Garma C. C. Chang
Die buddhistische Lehre von der Ganzheit des Seins Das holistische Weltbild der buddhistischen Philos...
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Garma C. C. Chang
Die buddhistische Lehre von der Ganzheit des Seins Das holistische Weltbild der buddhistischen Philosophie
Otto Wilhelm Barth Verlag
1. Auflage 1989 Einzig berechtigte Übersetzung aus dem Englischen von Ernst Schönwiese. Redaktion Adrian Leser. Titel der Originalausgabe: «The Buddhist Teaching of Totality». Copyright © 1979 by The Pennsylvania State University. Gesamtdeutsche Rechte beim Scherz Verlag, Bern, München, Wien, für den Otto Wilhelm Barth Verlag. Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art sowie auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten. Schutzumschlag von Gerhard Noltkämper
Inhalt
Vorwort Einleitung
7 10
Erster Teil: Der Bereich der Totalität Die Unendlichkeit des Buddhabereichs Ein Gespräch über die Totalität Nicht-Behinderung - der Schlüsselbegriff der Totalität Der Spiegelsaal des Fa-tsang Die Ursachen der Totalität Die Zehn Stufen der Erleuchtung eines Bodhisattva Die unbegreiflichen Dharmas der Buddhas Samadhi, Wunder und Dharmadhatu
29 42 48 54 58 61 82 85
Zweiter Teil: Die philosophischen Grundlagen des Hua-yen-Buddhismus Einleitung zum zweiten Teil I. Die Philosophie der Leere Shunyata - das Herz des Buddhismus Die Grundidee des Herz-Sutra Die Nicht-Selbst-Lehre und Svabhava-Shunyata Die Lehre von der Absoluten Leere Shunyata und Logik Der tiefe Sinn der Shunyata
91 92 97 111 128 145 162
5
II. Die Philosophie der Totalität Gegenseitige Durchdringung und wechselseitige Identität die beiden Grundprinzipien der Hua-yen-Philosophie 167 Diskussion der wechselseitigen Identität 186 Die Philosophie der Vier Dharmadhatus 192 III. Die Nur-Geist-Lehre Der Geist und die äußere Welt Das Alaya-Bewußtsein und die Totalität
226 238
Dritter Teil: Eine Auswahl aus den Hua-yen-Schriften und die Biographien der Patriarchen Die Gelübde des Samantabhadra Ein Kommentar zum Herz-Sutra Die Meditation der Dharmadhatu Über den goldenen Löwen Die Biographien der Patriarchen
243 255 268 288 298
Epilog Anmerkungen Glossar Register
310 313 326 340
6
Vorwort
Während meiner nun über ein halbes Jahrhundert währenden Verbundenheit mit dem Buddhismus habe ich mir immer wieder die Frage gestellt: «Welche von allen buddhistischen Schulen - Hinayana, Mahayana und Tantra - enthält die höchsten Lehren des Buddhismus?» Meine Antwort ist heute klar und eindeutig: die Hua-yen-Schule Chinas. Die Hua-yen-Schule oder Hua-yen-tsung ist in der T'ang-Periode entstanden, ungefähr im 7. und 8. Jahrhundert, durch hervorragende Denker wie Tu-shun (557-640) und Fa-tsang (643-712). Das chinesische Wort hua-yen bedeutet «der Blumen-schmuck» oder «die Girlande», was ursprünglich der Name eines umfangreichen Mahayana-Textes war, des «Girlanden-Sutra» (Gandavyuha- oder Avatamsaka-Sutra). Die Lehren der Hua-yen-Schule basieren hauptsächlich auf diesem Text und sind von ihm inspiriert. Was sagt diese Schrift, und an wen ist ihre Botschaft gerichtet? Das Hua-yen-Sutra hat ein zentrales Anliegen: den Buddhabereich der Unendlichkeit zu zeigen. Seine Botschaft ist daher an jene gerichtet, die die ehrfurchtgebietende Unendlichkeit der Buddhaschaft erkennen, wie sie sich in Buddhas Erleuchtungserlebnis offenbart, das im ersten Kapitel kurz beschrieben wird. Es gibt, nach meinem besten Wissen, keine andere buddhistische Schrift, die höher zu stellen wäre als das Huayen-Sutra, was die Offenbarung der höchsten geistigen Eingebung und des tiefsten Geheimnisses der Buddhaschaft anlangt. Diese Meinung, glaube ich, wird von der Mehrheit der chinesischen und japanischen buddhistischen Gelehrten geteilt. Es ist daher kein Wunder, daß Huayen als die «Krone» aller buddhistischen Lehren 7
und als die Vollendung buddhistischen Erkennens und Denkens betrachtet wird. Inspiriert von der in diesem Sutra gegebenen Darstellung der alles umschließenden Totalität, haben die bahnbrechenden Hua-yen-Denker, besonders Meister Tu-shun, eine für ihre Zeit neue Methode buddhistischen Denkens entwickelt. Sie lehrten, daß die richtige Art des Denkens die Dinge in einer vielschichtigen oder ganzheitlichen Weise sieht. Nichts wird abgelehnt, weil es in der «runden» Totalität der Buddhaschaft keinen Raum für Widersprüche gibt; alle Unvereinbarkeiten kommen hier zur Harmonie. Diese ganzheitliche Denkweise wurde zuerst von Tu-shun in seinem epochemachenden Aufsatz «Über die Meditation der Dharmadhatu» eingeführt, der schließlich die Hauptquelle aller folgenden Hua-yen-Werke wurde. Hauptsächlich durch Tu-shuns große Einsicht, wie sie sich in diesem Aufsatz erweist, hat das «runde [allumfassende] Hua-yen-Denken» (Yüan-chiao-chien) erstmals Boden gefaßt. Zwei Generationen später systematisierte Fa-tsang die Lehre in seinen Schriften; er wird daher allgemein als der Begründer der Huayen-Schule betrachtet. Der Leser wird erkennen, daß Hua-yen eine Synthese aller wesentlichen Mahayana-Gedanken ist, eine Philosophie des ganzheitlichen Organismus. Die drei bedeutendsten Schöpfungen des Mahayana, nämlich die Philosophie der Totalität, die der Leere und die Nur-Geist-Doktrin, werden zu einer Einheit verschmolzen. Weit entfernt davon, ein künstliches Gebilde zu sein, ist die Hua-yen-Lehre ein «organisches Ganzes» aller wesentlichen Elemente des Mahayana-Buddhismus. Sobald man zum Hua-yen kommt, sieht man den Buddhismus in einem vollständig neuen Licht. Selbst die langweilige Nur-Geist-Lehre wird lebendig und bekommt Farbe. Das Alaya-Bewußtsein des Yogachara ist kein dummes und träges «Vorratshaus» mehr und das tyrannische kollektive Unbewußte C. G. Jungs kein unfaßbarer, archetypischer Bildprojektor. Im Hua-yen wird der «Universale Geist» einem ungeheuren Meeresspiegel verglichen, in dem die unendlichen Dramen des Universums spontan und gleichzeitig widergespiegelt werden. Die Nur-Geist-Lehre ist kein Einbahn-Projektor mehr, sondern wird zum Kaleidoskop vieldimensionaler wechselseitiger Projektionen, die einander gegenseitig durchdringen. Auch die Philosophie der Shunyata (der Leere) scheint nun etwas anderes 8
zu sein, als sie vorher war. Die allumfassende Leere der Hua-yenLiteratur offenbart viele verborgene Facetten, die in den Thesen der Madhyamika nicht unmittelbar klar wurden. Erst im Hua-yen werden die weitreichenden Folgerungen der Shunyata-Lehre, wie sie in der Prajnaparamita-Literatur niedergelegt sind, durchsichtig. Die Mehrzahl der intellektuell veranlagten Zen-Mönche kam zum Huayen, weil sie darin oftmals die geistige Führung auf ihrem verwirrenden Zen-Weg gefunden und sinnvolle Lösungen für die schwerverständlichen ZenProbleme entdeckt hatte. Viele «sinnlose» Zen-Koan werden sinnvoll, wenn man das «runde Hua-yen-Denken» richtig auf sie anwendet.
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Einleitung
Wenn der Mensch das Universum betrachtet und das Drama des Lebens sowie die Rolle, die er darin spielt, überdenkt, muß er sich fragen: «Was für eine Art von Spiel ist das eigentlich? Was ist sein Sinn und Zweck, und was bedeutet dies alles?» Die verschiedenen Religionen geben unterschiedliche Antworten auf diese Fragen, aber zwei heben sich sehr deutlich von den anderen ab: die Antwort der buddhistischen Weltbetrachtung und die der jüdischchristlichen Überlieferung. Erstere wird von manchen Theologen als nicht-historisch, letztere als historisch bezeichnet. Betrachtet man die Hauptunterschiede zwischen den beiden Interpretationen, so scheint es, daß die historischen Religionen im großen und ganzen das menschliche Drama oder die Geschichte wie folgt beschreiben: 1. Geschichte hat einen Anfang und ein Ende. 2. Sie ist teleologisch, das heißt, das Universum und damit die Geschichte der Menschheit, sind auf ein Ziel, auf einen bestimmten Zweck gerichtet. 3. Geschichte ist erfüllt von Sinn, auch wenn dieser Sinn dem Menschen unverständlich sein mag. Geschichte, das menschliche Drama, ist nichts Zufälliges und hat seine Bedeutung ausschließlich in der Erfüllung eines göttlichen Willens oder Plans. Allerdings liegen das letzte Wie, Warum und Wann dieses großen Planes jenseits menschlichen Begreifens; sie sind nur Gott, dem Schöpfer, bekannt. 10
4. Menschliche Geschichte in ihrer Entfaltung gleicht einem Drama von zunehmender Intensität. Es ist verfaßt, geleitet und verantwortet - direkt oder indirekt - von Gott. Wie jedes Drama hat es einen Anfang, einen Höhepunkt und ein Ende, die den theologischen Vorstellungen der Genesis, dem Kommen eines Messias und eines Jüngsten Gerichts entsprechen. 5. Dieses in seiner Art einmalige menschliche Drama wird ausschließlich auf einer Bühne, genannt Erde, gespielt, die, soweit es diese einzigartige Aufführung anlangt, als der Mittelpunkt des Universums angesehen wird. Diese Überzeugungen, einst von den meisten Bekennern der westlichen Religionen akzeptiert, wurden allmählich modifiziert, und gewisse Einzelheiten wurden von den zeitgenössischen Theologen ganz fallengelassen. Aber im großen und ganzen entsprechen sie noch heute der Einstellung eines großen Teils der gläubigen Menschen im Westen, und sie haben sowohl die Geschichte wie die Geisteshaltung des Westens entscheidend beeinflußt und unauslöschliche Spuren in beiden hinterlassen. Die Hauptkritik gegenüber dieser Anschauung ist, daß sie dazu neigt, das Ich in den Mittelpunkt zu stellen sowie Intoleranz zu begünstigen. Da sie die Bedeutung der Geschichte ausschließlich im Menschen und dessen Verhältnis zu Gott sieht, handelt es sich um eine Haltung, die den Menschen und die Erde als den Mittelpunkt sieht und daher um eine eng begrenzte, abgekapselte Einstellung. Arnold Toynbee weist in seinem Buch A Historian's Approach to Religion auf die Irrtümer der Ichzentriertheit hin: «Ichzentriertheit ist eine Notwendigkeit des Lebens, aber diese Notwendigkeit ist auch eine Sünde. Ichzentriertheit ist zudem ein intellektueller Irrtum, da kein Lebewesen in Wirklichkeit der Mittelpunkt des Universums ist; und sie ist auch ein moralischer Irrtum, weil kein Lebewesen das Recht hat zu handeln, als ob es der Mittelpunkt des Universums wäre. Es hat kein Recht, seine Mitgeschöpfe, das Universum und Gott oder die Wirklichkeit so zu behandeln, als ob sie bloß existierten, um den Ansprüchen einer einzigen ichzentrierten Kreatur zu dienen.»1 Im Gegensatz zu diesem Glauben sieht die buddhistische Überlieferung, besonders das Mahayana, das Universum und das menschli11
che Drama in einer völlig anderen Weise. Die buddhistische Weltsicht ist universell und schließt alles ein; sie beruft sich nicht auf die einzigartige Bedeutung der menschlichen Geschichte als der einmaligen Aufführung eines von Gott geschriebenen Dramas. Einige Gelehrte, so zum Beispiel Paul Tillich und Arnold Toynbee, bezeichnen den Buddhismus als eine nicht-historische Religion, aber ich glaube, daß das irreführend ist. Die buddhistische Vorstellung ist nicht nichthistorisch, sondern eher trans-historisch, wie die folgenden Überlegungen zeigen werden: 1. Geschichte hat einen Anfang und ein Ende nur in einem relativen, nicht in einem absoluten Sinn. 2. Geschichte ist von Bedeutung, weil sie ein notwendiger Prozeß zur Verwirklichung der Vollkommenheit (Buddhaschaft) für alle Lebewesen ist. 3. Menschliche Geschichte hat keine einmalige Bedeutung; es gibt zahllose Geschichtsabläufe anderer Lebewesen von gleicher Bedeutung in anderen Universen. 4. Es gibt unzählige Universen; die Erde ist nur ein winziger Punkt in der ungeheuren Ausdehnung der Dharmadhatu (des unendlichen «Bereiches» des Dharma), und keinesfalls ist die Erde die einzige Bühne, auf der ein einzigartiges Drama nach dem Willen eines autoritären Gottes aufgeführt wird. 5. Geschichte, und zwar die der Menschen wie die anderer Wesen, ist kein Drama, entworfen und geschaffen von Gott; sie entsteht durch das kollektive Karma der Lebewesen. 6. Es gibt kein bestimmtes Muster oder Modell, nach dem sich alle Geschichte entwickeln muß. Ihr Verlauf wird von der Natur des kollektiven Karmas der Lebewesen in dem besonderen geschichtlichen Abschnitt bestimmt. Diese Punkte lassen sich weiter ausarbeiten. Geschichte hat einen Anfang und ein Ende, aber nur in einem relativen, nicht in einem absoluten Sinn. Man kann vom geschichtlichen Verlauf einer besonderen Begebenheit sprechen, als habe sie einen Anfang und ein Ende, aber dieser Anfang und dieses Ende sind nicht von absoluter Art. Die Geschichte der Menschen ist ein gutes Beispiel. Sie beginnt nach den 12
letzten Schätzungen vor etwa 600 000 Jahren. Aber 600 000 vor Christi Geburt, das ist nicht der wirkliche Beginn der Geschichte in einem absoluten Sinn. Vor dieser Zeit gab es andere Ereignisse und geschichtliche Begebenheiten. Ähnlich wird an irgendeinem Tag in der Zukunft die menschliche Geschichte zweifellos ein Ende haben, aber dieses Ende kann nicht als der absolute Endpunkt der menschlichen Existenz angesehen werden. Nach dem Buddhismus kann sich dann die Geschichte anderer Arten und Gattungen von Wesen entfalten; ebenso wäre es möglich, daß die «Seelen» derjenigen Angehörigen der menschlichen Rasse, die bis dahin die Buddhaschaft nicht erreicht haben, auf anderen Planeten ein neues Kapitel eines weiteren geschichtlichen Ablaufs beginnen werden. In der Welt der Erscheinungen verweben sich die ununterbrochenen Ketten von Geschehnissen ständig miteinander, sie bilden ein ungeheures «randloses Netz», das sich ohne Unterlaß fortentwickelt. Aber der Mensch, der nur eine begrenzte Aufnahmefähigkeit besitzt, vermag dieses ungeheure Verwobensein der Ereignisse nicht zu erfassen. Er zerschneidet diese «ständig weiterlaufende Kette» und bezeichnet einen Punkt darin als den Anfang und einen anderen als das Ende eines Teilgeschehnisses. Schrittweise und ohne dessen gewahr zu sein, beginnt er zu vergessen, daß die Vorstellung eines Anfangs und eines Endes erst aus Gründen der Zweckmäßigkeit geschaffen wurde und nur einen Sinn hat, wenn sie auf ein Teilereignis bezogen wird. Statt dessen geht er vom Teil aus und läßt die Vorstellung eines absoluten Anfangs, einer ersten Ursache, eines unbewegten Bewegers und dergleichen entstehen. Diese Ideen entwickelt er weiter und arbeitet sie zu theologischen und philosophischen Systemen aus, deren theologische Bedeutung er in hohem Maße überbewertet. Nach unserem besten Wissen hat es niemals einen absoluten Anfang gegeben, vor dem nichts existiert hat. Die Vorstellungen von der «ersten Ursache» oder dem «absoluten Anfang» haben keine logische oder empirische Grundlage. Der Anfang des Geschehens Y ist immer das gleichzeitige Ende des Geschehens X. Das Ende des Geschehens B ist immer der Anfang des Geschehens C. Ein Marsbewohner, der auf unseren Planeten blickt, sieht keinerlei Zeichen eines Anfanges oder eines Endes; was er sieht, ist eine beständige, immer weiterlaufende Kette von Ereignissen. Zu sagen, daß ein einzelnes Geschehen 13
einen Anfang oder ein Ende hat, mag daher durchaus sinnvoll sein, aber zu sagen, daß es einen absoluten Anfang aller Geschehnisse gibt, ist sinnlos. Für diejenigen, die gewohnt sind, an einen absoluten Anfang und ein absolutes Ende zu glauben, muß der buddhistische Ausdruck «seit anfangloser Zeit»2 eine befremdliche, wenn nicht schockierende Vorstellung sein. Doch dank dieser Vorstellung ist der Buddhismus von vielen unfruchtbaren theologischen Problemen frei geblieben. Die Bedeutung der buddhistischen Vorstellung des «Nicht-Beginnens» (oder der «Anfanglosigkeit») kann gar nicht genug betont werden. An ihr wird der Unterschied zwischen dem Buddhismus und den historischen Religionen besonders deutlich. Aufgrund dieser Vorstellung sind so entscheidende theologische Probleme wie die Frage der «Schöpfung» und deren Auswirkungen leicht zu klären. Und aus demselben Grund existieren viele auf Gott bezügliche theologische Probleme im Buddhismus einfach nicht. Da es keinen absoluten Anfang gibt, gibt es auch keinen Schöpfer und keine Schöpfung. Da es keinen allmächtigen und allwissenden Schöpfergott gibt, sind die Probleme des Bösen, des göttlichen Willens, der Erlösung und der Eschatologie entweder nicht existent oder sie «existieren» in einem vollkommen anderen Zusammenhang. Manche glauben, daß die Ablehnung der Vorstellung einer Schöpfung und ihrer ersten Ursache automatisch die Ablehnung oder Aufhebung eben der Grundlage einer Religion einschließt, aber das ist nicht notwendigerweise der Fall. Der Buddhismus zum Beispiel hat seine Grundlage nicht in einem Schöpfergott als Urgrund; seine Grundlage sind vielmehr die allüberall vorhandene Buddhanatur und deren Funktionen. Ein spirituelles Leben ist nicht notwendigerweise von der Existenz eines Gottes, eines Schöpfers und Richters, der über uns und jenseits unserer Fassungskraft steht, abhängig; die religiöse Sehnsucht des Menschen kann in der Verwirklichung der Buddhanatur, die in allen Lebewesen vorhanden ist, ihre volle Erfüllung finden. Der ursprüngliche Geist des Buddhismus spiegelt sich in dem besonderen Nachdruck, der auf das Erreichen der Befreiung gelegt wurde, sowie in der Ablehnung aller philosophischen Spekulation. Das fand seinen lebendigsten Ausdruck in dem berühmten Schweigen des Buddha, als ihm eine Reihe von philosophischen Fragen gestellt 14
wurden.3 Doch war philosophisches Interesse im Keim überall im Buddhismus vorhanden. Einige Jahrhunderte nach dem Tode Gautama Buddhas begannen viele philosophische Schulen des Buddhismus aufzublühen, aus denen schrittweise der Mahayana-Buddhismus entstand. Obwohl die Lehre des Mahayana-Buddhismus sich stark von der des Hinayana-Buddhismus unterscheidet, stimmen beide, was das Problem von «Anfang und Ende» anlangt, vollkommen überein. Ihre Ansicht zu diesem Problem läßt sich kurz in den folgenden Sätzen zusammenfassen: 1. Samsara (die Welt der Erscheinungen) hat keinen Anfang, aber ein Ende. 2. Nirvana (der «Zustand» des Erloschenseins) hat einen Anfang, aber kein Ende. 3. Die Wirklichkeit der Soheit (bhutatathata) hat weder Anfang noch Ende. Der erste Satz besagt, daß Samsara seit anfangloser Zeit vorhanden gewesen ist, und zwar ohne Unterbrechung in allen in ungeheurer Ausdehnung sich erstreckenden unendlichen Universen. Kein einziges oder einzelnes Zeitteilchen in der weitest zurückliegenden Vergangenheit kann als der absolute Anfangspunkt des Universums bezeichnet werden; daraus folgt, daß Geschichte, wie wir sie kennen, keinen Anfang haben kann. Andererseits kann ein Individuum (oder eine Gruppe) die Geschichte beenden oder über sie hinausschreiten, wenn es (oder sie) es wünscht und eine ausreichende Anstrengung in Richtung auf dieses Ziel unternimmt. Dieser Endpunkt des Samsara ist zugleich der Anfang des Nirvana, des Zustandes der Buddhaschaft, der weder abnehmen noch erlöschen kann. Nirvana hat daher einen Anfang, aber kein Ende. Die Wirklichkeit der Soheit (bhutatathata), die sowohl Samsara wie Nirvana umschließt, jedoch nicht in der geringsten Weise durch sie beeinflußt wird, geht sowohl über die Vorstellung der Reinheit wie der Befleckung hinaus. Es ist ein Zustand bar jeder kennzeichnenden Eigenschaften, jenseits aller Worte und Unterscheidungen. Er ist einfach und bleibt so durch alle Ewigkeit, gleichgültig, ob Gutes oder Böses, Unwissenheit oder Erleuchtung in Erscheinung treten. 15
