H. Elisabeth Philipp-Metzen Die Enkelgeneration im ambulanten Pflegesetting bei Demenz
H. Elisabeth Philipp-Metzen
Die Enkelgeneration im ambulanten Pflegesetting bei Demenz Ergebnisse einer lebensweltorientierten Studie
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Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich Sozialwesen der Universität Kassel als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) angenommen. Titel: „Die Enkelgeneration im ambulanten familialen Pflegesetting bei Demenz: Was sind ihre Erfahrungen und Bilanzierungen? Gibt es Auswirkungen auf die intergenerationelle Pflegebereitschaft und Belastungsprävention?“ Datum der Disputation: 06.02.2008 Betreuer und Gutachter: Herr Prof. Dr. Fred Karl Gutachterin: Frau Hochschuldozentin Dr. Hiltrud Loeken Diese wissenschaftliche Arbeit erfolgte im Rahmen eines Promotionsstipendiums bei der Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin.
1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Katrin Emmerich VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16118-1
Danksagung
An dieser Stelle möchte ich mich bei den Menschen bedanken, die mich bei der Anfertigung dieser Arbeit unterstützt haben. Meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Fred Karl, danke ich sehr für seine motivierende und zielgerichtete Unterstützung, die es mir ermöglicht hat, ein aus der beruflichen Praxis entstandenes Forschungsanliegen zu planen und durchzuführen. Wertvolle Hinweise habe ich auch in seinem Doktorandenkolloquium erhalten, und ich danke allen dort teilnehmenden Doktoranden, insbesondere Frau Dr. Kirsten Aner, für ihre Anregungen. Meiner zweiten Betreuerin, Frau Hochschuldozentin Dr. Hiltrud Loeken danke ich für Ihr Interesse an dieser speziellen Thematik und ihre hilfreichen Anmerkungen in der späteren Phase der Promotion. In besonderem Maße möchte ich mich bei der Heinrich-Böll-Stiftung für ihre Förderung meines Forschungsvorhabens im Rahmen eines Promotionsstipendiums bedanken. Dieses Stipendium hat es mir mit meiner frauenspezifischen Biografie einer vergleichsweise frühen Phase der Familienarbeit und einem relativ späten Einstieg in die berufliche Tätigkeit als Diplom-Sozialpädagogin und nachfolgend Diplom-Gerontologin erlaubt, eine umfangreiche Forschungsstudie durchzuführen. Hier gilt mein Dank vor allem meiner zuständigen Referentin für Promotionsstipendien Frau Jutta Helm, die mich kontinuierlich konstruktiv begleitet hat, sowie der Leiterin des Studienwerks Frau Ulla Siebert, die mich zu frühzeitigen Veröffentlichungen ermutigt hat. Die Stipendiatinnen und Stipendiaten der Stiftung gaben mir hilfreiche und originelle Anregungen; und sie haben, teilweise auch aufgrund ihres Alters, anschaulich die Sichtweise der Enkelgeneration vertreten. Insgesamt haben die Veranstaltungen der Heinrich-Böll-Stiftung mich nicht nur fachlich unterstützt, sondern meinen ‚subjektiven Wissensvorrat’ um zahlreiche gesellschaftskritische Facetten erweitert. Herrn Prof. Dr. Radebold danke ich sehr für sein Zweitgutachten, das er für meinen Antrag auf ein Promotionsstipendium geschrieben hat, und dem Politologen Herrn Ingo Zwilling für seine kritischen Hinweise zur Phänomenologie. Den zahlreichen an meiner Suche nach Interviewpartnern beteiligten Organisationen und Multiplikatoren bin ich dankbar für ihre Unterstützung bei der Bekanntmachung meines Forschungsvorhabens. 5
Meiner Tochter und angehenden Ethnologin Frau Jana Metzen danke ich herzlich für das Anfertigen der Transkripte und die Durchsicht des Manuskripts. Ihre inhaltlichen Anmerkungen waren in jeder Hinsicht eine Bereicherung. Meinem Mann Herrn Wolfgang Metzen bin ich sehr dankbar für den ‚technischen Support’ und seine Geduld bei allen Angelegenheiten, die mit dem Computer in Verbindung standen. In ganz besonderem Maße danke ich den Enkeln demenziell erkrankter Großeltern, die als meine Interviewpartnerinnen und -partner mit ihrer Offenheit diese qualitative Studie erst ermöglicht haben. H. Elisabeth Philipp-Metzen
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Inhaltsverzeichnis
Danksagung ........................................................................................................5 Inhaltsverzeichnis...............................................................................................7 Tabellen- und Schaubildverzeichnis...............................................................14 Einleitung..........................................................................................................17 Teil A
Die Enkelgeneration im ambulanten familialen Pflegesetting bei Demenz – zum Stand der Forschung .................23
1 1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4 1.2 1.2.1 1.2.2 1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.3.4 1.3.5 1.4 1.4.1 1.4.2
Ambulantes Pflegesetting bei Demenz............................................23 Demenzielle Erkrankungen ................................................................23 Krankheitsbild und Diagnostik...........................................................23 Epidemiologie und Prävention der Demenz .......................................26 Verlauf und Symptomatik ..................................................................29 Überblick zur Versorgungslage ..........................................................31 Zur Situation ambulanter familialer Pflege bei Demenz ....................34 Häusliche Versorgung bei Pflege- und Hilfebedürftigkeit .................34 Spezifika beim Vorliegen einer Demenz............................................38 Auswirkungen des Pflegegeschehens auf Angehörige .......................44 Merkmale pflegender Familienangehöriger .......................................44 Belastungsfaktoren in der häuslichen Pflege......................................46 Spezifische Belastungen im Kontext mit Demenz .............................49 Zur Nichtinanspruchnahme von Entlastungsangeboten .....................53 Positive Effekte ..................................................................................54 Belastungsprävention .........................................................................57 Strategien zur Belastungsprävention ..................................................57 Angebote zur Entlastung und Belastungsprävention im Bereich informeller Pflege .................................................................60 Neuere Ansätze...................................................................................65
1.4.3
7
1.5 1.5.1 1.5.2
Pflegebereitschaft und Pflegepotenziale.............................................68 Familiale Pflegebedarfe und -potenziale ............................................69 Normative und motivationale Aspekte ...............................................72
2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5 2.2 2.2.1 2.2.2
Familiale Generationen....................................................................79 Das soziale Gebilde ‚Familie’ ............................................................79 Historische Entwicklung des Begriffs ‚Familie’ ................................79 Grundlegende Aspekte .......................................................................81 Familiale Lebensformen.....................................................................83 Funktionale Charakteristika................................................................85 Bedeutung von Familie in der Gegenwart ..........................................87 Zum Begriff ‚Generationen’...............................................................90 Einführende Systematik......................................................................90 Präzisierung und kritische Abwägung des Generationenbegriffs ..........................................................................92 Der Terminus ‚Generation’ in der vorliegenden Studie .....................96 Die – multilokale – Mehrgenerationenfamilie....................................98 Wandel der familialen Generationenstruktur und Erhöhung der gemeinsamen Lebenszeit..............................................................98 Koresidenzen und Multilokalitäten ..................................................100 Kontakthäufigkeit, Beziehungsqualität und emotionale Verbundenheit ..................................................................................103 Unterstützungstransfers in Mehrgenerationenfamilien.....................105 Vertiefende Aspekte zur Eltern-, Großeltern- und Enkelgeneration................................................................................107 Phasen der Familienentwicklung......................................................107 Die Elterngeneration.........................................................................109 Die Großelterngeneration .................................................................112 Die Enkelgeneration .........................................................................116 Ausgewählte Aspekte von Generationenbeziehungen......................119 Generationensolidarität ....................................................................120 Definition familialer Solidarität........................................................120 Solidarität als dritte Kernfunktion der Mehrgenerationenfamilie .................................................................123 Makrosoziale und internationale Aspekte ........................................125 Generationenkonflikt........................................................................127 Qualitative Differenzierungen ..........................................................127 Häufigkeiten von Generationenkonflikten .......................................128 Generationenkonflikte auf gesellschaftlicher Ebene ........................131 Generationenambivalenz ..................................................................131
2.2.3 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.3.5 2.3.5.1 2.3.5.2 2.3.5.3 2.3.5.4 2.4 2.4.1 2.4.1.1 2.4.1.2 2.4.1.3 2.4.2 2.4.2.1 2.4.2.2 2.4.2.3 2.4.3 8
2.4.4
Generationenlernen ..........................................................................135
3
Enkel demenziell erkrankter Großeltern im ambulanten familialen Pflegesetting: Nationale und internationale Studien.............................................................................................138 Häusliche Pflege und Hilfe als Element familialer Sorgeleistung....................................................................................138 Die Enkelgeneration als unmittelbar und mittelbar Betroffene bei Hilfe- und Pflegebedarf der Großeltern ....................141 Strukturelle Aspekte .........................................................................141 Die Sandwich-Generation ................................................................143 Auswirkungen auf weitere Familienmitglieder ................................146 Häusliche Pflege im Kontext des Milieus ........................................150 Die besondere Situation beim Vorliegen einer Demenz...................152 Strukturelle Aspekte .........................................................................152 Auswirkungen der Pflegesituation auf junge Menschen und deren familiale Beziehungen ............................................................154 Intergenerationelle Ansätze im Praxisfeld........................................159
3.1 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 Teil B
Theoretische und methodische Hintergründe der Erhebung.........................................................................................163
4
Problemanalyse, Forschungsfragen und -ziele.............................163
5 5.1
Theoretischer Rahmen der Untersuchung ...................................166 Grundlegende Aspekte des vorliegenden Forschungsansatzes ..........................................................................166 Angewandte Gerontologie und Multidisziplinarität .........................166 Der qualitative Zugang .....................................................................168 Einführende Hinweise ......................................................................168 Grundlegende Merkmale qualitativer Forschung .............................171 Gütekriterien qualitativer Forschung................................................175 Theoriengenerierung ........................................................................178 Der lebensweltorientierte Ansatz nach Alfred Schütz als methodologischer Rahmen ...............................................................180 Lebenswelt als theoretische Perspektive professioneller Interventionen und Forschungsanliegen ...........................................181 Lebensweltorientierung nach Alfred Schütz ....................................184 Historischer Hintergrund ..................................................................184
5.1.1 5.1.2 5.1.2.1 5.1.2.2 5.1.2.3 5.1.2.4 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.2.1
9
5.2.2.2 5.2.2.3 5.2.2.4
Grundlagen des Lebensweltansatzes bei Alfred Schütz ...................184 Fremdverstehen und methodische Postulate.....................................190 Bezug zur vorliegenden Arbeit.........................................................192
6 6.1 6.2 6.2.1 6.2.2
Die Forschungsmethoden...............................................................195 Datenerhebung: Problemzentrierte Interviews .................................195 Datenauswertung ..............................................................................198 Qualitative Inhaltsanalyse ................................................................199 Computerunterstütztes Auswerten....................................................202
7 7.1 7.2 7.2.1 7.2.1.1 7.2.1.2 7.2.1.3 7.2.2 7.2.2.1 7.2.2.2 7.2.3 7.3 7.3.1 7.3.1.1 7.3.1.2 7.3.2
Der Forschungsprozess ..................................................................205 Überblick..........................................................................................205 Die Datenerhebung...........................................................................206 Die Entwicklung der Erhebungsinstrumente ....................................207 Kurzfragebogen ................................................................................207 Interviewleitfaden.............................................................................208 Postskriptum und weitere Dokumente..............................................210 Gewinnung von Interviewteilnehmenden.........................................211 Einschlusskriterien für die Studienteilnahme ...................................211 Bekanntmachung und Erstkontakte ..................................................212 Pretests und Durchführung der Interviews .......................................214 Die Datenauswertung .......................................................................216 Induktive Kategorienentwicklung ....................................................216 Einzelfallanalyse ..............................................................................216 Fallübergreifende Analyse................................................................221 Deduktive Kategorienanwendung ....................................................222
Teil C
Ergebnisse ......................................................................................227
8
Die Interviewteilnehmenden und ihre Pflegesettings ..................227
9 9.1 9.1.1 9.1.2 9.1.2.1 9.1.2.2 9.1.2.3 9.1.2.4
Auswertung der Einzelfälle ...........................................................232 Ausführliche Fallanalyse: Michael Ottfried .....................................233 Fallbeschreibung und Verlauf der Erhebung....................................233 Fallanalyse........................................................................................234 Erfahrungen und Bilanzierungen......................................................234 Äußerungen zu Überforderung und Belastungsprävention ..............237 Angaben zur Pflegebereitschaft........................................................238 Ausgewählte Aspekte familialer Generationenbeziehungen ............240
10
9.1.2.5 9.2 9.2.1 9.2.2 9.2.2.1 9.2.2.2 9.2.2.3 9.2.2.4 9.2.2.5 9.3 9.3.1 9.3.2 9.3.2.1 9.3.2.2 9.3.2.3 9.3.2.4 9.3.2.5 9.4 9.4.1 9.4.2 9.5 9.5.1 9.5.2 9.6 9.6.1 9.6.2 9.7 9.7.1 9.7.2 9.8 9.8.1 9.8.2 9.9 9.9.1 9.9.2 9.10 9.10.1 9.10.2 9.11 9.11.1
Zusammenfassende Auswertung ......................................................242 Ausführliche Fallanalyse: Yvonne Müller........................................243 Fallbeschreibung und Verlauf der Erhebung....................................243 Fallanalyse........................................................................................244 Erfahrungen und Bilanzierungen......................................................244 Äußerungen zu Überforderung und Belastungsprävention ..............247 Angaben zur Pflegebereitschaft........................................................248 Ausgewählte Aspekte familialer Generationenbeziehungen ............250 Zusammenfassende Auswertung ......................................................251 Ausführliche Fallanalyse: Annika Feld ............................................252 Fallbeschreibung und Verlauf der Erhebung....................................252 Fallanalyse........................................................................................254 Erfahrungen und Bilanzierungen......................................................254 Äußerungen zu Überforderung und Belastungsprävention ..............258 Angaben zur Pflegebereitschaft........................................................260 Ausgewählte Aspekte familialer Generationenbeziehungen ............262 Zusammenfassende Auswertung ......................................................264 Nora Klein ........................................................................................265 Fallbeschreibung ..............................................................................265 Zusammenfassende Auswertung ......................................................265 Ines Kaufmann .................................................................................267 Fallbeschreibung ..............................................................................267 Zusammenfassende Auswertung ......................................................267 Barbara Vogt ....................................................................................269 Fallbeschreibung ..............................................................................269 Zusammenfassende Auswertung ......................................................269 Marie Lindmann ...............................................................................270 Fallbeschreibung ..............................................................................270 Zusammenfassende Auswertung ......................................................271 Lena Helling.....................................................................................271 Fallbeschreibung ..............................................................................271 Zusammenfassende Auswertung ......................................................272 Dirk Metzger ....................................................................................273 Fallbeschreibung ..............................................................................273 Zusammenfassende Auswertung ......................................................274 Gitte Schwarz ...................................................................................275 Fallbeschreibung ..............................................................................275 Zusammenfassende Auswertung ......................................................275 Stefan Sommer .................................................................................276 Fallbeschreibung ..............................................................................276 11
9.11.2 9.12 9.12.1 9.12.2 9.13 9.13.1 9.13.2 9.14 9.14.1 9.14.2 9.15 9.15.1 9.15.2
Zusammenfassende Auswertung ......................................................277 Silke Schuster ...................................................................................278 Fallbeschreibung ..............................................................................278 Zusammenfassende Auswertung ......................................................278 Sonja Wiesner ..................................................................................279 Fallbeschreibung ..............................................................................279 Zusammenfassende Auswertung ......................................................280 Hannah Wessels ...............................................................................280 Fallbeschreibung ..............................................................................280 Zusammenfassende Auswertung ......................................................281 Jens Zumbrock .................................................................................282 Fallbeschreibung ..............................................................................282 Zusammenfassende Auswertung ......................................................282
10 10.1 10.1.1
Fallübergreifende Auswertung......................................................284 Induktive Kategorienbildung............................................................284 Deskription der Meta-Variablen und der Kategorie ‚Belastungsprävention’.....................................................................284 Meta-Variable ‚Gesamtbilanzierung’ ...............................................285 Meta-Variable ‚Überforderung’ .......................................................289 Kategorie ‚Belastungsprävention’ ....................................................293 Meta-Variablen zur ‚Pflegebereitschaft’ ..........................................294 Kategorienbündel aller spezifisch-episodischen und gesamtbilanzierenden Aussagen.......................................................305 Positive Erfahrungen und Bilanzierungen ........................................305 Als belastend erlebte Erfahrungen und diesbezügliche Bilanzierungen..................................................................................307 Wertneutrale Erfahrungen und Bilanzierungen ................................310 Deduktive Kategorienanwendung ....................................................311 Solidarität .........................................................................................312 Konflikt ............................................................................................316 Ambivalenz ......................................................................................321 Lernen...............................................................................................323
10.1.1.1 10.1.1.2 10.1.1.3 10.1.1.4 10.1.2 10.1.2.1 10.1.2.2 10.1.2.3 10.2 10.2.1 10.2.2 10.2.3 10.2.4 11 11.1 11.2 11.3 12
Theoretische Diskussion der Ergebnisse ......................................327 Erfahrungen, Bilanzierungen und Generationenbeziehungen der fünfzehn Enkel ...........................................................................329 Belastungsprävention .......................................................................345 Pflegebereitschaft von Enkeln mit Erfahrungen im Handlungsfeld häuslicher Pflege ......................................................354
11.3.1 11.3.2 11.3.3 11.3.4 11.4 12 12.1
Grundsätzliche Überlegungen ..........................................................354 Eigene Pflegebereitschaft der Enkel.................................................356 Pflegebereitschaft Anderer bei eigener Pflegebedürftigkeit der Enkel ..........................................................................................361 Haltung der Enkel gegenüber einer generellen Verpflichtung zur Pflege von Familienangehörigen.........................364 Zusammenfassende Leitlinien als Handlungsorientierungen im Praxisfeld ....................................................................................368
12.2.1 12.2.2 12.2.3 12.3 12.3.1 12.3.2 12.3.3 12.3.4
Ausgewählte Aspekte von Praxisimplikationen...........................372 Mehrgenerationenfamilien in der häuslichen Pflege bei Demenz als Querschnittsthematik ....................................................372 Bewusstseinsveränderung zu einer Kultur der Anerkennung für alle beteiligten Generationen ......................................................373 Paradigmenwechsel zu Partizipation und Generationendialog ..........................................................................375 Interventionen zur Reduktion von Belastungen und Prävention von Überlastung .............................................................376 Beratung von Angehörigen in Pflegesettings ...................................376 Schulung von Angehörigen in Pflegesettings...................................379 Weitere Interventionspotenziale .......................................................381 Ansätze zur Förderung von Pflegebereitschaft.................................387 Förderung familialer Solidarität .......................................................387 Vereinbarkeit von Pflege und Beruf.................................................388 Arrangements mit professionellen Diensten.....................................390 Generationenübergreifender Dialog .................................................391
13
Resümee und Ausblick ...................................................................393
12.1.1 12.1.2 12.2
Literaturverzeichnis.......................................................................................397 Verzeichnis des Anhangs ...............................................................................411
13
Tabellen- und Schaubildverzeichnis
Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3: Tabelle 4: Tabelle 5: Tabelle 6: Tabelle 7: Tabelle 8: Tabelle 9: Tabelle 10: Tabelle 11: Tabelle 12: Tabelle 13: Tabelle 14: Tabelle 15: Tabelle 16: Tabelle 17: Tabelle 18: Tabelle 19: Tabelle 20:
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Demenz als Oberbegriff unterschiedlicher Krankheitsbilder ... Schätzung der Zahl älterer Demenzerkrankter in Deutschland.............................................................................. Entwicklung der Zahl von demenziell Erkrankten ................... Differenzierte Schweregradeinteilung (SG) bei der Alzheimerkrankheit .................................................................. Hilfe- und Pflegebedürftige in Privathaushalten in Deutschland zum Jahresende 2002........................................... Leistungen der Pflegeversicherung differenziert nach Pflegestufe und ambulanter und stationärer Versorgung.......... Inanspruchnahme der Leistungen der Pflegeversicherung in Privathaushalten ....................................................................... Angaben zur Hauptpflegeperson .............................................. Charakteristik hoch belasteter Pflegearrangements.................. Auswirkungen vorhandener Belastungen auf die Angehörigen ............................................................................. Positive Aspekte der Pflege für Angehörige ............................ Zur Bedeutung von Enkelkindern für ihre Großeltern.............. Übersicht über zentrale Merkmale familialer Generationensolidarität ............................................................ Hauptpflegepersonen von Pflege- und Hilfebedürftigen in Privathaushalten ....................................................................... Auswirkungen familialer Pflege auf das Familienleben........... Hauptpflegepersonen von demenziell erkrankten Menschen in Privathaushalten ................................................................... Merkmale qualitativer Forschungspraxis ................................. Übersicht über den Forschungsablauf des problemzentrierten Interviews.................................................. Zentrale Kennzeichen der qualitativen Inhaltsanalyse ............. Anzahl der Codings und Kategorien bei der induktiven Kategorienentwicklung ............................................................
24 26 28 29 35 37 41 45 47 51 55 115 122 142 147 153 171 197 199 220
Tabelle 21: Anzahl der Codings und Kategorien bei der deduktiven Kategorienanwendung.............................................................. 224 Tabelle 22: Übersicht über die Ergebnisse der Studie ................................ 328 Schaubild 1: Pflegebereitschaft von ‚Pflege erfahrenen’ Enkeln ................. 355
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Einleitung
Die häusliche Versorgung eines demenziell erkrankten Menschen durch Familienangehörige ist eine umfangreiche Aufgabe mit einem hohen Anforderungspotenzial. Bislang sind die Forschungs- und Interventionsschwerpunkte bei diesen familialen Unterstützungssettings auf die hauptverantwortlichen Familienangehörigen, die sogenannten Hauptpflegepersonen, gelegt worden. Diese rekrutieren sich überwiegend aus der älteren und der mittleren Generation, d. h. aus den Partnern oder den Kindern und Schwiegerkindern der demenziell erkrankten Menschen. In der hier vorliegenden Arbeit wird das Augenmerk auf die dritte, die Enkelgeneration, gerichtet. Der Forschungsgegenstand dieser Studie sind die subjektiven Erfahrungen und Bilanzierungen von Enkeln demenzkranker Großeltern im Kontext familialer Pflege- und Hilfeleistungen in ihrer individuellen Lebenswelt. Lebenswelt bezieht sich dabei auf die familialen Alltagsgegebenheiten, so wie sie im Erfahrungs- und Wissensvorrat der Enkel existieren und Teil ihrer täglichen Selbstverständlichkeiten sind. Gefragt sind die subjektiven Deutungen der Enkel bezogen auf die von ihnen erlebten Anforderungen und familialen Handlungsroutinen im Umgang mit der chronisch-progredienten Erkrankung eines Großelternteils. Welche Sinnzuschreibungen werden diesen Erfahrungen im Rahmen einer Bilanzierung erteilt und welche Relevanzsetzungen sind, z. B. in Hinblick auf widersprüchliche Erwartungshaltungen, vorgenommen worden? Beispielsweise kann davon ausgegangen werden, dass bei Überforderungssituationen in der Familie Abwägungen zwischen den eigenen Interessen der Enkel und den vorliegenden Verpflichtungen stattfinden. Da es sich um Pflegesettings in der privaten Häuslichkeit und im binnenfamilialen Raum handelt, schließt sich die Frage nach den erlebten Generationenbeziehungen in der Familie an. Wird deren Gestaltung durch dieses spezifische Hilfesetting tangiert oder transformiert? Dem hier skizzierten Fragenkomplex wurde im Rahmen einer qualitativen Studie nachgegangen. In Teil A dieser Arbeit wird der Forschungsstand zur Thematik der informellen Hilfe- und Pflegeleistungen im Kontext einer demenziellen Erkrankung, der familialen Generationenbeziehungen und der Situation der Enkel17
generation in diesen spezifischen Unterstützungskontexten expliziert. Kapitel 1.1 skizziert grundlegende Gesichtspunkte zum Krankheitsbild Demenz, wozu epidemiologische Aspekte, der Verlauf der Erkrankung und ein Überblick zur Versorgungssituation gehören. Kapitel 1.2 veranschaulicht die Situation der häuslichen Pflege unabhängig von einem spezifischen Krankheitsbild, z. B. hinsichtlich der quantitativen Dimension der Hilfe- und Pflegebedürftigkeit in Deutschland. Weiterhin werden die spezifischen Ausgangsbedingungen einer ambulanten Versorgung demenziell erkrankter Menschen, die u. a. in Relation mit dem Leistungsspektrum des Pflegeversicherungsgesetzes stehen, erläutert und auf die Begriffe ‚Pflege’ und ‚Setting’ eingegangen. Die Auswirkungen des Pflegegeschehens auf die Angehörigen werden in Kapitel 1.3 aufgezeigt. Da ein Teilaspekt der Forschungsfrage sich auf das Belastungserleben der Enkel und ihrer Familien sowie auf Möglichkeiten zur Belastungsprävention bezieht, wird den belastenden Faktoren im Pflegegeschehen in Kapitel 1.3.2 besondere Aufmerksamkeit gewidmet. In Kapitel 1.3.3 werden neuere Fragestellungen im Bereich der Forschung zur häuslichen Pflege, die positive Effekte wie beispielsweise ein ‚Persönlichkeitswachstum’ aufgreifen, vorgestellt. Auf die gegenwärtigen Erkenntnisse zur Belastungsprävention geht Kapitel 1.4. ein, wobei neuere Ansätze im Bereich der Interventionen für pflegende Angehörige in Kapitel 1.4.3 thematisiert werden. Ein Forschungsanliegen aus dem 4. Altenbericht, und zwar „die Pflegebereitschaft der erwachsenen Enkelgeneration“ (BMFSFJ 2002, 363), greift Kapitel 1.5 auf. Bei der informellen Pflege durch Angehörige haben familiale Generationenbeziehungen, wie in Teil A deutlich wird, einen zentralen Stellenwert. Dieses Faktum führt zur leitenden Fragestellung von Kapitel 2, ob und in welchem Umfang die Familie der Gegenwart als konstante Solidaritätsressource auch im Segment informeller Pflege bei Demenzerkrankungen gesehen werden kann. Hierzu bedarf es zwei begrifflicher Klärungen. Erstens wird in Kapitel 2.1 der Terminus ‚Familie’ definiert, dazu werden u. a. ihre Funktionen in der Gegenwartsgesellschaft herausgearbeitet. Dass der Begriff und die dahinter stehende Institution Familie mit ihren normativen Zuschreibungen während der Anfertigung dieser Arbeit wiederholt ein ‚Zankapfel’ in medialen bzw. politischen Diskursen gewesen ist, verdeutlicht, wie sorgfältig der Terminus Familie für einen ‚wertfreien’ Gebrauch analysiert werden sollte. Zweitens ist zur Bearbeitung dieser Fragestellung in Kapitel 2.2 vorab die begriffliche Klärung von ‚Generation’ erforderlich, um diesen Terminus, welcher sowohl inflationär als auch häufig unpräzise verwendet wird, deutlicher zu konturieren. Wenn, wie in Kapitel 2.1.4 ausgeführt, die soziale Reproduktionsfunktion eine der zentralen Funktionen von Familie darstellt, führt dies zur Fragestellung, inwieweit dies ebenso auf Mehrgenerationenfamilien und ihre Unterstützungs18
transfers zutrifft. Die Abschnitte 2.3.1 bis 2.3.4 geben einen Überblick über grundlegende strukturelle und qualitative Merkmale von Mehrgenerationenfamilien. Abschnitt 2.3.5 geht vertiefend auf familiale Entwicklungsprozesse und Spezifika der einzelnen Generationen ein. Da im empirischen Teil dieser Arbeit spezifische Aspekte von Generationenbeziehungen untersucht werden, erfolgt in Kapitel 2.4 eine nähere Betrachtung ausgewählter Gestaltungsmodi von Generationenbeziehungen. Werden im ersten Kapitel die Erkenntnisse verschiedener Disziplinen, wie der Gerontopsychiatrie, der Psychologie, der Versorgungsforschung, etc., hinzugezogen, so erfolgt die disziplinäre Verortung im zweiten Kapitel in Hinblick auf die gewählte Methodologie des empirischen Teils innerhalb der Soziologie bzw. der Sozialen Gerontologie1. Das dritte Kapitel enthält Befunde aus nationalen und internationalen Studien zur Situation von Enkelkindern in der häuslichen Pflege. Theoretische Reflexionen zur Situation der informellen Pflege durch Familienangehörige erfolgen in Abschnitt 3.1, wo häusliche Pflege als Teil familialer Sorgeleistung identifiziert wird. Die Situation der familialen Pflegeleistung ist aktuell in der Literatur noch ungenügend reflektiert, denn die Rolle der Familie als verantwortlicher Akteur wird oftmals unhinterfragt vorausgesetzt. Im 4. Altenbericht wird diesbezüglich problematisiert, dass eine „Ethik der gesellschaftlichen Verantwortung“ (BMFSFJ 2002, 357) gerade auch für den Personenkreis der Familienangehörigen, die ältere Familienmitglieder pflegen und betreuen, selten diskutiert wird, wobei dies nach Meinung der Autoren im Kontrast zur faktischen volkswirtschaftlichen Relevanz steht. Teil B dieser Arbeit widmet sich den theoretischen, methodologischen und methodischen Hintergründen der Studie sowie dem Forschungsprozess. Kapitel 4 stellt einführend eine Problemanalyse dar, was im Zuge der hier gewählten Forschungsmethode vor der Erstellung eines Leitfadens vorgesehen ist. Im fünften Kapitel wird der theoretische Rahmen der Untersuchung behandelt. Die forschungsleitende Fragestellung nach subjektiven Erfahrungen und Bilanzierungen impliziert ein qualitativ-exploratives Vorgehen, um nicht in Form einer Vorauswahl von Themen bzw. Items den Forschungsgegenstand einzuengen. Eine Orientierung an den Alltagskontexten der Interviewpartner und eine offene Haltung gegenüber ihren Aussagen sind zwei der zentralen Prinzipien qualitativer Forschung, was in Kapitel 5.1 begründet wird. Denn auch wenn die 1
Zur detaillierten Analyse der disziplinären Schnittstellen siehe unter: „Soziale Gerontologie“ (Karl 1999a, 20ff), Gerontologie als „Alter(n)ssozialwissenschaft“ (Backes/Clemens 1998, 110ff) und „Beitrag der Soziologie zur (Sozialen) Gerontologie“ (Clemens 1999, 341ff).
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objektiven Dimensionen der Erfahrungen von zwei Enkeln ähnlich ausgeprägt sein können, beispielsweise bezogen auf die Dauer des Pflegesettings, so kann aufgrund von individuellen Relevanzsetzungen und Sinnzuschreibungen eine unterschiedliche Bewertung durch die Enkel erfolgen. Hier geht die qualitative Forschung auf ‚den Standpunkt des Betrachters’ bzw. des Bewertenden ein. Weiterhin herrscht hierzu in der Literatur Konsens, dass die qualitative Forschung sich daran messen lassen muss, ob sie „die natürliche Lebenswelt“ (Lamnek 2005, 147) der Betroffenen einbezieht. Diesbezüglich wird in der vorliegenden Studie der Schütz’sche Lebensweltansatz herangezogen, der sowohl ein eigenes Gedankengebäude umfasst als auch gleichzeitig als „Protosoziologie“ (Abels 2004c, 79) oder als „meta-theoretische Position“ (Lamnek 2005, 48) gelten kann, da viele seiner Teilaspekte für die interpretative Soziologie allgemein gültig sind. Kapitel 5.2 beschäftigt sich mit diesen theoretischen und methodologischen Hintergründen. Das sechste Kapitel erläutert die Forschungsmethoden. Das Datenmaterial wurde mit der Methode des problemzentrierten Interviews nach Witzel erhoben und anschließend transkribiert. Ein methodenimmanenter Kurzfragebogen diente der Gewinnung zusätzlicher sozio-demografischer Daten. Die Datenauswertung erfolgte computerunterstützt nach der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring. Leitend für die Wahl der Methoden, ihrer Anwendung und letztendlich für den gesamten Forschungsprozess war die Zielsetzung des „kontrollierten Verstehens“ (Hitzler 2002, Abs. 1) innerhalb der interpretativen Soziologie. Wissenschaftliches Fremdverstehen kann als Bildung von Konstruktionen zweiter Ordnung bzw. Grades verstanden werden, wobei die subjektiven Deutungszusammenhänge des Individuums die Grundlage der Interpretation, das heißt die Konstruktionen erster Ordnung, bilden. Im siebten Kapitel wird, ausgehend von der Entwicklung der Erhebungsinstrumente, der vollständige Forschungsprozess dargestellt, wobei die aufwendige Gewinnung der Interviewpartner einen nicht zu vernachlässigenden Teil darstellte. Im Zentrum der Auswertung stehen die induktive Kategorienbildung und die darauf basierende Bildung von Meta-Variablen. Die Kategorien der Gesamtbilanzierung der Enkel sind hierbei wesentliche Ergebnisse und für die weiteren Befunde eine zentrale Bezugsgröße. Als ergänzender Schritt der fallübergreifenden Analyse wurden ‚Kategorienbündel’ gebildet. In Teil C dieser Arbeit werden die Ergebnisse deskribiert. Das achte Kapitel stellt die Interviewteilnehmenden und ihre Pflegesettings dar, was einen ersten Überblick über die familialen Unterstützungssettings gibt und ihre Heterogenität aufzeigt. Kapitel 9 und 10 dienen der Auswertung der Einzelfälle und der fallübergreifenden Analyse. Im neunten Kapitel beschreiben drei detaillierte Einzelfallanalysen und zwölf zusammengefasste Kurzdarstellungen 20
die Lebenswelten der fünfzehn Enkel bei der häuslichen Pflege eines demenziell erkrankten Großelternteils2. Ausgehend von kritischen Hinweisen einzelner Forscher hinsichtlich einer zu einseitigen Berücksichtigung von Belastungsphänomenen, wurde bei dieser Studie der Fokus auf die persönlichen Bilanzierungen der Enkel gelegt, und kontinuierlich berücksichtigt, mit welchen qualitativen Bewertungen ihre Erfahrungen konnotiert sind. Die weitere Auswertung im zehnten Kapitel ermöglicht durch die Darstellung der MetaVariablen eine Analyse der fallübergreifenden Regelhaftigkeiten, Merkmalshäufungen und typischen Kontexte, wobei die Selektivität und die numerische Begrenztheit der zugrunde liegenden Fälle stets zu bedenken ist. Die theoretische Diskussion der Ergebnisse erfolgt in Kapitel 11. Dazu werden die Ergebnisse erst in einer Übersicht tabellarisch aufgeführt und anschließend einzeln in Zusammenhang mit den Befunden aus der Literaturanalyse in Teil A dieser Arbeit gebracht. Das zwölfte Kapitel geht kursorisch auf ausgewählte Aspekte von Praxisimplikationen ein, wodurch die anfängliche Intention dieser Arbeit, die Bezugnahme auf die in der beruflichen Praxis entdeckten Erfordernisse, wieder aufgegriffen wird. Intendiert ist hierbei das Aufzeigen von Handlungsoptionen; die dafür nötigen Konzeptionen können Gegenstand weiterer und praxisbezogener Forschung sein. Dabei wird wiederholt deutlich, dass es vorrangig notwendig ist, zunächst Aufmerksamkeit für das Thema zu erregen und die Öffentlichkeit zu sensibilisieren. Das Resümee und der Ausblick in Kapitel 13 verdeutlichen abschließend den bleibenden gesellschaftlichen Stellenwert dieses Forschungsfeldes. Drei Hinweise sollen an dieser Stelle zu den nachfolgenden Ausführungen überleiten. Erstens werden die familialen Generationen in der Regel aus Sicht der Enkel beschrieben. Das heißt, dass die Mitglieder der mittleren Generation im Rahmen dieser Arbeit einheitlich als Mutter und Vater bezeichnet werden, auch wenn es sich simultan um Tochter oder Sohn des erkrankten Großelternteils handelt. Weiterhin geht es bei diesen Ausführungen um die Enkelgeneration, was impliziert, dass dem Begriff ‚Enkel’ generell sowohl die männliche als auch die weibliche Ausprägung inhärent ist3. Explizit von Enkelinnen ist die Rede, wenn auf geschlechtsspezifische Differenzierungen aufmerksam gemacht wird oder es sich um eine Teilgruppe handelt, der 2 3
Weitere Fallanalysen in der Langfassung sind als OnlinePLUS unter http://www.vs-verlag.de zu finden. ‚Enkel’ steht somit für die Termini „Enkelkind, Enkelsohn, Enkeltochter, Kindeskind“ (Duden 2007).
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ausschließlich weibliche Teilnehmerinnen angehören. Drittens wird aus Gründen einer besseren Lesbarkeit mehrheitlich die männliche Form der Substantive verwendet. Teilweise wird mit geschlechtsneutralen Begrifflichkeiten wie ‚Teilnehmende’ anstelle von ‚Teilnehmerinnen und Teilnehmer’ versucht, sowohl einem aufwendigeren sprachlichen Duktus als auch einer einseitigen Darstellung vorzubeugen.
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Teil A Die Enkelgeneration im ambulanten familialen Pflegesetting bei Demenz – zum Stand der Forschung 1
Ambulantes Pflegesetting bei Demenz
Die häusliche Pflege demenziell erkrankter Menschen beinhaltet aufgrund der spezifischen Symptomatik einer Demenz besondere Anforderungen für die beteiligten Pflegenden und Sorgeleistenden.
1.1
Demenzielle Erkrankungen
1.1.1
Krankheitsbild und Diagnostik
Bei einer Demenz handelt es sich nach der 10. Revision der Internationalen Klassifikation Psychischer Störungen (ICD-10) um ein Syndrom mit Einbußen in den Bereichen der Gedächtnisleistung, der Urteilsfähigkeit, dem Denkvermögen, dem sprachlichen Ausdrucksvermögen und weiterer kognitiver Fähigkeiten und zusätzlich Störungen in den Feldern Affekt, Sozialverhalten und Persönlichkeit. Die Beeinträchtigungen der Gedächtnisleistungen und der kognitiven Funktionen müssen nachhaltig, das heißt von mindestens sechsmonatiger Dauer sein, um von einer Demenz sprechen zu können. Weiterhin ist eine Demenz deutlich von einer Minderbegabung abzugrenzen, da es sich bei Letzterem um das „Nichterreichen eines durchschnittlichen geistigen Niveaus“ (Knecht 2005, 701) und bei einer Demenz um eine sekundäre Verschlechterung einer vorher vorhandenen geistigen Leistungsfähigkeit handelt (vgl. ebd.; Förstl/Calabrese 2001, 3). Ein wesentliches Merkmal der Demenz ist eine signifikante Beeinträchtigung der Alltagskompetenzen der betroffenen Menschen, beispielsweise 23
beim Ankleiden, der Körperhygiene und der selbstständigen Nahrungsversorgung. Neben der im Vordergrund stehenden Abnahme der Gedächtnis- und Denkleistungen führen u. a. die gravierenden Störungen der Orientierungsfähigkeit und des Lernens zu einem sukzessiv zunehmenden Hilfebedarf (vgl. Weyerer 2005, 8f). Insbesondere die so genannten ‚nichtkognitiven Störungen’ wie „Unruhezustände, Antriebsarmut, aggressives Verhalten, [...] Wahn und Wahrnehmungsstörungen, aber auch Stimmungsveränderungen mit Depressivität und Angst“ (Wolter 2005, 832) stehen neben den oben genannten Einbußen im Zentrum therapeutischen Bemühens. ‚Demenz’ umfasst dabei als Oberbegriff unterschiedliche Krankheitsbilder mit verschiedenen Ursachen, die in der folgenden Tabelle überblicksweise zusammengefasst werden: Tabelle 1:
Demenz als Oberbegriff unterschiedlicher Krankheitsbilder
Der Oberbegriff Demenz umfasst eine Reihe von Krankheitsbildern mit unterschiedlicher Ursache: x degenerative Demenzen (z. B. Alzheimer-Demenz) x vaskuläre Demenzen (z. B. Multiinfarkt-Demenz) x nutritiv-toxisch oder metabolisch verursachte Demenzen (z. B. Alkoholdemenz) x entzündlich bedingte oder übertragbare Erkrankungen, die zu einer Demenz führen können (z. B. AIDS-Demenz) x durch Schädel-Hirn-Traumen bedingte Demenzen. Quelle: Weyerer 2005, 8 Die Demenz vom Alzheimer Typ ist die häufigste Form der Demenz in den westlichen Industrienationen mit einem geschätzten Anteil von zwei Dritteln an allen Demenzen. Nach ICD-10-Kriterien gehören folgende Merkmale zur Diagnose einer Alzheimer-Demenz: Es handelt sich um einen progredienten Verlauf mit allmählichem Beginn, weitere Ursachen können ausgeschlossen werden und es fehlen spezielle Symptome wie z. B. diejenigen einer Halbseitenlähmung. Zwischen 15 und 20 % der Demenzen werden auf Durchblutungsstörungen im Gehirn zurückgeführt und als vaskuläre Demenzen bezeichnet. Bei den restlichen Demenzen handelt es sich entweder um Mischformen oder diese sind durch andere Krankheitsbilder bedingt (vgl. Weyerer 2005, 8). Die Diagnostik einer Demenz ist generell umfangreich, und eine Diagnose der Demenz vom Alzheimer Typ ist zwar zu Lebzeiten anhand standardisierter Verfahren eingrenzbar, kann jedoch erst nach dem Tode vollständig bestätigt werden. Die Diagnostik umfasst neben der Anamnese, d. h. der Erfassung der 24
Vorgeschichte der Erkrankung durch den Patienten4, auch die Fremdanamnese, bei der in der Regel nahe Angehörige hinzugezogen werden. Differenzierte somatische und psychopathologische Befunde inklusive Laboruntersuchungen werden benötigt und weitere spezielle neurologische Untersuchungen sowie bildgebende Verfahren durchgeführt. Durch Leistungstests werden die wichtigsten kognitiven Funktionen überprüft. Einerseits können durch die umfassenden Untersuchungen Hinweise auf das Vorliegen einer Demenz gewonnen werden, andererseits können Primärerkrankungen, die zu einer Demenz führen können, erkannt bzw. ausgeschlossen werden (vgl. Knecht 2005. 703). Diagnostische Abgrenzungen zu altersassoziierten, erworbenen kognitiven Leistungseinschränkungen von leichterer Art, dem so genannten „Mild Cognitive Impairment MCI“ (Beutel et al. 2005, 236) sind schwierig, aber für den Alltag älterer Menschen bzw. potenzieller pflegender Angehöriger nicht unbedeutend. Diese leichten kognitiven Beeinträchtigungen haben als Hauptmerkmale Gedächtnis-, Lern- und Konzentrationsstörungen, wobei keines der Symptome den Grad einer Demenz nach ICD-10 oder nach weiteren anerkannten Klassifizierungen erreicht. Es besteht die Möglichkeit, dass es sich bei Mild Cognitive Impairment um das Vorstadium einer Demenz handelt, jedoch ist dies nicht zwangsläufig der Fall. Aufgrund uneinheitlicher Diagnosekriterien 4
In der Literatur wird ein breites Spektrum von Termini verwendet, um Menschen mit einer Demenzerkrankung zu bezeichnen: Demenzkranker, demenziell Erkrankter, Menschen mit Demenz, Patienten mit einer demenziellen Gehirnerkrankung, Demenzpatienten, persons with Alzheimer’s Disease, Alzheimer’s patients, etc. (Nur sehr selten findet man noch die früher verwendeten Bezeichnungen ‚Altersverwirrte’, ‚Altersdemente’ und ‚Dementierende’.) Als häufigste Begrifflichkeiten werden ‚Demenzkranke’ und ‚Menschen mit Demenz’ gebraucht, wobei kontroverse Auffassungen zu diesen Bezeichnungen existieren. So wird von einigen Autoren die Meinung vertreten, dass vornehmlich mit dem Ausdruck ‚Menschen mit Demenz’ eine Reduzierung des Menschen auf sein Krankheitsbild vermieden werden kann. Die Kontroversen um diese Bezeichnungen werden in der Zeitschrift „Alzheimer Info“, dem Organ der Deutschen Alzheimer Gesellschaft e.V. (in der Ausgabe 2/2006, S. 12) aufgegriffen. Eine dem Begriff ‚Demenzkranker’ inhärente Reduzierung der Persönlichkeit auf die Erkrankung kann man dort nicht folgen, kann den Begriff aber vorrangig den medizinischtherapeutischen Kontexten zuordnen, wobei ‚Menschen mit Demenz’ dem Alltagsgeschehen näher zuzurechnen sind. In der hier vorliegenden Arbeit mit multidisziplinären Bezügen nimmt die Verfasserin die begrifflichen Präferenzen vorrangig als originär disziplinimmanente wahr. Das sprachliche Spektrum kennzeichnet Ihrer Meinung nach die faktisch existierende Rollenvielfalt beim Vorliegen einer Demenz (beziehungsweise einer anderen signifikant alltagsrelevanten Erkrankung): Betroffene sind sowohl Mitmenschen, Partner, Eltern, Kinder, etc., gleichwohl sind sie Patienten mit speziellen Bedarfen an Therapie, Pflege und Versorgung. Daher schließen sich unterschiedliche Begrifflichkeiten nicht aus und werden in der vorliegenden Arbeit synchron verwendet, ohne eine Wertung zu implizieren.
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schwanken die Angaben zur Prävalenz von Mild Cognitive Impairments zwischen 2 % und 52 % bei älteren Menschen (vgl. ebd.; sowie Kruse et al. 2005, 21). 1.1.2
Epidemiologie und Prävention der Demenz
Unter den altersassoziierten chronischen Erkrankungen nehmen Demenzen aufgrund der schweren Krankheitsverläufe und der großen Anzahl von Betroffenen einen besonderen Stellenwert ein (vgl. Pick et al. 2004, 49). Bezogen auf die 65-Jährigen und Älteren leiden in Deutschland zurzeit ca. eine Million Menschen an einer Demenz. Signifikant hierbei ist der alterskorrelierte Anstieg von Demenzerkrankungen, was in Tabelle 2 aufgeführt wird. Die Prävalenz, d. h. die Gesamtzahl der Erkrankten bezogen auf eine Altersgruppe, nimmt bei Männern und Frauen mit dem Alter deutlich zu. Sie liegt bei den 65Jährigen bis 69-Jährigen bei ca. 1,2 %, verdoppelt sich in etwa jeweils im Abstand von fünf Jahren und steigt im Alter von 90 Jahren und darüber auf über 30 %5. Bei diesen Schätzwerten sind die frühen und weniger schweren Krankheitsphasen nicht berücksichtigt (vgl. Bickel 2001, 108f; Weyerer 2005,11f). Tabelle 2:
Schätzung der Zahl älterer Demenzerkrankter in Deutschland
Altersgruppe
Mittlere Prävalenzrate Geschätzte Zahl der von DemenzDemenzkranken in erkrankungen (%) Deutschland 65-69 1,2 49.600 70-74 2,8 94.600 75-79 6,0 136.100 80-84 13,3 224.700 85-89 23,9 252.800 90 + 34,6 141.700 Insgesamt 7,22 928.400 Quelle: Bickel 2001, 109 [Auszug aus der Originaltabelle]
5
26
Die hier zugrunde liegenden Studien beziehen sich auf westliche Industrienationen, vorwiegend aus dem europäischen Raum (vgl. Weyerer 2005,11f).
So genannte präsenile Demenzen, die in jüngeren Jahren auftreten, sind selten und ihre Schätzung geht mit großen Unsicherheiten einher (vgl. Weyerer 2005, 12). Über zwei Drittel aller Demenzerkrankten sind Frauen, was vor allem im Zusammenhang mit der geschlechtsspezifischen höheren durchschnittlichen Lebenserwartung zu sehen ist. Weiterhin scheinen Frauen mit einer Demenz länger zu überleben als Männer (vgl. Weyerer 2005, 13). Im Vergleich zur Prävalenz ist es aufwendiger, die Inzidenz, d. h. die Zahl der Neuerkrankungen an einer Demenz, zu ermitteln. Aufgrund des methodischen Vorgehens, der Untersuchung kognitiv nicht Beeinträchtigter über einen längeren Zeitraum, kann es zu hohen Ausfallraten und der Unterschätzung der Inzidenzrate kommen. Meta-Analysen gehen hier von einer Gesamtinzidenzrate in der Altersgruppe der 65-Jährigen und Älteren zwischen 1,4 und 3,2 % aus. Die letztgenannte Inzidenzrate von 3,2 % von Jorm und Jolley (1998, zit. in: Weyerer 2005, 14f) ist in Hinblick auf die ambulante Pflegesituation aufschlussreich, da sie die früheren Phasen von Demenz einbezieht. Insgesamt kann davon ausgegangen werden, dass die Zahl der Neuerkrankungen pro Jahr in Deutschland weit über 200.000 liegt, wobei über 70 % der Ersterkrankungen auf Frauen entfallen. Ähnlich der Prävalenzrate steigt auch die Inzidenzrate mit dem Alter steil an. Der überwiegende Teil der Neuerkrankungen betrifft die AlzheimerDemenzen (vgl. Weyerer 2005, 14f). Aufgrund des demografischen Wandels und der steigenden Anzahl Hochaltriger wird bei gleich bleibenden Prävalenzraten mit einer signifikanten Zunahme der Zahl von Erkrankten in den nächsten Jahrzehnten gerechnet. Tabelle 3 gibt die Prognosen wieder:
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Tabelle 3:
Entwicklung der Zahl von demenziell Erkrankten6
Entwicklung der Zahl von Demenzkranken (65 Jahre und älter) in Deutschland in den Jahren 2000 bis 2050 bei gleich bleibenden altersspezifischen Prävalenzraten Jahr Demenzkranke 2000 935.000 2010 1.165.000 2020 1.415.000 2030 1.690.000 2040 1.920.000 2050 2.290.000 Quelle: Bickel (2005), zit. in: Weyerer 2005, 24 Der wichtigste Risikofaktor für die Prävalenz und Inzidenz einer Demenz im Allgemeinen und der Alzheimer-Krankheit im Besonderen ist das Alter der Person. Auch werden Menschen mit den oben bereits erwähnten leichten kognitiven Störungen (MCI) einer „Hochrisikogruppe“ (Weyerer 2005, 10) zugeordnet, da hier im Vergleich zu Personen ohne kognitive Einbußen die Wahrscheinlichkeit, innerhalb von drei Jahren an einer Demenz zu erkranken, um mehr als das 20-fache erhöht ist. Epidemiologische Studien zeigen weiterhin eine niedrige Schulbildung als Risikofaktor für demenzielle Erkrankungen, wobei als potenzielle Gründe für diesen Zusammenhang u. a. bildungsassoziierte Differenzen im Gesundheitsverhalten und in den Arbeitsplatzrisiken genannt werden. Weiterhin wird ein durch kognitive Stimulationen erlangter Aufbau einer Reservekapazität für trainierbare Kompetenzen diskutiert (vgl. Weyerer 2005, 10). Zurzeit sind kausale Handlungsansätze und konkrete Präventionsmöglichkeiten – bezogen auf die Alzheimer-Demenz – noch nicht absehbar (vgl. Schäufele et al. 2005, 99). Während die Pathogenese einer Alzheimer-Demenz (bis auf seltene klar genetisch bestimmte Formen) und somit auch die Präventionspotenziale bislang im Wesentlichen unbekannt sind, ist eine Prävention vaskulärer Demenzen aufgrund der Beeinflussbarkeit evidenter Risikofaktoren möglich. Hierzu zählen die Behandlung des Bluthochdrucks, die Einschränkung oder das Vermeiden des Zigarettenrauchens oder des Alkoholmissbrauchs sowie adäquate thera6
28
Die Schätzungsgrundlage sind die Prävalenzraten nach Bickel und die 10. koordinierte Bevölkerungsvoraus-berechnung (mittlere Variante) des Statistischen Bundesamtes (vgl. Bickel, zit. in: Weyerer 2005, 24).
peutische Maßnahmen beim Vorliegen eines Diabetes mellitus oder einer Herzerkrankung. Protektive Effekte werden bei Demenzen insgesamt einer ausgewogenen und vitamin- und fischreichen Nahrungszusammensetzung zugeschrieben (vgl. Weyerer 2005, 10f). 1.1.3
Verlauf und Symptomatik
Überwiegend kann von dem chronisch-progredienten Verlauf einer Demenz ausgegangen werden, wobei die Einteilungen der Schweregrade der Demenz in der Regel in drei große oder sieben differenziertere Phasen gegliedert werden. Das erstgenannte Schema umfasst die leichte, die mittelschwere und die schwere Ausprägung der Demenz. Die nachfolgende Tabelle stellt die siebengliedrige Schwereeinteilung der Alzheimer-Demenz nach Reisberg dar und ist dem 4. Altenbericht entnommen: Tabelle 4: SG 1 2 3
4
5
Differenzierte Schweregradeinteilung (SG) bei der Alzheimerkrankheit
Symptomatik Unauffällig. Keine Beschwerden. Subjektive Beschwerden über Vergesslichkeit, Verlegen von Gegenständen, Wortfindungsschwierigkeiten, [...] keine objektivierbaren Auffälligkeiten. Erste objektivierbare Beeinträchtigungen. Vergisst gelegentlich den Wochentag, was es zum Mittagessen gab, [...] einige weiße Flecken in der persönlichen Vorgeschichte. [...], wiederholtes Nachfragen. Gelegentlich Verstimmung. Defizite zeigen sich auch in psychometrischen Tests. Mäßige Beeinträchtigungen. Schwierigkeiten, [...] Gesprächen zu folgen, bei einfachen Haushaltstätigkeiten [...], bei Bankgeschäften. Die Schwierigkeiten spiegeln sich in allen psychometrischen Tests wieder. Mittelschwere Beeinträchtigungen. Kennt die eigene Adresse und wesentliche Inhalte seines Lebenslaufes nicht mehr. ... Schlafstörungen, Wahnvorstellungen wie: Es wurde mir etwas weggenommen.
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6
Schwere Beeinträchtigungen. Unsicher zu Zeit, Aufenthaltsort und eigenem Namen. [...] Hilfe beim Waschen, Baden und Anziehen nötig. Blasen- und Darminkontinenz. [...] Tag-Nacht-Umkehr. Zielloses Umherlaufen. Verbale oder physische Aggressivität. 7 Sehr schwere Beeinträchtigungen. Sprache auf ein bis zwei Worte reduziert. Häufig Bettlägerigkeit. [...] Durchgängig Hilfe erforderlich. Zum Ende nicht mehr in der Lage, den Kopf zu heben. Ernährung nur noch intravenös oder über Katheter möglich. Quelle: BMFSFJ 2002, 289 [Auszug aus der Originaltabelle] Die Tabelle verdeutlicht, dass der Verlauf einer Alzheimer-Demenz von anfänglichen kleineren Defiziten bis hin zu schwersten Einbußen erfolgt. Ein erhebliches Unsicherheits- und Belastungspotenzial ist sowohl für Erkrankte als auch für deren Angehörige durch die Varianz der faktisch vorliegenden Leistungsfähigkeit eines Erkrankten zu einem konkreten Zeitraum gegeben, sodass häufig der Beginn der Erkrankung nicht eindeutig festgelegt werden kann. Weiterhin versuchen Demenzkranke oftmals im Anfangsstadium der Demenz, die Einbußen zu verbergen und zu kompensieren, was auch zu einem sozialen Rückzug führen kann. Mit zunehmendem Verlauf können komplexere Anforderungen immer weniger bewältigt werden, wobei regelmäßige Abläufe in vertrauter Umgebung lange ausgeführt werden können. Das Sturzrisiko ist allgemein erhöht, und erlebte Stürze haben oft weit reichende Folgen, wie Frakturen und der Beginn einer Pflegebedürftigkeit. Unzureichende Ernährung und mangelnde Flüssigkeitsaufnahme gehören zu den häufigsten Folgerisiken der Demenz. Weiterhin haben Studien ergeben, dass abhängig von der Schwere der Erkrankung zwischen 20 und 80 % der Kranken keine Krankheitseinsicht haben, weshalb häufig gravierende Selbst- und Fremdgefährdungen vorliegen. Im Verlaufe der Erkrankung bedarf es eines gerichtlich bestellten Betreuers oder anderer Formen der rechtlichen Vertretung. Die durchschnittliche Erkrankungsdauer vom Beginn der Symptome bis zum Tod wird mit 4,7 bis 8,1 Jahre für die Alzheimer-Demenz und mit ca. einem Jahr weniger für die vaskuläre Demenz angegeben (vgl. Weyerer 2005, 15f; BMFSFJ 2002, 172ff).
30
1.1.4
Überblick zur Versorgungslage
Medizinische Versorgung Die therapeutische und pflegerische Versorgung demenziell Erkrankter ist ein vielfältiges Forschungsgebiet. Neben der adäquaten Medikation des kognitiven Kernsyndroms der Demenz mit Antidementiva (ausführlich dazu siehe Förstl et al. 2001, 59f; Weyerer 2005, 17f) ist auch die medikamentöse Behandlung der oben genannten nichtkognitiven Störungen von erheblicher Relevanz (ausführlich dazu siehe Wolter 2005, 832ff). Insgesamt ist zu beachten, dass beim derzeitigen Stand der Forschung eine kurative Therapie noch nicht vorhanden ist, sondern die pharmakologische Behandlung auf eine Krankheitslinderung und eine Steigerung der Lebensqualität abzielt (vgl. Weyerer 2005, 17f; BMFSFJ 2002, 293). In der BRD werden 90 % der Demenzkranken von ihrem Hausarzt behandelt. Der Ausbildungsgrad von Allgemeinmedizinern wird diesem Faktum allerdings oft nicht gerecht, da Studien zeigen, dass Demenzkrankheiten von ihnen oftmals übersehen werden. Insgesamt wird bemängelt, dass Demenzkranke selten in psychiatrisch-neurologische Einrichtungen überwiesen werden, was mit abnehmender Tendenz bei zunehmendem Alter des Patienten erfolgt. Dabei sind die frühzeitige fachärztliche Diagnosestellung und Therapie von großer Bedeutung (vgl. Weyerer 2005, 19f). Die hausärztliche Versorgung ist von besonderer Relevanz bei allein lebenden Demenzkranken, da diese durch die mangelnde Wahrnehmung der krankheitsbedingten Einbußen häufig versäumen, notwendige Hilfen im sozialen oder institutionellen Umfeld in Anspruch zu nehmen (vgl. BMFSFJ 2002, 172). Im 4. Altenbericht wird die Position des Hausarztes als ein Lotse in der medizinischen Versorgungslandschaft betont, wobei im Kontext von Demenz das fachärztliche Konsilium erheblich intensiviert werden sollte (vgl. BMFSFJ 2002, 364)7. Ambulante Pflege Nach Schätzungen werden etwa 600.000 von den ca. 1 Million Demenzerkrankten ambulant versorgt (vgl. Schäufele et al. 2005, 99). Evident ist, dass Demen7
Seit April 2005 kann in der hausärztlichen Praxis ein ambulantes geriatrisches Assessment abgerechnet werden, womit u. a. auch Erwartungen an eine bessere Erfassung von demenzbedingten Einschränkungen und Bedarfen Älterer verbunden sind (vgl. Schneider 2006, 333).
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zen zu den bedeutendsten Ursachen für die Entstehung einer Pflegebedürftigkeit gehören (vgl. Pick et al. 2004, 49). Ambulante Pflegedienste, die aufgrund eines festgelegten Leistungskanons innerhalb vorgegebener Zeitkorridore temporäre medizinisch-pflegerische Aufgaben übernehmen, versorgen demenziell Erkrankte zu Hause in der Privatwohnung. Dabei ist das von der gesetzlichen Pflegeversicherung finanzierte Leistungsspektrum vorrangig auf den engen Bereich der so genannten ‚Körperpflege’ ausgerichtet, was in Kapitel 1.2.2 näher ausgeführt wird. Insgesamt werden für demenziell Erkrankte daher Verbesserungen im Bereich der ambulanten Versorgung gefordert (vgl. Weyerer 2005, 20). Teilstationäre Pflege Teilstationäre Angebote, die so genannte ‚Tagespflege’, gelten als Bindeglied zwischen ambulanter und stationärer Versorgung und sollen Angehörige während der Tageszeit entlasten. Allerdings sind nicht alle Tagespflegen auf die speziellen Bedürfnisse von Demenzkranken spezialisiert, obwohl gerade diese Zielgruppe sowie deren Angehörige von dieser Einrichtungsform profitieren könnten. Regionale Studien zeigen, dass 58,6 % aller mobilen Tagespflegegäste an einer mittelschweren oder schweren Demenz leiden (Weyerer 2005, 20). Stationär Im Alten- und Pflegeheim werden ca. 400.000 demenziell Erkrankte betreut, wobei davon auszugehen ist, dass die Versorgung in einer Institution bei zunehmendem Schweregrad der Erkrankung wahrscheinlicher wird. Eine große Studie aus Kanada zeigt, dass 21 % der Menschen mit leichter, 45 % mit mittelschwerer und über 85 % mit schwerer Demenz in einer Altenpflegeinstitution versorgt werden (vgl. Schäufele et al. 2005, 99). Demenz ist der wichtigste Grund für einen Umzug ins Heim, und 60 % aller Heimbewohner in Deutschland sind an Demenz erkrankt (vgl. Weyerer 2005, 7). Die traditionelle Versorgung im Alten- und Pflegeheim wird bei demenziell Erkrankten aufgrund des besonderen Betreuungsbedarfs seit einigen Jahren durch verschiedene
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Konzepte modifiziert, welche fachlich kontrovers diskutiert werden8 (vgl. ebd. 85ff). An stationäre Einrichtungen angegliedert ist die Kurzzeitpflege, die im Leistungsspektrum der Pflegeversicherung nach § 42 SGB XI9 enthalten ist. Sie dient jedoch der Unterstützung der häuslichen Pflege, indem sie pflegenden Angehörigen die Möglichkeit einer Abwesenheit, z. B. für einen Urlaub, gewähren soll, während der pflegebedürftige Mensch bis zu vier Wochen im Kalenderjahr stationär untergebracht ist (vgl. BMFSFJ 2002, 257f). Wohngruppen für demenziell Erkrankte Ein weiterer Baustein der Versorgung für demenziell Erkrankte sind Wohngruppen, die auch ‚WGs’ genannt werden, und in denen der Demenzerkrankte außerhalb einer Institution als Mieter eines Zimmers mit dazugehörigen Gemeinschaftsräumen in einer kleinen Gruppe von Erkrankten lebt und versorgt wird. Die klassische Besetzung bei der Betreuung Demenzkranker durch die Disziplin Pflege wird durch Präsenzkräfte, die häufig eine hauswirtschaftliche Qualifikation haben, ergänzt. Das Projekt „Netzwerk Wohngruppen für Menschen mit Demenz – Freiburger Modell” (BMFSFJ 2006a, 27ff) hat als Zielsetzung neben der Partizipation von Angehörigen auch eine konzeptionelle Einbindung von Freiwilligenengagement. Aufgrund hoher Motivation beider Zielgruppen werden hier Zukunftspotenziale gesehen10. Die Versorgungssituation demenziell Erkrankter bedarf der kontinuierlichen Weiterentwicklung. Im Falle von gleich bleibenden Prävalenzraten der Demenzen können die zu erwartenden Anforderungen sowie die damit verbundenen ökonomischen Belastungen angesichts der demografischen Entwicklung als gravierend eingestuft werden. Hier sind „gesundheitsökonomische Analysen des kosteneffizienten Einsatzes der vorhandenen Ressourcen“ (Bickel 2001, 114) gefordert. 8
9 10
Exemplarisch hierzu zeigt ein Vergleich zwischen einem segregativen Betreuungskonzept in Hamburg und einer traditionell integrativen Versorgungsform in einer Mannheimer Institution bei der segregativen Konzeption ein Plus an Aktivitäten aufseiten der Erkrankten sowie eine Verstärkung der Einbindung Freiwilliger und der Angehörigenhilfe. Allerdings erfolgte bei der traditionellen Versorgung eine stärkere Reduktion der Verhaltensauffälligkeiten der Kranken (vgl. Weyerer et al. 2005, 85ff). Das Sozialgesetzbuch XI (SGB XI) umfasst das Pflegeversicherungsgesetz (PflegeVG). Informationen zu diesem Modellprojekt gibt es auch unter: www.freiburger-modell.de
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1.2
Zur Situation ambulanter familialer Pflege bei Demenz
1.2.1
Häusliche Versorgung bei Pflege- und Hilfebedürftigkeit
Faktischer Stellenwert häuslicher Versorgung Der Stellenwert der häuslichen Versorgung von Pflegebedürftigen ist in Deutschland sehr hoch. So zeigt die Pflegestatistik für 2001, dass von 2,08 Millionen pflegebedürftiger Menschen insgesamt 1,44 Millionen zu Hause versorgt werden, was einem Prozentsatz von ca. 70 % entspricht. Der größte Teil, nämlich nahezu eine Million der ambulant gepflegten Menschen, wird dabei ausschließlich von Angehörigen oder durch weitere informelle, d. h. nicht institutionalisierte Pflege, versorgt (vgl. Statistisches Bundesamt 2003). Die restlichen 0,44 Millionen ambulant versorgter Pflegebedürftiger erhalten Sachleistungen, was bedeutet, dass sie in unterschiedlichem Umfang von professionellen Pflegediensten betreut werden. Ach hier wird die häusliche Pflegesituation in der Regel durch familiale und weitere private Netzwerke gestützt (vgl. BMFSFJ 2005a, 313). So bilanziert auch Schneekloth die Ergebnisse einer repräsentativen Studie über die ‚Möglichkeiten und Grenzen selbstständiger Lebensführung (MuG III)’11 in privaten Haushalten mit: „Der ‚größte Pflegedienst in Deutschland’ ist und bleibt die Familie“ (Schneekloth 2006b, 408). Die im Rahmen von MuG III durchgeführte Erhebung ergänzt bei den häuslichen Unterstützungssettings die Gruppe der Pflege- um die Gruppe der Hilfebedürftigen, was in folgender Tabelle dargestellt wird.
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Es handelt sich um eine Repräsentativerhebung von 25.095 Haushalten, von denen in 3.622 Haushalten Personen mit Hilfe- und Pflegebedürftigkeit leben. Unter anderem wurde Hilfeund Pflegebedürftigkeit auch auf der Basis der vorhandenen Einschränkungen und der ‚Aktivitäten des täglichen Lebens’ (ADL nach Katz/Akpom 1976, aufgeführt in: Schneekloth 2006b, 406) bzw. der ‚hauswirtschaftlich-instrumentellen Aktivitäten’ (IADL nach Lawton/Brody 1969, aufgeführt in: Schneekloth 2006b, 406) operationalisiert.
Tabelle 5:
Hilfe- und Pflegebedürftige in Privathaushalten in Deutschland zum Jahresende 2002
Pflegebedürftige insgesamt* davon mit: Pflegestufe 1 Pflegestufe 2 Pflegestufe 3 Vorrangig hauswirtschaftlich Hilfebedürftige** davon mit: täglichem Hilfebedarf wöchentlichem Hilfebedarf eher seltenem Hilfebedarf * **
1.397.000 783 461 153 2.989 1.361 1.064 564
Leistungsbezieher der Sozialen (SPV) und der Privaten Pflegeversicherung (PPV). Die stichprobenbedingten Abweichungen zur amtlichen Pflegestatistik sind minimal und können vernachlässigt werden. Personen mit Einschränkungen bei alltäglichen Verrichtungen ohne Pflegebedarf im Sinne des SGB XI
Quelle: Schneekloth 2005, 62 [Auszug aus der Originaltabelle] Hierbei wird ersichtlich, dass das Gros der Pflegebedürftigen in privaten Haushalten Bezieher von Leistungen der Pflegestufe I ausmachen und der Anteil von Pflegebedürftigen mit Pflegestufe III in der häuslichen Versorgung mit Abstand der geringste ist. Hilfebedürftigkeit wird bei fast drei Millionen der Älteren ermittelt, wobei der größte Prozentsatz der Hilfebedürftigen täglicher Unterstützung bedarf, und die seltenen Hilfebedarfe die geringste Häufigkeit aufweisen. Insgesamt hat sich die Anzahl der Hilfe- und Pflegebedürftigen in Privathaushalten, so zeigt der Vergleich mit früheren Studien, in den letzten Jahren kontinuierlich erhöht. Die 1991 ermittelten Zahlen von 1,1 Millionen Pflegebedürftige und 2,1 Millionen Hilfebedürftige sind auf 1,4 Millionen Pflegebedürftige und fast drei Millionen Hilfebedürftige angestiegen. Ursächlich kann jedoch nicht auf einen generell höhere Bedarfe an Unterstützung bei älteren Menschen geschlossen werden, sondern die Zahlen spiegeln im Zuge des demografischen Wandels den höheren Anteil Älterer in der Bevölkerung Deutschlands wieder (vgl. Schneekloth 2005, 61). Pflegebedürftigkeit tritt als „allgemeines Lebensrisiko“ (ebd., 67) erst ab dem 80sten Lebensjahr in bedeutendem Ausmaß auf. In der Altersgruppe der 80- bis 84-Jährigen liegt der Anteil Pflegebedürftiger bei 12,95 % und bei den 85-Jährigen und älteren bei 29,3 %. Demgegenüber steht ein relativ geringer 35
Prozentsatz mit Pflegebedarf bei den Personen zwischen 65 und 79 Jahren, denn hier beträgt der Anteil Pflegebedürftiger ca. 4 %. Auch der Hilfebedarf steigt mit dem Alter an, wobei hier schon ab der Altersgruppe der 70- bis 75-Jährigen eine sprunghafte Steigerung auf 11,7 % - von 6,6 % in der Altersgruppe von 65 bis 69 Jahren - vorliegt. Hierbei besteht die Hilfebedürftigkeit primär im hauswirtschaftlichen Bereich (vgl. ebd., 67f). Insgesamt bleibt festzuhalten: „Ungefähr 92 Prozent der pflegebedürftigen Menschen und 85 Prozent der hilfebedürftigen Menschen werden in der Regel von Familienangehörigen betreut.“ (BMFSFJ 2005a, 313).
Versorgungsleistungen der Pflegeversicherung Im Pflegeversicherungsgesetz (PflegeVG) wird in § 3 des Sozialgesetzbuches XI (SGB XI) von einem „Vorrang der häuslichen Pflege“ (BMG 2002, 16) vor einer vollstationären Pflege ausgegangen. Weiterhin werden die Leistungen der Pflegeversicherung in § 4 Abs. 2 SGB XI als ergänzende Leistungen deklariert: „Bei der häuslichen und teilstationären Pflege ergänzen die Leistungen der Pflegeversicherung die familiäre, nachbarschaftliche oder sonstige ehrenamtliche Pflege und Betreuung.“ (ebd.).
Liegt eine Pflegebedürftigkeit nach den Kriterien des PflegeVG vor12, erhalten Pflegebedürftige Leistungen der Pflegeversicherung. Grundsätzlich gilt dabei die Differenzierung nach Pflegestufen: Für den Erhalt von Pflegestufe I muss ein Mindesthilfebedarf von 45 Minuten in den Bereichen Körperpflege, Ernährung und Mobilität13 sowie zusätzlicher hauswirtschaftlicher Hilfebedarf von mindestens ebenfalls 45 Minuten (im Tagesdurchschnitt) vorliegen. Der Gesamthilfebedarf muss demnach 90 Minuten betragen. Bei Pflegestufe II muss 12
13
36
Hierzu heißt es im § 14 Abs. 1 SGB XI: „Pflegebedürftig im Sinne dieses Buches sind Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, [...] der Hilfe bedürfen“ (zit. in: BMG 2002, 22) Der Bereich ‚Körperpflege’ umfasst beispielsweise „,[...] das Waschen, Duschen, Baden, die Zahnpflege, [...] die Darm- und Blasenentleerung“ (§ 14 Abs. 4 SGB XI, zit. in: BMG 2002, 23), der Bereich Mobilität „,[...] das selbstständige Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, [...]“ (ebd.) und der Bereich Ernährung „,[...] das mundgerechte Zubereiten oder die Aufnahme der Nahrung“ (ebd.).
dieser Bedarf mindestens drei Stunden umfassen, wobei zwei Stunden mit den drei Bereichen Körperpflege, Ernährung und Mobilität, der so genannten „Grundpflege“ (§ 15 SGB XI Abs. 3, zit. in: BMG 2002, 23) abgedeckt werden müssen. Pflegestufe III erfordert einen Gesamtbedarf von mindestens fünf Stunden, wobei vier Stunden auf die Grundpflege entfallen müssen. Die Leistungen für die ambulante und stationäre Versorgung variieren gravierend, wie die nachfolgende Tabelle deutlich macht: Tabelle 6:
Leistungen der Pflegeversicherung differenziert nach Pflegestufe und ambulanter und stationärer Versorgung
Ambulant, VollstaAmbulant, Pflegesachleistung tionär *** Pflegegeld (monatlich) (monatlich) ** (monatlich) * Pflegestufe I 205 Euro 384 Euro 1.023 Euro Pflegestufe II 410 Euro 921 Euro 1.279 Euro Pflegestufe III 665 Euro 1.432 Euro 1.432 Euro * § 37 ** § 36 *** § 43 Abs. 1 SGB XI Abs. 2 SGB XI Abs. 5 SGB XI Quelle: eigene Zusammenstellung nach Angaben des SGB XI (vgl. BMG 2002) Pflegestufe
Pflegesachleistungen können nur für professionelle Pflegedienste mit vorliegendem Versorgungsvertrag mit den Pflegekassen verwendet werden. Pflegegeld dient hingegen der Sicherstellung der häuslichen Pflege des Pflegebedürftigen „in geeigneter Weise“ (§ 37 Abs. 1 SGB XI, zit. in BMG 2002, 38), was in der Regel durch Angehörige, das heißt im Rahmen familialer Pflege, geschieht. Pflegegeld und Pflegesachleistung können nach § 38 SGB XI auch kombiniert werden. Trotz hoher Hilfeleistungen durch familiale und außerfamiliale Netze geben ungefähr 18 % der Pflegebedürftigen an, ungenügend versorgt zu sein. Dies betrifft vorrangig Menschen ohne ausreichende familiale Unterstützung oder tritt im Falle einer Überlastung der Hauptpflegeperson auf, beispielsweise bei deren alleiniger Zuständigkeit (vgl. BMFSFJ 2005a 315). Für allein lebende und ungenügend versorgte Ältere, deren Bedarfe primär im hauswirtschaftlichen Segment vorliegen, werden im 5. Altenbericht ‚haushaltsnahe Dienstleistungen’ für die Betreuung älterer Menschen in privaten Haushalten als wachsender Sektor der ‚Seniorenwirtschaft’ genannt (ebd., 238f). Problematisch ist hierbei jedoch die Dimension der sozialen Ungleichheit, da fehlende finanzielle Ressourcen als Zugangsbarriere fungieren (vgl. ebd., 315). 37
Häusliche Pflege hat einen noch höheren Stellenwert in Familien mit Migrationshintergrund: Die Enquete-Kommission ‚Demographischer Wandel’ weist darauf hin, dass bei Hilfe- und Pflegebedarf in Familien mit Zuwanderungsbiografie zurzeit in erster Linie die intrafamiliale Unterstützung gesucht und gewährt wird. In dieser Zielgruppe ist der Anteil der Hochaltrigen geringer und die Anzahl der Mehrgenerationenhaushalte höher als in den Familien deutscher Herkunft. Die oftmals in einem hohen Maß praktizierten binnenfamilialen Unterstützungsleistungen gelten neben sprachlichen Barrieren aktuell noch häufig als Hemmnis zur Inanspruchnahme von professionellen Pflegeangeboten. Für die kommenden Jahrzehnte werden hier Veränderungen sowohl in der demografischen Struktur als auch im familialen Beziehungsgefüge prognostiziert, weshalb auf ein steigendes Risiko der Überlastung dieser Unterstützungspraktiken hingewiesen wird. Eine Erweiterung des Spektrums kultursensibler Versorgungsangebote wird gefordert (vgl. Deutscher Bundestag 2002, 244f). 1.2.2
Spezifika beim Vorliegen einer Demenz
Das Leistungsspektrum nach dem SGB XI Ein zusätzliches Problemfeld häuslicher Unterstützungssettings ist das Vorliegen einer Demenz. Gerade im Anfangsstadium sind anstelle von Tätigkeiten, die die Körperpflege, die Mobilität und die Ernährung im engeren Sinne betreffen, Unterstützungsleistungen in Form einer Assistenz bei komplexeren Anforderungen oder einer allgemeinen sozialen Betreuung erforderlich. Jedoch werden solche Hilfebedarfe, die häufig quantitativ einen erheblichen Zeitumfang ausmachen, aber im qualitativen Sinne außerhalb der Kriterien des Pflegeversicherungsgesetzes liegen, heute nach dem SGB XI noch nicht ausreichend erfasst. Eine „Beaufsichtigung und Anleitung“ (BMFSFJ 2002, 334) kann nur marginal und in stark limitierten Tätigkeitssegmenten geltend gemacht werden. Folglich üben Experten Kritik an der rechtlichen Eingrenzung von Leistungen auf eine „enge Verrichtungsbezogenheit“ (BMFSFJ 2002, 334) sowie an der fehlenden Expansion des Leistungsspektrums auf eine allgemeine Betreuung und weisen auf die besondere Problematik der pflegerischen Versorgung beim Krankheitsbild Demenz hin (vgl. BMFSFJ 2002, 334; Jansen 1999, 604ff). Die Kriterien für Pflegebedürftigkeit im SGB XI divergieren darüber hinaus mit einem fachlich differenzierten Pflegebegriff, der in Konzepten der Pflegewissenschaft vertreten wird. So gehört es z. B. zum Ansatz von Nightin38
gale zu den pflegerischen Aufgaben, „den Menschen beim Genesungsprozess zu unterstützen [...] und für eine gesundheitsfördernde Umgebung zu sorgen“ (Urban und Fischer Verlag 2001, 62). Oder es gilt nach dem Konzept von Peplau „die Entwicklung eines Menschen in Richtung eines kreativen, konstruktiven, produktiven persönlichen und gesellschaftlichen Lebens“ (ebd.) zu fördern, und das Pflegegeschehen hat auch nach der Konzeption von Krohwinkel als Basis die „menschlichen Bedürfnisse, Probleme und Fähigkeiten“ (ebd., 69). Im Besonderen beim Vorliegen einer Demenz wird das weitaus umfangreichere Aufgabenprofil fachlich gefordertem pflegerischen Handelns deutlich14. Trotzdem mangelt es faktisch an einer adäquaten Berücksichtigung der benötigten Unterstützungsleistung für demenziell Erkrankte, insbesondere bezogen auf die Präsenz einer methodisch geschulten Bezugsperson, die die mangelnde Adaptionsfähigkeit Demenzkranker an das soziale und räumliche Umfeld berücksichtigt: „Soziale Betreuung ist kein Kriterium zur Bemessung der Pflegestufe, obwohl sie den größten Hilfebedarf bei Demenzkranken ausmacht“ (Bischof 2006, 21). Folglich erhalten viele Demenzkranke in einem frühen Stadium noch keine Pflegestufe und somit keine Leistungen der Pflegekasse: „Diese Aufspaltung in einen anerkannten und in einen nicht anzuerkennenden Hilfebedarf können Angehörige oft nicht verstehen und fühlen sich deshalb vom Gesetzgeber benachteiligt“ (ebd.)15, 16.
Bislang erfolgten einige Nachbesserungen für demenziell Erkrankte, denen bereits eine Pflegestufe bewilligt wurde, was jedoch abermals noch nicht zu
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Beispielsweise wird dies ausgeführt in dem Sammelband „Demenz und Pflege“ (Tackenberg/Abt-Zegelin 2000), in dem u. a. die interdisziplinären Anforderungen in den Bereichen Ethik, konzeptioneller und institutioneller Vorgaben, spezielle Best-Practice-Erfahrungen etc., detailliert dargestellt werden. Bischof bezieht seine Ausführungen vorrangig auf die Finanzierung stationärer Pflege. Da jedoch der eingeengte Pflegebegriff des Pflegeversicherungsgesetzes im SGB XI ebenso für die ambulante Pflege gilt, kann seine Kritik uneingeschränkt auf die Merkmalsvoraussetzungen für die Leistungen der häuslichen Pflege übertragen werden. Auf die gleichfalls speziellen psychosozialen und milieutherapeutischen Betreuungsbedarfe für pflegebedürftige Menschen mit angeborenen oder früh erworbenen Behinderungen sei an dieser Stelle aufgrund des anderen thematischen Schwerpunktes der Arbeit nur hingewiesen. Weitere Ausführungen hierzu bzw. zur Schnittstellenproblematik zwischen dem Sozialgesetzbuch XI und dem Sozialgesetzbuch IX sind beispielsweise in: Nachrichten des Deutschen Vereins (NDV) 2006.
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einem verbesserten Erst-Zugang, d. h. zum Erhalt der Pflegestufe I, bei allgemeinem Assistenz- und Hilfebedarf, geführt hat17. Basierend auf diesen Hintergründen, wird in der hier vorliegenden Arbeit nicht von der Legaldefinition des SGB XI von Pflegebedürftigkeit ausgegangen, wenn häusliche Angehörigenpflege thematisiert wird. Der Referenzpunkt ist hier die Demenz als Krankheitsbild einer schweren, chronisch-progredienten Erkrankung mit immanentem, sukzessiv steigendem Hilfebedarf18. In Kombination mit dem ‚Setting’-Begriff wird hier die gesamte Lokalität der privaten Häuslichkeit mit allen dazugehörigen lebensweltlichen19 Hintergründen erfasst und somit eine breite Unterstützungssituation fokussiert. Der englische Terminus ‚setting’ wird im Rahmen der hier vorliegenden Ausführungen einerseits analog der Übersetzung als „Lage, Hintergrund, Schauplatz“ (Langenscheidt KG 1993, 892) verstanden. Darüber hinaus ist ‚Setting’ im deutschen Gebrauch aber auch Teil eines lebensweltorientierten Ansatzes bei neueren Modellen der Gesundheitsförderung, bei denen die konkreten Lebensschauplätze und Alltagssituationen verstärkt berücksichtigt werden20. Insgesamt findet der ‚Setting’-Begriff zunehmend Berücksichtigung in der einschlägigen Literatur, z. B. wenn allgemein von einem „Unterstützungssetting“ (Tesch-Römer et al. 2006b, 534) die Rede ist. In der hier vorliegenden Untersuchung wird folglich mit dem Begriff des ‚Pflegesettings’ auf ein umfassendes familiales Unterstützungsverhältnis mit instrumentellen, emotionalen und oft auch finanziellen Hilfetransfers hingewiesen. Pflegerisches Handeln im Sinne der ‚Grundpflege’ des SGB XI kann dabei für die einzelnen Beteiligten des „Pflegearrangements“ (BMFSFJ 2002, 365) einen unterschiedlichen Anteil haben. Der Beginn des familialen Pflege17
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40
Aufgrund dieser Versorgungslücke hat der Gesetzgeber im Jahr 2000 das so genannte ‚Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz’ für einen nach § 45a SGB XI speziell definierten Personenkreis (Pflegebedürftige der Pflegestufen I, II oder III mit demenzbedingten Störungen, psychischen Erkrankungen oder geistiger Behinderung) erlassen. Hierin werden beispielsweise den ambulant gepflegten Betroffenen als zusätzliche Leistung 460 Euro jährlich für anerkannte qualitätsgesicherte Betreuungsleistungen zu Verfügung gestellt. Weiterhin wurde die Frequenz der Pflegeeinsätze ambulanter Pflegedienste zur Beratung und Qualitätskontrolle der pflegenden Angehörigen nach § 37 Abs. 3 SGB XI erhöht. Demenzerkrankte ohne Pflegestufe gehören jedoch abermals nicht zu den Leistungsberechtigten (vgl. BMFSFJ 2002, 334f). Der hier auf das Krankheitsbild ‚Demenz’ bezogene Ansatz von ‚Pflegesetting’ impliziert als Einschlusskriterium für die nachfolgend beschriebene Studie das Vorliegen einer Diagnose bei den Erkrankten. Der Terminus ‚Lebenswelt’ wird in Kapitel 5 expliziert. Näheres hierzu im Kapitel 1.4.3
settings erfolgt bei vielen Betroffenen, wie aufgrund der oben beschriebenen Symptomatik ersichtlich, oftmals schleichend und ohne einen ‚Stichtag’21. Strukturelle Daten zur häuslichen Versorgung bei Demenz Es wird, wie oben ausgeführt, aufgrund der Ergebnisse regionaler Untersuchungen davon ausgegangen, dass von den ungefähr eine Million demenziell Erkrankten 600.000 zu Hause versorgt werden (vgl. Schäufele et al. 2005, 99). Die Spezifika einer ambulanten Pflege bei Demenz expliziert eine Studie von Schäufele et al. (2005), in der die Situation der Betreuung von Demenzerkrankten in Privathaushalten anhand einer Stichprobe von 151 demenzerkrankten Personen analysiert worden ist. Hierbei wurde auch erhoben, inwieweit Leistungen der Pflegeversicherung in Anspruch genommen werden. Tabelle 7:
Inanspruchnahme der Leistungen der Pflegeversicherung in Privathaushalten
Inanspruchnahme der Leistungen der Pflegeversicherung in Privathaushalten nach Demenzschweregrad (Anzahl der untersuchten demenziell erkrankten Personen: N = 151) Pflegestufe Demenz Leichte Mittelschwere Schwere gesamt % Demenz % Demenz % Demenz % keine 24,8 42,4 18,0 / Pflegest. I 32,2 37,9 36,0 15,2 Pflegest. II 29,5 16,7 34,0 48,5 Pflegest. III 13,4 3,0 12,0 36,4 Quelle: Schäufele et al. 2005, 117 [Auszug aus der Originaltabelle] Drei Viertel aller demenzerkrankten Probandinnen und Probanden dieser Studie beziehen Leistungen aus der gesetzlichen Pflegeversicherung, wobei der größte Prozentanteil der Erkrankten in Pflegestufe I eingruppiert ist, und bei einem Viertel der Demenzkranken keine Pflegestufe vorliegt.
21
Theoretische Reflexionen zur Situation häuslicher Pflege erfolgen weiterhin unter 1.4.3 zum Thema der Reformierung und Komlettierung der Angebote für pflegende Angehörige sowie unter 3.1, wo häusliche Pflege als Teil familialer Sorgeleistung identifiziert wird.
41
Die Verteilung der Pflegestufen ist mit dem Demenzschweregrad assoziiert (vgl. Schäufele et al. 2005, 116f). Gegenüber einer Vergleichsgruppe mit Personen ohne Demenzerkrankung ist in der untersuchten Gruppe das Durchschnittsalter wesentlich höher, es beträgt hier 81 Jahre. Die durchschnittliche Dauer der Erkrankung beträgt 3,9 Jahre bei einem leichten Schweregrad bis 6,2 Jahre bei schweren Beeinträchtigungen (vgl. ebd., 106). In dieser Studie wird weiterhin die Auftretenshäufigkeit nicht-kognitiver bzw. neuropsychiatrischer Symptome erhoben, da diese für den Alltag von Erkrankten und Pflegenden neben den kognitiven Einbußen von großer Relevanz sind. Das am häufigsten genannte Symptom war Apathie mit 66,7 %, gefolgt von Angst (58 %), Depression (54 %), problematische Schlafgewohnheiten (49,6 %) und Reizbarkeit bzw. Labilität (46,7 %). Bezüglich der Hierarchie der genannten Symptome ist dies mit einer großen populationsbezogenen Studie in den USA vergleichbar (vgl. Schäufele et al. 2005, 109). Für eine Pflegesituation ist weiterhin von erheblicher Relevanz, dass von den mittelschwer an Demenz Erkrankten nur 30 % und den schwer Erkrankten nur 12 % ohne Schwierigkeiten über mehrere Stunden alleine zu Hause gelassen werden konnten (vgl. ebd., 113). Die Pflege von Menschen mit Demenz wird zwar überwiegend im Rahmen der ambulanten Unterstützung geleistet, ist aber nicht auf diese Versorgungsform zu begrenzen, denn trotzdem zu einem gegebenen Messzeitpunkt ca. 60 % der Demenzkranken in Privathaushalten leben und überwiegend von Familienangehörigen versorgt werden, siedeln im Laufe ihrer Erkrankung bis zu 80 % der Demenzkranken in ein Pflegeheim um (vgl. Weyerer 2005, 25). Einer späteren Heimunterbringung geht häufig, aber nicht zwangsläufig, eine Zeit der familialen räumlichen Nähe voraus. In einer Mannheimer Studie zeigen die Befunde, dass 33,3 % aller Heimbewohner vor dem Einzug mit Angehörigen im selben Haushalt, weitere 16,2 % im selben Haus und 2,5 % in einem Nachbarhaus gewohnt haben (vgl. Weyerer 2005, 21). Eine besonders lange Dauer häuslicher Pflege kann mit einer Koresidenz und einem speziellen familialen Status korrelieren: Nach einer Studie des Zentralinstituts für seelische Gesundheit in Mannheim wohnten 83 % der Demenzkranken, die bis zu ihrem Tod ambulant gepflegt wurden, mit den Angehörigen ‚unter einem Dach’, wobei die Pflegeerbringer hierbei häufig auch die Ehepartner waren (vgl. Naegele/Reichert 2001).
42
Volkswirtschaftlicher Stellenwert der ambulanten Pflege bei Demenz Wie bereits gesagt, favorisiert der Gesetzgeber nach § 3 SGB XI explizit die ambulante Pflege vor stationären Versorgungsformen (vgl. BMG 2002, 18). Diese sozialpolitische Zielsetzung zur Förderung häuslicher Pflegearrangements entspricht der Präferenz der überwiegenden Anzahl von älteren und hilfebedürftigen Menschen, im Falle eigener Pflegebedürftigkeit in der eigenen Wohnung bzw. innerhalb der Familie gepflegt zu werden. Auch Angehörige von Älteren mit Hilfebedarfen favorisieren diese Versorgungsform. Somit bewerten 81 % der Pflegebedürftigen in Privathaushalten und 87 % der unterstützenden Angehörigen einen Umzug in ein Altenheim als ‚nicht sehr wahrscheinlich’, ‚unwahrscheinlich’ und ‚auf gar keinen Fall in Frage kommend’ (vgl. Schneekloth 2005, 85). Das Primat häuslicher Pflege ist sozialpolitisch insbesondere im Kontext von Demenzerkrankungen auch aus Kostenaspekten begründbar, da Demenzen zu den teuersten Krankheitsgruppen im Alter gezählt werden. Nach der Krankheitskostenrechnung des Statistischen Bundesamtes für das Jahr 2002 stehen 10 % aller Krankheitskosten in Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen und Verhaltensstörungen. Werden einzelne Diagnosen nach ICD-10 klassifiziert untersucht, so muss bei dem Krankheitsbild Demenz dabei mit 5,6 Milliarden Euro im Jahr ein erheblicher Anteil dieser Kosten veranschlagt werden (vgl. Weyerer 2005, 22). Vergleicht man Studien, die die ökonomischen Folgen von Demenzerkrankungen analysieren, so können trotz methodischer und nationaler Spezifika gemeinsame Befunde festgestellt werden. Zu beachten ist, dass in der Regel zwischen direkten und indirekten Kosten differenziert wird. Bei den direkten Kosten, d. h. den Zahlungen für professionelle medizinische und pflegerische Hilfe, betragen die Aufwendungen für die stationäre Pflege in Heimen mit 50 bis 75 % den höchsten Anteil. Die Aufwendungen für Diagnostik und medikamentöse Therapie belaufen sich nur auf 2 bis 3 % der Gesamtkosten und die überwiegende Anzahl der Studien zeigt keine Mehrbelastung bei den Krankenhauskosten auf. Zu den indirekten Kosten werden die unbezahlten Betreuungserfordernisse der Angehörigen von geschätzten sechs bis zehn Stunden im täglichen Durchschnitt gerechnet, was bis zu zwei Drittel der Gesamtkosten bewirkt22 (vgl. Bickel 2001, 111). 22
Hierbei werden die Auswirkungen der langjährigen Dauerbelastung für pflegende Angehörige mit eventuellen Folgeerkrankungen meistens nicht eingerechnet (vgl. Weyerer 2005, 22).
43
Kostenanalysen für den einzelnen Erkrankten beziffern die Gesamtkosten pro Patient und Jahr auf 43.767 Euro, wobei 2,5 % auf die gesetzliche Krankenversicherung und die inhärenten Arztbesuche, Krankenhausaufenthalte sowie die Medikation entfallen. Weitere 29,6 % der Kosten werden der gesetzlichen Pflegeversicherung und 67,9 % der Familie als Hilfeinstanz zugeschrieben23. Vergleichbare Ergebnisse aus Ländern wie Großbritannien und Nordamerika bestätigen diese Befunde (vgl. Weyerer 2005, 22f). Diese Analysen geben ein eindrucksvolles Bild von dem volkswirtschaftlichen Stellenwert der häuslichen familialen Pflege bei Demenz wieder. Auf die damit verbundenen Auswirkungen auf pflegende Angehörige wird im nachfolgenden Kapitel eingegangen.
1.3
Auswirkungen des Pflegegeschehens auf Angehörige
1.3.1
Merkmale pflegender Familienangehöriger
Wissenschaftliche Studien zur Situation und insbesondere zur Belastung pflegender Angehöriger werden seit ca. 20 Jahren, anfänglich vor allem in den USA, durchgeführt. Auch in Deutschland bilden diese Untersuchungen mittlerweile einen beachtlichen Forschungsbereich24 (vgl. Wahl/Schneekloth 2005, 40). Nicht nur in Deutschland ist die informelle Pflegeleistung durch die Familie bislang das wichtigste Unterstützungsreservoir, sondern beispielsweise auch für die USA kann konstatiert werden: „The American family is still the number-one caretaker of older adults“(Kuba 2006, 3). Daten über pflegende Angehörige in Deutschland zeigen, dass Pflege eine weibliche Domäne ist, dass sie primär in einem gemeinsamen Haushalt mit dem Pflegebedürftigen stattfindet und mehrheitlich von Menschen im Alter ab 40 Jahren geleistet wird. Die folgende Tabelle zeigt dazu eine Übersicht aus dem Jahr 2000.
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Hierbei korreliert die Höhe der Kosten mit der Schwere der Erkrankung: Im frühen Stadium werden sie mit durchschnittlich 5.100 Euro pro Erkranktem und Jahr beziffert. Sie belaufen sich bis zu 92.000 Euro im späten Stadium (vgl. Weyerer 2005, 23). Einen ausführlichen Überblick über die Entwicklung der (Belastungs-)Forschung bei pflegenden Angehörigen gibt Jansen 1999, 613ff
Tabelle 8:
Angaben zur Hauptpflegeperson
Geschlecht, Alter, Verwandtschaftbeziehung und Wohnort der privaten Hauptpflegepersonen von Pflegebedürftigen in Deutschland in Privathaushalten 1998 Merkmale der Hauptpflegeperson Anteil (in %) Geschlecht: Weiblich 80 Männlich 20 Alter (in Jahren): unter 40 15 40 – 64 53 65 – 79 27 80 und älter 5 Verwandtschaftsbeziehungen zur pflegebedürftigen Person: (Ehe-)Partnerin/(Ehe-)Partner 20 / 12 Mutter/Vater 11 / 2 Tochter/Sohn 23 / 5 Schwiegertochter/Schwiegersohn 10 / 0 Sonstige Verwandte 10 Nachbar/Bekannte(r) 7 Wohnort: Gleicher Haushalt wie Pflegebedürftige(r) 73 Getrennter Haushalt 27 Quelle: Schneekloth/Müller 2000, zit. in: BMFSFJ 2002, 195 [Auszug aus der Originaltabelle] Innerhalb einer spezifischen Verwandtschaftsbeziehung wie der Partnerschaft oder dem Status Kind und Schwiegerkind sind Frauen jeweils stärker vertreten. Dabei hat die Rolle25 von (Ehe-)Partnerinnen und (Ehe-)Partnern in der Pflege bei beiden Geschlechtern einen vergleichsweise hohen Stellenwert, jedoch 25
Zum Begriff der ‚Rolle’ siehe Kapitel 2.1.4.
45
zeigen neuere Daten, dass der Prozentanteil bei dieser Gruppe leicht rückläufig ist. Er betrug bei den Hauptpflegepersonen in privaten Haushalten im Jahr 2002 nur noch 28 % (vgl. BMFSFJ 2005a, 293). Auf der Basis dieser Daten wird im 5. Altenbericht kritisch hinterfragt, ob die Regelungen des Pflegeversicherungsgesetzes die Unterstützungspotenziale älterer Menschen beim Erbringen von Pflegeleistungen adäquat fördern (vgl. ebd., 286). Die größte Gruppe aller pflegenden Angehörigen sind Frauen. Wie die Tabelle verdeutlicht, betrug deren Anteil 1998 80 Prozent (vgl. hierzu auch: BMFSFJ 2002, 195; Deutscher Bundestag 2002, 237). Tendenziell nimmt allerdings auch der Anteil der pflegenden Männer zu. Er ist, bezogen auf den Zeitraum vom Beginn der 1990er Jahre bis 2005, von 17 % auf 27 % gestiegen. Primär sind neuerdings Söhne diejenigen, die hier Hilfeleistung erbringen (vgl. BMFSFJ 2005a, 293). Nach Hammer und Bartjes werden pflegende Männer zu Unrecht als eine „Quantité negligeable“ (2005, 16) behandelt, denn trotzdem die Gruppe der männlichen Hauptpflegepersonen mittlerweile über ein Viertel aller Pflegenden ausmacht, sind ihrer Meinung nach Männer in der öffentlichen Wahrnehmung hinsichtlich dieser Funktion unterrepräsentiert (vgl. Hammer/Bartjes 2005, 16). Wenn pflegende Angehörige und die mit ihnen verbundene Laienpflege als Ressourcen der Sozial- und Gesundheitspolitik eingeplant werden, so müssen belastungsmindernde und -vermeidende Aspekte mit bedacht werden. Pick et al. fassen dies folgendermaßen zusammen: „Ohne das familiäre und nachbarschaftliche Pflegepotenzial werden die Zukunftsherausforderungen an Pflege nicht zu bewältigen sein. Bei aller Berechtigung [...] dürfen jedoch die Grenzen der Laienpflege nicht übersehen werden“ (Pick et al. 2004, 51). Hierauf soll im Folgenden eingegangen werden. 1.3.2
Belastungsfaktoren in der häuslichen Pflege
Für die häusliche Pflege kann zusammenfassend konstatiert werden, dass sie mehrheitlich ein fragiles Geschehen mit inhärenten Überlastungsphänomenen darstellt, weshalb pflegende Angehörige als Risikogruppe, selber zu erkranken, eingeschätzt werden (vgl. Kruse 2002, 195ff). Unabhängig vom Vorliegen eines speziellen Krankheitsbildes fühlen sich 42 % der Hauptpflegepersonen in der häuslichen Pflege eher stark und weitere 41 % sogar sehr stark belastet. Handelt es sich um primär hauswirtschaftliche Hilfebedarfe, wird ein weitaus geringerer Belastungsgrad angegeben. (vgl. Schneekloth 2005, 86f). Signifikante Prädiktoren bei hoch belasteten Pflegesettings wurden im Rahmen der bereits erwähnten Studie MuG III ermittelt. 46
Tabelle 9:
Charakteristik hoch belasteter Pflegearrangements
Signifikante Prädiktoren: x x x x x
Betreuung von kognitiv beeinträchtigten Pflegebedürftigen mit nächtlichem Hilfebedarf Hohe Pflegestufe (Stufe 3) Defizite in der Hilfsmittelversorgung ‚Rund um die Uhr’ Verfügbarkeit der Hauptpflegeperson Fortsetzung der Erwerbstätigkeit der Hauptpflegeperson (insb. bei männlicher HPP)
Nicht signifikant sind hingegen: x x x
Alter und Geschlecht der pflegebedürftigen Person Haushaltseinkommen, soziale Schicht und ‚Bildungsmilieu’ regionale Faktoren (Ost/West bzw. Stadt/Land)
Quelle: TNS Infratest Repräsentativerhebung 2002, zit. in: Schneekloth 2005, 87 [Hervorhebung im Original]. Zu den wesentlichen Faktoren, die mit einem hohen Belastungsgrad pflegender Angehöriger korrelieren, gehören das Vorliegen einer hohen Pflegestufe, eine ungenügende Versorgung mit Hilfsmitteln wie Mobilitäts- und Pflegehilfen, sowie die gleichzeitige Erwerbstätigkeit der helfenden Person. Ist eine Demenz als Krankheitsbild vorhanden, so muss dies ebenfalls als belastungssteigernd gesehen werden. Auch der Prädiktor ‚Rund um die Uhr Verfügbarkeit’ liegt häufig im Kontext mit einer Demenz vor. Nicht signifikant für einen hohen Belastungsgrad sind u. a. das Geschlecht und das Alter der pflegebedürftigen Personen sowie weitere soziostrukturelle Faktoren wie das Einkommen oder ein urbanes bzw. ländliches Umfeld. Im 4. Altenbericht wird darüber hinaus betont, dass sich die familiale Versorgung bei Pflegebedürftigkeit vor dem Hintergrund lebenslanger Beziehungen abspielt. Die familientypischen asymmetrischen Beziehungsstrukturen unterliegen einem Prozess der Transformation mit einer sukzessive steigenden Hilfeübernahme bei der mittleren Generation. Vor allem auf Mutter-TochterBeziehungen können sich Rollenveränderungen problematisch auswirken, wenn Töchter faktisch genötigt sind, eine mütterliche Position zu übernehmen, aber intrapersonell an der Rolle des Kindes festhalten. Konflikterhöhend kann im 47
Umkehrschluss auch eine Fixierung der Älteren an einer ‚Elternrolle’ wirken. Folglich beinhaltet eine familiale Pflegesituation neben solidarischen in der Regel auch konflikthafte Momente (vgl. BMFSFJ 2002, 197f). Besondere Anforderungen stellt die häusliche Pflege- und Unterstützungsarbeit für alte Eltern, wenn von der mittleren Generation parallel eigene Kinder betreut und versorgt werden müssen. Für diese Subgruppe pflegender Angehöriger wurde der Begriff ‚Sandwich-Generation’ geprägt, der auf die doppelte Inanspruchnahme von zwei Seiten hinweist26 (vgl. Barkholdt/Lasch 2004, 24f). Zurzeit müssen ungefähr 40 % aller privaten Pflegepersonen die Pflege mit einer Erwerbstätigkeit vereinbaren, wobei mit einem Anstieg dieses Anteils aufgrund der prognostizierten Zunahme der Erwerbstätigkeit von Frauen auszugehen ist. Von den 15- bis 64-jährigen Hauptpflegepersonen sind 19 % vollzeiterwerbstätig, 16 % teilzeit-erwerbstätig und 6 % geringfügig beschäftigt (vgl. Schneekloth/Leven 2003, zit. in: Barkholdt/Lasch 2004, 20). Generell lassen sich die modernen Mobilitäts- und Flexibilitätsanforderungen des Erwerbslebens im Alltag häufig nur schwer mit den täglichen Aufgaben einer Pflegeperson in Einklang bringen, da zurzeit noch gravierende strukturelle Divergenzen in den Situationslogiken des Segments Arbeitsmarkt und der häuslichen Sorgeleistungen existieren. Die mittlere Generation erlebt dabei als kumulierte Problemlagen die Verknappung der eigenen zeitlichen Ressourcen im Zusammenhang mit den steigenden Aufwendungen, die Hilfeleistungen für die ältere Generation erfordern. Erwerbstätigen pflegenden Angehörigen werden momentan nur unzureichend Optionen zur Gestaltung der Schnittstelle von familialer und beruflicher Tätigkeit angeboten. Da sich die Gruppe der informell Pflegenden primär aus Frauen rekrutiert, sind diese in besonderem Maße von der problematischen Vereinbarkeit von Pflege und Beruf betroffen. Frauen erfahren beim Auftreten von Unterstützungsbedarfen im Rahmen der binnenfamilialen und geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung ungleich verteilte Verantwortlichkeiten und sind bei einer fehlenden Vereinbarkeit von Pflege und Beruf einem besonderen Risiko ausgesetzt, erwerbslos zu werden oder finanzielle Einbußen zu erleiden. Fachleute bemängeln, dass Deutschland gegenüber den europäischen Nachbarländern einen erheblichen Nachholbedarf hat, was die „Vereinbarkeit von erwerbs- und familienbezogenen Anforderungen (Work Life Balance)“ (Lasch 2005, 13) angeht. 26
48
Nähere Ausführungen hierzu erfolgen in den Abschnitten 2.3.5.3 und 3.2.
Spezifische Problemstellungen aufgrund von Pflegebedürftigkeit liegen in Familien mit Zuwanderungsgeschichte vor. Nach dem 5. Altenbericht entsteht bei älteren Migrantinnen und Migranten erst allmählich in größerem Maße eine Problematik der Pflegebedürftigkeit, was sich für die in den 1960er-Jahren zugewanderte Generation in etwa fünf bis zehn Jahren auswirken wird. Aufgrund der bei älteren Menschen mit Migrationshintergrund oftmals vorliegenden Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache haben hier die nachfolgenden Generationen eine Schlüsselstellung inne, z. B. bei der Antragstellung für öffentliche Hilfen und professionelle Unterstützungsangebote. Tendenziell wird in zugewanderten Familien für die Leistung ‚Pflegegeld’ optiert, da hierbei pflegekulturellen Bedürfnissen am meisten Rechnung getragen werden kann. Allerdings wird ein steigender Bedarf an interkulturellen Kompetenzen bei professionellen Pflegediensten, insbesondere im Hinblick auf die Gruppe der Zugewanderten mit türkischem Hintergrund, prognostiziert (vgl. BMFSFJ 2005a, 245f). Insgesamt ist die Datenlage bezogen auf pflegebedürftige Migrantinnen und Migranten noch sehr lückenhaft. In der Forschungsstudie MuG III wurden Hilfe- und Pflegebedarfe der speziellen Zielgruppe von Migranten nicht fokussiert, jedoch wird von einer steigenden Relevanz einer kultursensiblen Altenpflege auch hier ausgegangen (Schneekloth/Wahl 2005, 245). 1.3.3
Spezifische Belastungen im Kontext mit Demenz
Wie oben ausgeführt, sind kognitive Beeinträchtigungen mit den damit verbundenen Pflegeerfordernissen ein wesentlicher Prädiktor für eine Überlastungssituation in der häuslichen Pflege. Studien zur häuslichen Pflege Demenzkranker ergaben eine höhere Belastung in diesen Pflegesettings als bei der Pflege nicht demenziell Erkrankter (vgl. Weyerer 2005, 17). Diese Befunde werden auch durch internationale Studien bestätigt. Dennoch gelten Familienangehörige als „die wichtigsten Bezugspersonen Demenzkranker“ (Weyerer 2005, 16; für den englischsprachigen Raum exemplarisch Szinovacz 2003, 449). Von den Belastungen, die im Rahmen der Symptomatik einer Demenz auftreten, haben auch Beziehungskonflikte einen hohen Stellenwert (vgl. Gräßel 1996, zit. in: Weyerer 2005, 17). Weiterhin sind die oben bereits aufgeführten zeitlichen Restriktionen und die Störungen des Tag und Nacht-Rhythmus zentrale Belastungsfaktoren. Die das Krankheitsgeschehen oftmals begleitende Inkontinenz wird u. a. aufgrund des damit verbundenen Arbeitsaufwandes als sehr problematisch eingeschätzt. Generell können die Persönlichkeitsveränderungen des Kranken als häufige Ursache für Überlastung und als Auslöser für eine Beendigung der häuslichen Pflege eingeschätzt werden. Zu den 49
Problemstellungen gehören dabei aggressives Verhalten, Angst, Depressionen und Wahnvorstellungen (vgl. Weyerer 2005, 6). Angehörige erleben eine allmähliche ‚Auslöschung’ der gemeinsamen Biografie, und entwickeln erhebliche Befürchtungen aufgrund der Eigen- und Fremdgefährdung der Kranken. Gleichzeitig erfahren sie einen Verlust an Zuwendung vom kranken Menschen und müssen mit der sukzessiv eingeschränkten Fähigkeit zur Kommunikation umgehen können. Als besonders belastend wird zusätzlich das ständige Suchen von verlegten Gegenständen beschrieben. Unter anderem durch permanentes Rufen oder die bereits genannte Inkontinenz wird die Nachtruhe erheblich gestört, wozu in einer Studie von Gräßel 18 % der Angehörigen angaben, mehr als sechs-mal pro Nacht geweckt zu werden (vgl. Gräßel 1996, zit. in: Weyerer 2005, 17). So konstatierten die Autoren des 4. Altenberichts: „Pflegende Angehörige von Demenzkranken bilden eine Hochrisikogruppe für Erschöpfung, Schlaf- und Appetitstörungen, Nervosität sowie für vermehrte Einnahmen von Psychopharmaka, vor allem gegen Anspannung“ (BMFSFJ 2002, 202).
Auch in einer Studie von Schäufele et al. zeigen die Befunde, dass im Bereich der nicht-kognitiven Symptome Enthemmung, Agitiertheit und Aggression für die Angehörigen am meisten belastend sind. Als am wenigsten belastend wurden ein Wechsel der Essgewohnheiten sowie euphorische Stimmungen angegeben. (vgl. Schäufele et al. 2005, 109). Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, „dass in deutschen Privathaushalten in erheblichem Umfang demenziell Erkrankte mit schweren und belastenden Verhaltensauffälligkeiten betreut werden“ (ebd., 111). Symptome wie Verfolgungswahn oder Halluzinationen können konfliktgenerierend wirken, da oftmals die Betreuungspersonen bzw. Angehörigen verdächtigt werden, z. B. Gegenstände eigenmächtig entfernt zu haben. Die fehlende Krankheitseinsicht erschwert die Konfliktlösung (vgl. BMFSFJ 2002, 172). Erheblich verunsichernd wirkt sich der schleichende, nicht eindeutige Krankheitsbeginn aus. Wie in Kapitel 1.1. erwähnt, können die frühen Symptome einer Demenz oftmals schwer von anderen leichten kognitiven Einbußen unterschieden werden. So ergeben sich nicht nur erhebliche Unsicherheiten in der Selbstwahrnehmung betroffener älterer Menschen, sondern auch in der Fremdwahrnehmung durch Angehörige von Erkrankten. Auch Abwehrmechanismen der Familienmitglieder gegenüber der Diagnose dieser ernsten und unheilbaren Krankheit erschweren eine frühzeitige Diagnose mit immanenter Verhaltenssicherheit (vgl. Weyerer 2005, 16).
50
Pflegende Angehörige berichten häufig von eigenen Beschwerden wie z. Bs. von Gliederschmerzen oder von Herz- und Magenproblemen. Auch sind negative Auswirkungen auf das Immunsystem von pflegenden Angehörigen bis zu drei Jahre nach Beendigung der Pflegesituation noch nachweisbar, wie die Ergebnisse einer Studie in den USA aufgezeigt haben (vgl. Glaser/Glaser 2003, zit. in: Kuba 2006, 3). In einer Untersuchung von Da Roza Davis und Cowen aus Großbritannien wurde bei pflegenden Angehörigen von Demenzkranken anhand der Befunde ein deutlich erhöhtes Risiko, an einer Depression zu erkranken, ermittelt (vgl. Da Roza Davis/Cowen 2001, 1475). Die folgende Tabelle nach Gräßel zeigt die Auswirkungen der vorhandenen Belastung durch eine Pflege von Demenzkranken auf die Angehörigen: Tabelle 10:
Auswirkungen vorhandener Belastungen auf die Angehörigen
Items, in denen sich bei mehr als der Hälfte der Pflegepersonen von Demenzkranken Belastetsein ausdrückt – nach abnehmendem Zustimmungsgrad geordnet Items In % Zu wenig Zeit für eigene Interessen 84,6 Pflege kostet viel Kraft 84,1 Traurigkeit über das Schicksal der gepflegten Person 79,3 Wunsch nach Ausspannung 76,4 Körperliche Erschöpfung 65,3 Außerhalb der Pflegesituation nicht abschalten können 65,8 Morgendliche Unausgeschlafenheit 63,2 Erschwerte Bewältigung pflegeunabhängiger Aufgaben 63,2 Aufgabe von eigenen Zukunftsplänen aufgrund der Pflege 58,3 Wunsch aus der Pflegesituation auszubrechen 57,2 Quelle: Gräßel 1998, zit. in: Naegele/Reichert 2001) [Auszug aus der Originaltabelle] Im Zusammenhang mit den geschilderten Belastungsphänomenen ist im 4. Altenbericht von der Schwierigkeit pflegender Angehöriger von Demenzkranken, eigene Bedürfnisse wahrzunehmen und zu artikulieren, die Rede. Die Autoren gehen teilweise von einer „mangelnden emotionalen Autonomie gegenüber den Pflegebedürftigen“ (BMFSFJ 2002, 202) aus.
51
Dass eklatante Überforderungen zu einer Gefährdungssituation für Erkrankte beitragen können, zeigt eine Untersuchung zur Gewalt27 gegenüber demenzkranken Menschen. Innerhalb einer Längsschnittstudie zur Belastung pflegender Angehöriger demenziell Erkrankter wurde ein spezieller Kurzfragebogen mit sieben Items zum Thema Gewalt beigefügt. Bei den drei Gewaltitems: „Mir rutschen meinem Angehörigen gegenüber abfällige Bemerkungen heraus, [...] ich drohe meinem Angehörigen oder schüchtere ihn ein [und] ich fasse meinen Angehörigen bei der Pflege schon mal härter an“ (Thoma et al. 2004, 350) gaben 68 % der 888 Probanden an, entweder einmal oder öfters in den letzten zwei Wochen eine Form der Gewalt angewendet zu haben. Dagegen können nach der Studie „Demenzielle Erkrankungen bei älteren Menschen in Privathaushalten: Potenziale und Grenzen“28 (BMFSFJ 2006a, 7) 80 % der 151 Pflegesettings bei Demenzerkrankten als „stabile häusliche Versorgungsarrangements“ (ebd., 9) eingeschätzt werden, bei denen die Hilfebedarfe gedeckt und die hauptverantwortlichen Pflegepersonen nicht überlastet schienen. Auch war eine baldige Heimübersiedlung zum Zeitpunkt der Erhebung weder geplant noch wahrscheinlich. In nahezu der Hälfte aller Fälle besteht komplementäre Unterstützung durch professionelle Dienste oder privat bezahlte Hilfen. Die subjektive Belastung der Angehörigen stieg dabei mit dem Grad der Ausprägung von nicht-kognitiven Symptomen. Belastungsmindernd wurde die Unterstützung aus dem sozialen Umfeld erlebt. Männliche Pflegende zeigten eine signifikant geringere depressive Symptomatik als weibliche Pflegende und waren im Durchschnitt emotional wesentlich weniger belastet (vgl. ebd., 9). Spezifische interkulturelle Problemlagen können bei Pflegesettings im Kontext mit Demenz bei Familien mit Migrationshintergrund auftreten. Fachleute berichten beispielsweise von Fällen, in denen aufgrund fehlenden Wissens Menschen mit Demenz als solche gelten, „die Allah bestraft habe“ (Stiftung Wohlfahrtspflege NRW 2004, 4). Es gehört daher zum Tätigkeitsspektrum der „Fachstelle für an Demenz erkrankte Migranten und Migrantinnen und deren Angehörige“ (ebd.) auf die Präsenz einer neurologisch diagnostizierbaren Er27
28
52
Aufgrund der Varianz der Definitionen von Gewalt ist die Vergleichbarkeit der einzelnen Studien erschwert. Backes und Clemens zitieren Eastman, der unter Gewalt gegenüber älteren Menschen „die systematische, körperliche, emotionale oder finanzielle Misshandlung einer älteren Person durch einen pflegenden Angehörigen“ (Eastman, zit. in Backes/Clemens 1998, 233) versteht. Häufig wird zwischen der aktiven Form ‚Misshandlung’ und der passiven Form ‚Vernachlässigung’ unterschieden (vgl. ebd.). Es handelt sich um eine Teilstudie von: „Möglichkeiten und Grenzen selbstständiger Lebensführung in Privathaushalten (MuG III)“ (zit. In: BMFSFJ 2006a, 7).
krankung hinzuweisen und die Akzeptanz dieser und weiterer psychiatrischer Krankheitsbilder zu erhöhen (vgl. Stiftung Wohlfahrtspflege NRW 2004, 4). Generell bilden pflegende Familienangehörige trotz der erheblichen Anforderungen, denen sie ausgesetzt sind, für die Erkrankten eine bedeutende Unterstützungsressource mit einem breiten Spektrum an Kompetenzen (vgl. BMFSFJ 2002, 202). 1.3.4
Zur Nichtinanspruchnahme von Entlastungsangeboten
Trotz des vergleichsweise hohen Belastungsgrades zeigen Studien eine verhältnismäßig geringe Inanspruchnahme professioneller Hilfen. Etwa 17 % der Angehörigen pflegen ohne jede Form der Unterstützung. Auch die beim Vorliegen einer Demenz besonders empfohlene Tagespflege wird nur von weniger als 10 % der Familien genutzt, was allerdings im Zusammenhang mit einem ungenügenden Versorgungsangebot, gerade in ländlichen Bereichen, gesehen werden muss (vgl. Koeppe et al. 2003, 38f). Der 5. Altenbericht weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass insbesondere beim Vorliegen einer Demenz ein Hinzuziehen externer Hilfen von Angehörigen als das Eingeständnis eines persönlichen Scheiterns gewertet werden kann (vgl. BMFSFJ 2005a, 318). Als weiterer Hinderungsgrund zur Einbindung professioneller Hilfen wirken normative Einstellungsmuster, beispielsweise mit dem Inhalt, dass es sich bei häuslicher Pflege exklusiv um eine Familienangelegenheit handele. Gerade in ländlichen Regionen scheint dabei die Sorge vor der ‚Einmischung’ Fremder und dem Verlust eigener Kontrolle über die Situation ausgeprägt zu sein. Teilweise werden enge Zeitkorridore von professionellen Pflegediensten bemängelt und Einsätze faktisch nicht als Entlastung empfunden. Finanzielle Aspekte werden zu einem geringeren Prozentsatz genannt (vgl. BMFSFJ 2002, 204). Jansen weist auf möglicherweise problematische Einstellungen bei älteren Pflegepersonen hin, die „schicksalsergeben die Sorge- und Pflegearbeit als ureigenes Privatproblem“ (Jansen 1999, 609) ansehen. Auch Lasch beschreibt die unzureichende Wahrnehmung legitimer Ansprüche auf Unterstützung bei pflegenden Angehörigen. Ihrer Meinung nach könnte ein bislang ungenügend geführter gesamtgesellschaftlicher Diskurs über den hohen Stellenwert von Angehörigenpflege zu einer selbstbewussteren Inanspruchnahme nötiger Entlastungsangebote führen (vgl. Lasch 2005, 13).
53
Die Schnittstelle von informeller und professioneller Pflege bedarf dabei generell einer verstärkten Klärung, da zum einen vonseiten professioneller Kräfte der Wert der ‚Laienpflege’29 häufig unterschätzt und dabei ignoriert wird, „dass ein Großteil der pflegenden Angehörigen sich für ihre Pflegeaufgaben hervorragend qualifiziert haben“ (BMFSFJ 2002, 205). Zum anderen haben, wie bereits aufgezeigt wurde, gerade Frauen häufig ein Legitimationsproblem, wenn sie externe professionelle Dienste mit vermeintlichen Familienaufgaben beauftragen. Das Dilemma der Wertschätzung von ‚Laienarbeit’ bei gleichzeitigem Rezipieren der Charakteristika und Qualität professioneller Arbeit resultiert auch aus der Bedeutungsverschiebung familialer Arbeit und existiert sowohl auf der mikrosozialen als auch auf der gesellschaftlichen Ebene (vgl. ebd.)30. 1.3.5
Positive Effekte
Das Handlungsfeld Pflege an sich indiziert nicht automatisch ein Belastungserleben, sondern dieses stellt sich im Kontext individueller Begleitumstände sowie der subjektiven Bewertung dieser Faktoren ein. Eine Vielzahl nationaler und internationaler Studien zum Thema der häuslichen Pflege sind den Belastungen der familialen Pflegepersonen gewidmet und basieren auf einem „stress/coping paradigm“ (Farran et al. 1991, 483) bzw. einer Stresstheorie. Stress und Belastung im Allgemeinen sowie speziell bezogen auf die informelle Pflege werden in den einzelnen Forschungsbeiträgen unterschiedlich konzeptionalisiert und gemessen. In der Regel werden subjektive und objektive Belastungen dabei differenziert betrachtet bzw. zwischen ‚burden’ und ‚impact’ unterschieden. ‚Caregiving burden’ bezeichnet die subjektiv erlebten Belastungen u. a. in Form von Einstellungen und emotionalen Reaktionen, wohingegen mit ‚impact’ z. B. die Veränderungen finanzieller Art, bei der Berufstätigkeit und der Reduzierung sozialer Netze bezeichnet werden. Einen zentralen Stellenwert für die Entstehung von Stress haben die kognitiven Bewertungen des Erlebten. Ereignisse können von den Pflegenden z. B. nach Lazarus et al. als Herausforderung oder als Bedrohung 29
30
54
Familiale Pflege kann als Laienpflege eingestuft werden, da die Übernahme dieser Aufgabe nicht vom Vorliegen einer pflegerischen Ausbildung abhängt. Nähere Ausführungen zum Begriff der ‚Laienpflege’ in: Stark, W.; Trojan, A. (1996): Laiensystem und Selbsthilfe – Bedeutung und Perspektiven im Rahmen von Public Health. In: Public Health Forum, 13, 1996, S. 4ff Hierauf wird im Kapitel 3.1 ausführlicher eingegangen.
bewertet werden (vgl. Lazarus et al, zit. in: Franke 2006, 137). Lawton et al. unterscheiden zwei Dimensionen der Bewertung: Belastung bzw. ‚caregiving burden’ oder Zufriedenheit bzw. ‚caregiving satisfaction’. Letzteres repräsentiert die aufgrund positiver Aspekte als subjektiv erfahrenen Gewinne der Pflegenden (vgl. ebd., 141). Auch Pearlin et al. betonen bei einem Modell zur Pflege im Kontext von Demenz die Bedeutung der subjektiven Bewertung von Geschehnissen sowie den Prozesscharakter von Bewertung und Bewältigung belastender Pflegesettings 31 (vgl. ebd. 144). Zu den Kernaussagen dieser unterschiedlich konzeptualisierten Modelle gehört somit der herausragende Stellenwert der subjektiven Bewertung von Geschehnissen bzw. belastenden Faktoren mit der impliziten Option, Ereignisse auch positiv zu bewerten. In jüngster Zeit wird u. a. auch daher kritisch hinterfragt, ob in einigen Studien zur Erfassung von Belastungen pflegender Angehöriger nicht zu eindimensional der Blick auf belastende Aspekte gelegt wurde (vgl. Szinovacz 2003, 447). Auch Koeppe et al. betonen, dass positive Erfahrungen häufig übersehen werden, und Pflegende nicht einseitig als „Leidende“ (Koeppe et al. 2003, 39) deskribiert werden sollten. Die Autoren betonen, dass einige der pflegenden Angehörigen diese Phase als „eine der inhaltsreichsten und intensivsten ihres Lebens“ (ebd., 39) beschreiben, die sie oftmals als Gewinn für ihre Person bilanzieren. Die Gründe für eine positive Bewertung der Pflege werden in der folgenden Tabelle aufgeführt. Tabelle 11:
Positive Aspekte der Pflege für Angehörige
Positive Aspekte x Reziprozität: Früher Erhaltenes zurück geben zu können x Erfahren einer sinnvollen Tätigkeit x Dank und Anerkennung sowohl von den Pflegebedürftigen als auch aus dem sozialen Umfeld x Vorbeugung eines potenziellen schlechten Gewissens x Verbesserungen oder Erhalt des Gesundheitszustandes zu erwirken
31
Ausführliche Angaben zu den drei Stress-Modellen in: Lazarus, Richard; Folkman, Susan (1984): Stress, Appraisal and Coping. New York. / Lawton, Powell M. et al: A two-factor model of caregiving appraisal and psychological well-being. In: Journal of Gerontology, Psychological Sciences, 46, 181 – 189. / Pearlin Leonard I. et al. (1990): Caregiving and the stress process: an overview of concepts and their measures. In: The Gerontologist, 30 (5), 583 – 594.
55
x
Emotionale Nähe und positiv veränderte Beziehungen zu den Erkrankten x Finanzielle Zuwendungen von den Pflegebedürftigen oder aus Leistungen der Pflegeversicherung Quelle: vgl. Koeppe et al. 2003, 39 Diese in Anlehnung an Koeppe et al. aufgeführten Aspekte verdeutlichen die Relevanz von Beziehungsaspekten, beispielsweise wenn eine positive Beziehung oder die Reziprozität von Hilfetransfers genannt werden. Darüber hinaus werden leistungsrelevante Elemente genannt, wie die erwirkten positiven Effekte auf den Gesundheitszustand. Intrapersonale Prozesse beim Erfahren Sinn stiftender Aktivitäten tragen ebenso zu einer positiven Bewertung bei. In einer Studie mit 888 Pflege leistenden Personen von Leipold et al. wurde nach „Prädiktoren von Persönlichkeitswachstum bei pflegenden Angehörigen demenziell Erkrankter“ (ebd., 227) gefragt. Dabei wurden als Items die subjektive Einschätzung persönlichen Wachstums, die Pflegeaufgaben, die Verhaltensprobleme bei den Erkrankten, der Verlust der gewohnten Beziehung, die persönlichen Einschränkungen, die negative Bilanzierung eigener Pflegeleistung, die fehlende soziale Anerkennung und die finanziellen Einschränkungen erhoben. Die Ergebnisse zeigen, dass u. a. die pflegerischen Aufgaben in einem hohen Maße mit dem eigenen Persönlichkeitswachstum verbunden sind. Die negative Selbsteinschätzung der eigenen pflegerischen Leistung ist hingegen mit einer geringeren Ausprägung des Persönlichkeitswachstums korreliert. Die Dauer der Pflege ist als Prädiktor ebenfalls von Bedeutung, da die Kurve des zunehmenden Persönlichkeitswachstums über die ersten fünf Jahre ansteigt und erst dann langsam wieder abflacht. Die Autoren schlussfolgern daher: „Schwierige Lebenssituationen wie die Pflege eines demenziell Erkrankten werden als belastend erlebt, haben aber gleichzeitig das Potenzial zur Förderung des Wissens über sich selbst“ (Leipold et al. 2006, 231).
Als intrapersonaler Prozess kann z. B. ein allgemeiner Lebensrückblick für Persönlichkeitswachstum von pflegenden Angehörigen verantwortlich sein, da lange schwere Lebensphasen kritisch-reflexive Auseinandersetzungen initiieren können. Einen positiven Zusammenhang mit „pflegebedingtem Persönlichkeitswachstum“ (ebd., 227) weist auch ein Mangel an sozialer Anerkennung auf. Insgesamt zeigen die Befunde einen relevanten Stellenwert von kritischen und belastenden Erlebnissen bei dem Prozess des individuellen Persönlichkeitswachstums (vgl., ebd.). 56
Pflegeaufgaben werden auch im 2. Altenbericht als Handlungsfelder für die Genese und die Förderung sozialer Kompetenzen in Erwägung gezogen. Möglicherweise trifft dieser Gesichtspunkt besonders bei männlichen Ehepartnern zu, beispielsweise weil es innerhalb des Berufslebens nicht möglich war, fürsorgliche Elemente in einem ausreichenden Maße zu integrieren (vgl. BMFSFJ 2002, 194). Um gezielt positive Effekte der familialen Pflege zu erfassen, bedarf es weiterer qualitativer Studien. Butcher et al. konstatieren, die Mehrzahl der Studien im Bereich familialer Pflege habe ein quantitatives Forschungsdesign mit standardisierten psychometrischen Instrumenten wie Depressions-, Angstoder Belastungsskalen für pflegende Angehörige. Trotz der Vielzahl an Erhebungen vermissen sie ein tiefer gehendes Verständnis bezogen auf das Wesen und die Art der Erfahrungen, die innerhalb der familialen Pflege gemacht werden: „Despite the considerable magnitude of caregiver research, there remains a lack of in-depth understanding of the nature and essence of the family ADRD32 caregiver experience grounded in the experiences and perceptions of caregivers themselves” (Butcher et al. 2001, 35).
Um die subjektive Perspektive der pflegenden Angehörigen in ihrer Gesamtheit zu erfassen, sind daher nach Meinung der Autoren insbesondere qualitative Forschungsdesigns vonnöten (vgl. ebd., 33ff).
1.4
Belastungsprävention
1.4.1
Strategien zur Belastungsprävention
Pflegende Angehörige entwickeln individuelle Varianten im Umgang mit den pflegebedingten Belastungen. Beispielsweise sinken nach längerer Pflegedauer die gemessenen Depressionswerte und der Grad der subjektiv erlebten Belastung, sodass von einem Lernprozess im Pflegegeschehen, welcher zu einer Bewältigung beiträgt, ausgegangen werden kann (vgl. BMFSFJ 2002,199). 32
ADRD steht als Abkürzung für „Alzheimer’s disease and related dementias“ (Butcher et al. 2001, 33).
57
Bei (Ehe-)Partnern von Pflegebedürftigen sind geschlechterspezifische Bewältigungsformen erkennbar. Frauen zeigen dabei einen eher passiven und Männer einen tendenziell aktiven Coping-Stil, wobei Männer in höherem Maße dazu bereit sind, instrumentelle Unterstützungsangebote in Anspruch zu nehmen. Andererseits berichten zwei Drittel der Ehefrauen vom Erhalt externer emotionaler Unterstützung, was nur bei der Hälfte der Ehemänner der Fall ist (vgl. ebd.). Grundsätzlich wird von pflegenden Familienangehörigen die Beibehaltung getrennter Haushalte als wesentlicher belastungspräventiver Faktor bewertet. Darüber hinaus werden auch diverse professionelle Hilfen, wie z. B. pflegerische, als entlastend genannt. Aber auch hauswirtschaftliche Unterstützung und architektonische Veränderungen gehören zu den Coping-Strategien (vgl. ebd.). Erwerbstätigkeit wird teilweise als Ausgleich zur Pflegesituation empfunden und mit dem subjektiven Erleben von Unabhängigkeit und eigener Kontrolle über das Leben verbunden. Allerdings sind auch negative Aspekte mit Erwerbstätigkeit konnotiert: Zur strukturellen Problematik der Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Pflege und den damit verbundenen verminderten Aufstiegschancen und Verdiensteinbußen bei einer Stundenreduzierung werden zusätzlich mangelndes Verständnis und fehlende Kooperation am Arbeitsplatz genannt (vgl. ebd., 200). Die Familie kann für Pflegepersonen ein Faktor sein, der zur Belastungsprävention beiträgt, was zahlreiche Studien hervorheben. An dieser Stelle soll dabei auf die Rolle von (Ehe-)Partnern eingegangen werden, der Stellenwert der jungen Generation wird im Kapitel 3 dargestellt. Die Rolle des Ehemannes wird dabei vielschichtig beschrieben. Einerseits berichtet eine große Anzahl pflegender Frauen von Eheproblemen, andererseits ist der männliche Partner oftmals die einzige Vertrauensperson, die emotionale Unterstützung gewährt. Häufig bewahrt dieser mit seinem Veto seine Partnerin vor eigener Überforderung, zumal Frauen häufiger Probleme haben, die Grenzen der eigenen Ressourcen zu erkennen. Studien belegen die Relevanz des Familienstandes: Verheirate Frauen haben im Vergleich mit ledigen, geschiedenen, getrennt lebenden und verwitweten Frauen das höchste Wohlbefinden, die meisten helfenden Personen und das größte Familieneinkommen. Sie beurteilen ihr Familienleben und ihre freundschaftlichen Beziehungen positiver als nicht verheiratete (vgl. BMFSFJ 2002, 200). Auch das weitere soziale Umfeld hat unter Umständen eine belastungspräventive Funktion. Die Kontinuität außerfamilialer Beziehungen trägt maßgeblich zum Wohlbefinden von informellen Pflegepersonen bei, und eine Reduzierung freundschaftlicher Kontakte wird von ihnen als Verlust erlebt (vgl. BMFSFJ 2002, 201). In einer Studie, in der anhand einer vorgegebenen Liste mit 38 Bewältigungsstrategien diejenigen ermittelt wurden, die als hilfreich bewertet wurden, 58
rangieren die Aussagen ‚mit einer Vertrauensperson über die Probleme reden’, ‚sich eigene Freizeit gönnen’, ‚mit Humor die Geschehnisse betrachten’, ‚der persönlichen Erfahrung und dem eigenen Expertentum vertrauen’ und ‚Interessen außerhalb der Pflegesituation bewahren’33 (vgl. Phillips 2002, zit. in: Barkholdt/Lasch 2004, 30). Dallinger untersuchte den Umgang von pflegenden Angehörigen mit der problematischen Vereinbarkeit von Pflege und Erwerbstätigkeit. Die qualitative Studie mit einem hermeneutischen Ansatz analysierte überindividuelle Wissensund Deutungsmuster und normative, emotionale und strategische Handlungslogiken. Die Ergebnisse zeigen u. a. die typischen Handlungs- und Deutungsmuster „Tendenz zu rationaler Lebensführung“ (Dallinger 1997, 286), „Typisierung als Entpflichtungsstrategie“ (ebd. 292) und die „begrenzte und unsichere Zeitperspektive“ (ebd., 295). Eine Tendenz zu rationaler Lebensführung entsteht, da die zeitlichen Anforderungen, die an eine erwerbstätige Pflegeperson gestellt werden, deutlich mit denen einer nicht berufstätigen kontrastieren. Eine Typisierung als Entpflichtungsstrategie bezeichnet einen Prozess, der insbesondere bei Pflegesituationen mit demenziell Erkrankten auftritt. Bei einer Veränderung der personalen Beziehung zur Pflegeperson durch abnehmende Interaktionsfähigkeiten findet eine Distanz schaffende Typisierung in Form von verallgemeinernden Äußerungen über ältere, kranke Menschen statt (vgl. ebd., 293f). Die begrenzte und unsichere Zeitperspektive ist ein handlungsleitender Faktor im intergenerationalen Hilfegeschehen, da die eigene, noch bleibende Lebensspanne bei einer zeitlich nicht abschätzbaren Pflegesituation ins Blickfeld rück (vgl. ebd., 297f). Beim Vergleich des Bewältigungsverhaltens von Männern und Frauen in der Rolle der Hauptpflegeperson ist die Datenlage nicht einheitlich. Ältere Männer realisieren die Pflegetätigkeiten anscheinend eher als Organisatoren denn als konkret Pflegende. Weiterhin liegt bei Männern eher als bei Frauen eine Tendenz des sozialen Rückzugs im Kontext mit Pflege vor (vgl. Jansen 1999, 618). In der Studie LEANDER waren bei den geschlechtsspezifischen Bewältigungsstrategien bezogen auf objektive Pflegeaufgaben „keine bedeutsamen Unterschiede zwischen den Geschlechtern erkennbar“ (Zank/Schacke o.Jg., 61). Beide Geschlechter scheinen gleichermaßen durch die krankheitsbedingten Verhaltensstörungen der Erkrankten belastet zu sein. 33
Im Original: „Talking over my problems with someone I trust. Keeping a little free time for myself. Seeing the funny side of the situation. Relying on my own experience and the expertise I have built up. Maintaining interests outside of caring” (Phillips, 2002, zit. in: Barkholdt/Lasch 2004, 30).
