte, die Maschine genau auf Südkurs über die unbesiedelten Sumpfgebiete des Naturschutzgebiets Jamaica Bay zu bringen, um den Lärmpegel beim Start so gering wie möglich zu halten. Karen trank mit kleinen Schlucken ihre Bloody Mary und beobachtete, wie das Flugzeug die Wolkendecke durchbrach und in strahlendem Sonnenschein weiterstieg. Sie war schon früher mit der Concorde geflogen und wußte, daß der größte Teil des Fluges – 20.000 Fuß höher 15
als gewöhnliche Verkehrsmaschinen – über den Wolken ablaufen würde. Der Mann jenseits des Mittelganges starrte sie noch immer an; sie hatte Zeitschriften auf den freien Sitz neben sich gelegt, um ihn davon abzuhalten, auf ihre Seite des Ganges zu kommen und sich neben sie zu setzen. Lag es an ihrer Schönheit? Sie hatte stets darunter gelitten; innerhalb der Bewegung war sie lange nicht ernstgenommen worden, und selbst als sie sich endlich durchgesetzt hatte, hatten die ersten Anforderungen nur dem Gebrauch ihres Körpers gegolten. Heute nutzte Karen ihre Schönheit jedoch bewußt aus. Ihre Kleidung war sorgfältig ausgewählt: eine schlichte weiße Seidenbluse, ein grauer Rock und ein schwarz-beiger Kaschmirschal von Yves St. Laurent. Alles ganz anders als die Jeans und Männerhemden, die sie sonst bevorzugte. Sie achtete darauf, nicht wieder dem Blick des Mannes zu begegnen, während sie sich umdrehte und in der zigarrenförmigen Kabine nach hinten sah. Ihr Platz befand sich in einer der hinteren Reihen des vorderen Abteils. Vincent war nicht zu sehen, aber sie konnte seine Sitzreihe ausmachen – etwa in der Mitte des hinteren Abteils. Karen blickte wieder nach vorn. Sie sah Simpsons Hinterkopf, als er sich über die Lehne beugte, um eine Zeitschrift aufzuheben, die von seinen Knien in den Gang geglitten war. Nervosität? War er so angespannt wie sie? Karen zwang sich zur Ruhe. Die Stewardeß kam vorbei. Karen bestellte ihr Mittagessen und einen Drink, konnte aber dann, als die Stewardeß weiterging, plötzlich der Versuchung nicht widerstehen, rasch nach oben zu blicken. Hoffentlich hatte alles wie vereinbart geklappt? Im Cockpit entspannten Captain und Kopilot sich sichtlich, lösten die oberen Hälften ihrer Hosenträgergurte, 16
kippten ihre Sitze nach hinten und bestellten Tee. Das Flugzeug wurde jetzt vom Autopiloten gesteuert. Der Captain sah auf die Borduhr. »Bei diesem Rückenwind«, sagte er, »holen wir die Verspätung leicht wieder auf.« Karen wünschte sich einen zweiten Drink, aber sie bestellte sich keinen. Obwohl man ihr versichert hatte, daß die Betablocker, die sie geschluckt hatte, nicht mit Alkohol reagieren würden, wollte sie in diesem Stadium kein Risiko mehr eingehen. Immer wieder sah sie rasch auf ihre Armbanduhr. Simpson und Vincent taten bestimmt das gleiche. Um sich abzulenken, stellte sie sich die beiden vor, wie sie in der Schlange der wartenden Passagiere gestanden hatten: durchaus erkennbar, aber wie sie selbst deutlich verändert. Simpson wirkte in seinem blauen Nadelstreifenanzug mit Weste, seiner Klubkrawatte, dem abgewetzten Aktenkoffer und dem scheinbar gelangweilten Blick hinter einer dicken Hornbrille sehr britisch. Vincent war sehr verändert: mit künstlicher Sonnenbräune, einem italienischen Seidenanzug, einem schmalen schwarzen Aktenkoffer und mehreren Zeitschriften aus dem Showgeschäft unter dem Arm. Karen wußte, daß die beiden darauf warteten, daß sie das Zeichen zum Losschlagen gab. 44 Minuten nach dem Start. Noch eine Minute. Das Glas in ihrer Hand war leer, aber sie umklammerte es fester. Einen Augenblick lang fürchtete sie, ihre Beine könnten ihr den Dienst versagen. Dann stand sie ohne Hast auf, als wollte sie zur Toilette, und hob die rechte Hand, um sich an der Gepäckablage 17
festzuhalten. Ihr Gesicht blieb ausdruckslos, während sie das Fach für die Sauerstoffmaske öffnete. Es klappte auf, aber ihr fiel nichts entgegen. Trotz der Pillen spürte sie, wie ihr Puls zu jagen begann. Sie griff in das Fach und fühlte kaltes Metall in ihrer Hand. Sie setzte sich, hielt den Kopf gesenkt und verbarg den Gegenstand unter ihrem Schal. Wahrscheinlich hatte niemand beobachtet, was sie getan hatte, aber selbst wenn jemand etwas gesehen hatte, brauchte er Zeit, um seine Beobachtung richtig zu deuten und darauf zu reagieren – und sie würde in dreißig Sekunden erneut aufstehen. Vincent mußte bereits zum Heck der Maschine unterwegs sein. Die Pistole war klein, aber sie wirkte beruhigend: kaum zehn Zentimeter halbmatter Edelstahl, der nicht einmal drei Zentimeter lange Lauf hatte vier Züge. Sie wog 130 Gramm, nicht mehr als das volle Glas, das Karen in der Hand gehalten hatte, aber die fünf Kleinkaliberkugeln, mit denen der Mini-Derringer geladen war, waren tödlich. Eine Stewardeß servierte weitere Drinks. Karen wartete, bis sie vorbei war. Dann stand sie auf und trat in den Mittelgang. Wo der sowjetische Minister saß, war leicht zu erkennen, da für ihn und seinen Leibwächter zwei Sitzreihen geräumt worden waren. Seine unerwartete Anwesenheit konnte sich als beträchtlicher Vorteil erweisen. Simpson war zwei Meter vor ihr. Er erreichte die ins Cockpit führende Tür, drehte sich ruckartig um und hielt plötzlich einen Revolver in der Hand. Der Leibwächter des sowjetischen Ministers reagierte blitzschnell und griff nach seinem Schulterhalfter. Seine Finger hatten die Pistole noch nicht ganz erreicht, als Karen sich über den Sitz beugte und ihn mit aufgesetzter 18
Waffe in die linke Schläfe schoß. Obwohl der Mann sofort tot gewesen sein mußte, drückte sie ein zweites Mal ab. Karen hörte eine Bewegung hinter sich und fuhr herum, obwohl Simpson die Kabine überwachte. Ein Mann war aufgestanden. Sie hörte den Knall und sah, wie der Unbekannte rückwärts über den Sitz geworfen wurde. Dort blieb er grotesk zusammengekrümmt liegen: seine Beine ragten in den Mittelgang, eine Hand lag auf der Brust. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor, und er begann gurgelnde Laute auszustoßen. Ein Fluggast jenseits des Ganges machte eine Bewegung, als wolle er ihm zur Hilfe kommen. »Lassen Sie ihn liegen!« Karens Stimme klang drohend. Im Heck der Maschine sah sie Vincent im Gang stehen. Sein linker Arm war von hinten um den Hals einer Stewardeß geschlungen, die er vor sich her zur Bordsprechanlage stieß. Sonst bewegte sich niemand, und Karen genoß plötzlich ihre Macht. Simpson war zum ersten Mal in einem Concorde-Cockpit, das er nur aus Handbüchern kannte. Er stellte jedoch erleichtert fest, daß die Instrumente die allerdings zahlreicher als in anderen Verkehrsflugzeugen waren – ihm durchaus vertraut vorkamen. Er stand mit der Pistole in der Hand hinter den drei Männern. Der Captain und sein Kopilot saßen nebeneinander; der Flugingenieur hatte seinen Platz hinter den beiden; der für Flugschüler oder als Passagiere mitfliegende Piloten reservierte Sitz neben ihm war leer. Nachdem Simpson mit einem Blick festgestellt hatte, daß der Autopilot eingeschaltet war, bekräftigte er sofort 19
seine Autorität. »Finger weg!« befahl er, als der Captain eine Hand ausstrecken wollte. »Nichts anfassen!« Er wußte, daß die Piloten Anweisung hatten, im Falle einer Entführung den Befehlen zu gehorchen und nichts zu tun, was die Maschine und ihre Passagiere gefährden könnte. Falls der Captain wieder auf Handsteuerung umschaltete, konnte er das Flugzeug jedoch theoretisch in eine plötzliche Steilkurve legen, so daß der Entführer den Boden unter den Füßen verlor. Das würde der Captain natürlich nicht riskieren, aber Simpson wollte keinerlei Risiko eingehen. »Jetzt nehmen Sie die Kopfhörer ab«, wies er die Piloten an, »und schalten Sie auf die Lautsprecher um.« Eine weitere Vorsichtsmaßnahme. Er wollte den gesamten Funkverkehr mithören können. Simpson amüsierte sich über den Blick des Captains. Er hatte bewiesen, daß er etwas vom Fliegen verstand; der Pilot fragte sich jetzt sicher, ob der Unbekannte notfalls selbst das Steuer übernehmen konnte. Eine erschreckende Vorstellung. Er konnte sich eine weitere Demonstration nicht verkneifen und zeigte auf den Transponder, das SSRBordgerät. Indem der Captain bestimmte Codes einstellte, konnte er den Bodenstationen Nachrichten übermitteln. Wählte er beispielsweise den Code 7700, signalisierte er damit dem Fluglotsen am Radarschirm, daß das Flugzeug und seine Insassen sich in unmittelbarer und schwerer Gefahr befanden und dringend Hilfe brauchten. »Los, stellen Sie sieben-fünf-null-null ein – den Code für Flugzeugentführungen«, verlangte Simpson. Der Captain streckte die rechte Hand aus. »Wir müßten gerade in Radarreichweite von Gander sein«, fügte Simpson hinzu. »Was dann?« fragte der Captain. 20
Simpson grinste breit. »Dann warten wir einfach ab«, antwortete er. »Wir haben’s nicht eilig.« In der Bordküche zwischen den beiden Kabinenabteilen, wo Karen unbeobachtet war, knöpfte sie ihre Bluse auf, öffnete den Vorderverschluß ihres Büstenhalters und holte den Plastiksprengstoff heraus. Vor ihrer Rückkehr in die Kabine stopfte sie den Büstenhalter mit Kosmetiktüchern aus – ein scheinbar nebensächliches Detail, aber sie wußte, daß die großen Brüste ebenso wie die Perücke über ihrem glatten Haar, der falsche Leberfleck auf ihrer Wange und die langen Fingernägel zu den Kennzeichen gehörten, die auffallen und in späteren Personenbeschreibungen eine Rolle spielen würden. Je mehr Polizei und Nachrichtendienste auf diese Weise irregeführt werden konnten, desto besser war es für sie alle. In der Kabine hielt als einziger Vincent Wache, aber die Ermordung des Russen hatte die übrigen Fluggäste gelähmt. Und falls sie daran erinnert werden mußten, was auch ihnen zustoßen konnte, brauchten sie nur auf das Stöhnen aus einem durch einen Vorhang abgetrennten Abteil im Heck zu horchen. Dort lag der Mann, der mit einer stark blutenden Schußwunde in der Brust weggeschleppt worden war. Ohne auf die Blicke der Passagiere zu achten, machte Karen sich daran, den Plastiksprengstoff unmittelbar hinter der Bordküche an Wände und Decke der Kabine zu kleben. Sie staunte darüber, wie ruhig sie jetzt war; sie hatte sich zwei Cognacs aus dem Barschrank genehmigt, aber ihre Gelassenheit hatte andere Gründe. Psychologen, die sich mit Terrorismus befaßt hatten – und Karen hatte sich wie alle guten Terroristen wiederum mit deren Forschungsergebnissen befaßt –, hatten stets behauptet, Frauen seien aggressiver, brutaler, stärker, weniger 21
anfällig für menschliche Regungen. Deshalb war das Kommando bei diesem Unternehmen ihr übertragen worden. Es war ihr erster Einsatz, wenn man den Düsseldorfer Polizisten nicht mitrechnete, den sie auf der Straße erschossen hatte, um ihr ernsthaftes Engagement zu beweisen. Während sie den Sprengstoff mit Heftpflaster aus der Bordapotheke befestigte, wärmte sie sich an dem Bewußtsein, daß die Psychologen recht gehabt hatten. Die Zündleitung war in den Taillengummi ihres Rocks eingenäht worden. Karen verband die Sprengladungen miteinander und setzte zuletzt die Sprengkapseln ein, die – wie die kleine Pistole – von einem bestochenen Flugzeugmechaniker an Bord versteckt worden waren. Ob er aufgespürt wurde, brauchte sie nicht zu interessieren: Der Mann hatte nur ein Gesicht gesehen, und die Herkunft des Geldes, mit dem er entlohnt worden war, ließ sich nicht mehr feststellen. Seine Aussage würde sich als praktisch wertlos erweisen – falls er jetzt überhaupt noch lebte. Nachdem Karen ihre Aufgabe erledigt hatte, sah sie auf die Uhr. Sie fühlte sich plötzlich wieder nervös, angespannt wie vor einem Orgasmus, der einfach nicht kommen wollte. Sie dachte zum ersten Mal daran, wie wenige sie waren, und daß irgendwo zwischen den Fluggästen ein Sicherheitsbeamter verborgen sein konnte. Oder vielleicht nur irgendein mutiger Dummkopf, der den Helden zu spielen versuchte. Ihr Blick glitt über die Passagiere, wie um sie herauszufordern, ihn zu erwidern. Die meisten von ihnen sahen weg – zu ihren Sitznachbarn hinüber, durch die winzigen Fenster in die Leere des tiefblauen Himmels, mit gesenktem Kopf auf Bücher oder Zeitschriften, die sie nicht wirklich wahrnahmen. Zwei hielten die Augen geschlossen, und die Erkenntnis, daß sie beteten, 22
belustigte Karen und gab ihr das Selbstvertrauen zurück. Dann fiel ihr Blick auf einen Mann, der fünf Reihen von ihr entfernt saß. Er beobachtete sie mit starrem, ausdruckslosem Gesicht. Er war einer der häßlichsten Männer, die Karen je gesehen hatte: mit blasser Haut, als käme er nie an die Sonne, wäßrigen Augen und einem schütteren sandfarbenen Schnurrbart. Lächerlicherweise versuchte sie, ihn dazu zu bringen, die Augen niederzuschlagen, aber sein Blick blieb unentwegt auf sie gerichtet. Karen gab schließlich auf und marschierte verärgert im Mittelgang nach vorn. Sie fand es amüsant, wie die Menschen sich nach rechts und links in Richtung Fenster lehnten, sobald sie näherkam, als fürchteten sie, die geringste Berührung könne sie reizen. Sie erreichte die Cockpittür, drehte sich um und starrte den sowjetischen Minister an. Als einziger Fluggast ließ er nicht die geringste Angst erkennen; trotz der Ereignisse um ihn herum arbeitete er gelassen einige Akten durch, als sei überhaupt nichts passiert. Entweder war er zu alt, um sich vor dem Tod zu fürchten, oder – und das war Karens Vermutung – er wußte recht gut, daß er eine zu wertvolle Geisel war, als daß ihm etwas geschehen würde. Seine Gelassenheit steigerte jedoch Karens nervöse Anspannung. Sie machte sich auf den Rückweg durch den Mittelgang und hielt dabei ihre kleine Pistole mit nach oben gerichtetem Lauf in Schulterhöhe – wie ein Duellant, bevor er sich umdreht und abdrückt. Der Blick des häßlichen kleinen Mannes war noch immer auf sie gerichtet. Aus dieser Perspektive war zu erkennen, daß er dicklich war, und sie sah jetzt auch eine entzündete kleine Stelle unter dem spärlichen Schnurrbart. Der Mann wirkte auf sie anziehend und abstoßend 23
zugleich; er erinnerte sie an jemand aus ihrer Vergangenheit, aber sie wußte nicht, wo sie ihn einordnen sollte. Sie wußte lediglich, daß ihre unbewußte Erinnerung keineswegs angenehm war. Sein Gesicht war weiterhin starr und ausdruckslos. Sie konnte nicht ahnen, daß daraus selbst jetzt nur völlige Ungläubigkeit sprach; der Mann begriff noch immer nicht recht, was geschehen war. Deshalb hatte er sich vorerst in sich selbst zurückgezogen. Neben ihr bewegte sich jemand abrupt und heftig. Karen senkte die Mündung ihrer Waffe, während sie sich rasch umdrehte. Eine ältliche Frau hatte unwillkürlich ein leeres Glas, das von ihrem Tischchen fiel, aufzufangen versucht. Karen spürte, daß sie am ganzen Leib zitterte; die Spannung, ihre plötzliche Angst und ihr Zorn waren zuviel. Sie mußten sich irgendein Ventil schaffen. Im nächsten Augenblick fuhr sie mit dem Lauf ihrer winzigen Pistole über das Gesicht der Frau. Das Korn hinterließ eine fingerlange Spur – erst weiß und dann rot, als die Haut aufplatzte. Karen trat mit schußbereiter Waffe einen Schritt zurück. Sie atmete keuchend. Plötzlich bewegte sich der häßliche Mann. Wie ein Schlafwandler stand er von seinem Sitz auf. Vielleicht hatte er nicht einmal mitbekommen, was sich ereignet hatte. Karen richtete die Pistole auf ihn. Sie hatte sich durch ihre Gewalttätigkeit etwas abreagiert, aber ihre aufgestauten Aggressionen waren unvermindert. Sie starrte in die wäßrigen Augen. Sie wollte töten und wußte keinen, den sie lieber erschossen hätte als diesen 24
Kerl, der in ihr so unangenehme Erinnerungen weckte. Vincent hielt sie davon ab. Er hatte beobachtet, was sich abspielte, und war nach vorn gekommen. Seine freie Hand berührte kurz ihren Arm. Er wartete schweigend, bis Karen ihre Pistole sinken ließ. Trotzdem ließ sie den Mann nicht aus den Augen. Er sollte wissen, wie nahe er dem Tode gewesen war. Der Captain war verwirrt und wurde zusehends nervöser. Seitdem der Entführer das Cockpit gestürmt hatte, war über eine Stunde vergangen. Wie alle Piloten war er eingehend für den Umgang mit Flugzeugentführern geschult worden: zur Zusammenarbeit bereit, aber nicht freundlich sein; nichts tun, was die Entführer beunruhigen und irrational reagieren lassen könnte; auf Forderungen nach der Übermittlung von Propagandameldungen eingehen und stets daran denken, daß Befreiungsunternehmen vom Boden aus geplant werden. Aber diese Entführer schienen keine Forderungen stellen zu wollen. Der sanft lächelnde Mann hinter ihnen vermittelte den Eindruck, als sei selbst die Anwesenheit des Captains überflüssig. Er mußte auch keineswegs beschwichtigt werden; statt dessen benahm er sich, als habe er Eiswasser in den Adern. Und was Propagandameldungen betraf, schienen die Entführer bisher keinerlei Wünsche zu haben. Aus dem Lautsprecher drang eine Stimme, die nähere Informationen verlangte. Der Flugzeugentführer schüttelte den Kopf. »Wir geben keine Antwort«, entschied er. »Das ist nur ein Versuchsballon.« Mit der freien Hand angelte er eine Packung Zigaretten 25
aus der Hemdtasche und zündete sich eine an. Die erste Zigarette. Seine Hand schien dabei nicht im geringsten zu zittern. Er rauchte die Zigarette zu Ende, drückte sie aus und sah auf seine Uhr. »Okay«, sagte er dann. »Melden Sie sich und bereiten Sie eine Kursänderung nach Shannon vor. Geben Sie durch, daß wir dort zum Nachtanken landen.« Der Captain griff nach dem Mikrofon. »Was ist, wenn sie uns die Landegenehmigung verweigern?« Der Entführer steckte sich eine weitere Zigarette zwischen die Lippen. »Dann machen sie einen Fehler«, antwortete er. »Wir sind keine Bittsteller. Wir geben Anweisungen.«
26
2 Außenminister Byron Fielding trank mit kleinen Schlucken seinen Kaffee nach dem Mittagessen und wollte nach einer Zigarette greifen, als ihm einfiel, daß er das Rauchen aufgegeben hatte. Dies war sein fünfter Tag ohne Zigarette, und in solchen Augenblicken – zu Zeiten während des Tages, an denen er nach 34 Raucherjahren automatisch nach einer Zigarette greifen wollte – hätte er schwören können, daß seine Entzugserscheinungen mit jedem Tag schlimmer wurden. Er merkte, daß seine Frau ihn beobachtete, und rang sich ein schwaches Lächeln ab. »Vielleicht lebe ich trotzdem nicht länger«, meinte er. »Aber es kommt mir bestimmt so vor.« Sie hatten in ihrem Haus in Georgetown allein zu Mittag gegessen, was selten genug vorkam. Fielding würde später noch einige Analysen und Lageberichte durcharbeiten, aber ansonsten gehörte der Rest des Tages ihnen. Ruth schob ihren Stuhl zurück und stand auf. Sie war eine energische, ehrgeizige Frau, der ihr Mann einen Großteil seines Erfolgs verdankte. Ohne ihr Durchsetzungsvermögen hätte er sich vermutlich damit begnügt, ein zurückgezogenes Professorendasein zu führen. Aber heute gab sie sich der Situation entsprechend kokett. Sie griff nach seiner Hand. »Komm«, forderte sie ihn auf, »wir gehen ins Bett!« »Nach dem Mittagessen?« fragte er grinsend, indem er das letzte Wort betonte. Aber er überließ ihr seine Hand, stand ebenfalls auf und folgte ihr zur Tür. »Du schamlose 27
Person!« sagte er lächelnd. Am Fuß der Treppe blieb er stehen und ließ Ruths Hand los. »Geh schon voraus«, schlug er vor. »Ich hole uns einen Cognac. Wenn ich schon verführt werde, soll die Sache wenigstens Stil haben.« In seinem Arbeitszimmer goß Fielding Cognac aus einer Karaffe in zwei Schwenker. Er trank einen kleinen Schluck aus seinem Glas und genoß die Stille und den ungewohnten Luxus, faulenzen zu können. Er hörte Ruth im ersten Stock. In ein paar Minuten würde er ihr nach oben folgen. Er nahm einen weiteren Schluck und kostete den Cognac genießerisch auf der Zunge. Ein besonders guter Jahrgang – ein Geschenk des französischen Botschafters. Die Standuhr in der Diele schlug halb drei: ein beruhigend häuslicher Klang. Selbst ohne den Luxus einer Zigarette schien dies ein vollkommener Tag zu sein. Fielding trank aus und schenkte sich einen weiteren Cognac ein, den er mit nach oben nehmen wollte. Dean Rusk, einer seiner Amtsvorgänger, hatte stets gesagt: »Während Washington schläft, sind zwei Drittel der Welt wach, und ich weiß bestimmt, daß ein Drittel uns Schwierigkeiten macht.« Fielding war der Überzeugung, das gelte auch für Sonntage – aber heute schien dies zum Glück nicht zuzutreffen … Er stieg die Treppe hinauf, die Gläser in beiden Händen, und empfand plötzlich aufkeimende Lust. Bevor er den ersten Stock erreicht hatte, begann ein Telefon zu klingeln. Das schrille an- und abschwellende Klingelzeichen signalisierte Fielding, daß der Anruf aus dem Außenministerium kam. Er blieb stehen, wußte nicht recht, was er tun sollte, und spielte sekundenlang sogar mit der unmöglichen Vorstellung, einfach nicht ans Telefon zu gehen. 28
Schließlich stellte er die Cognacgläser resigniert auf die nächste Treppenstufe und machte sich auf den Weg in sein Arbeitszimmer. Bis zu dem Augenblick, in dem er den Hörer abnahm, hoffte er auf irgendeine Bagatelle, die sich durch eine rasche, spontane Entscheidung aus der Welt schaffen ließ oder erst später eine Entscheidung erforderte. Selbst in der ersten halben Minute der Meldung des Diensthabenden im Krisenzentrum des Außenministeriums gelang es Fielding noch, sich diese Hoffnung zu bewahren. Eine entführte britische Concorde mit Amerikanern an Bord war lästig, aber im Ministerium gab es eine eigene Abteilung für solche Fälle und darüber hinaus Vorschriften für die Einberufung eines speziellen Krisenstabes. Solange er telefonisch erreichbar war, genügte es vermutlich, in ein paar Stunden aufzukreuzen, wenn die Lage überschaubar geworden war. Am anderen Ende entstand eine Pause, bevor der Diensthabende zögernd fortfuhr: »Noch etwas, Sir …« »Ja, Miller?« »An Bord ist der Stellvertreter des sowjetischen Außenministers, Sir.« Fieldings linke Hand tastete unwillkürlich nach der Zigarettenpackung in seiner Hosentasche. Er fluchte lautlos vor sich hin. »Haben Sie verstanden, Sir?« Der Außenminister hatte verstanden. Er würde in einer Viertelstunde im Ministerium sein. Vierzig Minuten vor der Landung in Shannon ging die entführte Concorde in den Sinkflug über. Simpson hatte in dem vierten Sessel im Cockpit Platz genommen und saß dort schweigend mit locker auf den Knien gehaltener Schußwaffe. Der Flugingenieur, der ihm am nächsten saß, 29
hatte mit dem Gedanken gespielt, wenigstens zu versuchen, ihn zu überwältigen. Seine Dienstanweisung untersagte jedoch ausdrücklich solche riskanten Versuche, und er war sich darüber im klaren, daß die anderen Entführer das Flugzeug rasch zum Absturz bringen konnten, selbst wenn sein Überrumpelungsversuch Erfolg haben sollte. Von Bodenstationen kamen immer wieder Anfragen, aber Simpson winkte jedesmal ab, um den Piloten zu zeigen, daß sie den Mund halten sollten. Er wartete, bis die Maschine noch etwa eine Viertelstunde vom Flughafen entfernt war, bevor er weitere Anweisungen erteilte. »Geben Sie durch, daß wir zum Nachtanken landen«, forderte er den Captain auf. »Wer sich dem Flugzeug nähert, muß nackt, völlig nackt sein! Er darf nicht mal Schuhe tragen. Weisen Sie darauf hin, daß wir bereits zwei Männer erschossen haben und notfalls weitere erschießen werden. Melden Sie auch, daß wir Sprengladungen am Flugzeug angebracht haben.« Als sei ihm das erst nachträglich eingefallen, fügte er hinzu: »Und geben Sie bekannt, daß unser Rufzeichen sich geändert hat. Ab sofort hören wir nur noch auf Unternehmen Netschajew‹.« In London war es 21.45 Uhr, als die Concorde in Shannon landete. Der britische Premierminister war vor knapp zehn Minuten in die Kommandozentrale unter dem Verteidigungsministerium gestürmt. Als die Flugzeugentführung gemeldet wurde, hatte er sich auf der Rückfahrt von seinem Landsitz Chequers zu seinem Amtssitz Nr. 10 Downing Street befunden. Alle 30
Meldungen wären auch in die Downing Street übermittelt worden, aber er wollte im Mittelpunkt der ›Action‹ sein. Der Verteidigungsminister war bereits da. Er stand mit verschränkten Armen vor der riesigen Nordatlantikkarte, wo die Flugroute der Concorde eingezeichnet war. Rund zwanzig weitere Personen nahmen aus Höflichkeit andeutungsweise Haltung an, als der Premierminister den Raum durch die elektronisch gesicherte Stahltür betrat. Aus einem Lautsprecher drang eine Stimme: »Gut, Netschajew«, sagte sie mit irischem Akzent. »Sinken Sie mit zweihundertfünfzig Knoten auf fünftausend Fuß.« »Wie sieht’s aus?« fragte der Premierminister, als er neben dem Verteidigungsminister stand. Der Minister deutete auf den Wandlautsprecher. »Wir hören den Funkverkehr mit«, antwortete er. »Die Maschine fliegt Shannon an.« »Was soll der Unsinn mit Netschajew?« »Weiß der Teufel. Sie wissen ja, wie diese Terroristen sind – jede Gruppe braucht ihre kleine Besonderheit. Die Erklärung wird bestimmt bald nachgeliefert.« Seine Stimme klang gedehnt, fast amüsiert. Der Premierminister warf ihm einen durchdringenden Blick zu und wollte ihn bereits kritisieren. Aber dann hielt er doch den Mund. Der Verteidigungsminister hatte den rechten Flügel der Partei hinter sich und war deshalb mit Vorsicht zu genießen. Er zwang sich widerstrebend zur Selbstbeherrschung. »Gott sei Dank, daß es nicht Heathrow ist«, sagte er. »Haben Sie dort alles alarmiert?« »Der ganze Flughafen ist wie bei einem NATO-Manöver abgeriegelt. Das bleibt er vorläufig auch. 31
Sie könnten noch immer dort landen.« Um 21.45 Uhr Ortszeit machte die Concorde eine perfekte Landung auf dem Flughafen Shannon. Obwohl den irischen Behörden nicht viel Zeit für Vorbereitungen geblieben war, sperrten bewaffnete Polizei und Militär die Landebahn ab, und auf dem Dach des Abfertigungsgebäudes waren Scharfschützen postiert. Panzerfahrzeuge würden erst später eintreffen, aber fünf Streifenwagen standen bereit, um auf Befehl die Startbahn blockieren zu können. Das spezielle Arsenal gegen Entführungen – von hochempfindlichen Mikrofonen, die an der Außenhaut des Flugzeugs befestigt werden konnten, bis hin zu Sprengbolzen, um die Reifen der Maschine zu zerfetzen – lag schon bereit. Für den Fall, daß die Entführer doch nicht auf ihrer Forderung bestanden, wer in die Nähe des Flugzeugs komme, müsse völlig nackt sein, waren drei Kriminalbeamte in Mechanikeroveralls gesteckt worden. Im Cockpit wirkte Simpson so gelassen wie zuvor, und der Captain fragte sich, ob er vielleicht unter dem Einfluß von Drogen stand. Der Entführer wartete, bis das Flugzeug ausgerollt war, bevor er weitere Anweisungen gab. »Hören Sie mir gut zu«, verlangte er, »denn ich habe nicht die Absicht, mich auf Diskussionen einzulassen. Geben Sie durch, daß mit Ausnahme der Männer, die das Flugzeug betanken, niemand näher als fünfzig Meter an die Maschine heran darf. Und die Männer, die näher herankommen, müssen nackt sein. Ich verlange sofortige Ausführung. Weitere Anweisungen folgen dann später.« Er drückte auf den Rufknopf der Bordsprechanlage. Seine Komplizin meldete sich sofort. 32
»Du kannst mit dem Aussortieren anfangen«, wies er sie an. »Und sei vorsichtig! Jetzt ist die Gefahr einer Panik am größten.« Was er hinzufügte, war ebenso für die Besatzung wie für die Frau bestimmt: »Notfalls schießt du wieder, verstanden?« Trotz des naßkalten Wetters war der 42. Präsident der Vereinigten Staaten in Camp David auf dem Golfübungsplatz, als der Anruf aus Washington einging. Fielding und der Stab des Weißen Hauses hatten dieses Gespräch so lange wie irgend möglich hinausgeschoben, weil sie auf weitere Informationen hofften. Aber da die Concorde jetzt in Shannon stand, würden auch die Sowjets bald erfahren, was sich ereignet hatte. Deshalb mußte der Präsident benachrichtigt werden. Er hörte sieben Minuten lang zu, ohne Fielding zu unterbrechen, stellte vier Fragen und befahl dann: »Halten Sie mich ständig auf dem laufenden.« Innerhalb von wenigen Minuten stellte das Fernmeldepersonal über den heißen Draht erst eine Verbindung zum Generalsekretär der KPDSU und dann zum britschen Premierminister her. Als die Betankung begann, erteilte Simpson weitere Anweisungen. »Sie sollen die Tanks zu einem Drittel füllen – nicht mehr«, verlangte er. »Geben Sie das durch!« Der Captain überlegte, ob er sich auf eine Diskussion einlassen sollte; dann übermittelte er den Befehl. Seine Bedeutung war klar und konnte den draußen Wartenden nützen: Das Ziel der Entführer war etwa 2000 Kilometer weit entfernt, und die Maschine sollte offenbar 33
auf einer kurzen Landebahn aufsetzen. Vielleicht war es möglich, einige Vorbereitungen zu treffen … »Sobald das Flugzeug betankt ist, will ich eine Fluggasttreppe. Wir setzen hier einen Teil der Passagiere ab. Aber erinnern Sie die Leute dort draußen, daß der kleinste Fehler den Tod aller bedeuten kann.« Der Captain gab auch diese Anweisungen durch. Aus dem Lautsprecher drang eine irische Stimme. »Wir möchten mit dem oder denen sprechen, in deren Gewalt sich das Flugzeug jetzt befindet. Was wollen Sie?« Simpson schüttelte den Kopf. »Fordern Sie sie auf, lediglich zu bestätigen, daß sie verstanden haben. Wir wollen keine Diskussionen.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Falls die Maschine nicht in zwanzig Minuten wieder in der Luft ist, beginnen wir, Geiseln zu erschießen. Wir fangen mit fünf an. Geben Sie das durch.« Zehn Minuten später hasteten die ersten Passagiere stoßend, schiebend und in ihrer Hast stolpernd die Fluggasttreppe zur Landebahn hinunter, geblendet von der Helligkeit der Halogenscheinwerfer, die in fünfzig Meter Abstand um die Concorde herum aufgebaut worden waren. Während sie aus der Maschine kamen, wurden sie mit lauter Stimme von einem Armeeoffizier gezählt, der über ein Funkgerät mit dem Kontrollturm in Verbindung stand. Er kam bis fünfzig, dann versiegte der Strom. Im Kontrollraum war jetzt wieder die Stimme des Captains zu hören, der dringend eine Startfreigabe verlangte. Aus einem zweiten Lautsprecher kam die des Armeeoffiziers. »Der Minister ist noch immer an Bord«, meldete sie. »Startfreigabe erteilen!« befahl der 34
kommandierende Offizier, der kein Risiko eingehen durfte. Im Cockpit sah Simpson auf seine Armbanduhr. »Augenblick!« sagte er mit dem für ihn typischen schwachen Lächeln. »Ich verlängere die Frist um zwei Minuten.« Er forderte den Kopiloten und den Flugingenieur mit einer Handbewegung zum Aufstehen auf. »Ihr könnt von Bord gehen. Die Treppe ist nicht mehr da, aber ihr könnt springen.« Die beiden sahen unsicher zu ihrem Captain hinüber. »Verschwindet!« Simpsons Stimme klang erstmals laut, ängstlich. »Los, geht schon«, wies der Captain sie an. »Vielleicht brauchen wir sie noch«, sagte er zu Simpson, als die beiden sich an ihm vorbei drängten. Der Entführer lächelte wieder. »Keine Angst. Sie kommen allein zurecht«, versicherte er dem Captain. »Sonst übernehme ich die Sache.« Wassili Bukaschow, der Generalsekretär der KPDSU, traf nach den Wochenenden, die er in seiner Datscha an der Wolga verbrachte, normalerweise am Montag gegen 13 Uhr wieder in Moskau ein. Eine luxuriös ausgestattete schwarze ZIL-Limousine brachte ihn dann in sein Apartment auf den Leninbergen zurück, von dem aus er das gesamte Moskauer Stadtzentrum jenseits der Moskwa überblicken konnte. An diesem Montagvormittag pokerte er jedoch eifrig mit seinem Freund und Schützling Juri Woschtschankin, den er vor kurzem zum KGB-Vorsitzenden ernannt hatte. Die Tatsache, daß Woschtschankin sein Freund war, bedeutete ihm weniger als das geradezu 35
unwahrscheinliche Glück, das er im Augenblick beim Poker hatte, und für einen Mann, der auf allen Gebieten Sieger sein wollte, war dieses Glück im Spiel so verlockend, daß seine Mitarbeiter sich fragten, ob er wohl nachts oder erst am nächsten Morgen in die Stadt zurückkehren würde. Bukaschow kam nicht eine Sekunde lang auf den Gedanken, der KGB-Vorsitzende könnte ihn absichtlich gewinnen lassen, um den Generalsekretär in möglichst gute Laune zu versetzen, bevor er ihn um einen Gefallen anging. Der Anruf war lästig. Bukaschow wollte seinen Mitarbeiter schon mit einer Handbewegung wegscheuchen, ohne zu wissen oder wissen zu wollen, worum es sich handelte. In seiner Linken hielt er drei Damen und zwei Neuner. Auf dem Tisch lagen über hundert Rubel. Aber dann verließ er doch den Raum, um die übermittelte Nachricht entgegenzunehmen. »Bestellen Sie dem Präsidenten, daß ich in zehn Minuten zurückrufe«, ordnete er an. »Ich muß erst nachdenken.« Er kam wieder zurück, nahm gegenüber Woschtschankin Platz, warf seine Karten auf den Tisch und starrte ins Leere. »Was gibt’s?« Die Stimme des Jüngeren klang besorgt. »Dieser Idiot Wolkow ist in ein englisches Flugzeug umgestiegen. Niemand hat gewagt, ihn daran zu hindern. Die Maschine ist entführt worden. Anscheinend von Terroristen – aber sie fliegt noch, und bisher sind keine Forderungen gestellt worden.« »Angerufen hat …?« »Präsident Proctor. Wolkow ist in New York gewesen.« Seine nüchterne Stimme klang sorgenvoll. Woschtschankin zog daraus die falschen Schlüsse. 36
»Ihr seid alte Freunde«, stellte er fest. »Ich weiß, daß ihr euch nahesteht …« Bukaschow nahm seine Karten auf. Er brauchte erst in fünf Minuten zurückzurufen. »Ich erhöhe um fünfzig«, sagte er, bevor er vertraulich hinzufügte: »Nein, nein, es geht nicht nur darum. Ich mache mir natürlich Sorgen um ihn – aber stell dir vor, was er alles weiß!« Falls Wolkow zum Reden gebracht werden konnte, bestand kein Zweifel an der Wichtigkeit seiner Aussage. Seine Stellung mochte nicht allzu bedeutend sein, aber er gehörte seit Jahrzehnten zur Führungsspitze der Sowjetunion und genoß das Vertrauen vieler einflußreicher Männer. Wolkows Vater, ein früher Bolschewik, war von den Briten gefangengenommen und im Jahre 1918 bei einem Fluchtversuch aus Baku erschossen worden. Anderen war diese Flucht geglückt. Einer von ihnen, Anastas Mikojan, wurde später sowjetischer Staatspräsident. Er hatte Wolkows Sohn mit nach Moskau genommen, wo der Junge als Sohn eines Helden aufgewachsen war. Der kleine Wolkow hatte auf Stalins Knien gesessen und – was wichtiger war – sich frühzeitig die Fähigkeit zum Überleben angeeignet. Er hatte Stalin, Chruschtschow, Breschnew überdauert. In diesen langen Jahren hatten die Geheimnisse, die Wolkow erfahren hatte, ihm mehr Wissen und Einfluß verschafft, als seiner Position entsprochen hätte. »Unser wandelndes Lexikon«, hatte Bukaschows Vorgänger ihn genannt. Woschtschankin zuckte mit den Schultern. »Er weiß jedenfalls, wo alle Leichen begraben liegen«, meinte er – und bereute diese Taktlosigkeit sofort. Er sah zu 37
Bukaschow hinüber, aber der Generalsekretär schien sie gar nicht wahrgenommen zu haben. Dann blickte Bukaschow auf. »Begrabene Leichen«, sagte er und bewies damit, daß er doch zugehört hatte. »Sehr passend …« Der KGB-Vorsitzende schwieg abwartend. »Der Präsident hat mich gefragt, was ich davon halte. Ich würd’s ihm sagen, wenn ich könnte. Ich würd’s tun, wenn die Maschine sich in unserem Luftraum befände. Mir liegt viel daran, daß Anatoli Iwanowitsch gesund und munter zurückkehrt. Aber ich möchte nicht, daß er von anderen Leuten gefangengehalten und ausgequetscht wird.« Bukaschow warf seine Karten hin und stand auf. »Ich würde das Flugzeug abschießen lassen. Mir wär’s lieber, wenn er tot wäre.« Der Flug der Concorde über Südengland hinweg nach Frankreich wurde von den zuständigen Stellen überwacht, die ihre Erkenntnisse an einen mit einem roten Teppich ausgelegten Raum in einem Palais am Place Beauvau weiterleiteten. Der Innenminister, dessen Kabinettschef neben ihm stand, rutschte unbehaglich auf seinem Louis-XLArmstuhl hin und her, während er der Lautsprecherstimme zuhörte. Er hatte in einem Restaurant in der Nähe zu Abend gegessen, als ihm die Entführung gemeldet worden war. Zwar lag die Verantwortung für die Koordinierung irgendwelcher Maßnahmen nicht bei ihm, sondern bei dem im ersten Stock des Außenministeriums am Quai d’Orsay zusammengetretenen Krisenstab. 38
Aber er mußte ständig damit rechnen, daß die Maschine in Frankreich landen und somit in seine Zuständigkeit fallen würde. Für seine Anwesenheit gab es jedoch noch einen weiteren Grund: Der Präsident würde verlangen, über das Schicksal des Passagiers André Labrosse, eines schwerreichen Industriellen, auf dem laufenden gehalten zu werden. Der Minister sah auf. »Sind alle Flughäfen und Militärflugplätze alarmiert?« »Alle, die für eine Landung in Frage kommen könnten«, bestätigte der Kabinettschef. Ein weiterer Mitarbeiter kam herein und erstattete mit halblauter Stimme Bericht. Er hatte den Auftrag erhalten, sich mit Labrosse zu befassen. Natürlich kannte der Minister den Multimillionär, der sein Geld mit Chemiefirmen im Großraum Lyon gemacht hatte, dem Namen nach und wußte, daß Labrosse im Grunde genommen apolitisch war. Aber vielleicht gab es weitere wichtige Erkenntnisse über ihn, die unter diesen Umständen relevant waren? Es war besser, sich nochmals zu vergewissern. Der Bericht war beruhigend, obwohl noch einige Anfragen unbeantwortet waren. Die ersten raschen Anrufe beim Nachrichtendienst, im Industrieministerium, bei den Parteischatzmeistern und der Lyoner Polizei hatten nichts Außergewöhnliches ergeben. Die Lautsprecherstimme meldete sich erneut. »Das Flugzeug ist auf Südkurs gegangen, ich wiederhole: auf Südkurs.« Der Minister hob den Hörer eines der fünf Telefone auf seinem Schreibtisch ab – das grüne Telefon, das eine Direktverbindung herstellte. Es wurde Zeit, dem 39
Präsidenten zu versichern, Beunruhigung vorlag.
daß
kein
Grund
zur
In 51.000 Fuß über den Lichtern von Nizza übergab Simpson dem Captain der Concorde einen zweiten Satz Navigationsunterlagen. Wie die ersten bestanden sie aus präzisen Koordinaten sowie Kurs- und Höhenangaben. Der Captain machte sich daran, diese Daten den Computern des Trägheitsnavigationssystems einzugeben, das eine Weiterentwicklung der Geräte war, mit denen die Apollo-Astronauten den Mond erreicht hatten. Innerhalb von zehn Sekunden hatten die Computer diese Informationen ausgewertet und den Kurs der Maschine geändert. Wie zuvor wurde kein Versuch unternommen, die Flugverkehrsstrecken zu benutzen, die den Himmel wie unsichtbare Straßen durchziehen. Der gesamte übrige Verkehr wurde bewußt von der Concorde ferngehalten. »Algerien«, fügte Simpson erklärend hinzu. »Ihr Flug ist schon fast zu Ende, Captain. Machen Sie nur weiter wie bisher. Sie haben sich sehr gut gehalten.« Der Captain wollte etwas sagen, aber Simpson, der sich eben eine neue Zigarette anzündete, brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Nein, konzentrieren Sie sich bitte, Captain. Keine Zeit für ein Schwätzchen!« »Ich muß Fragen stellen. Das wissen Sie genau!« »Ich kenne Ihre Fragen, Captain. Sie brauchen bloß zuzuhören, wenn ich sie beantworte.« Simpson machte eine Pause. »Wie Sie vermutlich schon erraten haben, landen wir nicht in Algier, sondern auf einem aufgelassenen Militärflughafen, der ziemlich weit 40
südlich auf dem Hochplateau liegt. Der Platz wird nicht mehr benutzt, ist aber durchaus noch in Ordnung. Die Koordinaten, die ich Ihnen gegeben habe, sind präzise.« Der Captain hatte seine Zweifel an der Benutzbarkeit dieses Platzes, aber er behielt sie vorerst für sich. »Wie lang ist die Landebahn?« fragte er. »Ungefähr tausend Meter.« »Sie wissen, daß ich mehr als das Doppelte brauche.« »Ich weiß, daß im Betriebshandbuch steht, daß Sie nahezu zweitausenddreihundert Meter brauchen. Wir wissen beide, daß darin ein hoher Sicherheitsfaktor steckt. Mit etwas Glück kommen sie mit einem Drittel dieser Länge aus.« »Wie steht’s mit Landehilfen?« »Sie meinen Anflugfeuer, Radar? Nichts.« Die Stimme des Captains klang ungläubig. »Was ist mit der Befeuerung?« »An der Landebahnschwelle und am anderen Ende. Damit müssen Sie zurechtkommen.« Simpson tat die Einwände des anderen mit einer Handbewegung ab. Der Captain konzentrierte sich darauf, die Concorde zu fliegen. Der Sinkflug hatte begonnen. In etwa einer halben Stunde würde er landen müssen. Normalerweise landete ein Flugzeug aufgrund präziser Anweisungen der Bodenkontrollstelle auf einer Landebahn, deren Seiten und beide Enden gut beleuchtet waren. Eine Schwellenbefeuerung bedeutete, daß der Anfang der Landebahn durch eine querstehende Lichterkette markiert war. Dabei kam es darauf an, unmittelbar hinter diesen Lichtern aufzusetzen. Das ließ sich machen. Gefahr drohte, wenn das Flugzeug seitlich von der Landebahn abkam, aber die Entführer hatten in 41
diesem Punkt vorgesorgt, indem sie das Landebahnende ebenfalls markiert hatten. »Ich brauche einen oder zwei Übungsanflüge«, stellte der Captain fest. »Die sollen Sie kriegen.« Alle Flugzeuge waren angewiesen worden, den Luftraum, in dem die Concorde sich bewegte, unbedingt zu meiden. Algerien, lange einer der besten Freunde des internationalen Terrorismus, ließ sich nicht zweimal bitten, als es erfuhr, daß ein sowjetischer Minister an Bord war: Von der UdSSR erhielt das Land ein Großteil seiner dringend benötigten technischen und militärischen Ausrüstung. Trotzdem folgten zwei Flugzeuge der übers Mittelmeer fliegenden Concorde, aber mit 18.000 Fuß Überhöhung und in 40 Seemeilen Abstand – dem Vierfachen der Entfernung, in der selbst bei Tageslicht ein Erkennen möglich gewesen wäre. Diese beiden Maschinen – Tornados der Royal Air Force – beschatteten die Concorde mit Nachtsichtgeräten, die ein stark vergrößertes Abbild der Concorde auf Bildschirme projezierten. Ein System zur Restlichtverstärkung sorgte dafür, daß die Geräte sogar bei fast völliger Dunkelheit noch funktionierten. Der Pilot der ersten Maschine meldete seine Beobachtungen verschlüsselt ans Londoner Lagezentrum, von wo aus sie in die Vereinigten Staaten übermittelt wurden. Er meldete den beginnenden Sinkflug der Concorde, das Überfliegen der algerischen Küste und schließlich die Lichterketten in einer dunklen Landschaft, über denen das Flugzeug zu einem Landeversuch ansetzte. 42
Jennifer North beobachtete die plötzlich unter ihnen auftauchenden Lichter und kicherte. Sie war angetörnt. Seitdem sie vor 48 Stunden ihren Entschluß gefaßt hatte, war sie von Craig, ihrem Ehemann und Manager, in regelmäßigen Abständen mit Antidepressiva versorgt worden. Und seit dem Start in New York hatte sie diese Tabletten mit heimlichen und gefährlichen Schlucken aus der flachen Cognacflasche in ihrer Handtasche kombiniert. Jetzt nahm sie die soeben aufgetauchten Lichter kaum wahr. Ihre Gedanken waren ganz nach innen gerichtet. Es hatte drei Wochen gedauert, bis sie sich hatte überreden lassen. Die Tage, an denen es ihr schlecht ging, behinderten sie als Schauspielerin, hatte es geheißen: Sie hielten die Dreharbeiten auf und verschafften ihr eine schlechte Presse bei Fachjournalisten, die bereits Andeutungen machten, ihre Drehpausen könnten andere Gründe haben. Nachdem schon fast alles versucht worden war, blieb eigentlich nur noch diese eine Möglichkeit … Craig hatte den ganzen Abend und die halbe Nacht ohne Pause auf sie eingeredet, bis sie sich schließlich mit der Gebärmutterentfernung einverstanden erklärt hatte. Sobald sie zusammengesunken und schluchzend ja gesagt hatte, hatte er ihr die erste Tablette gegeben. »Die helfen dir«, hatte er dabei gesagt. Sie durfte sich die Sache mit der Operation unter keinen Umständen mehr anders überlegen. Das Zimmer in der Privatklinik und der Chirurg standen schon seit fast einer Woche bereit. Sie hatte länger ausgehalten, als ihr die anderen zugetraut hätten. Sie begann leise zu schluchzen, und Craig, der neben ihr saß, tätschelte beruhigend ihren Arm. Ihre Augen waren jetzt glasig, blicklos. Sie bezweifelte, daß sie jemals ein 43
Baby hätte bekommen können; vier Ehen waren selbst nach Hollywoodbegriffen ziemlich viele Ehen. Trotzdem … Die Hand auf ihrem Arm packte fester zu, tat ihr weh, erzwang ihre Aufmerksamkeit. Craig streckte ihr die andere Hand hin. Auf der Handfläche lagen zwei bunte Kapseln. »Komm«, sagte die Stimme sanft, »nimm die hier.« Die beiden ersten Anflüge der Concorde waren keine wirklichen Landeversuche; der Captain versuchte lediglich, die für eine sichere Landung beste Sinkgeschwindigkeit herauszubekommen. Beide Male startete er durch, stieg, flog eine Platzrunde und kehrte zur Landebahn zurück. Die Entführung beschäftigte ihn nicht mehr; im Augenblick war die Landung alles. »Okay«, sagte er nach dem zweiten Durchstarten, »drücken Sie uns die Daumen. Diesmal lande ich!« Während die Concorde tiefer ging, waren durchs Cockpitfenster nichts als die Lichterketten zu sehen. Wegen der kurzen Landebahn schwebte der Captain so langsam wie möglich ein, obwohl er sich dabei der Überziehungsgeschwindigkeit gefährlich näherte. Plötzlich hatte er die Schwellenbefeuerung unmittelbar vor sich. Das Flugzeug setzte hart auf. Reifen quietschten, und die Triebwerke heulten auf, als der Captain eine Notbremsung vornahm und zugleich die Schubumkehr mit Notleistung arbeiten ließ. Die Landescheinwerfer der Concorde beleuchteten die Bahn. Keine fünfzig Meter vor den Lichtern, die das Ende der Landebahn markierten, kam die Maschine abrupt zum 44
Stehen. Der Captain lächelte triumphierend, obwohl er schweißnasse Hände hatte. Er hatte es geschafft! Er vergaß einen Augenblick lang, daß der Entführer ihn zu dieser Landung gezwungen hatte, drehte sich mit berechtigtem Stolz auf seine Leistung nach ihm um und wartete auf ein Lob. Statt dessen goß Simpson, der sich bereits losgeschnallt hatte, etwas aus einer Taschenflasche in einen Pappbecher. Er hielt ihn dem Captain mit der linken Hand hin, während er mit der rechten seine Waffe hob. »Austrinken!« verlangte er. »Den ganzen Becher, sonst kriegen Sie ’ne Kugel durch den Kopf. Sie haben die Wahl!«
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3 Mit der Vernehmung der freigelassenen Passagiere wurde sofort begonnen. Am wichtigsten war es, die Entführer zu identifizieren, um Erkenntnisse über mögliche Verhaltensweisen und Forderungen sowie vielleicht vorhandene Schwächen zu gewinnen. Die Personenbeschreibungen wurden weltweit verbreitet, wobei die größten Hoffnungen auf den umfangreichsten Dateien über Terroristen ruhten – die des israelischen Geheimdienstes Mossad und die der Deutschen –, während Interpol erst in zweiter Linie in Betracht kam. Zwei Fluggäste hatten beobachtet, wie die Frau ihre Pistole aus dem Fach mit der Sauerstoffmaske geholt hatte. In New York und London wurde damit begonnen, alle zu überprüfen, die am Boden Zutritt zu der Maschine gehabt haben konnten. Allein die Zahl derer, die offiziell Zugang gehabt hatten, war erschreckend hoch. Trotzdem gingen die Ermittlungen weiter, obwohl viele bezweifelten, daß sie wirklich dringend waren. Irgendwann würden die Flugzeugentführer sich zeigen müssen … Kurz nach Tagesanbruch bezogen algerische Truppen mit Panzerspähwagen ihre Stellungen, die einen weiten Kreis um das entführte Flugzeug bildeten. Auf strikten Befehl des algerischen Präsidenten, der bereits mit Washington, Moskau und London telefoniert hatte, hielten sie sich bewußt zurück. Alle Beteiligten waren sich darüber einig, daß die Initiative zum nächsten Schritt von den Entführern ausgehen müsse. 46
Begleitet wurden die Algerier von den Militärattaches der britischen, französischen, sowjetischen und der vor kurzem wiedereröffneten amerikanischen Botschaft. Alle vier gingen mit gemischten Gefühlen in dieses Unternehmen: Sie ärgerten sich darüber, so früh aus dem Bett geholt worden zu sein – vor allem der Brite, der verkatert war –, und genossen zugleich die dramatische Unterbrechung ihrer sonst eher eintönigen Dienstalltage. Der Feldflugplatz, auf dem die Concorde gelandet war, lag rund 150 Kilometer südlich von Algier in einem einsamen Trockengebiet, in dem es nur ausgedörrte Erde, Felsen, schmutziggelbe flache Hügel und vereinzelte schlammige Wasserläufe gab, die eine Folge der winterlichen Regenfälle waren. Am Spätvormittag hatten die Militärattaches und die Soldaten getan, was sie konnten. Funkverbindungen waren hergestellt worden; Soldaten in Tarnanzügen waren bis unter die Concorde gerobbt und hatten Abhörmikrofone am Rumpf der Concorde befestigt: ein Verhandlungssystem, zu dem ein auf Belagerungsfälle spezialisierter englischer Psychologe gehörte, war in die Wüste unterwegs. Als die Forderungen der Entführer endlich bekanntgegeben wurden, kamen sie nicht aus dem in Algerien stehenden Flugzeug, sondern waren in drei gleichlautenden Schreiben enthalten, die der sowjetischen Botschaft in Bern, der amerikanischen Botschaft in Paris und der britischen Botschaft in Brüssel zugeleitet wurden. »Sie wollen uns beweisen, wie leistungsfähig ihre Organisation ist«, stellte Byron Fielding fest. »Das haben sie bereits schlagend bewiesen«, sagte Leonard Meyer, der Sicherheitsberater des Präsidenten. 47
In Washington war es 6.22 Uhr. Fielding hatte die Nacht im Außenministerium verbracht; Meyer war soeben dort eingetroffen. Die beiden saßen in dem kleinen Konferenzraum neben dem großen Lageraum des Krisenzentrums im Außenministerium. In die Wand vor ihnen war ein riesiger Bildschirm eingelassen, auf dem jetzt die in Großbuchstaben getippte Nachricht erschien. »Sie haben ab 12.00 MEZ 48 Stunden Zeit, um folgende Forderungen zu erfüllen«, begann die Nachricht. »Jetzt wissen wir wenigstens, was sie wollen«, sagte Fielding. Er zog an seiner Zigarette. Seine Bekehrung zum Nichtraucher würde warten müssen, bis diese Krise gemeistert war. Meyer zuckte mit den Schultern. »Ich erkenne da keinen Unterschied.« Er wandte sich an die anderen an ihrem Tisch. »Ich sehe keine Möglichkeit, ihren Forderungen nachzukommen.« Die Normalbesetzung des Krisenzentrums war durch ein eilig zusammengerufenes Team von Terrorismusexperten und Vertreter der sowjetischen, französischen und britischen Botschaft ergänzt worden. Meyer starrte die auf dem Bildschirm flimmernden Forderungen der Flugzeugentführer an. Die Unbekannten wollten Geld. Das wäre kein Problem gewesen. Aber vor allem wollten sie die Freilassung von sieben führenden Terroristen, die vor zweieinhalb Monaten in Spanien verhaftet worden waren. Meyer schlug ein Dossier auf und überflog die Namen. »Flynn, Michael O’Dare, 1954 in Galway geboren. 1977 Festnahme durch Royal Ulster Constabulary, Anklage wegen Mordes an drei britischen Soldaten, zu 48
lebenslänglicher Haft verurteilt. 1978 ausgebrochen. 1980 in Chicago unter Verdacht der Mittäterschaft bei der Ermordung Lord Mountbattens verhaftet und mangels Beweisen freigelassen. Vermutlich beteiligt an der Explosion einer Boeing 747 der Aer Lingus, die 1982 mit 211 Personen an Bord abgestürzt ist – angeblich ein Racheakt als Vergeltung für das Auslieferungsabkommen für Terroristen zwischen Irland und Großbritannien. 1984 vermutlich beteiligt am Terroranschlag auf den Genfer Flughafen mit 57 Toten. Seit 1986 wahrscheinlich als Ausbilder für korsische Separatisten tätig … Hassan, Abdul. Wahrer Name unbekannt. 1959 (?) im Libanon (?) geboren. Zahlreiche Terroranschläge; 1986 beteiligt an der Ermordung des PLO-Chefs im Auftrag einer Splittergruppe nach Geheimgesprächen zwischen PLO und israelischer Regierung. 1987 bei Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden PLOGruppen angeschossen. Danach bis zu seiner Verhaftung nicht wieder aufgetaucht. Die offiziellen PalästinenserOrganisationen sollen eine Million Dollar Kopfgeld für ihn ausgesetzt haben … Titow, Wiktor. Geborener Ukrainer, Wehrdienst in der sowjetischen Armee, aus der DDR in den Westen geflüchtet. 1982 (?) zur westdeutschen RAF gestoßen. Verantwortlich für Planung und Durchführung der Morde an den Pariser KGB- und CIA-Residenten (1985). Hauptverfechter von Terroranschlägen gegen Einrichtungen in Ostblockstaaten. An der Ausarbeitung eines Plans beteiligt, den Hafen Odessa mit Atommüll zu kontaminieren.« Meyer schüttelte den Kopf. »Hier fehlen eigentlich nur noch Jack the Ripper und der Geist Adolf Hitlers …« »Die sieben hätten nicht in Spanien bleiben dürfen«, sagte Fielding. »Sie hätten verteilt werden müssen. Es ist 49
Wahnsinn gewesen, sie dort zusammenzuhalten.« Ein Dutzend Staaten hatten zweieinhalb Monate lang ihre Forderung nach Auslieferung einzelner Terroristen vorgetragen. Während darüber diskutiert wurde, saßen die sieben in einem streng bewachten Flügel des Hochsicherheitsgefängnisses, das die Spanier erst vor fünf Jahren für baskische Terroristen erbaut hatten. »Das hätte keinen Unterschied gemacht«, stellte Meyer fest. Er griff nach einem Pastramisandwich, das von letzter Nacht übriggeblieben war und sich jetzt in der Hitze wellte, und biß hinein. Dann blickte er zu den Uhren auf, die die Zeit in sechs verschiedenen Hauptstädten anzeigten. In London war es unterdessen 12.30 Uhr. In Algerien war es ebenfalls halb eins. Er versuchte, sich die dortige Szene vorzustellen, und zündete sich eine Zigarette an. »Warum haben diese Verrückten das bloß getan?« murmelte er wie im Selbstgespräch vor sich hin. »Sie müssen doch wissen, daß wir nicht nachgeben können. Das kann keiner von uns.« Obwohl die heiße Jahreszeit, in der die Temperaturen auf über 40° C ansteigen würden, erst bevorstand, brannte die Mittagssonne bereits mit unbarmherziger Glut vom Himmel. Wer von den Bewachern abkömmlich war, zog sich in den Schatten irgendeines Fahrzeugs zurück, um von dort aus die desolate Szene zu beobachten. Das Flugzeug, ein riesiger, weißer Vogel mit roten und blauen Streifen am Leitwerk, stand wie ein Fremdkörper in einer Landschaft aus Felsen, ausgedörrter Erde und Alfagras, die sich bis zum Horizont erstreckte. Dies war das Algerien der Nomaden: scheinbar grenzenlos, ein Land aus Felsklippen und Schluchten, mit 50
schneidender Winterkälte und sengender Hitze, Sandstürmen und Heuschrecken im Sommer. Die Soldaten rauchten und unterhielten sich halblaut, als wollten sie die Einsamkeit dieser Landschaft nicht stören. Anfangs hatten sie ihren Auftrag eher reizvoll gefunden, ihn als aufregende Abwechslung vom Alltag betrachtet, als Gelegenheit, in Aktion zu treten. Unterdessen waren jedoch auch sie verunsichert, weil sie spürten, daß ihre Vorgesetzten lediglich den Auftrag hatten, die weitere Entwicklung abzuwarten. Auch in der Concorde war es heiß, und der Geruch von zwanzig auf engstem Raum zusammengepferchten Menschenleibern verstärkte sich. In der Kabine herrschte Stille. Die einzigen Geräusche waren das Schlurfen eines Entführers oder das Anreißen von Zündhölzern eines Kettenrauchers. Niemand betrat die Bordküche zwischen den beiden Kabinenabteilen, in der die Klumpen Plastiksprengstoff an den Wänden klebten. Ihre Befestigung war seit über zwölf Stunden nicht mehr überprüft worden. In der Hitze gab das Heftpflaster nach, und die Sprengladungen begannen herabzusacken. Aber niemand kümmerte sich darum. Die politische Führung der drei am meisten betroffenen Staaten – die Vereinigten Staaten, die Sowjetunion und Großbritannien – gelangte einzeln und gemeinsam sehr rasch zu der gleichen Entscheidung. Amerikanische Politik war es seit Ende der sechziger Jahre gewesen, auf keinerlei Forderungen einzugehen, selbst wenn noch so viel auf dem Spiel stand. Die Begründung dafür war sehr einfach: Dies sei auf lange Sicht die einzige Möglichkeit, den internationalen Terrorismus zu entmutigen. Der Preis dafür war hoch gewesen – allein in dem halben Dutzend Jahre bis 1974 waren zehn amerikanische Diplomaten ermordet worden, nachdem ihre Regierung sich geweigert 51
hatte, Lösegeld zu zahlen. Andere Diplomaten unterstützten jedoch diese Haltung, weil sie davon überzeugt waren, daß sonst Hunderte von Kollegen entführt worden wären. Weitere Staaten schwenkten allmählich auf diese Linie ein: Israel blieb standhaft, als neunzig Kinder als Geiseln genommen wurden, was zwanzig Kindern den Tod brachte; die Deutschen nahmen den Tod Hans Martin Schleyers in Kauf, anstatt die Forderungen seiner Entführer zu erfüllen. Und in jüngster Zeit hatte der Vatikan sich geweigert, Lösegeld für den Päpstlichen Legaten in Brasilien zu zahlen. Und die Russen hatten sich noch nie zu Verhandlungen mit Terroristen bereitgefunden: Beispielsweise hatten sowjetische Verkehrspiloten im Gegensatz zu ihren westlichen Kollegen den Auftrag, lieber die Vernichtung eines ganzen Flugzeugs zu riskieren, als auf die Forderungen von Entführern einzugehen. Präsident Proctor traf seine Entscheidung nach Gesprächen mit Meyer, Fielding und dem Verteidigungsminister. Ebenfalls anwesend war Bill Watson, der Stabschef des Weißen Hauses, eine weitgehend anonyme, publicityscheue Gestalt – aber zugleich der Mitarbeiter, dessen Rat der Präsident am häufigsten suchte. »Okay«, sagte Proctor zusammenfassend, »wir versuchen, die Entführer hinzuhalten, bis eine Spezialtruppe eingetroffen ist. Mit etwas Glück gelingt es uns dann, alle Geiseln zu befreien.« Er wartete das zustimmende Nicken der anderen ab. Bill Watson äußerte sich als einziger dazu. »Wie Sie wissen, sind wir alle mit diesem Plan einverstanden, Mr. President, aber ich möchte eine leichte Abänderung 52
vorschlagen. Schließlich handelt es sich um ein britisches Flugzeug, auch wenn die meisten der an Bord verbliebenen Passagiere Amerikaner sind. Deshalb …« Der Präsident hörte zu. Dann lächelte er. Der sowjetische Generalsekretär hatte den Lageraum vier Stockwerke unter dem Kreml aufgesucht. Er war zu einer ganz ähnlichen Schlußfolgerung gelangt. Nachdem er sich zu Beginn seines Telefongesprächs mit dem amerikanischen Präsidenten absichtlich vage ausgedrückt hatte, hatte er sich schließlich ›überreden‹ lassen. Jetzt forderte Bukaschow einen seiner Mitarbeiter mit einer Handbewegung auf, eine der Flaschen NarsanMineralwasser zu öffnen, die auf dem grünen Filz des Konferenztischs standen. Er wartete, bis er das Glas in der Hand hatte, bevor er den kommandierenden Offizier fragte: »Was gibt’s Neues?« Das war eine unsinnige Frage, weil ihm wichtige Tatsachen sofort gemeldet worden wären, aber er wollte sich für den Fall, daß Wolkow den Tod fand, interessiert zeigen. Der Mann hatte noch immer viele Freunde. »Fast nichts, Genosse Generalsekretär. Aus dem Flugzeug kommen nur Warnungen, reichlich Abstand zu halten. Der Sprecher ist erstmals einer der Entführer. Wir und die Amerikaner versuchen gegenwärtig, ihn durch Stimmenvergleiche zu identifizieren. Die von den Algeriern angebrachten Mikrofone lassen erkennen, daß zwei, vielleicht auch drei weitere Entführer an Bord sein müssen. Die Passagiere sind eigenartig still, so daß wir fürchten, daß sie gefesselt und geknebelt sind.« Bukaschow wandte sich an Woschtschankin und zog ihn mit sich in eine Ecke. »Haben die Vernehmungen irgendwelche Hinweise ergeben?« Der KGB hatte bereits fast vierhundert Dissidenten, die 53
möglicherweise Verbindungen zu Terroristen hatten oder als Sympathisanten galten, festgenommen, um sie zu verhören. Der KGB-Vorsitzende zuckte mit den Schultern. »So was dauert seine Zeit. Bis jetzt ist noch nichts rausgekommen.« »Und Netschajew? Führt der zu irgendwas?« Beide wußten, wer dieser Mann war oder vielmehr gewesen war: ein im 19. Jahrhundert lebender Philosoph des Terrorismus und Verfasser des Buchs ›Der Katechismus des Revolutionärs‹ mit seiner erschreckenden Aufzählung von Prinzipien, die Revolutionäre beherzigen sollten – darunter auch eines, das Woschtschankin auswendig hersagen konnte: »Er ist ein unversöhnlicher Feind dieser Welt, und wenn er in ihr weiterlebt, dann nur, um sie desto wirkungsvoller zu zerstören.« Jetzt breitete er die Hände aus, als wolle er andeuten, daß er lediglich Vermutungen anstellen könne. »Vielleicht ist der Name ironisch gemeint gewesen, weil Genosse Wolkow an Bord ist. Ich tippe allerdings eher darauf, daß sie uns mit ihrer Kenntnis der Revolutionsgeschichte imponieren wollen. Trotz ihrer Gefährlichkeit sind sie intellektuell oft ziemlich kindisch.« Bukaschow sah auf seine Armbanduhr – eine goldene Rolex, ein Geschenk der Amerikaner anläßlich der Unterzeichnung irgendeines Abkommens. Er mußte noch einmal mit dem Präsidenten telefonieren, um ihm seine Meinung zu dem amerikanischen Vorschlag zu übermitteln. Der Generalsekretär zog Woschtschankin am Arm zu dem Privatlift, der in sein Arbeitszimmer hinaufführte. Das Ultimatum der Flugzeugentführer würde erst in 49 Stunden ablaufen. 54
Im Aufzug vertraute er dem KGB-Vorsitzenden den Vorschlag der Amerikaner an: Die Briten sollten veranlaßt werden, eine Spezialistentruppe der Special Air Services zur Befreiung der Geiseln zu entsenden. Woschtschankin wartete, bis sie das holzgetäfelte Arbeitszimmer des Generalsekretärs erreicht hatten. »Weshalb die Briten?« fragte er dann. »Weil das Flugzeug ihnen gehört und weil sie Erfahrung mit solchen Unternehmen haben. Außer ihnen sind nur noch die Deutschen und die Israelis Fachleute auf diesem Gebiet – und die können wir schlecht um Hilfe bitten.« Er beugte sich nach vorn und klingelte, um Kaffee bringen zu lassen. »Und wir bestehen natürlich darauf, daß sie drei unserer Leute mitnehmen. Ich bin davon überzeugt, daß die Amerikaner die gleiche Bedingung stellen werden. Präsident Proctor und ich haben offenbar dieselbe Idee.« Der Kaffee wurde fast augenblicklich serviert. »Das scheint die Ideallösung zu sein. Gelingt die Rettung, kehren unsere Männer als Helden mit Anatoli Iwanowitsch heim. Dann ist’s ein Kinderspiel, unsere Bevölkerung von ihrer entscheidend wichtigen Rolle zu überzeugen.« »Wenn das Befreiungsunternehmen jedoch fehlschlägt, und Genosse Wolkow dabei zu Tode kommt …« »Dann«, sagte Generalsekretär Bukaschow ruhig, während er seine Kaffeetasse an die Lippen führte, »kritisieren wir die dummen Briten wegen ihrer Unfähigkeit.« Genau diesen Rat hatte auch Bill Watson seinem Präsidenten gegeben.