Die Tatbestände dieser Lehre werden in der folgenden Zeichnung veranschaulicht:
Samsara Ende Nirvana kein Ende
Anfang Bhutatathata
kein Ende
kein Anfang
Dieses Diagramm zeigt, daß die Gezeiten für Samsara und Nirvana je einen negativen und einen positiven Aspekt haben, gemäß dem Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines Anfangs oder eines Endes; die Zeitangabe für die Bhutatathata mit einem negativen Zeichen an jedem Ende weist darauf hin, daß es hier weder Anfang noch Ende gibt. In dem Diagramm wurden zum Zweck der Anschaulichkeit Samsara und Nirvana in zwei Linien dargestellt; in Wirklichkeit gibt es nur eine sich fortsetzende Linie, wie das die folgende Illustration zeigt:
kein Anfang Samsara
Ende
Nirvana Anfang Bhutatathata kein Anfang
kein Ende
kein Ende
Die beiden positiven Markierungen kennzeichnen die Gleichzeitigkeit des Erlöschens von Samsara und des «Entstehens» von Nirvana, 16
was besagt, daß die beiden Punkte in einen zusammenfallen. Es ist darauf hingewiesen worden, daß sobald Samsara und Nirvana als ein einheitliches Ganzes gesehen werden, sie sich der Wirklichkeit der Soheit angleichen, die weder Anfang noch Ende hat. Hier ist der Punkt, wo die Erscheinungen mit dem Noumenon, das Relative mit dem Absoluten zusammenfällt. Die Hauptkritik, die seitens westlicher Denker gegenüber dieser buddhistischen Weltschau erhoben wird, ist, daß diese Art einer «zyklischen» Orientierung dem Leben allen Sinn nähme. Samsara scheint ihnen nur eine monotone, sich immer wiederholende Langeweile zu sein, die weder Sinn noch Zweck besitzt. Professor Toynbee sagt: «Diese astronomische Geschichtsbetrachtung führt zu einer radikalen Korrektur der Ichzentriertheit, die jedem Lebewesen eingeboren ist; aber sie berichtigt diese Ichzentriertheit um einen Preis, der die Geschichte jeglicher Bedeutung beraubt - und damit auch das Universum selbst. Von diesem astronomischen Standpunkt aus ist es für einen Historiker unmöglich zu glauben, daß sein eigenes Hier und Jetzt irgendeine besondere Bedeutung habe, aber es ist ebenso schwierig für ihn zu glauben, daß irgendein anderes menschliches Wesen irgendeine besondere Bedeutung gehabt hat oder haben wird.»4 Wer so urteilt, scheint vergessen zu haben, daß Sinn und Bedeutung nicht von den äußeren Umständen abhängen. Im Gegenteil, sie hängen von der eigenen Einstellung gegenüber diesen Umständen ab. Ein zyklisches, und andauerndes Samsara kann vollkommen sinnvoll und bedeutungserfüllt sein, wenn die Einstellung des Individuums gegenüber dem Leben konstruktiv und altruistisch ist. Immer wieder sich erneuerndes Leben ist also nicht notwendigerweise ein sich wiederholender Zustand von Langeweile; im Gegenteil, er bietet reiche Gelegenheit zu altruistischen Taten wie zu geistigem Fortschritt. Sinn und Zweck des Lebens erblickt der Mahayana-Buddhismus in der Aufforderung an jedermann, die Gelegenheit zum Erreichen seines höchsten Gutes zu nützen, indem er dem Zustand der Buddhaschaft näherkommt. Das Leben ist daher, trotz seiner zyklischen Wiederkehr, von größter Bedeutung. Außerdem ist Samsara in Wirklichkeit keine zyklische, sondern eine spiralförmig aufwärtsgehende 17
Bewegung; denn es ist der Grundglaube des Mahayana-Buddhismus, daß alle Lebewesen sich in fortschreitenden Stufen auf die Buddhaschaft zubewegen. Geschichte ist daher von Sinn erfüllt, da sie die Gelegenheit zur Erreichung dieses Zieles bietet. Als ich das erste Mal von diesem Vorwurf der angeblichen Sinnlosigkeit des nicht-historischen Standpunktes hörte, war ich höchst erstaunt. Wieso haben die westlichen Denker diese offenbaren Fakten übersehen? Dann erkannte ich, daß es sich bei dieser Kritik um keine philosophische, sondern um eine psychologische Wertung handelt. Man denke an die Situation eines Menschen, dem sein Arzt gesagt hat, daß er nur noch ungefähr ein Jahr zu leben hat. Die Philosophie und die Lebensanschauung des Menschen, der solches erfahren hat, können sich vollkommen ändern. Vielleicht wird er seinen Beruf aufgeben, seinen Besitz verkaufen und zu reisen beginnen, rund um die Welt, auf der Suche nach Erlebnissen und Abenteuern. Mit anderen Worten: Dieser Mensch versucht, in der ihm verbleibenden Zeit mit größter Intensität zu leben. Die Zeit ist für ihn nicht nur kostbar, sondern auch drängend; jede Sekunde gewinnt ungeheure Bedeutung. So ist es verständlich, daß seine Einstellung gegenüber seinem Leben in der Gewißheit von dessen baldigem Ende gänzlich verschieden ist von der der meisten anderen Menschen, die niemals ernsthaft an den Tod als unmittelbar bevorstehend denken. Wenn ein Mensch weiß, daß seine Tage gezählt sind, wird er trachten, seinem Leben soviel Sinn wie möglich zu geben. So gesehen ist es, glaube ich, richtig zu sagen, daß die Christen viel tatkräftiger und entschlossener sind als Buddhisten. Der psychologische Grund hierfür ist möglicherweise der Glaube, daß sie nur einmal leben, während die Buddhisten glauben, daß viele Leben auf sie warten. Für einen gläubigen Christen wird in einem einzigen Leben über seine Erlösung oder Verdammung entschieden; er muß jetzt, in diesem einen Leben, das Richtige tun, weil er keine zweite Gelegenheit dazu haben wird. Wer an die Lehren des Christentums glaubt, wird die «entsetzliche Bürde» verspüren, die darin liegt, daß er den an ihn gestellten Anforderungen in diesem einen Leben zu entsprechen hat, und er wird aufgrund dieser religiösen Überzeugung unter gewaltigem Druck und mächtiger Anspannung stehen. Ein Buddhist dagegen, der Fehlschläge und Enttäuschungen erlebt, kann sich im18
mer damit trösten, daß er sich sagt: «Nun gut. Warum sich über diese Schwierigkeiten und Mißerfolge so sehr aufregen? Ich kann es ja in meinem nächsten Leben wieder versuchen, das sicher nicht so übel und so enttäuschend sein wird wie dieses!» So ist leicht einzusehen, daß die Vorstellung des Samsara, die den Menschen nüchterner, liberaler und toleranter macht, ihn auch passiver, träger und zynischer machen kann. Um dieser Tendenz entgegenzuwirken, weist der Buddhismus mit Nachdruck auf die Schwierigkeit hin, auch im nächsten Leben wieder menschliche Gestalt zu erlangen, sowie auf die Verpflichtung, den Mitmenschen zu helfen. Er betont zudem den Wunsch nach raschem geistigen Fortschritt, der zur baldigen Verwirklichung der Buddhaschaft führen soll. Zusammenfassend ist zu sagen, daß dem Leben in der Geschichte der Menschheit auch in buddhistischer Sicht keineswegs die Bedeutung fehlt. Aber diese ist von allgemeinerer und längerfristiger Art, auch wenn dies für diejenigen, die mit den Philosophien der jüdisch-christlichen Überlieferung aufgewachsen sind, schwer zu erkennen und zu verstehen ist. Nach dem Mahayana-Buddhismus ist die Geschichte des Menschen nicht die einzige Geschichte. Es gibt zahllose gleich bedeutungsvolle Geschichtsabläufe anderer Lebewesen, die in einer unendlichen Zahl anderer Universen stattfinden. Die ungeheure Größe und die unendliche Mannigfaltigkeit der Universen wird wiederholt in den verschiedenen Sutras beschrieben, so zum Beispiel im Diamant-Sutra:5 «Was meinst du, Subhuti, wenn es so viele Ganges-Flüsse gäbe wie Sandkörner am Ufer des Ganges, und wenn es so viele Weltsysteme gäbe wie Sandkörner in all diesen ungezählten Flüssen - würden diese Weltsysteme als groß an Zahl bezeichnet werden?» «Gewiß, sehr groß an Zahl, o Weltverehrter!» «Höre, Subhuti! In diesen ungezählten Weltsystemen ist jede Form von Lebewesen zu finden, mit all ihren verschiedenen Geisteshaltungen und Vorstellungen, und alle von ihnen sind dem Tathagata bekannt.»
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Und im Hua-yen-Sutra6 lesen wir: «O Buddha-Söhne! Wenn ein Mensch Millionen und Billionen von Buddhas Universen7 pulverisierte und sie zu Sonnenstäubchen verwandelte, von denen jedes einzelne wiederum ein ganzes Universum darstellt, und wenn er abermals diese Universen pulverisierte und er die dabei entstandenen Sonnenstäubchen in seiner linken Hand hielte und wanderte ostwärts - und nachdem er an der gleichen ungeheuren Zahl von Universen vorübergekommen ist, ließe er ein Sonnenstäubchen fallen und setzte dann seine Wanderung nach Osten fort und jedesmal schritte er an der gleichen Zahl von Universen vorbei, ließe ein Sonnenstäubchen fallen, bis er alle, die er in seiner Hand hielt, verstreut hätte; wenn er dann nach Süden, Westen und Norden in den vier Richtungen und aufwärts und abwärts wanderte und Sonnenstäubchen fallen ließe wie zuvor, o Pao Shou, was meinst du? Der gesamte Raum in den Zehn Richtungen all dieser Universen, berührt oder unberührt von seinen Sonnenstäubchen, ist dieser Raum eines Buddhalandes nicht ungeheuer, weit und jenseits des Begreifens?» «Ja, gewiß, dieses Buddhaland ist unendlich groß und weit, voller Wunder und unbegreiflich. Und wenn es dort Menschen gibt, die, nachdem sie dieses Gleichnis vernommen haben, daran zu glauben und es zu verstehen beginnen, ist es noch kostbarer und wundervoller.» Der Buddha sagte zu Pao Shou: «Ja, ja, genau wie du gesagt hast. Ich prophezeie: Wenn es gute Männer und gute Frauen gibt, die an dieses Bild glauben, dann werden sie die höchste Erleuchtung erlangen und die unvergleichliche Weisheit der Tathagataschaft.»
In einem anderen Kapitel dieses Sutra8 lesen wir: Daraufhin wandte sich der Bodhisattva Samantabhadra an die Versammlung:9 «Dank des Segens der magischen Kraft des Tathagata sehe ich in den Zehn Richtungen jede Stelle in all den Welten und Universen, die den ungeheuren Raum erfüllen... Einige Welten sind aus reinem Licht und schweben im Raum... Andere gleichen Blumen oder Lampen, geschmückt mit Juwelen. Einige sind groß und gewaltig wie der Ozean, wirbelnd gleich einem sich drehenden Rad... 20
Einige sind schmal, andere sind klein, denn es gibt unzählige Formen und Bewegungen verschiedenster Art... Einige Welten gleichen einem glühenden Rad, einem Vulkan, ... einem Löwen oder einer Meeresmuschel... Unendlich verschieden sind ihre Formen und Gestalten... [In dem ungeheuren Bereich der Dharmadhatu] sind einige Welten rund und andere eckig, Einige Länder sind rein und ohne Makel, andere befleckt und voller Mängel, einige sind voller Freuden, andere voller Qualen, ... alles verursacht durch verschiedenartiges Karma, vielfältig wie die Ozeane... Einige Weltsysteme währen nur ein Kalpa, andere Hunderte, Tausende von Kaipas oder eine Unendlichkeit von Äonen. In einigen Weltsystemen gibt es Buddhas, in anderen keine. Einige kennen nur einen Buddha, andere viele. Unergründlich sind die unzähligen Welten in der Totalität der Universen. Viele Welten sind soeben neu entstanden, andere sind im Vergehen. Gleich Blättern im Wald sind einige kaum erst entsprossen, andere sind im Verdorren ... So wie verschiedene Saaten verschiedene Früchte bringen, so lassen die Lebewesen kraft der Macht des kollektiven Karma verschiedene Weltsysteme entstehen, die unbegreiflich sind... So wie ein Maler viele Bilder malt, so kann der Geist der Lebewesen unendlich verschiedene Weltsysteme schaffen.
Des schlechten Karma, der Leidenschaften und Begierden wegen sind viele Weltsysteme reich an Qualen und Tränen. Doch andere Welten, dank des guten Karma, sind geschmückt mit Juwelen und gesegnet mit Plätzen, an denen die Früchte der Freude genossen werden [von allen] nach ihrem Willen. In den ozeangleichen Weltsystemen aller Buddhas gibt es Myriaden von Lehren, die den Nöten und Neigungen der Menschen hilfreich angepaßt sind. Unerforschlich ist Buddhas Dharma-Leib ohne Form oder Bild aber um den Menschen zu helfen, manifestiert er sich in Myriaden von Formen. Zum Wohl der Lebewesen kann er sich zu einem kurzen oder langen Leben verkörpern, oder zu einem, das ungezählte Äonen währt. Je nach Veranlagung und Not der Menschen hilft er mit den Lehren der verschiedenen Fahrzeuge, oder er lehrt nur ein Fahrzeug in vielfachen Abwandlungen. Begabten Menschen, die den Weg beschritten haben, hilft er, daß sie ohne Anstrengung Buddhaschaft erlangen. Mit diesen unbeschreiblich segensvollen Mitteln helfen die Buddhas allen Lebewesen auf deren Weg!»
Wenn wir diese Stellen lesen, erkennen wir, daß die buddhistische Geschichtsschau äußerst flexibel und alles einschließend ist. Da sie weder Gott-zentriert noch anthropozentrisch, noch auch erdzentriert ist, sondern auf einer unendlichen Verschiedenheit von Universen und Lebewesen basiert, kann es kein endgültiges Modell geben, dem die Geschichte folgen müßte. Die buddhistische Auffassung von der Geschichte ist daher gänzlich fließend und allen Möglichkeiten offen. 22
Wenn es ein Charakteristikum gibt, durch das die buddhistische Lehre sich von vielen anderen Religionen unterscheidet, dann ist es ihre Allumfassendheit. Das gilt für die grundlegende Karma-Lehre bis hin zu den Lehren von Shunyata, Bodhichitta und der DharmadhatuDoktrin des Hua-yen-Sutra. Wenn wir die buddhistische Lehre mit den westlichen Religionen vergleichen, so fühlen wir, daß die erstere zu einer pluralistischen Methode tendiert, während die letzteren dazu neigen, ausschließend zu sein und an einem «singularistischen» Weg festzuhalten. Es gibt viele Gründe für diesen Unterschied, aber ich glaube, der Hauptgrund ist, daß die jüdisch-christliche Überlieferung ausschließlich an Gott festhält und all dem, was zu ihm gehört, während im Buddhismus dieser Faktor völlig fehlt. Die Lehre der jüdisch-christlichen Überlieferung, unbeschadet ihrer Komplexität und Mannigfaltigkeit, hat ihren Mittelpunkt in Gott und seinem Verhältnis zum Menschen. Gott und dessen allumfassender Plan machen das Leben sinnvoll und geben der Geschichte ein Ziel. Hinter der Geschichte und aller Natur gibt es ein Bewußtsein und einen Willen: Gottes allwissenden und zielbewußten Geist. Im Gegensatz zu diesem Glauben hält die buddhistische Anschauung, wie wir gesehen haben, daran fest, daß alles vom kollektiven Karma der Lebewesen abhängt. Das Karma ist der Schöpfer, der Erhalter und der Zerstörer sowohl der Geschichte wie des Universums. Karma ist eine «naturgegebene» Kraft, die im Grunde unbewußt und nicht vorhersehbar ist. Nach dem Buddhismus hängen Art und Natur jeder Geschichte nicht von Gottes Willen oder Plan, sondern von der Natur des kollektiven Karma der Lebewesen in dem besonderen geschichtlichen Zeitraum ab. Die Evidenz des kollektiven Karma fehlt auch in unserer Welt nicht. Die Geschichte und das Schicksal der amerikanischen Indianer, der Azteken, der Mayas und in einem bestimmten Ausmaß der Neger und der Juden und all der anderen, die an der Unmenschlichkeit der Menschheit gelitten haben, kann nicht als von Gott geplant oder auch nur indirekt verursacht betrachtet werden. Ihr Schicksal würde im Licht der ihm zugeschriebenen Gerechtigkeit und Güte unerklärlich sein. Auch wenn wir glauben, daß alles schließlich ein glückliches Ende finden wird, wenn das Königreich Gottes kommt, Phänomene wie Auschwitz, Stalin und Mao Tse-tung und die anderen ungezähl-
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ten, von Menschen verursachten und naturgegebenen Katastrophen in der Geschichte würden gewiß jeden fühlenden Menschen zögern lassen, diesen angeblichen Akt der Schöpfung als gütig und weise zu akzeptieren. All das ungeheure Leid, durch das der Mensch in der Geschichte gegangen ist, wird vermeintlich entweder durch die Erbsünde oder durch die Unerforschlichkeit des Ratschlusses Gottes wegerklärt, aber der inneren Stimme, die aus den Tiefen der menschlichen Würde und des reinen Gefühls aufsteigt, fällt es schwer, solchen bestürzenden Auslegungen zuzustimmen. Zu Zeiten bleibt es auch den frömmsten Gläubigen nicht erspart, sich in stiller Stunde zu fragen, wie es denn wirklich um einen vernünftigen Sinn dieses ganzen Lebens bestellt sein mag. Mit der Karma-Lehre jedoch ist das Problem des Bösen und der moralischen Gerechtigkeit vergleichsweise leichter zu erklären. Natürlich heißt das nicht, daß es da keine Schwierigkeiten gäbe. Aber die Karma-Lehre, zusammen mit dem Nichtvorhandensein eines Gottes, macht klar, warum das Problem des Bösen in der buddhistischen Überlieferung niemals so quälend wurde wie in der jüdisch-christlichen. Die schwierigste Lehre des Buddhismus ist ohne Zweifel die Karma-Lehre, deren Komplexität und Unfaßbarkeit einen um Verständnis Bemühten manchmal schier verzweifeln lassen kann. Um sie klar verständlich zu machen, wäre ein eigenes Buch nötig. Aber ein paar Worte über das Karma sind unerläßlich als Überleitung zu der folgenden Untersuchung, die sich mit der Hua-yen-Lehre der Totalität beschäftigen wird. Karma bedeutet Aktion, aber auch Kraft. Da eine Aktion immer eine bestimmte Kraft auslöst und diese Kraft dann wieder weitere Aktionen hervorruft, ist Karma wesentlich eine Lehre der komplizierten Wechselwirkungen zwischen Kräften und Aktionen, die das sich drehende Rad des Samsara antreiben. Auf der kosmologischen Ebene ist dieser Kraft-Aktion-Komplex eine erstaunliche Macht, die das Universum und das Leben antreibt; auf der ethischen Ebene ist es ein unfehlbares, unpersönliches Gesetz, das die sittliche Ordnung verwirklicht und auf natürliche Weise «Belohnungen» und «Vergeltungen» austeilt. Metaphysisch ist das Karma eine schöpferische Energie, hervorgerufen von den kollektiven Aktionen bestimmter Gruppen; es stützt die Ordnung und Funktion eines besonderen Uni24
versums, in dem diese Gruppen behaust sind. Letztlich ist Karma ein Mysterium, ein Wunder, das menschliches Begreifen übersteigt. All die großen Wunder der Welt, die biologischen und astronomischen Mysterien, sind - nach dem Verständnis des Buddhismus - nicht der allmächtigen Hand Gottes zu verdanken, sondern der Macht des Karma. In vieler Hinsicht ist Karma in der buddhistischen Überlieferung fast ein Äquivalent zu dem, was ein allgemeiner Ausdruck als «Willen Gottes» bezeichnet. Der Unterschied ist, daß der Buddhismus das letztlich Unbekannte des Lebensmysteriums von einer naturalistischen Orientiertheit aus sieht, während die jüdisch-christliche Überlieferung sich eine theistische Sicht zu eigen macht. Das Mysterium des Karma ist ebenso unerforschlich wie das Mysterium von Gottes Willen, nicht mehr und nicht weniger. Die große Unwissenheit und Begrenztheit des menschlichen Geistes tritt klar zutage, sobald er sich in irgendein tieferes Problem versenkt. Jeder muß seinen Frieden schließen mit dem letztlich Unbekannten und sich auf eine Orientierung und einen Glauben besinnen, die ihm am sinnvollsten und förderlichsten erscheinen. Nach diesem kurzen Überblick über die grundlegenden Anschauungen vom kosmischen Drama, wie sie von einer Religion gesehen werden, die jenseits des Historischen liegt, können wir nun zur Betrachtung der buddhistischen Lehre von der Ganzheit des Sein übergehen.