59
Aus Sicht des 4. Altenberichts befinden sich pflegende Männer u. a. auf dem Weg vom „materiellen Versorger“ (BMFSFJ 2002, 198) zum „körperlichen Fürsorger“ (ebd.). Dabei wird ihnen im Vergleich zu den Frauen ein „gesünderes“ (BMFSFJ 2002, 197) Verhalten durch die Fähigkeit zur Ablehnung überfordernder Aufgaben attestiert. Nach Hammer und Bartjes wahren sie „einen größeren inneren Abstand, setzten ihre Belastungsgrenzen früher, leisten seltener Schwerstpflege“ (Hammer/Bartjes 2005, 17) und können sich auch schneller zu einer Heimunterbringung entschließen. 1.4.2
Angebote zur Entlastung und Belastungsprävention im Bereich informeller Pflege
Professionelle Pflege und Pflege ergänzende Leistungen Im Rahmen der Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung stehen familialen Pflegepersonen verschiedene Dienstleistungen zur Verfügung. Beispielsweise die in Kapitel 1.1.4 bereits genannten Versorgungsangebote ‚ambulante Pflege’ und ‚teilstationäre Pflege’. Mitarbeiter häuslicher Pflegedienste wurden lange Zeit primär für die Versorgung körperlicher Erkrankungen ausgebildet, weshalb Weyerer auf dem Hintergrund einer zunehmenden Anzahl von Demenzkranken kritisch hinterfragt, inwieweit „sich Leistungsspektrum und Nutzerstruktur der ambulanten Pflegedienste“ (Weyerer 2005, 20) seit der Einführung der Pflegeversicherung verändert haben (vgl. ebd.). Auch im 4. Altenbericht wird betont, dass die Bedarfe in der häuslichen Pflege, und dabei insbesondere die Wissensvermittlung für familiale Pflegepersonen in Form von Beratung, in kritischen Beziehungssituationen weit über die in Kapitel 1.2.2 dargestellten Kerntätigkeiten im medizinisch-pflegerischen Bereich hinausgehen (vgl. BMFSFJ 2002, 203). Tagespflegeeinrichtungen sind, wie in Kapitel 1.1 beschrieben, nicht immer auf die Betreuungsbedarfe demenziell Erkrankter ausgerichtet. In einer ergänzenden Erhebung zu der Studie MuG III (vgl. Schneekloth 2006b) in sechs Regionen Deutschlands hatte lediglich die Hälfte der befragten Einrichtungen ein adäquates Konzept. Weiterhin besteht eine Korrelation zwischen fehlender Wohnortnähe und Nichtinanspruchnahme dieses Dienstleistungssegments (vgl. Engels/Pfeuffer 2005, 181). Wie in Kapitel 1.2.1 beschrieben, werden mit dem Pflegeleistungsergänzungsgesetz komplementäre qualitätsgesicherte Maßnahmen für Demenzkranke zur Entlastung pflegender Angehöriger finanziert. Die zugeteilten 460 Euro im Jahr beim Vorliegen einer Pflegestufe und einer Demenz gelten in Fachkreisen als „Tropfen auf den heißen Stein“ (Koeppe et al. 2003, 38). 60
Allerdings ermöglichen diese Mittel Zugänge zu neuen so genannten ‚niedrigschwelligen Angeboten’34 auf der Basis qualitätsgesicherter Einsätze von freiwillig Engagierten. Positive Erfahrungen wurden beispielsweise im Modellprojekt KOMPASS, einem mit Begleitforschung durchgeführten Bundes- und Landesmodellprojekt zur Qualifizierung Freiwilliger zur Entlastung in der Angehörigenpflege bei Demenz, gemacht. Für viele Angehörige hatten die ehrenamtlichen Helfer in diesem und in analogen Projekten neben der zeitlichen Entlastung z. B. auch die Funktion einer zusätzlichen Kontaktperson. Für einen erfolgreichen Einsatz sollten gegenseitige Erwartungen von Angehörigen und Freiwilligen artikuliert werden können und professionelle Praxisbegleitung gegeben sein (vgl. Philipp-Metzen 2006a, 81ff; exemplarisch für ähnliche Projekte: vgl. Gräßel/Schirmer 2006, 217ff). Es bleibt jedoch kritisch festzuhalten, dass, wie bereits erwähnt, die Finanzierung der oben genannten Unterstützungsangebote durch die Leistungen der Pflegekasse nur für Hilfebedürftige mit mindestens Pflegestufe I zur Verfügung stehen. Bedarfe außerhalb des an somatischen Krankheitsbildern orientierten Kriterienkanons werden von der gesetzlichen Pflegekasse nicht finanziert. Beratung Beratung und Informationsvermittlung für pflegende Angehörige bilden einen essenziellen Baustein für eine Belastungsprävention. Die Demenz als Krankheitsbild und ihr durchschnittlicher Verlauf sind dabei ebenso zentrale Themen wie die damit verbundenen speziellen Betreuungserfordernisse. Vor allen Dingen das Wissen um die Symptombedingtheit von Verhaltensauffälligkeiten kann Problemsituationen oder vermeidbaren Konflikten vorbeugen. Die verschiedenen Leistungen der Pflegeversicherung und ihre Beantragung sind ein weiterer Schwerpunkt von Beratungsgesprächen (vgl. Koeppe et al. 2003, 29f). Sowohl für die bewusste Entscheidung einer Pflegeübernahme als auch zur Prophylaxe von Überforderungssituationen sollte eine Beratung möglichst früh erfolgen. In der Regel bieten beispielsweise Beratungsstellen von Kommunen 34
Es handelt sich um die in Kapitel 1.2.2 erwähnten Maßnahmen nach §45b Abs. 1 Ziffer 4 SBG XI, welche zum Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz gehören und nach Landesrecht ausgestaltet werden. In der Regel werden wohnortnahe Betreuungsangebote in Gruppen oder Einzelbetreuungen in der privaten Häuslichkeit durchgeführt. Zu den Voraussetzungen einer Anerkennung als niedrigschwelliges Betreuungs- und Hilfeangebot gehören neben dem Einsatz einer verantwortlichen Fachkraft Qualifizierungsmaßnahmen für die „ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer“ (HBPfVO 2003, §3 Abs. 2 Ziffer2).
61
und Wohlfahrtsverbänden für die pflegenden Angehörigen kostenlose Beratungsleistungen an. Haus- und Fachärzten kommt bei der Informationsvermittlung im Kontext von Demenz ein signifikanter Stellenwert zu, jedoch werden hier Beratungsaufgaben noch nicht im vollen Umfang wahrgenommen (vgl. Koeppe et al. 2003, 29f). Milieuspezifische Studien machen deutlich, dass im Bereich familialer Pflege in der Regel deutliche Informationsdefizite und dringende Bedarfe an Beratung bestehen, um legitime Ansprüche zu erkennen und geltend machen zu können. Diese Ausgangssituation trifft auf Pflegesettings aus allen Milieus, außer jenen mit deutlich größeren finanziellen und sozial-kulturellen Ressourcen, zu (vgl. Heusinger 2006, 422). Ambulante Pflegedienste können im Rahmen der Pflegeversicherung Einsätze nach §37 Abs. 3 SGB XI zur Kontrolle der Pflegequalität der Angehörigen und zu ihrer Beratung durchführen. Hier öffnet sich für Pflegeberufe ein neues Handlungsfeld, das noch der weiteren Ausgestaltung bedarf (vgl. Büker 2005, 12). Psychoedukative Programme und Selbsthilfegruppen Das Pflegeversicherungsgesetz bietet verschiedenen Trägern, beispielsweise ambulanten Pflegediensten, Krankenkassen und Wohlfahrtsverbänden, die Möglichkeit, Pflegekurse durchzuführen35. Bislang nehmen jedoch nur ca. 10 bis 12 % der Angehörigen diese Schulungsangebote wahr (vgl. Büker 2005, 12). Hier liegt noch Präventionspotenzial vor, da internationale Studien durch Interventionsprogramme mit dem Element ‚Schulung’ eine statistisch signifikante Verzögerungen der Heimunterbringung belegen konnten. In der Regel umfassen dabei die durchgeführten Interventionen psychosoziale, edukative und lebenspraktische Aspekte, wobei auch das Element Beratung im Leistungsspektrum integriert ist. In einer US-amerikanischen Studie von Mittelman et al. sind etwa doppelt so viele Demenzkranke aus der Kontrollgruppe in ein Heim umgezogen wie aus der dazugehörenden Experimentalgruppe. Auch weitere internationale Studien deuten positive Effekte an, wobei die Evaluation der Maßnahme durch eine Bewertung separater Faktoren, wie z. B. der Vermittlung
35
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Hierzu sind in jüngster Zeit diverse Unterrichtsmaterialien entwickelt worden, beispielsweise eine Schulungsreihe der Deutschen Alzheimer Gesellschaft (vgl. Deutsche Alzheimer Gesellschaft e.V./Janssen-Cilag 2002).
von krankheitsbezogenem Wissen, schwierig zu erreichen ist36. Weiterhin bewerten Angehörige einen Erfahrungsaustausch in Selbsthilfegruppen, beispielsweise bei den regionalen Alzheimer Gesellschaften, als positives Angebot (vgl. Kurz et al. 2005, 264). Eine Studie von Hepburn et al. zeigt nach einem mehrwöchigen Gruppentraining u. a. signifikante positive Veränderungen im Bereich des Umgangs mit Verhaltensproblemen der Kranken und des selbst wahrgenommenen Grads der Belastung. Das Programm beinhaltet sowohl Elemente der Wissensvermittlung über die Krankheit als auch strategische Handlungsempfehlungen basierend auf dem Paradigma, dass pflegende Angehörige aus einer distanzierten und tendenziell ‚professionellen’ Sicht effektiver sich selber und dem Pflegebedürftigen gerecht werden können (vgl. Hepburn et al. 2001, 450ff). Der 4. Altenbericht widmet Selbsthilfegruppen im Zusammenhang mit der Krankheit Demenz ein eigenes Kapitel, in dem es heißt: „Selbsthilfegruppen, allen voran Alzheimer Gesellschaften, leisten die wichtigste informelle Unterstützung für pflegende Angehörige demenzkranker Menschen“ (BMFSFJ 2002, 212). Einerseits werden von Alzheimer Gesellschaften die Interessen der Kranken und der Pflegenden vertreten, anderseits auch konkrete entlastende Angebote für beide Zielgruppen bereitgehalten, wobei der formale Organisationsgrad und die Handlungsebene einer Gruppe differieren, Letzteres reicht von der lokalen bis zur Bundesebene. Neben Gesprächskreisen für pflegende Angehörige sind vor allem auch die niedrigschwelligen und kostengünstigen Betreuungsangebote zur Entlastung der Pflegenden, wie beispielsweise Alzheimercafés oder ambulante Freiwilligendienste, bewährte Interventionen (vgl. ebd., 212ff). Meta-Analyse von Interventionsstudien Wahl und Schneekloth berichten von Ergebnissen einer Meta-Analyse von 78 Interventionsstudien zur Steigerung des psychophysischen Wohlbefindens bei pflegenden Angehörigen, wobei deutlich wird, dass bei psychotherapeutischen bzw. psychoedukativ orientierten Interventionen die besten positiven Effekte eintreten. Allerdings trifft dies nicht im gleichen Maße auf Angehörige von 36
Der methodische Mix aus einzelnen Elementen, wie beispielsweise ein Erfahrungsaustausch mit anderen Angehörigen in Kombination mit verhaltenstherapeutischen Techniken, kommt zwar den Bedürfnissen der Teilnehmer entgegen, erschwert jedoch die empirische Überprüfung (vgl. Kurz et al. 2005, 264).
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demenziell Erkrankten zu, wo insgesamt nur geringere Steigerungen zu verzeichnen sind. Als besonders effektiv erweisen sich Interventionskombinationen. So ergab die nordamerikanische Multi-Center-Studie REACH, dass Beratungsangebote in Verbindung mit Wohnraumanpassung zu positiven Effekten führten (vgl. Wahl/Schneekloth 2005, 40). Da die Verhaltensprobleme der Demenzkranken einen relevanten Belastungsfaktor darstellen, kann die Reduktion von Verhaltensauffälligkeiten als potenziell belastungsmindernd eingeschätzt werden. Eine Meta-Analyse von 1.632 Studien zum Umgang mit neuropsychiatrischen Symptomen bei Demenz zeigte insbesondere bei der Schulung der informell und professionell Pflegenden eine erfolgreiche und nachhaltige Reduktion von Verhaltensproblemen der Kranken (vgl. Livingston et al. 2005, 1996ff). Wohngemeinschaften Zu den neueren Versorgungsformen gehören, wie bereits beschrieben, die Wohngruppen für demenziell Erkrankte. Reggentin hat Belastungen von pflegenden Angehörigen in Zusammenhang mit den drei Versorgungsvarianten ‚ambulante Pflegedienste mit Tagespflege’, ‚stationäre Versorgung’ und (dem) ‚Aufenthalt in einer ambulanten Wohngruppe’ ermittelt. Einbezogen wurden 168 ambulant pflegende Angehörige, 116 Angehörige von einem Demenzerkrankten mit stationärer Versorgung und 30 Angehörige von Pflegebedürftigen in sieben Wohngruppen für Menschen mit Demenz. Die Befunde zeigen die höchste Belastung bei den ambulant Pflegenden, wobei jedoch auch beide außerhäuslichen Versorgungsformen für Angehörige mit einem Belastungserleben korreliert sind. Als Ursache für eine anhaltende Belastung trotz der Beendigung des häuslichen Pflegesettings wird von der Autorin die Trennung von dem vormals häuslich gepflegten Familienmitglied in Erwägung gezogen, wovon besonders ältere Frauen und nicht berufstätige Pflegepersonen betroffen seien. Reggentin vermutet, dass der Belastungsabbau nach Beendigung eines häuslichen Pflegesettings „offenbar einige Jahre“ (Reggentin 2005, 106) braucht. Insgesamt wird die Versorgungsform ‚Wohngruppe’ mit dem Einbezug von Angehörigenunterstützung als diejenige mit der besten Akzeptanz und der wenigsten Belastung bewertet. Dies wird z. B. im Zusammenhang mit dem familienähnlichen Milieu und dem Verhalten der demenziell Erkrankten gesehen: „Die anregende Atmosphäre in Wohngruppen wird selbst in häuslicher Pflege häufig nicht erreicht. Das spürbare Interesse der Pflegebedürftigen an Alltags-
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geschehnissen liegt in den Wohngruppen höher als in anderen Versorgungsformen“ (ebd., 107).
Bei der Interpretation der Ergebnisse ist zu berücksichtigen, dass diese Wohnform offensichtlich von einer bestimmten Subgruppe von pflegenden Angehörigen präferiert wird, welche beispielsweise in der genannten Studie einen deutlich höheren Anteil an Männern und eine durchschnittlich höhere Schulbildung aufwies. Auch im oben bereits genannten Projekt „Netzwerk Wohngruppen für Menschen mit Demenz – Freiburger Modell” (BMFSFJ 2006a 27ff) wird den beteiligten pflegenden Angehörigen eine hohe Motivation attestiert. Diese redefinieren ihre Aufgabe, einen demenziell Erkrankten zu versorgen, unter Ausnutzung der gewonnenen Handlungsspielräume, was personenbezogene Tätigkeiten wie Spazierengehen ebenso wie organisatorische Aufgaben, z. B. im Kontext von Finanzierung, betrifft (vgl. ebd.). 1.4.3
Neuere Ansätze
Differenzierte Sichtweise von pflegenden Angehörigen Wie unter 1.3 dargestellt, ist die Forschung über pflegende Angehörige, ausgehend vom englischsprachigen Raum, mittlerweile mit einem breiten Spektrum von Studien vertreten. Jansen beschreibt den deutschen Forschungsdiskurs als einen, der nach einer Zeit der Negierung pflegender Angehöriger seinen Referenzpunkt innerhalb des Belastungsparadigmas hatte (vgl. Jansen 1999, 614f). Zahlreiche Studien dokumentieren kumulierte Belastungen in der häuslichen Pflege, und weisen somit auf die Grenzen der ambulanten Pflege sowie auf weitere Versorgungserfordernisse hin. Die Relevanz dieser Forschung wird als hoch betrachtet, das Risiko eines einseitigen Belastungsdiskurses liegt jedoch in einer partiell zu starken Akzentuierung der Opferrolle pflegender Angehöriger. Hierbei wurden nach Ansicht der Autorin durch die Betonung personaler Defizite in häuslichen Settings die Stärken und Kompetenzen informell Pflegender marginalisiert. In der Folge tendierten professionelle Kräfte dazu, pflegende Angehörige „fürsorglich zu klientifizieren“ (Jansen 1999, 614) und als Objekt (sozial-)pädagogischer Interventionen mit paternalistischem Habitus zu behandeln. Ungefähr seit dem Ende der 70er-Jahre hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden, durch welchen Fähigkeiten und Kompetenzen der Angehörigen stärker wahrgenommen und anerkannt wurden. Dieser Paradigmenwechsel wird zum einen in größerem Ausmaß dem Selbstbild pflegender 65
Angehöriger gerecht, welche ihre eigenen Kompetenzen häufig als sehr hoch einschätzen. Zum anderen entspricht er sozialpolitischen bzw. volkswirtschaftlichen Interessen, beispielsweise wenn familiale Pflege im SGB XI als essenzielle Ressource innerhalb der Gesundheitsversorgung beschrieben wird. Parallel dazu entwickelte sich ein weiterer Diskurs, in dem u. a. die Transformation der Beziehungen von Kindern mit ihren alten, hilfebedürftigen Eltern u. a. hinsichtlich der psychodynamischen Auswirkungen thematisiert wird. Zusätzlich ist mittlerweile ein neuer Zugang zu familialen Pflegesettings entwickelt worden, der die Lebenswelten der Betroffenen, und somit die Phänomene des Alltags aus der Sicht der Akteure, fokussiert und wahrnimmt. Insgesamt hat sich ein stark differenziertes Bild von pflegenden Angehörigen herausgebildet (vgl. Jansen 1999, 614f). Einbezug der subjektiven Lebenswelten Pflegende werden somit zunehmend als heterogene Gruppe mit vielfältig differierenden Lebenswelten beschrieben: Nicht nur die unterschiedlichen Pflegebedarfe, auch das Geschlecht, das Alter, die Art und Größe des sozialen Netzes, die soziale Lage etc. führen zu interpersonal abweichenden Unterstützungswünschen und -prioritäten (vgl. Barkholdt/Lasch 2004, 30). Zunehmend wird in der Fachliteratur daher nicht nur eine infrastrukturelle Erweiterung der Versorgungsangebote sondern auch eine Modifizierung bestehender Interventionen auf der Basis eines neuen Bildes von Angehörigenpflege gefordert, was sich auf die „Möglichkeiten konsequenter Stützung der Selbstbestimmung und Kundenmacht gepflegter und pflegender Menschen“ (Jansen 1999, 608) bezieht. Hierbei wird auch Potenzial zur Optimierung der Schnittstelle von professioneller und informeller Pflege gesehen, beispielsweise in Form einer Erhöhung der Inanspruchnahme professioneller Angebote. Eine stärkere Nutzung von Angeboten könnte z. B. durch eine generell bessere Wahrnehmung von strukturellen Differenzen zwischen den informellen und den formellen Unterstützungssystemen erreicht werden. Zemann nennt Interaktionsprobleme als eine Ursache der Schnittstellenproblematik. Er charakterisiert die Konsequenzen lebensweltlicher Deutungsmuster von Angehörigen im Nexus mit professionellen Interventionen folgendermaßen: „Eine typische Strategie der Minimierung von Störungen von lebensweltlicher Normalität durch Pflegebedürftigkeit ist die Begrenzung der kompensatorischen Interventionen (z. B. beruflicher Helfer), um ein Maximum der gewohnten Abläufe und Rahmenbedingungen zu erhalten.“ (Zemann 1997, 97).
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Durch einen verstärkten Einbezug subjektiver Sichtweisen können die familialen Alltagskontexte in ambulanten Pflegesettings stärker berücksichtigt und somit nach Ansicht von Fachleuten die Interaktionsprobleme reduziert werden. Setting Ansatz und Case Management Die Lebenswelt betroffener Erkrankter und ihrer Angehörigen steht ebenso im Zentrum des Setting-Ansatzes, welcher als Kernstrategie innerhalb einer Gesundheitsförderung37 nach der Ottawa Charta der WHO gesehen werden kann. Gemäß der Maxime „Gesundheit wird im Alltagskontext hergestellt“ (Kickbusch 2003, 187) wird der Zugang zu Betroffenen im Rahmen gesundheitsfördernder und Belastungen reduzierender, präventiver Maßnahmen innerhalb alltäglicher Lebensbereiche, d. h. den individuellen Lebenswelten, gesucht. Für pflegende Angehörige demenziell Erkrankter gelten dabei neuere Prinzipien des ‚Empowerments’ als präventives Moment zur Gesundheitserhaltung. ‚Empowerment’, ein originär englischer Begriff, dessen inhaltliche Bedeutung sich nicht leicht prägnant ins Deutsche übertragen lässt, kann mit “Stärken in einer Situation des Mangels“ (WHO 1986, zit. in: Lorenz-Krause 2006, 35) übersetzt werden. Das dieser Grundhaltung immanente Paradigma impliziert die Akzeptanz des Rechts auf Selbstbestimmung des Einzelnen sowie soziale Prozesse der Bürgerbeteiligung und die Erkenntnis einer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung, z. B. bezogen auf die Versorgung demenziell Erkrankter. Das einzelne Individuum wird speziell in einer Mangel- oder Krisensituation mit besonderen Anforderungen befähigt, eigene Stärken wahrzunehmen und Kompetenzen zu entwickeln (vgl. Lorenz-Krause 2006, 35; Bubolz-Lutz/Kricheldorff 2006, 52f). Die Relevanz einer Strategie des Empowerments übertragen auf die Situation pflegender Frauen wird im Abschlussbericht der Enquetekommission ‚Zukunft einer frauengerechten Gesundheitsversorgung in Nordrhein-Westfalen’ betont, wobei anhand eines österreichischen Projektes exemplarisch die positiven Effekte der Kombination von Versorgungsangeboten, Qualifizierungsmaßnahmen, Vernetzungen und einer ermutigenden Ansprache dargestellt werden (vgl. Landtag Nordrhein-Westfalen 2004, 291ff). 37
Gesundheitsförderung wird im hier vorliegenden fachlichen Kontext allgemein wie folgt definiert: „Gesundheitsförderung zielt darauf ab, die körperlichen und seelisch-geistigen Kräfte des Menschen und Gesundheit unterstützende Faktoren der Umwelt zu fördern, um Gesundheit und Wohlbefinden zu erhalten“ (BMG 2006, 40).
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Entwicklungen in Richtung des geschilderten Paradigmas betonen den freien Willen Angehöriger und deren bewusste und selbstverantwortlich gesteuerte Übernahme von privater Pflege, wie es z. B. die niederländische Organisation „Dutch Carer Association“ (vgl. Barkholdt/Lasch 2004, 30) fordert. Diese Grundhaltung ist als Zugangsstrategie zur Erreichung der Zielgruppen auch für das Gebiet der Gesundheitsberatung relevant, da diese auf die Lebenswelten, d. h. die subjektiven Relevanzen und Sinnsetzungen der Klientinnen und Klienten, eingehen muss, um zu Verhaltensänderungen zu führen (vgl. Brinkmann-Göbel 2005, 288f). Prozesse des Case Managements können dabei als neuere Formen der methodischen Ausgestaltung von einzelfallorien+tierter Vernetzungsarbeit gesehen werden. Ein Case Manager als Beratungs- und Koordinierungsinstanz hilft Angehörigen und Erkrankten, die Diskontinuitäten in der pflegerischen Versorgung zu überbrücken. Im Rahmen der Angehörigenberatung werden hierzu individuelle Präferenzen mit institutionellen Optionen abgeglichen und Hilfen vermittelt (vgl. BMFSFJ 2002, 311f)38. Auch hier bilden die familialen Alltagskontexte bzw. individuellen Lebenswelten die Referenzpunkte des Planens und Handelns. Die geschilderte Sichtweise mit den daraus folgenden Erweiterungen und Modifizierungen von Angeboten scheint geeignet, den multidimensionalen Anforderungen, die das Krankheitsbild Demenz sowohl an die Gesellschaft als auch an das Individuum stellt, gerecht zu werden. So fordert Jansen „neue Kulturen und Leitbilder des Helfens und Hilfeannehmens“ (Jansen 1999, 609), was eine umfassende gesellschaftliche Solidarität mit pflegebedürftigen Menschen und ihren Angehörigen impliziert.
1.5
Pflegebereitschaft und Pflegepotenziale
Im 4. Altenbericht werden bezogen auf die „Bereitschaft zur Übernahme der häuslichen Pflege durch Familienangehörige“ (BMFSFJ 2002, 194) zwei Aspekte berücksichtigt: die konkrete Verfügbarkeit von Angehörigen zur Ausübung von Pflegeleistungen, das sog. „familiale Pflegepotenzial“ (ebd.) und die 38
68
In der Regel gehören dabei die folgenden Elemente als Standards zu einem Case Management: Das ‚Assessment’ zur „Feststellung des Handlungsbedarfs“ (Wendt 1998, 11), das ‚Planing’ zum Aufstellen von Zielabsprachen, die Intervention mit begleitendem ‚Monitoring’ sowie eine „gemeinsame Evaluation“ (ebd.).
„normativen und motivationalen Grundlagen“ (ebd.) der potenziellen Pflegeerbringer. Beide Dimensionen sind neben den vorliegenden Pflegebedarfen wichtige sozialpolitische Planungsgrundlagen für die Entwicklung einer nachhaltigen Pflegeinfrastruktur. 1.5.1
Familiale Pflegebedarfe und -potenziale
Pflegebedarfe Die zukünftige Verfügbarkeit familialer Pflege steht im Zusammenhang mit den strukturellen Veränderungen in Familie und Gesellschaft. Durch die gestiegene durchschnittliche Lebenserwartung kann davon ausgegangen werden, dass Hilfe- oder Pflegebedürftigkeit zu einem Regelfall im familialen Geschehen wird39. Gesamtgesellschaftlich muss mit einer Zunahme von Multimorbidität und chronisch-progredienten Erkrankungen gerechnet werden, wobei Demenzen hierbei eine besondere Relevanz haben (vgl. BMFSFJ 2002, 194). Die EnqueteKommission ‚Demographischer Wandel’ führt aus, dass quantitative Angaben zum zukünftigen Pflegebedarf dadurch erschwert werden, dass die Zusammenhänge von Alter, Krankheit und Tod mit dem demografischen Wandel noch nicht eindeutig geklärt sind und bei dem Nexus von Morbidität und Mortalität verschiedene Varianzen empirische Wahrscheinlichkeiten abzubilden scheinen (vgl. Deutscher Bundestag 2002, 233). In diesem Zusammenhang wird konstatiert, „dass weder die Medikalisierungsthese noch die Kompressionsthese der Komplexität der realen Entwicklungen gerecht wird“ (Deutscher Bundestag 2002, 233)40. Die Kommission stellt daher verschiedene Modellrechnungen zum zukünftigen Pflegebedarf vor. Ausgehend von der Anzahl der Pflegebedürftigen41 von 1,86 Millionen im Jahr 2000 liegen die prognostizierten Zahlen für 39 40
41
Nähere Ausführungen zu der gestiegenen gemeinsamen Lebenszeit von familialen Generationen erfolgen in Kapitel 2.3. Die Medikalisierungsthese basiert auf dem Szenario einer steigenden Gesamtmorbidität, z. B. aufgrund individuellen Fehlverhaltens, und einer steigenden altersspezifischen Morbidität, u. a. aufgrund der verbesserten Chancen des Überlebens lebensbedrohlicher Erkrankungen sowie aufgrund zunehmender chronischer und funktionaler Beeinträchtigungen, z. B. durch Verschleißerkrankungen oder Demenz. Ein erhöhter Pflegebedarf mit steigenden Kosten sei zu erwarten. Die These der Kompression der Morbidität geht dagegen von der eher optimistischen Annahme aus, dass aufgrund des medizinischen Fortschritts eine Verlängerung der durchschnittlichen Lebenszeit mit einem altersmäßigen Aufschub und einer Verkürzung schwerwiegender Beeinträchtigungen einhergeht (vgl. Deutscher Bundestag 2002, 184). ‚Pflegebedürftigkeit’ wird hier nach der Legaldefinition des SGB XI festgelegt.
69
2040 je nach zugrunde liegender Morbiditätstheorie zwischen 2,59 Millionen und 3,26 Millionen. Weitere Vorausberechnungen ergeben Werte von 3,17 Millionen bis 5,88 Millionen Pflegebedürftige im Jahr 2050 (vgl. Deutscher Bundestag 2002, 234f). Auch im 7. Familienbericht wird ein steigender Pflegebedarf für möglich gehalten, aber ebenfalls nicht monokausal mit einer Zunahme der hochaltrigen Bevölkerung in Verbindung gebracht. Bei einer generell optimierten medizinischen Versorgung werden neue und pflegeintensive Erkrankungen wie z. B. AIDS als Risikofaktoren für eine Pflegebedürftigkeit gesehen (BMFSFJ 2005b, 168). Allerdings sollten Prognosen auch eine mögliche Einstellungsänderung nachfolgender Kohorten von Pflegebedürftigen und deren Auswirkungen auf die Bedarfsgrößen familialer Pflege einbeziehen. Neue Studien belegen, dass ehemalige pflegende Angehörige dazu tendieren, möglichst lange mit professionellen Arrangements ein von den Kindern autonomes Leben zu führen. Sind die Grenzen dieser Versorgungsform erreicht, wird im Anschluss ein Umzug in die stationäre Altenhilfe präferiert, „bevor sie den Kindern ‚zur Last fallen’“ (BMFSFJ 2005b, 169). Einigkeit besteht in der einschlägigen Literatur darüber, dass Demenzen als Krankheitsgruppe aufgrund des in Abschnitt 1.1 beschriebenen Verlaufs einen gravierenden Anteil am Gesamtaufkommen von Pflegebedürftigkeit haben (exemplarisch vgl. Pick et al. 2004, 49; Deutscher Bundestag 2002, 234). Pflegepotenziale Die These einer wachsenden Diskrepanz zwischen Pflegebedürftigkeit und Pflegepotenzial wird im 7. Familienbericht aufgrund eines steigenden Pflegebedarfs und einer abnehmenden Verfügbarkeit von Pflegenden gesehen. Ursache sind die im Umfang kleiner werdenden nachfolgenden Generationen, und die sich vergrößernde Divergenz zwischen der Anzahl alter und jüngerer Menschen, was unabhängig von einem konkreten Verwandtschaftverhältnis zu betrachten ist. Auch die Zunahme von Einpersonenhaushalten bei einer gleichzeitigen Abnahme von Mehrgenerationenhaushalten wird bei der Analyse gewichtet, jedoch wird dennoch von einem auch zukünftig relevanten „Feld familialer Zuwendung“ (BMFSFJ 2005b, 168) gesprochen. Auch wenn die Haushaltsgröße als Parameter für familiale Unterstützung kontrovers diskutiert wird42, werden Merkmale des strukturellen Wandels der 42
70
Hierauf wird ausführlich in Kapitel 2 eingegangen.
Familien, wie z. B. die sinkende Heiratsneigung, die gestiegene Scheidungsrate und die wachsende horizontale Mobilität als Barrieren zur Übernahme von privaten Unterstützungsleistungen gesehen. Auch geschlechterspezifische Bedingungsfaktoren, wie eine gestiegene Erwerbstätigkeit von Frauen und die problematische Vereinbarkeit von Pflege und Beruf, lassen eine geringere Verfügbarkeit von informeller Pflege erwarten (exemplarisch vgl. BMFSFJ 2002, 194; Dallinger 1997; Deutscher Bundestag 2002, 238). Als einer der einschlägigen Indikatoren gilt die so genannte „weibliche Pflegereserve“ (Deutscher Bundestag 2002, 239), womit das Verhältnis von Frauen im Alter von 45 bis 70 Jahre zur Gesamtzahl aller über 70-Jährigen dargestellt wird. Dieses Potenzial wird bis zum Jahr 2015 kaum noch zunehmen und darüber hinaus ab 2020 gravierend abnehmen. Als zusätzlicher Parameter zur Ermittlung des Pflegepotenzials wird die Kinderanzahl herangezogen: Im Jahr 2002 hatten 90 % aller ambulant betreuten Pflegebedürftigen eines oder mehrere Kinder, wobei dieser Wert bei jüngeren Pflegebedürftigen erheblich nach unten abweicht. Für die Zeit nach 2030 erwartet die Enquete-Kommission ‚Demographischer Wandel’ einen deutlichen Mangel an jüngeren pflegenden Angehörigen, sowie in den Jahren bis dahin eine Kumulation größerer Belastungen für die oftmals geschwisterlosen oder geschwisterarmen Kinder (ebd., 239). Auch im 5. Altenbericht wird auf ein potenzielles Szenario mit abnehmender familialer Pflegebereitschaft im Zuge der Pluralisierung der Familienformen und des demografischen Wandels hingewiesen. Dabei wird von einer Reduzierung der verfügbaren familialen Netze für ältere und hilfebedürftige Menschen in Zukunft ausgegangen. Während gegenwärtig ein großer Teil der Älteren in intergenerationellen familialen Strukturen lebt, gilt dies in Zukunft nur in geringerem Maße für die heute 40-Jährigen und Jüngeren (vgl. BMFSFJ 2005a, 285; 301). Ebenso gehen OECD-Studien von einem geringer werdenden informellen Pflegepotenzial in Deutschland aus (vgl. BMFSFJ 2005b, 108). In der Enquete-Kommission ‚Demographischer Wandel’ wird auf Szenariobildungen von Blinkert und Klie zurückgegriffen, um das Verhältnis der informellen zur professionellen Pflege im ambulanten Sektor dazustellen. Als relevante Bedingungsfaktoren wurden hier der Altersstrukturwandel, die Varianz der Familienformen, die gestiegenen Mobilitätsanforderungen, die Zunahme der Erwerbstätigkeit von Frauen sowie mögliche politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen für Pflegesettings berücksichtigt. Selbst bei einer nur geringen Steigerung der Rate erwerbstätiger Frauen gehen Blinkert und Klie trotzdem von einem erheblichen Rückgang des informellen Pflegepotenzials und vermehrter Inanspruchnahme von stationären Versorgungs71
formen aus. Als sozialpolitische Maßnahmen für nachhaltige Versorgungsstrukturen schlagen die Autoren u. a. eine flexiblere Organisationen der Arbeitszeiten sowie individuell besser kombinierbare komplementäre professionelle Angebote vor (vgl. Deutscher Bundestag 2002, 242ff). Neben der pflegerischen Versorgungsstruktur sind darüber hinaus auch die so genannten ‚haushaltsnahen Dienstleistungen’ auszubauen (vgl. BMFSFJ 2005a, 236ff). Wie in Kapitel 1.2.2 ausgeführt, präferieren über 80 % sowohl der älteren Unterstützungsbedürftigen als auch der Angehörigen eine ambulante Versorgungsform. Um diesen Wünschen gerecht zu werden, sind neben den makrosozialen Implikationen, wie der Bereitstellung eines geeigneten Versorgungsspektrums, ebenso die für die Umsetzung notwendigen konkreten Erfordernisse auf der mikrosozialen Ebene zu beachten. Dass nicht jedes der eigenen Kinder auch als potenzielle Pflegeperson in Betracht gezogen wird, zeigt eine Studie von Pillemer und Suitor, in der 566 Mütter zwischen 65 und 75 Jahren nach den Beziehungen zu ihren Kindern gefragt worden sind. Von Interesse war dabei auch, welches der eigenen Kinder am wahrscheinlichsten für tägliche Hilfe- und Pflegeleistungen in Frage käme. Die Ergebnisse zeigen, dass große Wohnortdistanzen und die Erwerbstätigkeit des Kindes seine Chancen, ausgewählt zu werden, verringern. Insgesamt korrelierten ‚emotionale Nähe’ und ‚Ähnlichkeiten bei Geschlecht und Einstellungen’ am stärksten mit der Auswahl einer zukünftigen potenziellen Rolle als Pflegende. Die qualitative Auswertung offener Zusatzfragen ergibt deutlich vorhandene Präferenzen bezogen auf einzelne sowie Vorbehalte gegenüber anderen Kindern (vgl. Pillemer/Suitor 2006, 439ff). Bei der Berücksichtigung dieser und weiterer individueller Faktoren zur Ermittlung des zukünftigen Pflegepotenzials könnte sich unter Umständen das Gesamtpotenzial beträchtlich verringern. Neben den oben aufgeführten Parametern sind weitere sozio-kulturelle Bedingungsfaktoren bedeutsam für die Beurteilung von Pflegebereitschaft. 1.5.2
Normative und motivationale Aspekte
Pflegebereitschaft des Partners Die Pflegebereitschaft von (Ehe-)Partnern ist hoch und wird in der Regel von diesen als Selbstverständlichkeit betrachtet. Hierbei sind die subjektiven Empfindungen von familialer Solidarität und Reziprozitätsverpflichtungen die vorrangigen Motive, die geschlechtsspezifisch nicht differieren. Nach Gräßel (aufgeführt in: BMFSFJ 2002, 194) sind bei der Hälfte der Partner Zuneigung, bei 10 % von ihnen Verpflichtung und bei einem Drittel mehrere Faktoren aus72
schlaggebend. Ergänzend hierzu wird im 4. Altenbericht bei männlichen Partnern auf den möglichen Wunsch einer Weiterentwicklung von sozialen Kompetenzen hingewiesen, was nach Ansicht der Autoren in der Zukunft an Relevanz gewinnen könnte (vgl. BMFSFJ 2002, 194). Andererseits muss zukünftig aufgrund des genannten strukturellen Wandels von sich verändernden Partnerschaftsprofilen ausgegangen werden, wobei ein reduziertes partnerschaftliches Hilfereservoir von einem stärker werdenden Unterstützungspotenzial nicht-familialer privater Netze substituiert werden könnte. Dies gilt allerdings nicht im gleichen Maße beim Vorliegen einer Demenz, da z. B. Nachbarn und Freunde in der Regel keine dauerhafte Verantwortung für die Pflege demenziell erkrankter Menschen übernehmen. Größerer Spielraum für freiwilliges Engagement bei Demenzkranken wird bei den allgemeinen Hilfeleistungen gesehen (BMFSFJ 2005a, 314). Pflegebereitschaft von Töchtern und Söhnen Die Pflegebereitschaft von Töchtern und Söhnen wird als sehr hoch beschrieben. Fuchs befragte dazu in einer Repräsentativuntersuchung Menschen, die persönlich zu diesem Zeitpunkt keine Pflege geleistet haben. Von diesen waren ca. 90 % der befragten Frauen und fast 80 % der befragten Männer bereit, ihre Eltern zu pflegen (vgl. Fuchs 1998, 394). In einer weiteren Studie von Schütze (1995, aufgeführt in: BMFSFJ 2002, 195) geben 79 % der von ihr befragten Töchter und 40 % der befragten Söhne an, dass sie Pflegeleistungen bei ihren Eltern übernehmen würden. Als Hauptmotiv nennen Söhne und Töchter dabei in verschiedenen Studien die „Selbstverständlichkeit“ (BMFSFJ 2002, 195). Darüber hinaus werden im Detail die folgenden verschiedenen Begründungen genannt: Pflichtgefühl, normative Erwartungen, weibliche Rollenzuweisungen, Reziprozität, religiöse Motive und Sinngebung. Weiterhin wird von den Kindern der Pflegebedürftigen angestrebt, eine Heimumsiedlung und den vermuteten damit verbundenen Verlust an sozialer Integration des Pflegebedürftigen zu vermeiden (vgl. BMFSFJ 2002, 194f). Schütze und Wagner43 ermittelten bei ihrer Befragung zu den Einstellungen der Kinder zur Familien- und Heimpflege der Eltern, dass bei einem höheren Alter von den alten Eltern eher eine Einstellung ‚pro Heimpflege’ herrscht. Die Befunde 43
In einer Sekundäranalyse wurden 115 Kinder von alten Eltern befragt. Letztere waren Teilnehmer der Berliner Alterstudie (BASE).
73
zeigen dabei keine geschlechterspezifischen Differenzen. Die Meinungen der Kinder werden allerdings von einer vorhandenen Pflegebedürftigkeit beeinflusst, da beim Vorliegen eines konkreten Pflegebedarfs eher eine Heimpflege favorisiert wird. Allerdings hängt die tatsächlich geleistete Unterstützung nicht von der Pflegebedürftigkeit sondern auch von dem Familienstatus der Hilfebedürftigen ab, da praktische Hilfe eher von Kindern allein lebender Eltern erbracht wird (vgl. Schütze/Wagner 1995, 321). Pflegebereitschaft von Enkeln Bislang fehlen noch Angaben zur Unterstützungsbereitschaft der jungen Generation in Bezug auf ihre Großeltern. Daher wird bezogen auf die „Pflegebereitschaft der erwachsenen Enkelgeneration“ (BMFSFJ 2002, 363) im 4. Altenbericht weiterer Forschungsbedarf konstatiert. Pflegebereitschaft bezogen auf monetäre Aspekte Finanzielle Gründe zur Übernahme von Pflege werden kontrovers diskutiert. Einerseits wird gemutmaßt, dass finanzielle Transfers als Anreiz gewertet werden können, sodass unter Umständen sogar mit Missbrauch zu rechnen sei. Andererseits zeigen empirische Studien bislang eine nur marginale Rolle von monetären Aspekten bei der Übernahme von Pflege (vgl. ebd., BMFSFJ 2002, 195). In einer Studie von Bracker et al. (1988, aufgeführt in: Fuchs 1998, 393) werden finanzielle Gesichtspunkte neben weiteren Faktoren genannt, die Pflegebereitschaft konstituieren. Bei den sonstigen relevanten Aspekten handelt es sich um die aktuelle Wohnsituation, die frühere emotionale Beziehung und die internalisierten Normen. Weniger entscheidend für die eigene Pflegebereitschaft waren hier das Alter der Personen, der Familienstand, die Pflegevorerfahrung sowie ob in einem städtischen oder ländlichen Wohnraum gelebt wird (vgl. Fuchs 1998, 393). Pflegebereitschaft bezogen auf Altersgruppen In der oben bereits genannten Studie von Fuchs mit Personen ohne Pflegeerfahrung wird deutlich, dass bei Partnern und Kindern in allen Altersgruppen 74
(außer 75 Jahre und älter) eine annähernd gleich hohe Pflegebereitschaft vorliegt. Somit hat sich eine Annahme der höheren Pflegebereitschaft bei Älteren bedingt durch normative Beweggründe nicht bestätigt. In der Altersgruppe 75 Jahre und älter kann die geringere Pflegebereitschaft mit einer alterskorrelierten Abnahme der Leistungsfähigkeit erklärt werden. Bei jüngeren Befragten kann dagegen davon ausgegangen werden, dass die Angaben zur Pflegebereitschaft durch die geringe tatsächliche Wahrscheinlichkeit des aktuellen oder zeitlich nahen Eintritts einer Pflegesituation beeinflusst worden sind (vgl. Fuchs 1998, 392ff). Berger-Schmitt untersuchte die Pflegebereitschaft in verschiedenen EULändern44. Für die Befragten gilt die Familie zurzeit „in allen europäischen Ländern als der wichtigste Leistungsträger bei der Pflege alter Menschen“ (Berger-Schmitt 2003, 12), wobei ein Nord-Süd-Gefälle bei der Wahrnehmung von Familie als hauptverantwortlichen Akteur zu verzeichnen ist. In den südlichen Ländern werden höhere normative Erwartungen an die Familie als privat Pflegende gerichtet als in den nördlichen Ländern, wobei Deutschland mit anderen mitteleuropäischen Ländern hierbei eine Mittelstellung einnimmt. Zukünftig kann bezogen auf die hier eingeschlossenen Länder mit einer Abnahme der Pflegekapazitäten aufgrund des demografischen Wandels und der veränderten Familienstrukturen gerechnet werden. Die stationäre Pflege wird häufiger in nördlichen als in südlichen Ländern als Versorgungsform gewählt, wobei Deutschland hier ebenfalls eine mittlere Position innehat. Weiterhin differiert die Einstellung zur stationären Pflege in Deutschland ebenso wie in den südeuropäischen Ländern in den verschiedenen Altersgruppen: Die Gruppe der 45-Jährigen bis 64-Jährigen spricht sich stärker für die Pflege im Heim aus als die 18- bis 44-Jährigen. Ob hier ein Einstellungswandel in der Generationenfolge vorliegt, oder die im Lebenslauf veränderte Aktualität des Problems ‚Pflegebedürftigkeit’ ausschlaggebend ist, kann aufgrund fehlender Längsschnittuntersuchungen nicht geklärt werden. Generationenspezifische Einstellungen zur familialen Pflege werden sowohl in Deutschland als auch in den südeuropäischen Ländern deutlich, da bei der oben genannten jüngeren Altersgruppe eine deutlich negativere Einstellung zur häuslichen Pflege erkennbar ist als bei den 45-Jährigen bis 64-Jährigen. Die 18-jährigen bis 44-jährigen Befragten sind in einem geringeren Maße bereit, die Pflege der Eltern im eigenen 44
Als Datenbasis dienten das Eurobarometer und das Europäische Haushaltspanel. BergerSchmitt konzentriert sich in ihrer Analyse vor allem auf den Vergleich von Deutschland einerseits mit den skandinavischen und andererseits mit den südeuropäischen Ländern (vgl. BergerSchmitt 2003, 12).
75
Haushalt zu übernehmen. Hier bleibt zu fragen, ob es sich um eine abnehmende Pflegebereitschaft bei jüngeren Generationen handelt, oder das Thema Pflege einen anderen Stellenwert in jüngeren Lebensphasen hat (vgl. Berger-Schmitt 2003, 12ff). Eine Untersuchung von Roloff bezieht sich u. a. auf das mögliche Vorliegen eines Generationenkonfliktes im Bereich intergenerationeller Hilfetransfers. Die Befunde zu den individuellen Einstellungen über die Rolle älterer Menschen in der Gesellschaft und zum potenziellen Umgang mit pflegebedürftigen alten Menschen deuten jedoch in keiner Weise auf einen Generationenkonflikt hin. Es kann im Gegenteil von einem hohen Grad der Solidarität zwischen alten und jungen Familienmitgliedern ausgegangen werden. Mehrheitlich geben die befragten Kinder alter Menschen an, dass Angehörige für Ältere im Bedarfsfall sorgen sollten (vgl. Roloff 2004, 423ff). Pflegebereitschaft bezogen auf das Milieu Blinkert und Klie zeigen anhand eines milieuspezifischen Vergleichs zur Pflegebereitschaft auf, dass mit der steigenden Verfügbarkeit von strukturellem Kapital (wie z. B. Einkommen und Bildung) sich der Anteil derjenigen verringert, die „zum Selberpflegen bereit sind“ (Blinkert/Klie, zit. in: Koeppe et al. 2003, 21). Bei diesen Angehörigen nimmt das Interesse an einer stationären Versorgung der Pflegebedürftigen deutlich zu. Die Korrelation zwischen Pflegebereitschaft und Milieu begründen die Autoren mit den direkten Kosten und den Opportunitätskosten beim Selberpflegen. Die direkten Aufwendungen beinhalten die konkreten Ausgaben, die durch die Pflegesituation entstehen, wie die Ausgaben für private Hilfen oder für ein Altenheim. Die Opportunitätskosten berücksichtigen die durch die geleistete Pflege entgangenen Einnahmen, wie z. B. Verdienstausfälle durch eine Stundenreduzierung. Bei einem geringen strukturellen Kapital wie z. B. einem niedrigen Einkommen steigt der Wert einer Heimpflege und sinkt parallel die Bedeutung der Opportunitätskosten (vgl. Blinkert/Klie 2000, 237f). Wenn die Pflegebereitschaft in den Milieus mit geringem strukturellem Kapital und einem Lebensentwurf, der wenig auf Individualisierung und Flexibilität ausgerichtet ist, am höchsten ist, so muss nach Blinkert berücksichtigt werden, dass genau dieses Milieu aufgrund des strukturellen gesellschaftlichen Wandels quantitativ rückläufig ist und sich somit das informelle Pflegepotenzial weiter verringern wird. Aufgrund dieser Überlegungen und der weiter oben schon ausgeführten Parameter des sozialstrukturellen Wandels in den Familien besteht nach Ansicht des Autors die 76
Notwendigkeit der gezielten sozialpolitischen Gestaltung einer komplementären Infrastruktur für pflegende Angehörige (vgl. Blinkert 2005, 17). Geäußerte versus realisierte Pflegebereitschaft Eine ursprünglich geäußerte Pflegebereitschaft muss nicht automatisch zu einem späteren Zeitpunkt unter veränderten Rahmenbedingungen realisiert werden. Als Anhaltspunkte für diese These können die oben schon erwähnten Befunde von Schütze und Wagner hinzugezogen werden, die zeigen, dass die Meinungen der Kinder vom Maß des Unterstützungsbedarfs beeinflusst werden. Beim konkreten Vorliegen einer Pflegebedürftigkeit wird häufiger die Ansicht vertreten, Pflegebedürftige sollten ins Heim wechseln, der Staat solle mehr Heime bauen und es sei nicht selbstverständlich, dass Eltern privat gepflegt würden. Auch wenn die Eltern allein im Haushalt leben, haben die Kinder eher eine Einstellung ‚pro Heim’. Daher schlussfolgern die Autoren: „Kinder befürworten die Familienpflege nur dann, wenn sie davon nicht betroffen sind“ (Schütze/Wagner 1995, 318). Um die Realisierung einer einstmals geäußerten Pflegebereitschaft im konkreten Fall zu überprüfen, bedarf es Längsschnittstudien, in denen die Kontextvariablen, die zur Umsetzung einer grundsätzlich vorhandenen Bereitschaft führen sowie die Hinderungsgründe ermittelt werden. Das nachfolgende Zitat macht deutlich, welche Folgen die Langlebigkeit aus der Sicht eines Arztes auf die Umsetzung einer Pflegebereitschaft haben kann: „Heute sehen wir nicht selten zwei Alterspatienten: die 65jährige, die mit chronischen, organisch nicht erklärbaren Rückenschmerzen in die Ambulanz kommt, wobei dann deutlich wird, dass sie ihre 96jährige Mutter heute wirklich nicht mehr weiter pflegen könne. Das Konflikthafte der Situation besteht darin, dass die Tochter ihrer Mutter vor mehr als 10 Jahren versprochen hat, sie ‚auf keinen Fall in ein Heim’ zu geben, ohne die Langzeitfolgen eines solchen Versprechens auch nur geahnt zu haben“ (Heuft et al. 2000, 16).
Offen bleibt, ob und wie weit in dem genannten Fall eine dritte Generation, d. h. die Enkelgeneration, involviert ist. Die Vereinbarkeitsproblematik von Pflege und Beruf Wie bereits in Kapitel 1.3 ausgeführt, wird die mangelnde Vereinbarkeit von Pflege und Beruf als ein signifikanter Belastungsfaktor von Angehörigen 77
genannt. Diese Problematik kann als Barriere einer häuslichen Pflege betrachtet werden, und zu einer Reduktion der individuellen Pflegebereitschaft beitragen. Der 7. Familienbericht führt aus, dass die Vereinbarkeit der Versorgung unterstützungsbedürftiger älterer Angehöriger mit einer Erwerbstätigkeit als „zentraler Bestandteil“ (BMFSFJ 2005b, 95) des heutigen Herstellungsprozesses von Familie zu sehen ist45. Im Vergleich zu weiteren europäischen Ländern wie den Niederlanden oder Großbritannien sind die öffentliche finanzielle Förderung sowie die institutionell verankerten Angebote wie die Tagesoder Kurzzeitpflege in Deutschland erst ungenügend ausgebaut. Gerade dies sei jedoch anstelle der Alternativen ‚zu Hause oder im Heim’ eine Voraussetzung, um die Dynamiken im Pflegeverlauf mit weiteren Anforderungen wie einer Erwerbstätigkeit in Einklang zu bringen zu können (vgl. ebd. 95; 102). In der Literatur wird von einer wachsenden Bedeutung der Vereinbarkeitsproblematik ausgegangen. Um den Versorgungsbedarfen gerecht zu werden, braucht es eine mehrdimensionale Strategie auf gesamtgesellschaftlichem Niveau, die über einzelne Maßnahmen familienfreundlicher Betriebe hinausgeht46 (vgl. Lasch 2005, 13). Insgesamt zeigen die Ausführungen in Kapitel 1, dass die Familie als eine wichtige soziale Ressource bei einer Pflegebedürftigkeit im Alter betrachtet werden kann. Dies trifft weiterhin auch auf die speziellen Hilfebedarfe beim Vorliegen einer Demenz zu. Dabei ist zu berücksichtigen, dass informelle häusliche Pflege nicht nur partiell, sondern originär als Teil eines gesamtfamilialen – und häufig auch generationenübergreifenden – Geschehens und der damit verbundenen Beziehungsgestaltung verstanden werden muss. In Kapitel 2 werden daher nachfolgend die Merkmale und Spezifika familialer Generationen und ihrer Beziehungen dargestellt.
45 46
78
Auf den ‚Prozess alltäglicher Herstellung von Familie’ (vgl. BMFSFJ 2005b, 221) wird in Kapitel 2.1 und 3.1 eingegangen. Auf schon bestehende Ansätze zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Pflege in Deutschland wird in Kapitel 12 hingewiesen.
2
Familiale Generationen
Um die Erfahrungen der Enkelgeneration im familialen Pflegegeschehen verstehen zu können, ist eine nähere Betrachtung des Phänomens ‚Familie’ erforderlich, worauf im ersten Teil dieses Kapitels eingegangen wird. Weiterhin ist hierzu der Generationenbegriff zu spezifizieren, was im zweiten Unterpunkt erfolgt. Abschließend werden wesentliche Aspekte der Beziehungen zwischen den Generationen im familialen Binnenraum expliziert. Im Kontext des soziologisch fundierten Forschungsdesigns der in Teil B vorgestellten Studie basieren die Ausführungen in Kapitel 2 primär auf Befunden und Analysen der Disziplinen Soziologie, respektive der Familiensoziologie, und der Sozialen Gerontologie.
2.1
Das soziale Gebilde ‚Familie’
2.1.1
Historische Entwicklung des Begriffs ‚Familie’
Der Begriff ‚Familie’ wird weder in der Alltags- noch in der Forschungssprache einheitlich verwendet. Alltagssprachlich werden mit ‚Familie’ differente Inhalte verbunden, da der Terminus teilweise nur bei der Existenz von Kindern gebraucht wird, oft aber ebenso für kinderlose Paare Verwendung findet. Weiterhin werden manchmal sogar Haustiere als Bestandteil der Familie gewertet (vgl. Nave-Herz 2004, 29f). Auch die Wissenschaftsterminologie beinhaltet aufgrund unterschiedlicher theoretischer Paradigmen keine begriffliche Eindeutigkeit. Um den Begriff ‚Familie’ zu spezifizieren, kann von einer „historisch gesellschaftlichen Bedingtheit“ (Nave-Herz 2004, 223) von ‚Familie’ ausgegangen werden.
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In der römischen Antike wurde mit ‚familia’ eine „Hausgenossenschaft“ (Gukenbiehl 2001, 80) bezeichnet, die außer den leiblichen Verwandten auch „Hausstand, Dienerschaft [und] Hörige“ (ebd.) umfasste47. Der spätere Begriff ‚Familie’ hat seinen Ursprung sowohl im lateinischen als auch im französischen Sprachraum und schließt ebenfalls nicht nur die Generationen der Abstammungslinie sondern die gesamte „Haushaltsgemeinschaft von Eheleuten, Kindern und Dienerschaft“ (Nave-Herz 2004, 29) und ebenso die weitere Verwandtschaft ein. Die Aufnahme des Begriffs im deutschen Wortschatz erfolgte gegen Ende des 17. Jahrhunderts und beinhaltete folglich sowohl die lokalen häuslichen Lebens- bzw. Arbeitsgemeinschaften als auch die genealogischverwandtschaftlichen Beziehungen. Als ‚Verwandtschaft’ wurden dabei Beziehungen deklariert, die über die „blutsmäßige Abstammungslinie“ (Nave-Herz 2004, 35), hinausgingen, wie sie z. B. mit Taufpaten vorlagen48. Für das 16. und 17. Jahrhundert kann Familie zusammenfassend als patriarchalisch geprägte lokale Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft charakterisiert werden, deren vorrangige Funktion die Herstellung von Produktionsmitteln in der Landwirtschaft und im Handwerk war. Im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts bewirkten Industrialisierungs-, Urbanisierungs- und Säkularisierungsprozesse tief greifende gesellschaftliche Veränderungen und neue Ausprägungen von familialen Lebensformen. Besonders in den Bereichen der Fabrikation und der Verwaltung entstanden Trennungen von Wohnen und Arbeiten und in der Folge städtische Haushalte des Bürgertums und der Arbeiterschaft, die in der Regel zwei Generationen, das Elternpaar und die leiblichen Kinder, umfassten (vgl. Nave-Herz 2004, 37ff). Ausgehend vom „wohlhabenden Bürgertum“ (Strohmeier/Schultz 2005, 27) verbreitete sich das Vorkommen dieser neuen Klein- oder Kernfamilie49, von Gukenbiehl auch „bürger47
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Das damalige Bild von Familie ist allerdings nicht mit dem heutigen vergleichbar: Die römische ‚familia’ schloss die ganze Hausgemeinschaft, inklusive der Sklaven, ein. Diese Familie war quasi Besitz des männlichen Familienoberhauptes, des ‚pater familias’, der vollkommen über sie verfügen konnte. Der Handlungsspielraum reichte dabei bis zum Verkauf der Kinder. Die vorrangige Funktion von Familie war, ihre Mitglieder in das Staatswesen einzugliedern (vgl. GEO 2005, 139). Auch der Begriff ‚Verwandtschaft’ wurde und wird in verschiedenen historischen und kulturellen Kontexten variabel benutzt. Eine enge Auslegung erfolgte beispielsweise in Deutschland bis zum Jahr 1970, als nicht eheliche Kinder mit ihrem leiblichen Vater juristisch als nicht verwandt galten (vgl. Limbach; zit. in Nave-Herz 2004, 35). Dazu führt Nave-Herz aus: „Die kulturellen Variationen in Bezug auf die Zugehörigkeit/Nicht-Zugehörigkeit zur Verwandtschaft sind derart groß, dass man generell konstatieren muss: Jede Gesellschaft bestimmt für sich, wer mit wem verwandt ist“ (ebd. 2004, 35). Auf die verschiedenen Formen von Familie wird nachfolgend noch eingegangen.
lich-urbane Familie“ (Gukenbiehl 2001, 80) genannt, welche bis in die 60er Jahre eine hohe normative Verbindlichkeit für die Ausgestaltung des familialen Zusammenlebens hatte (vgl. ebd., 82). Trotz der weiterhin bestehenden quantitativen Dominanz dieses bürgerlich-urbanen Familienmodells ist sowohl eine strukturelle Diversifizierung der Lebensformen, beispielsweise im Kontext erhöhter Scheidungsraten, der gestiegenen Anzahl von nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften und der wachsenden Erwerbstätigkeit von Frauen, als auch eine Zunahme der allgemeinen Akzeptanz neuerer Familienformen empirisch belegt50 (vgl. Lauterbach 2004, 3; Nave-Herz 2004, 56f). 2.1.2
Grundlegende Aspekte
Nach Lauterbach können eine „Reihe wiederkehrender Aspekte“ (Lauterbach 2004, 32) als Referenzpunkte zur Bestimmung des Begriffs Familie berücksichtigt werden. Bei der Betrachtung von „Familie als Gruppe“ (ebd.) aus der Binnenperspektive werden konkrete Lebenszusammenhänge und die Art der Tauschbeziehungen in den Vordergrund gerückt. Zu den Voraussetzungen dieser Gruppenform zählen in der Regel die Blutsverwandtschaft und Ehebande, wobei Generativität als das konstituierende Element von Familie angesehen werden kann. Insgesamt steht die „Gestaltung der sozialen Beziehungen der Generationen“ (ebd., 33) im Fokus. Wird dagegen die „Gesamtheit familialer Lebensformen“ (ebd., 32) akzentuiert, so werden einerseits ein Variantenreichtum bei der Anzahl der Familienmitglieder, der Altersstruktur und der Lebensorganisation, andererseits aber auch Kongruenzen einzelner Merkmale ersichtlich. Eine diesbezüglich seit Beginn der 1980er Jahre konstatierte „Pluralität privater Lebensformen“ (ebd., 33) wird besonders in Bezug auf die vorherrschende ‚bürgerliche Familie’ betont. Ein Pluralismus familialer Strukturen hinsichtlich der Variationen ‚nicht-eheliche Lebensform’ und ‚Alleinleben’ ist vor allem in der dritten Lebensdekade anzutreffen, denn nach der Geburt des ersten Kindes ist die Kernfamilie die häufigste Lebensform (vgl. ebd., 34). Ein weiterer Blickwinkel definiert die Familie als Institution und fokussiert die Verbindlichkeiten durch Rechtsnormen, Leitbilder und Sitten sowie die „von bestimmten Trägergruppen formulierten Wissensbestände darüber, was eine 50
Der Anteil an Zwei-Eltern-Familien mit formaler Eheschließung beträgt 2002 an allen Familienformen 81% (vgl. Nave-Herz 2004, 67).
81
‚richtige Familie’ sei“ (Lauterbach 2004, 34). Als Träger dieser Wissensbestände gelten dabei z. B. staatliche Institutionen und Kirchen, die eine gesellschaftliche Akzeptanz oder Ablehnung familialer Lebensformen vor allem in allgemein üblichen Familienrhetoriken und einer praktizierten Familienpolitik ausdrücken. Jedoch können auch diese Trägergruppen laut Lauterbach keine verbindliche Definition von Familie festlegen (vgl. ebd., 35). Dass die Familie, und damit verbunden auch die Ehe, nicht nur kulturell sondern auch institutionell und normativ verankert sind, geht in besonderem Maße aus Artikel 6 des Grundgesetzes (GG) der BRD hervor. Hier heißt es unter Absatz 1: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung“ (Schmitt-Kammler 2007, 344) Weiterhin werden in Artikel 6 Abs. 2 GG die „Pflege und Erziehung der Kinder“ (ebd.) einerseits als das „natürliche Recht der Eltern“ (ebd.), andererseits aber auch als „die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“ (ebd.) deklariert51. Das Familienrecht unterliegt einem kontinuierlichen Wandel, was in jüngster Zeit beispielsweise anhand der Stellung des leiblichen Vaters gegenüber dem so genannten rechtlichen Vater (dem Ehemann der leiblichen Mutter), der Stärkung der Rechte gleichgeschlechtlicher Partnerschaften und der Rechte der Kinder auf gewaltfreie Erziehung deutlich geworden ist52. Die jeweils nach Vorfällen von besonderem öffentlichem Interesse einsetzenden Debatten und nachfolgenden gesetzlichen Modifizierungen verdeutlichen die temporäre Gültigkeit von normativen Zuschreibungen zur Institution Familie53. Die bisher gemachten Ausführungen demonstrieren die Varianz des Familienbegriffes sowohl auf kultureller als auch auf institutioneller Ebene.
51
52 53
82
In Artikel 6 Abs. 3 GG wird zur Schnittstelle von Staat und Familie ausgeführt, dass nur dann „gegen den Willen der Erziehungsberechtigten“ (Schmitt-Kammler 2007, 345) eingegriffen werden kann, wenn „die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen“ (ebd.). Näheres zu den Veränderungen im Familienrecht zeigt eine Auflistung des Bundesministeriums für Justiz unter: http://www.bmj.bund.de/enid/1fd8f3f3aea651196 a519a 005c 42d97f,0/ Zivilrecht/Familienrecht_6a.html Während der Ausarbeitung der hier vorliegenden Arbeit war beispielsweise aufgrund von Misshandlungen und Tötungen von Kindern durch ihre Eltern das Verhältnis von Rechten der Erziehungsberechtigten zu Eingriffsmöglichkeiten des Staates Thema kontroverser Debatten. Exemplarisch kann hierzu folgende Überschrift eines Artikels genannt werden: „Vorwürfe gegen Jugendamt: Kevins Tod hätte verhindert werden können“ (Die Zeit 2006).
2.1.3
Familiale Lebensformen
In Anbetracht der oben skizzierten historischen Entwicklung kann die heute vorherrschende Form der Familie als eine Lebensweise bezeichnet werden, „die sich im städtisch-bürgerlichen Lebensraum des 19. Jahrhunderts ausprägte“ (Gukenbiehl 2001, 80) und „eine relativ dauerhafte und legitimierte Beziehung zwischen einer/einem Erwachsenen und einem Kind“ (ebd.) mit einer besonderen Verantwortlichkeit für die Sozialisation des Kindes beinhaltet. Jedoch kann die Reduzierung des Familienbegriffs auf diese Kernfamilie, die „auch Hausfrauenehe, Versorgerehe oder Ernährermodell genannt“ (Strohmeier et al. 2006, 27) wird, den vielfältigen Formen von Familie in postindustriellen Gesellschaften nicht mehr gerecht werden. Auch der 7. Familienbericht geht von einem Wandel familialer Strukturen aus, da „sich alle gegenwärtigen Gesellschaften Europas in jener Übergangsphase von der Industriegesellschaft mit den damit verbundenen Lebensformen der neolokalen Kernfamilie mit einer eindeutigen innerfamilialen Arbeitsteilung hin zu einer Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft mit neuen Lebensformen befinden“ (BMFSFJ 2005b, 3).
Derartige Wandlungsprozesse von Gesellschaften gelten für die europäische Geschichte als typisch und belegen durch die inhärenten Transformationen von familialen Lebensformen die Potenziale und Grenzen der Adaptionsfähigkeit der Familie. So ist im 7. Familienbericht von einer „Herstellung von Familie“ (ebd., 22) hinsichtlich „Partnern, Eltern und minderjährigen Kindern sowie erwachsenen Kindern und Eltern“ (ebd.) die Rede, was den prozessualen Charakter von Familie betont. Nach Nave-Herz können die dabei entstehenden Formen von Familie multidimensional in folgender Weise differenziert werden. 1. Differenzierung nach der Konstitution von Familie: Hierbei unterscheidet sie beispielsweise die Familie mit biologischer Elternschaft, die Adoptionsfamilie, die Stieffamilie, die Patchwork-Familie (in der beide Ehepartner Kinder aus einer früheren Beziehung mitbringen und zusätzlich gemeinsame Kinder haben) und die Pflegefamilie (vgl. Nave-Herz 2004, 33). Zu dieser Einteilung existieren diverse alternative Systematiken wie beispielsweise eine dichotome Klassifizierung von Hill und Kopp, in der familialverwandtschaftliche Beziehungen entweder auf einer gemeinsamen Deszen-
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2.
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4.
54
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denz, d. h. auf der biologischen Abstammung, oder auf einer „Affinalverwandtschaft“ (Hill/Kopp 2004, 18) basieren, wobei letztere Kategorie einen neu durch die Ehe gegründeten Verwandtenkreis definiert54. Differenzierung nach der Generationenanzahl: Darunter subsumiert NaveHerz u. a. die Zwei-Generationenfamilie, die auch Kernfamilie oder nuclear-family genannt wird. Ausgehend von der direkten Abstammungslinie wird bei weiteren Generationen von der Mehrgenerationen-Familie gesprochen, wo hingegen eine Haushaltsgemeinschaft mit über zwei Generationen hinausgehenden, seitenverwandten Mitgliedern als erweiterte Familie bzw. extended family bezeichnet wird (vgl. Nave-Herz 2004, 33f). Ergänzend zu dieser Systematik bezieht Gukenbiehl die Kernfamilie zusätzlich auf eine kleine Anzahl der Familienmitglieder in der Haushaltsgemeinschaft, was er als „Klein-Familie“ [Eigene Hervorhebung] (Gukenbiehl 2001, 81) definiert. Das begriffliche Pendant, die Großfamilie hat seine historische Verankerung in der ständischen bzw. präindustriellen Gesellschaft „als Gruppe von Blutsverwandten, die an einem Ort zusammenlebten und wirtschafteten“ (ebd.). Differenzierung nach dem Wohnsitz: Richtet sich der familiale Wohnsitz nach der väterlichen Abstammungsfamilie, handelt es sich um eine patrilokale, im Falle der lokalen Anbindung an die mütterliche Deszendenz um eine matrilokale Familie. Bei einer Autonomie beiden Herkunftsfamilien gegenüber besteht eine neolokale Familie. Weiterhin existieren Ausprägungen einer bilokalen Familie, in der die Kernfamilie über zwei Wohnsitze verfügt, was beispielsweise als Pendler-Familie oder als Living-ApartTogether-Familie (LAT) bezeichnet wird, wobei in der letztgenannten Variante die Ehepartner gewollt in zwei getrennten Haushalten leben. In einer binuklearen Familie wechseln die Kinder – häufig nach einer Scheidung – zwischen zwei Wohnsitzen (vgl. Nave-Herz 2004, 34). Differenzierung nach der Ausgestaltung der Kernfamilie: Zu den spezifischen Familienformen, die durch die verschiedene Ausgestaltung der Kernfamilie entstehen, gehören – quantitativ dominierend – die ZweiEltern-Familie mit zwei gegengeschlechtlichen Elternteilen und den Kindern, sowie nicht-eheliche Lebensgemeinschaften oder homosexuelle Darüber hinaus gehend, können auch die Ahnen unter den Familienbegriff subsumiert werden, wie es im 4. Familienbericht der Fall ist: „Familie ist eine Gruppe von Menschen [...], die miteinander verwandt, verheiratet und verschwägert sind, gleichgültig, [...] ob die einzelnen Mitglieder noch leben, oder – bereits verstorben – ein Glied in der Entstehung von Familie sind“ (4. Familienbericht, zit. in: Heut 2004, 290).
5.
Paare mit Kindern. Eine weitere Variante stellt die Ein-Eltern-Familie dar, in der ein Elternteil alleinerziehend mit dem Kind oder den Kindern lebt55 (vgl. Nave-Herz 2004, 34). Differenzierung nach der Erwerbstätigkeit der Eltern: Die Familie kann aus einem erwerbstätigen Vater oder einer erwerbstätigen Mutter, jeweils mit einer Vollzeit- bzw. Teilzeit-Erwerbstätigkeit, bestehen. Diverse Kombinationsmöglichkeiten sind ebenso mit einer Vollzeithausfrau bzw. einem Vollzeithausmann sowie, analog zur Erwerbstätigkeit, Teilzeittätigkeiten im Haushalt gegeben (vgl. Nave-Herz 2004, 34f).
Anhand dieser Auflistung wird deutlich, dass eine Reduzierung des Familienbegriffes auf eine Kernfamilie mit Vater, Mutter und den Kindern nicht geeignet ist, um die oben genannte „mehrfache Pluralität von Familie“ (Lüscher 1995, 6) abzubilden. Auch Bertram stellt eine „isolierte Kleinfamilie“ (Bertram 2000, 97) als „Mythos der Industriegesellschaft“ (ebd.) in Frage. Heut (2004) unterscheidet die durch empirische Daten gesicherten Erkenntnisse über „Familienrealitäten“ (Heut 2004, 142), d. h. die oben geschilderte Varianz von Familienmodellen, von Familienleitbildern. Er postuliert: „Es gibt so viele Familienrealitäten wie Familien“ (ebd. 2004, 141f), aber erst Familienleitbilder ermöglichen es, „dass wir von der Familie im Singular, also von der traditionellen, bürgerlichen, modernen oder postmodernen Familie sprechen können“ (Heut 2004, 142). 2.1.4
Funktionale Charakteristika
Neben den vielfältigen faktisch vorhandenen Ausgestaltungsoptionen von Familie können relevante funktionale und strukturelle Charakteristika moderner familialer Lebensformen identifiziert werden. Als zentrales Kriterium von Familie gilt eine Generationendifferenzierung ihrer Mitglieder. Die Zugehörigkeit zu einer familialen Generation ist „neben der Geschlechts- und Alterszugehörigkeit [...] eine der wichtigsten Institutionen im Leben eines Menschen“ (Lauterbach 2004, 42). Konstitutive Elemente von Familie sind weiterhin ein „spezifisches Kooperations- und Solidaritätsverhältnis“ [Eigene Hervorhebung] 55
Weitere Formen wie die polygame Familie, die einen Ehepartner mit mehreren Ehefrauen bzw. Ehemännern und Kindern bezeichnet, sind als Lebensformen rechtlich in der BRD bzw. in westlichen Industrienationen nicht verankert, sondern an spezielle soziokulturelle Hintergründe unterschiedlicher Kulturen und Ethnien gebunden.
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(Nave-Herz 2004, 29) sowie die Übernahme bestimmter gesellschaftlich relevanter Funktionen, respektive der Reproduktions- und Sozialisationsfunktion, mit den dazugehörigen Rollenerwartungen56 zwischen ihren Mitgliedern (vgl. Nave-Herz 2004, 29ff). Die „Reproduktionsfunktion“ (ebd., 79) wird von Nave-Herz in eine biologische und eine soziale unterteilt. Die „biologische Reproduktionsfunktion [Hervorhebung im Original]“ (ebd.), d. h. die Elternschaft, ist heute nicht mehr an die Ehe gebunden, „aber sie verweist – heute sogar enger als je zuvor – auf Familie“ (ebd., 85). Die „soziale Reproduktionsfunktion [Hervorhebung im Original]“ (ebd., 85) bezieht sich sowohl auf die psychische als auch auf die physische Regeneration und umfasst diverse Teilbereiche. Im Rahmen der familialen Alltagsgestaltung können z. B. die gemeinsam eingenommenen Mahlzeiten als Schlüsselritual für die soziale Reproduktionsfunktion gewertet werden, deren Bedeutung weit über die physischen Notwendigkeiten hinaus geht. Weiterhin stehen Gesundheit und Leistungsfähigkeit in engem Zusammenhang mit dieser Funktion der Familie, was sich bei ungünstigen Familienverhältnissen als Nachteil für das einzelne Familienmitglied auswirken kann: „Dadurch dass der Ehe und Familie die physische und psychische Regeneration ihrer Mitglieder überantwortet wurde, hängen zum Beispiel der Gesundheitszustand und die aktuelle Leistungsfähigkeit […] in erheblichem Maße von den familialen Verhältnissen ab“ (ebd., 8757).
Diesem Leistungsbereich von Familie kann weiterhin die Subfunktion des „Spannungsabbaus“ (Nave-Herz 2004, 99) zugeordnet werden, die im Zuge der funktionalen und lokalen Differenzierung von Familie und Produktionsstätte
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Der Begriff ‚Rolle’ wird hier und in den folgenden Ausführungen im Sinne von Dahrendorfs Definition ‚sozialer Rollen’ verwendet. Dieser sieht Rolle als „Bündel von Erwartungen, die sich in einer gegebenen Gesellschaft an das Verhalten der Träger von Positionen knüpfen“ (Dahrendorf 1961, zit. in: Nave-Herz 2004, 180). Rollen können als Orientierungen für das Verhalten einer Person gesehen werden, da sie die interpersonale Kommunikation berechenbarer machen (vgl. ebd.). Zu beachten ist, dass diese Problematik auch auf die familiale Pflege zutrifft, die in diesen Funktionsbereich einzuordnen ist. Mögliche Interdependenzen von binnenfamilialen Pflegeleistungen und vorhandenen psychosozialen Ressourcen sollten nach Ansicht der Verfasserin im fachlichen Diskurs noch stärker reflektiert werden.
beispielsweise dem Abfedern von Konflikten oder Problemen aus der Erwerbstätigkeit dient58. Übereinstimmung herrscht in der einschlägigen Literatur, dass der Familie die „Sozialisationsfunktion“ (ebd., 88) immanent ist. Insbesondere die Sozialisation der frühen Kindheit wird in Industrienationen der Familie zugeschrieben. Auch in der späteren Kindheit und der Jugend wird in Verbindung mit öffentlichen Einrichtungen wie u. a. der Schule die „Befähigung junger Menschen zur Bewältigung des Alltagslebens“ (Nave-Herz 2004, 91) als familiale Funktion betrachtet59. Eine weitere relevante Funktion von Familie ist die Freizeitfunktion, die historisch gesehen keine klassische Leistung der Familie ist. Das Verbringen von gemeinsamer Freizeit spielte erst seit der Trennung von Familien- und Erwerbsbereich im Wechselspiel mit einem bürgerlichen Familienideal eine relevante Rolle (vgl. ebd., 95)60. Ausgehend von den kollektiven Funktionen und mit Bezug auf die vielfachen Ausgestaltungsoptionen im Herstellungsprozess von Familie kann nach Lauterbach Familie wie folgt charakterisiert werden: „Der Begriff ‚Familie’ bezeichnet in zeitgenössischen Industriegesellschaften primär die auf Gestaltung der sozialen Beziehungen zwischen den Generationen hin angelegten Sozialformen eigener Art, die als solche gesellschaftlich anerkannt und damit institutionalisiert werden“ (Lauterbach 2004, 35).
Diese von Lauterbach vorgenommene Verwendung eines „kategorialen Begriffs“ (ebd.) von Familie wird im Rahmen dieser Arbeit als Arbeitsdefinition zugrunde gelegt. 2.1.5
Bedeutung von Familie in der Gegenwart
Das „bürgerlich-urbane Leitbild der Kernfamilie“ (Gehring 2001, 17) wurde, wie oben ausgeführt, am Ende des 20. Jahrhunderts zunehmend in Frage 58 59 60
Diese familiale Funktion wird aus gesellschaftskritischer Perspektive als systemstabilisierend und somit als dysfunktional für gesellschaftlichen Wandel gewertet (vgl. Nave-Herz 2004, 101). In der soziologischen Literatur erfolgt hierzu häufig ein Rekurs auf Parsons, der Familie als „wichtigste Sozialisationsagentur“ (Abels 2004b, 37) beschrieb, die mit der Funktion der „Enkulturation“ (ebd.) dem Kind normative und kulturelle Grundorientierungen vermittelt. Auf eine weitere, von Nave-Herz „Plazierungsfunktion“ (2004, 91) genannte Leistung von Familie, die z. B. auf eine Statuserhöhung von Frauen infolge der Eheschließung bezogen wird, soll hier nur der Vollständigkeit halber hingewiesen werden.
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gestellt. Die dabei gleichzeitig attestierte „Krise der [...] Familie“61 (Nave-Herz 2002, 216; vgl. dazu auch: BMFSFJ 2005b, 239), die häufig mit einem Bedeutungsverlust von Familie konnotiert wurde, hat sich jedoch empirisch nicht bestätigt. Aktuell kann eher eine Bedeutungsveränderung (vgl. Nave-Herz 2002, 216) konstatiert werden, exemplarisch belegbar durch die semantische Entwicklung des Begriffs ‚Familie’: Galt die Ehe noch in den 1980er Jahren als konstitutiv für Familie, so wurde dieses Paradigam infolge der Ausdifferenzierung familialer Lebensformen fachlich nicht beibehalten62 (vgl. Heut 2004, 275ff). Hervorgehoben wird allerdings im Siebten Familienbericht, dass trotz dieser und weiterer familialer Modifizierungen und Neuorientierungen „die gemeinsame Konstruktion von Familie und Familienbeziehungen im Lebenslauf“ (BMFSFJ 2005b, 4) für die Mitglieder der Familie eine „große Ressource bei der Bewältigung“ (ebd.) ihres Lebens darstellt. Für die Erfassung der gesellschaftlichen und individuellen Bedeutung des Phänomens Familie ist die Tatsache gravierend, dass die einzelnen Mitglieder der Familie als „ganze Menschen“ (Schallberger 2003, 18) interagieren, d. h. nicht bloß „Träger einer spezifischen Rolle“ (ebd.) sind. Denn die Familie ist nicht nur Ort von formal-vertraglichen Vereinbarungen, sondern basiert auf der Grundlage affektiver Beziehungen mit wechselseitigen, nicht kündbaren Verpflichtungen. Folglich sind die Mitglieder einer Familie füreinander als Personen nicht substituierbar. Auch der 7. Familienbericht führt aus, dass ‚Familie’ über eine institutionelle Lebensform hinausgehend einen „Assoziationsrahmen von Gefühlen“ (BMFSFJ 2005b, 11) darstellt, was sich qualitativ für das Individuum vielschichtig darstellen kann. Werden mit Familie einerseits die Termini „Liebe, Zuwendung, Verlässlichkeit, Solidarität, Bindung“ (ebd.) verbunden, so ist sie nach Ansicht der Autoren gleichermaßen eine potenzielle Plattform für „Gewalt, Abhängigkeit, Unterdrückung, Fessel, Ungleichheit zwischen den Geschlechtern, Chancen-Verhinderung von Frauen im Erwerbssystem und Männern im familialen Binnenraum“ (ebd.). Nave-Herz betont diesbezüglich, dass Familie nicht mit einer „Sozialidylle“ (Nave-Herz 2004, 101) gleichzusetzen, sondern ebenso ein Ort „selbstproduzierender Konfliktpotenziale“ (ebd.) ist, was sich im Rahmen von Geschlechter-, Generationen-, 61 62
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Im Original: „Crisis in marriage and family“. Exemplarisch verdeutlicht dies die Weiterentwicklung der Definition von Familie bei Lüscher: 1981 sieht der Autor noch die „eheliche Lebensgemeinschaft der Eltern“ (Lüscher 1981, zit. in: Heut 2004, 288) mit dem dazugehörigen besonderen sozialen Status als Grundlage für Familie, wogegen er in späteren Definitionen ‚Familie’ als „primär auf die Gestaltung der sozialen Beziehungen zwischen den Generationen hin angelegte Sozialform“ (Lüscher 1988, zit. in: ebd.) beschreibt.
Rollen- und Autoritätskonflikten äußern kann. Nimmt man die Kriminalitätsstatistik als Maßstab, so ist Familie darüber hinaus ein risikoreicher Ort: Mord, Totschlag und sexueller Missbrauch werden in hohem Maß von Familienmitgliedern begangen (vgl. ebd.). Auch aus einer sozialethischen Perspektive wird von der „Überhöhung“ (Heut 2004, 430) der Familie als Zufluchtsort gewarnt, wenn beispielsweise den gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen der „Technologisierung, Bürokratisierung und Rationalisierung“ (Heut 2004, 429) ein Platz der Sinnfindung und Selbstverwirklichung entgegensetzten werden soll. Dies können nach Heut die alltäglichen Lebenswelten von Familie generell nicht leisten. Ein ‚Rückzug in Familie’ kann sich speziell im Kontext von Pflege dysfunktional auswirken, da hier wie auch in weiteren Subfunktionen familialer Leistung die Erweiterung zu transfamilialen sozialen Netzwerken bedeutsam ist63. Mit Hinblick auf den Nexus von familialen Potenzialen und der Pflege Älterer bestätigt Höpflinger zwar die „hohe Leistungsfähigkeit familialer Netze auch in der Gegenwartsgesellschaft“ (Höpflinger 2002a, 37), aber die „postmoderne Aufwertung“ (ebd.) der Großelternrolle sowie die Debatte um Familienpflege beinhalte einseitig positive Vorstellungen. Da die Datenlage keine Empfehlung zu tradierten Familienmodellen indiziert, sollte hier kein „idealistisch gefärbter Familialismus“ (ebd., 38) forciert werden. Er verweist u. a. auf das Konzept der Generationenambivalenzen nach Lüscher und Liegle (2003, 285ff), worauf später ausführlich eingegangen wird. Insgesamt bleibt der soziale Stellenwert der Familie in der Gesellschaft unbestritten. Nicht nur national, auch europaweit wird darauf hingewiesen, beispielsweise wenn im Grünbuch der Europäischen Kommission zum demografischen Wandel64 zwar die strukturelle Varianz aber auch der für die Gesellschaft konstitutive Charakter von Familie betont wird: “„Families – the structure of which varies but which still constitute an essential part of European society“” (Commission of the European Communities 2005, 2).
Die Relevanz des sozialen Gebildes Familie ist jedoch nicht auf europäische Kontexte zu begrenzen. Abschließend soll kurz die globale Bedeutung von Familie und familialer Solidarität angedeutet werden. Im Weltaltenplan der 63 64
Dieser Aspekt wird bei Heut (2004, 430), bezogen auf Ehe und Partnerschaft, ausführlich beschrieben. Im Original: Green Paper „Confronting demographic change: a new solidarity between generations” (Commission of the European Communities 2005).
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Vereinten Nationen wird die lebenslange Kontinuität familialer Beziehungen – oftmals trotz räumlicher Distanzen – universal als kulturelles Element hervorgehoben: „Despite geographic mobility and other pressures of contemporary life that can keep people apart, the great majority of people in all cultures maintain close relations with their families throughout their lives” (United Nations 2002, 17).
Da die Abfolge einzelner Generationen, wie oben ausgeführt, konstitutiv für Familie ist, gilt die Förderung der Generationensolidarität nach den Handlungsempfehlungen der Vereinten Nationen als „Schlüsselelement für soziale Entwicklung“65 (ebd.). Allerdings weisen sowohl die Europäische Kommission als auch die Vereinten Nationen auf die Grenzen familialer Leistungsfähigkeit, beispielsweise im Kontext familialer Pflege, hin, und betonen, dass eine einseitige Verklärung vermieden werden sollte (vgl. United Nations 2002, 17; Commission of the European Communities 2005, 10). Somit kann abschließend der Familie eine hohe Leistungsfähigkeit im Sinne der Reproduktionsfunktion attestiert werden, wobei die Vielschichtigkeit familialer Lebenswelten zu berücksichtigen ist und unangemessene Idealisierungen zu vermeiden sind.
2.2
Zum Begriff ‚Generationen’
2.2.1
Einführende Systematik
Familiale Generationen stehen im Fokus dieser Arbeit. Um allerdings den Interdependenzen von familialen und gesellschaftlichen Generationen gerecht zu werden, wird der Generationenbegriff nachfolgend nicht nur auf die MikroEbene begrenzt66. Generell kann der Begriff Generation als „Modevokabel“ (Pohlmann 2005, 236) tituliert werden, der in vielfältigen Semantiken benutzt wird. 65 66
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Im Original: „as a key element for social development” (United Nations 2002, 17) Beispielsweise impliziert die dieser Studie inhärente Thematik ‚Pflegebereitschaft’ sowohl eine personale Bereitschaft eines Mitgliedes einer Generation als auch eine kollektive zukünftige volkswirtschaftliche Ressource.
Auf der mikrosozialen Ebene wird der Generationenbegriff homogen auf die Abstammungslinie der Familie bezogen verwendet, da, wie oben ausgeführt, die Generationenabfolge ein konstitutives Element einer Familie ist. Allerdings müssen die Mitglieder der einzelnen Generationen nicht automatisch durch ihr Alter gekennzeichnet sein, denn beispielsweise kann ein leibliches Kind, ein so genannter ‚Nachzügler’, der Altersgruppe des leiblichen Enkels angehören. Generationen auf der Mikroebene werden auch genealogisch-familiale Generationen genannt (vgl. Pohlmann 2005; Höpflinger 1999; Lüscher/Liegle 2003; Kohli/Szydlik 2000). In gesellschaftlichen Kontexten wird der Generationenbegriff dagegen sowohl in der Fach- als auch in der Populärliteratur heterogen verwendet und darüber hinaus kontrovers diskutiert. Es sollen „mehr als hundert unterschiedliche Generationendefinitionen nebeneinander existieren“ (Szydlik zit. in: Pohlmann 2005, 234). In der einschlägigen Literatur wird eine regelrechte „Generationenetikettierungswut“ (Kohli/Szydlik 2000, 7) konstatiert, was beispielsweise auf politische, kulturelle, ökonomische oder pädagogische Handlungsfelder bezogen sein kann. Das Spektrum reicht dabei von der „68er, 78er, 89er, 97er und 13th Generation über die Schlaffi-, Cyber-, Techno-, Golf- und Tamogotchi-Generationen“ (ebd.). Unter „politische Generationen“ (ebd., 8) subsumieren Kohli und Szydlik u. a. die sogenannte 68er Generation, deren Mitglieder zwar nicht alle derselben politischen Ausrichtung angehören, deren kollektivem Erfahrungshintergrund aber insgesamt eine prägende Bedeutung zugeschrieben wird. Rosenthal dagegen präferiert den Begriff der „historischen Generation“ (Rosenthal 2000, 162), da dem Terminus ‚politisch’ eine Eingrenzung auf politische Bereiche inhärent sei, und der gesamthistorische Kontext ungenügend gewürdigt würde. Die „kulturellen Generationen“ (Kohli/Szydlik 2000, 8) werden beispielsweise durch einen eigenen Umgang mit Kulturgütern, häufig auch in Form von Technik- und Medienerfahrungen, charakterisiert. „Ökonomische Generationen“ (ebd., 9) beinhalten als kategoriale Hauptmerkmale die kollektiven ökonomischen Lebenschancen und -risiken von Angehörigen spezieller Generationen. Beispielsweise können Mitglieder geburtenstarker Jahrgänge einer größeren Konkurrenzsituation im Erwerbsleben ausgesetzt sein als diejenigen von geburtenschwachen Jahrgängen. In diesem Zusammenhang werden auch Konfliktlinien zwischen den Generationen, beispielsweise zwischen jungen Beitragszahlern und älteren Rentenempfängern, diskutiert (vgl. ebd.). Höpflinger betont darüber hinaus die Variante der „pädagogischen Generationen“ (Höpflinger 2005, 11), in der das Verhältnis von Wissen vermittelnder und Wissen aneignender Generationen fokussiert wird, wobei der Wissens91
transfer ein breites Spektrum von Kenntnissen, Fertigkeiten und kulturellen Traditionen beinhaltet. Lüscher und Liegle konstatieren zusammenfassend: „Mittels des Begriffs der Generationen werden – altersbezogene – individuelle und kollektive Differenzen der Erfahrung und des Handelns thematisiert“ (Lüscher/Liegle 2003, 53). 2.2.2
Präzisierung und kritische Abwägung des Generationenbegriffs
Die beginnende soziologische Einteilung in Generationen oder Altersgruppen, von Backes bei Emile Durkheim und Georg Simmel verortet, entsprach dem Interesse an den Diskontinuitäten im tradierten Generationengefüge in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der gravierende gesellschaftliche Wandel in dieser Epoche, der im Wesentlichen durch Industrialisierung, Landflucht und Verstädterung verursacht war, hatte u. a. eine Abnahme des Einflusses der Älteren auf die Jüngeren zur Folge. Aufgrund divergierender Lebensumstände und Erfahrungen entstand eine Polarisierung und Entfremdung der Altersgruppen bzw. Generationen (vgl. Backes/Clemens 1998, 144)67. Um den Terminus ‚Generation’ präziser und in Abgrenzung zum Begriff ‚Altersgruppe’ anzuwenden, erfolgt in der einschlägigen Literatur vielfach ein Rekurs auf Karl Mannheims konzeptionelle Analyse des Generationenbegriffs (vgl. Höpflinger 2005; Pohlmann 2005; Tesch-Römer et al. 2001; Backes/Clemens 1998; Lüscher/Liegle 2003). Mannheim differenziert zwischen einer Generationenlagerung, einem Generationenzusammenhang und einer Generationeneinheit. Die ‚Generationenlagerung’ nach Mannheim bezeichnet eine gemeinsame Anwesenheit von Mitgliedern einer altersgleichen Gruppierung innerhalb eines größeren historisch-sozialen Kontextes68 (vgl. Mannheim aufgeführt in: Höpflinger 1999, 84f). Diese Zuordnung gilt allgemein als methodisch unproblematisch, jedoch nur begrenzt aussagefähig, da die interpersonalen Erfahrungsbezüge der Mitglieder möglicherweise eine geringe qualitative Bedeutung für das Individuum implizieren. Nach Pohlmann braucht es mehr als 67
68
92
Dazu erläutert Weymann: „Gesellschaftliche Differenzierung, Individualisierung und Mobilität schwächen den Einfluss der Alten und somit der Tradition. Wandert die junge Generation vom Land in die Städte, so bricht der Einfluss der Alten auf Tradition und soziale Kontrolle zusammen“ (Weymann 1994, zit. in: Backes/Clemens 1998, 143f). Exemplarisch erläutert Mannheim dies an disparaten Erfahrungsdimensionen von Jugendlichen in Deutschland um 1800 mit städtischem oder ländlichem Umfeld (vgl. Mannheim aufgeführt in: Höpflinger 1999, 85).
das kalendarische Alter, um „eine soziale Gruppe zu etablieren“ (Pohlmann 2005, 234). Mannheim spricht von einem ‚Generationenzusammenhang’ bei einer gemeinsamen Teilhabe an „schicksalhaften historischen Konstellationen und Ereignissen“ (Höpflinger 2005, 3). Somit erfolgt über die formal-objektiven Merkmale der zeitgleichen Präsenz altersnaher Personen in größeren Kontexten hinausgehend eine Gruppenkohäsion durch eine bewusste Partizipation an kollektiv prägenden Ereignissen. Unter einer ‚Generationeneinheit’ subsumiert Mannheim weitere Faktoren des subjektiven Erlebens wie ähnliche personale Verarbeitungs- und Bewertungsprozesse dieser kollektiv erlebten historisch bedeutenden Vorkommnisse sowie „gemeinsame, tendenziell interaktiv aufeinander bezogene Orientierungs- und Handlungsmuster“ (Höpflinger 2005, 3). Diese Prozesse reichen bis zu dem „bewussten Zusammenschluss von Individuen“ (Pohlmann 2005, 235) aufgrund „gemeinsamer Problemlagen“ (ebd.). Die eigene Generation konstituiert somit einen Teil der personalen Identität. Mit dieser Klassifikation werden essenzielle Merkmale von „Generationenidentität“ (Lüscher/Liegle 2003, 54) – und komplementär – „Generationendifferenz“ (ebd., 52) auch auf gesellschaftlicher Ebene erfasst. Denn ist Generationendifferenz in engeren oder weiteren familialen Kontexten anhand der vorangegangenen oder nachfolgenden Generationen eine „anthropologische Selbstverständlichkeit“ (ebd., 52), so sind bei kollektiven Akteuren u. a. zentrale Vorschriften, repräsentative Meinungen und weitere historisch kontextualisierte Gemeinsamkeiten Grundlage einer Unterscheidung anderen Generationen gegenüber (vgl. Lüscher/Liegle 2003, 52ff). Doch auch ein präzisierter Generationenbegriff birgt methodische Schwierigkeiten, was Höpflinger exemplarisch anhand der Mannheim’schen Differenzierungen ‚Generationenzusammenhang’ und ‚Generationeneinheit’ erläutert: Diese Subkategorien werden weder einer Geschlechterperspektive gerecht, um mögliche Disparitäten zwischen gleichaltrigen Frauen und Männern zu beschreiben, noch könne in zeitgemäßen Gesellschaften von einer Kongruenz von objektiver gesellschaftlicher Lage und individuellen Einstellungen ausgegangen werden: „Wenn Enttraditionalisierung, Pluralisierung, und Individualisierung – selbstverständlich unter Bedingungen struktureller Ungleichheit – als zentrale Kennzeichen postmoderner Entwicklungen angesehen werden müssen, wird die Rede von Generationseinheiten, die ja objektive Lage, vorherrschende Praktiken und subjektive, in umgrenzten Gruppen aufeinander bezogene Haltungen umfassen, sehr schwierig“ (Höpflinger 2005, 3).
93
Eine kritische Rezeption der Mannheim’schen Klassifikation liegt auch von Rosenthal vor, die auf die komplexen Interdependenzen von mikrosozialen generationenübergreifenden Interaktionen und makrosozialen Verhältnissen hinweist. Generationen bildend sind dabei nach Rosenthal nicht nur Ereignisse, sondern auch deren „Reinterpretationen“ (Rosenthal 2000, 165), die im Laufe des Lebens erfolgen69. Diese Reinterpretationsprozesse „vollziehen sich in der Interaktion mit anderen“ (ebd.), und zwar mit Angehörigen jüngerer und älterer Generationen. Weiterhin kommt sie auf der Basis ihrer empirischen Analysen zu dem Ergebnis, dass in spezifischen historischen Phasen nicht die Verbindung zu Jahrgängen sondern primär eine Zugehörigkeit zur Schicht, zu ethnischen Gruppen oder zum Geschlecht „der wesentliche Faktor bei der Ausprägung von Ähnlichkeit oder Verschiedenheit“ (ebd., 164) darstellt. Somit erfolgt die Bildung eines Generationenzusammenhanges nachrangig. Sie geht allerdings nicht so weit, die Bildung von Generationszusammenhängen und Generationseinheiten „unter postmodernen Bedingungen“ (ebd.) vollkommen in Frage zu stellen70. Eher nimmt sie an, „dass wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt bei Untersuchungen über die divergenten Erscheinungsbilder und Haltungen bei Jugendlichen vielleicht noch Schwierigkeiten haben, das ihnen Gemeinsame zu erkennen.“ (ebd., 164).
Denn die Bildung eines Generationszusammenhangs erfolge abhängig von spezifischen historischen Ereignissen „von der frühen Kindheit bis ins späte Erwachsenenalter“ (Rosenthal 2000, 165), wobei das „Wie des Erlebens“ (ebd.) entscheidend sei71. Pohlmann führt aus, dass zwischen einer gesellschaftlichen Generationenzugehörigkeit und dem individuellen Lebenslauf gegebenenfalls signifikante Diskrepanzen vorliegen können. Mitglieder unterschiedlicher Kohorten können mit den gleichen biografischen Ereignissen, beispielsweise der Elternschaft, konfrontiert sein. Folglich wird ihre Identifikation mit einer Generation anstatt über das Merkmal Alter primär über Faktoren bestimmt, die Bezug auf das 69 70 71
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Im Rahmen des in Kapitel 5 ausgeführten Schütz’schen Lebensweltansatzes ist hier basierend auf kontinuierlichen Deutungsprozessen von Neubewertungen von Erfahrungen die Rede (vgl. exemplarisch: Schütz 1982, 178f). Sie führt dies in Abgrenzung zu Liebau aus, der die frühen 80er Jahre als letzte generationsstiftende Phase sieht (vgl. Rosenthal 2000, 164). Ausgehend vom Schütz’schen Lebensweltansatz handelt es sich hierbei um die eigenen individuellen Sinngebungen und Relevanzsetzungen (vgl. exemplarisch: Schütz 1960, 81ff), die hier für die Bildung von historischen Generationen ausschlaggebend sind.
fokussierte Geschehen nehmen. Diesen Aspekt aufgreifend hat der Autor eine weitere Subkategorie in der Generationensemantik, die „ereignisbasierten Generationen“ (Pohlmann 2005, 235) entwickelt. Das dominante Zuordnungskriterium ist nun die eigene Selbstdefinition vor einer allgemeinen Generationen definierenden Zuschreibung von außen (vgl. Pohlmann 2005, 234)72. Insgesamt dient jedoch das Mannheim’sche Konzept als Ganzes, trotz einer kritischen Bewertung einzelner Aspekte, in der einschlägigen Literatur als Referenzpunkt für weitere Ausführungen, z. B. weil ihm ein multidimensionaler „Wesensgehalt des Generationsbegriffs“ (Struck 2004, 49) immanent ist. Denn mehrheitlich wird im fachlichen Diskurs der über den Kohortenbegriff hinausgehende Terminus ‚Generation’ favorisiert. Während Kohorten im Sinne von „bloß demografisch definierten Kategorien“ (Kohli/Szydlik 2000, 8) Gruppen bilden, bezeichnet ein präzisierter Generationenbegriff, wie oben ausgeführt, gemeinsame Erfahrungshorizonte und Lebensorientierungen. Hiermit geht Dallinger konform, die fordert: „Für eine Generation muss gelten, dass es sich nicht nur wie bei der Kohorte73 um eine rein statistisch abgegrenzte Gruppe von im gleichen Zeitraum geborenen Menschen handeln muss. Für diese soll vielmehr konstitutiv sein, dass sie gemeinsam altert und ähnlichen Erfahrungen ausgesetzt ist, und daraus ein Bewusstsein, eine Identität als Generation für sich erwirbt oder zugeschrieben bekommt“ (Dallinger 2002a, 204)74.
Die bislang aufgeführten Differenzierungen sind für eine Reflexion gegenwärtiger „Generationenrhetorik“ (Lüscher/Liegle 2003, 47), d. h. die öffentliche und argumentativ ausgetragene Diskussion um Generationenfragen, unerlässlich. Der Terminus ‚Generation’ kann hierbei vielschichtig konnotiert werden, beispielsweise mit dem Aspekt ‚Bedrohung’ aufgrund eines poten-
72 73
74
Lüscher und Liegle verwenden hierzu den Terminus „Mehrgenerationalität“ (Lüscher/Liegle 2003, 176), der in Abschnitt 2.4.4 noch berücksichtigt wird. Der Generationenbegriff wird in der Literatur inhaltlich sowohl über die Kategorien Altersgruppe und Kohorte hinausgehend als auch synonym zu diesen benutzt, was im individuellen Fall durch die zugrunde liegenden Theorien und methodischen Zielsetzungen bedingt ist. Exemplarisch zur synonymen Verwendung von Altersgruppe und Generation: Backes/Clemens 1998, 43; sowie von Kohorte und Generation: Höpflinger 2002a, 35. Exemplarisch kann hierzu Pohlmann zitiert werden, der von der Werbeindustrie kategorisierte Konsumentengruppen wie „Frauen ab 40“ (Pohlmann 2005, 234) oder „die Generation 50+“ (ebd.) nicht als Generationen im eigentlichen Sinn bezeichnen möchte, da die „Eingrenzungen angesichts der extrem heterogenen Bezugsgruppe für eine Identifikation zu vage bleiben“ (ebd., 235).
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ziellen ‚Kriegs der Generationen’75. Häufig wird das Generationenthema mit sozialer Schieflage konnotiert, z. B. wenn von einer ‚Alterslüge’76 die Rede ist. Letztendlich ist sogar die Abwesenheit von Generationen beim Problem der ‚ausgefallenen Generation’77 ein Motiv literarischer Bearbeitung. Insgesamt kann dabei eher ein plakativ-undifferenzierter als ein gezielt und sachlich informierender Generationenbegriff registriert werden, was in der Regel mit einem Plädoyercharakter und eher einseitigen Argumentationslinien verbunden ist. Auch Polarisierung und Dramatisierung gehören zu den rhetorischen Stilmitteln. Werden familiale und gesellschaftliche Generationen sowie volkswirtschaftliche, pädagogische, psychologische und politische Dimensionen unreflektiert vermengt, wird man der Komplexität des Begriffs nur selten gerecht. Auch aufgrund des immanenten Risikos einer einseitigen Einflussnahme auf Meinungsbildungsprozesse wird ein präziserer Einsatz des Terminus ‚Generation’ aus wissenschaftlicher Sicht gefordert (vgl. Lüscher/Liegle 2003, 47f; Kohli 2005, 12ff). Möglicherweise werden gezielt weitere Parameter ausgeblendet, denn: Der Diskurs über Generationenbeziehungen kann als typisches Beispiel für einen ‚Stellvertreterdiskurs’ angesehen werden: Aufgrund der existentiellen und dramatischen Bezüge zur Demographie eignet sich der Diskurs, um von anderen Problemen (z. B. der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt) abzulenken bzw. deren Komplexität auf diesen ‚Ur-Konflikt’ zwischen den Generationen zu reduzieren“ (Lüscher/Liegle 2003, 48).
Dagegen beinhaltet ein präzisierter und ‚seriös’ eingesetzter Generationenbegriff Chancen. Nach Höpflinger entsteht durch das Thema der Generationen(beziehungen) z. B. ein „Gegenmodell zu übersteigerten Individualisierungsdiskussionen“ (Höpflinger 2002a, 34). 2.2.3
Der Terminus ‚Generation’ in der vorliegenden Studie
Der Terminus ‚Generation’ in dieser Arbeit bezieht sich vorrangig auf familiale Generationen, d. h. auf das Gefüge von Enkeln, Eltern und Großeltern im häus75 76 77
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Hans Mohl (1993): „Die Altersexplosion. Droht uns ein Krieg der Generationen?“ Kreuz Verlag. Heidi Schüller (1995): „Die Alterslüge. Für einen neuen Generationenvertrag“. Rowohlt, Taschenbuch. Herwig Birg (2005): „Die ausgefallene Generation. Was die Demographie über unsere Zukunft sagt“. München.
lichen Pflegesetting. Die oben ausgeführten Spezifizierungen verdeutlichen jedoch die Interdependenzen von gesellschaftlichen und familialen Generationen. Wird davon ausgegangen, dass die Beziehungen zwischen den Generationen sowohl „mikrosoziale Interaktionen“ (Lüscher 1993, 18) als auch „makrosoziale ‚Verhältnisse’“ (ebd.) und deren zugrunde liegende Wechselbeziehungen betreffen, dass es sich weiterhin um „private“ (ebd., 35) und „öffentliche“ (ebd.) Bereiche handelt, so kann Rosenthals Kritik gefolgt werden, die besagt, dass vielfach die Interdependenzen zwischen familialen und historischen Generationen ungenügend beachtet werden (vgl. Rosenthal 2000, 162ff). „Die Abfolge historischer Generationen in der Familie“ (Rosenthal 2000, 166) beeinflusst den innerfamilialen Dialog und somit auch die subjektiv wahrgenommene Generationenzugehörigkeit. Auch Höpflinger konstatiert: „So bildet sich eine Generation immer im Verhältnis zu anderen Generationen heraus“ (Höpflinger 2002a, 34). Ebenso weist Radebold auf die Notwendigkeit hin, den jeweiligen zeitgeschichtlichen Einfluss auf Generationen zu berücksichtigen. Gerade in Bezug auf die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert bedeutet dies, familiale Generationen auch im Kontext ihrer Kriegserfahrungen wahrzunehmen (vgl. Radebold 2005, 29ff)78. Um mit der Schütz’schen Terminologie zu sprechen: Subjektive Relevanzsetzungen in der individuellen Lebenswelt gehen über den Erfahrungshorizont Familie hinaus, und erfolgen im Nexus sozialer und kultureller Umwelten. Plausibel wird das am Beispiel der Enkelkinder in familialen Pflegesettings. Die unmittelbaren Erfahrungen der Enkel im Kontext mit Pflege stehen in direktem Zusammenhang mit dem Verhalten der Eltern sowie dem ihm inhärenten Wertesystem. Deren Verhaltensweisen als auch die zugrunde liegenden impliziten und expliziten normativen Vorgaben korrelieren wiederum mit dem sozio-kulturellen Umfeld wie z. B. den dazugehörigen Institutionen und gesetzlichen Rahmenbedingungen. Besonders gravierend können Modifikationen auf sozioökonomischer Ebene, beispielsweise durch eine Reformierung des Pflegeversicherungsgesetzes, die Einstellungen und Bereitschaften zur familialen Hilfeleistung beeinflussen. Folglich werden in der hier vorliegenden Arbeit bei der Analyse der Lebenswelten von Enkelkindern primär familiale Generationenbeziehungen betrachtet, jedoch gesellschaftliche Bezüge ebenso stellenweise ergänzend berücksichtigt. 78
Hierauf wird in Abschnitt 8 „ Die Interviewteilnehmenden und ihre Pflegesettings“ näher eingegangen.
97
2.3
Die – multilokale – Mehrgenerationenfamilie
2.3.1
Wandel der familialen Generationenstruktur und Erhöhung der gemeinsamen Lebenszeit
Seit einiger Zeit rückt die Mehrgenerationenfamilie ins Zentrum der Aufmerksamkeit (vgl. Bertram 2000; Lauterbach 2004; Nave-Herz 2004). Sie ist, wie oben bereits erwähnt, durch die Anzahl der familialen Generationen definiert, wobei „zumindest drei Generationen, die durch Abstammung oder Adoption miteinander verbunden sind“ (Lauterbach 2004, 223) existieren müssen. Die „Eheschließung und die gemeinsame Haushaltsführung“ (ebd.) treten als Definitionskriterien in den Hintergrund. Entgegen weit verbreiteter Annahmen ist das Phänomen der Mehrgenerationenfamilie historisch gesehen „schlicht ein Mythos“ (Lauterbach 2002, 541). Drei oder mehr Generationen – in den Medien oftmals als ‚Großfamilie’ etikettiert – existierten früher u. a. aufgrund der niedrigeren Lebenserwartung und der hohen Sterblichkeitsrate von Müttern nicht so häufig wie allgemein dargestellt. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts jedoch ist speziell die Dreigenerationenfamilie zur „sozialen Realität“ (ebd., 553) geworden. Zwar erleben nicht alle älteren Menschen, z. B. aufgrund von Kinderlosigkeit oder Todesfällen, eine Generationenkonstellation mit mehreren Generationen. Jedoch hat nach den Daten des Alterssurveys der überwiegende Teil der 70- bis 85-Jährigen familiale Konstellationen mit weiteren Generationen, wobei der Anteil mit einer Kindergeneration 85% und der Anteil mit einer zusätzlichen Enkelgeneration 75 % beträgt (vgl. Kohli et al. 2000, 183). Die 2. Erhebung des Alterssurveys im Jahr 2002 hat dieses Bild im Wesentlichen bestätigt und bei den Detailanalysen lediglich eine geringe Zunahme der Zwei-Generationenkonstellationen (vgl. Hoff 2006, 246) aufgezeigt79. Das Massenphänomen der Mehrgenerationenfamilien (vgl. Lauterbach 2004, 223) wird folgendermaßen beschrieben80: Die Steigerung der durchschnittlichen Lebenserwartung führt zu einer höheren Anzahl von gleichzeitig lebenden 79 80
98
Der Alterssurvey ist eine repräsentative longitudinale und Kohorten vergleichende Studie mit einer Stichprobe von 40- bis 85-jährigen Menschen in Deutschland. Daten wurden 1996 (vgl. Kohli et al. 2000) und 2002 (vgl. Tesch-Römer et al. 2006c) erhoben. Lauterbachs Explikationen zur Mehrgenerationenfamilie basieren auf seiner Analyse der Daten des Sozioökonomischen Panels (SOEP) mit Längsschnittperspektive, einer repräsentativen jährlich seit 1984 durchgeführten Panelbefragung, die am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin angesiedelt ist (vgl. Lauterbach 2004, 241ff).
Generationen in der Familie. Im Nexus mit reduzierten Seitenlinien, d. h. mit einem Rückgang der Geschwisteranzahl in einer Generation, hat sich eine strukturelle Gestalt von Familie formiert, die in der Literatur mit der Metapher ‚beanpole-family’ oder ‚Bohnenstangen-Familie’ bezeichnet wird81. Beispielsweise haben in den 1990er Jahren 30 % aller Familien einen Verbund mit vier Generationen erlebt, d. h. dass hier bereits Urenkel und Urgroßeltern existiert haben. Weiterhin hat von den Personen, die sich in einer Ehe oder Partnerschaft befunden haben, die überwiegende Mehrheit zumindest die Gleichzeitigkeit von drei Generationen erfahren. Daher konstatiert Lauterbach, „dass ein Leben in einem Generationsgefüge mit drei und mehr Generationen Normalität geworden ist“(Lauterbach 2004, 224)82. Im 5. Altenbericht wird mit der „Alterslückenstruktur“ (BMFSFJ 2005a, 308) ein modifiziertes Zukunftsszenario genannt. Aufgrund des steigenden Erstgeburtsalters bei Frauen, die tendenziell häufiger ab Mitte Dreißig bis Anfang Vierzig ihre erste Geburt erleben, könne nach Ansicht der Autoren auch ein Generationenmuster mit relativ hohem Abstand zwischen den Generationen für eine Mehrzahl der Familien typisch werden. Weiterhin ist ein Älterwerden der familialen Altersstruktur zu erkennen, da in der Kohortenabfolge ein Anstieg der älteren Familienmitglieder sowie eine Reduzierung der Kinderanzahl zu verzeichnen ist. Dies führt zu dem Schluss: „Noch nie im Verlauf des 20. Jahrhunderts gab es in Familien so viele ältere und so wenig jüngere Menschen“ (Lauterbach 2004, 225). Dieses Faktum nennt Hagestad „topheaviness von Familien“ (Hagestad, zit. in Lauterbach 2004, 225). Immer häufiger erleben Familienmitglieder der verschiedenen Generationen eine verlängerte gemeinsame Lebenszeit83, und auch bei Enkeln und Großeltern ist dieses Phänomen zu verzeichnen (vgl. Lauterbach 2004, 225). Die Wahrscheinlichkeit für Enkelkinder in Deutschland, hochbetagte Großeltern mit Hilfe- und Pflegebedarfen zu erleben, hat sich nachweisbar erhöht. Beispielsweise lernten innerhalb der Kohorte der Kinder, die zwischen 1941 und 1946 81 82
83
Exemplarisch hierzu weitere Ausführungen bei: Dallinger 1997, 42 und Backes/Clemens 1998, 65. Zur vierten Generation innerhalb des familialen Gefüges werden im 5. Altenbericht widersprüchliche Angaben gemacht: Einerseits schlussfolgern die Autoren: „Aber auch heutzutage sind intergenerationale Beziehungen, die mehr als drei Generationen betreffen, eine Ausnahme“ (BMFSFJ 2005a, 308). Andererseits wird bei den 55- bis 69-Jährigen ein beachtlicher Prozentsatz mit Vier-Generationenkonstellationen genannt. Insgesamt ist die dazu vorliegenden Datenlage noch unbefriedigend (vgl. Hoff 2006, 237). Hierbei müssen, bezogen auf die ältere Generation, geschlechtspezifische Differenzen, u. a. aufgrund der Einflüsse beider Weltkriege, beachtet werden (vgl. Lauterbach 2004, 226).
99
geboren wurden, nur 13 % im Alter von zehn Jahren alle vier Großeltern kennen. Im Vergleich dazu waren es in der Kohorte derjenigen, die 1981 geboren wurden, 36 Prozent (vgl. Nave-Herz 2004, 186). Höpflinger zeigt analoge Befunde für die Schweiz auf, denn auch dort gilt die gestiegene durchschnittliche gemeinsame Lebenszeit sowohl für erwachsene Kinder und älter werdende Eltern als auch für Enkelkinder und ihre Großeltern. Waren vor dem 20. Jahrhundert Großeltern bei der Geburt des Enkelkindes oftmals schon verstorben, sind in der heutigen Schweiz bis zur Jugendzeit der Enkelkinder häufig alle vier Großeltern noch am Leben. Darüber hinaus erleben Großmütter vielfach die Volljährigkeit der Enkel (vgl. Höpflinger 2005, 11). Auch in Deutschland konnte erst nach 1960 mehr als die Hälfte der bis zu 10jährigen Kinder erwarten, eine Großmutter oder einen Großvater zu erleben. Somit zeigen auch die deutschen Befunde, dass „für die allermeisten Väter und Mütter die Familienphase Großelternschaft ein Phänomen des 20.Jahrhunderts ist, speziell erst seit der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg“ (Lauterbach 2004, 226). 2.3.2
Koresidenzen und Multilokalitäten
Das Zusammenwohnen von Großeltern, Eltern und Enkeln hat seit 1970 stetig abgenommen. Seit den 1980er Jahren ist hauptsächlich die ältere Generation nicht mehr zurück in den Haushalt der Kinder gezogen, sondern so lange wie möglich im eigenen Haushalt geblieben, wofür als Gründe u. a. bessere technische, finanzielle und gesundheitliche Ressourcen genannt werden (vgl. Nave-Herz 2004, 218). Empirisch belegt wird dies sowohl durch die Abnahme der Personenanzahl (Personen-) als auch der Generationenanzahl in Privathaushalten. Bei einem Anstieg der Zwei- und Einpersonenhaushalte findet gleichzeitig eine Verringerung der Fünf- und Mehr-Personenhaushalte statt (vgl. BMFSFJ 2003, 143). Hat der Anteil der Privathaushalte mit drei und mehr Generationen im früheren Bundesgebiet 1972 noch 3,3 % betragen, so reduzierte sich dieser Prozentsatz im Jahr 2000 auf 0,8% aller Haushalte; was im Jahr 2000 auch für die neuen Bundesländer inklusive Ostberlin zugetroffen hat (vgl. BMFSFJ 2003, 216). Dass sich trotz der oben erwähnten gestiegenen gemeinsamen Lebenszeit das gemeinsame Wohnen von drei oder mehr Generationen nicht erhöht hat, basiert, wie eingangs erwähnt, überwiegend auf den separaten Haushalten der Großelterngeneration. Im europäischen Vergleich hat Deutschland einen der höchsten Anteile von Einpersonenhaushalten bei der Gruppe der über 65Jährigen (vgl. BMFSFJ 2005a, 302). Dagegen hat sich das Wohnen junger 100
Menschen bei Ihren Eltern tendenziell zeitlich verlängert. Eine exemplarische Betrachtung der Altersgruppe über 25 Jahre ergibt folgendes Bild: Bei den männlichen jungen Menschen leben 24 % in den alten Bundesländern und 15 % in den neuen Bundesländern, bei den weiblichen jungen Personen 10 % in den alten Bundesländern und 6 % in den neuen Bundesländern mit ihren Eltern zusammen. Das heißt, wenn zuweilen von einer „Nesthockergeneration“ (NaveHerz 2004, 218) oder dem „Hotel Mama“ (ebd., 219) die Rede ist, bezieht sich dies primär auf männliche Jugendliche mit höherem Bildungsniveau aus den alten Bundesländern. Insgesamt kann jedoch bei Familien mit drei Generationen und Enkeln im höheren Jugendalter von drei getrennten Haushalten, der oben genannten multilokalen Mehrgenerationenfamilie ausgegangen werden (vgl. ebd.). Liegen Koresidenzen mit erwachsenen Kindern vor, werden heterogene Gründe genannt. Erstens betrifft es Kinder, die z. B. aufgrund der Ausbildungszeit oder einer Verknappung von finanziell attraktivem Wohnraum noch nicht aus dem gemeinsamen Haushalt ausgezogen sind und somit unter die Kategorie ‚Nesthockergeneration’ subsumiert werden können. Eine zweite Gruppe wird von den so genannten „Boomerang Kids“ (Kohli et al. 2000, 180) gebildet, die sporadisch wieder in die elterliche Wohnung zurücksiedeln, wobei hier angesichts gestiegener Scheidungsraten bei jungen Menschen eine Zunahme prognostiziert wird. Drittens ziehen Mitglieder der mittleren Generation wieder mit den alten Eltern zusammen, da deren Hilfebedarfe im Alter gestiegen sind (vgl. Kohli et al. 2000, 180). Eine Analyse familialer Pflegesettings mit Enkelkindern darf sich jedoch nicht auf Lebensformen mit unilokaler Wohnstruktur der Generationen beschränken. Auch wenn „in bestimmten Phasen der Familienentwicklung“ (Bertram 2000, 103) ein gemeinsamer Haushalt die dominante Wohnform darstellt, kann dessen Vorliegen nicht alleiniger Referenzpunkt für Analysen sein. Bertram kritisiert diesbezüglich die thematische Verengung amtlicher Statistiken auf Haushaltsgemeinschaften, da zum Beispiel „viele Einpersonenhaushalte statistisch Singlehaushalte“ (ebd., 97), de facto aber in „ein dichtes Netz privater Beziehungen eingebunden“ (ebd.) sind. Seiner Meinung nach müssen „die gelebten Beziehungen der Individuen im familiären Kontext“ (ebd.) häufiger Gegenstand der Analysen darstellen. Ebenso wie Lauterbach (2004) und Nave-Herz (2004) vertritt er daher die These, dass das Phänomen der multilokalen Mehrgenerationenfamilie stärker in den Blick genommen werden sollte, das noch zu selten Gegenstand der Analysen sei (vgl. Bertram 2000, 97f). Die Relevanz multilokaler Generationenbeziehungen kann mit den durchschnittlichen geringen Distanzen zwischen den Generationen korrelieren. Denn bezogen auf die Gesamtzahl aller Familien mit Kindern, die aus dem gemein101
samen Haushalt ausgezogen sind, liegt die Anzahl der Familien mit einem Wohnort, welcher weiter als eine Stunde Fahrzeit entfernt ist, nur bei 20 %. Im Umkehrschluss leben bei 80 % aller Familien in dieser Familienphase Mitglieder der jüngeren Generation im selben Ort, in unmittelbarer Nähe oder in einem Radius von einer Stunde Fahrtzeit. Die Mobilitätsanforderungen heutiger Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen können als ein Faktor für die Zunahme von räumlichen Entfernungen von erwachsenen Kindern und deren Eltern gesehen werden. Auch steigt mit der Höhe der Bildungsqualifikation in beiden Generationen die Wahrscheinlichkeit einer größeren räumlichen Distanz zwischen den Generationen, wobei Letzteres auf Familien im ländlichen Umfeld weniger zutrifft als auf urbane Familien (vgl. Lauterbach 2004, 229f; BMFSFJ 2005a, 303). Lauterbach folgert daher: „Somit wirken sich frühe Bildungsentscheidungen im Lebenslauf prägend auf späte Familienphasen aus“ (ebd., 230). Eine Analyse von Dreigenerationenfamilien zeigt, dass ein großer Teil der minderjährigen Enkel in der Nähe der Großeltern wohnt. So belegen zwei repräsentative Datensätze des SOEP und des Familiensurveys84 zur räumlichen Nähe erwachsener Kindern, die selber noch ein minderjähriges Kind in ihrem Haushalt haben, dass nur ca. in jeder 5. Familie die Entfernung des am nächsten wohnenden Kindes weiter als eine Fahrstunde beträgt. Bei 25 % bis 30 % der Dreigenerationenfamilien wohnen die Kinder mit den Enkeln entweder im selben Haus oder in der Nachbarschaft wie die Großeltern. Auch Befunde weiterer Studien zeigen, dass fast jede dritte Familie mit drei Generationen sich innerhalb von 15 Minuten erreichen kann (vgl. Lauterbach 2004, 251f). Wie Bertram fordert Lauterbach, die diesen Fakten inhärenten Potenziale der „Interaktion und Integration“ (Lauterbach 2004, 231) stärker zu fokussieren. Eine Reduktion räumlicher Distanzen aufgrund eines gestiegenen Hilfebedarfs tritt vor allem bei familialen Krisen und Notfällen ein. Stirbt ein Elternteil, ist dies besonders oft bei erwachsenen Töchtern mit einer Abnahme der Wohnortentfernung verbunden. Ähnliches gilt für die Situation einer Ehescheidung bei der mittleren Generation in Kombination mit der Präsenz von minderjährigen Kindern (vgl. Lauterbach 2004, 231).
84
102
Beim Sozioökonomischen Panel (SOEP) handelt es sich um die Daten der 8. Welle. Der Familiensurvey stammt von 1988 (vgl. Lauterbach 2004, 252).
2.3.3
Kontakthäufigkeit, Beziehungsqualität und emotionale Verbundenheit
Die Wohnortentfernung darf trotz der genannten Aspekte nicht vernachlässigt werden, da sie ein signifikanter sozialstruktureller Parameter in der Analyse der Generationenbeziehungen darstellt. Kohli et al. haben im Alterssurvey Dependenzen der räumlichen Distanz der Generationen mit der emotionalen Qualität der Beziehung, der Kontakthäufigkeit und den Kontaktformen aufgezeigt (vgl. Kohli et al. 2000, 179). Insgesamt ist die Nähe der Haushalte ein Prädiktor für die Kontakthäufigkeit und die subjektiv erlebte Qualität der Generationenbeziehungen zwischen mittlerer und älterer Generation (Lauterbach 2004, 235f). Nach Schütze und Wagner beeinflusst die Entfernung zwischen den Wohnungen die instrumentellen und die emotionalen Hilfeleistungen, wie beispielsweise die Gesprächshäufigkeit (vgl. Schütze/Wagner 1995, 321). In der 1. Erhebung des Alterssurveys gaben ca. 85 % der 40- bis 85jährigen Befragten an, ihre in separaten Haushalten lebenden Kinder mindestens einmal pro Woche zu sprechen. Umgekehrt sind es nur 2,3 % der Eltern, die zu diesen Kindern selten oder nie Kontakt haben (vgl. Kohli et al. 2000, 90). Im zeitlichen Verlauf werden diese Befunde durch die Ergebnisse des 2. Alterssurveys bestätigt. Nur bei den befragten Migranten haben bei einem höheren Prozentsatz tägliche intergenerationelle Kontakte vorgelegen. Hier hat dies auf zwei Drittel der 40- bis 85-Jährigen, im Vergleich zu gut der Hälfte bei den deutschen Befragten85, zugetroffen (vgl. Hoff 2006, 264ff; BMFSFJ 2005a, 304). Ein zentrales Ergebnis der Verlaufsanalyse beider Erhebungen des Alterssurveys ist die gleich bleibend hohe positive Bewertung der Beziehungsqualität. Im Jahr 2002 gehen weiterhin mehr als 90 % der Befragten davon aus, dass sich ihre Beziehungsqualität auch in Zukunft nicht verändern wird (vgl. Hoff 2006, 7f). Nach Nave-Herz reduzieren sich mit zunehmendem Alter der mittleren Generation die Kontakte zwischen Enkeln, Eltern und Großeltern, jedoch wird die Qualität der Beziehungen beständig positiv beurteilt (vgl. Nave-Herz 2004, 216). In Mehrgenerationenfamilien wird die Beziehungsqualität insbesondere von den älteren Befragten als positiv eingestuft. Der Kohortenvergleich der beiden Datensätze des Alterssurveys zeigt eine Steigerung von ca. drei Viertel in der Gruppe der 40- bis 85-Jährigen, die 1996 ihre familialen Beziehungen gut 85
Das Design des Alterssurveys enthält folgende Stichproben: Die erste Welle von 1996 beinhaltet die „Basisstichprobe“ (Tesch-Römer et. al. 2006c, 33) mit n = 4.838. Die zweite Welle von 2002 beinhaltet die Panelstichprobe mit n = 1.524 (hier hatten die Befragten bereits 1996 teilgenommen), die Replikationsstichprobe mit n = 3.084, und die „Ausländerstichprobe“ (ebd.) mit n = 586 (mit 40- bis 85-jährigen „Nicht-Deutschen“ (ebd.).
103
oder sehr gut empfanden, auf ca. 80 % dieser Altersgruppe im Jahr 2002. Insgesamt berichten Frauen positiver von ihren Familienbeziehungen (vgl. BMFSFJ 2005a, 303). Auch Lüscher und Liegle betonen geschlechterspezifische Aspekte familialer und verwandtschaftlicher Beziehungen, da Frauen empirisch belegt als „Hüterinnen der Verwandtschaft (kin-keeper)“ (Lüscher/Liegle 2003, 128) einen besonderen Stellenwert im Generationengefüge haben. Auf die Frage nach einer Bewertung der familialen Beziehungen in „sehr eng“ (Hoff 2006, 266) bis „überhaupt nicht eng“ (ebd.) geben 94 % der 40- bis 85-Jährigen ein ‚sehr enges’ oder ‚enges’ Verhältnis zu ihren jugendlichen und erwachsenen Kindern an. Auch die Beziehungen zu den eigenen Eltern zeichnen sich durch hohe Verbundenheitswerte aus, wenngleich nicht auf demselben hohen Niveau wie bei den Kindern. Folglich konstatiert Hoff, dass aufgrund der Daten der Erhebungen des 2. Alterssurveys, „von einer Krise der Familien nichts zu spüren“ (ebd., 266) sei. Eine räumliche Nähe mit einer bewussten Vermeidung von Koresidenz wird von Bertram mit einem Rekurs auf Konzepte der 1960er Jahre wie „Intimität auf Abstand“ (Rosenmayr/Köckeis 1965, zit. in: Fooken 1997, 14/12) als mögliche strukturelle Voraussetzung für eine hohe emotionale Verbundenheit zwischen den Generationen erachtet (vgl. Bertram 2000, 109). Kohli et al. führen widersprüchliche empirische Ergebnisse zu den Auswirkungen von Koresidenz auf die Beziehungsqualität an. Neben potenziellen positiven Faktoren wie der Einsparungen finanzieller und zeitlicher Ressourcen infolge der kurzen Distanzen gibt es auch Hinweise auf Belastungen der Generationenbeziehungen, was u. a. auf eine ökonomische Abhängigkeit der mittleren Generation von der älteren zurückgeführt wird (vgl. Kohli et al. 2000, 180). Wesentlich für die emotionale Verbundenheit der familialen Generationen ist die gemeinsame Interaktionsgeschichte: „Die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern sind durch wechselseitige Gefühle und eine Vertrautheit gekennzeichnet, die aus einer jahrelang gemeinsam verbrachten Lebenszeit resultieren.“(Schütze/Wagner 1995, 309).
Dieses zentrale Kriterium intergenerationaler, familialer Beziehungen bleibt auch bei multilokalen Familien existent, weil hier die verschiedenen Generationen miteinander Beziehungen unterhalten, „die in dieser Form nur zwischen den Familienmitgliedern, nicht aber zu Freunden, Nachbarn, Verwandten, und Arbeitskollegen bestehen“ (Bertram 2000, 101). Beispielsweise sind Freundschaften u. a. von Beginn an gleichberechtigt, frei gewählt und können beendet werden (vgl. Schütze/Wagner 1995, 309). 104
Somit kann die lebenslange Verbundenheit mit der eigenen Familie trotz des temporären Charakters ihres gemeinsamen Wohnortes als zentrales Merkmal gewertet werden: „Although I emphasized that parents and children living together (also in the same household) has now become a ‚transitional phase’, more than in the past for the individual, obviously this does not affect the fact that in his subjective perception the individual feels attached to ‚his family’ all his life and that the family is considered a lifelong support system (Nave-Herz 2002, 224).
Dass Familie als lebenslanges Unterstützungssystem betrachtet wird, ist ein Phänomen, welches auch für die in der vorliegenden Studie interviewten Enkelkinder in der familialen Pflege bei Demenz von signifikanter Bedeutung sein könnte. 2.3.4
Unterstützungstransfers in Mehrgenerationenfamilien
Die Analyse der Unterstützungstransfers in Mehrgenerationenfamilien basierte über lange Zeiträume am Kriterium der gemeinsamen Haushaltsführung86. Zwar kann räumliche Nähe als relevante strukturelle Voraussetzung für familiale Hilfeleistungen betrachtet werden, aber sie determiniert diese nicht (vgl. Bertram 2000, 109), sodass mittlerweile allgemein davon ausgegangen wird, dass die soziale Reproduktionsfunktion von Familie nicht mit einer gemeinsamen Lokalität endet, sondern sich ebenso auf multilokale Settings bezieht (vgl. z. B. Nave-Herz 2004; Lauterbach 2004; BMFSFJ 2005a; BMFSFJ 2005b; Kohli et al. 2000; Tesch-Römer et al. 2006a). Im Alterssurvey wird zwischen vier Unterstützungstypen differenziert: der kognitiven Unterstützung (z. B. in Form der Informationsweitergabe), der emotionalen Unterstützung, der instrumentellen Unterstützung (womit praktische Hilfen gemeint sind) und der monetären Unterstützung durch Geld oder Sachgeschenke. Herausragenden Stellenwert in allen Altersgruppen haben die kognitiven und emotionalen Hilfen, die im Jahr 2002 von ca. 84 % der Be86
Exemplarisch hierzu die Definition von Familie des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahr 2001: „Als Familie im Sinne der amtlichen Statistik zählen [...] Ehepaare ohne und mit Kind(ern) sowie alleinerziehende ledige, verheiratet getrennt lebende, geschiedene und verwitwete Väter und Mütter, die mit ihren ledigen Kindern im gleichen Haushalt zusammenleben“ [Eigene Hervorhebung] (Statistisches Bundesamt 2001, 14, zit. in: BMFSFJ 2003, 143).
105
fragten gegeben, und von 76 % (kognitiv) bzw. 67 % (emotional) erhalten wurden. Insgesamt wird deutlich, dass von den 40- bis 85-Jährigen im Allgemeinen mehr Unterstützung gegeben als erhalten wird. Eine Ausnahme in dieser Geben-Nehmen-Relation ist die Altersgruppe der 70- bis 85-Jährigen, bezogen auf die instrumentellen Hilfen. Hier waren im Jahr 2002 ca. 15 % die Erbringer und 36 % die Adressaten dieser praktischen Unterstützung (vgl. BMFSFJ 2005a, 306). Ein differenziertes Bild bei den Kategorien ‚Geld-/Sachtransfers’ und ‚instrumentelle Hilfen’87 dokumentieren Daten des Alterssurveys von 1996: Hierbei werden in Form eines Kaskadenmodells die finanziellen Leistungen sowie größeren Sachgeschenke vorwiegend von den älteren zu den jüngeren Generationen weitergeleitet. Jeder vierte ältere Mensch zwischen 70 und 85 Jahren unterstützt monetär seine Kinder, jeder siebte auch die Enkel. Umgekehrt sind Ältere überwiegend Adressaten instrumenteller Hilfeleistungen der jüngeren Generationen, wobei jeder fünfte ältere Mensch diese praktische Unterstützung von den Kindern erhält, und immerhin noch 7 % sie auch von den Enkeln empfangen (vgl. Kohli et al. 2000, 195). Durch die intergenerationellen finanziellen Transfers, die von oben nach unten fließen, ist die mittlere Generation am stärksten belastet, da die Leistungen der Eltern an ihre jungen Kinder, respektive an die Jugendlichen, den größten Umfang haben. Dieses Faktum korreliert mit der Verlängerung der Ausbildungszeiten junger Menschen, sodass unter den 18- bis 28-Jährigen 83 % von ihren Eltern ökonomisch abhängig sind. Von der Großelterngeneration fließen bevorzugt materielle Ressourcen zu der Elterngeneration, und auch in Hinblick auf eine Erbschaft werden in der Regel die Kinder und nur selten die Enkel eingesetzt (vgl. Nave-Herz 2004, 220). Die Befunde von Schütze und Wagner belegen Auswirkungen der subjektiv erlebten Beziehungsqualität auf die intergenerationellen Hilfeleistungen, was vorrangig emotionale und nachrangig instrumentelle Unterstützung betrifft. Hierbei ist die emotionale Unterstützung geschlechtsspezifisch unterschiedlich ausgeprägt: Das Merkmal ‚Zärtlichkeit’ wird häufiger von Müttern und Töchtern, und die ‚Aufmunterung der Eltern’ besonders oft von Töchtern angegeben (vgl. Schütze/Wagner 1995, 320f). Zu den Zukunftsperspektiven familialer intergenerationeller Hilfetransfers wird im 5. Altenbericht konstatiert: 87
106
Diesen praktischen Unterstützungsleistungen sind u. a. „Arbeiten im Haushalt, z.B. beim Saubermachen, bei kleineren Reparaturen, oder beim Einkaufen“ (Kohli et al 2000, 194) subsumiert.
„Die Unterstützung zwischen den Generationen innerhalb der Familien ist hoch und wird auch in Zukunft hoch bleiben, sich aber möglicherweise in den Inhalten verändern“ (BMFSFJ 2005a, 306).