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4 Wie um amerikanische Mitwirkung an dem Befreiungsunternehmen zu bekräftigen, startete das SASTeam auf dem eine Stunde von London entfernten USAFStützpunkt Chicksands in Bedfordshire mit einer Lockheed C-5A Galaxy, einem strategischen Transporter. Major Jonathan Hyams, 42, ein Veteran des Bürgerkrieges in Nordirland, und seine zwanzig Mann verliefen sich fast in der riesigen Maschine, die jedoch bewußt so groß gewählt worden war, damit sie als Besprechungsraum dienen konnte, wenn sie auf einem NATO-Stützpunkt in Süditalien landete. Jeder der Männer an Bord hatte eine Spezialausbildung für die Erstürmung entführter Flugzeuge hinter sich. Sie trainierten regelmäßig an maßstabsgetreuen Modellen aller gängigen Typen. Vor dem Start in England hatte eine Abschlußübung an einer Concorde der British Airways und einem Holzmodell des Kabineninneren stattgefunden. Sie wurden erfolgreich ›gestürmt‹ – neuneinhalb Minuten nach dem Startzeichen. Aber das, überlegte Major Hyams, während er es sich in seinem Sitz bequem machte, ist ohne zusätzliche Komplikationen durch die Amerikaner und Russen abgelaufen, die wir jetzt mitnehmen müssen. Diese Männer – je drei aus beiden Staaten – würden in Italien zu ihnen stoßen. Bei Unternehmungen dieser Art kam es darauf an, daß jeder Mann seine Rolle genau kannte. Die Aktion mußte so präzise ablaufen wie ein Hochdrahtseilakt im Zirkus. Ein Mann, bei dem nicht 56
jeder Handgriff saß, konnte alles gefährden. Die Russen und Amerikaner warteten bereits, als die C-5 A in Italien landete. Sie bestiegen das Flugzeug und nahmen deutlich voneinander getrennte Plätze ein. Der Führer der amerikanischen Gruppe, ein Colonel, machte sich augenblicklich beliebt. Tatsächlich war er auch wegen seiner PR-Wirkung ausgewählt worden. Falls das Unternehmen gelang und falls der Colonel überlebte, war er der ideale Held fürs amerikanische Fernsehen … »Ich möchte Ihnen nur versichern, daß wir genau das tun, was uns befohlen wird«, erklärte er Hyams. »Wir wissen recht gut, weshalb wir mitmachen sollen.« Er nickte zu den drei Russen hinüber. »Die sind vielleicht ein bißchen schwieriger, aber ich schätze, daß auch sie wissen, was hier gespielt wird.« Die Einweisung begann wenig später. Große Tafeln, eine Filmleinwand und Behälter mit Ausrüstungsgegenständen wurden auf dem Unterdeck aufgebaut. Während dieser fast einstündigen Besprechung bekamen die Männer Skizzen und Karten des Geländes, detaillierte Fotos und Querschnitte der Kabinenabschnitte gezeigt, in denen die Geiseln vermutlich festgehalten wurden. »Anfangs haben wir geglaubt, sie seien gefesselt und geknebelt«, sagte der Offizier, der die Einweisung durchführte. »Aufgrund einer Analyse der auf Tonband aufgenommenen Geräusche sind wir uns jetzt ziemlich sicher, daß sie ein starkes Schlafmittel bekommen haben. Das macht Ihre Aufgabe leichter und zugleich schwerer. Diese Leute springen nicht in Panik auf, wenn Sie die Maschine stürmen. Andererseits hat es wenig Zweck, ihnen zuzurufen, zwischen den Sitzen in Deckung zu gehen.« Das maßstabsgetreue Modell der Concordekabine war 57
zwei Meter lang. Die Fluggäste wurden durch weiße Puppen dargestellt. »Wie sicher wissen Sie, wo sie sitzen?« »Ziemlich sicher. Wir nehmen ihre Atemzüge auf. Sie bekommen die neuesten Informationen nach Ihrem Eintreffen in Algerien.« Er tippte mit seinem Zeigestock auf vier schwarze Puppen. »Die Entführer«, erläuterte er. »Einer mehr, als wir ursprünglich geglaubt haben. Sie bewegen sich natürlich, aber hier scheinen sie sich nachts niederzulassen.« Drei Entführer befanden sich im vorderen Kabinenabteil bei den Passagieren; der vierte Mann hielt sich mit dem Captain im Cockpit auf. Er stand in gelegentlicher knapper Sprechverbindung mit den Algeriern außerhalb des Flugzeugs. Der Rest der Einweisung verlief problemlos: eine Zusammenfassung des Zeitablaufs, eine Analyse des möglichen Geisteszustands der Flugzeugentführer durch einen Psychiater, Detailinformationen über die algerischen Truppen, die das Flugzeug bewachten, und ihre Einsatzbefehle … Schließlich war die Einweisung zu Ende. Der Major war erleichtert. Sie war notwendig gewesen, aber jetzt wollte er endlich Aktionen sehen. »Noch Fragen?« Langes Schweigen. Einer der Russen schien etwas sagen zu wollen, schwieg dann aber doch. Füßescharren, das Zusammensuchen von Ausrüstungsgegenständen, ein gemurmeltes »Alles Gute!« – und zwanzig Minuten später nahm die Galaxy Kurs auf Algier. Sie landete auf einem Militärflugplatz 98 Kilometer südlich des Landeplatzes der Concorde. 58
Die Männer legten die restlichen Kilometer auf Lastwagen zurück. Als Zeitpunkt für den Befreiungsversuch war 4.30 Uhr festgelegt: siebeneinhalb Stunden vor Ablauf des Ultimatums und vermutlich die Zeit, in der die Entführer am wenigsten wachsam sein würden. Auf einen geflüsterten Befehl hin robbten zwei SASAngehörige zu der Concorde. Erstaunlicherweise war das Flugzeug noch nicht bewegungsunfähig gemacht worden, und die beiden hatten den Auftrag, seine Hydraulikflüssigkeit abzulassen. Der Major wartete ihre Rückkehr ab und überprüfte dann die letzten elektronischen Anzeigen, die Aufschluß über die Position der Passagiere und der Entführer gaben. Als er schließlich zufriedengestellt war, sah er sich in der Dunkelheit um, gab seinem Stellvertreter ein Handzeichen und setzte sich kriechend in Bewegung. Es war 4.27 Uhr, drei Minuten vor dem Zeitpunkt X. Zehn Meter von der Maschine entfernt erstarrten die meisten SAS-Männer zur Bewegungslosigkeit, während eine kleine Gruppe weiterrobbte. Diese Männer führten Sprengsätze und Leitern mit sich. Die Leuchtzeiger der Armbanduhr des Majors standen auf 4.29 Uhr. Detonationen rissen zwei der Flugzeugtüren auf. Sekunden später waren die SAS-Männer im Inneren der Maschine und warfen Blendgranaten, die ohne Splitterwirkung verpufften, aber durch ihren lauten Knall und ihren starken Lichtblitz alle Flugzeuginsassen für vielleicht entscheidende fünf, sechs Sekunden lähmen würden. »Runter! Runter!« Obwohl dieser gebrüllte Befehl 59
möglicherweise sinnlos war, riefen die SAS-Männer ihn aus alter Gewohnheit. Aus 120 Meter Entfernung beobachtete ein Überwachungsteam den Einsatz durch Nachtsichtgeräte. Seine Kommentare wurden direkt nach London, Moskau und Washington übertragen. Der Präsident, sein Stabschef, der Außenminister, der Verteidigungsminister und sein Sicherheitsberater verfolgten die Ereignisse im Lageraum unter dem Weißen Haus. »Sie sind drin … Schüsse fallen … Jetzt herrscht wieder Stille … Es scheint vorbei zu sein.« Danach langes Schweigen. Fielding starrte den Sekundenzeiger der großen Wanduhr vor ihnen an. Das Filmartige der Situation wurde durch ein auf den Bildschirm projiziertes riesiges Foto der Concorde an ihrem Landeplatz noch verstärkt. »Jetzt gehen erste Meldungen aus dem Flugzeug ein«, fuhr die Stimme fort. »Nach diesen Berichten soll einer der Entführer tot sein. Er scheint mit Angriffsbeginn Selbstmord verübt zu haben. Die Passagiere sind offenbar unverletzt. Ärzte sind bereits in der Maschine.« In drei Hauptstädten wurde erleichtert gelächelt. Drei Spitzenpolitiker würden sich den Ruhm teilen. »Na, Gentlemen«, meinte der Präsident der Vereinigten Staaten, »was halten Sie von einem kleinen Drink?« »Ich glaube, daß ein paar Orden angebracht wären«, sagte der britische Premierminister. »Sorgen Sie dafür, daß Wolkow so rasch wie möglich zurückgeflogen wird!« verlangte der Generalsekretär der KPDSU. Die Stimme des Überwachers drang erneut aus den Lautsprechern. Sie klang verwirrt. »Bitte wiederholen Sie! 60
Wiederholen Sie das bitte!« Er sprach offenbar mit dem SAS-Team an Bord der Concorde. Dann folgte eine Pause. »Wiederholen Sie!« drängte die Stimme zuletzt. »Bitte prüfen und bestätigen!« In drei Hauptstädten warteten die Männer und fragten sich, was passiert sein konnte. Sie wußten, daß irgend etwas schiefgegangen war, aber sie hatten keine Ahnung, was. Dann hörten sie es endlich. »Das Rettungsteam meldet: ein Mann tot, eine Frau leicht verletzt, die übrigen Passagiere unverletzt«, berichtete der Überwacher. »An Bord waren jedoch nur ein Entführer sowie einundzwanzig Fluggäste und Besatzungsmitglieder.« Die Stimme klang lauter, aufgeregter. »Drei Entführer und fünf Passagiere fehlen.« Ihr Tonfall drückte ungläubiges Staunen aus. »Sie sind verschwunden!«
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5 Die Suche wurde sofort eingeleitet. Flug- und Seehäfen wurden geschlossen; Aufklärungsflugzeuge flogen die Weiten der Sahara im Süden ab; an sämtlichen Grenzübergängen wurden Lastwagen durchsucht. Allerdings bestand wenig Hoffnung, die Verschwundenen auf diese Weise aufzuspüren. Die Flugzeugentführer und ihre Gefangenen mußten die Concorde verlassen haben und in ein anderes Fahrzeug umgestiegen sein, bevor die algerischen Truppen etwa zwei Stunden nach der Landung eingetroffen waren. Das bedeutete, daß sie einen Vorsprung von fast 48 Stunden hatten – mehr als genug Zeit, um einen Seehafen oder einen anderen Flugplatz zu erreichen und Algerien zu verlassen. Am Morgen nach der Landung der Concorde waren keine verschärften Kontrollen durchgeführt worden. Wozu denn auch? fragten die zuständigen Stellen mit einigem Recht. Jedermann hatte damit gerechnet, daß sämtliche Entführer sich an Bord der Maschine befanden. Die Terroristen hatten unbehelligt davonfahren können. Es gab viele denkbare Fluchtwege, die jetzt alle überprüft wurden. Für die Entführer wäre es am einfachsten gewesen, die Straße N 40, die in Ost-WestRichtung durch Mittelalgerien verlaufende Hauptverkehrsader, zu benutzen und nach Osten zu fahren. In dieser Richtung lag die nächste Stadt fast hundert Kilometer entfernt. Dort konnten sie nach Norden abgebogen sein. Zu den fünf verschwundenen Passagieren gehörten die drei wertvollsten Geiseln: Wolkow, Jennifer North und Andrew Muntwick Junior. Der vierte war André Labrosse, 62
der reiche französische Industrielle, der vermutlich wegen seiner Nationalität entführt worden war, damit die Terroristen eine weitere Regierung erpressen konnten. Wer der fünfte war, blieb einige Stunden lang rätselhaft, bis die Vernehmungsprotokolle der in Shannon freigelassenen Fluggäste vorlagen. Auf der Passagierliste stand er als Alfred William Ross, Amerikaner, aus Westlake Village, Kalifornien. Er schien ein völliger Niemand zu sein. Weshalb hatten die Flugzeugentführer ihn mitgenommen? Dann kamen Berichte über einen Zusammenstoß zwischen Ross und der Terroristin. Damit wurde einiges klar. Die Entführer hatten offensichtlich beschlossen, fünf Passagiere mitzunehmen – mit fünf Personen wurden sie gerade noch fertig. Die Frau hatte vermutlich darauf bestanden, Ross zu nehmen, als kein Prominenter mehr zu finden war. Das konnte sich sogar als kluger Schachzug erweisen: Ross verkörperte den Durchschnitt, den kleinen Mann auf der Straße. Die Namen der fünf Geiseln wurden am 26. März, einem Samstag, bekanntgegeben. Eine gewisse Janet Peters, die mittags beim Kochen fernsah, erkannte, wer dieser Ross war. Aber das Wochenende hatte begonnen, und sie konnte nicht wissen, daß außer ihr niemand in der Agency wußte, daß Ross seine Vornamen haßte und sich stets ›Edwin‹ nannte und daß die Adresse in Kalifornien, die er stets auf Formularen angab, die seiner Schwester war, weil er schon so oft umgezogen war. Nachrichtendienst, FBI und Polizei interessierten sich natürlich für Hintergrundinformationen über den verschwundenen Ross. In Westlake waren ihre Nachforschungen ergebnislos geblieben. Seine Schwester 63
und sein Schwager waren verreist; keiner der Nachbarn wußte viel über Ross, außer daß er irgendwo an der Ostküste lebte und mit Computern zu tun hatte. Das FBI verbreitete das Autokennzeichen von Ross’ Schwester, und dann wandte jedermann sich wichtigeren Dingen zu. Vorerst ahnte noch niemand, daß Ross wichtiger als alle anderen war. Präsident Proctor hatte angestrengt darüber nachgedacht, ob er übers Wochenende in Washington bleiben oder nach Camp David fliegen sollte. Zog er sich auf seinen Landsitz zurück, bewies er damit, daß der Führer der größten Weltmacht seine Pläne nicht von einer Handvoll Terroristen durchkreuzen ließ. Sein Bleiben hätte andererseits bewiesen, daß er Anteil am Schicksal der Geiseln nahm. Er entschloß sich zum Bleiben. In vieler Beziehung war Muntwick sein größtes Problem: Der Vater des jungen Mannes war der bei weitem größte Geldgeber der Partei, und sein Einfluß war groß und weitreichend. Selbstverständlich kam ein Eingehen auf die Forderungen der Geiselnehmer nicht in Frage. Aber es würde schwierig werden, Muntwick gegenüberzutreten. Zum Glück befand er sich im Augenblick auf einer Geschäftsreise durch Asien, auf der er nur schwer zu erreichen sein würde. Proctor saß steif aufgerichtet in dem riesigen grünen Drehsessel hinter seinem Schreibtisch und richtete einen Stapel Notizblöcke genau parallel zur Schreibunterlage aus. Bis auf diese Blöcke, eine Schreibgarnitur und ein Telefon war die Tischplatte leer. Er griff nach dem Füllfederhalter, um sich eine Notiz zu machen. Erst dann hob er den Kopf und nahm die Anwesenheit seines Stabschefs sowie der Direktoren von 64
FBI und CIA zur Kenntnis. »Okay«, sagte er, »informieren Sie mich.« Der CIA-Direktor beugte sich nach vorn, um ihm einen Schnellhefter zu geben, aber der Präsident ließ ihn auf dem Schreibtisch liegen. »Nein«, wehrte er ab, »erzählen Sie’s mir.« Die Direktoren von CIA und FBI berichteten nacheinander im Detail über die Ereignisse im In- und Ausland. Die Passagiere der Concorde wurden weiter vernommen und waren an der Herstellung von Phantombildern der Entführer beteiligt. Das Flugzeug wurde auf Fingerabdrücke untersucht. Die Überprüfung aller Personen, die Zugang zu der Maschine gehabt haben konnten, wurde fortgesetzt. In Algerien prüfte die Polizei ihre Unterlagen über Ausländer, die in den vergangenen vier Wochen eingereist waren … Der an Wände und Decke der Bordküche geklebte Sprengstoff hatte sich als Imitat erwiesen: Plastilin aus einem Spielwarengeschäft, auf das die Sprengstoffsuchgeräte natürlich nicht reagiert hatten. Die bisher wichtigsten Hinweise konnte vermutlich der tote Flugzeugentführer liefern. »Daß er sich selbst erschossen hat, steht ziemlich sicher fest. Er muß ein Fanatiker gewesen sein, sonst wäre er nicht allein in der Concorde zurückgeblieben. Für ihn hat es nur diesen einen Ausweg gegeben. Wir versuchen im Augenblick, ihn zu identifizieren.« »Was ist mit den Fluggästen? Weiß man schon, womit sie betäubt worden sind?« Cord Warren, der CIA-Direktor, beantwortete die Frage des Präsidenten. »Mit Valium«, sagte er. »Mit ganz 65
gewöhnlichem Valium. Kurz nach der Landung sind die Passagiere gezwungen worden, Valiumsirup zu trinken. Danach hat der an Bord zurückgebliebene Geiselnehmer sie mit intramuskulären Injektionen weiter betäubt. Die Ärzte tippen auf ziemlich hohe Dosen, schätzungsweise dreißig Milligramm pro Spritze – das genügt, um jeden umkippen zu lassen. Deshalb ist Valium auch besonders gut geeignet gewesen. In der Dosierung hat man ziemlich freie Hand; daß man eine Überdosis verabreicht, ist eher unwahrscheinlich.« »Warum hat niemand gewußt, daß nur noch ein Terrorist an Bord war?« fragte Bill Watson. »Ich dachte, die am Flugzeugrumpf angebrachten Mikrofone hätten alles aufnehmen können?« »Kassettenrecorder«, antwortete Warren. »Wir haben insgesamt drei sichergestellt. Der später tot aufgefundene Entführer hat sie in Betrieb gehalten, sie von Zeit zu Zeit anderswo aufgestellt und häufig die Kassetten gewechselt – er hat fast ein Dutzend bei sich gehabt. Eine regelrechte Geräuschkulisse mit Seufzern, Geflüster, Körperbewegungen auf einem Sitz, das Klirren eines Glases …« »Haben die Recorder keinen Hinweis geliefert?« Warren schüttelte den Kopf. »Alle identisch – mit Rechner, Uhr und Stoppuhr kombinierte Taschengeräte, wie Geschäftsreisende sie bevorzugen. Billige Massenware, vielleicht aus Hongkong oder Taiwan. Der Herstellername ist mit Säure weggeätzt worden.« »Okay, aber wozu dieser ganze Aufwand?« fragte der Präsident. »Warum so kompliziert?« Warren nickte zu dem vierten Anwesenden hinüber, der bisher schweigend neben ihm gesessen hatte. »Ich glaube, daß Dr. Rosen am ehesten qualifiziert ist, diese Frage zu beantworten.« 66
Rosen war ein auf Terrorismus spezialisierter Psychologe, der Firmen und Regierungen im Umgang mit Geiselnehmern und Entführern beriet. »Darüber können wir nur Vermutungen anstellen, Mr. President«, begann er. »Aber ich glaube, daß sie der Wahrheit ziemlich nahekommen. Je länger eine Entführung dauert, desto schwieriger wird die Lage der Entführer. Wie Sie wissen, besteht ein Trick darin, sie zu ermüden, bis sie sich am Ende selbst besiegen. Diese Taktik hat sich im Laufe der Jahre als bemerkenswert erfolgreich erwiesen. Deshalb sind manche Terroristengruppen dazu übergegangen, Geiseln zu nehmen. Auf diese Weise sind sie nicht festgenagelt – sie befinden sich sozusagen nicht in der Hand der sie Belagernden. Die Geiselnahme hat jedoch einen leichten Nachteil: Sie ist im allgemeinen weniger spektakulär.« Er breitete die Hände aus. »Sehen Sie sich den vorliegenden Fall an. Wo sonst könnten Sie so wertvolle Geiseln entführen?« »Und?« »Damit will ich sagen, Mr. President, daß diese vorerst noch unbekannten Terroristen die Wirkung einer Flugzeugentführung mit den für sie eindeutigen Vorteilen einer Geiselnahme kombiniert haben. Ich würde sagen, daß sie sehr clever gewesen sind.« »Okay, ich verstehe.« Der Präsident schob seinen Sessel zurück und stand auf. »Halten Sie mich auf dem laufenden.« Er nickte zu seinem Stabschef hinüber. »Wenden Sie sich an Bill, wenn’s etwas Wichtiges gibt. Er sorgt dafür, daß ich sofort informiert werde.« Auch die anderen erhoben sich und wollten den Raum verlassen. Aber Proctors Stimme brachte sie an der Tür zum Stehen. »Weshalb haben sie die Leiche einer der 67
beiden Erschossenen mitgenommen?« Wolkows toter Leibwächter war im Heck der Concorde unter einer Wolldecke aufgefunden worden. Nach Zeugenaussagen war ein weiterer Fluggast durch einen Brustschuß schwer verletzt worden, doch schien er spurlos verschwunden zu sein. »Wir suchen weiter«, antwortete Warren. »Wir vermuten, daß er vielleicht noch gelebt hat und daß die Terroristen ihn außerhalb des Flugzeugs erschießen wollten. Dann haben sie ihn wahrscheinlich irgendwo liegen lassen. Das ist die im Augenblick plausibelste Vermutung. « Bei Andrew Muntwick Jr. wirkten die Injektionen jeweils ziemlich rasch, aber aus irgendwelchen physiologischen Gründen lagen zwischen ihnen kurze Perioden, in denen er wach und geistig rege war. Dabei bot sich niemals eine Chance, irgend etwas zu unternehmen, aber selbst wenn sich eine geboten hätte, hätte er keinen Fluchtversuch unternommen. Er war sein Leben lang noch niemals ohne Schutz gewesen und hatte jetzt keine Angst, die Entführer könnten ihm etwas antun, weil er den Ernst seiner Lage nicht begriff. Außer körperlichem Unbehagen empfand er fast eine gewisse Belustigung. Seine Nichtankunft in London – wo er Schallplattenaufnahmen einer Popgruppe, zu deren Geldgebern er gehörte, hatte beobachten wollen – würde aufgeregte Diskussionen auslösen und Schlagzeilen machen. Aber das war ihm nur recht, denn im Gegensatz zu seinem Vater war er keineswegs publicityscheu. Darüber hinaus machte ihm der Gedanke Spaß, daß sein Leibwächter jetzt zur Verantwortung gezogen werden 68
würde, weil er Muntwick Jr. nicht auf Schritt und Tritt im Auge behalten hatte. Der Mann war stets übereifrig gewesen, aber Andrew hatte auf seine Chance gewartet. Und er hatte Vergnügen daran, sich die Gefühle seines Vaters vorzustellen. Muntwick Jr. war sich niemals darüber im unklaren gewesen, weshalb er gezeugt worden war – wie ein Produkt aus der Retorte. Jetzt sollte der Alte dafür zahlen. Die Nachricht erreichte Muntwicks Vater erst am Sonntag, dem 27. März – eine volle Woche nach der Flugzeugentführung. Das lag daran, daß er sich größte Mühe gegeben hatte, sein eigentliches Reiseziel selbst vor seiner Konzernzentrale in Chicago geheimzuhalten. Wenn es um wichtige Abschlüsse ging, war niemandem zu trauen. Anstatt eine Asienrundreise zu machen, hatte Andrew Muntwick nämlich in China Geheimgespräche geführt und damit jahrelange Verhandlungen zum Abschluß gebracht, die seinen Firmen die ersten jemals erteilten Lizenzen sicherten, der Volksrepublik bei Erschließung und Ausbeutung ihrer Bodenschätze zu helfen. Die Meldung erreichte ihn erst, als er sich mit seiner privaten Boeing 747 auf dem Rückflug von Peking in die Vereinigten Staaten befand. Sein Gesicht blieb ausdruckslos, während er den Funkspruch las. »Sagen Sie dem Captain, daß er direkt nach Washington fliegen soll«, ordnete er an. »Und melden Sie dort unsere voraussichtliche Ankunftszeit. Stellen Sie sicher, daß der Präsident mich empfängt, sobald ich ankomme.« 69
Sein Assistent nahm diese Anweisungen entgegen, ohne überrascht zu sein. Er war solch herrische Befehle gewohnt. Muntwicks Assistent gehörte zu dem zehnköpfigen Personal an Bord – einer Gruppe, zu der auch ein Arzt, zwei Krankenschwestern und zwei Stewards zählten. Die Kabine des Jumbos war in eine Suite ineinander übergehender Räume unterteilt: Da waren ein Salon, ein kleines Schlafzimmer, ein Arbeitsraum, Personalunterkünfte und eine kleine Arztpraxis, die via Satellit mit dem Cornell Medical Center im New York Hospital, das Muntwick mit Geldbeträgen unterstützte, in Direktverbindung stand. Jetzt saß Muntwick allein im Salon, lehnte sich in einen Sessel zurück und streckte die Beine von sich. Obwohl er mehrtägige harte Verhandlungen hinter sich hatte, lag ein Klemmbrett mit Papieren auf seinen Knien: Probleme, deren Bearbeitung er bis jetzt hatte aufschieben müssen. Er war 73 Jahre alt, ein hagerer Zweimetermann mit nur leicht gebückter Haltung. Sein Teint war fast albinoweiß – nicht wegen irgendeiner Krankheit, sondern weil er die Sonne fürchtete: Muntwick war davon überzeugt, sie rufe nicht nur Hautkrebs, sondern auch eine ganze Reihe anderer Krankheiten hervor. Neben ihm stand eine gekühlte Flasche PerrierMineralwasser – das einzige Getränk, das er allein oder zu seinen vegetarischen Mahlzeiten zu sich nahm. Bis vor etwa fünfzehn Jahren hatte Muntwick hart gearbeitet, viel geraucht und noch mehr getrunken. Dann hatte er sich einer Kehlkopfoperation unterziehen müssen, bei der Kehlkopf und Stimmbänder entfernt worden waren. Diese Operation war keine Folge seiner damaligen 70
Lebensweise, und Muntwick war in den Jahren danach nie mehr ernstlich krank gewesen. Aber sie bewirkte, daß er sich sterblich fühlte. Das Gerät, das er seit seiner Operation tragen mußte, war ihm eine ständige Mahnung. Es bestand aus einem kleinen Gehäuse, das hoch auf dem Brustbein saß und ein Ventilsystem enthielt, das den Luftstrom zwischen zwei Luftröhrenöffnungen regulierte. Damit konnte er sich krächzend, aber doch verständlich artikulieren. Muntwick schloß die Augen und stellte sein Glas ab. Obwohl er zu schlafen schien, bemühte sein Verstand sich noch immer, die ganze Tragweite dieser Tragödie zu erfassen. Andrew Jr. hätte keinen Schritt ohne seinen Leibwächter tun dürfen. Muntwick hatte nicht einmal gewußt, daß er nach Europa fliegen wollte. Der Junge hatte gewartet, bis sein Vater außer Landes war. Der Milliardär hatte erst spät, als 51jähriger, geheiratet – nicht aus Liebe, sondern nach einer Suchaktion, die ein Dutzend Berater in Atem gehalten hatte. Seine Frau hatte nicht geahnt, wie sorgfältig sie ausgewählt worden war. Muntwicks Plan sah vor, daß die Ehe weniger als ein Jahr dauern sollte: allenfalls bis zur Geburt eines Kindes. Ob es ein Junge oder ein Mädchen wurde, war ihm gleichgültig, solange es sein Nachkömmling war. Wegen der Schwierigkeiten, die das Ehepaar bei der Zeugung hatte, hatte die Ehe drei Jahre und ein Dutzend Fachärzte überdauert. Drei Wochen nach der Geburt des Jungen hatte Muntwick die Scheidung eingereicht. Die großzügige Abfindung seiner Frau, die unter anderem einen fünfzig Hektar großen Landsitz bei Palm Springs erhielt, war an die Verpflichtung geknüpft, niemals Interviews zu geben oder sonstwie über ihre wenigen 71
Jahre mit Muntwick zu sprechen. Er hatte sie seither nicht wiedergesehen. Er öffnete die Augen und drückte auf einen der in die Armlehne seines Sessels eingelassenen Knöpfe. Das Mittagessen wurde augenblicklich serviert: Der Steward hatte vor der Tür gewartet. Es bestand aus einem Teller mit rohem Gemüse und einem Glas Tomatensaft. Muntwick griff nach einer Selleriestange. Während er aß, versuchte er zu lesen, aber er hatte Mühe, sich zu konzentrieren. Dann begann er über Proctor nachzudenken – ein guter Mann, ein mittelmäßiger Präsident. Ein Mann, auf den er früh aufmerksam geworden war und den er – bescheiden gesagt – gefördert hatte. Man braucht Geld, um als Politiker erfolgreich zu sein, und Millionen, um es zum Präsidenten zu bringen. Zu Beginn seiner Laufbahn hatte Proctor Mühe gehabt, Geldgeber zu finden. Potentielle Förderer hatten sein Stehvermögen angezweifelt; darüber hinaus hatte es attraktivere Mitbewerber gegeben. Aber Muntwick hatte dafür gesorgt, daß Proctor – und seine Angehörigen – stets genug Geld hatten, obwohl es schwierig und umständlich gewesen war, diese Zahlungen zu kaschieren. Als Proctor dann später als sicherer Sieger angesehen wurde, waren neue Geldgeber aufgetreten. Trotzdem war nicht zu leugnen, daß Proctor ihm verpflichtet war – und daß Muntwick mehr als genug wußte, um seine Wiederwahl zu verhindern, falls der andere jemals auf die Idee käme, aus irgendwelchen Gründen ›auszupacken‹. Muntwicks Hand schloß sich fester um sein Glas. Was der Präsident den Terroristen antworten mußte, war sonnenklar: Er mußte ihre Forderungen kategorisch ablehnen. Aber Muntwick scherte sich keinen Deut um Staaten oder Ideale oder den Stolz eines Präsidenten. Ihm 72
ging es ausschließlich darum, daß sein Sohn seine Nachfolge antreten konnte, wenn er eines Tages nicht mehr da war. Für ihn stand außer Zweifel, daß Proctor ihn empfangen würde, sobald er nach Washington kam. Er hatte Proctor entdeckt, aufgepäppelt, bestärkt und an der Hand ins Präsidentenamt geführt. Und wenn’s sein mußte, würde er ihn ebenso rasch wieder stürzen! Noch bevor es am Montag in Washington Mittag war, wurden zwei Entdeckungen gemacht. Die erste betraf den erschossenen Fluggast, dessen Leiche auf geheimnisvolle Weise verschwunden war. Das war sie keineswegs. Der Passagier war mit dem Entführer identisch, der Selbstmord verübt hatte. Die Autopsie enthüllte, weshalb er bereit gewesen war, sich aufzuopfern: Er hatte Krebs im letzten Stadium gehabt – mit einer Lebenserwartung von nur wenigen Monaten. Weitere Nachforschungen ergaben, daß es sich bei dem Mann um einen auf Long Island wohnenden Amerikaner handelte: Douglas Nash, verheiratet, zwei kleine Kinder, Angestellter eines Finanzierungsbüros. Ermittler rekonstruierten den Ablauf. Nash war eingesetzt worden, weil er todkrank war. Zugleich hatten die anderen Terroristen ihn eine zweite Rolle spielen lassen – die des angeblich Angeschossenen. Dafür gab es einen einleuchtenden Grund: Mit Ausnahme der Kleinkaliberpistole der Terroristin mußten die Waffen der übrigen Entführer Plastikimitationen gewesen sein, die von Metalldetektoren nicht zu orten waren. Die ›Erschießung‹ Nashs hatte dazu gedient, die Echtheit dieser Waffen zu demonstrieren. »Dazu hat’s nicht viel gebraucht«, sagte einer der Ermittler. »Ein Knall, ein 73
lauter Schrei, eine Kapsel mit Theaterblut und ein bißchen Schauspielerei.« Die zweite Entdeckung betraf einen acht Meter langen Kabinenkreuzer, der wenige Meilen östlich von Barcelona im Mittelmeer treibend gesichtet wurde: tief im Wasser liegend, aber noch schwimmend. Der Versuch der Terroristen, das Motorboot zu versenken, war fehlgeschlagen. Das vor einem Monat in einem korsischen Hafen gestohlene Boot war unbemannt. Der Fall wäre routinemäßig als einer der zahlreichen Bootsdiebstähle behandelt worden, wenn an Bord nicht ein Zündholzbriefchen mit dem Concorde-Emblem entdeckt worden wäre. Eine der Geiseln hatte es unter die Sitzpolsterung gesteckt – als stummen Hilferuf. Die ersten Fährten wurden sichtbar, aber niemand wußte, wieviel Zeit noch blieb. Etwa zur selben Zeit, als Andrew Muntwick in einer Suite im Hotel ›The Mayflower‹ saß und ergrimmt darauf wartete, daß Proctor für ihn zu sprechen sein würde, kam FBI-Agent Glenn Webb zu dem Schluß, daß er auf dem ihm zugewiesenen Gebiet in eine Sackgasse geraten war. Obwohl er für diesen Teilaspekt nicht verantwortlich war, wußte er recht gut, daß in bezug auf Alfred William Ross nur wenig unternommen wurde. Er begann aus eigener Initiative – weil er so ein ›Gefühl‹ hatte – mit genaueren Ermittlungen. Der erste Schritt bestand darin, nochmals die Aussagen der Passagiere durchzulesen. Einige wenige Fluggäste, die von ihren Plätzen aus wichtige Beobachtungen hätten machen können, hatten sich mit einer neurologischen Untersuchung einverstanden erklärt, bei der ihr Gehirn mit einer Elektrode abgetastet wurde – ein Verfahren, das 74
verschüttete Erinnerungen freilegen konnte. Webb konzentrierte sich auf eine der Aussagen und las sie erneut aufmerksam durch. Ihre Bedeutung wurde ihm nicht sofort klar. Ein Fluggast, der Ross auf der anderen Seite des Mittelganges gegenübergesessen hatte, hatte beobachtet, wie er sein Taschentuch herauszog, wobei ihm versehentlich Kleingeld und ein Schlüsselbund aus der Tasche gefallen waren. Der andere Passagier hatte Ross geholfen, sein Eigentum vom Boden aufzuheben. Der Kriminalbeamte las diesen Teil dreimal durch, bevor er seine Bedeutung erfaßte: Bei den Schlüsseln hatte es sich um Autoschlüssel gehandelt! Hätte Ross die Schlüssel nach Europa mitgenommen, wenn er seinen Wagen zu Hause gelassen hätte? Das war unwahrscheinlich. Er mußte mit dem Auto zum Flughafen gefahren sein. Webb hatte den Wagen innerhalb einer Stunde aufgespürt. Aufgrund des Kennzeichens machte er eine Adresse ausfindig – nicht Westlake Village, sondern Ross’ richtige Adresse. Dort traf Webb niemand an. Eine Durchsuchung förderte jedoch den Namen der Firma zutage, bei der Ross angeblich arbeitete: die Vibard Systems Agency Inc. in Washington D.C. Die Firma stand im Telefonbuch. Webb wählte ihre Nummer. Am anderen Ende meldete sich ein Mann, der ihm zuhörte und dann sagte: »Bleiben Sie bitte, wo Sie sind, bis ich zurückrufe.« Zehn Minuten später erhielt Webb tatsächlich einen Anruf – aber nicht von dem Mann, mit dem er gesprochen hatte, sondern von einem seiner eigenen Vorgesetzten. 75
Zwei Stunden später interessierte sich ein Mann im grauen Flanell und mit dem nichtssagenden Gesichtsausdruck, den Webb so gut kannte, nachdrücklich dafür, was der FBI-Agent von einem Mann namens Alfred William Ross wollte. Auf dem Schreibtisch des Präsidenten stand eine eisgekühlte Flasche Perrier in einem Silberkühler bereit, als Muntwick durch einen Nebeneingang eingelassen und durch den Rosengarten ins Weiße Haus geführt wurde. Der Industrielle gab vor, sie nicht zu sehen, lehnte den angebotenen Sessel ab und legte sofort mit seiner halb vorbereiteten Rede los – seiner Meinung nach das gute Recht eines Mannes, der die Partei im Laufe der Jahre mit über 150 Millionen Dollar unterstützt hatte, ganz zu schweigen von der Million Dollar, die er alljährlich für Proctors Wahlkampffonds gespendet hatte. »Ich bin bekümmert und traurig«, begann er. »Ich bin hergekommen, um Ihnen zu sagen, daß ich meinen Sohn zurückhaben will.« Proctor legte ihm beruhigend eine Hand auf den Arm. »Andrew«, sagte er, »wir tun, was wir können, aber …« Muntwick unterbrach ihn. »Die Lösung ist ganz einfach: Fragen Sie sie, was sie wollen, und geben Sie’s ihnen! Schnappen können Sie sie dann später. Genau das würde jeder Landpolizist bei jeder Geiselnahme tun.« »Wir wissen noch nicht mal genau, was sie verlangen.« Der Milliardär winkte ungeduldig ab. »Sie wollen natürlich Geld. Wieviel haben sie ursprünglich verlangt? Fünfzig Millionen? Die sollen sie kriegen! Wenn die Vereinigten Staaten sich das nicht leisten können, zahle ich.« 76
»Und sie werden die Freilassung von Häftlingen – von Terroristen – fordern, Andrew«, wandte der Präsident ein. »Männer, die gemordet haben und weitermorden werden, wenn wir ihrer Freilassung zustimmen.« »Unsinn! Ein paar Verrückte mehr, die frei herumlaufen, machen keinen Unterschied!« Proctor bemühte sich, seine Verärgerung zu unterdrücken. Das war kein Tonfall, in dem man mit Präsidenten sprach! Aber er wollte nicht nur alles tun, um sich auch in Zukunft Muntwicks Spenden zu sichern, sondern hatte auch ehrlich Angst vor dem Alten. »Sie sind nicht mal in Amerika, Andrew«, sagte er, um ihm mit Vernunftgründen beizukommen. »Sie sind in Spanien.« »Die Spanier tun, was wir ihnen sagen, das wissen Sie genau!« »Aber die Russen nicht. Die wären nie zum Nachgeben bereit.« »Blödsinn! Die Russen sind Pragmatiker. Schließen Sie einen Handel mit ihnen ab. Die wollen doch immer irgendwas: Technologie, billiges Getreide, Kredite, die Rückgabe einiger Spione …« »Das ist unmöglich, Andrew. Ich darf keinen Rückzieher machen. Die größte Nation der Welt darf nicht vor ein paar Gangstern kapitulieren. Das müssen Sie einsehen.« Muntwicks kalter Blick durchbohrte ihn förmlich. »Keine Ausreden«, wehrte er ab. »Keine Ausreden! Ich will meinen Sohn wiederhaben.« Muntwicks erhobene Rechte deutete dramatisch auf Proctor. »Holen Sie ihn ’raus!« Er machte auf dem Absatz kehrt und marschierte zur Tür. Das Gesicht des Präsidenten war zornrot, und er 77
spürte, daß ihm die Galle hochkam. So durfte ihn niemand behandeln! Er öffnete den Mund, ohne jedoch ein Wort herauszubringen. Proctor war noch immer sprachlos, als Muntwick die Tür hinter sich zuknallte. Webbs Besucher, der sich als Dixon vorgestellt hatte, gelang es, mit ruhiger Stimme weiterzusprechen, obwohl er zu begreifen begann, was geschehen war. »Haben Sie eine Personenbeschreibung?« fragte er schließlich. Webb blätterte in seinen Notizen. »Größe etwa einsfünfundsechzig, Gewicht um fünfundsiebzig Kilo, braunes Haar, blasser Teint, schütterer Schnurrbart.« »Haben Sie auch Fingerabdrücke?« »Wir haben Abdrücke von dem Sitz, in dem er gesessen hat. Seine sind bestimmt dabei – und mindestens ein Dutzend andere. Wollen Sie sie haben?« »Bitte. So schnell wie möglich.« »Wir lassen ohnehin alle Abdrücke vom Computer überprüfen …« Dixon zündete sich eine Zigarette an, steckte sie sorgfältig in eine kurze schwarze Spitze und streifte imaginäre Asche in den Aschenbecher. »Die finden Sie nicht im Computer – jedenfalls nicht in Ihrem.« »Er ist einer von …?« »Wenn ich die Abdrücke haben könnte …« Eine Stunde später war kein Zweifel mehr möglich. Dixon verlangte und erhielt einen sofortigen Termin bei dem Leiter der Abteilung Sicherheit der National Security Agency. Dieser suchte wiederum den NSA-Direktor auf, 78
der dann darauf bestand, den Sicherheitsberater des Präsidenten zu sprechen. Und Meyer ging zum Präsidenten. »Gibt’s was Neues?« fragte Proctor. »Nicht direkt.« Der Präsident wollte sich bereits abwenden, als Leonard Meyers Blick ihm verriet, daß das noch nicht alles gewesen war. »Und?« wollte er wissen. »Es geht um diesen Ross, der als Geisel genommen worden ist. Sie wissen schon – der biedere Durchschnittsbürger.« Der Präsident hatte sich die Details gemerkt. »Ja. Persönliche Animositäten. Hat gegen den Grundsatz verstoßen, Geiselnehmer unter keinen Umständen gegen sich aufzubringen …« Er blätterte in seinen Papieren, um eine Notiz zu finden. »Er ist mehr als das, Mr. President.« »Was denn?« Die nervöse Anspannung während seiner Unterredung mit Muntwick entlud sich in einem fast albernen Lachen. »Der Papst in Verkleidung, der Parteischatzmeister, der mit der Kasse durchbrennen wollte …?« Meyers Stimme klang keineswegs amüsiert. Es gelang ihm, nüchtern zu sprechen, aber seine Nervosität ließ sich nicht ganz verbergen. »Mr. President«, antwortete er steif, »er weiß über das ›Unternehmen Kandare‹ Bescheid.«
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6 Ross lag auf dem Rücken und starrte zu der hoch über ihm hängenden nackten Glühbirne hinauf. Seine Haut juckte unter den Bartstoppeln, aber er gab sich alle Mühe nicht zu kratzen, nachdem er sich das Gesicht bereits im Schlaf aufgekratzt hatte. Vor zwei Tagen war ihm zum letzten Mal ein Betäubungsmittel gespritzt worden, aber er konnte noch immer nicht richtig stehen und verfiel von Zeit zu Zeit in einen Halbschlaf, in dem er Halluzinationen hatte und Wogen, die sich am Strand brachen, zu sehen und zu hören glaubte. Der Raum, in dem er eingesperrt war, war hoch – mindestens dreieinhalb Meter –, aber schmal und gerade lang genug für das einzige Möbelstück: das Bett. Ross hatte den Eindruck, seine Zelle sei eigens abgeteilt worden, um als Gefängnis zu dienen, denn eine Wand bestand aus sägerauhen Holzbohlen. Von nebenan drangen häufig menschliche Laute herüber, aber Ross verstand nur gelegentlich ein Wort. Seine Mitgefangenen hatte er nicht mehr zu Gesicht bekommen. Er setzte sich auf dem Feldbett auf und wandte den Blick von der schwachen Glühbirne, die für ihn bereits zum Symbol seiner Gefangenschaft geworden war. Als Gefangener hatte er nach sieben Jahren wieder zu rauchen begonnen. Die Geiselnehmer hatten ihn wie selbstverständlich mit Zigaretten versorgt; Essen war schwerer zu bekommen gewesen. Nach ein paar Stunden hatte er sich eine angezündet. Es handelte sich um amerikanische Zigaretten in Packungen ohne Steuerbanderolen. Aus einem Dutyfree-Shop? Im Flugzeug gekauft? Ross zog wieder eine aus der Packung, 80
zündete sie sich an und speicherte die Beobachtung in seinem Gedächtnis. Sie konnte der Polizei nutzen, sobald er wieder frei war – falls er wieder freikam! Noch wichtiger war jedoch ein anderer Aspekt: Indem er sich auf die Speicherung solcher Informationen konzentrierte, beschäftigte er seinen Verstand und hatte zugleich das Gefühl, etwas Positives zu tun. Der Zigarettenrauch ließ ihn nach Atem ringen. Ross erkannte, daß der Qualm die Luft in dem kleinen Raum bald unerträglich verpesten würde. Er drückte die Zigarette in plötzlichem Entschluß aus und warf die angebrochene Packung ans Fußende des Feldbetts. Wie dämlich, wieder damit anzufangen! Seine Erinnerungen waren verschwommen. Ross erinnerte sich natürlich an den Flug, die Entführung und vor allem an den Augenblick, in dem die Frau mit der Pistole auf ihn gezielt hatte. Einige Sekunden lang hatte er tatsächlich geglaubt, sie würde ihn erschießen. Daß sie so schön war, hatte alles auf schreckliche Weise noch schlimmer gemacht. Er erinnerte sich auch an die Landung in Shannon, die erneute Angst, als er zu den zwei Dutzend Passagieren gehörte, die nicht freigelassen wurden, und den sehr süßen Sirup, den er hatte trinken müssen, während ihn einer der Terroristen mit vorgehaltener Waffe bedrohte. Alle weiteren Erinnerungen waren jedoch bruchstückhaft und verschwommen. Er hatte sich auf einem Boot befunden, das wußte er ganz sicher. Und er glaubte, sich an einen Wald und den Geruch von nassem Gras erinnern zu können; später an Dunkelheit und Motorengeräusch – im Laderaum eines Kastenwagens? Er wußte, daß es Mitgefangene gegeben hatte, er konnte sich an ihre Gestalten erinnern. Darunter ein großer Mann, vielleicht der sowjetische Minister. Aber wußte er das? Oder vermutete er das nur, 81
weil es auf der Hand lag? Die Fahrt schien tagelang gedauert zu haben. Unterwegs waren mehrmals die Fahrzeuge gewechselt worden, und Ross war bei diesen Gelegenheiten halb getragen, halb geschleppt worden. Er war niemals ganz bei Bewußtsein gewesen. Sobald er sich der Schwelle zum Aufwachen genähert hatte, war ihm eine neue Dosis injiziert worden. Anfangs hatte Ross versucht, sich gegen die Spritzen zu wehren. Später hatte er sie beinahe begrüßt, denn sie ließen ihn zur Ruhe kommen und beschwichtigten seine Ängste. Draußen klapperte etwas; dann wurde die kleine Durchreiche in der Wand geöffnet, und eine Hand stellte ihm einen Becher und einen Kanten Brot auf die Ablage. Danach wurde die Klappe sofort wieder geschlossen. Ross beugte sich zur Seite, griff nach dem Becher und trank durstig. Der Kaffee war dünn, kaum mehr als heißes Wasser, aber er genoß ihn trotzdem. Nach dem ersten großen Schluck machte er eine Pause, tunkte das Brot ein und zwang sich trotz seines Hungers dazu, jeden Bissen ganz langsam zu kauen. Er war seit zwei Tagen hier – das wußte er einigermaßen sicher, aber nicht ganz bestimmt. Da er nicht sehen konnte, ob es draußen Tag oder Nacht war, und weil sein Biorhythmus durch Drogen gestört war, basierte seine Schätzung auf der Zahl der Mahlzeiten. Natürlich konnten die Geiselnehmer das Essen unregelmäßig gebracht haben, um ihn zu verwirren, aber das bezweifelte er eigentlich. Die Kleinigkeiten, die ihm bei den wenigen Kontakten aufgefallen waren, ließen auf ein seltsam starres Verhaltensschema schließen. Als Ross mit Brot und Kaffee fertig war, wünschte er 82
sich, es hätte von beidem mehr gegeben. Er beugte sich zur Seite, um an die Wand zu klopfen, aber seine Hand blieb unten. Er würde diese Einzelhaft ertragen; er war stets ein Einzelgänger gewesen. Und er fürchtete sich vor der Frau. Er wußte nicht, ob sie vielleicht draußen lauerte. Er wollte nicht riskieren, sie zu reizen. Ross fürchtete sie, wie er sich als Kind vor Hexen und Ungeheuern gefürchtet hatte. Sie verkörperte das unbekannte Böse. Aber das war noch nicht alles: Er hatte noch nie solchen Haß im Blick eines Menschen gesehen wie in dem Augenblick, in dem sie ihn mit ihrer Pistole bedroht hatte. Er hatte den Verdacht, daß sie notfalls keine Sekunde zögern würde, ihn zu erschießen, und wußte, daß er nur ihretwegen als Geisel verschleppt worden war. Im Vergleich zu all den anderen Leuten, die an Bord gewesen waren, konnte er wirklich nicht als großer Fisch bezeichnet werden. Oder – dieser Gedanke kam ihm jetzt zum ersten Mal – wußten sie vielleicht etwas? Unmöglich! Aber falls sie etwas ahnten … Er hob den Becher an die Lippen, bevor ihm einfiel, daß er ihn bis zum letzten Tropfen geleert hatte. Würde er es ihnen sagen, wenn er fürchten mußte, ermordet zu werden, weil die Terroristen ihn für ein wertloses Faustpfand hielten? Würde er sein Geheimnis verraten, um sein Leben zu retten? Am Freitag, den 1. April, ging bei Amerikanern, Russen und Franzosen je eine Lösegeldforderung ein. Alle drei waren in Brüssel an die dortigen Botschaften dieser Staaten aufgegeben worden. 83
Die Forderungen waren identisch: hundert Millionen Dollar in bar, die Freilassung neunzehn namentlich benannter Terroristen, zu denen auch die in Spanien Einsitzenden gehörten, und die Aufgabe ganzseitiger Anzeigen (deren Text später folgen würde) in bestimmten Zeitungen. Jedem Schreiben lagen Polaroidbilder bei: Wolkow für die Russen, Jennifer North und Ross für die Amerikaner, Labrosse für die Franzosen. Die Aufnahmen schienen in Keller räumen gemacht worden zu sein, und die Dargestellten wirkten halb betäubt. Auch eine Frist wurde gesetzt: 15. April – der Freitag in zwei Wochen. In den auf derselben Schreibmaschine getippten Mitteilungen hieß es darüber hinaus, es werde keine weiteren Kontaktaufnahmen mehr geben, wenn die Regierungen nicht zwei Tage vor Ablauf des Ultimatums in den Mittagsnachrichten der BBC eine bestimmte – ebenfalls wieder vorgegebene – Meldung verlesen lassen würden. In diesem Fall sollten weitere Anweisungen folgen. Anderenfalls würden die Geiseln ›hingerichtet‹ werden. Präsident Proctor besprach diese Forderungen gerade mit Bill Watson, als ein Besucher gemeldet wurde. »Sie lassen uns Zeit, damit wir versuchen können, sie aufzuspüren«, sagte der Präsident zuversichtlicher, als ihm zumute war. »Damit wir schwitzen und uns untereinander in die Haare geraten können«, stellte Watson fest. Die Gegensprechanlage auf dem Schreibtisch summte. »Mr. Cord Warren, Mr. President.« Watson warf seinem Chef einen fragenden Blick zu. »Er hat angeblich wichtige Informationen«, sagte 84