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ERSTER TEIL
Der Bereich der Totalität
Die Unendlichkeit des Buddhabereiches
Was sieht und hört ein Buddha?1 Wie handelt und denkt er? Was erkennt und erlebt er? Kurz, was ist es für ein Gefühl, ein Buddha zu sein? Diese Fragen sind von allen Buddhisten durch die Jahrhunderte gestellt worden, genauso wie die Juden, die Christen, die Moslems und die Hindus immer nach ihren Göttern und Propheten gefragt haben. Wenn diese Fragen überhaupt beantwortbar sind, müssen die Antworten sehr schwierig sein. Eine Frage stellen heißt einen Geisteszustand offenbaren, und eine Frage beantworten ist der Versuch, seine eigene Erfahrung mit anderen zu teilen. Eine Antwort kann ohne Sinn und Bedeutung sein, wenn sie dem gegeben wird, der an der Erfahrung, von der sie ausgeht, keinen Anteil hat. Ich will das deutlich machen. Unter sengender Sonne legte eine Karawane langsam ihren Weg durch eine tibetische Wüste zurück. Unter den Reisenden war ein Amerikaner, der von Hitze und Durst gepeinigt ausrief: «O, was würde ich jetzt für ein großes Glas Eiscreme-Soda geben!» Ein Tibeter neben ihm hörte diese Bemerkung und fragte den Amerikaner: «Was ist das, Eiscreme-Soda?» «Eiscreme-Soda ist ein erstaunlich köstliches, kaltes Getränk!» «Schmeckt es wie unser Buttertee, wenn er kalt ist?» «Nein, es schmeckt nicht so.» «Schmeckt es wie kalte Milch?» «Nein, nicht genauso - Eiscreme-Soda schmeckt ganz anders als einfache, kalte Milch; es kann sehr verschiedene Geschmacksrichtungen haben; außerdem sprudelt es.»
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«Wenn es sprudelt, schmeckt es vielleicht wie unser Gerstenbier?» «Nein, natürlich nicht!» «Woraus ist es gemacht?» «Aus Milch, Sahne, Eiern, Zucker, Geschmacksbeigaben, Eis und Sodawasser...» Der verwirrte Tibeter konnte nicht begreifen, wie solch eine groteske Mischung ein gutes Getränk sein könne. So wird also eine Mitteilung ohne den Boden einer gemeinsamen Erfahrung äußerst schwierig. Einsteins Welt ist gänzlich verschieden von der des Durchschnittsmenschen. Wenn die Unterschiede, die die Weltvorstellungen der Menschen voneinander trennen, zu groß werden, ist es nicht mehr möglich, sie zusammenzuführen. Als der Buddha versuchte, seiner Zuhörerschaft seine Erfahrung zu beschreiben, sah er diese Schwierigkeit voraus. Wie viele Sutras bezeugen,2 schwang in den Unterweisungen des Buddha oft eine gewisse Resignation ob der Tatsache mit, daß Buddhaschaft nichts ist, das in Worten beschrieben oder durch Denken verstanden werden kann. Die Grundschwierigkeit liegt in dem Umstand, daß wir nicht an der Erfahrung des Buddha teilhaben. Um das Unenthüllbare zu enthüllen und den unbeschreiblichen Bereich der Buddhaschaft zu beschreiben, beschenkt uns das HuayenSutra3 - eine der großartigsten Schriften des Mahayana-Buddhismus für diejenigen, die danach streben, trotz aller Schwierigkeiten einen Schimmer dieses großen Geheimnisses zu erhaschen - mit einem ehrfurchteinflößenden Panorama der Buddhaschaft. Das Mysterium der Buddhaschaft kann vielleicht in zwei Worten zusammengefaßt werden: Totalität und Nicht-Behinderung. Das erstere bezeichnet die allesumfassenden und allesgewahrenden Aspekte der Buddhaschaft; das letztere das totale Freisein von allem Anhaften und allen Bindungen. Ontologisch gesprochen kann dank der Totalität die Nicht-Behinderung erreicht werden, aber kausal gesprochen wird durch eine Verwirklichung der Nicht-Behinderung - also durch das vollständige Zunichtewerden aller geistigen Hindernisse und «Blockierungen» - der Bereich der Totalität erreicht. Auf den folgenden Seiten werden wir die philosophischen, erfahrungsmäßigen und instrumentalen Auswirkungen der Totalität und Nicht-Behinderung prüfen; aber zuerst wollen wir ein paar Stellen aus dem Hua-yen30
Sutra lesen, um eine Ahnung von der Dharmadhatu,4 der Unendlichkeit und Totalität der Buddhaschaft, zu bekommen. Der Buddha erwiderte dem Bodhisattva Chittaraja:5 «Du hast mich gefragt, mein guter Sohn, wie der Welt die Art und Weise von Buddhas Erfahrung begreifbar zu machen ist [das ist eine Frage nach der unbegreiflichen, unvorstellbaren, unausdrückbaren Unendlichkeit]. Höre aufmerksam zu, und ich werde es dir nun erklären: Zehn Millionen sind ein Koti; ein Koti-Koti ist ein Ayuta; ein Ayuta-Ayuta ist ein Niyuta; ein Niyuta-Niyuta ist ein Binbara [eine Zahl mit 75 Nullen]; und ein Binbara ist... [so geht es weiter in geometrischer Progression, und zwar noch weitere einhundertfünfundzwanzigmal; die letzte Zahl heißt dann] ein Unbeschreiblich-Unbeschreibliches Kreisen und Wogen ... .»6 Dann fuhr der Buddha mit den folgenden Strophen fort:7 Das Unbeschreiblich-Unbeschreibliche Kreisen und Wogen durchdringt, das nicht beschrieben werden kann. ... Es würde eine Ewigkeit währen, all die Universen der Buddhas zu zählen. In jedem Sonnenstäubchen dieser Welten gibt es unzählige Welten und Buddhas. ... Auf der Spitze jedes Haares des Körpers eines Buddha werden Reine Welten sichtbar, die nicht beschrieben werden können. ... Unbeschreiblich sind der Buddhas Wunder und Namen, unbeschreiblich ist ihre Schönheit und Herrlichkeit, unbeschreiblich sind die vielen Dharmas, die sie lehren, unbeschreiblich ist die Art, in der sie die Lebewesen zum Reifen bringen. ... Ihr [der Buddhas] unbehinderter Geist ist unbeschreiblich, ihre Verwandlungen sind unbeschreiblich, die Arten, in denen sie alle Lebewesen wahrnehmen, läutern und erziehen, sind unbeschreiblich. . . . Die Lehren, die sie verbreiten, sind unbeschreiblich. Jede dieser Lehren enthält
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unendlich viele, unbeschreibliche Varianten; jede von ihnen bringt Lebewesen auf unbeschreibliche Weise zum Reifen. Unbeschreiblich sind ihre Sprachen, Wunder, Offenbarungen und Kalpas. ... Selbst ein hervorragender Mathematiker könnte ihre Zahl nicht errechnen, aber ein Bodhisattva kann sie alle darlegen. ... Die unbeschreiblichen unendlichen Welten lassen sich alle in der Spitze eines Haares [eines Buddha] versammeln, ohne sie zusammenzudrängen oder das Haar auch nur im geringsten auszudehnen. ... In diesem Haar bleiben die Welten so, wie sie sind, ohne die Gestalt zu verändern oder sich zu verwandeln. ... O, unbenennbar sind die Arten, wie sie in das Haar gelangen. ... Unbenennbar sind die Ausmaße des Bereiches. ... Unbenennbar ist die Reinheit des Körpers eines Buddha. Unbenennbar ist die Reinheit der Erkenntnis eines Buddha. Unbenennbar ist das Erlebnis, wenn alle Zweifel verschwunden sind. Unbenennbar ist das Gefühl des Verwirklichens der Wahrheit. Unbenennbar ist der tiefe Samadhi. Unbenennbar ist die Allwissenheit! Unbenennbar ist es, den Seinsstand aller Lebewesen zu kennen, unbenennbar, ihre Karmas und Neigungen zu kennen, unbenennbar, den Geist aller Lebewesen zu kennen, unbenennbar, alle ihre Sprachen zu kennen. Unbenennbar ist das große Erbarmen der Bodhisattvas, die auf unaussprechliche Weise allen Lebewesen dienen. Unbenennbar sind ihre unzählbaren Handlungen, unbenennbar ihre unermeßlichen Gelübde, unbenennbar ihre Fähigkeiten, Kräfte und Mittel. ... Undurchschaubar sind die Gedanken der Bodhisattvas, ihre Gelübde und ihr Verständnis! 32
Unauslotbar ist ihr Wissen um alle Zeiten und Dharmas. Ihre andauernden geistigen Übungen sind unerfaßbar, genauso wie ihre plötzliche Erleuchtung. ... Unbegreiflich ist die Freiheit der Buddhas, sind ihre Wunder, ihre Offenbarungen und ihr Erbarmen für die gesamte Menschheit! Die unendlichen Weltzeitalter zu erklären ist noch möglich; die unendlichen Verdienste der Bodhisattvas zu preisen ist unmöglich.» ... Daraufhin sprach der Bodhisattva Chittaraja zu den Versammelten:8 «Hört mich an, ihr Söhne des Buddha, ein Kalpa [oder Weltzeitalter] in dieser Saha-Welt - dem Reich des Buddha Shakyamuni - entspricht einem Tag und einer Nacht in der großen Paradies-Welt des Buddha Amita; ein Kalpa im Reich des Buddha Amita entspricht einem Tag und einer Nacht in der Welt des Buddha Diamanten-Kraft, und ein Kalpa im Land des Buddha Diamanten-Kraft entspricht einem Tag und einer Nacht im... Und so geht es immer weiter, durch Millionen von unzählbaren Welten, bis die letzte Welt [dieser Reihe] erreicht ist. Dort entspricht ein Kalpa wiederum einem Tag und einer Nacht in der Welt des Buddha Göttlicher Lotos - wobei der Bodhisattva Samantabhadra und alle anderen großen Bodhisattvas, die jetzt hier versammelt sind, auch dort anwesend sind und die Himmel füllen. ... Sobald ein Bodhisattva die Zehn Arten der Weisheit errungen hat, kann er die Zehn Allumfassenden Verschmelzungen vollziehen. Worin bestehen diese? Sie bestehen darin: Alle Universen in ein Haar zu bringen und ein Haar in alle Universen; die Leiber aller Lebewesen in einen Leib zu bringen und einen Leib in die Leiber aller Lebewesen; eine unvorstellbare Zahl von Äonen in einen Augenblick zu bringen und einen Augenblick in eine unvorstellbare Zahl von Äonen; die Dharmas aller Buddhas in einen Dharma zu bringen und einen Dharma in die Dharmas aller Buddhas; eine unvorstellbare Zahl von Orten in einen Ort zu bringen und einen Ort in eine unvorstellbare Zahl von Orten; eine unvorstellbare Zahl von Organen in ein Organ zu bringen und ein Organ in eine unvorstellbare Zahl von Organen; alle Organe in ein Nicht-Organ zu bringen und ein NichtOrgan in alle Organe; ... alle Gedanken in einen Gedanken zu bringen und einen Gedanken in alle Gedanken; aus allen Stimmen und Sprachen eine Stimme und Sprache zu machen und aus einer 33
Stimme und Sprache alle Stimmen und Sprachen; aus allen drei Zeiten9 eine Zeit zu machen und aus einer Zeit alle drei Zeiten. ... Söhne des Buddha, worin besteht dieser höchste Samadhi, den ein Bodhisattva errungen hat?10 Wenn sich ein Bodhisattva in diesem Samadhi befindet, dann hat er die Zehn Formen des Nicht-Anhaftens erreicht, ... das Nicht-Anhaften an alle Länder, Richtungen, Zeitalter, Gruppen, Dharmas, Gelübde, Samadhis, Buddhas und Stufen. ... Söhne des Buddha, wie geht ein Bodhisattva in diesen Samadhi ein, und wie verläßt er ihn? Ein Bodhisattva geht in diesen Samadhi mit seinem inneren Körper ein und verläßt ihn mit seinem äußeren Körper; ... er geht in den Samadhi mit seinem menschlichen Körper ein und verläßt ihn mit einem Drachenkörper; ... er geht in ihn mit einem Deva-Körper ein und verläßt ihn mit einem Brahma-Körper; ... er geht in ihn mit einem Körper ein und verläßt ihn mit tausend, ... einer Million, einer Milliarde Körpern; ... er geht in ihn mit tausend, ... einer Million, einer Milliarde Körpern ein und verläßt ihn mit einem Körper; ... er geht in ihn mit einem befleckten Körper eines Lebewesens ein und verläßt ihn mit tausend, einer Million ... reiner Körper; er geht in ihn mit tausend, einer Million reiner Körper ein und verläßt ihn mit einem befleckten Körper; er geht in ihn durch die Augen ein und verläßt ihn durch die Ohren, durch die Nase, durch die Zunge ... durch den Geist; ... er geht in ihn durch ein Atom ein und verläßt ihn durch eine unendliche Zahl von Universen; er geht in ihn in seinem Selbst-Körper ein und verläßt ihn in einem Buddha-Körper; er geht ein in ihn in einem Augenblick und taucht daraus auf in Billionen von Zeitaltern; er geht ein in ihn in Billionen von Zeitaltern und geht hervor daraus in einem Augenblick; ... er geht ein in ihn in der Gegenwart und taucht auf daraus in der Vergangenheit; ... er geht ein in ihn in der Zukunft und verläßt ihn in der Gegenwart; ... er geht ein in ihn in der Vergangenheit und taucht auf daraus in der Zukunft. ... Der Bodhisattva, der diesen Samadhi11 erreicht hat, kann eine unendliche, unermeßliche, unbegreifliche, unzählbare, unaussprechliche, unaussprechlich unaussprechliche ... Zahl von Samadhis erkennen; von denen ein jedes eine unendlich große Vielfalt von Erfahrungen aufweist - alles was eintritt und entsteht, bleibt und sich formt, sich offenbart und handelt, sich kennzeichnet und entwickelt, sich reinigt und läutert - er sieht es alles, durchsichtig klar. ... Ein Bodhisattva, der in diesem höchsten Samadhi weilt, sieht unendlich viele Welten, erkennt unendlich viele Buddhas, erlöst unendlich viele Lebewesen, versteht unendlich viele Dharmas, vollendet unendlich viele Handlungen, läßt unendliche Male Begreifen vollkommen werden, geht in eine unendliche Zahl von Dhyanas ein, demonstriert eine unendliche Anzahl von Wundern, erringt unendliche Weisheit, verweilt in einer unendlichen Zahl von Augenblicken und Zeiten.»
