Der Zweizelgänger
Zum Schulanfang erzählt von
Rudolf Wolter eB B
Rudolf Wolter Der Zweizelgänger Erzählungen zum Schulanfang
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© Rudolf Wolter 2005 © eBOOK-Bibliothek 2005 für diese Ausgabe
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littera scripta manet
Der Zweizelgänger Wißt ihr, wo der Christian ist? Spielt er mit Annika und Sylvie auf dem Hof? Nein, die beiden spielen Gummitwist, und das ist nichts für Jungen, meint Thomas. Wißt ihr, wo der Christian ist? Donnert er mit Thomas, Didi und Manfred den Fußball gegen das Garagentor? Nein, nur die drei laufen jetzt weg, weil der Herr Schubert kommt und schimpft. Wißt ihr, wo der Christian ist? Hockt er etwa mit Stefanie und Lucia, mit Torsten und Andy in der Höhle im Gebüsch und spielt Mutter und Kind? Nein, bei denen ist nur noch Marte und muß den Hund spielen, weil Stefanie und Torsten nur zwei Kinder haben wollen, denn Torstens Vater sagt, drei Kinder wären zu teuer. Wißt ihr, wo der Christian ist? Ich weiß es. Christian ist bei sich. Zu Hause ist er, im Kinderzimmer. Mit wem spielt er denn im Kinderzimmer? Christian spielt mit sich. Im Augenblick greift er gerade an. Denn er ist der König der wilden Autofresser im Autofresserland, und er stürmt gerade das Land der lebendigen Autos. Pscht! Wir wollen ihn nicht stören.
Wollt ihr wissen, warum der Christian allein ist, bei sich zu Hause, und mit sich allein spielt? Ich will es euch erzählen, aber leise nur, damit wir Christian nicht stören. Frau Kluge erklärt es so: »Mein Christian ist zwei Wochen zu spät geboren worden. Ich glaube, er saß beim lieben Gott auf dem Schoß und wollte einfach nicht herunter. Nun sitzt er bei mir auf dem Schoß und will auch nicht herunter.« Herr Kluge macht ein besorgtes Gesicht und sagt: »Ach, ich glaube, unser Christian hatte schon Angst, bevor er auf die Welt kam. Deshalb versteckt er sich auch jetzt noch immer ängstlich hinter meinem Hosenbein.« Die alte Frau Kluge, das ist Christians Oma, aber sagt: »Ach was, der Christian ist schon ganz richtig so. Der ist eben ein Einzelgänger!« Da habt ihr es. Ein Einzelgänger. Der Christian ist ein Einzelgänger. Ein Einzelgänger ist jemand, der abseits steht, wenn die anderen miteinander spielen. Er lacht nicht mit, wenn die anderen lachen. Nur wenn sie sehr laut lachen, zieht es wie ein Sonnenstrahl über sein ernstes Gesicht. Ein Einzelgänger ist nicht immer traurig. Aber weil er allein ist, hat er weniger zu lachen; denn niemand kann sich selbst einen Witz erzählen, er ist eben nur allein. So, wie der Christian. Ein Einzelgänger ist nicht dumm, und hat nicht immer Langeweile. Er spielt nur gerne mit sich allein, macht sich