Proctor. »Deshalb habe ich ihn gleich hergebeten.« Er drückte auf die Sprechtaste. »Er soll reinkommen!« Warrens Mitteilung war nur kurz. Ein Agent mit dem Decknamen ›Hecht‹ hatte Bericht über einen Treff mit seinem sowjetischen Kontaktmann beim KGB erstattet. Die Angaben des Russen waren im Augenblick nicht nachprüfbar, aber der Mann hatte sich in der Vergangenheit als sehr zuverlässige Quelle erwiesen. Kern seiner Aussage war die Behauptung, die Sowjets hätten diskret bekanntgegeben, sie seien bereit, in Geheimverhandlungen wegen der Freilassung ihres Ministers einzutreten, ohne offiziell aus der Einheitsfront der drei Mächte auszuscheren. »Ist Wolkow denn so wichtig?« fragte Watson. Er verstand sich vor allem auf die politischen Realitäten im Inland, achtete darauf, daß der Präsident in dieser Beziehung auf dem rechten Pfad blieb, und kümmerte sich nur am Rande um Außenpolitik. »Anscheinend haben sie Angst, daß ihn jemand zum Reden bringen könnte, wie sie’s in vergangenen Jahren manchmal mit politischen Häftlingen getan haben. Sie könnten sogar auf die Idee kommen, Angst davor haben zu müssen, daß wir uns irgendwie mit den Entführern einigen, um Wolkow ohne ihr Wissen in die Hände zu bekommen.« »Und? Er ist nur Stellvertreter eines Ministers …« »Seine Stellung interessiert erst in zweiter Linie. Es geht um alle, die er kennt, um alle Geheimnisse, die ihm zu entlocken wären. In der Kremlspitze gibt’s nicht viele Überlebenskünstler wie ihn. Wolkow ist einer – und das schon seit Jahrzehnten! Er muß ein wandelndes Konversationslexikon sein. In Moskau muß es im Augenblick eine Menge ängstlicher Leute geben.« 85
»Wir hätten ihn also gern?« Warren zuckte mit den Schultern. »Liebend gern! Aber selbst wenn er uns angeboten würde, müßte ich davon abraten, Mr. President. Das Risiko wäre zu groß, fürchte ich.« »Hmmm. Aber wie Sie ganz richtig sagen, wissen die Russkis das nicht.« »Nein, und es gäbe genügend andere Interessenten – zum Beispiel die Chinesen. Für solche Informationen gibt’s immer einen Markt …« »Aber bisher weist nichts darauf hin, daß sie’s auch auf Ross abgesehen hatten?« warf der Präsident ein. »Nein, Sir, aber …« »Aber was?« »Wir haben keinerlei Grund zu der Annahme, daß die Terroristen oder die Sowjets wissen, wer Ross ist. Aber in dieser Beziehung gibt’s keine hundertprozentige Sicherheit. Trotzdem ist das nicht der Punkt, der uns die meisten Sorgen macht.« »Sondern?« »Ross selbst. Wir sind dabei, ein Persönlichkeitsprofil zu erstellen und uns von Psychiatern sagen zu lassen, wie er ihrer Meinung nach in Streßsituationen reagieren wird. Die ersten Antworten sind ermutigend. Beruhigend ist es schon, daß er ein hervorragender Programmierer ist. Sein Job erfordert die Eigenschaften, die ihm jetzt zugute kommen können: die Fähigkeit, langweilige Routinearbeit verrichten und sich trotzdem etwas einfallen lassen zu können, wenn’s nötig wird.« Er machte eine Pause, um die Reaktionen der anderen abzuwarten, die jedoch ausblieben. Danach sprach er nüchtern wie zuvor weiter: »Ich will allerdings nicht 86
verschweigen, daß wir eine große Gefahr sehen: Was passiert, wenn er zu erkennen glaubt, daß sie ihn ermorden wollen? Gerade weil er so nichtssagend wirkt, könnten sie ihn als ersten erschießen, um ihre wertvolleren Geiseln zu schonen. Ross ist kein Dummkopf. Er würde erkennen, was ihm bevorsteht. Außerdem würden die Geiselnehmer ihn vermutlich damit quälen, daß sie ihm seine Erschießung ankündigen. Das ist in der Vergangenheit häufig der Fall gewesen.« »Und?« »Ross weiß, daß er ein Geheimnis kennt – daß er keineswegs so unbedeutend ist, wie die anderen denken. Er weiß nicht einmal genau, was er da hat, aber er weiß, daß es wertvoll ist. Ich fürchte, daß er in Versuchung geraten könnte, den Entführern einen Handel vorzuschlagen …« Der Präsident beugte sich vor und legte instinktiv eine Hand auf den an diesem Morgen von Watson zusammengestellten Geheimbericht über Muntwicks verzweifelte Beeinflussungsversuche bei den Spitzen der Partei. Ihm lief ein kalter Schauder über den Rücken. »Cord«, sagte er, »wir müssen sie zurückholen.« »Aber Sie haben doch selbst gesagt, Mr. President, daß wir nicht wagen dürfen, ihre Forderungen zu erfüllen!« »Richtig, Cord, das wage ich nicht.« Die Stimme des Präsidenten wurde energischer: »Zeigen Sie mir einen Ausweg! Sie behaupten immer, Sie hätten die klügsten Köpfe der Welt um sich versammelt. Das können Sie jetzt beweisen. Beweisen Sie’s mir!«
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7 Binnen 24 Stunden hatte der Präsident eine Ausarbeitung der möglichen Maßnahmen auf seinem Schreibtisch. Sie existierte nur in einem einzigen Exemplar, das ihm Cord Warren überbrachte. Der Präsident las sie durch, ohne sich dazu zu äußern, und gab sie an Bill Watson weiter. Nachdem Watson sie gelesen hatte, reichte er sie Leonard Meyer, dem Sicherheitsberater, der als vierter Mann anwesend war. Sie saßen diesmal nicht in einem der eleganten Räume des Weißen Hauses, sondern in einem schlichten Wintergarten, in den Proctor einen Schreibtisch und ein paar Stühle hatte stellen lassen. Der Präsident arbeitete oft dort und behauptete, die karge Möblierung helfe ihm, sich aufs Wesentliche zu konzentrieren, wenn er Entscheidungen zu treffen habe. Die ihm übergebene Denkschrift umfaßte zweieinhalb Schreibmaschinenseiten. Sie enthielt lediglich drei Möglichkeiten, unter denen die jeweiligen Vor- und Nachteile zusammengestellt waren. Die erste Möglichkeit sah vor, daß Proctor sich persönlich an den sowjetischen Generalsekretär Bukaschow wandte. Er sollte dem Russen versichern, obwohl die Vereinigten Staaten weiterhin strikt gegen jegliches Zugeständnis seien, seien ihnen die speziellen Probleme der UdSSR in diesem Fall bewußt. Wenn die Sowjets also die spanische Regierung dazu überreden wollten, die inhaftierten Terroristen freizulassen, und wenn sie das Lösegeld zahlen wollten, würde die amerikanische Regierung dafür Verständnis 88
haben. Der Präsident verwarf diese Möglichkeit sofort. Als ihr großer Vorteil war lediglich aufgeführt, daß sie den Eindruck erwecken müsse, die Sowjets hätten klein beigegeben. Dem standen jedoch mehrere Nachteile gegenüber, darunter nicht zuletzt die Gefahr, daß die Russen dieses Angebot mißtrauisch aufnehmen und unberechenbar darauf reagieren könnten. Nach Proctors Auffassung lag die größte Gefahr darin, daß den Sowjets dann sämtliche Geiseln – also auch Ross – in die Hände fallen würden. Und wenn sie etwas ahnten … Als zweite Möglichkeit bot sich eine Erpressung der Erpresser an, indem versucht wurde, Terroristen aufzuspüren und zu verhaften, um sie gegen die Entführten austauschen zu können. Das setzte jedoch voraus, daß festgestellt wurde, wer die Geiselnehmer waren, damit abgeschätzt werden konnte, an welche Terroristen ihnen etwas liegen würde. Und danach erhob sich das praktische Problem, diese Terroristen tatsächlich dingfest zu machen. Auch keine praktikable Lösung, dachte Proctor. Aber die dritte war interessant. Er beugte sich nach vorn, griff nach der Denkschrift, las diesen Teil noch einmal. »Als dritte Lösung bietet sich an, die Forderungen der Entführer zu erfüllen, ohne nach außen hin den Eindruck zu erwecken, wir hätten klein beigegeben. Als erstes müßten die Geiselnehmer dazu gebracht werden, ihre Forderungen auf die eigentlichen Hauptpunkte zurückzuschrauben. Im Sinne der vorliegenden Ausarbeitung lassen diese Forderungen sich in drei Punkte untergliedern: 89
Geld – Voraussichtlich problemlos, weil der geforderte Betrag von privater Seite aufgebracht werden könnte. Andrew Muntwick hat bereits erklärt, daß er zahlungswillig sei. Darüber hinaus sind Jennifer North über ihre Filmgesellschaft und André Labrosse über seine Firma gegen Entführung versichert. Unter diesen Umständen könnte den Geiselnehmern sogar mehr Geld geboten werden, wenn sie dafür ihre sonstigen Forderungen zurückschrauben. Anzeigen – Kein großes Problem, obwohl irgendein Kompromiß gefunden werden müßte. Beispielsweise könnten in inländischen Blättern Anzeigen aufgegeben werden, ohne daß die Regierung fürchten müßte, ihr Gesicht zu verlieren, solange dabei betont würde, dies sei die einzige Konzession, die der Präsident zu machen bereit sei. Auch andere befreundete Staaten ließen sich zweifelsohne zu einer ähnlichen Haltung bewegen. Eine weitere Möglichkeit böte die Herstellung spezieller Einzelexemplare der ›Prawda‹ und ›Iswestija‹, wozu die technischen Voraussetzungen natürlich hier vorhanden wären.« Der Präsident befaßte sich lange mit dem dritten und letzten Punkt und war sich dabei bewußt, daß die anderen ihn beobachteten, seine Reaktion studierten. »3. Freilassung inhaftierter Terroristen – Die Geiselnehmer fordern die Freilassung von insgesamt 29 inhaftierten Gesinnungsgenossen, die sich wie folgt verteilen: sechs in Israel, fünf in Frankreich, vier in Deutschland, zwei in den Vereinigten Staaten, fünf in der Sowjetunion – und die sieben, die seit Januar in Spanien in Haft sind. Diese sieben Personen, deren Freilassung ursprünglich gefordert wurde, sind die Schlüsselfiguren. Höchstwahrscheinlich würde allein ihre Freilassung in Verbindung mit der Erfüllung der beiden ersten 90
Forderungen der Terroristen ausreichen, die Geiseln freizukaufen. Für die Freilassung der in Spanien inhaftierten Terroristen bieten sich zwei Möglichkeiten an, wenn der Eindruck des bedingungslosen Nachgebens vermieden werden soll. Erstens könnte die spanische Regierung dazu überredet werden, die Häftlinge freizulassen (was den Vereinigten Staaten oder der Sowjetunion keine Schwierigkeiten bereiten dürfte) und bekanntzugeben, sie tue dies aus eigenem Antrieb, um befreundeten Staaten zu helfen. Zweitens wäre ein Geheimunternehmen denkbar, das auf den ersten Blick mit größeren Gefahren behaftet zu sein scheint. Diese Gefahren ließen sich jedoch durch die Einschaltung von Dritten und Vierten auf ein Mindestmaß verringern. Die Lösung würde in diesem Falle daraus bestehen, daß die in Spanien Inhaftierten befreit würden, ohne daß die Vereinigten Staaten nach außen hin in das Unternehmen verwickelt wären. Mit anderen Worten: Die Vereinigten Staaten würden indirekt dafür sorgen, daß die sieben Terroristen gewaltsam aus der Haft befreit werden. Auch dafür gibt es Präzedenzfälle (siehe Anlage 2 zur Befreiung Botschafter Jacksons aus der Gewalt der Tupamaros).« Proctor sah schließlich von der Denkschrift auf, die er vor sich liegen hatte. Er nahm seine Lesebrille ab und rieb sich die Augen. »Na, Gentlemen?« sagte er. »Für mich kommt nur die dritte Möglichkeit in Frage«, stellte Watson fest, »aber ich kann nicht behaupten, von ihr begeistert zu sein.« Der Präsident sah Meyer an. 91
»Die Sache könnte klappen, falls es uns gelingt, mit den Terroristen Verbindung aufzunehmen – und falls sie einverstanden sind.« »Und falls es uns gelingt«, fügte Watson hinzu, »bei der Befreiung der sieben Kerle so raffiniert vorzugehen, daß wir nicht damit in Verbindung gebracht werden können, wenn die Sache schiefgeht.« Proctor, Watson und Meyer blickten erwartungsvoll zu Warren hinüber, der in einem kleinen Schaukelstuhl saß und Mühe hatte, würdevoll zu wirken. »Das läßt sich machen, glaube ich«, sagte er. »Als Nation haben wir viele Möglichkeiten – selbst wenn wir sie tarnen müssen –, die kein Terrorist hätte. Das für den Fall, daß wir diese Kerle aus dem Gefängnis holen wollen.« »Aber wie können die Vereinigten Staaten, wie kann der Präsident aus der Sache herausgehalten werden?« fragte Watson ruhig. Das war seine größte Sorge. Der CIA-Direktor hatte auch bereits darüber nachgedacht. »Wir müßten den Eindruck erwecken, als stünde Andrew Muntwick dahinter – als hätte er die Befreiungsaktion persönlich eingefädelt«, antwortete er. »Das wäre nicht allzu schwierig. Ich würde vorschlagen, daß wir ihn tatsächlich daran beteiligen.« »Aber wer würde das Unternehmen leiten?« fragte Meyer. »Das hat mir anfangs Sorgen gemacht«, antwortete Warren, »aber ich glaube, daß ich den richtigen Mann kenne.« »Was ist er?« erkundigte sich Watson. »Eine Art Selbstmordpilot?« 92
Seine Frage war scherzhaft gemeint, deshalb verblüfften ihn Warrens ernste Miene und sein nüchterner Tonfall. »So was Ähnliches«, sagte der CIA-Direktor.
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8 Ein Mann scheidet nicht freiwillig als 45jähriger aus der CIA aus, wenn er als einer der kommenden Männer gilt und erst vor zwei Jahren in einer sehr privaten Zeremonie die Nationale Sicherheitsmedaille aus der Hand des Präsidenten erhalten hat. Es sei denn, jemand anderer, wie zum Beispiel ein Großunternehmer, hätte von ihm gehört und ihm ein sehr, sehr lohnendes Angebot gemacht. Genau das dachten George Singletons Kollegen in der Abteilung ›Operationen‹ – für Geheimunternehmen der ›Firma‹ zuständig – zu Anfang, obwohl er selbst sich nicht dazu äußerte. Als zufälligen Besuchern seines weitläufigen Hauses in Cleveland Park einige Monate später auffiel, daß er nichts zu tun schien, entstand das Gerücht, er sei zwangspensioniert worden. Sein Verbrechen? Gerüchteweise wurden mehrere Versionen verbreitet, die miteinander konkurrierten, bis sie allmählich wieder verstummten: Singleton sollte den turnusmäßigen Lügendetektortest nicht bestanden haben, er stünde im Verdacht, Informationen an den israelischen Geheimdienst weitergegeben zu haben (denn wie viele seiner Kollegen fand er, die Vereinigten Staaten näherten sich den arabischen Ländern zu sehr an), sein Sohn hätte etwas angestellt, das Singleton erpreßbar machte, falls die andere Seite davon erführe … Die Wahrheit war jedoch viel prosaischer, und obwohl Singleton sie seinen Vorgesetzten erläutert hatte, als er sein Rücktrittsgesuch einreichte, war er nie damit an die Öffentlichkeit getreten, selbst als er von den Gerüchten 94
erfahren hatte. Eine Nebenwirkung dieses Verhaltens war, daß die Vorgesetzten, die seinen Kündigungsgrund kannten, nach wie vor besondere Achtung vor ihm hatten. Singleton war einfach nicht mit der Entwicklung des Nachrichtendienstes und seiner Behandlung durch aufeinanderfolgende Präsidenten und der von ihnen ernannten Kontrolleure einverstanden. George Singleton war in den sechziger Jahren frisch von der Harvard Law School zur CIA gekommen und hatte seine Grundausbildung in der Anfangszeit des amerikanischen Engagements in Vietnam erhalten, dessen Entwicklung dazu geführt hatte, daß seine anfänglichen Überzeugungen später zu herben Enttäuschungen wurden. Trotzdem hatte er Karriere gemacht. Er wurde an entscheidenden Punkten eingesetzt und trat allmählich ins Rampenlicht. Allein durch seine Arbeit hätte Singleton es weit gebracht, aber auch andere Faktoren hatten sich zu seinen Gunsten ausgewirkt: Sein Vater, der einige Jahre zuvor gestorben war, hatte schon im Zweiten Weltkrieg dem damaligen amerikanischen Nachrichtendienst OSS angehört, und Singleton hatte als junger Mann eine Kollegin, die Sekretärin seines CIA-Vorgesetzten, geheiratet. Mit einer Mischung aus Glück, Diensteifer und Mangel an politischem Ehrgeiz hatte er verschiedene ›Säuberungen‹ innerhalb der CIA unbeschadet überstanden: das Ausscheiden James Jesus Angletons, eines nach Singletons Auffassung perfekten Geheimdienstmannes, der seinen Abschied hatte einreichen müssen, nachdem bekannt geworden war, daß die CIA auch im Inland spioniert hatte; die Zerschlagung der ›Old-Boy-Seilschaft‹ innerhalb der CIA durch Admiral 95
Turner, den von Präsident Carter eingesetzten CIADirektor … Singletons Enttäuschung war allmählich stärker geworden. Der Grund dafür war sehr einfach: das Gefühl, aus den falschen politischen Gründen könne eine notwendige Arbeit nicht effektiv genug getan werden. Und als Mann mit Schwarzweiß-Emotionen fühlte er sich dazu verpflichtet, dabeizubleiben oder auszusteigen. Mit einem Anflug von ›Toska‹ – Weltschmerz –, wie seine sowjetischen Gegenspieler es bezeichnet hätten, nutzte er überraschend die Möglichkeit, sich in den vorzeitigen Ruhestand versetzen zu lassen, und schied aus. Er war erst 44 Jahre alt, und da er seinen Entschluß nicht angekündigt hatte, waren die meisten seiner Kollegen ziemlich verblüfft. Ihre Überraschung wäre etwas geringer gewesen, wenn sie einen Blick in Singletons häusliches Arbeitszimmer hätten werfen können. In den Monaten vor seinem Ausscheiden hatte er plötzlich damit begonnen, Karikaturen über die CIA auszuschneiden und zu sammeln. Daran gab es keinen Mangel. Seine Lieblingskarikatur, die fotografiert, vergrößert und gerahmt an der Wand hing, stammte allerdings schon aus dem Jahre 1979, einem der Krisenjahre. Sie zeigte einen Mann mit Schlapphut und Trenchcoat, auf dessen Ärmel CIA stand, der als Strafaufgabe mehrmals untereinander auf eine Wandtafel schrieb: »Ich soll niemanden ermorden!« Daß Singleton finanziell unabhängig war, hatte ihm seinen Entschluß erleichtert. Sein Ruhestandsgehalt war zwar nicht unbeträchtlich, aber es hätte allein nicht ausgereicht, um ihm den gewohnten Lebensstandard zu ermöglichen. Eigentlich hätte er es gar nicht gebraucht. Das Haus, das sein Vater ihm hinterlassen hatte, war schuldenfrei; seine Frau, die ihn nach sechzehn Ehejahren wegen eines kalifornischen Immobilienmaklers verlassen 96
hatte, beanspruchte keine Alimente. Singleton mußte noch für seinen studierenden Sohn aufkommen, aber er hatte stets gespart und das Ersparte klug in Aktien angelegt. Manchmal dachte er, daß sich vielleicht manches anders entwickelt hätte, wenn Debbie am Leben geblieben wäre. Das hätte die Ehe zusammenhalten können. Sein Sohn hätte ihm vielleicht weniger Vorwürfe gemacht, er selbst hätte sich vielleicht weniger gemacht. Singleton mußte damals, als sie krank wurde, nach Mittelamerika fliegen. Das lag an seinem Job. Wäre er Journalist oder Versicherungsvertreter gewesen, hätte die Sache anders ausgesehen. So aber war er nicht zu Hause, als Debbie starb, und die Nachricht von ihrem Tod erreichte ihn erst mit großer Verspätung. Singleton wußte, daß wohl jeder unter diesen Umständen Schuldgefühle empfunden hätte, aber das half ihm nicht weiter. Jetzt war er allein, und daß ihn das nicht mehr sonderlich störte, war ein deutlicher Hinweis auf seine neue Gleichgültigkeit. Seit seiner Pensionierung hatte er sich immer mehr in sich selbst zurückgezogen. Sogar seine Nachbarn bekamen ihn kaum noch zu Gesicht und hatten sich daran gewöhnt, seine Existenz ohne seine Gesellschaft zu akzeptieren. Sie hielten ihn für etwas exzentrisch. Wenn sie über ihn sprachen, was nicht mehr allzu häufig vorkam, fragten sie sich, wohin er so oft am frühen Morgen fahre, wenn anständige Leute noch schliefen. Die Antwort wäre ganz prosaisch gewesen: Singleton fuhr die Wisconsin Avenue entlang, folgte dem Potomac River und beobachtete Vögel. Am Sonntag, den 3. April, stand Singleton kurz nach vier Uhr auf, packte Sandwiches, eine Thermoskanne Kaffee, eine kleine Flasche Cognac und sein Fernglas ein und stellte seinen Wagen schon eine Dreiviertelstunde 97
später in der Nähe seines liebsten Beobachtungsplatzes ab. Vor ihm flog ein Rotspecht auf. Normalerweise hätte Singleton sein Fernglas angesetzt, um dieses Prachtstück zu bewundern, aber an diesem Morgen wartete er im Dämmerlicht bewegungslos im Dickicht und hatte seinen Rucksack mit dem Fernglas vor sich stehen. In der rechten Hand hielt er locker eine großkalibrige Browning-Pistole, Er schleppte sie nicht gern mit sich herum – die sperrige Waffe wog über ein Kilo –, aber er war seit seiner Pensionierung noch nie ohne sie aus dem Haus gegangen. Das akzeptierte er als seine Pflicht, denn vieles von dem, was er wußte, war weiterhin streng geheim. Jeder Versuch, ihn zu entführen, mußte fehlschlagen, indem Singleton ihn abwehrte oder dabei den Tod fand. Außer auf dem Schießplatz, wo er sich in Übung hielt, hatte er noch nie mit der Pistole geschossen, aber er wußte, daß sie einwandfrei funktionierte. Er überprüfte sie jeden Morgen so gewohnheitsmäßig, wie er sich die Zähne putzte. Für die Browning-Pistole hatte er sich entschieden, weil sie auf kurze Entfernungen sehr zielsicher war und dreizehn Schuß enthielt. Die Straße war zu weit von ihm entfernt, als daß er Verkehrslärm hätte hören können, aber er vermutete, daß der Wagen, der ihn verfolgt hatte, inzwischen längst irgendwo abgestellt war. Seine Augen gewöhnten sich allmählich ans Dämmerlicht. Er hatte seine Stellung gut gewählt. Wer auf ihn zukam, mußte einem schmalen Fußpfad folgen, der nur sechs, sieben Meter entfernt an ihm vorbeiführte. Wer ihn verfolgte, mußte allerdings nicht unbedingt hier vorbeikommen. Vielleicht hatten sie lediglich festgestellt, wohin er fuhr. Das Ganze konnte ein ›Probelauf‹ sein. Vielleicht warteten sie an der Straße auf ihn oder hatten es 98
auf seinen Wagen abgesehen. Singleton konnte nur abwarten. Daß er beschattet worden war, stand jedoch außer Zweifel. Der Wagen, ein dunkelblauer Chevrolet, hatte seine Spur in Georgetown aufgenommen. Der andere Fahrer hatte sich nicht ungeschickt angestellt, aber um diese Tageszeit war es verdammt schwierig, jemanden unauffällig zu verfolgen – vor allem einen Mann wie Singleton, der ein Vierteljahrhundert lang instinktiv auf solche Dinge geachtet hatte, so wie andere Fahrer nach Verkehrspolizisten Ausschau halten. George Singletons Atem ging gleichmäßig, die Muskeln waren trotz seiner Alarmbereitschaft unverkrampft. Er war mit sich selbst zufrieden. Ein Kiebitzregenpfeifer flog auf und ließ Singleton unwillkürlich zusammenzucken. Dann wurde es wieder still, und er begann bereits daran zu zweifeln, daß noch jemand kommen würde, als der Mann auftauchte. Er trug einen grauen Tweedmantel und einen formlosen Tweedhut, dessen tief heruntergezogene Krempe seine obere Gesichtshälfte verbarg. Er bewegte sich vorsichtig, fast unbeholfen: ein Städter, der nur asphaltierte oder gepflasterte Gehwege kannte. Sein Kopf wandte sich ständig nervös von einer Seite zur anderen. Singleton stand schußbereit da: mit leicht gespreizten Beinen, nach außen gedrehten Füßen, durchgedrückten Knien und mit beiden Händen erhobener Pistole. Er wartete. Der Mann schien allein zu sein, aber dafür gab es keine Garantie. Er sollte erst einmal näher kommen. Dann merkte Singleton, daß der andere, obwohl er dadurch Schwierigkeiten beim Gehen hatte, die Arme in Schulterhöhe hielt, als wolle er etwaigen Beobachtern 99
zeigen, daß er unbewaffnet war. Als er jetzt stehenblieb, erkannte Singleton, wen er vor sich hatte. »Falls du in der Nähe bist, George, was ich annehme, wäre ich dir dankbar, wenn du mich nicht erschießen würdest. Der Präsident hat schon genügend Probleme, auch ohne daß er einen Nachfolger für mich finden muß.« Auf Singletons stoppelbärtigem Gesicht erschien ein schiefes Lächeln. Trotzdem wartete er absichtlich noch eine Minute, die dem unbeweglich vor ihm Stehenden wie eine kleine Ewigkeit erscheinen mußte. Singleton hatte Cord Warren gern, aber er wollte den CIA-Direktor ein bißchen ins Schwitzen bringen. Sie saßen einander am Flußufer gegenüber und hatten Kaffee, Sandwiches und Cognac auf dem Boden zwischen sich stehen. Es gab nur einen Plastikbecher, den Singleton bis zum Rand mit wenig Kaffee und viel Cognac füllte. Warren nahm den ersten Schluck und bekam einen Hustenanfall. Singleton biß in einen Sandwich und gab vor, nichts davon zu merken. Cord Warren hatte sein Gegenüber vor fast zwei Jahren zum letzten Mal gesehen – übrigens das einzige Mal seit Singletons Ausscheiden. Damals war er noch nicht CIADirektor gewesen; seine Ernennung war einige Monate später erfolgt. Singleton hatte ihm mit einem kurzen Schreiben gratuliert, und seine Glückwünsche waren aufrichtig gewesen. Er hatte gewisse Vorbehalte gegen Warrens Ansichten – Warren setzte wie die Regierung zu kritiklos auf die Fiktion einer Entspannung –, aber er war ehrlich froh darüber, wieder einen Profi an der Spitze der CIA zu sehen. »Du siehst gut aus«, sagte Warren schließlich. 100
Singleton hob die Hand und rieb sich das Kinn. Er hatte einen Dreitagebart. »Im Hemingway-Look?« Er grinste. »Du bist noch immer allein?« »Ja, die Scheidung ist inzwischen rechtskräftig, aber das weißt du vermutlich. Trotzdem geht’s mir ziemlich gut. Ich hab’ gedacht, ich würde daran zerbrechen, weil wir so lange verheiratet waren. Aber stell dir vor, Cord, ich hab’ gemerkt, daß mir das Alleinsein gefällt. Ich hab’ deswegen anfangs sogar ein schlechtes Gewissen gehabt.« »Und Betty?« »Ihr scheint’s auch ganz gut zu gefallen. Das mag am Klima an der Westküste liegen – in Washington hat sie sich nie richtig wohl gefühlt, weißt du – oder vielleicht daran, daß sie jetzt mit jemand zusammen ist, der mit ihr über seinen Job reden kann …« Er beobachtete Warren aufmerksam, um vielleicht einen Hinweis darauf zu entdecken, daß der CIA-Direktor von Kate wußte. Nichts. Aber Singleton hatte nichts anderes erwartet. Er hatte sich große Mühe gegeben, seine Affäre geheimzuhalten, und war schließlich ein Fachmann auf diesem Gebiet. Singleton betrachtete die Umgebung. Er setzte rasch das Fernglas an die Augen. »Ein Schilfrohrsänger«, sagte er Sekunden später. »Du kommst oft hierher.« Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. »Wie du weißt – sonst wärst du nicht hier. Manchmal zwei-, dreimal pro Woche, immer um diese Zeit. Das Komische ist, daß ich das Gefühl habe, mit immer weniger Schlaf auszukommen – vier, fünf Stunden pro Nacht genügen völlig.« 101
»Und du denkst nach?« »Nicht oft. Ich beobachte nur und genieße und staune. Manchmal denke ich, daß es nach der Erschaffung der Welt überall wie hier ausgesehen hat.« Sein Fernglas suchte den Himmel ab. »Vögel sind erstaunliche Lebewesen! Im Vergleich zu ihnen sind wir Neuankömmlinge, Cord. Tiere wie diese, die wir hier sehen, sind bereits vor mindestens siebzig Millionen Jahren herumgeflogen. Stell dir bloß vor, was sie alles überlebt haben: Klimaveränderungen, Veränderungen der Oberflächengestalt der Erde … Und stell dir vor, wohin sie überall gelangt sind: zu den Polen, in die Wüsten, über die Meere, hoch hinauf in die Gebirge.« Er ließ das Fernglas sinken und griff nach einem weiteren Sandwich, ohne jedoch hineinzubeißen; statt dessen sprach er weiter. »Und sie decken das gesamte Spektrum von Generalisten bis hin zu ausgesprochenen Spezialisten ab. Der Haussperling ist überall zu finden, wo Menschen leben. Auf der anderen Seite stehen wirkliche Spezialisten wie die Kolibris – mit langen Schnäbeln und röhrenförmigen Zungen, damit sie Nektar aus Blütenkelchen saugen, aber keine feste Nahrung zu sich nehmen können.« Warren staunte nicht nur über die Leidenschaft, die aus der Stimme seines Gegenübers sprach, sondern auch darüber, wie ungeniert der andere diese Dinge aussprach. Als sie noch Kollegen gewesen waren, hatte er Singleton als schweigsam und zurückhaltend gekannt. »Ein Mann mit Eiswasser statt Blut in den Adern«, hatte ihn einmal jemand genannt. »In mittleren Jahren entwickelst du dich zu einem ziemlichen Philosophen«, stellte Warren 102
schließlich fest. »Philosophisch genug, um geduldig dazusitzen, zu warten und Konversation zu machen, bis du dich dazu entschließt, mir zu erklären, was der CIA-Direktor kurz nach Sonnenaufgang hier draußen zu suchen hat, wo er auf dem Boden hockt und sich nicht anmerken lassen will, daß er viel lieber zu Hause in seinem Bett wäre.« Warren streckte die Beine aus und nahm noch einen Schluck Kaffee. Der Alkohol wirkte wohltuend entspannend. »George«, begann er, »ich bin hier, weil ich dir eine Geschichte erzählen möchte. Ich möchte, daß du dich in eine Zeit vor ein paar Jahren zurückversetzt. Ich meine damit den Zeitpunkt kurz nachdem du dich zum Aussteigen entschlossen hattest. Wie du dich erinnerst, ist SALT II damals seit zwei, drei Jahren in Kraft gewesen, und es war ziemlich klar, daß die Russkis mehr davon profitierten als wir, während wir anderswo Probleme mit ihnen hatten – nicht zuletzt in Afghanistan. Okay? Trotzdem bestand der Präsident darauf, SALT III abzuschließen. Mein Vorgänger, die Vereinigten Stabschefs und weitere kluge Köpfe hatten ihre Einwände vorgebracht, aber für den Präsidenten war das ein politisch kluger Schachzug.« Singleton nickte wortlos. »Das sollte nur das Umfeld beschreiben, damit du weißt, wo wir stehen. Jetzt wenden wir unsere Aufmerksamkeit der South Carolina State University zu, einer ordentlichen, aber doch irgendwie zweitklassigen Hochschule. Wir ahnen noch nichts davon, aber der Mann, der sie für uns interessant machen wird, ist ein dortiger Mathematikprofessor namens Thomas Charlton. Er steht kurz vor der Emeritierung und ist wie seine Universität 103
durchaus zweitklassig. Allerdings hat er eine Leidenschaft: die Faktorisierung großer Zahlen, sozusagen ein Gedankenexperiment für Mathematiker. Unsereiner begreift vielleicht nicht ganz, was daran aufregend sein soll, aber ich habe mir erzählen lassen, daß Mathematiker sich seit Jahrhunderten dafür begeistern. Bevor Charlton sich mit diesem Problem befaßte, war es ein Amateur mit der gleichen Leidenschaft gewesen, der die bis dahin beste Methode der Faktorisierung großer Zahlen gefunden hatte.« Singleton nickte wieder. Diesmal hob er jedoch die Hand, um Warren zu unterbrechen. »Du erzählst mir bestimmt gleich, was unter Faktorisierung zu verstehen ist …« »Entschuldige, George, ich habe so viel darüber gehört, daß ich vergesse, daß das nichts Alltägliches ist. Eine Zahl faktorisieren bedeutet, sie in Zahlen zu zerlegen, die miteinander multipliziert die Ausgangszahl ergeben. Für Menschen wie du und ich klingt das ziemlich einfach, bis man sich näher damit beschäftigt. Aber ich habe mir sagen lassen, daß es bei genügend großen Zahlen – und von denen ist hier die Rede – buchstäblich Milliarden und Abermilliarden von Möglichkeiten gibt. Ein Computer könnte sie berechnen – wenn er ein paar Millionen Jahre Zeit dafür hätte! Mathematiker wie Charlton sind seit langem auf der Suche nach einer mathematischen Formel, die eine Art Abkürzung darstellt, mit deren Hilfe man wenigstens in einigen Fällen ziemlich schnell die richtige Lösung erhält. Der Lohn dafür? Einiges Lob – und einiger Neid – in Kollegenkreisen, einige Fußnoten in Lehrbüchern …« Er machte eine Pause, während Singleton ihm Kaffee und Cognac nachschenkte. 104
»Okay, das war ein Aspekt der Geschichte. Jetzt muß ich dich bitten, dich auf einen anderen zu konzentrieren. Mitte der siebziger Jahre – du erinnerst dich vielleicht an die Berichte, die damals in der Firma in Umlauf gewesen sind – haben einige Forscher in Stanford sich eine neue Verschlüsselungsmethode ausgedacht. Sie haben sie als Nachschlüssel- oder Falltürsystem bezeichnet, und aus unserer Sicht ist nur wichtig, daß einige Leute am MIT etwas später einen Schritt weitergegangen sind und ein praktikables System entwickelt haben, das nur auf der Basis der Faktorisierung großer Zahlen hätte entschlüsselt werden können. Nach eingehenden Forschungen haben diese Leute behauptet, solche Kodes seien selbst mit den leistungsfähigsten Computern, wie sie die NSA drüben in Disneyland hat, erst in Millionen oder Milliarden von Jahren zu knacken. Was sie und wir erst später erfahren haben, war die Tatsache, daß die Sowjets sich für dieselben Möglichkeiten interessiert hatten und zu denselben Ergebnissen gelangt waren. Vor ungefähr fünf Jahren haben wir erste Hinweise darauf erhalten, daß die Sowjets das Falltürsystem für die große Mehrzahl ihrer verschlüsselten Geheimmeldungen verwendeten: diplomatische, militärische, nachrichtendienstliche Berichte und so weiter. Wie du weißt, haben wir die Kodes der Sowjets im Gegensatz zu denen der meisten kleineren Staaten nur in Ausnahmefällen knacken können. Sie waren viel zu kompliziert. Und daß die Sowjets zu diesem Falltürsystem überwechselten, hat uns nicht gerade genützt. Der neue Kode war erst recht nicht zu knacken. Deshalb haben die NSA-Leute weitergemacht wie bisher: Sie haben aufgenommen, was sie nur konnten, und in der Hoffnung gespeichert, es eines Tages …« Warren machte eine 105
Pause. »Tut mir leid, daß ich so weit ausholen muß«, sagte er. »Aber ich wollte dir lieber alles erklären.« »Das ist schon in Ordnung. Bisher komme ich gut mit.« »Okay. Jetzt möchte ich dich bitten, zu Professor Thomas Charlton und seiner Leidenschaft zurückzuschalten. Charlton sitzt eines Nachts um zwei Uhr fünfundzwanzig in seinem Arbeitszimmer und spielt mit Zahlen, als er plötzlich ›Heureka!‹ rufen kann, weil er Erfolg zu haben glaubt. Er hat eine neue Möglichkeit entdeckt, große Zahlen zu faktorisieren – nicht immer, aber manchmal. Kannst du dir die Ausgangslage vorstellen, George? Auf der einen Seite haben wir die Russkis, deren Kode auf Geheimzahlen basiert, die miteinander multipliziert eine dritte ergeben. Diese Endzahl ist nicht geheim, deshalb trägt das auf ihnen basierende System auch die Bezeichnung Nachschlüsselsystem. Und auf der anderen haben wir Professor Thomas Charlton mit dem Charlton-Algorithmus. Unser Mann ist natürlich aufgeregt, aber er weiß nichts von der nachrichtendienstlichen Tragweite seiner Entdeckung, die er selbstverständlich erst einmal überprüfen muß. Dazu braucht er einen Computer. Charlton kann selbst programmieren, aber er ist ein bißchen aus der Übung, etwas eingerostet und außerdem zu ungeduldig. Deshalb wendet er sich an einen alten Freund, der Programmierer bei einer kleinen Softwarefirma ist. Er zieht es vor, keinen an der Universität tätigen Programmierer zu verwenden, weil er sich seiner Sache nicht völlig sicher ist. Die Tests sind erfolgreich. Charlton stellt fest, daß der Computer mit Hilfe seiner neuen Formel bei dreihundert Millionen Kombinationen in drei bis vier Prozent aller Fälle große Zahlen richtig faktorisieren kann. Für einen 106
Laien wie mich sind das auf den ersten Blick verdammt viele Kombinationen, aber die NSA-Leute haben mir versichert, daß unsere Computer das in ein paar Minuten schaffen. Charlton ist unterdessen verständlicherweise ziemlich aufgeregt, aber er bleibt vorsichtig. Bevor er routinemäßig den nächsten Schritt tut und seine Formel einigen Kollegen zusendet, damit sie sich dazu äußern können, bevor er sie veröffentlicht, schickt er sie einem alten Freund am MIT, der wie er gern mit Zahlen spielt. Im Begleitschreiben hat Charlton einen Scherz gemacht: ›Erinnerst Du Dich an all diese Papiere aus Stanford und vom MIT, in denen Ende der siebziger Jahre und Anfang der achtziger Jahre von einem neuen, absolut sicheren Kode die Rede gewesen ist? Nur gut, daß wir ihn nicht wirklich in Gebrauch genommen haben! ‹ Charltons Freund – sein Name tut hier nichts zur Sache – ist noch am gleichen Tag nach Washington geflogen. Er hatte Verbindung zur NSA, und obwohl er nicht wußte, was die Russen taten, war er weitblickend genug, um die Tragweite von Charltons Entdeckung zu erkennen. Das alles hat dazu geführt, George«, fuhr Warren mit nachdrücklichem Ernst in der Stimme fort, »daß wir seit fast zwei Jahren wieder imstande sind, sowjetische Kodes zu knacken. Natürlich längst nicht alle, aber immerhin drei bis vier Prozent davon. Stell dir vor, wieviele Fernschreiben und Funksprüche das sind! Du brauchst nur an die Tausende von Funkfernschreiben zu denken, die allein die KGB-Zentrale tagtäglich empfängt oder sendet. Dazu kommt der Fernmeldeverkehr der Botschaften, des Heeres, der Marine, der Luftwaffe … Und das ist alles hochwertiges Material, George. Wie hat jemand es einmal zutreffend 107
beschrieben? ›Die Worte unserer Gegner, die untereinander Geheimgespräche führen.‹ Auf militärischem Gebiet haben sie vielleicht mit uns gleichgezogen, aber dieser Erfolg hat uns wieder einen Vorsprung verschafft. Wir wissen die meiste Zeit, was sie vorhaben – und das Schönste daran ist, daß sie nichts davon ahnen.« »Das muß streng geheimgehalten worden sein.« »Darauf kannst du Gift nehmen! Zu den Eingeweihten gehören natürlich der Präsident, ein paar handverlesene Regierungsmitglieder, einige wenige CIA-Angehörige, ein paar mehr bei der NSA, aber auch dort nur die Mindestzahl … Ich kann dir genau sagen, wie viele davon wissen. Bis vorhin sind’s siebenundachtzig Personen gewesen; mit dir sind’s jetzt achtundachtzig.« »Lauter Amerikaner?« »Kein Außenstehender erfährt auch nur andeutungsweise davon, selbst unsere engsten Verbündeten nicht. Die NSA verzichtet sogar bewußt darauf, die Magnetbänder mit altem Material auszuwerten – obwohl das sicher lohnend wäre –, weil die Anforderung aus dem Lager Verdacht erwecken könnte.« »Und was ist aus dem Professor geworden?« »Er hat Besuch bekommen, der ihn dazu überredet hat, seine Entdeckung nicht zu veröffentlichen, und ihm dafür einen hochangesehenen Posten verschafft hat. Die Militärs wollen nicht glauben, daß drei bis vier Prozent die Obergrenze sein sollen. Sie sind davon überzeugt, daß er die Trefferquote steigern kann, wenn er weiter forscht. Charlton, der alles bekommt, was er sich wünscht, arbeitet glücklich und zufrieden weiter.« »Wo gibt’s dann Probleme? Wozu hast du mich als Nummer achtundachtzig eingeweiht?« 108
»Das Problem stellt der Programmierer dar, mit dem Charlton zusammengearbeitet hat, als er seinen Algorithmus auf einem Computer testen wollte.« »Warum hat er nicht auch einen Job bekommen?« »Das hat er – bei einer der Tarnfirmen, mit denen die NSA Verbindung zur Außenwelt hält. Angeblich wegen seiner überragenden Fähigkeiten, aber dieses Spiel hat er bestimmt durchschaut. Das Angebot hat er bekommen, nachdem er Charlton geholfen hatte – und dann zieht der Professor weg, ohne sein Forschungsergebnis zu veröffentlichen. Und er selbst ist natürlich während des Einstellungsgesprächs unauffällig gefragt worden, ob er irgend etwas zu Papier gebracht oder mit Außenstehenden besprochen habe …« »Und?« drängte Singleton behutsam. Trotz seiner warmen Kleidung fror er plötzlich. »Er kriegt also die neue Stellung mit den üblichen Erläuterungen, daß er sich keiner Operation ohne einen unserer Narkoseärzte unterziehen, auf Konferenzen nicht mit Unbekannten plaudern und auf keinen Fall im Ostblock Urlaub machen darf. Du kennst ja die üblichen Sicherheitsvorkehrungen.« »Und?« »Und so macht sich keiner Sorgen, als er zu einem ganz gewöhnlichen Europatrip aufbricht.« Warren hob den Kopf und starrte Singleton in die Augen. »Allerdings nur, bis er sich entführen läßt.«
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9 Zu Hause mixte Singleton sich einen Scotch mit Wasser, holte ein Steak aus der Tiefkühltruhe und öffnete die zum Garten hinausführenden Terrassentüren. Es war 12.30 Uhr an einem in jeder Beziehung vollkommenen Apriltag. Nachdem Warren sich verabschiedet hatte, war Singleton noch lange gewandert und hatte dabei nachgedacht. Das Haus kam ihm jetzt leer vor; zum ersten Mal seit den ersten Wochen seines Alleinseins war er sich der Größe des Hauses und der vielen Räume bewußt, die von seiner Putzfrau saubergehalten wurden, obwohl er sie nie benutzte. Sein Glas war halbleer, und er schenkte sich Scotch nach, bevor er ins Freie trat. Der weitläufige Garten, der das viktorianische Haus umgab, brauchte dringend etwas Pflege. Vielleicht nach dem Mittagessen, sagte er sich. Singleton hob sein Glas, zwang sich dazu, nur einen kleinen Schluck zu nehmen, hörte Lachen und Kinderstimmen aus einem Nachbargarten und wurde dabei traurig. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie mehr Kinder gehabt hätten. Er nahm sich vor, abends Ben anzurufen, obwohl er wußte, daß ihr Gespräch bestenfalls aus höflichen Floskeln bestehen würde. Er hatte versucht, Ben zu erklären, wie nahe ihm Debbies Tod gegangen war, obwohl Charakter und Ausbildung ihn dazu befähigt hatten, auf starke Erschütterungen scheinbar stoisch und mit ausgesprochenen Platitüden zu reagieren. Das hatte Ben ihm jedoch nie abgenommen; er hatte seinem Vater nie verziehen. 110
Lebte er jetzt ein ähnliches Lügenmärchen, obwohl er ausgeschieden war? Was hatte Warren ihm geantwortet, als er ihn gefragt hatte, warum er mitmachen und buchstäblich sein Leben aufs Spiel setzen solle? »Weil der Versuch einfach unternommen werden muß – und nur von einem Mann wie dir unternommen werden kann. Du hast die entsprechende Ausbildung, die nötigen Fertigkeiten. Andererseits …« »Andererseits«, hatte Singleton ergänzt, »läßt sich auch beweisen, daß ich ein verbitterter ehemaliger CIAAngehöriger bin, der auf eigene Faust gearbeitet hat und notfalls den Wölfen zum Fraß vorgeworfen werden kann.« Warren hatte sich nicht dazu geäußert. »Das ist verdammt viel verlangt, Cord.« »Soll ich an deinen Patriotismus appellieren und dich daran erinnern, weshalb du ursprünglich zu uns gekommen bist? Verdammt noch mal, schließlich bist du gegangen, weil du das Gefühl hattest, wir machten unsere Sache nicht gut genug!« Singleton hatte geglaubt, Warren sei fertig, aber der CIA-Direktor hatte halblaut hinzugefügt: »Und es gibt noch einen weiteren Grund. Stell dir vor, wie dir zumute wäre, wenn du diesen Auftrag ablehnen würdest. Mit dir geht’s bergab, George, auch wenn du’s nicht wahrhaben willst. Was bist du jetzt? Achtundvierzig? Sieh dich mal im Spiegel an, wenn du nach Hause kommst. Okay, es ist vielleicht lustig, sich nicht zu rasieren und drunten am Fluß noch vor dem Frühstück eine halbe Flasche Cognac zu leeren, aber was für ein Ziel hast du, George? Willst du dich für den Rest deines Lebens wie irgendein Junkie treiben lassen?« »Ich brauche Bedenkzeit.« »Zeit bleibt nicht mehr allzu viel.« Warren war 111
aufgestanden, um zur Straße zurückzugehen. »Unter dem Fahrersitz in deinem Auto findest du einen Ordner. Er enthält eine Ausarbeitung, in der einige der anstehenden Probleme analysiert werden. Vielleicht solltest du sie lesen, bevor du dich entscheidest.« »Bis wann mußt du’s wissen?« »Heute abend achtzehn Uhr. Du hast also zwölf Stunden Zeit.« »Okay.« Singleton hatte nicht widersprochen. Jetzt blieben ihm kaum mehr fünf Stunden, und er wußte noch immer nicht, was er wollte. Wozu sollte er sein Leben aufs Spiel setzen? Eine schwierige Frage. Womit konnte er rechnen, falls er Erfolg hatte? Geld? Angenehm, aber davon hatte er eigentlich genug. Anerkennung? Wer würde jemals davon erfahren? Seine wahre Rolle würde niemals bekannt werden, sondern in streng geheimen Unterlagen begraben werden. Aber er selbst würde wissen, daß er’s geschafft hatte. Und aus Warrens Andeutungen über ›die höchste Stelle‹ war zu schließen, daß der Präsident informiert sein würde. Und wenn er versagte? Gefängnis? Tod? Er drehte sich um und blickte zu dem leeren Haus auf. Vielleicht hatte Warren recht: Was hatte er eigentlich zu verlieren? Singleton starrte in sein Glas. Leer. Warren hatte auch in bezug auf seine Trinkerei recht gehabt. Sein Entschluß stand jetzt fest. Er würde die Unterlagen wenigstens durcharbeiten. Als er wieder im Haus war, folgte er einem Impuls, legte das Steak in die Tiefkühltruhe zurück und mixte sich einen weiteren Drink – diesmal einen schwächeren. Dann machte er es sich in einem Sessel bequem und begann zu lesen.