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Die obigen Zitate sind offensichtlich zu kurz, zu diskursiv und unsystematisch, um die Totalität der Buddhaschaft zu beschreiben, wie sie im Hua-yen-Sutra - einem umfangreichen Schriftwerk von mehr als einer halben Million Wörtern - geschildert wird. Dennoch können uns diese Zitate eine Ahnung davon verschaffen. In Buddhas Antwort an den Bodhisattva Chittaraja wird von der Ungeheuerlichkeit des Bereichs gesprochen, der, in Zahlen übertragen, weit über die äußerste Grenze der empirischen Welt hinausgehen würde. Die Stelle gibt uns den Eindruck, daß der Verfasser hier in der Sprache der modernen Astronomie redet. Der Name, der der letzten Zahl gegeben wird - das Unbeschreiblich-Unbeschreibliche Kreisen und Wogen - ist besonders interessant und bezeichnend. Es ist offenbar kein erfundener Name, der gegeben wurde, um eine endgültige und unveränderliche Zahl zu bezeichnen, sondern ein beschreibender Terminus, bestimmt, die erlebnishafte Schau eines ungeheuren Geistes zu beschreiben. Was bedeutet der Ausdruck «Unbeschreiblich-Unbeschreibliches Kreisen und Wogen»? Warum sollte ein gefühlsbetontes Wort wie unbeschreiblich hier überhaupt benützt werden, um eine Zahl oder Quantität zu definieren? Außerordentlich große oder kleine Zahlen, die die Unendlichkeit in den zwei Extremen umschließen, können leicht verbegrifflicht und in Symbolen und Abstraktionen ausgedrückt werden, aber sie sind schwer zu erleben oder in einer intimen oder unmittelbaren Weise zu «spüren». Wir haben keine Schwierigkeit beim Erfassen der Idee Million, Billion, Trillion oder selbst der Unendlichkeit, aber es ist sehr schwierig für uns, diese größeren Zahlen in empirischer Erfahrung zu begreifen und zu erfassen. Die Welt der Symbole und Abstraktionen ist in höchst kennzeichnender Weise verschieden von der der Sinneserfahrung und Einsicht. Die erstere ist, um die buddhistische Terminologie zu gebrauchen, ein Bereich indirekten Messens und die letztere ein Bereich direkter Verwirklichung.12 Es heißt, daß im Geist eines Buddha diese beiden Bereiche nicht getrennt sind. Die YogacharaPhilosophen gehen sogar so weit zu sagen, daß der Geist eines Buddha nur einen Bereich hat, den der unmittelbaren Verwirklichung. Ein Buddha «denkt» niemals bloß, sondern er «sieht» immer. Das heißt, daß kein Denk- oder Überlegungsprozeß im Geist eines Buddha Platz greift; er ist immer im Bereich der unmittelbaren Ver35
wirklichung, einem Bereich, der ohne Denkbilder ist. Der Umstand, daß ein Denkbild-freier Buddha-Geist den Menschen seine Erfahrung mittels Denkbildern übermitteln kann, ist vielleicht ein ewiges Geheimnis, das niemals vom Verstand gelöst werden kann. Aber ist es nicht auch wahr, daß, wenn ein solches Mysterium existiert, es nicht anders als unbeschreiblich sein kann - ein Begriff, der die Unmöglichkeit ausdrückt, an etwas durch Denkbilder heranzukommen? Die Feder eines Leo Tolstoi kann ein lebendiges Panorama der Schlacht von Borodino erzeugen - aber wessen Feder kann die Schlachten von Borodino, der Normandie, von Stalingrad, Verdun, Zama, Okinawa die Tausende von Schlachten der Geschichte - alle gleichzeitig heraufbeschwören? Ist es nicht ganz verständlich, daß Buddha seine Zuflucht zum Gebrauch des apologetischen Begriffes «UnbeschreiblichUnbeschreibliches Kreisen und Wogen» nimmt, um den Druck des Zwangs zu lösen, seine unmittelbare Erfahrung des «Sehens» des ehrfurchtgebietenden Panoramas der Totalität durch so ein jämmerliches Verständigungsmittel wie die menschliche Sprache auszudrücken? Das Unbeschreiblich-Unbeschreibliche Kreisen und Wogen, das nicht beschrieben werden kann, ... es würde eine Ewigkeit währen, all die Universen der Buddhas zu zählen. In jedem Sonnenstäubchen dieser Welten gibt es unzählige Welten und Buddhas. ... In der Spitze jedes Haares des Körpers eines Buddha werden Reine Welten sichtbar, die nicht beschrieben werden können. ... Und ebenso wenig können ihre Wunder, ihre Herrlichkeiten, ihre Namen und Schönheiten beschrieben werden. Diese Worte erinnern uns an Pascals Gedanken13 und die Worte, mit denen er seine große Schau der Totalität klar ausgedrückt hat: Laß den Menschen das Ganze der Natur in all seiner Fülle und Herrlichkeit erschauen, und laß ihn seinen Blick von den niedrigen Dingen wegwenden, die ihn umgeben. Laß ihn das strahlende Licht schauen, das gleich einer
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ewigen Lampe das Universum erleuchtet; laß ihm die Erde als Punkt erscheinen gegenüber dem riesigen Kreis, den die Sonne beschreibt, und laß ihn das Wunder bestaunen, daß dieser riesige Kreis selbst nur ein winziger Punkt ist gegenüber dem, den die Sterne durch das Firmament beschreiben. Aber wenn unser Blick dort anhält, dann laß unsere Einbildungskraft weiterschweifen; es wird sich eher unsere Vorstellungskraft erschöpfen als die Kraft der Natur. Die ganze sichtbare Welt ist nur ein unbemerkbares Atom im fruchtbaren Schoß der Natur. Kein Gedanke kommt an sie heran. Wir mögen unsere Vorstellungen über alle denkbaren Räume hinaus erstrecken, wir schaffen trotzdem nur Atome gegenüber der Wirklichkeit der Dinge. Es handelt sich um eine unendlich große Sphäre, deren Mittelpunkt überall und deren Umfang nirgends ist. Es ist das größte den Sinnen faßbare Zeichen der Allmacht Gottes, daß unsere Einbildungskraft an diesem Gedanken scheitert. Laß den Menschen zu sich selbst zurückkehren und bedenken, was er im Vergleich dazu ist; laß ihn sich selbst sehen als Verlorenen in einem fernen Winkel der Natur, und von diesem kleinen Plätzchen, an dem er sich befindet, ... laß ihn die Erde, die Königreiche, die Städte und sich selbst nach dem wahren Wert erkennen. Was ist ein Mensch in der Unendlichkeit? Aber, um ihm ein anderes Wunder zu zeigen, das ebenso erstaunlich ist, laß ihn die kleinsten Dinge betrachten, die er kennt. Eine Milbe, mit ihrem winzigen Körper und ihren noch viel winzigeren Gliedmaßen mit deren Gelenken, den Adern in den Gliedmaßen, dem Blut in den Adern, der Flüssigkeit im Blut, den Tropfen in der Flüssigkeit und dem Wasserdampf in den Tropfen. Durch weiteres Zergliedern dieser Dinge laß ihn seine Vorstellungskraft erschöpfen und laß uns das Letzte, bis zu dem er vordringen kann, zum Gegenstand unserer Betrachtung nehmen. Vielleicht glaubt er, es handle sich dabei um das kleinste Ding in der Natur. Ich werde ihm darin eine neue Unendlichkeit zeigen. Ich will ihm nicht nur das sichtbare Universum, sondern alles, was er sich von der unermeßlichen Größe der Natur vorstellen kann, im Innern des Atoms zeigen. Laß ihn darin eine Unendlichkeit von Universen sehen, jedes mit seinem eigenen Firmament, seinen Planeten, seiner Erde, im gleichen Verhältnis wie in der sichtbaren Welt; jede Erde mit Tieren und den Milben, in denen er wiederum alles findet, was die erste Milbe enthielt, und in diesen anderen wieder die gleichen Dinge, und so immer weiter, ohne Ende. Laß ihn sich verlieren in den Wundern, die er im Winzigsten entdeckt, ebenso wie zuvor im ungeheuer Großen. Denn wer wird nicht erstaunt sein davor, daß unser Körper, der vor kurzem noch kaum wahrnehmbar im Universum und dieses selber kaum wahrnehmbar im Ganzen war, jetzt ein Koloß, eine Welt geworden ist, oder richtiger ein Ganzes, eine Totalität im Vergleich zu dem Nichts, das wir nicht zu erfassen vermögen? 37
Wer sich in diesem Licht erblickt, wird vor sich selbst erschaudern, und wenn er sich in der Körperlichkeit, die ihm die Natur gab, so zwischen diesen beiden Abgründen, der Unendlichkeit und dem Nichts, sieht, wird er angesichts dieser Wunder erbeben, und je mehr sein Staunen sich in Bewunderung wandelt, um so mehr wird er bereit sein, schweigend sich darein zu versenken, statt sie in Überheblichkeit zu beherrschen streben. Denn, was ist der Mensch wirklich in der Natur? Ein Nichts gegenüber dem Unendlichen, ein All gegenüber dem Nichts, eine Mitte zwischen Nichts und All. Da er unendlich weit davon entfernt ist, die äußersten Grenzen zu verstehen, und das Ende der Dinge wie deren Anfang vor ihm hoffnungslos als ein undurchdringliches Geheimnis verborgen sind, ist er gleichermaßen unfähig, das Nichts zu erkennen, aus dem er geschaffen wurde, wie das Unendliche, das ihn verschlingen wird. Was also kann er tun, als das Phänomen der Mittelstellung der Dinge wahrzunehmen, in der dauernden Verzweiflung, weder ihren Anfang noch ihr Ende zu kennen.
Was bisher über die Totalität gesagt worden ist, sei es von Pascal oder dem Hua-yen-Buddhismus, kann vielleicht wie folgt zusammengefaßt werden: So wie ein Sonnensystem seine Planeten enthält oder ein Planet seine Atome, so schließt ein «größeres» Universum immer die «kleineren» ein und ist umgekehrt selber eingeschlossen in einem Universum, das größer ist als es selber. Dieses System von höheren Bereichen, die niedrigere einschließen, wird als ein Gefüge betrachtet, das aus «Schichten» oder «Ebenen» besteht, die sich ad infinitum in beide Richtungen erstrecken. Ein Universum kann unendlich groß oder unendlich klein sein, das hängt vom Maßstab ab oder vom Standpunkt, von dem aus gemessen wird. Kurz, Totalität wird hier beschrieben als Bereiche, die Bereiche ad infinitum umschließen (chung-chung wuchin). Bis hierher besteht kein Unterschied zwischen der Hua-yen-Version der Totalität und der Pascals. Aber wenn wir weiter lesen und genauer zusehen, finden wir, daß ein großer Unterschied zwischen den beiden besteht. Wir lesen im Hua-yen-Sutra: Die unbeschreiblichen unendlichen Welten lassen sich alle in der Spitze 38
eines Haares [eines Buddha] versammeln, ohne sie zusammenzudrängen oder das Haar auch nur im geringsten auszudehnen. . . . In diesem Haar bleiben die Welten so, wie sie sind, . . . Und an anderer Stelle: Sobald ein Bodhisattva die Zehn Arten der Weisheit errungen hat, kann er die Zehn Allumfassenden Verschmelzungen vollziehen. ... Alle Universen in ein Haar zu bringen und ein Haar in alle Universen; die Leiber aller Lebewesen in einen Leib zu bringen und einen Leib in die Leiber aller Lebewesen; eine unvorstellbare Zahl von Äonen in einen Augenblick zu bringen und einen Augenblick in eine unvorstellbare Zahl von Äonen; ... alle Gedanken in einen Gedanken zu bringen und einen Gedanken in alle Gedanken; ... aus allen drei Zeiten eine Zeit zu machen und aus einer Zeit alle drei Zeiten. ... [Er geht in den Samadhi ein] in einem Augenblick und taucht daraus auf in Billionen von Zeitaltern; er geht ein in ihn in Billionen von Zeitaltern und geht hervor daraus in einem Augenblick; ... er geht ein in ihn in der Gegen-wart und taucht auf daraus in der Vergangenheit; ... er geht ein in ihn in der Vergangenheit und taucht daraus auf in der Zukunft.
Hier finden wir, daß sowohl Zeit wie Raum ihre Bedeutung und Macht verloren haben. Hier handelt es sich nicht nur darum, daß ein Bereich andere Bereiche ad infinitum umschließt, sondern um eine totale Umkehrung, eine durchgehende Befreiung von allen Behinderungen. Hier gibt es ein vollkommenes Verschmelzen und Einander-Durchdringen aller Bereiche. Alles in Einem und Eines in allem, das Ineinander-Aufgehen von Sein und Nicht-Sein, das Ineinsfallen von Leere und Existenz, das «gleichzeitige plötzliche Entstehen» und das «vollkommene gegenseitige Sich-ineinander-Auflösen».14 All diese Mysterien der Totalität bestehen in einem zugrundeliegenden Prinzip, nämlich: Alle Dinge, die in Abhängigkeit entstehen (pratityasamutpada), sind leer. Im Gegensatz zu den Lehren der verschiedenen Monismen und Monotheismen behauptet die Hua-yen-Lehre, daß die Wunder der Dharmadhatu ins Spiel kommen nicht aufgrund des Einen, sondern aufgrund der großen Leere. So, wie die Null und nicht die Eins der Ausgangspunkt aller Zahlen ist, so wird aufgrund der Leere (shunyata) die gegenseitige Durchdringung und Nicht-Be39
hinderung der Bereiche möglich. Dank der Leere kann die alles einschließende Totalität die unendlichen Möglichkeiten ohne Behinderung offenbaren. Shunyata (Leere oder Leersein) ist in der Tat das Wesen und das Mark des Buddhismus, das manchmal Nicht-Ich (wu wo) genannt wird, manchmal Nicht-Anklammern (wu chih), Nicht-Verweilen (wu chu), Nicht-Behinderung (wu ai), offene Weite (k'ung hsing), gegenseitige Durchdringung (t'out'o), oder das mit hundertundeinem anderen Namen bezeichnet wird. Betont man den «ichlosen» Aspekt dieses großen Shunyata-Mysteriums, haben wir den Hinayana-Buddhismus; betont man den leeren Aspekt dieses Mysteriums, haben wir den Madhyamaka-Buddhismus; betont man den Aspekt des Nicht-Anklammerns und Nicht-Verweilens, haben wir Zen; betont man den Aspekt der Nicht-Behinderung und des Alles-Umschließenden, haben wir Hua-yen. Faßt man das, was wir in den Zitaten aus dem Hua-yen-Sutra gelesen haben, zusammen, so findet man, daß die Totalität und Nicht-Behinderung der Buddhaschaft wie folgt ausgedrückt werden: 1. Ein Universum kann unendlich groß oder unendlich klein sein, je nach dem Maßstab oder dem Standort, von dem aus gemessen wird. 2. Die «größeren» Universen enthalten die «kleineren» wie ein Sonnensystem seine Planeten oder ein Planet seine Atome. Dieses System höherer Bereiche, die niedrigere einschließen, wird veranschaulicht in einem Gefüge, das sich ad infinitum in beiden Richtungen erstreckt zum unendlich Großen und unendlich Kleinen. Das heißt in der Sprache des Hua-yen-Sutra : die Sicht von Bereichen, die andere Bereiche umschließen. 3. Ein «kleines» Universum (etwa ein Atom) enthält nicht nur die unendlich «kleineren» Universen in sich, sondern auch die unendlich «größeren» Universen (wie das Sonnensystem), was die echte Totalität der NichtBehinderung begründet. 4. Die «Zeit» hat ihre Bedeutung als eine bloße Vorstellung für das Messen des Ereignisflusses in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verloren. Sie ist ein Element der Totalität geworden, das die totale Durchdringung und das Enthaltensein aller Ereignisse der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einer ewigen Gegenwart verwirklicht.
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5. Auf der großen Bühne der unendlichen Dharmadhatu spielen sich ungezählte Dramen des Religiösen in zahllosen Raum-Zeit-Erstreckungen in aller Ewigkeit ab.
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Ein Gespräch über die Totalität
Bevor wir die Hua-yen-Lehren von der Nicht-Behinderung und der Totalität weiter behandeln, wollen wir zuerst ein Gespräch hören, das vielleicht die Skepsis verringern kann, die angesichts der «unlogischen» und phantastischen Behauptungen des Hua-yen-Sutra im Leser entstanden sein mag. Dieser Dialog könnte in der Unterweisungshalle jedes chinesischen Klosters stattfinden, in dem Hua-yen gelehrt wird. Der Meister sagt: «So ist also der Bereich der Buddhaschaft die Totalität der Nicht-Behinderung - das allverschmelzende, einander durchdringende und gleichzeitige Entstehen unendlicher Bereiche, wie sie ein allwissender und allgegenwärtiger Geist wahrnimmt. Wenn einer bis zu diesem Bereich gelangt, befreit er sich von der Gebundenheit an Zeit und Raum, an Reinheit und Befleckung, an Nirvana und Samsara. Er kann einen Chiliokosmos in ein Sonnenstäubchen bringen, ohne daß der Chiliokosmos sich zusammenziehen oder das Sonnenstäubchen sich ausdehnen muß, weil die Bindungen der Materie und Größe nicht länger für ihn existieren. Er kann die Vergangenheit nehmen und sie in die Zukunft werfen und die Zukunft ergreifen und sie in die Vergangenheit schleudern, weil die Fesseln von Zeit und Verursachung ihre Gewalt über ihn verloren haben. Der Bereich des Hua-yen ist...» An dieser Stelle ist die Geduld eines Schülers erschöpft. Er erhebt sich und unterbricht den Meister. «Aber, Meister,... wie können wir von diesen Behauptungen überzeugt sein? Man kann sagen, daß alle diese Dinge jenseits unseres Begreifens sind, aber auch wenn dem so
ist, würden wir doch gern um die Möglichkeit der Existenz dieser Dinge wissen. Es scheint ungenügend, uns zu erzählen, was ein Buddha erlebt und wie unerforschlich diese Erfahrungen sind. Es muß einen rationalen Grund für alle diese Behauptungen geben, wie es ihn auf jedem Gebiet der buddhistischen Studien gibt. Bitte, könntet Ihr mir nicht einige Erläuterungen oder Vergleiche geben, um die Finsternis in meinem Geist zu vertreiben?» Der Meister hört mit einem Lächeln der Sympathie zu. Er erinnert sich, daß dies genau die Worte waren, die er selbst einst zu seinem Meister sprach. «So, du glaubst, es sei unmöglich, ein größeres Ding in einem kleineren unterzubringen, ohne das erstere zusammenzupressen oder das letztere aufzublähen?» «Es scheint so zu sein, Meister.» «Dann schließ einmal die Augen», befiehlt der Meister, «und stell dir im Geist eine Bettelschale vor.» Nach ein paar Sekunden fährt er fort: «Nun stell dir einen Büffel vor... nun das ganze Kloster... und jetzt den riesigen Berg, der sich vor dem Kloster erhebt.» Dann fragt er: «Hattest du irgendeine Schwierigkeit, dir einen Büffel, ein Kloster oder einen riesigen Berg vorzustellen?» «Überhaupt keine Schwierigkeit, Meister.» «Dein Kopf ist kleiner als ein Büffel und viel kleiner als das Kloster oder ein Berg, aber du kannst dir diese ohne jede Schwierigkeit vorstellen. Zeigt dir das nicht die Möglichkeit, daß ein kleineres Ding ein größeres enthalten kann, ohne sich selber zu dehnen oder das andere zusammenzudrängen? Das ist ein Beispiel für die Nicht-Behinderung von «Größen» und «Räumen». Jetzt will ich dir ein Beispiel für die Nicht-Behinderung der «Zeiten» geben: Träumte ein Mensch, daß sein Vater, der schon lange tot ist, ihn in einem Haus besucht, das er noch nicht bezogen hat - ein nicht so unwahrscheinlicher Fall -, so wäre das Zeugnis für die Möglichkeit, Ereignisse der Vergangenheit in die Zukunft zu stellen und umgekehrt. Wenn es schon im Fall von Menschen möglich ist, die Bindungen von Zeit und Raum manchmal zu durchbrechen, um wieviel verständlicher wäre das doch bei Buddhas - bei Erleuchteten, die Befreiung von jedem Zwang erlangt haben!» 43
Diese Argumente bringen den Schüler zum Schweigen, aber er ist nur halb überzeugt. Nachdem er einen ganzen Tag nachgedacht hat, erhebt er am nächsten Morgen in der Klasse neue Einwände. «Meister, nach sorgfältigem Überdenken Eurer Argumente sage ich trotzdem, daß sie nicht völlig überzeugend sind. Man kann sich im Kopf einen großen Berg vorstellen, ohne den Kopf zur Größe des Berges zu erweitern, aber man stellt nicht tatsächlich den wirklichen Berg in seinen wirklichen Kopf; versuchte man das, so würde der Kopf sicher in Stücke springen. Auch bringt der Träumer nicht in Wirklichkeit seinen toten Vater in sein zukünftiges Heim. Alles, was er in seinem Traum tut, ist, sich im gegenwärtigen Augenblick ein Ding der Vergangenheit zusammen mit einer Sache in der Zukunft vorzustellen.» Der Meister erwidert: «Ich glaube, du verfehlst den entscheidenden Punkt. Deine ursprüngliche Frage war gestern: ‹Was ist der rationale Grund für die vom Hua-yen aufgestellten Behauptungen? Und was für Beispiele oder Beweise lassen sich geben, um sie zu belegen ?› Ich gab dir einen Beweis für die Tatsache, daß es für eine größere Sache nicht unmöglich ist, in einer kleineren zu existieren; das Bild eines ungeheuren Berges kann in dem kleinen Bereich des Gehirns existieren. Ich habe nicht gesagt, daß wir in Wirklichkeit einen gewaltigen Berg in unseren Kopf unterbringen können, solange wir in diesem besonderen Bereich sind. Es ist sehr wichtig, sich daran zu erinnern, daß die Hua-yen-Lehre weder die Gesetze unserer empirischen Welt noch die unserer rationalen Welt verletzt, solange wir das zur Diskussion Stehende auf den Bereich der Menschen beschränken. Aber wenn wir über etwas vom Standpunkt der Buddhaschaft aus sprechen, ändert sich die Sachlage. Das ist in dem Sutra klar ausgesprochen: Die unbeschreiblichen unendlichen Welten lassen sich alle in der Spitze eines Haares [eines Buddha] versammeln, ohne sie zusammenzudrängen oder das Haar auch nur im geringsten auszudehnen. ... In diesem Haar bleiben die Welten so, wie sie sind.