Exemplarisch wird diese These u. a. folgendermaßen hergeleitet: Der gegenwärtige Umfang familialer finanzieller Hilfen kann in dieser Form nur in Kombination mit dem öffentlichen Generationenvertrag, der gewisse Versorgungsleistungen entprivatisiert, realisiert werden, sodass Modifikationen der sozialen Sicherungssysteme Einfluss auf familiale Transfers haben werden. Auch scheint das ökonomische Potenzial der Älteren zum großen Teil bereits ausgeschöpft zu sein, denn Zukunftsszenarien bilden eher limitierte Möglichkeiten Älterer ab, beispielsweise bedingt durch veränderte Erwerbsbiografien infolge der gestiegenen Arbeitslosigkeit und einem höheren Eigenbedarf, was durch Krankheit und Pflegebedürftigkeit verursacht werden kann. Insgesamt kann die Tendenz zu stärker werdenden Disparitäten im Alter und somit zum zunehmend divergierenden Unterstützungspotenzial Älterer festgestellt werden (vgl. BMFSFJ 2005a, 306f). 2.3.5
Vertiefende Aspekte zur Eltern-, Großeltern- und Enkelgeneration
In die Thematik der Enkelkinder in familialen Pflegesettings sind mit den drei tangierten Generationen sehr heterogene Bezugsgruppen involviert. Nachfolgend werden spezifische Merkmale der einzelnen Generationen, auch unter Berücksichtigung des prozessualen Charakters von Familie, expliziert. 2.3.5.1
Phasen der Familienentwicklung
Wenn Enkelkinder mit familialen Pflegesettings konfrontiert werden, kann dies in ganz unterschiedlichen Familienphasen stattfinden. Denn die Familie ist kein statisches Gebilde, sondern ein sich prozessual transformierendes soziales Gefüge mit verschiedenen Entwicklungsphasen. Darauf bezogene Konzepte von Familienentwicklung und „Familienzyklus“ (Hill/Kopp 2004, 68) segmentieren den zeitlichen Verlauf von Familien bzw. Partnerschaften in einzelne Stadien, wobei die einzelnen Ansätze die jeweiligen historischen Rahmenbedingungen widerspiegeln. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde beispielsweise in folgende Phasen unterschieden:
107
„Eheschließung, die Geburt des ersten Kindes, die Geburt des letzten Kindes, die Hochzeit des ersten Kindes und damit implizit der Auszug aus dem Elternhaus, die Eheschließung des letzten Kindes, den Tod des einen und schließlich den Tod des anderen Ehepartners“ (Hill/Kopp 2004, 68).
Nachdem solche tradierten und deterministisch ausgerichteten Modelle die Diversität zeitgemäßer familialer Lebensformen nicht mehr abbilden können, werden in der Literatur neuere und allgemeiner gehaltene Klassifizierungen präferiert. Exemplarisch nennen Hill und Kopp ein Vier-Phasenmodell mit der Differenzierung „Vorbereitungs- und Aufbauphase, Aufzucht- und Erziehungsphase, Auflösungsphase und schließlich Altenphase“ (Hill/Kopp 2004, 69). Modelle zur Familienentwicklung werden methodisch zur Deskription und als Heuristik herangezogen, wobei neuere Ansätze die einzelnen Phasen nicht als unabhängige, sondern als abhängige Größen betrachten (vgl. Hill/Kopp 2004, 67ff). Wechseln Familienmitglieder von einer in die nächste Generation verändert sich sowohl die Perspektive des Einzelnen als auch das ganze familiale Gefüge. Eine Transformation des eigenen Generationenstatus impliziert für das Familienmitglied eine veränderte Logik seiner Beziehungen mit inhärenten Rollenunsicherheiten und Neugestaltungen von Rollen88. In der Fachliteratur wird gefordert, dass Beziehungen im späteren Familienverlauf mit ihren immanenten Beziehungscharakteristika stärker von früheren Phasen differenziert werden sollten. Denn die asymmetrischen Beziehungen zwischen Eltern und minderjährigen Kindern sind durch institutionelle Vorgaben, wie z. B. das Haftungsrecht, strukturiert, während die Herstellung von symmetrischen Beziehungen einem permanenten Aushandlungsprozess unterliegt, da hierzu keine eindeutigen gesellschaftlich festgelegten Rollenerwartungen vorhanden sind (vgl. Lauterbach 2004, 236). Auch aufgrund der quantitativen Zunahme von vertikalen familialen Beziehungen gegenüber den horizontalen sollte die Gestaltung der durchschnittlich länger gewordenen familialen Phase mit einer älteren, hilfebedürftigen Generation zu einer Erweiterung von Familienentwicklungstheorien führen (vgl. Lauterbach 2004, 239). Allerdings kann diese komplexe intergenerationale Dynamik dabei „nicht nur aus Sicht der älteren Familienmitglieder betrachtet werden“89 (Lauterbach 2004, 238).
88 89
108
Wie bereits in Kapitel 2.1.4 angemerkt wurde, wird der Begriff ‚Rolle’ hier in Anlehnung an Dahrendorfs Definition der ‚sozialen Rollen’ gebraucht. Dieser Forderung wird in der hier vorliegenden Studie nachgekommen, indem gezielt die Perspektive der jungen Generation als Forschungsgegenstand gewählt worden ist.
2.3.5.2
Die Elterngeneration
Betrachtet man die mittlere Generation im gesellschaftlich-historischen Kontext, hat die Elternschaft quantitativ an Bedeutung verloren, da die Fruchtbarkeitsrate90 in Deutschland von 2,37 für das Jahr 1960 auf 1,31 für das Jahr 2002 gesunken ist (vgl. BMFSFJ 2005b, 33). Wenn allerdings eine Elternschaft vorliegt, so hat sie für die Beteiligten im Allgemeinen einen sehr hohen Stellenwert. Als wesentliches Spezifikum des Elternseins in zeitgenössischen westlichen Gesellschaften gilt dabei die Abkoppelung des Elternseins vom Primat der ökonomischen Altersabsicherung91. Heute steht die „kulturelle Sinnhaftigkeit“ (Lüscher/Liegle 2003, 75) von Elternschaft, einhergehend mit einer „verstärkten Beachtung der Kinder und der Kindheit“ (ebd., 77), und der „Aufwertung des Kindes als Person“ (ebd.), im Fokus. Konkret auf die familialen Zeitstrukturen bezogen kann dies empirisch z. B. durch die Verringerung des Anteiles für Hausarbeit und die Erhöhung des Anteiles für die Betreuung der Kinder belegt werden (vgl. Nave-Herz 2004, 213). Eine geschlechtsspezifische Differenzierung zeigt, dass die Distribution von Zeit gegenwärtig bei Männern und Frauen unterschiedlich ausgeprägt ist, denn Väter sind zwar bei der Kinderbetreuung in stärkerem Maße als früher beteiligt, doch nicht im selben Ausmaß wie Mütter. Allerdings ist zu beachten, dass insbesondere im Feld der familialen Kinderbetreuung Geschlechterdifferenzen diffundieren, da den quantitativ vorherrschenden tradierten Modellen innerfamilialer Arbeitsteilung zunehmend die gesellschaftliche Legitimität fehlt92 (vgl. ebd., 184). Insgesamt kann für beide Ehepartner von einer „Kindzentrierung“ (NaveHerz 2004, 213) in der Familie gesprochen werden. Die Sozialisation als zentrale Familienfunktion wird vorrangig in der Beziehungsqualität zu den Kindern verortet, was mit einer umfangreichen funktionalen Zuständigkeit von „Versorgen, Betreuen, Erziehen und Bilden“ (BMFSFJ 2005b, 223) einhergeht. 90 91 92
Die Gesamtfruchtbarkeitsrate ist definiert als durchschnittliche Anzahl der Kinder pro Frau (vgl. BMFSFJ 2005b, 33). Ausführliche Betrachtungen zur Fertilität der heutigen Elterngeneration aus dem Blickwinkel der Familiensoziologie siehe in: Hill/Kopp 2004, 186ff. Exemplarisch kann dies anhand neuerer familienpolitischer Reformen deutlich gemacht werden: Ab dem 1.01.2007 wird an erwerbstätige Eltern ein Elterngeld gezahlt, wobei ein Novum der Einbezug beider Geschlechter ist: Den vollen Zeitraum von 14 Monaten erhalten nur Paare, in denen der zweite Partner mindestens auch zwei Monate zu Hause das Kind versorgt (vgl. Gesetzesbeschluss des Deutschen Bundestages Drucksache 698/06 vom 13.10.06). In der praktischen Ausgestaltung dürfte es sich hierbei in den meisten Fällen um den Vater handeln.
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Im Siebten Familienbericht werden familiale Leistungen dieser Art auch mit „Care“ (ebd., 224) oder „Fürsorge“ (ebd.) bezeichnet, womit ein grundsätzliches „sich um den anderen zu sorgen und sich für das emotionale, mentale und physische Wohlergehen eines anderen verantwortlich zu fühlen“ (ebd.) gemeint ist. Auch wenn der Elterngeneration in der Familie die Sozialisation der Kinder als zentrale Funktion faktisch und normativ zugeschrieben wird, hat gerade für Frauen die Elternzeit mit minderjährigen Kindern und einem gemeinsamen Wohnort einen transitorischen Charakter. Im Unterschied zu früheren Lebensläufen zeigen heutige Familienphasen von Müttern eine deutliche zeitliche Expansion der späten gegenüber der kernfamilialen Phase (vgl. Lauterbach 2004, 233). Begriffliche Veranschaulichungen wie ‚empty nest’ oder ‚nachelterliche Gefährtenschaft’, die den Auszug der Kinder als Bezugsgröße für eine Unterteilung der familialen Entwicklung eines Paares beschreiben, müssen jedoch kritisch hinterfragt werden. Die damit verbundene Konnotation von einer Zeit der neolokalen Kernfamilie als die Hauptphase im Familiengeschehen kann den heutigen Relationen in vielen Fällen nicht mehr gerecht werden. Nicht nur der zunehmend temporäre Charakter der Phase mit Kindern im Haushalt sondern auch die Relevanz der späten Familienphase werden hierdurch ungenügend abgebildet (vgl. Lauterbach 2004, 228). Weiterhin ist der Auszug eines Kindes als Fixpunkt im Lebenslauf oftmals empirisch nicht nachweisbar, da hierbei häufig Übergangsphasen von mehreren Jahren beobachtet werden, in denen entweder noch finanzielle Dependenzen von den Eltern oder räumliche PendelSituation vorliegen (vgl. Lauterbach 2004, 50). Entgegen verbreiteter Annahmen, ist das „Empty-Nest-Syndrom“ (Nave-Herz 2004, 219), womit die psychische Belastung durch den Auszug der Kinder bezeichnet wird, nicht durchgängig verbreitet, sondern vorrangig bei Vollzeit-Hausfrauen zu finden. Weitere Befunde deuten darauf hin, dass viele Mütter eine Entlastung nach dem Auszug der Kinder empfinden. Bei den Vätern zeigen sich diesbezüglich keine speziellen Belastungswerte (vgl. ebd.). Der Auszug des Kindes aus dem Elternhaus kann mit einer Rollen- und Beziehungsveränderung für die Beteiligten einhergehen, da die vormals asymmetrische Eltern-Kind-Beziehung bei einer gelungenen Weiterentwicklung eine Neuorientierung in Richtung Selbstständigkeit, Partnerschaftlichkeit und Autonomie erfährt93 (vgl. Lauterbach 2004, 235). 93
110
Lauterbach nimmt hierbei Bezug auf das Konzept „parental maturity“ (Nydegger 1991, zit. in Lauterbach 2004, 235).
Eine wichtige Transformation der Beziehungen erlebt die mittlere Generation bei nachlassenden gesundheitlichen Ressourcen ihrer Elterngeneration. Die sich anschließenden Lernprozesse mit einer verstärkten Übernahme von Verantwortung sowie den inhärenten Rollenveränderungen sind bereits in den 60er Jahren thematisiert und beispielsweise von Blenkner als „filiale Reife“ (Blenkner 1965, zit. in: Lauterbach 2004 235) bezeichnet worden. Insgesamt belegen die empirischen Befunde, dass diese lebenslangen Verbindlichkeiten bezogen auf älter werdende Eltern an Gewicht gewinnen und zeitgleich „die Ehe als Garant lebenslanger Verbindlichkeit und Verlässlichkeit“ (Lauterbach 2004 239) in den Hintergrund rückt. Die simultane Sorgeleistung der mittleren Generation für minderjährige Kinder und alte Eltern wird, wie bereits erwähnt, mit dem Etikett ‚SandwichGeneration’ zunehmend thematisiert, wobei der verwendete Terminus in Bezug auf die faktisch vorliegende Häufigkeit als auch auf seine inhaltliche Angemessenheit kontrovers diskutiert wird. Lüscher und Liegle beispielsweise präferieren den ihrer Ansicht nach umfassenderen und wertfreien Terminus „Scharniergeneration94“ (Lüscher/Liegle 2003, 79), da ‚Sandwich-Generation’ eindimensional negativ mit Belastung konnotiert sei. Die Autoren warnen vor einer unreflektiert überzogenen Verwendung des Begriffs, da erstens die Anzahl der durch eine Mehrfachversorgung betroffenen Personen schwer zu ermitteln ist und zweitens auch das Vorliegen einer doppelten Verpflichtung noch keine Hinweise auf eine daraus resultierende Belastung zulässt. Die situationsimmanenten inner- und außerfamilialen Handlungspotenziale und Beziehungschancen sind bei einer Analyse zu berücksichtigen, was jedoch häufig unterbleibt95 (vgl. ebd., 75ff). Eine differenzierte Sichtweise in Bezug auf die mittlere Generation im Unterstützungs- bzw. Pflegegeschehen ist auch für die Analyse der Erfahrungen von Enkelkindern demenziell Erkrankter von gefordert. Sie entspricht der nachfolgend angewandten Forschungsmethodologie mit einer qualitativen, dem Forschungsgegenstand gegenüber offenen, Herangehensweise und der Vermeidung vorschneller Bewertungen von Situationen.
94 95
Der Begriff ‚Scharniergeneration’ kommt aus der französischen Soziologie und basiert auf ‚génération-pivot’ von Attias Donfut (vgl. Lüscher/Liegle 2003, 79). Weitere und gleichfalls kontroverse Ausführungen zur ‚Sandwich-Generation’ erfolgen im Kapitel 3.2.
111
2.3.5.3
Die Großelterngeneration
Die Geburt einer dritten Generation bedeutet für die vormalige Elterngeneration den Übergang zur Großelternschaft. Über die Großelterngeneration gibt es neben einer größeren Anzahl psychologischer Studien erst wenige soziologische Untersuchungen (vgl. Nave-Herz 2004, 186). Diese spezifische familiale Phase ist jedoch nicht für alle älteren Menschen eine Option, was beispielsweise, wie oben beschrieben, durch Kinderlosigkeit bedingt sein kann. Die Bewertungen der Dimension dieses Phänomens erfolgen kontrovers. Während einerseits die Daten des Alterssurveys einen hohen Anteil von älteren Menschen mit einer Enkelgeneration aufzeigen96, betonen weitere Autoren ein „historisch neues Knappheitsverhältnis“ (Beck-Gernsheim 1993, zit. in: Opaschowski 2004, 27) beim ‚Gut Enkel’, da dieses aufgrund der niedrigen Geburtenrate zu einer selteneren ‚Ware’ geworden sei. Auch für die Zukunft werden „immer mehr enkellose Ruheständler“ (Opaschowski 2004, 27) vorausgesagt. In Hinblick auf den in Kapitel 2.3.1 beschriebenen strukturellen Wandel der Familien ist für das Thema der familialen Pflege von Relevanz, dass beim Vorhandensein von Enkelkindern heute eine größere Chance für beide Generationen besteht, ein intergenerationelles Verhältnis über einen längeren Zeitraum zu erleben. Pointiert kann also gesagt werden: „Noch nie in der Geschichte kamen auf so viele Großeltern so wenig Enkelkinder – und noch nie hat ein so großer Anteil von Kindern die Großeltern erlebt“ (Lüscher/Liegle 2003, 93). Da diese gemeinsame längere Lebenszeit von Enkeln und Großeltern zu einem höheren Anteil Frauen betrifft, wird im 5. Altenbericht auch von einer „Feminisierung der Großelternschaft“ (BMFSFJ 2005b, 236) gesprochen. Für Großeltern hat das Vorhandensein von Enkeln in der Regel einen hohen Stellenwert, beispielsweise da diese „die Großeltern überleben und das ‚familiale Erbe’ antreten“ (Lauterbach 2004, 121) werden. Enkel stehen somit für eine familiale Kontinuität. Lauterbach führt aus, dass Großeltern mit häufigem Kontakt zu Enkeln sich seltener einsam fühlen als jene mit geringem Kontakt zu Enkeln. Die räumliche Distanz zwischen den Generationen kann hierbei als einer der relevanten Faktoren zur Beziehungspflege gewertet werden (vgl. Lauterbach 2004, 122). Enkelkinder als einen der Indikatoren für soziale Integration älterer Menschen nennt ebenfalls Bertram. So zeigen die Daten seiner netzwerktheoretischen Analyse u. a. eine enge Verbundenheit Älterer mit
96
112
Hier werden 75 % aller älteren Menschen genannt (vgl. Kohli et al. 2000, 183).
ihren Enkelkindern. Beispielsweise werden von den älteren Befragten97 als „Personen, zu denen man im Lebenslauf enge Bindung hat“ an zweithäufigster Stelle die Enkel, direkt nach den Kindern, genannt. So kann gefolgert werden: „Mit zunehmendem Lebensalter gewinnen Kinder und Enkel eine Bedeutung, die keine andere Gruppe, weder Freunde, Arbeitskollegen, Nachbarn oder andere Verwandte, auch nur annähernd erreicht“ (Bertram 2000, 116).
Der Großelternrolle immanent kann eine erneute Sorgehaltung gegenüber jüngeren Familienmitgliedern sein, was jedoch nicht mit konkreten Erziehungsleistungen einhergehen muss. Eine aktiv unterstützende Haltung trifft mehrheitlich auf Großmütter zu, jedoch haben auch Großväter durch den Wegfall früherer Belastungen im Kontext der Erwerbstätigkeit für die Beziehung zu jüngeren Generationen nun neue Freiräume (vgl. Lauterbach 2004, 233). Die neue Rolle als Großeltern ist häufig mit Sinnbezügen und positiven Gefühlen wie ‚Freude’ konnotiert und unter Umständen kann sie auch als Ersatz für berufliche Aufgabe fungieren (vgl. ebd., 121). Nave-Herz leitet die familiale Rollendefinition der Großelternschaft aus der in Abschnitt 2.1.6 beschriebenen sozialen Reproduktionsfunktion von Familie ab, da diese funktionale Spezialisierung nicht auf die Kernfamilie beschränkt sei. Daher wird von den Großeltern „ebenfalls die Regeneration und Stabilisierung der Familienmitglieder erwartet“ (Nave-Herz 2004, 189). Untersuchungen belegen dies einerseits als allgemeine Rollenerwartung, die an die Großeltern herangetragen wird, andererseits als Teil der Selbstdefinition der älteren Generation, wobei sie ihre Aufgabe als eine die Hauptverantwortung der Eltern ergänzende wahrnehmen. Aktive Großelternschaft kann als Teilhabe am sozialen Leben im Sinne von einem ‚Gebraucht-Werden’ wahrgenommen werden und damit zur Sinnfindung und der weiteren Persönlichkeitsentwicklung im späten Lebensabschnitt beitragen (vgl. Lüscher/Liegle 2003, 181). Doch die Rolle der Großeltern enthält auch Widersprüchlichkeiten, denn die „Vorstellungen von einer autonomen Lebensphase kollidieren mit dem Bild der Großelternschaft als allzeit und dauerhaft abrufbare Unterstützungsleistung für die erwachsenen Kinder“ (BMFSFJ 2005a, 268). Die Großelterngeneration der Gegenwartsgesellschaft hat für sich eigene Lebenskonzepte für die Altersphase entwickelt und tendiert zu einer Unterstützung der erwachsenen Kinder begrenzt auf „Engpass-Situationen“ (ebd.). Jedoch kann auch ein limitierter 97
In der Studie von Bertram handelt es sich dabei um die Geburtsjahrgänge 1923 bis 1938 (vgl. Bertam 2000, 115).
113
Einsatz für nachfolgende Generationen von Relevanz sein, denn obgleich Großeltern häufig räumlich distanziert ihr ‚eigenes Leben’ führen, haben sie oftmals eine symbolische Funktion als Sicherheitsnetz bzw. „back-up“ (ebd., 165). Großeltern sind daher zwar häufig in die Betreuung der Enkel involviert, jedoch in der Regel nur sporadisch oder in Notfällen (vgl. Nave-Herz 2004, 215f; Lauterbach 2004, 121). Als konkrete Aufgaben werden von Großeltern die gemeinsamen Aktivitäten und die Kommunikation mit Enkeln wahrgenommen. Monetäre Unterstützung erfolgt, wie unter 2.3.4 ausgeführt, eher an die Elterngeneration (vgl. BMFSFJ 2005a, 310). Wie gesagt, handelt es sich bei der zeitlichen Dimension und den kulturellen Hintergründen der Großelternschaft um „sehr junge gesellschaftliche Phänomene“ (Lauterbach 2004, 158), sodass allgemeine normative Vorgaben zur Beziehungsgestaltung noch fehlen: „Strukturell gesehen befinden sich gegenwärtig viele ältere Menschen in der Rolle der Großeltern oder sogar Urgroßeltern, aber kulturell ist die Ausfüllung dieser Rolle variabel und bisher wenig bestimmt“ (Lauterbach 2004, 237)98.
Insbesondere die Großväter zeigen eine erhebliche Verhaltensvariabilität, wobei das Spektrum von einem intensiven Umsorgen bis zu einer geringen Kenntnisnahme der Enkel reicht. Zahlreiche Kontextvariablen, wie das Alter der Großeltern oder der Enkel, die Kontakthäufigkeit oder das Verhältnis zur Elterngeneration, beeinflussen die Beziehungsgestaltung zwischen Großeltern und Enkel (vgl. Nave-Herz 2004, 188f). Ähnliche Ergebnisse können auch der anglo-amerikanischen Forschungsliteratur entnommen werden (vgl. ebd., 123). Als Gründe für die Rollenkomplexität wird vor allem die oben beschriebene zunehmende Diversität von familialen Lebensformen angegeben. Verhaltensunsicherheiten und normative Spielräume werden insbesondere mit gestiegenen Scheidungsziffern sowie der Zunahme nicht-ehelicher Lebensgemeinschaften 98
114
In der einschlägigen Fachliteratur wird insgesamt – nicht nur bezogen auf die Großelternrolle – eine kulturelle Lücke zwischen der Altersstruktur und den kulturellen Regeln vor allem aus modernisierungstheoretischer Perspektive diskutiert. Bei dem häufig konstatierten „cultural lag“ (Dallinger 1997, 116) kritisiert Dallinger jedoch ungenügende konzeptionelle und empirische Herleitungen. Auch sie bestätigt zwar, dass existierende Generationenkonstellationen in der Umsetzung ihrer Beziehungen neue Modelle, Vorbilder und kulturelle Vorgaben brauchen und die Familienmitglieder „kulturelle Mehrdeutigkeiten“ (ebd.) sowie „Ambiguität und Offenheit intergenerationeller Beziehungen“ (ebd., 115) vorfinden, und dass sich die Neuanpassung der Handlungsorientierungen verzögert. Jedoch sollte nach Dallinger eher vom Anknüpfen an traditionelle Verhaltensregeln als von einer „tabula rasa“ (ebd.) ausgegangen werden.
und den damit einhergehenden ungeklärten Rechten und Pflichten in Verbindung gebracht (vgl. Stosberg 1999, 438). Die Auswirkungen der Existenz von Großeltern im familialen Gefüge sind divergent, denn Großeltern modifizieren elterliche Vorstellungen und Normen, was einerseits Friktionen zwischen Enkeln und Eltern reduzieren, andererseits auch konfliktgenerierend wirken kann (vgl. BMFSFJ 2005a, 309). Zusammenfassend können nach Lauterbach folgende drei Bedeutungsebenen, die Enkel für Großeltern haben, aufgeführt werden: Tabelle 12:
Zur Bedeutung von Enkelkindern für ihre Großeltern
Im Alltag Emotionale Ebene x Unterstützung der x Quelle der Kinder Vitalität x Unterstützung der x Reduzierung von Enkelkinder Einsamkeitsgefühlen x Bereicherung des Lebens durch Kontakte zu den Enkeln Quelle: Lauterbach 2004, 124
Symbolische Ebene x Kontinuität der Familie x Verbindung zur eigenen Vergangenheit
In Hinblick auf die Potenziale zukünftiger intergenerationeller Hilfetransfers wird keine einheitliche Aussage gemacht. Einerseits zeigen Tagebuchaufzeichnungen von über 60-Jährigen, dass das Unterstützungspotenzial der Großelterngeneration in den Familien vermutlich noch nicht ausgeschöpft ist. Von allen Befragten gaben nur 4 % die Betreuung von Enkelkindern an, und selbst wenn berücksichtigt wird, dass dies unabhängig von einer konkreten Existenz von Enkelkindern erfolgte, scheinen die Ressourcen in der späten Familienphase noch partiell ungenutzt (vgl. BMFSFJ 2005a, 310). Andererseits lässt sich festhalten, dass eine positive Wertung der Großelternrolle nicht mit der faktischen Betreuungsleistung von Enkeln bei den Großeltern korreliert. Daher schlussfolgern die Autoren des 5. Altenberichts: „Möglicherweise sind die Beziehungen zwischen Großeltern und Enkeln dann am angenehmsten, wenn kein Verpflichtungs- und Sozialisationscharakter entsteht“ (ebd., 311). Wie schon in Kapitel 2.1.5 ausgeführt, weist auch Höpflinger auf die Gefahr einer empirisch nicht belegbaren Überhöhung von Großelternschaft im Kontext von familialer Unterstützung hin (vgl. Höpflinger 2002a, 37).
115
Eine aktive Großelternschaft kann als Teil des generativen Verhaltens eingeordnet werden, womit Höpflinger u. a. die Weitergabe von Erfahrungswissen und individuellen Kompetenzen sowie damit verbundene Aktivitäten bezeichnet99 (vgl. Höpflinger 2002c, 329). 2.3.5.4
Die Enkelgeneration
Wie oben ausgeführt, kann erstens von einer sinkenden Gesamtanzahl von Enkeln und zweitens von einer gestiegenen Wahrscheinlichkeit ausgegangen werden, dass Enkelkinder ihre Großeltern erleben. Daten von Lauterbach zeigen, dass bei 65 bis 70 Prozent der Enkelkinder, deren Großeltern vor 1890 geboren wurden, diese zur Zeit der Geburt der Enkel schon verstorben waren. Anders zeigt sich die Situation bei Enkelkindern, deren Großeltern zwischen 1911 und 1920 geboren wurden: hier hatten 9 von 10 Enkelkindern noch eine Großmutter und 7 von 10 Enkeln noch einen Großvater erlebt (vgl. Lauterbach 2004, 158). Werden Kinder und Jugendliche befragt, wen sie als bedeutsames Familienmitglied bezeichnen, gelten Großeltern für sie als relevanter Bestandteil des familialen Netzwerks und werden gleich nach den Eltern und den Geschwistern als „sehr wichtig in ihrem Leben“ (Lauterbach 2004, 119) eingestuft. Diese Bedeutsamkeit bleibt häufig auch nach dem Kindesalter bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen bestehen, weshalb Großeltern als maßgebliche Bezugspersonen für Enkelkinder angesehen werden können. Die Kontakthäufigkeit ist in der Regel hoch und variiert geschlechtsspezifisch: Kontakte zu Großmüttern finden häufiger statt. Darüber hinaus kann die Pubertät als Phase der Transformation der Beziehung zu den Großeltern angesehen werden (vgl. Lauterbach 2004, 119f). Für Enkel können Großeltern als ein „bedeutsames soziales Kapital“ (BMFSFJ 2005a, 309), beispielsweise bezogen auf die Förderung von sozialen und kognitiven Fähigkeiten, eingeschätzt werden. Dieser Wissens- und Erfahrungstransfer verläuft jedoch häufig reziprok, sodass von einem beiderseitigen intergenerationellen Lernen gesprochen werden kann. Bei der Beurteilung ihrer Beziehung sowohl durch Enkel als auch durch Großeltern zeigt sich unter Umständen eine intergenerationelle Diskrepanz, denn nach Angaben des
99
116
Das Konzept der Generativität wird in den Abschnitten 2.4.1 und 2.4.4 nochmals aufgegriffen.
5. Altenberichts schätzen Enkel die Qualität der Beziehung nicht immer so positiv ein wie ihre Großeltern (vgl. BMFSFJ 2005a, 309f). Je nachdem, in welcher Phase sich der Familienprozess befindet, variiert auch die Beziehung der Enkelkinder zu den anderen Generationen. Anfangs ist sie geprägt durch Asymmetrie und Hierarchie und erfährt mit zunehmendem Alter eine Transformation in Richtung Autonomie und Symmetrie. In späteren Familienphasen erleben Enkel unter Umständen eine neue Rollensituation besonders bei hochaltrigen und hilfebedürftigen Großeltern. Dann werden Enkelkinder – oft zum ersten Mal – mit existenziellen Phänomenen wie Altern, körperlichen Einbußen und Tod konfrontiert (vgl. Lauterbach 2004, 123). Diese individuellen Erfahrungen von jungen Menschen können zu einer Verbesserung des Generationenverständnisses auf der gesellschaftlichen Ebene beitragen (vgl. ebd., 120). Enkel werden weiterhin als Katalysator für die Beziehung zwischen Großeltern und Eltern beschrieben. Deren Verhältnis ändert sich mit der Geburt eines Enkelkindes in der Weise, dass die Kontakthäufigkeit steigt und die Beziehungen enger werden. Oftmals nehmen die monetären und instrumentellen Hilfeleistungen der Großeltern nach der Geburt eines Enkelkindes, insbesondere in Form von Betreuungsleistungen, zu. Das Verhältnis der mittleren (Eltern-) zur Großelterngeneration verändert sich oftmals zum Positiven (vgl. Lauterbach 2004, 237f). In der Fachliteratur wird gegenwärtig eine zum Positiven veränderte Einstellung der jungen Generation zur Familie erörtert. Bertram betont, dass die Selbsteinschätzung von jungen Menschen teilweise „deutlich den Thesen über eine Kluft zwischen den Generationen widerspricht“ (Bertram 2000, 115). Beispielsweise nennen junge Menschen auf die Frage, zu welcher Person sie eine enge Bindung haben, vorzugsweise ihre Eltern. Hieran wird deutlich, dass „die heutigen Ablösungsprozesse vom Elternhaus nicht notwendigerweise krisenhaft erfolgen“ (ebd.). Einen Wertewandel bezogen auf die Einstellung zu den anderen Generationen und zur Familie haben ebenso die Autoren der 15. Shell Jugendstudie mit dem Untertitel „Eine pragmatische Generation unter Druck“ (Shell Deutschland Holding 2006)100 ermittelt. Die Befunde verdeutlichen den hohen Stellenwert der Familie für junge Menschen auf der Basis 100 Es handelt sich um eine Erhebung mit einer Stichprobe von 2.532 Jugendlichen im Alter von 12 bis 25 Jahren aus den alten und neuen Bundesländern. Gefragt wurde nach der Lebenssituation, den Einstellungen und Orientierungen auf der Basis eines standardisierten Fragebogens. Die Befragung wurde durch eine qualitative Vertiefungsstudie mit 25 Jugendlichen im Alter von 15 bis 25 Jahren ergänzt.
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einer allgemein pragmatischen Einstellung. Die Jugendlichen geben mehrheitlich an, „trotz gelegentlicher Meinungsverschiedenheiten gut mit ihren Eltern“ (Langness et al. 2006, 59 auszukommen, und berichten dabei überwiegend von einem „partnerschaftlichen Verhältnis“ (ebd., 61). 72 Prozent der Befragten sind der Meinung, „dass man eine Familie braucht, um glücklich leben zu können“ (ebd., 50). Deutlich wird eine „Hochachtung vor der älteren Generation“ (Schneekloth 2006a, 155) wobei sowohl die früheren Aufbauleistungen als auch die Hilfebedarfe der Älteren als relevant gewichtet werden, aber auch eine gerechtere Verteilung finanzieller Ressourcen in Hinblick auf den demografischen Wandel für nötig gehalten wird (ebd., 151ff). In einer umfangreichen Befragung haben Höpflinger und Hummel die Beziehung von Enkelkindern zu ihren Großeltern untersucht. Da es sich hierbei um eine Studie handelt, in der erstens die Enkel als Zielgruppe persönlich befragt wurden und zweitens die Generationenbeziehungen zu den Großeltern das zentrale Thema bilden, wird sie nachfolgend ausführlicher dargestellt101. Im Bereich der Kommunikation zeigt sich, dass persönliche und telefonische Kontakte dominieren, aber elektronische Möglichkeiten der Beziehungspflege zunehmend an Bedeutung gewinnen, jedoch scheinen Letztere die gängigen Kontaktformen trotzdem nicht zu verdrängen. Bei den von den Enkelkindern genannten Aktivitäten steht „das Diskutieren“ (Höpflinger/Hummel 2006, 36) an erster Stelle, was in einer österreichischen Studie mit 10-jährigen Kindern ebenfalls einen hohen Stellenwert hat. Danach folgt als Aktivität das gemeinsame Fernsehen, welches wiederum ein Impuls zum Miteinanderreden darstellt. Basteln, Kochen und Spielen sind ebenfalls relevante Tätigkeiten. Während das Spielen mit den Großeltern mit steigendem Alter an Bedeutung verliert, bleibt das Kochen konstant bedeutsam. Nur 15 Prozent der Enkelkinder nennen die Hilfe bei den Hausaufgaben als gemeinsame Aktivität. Insgesamt werden häusliche Tätigkeiten signifikant häufiger als außerhäusliche genannt. Die Enkelkinder wurden weiterhin danach befragt, für welche Bereiche ihres Lebens ihre Großeltern Interesse zeigen. Die Antworten machen deutlich, dass entweder ein generalisiertes Interesse existiert, bei dem der jeweilige Großelternteil sich für eine Vielzahl von Themen interessiert, oder, und dies trifft auf ca. ein Viertel der Großeltern zu, diese können als generell desinteressiert bezeichnet werden (vgl. Höpflinger/Hummel 2006, 36). Auf die Frage, wie 101 Die Datenbasis war eine Befragung von 685 Schulkindern im Alter von 12 bis 16 Jahren in Genf, Zürich und dem urbanen Wallis. Vier Prozent der Befragten hatten keine Großeltern mehr. Bei der Stichprobe musste weiterhin berücksichtigt werden, dass 37 % der Großeltern der Befragten außerhalb der Schweiz wohnten.
118
wichtig ihnen die Beziehung zu den Großeltern sei, antworteten 49 % der Enkel mit „sehr wichtig“ (ebd.), 38 % mit „eher wichtig“ (ebd.) und nur 13 % mit „unwichtig oder überhaupt nicht wichtig“ (ebd.). Die Enkel haben an erster Stelle die Erwartung, dass die Großeltern „einfach da sind“ (ebd., 37), auch werden „private Einmischungen“ (ebd.) größtenteils abgelehnt. Die Bedeutung, die Großeltern für ihre Enkel haben, differiert nicht geschlechterspezifisch, beispielsweise ist keine intergenerationelle gleichgeschlechtliche Präferenz feststellbar. Geschlechterrelevante Differenzen sind ebenfalls hinsichtlich der Kontakte weder bei dem Geschlecht des Enkels noch bei dem des Großelternteils vorhanden, und zwar die Kontakthäufigkeit als auch die Kontaktformen betreffend. Lediglich eine matrilineare Ausrichtung ist erkennbar: mit den Großeltern mütterlicherseits finden mehr Kontakte und Aktivitäten statt. Zusammenfassend kann für die Ergebnisse aus der Schweiz gesagt werden, dass aus der Perspektive heranwachsender Enkelkinder keine ausgeprägten geschlechtsspezifischen Unterschiede hinsichtlich der Beziehungsgestaltung zu verzeichnen sind (vgl. ebd., 33). Somit weichen diese Befunde von den weiter oben dargestellten von Lauterbach ab, der häufigere Kontakte zwischen Enkelkindern und ihren Großmüttern im Vergleich zu den Kontakten zu ihren Großvätern in Deutschland aufzeigt (vgl. Lauterbach 2004, 119f). Zurzeit liegen noch keine ausreichenden Daten zum Thema der multigenerationellen Beziehungen aus der Sicht der Enkelgeneration vor. Daher werden weitergehende Forschungen speziell aus der Enkelperspektive gefordert, wobei nach Lauterbach auch mögliche gestiegene Hilfebedarfe in der Großelterngeneration erfasst werden sollten (vgl. Lauterbach 2004, 238).
2.4
Ausgewählte Aspekte von Generationenbeziehungen
Intergenerationelle Beziehungen sind im familialen Pflegegeschehen von erheblicher Relevanz und können anhand verschiedener Zugänge untersucht werden. Nach dem vorangegangenen Überblick über verschiedene Dimensionen von Generationen(-beziehungen) werden nachfolgend ausgewählte Beziehungsmuster vertiefend betrachtet. Die hier vorgenommene Selektion orientiert sich an den von Lüscher und Liegle genannten „Regelhaftigkeiten“ (Lüscher/Liegle 2003, 7) von Generationenbeziehungen mit den Kategorien „Generationensolidarität, Generationenkonflikte“ (ebd.) und „Generationenambivalenz“ (ebd., 8).
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Als weitere Kategorie wird das ‚Generationenlernen’102 hinzugefügt, da es sich bei der Datenanalyse der in den Abschnitten B) und C) vorgestellten Studie als wichtige Form von Generationenbeziehungen im familialen Pflegesetting herausgestellt hat. Die nachfolgenden Ausführungen machen die Interdependenzen von mikro- und makrosozialen Beziehungsaspekten der Generationen deutlich. Diese beiden Ebenen von Generationenbeziehungen können nach Kaufmann (vgl. 1997, 19) in ‚Generationenverhältnisse’ und ‚Generationenbeziehungen’ differenziert werden. Erstere bezeichnen die wechselseitigen Wahrnehmungen und Austausche von Alterskohorten auf der Makroebene und beziehen sich somit auf gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge wie beispielsweise die sozialen Sicherungssysteme. Letztere benennen die direkten zwischenmenschlichen Interaktionen und Hilfeleistungen zwischen einzelnen Individuen verschiedener Generationen im familialen und direkten sozialen Umfeld. Generationenverhältnisse sind demnach gekennzeichnet von Anonymität, wobei das jeweilige Altersfremdbild einer Generation stark medial geprägt sein kann. Generationenbeziehungen jedoch sind, vornehmlich in der Familie aber im Verlauf der Biografie auch zunehmend in sozialen Nahräumen wie der Schule, Ausdruck der konkreten persönlichen und wechselseitigen Kommunikation. 2.4.1
Generationensolidarität
Der Begriff ‚Solidarität’ kann aufgrund seiner inflationären Verwendung ebenso wie der Terminus ‚Generation’ als Modevokabel bezeichnet werden. Etymologisch betrachtet bezeichnet das aus dem Lateinischen stammende ‚solidare’ „eine Handlung des Festfügens“ (Pohlmann 2005, 236), im übertragenen Sinne „das gegenseitige Füreinandereinstehen“ (ebd.), wobei diesem neben grundsätzlichen Einstellungen auch aktives Handeln inhärent ist. 2.4.1.1
Definition familialer Solidarität
In diesem Sinne definieren Lüscher und Liegle Generationensolidarität im familialen und nahen Sozialraum wie folgt: 102 Auch Lüscher und Liegle behandeln ‚Generationenlernen’, jedoch abweichend von der hier verwendeten Systematik nicht unter ‚Regelhaftigkeiten’ subsumiert.
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„Solidarität bezeichnet die verlässliche Unterstützung, bzw. die Bereitschaft zu nicht notwendigerweise rückzahlbaren (Vor-)Leistungen zwischen den Generationen.“ (Lüscher/Liegle 2003, 292).
Im Rahmen dieser Definition sind die unter 2.3.4 genannten familialen Unterstützungstransfers wie kognitive, emotionale, instrumentelle oder finanzielle Hilfen per se Teilaspekte familialer Solidarität, unabhängig davon, mit welcher inneren Haltung diese Handlungen erfolgen. Wird diese erste Definition von Solidarität jedoch um zusätzliche konstitutive Merkmale wie einer positiven oder übereinstimmenden Haltung erweitert, bilden die mit den Handlungen verbundenen internalen Einstellungen weitere Basiselemente von Solidarität. Bengtson und Roberts haben in einer mehrstufigen Theorieentwicklung von intergenerationeller familialer Solidarität abschließend folgende sechs Elemente zu einer Taxonomie familialer Generationensolidarität erstellt: „association“ (Bengtson/Roberts 1991, 857), womit direkte Interaktionen und die damit verbundenen Aktivitäten benannt werden, „affection“ (ebd.), worunter Zuneigung, Zusammengehörigkeitsgefühl und gefühlsmäßige Zuwendung subsumiert werden, sowie „consensus“ (ebd.), was die Übereinstimmung von Werten und Haltungen beschreibt. Weitere Dimensionen lauten „function“ (ebd.) als Kategorie für instrumentelle Hilfen und „familism (norms or expectations)“ als Bezeichnung der gegenseitigen normativen Erwartungen hinsichtlich der vorliegenden Verpflichtungen. Das sechste Teilelement von Solidarität stellt unter dem Terminus „structure“ die faktischen Potenziale der Solidarität wie die Existenz von Angehörigen sowie die gesundheitlichen und geografischen Voraussetzungen dar. Wird nach den Kriterien von Bengtson und Roberts oder ähnlichen Konzepten103 das Konstrukt ‚familiale Generationensolidarität’ theoretisch hergeleitet, so müssen instrumentelle und finanzielle Hilfeleistungen von emotionalen oder normativen Gesichtspunkten flankiert werden, um als solidarische Akte zu gelten. Diese Merkmale, mit denen ‚familiale Generationensolidarität’ operationalisiert wird, werden in der Literatur von den verschiedenen Autoren je nach Fragestellung unterschiedlich gewichtet. Sozialer Austausch wird bei Pohlmann 103 Eine weitere Systematik von Lawton et al. (1994) enthält folgende sechs Dimensionen der familialen Solidarität: Koresidenz (inkl. geringer Entfernung) als strukturelle Dimension, „Kontakt, emotionale Enge, gemeinsame Meinungen und Einstellungen, Hilfeleistungen sowie Verantwortungsgefühl gegenüber der anderen Generation“ (Lawton et al. 1994, zit. in: Kohli et al. 2000, 179f) als weitere Dimensionen. Diese Operationalisierung deckt sich weitestgehend mit der von Bengtson und Roberts.
121
fokussiert, wenn Generationensolidarität als Vokabel für „das Verhältnis von Jung und Alt und ihre gegenseitigen Austauschbeziehungen“ (Pohlmann 2005, 237) eingesetzt wird, denn „Solidarität umfasst nicht nur eine bloße Geisteshaltung, sondern ist zweifellos auch mit aktivem Tun verknüpft“ (ebd., 236). Der normative Aspekt von Solidarität im Zusammenhang mit intergenerationellen Beziehungen wird von Dallinger im Rahmen handlungstheoretischer Ansätze hervorgehoben (vgl. Dallinger 1997). Nave-Herz beschreibt Solidarität als ein kulturübergreifendes Basismerkmal von Familie (vgl. Nave-Herz 2004, 30). Lüscher und Liegle sehen die „allgemeinste Bedeutung von Solidarität als ‚Zusammenhalt’“ (Lüscher/Liegle 2003, 269). Neben der oben aufgeführten mitmenschlichen Verbundenheit und Empathie (vgl. ebd., 266), den gemeinsame „Wertorientierungen“ (ebd., 267) und „Situationsdefinitionen“ (ebd.) ist die Präsenz bzw. die Abwesenheit „sozialer Anerkennung“ (ebd.) für die Autoren ein weiteres relevantes Element. Schütze und Wagner zitieren Kaufmanns Explikation „Familien sollen zusammenhalten“ (Kaufmann, zit. in Schütze/Wagner 1995, 310) als substanzielle Solidaritätsnorm. Darüber hinaus sind nach Ansicht der Autoren folgende Merkmale familialer intergenerationeller Solidarität inhärent: Sie ist multilokal, basiert auf entwickelter Unabhängigkeit mit gleichzeitiger emotionaler Bindung und Vertrauen, sie kann mit Pflichten gegenüber Dritten konkurrieren und sie beweist sich nicht nur, aber besonders in Notsituationen (vgl. Schütze/Wagner 1995, 310f). Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über zentrale Merkmale familialer Solidarität. Tabelle 13:
Übersicht über zentrale Merkmale familialer Generationensolidarität
Merkmale familialer Generationensolidarität nach Bengtson und Roberts x Kontakt (und die damit verbundenen Aktivitäten), x Zuneigung und Zusammengehörigkeitsgefühl, x Übereinstimmung von Werten und Haltungen, x instrumentelle Hilfen, x gegenseitige normative Erwartungen (z. B. bzgl. Verpflichtungen) x und das faktische Potenzial der Solidarität in Form der Existenz von Angehörigen, der gesundheitlichen und geografischen Voraussetzungen, etc. (vgl. Bengtson/Roberts 1991, 857).
122
Weitere Merkmale nach Schütze und Wagner x Familiale Generationensolidarität ist multilokal, x sie basiert auf entwickelter Unabhängigkeit mit gleichzeitiger emotionaler Bindung und Vertrauen, x sie kann mit Pflichten gegenüber Dritten konkurrieren x und sie beweist sich nicht nur, aber besonders in Notsituationen (vgl. Schütze/Wagner 1995, 311).
2.4.1.2
Solidarität als dritte Kernfunktion der Mehrgenerationenfamilie
Die faktische Bedeutung familialer Generationensolidarität wird in der einschlägigen Fachliteratur unisono als hoch angesehen, wobei im Allgemeinen eine breite und nicht weiter ausdifferenzierte Definition von Solidarität impliziert ist. Nach Höpflinger zählt es zu den „erstaunlichsten Befunden der neueren familialen Netzwerk- und Generationenforschung“ (Höpflinger 2002a, 34), in welchem Ausmaß sich „Formen intergenerationeller Unterstützung und Hilfe auch in modernen Gesellschaften erhalten haben“ (ebd.). Im 7. Familienbericht wird anstelle der oft postulierten „Krise der Familie“ (BMFSFJ 2005b, 239) die Frage nach vorhandener „Generationensolidarität“ (ebd.) präferiert, und auch im 5. Altenbericht wird konstatiert: „Im ‚kleinen Generationenvertrag’ unterstützen sich die Generationen innerhalb der Familien“ (BMFSFJ 2005a, 306). Insbesondere die Modelle der ‚multilokalen Mehrgenerationenfamilie’ stellen ‚Generationensolidarität’ als „dritte Kernfunktion moderner Familien neben die Sozialisations- und Regenerationsfunktion“ (BMFSFJ 2003, 143). Bezogen auf die oben unter ‚consensus’ aufgeführte ‚konsensuale Solidarität’ ergaben Befunde von Bertram104, dass anstelle der häufig genannten „Isolation der Generationen“ (Bertram 2000, 111), die aufgrund erheblicher Diskrepanzen bei Einstellungen, Werten und normativen Vorstellungen vermeintlich existiere, „in allen Altersgruppen eine enge und vertraute Bindung zwischen Eltern und Kindern besteht“ (ebd., 114). Auf die Frage nach den Menschen, mit denen man „persönliche Gespräche105“ (ebd., 112) führt, wurden Kinder nach dem Partner als die wichtigsten Gesprächspartner für persönliche Angelegen104 Die Basis der Befunde war eine Mehrthemenbefragung mit rund 4.000 Befragten ab Jahrgang 1923 (vgl. Bertram 2000, 105f). 105 Es liegt hier die Hypothese zugrunde, dass Vertrautheit ähnliche Vorstellungen und Werte voraussetzt.
123
heiten angegeben. Da dies insbesondere nach dem Auszug, d. h. bei multilokalen Familiensettings, der Fall war, schlussfolgert Bertram: „Diese Form der konsensualen Solidarität entwickelt sich vermutlich am ehesten dann, wenn man mit den Eltern nicht unter einem Dach wohnt“ (ebd., 114). Eine Bereitschaft zur Unterstützung existiert ebenso bei problematischen Beziehungen. Befunde von Szydlik ergeben, dass mehr als vier von fünf Personen sich verpflichtet fühlen, ihren Angehörigen zu helfen. Daher gibt ein Großteil der Befragten an, immer zu helfen, wenn Hilfe gebraucht werde, wobei Angehörige, die weniger geschätzt werden, eingeschlossen sind. Die Aussage, „dass man Angehörigen, die man nicht mag, auch nicht hilft“ (Szydlik, zit. in Nave-Herz 2004, 217), wurde nur von einem von zehn 40- bis 85-Jährigen vollständig bejaht (vgl. Nave-Herz 2004, 217). Dies bestätigen auch die Ergebnisse von Schütze und Wagner, die einen nachrangigen Stellenwert der Beziehungsqualität bezogen auf instrumentelle Hilfestellung belegen (vgl. Schütze/Wagner 1995, 325. Familiale Unterstützungstransfers werden trotz einseitig stattfindender Tauschprozesse in Befragungen von den einzelnen familialen Generationen als ausbalanciert bewertet. Einerseits lässt sich daraus schließen, dass in Familien nicht vorrangig nach dem Prinzip einer Nutzenmaximierung gehandelt wird, andererseits ist es auch ein Indiz darauf, dass Tauschbeziehungen in ihrer zeitlichen Dynamik betrachtet werden (vgl. Nave-Herz 2004, 221). Im Unterschied zum solidarischen Handeln unter Freunden, das primär auf einem „ausgleichsorientierten Reziprozitätsprinzip [Eigene Hervorhebung]“ (BMFSFJ 2005a, 284) basiert, werden familiale solidarische Prozesse im 5. Altenbericht mit dem „Prinzip einer bedürfnisorientierten Solidarität [Eigene Hervorhebung]“ (ebd.) erklärt. Typisch für Familien gelten Unterstützungsleistungen mit hohem Verpflichtungscharakter im Unterschied zu Freundschaften, deren Gestaltung auf gemeinschaftlichen Aktivitäten basiert. Einen zunehmenden Stellenwert haben intergenerationelle Verbindlichkeiten bezogen auf die ältere Generation, sodass Lauterbach von einer Funktionserweiterung traditioneller familialer Aufgaben der Elterngeneration spricht. Dass die Solidaritätsfunktion zwischen erwachsenen Kindern und deren Eltern an Relevanz gewinnt, wird insbesondere bei familialen Krisen wie Verwitwungen deutlich (vgl. Lauterbach 2004, 239). Aber auch jüngere Generationen sind Adressaten von intergenerationeller Solidarität in der Familie. Wie unter 2.3.4 beschrieben, sind diese eher Empfänger monetärer Unterstützung, wohingegen die ältere Generation tendenziell mehr instrumentelle Hilfe erhält. Das Konzept der „Generativität im höheren Lebensalter“ (Höpflinger 2002c, 328ff) nimmt Bezug auf intrapersonale Haltungen hinsichtlich der jüngeren Generationen als einen Teilaspekt von Generationensolidarität. In 124
diesem Ansatz werden „generative Personen“ (ebd., 329) als solche charakterisiert, die „für nachkommende Generationen Sorge tragen, sich ihrer Verantwortung für jüngere Personen bewusst sind und sich dabei als Meinungs- und Normenträger erleben“ (ebd.). Verschiedene Merkmale sind dem Konstrukt inhärent, wie beispielsweise die “Schaffung überdauernder Werte“ (ebd.) oder die „Selbstbescheidung und Selbstverantwortung“ (ebd.), wobei der familiale Bereich normativ weitaus vorgegebener ist als der außerfamiliale. Das Konzept der Generativität im Kontext familialverwandtschaftlicher Solidarität berücksichtigt unterschiedliche Unterstützungspotenziale in der nachberuflichen Zeit: Die Phase des „selbstständigen Rentenalters“ (ebd., 330) in der ohne größere Einbußen ein hohes Maß an Aktivität möglich ist, die Phase „verstärkter Gebrechlichkeit“ (ebd.), in der die Alltagskompetenzen abnehmen und kompensatorische Strategien erfordern und eine Phase „ausgeprägter Pflegebedürftigkeit“ (ebd.), die beispielsweise aufgrund degenerativer hirnorganischer Prozesse vorliegen kann. Die phasenspezifische Betrachtungsweise soll die differenzierten Handlungsoptionen der aktiveren und passiveren Verantwortungsübernahme indizieren. Zwar beinhaltet ein höheres Maß an gesundheitlichen Ressourcen größere Aktivitätspotenziale beim Erbringen von Unterstützung, jedoch verhindern im Umkehrschluss entstandene somatische Einbußen solidarisches Handeln nicht, sondern modifizieren nur seine Form. Denn der passiven Ausprägung dieser Form der Generationensolidarität ist beispielsweise ein ausgeprägter Wille zur Eigenverantwortlichkeit und zur Belastungsvermeidung der Jüngeren inhärent (vgl. ebd., 329f). 2.4.1.3
Makrosoziale und internationale Aspekte
Generationensolidarität betrifft auch gesellschaftliche Generationen. Die solidarische Verteilung von Unterstützungen und Leistungen im Rahmen der sozialen Sicherungssysteme verortet Generationensolidarität auf der Makroebene. Somit kann ‚Solidarität’ in einem „öffentlichen und einem privaten Generationenvertrag“ (Pohlmann 2005, 238) zugeordnet werden, wobei sich Ersteres z. B. auf beitragsfinanzierte Renten- und Pflegeversicherungen und Letzteres auf familiale Unterstützungstransfers bezieht. Bei der Analyse dieser ‚Generationenverhältnisse’ sollte neben der vertikalen auch die horizontale Generationensolidarität, und somit Aspekte von sozialer Ungleichheit und Allokationsprozessen innerhalb der Altersgruppen, mehr Beachtung finden (vgl. ebd., 239). Solidarität auf der Makroebene impliziert die Frage, ob ein Phänomen der Verdrängung familialer Unterstützungsleistungen durch sozialstaatliche Hilfen, 125
ein „crowding out“ (Künemund 2002, 169), existiert. Künemund bezeichnet die generelle These vom ‚crowding out’ familialer Hilfe durch den Sozialstaat als „modernen Mythos“ (ebd., 178). Anhand seiner Analyse der theoretischen Perspektiven und der empirischen Datenlage zeichnet er ein komplexeres Bild, wobei grundsätzlich eine Substitution konkreter familialer Unterstützungsleistungen evident ist. Werden beispielsweise Renten bzw. Pensionen oder pflegerische Hilfen bereitgestellt, ist die Familie als Leistungserbringer nicht in demselben Maße gefragt wie bei Abwesenheit der öffentlichen Maßnahmen. Allerdings führt dies nicht zu einer nachlassenden Solidarität bzw. einem „Verfall der Familie“ (ebd., 177). Vielmehr tritt ein gegenteiliger Effekt im Sinne eines „crowding in“106 (ebd.) ein, indem solidarische Familienbeziehungen durch Entlastung gestärkt werden. Auch die Ergebnisse des Länder vergleichenden Forschungsprojektes OASIS107 belegen anstelle einer Verdrängung „weitgehend die Annahme einer Interaktion zwischen familialer und wohlfahrtlicher Unterstützung“ (Tesch-Römer et al. 2002, 340). Die Autoren warnen vor universalistischen Annahmen über familiale Funktionen, da diese auch durch „die kulturellen und sozialpolitischen Makrostrukturen bestimmt“ (ebd., 340f) werden. Im 5. Altenbericht wird auf empirische Daten verwiesen, die eine vergleichsweise hohe intergenerationelle Solidarität in Deutschland im europäischen Vergleich belegen (vgl. BMFSFJ 2005a, 284). Auf europäischer Ebene wird der Familie in Bezug auf die Umsetzung von Generationensolidarität sozialpolitisch eine relevante Position zugeschrieben: „The family will continue to play an important role in solidarity between the generations“ (Commission of the European Communities 2005, 2).
Intergenerationale Solidarität in Familien kann weltweit als bedeutend eingeschätzt werden. Beispielsweise wird im 2. Weltaltenplan der United Nations von Madrid 2002 der Stellenwert von intergenerationeller familialer Solidarität mit dem Hinweis betont, dass auch auf globaler Ebene die große Mehrheit der Menschen in den verschiedensten Kulturen selbst beim Vorliegen räumlicher Distanzen enge Beziehungen zu den Familienangehörigen erhält: „Despite geographic mobility and other pressures of contemporary life that can keep people apart, the great majority of people in all cultures maintain close relations with their families throughout their lives.” (United Nations 2002, 17). 106 Hier handelt es sich vermutlich um ein Wortspiel im Sinne von ‚to crowd in’ als das Antonym von ‚to crowd out’ (= verdrängen) und nicht um ein neues Konzept. 107 Die beteiligten Länder sind Norwegen, Spanien, Deutschland und Israel.
126
Die Vereinten Nationen empfehlen daher, „to promote and strengthen solidarity among generations and mutual support as a key element for social development” (ebd., 17). Insgesamt kann zusammenfassend gesagt werden: „Familiensolidarität scheint eine unhinterfragte Norm zu sein“ (Nave-Herz 2004, 222). Dies bedeutet jedoch nicht, dass solidarisches Handeln in der Mehrgenerationenfamilie mit positiven Emotionen verbunden sein muss (vgl. Nave-Herz 2004, 222), denn familiale Beziehungen beinhalten ebenfalls Merkmale wie Konflikt und Ambivalenz (vgl. BMFSFJ 2005a, 300).
2.4.2 2.4.2.1
Generationenkonflikt Qualitative Differenzierungen
Im 7. Familienbericht werden „Generationenkonflikte“ (BMFSFJ 2005b, 259) als eine der Formen von familialen „Generationenproblemen“ (ebd.) aufgeführt. Als weitere Varianten werden „Kummer und Sorgen“ (ebd., 262), „Auseinanderleben und Beziehungsabbruch“ (ebd., 263) und „Ambivalenzen“ (ebd., 265) genannt. Der aus dem Lateinischen stammende Terminus „Konflikt“ wird mit „Zusammenstoß“ (Duden 2001) übersetzt. Sinngemäß ist damit ebenso ein „Streit“ (ebd.) bzw. ein „Zerwürfnis“(ebd.), aber auch ein „Widerstreit der Motive“ (ebd.) bzw. ein „Zwiespalt“ (ebd.) gemeint. Generationenkonflikte werden je nach historischem Kontext und theoretischem Ansatz innerhalb der Familie oder auf der Gesellschaftsebene verortet. Lüscher und Liegle unterscheiden „Generationenkonflikte als Erneuerung“ (Lüscher/Liegle 2003, 252) und „Generationenkonflikte aus Interessenlagen“ (ebd. 257). Typische Darstellungen der ‚Generationenkonflikte als Erneuerung’ können in der Literatur um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert eruiert werden. Es handelt sich inhaltlich primär um Autoritätskonflikte zwischen Alt und Jung im Kontext von Modernisierungsprozessen, die im familialen Setting inszeniert und häufig als Vater-Sohn-Konflikt dargestellt werden. Sowohl die Psychoanalyse als auch populäre darwinistische Vorstellungen verstärkten das Bild eines konflikthaften Verdrängens Älterer durch Jüngere (vgl. ebd., 252). Auf makrosozialer Ebene werden Generationenkonflikte traditionell seit dem späten 18. Jahrhundert in Verbindung mit Jugendrevolten thematisiert, wobei Konflikte durch die Infragestellung von Normen und Werten durch „rebel127
lierende Jugendliche“ (ebd. 253) – darunter seit dem 19. Jahrhundert auch vereinzelte Frauengruppen – initiiert wurden. Die Generationenkonflikte, die im Kontext der politischen Bewegungen um 1968 auftraten, werden in der Literatur bezogen auf ihren Stellenwert und ihre Auswirkungen kontrovers bewertet, wobei die persönliche und kollektive Verantwortung der damaligen älteren Generation in der Zeit des Nationalsozialismus als eine der zentralen Fragestellungen in gesehen wird. Die hier genannten Beispiele machen deutlich, dass Generationenkonflikte nicht als isoliertes Phänomen, losgelöst von kulturellen Kontexten, gesehen werden können (vgl. ebd., 253ff). Lüscher und Liegle gehen von einer Überbewertung der Generationenkonflikte in der Vergangenheit aus, da die Schilderungen sich letztendlich auf eine Minderheit bezogen hätten. Dies würde auch neuere Befunde der empirischen Sozialforschung erklären, die in jüngster Zeit einen deutlich geringeren Stellenwert von Generationenkonflikten dieses Typs als landläufig angenommen aufgezeigt haben. Hier hätten mediale Überzeichnungen ein Zerrbild bewirkt. Nach Meinung der Autoren werden Generationenkonflikte generell als „Chiffre zur Deutung des gesellschaftlichen Wandels“ (ebd., 257) herangezogen. Die direkten und persönlichen Generationenbeziehungen werden jedoch als gut erlebt (vgl. ebd., 256f). Der zweite von Lüscher und Liegle aufgeführte Bereich, die ‚Generationenkonflikte aus Interessenlagen’ subsumieren u. a. die aus soziobiologischer Perspektive explizierten Interessenkonflikte gegenüber den Eltern, beispielsweise in Form einer Geschwisterrivalität. Ein weiterer, demografiebezogener Ansatz reflektiert das Sinken des Anteils von jungen Menschen an der Gesamtzahl der Bevölkerung in Verbindung mit deren „Mehrwissen“ (ebd., 258) im Bereich der kulturellen Anforderungen und der Alltagskompetenzen der Gegenwartsgesellschaft. Dies führt zum Postulat: „Jugendliche wirken als bedeutende Minderheit in die Erwachsenenwelt hinein“ (ebd., 258). Auch hier wird ein Konfliktpotenzial gesehen. Darüber hinaus sind Diskussionen um die nachhaltige Sicherung der Sozialsysteme oftmals konflikthaft geprägt, wobei neuere Ansätze aus ökonomischer Perspektive sich dem Thema der Generationenkonflikte unter Einbezug diverser Detailaspekte wie Arbeitsmarktanalysen, Generationenbilanzen, usw. widmen. Hier stellen Lüscher und Liegle die Frage, inwieweit eine „Generationenrhetorik“ (ebd., 259) als „Stellvertreter-Debatte“ (ebd.) für Fragen der sozialen Ungleichheit benutzt wird. 2.4.2.2
Häufigkeiten von Generationenkonflikten
Zur quantitativen Dimension von Generationenkonflikten gibt es bislang nur wenige Forschungsergebnisse, die sich primär auf familiale Kontexte beziehen 128
(vgl. BMFSFJ 2005b, 259). Im 7. Familienbericht erfolgt zu dieser Fragestellung ein Rekurs auf die Daten des 1. Alterssurvey, in dem 40- bis 85-jährige Deutsche nach Konflikten in ihrem Leben befragt worden sind. Von jedem vierten Befragten wurden Konflikte mit einer oder mehreren anderen Personen genannt, bei einem ausschließlichen Bezug der Fragestellung auf Konflikte mit Familienangehörigen wurde dies nur noch von einem Fünftel der Studienteilnehmer angegeben. Präzisiert man Konflikte als Generationenkonflikte innerund außerhalb der Familie, lagen diese bei einem von acht Personen vor, jedoch auf Familie eingegrenzte Generationenkonflikte wurden nur noch von einem von zehn Befragten genannt (vgl. BMFSFJ 2005b, 259f). Folglich postulieren die Autoren des 7. Familienberichts: „Ausgeprägte Generationenkonflikte sind somit selten“ (BMFSFJ 2005b, 260). Die geringe Konfliktanzahl kann außerdem als positiver Effekt der Multilokalität von Mehrgenerationenfamilien gewertet werden (vgl. ebd.). Eher singuläres Konfliktpotenzial wird im 5. Altenbericht aufgrund finanzieller Problematiken und Erwerbslosigkeit gesehen (vgl. BMFSFJ 2005a, 303). Auch soziologische Jugendbefragungen zeigen in westlichen Ländern seit Jahrzehnten als stabiles Ergebnis, dass die Mehrzahl der Jugendlichen angibt, „ein gutes Verhältnis zu den Eltern zu haben“ (Nave-Herz 2004, 204). NaveHerz schließt, „dass es den früher als typisch bzw. ‚normal’ gegoltenen Generationskonflikt – von Ausnahmen abgesehen – heute nicht mehr zu geben scheint, zumindest aus der Sicht der Jugendlichen“ (ebd.).
Analysen der Beziehungen zwischen der mittleren und der älteren Generation in deren späten Lebensphase belegen die Abnahme von Konflikten mit zunehmendem Alter (vgl. Lauterbach 2004, 236). Obwohl die Dominanz eines solidarischen Charakters von familialen Generationenbeziehungen somit in sozialwissenschaftlichen Analysen belegt ist, werden diese Ergebnisse nicht hinreichend in medialen Darstellungen abgebildet, sondern Generationenbeziehungen dort primär als prekär und potenziell konflikthaft beschrieben (vgl. Lüscher/Liegle 2003, 300). In der Literatur wird weiterhin die Frage nach dem Konfliktpotenzial innerhalb der Beziehungen zwischen ‚ganz Alten’ und ‚ganz Jungen’ gefragt. Lauterbach sieht eine höhere Chance des konstruktiven Umgangs mit Konflikten im Rahmen der Gestaltung der Großeltern-Enkel-Beziehung als bei der Eltern-Kind-Beziehung, da erstere nicht durch das hohe Maß an Abhängigkeit wie die Eltern-Kind-Beziehung geprägt ist. Zwar kann von divergierenden Erfahrungs- und Erlebnishorizonten dieser beiden Generationen ausgegangen 129
werden, jedoch könnte diese Prämisse mit zunehmendem Alter eher zu gemeinsamen Diskussionen über Werte und soziale Vorkommnisse als zu einem problematischen Umgang mit Konflikten führen (vgl. Lauterbach 2004, 121). Stosberg verweist aufgrund der Dynamik des kulturellen und sozialen Wandels auf ein generell vorliegendes intergenerationelles Konfliktpotenzial. Er beschreibt die erhöhte Anzahl von Generationen, die sich zur selben Zeit durch eine unterschiedliche Wahrnehmung der sie umgebenden Umwelten auszeichnen, mit „noch nie waren es so viele wie heute“ (Stosberg 1999, 439). Indikatoren für vorhandenes Konfliktpotenzial seien nicht nur divergierende Erlebniskontexte und normative Prägungen, sondern auch unterschiedliche Macht- und Einflusspositionen sowie unterschiedliche Problemlösungsvarianten. Mit Bezug auf Karl Mannheim sieht er allerdings bei der ältesten Generation die geringsten Anpassungsprobleme an Bedarfe der jüngsten, d. h. der Enkelgeneration, da „die ältere Generation durch eine in der Lebenserfahrung erworbene Elastizität in bestimmten Sphären umstellungsfähiger wird als mittlere Generationen, die ihre erste Lebenseinstellung noch nicht im Stande sind aufzugeben“ (Mannheim 1928, zit. in: Stosberg 1999, 440).
Konflikthäufigkeiten gelten generell als wichtiger Parameter für das Maß der Qualität intergenerationeller Beziehungen (vgl. BMFSFJ 2005a, 304). Allerdings ist die Abwesenheit von intergenerationellen Konflikten kein Kennzeichen einer konstruktiv gestalteten Beziehung, denn das Nichtvorhandensein von Auseinandersetzungen kann gleichermaßen auf eine geringe Kontakthäufigkeit oder einen Beziehungsabbruch hindeuten: „Ohne Kontakte existieren auch keine direkten Konflikte“ (BMFSFJ 2005b, 260). Im Umkehrschluss sind Konflikte nicht per se ein Indiz für eine problematische Generationenbeziehung, da hierzu einzelne Ausprägungen des vorliegenden Konflikts, beispielsweise konstruktive oder destruktive Austragungsformen sowie zeitliche Dimensionen (z. B. situativ oder permanent vorhandene Konflikte) relevant sind. Generationenkonflikte können unter Umständen das Interesse an der Beziehung sowie an der Weiterentwicklung derselben signalisieren und somit auf „gelebte Beziehungen“ (Bertram 2000, 97) hinweisen. Hieraus wird deutlich, dass Generationensolidarität und Generationenkonflikt keine inhaltliche Dichotomie im Kontext von Generationenbeziehungen darstellen. Dementsprechend wird im 7. Familienbericht als Gegenteil von Generationensolidarität die „Generationenautonomie“ (ebd., 260) nach einem Abbruch der Beziehungen dargestellt.
130
2.4.2.3
Generationenkonflikte auf gesellschaftlicher Ebene
Auch auf der gesellschaftlichen Ebene sind Generationenkonflikte noch nicht hinreichend erforscht. Bezogen auf westliche Industrienationen sieht Kohli beim Thema der sozialen Sicherungssysteme und der damit verbundenen Allokationsproblematik zwischen gesellschaftlichen Generationen grundsätzlich ein Konfliktpotenzial, das sich seiner Meinung nach von den politischen und kulturellen zu den ökonomischen Generationen108 verlagert hat: „The main arena of intergenerational conflict has shifted from the political and cultural to the economic sphere“ (Kohli 2005, 6). In der oben erwähnten Systematik von Lüscher und Liegle bedeutet dies, dass ‚Generationenkonflikte als Erneuerung’ an Gewicht verlieren und jene aus Interessenlagen an Stellenwert zunehmen. Ein mögliches Zukunftsszenario sind Ältere als „machtvolle Interessenvertretung“ (Kaiser 2005, 22109), die die ihnen „angediente traditionelle Altenrolle [...] der Rollenlosigkeit“ (ebd.) verweigern. Jüngere Generationen sind eventuell zunehmend weniger gewillt, deren Ansprüche anzuerkennen. Eine makrosoziale Konfliktlinie bildet darüber hinaus potenzielle Gewinner- und Verlierergenerationen ab, wobei die nachwachsenden Generationen aufgrund hoher Staatsverschuldung zu Letzteren gehören könnten. Als Schieflage der Verteilungsgerechtigkeit zwischen den Generationen wird oftmals angeführt, dass die Altersabsicherung der Älteren zu Ungunsten der sozialen Absicherung von Familien stattfindet (vgl. Kaiser 2005, 21f). 2.4.3
Generationenambivalenz
Generationenambivalenzen können als ergänzendes Beziehungsmuster betrachtet werden, das empirisch deutlich nachrangig zu dem dominanten Beziehungstypus der ‚Solidarität’ auftritt (vgl. Lüscher/Liegle 2003, 295). Wie im vorherigen Abschnitt aufgeführt, werden Ambivalenzen im 7. Familienbericht als eine Form familialer Generationenprobleme, d. h. als ein familiales Alltagsgeschehen, genannt. Auch nach Lüscher und Liegle erfordert die 108 Die einführende Generationenklassifikation erfolgte in Abschnitt 2.2.1. 109 Die hier verwendete und im Literaturverzeichnis aufgeführte Quelle ist ein Beitrag von Kaiser im Rundbrief Nr. 13 der IAAG e.V. (Interdisziplinäre Arbeitsgemeinschaft für angewandte Gerontologie e.V.). Dieser Beitrag ist außerdem erschienen in: Oswald, W. D.; Lehr, U. M.; Sieber, C.; Kornhuber, J. (Hg) (2005): Gerontologie. Stuttgart.
131
Gestaltung intergenerationeller Beziehungen grundsätzlich den „Umgang mit Ambivalenzen“ (ebd., 286), wobei ein wissenschaftlicher Diskurs darüber dazu dienen könne, diese „Spannungsfelder von entgegengesetzten Orientierungen“ (ebd.) zu erfassen. Da es sich hier um die alltäglichen Erfahrungen von Widersprüchlichkeiten handelt, muss der Begriff ‚Ambivalenz’ nicht per se negativ gedeutet, sondern im Hinblick auf vorliegende personale Interaktionspotenziale eingeordnet werden (vgl. ebd., 287). Die Autoren definieren ‚Ambivalenzen’ folgendermaßen: „Von Ambivalenzen soll gesprochen werden, wenn gleichzeitige Gegensätze des Fühlens, Denkens, Wollens, Handelns und der Beziehungsgestaltung, die für die Konstitution individueller und kollektiver Identitäten relevant sind, zeitweise oder dauernd als unauflösbar interpretiert werden.“ (Lüscher/Liegle 2003, 288).
Ambivalenzen sind im Rahmen dieses Ansatzes weiterhin charakterisiert durch „Gedanken über Zwiespältigkeiten“ (ebd., 293) und „Empfindungen des Hinund Hergerissenseins“ (ebd., 294). Das Konzept der intergenerationellen familialen Ambivalenz kann als Forschungskonstrukt in speziellen Forschungsdesigns oder als „allgemeines Deutungsmuster“ (ebd., 289) eingesetzt werden. Die Autoren empfehlen hierzu, nicht alle Elemente des Konstrukts ‚Ambivalenz’ gleichzeitig einzubeziehen, sondern einzelne Aspekte, wie „den Sachverhalt widersprüchlicher Gefühle“ (ebd.), herauszugreifen110. Ambivalenzen als Formen der Beziehungsgestaltung werden in der soziologischen Fachliteratur zunehmend bei der Betrachtung familialer Unterstützungssettings, insbesondere bei Hilfe- und Pflegetransfers im Alter, in Erwägung gezogen. Nach Meinung von Tesch-Römer et al. reicht das Konzept der Generationensolidarität, das zwar von erheblicher Relevanz sei, nicht aus, um die zeitgemäßen und zukünftigen Aushandlungsbedarfe zwischen Individuen auf der mikrosozialen Ebene zu erfassen. Insbesondere die problematische Vereinbarkeit von Pflege und Beruf bewirke konflikthafte Gefühle im Spannungsfeld zwischen Bindung und Unabhängigkeit oder zwischen Verpflichtung und Selbstverwirklichung (vgl. Tesch-Römer et al. 2001, 135f). Die Autoren führen dazu aus:
110 Kritisch wird von Dallinger angemerkt, dass die Herleitung von Generationenambivalenz bei Lüscher und Liegle einerseits auf einer spezifischen, empirisch eng begrenzten Fragestellung basiere, andererseits diverse theoretische Verallgemeinerungen aufweise, weshalb nach ihrer Ansicht das Verhältnis zwischen empirischer Beobachtung und dem Konstrukt ‚Ambivalenz’ tendenziell noch ungeklärt bliebe (vgl. Dallinger 2002a, 220).
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„The concept of ambivalence refers to the ‚double valence’ of phenomena. […] Ambivalences play a particularly important role in ageing families, for example with regard to conflicts over the compatibility of employment and caregiving” (ebd.).
Die Alltäglichkeit ambivalenter Erfahrungen in Generationenbeziehungen, speziell bei Unterstützungssettings in multilokalen Familien, betonen ebenfalls die Autoren des 7. Familienberichts: „Es handelt sich [bei den ambivalenten Erfahrungen] um prinzipiell unauflösbare Widersprüche, so zum Beispiel zwischen Nähe und Distanz, Abhängigkeit und Eigenständigkeit, Gemeinschaft und Individualität, Zusammengehörigkeit und Freiheit, Zu- und Abneigung, Verantwortung und Unabhängigkeit, Loyalität und Opposition, Verpflichtung und Eigeninteresse“ (BMFSFJ 2005b, 265).
Speziell multilokale Unterstützungsbeziehungen können auf zwiespältigen Emotionen basieren, z. B. wenn dazugehörende Verpflichtungen mit gravierenden Belastungen verbunden sind, wie etwa wenn Hilfebereitschaft mit horizontalen Mobilitätsanforderungen kollidiert. Generell wird dabei von einer Kovarianz von Generationenambivalenzen mit normativen Vorgaben ausgegangen (vgl. BMFSFJ 2005b, 265). Im 4. Altenbericht wird ebenfalls betont, dass ein intergenerationell solidarisches Verhältnis – auch bei empirisch belegter lebenslanger Verbundenheit in Familien – nicht automatisch spannungsfrei und harmonisch verläuft. Da zahlreiche Studien den erheblichen Belastungsgrad von Angehörigen belegen, wird das Konzept der ‚Ambivalenz’ zur Erfassung von „Doppelwertigkeit“ (BMFSFJ 2002, 198), ausdrücklich auch bezogen auf die schwierige Vereinbarkeit von Pflege und Beruf, begrüßt. Im Umkehrschluss wird ein Ignorieren von problematischen Beziehungsaspekten als wenig funktionaler Handlungsansatz betrachtet. Empirische Studien zu Ambivalenzen sind noch selten. Eine Studie von Lüscher und Lettke (aufgeführt in Lüscher/Liegle 2003, 293ff) mit 72 Eltern und 52 erwachsenen Kindern zeigt auf, dass Generationenambivalenzen als Alltagserfahrungen einzustufen sind, da 39 % der Befragten angaben, sich Gedanken über Zwiespältigkeiten gemacht zu haben. Eltern und Kinder sind sich der Ambivalenzen ihrer Erfahrungen größtenteils bewusst, und bewerten diese nicht grundsätzlich sondern erst bei besonderer Häufung negativ. Ambivalenzen wurden in als schlecht empfundenen Beziehungen häufiger genannt, wobei unklar ist, ob Ambivalenzen zu diesen Beziehungen führen, oder Folge von als schlecht erlebten Beziehungen sind. Geschlechtsspezifische Differenzen liegen insofern vor, dass Eltern Ambivalenzen vorrangig gegenüber Kindern des anderen Geschlechts nennen und Kinder diese eher bezogen auf Elternteile des 133
eigenen Geschlechts empfinden (vgl. Lüscher/Liegle 2003, 294). Die Befunde zeigen außerdem eine herausragende Relevanz des Beziehungsmusters „Solidarität“ (ebd., 295), was nach Lüscher und Liegle jedoch nicht das Konzept der ‚Ambivalenz’ widerlegt, sondern Ambivalenz als ein komplementäres Beziehungsmuster neben einem vorherrschenden einordnet (vgl. ebd.). Lüscher weist darauf hin, dass Forschungsansätze zur Erfassung von ‚Solidarität’ möglicherweise aus methodischen Gründen Ambivalenzen nicht ausreichend erfassen können, sodass hier entsprechende Forschungsinstrumente entwickelt werden sollten (vgl. Lüscher 2000, 147). Im Rahmen der in Teil B und C dieser Arbeit präsentierten Studie wurde deutlich, dass die potenzielle Schnittmenge der Termini ‚Ambivalenz’ und ‚Konflikt’, die eine etymologische Betrachtung aufzeigt, beachtet werden musste. Wie im vorherigen Abschnitt angeführt beinhaltet der Begriff ‚Konflikt’ außer ‚Zusammenstoß’, ‚Streit’ und ‚Zerwürfnis’ ebenso die Aspekte ‚Widerstreit der Motive’ und ‚Zwiespalt’. Bei einer Übersetzung von ‚Ambivalenz’ wird ebenso „Zwiespältigkeit“ (Duden 2001) neben der „Zerrissenheit [der Gefühle und Bestrebungen]111“ (ebd.) genannt. Werden die Konstrukte ‚Ambivalenz’ und ‚Konflikt’ wie bei der vorliegenden Untersuchung parallel eingesetzt, ist daher auf eine präzise Abgrenzung zu achten112. Allerdings mindert eine kritische Rezeption des Konzepts ‚Ambivalenz’ nicht dessen Relevanz für die Reflexion von Generationenfragen. Die Analyse von Ambivalenzen auf individueller und kollektiver Ebene kann die „Zwiespältigkeiten im Sinne von Paradoxien, Spannungsfeldern und unauflösbaren Gegensätzen“ (Lüscher/Liegle 2003, 305), beispielsweise zwischen „Konflikt und Solidarität, Autonomie und Dependenz“ (ebd.), verdeutlichen. Ambivalenzen stehen hiernach für ein „Grundproblem menschlicher Generativität“ (ebd., 306) und betreffen alle Bereiche der personalen Alltagswelt. Aufgrund der alltäglichen Präsenz von Generationenambivalenzen liegt das entscheidende Handlungspotenzial nicht in einer Vermeidung oder dem Ignorieren dieser Beziehungscharakteristik sondern dem konstruktiven Umgang damit. Gerade dann, wenn die Existenz unauflösbarer Widersprüche wahrgenommen und akzeptiert wird, kann dies die Voraussetzung für eine tragfähige Balance zwischen divergierenden Anforderungen sein und somit die Basis für eine nachhaltige Generationensolidarität darstellen (vgl. BMFSFJ 2005b, 266).
111 Die Einklammerung ist dem zitierten Originaltext entnommen. 112 Nähere Angaben zur Operationalisierung von ‚Ambivalenz’ für die hier vorliegende Studie befinden sich im Abschnitt ‚Forschungsprozess’ unter 7.2.2.
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2.4.4
Generationenlernen
Moderne familiale Lebenswelten bieten, auch aufgrund der verlängerten gemeinsamen Lebenszeiten der Generationen, ein breites Spektrum differenzierter „wechselseitiger Lernprozesse, in denen sich Familienkulturen und Gesellschaftskulturen durchdringen.“ (Lüscher/Liegle 2003, 178). Das „Lernen in Mehrgenerationenbeziehungen“ (ebd., 178) oder auch „Generationenlernen“ (ebd., 172) findet also „zwischen Familiengenerationen, aber auch zwischen Gesellschaftsgenerationen statt“ (ebd.). Spezifische Merkmale dieser Lernprozesse sind Reziprozität und eine nachhaltige Zuverlässigkeit. Lüscher und Liegle definieren intergenerationelles Lernen folgendermaßen: „Mit dem Begriff des Generationenlernens beschreiben wir alle Formen des Lernens, für welche der Bezug auf das Lebensalter bzw. die Generationenzugehörigkeit als Altersdifferenz oder Altersgleichheit relevant ist und die für die Vermittlung und Aneignung von Kultur sowie die Konstitution der Person bedeutsam sind“ (Lüscher/Liegle 2003, 171).
Im 7. Familienbericht wird davon ausgegangen, dass die frühkindlichen Sozialisationsprozesse in Familien den „Alltag als Lernfeld“ (BMFSFJ 2005b, 221) beinhalten. Sozialisation stellt dabei wie oben beschrieben eine zentrale Funktion von Familie dar, wobei bislang Aspekte wie Beziehungsqualität, Bindungserfahrungen, Identitätsentwicklung, etc. besonders fokussiert wurden. In jüngster Zeit wird jedoch – auch bedingt durch Ergebnisse der neurobiologischen Forschung und Kognitionsforschung – besondere Aufmerksamkeit auf Lernprozesse hinsichtlich „des Aufbaus von Intelligenz- und Lernfähigkeitspotenzialen, von Eigensteuerungs- und coping-Strategien“ (ebd., 222) gelenkt. Diese substanziellen Lernerfahrungen korrelieren eng mit den vorhandenen Kompetenzen der Eltern bzw. Bezugspersonen, den Familienalltag zu bewältigen. Familie wird in diesem Kontext auch verstärkt als Handlungsraum wahrgenommen, der Kinder für spätere außerfamiliäre Lernfelder wie Schule und weitere Bildungsorganisationen mit Ressourcen ausstattet113 (vgl. ebd.)114. Insgesamt stellen Lernprozesse außerhalb der Familienhaushalte in Gesellschaften mit kontinuierlich steigenden Wissensbeständen und einer durch Wertepluralismus bestimmten Kultur wichtige Bereiche des Generationenlernens dar. Bei der Aneignung des „kulturellen Erbes“ (Lüscher/Liegle 2003, 173), bzw. der 113 Dies ist nicht zuletzt durch die PISA-Debatten verstärkt medial kommuniziert worden (vgl. BMFSFJ 2005b, 222). 114 Ausführliche Darstellungen zur Sozialisation siehe in: Hill/Kopp 2004, 250ff.
135
Enkulturation, gewinnt das Lernen zwischen den Gesellschaftsgenerationen, z. B. in Schule und Beruf, neben den familialen Lernbereichen zunehmend an Stellenwert115. Daher betonen Lüscher und Liegle das Generationenlernen im Kontext von Vergesellschaftung als notwendigen ergänzenden Bereich der Sozialisationsforschung (vgl. ebd., 173ff). Der kulturelle Wandel der Generationenbeziehungen impliziert die Modifizierung eines tradierten, auf Altersgruppen bezogenen, Autoritätsverhältnisses. Wenn beispielsweise Mitglieder junger Generationen aufgrund der ihnen präsenten Technik- und Medienkompetenz als Wissensvermittler agieren, so kann von einer partiellen Relativierung der in Abschnitt 2.2.2 explizierten Generationendifferenzen ausgegangen werden. Liegt etwa bei Jugendlichen simultan zur – im Vergleich mit der Elterngeneration – größeren Kompetenz im Umgang mit neuen Medien ein Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Eltern vor, kann dies als ein Indiz für das Phänomen der „Mehrgenerationalität“ (Lüscher/Liegle 2003, 176) gewertet werden. Allerdings weisen die empirischen Untersuchungen darauf hin, dass von einer regelrechten „Umkehrung von Lernprozessen im Verhältnis der Generationen“ (ebd.) nicht die Rede sein kann. Bezogen auf Mehrgenerationenbeziehungen ist bedeutsam, dass auch Großeltern Teil des kindlichen Lernfeldes darstellen und somit die soziale und kognitive Entwicklung des Kindes fördern können. In der mittleren und späteren Kindheit nimmt der „kommunikative Austausch“ (Lauterbach 2004, 121) als wechselseitiger Lernprozess dabei einen immer höheren Stellenwert ein: „Vor dem Hintergrund zunehmend divergierender Generationserfahrungen ist ein Merkmal der Großeltern-Enkel-Beziehung sicherlich in der Tradierung und Validierung von Wissen und Weltsicht zu sehen“ (ebd.).
Auch im 5. Altenbericht wird der Austausch von Kenntnissen und Erfahrung in der Enkel-Großeltern-Beziehung für beide Generationen als bedeutsam eingeschätzt. Als Spezifikum von Mehrgenerationenfamilien sollte dabei beachtet werden, dass das Verhältnis der älteren zur mittleren Generation die Beziehungen zwischen Enkeln und Großeltern beeinflussen kann (vgl. BMFSFJ 2005a, 309). Als weiteres Charakteristikum des Generationenlernens zwischen Großeltern und Enkeln sollte berücksichtigt werden, dass der Kontakt zwischen Großeltern und Enkeln in der Regel einen niedrigeren Verpflichtungscharakter 115 Auch innerhalb des Lernens ist es, wie bereits in Abschnitt 2.2.3 ausgeführt, für die Betrachtung von Generationen wesentlich, die Interdependenzen zwischen familialen und gesellschaftlichen Generationen zu berücksichtigen.
136
hat als der zwischen Eltern und Kindern, weshalb häufig auf der Basis von Zuwendung und Bestätigung eine indirekte Wissensweitergabe erfolgen kann (vgl. Lüscher/Liegle 2003, 178ff). Auch auf der gesellschaftlichen Ebene nehmen die verschiedenen Generationen sich als Lernende war. An der Universität Hamburg wurden 253 Hörerinnen und Hörer einer Vorlesung befragt, was Jüngere von Älteren lernen könnten. An erster Stelle wurde „Erfahrung“ (Opaschowski 2004, 143) in Form von beruflicher und von Lebenserfahrung genannt, danach folgten unter den ersten zehn Nennungen die Angaben „Gelassenheit, Kontinuität, Rücksichtnahme, Traditionsbewusstsein und Langfristperspektive“ (ebd.). Bei der umgekehrten Frage nach den Lernpotenzialen für Ältere durch Jüngere belegten „Spontanität, Flexibilität, Toleranz“ (ebd., 144) die ersten drei Plätze, gefolgt von „Offenheit, Risikobereitschaft, Neugier und Technikbegeisterung“ (ebd.). Letzteres könnte die junge Generation vor allem auch als Träger eines spezifischen Lebensgefühls ausweisen, von dem Ältere sich „mitreißen“ (ebd.) lassen können. Das in Abschnitt 2.4.1.2 beschriebene Konzept der ‚Generativität im höheren Lebensalter’ enthält ebenfalls Aspekte des Generationenlernens, beispielsweise in Form der „Vermittlung und Weitergabe von Erfahrung und Kompetenz an jüngere Generationen“ (Höpflinger 2002c, 329). Bei diesem Konzept ist des Weiteren interessant, dass Lernprozesse für die Großelterngeneration ohne direkten Kontakt mit jungen Menschen auch medial erfolgen können. Ältere Menschen können intergenerative Erfahrungen „indirekt ‚erleben’“ (ebd., 330), da sie über Fernsehsendungen einen „zwar realitätsverzerrenden, aber kommunikativ unbedrohlichen Eindruck“ (ebd.) von den Lebenswelten nachkommender Generationen gewinnen. Mit diesem Hintergrund erklärt der Autor auch eine große Zuschaueranzahl bei Jugendsendungen unter den Älteren (vgl. Höpflinger 2002c, 322f). Für den familialen Kontext gilt, dass Mehrgenerationenbeziehungen eine große Bedeutung „für die lebensbegleitenden und lebenslang andauernden Prozesse des Lernens und der Identitätsbildung der Person“ (Lüscher/Liegle 2003, 182) zukommt. Allerdings sollten nicht zuletzt aufgrund des derzeitigen demografischen Wandels (ebenso) weitere Potenziale für das wechselseitige Lernen der Generationen in außerfamilialen Bereichen erschlossen werden. Die Autoren des 5. Altenberichts empfehlen daher, „Projekten der Engagementförderung, die den Dialog der Generationen fördern“ (BMFSFJ 2005a, 380) besondere Beachtung zukommen zu lassen.
137
3
Enkel demenziell erkrankter Großeltern im ambulanten familialen Pflegesetting: Nationale und internationale Studien
3.1
Häusliche Pflege und Hilfe als Element familialer Sorgeleistung
Im Rahmen der hier vorliegenden Arbeit bilden Enkelkinder in Pflegesettings mit demenziell erkrankten Großeltern den Untersuchungsgegenstand, wobei der Wortbestandteil ‚Pflege’ sich nicht, wie oben ausgeführt, an der Legaldefinition des SGB XI sondern am Vorliegen der Erkrankung Demenz und den damit korrelierenden Hilfebedarfen orientiert. Nachdem in den vorangegangenen Kapiteln die Spezifika einer Betreuungs- und Pflegesituation beim Vorhandensein einer Demenz expliziert und ausgehend von der Erkrankung das breite, aus der Symptomatik abgeleitete Aufgabenspektrum verdeutlicht wurde, wird nachfolgend die Integration dieses Pflegegeschehens in die familialen Lebenswelten betrachtet, wobei, wie bereits genannt, die Bandbreite der Tätigkeiten nicht auf ‚Körperpflege’ im engeren Sinne begrenzt wird. Dass diese Hilfetransfers in Mehrgenerationenfamilien generell auch ohne eine gemeinsame Koresidenz und somit auch multilokal verrichtet werden, wurde in den Kapiteln 2.3.4 und 2.4 aufgezeigt. Folglich kann aus den bisherigen Ausführungen geschlossen werden, dass familiale Pflege im Allgemeinen und das Vorliegen der Erkrankung Demenz im Besonderen einen gravierenden Einfluss auf die Alltagswelten des sozialen Gebildes Familie haben kann. Diese Einschätzung wird gleichfalls im 7. Familienbericht betont. Die Autoren heben hervor, dass das Aufgabenspektrum informeller Pflege, insbesondere beim Vorliegen einer Demenz, in der Regel nicht auf reine Pflege- oder Betreuungstätigkeit begrenzt ist, sondern die typische Komplexität zeitgemäßer und daher funktional erweiterter „Familien- bzw. Hausarbeit“ (BMFSFJ 2005b, 153) beinhaltet. Funktionserweiterungen entstehen, da neben den klassischen hauswirtschaftlichen, erzieherischen bzw. beziehungspflegenden Aufgaben in komplexer werdenden Lebensbedingungen der Gegenwartsgesellschaft weitere Anforderungen wie beispielsweise ein „Schnittstellenmanagement“ (ebd., 154) zu den außerfamilialen Institutionen wie Banken, Versicherungen, Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen an Relevanz zunehmen. Weiterhin gehören Fachkenntnisse zur Entscheidungsfindung lebensrelevanter Fragen und soziale Kompetenzen im Umgang mit 138
Behörden und professionellen Dienstleistern zu einer gelungenen Alltagsbewältigung. Insgesamt ist in hohem Maße die „Orientierungs-, Abstimmungsund Integrationsfähigkeit“ (ebd.) der Familienmitglieder gefordert. Die Kommission betont dabei, dass dieses volle Spektrum familialer Sorgearbeit erst allmählich von der Öffentlichkeit rezipiert wird. Wenn daraufhin in diesem Bericht „Familie als alltägliche Herstellungsleistung [Eigene Hervorhebung]“ (BMFSFJ 2005b, 221) charakterisiert wird, so werden dabei zwei Familienphasen hervorgehoben: die frühe Zeit der Sozialisation der Kinder und die späte Familienphase mit der Ausgestaltung familialer Hilfeleistungen. Letzterer ist insbesondere im Falle einer Multilokalität oftmals eine organisatorisch aufwendigere und methodisch gezieltere Ausgestaltung inhärent (vgl. ebd.). Mit anderen Worten handelt es ich bei dem hier beschriebenen Aufgabenkomplex um die facetten- und umfangreiche Realisierung der sozialen Reproduktionsfunktion von Familie, wie sie in Abschnitt 2.1.4 in Anlehnung an NaveHerz beschrieben wurde. Die darin eingeschlossenen Regenerationsleistungen für die physischen und psychischen Bedarfe der Familienmitglieder stehen allerdings in Dependenzen zu den vorhandenen sozio-ökonomischen Ressourcen der Familie, was bedeutet, dass die familialen Kontextvariablen einen entscheidenden Einfluss auf die effektive Ausübung der sozialen Reproduktionsfunktion besitzen (vgl. Nave-Herz 2004, 87). Dieser Nexus macht deutlich, in welch hohem Ausmaß die Handlungsoptionen familialer Pflege unter dem Diktat der sonstigen Lebenssituationen stattfinden. Durch eine enge Auslegung des Begriffes ‚Pflege’ werden soziale und beziehungsimmanente Aspekte dieser privaten Unterstützungssettings marginalisiert, obwohl gerade sie häusliche Pflegesettings dominieren. Im Unterschied zum Begriff ‚pflegen’ bezeichnet der englische Terminus ‚to care’ ein umfassendes Verantwortungsgefühl für den zu pflegenden Menschen, was je nach vorliegender Syntax auch versteckte Loyalitäten und emotionale Bindungen konnotiert. Aufgrund dieser Überlegungen favorisiert Jansen im deutschen Sprachgebrauch die Begriffe „Kümmerarbeit“ (Jansen 1999 605) und „Sorgearbeit“ (ebd.), um das komplette Aufgabenspektrum von „Fürsorglichkeits-, Versorgungs-, Organisations-, Ressourcen-beschaffungs- und Vernetzungsaktivitäten und -kompetenzen“ (ebd.) pflegender Angehöriger abzubilden. Ist im 7. Familienbericht von „Care“ (BMFSFJ 2005b, 442) oder „Fürsorge“ (ebd.) die Rede, umfasst dies folgende Inhalte: „Sich um den anderen zu sorgen und sich für das emotionale, mentale und physische Wohlergehen eines anderen verantwortlich zu fühlen“ (ebd.).
139
Für die nachfolgend in Teil B und C vorgestellte Studie bildet diese Begriffsbestimmung die definitorische Basis für den in der Analyse verwendeten Terminus ‚Sorgeleistung’. Das Vorliegen eines umfangreichen Verantwortungsspektrums in familialen Pflegesettings belegen auch internationale Studien, worauf in den folgenden Kapiteln näher eingegangen wird. Exemplarisch kann an dieser Stelle auf eine Erhebung von Piercy verwiesen werden, die verdeutlicht, dass sich familiale Unterstützung nicht auf pflegerisch-instrumentelle Hilfen beschränkt, sondern „all types of assistance“ (Piercy 1998, 116) umfasst. Aufgrund der beschriebenen Diskrepanz von öffentlicher Wahrnehmung und faktischer Ausgestaltung wird die Laienpflege auch als „hidden care system“ (Jansen 1999, 607) bezeichnet. Dieses in vielen Teilbereichen im Verborgenen arbeitende informelle System bildet darüber hinaus häufig die Basis für die Aufrechterhaltung häuslicher Arrangements mit einer Beteiligung professioneller Angebote. Allerdings stehen die beiden Systeme von Laien und Professionellen, wie in Abschnitt 1.3.2 bereits erwähnt, trotz der Interdependenzen der beteiligten Akteure in einem eher asymmetrischen Beziehungsverhältnis bei „der gesellschaftlichen Herstellung von Pflege“ (ebd.). Die ungenügende öffentliche Rezeption des in der Gegenwartsgesellschaft weit expandierten Aufgabenkatalogs familialer Sorgeleistung kann hierbei als eine der Ursachen für diese Schnittstellenproblematik gesehen werden. Zu einer Charakterisierung familialer Pflege als ‚verborgenes bzw. verstecktes System’ dürfte die Lokalität der privaten Häuslichkeit beitragen, in deren Rahmen diese Hilfeleistung praktiziert wird. Etymologisch betrachtet handelt es sich bei dieser ‚privaten’ Verortung von Pflege um eine „persönliche“ (Duden 2001) Angelegenheit, die im „häuslichen“ (ebd.) und „vertrauten“ (ebd.) Rahmen stattfindet, sowie einen vorrangig „nicht offiziellen und außeramtlichen“ (ebd.) Charakter hat116. Dieser private Rückzugsraum für die Realisierung der sozialen Reproduktionsfunktion kann als wesentliches Merkmal heutiger Familien betrachtet werden, denn vergleicht man historische Familienformen mit heutigen, so „besteht der Unterschied zu unseren gegenwärtigen in der damals fehlenden Exklusivität und Intimität der familialen Binnenstrukturen“ (Nave-Herz 2004, 47). Daher ist die Privatheit familialer Lebenswelten ein wesentlicher Referenzpunkt für ein Verständnis von Handlungs-
116 ‚Privat’ wird darüber hinaus im Sinne von „der Herrschaft beraubt; gesondert, für sich stehend, nicht öffentlich“ (Duden 2001) hergeleitet, was zusätzlich den informellen Charakter von familialer Pflege und die Besonderheit des privaten Handlungsbereiches unterstreicht.
140
weisen und Relevanzsetzungen von Familienmitgliedern in der Ausgestaltung häuslicher Pflege. Für die hier vorgestellte Studie bedeutet dies, dass Hilfe- und Pflegeleistung von Angehörigen im Kontext einer demenziellen Erkrankung nicht nur partiell, sondern grundlegend als Teil eines gesamtfamilialen Geschehens und den damit verbundenen Beziehungsgestaltungen einzuordnen ist. Dabei sollten aufgrund des beschriebenen Phänomens der größtenteils verborgenen Sorgeleistung nach Ansicht der Autoren des 4. Altenberichts „familiale Ressourcen zur häuslichen Pflege Hochaltriger“ (BMFSFJ 2002, 362) als Thema verstärkt in der öffentlichen Debatte kommuniziert werden, denn „eine öffentliche Diskussion würde den betroffenen Familien signalisieren, dass sie in einer solchen schwierigen Lebensphase von der Gesellschaft nicht allein gelassen werden“ (ebd.).
Die hier präsentierte Forschungsarbeit fokussiert auf diesem Hintergrund bewusst die ‚Ressource Enkel’ und intendiert, zum fachlichen und öffentlichen Diskurs mit den gewonnenen Ergebnissen beizutragen.
3.2
Die Enkelgeneration als unmittelbar und mittelbar Betroffene bei Hilfe- und Pflegebedarf der Großeltern
3.2.1
Strukturelle Aspekte
Der strukturelle Wandel in den Familien hat für die Generation der Großeltern zur Folge, dass in Relation zur quantitativen Zunahme ihrer Altersgruppe die Anzahl der Enkelkinder abnimmt. Aus der Perspektive der Enkelgeneration jedoch vergrößert sich aufgrund einer gestiegenen gemeinsamen Lebenszeit mit den weiteren familialen Generationen die Wahrscheinlichkeit, alte und möglicherweise hilfebedürftige Großeltern zu erleben. Wie in Abschnitt 2.3.5.3 expliziert wurde, kann sich dabei das Verhältnis zwischen Großeltern und Enkeln, das in einer frühen Phase auf Unterstützungsleistungen der Großeltern zu den Enkeln basiert, mit zunehmendem Alter beider Generationen umkehren, wobei Enkelkinder unter Umständen ein nicht unerhebliches Unterstützungspotenzial für die Großelterngeneration verkörpern können. Beispielsweise nennen im Alterssurvey die 70- bis 85-Jährigen bei vorhandenen Kindern und Enkeln die Enkel an vierter Stelle nach den Partnern, 141
Kindern und Nachbarn als Erbringer von instrumentellen Hilfen, womit diese noch vor Freunden, Geschwistern und weiteren Verwandten positioniert sind (vgl. Künemund/Hollstein 2000, 253f). Die folgende Tabelle gibt die Verwandtschaftsbeziehungen von pflege- und hilfebedürftigen Menschen zu ihrer Hauptpflegeperson, unabhängig vom Vorliegen einer Demenz, wieder. Tabelle 14:
Hauptpflegepersonen von Pflege- und Hilfebedürftigen in Privathaushalten (Angaben in %)
Hauptpflegeperson Beziehung: (Ehe-)Partner Mutter Vater Tochter Schwiegertochter Sohn Enkel Sonstige/r Verwandte/r Freunde, Nachbarn, Bekannte
Pflegebedürftige*
Sonstige Hilfebedürftige**
1991
2002
1991
2002
37 14 0 26 9 3 1 6 4
28 12 1 26 6 10 2 7 8
43 4 0 23 6 6 2 7 7
36 7 1 20 5 8 2 8 12
* Leistungsbezieher der Sozialen Pflegeversicherung (SPV) und der Privaten Pflegeversicherung (PPV). ** Personen mit Einschränkungen bei alltäglichen Verrichtungen ohne Pflegebedarf im Sinne des SGB XI
Quelle: Schneekloth 2005, 77 [Auszug aus der Originaltabelle] Enkelkinder haben als Hauptpflegepersonen eine nachrangige Position, denn sie stellen nur 2 % der Hauptpflegepersonen im Jahr 2002 dar, was sich prozentual in einem Zeitabschnitt von 9 Jahren kaum verändert hat. Wie zu erwarten bilden dagegen Partner und Töchter der unterstützungsbedürftigen Menschen die beiden quantitativ bedeutendsten Gruppen als Hauptpflegepersonen. Allerdings können bei den Ehepartnern deutlich abnehmende, bei den Töchtern dagegen annähernd gleich bleibende Werte verzeichnet werden. Dem gegenüber stehen Zunahmen bei den Söhnen sowie den Beteiligten aus dem weiteren sozialen Umfeld in der Funktion als Hauptpflegeperson.
142
Weiterhin ist bei der Fragestellung nach der Größe eines ‚Enkelpflegepotenzials’ zu berücksichtigen, dass 16 % der Hauptpflegepersonen kinderlos sind, was bedeutet, dass hier keine weitere familiale Generationenfolge hinsichtlich einer mittleren oder Enkelgeneration gegeben ist. Mit einer Zunahme dieser Gruppe kann aufgrund des demografischen Wandels gerechnet werden (vgl. Koeppe et al. 2003, 20). Für die hier vorliegende Fragestellung ist jedoch relevant, dass Enkel anstelle einer Hauptverantwortlichkeit die Rolle als ‚Nebenpflegeperson’ innehaben können. Somit können diese jüngeren Familienmitglieder, trotzdem sie in Pflegestatistiken nur marginal präsent sind, als ergänzende Akteure wesentlich an den Unterstützungsleistungen beteiligt sein. 3.2.2
Die Sandwich-Generation
Wird in der Literatur der Blick auf eine Drei-Generationenkonstellation in der informellen Pflege gerichtet, liegt der Fokus oftmals auf der mittleren Generation. Diese wird, wie bereits in Abschnitt 1.3.2 thematisiert wurde, bei einer Präsenz von Mehrfachanforderungen durch die Pflege alter Menschen und die Betreuung eigener Kinder häufig als ‚Sandwich-Generation’ bezeichnet, wobei dieses Phänomen in der Fachliteratur divergierend bewertet wird. Der in Kapitel 2.3.5.2 beschriebenen Kritik von Lüscher und Liegle (2003) schließt sich auch der 7. Familienbericht an, dessen Autoren von einer Überbewertung der ‚Sandwich-Generation’ ausgehen. Wenn von fünf Pflegenden vier mindestens 40 Jahre alt, und 45 % älter als 54 Jahre seien, so würde eine gleichzeitige Versorgung von Kindern und Eltern tendenziell selten existierten, schlussfolgern die Autoren (vgl. BMFSFJ 2005b, 243). Es gibt jedoch kaum Schätzungen über die Häufigkeit des Phänomens und auch im 5. Altenbericht wird diese Fragestellung im Kontext mit Erwerbstätigkeit zwar thematisiert, jedoch ohne die Gruppe zu quantifizieren (vgl. BMFSFJ 2005a, 323). Ebenso weisen die Autoren des 4. Altenberichts und der Enquete-Kommission ‚Demografischer Wandel’ lediglich allgemein auf eine Belastung dieser Generation hin (vgl. BMFSFJ 2002, 198; Deutscher Bundestag 2002, 39). Die kontroversen Einschätzungen und fehlenden Quantifizierungen könnten durch die heterogene Verwendung des Terminus’ ‚Sandwich-Generation’ begründet sein, denn in der Regel werden die Merkmale, die zum Einschluss in diese Gruppe vorliegen müssen – wie eine Koresidenz der jüngsten Generation mit den Eltern oder ein bestimmtes Ausmaß an Unterstützungsbedarf bei den Älteren – nicht näher präzisiert. Anders ist es bei Borchers, welcher die ‚Sandwich-Generation’ explizit in einen Generationenverbund von drei Generationen einordnet, bei dem die 143
Kinder der mittleren Generation erwachsen und schon ausgezogen sind117. Hier ist die bloße Präsenz einer Mehrgenerationen-Konstellation unabhängig von konkreten Hilfebedarfen der Referenzpunkt der Untersuchung. Er schließt dabei die 40- bis 60-Jährigen als Untersuchungsgruppe ein, von denen sich nach seinen Angaben etwas mehr als ein Drittel, bzw. neun Millionen, in einem so definierten Generationengefüge befinden. Nach den Ergebnissen seiner Studie erlebt hiervon die Mehrheit den Transfer von Hilfeleistungen als unausgewogen, was sich jedoch überwiegend auf zeitliche und nicht auf finanzielle Belange bezieht. Weiterhin resultieren die Belastungen mehrheitlich aus der Beziehung zur älteren Generation und nicht aus dem Verhältnis zu der jüngsten (vgl. Borchers 1997, 22; 173ff). Nach den Ergebnissen einer repräsentativen kanadischen Studie ist die Gesamtzahl der pflegenden Angehörigen der mittleren Generation, die hier als Sandwich-Generation bezeichnet werden, zwar relativ gering, jedoch pflegt rund ein Viertel in dieser Gruppe mehr als eine ältere Person. Aus dieser Gruppe verrichten 21 % der Personen diese Tätigkeit bei zwei Pflegebedürftigen und 5 % der Befragten sogar bei drei Älteren neben der Betreuung ihrer eigenen Kinder (vgl. Barkholdt/Lasch 2004, 10f). Mitglieder der Sandwich-Generation sind dabei häufig mit der schwierigen Vereinbarkeit von Pflege und Beruf konfrontiert, was aufgrund der vorliegenden Geschlechterdifferenz in der Gruppe der pflegenden Angehörigen mehrheitlich erwerbstätige Frauen betrifft. Eine Expertise zur Vereinbarkeit von Pflege und Erwerbstätigkeit stellt hierzu heraus, dass schon im Vorfeld institutionalisierter Versorgungsstrukturen ein zentrales Hindernis für die Vereinbarkeit von familialer Sorgeleistung und Erwerbstätigkeit in der fehlenden Identifizierung der eigenen Person als Pflegende mit legitimen Unterstützungsansprüchen liegt (vgl. Lasch 2005, 13). In der oben genannten kanadischen Studie wird aufgezeigt, dass sich bei acht von zehn dieser ‚Sandwich-Caregiver’ zur Betreuung der Kinder und der Pflege älterer Menschen noch eine Erwerbstätigkeit als zusätzlicher Belastungsfaktor summiert. Diese dreifach geforderten Pflegepersonen nannten erhebliche Restriktionen ihres Erwerbslebens durch die Pflege, so hatten 15 % von ihnen ihre Stundenanzahl bei der Arbeit verringern müssen und 10 % Einkommenseinbußen erfahren (vgl. Barkholdt /Lasch 2004, 25). Eine weitere Studie von Brody zeigt hinsichtlich einer Sandwich-Situation diskrepante Ergebnisse auf. Einerseits wird eine Zunahme von Stress bei „sandwiched caregivers“ (Szinovacz 2003, 446) nachgewiesen, wobei es sich 117 Bei der Literaturanalyse wurde deutlich, dass Borchers von weiteren Autoren teilweise nicht präzise zitiert wird.
144
bei diesen explizit um einen Personenkreis handelt, der zeitgleich mindestens eine hilfebedürftige ältere Person und mindestens ein Kind zu betreuen hat. Andererseits belegt die Untersuchung positive Auswirkungen wie u. a. geringe Ausprägungen der Merkmale Isolation, Depression und nervöser Unruhe, wenn zeitgleich zur Pflege der Älteren die Verantwortlichkeit für eine junge Generation übernommen wird (vgl. ebd.). Auch im 4. Altenbericht wird darauf hingewiesen, dass gerade Pflegende aus der Sandwich-Generation auf die Kontinuität außerfamilialer Kontakte achten und intensive Beziehungen zu Verwandten, Freunden, Nachbarn, etc. pflegen, was als wichtiger Indikator für eine hohe subjektive Lebenszufriedenheit gewertet wird (BMFSFJ 2002, 201). Ein positives Bild vermitteln weiterhin die Ergebnisse einer repräsentativen Analyse einer US-amerikanischen Erhebung mit 2.352 Erwachsenen im mittleren Lebensalter. Betrachtet werden hier „baby boomers – those between the ages of 45 and 55“ (AARP 2001, 1)118, welche beim Vorliegen einer doppelten Betreuungsanforderung für Kinder und alte Eltern in der Regel gefordert jedoch nicht belastet sind119. Insgesamt haben 44 % der US-Amerikaner in der oben genannten Kohorte sowohl alte Eltern als auch Kinder unter 21 Jahren, aber nur 7 % leben in Dreigenerationenhaushalten. Von den Befragten geben 22 % an, ihren alten Eltern zu helfen, wobei 7 % diese Unterstützung finanziell ausführen (vgl. ebd., 51). Zwar zeigen sich Differenzen bei den einzelnen ethnischen Subgruppen in dieser Studie, doch die Mehrheit in jeder befragten Gruppe glaubt, die Anforderungen gut zu bewältigen bzw. die notwendigen Kompetenzen zu besitzen, um eine funktionale Situation herstellen zu können. Insgesamt werden Kinder als die engsten Familienmitglieder und die eigene Religiosität als wichtige Strategie der Belastungsprävention bewertet. Berücksichtigt werden muss bei diesen Ergebnissen, dass die Bandbreite der geleisteten Hilfe sehr groß bzw. der Umfang der Tätigkeiten teilweise gering ist. So wird beispielsweise als häufigste regelmäßige Hilfe von 58 % der Helfenden der telefonische Kontakt in Form des „check up on the phone with them“ (ebd., 54) angegeben. Insgesamt kann davon ausgegangen werden, dass die zusätzliche Existenz einer Enkelgeneration eher einen positiven Faktor für die mittlere Generation darstellt. Somit ist die Bezeichnung „Scharniergeneration“ (Lüscher/Liegle 2003, 79) schon angesichts der inkongruenten Begriffsanwendung von ‚Sand118 Bei ‘AARP’ handelt es sich um einen Dienstleister für die Zielgruppe der älteren Menschen mit Sitz in den USA, welcher aus der ‚American Association of Retired Persons’ hervorgegangen ist. 119 Im Original: „sqeezed but not stressed“ (AARP 2001, 3).
145
wich-Generation’ und der differenziert zu betrachtenden Datenlage als die umfassendere und damit gegenstandsangemessene zu sehen. 3.2.3
Auswirkungen auf weitere Familienmitglieder
Im 4. Familienbericht wird verdeutlicht, dass bislang keine eindeutige Datenlage zur Rolle von nahen Verwandten der Hauptpflegepersonen vorliegt. Die Autoren konstatieren: „Alle Familienmitglieder haben im Pflegeprozess sowohl entlastende als auch belastende Funktionen für die Hauptpflegepersonen“ (BMFSFJ 2002, 200). Dabei wird von einem erheblichen Anforderungspotenzial für die Familie ausgegangen, um zu gewährleisten, „dass die Familie als Ganzes erhalten bleibt, ohne an der neuen Situation zu zerbrechen“ (BMFSFJ 2002, 200). Bezogen auf die Situation der Enkel heißt es: „Heranwachsende Kinder und Jugendliche bedeuten für pflegende Frauen eine praktische und emotionale Entlastung, doch werden sie nur selten zur Mithilfe herangezogen. Die familiäre Pflegeleistung durch Enkelkinder ist bisher nicht durch typische gesellschaftliche Normen und Erwartungen gekennzeichnet. Ihre Rolle im familialen Pflegeprozess ist offensichtlich weder innerfamiliär noch gesellschaftlich genau definiert“(BMFSFJ 2002, 200).
Häusliche Pflege kann somit als eine familiale Aufgabe, die mit heterogenen und kollektiv noch nicht definierten Zuschreibungen verbunden ist, d. h. als eine tendenziell „anomischen Situation“ (BMFSFJ 2002, 197) beschrieben werden. Diese Ausgangsbasis weist bei der Konzeptionierung einer Forschungsstudie mit Enkelkindern in Pflegesettings auf die Relevanz einer offenen Fragestellung und -haltung zur Erfassung der Breite der möglichen Erfahrungen hin. Wobei von einer oben schon genannten Rollenumkehr bei den Hilfeleistungen zwischen der älteren und den jüngeren Generationen als ein wesentlicher Beziehungsaspekt ausgegangen werden kann (vgl. BMFSFJ 2002, 197). Für die Überlegung, welche Effekte familiale Pflege auf Enkelkinder haben kann, ist angesichts des unter 3.1.1 genannten breiten Aufgabenspektrums von Pflegepersonen davon auszugehen, dass neben der Hauptpflegeperson ebenso die konkreten Alltagsgestaltungen weiterer Familienmitglieder und folglich auch die der Enkelkinder von der Pflegesituation betroffen sind. Nachfolgend werden wesentliche Aspekte angeführt.
146
Tabelle 15:
Auswirkungen familialer Pflege auf das Familienleben
Durch die Pflegeübernahme kann x „der Tages- und Nachtrhythmus nicht nur der Pflegeperson, sondern auch der anderen Familienmitglieder empfindlich gestört werden, x gemeinsame Freizeitaktivitäten und Urlaubspläne können eingeschränkt oder zunichte gemacht werden, wenn es die Pflegesituation, die sich spontan ändern kann, erfordert, x Freunde und Bekannte können ihre Besuche aufgrund der Pflegesituation einschränken oder aufgeben, x Familienmitglieder unterlassen Freizeitaktivitäten, um der Pflegeperson zu helfen oder diese nicht allein zu lassen, x Zuwendung und Unterstützung für andere Familienmitglieder unterbleiben, weil die Pflege die dafür erforderliche Zeit und Energie bindet, x Anschaffungen unterbleiben aufgrund eines pflegebedingt eingeschränkten finanziellen Spielraums (durch Erwerbseinschränkung oder -aufgabe, teure, zusätzliche Pflegedienstleistungen werden erforderlich etc.)“. Quelle: Barkholdt/Lasch 2004, 25f Die Auflistung von Barkholdt und Lasch veranschaulicht, dass sowohl der familiale Alltag als auch darüber hinausgehende punktuelle Freizeitaktivitäten von häuslicher Pflege tangiert werden. Hervorzuheben ist hierbei die gestörte Nachtruhe, die sich bei kontinuierlichem Vorliegen nachteilig auf weitere Verpflichtungen der Enkel wie den Schulbesuch etc. auswirken kann. Aber auch die Beeinträchtigung herausragender Ereignisse im Jahresverlauf, wie z. B. des Urlaubs, kann als gravierende Belastung bewertet werden. Deutlich wird an der Aufzählung weiterhin die Problematik der Instabilität häuslicher Pflegesettings, wodurch häufig abrupt und für Angehörige unerwartet personale Unterstützungsressourcen erforderlich werden. Erst in jüngster Zeit finden die Auswirkungen, die ein Pflegesetting speziell auf die junge Generation haben kann, größere Beachtung, wobei dieses Thema primär im englischsprachigen Raum behandelt wird. Kinder und Jugendliche sind unter Umständen direkt in die Pflegetätigkeiten eingebunden oder mittelbar davon betroffen. Sie erhalten möglicherweise eine reduzierte Zuwendung eines durch die Pflege überlasteten Elternteils und müssen in diesen Fällen eigene Bedürfnisse zugunsten der Rücksichtnahme auf das Pflegegeschehen zurückstellen (vgl. Barkholdt/Lasch 2004, 26). 147
Szinovacz bewertet die europäische Forschung zu jüngeren Generationen in Pflegesettings als zu einseitig auf die Funktion einer Hauptpflegeperson ausgerichtet. Anhand der gesamten Datenlage werde deutlich, dass neben den Hauptverantwortlichen bei der Pflegeübernahme zahlreiche Familienmitglieder von einer häuslichen Pflege betroffen sind. Beispielsweise korrelierten mit der Höhe der Belastung sowie mit Entscheidungen für oder gegen einen Umzug in eine stationäre Pflegeeinrichtung nicht nur die Merkmale der Pflegebedürftigen, wie der Umfang der Pflegebedürftigkeit, sondern in starkem Maße auch die Einstellungen und Interaktionen innerhalb der Familie. Auch wenn nicht an den Belastungseffekten familialer Pflege zu zweifeln sei, müsse an Studien mit einseitig an Belastung orientierten Fragestellungen kritisiert werden, dass deren Ergebnisse kein vollständiges Bild familialer Pflege wiedergeben können. Ihre Analysen deuten auf heterogene Effekte der häuslichen Pflege bei jüngeren Menschen hin. Einerseits kann eine relativ geringere Ausprägung familialer Solidarität bei jungen Menschen, die in informelle Pflegesettings eingebunden sind, aufgezeigt werden. Die Autorin geht diesbezüglich davon aus, dass alterstypische Spannungen zwischen Eltern und jugendlichen Kindern dadurch verstärkt werden, dass Mütter ihre Aufmerksamkeit verstärkt auf die zu Pflegenden richten. Andererseits besteht die Möglichkeit, dass pflegende Eltern für junge Menschen einen Modellcharakter haben und somit bei den Jüngeren eine verantwortliche Haltung für ältere und hilfebedürftige Familienmitglieder begünstigen (vgl. Szinovacz 2003, 447f). In einer Studie von Piercy sind 43 Angehörige aus 15 Familien mit zwei oder mehr Generationen interviewt worden, in denen pflegebedürftige und alte Angehörige versorgt wurden. Gefragt wurde nach dem Spektrum familialer Verantwortlichkeit, der diesbezüglichen Übereinstimmung zwischen den verschiedenen Familienmitgliedern sowie der Bedeutung, die diesen Verpflichtungen für alte Familienangehörige zugeschrieben wurde120 (vgl. Piercy 1998, 110). Die Ergebnisse belegen, dass das Spektrum der Verantwortlichkeit 120 Unter den Befragten befanden sich elf Enkelkinder mit einem durchschnittlichen Alter von 33 Jahren sowie 28 Personen der mittleren Generation, d. h. erwachsene Kinder der Hilfebedürftigen, sowie vier Pflegebedürftige. In acht der 15 Familien musste eine 24-stündige Betreuung aufgrund kognitiver Einbußen der Pflegebedürftigen geleistet werden. Die Erhebung bestand aus einem teilstrukturiertes Interview von ca. 45 Minuten bis zu 2 ½ Stunden Dauer und einem Fragebogen zur Erfassung soziodemografischer Daten. Allen Teilnehmenden wurden eine ausführliche Liste mit Altenhilfeangeboten und 10 $ für ihre Teilnahme angeboten, wobei Letzteres nur von 20 % der Teilnehmenden angenommen wurde. Die erhobenen Daten wurden nach der Transkription mit einem Programm zur computerunterstützten Auswertung qualitativer Daten bearbeitet (vgl. Piercy 1998, 110).
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weitaus mehr als die praktische Versorgung der Hilfebedürftigen, beispielsweise in Form von einer Assistenz bei ihren Alltagsaktivitäten, beinhaltet (vgl. ebd., 116). Sich verantwortlich zu fühlen impliziert darüber hinaus ein sensibles Verhalten im Umgang mit den Pflegebedürftigen, z. B. in den Bereichen Autonomie, Bequemlichkeit, Sicherheit und dem der emotionalen Bedürfnisse. Daher wird es überwiegend als relevant betont, den hilfebedürftigen Angehörigen Zuneigung zu zeigen und Gesellschaft zu leisten. Der Aspekt ‚Autonomie der Älteren’ wird als so wichtig empfunden, dass er in 14 von den 15 Familien von allen drei Generationen hervorgehoben wird, wobei Übereinstimmung herrscht, dass hilfebedürftige Angehörige so lange wie möglich selbstständig ihre Alltagsaktivitäten durchführen können sollten (vgl. ebd., 112f). Die Autorin betont, bei einem fehlenden Einbezug dieser „noninstrumental assistance“ (Piercy 1998, 116) im Rahmen von Forschungsstudien würden entscheidende Sichtweisen von sowohl pflegebedürftigen als auch pflegenden Familienmitgliedern vernachlässigt und familiale Pflege somit dekontextualisiert121. Weiterhin wird deutlich, dass eine geteilte familiale Verantwortlichkeit für den pflegebedürftigen Menschen den normativen Erwartungen der Angehörigen in allen 15 Familien entspricht122, auch wenn dies faktisch bei nicht bei allen von ihnen realisiert wird. Zum Zeitpunkt der Erhebung ist von acht der 15 Familien eine Person als Hauptverantwortliche Pflegende genannt worden, in den weiteren sieben Familien gab es zwei oder mehr Familienmitglieder mit dieser Funktion (vgl. ebd., 112ff). Sörensen und Zarit haben in einer Forschungsstudie Frauen aus drei Generationen in 33 Familien nach ihrer Antizipation möglicher Pflegesettings in der Familie befragt. Hierzu wurden mit den 99 Enkeltöchtern, Müttern und Großmüttern Interviews mit offenen und geschlossenen Fragen zu potenziellen Planungen und Vorbereitungen von Pflegesituationen durchgeführt. Die Analysen belegen, dass bei wenigen von ihnen konkrete Gespräche oder direkte Vorbereitungen stattgefunden haben, obgleich ein großer Teil von Großmüttern und Müttern potenzielle Pflegebedarfe antizipiert und die Notwendigkeit eines vorausschauenden Umgangs damit empfunden hat. Enkeltöchter differieren in der Häufigkeit, in der sie zukünftige Pflege antizipieren, nicht wesentlich mit ihren Müttern bzw. Großmütter. Zwar sind konkrete Gespräche über zukünftige Pflege bei ihnen noch unwahrscheinlicher als bei den älteren Generationen, 121 Die Autorin führt diese Überlegung in Anlehnung an Walker et al. (1995) an. 122 Der Text im Original lautet: „Sharing the provision of assistance among several family members was described as a familial responsibility by all families in this study” (Piercy 1998, 114).
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jedoch ist dabei zu berücksichtigen, dass für die Enkeltöchter die spätere Rolle als hauptverantwortlich Pflegende zeitlich bedeutend entfernter liegt als für ihre Mütter (vgl. Sörensen/Zarit 1996, 43ff). Die Autoren resümieren, dass Enkeltöchter stärker in Forschungsvorhaben zur familialen Pflege einbezogen werden sollten, da sie zukünftige Hilfebedarfe ähnlich häufig wie die anderen Generationen in Betracht ziehen, dies nur seltener thematisieren (vgl. ebd., 57). Die sozialpolitischen Implikationen sind nach Meinung der Autoren evident: Politik und Dienstleister sollten ihre Anstrengungen erheblich verstärken, um gesamtgesellschaftlich zu einem aktiveren und vorausplanenden Umgang mit zukünftigen Pflegeerfordernissen zu gelangen (vgl. ebd., 60). Pflege in Mehrgenerationenfamilien ist ebenfalls das Thema einer Studie von Baum und Page, die 25 Familien mit vier Generationen hinsichtlich ihrer Helferstrukturen untersuchten. Ausgehend von der These, dass die Zunahme von multilokalen Mehrgenerationenfamilien zu einer Vergrößerung der Hilfenetze bei der Angehörigenpflege führt, zeigen jedoch die Ergebnisse, dass fast ausschließlich entweder die Partnerin oder die Tochter der pflegebedürftigen Menschen als Hauptpflegeperson agieren. Nur in vier Familien wird dies durch die Hilfe einer Enkeltochter ergänzt, welche aber im Vergleich mit der Hauptpflegeperson einen deutlich geringeren Umfang hat. Ausgedehnte Unterstützungsnetzwerke mit Einbezug der Seitenlinien (d. h. der Geschwister) sind nicht identifiziert worden (vgl. Baum/Page 1991, 762ff). 3.2.4
Häusliche Pflege im Kontext des Milieus
Wie zum Thema ‚Pflegebereitschaft’ schon ausgeführt, kann die Ausgestaltung des familialen Pflegesettings mit Merkmalen des jeweiligen Milieus korrelieren. Heusinger hat häusliche Pflegearrangements im Kontext mit den vorhandenen sozialen Milieus im Rahmen einer Studie mit 28 Pflegebedürftigen und ihren Pflegepersonen untersucht, wobei in Anlehnung an Bourdieu das ökonomische Kapital (z. B. die finanziellen Ressourcen), das soziale Kapital (z. B. die privaten Netzwerke) und das kulturelle Kapital (z. B. der erworbene Bildungsgrad) berücksichtigt wurden123 (vgl. Heusinger 2006, 418ff). In den „gehobenen Milieus“ (ebd., 420) mit den immanenten größeren finanziellen Handlungsspielräumen werden zwar üblicherweise zeitnah haushaltsnahe Dienstleistungen 123 Die methodische Herleitung der verschiedenen Milieus erfolgt bei Heusinger nach den Kriterien des Sinus-Institus und Vester (vgl. Heusinger 2006, 419).
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organisiert, jedoch gehört darüber hinaus ein praktizierter familialer Zusammenhalt ebenso zu den geäußerten normativen Erwartungen. Hiervon differierend wird in „kleinbürgerlichen Milieus“ (ebd.) das begrenztere ökonomische Kapital nicht in dieser Selbstverständlichkeit für Pflege- und Hilfeleistungen ausgegeben, sondern die Pflege fast ausschließlich in der Familie organisiert. Außerfamiliale soziale Netzwerke werden dabei nur dann als Hilfepotenzial identifiziert, solange monetäre Gegenleistungen von der Familie erbracht werden können. Darüber hinaus sind die Pflegebedürftigen dieses Milieus mit einem deutlich geringeren kulturellen Kapital als ihre jüngeren Familienangehörigen ausgestattet. Diese Disparitäten im Bereich von Wissen und Kompetenz, beispielsweise bei der Organisation der Versorgungssituation, führen tendenziell zu Abhängigkeiten der älteren gegenüber der jüngeren Generation. In beiden Milieus kann die Vorstellung von Zusammenhalt als essenzielles Element im familialen Selbstbild gewertet werden, was in starkem Maße die Bereitschaft, zusammenzuziehen, impliziert. Dies könnte mit einem deutlichen Anpassungsdruck für die Pflegebedürftigen und einer erhöhten Belastung für die Angehörigen einhergehen (vgl. Heusinger 2006, 420f). In den „traditionellen Arbeitermilieus“ (ebd., 421) ist die Neigung, materielle Ressourcen für die Pflege zu investieren, gering, denn „das im Leben Erarbeitete und Ersparte soll auf keinen Fall durch die Pflege verloren gehen“ (ebd.). Ausgeprägte informelle soziale Netze unterstützen diese Haltung, wobei jedoch biografische Diskontinuitäten wie beispielsweise Umzüge in ein anderes Wohnquartier zu einem Verlust dieser Netzwerkressourcen führen können. Aufgrund fehlenden Wissens liegt ein erschwerter Zugang zur professionellen und staatlichen Unterstützungspalette vor (vgl. ebd.). Für eine Studie über Enkelkinder in familialen Pflegesituationen ist somit das soziale Milieu als ein weiterer Einflussfaktor zu werten. Gravierend können sich sozioökonomische Rahmenbedingungen im Kontext sozialer Armutslagen auswirken, was exemplarisch am Typus der „erschöpften EinzelkämpferInnen“124 (BMFSFJ 2005b, 294) expliziert werden kann. Die solchermaßen klassifizierten Familien zeichnen sich u. a. durch eine überproportionale Arbeitsbelastung im Erwerbsleben mit einem vergleichsweise niedrigen Einkommen aus. Sowohl Paare als auch allein erziehende Mütter dieses Typs befinden sich oftmals in einem Grenzbereich des Anrechts auf öffentliche Sozialleistungen, welche schon bei geringer Veränderung der familialen Erwerbssituation durch aufwendige Verwaltungsverfahren neu angepasst werden 124 Im 7. Familienbericht wird der Begriff einer qualitativen Armutsstudie von Meiner et. al (2003) entnommen.
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müssen. Ämter und Einrichtungen repräsentieren dabei tendenziell Organe der Kontrolle anstelle der Unterstützung. Summieren sich bei diesem Armutstypus noch weitere Verpflichtungen wie beispielsweise die Sorge um ein pflegebedürftiges altes Elternteil neben der Erziehung der Kinder, dann funktioniert das soziale Gebilde Familie primär nicht mehr als Ressource, sondern beinhaltet das Risiko chronischer Erschöpfungen und Erkrankungen bei der Elterngeneration (vgl. BMFSFJ 2005b, 293ff). Auch hier kann davon ausgegangen werde, dass eine derartige Multiproblembelastung bei der mittleren Generation Auswirkungen auf die Enkelgeneration haben wird.
3.3
Die besondere Situation beim Vorliegen einer Demenz
3.3.1
Strukturelle Aspekte
Eine häusliche Pflegesituation im Kontext einer demenziellen Erkrankung beinhaltet aufgrund der spezifischen Symptomatik für pflegende Familienangehörige besondere Anforderungen. Über die Anzahl der Enkelkinder, die ein derartiges familiales Unterstützungssetting uni- oder multilokal erleben, liegen bislang keine Schätzungen vor125. Als Orientierung können die folgenden Überlegungen dienen: Nach den in Kapitel 2.3.1 vorgestellten Daten des Alterssurveys leben ca. drei Viertel aller 70- bis 85-Jährigen in einer familialen Drei-Generationenkonstellation (vgl. Kohli et al. 2000, 183). Weiterhin beträgt die Prävalenzrate bei 70- bis 74-Jährigen für eine Demenz ab mittlerem Schweregrad 2,8 %. Für Menschen von einschließlich 80 bis 84 Jahren beträgt sie 13,3 % (vgl. Bickel 2001, 109). Bezogen auf die nachfolgende Enkelgeneration kann demnach bei konstanten Prävalenzraten aufgrund der steigenden Anzahl hochbetagter Menschen mit einer deutlichen Zunahme der Zahl von Erkrankten in den kommenden Jahrzehnten gerechnet werden. Generell gilt für diese spezifischen Mehrgenerationen-Konstellationen in der familialen Pflege bei Demenz das bereits oben Gesagte: Erstens steigt die 125 Exemplarisch kann hier ein Rekurs auf den 7. Familienbericht erfolgen, in welchem der Aspekt der Pflege älterer Familienangehöriger unter dem Oberthema „Generationenbeziehungen unter Erwachsenen“ (BMFSFJ 2005b, 235) expliziert wird, wobei die Angehörigen der mittleren Generation als unterstützende Akteure fokussiert werden und die Enkelgeneration unberücksichtigt bleibt (vgl. ebd., 268).
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Wahrscheinlichkeit, dass Enkelkinder aufgrund der zunehmenden gemeinsamen Lebenszeit der familialen Generationen alte und hilfebedürftige und somit auch demenziell erkrankte Großeltern erfahren. Zweitens sind Großeltern, wie in Abschnitt 2.3.4 verdeutlicht wurde, in relevantem Maß Adressaten von instrumentellen Hilfetransfers ihrer Enkelkinder. Von der Gruppe der 70- bis 85Jährigen geben 7 % der Befragten an, praktische Hilfen durch ihre Enkelkinder erhalten zu haben (vgl. Kohli et al. 2000, 195). Der Bereich der instrumentellen Hilfen ist für das vorliegende Thema von besonderem Interesse, da er eine große Anzahl der Tätigkeitsmerkmale enthält, die im Rahmen einer Alltagsassistenz beim Krankheitsbild Demenz, wie im 1. Kapitel beschrieben, erforderlich sind. Darüber hinaus können gerade praktische Hilfen wie beispielsweise das Erledigen kleiner Besorgungen von jungen Menschen durchgeführt werden. Bedeutsam ist für das Potenzial instrumenteller Hilfen weiterhin, dass diese Kategorie familialen Unterstützungsverhaltens, wie bereits in Kapitel 2.4.1.2 ausgeführt wurde, in hohem Maß unabhängig von der erlebten Qualität der Beziehung gewährleistet ist (vgl. Nave-Herz 2004, 217; Schütze/Wagner 1995, 325). Wird nach der Anzahl der Enkel gefragt, die die Rolle einer Hauptpflegeperson in der häuslichen Pflege im Kontext mit Demenz innehaben, liegen präzise Daten vor. Schäufele et al. haben, wie in Kapitel 1.2.2 vorgestellt, im Rahmen einer repräsentativen Erhebung eine Teilstudie mit 151 Personen mit Demenz in privaten Haushalten durchgeführt (vgl. Schäufele et al. 2005, 99ff). Die dabei untersuchten Verwandtschaftsverhältnisse der Erkrankten in der häuslichen Pflegesituation gibt die nachfolgende Tabelle wieder: Tabelle 16:
Hauptpflegepersonen von demenziell erkrankten Menschen in Privathaushalten (in %)
Hauptpflegeperson Ehepartner Kinder Schwiegerkinder Enkel Geschwister Neffen oder Nichten Keine private Hauptpflegeperson
Demenzkranke in Privathaushalten* 38,5 % 39,2 % 13,5 % 4,1 % 1,4 % 2,7 % 2,0 %
* Die Stichprobe beinhaltet 151 an Demenz erkrankte Menschen in Privathaushalten.