seine eigenen schönen Gedanken und erzählt seine besten Geschichten sich selbst. So, wie der Christian. Aber allein ist so ein Einzelgänger, so allein, wie das letzte Blatt am Baum im Herbst, wenn alle bunten Blätter treiben, so allein, wie ein Legostein in der Kiste voller Autos. So, wie der Christian. Aber das sollte sich ändern. Denn Christian kam zur Schule. Zur Schule mit neuem Ränzel, neuer Federtasche voll neuer Filzer, neuer Hose und einer Riesenschultüte voller schöner leckerer Sachen. Und in der neuen Klasse setzte er sich zuletzt auf den letzten freien Platz. Und der war ganz hinten in der letzten Reihe. Da saß Christian dann ganz allein. Da blieb Christian auch sitzen, eine lange Zeit, bis die Schule schon gar nicht mehr so neu war, und alle anderen Kinder längst eine neue Freundin oder einen neuen Freund hatten. Bis auf Christian. Aber das sollte sich ändern. In einer Turnstunde fing es an. Da hatte die Claudia doch schon wieder ihre Turnschuhe vergessen. Schon wieder. Das zweite Mal? Nein, das fünfte Mal. Und sie saß in der Ecke der Turnhalle und weinte, weinte richtige klare, lange Tropfen. Da holte Christian seine Turnschuhe aus dem Beutel und hielt sie ihr hin. »Da, nimm! Ich hab’s noch nie vergessen.« Von diesem Tag an gehen beide immer zusammen zur Schule, denn sie wohnen ja fast nebeneinander. Und weiter ging’s beim Schreiben. Da saß der Safer vor dem Christian und bekam nichts richtig hin. Ohne Frage: der Safer konnte es am schlechtesten. Und eines
Morgens, als die Lehrerin wieder einmal alle Zettel einsammeln wollte, um sie sich zu Hause anzusehen, da hielt der Christian dem Safer einen Zettel hin und sagte: »Ich hab’s zweimal gemacht. Einmal für dich.« Seitdem spielen die beiden in den Pausen Fußball auf dem Hof. Ja, und aus dem Einzelgänger Christian wurde doch noch ein Zweizelgänger, als der Didi sich das Bein brach und gar nicht mehr zur Schule konnte. Da brachte der Christian ihm jeden Tag die Hausaufgaben, jeden Tag, viele Wochen lang. Und wenn ihr heute, nach einem Jahr, den Christian sucht, dann ist er bei Didi. Und wenn ihr Didi sucht, dann ist er bei Christian. Die beiden sind Zweizelgänger. Und das kann die Schule aus jedem von euch machen. Auch Zweizelgänger. Wenn ihr nur wollt und zugehört habt, wie es der Christian angefangen hat.
Ichauch Mädchen heißen Julia, Nele oder Lille, Jaqueline, Nicole oder Tatjana und Jungen heißen Thomas, Ole oder Bernd, Joachim, Per oder Joscha, aber wer heißt schon »Ichauch«? Das kleine Mädchen aus unserer Geschichte aber wurde von allen, von Vater, Mutter und Geschwistern, von Nachbarn und Freunden immer nur »Ichauch« gerufen. »Ichauch! Aufwachen, aufstehen, Schule gehen!« »Ichauch, das Frühstück ist fertig!« »Hast du schon Zähne geputzt, Ichauch?« »Du bist unser kleiner Schatz, Ichauch.« Wie kommt jemand zu einem solchen Namen? Andere Namen liegen den Kindern schon in der Wiege, aber »Ichauch?« Solchen Namen bekommt ein Kind erst später, z.B. wenn jedes zweite Wort, das ein Kind sagt, »Ich auch« ist. Es ist ja auch schlimm., wenn alle zur Schule gehen, nur ich selbst nicht, ich muß in den Kindergarten. Es ist ja auch schlimm, wenn alle schwimmen können, nur ich selbst nicht, ich muß immer Wasser schlucken.