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In den Vereinigten Staaten und in der Sowjetunion waren zwei kleine Ausschüsse zur Überwachung der Situation eingesetzt worden, die den ganzen Sonntag lang tagten. Sie hatten nicht den Auftrag, irgendwelche Maßnahmen einzuleiten, sondern sollten die ihnen übermittelten Tätigkeitsberichte auswerten, um Mängel aufzuzeigen oder Vorschläge für das weitere Vorgehen zu machen. Der amerikanische Ausschuß war größer, bestand aber trotzdem nur aus vier Männern: einem Staatsanwalt, einem pensionierten Polizeipräsidenten, einem langjährigen FBIAgenten und einem Vertreter der CIA-Abteilung Terrorismusbekämpfung. Keiner dieser Männer wußte, wie wichtig Ross war. Sie waren gebeten worden, sich bei ihrer Überwachungstätigkeit auf drei Probleme zu konzentrieren: die Fahndung nach den Geiselnehmern, die Namen und Aufenthaltsorte weiterer Terroristen, die unter Umständen verhaftet und als Faustpfand für einen Austausch genutzt werden konnten, und die Möglichkeiten für ›inoffizielle‹ Kontakte zwischen den Vereinigten Staaten und den Entführern. Der russische Ausschuß bestand aus drei Männern, die ebenfalls aus dem Aufklärungssektor stammten, da zu erwarten war, daß die zu lösenden Probleme diesen Bereich betreffen würden: ein Vertreter der Staatsanwaltschaft, ein Inspektor der Kriminalpolizei und ein hoher KGB-Offizier des Sonderdienstes Spionageabwehr der Ersten Hauptverwaltung. Wie die Amerikaner überwachten sie die Fahndung und suchten nach Möglichkeiten, direkt mit den Terroristen in Verbindung zu treten. Aber sie hatten noch einen weiteren Auftrag: Sie sollten Beweise für eine Verwicklung der Vereinigten Staaten in diesen Entführungsfall suchen. 113
Aus der ganzen Welt traf Material ein: die durch Computerfahndung ermittelten Namen möglicher Verdächtiger, Protokolle der Vernehmungen von Fluggästen sowie des Boden- und Bordpersonals, gelehrte Vermutungen über die mögliche Bedeutung des Namens, den die Entführer als Rufzeichen verwendet hatten, Einzelheiten über die Verhöre von in verschiedenen Staaten festgenommenen Terroristen und Sympathisanten … Viele dieser Informationen wurden geteilt; der weitaus größte Teil war beiden Ausschüssen zugänglich. Aber die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion behielten jeder auch einige Informationen für sich. Die Amerikaner verschwiegen zwei ihrer wichtigsten Hinweise. Der erste betraf den Schmuck, den die Frau getragen hatte. Ein mitfliegender Versicherungsinspektor, der Sachverständiger war, hatte ihn detailliert beschreiben können. Nachforschungen ergaben, daß zwei Stücke, auf die diese Beschreibung paßte, vor vierzehn Monaten in Brüssel gestohlen worden waren. Der zweite Hinweis bezog sich auf Douglas Nash, den toten Flugzeugentführer. Das FBI hatte festgestellt, daß innerhalb weniger Tage in fünf Krankenhäusern bei Einbrüchen Krankengeschichten gestohlen worden waren. Eines davon war das Krankenhaus, in dem Nash sich in Behandlung befunden hatte. Auch die Sowjets hatten einen Hinweis erhalten, den sie für sich behielten. Er betraf die beiden auf dem Flugplatz zurückgelassenen Jeeps, die sich als gestohlen erwiesen. Offiziell ermittelte die algerische Polizei mit dem Versprechen, die Ergebnisse ihrer Nachforschungen beiden Seiten zugänglich zu machen. Wegen ihrer großen Abhängigkeit von sowjetischer Hilfe erhielten die Algerier 114
jedoch in Wirklichkeit Anweisungen von den Russen. Die Sowjetunion verfügte über einen weiteren Trumpf, von dem jedoch nur Juri Woschtschankin, der KGBVorsitzende, und zwei weitere KGB-Angehörige wußten. Donald Sobers, der FBI-Vertreter in dem amerikanischen Überwachungsausschuß, war ein sowjetischer Agent, der alles meldete, was er dort erfuhr. Um 17 Uhr saß Singleton noch immer im Wohnzimmer, hatte um sich herum Papiere auf dem Teppich verstreut und hielt ein Schreibbrett auf den Knien. Es wurde allmählich kühl, und er hatte noch nicht zu Mittag gegessen, aber er war zu sehr in die Logistik des Problems vertieft, um Kälte oder Hunger zu spüren. Die von Warren gelieferten Informationen waren mager. Aber sie reichten aus, um ihn die Probleme erkennen zu lassen, so daß er sich überlegen konnte, was möglich sein könnte und was erforderlich sein würde. Das Gefängnis, in dem die im Januar gefaßten Terroristen inhaftiert waren, lag in Nordspanien – nördlich von Bilbao in Richtung Küste – und war erst vor wenigen Jahren fertiggestellt worden. Mit dem Bau war 1979 begonnen worden: in dem Jahr, in dem die Volksabstimmung über die Zukunft des Baskenlandes von den Kreisen abgelehnt worden war, die statt der Autonomie, wie sie die spanische Regierung gewähren wollte, völlige Unabhängigkeit forderten. Es war aus zwei Gründen gebaut worden: erstens, um die Basken zufriedenzustellen, die der Meinung waren, Häftlinge sollten im Lande bleiben (anstatt wie früher ins südlicher gelegene Soria abgeschoben zu werden), und zweitens, um höchste Sicherheit mit höchster Freiheit hinter den Gefängnismauern zu kombinieren und so den 115
Bürgerrechtlern im allgemeinen und den Basken im besonderen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die Haftanstalt war auf einem ursprünglich als Gewerbegebiet ausgewiesenen Gelände errichtet worden, das in einem Kilometer Umkreis planiert worden war. Dieser äußere Sperrkreis war mit einem doppelten Maschendrahtzaun und vergrabenen Sensoren gesichert. Das Gefängnis selbst war von einer sechs Meter hohen Mauer umgeben, auf der ein mit 2.300 Volt geladener Stacheldraht verlief. Überwacht wurde die Anlage von sechs Wachtürmen aus. Das planierte Gebiet wurde mit Scheinwerfern ausgeleuchtet und mit Fernsehkameras kontrolliert. Darüber hinaus gab es eine Infrarotsperre, die Alarm auslöste, wenn jemand ihren unsichtbaren Strahl durchschritt, und Fußstreifen mit Hunden. Im Gegensatz dazu herrschte im Gefängnis selbst recht große Freiheit. Da festzustehen schien, daß die Häftlinge niemals würden ausbrechen können, gewährte man ihnen viel Bewegungsfreiheit. Möglich wurde diese Freizügigkeit nicht nur durch die phantastischen Sicherheitsmaßnahmen, sondern auch durch die Tatsache, daß der größte Teil der Haftanstalt unter der Erde lag. Oberirdisch angelegt waren lediglich zwei Innenhöfe: ein großer für den Hofgang der ›normalen‹ Häftlinge und ein wesentlich kleinerer für gefährlichere Verbrecher. Im Augenblick gehörten zu dieser Kategorie nur die Terroristen. Ihre Zellen lagen unter der Erde und waren durch einen dreißig Meter langen Korridor mit dem kleinen Hof verbunden. Singleton registrierte alle diese Einzelheiten sorgfältig, studierte die Karten der näheren Umgebung und betrachtete die Luftaufnahmen der Haftanstalt. Wenige Minuten vor 18 Uhr war er plötzlich der 116
Überzeugung, das Unternehmen müsse zu schaffen sein. Einem Impuls folgend ging er nach oben, rasierte sich und zog sich um. Dann wählte er die Telefonnummer, die Warren ihm gegeben hatte. »Onkel Richard läßt bestellen, daß er gern zu der Party kommen würde«, sagte er. Singleton stand der Schweiß auf der Stirn, als er den Hörer auflegte. Aber er fühlte sich erleichtert. Er würde es riskieren. Die nächste Begegnung fand keine sechzehn Stunden nach diesem Gespräch statt. Es war bereits für den Fall vereinbart worden, daß Singleton zustimmen würde. Er fuhr mit seinem alten Ford den Beltway entlang, benutzte die Ausfahrt 32 und bog auf einen Parkplatz an der Landover Mall ab. Warren erwartete ihn dort bereits. Singleton stieg zu ihm ins Auto und nahm auf dem Beifahrersitz Platz. »Ich brauche dir wohl nicht zu sagen, wie …« »Schon gut, Cord. Du brauchst keine Ansprache zu halten. Falls wir’s schaffen, kannst du mich zum Abendessen einladen.« Sie sprachen eine halbe Stunde miteinander. Meistens hatte Singleton das Wort: Er zählte auf, welche weiteren Informationen er brauchte und welche Ausrüstungsgegenstände voraussichtlich erforderlich sein würden. »Okay«, sagte Warren schließlich. »Das läßt sich machen, George. Ich kann dir jetzt gleich deine Kontaktnummer geben. Sie ist Tag und Nacht erreichbar. Du brauchst nur zu fragen: ›Ist Mike schon unterwegs?‹ und die Nummer anzugeben, unter der du erreichbar bist. Ich rufe dort genau dreißig Minuten später an. Sollte die 117
von dir angegebene Nummer besetzt sein oder sich niemand melden, wirst du alle halbe Stunde angerufen, bis du dich meldest. Sobald du mit deinen Vorbereitungen fertig bist, legen wir andere Nummern im Ausland fest. Okay?« »Okay.« Warren sah auf seine Armbanduhr. »Die Mittagsmaschine nach Chicago könntest du noch erreichen«, stellte er fest. »Die nehme ich auch.« Beide wußten, daß Zeit ihr kostbarstes Gut war. Singleton öffnete die Beifahrertür und wollte aussteigen, aber Warren legte ihm eine Hand auf den Arm und hielt ihn zurück. »Noch was, George, das ich fast vergessen hätte. Wir haben noch zwölf Tage Zeit. Aber vielleicht sind wir doch nicht darauf angewiesen, daß du loslegst – vielleicht läßt die Sache sich auch anders regeln.« »Und?« »Und deshalb möchte ich, daß du das Unternehmen nicht ohne mein Einverständnis durchführst. Du wartest, bis ich das Zeichen zum Losschlagen gebe.« »Wann erfahre ich, ob die Sache steigt?« »Vielleicht erst am letzten Tag der gesetzten Frist.« »Und wie erfahre ich’s?« Warren machte eine nachdenkliche Pause, dann lächelte er leicht. »Ich schicke dir eine Nachricht«, versprach er. »Wenn’s dabei bleiben soll, nenne ich das Kennwort. Es lautet: ›Laß die Löwen los!‹«
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10 Auf der North Michigan Avenue peitschte ein böiger Wind strömenden Regen in die Gesichter der Passanten. 306 Meter über ihnen hatte Andrew Muntwick jedoch Sonnenschein vor den Fenstern seines Arbeitszimmers. Muntwicks Hauptquartier – Büro und Wohnung zugleich, denn die beiden gingen ineinander über – lag im 92. Stock des John Hancock Centers. Bis er dort eingezogen war, hatten die Büroetagen nur vom 13. bis 41. Stock gereicht. Indem er das ganze Gebäude gekauft hatte, war er in der Lage gewesen, sich das oberste Stockwerk für sich selbst zu reservieren. Dort hinauf führten nur drei Aufzüge: einer fürs Personal, einer für Muntwick persönlich und ein dritter für die wenigen Gäste. Der Personalaufzug war nur selten in Betrieb: Die drei Sekretärinnen, seine neun Leibwächter und das fünfköpfige Hauspersonal wohnten dort oben und kamen oft tagelang nicht in die Stadt hinunter. Muntwicks Schreibtisch, hinter dem er am Nachmittag des 4. April um 17.20 Uhr saß, war genau zehn Meter lang. Das wußte Muntwick, denn er hatte ihn in dieser Länge anfertigen lassen. Dahinter standen sechs identische Stühle in gleichem Abstand voneinander. Vor jedem Stuhl lagen ein Schreibblock, ein silberner Drehbleistift und ein unterschiedlich dicker Stapel Dokumente. So arbeitete Muntwick: Seine sechs momentan größten Probleme waren getrennt voneinander aufgereiht und warteten darauf, daß er sich ihnen widmete. An diesem Nachmittag saß Muntwick ganz links außen 119
und studierte einen handgeschriebenen Brief durch ein Vergrößerungsglas. Von Zeit zu Zeit hob er den Kopf und blickte durch eines der fast wandhohen Fenster. Im Winter gefiel ihm die Aussicht am besten: mit dem zugefrorenen Lake Michigan, über dem Flugzeuge zur Landung auf dem O’Hare International Airport einschwebten. Heute blickte er auf eine geschlossene Wolkendecke hinab. Alle paar Sekunden bewegte Muntwick das Vergrößerungsglas, um ein neues Wort zu betrachten. Dabei nickte er gelegentlich, bis er schließlich zufrieden war. Die Handschrift des Mannes bestätigte, was er über Singleton gehört hatte. Die senkrechte Schrift bewies Unabhängigkeit, die hohen Querbalken des Buchstaben ›t‹ verrieten Selbstbewußtsein, die geschlossenen Buchstaben ›a‹ und ›o‹ bestätigten, daß der Mann Geheimnisse bewahren und seine Gedanken verbergen konnte. Sogar die Häßlichkeit der eckig geformten Buchstaben gefiel ihm, weil sie zeigte, daß der Mann einen scharfen Verstand besaß. Muntwick hatte die Erfahrung gemacht, daß Menschen oft logen, aber ihre Schrift niemals trog. Trotzdem griff er jetzt unter seinen Schreibtisch und schaltete sein neuestes Spielzeug ein, damit es für Singletons Ankunft bereit war: einen Lügendetektor, der auf Stimmschwankungen ansprach. Die Wissenschaftler in einer von Muntwicks Tochtergesellschaften behaupteten, das Gerät habe eine Trefferquote von 85 Prozent. Zwar traute Muntwick der Graphologie zehnmal mehr zu als einem Lügendetektor, aber es stand für ihn so viel auf dem Spiel, daß er alle verfügbaren Mittel einsetzen mußte. Er zog eine goldene Taschenuhr aus der Westentasche und ließ den Deckel aufspringen. 17.37 Uhr. 120
Singleton sollte in acht Minuten kommen. Der Alte zweifelte nicht daran, daß sein Besucher auf die Minute pünktlich eintreffen würde. Das taten alle seine Besucher. Muntwick legte den Brief auf den Schreibtisch zurück und schlug einen Ordner auf, den Warren ihm übergeben hatte. Das eigens für ihn zusammengestellte Dossier war zwölf Seiten lang. Singletons Leistungen und Erfolge waren eindrucksvoll. Muntwick stellte befriedigt fest, daß der Mann geschieden war. Er hatte nie verstehen können, weshalb Männer es freiwillig in dieser Knechtschaft aushielten. Auf dem Schreibtisch blinkte ein orangerotes Licht: das Zeichen, daß der Besucher eingetroffen war. Aber Muntwick starrte weiter das Dossier an. Der Mann sollte warten. Das war keine Unhöflichkeit oder ein grundlegendes Bedürfnis, Singleton auf ihre unterschiedliche Stellung hinzuweisen – darüber war Muntwick längst erhaben. Der Milliardär war es jedoch gewöhnt, daß die Welt sich um ihn drehte, und akzeptierte diese Tatsache als sein gutes Recht. Wie hatte Warren Singleton bezeichnet? »Ein Opfer unserer Zeit.« Das gefiel Muntwick: ein Mann, der so feste Überzeugungen hatte – in seinem Fall in bezug auf die Gefahr, die der freien Welt von der machthungrigen Sowjetunion drohte –, daß er sich der geänderten Einstellung der politischen Führung nicht anpassen konnte. Muntwick teilte Singletons Auffassung, aber er wußte, daß man sich anpassen mußte. Die Chinesen waren seiner Ansicht nach nicht besser als die Russen, aber er arbeitete trotzdem mit ihnen zusammen. Obwohl er es für richtig hielt, sich selbst anzupassen, bevorzugte er als Angestellte Männer mit Singletons kompromißloser Haltung. Solche Leute waren leichter zu führen. 121
Das Licht blinkte noch immer, aber die Gegensprechanlage blieb stumm: In Muntwicks Arbeitszimmer wurde nur gesprochen, wenn er es wünschte. Er beugte sich nach vorn und schaltete mit einem Knopfdruck die im Raum verteilten Mikrofone ein. »Ich lasse Mr. Singleton bitten.« Auch Singleton hatte sich informiert. Er hatte in den Stunden zwischen seiner Ankunft und dem Termin bei Muntwick das Archivmaterial über den Industriellen in der Bibliothek der ›Chicago Tribune‹ studiert. Außerdem hatte er einen befreundeten Kolumnisten in New York angerufen. Aber weder das Archivmaterial noch dieses Gespräch hatten wesentlich neue Informationen gebracht. Muntwick schien nur ein einziges Interview gegeben zu haben; es war vor vierzehn Jahren in der Zeitschrift ›Fortune‹ erschienen. Selbst darin hatte er sich absichtlich vage ausgedrückt, und der Artikel war mit Details aus Muntwicks Anfangszeit – der am besten dokumentierten Periode seiner Karriere angereichert worden. Singleton fiel auf, daß die Zeitungsberichte sich in drei Phasen unterteilen ließen. Den Anfang bildeten frühe Meldungen, die sich auf den märchenhaften Aufstieg eines armen amerikanischen Jungen bezogen. Auf den zehnjährigen Andrew, der einen Teilzeitjob annehmen mußte, als sein Vater ins Krankenhaus kam und seine Mutter die Rechnungen nicht mehr bezahlen konnte; auf den Teenager Muntwick, den erfolgreichen Geschäftsmann … Dann folgte eine mittlere Periode, in der Muntwick es bereits geschafft hatte. Jetzt handelte es sich hauptsächlich um kritische Zeitungsberichte: Muntwick, der rücksichtslose Ausbeuter natürlicher Ressourcen, Muntwick, der Umweltsünder, Muntwick, der 122
Prototyp des geldgierigen amerikanischen Kapitalisten, der Wälder abholzen läßt, um Papier zu erzeugen; dessen Tanker die Weltmeere verseuchen, der in Ländern der Dritten Welt, in die er seine Fabriken auslagert, Hungerlöhne zahlt … Muntwick schien allgegenwärtig zu sein und verkörperte überall Ausbeutung. Die dritte Phase, deren Beginn etwa mit dem Ende der Amtszeit Nixons zusammenfiel, brachte eine neutralere Beurteilung Muntwicks. Zu diesem Zeitpunkt wurde er bereits als ›der reichste Mann der Welt‹ bezeichnet. Über seinen Sohn existierten nur wenige Pressemeldungen – allerdings wären es mehr gewesen, wie Singleton von seinem Journalistenfreund erfahren hatte, wenn Muntwick nicht einen ganzen Stab von PRLeuten damit beschäftigt hätte, den Namen des Jungen aus den Medien herauszuhalten. »Gerüchteweise hört man immer wieder, daß der Alte ihm damit droht, ihn zu enterben, wenn er nicht pariert«, hatte der New Yorker hinzugefügt. »Und was passiert dann?« hatte Singleton gefragt. »Nichts. Der Junge weiß, daß das leere Drohungen sind. Er weiß, daß auch der reichste Mann der Welt einmal sterben muß – und daß der Alte durch ihn unsterblich sein will. Ein hübsches Verhältnis, was? Und verrückt dazu! Der Vater rafft Milliarden zusammen und baut ein Imperium auf, um es einem Taugenichts zu hinterlassen.« Nein, weder das Archivmaterial noch das Telefongespräch hatten ihm wirklich weitergeholfen. Aber Singleton wußte, daß er damit wenigstens eines bewirkt hatte: Für den Fall späterer Nachforschungen hatte er eine eindeutige Verbindung zwischen sich und Muntwick hergestellt. Das gehörte zu dem Unternehmen, zu dem er sich verpflichtet hatte. Er sollte nicht nur versuchen, die in Spanien inhaftierten Terroristen zu befreien, er mußte 123
auch seine wahren Auftraggeber soweit irgend möglich tarnen. Die Empfangsdame unterbrach seine Überlegungen. »Sie können jetzt hineingehen.« Die zweiflügelige Schiebetür öffnete sich vor ihm. Er hatte kein Telefon klingeln, keine Gegensprechanlage summen hören. Als er sich umdrehte, sah er, daß die junge Frau eine Art Hörgerät trug, und erkannte, daß Muntwick sie auf diese Weise ständig erreichen konnte. Hinter der Tür lag ein Vorzimmer. Der wartende Leibwächter tastete Singleton ab, nahm ihm die Browning-Pistole weg, ohne überrascht zu sein, und erklärte ihm dabei: »Die kriegen Sie wieder, wenn Sie gehen.« Dann drückte der Mann auf einen Knopf und murmelte eine Zahl, die Singleton nicht verstand. Eine weitere Tür glitt zur Seite. Singleton trat vor und hatte einen dunkelroten Teppich unter den Füßen. Die übrige Einrichtung nahm er nicht bewußt wahr – Muntwick selbst war eine zu große Überraschung. Das ›neueste‹ Photo im Archiv der ›Chicago Tribune‹ hatte einen etwas unscharf abgebildeten Mann in mittleren Jahren an Bord einer Jacht gezeigt: mit einem Glas in der linken Hand, den rechten Arm um eine junge Frau gelegt. Dieser wahrscheinlich ein Vierteljahrhundert alte Schnappschuß war die einzige bekannte ›neuere‹ Aufnahme und wurde offenbar von jeder Zeitung verwendet, die einen Artikel über Muntwick brachte. Der Mann vor Singleton war hager, fast ausgezehrt, und wirkte sehr alt. Als er aufstand, um seinen Besucher zu begrüßen, was er mit altvaterischer Höflichkeit tat, fiel Singleton auf, wie ungewöhnlich groß er war. 124
Muntwick führte ihn vom Schreibtisch weg zu einer Sitzgruppe in Fensternähe. Singleton wußte von Muntwicks Kehlkopfoperation, aber er war nicht auf dessen Stimme vorbereitet. Ihre Kratzlaute schienen keinerlei Zusammenhang mit dem Körper zu haben, der sie hervorbrachte, und klangen wie eine schlechte mechanische Imitation einer Menschenstimme. »Ich weiß nicht, ob Sie rauchen, Mr. Singleton, aber falls Sie Raucher sind, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie nicht rauchen würden. Rauch ist schlecht für meine Kehle.« Dabei deutete er auf seine Brust. »Ich bin Nichtraucher und wäre sehr überrascht, wenn Sie das nicht wüßten, Mr. Muntwick. Ich wäre sogar überrascht, wenn Sie nicht wüßten, welche Schuhgröße ich habe und was ich heute morgen gefrühstückt habe.« Muntwick lachte – ein seltsamer, gurgelnder Laut. Er stand auf, trat an die Kaffeemaschine und schenkte eine Tasse ein. »Ich dachte, Sie würden einen Kaffee mögen, Mr. Singleton. Ohne Zucker, soviel ich weiß.« Er goß sich selbst ein Glas Mineralwasser ein und nahm dann in einem bequemen Sessel Platz. »Wie ich höre«, fuhr er fort, »haben Sie eine verrückte Idee, die mich interessieren könnte.« »Vielleicht. Ich habe sie erst amtlichen Stellen unterbreitet, aber denen war sie zu gefährlich. Man hat mir davon abgeraten.« »Erzählen Sie mir davon.« Singleton sah sich nachdrücklich besorgt um. Muntwick nickte verständnisvoll. »Sie können unbesorgt sprechen«, versicherte er. »Zu diesem Raum haben außer mir nur zwei Personen Zutritt. Gelegentliche Besucher wie Sie werden vorher durchsucht. Trotzdem wird der Raum 125
erneut überprüft, wenn Sie gegangen sind. Er ist abhörsicher, das können Sie mir glauben.« Singleton trank seinen Kaffee in kleinen Schlucken, sah sich vergebens nach einem Platz für die leere Tasse um und begann: »Wie Sie wissen, betrifft meine Idee die Flugzeugentführung mit anschließender Geiselnahme. Wie ich die Sache sehe, können weder wir noch die Sowjets nachgeben, selbst wenn der Druck noch stärker wird. Was den Präsidenten betrifft, hätte er ganz Amerika gegen sich, wenn er nachgeben würde. Wir haben es alle satt, herumgeschubst zu werden. Unser Stolz steht auf dem Spiel – und darüber hinaus ist das Schicksal der Geiseln den meisten Leuten ziemlich gleichgültig, wenn Sie ein offenes Wort entschuldigen. Wolkow – na ja, der ist ein Russe; Miss North – um die weinen wir ein paar Krokodilstränen, aber in Wirklichkeit genießen wir die Aufregung; Ihr Sohn …« Er machte eine Pause für den Fall, daß Muntwick etwas sagen wollte, aber der Alte schwieg. »Ich schlage vor, auf den ganzen bürokratischen Kram zu verzichten und gleich zum Kern des Problems vorzustoßen. Soviel ich weiß, interessieren Sie sich für die Geschichte des Altertums. Ich sehe das Problem als eine Art Gordischen Knoten. Andere bemühen sich, ihn aufzuknoten; ich möchte ihn durchschlagen.« »Und wie wollen Sie das schaffen, Mr. Singleton?« Warren, der dabei sichtlich nervös gewesen war, hatte Muntwick lediglich erzählt, Singleton habe sich erfolglos mit einem gänzlich unannehmbaren Vorschlag an die Regierung gewandt – mit einer verrückten Idee, die ihm, Muntwick, jedoch vielleicht einleuchten werde. Muntwick fand es nicht seltsam, daß der CIA-Direktor ihm das erzählt hatte. 126
Auf diesem Schleudersitz hatte sich keiner lange halten können. Er vermutete, daß Warren an seine Zukunft dachte und sich fragte, ob es im Muntwick-Konzern einen Job für ihn geben könnte. »Mein Vorschlag lautet, daß wir uns auf die Hauptforderung der Geiselnehmer konzentrieren, Mr. Muntwick: die Freilassung der im Januar geschnappten und jetzt in Spanien inhaftierten internationalen Terroristen. Ich bin davon überzeugt, daß wir Ihren Sohn zurückbekämen, wenn wir ihnen ihre Gesinnungsgenossen und das Geld, das sie verlangen, anbieten könnten.« »Wie wollen Sie die inhaftierten Terroristen freibekommen, wenn die Regierungen nicht mitspielen?« »Da würde ich den Knoten durchschlagen! Ich würde sie aus dem Gefängnis befreien – nachdem wir eine Vereinbarung mit den Geiselnehmern getroffen hätten, versteht sich.« Muntwick fragte nicht, ob Singleton sich das zutraute. Der Mann war sich seiner Sache offenbar sicher, sonst wäre er nicht zu ihm gekommen. »Und das Geld?« »Nach Ihren Begriffen eine Kleinigkeit, Mr. Muntwick. Wahrscheinlich würden Miss Norths Filmgesellschaft und die Angehörigen des Franzosen auch etwas beisteuern, aber ich möchte sie da lieber raushalten. Würden wir meinen Vorschlag in die Tat umsetzen, müßte der Kreis der Mitwisser möglichst klein gehalten werden.« Muntwick stand auf, trat an seinen Schreibtisch und zog eine Schublade auf, in der eine Konsole mit Drucktasten sichtbar wurde. Er gab eine Zahlenkombination ein. »Kommen Sie«, sagte er dann, »ich möchte Ihnen etwas zeigen.« Er führte Singleton zu einer der in die Rückwand 127
seines Arbeitszimmers eingelassenen Türen. Sie öffnete sich und gab den Blick in einen Vorraum frei, in dem ein Uniformierter Wache hielt. Dahinter glitt eine weitere Schiebetür leise zur Seite. Muntwick ging voraus. Die Tür schloß sich hinter ihnen. Um sie herum war es totenstill. Der rechteckige, etwa zwanzig Meter lange Raum war künstlich beleuchtet und hing voller Ikonen. »Ich komme hierher, wenn ich wahre Schönheit erleben, nachdenken und über die Zeitlosigkeit des Menschen meditieren will.« Muntwick faßte Singleton am Ellbogen und führte ihn weiter in den Raum hinein. »Verstehen Sie etwas von Ikonen, Mr. Singleton?« »Ich weiß nur, daß sie viel Geld kosten.« Der Alte zuckte mit den Schultern. »Das tut nichts zur Sache. Viele der heute angebotenen sind Schund. Seit dreihundert Jahren geht’s mit der Qualität bergab. Hier sehen Sie nur welche bis zum sechzehnten Jahrhundert.« Er blieb vor einer stehen. »Die hier stellt den heiligen Johannes und die Jungfrau Maria unter dem Kreuz dar. Ein Rubljow, Mr. Singleton. Ein weltbekanntes Meisterwerk der Malerei. Buchstäblich unbezahlbar.« Muntwick trat einen Schritt zurück. Seine Handbewegung umfaßte den gesamten Raum. »Das sind die Schätze, die mir mehr als alle anderen bedeuten. Außer mir bekommt sie nur selten einer zu sehen. Ein kleines Königreich.« Sein Blick war durchdringend, als er jetzt wieder den Besucher anstarrte. »Aber ich würde sie alle für meinen Sohn hergeben, Mr. Singleton. Verstehen Sie? Haben Sie verstanden?« 128
Seine krächzende Stimme hallte durch den stillen Raum. »Tun Sie also, was Sie vorgeschlagen haben. Geben Sie aus, soviel Sie brauchen. Zahlen Sie, was verlangt wird. Aber bringen Sie mir meinen Sohn zurück!«
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11 Der Algerier, der Mourad Chelif hieß, war leicht zum Sprechen zu bringen. Die beiden Polizeibeamten hatten ihn am frühen Nachmittag aus dem Vernehmungsraum in eine Villa in einem Park hoch auf den Hügeln über Algier gebracht. Sie knebelten ihn, zogen ihn aus und fesselten ihn auf dem Rücken liegend auf einen Tisch. Der ältere Uniformierte, der vor über drei Jahrzehnten auf ähnliche Weise von den Franzosen gefoltert worden war, legte die Elektroden an einem Finger und einer Zehe an und schaltete den Transformator ein. Chelif widerstand dem ersten Schock. Der Polizeibeamte löste die Elektrode von Chelifs Zeh, befestigte sie am rechten Ohrläppchen und schaltete den Transformator höher. Der Mann bäumte sich zitternd auf, seine Zähne knirschten laut. Wieder streckte der Beamte eine Hand aus, um den Transformator höher zu schalten. »Genug! Er packt bestimmt aus.« Der Mann, der diese Worte in algerisch gefärbtem Arabisch sprach, hatte einen iranischen Paß in der Tasche und hieß in Wirklichkeit Jakow Gosori. Er lehnte in einer Tür des verlassenen Hauses, das abgerissen werden sollte, um einer Wohnanlage Platz zu machen, und beobachtete die Szene so unbefangen, als handle es sich um etwas ganz Alltägliches. Tatsächlich hielt er jedoch nichts von körperlicher Folter. Sie war in den meisten Fällen unnötig – ein Wort, das zu seinen Lieblingsausdrücken gehörte. Darüber hinaus war sie nicht mehr zeitgemäß, was für ihn ebenfalls 130
eine Rolle spielte. Aber er mußte zugeben, daß sie diesmal zu wirken schien. Und sie war natürlich das einzige, was diese algerischen Barbaren beherrschten. Gosori haßte die Algerier – aber das war lediglich eine Folge der Tatsache, daß er seit Jahren als angeblicher Iraner in diesem Lande leben mußte. Er hätte die einheimische Bevölkerung jedes anderen fremden Landes ebenso gehaßt. Weder seine Stimme noch sein Gesichtsausdruck verrieten jedoch, was er empfand. »Bindet ihn los. Bringt ihn dann zu mir.« Gosori trat ins angrenzende Zimmer. Er hatte es in aller Eile provisorisch eingerichtet, bevor die beiden algerischen Polizeibeamten mit ihrem Häftling angekommen waren. Ein paar Möbelstücke, die den Abtransport nicht lohnten, waren im Haus zurückgeblieben; er hatte das Zimmer mit einem Tisch und einem Stuhl möbliert. Die Fensterläden waren geschlossen, aber durch ihre Lamellen fiel noch genügend Licht. Auf dem Tisch lag eine Schachtel dünner Zigarren. Gosori, wie viele Russen ein Kettenraucher, griff nach einer und zündete sie an dem noch brennenden Stummel zwischen seinen Fingern an. Nachdem er fast doppelt so lange, als es im allgemeinen als wünschenswert galt, als ›Maulwurf‹ gelebt hatte, hatten seine Hände vor Streß und wegen seiner Trinkerei zu zittern begonnen. Er war 46, aber er sah wie Mitte Fünfzig aus und litt in letzter Zeit unter depressiven Anfällen, die durch alkoholische Exzesse nur schlimmer wurden. Trotzdem leistete er weiter gute Arbeit – auch wenn er seit einiger Zeit schärfer überwacht wurde. »Noch zwei Jahre«, hatten die Verantwortlichen in der Moskauer 131
Zentrale entschieden. Sie hatten sich dazu entschlossen, weil Gosori fast nicht zu ersetzen war: Da er aus der zentralasiatischen Tadschikischen SSR stammte, ging er überall als Iraner durch. Und da seine Mutter, die aus Georgien stammte, ihm etwas von ihrem dunklen, mediterranen Typus vererbt hatte, konnte er sich notfalls auch als Algerier ausgeben. Der algerische Häftling wurde nackt und wimmernd durch die Tür geschleift. Die Polizeibeamten ließen ihn zusammensacken und blieben bedrohlich nahe bei ihm stehen, bis Gosori ihnen ein Zeichen gab, den Raum zu verlassen. Auf dem Tisch standen zwei Gläser, ein Krug Wasser und eine Flasche Anisette. Gosori schenkte ein Glas voll, bedeutete dem Algerier mit einer Handbewegung, er solle aufstehen, und gab es ihm. Chelif konnte das Glas nur mit Mühe halten. »Trink!« Gosori verschwendete keinen Gedanken darauf, ob der andere als Mohammedaner keinen Alkohol trinken durfte; in dieser Situation hätte wohl niemand einen Drink zurückgewiesen. Der Algerier versuchte zu trinken, aber der erste Schluck lief ihm zur Hälfte wieder aus dem Mundwinkel und vermischte sich mit dem dort fließenden Blut. »Trink aus!« Der Algerier hielt das Glas jetzt in beiden Händen. Sein Körper wurde noch immer von einem Schluchzen geschüttelt. Ein Teil des milchigweißen Getränks lief über seinen Körper, aber dann war das Glas schießlich doch leer. Der Russe nahm es ihm weg, bevor er sich selbst einen Drink einschenkte. »Rede!« forderte er Chelif auf. Der 132
Algerier sah rasch zu den geschlossenen Fensterläden hinüber. Gosori wußte genau, was der andere jetzt dachte: Er überlegte, ob dieser Mann vielleicht weicher war als die, die ihn gefoltert hatten. »Oder ich überlasse dich wieder den beiden«, fuhr Gosori gleichmütig fort, »damit sie weiter mit dir spielen können.« Er lächelte. »Das macht ihnen Spaß, weißt du. Einer von ihnen ist von den Franzosen beinahe zu Tode gefoltert worden. Seither ist er ein bißchen seltsam. Und er ist ein wirklicher Spezialist, bei dem du tagelang leiden müßtest. In dieser Zeit würdest du dir tausendmal den Tod wünschen …« Daß die Polizei diesen Algerier aufgespürt hatte, war ein Zufallstreffer gewesen. Daß Chelif ausgerechnet von den beiden Beamten festgenommen und verhört worden war, die Gosoris bezahlte Agenten waren, war unglaubliches Glück gewesen. Selbstverständlich wären die Russen ohnehin informiert worden, aber bis dahin hätten so viele andere davon erfahren, daß auch die Amerikaner früher oder später Wind davon bekommen hätten. Auf Chelif, einen polizeibekannten kleinen Ganoven, hatte die Personenbeschreibung eines Mannes gepaßt, der vor etwa zwei Wochen in der Nähe der Ölraffinerie in El Harrach, einem Industrievorort von Algier, durch sein verdächtiges Benehmen aufgefallen war. Wie die Polizei wußte, war einer der auf dem Feldflugplatz zurückgelassenen Jeeps auf dem Parkplatz eines Chemiewerks in El Harrach gestohlen worden. Nach seiner Festnahme durch die beiden Beamten hatte Chelif im Polizeipräsidium bereitwillig gestanden, den Jeep gestohlen zu haben; er behauptete jedoch, ihn lediglich für den Transport heißer Ware benutzt und danach irgendwo am Straßenrand stehengelassen zu haben. 133
Daraufhin war Gosori angerufen worden und hatte veranlaßt, daß Chelif rasch und unauffällig in die alte Villa auf den Hügeln gebracht wurde. Die Wahrheit kam ans Licht, während Gosori ein Zigarillo nach dem anderen rauchte, den beißenden Rauch tief einatmete und ein Glas Anisette nach dem anderen trank. Erst nach vier Stunden war er überzeugt, wirklich alles erfahren zu haben. Die Geschichte war unkompliziert. Chelif war von einem Mann angesprochen worden, den er unter dem Namen Amir kannte und der zu einem zweiten Treff einen Europäer mitgebracht hatte. Zum Glück hatte Chelif wie die meisten Ganoven ein geschultes Gedächtnis und konnte diesen Mann gut beschreiben. Der Europäer erteilte Chelif den Auftrag, ihm zwei Fahrzeuge, bevorzugt Jeeps, zu besorgen – voraussichtlich binnen drei Tagen, aber Ort und Zeitpunkt der Übergabe würden noch präzisiert werden. Chelif hatte diesen Auftrag prompt ausgeführt. Aber er hatte darüber hinaus einen weiteren bekommen, für den Gosori sich am meisten interessierte. Nachdem er die Jeeps wie vereinbart auf bestimmten Parkplätzen in Algier zurückgelassen hatte, war er gefragt worden, ob er bereit sei, einen weiteren Auftrag zu übernehmen: Er sollte in zwei Tagen einen herrenlosen Fiat in der Küstenstadt Dellys abholen, ihn 500 Kilometer weit nach Tlemôen fahren, wo der Wagen bei einem Autoverleih gemietet worden war, dort abstellen und die Schlüssel in den Briefkasten werfen. Dann sollte er mit dem Zug nach Algier heimfahren und alles vergessen, was geschehen war. Dafür hatte er ein fürstliches Honorar erhalten: 5000 Dollar. 134
Als Gosori endlich zufrieden war, stand er müde auf, reckte sich und öffnete die Tür zum Nebenzimmer. Die beiden Polizeibeamten hockten auf dem Boden, spielten Karten und tranken Kronenbourg-Bier aus der Flasche. Sie standen auf, als Gosori hereinkam. »Ich fahre jetzt«, sagte er. »Kein Wort über diese Geschichte, verstanden? Ihr seid nie hiergewesen. Die Verhaftung Chelifs hat sich als Irrtum herausgestellt, deshalb habt ihr ihn wieder freigelassen.« Der ältere Beamte nickte zu der Tür hinüber, durch die Gosori hereingekommen war. »Was wird aus ihm?« Gosori überlegte rasch. War noch viel aus ihm herauszuholen? Irgendwas gab es immer, aber er konnte sich nicht vorstellen, daß es wichtige Informationen waren. Sollte er Chelif Photos zeigen? Das wäre vielleicht nützlich gewesen, aber andererseits hatte der kleine Ganove eine sehr detaillierte Personenbeschreibung geliefert. Viel wichtiger war, daß Chelif auf keinen Fall mit anderen Leuten reden durfte. Solange er lebte, war dieses Risiko zu groß. »Liquidiert ihn«, entschied Gosori. Als er die Haustür hinter sich schloß und durch den Park davonging, hörte er hinter sich einsetzende gedämpfte Schreie.
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12 Obwohl Singleton den ganzen Tag nichts gegessen hatte, war er nicht hungrig. Aber als ihm mit seinem Drink eine Schale Nüsse serviert wurde, leerte er sie binnen weniger Minuten und verlangte eine weitere – nicht aus Hunger, sondern aus Nervosität. Es war 19.30 Uhr: eineinhalb Stunden nach seinem Besuch bei Muntwick und zweieinhalb Stunden vor dem Start der Maschine, mit der er nach Paris hatte fliegen wollen. Im Taxi vom Hancock Building zum Flughafen hatte er sich die Sache jedoch anders überlegt: Er flog jetzt nicht nach Paris, sondern zurück nach Washington. Während er seinen Bourbon in kleinen Schlucken trank und sich dazu zwang, ihn nicht zu kippen, versuchte er sich einzureden, daß diese Änderung seines ursprünglichen Plans praktisch keine Auswirkungen haben würde. Er würde kurz nach fünf Uhr aufstehen, ein paar wichtige Telefongespräche führen, die Neun-UhrConcorde zum Flughafen Charles de Gaulle erwischen und am Spätnachmittag – Ortszeit – in Paris sein. Singleton wußte aber, daß er auf jeden Fall so gehandelt hätte, selbst wenn Schwierigkeiten zu befürchten gewesen wären: Er mußte sie nach vier Jahren wiedersehen. Hinter seinem Wunsch steckte auch ein gewisser Aberglaube. Er war vor jedem Einsatz bei ihr gewesen und hatte das Gefühl gehabt, nur dann ganz lebendig und irgendwie geschützt zu sein, als wäre sie eine Art Glücksbringer für ihn. Noch stärker war das Bewußtsein, daß sie die einzige war, die ihm noch nahestand. Wer würde um ihn trauern, falls er diesmal umkam? Seine Exfrau? Singleton hoffte, daß sie sich liebevoll an ihn erinnern würde. Aber um ihn 136
trauern? Das bezweifelte er. In ihrer Ehe hatte er mehr genommen, als er hatte geben können. Als CIA-Angehörige – wenn auch nur als Sekretärin – hätte sie die Verhältnisse kennen müssen, aber sie hatte vor ihrer Ehe niemals geglaubt, daß sie sich so auf ihr Privatleben auswirken würden. Kleine Dinge, große Dinge: Die Auflage, daß er nicht über seine Arbeit sprechen durfte. Abgesehen von gelegentlichen Hinweisen, wenn sie wirklich unerläßlich waren, war es besser, wenn seine Frau so wenig wie möglich wußte. Als er zur Tarnung im Diplomatischen Dienst gearbeitet hatte, war es die unausgesprochene, aber trotzdem deutliche Verwunderung und der gelegentlich herablassende Tonfall der Frauen seiner Kollegen gewesen, deren Ehemänner befördert wurden, während er stillzustehen schien – wobei kein Außenstehender wußte, daß sein Dienstgrad lediglich eine Fiktion war. Dann die Anrufe mitten in der Nacht, die ihn wie einen Arzt im Sonntagsdienst aus dem Haus riefen. Die Reisen zu unbekannten Orten, von denen er vielleicht nie mehr heimkehren würde … Das Flugzeug landete einige Minuten zu früh in Washington – eine Tatsache, die Singleton aufatmen ließ, als wäre sie ein Beweis dafür, daß er das Richtige tat. Er stieg in eines der wartenden Taxis. Der Fahrer ließ sich die Adresse nennen, ohne ihn eines zweiten Blickes zu würdigen. Singleton hatte sich längst damit abgefunden, daß er durchschnittlich aussah; genau das gehörte nämlich zu den Eigenschaften, die aus ihm einen so guten CIA-Agenten gemacht hatten. In seinem Beruf war es am besten, so anonym wie möglich zu wirken. Singleton war stets stolz darauf gewesen, daß es Leute gab, die zwei- bis dreimal mit ihm zusammengekommen waren und jedesmal geglaubt hatten, ihn eben erst 137
kennenzulernen. Kate hatte nicht zu ihnen gehört. Vielleicht war sie deshalb etwas ganz Besonderes gewesen. Darum und natürlich wegen der Umstände. Das Taxi fuhr am St. Thomas Circus vorbei und bog nach rechts auf die Rhode Island Avenue ab. Es war 21.35 Uhr, und Singleton wußte, daß er eigentlich hätte anrufen sollen. Sie konnte ausgegangen sein, sie konnte einen anderen Mann bei sich haben. Sie konnte sogar verheiratet sein, obwohl er das bezweifelte. Diese Nachricht wäre sicher bis zu ihm durchgedrungen. Als sie sich kennenlernten, lebte Kate in McLean. Dann, ein Jahr nach dem Tod ihres Mannes, zog sie nach Brookland, wo sie jetzt noch wohnte. Singleton hatte damals bezweifelt, daß sie dort bleiben würde, aber sie hatte sich in diesem Viertel, das zu den wenigen innerstädtischen Arbeiterbezirken mit hohem Anteil an Weißen gehörte, offenbar gut eingelebt. Sie war Grundschullehrerin; soviel er wußte, arbeitete sie immer noch in ihrem Beruf. Die Straße, in der das Taxi jetzt hielt, war ruhig und noch ziemlich so, wie Singleton sie in Erinnerung hatte. Das Haus war frisch gestrichen. Neben der Tür gab es zwei Klingelknöpfe; Kate wohnte im ersten Stock. Als er klingelte, war er sich plötzlich des Koffers vor seinen Füßen bewußt. Auch früher waren seine Besuche fast immer mit einer Abreise aus Washington zusammengefallen, aber er hatte es nie so deutlich gezeigt. Die Nervosität, die er im Taxi vergessen hatte, überfiel ihn wieder. Er klopfte sich die Revers seiner Jacke ab und fuhr sich mit einer Hand übers Haar. Die mit einer Kette gesicherte Haustür öffnete sich einen Spalt. »Wer sind Sie? Was wollen Sie?« 138
Ihre Stimme war unverkennbar: tief, rauchig, leicht außer Atem – eine Stimme, die andere Frauen sofort mißtrauisch machte. Sie war die Folge einer Stimmbandentzündung, unter der Kate als Kind gelitten hatte, wie sie anderen Frauen oft vorbeugend erklärte, wenn sie Ehepaare kennenlernte. »George«, sagte er. »Ich bin’s – George.« Er hatte sich einige schöne Sätze zurechtgelegt, die jetzt aber vergessen waren. Vier Jahre nach ihrer letzten Begegnung glich er einem vor Schüchternheit sprachlosen Jüngling. Kate zögerte kurz, bevor sie die Sperrkette aushängte und die Tür weit öffnete, ohne sich von der Stelle zu bewegen. Sie trug Jeans und eine Bluse, hatte ihr Haar zu einem Knoten aufgesteckt – als er sie zuletzt gesehen hatte, war es kurz gewesen – und trug kein Make-up. »Genau im richtigen Augenblick!« behauptete sie und trat einen Schritt zur Seite. »Du läßt dir vier Jahre Zeit und kannst dir nicht mal ’nen Abend aussuchen, an dem ich hübsch bin.« Dann streckte sie die Hand aus, griff nach seiner und zog ihn ins Haus. »Komm rein«, sagte sie. »Ich mach’ dir einen Drink.« Es war 3.05 Uhr, und im Schlafzimmer war es dunkel, wenn der Raum nicht durch die Scheinwerfer eines der gelegentlich vorbeikommenden Autos erhellt wurde. Singleton spürte Kate, die nackt zusammengerollt neben ihm schlief, und roch noch immer die betäubende Duftmischung aus Schweiß, Sex und dem Southern Comfort, den sie ins Bett mitgenommen hatten – weit nach Mitternacht und in Gegenwart des anderen noch immer nervös. Er hatte den Wecker seiner Armbanduhr auf 4.45 Uhr gestellt, aber er war jetzt schon hellwach. Kurz nachdem 139
sie sich geliebt hatten, war er eingeschlafen: befriedigt und erleichtert darüber, daß sie selbst nach so langer Zeit noch gut zusammenpaßten, und in dem Bewußtsein, daß Kate wach war und ihn in den Armen hielt. Singleton tastete auf dem Nachttisch nach seinem Glas, bis seine Finger es in der Dunkelheit berührten. Er setzte es an die Lippen, kippte es, stellte fest, daß es noch halbvoll war, und schlürfte die hochprozentige Süße. Wie oft hatten sie sich im Lauf der Jahre geliebt? Wahrscheinlich hätte er die genaue Zahl ermitteln können, aber das hätte bedeutet, eine Verbindung zwischen ihren Nächten und seinen Einsätzen herzustellen, was er vermeiden wollte. Jedenfalls nicht öfter als ein Dutzend Mal. Ihre Beziehung war eigenartig; sie war es von Anfang an gewesen – und doch hatten sie beide etwas darin gefunden, nach dem sie sich gesehnt hatten. Kate Galbraiths Ehemann Teddy war ein Kollege Singletons gewesen, kein guter Bekannter, nur jemand, dem er gelegentlich auf dem Korridor begegnete oder mit dem er mittags an einem Tisch saß, wenn sie beide in Langley waren. Dann sahen sie sich 1979 im Libanon wieder. In dem Jahr nach Debbies Tod hatte Singleton sich absichtlich um alle möglichen Kurzaufträge bemüht. Er konnte ihren Tod nicht überwinden – sie war an einer normalerweise nicht tödlichen Krankheit gestorben; seine Freunde bemühten sich, ihn damit zu trösten, daß sie an seiner Stelle ebenfalls nicht sofort heimgekehrt wären. Im Libanon trafen sich Singleton und Galbraith mit einem Schiiten, der sich in der Vergangenheit als gute Informationsquelle erwiesen hatte. Keiner der beiden konnte ahnen, daß der Mann verrückt war – daß er vor ihren Augen den Sicherungsstift aus einer Handgranate ziehen würde. Galbraith kam um, als er sich auf ihn stürzte; der Schiite verlor das Augenlicht; Singleton, der 140
durch Galbraith abgeschirmt war, kam mit einem Kratzer über dem linken Auge und partieller Taubheit davon, die auch ohne Behandlung nach zwei Wochen wieder verschwand. Der tote Galbraith, der wie Singleton als Angehöriger des Diplomatischen Dienstes geführt war, wurde nach Washington zurückgeflogen. Nach offizieller Darstellung war er jedoch nie im Ausland gewesen. Sogar seiner Frau gegenüber wurde behauptet, er sei während eines Seminars in San Diego bei einem Hotelbrand umgekommen. Obwohl Galbraith ihm das Leben gerettet hatte, hätte Singleton wohl nichts unternommen, wenn Debbies Tod nicht gewesen wäre. Er redete sich ein, Galbraiths Frau werde ihren Schmerz besser überwinden, wenn sie das Bewußtsein haben könne, der Tod ihres Mannes habe irgendeinen Sinn gehabt – selbst wenn es ein ihr Unbekannter war, den ihr Mann gerettet hatte. Deshalb hatte er sie vorschriftswidrig besucht – lange nach Einbruch der Dunkelheit, denn einige ihrer Nachbarn arbeiteten ebenfalls bei der ›Firma‹ und hätten ihn erkennen können. Kate Galbraith ließ sich nicht anmerken, ob sein Besuch und sein Bericht über den Tod ihres Mannes ihr halfen; sie dankte ihm jedoch höflich und versicherte ihm, sie würde sich über weitere Besuche freuen. Singleton besuchte sie gelegentlich wieder, aber sie gingen erst miteinander ins Bett, als Kate nach Brookland umgezogen war. Und danach entwickelte sich ein merkwürdiges, unregelmäßiges, aber klar definiertes Ritual: Er rief an, wenn er im Begriff war, zu einem Einsatz abzureisen, und sie war stets allein, wenn er zu ihr kam. Er wußte niemals, ob sie eine Verabredung abgesagt oder sogar jemanden 141
weggeschickt hatte. Sie redeten viel, aber nur über Kleinigkeiten, und Kates Verhalten ließ immer erkennen, daß sie nie damit rechnete, ihn wiederzusehen. Einige Stunden später ging Singleton, und Kate schien stets zu schlafen. Die Leuchtzeiger seiner Armbanduhr standen auf 3.40 Uhr. Das Glas war leer. Er hatte Lust auf einen weiteren Drink. Er schlüpfte aus dem Bett und schlich vorsichtig zur Tür. Er stieß gegen die Kommode und fluchte halblaut vor sich hin, aber Kate atmete gleichmäßig weiter. Im Bad hing ein Frotteebademantel, den er anzog, bevor er durch die Diele ins Wohnzimmer weiterging. Die Flaschen standen auf einem Servierwagen am Fenster, und er schenkte sich einen doppelten Scotch ein, bevor er in seiner Ratlosigkeit einen Rundgang durch den Raum begann. Kates Wohnzimmer wirkte seltsam unpersönlich, als habe sie sich bewußt von all den Andenken und Kuriositäten getrennt, die einen Teil der Vergangenheit der meisten Menschen ausmachen. Das einzige Photo zeigte nicht Teddy, sondern ihre Eltern, die im Vergleich zu der letzten Aufnahme, die Singleton kannte, sehr gealtert waren. Am aufschlußreichsten waren die Stapel mit Büchern, Zeitungen und Zeitschriften. Ein flüchtiger Blick zeigte Singleton Bücher von Leo N. Tolstoi und Harold Robbins, ›The National Review‹ und ›Reader’s Digest‹, eine Filmzeitschrift und ein Reisemagazin. Er erinnerte sich mit einem Lächeln daran, daß Kate eine Frau war, die unterschiedslos jegliche Art von Lesestoff verschlang, als ob ihr allein der Akt des Lesens schon Befriedigung verschaffte. »Mein Mittel, mich zu entspannen«, hatte sie ihm einmal erklärt. »Teuer, aber immer noch billiger als 142
Alkohol oder Drogen.« Er blieb vor einem Zeitungsstapel stehen und wunderte sich über die ›St. Petersburger, Florida, Times‹, bis ihm einfiel, daß das ihre Heimatstadt war und daß Kate ihm erzählt hatte, ihre Eltern bezahlten ihr seit Jahren das Abonnement – offenbar in dem Glauben, solange diese Verbindung fortbestehe, sei nicht auszuschließen, daß Kate eines Tages wieder nach St. Petersburg heimkehre. Und hatte sie nicht auch von einer persönlichen Bindung gesprochen? Von einem Journalisten, der bei dieser Zeitung arbeitete, mit dem sie aufgewachsen war, in dem ihre Eltern bereits ihren Zukünftigen gesehen hatten? Leger, Ralph Leger. Das war der Name. Singleton erinnerte sich an ihn, weil der Journalist im Vorjahr für eine Serie über den Mißbrauch medizinischer Datenbanken mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet worden war. Er hörte, wie die Tür hinter ihm geöffnet wurde. Kate kam mit auf die Schultern herabhängendem Haar und verschlafen blinzelnd herein. Sie trug sein Hemd. Auch ohne Schuhe war sie fast so groß wie er, und der Saum endete zwei Fingerbreit über ihrem dunklen Schamhaar. »Du siehst aus wie eine, die gebumst worden ist«, stellte Singleton fest. Sie ignorierte seine Bemerkung, fand ihre Zigaretten und zündete sich eine an. »Es ist erst kurz vor vier«, sagte sie dann. »Du hast fünf Uhr gesagt. Du fängst doch nicht etwa an, mich zu belügen?« Singleton erkannte, daß Kate sich oft nur schlafend gestellt hatte, wenn er die Wohnung verlassen hatte. »Ich hab’ nicht schlafen können.« Er zuckte mit den Schultern, führte sein Glas an die Lippen und nahm einen 143
kleinen Schluck. »Und ich hab’ vermutlich ’nen Drink gebraucht. Ich werde alt, Kate. Ich drehe allmählich durch.« Sie hatten nie über seine Arbeit oder die ihres verstorbenen Mannes geredet, aber die Agency hatte stets unausgesprochen im Hintergrund gestanden. »Du bist noch dabei?« fragte Kate jetzt. »Du hast nicht gekündigt?« »Doch, ich habe gekündigt. Das hat gestimmt.« Er wartete auf eine Reaktion, aber Kate schwieg. Es widersprach seiner Ausbildung, seiner Persönlichkeit, dem Leben, das er 21 Jahre geführt hatte, aber er mußte irgend etwas sagen. »Dies ist nur ein allerletzter Auftrag. Ich mußte ihn übernehmen.« Sie drückte ihre Zigarette aus. »Um der Vergangenheit willen? Für Geld? Des Nervenkitzels wegen? Um irgendwelcher Ideale willen?« Er schenkte sich Whisky nach und trank einen Schluck pur, während er sichtlich konzentriert über Kates Fragen nachdachte. »Wegen irgendwelcher Ideale, glaube ich«, antwortete er schließlich. »Und vielleicht auch ein bißchen um der Vergangenheit willen – um zu beweisen, daß ich’s noch kann.« Sie nahm ihm das Glas weg und griff nach seiner Hand. »Komm wieder ins Bett«, forderte sie ihn auf. »Wir haben noch eine Stunde Zeit.« Sie bewegte sich nicht, als Singleton um 5.15 Uhr aufstand. Und sie schien noch immer fest zu schlafen, als er sie zwei Stunden später nach einer ganzen Serie von Telefongesprächen mit Teilnehmern in Europa auf die Wange küßte und ihr Haus verließ, um in das wartende Taxi zu steigen. 144
Gosori stolperte aus dem Nachtzug aus Algier, halbwegs wach, aber wegen der Mischung aus Scotch und Schlaftabletten noch immer verkatert. Trotzdem war er befriedigt, weil er überhaupt geschlafen hatte. In den letzten Monaten hatte er häufig unter Schlaflosigkeit gelitten. Tlemôen in der Nähe der algerischen Westgrenze war seine – und keineswegs nur seine – Lieblingsstadt in diesem Land: mit Kuppeln und Minaretten, zinnengekrönten Mauern, drangvoll engen Suks mit Sandalenmachern, Webern, Kupferschmieden … Es war die arabischste aller algerischen Städte – geradewegs aus ›Tausendundeine Nacht‹. Gosori frühstückte in einem Straßencafe, bevor er sich auf den Weg zu dem Autoverleih in einer Seitenstraße der Avenue Commandant Faredj machte. Das Personal bestand aus zwei Männern, von denen einer mit einem Kunden beschäftigt war. Gosori zeigte dem anderen einen Geheimpolizeiausweis vor und wurde sofort in das kleine Büro hinter der Theke komplimentiert, wo er Pfefferminztee angeboten bekam. Der Filialleiter machte einige Minuten lang höflich Konversation, bevor er fragte: »Kann ich Ihnen behilflich sein?« Gosori schlürfte seinen Tee und nickte. »Sie haben einen Fiat mit dem Kennzeichen zwo-neun-vier-eins-sechs-vier Z vermietet. Er ist am 25. März spätabends zurückgebracht und draußen abgestellt worden. Ich möchte den Mietvertrag sehen.« »Ist was nicht in Ordnung? Der Wagen ist unbeschädigt zurückgekommen.« »Zeigen Sie mir den Vertrag!« 145
Der Filialleiter zog ein Fach seines grauen Karteischranks auf, und Gosori stellte wieder einmal zufrieden fest, daß die Algerier die französische Leidenschaft für Bürokratie geerbt hatten. Schon nach kurzer Zeit hielt er eine Durchschrift des Mietvertrags in der Hand. Als Mieter war ein gewisser Georges Heidweiller genannt. Er wohnte angeblich in Algier, aber Gosori wußte schon jetzt, daß die Adresse sich als falsch erweisen würde. Er überflog den Vordruck. Staatsbürgerschaft: Niederländer. Reisepassnummer … Das Kästchen ›Kreditkarte‹ war nicht ausgefüllt. »Er hat bar bezahlt?« Der Filialleiter ließ sich den Vordruck geben, überflog ihn und nickte. »Ja, er hat sogar noch ein kleines Guthaben. Ich weiß nicht, ob wir’s ihm schon überwiesen haben.« »Beschreiben Sie ihn mir bitte?« »Wir haben so viele Kunden …« Trotzdem deckte die Personenbeschreibung sich in den meisten Punkten mit der Chelifs. »Hat er gesagt, wohin er fahren wollte?« »Nein, er hat nur von einer kleinen Rundfahrt gesprochen.« »Welche Sprache hat er gesprochen?« »Französisch.« Irgend etwas im Tonfall des anderen ließ Gosori nachfragen: »Und …?« »Das hat vielleicht nichts zu bedeuten, aber sein Französisch hat nicht wie das eines Holländers geklungen. 146
Es ist zu gut gewesen. Oh, er kann natürlich ein Sprachtalent gewesen sein, aber es ist zu … zu französisch gewesen.« »Idiomatisch?« »Richtig, das Wort habe ich gesucht!« Gosori faltete den Mietvertrag zusammen und steckte ihn ein. »Ist das die einzige Kopie?« »Wir haben noch eine.« Der Filialleiter begriff allmählich, was hier vorging. »Suchen Sie sie raus.« Der Mann gehorchte, und Gosori nahm sie ihm ab. »Sie haben diesen Kerl nie gesehen. Sie haben ihm niemals ein Auto vermietet. Ist das klar?« Er bemerkte die Angst im Blick des anderen. »Jetzt möchte ich den Wagen sehen, falls er da ist.« Der Fiat war da. Das Flugzeug war eine zwölfsitzige Beechcraft, aber Singleton war der einzige Passagier. Die Maschine hatte für ihn bereitgestanden, als er auf dem Flughafen Charles de Gaulle angekommen war; kaum eine Stunde nach dem Start setzte sie jetzt in Clermont-Ferrand zur Landung an. Singleton hatte den privaten Charterflug mit einer Kreditkarte bezahlt, ohne sich sonderlich für die Höhe des Rechnungsbetrags zu interessieren, da Muntwick letztlich alle Kosten tragen würde. Der Flug – zuerst mit der Concorde nach Paris, dann der kurze Luftsprung von Paris aus nach Süden – hatte ihm Gelegenheit gegeben, in Ruhe nachzudenken und zu planen. Die Concorde war nur zu zwei Dritteln besetzt gewesen, so daß er sich Notizen hatte machen können, ohne 147
befürchten zu müssen, daß sie mitgelesen wurden: eine Liste mit dem benötigten Gerät (die von Warren inzwischen schon bearbeitet wurde), die Namen der Männer, die er aufsuchen mußte: nur drei, wenn alles gut klappte – zwei als Helfer, einen als Verbindungsmann zu den Geiselnehmern –, aber auch dafür würde er drei kostbare Tage brauchen. Und was war, wenn sie nicht gleich erreichbar waren? Er hatte personelle Reserven, aber er zog es vor, dieses Thema aus seinen Gedanken zu verdrängen. Singleton blieben bestenfalls acht Tage Zeit für die Durchführung des Unternehmens; er war sich darüber im klaren, daß er danach mit größter Wahrscheinlichkeit in die Staaten zurückkehren mußte. War das zu schaffen? Immerhin konnten die anderen ihre Aufgaben weiter verfolgen, während er fort war. Als er schließlich davon überzeugt war, daß die Sache klappen würde – er hatte sogar zwei Karenztage eingeplant für den Fall, daß es unvorhergesehene Probleme gab –, zerriß er seine Notizen, löste sie im Waschbecken zu Brei und spülte sie in der Toilette hinunter. Erst dann gestattete er sich, an Kate zu denken. Nun war er zu einem der drei Männer unterwegs. Auf dem Flugplatz Clermont-Ferrand stand ein unauffälliger Peugeot für ihn bereit. Der Fahrer, ein ehemaliger Fremdenlegionär, den Singleton als Farrells Chauffeur und Leibwächter kannte, sprach unterwegs nur wenig. Der Berufsverkehr war bereits abgeflaut, so daß sie die bebauten Gebiete rasch hinter sich ließen. Der Chauffeur fuhr schnell und konzentriert durch die bewaldete Hügellandschaft, in der sie nach halbstündiger Fahrt die tannengesäumten Waldseen erreichten. Das auf einer Lichtung mit Seeblick erbaute Haus war über eine lange, schmale Zufahrt zu erreichen. Farrell 148
wartete vor der Tür, als der Wagen hielt. Singleton hatte ihn drei Jahre nicht mehr gesehen, aber Farrell hatte sich nicht im geringsten verändert. Er war klein und gedrungen und hatte ein breites Gesicht unter schwarzen Locken. Seine Nase war schief, weil sie nach einem Nasenbeinbruch schlecht eingerichtet worden war. Die beiden Männer waren gleich alt – 48 Jahre –, aber Farrell, ein Amerikaner irischer Abstammung, hätte Mitte dreißig sein können. Sein faltenloses Gesicht wirkte jungenhaft, als hätte er ein Leben ohne Streß, Gefahr und Angst geführt. Wie Singleton recht gut wußte, trog dieser Eindruck gewaltig. Die beiden Männer hatten sich Mitte der sechziger Jahre in Vietnam kennengelernt. Damals hatte Farrell bereits eine gescheiterte Ehe, einen Bankrott mit einem Lufttransportunternehmen und einen gescheiterten Versuch, nicht mehr zu trinken, hinter sich. Farrell hatte zu den Männern gehört, die auf der Flucht vor ihren eigenen Problemen nach Vietnam gekommen waren. Dort hatte er für die CIA zu arbeiten begonnen und zugleich seine Schmugglerkarriere angefangen, die er weiter ausgebaut hatte, nachdem er Vietnam angewidert verlassen hatte, weil er miterlebt hatte, wie ein befreundetes Dorf aus der Laune eines Leutnants heraus dem Erdboden gleichgemacht worden war. Sein Schmugglergeschäft war seither zu einem kleinen Imperium mit Büros in Zürich, Paris und Berlin geworden. Er brachte Gold nach Frankreich, Spanien, Italien, Marokko und in die Türkei; er schmuggelte Diamanten, kassierte dafür einen gewissen Prozentsatz ihres Wertes und trug sämtliche Risiken bis hin zum Schadenersatz für den Fall, daß die Sendung abgefangen wurde; und er brachte Menschen über Grenzen. 149
Farrell begrüßte Singleton herzlich und führte ihn ums Haus in einen kleinen, von Hecken umgebenen Garten mit Seeanschluß. Unterdessen war es fast dunkel. Farrell zündete eine Schiffslaterne an, die an einem Wandarm über dem aus massiven Planken gezimmerten Tisch hing. In einer Wanne lagen Bierflaschen zwischen schmelzenden Eisbrocken. Farrell zog wortlos eine Flasche heraus, hebelte den Kronenverschluß ab und gab sie Singleton mit einem Glas. Singleton war noch nie in dem Haus gewesen; er wußte erst seit seinem Anruf, daß es existierte. »Ich bin nicht leicht zu erreichen«, sagte Farrell. »Tut mir leid. Dies ist mein Refugium. Hierher kommen nur selten Leute.« Er sprach noch immer mit leichtem irischen Akzent. Seine Worte klangen freundlich, aber ihre Bedeutung war klar: Farrell hoffte, daß Singleton ihn aus guten Gründen in seiner Ruhe gestört hatte. Singleton trank sein Bier schnell und griff nach einer weiteren Flasche. »Darf ich?« »Klar. Alles Selbstbedienung.« Hinter ihnen raschelte etwas. Singleton drehte sich um und sah eine junge Frau Anfang zwanzig: sehr klein und schlank in einem bodenlangen weißen Kleid. Sie trug eine Platte Hors d’oeuvres, die sie auf den Tisch stellte. Dann nahm sie Farrells Hand und drückte sie zärtlich. »Martine«, sagte Farrell, »meine Frau.« Er sprach Französisch mit ihr, bevor er sich wieder an Singleton wandte. »Sie kann kaum Englisch. Ich habe ihr erzählt, daß wir alte Freunde sind.« Singleton nickte wieder. Er sprach ebenfalls 150
Französisch, aber es war nicht seine Art, freiwillig Informationen preiszugeben. Man wußte nie, wann sich das einmal auszahlte. Martine ging ins Haus zurück. »Ich hab’ nicht gewußt, daß du verheiratet bist«, sagte Singleton. »Ich bin’s – und wir sind’s nicht.«, antwortete Farrell. Er grinste über Singletons verständnislose Miene. »Ich habe vor vielen Jahren geheiratet«, erklärte er ihm. »Sie lebt nach wie vor in den Staaten. Als gute Katholiken lassen wir uns natürlich nicht scheiden. Das stört mich nicht weiter. Sie stellt keine allzu großen Ansprüche. Martine lebt mit mir zusammen. Die Einheimischen halten sie für meine Frau und finden es bedauerlich, daß ich so viel auf Reisen bin. Aber sie hat ihre Eltern in der Nähe.« Er deutete in den Wald. »Ich hab’ ihnen dort oben ein Haus bauen lassen. Sie scheinen mit dieser Lösung ganz zufrieden zusein.« Er schenkte sich ein zweites Bier ein und griff nach einem der Kanapees. Für einen so stämmigen Mann waren seine Bewegungen unglaublich graziös. Singleton erinnerte sich an die ruhige Gelassenheit, mit der Farrell einmal mit seinem Hubschrauber in eine winzige Lichtung heruntergegangen war, ohne sich durch loshämmerndes feindliches MG-Feuer aus der Ruhe bringen zu lassen. »Du bleibst doch zum Abendessen? Martine ist eine gute Köchin. Und wir haben ein Gästezimmer.« »Falls du mich in deiner Nähe haben willst, wenn ich dir erzählt habe, weshalb ich hier bin.« »Ich gebe zu, daß ich mich das schon gefragt habe.« Singleton erklärte ihm das Unternehmen so knapp wie möglich und betonte dabei, daß er für Muntwick arbeitete. »Wie kommst du auf mich? Und warum sollte ich daran 151
interessiert sein?« Singleton hätte den finanziellen Aspekt herausstreichen können: Konnte nicht auch ein reicher Mann eine zusätzliche Million Dollar brauchen? Aber er tat es nicht, weil Farrell damit nicht zu ködern gewesen wäre. »Weil«, sagte er langsam, »ich den verdammt besten Hubschrauberpiloten der Welt brauche.« Sie sprachen bis tief in die Nacht hinein und nochmals am nächsten Morgen, bevor Singleton zum Flugplatz Clermont-Ferrand zurückgefahren wurde. Farrell erklärte sich erst in letzter Minute zum Mitmachen bereit – aber er ließ praktisch von Anfang an erkennen, daß er den Köder geschluckt hatte. Wie Singleton gefielen ihm die Aufgabe und die Idee, sich für etwas einzusetzen. Je größer sein Schmugglerimperium geworden war, desto weniger hatte er noch mit den eigentlichen Unternehmen zu tun. Die meiste Zeit fungierte er als ehrenwerter, etwas langweiliger Geschäftsmann, der Kostenvoranschläge machte und potentielle Kunden zum Lunch einlud. Als er den Lageplan des Gefängnisses sah, erkannte er sofort, weshalb Singleton einen Hubschrauber brauchte: Das war die einzige Chance. Selbst dabei gab es noch Risiken. Ein Wachturm mußte außer Gefecht gesetzt werden; wenn irgend möglich mußten gleichzeitig Störmanöver innerhalb des Gefängnisses stattfinden. Entscheidend waren jedoch Schnelligkeit und die Geschicklichkeit des Piloten. Sie sprachen auch über ein näherliegendes Problem, das vor dem Ausbruch gelöst werden mußte: Wie ließ sich ein Hubschrauber in Spanien beschaffen oder ins Land bringen? »Dort gibt’s bestenfalls zwei Dutzend Privathub152
schrauber«, sagte Farrell und bestätigte damit eine Zahl, die Singleton bereits kannte. »Und die werden genau kontrolliert und bewacht. Wir müssen mit einem eigenen kommen.« Das hatte Singleton sich bereits überlegt, aber er schwieg, um Farrell Gelegenheit zu geben, sich immer mehr zu engagieren. Schließlich waren sie sich einig. Farrell sah von seinem Kaffee auf und grinste, obwohl er übermüdet war. »Verdammt noch mal!« sagte er. »Ich glaub’, wir könnten es schaffen!« »Das glaube ich auch.« »Wieviele Leute willst du noch anheuern?« »Ich möchte mit einem weiteren Mann auskommen. Er müßte eine Doppelaufgabe übernehmen. Je weniger, desto besser.« Farrell stieß einen leisen Pfiff aus. »Er müßte verdammt gut sein …« »Ich hab’ an Kemp gedacht«, erklärte Singleton.