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Und an anderer Stelle: Der Buddha warf diesen Chiliokosmos nach oben und nach unten, in die westliche, östliche, südliche und nördliche Richtung ... und ließ ihn dabei Millionen, Billionen ... unendlich viele Universen durchwandern. ... Und dann warf er ihn zurück und ließ ihn dabei wieder durch dieselbe Zahl von Universen wandern bis zurück zum Ausgangspunkt. ... Die Lebewesen, die in diesem Chiliokosmos lebten, waren sich dieser großen Bewegung nicht bewußt; sie lebten in ihren jeweiligen Welten so, als ob nichts geschehen wäre.»
Der Meister fährt fort: «Wenn wir diese beiden Zitate ein wenig näher betrachten, so finden wir nichts Absonderliches darin. Sie besagen einfach erstens, daß ein Erlebnis in einer Welt stattfinden kann, ohne dabei ein Erlebnis derselben Art in einer anderen Welt zu behindern, obwohl die beiden Welten miteinander verbunden, miteinander verwoben, ja sogar ‹identisch› sind; und zweitens, daß ein Prinzip oder ein Erlebnis, das in der einen Welt als wahr anerkannt wird, es nicht unbedingt in der anderen sein muß; und durch diesen Widerspruch wird keines der beiden negiert oder ungültig gemacht. Sie koexistieren harmonisch, ohne sich gegenseitig zu beeinträchtigen. Um dies vollständig zu verstehen, solltest du sehr sorgfältig den Zehn Mysterien folgen,15 besonders dem ersten und dem dritten. Bevor ich fortfahre, möchte ich dich zuerst fragen, was du damit gemeint hast, daß wir nicht tatsächlich einen wirklichen Berg in unserem Kopf unterbringen können? Insbesondere möchte ich wissen, was du mit tatsächlich und mit wirklich gemeint hast?» «Mit tatsächlich oder wirklich meine ich ein Erlebnis, das von mir und von anderen Menschen geteilt wird. Wenn ich sage, ich trinke tatsächlich einen Becher Wasser, dann meine ich damit, daß ich und die anderen, das heißt die Zuschauer, ein Erlebnis haben, welches eine gemeinsame Grundlage für mich und für die Zuschauer bildet, eine Grundlage, auf die mit dem Satz ‹Herr Soundso hat gerade einen Becher Wasser getrunken› verwiesen wird. Der Meister: «Mit anderen Worten, was du mit tatsächlich meinst, ist etwas, das du und andere gemeinsam erlebt haben. Glaubst du denn, daß das, was du erlebt hast, und das, was die Zuschauer erlebt 45
haben, identisch ist, oder ist es nicht vielmehr verschieden? Und ferner, was meinst du mit ‹auf diese Grundlage verweisen›? Sollte es nicht eher ‹auf diese Grundlagen› heißen?» Der Schüler: «Nun, das Erlebnis, das ich hatte, und das Erlebnis, das die Zuschauer hatten, mag nicht ganz das gleiche gewesen sein, aber die gemeinsame Grundlage, auf die sich diese Erlebnisse beziehen, ist dieselbe. Daher ist es richtig zu sagen, diese gemeinsame Grundlage.» Der Meister: «Bist du dir da ganz sicher? Mir scheint, das Problem ist viel komplizierter, als du denkst. Laß uns der Einfachheit halber annehmen, daß alles, was du gesagt hast, stimmt. Dein Verständnis des ‹Wirklichen› basiert auf einer Kombination subjektiver und objektiver Annahmen. Das heißt, nicht nur du, sondern auch die Zuschauer können ein entsprechendes Erlebnis haben, womit die rein subjektive Annahme, die nach deiner Meinung nicht immer verläßlich ist, nicht ausschlaggebend ist. Ich will auch das vorläufig anerkennen. Aber der wesentliche Punkt, auf den hier unbedingt hingewiesen werden muß, ist, daß das Teilen eines Erlebnisses zur Voraussetzung hat, daß sich die Teilnehmer in derselben Welt befinden müssen. Ein Blinder kann das Erlebnis nicht teilen, das die Beobachter eines bestimmten Vorganges haben, auch wenn er körperlich genauso anwesend ist. Seine körperliche Anwesenheit verleiht ihm nicht die Fähigkeit, die Erfahrung des Sehens zu haben. Der Ausdruck «Existenz» oder «Nicht-Existenz» ist nur dann sinnvoll, wenn ein abgegrenzter Bereich vorgegeben oder impliziert ist. Dieser Schritt des ‹Sich-auf-einen-bestimmten-BereichFestlegens, um etwas sinnvoll zu machen›, stellt den wesentlichen Unterschied dar zwischen der Orientierung der gewöhnlichen Menschen und der des Hua-yen. Die gewöhnlichen Menschen beurteilen und sehen die Dinge aus einer bestimmten und daher begrenzten Perspektive, während das Hua-yen sie vom Standpunkt der Totalität sieht - was genau das Gegenteil von ‹abgegrenzt› und von Einschränkungen jeglicher Art bedeutet. Um meine Antwort auf deine Frage bezüglich der ‹Vernunftgründe› für die Behauptungen des Hua-yen abzuschließen, möchte ich sagen, daß die Richtigkeit der Aussagen des Hua-yen auf dem Wissen um die Bereiche basiert, um deren Beziehungen und Selbst-Genügsamkeit, deren Echtheit und Scheinhaftigkeit, deren
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Hindernissen und deren ‹Verminderung›, um ihre Befreiung und Bindung, ihre Existenz und Nichtexistenz und so weiter. Diese Punkte zu erhellen ist das Hauptanliegen der Philosophie des Hua-yen - eine Aufgabe, der sich die fünf Patriarchen16 und ihre Nachfolger mit großem Erfolg gewidmet haben.»
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Nicht-Behinderung Der Schlüsselbegriff der Totalität
Das Gespräch in dem vorhergegangenen Kapitel zeigt klar, daß das zentrale Thema der Hua-yen-Philosophie die Vorstellung der Bereiche ist. Totalität und Nicht-Behinderung würden sinnlos werden ohne das Konzept der Bereiche, denn der wahre Sinn der Totalität wird hier definiert als das Umschließen aller Bereiche und die Nicht-Behinderung als die unbegrenzte Möglichkeit von deren gegenseitiger Durchdringung. Aber was ist ein Bereich? Ein Bereich, allgemein verstanden, ist ein Areal oder eine Sphäre, in der gewisse Aktivitäten, Gedanken oder Einflüsse stattfinden; daher bedeutet ein Bereich immer ein Territorium mit bestimmten Grenzen. Hier ein einfaches Beispiel: Ein Glas Wasser wird von gewöhnlichen Menschen nur als eine Flüssigkeit angesehen, mit der man seinen Durst löschen kann; ein Chemiker sieht darin eine Verbindung von Wasserstoff und Sauerstoff, ein Physiker das Ergebnis eines komplexen Zusammenwirkens atomarer «Teilchen», ein Philosoph etwas, das eine Verbindung oder eine Verursachung ausdrückt, ein Buddha die Manifestation oder die Emanation der Buddha-Natur und so weiter. Dieses einfache Beispiel liefert uns einige Argumente, die bei der Darstellung der gegenseitigen Durchdringung der Bereiche nützlich sein können. In einem so einfachen Ding wie einem Glas Wasser überschneiden sich zahllose Bereiche; sie existieren gemeinsam miteinander in einer sehr geheimnisvollen Weise. Einerseits «leben sie friedlich», jeder Bereich in seiner eigenen Sphäre, ohne aus ihren Grenzen herauszutre-
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ten; andererseits «leben sie harmonisch zusammen», das heißt, ohne die geringste Behinderung oder Beeinträchtigung anderer Bereiche zu erzeugen. Die Tatsache, daß Wasser als Mittel benützt werden kann, den Durst zu löschen, hindert es nicht, auch H2O zu sein, ein Muster atomarer Wechselwirkungen, ein Ausdruck von Verbindung und Verursachung und all das übrige. Auf einer Ebene oder in einem Bereich ist Wasser ein Mittel, mit dem man ein Feuer löschen kann; auf einer anderen Ebene ist es etwas, aus dem man brennbaren Wasserstoff gewinnen kann. So können die Einordnungen und Bewertungen derselben Sache einander diametral entgegengesetzt sein, wenn der Bezugsrahmen unterschiedlich ist oder sie von unterschiedlichen Gesichtspunkten angesehen wird. Die Tatsache, daß verschiedene Bereiche miteinander in demselben Gegenstand gemeinsam existieren, wird von den Hua-yen-Philosophen als die Wahrheit des «gleichzeitigen Entstehens» (t'ung-shih chü-ch'i) bezeichnet, und die Tatsache, daß diese verschiedenen Bereiche, während sie gleichzeitig existieren, einander nicht behindern oder beeinträchtigen, sondern einander in harmonischer Weise durchdringen, wird die Wahrheit der «gleichzeitigen Nicht-Behinderung» (t'ung-shih wu-ai). Gleichzeitiges Entstehen und gleichzeitige Nicht-Behinderung sind zwei wichtige Begriffe, die in der Hua-yen-Literatur häufig gebraucht werden; wir werden sie später ausführlicher behandeln. Hier aber erinnern sie uns zunächst an einen wichtigen Umstand - nämlich, daß der menschliche Geist im Grunde nicht durch gleichzeitiges Entstehen und Nicht-Behinderung charakterisiert ist. In dem Augenblick, in dem wir an Wasser als ein Mittel zum Löschen des Durstes denken, können wir es nicht als H2O, atomare Wechselwirkungen und so weiter denken; wir müssen nacheinander von einem Bereich zum nächsten übergehen, um das Wasser auf diese Weisen zu begreifen. Dies zeigt, daß die menschliche Weise zu denken der «Eins-nachdem-anderen»-Methode des «Wechselns der Bereiche» folgt, was das genaue Gegenteil von gleichzeitigem Entstehen ist. Hier ein Beispiel: Ein äußerst fähiger, aber überlasteter Manager hat sechs Telefone auf seinem Schreibtisch, und jedes davon ist verbunden mit einer Abteilung seiner Firma. Er kann gewöhnlich zwei Telefonate gleichzeitig erledigen, gelegentlich auch drei. Er kann so schnell und so reibungs49
los «die Bereiche wechseln», daß er beinahe den Punkt des «gleichzeitigen Tuns» erreicht, aber manchmal verliert er unweigerlich den Überblick, wenn alle sechs Telefone gleichzeitig läuten. Im Gegensatz zu dieser die Bereiche wechselnden und in einem Moment nur in einem Bereich tätigen Methode, wie sie dem Geist des Menschen eigen ist, nimmt der allwissende Geist der Buddhaschaft eine gänzlich andere Funktionsweise an. Ein Geist, der alles sieht, muß nicht und kann nicht der Methode des Bereichswechsels und des Eins-nach-dem-anderen folgen; er muß Dinge in zahllosen Bereichen sehen, eines das andere durchdringend, alle in ungeheurem Maßstab gleichzeitig entstehend. Wenn wir für einen Augenblick aus unserer mechanischen und automatischen Art zu handeln heraustreten und die Dinge, die uns umgeben, überblicken - was für ein ungeheures und ehrfurchtgebietendes Mysterium werden wir entdecken! Sehen Sie sich an, was Sie gerade vor Augen haben: ein Glas Wasser, einen Tisch, einen Bleistift, eine Blumenvase oder den tanzenden Rauchfaden, der von einem brennenden Räucherstäbchen aufsteigt - in jedem Gegenstand in einem kleinen Zimmer sind unzählige Bereiche vor Ihren Augen existent, und doch können Sie sie nicht sehen! Aber dies ist nur das Bild eines Zimmers; wieviel größer wird erst das alle Bereiche umfassende Bild des ganzen Hauses, des Häuserblocks, der Stadt, des Landes, der Erde, des Sonnensystems, des Kosmos und der ganzen Dharmadhatu sein! Was für ein ungeheures Panorama muß ein allwissender Geist sehen! Aber dieses Panorama des gleichzeitigen Entstehens der Totalität zu sehen, ist nicht möglich ohne Realisierung der gleichzeitigen Nicht-Behinderung. Ersteres betrifft die «äußere Erscheinung» oder die Offenbarung der Totalität, letzteres die «innere Beziehung» oder die «Zusammensetzung» der verschiedenen Bereiche, gesehen vom Standpunkt der Totalität. Ontologisch gesprochen ist gleichzeitige NichtBehinderung noch wichtiger als gleichzeitiges Entstehen, denn durch die Verwirklichung der Nicht-Behinderung wird das Offenbar-werden der Totalität erst möglich. Nicht-Behinderung ist daher das Herzstück der Hua-yen-Philosophie. Aber was ist Behinderung? Gemeinhin versteht man unter Behinderung etwas, das irgendeiner Sache oder einer Tätigkeit im Wege 50
steht oder sie blockiert. Behinderung, wie sie jedoch im Hua-yen verstanden wird, hat einen weitergehenden Sinn; sie bezieht sich auf die «Grenzmauern», die zwischen den verschiedenen Bereichen bestehen. Um dies zu erklären, müssen wir zu unserem Beispiel vom Glas Wasser zurückkehren; in ihm finden wir viele unterschiedliche Bereiche vereinigt. Obwohl diese verschiedenen Bereiche gleichzeitig existieren und einander in höchst harmonischer Weise durchdringen, stehen zwischen ihnen bestimmte «Grenzmauern». Diese Grenzmauern mögen «greifbar» oder «unfaßbar» sein, «konkret» oder « abstrakt», «undurchdringlich» oder «durchbrechbar», «starr» oder «nachgiebig», aber sie haben alle eine bestimmte einschränkende oder begrenzende Funktion. Diesen Punkt klarzumachen kann uns das folgende Bild helfen: Ein Mensch ohne wissenschaftliche Schulung kann tausend Gläser Wasser trinken oder hundertmal in das Meer eintauchen, aber das wird ihn nicht dazu bringen, die chemische oder physikalische Zusammensetzung des Wassers zu verstehen. Er bleibt durch die Begrenzungen eines bestimmten Bereiches beschränkt und ist unfähig, sie zu durchbrechen. Um die chemische Zusammensetzung zu verstehen, muß er durch die Grenzmauern hindurchbrechen, die ihn bisher im Bereich der Unwissenheit gefangen hielten. Was er benötigt, ist nicht die Wiederholung von Experimenten, die zu dem führen, was er bereits weiß, sondern eine neue Methode und eine neue Orientierung, die ihn dazu bringen, die Grenzmauern zu durchbrechen. Diesen Ausdruck «durchbrechen» haben wir schon so oft gehört, daß wir dazu neigen, seine Wichtigkeit und Konsequenzen zu vergessen. Durchzubrechen bedeutet nicht nur, die «Grenzmauern» niederzureißen, die zwischen dem alten und dem neuen Bereich stehen, sondern auch die Erweiterung und Integration der beiden. Ein revolutionärer Durchbruch erfordert immer große Geduld, Anstrengung und Einsicht - ein klares Zeichen für die unnachgiebige und einschränkende Funktion der Grenzmauern. Diese «Mauern» sollten natürlich nicht als etwas Konkretes in der äußeren Welt behandelt werden. Sie sind nur Abstraktionen, die auf die begrenzenden und einschränkenden Funktionen eines Bereichs hinweisen. Benützt man die Huayen-Ausdrucksweise, dann sind sie «Blockaden», die der Totalität im Wege stehen. Eine vollständige Beseitigung dieser «blockierenden
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Mauern» befähigt uns, den Bereich der Nicht-Behinderung zu erreichen, der das Ziel und das Herzstück des Hua-yen ist. Hier kann man fragen: Da die Behinderungen oder «Grenzmauern» so zahllos sind wie die unendlichen Bereiche selbst, wie kann es dann jemandem möglich sein, sie alle zu zerstören? Die Antwort ist: Auch wenn die Behinderungen zahllos sind, leiten sich doch alle von der einen grundlegenden Blockade her, nämlich der Idee des Seins. Ist diese Grundlage einmal zerschlagen, so werden damit auch alle darauf errichteten Konstruktionen zerstört. Die Idee des Seins, diese Urwurzel, aus der alle anderen Ideen entspringen, ist daher die Quelle aller Hindernisse. Diese eingewurzelte, hartnäckige und alles durchdringende Idee des Seins ist die Urbehinderung, die der Totalität und unserer Befreiung im Wege steht. Statt das Sein zu glorifizieren und zu vergöttlichen, wie es viele Philosophen und Theologen sowohl westlicher wie östlicher Überlieferungen getan haben, betont der Buddhismus die unbefriedigenden und trügerischen Aspekte des Seins und die Wichtigkeit seiner Zerstörung. Ein Zen-Ausspruch hat diesen Punkt sehr klar gemacht: «Alle Dinge sind auf das Eine rückführbar; aber worauf ist dieses Eine rückführbar?» Der größte Durchbruch, der jemals vom Menschen erreicht werden kann, ist die Pulverisierung der Blockade, die die Vorstellung vom «Sein» oder vom «Einen» darstellt. Diese Blockade aber ist, psychologisch gesprochen, nichts anderes als eine tiefeingewurzelte Tendenz, Dinge festzuhalten, eine Form des Anklammerns, die sich in einer Art von eigenmächtigem Selbstbehauptungswillen manifestiert. Totalität ist unerreichbar ohne vollständige Vernichtung dieses grundlegenden Anklammerns; und Nicht-Behinderung kann nicht verwirklicht werden ohne ein Begreifen der Wahrheit des «NichtSeins», das heißt von Shunyata (Leere) - dem Herzstück und Wesen des Buddhismus. Nicht-Behinderung, wie das Hua-yen sie lehrt, fußt daher auf der Doktrin von der Leere, denn nur die Leere, selbst ohne Grenze oder Behinderung, kann alle Behinderungen «auflösen». Wir werden das Prinzip der Leere und der Nicht-Behinderung später noch in allen Einzelheiten behandeln. Ich will aber zunächst eine berühmte Geschichte anführen, die davon handelt, auf welch überzeugende Weise Meister Fa-tsang (643-712) der Kaiserin Wu
oder Wu Tse-t'ien aus der Tang-Dynastie, 17 die von 684-704 regierte, den Bereich der Totalität veranschaulichte.