Es ist ja auch schlimm, wenn alle ein großes neues Fahrrad haben, nur ich selbst nicht, ich habe nur ein altes, rostiges, klappriges kleines, auf dem alle nicht mehr fahren wollen. Und immer dann schrie unser kleines Mädchen aus vollem Halse: »Ich auch!« Bekamen die anderen ein Eis, schrie es: »Ich auch, ich auch«, bevor Mutti nur fragen konnte: »Vanille oder Erdbeer?« Hatten die anderen Geburtstag, so rief es: »Ich auch!«, obwohl doch niemand mehr als einmal im Jahr Geburtstag hat. Bekamen die anderen einen Ränzel und eine Schultüte, so rief es und weinte: »Ich auch«, obwohl es Ränzel und Schultüte doch erst gibt, wenn man wirklich in die Schule kommt. Darum also hieß unser kleines Mädchen überall nur »Ichauch«. Aber es ist nun nicht so, daß »Ichauch« immer »Ich auch« rief, keineswegs. Wenn die anderen Mecker kriegten oder zum Arzt mußten, dann sagte Ichauch gar nichts, dann blieb Ichauch stumm. Doch nun mache ich mir Sorgen. Was ist nur mit Ichauch los? So lange habe ich das kleine Mädchen nicht mehr »Ich auch« sagen hören. Ichauch hat ein neues Wort gelernt. Wo, wie und wann? Ich will es erzählen. Ichauch ist zur Schule gekommen. Mit großen Augen, mit klopfendem Herzen, mit nagelneuem Ränzel und riesiger Schultüte, saß Ichauch hier, genau wie ihr heute, und ging dann hinüber in die Schule. Ichauch dachte, nun bekomme ich auch meine Klasse und meine Lehrerin,
wie alle anderen. Aber das war gar nicht so. »Ich bin eure Lehrerin,« sagte die ganz lieb aussehende Frau, und alle Kinder faßten sich bei der Hand, als die Lehrerin sagte: »Jetzt gehen wir in unsere neue Klasse.« Ichauch dachte: »Nun lerne ich auch lesen«, aber die Lehrerin sagte: »Wir lernen lesen.« »Ich will jetzt auch rechnen lernen,« dachte Ichauch. Aber die Lehrerin sagte: »Wir wollen jetzt rechnen lernen.« Zuerst verstand Ichauch das nicht. Warum sagte die Lehrerin immer »wir«? Aber dann wurde Ichauch krank. Nicht nur so ein bißchen, wie von zuviel Eis oder Schokoladen oder Cola, sondern richtig krank. Vorbei war es mit dem Zur-Schulegehen, vorbei war es mit dem Lesen lernen, vorbei mit dem Rechnen lernen. Ichauch lag im Bett. Alle anderen gingen zur Schule und lernten. Als Ichauch die gleiche Cassette schon zehnmal gehört hatte und sich langweilte und vor lauter Langeweile und Trauer an den Knöpfen ihres Kissens kaute, da klingelte es an der Tür und wer war da? Ichauchs Lehrerin, und sie sagte: »Wir wollen jetzt lesen lernen«, und Ichauch hatte dann viel Spaß dabei. Und all die langen Krankheitstage kam jemand vorbei, ein Mädchen, ein Junge, manchmal auch zwei oder drei aus ihrer Klasse und sagten: »Wir wollen rechnen lernen!« Oder »Wir wollen malen«. Oder: »Wir wollen spielen«.
Als Ichauch dann wieder gesund war und zur Schule kam, konnte sie genau so gut wie alle anderen lesen, rechnen, schreiben und malen. Und sie konnte das Wort »wir«. Sie sagte nicht mehr: »Ich auch!« Sie sagt jetzt »wir«. Sie hat viel gelernt in der Schule in ihrem ersten Jahr.