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13 Das Haus stand einsam: hoch auf den South Downs, etwas über 50 Meilen von London entfernt. Das Haus und die hohe Mauer, die den langgestreckten Garten umgab, waren massiv aus Stein erbaut, um dem Wind trotzen zu können. »Soll ich dableiben?« fragte der Taxifahrer, der Singleton aus dem drei Meilen weit entfernten Dorf hergebracht hatte. »Nein. Wenn er nicht zu Hause ist, warte ich auf ihn.« Der Posthalter im Dorf hatte Singleton erzählt, er habe Kemp morgens gesehen. Singleton warf einen Blick auf seine Armbanduhr: fast 12.30 Uhr. Er blieb am Gartentor stehen, bis das Taxi außer Sicht war, und genoß die gleiche Stille wie vor sechseinhalb Stunden, als er Farrells Haus verlassen hatte. Sein Koffer stand in der Gepäckaufbewahrung auf dem Londoner Victoria-Bahnhof. Er folgte dem Plattenweg, atmete den Duft von Wildblumen ein, hob die Hand, um auf den Klingelknopf zu drücken, und stellte fest, daß die Haustür nur angelehnt war. Singleton stieß die Tür auf. Dahinter lag eine große Diele, düster, geräumig und kühl. Ihre Wände waren mit alten Waffen behängt. Er öffnete die beiden ersten Türen. Die Räume dahinter waren leer. Der dritte Raum am Ende des Flurs war fast völlig abgedunkelt, aber Singleton betrat ihn trotzdem und blieb an der Tür stehen. Kemp war in einer Ecke – nackt bis auf eine Unterhose. Er stand mit geschlossenen Augen auf dem Kopf. 154
Singleton war keineswegs dick, aber Kemp schien nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen. Rippenkäfig, Bauchfell und Schulterknochen zeichneten sich erschreckend deutlich ab. »Was stehst du an der Tür herum, George?« fragte Kemp, ohne die Augen zu öffnen. »Komm rein! Kümmer dich nicht um mich. Ich kann so besser denken.« Singleton schloß die Tür hinter sich und blieb abwartend stehen. Seit ihrer letzten Begegnung hatte Kemp sich einen Bart wachsen lassen, der rot-grau gefleckt war. »Du hast gewußt, daß ich kommen würde?« »Ich bin aus dem Dorf angerufen worden. Mit genauer Personenbeschreibung. Diese Leute respektieren meinen Wunsch nach ungestörtem Privatleben.« Rechts neben Singleton raschelte plötzlich etwas laut. Er drehte sich nervös danach um und hob instinktiv die Hand, als wolle er sich verteidigen. »Immer mit der Ruhe, George«, mahnte Kemp, der jetzt die Augen öffnete und mit Schwung wieder auf die Beine kam. »Er tut dir nichts. Er sitzt gern hier bei mir, aber plötzliche Bewegungen machen ihn nervös.« Singleton starrte noch immer in die grausamen Augen, die aus dem Halbdunkel leuchteten, wo ein riesiger Adler auf einer Stange saß. Er trat einen Schritt zurück und beobachtete aus dem Augenwinkel heraus, wie Kemp nach seinen auf einen Stuhl geworfenen Sachen griff und in Jeans und das Oberteil eines Jogginganzugs schlüpfte. Der Adler blieb auf seinem Platz. Singleton konnte nicht erkennen, ob der Raubvogel angekettet war; er sah nur, daß der Adler ihn unablässig beobachtete, und war sich seiner Krallen bewußt. 155
Kemp trat an ein Regal, griff nach etwas, ging damit auf den Adler zu und bot es ihm mit ausgestreckter Hand an, während er halblaut auf ihn einredete. Der Greifvogel riß seinen Schnabel auf, und Singleton sah, daß Kemp ihn mit einem rohen Fleischhappen fütterte. »Komm!« forderte Kemp ihn von der Tür aus auf. »Ich möchte dir etwas Schönes zeigen.« Singleton folgte ihm, erleichtert, aus diesem Zimmer herauszukommen, und grinste dann, als ihm klar wurde, was Kemp gesagt hatte. War es wirklich erst zwei Tage her, daß Muntwick eine ganz ähnliche Aufforderung ausgesprochen hatte? Sie verließen das Haus durch den Hinterausgang und betraten den von einer Mauer umgebenen Garten. Dort herrschte bewegungslose Stille. Singleton brauchte einen Augenblick, um zu erkennen, daß er voller hölzerner Sitzstangen war, die einen riesigen Kreis bildeten. Auf jeder Stange hockte ein großer Raubvogel mit einer die Augen verdeckenden Kopfhaube. Alle Vögel waren mit einem Metallring, der ein Bein umschloß, und einer dünnen Kette an ihre Sitzstange gefesselt. Kemp zog sich einen Falknerhandschuh an, nahm einen Vogel – einen Wanderfalken – von seiner Stange und befreite ihn von der Kappe. Er streichelte ihn, bis der anfangs unruhige Falke still auf seiner Hand saß. Dann ging Kemp voraus, ohne ein Wort zu reden. Eine Viertelstunde später standen sie schweigend auf den Downs, wo Kemps Augen den Himmel absuchten. »Wir haben uns lange nicht mehr gesehen, George«, stellte er fest. »Was willst du?« Singleton schwieg zunächst noch. Während er den grausam-kühlen Blick des Falken beobachtete, erinnerte er 156
sich an Kemps Vergangenheit und spürte die in diesem Mann aufgestauten Aggressionen. Kemp war wie Farrell in nachrichtendienstliche Aktivitäten verwickelt worden – in seinem Fall jedoch auf britischer Seite. Ursprünglich war er wie sein Vater Armeeoffizier gewesen, hatte aber die ständige Reglementierung nicht ertragen und war ausgeschieden, um als Journalist zu arbeiten. In diesem Beruf war er vom Secret Intelligence Service als gelegentlicher Mitarbeiter angeworben worden. Kemp hatte seinen Vorteil aus der diskreten Unterstützung seiner Arbeit durch den Geheimdienst gezogen – und hatte es, wie er zugeben mußte, insgeheim genossen, einer der Insider dieses winzigen Clubs zu sein. Er hatte sich stets für Afrika interessiert und war immer ein Einzelgänger gewesen: beides Dinge, die dem SIS gefielen und die er nutzte. Im Alter von 33 Jahren war Kemp jedoch etwas zugestoßen, das er selbst später, als das Bild völlig klar war, kaum fassen konnte: Um zu verhindern, daß ein sehr wichtiger SIS-Agent in einem afrikanischen Staat verhaftet wurde, hatte der Geheimdienst sich für ein primitives, aber wirkungsvolles Ablenkungsmanöver entschieden – er hatte Kemp den Löwen vorgeworfen. Kemp war verhaftet, gefoltert und erst durch eine Intervention der Vereinten Nationen freigelassen worden. Der Service hatte sich mitfühlend geäußert. Aber Kemp konnte sein Abenteuer nicht vergessen. Sein Hinken erinnerte ihn ständig daran. Er arbeitete weiter für den SIS, allerdings nur in sehr untergeordneten Rollen. Seine Chance war zwei Jahre später gekommen. Ein kleiner afrikanischer Diktator, der gestürzt zu werden drohte, brauchte sofort Geld, um 157
genügend Offiziere bestechen und dadurch an der Macht bleiben zu können. Die britische Regierung, die ihn halten wollte, stellte ihm den Betrag in Schweizer Franken zur Verfügung. Und Kemp diente als Kurier. Da er die Situation richtig einschätzte – der Diktator wurde zwei Monate später enthauptet –, zweigte er vor der Geldübergabe 250.000 Franken für sich ab. Wenig später gab er seine Arbeit als Journalist auf, kaufte das alte Farmhaus und widmete sich der Aufzucht und dem Abrichten von Greifvögeln zur Jagd – ein Sport, den er vor fast einem Jahrzehnt auf einer Reise durch Saudi-Arabien kennen- und liebengelernt hatte. Singleton merkte, daß Kemp ungeduldig auf eine Antwort wartete. »Ich bin nicht mehr dabei«, sagte er. »Weißt du das?« »Ich weiß, was ich gehört habe. Aber das glaube ich längst nicht mehr.« Singleton ignorierte seine Antwort. »Ich arbeite freiberuflich. Ich habe einen Auftrag übernommen, bei dem ich Hilfe brauche.« »Pscht!« Kemp sah zu dem blaßblauen Nachmittagshimmel auf. Hoch über ihnen flog eine Krähe vorbei. Kemp warf seinen Falken in die Luft. Der Raubvogel schraubte sich in die Höhe, überstieg die Krähe, kreiste und begann dann seinen Sturzflug. »Das nennen wir das Niederstoßen des Vogels«, sagte Kemp halblaut, ohne die Szene aus den Augen zu lassen. »Angeblich das schnellste Tier der Welt«, ergänzte Singleton. »Erreicht über hundertfünfzig Stundenkilometer.« Kemp sah kurz zu Singleton hinüber, aber der starrte weiter ausdruckslos nach oben. 158
Der Wanderfalke schlug die Krähe: eine Szene, die Singleton erschauern ließ, obwohl er sich eingestehen mußte, daß sie von schrecklicher Schönheit war. Er beobachtete wieder Kemp, dessen gespannter Gesichtsausdruck sich allmählich löste. »Ein perfekter Killer«, erklärte Kemp. »Er ist nicht grausam, denn er ist zum Töten geschaffen. Nur dafür. Weißt du übrigens, George, daß der Mensch schon mit Greifvögeln gejagt hat, bevor er auch nur schreiben konnte?« Schwingen rauschten durch die Luft, als der Falke sich wieder auf Kemps Handschuh setzte. Der Mann hinkte davon und fragte im selben Ton wie zuvor: »Was willst du, George? Warum bist du zu mir gekommen?« »Das hab’ ich dir schon gesagt. Ich habe einen Privatauftrag.« »Was willst du von mir? Ich bin nicht mehr im Geschäft. Ich bin seit Jahren draußen. Das weißt du genau.« »Farrell macht mit.« Kemp blieb ruckartig stehen und drehte sich nach ihm um. »Dann muß es ’ne große Sache sein. Er braucht kein Geld. Dabei ist doch Geld zu verdienen? Oder geht’s etwa um einen dieser Jobs in Erinnerung an die gute alte Zeit …?« Singleton überhörte die Bitterkeit, die aus Kemps Worten sprach. »Ich brauche einen Mann, der einen Lastwagen fahren und gut schießen kann.« »Wozu soll ich meinen Hals riskieren? Du hast gesehen, was ich hier habe.« Er reagierte kaum anders als Farrell. Aber Kemp war mit Geld zu ködern. »Soviel ich weiß, ist das ein teurer Sport«, stellte Singleton ruhig fest. Er verzichtete darauf, Kemp daran zu 159
erinnern, daß er zwischendurch gelegentlich für Farrell gearbeitet hatte. Das gestohlene Geld mußte unterdessen fast ausgegeben sein. »Stell dir bloß vor, was du mit einem richtigen Haufen Geld anfangen könntest!« Er zwang sich dazu, nicht mehr den Falken zu beobachten, sondern Kemp in die Augen zu sehen. »Sagen wir mal … mit einer Million Pfund.« Karen Huisman saß an dem mit Wachstuch abgedeckten Küchentisch und schrieb die letzten Zeilen eines Briefes an ihre Eltern. Er würde in der Schweiz aufgegeben werden, wo sie angeblich mit Freunden Urlaub machte, und sie legte ein vor einigen Wochen eigens zu diesem Zweck gemachtes Farbfoto bei, das sie vor Schweizer Berggipfeln zeigte. Das Haus in den Außenbezirken von Lüttich, nahe der belgisch-deutschen Grenze, stand weit von dem Ort entfernt, an dem sie sich offiziell aufhielt. Aber sie war es gewöhnt, ein Doppelleben zu führen. Zum Glück war ihr Vater in Kapstadt: ein reaktionäres Nest für einen reaktionären Job, dachte Karen. Allerdings hielt sie ihre wahren Gefühle jetzt schon seit Jahren vor ihm geheim. Er war der Ansicht, sie habe wie die meisten jungen Menschen, eine linksradikale, militante Phase durchgemacht, aus der sie jedoch als junge Frau herausgewachsen sei. Nützlich war auch, daß ihr Job sich ideal als Tarnung für ihre Aktivitäten eignete: Karen war Assistentin eines holländischen Kunsthistorikers, eines Sympathisanten. So war sie beruflich oft auf Reisen. Sie faltete den Brief zusammen – zwei Seiten Lügenmärchen – und klebte den Umschlag zu, damit Rolf 160
ihn mitnehmen konnte. Dann stand sie auf, ließ am Spülbecken Wasser in den Teekessel laufen und setzte ihn auf. Das Ganze war eine eigentümlich häusliche Szene. Im Haus war es trotz der acht Bewohner still. Die fünf Gefangenen waren im Keller in primitiven Bretterverschlägen untergebracht, die sich bisher als Haftzellen bewährt hatten. Die beiden anderen Wachen waren ebenfalls dort unten. Karen hatte sie erst hier kennengelernt, und ihre Unterwürfigkeit gefiel ihr. Sie würden nicht allzu viel über sie erfahren haben; wahrscheinlich brachten sie Karen nicht einmal mit der eigentlichen Geiselnahme in Verbindung. Aber Rolf hatte ihnen offenbar gehörigen Respekt vor ihr eingebleut. Sie brühte sich Pulverkaffee auf und starrte den Briefumschlag an. Dabei stellte sie sich nicht zum ersten Mal die Reaktion ihres Vaters vor, wenn er erführe, was seine Tochter in Wirklichkeit tat. Sie konnte sich sein Entsetzen vorstellen. Er war jetzt auf seinem letzten Auslandsposten: Rechtsberater der niederländischen Botschaft in Südafrika. Seine Herzbeschwerden waren in letzter Zeit schlimmer geworden, wie ihre Mutter schrieb. Bei der Entlarvung seiner Tochter würde ihn wahrscheinlich der Schlag treffen. Dieser Gedanke amüsierte Karen. Auf seltsame Weise hatte sein Job ihren Weg mitbestimmt. Während seines Aufenthalts in Kanada hatte Karen, die damals Semesterferien hatte, ihre Eltern besucht und war auf Einladung einer befreundeten Familie nach Quebec weitergeflogen. Die Quebec Liberation Front, die noch in den siebziger Jahren einen britischen Diplomaten entführt hatte, war damals als Organisation so gut wie erledigt. Aber Karen lernte Sympathisanten kennen, die sie mit Schlagwörtern wie ›Befreiung‹ und 161
›Kampf gegen den Imperialismus‹ überzeugten, und begann nach ihrer Rückkehr in die Niederlande Debray und Guevara, Marcuse und Marighella zu lesen. Vor allem fühlte sie sich zu Fanon und seiner mystischen Verklärung von Gewalt hingezogen – ein Akt, den sie als Läuterung, als reinigende Kraft sah. Seit Ende der siebziger Jahre gehörte sie zu den Aktivisten der niederländischen ›Roten Hilfe‹, die vor allem mit deutschen, japanischen und palästinensischen Terroristengruppen zusammenarbeitete. Wie wertvoll Karen als Tochter eines Diplomaten sein konnte, war frühzeitig erkannt worden, und sie wurde damit beauftragt, Informationen über Diplomaten, Botschaftsgebäude, Flugzeuge und Flughäfen zu sammeln. Die Entführung der Concorde war ihr erster richtiger Einsatz gewesen, und sie hatte ihn mit Begeisterung übernommen. Einige ihrer früheren Aufträge waren vielleicht ebenso wichtig gewesen, aber sie waren nicht das, was Karen wollte: im Einsatz zu sein, in vorderster Front zu stehen und glorreich zu siegen oder zu fallen. Für dieses Unternehmen war sie ausgewählt worden, weil es so wichtig war und weil sie wie die meisten Terroristinnen fanatischer, brutaler und unbarmherziger als die Männer war. Immerhin war es kein Zufall gewesen, daß von den ursprünglichen 22 Angehörigen der deutschen Baader-Meinhof-Bande zwölf Frauen gewesen waren. Mit ihrer Tasse in der Hand verließ Karen die Küche und öffnete die massive Kellertür. Bevor Rolf kam, hatte sie noch etwas zu tun, das sie sich bis jetzt aufgespart hatte. Die beiden an einem großen Eichentisch sitzenden Wachen nickten ihr zu, als sie die Treppe herunterkam. Der Keller war riesig. Er bestand aus vier miteinander verbundenen Räumen, von denen drei die Zellen für die Gefangenen enthielten. Zwischen den Zellen lag jeweils 162
ein großer freier Raum, damit die Geiseln einander nicht hören und nicht miteinander in Verbindung treten konnten. Die Türen waren geschlossen und abgesperrt, aber in jede war ein Guckloch gebohrt. Karen begann mit der Zelle des Franzosen. Er kniete mit dem Rücken zu ihr auf dem Boden und drückte seine Stirn in die Matratze. Er betete. Er schien ständig zu beten. Sie beobachtete ihn einige Sekunden lang und empfand dabei ein fast sexuell erregendes Machtgefühl. Aber nicht er, dachte sie. Nicht er. Andrew Muntwick Junior trug lediglich eine knappsitzende Unterhose und hatte sein Bett seitlich an die Wand gekippt, um Platz auf dem Fußboden zu haben. Er trainierte seine Bauchmuskeln durch Hinlegen und Aufsetzen: ein sportgestählter junger Mann, der trotz seines Luxuslebens kein Fett angesetzt hatte. Er hörte, wie die Abdeckung des Gucklochs zur Seite geschoben wurde, drehte den Kopf zur Seite, ohne mit seinen Übungen aufzuhören, und kniff ein Auge zusammen. Reicher Scheißkerl. So behütet, daß er nicht einmal erfaßte, wie schlimm seine Lage war. Daddys Geld würde kommen und ihn wie jedesmal zuvor retten – wie die Kavallerie in einem Western. Vielleicht er. Wolkow hockte mit angezogenen Beinen und an der Wand lehnend auf seinem Bett – ein lachhafter Anblick. Was er vor sich auf der Bettdecke liegen hatte, war nicht leicht zu erkennen. Er hatte Teile seiner Kleidung in Stoffetzen zerrissen, deren Umrisse jeweils bestimmte Schachfiguren verkörperten. Das dazugehörige Schachbrett existierte lediglich in Wolkows Phantasie. Er hörte, daß die Klappe geöffnet wurde, aber er blickte nicht auf. Dinge, gegen die er nichts unternehmen konnte, interessierten ihn nicht. 163
Er hatte schon früher im Gefängnis gesessen. Er würde auch dieses überleben. Ross starrte nach oben und kratzte sich im Gesicht, obwohl seine Haut durch die ständige Reizung bereits entzündet war. Karen öffnete die Abdeckung absichtlich laut, damit er merkte, daß sie da war, aber er sah nicht zur Tür hinüber. Sie wußte noch immer nicht, woran er sie erinnerte. Ein so verdammt häßlicher kleiner Mann! Er sah wie ein Verlierer aus – wie ein widerlicher, häßlicher kleiner Verlierer. Er war angezogen, aber sie stellte sich Haut und Fleisch unter seiner Kleidung vor: weiß, schwammig, feuchtkalt. Es konnte gar nicht anders sein. Er. Vielleicht er. In der letzten Zelle lag Jennifer North. Sie schlief – und schnarchte. Sie hatte die rauhe Wolldecke bis unters Kinn hochgezogen, aber ihr linker Arm hing über die Bettkante herab, so daß ihre Finger den Boden berührten. Karens Blick folgte der Linie des Arms von der Schulter nach unten. Sie starrte ihn lange an. Dann wußte sie, was sie tun würde.
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14 Die Empfangsdame ließ Singleton über zwei Stunden im Vorzimmer warten. Cappello, davon war er überzeugt, saß in seinem Büro und mußte seine kurze Mitteilung gelesen haben. Aber vielleicht wartete er noch auf Anweisungen. Obwohl Singleton nach der Rückkehr von seinem Besuch bei Kemp in London gut geschlafen und auf dem Flug nach Mailand gedöst hatte, war er noch immer müde. Er lehnte sich mit geschlossenen Augen und einem ungelesenen Exemplar des ›Rome Daily American‹ auf dem Knie in den Sessel zurück. Das Fenster stand offen, und wenn der Straßenlärm von der Via Manzoni nicht gewesen wäre, wäre er vermutlich sogar eingenickt. Er zwang sich dazu, die Augen zu öffnen. Der Raum war billig möbliert. Die Einrichtung bestand aus zwei verschlissenen Sesseln, einem Couchtisch, auf dem sich alte Illustrierte mit welligen Rändern stapelten, und einem uralten Stahlschreibtisch, hinter dem eine Italienerin ohne Pause tippte, wenn nicht gerade das Telefon klingelte. Jetzt schrillte es wieder. Sie hörte kurz zu und nickte dann zu Singleton hinüber, noch bevor sie auflegte. »Sie können jetzt reingehen.« Sie deutete auf eine der beiden Türen. Dahinter saß Cappello an einem weiteren alten Schreibtisch. Der Raum war winzig, und jeder Quadratzentimeter Ablagefläche verschwand unter Büchern und Akten. Cappello, den Singleton auf Mitte dreißig schätzte, sah krank aus. Sein Teint war gelblich; 165
seine Augen waren blutunterlaufen. Zwischen den Papieren auf seinem Schreibtisch stand ein Teller mit längst vergessenen Sandwiches, den er als Aschenbecher benutzte. Als Singleton hereinkam, hielt Cappello die kurze Mitteilung, mit der sein Besucher sich vorgestellt hatte, in der Hand. Der Text bestand aus zwei lapidaren Sätzen: ›Ich vertrete Andrew Muntwick. Ich möchte Sie sprechen.‹ Cappello gab sie Singleton zurück und fragte auf Englisch: »Womit kann ich dienen?« »Ich bin auf der Suche nach einem Bevollmächtigten für ein Immobiliengeschäft«, behauptete Singleton und legte Cappello zugleich einen weiteren Zettel auf den Schreibtisch. Der Rechtsanwalt las den Text: ›Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen. Können wir hier darüber reden? Ich setze voraus, daß Ihr Büro abgehört wird.‹ »Dann haben Sie vergeblich gewartet, fürchte ich«, antwortete Cappello. »Solche Aufträge übernehme ich nicht. Aber ich kann Ihnen Namen und Adresse eines Kollegen aufschreiben, wenn Sie wollen.« Er schrieb etwas auf einen Notizzettel. Singleton ließ ihn sich geben, bedankte sich und ging. Auf der Treppe las er die Mitteilung, bevor er den Zettel in kleine Schnitzel zerriß: ›In 40 Minuten im Dom, Grabmal Giovanni und Gabriele de’Medici.‹ Singleton war pünktlich zur Stelle. Das von Michelangelo inspirierte Grabmal, eines der bedeutendsten Kunstwerke im Dom, war leicht zu finden. Es war eindrucksvoll, aber Singleton fühlte sich auf seltsame Weise zu dem Standbild 166
links daneben hingezogen, das den geschundenen Bartholomäus darstellte. Er starrte es noch immer an, als Cappello aufkreuzte. Der Rechtsanwalt zog ihn sogleich mit sich fort und führte ihn aufs bunte Pflaster der riesigen Piazza del Duomo hinaus. »Sie sind nicht beschattet worden?« fragte Cappello und starrte Singleton prüfend an. »Nein«, sagte er, indem er seine Frage selbst beantwortete. »Sie sehen wie ein Mann aus, der das merken würde.« Die beiden gingen etwa eine Viertelstunde schweigend nebeneinander her. Dann sah Cappello ein freies Taxi, schlängelte sich durch den Verkehr, riß die Tür auf und schob Singleton vor sich in den Wagen. Sie stiegen nach knapp zehn Minuten wieder aus. »Sicher ist sicher«, meinte Cappello. Er führte Singleton in eine Bar, in der sie eine dunkle Ecke für sich hatten. »Ich kann nur hoffen, daß dies kein Versuch ist, mich in eine Falle zu locken«, sagte er. »Ich habe diese Tricks allmählich satt. Nur weil ich gelegentlich Mandanten vertrete, die den Behörden nicht gefallen, würden sie mich am liebsten mit Berufsverbot belegen.« Singleton vermutete, daß Cappello seine Lage einigermaßen zutreffend geschildert hatte. Er hatte allerdings zu erwähnen vergessen, daß seine Mandanten den Behörden deshalb nicht gefielen, weil sie häufig mehrere Menschen in die Luft gejagt oder erschossen hatten. Er schwieg jedoch, bis die bestellten Drinks serviert waren. In ihrer Nische waren sie vor den Blicken der wenigen anderen Gäste sicher. Der Tisch wurde durch eine flackernde Kerze in einer Chiantiflasche beleuchtet. Singleton griff in die Innentasche seiner Jacke, zog einen Geldschein heraus und hielt ihn Cappello hin. Der andere nahm sofort seine Hand vom Tisch und sah 167
sich besorgt um. Singleton konnte sich denken, was er befürchtete: einen Versuch, ihm gestohlenes Geld oder Falschgeld anzudrehen oder ihn bei der Geldübergabe beobachten zu lassen, damit behauptet werden konnte, er habe den Amerikaner erpreßt oder sich von ihm bestechen lassen. »Keine Angst, ich bin allein«, versicherte er dem Anwalt beruhigend. »Ich glaube, daß dieser Schein Sie interessieren wird. Wahrscheinlich haben Sie noch nie so einen zu Gesicht bekommen. Soviel ich informiert bin, gibt es nur wenige Fachhändler, die so einen Schein je gesehen haben.« Er legte den Geldschein auf den Tisch, damit Cappello ihn sehen konnte. Die Banknote hatte die Größe eines gewöhnlichen Dollarscheins, trug das Kopfbildnis eines Mannes und war auf weißem Untergrund schwarz bedruckt. Singleton wußte, daß die in allen vier Ecken stehende Zahl die Aufmerksamkeit des anderen fesseln würde. »Das hier ist die Banknote mit dem höchsten Nominalwert«, fuhr er fort. »Zehntausend Dollar. Von der Federal Reserve Bank ausgegeben. Soviel ich weiß, ist sie noch gültig, aber es wäre dumm, damit zahlen zu wollen. Ihr Druck ist 1944 eingestellt worden, und es gibt nur noch drei- bis vierhundert dieser Scheine. Ihr Sammlerwert liegt um ein Mehrfaches höher als der Nennwert.« Cappello wirkte sichtlich verwirrt. »Wozu erzählen Sie mir das alles?« Singleton nahm den Geldschein wieder an sich. »Mein Auftraggeber sammelt solche Dinge«, antwortete er lächelnd. »Ich habe mir überlegt, daß ich Ihnen damit meine Seriosität beweisen könnte.« Er deutete auf das 168
Kopfbildnis auf der Vorderseite. »Salmon Portland Chase, der Begründer des amerikanischen Nationalbanksystems.« Singleton drehte den Schein um, so daß Cappello die grüne Rückseite mit einer Darstellung der Landung der Pilgerväter sehen konnte. Ohne den Blick vom Gesicht des Anwalts zu nehmen oder seinen Gesichtsausdruck zu ändern, führte Singleton die Banknote an die Kerzenflamme. Der Zehntausenddollarschein fing fast augenblicklich Feuer. Cappello hob unwillkürlich die Hand, beherrschte sich aber noch rechtzeitig. Singleton hielt den Geldschein ins Feuer, bis die Flamme seine Finger erreichte, und ließ den Rest in den Aschenbecher fallen. Der Italiener beobachtete, wie das letzte Aufflackern erlosch. »Was wollen Sie von mir?« fragte er schließlich. »Ich möchte, daß Sie eine Nachricht übermitteln.« »An wen?« »An jemand, der hat, was Mr. Muntwick haben möchte. Deutlicher brauche ich nicht zu werden, glaube ich.« »Solche Leute kenne ich nicht.« »Nein, wahrscheinlich nicht. Aber ich hätte gern mit Professor Baccarri gesprochen.« »Der kennt solche Leute auch nicht.« »Nein, aber er hat viele Freunde. Wenn er wüßte, wieviel ich biete, und wenn er’s genügend Freunden erzählte, könnte es zuletzt den richtigen Leuten zu Ohren kommen. Ohne Wissen des Professors, versteht sich.« Cappello beugte sich über den Tisch. »Und Ihr Angebot wäre wirklich ernstgemeint?« Singleton griff wieder in die Innentasche seiner Jacke und zog einen weiteren Zehntausenddollarschein heraus. 169
Er brachte ihn in die Nähe der Kerzenflamme. Cappello schob hastig seine Hand zurück. »Ich hasse Verschwendung!« behauptete er. »Ich weiß nicht, ob ich etwas für Sie tun kann. Aber sagen Sie mir, in welchem Hotel Sie sind. Ich werde nachdenken.« Ursprünglich hatte Gosori schon befürchtet, man hätte ihn nach Moskau zurückgerufen, weil er in Ungnade gefallen sei. Der Befehl war nicht weiter erläutert worden. »Zurückkehren«, hatte die Aufforderung lediglich gelautet. Binnen einer Stunde war er dann abgeholt, auf einem Lastwagen versteckt zu einem Flughafen gefahren und dann hastig an Bord einer sowjetischen Maschine gebracht worden, mit der zuvor eine russische Delegation eingetroffen war. Der neue Einsatzbefehl war Gosori höchst willkommen, obwohl er ihn an die vorderste Front versetzte. Gosori sollte nach Paris fliegen – eine Maschine der Aeroflot wurde noch zurückgehalten, während er seine Anweisungen erhielt – und sich um den Franzosen kümmern. Da sein Rückruf auch dazu hätte führen können, daß er in ein Arbeitslager eingewiesen wurde oder einfach ›verschwand‹, hielt Gosoris Erleichterung selbst dann noch an, als ihm eine Stunde später in neuntausend Meter Höhe über Polen klar wurde, weshalb so eingehend geprüft worden war, ob er tatsächlich nur algerische Ausweise mit sich führte: Falls ihm irgend etwas zustieß, durfte niemand erfahren, daß er ein sowjetischer Agent war. Seine Auftraggeber hofften, daß er Erfolg haben werde. Aber sie waren bereit, ihn notfalls zu opfern. Sie holten Singleton um 3.10 Uhr ab. Er hörte, wie das 170
Schloß gewaltsam geöffnet wurde, und hätte reichlich Zeit gehabt, darauf zu reagieren. Aber er blieb in dem Sessel sitzen, in dem er vollständig bekleidet seit kurz vor Mitternacht gedöst hatte. Die beiden jungen Männer waren bewaffnet. Sie nahmen eine Leibesvisitation vor, führten ihn aus dem Zimmer und ließen ihn zwischen sich die Feuertreppe am Ende des Korridors hinuntersteigen. Zweifellos waren sie auf diesem Weg ins Hotel gelangt. Der Fahrer wartete am Steuer des schwarzen Mercedes. Singleton mußte auf dem Rücksitz zwischen den beiden Bewaffneten Platz nehmen. Als der Wagen anfuhr, stülpte einer der jungen Männer ihm eine schwarze Kapuze über den Kopf und drückte ihn zwischen den Sitzen zu Boden. Singleton wehrte sich nicht. Sie fuhren etwa eine Stunde lang, bevor der Mercedes hielt und Singleton – noch immer mit der Kapuze über dem Kopf – aus dem Wagen gezerrt, eine Treppe hinauf gestoßen, einen Korridor entlang und durch eine Tür geführt wurde. Er blinzelte, als ihm die Kapuze abgenommen wurde, und konzentrierte sich darauf, das Gleichgewicht zu halten, weil seine Beine durch die Fahrt in unnatürlich verkrümmter Haltung eingeschlafen waren. Allmählich nahm er Einzelheiten seiner Umgebung wahr. Der Raum war langgestreckt und elegant mit modernen Möbeln ausgestattet. Eine der Wände verschwand völlig hinter weißen Bücherregalen. Auch der Teppichboden war weiß – wie das Sofa, auf dem ein asketisch wirkender Mann lag, dessen Haare ebenfalls weiß waren. Der Mann, den Singleton als Baccarri erkannte, zeigte auf einen Sessel. »Sie können Platz nehmen, wenn Sie wollen.« Singleton humpelte zu dem Sessel, ließ sich 171
hineinfallen und bemühte sich, sich weder Schmerzen noch Unbehagen anmerken zu lassen. Baccarri beugte sich zur Seite, klappte einen Silberkasten auf und nahm eine Zigarette heraus, die er in eine lange Spitze steckte. Singleton fiel auf, daß sogar die Zigarettenspitze weiß war. Der Professor zündete sich die Zigarette mit einem großen silbernen Tischfeuerzeug an. »Signore Cappello hat mir mitgeteilt, daß Sie möchten, daß ich eine Nachricht für Sie übermittle«, sagte er. »Ich weiß nicht recht, ob mir die Rolle eines Laufburschen schmeichelt – selbst wenn ich imstande wäre, die Art Nachricht zu übermitteln, die Ihnen vorzuschweben scheint.« Singleton äußerte sich nicht dazu. Baccarri hätte ihn nicht holen lassen, wenn er nicht bereits angebissen hätte. Er mußte Verbindung zu den Geiselnehmern haben – oder er würde sie schaffen. Für ihn war das eine Kleinigkeit. War er nicht der einflußreichste Gegenwartsphilosoph der Terroristen, der ihre Verbrechen rechtfertigte und ihrem Ego schmeichelte? Singleton erinnerte sich an Baccarris oft zitierte Äußerung: »Wie können jene, die unschuldige Dörfer mit Napalm vernichten, es wagen, jene zu kritisieren, die die humanste, selektivste Form der Kriegsführung praktizieren? Ihr seid für eure Humanität zu belobigen.« Früher war Baccarri Professor an der Universität Padua gewesen – seit langem ein Sammelbecken der extremen Linken. Er war mehrmals wegen des Verdachts, an Terroranschlägen beteiligt gewesen zu sein, verhaftet worden – und jedesmal mangels Beweisen wieder freigekommen. Jetzt konzentrierte er sich auf seine schriftstellerische Arbeit. Sein Lebensstil ließ vermuten, daß seine Terroristenfreunde sich auch finanziell erkenntlich zeigten. 172
Baccarri deutete mit der Zigarettenspitze auf einen seiner Leibwächter, der an der Tür stehengeblieben war. »Sie dürfen nicht glauben, daß ich meine Gäste gerne so empfange. Leider bin ich gezwungen, Unbekannten gegenüber mißtrauisch zu sein – die Faschisten haben schon oft versucht, mich zu erledigen.« Er streifte mit gemessen theatralischer Geste etwas Asche ab. »Der Tag bricht bald an, Mr. Singleton«, stellte er fest. »Um diese Zeit gehe ich im allgemeinen zu Bett. Ich bin bereit, mir Ihre Mitteilung anzuhören, aber ich kann Ihnen nichts versprechen.« »Sie wissen, in wessen Auftrag ich hier bin«, sagte Singleton. »Er bietet das Doppelte der verlangten Summe.« »Geld!« Baccarri schüttelte energisch den Kopf. »Werdet ihr Kapitalisten denn nie schlauer?« Singleton verkniff sich die Antwort, daß die Geiselnehmer selbst Geld verlangt hatten. Baccarri, der noch immer den Kopf schüttelte, stand auf. Er trug enge weiße Jeans, weiße Lederslipper und ein weit offenes weißes Seidenhemd, in dessen Ausschnitt eine Goldkette mit Medaillon sichtbar war. »Nein, nein, Mr. Singleton. Selbst wenn ich könnte, würde ich diese Mitteilung nicht weitergeben.« Singleton starrte ihm ins Gesicht. »Und wir bieten die sieben in Spanien Einsitzenden«, fügte er hinzu. Baccarri zog die Augenbrauen hoch. »Wie können Sie das?« »Das wäre unser Problem. Aber sie wären frei, bevor wir eine Gegenleistung erwarten würden.« »Wollen Sie dafür alle Geiseln oder nur den jungen Muntwick?« »Für das, was wir bieten, wollen wir alle.« 173
Der andere lächelte. »Ihre Freunde scheinen recht vertrauensselig zu sein.« »Ich habe stets festgestellt, daß selbst bei solchen Unternehmen ein Mindestmaß an gegenseitigem Vertrauen nötig ist.« Baccarri drückte seine Zigarette aus. »Schlafenszeit!« Singleton stand auf, wartete aber noch. »Ich kann nichts garantieren«, fuhr Baccarri fort. »Aber wo könnte ich Sie erreichen, falls eine Verbindung zustande kommt?« Singleton zog einen Zettel aus der Jackentasche. »Hier stehen fünf Telefonnummern in fünf Hauptstädten«, antwortete er. »Alle sind Tag und Nacht besetzt. Ich bin über jede dieser Nummern zu erreichen.« Baccarri griff nach dem Zettel, ohne sich die Telefonnummern anzusehen. »Ich kann, wie gesagt, nichts garantieren.« Singleton sah ihm in die Augen und wußte, daß die Verbindung hergestellt war.