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Der Spiegelsaal des Fa-Tsang
In der glorreichen Tagen der Tang-Zeit, als das chinesische Volk sich in allen Schichten des Wohlstandes und des Fortschritts erfreute und die kulturellen wie geistigen Inspirationen sich in einer Atmosphäre des Uberflusses und Erfolgs mehrten, fand die Kaiserin Wu Tse-t'ien ein besonderes Interesse an der Förderung des Buddhismus. Sie war so beeindruckt von der faszinierenden Lehre dieser fremden Religion, daß sie einige Jahre lang (ehe sie Kaiserin wurde) das Leben einer Nonne in einem Kloster führte. Später zog sie sich aus dem Kloster zurück und wurde Kaiser Kao-tsungs Konkubine. Als Kao-tsung starb, bemächtigte sie sich des Throns und wurde die erste - und auch die letzte - Kaiserin in der chinesischen Geschichte. Sie regierte zwanzig Jahre lang mit großem Erfolg. Sie wurde gehaßt und geliebt, geschmäht und bewundert, sowohl von den Zeitgenossen wie von der Nachkommenschaft. Der Geschichtsschreibung gilt sie bis heute als widerspruchsvolle Gestalt, aber niemand kann die Tatsache leugnen, daß diese außergewöhnliche Frau den größten Staatsmännern Chinas an die Seite zu stellen ist. Die Kaiserin Wu Tse-t'ien war nicht nur eine große Beschützerin des Buddhismus, sondern, meiner Meinung nach, eine höchst bemerkenswerte buddhistische Gelehrte. Ihr berühmtes «Gebet vor Öff nung der Heiligen Schrift»18 ist so ausgezeichnet, daß es von allen Buddhisten in China durch die Jahrhunderte rezitiert wurde. Ihr tiefes Interesse am Hua-yen veranlaßte sie, einen Abgesandten nach Yütien (Chinesisch-Turkestan) um einen vollständigeren Text des Huayen-Sutra19 zu senden. Unter ihrer Patenschaft wurde die achtzigbän54
dige Fassung dieses Sutra dank der gemeinsamen Anstrengungen chinesischer und ausländischer Mönchsgelehrter unter der Leitung des berühmten Sanskritgelehrten Shikshananda übersetzt. Es wird erzählt, daß während der Arbeit an der Übersetzung die Kaiserin oft selbst zum Kloster ging, um den Mönchen Essen zu bringen. Im zehnten Monat des Jahres 699 war die Übersetzung beendet, und die Kaiserin selbst schrieb zu Ehren dieser monumentalen Leistung eine ausgezeichnete Vorrede für das Buch. Zu dieser Zeit berief sie Meister Fa-tsang in die Hauptstadt, damit er dort Hua-yen im Lichte dieser neuen Übersetzung lehre. Als er über das Kapitel «Die Lotosschatz-Welt» zu predigen begann, bebte die Erde eine ganze Stunde als günstiges Zeichen für den Anlaß. Die Kaiserin Wu war hocherfreut. An diesem selben Tag berief sie Fa-tsang in den königlichen Palast und befragte ihn über die Hua-yen-Lehren von den Zehn Mysterien, von Indras Netz, vom Meeresspiegel-Samadhi, vom Prinzip der Sechs Formen und so fort. Mit bewunderungswürdiger Gelehrsamkeit und Einsicht beantwortete Fa-tsang alle ihre Fragen - aber diese Lehren sind zu tief, um sofort verstanden zu werden, selbst von einem so glänzenden Geist, wie es der von Wu Tse-t'ien war. Fürs erste war sie in Verlegenheit. Überrascht und fasziniert von Fa-tsangs Worten, fragte sie ihn wieder und wieder. Fa-tsang suchte nach einem Bild zur Veranschaulichung des Gesagten und erblickte einen goldenen Löwen, der in einer Ecke des Saales stand. Er ging zu dem Löwen hinüber und hielt dann seine berühmte Rede Über den goldenen Löwen, in der er die Wesenszüge der Hua-yen-Philosophie veranschaulichte, indem er den Löwen als Gleichnis benützte und so die Kaiserin zu einem schnellen Verstehen der Lehre brachte. Eines Tages stellte die Kaiserin Fa-tsang die folgende Frage: «Ehrwürdiger Meister, ich verstehe, daß der Mensch seine Erkenntnis auf zwei Wegen erwirbt: einmal durch Erfahrung, der direkte Weg, und das andremal durch Schlußfolgerung, die indirekte Methode. Ich verstehe auch, daß die ersten fünf Bewußtseinsarten und das Alaya nur die direkte Methode benützen, während der Geist, das sechste Bewußtsein, beide benützen kann. Deshalb sind die Erkenntnisse des bewußten Geistes nicht immer vertrauenswürdig. Die Zuverlässigkeit und Überlegenheit der unmittelbaren Erfahrung über die indirekte 55
Schlußfolgerung wird in vielen Schriften gelehrt. Ihr habt mir die Hua-yen-Lehre mit großer Klarheit und großem Scharfsinn erklärt; manchmal vermag ich die ungeheure Dharmadhatu mit meinem geistigen Auge beinahe zu sehen und hier und dort ein Zipfelchen der großen Totalität zu erahnen. Aber ich erkenne, daß all dies nur eine indirekte Annahme oder Hypothese ist. Man kann die Totalität nicht unmittelbar verstehen, ehe man die Erleuchtung erlangt hat. Ich frage mich, ob ihr, dank eures Genies, eine Darstellung zu geben vermögt, die mir das Mysterium der Dharmadhatu offenbart - einschließlich solcher Wunder wie des ‹Alles in Einem und Eines in allem:, wie des gleichzeitigen Entstehens aller Bereiche, der gegenseitigen Durchdringung und des wechselseitigen Enthaltensein aller Dharmas sowie der NichtBehinderung von Raum und Zeit und dergleichen?» Nachdem er eine Weile nachgedacht hatte, sagte Fa-tsang: «Ich will es versuchen, Euer Majestät. Die Demonstration soll sehr bald stattfinden.» Einige Tage später kam Fa-tsang zur Kaiserin und sagte: «Euer Majestät, ich bin bereit. Bitte kommt mit mir an den Ort, wo die Demonstration stattfinden wird.» Er führte die Kaiserin in einen Raum, der mit Spiegeln ausgelegt war. An der Decke und auf dem Fußboden, an allen vier Wänden und auch in den vier Ecken des Raums waren, riesige Spiegel befestigt - alle einander gegenüber. Fatsang stellte eine Buddhastatue in das Zentrum des Raums und daneben eine brennende Fackel. «O, wie phantastisch, wie wundervoll!» rief die Kaiserin, als sie dieses ehrfurchtgebietende Panorama erblickte. Dann wandte sich Fa-tsang ihr mit den Worten zu: «Euer Majestät, dies ist eine anschauliche Darstellung der Totalität in der Dharmadhatu. In jedem Spiegel hier in diesem Raum werdet ihr die Widerspiegelungen all der anderen Spiegel mit der Buddhafigur darin finden. Und in jeder Widerspiegelung jedes Spiegels werdet ihr all die Widerspiegelungen aller anderen Spiegel mit der Buddhafigur darin finden, ohne daß irgendetwas ausfiele oder an falscher Stelle stünde. Das Prinzip der gegenseitigen Durchdringung oder des wechselseitigen Enthaltenseins wird durch diese anschauliche Darstellung klar gezeigt. Hier sehen wir ein Beispiel des ‹Eines in allem und alles im Einem: - das Mysterium des Bereichs, der Bereiche ad infinitum umschließt, wird offenbar. Das Prinzip des gleichzeitigen Entste56
hens unterschiedlicher Bereiche ist hier so offensichtlich, daß keine Erklärung notwendig ist. Diese unendlichen Widerspiegelungen unterschiedlicher Bereiche entstehen gleichzeitig ohne die geringste An-strengung - ganz natürlich in vollkommen harmonischer Weise. Auch das Prinzip der Nicht-Behinderung des Raumes kann auf diese Art veranschaulicht werden. (Als er dies sagte, nahm er eine Kristallkugel aus seinem Ärmel und legte sie auf seine Handfläche.) Euer Majestät, wir sehen alle Spiegel und ihre Widerspiegelungen in dieser kleinen Kristallkugel. Hier haben wir ein Beispiel des Kleinen, das das Große enthält, wie auch des Großen, das das Kleine enthält, eine Veranschaulichung der Nicht-Behinderung von Größe und Raum. Die Nicht-Behinderung der Zeiten, also Vergangenheit, die in die Zukunft eingeht, und Zukunft, die in die Vergangenheit eingeht, kann durch diese Darstellung nicht gezeigt werden, vor allem weil etwas Statisches die dynamische Eigenschaft der Zeitelemente vermissen läßt. Eine Darstellung der Nicht-Behinderung der Zeiten und von Zeit und Raum ist mit gewöhnlichen Mitteln schwer zu bewerkstelligen. Man muß eine andere Ebene erreicht haben, um für eine solche ‹Darstellung: aufgeschlossen zu sein. Möge diese Demonstration jedoch ihren Zweck zu Eurer Zufriedenheit erfüllt haben.»
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Die Ursachen der Totalität
An diesem Punkt ließen sich einige Fragen stellen: Was sind die Ursachen dieser alles verschmelzenden Dharmadhatu? Wer vermag um sie zu wissen? Wie und warum ist dieses Reich der Totalität verwirklichbar? Ch'eng-kuan (738-839), der berühmte Hua-yen-Meister, führt als Antwort zehn Gründe an. In seinem berühmten Werk Ein Prolog zum Hua-yen heißt es: Frage: Was sind die Ursachen, die es allen Dharmas [Dingen] erlauben, in solcher Weise durch und durch zu verschmelzen? Antwort: Der Gründe sind zahlreiche; es ist schwierig, sie alle zu diskutieren, aber zehn von ihnen sollen hier kurz angeführt werden: 1. Weil [alle Dinge (dharmas)] bloße Manifestationen des Geistes sind. 2. Weil nichts eine endgültige Natur hat. 3. Weil [alle Dinge] Ursache füreinander sind, ... das heißt, sie entstehen aufgrund des Prinzips des abhängigen Entstehens (pratitya-samutpada). 4. Weil die Dharma-Natur selbst ein vollständiges Verschmolzensein und zudem frei ist. 5. Weil [alle Dinge] wie Phantome und Träume sind. 6. Weil [alle Dinge] gleich Spiegelungen und Bildern sind. 7. Weil die unendlichen Samen [der Tugend] gesät wurden. 8. Weil der Buddha alle Verwirklichungen ausgeschöpft hat. 9. Weil die Macht des tiefen Samadhi sie so sein läßt. 10. Weil die wunderbare Macht und die unergründliche Befreiung des Buddha sie so sein lassen. Jeder dieser Gründe befähigt die Dharmas, ohne Behinderung durch und durch miteinander zu verschmelzen. 58
Von diesen zehn Gründen sind die ersten sechs Beschreibungen der Natur der Dharmas, und dank dieser Gründe ist die Kraft und die Herrlichkeit der Buddhaschaft möglich. Der siebente Grund betont die geistige Übung, durch die die Buddhaschaft herbeigeführt wird; der achte betont ihr Verdienst und der neunte und zehnte ihre Funktion und Rolle.20 Es ist klar, daß die ersten sechs Argumente philosophischer Natur sind und angeführt werden, um das Warum der Dharmadhatu zu erklären. Die verbleibenden vier sind religiöser Natur und gelten dem Wie und Wer. Diese zehn Gründe aber in ihrer ursprünglichen Folge abzuhandeln, wäre nicht sehr zweckmäßig. Darum wollen wir die Ordnung umkehren und die letzten vier Gründe zuerst behandeln. Frage: Was läßt den Buddha diese unergründliche, allesverschmelzende Totalität wahrnehmen? Die Gründe sieben, acht, neun und zehn sagen, er nimmt sie wahr, weil: 7. der Buddha die unendlichen Samen [der Tugend] gesät hat; 8. der Buddha alle Verwirklichungen ausgeschöpft hat; 9. die Macht des tiefen Samadhi es so sein läßt; 10. die Allmacht des Buddha so wunderbar frei ist. Wenn der Bereich der Totalität letztlich nur durch unmittelbare Erfahrung verwirklicht werden kann, aber nicht durch den klügelnden Verstand, wie das Hua-yen betont, dann besteht offensichtlich die Notwendigkeit, Schritte zu tun, um die Begrenzungen oder Behinderungen aufzulösen, die die Sicht der Dharmadhatu blockieren. Unter den vielen Hindernissen, die der Schau der Dharmadhatu im Weg stehen, ist das grundlegende Hindernis das Festhalten am Ich (wo chih), also die hartnäckige Tendenz, sich an ein kleines, abgegrenztes Selbst und dessen Interessen zu klammern. Sein Wesen ist das Ausschließen, seine Funktion das Trennen. Das Ergebnis des Festhaltens am Ich ist das Entstehen von Konflikten, von Leiden und von Lastern. Da das Festhalten am Ich von Natur aus ausschließend und nicht einschließend ist, zurückweisend und nicht umfangend, Gegensätze schaffend und nicht aussöhnend, ist es der alles einschließende und alles umfangenden Harmonie der Dharmadhatu diametral entgegengesetzt. Es ist daher leicht zu erkennen, daß Festhalten am Ich die Verwirklichung der Dharmadhatu eher behindert als zu ihr verhilft. 59
Was also kann zur Verwirklichung der Dharmadhatu führen? Die Dharmadhatu ist das Ganze, das Grenzenlose, das Liebende und Gute. Auf dieser Basis erhält der siebente Grund seine Bedeutung. Warum? Weil Tugend und Gut-Sein, in welcher Form auch immer, stets irgendein Aufgeben des «kleinen Ich» sowie eine Verstärkung der Harmonie und Einheit einschließen. Sie sind zuinnerst der Natur der Dharmadhatu verwandt. So wird im Hua-yen-Sutra gesagt, daß der Buddha in seinen früheren Leben, als er noch als Bodhisattva nach Erleuchtung strebte, die Samen der Tugend säte: Ein großes mitleidendes Herz, das sich sehnt, alle zu beschützen; ein großes liebendes Herz, das sich sehnt, allen Gutes zu tun; ein verstehendes Herz, das Zuneigung und Duldsamkeit weckt; ein freies Herz, das sich sehnt, Hindernisse von andern fernzuhalten; ein Herz, das das All erfüllt; ein Herz, unendlich und gewaltig wie der Raum; ein reines Herz, das der Weisheit gehorcht und dem Verdienst aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dank der Pflege dieses guten Willens und solcher guten Taten werden die Hindernisse auf dem Weg zur Dharmadhatu beiseite geräumt und die Totalität wird sichtbar. Denn Tugend und Wohlwollen verneinen nicht nur das Sich-Anklammern an ein Ich, sondern verstärken das Interesse an andern, was im Sprachgebrauch des Hua-yen die Samen des gegenseitigen Ineinander-Eingehens (hu-ju) und der wechselseitigen Identität (hu-chi) der Dharmadhatu genannt wird.
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Die Zehn Stufen der Erleuchtung eines Bodhisattva
Wir wenden uns dem achten der obengenannten Gründe zu: Weil der Buddha alle Verwirklichungen ausgeschöpft hat. Das Wort «Verwirklichung» (cheng) bezeichnet die unmittelbare Erfahrung des Sehens der Wirklichkeit; es ist praktisch austauschbar mit dem häufig gebrauchten buddhistischen Begriff «Erleuchtung» (chüeh). Obwohl Verwirklichung eine allgemein gültige, in ihrem Wesen bei allen Menschen gleiche Erfahrung ist, ist sie doch nach dem Grad ihrer Tiefe sehr verschieden. Diese Verschiedenheit zeigt sich jeweils in dem weiten Bereich zwischen einem «am Anfang der Erleuchtung stehenden Bodhisattva» und einem «vollkommen erleuchteten Buddha». Man dann daher nicht sagen, daß Erleuchtung allgemein identisch ist, denn sie kann sehr verschieden sein: von einem ersten Aufblitzen der «Soheit» (tathata) bis zur vollständigen Entfaltung der Dharmadhatu. «Klavierspielen» kann sowohl ein musikalischer Anfänger wie ein Konzertpianist, aber zwischen den beiden ist ein gewaltiger Unterschied. Die erste Erleuchtung tritt oft plötzlich ein, aber um diese anfängliche Verwirklichung zu vertiefen und zur Vollendung zu bringen, bedarf es einer langen Zeit der «Pflege» und Übung. Die Wirklichkeit gleicht einem grundlosen Brunnen oder einem grenzenlosen Himmel - je weiter man in sie eindringt, desto tiefer und grenzenloser wird sie. Das Streben nach Erleuchtung kennt kein Ende; je weiter man vorwärtsschreitet, desto länger wird die Straße, und das Ende scheint niemals in Sicht zu kommen. Andererseits aber wird, wenn die Anfangsverwirklichung erlangt ist, alles Weitere viel leichter sein.
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Obwohl große Unterschiede zwischen den anfänglichen und den fortgeschrittenen Stufen bestehen, bleibt das Wesen der Verwirklichung immer dasselbe. In diesem Sinn kann die buddhistische Erleuchtung als einheitlich, aber auch als unterschiedlich angesehen werden. Auf den Anfangsstufen der Erleuchtung hat ein Bodhisattva oft eine hohe Meinung von seiner eigenen mystischen Erfahrung. Er ist überzeugt, daß selbst ein vollkommener Buddha keine tiefere Einsicht haben kann als er. Das ist der Grund, warum die großen ZenMeister oft die Verwirklichung des Schülers herunterspielen, wie wir in vielen Zen-Köan sehen. Deshalb sagt Te-shan: «Wenn du meine Frage nicht beantworten kannst, werde ich dir dreißig Schläge geben; wenn du sie beantworten kannst, werde ich dir ebenfalls dreißig Schläge geben.» Um die Erleuchtung-Suchenden aus Unwissenheit und Stolz aufzuwecken und um die Grenzenlosigkeit der Dharmadhatu zu zeigen, beschäftigt sich das Hua-yen-Sutra ausführlich mit den berühmten Zehn Stufen des Weges. Deren Studium läßt rasch die unendliche Weite der buddhistischen Erleuchtung erkennen, die, nach meiner Meinung, vieles in den Schatten stellt, was wir von berühmten Mystikern des Ostens wie des Westens gehört haben. Da ein eingehendes Studium dieser fortschreitenden Stufen den Rahmen dieses Buches sprengen würde, werden wir einfach einige wesentliche Stellen aus dem Hua-yen-Sutra zitieren, die sich mit den berühmten Zehn Stufen der Erleuchtung befassen:21 Alle die Buddhas aus den Zehn Himmelsrichtungen berührten mit ihren Händen das Haupt des Bodhisattva «Diamantschatz», worauf dieser aus dem Samadhi erwachte und die folgenden Worte an die Versammelten richtete: «O ihr Söhne Buddhas, die guten Gelübde aller Bodhisattvas können weder verfälscht noch befleckt, noch in ihrer Tiefe ergründet werden. Sie sind so unendlich wie das Universum, so endgültig wie die Leere, und sie erfüllen die Universen, um alle Lebewesen zu beschützen... [Durch diese großen Gelübde ist ein Bodhisattva in der Lage] in das Reich der Weisheit aller Buddhas einzugehen... Was ist nun die Weisheitswelt des Bodhisattva und was sind ihre Stufen? ... Es gibt insgesamt zehn aufeinanderfolgende Stufen, die von den Erleuchteten in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gelehrt wurden: 1. Die Stufe der Großen Freude;
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2. die Stufe der Makellosen Reinheit; 3. die Stufe der Erleuchtung; 4. die Stufe der Glühenden Weisheit; 5. die Stufe der Unbesiegbaren Stärke; 6. die Stufe der Unmittelbaren Gegenwärtigkeit; 7. die Stufe des Weit-Reichens; 8. die Stufe der Unerschütterlichen Standfestigkeit; 9. die Stufe der Verdienstvollen Weisheit; 10. die Stufe des Sammeins der Wolken des Dharma.» Er fuhr fort: «Ich sehe keinen einzigen Buddha im ganzen Universum, der nicht diese Zehn Stufen lehrte. Warum? Weil dies der Weg ist, auf dem alle Bodhisattvas der endgültigen und vollkommenen Erleuchtung entgegenschreiten.» Der Bodhisattva «Diamantschatz» hielt plötzlich inne und schwieg [als zögerte er, diese schwierige und bedeutungsschwere Angelegenheit näher zu erläutern]. Alle Bodhisattvas waren darüber sehr verwundert. Sie dachten: «Warum führt er die Namen der Stufen an, ohne sie zu erklären?» Worauf der Bodhisattva «Mond der Befreiung», der um die Gedanken der Versammelten wußte, den Bodhisattva «Diamantschatz» fragte: «Warum, obwohl du weise und verdienstvoll bist, nennst du zwar diese Stufen, aber erklärst sie nicht? Warum, obwohl du stark und mutig bist, führst du sie an ohne Erklärung? Wir alle sehnen uns danach, von den Wundern dieser Stufen zu hören. Bitte, erkläre sie uns, die wir, eine unerschrockene Versammlung, uns danach sehnen, die Wahrheit zu hören!» Um den Wunsch der versammelten Bodhisattvas zu erfüllen, begann «Diamantschatz», der große und immer beherzte Weise, als Antwort zu singen: «Höchste Buddhaschaft gründet sich auf Taten und die Verwirklichung der Stufen eines Bodhisattva. Sie sind schwer zu erklären, denn sie sind einzigartig und unübertrefflich; schwierig zu begreifen, denn sie sind tief und unfaßbar. Sie lassen das Reich des Buddha entstehen. 63
Die Menschen sind verwirrt und fassungslos, wenn sie von diesen Wundern hören. Nur jene, deren Geist demanten ist, die den Stand der Ichlosigkeit verwirklicht haben und an die Allwissenheit des Buddha glauben, vermögen seine Lehre zu empfangen. Wie ein Gemälde in der Luft oder wie der Wind im Raum ist die Weisheit des Buddha, nicht zu begreifen, solange noch Unterschiede gemacht werden. Dieser Buddha-Bereich ist tief und unergründlich und schwer zu begreifen für die Welt. Solches denkend, bezähme ich meine Zunge und verharre in Schweigen.» [Schließlich, nach wiederholten Bitten vieler Bodhisattvas] verbeugte er sich in alle zehn Himmelsrichtungen und fuhr in seiner Rede fort, um den Glauben der Versammelten zu stärken: «Schwer zu verstehen, tiefgründig und reich an Wundern ist der Weg der Tathagatas! Sie kennen kein Entstehen und kein Vergehen für immer geläutert, für immer von Frieden erfüllt... Es ist ein Bereich, in den zu gelangen nur den Weisen und Geläuterten möglich ist... Ohne Zweiheit und Begrenzung, ist er jenseits aller Worte und Hinweise. Die Stufen eines Bodhisattva, seine Liebe, sein Erbarmen und seine Gelübde sind schwer zu beschreiben und schwer zu verstehen. ... Dem Verstand und dem Denken sind sie unerreichbar, nur Weisheit vermag sie zu gewahren. Die Spur eines Vogels im Himmel ist schwer aufzufinden und nachzuziehen; schwer ist es, zu beschreiben, was mit den Zehn Stufen gemeint ist. Es ist ein Bereich, der erlebt werden, aber niemals [in Worten] zum Ausdruck gebracht werden kann.