Quelle: vgl. Schäufele et al. 2005, 114
153
In dieser Stichprobe werden in 4,1 % der Fälle die erkrankten Menschen von einem Enkel hauptverantwortlich gepflegt, was bei einer Fallanzahl von 151 Familien rein rechnerisch eine absolute Anzahl von sechs Enkelkindern bedeutet. Welche Auswirkungen bzw. Belastungen mit dieser pflegerischen Situation für Enkel verbunden sind, wird aus der Studie nicht ersichtlich, da Enkelkinder nicht als separate Kategorie in der Auswertung aufgeführt werden. Die Ausführungen, die im vorangegangenen Kapitel zu den Effekten familialer Pflege auf Enkelkinder unabhängig von der Diagnose Demenz erfolgt sind, können als Basisaspekte für eine Reflexion spezifischer familialer Lebenswelten beim Vorliegen einer demenziellen Erkrankung zugrunde gelegt werden. Wie in Kapitel 3.2.3 ersichtlich wird, sind unter Umständen sowohl die alltäglichen Lebensabläufe als auch die ‚Jahreshighlights’ tangiert. Beim Vorliegen einer demenziellen Erkrankung ist darüber hinaus zu bedenken, dass es sich nicht um eine kurzfristige transitorische Phase des Familienlebens handelt, sondern der Verlauf sich beginnend mit den ersten Symptomen bis zu einem späten Stadium unter Umständen über zehn oder mehr Jahre erstrecken kann. Dieser Zeitraum ist für eine adäquate Bewertung des Phänomens der familialen Pflege im Verhältnis zur Dauer einer Kindheit oder Jugend an sich zu sehen. Nachfolgend werden forschungsrelevante Studien präsentiert und Teilaspekte der Thematik expliziert. 3.3.2
Auswirkungen der Pflegesituation auf junge Menschen und deren familiale Beziehungen
Betroffenheit von Enkeln Nach Szinovacz ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sich die familiale Pflege eines demenziell Erkrankten auf die ganze Familie auswirkt. Exemplarisch zitiert sie Brody: „A deluge of descriptive reports lead to the inescapable conclusion that the occur of Alzheimer’s disease does indeed affect all members of the family and the family as whole” (Brody 1989, 2; zit. in: Szinovacz 2003, 446).
Aufgrund dessen untersuchte sie in einer qualitativen Studie die Auswirkungen der Pflege eines demenzkranken Angehörigen im familialen Haushalt auf die Beziehung zwischen den Jugendlichen und deren Eltern. Mit 17 Jugendlichen aus 16 Familien wurden Interviews von ca. einer Stunde Dauer geführt, wobei es sich in 14 der 16 Familien bei den Erkrankten um die Großeltern der 154
Jugendlichen handelte. Zusätzlich sind Angaben der hauptverantwortlich Pflegenden in Form eines Fragebogen erhoben worden (vgl. ebd., 451). Bei der Durchführung der Studie war die Gewinnung von Studienteilnehmern mit den festgelegten Kriterien mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, denn die Jugendlichen hatten zwischen 12 und 19 Jahre alt zu sein und in Koresidenz mit den Erkrankten und den Pflegepersonen zu leben. Da es sich um eine kleine Gruppe der Gesamtbevölkerung handelt und keine offiziellen Register oder Verzeichnisse vorlagen, musste die Studie mithilfe zahlreicher kommunaler Einrichtungen, Selbsthilfeorganisationen, etc. aufwendig bekannt gemacht werden126. Die sich daraufhin meldenden Familien sind aufgrund der Kriterien überprüft und gegebenenfalls in die Studie einbezogen worden, und sie erhielten 30 $ für ihre Teilnahme. Die Interviews enthalten die offene Frage, wie sich das Leben der Jugendlichen zum Positiven oder Negativen verändert habe, nachdem der Angehörige an Demenz erkrankte oder in den familialen Haushalt einzog. Weiterhin ist ihre Beziehung zur (Haupt)Pflegeperson von Interesse, wobei dieser Personenkreis sich fast ausschließlich aus den Müttern der Jugendlichen zusammensetzt. Zusätzliche Fragen beziehen sich auf einzelne Lebensbereiche und beinhalten Aspekte wie Routinearbeiten, schulische Leistungen, Freunde, Freizeitaktivitäten, ihr Verhalten und ihre Stimmungen. Als wichtigstes Ergebnis zeigt sich: “The care situation induces both positive and negative changes in family relationships” (Szinovacz 2003, 465). Viele Jugendlichen in den Familien sind zu einem erheblichen Maß in die Unterstützungsaufgaben eingebunden gewesen. Konkret nennen sie z. B. das ‚Aufpassen’ auf die kranken Angehörigen, was sie mit „grandma sitting“ (Szinovacz 2003, 462) bezeichnen. Einerseits berichten die jungen Familienmitglieder von einem erheblichen Ausmaß an Empathie und Respekt für die pflegende Person in der Familie und empfinden einen Zuwachs an familialer Verbundenheit durch die gemeinsamen Pflegeaktivitäten. Andererseits werden eine Reduktion der gemeinsamen Freizeitaktivitäten und das Übertragen des pflegebedingten Stresses der hauptverantwortlichen Person auf andere Familienbeziehungen reklamiert. Streitigkeiten der Eltern aufgrund der versorgungsimmanenten Belastung bestürzen und verwirren die jungen Menschen: „It makes me upset to see them arguing“ (ebd., 463). Negativ wird weiterhin von ihnen bewertet, dass die Aufmerksamkeit der Pflegenden permanent auf die demenziell erkrankten Angehörigen gerichtet sei. Obgleich die Jugendlichen deutlich ihre Bestrebung, sich von den Eltern zu lösen, äußern, empfinden sie 126 Angesiedelt ist die Studie in Virginia an der Ostküste der USA, d h. in einer Stadt mit knapp 250.000 Einwohnern.
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die Verringerung der Aufmerksamkeit für ihre eigene Person als ungünstig (vgl. ebd., 457). Nach Szinovacz bekräftigen die Ergebnisse der Studie die Forderung, dass Interventionen bei pflegenden Angehörigen das gesamte Familiensystem einbeziehen sollten. Pädagogen sollten dieses Hintergrundwissen weiter vermitteln und Helfer vor Ort sich nicht ausschließlich auf eine hauptverantwortliche Pflegeperson beziehen, was die Anpassungsprozesse junger Menschen erschweren kann (vgl. ebd., 465). Enkel erleben überwiegend positive Erfahrungen Beach betont die Wichtigkeit eines Einbezugs des kompletten Familiensystems zur Komplettierung der Studien zur Belastung von Hauptpflegepersonen, da es hierzu noch an Studien mangele (vgl. Beach 1997, 233). Auch sie orientiert sich an Ergebnissen von Brody, die Brüche im sozialen Leben der Teenager, Stress zwischen Großeltern und Enkelkindern, sowie negative Empfindungen über die Belastung der Mütter durch die Pflege belegen, um die Wichtigkeit einer Mehrgenerationen-Perspektive zu verdeutlichen. Auch eine weitere von ihr zitierte Studie von Pruchno et al. bekräftigt diese Forderung. Hierin sind beispielsweise keine signifikanten Unterschiede zwischen den Müttern, die gleichzeitig auch die Rolle der Hauptpflegeperson innehaben, und ihren Kindern hinsichtlich negativer Äußerungen über den erkrankten Großelternteil ermittelt worden. Die Enkelkinder berichten häufiger negativ konnotiert über das Verhalten des Kranken als ihre Väter, und empfinden eine größere Zufriedenheit über die vorhandene Pflege bzw. Betreuung als ihre Eltern (vgl. Brody 1989; Pruchno 1995, aufgeführt in Beach 1997, 233). Obwohl ihrer Ansicht nach hier richtungweisend mehrere Generationen im Pflegesetting in die Forschungsvorhaben einbezogen worden sind, sieht Beach auch Einseitigkeiten: „Unfortunately, these studies have primarily concentrated on the negative aspects of caregiving and on adolescent stress associated with the primary caregiver’s experience.” (Beach 1997, 233)
Positive Erfahrungen junger Menschen im Pflegekontext seien möglicherweise übersehen worden, denn „this phenomenon is generally negated in the caregiving literature“ (ebd., 234). Auf diesen Vorab-Überlegungen basiert ihre eigene qualitative Studie, in der sie 20 Jugendliche im Alter zwischen 14 und 18 Jahren, die entweder Kind, Enkelkind oder Nichte bzw. Neffe des oder der Demenzerkrankten waren und einen gemeinsamen Wohnsitz hatten, interviewt hat. Die offenen Fragen in den 156
teilstrukturierten Interviews beziehen sich auf die familialen Beziehungen, die durch die Pflegesituation bedingten Veränderungen im Leben, die Verbundenheit mit den anderen Familienmitgliedern und Aspekte der Kommunikation. Im Rahmen der Analyse sind vier Hauptkategorien gebildet worden, welche ‚Steigerung der gemeinsamen Aktivitäten mit Geschwistern’, ‚Zunahme an Einfühlungsvermögen für ältere Erwachsene’ und ‚hohe Relevanz der Bindung zwischen Mutter und Heranwachsendem’ lauten, wobei zu beachten ist, dass die Mütter der Jugendlichen 82 % der Hauptpflegepersonen darstellen. Die vierte Kategorie bezieht sich auf die ‚Auswahl und Aufrechterhaltung der Freundschaften mit Gleichaltrigen’ (vgl. Beach 1997, 235f). Zur Verifizierung der vorläufigen Ergebnisse sind Rücksprachen mit einem Teil des Samples, und zwar mit fünf Jugendlichen, gehalten worden. Darüber hinaus sind zwei mit dem Thema vertraute Forscherkollegen um ihre Einschätzungen gebeten worden, und weiterhin wurde ein Austausch mit in häuslicher Pflege involvierten Jugendlichen außerhalb der inkludierten Teilnehmergruppe gesucht. Insgesamt machen die Ergebnisse deutlich, dass die Krankheit Demenz die Familienbeziehungen stark beeinflusst. Zu einem großen Teil empfinden dies die Jugendlichen positiv, u. a. da sie in größerem Maß Zeit mit ihren Geschwistern verbracht und infolge dessen ihr Verhältnis zu ihnen verbessert haben. Auch hat sich die Beziehung zur Hauptpflegeperson positiv entwickelt und ihr Verständnis für alte Menschen zugenommen. Eine Rolle als enge Vertraute bzw. enger Vertrauter der Mutter in emotional problematischen Phasen wird beispielsweise von den Jugendlichen positiv bewertet. Überwiegend ist der Wunsch, mehr Zeit mit der Mutter zu verbringen, sowie die Anerkennung ihrer Pflegeleistung, geäußert worden (vgl. ebd., 237). Problematische Aspekte betreffen die Kontakte mit Gleichaltrigen, da die Jugendlichen Ihnen gegenüber Scham über die Verhaltensweisen des Erkrankten empfinden und sie umgekehrt von den Gleichaltrigen Kränkungen durch unsensible Reaktionen erfahren. Als Fazit ist für die jungen Menschen eine sorgfältige Auswahl der Freunde von Bedeutung, insbesondere in Hinblick darauf, dass diese eventuell auch in der Familie der Jugendlichen die Pflegesituation vor Ort miterleben können (vgl. Beach 1997, 233ff). Nach Beach sollten aufgrund der Ergebnisse die Potenziale, die häuslichen Pflegesettings im Kontext von Demenz hinsichtlich der Identitätsbildung junger Menschen immanent sind, stärker als bislang geschehen in Betracht gezogen werden. Weiterhin machen die Befunde deutlich, dass Jugendliche in einem größeren Umfang als erwartet zur Bewältigung der pflegebedingten Anforderungen beitragen können. Nach Ansicht der Autorin sind weitere Forschungen und insbesondere Längsschnittstudien erforderlich (vgl. ebd., 237). 157
Maß der Belastung und Beziehungsqualität Die Beziehungen von 29 Enkelkindern demenziell erkrankter Großeltern zu den weiteren Familienmitgliedern ist gleichfalls ein Forschungsgegenstand bei Creasy und Jarvis. Das Datenmaterial der Enkel im Alter zwischen acht und 18 Jahren und ihrer Eltern wurde anhand von Fragebögen erhoben, zusätzlich wurde mittels eines standardisierten Verfahrens die Belastung der Eltern gemessen. Nach einer durchschnittlichen Erkrankungsdauer von sechs Jahren waren u. a. die Auswirkungen elterlicher Belastung auf die Enkel von Interesse. Die Ergebnisse belegen keine generellen signifikanten Auffälligkeiten in den Beziehungen der Enkel zu ihren Eltern. Allerdings dokumentieren sie deutlich schlechtere Beziehungen zu Großeltern und Vätern, wenn die jeweiligen Mütter als Hauptpflegepersonen hohe Belastungsniveaus angegeben haben. Insgesamt werden die Verhältnisse zu den kranken Großeltern als konfliktträchtiger als diejenigen zu den anderen Familienmitgliedern geschildert. Die Befunde der Studie zeigen auf, dass die Höhe der Belastung der Hauptpflegepersonen Auswirkungen auf die Beziehungsqualität der Enkel hat. Nähere Hintergründe und Erklärungen sollten nach Ansicht der Autoren in weiteren Längsschnittstudien mit der Zielsetzung erhoben werden, z. B. mit Hilfe von Beratung präventiv intervenieren zu können (vgl. Creasy/Jarvis 1989, 81ff). Nach Zank ist davon auszugehen, dass Belastungen in der Pflege im Kontext mit Demenz zur „Vernachlässigung der berechtigten Anliegen junger Menschen“ (Zank 2003, 4) führen können, da die Jugendphase an sich auch ohne die Existenz dieser speziellen Pflegesituation erhöhte Anforderungen an das familiäre Umfeld stellt. Zwar weisen Studien auf Auswirkungen des Pflegegeschehens für junge Menschen hin, die konkreten Ausprägungen dieser Einflüsse werden jedoch inkongruent beschrieben. Während in einigen Untersuchungen die negativen Auswirkungen auf das soziale Leben sowie sich ungünstig transformierende Beziehungen zu den Großeltern betont werden, wird in weiteren Studien zwar der Einfluss der häuslichen Unterstützungssituation auf die Jugendlichen als solches bestätigt, jedoch die positiven Effekte als die dominierenden geschildert. Genannt werden beispielsweise eine positiv beeinflusste Beziehung zur Hauptpflegeperson und ein größeres Verständnis für alte Menschen. Zank sieht die Bereitstellung von Informationen und Gesprächsangeboten für junge Menschen als belastungspräventive Intervention und sieht aufgrund der divergierenden Befunde weiteren Forschungsbedarf (vgl. Zank 2003, 4). Grundsätzlich ist zu bedenken, dass der hohe Anforderungscharakter einer Pflegesituation mittelbar auch die junge Generation tangieren kann. 158
„Spannungen zwischen den Erwachsenen, unter Zeitdruck stehende Handlungen oder durch Depressivität und Niedergeschlagenheit unterlegte Interaktionen bleiben der emotionalen und kognitiven Fähigkeitsentwicklung des Kindes ebenso wenig verborgen wie die Ausprägung von Bewältigungsstilen gegenüber neuen Herausforderungen“ (BMFSFJ 2005b, 224).
Insbesondere beim Krankheitsbild Demenz kann das Risiko einer Kumulation von anspruchsvollen Pflegeerfordernisse mit weiteren sozialen Problemfeldern, wie bereits beispielhaft am Armutstypus „Erschöpfte EinzelkämpferInnen“ (BMFSFJ 2005b, 295) dargestellt, gegeben sein. Multiproblemlagen wie diese können in signifikanter Weise gleichfalls die jüngste Generation belasten. 3.3.3
Intergenerationelle Ansätze im Praxisfeld
Konzeptioneller Einbezug intergenerationeller familialer Beziehungsaspekte Neuere Interventionsansätze, die, wie bereits in Kapitel 1.4.3 expliziert, in verstärktem Maße die subjektiven Lebenswelten pflegender Angehöriger einbeziehen, berücksichtigen konzeptionell erst vereinzelt und ansatzweise die alltagsdominierenden Beziehungsaspekte zwischen den beiden jüngeren Generationen und den älteren, demenzkranken Familienmitgliedern. Exemplarisch kann hierzu Saltz mit einem Konzept zur Steigerung der Effektivität familialer Pflege bei Demenz aufgrund von Care Management Prozessen genannt werden. Sie bewertet familiale Pflege kognitiv beeinträchtigter alter Menschen als besondere Herausforderung für die Familie und entwickelte daraufhin theoretisch abgeleitete Orientierungsvorgaben für die Beziehungsgestaltung. In Anlehnung an das 1965 entwickelte Konzept der ‚filialen Reife’ bzw. „filial maturity“ (Saltz 2000, 60) von Blenkner, das u. a. eine Rollenumkehr bei erwachsenen Kindern hilfebedürftiger Eltern vom betreuten Kind zum verantwortlichen Helfer beinhaltet, geht die Autorin von der Notwendigkeit einer beiderseitigen Neudefinierung der Rollen sowohl bei den älteren als auch bei den jüngeren Familienmitgliedern aus: „This mutual task requires both sides of the parent-child pair to redefine dependency in old age as normal behaviour” (Saltz 2000, 58). Die Neugestaltung familialer Unterstützungstransfers bedarf der Balance zwischen der Selbstbestimmung der Älteren und der sukzessiven Hilfeübernahme der Jüngeren. Aus der Perspektive der jüngeren Generationen in der Familie reklamiert die Autorin das Fehlen von positiven Vorbildern für eine adäquate Hilfeübernahme ohne ‚Überbehütung’ ebenso wie die vorhandenen Widerstände aufseiten der Älteren, Hilfeleistungen anzunehmen. Diese wären zu ermutigen, ihr Altern mit seinen potenziellen Bedarfen zu antizipieren 159
und im Dialog mit ihren Angehörigen vorausschauend zu gestalten (vgl. ebd., 62). Geeignete professionelle Interventionen sollten daher die Akzeptanz situativ transformierter Rollen mit neuen Abhängigkeiten sowohl bei den Erkrankten als auch bei den Angehörigen fördern und intergenerationelles Lernen auf beiden Seiten initiieren (vgl. ebd., 51ff). Kinder und Jugendliche als eigene Zielgruppe Im Themenkreis der Pflege bei Demenz geraten in jüngster Zeit verstärkt Kinder und Jugendliche in das Blickfeld der Fachöffentlichkeit. Winters, die aus Sicht der Disziplin Pflegewissenschaft die Situation von Kindern mit alten demenziell erkrankten Angehörigen beschreibt, intendiert den konkreten Einbezug junger Familienmitglieder in das häusliche Betreuungsgeschehen und in Beratungssituationen beispielsweise von einer Klinik oder weiteren Beratungsstellen. Ausgehend von der großen Varianz der jeweiligen Lebensumstände, können für Kinder unterschiedlichste Emotionen, wie beispielsweise Ärger, Verunsicherung oder Eifersucht, und Verhaltensweisen mit der Erkrankung korreliert sein. Werden diese in subtiler und indirekter Form geäußert, ist es für Erwachsene oft schwierig, die Signale der Kinder zu erkennen, insbesondere wenn diese über unspezifische somatische Beschwerden klagen. Die krankheitsbedingten Verhaltensauffälligkeiten der Demenzerkrankten können Kinder irritieren und einen sozialen Rückzug verursachen, sodass diese es aufgrund der Befürchtung pflegebedingter Komplikationen vermeiden, Freunde in die private Häuslichkeit mitzubringen (vgl. Winters 2003, 37f). Generell empfiehlt Winters den Erwachsenen, die Erkrankung nicht zu tabuisieren sondern in einer altersgerechten Weise zu thematisieren, wobei kurze krankheitsbezogene Hintergrundinformationen mit Praxisbeispielen aus dem kindlichen Alltag illustriert werden sollten. Gerade realitätsferne Ängste und schwer nachvollziehbare Verhaltensweisen der Erkrankten sollten kindgemäß erklärt werden. Einerseits ist darauf zu achten, Kinder nicht über ihre Ressourcen hinausgehend zu fordern, andererseits scheint es sinnvoll, diese zu einem aktiven Umgang mit dem kranken Menschen zu ermutigen. Erfahrungen haben gezeigt, dass Kinder einen positiven Einfluss auf die Demenzkranken ausüben können, und dass bei Beachtung spezifischer Grundregeln beide Generationen von intergenerationellen Aktivitäten profitieren können. Eine wesentliche Basisregel ist hierbei die Orientierung am Prozess der gemeinsamen Aktivität und Interaktion anstelle der Verfolgung leistungsbezogener Ziele. Kreative Ausdrucksformen, körperliche Beanspruchungen wie Spazierengehen oder hauswirtschaftliche Tätigkeiten bieten hierbei oftmals den nötigen Ge160
staltungsspielraum (vgl. ebd., 38). Auch wenn es sich um kleinere Unterstützungsleistungen handelt, können Kinder damit in die Betreuungsaktivitäten einbezogen werden und angesichts eigener Kompetenzen eine Zunahme des Selbstwertgefühls erfahren. Die Autorin weist auf die besondere Relevanz einer Befähigung junger Menschen im Umgang mit demenziell Erkrankten hin, da hier zukunftsorientierte Lernprozesse für die ganze Gesellschaft stattfinden (vgl. ebd., 39). Ratgeber- und Selbsthilfeliteratur sowie didaktische Materialien Direkt an die Jugendlichen, die als Enkelkinder oder als weitere Angehörige von Demenzkranken in die Rolle der Unterstützungsleistenden geraten, wendet sich die Broschüre „Understanding Dementia. A guideline for young carers” (Health Education Board for Scotland 1996). Eingangs wird zur grundsätzlichen Festlegung der Zielgruppe gefragt: „Am I a carer” (ebd., 6) und geantwortet: „A carer is someone who helps someone who is ill.“ (ebd.) Helfen bedeutet hier das Assistieren bei oder das Übernehmen von Hausarbeiten ebenso wie das Bereitstellen einer schützenden Umgebung, das Erinnern an Termine, die Unterstützung bei der Körperpflege genauso wie das Spenden von Trost und emotionaler Nähe. Betont wird, dass man sich auch dann als ‚carer’ verstehen kann, wenn man diese Aufgaben nur teilweise erledigt, bzw. wenn man anderen Menschen, beispielsweise einem Elternteil, bei der Erfüllung dieser Aufgaben behilflich ist. Jugendliche werden im Weiteren nicht nur über die Hintergründe der Krankheit aufgeklärt, sondern sehr direkt und ausführlich ermutigt, eigene Bedürfnisse wahrzunehmen und zu artikulieren: „Rule 1: look after yourself“ (ebd., 7). Potenzielle familiale Beziehungsprobleme, die schulische Situation und das Sterben des Demenzkranken werden ebenso angesprochen und Adressen von professionellen Hilfestellen bereitgestellt (Health Education Board for Scotland 1996, 1ff). Auch andere Veröffentlichungen und Ratgeberschriften berücksichtigen die Enkelgeneration, speziell im Kindes- und Jugendalter, worauf abschließend kursorisch hingewiesen werden soll. Die Alzheimer‘ s Association Chicago betont in ihrem “Help Sheet: How does Alzheimer‘s disease impact children and teens?“ (ebd. o. J.) die positiven Potenziale einer Pflegesituation: „Despite the challenges, caring for someone who has dementia can be a positive experience when the entire family is educated about the disease and effective caregiving approaches“ (ebd., 7).
161
Positive Erfahrungen setzen allerdings Kommunikationsbereitschaft aufseiten der Erwachsenen voraus: „The most important way to help children and teens cope is to maintain open lines of communication“ (ebd., 5). Deutlich wird in dieser Broschüre auf die Notwendigkeit des intergenerationellen Dialogs als belastungspräventive Maßnahme hingewiesen. Das Kinderbuch ‚Meine Oma Gisela’ beschreibt in Form einer persönlichen Geschichte reichhaltig bebildert die Beziehung einer Enkeltochter zu ihrer an Demenz erkrankten Großmutter. Es wurde für Kinder im Alter zwischen fünf und neun Jahren geschrieben (vgl. Baumann/Conners o. J.). Mittlerweile werden junge Menschen auch unabhängig von einer eigenen familialen Pflegesituation als Zielgruppe für das Thema ‚Demenz’ erkannt. Zwei Projekte im schulischen Bereich sollen abschließend kurz vorgestellt werden: Im Zentrum für Allgemeine Wissenschaftliche Weiterbildung der Universität Ulm (ZAWiW) ist ein Projekt mit der Zielsetzung, Schülern das Thema ‚Alzheimer’ näher zu bringen, durchgeführt worden. Dabei ist in den jeweiligen Jahrgangsstufen von Klasse fünf bis elf altersgemäß und multimethodisch gearbeitet worden, wobei Kinofilme, Kunstausstellungen, Nachbearbeitungen im Unterricht, Diskussionen über Lösungsstrategien bei problematischen Pflegesituationen, Auseinandersetzung in Form von Rollenspielen, szenische Verarbeitungen und viele weitere künstlerische Aktivitäten initiiert worden sind. Die dafür vom ZAWiW entwickelten Unterrichtsmaterialien werden als eine zentrale Voraussetzung, um Schulen zur Teilnahme zu motivieren, bewertet (vgl. Deutsche Alzheimer Gesellschaft e.V. 2005, 5). Das Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA) hat 2006 einen Film herausgegeben, der die authentische Lebenssituation eines Enkels im gemeinsamen Haushalt mit seiner demenzkranken Großmutter dokumentiert. Didaktische Zusatzmaterialien dienen dem Einsatz im Schulunterricht und stellen Lehrplanbezüge zu verschiedensten Unterrichtsfächern her (vgl. Schnabel/Dirksen 2006).
162
Teil B Theoretische und methodische Hintergründe der Erhebung
Der vohergehende Teil dieser Arbeit widmete sich dem Stand der Forschung, und ergänzend auch der fachpraktischen Auseinandersetzung, zum Thema der Enkelgeneration im familialen Pflegesetting bei Demenz. Hierbei zeigte sich, dass eine Bearbeitung dieser Thematik erst anfänglich erfolgt ist und weitere wissenschaftliche Untersuchungen benötigt werden. Die nachfolgenden Teile dieser Arbeit möchten einen Beitrag zu einer weiteren Erkenntnisgewinnung innerhalb dieser Fragestellung leisten, und beziehen sich auf das Erfahrungsspektrum der Enkel im Kontext des Pflegegeschehens und auf ihre Bilanzierung aus der Retrospektive oder einer räumlichen Distanz.
4
Problemanalyse, Forschungsfragen und -ziele
Wie in den Kapiteln Eins bis Drei geschildert wurde, muss mit einer signifikanten Zunahme demenzieller Erkrankungen in den nächsten Jahrzehnten gerechnet werden, sofern keine Durchbrüche in der Erforschung von Therapien erzielt werden. Die gesamtgesellschaftliche Relevanz der häuslichen Versorgung dieser Hilfe- und Pflegebedürftigen in der BRD ist dabei faktisch sehr hoch und normativ im Pflegeversicherungsgesetz als ‚ambulant vor stationär’ und der Prämisse der Laienpflege als zentrales Versorgungselement verankert. Zahlreiche Studien weisen pflegende Angehörige als Gruppe mit einem hohen Eigenrisiko zu erkranken aus, wobei sich die Forschungsergebnisse primär auf eine hauptverantwortliche Pflegeperson und weniger auf das familiale Gesamt163
geschehen beziehen. Über die Enkelgeneration liegen bislang wenige Erkenntnisse vor, die sich zudem im Wesentlichen auf den angloamerikanischen Raum beziehen. Allerdings kann von einer ‚Betroffenheit’ der Enkel im familialen Pflegesetting angesichts der Schwere der chronisch-progredienten Erkrankung und der langen durchschnittlichen Verlaufsdauer ausgegangen werden. Wird nach den Auswirkungen familialer Unterstützung demenziell erkrankter Großeltern auf die Enkelgeneration gefragt, so wird der Blick auf die Generationenkonstellationen im sozialen Gebilde ‚Familie’ gerichtet. Dabei muss bei einer Forschungsarbeit die ‚Familie’ in heutigen westlichen Industriegesellschaften mit ihrer Varianz der Formen und Herstellungsprozesse berücksichtigt werden, weshalb für die hier vorliegende Fragestellung die offene und im Kapitel 2.1.4 genannte kategoriale Beschreibung von Familie von Lauterbach gewählt wurde. Auch die Diversität des Generationenbegriffs muss beachtet und eingeordnet werden. Zwar scheint der Bezug zur mikrosozialen Ebene vorrangig zu sein, doch zeigt die genaue Betrachtung der Generationen in ihren verschiedenen Bedeutungs- und Handlungsdimensionen, dass relevante Interdependenzen mit der makrosozialen Ebene das Mitglied einer Familiengeneration beeinflussen. Ein Enkelkind ist auch gleichzeitig Mitglied einer kulturellen, sozialen oder pädagogischen Generation im gesamtgesellschaftlichen Kontext. Das Wissen um diese breit gefächerten theoretischen Hintergründe von ‚Familie’ und ‚Generation’ ist die Grundlage der hier vorgelegten empirischen Forschungsstudie und der anschließenden Ergebnisbewertung. Für die vorliegende Fragestellung ist die Mehrgenerationenfamilie das Forschungsobjekt. Hilfeleistungen in dieser können, wie oben beschrieben, in multilokalen Wohnsituationen erbracht werden. Weiterhin kann davon ausgegangen werden, dass derartige Hilfetransfers über räumliche Distanzen in Familien gesellschaftlich zunehmend an Relevanz gewinnen. Bei den vorhandenen Studien sind, wie Beach (1997) bemerkt, aufgrund einer einseitigen Betrachtung von Belastung, positive Erfahrungen junger Menschen im Pflegekontext oftmals nicht genug beachtet worden. In der hier realisierten Erhebung wird daher durch eine Fokussierung auf die individuellen Relevanzsetzungen und Sinnzuschreibungen der Enkel in ihrer jeweils vorliegenden Lebenswelt die nötige Offenheit gegenüber positiven, negativen und neutralen (bzw. als unwesentlich empfundenen) Erfahrungen erreicht. Forschungsgegenstand sind somit die subjektiven Erfahrungen und Bilanzierungen von Enkeln demenzkranker Großeltern im Kontext familialer Pflege- und Hilfeleistungen in ihrer individuellen Lebenswelt. ‚Lebenswelt’ im hier gebrauchten Sinne bezieht sich dabei auf den vertrauten Alltagskontext, so wir er im Erfahrungs- und Wissensvorrat der Enkel existiert und Teil ihrer lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten ist. Dieser Lebensweltansatz in An164
lehnung an Alfred Schütz dient als bündelnde Meta-Theorie bzw. Methodologie für eine qualitative Studie aus der Perspektive der angewandten Gerontologie mit einem multidisziplinären Hintergrund, welcher den Forschungsthemen ‚familiale Pflege’ und ‚Generationenbeziehungen’ inhärent ist. Die leitenden Forschungsfragen lauten: Welche positiven, negativen oder weiteren Erfahrungen liegen bei den Enkeln vor? Wie werden die eigenen Erfahrungen bilanziert, d. h. welches Fazit wird aus einem abschließenden Überblick gezogen127? Und welche Sinnzuschreibungen bezogen auf Phänomene einer familialen Pflegesituation im Kontext von Demenz sind darin impliziert? Als Teilfragen sind dazu von Interesse, welche intergenerationellen Unterstützungsleistungen überhaupt für die Enkel Teil des Pflegesettings bei Demenz sind. Weiterhin wird exploriert, auf welchen familialen Relevanzstrukturen diese basieren, z. B. ob sie Teil lebensweltlicher Selbstverständlichkeiten sind. Von Interesse ist ebenso, ob sich der nun durch das Pflegegeschehen erweiterte individuelle Erfahrungsvorrat auf die eigene Pflegebereitschaft auswirkt und sich – sofern besondere Belastungsphänomene vorhanden sind – Formen der Belastungsprävention daraus ableiten lassen. Die Forschungsziele stehen in engem Zusammenhang mit den nachfolgend abgeleiteten Praxisimplikationen. Intendiert ist eine Verbesserung der familialen Versorgungssituation durch den Einbezug des Erlebens der Enkel, welche mit einer Förderung des generationenübergreifenden Verständnisses in häuslichen Pflegesettings bei Demenz einhergeht. Darüber hinaus zählt die Identifizierung von gesundheitspräventiven Potenzialen bezogen auf mögliche Überlastungen zu den Teilzielen dieser Forschungsarbeit. Den genannten Fragestellungen und Zielsetzungen sind methodologische Konsequenzen inhärent: Zur Exploration der Gesamtheit der Erfahrungen in ihrer Breite inklusive bislang unbekannter Aspekte wird eine qualitative Vorgehensweise mit einer Methodenkombination gewählt, die die dazu nötige Offenheit und Gegenstandsangemessenheit enthält. Im Rahmen der gewählten Methoden ‚problemzentriertes Interview nach Witzel’ und ‚qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring’ besteht die Gelegenheit, den Verlauf des Interviews sowie die spätere Inhaltsanalyse flexibel den vorgefundenen Gegebenheiten anzupassen.
127 Bilanzierung wird im Fremdwörter-Duden als „Bilanzaufstellung“ definiert. „Bilanz“ bedeutet im Allgemeinen: „Ergebnis, Fazit, abschließender Überblick“. Darüber hinaus beinhaltet es im Speziellen die „abschließende Gegenüberstellung von Vermögen u. Schulden, Aktiva u. Passiva, Einnahmen u. Ausgaben [für ein Geschäftsjahr]“ (Duden 2001).
165
5
Theoretischer Rahmen der Untersuchung
5.1
Grundlegende Aspekte des vorliegenden Forschungsansatzes
5.1.1
Angewandte Gerontologie und Multidisziplinarität
Bei gerontologischen Themenstellungen sind in der Regel „viele Fachgebiete als Grunddisziplinen an der Analyse dieser Gegenstandsbereiche beteiligt“ (Karl 2003, 7), was auch für die hier vorliegende Studie mit den Themen ‚familiale Pflege’ und ‚Generationenbeziehungen’ zutrifft. Auch wenn diese Ausführungen einen soziologischen Schwerpunkt haben, beinhaltet die Fragestellung darüber hinaus medizinische, sozialpädagogische, pflegewissenschaftliche und eine Fülle weiterer Aspekte, die alle dem gerontologischen Erkenntnisinteresse zuzuordnen sind. Denn ausgehend von einer breiten Definition von Gerontologie existiert eine Vielzahl an Disziplinen, die sich mit Dimensionen des jetzigen oder zukünftigen älteren Menschen sowie mit Aspekten seiner Umwelt beschäftigen und somit auch als gerontologische Teildisziplinen betrachtet werden können. Baltes und Baltes drücken dies folgendermaßen aus: „Gerontologie beschäftigt sich mit der Beschreibung, Erklärung und Modifikation von körperlichen, psychischen, sozialen, historischen und kulturellen Aspekten des Alterns und des Alters, einschließlich der Analyse von alternsrelevanten und alternskonstituierenden Umwelten und sozialen Institutionen.“ (Baltes/Baltes 1992, 8).
Sie sprechen daher von der „interdisziplinäre[n] Gestalt“ (ebd., 7) der Gerontologie. Auch Backes und Clemens konstatieren, dass der Gerontologie als „Querschnittswissenschaft“ (Backes/Clemens 1998, 21) die Zielsetzung einer Interdisziplinarität immanent ist. In der konkreten Umsetzung vieler Forschungsvorhaben kann jedoch eher von einer Multidisziplinarität gesprochen werden, in der verschieden Disziplinen einbezogen werden, jedoch der Forschungsgegenstand nicht durch disziplinübergreifende Theorie- und Methodenbildung sowie problemorientierte, gemeinsam entwickelte Erkenntnisinteressen bearbeitet wird (vgl. Schneider 2000, 22f). Breite Übereinstimmung herrscht in der gerontologischen Literatur über die Existenz und die Notwendigkeit der Verbindung von Grundlagenforschung und angewandter Wissenschaft (beispielhaft seien genannt für die Psychogeronto166
logie Kruse 1999, 328f, für die sozialwissenschaftliche Alternsforschung Backes/Clemens 1998, 20ff und für die Soziale Gerontologie Karl 1999a). Stellvertretend kann Kohli zitiert werden, für den der Alternswissenschaft einerseits die Vorzüge einer angewandten Wissenschaft immanent sind, welche er als die „genaue Kenntnis der institutionellen Wirklichkeit ihres Feldes und Sensibilität für die sozialen Probleme, die sich darin stellen“ (Kohli 2000, 19) beschreibt. Andererseits sind ebenso Grundlagenfragen zu problematisieren (vgl. Kohli 2000, 19). Anwendungsorientierte Forschung knüpft hierbei an die Konzepte und Ergebnisse der Grundlagenforschung an, und kann als Prozess gelten, der „Erfordernisse erkennt und aufgreift, die sich in der praktischen Gerontologie ergeben“ (Kruse 1999, 328). Der Prozess fängt mit einer „Identifikation jener Interventionsaufgaben“ (ebd.), welche sich aus den gewonnenen Erkenntnissen ableiten lassen, an. Auch Karl weist auf den besonderen Anwendungsbezug gerontologischer Forschung hin, die auch Fragestellungen „wie sie aus alltäglichen Problemzusammenhängen erwachsen“ (Karl 2002, 297) formulieren sollte. Es handelt sich dabei um „moderne Daseinsfragen“ (Karl 1999a, 44), welche „wesentlich um Balancen zwischen Individualisierung und gesellschaftlicher Solidarität kreisen“ (ebd.) und insbesondere „intergenerative Beiträge zur Gestaltung der Generationenbeziehungen [Hervorhebung im Original]“ (ebd.) initiieren. Besonderen Stellenwert hat bei dem hier artikulierten Praxisbezug nach Ansicht dieses Autors die Transparenz des Begründungszusammenhangs von Maßnahmen bzw. Konzepten mit theoretischen oder empirischen Hintergründen: „Praktisch-methodische Intervention muss sich [...] auf Theorie beziehen“ (Karl 2003, 17). Dies impliziert eine Kenntlichmachung der „den Zielen der Interventionsgerontologie unvermeidlich inhärenten Normativität“ (ebd.), beispielsweise des zugrunde liegenden theoretischen Rahmens. Diese offen gelegten theoretischen Perspektiven sind dabei die Voraussetzung für potenzielle Praxisinterventionen, denn „die praktische Umsetzung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse erfolgt [...] in sozial eingebetteten Transformations- und Interpretationsprozessen [Hervorhebung im Original]“ (Breuer 1996, 34). Das heißt, anstelle einer reinen Verwendung von Forschungsergebnissen handelt es sich in der Regel um ein aktives Adaptieren im Rahmen neuer Sprach-, Werte- und Handlungskontexte, wobei eine Explikation theoretischer Referenzpunkte die Anwendungsmöglichkeiten – und grenzen deutlich werden lässt. Diese Arbeit ist aus der Perspektive der angewandten Gerontologie geschrieben worden. Ausgehend von einer ‚Basisdisziplin’, der Soziologie, als Grundlage und Zentrum der Betrachtungen, sind weitere Disziplinen im großen Themenbereich ‚Versorgung demenziell Erkrankter’ berücksichtigt worden. Für ein disziplinübergreifendes, multiperspektivisches Vorgehen wird, wie bereits 167
beschrieben, als verbindende „metatheoretische Position“ (Lamnek 2005, 48) der Lebensweltansatz in Anlehnung an Alfred Schütz gewählt.
5.1.2 5.1.2.1
Der qualitative Zugang Einführende Hinweise
Die hier vorgestellte Studie basiert auf einem qualitativen Forschungsparadigma128. Qualitative Forschung wird häufig als Gegenentwurf zu einer als quantitativ bezeichneten Forschung innerhalb der empirischen Sozialwissenschaft beschrieben. Letztere beinhaltet die Quantifizierung bzw. Messung von Teilbereichen von Beobachtungsrealitäten sowie eine statistische Auswertung der Messwerte. Die quantitative Forschung dient u. a. der Beschreibung von Populationen, der Überprüfung von Hypothesen und der Entdeckung neuer Effekte mit Hilfe von Tests, Experimenten, Beobachtungs- und Befragungsprozessen, physiologischen Messverfahren und dem additiven und evaluierenden Erfassen von Daten (vgl. Bortz/Döring 2003, 295ff; 678). Diesen standardisierten Verfahren gegenüber, die maßgeblich die Sichtweise der Forschenden fokussieren, betont die qualitative Forschung die Perspektive des zu erforschenden Subjekts. Basierend auf einem reichhaltigen methodischen Kanon und anhand z. B. verbalisierter Daten, Beobachtungsverfahren, Videoanalysen und Gruppendiskussionen werden soziale Handlungsräume und Interpretationen von Wirklichkeit des Individuums exploriert. Die qualitative Forschung fokussiert in der Regel alltägliche Lebenssituationen und gewinnt Erkenntnisse durch eine offenere und prozessorientierte Vorgehensweise mit in der Regel kleineren Stichproben als in der quantitativen Forschung. Die Deskription empirischer Sachverhalte und sozialer Prozesse findet auch häufig auf der Basis von Einzelfallanalysen statt, wohingegen quantitative Forschungen 128 ‚Paradigma’ ist eine im sozialwissenschaftlichen Diskurs häufig verwendete Terminologie. Bezeichnet wird das „allgemein akzeptierte Vorgehen“ (Bortz/Döring 2003, 19) einer Wissenschaftsdisziplin mit einem konsensualen Verständnis von ‚Wissenschaftlichkeit’. Neuentwicklungen von Paradigmen vollziehen sich nicht nur aufgrund geordneter und rationaler Prozesse: „Ein neues Paradigma siegt nicht allein durch empirische und theoretische Überlegenheit, sondern ganz wesentlich auch durch das Aussterben der Vertreter des alten Paradigmas“ (ebd.).
168
oftmals auf repräsentativen Stichproben mit vielen Hundert oder Tausend Probanden basieren (vgl. Diekmann 1998, 443ff; Flick et al. 2003a). Qualitative und quantitative Forschung verband ein „mitunter spannungsgeladenes Verhältnis“ (Bortz/Döring 2003, 293), wobei beide Seiten einen Alleinvertretungsanspruch für sich reklamierten. Solche „Extrempositionen“ (ebd.) weichen allerdings immer mehr der Haltung, den Eigenwert jedes Forschungsstranges zu gewichten, die Qualität beider Verfahren weiter zu entwickeln und diese letztendlich immer häufiger zu kombinieren (vgl. Bortz/Döring 2003, 293ff). Qualitative Forschung ist weiterhin ein Oberbegriff für unterschiedliche Forschungsansätze, die in ihren theoretischen Annahmen und ihren Methoden differieren. Flick et al. unterscheiden dabei drei große Forschungsperspektiven: Eine Sichtweise, in der im Wesentlichen nach individuellen Sinnzuschreibungen und subjektiven Deutungen in den Traditionen des symbolischen Interaktionismus und der Phänomenologie gesucht wird sowie ein zweiter Ansatz, der primär die Routinen des Alltags und die Herstellung sozialer Wirklichkeit fokussiert und welcher der Ethnomethodologie und dem Konstruktivismus zugeordnet wird. Eine dritte Perspektive beinhaltet hermeneutische Analysen latenter Strukturen und geht von strukturalistischen oder psychoanalytischen Positionen aus (vgl. Flick et al. 2003b, 18f). Die hier vorliegende Arbeit bewegt sich im Bereich der erstgenanten Perspektive qualitativer Sozialforschung, denn im Zentrum stehen „Zugänge zu subjektiven Sichtweisen“ (ebd., 19) und sie ist an einem phänomenologisch basierenden Ansatz, dem Lebensweltansatz von Alfred Schütz, orientiert. Diesem Forschungsstrang werden von Flick et al. als Methoden der Datenerhebung u. a. Leitfaden-Interviews und als Methoden der Interpretation z. B. eine qualitative Inhaltsanalyse zugeordnet. In der hier präsentierten Studie wurde als Erhebungsmethode das problemzentrierte Interview nach Witzel und als Auswertungsmethode die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring gewählt. Die Autoren ordnen dem hier skizzierten Bereich qualitativer Forschung als zentrales Anwendungsfeld die „Analyse von Alltagswissen“ (ebd.) zu. Übertragen auf den Forschungsgegenstand der Erhebung bei Enkeln mit Erfahrungen in einem speziellen Pflegesetting geht es somit bei der hier vorgestellten Studie um deren Alltagserfahrungen im Kontext spezieller Pflegesituationen. Wobei der nachfolgend hier vorgestellten Studie ebenso wie der qualitativen Forschung als Ganzes die Zielsetzung inhärent ist, „Zugänge zur sozialen Wirklichkeit“ (Kardorff 1995, 3) zur Verfügung zu stellen.
169
Qualitative Sozialforschung und das so genannte ‚interpretative Paradigma’ sind forschungshistorisch so eng verbunden, dass sie in der Regel – nicht ganz zu Recht – gleich gesetzt werden129. Ursprünglich von Wilson (1973) eingeführt, diente der Terminus der Bezeichnung spezieller soziologischer Theorien in Abgrenzung zu dem von Wilson bezeichneten ‚normativen Paradigma’. Während aus dem Blickwinkel des interpretativen Paradigmas soziale Wirklichkeit als Konstruktionsleistung eines interpretativen Prozesses hergestellt wird, wird im Rahmen des normativen Paradigmas eine objektiv existierende Realität außerhalb der Interpretationsleistung der Subjekte vorausgesetzt und davon ausgegangen, dass die Interaktionsteilnehmer ihr Verhalten innerhalb vorgegebener Strukturen vorwiegend an ihren Rollen ausrichten (vgl. Abels 2004a, 86f; Lamnek 2005, 34f). Nach Lamnek ist ein interpretatives Paradigma als Kennzeichnung der theoretischen Hintergründe qualitativer Forschung jedoch irreführend, insbesondere opponierend zu einem normativen Paradigma, da Letzteres kein „normatives Wissenschaftsverständnis“ (Lamnek 2005, 34) sondern ein „normatives Wirklichkeitsverständnis“ (ebd.) impliziert. Diese Grundannahmen sozialer Wirklichkeit werden dem Strukturfunktionalismus, der Verhaltens- und Systemtheorie und teilweise dem Historischen Materialismus zugeordnet. Unbestritten jedoch gilt das interpretative Paradigma als das am meisten verbreitete Paradigma innerhalb der qualitativen Sozialforschung, mit der in erster Linie der symbolische Interaktionismus, die Ethnomethodologie und die phänomenologische Lebensweltanalyse in Verbindung gebracht werden (vgl. Lamnek 2005, 34f)130. Nach einer Phase der Initiierung qualitativer Forschung ist ihre Position in der deutschen Forschungslandschaft mittlerweile unstrittig. Qualitative Forschung hat sich sowohl in den klassischen Grundlagenfächern wie Soziologie, Psychologie oder Wirtschaftswissenschaften als auch in eher angewandten Disziplinen wie Sozialarbeit, Public Health oder Pflegewissenschaft etabliert und „den Status einer paradigmatischen ‚normal science’ erreicht“ (Flick et al. 2003b, 13). Die früheren kontrovers geführten Debatten zur Legitimierung qualitativer Forschung insbesondere in Dichotomie zu einer quantitativen Forschung sind nun eher von Diskursen über die Ausrichtung, die 129 Exemplarisch bei Hitzler 2006. 130 Überwiegend werden in der Literatur in diesem Zusammenhang die Termini ‚interpretativ’ und ‚verstehend’ synonym verwendet, beispielsweise spricht Hopf sowohl von „Konzeptionen einer verstehenden Soziologie“ (Hopf 1995, 180) als auch von „interpretativer Forschung“ (ebd.).
170
Methoden, etc. der qualitativen Forschung an sich abgelöst worden, beispielsweise zur ‚Tiefe’ qualitativer Analysen (vgl. Hitzler 2006, 5). 5.1.2.2
Grundlegende Merkmale qualitativer Forschung
Gemeinsam ist bei allen Richtungen in der qualitativen Forschung die Ausgangsprämisse eines subjektiven Herstellungsprozesses sozialer Realität: „Soziale Wirklichkeit lässt sich als Ergebnis gemeinsam in sozialen Interaktionen hergestellter Bedeutungen und Zusammenhänge verstehen. Beides wird von den Handelnden in konkreten Situationen im Rahmen ihrer subjektiven Relevanzhorizonte [...] interpretiert“ (Flick et al. 2003b, 20).
Gemeinsam sind den unterschiedlichen qualitativen Forschungsperspektiven folgende Merkmale, die Tabelle 17 als Übersicht darstellt und die nachfolgend erläutert werden: Tabelle 17:
Merkmale qualitativer Forschungspraxis
x Methodisches Spektrum statt Einheitsmethode x Gegenstandsangemessenheit von Methoden x Orientierung am Alltagsgeschehen und/oder Alltagswissen x Kontextualität als Leitgedanke x Perspektiven der Beteiligten x Reflexivität des Forschers x Verstehen als Erkenntnisprinzip x Prinzip der Offenheit x Fallanalyse als Ausgangspunkt x Konstruktion der Wirklichkeit als Grundlage x Qualitative Forschung als Textwissenschaft x Entdeckung und Theoriebildung als Ziel. Quelle: Flick et al. 2003b, 24 Das methodische Spektrum qualitativer Forschung enthält eine breite Varianz unterschiedlicher Ansätze, aus denen abhängig vom Forschungsgegenstand und der Fragestellung die angemessene Methode selektiert werden kann. Für eine Gegenstandsangemessenheit gilt, dass die gewählten Methoden der Fragestellung gerecht werden müssen. Sie wird als zentrales Kennzeichen qualitativer 171
Forschung eingestuft. Präferiert werden alltägliche Bezüge der Akteure im Kontrast zur Herstellung von Laborsituationen. Qualitative Verfahren der Erhebung, Analyse und Interpretation sehen die kontextualen Zusammenhänge, d. h. die natürlichen Kontexte der Betroffenen (vgl. Flick et al. 2003b, 24). Wie oben schon ausgeführt, sind die individuellen Sichtweisen und Sinnzuschreibungen der Subjekte aus ihrer Perspektive von Interesse, wobei die Reflexion des Forschers über sein eigenes Handeln und seine Wahrnehmung einen Teil der Erkenntnis und nicht einen Störfaktor darstellt. Das „Verstehen als Erkenntnisprinzip“ (ebd.) im Sinne „methodisch kontrolliertem Fremdverstehens“ (ebd.) dient dem Nachvollzug der Perspektive des Subjekts. Das Merkmal ‚Offenheit’ garantiert primär bei der Datenerhebung eine größtmögliche Unvoreingenommenheit, weshalb die Fragen, beispielsweise bei einem Leitfaden, möglichst „offen formuliert“ (ebd.) werden. Der Ausgangspunkt in der qualitativen Forschung ist in der Regel ein Spektrum von Einzelfällen. Die weiteren Schritte beinhalten meistens den Fallvergleich und die verallgemeinernde Zusammenfassung. Wie oben schon beschrieben, wird dabei soziale Wirklichkeit als Ergebnis von subjektiven und konstruktiven Herstellungsprozessen verstanden. Die qualitative Sozialforschung ist explorativ, wobei die Generierung theoretischer Bezüge zu den neu gewonnenen Erkenntnisinhalten eine Zielsetzung darstellt. Weiterhin handelt es sich primär um eine Textwissenschaft, innerhalb der vorrangig mit verbalisiertem Material gearbeitet wird (vgl. Flick et al. 2003b, 24). Das Datenmaterial, welches wie gesagt, häufig in Textform vorliegt, gibt Auskünfte über soziale Kommunikation und Praktiken. Wenn Hitzler dieses Material als „Artefakte von Praktiken“ (Hitzler 2003, Abs. 5) bezeichnet bringt er zum Ausdruck, dass es sich dabei nicht um die originären Ereignisse bzw. Handlungen, welche beispielsweise im Rahmen einer „teilnehmenden Beobachtung“ (Lüders 2003, 384) wahrgenommen werden können, handelt. Als Analysebasis liegen stattdessen die nachfolgenden Beschreibungen und somit auch Fixierungen dieser Praktiken vor. Für die qualitative Sozialforschung ist darüber hinaus epistemologisch leitend, dass die interaktiven, kommunikativen Vorgänge, die diesen Artefakten von Praktiken vorausgehen, „notwendigerweise wissensgeleitete und zugleich prinzipiell wissensgenerierende Prozesse“ (Hitzler 2006, 4) sind. Hitzler beschreibt das qualitative Forschungsfeld als das „kaum durchdringbare zwischen Empirikern, Methodikern, Methodologen, Theoretikern und Epistemologen der mannigfaltigen Modi“ (Hitzler 2002, Abs. 1), welches bislang ungenügend expliziert sei. Schematisch lassen sich die unterschiedlichen Forschungsperspektiven nach ihren Zielsetzungen darstellen. Lamnek (vgl. 2005, 30) nennt als Forschungsperspektiven qualitativer Sozialforschung erstens den Nachvollzug des subjektiv gemeinten Sinns, zweitens die 172
Deskription des sozialen Handelns und drittens die Rekonstruktion von Strukturen. Die hier nachfolgend präsentierte Studie konzentriert sich auf die erste und zweite Perspektive. Werden Enkelkinder nach ihren Erfahrungen im familialen Pflegesetting bei Demenz befragt, so beziehen sich Erhebung und Analyse auf einen Ausschnitt sozialer Wirklichkeit, in dem „Sprache, Regeln, Sinnbildung, Bedeutungszumessung, Beurteilungen, also semantische Größen als Verhaltensregulative angesehen werden“ (Kaiser 2003b, 147) und somit Aspekte des Forschungsgegenstandes abbilden. Hier setzt die interpretative Soziologie mit ihren Methoden und Verfahren „kontrollierten Verstehens“ (Hitzler 2002, Abs. 1) an. Die zentrale Zielsetzung der Erfassung individueller Sinnbezüge begründet nach Hitzler die epistemologische Sonderstellung interpretativer bzw. verstehender Soziologie: „Der Beobachtung und Erklärung natürlicher Ereignisse ‚von außen’ steht die Teilhabe an und das Verstehen von kulturellen Phänomenen ‚von innen’ gegenüber. Anders ausgedrückt: Während natürliche Ereignisse keinen Sinn ‚in sich’ tragen, und deshalb deren Bedeutung vom Beobachter definiert wird, sind kulturelle Phänomene eben ‚immer schon’ mit Sinn besetzt“ (ebd., Abs. 3).
Mit anderen Worten gesagt gilt es daher, den „Eigen-Sinn“ (ebd.) der Subjekte zu rekonstruieren. Denn grundlegend für die qualitative Sozialforschung ist als Forschungsgegenstand der Mensch mit seinen „mannigfaltigen, nicht aufeinander abgestimmten Deutungsmustern und Sinnschemata“ (Hitzler/Honer 1995, 382), der an diversen begrenzten ‚Teilwelten’ mit unterschiedlichen Relevanzsystemen partizipiert. Gefordert ist der „Gewinn einer existenziellen Innensicht“ (ebd. 383). Diese Zielsetzung kann nach Eberle durch den Einbezug des Schütz’schen Gedankengebäudes erreicht werden, in dem das subjektive Erleben als „Sinnkonstitution im Alltagshandeln“ (Eberle 2000, 17) und das „Interesse an der Exploration der Struktur von Erfahrungen, die sich in der Sozialwelt ausbilden“ (ebd.) einen hohen Stellenwert haben. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Ausführungen von Alfred Schütz sowohl als eigener Ansatz, der nachfolgend im Text noch ausführlich behandelt wird, als auch als eine „protosoziologische Grundlegung“ (Eberle 2000, 9) für die verschiedensten Ausprägungen der interpretativen Sozialforschung rezipiert werden131,132. Das heißt, dass viele der im Anschluss 131 Ausführungen zur protosoziologischen Bedeutung der phänomenologisch-lebensweltlichen Perspektive erfolgen auch bei Hitzler 2003, Abs. 1. 132 Hierauf wird im Kapitel 5.2.1 nochmals eingegangen.
173
folgenden Aspekte nicht nur originär Schütz zuzuordnen sondern konstitutiv für die verstehende Soziologie als solche sind. Nach Schütz bilden die sich vielfältig konstituierenden subjektiven Sinnzusammenhänge „den Referenzpunkt jeglichen Verstehens, des alltäglichen wie des wissenschaftlichen Verstehens“ (Eberle 2000, 161). Diese Konstruktionen sozialer Wirklichkeit werden auch als „Konstruktionen ersten Grades“ (Lamnek 2005, 727) oder ‚erster Ordnung’ bezeichnet. Im Prozess des Fremdverstehens als methodischer Annäherung werden die Sinnzusammenhänge der Akteure berücksichtigt, indem „die wissenschaftlichen ‚Konstruktionen zweiter Ordnung’ auf den alltagsweltlichen ‚Konstruktionen erster Ordnung’ aufbauen müssen“ (Eberle 2000, 15). Dazu werden die ‚Konstruktionen erster Ordnung’ dem Wissenschaftler oftmals, wie oben gesagt, als „Artefakte“ (Hitzler 2003, Abs. 5), das heißt z. B. in verbalisierter Form zur Verfügung gestellt, wozu Eberle verdeutlicht, dass die Qualität des Fremdverstehens u. a. vom Interesse an der korrekten Deutung sowie vom Vorwissen des Deutenden abhängt (vgl. Eberle 2000, 94). Dallinger expliziert dazu, dass Erfahrungen und Sinnkonstruktionen des Subjektes „nur mit Hilfe eigener Sinn- und Bewusstseinskategorien erschlossen werden können“ (Dallinger 1997, 151). Weiterhin gilt: „Das Verstehen eines alter ego ist nur signitiv, also über Zeichen und Anzeichen möglich, und stellt stets nur einen approximativen Näherungswert dar“ (Eberle 2000, 161).
Der interpretativen Soziologie immanent ist daher die Methode des „Zweifels daran, dass die Dinge, um die es im Zusammenleben der Menschen je geht, so sind, wie sie zu sein scheinen“ (Hitzler 2002, Abs. 4). Dies bräche die für unseren Alltag bewährte Haltung auf, „das, was sich warum auch immer bewährt hat, bis auf weiteres nicht in Frage zu stellen“ (ebd.)133. Kaiser vertritt dabei die Zielsetzung, typische Sichtweisen oder Handlungsmuster darzustellen anstatt „allgemein gültige Gesetze aufzustellen“ (Kaiser 2003b, 161). Wichtig ist dabei ein „kontrollierbarer, nachvollziehbarer und kritisierbarer Forschungsprozess“ (ebd.). Um diese Zielsetzungen zu realisieren, bedarf es sowohl einer Orientierung an den Merkmalen qualitativer Forschung als auch der Anwendung ihrer Gütekriterien.
133 Womit er den Bezug zu Alfred Schütz und dessen Ausführungen zum individuellen lebensweltlichen Wissensvorrats herstellt, welchem nach Schütz und Luckmann „seine Gültigkeit ‚bis auf weiteres’“ (Schütz/ Luckmann 2003, 35) grundsätzlich erst einmal innewohnt.
174
5.1.2.3
Gütekriterien qualitativer Forschung
Um die Qualität der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung feststellen zu können, sind Kriterien notwendig, die, bezogen auf einen forschungstheoretischen Rahmen, zum einen verschiedene Methoden und zum anderen die Durchführung einzelner Methoden miteinander vergleichbar machen. Diese „Gütekriterien“ (Lamnek 2005, 142), zu denen in den quantitativen Verfahren z. B. Objektivität, Reliabilität und Validität gehören, sind nicht oder nur modifiziert auf qualitative Verfahren übertragbar, da gravierende Unterschiede in den Fragestellungen, Erkenntnislogiken und Methoden bestehen. Beispielsweise sind die spezifischen methodischen Zielsetzungen der qualitativen Forschung zu berücksichtigen, „die stärker auf die Feinanalyse von Prozessen als auf die notwendig gröbere Bestimmung von Gesamtverteilungen ausgerichtet sind“ (Lamnek 2005, 143). Dallinger betont ein grundlegendes Interesse an „objektiver Erkenntnis“ (1997, 150), das für alle Forschungsdisziplinen gleichermaßen zu gelten hat, wobei bei der Verwendung von Qualitätskriterien die inhaltliche Spezifität des Forschungsgegenstandes zu berücksichtigen sei. Innerhalb der qualitativen Sozialforschung existieren bislang keine einheitlichen Gütekriterien. Sie variieren je nach Autor und gewähltem Forschungsdesign und werden teilweise aufgrund der Prozessorientierung erst im Verlaufe des Erhebungsverfahrens mit entwickelt. Steinke (vgl. 2003, 319ff) unterscheidet drei Positionen innerhalb der Diskussion über Güte- bzw. Qualitätskriterien qualitativer Forschung: erstens die Übertragung von Objektivität, Reliabilität und Validität als Schema quantitativer Forschung auf qualitative Studien, zweitens die Ablehnung jeglicher Kriterien, z. B. aus postmoderner Sicht, und drittens die Entwicklung eigener Kriterien für die qualitative Forschung. Letzteres nennt sie die „Kernkriterien qualitativer Forschung“ (Steinke 2003, 323), die nachfolgend aufgeführt werden. a) Verfahrensdokumentation Die Dokumentation des Forschungsprozesses ist von entscheidender Bedeutung. Sie beinhaltet das Vorverständnis des Wissenschaftlers, die Methode und den Kontext der Erhebung sowie z. B. die Transkriptionsregeln zur Verschriftlichung auditiver Daten. Zur Dokumentation gehören ebenfalls Angaben zur Auswertungsmethode und zu dem Datenmaterial, welches u. a. in Form wortwörtlicher Transkripte oder sinngemäßer Mitschriften wie Stichwortprotokollen vorliegen kann. Notizen und Deutungen des Forschenden sind 175
ebenso Bestandteil der Aufzeichnungen wie die Titulierung von Problemen oder potenziell unlösbaren Widersprüchen. Die Zielsetzung der Forschung bedarf gleichfalls der schriftlichen Reflexion, um eine „intersubjektive Nachvollziehbarkeit“ (Steinke 2003, 324) zu gewährleisten (vgl. ebd.; Lamnek 1995, 156; Mayring 2002, 144). b) Regelgeleitetheit des Vorgehens Bei Verwendung von kodifizierten Techniken und Verfahrensabläufen ist in der qualitativen Sozialforschung keine Standardisierung analog der quantitativen Verfahren, sondern eine überprüfbare Regelgeleitetheit intendiert, die z. B. durch Publikationen über dieses Verfahren allgemein zugänglich ist. Anderenfalls muss der Forscher die Analyseschritte detaillierter explizieren, um die Verfahrensregeln für die Erhebung bzw. Auswertung systematisch nachvollziehbar offenzulegen (vgl. Steinke 2003, 326; Lamnek 1995, 156; Mayring 2002, 144). c) Angemessenheit des Forschungsprozesses Die Gegenstandsangemessenheit ist sowohl zentrales Merkmal qualitativer Forschung als auch ein Hauptgütekriterium. Eine Angemessenheit bzw. Indikation des Forschungsprozesses liegt nach Steinke u. a. vor, wenn die Wahl der Methoden gegenstandsangemessen erfolgt, das Vorverständnis des Forschenden sowie seine Verbindung zum Forschungsfeld berücksichtigt werden und wenn Einzelaspekte wie die Samplingstrategie oder die Transkriptionsregeln inhaltlich indiziert sind (vgl. Steinke 2003, 326ff). Das Gütekriterium ‚Angemessenheit’ oder „Nähe zum Gegenstand“ (Mayring 2002, 146) wird als ein allen übergeordnetes Gütekriterium in der Fachliteratur anerkannt. Zur Zielerreichung, vorhandene Realität in Form von wissenschaftlichen Begrifflichkeiten abzubilden, bedarf es einerseits einer Selektion schon vorhandener Aspekte, andererseits gilt es „Unbekanntes aufzudecken und erkennbar zu machen“ (ebd.), was beides durch theoretische Ansätze und Methoden ermöglicht werden soll. Lamnek beschreibt Angemessenheit folgendermaßen: „Wissenschaftliche Begriffe, Theorien und Methoden sind dann als angemessen zu bezeichnen, wenn sie dem Erkenntnisziel des Forschers und den empirischen Gegebenheiten gerecht werden. Unter der Güte von sozialwissenschaftlichen
176
Theorien, Methoden und Begriffen soll der Grad ihrer Angemessenheit an die empirische Realität und an das Erkenntnisziel des Forschers verstanden werden.“ (Lamnek 2005, 145)
Die auf Angemessenheit prüfenden Fragen können z. B. folgendermaßen lauten: Kommen die subjektiven Perspektiven sowie die alltäglichen Handlungsweisen der Untersuchten genügend zur Geltung oder finden durch die gewählten Methoden unnötige gedankliche Einengungen im Vorfeld statt? Ermöglichen die Verfahren darüber hinaus „Irritationen des Vorwissens“ (Steinke 2003, 327)? Auch die Stichprobe der Erhebung muss der Fragestellung angemessen sein. d) Argumentative Interpretationsabsicherung Interpretationen stehen im epistemologischen Zentrum qualitativer Ansätze. Sie lassen sich im Vergleich zu Rechenoperationen nicht „beweisen“ (Mayring 2002, 145), sondern müssen argumentativ begründet werden. Interpretationen bedürfen der internen Kohärenz und logischen Stringenz, weshalb Widerlegungen durch kontrastierende Fälle zu klären sind (vgl. ebd.). Bortz und Döring befürworten hierzu eine Validierung von Interpretationen. Als deren Gütekriterium wird der „interpersonale Konsens“ (Bortz/Döring 2003, 335) herangezogen, wobei bei der Konsensbildung die Übereinstimmung nicht „in allen Einzelheiten von Anfang an“ (ebd.) bestehen muss, sondern im Verlaufe fachlicher Diskussionen erzielt werden kann. Sie empfehlen hierbei ein Forscherteam, in dem die Mitglieder nicht alle „eingeschworene Vertreter derselben Schule“ (ebd.) und somit potenziell anfällig für eine „kollektiv verzerrte Sichtweise“ (ebd.) sind. Aus diesem Grund seien auch „externe Fachleute und Experten“ (ebd.) hinzuzuziehen. Diese Form der „Interpretation in Gruppen“ (Steinke 2003, 326) wird häufig als „peer debriefing“ (Lincoln/Guba 1985, zit. in: Steinke 2003, 326) bezeichnet. Auch Lamnek befürwortet die Einbeziehung eines fachlichen Diskussionspartners, der selber nicht an diesem Projekt arbeitet, mit der Zielsetzung der „Vermeidung der Gefahr einer selektiven Wahrnehmung und damit einer Selbstbestätigung“ (Lamnek 2005, 156) der eigenen Vorannahmen durch den geführten Dialog. Ebenso betont Mayring, dass es sich bei komplexen Analysen um Annäherungen handelt, da eine „hohe Übereinstimmung zwischen verschiedenen Kodierern nur bei sehr einfachen Analysen zu erreichen“ (Mayring 2003, 110) sei.
177
Das Peer Debriefing kann als Teilelement des umfangreicheren Überprüfungsvorganges der kommunikativen Validierung eingeordnet werden. Diese gilt nach Lamnek als eine der Gütekriterien qualitativer Forschung und bedeutet die „Rückkoppelung der Interpretation an die Befragten“ (Lamnek 2005, 147). Hierbei ist eine erfolgreiche Analyse allerdings nicht an eine Zustimmung der Beteiligten gebunden, falls sich für den Forscher im Verlaufe des Feedbackprozesses seine ursprüngliche Interpretation bestätigt. Eine kommunikative Validierung mit den Befragten bzw. Interviewten ist jedoch aus ethischer Sicht umstritten und auch nicht immer durchführbar, wie Hopf kritisch bemerkt: „Auf die psychischen und sozialen Grenzen solcher Konfrontationen mit Deutungen sei hier nur knapp hingewiesen. Sie sind dann gegeben, wenn die Interpretationen als kränkend erfahren werden, oder wenn Sachverhalte angesprochen werden, die subjektiv zu schwierig oder zu bedrückend sind“ (Hopf 1995, 180).
Generell, auch im Interview selbst, sei es problematisch, Widersprüche in den Aussagen zu thematisieren. Da Forscher in der Regel keine therapeutische Unterstützung offerieren können, sollten sie keine Situationen forcieren, in denen diese Hilfe benötigt wird (vgl. ebd.). Steinke bewertet die kommunikative Validierung als unangemessen, wenn eine Bedeutung jenseits einer „subjektivintentionalen Ebene rekonstruiert“ (Steinke 2003, 329) wird. Im Rahmen der hier durchgeführten Studie wurde das Verfahren ‚Peer Debriefing’ gewählt, welches im Kapitel 7.2 beschrieben wird. e) Reflektierte Subjektivität Dieses Gütekriterium beinhaltet den reflexiven Umgang des Forschers mit der eigenen Person als Teil der sozialen Welt, die erforscht wird. Dabei gilt es, die eigene Rolle als Forscherin oder Forscher zu reflektieren (vgl. Steinke 2003, 330f). 5.1.2.4
Theoriengenerierung
Wie bereits dargestellt, ist die Exploration eine wichtige Funktion der qualitativen Forschung, um neue oder „weniger strukturierte Gegenstandsbereiche“ (Lamnek 2005, 90) zu erkunden. Im Rahmen der Gewinnung neuer Erkenntnisse stellt die „theoriekonstruktive Leistung“ (ebd., 91) ein Teilziel dar, welches in der Literatur unterschiedlich bewertet wird. Lamnek konstatiert, 178
diese Zielsetzung werde in der Regel methodologisch selten erreicht. Kontrastierend dazu bewerten Flick et al. die Bildung von Theorien, Konzepten und Typen als Ergebnis einer „perspektivischen Re-Konstruktion der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit“ (Flick et al. 2003, 21). Kelle und Kluge differenzieren zwischen mehreren Ebenen von Theorien, angefangen bei der „detailgenauen Deskription“ (Kelle/Kluge 1999, 9) einzelner sozialer Alltagswelten, über das Abfassen von Theorien „mittlerer Reichweite“ (ebd.) mit empirischer Begründung bis zur „Formulierung von allgemein gültigen Theorien“ (ebd.). Häufig wird im Rahmen von „Generalisierungen“ (Lamnek 2005, 729) von einer „begrenzten Anzahl empirisch ermittelter Elemente auf die Gesamtheit aller Elemente einer gemeinsamen Klasse“ (ebd.) geschlossen. Dieses Verfahren der Induktion, das vom Einzelnen zum Allgemeinen hinleitet, führt zu hypothetischen und somit unsicheren Schlüssen, da hierbei Rückschlüsse auf ähnliche Fälle gezogen werden (vgl. Bortz/Döring 2003, 679; Lamnek 2005, 720). Deduktive Forschungsableitungen dagegen führen vom Allgemeinen zum Speziellen oder von der Theorie auf die Hypothese. Sofern von korrekten Prämissen ausgegangen und folgerichtig abgeleitet wird, sind deduktive Schlüsse richtig. Jedoch liefern sie inhaltlich „im Grunde nur redundante Information“ (Bortz/Döring 2003, 675). Auf der Basis theoretischer Ableitungen folgt oftmals eine Modellbildung, d. h. eine „mehr oder weniger stark vereinfachte Darstellung von Sachverhalten und Prozessen unter bestimmten Gesichtspunkten“ (Lamnek 2005, 729). Die im Rahmen der Theoriengenerierung vorgenommene Typenbildung bezeichnet eine „Klassifikation des Materials“ (Lamnek 2005, 736), in der Subgruppen mit wesentlichen sich gleichenden oder sich unterscheidenden Merkmalsausprägungen gebildet werden (vgl. ebd.). Sie dient nach Kelle und Kluge u. a. der Beschreibung sozialer Realität durch „Strukturierung und Informationsreduktion“ (Kelle/Kluge 1999, 9). Der Ausgangspunkt ist die Suche nach „Merkmalen bzw. Vergleichsdimensionen, die der Typologie zugrunde gelegt werden sollen“ (Kluge 2000, Abs. 8), und welche bei qualitativen Arbeiten im Zuge des Auswertungsprozesses erst auf der Basis des empirischen Materials sowie des theoretischen Vorwissens erarbeitet werden. Die Fälle werden anhand der „definierten Vergleichsdimensionen“ (ebd.) gruppiert, und die nun gebildeten Gruppen auf empirische Regelmäßigkeiten untersucht. Die Typenbildung baut auf der Analyse der inhaltlichen Sinnzusammenhänge auf (vgl. ebd.). Nach Steinke ist eine Theoriebildung empirisch, d. h. auf die Daten bezogen, zu begründen und mit ausreichenden Textstellen zu belegen, was durch Elemente der kommunikativen Validierung unterstützt werden kann. Aus einer 179
in dieser Form empirisch hergeleiteten Theorie können nach Steinke Prognosen abgeleitet werden. Die Grenzen der Verallgemeinerung einer im Forschungsverlauf entwickelten Theorie sind dabei zu verdeutlichen. Hierzu ermöglicht eine Fallkontrastierung die Identifikation von Kontexten und Merkmalen, die fallübergreifend existieren und für das Theorieelement von wesentlicher Bedeutung sind. Auch abweichende und extreme Fälle dokumentieren den Geltungsbereich. Eine im Forschungsprozess entwickelte Theorie muss kohärent sein, weshalb widersprüchliche Phänomene zu benennen sind. Außerdem gilt es, den pragmatischen Gewinn der generierten Theorien zu reflektieren (vgl. Steinke 2003, 328ff). Letzteres vertritt auch Kaiser, da eine Theorie im Rahmen eines anwendungsbezogenen Wissenschaftsbereichs wie der Gerontologie auch eine Praxisorientierung vorweisen sollte. Er fragt: „Kann auf der Basis der Theorie eine funktionierende, erfolgreiche Praxis implementiert werden? [...] Theorien können sich doch insofern bewähren, als sie praktisches Handeln anleiten“ (Kaiser 2003b, 153).
Die Ergebnisse der hier vorgelegten Studie stellen detaillierte Deskriptionen der vorhandenen sozialen Lebenswelten bereit. Darüber hinaus kann – ausgehend von der hier vorliegenden begrenzten Stichprobe – anhand von Generalisierungen von Phänomenen eine empirisch begründete, d. h. auf die Daten bezogene, Herleitung von theoretischen Folgerungen vorgenommen werden. Die dabei generierten Klassifikationen und Subgruppen ermöglichen den fallübergreifenden Vergleich und die Analyse sowohl von Ähnlichkeiten als auch von Divergenzen innerhalb der Fallgruppen. Aus den identifizierten Regelhaftigkeiten werden Praxisimplikationen abgeleitet.
5.2
Der lebensweltorientierte Ansatz nach Alfred Schütz als methodologischer Rahmen
Im Handlungsfeld der Demenzerkrankungen und weiteren chronischen Erkrankungen steigt seit einigen Jahren das Interesse an der ‚Lebenswelt’ der Betroffenen und ihrer Angehörigen. Wie in Teil A dieser Arbeit beschrieben, werden im Kontext der Themen ‚familiale Pflege’ und ‚Generationenbeziehungen’ verschiedene Ansätze und theoretische Zugänge innerhalb analytisch-konzeptioneller und empirischer Arbeiten verwendet. Auch haben Belastungsstudien im Bereich der informellen Pflege, aus der Versorgungs180
forschung abgeleitete Interventionsbedarfe sowie Konzepte von Pflegebereitschaft jeweils eigene disziplingebundene Ansätze. Für ein disziplinübergreifendes, multiperspektivisches Vorgehen, sowohl die Problemanalyse und die damit verbundene Entwicklung des Erhebungsinstrumentes als auch die spätere Datenauswertung und -interpretation betreffend, wird als verbindende und bündelnde Meta-Theorie (vgl. Lamnek 2005, 48) der Lebensweltansatz, ausgehend von Alfred Schütz, gewählt. 5.2.1
Lebenswelt als theoretische Perspektive professioneller Interventionen und Forschungsanliegen
Fachliche Interventionen Im Rahmen ihrer beruflichen Praxis, der Durchführung und Konzeptionierung von Fachberatung pflegender Angehöriger, hat die Verfasserin dieser Arbeit eine fachliche Orientierung an der Lebenswelt der Betroffenen als effektiv und angemessen erlebt. Lebensweltorientierung beinhaltete dabei die konsequente Ausrichtung der Beratungsinhalte und Interventionsplanungen an dem subjektiven Bezugsrahmen des jeweiligen pflegenden Angehörigen, seinem individuellen Wertesystem und seinen persönlichen Relevanzsetzungen. Zusammenfassend bezeichnet der Begriff Lebenswelt nicht einfach die Umgebung, d. h. das Lebensumfeld, des Menschen, sondern laut Kaiser den „räumlichen, zeitlichen, physikalischen, sozialen und kulturellen Kontext, zu dem sich der Mensch selbst intentional in eine Beziehung setzt, wobei ihm diese Relation durch kommunikative Interaktion, soziale Integration und personale Identitätsbildung ermöglicht wird.“ (Kaiser 2003a, 31). In Lebensumwelten wiederum werden Teile der Lebenswelten der einzelnen Akteure allgemein sichtbar, wie z. B. die Wohnung und die von ihnen konsultierten Institutionen. Gemeinsamkeiten mit dem Begriff Lebenslage lassen sich bei den zwei Dimensionen der Lebenslage, der subjektiven und der objektiven, erkennen, die beide dazu dienen, die konkrete Situation des jeweiligen Subjekts zu erschließen. Auch Lebensstile oder Milieus werden nach Kaiser tangiert, denn diese implizieren die „subjektiven Ausformungen von Lebenswelten“ (ebd.) in ihrer objektiven Nachvollziehbarkeit und ihren Distinktion gegenüber weiteren Subjekten und Gruppen (vgl. Kaiser 2003a, 31). Diese Sichtweise einer Orientierung an der individuellen Lebenswelt des einzelnen Akteurs hat bei der Verfasserin zu einer Beratungshaltung auf der Basis von Akzeptanz, Respekt und größerem Verständnis gegenüber der erheblichen Anzahl von pflegenden Angehörigen geführt, die trotz evidenter Überlastung die 181
aus fachlicher Sicht überfälligen professionelle Maßnahmen ablehnten oder hinauszögerten. Allgemein gehört eine Lebensweltorientierung zu den aktuellen Leitbildern im Bereich der Betreuung demenziell Erkrankter bzw. der Angehörigenarbeit. Dabei werden die Termini ‚Lebensweltorientierung’ und ‚Lebensweltansatz’ in der Regel nicht einheitlich und ohne eine Herleitung bezogen auf Schütz oder weitere Autoren verwendet. In der Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie ist den Lebenswelten im Kontext von Demenz im Jahr 2002 ein Themenschwerpunkt gewidmet worden, worin über die neueren Ansätze in der Betreuung demenziell Erkrankter berichtet wird: „Alle Darstellungen zeichneten sich durch einen lebensweltbezogenen Ansatz aus, in dem Fragen nach der Lebensqualität und -kontinuität in einem gleichgewichtigen Kontext zu Aspekten notwendiger Pflege gesehen werden.“ (Buhl/Entzian 2002, 181).
Im Handbuch „Soziale Gerontologie“ (Jansen et al. 1999) heißt es von Jansen und Klie im Kontext von Pflegesettings: „Den vielen Fassetten von Haus und Häuslichkeit, des Alltags auch mit Pflege, ist jedoch eine lebensweltorientierte [..] Perspektive am ehesten angemessen.“ (ebd. 1999, 534). Zu den Schlüsseldisziplinen professioneller Interventionen bei pflegenden Angehörigen gehören die Sozialarbeit und die Sozialpädagogik. Hier fordert Karl für den gesamten Bereich der Sozialen Altenarbeit die Orientierung an einer lebensweltlichen Perspektive, ein „Zugehen auf Lebenswelten“ (Karl 1999b, 380). Die Lebenswelt betroffener Erkrankter und ihrer Angehörigen steht auch im Zentrum des Setting-Ansatzes, welcher in Kapitel 1.3.4 bereits vorgestellt wurde und als Kernstrategie innerhalb einer Gesundheitsförderung nach der Ottawa Charta der WHO gesehen werden kann (vgl. WHO 1986). Gemäß der Maxime „Gesundheit wird im Alltagskontext hergestellt“ (Kickbusch 2003, 187) wird der Zugang zu Betroffenen im Rahmen gesundheitsfördernder und Belastungen reduzierender präventiver Maßnahmen innerhalb alltäglicher Lebensbereiche, d .h. den individuellen Lebenswelten der Akteure, gesucht. Forschungsanliegen Möchte man ‚Lebensweltorientierung’ wissenschaftlich verorten, kann man als bedeutenden Vertreter Alfred Schütz nennen. Im Bereich der interpretativen Soziologie interessieren dazu vor allem Schütz’ Theorien zur Lebenswelt innerhalb seiner in Anschluss an Husserl entwickelten Mundanphänomenologie (vgl. 182
Hitzler/Eberle 2003, 109ff). Die Phänomenologie wird als “wichtige wissenschaftstheoretische Basis der qualitativen Sozialforschung“ (Lamnek 1995, 56) gesehen. Sie kann nach Lamnek sowohl als wissenschaftstheoretische als auch als erkenntnistheoretische Position begriffen werden (vgl. ebd. 58). Phänomenologische Aspekte wie die des Lebensweltansatzes von Alfred Schütz werden daher, wie oben bereits erwähnt, ebenso als zu einer „Protosoziologie“ (Abels 2004c, 79) gehörend beschrieben oder in eine „metatheoretische Position“ (Lamnek 2005, 48) im Bereich der soziologischen Theorien eingeordnet. In dieser Hinsicht hat Schütz aufgrund seiner historischen Einordnung als ‚Klassiker’ zahlreiche nach ihm kommende Theorien der verstehenden Soziologie beeinflusst. Ehemalige Schüler von Schütz wie Peter L. Berger und Thomas Luckmann, oder qualitative Forschungsansätze wie die Ethnografie, die Ethnomethodologie, der Symbolische Interaktionismus sowie die Theorie der kommunikativen Kompetenz von Habermas beziehen sich auf Aspekte der Lebenswelttheorie von Schütz (vgl. Kaiser 2003a, 31; Abels 2004c, 80; Honer 2003, 194ff). Die damit verbundenen differierenden Theorien werden von den verschiedenen Vertretern, insbesondere aus den philosophischen und soziologischen Disziplinen, kontrovers diskutiert, weshalb Kaiser bei der Beschäftigung mit dem Begriff ‚Lebenswelt’ von einem „Wespennest“ (ebd.) spricht, in das man hineinsticht. Exemplarisch kann hierzu die Ethnomethodologie Harold Garfinkels, die im Anschluss an Schütz entwickelt wurde, zwei divergente Perspektiven verdeutlichen. Anders als bei Schütz konzeptualisiert die Ethnomethodologie den „Prozess der subjektiven Sinnfindung nicht als einen inneren, ‚privaten’ Bewusstseinsvorgang, sondern von Beginn an als ein soziales, ‚öffentliches’ Geschehen.“ (Bergmann 2003, 125). Als Prämisse gilt, dass „sinnhafte Ereignisse vollständig und ausschließlich Ereignisse in der Verhaltensumgebung einer Person“ (Garfinkel 1963; zitiert in Bergmann 2003, 125) sind. Folglich „gibt es keinen Grund unter die Schädeldecke zu schauen, denn dort ist nichts Interessantes zu finden außer Hirn“ (ebd.). Hier differiert der in der hier vorgelegten Studie verwendete Ausgangspunkt mit dem von Garfinkel: Innere Deutungsstrukturen und somit auch Wertungen gemachter Erfahrungen scheinen der Verfasserin gerade im Kontext von Pflege und Generationenbeziehungen notwendig, da hier bei bislang vorhandenen Studien primär nach Belastungen bzw. negativen Erfahrungen gefragt worden ist (vgl. Butcher et al. 2001). Die Grundlage für die Perspektive ‚Lebenswelt’ in der hier vorgelegten Studie bilden die theoretischen Ausführungen von Alfred Schütz, auf welche im Folgenden näher eingegangen wird. 183
5.2.2
Lebensweltorientierung nach Alfred Schütz
Um den speziellen Terminus der ‚Lebenswelt’ innerhalb des Schütz’schen Gedankengebäudes einordnen zu können, werden einige Hintergründe der Theorie von Schütz erläutert. 5.2.2.1
Historischer Hintergrund
Alfred Schütz (1899 – 1959), geboren in Wien, beschäftigte sich als Jurastudent mit den Arbeiten von Max Weber (1864 – 1920) und den Sozialwissenschaften, wobei ihm eine verstärkt philosophische Ausrichtung als wichtig erschien. Als ein zentrales Problem der Weber’schen Arbeiten sah er das Nachvollziehen des subjektiven Sinns der jeweiligen sozialen Handlung eines handelnden Subjektes. Wesentliche Bereicherungen erfuhr er in diesem Zusammenhang durch den Philosophen Edmund Husserl (1859 – 1938), den Begründer der Phänomenologie. In der nachfolgenden Zeit entstand ein enger Kontakt zwischen beiden sowie Schütz’ Buch „Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt“ (Erstauflage 1932). Schütz war jüdischer Herkunft und emigrierte 1937 in die USA. Dort suchte er Kontakt zu Soziologen, die ähnliche Ansätze wie Weber zu vertreten schienen, u. a. Talcott Parsons (vgl. Abels 2004c, 57ff). Nach längerer Tätigkeit als Gastdozent erhielt er 1952 eine Professur für Soziologie und Sozialpsychologie an der New Yorker „New School for Social Research“, wobei seine Vorlesungen als „recht umständlich und kompliziert“ (Abels 2004c, 58) galten. Seine bedeutendsten Schüler waren Peter L. Berger, Thomas Luckmann und Harold Garfinkel. Nach seinem Tode hinterließ Schütz diverse Zettelkästen sowie ein Fragment, woraus Luckmann das Werk „Strukturen der Lebenswelt“ (Schütz/Luckmann 2003) zusammenstellte (vgl. Abels 2004c, 57ff). 5.2.2.2
Grundlagen des Lebensweltansatzes bei Alfred Schütz
Begriff Lebenswelt auf phänomenologischer Basis Der Begriff ‚Lebenswelt’ stammt ursprünglich aus dem Bereich der Phänomenologie. Der Begründer der Phänomenologie, Edmund Husserl, nannte die diese eine Philosophie des Zurückgehens auf die „erkennende Subjektivität als Urstätte aller objektiven Sinnbildungen und Seinsgeltungen“ (Husserl 1936, 102; zit. in: Abels 2004c, 61). Mayring beschreibt sie bezogen auf die qualita184
tive Sozialforschung als „die Lehre von den konkreten Erscheinungen (statt Ideen wie bei Platon)“ (Mayring 2002, 107). Der Ausgangspunkt sei hierbei die Deskription der Phänomene aus der Sicht des Subjekts und seinen Intentionen. Grundlegend sei der Versuch der Reduktion der Phänomene auf ihren Wesenskern. Die Phänomenologie thematisiert den Ausschnitt der Welt, zu dem sich der Mensch bewusst in Beziehung setzt. Diese „Welterfahrung des Individuums“ (ebd.) bezieht sich auf „eine Welt der Vertrautheit, die uns frag-los gegeben scheint.“ (ebd.), von Husserl ‚Lebenswelt’ genannt. Darauf aufbauend definieren Schütz und Luckmann Lebenswelt folgendermaßen: „Unter alltäglicher Lebenswelt soll jener Wirklichkeitsbereich verstanden werden, den der wache und normale Erwachsene in der Einstellung des gesunden Menschenverstandes als schlicht gegeben vorfindet. Mit ‚schlicht gegeben’ bezeichnen wir alles, was wir als fraglos erleben, jeden Sachverhalt, der uns bis auf weiteres unproblematisch ist“ (Schütz/Luckmann 2003, 29).
Nur in dieser alltäglichen Lebenswelt kann sich „eine gemeinsame Umwelt“ (ebd.) ausgestalten. Folglich sei sie die „vornehmliche und ausgezeichnete Wirklichkeit“ (ebd.) des Individuums. Wobei sie in „ihrer Totalität als Naturund Sozialwelt“ (ebd. 32) sowohl Schauplatz als auch Zielgebiet des wechselseitigen Handelns von Individuen ist. Schütz gliedert die Lebenswelt in verschiedene räumliche und gesellschaftliche Dimensionen sowie Realitätsebenen, wobei der Aspekt der personalen Vertrautheit substanziell ist (vgl. Schütz 1982, 179ff). Diese so genannte „natürliche Einstellung der Welt des täglichen Lebens gegenüber“ (Schütz/Luckmann 2003, 33) ist in der Regel von einem vorherrschenden Pragmatismus des Subjekts geprägt. Allerdings ist dieser inneren Haltung gleichzeitig die Notwendigkeit der Auslegung bzw. der Interpretation der Welt immanent (vgl. ebd. 33). In einer sich ständig verändernden Außenwelt gibt es zwar innerhalb der eigenen lebensweltlichen Wahrnehmung eine „mangelnde Übereinstimmung der Bestandteile meines Wissensvorrats“ (ebd., 35), dies gefährdet jedoch deren „Gültigkeit ‚bis auf weiteres’ grundsätzlich nicht“ (ebd.). Eine Inkongruenz wird erst zum Problem, wenn „eine neuartige Erfahrung nicht in das bishin als fraglos geltende Bezugsschema hineinpaßt“ (ebd.). Für diese Prozesse wurde das Begriffspaar „das fraglos Gegebene und das Problematische“ (ebd.) geprägt. Erfahrungen An zentraler Stelle stehen bei Schütz ‚Erfahrungen’, welche orientiert an dem erweiterten Erfahrungsbegriff von Husserl als „evidente Selbsterfassung und 185
Selbsthabe“ (Schütz 1960, 80) von realen und irrealen Vorkommnissen betrachtet werden. Erfahrung ist der „Inbegriff aller durch das Ich als freies Wesen [...] reflexiven Zuwendungen [...] auf seine abgelaufenen in phasenweisem Aufbau konstituierten Erlebnisse“ (Schütz 1960, 83).
Die Bezugnahme neuer Erfahrungen zu früheren Erlebnissen führt zu Verallgemeinerungen und zur Herstellung einer bestimmten Ordnung: „Lebensgeschichtlich entsteht so ein subjektives Relevanzsystem.“ (Abels 2004c, 65). Erlebnisse werden im weiteren Verlauf Erfahrungen, denn anfänglich bedeutet der Kontakt mit der Welt: „Wir erleben sie einfach, ohne dass wir darüber nachdenken. Diese Erlebnisse lagern sich ab.“ (Abels 2004c, 64). Aber in nachfolgenden Situationen, die an das erste Erlebnis erinnern lassen, „beginnt Erfahrung“ (ebd.). Erst jetzt „tritt ein Ich in Aktion“ (Abels 2004c, 64), und nun gelangen Prozesse ins Bewusstsein und werden als ‚Erfahrungen’ im Rahmen von Deutungsprozessen verallgemeinert. Schütz führt weiter aus: „Das erlebende Ich erlebt die Erlebnisse seiner Dauer nicht als [...] isolierte Einheiten. [...] Jedes Jetzterlebnis hat vielmehr ein Vorher und ein Nachher“ (Schütz 1960, 78), so dass er von zeitlichen „Horizonten“ (ebd. 79) der Erlebnisse spricht134. Erfahrungen haben nach Schütz verschiedene Deutlichkeitsgrade. Strukturell sind sie in Sinnzusammenhänge gruppiert, wobei die oben genannten Interdependenzen zu den eigenen Erinnerungen als auch den eigenen Erwartungen prägend sind. Erfahrungen entstehen in chronologischer Folge und großer Varianz: „Einige bleiben zeitweise in der Schwebe; andere sind das Ergebnis eines wiederholten Prozesses der Sedimentierung und dessen Auflösung und zeigen dadurch eine innere geschichtliche Entwicklung“ (Schütz 1982, 178).
Wissensvorrat und subjektives Relevanzsystem Wie bereits dargelegt, basiert die Auslegung der Welt durch das Individuum auf den bereits gemachten früheren Erfahrungen. Neben diesen „unmittelbaren Erfahrungen“ (Schütz/Luckmann 2003, 33) sind auch Erfahrungen, „die mir von 134 In diesem Nexus verwendet Schütz die Termini „Rententionen“ (Schütz 1960, 79), womit er die Präsenz vergangener Erlebnisse, und „Protentionen“ (ebd.), womit er Bezüge auf zukünftige Erlebnisse anspricht. Auch diese Begrifflichkeiten stammen von Husserl.
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meinen Mitmenschen, vor allem meinen Eltern, Lehrern usw. übermittelt wurden“ (ebd.) von Bedeutung. Sie alle bilden ein Ganzes in Form eines „Wissensvorrats“ (ebd.), der als subjektives Bezugsschema für die eigene Weltauslegung fungiert. „Das Fraglose ist gewohnheitsmäßiger Besitz: Es stellt Lösungen zu Problemen meiner vorangegangenen Erfahrungen und Handlungen dar. Mein Wissensvorrat besteht aus solchen Problemlösungen“ (Schütz/Luckmann 2003, 37).
Der Wissensvorrat fungiert als Schema, mit dem neue bzw. problematische135 Erlebnisse geordnet werden, nachdem frühere Erfahrungen in typisierter Form abgelagert wurden. Das bereits vorhandene Wissen stellt eine bestimmte Ordnung dar, denn „Erfahrungen haben sich abgelagert, sie haben eine bestimmte subjektive Relevanzstruktur geschaffen“ (Abels 2004c, 79). Dabei gilt es zu beachten: „Nicht alle Erlebnisse werden bewusst gemacht, nur ganz bestimmte Erfahrungen werden in Verbindung zu ganz bestimmten anderen Erfahrungen gesetzt. Lebensgeschichtlich entsteht so ein subjektives Relevanzsystem“ (Abels 2004c, 65).
Schütz betont aber auch, dass nur ein geringer Teil der eigenen Erfahrungen und des eigenen Wissens „im Individuum selber entspringen. Wir kennen die Tatsache, dass die Masse unseres Wissens sozial abgeleitet ist“ (Schütz 1982, 179). Sinn Schütz setzt sich intensiv mit dem Sinnbegriff von Weber auseinander, der soziales Handeln ein solches Handeln nennt, „welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.“ (Weber 1922, zit. in: Abels 2004, 59). Nach Ansicht Schütz´ verfolgt Weber in seinen Arbeiten dabei die Konstitution von Sinn nur ungenügend. Schütz fokussiert daher in seiner Veröffentlichung von 1932 den „sinnhaften Aufbau der sozialen Welt“ (Schütz 1960, 2. Auflage), in dem u. a. nach den Deutungsstrukturen von Erfahrungen gefragt wird. Die folgenden beiden Zitate dokumentieren sowohl den zentralen Stellen135 Neue Thematiken werden von Schütz generell anfänglich als ‚Problem’ im Sinne von ‚Fragestellung’ bzw. ‚Gegenstand’ gesehen (vgl. Schütz 1982, 56).
187
wert von Erfahrung und Sinnzuschreibung als auch ihre unlösbaren Interdependenzen: „Man kann [...] den Erfahrungszusammenhang als den Inbegriff aller Sinnzusammenhänge [...] oder auch als obersten Sinnzusammenhang auffassen“ (Schütz 1960, 81). „Gemeinter Sinn eines Erlebnisses ist nichts als eine Selbstauslegung des Erlebnisses von einem neuen Erleben her.“ (Schütz 1960, 83).
Schütz führt hierzu aus, dass „das Postulat der Erforschung des gemeinten Sinnes fremden Handelns“ (Schütz 1960, 17) mit der Annahme einhergehe, dass „auch der Andere mit seinem Verhalten einen Sinn verbinde“ (ebd.). Jedoch meint er ebenso, dass der „gemeinte Sinn einer fremden Handlung oder eines fremden Verhaltens nicht mit demjenigen Sinn zusammenfallen muss“ (Schütz 1960, 17), den das Individuum wahrnimmt. Die unmittelbare bzw. vollständige Erfassung fremden Sinnerlebens hält er für nicht möglich, da „die Annahme einer solchen totalen Einfühlung eine Hypothese“ (Schütz 1960, 17) sei, die „mit den Wesensgesetzlichkeiten des Bewußtseinslebens in Widerstreit steht.“ (ebd.). Wie auch bereits im Kapitel 5.1.2.2 dargestellt, ist daher für Eberle in Anlehnung an Schütz das Fremdverstehen stets nur als Annäherung möglich (vgl. Eberle 2000, 161). Ein Beispiel aus der klassischen Literatur illustriert den zentralen Stellenwert eigener Beurteilung von Erlebnissen, gerade anhand gravierender Diskrepanzen zwischen objektiv vorhandener Lebensumstände und individueller Sinnzuschreibung. Johanna von Orleans in Schillers ‚Die Jungfrau von Orlean’, die – mittlerweile als Hexe verfolgt – sich im Wald verbirgt, sagt darin: „Und ich bin nicht so elend als Du glaubst. Ich leide Mangel, doch das ist kein Unglück. Für meinen Stand, ich bin verbannt und flüchtig, doch in der Öde lernt ich mich erkennen. Da, als der Ehre Schimmer mich umgab, Da war der Streit in meiner Brust, ich war Die Unglückseligste, da ich der Welt Am meisten zu beneiden schien“136 (Johanna von Orleans, in: Schiller 2002, 121f).
Die desolaten Umstände, in denen sich Johanna befindet, werden von ihr aufgrund ihrer persönlichen Relevanzsetzungen als vorteilhaft bewertet.
136 Friedrich Schiller: Die Jungfrau von Orleans, 5. Aufzug, 4. Auftritt. Erstaufführung 1801. Erschienen bei: Philipp Reclam jun. Stuttgart 2002.
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Typisierung Einer der grundlegenden Prozesse zur Konstruktion sozialer Wirklichkeit ist nach Schütz die ‚Typisierung’, womit er das Filtern von typischen Merkmalen und Zuordnen derselben zu fallübergreifenden Zusammenhängen beschreibt: „The individual’s common-sense knowledge of the world is a system of constructs of its typicality” (Schütz 1971, 7).
Tritt eine neue Situation bzw. eine neue Thematik auf, werden diese alten Erfahrungen mit dem neuen Problem verknüpft, und es beginnt ein Prozess der Typisierung. „Typisierung ist die Herstellung eines Sinnzusammenhangs“ (Abels 2004c, 71). Funktioniert dies im Sinne einer Problemlösung, wird es Teil eines Gewohnheitswissens: „Der Typus reduziert die Fülle von Bedeutungen, die die Dinge haben können, auf die Bedeutung, die in meinem aktuellen Handeln Sinn macht“ (ebd., 72). Nach Abels werden typische Erfahrungsschemata in der Sprache abgebildet, d. h. in ihr sind „die allermeisten lebensweltlichen Typisierungen objektiviert“ (Abels 2004c, 72). Schütz verweist dazu auf das Beispiel eines Irish-Setters, der vom Betrachter als zur Kategorie ‚Tier’ bzw. ‚Hund’ zugehörig erkannt wird, wobei der Abgleich des neu Wahrgenommenen mit Typen bzw. Subtypen innerhalb des eigenen Wissensvorrates erfolgt: „Actual experience will or will not confirm my anticipation of the typical conformity with other subjects“ (Schütz 1971, 8). So bilden sich Ausdifferenzierungen im Bereich der subjektiven thematischen Relevanzen, allerdings konstatiert Schütz, dass nur selten Typen „in voller Reinheit“ (Schütz 1982, 60) gefunden werden. Dadurch wird jedoch ihr heuristischer Wert, sie getrennt zu untersuchen, nicht in Frage gestellt (vgl. Schütz 1982, 60f). Handeln Handlungen erfolgen als „Wahlhandlungen in den Grenzen der Lebenswelt“ (Dallinger 1997, 105) auf der Basis des subjektiven Wissensvorrates. Mehrere Faktoren tragen dazu bei, dass Einschränkungen beim Prozess des Wählens vorgenommen werden. Der Erfahrungs- bzw. Wissensvorrat bildet einen begrenzenden Rahmen für das Spektrum zukünftiger Entscheidungsentwürfe. Nicht sämtliche Handlungsalternativen werden einer Prüfung unterzogen, da die ‚lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten’ vom jeweiligen Akteur nicht hinterfragt werden. Generell werden Entscheidungen nur sehr eingeschränkt durch 189
bewusstes Abwägen getroffen, denn Selbstverständlichkeiten werden erst in Situationen mit unerwarteten bzw. neuen Bedingungen in Zweifel gezogen und nachfolgend überprüft (vgl. ebd. 106f)137. Die vorliegenden biografischen Gegebenheiten lassen unterschiedliche Schwerpunkte im Entscheidungsprozess entstehen, denn es gilt: „Nicht alles ist zu jeder Zeit relevant“ (ebd. 107). Auch „lebensweltliche Pläne“ (ebd.) der Einzelnen, bezogen auf Familie, Arbeit oder allgemeine Bedingungen, tragen dazu bei, die Wahlmöglichkeiten einzuschränken. Bezogen auf die Handlungsentwürfe des Individuums kann nach Dallinger konstatiert werden, „daß von allgemein gültigen, objektiven Nutzen- oder Rationalitätskriterien nicht ausgegangen werden kann. Vielmehr wenden Subjekte ihre Vorerfahrungen, vorerfahrene Routinen, lebensweltlichen Deutungsmuster und Typisierungen aus ihrem sozialen Wissensvorrat an.“ (Dallinger 1997, 107).
Als Folge können weitere vorhandene Optionen, die von Außenstehenden unter Umständen als rationaler eingeschätzt werden, unberücksichtigt bleiben (vgl. ebd.). 5.2.2.3
Fremdverstehen und methodische Postulate
Eberle, der das „Fremdverstehen“ (Eberle 2000, 161) auch als „Selbstauslegung des Deutenden“ (ebd.) bezeichnet, reflektiert die methodologischen Konsequenzen, die aus einem Schütz’schen Ansatz für eine verstehende Soziologie resultieren. Da es von Schütz intendiert sei, die „sinnhafte Vorkonstituiertheit der sozialen Welt“ (ebd., 15) zu berücksichtigen, kann Wissenschaft sich nicht nur auf Logik beschränken, „sondern muss sich primär mit der Sinnstruktur der Sozialwelt beschäftigen. Sinn kommt vor Logik“ (ebd. 161f). Wie bereits im Kapitel 5.1.2.2 beschrieben, werden die Sinnzusammenhänge der Akteure berücksichtigt, indem „die wissenschaftlichen ‚Konstruktionen zweiter 137 Zu der in der Literatur vorhandenen Diskussion um Gemeinsamkeiten mit und Unterschiede zu dem Rational-Choice Ansatz bemerkt Dallinger, dass trotz bestehender Konvergenzen deutliche Unterschiede zwischen dem Ansatz von Schütz und dem Rational-Choice Ansatz vorhanden seien. Ersterer betone als Entscheidungsbasis transpersonale lebensweltliche Wissensmuster im Gegensatz zu letzterem, wo Entscheidungsprozesse „aus nicht weiter begründbaren, individuellen Präferenzen abgeleitet werden“ (Dallinger 1997, 108). Eine ausführliche Analyse des Schütz’schen Handlungskonzepts in Bezug zu Rational-ChoiceAnsätzen erfolgt in: Dallinger 1997, 105ff.
190
Ordnung’ auf den alltagsweltlichen ‚Konstruktionen erster Ordnung’ aufbauen müssen“ (ebd. 15). Schütz selber formulierte dies folgendermaßen: „It is the main problem of the social sciences to develop a method in order to deal in an objective way with the subjective meaning of human action and that the thought objects of the social sciences have to remain consistent with the thought objects of common sense, formed by men in everyday life in order to come to terms with social reality.” (Schütz [Im Original: Schutz] 1971, 43).
Zum Fremdverstehen als das „wissenschaftliche Verstehen“ (Eberle 2000, 145) hat Schütz seine Grundsätze zur Konstruktion theoretischer Modelle in methodologische Postulate zusammengefasst: 1. Das „Postulat der logischen Konsistenz“ (ebd.) beinhaltet, dass die wissenschaftliche Systematik eine widerspruchsfreie Klarheit aufweisen und nach formaler Logik nachvollziehbar sein muss (vgl. Schütz [im Original: Schutz] 1971, 43; Eberle 2000, 145). 2. Das „Postulat der subjektiven Interpretation“ (Eberle 2000, 145) sagt aus, dass sozialwissenschaftliche Erklärungen auf den Handlungssinn des Subjektes rekurrieren müssen, was bedeutet, dass Ergebnisse der Handlungen in verständlicher Beziehung zum Sinn des Individuums stehen müssen. Die subjektive Bedeutung einer Handlung bzw. des Ergebnisses einer Handlung stehen im Vordergrund (vgl. Schütz [im Original: Schutz] 1971, 43). 3. Dem „Prinzip der Relevanz“ (Eberle 2000, 145) ist immanent, dass z. B. die Auswahl der untersuchten Elemente durch die originäre Fragestellung zu erfolgen hat. Auch die Komplexität der Bearbeitung und die eingenommene Perspektive folgen dem lebensweltlichen Relevanzsystem. Beispielsweise ist zu beachten, dass jede Transformation des Hauptthemas auch die Sinnhorizonte der Begrifflichkeiten verändern sowie Fragestellungen und Bearbeitungsmodi inkludieren bzw. exkludieren wird (vgl. Eberle 2000, 145; Schütz [im Original: Schutz] 1971, 44). 4. Unter dem „Postulat der Adäquanz“ (Eberle 2000, 146) wird ein der Situation angemessenes und allgemein übliches Herangehen gefordert. Begriffe im wissenschaftlichen Modell müssen für den Akteur bzw. das soziale Umfeld mit dem gesunden Menschenverstand der alltäglichen Lebenswelt nachvollziehbar sein. 5. Das „Postulat der Rationalität“ (ebd.) präferiert im Kontext mit sozialwissenschaftlicher Modellbildung die Modelle rationalen Handelns, da speziell diese Bezugspunkte für die Beschreibung von abweichenden Typen geben. Als fakultatives Postulat findet es im Besonderen in ökonomischen Wissenschaftsbereichen Anwendung (vgl. Eberle 2000, 146f). 191
Diese Postulate, die gleichzeitig auch die Hauptmerkmale der qualitativen Sozialwissenschaften insgesamt skizzieren, sind methodologische Leitlinien, um sich im Prozess des Fremdverstehens den subjektiven Sinnzuschreibungen der Individuen anzunähern. Dies bedeutet nach Hitzler und Honer, das Korrelat des Erlebens und Handelns zu beschreiben, und „den von Schütz formulierten Postulaten […] entsprechend in theoretische Konstrukte zweiten Grades zu übersetzen“ (Hitzler/Honer 1995, 383). 5.2.2.4
Bezug zur vorliegenden Arbeit
Für die vorliegende Studie sind von den oben ausgeführten theoretischen Herleitungen folgende Überlegungen von zentraler Bedeutung: 1. Welche Erfahrungen haben die Enkel gemacht? Schütz folgend, wird in der hier vorliegenden Studie beim Verstehen eines Subjektes von dessen Erfahrungen ausgegangen. Beispielsweise könnten diese Erfahrungen Konflikte mit dem erkrankten Großelternteil bzw. mit den Eltern, die Überlastung der Familie oder gemeinsame Tätigkeitsbezüge und damit verbundene Erfahrungen der Kompetenz sein. Diese Erfahrungen entstehen, wie beschrieben, infolge von Bewusstseinsakten, die aufgrund neuer Erlebnisse einen Rückgriff auf schon abgelagerte Erlebnisse herstellen. Aufgrund dieser Prozesse werden Sinnzusammenhänge herstellt. 2. Welche Bilanzierungen bzw. Bewertungen erfolgen mit welchen Relevanzsetzungen? Schütz misst dem Deuten bzw. Bewerten von Erlebnissen im Rahmen der erwähnten Sinnzuschreibungen einen zentralen Stellenwert zu. Subjektive Relevanzsetzungen erfolgen, wie gesagt, im Zuge der „Selbstauslegung des Erlebnisses von einem neuen Erleben her“ (Schütz 1960, 83). Erfahrungen können als positiv bzw. gut, bereichernd, etc. oder aber als negativ bzw. belastend, problematisch, usw. bewertet werden. Bei langjähriger aufwendiger Pflege und Betreuung kann die familiale pflegerische Leistung hervorgehoben werden oder die Überlastung im Vordergrund stehen. Andererseits können Erfahrungen auch als fraglos gegeben angesehen werden und damit einen eher sachlichen, wertneutralen Charakter haben, d. h. zu den ‚lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten’ zählen. Die hier vorgestellte Studie berücksichtigt, beginnend bei der Erhebung, die Relevanzsetzungen der interviewten Enkel, indem beispielsweise der das Interview strukturierende Leitfaden offene und allgemeine Fragen enthält und der Ablauf des Interviews ausreichenden Spielraum lässt, um den Bedeutungszuschreibungen der Befragten zu folgen. Ebenso ist die 192
3.
4.
Auswertungsmethodik geeignet, um den Schütz’schen Anforderungen gerecht zu werden. Beides wird im 6. und 7. Kapitel näher ausgeführt. Welche lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten und impliziten Wissensvorräte liegen vor? Die als fraglos gegeben bewerteten Phänomene der Lebenswelten geben Aufschlüsse über die sowohl individuellen als auch familialen Wissensvorräte, möglicherweise über familieninterne normative Haltungen und Erwartungen, aber auch über zahlreiche andere alltägliche Geschehnisse. Ausgehend von den Schütz’schen Annahmen zur Typisierung als grundlegender Prozess der Konstruktion sozialer Wirklichkeit ermöglichen die Schilderungen der Interviewteilnehmerinnen und -teilnehmer einen Erkenntnisgewinn über ihre typischen Deutungsschemata, z. B. hinsichtlich erlebter Solidarität oder Konflikte. Was wird über das soziale Handeln der familialen Generationen ausgesagt? Wichtig für die vorliegende Arbeit sind auch Aspekte konkreten sozialen Handelns. Nach Srubar ist es ein zentrales Anliegen von Schütz, den Prozess der „Konstitution der sinnhaften sozialen Wirklichkeit“ (Srubar 1988, 9) als einen im „sozialen Handeln und in der Interaktion“ (ebd.) verankerten zu beschreiben. Diese Schütz’sche Zielsetzung ist für die qualitative Sozialforschung an sich von großer Wichtigkeit. Wie im Kapitel 5.1.2.2 zu den Merkmalen qualitativer Forschung dargestellt, handelt es sich bei der Deskription sozialen Handelns um eine der wesentlichen Forschungsperspektiven der qualitativen Ansätze (vgl. Lamnek 2005, 30). In der hier vorliegenden Studie haben die Interviewpartner innerhalb der Erhebung vielfältigen Spielraum, um ihre Sinnzuschreibungen und Erfahrungen anhand konkreter Aktivitäten darzustellen, beispielsweise durch den Umfang und das Spektrum ausgeführter Hilfeleistungen. Der methodenimmanente Kurzfragebogen ist dazu eine ergänzende Option der Erfassung.
Auf einem vom Schütz’schen Gedankengebäude ausgehenden ‚Blick auf das Geschehen’ basieren neben der Erhebung und der Analyse ebenso die Ergebnisdiskussion und die Ableitungen der Praxisimplikationen. Davon ausgehend, dass subjektive Wirklichkeitskonstruktionen einen prozessualen Charakter haben, ist weiterhin zu bedenken, dass Forschung ein Teil dieses Prozesses darstellen kann. Auch die hier vorliegende Studie, respektive die damit verbundene Befragung, kann für die Enkel ein Element „im Prozeß der Selbstauslegung“ (Schütz 1960, 90) des erlebten Pflegesettings sein. Sie kann somit nicht nur eine Einordnung „unter die Schemata der Erfahrung“ (Schütz 1960, 90) bewirken, sondern zu einer neuen bzw. erweiterten Deutung dieser Erlebnisse führen, denn „Deutung ist dann nichts anderes als Rückführung von Unbekanntem auf Bekanntes, von in Zuwendung Erfasstem auf Schemata der 193
Erfahrung“ (Schütz 1960, 90). Methodologisch inhärent ist diesem Gesichtspunkt, dass eine hundertprozentige Reproduzierbarkeit eines Interviews, auch bei einer Wiederholung durch denselben Interviewer, nach Schütz nicht möglich wäre, da bereits durch die neue Erfahrung des ‚Interview-Gebens’ schon vorhandene Sinnzusammenhänge bestätigt oder in Frage gestellt werden können. Auch weitere situative Einflüsse wie Gespräche mit Familienmitgliedern, Fernsehsendungen, etc. können ‚Neu-Überschreibungen’ früherer Deutungsschemata bewirken, was bedeutet, dass die Aussagen der Enkel selbst nach einer langen Dauer der Pflegesettings und bei aktuellem zeitlichen oder räumlichen Abstand noch einen prozesshaften Charakter haben. Da dieser prozedurale Duktus allen Erfahrungen zugrunde liegt, ist er auch beim hier vorliegenden Thema zu bedenken. Eine restlos abschließende Bewertung kann es nach Schütz nicht geben. Insgesamt wird mit dieser Studie sowohl den Forderungen nach einem höheren Anteil an qualitativer Forschung im Bereich häuslicher Pflege im Allgemeinen entsprochen (vgl. Butcher et al. 2001, 35f), als auch der im Kapitel 3 beschriebenen Methodenkritik Rechnung getragen, die bei den schon vorliegenden Erhebungen eine häufig zu eindimensional nach Belastung fragende Methode anführt (vgl. Beach 1997, 233).
194
6
Die Forschungsmethoden
Forschungsmethoden dienen einer verfahrenstechnisch kontrollierten Gewinnung und Auswertung von Informationen (vgl. Mayring 2002, 65f). In der hier vorliegenden Studie wurden zur Erhebung der Daten das problemzentrierte Interview nach Witzel und als Methode der Auswertung die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring gewählt. Es handelt sich um zwei qualitative Verfahren, die beide u. a. gegenstands- und prozessorientiert sind, was bei der Kombination von Methoden von Bedeutung ist.
6.1
Datenerhebung: Problemzentrierte Interviews
Einordnung in den Forschungsprozess Das problemzentrierte Interview wurde von Witzel in den 1980er Jahren entwickelt und gehört zu den klassischen Erhebungsverfahren der qualitativen Sozialforschung. Im Mittelpunkt des Verfahrens steht die jeweilige Sichtweise der Akteure (vgl. Flick 1998, 105ff; Lamnek 2005, 363ff). Daher ist die Zielsetzung eine „möglichst unvoreingenommene Erfassung“ (Witzel 2000, Abs. 1) der Relevanzsetzungen der Interviewpartner. Gewonnen werden durch diese Methode beispielsweise Aussagen über die „Eigenleistungen des Subjekts im Umgang mit gesellschaftlichen Gegebenheiten [...] und Familie“ (ebd., Abs. 2) sowie Hinweise zur „Verarbeitung von biografischen Erfahrungen sowie beim Nutzen von eigenen Ressourcen und Handlungsspielräumen für private und berufliche Pläne“ (ebd.). Die Kombination des Erhebungsverfahrens ‚problemzentriertes Interview nach Witzel’ mit dem Auswertungsverfahren ‚qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring’ wird in der Forschungspraxis häufig verwendet. Flick registriert bei dieser Erhebungsform keine methodenimmanente Festlegung hinsichtlich der Auswertungsmethodik, allerdings seien „kodierende Verfahren, insbesondere die qualitative Inhaltsanalyse“ (Flick 1998, 108) dominierend. Nach Mayring 195
gilt die Methode des problemzentrierten Interviews aufgrund seiner drei grundlegenden Charakteristika als „dezidiert qualitativ“ (ebd. 2002, 68). Drei Grundprinzipien des problemzentrierten Interviews Problemzentrierung: Ausgehend von einer „vom Forscher wahrgenommenen gesellschaftlichen Problemstellung“ (Witzel 1985, 230) erfolgt eine Analyse empirischer Daten und einschlägiger Theorien. Die daraufhin theoriegeleitete erstellte Vorab-Formulierung des Problemfeldes impliziert ein „Offenhalten des Vorwissens gegenüber der Empirie“ (ebd.), beispielsweise im Verlauf des Interviews. Neben den subjektiven Deutungszuschreibungen der Individuen, welche im Rahmen der Interviews deutlich werden, finden auch die strukturellen Merkmale ihres Alltagskontextes Berücksichtigung, da diese den subjektiven Herstellungsprozess sozialer Wirklichkeit und das Handeln der betroffenen Individuen beeinflussen. Hierzu wird als geeignetes Erhebungsinstrument ergänzend zu den Interviews der Kurzfragebogen eingesetzt (vgl. Witzel 1985, 232f). Die hier ausgewählte Methode beinhaltet demnach nicht die „gänzliche Verlagerung der Auffassung von Gesellschaft in die subjektive Konstitutionsleistung der Individuen“ (Witzel 1985, 231), womit der Forscher als ‚Tabula rasa’ zu betrachten wäre. Ihr ist, wie oben dargestellt, das vorläufige Formulieren des Problemfeldes einhergehend mit der Offenheit für empirische Ergebnisse inhärent. Dallinger betrachtet diese Kombination von theoretischem Vorwissen und dem „eigenständigen Wert des ‚Materials’“ (Dallinger 2002b, 64) als essenzielles Merkmal qualitativer Forschung. Gegenstandsorientiertheit: Jedes Teilelement des problemzentrierten Interviews soll „zunächst die prinzipielle Sicherstellung eines geeigneten Zugangs zu Handlungs- und Bewußtseinsanalysen bieten“ (Witzel 1985, 232), was z. B. bei der Formulierung der Fragen im Rahmen der Leitfadenerstellung oder bei der Planung des Interviewverlaufs zu berücksichtigen ist. Hierbei ist eine flexible Anordnung der einzelnen methodischen Bausteine, wie z. B. dem Kurzfragebogen und des Interviews, möglich, wobei darüber hinaus auch der Einsatz ergänzender quantitativer Verfahren „zur Erfassung bestimmter situationsübergreifender Regelhaftigkeiten“ (ebd.) erfolgen kann. Prozessorientierung: Zur Prozessorientierung gehört u. a. die flexible Datengewinnung, womit beispielsweise ein anpassungsfähiges Eingehen auf die Äußerungen der Befragten im Interview verbunden sein kann. Diese „Hinwendung zur Sichtweise der Akteure“ (Witzel 1985, 228) und ihrer „Situationsdeutungen“ (ebd.) kann z. B. erforderlich sein, wenn die Reihenfolge der Fragen 196
im Interview zu verändern ist, weil Studienteilnehmer bestimmte Themen bereits ungefragt angesprochen haben. Praktischer Forschungsablauf Witzel selber bezeichnet das Interview an sich als „das wichtigste Instrument“ (Witzel 2000, Absatz 5) innerhalb seiner Methode. Den praktischen Forschungsablauf der qualitativen Erhebungsmethode ‚problemzentriertes Interview’ demonstriert die nachfolgende Tabelle: Tabelle 18:
Übersicht über den Forschungsablauf des problemzentrierten Interviews
Ablaufmodell des problemzentrierten Interviews x Problemanalyse x Leitfadenkonstruktion x Pilotphase: Leitfadenerprobung und Interviewerschulung x Interviewdurchführung: Sondierungsfragen, Leitfadenfragen, Ad-hocFragen x Aufzeichnung Quelle: Mayring 2002, 71 Die Problemanalyse stellt ein Charakteristikum dieser Methode dar, sie bezeichnet ein „induktiv-deduktives Wechselverhältnis“ (Witzel 2000, Abs. 3), innerhalb dessen die grundsätzliche oben genannte Unvoreingenommenheit und ein rudimentäres theoretisches Vorwissen kombiniert werden, worauf die sich anschließende Entwicklung der Erhebungsinstrumente basiert. Im Zentrum dieser Entwicklung steht die Erstellung eines Leitfadens mit den Fragen, die das spätere Interview strukturieren. Als nächster Schritt folgen ein Pretest zur Leitfadenerprobung sowie die eventuell nötige Überarbeitung des Interviewleitfadens. Falls es erforderlich ist, werden diejenigen, die die Interviews durchführen, vorab in einer Interviewerschulung qualifiziert. Als ergänzende Instrumente werden ein Kurzfragebogen zur Erhebung soziodemografischer Daten und ein sogenanntes Postskriptum, in dem protokollarisch die Umstände des Interviews notiert werden, entwickelt (vgl. Witzel 2000; 1985; 1982 sowie Mayring 2002, 68ff). Das Interview selber wird mit einem Aufnahmegerät durchgeführt und beginnt mit Sondierungsfragen, welche einen allgemeinen Einstieg ermöglichen 197
und als Narrationsstimuli dienen. Durch die Leitfadenfragen wird eine Balance zwischen einer vorab fixierten Struktur im Interview mit einer Offenheit dem Forschungssubjekt gegenüber gewährleistet, denn der Leitfaden dient vor allem als „Gedächtnisstütze und Orientierungsrahmen“ (Lamnek 2005, 367) um „all jene Themenbereiche, die der Befragte von sich aus angesprochen [...] hat, auf der Liste zu streichen“ (ebd.) sowie im Umkehrschluss, nicht behandelte Aspekte nachzufragen. Die Ad-hoc-Fragen ermöglichen ein situatives Eingehen auf neue Aspekte und ein gezieltes Nachfragen bei sensiblen Themen. Das vollständige Verfahren impliziert eine schriftliche Einwilligung des Interviewpartners zur Datenerhebung und -auswertung bei der Zusicherung der Einhaltung des Datenschutzes von Seiten des Forschenden. Abschließend ist auch die Transkription der Audio-Dateien nach festgelegten Transkriptionsregeln Bestandteil der Methode (vgl. Witzel 2000; 1985; 1982; sowie Mayring 2002, 68ff). Als bevorzugten Anwendungsbereich nennt Mayring Forschungsthemen, zu denen schon ein Basiswissen vorliegt, und wo über dieses hinausgehend „dezidierte, spezifischere Fragestellungen im Vordergrund stehen“ (Mayring 2002, 70). Im Vergleich zu anderen Erhebungsverfahren, z. B. dem narrativen Interview, weist das problemzentrierte Interview einen „leicht höheren Strukturierungsgrad auf“ (Diekmann 1998, 451). Für die hier vorliegende Fragestellung beinhaltet das den Vorteil einer zwar offenen, aber simultan auch sehr zielgerichteten Befragung. Auf die Erstellung der methodenimmanenten Instrumente ‚Kurzfragebogen’, ‚Leitfaden’ und ‚Postskriptum’ wird bei den Ausführungen zum Forschungsprozess im 7. Kapitel detailliert eingegangen.
6.2
Datenauswertung
Verfahren der Dateninterpretation und -analyse müssen in der qualitativen Sozialforschung gegenstandsbezogen gewählt und entwickelt werden, wozu ein breites Spektrum an Auswertungsverfahren zur Verfügung steht 138 (vgl. Lamnek 2005, 241). Oftmals ist verbales Datenmaterial der Gegenstand der Auswertung, sodass, wie bereit ausgeführt, nicht die sozialen Phänomene an sich sondern die 138 Eine ausführliche Darstellungen des Methodenkanons befindet sich beispielsweise in: Lamnek 2005; Flick 1998; Flick et al. 2003a.
198
„Artefakte“ (Hitzler 2002, Abs. 5) erlebter Ereignisse als Analysequelle zur Verfügung stehen. Die Interpretation dieser Artefakte sollte innerhalb der gewählten Methode systematisch nach Regeln erfolgen. Ein wichtiges Merkmal qualitativer Auswertung ist der Einbezug der „Eigendeutungen der Betroffenen“ (Lamnek 2005, 241). Aufgrund der Vieldeutigkeit von Sprache gilt, dass ein einzelner Begriff innerhalb des verbalen Datenmaterials mannigfaltige Bedeutungen transportieren und in verschiedenen kontextgebundenen Sinnzusammenhängen gesehen werden kann, d. h. dass seine Deutung im Zusammenhang mit der jeweiligen Zeit und den dazugehörigen Umständen seiner Benutzung einem Wandel unterliegt: „Die Interpretation ist daher eine intensive Beschäftigung mit Bedeutungen, Sinnzusammenhängen und jenen Kontexten, die eine bestimmte Sinngenerierung wahrscheinlich machen und zu einer spezifischen Sinnstruktur verknüpfen“ (Froschauer/Lueger 2003, 82).
Erst diese Sinnstruktur erschließt individuelle „Sicht- und Handlungsweisen“ (ebd.). In der ‚qualitativen Inhaltsanalyse’ von Mayring werden „latente Sinnstrukturen“ (Mayring 2003, 496) berücksichtigt. Basierend auf den oben geforderten Kriterien eines systematischen und regelgeleiteten Auswertungsprozesses gehört sie zu den gängigen Auswertungsmethoden in der qualitativen Sozialforschung (vgl. Flick 1998, 212ff). Das Datenmaterial der hier vorliegenden Studie wurde mit dieser Methode ausgewertet. 6.2.1
Qualitative Inhaltsanalyse
Die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring gilt als eines der klassischen qualitativen Auswertungsverfahren (vgl. beispielsweise: Flick et al. 2003a; Lamnek 2005; Bortz/Döring 2003). Sie „wird in der Regel zur Analyse subjektiver Sichtweisen mit Leitfaden-Interviews verwendet“ (Flick 1998, 215) und ist bezogen auf einen theoretischen Hintergrund nicht festgelegt. Tabelle 19:
Zentrale Kennzeichen der qualitativen Inhaltsanalyse
Zu den Kennzeichen der qualitativen Inhaltsanalyse gehören: x x
ein systematisches, regelgeleitetes Vorgehen, die zentrale Stellung der Kategorienbildung, 199
x der Gegenstandsbezug, x die Berücksichtigung des Kommunikationszusammenhangs, x die Überprüfung durch Pilotstudien, x die Option einer computergestützten Durchführung, x sowie die Möglichkeit des Einbezugs quantitativer Analyseschritte. Quelle: vgl. Mayring 2003, 42ff Die qualitative Inhaltsanalyse bietet verschiedene praktische Verfahrensweisen, die je nach Forschungsgegenstand, übergeordnetem Untersuchungsplan und Zielsetzung ausgewählt und miteinander kombiniert werden können. Das Vorgehen hat gegenstandsangemessen und regelgeleitet zu erfolgen. Sowohl der Einsatz spezieller Computerprogramme zur qualitativen Datenanalyse als auch die Kombination mit quantitativen Auswertungsmethoden sind möglich. Im Zentrum des Verfahrens steht die Kategorienbildung oder die Anwendung von Kategorien bzw. Codes139. Induktive Kategorienentwicklung Bei dieser Vorgehensweise werden Kategorien auf der Basis des Datenmaterials neu gebildet. Dazu werden die beispielsweise in Interviews geschilderten Phänomene auf einer konkreten, niedrigen Abstraktionsebene betrachtet. Eine erste Kategorie wird nun „möglichst nahe an der Textformulierung als Begriff oder Kurzsatz formuliert“ (Mayring 2003, 76), um einen möglichst gegenstandsnahen Bezug zu den ‚lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten’, d. h. zum Alltagsverständnis der Subjekte, zu behalten. Bei der Durcharbeitung des Datenmaterials werden die jeweils neuen Textstellen entweder unter bestehende Kategorien subsumiert oder führen zu einer neuen Kategorienbildung. Zur Erreichung des Ziels, d. h. der zusammengefassten Darstellung wesentlicher und bedeutungstragender Aussagen, erfolgt eine zunehmende Generalisierung auf ein höheres Abstraktionsniveau sowie eine Reduzierung von Datenmaterial, welches für die vorliegende Fragestellung nicht im Wesentlichen inhaltstragend ist. Für Mayring hat diese Vorgehensweise einen zentralen Stellenwert innerhalb qualitativer Ansätze (vgl. Mayring 2003, 75). Auch bei der hier vorge139 In Verfahren der qualitativen Datenanalyse wird in der Regel synonym zum Terminus ‚Kategorie’ der Begriff ‚Code’ verwendet, insbesondere im Rahmen computergestützten Arbeitens (vgl. MAXqda 2004a, 23). Hierauf wird unter 6.2.2 noch eingegangen.
200
legten Studie steht die induktive Kategorienbildung im Zentrum der Analyse. Das konkrete Vorgehen in der hier durchgeführten Auswertung wird ausführlich im Kapitel 7 ‚Forschungsprozess’ geschildert. Deduktive Kategorienanwendung Bei der deduktiven Kategorienanwendung werden schon vorher festgelegte, theoretisch begründete Kategorien an das Material herangetragen und überprüft. Das heißt, Kategorien werden bei dieser Analysetechnik auf der Basis von Vorstudien, aus bisherigen Forschungsergebnissen oder schon bekannten Theoriekonzepten in einem Operationalisierungsprozess bezogen auf das Datenmaterial entwickelt. Um die deduktiv gewonnenen Kategorien methodisch abgesichert den Textstellen zuzuordnen zu können, wird die Arbeit mit einem „Kodierleitfaden“ (Mayring 2000, Abs. 15) empfohlen. Diese Vorgehensweise wird von Mayring der ‚strukturierenden Inhaltsanalyse’ zugeordnet (vgl. Mayring 2003, 74; 2000 Abs. 13ff). Die deduktive Kategorienanwendung wurde in der hier vorliegenden Studie als ergänzender Auswertungsschritt in einer Sekundäranalyse zur Erfassung spezifischer Aspekte von familialen Generationenbeziehungen verwendet, was im Kapitel 7 näher beschrieben wird. Techniken qualitativer Inhaltsanalysen Grundsätzlich gliedert sich die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring in die drei Formen „zusammenfassende, explizierende und strukturierende Inhaltsanalyse“ (Mayring 2003, 44). Alle drei Verfahren können in einem geplanten Forschungsvorhaben zur Anwendung kommen. 1. Zusammenfassende Inhaltsanalyse: Diese Analyseform bietet die Möglichkeit der induktiven Kategorienentwicklung und der deduktiven Kategorienanwendung. Ihre Zielsetzung ist die Reduktion und Generalisierung des Datenmaterials, wobei wesentliche Inhalte erhalten werden sollen. Nach Mayring handelt es sich darum, „durch Abstraktion ein überschaubares Korpus zu schaffen, das immer noch ein Abbild des Grundmaterials ist“ (Mayring 2002, 115). 2. Explikation: Entgegengesetzt wird bei der Analysevariante der Explikation gearbeitet. Durch Herantragen von zusätzlichem Material zu einzelnen, fraglichen Begriffen oder Sätzen dient sie u. a. der Textstellenerläuterung und Verständniserweiterung. 201
3.
Strukturierende Inhaltsanalyse: Die strukturierende Art der Inhaltsanalyse beinhaltet die Festlegung von „Ordnungskriterien“ (ebd.) zur Filterung bestimmter Aspekte aus dem Datenmaterial bzw. zur Einschätzung des Materials aufgrund dieser Kriterien, welches häufig in Form der deduktiven Kategorienanwendung umgesetzt wird.
Lamnek sieht den Anwendungsbereich der qualitativen Datenanalyse nach Mayring in der Verarbeitung größeren Datenmaterials und hebt hervor, dass es sich um ein „stark regelgeleitetes Verfahren zur Reduktion“ (Lamnek 2005, 515) von diesen umfangreichen Datenmengen handele. Flick merkt dazu jedoch kritisch an, dass bei einer methodengenauen Umsetzung das Verfahren „ähnlich aufwendig wie andere Methoden“ (Flick 1998, 215) sei. Lamnek stellt kritisch fest, bei der qualitativen Inhaltsanalyse sei „in Ablauf und Systematik der Versuch erkennbar, der Methodologie quantitativer Forschung nachzueifern“ (Lamnek 2005, 529). Dennoch schließt er mit dem Fazit: „Gleichwohl ist Mayrings Methode begründet als qualitative zu bezeichnen, weil sie in den Grundlagen dominant an dieses Paradigma orientiert ist.“ (ebd., 529). Mayring selber spricht von einer „spezifischen, qualitativen Auswertungstechnik“ (Mayring 2003, 116), die mit entsprechenden Methoden der Datenerhebung und -aufbereitung kombiniert werden müsse. Zu achten sei jedoch darauf, dass die Inhaltsanalyse nicht „zu starr und unflexibel“ (ebd., 117) gehandhabt sondern „auf den konkreten Forschungsgegenstand ausgerichtet“ (ebd.) wird. In der hier vorliegenden Studie war für die Verfasserin von Bedeutung, dass es sich bei diesem Analyseverfahren um ein allgemein anerkanntes Verfahren handelt, bei dem verschiedene Techniken kombinierbar sind. Weiterhin war intendiert, größere Datenmengen zu bearbeiten und somit durch eine höhere Fallanzahl eine möglichst große Breite an Erfahrungen explorieren zu können. Letztendlich wurden auch persönliche frühere Forschungserfahrungen gewichtet, bei denen sich eine Kombination des ‚problemzentrierten Interviews’ nach Witzel und der ‚qualitativen Inhaltsanalyse’ nach Mayring bewährt hatte. 6.2.2
Computerunterstütztes Auswerten
Bei Bortz und Döring heißt es: „Das Augenfälligste an qualitativem Material ist zunächst sein Umfang“ (Bortz/Döring 2003, 329), da zu den oftmals mehreren hundert Seiten von Transkripten noch einmal weiteres Textmaterial in Form von Ideen und Erläuterungen, die während des Erhebungs- und Auswertungsprozesses entstehen, zu erwarten sei. Sie empfehlen daher zur besseren Handhabung des Materials ein spezielles Computerprogramm zur qualitativen Textanalyse: 202
„Solche Programme erleichtern die Gliederung und Codierung der Texte, ermöglichen das Erstellen von Übersichten und Schaubildern und unterstützen die Quersuche im Text; die eigentliche Deutungsarbeit ist freilich nicht automatisierbar.“ (ebd. 330).
Bei der hier vorliegenden Studie ist zur Unterstützung der Auswertung das Programm MAXqda140 eingesetzt worden. Damit wurde die Zielsetzung verbunden, durch eine ‚automatisierte Verwaltung’ der Daten eine größere Anzahl von Interviews bearbeiten zu können und somit dem explorativen Anliegen der Studie gerecht zu werden. Als Voraussetzung musste gewährleistet sein, dass der Auswertungsprozess in seiner inhaltlich-logischen Abfolge durch den Einsatz des Computerprogramms und dessen immanente Möglichkeiten und Grenzen nicht beeinflusst würde. Bei MAXqda handelt es sich um eine „Textanalysesoftware für die Sozialforschung“ (MAXqda 2004a, 3), die auf dem 1989 von Kuckartz entwickelten Vorgängerprogramm winMAX aufbaut. Nach Informationen des Herstellers wird in zahlreichen Disziplinen, u. a. der Psychologie und Soziologie, der Politik- und Gesundheitswissenschaft sowie der Sozialarbeit, mit dem Programm gearbeitet141 (vgl. Kuckartz 1999, 13; MAXqda 2004b, 8). MAXqda soll das „in der qualitativen Sozialforschung weit verbreitete [...] Arbeiten mit hierarchischen Kategoriensystemen“ (Kuckartz 1999, 200) unterstützen. Die Kernfunktion des Programms dient der Bildung und Verwaltung eines Codesystems. Der Terminus ‚Code’ wird bei MAXqda synonym zum Begriff ‚Kategorie’ verwendet, und als ein „analytisches Instrument zur systematischen Auswertung der Daten“ (MAXqda 2004a, 23) spezifiziert. Bei den theoretischen Überlegungen während der Entwicklung des Programms ging man davon aus, dass „Prozeduren der Klassifikation“ (Kuckartz 1999, 31) substanziell für menschliche Wahrnehmung seien. Hierbei waren die methodischen Überlegungen u. a. auch an den Ausführungen von Alfred Schütz orientiert142, womit ein Bezug zum theoretischen Rahmen der hier vorliegenden Arbeit gegeben ist. Kuckartz rekurriert dazu Schütz’ Ausführungen zur Typenbildung143 als eine „anthropologische Basistechnik“ (Kuckartz 1999, 31), denn diese sei orientierungsgebend sowohl in Alltags- als auch in Wissenschaftsbereichen. In Anlehnung an Schütz’ Ausführung „the 140 Die genaue Bezeichnung lautet: MAXqda 2 für Windows 98, 2000, und XP (vgl. MAXqda 2004a; b sowie unter: www.maxqda.de). 141 Nähere Angaben siehe auf der Homepage: www.maxqda.de 142 Des Weiteren findet auch eine Anlehnung an Max Weber statt (vgl. Kuckartz 1999, 30ff). 143 Näheres hierzu wird ausgeführt unter 5.2.2.2.