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15 Sie trafen sich am Samstag, dem 9. April, auf dem Amerikanischen Friedhof in Suresnes am Stadtrand von Paris. Singleton, der aus dem Pariser Hilton kam, in dem er übernachtet hatte, nachdem er mit dem TEE aus Mailand gekommen war, traf als erster ein. Jetzt stand er nachdenklich vor dem Grabstein, unter dem ein gewisser Sherman Adam Ford lag, der mit knapp 19 Jahren gefallen war. An diesem Tag hatte Paris nichts von ›April in Paris‹ an sich. Das Wetter war feuchtkalt und windig; Singleton hatte den Mantelkragen hochgeklappt und seine Hände in den Taschen vergraben. Kemp und Farrell fanden ihn mühelos. Der Soldatenfriedhof, auf dem amerikanische Gefallene des Ersten Weltkriegs lagen, war beinahe menschenleer. Kemp war erst morgens mit dem Flugzeug aus London gekommen; Farrell war mit dem Auto da. Singleton forderte sie mit einem Nicken auf, ihn auf einem Rundgang durch den Friedhof zu begleiten. »Der Kontakt ist hergestellt«, berichtete er. »Davon bin ich ziemlich überzeugt. Ob sie einverstanden sind, läßt sich noch nicht sagen, aber wir müssen so weitermachen, als hätten sie zugestimmt.« Farrell hatte am meisten zu berichten. »Die Sache mit dem Lastwagen geht klar«, sagte er. »Der Wagen kommt am Montagabend mit echter Ladung und echten Papieren aus England rüber.« Er wandte sich an Kemp, ohne deshalb langsamer zu gehen. »Du übernimmst ihn auf dieser Seite des Kanals. Der Fahrer ist bestochen worden, 175
damit er am vereinbarten Punkt hält – er glaubt, ein Päckchen mitnehmen zu müssen; er weiß nicht, was wirklich geplant ist. Wir können ihn in der Garage gefangenhalten, bis alles vorbei ist. Seine Ladung ist für Portugal bestimmt – deshalb dauert’s lange, bis er als vermißt gemeldet wird.« Singleton nickte anerkennend. »Klingt gut«, bestätigte er. »Und der Hubschrauber?« »Ich hab einen gefunden. Ich kann ihn kriegen, wenn wir ihn brauchen.« Er äußerte sich nicht weiter dazu, und Singleton hakte nicht nach. »Okay«, sagte der Amerikaner energisch, »jetzt müssen wir die Orte und Zeiten abstimmen.« Es dauerte eine gute halbe Stunde, bis jeder von ihnen zufrieden war. Singleton ging als erster. »Ich bin notfalls unter der bekannten Nummer zu erreichen«, sagte er noch. »Wohin willst du?« fragte Kemp. »Ich muß ein paar Sachen besorgen und unseren reichen Auftraggeber informieren.« Das Taxi wartete noch immer am Eingang, als Singleton den Friedhof verließ. »Haben Sie gefunden, wen Sie gesucht haben?« erkundigte der Fahrer sich mitfühlend. Singleton nickte wortlos. Das braune Päckchen kam etwa zu dem Zeitpunkt mit der Post an, als Singletons Taxi den Flughafen erreichte, von dem aus er nach Chicago fliegen wollte. Es war an den Rechtsattache der amerikanischen Botschaft in London adressiert. Wie alle Päckchen wurde es zunächst darauf 176
überprüft, ob es Sprengstoff enthielt. Und da die Bezeichnung ›Rechtsattache‹ ein Euphemismus für den ranghöchsten FBI-Mann in einer Botschaft ist, wurde es weiteren Überprüfungen unterzogen. Deshalb dauerte es eine halbe Stunde, bis die letzte Lage Packpapier entfernt und der Deckel der kleinen Plastikschachtel, die darunter zum Vorschein kam, abgenommen wurde. Die Schachtel enthielt Watte, die von einem Sicherheitsbeamten vorsichtig mit einer langen Pinzette entfernt wurde. Der FBI-Mann, der zu Hause gewesen und in die Botschaft gerufen worden war, sah aufmerksam zu. Auf einer weiteren Watteschicht lag etwas, das wie ein langes, runzliges Plastikteil aussah. Aber es war keines. Es war ein Frauenfinger, an dem noch ein Ring steckte. Das Päckchen enthielt keine Nachricht; sie wäre auch überflüssig gewesen. Jeder, der die Klatschspalten las, kannte diesen Ring mit dem riesigen Saphir, ihrem Glücksstein. Der FBI-Mann wußte sofort, was er vor sich hatte: Jennifer Norths Ringfinger. Auf dem Flughafen O’Hare stand eine Limousine mit Chauffeur bereit, so daß Singleton schon kurz nach 18 Uhr wieder in Muntwicks Büro war. Als erstes fiel ihm auf, daß die Atmosphäre sich verändert hatte, seitdem er vor sechs Tagen erstmals mit Muntwick gesprochen hatte. Damals war der Alte umgänglich, beinahe freundlich gewesen, weil Singleton ihm Hoffnung gebracht hatte. Jetzt war er ausgesprochen förmlich. Singleton war ein Angestellter, der einen Auftrag auszuführen hatte. Singleton erstattete Bericht über die bisherigen 177
Fortschritte. Muntwicks laute Reaktion brachte ihn dazu, nochmals zu unterstreichen, wieviel er getan hatte – daß er ein halbes Dutzend Orte in drei Ländern besucht hatte. Aber Muntwick schien das nicht sonderlich zu beeindrucken. Er war ein Mann, der solche Dinge für selbstverständlich hielt. »Ihr Ultimatum läuft in sieben Tagen ab«, sagte Muntwick schließlich, als habe er gar nicht zugehört. »Glauben Sie noch immer, daß Sie’s schaffen?« »Ja, das glaube ich.« Der Alte stand auf und kam hinter seinem Schreibtisch hervor. Singleton fiel auf, daß er zu einem korrekten Geschäftsanzug ausgetretene alte Pantoffeln trug. »Was wollen Sie also von mir? Warum vergeuden Sie Zeit, indem Sie mir persönlich Bericht erstatten? Ich habe auch in Europa Büros mit abhörsicheren Verbindungen hierher.« »Ich brauche drei Dinge.« »Welche?« »Erstens muß ich über Ihren Ferienclub verfügen können.« Darüber hatten sie schon bei Singletons erstem Besuch gesprochen. »Gemacht! Soll ich die Gäste ausquartieren lassen?« »Nein, das würde nur Aufsehen erregen.« »Und?« fragte der Milliardär ungeduldig. »Ich brauche einen Ihrer Tanker.« Singleton stellte seine Tasse ab, suchte in den Jackentaschen und brachte einen Zettel zum Vorschein. »Hier sind die Zeit und die Koordinaten angegeben.« Muntwick warf nur einen flüchtigen Blick darauf. 178
»Kein Problem. Weiter!« »Zuletzt noch etwas anderes«, fuhr Singleton fort. Er zog einen weiteren Zettel aus der Tasche. Kemp hatte ihm die darauf notierten Zahlen und Maße angegeben. »Hoffentlich besitzen Sie noch immer Firmen, die Polizeiausrüstung für den Einsatz gegen gewalttätige Demonstranten herstellen«, sagte er, indem er Muntwick den Zettel gab. Der Alte nahm ihn entgegen. »Ja«, bestätigte er. »Bin frühzeitig eingestiegen. Eine der größten Wachstumsbranchen im Westen.« Er studierte die Einzelheiten. »Sieht technisch nicht allzu schwierig aus.« »Ich brauche ein Dutzend – so schnell wie möglich.« »Wann fliegen Sie ab?« »Morgen abend aus Washington. Ich habe dort noch einiges zu klären.« Muntwick drückte auf einen Knopf an seinem Schreibtisch und sagte ins Leere: »Holen Sie mir Dawson von Northland Systems her. Ich brauche ihn sofort. Spüren Sie ihn auf, wo immer er ist.« »Sie kriegen sie«, versicherte er Singleton. Das Appartement lag im vornehmen 16. Arrondissement: ein Wohnschlafzimmer mit Kochnische und einem winzigen Bad, in dem gerade eine Sitzbadewanne Platz hatte. Es lag im dritten Stock eines Hauses ohne Lift, und Gosori atmete schwer, als die Concierge ihn hineinführte. »Ich hab’ schon immer gewußt, daß mit ihm was nicht in Ordnung war!« behauptete sie mit leisem Triumph in der Stimme. »Ständig unterwegs, zu den unmöglichsten Zeiten weggehen und heimkommen …« Sie war Ende fünfzig, trug Schwarz und hatte allein gegessen, als Gosori aufgekreuzt war. Er hörte die 179
Bitterkeit in ihrer Stimme und sagte sich, daß er diesen Typ kannte. Solche Frauen gaben auf der ganzen Welt gute Spitzel ab. Für seine Zwecke jedenfalls ideal. Seitdem Gosori ihr seinen gefälschten SûretéDienstausweis gezeigt hatte, hatte alles wie am Schnürchen geklappt. Er war zu dem Schluß gelangt, daß der direkte Weg der beste war: Wozu sollte er einbrechen, wenn er sich die Wohnungstür aufsperren lassen konnte? »Sie erzählen bitte niemand von meinem Besuch, Madame«, sagte er und sah sich um. »Denken Sie daran, was ich Ihnen erzählt habe: Unter Umständen ist ein Menschenleben in Gefahr!« Er wußte natürlich, daß sie plaudern würde – aber nicht sofort, nicht solange er im Haus war, solange ihr Mieter noch unterwegs war. Die Frau hatte Gosori bereits mitgeteilt, Gabriel Hardy sei vor drei Tagen nach einwöchiger Abwesenheit in seine Wohnung zurückgekehrt. An diesem Morgen war er ausgegangen. Sie glaubte, er werde noch am gleichen Tag zurückkommen, weil er keinen Koffer mitgenommen hatte. »Aber vielleicht bleibt er lange aus, M’sieu Inspecteur – heute ist Samstag, und er ist jung.« Gosori nickte ihr zu, als sie ging, schloß die Tür, zog seine Jacke aus und begann den Raum zu durchsuchen. Er fand zwei zusätzliche Reisepässe, die mit Klebeband unter einer Schublade befestigt waren, ein Adreßbuch, das er einsteckte, und eine umfangreiche Sammlung europäischer Stadtpläne unter dem Teppich. Im Wasserbehälter des WCs entdeckte er drei wasserdicht verpackte Pistolen. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß nicht mehr zu finden war, öffnete er die Flasche Armagnac, die er in der Kochnische entdeckt hatte, nahm sie mit ins Wohnzimmer und streckte sich so auf dem Sofa aus, daß 180
er die Tür im Auge behalten konnte. Er war ungeduldig, aber er wußte, daß er nur warten konnte. Es war kurz vor 23 Uhr. Singleton lag in seinem Hotelzimmer auf dem Bett und sah eine Fernsehshow: erschöpft, aber trotzdem hellwach. Er war noch immer angezogen, obwohl er wußte, daß er hätte schlafen sollen; er hatte sich bereits mit Warren in Verbindung gesetzt und für den nächsten Morgen ein Treffen mit ihm vereinbart. Singleton war nervös; und die Nachrichten, die er vorhin gesehen hatte, trugen keineswegs zu seiner Beruhigung bei. Er mußte immer wieder an Debbie denken, die jetzt elf gewesen wäre. Obwohl er keineswegs betrunken war, setzte er sich leicht schwankend auf und schob das Whiskyglas weg, so daß es über die Glasplatte des Nachttischs rutschte, wobei ein Teil der bernsteingelben Flüssigkeit herausschwappte. Er starrte die Zimmerdecke an und merkte, daß er weinte – was er seit der Nacht, in der er von ihrem Tod erfahren hatte, nicht mehr getan hatte. Großer Gott, schließlich wußte doch jeder, daß Masern nicht tödlich waren! Außer in Ausnahmefällen … Singleton stand mit einem Ruck auf, stellte den Fernseher ab, zog sich aus, duschte, zog sich wieder an und griff nach dem Telefonhörer. Sie meldete sich so spät, daß er schon fürchtete, sie sei gar nicht zu Hause. »Ich bin in Washington«, sagte er. »Kann ich bei dir vorbeikommen?« »Du nimmst dir ganz schön viel raus«, wandte sie ein. »Ich bin schon im Bett gewesen. Woher weißt du, daß ich 181
allein bin?« »Das weiß ich nicht.« »Laß mir lieber ’ne halbe Sunde Zeit.« Was hatte das zu bedeuten? Daß ein Mann bei ihr war? Oder daß sie einfach ein bißchen Zeit wollte, um sich zurechtzumachen, um ein bißchen aufzuräumen? Singleton wünschte sich einen Augenblick lang, er hätte sie nicht angerufen. Aber dann wußte er, daß dieser Anruf unvermeidlich gewesen war. Er mußte mit ihr sprechen. Sie machte ihm sofort auf, als er klingelte. Sie trug den Frotteebademantel, den er vor weniger als einer Woche angehabt hatte. Sie war nicht geschminkt, und das Wohnzimmer war nicht besonders aufgeräumt. Singleton nahm einen Hauch von Pfeifentabak wahr, und der Raum war kalt, als wäre er bis vor kurzem durchgelüftet worden. Also war ein Mann hier gewesen. Eigenartigerweise hatte Singleton bis zu diesem Abend niemals darüber nachgedacht, ob Kate Liebhaber hatte; vielleicht war das zu selbstverständlich – und jedenfalls kein Thema, mit dem er sich beschäftigen wollte. Während er sich einen Drink einschenken ließ, fragte er sich, wie ihm zumute war. Zu seiner Überraschung fühlte er sich ganz wohl. Es war gut für sie, daß es noch andere gab; es war ein schöner Beweis für ihre besondere Beziehung zueinander, daß sie den anderen weggeschickt hatte, um ihn empfangen zu können. Singleton war plötzlich neugierig und belustigt zugleich. Er fragte sich, wie sie mit dem Mann umgegangen war, wie sie ihn dazu gebracht hatte, ihre Wohnung zu verlassen, und ob die Szene, als er seine Kleidungsstücke zusammengesucht hatte, an eine Boulevardkomödie erinnert haben mochte. »Ein schlimmer Auftrag?« fragte Kate, als sie ihm das Glas hinstellte. 182
Er gab keine Antwort, sondern streckte die Arme aus und zog sie an sich. Sie duftete nach Seife und Deodorant. Sie hatte gebadet. Folglich war sie mit dem Mann im Bett gewesen. Zu bestimmten Zeiten wäre er darüber in Zorn geraten; zu anderen hätte er diese Vorstellung als sexy und sehr erregend empfunden. An diesem Abend erschien sie ihm jedoch nicht weiter wichtig. »Komm, wir gehen ins Bett«, forderte er sie auf. Danach fanden sie beide keinen Schlaf, obwohl sie sich länger als sonst geliebt hatten. Kate ergriff als erste das Wort. »Du mußt gleich wieder weg, stimmt’s?« Er gab keine Antwort; statt dessen schnitt er ein Thema an, das ihn seit Stunden beschäftigte. »Hast du heute abend die Fernsehnachrichten gesehen?« fragte er. »Nein.« Das klang verwirrt. »Hätte ich sie mir ansehen sollen?« Ihre Antwort spielte keine Rolle. Er mußte darüber reden. »Ich meine eine Szene auf dem Genfer Flughafen. Ein Kamerateam, das von dort abfliegen wollte, hat sie unmittelbar danach gefilmt.« »Du meinst den Bombenanschlag? Ich habe die Meldung im Radio gehört.« Er sprach unbeirrt weiter. »Eines der Opfer ist ein Mädchen von sechs, sieben Jahren gewesen. Ich weiß nicht genau, wie alt die Kleine war. Ich hatte den Ton ausgeschaltet und wollte ihn nicht aufdrehen. Sie hat mit einem abgerissenen Bein zwischen den Trümmern gelegen, und die Ärzte haben sich um sie bemüht, während Feuerwehrleute versucht haben, sie zu befreien.« »Ja, ich weiß. Sie ist dann gestorben.« »Tatsächlich? Das habe ich befürchtet.« 183
Singleton starrte nach oben ins Dunkel. Er hatte das Gesicht der Kleinen vor sich: eigenartig gefaßt, voller Vertrauen. »Ich hab’ immer wieder daran gedacht, daß es Debbie hätte sein können«, sagte er schließlich. »Hat das, was du gesehen hast, etwas mit deinem jetzigen Auftrag zu tun?« fragte Kate leise. Anfangs glaubte sie, er würde keine Antwort geben. Dann zog er sie an sich, schlang seinen Arm um sie und begann zu reden. »Leute wie diese soll ich also befreien. Aber ich muß es tun!« Zum ersten Mal erzählte er ihr nicht nur von seinem Auftrag, sondern schilderte ihr sämtliche Einzelheiten. Kate wußte nicht gleich, was sie darauf antworten sollte – und dann war es bereits zu spät. Sie hörte ihn tief und gleichmäßig atmen, als hätte er durch seinen Bericht Absolution und Seelenfrieden erlangt. Wenige Minuten vor vier hörte Gosori, daß die Wohnungstür aufgesperrt wurde. Die Flasche Armagnac neben ihm war dreiviertelleer, aber er war nüchtern und hellwach. Er stand geräuschlos vom Sofa auf und blieb schweigend im Dunkeln stehen. Gosori wartete, bis der Mann den Raum betreten hatte und sich umdrehte, um die Tür zu schließen, bevor er sich in Bewegung setzte. Dann holte er mit dem rechten Fuß aus und trat Hardy mit aller Kraft ins Kreuz. Der Mann schoß nach vorn und knallte mit dem Gesicht voraus auf den Boden. Das alles spielte sich mit erstaunlich wenig Lärm ab. Gosori trat zurück und machte Licht. Hardy, der vor ihm auf den Knien lag, richtete sich auf und drehte sich dabei 184
um. Er blutete aus der Nase und hatte eine Platzwunde über der rechten Augenbraue. Trotz seiner Verletzungen tastete er instinktiv nach seiner Waffe. »Halt! Keine Bewegung!« Gosoris scharfer Befehl ließ ihn erstarren. Sein Blick fixierte die Hand des Russen, in der er eine Pistole erkannte. »Ihre«, sagte Gosori im Gesprächston. »Erkennen Sie sie?« Hardy starrte die Waffe an: eine Astra Magnum, Kaliber neun Millimeter. Eine wahre Mordwaffe, deren Durchschlagskraft auf diese Entfernung unfehlbar tödlich wirken mußte. »Wer sind Sie?« Er bemühte sich, auf die Beine zu kommen. Gosoris Fuß traf ihn im Gesicht und schmetterte seinen Kopf wieder zu Boden. Hardy blieb halb bewußtlos liegen. Gosori trat zurück, ließ sich aufs Sofa fallen und griff nach seinem Glas Armagnac. Er beobachtete Hardy weiter. Obwohl er es eilig hatte, würde er warten. Entscheidend wichtig war, daß der Franzose sich in der richtigen Gemütsverfassung befand. Obwohl das National Museum of Natural History erst seit zehn Minuten geöffnet hatte, war es an diesem Apriltag bereits voller Besucher. Die meisten hielten sich noch im Eingangsbereich auf und starrten den größten in neuerer Zeit erlegten afrikanischen Elefanten an oder ließen sich von anderen spektakulär präsentierten Ausstellungsgegenständen faszinieren. Singleton drängte sich durch die Menge und steuerte geradewegs auf die Abteilung mit afrikanischen Waffen und Musikinstrumenten zu. Dort stand Warren bereits an der Glaswand vor der Bantuhütte aus Lehm und Bambus. 185
Als Singleton herankam, setzte Warren sich in Bewegung, verschwand durch eine Tür mit der Aufschrift ›Nur für Personal‹, marschierte einen Korridor entlang und öffnete dann eine weitere Tür. Singleton folgte ihm. Der CIA-Direktor drehte sich um und schloß die Tür hinter ihnen ab. Der kleine Raum war eine Besenkammer mit einem Putzmittelregal, mehreren Eimern und einer Bohnermaschine. Beide Männer hatten Exemplare der Sonntagsausgabe der ›New York Times‹ unter dem Arm, die sie jetzt ohne weitere Vorreden tauschten. »Die letzten Aufnahmen«, sagte Warren dabei. Die Bahn des amerikanischen Supersatelliten Big Bird war so geändert worden, daß er das spanische Gefängnis, in dem die Terroristen inhaftiert waren, überflogen hatte. Seine von Perkins Elmer gebaute Kamera mit höchster Auflösung konnte noch aus 150 Kilometer Höhe golfballgroße Gegenstände unterscheiden. Die Filmbehälter waren in die Erdatmosphäre ausgestoßen und am Vortag über dem Pazifik an Fallschirmen hängend aus der Luft geborgen worden. Singleton nickte dankend, ohne sich die Mühe zu machen, die Zeitung aufzuschlagen – das hatte Zeit bis später. »Außerdem Pläne von amerikanischen Firmen, die am Bau beteiligt gewesen sind, und ein Bericht unserer Botschaft. Nach der Fertigstellung haben die Spanier verschiedene Stellen zu Führungen eingeladen, um ihnen zu zeigen, wie sicher und human alles ausgefallen ist.« »Gut.« Die Raumbeleuchtung bestand aus einer einzigen Neonröhre an der Decke, und Warren trat vor, um Singleton in ihrem Licht kritisch zu betrachten. »Du siehst 186
müde aus«, stellte er fest. »Noch alles in Ordnung? Glaubst du, daß du’s schaffst?« »Ich bin von der vielen Reiserei müde, das stimmt. Und ich glaube, daß wir’s schaffen werden.« Warren sah auf seine Armbanduhr. »Brauchst du sonst noch was von mir?« »Nur zwei Dinge. Alles andere kann ich mir selbst beschaffen.« »Okay, schieß los!« »Als erstes geht’s mir um ein Päckchen, das ich im Laufe des Tages bekomme. Es ist nicht allzu groß – ungefähr wie ein Schuhkarton. Aber es ist empfindlich, und ich brauche es in Frankreich oder Spanien.« »Und du möchtest es geliefert bekommen?« »Ja. Ich darf nicht riskieren, damit beim Zoll erwischt zu werden.« »Okay, das läßt sich machen. Wir haben unsere Methoden für Geheimtransporte. Aber mir wär’s lieber, wenn wir uns auf Frankreich einigen könnten. Damit bliebe etwas Abstand gewahrt. Einverstanden?« »Mir ist alles recht, wenn’s nur schnell geht.« »Darauf kannst du dich verlassen.« Warren bezeichnete den Übergabeort und nannte Singleton die Adresse, wo er das Päckchen wieder abholen konnte. »Okay, ich hab’s.« »Was kann ich noch für dich tun?« Singleton rieb sich die Augen, trat in eine Ecke der Besenkammer, drehte einen leeren Eimer um und benutzte ihn als Sitzgelegenheit. Er beantwortete Warrens Frage nicht sofort, obwohl der CIA-Direktor es offensichtlich eilig hatte. 187
»Hast du gestern abend die Spätnachrichten gesehen?« erkundigte er sich. »Ich meine den Bericht über einen Bombenanschlag auf dem Genfer Flughafen. Hast du die Bilder gesehen?« Er hatte seinen Entschluß auf der Fahrt von Kates Wohnung ins Museum gefaßt. »Ja, die hab’ ich gesehen«, bestätigte Warren leicht verwirrt. »Hast du die Kleine gesehen, die mit dem abgerissenen Bein? Hast du sie gesehen?« »Natürlich. Ein Zufall, daß gerade ein Kamerateam auf dem Flughafen gewesen ist.« Da ihn die Betroffenheit in Singletons Stimme verlegen machte, klang sein eigener Tonfall noch nüchterner als sonst. »Bandwürmer«, sagte Singleton halblaut. »Was ist aus denen geworden, Cord?« Warren war sichtlich entsetzt. »Du dürftest sie nicht einmal dem Namen nach kennen!« protestierte er. Der Deckname ›Bandwurm‹ bezeichnete eine Anfang der achtziger Jahre von CIA-Chemikern als heimtückische Geheimwaffe entwickelte Pille. Soviel Singleton wußte, war sie nie verwendet worden, aber er kannte ihre theoretische Wirkung: Die äußere Gelatinehülle löste sich im menschlichen Körper rasch auf und gab eine zweite Kapsel frei, die mit Dutzenden von winzigen Häkchen besetzt war. Diese Häkchen sollten die Innenkapsel im Darm des Opfers verankern. Die zweite Kapsel bestand aus einem künstlich erzeugten Protein, das den körpereigenen Enzymen bis zu einer Woche lang widerstand. Danach trat Gift aus, das den sofortigen Tod des Opfers bewirkte – während der Attentäter längst in weiter Ferne war. Zu einem bestimmten Zeitpunkt war sogar vorgeschlagen worden, den Ayatollah Khomeini auf diese 188
Weise zu ermorden, um jeglichen Verdacht von den Amerikanern abzulenken. »Ich bin damals im Iran gewesen und habe von diesen Teufelsdingern gehört …« »Die sind nie ernstgenommen worden, George. Eine verrückte Erfindung. Wenn ein Wissenschaftler genug Geld und ein großes Labor hat … na ja, du weißt ja, was dabei rauskommt!« »Was ist aus ihnen geworden?« »Sobald klar war, wofür sie gedacht waren, sind sie vernichtet worden. Jedes einzelne dieser verdammten Dinger!« Singletons Blick war kalt, als er zu Warren aufsah. »Ich brauche ein paar, Cord.« »Ich hab’ dir doch gesagt, daß sie vernichtet worden sind!« »Sowas vernichtet man nicht. Man lagert sie aus, versteckt sie besser und tarnt sie irgendwie. Aber man beseitigt sie nicht einfach.« »Du verlangst zuviel, George.« Singleton stand auf und klemmte sich die Zeitung unter den Arm. »Ich befreie die Häftlinge, Cord«, sagte er. »Du bekommst, was du verlangst. Wenn’s sein muß, sterbe ich dafür. Meine Helfer übrigens auch.« Seine Stimme klang so nüchtern und ausdruckslos, wie die Warrens zuvor. »Ich verlange kein Geld. Ich will keine Anerkennung. Aber die Sache hat ihren Preis. Den habe ich eben genannt. Und ich rate dir dringend, ihn zu zahlen!« Kemp verbrachte den Sonntagmorgen im Lärm und Gedränge eines Flohmarkts in East London. Es war 189
Mittag, bevor er sich durch die Scharen von Kauflustigen zwischen den Ständen, von denen die Straße fast zwei Kilometer weit gesäumt war, hindurchgekämpft hatte. Bis dahin war er schwer mit Paketen in braunem Packpapier beladen. In dem Pub war es kaum ruhiger als auf der Straße, aber er fand einen Platz auf einer Eckbank, stellte die Pakete vor seinen Füßen ab und trank mit langsamen Schlucken ein großes Glas Bitter. Dabei ging er nochmals die Einkäufe dieses Vormittags durch und prüfte in Gedanken, ob er wirklich alles hatte. Während sein Blick über die Pakete glitt, hakte er die einzelnen Posten ab: eine grobe Cordhose, eine dunkelblaue, gefütterte Arbeitsjacke aus zweiter Hand, eine Tweedmütze, zwei Flanellhemden, ein alter Militärpullover mit Lederbesatz an Schultern und Ellbogen, ein Paar Arbeitsschuhe mit dicken Gummisohlen. Nur eines fehlte noch: ein Koffer, am besten kein neuer. Den würde er auf dem Weg zu der Leihfirma kaufen, bei der er den Kastenwagen abholen sollte. Sie liebten sich neben einem Nachttisch mit angebissenen Croissants, leeren Kaffeetassen und frischen Orangen, die den Raum mit ihrem Duft erfüllten. Danach schliefen Farrell und Martine aneinandergeschmiegt nackt ein. Farrell wachte als erster auf, drehte den Kopf zur Seite und sah, daß der Wecker auf 12.22 Uhr stand. Er schlüpfte leise aus dem Bett und zog sich an, ohne zu duschen. Das war sonst nicht seine Art, aber aus irgendeinem Grund wollte er Martines Duft nicht wegspülen. Und er hatte dafür ein zweites, prosaischeres Motiv: Er wollte unterwegs sein, bevor sie aufwachte. Obwohl er häufig verreiste, wurden die Abschiede immer schwerer. Martines Blick ließ immer erkennen, wie traurig sie war – 190
selbst wenn sie tapfer zu sein versuchte. Auf der Eichenkommode lag ein Notizblock, auf dem Farrell einige wenige Zeilen hinterließ: ›Ich liebe Dich. Ich komme so schnell wie möglich zurück. Sei brav und paß gut auf Dich auf.‹ Er unterschrieb mit einem schlecht gezeichneten Eichhörnchen, denn aus irgendeinem Grund, den er nie recht verstanden hatte, war er für Martine stets »mein verrücktes Eichhörnchen« gewesen. Als er sie auf die Stirn küßte, bewegte sie sich und hob eine Hand, um sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen. Aber sie wachte nicht auf. Und um 12.45 Uhr nahm Farrell neben seinem Leibwächter auf dem Beifahrersitz Platz und trat die Fahrt nach Süden an. Das von Muntwick geschickte Päckchen erreichte Singleton kurz nach 17.30 Uhr in seinem Hotel und wurde weniger als eine Stunde später am vereinbarten Ort zur Weiterleitung an Warren abgegeben. Auf dem Flughafen erwartete Singleton eine nicht unterzeichnete Mitteilung, die jedoch nur von Warren stammen konnte. Der Text bestand aus einem einzigen Wort: ›Einverstanden.‹ Als Singleton im Flugzeug nach Paris hätte sitzen sollen, befand er sich erneut auf dem Flug nach Chicago. Nach zwanzig Minuten intensivem Nachdenken hatte er seine Reisepläne im letzten Augenblick geändert. Gegen 23 Uhr stand er vor dem verständnislosen, leicht verärgerten Muntwick. Der Alte hatte offenbar selbst am späten Sonntagabend noch gearbeitet. »Gibt’s Schwierigkeiten? Sie haben nicht bekommen, 191
was Sie wollten?« »Nein, keine Schwierigkeiten – und ich habe bekommen, was ich wollte.« »Und?« Singleton erklärte ihm, was er vorhatte. »Sie verlangen ziemlich viel«, sagte Muntwick schließlich. Singleton trat von einem Bein aufs andere, ohne jedoch zu antworten. »Einverstanden«, entschied der Milliardär zuletzt. »Ich gebe zu, daß ich Ihre Gefühle teile – darum geht’s schließlich auch, nehme ich an. Aber …« Seine Stimme klang plötzlich scharf. »Lassen Sie sich dadurch nicht von der Hauptsache ablenken!« Farrell lag in Montpellier in seinem kleinen Hotelzimmer, dessen Fenster auf eine Gasse hinausführte, auf dem massiven Eisenbett und starrte zur Zimmerdecke hinauf. Er hatte seinen Fahrer in Nîmes zurückgelassen. Dort würde der Mann am nächsten Morgen einen Leihwagen abholen und sich davon überzeugen, daß er soweit in Ordnung war, daß er bei einer anderen Filiale in Marseille zurückgegeben werden konnte. Dann würde er nach Montpellier kommen, um sich dort mit Farrell zu treffen, der jetzt mit hinter dem Kopf gefalteten Händen auf seinem Bett lag und vor Aufregung nicht schlafen konnte. Es war schön, wieder mit Singleton zusammen zu arbeiten, der nach Farrells Erfahrung einer der wenigen ›Schnüffler‹ war, der trotz seiner harten Schale ein Herz hatte. Er dachte an Vietnam zurück, wo Singleton ihm geholfen hatte, damit er ohne Probleme aussteigen konnte. Leute, die wie Farrell plötzlich nicht mehr mitmachen 192
wollten, machten sich rasch verdächtig. Was aus ihnen wurde, konnte davon abhängen, wie sehr sie verdächtigt wurden und welche Freunde sie hatten. Am besten erinnerte sich Farrell an ihre Zusammenarbeit in der Zeit, in der er sein Schmuggelimperium aufgebaut hatte. Sie waren damals nicht allzu oft zusammengekommen, aber eine Episode war ihm besonders im Gedächtnis geblieben. Singleton mußte zu einem Treffen jenseits der türkisch-sowjetischen Grenze. Farrell war dazu angeheuert worden – nicht als Pilot, sondern wegen seiner guten Verbindungen zu Schmugglerkreisen in der Türkei. Farrell wußte nicht, worum es bei diesem Treffen ging – Singleton hatte ihm nur das Nötigste erzählt – aber sie waren in einen Hinterhalt geraten. Farrell erinnerte sich daran, wie Singleton unter Beschuß zu ihm gerannt war, um ihm und dem verletzten türkischen Führer, der fast noch ein Junge war, zu helfen, um den Farrell sich seinerseits bemüht hatte. Wahrscheinlich hatte Singleton ihm bei dieser Gelegenheit das Leben gerettet. Was Farrell nicht wußte: Singleton hatte diesen Vorfall anders in Erinnerung für ihn stand im Vordergrund, daß Farrell dem jungen Türken das Leben gerettet hatte. Das Problem, vor dem Farrell jetzt stand, war nicht sonderlich schwierig. Seiner Schätzung nach hatte er reichlich Zeit. Morgen würde er mit Hilfe eines Insiders genau feststellen, wo die Hubschrauber der Firma stationiert waren. Die Firma, die ihn interessierte, vercharterte Hubschrauber für Kurier- und Sprühflüge. In Wirklichkeit existierten jedoch gewisse Querverbindungen zwischen ihr und auf dem Lande versteckten Heroinlabors. Farrell 193
wußte davon, weil er als Schmuggler über solche Dinge informiert sein mußte, obgleich er sich selbst niemals mit Drogen abgegeben hatte. Er hatte mit dem Gedanken gespielt, sich einen Hubschrauber auf legitime Weise zu verschaffen – indem er ihn charterte oder sogar kaufte. Aber beide Möglichkeiten brachten wieder neue Gefahren mit sich. Es war einfacher, einen zu stehlen. Und viel sicherer. Es würde Tage dauern, bis die Firma den Diebstahl anzeigte; unter Umständen verzichtete sie sogar darauf. Farrell drehte sich zur Seite und griff nach Martines Photo, das er an die Nachttischlampe gelehnt hatte. Er starrte es lange an, bevor er es zurückstellte, das Licht ausknipste und in unruhigen Schlaf voller surrender Rotorblätter abdriftete.
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16 Am Montag, dem 11. April, begannen am Spätvormittag Hubschrauber über den zweieinhalb Meter hohen Maschendrahtzaun hinweg auf dem 58 Hektar großen Gelände von Camp David einzufallen. Sie brachten Redakteure großer Zeitungen, Nachrichtenagenturen und Fernsehgesellschaften zu einer Pressekonferenz neuartigen Stils. Nach ihrer Ankunft wurden die Redakteure von Marinestewards in blauen Blazern zu dem graugrünen Hauptgebäude geleitet, in dem der Präsident sie bereits erwartete. Obwohl es noch nicht ganz Mittag war, bog sich ein langer Tisch unter einem Lunchbuffett, und ein Steward mit dem Präsidentensiegel auf der Brusttasche servierte kalifornischen Weißwein. Präsident Proctor, der abgespannt und gealtert wirkte, trank selbst nur Tonicwasser; da er jetzt Medikamente nahm, um schlafen zu können, seinen Blutdruck zu senken und bei Kräften zu bleiben, mußte er Alkohol meiden. Der Präsident machte die Runde und sprach über belanglose Kleinigkeiten, bis der letzte Besucher eingetroffen war. Dann verlor er keine Zeit, den Anwesenden zu erklären, weshalb diese Pressekonferenz sich von anderen unterschied: Er werde sie über den Stand der Geiselaffäre informieren, verlange jedoch, daß kein Wort davon gedruckt oder gesendet werde. Die Redakteure murrten vernehmlich, denn Proctor war seit einigen Tagen in den Medien unter Beschuß geraten, weil er es versäumt hatte, die Öffentlichkeit auf dem laufenden zu halten. 195
Die meisten Redakteure und Verleger akzeptierten, daß diese Auskunftspflicht ihre Grenzen hatte. Aber der Präsident schien auf Geheimhaltung um ihrer selbst willen versessen zu sein. Nicht einmal die häufig kolportierte Story, daß die Geiselnehmer Jennifer North einen Finger abgehackt und an eine amerikanische Botschaft geschickt hätten, war bisher bestätigt oder dementiert worden. Trotzdem behielten die Journalisten ihre gemurmelten Proteste jetzt für sich: Sie hatten wie immer Respekt vor dem Präsidenten – vor dem Amt, nicht der Person – und waren neugierig wegen der anwesenden Berater, darunter auch Mitglieder des Koordinierungsausschusses. Proctor stellte sie vor, machte eine Pause, breitete die Hände aus und fragte mit gezwungenem Lachen: »Möchten Sie mir nicht irgend etwas sagen?« Auch die Redakteure lachten, bevor sich eine Stimme aus ihrer Mitte erhob. »Mr. President«, begann Johnson von der ›Washington Post‹, »ich glaube, daß ich nicht nur für meine Kollegen, sondern auch für die Mehrheit unserer Bürger spreche, wenn ich sage, daß die Nation einen Anspruch darauf hat, von Ihnen mehr ins Vertrauen gezogen zu werden.« Proctor hob eine Hand, um das zustimmende Murmeln zu unterbrechen und weitere Kommentare zu unterbinden. »Lassen Sie sich von mir informieren«, schlug er vor. Er sprach vierzig Minuten lang und schilderte alles, was bisher bekannt war, was unternommen worden war und was getan werden würde. Danach begann er seine Geheimhaltungspolitik zu rechtfertigen. »Dahinter steckt durchaus nichts Sensationelles, Gentlemen, sondern nur die Tatsache, daß weder wir noch die Sowjetunion nachgeben werden. Wir stehen unerschütterlich fest.« Er zeigte dramatisch auf eine 196
Standuhr in der hintersten Ecke des Raumes. »Wir hoffen noch immer, die Geiseln aufzuspüren, bevor das Ultimatum abläuft. Wir wollen, daß sie am Leben bleiben. Wie ich Ihnen geschildert habe, tun wir alles Menschenmögliche, um das zu erreichen.« Sein Tonfall wurde Verschwörerisch. »Außerdem versuchen wir, den Geiselnehmern eine Mitteilung zukommen zu lassen, um sie dazu zu bewegen, ihr Ultimatum zu verlängern, damit uns mehr Zeit bleibt.« Dann war Proctor wieder ganz Staatsmann. »Es liegt in unserem Interesse, sie glauben zu machen, wir seien unter Umständen verhandlungsbereit. Sobald sie die Bestätigung dafür haben, daß wir keinen Deut nachgeben werden …« Seine Hand zuckte dramatisch herab. »Aber das ist noch nicht alles. Was wir auch tun, um die Geiselnehmer zu irgend etwas zu bewegen, wird den Sowjets als bewußt unfreundlicher Akt erscheinen. Ich brauche Ihnen wohl kaum zu sagen, daß wir das zum gegenwärtigen Zeitpunkt unbedingt vermeiden müssen. Immerhin hat Generalsekretär Bukaschow sich im Gegensatz zu seinen unmittelbaren Amtsvorgängern sehr um das Wiederaufleben der Entspannungspolitik verdient gemacht.« Lange bevor Proctor mit seinen Ausführungen zu Ende war, stand fest, daß er die meisten seiner Zuhörer – Gegner wie Anhänger – überzeugt hatte. Sie würden die von ihm verhängte Nachrichtensperre unterstützen, obwohl sie ihnen allen widerstrebte. Nach diesem offiziellen Teil kehrten die Stewards zurück, um wieder zu servieren. Proctor setzte seinen Rundgang fort. Er kannte Craven von der ›St. Petersburgh Times‹ nicht persönlich, aber Watson stieß ihn an und flüsterte: »Das ist er!« 197
Proctor, der Cravens Blick auf sich gerichtet sah, nickte distanziert. Er wollte freundlich sein, aber nicht in die Verlegenheit geraten, jetzt mit dem Mann reden zu müssen. Cravens Blatt hatte am vergangenen Freitag einen Artikel von Ralph Leger gebracht, der wie alle übrigen Berichte über die Fahndung nach den Terroristen routinemäßig ausgewertet worden war. Ein Absatz im unteren Drittel des Artikels hatte die Aufmerksamkeit eines der Auswerter erregt, der ihn zwar nicht für sonderlich wichtig gehalten, aber trotzdem gekennzeichnet und weitergegeben hatte. Bill Watson hatte ihn erst an diesem Montagmorgen zu Gesicht bekommen. Der gekennzeichnete Absatz enthielt die Vermutung, die Firma, bei der Ross arbeitete, könnte eine Tarnorganisation für eine amerikanische Regierungsbehörde sein. Weitere Spekulationen wurden nicht angestellt, aber Watson hatte mit dem Präsidenten darüber gesprochen. Recherchen in dieser Richtung mußten schnellstens unterbunden werden. Etwas Nützliches, worauf KGB-Agenten fast immer verzichten mußten – wenn sie nicht gerade als ›Maulwürfe‹ in einem Land lebten, dessen Staatsbürger sie angeblich waren –, waren Kreditkarten. Deshalb wurde Gosori am selben Morgen in Paris an der Rezeption kritisch unter die Lupe genommen, als er sich ein Hotelzimmer nahm, um nach drei Tagen endlich einmal wieder richtig schlafen zu können. In einem weniger vornehmen Hotel als im George V hätte der Empfangschef vermutlich eine Vorauszahlung verlangt. Aber das wäre hier undenkbar gewesen. Er 198
würde sich darauf beschränken, den Sicherheitsdienst aufzufordern, diesen Gast besonders im Auge zu behalten. Gosori ließ sich nicht anmerken, ob er das leichte Zögern des anderen wahrgenommen hatte. Er war nicht nur todmüde, sondern vor allem noch immer mit dem beschäftigt, was er getan hatte: Er hatte Hardy freigelassen, um ihn die Nachricht überbringen zu lassen, die Russen seien bereit, ihren Minister durch eine Sondervereinbarung freizukaufen. Er hatte einen Auftrag ausgeführt. Er hatte nur getan, was ihm befohlen worden war. Aber während er zusah, wie der Page das Zimmer verließ, seinen Mantel über einen Sessel warf und sich aufs Bett fallen ließ, war ihm das ein schwacher Trost. Falls irgendwas schiefging, stand außer Zweifel, wer den Kopf würde hinhalten müssen. Singleton befand sich ebenfalls in Paris, war nicht weniger müde und von ähnlichem Luxus umgeben, ohne in der richtigen Stimmung zu sein oder genügend Zeit zu haben, um ihn zu genießen. Für ihn war ein Zimmer im Hotel Grillon reserviert worden, von dem aus es nicht weit zur amerikanischen Botschaft war. Das sollte vermutlich dazu beitragen, die Übergabe zu beschleunigen. Eine Stunde nach seiner Ankunft wurde an die Zimmertür geklopft. Draußen stand ein Page mit einem Samsonite-Aktenkoffer, auf dessen Anhänger Singletons Name zu lesen war. »Den haben Sie unten stehenlassen«, sagte der Page. Singleton gab ihm ein Trinkgeld, nahm den Aktenkoffer mit ins Zimmer, zog einen Ring mit kleinen Dietrichen aus 199
der Jackentasche und öffnete damit beide Schlösser in fünf Minuten. Kemps ›Bestellung‹ war in Watte und Styroporhüllen verpackt, die weniger als die Hälfte des Koffers einnahmen. Obenauf lag eine blanke Metallbüchse mit Schraubverschluß: etwa acht Zentimeter lang und mit drei Zentimetern Durchmesser. Singleton schraubte den Deckel ab und ließ eine der Kapseln in seine Handfläche gleiten – klein, länglich, rot-grün, an Vitaminkapseln erinnernd. Außerdem lag in dem Aktenkoffer auf Singletons Anforderung ein Zettel mit einem Namen und einer Telefonnummer in Bilbao. Zuletzt nahm Singleton ein kleines, flaches Etui heraus und öffnete es vorsichtig. Auf blauem Samt lag ein Silberdollar. Singleton nahm ihn heraus und starrte ihn ausdruckslos an. Er wußte, was er vor sich hatte; er wußte, daß er die Münzhälften nur gegeneinander zu verdrehen brauchte, damit die Vorderseite sich öffnete und eine fünf Millimeter lange Nadel herausschnellen ließ. Unter einem Mikroskop wäre zu erkennen gewesen, daß die Nadel spiralförmige Rillen wie ein Bohrer aufwies. Dies war eine der raffiniertesten CIA-Erfindungen – die Nachfolgerin der L-Pille auf Zyankalibasis, die OSSAgenten bei sich gehabt hatten. Die Pille hatte tatsächlich funktioniert – aber oft erst nach viertelstündigem Todeskampf. Die Rillen dieser Nadel enthielten dagegen Schalentiergift. Ein Stich genügte: Das fast augenblicklich auftretende Kribbeln in Fingern und Lippen zeigte, daß das Gift wirkte, und der Tod trat binnen zehn Sekunden schmerzlos durch Herz- und Atemlähmung ein. Singleton hatte nicht darum gebeten; zu dem Etui gehörte auch kein Begleitschreiben. Aber was Warren damit sagen wollte, kam klar zum Ausdruck. 200
Am späten Vormittag des gleichen Tages hatte Farrell, der sich fast 350 Kilometer südlich von Paris aufhielt, seine Suche auf zwei ganz bestimmte Hubschrauber konzentriert. Einer der beiden stand auf dem kleinen Flugplatz der Firma, auf die Farrell es abgesehen hatte, dicht vor dem Hangar; der andere, der ihr ebenfalls gehörte, befand sich sechzig Kilometer weit entfernt im Einsatz als Sprühflugzeug. Da dieser Einsatz mehrere Tage lang dauern würde, blieb die Maschine zwischendurch abgesperrt und mit einer Plane geschützt auf den Feldern stehen. Theoretisch waren beide zu klein für das, was sie leisten sollten: sieben Mann tragen – und dazu natürlich Farrell auf dem Pilotensitz. Der Hubschrauber vor dem Hangar war eine Bell Jetranger 206B. Auch das Sprühflugzeug war ein amerikanischer Hubschrauber: eine Enstrom 280L Hawk. Die Bell war für fünf Personen ausgelegt, die Enstrom war viersitzig. Wegen der beengten Platzverhältnisse bei seiner Landung im Gefängnis wollte Farrell jedoch einen kleinen Hubschrauber. Der Innenhof, auf dem er nach Singletons Vorstellung landen sollte, wies kaum zwanzig Meter Durchmesser auf, so daß der Abstand zwischen den Spitzen der Rotorblätter und den Mauern nur wenige Meter betragen würde. Knapp, viel knapper, als die meisten Hubschrauberpiloten selbst unter Idealbedingungen für sicher möglich gehalten hätten. Und Farrell wollte bei Dunkelheit schnell hereinkommen. Nach der Rückkehr in sein Hotelzimmer ließ er sich in den einzigen Sessel fallen und dachte nach, ohne den Radiolärm im Hintergrund bewußt wahrzunehmen. Die Bell hatte zwei Vorteile. Sie war schneller – ihre Höchstgeschwindigkeit betrug 235 Stundenkilometer, während die Enstrom nur 190 erreichte –, aber diese 201
Tatsache war nicht ausschlaggebend. Viel wichtiger war, daß sie einen nur zweiblättrigen Rotor hatte. Sobald die Blätter in Längsrichtung gedreht waren, konnte der Hubschrauber ohne weitere Demontage auf dem Sattelschlepper verladen werden, mit dem Kemp nach Südfrankreich kommen würde. Die Enstrom hatte andererseits drei Rotorblätter, die abgenommen werden mußten, bevor die Maschine mit einer Winde auf die Ladefläche gezogen werden konnte, und später wieder montiert werden mußten. Keine schwierige Arbeit, aber etwas, das Zeit kostete. Dieser Zeitbedarf ließ sich jedoch auf ein Minimum reduzieren. Theoretisch wurden die Verschraubungen der Rotorblätter mit einem Drehmomentschlüssel angezogen, damit sie genau richtig festsaßen. Praktisch war es jedoch auch möglich, wie Farrell wußte, sie einfach nur festzuziehen – so hielten sie nicht lange, aber das war auch gar nicht nötig. Und das Nutzlastproblem? Auch hier war die Bell überlegen, denn sie sollte rund 770 Kilogramm tragen können, während es bei der Enstrom nur 500 waren. Aber auch dieser Unterschied brauchte in der Praxis nicht entscheidend zu sein. Farrell würde aus dem Hubschrauber, für den er sich entschied, alles Überflüssige ausbauen – Funkgeräte, einen Teil der Instrumente, sogar die Sitzpolsterung – und nicht mehr Treibstoff als unbedingt nötig mitnehmen. Darüber hinaus vertraute er auf den hohen Sicherheitsfaktor, mit dem die Hersteller rechneten, wenn sie eine bestimmte maximale Zuladung angaben. Farrell überlegte noch immer, als der Anruf kam: Singleton hatte den Koffer in einem Schließfach auf dem Flughafen Toulouse zurückgelassen und befand sich jetzt auf dem Weg nach Spanien. 202
Farrell wurde plötzlich auf den Radiolärm aufmerksam, stellte wenigstens sein eigenes Gerät ab, schenkte sich einen Cognac ein und traf seine Entscheidung. Er würde die Enstrom nehmen. Der geringe Größenunterschied – sie hatte 10,36 Meter Rotordurchmesser, die Bell hatte 10,16 Meter – spielte keine Rolle. Entscheidend war, daß sie leichter zu stehlen war und daß ihnen mehr Zeit blieb, bis der Diebstahl entdeckt werden würde. Farrell schenkte sich nach und begann zu schwitzen. Er konnte nur hoffen, daß der Hubschrauber morgen abend noch an derselben Stelle stehen würde. Kemp parkte den Lieferwagen in einer Parkbucht an der Zufahrt zum Fährhafen Newhaven, als die Abenddämmerung einsetzte. Hier würde ihn niemand belästigen; viele Fahrer, die um 22 Uhr auf die letzte Fähre wollten, legten nach langer Fahrt eine Pause ein, um sich auszuruhen, Sandwiches zu essen und Tee aus Thermosflaschen zu trinken. Der Sattelschlepper rollte knapp vierzig Minuten später an ihm vorbei – auch ohne einen Blick aufs Kennzeichen unverwechselbar: mit der knallroten Aufschrift ›Zedline Carriers‹ auf grünem Untergrund. Kemp sah ihn im Rückspiegel auftauchen, beobachtete, wie er vorbeifuhr, und ließ dann den Motor an, um dem Schlepper zum Hafen zu folgen. Dort würden sich ihre Wege trennen. Kemp würde sich in die Schlange der bereits wartenden Fahrzeuge einreihen, während der LKW-Fahrer erst noch ins Büro seiner Spedition und dann zum Zoll mußte, bevor er auf die Fähre konnte. 203
Das spielte jedoch keine Rolle. Wichtig war nur die Bestätigung, daß der Sattelschlepper pünktlich eingetroffen war. Darüber hinaus stellte Kemp zufrieden fest, daß er mit dem Zugfahrzeug vertraut war: Er kannte diesen großen Volvo mit Zwölfmeterauflieger. Kemp kam mit jedem Fahrzeug zurecht, wie er stolz behauptete. Aber in diesem Fall würde er keine Minute brauchen, um sich im Fahrerhaus zurechtzufinden. Und das konnte am nächsten Tag wichtig sein, denn in rund achtzehn Stunden würde er diesen Sattelschlepper irgendwo in Südfrankreich kapern. Er reihte sich in die Warteschlange ein, schaltete den Motor aus und machte es sich auf dem Fahrersitz bequem. Dann schloß er die Augen und stellte sich einen herabstoßenden Falken vor.