Vom Jungen, der seine Stimme verlor Den Thomas zu sehen, ist gar nicht einfach. Gar zu gerne liegt er unter dem Bett oder hockt im Schrank oder auf dem Apfelbaum, zwischen den grünen Blättern, so daß ihn niemand sieht. Den Thomas zu hören, ist viel leichter. Denn Thomas singt. Er singt nicht schön. Aber er singt laut. Er singt nicht richtig. Aber er singt viel. Er singt von morgens bis abends und den ganzen Tag. Seine Oma sagt: »Vögel, die morgens singen, holt am Abend die Katze!« Aber das macht Thomas nicht bange. Erstens ist er kein Vogel und zweitens können Vögel fliegen und drittens mag Thomas Katzen gern. Oft sitzt Thomas in der Ecke hinter dem großen Sessel, hat die Katze auf dem Schoß, streichelt ihr das schwarzschillernde Fell und singt. Thomas kennt viele Lieder. Mit sechs Jahren kann man ganz schnell lernen. Ein-, zweimal hört Thomas ein Lied, und schon kann er es nachsingen. Nicht ganz richtig, nicht ganz schön. Aber laut und oft. Und eben gern. Thomas singt gern. Wenn Thomas an seinen ersten Schultag denkt, dann freut er sich. In der Schule wird
gesungen. Sein großer Bruder hat ihm das erzählt. Darum freut Thomas sich auf die Schule, freut sich auf’s Singen und auf neue Lieder. Und dann kam alles ganz anders. Thomas kam zur Schule und gesungen wurde auch. Die Lehrerin wußte sogar viele schöne, neue, lustige Lieder, und Thomas lernte sie alle. Und er sang, jedes Lied sang er mit, und er sang laut, aber er sang nicht schön, er sang nicht richtig. Sein Nachbar Sascha stieß ihn an und sagte: »Du singst zu tief!« Und Carmen rief: »Du singst zu hoch!« Stefan stöhnte: »Du singst zu schnell!« Und Martin mekkerte: »Du singst zu langsam!« Von hinten tönte Tanja: »Thomas, du singst zu laut!« Von vorne klagte Kerstin: »Thomas, du singst zu leise!« Und in der Pause riefen die Kinder hinter ihm her: »Ascheimer – Nachtigall, Ascheimer – Nachtigall!« Thomas traten die Tränen in die Augen. Und eines Morgens, als die Schule mit einem lustigen Lied begann, da öffnete Thomas seinen Mund, um laut zu singen, doch – da kam kein Ton. Er bewegte die Lippen, die Zunge – aber es blieb still. Alle Musik und alle Lieder in ihm waren gestorben. Thomas war stumm, stumm für alle schönen Lieder. Thomas hatte seine Stimme verloren, nicht für’s Reden, aber für’s Singen. Wenn der Vati oder die Mutti baten: »Ach, Thomas, sing uns doch ein Lied«, dann sagte Thomas nur ganz traurig: »Ich kann nicht singen!« Und dann verkroch er sich in einen Winkel und war nicht mehr zu sehen und war nicht mehr zu hören.
Wollt ihr wissen, wie es weitergeht? Wo ist der Vati, wo ist die Mutti, die nicht traurig werden, wenn ihr Kind Kummer hat? Thomas Vater hatte nun niemanden mehr, der ihm lustige Lieder vorsang, und Thomas’ Mutti hatte niemanden mehr, mit dem sie singen konnte beim Autofahren und zu Bettgehen. Da schenkten die beiden dem traurigen Thomas ein Tröstegeschenk: Seifenblasen zum Selbermachen, Seifenblasen zum Träumen. Und oft sahen sie nun aus dem Apfelbaum und der buschigen Hecke Seifenblasen aufsteigen. Dann wußten sie: da steckt unser trauriger Thomas und träumt sich schöne Gedanken. Und: Pscht! Pscht! Da war doch was? Pscht! Immer, wenn ein Schwall Seifenblasen aufstieg – da hörten sie doch was? Ein Summen. Ein Brummen. Wieder die bunten Seifenblasen. Pscht! Und wieder das Summen. Dann wieder bunte Bälle, zart und dünn, ganz leise ein Singen, langsam lauter werdend. Die beiden, Vati und Mutti, lachten sich an. Nun sang der Thomas wieder. Nicht schön und nicht richtig. Aber langsam lauter werdend. Dabei fällt mir ein: Das wünsche ich mir für alle Kinder: Seifenblasen zum Trösten und Träumen, damit sie malen, singen, turnen, vielleicht nicht schön, vielleicht nicht richtig, aber doch von Herzen gern.