203
individual’s common-sense knowledge of the world is a system of constructs of its typicality” (Schütz 1971, 7) wird auch bei MAXqda als fundamental betrachtet, dass das Denken in Form von Abstraktionen und Typisierungen grundlegend ist (vgl. Kuckartz 1999, 31). Im Zentrum des Programmes MAXqda stehen, neben dem Aufbau und der weiteren Bearbeitung eines Codesystems, die Möglichkeiten ausführlicher Dokumentation des Forschungsprozesses durch ‚Memos’, in denen eigene Notizen und Erläuterungen festgehalten werden können, verschiedene Suchfunktionen zum Wiederfinden von relevanten Textpassagen und die Erstellung von Übersichten und grafischen Darstellungen. Zusatzmodule ermöglichen spezielle Funktionen wie erweiterte visuelle Darstellungen von Zusammenhängen. Mayring, dessen Analyseverfahren in dieser Arbeit Verwendung gefunden hat, empfiehlt selber ausdrücklich den Einbezug eines Computerprogrammes zur qualitativen Datenanalyse und nennt als dafür geeignete Programme u. a. explizit MAXqda (vgl. Mayring 2003, 101ff). Kuckartz wiederum bezieht sich bei seinen Ausführungen zu den Einsatzmöglichkeiten von MAXqda u. a. ausdrücklich auf Mayring bzw. die ‚qualitative Inhaltsanalyse’ (vgl. Kuckartz 1999, 200). Grundsätzlich werden durch eine computerunterstützte Analyse somit die Möglichkeiten des Erfassens von Vielfalt und Komplexität innerhalb geschilderter Erfahrungen unterstützt, und somit das Auffinden von vielschichtigen Strukturen und Mustern auch bei umfangreichem Material ermöglicht (vgl. Kuckartz 1999, 33). Dies betrifft in der hier vorliegenden Studie vor allem den Arbeitsschritt ‚induktive Kategorienbildung’ im Rahmen der Einzelfallauswertung. Weiterhin dient dieses Auswertungsprogramm innerhalb der Fall vergleichenden Analyse auch dem Auffinden von fallübergreifenden Themen, indem es im Sinne einer automatisierten Verwaltung dabei unterstützt, „die zu den gleichen Kategorien gehörenden Textsegmente“ (Kuckartz 1999, 33) hinsichtlich der Ähnlichkeiten und der Besonderheiten einzelner Fälle zu untersuchen und Zusammenhänge zwischen den Kategorien zu ermitteln.
204
7
Der Forschungsprozess
7.1
Überblick
Der Forschungsprozess der hier vorliegenden Studie begann streng genommen schon viele Jahre im Vorfeld. Der Verfasserin ‚begegnete’ die Enkelgeneration in ambulanten Pflegesettings, als sie die pflegende Schwiegertochter einer demenziell erkrankten Großmutter für ein Forschungsprojekt im Gerontologiestudium interviewte. Die pflegende Angehörige und gleichzeitige Mutter der Enkeltochter bedauerte in diesem Interview die zeitlichen Restriktionen durch die häusliche Pflege, wovon ihre chronisch kranke Tochter besonders betroffen sei. Damals entstand die Frage: Was empfindet eigentlich die Enkeltochter? Ähnliches wiederholte sich im Laufe der Jahre in den Beratungssituationen während eines Modellprojekts zur Verbesserung der häuslichen Pflegesituation144 und in den Gesprächskreisen einer Alzheimer Gesellschaft145: Enkelkinder waren zwar thematisch, jedoch nicht physisch präsent, wodurch ihre eigenen Ansichten, Wünsche oder Beschwerden außen vor blieben. Erste eigene Recherchen zum Thema ‚Enkel in Pflegesituationen bei Demenz’ brachten nur marginale Ergebnisse, und auch der 4. Altenbericht konstatierte diesbezüglich Forschungsbedarf. Letztendlich wurde auf der Jahrestagung der Sektion III der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie146 das Anliegen der Verfasserin als ‚Forschungslücke’ bestätigt, was zum konkreten Beginn der Studie geführt hat. Der Forschungsprozess hat sich anschließend wie folgt gegliedert: Einer groben Ersteinschätzung und Problemanalyse der Fragestellung folgten die Erhebung und die Auswertung des Datenmaterials. Die detaillierte Ausarbeitung des Forschungsstandes zu den Themen ‚Ambulantes Pflegesetting bei Demenz’, ‚familiale Generationen’ und ‚die Enkelgeneration im ambulanten familialen 144 Das Modellprojekt „Kompass“ diente der Entlastung pflegender Angehöriger durch die Implementierung von Freiwilligenhilfe in häuslichen Pflegesettings. Es wird ausführlich beschrieben in: Kröger/Philipp-Metzen 2006. 145 Es handelt sich um den Angehörigengesprächskreis der Alzheimer Gesellschaft Münster e.V., in der die Verfasserin 2. Vorsitzende ist. 146 Die Tagung mit dem Titel „Zukunftstrends und Nachwuchsförderung in der sozialwissenschaftlichen Gerontologie“ hat am 10. und 11. Oktober 2003 in Berlin unter dem Vorsitz von PD Dr. Susanne Zank, Prof. Dr. Fred Karl und Dr. Frank Oswald stattgefunden.
205
Pflegesetting’ im Abschnitt A ist gezielt erst im Anschluss an die empirische Arbeit vorgenommen worden, um die für dieses explorative Forschungsdesign nötige Offenheit gegenüber dem Forschungsgegenstand zu gewährleisten. Nach einer kursorischen Problemanalyse wurde das Forschungsdesign entwickelt. Alfred Schütz’ Lebensweltanalyse wurde als potenzieller theoretischer Rahmen und die Methoden ‚problemzentriertes Interview’ und ‚qualitative Inhaltsanalyse’ als mögliche Verfahren zur Erhebung und Auswertung überprüft. Das Analyseverfahren sollte zudem noch in Verbindung mit einem Auswertungsprogramm zur qualitativen Datenanalyse verwendet werden können. Weiterhin sollten alle drei genannten Elemente methodologisch ‚kompatibel’ sein. Im Rahmen dieser Überprüfung wurde an einem Seminar zur computerunterstützten qualitativen Datenanalyse teilgenommen, um die Vorteile, aber auch die Grenzen und mögliche Nachteile eines solchen Programms kennen zu lernen. Parallel fand die Bekanntmachung der Studie statt, worauf die Phasen der Erhebung und Auswertung folgten, welche in den folgenden Kapiteln ausführlich explaniert werden. Die Literaturrecherche für die vorgelegte Arbeit erfolgte in verschiedenen digitalen Datenbanken und den Hochschulbibliotheken von Münster, Kassel und Vechta und beinhaltete unterschiedliche Suchstrategien. Besonders ergiebig war die Suche in folgenden Datenbanken: In MEDLINE von der US-amerikanischen National Library of Medicine (NLM) wurde über den Zugang ‚PubMed’ mit unterschiedlichen Kombinationen der Schlagworte ‚alzheimer disease’, ‚intergenerational relations’, ‚caregiver stress’, etc. gesucht. Weiterhin wurde über den Zugang ‚DIMDI’ u. a. in den Datenbanken GeroLit, PSYNDEX und PsycINFO gesucht, wobei wiederum verschiede Schlagworte wie ‚Altenpflege, familiale’, ‚Demenz’, ‚Pflege, häusliche’, ‚coping’, ‚Angehörige’, ‚Pflege’, ‚Ehrenamt’, ‚caregivers’, ‚volunteer civilian personnel’, ‚alzheimer disease’, ‚family’ etc. verwendet wurden. In den Datenbanken SOMED und WISO NET waren die Schlagworte beispielsweise ‚Generationenverhältnis’, und ‚Pflege’, wobei hier neben aufgeführten Veröffentlichungen auch ein Zugriff auf laufende Projekte möglich war. Hilfreich waren darüber hinaus auch die Literaturverzeichnisse der bereits vorliegenden Veröffentlichungen.
7.2
Die Datenerhebung
Die als nächstes dargestellten Teile des Forschungsablaufes, die Entwicklung der Forschungsinstrumente und die Gewinnung von Teilnehmenden verliefen zeitlich parallel. 206
7.2.1 7.2.1.1
Die Entwicklung der Erhebungsinstrumente Kurzfragebogen
Der Kurzfragebogen dient der Ermittlung sozio-demografischer Daten, welche das Datenmaterial des Interviews ergänzen können. Diese zusätzlichen Angaben brauchen somit nicht im Interview selbst ermittelt zu werden, wodurch die Anzahl der Fragen limitiert werden kann. Weiterhin trägt dieses Verfahren dazu bei, einen Erzählcharakter im Interview zu bewahren, nicht in ein Frage-Antwort-Schema zu geraten und somit der Problemzentrierung und der inhärenten Relevanzsetzung der Befragten gerecht zu werden (vgl. Witzel 2000, Abs. 7; Flick 1998, 106f). Bei dem in dieser Studie entwickelten Kurzfragebogen wurden ‚vorsorglich’ 49 Variablen erhoben, die bei der Auswertung der qualitativen Interviews bei Bedarf herangezogen werden sollten. Intendiert war, bei der späteren Analyse des verbalen Datenmaterials je nach Relevanzsetzung der befragten Subjekte und der darauf aufbauenden Kategorienbildung auf ein differenziertes Spektrum von zusätzlichen Merkmalen zurückgreifen und diese flexibel als Hintergrundinformation heranziehen zu können. Der hier entwickelte Kurzfragebogen gliedert sich in vier Bereiche: 1. Angaben zum demenziell erkrankten Großelternteil: Erhoben werden die Einschlusskriterien ‚Vorliegen eines Status der Großelternschaft zum teilnehmenden Enkel’, und ‚Vorhandensein einer Diagnose Demenz’ sowie der Zeitpunkt der Erhalt dieser Diagnose. Den sozio-demografischen Hintergrund vervollständigen Angaben über das Geschlecht, das Geburtsdatum und den Geburtsort des Großelternteils, sowie darüber hinaus sein Alter zum Zeitpunkt des Pflegesettings mit dem involvierten Enkelkind. Komplettierend werden nach weiteren Erkrankungen, dem subjektiven Erscheinungsbild und den krankheitsbedingten Verhaltensweisen des demenziell Erkrankten gefragt. Die Residualkategorie ‚Sonstiges’ schließt diesen sowie die weiteren Themenkomplexe ab. 2. Angaben zur Hauptpflegeperson: Dieser Fragenkomplex erfasst den familiären Status der Hauptpflegeperson zum Interviewteilnehmer sowie das Geburtsdatum und das Alter zum Zeitpunkt des Pflegesettings mit dem beteiligten Enkelkind. Als potenzieller Belastungsindikator wird nach dem Gesamtzeitraum der Pflege für die Hauptpflegeperson und nach dem Umfang und der Art einer Erwerbstätigkeit gefragt. 207
3.
4.
Angaben zur Pflege- bzw. Betreuungssituation: In diesem Bereich werden die Wohnformen des Pflegesettings in Bezug auf das Elternhaus des Probanden sowie die geschätzte Einwohnerzahl der Gemeinde oder Stadt, in der das Pflegesetting lokalisiert gewesen ist, erhoben. Weiterhin wird die Wohnsituation des Enkelkindes erfasst, welche eine Koresidenz mit der mittleren bzw. der älteren Generation oder eine multilokale Wohnform beinhalten kann. Darüber hinaus werden nach der Familienkonstellation der Kernfamilie des Enkels, den verschiedenen Unterstützungstransfers und letztendlich nach dem Grund und dem Zeitpunkt der Beendigung des Pflegesettings gefragt. Angaben zur eigenen Person: Die Fragen zur Person des Enkels beziehen sich auf den aktuellen Wohnort, den Bildungshintergrund, die Art der Erwerbstätigkeit, seine Kenntnisnahme der Studie – z. B. um zu einer Optimierung der weiteren Suche nach Interviewpartnern beizutragen – und auf die Motivation zur Teilnahme an der Studie.
Der Zeitpunkt des Einsatzes des Kurzfragebogens kann variabel gehandhabt werden. Ursprünglich war der Fragebogen von Witzel für eine Verwendung unmittelbar vor dem Interview konzipiert (vgl. Witzel 2000, Abs. 7), jedoch regt Flick an, diesen im Anschluss an das Interview einzusetzen, damit „sich seine Frage-Antwort-Struktur nicht auf den Dialog im Interview selbst auswirkt“ (Flick 1998, 107). In der hier vorliegenden Studie ist der Kurzfragebogen vor dem Interview eingesetzt worden. Da zu den Ausschlusskriterien für die Teilnahme an dieser Studie z. B. auch ein Fehlen der Diagnose der Demenz gehört, hat es sich als sinnvoll erwiesen, diesen mit ausreichendem zeitlichen Abstand postalisch den Enkeln zukommen zu lassen. Erstens erhielten die Studienteilnehmenden durch den vorab zugesandten Fragebogen die nötige Zeit, spezielle Fakten wie eine Diagnosestellung, Altersangaben sowie zeitliche und räumliche Parameter vorab bei ihren Eltern einholen zu können und zweitens hätte das Fehlen einer ärztlichen Diagnose die Terminierung eines aufwendigen und nicht verwendbaren Interviews verhindert. 7.2.1.2
Interviewleitfaden
Der Interviewleitfaden der Methode ‚problemzentriertes Interview’ dient als strukturierendes und erzählgenerierendes Hilfsmittel. Die Befragten können dabei ihre individuellen Bedeutungszuschreibungen vornehmen, denn „mit den völlig offenen Fragen wird lediglich der interessierende Problembereich eingegrenzt“ (Lamnek 2005, 364). Themen, die die Interviewten von sich aus anspre208
chen, können ‚gestrichen’ und unbehandelte Aspekte nachgefragt werden. Somit handelt es sich eher um einen „Orientierungsrahmen“ (ebd. 367) als um eine Liste, die der Reihenfolge nach bearbeitet werden muss. Die zentralen Kommunikationsstrategien nach Witzel (vgl. 2000, Abs. 16) sind dabei „erzählungsgenerierende“ (ebd. Abs. 14) und „verständnisgenerierende“ (ebd., Abs. 17) Strategien. Die erzählungsgenerierenden Techniken beinhalten als Gesprächseinstieg die „vorformulierte Einleitungsfrage“ (ebd. Abs. 14) sowie die „allgemeine Sondierung“ (ebd. Abs. 15) und die „Ad-hoc-Fragen“ (ebd. Abs. 16). Die Verständnis generierenden Form betrifft die „spezifische Sondierungen“ (ebd.). Zu Beginn soll die vorformulierte Einleitungsfrage gewährleisten, dass das nachfolgende Gespräch nicht in ein „Frage-AntwortSchema“ (Witzel 1982, 96) übergeht. Damit die Antwort erzählerisch ausgestaltet werden kann, wird die Einleitungsfrage allgemein gehalten, wozu Witzel das Beispiel „Wie bist Du denn drauf gekommen?“ (Witzel 1982, 97) nennt. Im Leitfaden zu der hier vorliegenden Studie lautet die Eingangsfrage an die Enkel: „Wie fing das damals eigentlich bei Ihnen an ...?147“ Zur allgemeinen Sondierung werden erzählungsgenerierende Nachfragen, die zu Detailangaben und Erfahrungsbeispielen führen, benützt, wie z. B. „Was passierte denn da im einzelnen?“ (Witzel 1985, 247). Der ‚rote Faden’ der Erzählung soll u. a. anhand von Detailbeschreibungen weiter verfolgt werden. Diese Technik ist auch in den hier durchgeführten Interviews angewandt flexibel angewandt worden. Ad-hoc-Fragen dienen der konkreten Beantwortbarkeit und somit auch der Vergleichbarkeit der Interviews. Witzel empfiehlt, sie ans Ende des Interviews zu legen, um vorher ein Frage-und-Antwort-Spiel zu vermeiden. Seine Beispielfrage lautet: „Stell Dir vor, Du bist 20 Jahre alt, wie sieht dann Dein Leben aus? Was möchtest Du bis dahin erreicht haben?“ (ebd. 251). Im hier vorliegenden Leitfaden zur Befragung der Enkelkinder ist diese Kommunikationsstrategie gegen Ende eingesetzt worden, z. B. mit der Frage: „Was halten Sie von der Einführung einer Pflichtpflege für Angehörige?“. Die spezifische Sondierung bezeichnet Witzel als die „am schwierigsten zu handhabende“ (ebd. 247). Hierzu gehören „Zurückspiegelung, Verständnisfrage und Konfrontation“ (ebd.). Sie dienen im Wesentlichen der Aufdeckung und Klärung von Widersprüchlichkeiten und wahrgenommenen Diskrepanzen. Davon waren in den Interviews für die hier vorgelegte Studie lediglich Verständnisfragen von Bedeutung. 147 Den vollständigen Interviewleitfaden finden Sie im Anhang als OnlinePLUS unter http://www.vs-verlag.de.
209
Sowohl bei der Konzeptionierung des Leitfadens als auch bei der Durchführung der Interviews ist auf eine gezielte Verwendung einer Alltagssprache mit den inhärenten „Vorstellungen und vor-wissenschaftlichen Theorien“ (Kaiser 2003, 145) und den üblichen Bedeutungsunschärfen geachtet worden, womit eine Ansprache, die höhere Bildungshintergründe bevorzugt, vermieden werden sollte. Gezielt wurde auch die Sequenz der Fragen im Leitfaden gewählt. Sie führt von den Erfahrungen in der Vergangenheit über das Bilanzieren derselben aus heutiger Sicht hin zur prospektiven Schau auf die eigene Pflegebereitschaft in zukünftigen Szenarios. Dies hat eine Grobgliederung in drei Teilbereiche zur Konsequenz: Im ersten Abschnitt wird nach dem Beginn der Pflegesituation gefragt, im zweiten nach den spezifischen Veränderungen und den damit verbundenen Hilfebedarfen und im dritten nach der subjektiven Bilanzierung und dem Ausblick auf künftige Pflegesituationen. 7.2.1.3
Postskriptum und weitere Dokumente
Zur Erhebungsmethode ‚problemzentriertes Interview’ gehört ein ‚Postskriptum’, welches ein selbst erstelltes Formblatt bezeichnet, auf welchem die Umstände des Interviews und weitere Anmerkungen wie mögliche Auffälligkeiten oder Störungen vermerkt werden. Dies geschah in der Regel unweit von der Lokalität des Interviews nach kurzer Fahrt mit dem PKW. Diese ergänzenden Informationen haben sich als hilfreich erwiesen, um auch nach dem 17. Interview die spezifischen Abläufe und Umstände den richtigen Interviews zuordnen zu können. Für die hier durchgeführte Studie war darüber hinaus das Informationsblatt für die Teilnehmenden von Relevanz. In den Erstgesprächen hatten die potenziell Teilnehmenden häufiger in der Regel die Hintergründen der Studie bzw. die Seriosität der Verfasserin thematisiert und deren Intention hinterfragt, was im Infoblatt expliziert werden konnte. Darüber hinaus wurde der Studienverlauf skizzierend dargestellt. Für die Verfasserin war weiterhin die schriftliche Einverständniserklärung der Interviewpartner eine Voraussetzung zur Auswertung und Verwendung der Daten148. 148 Im Informationsblatt, das am Anfang des gesamten Forschungsprozesses entwickelt wurde, wird als Alternative zur zentralen Erhebungsform ‚Interview’ der ‚ausführliche Fragebogen’ genannt. Denn zu diesem Zeitpunkt des Forschungsprozesses wurde noch von einer so großen Anzahl von Rückmeldungen potenzieller Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer aus-
210
7.2.2 7.2.2.1
Gewinnung von Interviewteilnehmenden Einschlusskriterien für die Studienteilnahme
In der geplanten Arbeit sind neben den gemachten Erfahrungen der Enkel ihre Bilanzierungen von besonderem Interesse. Wie in Kapitel 4 ausgeführt, bedeutet eine Bilanz im allgemeinen Sinne „Ergebnis, Fazit, abschließender Überblick“ (Duden 2001), weshalb es für eine Bilanzierung eines gewissen inneren Abstandes zum Erhalt eines Überblickes über die Situation bedarf, was das Vorhandensein entweder einer räumlichen oder einer zeitlichen Distanz zur Pflegesituation bei den Enkeln impliziert. Beide Varianten ermöglichen eine bilanzierende Bewertung im Gegensatz zu einer aktuellen oder räumlichen starken direkten Beteiligung in die Geschehnisse. Folgende Einschlusskriterien waren Voraussetzung für die Teilnahme am Interview: x Der oder die Teilnehmende musste Mitglied der familialen Enkelgeneration sein, x der oder die Demenzkranke sollte ein Mitglied der Großelterngeneration sein, wozu auch Großtanten und Großonkel mit einem faktischen ‚Großelternstatus’ gehören konnten, x der Enkel musste mit dem Erkrankten eine direkte, d. h. persönliche Pflegeund/oder Betreuungserfahrung – im Unterschied zu einer reinen Verwaltungstätigkeit für den Kranken, z. B. im Sinne eines Finanz- oder Behördenmanagements – erlebt haben, x das Großelternteil musste seinerzeit eine Diagnose bezogen auf Demenz erhalten haben, x und ein zeitlicher oder räumlicher Abstand zum Pflegesetting sollte vorliegen. Darüber hinaus war eine breite Fallvarianz gewünscht, damit kontrastierende Situationen erhoben werden konnten. Als Altersgrenzen der Enkel wurden zwei Gesichtspunkte herangezogen, sie sollten erstens zum Zeitpunkt des Interviews –––––––––––––––––––––––––––– gegangen, dass neben dem ‚Hauptsample’ mit Interviewteilnehmern ein ergänzendes Sample mit einer ausführlichen schriftlichen Befragung gebildet werden sollte. Aufgrund der begrenzten Anzahl von Rückmeldungen wurde dieses Vorhaben nicht weiter verfolgt.
211
erwachsen oder ‚nahezu erwachsen’ (d. h. ältere Jugendliche) und zweitens nicht älter als 35 Jahre sein. Hiermit war intendiert, dass der Status der Enkel als Mitglied einer gesellschaftlichen Generation nicht zu stark aber doch wahrnehmbar divergieren sollte, um das Alter der Enkel bei Bedarf als Merkmal zur Konstitution von Subgruppen zu verwenden. 7.2.2.2
Bekanntmachung und Erstkontakte
Die Suche nach Teilnehmerinnen und Teilnehmern für diese Studie war eine aufwendige, da sie zusätzlich zu den Einschlusskriterien aufgrund des Datenschutzes eine aktive Meldung der Enkel erforderte. Die Bekanntmachung erfolgte über Multiplikatoren, d. h. Institutionen und zentrale Einzelpersonen, und umfasste unterschiedliche Zielgruppen, wobei das Spektrum von der ‚anonymen’ Gruppe der Leser regionaler Anzeigenblätter über die Studenten, die durch Aushänge in Hochschulinstituten informiert wurden, bis hin zu einzelnen Altenheimleitern gereicht hat. Die Suche beinhaltete dabei z. B. Sportvereine, Wohlfahrtsorganisationen, Alzheimer Gesellschaften, gerontopsychiatrische Einrichtungen, Kirchenverbände, Landfrauenorganisationen und viele weitere Organisationen und Vereine und war teilweise lokal aber auch überregional, d. h. über Dachverbände, organisiert. Anfangs bestand das Einzugsgebiet aus der Großregion Münsterland und seine direkt angrenzenden Bereiche, jedoch wurde es aufgrund der Problematik der Teilnehmerrekrutierung sukzessive erweitert. Die Rückmeldungen erfolgten langsam und fanden – von den ersten Hinweisen auf potenzielle Enkel aus dem eigenen Arbeits- und Bekanntenbereich im Oktober 2004 bis zur Rückmeldung der siebzehnten und letzten in Frage kommenden Teilnehmerin im Juli 2005 – in einem Zeitraum von neun Monaten statt. Die Zahl der sich meldenden Personen, inklusive derjenigen, die für eine Teilnahme nicht in Frage kamen, betrug innerhalb dieses Zeitraumes 27 Enkel. Ähnlich problematische Erfahrungen bezogen auf die hier angesprochene Zielgruppe sind auch in der Literatur zu finden. Szinovacz, die, wie im Kapitel 3.3 geschildert, ebenfalls über die Situation junger Menschen in Pflegesettings bei Demenz forschte und hierfür geeignete Familien suchte, berichtet auch von einer aufwendiger Suche: „Identification of eligible families […] proved to be extremely difficult“ (Szinovacz 2003, 449). Für die Verfasserin der hier vorgelegten Studie war daher interessant zu erfahren, wodurch die später gewonnenen Teilnehmerinnen und Teilnehmer von der Studie erfahren hatten und was sie dazu bewegte, sich daran zu beteiligen. Beides ist im Kurzfragebogen abgefragt worden. Bei elf von den 17 später interviewten Enkeln erfolgte die Kenntnisnahme durch persönliche Bekannte oder 212
Familienmitglieder, welche wiederum auf unterschiedlichste Art, z. B. durch Aushänge, E-Mail-Verteiler oder die Verfasserin selbst von der Studie erfahren hatten. Sechs Enkel wurden selber über Aushänge in Papierform oder elektronische Informationen wie einen Hochschulnewsletter auf das Forschungsvorhaben hingewiesen. Eine Enkelin erfuhr durch die Presse und eine weitere bei einer Beratungsstelle für pflegende Angehörige die Informationen. Als Beweggründe zur Teilnahme werden im Kurzfragebogen sechs Mal das Interesse an dem Thema dieser Forschung und fünf Mal das Interesse an den Ergebnissen der Studie genannt. Jeweils drei Enkel geben an, sie hielten Forschung per se für wichtig, und äußern die Intention, die Vergangenheit verarbeiten und eigene Erfahrungen weitergeben zu können. Die erste Kontaktaufnahme kam generell durch die Initiative der Enkel zustande, die sich aktiv bei der Verfasserin telefonisch oder per E-Mail meldeten. Auch die Kontaktaufnahmen über Emails haben zu einem telefonischem Erstgespräch geführt, in welchem die wichtigsten Einschlusskriterien der Studie geklärt werden konnten, wobei das Vorliegen einer ärztlichen Diagnose in der Regel eine Nachfrage bei den Eltern der potenziellen Teilnehmerinnen und Teilnehmer erforderte. Dabei sind die Intention und der Verlauf der Studie erläutert, und die Versendung des Kurzfragebogens, des Infoblattes mit den Forschungshintergründen und des Formulars für die schriftliche Einverständniserklärung angekündigt worden. Insbesondere die Enkel, die sich als Erste noch ganz zu Beginn der Bekanntmachung zurückgemeldet haben, sind hinsichtlich des Interviewzeitpunktes um Geduld gebeten worden. Später berichteten mehrere Enkel, dass dieser erste und bewusst kurz gehaltene Kontakt ein Anlass gewesen sei, um mit ihren Eltern über die gemachten Erfahrungen im Pflegesetting zu sprechen, was teilweise zum ersten Mal geschah. Ähnliche Reaktionen haben auch nach dem Erhalt des Kurzfragebogens stattgefunden. Eberle merkt an, dass die reaktiven Erhebungsverfahren wie Interviews, Befragungen, teilnehmenden Beobachtungen, etc. häufig Auslöser für die untersuchten Subjekte sind, sich mit den thematisierten Fragen weiter zu beschäftigen. Anders ausgedrückt können diese Erhebungsverfahren die Wahrnehmung und Relevanzsetzung der Subjekte modifizieren: „Sie beeinflussen und verändern im Akt der Datenerhebung ihren Untersuchungsgegenstand“ (Eberle 2000, 250). Wie bereits im Kapitel 5.2.2.4 ausgeführt wurde, sind diese Handlungen der Enkel in der vorliegenden Studie methodisch von vorneherein berücksichtigt worden. Dieses Vorgehen mit einem ersten kurzen Kontakt und der darauf folgenden Versendung eines Kuzfragebogens hat sich nach Ansicht der Verfasserin bewährt. Es schien den Lebenswelten und Situationen der Enkel entgegenzukommen, die erst einmal allgemeine Informationen zur Studie 213
wünschten, und sich anschließend direkt ‚ihrem eigenen Fall’ widmen konnten. Die Kurzfragebögen sind in der Regel zügig ausgefüllt zurückgeschickt worden. 7.2.3
Pretests und Durchführung der Interviews
Pretests Die Anwendbarkeit des entwickelten Leitfadens wurde anhand von drei PretestInterviews überprüft, was zum Ablauf des problemzentrierten Interviews gehört. Die drei Pretests sind im Juni 2005 durchgeführt worden. Die zwei Interviewpartnerinnen und der Interviewpartner wiesen dabei jeweils nahezu, allerdings nicht vollständig alle der Merkmale auf, die für eine Teilnahme an dieser Studie vorausgesetzt worden sind. Zwei der Enkel hatten die von der Verfasserin gesetzte Altersgrenze von 35 Jahren überschritten, sie waren zum Zeitpunkt des Interviews 44 und 36 Jahre alt, die dritte Interviewpartnerin sah die erkrankte Großmutter nur unregelmäßig und fühlte sich in das Betreuungsgeschehen nicht erheblich involviert. Bei allen drei Teilnehmerinnen und Teilnehmer für den Pretest ist Interview ohne Unterbrechungen methodisch entsprechend den späteren Interviews durchgeführt worden. Im Unterschied zu den folgenden 17 Interviews sind die Kandidaten für die Pretests jedoch im Anschluss auf einer Meta-Ebene befragt worden, wie sie das Interview erlebt haben, und ob die Formulierungen der Fragen verständlich und die Inhalte der Fragen angemessen gewesen seien. Insgesamt brauchte nach den Pretests nur wenig an den Erhebungsinstrumenten und am Leitfaden verändert zu werden. Dieser enthält nun nach der Eingangsfrage „Wie fing das damals denn eigentlich bei Ihnen an ...?“ eine zweite erzählgenerierende Frage zur weiteren Beschreibung des familialen Pflegesettings: „Und wie erlebten Sie es weiterhin ...?“. Dies entspricht bei Witzel der Technik der ‚allgemeinen Sondierung’ (vgl. Witzel 2000, Abs. 15). Außerdem wurde der Kurzfragebogen um ergänzende Fragen erweitert, da in zwei Fällen spezifische Umstände das Verhalten in der Enkel- und Großelterngeneration beeinflussten. Im ersten Fall war das Verhalten der Großmutter durch Kriegserfahrungen geprägt, und im zweiten Fall gab es einen Bruder mit Behinderungen, der eine spezielle Ansprache benötigte149. Da zum Zeitpunkt der Pretests 149 Bei beiden spezifischen Kontexten lag ein direkter Bezug zur Pflegesituation vor. Die im Krieg erlebten Bombenangriffe prägten das Verhalten und die Kommunikationsinhalte der erkrankten Großmutter. Im zweiten Fall drückte der interviewte Enkel seine früh-familialen Er-
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der Verfasserin die ersten Kurzfragebögen schon ausgefüllt vorlagen, wurden diese Ergänzungsfragen aus Gründen der fallübergreifenden Vergleichbarkeit generell separat erhoben, und zwar jeweils im Anschluss an das durchgeführte Interview. Durchführung der Interviews Insgesamt wurden siebzehn in Frage kommende Enkel, 12 weibliche und fünf männliche, durch die Bekanntmachungen gewonnen und interviewt. Im Laufe des Forschungsprozesses wurde deutlich, dass fünfzehn dieser Fälle das Erfahrungsspektrum der beteiligten Enkel qualitativ, d. h. in seiner Breite, abzubilden scheinen. Im Juli und im August 2005 führte die Verfasserin diese Interviews mit den Enkelkindern persönlich durch. Die Methode der ‚problemzentrierten Interviews’ hat sich nach Ansicht der Verfasserin bewährt. Die Enkel hatten eine hohe Motivation, ihre Geschichten zu erzählen, und der vorab entwickelte Leitfaden mit seiner Offenheit für die Akteure und ihre Lebenswelten bot die geeigneten Erzähl-Stimuli. Im Postskriptum wurde ausnahmslos bei allen Enkeln festgehalten, dass Interesse an den Gesamtergebnissen dieser Studie vorlag. Ähnlich wie der Kurzfragebogen waren auch die Interviews potenzielle Anlässe, um im Anschluss daran über die gemeinsam erlebten Pflegesettings mit Familienangehörigen zu sprechen. Dies konnte von der Verfasserin in der Regel nicht erfasst werden allerdings ergaben zufällige Wiedersehen, z. B. im Rahmen öffentlicher Kulturveranstaltungen, Rückmeldungen darüber, dass man die Thematik innerhalb der Familie daraufhin noch einmal neu kommuniziert habe. Bei diesen vereinzelten Rückmeldungen wurden die Interviews als positive bzw. interessante Erfahrung bewertet. Aufzeichnungen und Transkription Ebenso wie die Pretests sind die weiteren Interviews mittels eines speziellen Aufnahmegeräts auf Datenträger aufgezeichnet worden. Hierzu ist ein DATRecorder (Digital Audio Tape-Recorder) von Sony mit dazugehörigen Kassetten –––––––––––––––––––––––––––– fahrungen mit einem behinderten Bruder und die späteren mit einer demenzkranken Großmutter pointiert und ironisch folgendermaßen aus: „Ich war schon immer unter ‚Bekloppten’“.
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von 90 Minuten Länge und einem externen Richtmikrofon verwendet worden. Gerät und Mikrofon sind schon vorab im privaten Besitz gewesen und haben sich durch Handlichkeit, Bedienungsfreundlichkeit und gute Aufnahmequalität bewährt. Im Anschluss an die Erhebung konnten die Daten der Interviews zur Transkription auf CD-Rom-Datenträger gebrannt werden. Die Tonaufzeichnungen wurden wortgetreu verschriftlicht, denn „mittels einer Transkription wird die Flüchtigkeit des Gesprochenen überwunden, die mündliche Kommunikation verdauert und so einer sorgfältigen Betrachtung zugänglich gemacht“ (Reeder 2001, zit. in: Dittmar 2004, 50). Die nun entstandenen Texte der Interviews waren die Voraussetzung zur späteren computerunterstützten Analyse mit MAXqda. Darüber hinaus wurden nach vorgegebenen Transkriptionsregeln nonverbale Aspekte des Gespräches wie Lachen, Weinen, Räuspern, spezielle Betonungen sowie das Vorhandensein längerer Pausen etc. vermerkt.
7.3
Die Datenauswertung
Bei der dieser Auswertung vorliegenden „Analyseeinheit“ (Mayring 2003, 62) handelt es sich um 15 transkribierte Interviews mit den dazugehörigen Postskripten und Kurzfragebögen.
7.3.1 7.3.1.1
Induktive Kategorienentwicklung Einzelfallanalyse
Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stehen die Erfahrungen und Bilanzierungen der Enkel im Kontext mit der erlebten Pflegesituation. Auf der Basis dieser grundsätzlichen Fragestellung der Studie wird die „Kodiereinheit150“ (ebd.) sowie das „Abstraktionsniveau“ (ebd.) der Analyse festgelegt, um zu bestimmen, welche Aspekte im Material berücksichtigt werden sollen. Dann wird das Material schrittweise ‚Satz-für-Satz’ durchgearbeitet. Bei der hier durchgeführten Analyse war das gewählte Abstraktionsniveau niedrig, um 150 Im Folgenden wird die orthografische aktuellere Variante ‚Codiereinheit’ verwendet.
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konkret und lebensweltorientiert „möglichst nahe an der Textformulierung“ (Mayring 2003, 76) zu arbeiten. Als Codiereinheit151 wurde in Anlehnung an Mayrings Vorgaben Folgendes bestimmt: Jede Textpassage mit einer (neuen bzw. weiteren) vollständigen Aussage eines Interviewpartners über die Erfahrungen, d. h. die Erlebnisse und Vorkommnisse, im familialen Pflegesetting sowie ihre oder seine Bilanzierungen, d. h. die Bewertungen, und die subjektiv wahrgenommenen Auswirkungen von diesen Erlebnissen (vgl. ebd. 62). Einige Einzelschritte der induktiven Kategorienbildung, die Paraphrasierung, Generalisierung und Reduktion des codierten Datenmaterials, die bei einer manuellen Analyse mit weniger umfangreichem Material separat durchgeführt werden, können bei größeren Datenmengen zusammengefasst werden (vgl. Mayring 2003, 60). Dies kommt einer computerunterstützten Datenanalyse entgegen, da hierbei die Einzelcodierungen direkt am geladenen Text vorgenommen werden können. Bei den nun folgenden Prozessen des Kategorienbildens, welche „als Begriff oder Kurzsatz formuliert“ (Mayring 2003, 76) werden, erfolgt schrittweise für jede Codiereinheit entweder die Neubildung einer Kategorie oder eine Subsumtion unter eine schon entwickelte Kategorie152. Eine nach einer gewissen Datenmenge durchgeführte Reliabilitätsprüfung dient der formalen Richtigkeit der Kategorien, eine weitere, später durchgeführte der summativen Überprüfung. Es können nach Bedarf „Überkategorien“ (Mayring 2000, Abs. 12) gebildet werden, die nachfolgend auch als Hauptkategorien bezeichnet werden. Bei der hier durchgeführten Analyse ist das umfangreiche Datenmaterial in einem ersten Schritt auf eine allen Texten inhärente ‚Grundstruktur’ hin untersucht worden. Die im Rahmen der Erhebung sehr offen gehaltenen Fragen gaben im Interview Anstoß zu ausführlichen Schilderungen der Enkel, die fallübergreifend ein Grundraster erkennen ließen: Ein großer Teil der Erfahrungen ist primär bzw. tendenziell als positiv, bereichernd, angenehm, hilfreich, wertvoll, etc. geschildert worden, was in der Analyse den ersten großen Bereich der ‚positiven Erfahrungen’ ergeben hat. Weiterhin sind Erlebnisse als primär bzw. tendenziell belastend, anstrengend, unangenehm, schlecht empfunden worden, 151 Bei MAXqda wird die Codiereinheit auch ‚codiertes Segment’ oder ‚Coding’ genannt (vgl. MAXqda 2004a, 30). 152 Dem letztgenannten Schritt sind deduktive Anteile inhärent, wobei deutlich wird, „dass induktive und deduktive Kategorienbildung nicht grundverschieden sind“ (Kuckartz 1999, 202). Die entscheidende Differenz bei den beiden in dieser Analyse angewandten Methoden nach Mayring besteht darin, dass bei der deduktiven Kategorienanwendung das komplette Kategorienschema vorab theoriegeleitet gebildet und ‚fertig’ an das Datenmaterial herangetragen wird. Neubildungen von Kategorien sind nicht mehr vorgesehen (vgl. Mayring, 2003, 74; 2000, Abs. 13ff).
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was zu dem Bereich der ‚belastenden Erfahrungen’153 geführt hat. Darüber hinaus sind eine Vielzahl der Schilderungen von eher selbstverständlichem Charakter und offensichtlich wertfrei bilanziert worden. Sie gehören in den Bereich der lebensweltlichen Erfahrungen, die die Akteure nach Alfred Schütz „als fraglos erleben“ (Schütz/Luckmann 2003, 29), da deren Sachverhalte „uns bis auf weiteres unproblematisch“ (ebd.) erscheinen. In der hier vorliegenden Analyse werden sie ‚wertneutrale Erfahrungen’ genannt154. Innerhalb dieser sich bildenden Systematik konnte bei der Analyse zwischen der Schilderung episodischer Erfahrungen und situationsübergreifender, oft abschließender Gesamtaussagen unterschieden werden. So bildete sich einmal der große Bereich der ‚Gesamtbilanzierung’ mit seinen verschiedenen Wertungen, weiterhin gab es die Gruppe der spezifischen Erfahrungen, jeweils, wie oben ausgeführt, mit den Ausprägungen ‚positiv’, ‚belastend’ und ‚wertneutral’. Die in der Erhebungsmethodik des problemzentrierten Interviews nach Witzel genannten ‚Ad-hoc-Fragen’, mit denen nach der familialen Überforderung bzw. diesbezüglichen präventiven Strategien sowie der eigenen und der erwarteten Pflegebereitschaft gefragt wird, sind auch in der Auswertung als einzelne Themenkomplexe analysiert und dargestellt worden. Die im Rahmen der Darstellung grundsätzlich vorgenommene Unterscheidung in ‚belastend’ (oder ‚anstrengend, problematisch’, etc.) in Abgrenzung zu ‚überlastend/überfordernd’ bildet die von den Enkeln vorgenommenen Differenzierungen ab155. In allen Interviews existieren Themen mit offensichtlich hoher subjektiver Relevanz, die sich – bildlich gesprochen – wie ein ‚roter Faden’ durch das Interview ziehen. Weiterhin gibt es ‚Schlüsselpassagen’, die z. B. zentrale, handlungsbestimmende Erlebnisse oder besonders aussagekräftig die „natürliche Einstellung“ (Schütz/Luckmann 2003, 33) wiedergeben. Diese wurden zusätzlich mit einer Doppelcodierung versehen und in der Fallanalyse nach vorne gestellt. Aufgrund der bei der Auswertung – und auch bei der Erhebung – gemachten Erfahrungen sieht die Verfasserin die Einschätzung bestätigt, dass die hier angewandten Methoden dem Forschungsgegenstand angemessen sind. Bezogen auf die leitfadengestützte Erhebung mit der zugrunde liegenden Inten153 Interessant ist, dass das Datenmaterial keine Begriffsbildung in der Kombination von ‚gut/schlecht’ oder ‚positiv/negativ’ ermöglicht hat, da die als belastend geschilderten Vorkommnisse nicht zwingend mit einer Ablehnung dieser Erfahrungen verbunden waren bzw. nicht per se als schlecht sondern häufiger als ‚schwierig’ klassifiziert wurden. 154 Ein Überblick über das entwickelte Kategorien- bzw. Codesystem befindet sich im Anhang. 155 Hierauf wird in Kapitel 10.1.1.2 noch näher eingegangen.
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tion, sowohl positiven wie negativen Bewertungen Raum zu geben, ist beispielsweise der Fall von Frau Feld Methoden bezeichnend: Nachdem sie eine Fülle von Belastungen und Probleme geschildert hatte, brachte die offen gehaltene Frage, ob sie „so eine Art Bilanz“ (Interviewerin) ziehen könne, Raum für den einzigen positiven Aspekt im gesamten Interview: In diesem Fall war es der Erwerb sozialer Kompetenzen, die auch im Beruf für sie von Nutzen sind. Als Weiteres hat sich der methodologische Rahmen der Lebensweltorientierung als geeignet erwiesen, was z. B. exemplarisch anhand der Auswertung erläutert werden kann. Da die einzelnen Aussagen der Enkel oft vielfältige Bezüge transportieren, bedarf es auch bei einer Analyse, die ein großes Maß an kategorialen Möglichkeiten zulässt, vieler kleiner interpretativer Entscheidungen. Hierbei waren für die Verfasserin drei der bereits weiter vorne genannten von Alfred Schütz verfassten logischen Postulate richtungsweisend: „Das Postulat der logischen Konsistenz“ (Schütz [im Original: Schutz] 1971, 43), das Interpretationen fordert, die widerspruchsfrei und nach formaler Logik nachvollziehbar sind. Weiterhin „das Postulat der subjektiven Interpretation“ (ebd.), welches beinhaltet, dass Handlungen oder Ergebnisse von Handlungen in verständlicher Beziehung zum Sinn des Individuums stehen müssen. Die subjektive Bedeutung bzw. der subjektive Sinn einer Handlung sowie des Ergebnisses einer Handlung stehen bei der Analyse im Vordergrund. Als Letztes müssen Interpretationen das „Postulat der Adäquanz“ (ebd.) erfüllen, d. h. sie müssen angemessen und üblich sein. Bezieht man Letzteres auch auf die Erhebung, so müssen Begriffe im wissenschaftlichen Modell für den Akteur bzw. das soziale Umfeld mit dem gesunden Menschenverstand der alltäglichen Lebenswelt nachvollziehbar sein. (ebd. 44). Die drei genannten Postulate haben sich als geeignete Richtschnur, insbesondere auch bei den Reliabilitätsprüfungen, erwiesen. Um der in der Fachliteratur genannten Gefahr „einer selektiven Wahrnehmung und damit einer Selbstbestätigung“ (Lamnek 2005, 156) entgegenzuwirken, wurde nach der Entwicklung der fallübergreifenden inhaltlichen Strukturen und der ersten detaillierten Fallanalysen ein Peer Debriefing mit einer angehenden Ethnologin durchgeführt, die als inhaltlichen Zugang ein übliches Allgemeinwissen zu diesem Thema mitbrachte. Die ‚Fachkollegin’ wurde gebeten, anhand des Falles von Frau Müller relevante Themen und Einzelaspekte sowie grundsätzliche Eindrücke herauszuarbeiten. Bei der folgenden Besprechung stellte sich ein Konsens bezogen auf strukturelle Aspekte der Aussagen heraus. So wurden neben episodischen Erfahrungen ebenso Äußerungen als übergreifende Gesamtbewertungen erfasst, und drittens auch ein ‚roter Faden’ im Interview, das heißt eine sich durchziehende Thematik benannt. Weiterhin wurden einige von der Verfasserin entwickelte Haupt- und Sub219
kategorien mit – teilweise – identischen Bezeichnungen gebildet. Dieser nahezu vollständige Konsens wurde durch einen zusätzlichen Hinweis der Studentin ergänzt: Sie wies auf die ‚Agitiertheit’ der Erkrankten im vorliegenden Falle hin, was von der Verfasserin, anstelle des vorher gewählten Begriffes der ‚Aggressivität’, als passender übernommen wurde. Die Methode der ‚qualitativen Inhaltsanalyse’ nach Mayring und das Verfahren der computerunterstützten Auswertung mit MAXqda haben bei der induktiven Kategorienbildung – die dem explorativen Forschungsdesign angemessen ist – nach den Erfahrungen der Verfasserin nicht zu einer Minderung des (zeitlichen) Aufwandes einer qualitativen Analyse beigetragen. Bezogen auf die ‚qualitative Inhaltsanalyse’ nach Mayring, die allgemein als besonders gut für größere Datenmengen geeignet gilt, kann sich die Verfasserin der Kritik von Flick anschließen, wonach die Methode in der sorgfältigen, regelgeleiteten Umsetzung „ähnlich aufwendig wie andere Methoden“ (Flick 1998, 215) ist. Auch die computergestützte Vorgehensweise mit MAXqda ist im Rahmen der induktiven Kategorienbildung nicht als spürbar Zeit sparend einzustufen, denn die Codierungen müssen zunächst manuell durchgeführt werden. Die vielen einzelnen Zuordnungen, Gewichtungen und Abgrenzungen im Rahmen von Generalisierungen und Reduktion sind Gedankenleistungen der Forscherin und können durch ein Programm nur im Sinne der praktischen Handhabung unterstützt werden. Letztendlich müssen 15 Fälle mit einer Gesprächsdauer von 20 Stunden und ca. 540 Seiten Transkriptionstext Satz für Satz ‚manuell’ bearbeitet und ‚codiert’ werden. Die nachfolgende Tabelle zeigt die Anzahl der gewonnenen Kategorien und der Codings im Überblick156: Tabelle 20:
Anzahl der Codings und Kategorien bei der induktiven Kategorienentwicklung
Induktive Kategorienentwicklung in 15 Fällen x 2.075 Codings (= Codiereinheiten im Text) x 192 Subkategorien157 156 Zur multikategorialen Erfassung von Aussagen wurden Codiereinheiten teilweise mehreren Hauptkategorien zugeordnet. 157 Die Anzahl der Kategorien in vergleichbaren Studien ist ähnlich. Das zeigt z. B. exemplarisch eine Studie, deren Auswertung ebenfalls mit der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring in Kombination mit MAXqda erfolgte: Die Erhebung basierte primär auf 13 Interviews zwischen 45 und 90 Minuten Länge und führte zu 3.741 Codings und 187 Kategorien (vgl. Behrens et al. 2005)
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davon anteilige Subkategorien: x 24 positiv x 33 belastend x 27 wertneutral x 33 Gesamtbilanzierungen x 32 Überlastung und Belastungsprävention x 20 Pflegebereitschaft x 7 Zukunftsperspektiven x 16 Roter Faden Trotz des gebliebenen Aufwandes ist das explorative Vorgehen an sich gegenstandsangemessen und wird als solches von der Verfasserin nicht in Frage gestellt. 7.3.1.2
Fallübergreifende Analyse
Meta-Variablen Die drei zentralen Hauptkategorien ‚Gesamtbilanzierung’, ‚Überforderung’ und ‚Pflegebereitschaft’ sind als ‚Meta-Variablen’ im weiteren Analyseprozess in einzelne Ausprägungen strukturiert worden. Dies folgt der Typisierung im Sinne von Schütz und dient der Bildung von Subgruppen innerhalb der Gesamtgruppe der Enkel. Im Ergebnis beinhaltet die Meta-Variable ‚Gesamtbilanzierung’ die Ausprägungen ‚überwiegend positiv erlebt’, ‚überwiegend belastend erlebt’ und ‚gemischte Bewertung’. Die Meta-Variable ‚Überforderung’ kann mit den Ausprägungen ‚ja’, ‚nein’ und ‚teilweise’ differenziert werden. Unter die MetaVariable ‚Pflegebereitschaft’ werden die grundsätzliche ‚Sorgeleistung’, die ‚Sorgeleistung in Kombination mit häuslicher Pflege’ und die ‚Sorgeleistung in Kombination mit stationärer Pflege’ subsumiert. ‚Sorgeleistung in Kombination mit häuslicher Pflege’ kann differenziert werden in ‚Sorgeleistung mit einer anteiligen häuslichen Pflege’ oder ‚Sorgeleistung mit umfassender häuslicher Pflege’158.
158 Ein ‚Überblick über die Meta-Variablen’ befindet sich im Anhang.
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Kategorienbündel Ein weiterer Auswertungsschritt der Abstraktion und Reduktion entstand aus der Zusammenlegung der beiden Erfahrungsdimensionen ‚spezifische Erfahrungen’ und ‚Gesamtbilanzierung’ mit ihren Ausprägungen ‚positiv’, ‚belastend’‚ und ‚wertneutral’. Als Resultat liegen ‚thematische Kategorienbündel’ mit positiven Erfahrungen, belastenden Erfahrungen und wertneutralen Erfahrungen vor. Die bei der Einzelfallanalyse durchgeführten Doppelcodierungen sind hierbei infolge der Kategorienzusammenlegung mit MAXqda ‚automatisch wegfallen’, wodurch 89 Subkategorien zu 15 Kategorienbündel thematisch zusammengefasst worden sind. An dieser Stelle kann darauf hingewiesen werden, dass ein computerunterstütztes Vorgehen bei der fallübergreifenden Analyse eine signifikante Zeitersparnis bewirkt. Denn nach einer zeitlich umfangreichen Entwicklung eines differenzierten, einzelfallgerechten Kategoriensystems ist es – pointiert ausgedrückt – technisch ‚eine Sache von Sekunden’ Kategorien mit MAXqda zusammenzufügen, um fallübergreifend spezielle Muster und Regelmäßigkeiten überprüfen zu können. Allerdings gilt dieses nicht für die vor der technischen Umsetzung wiederum erst erforderliche theoretische Herleitung der einzelnen Schritte. 7.3.2
Deduktive Kategorienanwendung
Bei der deduktiven Kategorienanwendung handelt es sich um die Zuordnung von Textstellen zu vorher theoretisch hergeleiteten Auswertungsaspekten bzw. Kategorien (vgl. Mayring et al. 1996, 116). Diese Sekundäranalyse dient der Erfassung spezifischer Aspekte der familialen Generationenbeziehungen. Das Verfahren basiert auf dem vorab entwickelten „Kodierleitfaden“ (Mayring 2000, Abs. 15). Während die induktive Kategorienbildung im oben erläuterten Verfahren ihren Ausgangspunkt in den lebensweltlichen Schilderungen der Subjekte hat, setzt die deduktive Kategorienanwendung an den ‚Konstruktionen zweiter Ordnung’ an, die in Form von definierten Kategorien verwendet werden. In der hier durchgeführten Analyse sind jeweils generationen- und familienbezogen die Kategorien ‚Solidarität’, ‚Konflikt’, ‚Ambivalenzen’ und ‚Lernprozesse’ untersucht worden. Während die drei ersten Kategorien seit Beginn des Forschungsprozesses in Anlehnung an Lüscher und Liegles „Regelhaftigkeiten“ (2003, 7f) von Generationenbeziehungen für die weitere Auswertung vorgesehen waren, ist die vierte Kategorie ‚Lernprozesse’ aufgrund der Ergeb222
nisse der induktiven Datenanalyse hinzugefügt worden. Im ersten Teil des Forschungsprozesses wurde evident, dass die familialen Beziehungsmuster von hoher Relevanz sind, denn auch bezogen auf den erkrankten Großelternteil kann man die Pflegearbeit als Beziehungsarbeit beschreiben. So ist bei der induktiven Kategorienbildung die Trennung in Erfahrungen, die sich auf das Pflegegeschehen beziehen, und Erfahrungen, die intergenerationelle familiale Aspekte beinhalten, hinsichtlich des demenzkranken Menschen primär als methodische und weniger als lebensweltlich basierte Differenzierung zu sehen. Diese vier Aspekte von Generationenbeziehungen sind in Kapitel 2.4 ausführlich behandelt worden. Für die Definition der Kategorien zur Durchführung der deduktiven Kategorienanwendung sind diejenigen Merkmale herangezogen worden, die in der einschlägigen Fachliteratur als essenziell beschrieben werden und deren Relevanz für die Lebenswelten der Enkel in der hier vorliegenden Studie durch die induktive Analyse bestätigt worden sind. Im Codierleitfaden werden die Kategorien definiert, Codierregeln aufgestellt und an Ankerbeispielen deren Anwendung expliziert159. ‚Generationenbezogene familiale Solidarität’ basiert in der hier durchgeführten Analyse auf den Merkmalen ‚Zusammenhalt’ sowie ‚Bereitschaft zur oder erfolgte emotionale und/oder instrumentelle Unterstützung’, was sowohl intra- als auch intergenerationelle Beziehungen betreffen kann. ‚Zusammenhalt’ steht in der einschlägigen Literatur grundsätzlich für eine solidarische Haltung und kann mit „Familien sollen zusammenhalten“ (Kaufmann, zitiert in Schütze/Wagner 1995, 310) paraphrasiert werden. Neben der ‚praktizierten Hilfeleistung’, die ein „aktives Tun“ (Pohlmann 2005, 236) beinhaltet, wird auch die grundsätzliche Bereitschaft zur Hilfe als solidarische Haltung zwischen den Generationen (vgl. Lüscher/Liegle 2003, 292) in diese Analyse einbezogen. Als besonders relevant wird hier weiterhin die ‚emotionale Unterstützung’, d. h. die „mitmenschliche Verbundenheit und Empathie“ (Lüscher/Liegle2003, 266) gewertet, da es sich um intergenerationelle Solidarität auf der mikrosozialen Ebene der Familie handelt, welcher – im Unterschied zu Gesellschaftsgenerationen – direkte zwischenmenschliche Kontakte immanent sind. Wie im Abschnitt 2.4.1 dargestellt, wird ‚Solidarität’ in der einschlägigen Literatur heterogen definiert, wobei abhängig von der konzeptionellen Herleitung Merkmale normativer Übereinstimmung subsumiert sein können. Diese wurden bei der hier durchgeführten Analyse nicht berücksichtigt. Weiterhin handelt es sich bei
159 Der Codierleitfaden befindet sich im Anhang.
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den hier inkludierten Merkmalen ebenso wie in der bearbeiteten Literatur nicht um trennscharfe Charakteristika von ‚Solidarität’. Ein ‚generationenbezogener familialer Konflikt’ beinhaltet in der hier vorliegenden Analyse eine Auseinandersetzung zwischen zwei oder mehreren Generationen in der Familie im Zusammenhang mit der Pflegesituation. ‚Generationenbezogene familiale Ambivalenzen’ sind u. a. durch „Gedanken über Zwiespältigkeiten“ (ebd., 293) und „Empfindungen des Hin– und Hergerissenseins“ (ebd., 294) charakterisiert. Sie liegen vor, wenn „gleichzeitige Gegensätze des Fühlens, Denkens, Wollens, Handelns und der Beziehungsgestaltung, die für die Konstitution individueller und kollektiver Identitäten relevant sind, zeitweise oder dauernd als unauflösbar interpretiert werden.“ (Lüscher/Liegle 2003, 288).
Von ‚generationenbezogenen familialen Lernprozessen’ wird bei denjenigen Formen des Lernens ausgegangen, die im Zusammenhang mit dem Lebensalter bzw. einer Generationenzugehörigkeit stehen und denen somit „Altersdifferenz oder Altersgleichheit“ (ebd., 171) inhärent ist. Bei dieser Analyse sind auch Doppelcodierungen, z. B. beim simultanen Vorliegen der Subkategorien ‚Konflikt Enkel/Eltern’ und ‚Eltern als Wissensverweigerer’, erfolgt. In der nachfolgenden Abbildung werden Angaben zur Anzahl der Codings und Subkategorien genannt. Tabelle 21:
Anzahl der Codings und Kategorien bei der deduktiven Kategorienanwendung160
Deduktive Kategorienanwendung in 15 Fällen x 1.277 Codings (= Codiereinheiten im Text) x 34 Subkategorien davon anteilige Subkategorien: x 10 Solidarität x 5 Konflikt x 8 Ambivalenzen x 11 Lernprozesse
160 Ein Überblick über das ‚Kategoriensystem der deduktiven Kategorienanwendung’ befindet sich im Anhang.
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Abschließend kann darauf hingewiesen werden, dass bei der deduktiven Kategorienanwendung ein computerunterstütztes Vorgehen aufgrund der technischen Möglichkeiten eine deutliche Zeitersparnis bewirkt.
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Teil C Ergebnisse 8
Die Interviewteilnehmenden und ihre Pflegesettings
Wie bereits beschrieben, sind siebzehn in Frage kommende Enkel, zwölf weibliche und fünf männliche, durch die Bekanntmachungen gewonnen und interviewt worden. Im Laufe des Forschungsprozesses wurde deutlich, dass fünfzehn dieser Fälle das Erfahrungsspektrum der beteiligten Enkel qualitativ, d. h. in seiner Breite, abzubilden scheinen. Die Gruppe dieser fünfzehn Enkel, ihre an Demenz erkrankten Großelternteile und die zur Pflegesituation gehörenden Hauptpflegepersonen haben folgende Charakteristika: Die fünfzehn Enkel Die Gruppe der Enkel besteht aus 15 Personen mit 11 Frauen und 4 Männern. Die Alterspanne umfasst zum Zeitpunkt des Interviews 16 bis 35 Jahre, wobei 10 Teilnehmerinnen und -teilnehmer zwischen 21 und 29 Jahre alt sind, 2 Personen unter 20 Jahre und 3 Personen über 30 Jahre alt sind. Die Dauer des erlebten Pflegesettings variiert von 1 ¼ (Jahre) bis 14 Jahre, wobei im erstgenanten Fall für sechs Monate eine 24-Stunden-Pflege vonseiten der Enkelin als Hauptpflegeperson durchgeführt wurde. Im Zeitraum von insgesamt vierzehn Jahren erlebte eine Enkelin erst die acht Jahre dauernde Pflege ihres demenzkranken Großvaters und wenige Jahre danach die häusliche Versorgung ihrer demenzkranken Großmutter, die zuvor die Hauptpflegeperson ihres Ehemannes gewesen war. In diesem Fall war demnach ein Großelternpaar erkrankt. Für sieben Enkel lag der Zeitpunkt des Beginns der häuslichen Pflege in ihrer Kindheit, sie waren zehn bis 13 Jahre alt. Ihr Alter zum Ende des Pflegesettings betrug zwischen 15 und 22 Jahren. In vier Fällen waren die Enkel am 227
Anfang der häuslichen Pflege Jugendliche im Alter von 15 bis 17 Jahren, und zwischen 21 bis 34161 Jahren bei Beendigung der Unterstützungssituation. Für vier Enkel begann der Zeitraum der Pflege als Erwachsene im Alter von 18 bis 27 Jahren und endete zwischen dem 27. und 34. Lebensjahr. Die räumliche Nähe zum Pflegehaushalt äußerte sich in sechs Fällen in Form der Koresidenz der Enkel und ihrer Eltern mit dem erkrankten Großelternteil, d. h. im Vorliegen einer Mehrgenerationenfamilie innerhalb eines Haushaltes oder eines Hauses bzw. Hofes. In vier Fällen erfolgte der Hilfetransfer des Enkels ebenfalls anfangs in der Wohnform der Koresidenz, wurde aber infolge des Auszugs aus dem Elternhaus multilokal weitergeführt. Die rein multilokale Unterstützung lag bei fünf Interviewten vor, wobei davon in drei Fällen die Enkel zwar im elterlichen Haushalt lebten, die Eltern selber allerdings aus räumlicher Distanz, und zwar zwei Mal innerhalb desselben Ortes und einmal mit 40 Kilometer Distanz, agierten. Weitere zwei Fälle sind Settings mit Hilfeleistungen schon aus dem Elternhaus ausgezogener Enkel. Als Bildungshintergrund haben zehn Interviewte den Status ‚Student’ oder einen akademischen Abschluss, und weitere fünf Personen eine berufliche Ausbildung. Direkten Fachbezug aufgrund einer pflegerischen Ausbildung oder beruflichen Erfahrung im gerontopsychiatrischen Bereich können drei der fünfzehn Teilnehmenden aufweisen. Der Grund für die Beendigung des Pflegesettings war bei zehn Enkeln das Versterben des erkrankten Menschen, in zwei Fällen der Auszug aus dem elterlichen Haus und einmal der Umzug ins Altenheim. Bei zwei Enkeln ist die Pflegesituation noch nicht beendet. In diesen beiden Fällen besteht bei den Enkeln demnach kein zeitlicher, sondern nur räumlicher Abstand zur Pflegesituation. Bei weiteren elf Enkeln beträgt der zeitliche Abstand von einem Monat bis zu fünf Jahre, wobei hiervon sieben Teilnehmer einen Abstand bis zu zwei Jahren vom erlebten Pflegesetting haben. Bei den restlichen zwei Enkeln liegen 12 und 18 Jahre zwischen dem Interview und der Zeit der Pflege. Von den fünfzehn Enkeln waren zum Zeitpunkt der Erhebung neun Enkel partnerschaftlich ungebunden, die weiteren sechs befanden sich in einer Partnerschaft.
161 Der letztgenannte Fall betrifft Frau Wessels mit zwei demenziell erkrankten Großelternteilen.
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Die sechzehn demenziell erkrankten Großeltern Zu den 15 erlebten Pflegesettings gehören 16 an Demenz erkrankte Großelternteile, da in einem Fall erst der Großvater und einige Jahre später seine Ehefrau (und vormalige Hauptpflegeperson) erkrankte. Die Gruppe der weiteren 14 erkrankten Großelternteile besteht aus drei Großvätern und elf Großmüttern, wobei zum Kreis der letztgenannten auch zwei Großtanten gehören. Diese sind als ‚Nenngroßmütter’ keine leiblichen Großeltern gewesen, haben jedoch ‚familienhistorisch’ bedingt den Status der Großmutter inne gehabt. In diesen 14 Pflegesettings haben sechs Erkrankte einen Ehepartner, der in drei Fällen als Hauptpflegeperson fungiert. Das Alter der erkrankten Großeltern lag zu Beginn der Pflegesituation zwischen 68 und 91 Jahren. Zum Ende des von den Enkeln miterlebten Pflegesettings sind die demenziell Erkrankten zwischen 74 und 92 Jahren als gewesen. Die Jahrgänge dieser 16 Personen liegen zwischen 1907 bis 1927. Nach einer Zuordnung von Rosenmayr, der die Geburtsjahrgänge in historische Generationen einteilt, handelt es sich hierbei um drei verschiedene Generationen, und zwar um „Alte“ (Rosenmayr, zitiert in: Karl 2005a, 67f), „Hochbetagte“ (ebd.) und „Kriegsgeneration“(ebd.). Eine mögliche historische Dimension intergenerationeller Beziehungen im Pflegegeschehen ist in der hier präsentierten Studie im ergänzenden Kurzfragebogen abgefragt, jedoch von den Enkeln als Thema nahezu nicht aufgegriffen worden. Auch in den Interviews kommen auf den Zweiten Weltkrieg bezogene Aspekte nur vereinzelt vor. Die siebzehn Hauptpflegepersonen Als Hauptpflegeperson werden im Kurzfragebogen diejenigen bezeichnet, die „sich hauptverantwortlich und zeitlich am meisten eingebunden um den Kranken gekümmert“ haben. Von den 15 Enkeln wurden 17 Hauptpflegepersonen angegeben, da in dem oben bereits erwähnten Pflegesetting mit einem nacheinander erkrankten Großelternpaar erst die vormals noch gesunde Großmutter und später, nach deren eigener Erkrankung, die Mutter der Interviewten die Hauptpflegeperson gewesen war. In einem weiteren Fall hatte die 26-jährige Enkelin nach dem Rückzug ins Elternhaus für ½ Jahr die Rolle der Hauptpflegeperson inne. Danach übernahm ihr Vater wieder die Hauptverantwortung. Die 17 Hauptpflegepersonen in diesen Pflegesettings haben innerhalb der familialen Generationen drei Zugehörigkeiten: Die größte Anzahl gehört zur Elterngeneration, was zehn Mütter und zwei Väter betrifft. Deren Alter beträgt zu Beginn des von den Enkeln miterlebten Pflegesettings zwischen 36 und 56 229
Jahren und zum Ende dieser Pflegesituationen zwischen 44 und 62 Jahren. Sie entstammen den Jahrgängen 1934 bis 1954, was nach Rosenmayr ebenfalls drei historischen Generationen zuzuordnen ist: „Jungalte und Senioren“ (Rosenmayr, zitiert in: Karl 2005a, 67f), „68er Generation und Neue Alte“ (ebd.) sowie “Kinder der Kriegsgeneration“ (ebd.). Zur Gruppe der Großelterngeneration gehören drei Großmütter und ein Großvater, deren Alter zwischen 67 und 72 Jahren zu Beginn und zwischen 72 und 80 Jahren am Ende der vom Enkel miterlebten Pflege beträgt. Die Älteste von ihnen hat ihren demenzkranken Mann acht Jahre lang, bis sie selber 80 Jahre alt war, gepflegt. Auch ein Mitglied der Enkelgeneration hat im Alter von 26 Jahren diesen Status innegehabt. Familiale und gesellschaftliche Generationen Ein Mitglied einer familialen Generation ist immer simultan ein Mitglied einer gesellschaftlichen Generation, so dass von Interdependenzen zwischen beiden Statuspositionen auszugehen ist. Da es im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich ist, die zeitgeschichtlichen Begebenheiten als mögliche Einflussfaktoren zu berücksichtigen, wird exemplarisch die Relevanz historischer Kontexte auf familiale Geschehnisse bezogen auf das spezielle Thema der ‚Kriegsgeneration’ verdeutlicht. Radebold stellt fest, dass u. a. angesichts der Tatsache, dass fast ein Drittel aller Erwachsenen in der BRD über 60 Jahre alt sind, davon auszugehen ist, dass bei dieser hohen Anzahl von Älteren Erfahrungen von Gewalt, Vertreibung, Mangelsituationen, Verlusterlebnissen etc. im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg in unterschiedlichsten Ausprägungen vorliegen. Die Auswirkungen können nicht nur bei den damals betroffenen Erwachsenen als der ersten Generation, sondern auch häufig bei den nachfolgenden Generationen wahrgenommen werden (vgl. Radebold 2005). In der hier vorliegenden Studie ist die „zweite Generation“ (Radebold 2005, 197), d. h. die Über-60-Jährigen162, sowohl bei den Erkrankten als auch bei deren Kindern vertreten. Einer „dritte[n] Generation“ (ebd.), der Gruppe der 30- bis 59-Jährigen, können sowohl die pflegenden Kindern bzw. gleichzeitig die Eltern der Enkel als auch die interviewten Enkeln zugeordnet werden (vgl. Radebold 2005, 197). Das bedeutet, dass im Rahmen intergenerationeller Kommunikationsprozesse, wie sie mit Bezug auf Rosenthal (2000) in Abschnitt 2.2.3 erwähnt werden, dieses Thema je nach biografischem Stellenwert die familiale Alltagskultur erheblich 162 Radebolds Bildung von Altersgruppen basiert auf dem Stichtag 31.12.2002.
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prägen kann. Die dieser Arbeit inhärente Methodologie ermöglichte den Enkeln auch eine diesbezügliche Relevanzsetzung. Allerdings wiederholte sich der hohe Stellenwert von Kriegserfahrungen innerhalb der familialen Pflegesituation, so wie sie in einem Pretest evident war163, in den nachfolgenden Fällen nicht.
163 Wie in Kapitel 7.2.3 beschrieben wurde, hatten die verbalen Äußerungen und das Verhalten einer Großmutter starke Bezüge zu ihren früheren Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg.
231
9
Auswertung der Einzelfälle
Nachfolgend werden die Einzelfallanalysen zusammengefasst dargestellt, wobei zur Wahrung der Anonymität die Namen und nachvollziehbaren regionalen Bezüge verändert sowie spezifische Merkmalskombinationen verallgemeinert wurden164. Die Fälle von Herrn Ottfried, Frau Müller und Frau Feld werden im folgenden Kapitel exemplarisch in einer ausführlicheren Analyseversion expliziert. Sie geben beispielhaft ein als positiv, ein als ‚gemischt’ bewertetes und ein belastungsgeprägt bilanziertes Pflegesetting wieder165. Die Zitate sind aus Gründen der besseren Lesbarkeit, z. B. durch Auslassen von reinen Füllwörtern wie ‚äh’ geringfügig verändert worden. Die Belegstellen der ausgewählten Zitate werden in Klammern angegeben und nennen numerisch den Absatz im Transkript des konkreten Falls. Die in den ersten drei Unterpunkten genannten Ergebnisse der Fallanalyse, die ‚Erfahrungen und Bilanzierungen’, die ‚Äußerungen zu Überforderung und Belastungsprävention’ und die ‚Angaben zur Pflegebereitschaft’ sind Ergebnisse der induktiven Kategorienbildung, im vierten Unterpunkt werden mit den ‚ausgewählten Aspekten familialer Generationenbeziehungen’ die Ergebnisse der deduktiven Kategorienanwendung expliziert. Diese Fallanalysen enthalten auf einer deskriptiven Ebene eine gegenstandsnahe Schilderung der Lebenswelten der Enkel166.
164 Darüber hinaus sind im Anhang zu allen Fällen Übersichten mit den jeweiligen MetaVariablen und Hauptkategorien zu finden. 165 Weitere Fallanalysen in der Langfassung finden Sie als OnlinePLUS unter http://www.vsverlag.de. 166 Eine Darstellung des Kategoriensystems der induktiven Kategorienbildung befindet sich im Anhang.
232
9.1
Ausführliche Fallanalyse: Michael Ottfried
9.1.1
Fallbeschreibung und Verlauf der Erhebung
Michael Ottfried ist zum Zeitpunkt der Erhebung 33 Jahre alt. Im Alter von 18 bis 32 Jahren hat er in seinem Elternhaus die Pflege seiner demenzkranken Großtante, mit der die Familie eng verbunden war, erlebt. Die ersten sechs Jahre dieses langen Zeitraumes von 14 Jahren wohnte er noch selber im Elternhaus, die restlichen acht Jahre lag sein Wohnsitz 25 km von dem Ort der Pflege entfernt. Zum Familienhaushalt gehörten neben der erkrankten Großtante und seinen Eltern zeitweise auch drei ältere Geschwister. Es bestand ein umfassender Hilfebedarf, der hauswirtschaftlich-organisatorische, pflegerische und betreuerische Aufgaben beinhaltet. Seine eigenen Hilfeleistungen erfolgten in allen Bereichen, auch nach seinem Umzug noch ca. ein bis zwei Mal pro Woche. Das Umfeld des Pflegesettings ist eine ländliche kleine Gemeinde. Seine Mutter, die Hauptpflegeperson, erhielt Unterstützung neben Herrn Ottfried von ihrem Ehemann, weiteren Familienangehörigen und professionellen Diensten. Die Pflegesituation endete, da die Großtante verstarb. Herr Ottfried hat erst eine kaufmännische, später eine Ausbildung als Krankenpfleger absolviert und studiert zurzeit im Studiengang Pflegemanagement. Er lebt in der Stadt, in der er studiert. Von der vorliegenden Studie hat er im Rahmen seines Studiums erfahren. Außer seiner eigenen Teilnahme interessierten ihn grundsätzlich die Methodologie sowie die Ergebnisse. Das spätere Interview fand auf seinen Wunsch im Haus der Autorin statt und verlief ohne Unterbrechungen. Als die Verfasserin im Rahmen einer Veranstaltungsreihe ihrer Heimatgemeinde einen öffentlichen Workshop zum Thema „Generationenübergreifende Pflege“ anbot, kam Herr Ottfried als Teilnehmer und beteiligte sich an der Diskussion über die praktische Umsetzung intergenerationeller Aspekte und der zukünftigen Entwicklung der Profession Pflege.
233
9.1.2 9.1.2.1
Fallanalyse Erfahrungen und Bilanzierungen
Roter Faden im Interview und Schlüsselaussagen167 Zwei Themen mit hoher Relevanz ziehen sich durch das Interview mit Herrn Ottfried: Die familiale Leistungsfähigkeit bei der Versorgung der demenzkranken Großtante, welche den Status einer Großmutter hatte und „Oma“ (41) genannt wurde, sowie sein persönlicher Beitrag dabei, der vor dem Hintergrund seines professionellen Fachbezuges eingebracht wurde. Er beschreibt dies in einem ländlichen Umfeld mit „familiären Strukturen“ (16). Herr Ottfried hat das vierzehnjährige Pflegesetting nicht nur aus der Enkelperspektive, sondern erst als Zivildienstleistender, dann als Krankenpfleger und später als Pflegemanagement-Student auch aus der Sichtweise eines Professionellen erlebt: „Ich seh’ das natürlich auch aus der beruflichen Perspektive. Man kann das schon teilweise dann […] auch trennen, das Familiäre mit dem Beruflichen und dem Pflegerischen“ (153). Die positive Bewertung seiner eigenen damaligen Situation hängt eng mit der Einschätzung der erbrachten familialen Leistung zusammen, die äußerst positiv ausfällt: „Oma hatte ‘nen schönen Lebensabend. Also sie wurde schon […] fast ideal betreut bis zum Tode“ (148). Somit kommt er zu dem Schluss: „Man hat was Gutes geleistet“ (151). Die Rückmeldungen von professionellen Akteuren, z. B. von Ärzten und von Pflegekräften, bestätigen Herrn Ottfried eine hohe Qualität bei der von seiner Familie geleisteten Versorgung (130). Gesamtbilanzierung Bei Herrn Ottfrieds Einschätzung der erlebten Pflegesituation dominieren familiale und intergenerationelle Aspekte. Wie schon erwähnt, bringt er seinen fachlichen Hintergrund in die Familie ein: „Ich konnt’ es vielleicht eher verstehen und eher erklären und ich glaub, das hat gerade meiner Mutter sehr geholfen“ (80). Durch seine Sichtweise werden die pflegerischen und organisa167 Ein Überblick über die Hauptkategorie „Roter Faden im Interview und Schlüsselaussagen“ befindet sich im Anhang.
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torischen Aufgaben der Hauptpflegeperson aufgewertet: „Aber als ich ihr dann erklärt hab, […] was sie denn da auch für ne große Aufgabe leistet, konnte sie das auch mit einem ganz andern Selbstverständnis tun“ (82). Insgesamt werden sowohl Herr Ottfried als auch seine Mutter in der Familie als kompetent wahrgenommen und als Entscheidungsträger akzeptiert, „Da ham wir meine Mutter und mich mehr oder weniger selber so entscheiden lassen. Was gut war, weil wir ja den besten Bezug zu ihr hatten“ (70). Dies wirkt sich auf die familialen Beziehungen aus: „Was auch so die Beziehung zu meiner Mutter total intensiviert hat. Also es war ein sehr verbindendes Element dadurch. Ne, man hat sich sehr viel ausgetauscht und so“ (80). Auch im gesamten familialen Gefüge hat sich seine Stellung verbessert: „Also die ham auch gesehen: Ja, der, der Michael ist jetzt nicht mehr der kleine Junior da, und der kann uns sondern jetzt auch helfen und, und beraten und so unterstützen. Also diese Gleichwertigkeit in der Familie ist viel größer geworden. […]Also es ist ne gute Balance geworden, ja. Und auch gegenüber meinen Geschwistern“ (100).
Die Sichtweise von ‚Familie’ hat sich im Laufe der Jahre verändert, denn „der familiäre Aspekt ist immer mehr herausgetreten. Also, ich wurde auch in dem ganzen Zeitraum älter und hab das halt viel bewusster wahrgenommen, wie wertvoll die Familie ist“ (100). Positiv sieht er in einer Gesamtbewertung die Hilfe und Pflege, die seine Großtante erhalten hat (130; 148), und zwar von seiner Mutter, der er damals sagte „Im Prinzip bis Du ein Casemanager“ (82) und von ihm (68). Das wirkte sich positiv auf seinen Beruf aus (155-159) und bringt bis heute die oben schon genannte positive Rückmeldung aus dem sozialen Umfeld (151). Belastende Aspekte kommen im Interview bei einer Gesamtbetrachtung nahezu nicht vor, hier wird nur die zeitliche Verpflichtung (148), bezogen auf die Gesamtdauer der Versorgungssituation, genannt: „Natürlich hätten wir uns gewünscht, dass es alles nicht so lange gedauert hätte.“ (104). Einzelne situativ belastende Aspekte, auf die weiter unten noch eingegangen wird, werden relativiert: „In den Momenten merkt man das vielleicht gar nicht und sagt ‘Oh Gott, ist das belastend oder anstrengend’, aber so im Nachklang, mit ‘ner gewissen Zeit dahinter und Abstand, sieht man eh alles n bisschen relativierter“ (104). Die Gesamtversorgung, die „ja ‘nen großen Stellenwert hatte und viel Raum und Zeit eingenommen hat“ (148) war jedoch nicht „negativ“ (148), sondern: „Das war einfach so“(148). Insgesamt sind professionelle Pflegedienste keine Hilfe, da zu viele wechselnde Personen zu unterschiedlichen Zeiten gekommen sind: „Bei dem Krankheitsbild war einfach auch viel auf Kontinuität und auf Regelmäßigkeit so zu 235
achten und das funktionierte einfach nicht. Wir ham das ’ne Zeit lang versucht, aber ja, dann ging’s halt nicht, dann ham wir’s halt selber übernommen.“ (47). Spezifische Erfahrungen Wesentliche positive Erfahrungen sind für Herrn Ottfried mit der Anerkennung, die die Familie bzw. er selber für die Pflege- und Versorgungsarbeit erfahren hat, verbunden. Positiv sieht er auch, dass seine Hilfestellung auch vor dem Hintergrund einer räumlichen Trennung von der Elterngeneration weiter erfolgt ist (18). Die Kindheitserfahrungen mit der Großtante waren ebenfalls angenehm, denn Herr Ottfried erlebte sie als „eine ganz freundliche Person; immer sehr uns Kindern wohl gesonnen“ (31). Durch diese früher erfahrene Unterstützung von seiner Großtante hat die spätere Versorgung auch den Charakter des Ausgleichs. Zu den als hilfreich empfundenen professionellen Angeboten gehörten Ärzte (64), die seelsorgerische Betreuung (88; 94) und eine der erlebten stationären Einrichtungen im Rahmen einer Kurzzeitpflege (53). Der größte Teil der wertneutralen bzw. als ‚fraglos-gegeben’ geschilderten Erfahrungen liegt im Bereich der Betreuung. Die Anfänge waren verbunden mit sukzessiver Hilfeübernahme, begonnen mit der Kontrolle der Tabletteneinnahme (14). Hier bemerkt Herr Ottfried im Nachhinein einen ersten Verlust an „Autonomie“ (14) für die Kranke. Auch die zunehmenden Desorientierungen verbunden mit „Weglauftendenzen“ (35) der Großtante sind bei ihm eher selbstverständlicher Teil der Krankengeschichte. Die generelle zeitliche Verpflichtung wird genannt, aber in manchen Passagen des Interviews nicht problematisiert: „Der Tag fing dann morgens schon mit der Betreuung und Pflege von Oma an, klar. Ja und die eigene Freizeit wurde dadurch so ein bisschen vorgegeben: ‘Ich muss dann halt bei Oma sein’. Das war schon reglementiert“ (110). Als spezifisch problematische Erfahrungen dominieren solche, die mit der zeitlichen Belastung bedingt durch die Versorgungssituation in Verbindung stehen: Zum einen ist dies die langjährige Gesamtdauer des Pflegesettings, die die Elterngeneration belastete: „Es ging ja über fast fünfzehn Jahre, das war so ein Prozess der Intensitätssteigerung. […] Meine Eltern war’n eigentlich der Meinung: ‘Ja, jetzt sind die Kinder groß und aus dem Haus, und jetzt können wir mal so langsam an Ruhestand und an Pension und Rente denken und vielleicht reisen und unser’n Hobbys nachgehen’. Aber dann war da halt noch Oma“ (41).
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Auch die täglichen Verpflichtungen im Kontext vorgegebener Pflegeausgaben führten zu zeitlichen und organisatorischen Einschränkungen mehrerer Familienmitglieder: „’Sieben Uhr, ich muss gleich nach Hause’, man hatte immer so die Uhr im Kopf“ (70). Bei der täglichen Versorgung erwies sich vor allem die Abendzeit als problematisch: „Abends wollte man natürlich gerne weg und dann war […] Fertigmachen zur Nacht, […] umziehen und ins Bett bringen“ (72). Wie schon erwähnt, waren auch die Erfahrungen mit dem ambulanten Pflegedienst unbefriedigend (47). 9.1.2.2
Äußerungen zu Überforderung und Belastungsprävention
Überforderung Überfordert hat sich Herr Ottfried im Pflegesetting grundsätzlich nicht gefühlt: „Ich persönlich eher nicht, aber es gibt eine Situation, wo es irgendwie nicht schön war“ (124). Hiermit ist ein problematisches Weihnachtsfest gemeint: „Wo wir dann echt gemerkt haben, sie bringt unsere ganzen Vorstellungen durcheinander mit ihrer Erkrankung und ihren Symptomen, und da konnten wir dann auch nicht in den Gottesdienst gehen, abends in die Christmette.“ (124). Bis auf diese Einschränkung einer ‚nicht schönen’ Situation haben seine Erfahrungen, auch einzelne belastende, keinen überfordernden Charakter. Eine mögliche Überforderung bei anderen pflegenden Angehörigen kann er sich durch eine Berufstätigkeit und der damit verbundenen Vereinbarkeitsproblematik vorstellen, weiterhin durch räumliche Enge, z. B. in einer „Dreizimmerwohnung im Hochhaus“ (132), und durch fehlendes fachliches Hintergrundwissen und fehlende soziale Unterstützung (132). Belastungsprävention Konkrete Entlastung erfuhr die Familie durch verschiedene, als sehr bereichernd erlebte, professionelle Hilfen, wie oben unter den positiven Erfahrungen aufgeführt: Unterstützung erfuhr die Familie durch den Hausarzt, der über den medizinischen Bereich hinaus auch Gesprächspartner für die Hauptpflegeperson war: „Ich glaub, der hat immer nur den Blutdruck gemessen und geguckt, wie’s ihr geht. Ja, mehr war da wirklich nicht zu machen, und meine Mutter hat die Gelegenheit einfach häufig genutzt, um, um sich so frei zureden“ (64). Weitere Entlastung brachte die seelsorgerische Betreuung: „Vierwöchentlich kam der 237
Kaplan und brachte die Krankenkommunion und kam dann auch eigentlich mehr oder weniger für meine Mutter wieder zum Austausch, zum drüber Reden, das war sehr gut“ (88). Auch eine Erfahrung mit der stationären Altenhilfe hatte entlastenden Charakter, allerdings bezieht sich das auf ein spezielles Altenheim, in dem sich die Kranke, wie oben schon zitiert, zum ersten Mal in einer „Einrichtung“ (53) wohl gefühlt hat. Grundsätzlich entlastend für die Hauptpflegeperson war die prinzipielle familiale Unterstützung, z. B. durch Herrn Ottfried, der, wie schon beschrieben, sein Fachwissen einbrachte (68; 80; 100). Darüber hinaus war die ganze Familie eingebunden: „Meine Eltern sind auch sehr auf Reisen und auf Freizeit angelegt, ham dann immer versucht, uns einzubinden, wenn sie irgendwie Wochenendtouren gemacht hatten oder vom Freundeskreis aus unterwegs waren“(58). Eine weitere entlastende Rahmenbedingung war das soziale Umfeld, ganz konkret äußerte sich das beim ‘Wiederbringen’ der desorientierten außerhäuslich aktiven Kranken (35) und durch die Unterstützung einer Nachbarin: „Wir hatten eine sehr enge Bezugsperson in der Nachbarschaft, die meine Mutter dann auch sehr entlastet hat, das war schon ideal“ (58). Als präventive Strategien wurde damals zeitweise eine stationäre Unterbringung in Erwägung gezogen, aber aufgrund der oben genannten problematischen Erfahrungen wieder verworfen (128). Auch zusätzliche Medikamentengaben wurden diskutiert, kamen aber letztendlich nicht in Betracht (128). 9.1.2.3
Angaben zur Pflegebereitschaft
Eigene Pflegebereitschaft Prinzipiell ist eine eigene Pflegebereitschaft vorhanden. Die Bereitschaft zur Übernahme von Pflegeaufgaben bezogen auf die eigenen Eltern ist für Herrn Ottfried außerdem nichts rein Hypothetisches, denn diesen Bedarf hat er schon erfahren: „Meine Mutter hatte schon mal Phasen, wo sie auch körperliche Hilfe brauchte und das war kein Problem, vor dem Hintergrund der Erfahrung mit meiner Oma erst recht kein Problem auf meiner Seite. Ich weiß nicht, wie das auf der Seite meiner Eltern ist“ (163). Hier kommt möglicherweise auch ein geschlechtsspezifischer Aspekt hinzu: „Ob die das so gut haben können, wenn dann der Sohn körperlich Unterstützung geben muss, weiß ich nicht. Aber das käm’ dann drauf an. Also von mir aus wär’ das kein Problem“ (165). Über dieses Thema wird in der Familie auch geredet: „Die sind zwar auch erst Anfang, Mitte sechzig, aber trotzdem ist das schon wohl mal ‘n Thema“ (167). Generell haben seine Eltern baulich vorgesorgt, sowohl barrierefrei für 238
ihr eigenes Alter als auch mit räumlichen Reserven für eine weitere Familie (165). Pflegebereitschaft Anderer Über seine Erwartungen an Andere im Falle eigener Pflegebedürftigkeit hat Herr Ottfried noch nicht nachgedacht: „Ich möcht’ mich eigentlich nicht so gern damit auseinandersetzen“ (171). Prinzipiell, da er „sehr familiär geprägt ist“ (179), würde er eine familiale Pflege befürworten (179). Es käme allerdings auch auf die dann vorhandenen Angebote an: „Ich weiß nicht, was es dann für Betreuungsformen und -möglichkeiten gibt. Ich hoffe, da entwickelt sich ja auch noch viel“ (179). Ein traditionelles Altenheim z. B. wäre für ihn keine Alternative, eher eine „Hausgemeinschaft, oder Senioren-WG, wo man sich gegenseitig mit seinen Möglichkeiten so unterstützt, der eine macht dies, der andre macht das und man holt sich dann die Dienstleister rein“ (187). Hierzu wünscht er sich Angebote mit „bedarfgerechter Patienten-, oder Bewohnerorientiertheit, ...wo so ’n bisschen individueller geguckt wird“ (195). Pflichtpflege Eine Verpflichtung für Angehörige zu pflegen, lehnt Herr Ottfried ab: „Nee, halt ich nichts von“ (201). Für ihn ist es auch eine Frage der Motivation, wie sich Angehörigenpflege gestaltet: „Alles, was mit Pflicht zu tun hat, find’ ich eher schlecht. Dann gibt’s wieder Möglichkeiten ‚Dann kauf’ ich mich frei oder organisier mir jemanden’. Wenn das alles zu ‘ner Verpflichtung wird, dann ist das ja auch extern motiviert. […] Ich glaub das ist nicht unbedingt gut für die Beziehung untereinander, wenn ich muss. Wenn ich’s freiwillig mach’, dann ist es, glaub’ ich, eher sinnvoll“ (203).
Die Organisation so einer Regelung hält er für problematisch, da es beispielsweise Familien gibt, in denen die Pflege „aus irgendwelchen Gründen nicht leistbar ist“ (201). Möglicherweise fehlt es auch an Pflegebedürftigen: „Stellen Sie sich vor, ich muss jetzt zwei Jahre pflegen, aber ich hab’ gar keinen zu pflegen in meiner Familie“ (205). Außerdem müsste man für eine Pflichtpflege „definieren, wo ist das noch Pflege, oder wo ist das Betreuung?“ (205).
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Abschließende Wünsche168 Der Enkel würde sich für die Zukunft wünschen, dass „Altern und Pflege“ (207) verstärkt öffentlich diskutiert werden. Dabei sollten vor allem auch positive Aspekte herausgestellt werden, beispielsweise dass „es einfach auch schön sein kann, dadurch Beziehungen aufzubauen, familiäre Situationen zu pflegen“ (207). Letztendlich geht es für ihn beim Thema ‘Pflege’ auch um grundsätzliche „christliche Werte“ (207). 9.1.2.4
Ausgewählte Aspekte familialer Generationenbeziehungen
Solidarität Das deutlich vorherrschende Muster in den familialen Generationenbeziehungen ist das der Solidarität. Dabei steht die gemeinsam von der Enkel- und der Elterngeneration ausgehende praktizierte Unterstützung an die Großtante im Vordergrund. Hierbei wurde selbstverständlich und über 14 Jahre sukzessiv zunehmend Hilfeleistung gewährt, beginnend mit räumlichen Veränderungen: „Nach dem Tod ihres Mannes hatten wir dann das Haus so ein ’n bisschen altersgerecht für sie umgebaut, […] schon mit Wohnzimmer, Küche, eigenem Bad und Schlafzimmer. Alles auf ebener Erde, keine Stufen. So dass sie sich in ihrem Bereich halt wohl fühlen konnte“ (39). Spezifisch für die hier vorliegende Form der Solidarität ist auch die größtmögliche Übernahme pflegerischer Maßnahmen (im Sinne von Körperpflege) zur Vermeidung von Einsätzen externer Pflegekräfte: „Wir haben gemerkt, dass es uns damit besser geht, weil’s Oma dadurch besser ging. Man wusste genau die Handgriffe und man kannte sich“ (47). Auch war Herr Ottfried als Enkel ein wichtiger Akteur, der Solidarität praktizierte. Adressaten waren sowohl seine Großtante als auch seine Eltern, im Speziellen seine Mutter als Hauptpflegeperson. Seine Großtante erhielt verlässliche und regelmäßige instrumentelle Unterstützung, und zwar in den ersten sechs Jahren im selben Wohnhaus und in den nächsten acht Jahren multilokal über eine Distanz von 25 Kilometern. Diese solidarische Haltung war in der ganzen Enkelgeneration vorhanden: „Meine beiden anderen Geschwister, die auch Familie dort vor Ort haben, hatten überhaupt kein Problem mal einzuspringen“ (18). Wichtig war auch Herrn Ottfrieds praktische und emotionale Unterstüt168 Es handelt sich um die letzte Frage im Leitfaden, die kurz abgehandelt wurde.
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zung der Mutter, die, wie oben beschrieben, auch Bestätigung und Wertschätzung durch ihn erhielt. Konflikt Konflikthafte Situationen, die die Generationenbeziehungen anbelangen, betreffen nur eine Erfahrung. Hier wurde der Ablauf eines Weihnachtsfest aufgrund des Verhaltens der Erkrankten gestört, was Ärger verursachte (124). Da nur ein Vorfall genannt wird, kann dieses Muster als unbedeutend angesehen werden. Ambivalenz Ebenso kann das Muster ‚Ambivalenz’ als nachrangig betrachtet werden. Die beiden Nennungen beziehen sich auf die Haltung gegenüber einer fiktiven Partnerin bzw. möglichen eigenen Kindern bei einer antizipierten eigenen Pflegebedürftigkeit. So sagt er einerseits: „Ich hoffe, das hat noch lange Zeit“ (171), reagiert aber auf die Bestätigung der Interviewerin „Es ist ja auch noch sehr weit weg“ (172) mit „Wobei man ja auch jung pflegebedürftig werden kann“ (173) und überlegt weiterhin „In soweit hat das ja nichts nur mit dem Alter zu tun“ (175). Letzteres widerspricht seinen anfänglichen Überlegungen. Lernen Wichtiger ist für die hier vorliegende Pflegesituation der Aspekt des inter- und intragenerationellen Umgangs mit Wissen. Im Vordergrund steht dabei als dominantes Muster, sowohl bei der Enkel- als auch bei der Elterngeneration, die Wissensvermittlung, beispielsweise gegenüber dem sozialen Umfeld: „Vor allem meine Mutter hat das immer thematisiert, wie schwer und wie aufwendig das ist, und hat auch mal Leute eingeladen: ‚Guckt euch das ruhig mal an’ und ‚Kommt mal für ein Wochenende’. […] Wir haben durchaus immer transportiert, dass das schon sehr aufwendig ist“ (62). Herr Ottfried und weiterhin auch sein Bruder haben als Mitglieder der Enkelgeneration mit ihren professionellen Bezügen wichtige Lernprozesse angeregt: „Mein Bruder ist Therapeut, und insofern auch ein bisschen in die Betreuung und Pflege involviert gewesen. Wir hatten da einen guten fachlichen Austausch“ (18). Wie oben schon ausgeführt, 241
hat dabei das Einbringen seiner Fachkenntnisse Herrn Ottfrieds Stellung in der Familie verbessert. Weiterhin konnte er dadurch auch die Arbeit seiner Mutter aufwerten (100). 9.1.2.5
Zusammenfassende Auswertung
Herr Ottfried hat mit 14 Jahren die längste Pflegezeit von allen hier interviewten Enkeln miterlebt. Diese tangierte nahezu das komplette Leben im Erwachsenenalter des heute 33-Jährigen. Nichtsdestotrotz lautet die Ausprägung der MetaVariable ‚Bilanzierung’169 bei ihm ‚positiv’ und der Meta-Variable ‚Überlastung’ ‚nein’. Er wird im Rahmen der Analyse unter die Kategorie ‚Eigene Pflegebereitschaft: Umfassend’ subsumiert. Innerhalb seines subjektiven Relevanzsystems haben die personal und familial erbrachte Leistung sowie die eigene Rolle als Wissensvermittler einen hohen und Sinn konstruierenden Stellenwert. Solidarische Generationenbeziehungen prägen das Generationengefüge in der Familie und haben im fallübergreifenden Vergleich den zweithöchsten Anteil an allen Beziehungsmustern170. Trotzdem die Subkategorien im Segment ‚Solidarität’ eine Einseitigkeit aufweisen, da ausschließlich die Enkel- und Elterngeneration die solidarisch Handelnden darstellen, erfolgt keine Einschätzung des Pflegesettings als Überforderung. Hier ist die Rolle des Enkels als Professioneller, der den familialen Wissensvorrat bereichert, zentral. Darüber hinaus könnte die geringe Präsenz von Konflikten in der Familie für das soziale Erleben von Bedeutung sein. Überlegungen zur Pflegebereitschaft anderer Familienangehöriger im Falle seiner eigenen Pflegebedürftigkeit dokumentieren Ambivalenzen in Form von ‚Einerseits möchte man sich nicht damit auseinandersetzen doch andererseits betrifft es einen irgendwann doch’. Das intergenerationelle Lernen als Bereich, in dem ein Wissenstransfer von der jüngeren zur älteren Generation stattfindet, hat eine partielle Nivellierung von Generationendifferenzen in der Familie zur Folge. Die erlebte Statuserhöhung im familialen Gefüge prägt (ebenso wie im Fall von Frau Kaufmann) die Bilanzierung des Pflegesettings bei Herrn Ottfried stark171. 169 Weiterführende Hinweise zur Bildung von Meta-Variablen enthält der Abschnitt 10.1.1 zur fallübergreifenden Analyse. Die Übersichten zu den einzelnen Meta-Variablen befinden sich im Anhang. 170 Siehe dazu im Anhang „Gesamtüberblick: Induktive Kategorienbildung und deduktive Kategorienanwendung“. 171 Konträr dazu erlebt Frau Lindmann Barrieren bei Älteren hinsichtlich der Wissensannahme, was auch für sie – in negativer Hinsicht – von hoher Relevanz ist. Dieser Fallvergleich ver-
242
9.2
Ausführliche Fallanalyse: Yvonne Müller
9.2.1
Fallbeschreibung und Verlauf der Erhebung
Yvonne Müller ist 21 Jahre alt, und hat nach dem Abitur eine Ausbildung im kaufmännischen Bereich gemacht. Im Alter von 17 bis 21 Jahren erlebte sie ein häusliches Pflegesetting mit ihrer hochbetagten Großmutter, welche sechs Monate vor dem Interview verstarb. Die Pflege fand in ihrem Elternhaus statt, in dem sie mit den Eltern, der Großmutter und zwei jüngeren Schwestern in einem kleinen Dorf wohnte. Die Hauptpflegeperson, Yvonnes Mutter, war als Teilzeitbeschäftigte im eigenen Familienbetrieb angestellt. Die erkrankte Großmutter benötigte durchschnittlich ca. 3 Stunden Körperpflege am Tag sowie eine Rundum-die-Uhr-Betreuung, wobei von der ganzen Familie Hilfeleistungen erbracht wurden. Frau Müller unterstützte bei Bedarf, insbesondere bei der Betreuung und beim „Aufpassen“ (Angabe im Kurzfragebogen). Kurze Zeit vor dem Interview war sie von Zuhause ausgezogen, um ein Studium in einer anderen Stadt aufzunehmen. Frau Müller sandte der Verfasserin eine E-Mail, nachdem sie in einer „Alzheimer-Beratungsstelle“ (ebd.) auf die Studie aufmerksam gemacht worden war. Hierin schilderte sie die mittlerweile beendete Pflegesituation. Sie schrieb u. a.: „Seit längerer Zeit habe ich Ihren Aufruf vorliegen, und möchte mich nun endlich bei Ihnen melden. [...] Ich selber bin 21 Jahre alt und habe den langsamen Verlauf ihrer Krankheit beobachten müssen“. Das Interview verlief in sehr guter Atmosphäre und sehr lebhaft, denn Frau Müller schilderte ihre Erfahrungen mit viel Temperament. Wie alle anderen Enkel interessiert sie sich für die Ergebnisse der Studie.
–––––––––––––––––––––––––––– deutlicht die Wichtigkeit eines erfolgreichen Wissenstransfers von Seiten des Enkels im Fall von Herrn Ottfried.
243
9.2.2 9.2.2.1
Fallanalyse Erfahrungen und Bilanzierungen
Roter Faden im Interview und Schlüsselaussagen Von Frau Müller werden im Interview vorrangig familiale Überlastungsphänomene verbunden mit einer Wertschätzung der Erkrankten und der Wichtigkeit eines sorgfältigen Umgangs mit ihr thematisiert. Von hoher Relevanz war für sie auch der familiale Zusammenhalt. Frau Müller erfährt eine Pflegesituation mit einer grundsätzlich aktiven – „die hat Möbel gerückt“ (90) – und häufig aggressiven Kranken, beispielsweise „wenn sie schreiend bei uns unten an der Treppe stand, [...] wir sollten sie doch zur Schule bringen, sie müsste jetzt zur Schule“ (22). Überlastung wurde bei diesen „kleinen Schockmomenten“ (21) vielfach erlebt, denn „da sind auch viele Tränen geflossen“ (21). Die krankheitsbedingten Phänomene werden von Frau Müller in Verbindung mit der Persönlichkeit und der Biografie der Erkrankten gesehen: „Sie war fest davon überzeugt, dass sie immer noch viel arbeitet“ (83). Den Umgang mit ihrer Großmutter hat Frau Müller sehr bewusst erlebt und die mit der Demenzsymptomatik verbundenen familiale Maßnahmen werden von ihr bedauert, beispielsweise beim Umgang mit dem Auto der Erkrankten, nachdem die Familie sie aufgrund von Bagatellschäden und Hinweisen aus dem Umfeld nicht mehr fahren lassen will: „Mit dem Auto, das war ‘ne ganz gemeine Geschichte. [...] Ja, im Grunde mussten wir sie leider zwingen, weil es wirklich nicht mehr ging. [...] Sie durfte nur Automatikautos fahren und zu meinem 18. Geburtstag ist ihr Wagen dann einfach verkauft worden. Wir ham dann gesagt ‚Der war kaputt’ und wir ham ein anderes Auto hingestellt, das kein Automatikauto war; und das konnte sie nicht fahren. Das war halt supergemein, aber es ging nicht anders, ne. Es ging nicht anders“ (26).
Für sie hat der familiale Zusammenhalt eine große Wichtigkeit: „Wir mussten halt einfach als Familie unheimlich viel zusammenhalten“ (24). Das Absprechen untereinander brachte auch Auseinandersetzungen, denn häufig war es „organisatorisch schwierig, aber irgendwie ham wir’s immer hingekriegt“ (24). Als Enkel wurden Frau Müller und ihre Schwestern nur in einem begrenzten Maße gefordert. Da weitere Mithilfe denkbar gewesen wäre, ist Frau Müller froh, dass ihre Mutter „das nie von uns verlangt hat“ (94). Ihre Mutter war diejenige, an der Frau Müller am deutlichsten Überlastung, auch in Verbindung mit der Vereinbarkeitsproblematik von Pflege und Beruf, 244
erlebt hat, „weil wir auch gleichzeitig noch selbstständig sind und meine Mutter dann auch noch einen Bürojob zu bewältigen hatte“ (24). Die Auswirkungen waren, „dass sie auch nervlich sehr gelitten hat unter dieser Anspannung. Wir hatten das Babyfon von früher wieder ausgepackt, das eine Ende lag im Schlafzimmer meiner Großmutter. Das andere Ende war im Wohnzimmer beim Fernsehgucken, und später mit im Schlafzimmer. Es war halt im Grunde keine Minute mehr wirklich frei“ (24).
Gesamtbilanzierung Frau Müller zieht eine gemischte Bilanz. Die positiven Aspekte betreffen die erlebte Pflegeleistung ihrer Mutter, die sich um die aktive alte Frau „liebevoll gekümmert hat“ (24). Trotz der Doppelbelastung war die Betreuung vorbildlich: „Einmal wollte Oma sogar Kartoffeln ans Bett haben, zum Kartoffelnschälen“ (24). Auch die Erkenntnisse, die die Enkelin über das Alter und eine Demenzerkrankung gewonnen hat, gehören zu ihren bereichernden Erfahrungen. „Man wird ja auch viel hellhöriger, wenn man dann irgendwas im Fernsehen sieht, wie bei Harald Juhnke“ (100). Die problematischen Erfahrungen machen u. a. das Ausmaß der Gesamtbelastung deutlich, denn „da war wieder dieses und jenes und Oma ist wieder aus’m Bett gefallen. Also zum Schluss, da war’s echt hart“ (36). Die Atmosphäre in der späten Phase des Pflegesettings beschreibt Frau Müller als „riesigen Druck“ (36); und betont im Interview mehrfach, dass häufig geweint wurde: „Unter dieser Anspannung sind auch viele Tränen geflossen“ (36). Belastungsfaktoren waren die kontinuierliche zeitliche Verpflichtung und damit verbunden die oben erwähnte Vereinbarkeitsproblematik bei ihrer Mutter (24). Der chronisch-progrediente Verlauf der Erkrankung (5) war für Frau Müller schwer mit anzusehen, und verschiedene Vorfälle wie Stürze etc. führten zu einer Daueranspannung aufgrund der Sorge, es könne wieder etwas passiert sein (89). Eine ambivalente Haltung hat Frau Müller den Situationen gegenüber, in denen die Kranke auf ihre Eigenständigkeit beharrte. Einerseits erkennt sie den Verlust an Autonomie für diesen selbstständigen Menschen: „Im Endeffekt ist es für so einen Menschen natürlich extrem hart, wenn man auf einmal seine Selbstständigkeit verliert, das kann ich mir schon vorstellen“ (19), andererseits sieht sie die Notwendigkeit von Maßnahmen aufgrund der Gefährdungssituationen (26). Innerhalb der Kernfamilie machte Frau Müller die Erfahrung, dass man untereinander zusammenhielt und sich aufeinander verlassen konnte: „Wir halten alle supergut zusammen, kommen gut klar miteinander und, ja, unterstützen uns einfach gegenseitig“ (79; 102). Dazu gehörte auch, dass ihre Mutter 245
als Hauptpflegeperson sie nicht über Gebühr zur Pflege heranzog (94). Im familialen Umfeld war nahezu keine Hilfe vorhanden. In der Regel wurde „keiner gefunden, der dann ausnahmsweise sagte ‚ich spring mal ein’“ (90). Spezifische Erfahrungen Positive Erfahrungen bei der Betreuung der Kranken machte Frau Müller selten und wenn, dann in den speziellen Situationen, in denen die Erkrankte überraschend orientiert war und auf Äußerungen adäquat reagierte: „Ganz, ganz selten kamen noch mal lichte Momente“ (19). Gute Erinnerungen hat sie auch an frühere Zeiten mit der Großmutter (19) und empfindet die Reziprozität im Austausch ihrer Hilfeleistung, da ihre Großeltern seinerzeit Betreuungsaufgaben für die Enkel übernommen hatten oder sie mit ihnen in den Urlaub reisen durfte (85). Die Beziehung zu den jüngeren Schwestern war ebenfalls bereichernd: „Also wäre ich in der Situation alleine gewesen, dann hätte ich auch echt nicht gewusst, wohin damit“ (38). Diese Erfahrung des gegenseitigen Austausches traf auch auf ihre Eltern und eine Freundin zu (36). Positiv wurden auch professionelle Hilfen erlebt, einerseits der ambulante Pflegedienst als Hilfe bei der Körperpflege im engeren Sinne (24) und weiterhin eine „nette Dame“ (24), die stundenweise betreute. Ein großer Teil von Frau Müllers wertneutralen Erfahrungen bezieht sich auf die Betreuung der Kranken, z. B. in Kontext mit den Desorientierungen und der Vergesslichkeit der Kranken (17; 46). Die Formen der Betreuung wandelten sich von der Begleitung (68) und dem Erledigen von Besorgungen (74) in der frühen Phase der Krankheit bis zur Körperpflege in der späten Phase (26). Die letzte Lebenszeit der Großmutter ging mit körperlichen Abbauprozessen einher (7; 19). Frau Müllers belastende Erfahrungen hängen ebenfalls weitestgehend mit der Betreuung der Kranken zusammen, beispielsweise wenn sie gesucht werden musste (50). Problematisch war auch das ständige Angebundensein, da immer „jemand zu Hause bleiben musste“ (70). Besonders spürte sie das an speziellen Tagen: „Am Wochenende oder samstagabends, da möchten alle gerne weg und irgendeiner muss dann halt den Kürzeren ziehen“ (70). Belastende Erfahrungen innerhalb der Generationenbeziehungen gab es kaum.
246
9.2.2.2
Äußerungen zu Überforderung und Belastungsprävention
Überforderung Frau Müller nennt vielfache Anzeichen für die erlebten Überforderungen, z. B. in der frühen Phase der Erkrankung, als „man dachte ‚Was ist denn jetzt los?’“ (21). Später prägten Situationen der Agitiertheit und Selbstgefährdung das Geschehen: „Dann stand sie da schreiend [...] und man musste sie dann beruhigen“ (22). Die Folgen für ihre Mutter waren für sie wahrnehmbar: „Es herrschte ‘ne Riesenanspannung, das war nicht einfach. [...] Wir haben es manchmal gemerkt, dass es meiner Mutter halt nicht so gut dabei ging“ (24). Grundsätzlich ist die kranke alte Frau auf kontinuierliche Beaufsichtigung und Begleitung angewiesen (22; 89): „Freizeit gab’s nicht mehr wirklich, sondern wir mussten rund um die Uhr aufpassen und da sein. Klar, das zerrt an den Nerven“ (89). Dazu kommt die oben schon erwähnte Vereinbarkeitsproblematik von Pflege und Beruf für die Mutter von Frau Müller. In der späten Phase ist die Großmutter bettlägerig und schwer krank: „Jedes Mal, wenn man ins Schlafzimmer geguckt hat, zum Kontrollieren, hatte man echt Angst ‚Lebt sie jetzt noch, oder lebt sie nicht?’. Also das war ‘ne ganz, ganz harte Situation, echt haarig“ (21). Aufgrund der zunehmenden Überlastung wurde über einen Heimumzug nachgedacht: „Das hat sie [Frau Müllers Mutter] aber immer wieder auch nicht durchgesetzt, weil wir einfach gesagt hatten ‚Nein! Das geht doch jetzt nicht, das können wir nicht machen’“ (89). Belastungsprävention Konkrete Entlastung brachte im Pflegesetting von Frau Müller die professionelle Hilfe. Neben dem ambulanten Pflegedienst – „Wir ham’s bis dato bestmöglich gelöst mit diesem Pflegedienst“ (94) – gab es noch die Hilfe zur Betreuung, die „an zwei, drei Nachmittagen da war und aufgepasst hat. Das war ‘ne gute Sache, war ‘ne große Entlastung“ (94). Eine weitere präventive Strategie wäre durch die stärkere Einbindung der Verwandten denkbar gewesen:
247
„Was geholfen hätte, uns als Familie, wenn die Onkel und Tanten ein bisschen mehr da gewesen wären. Das hätte vielleicht in letzter Konsequenz ein bisschen geholfen, einfach vom Gefühl her, das man gesagt hätte ‚Mensch, die lassen uns nicht alleine, die interessieren sich für die Frau’. Auch wenn sie dann vielleicht nicht so viel gemacht hätten.“ (94).
Allerdings erfolgten deren Hilfen faktisch nur punktuell. 9.2.2.3
Angaben zur Pflegebereitschaft
Eigene Pflegebereitschaft Prinzipiell besteht bei Frau Müller eine Bereitschaft zur Übernahme von Pflege bei ihren Eltern: „Davor hab’ ich natürlich echt Riesenangst. Einfach weil ich meine Eltern so gerne hab’ und ich nicht möchte, dass es denen schlecht geht. Aber da bin ich mir hundertprozentig sicher, die würd’ ich nicht alleine lassen“ (108). Diese Verantwortlichkeit nicht wahrzunehmen hätte gravierende Folgen für Frau Müller: „Ich glaub’, dann könnt’ ich nicht mehr ruhig leben“ (108). Auch wenn die bisherigen Erfahrungen für sie teilweise nicht einfach waren, denn „man hat zum Beispiel jedes Mal mit Angst ins Schlafzimmer geguckt“ (114), so möchte sie nicht „das Problem wegschieben“ (114). Hier nicht zur Verfügung zu stehen „ist einfach ‘ne unheimlich feige Sache“ (114). Hierin sieht sie auch das Weggucken von manchen Menschen bei Erkrankungen wie Demenz begründet: „Das ist ja ‘ne unangenehme Sache, das ist der Tod im Grunde, und da denkt man nicht so gerne drüber nach“ (116). Pflegebereitschaft Anderer Anders bewertet Frau Müller die Situation, wenn sie selber pflegebedürftig wäre. Ein häusliches Pflegesetting erwartet sie nicht, jedoch eine grundsätzliche Sorgearbeit: „Generell hätte ich jetzt den Standpunkt, man müsste mich nicht zu Hause pflegen. Weil’s halt einfach echt haarig is’. Aber man müsste mich besuchen“ (112). Die ambulante Pflege findet sie unangebracht, da es ihre Angehörige belasten könnte: „Man denkt, das hat so viel Ärger und Probleme gegeben, und man möchte ja ungern zur Last fallen“ (110). Aufgrund dessen könnte sie sich „professionelle Hilfe oder ein Heim“ (110) für sich vorstellen. Wesentlich ist für sie auch nach einem Umzug ins Altenheim, dass sich Angehörige weiterhin um Pflegebedürftige kümmern: 248
„Das finde ich ganz, ganz schlimm, wenn man Leute irgendwo hinsteckt und dann vergisst. [...] Das ist moralisch nicht zu verantworten. Familienangehörige, Freunde, das ist doch Lebensqualität, die einem gerade dann fehlt“ (114).
Grundsätzlich stellt sie die häusliche Pflege bei Demenz mit jüngeren Kindern in Frage: „Wir waren jetzt schon ein bisschen älter, aber was ist, wenn die Kinder noch jünger sind und so was mitkriegen? Ich glaub, das geht dann echt hart an die Grenze. Das kann nicht gut sein für so ein Kind, wenn das aufwächst und mitbekommt, wie ein Mensch vor seinen Augen langsam und qualvoll stirbt, im Grunde. Und so was möchte ich, wenn’s mich angehen würde, kleinen Kindern auf gar keinen Fall zumuten“ (112).
Pflichtpflege Frau Müller hält „nichts“ (118) von einer Verpflichtung für Angehörige, zu pflegen: „Da würde doch einiges im Argen liegen. Und ich könnte mir einfach vorstellen, dass es dann vielen pflegebedürftigen Leuten schlecht gehen würde“ (118). Zwar geht sie einerseits von vorhandener Bereitschaft bei Angehörigen aus, beispielsweise bezogen auf einen Partner, aber andererseits müssen die eigenen Ressourcen und Fähigkeiten abgewogen werden, denn „so was muss man sich ja auch zutrauen“ (118). Die berufliche Situation ist dabei zentral: „Und wenn sowieso ein Frust von vorne bis hinten da ist, ‚Ich musste meinen Job aufgeben und ich komm in meinen Job auch nicht mehr rein’, wenn das allein schon mitschwingt jedes Mal“ (118), dann sieht sie negative Auswirkungen auf die Beziehung zwischen dem alten kranken Menschen und dem Pflegenden. Auch wenn Frau Müller eine Verpflichtung zur Angehörigenpflege ablehnt, sollten doch diejenigen, die freiwillig pflegen, eine bessere Unterstützung erhalten: „Dass man da einen gewissen Anreiz hat. Dass man sagt ‚Wir behalten denjenigen jetzt bei uns in der Familie. Wir kümmern uns hier. Dafür werden wir aber halt irgendwie auch unterstützt’“ (118). Abschließende Wünsche Frau Müller würde grundsätzlich wünschen, es gäbe diese Krankheit gar nicht. Anderen Pflegenden wünschte sie Kraft und Mut, ein gutes Umfeld, indem man sich austauschen kann, und Hilfe durch die Gewissheit, dass die eigenen Ange249
hörigen die bestmögliche Pflege erhalten (120). Ungünstig wäre es für die betroffenen Familien, sich nicht mit der Situation auseinanderzusetzen (122). 9.2.2.4
Ausgewählte Aspekte familialer Generationenbeziehungen
Solidarität Das Beziehungsmuster ‚Solidarität’ war in der gesamten Familie stark präsent. Frau Müller betont, dass auch das Pflegegeschehen mit allen Erlebnissen, auch den belastenden, letztendlich die familiale Solidarität gestärkt hat: „Auch wenn’s manchmal Streit gegeben hat. Aber wir haben im Endeffekt für uns beschlossen, dass das irgendwie doch echt zusammengeschweißt hat, als Familie“ (24). Dies betrifft sowohl inter- als auch intragenerationelle Beziehungen, wie zwischen den Enkelkindern und zwischen den beiden Elternteilen. Insgesamt sind die langjährigen praktischen Hilfeleistungen von den beiden pflegenden Generationen zur Großmutter am dominantesten. Neben dieser praktizierten Solidarität mit den zahlreichen Betreuungs- und Unterstützungsleistungen waren die Merkmale der gegenseitigen ‚emotionalen Unterstützung’, d. h. der mitmenschlichen Verbundenheit und der Empathie, in diesem Fall besonders stark ausgeprägt (19). Auch ist Frau Müller ihrer Mutter dankbar, dass diese als Hauptpflegeperson diese Aufgabe so gut erfüllt hat, ohne sie und ihre Schwestern zu sehr mit einzubeziehen: „Sie hätte im Grunde verlangen können ‚Bitte packt ein bisschen mehr an’, aber sie hat absolut gesagt ‚Nee, das ist okay, ihr seid so jung’“(28). Frau Müllers Mutter leistete einen Großteil der Betreuungsaufgaben, was die Enkeltochter anerkennt: „Dafür hat sie auch heute noch meine volle Hochachtung“ (30). In früheren Zeiten hatte Frau Müller die mitmenschliche Verbundenheit und die praktische Unterstützung ihrer Großeltern erfahren. Sie ist mit ihnen auf Reisen gefahren, hat Süßigkeiten erhalten und weitere positive Erfahrungen gemacht (85). Konflikt Frau Müller berichtet eher beiläufig und nur vereinzelt von familialen Konflikten. Dies betrifft Situationen der Organisation der häuslichen Präsenz, z. B. in denen „dann wieder alle mal dringend weg mussten an diesem Nachmittag oder an diesem Abend“ (90). Wie oben erwähnt, gab es speziell am Wochenende Aushandlungsprozesse darüber, wer zu Hause bleiben musste und wer ausgehen 250
konnte. Darüber „gab es ab und an Streit“ (70). Diese Konflikte werden jedoch nicht als wichtige Erlebnisse betrachtet, da auch sie letztendlich „zusammengeschweißt“ (70), d. h. die Solidarität gestärkt, haben. Ambivalenz Bei Frau Müller werden Ambivalenzen beim Thema des Umgangs mit der Großmutter deutlich, wenn durch das Handeln der Familie Selbstgefährdungen vermieden werden sollen. Dies betrifft beispielsweise das ‚Entfernen’ ihres Autos, was Frau Müller als „supergemein“ (26), andererseits auch als notwendig empfand. Auch weitere Einschränkungen für die Kranke waren mit Zwiespältigkeiten verbunden, sie waren zwar sinnvoll, aber für die Großmutter mit einem Verlust an Selbstständigkeit verbunden (19). Lernen Frau Müller betrachtete den Verlauf der Demenzerkrankung, zum Beispiel das Rückversetzen der Erkrankten in Kindheitserinnerungen, auch mit Interesse: „Das finde ich ja ganz interessant, warum gerade das? Warum so viel Schulzeit? [...] Na ja, aber das war so ganz signifikant an der ganzen Sache, dass sie im Grunde so im Kopp wieder ganz klein wurde“ (17). Generell hat sie einen „Bezug zum Alter“ (100), und weiterhin ein „anderes Verhältnis zum Alter“ (100) bekommen. Diese Haltung traf auf das soziale Umfeld in weitem Maße nicht zu. Hier nahm sie sowohl viele Verwandte als auch weitere „Außenstehende“ (38) als Menschen wahr, die eine solche Pflegesituation „nicht nachvollziehen“ (38) können, da sie sie selber nicht miterlebt haben. 9.2.2.5
Zusammenfassende Auswertung
Frau Müller hat in der späten Jugend- und frühen Erwachsenenzeit eine mehrjährige stark beanspruchende Pflegesituation mit einem 24-Stunden-Betreuungsbedarf erlebt. Sowohl die Symptomatik als auch die zeitliche Dimension verbunden mit der Vereinbarkeitsproblematik von Pflege und Beruf führen zu den Meta-Variablen ‚Überlastung: Ja’ und ‚Gesamtbilanzierung: Gemischt’. Ihre Pflegebereitschaft ihren eigenen Eltern gegenüber ist umfassend und differiert mit ihren persönlichen Erwartungen, denn sie will aufgrund der selbst 251
erlebten Belastungen im Falle ihrer Pflegebedürftigkeit nicht ‚zur Last fallen’. Die Bilanzierung fällt jedoch nicht eindimensional belastungsgeprägt aus, da positive Effekte im Kontext familialer Beziehungen das interpretative Bezugsschema prägen. Im Fall von Frau Müller hat ‚Solidarität’ als Beziehungsmuster im Fallvergleich den höchsten Anteil, wobei die Reziprozität der solidarischen Akte anhand der Subkategorien evident ist. In der Schilderung von Frau Müller treten zwar die Enkel- und die Elterngeneration primär als Akteure solidarischen Verhaltens auf, doch ist hier, anders als bei Frau Klein, deutlich eine Wechselseitigkeit des Austausches bei den verschiedenen familialen Generationen vorhanden. Somit liegt ‚Solidarität’ hier mit besonderer Betonung des in der induktiven Analyse genannten ‚familialen Zusammenhalts’ vor, was im Fall von Frau Müller anhand der Subkategorien in der Gesamtbilanzierung ersichtlich ist. Bemerkenswert ist in diesem Falle ebenso die geringe Ausprägung konflikthaften Verhaltens. Werden dennoch Konfliktsituationen geschildert, haben sie im Resultat eine beziehungsstabilisierende Wirkung. Dieses Fallbeispiel dokumentiert, dass hohe Solidaritätswerte nicht mit einem positiv bilanzierten Pflegesetting oder mit der Abwesenheit von gravierender Überforderung korrelieren müssen. Selbst reziproke familiale Solidaritätsbekundungen können nicht als belastungspräventiv bewertet werden. Zu erkennen ist weiterhin, dass Konflikte in einer moderaten Dimension zu einer Stabilisierung eines häuslichen Pflegesettings beitragen können.
9.3
Ausführliche Fallanalyse: Annika Feld
9.3.1
Fallbeschreibung und Verlauf der Erhebung
Die zum Zeitpunkt des Interviews 35jährige Frau Feld erlebte im Alter von elf bis 17 Jahren ein häusliches Pflegesetting mit ihrer demenzkranken Großmutter. Die sechs Jahre dauernde Pflegesituation fand in den Jahren vor der Einführung der gesetzlichen Pflegeversicherung statt. Die Familie von Frau Feld wohnte ländlich in einem Einfamilienhaus mit zwei getrennten Wohnungen und bestand aus den Eltern, der Enkelin und der erkrankten Großmutter. Der Krankheitsverlauf der damals über 70-Jährigen begann mit einer anfänglichen Orientierungslosigkeit und beinhaltete zum Schluss einen kompletten Hilfe- und Pflegebedarf in allen Lebensbereichen und an 24 Stunden am Tag. Frau Felds Mutter war als Hauptpflegeperson anfänglich noch in Teilzeit berufstätig, beendete dies 252
jedoch im Zuge der Pflege. Die Enkelin half ihrer Mutter bei der Betreuung und Pflege und beaufsichtigte die Großmutter während der Abwesenheit ihrer Mutter. Nachdem Frau Feld im Alter von 16 Jahren aus dem Elternhaus ausgezogen war, um in einer entfernten Stadt eine Lehre zu beginnen, erfolgte ihre Hilfeleistung weiterhin am Wochenende. Die Erkrankte starb, als Frau Feld 17 Jahre alt war. Die Enkelin ist heute als Assistentin der Geschäftsleitung in einem mittelständischen Unternehmen tätig. Frau Feld meldete sich bei der Verfasserin, da sie in einem der lokalen Anzeigenblätter von der Studie gelesen hatte, zu einem Zeitpunkt, als die Suche nach Interviewteilnehmern aufgrund der schon vorhandenen sechzehn Fälle als abgeschlossen betrachtet wurde. Bei diesem telefonischen Erstkontakt erzählte Frau Feld, sie sei froh, dass sich endlich jemand für ihre Geschichte im Zusammenhang mit der häuslichen Pflege interessieren würde, denn sie habe damals schon immer gedacht „[…] und keiner fragt nach, wie es mir geht“172. Sie sagte, die Pflegesituation habe ihre Kindheit bzw. Jugend massiv beeinflusst, und sie könne heute über ihre Erfahrungen sprechen: „Vor zehn Jahren hätte ich das nicht gekonnt“173. Weiterhin habe sie ein sehr starkes Interesse, zu erfahren, wie es anderen Enkeln in einer ähnlichen Situation erging. In dem kurze Zeit später ausgefüllten Kurzfragebogen schrieb sie zu Frage 5: „Sonstige Angaben, die mir wichtig sind:“ „Ich halte diese Studie für längst überfällig und wichtig, da die Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche in häuslichen Pflegesituationen völlig unterschätzt werden“. Das Interview fand in der Wohnung von Frau Feld statt, verlief ohne Störungen und gehört mit einer Länge von fast zwei Stunden zu den längeren Interviews. Die Enkelin berichtete ihre Erfahrungen lebhaft und mit Nachdruck.
172 Aussage von Frau Feld beim telefonischen Erstkontakt. 173 Dto.
253
9.3.2 9.3.2.1
Fallanalyse Erfahrungen und Bilanzierungen
Roter Faden im Interview und Schlüsselaussagen Das Interview mit Frau Feld ist von den Themen der Überforderung durch die Pflege und der sozialen Isolation bestimmt. Damit stehen die schweren Verhaltensauffälligkeiten der Kranken sowie die fehlende Hilfe aus dem Umfeld im Zusammenhang. Das hohe Maß der Überforderung geht einher mit starken familialen Konflikten und Krisen, sowohl intergenerationelle Beziehungen als auch die Ehe ihrer Eltern betreffend. Die Enkelin erlebte bei ihrer Großmutter eine von großer Unruhe und Aggressivität geprägte Form der Demenz: „Sie war eben jemand, der nicht einfach still gesessen hat, sondern sie hat richtig gefährliche Dinge gemacht. Sie hat zum Beispiel den Herd angestellt und nicht wieder ausgestellt. Wenn man fünf Minuten nicht hingeguckt hat, hatte sie ein Messer aus der Schublade genommen und hat Leute damit bedroht“ (15).
Die Aktivität der Kranken verbunden mit einer drohenden Selbstgefährdung fand sowohl tagsüber als auch nachts statt und führte zu einer massiven Überlastung: „Sie ist Tag und Nacht rumgelaufen. Was natürlich die Pflege noch erschwerte, weil einer musste immer hinterher laufen. Und sie hat auch immer versucht, wegzulaufen. Also man musste alle Türen abschließen, sonst war sie weg“ (11). Letzteres ist nicht nur aus Gründen der Gefährdung der Kranken belastend, sondern lief auch den Bemühungen in der Familie zuwider, die Erkrankung möglichst nicht nach außen dringen zu lassen: „Ich durfte es nirgendwo erzählen, also das wollte mein Vater nicht, [...] der das überhaupt nicht wahrhaben wollte, dass es seiner Mutter, die immer so ‘ne stolze Frau war, dass es der jetzt so schlecht ging“ (29). Die soziale Isolation betraf die gesamte Familie, jedoch die Mutter von Frau Feld in besonderem Maße: „Meine Mutter war eigentlich die Hauptleidtragende in der Situation, weil sie ja dann quasi auch nicht mehr arbeiten gehen konnte. Sie hatte also vorher immer halbtags gearbeitet und das war nicht mehr möglich. Und ich war halt morgens in der Schule, ich hatte also noch so ein bisschen, ich sag mal, Leben außerhalb, mein Vater hatte die Arbeit; und meine Mutter hatte gar kein Leben mehr außerhalb: Also das Leben spielte sich zwischen diesen zwei alten Leuten ab“ (9).
254
Ansonsten waren Frau Felds Eltern auch nachts durch die Symptomatik stark gefordert: „Also in der letzten Phase war’s so, dass immer einer meiner beiden Eltern, entweder meine Mutter oder mein Vater, neben ihr schlafen mussten, weil sie sonst weggelaufen wäre“ (11). Diese Form der nächtlichen Betreuung dauerte drei Jahre. Als Enkeltochter der demenzkranken Großmutter und gleichzeitig einziges Kind der Eltern wurde Frau Feld in die Pflege einbezogen: „Ich hatte dann eben auch oft Mitleid mit meiner Mutter und hab dann gesagt ‚Okay, du musst auch mal wieder zum Zahnarzt, ich pass schon auf’. Aber umgekehrt hatte meine Mutter dann immer ein schlechtes Gewissen mir gegenüber, und hat gesagt ‚Das Kind kann da überhaupt nichts für, ich hab aber sonst keinen’“ (31).
Erschwerend kam für die Hauptpflegeperson zu dem Krankheitsbild mit den oben genannten pflegerischen Anforderungen die problematische Beziehung zwischen ihr und der Großmutter: „Und es kam natürlich noch dazu, dass es ihre Schwiegereltern waren und nicht ihre Eltern. [...] Also ich glaub’, das war schwierig, weil meine Großmutter früher ihre Schwiegertochter auch nie mochte“ (9). Die Beziehung zwischen Frau Feld und ihrem Vater war sehr stark durch die Pflegesituation belastet: „Wenn meine Mutter mal wieder einen Tiefpunkt erreicht hatte und da saß und weinte, [...] dann war das für mich superschlimm als Kind. Und dann hab’ ich meinen Vater angeschrien ‚Jetzt mach was, irgendwie, das geht so nicht mehr’“ (78).
Ihr Vater ignorierte ihre Anliegen, denn „der war nur noch der Sohn seiner Mutter, aber nicht mehr mein Vater“ (97). Das Verhalten ihrer Verwandten hinsichtlich der offenkundigen Überlastung ihrer Mutter sieht Frau Feld heute sehr kritisch, z. B. da dem verbal geäußerten Bedauern keine aktive Unterstützung folgte (86). Frau Feld sah in einer entfernt gelegenen Ausbildungsstätte die Möglichkeit, Distanz zur häuslichen Situation herzustellen. Allerdings bedauerte sie Ihre Mutter, die in der Situation zurückblieb: „Ich hab zwar gewusst ‚Du musst für dich selber jetzt deinen Weg gehen, einen Beruf lernen und musst weg hier’, aber ich hatte ein ganz schlechtes Gewissen. Ich war das einzige Kind und meine Mutter hängt an mir, und dann hab ich gedacht: ‚Jetzt lässt du die auch noch alleine’. Meine Mutter hat da natürlich auch oft geweint und gesagt ‚Soweit ist es jetzt gekommen, dass unsere einzige Tochter es hier nicht mehr aushält“ (78).
Insgesamt war sowohl die Ehe der Eltern als auch die Familie an sich „total zerrüttet in der Pflegezeit, und es hat auch nachher noch zehn Jahre gedauert, bis 255
wir uns überhaupt wieder als Familie gefunden hatten. [...] Da hat jeder so sein Trauma verarbeitet, mehr oder weniger, jeder auf seine Art und Weise“ (62). Gesamtbilanzierung Positive Bemerkungen über die erlebte Zeit macht Frau Feld nur wenige, sie fallen in den Bereich des Lernens und des Erkenntnisgewinns bezogen auf das Empfinden sozialer Verantwortung: „Das hat mich geprägt, also dass ich heute auch zu jedem Thema, wenn ich irgendwas mitkriege, auch wirklich den Mut hab’, was zu sagen oder nachzufragen. Weil ich immer sag’: Ich war sechs Jahre in einer Situation, wo alle die Augen zugemacht haben“ (93).
Auch in Ihrem Beruf kann sie diese Fähigkeiten einsetzen. Beispielsweise fragte sie einen Mitarbeiter nach möglichen Problemen, worauf dieser sagte: „‚Keiner merkt es. Woran hast du das gemerkt?’“ (93). Darauf Bezug nehmend bilanziert sie: „Das ist vielleicht das einzig Positive aus der ganzen Zeit“ (93). Die problematischen Aspekte überwiegen deutlich. Die Versorgung der demenzkranken Großmutter stand im Mittelpunkt des familialen Geschehens: „Die Pflege war das zentrale Thema in der Familie und da war auch nicht mehr Platz für irgendwas anderes. Als Kind lief man so nebenher“ (9). Wie oben genannt, ist vor allem die auch durch die Symptomatik bedingte zeitliche Verpflichtung ein wesentlicher Belastungsfaktor, der sowohl die zeitliche Beanspruchung pro Tag als auch die gesamte Dauer des Pflegesettings umfasst: „Und das hieß natürlich auch sechs Jahre kein Urlaub, kein freies Wochenende, das hieß sechs Jahre wirklich nonstop“ (19).
Auch die finanziellen Rahmenbedingungen waren problematisch, da die Mutter die Teilzeitstelle aufgeben musste, und zusätzliche Kosten durch die Pflegesituation entstanden, die die Großmutter mit ihrer „Minirente“ (62) nicht abdecken konnte. Auch persönliche Folgen hat diese Pflegesituation: „Was negativ ist als Bilanz, ist, dass ich so zwischen zwanzig und dreißig unheimlich starke Bindungsängste hatte. Also mir durfte keiner zu nahe kommen, das hätte ja in irgendeiner Pflichtform enden können“ (93). Bei der Betreuung der Kranken stand, wie oben genannt, deren problematisches Verhalten im Vordergrund (68). Im familialen Beziehungsgefüge hatte Frau Feld eine Rolle mit sehr hoher Verantwortlichkeit inne, denn neben der Beanspruchung aufgrund der Be256
treuung der Großmutter hatte sie „auch oft das Gefühl, dass ich dann eigentlich schon als Gesprächspartnerin so für Erwachsene herhalten musste“ (80). Folglich war sie „als Jugendliche furchtbar vernünftig, ich hab das alles irgendwie mitgemanagt und meine Mutter unterstützt“ (31). Frau Feld erlebte erhebliche Konflikte zwischen ihren Eltern miterlebt: „Sogar unser Hausarzt hat gesagt ‚Ihre Frau geht vor die Hunde, wenn Sie jetzt nicht mal ‘nen Urlaub machen’“ (35). Allerdings zeigte sich ihr Vater „stur“ (35). Die Eltern bekamen eine Ehekrise und trennten sich kurzzeitig. Die Verwandten praktizierten keine Unterstützungsleistungen, was Frau Feld sehr kritisch sieht: „Ich fühlte mich total im Stich gelassen von dem Rest der Familie, was die übrige Verwandtschaft angeht“ (62). Im sozialen Umfeld wurde das Thema so weit wie möglich nicht thematisiert: „In der Schule hat’s auch überhaupt keiner gemerkt, also ich war immer ‘ne gute Schülerin“ (62). Wertfrei sieht sie einige nachfolgende Entwicklungen, beispielsweise die später eingenommene Haltung ihrer Mutter, welche sagte: „Jetzt muss ich noch mal was für mich machen“ (37). Auch kann sie nachträglich einige familiale Vorgänge etwas positiver bewerten als früher (93) und die Lebensgeschichte ihrer Großmutter in Verbindung mit deren Persönlichkeit setzen (43). Spezifische Erfahrungen Positiv wird von Frau Feld die pflegerische Leistung ihrer Mutter im Vergleich zur professionellen Betreuung im Krankenhaus bewertet, denn der allgemeine Zustand der Kranken ließ auf gute Pflege schließen (58). Auch mit dem verstorbenen Großvater sind positive Erinnerungen verknüpft (84). Wertneutral schildert Frau Feld die Anfänge der Symptome (7), und auch die späte Phase im Krankenhaus gehört zu diesen Erfahrungen (58). Aus der Retrospektive relativiert sie auch das Verhalten der Verwandten: „Die wussten’s vielleicht auch nicht besser“ (62). Professionelle Kräfte konnten Frau Felds Familie bzw. der Großmutter bei der Erkrankung zwar nicht helfen, doch dies kritisiert sie nicht (19). Zu den belastenden Erfahrungen von Frau Feld gehören die Symptome der Kranken (15), in besonderem Maße die zeitliche Verpflichtung (62), die gravierenden Einschränkungen, auch bezogen auf die Beziehungsgestaltung, die Konflikte mit dem Vater (62), die Ignoranz der Verwandten (19) und prinzipiell die soziale Isolation (21). Die Betreuung des Hausarztes und speziell dessen medikamentöse Therapie brachten keine Symptomerleichterung.