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17 Der Ferienclub lag knapp hundert Kilometer westlich von Bilbao – einer der vielen in der Provinz Santander, kaum 15 Kilometer von der gleichnamigen Stadt entfernt. Er lag auf einer kleinen Insel, die mit dem Festland durch einen schmalen Damm verbunden war. Seine Gäste waren die Alten und die Reichen; die meisten von ihnen kamen mit Jachten oder Privatflugzeugen, für die auf der Insel ein kleiner Landeplatz angelegt worden war. Auch Muntwick gehörte zu ihnen: Er hatte den Club vor acht Jahren aufgekauft, als der Trinkwasserskandal im Club Solares die Gästezahlen auch der anderen Clubs massiv reduziert hatte. Muntwick, der dort Stammgast gewesen war, hörte von einer bevorstehenden Schließung und übernahm den Club. Dort wachte Singleton kurz nach acht Uhr in Muntwicks kleiner Villa auf. Das weißgestrichene Schlafzimmer war völlig kahl und schmucklos, und er hatte Schwierigkeiten, sich zu orientieren. Als er aufstand und die Vorhänge aufzog, hatte er eine ganze Siedlung ähnlicher kleiner Villen vor sich. Allerdings waren nur wenige bewohnt; für die meisten Gäste war es um diese Zeit noch zu kalt. Singleton ging in die mit der Eßecke kombinierte Küche und stellte die Kaffeemaschine an. Irgend jemand war bereits da gewesen, als er noch geschlafen hatte, und hatte einen kleinen Korb Gebäck gebracht. Während er darauf wartete, daß der Kaffee fertig wurde, biß Singleton in ein Hörnchen und machte einen Rundgang durch den Bungalow. Das Wohnzimmer war so schmucklos wie das Schlafzimmer. Die Tür zu einem weiteren Raum war abgesperrt, aber Singleton hatte sich 205
am Abend zuvor den Schlüssel dazu geben lassen. Dieser Raum wirkte eher bewohnt: Seine Einrichtung bestand aus einem Sofa, einem kleinen Schreibtisch mit Drehsessel, einem Fernseher, einer Weltzeituhr, einem kleinen Computer und einem halben Dutzend Telefone. Von hier aus hielt Muntwick Verbindung zu seinem Imperium, wenn er dreimal im Jahr zur Erholung nach Spanien kam. Und von hier aus würde Singleton übers Telefon, das jedes Gespräch automatisch verschlüsselte, oder über das in den Wandschrank eingebaute Funkgerät mit den Fernmeldezentralen in fünf Staaten in Verbindung bleiben. Von hier aus würde er die Ereignisse überwachen und koordinieren, bis es Zeit zum Losschlagen war. Rolf, Karen und ein dritter Terrorist namens Dieter Hofmann kamen am frühen Nachmittag in der Küche des Hauses in Lüttich zu einer Besprechung zusammen. Hofmann, der vormittags angekommen war und dann zwei Stunden tief geschlafen hatte, leitete die Diskussion. Er begann mit einem Befehl, den er aus Deutschland mitgebracht hatte: Die Gefangenen sollten umquartiert werden. Sie befanden sich bereits länger an einem Ort, als ratsam gewesen wäre. Danach stellte er eine Frage zur Diskussion. Sollte die durch das Abhacken von Jennifer Norths Finger ausgesprochene Warnung bekräftig werden – und wodurch konnte das geschehen? »Wir könnten ein Tonband aufnehmen, auf dem der junge Muntwick um sein Leben fleht«, schlug Rolf vor. »Dazu bringe ich ihn in ’ner halben Stunde.« »Das reicht nicht«, widersprach Karen. »Diesmal muß 206
ein Toter her!« »Wer?« »Ross. Wer sonst? Als Lebender ist er wertlos. Kein Mensch kümmert sich darum, was aus ihm wird. Unsere Verhandlungsposition wird durch ihn nicht besser. Aber als Toter …« »Was schlägst du vor?« Während sie sich eine neue Zigarette anzündete, war sie sich der Blicke der beiden Männer bewußt. »Ein paar Spuren, damit Außenstehende sich Sorgen darüber machen, was die anderen wohl auszustehen haben. Ihr wißt schon: Prellungen, ein paar Brandwunden, irgendwas gebrochen. Dann ein Kopfschuß. Wir könnten die Leiche in Brüssel zurücklassen. Das wäre ein guter Ort dafür.« Hofmann wandte sich an Rolf. »Was hältst du davon?« Rolf konnte sich nicht wirklich für den Vorschlag begeistern. Aber er wollte seine Chancen bei Karen verbessern. Sie war bisher sehr abweisend gewesen. »Wir verlieren nichts, indem wir ihn umbringen. Wie Karen gesagt hat, erhöht das den Druck auf die anderen.« Hofmann schob seinen Stuhl zurück. Als einziger der drei Anwesenden wußte er, daß Russen wie Amerikaner sich um Geheimkontakte bemüht hatten, um womöglich zu inoffiziellen Vereinbarungen zu gelangen. Er hätte Rücksprache nehmen können, aber er war ermächtigt, auch selbst zu entscheiden. Er wußte, daß die beiden warteten, aber er brauchte Zeit, um sich die Sache zu überlegen. »Nein«, sagte er schließlich. »Laßt ihn vorerst am Leben. Die anderen wissen auch so, daß wir’s ernst meinen.« 207
Hofmann beobachtete Karens Miene. Ausdruckslos, aber der unterschwellige Zorn war zu ahnen. »Ich schlage vor, daß wir sie transportfertig machen«, fuhr er energisch fort. »Nach Einbruch der Dunkelheit werden sie von einem speziell ausgebauten Lastwagen abgeholt.« Er wandte sich an Rolf. »Du bleibst hier in Belgien. Möglicherweise wirst du später noch gebraucht.« Dann sprach er Karen an. »Du kommst mit uns«, forderte er sie auf – auch um sie zu besänftigen, denn das war nicht vorgesehen gewesen. »Vielleicht wird noch erforderlich, was du vorgeschlagen hast.« Die Meldung, daß die Geiselnehmer bereit seien, auf den Handel einzugehen, wurde bei Singletons Anruf um 13 Uhr durchgegeben. Es war eine knappe, verschlüsselte Nachricht, deren Text er in Italien angegeben hatte. Aber er wußte, daß die anderen die Kontaktnummer innerhalb weniger Stunden erneut anrufen würden, denn auch das war Bestandteil der Vereinbarung. Er antwortete, daß er »lokal Verbindung aufzunehmen« wünsche, und fand sich ungeduldig damit ab, auf die nächste Mitteilung warten zu müssen. Dan Halloran war 41 und seit fünfzehn Jahren LKWFahrer, seitdem er durch die Schließung einer Fabrik für Autoersatzteile bei Birmingham arbeitslos geworden war. Nachdem er sich einige Zeit als Aushilfsfahrer über Wasser gehalten hatte, war er ganz umgesattelt, weil ihm die Freiheit, das Alleinsein und die Möglichkeit, schwarz dazuzuverdienen, gefielen. Er hatte schon bei den verschiedensten Firmen gearbeitet: bei großen, angesehenen Speditionen, die alles vorschriftsmäßig abwickelten, aber auch bei kleinen, keineswegs angesehenen, oft dicht vor dem Bankrott stehenden 208
Fuhrunternehmen, mit deren Lastzügen man oft so lange unterwegs war, daß man Halluzinationen bekam … Er hatte Möbel in den Nahen Osten, Arzneimittel nach Spanien, Werkzeugmaschinen in die Türkei gebracht. Und oft auch irgendeine Beiladung befördert – Kleinigkeiten, von denen niemand wissen durfte. Seit fast einem Jahrzehnt verdiente Halloran durch diese illegalen Transporte mehr, als er offiziell als Fahrer ausbezahlt bekam. Aber er war stets vorsichtig gewesen: Er war niemals verhaftet und nur einmal verdächtigt worden – und in diesem einen Fall war das Beweismaterial jämmerlich unzulänglich gewesen. Jetzt war er mit einer Ladung Autozubehör nach Oporto in Portugal unterwegs. Der Auftrag war rasch arrangiert worden, um den wahren Zweck dieser Fahrt zu tarnen. Die Spedition, bei der Halloran arbeitete, war so betrügerisch und vorsichtig wie er selbst. Seine Ladung diente lediglich als Tarnung; irgendwo in der Nähe von Bordeaux würde er ein Paket übernehmen – vermutlich Kokain oder dergleichen – und in dem eigens umgebauten Dieseltank seines Volvos verstauen. Da dieser Auftrag so kurzfristig übernommen worden war, hatte Halloran den Ärmelkanal auf der Strecke Newhaven-Dieppe überqueren müssen, eine bei LKWFahrern wenig beliebte Route, auf der jedoch aus diesem Grund immer Plätze frei waren. Auf längeren Strecken wie Southampton-Le Havre hatte man Gelegenheit, sich auszuschlafen, und kam ausgeruht in Frankreich an. Im Gegensatz dazu war man vor Müdigkeit groggy, wenn man nach vier Stunden Überfahrt in Dieppe eintraf. Halloran aß am Steuer. Hätte er sich an die gesetzlichen Bestimmungen gehalten, die nur acht Stunden Fahrzeit 209
oder 450 Kilometer Strecke zuließen, hätte die Fahrt nach Portugal viereinhalb bis fünf Tage gedauert. Er würde die Strecke in drei Tagen schaffen und jeweils eine Geldstrafe zahlen, falls er kontrolliert würde. Er erreichte Tours am frühen Nachmittag – genau nach Plan – und bog dort auf die nach Poitiers führende Autobahn ab. Unterdessen hatte er seinen toten Punkt überwunden und schob eine neue Kassette in die Stereoanlage des Volvos. Singletons erster Treff fand um 17.30 Uhr in einem Straßencafe in Santander statt. Diese Zusammenkunft war so rasch vereinbart worden, daß er den Verdacht hatte, die Geiselnehmer hätten mit der baskischen ETA Verbindung aufgenommen, bevor sie ihn wissen ließen, daß sie seinen Vorschlag akzeptierten. Das kurze Treffen verlief in nervöser Atmosphäre. Singleton redete, und der ältere Mann in dem dunklen Anzug und mit der randlosen Brille trank ein Bier und hörte zu. Dann entfernte er sich wortlos in Richtung der Plaza del Generalissimo, während Singleton zurückblieb, die verbleibenden Tage zählte und an Kemp und Farrell dachte. Gosori saß wieder in Hardys Appartement, und sein Zorn wurde durch die Tatsache gesteigert, daß ihm der Armagnac und die Zigaretten ausgegangen waren. Er vertrieb sich die Zeit damit, daß er mit den Pistolen spielte, sie lud und entlud und mit ihnen auf imaginäre Gegner zielte. Das Ultimatum war abgelaufen, ohne daß die Geiselnehmer sich gemeldet hatten. Er hatte Anweisung 210
gehabt, Hardy laufen zu lassen, nachdem er ihm den sowjetischen Vorschlag unterbreitet hatte. Gosori wußte jedoch recht gut, was passieren würde, falls Hardy nicht zurückkam. Die kleinen Leute mußten als erste den Kopf hinhalten; je höher man stand, desto leichter konnte man sich retten. Gosori fühlte jedoch auch, daß er nahe daran war, die Nerven zu verlieren: Er brauchte den Alkohol und die Zigaretten, die er nicht hatte. Er überlegte, ob er es riskieren durfte, das Appartement für kurze Zeit zu verlassen, um rasch einzukaufen. Er redete sich ein, daß er nicht lange fortbleiben würde, daß zehn Minuten Abwesenheit nicht schaden konnten. Als er eben seinen Mantel anzog, hörte er Schritte auf der Treppe. Gosori erstarrte und griff nach der auf dem Couchtisch liegenden Astra Magnum. Dann wurde an die Tür geklopft. »Ich bin’s – Hardy.« Der Russe hakte die Sperrkette aus, trat zurück und stand schußbereit da. »Die Tür ist offen.« Er hatte nur die Schritte eines Mannes gehört, aber er bildete sich ein, dort draußen stünden mehrere: alle bewaffnet, alle darauf aus, ihn zu erledigen. Gosori war sich seines Herzklopfens, seiner trockenen Kehle und seiner feuchten Hände bewußt. Sie sollten ihn zurückrufen; das sollten sie wirklich. Er hatte gute Arbeit geleistet und doch wohl seinen Teil getan? Er war mit den Nerven am Ende. Hardy war allein. Als er die Tür hinter sich schloß, mußte Gosori seiner aufgestauten Angst ein Ventil verschaffen. »Warum kommen Sie so spät, verdammt noch mal?« fauchte er ihn an. 211
»Es ist nicht einfach gewesen.« »Und?« »Ich habe jemand, der bereit ist, mit Ihnen zu reden.« Da Kemp die Route des Sattelschleppers kannte und ein schnelleres Fahrzeug hatte, konnte er Fühlung mit dem Volvo halten, obwohl er mehrere Pausen einlegte. Etwa 70 Kilometer nördlich von Bordeaux achtete er jedoch darauf, in Sichtweite des Volvos zu bleiben; er würde den Kontakt nicht mehr abreißen lassen, bis sie nach knapp 25 Kilometern den vereinbarten Treffpunkt erreichten. Neben sich auf dem Beifahrersitz hatte er ein großes Päckchen, das er bei einer seiner Pausen zusammengestellt hatte. Es maß etwa 30 mal 20 Zentimeter, war in kräftiges braunes Papier verpackt, dick zugeklebt und verschnürt. Obwohl es interessant aussah, enthielt es in Wirklichkeit nur ein halbes Dutzend zusammengefaltete Zeitungen. Kemp studierte den nächsten Wegweiser sorgfältig. Nach Farrells Angaben war der Rastplatz jetzt nur mehr sieben Kilometer entfernt. Der etwas abseits der Straße angelegte Rastplatz war fast leer, aber die Übergabe war so geplant, daß sie selbst dann nicht aufgefallen wäre, wenn mehr Betrieb geherrscht hätte. Trotzdem hatte Kemp es unter diesen Umständen natürlich leichter. Er fuhr rechts neben den Volvo, öffnete seine Tür und beugte sich mit dem Päckchen in der erhobenen Hand aus dem Wagen. Der LKW-Fahrer, der rechts saß, öffnete seine Tür weit und beugte sich hinaus, um danach zu greifen. Das Ganze war lächerlich einfach. Halloran drohte bereits zu kippen, als Kemp sein Handgelenk zu fassen 212
bekam und kräftig daran ruckte. Der Fahrer überschlug sich halb, bevor er auf den Rücken krachte. Er war zu überrascht, zu sehr außer Atem, zu benommen, um Widerstand zu leisten, aber Kemp hielt den Totschläger bereit. Er traf Halloran damit hinter dem Ohr, während er gleichzeitig begann, ihn in den Kastenwagen zu zerren. Ein dritter Mann stieß zu ihnen – einer von Farrells Leuten, der seit einer Stunde auf dem Rastplatz bereitstand. Er packte die Beine des LKW-Fahrers und half Kemp, ihn über die Sitze in den Laderaum zu hieven. Halloran war bewußtlos, trotzdem knebelten und fesselten ihn die beiden rasch. Weder Kemp noch Farrells Mann verloren dabei ein einziges Wort. Danach stieg Kemp aus dem Lieferwagen und kletterte ins Fahrerhaus des Volvos. Farrells Mann deckte den Bewußtlosen mit einigen leeren Säcken zu, setzte sich ans Steuer und fuhr davon. Bevor er den Wagen ablieferte, würde er den LKW-Fahrer zu einem Haus bringen, in dem Halloran eine Woche gefangengehalten werden würde. Er selbst kannte nur seinen Auftrag; was diese Entführung bedeutete, interessierte ihn nicht weiter. Kemp wartete, bis er abgefahren war, und machte sich dann mit dem Fahrerhaus vertraut. Er ließ den Volvo zur Ausfahrt des Rastplatzes rollen und wartete, bis die Straße links von ihm frei war, so weit das Auge reichte. Obwohl er diesen Fahrzeugtyp kannte, würde er einige Minuten brauchen, um wieder das richtige Gefühl für ihn zu bekommen. In Bordeaux wäre Halloran nach Süden in Richtung Grenze weitergefahren; Kemp bog nach Südosten in Richtung Toulouse ab. Er fuhr zügig, aber vorsichtig. Er wollte nicht angehalten werden, obwohl er Hallorans persönliche Papiere durch seinen gefälschten Paß und seinen Führerschein ersetzt 213
hatte. Trotzdem wollte er unter keinen Umständen auffallen. Eine Stunde nach Einbruch der Dunkelheit erreichte Kemp die LKW-Werkstatt am Stadtrand von Toulouse; dank Farrells genauer Wegbeschreibung hatte er keine Mühe gehabt, sie zu finden. Er fuhr mit dem Volvo in die Wartungshalle, deren Tore sich sofort hinter ihm schlossen. Als er aus dem Fahrerhaus kletterte, machten Farrells Männer sich bereits an die Arbeit. Kemp beobachtete sie von dem als Büro dienenden Glaskasten aus. Ein Mann brachte ihm Rotwein, kalten Braten, Brot und eine Thermoskanne Kaffee, aber er sah den Engländer dabei kaum an: Wie alle anderen wollte er so wenig wie irgend möglich wissen. Der Auflieger entsprach den TIR-Richtlinien, was bedeutete, daß er beladen, kontrolliert und plombiert Staatsgrenzen passieren konnte, ohne jedesmal vom Zoll kontrolliert zu werden, bis er das Bestimmungsland erreicht hatte. Die Grundlage dieses von den Vereinten Nationen geförderten Straßenverkehrsabkommens waren geschlossene Laderäume mit nur einer Tür, die vom Zoll des Herkunftslandes plombiert werden mußte. Diese Plomben unterschieden sich von Staat zu Staat. Betrügerische Fahrer bevorzugten italienische Plomben mit Bindfäden, die zerschnitten und wieder verknotet werden konnten, wobei der Knoten so angebracht wurde, daß er nicht auf den ersten Blick sichtbar war. Auch die portugiesischen waren beliebt – wer geschickt war, konnte sie mit einer Nadel lockern und abnehmen. Die Plomben an der zweiflügligen Tür dieses Aufliegers waren jedoch so sicher wie möglich: Sie bestanden aus Spezialdraht mit Bleiplomben, die von einem britischen 214
Zollbeamten mit einer Plombierzange geschlossen worden waren. Sie ließen sich aufzwicken, aber nie wieder schließen. Kemp beobachtete, wie die Männer die Plomben öffneten, die Hecktür aufmachten und die Kartons mit Autozubehör ausluden. Er machte sich keine Sorgen wegen der Plomben. Farrells Organisation war clever genug, um den richtigen Draht und eine Plombierzange zur Verfügung zu haben. Während der Auflieger entladen wurde, fingen drei weitere Männer an, den Firmennamen auf beiden Seiten mit selbstklebender Kunststoffolie abzudecken. Darauf brachten sie einen neuen Firmennamen und die in Gelb ausgeführte Silhouette eines laufenden Pumas an – alles aus der gleichen Klebefolie, mit der selbstfahrende Unternehmer häufig die Außenflächen ihrer Wagen gestalteten. Als nächstes wurden die Kennzeichen von Zugfahrzeug und Auflieger gewechselt. In dem nun leeren Laderaum verstauten zwei Männer eine Winde mit Stahlkabel und einen kleinen Berg Nylongurte zur Befestigung des gestohlenen Hubschraubers. Nach kaum einer Stunde begann einer der Männer bereits damit, Polaroidbilder von dem Auflieger zu machen, um sie an die gefälschte Bestätigung zu heften, daß dieses Fahrzeug kontrolliert und für die beabsichtigte TIR-Verwendung freigegeben worden war. Unmittelbar danach verschwanden die Männer. Kemp aß das letzte Stück Brot und trank seinen Kaffee aus. Er verließ das Büro, machte einen Rundgang um den Sattelschlepper und inspizierte den Laderaum mit der festgeschraubten Winde und den langen Haltegurten. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß alles in 215
bester Ordnung war, kletterte er ins Fahrerhaus, streckte sich angezogen in der Koje aus und schlief bald ein. Der Mann, der ihm das Essen gebracht hatte, weckte ihn um 2.15 Uhr. Im hellen Neonlicht des kleinen Büros trank Kemp wieder Kaffee und prüfte dabei den Inhalt der Mappe mit Transportpapieren: Transitgenehmigungen für Frankreich und Spanien, TIR-Dokumente, eine Ladeliste, der Kraftfahrzeugschein, eine grüne Versicherungskarte, eine Shell-Kreditkarte … »Alles da«, versicherte ihm der Mann. »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.« Kemp nickte wortlos. Am Mittwoch, dem 13. April, um 2.35 Uhr wurde das riesige Hallentor wieder geöffnet, und der Sattelschlepper rollte auf die RN 20 hinaus. Im Fahrerhaus war es noch kalt, aber Kemp glühte vor Aufregung. Der Wagen setzte Farrell kurz vor drei Uhr in Sichtweite des abgestellten Hubschraubers ab. Der Fahrer half ihm, das Dutzend Kerosinkanister auszuladen, bevor er in Richtung Marseille davonfuhr. Farrell, der die Kanister vor sich stehen hatte, blieb zunächst im Schutz einer Baumgruppe. Er bezweifelte, daß er den Treibstoff brauchen würde – Piloten betankten ihre Maschinen im allgemeinen abends, um morgens Zeit zu sparen –, aber es war besser, auf alles vorbereitet zu sein. Er beobachtete den Hubschrauber durch sein Nachtglas. Die Maschine stand etwa 150 Meter von ihm entfernt und war mit einer Plane abgedeckt. Farrell hatte eine Reisetasche mitgebracht, aus der er jetzt eine Thermoskanne mit schwarzem Kaffee holte. Während er langsam einen Becher Kaffee trank, sah er mehrmals auf 216
seine Uhr. Kleine Hubschrauber dieses Typs waren normalerweise nur mit Zusatzinstrumenten nacht- und blindflugtauglich. Farrell hatte jedoch sein Nachtglas mitgebracht und würde ohnehin erst kurz vor Anbruch der Morgendämmerung starten, weil ein nachts sehr tief fliegender Hubschrauber allzuleicht unerwünschte Aufmerksamkeit erregen konnte. Um 3.40 Uhr nahm er seine Reisetasche, überstieg eine Hecke und folgte dem Feldrain, bis er den Hubschrauber erreichte. Er zerschnitt die Gurte, von denen die Plane gehalten wurde, zog sie herunter und versuchte, die Tür zu öffnen. Sie war wie erwartet abgesperrt, aber der vierte Schlüssel paßte. In der Kabine betätigte Farrell den Hauptschalter und warf einen Blick auf die Treibstoff anzeige. Der Vorrat genügte reichlich für die Strecke, die er fliegen wollte. Er schnallte sich an, startete das Triebwerk und kuppelte den Rotor ein. In der nächtlichen Stille war das Knattern der Rotorblätter erschreckend laut. Es dauerte nur zwei Minuten, bis die Instrumente anzeigten, daß Druck, Temperatur und Drehzahl im grünen Bereich lagen. Aber diese Minuten wurden für ihn zu einer kleinen Ewigkeit. Schließlich gab Farrell Gas, zog den Blattverstellhebel hoch und drückte gleichzeitig den Steuerknüppel nach vorn, so daß der Hubschrauber schräg zu steigen begann. Im Osten wurde der Himmel bereits hell. Der Pilot suchte die Umgebung des Startplatzes ab, weil er fast damit rechnete, jemanden zu sehen, den der Lärm angelockt hatte. Aber er sah niemanden. Dreißig Sekunden später hatte der Hubschrauber seine Höchstgeschwindigkeit erreicht. Farrell blieb tief, um nicht von irgendwelchen Radargeräten erfaßt zu werden. Das Gelände unter ihm war ihm vertraut; er war die Strecke zweimal abgefahren und hatte die Landkarte sorgfältig wie ein Rallyefahrer studiert. 217
Er hatte 35 Kilometer, weniger als eine halbe Stunde Flugzeit, vor sich. Kemp hatte etwas weniger Zeit gebraucht als erwartet. Er bog an der vorgesehenen Stelle von der Hauptstraße ab, parkte den Sattelzug, kletterte aus dem Fahrerhaus und atmete die frische Morgenluft ein. Wenn Farrell pünktlich war, blieben Kemp noch 35 Minuten Zeit. Er nutzte sie zu einer Kontrolle des Landefeldes hinter dem Volvo, öffnete die Hecktür des Aufliegers und zog die Rampe heraus, über die der Hubschrauber in den Laderaum gerollt werden sollte. Im Fahrerhaus lagen Draht, Plomben und Plombierzange bereit, damit die Tür nach dem Beladen wieder plombiert werden konnte. Vor Nervosität hatte er Bauchschmerzen, aber anstatt hinter den Büschen zu verschwinden, blieb er in der Nähe seines Fahrzeugs, beobachtete den Nachthimmel und hielt seine Taschenlampe bereit. Um 4.25 Uhr hörte er den Hubschrauber kommen. Er blinkte dreimal, machte eine Pause und wiederholte das Lichtsignal, obwohl sich Farrell hauptsächlich am Standlicht des Sattelzugs orientieren würde. Drei Minuten später setzte der Hubschrauber auf – anfangs sehr langsam und zögernd, weil Farrell nicht wußte, wie tragfähig der Untergrund war. Sobald Farrell das Triebwerk abgestellt hatte, kletterte er aus der Kabine und kam in geduckter Haltung unter dem Rotor hervor. Die Männer nickten sich wortlos zu. Sobald die Rotorblätter stillstanden, schoben sie den eine Tonne schweren Hubschrauber vom Feld auf die Straße. Die Rotorblätter waren binnen zehn Minuten 218
abgenommen. Danach hakte Kemp das Windenseil in die Schleppöse des Hubschraubers ein, bediente die Handkurbel und zog die Maschine in den Laderaum. Farrell steuerte ihr Heck und sicherte sie dann mit den bereitliegenden Gurten. Keine zwanzig Minuten später waren die beiden wieder unterwegs. Farrell saß jetzt auf dem Beifahrersitz. Nach etwa einer Stunde würde Farrell sich hinten in den Hubschrauber setzen, bevor Kemp die Hecktür erneut plombierte. Sie würden die Grenze rechtzeitig zum Schichtwechsel beim Zoll erreichen. Alles hatte genau nach Plan geklappt.
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18 Wie Singleton ihnen dringend nahegelegt hatte, gaben die Geiselnehmer mittags eine Verlängerung ihres Ultimatums um 48 Stunden bekannt, »um den Imperialisten in Ost und West eine letzte Chance zu geben«. Diesmal erfolgte die Benachrichtigung direkt: durch einen Anruf bei der Press Assoziation in London und gleichzeitig einen beim Bonner Büro der Associated Press. Beide Mitteilungen enthielten einen bestimmten Satz, der den Sicherheitsbehörden ihre Echtheit bewies. Singleton, der vor nervöser Untätigkeit schwitzend in Muntwicks Ferienhaus gesessen hatte, wurde schon eine halbe Stunde später informiert. Er feierte diesen Teilerfolg mit einem Glas Wein. Die Verlängerung war nicht unbedingt notwendig, aber immerhin nützlich. Falls Muntwicks ›Paket‹ pünktlich eintraf – woran er nicht zweifelte –, war es erst am nächsten Morgen da. Und die Verlängerung bedeutete, daß sie bei ihrer Befreiungsaktion am Freitagabend damit rechnen konnten, daß das Wachpersonal des Gefängnisses sich nicht in Alarmbereitschaft befinden würde, wie es nach Ablauf des Ultimatums sicher der Fall gewesen wäre. In der folgenden halben Stunde klingelte das Telefon noch zweimal. »Gut gemacht!« lobte er den ersten Anrufer, bevor er auflegte. Dem zweiten hörte er länger zu, ohne mehr als einige Zwischenbemerkungen zu äußern, und sagte dann: »Ja, ich verstehe. Ich komme hin.« Noch weit über eine Stunde, bevor er irgend etwas unternehmen mußte. Er fühlte sich so entspannt, daß er in die Küche ging, sich ein Omelett machte und dazu wieder Wein trank. Erst später erkannte er rückblickend, daß er 220
versucht hatte, eine Art Wahnsinn in den Rahmen der Normalität zu pressen. Das Überschreiten der Grenze bei Irun war problemlos, aber mit langer Wartezeit verbunden, weil die Zollbeamten Dienst nach Vorschrift machten. Vor zwei Tagen war einer ihrer Kollegen bei einem Bombenanschlag der ETA auf eine Bar in San Sebastián ums Leben gekommen, und dies war ihr Protest. Einige Fernfahrer, die anscheinend keine Spanienerfahrung hatten, waren dumm genug, gegen die Verzögerungen zu protestieren, die dadurch entstanden, daß die Uniformierten sämtliche mitgeführten Papiere genauestens kontrollierten. Kemp gab sich resigniert, aber gleichmütig – und wurde prompt ohne Kontrolle durchgewinkt. Beim Anfahren nach dem Zoll ließ er den Volvo zweimal kräftig rucken. Ein Außenstehender hätte darin einen Fahrfehler vermutet, aber in Wirklichkeit war das ein Signal für Farrell, daß die Grenze passiert war. Am Spätvormittag bog Kemp von der Straße auf eine Zufahrt zu einem leerstehenden Lagerhaus ab, das Farrell vorübergehend gemietet hatte. Plötzlich und unerwartet begann er zu zittern, als habe er Fieber. Kate Galbraith und Don Sobers, der FBI-Vertreter im Koordinierungsausschuß, bekamen Ralph Legers Bestandsaufnahme der bisherigen Fahndung nach den Geiselnehmern erst vier Tage nach ihrem Erscheinen. Kates Exemplar war als Drucksache angekommen, und sie las den Artikel, weil sie wußte, daß Singleton mit dieser Sache zu tun hatte, und weil Leger ihn geschrieben 221
hatte. Sobers las ihn eigentlich mehr zufällig: Den Ausschußmitgliedern lag eine Mappe mit Zeitungsausschnitten vor, in der er geblättert hatte, weil er im Augenblick buchstäblich nichts zu tun hatte. Nichts interessierte ihn sonderlich, bis er zu dem Absatz über Ross kam – und selbst der versetzte ihn nicht gleich in Aufregung. Sobers vermutete ganz richtig, daß der Journalist einen bestimmten, im Augenblick nicht beweisbaren Verdacht gehegt und diesen Absatz in der Hoffnung auf eine Reaktion in seinen Bericht eingefügt hatte. Hätte er wirklich etwas gewußt oder Aussicht auf beweiskräftige Informationen gehabt, hätte er diese Story nicht vergeudet, indem er sie in einem einzigen, unauffälligen Absatz unterbrachte. Trotzdem bewog der in dem Artikel geäußerte Verdacht Sobers dazu, sich eingehender mit dem Fall Ross zu beschäftigen. Er kannte den kurzen Bericht des FBIAgenten Glenn Webb, der als erster Ross’ wahre Adresse ausfindig gemacht hatte, aber er hatte sich nicht die Mühe gemacht, auch Webbs Folgeberichte zu lesen. Das würde er jetzt nachholen. Über zwei Stunden mit Kontrollen und nochmaligen Kontrollen vergingen, bevor Sobers die Tatsache akzeptierte, daß die Akten keine späteren Berichte enthielten. Auch der ursprüngliche kurze Bericht, der eigentlich harmlos geklungen hatte, schien auf unerklärliche Weise verschwunden zu sein. Zehn Minuten später rief Sobers bei Webbs Dienststelle unter dem Vorwand an, eine Aussage machen zu wollen. Webb war nicht da. Nein, niemand wußte, wann er zurückkommen würde; vielleicht würde er einige Zeit fortbleiben; konnte nicht auch ein Kollege …? Sobers überlegte eine halbe Stunde, bevor er das nächste 222
Telefongespräch führte. Er nahm erst den Hörer ab, als er zu der Überzeugung gelangt war, daß diese Anfrage wegen seiner Stellung im Koordinierungsausschuß als Routinesache betrachtet werden würde. Er ließ sich mit der FBI-Personalabteilung verbinden, stellte sich vor und behauptete, er habe einige Punkte mit Agent Glenn Webb zu klären. Wo sei Webb gegenwärtig zu erreichen? Daraufhin entstand eine sehr lange Pause, bevor sich eine andere Stimme meldete: Leider könne die Personalabteilung ihm nicht behilflich sein. Webb befinde sich auf einem Auslandseinsatz – und mehr dürfe selbst Sobers nicht erfahren. Soviel bekannt sei, habe man Webb bereits eingehend vernommen, aber auch das habe keine wesentlichen neuen Erkenntnisse gebracht. Falls Sobers weitere Auskünfte wünsche, könne man ihn lediglich mit dem Büro des Direktors verbinden. Sobers zwang sich dazu, gleichmütig zu sprechen. »Nein, nein, das ist nicht nötig«, wehrte er ab. »Ich wollte nur noch ein paar Kleinigkeiten klären. Die wirklich wichtigen Dinge stehen natürlich schon in den Akten. Tut mir leid, daß ich Sie damit aufgehalten habe.« Als er den Hörer auflegte, hatte er starkes Herzklopfen. Er wußte, daß er auf etwas gestoßen war. Er wußte nicht, worauf, aber er wußte, daß es wichtig war. Das sagte ihm sein durch jahrelange Ausbildung geschärfter Instinkt. Die einzige Frage war, ob er tiefer schürfen oder gleich weitermelden sollte, was er bisher wußte. Muntwicks Konzern war so komplex aufgebaut, daß ein Dutzend Anwälte und Wirtschaftsprüfer jahrelang zu tun gehabt hätten, um die vielfältigen Verflechtungen aufzuhellen. Seine Firmen trugen über hundert Namen und waren in 223
Dutzenden von Staaten ansässig, wo sie von Männern seines Vertrauens geleitet wurden. Die Organisation war komplex, aber die Zielsetzung war simpel: möglichst hohe Steuerersparnis und zugleich Verschleierung des wahren Umfangs seines Imperiums. Der 212.000 BRT große Supertanker ›Zeres‹ fuhr unter der Flagge Panamas; Schiffseigner war die in Liechtenstein ansässige Kapat Corporation. In diesem Frühjahr transportierte die ›Zeres‹ Rohöl aus dem Persischen Golf nach Rotterdam. Und an dem Tag, an dem Kemp und Farrell die spanische Grenze überschritten und Singleton seine endgültige Strategie festlegte, erhielt ihr Kapitän neue Anweisungen. Er sollte in langsamerer Fahrt die Giróndemündung anlaufen, um seine Rohölladung in Bordeaux zu löschen. Die Anweisungen waren sehr präzise. Da der Kapitän sich an sie halten mußte, würde die ›Zeres‹ am Abend des 19. April etwa zehn Seemeilen vor der nordspanischen Küste stehen. Dies war das erste Mal seit der Flugzeugentführung, daß Ross die Frau wiedersah. Er war betäubt und nochmals umquartiert worden. Das wußte er, aber er konnte nicht sagen, wie weit er transportiert worden war. In die nächste Straße, die nächste Stadt, auf den nächsten Kontinent? Seine neue Unterkunft war viel geräumiger: vermutlich ein Teil eines leerstehenden Lagerhauses, soviel Ross erkennen konnte. Sein Bett bestand aus einer Matratze auf dem Fußboden, aber er hatte auch einen Stuhl, und einer der Wachposten hatte ihm drei uralte Reader’s-Digest-Hefte gegeben. Noch wichtiger war jedoch, daß es hier sogar ein Fenster 224
gab – ein quadratisches kleines Fenster mit kaum 30 Zentimeter Seitenlänge. Ross mußte sich auf die Zehenspitzen stellen, um hinaussehen zu können, und die Aussicht war beschränkt: auf einen kleinen, gepflasterten Hof, der von einer hohen Ziegelmauer umgeben war, über der sich nur ein schmaler Streifen grauen Himmels zeigte. Aber das genügte bereits, um seine Stimmung zu heben. In seiner alten Zelle hatte er wider Willen Szenen aus seinem bisherigen Leben an sich vorbeiziehen gesehen. Reader’s Digest hätte was daraus machen können, dachte er mit gewisser Selbstironie – wenn ich Staatsmann oder Nobelpreisträger geworden wäre. Seine Mutter war bei seiner Geburt gestorben; sein Vater war in Korea gefallen, als der Junge neun Jahre alt gewesen war. Keines dieser Ereignisse wirkte jedoch real, obwohl sie ohne Zweifel sein Leben beeinflußt hatten. Sie lagen zu weit zurück. Deutlich erinnern konnte Ross sich an seinen Onkel und seine Tante, die ihn auf ihrer kleinen Farm im Mittleren Westen großgezogen hatten. Die beiden hatten einer merkwürdigen Sekte angehört, die weltweit nur einige tausend Mitglieder hatte, die als die wahren Gläubigen dereinst errettet werden würden. In der Praxis schien diese Sekte sämtliche Tabus und Verbote aller anderen Religionen für sich vereinnahmt zu haben. Ihr Gott war ein strenger, unbarmherziger, fordernder, humorloser Götze. Ross wurde ständig mit Hölle und Fegefeuer gedroht, aber er bezweifelte manchmal, daß der dort hausende Teufel schlimmer als der Gott im Himmel seines Onkels und seiner Tante sein könne. Mit zwanzig Jahren heiratete Ross als schwacher, unter dem Druck seiner Verwandten stehender junger Mann 225
eine 18jährige Nachbarstochter, die ebenfalls dieser Sekte angehörte. Alle – nicht zuletzt er selbst – staunten, als sie nach sieben Ehewochen weglief, angeblich nach New York, wie einige wissen wollten. Auch er war dann weggegangen. Er hatte sich nachts davongestohlen, um den Protesten und Anschuldigungen zu entkommen. Er war nie mehr dort gewesen. Und er hatte nie geschrieben. Fast zwanzig Jahre lang hatte er sich treiben lassen, alles und nichts getan, knapp genug Geld für seinen Lebensunterhalt verdient und sich nicht weiter daran gestört, weil er ohnehin genügsam war. Ross war nicht homosexuell; wenn er sich zwang, ernsthaft darüber nachzudenken, mußte er sich eingestehen, daß er eigentlich gar nichts war, weil er fast keine sexuellen Gefühle kannte. Aber es war ein Mann, ebenfalls ein Drifter, der ihn dazu überredete, wenigstens zu versuchen, etwas Besseres aus sich zu machen. Er hatte jahrelang alles durchprobiert: Carnegie-Kurse, Meditation, Therapie, Joga … Aber erst der Programmierkurs war seine Rettung gewesen. Ross hatte sich impulsiv einer Eignungsprüfung unterzogen, war als »hervorragend befähigt« eingestuft worden (ohne zu ahnen, daß jeder so beurteilt wurde) und hatte sich einen teuren Computerkurs aufschwatzen lassen, den er abstotterte, indem er jede Nacht in einer Bar arbeitete. Überraschenderweise erwies er sich wirklich als talentiert. Das brachte ihm Anerkennung und schließlich doch noch einen Platz im Leben ein. Dann war die Flugzeugentführung passiert und hatte seine alten Ängste wieder geweckt. Aber seit seiner Umquartierung ins neue Gefängnis fühlte er sich besser. Plötzlich war er zu der Überzeugung 226
gelangt, überleben zu können. Er hatte das Gebet entdeckt – nicht die starren Beschwörungsformeln aus der Zeit bei seinem Onkel und seiner Tante, sondern die sanfteren, unschuldigeren Bitten aus seiner Kindheit. Er bildete sich jetzt ein, stärker zu sein. Er hatte das Schlimmste hinter sich. Auch dieser neue Raum war besser. Mit der alten Zelle hatte er lediglich die nackte Glühbirne gemeinsam, die wieder unerreichbar hoch unter der Decke hing. Aber da es hier ein Fenster gab, wirkte diese Lichtquelle weniger hypnotisch auf Ross. Die neuen Wachen trugen ebenfalls dazu bei. Sie waren wieder zu zweit, aber diese beiden hatten sogar Namen: Kurt und Helmut. Sie waren schweigsam, aber nicht feindselig. Und er hatte die Frau fast vergessen. Er sah sie wieder, als er aus dem Fenster starrte und sich einfach über die Sonnenkringel auf der roten Backsteinmauer freute. Sie kehrte ihm den Rücken zu, als sie ins Bild trat, und spannte eine Wäscheleine quer über eine Hofecke. Dann hängte sie – noch immer mit dem Rücken zu Ross – ihre Wäsche auf: eine Bluse, einen Büstenhalter und zwei Slips. Dann drehte sie sich um, und Ross erkannte, was er gewußt, aber nicht richtig wahrgenommen hatte: daß sie von der Taille aufwärts nackt war. Ihre Brüste waren länglich, zitronenförmig und im Gegensatz zu ihrer Sonnenbräune sehr weiß. Sie hob die Arme, so daß ihre Brüste ebenfalls gehoben wurden. So blieb sie lange mit zum Himmel gerichtetem Blick stehen, bevor sie ihre Hände unter die Brüste legte, sie umfaßte und langsam zu streicheln begann, wobei ihre Bewegungen noch langsamer wurden, als sie die Brustspitzen erreichte. Ihr Blick war noch immer nach 227
oben gerichtet. Aber Ross begriff, daß sie sich beobachtet wußte. Plötzlich ließ sie die Hände sinken, starrte direkt in sein Fenster und war im nächsten Augenblick verschwunden. Ross hockte nervös auf der Bettkante und erzitterte vor einem ungewohnten, keineswegs angenehmen Gefühl. Er wußte, daß irgend etwas passieren würde. Als er hörte, daß der Riegel zurückgezogen wurde, hob er den Kopf, stand aber nicht auf. Sie war allein. Sie trug jetzt einen dünnen Pullover, unter dem sich ihre Brustspitzen deutlich abzeichneten. Sie war völlig in Schwarz gekleidet: von Pumps und Satinhose bis hin zu dem Chiffontuch, das sie sich als Stirnband umgebunden hatte. Sie hielt eine Pistole in der rechten Hand, stemmte ihre Linke in die Hüfte und lächelte dabei herausfordernd – fast wie auf einem Standphoto in einem Pornomagazin. Dann hob sie langsam die Waffe, bis sie auf seine Stirn zielte. Ihr Lächeln wurde breiter. Ross, der sie wie hypnotisiert anstarrte, begann zu schwitzen. Dann drückte sie ab. Ein Klicken hallte durch den stillen Raum. Die Pistole war nicht geladen. »Ich übe bloß«, sagte die Frau. »Du weißt ja, daß du bald dran bist.« Sie lächelte noch immer, als sie rückwärtsgehend den Raum verließ. Ross starrte die Tür an und merkte erst jetzt, daß ihm die Tränen übers Gesicht liefen. Die zwanzig Kilometer landeinwärts gelegene Stadt war häßlich und industrialisiert. Am Mittwochnachmittag fuhr Singleton die Straße entlang, die von Lagerhallen und 228
Fabrikbauten aus Fertigteilen gesäumt war, und bog nach links in Richtung Stierkampfarena ab. Der Verkehr war nur schwach. Die Stierkämpfe im Rahmen des Festes des Stadtpatrons hatten längst begonnen. Das Treffen, zu dem Singleton fuhr, war eine Folge seines kurzen Gesprächs mit dem Basken in einem Café in Santander. Er wurde von zwei Männern erwartet. Einer von ihnen, ebenfalls ein Baske, ging zu den billigen Plätzen auf der Sonnenseite der Arena voraus. Beide Männer hielten Pappbecher mit Bier in der Hand; der zweite Mann trug einen Augenschirm aus Pappe, obwohl die Sonne jetzt – beim fünften Stier dieses Nachmittags – schon weniger Kraft hatte. »Sie kennen Stierkämpfe?« fragte der Mann mit dem Augenschirm, ohne Singleton dabei anzusehen. »Jetzt ist’s Zeit für den Todesstoß. Was wir als hora de la verdad bezeichnen. Der Stier ist …« Er suchte nach dem richtigen Wort. »… gezüchtigt worden. Jetzt wird er getötet.« Er drehte sich nach Singleton um. Der Mann auf der anderen Seite des Amerikaners starrte ausdruckslos in die Arena hinunter. »Sagen Sie mir, was Sie wollen«, verlangte der Spanier. Singleton trug eine Umhängetasche, wie sie Touristen für Kameras und persönliche Habseligkeiten mit sich herumschleppen. »Wenn ich gehe«, sagte er, »nehmen Sie die bitte mit und sorgen dafür, daß sie an die richtige Adresse kommt.« »Was haben Sie da drin?« »Plastiksprengstoff. Den brauchen sie, um auf den Hof zu gelangen.« 229
»Wir haben Plastiksprengstoff. Das wäre nicht nötig gewesen.« »Ich wollte ganz sichergehen. Das Zeug ist gut.« »Und?« »In einer Dose liegen Pillen. Ungefähr eine Stunde vorher soll jeder eine schlucken. Vielleicht müssen wir Gas einsetzen. Dann wirkt dieses Mittel als Gegengift. Den Leuten sollte erklärt werden, daß sie die Pillen nehmen müssen.« »Pst!« Der Spanier konzentrierte sich wieder auf das Geschehen in der Arena. Dort unten hob der Matador seine Muletta hoch und überzeugte sich davon, daß der Stier ihrer Bewegung folgte. Er drehte sich befriedigt zur Seite, schlug die Muletta übers Ende des als Palillo bezeichneten kurzen Holzstabs, hielt seinen Degen stoßbereit und griff an. Auch der Stier setzte sich in Bewegung. Ein Aufschrei ging durch die Menge. Der Degen drang tief ein. Sekunden später schoß ein Blutschwall aus dem Stiermaul. Peones liefen in die Arena hinaus und verwirrten den Stier, indem sie abwechselnd links und rechts von ihm rote Tücher schwenkten. »Ein schlechter Todesstoß«, sagte der Spanier, indem er aufstand und Singleton hinter sich herzog. »Der Degen ist vom Rückgrat abgeglitten und hat die Lunge getroffen. Was sie jetzt tun, um ihn zu entkräften, ist gesetzlich verboten, aber es wird immer wieder gemacht.« Er führte Singleton in Richtung Ausgang und nahm ihm die Tasche ab. »Was noch?« fragte er. »Erklären Sie mir den Zeitplan.« Singleton erläuterte ihm den geplanten Ablauf. 230
»Ausgezeichnet. Ich sorge dafür, daß alles bereit ist.« »Geht das ohne Probleme?« »Ja, wir haben immer Zugang.« Die beiden Männer starrten weiter in die Arena hinunter. Unterdessen hatten die Zuschauer zu buhen begonnen. Der Stier drehte sich noch immer um die eigene Achse, hustete noch immer Blut. »Noch etwas«, fuhr Singleton fort. »Ihr Mann, der Zugang zu den Häftlingen hat – kann er nach Belieben kommen und gehen?« Der Spanier warf ihm einen prüfenden Blick zu und wog die Frage bedächtig ab, bevor er antwortete. »So ziemlich«, bestätigte er dann. »Er ist bei der Polizei. In Sicherheitsfragen fungiert er als Verbindungsmann zur Gefängnisleitung.« »Ist er ein Sympathisant?« Der andere schnaubte verächtlich. »Geld!« fauchte er. »Der Kerl ist ein Schwein. Er tut’s nur für Geld. Aber er ist nützlich.« »Ich muß wissen, wie ich ihn notfalls direkt erreichen kann«, stellte Singleton fest. Der Spanier starrte ihn überrascht an. »Nein, nein!« wehrte er ab. »Das ist ausgeschlossen!« »Hören Sie«, sagte Singleton, »uns bleiben noch achtundvierzig Stunden, um ein komplexes Unternehmen durchzuführen, bei dem alles von sorgfältigem Timing abhängt. Was ist, wenn wir im letzten Augenblick irgendwas ändern müssen? Stellen Sie sich vor, wir hätten eine halbe Stunde Verspätung, ohne daß Ihre Leute davon wüßten. Was tun sie dann? Bleiben sie im Hof stehen und rufen den Wachen zu: ›Bitte nicht schießen, unsere Retter haben sich verspätet!‹?« 231
Eine lange Pause. Unten in der Arena war der Stier in die Knie gegangen. »Sie würden sich nur im Notfall mit ihm in Verbindung setzen?« »Natürlich!« »Okay.« Der Spanier nannte ihm einen Namen und eine Telefonnummer. Singleton drehte sich wieder nach der Arena um. Der Stier war endlich tot: Ein Dolch hatte sein Rückenmark durchtrennt. Kemp lag im stoppeligen Gras auf dem Bauch. Er war ganz schwarz angezogen und trug über Kopf und Gesicht eine schwarze Strumpfmaske mit Mund- und Augenschlitzen. Die Straße lag etwa 200 Meter hinter ihm, das Gefängnis erhob sich fast 150 Meter vor ihm. Kemp suchte das Gelände, das nicht im Scheinwerferlicht lag, mit einem Nachtsichtgerät ab, dessen Restlichtverstärker ihn trotz der Dunkelheit ausreichend sehen ließ. Im Augenblick ging es ihm um drei Punkte. Der erste betraf die Stellung, die er in der kommenden Nacht beziehen wollte, und er glaubte, eine entdeckt zu haben. Dort würde er nicht allzuviel Deckung finden, aber er mußte damit auskommen. Der zweite Punkt betraf den Wachturm – den einzigen, von dem aus der Hubschrauber beschossen werden konnte, wenn er zur Landung einschwebte. Dieser Turm mußte außer Gefecht gesetzt werden. Nach dem dritten mußte Kemp einige Minuten lang suchen, obwohl er ihn auf Photos und Plänen studiert hatte. Es handelte sich um den Lufteinlaß für die 232
Klimaanlage des Gefängnisses, der unbedingt erforderlich war, weil große Teile des Komplexes unter der Erde lagen. Wie Kemp zu seiner Erleichterung feststellte, war die Öffnung größer, als sie auf den Photos ausgesehen hatte: fast einen Quadratmeter groß. Aus dieser Entfernung – 150 Meter – mußte jeder Schuß ein Treffer sein. Singleton hatte ihm versichert, es handele sich um eine in jeder Beziehung handelsübliche Klimaanlage ohne teure und komplizierte Zusatzaggregate, die sie gegen einen chemischen Angriff immun gemacht hätten. Kemp blieb noch lange liegen, berechnete Winkel und Entfernungen und kontrollierte den schon bekannten Zeitplan der Fußstreifen, bevor er wieder durch die Nacht davonkroch. Der Entscheidung gingen stundenlange Gespräche, eine Gewissenserforschung des Präsidenten und die ausführliche Erwägung aller Argumente voraus, die für und gegen das Unternehmen sprachen. Aber als die Nachricht Singleton um 23.35 Uhr Ortszeit in seinem spanischen Ferienbungalow erreichte, war sie so knapp und direkt wie nur möglich. Der Text war aus Sicherheitsgründen zusätzlich verschlüsselt worden. Entschlüsselt lautete er einfach: ›Laß die Löwen los!‹
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19 Der Behälter traf am späten Vormittag mit Luftfracht ein. Er war unübersehbar mit dem internationalen Symbol gekennzeichnet und wurde von dem in Muntwicks Ferienclub angestellten Arzt abgeholt. Die Frachtpapiere wurden sorgfältig geprüft. Alle waren in Ordnung. Einer der Zollbeamten war sichtlich erleichtert, als der Behälter abtransportiert wurde; trotz allem, was er darüber wußte, hielt er sich nur ungern in seiner Nähe auf. Eineinhalb Stunden später wurde der Behälter in Singletons Bungalow abgeliefert. Singleton wartete, bis er allein war, bevor er den komplizierten Sicherheitsverschluß öffnete. Das war nicht einfach, weil er Schutzhandschuhe trug. Neben dem Behälter hatte er eine Flasche Cognac stehen, die er jetzt aufschraubte, um einen großen Schluck zu nehmen. Das hochprozentige Getränk brannte in Kehle und Magen. Er nahm noch einen Schluck. Dann klappte er mit zitternden Händen den Deckel des Behälters auf, griff mit einer langen Spezialzange hinein und zog behutsam die zwischen Schaumstoffpolstern steckende kleine Flasche heraus. Er legte eine Mund und Nase bedeckende Maske an, bevor er den Flascheninhalt ganz, ganz vorsichtig in die Cognacflasche goß. Danach saß er schwitzend im Schlafzimmer auf der Bettkante. Er schloß die Augen, glaubte die Sechsjährige vor sich zu sehen, die das Opfer eines Bombenanschlags geworden war, und begann tief durchzuatmen. Dadurch legte das Zittern sich allmählich. Ross lag auf seinem Bett und starrte die nackte 234
Glühbirne über sich an. Das Symbol seiner Gefangenschaft. Er konnte den Blick nicht davon wenden. Er hatte zu zittern aufgehört und war wieder gefaßt. Bis er die Frau wiedergesehen hatte, hatte er sich eingebildet, allem gewachsen zu sein, was auch passieren würde. Aber ihr Auftritt hatte alle seine Ängste, alle Dämonen wieder geweckt. Ross fürchtete sich weniger vor dem Sterben als vor der Art und Weise, wie sie ihn umbringen könnte. Er hatte von Leuten gehört, die durch viele Schüsse verwundet worden waren und erst dann den Gnadenschuß erhalten hatten. Würde sie ihm das antun? Er schloß die Augen und erinnerte sich an das Klicken, als sie abgedrückt hatte. Obwohl er Angst hatte, wußte er jetzt, daß er nichts verraten würde. Er hatte viel über sein Geheimnis nachgedacht. Ihm war von Anfang an klar gewesen, daß ihm die Stelle bei Vibart nur wegen seiner Programmiertätigkeit für Charlton angeboten worden war. Charltons Entdeckung mußte für die Sicherheit der Vereinigten Staaten wichtig sein, sonst wäre sie in einer Fachzeitschrift veröffentlicht worden. Statt dessen war sie verschwiegen worden. Ross glaubte, den Grund dafür zu wissen. Auch er hatte Artikel über Falltür-Codes gelesen. Er vermutete, daß die Vereinigten Staaten mit ihnen arbeiteten und Charltons Entdeckung geheimhalten wollten, bis sie die Codes durch andere ersetzen konnten. Falls das stimmte, würde es sich lohnen, dieses Geheimnis zu verraten. Aber er würde es nicht tun. Oder vielleicht doch? Wenn er eine Schußwaffe auf sich gerichtet sah? Erst recht einige Sekunden später, wenn er auf dem Boden lag – bei Bewußtsein, aber mit einer Kugel im Bein, im Arm oder im Bauch? Was würde er dann 235
sagen? Würde er wirklich stumm bleiben? Ross traf seine Entscheidung. Es war nicht einfach, sie in die Tat umzusetzen. Er mußte die Matratze zusammenrollen, die Rolle an die Wand stellen und den Stuhl darauf ausbalancieren. Und weil die Höhe nicht ausreichte, stellte er noch den umgedrehten Eimer auf die Sitzfläche. Er fiel zweimal herunter und mußte seine provisorische Leiter neu aufbauen. Schließlich sah er ein, daß seine Hände trotz aller Bemühungen nicht weit genug hinaufreichten, um die Glühbirne herauszuschrauben. Ross brauchte eine weitere halbe Stunde, um einen ausreichend großen Klumpen Wandputz zu lockern, und hatte danach blutige Finger. Mit dem Klumpen in der Hand bestieg er wieder seine wacklige Konstruktion, die gefährlich schwankte. Beim zweiten Versuch zersprang die Glühbirne in Dutzende von Glassplittern. Ross steckte zwei Fingerspitzen in den stromführenden Sockel. Singleton trank einen Schluck Bier und beobachtete, wie der Polizeibeamte die Bar betrat. Der Mann trug Zivil, aber er entsprach genau der Personenbeschreibung, die Singleton von ihm hatte. Der Beamte sah sich kurz um, bevor er sich zu dem Amerikaner setzte. »Dieses Treffen ist gefährlich«, stellte er fest. »Hoffentlich ist es wirklich notwendig.« Vor sich auf dem Tisch hatte Singleton eine Plastiktüte mit dem Aufdruck eines Sportgeschäftes liegen – das vereinbarte Erkennungszeichen für den Polizeibeamten. Singleton winkte den Kellner heran, bestellte ein 236
weiteres Bier und deutete dann auf die Plastiktüte. »Sie enthält eine bruchsicher verpackte Flasche Cognac«, sagte er. »Ich möchte, daß Sie sie mitnehmen und dafür sorgen, daß sie ausgetrunken wird.« Er begegnete dem verdrießlichen Blick des Beamten. »Sie wissen, was geplant ist«, fuhr er fort. »Ich möchte, daß sie den Cognac morgen abend trinken.« Singleton senkte vertraulich die Stimme. »Ich fürchte, daß sie in Panik geraten«, erklärte er dem Spanier. »Der Cognac ist mit einem Beruhigungsmittel versetzt – damit sie nur ja nicht durchdrehen.« Das Bier wurde serviert. Der Polizeibeamte hob sein Glas und trank. »Ich riskiere schon genug«, sagte er dann ablehnend. »Ein weiteres Risiko lohnt sich nicht.« »In der Tüte sind auch eine halbe Million Peseten«, fügte Singleton in unverändertem Tonfall hinzu. Der Polizeibeamte konnte seine freudige Überraschung nicht verbergen. Mehr Geld, als er sich jemals hätte träumen lassen! »Tun Sie, was ich Ihnen sage«, verlangte Singleton, »dann gehört das Geld Ihnen. Und Sie bekommen eine weitere halbe Million.« Er schob ihm die Plastiktüte über den Tisch. »Nur noch was«, fuhr er halblaut fort. »Sie erzählen keinem Menschen davon, verstanden? Und Sie können sich darauf verlassen, daß ich’s erfahre, wenn Sie den Auftrag nicht ausführen …«
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20 Das Motorboot gehörte dem Ferienclub und lief häufig zu Angelfahrten aus. Normalerweise wurde es von einem einheimischen Bootsmann gesteuert, aber am Dienstagabend legte Singleton damit allein ab. Die Tatsache, daß er Muntwicks persönlicher Gast war, verhinderte etwaige Proteste. Singleton – früher ein begeisterter Segler – war seit Jahren nicht mehr allein auf See gewesen. Aber dieses Boot war leicht zu steuern, und seine Navigationskenntnisse waren keineswegs eingerostet. Er hatte keinen Zweifel daran, daß er zur rechten Zeit am rechten Ort sein würde. Kemp hatte tagsüber versucht, sich zu entspannen, wobei er seine Jogakenntnisse nutzen konnte. Nach dem Überfall auf das Gefängnis würden Singleton, Farrell und die befreiten Terroristen auf Muntwicks Tanker flüchten, der sie zehn Seemeilen vor der spanischen Küste aufnehmen würde. Kemp würde jedoch versuchen müssen, Spanien auf dem Landweg zu verlassen – mit Hilfe der beiden Basken, die im Lagerhaus auf seine Rückkehr warten würden. Selbst wenn alles klappte, mußte er mit einigen schlaflosen Nächten rechnen. Der Einbruch der Dunkelheit bedeutete eine Erleichterung. Kemp zog sich wieder ganz schwarz an. Ein Wagen setzte ihn in der Nähe des Gefängnisses ab, und er kroch lautlos weiter, bis er auf 150 Meter herangekommen war. Kemp blieb ausgestreckt liegen, nahm seinen schwarzen Rucksack ab und öffnete ihn. Er enthielt eine aus England mitgebrachte Armbrust: leicht, nur dreieinhalb Kilo 238
schwer, aber mit hundert Kilogramm Zugkraft, damit sie die schweren Spezialbolzen verschießen konnte, die Singleton ihm von Muntwick besorgt hatte. Gewöhnliche Gewehrgranaten mit Gasfüllung wären aus dieser Schußentfernung nicht zielsicher genug gewesen – ganz abgesehen von dem unvermeidbaren Schußknall. Auf der Armbrust war bereits ein Nachtsichtgerät montiert. Kemp legte sie ins Gras und nahm dann die Bolzen aus dem Rucksack: ein Dutzend, mehr als genug. Mit 45 Zentimeter Länge waren sie länger als normale Armbrustbolzen, aber die zusätzliche Länge bildete den Ausgleich für den zylinderförmigen Behälter an ihrer Spitze. Kemp wußte, daß das Gewicht des Bolzens innerhalb vernünftiger Grenzen keine große Rolle spielte, solange es richtig verteilt war. Bolzen und Behälter waren aus Aluminium; nur das vordere Ende, wo sonst die Spitze gewesen wäre, bestand zwei Zentimeter weit aus Glas. Die Armbrustsehne wurde nach jedem Schuß mit einem Hebel gespannt, denn ohne diesen Mechanismus hätte Kemp die gewaltige Zugkraft nicht überwinden können. Als letztes nahm er das Scharfschützengewehr heraus: ein Heckler & Koch mit Nachtsichtgerät und aufgesetzem Schalldämpfer. Kemp würde versuchen, einen der Bolzen in den Wachturm zu schießen, der Farrell beim An- und Abflug gefährlich werden konnte. Aber das war riskant. Falls der erste Schuß danebenging, mußte er es mit dem Gewehr probieren. Ihm blieb noch über eine Stunde Zeit – der Überfall sollte um drei Uhr stattfinden. Er überprüfte noch einmal die Schußentfernung, stellte das Armbrustvisier ein und streckte sich dann aus, um zu warten. 239
Er war jetzt völlig entspannt. Auch Singleton befand sich in Position. Über Funk hatte er eine verschlüsselte Nachricht von dem Tanker empfangen. Um 3.15 Uhr, wenn Farrell mit dem Hubschrauber in der Nähe des Motorboots wasserte, würde die ›Zeres‹ drei Seemeilen weiter nördlich liegen. Die Nacht war kalt und dunkel, und Singleton, der aus dem Steuerhaus in die Nacht hinausstarrte, schlug fröstelnd seinen Jackenkragen hoch und wünschte sich sekundenlang, wieder auf Vogelbeobachtung am Potomac zu sein. Um 2.30 Uhr zog Rafael Lopez sich weiter ins Innere des Wachturms zurück und zündete sich eine Zigarette an, die er hastig hinter vorgehaltener Hand rauchte. Er stolperte über Ortiz’ Fuß und fluchte über den schlafenden Betrunkenen. Antonio Ortiz war der Wachposten, den er um Mitternacht abgelöst hatte. Darüber hinaus war Ortiz sein Schwager, und Lopez hatte ihm geholfen, diesen Job zu bekommen. Ortiz hätte vom Turm klettern und heimfahren sollen. Statt dessen war er jedoch geblieben, was von unten wegen der hohen Steinbrüstung nicht zu sehen war, hatte sich in eine Ecke gehockt und halblaut, aber leidenschaftlich berichtet, daß seine Frau fort sei, um eine kranke Freundin zu pflegen. Wie sich herausstellte, fürchtete Ortiz, daß ihn seine Frau mit einem anderen betrog. Während er redete, trank er aus seiner heimlich mitgebrachten Flasche, bis er schließlich betrunken einschlief. Obwohl Lopez fürchtete, Ortiz könnte auf dem 240
Wachturm entdeckt werden, hatte er dessen Anwesenheit geduldet, weil er wußte, daß sein Schwager recht hatte. Sie hatte tatsächlich ein Verhältnis. Viele Leute wußten davon, und er als ihr Bruder schämte sich deswegen. Trotzdem dachte er nicht im Traum daran, Lopez davon zu erzählen: Der Kerl war ein richtiger Schlappschwanz, der nicht mal mit seiner eigenen Frau fertig wurde. Lopez nahm sich widerstrebend vor, irgendwann selbst einzugreifen. Alles zu seiner Zeit! Der Hubschrauber war startklar. Farrell hatte alles ausgebaut, was nicht unbedingt erforderlich war. Die zusätzlich an Bord gebrachten Gegenstände waren vom Gewicht her unbedeutend. Dabei handelte es sich um ein Handfunkgerät, damit er mit Singleton Verbindung halten konnte, obwohl er seinen Kurs im voraus genau festgelegt hatte, und um eine kleine Sprengladung, die den Hubschrauber zerstören würde, sobald er und die anderen ins Motorboot umgestiegen waren – damit es so aussah, als sei der Hubschrauber abgestürzt, beim Aufschlag explodiert und mit allen acht Mann gesunken. Auf diese Weise verschafften sie sich einen Zeitvorsprung, um sicherzustellen, daß sie den Tanker erreichten. Die beiden baskischen Terroristen, die sich später um Kemp kümmern würden, halfen ihm, den Hubschrauber aus dem Lagerhaus auf den betonierten, von außen nicht einzusehenden Hof zu schieben. 2.49 Uhr. Neun Minuten bis zum Start. Alles war sorgfältig berechnet; weniger als zwei Minuten Flugzeit bis zum Gefängnis, eine Minute für Landung, Beladung und Wiederstart, zehn bis fünfzehn Minuten Flugzeit bis zu dem Motorboot. Mit etwas Glück – und dank der Ablenkungsmanöver – konnten sie bereits an Bord des Tankers versteckt sein, bevor irgend jemand den Zweck ihres Unternehmens gut genug erfaßte, um 241
etwas veranlassen zu können, das eine wirkliche Gefahr bedeutet hätte. Kemp hatte den ersten Bolzen auf die Armbrust gelegt. Es war 2.40 Uhr. Das Visier war eingestellt; die Sehne war gespannt. Er mußte acht Bolzen ins Ziel bringen, was er sich zutraute, indem er zehn der zwölf Bolzen verschoß. Er hatte Seitenwind, der jedoch nur eine schwache Brise war und sich auf die ungewöhnlich schweren Bolzen kaum auswirken würde. Dank des Hebelmechanismus, mit dem die Sehne gespannt wurde, konnte er zwei Bolzen pro Minute verschießen. Insgesamt würde er also höchstens fünf Minuten brauchen. Der quadratische Lufteinlaß der Klimaanlage ragte aus dem Gefängnisdach und zeichnete sich deutlich vor dem Nachthimmel ab. Kemp zielte sorgfältig in die Mitte. Er rutschte noch etwas hin und her, um es bequemer zu haben, und löste dann die Sicherung. Um 2.45 Uhr betätigte Kemp den Abzug. Mit einer Anfangsgeschwindigkeit von hundert Sekundenmetern – einem Fünftel der Mündungsgeschwindigkeit eines Jagdgewehrs – schnellte der Bolzen von der Sehne. Er traf den Lufteinlaß in der linken unteren Ecke. Kemp hätte am liebsten gejubelt. Er spannte die Armbrust wieder und griff nach dem nächsten Bolzen. Er wußte, was dort vorn passierte, auch wenn er nichts davon sah. Die Glasspitze der Bolzen zerbrach beim Aufprall, so daß das austretende Gas in die Klimaanlage gesaugt und minutenschnell im ganzen Gebäude verteilt wurde. Es handelte sich um KQ-Gas, eine Weiterentwicklung von BZ. Obwohl dieses Reizgas von einschlägigen Firmen 242
in großen Mengen hergestellt und von den Streit- und Sicherheitskräften vieler Staaten vorrätig gehalten wurde, war es bisher erst einmal eingesetzt worden. Damals war die Empörung der Öffentlichkeit so groß gewesen, daß dieses Gas eingelagert worden war. KQ wirkte rasch – innerhalb weniger Sekunden. Seine Erfinder behaupteten, es sei human, weil seine Langzeitwirkung – wohlgemerkt auf gesunde Menschen – gleich Null sei. Kurzzeitig rief es jedoch hohes Fieber hervor: Der Betroffene hatte das Gefühl, verbrennen zu müssen. Dazu kamen Herzjagen, Brustschmerzen, Sehstörungen und starke Beklemmungen, als stehe eine Katastrophe unmittelbar bevor. Alles in allem ein schreckliches Gas. Bis drei Uhr war es in sämtliche Räume, sämtliche Zellen des Gefängnisses ausgeströmt – nur in dem kleinen Block nicht, wo die Terroristen auf vorherige Anweisung alle Lüftungsschlitze verstopft hatten. Dann hörte Kemp den Hubschrauber hoch am Nachthimmel aufs Gefängnis zuknattern. Durch die Optik seines Nachtsichtgeräts wirkte der Erdboden unter ihm wie in Mondlicht getaucht. Der Gefängniskomplex, der schon nach knapp einer Minute in Sicht kam, war durch seine eigenen Scheinwerfer strahlend hell beleuchtet. Farrell, der in 120 Meter über Grund mit Höchstgeschwindigkeit anflog, ging steil nach unten, sobald er die Markierung – ein weißes Bettuch – sah, die zwei der Häftlinge erst kurz zuvor in dem kleinen Innenhof ausgelegt hatten. Das Bettuch bezeichnete die Hofmitte: ein unerläßlicher Anhaltspunkt, wenn er unter so beengten Verhältnissen landen und anschließend wieder starten sollte, ohne die Rotorblätter an den ringsum aufragenden Mauern zu 243
zerschmettern. Farrell blieb nicht viel Zeit zum Nachdenken; er hoffte nur, daß Kemp gute Arbeit geleistet hatte. Falls er beschossen wurde, war er verloren. Er durfte sich praktisch keinen Fehler erlauben. In fünfzehn Meter Höhe über dem Gefängnishof sah er einen Wachposten auf einem der Türme mit seinem Gewehr auf den Hubschrauber zielen. Er mußte sich zu sehr auf die Landung konzentrieren, um sich darüber aufregen zu können. So nahm er kaum wahr, daß der Uniformierte zurücktaumelte, die Arme hochwarf und sein Gewehr fallen ließ. Eine größere Realität war die Asphaltfläche, die ihm rasend schnell entgegenzukommen schien. Sie kauerten in einer Ecke des kleinen Hofes, auf dem es noch immer nach Dämpfen der Explosion stank, mit der sie sich erst vor wenigen Minuten einen Weg aus dem Tunnel gesprengt hatten. Der Ire Flynn atmete tief ein und aus; er bemühte sich, ruhig zu sein, aber er war nervös, weil er als einziger der Terroristen etwas von dem Gas abbekommen hatte. Trotz ihrer Vorkehrungen war eine dünne Spirale des weißen Dampfes aus dem Lüftungsschlitz gedrungen. Flynn, der direkt daneben gewesen war, hatte sich beeilt, das Leck mit einem von seinem Hemd gerissenen Stoffetzen abzudichten. Er versuchte sich einzureden, daß die Gegengiftpille, die er geschluckt hatte, die Wirkung des Gases aufheben werde. Dann stieß der Hubschrauber herab, und der Zwang zu handeln verdrängte alle anderen Gedanken. Sie rannten auf ihn zu, sobald er aufsetzte: hintereinander, mit nur einem Schritt Abstand, gebückt wegen der wirbelnden Rotorblätter. Der Pilot brüllte 244
Anweisungen, aber seine Worte gingen im Triebwerkslärm unter. Flynn erreichte die Maschine als letzter. Der Hubschrauber hob bereits ab, als er sich nach vorn warf. Seine Hand umklammerte den Metallrahmen der Tür und begann dann, feucht vor Angstschweiß, abzurutschen. Der Ukrainer Titow griff nach ihm, bekam aber Flynn nicht mehr zu fassen. Die Kufe hielt Flynns Fall auf, und er blieb mit beiden Armen darüber hängen. Der Hubschrauber schwankte und stieg dann senkrecht in die Höhe, während Flynn sich an die Kufe klammerte und hilflos mit den Beinen strampelte. Kemp hatte beobachtet, wie der Wachposten getaumelt und zusammengebrochen war. Er hatte nicht einmal versucht, einen Bolzen in den Turm zu schießen, um den Mann mit Gas zu betäuben. Dafür war keine Zeit mehr gewesen. Er hoffte, den Uniformierten nicht erschossen zu haben – er hatte auf die rechte Schulter gezielt, weil er sich ganz sicher war, daß die Wirkung des nicht ummantelten Geschosses ausreichen würde, um den Mann außer Gefecht zu setzen. Als er seinen Blick wieder auf die Mauer richtete, begann der Hubschrauber bereits zu steigen. Alles klappte genau nach Plan. Weder das Zusammenbrechen seines Schwagers noch der Triebwerkslärm im Hof weckten Ortiz auf. Er wachte auf, weil er das Bedürfnis hatte, sich heftig zu übergeben. Er kam schwankend auf die Beine und machte zwei Schritte, bevor er merkte, wo er sich befand. Dann sah er Lopez. Bei diesem Anblick wurde Ortiz wieder halbwegs 245
nüchtern: Er beugte sich über seinen Schwager und berührte ihn mit einer Hand. Sie war blutig, als er sie wieder wegnahm. Ein Pfeifen und Knattern brachte ihn dazu, über die Brüstung zu sehen. Aus dem Innenhof des Gefängnisses stieg schwankend ein Hubschrauber in den Nachthimmel auf. Ortiz war kein pflichtbewußter Beamter, aber er wußte, was er zu tun hatte. Er torkelte vorwärts, hob das Gewehr vom Boden auf und jagte das gesamte Magazin mit Dauerfeuer in die Luft. Er war zu betrunken, um richtig zu zielen, aber die Menge gab den Ausschlag. Er hörte zwei, drei Kugeln von dem Hubschrauber abprallen. Eine aufregende, herrliche, schwindelerregende Minute lang war Farrell davon überzeugt, daß alles klappen würde. Sechs Männer waren an Bord. Der siebte hing zwar draußen an der Kufe, aber sie waren in der Luft. In Sicherheit. Dann spürte er, dass der Gasdrehgriff blockiert war. Ein unglücklicher Treffer mußte die Steuerleitung beschädigt und einen Leistungsabfall ausgelöst haben. Sie würden unaufhaltsam an Höhe verlieren. Mit sieben Männern als Passagiere hatte er so nicht die geringste Chance, das Motorboot zu erreichen.