Seifenblasen Michael ist sechs Jahre alt und hat Probleme mit der Schule. Seit Ostern eigentlich hat er Probleme mit der Schule. Dabei geht er noch gar nicht zur Schule. Aber bald geht er hin. Alle Kinder mit sechs gehen zur Schule. Bald. Sehr bald. Aber Michael hat Probleme mit der Schule. Es begann mit dem Ranzen. Mama brachte ihn eines Tages aus der Stadt mit und stellte ihn in sein Zimmer. Da leuchtete er vor sich hin. Gelbe und weiße Katzenaugen funkelten, wenn Licht auf sie fiel. Mit seiner Taschenlampe hat Michael das ausprobiert. Es stimmt. Der Ranzen ist gut. Genau so einen wollte Michael haben. So bunt. Am Ranzen liegt es nicht. Aber mit diesem Ranzen ging es los. »Warte nur, wenn du zur Schule kommst!« sagte Mama. »Warte nur, bis du zur Schule kommst, da kannst du nicht mehr so unordentlich sein!« Oder Mama fiel fast über den Ranzen und schimpfte: »Wie willst du in dieser Unordnung jemals etwas wieder finden, wenn du erst zur Schule gehst!«
Oder sie sagte auch: »Bevor du zur Schule kommst, mein lieber Junge, mußt du aber aufräumen lernen!« Aber es war ja nicht nur das Aufräumen. Es war auch das Schleifen machen. Michael haßte Schleifen. Er mochte nur Klettverschlüsse. Schleifen sind so doof, wenn die Bänder so dünn sind und die Finger so dick. Außerdem war es doch nicht Michaels Schuld, wenn er beim Schleifenbinden einfach zu viele Finger hatte. »Wenn du zur Schule kommst, mußt du aber Schleifen binden können!« drohte Mama. Aber es waren ja nicht nur die Schleifen. Zum ersten Schultag durfte Michael Turnschuhe tragen. Adidas mit Klettverschluß. Es war auch das andere, die Sache mit dem Träumen. Immer wenn Michael sich schöne Gedanken machte, mußte doch irgendeiner der Großen rufen: »Michael träum nicht!« Papa rief: »Träum nicht!« Oma rief: »Träum nicht!« Mama rief es und sie sagte auch: »Wenn du erst zur Schule gehst, muß es aufhören mit dem Träumen. Da kannst du nicht einfach zum Fenster rauskucken oder vor dich hin träumen. In der Schule geht das nicht!« Deshalb hatte Michael Probleme mit der Schule. Denn er mochte es, wenn seine Gedanken davonliefen, wenn er plötzlich im Urwald den Jaguar jagte, oder wenn er mit dem Geschichtenvogel über die Städte und Dörfer flog. Ein Flugzeug da oben am Himmel, winzig klein, mit einem langen weißen Streifen hinter sich, genügte, um Michael mitzunehmen auf eine weite Reise. Ein Hund,
der knurrend an einer Leine zog, erschreckte Michael und entführte ihn in das Land der Ungeheuer, wo er den Seeräuberschatz finden sollte. Eine bunte Seifenblase und Michael war bei den Feen, Nixen und Hexen, bei den Magiern und Dämonen. Dann konnte er zaubern und fliegen und sich unsichtbar machen wie David Copperfield. Jedesmal, wenn er seinen Ranzen sah, fiel es Michael ein, die Sache mit der Ordnung, mit dem Schleifenbinden und dem Träumen. Und dann hatte er Probleme mit der Schule. Nein, seien wir doch ehrlich: Angst hatte er vor der Schule. Die anderen Kinder, die Kinder, die immer ganz ordentlich sind, die Kinder, die Schleifen machen können, die Lehrer, die keine Träume mögen. Die Angst war fast größer als die Freude über die Schultüte. Eine Schultüte ist ziemlich groß, da paßt riesig viel Naschkram rein, auch wenn Thomas sagt, die füllen sie unten mit Papier, und Thomas geht doch schon zur Schule. Es war Opa, der ihm helfen konnte. Opa kann fast immer helfen. Opa kann fast alles. Opa kann einen 100 t-Kran fahren. Opa war schon in der ganzen Welt, in Afrika und China. Früher. Früher war Opa auch in der Schule. Opa erzählte ihm gerade, wie in Afrika so ein Ausleger sich vom Kran löste und auf ihn raufgefallen ist. Der wog viele Tonnen und lag auf Opas Bein. »Da hab ich wirklich gebetet, sag ich dir! Da hab ich gesagt: Lieber Gott, laß mich nicht im Stich, hilf mir! Laß mein Bein wieder gesund werden!«