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Über einen Tropfen Meerwasser kann man sich verständigen, doch die Deutungen dieser Wahrheit sind unendlich sie können in Äonen nicht erschöpft werden.» Der Bodhisattva «Diamantschatz» fuhr fort:22 «Wenn ein Mensch eine tiefe Wurzel verdienstvollen Handelns pflegt, wenn er unzählige Tugenden übt und alle günstigen Bedingungen für den Weg in sich vereint, ... wenn er mit Glauben, Erbarmen und Großmut des Geistes darangeht, die Weisheit eines Buddha zu erlangen, dann kann in ihm der Erleuchtungsgedanke (bodhichitta) entstehen. Er erweckt in sich diesen Bodhi-Geist [oder Erleuchtungsgedanken], auf daß er die allumfassende Weisheit suchen, die Zehn Kräfte eines Tathagata erringen, die große Furchtlosigkeit sich sichern ... und nach der Erlösung aller Lebewesen streben kann. ... Darum wird dieser BodhiGeist erweckt. O ihr Söhne des Buddha, dieser Geist ist tief, aufrichtig und gerade; großes Erbarmen beherrscht ihn, große Weisheit nährt ihn, große Geschicktheit schützt ihn. Er ist so gewaltig wie die Macht des Buddha, die die Weisheit der Nicht-Behinderung verwirklicht, die Einsicht in die Natur enthält und alle Lehren der Tathagatas umfaßt. Dieser Geist [selbst] ist die große Weisheit, die es dem Bodhisattva ermöglicht, alle Lebewesen zu lehren und ihnen zu helfen. Er ist unendlich wie das Universum, endgültig wie die Leere und ewig wie die kein Ende kennende Zukunft O ihr Söhne des Buddha, in dem Augenblick in dem dieser Geist in einem Bodhisattva erwacht, überschreitet er den Stand eines gewöhnlichen Menschen, ... er wird in die Familie der Buddhas geboren. Er geht weit über alles in dieser Welt hinaus und dennoch tritt er in diese Welt ein. ... Sicher und unbezweifelbar wird er die vollkommene Erleuchtung der Buddhaschaft erringen. Wenn ein Bodhisattva diese Stufe erreicht hat, dann sagt man, er hat die Stufe der Großen Freude erreicht. ... [Aus seinem Herzen] strömt großes Glück, großer Glaube, Reinheit und Beseligung, große Einfachheit und Toleranz. Er vermeidet Auseinandersetzungen und Streit, bereitet anderen keine Unannehmlichkeiten und will niemandem Böses. Seine Freude ist grenzenlos, wenn er der Bodhisattvas gedenkt, ... ihrer selbstlosen Taten, ihrer Überlegenheit und unbezwingbaren Stärke. ... Er denkt oft: «Mein Herz ist so voller Freude, daß dies alle irdische Vorstellungskraft übersteigt! [Warum ist das so?] Es ist so, weil ich den Bereich der großen Gleichseins betreten habe, den alle Buddhas kennen, weil ich weit über den Stand der gewöhnlichen Menschen hinausgegangen bin, weil ich der Weisheit und den Tathagatas nahe bin, weil ich die wunderbaren Erlebnisse und Erfahrungen der Buddhas teile, und weil ich alle Lebewesen schützen und befreien kann.» Wenn ein Bodhisattva diese Stufe der Großen Freude 65
erreicht hat, ist er für immer frei von aller Furcht. Er hat keine Angst vor dem Ungesichert-Sein, keine Angst, seinen Ruf zu verlieren, und keine Angst vor dem Tod. ... Warum? Weil alles Klammern an ein Ich von ihm abgefallen ist, seit er nicht einmal mehr an seinem Körper hängt, geschweige denn an anderen Dingen. ... O ihr Söhne des Buddha, mit großem Erbarmen und einem machtvollen Geist wird dieser Bodhisattva noch mehr edle Taten ausführen als zuvor. Gewachsen sind sein Glaube, die Reinheit seiner Gedanken, sein Verständnis, ... seine Einfachheit und Toleranz, seine Liebe und sein Erbarmen. ... Und dann wird er diese Zehn Großen Gelübde auf sich nehmen: 1. Ich will allen Buddhas in den unendlichen Universen unerschöpfliche Opfergaben und Dienste darbringen, ... unermeßlich wie das Universum, endgültig wie die Leere, ewig wie die endlose Zukunft ... 2. Ich will alle Lehren und Sutras, die jemals von den Buddhas übermittelt wurden, lernen, behalten, beschützen und befolgen, ... unermeßlich wie das Universum, endgültig wie die Leere, ewig wie die endlose Zukunft ... 3. Ich will alle Buddhas inständig bitten, in die Welt der Menschen «herabzusteigen», ... unermeßlich wie das Universum, endgültig wie die Leere, ewig wie die endlose Zukunft ... 4. Ich will alle Lebewesen mit Hilfe der unendlich großen, tiefgreifenden und weitreichenden Dharmas und Paramitas der Bodhisattvas lehren, führen und sich entfalten lassen, ... unermeßlich wie das Universum, endgültig wie die Leere, ewig wie die endlose Zukunft ... 5. Ich will alle Universen schauen und in sie eintreten, in die großen, kleinen, flachen, runden, die aufrecht stehenden und die auf dem Kopf stehenden; Bereiche, die andere Bereiche umschließen und sich in alle Zehn Richtungen erstrecken, wie das Netz Indras Ich will sie alle sehen und kennenlernen, ... unermeßlich wie das Universum, endgültig wie die Leere, ewig wie die endlose Zukunft ... 6. Ich will alle Welten der Buddhas in eine Welt und eine Welt in alle Welten der Buddhas bringen, mit unermeßlichem Licht und unermeßlicher Herrlichkeit und ohne den geringsten Fehler oder Makel, ... unermeßlich wie das Universum, endgültig wie die Leere, ewig wie die endlose Zukunft ... 7. Ich will die Weisheit und die gewaltigen Kräfte der Buddhas erreichen, um Wunder zu wirken für die Erfüllung der Wünsche und Bedürfnisse der Lebewesen, ... unermeßlich wie das Universum, endgültig wie die Leere, ewig wie die endlose Zukunft ... 8. Ich will Seite an Seite stehen mit anderen Bodhisattvas, um dem gemeinsamen Ziel [allen Lebewesen zu helfen] immer näher zu kommen. Im Ein-
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klang mit ihnen und mit voller Hingabe will ich lernen und arbeiten, ohne Neid und ohne Groll Mit einem tiefen Verständnis der Lehren, Kräfte und Arten der Weisheit eines Buddha will ich Wunder wirken, alle Welten durchwandern und in vielerlei Gestalt allen Zusammenkünften der Buddhas beiwohnen. ... Mit dieser großen, unergründlichen Einsicht erfüllt ein Bodhisattva seine Gelübde und geht er an seine Arbeit, ... unermeßlich wie das Universum, endgültig wie die Leere, ewig wie die endlose Zukunft ... 9. Ich will allen Lebewesen helfen, indem ich ihnen je nach ihren Anlagen und Bedürfnissen die geeigneten Lehren übermittle, indem ich sie von Wünschen und Schmerzen erlöse, indem ich sie wahrnehmen lasse, daß alle Dinge nur trügerische Erscheinungen sind, indem ich sie verwirklichen lasse, daß alle Dinge den Stempel des Nirvana tragen, indem ich ihnen die Weisheiten und großen Wunder zeige, ... unermeßlich wie das Universum, endgültig wie die Leere, ewig wie die endlose Zukunft ... O ihr Söhne des Buddha, wenn ein Bodhisattva die Stufen der Großen Freude erreicht hat, dann legt er Nachdruck auf die Zehn Gelübde, die wieder Tausende, Millionen, Milliarden und unendlich viele andere Gelübde auslösen. ... Mit großem Eifer bemüht er sich, sie mit Hilfe der Zehn Unerschöpflichen Dharmas zu erfüllen: 1) Unerschöpflich sind die Lebewesen. 2) Unerschöpflich sind die Welten. 3) Unerschöpflich ist der Raum. 4) Unerschöpflich ist die Dharma-Natur (dharmata). 5) Unerschöpflich ist das Nirvana. 6) Unerschöpflich sind die Buddhas, die in den Welten erscheinen. 7) Unerschöpflich ist die Weisheit eines Buddha. 8) Unerschöpflich sind die Spiele des Geistes. 9) Unerschöpflich sind die Entstehungsformen der Weisheit. 10) Unerschöpflich sind die Samen, aus denen die Wege der Welt, des Dharma und der Weisheit entspringen. Und mit fester Entschlossenheit wird dieser Bodhisattva ein letztes Gelübde ablegen: 10. Wenn die Lebewesen nicht unerschöpflich sind, so werden es auch meine Gelübde nicht sein; wenn die Welten, der Raum, die Dharma-Natur, Nirvana, die Weisheit eines Buddha, ... nicht unerschöpflich sind, so werden es auch meine Gelübde nicht sein; da sie aber unerschöpflich
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sind, so sind auch meine Gelübde unerschöpflich ... (unermeßlich wie das Universum, endgültig wie die Leere, ewig wie die unendliche Zukunft) ...
Aus den obigen Zitaten läßt sich erkennen, daß Erleuchtung nicht nur durch die Entfaltung von «Einsicht» entsteht, sondern auch aufgrund von Tugenden und gutem Willen; sie besteht nicht nur in der sogenannten «mystischen Erfahrung», sondern auch in der Erfüllung eines feierlichen Gelübdes und der Erringung eines machtvollen Geistes. Mit anderen Worten: Die Erleuchtung ist die Verwirklichung sowohl der Wahrheit wie der Liebe, ein Verschmelzen von Erbarmen und Leere. Die erste Stufe, die Stufe der Großen Freude, ist der entscheidende Beginn im Werdegang eines Bodhisattva, der, nachdem er das angeborene SichKlammern an ein Ich und an die Begierden dank der Verwirklichung der ungeborenen Leere überwunden hat, danach strebt, seine Einsicht in Shunyata zu vertiefen und seine verdienstvollen und altruistischen Taten auf dem Pfad zur Erleuchtung zu vermehren, bis zu dem Tag, an dem er die Buddhaschaft errungen hat. In den kommenden Äonen von Kalpas wird er alle Taten der Bodhisattvas üben und ihre Gelübde erfüllen, indem er Schritt für Schritt die Zehn Stufen zurücklegt und die vollkommene Erleuchtung eines Buddha erreicht. Es können hier nicht vollständige Textpassagen aus dem Hua-yenSutra zitiert werden, die die einzelnen Stufen beschreiben. Es wird daher im folgenden nur eine kurze Zusammenfassung dieser Stufen wiedergegeben:23
Erste Stufe: Große Freude Der Mensch, der diese Stufe erreicht hat, erkennt, so heißt es, zum erstenmal die heilige Natur (shen-hsin) dank seiner lauteren Weisheit der Nicht-Unterscheidung. Da er die Dualität von Subjekt und Objekt gänzlich hinter sich gelassen hat, ist er in der Lage, in großem Maße sich und anderen auf verschiedene Weise zu nützen. Ein Bodhisattva dieser Stufe ist zu allen Zeiten von großer Freude erfüllt; er ist ungewöhnlich großzügig und freut sich über nichts mehr, als wenn er um Beistand gebeten wird. Er ist daher fähig, die Forderung der ersten Paramita zu erfüllen - die Vollkommenheit der Nächstenliebe. 68
Zweite Stufe: Makellose Reinheit Der Mensch, der diese Stufe erreicht hat, wird fähig, der Selbstdisziplin eines Bodhisattva vollkommen gerecht zu werden. Er ist gefeit gegen jegliche Verletzung der Gebote. Er ist im Grunde seines Wesens frei von Haß, Bosheit, Groll und Ungeduld; er ist immer liebenswürdig, gütig, verzeihend und wohlwollend. Er übt alle zehn Paramitas, insbesondere jedoch die zweite - die Vollkommenheit der Selbstdisziplin.
Dritte Stufe: Erleuchtung Der Mensch, der diese Stufe erreicht hat, meistert, so heißt es, viele Samadhis; er kann viele Wunder wirken und himmlisches Sehvermögen erlangen, durch das er klaren Einblick in die Karmas und Inkarnationen vieler Lebewesen erhält. Er entwickelt eine überragende In-telligenz und ein großartiges Gedächtnis, das ihn befähigt, sich aller Dinge zu erinnern, die er jemals erlebt hat, einschließlich der Geschehnisse in weit zurückliegenden Leben. Er übt alle zehn Paramitas, insbesondere jedoch die dritte - die Vollkommenheit der Duldsamkeit.
Vierte Stufe: Glühende (Intensive) Weisheit Der Mensch, der diese Stufe erreicht hat, ist fähig, das Sich-Anklammern an den Körper, an das «Ich» und «Mein» zu überwinden. Eine glühende Weisheit ersteht in ihm, die alle Begierden und Leidenschaften verbrennt. Er übt alle zehn Paramitas, insbesondere jedoch die vierte - die Vollkommenheit des Fleißes.
Fünfte Stufe: Unbezwingbare Stärke (Großer Triumph) Der Mensch, der diese Stufe erreicht hat, kann die gewaltigste Aufgabe bewältigen, die jemals einem Bodhisattva gestellt wurde - er 69
überwindet die «Kluft zwischen Einsicht und Begriff». Dabei vereinigt er den weltlichen Intellekt der Unterscheidungen mit der transzendenten Weisheit der Nicht-Unterscheidung und läßt beide gleichzeitig und ohne Behinderung entstehen. Das bedeutet, daß er die Kluft überbrücken kann, die bis jetzt zwischen den beiden Ufern der Dualität, «diesem hier» und «jenem dort» bestanden hat. Er übt alle zehn Paramitas, insbesondere die fünfte - die Vollkommenheit des Dhyana.
Sechste Stufe: Unmittelbare Gegenwärtigkeit Wenn ein Bodhisattva, der die vorherige Stufe erreicht hat, in tiefer Versenkung erkennt, daß alle Dinge ohne Substanz sind, daß sie im Grunde makellos und jenseits aller zufälligen Benennungen sind und Phantomen, Träumen, Spiegelungen gleichen, ... dann verwirklicht er die große Gleichheit und erreicht die sechste Stufe. Dann wird die Prajna-Wahrheit, die auch «Unbehinderndes Weisheitslicht» genannt wird, unverhüllt vor seinen Augen aufscheinen. Er übt alle zehn Paramitas, insbesondere jedoch die sechste - die Vollkommenheit der Weisheit.