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21 Die Schießerei hatte aufgehört. Farrell, der fieberhaft einen Ausweg suchte, verwünschte Kemp: Der Mann hätte den Wachposten früher außer Gefecht setzen sollen; er hatte offenbar zu spät reagiert. Der Hubschrauber flog noch, aber mit halber Triebwerksleistung konnte er sich kaum in der Luft halten. Er stieg nicht mehr, und seine Geschwindigkeit war gefährlich gering. Die Männer neben und hinter Farrell wechselten besorgte Blicke. Auch sie merkten, daß irgend etwas nicht stimmte. Farrell spielte sekundenlang mit dem Gedanken, eine enge Kurve zu fliegen, um den Mann, der an der Kufe hing, abzuschütteln. Aber ihm wurde sofort klar, daß diese Entlastung nicht viel ausmachen würde. Mit so vielen Personen an Bord war der Hubschrauber nur noch wenige Minuten in der Luft zu halten. Die Lösung lag auf der Hand, aber Farrell traf seine Entscheidung nur widerstrebend. Er kehrte um, flog nicht mehr in Richtung Meer, sondern steuerte das Lagerhaus an, von dem aus er erst vorhin gestartet war. Als er mit dem wie betrunken schwankenden Hubschrauber zur Landung ansetzte, sah er die beiden Basken aus der Halle stürzen. Er versuchte, einige Sekunden lang zu schweben, damit der an der Kufe hängende Mann sich in Sicherheit bringen konnte, aber die Leistung der Maschine war nun so gering, daß der Hubschrauber hart aufsetzte. »Raus! Raus!« Farrell mußte die Männer aus der Kabine stoßen, weil sie trotz seines laut gebrüllten Befehls nicht reagierten. 247
Der Mann, der an der Kufe gehangen hatte, war zur Seite geschleudert worden und kam jetzt mit Hilfe zweier anderer auf die Beine. Er schien unverletzt zu sein. Trotz des Knatterns der Rotorblätter hörte Farrell eine Stimme fragen: »Was soll der Scheiß, verdammt noch mal?« »Raus!« kreischte er wieder. Er hatte keine Zeit für irgendwelche Erklärungen. Dem letzten Mann mußte er ins Gesicht schlagen, damit er zu Boden sprang. Farrell sah einen der Basken neben sich auftauchen. »Keine Leistung!« rief er ihm zu. »Ihr müßt versuchen, sie wegzubringen! Ich lenke inzwischen die Verfolger ab!« Auch ohne das Gewicht der sieben Männer wollte der Hubschrauber anfangs nicht steigen. Farrell ließ ihn wie ein Auto über die betonierte Fläche, durchs Tor und auf die Straße hinausrollen, bis die Maschine endlich abhob und quälend langsam stieg. Der Hubschrauber brauchte fast fünf Minuten, um auf 30 Meter zu kommen; in dieser Höhe ging Farrell in den Horizontalflug über und flog in Richtung Küste. Er war ungefähr fünf Seemeilen vom Strand entfernt – auf halber Strecke –, als plötzlich das Triebwerk aussetzte. Das war das Ende. Farrell leitete instinktiv die ›Autorotation‹ ein, das jedem Hubschrauberpiloten vertraute Notverfahren bei Triebwerksausfall. Er drückte den Blattverstellhebel nach unten, damit die Rotorblätter sich bei geringerer Steigung schneller drehten. Als das Meer näherkam, zog er den Hebel ruckartig hoch, um die Strömungsrichtung umzukehren und den Aufprall abzufangen. Im letzten Augenblick löste er seinen Anschnallgurt und warf sich in Richtung Tür, die er nicht zu öffnen brauchte, weil sie ausgebaut worden war, um Gewicht zu sparen. 248
Und trotz allem vergaß er nicht, den Sicherungsstift des auf vier Minuten eingestellten Zündautomaten herauszuziehen. Seine Planung für die Zeit nach der Wasserung war noch vage: Wahrscheinlich würde er in Richtung Küste schwimmen und dabei hoffen, daß die Explosion etwaigen Verfolgern suggerieren würde, es habe keine Überlebenden gegeben. Da die Polsterung herausgerissen worden war, um Gewicht zu sparen, bestand der Pilotensitz nur noch aus einem Metallgestell. Farrells Jacke verhängte sich darin, als er sich aus der Türöffnung wälzen wollte. Der Hubschrauber schwamm bereits auf dem Meer – in trügerischer Gleichgewichtslage, als sei er ganz normal gelandet. Farrell wußte, daß ihm einige Minuten Zeit blieben. Er griff nach hinten, um seine Jacke loszumachen. In diesem Augenblick kippte der Hubschrauber ruckartig nach vorn, so daß Farrell mit dem Kopf ans Instrumentenbrett knallte. Der Schlag machte ihn nicht ganz bewußtlos. Aber er genügte, um ihn benommen zusammensinken zu lassen. Dann zerfetzte die Explosion den Hubschrauber. Singleton konnte den Hubschrauber nicht sehen. Aber er hörte ihn. Das Geräusch der anfliegenden Maschine hatte etwas an sich, das ihn nervös machte. Aber erst die letzten Sekunden – die Stille und die nachfolgende Detonation – machten ihm klar, daß etwas wirklich Schlimmes passiert sein mußte. Trotz der offenkundigen Gefahr steuerte er das Motorboot in Richtung der Unfallstelle, ohne jedoch etwas entdecken zu können. Schließlich konzentrierte er sich 249
wieder auf die Lichter des Tankers, mit dem er in Funkverbindung stand, und hielt darauf zu. Eine halbe Stunde später wurde er an Bord der ›Zeres‹ gehievt. Zuvor hatte er noch die Flutventile des Motorboots geöffnet, das nun binnen weniger Minuten sinken würde. An Bord stellte ihm niemand Fragen. Singleton wurde in eine Kabine geführt, in der trockene Kleidung für ihn bereitlag. Erst nachdem er sich umgezogen hatte, nahm er den Kapitän und den Stapel Kleidungsstücke für die anderen wahr. »Sie kommen nicht«, sagte er ausdruckslos. Er nahm das Glas Rum, das der Kapitän ihm in die Hand drückte, und starrte die Kabinenwand an. Farrell und die sieben Männer waren tot. Alle acht lagen jetzt auf dem Meeresboden. Eine totale Verschwendung von Menschenleben und kostbarer Zeit.
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22 Der dumpfe Aufprall von Ross’ Körper auf dem Fußboden ließ die beiden Wachen mit schußbereiten Pistolen hereinstürmen. »Licht! Wir brauchen Licht!« rief Kurt. Es roch nach verbranntem Fleisch. Als Helmut mit der Taschenlampe kam, war zu sehen, daß eine Hand des Amerikaners geschwärzt war. »Ist er tot?« Ross lag zusammengekrümmt da; sein Gesicht war verzerrt, und sein Mund stand offen. »Laßt den Kerl ruhig verrecken!« Das war die junge Frau. Sie war eben hereingekommen. Helmut begann jedoch Wiederbelebungsversuche mit Herzmassage und Mund-zu-Mund-Beatmung. »Es schlägt!« rief er kurze Zeit später aus. Ross’ Brust hob und senkte sich wieder von selbst. »Bleibt er am Leben?« »Woher soll ich das wissen? Wir müssen Braun holen.« Zwanzig Minuten später lag Ross auf seinem Bett. Nach der Spritze hatte sein Körper aufgehört zu zucken. Braun, der Arzt, stellte eine nüchterne Diagnose. »Er kommt durch«, sagte er. »Eigentlich müßte er aber ins Krankenhaus …« »Kommt nicht in Frage!« Der Arzt hatte diesen Einwand erwartet. Er holte eine Packung aus seiner Ledertasche. »Er wird Schmerzen haben. Geben Sie ihm alle drei Stunden eine dieser Tabletten.« Als er seine Tasche zuschnappen ließ und gehen wollte, 251
hörte er die Frau murmeln: »Trotzdem hätten wir den Schweinehund verrecken lassen sollen!« Erst nach vier Tagen setzte der Kapitän Singleton mit falschen Papieren versehen in Rotterdam an Land. Singleton war allein in seiner Kabine geblieben. Von Muntwick war ein steter Strom verschlüsselter Funksprüche eingegangen, die nur er entschlüsseln konnte. Aber nach dem ersten Tag hatte Singleton sie einfach weggeworfen und sich nicht mehr die Mühe gemacht, sie zu beantworten. Er hatte keine Lust, sich ständig wüst beschimpfen zu lassen. Der Kapitän war froh, ihn von Bord gehen zu sehen. Singleton, der kaum auf seine Umgebung achtete, forderte einen Taxifahrer auf, ihn in ein Hotel, irgendein Hotel zu bringen. Eine Stunde später schlief er in einem schäbigen Hotelzimmer ein: vollständig bekleidet und sehr betrunken. Sobers hatte seine Geheiminformation über Ross und den ›verschwundenen‹ FBI-Agenten Glenn Webb fast eine Woche lang für sich behalten. Zunächst hatte sein persönlicher Ehrgeiz die Oberhand behalten: Die Weitergabe seiner Rohinformationen konnte nützlich sein oder auch nicht; er hegte jedenfalls gewisse Zweifel, daß seine eigene Position sich dadurch wesentlich verbessern ließ. Schließlich hätte ein anderer feststellen müssen, ob dies tatsächlich ein wertvoller Hinweis war. Weit mehr war jedoch daraus zu machen, wenn es Sobers gelang, die Sache für sich zu behalten, die Fährte selbst zu verfolgen und mit einem konkreten Ergebnis aufzuwarten. Sobers war vor allem deswegen ein 252
sowjetischer Agent, weil er wegen einer lange zurückliegenden Liebesaffäre mit einer Minderjährigen erpreßt wurde. Er hatte den Verdacht, daß diese Beziehung vom KGB eingefädelt worden war, aber das würde er niemals sicher wissen. Sobald er sich jedoch auf die Agententätigkeit eingelassen hatte, war ein sekundäres Motiv in den Vordergrund getreten: Geld. Die Sowjets hatten rasch gemerkt, daß er geldgierig war und am besten arbeitete, wenn nach Erfolg bezahlt wurde. Die Hoffnung auf einen großen Erfolg – und damit das große Geld – ließ Sobers diesmal noch zögern. Aber die Ereignisse entwickelten sich zu rasch. Nach der Befreiung der Terroristen wußte er, daß die Zeit für ihn auslief. Wenn er seine Informationen, so unbedeutend sie auch waren, nicht sofort weitergab, riskierte er, gar nichts zu verdienen. Um 20.05 Uhr, dem für eine Kontaktaufnahme festgelegten Zeitpunkt, wählte er in einer Telefonzelle eine Nummer, führte ein scheinbar harmloses Gespräch mit einem gewissen Larry und fuhr dann nach Hause. Er hatte ein Treffen mit seinem sowjetischen Führungsoffizier für den folgenden Abend vereinbart. Dabei hatte er bewußt nicht auf einen früheren Zeitpunkt gedrängt – auf diese Weise blieben ihm 24 Stunden Zeit, weitere Informationen zu beschaffen. Gelang ihm das nicht, würde er sich mit dem zufriedengeben, was er hatte, und seinem Führungsoffizier erklären, er sei erst vor kurzem auf diese Querverbindungen gestoßen. Die
Zeitung
gehörte
dem 253
dicken
Holländer
am
Nebentisch, und Singleton hatte wegen seines Katers Mühe, sich auf die Schlagzeile zu konzentrieren. Eine Viertelstunde später fand er jedoch einen Kiosk, an dem es englische Zeitungen gab, und kaufte die ›Daily Mail‹. Die groß aufgemachte Meldung nahm fast die ganze Titelseite ein, und das dazugehörige Photo zeigte die sieben befreiten Terroristen. Der Bericht stammte von einem belgischen Journalisten, der entführt, mit verbundenen Augen stundenlang herumgefahren und schließlich zu diesen Männern gebracht worden war. Sie hatten sich fotografieren lassen und dann einige Fragen des Journalisten beantwortet. Sie seien mit Hilfe von Sympathisanten »auf bewährten Routen« aus Spanien über die französische Grenze gelangt. Sie bestätigten, was offenbar bereits vermutet worden war: daß die Concorde-Entführer ihre Befreier waren. Sie verweigerten jegliche Auskunft darüber, ob weiterhin Verbindung zu den Geiselnehmern bestehe. Der Artikel enthielt auch einige Hintergrundinformationen: Singleton konnte lesen, daß er an dem Unternehmen beteiligt gewesen sei; er wurde jedoch nicht mit Muntwick, sondern mit den Geiselnehmern in Verbindung gebracht. Und es hieß, daß er ertrunken sei, als sein Motorboot irgendwo vor der spanischen Nordküste gesunken war. Singleton hastete zur nächsten Telefonzelle und rief die Pariser Nummer an, die Warren ihm gegeben hatte. »Ich bin in Rotterdam«, sagte er. Die Stimme am anderen Ende klang nüchtern. »Rufen Sie in einer Stunde noch mal an.« Singleton rief wieder an. Diesmal erhielt er eine Anweisung. »Die Aussicht vom Euromast ist sehenswert.« 254
Ein Mann in schwarzem Blazer und mit gelber Krawatte holte ihn dort eine Stunde später ab. Sie verließen den Turm gemeinsam, fuhren mit der Rolltreppe zu dem Tunnel hinunter, der über eineinhalb Kilometer weit unter der Maas verlief, und sprachen in dem kleinen Park am anderen Ufer miteinander. Ein Wagen brachte Singleton ins Hotel zurück, wo er spät am Abend eine Unterredung mit Warren hatte. »Du hast verdammt spät angerufen!« tadelte Warren ihn. Sie saßen im Hotelzimmer und tranken lauwarmen Scotch aus Zahnputzgläsern. Die Lüge ging Singleton leicht über die Lippen. »Ich konnte nichts tun, bevor ich wieder an Land war.« Warren sah ihn durchdringend an. Er war so unruhig gewesen, daß er nach Rotterdam gekommen war, obwohl das ziemlich riskant war. »Alles okay, George?« fragte er. »Ich weiß, daß du einiges mitgemacht hast – wegen Farrells Tod und so weiter. Du würdest mir’s sagen, wenn du erledigt wärst, stimmt’s?« »Mir geht’s gut.« »Okay. Das freut mich. Sie haben nämlich dich verlangt.« Singleton hörte sich die telefonisch eingegangenen Anweisungen der Geiselnehmer an. Die Entführer waren bereit, ihm ihre Gefangenen zu übergeben. Er sollte nach Frankfurt kommen, sich ein Zimmer im Hotel Intercontinental nehmen und auf weitere Anweisungen warten. »Sie haben doch ihre Leute!« sagte Singleton ungläubig. »Trotzdem wollen sie ihre Zusage einhalten?« »Hast du das Geld vergessen? Außerdem haben sie vermutlich erkannt, daß auch sie sich an irgendwelche 255
Spielregeln halten müssen. Dies ist bestimmt nicht der letzte Entführungsfall. Sogar zwischen Feinden muß gewisses Vertrauen existieren – das haben wir und die Russen schon vor Jahren gelernt, verdammt noch mal! Wir bekämpfen uns, aber wir lassen die Agenten der anderen Seite leben. Wir haben gelernt, daß dieser Schuß nach hinten losgehen würde.« »Wann soll ich abfliegen?« »Noch heute nacht, denke ich.« »Okay.« Warren grinste. »Für einen Toten siehst du ganz munter aus«, stellte er fest. Sobers’ Führungsoffizier, ein fünfzigjähriger Erster Sekretär der sowjetischen Botschaft in Washington, hatte seit dem Bekanntwerden der Concorde-Entführung unter zunehmendem Druck gestanden, Informationen zu beschaffen. Seit der Befreiungsaktion in Spanien hatte dieser Druck sich noch verstärkt. Aus diesem Grund – und weil er wußte, was er als guter KGB-Offizier zu tun hatte, wenn er überleben wollte – hatte er der Moskauer Zentrale in einem verschlüsselten Fernschreiben mitgeteilt, daß er sich wie von Sobers verlangt mit ihm treffen werde. Das Fernschreiben enthielt seine eigene Codenummer und Sobers Deckname: ›Adlerauge‹. Da die Nachricht einen Dringlichkeitsvermerk trug, der ihr eine Vorzugsbehandlung sicherte und den die NSAFachleute bereits kannten, versuchten die Amerikaner sofort, sie zu entschlüsseln. Der Falltürcode gab in etwas über einer Stunde immerhin soviel her, daß die Codeknacker den Absender 256
kannten und wußten, daß ein wichtiges Treffen zwischen ihm und einem der von ihm geführten Agenten stattfinden sollte. Mit wem er sich wann und wo treffen würde, war unbekannt. Innerhalb einer weiteren Stunde wurde jedoch ermittelt, wo der Erste Sekretär sich aufhielt, so daß eine großangelegte Überwachungsaktion anlaufen konnte. Singleton mußte auf dem Flughafen eine Viertelstunde warten, davon verbrachte er zehn Minuten mit der Überlegung, ob er Kate anrufen sollte. Er bezweifelte, daß sie die Meldung über seinen ›Tod‹ gelesen hatte, aber früher oder später würde sie davon hören. Ein Anruf bei Kate nach einem Einsatz hätte nicht seinen bisherigen Gepflogenheiten entsprochen – aber schon ihre letzte Begegnung war aus dem Rahmen gefallen. Er würde nicht viel sagen: nur daß es ihm gut gehe und daß sie nicht alles glauben dürfe, was sie in den nächsten Tagen hören oder lesen werde. Bis er sich dazu durchgerungen hatte, sie anzurufen, war es jedoch zu spät – vor allen Telefonzellen warteten Leute, die Auslandsgespräche führen wollten. Eine halbe Stunde später war er froh darüber; wahrscheinlich war es besser, sie nicht anzurufen. Zumindest noch nicht jetzt. Die Bar lag in der M Street in der Nähe der 19th Street. Als der Russe sie betrat, war er so gelassen, wie man es unter diesen Umständen überhaupt sein konnte. Er war vor knapp zwei Stunden von zu Hause weggefahren und hatte rasch festgestellt, daß er beschattet wurde, was nicht ungewöhnlich war. Aber er war 257
überzeugt, seine Verfolger nach spätestens einer Stunde abgeschüttelt zu haben. Trotzdem hatte er noch zwei weitere Täuschungsmanöver durchexerziert, um ganz sicherzugehen. Jetzt wurde er garantiert nicht mehr beobachtet. Sobers saß am anderen Ende der Theke vor einem halbleeren Bierglas. Er drehte den Kopf kaum merklich zur Seite, als der Russe hereinkam, schien aber nicht weiter auf den neuen Gast zu achten, der einen Bourbon bestellte, seinen Drink kippte, zahlte und wieder ging. Draußen folgte Sobers ihm über die Straße und beobachtete, wie er in seinen Wagen stieg. Im letzten Augenblick spurtete er nach einem raschen Blick in die Runde hinter ihm her, riß die rechte Tür auf und warf sich auf den Beifahrer sitz. Sie waren noch keinen Block weit gekommen, als FBIAgenten den Wagen einkeilten, die beiden herauszerrten und in getrennten Fahrzeugen wegbrachten – eine Aktion, die wenig mehr als zwei Minuten dauerte. Zwei der Agenten, die Sobers erkannt hatten, wurden zu strikter Geheimhaltung vergattert. Die Entscheidung darüber, was mit Sobers und dem Russen geschehen sollte, konnte weder von Warren noch dem FBI-Direktor getroffen werden. Sie blieb dem Präsidenten vorbehalten, an den Watson herantrat. Proctor verlor kein überflüssiges Wort. »Verschwinden lassen«, entschied er. Singleton mußte in seinem Hotelzimmer im 15. Stock zwei Tage lang auf einen Anruf warten. Dann wurde er in eine Milchstube bestellt, wo er seinen Verbindungsmann bei einem Glas Milch und einer Käsesemmel antraf. 258
»Wie lange dauert’s, bis Sie das Geld haben?« fragte der andere. »Höchstens vierundzwanzig Stunden. Sie brauchen mir nur zu sagen, wo es übergeben werden soll.« Der Mann sagte es ihm. Er leerte sein Glas mit einem großen Schluck und ließ Singleton sitzen. »Tun Sie’s«, forderte er ihn noch auf. »Wir melden uns wieder.« Auch Gosori hielt sich in Deutschland auf – jedoch 23 Kilometer außerhalb Frankfurts. Er war in Königstein im Taunus, einem beliebten Ausflugsort zwischen Bergen und Wäldern. Nachts konnte er von seinem Hotelzimmer aus die beleuchtete Burgruine sehen. Wie Singleton saß er da und wartete. Ross wußte plötzlich, daß alles gut werden würde. Als er nach seinem Selbstmordversuch wieder zu Bewußtsein gekommen war, hatte er sich zunächst nicht an viel erinnern können und war dann um so besorgter gewesen. Aber die Wachen waren freundlicher als je zuvor gewesen: Kurt hatte ihm zu einer Mahlzeit sogar einen Pappbecher Wein gebracht. So erschien es ihm lediglich als Fortsetzung dieser humaneren Behandlung, als er eines Morgens in einen viel größeren Raum verlegt wurde. Plötzlich wußte er, daß alles nahezu vorbei war. Er würde freigelassen werden. Singleton wagte nicht, sein Hotelzimmer für mehr als einige Minuten zu verlassen. Das Geld – in sieben Koffer verpackt – lag im Kofferraum eines am Flughafen geparkten Mietwagens bereit. 259
Er nahm seine Mahlzeiten auf dem Zimmer ein, saß viel vor dem Fernseher und reinigte die Waffe, die er bekommen hatte, weit gründlicher, als erforderlich gewesen wäre. Die Pistole war nicht seine geliebte Browning, aber immerhin ein brauchbarer Ersatz: eine FN-Pistole, Kaliber 7,65 Millimeter, die für den Fall, daß er sie benutzen mußte, ausreichend Durchschlagskraft besaß. Die Nachricht stand auf einem Zettel, der halb unter den Teller auf seinem Frühstückstablett geschoben war. ›Warten Sie vor der Zimmerreservierung auf dem Hauptbahnhof‹, lautete die Aufforderung. Da keine Zeit angegeben war, machte Singleton sich sofort auf den Weg. Die junge Frau sprach ihn eine Viertelstunde nach seinem Eintreffen auf dem Hauptbahnhof an. Sie nahmen den nächsten Zug nach Wiesbaden und fuhren sofort wieder zurück. Diesmal stand ein Auto bereit, das sie abholte. Singleton saß hinten neben seiner Begleiterin. Niemand versuchte, ihn daran zu hindern, sich die Fahrtroute einzuprägen. Singleton, der früher einmal dienstlich in Frankfurt gewesen war, wußte genau, wo sie sich befanden, als der Wagen von der Straße abbog und vor einem kleinen Fabrikgebäude hielt. Sie waren in Höchst, dem westlichsten Vorort Frankfurts, der früher eine selbständige Gemeinde gewesen und heute ein Industrieviertel mit einem der größten deutschen Chemiewerke war. Als er ausstieg, atmete er den starken Geruch von Schuhfarben ein. Vier der Geiseln hockten in einem Raum des Gebäudes an die Wand gelehnt auf dem Fußboden, wo sie von drei Maskierten – einer Frau und zwei Männern – bewacht wurden. Auf den ersten Blick hielt Singleton die Zusammengesunkenen für tot. Niemand hinderte ihn 260
daran, auf sie zuzutreten. Dann erkannte er, daß sie unter der Einwirkung irgendeiner Droge standen. »Das Geld«, sagte einer der Geiselnehmer. »Wo liegt es?« Singleton beschrieb ihm den Aufbewahrungsort, und der Mann telefonierte. »Wo ist die fünfte Geisel?« fragte Singleton. »Unsere Abmachung gilt nur, wenn alle fünf freigelassen werden.« Der Mann zuckte mit den Schultern. »Ross hat versucht, sich mit einem Stromstoß das Leben zu nehmen. Ihm geht’s wieder gut, aber er liegt nebenan auf dem Bett. Sie kriegen ihn später zu sehen.« Singleton setzte sich in Bewegung, aber die drohend erhobene Pistole hielt ihn auf. Es dauerte fast eine Stunde, bis das Telefon klingelte. In dieser Zeit bemühte Singleton sich krampfhaft, sich die Erscheinung der drei Terroristen einzuprägen. Alle drei trugen Hosen und weite Pullover, die es schwierig machten, ihren Körperbau zu beurteilen, und hatten gestrickte Sturmhauben über die Köpfe gezogen. Aber es gab Dinge, die sich nicht verbergen ließen: ihre Körpergröße, ihre Art, sich zu bewegen, ihre Stimmen, ihre Augenfarbe, die Farbe einer Haarsträhne, die unter einer der Hauben hervorkam … Singleton merkte sich alles. Die junge Frau, das stand für ihn fest, konnte zu den Flugzeugentführern gehört haben: Was er von ihr sehen konnte – auch ihre Größe – entsprach der bekannten Personenbeschreibung. Das Klingeln unterbrach seine Überlegungen. Der Mann, der sich meldete, hörte zu, grunzte etwas und legte den Hörer auf. »Die fünf gehören Ihnen«, sagte er. »Aber Sie dürfen das 261
Gebäude erst in einer halben Stunde verlassen. Haben Sie eine Uhr?« Als Singleton nickte, fuhr der Mann fort: »Wir haben jemand draußen, und wer sich vor Ablauf dieser Zeit blicken läßt, wird erschossen.« Nachdem die Terroristen, die zuvor noch das Telefonkabel aus der Wand gerissen hatten, verschwunden waren, wartete Singleton fünf Minuten. Er hatte es jetzt nicht mehr eilig. Überraschend war, daß sie ihn nicht durchsucht hatten. Allerdings – wie sollte er ihnen jetzt noch gefährlich werden? Er ging nach nebenan, und obwohl irgendein Instinkt ihn vorgewarnt hatte, mußte er alle Selbstbeherrschung aufwenden, um sich nicht zu übergeben. Ross war an die Holzwand genagelt, buchstäblich gekreuzigt worden – mit großen Schraubnägeln, die durch seine Hände getrieben worden waren. Er war nackt und blutüberströmt. Trotzdem waren die Einschüsse deutlich zu erkennen. Singleton schätzte, daß er von mindestens einem Dutzend Schüsse getroffen worden war – jedoch von keinem, der unmittelbar tödlich gewesen wäre. Singleton stand wie gelähmt da, war zu keiner Bewegung imstande und brachte es nicht fertig, den Blick von dieser Schreckensszene zu wenden. Der Rest des Raumes lag im Halbdunkel; in diesem abgeteilten Winkel des Fabrikgebäudes gab es kein Fenster, und die einzige Lichtquelle war eine von einem Drahtkorb umgebenen Handlampe, die jemand so auf einen Stuhl gelegt hatte, daß sie Ross’ Gesicht beschien. In dem kleinen Raum war es totenstill. Der Amerikaner zwang sich dazu, vorzutreten und Ross zu berühren. Das Blut war noch warm. Singleton hob seine Hand und starrte die roten Flecken an den Fingerspitzen an. Dann hörte er ein ersticktes Gurgeln. Ross lebte noch! 262
Singleton wußte nicht recht, was er tun sollte: Ross von der Wand nehmen und Wiederbelebungsversuche machen … hinauslaufen und erst wiederkommen, wenn der Mann tot war, weil er bestimmt nicht zu retten war … seine Pistole gebrauchen, um den Mann zu erlösen … In Wirklichkeit mußte er jedoch etwas anderes tun. Er wußte es, zögerte lange. Dann streckte er die Hand aus. Im Laufe seines Lebens hatte er viel Schreckliches getan, das ihm verhaßt gewesen war, aber dies war vielleicht schrecklicher als alles andere. Er zwang sich dazu, Ross immer wieder ins Gesicht zu schlagen und ihn dabei anzuschreien, bis der Sterbende die Augen öffnete. »Hören Sie mir zu!« kreischte Singleton. »Haben Sie’s ihnen gesagt? Haben Sie’s ihnen gesagt?« Das im Lampenlicht aschfahle Gesicht war bereits das eines Toten. Nur die Lippen bewegten sich – anfangs noch lautlos. Als die Worte kamen, waren sie kaum zu verstehen. »Ich … ich hab’s … versucht«, flüsterte Ross. »Aber sie … hat mich nicht … reden lassen.« Dann starb er. Singleton starrte ihn lange an, gelähmt vor Entsetzen. Als dann hinter ihm ein Geräusch zu hören war, zerrte es so an seinen überreizten Nerven, daß er sich herumwarf, fast bevor er es richtig wahrgenommen hatte. In der Tür stand ein Mann: wenig mehr als ein stämmiger Umriß vor dem Hintergrund des helleren Nebenraumes. Aber die Pistole in seiner Hand war nicht zu übersehen. Als der Mann näherkam, konnte Singleton seine Gesichtszüge besser erkennen. Ein dunkler Typ – 263
vielleicht ein Araber? Singleton hielt noch immer seine Waffe in der Hand. Ihre Mündung zeigte zu Boden, aber er traute sich zu, sie hochzureißen und zurückzuschießen, selbst wenn er getroffen sein sollte. Der Mann trat einen weiteren Schritt vor und starrte den toten Ross an, bevor er sich wieder auf Singleton konzentrierte. Die Frage in seinem Blick war unverkennbar. »Der Mr. Nobody dieser Entführung«, erklärte ihm Singleton. »Ein armer Teufel namens Ross. Im Vergleich zu den anderen wertlos, deshalb haben sie ihn zu Tode gefoltert.« »Warum haben sie das wohl getan?« »Aus Spaß? Um in Übung zu bleiben? Woher soll ich das wissen, verdammt noch mal? Bestien!« Der Mann schien damit zufrieden zu sein. Er deutete zur Tür hinüber. »Kommen Sie, wir wollen hier raus.« Sie betraten den größeren Raum, in dem die vier bewußtlosen Geiseln lagen. Der Unbekannte sprach weiter. »Sie sind der Amerikaner«, stellte er fest. Er begann zu lachen. »Die Schweinehunde haben sie beiden Seiten verkauft – Ihnen und uns.« »Sie sind der Russe?« Das war offensichtlich, aber Singleton mußte trotzdem fragen. Gosoris Lachen klang leicht hysterisch. »Sie haben uns zur selben Zeit herbestellt!« rief er aus. »Nachdem sie von beiden abkassiert hatten! Jetzt hoffen sie, daß wir uns gegenseitig abknallen.« Er starrte Singleton an. »Das könnten wir sogar …« »Nehmen Sie Ihren Mann mit«, forderte Singleton ihn müde auf, »wenn das alles ist, was Sie wollen.« 264
Gosori starrte den Amerikaner prüfend an. In seinem Tonfall und seinem Blick erkannte er etwas, das er seit langem selbst empfand – eine schreckliche Müdigkeit. »Mehr will ich nicht«, bestätigte er ruhig. Als der Russe zögerte, merkte Singleton, daß der andere davor zurückschreckte, sich zu gefährden, indem er Wolkow auf die Schulter nahm, solange sein Gegenüber noch eine Pistole in der Hand hielt. »Warum stecken wir nicht beide unsere Waffen weg?« schlug Singleton vor. Gosori nickte, schien seine Pistole ins Schulterhalfter zurückstecken zu wollen und zögerte dann wieder. Singleton, der den Russen beobachtete, wußte genau, was der andere dachte: Wenn sie beide ihre Waffen wegsteckten, befand er sich trotzdem im Nachteil, falls der Amerikaner zu ziehen versuchte, während er selbst Wolkow aufhob. »Ich lege meine auf den Fußboden und schiebe sie mit dem Fuß außer Reichweite«, bot Singleton ihm an. Der Russe lächelte und steckte langsam seine Pistole weg, während Singleton sich bückte, seine Waffe auf den Boden legte und sie mit der Schuhspitze anstieß, so daß sie zwei Meter weit wegrutschte. Gosori brauchte einige Minuten, um Wolkow aufzuheben und sich über die linke Schulter zu legen. Sein Gesicht war vor Anstrengung verzerrt, aber Singleton blieb stehen und machte keine Anstalten, ihm zu helfen. Der Russe wandte sich mit einem letzten Lächeln ab und stolperte zum Ausgang und ging ins Freie. Er hatte schon etwa zehn Schritte getan, als Singleton sich an die Dreißigminutenwarnung erinnerte. Der erste Schuß warf Gosori herum, wobei ihm der 265
Bewußtlose von der Schulter glitt. Der zweite ließ ihn rückwärtstorkeln, und der dann folgende Feuerstoß durchsiebte ihn förmlich. Ein weiterer Feuerstoß traf den Körper des Ministers, der in seiner Bewußtlosigkeit nicht einmal zuckte. Singleton, der unbeweglich auf dem Boden lag, beobachtete die Szene. Es wäre zwecklos gewesen, irgend etwas zu unternehmen. Der Russe und sein Minister waren offensichtlich tot. Das Gebäude hatte einen Hinterausgang. Als zehn Minuten später die Polizei kam, fand sie die überlebenden Geiseln und die drei Toten. Singleton war verschwunden.
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23 »Unbezahlbar«, sagte Singleton. »Buchstäblich unbezahlbar.« Sie standen in Muntwicks Ikonengalerie. Inzwischen waren zwei Monate vergangen, und Singletons Gesicht war dick verbunden. Er hatte sich einer Gesichtsoperation unterzogen – nur widerstrebend, weil er ihre Notwendigkeit nicht hatte einsehen können. Aber Warren hatte ihn schließlich überzeugt: Die Verbindungsleute der Terroristen und andere Leute, die ihn mit der Häftlingsbefreiung in Verbindung bringen konnten, kannten sein Gesicht so gut, daß er gefährdet gewesen wäre. Jetzt stand Warren neben ihm. »Wie du weißt, bist du amtlich tot«, sagte der CIA-Direktor. »Selbst deine Frau und dein Sohn halten dich dafür.« Singleton zuckte mit den Schultern. »Von dir werden sie vermutlich nichts anderes erfahren.« Er selbst hatte nur einen Menschen informiert – durch zwei maschinengeschriebene Zeilen, denen er einen Beweis dafür beigelegt hatte, daß sie von ihm stammten: die Hälfte eines Paars Manschettenknöpfe, das sie ihm einmal geschenkt hatte. Fast wie ein romantischer Jüngling trug er den zweiten Manschettenknopf in der Brusttasche seines Hemdes. Singleton führte Warren zur nächsten Ikone – Muntwick und er verbrachten jetzt viel Zeit in diesem Raum miteinander. »Tut mir leid, daß es zum Schluß noch Tote gegeben hat«, sagte Warren. Dies war erst ihr zweites Gespräch; das erste war kurz und geschäftsmäßig über eine 267
abhörsichere Verbindung abgewickelt worden. »Wahrscheinlich hättet ihr Ross ohnehin umgebracht«, meinte Singleton. Seine Stimme ließ nicht erkennen, was er empfand. In schlimmen Nächten wachte er auf und fragte sich, wie lange Ross’ Sterben gedauert haben mochte. Dann sehnte er sich am meisten nach Kate, die ihn nur in den Armen halten sollte, damit er wieder einschlafen konnte. Er hatte ihr keine Adresse mitgeteilt; er bezweifelte, daß er sie jemals wiedersehen würde. Warrens Stimme unterbrach seine Überlegungen. »Ich muß dir noch was sagen …« »Ja?« »Es geht um die ›Bandwürmer‹, die ich dir beschaffen sollte.« Singleton wartete, aber er wußte bereits, was der andere sagen würde. Es handelte sich um die bunten Pillen, die Singleton die inhaftierten Terroristen hatte schlucken lassen. »Ich erzähl’s dir jetzt, weil du bald selbst draufgekommen wärst«, fuhr der CIA-Direktor ruhig fort. »Was ich dir gegeben habe, sind Imitationen gewesen. Zuckerpillen.« Er breitete die Hände aus und wartete auf Singletons Reaktion. Singleton lachte halblaut, und seine Stimme klang resigniert. »Wahrscheinlich hätten sie ohnehin nicht gewirkt«, meinte er. »Soviel ich mich erinnere, sind sie bei Tierversuchen manchmal sehr schnell wieder ausgeschieden worden.« Sein Tonfall war eine Erleichterung für Warren. »Ich bin froh, daß du das verstehst, George«, sagte er. »Daß du begreifst, weshalb ich das tun mußte; daß du einsiehst, daß es selbst in diesem Spiel Regeln geben 268
muß.« Er merkte sofort, daß er den Mund hätte halten sollen. »Spielregeln!« wiederholte Singleton erbittert. »Im Umgang mit solchen Scheißkerlen!« Warren mußte sich verteidigen. »Hör zu, selbst im Umgang mit diesen Leuten gibt’s Dinge, die man tut, und andere, die man nicht tut. Verdammt noch mal, George, die Politiker können tun und sagen, was sie wollen, aber wir müssen mit diesen Leuten auskommen! Wie mit den Russen und früher sogar mit den Nazis müssen wir uns auch mit den Terroristen auf bestimmte Grundregeln einigen …« Er machte eine Pause und drehte sich um. Singleton war bereits an der Tür. »Bleib du nur bei deinen Regeln, Cord«, sagte er, »aber laß mich aus dem Spiel!« Er begann zu lachen – wegen seines Kopfverbandes ein seltsamer Anblick. »Ich hab ohnehin schon geahnt, was du getan hast.« Monate später kamen die beiden noch einmal zusammen. Singleton, der jetzt Pearson hieß, sah völlig verändert aus: Die kosmetische Operation hatte seine Nase verkürzt, eine langwierige zahnprothetische Behandlung hatte Kinn und Unterkiefer verändert, und durch Wurzelverödung war sein Haaransatz verschoben worden, so daß seine Stirn höher wirkte. Er verbrachte jetzt einen Teil seiner Zeit damit, Muntwick Jr. zu beaufsichtigen, wenn er Spazieren gehen wollte – was jedoch nur selten vorkam, weil der junge Mann seit der Geiselnahme kaum noch etwas anderes wollte, als in einer Ecke auf dem Boden zu hocken und Kinderverse aufzusagen. Von den beiden anderen geretteten Geiseln wußte Singleton nur, was in den 269
Zeitungen stand: Der Franzose führte seinen Konzern wie zuvor, aber er unternahm anscheinend keine Reise mehr ohne bewaffnete Leibwächter und umfangreiche Sicherheitsvorkehrungen. Über Jennifer North wurde ständig berichtet. Singleton erinnerte sich daran, gelesen zu haben, daß sie nun doch nicht operiert werden müsse. Und wenig später war gemeldet worden, ihre vierte Scheidung sei eingereicht. Warren hatte dieses Treffen mit Singleton arrangiert. Seine Tage als CIA-Direktor waren gezählt, das wußte er selbst. Aber bevor er ging, wollte er sich Klarheit verschaffen. Der erste der aus dem Gefängnis befreiten Terroristen war nach etwa vier Monaten gestorben. Ein Ire namens Michael O’Dare Flynn. Die Berichte über ihn waren lückenhaft, aber anscheinend war er nach ungefähr einem Monat erkrankt. Durchaus nichts Ungewöhnliches. Schließlich sterben ständig Leute. Dann waren jedoch ein zweiter, ein dritter und vierter Todesfall gemeldet worden: alle in verschiedenen Weltgegenden, alle binnen weniger Monate. »Was ist’s gewesen, George?« fragte Warren. »Frederick«, verbesserte Singleton ihn. »Frederick Pearson. Singleton ist tot.« Er machte eine Pause. »Was soll was gewesen sein?« »Was hast du mit ihnen angestellt?« Singleton gab keine Antwort. »Du brauchst gar nichts zu sagen«, fuhr der CIADirektor fort. »Ich weiß es auch so, schätze ich. Ich habe alles überprüft. Die Berichte sind ziemlich detailliert und alle ähnlich gewesen. Wir hätten uns einen der Toten angesehen, wenn das nicht zu auffällig gewesen wäre.« 270
Singleton schwieg noch immer. »Du hast ihnen irgend etwas Radioaktives beigebracht«, stellte Warren fest. »Irgend etwas, das erst nach ungefähr einem Monat wirkt …« Er beobachtete Singleton scharf, aber der ließ noch immer keine Reaktion erkennen. »Wo hast du das Zeug hergehabt, George?« Warren zuckte mit den Schultern. »Das brauchst du mir nicht mal zu sagen. Von Muntwick, stimmt’s? Eine Kleinigkeit für ihn. Die nach Spanien gegangene Sendung ist registriert worden. Niemand hat den Versuch gemacht, sie zu tarnen – alles streng nach Vorschrift. Sogar ein Arzt ist dagewesen, um den Empfang zu quittieren.« Warren machte eine Pause, bevor er fortfuhr. »Ich habe mit unseren Fachleuten gesprochen. Wir wissen nicht genau, was es gewesen ist, aber sie tippen auf ein Isotop mit starker Alphastrahlung – trotz aller Schauergeschichten nicht übermäßig gefährlich, solange man das Zeug nicht ißt. Auch ziemlich unkompliziert zu handhaben. Aber hast du nicht ein bißchen geschwitzt, als du mit dem Zeug umgegangen bist, George? Darüber hinaus muß es ihrer Meinung nach ein Isotop gewesen sein, das dem Kalzium chemisch ähnlich ist, so daß der Körper sich täuschen läßt und es in den Knochen ablagert. Unsere Leute tippen auf Radium. Haben sie recht, George? Radium in Speisen oder Getränken ist nicht wahrnehmbar, wenn man nicht gerade einen Geigerzähler hat. Dann in den Magen und weiter in die Knochen, wo es sofort das Knochenmark zu zerstören beginnt. Der Körper produziert keine Blutkörperchen mehr. Das Ergebnis: Tod. Ohne Behandlung binnen weniger Wochen. Selbst mit Behandlung – die keiner von ihnen bekommen hat –, tritt der Tod nach wenigen Monaten ein. 271
Hab ich noch immer recht, George?« Singleton fuhr zusammen und schloß die Augen. Er sah das kleine Mädchen mit dem abgerissenen Bein vor sich. Er glaubte, Ross an die Wand genagelt vor sich zu sehen: mit verzerrtem Gesicht, mit zahlreichen Schußwunden, über und über mit gerinnendem Blut bedeckt. Seine Hand umklammerte Warrens Arm. »Es gibt keine Spielregeln, Cord«, sagte er. »Von jetzt an gibt’s keine Spielregeln mehr!«
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24 Sie ermordeten ihn zwei Donnerstage später um 19.27 Uhr an einem schönen, warmen Abend. Der Zeitpunkt ließ sich genau angeben, weil es zwei Augenzeugen auf der anderen Straßenseite gab – und weil seine zersplitterte Uhr stehengeblieben war. Der Wagen geriet auf den Gehsteig, als er um die Ecke raste. Die Augenzeugen behaupteten, er sei mindestens 100 Stundenkilometer gefahren. Wahrscheinlich war schon der erste Aufprall tödlich; bestimmt aber der zweite Kontakt mit dem Fahrzeug. Der Wagen wurde binnen 24 Stunden aufgefunden. Er war als gestohlen gemeldet. Ein gewöhnlicher Unfall mit Fahrerflucht schied von Anfang an aus: Solche Fahrer halten nicht an, um den Rückwärtsgang einzulegen und das Opfer ein zweites Mal zu überfahren. Die Polizei war widerstrebend von der Sorgfalt beeindruckt, mit der das Wageninnere gereinigt worden war. Im allgemeinen waren wenigstens verwischte und deshalb wertlose Fingerabdrücke, Schuhspuren, Haare oder Fäden aus Kleidungsstücken zu entdecken. Diesmal wurde nichts gefunden. Das Geld in seiner Geldbörse teilten sich der Polizeibeamte und die beiden Sanitäter, die als erste die Unfallstelle erreichten, aber es war nicht leicht, die Blutflecken davon zu entfernen. Trotzdem steckte in seinem später entdeckten Geldgürtel noch genügend Geld für die Bestattungskosten. Im Leichenschauhaus wurde auch seine zur Faust geballte rechte Hand geöffnet, in der sich ein Manschettenknopf fand: ein Zaunkönig vor silbernem Hintergrund, ein Schmuckstück ohne größeren Wert. Eine Theorie besagte, 273
daß er in den Sekunden nach dem ersten Aufprall, als er den sicheren Tod vor Augen hatte, dieses Andenken in die Hand genommen hatte. Da George Singleton tot war, wurde er als Frederick Pearson beerdigt, denn dieser Name stand in den wenigen Papieren, die man bei ihm gefunden hatte. Ein Aufruf, seine Angehörigen sollten sich melden, blieb ohne Echo. Der Gerichtsmediziner stellte fest, daß der Tote sich erst vor kurzem einer kosmetischen Operation unterzogen haben mußte, und in den Ermittlungsakten wurde die Möglichkeit eines Mordes unter Gangstern festgehalten. Warren hatte nachträglich ein schlechtes Gewissen, weil niemand zu der Beerdigung gegangen war, aber das wäre zu riskant gewesen. Und welchen Sinn hätte diese Geste gehabt? Singleton war ab dem Augenblick, in dem sie ihm von Charltons Entdeckung hatten erzählen müssen, um ihn dazu zu bringen, den Auftrag zu übernehmen, ein toter Mann gewesen. Warren konnte nie begreifen, wie ein Mann, der selbst festgestellt hatte, es gebe keine Spielregeln, sich jemals hatte einbilden können, man werde ihn mit einem so wichtigen Geheimnis weiterleben lassen. ›Newsweek‹ hätte niemals über den Mord berichtet – und schon gar nicht elf Wochen später –, wenn sich nicht noch drei weitere Morde ereignet hätten, die die Chicagoer Zeitungen zu Recht oder Unrecht mit dem ersten in Verbindung brachten. Da gab es Anzeichen für einen Gangsterkrieg um die Stadtbezirke; in der Sommerflaute fehlten Sensationen, und der Manschettenknopf mit dem Zaunkönig hatte die Phantasie eines ›Newsweek‹-Redakteurs angeregt. Kate Galbraith las den Artikel auf dem Heimflug zu 274
ihren Eltern – zu einem Erholungsurlaub, den sie dringendst brauchte. Hätte sie nicht in einem Flugzeug gesessen, hätte sie ihn vermutlich nie zu Gesicht bekommen, denn ›Newsweek‹ gehörte nicht zu den Magazinen, die sie normalerweise las. Zu dem Artikel gehörte ein Polizeiphoto der Leiche, die etwas unwirklich aussah. Kate erkannte den Toten nicht wieder, aber sie wußte, wer er war. Das sagte ihr der bei ihm gefundene Manschettenknopf. Kate hatte nicht gewußt, ob sie sich jemals wiedersehen würden. Sie war froh über seine Mitteilung gewesen, daß er noch lebe und keineswegs so tot sei, wie der Rest der Welt glaubte. Aber was ein Wiedersehen betraf … Davon war ihre Beziehung niemals abhängig gewesen. Ihnen hatte es genügt, sich gelegentlich zu treffen. Ihre Beziehung war nicht von der Zahl ihrer Begegnungen abhängig gewesen. Aber dies hier … Sie hielt das Nachrichtenmagazin so fest, daß ihre Fingerknöchel weiß wurden und ihre Finger Schweißspuren auf dem Umschlag zurückließen. Kate hielt es fest, bis das Flugzeug gelandet war und die Passagiere ausstiegen. Dann warf sie es beiseite. Aber sie wußte, daß sie die Sache nicht einfach auf sich beruhen lassen konnte. Sie telefonierte aus einer der Zellen im Ankunftsgebäude. Er wurde ans Telefon geholt. »Ralph Leger«, meldete er sich. »Mit wem spreche ich bitte?« »Ralph«, sagte sie, »erinnerst du dich an mich? Kate Galbraith.« Am anderen Ende entstand eine Pause. »Ob ich mich an 275
dich erinnere?« fragte er ungläubig. »Mein Gott, natürlich! Von wo aus rufst du an?« »Vom Flughafen. Ich komme nach Hause.« Sie holte tief Luft. »Ralph, können wir uns treffen? Bald? Am liebsten gleich, wenn du Zeit hast. Ich habe eine Story. Und ich glaube, daß sie dich interessieren wird.«
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