257
9.3.2.2
Äußerungen zu Überforderung und Belastungsprävention
Überforderung Überforderung ist eines der beherrschenden Themen im Interview mit Frau Feld. Die Auswirkungen werden gravierend eingestuft: „Komisch war eigentlich, viele Jahre später, wo meine Großmutter längst tot war, [...] da bin ich sehr krank geworden und hatte plötzlich das Gefühl ‚Du warst gar nicht Kind. Du warst weder Jugendliche, noch Kind, du warst sofort erwachsen’, und das kam nun raus“ (31).
Während der Zeit der Pflege ‚funktionierte’ sie: „Und da war bei mir immer die Durchhaltephase, also in der Zeit war ich eher zum Schluss diejenige, die mitorganisiert hat und meiner Mutter noch wieder Mut gemacht hat“ (33). Verschiedene Gründe trugen zu dieser chronischen Überlastung bei, zum Beispiel finanzielle: „Die Situation war auch so, dass meiner Großmutter das Haus dann nachher gehörte, und dann hätten wir im Prinzip ausziehen müssen und das war ja dann eben nicht finanzierbar“ (19). Sie selber fühlte sich aufgrund der Dominanz der pflegerischen Erfordernisse vernachlässigt. Auch die oben schon genannte Vereinbarkeitsproblematik von Pflege und Beruf der Mutter verschärfte die finanzielle Problematik (62). Im Falle der Großmutter von Frau Feld wirkten sich die demenziellen Prozesse besonders erschwerend für die Pflege aus. Von dem aggressiven Verhalten der kranken Großmutter träumte Frau Feld später noch: „Diese Bilder hab’ ich lange, lange Zeit nicht aus dem Kopf gekriegt, also auch als Albträume nachts, [...] als sie schon lange, lange tot war. Immer wieder. Wie sie so mit’m Messer vor mir stand, diese Szene, das vergisst man einfach nicht. [...9 Ich bin dann schweißgebadet aufgewacht und hab’ gedacht ‚Mein Gott, sie ist doch tot’“ (53 – 57).
Auch die Situation ihrer Mutter erlebte sie als überlastend: „Es ist schrecklich für ein Kind, zu erleben, dass man der eigenen Mutter nicht helfen kann“ (97). Und den ehelichen Konflikten und der Überforderung der Mutter stand sie ebenso hilflos gegenüber (78). Dazu kam das Verbergen der Demenzproblematik im sozialen Nahraum, die „ganze Lügerei im Grunde, sechs Jahre, dieses die-Maske-aufrecht-Erhalten“ (78).
258
Belastungsprävention Als konkret erlebte familiale Entlastung nennt Frau Feld das Ende der Pflegesituation: „Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern, an dem ich den Anruf bekam, dass meine Oma jetzt gestorben ist. Und das ham hinterher alle als furchtbar makaber empfunden, aber ich hab einfach nur aufgeatmet, weil ich wusste, für meine Mutter und für meinen Vater und für uns alle, es ist jetzt vorbei. Und ich habe das wochenlang noch gar nicht glauben können, dass es vorbei ist. Und als ich das erste Mal wieder danach zu Besuch hier war, da hab ich gedacht, das ist ein anderes Haus. Hier war alles so still auf einmal. [...] Nach sechs Jahren hat man dann das Gefühl, dass man sich das normale Leben gar nicht mehr vorstellen kann“ (125).
Auch für ihre Mutter bedeutete das Ende der Pflegesituation einen Zuwachs an persönlichen Freiräumen: „Direkt nach dem Tod der Großmutter hat sie sich dann auch wieder eine Arbeit gesucht [...] und dann ist sie auch wieder mit ihren Freundinnen mal irgendwohin gefahren. [...] und sagte dann irgendwann: ‚Es ist ganz komisch, es ist irgendwie, als hätte man einen ganz schlimmen Film gesehen’“ (127).
Gleichermaßen war für Frau Feld das Leben danach ein anderes, sie hatte „direkt danach immer das Gefühl ‚Das warst du gar nicht, das war so ein Film’, denn das war so unwirklich“ (127). Konkret erlebte Entlastungen während der Pflegezeit nennt sie im Interview nicht. Belastungspräventiv war eine räumlich-zeitliche Distanz zur Pflegesituation, was den Vater, der „tagsüber mal acht Stunden raus war“ (9), oder auch Frau Feld selber betrifft. Frau Felds präventive Strategien gingen in die Richtung der Distanzvergrößerung, was sie auch gegenüber ihren Eltern artikulierte: „‚Also ich bleibe hier nicht. Ihr könnt machen was ihr wollt, ich suche mir woanders ne Ausbildungsstelle’“ (39). Sie vertrat ihr Vorhaben sehr sicher, „und zwar mit einer solchen Konsequenz, dass – ich war ja nicht mal volljährig – meine Eltern nicht mehr gewagt haben, da zu widersprechen, und ich das auch so durchgezogen habe“ (39). Ihre Zielsetzung war eindeutig: „Ich hab’ nur noch gesagt ‚Du musst hier weg’“(39).
259
9.3.2.3
Angaben zur Pflegebereitschaft
Eigene Pflegebereitschaft Der Gedanke an die Übernahme häuslicher Pflege erzeugt „eher Angst. Ich würde wirklich alles drum geben, wenn mir das erspart bliebe“ (101). Nachdem sie schon in ihrer Kindheit und Jugend eine derartige Verpflichtung erlebte, sieht sie sich heute dazu nicht mehr in der Lage: „Ich glaube, dann könnte ich mich gleich selber pflegen lassen. Das würde ich psychisch nicht mehr schaffen“ (101). Weiterhin wäre eine Pflege physisch zu beanspruchend: „Auch körperlich wahrscheinlich nicht: Heben Sie mal ‘ne alte Frau, die nichts mehr mitkriegt, aus der Badewanne! [...] Das sind ja so Sachen, worüber sich die Leute wenig Gedanken machen“ (101). Letzten Endes wäre es auch „eine finanzielle Entscheidung, [...] ich könnte nicht meinen Beruf aufgeben, [...] weil ich mein eigenes Gehalt einfach brauche“ (101). Diese Haltung wird durch die Wünsche ihrer Mutter bestätigt: „Meine Mutter hat schon ganz, ganz oft gesagt zu mir, ‚Wenn ich mal n Pflegefall werde, gib mich bitte sofort ab. Ich möchte das nicht, dass du das einen Tag machst’“ (101). Bezogen auf den Vater ist die Entscheidung einfacher: „Bei meinem Vater könnt ich’s auch noch weniger. Ich glaub, selbst wenn ich am Hungertuch nagen würde, ich könnt es nicht. Dann käm’ ja auch wieder die Erinnerung von der Zeit vorher174“ (103). Pflegebereitschaft Anderer Frau Feld teilt die Haltung ihrer Mutter, welche professionell im Feld der Altenhilfe Tätige eher geeignet sieht, pflegebedürftige Menschen zu versorgen: „Professionelle Kräfte, das ist etwas anderes“. (101). Prinzipiell stimmt Frau Feld dem zu und wünscht sich keine häusliche Versorgung: „Also ich würde das genauso sagen. Ich möchte dann lieber von Leuten gepflegt werden, wenn es denn sein muss, die ich nicht kenne, die neutral sind, wo ich auch weiß, die werden dafür bezahlt, dass sie das tun. Da könnt’ ich besser mit leben, als wenn ich denken würde, die tun das jetzt nur aus Liebe und aus Pflichtgefühl“ (105).
174 Hiermit ist die Zeit vor dem heutigen Lebensabschnitt gemeint, welcher nach dem Tod der Großmutter begann.
260
Da sie keine Kinder hat, wäre der Lebenspartner dann der familial Pflegende: „Zum Beispiel ein Partner wäre ja jetzt ‘ne Möglichkeit. Da würde ich genauso sagen, wie meine Mutter ‚Tu mich bloß sofort weg! Nicht einen Tag!’“ (105). Hierbei geht es ihr um das Wohlergehen des pflegenden Menschen: „Ich möchte nicht, dass irgendjemand anders sein Leben so leben muss wie wir damals. [...] Gerade weil ich die Leute ja liebe, möchte ich nicht, dass sie dann so leiden müssen“ (105). Pflichtpflege Auf die Frage, was sie von einer ‚Pflichtpflege für Angehörige’ halten würde, antwortet Frau Feld: „Grauenvoll. Dann würd’ ich auswandern. Da läuft’s mir eiskalt den Rücken runter. Also das wäre das Trauma wirklich noch schlechthin, wenn man irgendwann zu mir sagen würde ‚Wir ham jetzt hier so ne Pflichtpflege eingeführt und jetzt machen Sie das Ganze noch mal’“ (111).
Das Verhältnis zwischen Pflegebedürftigem und Pflegendem spielt dabei eine Rolle, denn „man müsste vielleicht jemanden pflegen, mit dem man ein ganz schlechtes Verhältnis vor der Erkrankung hatte. Das ist dann so wie Sklavenarbeit, dass man sein eigenes Leben abgeben muss“ (111). Auch Haftungsaspekte würden dagegen sprechen: „Diese irre Verantwortung, die man hat. Meine Mutter hat immer nur gesagt ‚Ich bin ja auch verantwortlich. Wenn hier irgendwas passiert, nachher sagen die noch, ich hab nicht aufgepasst’“ (113 – 117). Die Umsetzung würde außerdem auch an der Unvereinbarkeit von Pflege und Beruf scheitern: „Außerdem glaube ich, dass das praktisch nicht durchführbar wäre, wenn jemand kein eigenes Einkommen mehr hätte: Wovon soll der dann leben, wenn er 24 Stunden pflegt?“ (111). Auch für die Pflegebedürftigen selber wäre eine Pflichtpflege Frau Felds Ansicht nach schlecht: „Das wäre ja für die alten Menschen auch ganz schrecklich, dann müssten die ja Leute pflegen, die das eigentlich gar nicht wollen, und die das vielleicht hassen“ (111). Demgegenüber befindet sich ein Profi in einer anderen Situation, „der hat sich diesen Beruf meistens ja irgendwie auch gewählt und der weiß, er bekommt da eine Gegenleistung, nämlich ganz schlicht und ergreifend Gehalt, und deswegen hat der auch ‘ne Motivation, das gut zu machen“ (111).
261
Abschließende Wünsche Abschließend würde Frau Feld andern pflegenden Enkeln wünschen, dass sie genug „Hilfe von außen“ (123) und Verständnis bekommen, und zwar von „Freunden, Verwandten, Angehörigen, Nachbarn, Lehrern“ (123). 9.3.2.4
Ausgewählte Aspekte familialer Generationenbeziehungen
Solidarität Frau Feld empfand vielfach Solidarität gegenüber ihrer Mutter, beispielsweise in Form von Mitgefühl angesichts deren Überlastung. Dies führte zu praktizierten Hilfeleistungen (31). Wie oben beschrieben, war sie es, die ihrer Mutter wiederholt „Mut gemacht“ (33) hat. Auch in umgekehrter Richtung erhielt Frau Feld von ihrer Mutter emotionale Unterstützung, die sich bemühte, die Tochter bestmöglich zu schützen (9). Am Anfang der häuslichen Pflegesituation war vonseiten der Eltern noch die grundsätzliche Bereitschaft vorhanden, Hilfe zu leisten (7), aber diese Haltung änderte sich bei Frau Felds Mutter im Laufe der Pflegezeit. Später hatten die praktischen Unterstützungsleistungen nicht mehr einen solidarischen Charakter, sondern die Konnotation von Verpflichtung und widerwilligem Durchhalten, was vielfach Anlass für Konfliktsituationen war. Konflikt Konflikthafte Beziehungsmuster waren sehr dominant in diesem Pflegesetting. Die Beziehung von Frau Feld und der demenzkranken Großmutter war geprägt von Auseinandersetzungen, die aus dem aggressiven und selbstgefährdenden Verhalten der kranken Frau resultierten. Wie oben beschrieben, träumte Frau Feld viele Jahre später noch von Situationen, in denen sie sich von Großmutter bedroht fühlte (53 – 57). Das Verhalten der Großmutter, das die Pflege sehr erschwerte, war für beide pflegende Generationen problematisch (15; 17; 35). Auch in der Zeit vor der Erkrankung hatte Frau Feld Streitigkeiten mit der Großmutter, die sie als „dominant“ (41) beschreibt: „Sie hat oft gesagt ‚Ich will hier die Macht haben. Ich will hier die Herrschaft haben’. Das waren so ihre klassischen Sätze“ (41). Allerdings hatte Frau Feld dies schon als Kind nicht akzeptiert: „Ich war da eher so ein bisschen das rebellische Kind, was dann auch mal so gesagt hat: ‚Wie, wir sollen jetzt alle das machen, nur weil Oma das so 262
will? Nö, ich finde das anders’, und das konnte meine Oma nicht haben“ (82). Somit waren die Enkelin und die Großmuter schon vor der Erkrankung Konfliktparteien: „Also wir haben uns, als ich klein war, schon oft mal gezankt. Dann hat sie mal zu meinem Vater gesagt ‚Deine Tochter ist so schlecht erzogen und die gibt Widerworte’. [...] Das war nicht störungsfrei“ (82). Wie oben ausgeführt, gab es massive intragenerationelle Konflikte zwischen den beiden Elternteilen (35). Ambivalenz Zu diesem Analysebereich liegen keine Aussagen vor. Frau Feld hat keine für sie unauflösbaren Zwiespältigkeiten erkennen lassen. Lernen Die Kategorie ‚Lernen’ spielt in den Beziehungsmustern bei Frau Feld die größte Rolle, allerdings meist in negativer Ausprägung. Das familiale, soziale und professionelle Umfeld der Familie kann unter die Kategorie ‚Wissensverweigerer’ subsumiert werden, und dies in doppelter Hinsicht: Einerseits wurden die Äußerungen über die Belastungssituation in der Familie nicht aufgenommen bzw. berücksichtigt und in Hilfeleistungen umgesetzt, andererseits fand – gerade von professioneller Seite – der für die Familie so dringend benötigte Transfer von Fachwissen nicht statt. Dies hat Frau Fels Mutter im Nachhinein geäußert, was von der Enkelin im Interview berichtet wird: „Wenn sie vorher gewusst hätte, dass es sechs Jahre wären, hätte sie es nicht gemacht und wenn sie von nichts mehr gelebt hätte. Aber das konnte uns ja auch keiner sagen, wie entwickelt sich das weiter, wie lange lebt jemand mit so einer Erkrankung, wann baut der körperlich ab“ (19).
Auch angesichts der starken Symptomatik bei der Erkrankten mit massiven Selbstgefährdungspotenzialen fühlte sich die Familie vom behandelten Arzt unzureichend betreut: „Hinterher hat sogar der Arzt gesagt ‚Ich habe keine Ahnung mehr, was ich jetzt machen soll’“ (57). Das Negieren der ausgesendeten Botschaften über die vorliegende Ausgestaltung der Pflegesituation reicht über die Verwandten, die Nachbarn bis zu den Mitgliedern der Pfarrgemeinde. Offensichtlich konnte die Enkelin keinen Lernprozess im Umfeld zum Thema ‚häusliche Pflege bei Demenz’ initiieren (19; 86). 263
Zum Analysebereich ‚Lernen’ gehört ebenso, wenn auch in weitaus geringerem Maße, dass Frau Feld Kenntnisse und Kompetenzen durch die Pflegesituation erworben hat, welche sie heute weitergeben kann (93). Dieses Wissen auch an andere zu vermitteln, war eines der Motive, sich an der hier durchgeführten Studie zu beteiligen: „Darum war es mir vielleicht auch wichtig, heute als Erwachsener noch mal zu sagen ‚So eine Studie ist wichtig’, weil in dieser Situation Kinder viel wegstecken“ (31). 9.3.2.5
Zusammenfassende Auswertung
Exemplarisch beschreibt dieser Fall ein Negativ-Beispiel häuslicher Pflege par excellence, denn die familialen Lebenswelten werden von Isolation, Überforderung und Konflikten geprägt. Folglich wird das in der Kindheit und Jugendzeit erlebte Pflegesetting von Frau Feld als ‚belastend’ bilanziert und eine Überforderung bejaht. Ein wesentlicher Belastungsfaktor stellt das symptombedingt problematische und häufig aggressive Verhalten der Großmutter dar, das sich als ‚therapieresistent’ erweist. Trotz des erheblichen Zeitintervalls von 18 Jahren zwischen dem Versterben der Großmutter und dem Interview scheinen gerade die Erfahrungen des Bedrohtwerdens aktuell bei Frau Feld präsent und ‚abrufbereit’ zu sein. Der eigene Wissensvorrat ist gefüllt mit Belastungserfahrungen und hat nachfolgende Lebensentwürfe und Handlungsperspektiven geprägt. Die Pflegebereitschaft der Enkelin entspricht den Vorstellungen ihrer Mutter und umfasst die eigene Sorgeleistung kombiniert mit dem Aufenthalt in einer Einrichtung. Bei Frau Feld handelt es sich um intergenerationelle Beziehungen mit dem geringsten Anteil an Solidarität im Verhältnis zu den weiteren untersuchten Beziehungsmustern innerhalb ihres Falles. Darüber hinaus wird das familiale Gefüge von Konflikten dominiert. Zu den Konfliktmomenten mit der kranken Großmutter summieren sich diverse inter- und intragenerationelle Konflikte zwischen einzelnen Familienmitgliedern. Dieser Fall ist weiterhin einer von zwei Fällen, in denen eine Enkelin und ein Vater Konfliktparteien sind. Die Parallelen mit dem zweiten diesbezüglichen Fall sind bereits in der Auswertung des Falles von Frau Klein beschrieben worden. Die vorhandenen Konfliktmuster zwischen Enkel- und Elterngeneration stehen in beiden Fällen im Zusammenhang mit einem als belastend erlebten Pflegesetting, mit einer Überforderung der Enkeltochter und mit einer Reihe von speziellen ungünstigen Randbedingungen. In diesem Falle betrifft es die Ehekonflikte in der Elterngeneration. Die Beziehungslogik ‚Lernen’ ist die dominante, wird jedoch primär in einer negativen Ausprägung erlebt. Die Enkelin ist die Einzige, die Wissen vermittelt 264
oder sich welches aneignet. Zentralen Stellenwert hat das familiale und soziale Umfeld als Wissensverweigerer.
9.4
Nora Klein
9.4.1
Fallbeschreibung
Nora Klein ist 27 Jahre alt. Sie hat längere Zeit im Ausland gelebt und dort eine akademische Qualifikation in der Disziplin Pflege erlangt. Aufgrund des hohen Hilfe- und Pflegebedarfes ihrer Großmutter kam sie vor achtzehn Monaten nach Deutschland zurück, lebte erst ein halbes Jahr mit ihrem Vater, ihrem jugendlichen Bruder und ihrer demenzkranken Großmutter im Haus ihres Vaters, zog anschließend in eine ca. fünfzig Kilometer entfernte größere Stadt, von wo aus sie ebenfalls für ein dreiviertel Jahr erst täglich und später mehrmals wöchentlich nach ihrer Arbeit zum väterlichen Hof zur Pflege der Großmutter fuhr. Diese verstarb mit über 90 Jahren kurz vor dem durchgeführten Interview. Nach der Trennung der Eltern in der Kindheit von Frau Klein leistete der ganztägig erwerbstätige Vater nun allein die Betreuung der mittlerweile demenzkranken Großmutter. In dem Zeitraum, als die Enkelin wieder auf dem elterlichen Hof lebte, war sie selber die Hauptpflegeperson, im Anschluss an ihren Auszug unterstützte sie den Vater abermals bei dieser Aufgabe. Der Zeitraum der Pflege betrug für sie vierzehn Monaten mit einem hohen Maß an Beanspruchung, dem in der Zeit der Koresidenz ein 24-Stunden-Einsatz pro Tag und in der Zeit danach ein täglicher Einsatz vor Ort immanent war. Nach dem Tode ihrer Großmutter beabsichtigt Frau Klein, wieder ins Ausland zurück zu gehen. 9.4.2
Zusammenfassende Auswertung
Mehrere Spezifika prägen dieses Pflegesetting. Der Zeitraum der Pflege beträgt für die Enkelin vierzehn Monaten, was unter allen Interviewpartnerinnen und partnern die kürzeste Dauer ist. Weiterhin handelt sich um einen von drei Fällen
265
mit einer männlichen Hauptpflegeperson175 und um den einzigen Fall, in dem die Enkelin gleichzeitig auch die Hauptpflegeperson verkörpert. Diesbezüglich ist diese Fallstudie durch den 24-Stunden-Einsatz der Enkelin vor Ort in den sechs Monaten ihres Aufenthaltes auf dem Hof auch gleichzeitig diejenige mit der größten zeitlichen Beanspruchung. Die Themen mit herausragender Relevanz sind die Verbundenheit mit der Großmutter bei deren gleichzeitiger personaler Desorientierung sowie das Bedürfnis der Enkelin, ihren Beitrag zur Reziprozität der intergenerationellen Hilfetransfers zu leisten. Das familiale Umfeld ist problematisch und kann trotz massiver Überlastung nicht eingebunden werden. Solidarität ist in diesem Fall das vorherrschende Beziehungsmuster. Trotzdem wird das Pflegesetting als ‚belastend’ bilanziert und eine Überforderung bejaht. Erklärend hierzu zeigt die Detailanalyse erstens eine einseitige Ausprägung von Solidarität, bei der die Enkelin nahezu als einzige Akteurin auftritt. Dies steht im Zusammenhang mit dem Fehlen der Kategorie ‚familialer Zusammenhalt’ im Rahmen der Gesamtbilanzierung, das heißt, dass ein Empfinden von familialer Kohäsion nicht vorliegt. Hierzu wird in diesem Fall ein hohes Maß an Konflikten kumuliert. Möglicherweise könnte eine hohe Bereitschaft zur Solidarität kombiniert mit einem hohen Anteil von konflikthaften Beziehungssequenzen, wie bei Frau Klein, eine ungünstige Voraussetzung für die persönliche Bilanzierung darstellen. Die Beziehungslogik ‚Lernen’ steht erst an dritter Stelle der Muster und tritt zudem nur in einer Negativ-Ausprägung auf, da das angebotene Wissen der Enkelin vom Vater nicht angenommen wird. Innerhalb des vorliegenden Samples liegen zwei Fälle vor, in denen Enkelinnen Konflikte mit der Elterngeneration, respektive mit dem Vater erleben, denn neben Frau Klein betrifft dies auch Frau Feld. Trotz erheblicher Varianzen bei dem Alter während des Pflegegeschehens, der familialen Gesamtsituation und der Dauer der Pflege können Analogien ermittelt werden: Beide Male sind es weibliche Enkelinnen, die mit den Vätern, das heißt mit den Männern der Elterngeneration, Konflikte erleben, beide Väter sind um die fünfzig Jahre und erheblich durch die Situation gefordert und in beiden Fällen wird der Einbezug von Verwandten abgelehnt. Beide Enkelinnen bilanzieren das Setting als Belastung, fühlten sich überfordert und wählen die räumliche ‚Flucht’ als Bewältigungsstrategie. Insgesamt scheinen kontinuierliche Konflikte zwischen der Enkel- und der Elterngeneration die subjektiven Sinnzuschreibungen erheblich in negativer Form zu prägen. 175 Im Pflegesetting von Frau Lindmann handelt es sich bei der Hauptpflegeperson um ihren Großvater und bei Herrn Metzger um seinen Vater.
266
9.5
Ines Kaufmann
9.5.1
Fallbeschreibung
Ines Kaufmann ist sechzehn Jahre alt und Schülerin. Sie hat im Alter von elf bis fünfzehn Jahren die häusliche Pflege ihrer über 80-jährigen demenzkranken Großmutter im Elternhaus erlebt. Vor einem Jahr erfolgte der Umzug der Großmutter in ein Altenheim, der aber nicht zum Kontaktabbruch führte, da Frau Kaufmann sie dort wöchentlich besucht. Im häuslichen Pflegesetting lebte außer ihr, ihren Eltern und der Erkrankten auch noch ihre ältere Schwester. Der Wohnort war eine ländlich geprägte, kleine Gemeinde. Frau Kaufmanns Mutter, die Hauptpflegeperson, wurde von verschiedenen Familienmitgliedern und professionellen Diensten unterstützt. Die Enkelin selber leistete täglich instrumentelle und emotionale Hilfen zur Versorgung der kranken Großmutter wie z. B. Ins-Bett-Bringen oder Essen-Anreichen sowie weitere Formen der sozialen Betreuung. Ines Kaufmann hat per E-Mail Kontakt bei der Verfasserin dieser Arbeit aufgenommen. Ihr Interesse, ihre Erfahrungen mitzuteilen, war groß, so schrieb sie in ihrer ersten E-Mail: „Ich denke, dass ich Ihnen viel über die Pflege und meine Erfahrungen erzählen kann. Ich selbst habe dadurch, dass meine Oma zu uns gezogen ist, viel mitgemacht.“ Ines Kaufmann ist die jüngste der siebzehn Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieser Studie. 9.5.2
Zusammenfassende Auswertung
Frau Kaufmann ist in dieser Studie mit sechzehn Jahren die jüngste Studienteilnehmerin. Betrachtet man ihren Zeitraum der häuslichen Pflege im Alter von elf bis fünfzehn Jahren, ist sie diesbezüglich auch eines der jüngsten Enkelkinder. Die belastenden und auch von ihr als überfordernd erlebten Erfahrungen aufgrund des aggressiven und ablehnenden Verhaltens der erkrankten Großmutter liegen in der Anfangszeit der häuslichen Pflege. Da die weiteren Familienangehörigen, insbesondere die Mutter, sich nach einiger Zeit diesbezüglich belastungspräventiv verhielten, fand nachfolgend eine Phase statt, in der Erfahrungen des Lernens und des familialen Zusammenhalts dominieren konnten, was letztendlich ihre Bewertungen, d. h. ihre ‚Selbstauslegung’, bestimmt hat. Denn nach Schütz ist ein „gemeinter Sinn eines Erlebnisses […] nichts als eine Selbstauslegung des Erlebnisses von einem neuen Erleben her“ (Schütz 1960, 83). Das Erleben von Überlastung ist bei ihr noch gegenwärtig 267
und auch von Relevanz, daher ist die Ausprägung der Meta-Varible ‚Überforderung’ bei ihr als ‚teilweise’ zu klassifizieren. Allerdings wurde dieses Erleben, wie erwähnt, in den Sinnzusammenhang einer Wissensaneignung und personalen Weiterentwicklung gestellt. Ihre Besuche im Altenheim bei der demenzkranken Großmutter mit der nachfolgenden Berichterstattung an die weiteren Mitglieder der Kernfamilie sind ein wichtiger Beitrag im Rahmen der familialen Sorgearbeit und signalisieren einen gleichberechtigten Status zur Eltern-Generation, sodass hier ebenso wie bei Herrn Ottfried eine Generationendifferenz partiell entfällt. Aspekte des familialen Zusammenhalts und der intensivierten Kommunikation werden im gesamten Interview als vordergründig und relevant geschildert, was sich einerseits auf die kranke Großmutter, andererseits auch auf das restliche familiale Gefüge bezieht. Frau Kaufmanns ‚Gesamtbilanzierung’ fällt daher positiv aus. Nach dem Beziehungsmuster ‚Solidarität’ ist das ‚Lernen’ das am häufigsten genannte Muster. Wobei Frau Kaufmann, gerade auch Gleichaltrigen gegenüber, als Wissensvermittlerin auftreten kann. Nennungen von Konflikten beziehen sich exklusiv auf Situationen mit der kranken Großmutter bei gleichzeitiger Abwesenheit von Konflikten mit der Elterngeneration. Diese Form der Beziehungsgestaltung deckt sich mit dem von ihr berichteten familialen Zusammenhalt. Als Pflege erfahrene Angehörige hat Frau Kaufmann trotz des jugendlichen Alters schon über ein zukünftiges Pflegeszenario bezogen auf ihre Eltern nachgedacht. Sie äußert eine grundsätzliche Bereitschaft zur Übernahme häuslicher Pflege, deren konkrete Ausgestaltung von ihren Lebensumständen und vorhandener familialer Unterstützung abhängen wird. Aus heutiger Sicht werden Faktoren wie die eigene Erwerbstätigkeit in Verbindung mit der eigenen Familiensituation eine Rolle spielen. Bei einer potenziellen Verfügbarkeit, hier in Form der klassisch-traditionellen Rollenverteilung als ‚Mutter und Nur-Hausfrau’ beschrieben, und bei sehr großem Bedarf kann sie sich die häusliche Pflege vorstellen.
268
9.6
Barbara Vogt
9.6.1
Fallbeschreibung
Die 26-jährige Studentin Frau Vogt hat im Alter von zwölf bis 22 Jahren das ambulante Pflegesetting ihrer an Demenz erkrankten Großmutter im Elternhaus erfahren. Die Großmutter lebte gemeinsam mit ihrem Ehemann, Frau Vogts Großvater, in den ersten fünf Jahren dieses Zeitraumes in einer separaten Wohnung im gemeinsamen Haus; anschließend zog das Großelternpaar zu Frau Vogts Familie, welche in einer Kleinstadt wohnte. Für die Enkelin endete die direkte Pflegesituation mit ihrem Auszug aus dem Elternhaus, auch wenn sie weiterhin engen Kontakt zur Familie unterhielt. Die Unterstützung der erkrankten Großmutter beinhaltete über viele Jahre einen beträchtlichen Pflegeaufwand, zu dem im späteren Verlauf der Erkrankung mehrere Jahre der Versorgung bei Bettlägerigkeit gehörten. Die Hauptpflegeperson, Frau Vogts Mutter, für die die Dauer der Pflege insgesamt 15 Jahre betrug, erhielt Unterstützung von einem professionellen Pflegedienst und von der Enkelin selber. Hierbei führte Frau Vogt auch die Körperpflege durch. Zum Haushalt gehörte damals auch noch ein jüngerer Bruder. Ungefähr zwei Jahre vor dem Interview verstarben beide Großeltern kurz hintereinander. Frau Vogt lebt heute mit ihrem Partner in der Stadt, in der sie studiert. 9.6.2
Zusammenfassende Auswertung
Frau Vogt hat im Alter von zwölf bis 22 Jahren Erfahrungen mit häuslicher Pflege bei Demenz gesammelt. Dieser lange Zeitraum wird von ihr trotz aller familialer Verpflichtungen und erheblicher pflegerischer Anforderungen als ‚positiv’ bilanziert. Das Vorliegen einer prinzipiellen Überforderung wird kategorisch verneint, da nur singuläre Überlastungsmomente von geringerer Relevanz präsent waren. Diese Aussagen korrelieren damit, dass die Erkrankte als ‚pflegeleicht’ wahrgenommen wurde. Ein Sinnzusammenhang besteht zwischen der praktizierten Pflege, den Erfahrungen des familialen Zusammenhalts und dem reflektierten Umgang mit Belastungen. Die eigene Pflegebereitschaft kann als ‚umfassend’ klassifiziert werden, wobei die Vorstellungen hierzu ambivalent sind. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen – betreffend die fehlende Vereinbarkeit von Pflege und Beruf – stellen Barrieren eines zukünftigen häuslichen Pflegeszenarios dar. 269
Zusammenfassend können die Generationenbeziehungen als solidarisch und wenig konflikthaft charakterisiert werden. Solidarische Akte beinhalten ein breites Hilfespektrum über einen erheblichen Zeitraum, wobei die Kategorie ‚Lernen’ auch deshalb sehr positiv gewertet wird, da man in die Aufgaben langsam ‚hineinwachsen’ konnte. Darüber hinaus wird an den anspruchsvollen Tätigkeiten deutlich, dass auch Frau Vogt wichtige Beiträge zur sozialen Reproduktionsfunktion von Familie leistet und auch in ihrem Fall Generationendifferenzen in Anbetracht faktischer Pflegebedarfe partiell aufgehoben werden. Ihre Äußerungen zur ‚Pflichtpflege für Angehörige’ machen deutlich, dass sie durchaus Potenziale für Laien in der häuslichen Pflege sieht. Dies ist plausibel, da sie die Pflege als positives Erlebnis erfahren hat. Allerdings zeigt sich das soziale Umfeld in dieser Hinsicht als ‚Wissensverweigerer’: Es ist Frau Vogt kaum möglich, die Existenz positiver Merkmale häuslicher Pflege im sozialen Umfeld zu vermitteln. Erfahrungen dieser Art implizieren für die Praxis die Notwendigkeit einer öffentlichen Bewusstmachung von persönlichkeitsfördernden Aspekten familialer Unterstützungssettings.
9.7
Marie Lindmann
9.7.1
Fallbeschreibung
Marie Lindmann ist 28 Jahre alt und Angestellte. Im Alter von 16 bis 23 Jahren unterstützte sie im Rahmen eines multilokalen Pflegesettings ihre Mutter und ihren Großvater, der als Hauptpflegeperson verantwortlich war, bei der Betreuung der demenzkranken Großmutter. Die Großeltern lebten ca. 30 Autominuten entfernt in einer Kleinstadt. Im Zeitraum des Pflegesettings wohnte die Enkelin noch im Elternhaus. Sie besuchte die Großmutter über viele Jahre ca. einmal wöchentlich, teilweise gemeinsam mit ihrer Mutter, aber auch alleine mit dem Bus und später mit dem Pkw. Zur Kernfamilie von Frau Lindmann gehört außer den Eltern noch ein älterer Bruder. Die Eltern von Frau Lindmann, die mehrmals wöchentlich zu den Großeltern fuhren, unterstützten die Großeltern organisatorisch, instrumentell, bei der Betreuung der Kranken und hierbei auch zunehmend bei der Körperpflege. Frau Lindmanns Hilfeleistungen bezogen sich im Wesentlichen auf den Haushalt und die Betreuung der Kranken. Die Pflegesituation änderte sich, als die Großmutter ins Altenheim kam, und dort von Frau Lindmann sowie ihren Eltern über ein Jahr lang weiterhin kontinuierlich betreut 270
wurde, bis sie vor fünf Jahren verstarb. Frau Lindmann ist vor längerer Zeit aus dem Elternhaus ausgezogen, sie lebt mit ihrem Mann in einer größeren Stadt. Nach einer kurzen Pause in der Betreuung eines demenzkranken Menschen kümmert sich Frau Lindmann mittlerweile um ihre zweite Großmutter, die ebenfalls an Demenz erkrankt ist. Ebenso wie den anderen Interviewpartnerinnen und -partnern ist es ihr wichtig, die Ergebnisse der Studie zu erfahren. 9.7.2
Zusammenfassende Auswertung
Die Hauptthemen in Frau Lindmanns Interview sind die erbrachten Pflegeleistungen im Kontext intensivierter Beziehungen zwischen drei Frauen aus drei Generationen, der kranken Großmutter, der Mutter und der Enkeltochter. So wird die langjährige Pflegesituation als ‚positiv’ bilanziert und eine Überlastung prinzipiell verneint. Weiterhin werden personale Konflikte mit der Hauptpflegeperson, dem Großvater, genannt, wobei die Themen ‚Kooperation’ und ‚voneinander Lernen’ wichtig sind. Deutlich wird, dass beide jüngere Generationen aktiv bemüht waren, sich adäquates Wissen anzueignen, während der Großvater infolge des Festhaltens an lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten nicht oder nur wenig bereit war, den individuellen Wissensvorrat zu erweitern. In diesem Fall führte es dazu, dass jüngere Familienmitglieder in ein für sie dysfunktionales Setting eingebunden wurden, ohne dass sie mit ihrem Wissen bzw. ihren Lösungsvorschlägen zur erfolgreichen Bewältigung der Situation beitragen konnten. Die daraus abzuleitenden Praxisimplikationen beinhalten die Förderung einer grundsätzlichen Neuorientierung im Bereich intergenerationellen Lernens, im Zuge dessen die Enkelgeneration auch als Wissensvermittler fungieren kann, um familiale Solidarität nachhaltig zu stärken.
9.8
Lena Helling
9.8.1
Fallbeschreibung
Die 23-jährige Lena Helling hat im Alter von 17 bis 23 Jahren die Pflege ihrer demenzkranken Großtante erlebt, welche vier Monate vor Beginn der hier 271
vorgestellten Studie verstarb. Die Betreuungssituation erfolgte im Vorort einer größeren Stadt im Haus ihrer Eltern, in dem die Großtante einen eigenen, separaten Haushalt führte. Mit fortschreitender Erkrankung zeigte sich ein zunehmender Hilfebedarf, den Frau Helling im Nachhinein mit durchschnittlich drei Stunden pro Tag einschätzt und der ein breites Spektrum organisatorischer und instrumenteller Hilfen einschließlich der Körperpflege umfasste. Frau Helling ist die Jüngste von vier Geschwistern. Im familialen Haushalt lebten im Zeitraum der Pflegesituation noch ihre beiden Eltern sowie ein älterer Bruder, zwei Schwestern waren schon ausgezogen. Hauptpflegeperson war die Mutter von Frau Helling, die einer Teilzeitbeschäftigung nachging. Unterstützt wurde sie von ihrem Ehemann, weiteren Familienangehörigen, professionellen Diensten sowie von Frau Helling selbst. Ihre eigenen damaligen Hilfeleistungen schätzt die Enkelin zeitlich auf einen mittleren Wert von unter einer Stunde pro Tag, wobei sie im Haushalt half, die Erkrankte begleitete, und auch bei der Körperpflege behilflich war. Sie wohnt nach wie vor in ihrem Elternhaus und ist mittlerweile Studentin. 9.8.2
Zusammenfassende Auswertung
Auch in diesem Fall handelt es sich nicht um die leibliche Großmutter, sondern um eine Großtante, die faktisch diese Position im familialen Gefüge innehatte. Mit weit über 80 bis über 90 Jahren ist diese eine der ältesten Demenzkranken in dieser Studie. Die 6-jährige Dauer der Pflege wurde in der Zeit der Jugend und des frühen Erwachsenenalters von Frau Helling in Form einer Koresidenz erfahren, wobei der sorgfältige Umgang mit der Großtante und die differenzierten Unterstützungsleistungen im Vordergrund standen. Beides repräsentiert das ‚als fraglos gegebene’ Klima gegenseitiger Hilfe in der Familie. Trotz der anspruchsvollen Betreuungsaufgabe wird die Zeit der Betreuung von Frau Helling positiv bilanziert. Da ein Großteil der Hilfebedarfe vorrangig als familienimmanente Betreuungserfordernisse wahrgenommen und bewältigt wurden, gehörten die damit verbundenen Anforderungen primär zu den lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten. Allerdings stellten spezifische Persönlichkeitsveränderungen der Kranken, respektive das aggressive und vorwurfsvolle Verhalten, eine besondere Herausforderung für Frau Helling dar. Selbst bei reflektierten und angemessenen Umgangsformen führten organisatorische Alltagskontexte und zeitliche Verpflichtungen vereinzelt zu Überlastungsphänomenen, sodass in diesem Fall die Meta-Variable ‚Überlastung’ mit der Ausprägung ‚Teilweise’ vorliegt. Als Belastungsprävention sieht sie einerseits eine 272
noch größere Sensibilität und Geduld im Umgang mit Demenzkranken und andererseits komplementäre professionelle Angebote. Solidarität wird als selbstverständliche Haltung in der Familie gelebt, und ist so quasi ein Teil des familialen Wissensvorrats, was auch im Zusammenhang mit dem niedrigen Anteil an familialen Konflikten steht. Diese sind ausschließlich mit der Symptomatik der Demenz korreliert und beziehen sich nicht auf weitere familiale Beziehungen. Ambivalenzen sind kaum präsent, und werden nur kurz angemerkt. Dagegen ist das Beziehungsmuster ‚Lernen’ von großer Relevanz, und an der positiven Bewertung beteiligt. Die erhaltenen Erkenntnisse über das Alter haben Frau Hellings individuelle Kenntnisse und ihren zeitlichen Horizont erweitert. Frau Hellings Ausführungen zeigen Implikationen für die Bildung von Pflegearrangements mit Laien und professionellen Kräften auf. Interessant ist hier, dass aus Sicht eines jungen Menschen die häusliche Betreuung durch externe professionelle Angebote ergänzt werden sollte. Entscheidende Argumente betreffen die gezielte Förderung des kranken Menschen und dessen Integration in soziale Gruppenaktivitäten, da trotz der Beteiligung von mehreren Familienangehörigen die zeitlichen und auch psychischen Ressourcen im Alltagsleben für die Betreuung begrenzt bleiben können. Bei dem von ihr präferierten Betreuungsmix ist die Qualität der professionellen Arbeit ausschlaggebend.
9.9
Dirk Metzger
9.9.1
Fallbeschreibung
Dirk Metzger ist zum Zeitpunkt der Erhebung 17 Jahre alt. Sein Großvater erkrankte an Demenz als Herr Metzger 10 Jahre alt war, er starb kurz vor dem Interview für die hier vorliegende Studie. Der Vater von Herrn Metzger hat während des sieben Jahre dauernden Pflegesettings als Hauptpflegeperson die erforderlichen Aufgaben in den Bereichen Betreuung, Organisation und praktischen Hilfeleistungen übernommen. Der erkrankte Großvater wohnte anfangs noch im separaten eigenen Haushalt in derselben Stadt. Nach mehreren Klinikaufenthalten erfolgte der Umzug in eine ambulante Wohngemeinschaft für demenziell Erkrankte, zu deren Konzept eine starke Einbindung von Angehörigen gehört. In Herrn Metzgers Elternhaus lebte während der Pflegesituation neben ihm und seinen Eltern noch seine jüngere Schwester. 273
Nach dem Umzug in die ambulante Wohngruppe für Demenzkranke wurde der kranke Großvater dort rund um die Uhr von einem professionellen Team gepflegt. Für den Vater von Dirk Metzger bestand die Hilfeleistung – neben praktisch-organisatorischen Angelegenheiten – zu einem großen Teil in der Begleitung und Betreuung des Kranken. Der Vater selber war ganztägig berufstätig und erhielt Unterstützung durch seine Ehefrau, seinen Sohn, der den Großvater regelmäßig, ca. vierzehntägig, besuchte, und weitere Familienangehörige. Dirk Metzger ist Schüler und wohnt bei seinen Eltern. 9.9.2
Zusammenfassende Auswertung
Bei Herrn Metzger handelt es sich um einen der vier männlichen Enkel in der Gruppe der hier Interviewten. Er erlebt eine innovative und bislang noch nicht flächendeckend verbreitete Versorgungsform. Spezifisch in seinem Fall ist ebenso die Geschlechterverteilung innerhalb der Generationenfolge, da drei Männer aus drei Generationen in dieses Pflegesetting involviert sind. Das Betreuungsgeschehen beginnt für den Enkel mit zehn Jahren, womit er neben Frau Wiesner eines der beiden jüngsten Enkelkinder zur Zeit der Pflege darstellt. Seine Bilanzierung ist positiv und eine Überforderung liegt nicht vor. Beides kann plausibel mit dem funktionierenden Mix aus professioneller Basisbetreuung und familialer Komplettierung in Verbindung gebracht werden. Die gute Beziehung zum Großvater ist auch nach der Erkrankung durch ein hohes Maß an Verbundenheit geprägt. Die Generationenbeziehungen sind vom Muster ‚Solidarität’ dominiert. Solidarische Haltungen und Aktionen gehen von verschiedenen Generationen aus und auch die Adressaten von Solidarität variieren, sodass ein ausgewogenes Verhältnis gegeben ist. Der Anteil an Konflikten ist unbedeutend, und Ambivalenzen sind nicht ersichtlich. Intergenerationelles Lernen ist ein wesentlicher Teil des Erlebens, wobei seine Eltern als Wissensvermittler eine wichtige Funktion innehaben. Sein individueller Wissensvorrat ist so weit vergrößert, dass er selber als Wissensvermittler fungiert. Die eigene Pflegebereitschaft spiegelt die als erfolgreich bewerteten Erfahrungen wieder. Eine ähnliche Versorgungsform wie die bereits erlebte würde für ihn nicht nur die Versorgungserfordernisse für die Pflegeperson limitieren, sondern auch ein soziales Integrationspotenzial für den Kranken implizieren.
274
9.10
Gitte Schwarz
9.10.1 Fallbeschreibung Gitte Schwarz ist 22 Jahre alt, Studentin, und hat im Alter von 12 bis 18 Jahren die häusliche Pflege ihres demenzkranken Großvaters erlebt, welcher in diesem Zeitraum um die 70 Jahre alt war. Dieser lebte damals mit seiner Ehefrau, Frau Schwarz’ Großmutter, in einer Kleinstadt im Elternhaus von Frau Schwarz in einer separaten Wohnung. Zur Familie gehörten weiterhin außer ihren Eltern ihre beiden jüngeren Schwestern. Die Großmutter von Frau Schwarz war als Hauptpflegeperson zunehmend in den Bereichen Organisation, Betreuung und Körperpflege des Kranken auf die Unterstützung der im Haus lebenden Kinderund Enkelgeneration angewiesen, was Frau Schwarz als älteste von drei Schwestern am meisten betraf. Ein ambulanter Pflegedienst war ebenfalls Teil des Pflegearrangements. Frau Schwarz schätzt ihre durchschnittliche Hilfe- und Betreuungsleistung mit zwei Stunden pro Woche ein. Vor vier Jahren verstarb ihr Großvater, der die letzten drei Monate seines Lebens in einem Altenheim verbracht hatte. Frau Schwarz wohnt mittlerweile in der Stadt, in der sie studiert. 9.10.2 Zusammenfassende Auswertung Frau Schwarz hat als Kind und Jugendliche die häusliche Pflege miterlebt. In ihrem Fall handelt es sich um einen von drei erkrankten Großvätern in dieser Studie, wobei sich die hier berichtete Problematik der gravierenden Belastung der Enkelin durch das abwehrende und häufig aggressive Verhalten des Großvaters bei den beiden anderen Fällen mit männlichen kranken Großelternteilen (Frau Wiesner und Frau Wessels) nicht wiederholt. Die Meta-Variable ‚Überlastung’ lautet bei ihr ‚teilweise’. Neben den geschilderten Überlastungsmomenten und Konflikten existieren aber auch Erfahrungen von familialer ‚(Pflege-)Leistungsfähigkeit’ und eigenem Erkenntnisgewinn, was erheblich die individuellen Sinnzuschreibungen prägt und zu einer ‚gemischten’ Bilanzierung führt. Ihre eigene Pflegebereitschaft kann mit ‚partieller häuslicher Pflege’ klassifiziert werden. Der Blick auf die Generationenbeziehungen zeigt den zweitniedrigsten Anteil an ‚Solidarität’ und ein hohes Maß an Konflikten. Bei ihr ist ‚Lernen’ das dominante Beziehungsmuster, was angesichts ihres Alters von 12 bis 18 Jahren 275
zur Zeit der Pflege plausibel erscheinen kann. Die Subkategorien im Bereich ‚Lernen’ verdeutlichen dabei ihre Position als Wissensaneignerin, was teilweise auch für ihre Eltern zutrifft. Wichtiger scheint aber deren Funktion als Wissensvermittler zu sein, da die Enkelin im Besonderen die pflegerische und organi-satorische Leistungsfähigkeit der Elterngeneration betont. Auch im Rahmen ihres Erkenntnisgewinns ist ‚Lernen’ positiv konnotiert. Allerdings macht Frau Schwarz ebenso die Erfahrung der Wissensverweigerung bei ihrer Großmutter und dem familialen und sozialen Umfeld. Frau Schwarz macht weiterhin deutlich, dass Lernprozesse ihr zukünftiges Pflegeszenario beeinflussen werden, da beide jüngere Generationen bereits jetzt – bezogen auf die erlebte Situation – modifizierte Rahmenbedingungen für eine spätere Pflegesituation antizipieren und artikulieren.
9.11
Stefan Sommer
9.11.1 Fallbeschreibung Stefan Sommer ist zum Zeitpunkt der Erhebung 24 Jahre alt und Student. Seit vier Jahren erlebt er die Versorgung seiner demenzkranken Großmutter, deren Demenz mit gut 80 Jahren erkennbar wurde. Seine Hilfeleistung erfolgt multilokal, da er unmittelbar nach dem Beginn der Pflegesituation von zu Hause ausgezogen ist. Ungefähr regelmäßig einmal im Monat sowie bei Bedarf kümmert er sich um die über 100 Kilometer entfernt wohnende Großmutter, die mit Herrn Sommers Großvater in einem Haushalt lebt und mittlerweile rund um die Uhr Unterstützung benötigt. Die Hauptpflegeperson ist die Mutter des Enkels, welche im Ort der kranken Großmutter lebt und Unterstützung durch den Großvater, durch ihren Mann, Herrn Sommers Vater, seinen Bruder und durch den Einsatz mehrerer privater Hilfskräfte erfährt. Sie übt eine TeilzeitTätigkeit aus. Die Hilfeleistungen von Herrn Sommer erfolgen z. B. in Form von gemeinsamen Spaziergängen mit seiner Großmutter und pflegerischen Tätigkeiten. Im heutigen Wohnort von Herrn Sommer lebt außerdem seine zweite, kognitiv nicht beeinträchtigte, Großmutter, die ebenfalls instrumentelle Unterstützung von ihm erhält. Als Einschlusskriterium für die Studie war von Bedeutung, dass Herr Sommer trotz unbeendetem Pflegesetting einen inneren Abstand zum Zwecke
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der Bilanzierung haben würde. Im Interview wurde deutlich, dass Herr Sommer die vorhandene Pflegesituation ausreichend reflektieren konnte. 9.11.2 Zusammenfassende Auswertung Bei diesem Fall handelt es sich um ein multilokales Pflegesetting mit signifikanter räumlicher Distanz, das zum Zeitpunkt des Interviews noch besteht. Der Enkel ist einer der vier Männer in der Gruppe der Interviewten. Er leistet im jungen Erwachsenenalter seit vier Jahren kontinuierliche Hilfe. Dabei hat er eine multidimensionale Unterstützungsfunktion inne: Er hilft seiner Mutter bei der Pflege der kranken Großmutter, berücksichtigt dabei auch die Bedürfnisse des kranken Großvaters und kümmert sich weiterhin um die Hilfebedarfe seiner zweiten Großmutter in seinem jetzigen Wohnort. Trotz der Mehrfachanforderungen und der jeweils zu überbrückenden Distanz zur Lokalität des Pflegegeschehens bilanziert er positiv und verneint eine Überlastung. Dies wird auch durch seine Hauptthemen im Interview abgebildet, die aufzeigen, dass zum einen erfolgreich eine familiale Pflegeleistung erbracht wird und zum anderen seine eigene Rolle als Enkel eine positive ist. Weiterhin wird die Pflegesituation auf der Basis des familialen Zusammenhalts realisiert. Seine pflegerischen Kompetenzen stellen einen relevanten Faktor für das positiv erlebte Pflegesetting dar, was an einer zentralen, wiederkehrenden Aussage deutlich wird: „Kein Problem“ (60; 62; 66; 76; 94; 104; 112). Somit werden die solidarischen Leistungen einerseits im Rahmen lebensweltlicher Selbstverständlichkeiten erbracht, andererseits basieren sie auf dem mitgebrachten Wissensvorrat des Enkels als ehemaliger Zivildienstleistender. Das Empfinden eines familialen Zusammenhalts dürfte auch durch die solidarische Haltung der beiden Brüder untereinander beeinflusst worden sein. Auf der Basis seiner überwiegend positiven Erfahrungen formuliert er seine ‚abschließenden Wünsche’ im Interview. Diese machen deutlich, dass er, über seine persönliche umfassende Pflegebereitschaft hinausgehend, auch anderen jungen Menschen die Option einer frühzeitigen Beteiligung an häuslichen Pflegesettings wünscht. Dass eine Partizipation an der Versorgung demenziell erkrankter Großeltern, auch dann, „wenn es nicht von ihnen selbst aus kommt“ (138) aus der Sicht eines jungen Mannes „wertvolle Erfahrungen mit sich bringen kann“ (138) wird beim Formulieren von Praxisimplikationen zu berücksichtigen sein.
277
9.12
Silke Schuster
9.12.1 Fallbeschreibung Die 24-jährige Studentin Frau Schuster hat im Alter von 13 bis 20 Jahren im Elternhaus die Pflege ihrer Großmutter erlebt. Die demenzkranke Frau war damals um die 80 Jahre alt und wohnte zusammen mit Frau Schusters Eltern und ihren drei Geschwistern im Familienhaushalt in einer kleinen Gemeinde. Für Frau Schuster wurde der direkte Einbezug in die Pflegesituation vor vier Jahren durch den Beginn des Studiums und den Auszug von zu Hause beendet. Frau Schuster erlebte einen Hilfebedarf, der die gesamte hauswirtschaftliche Versorgung und die Körperpflege betraf. Für Frau Schusters Mutter, die Hauptpflegeperson ist es zum Zeitpunkt des Interviews eine mittlerweile elfjährige Pflegesituation. Unterstützung erhält sie von ihrem Mann, Frau Schusters Vater, ihren vier Kindern und weiteren Familienangehörigen. Die Enkelin half bei der gesamten Pflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung. Im Rahmen ihrer Besuche im Elternhaus hält sie auch nach ihrem Auszug eine lockere Verbindung zur weiterhin bestehenden Pflegesituation. Frau Schusters Mutter hatte im Angehörigengesprächskreis von der hier vorliegenden Studie erfahren und ihre Tochter darüber informiert. Die Enkelin gab später als Grund für ihre Kontaktaufnahme bei der Verfasserin an, dass es ihr ein Anliegen sei, die Forschung im Bereich Demenz zu unterstützen. Das Interview verlief lebhaft und innerhalb einer positiven Atmosphäre. Frau Schuster äußerte wie alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein starkes Interesse an den Ergebnissen der Studie. 9.12.2 Zusammenfassende Auswertung Die Enkelin im vorliegenden Fall erlebte als Kind und Jugendliche sieben Jahre lang die häusliche Pflege in Koresidenz. Die dominierenden Themen sind die individuell und familial erfolgreich erbrachte Pflegeleistung, die Verbundenheit mit dem kranken Menschen und ihre eigene positiv konnotierte Rolle als Enkelin. Sie bilanziert folglich auch positiv und verneint das Vorliegen einer generellen Überforderung. Interessant ist bei ihrem Fall, dass die Krankheit an sich im Rahmen ihrer Bilanzierung mit einem personalen ‚Gewinn’ korreliert ist, da aufgrund der zunehmenden Gedächtniseinbußen der alten Frau deren frühere personale Präferenzen in der Familie bedeutungslos wurden und eine 278
neue Beziehung generiert werden konnte. Hierdurch hat sich die Position der Enkelin verbessert. Auch im Bereich der konflikthaften Muster kann ein Gewinn infolge der Erkrankung bilanziert werden, da der fortschreitende Verlauf eine Konfliktreduzierung zur Folge hat. Intergenerationelles Lernen war ein wesentlicher Aspekt im Rahmen der familialen Beziehungsgestaltung, da die Bewältigung familialer Aufgaben auf der Basis von Wissen und Kompetenzen erfolgte. Die Korrelation zwischen Wissenstransfer und familialer ‚(Pflege-)Leistungsfähigkeit’ wird hieran deutlich. Gerade bei der Ableitung von Praxisimplikationen ist zu berücksichtigen, dass diese Kategorien eine hohe Relevanz bei der positiven Beurteilung von Pflegesettings haben können. Trotz der positiven Bilanzierung und der als umfassend klassifizierten eigenen Pflegebereitschaft betrachtet Frau Schuster die familialen Potenziale hinsichtlich zukünftiger Pflegeszenarios in differenzierter Weise. Die jeweils konkret vorliegenden Kontexte sind zu berücksichtigen und eine Überlastung einer Pflegeperson ist zu vermeiden. Ihre Reflexion schließt jüngere Generationen ein, indem sie auf das Risiko der Vernachlässigung dieser Enkelkinder hinweist.
9.13
Sonja Wiesner
9.13.1 Fallbeschreibung Die heute 27-jährige Frau Wiesner war zehn Jahre alt, als ihr Großvater mit Mitte 70 an Demenz erkrankte. Bis zu ihrem 15. Lebensjahr erlebte sie ein multilokales Pflegesetting in einer Kleinstadt, in der sie mit ihren Eltern und zwei jüngeren Brüdern wenige Minuten vom Haus der Großeltern entfernt wohnte. Die Hauptpflegeperson war die Ehefrau des Erkrankten, welche von Frau Wiesners Mutter, weiteren Familienangehörigen, einem professionellen Pflegedienst und von der Enkelin selbst bei der Pflege des ihres Mannes unterstützt wurde. Letztere betreute den kranken alten Mann in Form von Begleitung und personaler Präsenz. Der Betreuungsbedarf bestand rund um die Uhr. Die Pflegesituation endete durch den Tod des Großvaters. Heute lebt die Juristin Frau Wiesner mit ihrem Partner mehrere hundert Kilometer von ihrem Elternhaus entfernt.
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9.13.2 Zusammenfassende Auswertung Frau Wiesner ist in der hier vorgestellten Studie eines der beiden Enkelkinder, die zur Zeit des Pflegesettings am jüngsten waren; in ihrem Fall 10- bis 15jährig. Die heute 27-Jährige hebt als Themen vor allem ihre positive Rolle als Enkelin und den Familienzusammenhalt hervor. Zu ihrer positiven Bilanz führt auch, dass ihre Betreuungsleistungen honoriert wurden und das Aufgabenspektrum reglementiert war. Eine prinzipielle Überforderung liegt somit nicht vor. Das Pflegegeschehen ist multilokal organisiert, was möglicherweise einen belastungspräventiven Faktor für Frau Wiesner darstellt. ‚Solidarität’ ist das dominante Beziehungsmuster und wird von verschiedenen Akteuren praktiziert. Die Reziprozität dieser Handlungen zeigt sich deutlich in der Ausprägung der Kategorie ‚Familienzusammenhalt’, die wesentlich zu einer positiven Bilanzierung geführt hat. Dies korreliert mit der geringen Anzahl von Konflikten, die außerdem nur die intragenerationelle Beziehung der Großeltern betreffen. ‚Lernen’ hat im Pflegesetting einen zentralen und positiv konnotierten Stellenwert. Die Wissensaneignung im Kontext mit der Pflegesituation hat z. B. wesentlich die eigene Haltung gegenüber zukünftigen Unterstützungsszenarios geprägt. Einerseits bildet ‚Solidarität’ die Basis der Pflegebereitschaft und anderseits werden Planungen mit Einbezug des durch die Pflegeerfahrungen erweiterten familialen Wissensvorrats vorgenommen, denn da die Anforderungen im Bereich der Pflege bei Demenz bekannt sind, findet Solidarität dort ihre Grenzen, wo Überbelastung beginnen würde. Deutlich wird dabei auch die Situation des Pflegebedürftigen berücksichtigt, der nicht in eine Situation kommen soll, in der er „die Wurst kriegt, die unbedingt weg muss“ (107).
9.14
Hannah Wessels
9.14.1 Fallbeschreibung Frau Wessels, die heute 35 Jahre alt ist, hat im Alter von 15 bis 23 Jahren die Pflege ihres demenzkranken Großvaters und im Alter von 28 bis 34 Jahren die ihrer demenzkranken Großmutter miterlebt. Als ihr Großvater erkrankte, lebte sie mit ihm, der Großmutter, die auch die Hauptpflegeperson war, ihren Eltern und ihren drei Geschwistern gemeinsam auf einem Bauernhof in einem kleinen 280
Dorf. Ihre Großmutter wurde als Hauptpflegeperson insbesondere von den Eltern von Frau Wessels, einem Pflegedienst und der Enkelin selber unterstützt. Frau Wessels leistete regelmäßig bei Bedarf Hilfe, bis das Pflegesetting durch das Versterben des Großvaters endete. Fünf Jahre später erkrankte ihre Großmutter, die vormalige Hauptpflegeperson, selber an Demenz. Dieses Mal oblag Frau Wessels’ Mutter die hauptsächliche Sorgeleistung. Die Enkelin, die während dieser Zeit aus dem Elternhaus auszog, und danach einige Kilometer entfernt im Nachbarort lebte, unterstützte ihre Mutter bei der Pflege weiterhin. Auch hier erfolgten durch weitere Familienmitglieder sowie durch professionelle Dienste Hilfeleistungen. Diese Pflegesituation endete ebenfalls durch den Tod der Kranken. Frau Wessels ist heute verheiratet und arbeitet als Angestellte in einer großen Klinik. 9.14.2 Zusammenfassende Auswertung Im Fall von Frau Wessels handelt es sich um ein Pflegesetting mit zwei demenziell erkrankten Großeltern. Sie ist zum Zeitpunkt des Interviews 35 Jahre alt und gehört somit zu den ältesten Teilnehmenden der Studie. Die Phasen der Pflege hat sie als Jugendliche und Erwachsene erlebt. Im Zentrum steht u. a. das Thema ‚Einfühlungsvermögen und sorgfältiger Umgang’, denn beides hatte im Rahmen familialer Selbstverständlichkeiten eine hohe Priorität im Kontakt mit den Kranken und der Gestaltung eines häuslichen Pflegemilieus. Der ‚familiale Zusammenhalt’ ist als zweite Kategorie von hoher Relevanz und beinhaltet ein Klima gegenseitiger Unterstützung. Auch im Zusammenhang mit der erfolgreich erbrachten Pflegeleistung zieht Frau Wessels eine positive Bilanz. Die Meta-Variable ‚Überlastung’ lautet ‚teilweise’, wobei sich die Überforderungsaspekte auf ihre Mutter beziehen. Dies ist einer von drei Fällen mit einer Kombination von positiver Bilanzierung und partieller Überlastung. Allerdings liegen keine identischen Kontexte verglichen mit den anderen Fällen vor, da dort die Enkelinnen selber die Personen sind, die Überforderung erfahren haben. Frau Wessels’ Pflegebereitschaft ist umfassend, da für sie ein Altenheim kein angemessenes Versorgungsangebot darstellt und familialer Hilfeleistung das Merkmal der Reziprozität immanent ist. Der letztgenannte Faktor prägt ebenfalls im Bereich ‚Solidarität’ die geschilderten Generationenbeziehungen. Konflikte sind nachrangig zu betrachten, aber Ambivalenzen können ermittelt werden. Frau Wessels beschreibt ein Dilemma der häuslichen Pflege bei Demenz, denn verstirbt der kranke Mensch, ist sowohl der Verlust des Angehörigen als auch eine Entpflichtung von häufig langjährigen Anforderungen gegeben. Sie empfindet für ihre Mutter einen Gewinn an persönlichem Freiraum 281
und trauert gleichzeitig um ihre tote Großmutter. Eine weitere Zwiespältigkeit liegt in der Überlegung, ob der Tod nicht sogar eine ‚Erlösung’ für die Kranke gewesen sein könnte. Auch ein Szenario eigener zukünftiger Pflegebereitschaft lässt sich auf dem Hintergrund ihrer Erfahrungen nicht eindeutig beantworten, denn einerseits möchte sie später keine Belastung darstellen und andererseits ist der Gedanke an eine Versorgung im Altenheim negativ konnotiert.
9.15
Jens Zumbrock
9.15.1 Fallbeschreibung Der 29jährige wissenschaftliche Mitarbeiter und Doktorand Herr Zumbrock erlebt seit zwei Jahren das Pflegesetting seiner über 80-jährigen demenzkranken Großmutter. Er selber wohnt fünfzig Kilometer von dem Pflegehaushalt entfernt, in dem seine Mutter die hauptsächliche Betreuung der Großmutter übernommen hat. Sie erhält Unterstützung von ihrem Lebensgefährten. Der Hilfebedarf der kranken Großmutter wird von ihm auf ca. 3 Stunden täglich geschätzt, und betrifft die Körperpflege sowie organisatorische und hauswirtschaftliche Bereiche. Herr Zumbrock fährt ca. vier bis fünf Mal im Monat ins Elternhaus, besucht alle und unterstützt seine Mutter dann direkt bei der Pflege. Er lebt zusammen mit seiner Ehefrau, die zum Zeitpunkt des Interviews kurz vor der Geburt ihres ersten Kindes steht. Herr Zumbrock hat von der Studie durch einen Uni-Newsletter erfahren. Er schreibt unter ‚Angaben zu meiner Person: Sonstiges’ in den Kurzfragebogen: „Auch wenn die Betroffenheit bei den Kindern sicher größer ist, übt die Erkrankung der Großeltern auch immensen Stress auf die Enkel aus, selbst wenn die Pflege nicht 100 % erlebt wird“. Das Interview fand in Herrn Zumbrocks Büro in seinem Institut nach seiner Dienstzeit statt. Er signalisierte großes Interesse und schilderte seine Situation lebhaft und engagiert. 9.15.2 Zusammenfassende Auswertung Herr Zumbrock ist einer der vier männlichen Enkel, die in diese Studie eingeschlossen sind. Er erlebt als Erwachsener seit zwei Jahren ein multilokales Pflegesetting, das zurzeit noch besteht. Trotz der räumlichen Distanz ist seine 282
Bilanz vorrangig belastungsgeprägt, und auch die Meta-Variable Überforderung lautet ‚teilweise’, wobei sich die diesbezüglichen Schilderungen auf die Situation seiner Mutter beziehen. Bei seiner Bilanzierung besteht ein Zusammenhang mit einem Hauptthema im Interview, der Auseinandersetzung mit Alter, Pflege und Demenz. Aufgrund der schweren chronischen Erkrankung ist die Kommunikation mit seiner Großmutter erschwert und er empfindet Mitleid mit ihr, wobei er die Lebensqualität seiner Großmutter in Frage gestellt sieht. Im Kurzfragebogen gibt er folglich an, dass „die Erkrankung der Großeltern auch immensen Stress auf die Enkel“ haben kann. Neben dem Mitgefühl mit der kranken Frau und dem Miterleben der Belastung seiner Mutter ist er auch persönlich tangiert, z. B. durch einen möglichen Notfall, dessen Bewältigung zurzeit noch unklar wäre. Solidarität ist in seinen Schilderungen kein dominantes Beziehungsmuster. Ein wichtiges Merkmal seiner solidarischen Handlungen ist die Empathie. Auch ist die ausgeübte Solidarität in Form von entlastenden Telefonaten mit der Mutter oder direkter Betreuung der Kranken oftmals mit Belastung konnotiert. Trotzdem äußert er bezogen auf zukünftige Pflegeszenarios eine umfassende Bereitschaft zur Hilfe. Ambivalenzen können bezogen auf mehrere Themen ermittelt werden, da er z. B. Unsicherheiten über das tatsächliches Befinden und die Leistungsfähigkeit seiner Großmutter hat, desgleichen ihre Lebensqualität einerseits gegeben sieht und andererseits in Frage stellt. Im Bereich der Kategorie ‚Lernen’ steht die Wissensaneignung im Vordergrund, allerdings kann er mittlerweile auch Wissen weitergeben. Dagegen hat seine Mutter nicht die Position der Wissensvermittlerin. Diese Beschreibung der Mutter verbunden mit dem Fehlen der Kategorie ‚(Pflege-)Leistungsfähigkeit’ könnte im Zusammenhang mit der Überforderung der Mutter und der kritischen Bilanzierung des Enkels stehen. Eventuell ist der Pflegezeitraum von zwei Jahren hier für Herrn Zumbrocks Mutter noch zu kurz, um zu einer ‚Laien-Expertenschaft’ wie z. B. im Fall von Frau Schuster zu gelangen. Dieser Fall verdeutlicht, dass selbst multilokal agierende und gering eingebundene Enkel belastet sein können.
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10
Fallübergreifende Auswertung
Bei der fallübergreifenden Auswertung dieser Studie ist zu beachten, dass die nachfolgenden Darstellungen von Relationen auf einer Fallzahl von fünfzehn Enkelkindern basieren, was bedeutet, dass sich die dargestellten Ergebnisse dieses Kapitels explizit auf diese Untersuchungseinheit beziehen. Bei den Interviewteilnehmenden handelt es sich weiterhin um eine selektive Gruppe von aktiv Unterstützung leistenden Enkeln, so dass die fallübergreifenden Ergebnisse der Studie für sich noch keine induktiven Schlüsse auf die Situation von Enkeln in Pflegesettings mit demenzkranken Großeltern im Allgemeinen ermöglichen. Erst bei der Zusammenschau der Resultate der hier vorliegenden Studie mit den Ergebnissen der Literaturanalyse aus Teil A dieser Arbeit werden in Kapitel 11 allgemeinere Schlussfolgerungen bzw. Herleitungen für Praxisimplikationen angedacht.
10.1
Induktive Kategorienbildung
10.1.1 Deskription der Meta-Variablen und der Kategorie ‚Belastungsprävention’ Die Hauptkategorien ‚Gesamtbilanzierung’176, ‚Überforderung’ und ‚Pflegebereitschaft’ sind für die weitere Analyse, wie in Kapitel 7.3.1 ausgeführt, fallübergreifend auf einer Meta-Ebene als Variablen zur Bildung von Subgruppen innerhalb der Gesamtgruppe der Enkel eingesetzt worden. Hierzu sind diese ‚Meta-Variablen’ jeweils in einzelne Ausprägungstypen differenziert worden. Für die Hauptkategorie ‚Gesamtbilanzierung’ sind beispielsweise die Ausprä176 Die anhand der Analyse gewonnenen Kategorien und teilweise die Ausprägungen der MetaVariablen sind im Rahmen der Ergebnisdarstellung mit einfachen Anführungszeichen gekennzeichnet.
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gungen ‚Gesamtbilanzierung: positiv’, ‚Gesamtbilanzierung: belastet’ und ‚Gesamtbilanzierung: gemischt’ gebildet worden. Bei dieser Bildung von MetaVariablen sind alle relevanten Kategorien innerhalb eines Falles mit entsprechend häufigen Codiereinheiten einbezogen und gewichtet worden. Außen vor gelassen wurden Codiereinheiten, die nur bis zu zwei Mal für eine Hauptkategorie vorhanden und somit für die Gesamtaussage eines Interviews unbedeutend waren177. Das Ziel dieser Meta-Variablenbildung ist eine fallübergreifende Klassifikation und Strukturierung des einbezogenen Datenmaterials im Sinne von Schütz’ Annahme einer generell latent vorhandenen Typisierung von Merkmalen178. Die „zentralen Ähnlichkeiten und Unterschiede im Datenmaterial“ (Kelle/Kluge 1999, 9) können somit in Relation zu ausgewählten Merkmalen der Enkel, wie Geschlecht oder Alter, gesetzt werden. Dieses Vorgehen erscheint in Hinblick auf die Ableitung von fallübergreifenden Praxisimplikationen angebracht. Auch die Hauptkategorie ‚Belastungsprävention’ ist fallübergreifend, jedoch ohne die Bildung von Meta-Variablen, strukturiert worden. In Anlehnung an die Systematik der induktiv entwickelten Kategorien wird sie als Unterpunkt im Anschluss an die Ausführungen zur Überforderung behandelt. 10.1.1.1 Meta-Variable ‚Gesamtbilanzierung’ Für die Bildung der Meta-Variablen ‚Gesamtbilanzierung’ sind alle Subkategorien der Hauptkategorie ‚Gesamtbilanzierung’ herangezogen worden. Bei der Bildung der drei Bilanzierungsklassifikationen (positiv, belastet, gemischt) ist bei zehn der 15 Enkel eine überwiegend positive Bewertung ermittelt worden, eine weitere Gruppe von drei Enkeln hat das Pflegesetting als primär belastend beschrieben und bei einer dritten Gruppe von zwei Enkeln kann die Gesamtbilanzierung als gemischt bezeichnet werden179.
177 Quantitative Aspekte sind nur als ‚Tendenzen’, die das qualitative Material ergänzen können, herangezogen worden, da eine quantitative Vergleichbarkeit absoluter Anzahlen von Codiereinheiten aufgrund der differierenden Länge der Interviews nicht gegeben war. 178 Weiter Ausführungen dazu befinden sich in Abschnitt 5.2.2.2 dieser Arbeit. 179 Siehe dazu im Anhang die drei Übersichten ‚Meta-Variable Gesamtbilanzierung’.
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Korrelation der Bilanzierung mit ausgewählten Merkmalen Die Bilanzierung im Zusammenhang mit dem Merkmal ‚Geschlecht’ ergibt folgendes Bild: Von den insgesamt elf Frauen werteten sieben Enkelinnen überwiegend positiv, zwei Frauen hatten ein überwiegend als belastend erlebtes Pflegesetting erfahren und zwei weitere Enkelinnen bilanzierten gemischt. Von den vier männlichen Enkeln berichteten drei überwiegend positive Erlebnisse. Bei einem männlichen Teilnehmer überwogen die als belastend empfundenen Erfahrungen. Im Ergebnis bewerten sowohl weibliche als auch männliche Teilnehmer überwiegend das Pflegegeschehen als positiv. Zur Überprüfung der Korrelation zwischen der Bilanzierung und dem Merkmal ‚Alter während des Pflegesettings’ wurden die sieben Enkel herangezogen, die schon im Kindesalter, d. h. unter 14 Jahren, die häusliche Pflege miterlebten. Hiervon bewerteten fünf Enkel überwiegend positiv, ein Enkel gemischt und in einem Fall wurden überwiegend als belastend erlebte Erfahrungen berichtet. Das heißt, dass zumindest aus der Retrospektive von den seinerzeit jüngeren Enkeln keine vergleichsweise ‚schlechteren’ Bilanzierungen erfolgen. Weiterhin ist überprüft worden, ob Zusammenhänge der Bilanzierungsform mit dem Merkmal ‚Dauer der erlebten Pflege’ bestehen. Zieht man dazu die Gruppe der zehn Enkel, deren Pflegesituation fünf Jahre und länger gedauert hat, heran, so zeigt sich folgendes Bild: Acht von den zehn Enkeln bewerteten überwiegend positiv, ein Enkel gemischt und ein Enkel bilanzierte das Pflegesetting als überwiegend belastend. Bei der Analyse der sechs Enkel, die die häusliche Pflege sieben Jahre und länger erlebten, ergibt sich ein anderes Bild: Alle sechs Enkel gehören zu jenen, die positiv bilanzieren. Die Ergebnisse zeigen, dass eine längere Dauer der familialen Pflege nicht mit einer Zunahme von ‚gemischten’ oder ‚belastungsdominierten’ Bilanzierungen einhergehen muss, sondern mit ‚positiven’ Bewertungen verbunden sein kann. Ein Zusammenhang von der Art der Bilanzierung mit dem Merkmal ‚Koresidenz oder multilokale Wohnform’ kann bei den hier vorliegenden fünfzehn Fällen nicht festgestellt werden: Von den fünf Enkeln, die das Pflegegeschehen ausschließlich als multilokale Familie, d. h. aus räumlicher Distanz, erlebten, bewerten vier Enkel dieses als überwiegend positiv und ein Enkel als überwiegend belastend. Weiterhin erfolgt bei den sechs Enkeln, die in Form der Koresidenz die Pflege erlebten, vier Mal eine überwiegend positive und zwei Mal eine gemischte Bewertung. Ein direkter Zusammenhang zwischen räum-
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licher Nähe und einem hohen Anteil an belastenden Erfahrungen bzw. zwischen räumlicher Distanz und einer tendenziell positiven Bewertung ist demnach nicht gegeben180. Fallübergreifend relevante Kategorien für die Bilanzierung a) Die positiv konnotierten Kategorien mit dem höchsten Stellenwert für die Enkel lauten: x Lernen und Erkenntnisgewinn: Diese Kategorie mit den Subkategorien ‚Pflegekompetenz / Umgang mit Demenz’, ‚soziale Verantwortung gelernt / übernommen’, ‚Einstellung zu / Vorstellung von Alter / Demenz’, ‚für Beruf’ und ‚durch Austausch / Selbsthilfe’ ist in zwölf der 15 Fälle im Rahmen der Analyse gebildet worden. Von diesen zwölf Enkeln haben neun Enkel positiv bilanziert, zwei Enkel gemischt und ein Enkel belastungsorientiert bilanziert181. Dieses Ergebnis verdeutlicht erstens den hohen Stellenwert des Lernens und des Kompetenzgewinns und belegt zweitens das Vorliegen von positiven Lernerfahrungen auch in schwierigeren Pflegesettings. x Familialer Zusammenhalt: In elf von 15 Fällen ist der Zusammenhalt in der Familie explizit positiv konnotiert dargestellt worden. Dies betrifft neun Enkel, die positiv bilanziert haben und zwei mit ‚gemischter’ Bewertung. Bei Enkeln, deren Bilanzierungen überwiegend belastungsgeprägt waren, kommt diese Kategorie nicht vor. Hiermit wird deutlich, dass ein familiales Unterstützungssetting beim Vorliegen einer demenziellen Erkrankung nicht auf das reine Pflegegeschehen reduziert werden kann, sondern die familialen Generationenbeziehungen einen wesentlichen Faktor des subjektiven Erlebens darstellen. x Familiale (Pflege-)Leistungsfähigkeit: Die Anerkennung der personalen und familialen Leistungsfähigkeit, einerseits bezogen auf die Betreuung und Pflege, andererseits aber auch hinsichtlich eines weiteren ‚Mana180 Allerdings ist hier, wie bei allen weiteren Betrachtungen von Merkmalskorrelationen, zu bedenken, dass bei einer Stichprobe dieses Ausmaßes eine isolierte Betrachtung von Einzelmerkmalen generell eine begrenzte Aussagefähigkeit hat. Beispielsweise kann die räumliche Distanz bzw. die Wohnform nicht ohne weitere Merkmale, wie die Quantität der praktizierten Hilfeleistungen, das vorliegende Alter. etc., betrachtet werden, was letztendlich wiederum zu einer Einzelfallbetrachtung führt. 181 Die systematische Darstellung der Kategorien befindet sich im Anhang in: ‚Kategoriensystem der induktiven Kategorienentwicklung’.
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gements’ der Pflegesituation, ist von neun der 15 Enkel geäußert worden. Sieben dieser Enkel haben ihr Pflegesetting positiv und zwei weitere gemischt bewertet. Bei den Enkeln, die es als überwiegend belastend bilanziert haben, fehlt auch diese Kategorie. Dieser Befund weist darauf hin, dass eine Befähigung zum angemessenen Umgang mit den vorliegenden Erfordernissen sowohl der Hauptpflegepersonen in den Familien als auch der Enkelgeneration als eine präventive Maßnahme zur Vorbeugung gravierender und nachhaltiger Überlastungen bewertet werden kann. Beziehung zu Erkrankten: Guter Kontakt / „pflegeleicht“: In acht der 15 Fälle wird der gute Kontakt zu den Erkrankten sowie deren entgegenkommendes, freundliches, etc. Verhalten erwähnt. Diese acht Enkel haben ihr Pflegesetting einheitlich positiv bilanziert. Hiermit ist gleichzeitig ausgesagt, dass die Kategorie ‚Beziehung zu Erkrankten: Guter Kontakt / „pflegeleicht“’ in den als problematisch erlebten Pflegesettings nicht vorhanden ist, was bedeutet, dass eine als gut empfundene Beziehungsgestaltung wesentlich zu einer positiven Gesamtbewertung beitragen kann. Wiederum wird deutlich, welch hohen Stellenwert der Faktor ‚intergenerationelle Beziehungen’ im Gesamtgeschehen einnimmt182.
b) Die mit Belastung konnotierten Kategorien sind insgesamt bei den Enkeln folgendermaßen vertreten: x Belastungsfaktor ‚Sorgen / Hilflosigkeit / Mitleiden’: In sieben von 15 Fällen wurde dieser Faktor genannt, wobei vier Fälle der Subgruppe der positiven Bilanzierungen, ein Fall zu den gemischten Bilanzierungen und zwei Fälle zu den als belastend bilanzierten gehören. x Belastungsfaktor ‚Symptome / Verlauf’: Von sechs Enkeln ist insbesondere auch der Verlauf der Erkrankung mit den immanenten Symptomen als belastend bilanziert worden, hierbei waren es zwei Fälle aus jeder Subgruppe der verschiedenen Bilanzierungsformen. x Belastungsfaktor ‚Zeitliche Verpflichtung’: Die zeitliche Verpflichtung war ebenso in sechs der 15 Fälle von Relevanz, wobei nur zwei dieser Enkel überwiegend positiv bilanziert hatten. x Ausmaß der Belastung: Von den fünf Enkeln, für die das Ausmaß der Belastung ein wesentlicher Bilanzierungsaspekt war, hatte nur ein Enkel das 182 Dass hieraus im Umkehrschluss nicht abgeleitet werden kann, dass ein nachhaltiges Überlastungsempfinden direkt mit der Kategorie ‚Erkrankte mit Pflege erschwerendem Verhalten’ verbunden ist, wird anhand der Darstellung der Meta-Variable ‚Überforderung’ in Kapitel 10.1.1.2 deutlich.
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Pflegesetting positiv bilanziert. Zwei weitere Enkel hatten eine gemischte Bewertung und die restlichen beiden eine überwiegend mit Belastung konnotierte Bewertung geschildert. Beziehung zu Erkrankten / Kontaktprobleme: Eine problematische Beziehung zu den Erkrankten sowie Kontaktprobleme sind in fünf Fällen im Rahmen ihrer Bilanzierung geschildert worden. Diese setzen sich anteilig zwei Mal aus der Bilanzierung ‚überwiegend positiv’, ein Mal ‚gemischt’ und zwei Mal ‚überwiegend belastend’ zusammen. Inter- / intragenerationelle Konflikte: Nur in vier der 15 Fälle sind interoder intragenerationelle Konflikte für die Bilanzierung von Relevanz. Hiervon ist in einem Fall positiv, in einem weiteren gemischt und in den restlichen beiden Fällen überwiegend belastend bilanziert worden. Rolle Enkel / Rollenveränderung negativ: Gering ist auch der Stellenwert einer negativ konnotierten Kategorie ‚Rolle Enkel’, die insgesamt für zwei Enkel für die Bilanzierung wichtig war. Beide hatten ihr Pflegesetting als überwiegend belastend bilanziert.
Fallübergreifend sind für die Gesamtbilanzierung der Enkel aus der Retrospektive bzw. der räumlichen Distanz insbesondere die drei Belastungsfaktoren ‚Sorgen / Hilflosigkeit / Mitleiden’, ‚Symptome / Verlauf’ und ‚zeitliche Verpflichtung’ relevant. 10.1.1.2 Meta-Variable ‚Überforderung’ Die Klassifizierung der Äußerungen zu einer individuellen oder familialen Überforderung ergibt die drei Ausprägungen ‚Überforderung: Nein’, wozu sieben Enkel zugeordnet werden können, ‚Überforderung: Teilweise’, was auf fünf Enkel zutrifft, und ‚Überforderung: Ja’, worunter drei Enkel subsumiert werden können183. An dieser Stelle sei noch einmal darauf hingewiesen, dass die interviewten Enkel zwischen Belastungen und Überlastungen (bzw. Überforderungen) unterschieden haben. Eine Gesprächssequenz mit Frau Vogt verdeutlicht den Unterschied. Nachdem sie eine Abfolge für sie deutlich belastender Situationen beschrieben hat, wird sie im weiteren Verlauf des Interviews nach einer möglichen 183 Siehe dazu im Anhang als OnlinePLUS unter http://www.vs-verlag.de die vier Übersichten zur Meta-Variable ‚Überlastung bzw. Überforderung’.
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Überforderung gefragt: „Wenn Sie sich zurück erinnern, gibt’s da Situationen, wo eine Überforderung deutlich wird, so dass man heute sagt ‚Eigentlich war das zu viel für uns’?“ Frau Vogt antwortet: „Nö.“ (143). Auch in den weiteren Interviews wird deutlich, dass episodische Belastungsmomente von einer ‚Überforderung’ differenziert betrachtet werden. Korrelation der Überlastung mit ausgewählten Merkmalen In sieben der 15 Fälle hat für die Enkel keine Überforderung vorgelegen, wobei sich deren Äußerungen sieben Mal auf ihre eigene Person und davon vier Mal gleichzeitig auf einen Elternteil bzw. die Familie beziehen. In fünf Fällen kann die Pflegesituation unter ‚Überforderung: Teilweise’ subsumiert werden, wobei diese Klassifizierung drei Mal die personale Situation der Enkel und davon simultan einmal die der gesunden Großmutter, und zwei weitere Male die der Mütter bezeichnet. Eine gravierende Überforderung wird bei drei Enkelinnen deutlich und nimmt jeweils Bezug auf sie selber sowie gleichzeitig auf einen Elternteil bzw. die Familie. Die Ergebnisse belegen, dass das Erfahren einer umfassend überfordernden Pflegesituation sich immer außer auf die Enkel selber noch auf weitere Familienmitglieder bzw. auf die komplette Familie bezieht. Bei Fällen mit partieller Überforderung kann auch das Enkelkind oder ein anderes Familienmitglied alleine die überforderte Person darstellen. Das Vorliegen einer Überforderung im Zusammenhang mit dem Merkmal ‚Geschlecht’ korreliert in der hier vorliegenden Stichprobe mit dem Geschlecht, da alle drei Enkel, die unter ‚Überforderung: Ja’ subsumiert wurden, Frauen sind. Durch dieses Ergebnis wird deutlich, dass bei den an dieser Studie beteiligten Enkeln Überlastungsphänomene geschlechtsspezifisch variieren184. Eine Überprüfung des Zusammenhangs von geäußerter Überforderung mit dem Merkmal ‚Alter’ wird anhand der Subgruppe der Enkel, die die Pflegesituation bereits im Kindesalter erlebt haben, vorgenommen. Diese zeigt kein einheitliches Bild, da von den sieben Enkeln dieser Subgruppe vier unter ‚Überforderung: Nein’, drei unter ‚Überforderung: Teilweise’ und ein Enkel unter ‚Überforderung: Ja’ einzuordnen sind. Ein direkter Bezug von der Anwesenheit sehr junger Menschen im Pflegesetting zu einem Überlastungserleben ist somit nicht gegeben. 184 Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich insgesamt deutlich mehr Frauen als Männer an der Studie beteiligt haben.
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Auch kann kein Zusammenhang von geschilderter Überforderung und der ‚Dauer der erlebten Pflege’ festgestellt werden. Von den zehn Enkeln, die eine Pflege von fünf Jahren und länger erlebt haben, schildern sechs Enkel keine Überforderungssituation, drei Enkel eine eingeschränkte Überforderung und bei einem Enkel liegt eine Überforderung vor. Anders zeigt sich das Überlastungserleben in Verbindung mit der Wohnform einer Koresidenz, denn Überforderungen werden nur von Enkeln geschildert, die sich entweder ausschließlich (in einem Fall) oder teilweise (in zwei Fällen) in einer gemeinsamen Wohnsituation mit dem erkrankten Großelternteil befunden haben. In der Subgruppe der Enkel, die ausnahmslos multilokale Hilfeleistungen erbrachten, liegt hingegen keine Überforderung vor. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass bei den hier vorliegenden 15 Fällen eine Überforderung erstens bei Frauen und zweitens bei der Wohnform einer Koresidenz vorliegt, jedoch nicht in Zusammenhang mit einem jungen Alter der Enkel zum Zeitpunkt der Pflegesituation und einer langen Dauer derselben steht. Subgruppe: ‚Überforderung: Ja’ Dimensionen / Anzeichen: Die drei Frauen, die das Vorliegen einer Überforderung bejahen, schildern keine einheitlichen Anzeichen: Frau Klein nennt ‚Ungeduld, nicht abschalten können, Kranksein’, Frau Müller ‚emotionale Reaktionen wie Weinen, permanente Anspannung, Angst vor einem Zwischenfall’ und Frau Feld ‚im Nachhinein Albträume, fehlende Kindheit, Bindungsangst’ als zentrale Aspekte. Gründe: Alle drei Frauen berichten vom ‚24-Stunden-Hilfebedarf’, von der ‚Vereinbarkeitsproblematik Pflege und Beruf’ und von einer ‚situativen Alleinverantwortlichkeit als Enkelin’. Jeweils zwei der drei Enkelinnen nennen die ‚Alleinverantwortlichkeit der Hauptpflegeperson’, ‚finanzielle Belastungen’, ‚Erkrankte mit Pflege erschwerendem Verhalten’ und ‚familiale Konflikte’. Als Ergebnis kann festgehalten werden, dass ein 24-stündiger Hilfebedarf und die Vereinbarkeitsproblematik von Pflege und Beruf als Prädiktoren für eine nachhaltige Überforderung angesehen werden können. Die Befunde zeigen auch auf, dass ein nachhaltiges Belastungserleben nicht zwingend in Zusammenhang mit demenzbedingtem problematischem Verhalten der Großeltern stehen muss. Überforderung und Bilanzierung: Nur zwei der drei Fälle mit der Bestätigung einer Überforderung können unter eine belastungsgeprägte Bilan291
zierung subsumiert werden. Dies betrifft die Pflegesettings von Frau Klein und Frau Feld, wohingegen Frau Müllers Bilanz ‚gemischt’ ausfällt. Subgruppe: ‚Überforderung: Nein’ Gründe: Von den sieben Enkeln, die das Vorliegen einer Überforderung ablehnen, äußern sechs Befragte, sie haben die Geschehnisse ‚nicht als Überforderung, sondern als Anforderung’ erlebt. Drei Enkel bezeichnen die kranken Großeltern als ‚pflegeleicht’ und ein Enkel gibt an, es sei ‚grundsätzlich keine Überforderung’ vorhanden gewesen. Hieraus wird deutlich, dass auch diese Enkel nach subjektivem Empfinden Anforderungen ausgesetzt waren, diese jedoch bewältigen konnten. (Pflege-)Leistungsfähigkeit: In sechs von sieben Fällen ohne Überforderung ist die Kategorie ‚Familiale Pflegeleistungsfähigkeit’ vorhanden, was wiederum die Relevanz dieser Kompetenz verdeutlicht. Subgruppe: ‚Überforderung: Teilweise’ Gründe: Die Gründe für eine geringe Überforderung, die von den fünf Enkeln dieser Subgruppe genannt werden, enthalten zwei Mal die Kategorie ‚Erkrankte mit Pflege erschwerendem Verhalten’, drei Mal ‚Zeitliche Verpflichtung’, was sich in zwei Fällen auf die Hauptpflegepersonen bezieht, sowie bei drei Enkeln die Kategorie ‚Alleinige Verantwortung bei Selbstgefährdung’ der Kranken. Andererseits wird in zwei Fällen geäußert, dass sich Überforderungsmomente nicht auf die Enkel selber beziehen, zwei Mal dass man sich nicht über-, sondern gefordert fühlt, und in einem Fall dass man sich auf die ‚(Pflege-)Leistungsfähigkeit eines Elternteils’ verlassen kann. Geringere Überforderungsgefühle stehen somit teilweise in Zusammenhang mit der Symptomatik der Demenz hinsichtlich des Verhaltens des Erkrankten oder des Verantwortlichkeitsspektrums des Enkels sowie der zeitlichen Verpflichtung. Dieser Befund entspricht den unten dargestellten Kategorienbündeln, die das ganze Spektrum belastender Erfahrungen unabhängig von der Bilanzierung oder dem Grad von Überforderung abbilden.
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10.1.1.3 Kategorie ‚Belastungsprävention’ Die Enkel haben in den Interviews vielfach thematisiert, wie die Familie präventiv Überforderungen vorgebeugt oder Belastungen konstruktiv bewältigt hat, was in der Analyse zur Bildung der Kategorien ‚Präventionsstrategien’ und ‚konkrete Entlastung’ geführt hat. Die präventiven Strategien beinhalten neben den bereits realisierten Praktiken die Reflexionen aus der Retrospektive im Sinne von ‚Was hätte man tun können?’, was eine Differenzierung in die seinerzeit ‚gelebten Strategien’ und die aus heutiger Perspektive ‚möglichen Strategien’ ergibt. Die Kategorie ‚konkrete Entlastung’ beinhaltet sowohl Schilderungen von episodischen Entlastungsphänomenen als auch von solchen grundsätzlicher Art185,186. Subkategorien im Bereich ‚konkrete Entlastung’ Die Subkategorie ‚Professionelle Hilfen’ hat eine Relevanz in zehn von 15 Fällen im Bereich der ‚konkreten Entlastung’, wovon in acht Fällen eine ‚Gesamtbilanzierung positiv’, in einem Fall eine ‚Gesamtbilanzierung gemischt’ und in einem weiteren Fall eine belastungsgeprägte Gesamtbilanzierung vorliegt. Davon haben in sechs Fällen die Enkel eine Überforderung mit ‚nein’, in zwei Fällen mit ‚teilweise’ und in zwei Fällen mit ‚ja’ bewertet. Dieses Ergebnis verdeutlicht, dass der Einbezug professioneller Hilfe als konkrete Entlastungsmaßnahme in Zusammenhang mit einem positiv bewerteten Pflegesetting und der Abwesenheit von Überforderung stehen kann, im Einzelfall jedoch keinen entlastenden Effekt haben muss. In sieben Interviews ist die Subkategorie ‚Familiale Unterstützung’ sowie in vier Fällen die Subkategorie ‚Einstellung, Austausch, Lernen’ von Bedeutung. Auch die Kategorie ‚Bettlägerigkeit / Ende der Pflegesituation’ wird in zwei Fällen, sowie das ‚tragfähige soziale Umfeld’ in einem Fall genannt. Da die Kategorie ‚Familiale Unterstützung’ erstens in den sieben Fällen vertreten ist, welche eine positive Gesamtbilanzierung aufweisen, und zweitens in keinem der drei Fälle vorliegt, in denen eine Überforderung bejaht wird, kann
185 Dies führt auf den beiliegenden Übersichten zu einer Differenzierung der geschilderten Belastungsprävention mit einer steigenden Relevanz von oben nach unten. 186 Die Übersichten zu den Subkategorien im Bereich Belastungsprävention und -minderung befinden sich im Anhang als OnlinePLUS unter http://www.vs-verlag.de.
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wiederum auf die hohe Relevanz der familialen Unterstützung aus der Sicht der Enkelperspektive geschlossen werden. Subkategorien im Bereich ‚präventive Strategien’ Die ‚gelebten präventiven Strategien’ lassen zwei grundlegende Varianten erkennen, deren erste Form die eigene ‚Einstellung’ zu den Kranken oder dem Pflegesetting generell, sowie den ‚Austausch’ darüber mit Anderen und weiterhin das ‚Lernen’ enthält. Die zweite Variante gilt dem Aufbau von ‚Distanz’ zur Pflegesituation, der Wichtigkeit eines ‚Ausgleichs’, z. B. durch ein Hobby, und dem Erhalt von ‚Hilfe’. Hiermit weisen die Enkel auf die Notwendigkeit von zwei Interventionsfeldern hin, einem ersten Bereich mit Informationsweitergabe und Förderung der Reflexion bei pflegenden Angehörigen und einem zweiten Feld mit Entlastungsmaßnahmen, welche Freiräume für Pflege unabhängige Aktivitäten ermöglichen. 10.1.1.4 Meta-Variablen zur ‚Pflegebereitschaft’ Mit der Frage „Wie geht es Ihnen, wenn Sie an mögliche zukünftige Pflegesituationen denken?“ sind die Enkel nach Ihrer eigenen Pflegebereitschaft und den Erwartungen zur Pflegebereitschaft Anderer bei eigener Pflegebedürftigkeit befragt worden. Ergänzt wurde dieser Themenbereich durch die Ad-hoc-Frage: „Was halten Sie von der Einführung einer Pflichtpflege für die Angehörigen?“187. Eigene Pflegebereitschaft Bei den Analysen zur Pflegebereitschaft der Enkel sind drei Ausprägungen der Meta-Variable ‚Eigene Pflegebereitschaft’ ermittelt worden. Hierzu wurden ihre bejahenden oder ablehnenden und näher charakterisierenden Äußerungen zur Ausgestaltung der antizipierten Pflegesituation herangezogen. Basierend auf 187 Die Meta-Variablen ‚Pflegebereitschaft und -verpflichtung’ werden als Übersicht im Anhang als OnlinePLUS unter http://www.vs-verlag.de dargestellt.
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einer grundsätzlich vorhandenen Bereitschaft zur Sorgeleistung beinhaltet die erste Ausprägung darüber hinaus eine partielle häusliche Pflege, die jedoch in ihrem Umfang limitiert ist, die zweite eine umfassende häusliche Pflege und die dritte eine Kombination der Sorgeleistung mit einer stationären Unterbringung. Für alle 15 Enkel steht die Übernahme einer generellen Verantwortung für hilfe- und pflegebedürftige Eltern nicht zur Diskussion. Die Bereitschaft zu einer grundsätzlichen Sorgeleistung im Sinne von “sich für das emotionale, mentale und physische Wohlergehen eines anderen verantwortlich zu fühlen” (BMFSFJ 2005b, 442) liegt bei allen Enkeln unabhängig von einer kritischen Bilanzierung des Erlebten und der Höhe der erfahrenen Überlastung vor. Darüber hinaus signalisieren zwölf der Enkel die Bereitschaft zu eigener pflegerischer Hilfe, in neun dieser Fälle in Form einer umfassenden häuslichen Pflege und in weiteren drei Fällen als partielle häusliche Pflege antizipiert. Zwei der 15 Enkel möchten die eigene Sorgeleistung mit dem Aufenthalt in einer stationären Altenhilfeeinrichtung kombinieren188. Eigene Pflegebereitschaft: Fallübergreifend relevante Kategorien Eine ‚vorhandene familiale Unterstützung’ ist für acht Enkel, sieben Frauen und einen Mann, die Basis ihrer Pflegebereitschaft, welche in fünf dieser Fälle umfassende und in drei der Fälle partielle häusliche Pflege beinhaltet. Diese Kategorie kann als die relevanteste für die häusliche Pflegebereitschaft gewertet werden. Die ‚Vereinbarkeit von Pflege und Beruf’ ist bei fünf weiblichen Enkelinnen ausschlaggebend für ihre Pflegebereitschaft189. Von vier Frauen wurde diese Vereinbarkeit als potenziell möglich und somit als Voraussetzung für die eigene Pflegebereitschaft190 eingeschätzt, und von einer Frau als nicht gegeben und somit als Grund für das Präferieren einer institutionellen Pflege genannt. Die ‚offene Kommunikation des Themas Pflege’ ist bei vier Enkeln, drei Frauen und einem Mann, von Relevanz. Aufgrund der bereits erfolgten Klärungen von gegenseitigen Erwartungen und Bereitschaften haben sich bei ihnen jeweils differenzierte Einstellungen zur eigenen Pflegebereitschaft gebildet. Sie enthalten das Spektrum von ‚umfassender häuslicher Pflege’ (in einem Fall) 188 Die eigene Pflegebereitschaft bezogen auf über Sorgeleistung hinausgehende Hilfen konnte bei 14 der 15 Enkel abgefragt werden. 189 Dies betrifft Frau Kaufmann, Frau Vogt, Frau Lindmann, Frau Feld und Frau Schuster. 190 Dabei handelt es sich in drei Fällen um die Bereitschaft zur umfassenden und in einem Fall zur partiellen häuslichen Pflege.
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über ‚partielle häusliche Pflege’ (in zwei Fällen) bis zur ‚Pflege in einer Einrichtung’ (in einem Fall). Das bedeutet, dass Enkel und ihre Eltern angesichts eigener Erfahrungen teilweise heute schon zukünftige Pflegesettings kommunizieren. In der hier vorliegenden Teilnehmergruppe betrifft es knapp ein Drittel der Enkel. Die Beteiligung ‚professioneller Dienste’ ist in drei Fällen eine Voraussetzung zur eigenen Pflegebereitschaft. Für eine Enkelin und einen Enkel sind sie die Komplettierung zur eigenen umfassenden Pflegebereitschaft und für einen weiteren Enkel aufgrund der eigenen positiven Erfahrung mit einer Wohngruppe für demenziell Erkrankte die Basis der Versorgung. Ausprägung: ‚ Sorgeleistung plus umfassende häusliche Pflege’ Zu der Subgruppe der neun Enkel, die eine umfassende häusliche Pflege antizipieren, gehören sechs Frauen und drei Männer. Das Alter dieser Enkel variiert zwischen 16 und 35 Jahren. Die Dauer der ambulanten Pflege ihrer Großeltern betrug zwischen zwei und 14 Jahren, wobei sie währenddessen die biografischen Phasen Kindheit, Jugend und früheres Erwachsenenalter durchlebt haben. Vier dieser Enkel haben unilokal, drei mulilokal und zwei von ihnen in beiden Wohnformen ihre Unterstützungsleistungen erbracht. Hieran wird deutlich, dass eine umfassende eigene Pflegebereitschaft weder mit dem Geschlecht, noch mit dem aktuellen Alter des Enkels, der Zeitspanne der erlebten Pflege und dem damaligen Alter des Enkels korreliert. Die Enkel dieser Subgruppe haben ihr Pflegesetting sieben Mal überwiegend positiv, ein Mal gemischt und in einem Fall hauptsächlich belastungsgeprägt bilanziert. In der Kategorie ‚Überlastung’ können sie in fünf Fällen unter die Meta-Variable ‚Überforderung: Nein’, in zwei Fällen unter ‚Überforderung: Teilweise’ und in einem Fall unter ‚Überforderung: Ja’ subsumiert werden. In dieser Subgruppe dominiert ‚Solidarität’ acht Mal als das vorherrschende Beziehungsmuster, im neunten Fall steht ‚Lernen’ im Vordergrund. Das heißt, eine antizipierte umfassende familiale Pflegeleistung kann, muss aber nicht im Zusammenhang mit einem positiv bewerteten Pflegesetting, der Abwesenheit von erlebter Überlastung und der Anwesenheit von primär solidarischen Generationenbeziehungen stehen. In zwei Fällen, in denen eine Bereitschaft zur umfassenden Pflegeleistung geäußert wird, sind ambivalente Haltungen erkennbar, welche inhaltlich differieren. Frau Vogt thematisiert ihre eigene positive Haltung zur Pflegeübernahme im Spannungsfeld mit der Problematik von Pflege und Beruf. Herr Zumbrock äußert zwar eine eigene umfassende Bereitschaft, reflektiert aber gleichzeitig die davon abweichenden Wünsche seiner Mutter. 296
Es werden sonstige Voraussetzungen, Modifikationen und familiale Spezifika genannt: Eine Voraussetzung betrifft z. B. die Passgenauigkeit mit der eigenen Familiensituation, da davon ausgegangen wird, dass bei Vorhandensein eines Haushaltes mit Kindern leichter eine Pflegesituation integriert werden kann. Weiterhin gelten der abweichende Wille des Pflegebedürftigen oder die gleichzeitige Bedürftigkeit mehrere Personen als potenzielle Barrieren zu einer Pflegeübernahme. Das Dilemma einer gerechten Verteilung von Zeit auf die einzelnen Familienmitglieder sowie die Reziprozität familialer Hilfe gelten als Spezifika familialer Pflege. Ausprägung ‚Sorgeleistung plus partielle häusliche Pflege’ Drei Frauen zwischen 22 und 27 Jahren bilden die Gruppe, die eine partielle familiale Pflege als Zukunftsoption artikuliert. Zwei von ihnen haben die Pflegesituationen als Kind und Jugendliche in einem Zeitraum von fünf und sechs Jahren, eine von ihnen als junge Erwachsene für 1 ½ Jahre erlebt. Jeweils eine von ihnen hat positiv, eine gemischt und eine belastungsorientiert bilanziert. Auch die Klassifikation ihrer Fälle Meta-Variablen zur Überforderung enthält alle drei Ausprägungen, und zwar ‚ja’, ‚teilweise’ und ‚nein’. Die intergenerationellen Erfahrungen von zwei der drei Frauen basieren auf solidarischen Verhältnissen, in der Häufigkeit gefolgt von konflikthaften Formen oder Lernprozessen. Die dritte Enkelin hat vorrangig die Beziehungsmuster ‚Lernen’ und ‚Konflikt’ erlebt. Es kann bei diesen drei Enkelinnen außer dem Geschlecht keine Kongruenz weiterer Merkmale festgestellt werden, wobei die geschlechtsspezifische Merkmalsübereinstimmung auch in Relation zum Verhältnis von weiblichen zu männlichen Studienteilnehmern zu sehen ist. Ausprägung ‚Sorgeleistung plus Pflege in angemessener Einrichtung’ Diese Form eigener Pflegebereitschaft wird auf der Basis divergierender biografischer Erfahrungen geäußert. Bei den beiden Enkeln dieser Subgruppe handelt es sich um die 35-jährige Frau Feld, die im Alter von 11 bis 17 Jahren ein von ihr als belastend bilanziertes Pflegesetting mit ausgeprägter Überforderung erlebt hat. Der heute 17-jährige Herr Metzger hat im Alter von zehn bis 17 Jahren eine dazu erheblich kontrastierende Situation erlebt, weshalb bei ihm die Meta-Variablen ‚Überlastung: Nein’ und ‚Gesamtbilanzierung: positiv’ klassifiziert worden sind. Weiterhin bestehen bei beiden Enkeln dieser Subgruppe 297
erhebliche Diskrepanzen bei den erfahrenen Generationenbeziehungen. Während die Enkelin das Lernen als dominantes Beziehungsmuster mit einem hohen Anteil an konflikthaften Beziehungen erfahren hat, ist das intergenerationelle Geschehen bei dem Enkel vorwiegend durch eine solidarische Ausprägung und durch Lernprozesse bestimmt worden. Dieser Befund verdeutlicht, dass erheblich divergierende Lebenswelten zu einer kongruenten Pflegebereitschaft führen können. Bei einer zukünftigen Sorgeleistung in Verbindung mit dem Leben in einer Einrichtung muss für die Enkelin der diesbezügliche Wille der Kranken vorliegen. Sie machte diese Versorgungsvariante von der Beziehung zum späteren Pflegebedürftigen abhängig, da bei guter Beziehung auch eine häusliche Lösung vorstellbar wäre. Wesentliche Befunde zur eigenen Pflegebereitschaft Mehrere relevante Ergebnisse können festgehalten werden. Erstens antizipieren alle Enkel eine eigene Sorgeleistung, d. h. die Übernahme einer Gesamtverantwortung für das Wohlergehen des pflegebedürftigen Elternteils. Zweitens ist darüber hinausgehend die eigene Pflegebereitschaft sehr hoch, da zwölf von 14 Enkeln eine häusliche Pflege übernehmen würden. Drittens können fallübergreifende Variablen wie z. B. Alter, Geschlecht, etc. sowie die Gesamtbilanzierung des Pflegesettings, welche mit der geäußerten Ausprägung der Pflegebereitschaft korrelieren, nicht identifiziert werden. Unabhängig von der Ausprägung geäußerter Pflegebereitschaft existieren fallübergreifend relevante Kategorien zur Antizipation zukünftiger Pflegeszenarien, welche die vorhandene familiale Unterstützung, eine Vereinbarkeit von Pflege und Beruf, die offene Kommunikation des Themas Pflege und die Kombination eigener Unterstützungsleistungen mit professionellen Diensten beinhalten. Pflegebereitschaft Anderer Die drei Ausprägungen der Meta-Variable ‚Pflegebereitschaft Anderer’ im Falle eigener Pflegebedürftigkeit sind analog dem oben geschilderten Verfahren gebildet worden. Antizipieren die Enkel eigene Pflegebedürftigkeit, erwarten alle 15 Interviewten eine grundsätzliche Sorgeleistung von anderen Familienmitgliedern. In zehn Fällen werden darüber hinaus pflegerische Hilfen gewünscht, worunter in vier Fällen eine umfassende häusliche Pflege und in sechs Fällen eine partielle häusliche Pflege verstanden wird. Fünf Enkel 298
möchten eine Sorgeleistung ihrer Angehörigen mit dem Aufenthalt in einer fachlich adäquaten Einrichtung kombinieren. Pflegebereitschaft Anderer: Fallübergreifend relevante Kategorien ‚Professionelle Dienste’ sind in neun Fällen für das bevorzugte Pflegearrangement konstitutiv; vier Mal basiert die Vorstellung des Selber-GepflegtWerdens auf dem Einsatz von professionellen Kräften in einem stationären Setting, in weiteren vier Fällen sollen hauptberufliche Mitarbeiter komplementär zur partiellen häuslichen und in einem weiteren Fall zur umfassenden häuslichen Pflege zum Einsatz kommen. Ihren Angehörigen ‚nicht zur Last fallen’ möchten sechs Enkel, wobei vier von ihnen deshalb die stationäre Pflege für sich selber präferieren. Einer dieser Enkel wünscht sich eine umfassende und der zweite eine partielle häusliche Pflege. Weiterhin wird ein breites Spektrum an spezifischen Erläuterungen für die eigenen Wünsche im Fall einer Pflegebedürftigkeit genannt, auf die im Zusammenhang mit den einzelnen Subgruppen näher eingegangen wird. Nur in einem Fall wurde geäußert, dass diese Frage aktuell ‚noch kein Thema’ sei. Ausprägung ‚Umfassende häusliche Pflege’ Zu der Subgruppe der vier Enkel, die eine umfassende häusliche Pflege für sich präferieren, gehören drei Frauen und ein Mann, mit einer Gesamtbilanz, welche drei Mal positiv und ein Mal belastungsgeprägt ist. Überforderungen sind in zwei Fällen teilweise, und in weiteren zwei Fällen nicht thematisiert worden. Die Dauer der erlebten Pflege variiert ebenso wie das aktuelle Alter zwischen 16 und 29 Jahren und die Lebensphase während der Pflegezeit, die in drei Fällen im Kindesalter und in einem weiteren Fall im Erwachsenenalter begann. Das heißt, dass, ebenso wie bei den vorherigen Subgruppen auch, bei den Enkeln, die für sich selber eine umfassende häusliche Pflege präferieren, keine typischen Merkmale erkennbar sind. Die ‚Freiwilligkeit’ der pflegenden Angehörigen war die Voraussetzung einer Bevorzugung von umfassender häuslicher Pflege bei drei Enkeln. Die ‚geeignete Persönlichkeit des Partners bzw. die gute emotionale Beziehung’ wird von zwei Enkeln als Voraussetzung genannt. Ambivalenzen werden bei einer 26-jährigen Enkelin deutlich, die auf der einen Seite die Pflege als schwer, aber andererseits als leistbar antizipiert. Trotz der Präferenz
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der umfassenden häuslichen Pflege ist bei ihr die Überlegung, ob ein Heim nicht auch eine geeignete Lösung wäre, noch nicht abgeschlossen. Ausprägung ‚Partielle häusliche Pflege’ Die Gruppe dieser sechs Enkel besteht aus zwei Männern und vier Frauen. Bei vier Enkeln dieser Gruppe liegt eine positive, bei einem Enkel eine gemischte und bei einem weiteren Enkel eine belastungsgeprägte Gesamtbilanzierung vor. In dieser Subgruppe ist die Meta-Variable ‚Überlastung’ zwei Mal mit ‚teilweise’, einmal mit ‚ja’ und drei Mal mit ‚nein’ vorhanden. Das Alter zum Zeitpunkt des Interviews variiert von 22 bis 33 Jahren und das Alter zur Zeit der Pflege betrifft in unterschiedlichem Maße die Phasen späte Kindheit, Jugendund Erwachsenenzeit. Die Pflege der Großeltern dauerte von 1,5 bis 14 Jahren. Das bedeutet, dass es sich bei den Enkeln, die sich eine partielle häusliche Pflege wünschen, ebenfalls um eine heterogene Subgruppe handelt. ‚Professionelle Dienste’ sind in vier Fällen als wichtige komplementäre Maßnahme beschrieben worden. Als ‚Spezifika familialer Pflege’ werden neben dem Aspekt der Reziprozität familialer Hilfe z. B. die Divergenzen zwischen der älteren und der mittleren Generation genannt. Die Pflegebedürftigen der Zukunft wüssten, was sie von einer nachfolgenden, pflegenden Generation verlangten, da sie selber diese Erfahrung schon gemacht hätten. Eine Enkelin gab zu bedenken, dass es ihr schwer fallen würde ‚sich helfen zu lassen’. Ambivalenzen werden von einer 22-jährigen Enkelin bezogen auf potenzielle eigene Kinder geäußert, die ihrer Meinung nach grundsätzlich nicht herangezogen werden, aber letzten Endes dies selber entscheiden sollten. Eine 27-jährige Enkelin sieht einerseits die Entscheidungshoheit bei den Menschen, die die Pflege durchführen, andererseits könnte es sich jedoch für die gepflegten Menschen belastend auswirken, wenn diese sich selber als Belastung für ihre Angehörigen empfinden müssten. Eine 24-jährige Enkelin hofft zwar auf eine umfassende häusliche Pflege, ist sich aber auch darüber im Klaren, dass sie zurzeit weder einen Partner noch eigene Kinder hat, die diese durchführen könnten. Ausprägung ‚Stationäre Pflege’ Die vier weiblichen und der eine männliche Enkel in dieser Gruppe haben drei Mal positiv, in einem Fall gemischt und ein Mal belastungsgeprägt bilanziert. 300
Die Meta-Variable ‚Überlastung’ lautet in zwei Fällen ‚nein’, in zwei Fällen ‚ja’ und ein Mal ‚teilweise’. Diese Enkel sind zwischen 17 und 35 Jahre alt, und durchliefen sowohl die Phasen Kindheit, Jugend als auch Erwachsenenalter, als ihre Großeltern mit einer Dauer von vier bis 14 Jahren gepflegt wurden. Für vier dieser fünf Enkel sind die ‚professionellen Dienste’ von besonderer Relevanz, da sie von ihnen für diese anspruchsvolle Aufgabe als besser qualifiziert angesehen werden. Somit kann durch ihren Einsatz eine hohe Betreuungsqualität, hier im stationären Bereich, garantiert werden. Vier Enkel möchten, wie oben bereits erwähnt, ihren Angehörigen ‚nicht zur Last fallen’ bzw. nicht das Gefühl haben müssen, den Angehörigen eine Belastung zu sein. Daran wird ersichtlich, dass Enkel, die eine stationäre Versorgung antizipieren, häufig Belastungen ihrer Angehörigen vorbeugen möchten. Ambivalenzen werden auch in dieser Gruppe deutlich: Eine 35-jährige Enkelin, die originär für sich selber keine häusliche Pflege präferiert, bemerkt gleichzeitig, dass die stationäre Variante keine angenehme Lösung sei. Außerdem gehöre die Reziprozität zu den Spezifika einer Familie. Kongruenz von ‚eigener Pflegebereitschaft’ und ‚Pflegebereitschaft Anderer’ Von den 14 einbezogenen Enkeln sind in acht Fällen die eigene und die von Anderen erwartete Pflegebereitschaft kongruent. Dies betrifft vier Mal die Ausprägung ‚Pflege umfassend’, zwei Mal ‚Pflege partiell’ und zwei Mal die grundsätzliche Sorgeleistung in Kombination mit einer stationären Einrichtung. Diskrepanzen liegen bei sechs Enkeln vor, wobei in allen sechs Fällen die eigene Bereitschaft höher ist als die erwartete. Dies bedeutet, dass bei sechs der hier interviewten Enkel weniger von den zukünftigen Partnern oder Kindern gewünscht wird, als bei den eigenen Eltern geleistet würde. Wesentliche Befunde zur erwarteten Pflegebereitschaft Anderer Auch hier wird bei allen 15 Enkeln eine Sorgeleistung von ihren Familienmitgliedern erwartet, was mit ihrer eigenen Pflegebereitschaft übereinstimmt. Professionelle Dienste spielen in fast zwei Drittel der Fälle eine relevante Rolle, wobei ihre Funktion differiert, da ihr Einsatz sowohl stationär als auch ambulant für die Enkel vorstellbar ist. Nur für einen Enkel ist die vorliegende Fragestellung zurzeit’ noch kein Thema’. Bei den einzelnen Ausprägungen gewünschter Pflegeübernahme durch andere Familienmitglieder liegt kein 301
einheitliches ‚Enkelprofil’ vor. Die Enkel, die neben der grundsätzlichen Sorgeleistung eine partielle häusliche Pflegebereitschaft oder eine stationäre Pflege erwarten, sehen professionelle Dienste als wesentliches Versorgungselement an. Die eigene Pflegebereitschaft ist bei über der Hälfte der Enkel äquivalent zu der von den Familienmitgliedern erwartete. Liegen Diskrepanzen vor, so ist die Bereitschaft der Enkel höher als die von Anderen erhoffte. ‚Pflichtpflege’ für Angehörige Analog zu den beiden vorangegangenen Fragen ist zur Klassifizierung der jeweiligen Ausprägungen der Meta-Variable erst die grundsätzliche Haltung ermittelt worden. Anschließend sind die einzelnen Bezugnahmen zu dieser Einstellung, beispielsweise Voraussetzungen oder Ausnahmen, eruiert worden. Die Frage nach Einführung einer Pflichtpflege für Angehörige hat bei den Enkeln unterschiedliche Reaktionen ausgelöst. Sieben der Enkel sehen in einem gesamtgesellschaftlichen und somit anonymen Kontext überhaupt keine moralische Verpflichtung zur Hilfeleistung. Weitere acht Enkel determinieren die Verantwortlichkeit im Sinne einer grundsätzlichen Sorgeleistung, drei davon mit einer Verpflichtung zu pflegerischen Leistungen. Ausprägung ‚Keine Verpflichtung’ Zu dieser Gruppe von sieben Enkeln gehören fünf Frauen und zwei Männer, deren Alter zum Zeitpunkt des Interviews von 16 bis 35 Jahre variiert hat. Als die kranken Großeltern gepflegt wurden, waren vier von ihnen Kinder, ein Enkel war jugendlich und zwei Enkel schon erwachsen. Ihre Gesamtbilanzierung ist vier Mal ‚positiv’, ein Mal ‚gemischt’ und zwei Mal ‚belastungsdominiert’. Weiterhin lauten die Ausprägungen der Meta-Variable ‚Überlastung’ bei zwei Enkeln ‚nein, bei vier Enkeln ‚teilweise’ und bei einem Enkel ‚ja’. Die Befunde zeigen, dass auch bei dieser Gruppe von Enkeln Merkmalsunterschiede vorliegen. Es werden fehlende Voraussetzungen einer Umsetzung genannt: Die Enkel begründen ihre Haltung in vier Fällen damit, dass sie Freiwilligkeit als Voraussetzung funktionierender Pflege empfinden. Ebenfalls vier Enkel weisen darauf hin, dass so ein anspruchsvolles Unterstützungssetting nicht für jeden Angehörigen leistbar sei, da hierzu viele Kompetenzen benötigt würden. Weiterhin bezeichnen drei Enkel die Lösung als ungünstig für Demenzkranke, da sie gege302
benenfalls unzureichend versorgt würden, und zwei Enkelinnen betonen die Vereinbarkeitsproblematik von Pflege und Beruf als zentrale Barriere. Ausprägung ‚ Sorgeleistung’ Eine Verpflichtung zur Pflege in einem umfassenden Sinne wird von diesen fünf Enkeln abgelehnt. Allerdings nennen sie Aspekte, die ihre generelle Ablehnung einschränken, sodass sie der Ausprägung ‚Sorgeleistung’ zuzuordnen sind. Zu dieser Subgruppe gehören vier Frauen und ein Mann, von denen vier Enkel eine ‚positive’ und ein Enkel eine ‚gemischte’ Bilanz berichten. Die Meta-Variable ‚Überforderung’ liegt bei ihnen in allen drei Ausprägungen vor. Ihr aktuelles Alter differiert von 17 bis 28 Jahren, und bei allen fünf Enkeln hatte das Pflegesetting entweder in der Kindheit oder in der Jugend begonnen. Ihr erlebtes Pflegesetting hat ein Mal vier, in einem Fall sechs und drei Mal sieben Jahre gedauert. Auch in dieser Gruppe von Enkeln liegen somit keine typischen Merkmalskombinationen vor. Als ‚Einschränkung der Ablehnung’ einer Pflichtpflege wird bemerkt, dass eine grundsätzliche Verantwortlichkeit für Angehörige gegeben sei. Zum Teil steht die Ablehnung einer Verpflichtung auch im Zusammenhang mit der als mangelhaft erlebten Unterstützung pflegender Angehöriger. Für die Enkel liegen ‚fehlende Voraussetzungen für die Umsetzung’ einer umfassenden Verpflichtung zur Pflege vor. Dies betrifft die fehlende physische und psychosoziale Eignung von Angehörigen, die Existenz spezieller Krankheitsbilder, eine Mehrpersonenpflege, fehlende finanzielle Ressourcen, die Vereinbarkeitsproblematik von Pflege und Beruf sowie die Gefahr, dass Pflegebedürftige eine unzureichende Versorgung erleben könnten. Ausprägung ‚Sorgeleistung mit Pflege’ Die Gruppe der Enkel, die eine Verpflichtung zur Pflege Angehöriger befürworten, besteht aus zwei Frauen und einem Mann mit einer Gesamtbilanzierung, die zwei Mal positiv und in einem Fall belastungsgeprägt ist. Die MetaVariable ‚Überforderung’ hat zwei Mal die Ausprägung ‚nein’ und einmal ‚ja’. Die Enkel waren zum Zeitpunkt des Interviews 24, 26 und 27 Jahre alt, und hatten einmal in der Kindheit und sonst als Erwachsene die Pflege mit einer Zeitspanne zwischen 1,5 bis 10 Jahren erlebt. Wie in den anderen beiden Subgruppen wurde auch hier keine Einheitlichkeit von Merkmalen ermittelt. 303
Alle drei Enkel meinen, das ‚Prinzip sei gut, nur die Umsetzung sei schwer’. Eine Enkelin bemerkt, hier würden Rahmenbedingungen gegeben, damit Menschen mit einer ablehnenden Einstellung zur Pflegeübernahme die Möglichkeit einer positiven Erfahrung erhielten. Ein Enkel bedenkt, dass es dazu eines sehr sorgfältigen Regelwerks bedürfe. Auch Ambivalenzen werden geäußert: Eine Enkelin befürwortet eine generelle Verpflichtung zur Pflege, sieht jedoch gleichzeitig die Problematik, Pflege und Beruf vereinbaren zu können. Eine weitere Enkelin befürchtet, dass die konkrete Ausgestaltung einer ‚Pflichtpflege’ wahrscheinlich auf ‚Freiwilligkeit’ basieren müsste. Kongruenz der Ausprägungen von eigener Pflegebereitschaft, der Erwartung an die Bereitschaft Anderer und die Haltung zur ‚Pflichtpflege’ Bei zwei Enkeln sind diese drei Fragestellungen kongruent: Frau Vogt äußert eine umfassende Pflegebereitschaft, antizipiert im Falle eigener Pflegebedürftigkeit eine umfassende häusliche Versorgung und kann sich eine Pflichtpflege mit einem pflegerischen Anteil vorstellen. Herr Metzger hingegen favorisiert ein Szenario der eigenen Sorgeleistung in Kombination mit dem Aufenthalt in einer Einrichtung, im Falle eigener Pflegebedürftigkeit präferiert er eine stationäre Unterbringung mit der Sorgeleistung seiner Kinder und hält auch eine grundsätzliche Verantwortung zur Sorgeleistung der Angehörigen gegeben. Wesentliche Befunde zu einer generellen Verpflichtung zur Pflege Angehöriger Die Meinungen der Enkel sind zu dieser Fragestellung geteilt. Ungefähr die Hälfte von ihnen sieht keine moralische Verantwortlichkeit für die generelle Verpflichtung zur Pflege von Angehörigen, die anderen acht Enkel erkennen eine Verpflichtung zur Sorgeleistung, wovon drei Enkel explizit das inhärente Potenzial pflegerischer Betätigung herausstellen. Als Barriere zur Angehörigenpflege wird die Vereinbarkeitsproblematik von Pflege und Beruf von vier Enkelinnen genannt191, einmal davon mit ambivalenter Haltung. Insgesamt kann keine Einheitlichkeit bei den verschiedenen Subgruppen von Enkeln festgestellt werden, bis auf eine Tendenz zur Befürwortung einer moderaten Verpflichtung
191 Dies betrifft die Fälle von Frau Kaufmann, Frau Vogt, Frau Müller und Frau Feld.
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im Sinne einer Sorgeleistung von Enkeln, die im Alter von Kindern oder Jugendlichen eine langjährige Pflege erlebt haben. 10.1.2 Kategorienbündel aller spezifisch-episodischen und gesamtbilanzierenden Aussagen Die qualitative Inhaltsanalyse bietet im Rahmen der induktiven Kategorienentwicklung die Möglichkeit, schon gewonnene Kategorien bezogen auf den gewünschten Grad der Abstrahierung durch Generalisierung und Reduktion zusammenzufassen. In einem ergänzenden Schritt sind hierzu die beiden Erfahrungsdimensionen ‚spezifische Erfahrungen’ und ‚Gesamtbilanzierungen’ zusammengefasst worden192. Ziel dieses Analyseschrittes ist nun – nach der oben erfolgten ersten Detailanalyse und der auf der Basis von Meta-Variablen darauf aufbauenden Subgruppenbildung – eine größtmögliche Zusammenfassung, d. h. Bündelung, aller gewonnenen Kategorien. 10.1.2.1 Positive Erfahrungen und Bilanzierungen Die Kategorienbündel aller positiven Erfahrungen setzen sich aus den beiden Erfahrungsdimensionen ‚spezifische Erfahrungen’ und ‚Gesamtbilanzierung’ mit ihren jeweils positiven Ausprägungen zusammen. Sechs relevante fallübergreifende Kategorienbündel, die insgesamt 35 Subkategorien enthalten, sind dabei emergiert. 1. Familialer Zusammenhalt: Dieses Kategorienbündel beinhaltet die familialen Generationenbeziehungen zu beiden Großeltern, die mit positiven Kindheitserinnerungen und damit verbundener Reziprozität konnotiert sind. Eine große Anzahl episodischer Erfahrungen beschreibt den gesamtfamilialen Zusammenhalt oder einfach das Zusammensein. Der ‚familiale Zusammenhalt’ wird in allen 15 Fällen als positive Erfahrung genannt. Sogar im Fall von Frau Feld liegen positive Kindheitserinnerungen vor, die sich allerdings nicht auf die demenzkranke Großmutter sondern auf deren Ehemann, ihren Großvater, beziehen. 2. Gute Generationenbeziehungen: In diesem Kategorienbündel sind beispielsweise die Wertschätzungen enthalten, die den Großeltern als 192 Siehe dazu im Anhang das Kategoriensystem der induktiven Kategorienentwicklung.
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Menschen entgegen gebracht werden. Auch eine gute intragenerationelle Verständigung der Enkel und der Eltern untereinander sowie eine intergenerationelle zwischen der Enkel, der Eltern- und der Großelterngeneration ist von Relevanz. Berichtet wird einerseits von einer gelebten Normalität, aber auch von einer guten Kommunikation und einer Intensivierung der Beziehungen durch die Pflegesituation. Die Rolle der Enkel hat sich zum Positiven verändert und die Elterngeneration beugt Belastungen der Enkel vor. ‚Gute Generationenbeziehungen’ werden in 14 der 15 Fälle berichtet. Bei Frau Klein (Gesamtbilanzierung: ‚Belastend’ und ‚Überforderung: Ja’) ist dieses Kategorienbündel nicht vertreten. Familiäre und persönliche Pflegekompetenz: Dieses Kategorienbündel besteht aus der Kategorie ‚Familiale (Pflege-)Leistungsfähigkeit’ und beinhaltet sowohl pflegerische als auch weitere personale und familiale Kompetenzen, jeweils als episodische und als gesamtbilanzierende Erfahrungen berichtet. Es ist in 13 von 15 Fällen, außer bei Frau Klein und Frau Wiesner (‚Gesamtbilanzierung: Positiv’ und ‚Überlastung: Nein’) vorhanden. In den zehn Fällen, in denen die Meta-Variable ‚Gesamtbilanzierung: Positiv’ vorliegt, ist dieses Kategorienbündel neun Mal (außer bei Frau Wiesner) vertreten. Weiterhin ist es in zwei der drei Fälle mit einer ‚Gesamtbilanzierung: Belastend’ – hier allerdings in einem geringeren Maße – und in beiden Fällen mit der ‚Gesamtbilanzierung: Gemischt’ präsent. In sechs der 15 Fälle ist die pflegerische und sonstige Leistungsfähigkeit eines der Hauptthemen, die sich als ‚roter Faden’ durch das Interview zieht193, wovon in fünf Fällen die Meta-Variable ‚Gesamtbilanzierung: Positiv’ vorliegt. Lernen und Erkenntnisgewinn: Diese Kategorie bündelt Subkategorien aus dem Bereich der Gesamtbilanzierungen. Das Erlangen von Pflegekompetenz, z. B. beim Umgang mit den Erkrankten, das Lernen und die Übernahme sozialer Verantwortung sowie die veränderte Einstellung gegenüber der Lebensphase des Alters und der Erhalt einer präziseren Vorstellung vom Alter bzw. von Demenzerkrankungen spielen hier, auch in Hinblick auf den späteren Beruf, eine maßgebliche Rolle. Diese Aspekte wurden in 13 von 15 Fällen genannt, und zwar in neun von zehn Fällen mit der ‚Gesamtbilanzierung: Positiv’, in zwei von drei Fällen mit der ‚Gesamtbilanzierung: Belastend’ und in beiden Fällen mit der ‚Gesamtbilanzierung gemischt’. Wie die Einzelfallanalysen gezeigt haben, können diese
193 Siehe hierzu im Anhang den Überblick: Kategorie ‚Roter Faden und Schlüsselthemen im Interview’
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Erfahrungen im Bereich des Lernens ganz erheblichen Einfluss auf die Bilanzierung des Pflegesettings haben, wie beispielsweise bei Frau Kaufmann. Positive Erlebnisse durch Pflege: Positiv erlebt wird die Betreuung der Kranken aufgrund eines guten Kontaktes zu ihnen, wobei sie im Zuge dessen oftmals als ‚pflegeleicht’ beschrieben werden. Weiterhin wird die Pflege als positives Erlebnis’ im Sinne von „Eigentlich hab’ ich’s immer genossen“ (Int. 8; 23)194 bilanziert. Dieses Kategorienbündel ist in 12 von 15 Fällen, außer bei Frau Schwarz (‚Gesamtbilanzierung: Gemischt’ und ‚Überlastung: Teilweise’), Frau Feld (Gesamtbilanzierung: ‚Belastend’ und ‚Überlastung: Ja’) und Herr Zumbrock (Gesamtbilanzierung: ‚Belastend’ und ‚Überlastung: Teilweise’), präsent. Professionelle Hilfen: Im Bereich der spezifischen positiven Erfahrungen werden zahlreiche Erlebnisse mit professionellen Diensten beschrieben. Für eine Bilanzierung spielte dies keine relevante Rolle. Interessant ist hier die Breite der als positiv erlebten professionellen Hilfen, welche die Themen ‚Wohngruppe bei Demenz’, ‚Selbsthilfe/Gesprächskreis’, ‚Kurzzeitpflege’, ‚Gerontopsychiatrie’, ‚Tagespflege’, ‚Pflegedienst’, ‚Ärzte’, ‚Seelsorge’, ‚Hilfskraft/24-Stunden-Kraft’ ‚Hilfsmittel’ betreffen. Dieses Kategorienbündel ist in 11 von 15 Fällen vorhanden, wobei zu beachten ist, dass ebenfalls als belastend konnotierte und wertneutrale Erfahrungen mit professionellen Diensten vorliegen.
Diese sechs Kategorienbündel stellen die wesentlichen positiv konnotierten Erfahrungsfelder von Enkeln im Pflegesetting bei Demenz dar. Sie werden im Rahmen dieser Forschungsstudie als zentrale Handlungsorientierung, z. B. für die Ableitung von Praxisimplikationen, gewertet. 10.1.2.2 Als belastend erlebte Erfahrungen und diesbezügliche Bilanzierungen Analog zu den positiven werden auch die belastenden Erfahrungen als Kategorienbündel zusammengefasst. Den grundsätzlichen Unterscheidungen der Enkel in Be- und Überlastung folgend, werden Überforderungskategorien an dieser Stelle nicht subsumiert. Fünf fallübergreifende Kategorienbündel liegen vor. 194 Die Belegstellen der Zitate sind in Klammern angegeben und bezeichnen numerisch den jeweiligen Fall (geordnet nach der Systematik der behandelten Fälle in Kapitel 9) und den Absatz des Zitates im Transkript dieses Falles.
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Symptomatik / Verlauf / Pflege erschwerendes Verhalten: In diesem Kategorienbündel ist aus dem Bereich der spezifischen belastenden Erfahrungen die Subkategorie ‚Pflege erschwerende Verhaltensweisen’195 mit den Merkmalen Agitiertheit, Aggressivität, Weglaufen, Selbstgefährdung und fehlender Kooperation. Weiterhin beinhaltet es die Situation der Enkel, die zeitweise alleine verantwortlich für Erkrankte gewesen sind. Aus dem Bereich der ‚Gesamtbilanzierung’ sind Kategorien zu der Symptomatik und dem Verlauf der Krankheit sowie zu einer zum Negativen veränderten Beziehung zu den Erkrankten subsumiert worden. Dieses Kategorienbündel ist in 14 von 15 Fällen präsent, wovon neun Enkel eine ‚Gesamtbilanzierung: Positiv’ aufweisen. In diesen neun Fällen werden die belastenden Erfahrungen jedoch vergleichsweise seltener genannt. Weiterhin enthalten die drei Fälle mit ‚Gesamtbilanzierung: Belastend’ und die beiden Fälle mit ‚Gesamtbilanzierung: Gemischt’ diese Kategorienbündel. Daher kann festgestellt werden, dass diese Belastungsmomente in nahezu jedem Pflegesetting von Relevanz sind. Zeitliche Verpflichtung / Vereinbarkeitsproblematik: Bei diesem Kategorienbündel wurden die Kategorien ‚Zeitliche Belastungen / Vereinbarkeitsproblematik’ und ‚Gesamtbilanzierung: Belastungsfaktoren: Zeitliche Verpflichtung’ zusammengelegt. Es betrifft zehn der 15 Fälle. Dazu gehören auch fünf Enkel, die unter ‚Gesamtbilanzierung: Positiv’ subsumiert wurden. Von den weiteren fünf Enkeln hatten drei belastungsgeprägt und zwei gemischt bilanziert. Das bedeutet, dass der Faktor ‚Zeit’ für zwei Drittel aller Fälle einen Belastungsaspekt darstellt. Auch für die Hälfte aller Enkel, deren Gesamtbilanzierung ‚positiv’ ist, ist die zeitliche Belastung ein Problem. Hiervon war z. B. Herr Ottfried mit einer Dauer der Pflege von 14 Jahren im Besonderen betroffen. Professionelle Hilfen: Zu den spezifisch belastenden Erfahrungen gehören auch Erlebnisse mit professionellen Diensten. Da diese Thematik ebenso als Kategorienbündel von positiven und wertneutralen Erfahrungen vorkommt, ist der Vergleich der Inhalte interessant. Als belastend genannt wurden die Kategorien ‚Arzt’, ‚Pflegedienst’, ‚Umgang mit Erkrankten’, ‚Zeitkorridore’, ‚Altenheim’, ‚Krankenkassen / finanzielle Hilfen’ und ‚Beratung’. Dieses Kategorienbündel ist in neun der 15 Fälle präsent. Von diesen Kate-
195 Die Kategorie ‚Pflege erschwerende Verhaltensweisen’ emergierte fallübergreifend aus dem Datenmaterial als negative Entsprechung zu dem von den Enkeln als „pflegeleicht“ titulierten Verhalten der kranken Großeltern.