Siebente Stufe: Weit-Reichen Im Hua-yen-Sutra24 heißt es: Wenn ein Bodhisattva die siebente Stufe erreicht hat, kann er die unendlichen Bereiche der Lebewesen betreten; er kann in unendliche Buddhaländer und Buddhaweisheiten eintreten, sowie in unendlich viele Formen von Dharmas, Kalpas, Glaubensvorstellungen der Lebewesen, Verständnisse, Wünsche und Temperamente; er kann unbegrenzt viele Worte und Sprachen der Buddhas verstehen... Er kann die unendlich große und tiefe Weisheit der Buddhas erfassen und ihre vielfältigen Methoden, allen Lebewesen zur Reifung zu verhelfen. ... Und dann denkt dieser Bodhisattva: «Die unendlichen Welten der Tathagatas 70
sind nicht zu verstehen [mit Hilfe des Denkens], auch in Tausenden und Millionen von Kalpas nicht. Ich will daher auf den Geist, der nicht unterscheidet und der sich nicht mühen muß, vertrauen, um die volle Wahrheit zu erkennen.» Mit tiefer Einsicht überdenkt, beachtet und übt dieser Bodhisattva die Weisheit hilfreicher Lehrweise (fang pien hui) sowie den unübertrefflichen Dharma in fester Entschlossenheit. Bei allem, was er tut - ob er geht, steht, sitzt oder liegt ist sein Geist immer in die Große Ordnung (dharma) versunken, und auch nicht für einen kurzen Augenblick, nicht einmal während er schläft oder träumt, kann sein Geist durch Unwissenheit oder Hindernisse verdunkelt werden. . . . Daraufhin fragte der Bodhisattva «Mond der Befreiung» den Bodhisattva «Diamantschatz»: «Ist diese siebente Stufe die einzige Stufe, auf der ein Bodhisattva alle die verdienstvollen Taten vollbringen kann, die zur Buddhaschaft führen?» - «Diamantschatz» antwortete: «Ein Bodhisattva kann sie auf jeder der zehn Stufen vollbringen, aber die siebente Stufe ist die wesentlichste. Warum? Weil die Bodhisattvas auf dieser Stufe alle spirituellen Vorbereitungen abgeschlossen haben und daher den Bereich der Weisheit und des freien Handelns betreten können. O du Sohn des Buddha, ein Bodhisattva der ersten Stufe erfüllt die Erleuchteten Tätigkeiten (bodhyangas), indem er gelobt, alle Lehren der Buddhas zu üben; ein Bodhisattva der zweiten Stufe erfüllt die Erleuchteten Tätigkeiten, indem er den Geist von Befleckungen reinigt; ein Bodhisattva der dritten Stufe, indem er die Gelübde verstärkt und die Erleuchtung vertieft; einer der vierten Stufe, indem er den Weg betritt; einer der fünften Stufe, indem er der Welt zu Diensten ist; einer der sechsten Stufe, indem er die tiefste Prajnaparamita durchdringt, und einer der siebenten Stufe, indem er alle Dharmas der Buddhas verwirklicht. . . . Die Bodhisattvas der ersten Stufe, der zweiten Stufe und so weiter bis zur siebenten Stufe können die Leidenschaften und Begierden in ihren Tätigkeiten jedoch noch nicht vollkommen überwinden. . . . Erst wenn der Bodhisattva der siebenten Stufe die achte betritt, kann er alle Leidenschaften und Begierden überwinden. . . . Ein Bodhisattva, der die sechste und siebente Stufe erreicht hat, kann jederzeit in das Dhyana des Verlöschens (samjnavedayita-nirodha) eingehen, aber aufgrund seiner Gelübde des Erbarmens [allen Lebewesen zu helfen] wird er niemals in das Dhyana des Erlöschens eintreten. . . . Die Bodhisattvas der siebenten Stufe haben den Schatz der Buddhaschaft erreicht; sie erscheinen immer im Bereich der Dämonen, obwohl sie die Wege der Dämonen für immer überwunden haben; sie scheinen den Wegen der Dämonen zu folgen, doch wenn auch ihre Taten denen der Heretiker zu gleichen scheinen, so weichen sie dennoch niemals vom Dharma 71
ab. ... Obwohl sie in weltliche Aktivitäten verstrickt scheinen, üben sie die Aktivitäten derer, die die Welt überwunden haben. ... Der Bodhisattva dieser siebenten Stufe übt alle zehn Paramitas, insbesondere jedoch die siebente - die Vollkommenheit des [methodischen] Erfindungsreichtums.»
Achte Stufe: Unerschütterliche Standfestigkeit25 Der Bodhisattva «Diamantschatz» fuhr fort: Wenn ein Bodhisattva der siebenten Stufe sowohl den Dharma der Weisheit wie auch den Dharma der Geschicklichkeit in der Methode entsprechend geübt hat, wenn er spirituelle Vorsorge getroffen hat, wenn er mit den großen Gelübden ausgerüstet ist und mit der Macht der Tathagatas gesegnet wurde, ... dann wird er, dank seines großen Erbarmens und seiner Güte, nicht ein einziges Lebewesen im Stich lassen. ... Den Bereich der unendlichen Weisheit betretend, sieht er, daß alle Dinge im Grunde an ungeboren und unerzeugt sind, ohne Form, Substanz oder Erlöschen. ... Er sieht, daß alle Dinge Soheit sind, gleich in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Er erkennt, daß er sich im Reich der nicht-unterscheidenden Weisheit befindet, das vom Verstand und seinen Tätigkeiten nicht erfaßt werden kann. Dadurch kann er sich von allen Gedanken und Unterscheidungen lösen. Ohne jedes Anhaften erreicht er die Wesensnatur aller Dinge: die Leere. ... Diese Stufe nennt man das Erringen der «vollkommenen Verwirklichung der ungeborenen Wirklichkeit» (anutpattikadharma-kshanti), und er ist auf der achten Stufe, der Stufe der Unerschütterlichen Standfestigkeit angelangt, dem inneren Zufluchtsort der Bodhisattvas, der schwer zu beschreiben und zu verstehen ist und alle Unterscheidungen, Formen, Gedanken und alles Anhaften übersteigt. Sie liegt jenseits aller Überlegungen, Begrenzungen und Behinderungen und übertrifft die Sphäre der großen Weisen. ... So wie ein Mönch, mit den wunderbaren Kräften und der Freiheit des Geistes ausgerüstet, nach und nach in den Samadhi des Erlöschens eingehen kann, wobei er alle unsteten Gedanken, Erinnerungen und Unterscheidungen zum Anhalten bringt, so löst sich der Bodhisattva der achten Stufe von allen Mühen und erreicht einen Zustand der Mühelosigkeit, worin es zum Erlöschen alles mentalen, verbalen und körperlichen Bemühens kommt. ... Er gleicht einem Mann, der träumt, er sei in einen großen Fluß gefallen, und der sich mit allen Kräften bemüht, das andere Flußufer zu erreichen, bis er plötz72
lich aus dem Traum erwacht und dadurch all seinen Anstrengungen ein Ende setzt. Genauso bemüht sich ein Bodhisattva, wenn er sieht, wie alle Lebewesen im Strom der Vier Leiden26 zu ertrinken drohen, seine ganze Kraft einzusetzen, um sie mit Entschlossenheit Mut und Stärke zu retten. Schließlich erreicht er die Stufe der Unerschütterlichen Standfestigkeit, in der alles Bemühen von selbst aufhört. Er ist für immer von allen Aktivitäten, Formen, allen Dualitäten und allen Unternehmungen des absichtsvollen Denkens befreit. In seinem Geist existiert keine Unterscheidung mehr zwischen Bodhisattva und Buddha, Erleuchtung oder Nirvana, ganz zu schweigen von Gedanken an weltliche Dinge. Aufgrund der ursprünglichen Gelübde jedoch, o ihr Söhne des Buddha, die der Bodhisattva selbst [in seinen früheren Leben] abgelegt hat, werden alle Buddhas aus dem Universum vor ihm erscheinen, um ihm die Weisheit der Tathagataschaft zu vermitteln. ... Und alle diese Buddhas werden dann verkünden: «Wohlan, wohlan, Sohn aus guter Familie! Das ist die volle Verwirklichung, die im Einklang steht mit allen Lehren der Buddhas. Aber, Sohn aus guter Familie, es fehlen dir noch die Zehn Kräfte, die Vierfache Furchtlosigkeit und die Achtzehn Besonderen Eigenschaften der Tathagatas;27 du mußt dich noch weiter bemühen, sie zu erringen. Du hast Gelassenheit und Freiheit für dich erreicht, aber es gibt noch immer unwissende Geschöpfe, die nicht so weit sind und von Wünschen und Unterscheidungen versklavt sind. Jetzt ist die Zeit für dich gekommen, dein Erbarmen für sie zu zeigen. O Sohn aus guter Familie, du solltest dich jetzt deiner ursprünglichen Gelübde erinnern und dir noch einmal die Aufgabe stellen, allen Lebewesen zu helfen und sie dazu zu bringen, die unbeschreibliche Weisheit der Buddhaschaft zu verwirklichen. O Sohn aus guter Familie, was du jetzt erkannt hast, ist die Dharma-Natur (dharmata), die ewig so ist, unabhängig vom Erscheinen oder Verschwinden der Buddhas. Aber nicht aufgrund dieser Verwirklichung werden die Tathagatas also genannt, denn auch alle Shravakas und Pratyeka-Buddhas besitzen diese Erkenntnis. ... Noch einmal, Sohn des Buddha: Du solltest jetzt zu dem unermeßlichen Buddhakörper jenseits alles irdischen Maßes, zu seiner Weisheit, seinem Reich, seinem Strahlenkranz der Erleuchtung, seiner Tüchtigkeit aufschauen und danach streben, alle diese Eigenschaften [ohne Ausnahme] zu erringen. Du hast bis jetzt erst ein Dharma-Licht erreicht - das Licht, das die wahre Natur aller Dinge ohne Unterscheidungen schaut. Aber die unzähligen Dharma-Lichter, die die Tathagatas besitzen, und deren Funktionen und Verwandlungen sind unbegreiflich und unauslotbar, selbst im Laufe von Millionen und Milliarden von Äonen... Diesen großen Dharma sollst du zu 73
verwirklichen trachten. O bedenke, Sohn des Buddha, bedenke, wie zahllos die Lebewesen sind, wie grenzenlos die Universen, wie unendlich verschieden die Dinge sind! ... Du solltest klar diese unendlichen Verschiedenheiten in unendlichen Bereichen unendlicher Universen erkennen, ohne die geringste Anstrengung oder den geringsten Irrtum.» Auf solche Weise verstärken alle Buddhas in dem Bodhisattva der achten Stufe den Wunsch nach der unendlichen Weisheit der Unterscheidung.28 O Sohn des Buddha, ohne diesen Ansporn [durch die Gesamtheit der Buddhas] würde dieser Bodhisattva in das Parinirvana eingehen und seinem altruistischen Wirken damit ein Ende machen. Da er aber derart von allen Buddhas ermahnt wird, kann er, in einem kurzen Augenblick, Weisheiten erringen und Werke vollbringen, die unvergleichlich größer sind als zuvor. ... Warum ist dies so? Weil er, bevor er diese Stufe erreicht hatte, nur einen Körper besaß, mit dem er als Bodhisattva tätig sein konnte. Jetzt aber, nach seiner Ankunft auf dieser Stufe, stehen ihm unendlich viele Körper, Stimmen, Einsichten und wunderbare Kräfte zur Verfügung,... und er kann unbegrenzt lehren und den Weg zeigen, ... denn er hat jetzt den Dharma der Unerschütterlichkeit errungen Bildlich gesprochen gleicht er einem Mann in einem Boot, der große Mühe aufwenden mußte, es voranzutreiben, bis er das Meer erreicht hat; aber dort angekommen, kann er ohne Anstrengung mit dem Boot über viel größere Entfernungen segeln. Genauso verhält es sich, wenn ein Bodhisattva den Pfad des Mahayana betritt und die Tätigkeiten eines Bodhisattva ausführt. Er kann jetzt, dank der Weisheit der «Mühelosigkeit», in den Bereich der Allwissenheit auf viel wirkungsvollere Weise eintreten als jemals zuvor. O ihr Söhne des Buddha, kraft des mühelosen Gewahrseins, das die große Weisheit der Geschicklichkeit in der Methode hervorbringt, kann der Bodhisattva dieser achten Stufe die Sphäre der Allwissenheit der Buddhaschaft verwirklichen. Er sieht klar, wann und wie eine Welt entsteht und zerstört wird, welches Karma sie entstehen läßt und welches sie zerstört. Sein Wissen um diese Dinge ist kristallklar, ohne den geringsten Irrtum. Er kennt auch die Elemente der Erde, des Feuers, des Wassers ... und der Atome (Sonnenstäubchen) - ihre kleinen, großen, zahllosen und unterschiedlichen Formen... in jeder Welt des Universums. Er kennt die verschiedenen, die unendlich vielfältigen Formen der Atome. ... Er kennt genau die Gesamtsumme aller Atome der Welten und der Körper aller Lebewesen. Er kennt die genaue Zahl der Atome, aus denen die kleinen und die großen Körper bestehen, oder der Körper eines Hungrigen Geistes, eines Asura, eines Menschen oder eines Deva. ... O Sohn des Buddha, diese Stufe des Bodhisattva nennt man die Stufe der 74
Standfestigkeit. Warum? Weil diesen Stand nichts mehr verderben kann; man nennt sie die Unauslöschliche, weil ihre Weisheit niemals mehr schwindet; man nennt sie die Unzugängliche, weil nichts in der Welt sie ergründen kann; man nennt sie die Stufe des Unschuldigen Kindes, weil sie so weit von allen Verwirrungen entfernt ist; man nennt sie die Stufe der Geburt, weil sie spontan und frei ist. Es ist die Stufe der Vollendung, weil keine Anstrengung mehr nötig ist, ... der Umwandlung, weil sie alle Wünsche zu erfüllen vermag, ... der Mühelosigkeit, weil alles bereits vollbracht ist. So, o Söhne des Buddha, betritt dieser Bodhisattva den Bereich der Buddhaschaft und bringt die Verdienste der Erleuchteten zum Leuchten. ... Er verfügt über wunderbare Kräfte, strahlt helles Licht aus, tritt in die Totalität der Nicht-Behinderung ein, besitzt alle großen Verdienste und kennt die feinsten Unterschiede zwischen allen Welten. Spontan und frei erkennt er alle Dinge der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft; er besiegt alle Dämonen und alle Laster und dringt tief in die Sphäre der Tathagataschaft ein. Da es für ihn kein Zurückfallen mehr gibt, kann er die Aktivitäten der Bodhisattvas in den unendlichen Welten ausüben. ... Mit der Macht des Samadhi sieht er unendlich viele Buddhas in unendlich vielen Welten; er dient ihnen, verehrt sie und bringt ihnen Opfergaben dar durch Tausende, Millionen, Milliarden von Kalpas Dieser Bodhisattva erreicht den Schatz der tiefsten Lehren des Buddha. ... Wenn man ihn über die Unterschiede zwischen den verschiedenen Welten befragt, kann er sie alle ohne die geringste Schwierigkeit beschreiben. . O Sohn des Buddha, das war eine sehr kurze Beschreibung der Stufe der Standfestigkeit; es würde Äonen von Kalpas erfordern, sie genauer zu beschreiben, aber selbst in diesem gewaltigen Zeitraum könnte man es nicht erschöpfend tun. ... Dieser Bodhisattva übt alle zehn Paramitas, insbesondere jedoch die achte - die Vollkommenheit der Gelübde.
Neunte Stufe: Verdienstvolle Weisheit Wir lesen im Sutra: Derjenige, der diese Stufe erreicht hat, erkennt klar und unfehlbar alle guten, schlechten und neutralen Handlungen,... die reinen und die unreinen, die weltlichen und die transzendenten Handlungen und die der Shravakas, der Bodhisattvas und der Tathagatas. ... Mit unendlich großer Weisheit erkennt 75
dieser Bodhisattva die geistigen Schwierigkeiten der Lebewesen, die Schwierigkeiten mit den Leidenschaften und Begierden sowie dem Karma; die Schwierigkeiten mit den Organen, den Vorstellungen, den Charakteren und Neigungen, der Trägheit, der Wiedergeburt, der Fortdauer von Denkgewohnheiten und dem genauen Unterscheiden zwischen den drei Gruppen.29 Dieser Bodhisattva erkennt unfehlbar die unzähligen Formen und Funktionen des Geistes aller Lebewesen, ... die Formen des ungleichen Entstehens, der raschen Umwandlung, des Erlöschens, der Gestaltlosigkeit und der Nichtexistenz der Unendlichkeit, der Reinheit, des Beflecktseins und des Nicht-Beflecktseins, des Bindens und Nicht-Bindens und der magischen Hervorbringung. ... Dieser Bodhisattva kennt mit kristallener Klarheit alle diese verschiedenen Formen und Funktionen, die sich auf Tausende, Millionen und Billionen und bis ins Unendliche belaufen. ... Dieser Bodhisattva kennt auch ganz genau die zahllosen Arten der Wünsche der Lebewesen - die zahllosen Arten tief eingewurzelter Begierden, die im Verlauf langer Kalpas entstanden sind, die unendlich vielen Weisen, in denen die Leidenschaften entstehen, die Weisen wie die Lebewesen sich von der Geburt bis zum Tod an die Leidenschaften klammern, die zahllosen Arten, wie sie ihre Unwissenheit zeigen und wie die Leidenschaften in bewußten und unbewußten Seinszuständen entstehen. Dieser Bodhisattva erkennt mit kristallener Klarheit die zahllosen Formen und Manifestationen des Karma, die guten, schlechten und neutralen Formen, die symbolischen und die nicht symbolischen Formen und auch die Begleiterscheinungen, die sich gleichzeitig mit dem Bewußtsein erheben. Er weiß um das Geheimnis des augenblicklichen Erlöschens des Karma und darum, wie es dennoch unausweichlich seine Wirkungen hat. Er kennt sowohl das Karma, das Folgen hat, als auch jenes, das keine Folgen hat,... das Karma, das unendlich viele Formen enthält, das Karma, das einen gewöhnlichen Menschen von einem Heiligen unterscheidet, jenes, das in diesem Leben oder in einem folgenden Leben zur Reife gelangt, das auf die verschiedenen Pfade führt. ... Wenn ein Bodhisattva diesem Wissen zu folgen vermag, dann erreicht er die Stufe der Verdienstvollen Weisheit. Er ist jetzt fähig, die Lebewesen zu erkennen. Er kann sie jetzt lehren, führen und ihnen den Weg zur Befreiung weisen.30 O Söhne des Buddha, ein Bodhisattva, der die Stufe der Verdienstvollen Weisheit erreicht hat, kann ein großer Lehrer des Dharma sein; er kann alle Funktionen eines Lehrers erfüllen und den Dharma-Schatz der Tathagatas schützen und erhalten, ohne Fehler zu begehen. Mit unendlicher, einfallsreicher Weisheit kann er die Vier unbehinderten Beredsamkeiten einsetzen ... und zu allen Zeiten den Vier unbehinderten Weisheiten folgen. ... Welche 76
sind das? Die unbehinderte Weisheit des Dharma, der Bedeutung, der Worte und der Beredsamkeit. Kraft der unbehinderten Weisheit des Dharma kennt er die SelbstForm aller Dinge; kraft der unbehinderten Weisheit der Worte kann er lehren, ohne Fehler zu begehen; und kraft der unbehinderten Weisheit der Beredsamkeit kann er lehren ohne Unterlaß. Kraft der unbehinderten Weisheit des Dharma weiß er, daß alle Dinge ohne Selbst sind; kraft der unbehinderten Weisheit der Bedeutung kennt er das Entstehen und Vergehen aller Dinge; kraft der unbehinderten Weisheit der Worte kennt er das trügerische Wesen aller Worte und tut sie dennoch nicht ab; kraft der unbehinderten Weisheit der Beredsamkeit verwendet er die trügerischen Worte, um eine unendliche Wahrheit zu verkünden. Kraft der unbehinderten Weisheit des Dharma kennt er die Unterschiede und Unterscheidungen zwischen allen Dingen zum gegenwärtigen Augenblick; kraft der unbehinderten Weisheit der Bedeutung kennt er die Unterschiede und Unterscheidungen zwischen allen Dingen in der Vergangenheit und in der Zukunft; kraft der unbehinderten Weisheit der Worte ist er fähig, ohne Fehler zu begehen, in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zu lehren; und kraft der unbehinderten Weisheit der Beredsamkeit kann er die unendlichen Dharmas aller Zeiten mit großer Klarheit verbreiten. Kraft dieser Weisheiten ... macht er sich die Worte und Sprachen der Lebewesen zueigen, um im Einklang mit ihren Interessen und Bestrebungen die Lehre zu verkünden. ... O Sohn des Buddha, wenn alle Lebewesen in den unendlichen Universen vor diesem Bodhisattva erschienen, und jedes von ihnen stellte eine andere Frage in einer unendlichen Zahl von verschiedenen Sprachen, so würde er sie im Bruchteil einer Sekunde alle verstanden haben und richtige Antworten mit allen Erklärungen geben können und somit alle Fragesteller vollkommen zufriedenstellen. ... Dieser Bodhisattva übt alle zehn Paramitas, insbesondere jedoch die neunte Paramita - die Vollkommenheit der Kräfte.
Zehnte Stufe: Sammeln der Dharma-Wolke Daraufhin sprach der Bodhisattva «Diamantschatz» zum Bodhisattva «Mond der Befreiung»: «Von der ersten bis zur neunten Stufe übt und vollendet ein Bodhisattva alle verdienstvollen Aktivitäten kraft seiner unendlichen Weisheiten. ... Er entwickelt große Verdienste, Tugenden und Einsichten und übt altruistische Taten; er kennt die Unterschiede zwischen allen Welten; er betritt den