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gorien gehören der ‚Arzt’ und der ‚Pflegedienst’ auch zu den positiven Erfahrungen. Intra- / intergenerationelle Konflikte und Rollenveränderung: Zu den spezifischen Belastungen in diesem Kategorienbündel zählen die Beziehungen der Enkel zu den gesunden Großeltern, die als altmodisch und nicht genug lern- und kooperationsbereit bezeichnete werden. Es mangelt an nötiger Anerkennung für die Sorgeleistung der mittleren Generation, und Generationendifferenzen werden als problematisch wahrgenommen. Weiterhin gehören problematische Aspekte der Enkel-Eltern-Beziehung, ungünstige Rollenveränderungen196 und Konflikte zu dieser kategorialen Bündelung. Dieses Kategorienbündel ist in acht Fällen präsent, wovon vier Enkel positiv, zwei Interviewpartner gemischt und zwei weitere Enkel belastungsdominiert bilanziert haben. In vier der acht Fälle beziehen sich die Konflikte primär auf den gesunden Großelternteil, d. h. den Ehepartner des kranken Großelternteils, in zwei Fällen auf den Vater einer Enkelin. In zwei weiteren Fällen ist dieses Kategorienbündel nur in einem geringen Umfang vorhanden. Die drei Enkeltöchter, für die dieses Kategorienbündel von erheblicher Relevanz ist, haben zwei Mal von Konflikten mit dem Vater und in einem Fall von Konflikten, die gemeinsam mit der Mutter gegenüber einem gesunden Großelternteil bestanden, angegeben. Somit hat es sich in diesen drei Fällen jeweils um eine jüngere Frau in der intergenerationellen Auseinandersetzung mit einem älteren Mann gehandelt. Problematisches familiales und soziales Umfeld: In dieses Kategorienbündel werden Aspekte des ‚familialen Umfelds’, und zwar ‚Einmischung / Kritik / keine Anerkennung’ und ‚selten da / wenig Hilfe’ eingeschlossen. Diese Darstellungen kennzeichnen auch das ‚soziale Umfeld’, mit einer zusätzlichen Kategorie, welche ‚Unverständnis / Weggucken’ lautet. Dieses Kategorienbündel liegt bei sieben der 15 Enkel vor. In drei dieser Fälle liegt eine ‚positive’, in zwei Fällen eine ‚belastungsgeprägte’ und in weiteren zwei Fällen eine ‚gemischte’ Bilanz vor. Das bedeutet, dass Verwandte und Bekannte, denen es an Verständnis und Kompetenz fehlt, die aber trotzdem intervenieren und somit zusätzliche Belastungsmomente generieren, in jeder der Subgruppen zu finden sind.
Die Kategorienbündel mit den als belastend erlebten Erfahrungen zeigen deutlich, dass Belastungsphänomene Bestandteil jedes Pflegesettings bei 196 Hierzu kann z. B. die Transformation der Beziehung gehören, wobei der Status der Enkel sich vom Unterstützungsempfänger zum Hilfeleistenden verändert.
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Demenz, unabhängig von der vorliegenden Gesamtbilanzierung, sind. Ihr Vorliegen ist nicht zwingend mit einem nachhaltigen Belastungserleben verbunden. 10.1.2.3 Wertneutrale Erfahrungen und Bilanzierungen Die Kategorienbündel mit wertneutralen Erfahrungen subsumieren die jeweils thematisch entsprechenden Kategorien innerhalb der spezifischen Erfahrungen und der Gesamtbilanzierung, was zu vier relevanten Kategorienbündeln geführt hat. 1.
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Betreuung der Erkrankten: Diese Bündelung von Subkategorien umfasst die zwei großen Bereiche der Symptome und des Verlaufs der Erkrankung sowie der geleisteten Unterstützung und Aktivierung der demenzkranken Angehörigen. Ersteres beinhaltet im Segment spezifischer Erfahrungen außer dem ‚chronisch-progredienten Verlauf’ mit Symptomen wie ‚Desorientiertheit / Vergesslichkeit’, ‚Selbstgefährdung’, etc. die somatischen Erkrankungen, die Kommunikation mit den Erkrankten und Prozesse des körperlichen Abbaus in der späten Phase. Wenn Frau Vogt erzählt, wie sie, mit ihrem Bruder hinter dem Sofa sitzend, über die Verhaltensweisen der Großmutter lacht, veranschaulicht das diese Form der wertneutralen Erfahrungen. Das Segment ‚geleistete Unterstützung und Aktivierung’ enthält die Kategorien ‚Hilfebedarfe / geleistete Unterstützung versus Autonomie’, und ‚organisatorisch / rechtliche / finanzielle Unterstützungsleistung’. Zur Betreuung gehören die Aspekte Aufmerksamkeit, Aktivierung, Mobilität, Körperpflege und hauswirtschaftliche Tätigkeiten. Subsumiert wurden auch ‚Erkrankte in Einrichtung’ und die späte Phase bzw. das Lebensende des Großelternteils. Das Kategorienbündel betrifft alle 15 Fälle mit einer vergleichsweise hohen Anzahl von Codierungen. Dieses Ergebnis indiziert, dass Symptome einer Demenzkrankheit sowie die Betreuung der Großeltern nicht genuin belastend sind. Auch problematische Aspekte wie Desorientierungen, Gedächtnisstörungen und Verhaltensprobleme werden als ‚fraglos gegeben’ geschildert. Es handelt sich hierbei um einen zentralen Befund dieser Studie. Familiales und soziales Umfeld: Diese Zusammenfassung von Subkategorien enthält Schilderungen von Verwandten als abwesende oder nicht vorhandene und darüber hinaus weniger wichtige Mitglieder der Familie, deren fehlende Pflegekompetenz nicht von Relevanz ist. Das soziale Umfeld wird im Wesentlichen durch Mitschüler repräsentiert. In 13 Fällen
3.
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ist dieses Kategorienbündel zu finden, von denen in acht Fällen positiv, in drei Fällen belastungsgeprägt und in zwei Fällen gemischt bilanziert wurde. Überforderungen sind sieben Mal mit ‚nein’, drei Mal mit ‚ja’ und drei Mal mit ‚teilweise’ bewertet worden. Hieran wird deutlich, dass fehlende oder unfähige Verwandte nicht zu Belastungen führen müssen, sondern ebenso ohne besondere Bedeutung für die subjektiven Relevanzsetzungen der Enkel sein können. Familiale Generationenbeziehungen: Diese Erfahrungen beinhalten sowohl die Phase vor der Erkrankung und das Kindheitserleben als auch die Zeit nach der Erkrankung. Sie betreffen die eigene Rolle als Enkel eines demenziell erkrankten Großelternteils, den Einbezug der Geschwister, die Gestaltung der intergenerationellen Beziehungen und die Wahrnehmung von Generationen- und Geschlechterdifferenzen. In der Gesamtbilanzierung spielt die Kategorie ‚Erklärung für familiales Verhalten’ eine Rolle. Dieses Kategorienbündel gehört zu elf Fällen, in denen alle Ausprägungen bezogen auf die Gesamtbilanzierung und die Überforderung vertreten sind. Hiermit wird deutlich, dass in über zwei Drittel aller Fälle ein erheblicher Anteil an unproblematischen Selbstverständlichkeiten den Bereich der familialen Generationenbeziehungen prägt. Professionelle Hilfen: Professionelle Hilfen werden auch im Bereich lebensweltlicher Selbstverständlichkeiten geschildert. Hierzu gehören spezifische Erfahrungen und die Bilanzierung, die die ‚Profi-Pflege’ als nicht hilfreich klassifiziert. Dieses Kategorienbündel ist in acht Fälle präsent, und auch in dieser Subgruppe sind, wie bei den vorherigen, alle Formen der Meta-Variablen ‚Bilanzierung’ und ‚Überlastung’ vorhanden.
Sowohl die Ergebnisse der induktiven Kategorienbildung als auch die in Teil A explizierten Befunde der Literaturanalyse verdeutlichen die hohe Relevanz der familialen Beziehungsgestaltung für das Pflegegeschehen. Dies unterstreicht den Stellenwert einer Untersuchung von intergenerationellen Beziehungsmustern in den fünfzehn hier vorliegenden Pflegesettings.
10.2
Deduktive Kategorienanwendung
Wie bereits in Kapitel 7.3.2 dargelegt, wird mit der Methode der deduktiven Kategorienanwendung nach Mayring ein Kategorienschema, welches vorab theoriengeleitet gebildet worden ist, an das Datenmaterial herangetragen. Bei der hier vorliegenden Analyse handelt es sich um die Kategorien ‚Solidarität’, 311
‚Konflikt’, ‚Ambivalenz’ und ‚Lernen’, jeweils im Kontext familialer Generationen in Pflegesettings bei Demenz197. In den hier untersuchten fünfzehn Fällen ist ‚Solidarität’ zwölf Mal das dominante Beziehungsmuster. In weiteren drei Fällen handelt es sich bei dem vorrangigen Muster um ‚Lernen’. Beziehungsformen des Konflikts und der Ambivalenz stehen nicht im Vordergrund. Durch die Dominanz bzw. die relative Häufigkeit einzelner Beziehungsmuster innerhalb eines Falles ergeben sich verschiedene Konstellationen, welche im Anschluss sortiert nach der Häufigkeit in abnehmender Reihenfolge dargestellt werden. x Typ I: Solidarität, Lernen, Konflikt, Ambivalenz (9 Fälle) x Typ II: Solidarität, Konflikt, Lernen, Ambivalenz (1 Fall) x Typ III: Solidarität, Lernen, Ambivalenz, Konflikt (2 Fälle) x Typ IV: Lernen, Konflikt, Solidarität, Ambivalenz (2 Fälle) x Typ V: Lernen, Solidarität, Ambivalenz, Konflikt (1 Fall) 10.2.1 Solidarität Bei den hier interviewten Enkelkindern von Großeltern mit Demenzerkrankungen ist ‚Solidarität’ in zwölf Fällen das dominante Beziehungsmuster. Im Rahmen der durchgeführten Analyse sind zur Erfassung solidarischer Haltungen und Handlungen die verschiedenen familialen Generationen sowohl als Adressaten wie auch als Akteure identifiziert worden. Die dazu benutze Definition von Solidarität wird in Kapitel 7.3.2 dargestellt198. Um den Stellenwert dieses Beziehungsmusters sowie fallübergreifende Regelmäßigkeiten und Typisierungen zu erfassen, werden nachfolgend sowohl die Fälle mit den höchsten als auch mit den niedrigsten Solidaritätswerten (bezogen auf die Präsenz aller Beziehungsmuster innerhalb des jeweiligen Falles) expliziert. Weiterhin werden Zusammenhänge mit den Ausprägungen der vorliegenden Meta-Variablen hinterfragt.
197 Siehe dazu im Anhang den Gesamtüberblick über die induktive Kategorienbildung und die deduktive Kategorienanwendung. 198 Der ‚Codierleitfaden’ befindet sich im Anhang.
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Drei Fälle mit den höchsten Anteilen an intergenerationeller Solidarität Der höchste relative Anteil solidarischer Haltungen und Handlungen mit 85 % aller Codierungen innerhalb der deduktiven Analyse liegt bei Frau Müller vor. Ihr Fall gehört zu der häufigsten Konstellation von Beziehungsmustern, dem Typ I mit einer Abfolge von ‚Solidarität’, ‚Lernen’, ‚Konflikt’ und ‚Ambivalenz’. Ihre Bilanzierung lautet ‚gemischt’ und die Meta-Variable ‚Überlastung’ hat die Ausprägung ‚ja’. Zum Zeitpunkt des Interviews ist sie 21 Jahre alt und ihre eigene Pflegebereitschaft kann als ‚umfassend’ deklariert werden. Ihr Alter zur Zeit der Pflege betrug 17 bis 21 Jahre. Wie unter 9.8.2 dargestellt wurde, ist ein deutliches Kennzeichen des hier vorliegenden solidarischen Beziehungsmusters die Reziprozität, das heißt, die Enkelgeneration war in früheren familialen Phasen bzw. ist zum Zeitpunkt der Pflegesituation selber Adressat von Solidaritätsbekundungen der Großeltern- und der Elterngeneration. Die Wechselseitigkeit betrifft ebenso die intragenerationelle Haltung zwischen den Enkeln. Der zweithöchste Anteil von ‚Solidarität’ in den Generationenbeziehungen wird im Fall von Herrn Ottfried ermittelt. Er wird einer selteneren Beziehungsmuster-Konstellation zugeordnet, dem Typ III, was der Abfolge ‚Solidarität’, ‚Lernen’, ‚Ambivalenz’ und ‚Konflikt’ entspricht. Seine Meta-Variable Gesamtbilanzierung lautet ‚positiv’ und die der Überlastung: ‚nein’. Auch er signalisiert eine umfassende Pflegebereitschaft. Sein Alter in der Phase der Pflege reichte von 18 bis 32 Jahren und liegt zur Zeit des Interviews bei 33 Jahren. Die Subkategorien im Bereich ‚Solidarität’ zeigen bei ihm eine Einseitigkeit, da ausschließlich die Enkel- und Elterngeneration als solidarisch Handelnde präsent sind, was auf eine negative Bilanzierung und dem Vorliegen von Überlastung hindeuten könnte. Allerdings tritt der Enkel (auch im Zusammenhang mit den Eltern) als Wissensvermittler auf, was für ihn positiv konnotiert ist. Weiterhin liegen sehr niedrige Werte im Bereich ‚Konflikt’ vor. In diesem Falle ist daher vor allem die Kombination der verschiedenen Beziehungsmuster heranzuziehen, um zu einer Plausibilität der vorliegenden Meta-Variablen zu gelangen. Frau Vogt hat den dritthöchsten Anteil an solidarischen Beziehungen. Die Konstellation entspricht mit Typ I der häufigsten Variante. Im Rahmen der Analyse bilanziert sie ihr Pflegesetting positiv und signalisiert keine Überforderung. Auch sie bekundet eine umfassende Pflegebereitschaft. Ihr aktuelles Alter beträgt 26 Jahre, und sie hat von 12 bis 22 Jahren eine Pflegesituation erlebt. Die Subkategorien im Bereich ‚Solidarität’ dokumentieren bei ihr Solidarität als wechselseitiges Geschehen, in dem Frau Vogt als hauptsächlich Handelnde auftritt. 313
Eine vergleichende Analyse der drei Fälle mit den höchsten Anteilen intergenerationeller Solidarität zeigt im Wesentlichen folgende Ergebnisse: x Es liegt keine fallübergreifende Geschlechterausprägung vor. x Gemeinsam ist allen drei Enkeln eine umfassende eigene Pflegebereitschaft. x Hohe Anteile am Beziehungsmuster ‚Solidarität’ müssen nicht mit einem positiv bilanzierten Pflegesetting oder mit der Abwesenheit von gravierender Überforderung korrelieren. x Selbst wechselseitige familiale Solidaritätsbekundungen schützen nicht vor Überforderung. x Andererseits kann einseitig solidarisches Handeln des Enkels nicht als Prädiktor für eine aus der Retrospektive empfundene Überforderung oder eine kritische Bilanzierung gesehen werden. Drei Fälle mit den niedrigsten Anteilen an intergenerationeller Solidarität Die geringste Präsenz von solidarischen Beziehungen liegt bei Frau Feld vor. Hier ist Lernen – auch in seiner negativen Ausprägung – das dominante Beziehungsmuster, gefolgt von Konflikt (entsprechend Typ IV). Sie bilanziert belastungsgeprägt, und bejaht deutlich eine Überforderung. Ihre eigene Pflegebereitschaft kann als ‚Sorgeleistung in Kombination mit stationärem Aufenthalt’ klassifiziert werden. Sie hat im Alter von 11 bis 17 Jahre die häusliche Pflege erlebt und ist aktuell 35 Jahre alt. Der zweitniedrigste Anteil am Muster ‚Solidarität’ gehört zu Frau Schwarz, in diesem Fall ist Lernen das dominante Beziehungsmuster mit einer Konstellation wie im Typ IV, was Frau Felds Konstellation entspricht. Ihre Bilanzierung ist gemischt, und eine Überforderung hat nach ihren Schilderungen teilweise vorgelegen. Die eigene Pflegebereitschaft kann mit ‚partielle häusliche Pflege’ klassifiziert werden. Die 22-Jährige hat von 12 bis 18 Jahren die Pflege ihrer Großmutter miterlebt. Der drittniedrigste Anteil von ‚Solidarität’ ist bei Herrn Zumbrock ermittelt worden. Auch bei ihm dominiert das Beziehungsmuster Lernen, gefolgt von ‚Solidarität’ und ‚Ambivalenz’ (Typ V). Die Ausprägungen der Meta-Variablen lauten bei ihm: ‚Gesamtbilanzierung: belastend’, ‚Überforderung: teilweise’ und ‚Eigene Pflegebereitschaft: umfassend’. Im Alter von 27 begann die multilokale häusliche Pflegesituation, die bei dem 29-Jährigen noch andauert.
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Eine vergleichende Analyse der drei Fälle mit den niedrigsten Anteilen intergenerationeller Solidarität zeigt im Wesentlichen folgende Ergebnisse: x Es liegen keine homogenen Gruppen bezogen auf das aktuelle Alter sowie das Alter zum Zeitraum der Pflegesituation, das Geschlecht und die typische Wohnform vor. x In Fällen mit niedrigen Anteilen intergenerationeller Solidarität variieren die Ausprägungen der jeweiligen Meta-Variablen, wobei eine Tendenz in Richtung Belastung und Überforderung angedeutet wird. Korrelation von Gesamtbilanzierung
solidarisch
geprägten
Beziehungsmustern
und
In den zehn Fällen mit positiver Bilanzierung variiert die Höhe der Anteile an solidarischen Beziehungsmustern. In den drei Fällen, die eine belastungsgeprägte Gesamtbilanzierung aufweisen, ist der Solidaritätswert bei Frau Klein ein mittlerer, bei Frau Feld der niedrigste von allen und bei Herrn Zumbrock der drittniedrigste. Somit kann aufgrund des Vorliegens von niedrigen Anteilen solidarisch erlebter Beziehungsmuster nicht auf ein umfassendes Belastungsempfinden oder eine spezifische Bewertungsform geschlossen werden. Da jedoch, wie oben geschildert, bei den drei Fällen mit der niedrigsten Präsenz von ‚Solidarität’ keine positive Bilanzierung vorliegt, kann grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass ein niedrigerer Anteil am Beziehungsmuster ‚Solidarität’ ein positives Erleben von häuslicher Pflege erschweren kann. Korrelation von solidarisch geprägten Beziehungsmustern und Überforderung Auch in den drei Fällen, in denen eine Überforderung bestätigt worden ist, liegen beim Muster ‚Solidarität’ Unterschiede, und zwar ein niedriger, ein mittlerer und ebenso der höchste Anteil an ‚Solidarität’, vor. Einerseits wird, wie oben bereits gesagt, deutlich, dass eine solidarische Beziehungsgestaltung nicht vor Überforderung schützt, andererseits liegt in den drei Fällen mit niedrigem Solidaritätsanteil zumindest eine partielle Überforderung vor, sodass auch hier davon ausgegangen werden kann, dass das geringe Vorliegen solidarischer Haltungen und Handlungen eine Überforderung begünstigen kann.
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Korrelation von solidarisch geprägten Beziehungsmustern und umfassender Pflegebereitschaft Es stellt sich die Frage, ob die Meta-Variable ‚Eigene Pflegebereitschaft’ mit der Ausprägung ‚umfassend’ mit einem hohen Anteil von als solidarisch erlebten Beziehungen korreliert. In den Fällen der neun Enkel, die eine umfassende Pflegebereitschaft signalisieren, stehen entweder die ‚Solidarität’ oder das ‚Lernen’ als Beziehungsmuster im Vordergrund (Typen I, III und V der Beziehungsmuster-Konstellationen). Interessant ist die Analyse der Subkategorien von ‚Solidarität’, da sich hier bei allen neun Enkeln ein einheitliches Bild bezogen auf die Akteure und Adressaten solidarischer Akte erfassen lässt: In allen neun Fällen zeigen sich ‚Enkel mit Großeltern’, ‚Enkel mit Eltern’, ‚Enkel und Eltern mit Großeltern’ sowie ‚Eltern mit Großeltern’ solidarisch. Somit wird deutlich, dass ihr für die Zukunft antizipiertes Solidaritäts-Szenario der Pflege in Form umfassender intergenerationeller Unterstützungstransfers hin zur älteren Generation von ihnen bereits modellhaft erlebt worden ist. Als wesentlicher Befund bleibt festzuhalten, dass solidarische Beziehungsmuster prägend für die Pflegesettings in 12 von 15 Fällen sind. 10.2.2 Konflikt Konflikte in Form von Auseinandersetzungen, Streitigkeiten oder Zerwürfnissen werden in keinem der Interviews als häufigstes, aber in drei der Interviews als zweithäufigstes Beziehungsmuster ermittelt (Beziehungsmuster-Konstellationen vom Typ II und IV). Wie die Auswertung der Einzelfälle gezeigt hat, können intergenerationelle Konflikte zu erheblichen Konsequenzen für das personale Erleben der Enkel und für die Pflegesituation als Ganzes führen. Bei der hier durchgeführten Analyse interessiert neben der Häufigkeit, mit der intergenerationelle Konflikte nach der im Codierleitfaden vorgenommenen Definition identifiziert werden können, auch, welche Konfliktparteien involviert sind. Um auch bei dieser Kategorie fallübergreifende Differenzen und Regelmäßigkeiten zu erfassen, sind wiederum Fälle mit den höchsten als auch mit den niedrigsten Anteilen konflikthafter Beziehungen ermittelt worden, wobei auch hier Bezüge zu den vorhandenen Meta-Variablen hinterfragt werden.
316
Drei Fälle mit den höchsten Anteilen an intergenerationellem Konflikt In zehn der 15 Fälle liegt die relative Häufigkeit konflikthafter Beziehungsmuster bei bis zu 10 % der Gesamtcodierungen der deduktiven Analyse. In den weiteren fünf Fällen haben intergenerationelle Konflikte einen deutlich höheren Anteil im Beziehungsgeschehen, sie betreffen dort 18 % bis 37 % aller Codierungen. Die Gruppe dieser Enkel besteht nur aus Frauen199. Im fallübergreifenden Vergleich hat Frau Feld den höchsten Anteil konflikthaften Geschehens, denn dieses betrifft 37 % aller ihrer Beziehungsmuster. In ihrem Fall liegt weiterhin, wie im vorherigen Abschnitt dargestellt, der niedrigste Anteil an solidarisch geprägten Beziehungen vor. Als Beziehungsmuster steht bei ihr ‚Lernen’ im Vordergrund, gefolgt von ‚Konflikt’ und ‚Solidarität’. Wie bereits dargestellt, lauten die Ausprägungen ihrer MetaVariablen ‚Gesamtbilanzierung: belastend’, ‚Überforderung: ja’ und ‚Eigene Pflegebereitschaft: stationär’. Sie erlebte von elf bis 17 Jahren eine Pflege erst in Form der Koresidenz und später multilokal. Der zweithöchste Anteil findet sich im Fall von Frau Schwarz, gleichfalls in Kombination mit einem niedrigen Anteil am Muster ‚Solidarität’. Auch hier dominiert, wie bei Frau Feld, das Muster ‚Lernen’. Ihre Bilanzierung ist mit ‚gemischt’, die Überforderung mit ‚teilweise’ und die eigene Pflegebereitschaft mit ‚partielle häusliche Pflege’ klassifiziert worden. Von 12 bis 18 Jahren lag bei ihr ein Pflegesetting in Koresidenz vor. Bei Frau Klein machen konflikthafte Beziehungsmomente ein Viertel aller Beziehungsmuster aus. Ihre Anteile an ‚Solidarität’ sind jedoch im Vergleich zu den beiden anderen Frauen sehr viel höher und sie ist dem Typ II der Konstellationen von Beziehungsmustern zuzuordnen. Wie Frau Feld bilanziert sie belastungsgeprägt und berichtet das Vorliegen einer Überforderung. Die MetaVariable ‚Eigene Pflegebereitschaft’ lautet ‚partiell’. Sie hat von 26 bis 27 Jahren ein Pflegesetting sowohl in Koresidenz als auch multilokal erlebt. Bei keiner der drei Frauen liegt eine positive Gesamtbilanzierung, die Verneinung einer Überforderung oder eine umfassende eigene Pflegebereitschaft vor. Ein Zusammenhang von höheren Konfliktwerten mit dem Vorliegen einer Koresidenz ist möglich, da allen drei Fällen eine unilokale Wohnform zugrunde liegt. Die in zwei Fällen später erfolgte multilokale Wohnform war Folge der vorliegenden familialen Konflikte. Eine Korrelation zwischen häufigen Konflikten und der Dauer der Pflege besteht nicht. Im Gegenteil zeigt der Fall 199 Es betrifft die Fälle von Frau Schwarz, Frau Klein, Frau Kaufmann, Frau Feld und Frau Schuster.
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von Frau Klein die konträre Situation auf, in der insbesondere der Beginn des Pflegesettings, das ‚Sich-aufeinander-Einspielen’, mit allen organisatorischen Absprachen etc., konfliktbehaftet ist. Eine vergleichende Analyse der drei Fälle mit den höchsten Anteilen an intergenerationellem Konflikt zeigt im Wesentlichen folgende Ergebnisse: x Ein hoher Anteil an konflikthaften intergenerationellen Beziehungsmustern wird als frauenspezifisches Phänomen abgebildet. x Die Bilanzierungen sind belastungsorientiert und das Vorliegen einer Überforderung wird partiell oder generell bejaht. x Eine Koresidenz der Enkel mit dem Pflegesetting liegt entweder temporär oder durchgängig vor und könnte einen konfliktverstärkenden Faktor darstellen. x Die Dauer der Pflege variiert von 1 ½ bis 6 Jahre, sodass keine Korrelation zwischen der Häufigkeit konflikthafter Beziehungen und einer langen Zeitspanne der Pflege existiert. Im Gegenteil kann insbesondere die Anfangszeit konfliktbehaftet sein, was der Fall von Frau Klein verdeutlicht. Vier Fälle mit den niedrigsten Anteilen an intergenerationellem Konflikt In den Schilderungen von Herrn Metzger sind Konflikte nahezu nicht vorhanden. Bei ihm dominiert das Beziehungsmuster ‚Solidarität’, gefolgt von ‚Lernen’ (entsprechend Typ I), seine Bilanz ist positiv und eine Überforderung liegt bei ihm nicht vor. Seine eigene Pflegebereitschaft entspricht einer Sorgeleistung in Kombination mit der Pflege in einer Einrichtung, und er erlebte im Alter von zehn bis 17 Jahren eine multilokale Pflegesituation mit der Versorgung des Großvaters in einer ambulanten Wohngemeinschaft für Demenzkranke. Auch bei Herrn Ottfried spielen Konflikte nahezu keine Rolle. Das bei ihm am häufigsten vorhandene Beziehungsmuster ist ‚Solidarität’, gefolgt von ‚Lernen’ (entsprechend Typ III), er bewertet wie Herr Metzger das erlebte Setting positiv und verneint eine Überforderung. Seine Pflegebereitschaft ist eine umfassende. Über den langen Zeitraum von 18 bis 32 Jahren erfährt er das Pflegegeschehen sowohl in Koresidenz als auch multilokal. Herr Sommer schildert ebenso fast keine konflikthaften Generationenbeziehungen. Kongruent mit den anderen beiden Enkeln ist bei ihm auch die Dominanz von ‚Solidarität’, gefolgt vom Muster ‚Lernen’, die positive Bilanzierung und die Verneinung einer Überforderung. Eine umfassende Pflege318
bereitschaft wird geäußert. Das Pflegegeschehen erlebte er multilokal im Alter von 20 bis 24 Jahren. Bei Frau Müller werden gleichsam niedrige Anteile konflikthafter Beziehungsmuster ermittelt. Auch bei ihr dominiert das Beziehungsmuster ‚Solidarität’ gefolgt von ‚Lernen’. Allerdings bilanziert sie gemischt und bejaht deutlich das Vorliegen einer Überforderung. Ihre Pflegebereitschaft ist umfassend und die Pflege erfolgte im gemeinsamen Haus im Alter von 17 bis 21 Jahren. In der Subgruppe der Enkel mit den niedrigsten Konfliktwerten im Pflegesetting sind drei von vier Enkeln Männer. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Gesamtgruppe aller Interviewpartnerinnen und -partner aus lediglich vier Männern neben elf Frauen besteht. Die drei Männer bilanzieren positiv und erlebten keine Überforderung im Pflegesetting. Wie oben geschildert, handelt es sich bei den drei Enkelkindern, die die höchsten Konfliktwerte aufweisen, um Frauen. Ob sich eine Koresidenz verstärkend auf die Konflikthäufigkeit auswirkt, geht nicht aus diesen Beispielfällen hervor. Zwar haben zwei der drei Männer mit niedrigen Werten ein rein multilokales Pflegesetting erlebt, ein weiterer Enkel jedoch beide Wohnformen und Frau Müller ausschließlich die räumliche Nähe erlebt. Die Frage, ob der Zeitraum der Pflege mit der Konflikthäufigkeit korreliert, kann – ebenso wie beim Muster ‚Solidarität’ – verneint werden. Alle vier Enkel mit seltenen Konfliktmomenten haben langjährige Pflegesettings erlebt. Eine vergleichende Analyse der drei Fälle mit den niedrigsten Anteilen an intergenerationellem Konflikt zeigt im Wesentlichen folgende Ergebnisse: x Männer sind in dieser Subgruppe signifikant häufiger vertreten. Die niedrige Präsenz konflikthafter Beziehungsmuster korreliert bei ihnen mit einer positiven Bilanzierung und der Verneinung einer Überforderung. x Eine geringe Konflikthäufigkeit korreliert nicht mit einer speziellen Wohnform, beispielsweise einer Multilokalität. x Die tendenzielle Abwesenheit von Konflikten steht nicht mit einer kurzen Dauer der Pflegesettings im Zusammenhang. Die beteiligten Generationen in den fünfzehn Fällen Konflikt Enkel bzw. Eltern mit Großeltern Überwiegend bezeichnen die Subkategorien die Konfliktparteien ‚Enkel/Großeltern’ (sieben Mal), ‚Enkel und Eltern/Großeltern’ (sechs Mal) und ,Eltern/319
Großeltern’ (fünf Mal). Das heißt, dass primär Konflikte zwischen den beiden jüngeren Generationen mit der Großelterngeneration vorliegen. Wie die Einzelfallanalysen gezeigt haben, handelt es sich in sieben der zehn Fälle, die Konflikte zwischen einer jüngeren Generation mit einem Mitglied der Großelterngeneration beinhalten, um den kranken Großelternteil, in einem anderen Fall um den gesunden Großvater und in zwei weiteren Fällen um beide Großelternteile als Konfliktkontrahenten hinsichtlich intergenerationeller Auseinandersetzungen. Somit beziehen sich Konflikte in neun der zehn Fälle (auch) auf den kranken Großelternteil. Die Analyse der Gründe für diese konflikthaften Momente zeigt, dass in allen neun Fällen die demenzbedingten Verhaltensweisen bzw. Symptome im Vordergrund stehen. In den drei Fällen, in denen nur oder auch gesunde Großelternteile Konfliktparteien gewesen sind, korreliert dies mit dem weiter unten dargestellten Generationenmuster ‚Lernen’, wobei hier die Großeltern sich als ‚Wissensverweigerer’ präsentiert haben. Konflikt Enkel mit Eltern Konflikte zwischen Enkeln und der Elterngeneration werden lediglich von Frau Klein und Frau Feld thematisiert, wobei in diesen Fällen trotz unterschiedlicher Ausgangsbedingungen Gemeinsamkeiten existieren. Frau Feld war zum Zeitpunkt der Pflege 11 bis 17 Jahre alt, d. h. zu Beginn noch ein Kind, Frau Klein dagegen eine erwachsene Frau mit 26 bis 27 Jahren. Auch die Familiensituation variiert, da Frau Felds Vater verheiratet und ihre Mutter die Hauptpflegeperson war. Frau Kleins Vater war als Alleinlebender nach der Scheidung nun auch selber die Hauptpflegeperson. Der Zeitraum der Pflege differiert zwischen 1 ½ Jahren und 6 Jahren. Kongruent sind das Geschlecht der Enkeltöchter und die Rolle des Vaters als männlicher Konfliktbeteiligter, mit einem Alter von Mitte 50. Beide Male hatten die Konflikte gravierende Folgen für das Pflegesetting. In beiden Fällen lagen finanzielle Bindungen, die Ablehnung des Einbezugs von Verwandten und deutliche Überforderungsanzeichen beim Vater, einmal aufgrund der schwierigen Vereinbarkeit von Pflege und Beruf und im zweiten Fall bedingt durch die problematische Symptomatik der Demenz, vor. In beiden Fällen gab es Konfliktmomente, die alle Beteiligten mit den kranken Großmüttern erlebten, allerdings bei Frau Klein zudem noch intragenerationelle Konflikte innerhalb der Elterngeneration. Beide Enkelinnen führten aktiv ein Ende der unilokalen Wohnform herbei, bilanzieren belastungsgeprägt und bejahen aus der Retrospektive eine Überforderung. Eine Analyse der in Konflikte involvierten Generationen zeigt: 320
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Konflikte zwischen Enkeln und Großeltern betreffen am häufigsten den kranken Großelternteil, wobei sie in Verbindung mit dessen demenzbedingten Verhaltensweisen stehen. Liegen Konflikte mit gesunden Großelternteilen vor, werden diese als ‚Wissensverweigerer’ von den Enkeln wahrgenommen. Nur in zwei Fällen sind Konflikte zwischen Eltern- und Enkelgeneration virulent, jedoch bilden sie die potenziellen Auswirkungen und somit das Risiko solcher Konfliktkonstellationen deutlich ab. Fallübergreifend handelt es sich dabei um folgende Gemeinsamkeiten: o Es handelt sich um Konflikte zwischen Enkeltochter und Vater. o Das Alter der Väter liegt bei Mitte 50. o Die Konflikte führen zur räumlichen Trennung. o Zu den familialen Kontexten gehören finanzielle Abhängigkeiten des Vaters von der zu pflegenden Person. o Verwandte werden nahezu nicht einbezogen. o Beim Vater liegt eine manifeste Überforderungssituation vor.
Abschließend ist jedoch festzuhalten, dass Konflikte bei keinem der Enkel das dominierende Beziehungsmuster im Pflegegeschehen darstellen. 10.2.3 Ambivalenz In zehn der fünfzehn Fälle werden ‚Ambivalenzen’ thematisiert, wobei dies teilweise nur in geringem Umfang geschieht. Im Rahmen der deduktiven Kategorienanwendung dieser Forschungsstudie werden mit ‚Ambivalenzen’ Gleichzeitigkeiten des gegensätzlichen „Fühlens, Denkens, Wollens, Handelns und der Beziehungsgestaltung“ (Lüscher/Liegle 2003, 288) erfasst, soweit diese „zeitweise oder dauernd als unauflösbar interpretiert werden“ (ebd.)200,201.
200 Siehe dazu den Codierleitfaden im Anhang. 201 Bereits im ersten Analyseabschnitt, der induktiven Kategorienentwicklung, sind Ambivalenzen als spezifische Qualitäten von Erfahrungen abgebildet worden, wenn ein deutliches Hinund Hergerissensein die Äußerungen charakterisiert hat.
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Zwei Fälle mit relativ hohen Anteilen an intergenerationellen Ambivalenzen Zwei Fälle zeigen eine vergleichsweise hohe Relevanz von ‚Ambivalenz’ im subjektiven Erleben der Enkel. Im Fall von Frau Lindmann ist ‚Ambivalenz’ nach ‚Solidarität’ und ‚Lernen’ als drittes Beziehungsmuster präsent. Ihre Aussagen lassen eine positive Bilanzierung und die Verneinung einer Überforderung erkennen, auch gibt sie eine umfassende Pflegebereitschaft an. Ihre ambivalenten Themen beinhalten die Zeit vor und nach dem Umzug des demenzkranken Großelternteils ins Altenheim. Herr Zumbrock hat sein Pflegesetting dagegen als belastend bilanziert und eine partielle Überforderung und, wie Frau Lindmann, eine umfassende Pflegebereitschaft signalisiert. Die Kategorien, die Ambivalenzen aufzeigen, beinhalten die Auseinandersetzung mit den Themen Alter, Pflege und Demenz, die Frage, ob er als Enkel gegenüber seiner Mutter unangemessen interveniert und inwieweit sich das Leben durch die Erkrankung Demenz verändert hat. Fallübergreifende Regelhaftigkeiten sind somit nicht ersichtlich. Gründe für Ambivalenzen in den zehn Fällen In fünf der zehn Fälle, in denen ‚Ambivalenzen’ ermittelt worden sind, geht es um die Reflexion der Aspekte Alter, Pflege und Demenz, was anhand folgender Dichotomien skizziert werden kann: x Einerseits sind kognitive Einbußen bei der Großmutter erkennbar, andererseits nimmt der Enkel Schwankungen bei den eigenen Gedächtnisleistungen wahr. Ist somit die Erkrankung tatsächlich als gravierend einzuschätzen? x Auf der einen Seite werden kleine Notlügen gegenüber der Erkrankten von der Enkelin als „supergemein“ (Int. 2; 26) empfunden, auf der anderen Seite erkennt sie die Notwendigkeit dieser Umgangsweise. x Einesteils wird die Wahrnehmung der Kranken als beeinträchtigt erlebt, andernteils ist unsicher, welche und wie viele Informationen noch wahrgenommen werden. x Einerseits besteht die Sorge, selber an Demenz zu erkranken, andererseits ein gewisser Fatalismus im Sinne von „morgen kann einem ein Blumenpott auf den Kopf fallen“ (Int. 7; 82). x Zum einen möchte die Enkelin der kranken Großmutter „Wünsche erfüllen“ (Int. 4; 86), zum andern wird eine pflegerische Haltung, die die Selbstständigkeit fördert, präferiert.
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Auf der einen Seite wird die Höhe der Lebensqualität in der späten Phase einer demenziellen Erkrankung hinterfragt, auf der anderen Seite die Anwesenheit der Erkrankten als Bereicherung empfunden. Einerseits steht das Versterben der Kranken in Relation mit einer Belastungsreduktion bei der Hauptpflegeperson, andererseits auch mit einem Verlust.
In drei weiteren Fällen werden ‚Ambivalenzen’ bei Fragestellungen zur Pflegebereitschaft und in zwei Fällen im Zusammenhang mit einem kommenden oder erfolgten Altenheimumzug ersichtlich. Insgesamt zeigen die Ergebnisse, dass angesichts unsicherer oder zweideutiger Phänomene sowie weit reichender Entscheidungserfordernisse zwar ‚Ambivalenzen’ vorhanden sind, diese jedoch keinen großen Teil der Erfahrungen darstellen. 10.2.4 Lernen In Anlehnung an Lüscher und Liegle wird ‚Generationenlernen’ in der hier durchgeführten Analyse auf der mikrosozialen Ebene der Familie untersucht (vgl. Lüscher/Liegle 2003, 172). ‚Lernen’ wird hierbei im Besonderen in Verbindung mit Generationenzugehörigkeiten und Altersdifferenzen gesehen, wobei beide Merkmale in unterschiedlichem Maße für die Vermittlung und Aneignung von Wissen relevant sind202. Im Rahmen der deduktiven Kategorienentwicklung wurde das Vorkommen des Beziehungsmusters ‚Lernen’ bezogen auf die verschiedenen familialen Generationen überprüft. Drei Fälle mit den höchsten Anteilen an intergenerationellem Lernen In drei der fünfzehn Fälle ist ‚Lernen’ das dominante Beziehungsmuster, wobei es zwei Mal in Kombination mit einem hohen Anteil an konflikthafter Beziehungsgestaltung vorkommt. Der Fall von Herrn Zumbrock bildet fallübergreifend den höchsten Anteil des Beziehungsmusters Lernen ab. Seine Bilanzierung lautet ‚belastend’, das Vorliegen einer Überforderung wird mit ‚teilweise’ klassifiziert und er äußert eine umfassende Pflegebereitschaft. Sein Alter während des Pflegesettings, welches zum Zeitpunkt des Interviews noch 202 Die Definition von ‚Generationenlernen’ enthält der Codierleitfaden im Anhang.
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andauert, beträgt 27 bis 29 Jahre. Innerhalb der Kategorie ‚Lernen’ lauten die Subkategorien in der Reihenfolge abnehmender Häufigkeit in seinem Fall ‚Enkel als Wissensaneigner’, ‚Enkel als Wissensvermittler’ und ‚Enkel/Eltern als Wissensaneigner’. Bei ihm steht die Wissensaneignung im Vordergrund, wobei die Elterngeneration, welche hier durch die Mutter repräsentiert wird, allerdings nicht als Wissensvermittler fungiert. Ein Zusammenhang seiner kritischen Bilanzierung mit der partiellen Überforderung seiner Mutter ist möglich, auch aufgrund des Fehlens der Kategorie ‚(Pflege-)Leistungsfähigkeit’. Im Fall von Frau Feld ist ‚Lernen’, gefolgt von ‚Konflikt’, das dominante Beziehungsmuster. Sie bilanziert das Pflegesetting als belastend berichtet vom Vorliegen einer Überforderung und beschreibt ihre Pflegebereitschaft als eine Kombination von Sorgeleistung und stationärer Pflege. Zur Zeit der Pflege betrug ihr Alter elf bis 17 Jahre. Zum einen ist ‚Lernen und ‚Erkenntnisgewinn’ die einzige positive Kategorie innerhalb ihrer Bilanzierung, zum andern ist der Bereich ‚Lernen’ nicht nur positiv konnotiert. Die drei Subkategorien in diesem Bereich lauten ‚Enkel als Wissensaneigner’, ‚Enkel als Wissensvermittler’ und ‚Familiales/soziales Umfeld als Wissensverweigerer’, wobei Letzteres einen relativ hohen Anteil an Codierungen hat. Bei Frau Feld hat das Generationenlernen demnach zwar einen hohen Stellenwert, jedoch ist die Aneignung und Weitergabe von Wissen exklusiv an ihre Person gebunden. Einen zentralen Wert innerhalb ihrer lebensweltlichen Deutungen hat das familiale und soziale Umfeld als Wissensverweigerer. Auch bei Frau Schwarz ist ‚Lernen’, gefolgt von ‚Konflikt’, als das dominante Beziehungsmuster ermittelt worden. Ihre Bilanz wird als ‚gemischt’ und die erlebte Überforderung als ‚teilweise’ klassifiziert und ihre eigene Pflegebereitschaft beinhaltet die partielle häusliche Pflege. Zu Beginn des Pflegesettings, welches sich über sechs Jahre erstreckte, war sie zwölf Jahre alt. Die Subkategorien im Bereich Lernen lauten ‚Enkel als Wissensaneigner’, ‚Eltern als Wissensaneigner’, ‚Eltern als Wissensvermittler’, ‚Großeltern als Wissensverweigerer’ und ‚Familiales/soziales Umfeld als Wissensverweigerer’. Eine vergleichende Analyse der drei Fälle mit den höchsten Anteilen an intergenerationellem Lernen zeigt im Wesentlichen folgende Ergebnisse: x In zwei Fällen findet ‚Lernen’ im Kontext belastender Erfahrungen statt, d. h. die Bilanzierungen sind entweder ganz oder teilweise belastungsgeprägt und Überforderungen werden entweder umfassend oder tendenziell geschildert.
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Das Alter zur Zeit des Interviews und die biografische Phase zur Zeit der Pflege variieren in den drei Fällen ebenso wie die geäußerte Pflegebereitschaft. Der Fall von Herrn Zumbrock macht deutlich, dass selbst bei erwachsenen Enkeln und einer multilokalen Pflegesituation ein Fehlen der Wissensvermittlung aufseiten der Elterngeneration im Nexus mit der Abwesenheit erfahrener ‚(Pflege-)Leistungsfähigkeit – was auf eine Überforderung der Elterngeneration hinweist – zu einer belastungsorientierten Bilanzierung des Enkels führen kann. Auch ist das Fehlen der Option, als beteiligter Enkel bzw. als betroffene Familie die eigenen Erfahrungen im Sinne von ‚Wissensvermittlung’ an das familiale und soziale Umfeld weiterzugeben zu können, von negativer Relevanz.
Drei Fälle mit den niedrigsten Anteilen an intergenerationellem Lernen Bei Frau Müller hat ‚Lernen’ den niedrigsten Anteil an allen Generationenmustern. In ihrer Familie steht, wie bereits oben ausgeführt, solidarisches Handeln im Vordergrund, sie bestätigt eine Überforderung, signalisiert eine umfassende Pflegebereitschaft und ihre Bilanzierung wird mit ‚gemischt’ klassifiziert. Die Pflegesituation erlebte sie im Alter von 17 bis 21 Jahren und das Generationenmuster Lernen dabei vorrangig als Form der Wissensaneignung. Auch bei Frau Klein hat ‚Lernen’ nach ‚Solidarität’ und ‚Konflikt’ einen nachrangigen Stellenwert. Sie bilanziert belastungsgeprägt, bejaht ebenfalls eine Überforderung, signalisiert eine partielle Pflegebereitschaft und war 26 bis 27 Jahre zur Zeit der Pflege. Intergenerationelles Lernen findet im Rahmen des von ihr geschilderten Pflegesettings in Form der negativen Ausprägung, der Wissensverweigerung des Vaters, statt. Bei Frau Vogt korreliert ‚Lernen’ mit einer positiven Bilanzierung und der Verneinung einer Überforderung. Sie war 12 bis 22 Jahre zur Zeit des Pflegegeschehens und ihre Pflegebereitschaft kann als umfassend kategorisiert werden. In diesem Fall ist die Subkategorie ‚Enkel als Wissensaneigner’ von zentraler Bedeutung. Eine vergleichende Analyse der drei Fälle mit den niedrigsten Anteilen an intergenerationellem Lernen zeigt im Wesentlichen folgende Ergebnisse:
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Fallübergreifend liegen in den drei Fällen die drei verschiedenen Formen der Bilanzierung, sowohl die Bestätigung als auch die Verneinung einer Überforderung und Differenzen in der geäußerten Pflegebereitschaft vor. x Findet ‚Lernen’ in diesen Fällen statt, dann wir es in Form der Wissensaneignung realisiert oder in der negativen Ausprägung als Wissensverweigerung Anderer erlebt. Abschließend kann festgehalten werden, dass intergenerationelles Lernen im Zusammenhang mit der Pflege demenzkranker Großeltern ein relevantes Beziehungsmuster für die Enkel darstellt. Beachtet werden muss, dass es in einer positiven und einer negativen Ausprägung vorliegen kann. Weder hohe noch niedrige Lernanteile in der Beziehungsgestaltung korrelieren mit bestimmten Lebensphasen wie z. B. der Kindheit. Verwandte und das soziale Umfeld sind im Kontext mit Lernen ausschließlich als Wissensverweigerer präsent.
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Theoretische Diskussion der Ergebnisse
Nachfolgend werden die eingangs gestellten leitenden Forschungsfragen diskutiert, die folgendermaßen lauten: Welche positiven, negativen oder weiteren Erfahrungen liegen bei den Enkeln vor? Und wie werden die eigenen Erfahrungen bilanziert, d. h. welches Fazit wird aus einem abschließenden Überblick gezogen? Als Fragestellungen sind weiterhin von Interesse: Welche intergenerationellen Unterstützungsleistungen werden geleistet und sind diese Teil lebensweltlicher Selbstverständlichkeiten? Zwei weitere Teilfragen beziehen sich auf eine potenzielle Auswirkung des – um mit Schütz zu sprechen – durch das Pflegesetting erweiterten individuellen Wissensvorrats auf die eigene Pflegebereitschaft und auf mögliche Herleitungen von Formen der Belastungsprävention. Im Anschluss werden die Forschungsergebnisse der hier vorgestellten Studie in einem Überblick aufgeführt und diskutiert, wobei die Reihenfolge der Ergebnisse keine Rangfolge darstellt. Die Belegstellen der Zitate der fünfzehn Enkel werden in Klammern angegeben, wobei die erste Zahl den Fall in der Abfolge der Darstellung von Kapitel 9 und die zweite Nummer den Absatz im jeweiligen Transkript kennzeichnet. Bei der Diskussion der Ergebnisse ist zu bedenken, dass es sich, wie bereits gesagt, bei den in dieser Studie interviewten Frauen und Männern um eine selektive Gruppe von Enkelkindern demenziell Erkrankter handelt, da neben dem familialen Generationenstatus als weiteres Einschlusskriterium das praktische Involviertsein in das Pflegesetting vorgelegen haben musste. Folglich geben diese Befunde keine Auskunft über die Betroffenheit von Enkelkindern, die faktisch unbeteiligt sind. Weiterhin liegen aufgrund der Anzahl der Studienteilnehmer keine Erkenntnisse über Quantitäten von Unterstützungsleistungen der Enkelgeneration im Allgemeinen vor. Zielsetzung dieser Studie ist es, die Breite der möglichen Erfahrungen von aktiv am Pflegegeschehen beteiligten Enkeln und somit auch die Breite der möglichen Effekte für sie aufzuzeigen. Durch eine zusammenführenden Analyse der Ergebnisse der hier durchgeführten Studie mit den Resultaten der in Teil A dieser Arbeit ausgeführten Literaturanalyse können grundsätzliche Leitlinien zur Gestaltung von generationenfreundlichen Pflegearrangements bei Demenz identifiziert werden. 327
Tabelle 22:
Übersicht über die Ergebnisse der Studie (n = 15)
Erfahrungen, Bilanzierungen und Generationenbeziehungen der fünfzehn Enkel 1. Enkel leisten substanzielle Beiträge im Rahmen der sozialen Reproduktionsfunktion von Familie 2. Keine einseitigen Belastungen, sondern heterogene Effekte durch häusliche Pflegesettings bei Demenz für die Enkelgeneration 3. Wertneutrale Erfahrungen im Kontext mit der Erkrankung Demenz 4. Zwei Drittel der Enkel in Pflegesituationen bei Demenz ziehen eine positive Gesamtbilanz 5. Diversität individueller und familialer Lebenswelten in diesen Unterstützungssettings 6. Versorgung demenziell erkrankter älterer Angehöriger als solidarische Verantwortlichkeit im ‚familialen Betreuungsteam’ 7. Hoher Stellenwert familialer Generationenbeziehungen im Pflegegeschehen 8. Enkel als Multiplikatoren – Interdependenzen familialer und gesellschaftlicher Generationen Belastungsprävention ausgehend von den hier interviewten Enkeln 9. Belastungen liegen vor – sie sind nicht mit Überforderungen gleichzusetzen 10. Symptomatik der Demenz, zeitliche Verpflichtung und Vereinbarkeitsproblematik von ‚Pflege und Beruf’ als häufigste Belastungen 11. Fehlende protektive Faktoren in Fällen mit belastungsgeprägter Gesamtbilanzierung 12. Positiv konnotierte Kategorienbündel als belastungspräventive Potenziale 13. Gravierende Überforderungen: Geschlechterdifferenz, kumulierte Problemlagen und Koresidenz als potenzielle Belastungsfaktoren 14. Von der Enkelgeneration explizit geäußerte Optionen zur Belastungsprävention 15. Qualitätsanforderungen an professionelle Dienste aus Sicht der jungen Generation Pflegebereitschaft der fünfzehn Enkel Eigene Pflegebereitschaft 16. Generelle Bereitschaft zur Sorgeleistung 17. Hoher Anteil an Pflegebereitschaft 18. Voraussetzungen zur Sorge- und Pflegebereitschaft: Familiale Unter328
stützung, Vereinbarkeit von Pflege und Beruf, offene Kommunikation des Themas Pflege und professionelle Dienste Pflegebereitschaft Anderer 19. Grundsätzliche Bereitschaft zur Sorgeleistung wird erwartet – Präferenz häuslicher Versorgung bei zwei Dritteln der Enkel 20. Antizipation von Arrangements mit professionellen Diensten 21. Diskrepanz zwischen eigener und erwarteter Pflegebereitschaft – Enkel möchten nicht ‚zur Last fallen’ ‚Pflichtpflege’ 22. Geteilte Meinungen zur ‚Pflichtpflege’ 23. Fehlende Voraussetzungen für eine ‚Pflichtpflege’: Freiwilligkeit, Vereinbarkeit von Pflege und Beruf, gesicherte Lebens- und Betreuungsqualität für Pflegebedürftige und Garantie adäquater Kompetenzen bei informell Pflegenden Weitere Entwicklungspotenziale 24. Auf dem Weg zu generationengerechten Pflegesettings bei Demenz: Neue Generationen von Pflegebedürftigen und pflegenden Angehörigen mit erweiterten Erfahrungshorizonten
11.1
Erfahrungen, Bilanzierungen und Generationenbeziehungen der fünfzehn Enkel
Ergebnis 1: Enkel leisten substanzielle Beiträge im Rahmen der sozialen Reproduktionsfunktion von Familie Die hier aufgeführten fünfzehn Fallbeispiele verdeutlichen das breite Spektrum und den hohen Umfang an kontinuierlichen binnenfamilialen Hilfetransfers von Enkeln, die teilweise über viele Jahre erfolgen. Enkelkinder von demenziell erkrankten Großeltern können somit in gravierendem Maße zur sozialen Reproduktionsfunktion von Familie (vgl. Nave-Herz 2004, 91) beitragen. Wie in der Literatur bezogen auf Mehrgenerationenfamilien vielfach beschrieben (vgl. beispielsweise Lauterbach 2004, 223; Bertram 2000, 109), werden Hilfetransfers auch von den hier interviewten Enkeln häufig im Rahmen multilokaler Wohnsituationen geleistet. Somit belegen die Ergebnisse, dass, bezogen auf die 329
familiale Unterstützung durch Enkel beim Vorliegen einer Demenz, nicht von einem Bedeutungsverlust des sozialen Gebildes Familie gesprochen werden kann. Auch Nave-Herz stellt heraus, dass für die einzelnen Familienmitglieder zwar eine Bedeutungsveränderung von Familie vorliegt, die Relevanz von Familie sich für das Individuum jedoch nicht verringert hat (vgl. Nave-Herz 2002, 216). Auch die von Höpflinger betonte „hohe Leistungsfähigkeit“ (Höpflinger 2002a, 37) von familialen Generationen in der Gegenwartsgesellschaft wird innerhalb der hier vorliegenden Fälle abgebildet. Wie in Kapitel 2.3.4 expliziert, differenziert der Alterssurvey zwischen der kognitiven, der emotionalen, der instrumentellen und der monetären Unterstützung zwischen den familialen Generationen. Kognitive und emotionale Hilfen sind dort als die wesentlichen identifiziert worden. Auch die Fallbeispiele in der hier vorgestellten Studie bilden den hohen Stellenwert dieser Unterstützungsformen für die familialen Pflegesettings ab. Wissenserhalt und -weitergabe sowie familialer Zusammenhalt und emotionaler Beistand prägen die Mehrzahl der hier vorliegenden Fälle. Hier decken sich die Befunde mit denen von Beach, die aufzeigen, dass die Rolle einer Vertrauensperson der Hauptpflegeperson für die Enkel eine zentrale positive Erfahrung darstellt (vgl. Beach 1997, 237). Darüber hinaus gehend zeigen die Befunde der hier vorliegenden Studie anhand der geleisteten instrumentellen Unterstützung ebenso das große Potenzial auf, das die Enkel in Mehrgenerationenfamilien hinsichtlich praktischer Hilfeleistungen für die häusliche Pflege darstellen. Auch Szinovacz kann ein hohes Ausmaß an intergenerationellen Unterstützungsleistungen in Pflegesettings bei Demenz belegen. Sie fordert daher, dass Hilfesysteme die Familie als vollständiges soziales Gebilde und nicht ausschließlich Hauptpflegepersonen in ihre Maßnahmen einbeziehen (vgl. Szinovacz 2003, 462). Dass in fast jeder dritten Dreigenerationenfamilie mit minderjährigen Kindern im Elternhaushalt die Großelterngeneration innerhalb von 15 Minuten räumlich erreicht werden kann (Lauterbach 2004, 251) verdeutlicht dieses Potenzial gleichfalls auf struktureller Ebene. Ergebnis 2: Keine einseitigen Belastungen, sondern heterogene Effekte durch häusliche Pflegesettings bei Demenz für die Enkelgeneration Die Ergebnisse der induktiven Kategorienentwicklung zeigen das Vorhandensein von positiven, belastungskonnotierten und wertneutralen Erfahrungen bei den Enkeln, was bedeutet, dass Enkelkinder ihre Erfahrungen mit einer Betreuungssituation demenziell erkrankter Großeltern nicht einseitig als Belastung empfinden. Die Systematik der emergierten Kategorien bildet hierzu ein 330
breites Spektrum an spezifischen bzw. situativen Erlebnissen und situationsübergreifenden Gesamtbewertungen ab. Szinovacz’ Studie belegt ebenso positive und negative Veränderungen infolge dieser speziellen häuslichen Pflegesituation, weshalb sie eine Berücksichtigung möglicher positiver Effekte in den Konzeptionalisierungen von Forschungsstudien fordert (vgl. ebd., 447f). Ebenso warnt Beach davor, positive Effekte in der häuslichen Pflege im Kontext einer demenziellen Erkrankung zu übersehen (vgl. Beach 1997, 233). Ergebnis 3: Wertneutrale Erfahrungen im Kontext mit der Erkrankung Demenz Während einzelne Autoren ergänzend zu den Belastungsphänomenen auch positive Auswirkungen häuslicher Pflege ermittelt haben, liegt ein zentraler Erkenntnisgewinn der hier vorgelegten Studie in der Ermittlung ‚wertneutraler’ Erfahrungen. Ein großer Bereich der geschilderten Erlebnisse der Enkel kann mit Schütz und Luckmann als „das fraglos Gegebene“ (Schütz/Luckmann 2003, 35) in der individuellen Lebenswelt bezeichnet werden. Dabei werden zu einem erheblichen Teil Erfahrungen im Kontext mit der Krankheit Demenz geschildert, respektive mit deren Verlauf, den Symptomen, und den darauf abgestimmten Betreuungs- und Pflegeaktivitäten203. Dass gerade dieser Erfahrungsbereich sich als ‚problemlos’ erweisen kann, zeigt, dass die Symptomatik bei einer Demenz nicht originär ausschlaggebend für ein Belastungsempfinden der Enkel ist. Die Relevanz dieses Befundes wird auch daran deutlich, dass das wertneutral konnotierte Kategorienbündel ‚Betreuung der Erkrankten’ in allen fünfzehn Fällen vertreten ist204. Nach Schütz und Luckmann gefährden partielle Diskrepanzen zwischen der aktuellen Wahrnehmung und den schon vorhandenen Deutungsmustern die Gültigkeit des vorhandenen „Wissensvorrats“ (Schütz/Luckmann 2003, 35) nicht. Als problematisch werden neue Erfahrungen erst dann interpretiert, wenn sie nicht in das „geltende Bezugsschema“ (ebd.) passen. Bezogen auf die Erfahrungen der Enkel scheint ein breites Erfahrungsspektrum im Umgang mit demenziell Erkrankten wie selbstverständlich in die lebensweltlichen Sinnbezüge integrierbar zu sein. Somit hat der hier vorliegende Befund Konsequenzen für die generelle Gestaltung informeller Pflege und diesbezüglicher Empfehlungen, denn wenn wertneutrale Erfahrungen im hier analysierten 203 Siehe hierzu im Anhang die Bereiche der wertneutralen Erfahrungen und Bilanzierungen im Kategoriensystem der induktiven Kategorienentwicklung. 204 Siehe dazu die Übersicht im Anhang.
331
Datenmaterial unabhängig von spezifischen Fallmerkmalen wie Alter, Geschlecht, Wohnform etc. der einzelnen Akteure vorliegen, können diese als bei Enkeln allgemein vorhanden, und somit als gesellschaftliches Phänomen interpretiert werden. Wird das von den Enkeln als prinzipiell unproblematisch geschilderte Tätigkeitsspektrum als Potenzial zur Integration von Enkelkindern in den häuslichen Pflegealltag bei Demenz erkannt, können daraus entwicklungsfähige Handlungsfelder abgeleitet werden, welche – analog zu den hier vorhandenen Subkategorien – instrumentelle, kognitive und emotionale Hilfetransfers betreffen. Ergebnis 4: Zwei Drittel der Enkel in Pflegesituationen bei Demenz ziehen eine positive Gesamtbilanz Die Bildung der Meta-Variable ‚Gesamtbilanzierung’ belegt in zwei Drittel der Fälle eine positive, in einem Fünftel der Fälle eine belastungsgeprägte und in zwei Fällen (ca. ein Siebtel) eine gemischte Bilanzierung. Dies bedeutet, dass die Enkelkinder im Rahmen ihrer individuellen Sinnzuschreibungen das Pflegegeschehen überwiegend als personale Bereicherung erlebt haben. Andererseits müssen die belastungsgeprägten Bilanzierungen besonders stark berücksichtigt werden, da beispielsweise die Fälle von Frau Klein und Frau Feld zeigen, dass die private Pflegesituation demenziell Erkrankter erhebliche negative Effekte auf die Enkelkinder haben kann, worauf in Abschnitt 11.2 näher eingegangen wird. Bei den positiven Bewertungen liegen keine Geschlechterdifferenzen vor. Sowohl weibliche als auch männliche Enkel bewerten das Pflegesetting mehrheitlich positiv. Positive Bewertungen sind nicht alterskorreliert, denn Enkel, die zum Zeitpunkt der Pflegesituation im Kinder- und Jugendalter gewesen sind, bewerten nicht schlechter als die seinerzeit älteren Enkel. Dies ist interessant, denn es widerlegt die landläufig vertretene Laienthese, dass jüngere Enkelkinder stärker von einem Pflegesetting bei Demenz belastet werden. Zwar kann dies im Einzelfall, beispielsweise im Fall von Frau Kaufmann, vorliegen, jedoch können diese Erfahrungen nicht auf alle Pflegesettings mit jüngeren Kindern übertragen werden. Auch stehen positive Bilanzierungen nicht im Zusammenhang mit dem Alter der Enkel zum Zeitpunkt des Interviews, der Dauer der Pflegesituation oder mit der Wohnform. Die positiven Gesamtbilanzierungen der Enkel basieren auf ihren gemachten Erfahrungen, denn nach Schütz kann man den „Erfahrungszusammenhang als den Inbegriff aller Sinnzusammenhänge“ (Schütz 1960, 81), das heißt als die Grundlage der subjektiven Relevanzsetzungen und Bilanzierungen, 332
sehen. Daher werden die hier für ein als überwiegend positiv bilanziertes Pflegesetting ermittelten Kategorien nachfolgend zur Diskussion herangezogen. ‚Lernen und Erkenntnisgewinn’ sind wesentliche positive Effekte der häuslichen Pflege auf diese Enkel, wobei das Erfahrungsspektrum die allgemeine pflegerische und betreuerische Kompetenz, die Übernahme von Verantwortung und die Einstellungsänderung hinsichtlich des Alterns an sich umfasst. In direkten Zusammenhang mit dieser Kategorie ist die Kategorie ‚familiale (Pflege-)Leistungsfähigkeit’ einzuordnen. Beide Kategorien belegen die von Leipold et al. gewonnenen Ergebnisse, nach denen pflegerische Aufgaben in einem hohem Maß als Prädiktoren von Persönlichkeitswachstum bei pflegenden Angehörigen demenziell Erkrankter fungieren können (vgl. Leipold et al. 2006, 227). Neben den Kategorien ‚Lernen und Erkenntnisgewinn’ und ‚familiale (Pflege-)Leistungsfähigkeit’ zeigt ebenso die Kategorie ‚Pflege als positives Erlebnis’ die Wichtigkeit einer als kompetent und angemessen empfundenen Bewältigung der durch die Pflegesituation gegebenen Anforderungen. Hieraus können die Notwendigkeit und die Wirksamkeit von qualitativ hochwertigen psychoedukativen Interventionen abgeleitet werden, was in Kapitel 12 näher expliziert wird. In neun der fünfzehn Fälle ist der ‚familiale Zusammenhalt’ eine Basis für die positive Bilanzierung. Auch in Fällen mit ‚gemischten’ Bilanzierungen liegt diese Kategorie zwei Mal vor, jedoch ist sie bei Enkeln mit belastungsgeprägter Bilanzierung nicht präsent. Dieser Befund deutet darauf hin, dass sich die Qualität intergenerationeller Beziehungen auf das individuelle Deutungsschema der Enkel hinsichtlich des familialen Unterstützungssettings auswirkt. Auf den Beziehungsaspekt ‚familialer Zusammenhalt’ wird nachfolgend näher eingegangen. Einen relevanten Einfluss auf die Bilanzierung der Enkel hat weiterhin die Kategorie ‚Beziehung zu Erkrankten: Guter Kontakt / „pflegeleicht“’, welche in acht Fällen mit ausschließlich positiv bilanzierten Pflegesettings und in keinem der Fälle mit belastungsgeprägter Bilanzierung vorhanden ist. Dieser Befund macht wiederum deutlich, wie substanziell wichtig die Gestaltung dieser intergenerationellen Beziehung für das Erleben der Enkel im Pflegesetting ist. Ebenso belegen Studien die relevante Stellung von Beziehungskonflikten als Belastungsfaktor in der häuslichen Pflege bei einer demenziellen Erkrankung (vgl. Gräßel 1996, zit. in: Weyerer 2005, 17), was auf die Bedeutung einer gelingenden Kommunikation hinweist. Exemplarisch kann dies an einer Äußerung von Herrn Metzger demonstriert werden:
333
„Meistens sind wir eben in den Park oder haben lange Spaziergänge gemacht. Spaziergänge machte mein Opa auch gerne, [...] und da konnte man sich noch mit ihm gut unterhalten“ (Int. 9; 25).
Seine positiv konnotierten Betreuungsaktivitäten basieren auf einem als gut empfundenen Kontakt. Bemerkenswert ist die im Zuge der hier vorliegenden Analyse emergierte Kategorie ‚Pflege als positives Erlebnis’. Der Fall von Frau Vogt demonstriert exemplarisch, dass die kumulierten erfreulichen Aspekte dieser Pflegesituation, wie die eigene Kompetenzerweiterung, der erlebte familiale Zusammenhalt etc., zu der Antwort führen können, das erlebte Pflegegeschehen sei eine „superschöne Zeit“ (Int. 6; 195) gewesen. Auch diese Kategorie zeigt somit das vorliegende Unterstützungspotenzial der Enkel für demenzkranke Großeltern auf. Das Fallbeispiel von Frau Vogt verdeutlicht weiterhin, dass es ihr kaum möglich ist, die Existenz positiver Effekte häuslicher Pflege mit ihrem sozialen Umfeld zu kommunizieren, welches sich diesbezüglich als ‚Wissensverweigerer’ erweist. Erfahrungen dieser Art implizieren für die Praxis die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Aufklärung über solche Phänomene durch professionelle Akteure. Die von den Enkeln geschilderten Faktoren, die mit einer positiven Bilanzierung korrelieren, können Hinweise auf Prädiktoren zur Prävention von Überforderungskonstellationen geben, worauf im nächsten Kapitel eingegangen wird. Ergebnis 5: Diversität individueller und familialer Lebenswelten in diesen Unterstützungssettings Wie die vorliegenden Ergebnisse aufzeigen, kann von dem ‚typischen Enkel’ in einer ‚typischen Pflegesituation bei Demenz in Mehrgenerationenfamilien’ nicht die Rede sein. Durch die hier vorliegende Detailanalyse wird im Gegenteil die Diversität, Differenziertheit und Varianz der individuellen Lebenswelten dieser Pflegesituationen verdeutlicht. Für die hier präsentierte Studie ist von Bedeutung, ob fallspezifische Merkmale mit den Bilanzierungen, Belastungen oder der geäußerten Pflegebereitschaft korrelieren. Die Fragestellung nach geschlechtsspezifischen Gemeinsamkeiten zeigt, dass einerseits die überwiegende Anzahl sowohl der weiblichen als auch der männlichen Teilnehmenden an dieser Studie ihr Pflegesetting positiv bewerten. Andererseits sind in allen drei Fällen, in denen eine Überlastung bejaht wird, Frauen die involvierten Enkelinnen. Auch der spezielle Aspekt der Vereinbarkeitsproblematik von Pflege und Beruf im Zusammenhang mit der eigenen 334
Pflegebereitschaft wird nur von Enkelinnen genannt und weiterhin werden Geschlechterdifferenzen am Beziehungsmuster ‚Konflikt’ evident. Auf diese drei Aspekte wird in den nachfolgenden Kapiteln näher eingegangen. Trotzdem bleibt festzustellen, dass eine Vielzahl der hier ermittelten Faktoren nicht geschlechtsspezifisch korreliert. Beispielsweise bilanzieren sowohl sieben von elf Enkelinnen als auch drei von vier Enkeln, das heißt beide Geschlechter, überwiegend positiv. Hinsichtlich der Einstellung von Männern zur familialen Pflege sind die Kategorien ‚familiale (Pflege-)Leistungsfähigkeit’ und ‚familialer Zusammenhalt’ von Interesse, die von allen drei männlichen Enkeln mit positiver Bilanz geschildert werden. Auch wird die häusliche Pflege von zwei männlichen Teilnehmern explizit als ‚positives Erlebnis’ beschrieben. Der Anteil pflegender Männer ist seit Beginn der 1990er Jahre bis zum Jahr 2005 von 17 % auf 27 % gestiegen, wobei speziell Söhne zunehmend als Hilfeleistende in Erscheinung treten (vgl. BMFSFJ 2005a, 293). Wenn Lüscher und Liegle Frauen als empirisch nachweisbare „kin-keeper“ (Lüscher/Liegle 2003, 128) einen besonderen Stellenwert im Gefüge familialer Beziehungen zuschreiben, ist diese gesellschaftliche Entwicklung im Bereich häuslicher Pflege besonders beachtenswert. Jedoch werden nach Hammer und Bartjes pflegende Männer in der Öffentlichkeit nach wie vor nicht adäquat als relevante Erbringer von Unterstützung wahrgenommen (Hammer/Bartjes 2005, 16). Aufgrund der hier vorliegenden Ergebnisse sollte verstärkt Fragestellungen bezogen auf männliche Pflegende mit Berücksichtigung der Enkelgeneration nachgegangen werden. Hinsichtlich des Alters der Enkel zur Zeit der Pflegesettings erfolgen keine vergleichsweise ‚schlechteren’ Bilanzierungen seinerzeit jüngerer Enkel aus der Retrospektive. In der Literatur liegen bislang keine spezifischen Studien zur Korrelation zwischen dem Alter der Enkelkinder demenziell Erkrankter und den von ihnen gemachten Erfahrungen vor. Zank beispielsweise beschreibt hierzu eine heterogene Forschungslage mit divergierenden Ergebnissen (vgl. Zank 2003, 4). Bezogen auf das Alter von jungen Menschen in Pflegesettings bei demenziellen Erkrankungen hebt sie die Jugendphase als eine hervor, die originär – auch ohne das Hinzukommen pflegerischer Erfordernisse – erhöhte Anforderungen an die familiale Beziehungsgestaltung stellt. Daher sieht sie Problempotenziale, wenn den Anliegen junger Menschen in dieser Lebensphase nicht genügend Aufmerksamkeit entgegengebracht werden kann, und postuliert weiteren Forschungsbedarf zur Situation von Enkelkindern in Pflegesituationen mit demenzkranken Großeltern (vgl. ebd.). Die hier vorgestellte Studie zeigt am Beispiel von Frau Kaufmann, dass ein Pflegesetting bei Demenz negative Effekte auf relativ junge Kinder haben kann, sofern keine spezielle familiale Unterstützung erfolgt. 335
Die Dauer der häuslichen Pflege variiert für die hier interviewten Enkel beträchtlich und kann die Lebensphasen Kindheit, Jugend und junges Erwachsenenalter umfassen, weshalb hervorzuheben ist, dass bei diesem chronischprogredienten Krankheitsbild nicht von einer transitorischen Lebensphase für die Enkelgeneration ausgegangen werden kann. Folglich ist die Frage zu stellen, ob eine lange Zeitspanne der familialen Unterstützung eines demenziell erkrankten Großelternteils mit einer vergleichsweise ungünstigen Bewertung der Enkel verbunden ist. Die Ergebnisse der hier präsentierten Studie dokumentieren jedoch anhand des Vergleichs der Subgruppe der sechs Enkel, die die häusliche Pflege sieben Jahre und länger erlebten, mit der Gesamtgruppe aller Enkel, dass ein längerer Pflegezeitraum mit einer höheren Anzahl von positiven Gesamtbilanzierungen korreliert. Dieser Befund kann im Zusammenhang mit den in dieser Studie aufgezeigten intergenerationellen Konflikten zu Beginn der häuslichen Pflegesituation stehen, wie es das Fallbeispiel von Frau Klein dokumentiert. Der Fall zeigt auf, dass zur Herstellung eines funktionalen Unterstützungssettings die Notwendigkeit einer intensivierten generationenübergreifenden Kommunikation gerade zu Beginn der häuslichen Pflege besteht, da – im Sinne von Schütz und Luckmann – Handlungsroutinen noch keinen Bestandteil des familialen Wissensvorrats darstellen und somit ein Großteil der Ereignisse nicht als das „fraglos Gegebene“ (Schütz/Luckmann 2003, 35) im Sinne vertrauter und problemloser Anforderungen interpretiert werden. Dieses Ergebnis verdeutlicht, dass aus der Sicht der Enkelgeneration nichts dagegen spricht, häusliche Pflege von Demenzkranken auch über einen langen Zeitraum zu ermöglichen. Im Widerspruch dazu stehen die Befunde von Leipold et al., nach denen primär in den ersten fünf Jahren der Pflege demenziell Erkrankter ein Persönlichkeitswachstum zu verzeichnen ist (vgl. Leipold et al. 2006, 231). Auch belegen Ergebnisse von Creasy und Jarvis nach einem durchschnittlichen Erkrankungszeitraum von sechs Jahren partielle negative Auswirkungen auf die Generationenbeziehungen, wenn hohe Belastungsniveaus bei Hauptpflegepersonen vorliegen. Daher fordern die Autoren weitere Längsschnittstudien (vgl. Creasy/Jarvis 1989, 81ff). Die durch die widersprüchlichen Ergebnisse aufgeworfenen Fragestellungen zeigen die Notwendigkeit von Verlaufsstudien zur Situation der Enkelgeneration in diesen speziellen Pflegesettings auf. Das Alter der Enkel zum Zeitpunkt des Interviews kann für Fragestellungen zu den Auswirkungen häuslicher Pflegesettings bei Demenz vernachlässigt
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werden. Auch das damit in Zusammenhang stehende Merkmal des zeitlichen Abstands zum Pflegesetting205 gibt keine Hinweise auf eine spezifische Form der Bilanzierung oder auf Angaben zur Überforderung. Exemplarisch kann dies an den Fällen von Frau Klein und Frau Feld mit den jeweils belastungsgeprägten Bilanzierungen und dem Bejahen einer Überforderung dokumentiert werden. Das Interview mit Frau Klein fand ca. einen Monat nach dem Tod ihrer Großmutter, also kurz nach der Beendigung des Pflegesettings, statt. Der Fall von Frau Feld zeigt dagegen auf, dass von ‚Langzeitfolgen’ infolge der häuslichen Versorgung einer demenziell erkrankten Großmutter auch noch nach 18 Jahren gesprochen werden kann. Weiterhin können keine generellen Aussagen zum Zusammenhang der Wohnform mit einem als positiv erlebten Pflegesetting getroffen werden. Allerdings liegt bei allen drei Fällen mit der Bejahung einer Überforderung zumindest phasenweise eine Koresidenz vor. Wie in Kapitel Zwei ausgeführt, existieren nach Kohli et al. zu den Vor- und Nachteilen einer Koresidenz widersprüchliche Befunde. Kurze Distanzen oder die direkte Koresidenz haben demnach auch günstige Effekte, z. B. Einsparpotenziale hinsichtlich zeitlicher und monetärer Ressourcen (vgl. Kohli et al. 2000, 180). Konzepte wie beispielsweise eine „Intimität auf Abstand“ (Rosenmayr/Köckeis 1965, zit. in: Fooken 1997, 14/12) leiten dagegen eine als positiv empfundene intergenerationelle Beziehungsgestaltung von der Option privater Rückzugsmöglichkeiten aufgrund geografischer Distanzen ab. Dieser Argumentation wird auch im 7. Familienbericht gefolgt, deren Autoren die verhältnismäßig geringe Anzahl von Konflikten in Mehrgenerationenbeziehungen u. a. auch auf die häufigen multilokalen Wohnformen zurückführen (vgl. BMFSFJ 2005b, 260). Die hier präsentierte Studie gibt nur vereinzelte Anhaltspunkte zu den vorliegenden Milieus der Enkel und ihrer Pflegesettings, beispielsweise wenn die 205 Anmerkung: Bis auf zwei Interviewte erzählten die Enkel aus der Retrospektive, wobei der Zeitraum, der zwischen dem Ende des Pflegesettings und dem Interview liegt, von einem Monat bis zu 18 Jahren differiert. An dieser Stelle sei nochmals darauf hingewiesen, dass nach der hier angewendeten Methodologie, dem lebensweltorientierten Ansatz nach Schütz, von einer permanenten Überschreibung und Neuinterpretation von Ereignissen im zeitlichen Verlauf des Individuums ausgegangen wird. Das heißt, dass die wesentlichen Informationen im Datenmaterial sich auf die jeweils aktuellen Erfahrungen, d. h. den gegenwärtig vorliegenden Sinnzusammenhang, der Enkel beziehen. Notwendige Fakten, wie beispielsweise zum Vorliegen einer Diagnose der Demenz, sind ergänzend und mit einem ausreichenden Zeitpuffer im Kurzfragebogen erhoben worden. Folglich sind Fragestellungen zu potenziellen Problematiken hinsichtlich der Exaktheit von Angaben, wie sie z. B. in der Befragung von Zeitzeugen historischer Ereignisse von Relevanz sind (vgl. Welzer 2005) in der hier vorgestellten Studie nicht berücksichtigt worden.
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häusliche Unterstützung, wie im Fall von Frau Klein, auf einem Bauernhof im ländlichen Raum stattgefunden hat. Heusinger, dessen theoretische Herleitung von ‚Milieu’ auf der Bourdieu’schen Systematik spezifischer Kapitalsorten basiert, hat bei pflegenden Angehörigen u. a. differierende Präferenzen der Finanzierung von Pflegeleistungen oder der Erwartungen an familiales Unterstützungsverhalten im Kontext der untersuchten Milieus ermittelt, was in Kapitel 3.2.4 näher dargelegt wird (vgl. Heusinger 2006, 418ff). Da hierbei die Enkelgeneration nicht explizit erfasst worden ist, bleiben Fragestellungen nach milieuassoziierten Effekten häuslicher Pflege auch im Bezug auf Enkel noch zu bearbeiten. Ergebnis 6: Versorgung demenziell erkrankter älterer Angehöriger als solidarische Verantwortlichkeit im ‚familialen Betreuungsteam’ Die Enkel in der hier vorgelegten Studie beschreiben in hohem Maße ein personales Eingebundensein und eine Verantwortlichkeit der Enkelgeneration in Pflegesettings. Dabei wird familiale Solidarität durch kontinuierliche konkrete Handlungen und durch normative Haltungen, wie z. B. hinsichtlich der Pflegebereitschaft, ausgedrückt. In der Mehrheit der Fälle entspricht es den Sinnzusammenhängen der Enkel, Teil eines größeren Arrangements, d. h. eines ‚familialen Betreuungsteams’, zu sein. Dies stimmt mit den Ergebnissen von Piercy (1998), die in Kapitel 3.2.3 dargestellt wurden, überein, die die normative Haltung einer gemeinsamen familialen Verantwortlichkeit für den hilfebedürftigen alten Menschen abbilden. Von weiteren gesellschaftlichen Potenzialen einer solidarischen Verantwortlichkeit für demenziell erkrankte Großeltern kann ausgegangen werden, da, wie bereits dargestellt, nach Schütz und Luckmann, ein großer Anteil des individuellen Wissensvorrats auf Erfahrungen basiert, „die mir von meinen Mitmenschen, vor allem meinen Eltern, Lehrern usw. übermittelt wurden“ (Schütz/Luckmann 2003, 33). Somit können erfolgreich erlebte Pflegesettings als Modelle dazu beitragen, den subjektiven Wissensvorrat von sowohl Enkelkinder Demenzerkrankter als auch von jungen Menschen insgesamt um das hier erfahrbare Kenntnis- und Handlungsspektrum zu erweitern.
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Ergebnis 7: Hoher Stellenwert familialer Generationenbeziehungen im Pflegegeschehen Dass die familiale Betreuung bei Pflegebedürftigkeit auf dem Hintergrund lebenslanger Beziehungen erfolgt, wird im 4. Altenbericht hervorgehoben (vgl. BMFSFJ 2002, 197f). Die hohe Relevanz der Beziehungsgestaltung zeigen auch die Ergebnisse der hier vorliegenden Analysen auf, da die Qualität der intergenerationellen Beziehungen und das Pflegegeschehen im engeren Sinne erhebliche Interdependenzen aufweisen. Solidarität In dieser Studie ist Solidarität das dominante Beziehungsmuster von Enkeln, ihren Eltern und ihren Großeltern in der häuslichen Pflege. Ein hohes Maß solidarischer Handlungen wird schon aufgrund der instrumentellen Hilfeleistungen, die im Kurzfragebogen angegeben sind, ersichtlich. Darüber hinaus bildet das hier vorliegende Datenmaterial generell eine ausgeprägte solidarische Haltung zwischen den einzelnen Akteuren in den Pflegesettings ab. Generationensolidarität wird in der Literatur als „dritte Kernfunktion moderner Familien“ (BMFSFJ 2003, 143) eingeschätzt. Nicht nur Höpflinger unterstreicht die Dimension von intergenerationeller Unterstützung in der Gegenwartsgesellschaft (vgl. Höpflinger 2002a, 34), auch im 7. Familienbericht werden die Unterstützungsleistungen der Mehrgenerationenfamilie als gelebte generationenübergreifende Solidarität identifiziert (vgl. BMFSFJ 2005b, 239). Wie im zweiten Kapitel geschildert, wird der Begriff der Solidarität in der Literatur heterogen hergeleitet und nicht einheitlich definiert. In Kapitel 2.4.1 sind daher im Zuge der Literaturanalyse Basismerkmale familialer Solidarität herausgearbeitet worden, wozu beispielsweise Zuneigung und Zusammengehörigkeitsgefühl gerechnet werden. Schütze und Wagner beschreiben den familialen Zusammenhalt als substanzielle normative Vorgabe (vgl. Schütze/Wagner 1995, 310). Dieses Empfinden eines Zusammenhalts in der Familie hat einen hohen Stellenwert für die Bilanzierung der hier befragten Enkel. Wie oben ausgeführt, sind Erfahrungen der Kategorie ‚familialer Zusammenhalt’ für eine positive oder gemischte Bilanzierung des Pflegesettings essenziell, wohingegen sie in Fällen mit belastungsgeprägten Bilanzierungen nicht vorliegen. Andererseits zeigt die Zusammenfassung situationsübergreifender und punktueller Erfahrungen in ‚Kategorienbündel’, dass letztendlich bei allen fünfzehn Enkeln
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positiv konnotierte Erfahrungen des familialen Zusammenhalts vorliegen206, was verdeutlicht, dass die Qualität der Beziehungsgestaltung in der Familie insbesondere hinsichtlich eines solidarischen Charakters einen wesentlichen Faktor des subjektiven Erlebens darstellt. Fällen mit hohen Anteilen intergenerationeller Solidarität ist keine Geschlechterausprägung inhärent, weiterhin korrelieren sie nicht mit einer positiven Bilanzierung oder der Abwesenheit von Überforderung. Auch reziprok erlebte familiale Solidarität ist kein überlastungspräventives Element in familialen Pflegesettings, wie der Fall von Frau Müller aufzeigt. Ebenso ist unilateral gelebte Solidarität kein Prädiktor für eine Überforderung, was das Beispiel von Herrn Ottfried belegt. Auch bei niedrigen Anteilen intergenerationeller Solidarität sind keine fallübergreifenden Gemeinsamkeiten zu ermitteln. Angedeutet wird lediglich eine Tendenz zur belastungsgeprägten Bilanzierung und zur erlebten Überforderung. Auch diese Befunde verdeutlichen die Varianz individueller Lebenswelten und subjektiver Sinnzuschreibungen in Pflegesettings bei Demenz, was bei der Implementierung von Interventionen zu berücksichtigen ist. Beispielsweise kann in einer Beratungssituation eine ausgeprägte Hilfsbereitschaft innerhalb der Familie nicht als Indikator für ein dauerhaft funktionales Pflegesetting interpretiert werden, denn trotzdem im Fall von Frau Müller der höchste Anteil am solidarischen Beziehungsmuster von allen fünfzehn Fällen ermittelt worden ist, wird von ihr eine Überforderungssituation angegeben und die Bilanzierung fällt ‚gemischt’ aus. Familiale Solidarität ist somit immer im Kontext mit weiteren Variablen zu betrachten, da von einer erheblichen Komplexität des Spektrums familialer Sorgearbeit im Sinne eines alltäglichen Herstellungsprozesses von Familie (vgl. BMFSFJ 2005b, 153; 221) in gegenwärtigen Pflegesettings auszugehen ist, und die Ausgestaltung familialer Hilfeleistungen auf einer Vielzahl personaler und familialer Ressourcen basiert. Die vorliegenden Befunde dokumentieren, dass auch bei einer genuin hohen Unterstützungsbereitschaft wie im Fall von Frau Müller die gesamt-familialen Ressourcen erschöpft sein und Überlastungsphänomene eintreten können. Aus Sicht dieser Studienergebnisse sind an dieser Stelle komplementäre gesellschaftliche Unterstützungsmechanis-
206 Diese Unterscheidung entsteht, da bei der Bildung der Meta-Variable ‚Gesamtbilanzierung’ nur die Erfahrungen derselben Hauptkategorie berücksichtigt worden sind. Somit sind, wie im Kapitel 7.3.1 geschildert, die in dieser Studie als ‚spezifisch’ erfassten Erfahrungen, welche für die Enkel nur sporadisch eine Rolle spielten, im Rahmen der fallübergreifenden Analyse erst bei der Bildung von ‚Kategorienbündeln’ zum Tragen gekommen.
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men gefragt, die allerdings verfügbar sein sollten, bevor die Grenze familialer Leistungsfähigkeit erreicht ist. Konflikt Eine familiale Pflegesituation beinhaltet im Allgemeinen neben solidarischen auch konflikthafte Momente (vgl. BMFSFJ 2002, 197f). Das hier vorliegende Datenmaterial bildet große Varianzen bei der Präsenz von Konflikten im Kontext der Pflegesituation ab, wobei das Beziehungsmuster Konflikt in keinem der 15 Fälle das dominante Muster der Gestaltung der Generationenbeziehungen darstellt. Intergenerationelle Konflikte können sich jedoch trotzdem folgenschwer auf die Gesamtsituation auswirken, was die Fälle von Frau Klein und Frau Feld aufzeigen. Beide Enkelinnen haben sich durch die Auseinandersetzungen mit einem Elternteil erheblich belastet gefühlt und eine räumliche Distanz bewirkt. Auffällig ist, dass die Gruppe der fünf Enkel, die über einen deutlich höheren Anteil intergenerationeller Konflikte berichten, ausschließlich aus Frauen besteht. Ihre Bilanzierungen sind überwiegend entweder gemischt oder belastungsorientiert und das Vorliegen einer Überforderung wird teilweise oder umfassend bejaht. In diesen Fällen könnte die gemeinsame Lokalität der Enkelinnen mit dem Pflegesetting konfliktverstärkend gewirkt haben, da alle fünf Frauen zumindest teilweise unilokal mit ihrer Familie und dem demenzkranken Großelternteil gelebt haben. Bei einer Analyse der hier vorliegenden Konfliktparteien zeigt sich, dass vorwiegend Konflikte zwischen den beiden jüngeren Generationen mit der Großelterngeneration stattfinden, wobei es sich in den meisten Fällen um den erkrankten Großelternteil handelt. In den drei Fällen, in denen der gesunde Großelternteil involviert ist, liegt eine Korrelation mit der Kategorie ‚Lernen’ vor, worauf weiter unten näher eingegangen wird. Dagegen sind in drei von vier der hier interviewten Enkel in der Subgruppe der Fälle mit den niedrigsten Anteilen an konflikthaften Beziehungen männlich. Da dieser Befund im Zusammenhang mit der Relation der beiden Geschlechter in der gesamten Gruppe der befragten Enkel zu sehen ist, weist dieses Ergebnis auf geschlechtsspezifische Differenzen im Erleben von Konflikten in Pflegesettings bei Demenz bei den beteiligten Enkeln hin. Creasy und Jarvis belegen bei Enkelkindern in Pflegesettings bei Demenz problematische Beziehungen zu Großeltern und Vätern, wenn bei den jeweiligen Müttern und Hauptpflegepersonen hohe Belastungsniveaus zu verzeichnen sind (vgl. Creasy/Jarvis 1989, 81ff). Auch bei Frau Feld lag eine schwerwiegende Überforderung der Mutter vor. Frau Kleins Vater hat hier einen 341
Sonderstatus, da er gleichzeitig den Konfliktgegner für die Enkeltochter und eine überforderte Hauptpflegeperson dargestellt hat. Wenn Creasy und Jarvis aufgrund ihrer Befunde auf die Notwendigkeit weiterer Längsschnittstudien zur Ermittlung präventiver Interventionspotenziale hinweisen (vgl. ebd.), wird dies durch die hier vorliegenden Ergebnisse bekräftigt. Andererseits ist das Vorhandensein von intergenerationellen Konflikten im Zeitraum des Pflegesettings nicht prinzipiell negativ zu interpretieren. Im Pflegesetting von Frau Müller sind Konflikte im Zuge familialer Aushandlungsprozesse zwar aufgetreten, haben aber im Ergebnis zu einer – aus ihrer Sicht – stabilen und funktionalen Unterstützungssituation geführt. Dass Konflikthäufigkeiten nicht als Parameter für eine problematische Beziehungsgestaltung angewendet werden können, wird im 7. Familienbericht formuliert. Ein Fehlen von Konflikten kann im Gegenteil einen Mangel an Kontakt und Kommunikation signalisieren. Konflikte können komplementär zur Generationensolidarität eine stabilisierende Funktion haben und zu einer konstruktiven Beziehungsgestaltung beitragen (vgl. BMFSFJ 2005b, 260). Im Rahmen der hier vorliegenden Analyse zeigt der Fall von Herrn Zumbrock, dass ein niedriger Anteil an konflikthaften Beziehungsmustern kein Indikator für ein positiv erlebtes Pflegesetting darstellt, da dies bei ihm mit einer relativ hohen Belastung und einer als ‚resignativ’ zu beschreibenden Haltung einhergeht. Eine weitere Variante von familialen Konflikten wird im Fall von Frau Schuster deutlich. Durch die demenzielle Erkrankung der Großmutter verloren frühere Konflikte zwischen Enkelin und Großmutter aktuell an Relevanz, da diese „vergessen hat, dass sie mich eigentlich gar nicht so lieb hat wie meine erste Schwester“ (Int. 12; 11). Ambivalenzen Nach Lüscher und Liegle sollte die Existenz von Ambivalenzen im Rahmen der intergenerationellen Beziehungsgestaltung generell zur Erfassung von interpersonellen Spannungen und gegensätzlichen Orientierungen verstärkt berücksichtigt werden (vgl. Lüscher/Liegle 2003, 286ff). Tesch-Römer et al. empfehlen die Anwendung des das fachlichen Konstrukts ‚Ambivalenz’ insbesondere bei Aushandlungsbedarfen im Bereich spezieller familialer Unterstützungssettings und ungelöster Fragestellungen wie den Spannungsfeldern von Beruf und Pflege oder von Selbstverwirklichung und Verpflichtung (vgl. TeschRömer et al. 2001, 135f). In der vorgestellten Studie nehmen Ambivalenzen im hier definierten Sinne keinen großen Raum im intergenerationellen Beziehungsgeschehen ein. Sie 342
kommen fallübergreifend bei der Auseinandersetzung mit den Themen ‚Alter’, ‚Pflege’ und ‚Demenz’ vor und betreffen die Phasen vor und nach dem Umzug ins Altenheim. Auch die drei Fragestellungen zur Pflegebereitschaft bzw. – verpflichtung haben ambivalente Haltungen hervorgerufen. Daraus wird deutlich, dass Ambivalenzen besonders dann zutage treten, wenn bislang ethisch, medizinisch oder gesellschaftlich ungelöste Problemstellungen aufgeworfen werden: Wie viel nimmt der erkrankte Mensch wahr und wie empfindet er selber seine Situation? In welchem stationären Setting soll die Versorgung stattfinden, wenn familiale Ressourcen nicht mehr ausreichen, um die gewünschten ambulanten Standards sicher zu stellen? Wie kann eigene Pflegebereitschaft umgesetzt werden, wenn die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege nicht gegeben ist? Insgesamt bildet das hier vorliegende Datenmaterial eine Fülle von Äußerungen und Bewertungen mit relativ eindeutigen Bekundungen ab. Wenn Lüscher und Liegle Ambivalenzen als Beziehungsmuster beschreiben, dass empirisch belegbar nachrangig zu dem der ‚Solidarität’ vorhanden ist (vgl. Lüscher/Liegle 2003, 295), so beschreibt diese quantitative Einordnung auch die Ergebnisse der hier vorliegenden Analyse. Lernen ‚Lernen und Erkenntnisgewinn’ ist die Kategorie mit dem höchsten Stellenwert für eine positive Bilanzierung in der hier vorliegenden Studie. Da nur neun der zwölf Enkel, die dieses Erfahrungsfeld berichten, positiv bilanzieren, kann auf ein Potenzial dieser Kategorie auch für problematischere Pflegesettings geschlossen werden. Ältere Generationen können der Enkelgeneration eine – zwar nicht problemlose, aber gelungene – Bewältigung der Pflegeaufgaben modellhaft vorleben, wodurch die Enkel ihren individuellen Wissensvorrat themenspezifisch erweitern können. Da nach Schütz und Luckmann dieser Wissens-vorrat die Basis ihres personalen Bezugsschemas zur Deutung der Welt darstellt, ist davon auszugehen, dass die hier gemachten Erfahrungen über die reine Kompetenzsteigerung hinausgehend auch das eigene Relevanzsystem hinsichtlich der Pflegeaufgaben prägen (vgl. Schütz/Luckmann 2003, 33). Die aktive Mitarbeit im Betreuungsgeschehen führte beispielsweise bei Frau Kaufmann und Herr Ottfried zu einem Statusgewinn in der Familie. Wenn Frau Kaufmann durch ihre Besuche im Altenheim gleichzeitig weitere Familienmitglieder von dieser Aufgabe entpflichtet, und Herr Ottfried aufgrund seiner Wissensweitergabe entscheidende Hinweise zur Pflege erbringt, führt dies zu einer funktionalen Gleichberechtigung mit der Elterngeneration, wobei die Generationendifferenz entfällt. Beide Enkel werden durch ihr Wissen und ihre 343
Kompetenz erheblich aufgewertet. Frau Vogt gewichtet explizit das – im engeren Sinne – neu gewonnene pflegerische Wissen als Bereicherung, obwohl ihr Tätigkeitsspektrum aus objektiver Sicht als altersunangemessen eingeschätzt werden könnte. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass eine Nichtannahme des Wissens der Enkelgeneration vonseiten der Älteren ein Konfliktpotenzial entstehen lässt. Möglicherweise liegen bei den hier untersuchten Fällen Hinweise auf einen kulturellen Wandel der Generationenbeziehungen im Bereich des Generationenlernens vor, in dem altersgebundene Autoritätsverhältnisse partiell durch wissensbasierte Interaktionen ersetzt werden. In der Literatur wird dies beispielsweise im Bereich technischer Lernfelder belegt, wobei zu beachten ist, dass von einer kompletten Überwindung von Generationendifferenzen trotz partieller Nivellierungen nicht die Rede sein kann (vgl. Lüscher/Liegle 2003, 176). Für die Herleitung von Praxisimplikationen kann gefolgert werden, dass die Integration der Enkelgeneration in das Aufgabenfeld der häuslichen Pflege mit einem partizipatorischen207 Ansatz im Sinne eines Generationendialogs verbunden sein sollte, um den Lebenswelten der Enkelgeneration gerecht zu werden. In diesem Zusammenhang ist der Hinweis von Lauterbach aufzugreifen, die intergenerationelle Dynamik in Mehrgenerationenfamilien insbesondere beim Vorliegen spezieller Unterstützungsbedarfe nicht nur aus der Perspektive älterer Generationen zu untersuchen (vgl. Lauterbach 2004, 238). Ergebnis 8: Enkel als Multiplikatoren – Interdependenzen familialer und gesellschaftlicher Generationen Lauterbach stellt fest, dass eine der wichtigen Funktionen von Großeltern für Enkel die Konfrontation mit existenziellen Lebensthematiken wie Krankheit, körperlichen Beeinträchtigungen und Tod sein kann. Er sieht hierdurch Potenziale für eine Neudefinierung der Rollen von den beteiligten Generationen und für eine Entwicklung eines besseren Generationenverständnisses auch auf der makrosozialen Ebene (vgl. Lauterbach 2004, 120ff). Die Aussagen der Enkel in der hier vorliegenden Studie bestätigen diese Position. Wie oben ausgeführt, können die gemachten Erfahrungen nach Schütz und Luckmann den lebensweltlichen Deutungshorizont vergrößern und subjektive Sinnzuschreibungen 207 Auf den Terminus ‚Partizipation’ als „Teilhabe an [...] sozialen Entscheidungsprozessen“ (Schäfers 2001, 267) wird in Kapitel 12 näher eingegangen.
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verändern (vgl. Schütz/Luckmann 2003, 33). Lernen und Erkenntnisgewinn im Kontext mit intergenerationellen Pflegesettings bei Demenz haben aber nicht nur auf die betroffenen Enkel Auswirkungen, denn diese sind gleichzeitig Mitglieder gesellschaftlicher Generationen und können durch ihre Praxiserfahrung im Feld der häuslichen Pflege als Multiplikatoren agieren. Dabei können sie als Modelle erfolgreicher Bewältigung anspruchsvoller sozialer Aufgaben wirken und somit zu Bewusstseinsveränderungen innerhalb ihrer eigenen Generation beitragen. Die von Lauterbach identifizierten Potenziale von jungen Menschen gilt es auch aus der Sicht der hier vorliegenden Ergebnisse stärker zu erkennen und einzusetzen. Möglicherweise trägt ein gezielter Einbezug junger Menschen als Gesellschaftsgeneration zur besseren allgemeinen Aufklärung und zu einer Einstellungsveränderung gegenüber pflegenden Angehörigen bei. Die hier vorgelegten Ergebnisse weisen auf die Notwendigkeit einer Förderung des solidarischen Verhaltens im weiteren familialen und sozialen Umfeld hin, was exemplarisch anhand des Kategorienbündels ‚Problematisches familiales und soziales Umfeld’ erläutert werden kann. Es enthält Aspekte wie ‚Einmischung / Kritik / keine Anerkennung’, ‚selten da / wenig Hilfe’ oder ’Unverständnis / Weggucken’, und da es in knapp der Hälfte der Fälle unabhängig von der Bilanzierung der Enkel vorliegt, kann von einem verbreiteten gesellschaftlichen Phänomen ausgegangen werden. Die Ergebnisse dieser Studie implizieren eine Verstärkung gesellschaftlicher Aufklärung und allgemeiner Bewusstseinsbildung, um eine solidarische Grundhaltung in der Gesellschaft und somit auch im sozialen Nahraum zu fördern. Das Bewusstsein für die Sorgeleistungen der Enkelgeneration sollte geschärft werden und ihrer Unterstützungsarbeit Anerkennung und Wertschätzung entgegengebracht werden. Von besonderer Relevanz wäre dies für die Pflege in Mehrgenerationenfamilien, wenn Überlastungsphänomene wie in den Fällen von Frau Feld und Frau Klein vorliegen. 11.2
Belastungsprävention
Ergebnis 9: Belastungen liegen vor – sie sind nicht mit Überforderungen gleichzusetzen Die hier vorliegenden Befunde zeigen, dass Pflegesettings bei Demenz belastende Momente für die Enkel implizieren. Zwar werden in einigen der fünfzehn Fälle nur vereinzelt problematische Situationen, wie eine zeitliche Belastung bei Herrn Ottfried oder Irritationen in der Phase der Diagnosestellung bei Herrn 345
Metzger, geschildert, aber es liegen in allen Fällen als belastend empfundene Erfahrungen vor. Dass die familialen Betreuungsaufgaben im Kontext einer demenziellen Erkrankung selbst bei innerer Distanz, wie in der hier präsentierten Studie, nicht belastungsfrei geschildert werden, ist kein überraschender Befund, denn in einer Vielzahl von Studien sind hohe Grade subjektiv erlebter Belastung von Hauptpflegepersonen insbesondere beim Vorliegen einer Demenzerkrankung belegt (vgl. exemplarisch Naegele/Reichert 2001). Dass dabei spezielle Faktoren wie z. B. die gestörte Nachtruhe ebenfalls weitere Familienangehörige tangieren können, ist nachvollziehbar und mittlerweile durch vereinzelte Befunde bezogen auf weitere Familienmitglieder (vgl. Barkholdt/Lasch 2004, 25f) und Enkelkinder (vgl. Szinovacz 2003; Piercy 1998) empirisch nachgewiesen worden. Das Vorliegen von Belastungsmomenten ist u. a. auch aufgrund der originären Komplexität familialer Sorgeaufgaben nachvollziehbar. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Integration der informellen Pflegetätigkeit in dem an sich schon diffizilen täglichen Herstellungsprozess von Familie (vgl. BMFSFJ 2005b, 221) ohne Belastungsmomente verläuft. Darüber hinaus kann vermutet werden, dass bei einer Befragung in Situationen direkter personaler Involviertheit der Enkel häufigere oder intensivere Belastungsmomente im Datenmaterial emergieren. Wie in Kapitel 10.1.1.2 veranschaulicht wurde, differenzieren die Enkel explizit zwischen episodischen bzw. permanenten Belastungen und einer erlebten Überforderung. Diese grundsätzliche Unterscheidung innerhalb der induktiven Kategorienentwicklung wird auch durch einen Vergleich der MetaVariablen abgebildet, denn bei einem Drittel der Interviewteilnehmenden weicht die empfundene Überforderung von der Gesamtbilanzierung der Pflegesituation ab. Vier Enkel bilanzieren günstiger als es die Angaben zur Überforderung erwarten lassen, und nur bei einem Enkel ist dies in umgekehrter Form der Fall. Die Kategorie ‚nicht als Überforderung, sondern als Anforderung erlebt’ kann hier als eine Erklärung herangezogen werden, da diese in sechs der sieben Fälle, in denen eine Überforderung kategorisch angelehnt wird, vorkommt. Dies führt zu weiteren Forschungsimplikationen, womit die im 4. Altenbericht geforderten Studien zur weiteren binnenfamilialen Analyse informeller häuslicher Pflege (vgl. BMFSFJ 2002, 363) um die Fragestellung zu erweitern sind, wann und warum Pflegesettings bei Demenz anstelle eines Anforderungscharakters einen Überforderungscharakter erhalten.
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Ergebnis 10: Symptomatik der Demenz, zeitliche Verpflichtung und ‚Vereinbarkeitsproblematik von Pflege und Beruf’ als häufigste Belastungen Das Kategorienbündel ‚Symptomatik/Verlauf/Pflege erschwerendes Verhalten’ ist in vierzehn Fällen präsent, sodass diese Belastungsmomente in nahezu jedem Pflegesetting der hier präsentierten Studie von Relevanz sind. Befunde einer repräsentativen Umfrage belegen, dass das Vorliegen einer Demenz ein belastungssteigernder Faktor ist (vgl. Schneekloth 2005, 87). Neben zentralen Symptomen wie Agitiertheit, Aggressionen oder einer Eigen- und Fremdgefährdung, kann auch die Abnahme der kommunikativen Fähigkeiten an sich und der Verlust der gemeinsamen Biografie (vgl. Weyerer 2005, 6) als das – in der Terminologie von Schütz – Problematische wahrgenommen werden. Dass die Symptomatik der Demenz zwar als Risikofaktor, jedoch nicht als Prädiktor potenzieller Belastungen zu werten ist, wird anhand der Vielzahl von ‚wertneutralen’ Erfahrungen im Kontext der Demenz und den damit verbundenen Betreuungsaktivitäten evident. Beispielsweise dokumentiert der Fall von Frau Kaufmann prägnant, dass gravierende Verhaltensstörungen von erkrankten Großeltern negative Auswirkungen auf Enkel haben können, jedoch nicht haben müssen, da die Belastungseffekte nach dem Installieren geeigneter Rahmenbedingungen nicht mehr aufgetreten sind. Im Zuge einer Repräsentativerhebung zur häuslichen Pflege ist der Faktor ‚Rund-um-die-Uhr-Verfügbarkeit’ als Prädiktor für Überlastungssituationen ermittelt worden (vgl. Schneekloth 2005, 87). Diese Problematik der erheblichen zeitlichen Gebundenheit wird auch in der hier vorliegenden Studie am Kategorienbündel ‚Zeitliche Verpflichtung/Vereinbarkeits-problematik’ ersichtlich, welches, Belastungserfahrungen zusammenfassend, zwei Drittel aller Enkel betrifft. Dass diese Problematik auch in Fällen mit positiver Bilanzierung und ohne Überforderung von den Enkeln wahrgenommen wird, zeigt auf, mit welcher Häufigkeit mit diesem Belastungsphänomen zu rechnen ist. Nach Barkholdt und Lasch sind neben den Alltagsaktivitäten auch die familialen Freizeitpläne von der häuslichen Pflege tangiert. Insbesondere eine Störung oder Verhinderung von ‚Jahreshighlights’ wie der gemeinsamen Urlaubsreise können für die junge Generation eine gravierende Beeinträchtigung lebensweltlicher Gewohnheiten bedeuten (vgl. Barkholdt/Lasch 2004, 26)208. Auch professionelle Hilfeleistungen können zu belastenden Erfahrungen führen, wobei zu beachten ist, dass diese Unterstützungsoptionen bei den 208 Die dazu kommende Thematik der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf wird in Ergebnis 18 thematisiert.
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Enkeln dieser Studie ebenso wertneutral oder positiv konnotiert sein können, worauf in den Ausführungen zu Ergebnis 15 noch näher eingegangen wird. Ergebnis 11: Fehlende protektive Faktoren in Fällen mit belastungsgeprägter Gesamtbilanzierung Im Datenmaterial der drei Enkel209, deren Bilanzierungen überwiegend belastungsgeprägt ausfallen, sind die Kategorien ‚Familialer Zusammenhalt’, ‚Familiale (Pflege-)Leistungsfähigkeit’ und ‚Beziehung zu Erkrankten: Guter Kontakt/pflegeleicht’, welche alle drei Prämissen für eine positive Bilanzierung darstellen, nicht enthalten. Somit kann erwogen werden, dass es sich um Erfahrungsbereiche mit protektiver Wirkung für die Enkel handeln kann. In Anbetracht des hohen Stellenwertes, der der Kategorie ‚familiale (Pflege-)Leistungsfähigkeit’ mit dem inhärenten Wissens- und Kompetenzzuwachs von den hier interviewten Enkeln insgesamt zugeschrieben wird, kann davon ausgegangen werden, dass eine diesbezügliche Befähigung sowohl von Familienangehörigen als auch gezielt von der Enkelgeneration zur Prävention von Überlastung beitragen kann. An der Abwesenheit der Kategorien ‚familialer Zusammenhalt’ und ‚Beziehung zu Erkrankten: Guter Kontakt/pflegeleicht’ wird deutlich, wie ausgeprägt die wahrgenommenen familialen Generationenbeziehungen das individuelle Erleben beeinflussen. Wiederholt wird deutlich, dass häusliche Pflegearrangements bei Demenz nicht ausschließlich durch das Pflegegeschehen im engeren Sinne abgebildet werden, sondern erst durch die Integration familialer Generationenbeziehungen erfasst werden können. Ergebnis 12: Positiv konnotierte Kategorienbündel als belastungspräventive Potenziale Auf die Befunde von Leipold et al. zum „Persönlichkeitswachstum bei pflegenden Angehörigen demenziell Erkrankter“ (Leipold et al. 2006, 227) wurde bereits hingewiesen. Auch die Ergebnisse der hier vorliegenden Studie weisen Pflegesettings bei Demenz als Handlungsfelder mit einem Potenzial zur Förderung personalen Kompetenz- und Erkenntnisgewinns aus. Dass von sieben Enkeln, die das Vorliegen einer Überforderung verneinen, sechs Befragte 209 Es handelt sich hierbei um die Fälle von Frau Klein, Frau Feld und Herrn Zumbrock.
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äußern, sie haben die Geschehnisse ‚nicht als Überforderung, sondern als Anforderung’ erlebt, weist auf binnenfamiliale und transfamiliale Kontexte hin, die zu einer Befähigung der Enkel in Pflegesettings führen können. Exemplarisch kann zu dieser Thematik das Programm von Hepburn et al. genannt werden, das mit Modulen der theoretischen Wissensvermittlung und mit praxisnahen Handlungsempfehlungen Angehörige befähigen soll, aus einer distanzierten Perspektive effektiver mit den erkrankten Pflegebedürftigen und ihrer eigenen Person umzugehen (vgl. Hepburn et al. 2001, 450ff). Aus der Sicht der hier vorliegenden Befunde sind diese und ähnliche Programme verstärkt zu implementieren, worauf in Kapitel 12 näher eingegangen wird. Folgende Kategorienbündel sind im hier vorliegenden Datenmaterial positiv konnotiert: 1. Familialer Zusammenhalt (15 Fälle) 2. Gute Generationenbeziehungen (14 Fälle) 3. Familiäre und persönliche Pflegekompetenz (13 Fälle) 4. Lernen und Erkenntnisgewinn (13 Fälle) 5. Positive Erlebnisse durch Pflege (12 Fälle) 6. Professionelle Hilfen (11 Fälle) Die ersten beiden Kategorienbündel deuten auf die schon erwähnte Relevanz der familialen Generationenbeziehungen in ambulanten Pflegesettings bei Demenz hin. Für die Herleitung von Praxisimplikationen heißt das, dass intergenerationellen Beziehungen in Beratungs- oder Schulungskontexten mehr Aufmerksamkeit zu widmen ist. Den Kategorienbündeln drei bis sechs ist das Potenzial erfolgreich bewältigter Pflegeaufgaben bei entsprechenden Rahmenbedingungen inhärent, wozu auch professionelle Akteure zu zählen sind. Letzteres wird weiter unten ausführlich besprochen. Auch wenn die in den Kategorienbündeln bezeichneten positiven Erfahrungsbereiche nicht als Prädiktoren für Überlastung eingestuft werden sollten, können sie dennoch zur Belastungsprophylaxe beitragen. Daher ist z. B. die Förderung der ‚(Pflege-)Leistungsfähigkeit’ als wichtige sozialpolitische Aufgabenstellung hervorzuheben.
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Ergebnis 13: Gravierende Überforderungen: Geschlechterdifferenz, kumulierte Problemlagen und Koresidenz als potenzielle Belastungsfaktoren Das Vorliegen einer Überforderung wird in der hier präsentierten Studie ausschließlich von drei Frauen bejaht, was eine geschlechtsspezifische Varianz der Überlastungsphänomene bei den hier interviewten Enkeln dokumentiert210,211. Von diesen drei Frauen werden als Gründe fallübergreifend ein 24-StundenHilfebedarf, die Vereinbarkeitsproblematik von Pflege und Beruf und eine situative Alleinverantwortlichkeit als Enkelin genannt. In zwei der drei Fälle spielen die singuläre Zuständigkeit der Hauptpflegeperson, finanzielle Belastungen, das problematische Verhalten der Erkrankten sowie familiale Konflikte ebenso eine Rolle. Zahlreiche Studien belegen Überlastungsphänomene bei informellen Pflegesettings im Kontext mit Demenz, wobei der eingesetzte Zeitaufwand und die simultane Berufstätigkeit als signifikante Belastungsprädiktoren empirisch belegt sind (vgl. Schneekloth 2005, 87). In den genannten drei Fällen liegen multifaktorielle Entstehungsbedingungen für die von den Enkeltöchtern beschriebenen Überforderungskonstellationen vor, die gleichermaßen eine familiale Überlastung212 repräsentieren. Dieser Befund führt zu dem Schluss, dass bei Pflegesettings in Mehrgenerationenfamilien häufiger als bislang angenommen von einem ‚familialen Betreuungsverbund’ im Gegensatz zu einer singulär betroffenen Hauptpflegeperson auszugehen ist, was auf die Notwendigkeit weiterer Studien über die mittlere Generation als „Scharniergeneration“ (Lüscher/Liegle 2003, 79) oder „Sandwich-Generation“ (Borchers 1997, 21) in Pflegesettings hinweist. Werden gezielt Situationen mit Doppelbelastungen untersucht, sollten aus Sicht der hier vorliegenden Ergebnisse die Fragestellungen gezielt auf das Erleben der jungen familialen Generation, d. h. der Enkelkinder, erweitert werden. Die subjektive Zuschreibung von Überforderung korreliert nicht mit dem Alter der hier interviewten Enkel zum Zeitpunkt des Interviews, dem Alter während der Pflegesituation oder der Dauer derselben. Allerdings haben alle drei Frauen entweder partiell oder ausschließlich unilokal mit dem Pflegegeschehen gelebt. Da eine der Enkelinnen einen niedrigen Anteil an Generationenkonflikten in der Analyse aufweist, wird deutlich, dass eine unilokale 210 Es handelt sich um Frau Klein, Frau Müller und Frau Feld. 211 Zu beachten ist hierbei, dass über zwei Drittel der Interviewpartner in dieser Studie Frauen sind. 212 Siehe hierzu die Übersicht ‚Meta-Variable Überlastung bzw. Überforderung: Personale Differenzierung’ im Anhang als OnlinePLUS unter http://www.vs-verlag.de.
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Wohnform zwar als potenzieller Risikofaktor zu einer Überforderung beitragen kann, jedoch nicht im Zusammenhang mit einer Erhöhung des Konfliktpotenzials213 in den Pflegesettings bei Demenz stehen muss. Fälle mit gravierender Überforderung wie beispielsweise der Fall von Frau Feld dokumentieren den signifikanten Effekt, den diese Überlastungssettings auf die Enkel haben können. Hieraus ist ein Bedarf an lebensweltorientierter Beratung, die sich auf die individuell vorliegenden Kontexte aller beteiligten Generationen bezieht, abzuleiten, worauf in Kapitel 12 näher eingegangen wird. Ergebnis 14: Von der Enkelgeneration explizit geäußerte Optionen zur Belastungsprävention Die Ergebnisse der hier vorliegenden Studie zeigen, welche Strategien zur Belastungsreduktion in Mehrgenerationenfamilien in der häuslichen Versorgung eines demenziell erkrankten Großelternteils von der Enkelgeneration wahrgenommen werden. Berichtet werden u. a. Einstellungsveränderungen und ein damit verbundener thematischer Austausch mit weiteren Angehörigen sowie eine Distanzierung von der Pflegesituation und die damit zusammenhängende Organisation von Hilfe. Die Angaben der Enkel können als zwei Varianten von Belastungsprävention interpretiert werden: Eine erste Form kumuliert Verhaltensweisen, welche die kranken Menschen bzw. das Pflegegeschehen mit seinen inhärenten Anforderungen fokussieren, was paraphrasierend mit der ‚Hinwendung zum Pflegegeschehen’ bezeichnet werden kann. Die zweite Präventionsvariante bündelt Strategien, die sich auf die eigene Person konzentrieren, z. B. indem sie zu einem Ausgleich zur bzw. einer Distanz von der Pflegesituation führen. Aphoristisch kann dies mit ‚Abwendung von der Pflegesituation – Hinwendung zu mir’ ausgedrückt werden. Implizit wird von den Enkeln hiermit ein Balanceakt aufgezeigt, der von den pflegenden Angehörigen bzw. insbesondere von der Hauptpflegeperson zu leisten ist, denn zur Bewältigung bedarf es sowohl der Auseinandersetzung mit der Thematik der häuslichen Pflege bei Demenz als auch der Konzentration auf die eigene Person mit den unabhängig vom Pflegesetting vorhandenen Bedürfnissen, wie in Kapitel 1.4 dargestellt worden ist. Interventionen zur Belastungsprävention sollten diesem Spannungsfeld gerecht werden und einerseits 213 Wie in Ergebnis 5 verdeutlicht wurde, könnte eine Koresidenz durchaus einen konfliktverstärkenden Faktor darstellen. Die hier vorliegenden Befunde machen jedoch deutlich, dass dies nicht grundsätzlich der Fall sein muss.
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Beratungs- und Schulungseinheiten zur Pflegethematik anbieten, andererseits zur autonomen Freizeitgestaltung ermutigen. Im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem Pflegegeschehen sollte nach Ansicht der Enkel die Möglichkeit eines umfassenden Kenntniserwerbs gegeben sein. Herr Zumbrock weist auf die Wichtigkeit von ausführlichen „Guidelines“ (Int. 15; 45) zur familialen Pflege bei Demenz hin, die mit detaillierten Informationen zum Verlauf der Erkrankung eine Planungsgrundlage für Angehörige bieten sollten, um ihnen eine „häppchenweise“ (Int. 15; 45) Art der Informationsvermittlung zu ersparen. Die von den Enkeln aufgezählten Entlastungsstrategien wie Beratung, Informationsvermittlung, etc. sind als Segmente des lokalen Angebotsspektrums für Angehörige in der Literatur schon vielfach beschrieben worden (exemplarisch vgl. Koeppe et al. 2003, 29f). Gleichzeitig wird eine nicht ausreichende oder verspätete Inanspruchnahme dieser Maßnahmen festgestellt. Eine strukturelle Erweiterung der Angebotspalette, z. B. eine verstärkte Ausrichtung auf lebensweltorientierte Ansätze (vgl. Barkholdt/Lasch 2004, 30) oder die Konzipierung von gesellschaftskritischeren Beratungs- und Schulungskonzepten (vgl. Gröning 2006a, 45), könnte den heterogenen Unterstützungspräferenzen gerecht werden, wobei die konsequente „Stützung der Selbstbestimmung“ (Jansen 1999, 608) pflegebedürftiger Menschen und ihrer informell Pflegenden im Zentrum stehen sollte. In zwei Dritteln der Fälle werden von den Enkeln professionelle Hilfen als konkret erfahrene Entlastung genannt, auch in Fällen mit vorliegender Überforderung oder belastungsgeprägter Bilanzierung. Das heißt, dass der Einbezug von professionellen Kräften nur einen von mehreren notwendigen Faktoren der Belastungsprävention darstellt. In knapp der Hälfte der Interviews ist die ‚familiale Unterstützung’ eine explizit von den Enkeln thematisierte konkret erfahrene Form der Entlastung. Da Schilderungen über diese Erfahrungen nur in Fällen mit positiver Gesamtbilanzierung und der Abwesenheit von Überforderung vorliegen, kann davon ausgegangen werden, dass sie einen hohen Stellenwert im familialen Pflegegeschehen hat. Das Datenmaterial bildet die differenzierte Ausgestaltung in den individuellen familialen Lebenswelten ab, denn ist es bei Frau Kaufmann die elterliche Solidarität und Sorgehaltung, die zur Belastungsreduktion führt, so sind es bei Frau Helling u. a. die schon aus dem Elternhaus ausgezogenen Geschwister, deren Unterstützung zur Stabilität des Pflegesettings beiträgt. Nach den Autoren des 4. Altenberichts ist die Rolle der sekundär verantwortlichen Pflegepersonen bislang weder binnenfamilial noch gesellschaftlich definiert (BMFSFJ 2002, 200) und enthält damit noch individuellen Gestaltungsspielraum.
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Ergebnis 15: Qualitätsanforderungen an professionelle Dienste aus Sicht der jungen Generation In neun der fünfzehn Fälle liegen bei den Enkeln spezifische belastende Erfahrungen mit professionellen Akteuren bzw. Diensten vor. Da die Thematik professioneller Angebote ebenso unter ein positives und ein wertneutrales Kategorienbündel subsumiert werden konnte, ist hier der Vergleich der Inhalte von Interesse. Belastende Erlebnisse beziehen sich auf die Aspekte ‚Arzt’, ‚Pflegedienst’, ‚Umgang mit Erkrankten’, ‚Zeitkorridore’, ‚Altenheim’, ‚Krankenkassen/finanzielle Hilfen’ und ‚Beratung’. Frau Helling erlebte die Körperpflege durch professionelle Mitarbeiter im Rahmen von engen zeitlichen Korridoren für ihre demenziell erkrankte Großtante als unangenehm: „Ne halbe Stunde. Reingedüst mit der Frau, drunter gestellt, geduscht und wieder raus“ (Int. 8; 39). Auch mangelte es ihr an einem einfühlsamen, der Erkrankung angemessenen Umgang. Eine der Großtante unbekannte professionelle Pflegekraft sprach diese mit „Na, meine Kleine“ (Int. 8; 43) an und umarmte sie distanzlos, worauf die kranke Frau „aufgeregt und durcheinander“ (Int. 8; 47) reagierte. Die Enkelin bewertet dies folgendermaßen: „Das war ein bisschen zu nah. Irgendeine Grenze hat die Frau überschritten“ (Int. 8; 43). Auch bemängelt sie den häufigen personellen Wechsel. Exemplarisch verdeutlicht dieses Fallbeispiel, dass die Handlungen und Haltungen der professionellen Mitarbeiter von den anwesenden Enkeln wahrgenommen und auf der Basis lebensweltlicher Deutungsmuster als qualitativ mehr oder weniger gut bewertet werden. Ausgeprägte soziale bzw. kommunikative Kompetenzen scheinen im Zentrum einer als gut beurteilten Pflegequalität zu stehen. Acht der fünfzehn Fälle zeigen das wertneutrale Kategorienbündel ‚professionelle Hilfen’ auf, das heißt dass diese Aspekte alltäglicher Lebenswelten die Enkel kaum tangiert haben. Wie die Einzelfallanalysen zeigen, waren sie auch dann für die Enkel nicht von großer Bedeutung, wenn ihnen keine Unterstützungseffekte zugeschrieben wurden. Elf der fünfzehn Enkel berichten positive Erfahrungen mit professionellen Diensten. Das zusammenfassende Kategorienbündel enthält die Themen ‚Wohngruppe bei Demenz’, ‚Selbsthilfe und Gesprächskreise’, ‚Kurzzeitpflege’, ‚Gerontopsychiatrie’, ‚Tagespflege’, ‚Pflegedienst’, ‚Ärzte’, ‚Seelsorge’, ‚Hilfskräfte und 24-Stunden-Kräfte’ sowie ‚Hilfsmittel’. Beispielsweise erlebte Frau Kaufmann Mitarbeiter des ambulanten Pflegedienstes als Wissensvermittler, denn diese haben ihr „Tipps gegeben“ (Int. 5; 153), um pflegerische Aufgaben besser zu bewältigen zu können. Auch im Fall von Frau Vogt hatten professionelle Kräfte eine relevante Beratungsfunktion inne: 353
„Es war nicht nur jemand da, der die Pflege übernommen hat, sondern auch jemand zum Reden, z. B. über irgendwelche Probleme bei Oma. Wenn meine Mutter unsicher war, dann konnte sie jemanden fragen. Ich glaube, es war das Wichtigste, das sie jemanden zum Reden hatte“ (Int. 6; 171).
Die Ergebnisse verdeutlichen die Relevanz eines qualitativ hochwertigen komplementären Versorgungsangebotes im Segment der häuslichen Pflege. Dass nahezu alle informell Pflegenden sich komplementäre professionelle Hilfe wünschen, ist auch den Ausführungen des Abschlussberichts der EnqueteKommission ‚Demographischer Wandel’ zu entnehmen (vgl. Deutscher Bundestag 2002, 240). Dass darüber hinaus professionelle Hilfen auf individuelle Lebenswelten von Angehörigen abzustimmen sind, wird beispielsweise von Zemann berichtet, der Interaktionsprobleme als wesentlichen Grund für Spannungen zwischen informell Pflegenden und hauptberuflichen Akteuren sieht. Für ihn ist die größtmögliche Beibehaltung „lebensweltlicher Normalität“ (Zemann 1997, 97) eine der wesentlichen Handlungsmaximen der Angehörigen. Zur Reduktion der Interaktionsproblematik trägt eine verstärkte Berücksichtigung der subjektiven Sichtweisen der Angehörigen durch die Fachleute bei. 11.3
Pflegebereitschaft von Enkeln mit Erfahrungen im Handlungsfeld häuslicher Pflege
11.3.1 Grundsätzliche Überlegungen In der hier vorgestellten Studie ist im Interview nach der Pflegebereitschaft von Enkeln mit persönlichen Erfahrungen im Pflegegeschehen demenziell Erkrankter gefragt worden. Einerseits basieren die Äußerungen der interviewten Enkelkinder auf ihren individuellen familialen Hintergründen, bzw., nach Schütz, auf ihren Wissensvorräten, und beziehen sich somit auf ihren Einzelfall. Andererseits liegen den fünfzehn Fällen in Teilbereichen, z. B. hinsichtlich der erfahrenen familialen Solidarität, homogene Situationskontexte zugrunde. So haben alle Enkel ein kontinuierliches Unterstützungsverhalten gegenüber ihren kranken Großeltern bzw. den pflegenden Familienmitgliedern gezeigt und explizit Gefühle der Zuneigung und der Zusammengehörigkeit mit den erkrankten bzw. den pflegenden Familienmitgliedern beschrieben. Mit ihren Antworten auf die Frage „Wie geht es Ihnen, wenn Sie an mögliche zukünftige Pflegesituationen denken?“ äußern sie auf der Basis schon praktizierter Hilfen die Bereitschaft zu zukünftiger Solidarität im Bereich Pflege und Betreuung, 354
was bedeutet, dass hier Aussagen von ‚Pflege erfahrenen’ Enkel vorliegen. Bezogen auf dieses Kontextmerkmal ist somit fallübergreifend ein homogener Befragungshintergrund vorhanden. Die theoretische Herleitung von Pflegebereitschaft im Rahmen dieser Studie kann folgendermaßen veranschaulicht werden: Schaubild 1:
Pflegebereitschaft von ‚Pflege erfahrenen’ Enkeln
Pflegebereitschaft von ‚Pflege erfahrenen’ Enkeln als Element von Generationensolidarität Solidarität (in Anlehnung an Bengtson/Roberts 1991; Lüscher/Liegle 2003) Kontakt – Zuneigung – Verlässliche Unterstützung
aktiv praktizierte Solidarität
Zukünftige Bereitschaft
Besuche – Telefonate – Hilfe bei Behörden – Pflege(Betreuung)
Pflegebereitschaft Wie wirkt sich nun der durch praktizierte Pflege erweiterte individuelle Erfahrungsvorrat auf die eigene Pflegebereitschaft der fünfzehn Enkel aus?
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11.3.2 Eigene Pflegebereitschaft der Enkel Ergebnis 16: Generelle Bereitschaft zur Sorgeleistung Die Bereitschaft zu einer grundsätzlichen Sorgeleistung im Sinne des sich Verantwortlich-Fühlens für den hilfebedürftigen Elternteil liegt bei allen Enkeln vor. Sie korreliert nicht mit speziellen Bilanzierungen des Pflegesettings oder früheren Erfahrungen von vorhandener oder nicht vorhandener Überforderung. Wie bereits am Beispiel der emotionalen Verbundenheit der familialen Generationen in Kapitel 2.3.3 expliziert, wird Familie für ihre Mitglieder allgemein als lebenslanges Unterstützungssystem wahrgenommen (vgl. Nave-Herz 2002, 224). Auch die hier vorliegenden Befunde zeigen diese Haltung bei den Enkeln mit Erfahrungen in Pflegesettings im Kontext mit einer Demenzerkrankung. Frau Lindmann drückt es folgendermaßen aus: „Das gibt’s auf keinen Fall, dass die Mutter dann nachher irgendwie in so Ranzklamotten durch die Gegend rennt“ (Int. 7; 90). Wenn aufgrund der im ersten Kapitel ausgeführten Faktoren wie beispielsweise der im Umfang kleiner werdenden nachfolgenden Generationen oder einer zunehmenden Erwerbstätigkeit von Frauen zukünftig von einem verringerten Pflegepotenzial ausgegangen werden kann (vgl. BMFSFJ 2005b, 168), sind die in dieser Studie gewonnen Erkenntnisse von hoher Relevanz, da sie das Potenzial zur Bildung von Pflegearrangements zwischen vorhandenen Familienangehörigen und weiteren, z. B. professionellen, Akteure aufzeigen. Werden im 4. Altenbericht für die häusliche Pflege „multiprofessionelle Netze im Bereich der ambulanten Versorgung unter Einbeziehung freiwillig Engagierter“ (BMFSFJ 2002, 365) als Lösungsansätze für zukünftige Pflegeszenarios beschrieben, können die jüngeren familialen Generationen trotz größerer geografischer Distanzen Steuerungs- und Kontrollfunktionen für diese Pflegesettings übernehmen und somit ihrer Verantwortungshaltung gerecht werden. Zu beachten ist weiterhin, dass der Stellenwert familialer Pflegebereitschaft auch bei einer gesamtgesellschaftlich abnehmenden Anzahl von Kindern bedeutend bleiben kann, da die Übernahme einer Pflegeaufgabe nicht mit der Anzahl der Geschwister des Pflegenden korreliert. Entscheidend für Pflegeleistungen durch nachfolgende Generationen ist vielmehr die Fragestellung, ob überhaupt eigene Kinder vorhanden sind. Exemplarisch kann dies an der Leistungskategorie ‚Pflegegeld’ verdeutlicht werden, da in Deutschland die Existenz eines oder mehrerer Kinder einen signifikanten Indikator für den Bezug von Pflegegeld, das heißt in der Regel für die häusliche Pflege durch Angehörige, darstellt. Dagegen wirkt sich die Anzahl der eigenen Kinder nicht 356
signifikant auf das Vorkommen von häuslicher Pflege aus (vgl. Pickard 2003, 185). Ergebnis 17: Hoher Anteil an Pflegebereitschaft Darüber hinaus antizipieren vier Fünftel der Enkel in der hier präsentierten Studie eine häusliche Pflege von unterschiedlichem Umfang. Von den zwölf Enkeln, die pflegebedürftige Elternteile im Rahmen ambulanter Pflegesettings versorgen würden, können sich neun Enkel dies in einer umfassenden, d. h. uneingeschränkten, Weise vorstellen. Beachtlich ist bei diesem Befund, dass diese Haltung auf konkreten eigenen Erfahrungen im Handlungsfeld häuslicher Pflege basiert, und daher potenzielle Anforderungen oder belastende Momente berücksichtigt. Die Ergebnisse können somit als Impulse für weitere Forschungen aber auch als Hinweis zur Notwendigkeit einer verstärkten Wahrnehmung und Förderung dieses Potenzials gesehen werden, da das Segment der informellen Pflege als ein wichtiges „Feld familialer Zuwendung“ (BMFSFJ 2005b, 168) eingeschätzt werden kann. Zwei der hier interviewten Enkel bekunden eine Pflegebereitschaft in Form einer eigenen Sorgeleistung in Kombination mit einer stationären Unterbringung des Elternteils. Bemerkenswert ist, dass diese kongruente Haltung auf entgegengesetzten lebensweltlichen Erfahrungen basiert. Antizipiert Herr Metzger aufgrund seiner guten Erfahrungen mit einer ambulanten Wohngemeinschaft die Wiederholung der als erfolgreich erlebten Lösungsstrategie, so möchte Frau Feld der seinerzeit erlebten familialen Überforderung mit einer neuen Handlungsvariante vorbeugen. Deutlich wird an diesem Befund, in welchem Maße lebensweltliche Erfahrungen die Pflegebereitschaft der Enkelgeneration beeinflussen, und dass trotz großer Diskrepanz zwischen den subjektiven Relevanzsystemen der Enkel eine in der Ausprägung kongruente Pflegebereitschaft geäußert wird. Fallübergreifende Merkmale wie z. B. das aktuelle Alter oder das Geschlecht des Enkels, ihr Alter zur Zeit des Pflegegeschehens, ihre damalige Wohnform oder die subjektive Bilanzierung des Pflegesettings, die mit der geäußerten Ausprägung der Pflegebereitschaft korrelieren, können nicht identifiziert werden. Das heißt, dass auch eine umfassende eigene Pflegebereitschaft weder auf die Abwesenheit von Überforderung noch auf ein positiv bewertetes Pflegesetting zurückgeführt werden kann. In der Literatur werden stellenweise geschlechtsspezifische Differenzen bei den Äußerungen zur Pflegebereitschaft genannt, was zum Teil damit erklärt werden kann, dass die in diesen Studien befragten Gruppen sich hinsichtlich des 357
Alters, des familialen Status, etc. unterscheiden. Nach Fuchs zeigen 90 % der Frauen und 80 % der Männer eine Bereitschaft zur Pflege der Angehörigen (vgl. Fuchs 1998, 394). Nach Schütze (1995, aufgeführt in: BMFSFJ 2002, 195) bekunden dies 79 % der Töchter und 40 % der Söhne. In einer Sekundäranalyse zur Berliner Altersstudie sind keine geschlechtsspezifischen Unterschiede ermittelt worden. Schütze und Wagner haben in dieser Studie jedoch einen Zusammenhang zwischen der geäußerten Pflegebereitschaft und dem konkreten Vorliegen von Pflegebedürftigkeit eines Elternteils nachgewiesen, denn angesichts nahe liegender Hilfebedarfe präferieren Kinder alter Menschen eher die Pflege im Heim (vgl. Schütze/Wagner 1995, 321). Auch die hier interviewten Enkel können sich aufgrund detaillierter und prägnanter Erfahrungen praktische Szenarien zukünftiger Pflegesituationen vorstellen, was allerdings nicht zu einer geringen Pflegebereitschaft führt. Wenn jedoch Fuchs weiterhin aufzeigt, dass Angaben zur Pflegebereitschaft von jüngeren Befragten durch die geringe Wahrscheinlichkeit des aktuellen oder zeitlich nahen Eintritts einer Pflegesituation beeinflusst werden können (vgl. Fuchs 1998, 392ff), sollte dies ebenso für die hier vorliegenden Befunde in Betracht gezogen werden. Ergebnis 18: Voraussetzungen zur Sorge- und Pflegebereitschaft: Familiale Unterstützung, Vereinbarkeit von Pflege und Beruf, offene Kommunikation des Themas Pflege und professionelle Dienste Unabhängig vom Ausmaß der eigenen Pflegebereitschaft stehen relevante Kontextbedingungen in direktem Zusammenhang mit der geäußerten Pflegebereitschaft der fünfzehn Enkel. Den größten Stellenwert hat dabei die ‚vorhandene familiale Unterstützung’, welche für acht Enkel von großer Bedeutung ist. Wie die Analyse der wissenschaftlichen Literatur in Kapitel 2.4.1 zeigt, ist der Stellenwert familialer Solidarität generell als hoch einzuschätzen. Generationensolidarität wird weiterhin auch für die multilokale Mehrgenerationenfamilie als zentrale Aufgabe im Rahmen familialer Funktionen gewertet (vgl. BMFSFJ 2003, 143). Höpflinger zählt beispielsweise sowohl die Quantität als auch die Qualität intergenerationeller Unterstützung in der modernen Gesellschaft zu den „erstaunlichsten Befunden“ (Höpflinger 2002a, 34) der Generationenforschung. Die Ergebnisse der hier durchgeführten Studie führen daher zu der Schlussfolgerung, dass die bereits schon vorhandene familiale Solidarität gesellschaftlich stärker erkannt und durch adäquate Rahmenbedingungen gezielter gefördert werden sollte. Angesichts der Relevanz dieser Kategorie für die eigene Pflegebereitschaft der hier interviewten Enkel ist davon auszugehen, dass ein entsprechendes soziales Klima sich positiv auf die Pflegebereitschaft auswirken 358
kann. Somit sind aus der Sicht der hier vorliegenden Befunde die folgenden Empfehlungen des 2. Weltaltenplans der Vereinten Nationen zu unterstützen: „Promote and strengthen solidarity among generations and mutual support as a key element for social development” (United Nations 2002, 17).
Dies könnte nicht nur zu einer nachhaltigen Stabilisierung schon vorhandener Pflegebereitschaft führen, sondern auch eine Basis für eine noch zu entwickelnde Pflegebereitschaft bei Familienangehörigen sein. Eine weitere wesentliche Rahmenbedingung für die hier interviewten Enkel ist die ‚Vereinbarkeit von Pflege und Beruf’, welche ausschließlich von Frauen genannt wird. Die Thematisierung einer Vereinbarkeitsproblematik ist aufgrund der Datenlage in der Literatur nachvollziehbar. So ist es empirisch belegt, dass die meisten Hauptpflegepersonen entweder gar nicht erwerbstätig sind oder ihre berufliche Tätigkeit eingeschränkt haben (vgl. Schneekloth 2005, 79). Diese Angaben entsprechen weiteren Daten, nach denen der Anteil der Erwerbstätigen in der Gruppe der Pflegenden niedriger ist als in der Gesamtbevölkerung (vgl. BMFSFJ 2002, 201). Da die Gruppe der pflegenden Angehörigen sich zu 80 % aus Frauen zusammensetzt (vgl. ebd., 195), sind diese in besonderem Maße von einer problematischen Vereinbarkeit von Pflege und Beruf betroffen. Die Schwierigkeiten bei der Abstimmung von häuslicher Pflege und Erwerbstätigkeit sind seit vielen Jahren bekannt. Dallinger, die den „Konflikt zwischen familiärer Pflege und Beruf aus handlungstheoretischer Perspektive214“ (Dallinger 1997) untersucht hat, weist darauf hin, dass es insbesondere aus frauenpolitischer Sicht kein Ziel sein kann, nach einer Familienphase und der darin inhärenten Kinderbetreuung nun gewonnene Freiräume „durch die ‚neue’, zweite familiäre Aufgabe ‚Elternpflege’ zu gefährden“ (ebd., 20). Die von Frau Vogt im Interview geäußerten Ambivalenzen drücken einerseits ihre generelle Haltung zur familialen Pflege und andererseits ihren diesbezüglichen Zwiespalt aus: „Klar, einerseits denk’ ich, das muss man machen. Und andererseits denk’ ich mal ‚Mensch, Du musst den Beruf aufgeben’; das ist ja superschwer, das miteinander hinzukriegen“ (Int. 6; 219).
Somit implizieren die hier vorgelegten Ergebnisse einen Handlungsbedarf hinsichtlich der Verbesserung einer Vereinbarkeit von Pflege und Beruf, 214 Es handelt sich bei diesem Zitat um den Untertitel ihrer Monografie.
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welcher auch in der Literatur zunehmend aufgezeigt wird. Beispielsweise wird im 4. Altenbericht ein Umdenken aufseiten der Arbeitgeber, Gewerkschaften und der Politik gefordert, um eine bessere Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und familialen Lebenswelten, insbesondere beim Vorliegen einer Pflegesituation, zu erreichen (vgl. BMFSFJ 2002, 363). Für knapp ein Drittel der hier interviewten Enkel ist eine ‚offene Kommunikation des Themas Pflege’ von Wichtigkeit, worauf bei der Darstellung von Ergebnis 24 näher eingegangen wird. Dabei ist die Pflegebereitschaft Jüngerer immer im Nexus mit den Neigungen der unterstützungsbedürftigen Personen zu sehen, denn wie in Kapitel 1.5 bereits ausgeführt, wird von der Großelterngeneration nicht jedes der eigenen Kinder als potenzieller Erbringer von Pflegeleistungen in Betracht gezogen (vgl. Pillemer/Suitor 2006, 439ff). Auch die hier vorliegenden Befunde bilden Dependenzen zwischen eigener Pflegebereitschaft und den Präferenzen der (heutigen) Elterngeneration ab. Diesbezügliche Inkongruenzen können zu ambivalenten Haltungen von Enkeln führen, wie es der Fall von Herrn Zumbrock verdeutlicht. Dieser Enkel äußert seine eigene Bereitschaft zur umfassenden Pflege, sieht sich aber mit einer divergierenden Vorstellung seiner Mutter konfrontiert: „Sie hat mal gesagt, sie möchte auf keinen Fall die ganze Zeit bei mir zu Hause sein, da würde sie durchdrehen (lacht). Das kann ich verstehen“ (Int. 15; 53). Aus Sicht der hier vorliegenden Befunde ist das ‚Matching’ im Sinne von einer Paarbildung von pflegebedürftigen und pflegenden Familienmitgliedern ein in der Forschung noch stärker zu behandelndes Thema. Professioneller Dienste sind für die überwiegende Anzahl der Enkel eine wesentliche Voraussetzung für ein zukünftiges gelungenes Pflegesetting oder für eine allgemeine Verpflichtung zur Pflege von Familienangehörigen. Von den drei Enkeln, die externe Dienstleistungen im Zusammenhang mit ihrer eigenen Pflegebereitschaft erwähnen, möchten zwei Enkel durch die Inanspruchnahme externer Dienste ihre eigene umfassende häusliche Pflegeleistung sicherstellen, und ein Enkel, Herr Metzger, seine persönlichen guten Erfahrungen mit einer Wohngemeinschaft für Demenzkranke wiederholen. Auf das Thema der professionellen Angebote wird im folgenden Abschnitt näher eingegangen.
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11.3.3 Pflegebereitschaft Anderer bei eigener Pflegebedürftigkeit der Enkel Ergebnis 19: Grundsätzliche Bereitschaft zur Sorgeleistung wird erwartet – Präferenz häuslicher Versorgung bei zwei Dritteln der Enkel Analog zu ihrer geäußerten Pflegebereitschaft wird von allen fünfzehn Enkeln im Falle einer eigenen Pflegebedürftigkeit eine grundsätzliche Sorgeleistung ihrer Angehörigen erwartet. Zehn der Enkel erhoffen sich darüber hinaus pflegerische Hilfen, während sich fünf Enkel eine Versorgung in einer stationären Einrichtung mit geeigneter Versorgungsqualität vorstellen. Werden aktuelle Präferenzen einer Versorgungsform bei Pflegebedürftigkeit abgefragt, so stehen für die Forschenden die Wünsche der zurzeit Pflegebedürftigen bezogen auf ihre eigene Person, sowie die Vorstellungen der sie pflegenden Angehörigen hinsichtlich dieser älteren hilfebedürftigen Generation im Fokus. Beide Gruppen favorisieren die ambulante Versorgung (vgl. Schneekloth 2005, 84). Allerdings geben diese Befunde noch keine Hinweise auf die Erwartungen jüngerer Generationen bezüglich der Pflege bei einer eigenen potenziellen Pflegebedürftigkeit. Ebenso werden in einer Studie von Sörensen und Zarit die jüngeren Generationen zur Ausgestaltung zukünftiger Pflegesettings befragt, diese Fragestellung bezieht sich jedoch nur auf die Pflege älterer Generationen (vgl. Sörensen/Zarit 1996, 43ff). Da jedoch von den fünfzehn hier interviewten Enkeln nur in einem Fall geäußert wird, dass diese Fragestellung zurzeit noch ‚kein Thema’ sei, wird deutlich, dass jüngere Menschen bereits Vorstellungen zu eigener Pflegebedürftigkeit entwickelt haben. Diese sollten bei weiteren Erhebungen verstärkt berücksichtigt werden. Die bei allen fünfzehn Enkeln erwartete Sorgeleistung von den Familienangehörigen macht deutlich, dass auch von den jüngeren Menschen der Familie die von Nave-Herz beschriebene Funktion eines dauerhaften Unterstützungsnetzwerks zugeschrieben wird (vgl. Nave-Herz 2004, 224). Ergebnis 20: Antizipation von Arrangements mit professionellen Diensten Dass professionelle Dienste in neun von fünfzehn Fällen ein relevantes Segment des antizipierten Pflegearrangements darstellen, macht deren Stellenwert im subjektiven Relevanzsystem der hier interviewten Enkel deutlich. Auch wenn bei der „gesellschaftlichen Herstellung von Pflege“ (Jansen 1999, 607) von einem teilweise spannungsgeladenen Verhältnis zwischen Laien und Professionellen ausgegangen wird (vgl. ebd.), weisen die hier vorliegenden Ergebnisse 361
dennoch auf die Notwendigkeit professionell erbrachter Dienstleistungen aus der Perspektive der Enkel hin. Diese Äußerungen sind jedoch stets im Nexus mit den von ihnen erwarteten Qualitätsstandards zu sehen. Dass die Existenz ausreichender flankierender Versorgungsangebote die Inzidenz häuslicher Pflege erhöhen kann, wird im Rahmen eines Ländervergleichs einer europäischen Forschungsstudie aufgezeigt215. Diese belegt erstens, dass insbesondere in Deutschland die Gruppen von Pflegebedürftigen zunehmen, die in einem geringeren Maß für die stationäre Pflege in Betracht kommen216. Zweitens zeigt sie auf, dass die Inzidenz familialer Pflege in den Ländern sinkt, in denen die häusliche Pflege durch eine hohe Eigenleistung und eine geringe Inanspruchnahme professioneller Dienste charakterisiert ist, was beispielsweise in den südeuropäischen Ländern der Fall ist. In skandinavischen Ländern wird dagegen eine Erhöhung der Inzidenz häuslicher Pflege gemessen, was u. a. damit erklärt wird, dass die Familienpflege in Skandinavien häufiger als in anderen europäischen Ländern als Arrangement mit komplementären professionellen Angeboten stattfindet. Daher sind nach Ansicht der Autoren ambulante Pflegeleistungen von professionellen Anbietern auch in Deutschland zur Förderung familialer Pflege zu extensivieren (vgl. Doblhammer et al. 2006, 3). Die aktuellen Daten der deutschen Pflegestatistik belegen den „Trend hin zur ‚professionellen’ Pflege in Heimen und durch ambulante Pflegedienste“ (Statistisches Bundesamt 2007, 4). Im Vergleich zum Jahr 1999 zeigt die Anzahl der ambulanten Pflegedienste eine Zunahme von 13,5 %, demgegenüber bei Empfängern von Pflegegeld ein Rückgang um 4,6 % zu verzeichnen ist. Generell hat sich die Quote der in der privaten Häuslichkeit Versorgten von 71,6 % im Jahr 1999 über 69 % im Jahr 2003 auf 68,2% im Jahr 2005 verringert (vgl.
215 In dem Projekt „FELICIE (Future Elderly Living Conditions in Europe)“ (Doblhammer et al. 2006, 3), der Europäischen Union werden Prognosen über den Bedarf an Pflege in den einzelnen Ländern erstellt und Überlegungen zu den damit verbundenen sozialpolitischen Konsequenzen erörtert. 216 Zur Bedarfsprognose werden drei Gruppen von zukünftigen Pflegebedürftigen mit unterschiedlichem Risiko einer institutionellen Pflege klassifiziert: Personen mit einem Partner und einem Kind bilden Gruppe Eins, welche mit einem geringen Risiko einer institutionellen Pflege bewertet wird. Gruppe zwei mit einem als moderat bewerteten Risiko der Umsiedlung in eine Institution umfasst zukünftige Pflegebedürftige mit einem Partner oder einem Kind. Zur Gruppe mit dem höchsten Risiko der Pflege im Heim werden Personen ohne die familialen Ressourcen ‚Kind’ oder ‚Partner’ geordnet. Nach den Analysen der Autoren steigt der Anteil der Pflegebedürftigen in Gruppe 1 und 2 bis zum Jahr 2030 in Deutschland am meisten, was sie als Indiz für die Dringlichkeit einer Optimierung von Unterstützungsmaßnahmen für die familiale Pflege werten (vgl. Doblhammer et al. 2006, 3).
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ebd.). Auch diese Angaben adressieren professionelle Pflege als wichtiges Segment einer zukünftigen Pflegeinfrastruktur. Interessant ist, dass Betreuungsarrangements mit dem Einbezug professioneller Pflegeleistungen für die hier interviewten Enkel nicht nur aufgrund einer Entlastungsfunktion für pflegende Angehörige befürwortet werden, sondern dass diese auch die Verbesserung der Lebensqualität der Erkrankten bewirken sollen. Außerhäusliche Betreuungsangebote werden als Option zur Gestaltung sozialer Beziehungen von Demenzkranken befürwortet, damit „man nicht nur eingekapselt in diesem Familien-, oder in diesem Pflegealltag ist, [...] sondern einfach auch mal was anderes sieht, hört, andere Menschen um sich hat“ (Int. 8; 95). Auch eine Wohngemeinschaft für demenziell Erkrankte bietet ein spezielles und für Erkrankte angemessenes Milieu: „Als Demenzpatient kann ich im Frühstadium im Altenheim noch Kontakte knüpfen oder Karten spielen, und zu Hause fühlt man sich wie das 5. Rad am Wagen“ (Int. 9; 107).
Somit werden im Zuge der Szenarienbildung zukünftiger Pflegesettings von den Enkeln die antizipierten eigenen Bedürfnisse als kranker Mensch in ihre Überlegungen integriert. Ergebnis 21: Diskrepanz zwischen eigener und erwarteter Pflegebereitschaft – Enkel möchten nicht ‚zur Last fallen’ Interessant sind die Diskrepanzen zwischen der eigenen Pflegebereitschaft der Enkel und den Erwartungen an die Bereitschaft Anderer, da nur in sieben von vierzehn Fällen eine Kongruenz der Ausprägungen der Meta-Variablen ‚eigene Pflegebereitschaft’ und ‚Pflegebereitschaft Anderer’ vorliegt. Dagegen ist in sieben weiteren Fällen die eigene Bereitschaft höher als die von den Angehörigen antizipierte, was bedeutet, dass die Hälfte der Enkel eine geringere Unterstützungsleistung von den zukünftigen Partnern oder Kindern erwarten, als sie bei den eigenen Eltern erbringen würden. Dieses Ergebnis lässt sich nicht explizit aus dem vorliegenden Datenmaterial begründen217, jedoch kann zur Erklärung berücksichtigt werden, dass sich ein Versorgungssetting mit eigenen Eltern in näherer Zukunft ereignen würde und sich somit auf aktuell schon 217 Die Enkel wurden im Interview nicht in Form einer Ad-hoc-Frage mit ihren divergierenden Angaben konfrontiert.
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vorhandene Personen bezieht. Eine potenzielle eigene Pflegebedürftigkeit fände dagegen in entfernterer Zukunft statt, und darin möglicherweise involvierte Personen wie beispielsweise eigene Kinder sind gegenwärtig noch nicht existent218. Über ein Drittel der Enkel möchte den Angehörigen später ‚nicht zur Last fallen’, wobei vier von ihnen die stationäre Pflege für sich selber favorisieren. Dieser Befund zeigt ein potenzielles Dilemma Pflegebedürftiger der ‚nächsten Generation’ auf, was am Beispiel von Frau Wessels veranschaulicht werden kann: Sie möchte eigene Angehörige nicht belasten, antizipiert die stationäre Pflege und erkennt gleichzeitig, dass es sich eigentlich hierbei um keine für sie akzeptable Lösung handelt. Neuere Studien zeigen, dass ehemalige pflegende Angehörige dazu tendieren, Belastungen ihrer Kinder zu vermeiden zu wollen (BMFSFJ 2005b, 169). Auch bei den hier interviewten Enkeln steht eine Präferenz der stationären Versorgung im Zusammenhang mit der Einstellung, den Angehörigen ‚nicht zur Last fallen’ zu wollen. Im Übrigen wird jedoch deutlich, dass die geäußerten Erwartungen der Enkel zur Pflegebereitschaft von Familienangehörigen nicht mit spezifischen personalen Merkmalen oder zuzuordnenden Erfahrungen in Zusammenhang gebracht werden können, sodass dieser Fragestellung in weiteren Erhebungen nachgegangen werden sollte. 11.3.4 Haltung der Enkel gegenüber einer generellen Verpflichtung zur Pflege von Familienangehörigen Ergebnis 22: Geteilte Meinungen zur ‚Pflichtpflege’ Wird eine generelle Verpflichtung zur Pflege von Familienangehörigen thematisiert, sieht knapp die Hälfte der Enkel keine moralische Verantwortlichkeit gegeben, während die weiteren acht Enkel Angehörigen eine grundsätzliche Verpflichtung zuschreiben. Von diesen ‚Befürwortern’ präferieren fünf Interviewte die oben schon beschriebene Sorgeleistung und die restlichen drei Enkel eine Verpflichtung zu pflegerischen Tätigkeiten, wobei sie einräumen, das ‚Prinzip sei gut, nur die Umsetzung sei schwer’. Es wird jedoch von ihnen das Potenzial gesehen, Familienangehörige dann zur Pflege zu ermutigen und zu befähigen, wenn die entsprechenden Rahmenbedingungen gegeben sind. 218 Sieben Enkel haben eine höhere Pflegebereitschaft angegeben als sie selber von Angehörigen erwarten würden. Partnerschaften liegen bei diesen Enkeln aktuell in drei der sieben Fälle vor, eigene Kinder sind in keinem dieser Fälle vorhanden.
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Beispielsweise sieht Herr Sommer eine obligatorische familiale Pflege als Chance, soziale Kompetenzen zu entwickeln. In Kapitel 11.1 wurden diesbezüglich bereits die Befunde von Leipold zum potenziellen Persönlichkeitswachstum im Handlungsfeld informeller Pflege genannt. Auch im 4. Altenbericht wird darauf hingewiesen, dass – hier bezogen auf männliche Partner als Pflegende – der Wunsch nach (der) Erweiterung sozialer Kompetenzen der Übernahme von Pflegetätigkeiten immanent sein könnte (vgl. BMFSFJ 2002, 194). Weiterhin betonen Koeppe et al., dass die Phase der Pflege aus der Retrospektive von Angehörigen unter Umständen als „eine der inhaltsreichsten und intensivsten ihres Lebens“ (Koeppe et al. 2003, 39) bilanziert wird. So kann an dieser Stelle gefolgert werden, dass familiale Pflege bei Demenz einerseits als potenzielles Feld zur Erweiterung personaler Wissensvorräte und lebensweltlicher Erfahrungshorizonte zu identifizieren ist. Andererseits ist diese Folgerung nur in Relation mit den zahlreichen empirischen Belegen zur Be- und Überlastung zu sehen, was darauf hinweist, dass passgenaue Unterstützungsmaßnahmen die häusliche Pflege flankieren sollten. Dies geht auch aus dem hier vorliegenden Datenmaterial hervor, denn nicht umsonst weisen die Enkel selber nachdrücklich auf die Relevanz verbesserter Rahmenbedingungen für familiale Pflege hin. Fallübergreifende Merkmale in Relation zu dem jeweiligen präferierten Verpflichtungscharakter von Angehörigenpflege sind in diesen fünfzehn Fällen nahezu nicht erkennbar. Lediglich eine Tendenz zur Befürwortung einer Verantwortlichkeit im Sinne einer Sorgeleistung von Interviewpartnern, die im Alter von Kindern oder Jugendlichen eine langjährige Pflege erlebt haben, ist zu verzeichnen. Ergebnis 23: Fehlende Voraussetzungen für eine ‚Pflichtpflege’: Freiwilligkeit, Vereinbarkeit von Pflege und Beruf, gesicherte Lebens- und Betreuungsqualität für Pflegebedürftige und Garantie adäquater Kompetenzen bei informell Pflegenden Unabhängig von der jeweiligen Ausprägung der als angemessen empfundenen Verantwortlichkeit werden von den Enkeln spezifische fehlende Voraussetzungen für eine obligatorische Einbindung von Angehörigen genannt. Die Problematik der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf wird von vier Enkelinnen als Barriere zur generellen Verpflichtung naher Angehöriger zur Pflege genannt. Werden die Darstellungen zur ‚Pflichtpflege’ und zur eigenen Pflegebereitschaft zusammengefasst betrachtet, geben insgesamt sechs Enkelinnen, d. h. über die Hälfte der weiblichen Teilnehmenden, dieses Dilemma als Hindernis für 365
familiale Pflege an. Hierauf wurde bei der Darstellung von Ergebnis 18 bereits Bezug genommen. Weiterhin begründen die Enkel ihre Haltung zur Verpflichtung zur Pflege damit, dass Freiwilligkeit die Voraussetzung funktionaler Pflegesettings sei. Frau Schwarz, die 22-jährig bereits sechs Jahre Erfahrung in häuslicher Pflege hat, sagt dazu: „Man kann für nichts gezwungen werden, was einen in seiner Lebensqualität so einschränkt219“ (Int. 10; 127). Schütze und Wagner haben ermittelt, dass die Haltungen der Kinder, d. h. der mittleren Generation, zur Übernahme von Pflege mit einer bereits vorhandenen Pflegebedürftigkeit in der Form korrelieren, dass beim Vorliegen eines Hilfe- oder Pflegebedarfs die stationäre Versorgung bevorzugt wird (vgl. Schütze/Wagner 1995, 321). Ausgehend von diesem Befund könnte für die Generation der Enkel angenommen werden, dass – wie im Falle von Frau Schwarz – die personale Erfahrung in diesem Feld zu einer eher ablehnenden Meinung hinsichtlich einer generellen Verpflichtung zur Pflege führt. Dies ist jedoch bei der hier vorliegenden Studie nicht der Fall, da sowohl Ablehnung als auch Befürwortung geäußert werden. Weiterhin liegen keine Korrelationen zwischen dem Vorliegen von Überforderung und der Gesamtbilanzierung vor, das heißt, dass von ehemals ‚guten’ oder ‚schlechten’ Erfahrungen nicht auf eine spezifische Haltung zu einer allgemeinen Verpflichtung geschlossen werden kann. Interessant ist, dass sogar eine bereits erlebte ‚Pflichtpflege’ keine ‚abschreckende’ Wirkung haben muss. Im Fall von Frau Klein, die zu einer generellen Verantwortung von Angehörigen sagt: „Die Vorstellung, dass das alle machen würden, find’ ich gut“ (Int. 4; 180), liegen Erfahrungen mit einer Pflegesituation vor, die aufgrund erbrechtlicher Regelungen bestand. Die aus dem ländlichen Raum kommende Enkelin drückt diese Situation aphoristisch wie folgt aus: „Wenn man den Hof hat, hat man die Mutter“ (Int. 4; 39). Zu beachten ist, dass die Enkel bei ihren Überlegungen die Lebensqualität bzw. Versorgungsqualität der Erkrankten berücksichtigen. So wird davon ausgegangen, dass nicht jeder die nötigen Kompetenzen zur Bewältigung dieser anspruchsvollen Pflegeaufgabe besitzt, und darüber hinaus das Risiko einer Vernachlässigung bzw. sozialen Exklusion der hilfebedürftigen Menschen mit Demenz bedacht, was Frau Wiesner anschaulich beschreibt:
219 Anmerkung: Beim Transkribieren der Interviews wurden keine grammatikalischen Korrekturen vorgenommen.
366
„Das wär’ ganz schlimm für viele, so ein unwillkommener Gast um Haus zu sein, der immer nur hin und her geschoben wird und dann die Wurst kriegt, die unbedingt weg muss“ (Int. 13; 107).
Die Literaturstudie zeigt auf, dass die Bedürfnisse und Präferenzen der pflegebedürftigen Menschen erst ansatzweise ins Kalkül für Berechnungen eines Pflegepotenzials und zur Szenariobildung zukünftiger Pflegesettings gezogen werden. Erhebungen, die gezielt diese Fragestellung bearbeiten, belegen, dass nicht jedes der Kinder von älteren Menschen als zukünftiger Erbringer von Pflege für sie infrage kommt (vgl. Pillemer/Suitor 2006, 439ff). An dieser Stelle kann überleitend zum nächsten Kapitel ein Ergebnis aufgeführt werden, welches weitere Entwicklungspotenziale andeutet: Ergebnis 24: Auf dem Weg zu generationengerechten Pflegesettings bei Demenz: Neue Generationen von Pflegebedürftigen und pflegenden Angehörigen mit erweiterten Erfahrungshorizonten Solidarische Generationenbeziehungen sind, wie oben dargelegt wurde, konstitutiv für die hier analysierten Pflegesettings bei Demenz. Die Analyse der Generationenbeziehungen zeigt beispielsweise den Nexus solidarischer Beziehungsmuster mit eigener umfassender Pflegebereitschaft, da alle neun Enkel, die eine umfassende Pflegebereitschaft äußern, selber bereits in hohem Maße solidarisch geprägte Unterstützungsleistungen der jungen und mittleren Generation an die hilfebedürftige ältere Generation erlebt haben. Grundsätzlich kann modellhaft erlebte Solidarität demnach die Zukunftsszenarien jüngerer Generationen beeinflussen. Weiterhin ist für alle Enkel, unabhängig von der Ausprägung der geäußerten Pflegebereitschaft, eine vorhandene familiale Unterstützung die wichtigste Voraussetzung für das antizipierte Pflegesetting. Somit darf, wie oben bereits mehrfach ausgeführt, erlebte und erwartete Generationensolidarität als relevanter Faktor für die Gestaltung bzw. die Planung von Pflegesettings bei Demenz gewertet werden. Fälle wie der von Frau Lindmann zeigen aber auch auf, dass Enkel ihrerseits Handlungsoptionen zur Beeinflussung von (ihrer Meinung nach) dysfunktionalen Pflegesettings benötigen, oder – mit Schütz gesprochen – dass sie ihren personalen Wissensvorrat belastungspräventiver Strategien im Dialog mit den älteren Generationen teilen möchten. Daher ist eine Genese von Pflegesettings, die den Bedürfnissen aller beteiligten Generationen gerecht werden, und die als generationengerechte Pflegesettings bezeichnet werden können, auch mit der 367
Weiterentwicklung der familialen Kommunikationskultur verbunden. Möglicherweise gestalten sich diese Transformationsprozesse innerhalb unterschiedlicher Milieus disparat (vgl. Heusinger 2006, 420f), was weiter zu untersuchen wäre. Allerdings ist grundsätzlich davon auszugehen, dass diese binnenfamilialen Dynamiken in Interdependenz mit intergenerationalen Aushandlungsprozessen auf gesellschaftlicher Ebene stattfinden (vgl. Lüscher 1993, 18; Rosenthal 2000, 166; Höpflinger 2002a, 34). Dass in Einzelfällen bereits erweiterte Wissensvorräte hinsichtlich eines partizipativen und generationenübergreifenden Dialogs vorhanden sind, macht die hier vorliegende Studie deutlich. Bei über einem Viertel der Enkel ist die eigene Pflegebereitschaft mit bereits gemachten Erfahrungen einer offenen Kommunikation über zukünftige Pflegeszenarios verbunden220. Wenn Frau Schwarz sagt „Ich würde viel offener zu ihnen sein, und, falls nötig, sagen ‘Du musst mal wieder duschen’” (Int. 10; 109), lässt dies auf eine veränderte Gesprächskultur in den nächsten Generationen pflegebedürftiger und pflegender Menschen schließen. Auch Sörensen und Zarit sind aufgrund ihrer Studie zu dem Ergebnis gekommen, dass nicht nur in der älteren und der mittleren Generation, sondern auch in der Enkelgeneration familiale Pflegebedarfe antizipiert werden. Nach ihrer Ansicht sind daher verstärkte Anstrengungen von politischen Akteuren und weiteren Meinungsbildnern notwendig, um zu dieser Thematik einen intergenerationellen Dialog zu initiieren (vgl. Sörensen/Zarit 1996, 60).
11.4
Zusammenfassende Leitlinien als Handlungsorientierungen im Praxisfeld
Die Befunde der hier präsentierten Arbeit können, auch beim Vorliegen einer begrenzten Anzahl von Studienteilnehmern, auf grundsätzliche Leitlinien im Praxisfeld der familialen Pflege bei Demenz aufmerksam machen. Dabei wird als Zielsetzung die Gestaltung eines generationengerechten Pflegesettings verfolgt, womit im Rahmen dieser Studie ein familiales Pflegegeschehen charakterisiert wird, das den Bedürfnissen aller drei Generationen gerecht wird. Die nachfolgend kursorisch aufgeführten Leitlinien fokussieren die Situation der 220 Es handelt sich um die Fälle von Frau Schwarz, Frau Feld, Frau Wiesner und Herrn Zumbrock.
368
Enkelgeneration und können als Handlungsorientierungen in professionellen und privaten Praxisfeldern eingesetzt werden (vgl. Philipp-Metzen 2006c, 33; 2006d, 49f). Beachtung potenzieller Involviertheit von Enkeln Die Effekte häuslicher Pflege demenziell erkrankter Großeltern auf Enkel sollten nicht negiert oder unterschätzt werden. Darüber hinaus sind die familialen Unterstützungsleistungen von Enkeln, auch wenn sie im Rahmen einer multilokalen Mehrgenerationenfamilie erbracht werden, wahrzunehmen und anzuerkennen. Der hohe Stellenwert generationenübergreifender Beziehungen und die zentrale Relevanz solidarischer Haltungen und Handlungen in den familialen Lebenswelten bei der Versorgung von Menschen mit Demenz ist zu berücksichtigen und hierbei zu bedenken, dass Enkel sich häufig als Teil eines ‚familialen Betreuungsteams’ erleben. Befähigung zur aktiven Teilhabe und Erweiterung des unterstützungsbezogenen Wissensvorrats Da eine personale Betreuungs- und Pflegekompetenz von den Enkeln als erstrebenswerte Fähigkeit gewertet wird, sind positive Erfahrungen zu fördern und ist eine Wissens- und Kompetenzerweiterung in diesem Handlungsfeld zu unterstützen. Da die Symptomatik der Demenz an sich nicht mit einem Belastungserleben für die Enkel verbunden sein muss, können Enkel – unter Beachtung adäquater Rahmenbedingungen – in den familialen Unterstützungsprozess integriert werden. Der Transfer von Wissen und Lösungsstrategien an die mittlere und die ältere Generation hat für die jungen Menschen einen besonderen Stellenwert, ist jedoch aufgrund von Barrieren, sich dieses Wissen anzueignen, auf Seiten dieser Generationen teilweise erschwert. Es sollte darauf geachtet werden, dass jüngere Generationen nicht in ein (für sie) dysfunktionales Setting eingebunden werden, ohne dass sie aktiv im Sinne einer Partizipation zur erfolgreichen Bewältigung der Situation beitragen können.
369
Diversität der familialen Lebenswelten: Individuelle Beratung Qualifizierung, sowie Akzeptanz personaler Ressourcen und Präferenzen
und
Aufgrund der hohen Diversität familialer Kontexte in Pflegesettings von Mehrgenerationenfamilien sind Beratungen und Schulungen lebensweltorientiert, d. h. auf den Einzelfall bezogen, zu konzipieren und durchzuführen. Die große Varianz personaler Ressourcen und eigener Präferenzen innerhalb der Enkelgeneration ist zu beachten, wenn Enkel an Betreuungsaktivitäten beteiligt werden. Dies kann beispielsweise für die praktische Beratungstätigkeit bedeuten, Informationen altersgerecht zur Verfügung zu stellen oder auf ein Desinteresse am Aufgabenkomplex ‚Unterstützung von Menschen mit Demenz’ eingestellt zu sein. Die Förderung der Eigenverantwortlichkeit und der Selbstbestimmung der Enkel und die Akzeptanz der Grenzen ihrer Unterstützungsbereitschaft sind zentrale Voraussetzungen für eine faktische Partizipation von Enkeln. Belastungsreduktion und Prävention von chronischer Überlastung können sich direkt oder mittelbar an die Enkelgeneration richten Enkel können mittelbar von allen Maßnahmen profitieren, die die Sorgearbeit im sozialen Gebilde Familie unterstützen und hierdurch Belastungen vorbeugen oder reduzieren. Daher sollten sich Interventionen zur Belastungsvermeidung bzw. -reduktion an alle vom Pflegegeschehen betroffenen Familienmitglieder richten. Da ein familiales Klima der permanenten Überforderung als potenzieller Belastungsfaktor für die Beteiligten in der Familie und somit auch für die Enkelgeneration einzuschätzen ist, bedarf es der Information über flankierende Entlastungsangebote und der Ermutigung zu ihrer Inanspruchnahme. Familien mit chronischer Überlastung benötigen in höherem Maße als bislang eine gesamtgesellschaftliche Solidarität und Verantwortlichkeit im Handlungsfeld der familialen Pflege bei Demenz, welche u. a. im Rahmen kommunaler Maßnahmen und freiwilligen Engagements im sozialen Nahraum ausgestaltet werden kann. Förderung der Pflegebereitschaft Die Bereitschaft zur familialen Sorgeleistung der Enkel schließt auch häusliche Pflegesettings bei Demenz ein, und beinhaltet darüber hinaus häufig die Bereit370
willigkeit, in einem ambulanten Pflegesetting mitzuwirken. Für die Gestaltung zukünftiger Pflegeszenarios ist auf eine Pflegekultur hinzuarbeiten, die beiden Geschlechtern gerecht wird und der eine verbesserte Vereinbarkeit von Pflege und Erwerbstätigkeit immanent ist. Benötigt werden weiterhin komplementäre professionelle Dienstleistungen mit fachlich angemessenen Qualitätsstandards, sowie eine generelle Kultur der Anerkennung familialer Unterstützungsleistungen und des partizipativen Generationendialogs.
371
12
Ausgewählte Aspekte von Praxisimplikationen
Es gehört zu den Zielsetzungen gerontologischer Forschung, „systematisch begründete praktische Mittel zur Unterstützung von Individuum und Gesellschaft [...] bereitzustellen [Hervorhebung im Original]“ (Kaiser 2003a, 33). Nachfolgend werden daher auf der Basis der genannten Leitlinien relevante Praxisimplikationen skizziert. Sie sollen als Ausgangspunkte für weitere wissenschaftliche und fachliche Konzeptionalisierungen, die im Rahmen dieser Arbeit nicht mehr berücksichtigt werden können, dienen. Die hier gewonnenen Erkenntnisse können dazu beitragen, die Lebenswelten der Enkelgeneration in Pflegearrangements im Kontext mit Demenz verstärkt wahrzunehmen und den generationenübergreifenden Dialog zu initiieren oder zu intensivieren, was nachfolgend anhand einzelner Aufgabenfelder dargestellt wird. Da die Untersuchungsergebnisse Überlastungssituationen aufgezeigt haben, werden ebenso erste Ansätze zur Belastungsprävention oder -reduktion genannt. Weiterhin können Hinweise zur Förderung der Pflegebereitschaft bei der heutigen Enkelgeneration abgeleitet werden.
12.1
Mehrgenerationenfamilien in der häuslichen Pflege bei Demenz als Querschnittsthematik
Die Ergebnisse dieser Studie implizieren, dass intergenerationelle Aspekte in häuslichen Pflegesettings bei Demenz generell eine stärkere Beachtung finden sollten. Dabei ist auf allen sozialen Ebenen durch gezielte Informationsvermittlung und Aufklärung auf eine Bewusstseinsveränderung hinzuwirken. Als Zielsetzung wird, wie bereits erwähnt, ein Wandel der pflegekulturellen Rahmenbedingungen in Richtung einer stärkeren Wertschätzung und partizipatorischen Einbindung von pflegenden Angehörigen aus allen Generationen angestrebt.
372
12.1.1 Bewusstseinsveränderung zu einer Kultur der Anerkennung für alle beteiligten Generationen Wie die Ergebnisse zeigen, geht die familiale Verantwortlichkeit bei der Betreuung demenziell Erkrankter in der Regel weit über einzelne pflegerisch-kompensatorische Hilfen hinaus. Die Familie erbringt im Rahmen ihrer sozialen Reproduktionsfunktion dabei wichtige volkswirtschaftliche Leistungen, z. B. durch die Förderung oder den Erhalt der physischen und psychischen Ressourcen ihrer Mitglieder. Die Ergebnisse der im ersten Teil dieser Arbeit zitierten Studien können im Sinne der Empfehlungen des 4. Altenberichts wie folgt zusammengefasst werden: „Die Leistungen der Familie [...] bei der Unterstützung, Pflege und Betreuung der älteren Generation [...] sollten gesellschaftlich und sozialpolitisch stärker anerkannt werden“ (BMFSFJ 2002, 362).
Gefordert wird eine öffentliche Debatte über den strukturellen Wandel in den Familien und in der Gesellschaft, wobei im Besonderen die problematische Vereinbarkeit vom Erwerbsleben mit familialer Pflege stärker medial kommuniziert werden sollte (vgl. ebd.). Diese Belastungen könnten durch veränderte Rahmengesetzgebungen und Arbeitsbedingungen für zukünftige Pflegesettings verringert werden, was einer gezielten Bewusstseinsbildung z. B. im Bereich betrieblicher Personalentwicklung bedarf. Weiterhin wird bei einem großen Teil der hier interviewten Enkel deutlich, dass Unverständnis im sozialen Nahraum zu einer Belastungszunahme führen kann. Auch diese Problematik kann durch gesellschaftliche Aufklärung und allgemeine Bewusstseinsbildung verringert werden. Aus der Sicht der hier vorliegenden Ergebnisse sollte insbesondere über die faktische Bedeutung und die möglichen Potenziale der Enkel als Beteiligte in Pflegesettings von Mehrgenerationenfamilien aufgeklärt werden. Auch wenn es sich bei der Enkelgeneration insgesamt um eine heterogene Gruppe handelt, deren konkrete und oftmals multilokale Hilfeleistungen strukturell schwierig zu erfassen sind, sollte ihre Präsenz im Pflegegeschehen weitaus stärker ins öffentliche Bewusstsein gebracht werden. Konzepte zur familialen Solidarität, die alle Generationen einschließen, fordert ebenso die Enquete-Kommission ‚Demographischer Wandel’, wobei sowohl die Situation der jüngsten als auch die der ältesten Generation, der Gruppe der Hochbetagten, zu berücksichtigen sei. Als Zukunftsszenario wird davon ausgegangen, dass die Familie auch zukünftig die dominante Lebensform bleibt, selbst wenn deren Ausgestaltung zunehmend variiert (vgl. Naegele 2002, 483). Um familiale Lebenswelten zu unterstützen, 373
sind in erster Linie die politischen Akteure gefragt, eine „koordinierte Generationenpolitik“ (Tesch-Römer et al. 2006b, 527) zu entwickeln: „Wünschenswert wäre eine Integration der bisher separat geführten politischen Handlungsfelder von Familien-, Kinder-, Senioren- und Bildungspolitik“ (ebd.). Dazu wird nach Ansicht der Autoren eine kooperative Haltung vonseiten des Staats, der Kirchen, der Wirtschaft sowie der Verbände benötigt (vgl. ebd.). Intergenerationelle familiale Unterstützungspotenziale zu identifizieren, die geleisteten Hilfetransfers anzuerkennen und sozialpolitisch stärker zu flankieren, bedeutet im Umkehrschluss nicht, dem sozialen Gebilde ‚Familie’ bei der häuslichen Pflege die alleinige Verantwortlichkeit zuzuschreiben. So kann aufgrund der hier vorliegenden Ergebnisse die Position des 7. Familienberichts vertreten werden: „Es wäre fatal, wenn sich die Politik aufgrund der insgesamt ausgeprägten Generationensolidarität unter erwachsenen Familienmitgliedern passiv zurücklehnen würde“ (BMFSFJ 2005b, 268).
Denn dies implizierte, sich bei Hilfe- und Pflegeleistungen „hauptsächlich auf die Familie zu verlassen und ihr – und vor allem den Frauen in der Familie – die Hauptlasten aufzubürden“ (ebd.). Fälle wie der von Frau Feld dokumentieren diesbezüglich prägnant, wie Familien in erster Linie aufgrund sozialer Isolation und fehlender Hilfen in eine Überlastungssituation geraten können. Hier sollte der Passus im Sozialgesetzbuch XI, der die „gemeinsame Verantwortung“ (BMG 2002, 18) für die Pflege betont, als Leitmotiv noch konsequenter verfolgt werden: In §8 Abs. 1 SGB XI heißt es dazu: „Die pflegerische Versorgung der Bevölkerung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe“ (BMG 2002, 18). Dass diese Prämisse aktuell noch nicht ausreichend realisiert wird, machen auch die hier vorgestellten Erzählungen der Enkel deutlich. Die notwendige öffentliche Meinungsbildung sollte multiperspektivisch erfolgen, denn zu fordern sind einerseits „eine Entlastung der Familie bei Hilfe- und Pflegeaufgaben“ (BMFSFJ 2005b, 268)221 und andererseits „auch eine offene Diskussion darüber, ob tatsächlich die ‚Scheinunabhängigkeit’ der häuslichen Pflege für alle Beteiligten die beste Möglichkeit darstellt“ (ebd.).
221 Während der Fertigstellung dieser Arbeit ist die beabsichtigte Reform der Pflegeversicherung Gegenstand zahlreicher Debatten und medialer Beiträge. Als Zielsetzungen werden vom Bundesministerium für Gesundheit u.a. eine verbesserte Unterstützung pflegender Angehöriger und die Stärkung der ambulanten Sektors gegenüber der stationären Pflege genannt (vgl. Zeit online 2007).
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Eine gesellschaftliche Sensibilisierung hinsichtlich der Thematik der informellen Pflege sollte geschlechterspezifische Aspekte nicht ausklammern. Für Hammer und Bartjes geht eine geschlechterbewusste Pflege mit der Identifizierung des Anteils männlicher Pflegender und einer generellen Aufwertung von familialen Sorgeleistungen einher. In diesem Zusammenhang sehen sie eine zentrale Bedeutung in der „Neuformulierung von Abhängigkeit und Bedürftigkeit als menschlicher Normalsituation“ (Hammer/Bartjes 2005, 15) und der Aufdeckung von „Unabhängigkeit und Autonomie als Fiktion“ (ebd.). Im Rahmen einer gesellschaftlichen Sensibilisierung sind ebenso die Grenzen familialer Leistungsfähigkeit im Kontext der Pflege bei Demenz zu reflektieren, was durch die in dieser Studie gewonnenen Ergebnisse belegt wird. 12.1.2 Paradigmenwechsel zu Partizipation und Generationendialog Damit die nötigen Bewusstseinsbildungen auf der mikro- und makrosozialen Ebene nicht ‚über die Köpfe der jüngeren Generation hinweg’ stattfinden, ist eine Einbindung dieser Zielgruppe im Sinne einer Partizipation erforderlich. Partizipation wird im Rahmen dieser Ausführung als „Teilhabe an [...] sozialen Entscheidungsprozessen“ (Schäfers 2001, 267) verstanden. Nach Schäfers haben Partizipationsbewegungen die „breitere Beteiligung der Öffentlichkeit, der Betroffenen“ (ebd.) und weiterer Gruppierungen im jeweiligen thematischen Kontext zur Zielsetzung. Hierbei reichen die Stufen der Partizipation von „der Informierung der Betroffenen, deren Anhörung und Mitberatung bis zur faktischen Mitwirkung“ (ebd., 268). Wo liegen mögliche Handlungsspielräume von Partizipation für jüngere Menschen in häuslichen Pflegesettings bei Demenz? Erstens ist das Informieren der Enkelgeneration zu garantieren, was der Installation struktureller Voraussetzungen, wie der Integration des Themas in schulische Lehrpläne oder Beratungskonzeptionen, bedarf. Zweitens ist die Anhörung und faktische Mitwirkung der jungen Menschen anzustreben, was sich wiederum auf die Ebene privater Familienbeziehungen, aber ebenso auf Teilhabeprozesse, z. B. mit Vertretern von Kinder- und Jugendgremien auf mesosozialer Ebene, beziehen kann. Letzteres ist eine Förderung des Generationendialogs innerhalb institutionalisierter Kontexte inhärent, womit der zurzeit noch häufig vorliegenden strukturellen Nichtbeachtung von Enkeln entgegengewirkt werden kann. Wie in Kapitel 2 erwähnt, haben „Projekte der Engagementförderung, die den Dialog der Generationen fördern“ (BMFSFJ 2005a, 380) hierbei einen besonderen Stellenwert. In Abschnitt 12.3 wird dazu exemplarisch ein Forschungsprojekt beschrieben, das zur Thematik ‚Älterwerden’ eine Plattform für partizipato375
rische Prozesse auf lokaler Ebene initiiert hat, welche auch zukünftige Versorgungsszenarien nicht ausklammert. Die Partizipation Betroffener ist ebenso ein Element der in Kapitel 1.4.3 beschriebenen Gesundheitsförderung in Form des Setting-Ansatzes. Sie bedeutet für pflegende Angehörige eine Teilhabe als verantwortliche und informierte Individuen, und beinhaltet belastungspräventive Hilfeleistung mit inhärenten Prozessen „zur Befähigung und Kompetenzstärkung von Einzelnen oder Gruppen“ (Kickbusch 2003, 186). Formen des hier skizzierten Empowerments sind als originäre Aufgabe kommunalen Handelns anzusehen, wenn die verfolgte Partizipationspolitik die Mitwirkungsbereitschaft der Bürgerinnen und Bürger stärken möchte. Was gegenwärtig zu den Standards stadtplanerischer Prozesse gehört, sollte allerdings verstärkt auf das Handlungsfeld der informellen Pflege übertragen werden (vgl. Philipp-Metzen 2006b). Auf der Basis der hier präsentierten Ergebnisse ist diese Forderung auf die Generation der Enkel zu erweitern.
12.2
Interventionen zur Reduktion von Belastungen und Prävention von Überlastung
Bei der Implementierung von Maßnahmen zur Belastungsreduktion oder prävention kann von zwei Zielgruppen ausgegangen werden. Als erste Gruppe sind die primär verantwortlichen Familienmitglieder zu adressieren, da deren Haltungen und Handlungen maßgebliche Effekte auf die Erfahrungen der Enkel in der Familie haben. Hierbei handelt es sich häufig um die Hauptpflegepersonen. Außerdem kann die Enkelgeneration als direkte Zielgruppe angesprochen werden, worunter die schon vom Pflegegeschehen betroffenen Enkel und die junge Generation als generelle Altersgruppe zu subsumieren sind. Beide Zielgruppen können durch verschiedene Maßnahmen erreicht werden, wobei die beiden Interventionsmodule ‚Beratung’ und ‚Schulung’ als klassische und etablierte Angebote von besonderem Interesse sind. 12.2.1 Beratung von Angehörigen in Pflegesettings Die vorliegenden Ergebnisse implizieren einen stärkeren Einbezug intergenerationeller familialer Beziehungsaspekte in die Beratung von betroffenen Erkrankten und Angehörigen bei Demenz. An dieser Stelle sollen einige grund376
legende Hinweise zum Praxisfeld ‚Angehörigenberatung’ gegeben werden, wobei es sich zurzeit um eine heterogene und stark segmentierte Beratungslandschaft handelt und eine verlässliche Datenbasis zur Anzahl und methodischen Ausrichtung von Beratungsstellen noch nicht vorliegt (vgl. Franke 2006, 371)222. Gröning unterscheidet vier Typen von Beratung. Erstens nennt sie die „klassische Sozialberatung“ (Gröning 2006b, 227), deren Konzept mit dem der „Sachberatung“ (ebd.) beschrieben werden kann, wobei institutionelle und instrumentelle Aspekte der Organisation des Pflegealltags im Vordergrund stehen. Eine bewusste Reflexion familialer Lebenswelten mit Einbezug der Generationenbeziehungen findet bei dieser mehrheitlich bei Behörden oder Wohlfahrtsverbänden angegliederten Beratung in der Regel nicht statt. Einen zweiten Typus bezeichnet sie als die „erweiterte Sozialberatung / Case-Management“ (ebd., 228). Zwar werden hier individuelle Situationen fallbezogen betrachtet und der Bezug von Leistungen im Rahmen des vorliegenden Versorgungsspektrums organisiert, jedoch wird nach Gröning auch hier vernachlässigt, dass die „Mehrheit der Konflikte in der häuslichen Pflege Bindungs- und Beziehungskonflikte sind“ (ebd.). Ein weiterer Typus wird von ihr als die „psychologische Beratung“ (ebd.) klassifiziert, die im Umfeld geriatrischer bzw. gerontopsychiatrischer Krankenhäuser entstanden ist. Als klinischer Beratungstyp und durch Ärzte oder Psychotherapeuten geleistet, handelt es sich um eine hochschwellige Form der Beratung, die in der Regel auf einer therapeutischen bzw. analytischen Ausbildung basiert. Gröning sieht den Stellenwert dieser Beratungsform „in der Bearbeitung besonders belasteter Pflegeverhältnisse mit neurotischen Verstrickungen, Abhängigkeiten und psychischen Problemen“ (ebd., 234). Mit der Zielsetzung, Aggressionen abzubauen oder Beziehungskonflikte zu verarbeiten, empfiehlt ebenfalls der 4. Altenbericht psychologische und psychotherapeutische Angebote für pflegende Angehörige (vgl. BMFSFJ 2002, 363). Eine „alltagsnahe, lebensweltorientierte und lebenslagenspezifische Beratung“ (Gröning 2006b, 234) enthält der vierte Typus, der als „psychosoziale und sozialpädagogische Beratung“ (ebd., 229) eingeordnet wird. Weitere 222 Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine Vielzahl von Beratungssequenzen außerhalb von explizit ausgewiesenen Beratungsstellen für pflegende Angehörige stattfinden. So nennt ein Informationsblatt der Stadt Münster für Menschen mit einer Demenzerkrankung und für ihre Angehörigen neben den ‚klassischen’ gerontopsychiatrischen Beratungsstellen auf einer zweiseitigen Liste weitere spezielle Ansprechpartner, z. B. für die Wohnberatung, für den Erhalt wirtschaftlicher Hilfen, für die Angelegenheiten im Rahmen der Schwerbehinderung, für die Unterstützung Trauernder, und vieles mehr (vgl. Sozialdezernat der Stadt Münster und Gerontopsychiatrische Beratung im Clemens-Wallrath-Haus 2005).
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Elemente dieser Beratungsform sind die Niedrigschwelligkeit, die Quartiersnähe und die Ausübung durch pädagogische oder sozialpädagogische Disziplinen. Viele Beratungsstellen dieser Form, die häufig explizit auf das Krankheitsbild Demenz ausgerichtet sind, halten ein multimodales Angebot für pflegende Angehörige bereit, das auch instrumentelle Hilfen wie Betreuungsdienste etc. beinhaltet. Sie können bei unterschiedlichen Trägern angebunden sein (vgl. ebd. 229). Die Integration der Enkelgeneration in den Beratungsprozess kann thematisch erfolgen, z. B. indem der Berater sich der intergenerationellen Beziehungsaspekte bewusst ist und diese den Anwesenden vermittelt. Enkel können dabei gleichfalls, wie oben genannt, als eigene Zielgruppe berücksichtigt werden. Analog zu den Ausführungen von Franke, die sich mit der Paarbeziehung beim Vorliegen einer Demenz beschäftigt hat, und die für einen stärkeren Einbezug von Beziehungsaspekten der Partnerschaft in die psychosoziale Angehörigenberatung plädiert (vgl. Franke 2006, 371ff), wird im Rahmen dieser Arbeit auf die Relevanz von Aspekten der Generationenbeziehungen hingewiesen. In der methodischen Umsetzung sind dazu Konzepte wie das in Kapitel 3.1 vorgestellte von Saltz hilfreich, in dem von einer bewussten und möglichst professionell begleiteten beidseitigen Neudefinierung der Rollen von pflegebedürftigen und pflegenden Familienangehörigen ausgegangen wird. Autonomiebestrebungen der Älteren sind mit sukzessive größer werdenden Hilfebedarfen in Einklang bringen, was Lernprozesse bei allen beteiligten Generationen erfordert (vgl. Saltz 2000, 51ff). Eine inhaltliche Integration von Aspekten, die Mehrgenerationenfamilien betreffen, kann in allen Formen der Beratung stattfinden, jedoch scheint die quartiersnahe und lebensweltorientierte psychosoziale Beratung für eine Implementierung besonders geeignet zu sein. Einer Definition von Böckelmann folgend, ist eine psychosoziale Beratung ein „zielgerichteter, situations- und lösungsorientierter Prozess“ (Böckelmann, zit. in: Franke 2006, 372) der auf eine Situationsveränderung in einer Problemlage abzielt. Wesentlich für die Neuorientierung des Ratsuchenden ist seine persönliche Kompetenzerweiterung. Weitere konzeptionelle Bestandteile einer psychosozialen Beratung sind ein vergleichsweise kurzer Zeitraum und eine konstruktive Beziehung zwischen Berater und Ratsuchendem (vgl. Franke 2006, 373f). Das bedeutet, dass innerhalb dieser einerseits umfassenden aber anderseits niedrigschwelligen Variante von Beratung über verrichtungs- und leistungsbezogene Aspekte im Pflegegeschehen hinausgegangen werden kann und relevante familiale Bezüge berücksichtigen werden können. Beispielsweise dürfte es ein wesentlicher Bestandteil gelungener Beratung sein, Familien bei einem konstruktiven Umgang mit 378
Konflikten, die, wie die Ergebnisse dieser Studie zeigen, u. a. im Rahmen von binnenfamilialen Aushandlungsprozessen auftreten können, zu unterstützen. Wie in Kapitel 1.4.2 geschildert, findet Beratung weiterhin durch Mitarbeiter häuslicher Pflegedienste statt. Hierbei führen die professionellen Pflegekräfte nach §37 Abs. 3 SGB XI häusliche Besuche zur Kontrolle der Pflegequalität der Angehörigen und simultan zu deren Beratung durch. Dieses für die Disziplin Pflege relativ neue Handlungsfeld der Beratung bedarf zwar noch der weiteren methodischen Ausgestaltung (vgl. Büker 2005, 12), wird aber im 4. Altenbericht als wichtige „Zwangsschnittstelle“ (BMFSFJ 2002, 257) zur lebensweltorientierten und somit einzelfallbezogenen Beratung identifiziert. Die durch die hier vorgestellte Studie gewonnenen Ergebnisse zeigen das Potenzial der Beratungsfunktion ambulanter Pflegedienste unabhängig davon, ob eine Informationsweitergabe im Rahmen expliziter Beratungssituationen oder im Kontext der Grund- oder Behandlungspflege erfolgt. Die im 4. Altenbericht für die Einsätze nach § 37 Abs. 3 SGB XI geforderte Beratungskompetenz sollte aufgrund der hier gewonnenen Erkenntnisse auch die jüngere Generation einschließen. Auf die Potenziale, die sich im Bereich der kultursensiblen Altenpflege für Familien mit Migrationshintergrund ergeben, kann im Rahmen dieser Ausführung nur kurz hingewiesen werden. Die besondere Generationendynamik infolge einer Migration sollte insbesondere bei lebensweltorientierten Beratungsangeboten ausreichend berücksichtigt werden. Hierzu bedarf es speziell auf die einzelnen Herkunftsländer ausgerichteter Angebote mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die eine Sensibilität bezüglich kultureller Differenzen und weitere Sprachkenntnisse benötigen, sofern sie nicht selber einen entsprechenden Migrationshintergrund haben (vgl. Stiftung Wohlfahrtspflege NRW 2004, 4). 12.2.2 Schulung von Angehörigen in Pflegesettings Weiterhin implizieren die hier vorliegenden Ergebnisse einen Einbezug generationenrelevanter Themen in das Handlungsfeld der Qualifizierung von Angehörigen223. Kostenlose Kurse für pflegende Angehörige finden u. a. als Leistung der Pflegeversicherung nach § 45 Abs. 1 SGB XI statt. Die curriculare Ausge223 Bei diesem Interventionsmodul ist zu beachten, dass Bildungsangebote oftmals auch Beratungsaspekte integriert haben oder, wie unter 1.4.2 beschrieben, als multimodale Interventionen mit Beratungssettings kombiniert werden.
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staltung dieser Qualifizierungen erfolgt nach § 45 Abs. 3 SGB XI in Form von Rahmenvereinbarungen der Landesverbände der Pflegekassen mit den Trägern der durchführenden Einrichtungen (vgl. BMG 2002, 46). Speziell auf die Pflege Demenzkranker bezogen kann exemplarisch als methodisch-didaktischer Hintergrund die Schulungsreihe der Deutschen Alzheimer Gesellschaft genannt werden. Hier werden ausführliche Informationen über den Verlauf der Erkrankung, über Angebote zur Entlastung bei häuslicher Pflege und über die Leistungen der Pflegeversicherung gegeben (vgl. Deutsche Alzheimer Gesellschaft/Janssen-Cilag 2002). Die aktuell angebotenen Qualifizierungen von Angehörigen werden von Gröning kritisiert, und die zugrunde liegenden Schulungskonzepte als „veraltet“ (Gröning 2006a, 43) bezeichnet. Vernachlässigt werden ihrer Meinung nach die Kontexte zwischen „häuslicher Produktivität, innerfamilialer Solidarität, Anerkennung und affektiver Bindung“ (ebd., 44). Weiterhin basierten die Kursusinhalte einseitig auf traditionellen Lebenskonzepten von Familie und negierten dabei die heutige Varianz der Familienformen, was nach Meinung der Autorin insbesondere die Neuorientierung von Frauen im Kontext der Erwerbstätigkeit betrifft. Nach Gröning sind die Kurse häufig „thematisch überfrachtet“ (ebd., 45), wobei die Vielzahl und Dichte der Themen sich dann als Barriere für eine persönliche, situationsangemessene Reflexion erweisen kann. Sie fordert einen erweiterten Bildungsbegriff bei der Qualifizierung von pflegenden Angehörigen, der die Geschlechterbeziehungen, die Beziehungsaspekte bei der Pflege von Partnern und das gesellschaftlich erzeugte Problem der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf explizit beinhalten sollte. Insbesondere ethische Kategorien des Verhältnisses von privater Pflege zu gesellschaftlichen Hintergründen dürften nicht ausgeklammert werden. Zu den didaktischen Implikationen gehöre weiterhin die Akzentuierung einer Reflexion eigener Erfahrungshintergründe anstelle einer „Expertenhaftigkeit und Professionszentrierung“ (ebd.). Wenn Gröning anführt, dass die Thematisierung familialer Kontextbedingungen verstärkt im Curriculum von Angehörigenqualifizierungen zu integrieren ist, wird dies durch die Ergebnisse der hier vorliegenden Studie bestätigt, allerdings sollte das thematische Spektrum dabei auf Generationenaspekte sowie speziell auf die Situation der Enkelgeneration erweitert werden. Das Schulungspersonal sollte Basiskenntnisse über familiale Lebensformen, z. B. das der multilokalen Mehrgenerationenfamilie, haben, und sich der Relevanz familialer Beziehungsmuster in intergenerationellen Pflegesettings bewusst sein. Erste Anregungen für die Gestaltung von psychoedukativen Programmen mit der Berücksichtigung von Generationenkontexten bieten die bereits erwähnten Ergebnisse von Hepburn et al. (2001) und Saltz (2000). Jedoch sind weitere 380
Konzepte erforderlich, die verstärkt auch nationale Rahmenbedingungen und kulturelle Spezifika berücksichtigen. Zu beachten ist, dass gerade zu Beginn der häuslichen Pflege ausführliche Informationen bereitzustellen sind, denn die Befunde der hier präsentierten Studie zeigen, dass ein Konfliktpotenzial gerade bei der Installation dieser Settings gegeben sein kann. Beispielsweise illustriert der Fall von Frau Klein die Genese familialer Konflikte infolge der Organisation der neuen Situation und der Notwendigkeit einer lebensweltlich nicht vertrauten Kooperation von Enkelin und Vater. Auch Frau Kaufmann erlebt in der frühen Phase der häuslichen Pflege Konflikte mit ihrer Großmutter, die durch eine frühzeitige und generationengerechte Information vermeidbar gewesen wären. Schulungsangebote für pflegende Angehörige als gesamte Zielgruppe können um Einzelmodule, die gezielt Kinder und Jugendliche ansprechen, erweitert werden. Bei einer altersgerechten didaktischen Darstellung ist mit einer positiven Resonanz zu rechnen, da die Wissensaneignung bei den Enkeln in häuslichen Pflegesettings generell positiv konnotiert ist, wie die hier vorliegenden Ergebnisse zeigen. 12.2.3 Weitere Interventionspotenziale Exemplarisch können als weitere Handlungsfelder lokale, familienflankierende Serviceleistungen und Projekte, sowie die Institution Schule und einzelne Sektoren der Sozialen Arbeit bzw. der Gesundheitsförderung aufgeführt werden. Lokale Serviceleistungen und Projekte Das im 7. Familienbericht im Kontext von Kinderbetreuung geforderte „Handlungsfeld flankierender Service für Familien“ (BMFSFJ 2005b, 472) sollte in weitaus stärkerem Maße um das Feld der familialen Pflege erweitert werden. Wenn die Expertenkommission des Berichts dazu ausführt, dass eine nachhaltige Familienpolitik „einen Dreiklang aus Zeitpolitik im Lebenslauf und in der Alltagszeit, der Entwicklung von integrativen Strukturen in Nachbarschaft und Gemeinde sowie finanziellen Transfers zur Sicherung der Zukunftsfähigkeit von Familie und Kindern“ (ebd., 5)
beinhalten muss, so kann dies ebenso als konstitutiv für den Teilaspekt der Pflege und Betreuung Älterer gelten. Aufgrund der potenziellen multigenera381
tionellen Betroffenheit durch ein häusliches Pflegesetting sollte insbesondere die Präsenz einer jungen Generation allen Dienstleistern oder Mitarbeitern der oben genannten Serviceangebote ins Bewusstsein gebracht werden. Konkrete Ansatzpunkte bieten beispielsweise Projekte wie die ‚lokalen Bündnisse für Familie’. Hierbei handelt es sich um ein familienpolitisches Projekt auf Bundesebene, das lokale Netzwerke initiiert, die „eine kinder- und familiengerechte Gestaltung des Lebens- und Arbeitsumfeldes in Städten und Gemeinden“ (BMFSFJ 2006b) als Zielsetzung beinhalten. Partiell wird hierbei zurzeit schon das Thema der häuslichen Pflege integriert, wie etwa im Pilotprojekt ‚Hanau’, wo eine Vermittlungsagentur Betreuungsangebote für „eine Entlastung berufstätiger Eltern und pflegender Angehöriger“ (ebd.) bereitstellt. Im Projekt wurde eine Initiative konzipiert, die auf der Basis von Freiwilligenengagement arbeitet, und deren Vermittlungsstelle „Zeitinseln“ (BMFSFJ 2007a, 26) Familien mit Pflegesettings adressiert. Jedoch zeigt die Durchsicht des Ergebnisberichts der vier Pilotprojekte (vgl. ebd.) und des Begleitmaterials „Online-Handbuch ‚Lokale Bündnisse für Familie’“ (BMFSFJ, o. Jg.), dass diese neuen Formen lokaler Bündnisse durch den inhärenten hohen Grad von Vernetzung und öffentlicher Präsens weitaus größere als bislang genutzte Potenziale zur Akzentuierung des Themas familialer Pflege bieten. Wie bereits erwähnt, kann durch eine verbesserte Unterstützung und Entlastung der Familien in Pflegesettings grundsätzlich auch die Situation der Enkelgeneration positiv beeinflusst werden. Hierzu bedarf es jedoch bedarfsorientierter professioneller Angebote auf hohem Qualitätsniveau. Die Aussagen der in dieser Studie interviewten Enkel belegen signifikant die Relevanz der Versorgungsqualität, da professionelle Dienste mit fachlich adäquaten Leistungsstandards als entlastend und gewinnbringend, wenig bedarfsgerechte oder qualitativ unzureichende Angebote jedoch als zusätzliche Belastung empfunden werden. Die Schnittstelle der informellen mit der professionellen Versorgung bedarf hierbei generell einer verbesserten Verzahnung (vgl. BMFSFJ 2002, 203ff). Inwieweit eine Optimierung dieser Pflegearrangements beispielsweise durch das neue Konzept des ‚Pflegebudgets’ erreicht werden kann, bleibt abzuwarten. Momentan werden in mehreren Modellregionen die Potenziale zur Verbesserung häuslicher Pflegesettings durch die Möglichkeit einer flexibleren Ausgestaltung erprobt, innerhalb der Pflegebedürftige bzw. Angehörige finanzielle Mittel verstärkt außerhalb des gesetzlichen Kanons der Pflegeversicherung einsetzen können (vgl. Kontaktstelle für praxisorientierte Forschung
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e. V. 2006, 1). Somit könnte auch hier eine Option zur Realisierung passgenauerer Unterstützungssettings in Mehrgenerationenfamilien vorliegen224. Einen weiteren Ansatzpunkt für kleinräumige Interventionen bietet das bundesweite Modellprojekt ‚Mehrgenerationenhäuser’, das eine lokale Begegnungsplattform zur Förderung generationenübergreifender Projekte und Kommunikationsprozesse bezeichnet. Unter dem Dach dieser Begegnungsstätten sollen u. a. gezielt familienunterstützende Angebote für alle Generationen lanciert werden225. Im Rahmen dieser Serviceleistungen und darüber hinaus im Bereich ihrer Bildungs- und Beratungsangebote eignen sich Mehrgenerationenhäuser nach Ansicht der Verfasserin geradezu beispielhaft, um neben der häuslichen Pflege auch Mehrgenerationenaspekte und die inhärenten Beziehungsdynamiken zu thematisieren. Aktuell sind die ersten 200 Mehrgenerationenhäuser genehmigt und teilweise schon in Betrieb, und ab Herbst 2007 sollen bundesweit, d. h. in jeder kreisfreien Stadt und jedem Kreis, insgesamt 439 Mehrgenerationenhäuser gestartet sein (vgl. BMFSFJ 2007b, 1). Zu einer neuen und zeitgerechten Pflegekultur gehören auch die in Kapitel 1.4.2 erwähnten Freiwilligenprojekte im Bereich von Pflege und Demenz. Exemplarisch sei hier noch auf das Projekt „Pflegebegleiter“ (Bubolz-Lutz/Kricheldorff 2006, 86) hingewiesen, in dem freiwillig Engagierte mit einer Basisqualifikation pflegende Angehörige ermutigen und begleiten. Pflegebegleiter wertschätzen und stützen die Angehörigen, und verstehen sich als integratives Bindeglied zur Außenwelt (vgl. Bubolz-Lutz/Kricheldorff 2006, 86ff). Beispielhaft soll anhand dieses Projekts darauf aufmerksam gemacht werden, dass aus Sicht der hier vorliegenden Befunde auch bei freiwillig Engagierten zumindest eine rudimentäre Kenntnis über familiale Beziehungen und die Situation von jüngeren Generationen in Pflegesettings vorliegen sollte. Die Institution Schule Eine gezielte Wissensvermittlung zum Krankheitsbild Demenz und zu den damit verbundenen Betreuungserfordernissen kann sowohl für bereits betroffene 224 In einigen europäischen Nachbarländern ist diese Form von direkten finanziellen Transferleistungen an pflegebedürftige und behinderte Menschen bereits vor ca. zehn Jahren eingeführt worden. Dabei wurde u. a. deutlich, dass ein umfangreiches Beratungsangebot eine wesentliche Voraussetzung zur Implementierung darstellt (vgl. Loeken 2006, 30ff). 225 Ausführliche Information zum Projekt Mehrgenerationenhäuser bietet auch die Internetseite: www.mehrgenerationenhaeuser.de.
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Kinder und Jugendliche als auch prophylaktisch für alle jungen Menschen als sinnvoll erachtet werden. Aufgrund des demografischen Wandels und der Häufigkeit der alterskorrelierten Krankheit Demenz ist davon auszugehen, dass die Mehrzahl junger Menschen entweder im familialen oder im weiteren sozialen Umfeld mit Pflegesituationen in Berührung kommen wird, sodass jüngere Generationen die Chance erhalten sollten, ihren Wissensvorrat zu erweitern und somit gezielter und bewusster mit Erkrankten und Pflegenden umzugehen. Wegweisend ist die Zielgruppe junge Menschen im Rahmen der Kampagne ‚Verstehen Sie Alzheimer?’ berücksichtigt worden, die im Raum München durchgeführt wurde226. Im Verlauf der Aktion wurden Schulen angeregt, das Thema aufzugreifen, wofür vorab Unterrichtsmaterialien in Zusammenarbeit mit Bildungseinrichtungen erstellt wurden. Eine Postkartenserie, die verschiedene Adressatengruppen abbildet, enthält u. a. eine Abbildung eines achtjährigen, ernst blickenden Jungen, welcher fragt: ‚Warum kennt mich die Omi nicht mehr?’ (vgl. Alzheimer Gesellschaft München e.V. et al. 2005, 8). Wie in Kapitel 3.3. ausgeführt, gibt es mittlerweile außerdem vereinzelte methodisch für Schulklassen entwickelte Materialien (vgl. Deutsche Alzheimer Gesellschaft e. V. 2005, 5; Schnabel/Dirksen 2006). Die Institution Schule könnte darüber hinaus als Impulsgeber für die Anbindung quartiersnaher Freiwilligenprojekte genutzt werden. Im Rahmen von Kooperationen zwischen Projektträgern und Schulen können praktische Hilfeeinsätze oder Hospitationen bei Selbsthilfeorganisationen und Wohlfahrtsverbänden mit gezieltem Wissenserwerb und didaktischer Nachbereitung verbunden werden. Erfahrungen von Freiwilligenprojekten im Bereich Demenz (vgl. Philipp-Metzen 2006a, 81ff; Gräßel/Schirmer 2006 217ff) können hier übertragen werden. Soziale und sozialpädagogische Arbeit Die Schnittstelle von Sozialer bzw. Sozialpädagogischer Arbeit und Demenz ist eine breite, da nahezu in jedem Verwandtenkreis und sozialem Umfeld von Klienten Sozialer Arbeit Menschen mit demenziellen Erkrankungen vorhanden sein können (vgl. Karl 2005b, 131). Perspektivisch sehen auch Zemann und Schmidt im Bereich Sozialer Arbeit u. a. eine Prioritätenverlagerung hin zur 226 Die Veranstalter waren die Alzheimer Gesellschaft München e.V., das TTN Institut Technik, Theologie, Naturwissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München und die Stadt München.
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Lebensphase Hochbetagtheit. Soziale Arbeit ist hier beispielsweise im Bereich der Versorgung gerontopsychiatrisch Erkrankter gefordert, insbesondere bei pflegeflankierenden Angeboten und Projekten (vgl. Zemann/Schmidt 2001, 270f). Bei der Zielsetzung eines quartiersnahen Zugangs professioneller Interventionen zu pflegenden Angehörigen sind Sozialarbeit und Sozialpädagogik als Schlüsseldisziplinen gefragt, wobei nach Karl für den gesamten Bereich der „sozialräumlichen und intergenerativen Sozialen Altenarbeit“ (Karl 1999b, 380) die Bezugnahme auf die individuellen Lebenswelten und Biografien zu fordern ist, damit die nicht unerheblichen Potenziale zur Integration intergenerationeller Aspekte z. B. im Rahmen psychosozialer Beratungssituationen wahrgenommen werden können. Dabei ist für eine qualitativ fundierte Berücksichtigung generationenübergreifender familialer Aspekte wünschenswert, dass professionelle Mitarbeiter sich mit ihrem eigenen Referenzpunkt innerhalb des Generationengefüges auseinandersetzen (vgl. Karl 2004, 443). Die Umsetzung dieser Ziele innerhalb konkreter Beratungssituationen basiert auf den oben ausgeführten allgemeinen Hinweisen zur Angehörigenberatung. Allgemeine Gesundheitsförderung und Empowerment Wenn im 4. Altenbericht empfohlen wird, dass im Rahmen der Gesundheitsförderung Beratung für pflegende Angehörige „als ein Baustein von Präventionsprogrammen“ (BMFSFJ 2002, 362) entwickelt werden sollte, so ist diese Empfehlung auf der Basis der hier vorliegenden Ergebnisse zu unterstreichen227. Da im vorherigen Abschnitt bereits ausführlich auf das Interventionssegment ‚Beratung’ eingegangen wurde, werden an dieser Stelle kursorisch weitere Ansatzpunkte genannt, bei denen das Thema der häuslichen Pflege in Konzepte der Gesundheitsförderung integriert werden kann. Grundsätzlich sind aus der Sicht der hier vorgelegten Studie bei allen Maßnahmen zur Gesundheitsförderung, die im Rahmen des Setting Ansatzes mit dem Konzept des Empowerment228 arbeiten, bei Bedarf Aspekte intergenerationeller Unterstützungstransfers zu behandeln (vgl. Bubolz-Lutz/Kricheldorff 2006, 52ff). Auch das oben erwähnte Bundesprojekt ‚Lokale Bündnisse für 227 Prävention wird in der hier vorliegenden Arbeit nicht als gesundheitswissenschaftlicher Fachterminus sondern im allgemeinen Sinne von ‚Belastungsprävention’ als Vorbeugung und Verhütung von Krankleiten gebraucht. Informationen zur differenzierteren Erfassung von Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention sind z. B. enthalten in: BMG 2006, 6ff. 228 Auf das Konzept ‚Empowerment’ wird auch in Abschnitt 1.4.3 eingegangen.
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Familien’ enthält beispielsweise Teilsegmente zur Gesundheitsförderung, bei denen Interventionen zielgruppenspezifisch realisiert werden. Dies betrifft u. a. Familien mit Suchtproblemen, in sozialen Brennpunkten oder mit Migrationshintergrund. Allerdings wird das Thema der häuslichen Pflege bei den bisherigen Konzepten noch auf junge pflegebedürftige Menschen limitiert, wo von „Familien mit pflegebedürftigen sowie mit chronisch kranken Kindern und Jugendlichen“ (BMFSFJ o. Jg., 163) die Rede ist. Zu wünschen wäre, dass hier demenziell Erkrankte und in die Pflege Älterer involvierte Familien als zwei Zielgruppen explizit aufgeführt werden. Eine Fokussierung auf differenzierte Zielgruppen im Handlungsfeld der Gesundheitsförderung und Prävention favorisiert Wächter zur Verbesserung präventiven und sektorenübergreifenden Arbeitens. Exemplarisch nennt er dazu das Bund-Länder-Programm „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die Soziale Stadt“ (Wächter 2006, 14), in dem sozialraumorientierte Prävention umgesetzt werden kann. Wenn Wächter postuliert, dass gesundheitsfördernde Interventionen weitaus mehr in Programmen wie das der ‚Sozialen Stadt’ Berücksichtigung finden sollten, so kann das aus Sicht der hier vorliegenden Ergebnisse uneingeschränkt auf das Gebiet der Pflege und insbesondere der Pflege bei Demenz übertragen werden. Das Vorliegen einer familialen Pflege- und Betreuungssituation sollte dabei generell als eine lebensweltliche Variante im Herstellungsprozess von Familie berücksichtigt werden. Wie in Kapitel 1.4 beschrieben ist, wird die Methode des Empowerment von der Enquetekommission „Zukunft einer frauengerechten Gesundheitsversorgung in NRW“ (Landtag Nordrhein-Westfalen 2004) als Mittel einer geschlechterspezifischen Ansprache pflegender Frauen präferiert (vgl. ebd., 291ff). Aus Sicht der in der hier präsentierten Studie gewonnenen Ergebnisse ist zu wünschen, dass dabei auch die Auswirkungen auf die familialen Generationenbeziehungen unter Einbezug der Enkelgeneration berücksichtigt werden. Auch für das neue Gebiet der Gesundheitsberatung gilt, dass sie auf die Lebenswelten, d. h. die subjektiven Relevanzen und Sinnsetzungen der Klientinnen und Klienten eingehen muss, um zu Verhaltensänderungen zu führen. Das Ziel der Gesundheitsberatung bezogen auf den Ratsuchenden sollte sein, „gesundheitsförderliche Verhaltens- und Erlebensmuster in seinem Alltag zu stärken und gesundheitsbeeinträchtigende Verhaltens-, Denk- und Einstellungsweisen zu reduzieren bzw. zu minimieren“ (Brinkmann-Göbel 2005, 288).
Reduziert man Gesundheitsberatung nicht auf einen verengten funktionsbezogenen Ansatz sondern forciert nach Brinkmann-Göbel eine lebensweltlich orientierte Beratung in einer umfassenden Form, so besteht auch hier die Option, 386
familiale Spezifika, wie ein Pflegesetting bei Demenz, zu kommunizieren und zu reflektieren. Dies sollte bei Bedarf altersunabhängig für alle Generationen gelten.
12.3
Ansätze zur Förderung von Pflegebereitschaft
In diesem Kapitel werden Ansätze zu Förderung der Pflegebereitschaft nachfolgender Generationen aufgezeigt, die aus den Ergebnissen der hier präsentierten Studie abgeleitet werden können. 12.3.1 Förderung familialer Solidarität Im Rahmen der hier vorgelegten Analyse wird die Pflegebereitschaft der Enkel mit persönlicher Betreuungserfahrung als ein Element von Generationensolidarität definiert. Die Ergebnisse zeigen ein hohes Maß an eigener Bereitschaft zur Sorge- und auch zur Pflegeleistung sowie die Antizipation dieser solidarischen Handlungen bezogen auf ihre zukünftigen Angehörigen im Falle eigener Pflegebereitschaft. Die Wichtigkeit der Kategorien ‚Solidarität’ bzw. ‚familialer Zusammenhalt’ für das Erleben der häuslichen Pflege sowie der Kategorie ‚vorhandene familiale Unterstützung’ für die eigene Pflegebereitschaft wurde bereits beschrieben. Die Familie wird in hohem Maße als lebenslange personale Ressource für Hilfetransfers betrachtet. Die Ergebnisse weisen daher u. a. auf die Notwendigkeit hin, zur Realisierung vorhandener familialer Unterstützungsbereitschaft mit adäquaten Rahmenbedingungen auf gesellschaftlicher Ebene beizutragen. Da diese Schlussfolgerungen bereits besprochen wurden, soll an dieser Stelle darüber hinaus noch ein internationaler Bezug hergestellt werden. Wie in Kapitel 2.1.5 dargelegt wurde, wird der Stellenwert familialer Solidarität nicht nur in Deutschland, sondern ebenfalls auf europäischer und globaler Ebene als sehr hoch eingestuft. Exemplarisch belegen dies die Ausführungen der Europäischen Kommission im Grünbuch zum demografischen Wandel (vgl. Commission of the European Communities 2005) und die Empfehlungen der Vereinten Nationen im 2. Weltaltenplan (vgl. United Nations 2002, 35). Beide Expertisen erwähnen jedoch für die westlichen Industrienationen außer den Potenzialen auch die Risiken häuslicher Pflege wie z. B. in Form von Überlastung und Benachteiligung im Erwerbsleben, wobei im Grünbuch zum demografischen Wandel insbesondere auf die Rolle der Frauen bei 387
der Erbringung von Hilfe- und Pflegeleistungen für Ältere und Hochbetagte hingewiesen wird. Da diese Unterstützungspotenziale limitiert sind, werden explizit Grenzen familialer Pflege benannt: „Families will not on their own be able to solve the matter of caring for these people” (Commission of the European Communities 2005, 10). Dies führt zum Postulat: „Families must therefore be supported to a greater extent“ (ebd.). Die im vorherigen Kapitel bereits dargestellten lokalen familienflankierenden Serviceleistungen und das Freiwilligenengagement stehen auch hier als Handlungsstrategien im Fokus, was zur Schlussfolgerung führt: „This is where social services and networks of solidarity and care within local communities come in” (ebd.). 12.3.2 Vereinbarkeit von Pflege und Beruf Ergebnisse der hier vorliegenden Untersuchung bestätigen die Relevanz einer besseren Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Pflege, wie sie in den Empfehlungen des 4. Altenberichts genannt wird (vgl. BMFSFJ 2002, 363). Dallinger kommt aufgrund ihrer Studie zu dem Schluss: „Solange es Ziel der Altenpolitik ist, ältere Menschen in der eigenen Wohnung durch Angehörige zu versorgen, muß sie die realen Voraussetzungen dafür im Blick haben und das heißt eben, die zunehmende Erwerbsbeteiligung eines wesentlichen Teiles der Pflegepersonen einkalkulieren“ (Dallinger 1997, 20).
Die Thematik einer Verbesserung der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf ist ein Segment der gesamten Aufgabenstellung zur Familienfreundlichkeit in Betrieben (vgl. Lasch 2005, 13), da zu einer „Work-Life-Balance“ (Prognos AG 2005, 1) neben der Sorgearbeit für Kinder ebenso die familialen Unterstützungsleistungen für ältere hilfebedürftige Familienangehörige zählen. Sind die betrieblichen Rahmenbedingungen familienfreundlich, so können sie häufig simultan als positiv für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf klassifiziert werden. Konkrete Interventionen für die Entwicklung von familienfreundlichen Unternehmen werden auf Bundesebene beispielsweise in der Initiative „Erfolgsfaktor Familie – Unternehmen gewinnen“ (BMFSFJ 2007c, 1) dargestellt. Diese Aktion hat die Zielsetzung, dass aus einer allgemeinen Aufgeschlossenheit gegenüber diesem Thema konkreter Alltag in möglichst vielen Betrieben wird, wobei Familienfreundlichkeit als Managementthema und als Markenzeichen der deutschen Wirtschaft eingestuft wird. Mittlerweile bieten knapp ein Viertel aller Unternehmen familienfreundliche Maßnahmen an, wie eine repräsentative Um388
frage gezeigt hat, die im Newsletter der Aktion aufgeführt wird229. Darunter fallen flexible Arbeitszeitmodelle oder Telearbeit, die Berücksichtigung familialer Erfordernisse bei der Einsatz- oder Urlaubsplanung, die Förderung des Wiedereinstiegs und das Angebot von Qualifizierungen und Vertretungstätigkeiten während der Elternzeit (vgl. ebd.). Wenn im 7. Familienbericht auf die Dringlichkeit von „Care-Zeiten“ (BMFSFJ 2005b, 465) als ‚Auszeiten’ im Erwerbsleben hingewiesen wird, so werden darunter sowohl Zeitabschnitte für die Betreuung von abhängigen Kindern als auch von hilfebedürftigen Partnern oder älteren Angehörigen verstanden (vgl. ebd.). Zu familienfreundlicheren Arbeitsbedingungen können auf kommunaler Ebene auch die bereits erwähnten ‚Bündnisse für Familie’ beitragen. Die dezidierte Behandlung des Themas Beruf und Pflege findet zurzeit erst in geringem Umfang statt. Dabei kann eine verbesserte ‚Work Life Balance’ für Arbeitnehmer als “Motor für wirtschaftliches Wachstum und gesellschaftliche Stabilität“ (Prognos AG 2005, 1) gewertet werden, worüber in weiten Teilen der Bevölkerung und der Entscheidungsträger jedoch noch Aufklärungsarbeit zu leisten ist. In einigen Unternehmen existieren mittlerweile konkrete Instrumente zur Bindung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit Pflegeaufgaben an den Betrieb, beispielsweise die Durchführung von Sozialberatung, die Bereitstellung oder Vermittlung haushaltsnaher Dienstleistungen, spezielle Aktionstage zur Behandlung des Themas oder empfohlene Gesundheitschecks (ebd., 18f). Um eine bessere Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Pflegeleistungen zu erreichen, haben Arbeitgeber, Gewerkschaften und politische Akteure eine gemeinsame Verantwortung (vgl. BMFSFJ 2002, 363). Eine Konzeption zur Implementierung pflegefreundlicher Strukturen nennt neben diesen Maßnahmen die „finanzielle Unterstützung“ (BMFSFJ 2000,35) für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und die „Schulung der Unternehmensführung“ (ebd.) als wichtige Schritte zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf. Eine mangelnde Inanspruchnahme von Angeboten wird dann in Aussicht gestellt, wenn diese an den „tatsächlichen Bedürfnissen der Betroffenen vorbeigehen“ (ebd., 51), weshalb „Stolpersteine“ (ebd.) bei der Implementierung zu beachten sind. Hierzu zählen beispielsweise ungünstige bzw. unflexible Öffnungszeiten für Betreuungsangebote, eine mangelhafte Kommunikation der bislang unbekannten Maßnahmen oder eine schwer verständliche Fachsprache, die nur spezielle Gruppen von Arbeitnehmern erreicht. 229 Durchgeführt wurde die Studie vom Institut der Deutschen Wirtschaft, Köln. Darin wurden Geschäftsleitungen und Personalverantwortliche von Betrieben befragt (vgl. BMFSFJ 2007c, 1).
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Als problematisch ist es ebenso einzustufen, wenn von Verantwortlichen auf verschiedenen Ebenen widersprüchliche Signale ausgehen, was beispielsweise der Fall sein kann, wenn unmittelbar Vorgesetzte unzureichend über neue Regelungen informiert sind. Auch sollten die Erwartungen an die Implementierung pflegefreundlicher Maßnahmen realistisch ausgerichtet sein (vgl. ebd., 51ff). Neben den Auswirkungen, die eine ungenügende Vereinbarkeit von Pflege und Beruf auf Arbeitnehmer haben können, wozu beispielsweise eine Erhöhung der persönlichen Belastung, eine Verminderung der Leistungsfähigkeit, eine Reduktion der Arbeitszeit oder eine Beendigung der Tätigkeit zählen, rücken zunehmend betriebswirtschaftliche Faktoren in den Fokus der Unternehmer. Die Effekte einer mangelnden Vereinbarkeit können für die Betriebe in einer Erhöhung von Fehlzeiten, einem Nachlassen der Produktivität und der Arbeitszufriedenheit der Arbeitnehmer und letztendlich im Verlust qualifizierter Kräfte und in den Kosten für die Neueinstellungen liegen (vgl. TGZ 2005, 5). Erfahrungen von betrieblicher Seite zeigen, dass das Durchschnittsalter und das Geschlecht der Belegschaft eine Rolle bei der Inanspruchnahme von Informationen und Angeboten zur besseren Vereinbarkeit spielen können. So konnte in einem Betrieb eine gute Resonanz erzielt werden, dessen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ein Durchschnittsalter von 47 Jahren und einen hohen Anteil von Frauen hatten. Jüngere Mitarbeiterinnen zeigten jedoch wenig Interesse (vgl. ebd., 15f). Um Zugang zu pflegenden Angehörigen in Betrieben zu erhalten, müssen diese zunächst sich selber dieser Zielgruppe zugehörig fühlen und sich somit als Anspruchsberechtigte für inhärente Leistungen und Entlastungsmaßnahmen definieren (vgl. Lasch 2005, 13). 12.3.3 Arrangements mit professionellen Diensten Die Antizipation zukünftiger Pflegesettings steht bei der überwiegenden Anzahl der hier interviewten Enkel in Zusammenhang mit professionellen Dienstleistungen. Dabei wird von ihnen in den Interviews ein breites Spektrum an persönlich erlebten Hilfen genannt. Das Kategorienbündel ‚positive Erfahrungen’ umfasst als pflegerische professionelle Dienste die Pflege in Wohngemeinschaften für demenziell Erkrankte, die ambulanten Pflegedienste, die Tagespflege und die Kurzzeitpflege. Im medizinischen Segment werden Ärzte und Gerontopsychiatrie als hilfreich angegeben. Interessant ist ebenso die Bedeutung von Hilfskräften im häuslichen Bereich, die in einem Drittel aller Fälle als konkrete Entlastung gewertet wird. Allerdings gehören Ärzte und ambulante Pflegedienste auch zu den belastenden Aspekten. Um die Pflegebereitschaft nachfolgender Generationen zu fördern, bedarf es folglich eines breiten 390
Spektrums qualitativ hochwertiger Angebote, die von den Nutzern, d. h. den Erkrankten und den Angehörigen, als hilfreich bewertet und somit auch eingeplant und nachgefragt werden. Der Ländervergleich einer europäischen Studie hat gezeigt, dass häusliche Pflege dort in ihrer Häufigkeit abnimmt, wo in geringerem Maße komplementäre Angebote kombiniert werden können (vgl. Doblhammer et al. 2006, 3). Dies lässt sich auch der Literatur (vgl. BMFSFJ 2005b, 169) und den Äußerungen der hier interviewten Enkel entnehmen, da ein großer Teil von ihnen den eigenen Angehörigen ‚nicht zur Last fallen’ und auf komplementäre professionelle Dienste zurückgreifen möchte. Eine stärkere Lebensweltorientierung könnte eine entscheidende Rolle für die Akzeptanz von professionellen Dienstleistungen spielen. Da das Pflegesetting die gesamten familialen Abläufe tangiert, braucht es Hilfen, die flexibel und passgenau die individuellen Alltagsbedarfe aufgreifen (vgl. Zemann 1997, 97; Jansen 1999, 608). 12.3.4 Generationenübergreifender Dialog Wie die hier vorliegenden Ergebnisse verdeutlichen, zeichnen sich beginnende Dialoge über potenzielle zukünftige Pflegesettings zwischen den Generationen ab. Es braucht allerdings weitaus mehr Impulse, damit zukünftige familiale Unterstützungsarbeiten häufiger generationenübergreifend antizipiert und reflektiert werden. Mitglieder der mittleren und der jüngeren Generation, die durch ihre Erfahrungen im Handlungsfeld der häuslichen Pflege bei Demenz einen erweiterten Wissensvorrat erworben haben, können modellhaft Praktiken zur erfolgreichen Bewältigung aufzeigen, aber auch die Limitierungen dieser Unterstützungssettings transparent machen. Das heißt, sie können in beide Richtungen regulierend wirken, sowohl ermutigend bzw. ‚infizierend’ im Sinne der Förderung von Bereitschaft als auch ‚ernüchternd’ im Sinne einer realistischen Einschätzung personaler und familialer Ressourcen. Als Zielsetzung gilt generell die bewusste Entscheidung für oder gegen die Übernahme der Pflege anstelle eines passiven Erleidens (vgl. Jansen 1999, 609), was aus Sicht der hier vorliegenden Ergebnisse insbesondere zur Prophylaxe von Überlastungsphänomenen notwendig erscheint. Einem offenen und generationenübergreifenden Dialog sind partizipative Elemente des interaktiven Lernens und des konstruktiven Umgangs mit Konfliktpotenzialen immanent. Diese sind mit der Methode des Empowerments, z. B. in Form von Beteiligungsprozessen, zu fördern. Auch nach dem 7. Familienbericht muss die Zielsetzung von Familienpolitik über die Gestaltung von flexibleren Zeiten für Erwerbstätige hinausgehen, sodass darüber hinaus „Parti391
zipations- und Gestaltungsmöglichkeiten“ (BMFSFJ 2005b, 465) der Familien im Gemeinwesen betont werden. Nötig sind lokale Formen der Bürgerbeteiligung, die sowohl Möglichkeiten des intergenerationellen Dialogs über als auch der Antizipation von Angehörigenpflege für Mitglieder jeder Generation implizieren. Dies kann exemplarisch an einer spezifischen Maßnahme verdeutlicht werden. Innerhalb des Forschungsprojektes „Älterwerden in Schauenburg“ (Karl/Aner 2006) wurden partizipatorische Prozesse initiiert und Plattformen zum Austausch über Themen im Nexus von Alter geschaffen230. Somit bestand für die Beteiligten z. B. die Gelegenheit, tradierte Formen familialer Pflege auf konkrete Umsetzungspotenziale zu hinterfragen. Vertiefende Interviews mit Erwachsenen im Alter von 40 Jahren und älter dokumentierten Einstellungen und Erwartungen der lokal ansässigen Bürgerinnen und Bürger. Unter anderem belegen die Ergebnisse dieser Interviews einerseits Bedauern über den – nach Meinung der Interviewten – geringer werdenden familialen Zusammenhalt, andererseits wird von den Untersuchungsteilnehmern Verständnis über veränderte Rahmenbedingungen privater Pflege geäußert, und es werden die konkret vorhandenen Optionen zur Umsetzung kritisch reflektiert (vgl. Karl/Aner 2006, 17). Innerhalb des oben genannten Forschungsprojekts wurden u. a. somit in partizipatorischer Form öffentliche Dialoge initiiert, die auch das Thematisieren der pflegerischen Versorgung ermöglicht haben. In Anbetracht der hier vorgelegten Ergebnisse ist zu hoffen, dass Projekte dieser Art und die dadurch ermöglichten Bewusstseinsbildungsprozesse zu einem rechtzeitigen Antizipieren potenzieller zukünftiger Pflegesettings von Mitgliedern der mittleren und der Enkelgeneration führen.
230 Dieses Forschungsprojekt beinhaltet u. a. eine multimethodische Studie zum Thema des Älterwerdens in Schauenburg, d. h. in den konkret vorliegenden lokalen Gegebenheiten im Umland von Kassel (vgl. Karl/Aner 2006).
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Resümee und Ausblick
Eine familiale Phase mit hilfe- oder pflegebedürftigen Großeltern ist für viele Familien zu einem Alltagsphänomen geworden. Dabei kommt dem Krankheitsbild Demenz unter den altersassoziierten chronischen Erkrankungen aufgrund der hohen Prävalenzrate und des schweren Krankheitsverlaufs ein besonderer Stellenwert zu. Die Intention dieser Studie war es, die Perspektive der Enkelgeneration bei dieser Form von familialem Unterstützungssetting aufzuzeigen. Die hier vorliegenden Befunde machen darauf aufmerksam, dass Enkelkinder in erheblichem Maße in die Versorgung demenziell erkrankter Großeltern involviert sein können, selbst wenn dies auf der Basis einer multilokalen Wohnsituation erfolgt. Daher wird in Anbetracht der Ergebnisse die Forderung explizit unterstrichen, diese spezifischen Unterstützungssettings in Mehrgenerationenfamilien mit ihren komplexen und generationenübergreifenden Beziehungsdynamiken verstärkt in die wissenschaftliche Theoriebildung von Familienentwicklung zu integrieren (vgl. Lauterbach 2004, 238). Insbesondere wird die Notwendigkeit gesehen, intergenerationelle Beziehungen bei Pflege- und Hilfebedarf nicht nur aus der Perspektive der älteren Generationen zu betrachten, sondern die Enkelgeneration als Beteiligte deutlicher wahrzunehmen. Dies kann dazu beitragen, dass Kinder seltener denken „[…] und keiner fragt nach, wie es mir geht“231, so wie es bei einer Enkeltochter aus der hier vorgestellten Studie früher der Fall war. Es wäre wünschenswert, wenn diese Arbeit dazu anregte, das Thema stärker in die Öffentlichkeit zu tragen und den jungen Menschen, die aktuell betroffen sind, das Gefühl zu vermitteln, dass es sich bei ihnen nicht um singuläre Erfahrungen handelt und dass sie mit ihrer Situation ‚nicht alleine gelassen werden’. Darüber hinaus benötigen Enkelkinder demenziell erkrankter Großeltern spezifische Beratungs- und Schulungsangebote, das heißt Interventionen zur Erweiterung ihres individuellen Wissensvorrates. Auf der Basis eines lebensweltorientierten Ansatzes ist hierzu deutlich geworden, dass die eigenen Bewertungen der Enkel zentral für ihr subjektives Erleben der familialen Situationen sind, da jedes Ereignis im Kontext des Pflegegeschehens 231 Zitat von Frau Feld aus der Dokumentation des telefonischen Erstkontakts.
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ihrer Auslegung bzw. Interpretation bedarf, welche im Rahmen ihrer lebensweltlichen Erfahrungshorizonte stattfindet (vgl. Schütz/Luckmann 2003, 33). Zielgruppenspezifische Interventionen können daher neben der Informationsvermittlung auch zu einer Modifizierung der subjektiven Relevanzsetzungen beitragen, und beispielsweise insbesondere bei ungünstig verlaufenden Pflegeprozessen und mangelnder Anerkennungskultur im familialen Netzwerk den Enkeln vermitteln, dass sie auf ihre personale und die familiale Leistung – umgangssprachlich ausgedrückt – ‚stolz sein’ können. Die Befunde dieser Studie zeigen auf, dass zur Entwicklung generationengerechter Pflegesettings eine Mehrebenenstrategie erforderlich ist, denn einerseits sind die binnenfamilialen intergenerationellen Beziehungen konstitutiv für eine erfolgreiche und langfristige Alltagsbewältigung im Pflegesetting. Andererseits sind familiale Großeltern-, Eltern- und Enkelgenerationen simultan auch als Gesellschaftsgenerationen dem Einfluss sozio-kultureller Kontexte und letztendlich dem herrschenden ‚Zeitgeist’ ausgesetzt. Konkrete Praxisimplikationen sind daher neben der individuellen Beratung und Schulung die gesamtgesellschaftliche Aufklärung und Sensibilisierung. Es gilt, einen präzisierten Generationenbegriff als Instrument mehrdimensionaler Handlungsoptionen zu erkennen und zu nutzen, und somit zeitgleich auf der Mikro-, Meso- und Makroebene zu wirken. Die Ergebnisse dieser Arbeit können neben der hier bereits durchgeführten Erhebung als Ansatzpunkte für weitere Untersuchungen dienen. Auch sollten Themen, die im Rahmen der hier vorliegenden Ausführungen nur gestreift werden konnten, in Hinblick auf die Enkelgeneration erforscht werden. Dies betrifft z. B. Pflegesettings im Kontext mit Demenz bezogen auf Familien mit Migrationshintergrund oder im Nexus der sozialen Lage bzw. des Milieus. Auch geschlechtsspezifischen Fragestellungen sollte nachgegangen werden, worunter u. a. die Vereinbarkeitsproblematik von Pflege und Beruf subsumiert werden sollte, welche in der Gruppe der hier interviewten Enkel nur von Frauen artikuliert worden ist. Aus gesellschaftskritischer Perspektive sind z. B. die geplanten Verbesserungen im Rahmen der Reform des SGB XI als solche zu hinterfragen. Handelt es sich womöglich um strukturelle Veränderungen mit dem inhärenten Effekt der normativ erweiterten Zuständigkeit von Angehörigen im Feld der Pflege232? Weitere Studien zum Thema der Mehrgenerationenfamilien im Handlungsfeld familialer Pflege bei Demenz sollten die Generationenbeziehungen 232 Gegenwärtig, d. h. im Sommer 2007, finden auf Bundesebene Spitzengespräche zur Reform des SGB XI statt, wobei unter anderem ein halbes Jahr ‚Pflegezeit’ für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ab einer spezifischen Betriebsgröße zur Diskussion steht.
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aus Sicht der Eltern- und Großelterngeneration untersuchen. Sofern dies methodisch möglich ist, sollten Menschen mit einer Demenz in solche Studien eingeschlossen werden. Wenn im 4. Altenbericht empfohlen wird, angesichts der lückenhaften Forschungslage Studien im Bereich der häuslichen Pflege über die „Pflegebereitschaft der erwachsenen Enkelgeneration“ (BMFSFJ 2002, 363) durchzuführen, so wurden bei der hier vorgelegten Arbeit Teilaspekte dieser Fragestellung berücksichtigt. Die Ergebnisse zeigen, dass bei den Enkeln in hohem Maße eine Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung für das Wohlergehen und auch häufig für die konkrete Pflege hilfebedürftiger, älterer Angehöriger vorliegt. Diese solidarischen Haltungen sind somit auch – oder gerade? – bei Mitgliedern der Enkelgeneration gegeben, die bereits Erfahrungen im Feld der Pflege demenziell Erkrankter gesammelt haben. Der Fragestellung, ob und unter welchen Umständen persönliche Erfahrungen im Handlungsfeld ‚Pflege bei Demenz’ zu einer höheren Pflegebereitschaft führen, sollte weiter nachgegangen werden. Insgesamt wird mit dieser Studie eindrücklich die potenzielle Leistungsfähigkeit der Enkel im Rahmen der sozialen Reproduktionsfunktion von Familie abgebildet. Wenn familiale Hilfetransfers auf einer „bedürfnisorientierten Solidarität“ (BMFSFJ 2005a, 284) basieren, zeigen die hier gewonnenen Ergebnisse die Option auf, bislang nicht abgerufene Ressourcen sozialpolitisch verstärkt einzukalkulieren. Diese Untersuchung weist jedoch ebenso auf die Heterogenität der Lebensumstände von Mehrgenerationenfamilien bei der häuslichen Pflege demenziell Erkrankter hin, weshalb eine Überstrapazierung bzw. Idealisierung familialer Leistungsfähigkeit und Unterstützungsbereitschaft ausdrücklich abzulehnen ist. Die Ergebnisse verdeutlichen nach Ansicht der Verfasserin, dass in diesem Handlungsfeld familialer Sorgearbeit die gesellschaftliche Solidarität einzusetzen hat bevor die familiale Solidarität ‚erschöpft’ ist. Generell bedarf es der aktiven Einbeziehung der jungen Generation, z. B. indem jungen Menschen häufiger als bislang die Gelegenheit gegeben wird, sich sowohl privat als auch öffentlich zu diesem Thema zu artikulieren. Wie die hier vorliegenden Ergebnisse verdeutlichen, reden sie dabei durchaus ‚Klartext’. Wenn beispielsweise ein Enkelkind davor warnt, dass zur Pflege verpflichtete Angehörige den hilfebedürftigen Familienmitgliedern ‚die alte Wurst, die keiner haben will’233 geben könnten, ist das unter Umständen in einer öffentlichen Diskussion aussagekräftiger als statistische Zahlen. Und wenn andererseits ein 233 Im Originaltext des Interviews: „[...] dann die Wurst kriegt, die unbedingt weg muss“ (Int. 13; 107).
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junger Mann bekräftigt, ein früher Einbezug von Enkelkindern sei als Chance für jüngere Generationen einzuschätzen, da diese hierbei verborgene Potenziale entdecken können234, so kann dies einen Kontrapunkt im oftmals inhaltlich verzerrten medialen Diskurs über Eigenschaften und Haltungen jüngerer Generationen setzen. Die Partizipation der Enkelgeneration kann dabei, wie die Praxisimplikationen in Kapitel 12 aufzeigen, nicht nur auf der Ebene von beispielsweise Talkrunden im Fernsehen, sondern ebenso wohnortnah und im Rahmen persönlicher Interaktionen, z. B. im Zuge kommunaler Altenhilfeplanung, realisiert werden. Die sozialpolitische Dringlichkeit des Themas der intergenerationellen Hilfetransfers für demenziell erkrankte Menschen ist aufgrund des demografischen Wandels, aber auch durch sozialpolitische Kontexte gegeben. Beispielsweise steht bislang im Reformprozess des SGB XI der Stellenwert pflegender Angehöriger im Gesetzeskontext nicht zur Disposition, welcher u. a. aus § 3 SGB XI hervorgeht: „Die Pflegeversicherung soll mit ihren Leistungen vorrangig die häusliche Pflege und die Pflegebereitschaft der Angehörigen […] unterstützen“ (§ 3 SGB XI).
Es ist davon auszugehen, dass auf der Basis der zitierten Zielsetzung und der damit verbundenen Leistungsgesetzgebung auch zukünftig die Rahmenbedingungen für familiale und intergenerationelle Hilfeleistungen im Kontext der Pflege demenziell erkrankter Menschen gestaltet werden, die Familie also als zentrale ‚Versorgungsinstanz’ bestehen bleibt. Daher ist für die Implementierung von lebensweltorientierten Maßnahmen zur Förderung von generationengerechten Pflegesettings zu plädieren, auch mit der Intention, die heute noch vorherrschende ‚strukturelle Ignoranz’ gegenüber der Enkelgeneration zu verringern und schließlich aufzuheben. Denn letztendlich gilt als übergeordnete Zielvorstellung, allen im Pflegesetting beteiligten Generationen durch flankierende Angebote gerecht zu werden.
234 Es handelt sich um die ‚abschließenden Wünsche’ im Interview von Herrn Sommer (Kapitel 9.11).
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Verzeichnis des Anhangs
Anhang in dieser Monographie Induktive Kategorienentwicklung 1. Kategoriensystem der induktiven Kategorienentwicklung nach der Analyse von fünfzehn Einzelfällen 2. Hauptkategorie ‚Roter Faden und Schlüsselaussagen im Interview’ (Seiten 1 und 2) 3. Gesamtüberblick: Häufigkeiten der Ausprägungen der Meta-Variablen 4. Gesamtüberblick: Häufigkeiten des Vorliegens der Kategorienbündel Deduktive Kategorienanwendung 5. Kategoriensystem der deduktiven Kategorienanwendung 6. Codierleitfaden: Aspekte familialer Generationenbeziehungen im Kontext des Pflegesettings 7. Gesamtüberblick: Induktive Kategorienbildung und deduktive Kategorienanwendung Die folgenden Teile des Anhangs finden Sie als OnlinePLUS unter http://www.vs-verlag.de Auswertung der Einzelfälle 8. Weitere Fallanalysen in der Langfassung Auswertung der Einzelfälle 9. Interviewleitfaden Induktive Kategorienentwicklung 10. Meta-Variable Gesamtbilanzierung (Seiten 1 bis 3) 11. Meta-Variable ‚Überlastung bzw. Überforderung’: Personale Differenzierungen 12. Meta-Variable ‚Überlastung bzw. Überforderung’: Inhaltliche Differenzierungen (Seiten 1 bis 3) 13. Kategorie ‚Belastungsprävention und -minderung’ (Seiten 1 bis 3) 14. Überblick: Meta-Variablen zur ‚Pflegebereitschaft und -verpflichtung’ (bezogen auf häusliche Pflege) Poster
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15. 16th Alzheimer Europe Conference, Paris, 30.06.06: Poster „The Experiences and Needs of young Carers. Findings of a new study“ 16. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie, Freiburg, 28.–30.09.06: Poster I „Dadurch bin ich meiner Großmutter näher gekommen“: Mehrgenerationen-Settings in der familialen Pflege bei Demenz – Erfahrungen der Enkel“. Poster II: „Ich würde viel offener zu ihnen sein“: Prospektive Pflegebereitschaft von Enkelkindern demenziell erkrankter Großeltern“.
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Kategoriensystem der induktiven Kategorienentwicklung nach der Analyse von fünfzehn Einzelfällen ERFAHRUNGEN UND BILANZIERUNGEN DER ENKEL
1
2
Spezifische positive Erfahrungen Betreuung der Erkrankten Guter Kontakt / pflegeleicht Familiale (Pflege-)Leistungsfähigkeit Positive Erlebnisse / Situationen Familiale Generationenbeziehungen Großeltern Positive Kindheitserfahrungen / Reziprozität Wertschätzung als Mensch Enkelgeneration untereinander Gesamtfamilialer Zusammenhalt / Zusammensein Elterngeneration Verständigung intragenerationell / Ehe Verständigung mit Enkelgeneration Verständigung mit Großelterngeneration Gelebte Normalität Lebensende: Abschied nehmen Familiales Umfeld Soziales Umfeld: Unterstützung / Verständnis Professionelle Hilfen Wohngruppe bei Demenz Selbsthilfe / Gesprächskreis Kurzzeitpflege Gerontopsychiatrie Tagespflege Pflegedienst Ärzte Seelsorge Hilfskraft / 24-Stunden-Kraft Hilfsmittel Spezifische belastende Erfahrungen Betreuung der Erkrankten Zeit vor / um Diagnose Pflege erschwerendes Verhalten Agitiertheit / Aggressivität Weglaufen / Selbstgefährdung / Kooperation Enkel allein mit Erkrankten Einzelne Symptome / Situationen Körperliche Pflege Zeitliche Belastung / Vereinbarkeitsproblematik Abbauprozesse Späte Phase / Ende Pflegesetting Umzug Altenheim Lebensende Familiale Generationenbeziehungen Großeltern
1 Mit Mehrfachcodierungen von Codiereinheiten. 2 Die Hauptkategorien sind hervorgehoben.
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Beziehung zu Erkrankten Mitleid / Hilflosigkeit bei Enkel Kein personales Erkennen / Verbundenheit Familienfeste Anderer Großelternteil Überfordert von Demenz / selbst krank Altmodisch / Generationenunterschiede Nicht genug lern- / kooperationsbereit / -fähig Nicht genug Anerkennung für Eltern Enkel / Elterngeneration Enkel und Elternteil: Problematische Beziehung Elterngeneration: Belastung / Verzicht Später selber Demenz? Wenig Zeit für Geschwister der Enkel Familiales Umfeld Einmischung / Kritik / keine Anerkennung Verwandten fehlt Wissen über Pflege Selten da / wenig Hilfe Soziales Umfeld Einmischung / Kritik / keine Anerkennung Sonstiges Professionelle Hilfen Arzt Pflegedienst Umgang mit Erkrankten Personaleinsatz / Zeitkorridore Altenheim Krankenkassen / finanzielle Hilfen Beratung Spezifische wertneutrale Erfahrungen Betreuung der Erkrankten Chronisch-progredienter Verlauf Hilfebedarfe / geleistete Unterstützung vs Autonomie Somatische Erkrankungen Organisatorische / rechtliche / finanzielle Aspekte Symptome Verhalten / Kommunikation Desorientiertheit / Vergesslichkeit Selbstgefährdung Formen der Betreuung Aufmerksamkeit / Aktivierung Mobilität / Körperpflege Hauswirtschaftlich Erkrankte in Betreuungs- / Pflegeeinrichtung Späte Phase / Lebensende Diverse Symptome / Situationen Abbauprozesse Institutionen Familiale Generationenbeziehungen Kindheitserfahrungen / Zeit vor Erkrankung Enkel: an Erkrankten / Familie wenig Interesse während Pubertät Beziehung vor Erkrankung Zeit nach Erkrankung Rolle der Enkelgeneration Enkel-Geschwister
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Intensivierung der Beziehungen / Kommunikation Generationenunterschiede / Gender Familiales Umfeld Wenig Verwandte / einzelne Interaktionen Verwandte haben keine Pflegekompetenz Soziales Umfeld Unterschiedliche Einzelbezüge Normen Mitschüler Professionelle Hilfen Gesamtbilanzierung Pflegesetting: positiv Pflegen als positives Erlebnis Familiale (Pflege-)Leistungsfähigkeit Lernen / Erkenntnisgewinn Pflegekompetenz / Umgang mit Demenz Soziale Verantwortung gelernt / übernommen Einstellung zu / Vorstellung von Alter / Demenz Für Beruf Durch Austausch / Selbsthilfe Pflegesetting: belastend Familiale (Pflege-)Leistungsfähigkeit? Hohes Ausmaß der Belastung Belastungsfaktoren Symptome / Verlauf Zeitliche Verpflichtung Sorgen / Hilflosigkeit / Mitleiden Spezielle Belastungen Pflegesetting: wertneutral Sorgfältiger Umgang/ Zeitliche Verpflichtung Lernen Erklärung für familiales Verhalten Profi-Pflege: keine Hilfe Pflegesetting: ambivalent Familiale Generationenbeziehungen: positiv Beziehung zu Erkrankten Guter Kontakt / ‚pflegeleicht’ Reziprozität Familialer Zusammenhalt Intensivierung der Beziehungen / gute Kommunikation Rolle Enkel / Rollenveränderung Eltern: Vorbeugung von Belastung bei Enkel Profi-Perspektive des Enkels Familiale Generationenbeziehungen: belastend Beziehung zu Erkrankten: Kontaktveränderungen / -probleme Rolle Enkel / Rollenveränderung Inter- / intragenerationelle Konflikte Familiales Umfeld: positiv Familiales Umfeld: belastend Soziales Umfeld: positiv Land bringt Vorteile Austausch / Familie kommuniziert Belastung Soziales Umfeld: belastend: Unverständnis / Weggucken
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Überlastung und Belastungsprävention Eigene / familiale Überforderung? Ambivalent Eigene / familiale Überforderung? Ja Dimension / Anzeichen Gründe Aggressivität / Vorwürfe Gefährdungen / Alleinverantwortlichkeit Spezielle Hilfebedarfe Familiale / finanzielle / zeitliche / berufliche Kontexte Eigene / familiale Überforderung? Nein Grundsätzlich nicht Ausnahmen Spezielle Gründe / Erfahrungen Professionelle Hilfe Nicht bei Enkelgeneration / Elterngeneration Nicht Überforderung, sondern Anforderung Erkrankte sind ‚pflegeleicht’ Mögliche Überforderung bei Anderen Beziehung / Umgang / Pflege Soziale / organisatorische Kontexte Präventive Strategien Gelebte Strategien / Haltungen Einstellung / Austausch / Lernen Distanz / Ausgleich / Hilfe Mögliche Strategien / Empfehlungen Einstellung / Austausch / Lernen Distanz / Ausgleich / Hilfe Professionelle Hilfen Konkrete Entlastungen / Maßnahmen Einstellung / Austausch / Lernen Familiale Unterstützung Tragfähiges soziales Umfeld Erwerbstätigkeit Bettlägerigkeit / Ende der Pflegesituation Professionelle Hilfen Ärzte Pflegedienst Tagespflege Kurzzeitpflege Hilfskraft / 24 Stunden Kraft Altenheim / Wohngruppe Seelsorge Finanzierung als Problem Pflegebereitschaft Eigene Prinzipiell / tendenziell ja Prinzipiell / tendenziell nein Ambivalent Nötige Voraussetzungen / Modifikationen Mit familialer / sozialer Unterstützung Spezifika familialer Pflege Anderer Prinzipiell / tendenziell ja Prinzipiell / tendenziell nein ambivalent
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noch kein Thema Nötige Voraussetzungen / Modifikationen Spezifika familialer Pflege Sich helfen lassen ist schwer Professionelle Angebote sind nötig Pflichtpflege Ja Prinzip gut, Umsetzung schwer Körperpflege Nein / Pflicht eher schlecht Einschränkungen der Ablehnung Fehlende Voraussetzungen für eine Umsetzung Ambivalent Bei Freiwilligkeit Vereinbarkeit Beruf Pflege Abschließende Wünsche Wünsche Einstellung / Reflexion / Lernen Familiale / soziale / fachliche Unterstützung Zeitliche / berufliche / finanzielle Kontexte Gesellschaftliche Dimension Verschont bleiben von Krisen und Konflikten Unverständnis / fehlenden Ressourcen Fehlende Auseinandersetzung Roter Faden / Schlüsselaussagen Betreuung von / Beziehung zu Erkrankten Familiale (Pflege-)Leistungsfähigkeit Situatives / personales Erkennen / Verbundenheit Erkrankte ‚pflegeleicht’ Erkrankte ‚pflegeschwer’ Zeitraum vor / nach Diagnose Einfühlungsvermögen / Sorgfältiger Umgang wichtig Auseinandersetzung mit Alter / Pflege / Demenz Familiale Generationenbeziehungen Funktion / Rolle Enkel Familienzusammenhalt / Intensivierung Beziehungen / Kommunikation Reziprozität Familiale Konflikte / Reibungen Überlastung Familiales Umfeld: Isolation Soziales Umfeld: Isolation Umgang mit Belastung / Präventive Strategien Reflexion / Lernen Professionelle Hilfe
417
418
11 - 15
12 - 22
16 - 23
16 - 22
16
26
28
23
Kores.
Multi.
Kores.
Kores.
Kores. Multi.
Kores. Multi.
Kores.
Überlastung Erkrankte: Pflege erschwerendes Verhalten Funktion / Rolle Enkel (negativ) - Überlastung - Soziales Umfeld / Isolation Personales Erkennen / Verbundenheit Fam. Generationenbeziehungen: Reziprozität Familiales Umfeld Erkrankte: Pflege erschwerendes Verhalten Familienzusammenhalt / Intensivierung Umgang mit Belastungen: Reflexion / Lernen
Sonstiges Betreuung Generationen Sonstiges
Erkrankte „pflegeleicht“ Familienzusammenhalt / Intensivierung Umgang mit Belastungen: Reflexion / Lernen Familiale (Pflege-)Leistungsfähigkeit Familiale Konflikte / Reibungen / Einfühlungsvermögen / Sorgfältiger Umgang Familienzusammenhalt / Intensivierung /*
Betreuung Generationen Sonstiges Betreuung Generationen Sonstiges Betreuung Generationen Sonstiges
Betreuung Generationen Sonstiges Betreuung Generationen Sonstiges
Familiale (Pflege-)Leistungsfähigkeit Funktion / Rolle Enkel (positiv) Soziales Umfeld Einfühlungsvermögen / Sorgfältiger Umgang Familienzusammenhalt / Intensivierung
Subkategorien
Betreuung Generationen Sonstiges Betreuung Generationen
Analysebereiche
„Sie war dankbar und nicht frech“ (58) Es war „eine superschöne Zeit“ (195) „Ich hab’ viel gelernt, auch pflegerisch, glaub' ich“ (195) Sie haben das insgesamt „gut gewuppt“ (62) „Das Anstrengendste ist der Opa [gesunder Großelternteil und Hauptpflegeperson] mit seinen Thesen“ (56) / „Zeit [für Erkrankte] nehmen“ (23) Es haben „alle mit angepackt“ (85) /
Schlüsselaussagen (Die Belegstellen der ausgewählten Zitate werden in Klammern angegeben und nennen numerisch den Absatz im Transkript des konkreten Falls) „Man hat was Gutes geleistet“ (151) Er ist „nicht mehr der kleine Junior“ (100) „Ländliche Umgebung und familiäre Strukturen“ (16) „Es war supergemein, aber es ging nicht anders“ (26) „Wir mussten [...] als Familie unheimlich viel zusammen halten“(24) „Da sind auch viele Tränen geflossen“ (21) „Wie sie mit dem Messer vor mir stand, [...] das vergisst man nicht“ (55) „Dass unsere einzige Tochter es hier nicht mehr aushält“ [Tochter zitiert Mutter] (78) „Ihre Frau geht vor die Hunde [Tochter zitiert Hausarzt]“ (35) und „Meine Mutter hatte gar kein Leben mehr außerhalb“ (9) „Ob sie überhaupt wusste, wer ich noch war“ (135) „Die hat doch auf mich auch früher aufgepasst“ (16) „Wenn man den Hof hat, dann hat man die Mutter“ (39) „Lass’ mich in Ruh, du alte Hexe“ (7) „Es war immer jemand da"“ (23) „Ich hab’ dadurch echt was gelernt“ (129)
Hauptkategorie ‚Roter Faden im Interview und Schlüsselaussagen’ (1)
Koresidenz / Multilokalit. Kores. Multi.
* kein Haup tthema in diesem Analysebe reich
26 - 27
27
Fall 4 Frau Klein Fall 5 Frau Kaufmann Fall 6 Frau Vogt Fall 7 Frau Lindmann Fall 8 Frau Helling
11 - 17
17 - 21
21
35
18 - 32
Fall 3 Frau Feld
Fall 1 Herr Ottfried Fall 2 Frau Müller
Alter bei Pflege
Alter bei Interview 33
419
15 — 23 28 - 34
27 - 29
35
29
Fall 14 Frau Wessels Fall 15 Herr Zumbrock
Multi.
Kores. Multi.
Multi.
Kores.
Multi.
Kores.
Funktion / Rolle Enkel (positiv) / / - Funktion / Rolle Enkel (positiv)
Generationen Sonstiges Betreuung Generationen
- Familienzusammenhalt / Intensivierung / Einfühlungsvermögen / Sorgfältiger Umgang Familienzusammenhalt / Intensivierung / Auseinandersetzung mit Alter / Pflege / Demenz / Umgang mit Belastung / präventive Strategien
/* - Familiale (Pflege-)Leistungsfähigkeit - Personales Erkennen / Verbundenheit
Sonstiges Betreuung
Sonstiges Betreuung Generationen Sonstiges Betreuung
Professionelle Hilfe: Ambulante WG Familiale (Pflege-)Leistungsfähigkeit Familiale Konflikte / Reibungen Überlastung Familiale (Pflege-)Leistungsfähigkeit - Funktion / Rolle Enkel (positiv) - Familienzusammenhalt / Intensivierung
- Familiale (Pflege-)Leistungsfähigkeit - Situatives Erkennen / Verbundenheit Funktion / Rolle Enkel (positiv)
Subkategorien
Sonstiges Betreuung Generationen Sonstiges Betreuung Generationen
Generationen
Betreuung
Analysebereiche
Schlüsselaussagen (Die Belegstellen der ausgewählten Zitate werden in Klammern angegeben und nennen numerisch den Absatz im Transkript des konkreten Falls) „Mein Vater ist super damit umgegangen“ (89) und „Er [Großvater] hat eben auch noch viel gelacht“ (37) Begleitung zur Toilette? Das hat „mein Vater immer gemacht“ (51) Man wusste, er ist „in guten Händen“ (77) „Papa war immer so kompetent“ (81) „Dann hat Papa das Lenkrad festgehalten“ (9) „Und meine Eltern waren nicht da“ (75) Auf die Toilette setzen „ist kein Problem“ (62) - Guter Ansprechpartner, weil „Zivildienst gemacht“ (43) - Absprache in Familie: „Mach’ Du mal bis fünf Uhr, dann komm’ ich nachher“ (54) / - „Da hat sie [Mutter] halt unheimlich Know-how“ (47) - „Dadurch bin ich ihr [Großmutter] auch näher gekommen [...] und das genieß’ ich auch“ (9) Das Verhältnis zur Großmutter „ist wesentlich positiver geworden“ (141) / / - „Auf meinen Opa aufgepasst und [...] fünf oder zehn Mark damals bekommen“ (29) - „Und es sind alle ganz offen damit umgegangen“ (53). / „Oma, was machst du da?“ „Wieso, was mach ich denn?“ (32) „Bei uns in der Familie ist viel drüber gesprochen worden“ (46) / „Man weiß, eines schönen Tages ist man selber dann mal so alt, und dann möchte man eher weniger so werden“ (13) / Wichtig, dass man „vielleicht mal so einen Guideline hat“ (45)
Hauptkategorie ‚Roter Faden im Interview und Schlüsselaussagen’ (2)
Koresidenz / Multilokalit. Multi.
Generationen Sonstiges * kein Hauptthema in diesem Analysebereich
10 - 15
27
Fall 13 Frau Wiesner
13 - 20
20 - 24
24
24
12 - 18
22
10 — 17
Alter bei Pflege
Fall 12 Frau Schuster
Fall 10 Frau Schwarz Fall 11 Herr Sommer
Fall 9 Herr Metzger
Alter bei Interview 17
Gesamtüberblick: Häufigkeiten der Ausprägungen der Meta-Variablen
Meta-Variable ‚Gesamtbilanzierung’ 10 Enkel: Ausprägung ‚überwiegend positiv’ 3 Enkel: Ausprägung ‚überwiegend belastend’ 2 Enkel: Ausprägung ‚gemischt’ Meta-Variable ‚Überforderung’ 7 Enkel: Ausprägung ‚nein’ 5 Enkel: Ausprägung ‚teilweise’ 3 Enkel: Ausprägung ‚ja’ Meta-Variablen zur ‚Pflegebereitschaft und -verpflichtung’ a) Eigene Pflegebereitschaft 15 Enkel: Ausprägung ‚Sorgeleistung’ Davon1: 3 Enkel: Ausprägung ‚Sorgeleistung plus partielle häusliche Pflege’ 9 Enkel: Ausprägung ‚Sorgeleistung plus umfassende häusliche Pflege’ 2 Enkel: Ausprägung ‚Sorgeleistung in Kombination mit stationärer Einrichtung’ b) Pflegebereitschaft Anderer 15 Enkel: Ausprägung ‚Sorgeleistung’ Davon: 6 Enkel: Ausprägung ‚Sorgeleistung plus partielle häusliche Pflege’ 4 Enkel: Ausprägung ‚Sorgeleistung plus umfassende häusliche Pflege’ 5 Enkel: Ausprägung ‚Sorgeleistung in Kombination mit stationärer Einrichtung’ c) ‚Pflichtpflege’ für Angehörige 7 Enkel: Ausprägung ‚Keine Verpflichtung’ 5 Enkel: Ausprägung ‚Sorgeleistung’ 3 Enkel: Ausprägung ‚Sorgeleistung plus häusliche Pflege’
1 Die eigene Pflegebereitschaft bezogen auf über die Sorgeleistung hinausgehenden Hilfen konnte bei 14 der 15 Enkel abgefragt werden.
420
Gesamtüberblick: Häufigkeiten des Vorliegens der Kategorienbündel
Positive Erfahrungen und Bilanzierungen 1. Familialer Zusammenhalt (15 Fälle) 2. Gute Generationenbeziehungen (14 Fälle) 3. Familiäre und persönliche Pflegekompetenz (13 Fälle) 4. Lernen und Erkenntnisgewinn (13 Fälle) 5. Positive Erlebnisse durch Pflege (12 Fälle) 6. Professionelle Hilfen (11 Fälle)
Als belastend erlebte Erfahrungen und diesbezügliche Bilanzierungen 1. Symptomatik / Verlauf / Pflege erschwerendes Verhalten (14 Fälle) 2. Zeitliche Verpflichtung / Vereinbarkeitsproblematik (10 Fälle) 3. Professionelle Hilfen (9 Fälle) 4. Intra- / intergenerationelle Konflikte und Rollenveränderung (8 Fälle) 5. Problematisches familiales und soziales Umfeld (7 Fälle)
Wertneutrale Erfahrungen und Bilanzierungen 1. Betreuung der Erkrankten (15 Fälle) 2. Familiales und soziales Umfeld (13 Fälle) 3. Familiale Generationenbeziehungen (11 Fälle) 4. Professionelle Hilfen (8 Fälle)
(Bei der Bildung der Kategorienbündel wurden insgesamt 89 Subkategorien zu 15 Kategorienbündeln zusammengefasst)
421
Kategoriensystem der deduktiven Kategorienanwendung Solidarität Enkel mit Großeltern Großeltern mit Enkel Enkel mit Eltern Enkel mit Eltern zukünftig Enkel und Eltern mit Großeltern Eltern mit Enkel Eltern mit Großeltern Großeltern mit Eltern Enkel intragenerationell Eltern intragenerationell Konflikt Enkel / Großeltern Enkel / Eltern Enkel und Eltern / Großeltern Eltern / Großeltern Enkel / Eltern / Großeltern intragenerationell Ambivalenz Auseinandersetzung mit Alter / Pflege / Demenz Lebensveränderung durch Demenz Situation Bruder Enkel: Einmischung bei Mutter Überforderung Altenheim: Zeit vor Umzug Altenheim: Zeit nach Umzug Pflegebereitschaft Lernen Enkel als Wissensaneigner Enkel als Wissensvermittler Eltern als Wissensaneigner Eltern als Wissensvermittler Eltern als Wissensverweigerer Enkel / Eltern als Wissensaneigner Enkel / Eltern als Wissensvermittler Großeltern als Wissensaneigner Großeltern als Wissensvermittler Großeltern (gesund) als Wissensverweigerer Familiales / soziales Umfeld als Wissensverweigerer
422
423
In Anlehnung an Lüscher/Liegle (2003): Ambivalenzen „als Alltagserfahrung“ (ebd., 294) a) Ambivalenzen liegen vor wenn „gleichzeitige Gegensätze des Fühlens, Denkens, Wollens, Handelns und der Beziehungsgestaltung, die für die Konstitution individueller und kollektiver Identitäten relevant sind, zeitweise oder dauernd als unauflösbar interpretiert werden.“ (ebd., 288). Die sind charakterisiert durch: b) „Gedanken über Zwiespältigkeiten“ (ebd., 293) c) „Empfindungen des Hin- und Hergerissenseins“ (ebd., 294). In Anlehnung an Lüscher/Liegle (2003): „Lernen in Mehrgenerationenbeziehungen“ (ebd., 178) a) „Generationenlernen findet zwischen Familiengenerationen, aber auch zwischen Gesellschaftsgenerationen statt.“ (ebd., 172). b) „Mit dem Begriff des Generationenlernens beschreiben wir alle Formen des Lernens, für welche der Bezug auf das Lebensalter bzw. die Generationenzugehörigkeit als Altersdifferenz oder Altersgleichheit relevant ist und die für die Vermittlung und Aneignung von Kultur sowie die Konstitution der Person bedeutsam sind.“ (ebd., 171).
nerationenogene miliale bivalenzen
nerationenogenes miliales nen
nerationenogener milialer nflikt
„’Ja, der Michael ist jetzt nicht mehr der kleine Junior da, der kann uns jetzt auch helfen und beraten und so unterstützen’. Also diese Gleichwertigkeit in der Familie ist viel größer geworden, [...] auch gegenüber meinen Geschwistern.“ (Int. 1, Abs. 100)
„[...] und Opa kam mit seinem Fahrrad und dann hat Papa das Lenkrad festgehalten [...] und ich war an der Haustür, weiß ich noch, und ich guckte mir das so an [...] das war ganz schrecklich“ (Int. 10, Abs. 12) „Also ich würde das nicht erwarten, glaub ich, aber wenn die’s machen würden, würd’ ich mich natürlich freuen. Aber ich weiß, wie gesagt, auch nicht, wie ‚ne starke Belastung das für einen wäre, wenn man dann denkt ‚Ich bin ne Last für meine Kinder’, da kann man wahrscheinlich einfacher ne Last sein für jemand Fremdes. Wahrscheinlich ist das für einen einfacher. Ich weiß es nicht.“ (Int. 4, Abs. 173 — 176)
Ankerbeispiele „Also in erster Linie hab’ ich versucht, mich mit der Oma zu unterhalten, weil meine Mutter dann geputzt hat oder die Wäsche gemacht hat. Klar, man hat so Sachen gemacht, sie eingehakt, ist in den Garten gegangen“ (Int. 7, Abs. 25)
Folgende Merkmale müssen gegeben sein: Wissensvermittlung Wissensaneignung Intra- und/oder intergenerationell Auch: Extrafamiliale Beziehung
Folgende Merkmale müssen gegeben sein: Zusammenstoß, oder Auseinandersetzung, Streit, Zerwürfnis Intra- und/oder intergenerationell Folgende Merkmale müssen gegeben sein: Hin- und Hergerissen sein Zwiespältigkeiten, Gleichzeitigkeit Widersprüchliche bzw. gegensätzliche Anforderungen, Empfindungen, Handlungen, etc. Intra- und/oder intergenerationell ‚vielleicht – oder doch nicht’
Intra- und/oder intergenerationell
Codierregeln Folgende Merkmale müssen gegeben sein: ‚Zusammenhalt’ Bereitschaft zur oder erfolgte emotionale und/oder instrumentelle Unterstützung
Codierleitfaden: Aspekte familialer Generationenbeziehungen im Kontext des Pflegesettings
Definition (Hervorhebungen durch Verfasserin) In Anlehnung an folgende Aspekte bzw. Autoren: a) ‚Zusammenhalt’ als grundsätzliche Solidaritätsnorm: „Familien sollen zusammenhalten“ (Kaufmann, zitiert in Schütze/Wagner, 1995, 310). b) ‚Praktizierte Hilfeleistung’: solidare = (im übertragenen Sinne) das gegenseitige Füreinandereinstehen, beinhaltet auch „aktives Tun“ (Pohlmann 2005, 236). c) ‚Emotionale Unterstützung’: „Mitmenschliche Verbundenheit und Empathie“ (Lüscher/Liegle, 2003, 266) d) ‚Grundsätzliche Bereitschaft zur Hilfeleistung’: Die „verlässliche Unterstützung, bzw. die Bereitschaft“ (Lüscher/Liegle 2003, 292) zwischen den Generationen. Zwischen zwei oder mehreren Generationen stattfindende Auseinandersetzung in der Familie, die im Zusammenhang mit der Pflegesituation erfolgt
tegorie nerationenogene miliale idarität
424 Ja Sorge Pflege partiell
belastend Ja Sorge ***
gem ischt
Ja
Sorge
Pflege umfassend
positiv
Nein
Sorge
Pflege umfas -send
Gesam tbilanzierung’
Überlastung ’
Eigene Pflegebeeitschaft’
5 Frau Kaufma nn
6 Frau Vogt
7 Frau Lindma nn
8 Frau Helling
9 Herr Metzger
10 Frau Schwarz
11 Herr Somme r
Nein Sorge ***
Teilw. Sorge **
Nein Sorge Pflege umfassend
Pflege umfassend
Pflege umfassend
positiv
Sorge
positiv
Nein
positiv
Sorge
positiv
Teilw.
positiv
Pflege partiell
Sorge
Teilw.
gem ischt
Teilw. Sorge Pflege umfassend
Teilw. Sorge Pflege umfassend
Nein Sorge Pflege partiell
Pflege umfassend
Pflege umfassend
20 25% 5 6% 11 14%
38 37% 0 / 46 44%
35 Kores Multi
2 2% 2 2% 13 12%
17-21
4
21
Kores
1 2% 2 4% 12 24%
18-32
14
33
Kores Multi
Gesam t: Konflikt Gesam t: Ambivalenz Gesam t: Lernen
Alter bei erlebter Pflege Dauer (Jahre) der Pflege Alter bei nterview Koresidenz / Multilokalität 26 Kores
16 Kores
10
Kores Multi
4
12-22
27
1,5
11-15
Multi
28
7
16-23
Kores
23
6
16-22
Weitere Variablen
Multi
17
7
10-17
Kores
22
6
12-18
Multi
24
4****
20-24
Kores
24
7
13-20
Multi
27
5
10-15
7 8% 0 / 34 40%
21 18% 0 / 37 32% 2 2% 0 / 32 39% 22 29% 1 1% 31 41% 1 1% 0 / 30 36%
6 10% 2 3% 14 24%
6 9% 11 16% 20 29%
9 10% 5 6% 18 20%
13 19% 3 4% 20 29%
45 52%
57 50% 49 59% 21 28%
52 63%
36 62%
33 47%
57 64%
32 47%
86 100%
115 100% 83 100%
75 100%
83 100%
58 100%
70 100%
89 100%
68 100%
* Mehrfachcodierungen möglich. Die Prozentzahlen beziehen sich auf die Gesamtzahl der Codierungen im jeweiligen Fall und sind gerundet. ** nicht abgefragt aufgrund aktueller familiärer Situation *** = nur stationär **** dauert unverändert noch an
6
26-27
44 55%
20 19%
94 85%
34 69%
Gesam t: Solidarität
11-17
80 100%
104 100%
111 100%
49 100%
Gesam t: Alle Muster
belastend
Nein
positiv
15 Herr Zumbrock
Sorge
positiv
14 Frau Wesse ls
Nein
positiv
13 Frau Wiesner
Sorge
positiv
12 Frau Schuster
8 8% 12 12% 46 45% 8 8% 6 6% 32 31%
29
Multi
35 Kores Multi
2****
27-29
36 35% 58 56%
15-23 28-34 14
102 100% 104 100%
Deduktive Kategorienanwendung: Ausgewählte Aspekte genera tionenbezogener fam ilialer Beziehungsm uster im Kontext des Pflegese ttings*
belastend
Indu ktive Kategorienbildung: Meta-Variablen ‚Erfahrungen und Bilanzierungen’
3 Frau Feld
2 Frau Müller
1 Herr Ottfried
4 Frau Klein
Einzelfallbezogener Gesamtüberblick: Induktive Kategorienbildung und deduktive Kategorienanwendung