Michael träumte. Michael träumte von Afrika, der Wüste, dem Kran, dem Ausleger, der auf dem Bein lag. Michael träumte von Blut und Schmerzen. Dann fragte er: »Du, Opa, ist der Gott denn auch in Afrika?« »Na klar,« sagte Opa, »Gott ist doch überall!« Michael träumte von Seifenblasen, die aufsteigen und überall hinfliegen. »Überall, Opa?« fragte er. »Überall,« sagte Opa. »Auch im Keller? Und in China?« »Überall,« sagte Opa noch einmal. Michael träumte. Er sah den Gott, der wie eine Seifenblase überall hinflog. Dann war der Gott ja auch in der Schule! Lieber Gott, dachte Michael, dann laß es nicht so schlimm werden mit der Ordnung und dem Schleifenbinden und dem Träumen. Als Michael schlafen ging, tat er noch etwas Sonderbares. Er nahm sein Gefäß für die bunten Seifenblasen und steckte es heimlich in seinen Ranzen mit den blinkenden Katzenaugen. Neben die neue Federtasche, den Tuschkasten, die Filzer, den Malblock stellte er das Gefäß. Er achtete sogar darauf, daß der Deckel richtig fest drauf war. Vielleicht mögen Lehrer ja auch träumen, dachte er. Und der Gott, dachte er, der Gott ist überall. Bei Opa in Afrika und in der Schule. Dann legte er sich ins Bett und träumte von seinem ersten Schultag und der Schultüte, die bestimmt nicht mit Papier ausgestopft war.
Der Schulhof Da steht er. Seit Wochen steht er da und wartet. Blau und mit vielen bunten Weltraumschiffen, mit gelben und roten Katzenaugen steht er neben Christians Bett. Da steht er, damit Christian ihn gleich sehen kann, wenn er morgens die Augen aufmacht. Sein Ranzen. Sein großer Ranzen, mit dem Christian zu einem Schulkind wird. Wenn Christian aus dem Kindergarten kommt, geht er in sein Kinderzimmer und packt seinen Ranzen aus. Er bewundert die 24 Farben seines Tuschkastens. Mit seinem Papa hat er sie gezählt, alle 24. Wie weich die Pinselhaare sind, wie ein Katzenfell. Er bewundert seine Federtasche, die wie sein Ranzen mit Weltraumschiffen bedruckt ist. 2 bunte Filzer sind darin, aber Christian darf noch nicht mit ihnen malen, erst wenn er endlich in die Schule kommt. Wenn er endlich in die Schule kommt, dann wird er auch eine Schultüte haben, eine Schultüte fast so groß wie er selbst und gefüllt mit vielen leckeren Sachen. Aber er wird sie nicht mit Annika teilen, denn Annika geht
noch in den Kindergarten. Er ist der Große. Er kommt zur Schule. Wenn Christian an die Schule denkt, dann bekommt er Herzklopfen. Aber das sagt er niemandem. Seine Tante Elli wohnt neben einer Schule. Wenn er mit seiner Mutti Tante Elli besucht, und wenn sie dort im Wohnzimmer sitzen und wenn er dort auf dem Fußboden mit den Legosteinen baut, von denen Tante Elli eine große Kiste hat, eine wirklich große Kiste, dann klingt es plötzlich wie im Schwimmbad. Tausend Stimmen rufen, lachen, schreien durcheinander. Christian läuft zum Fenster und schaut hinaus. Er sieht auf den Schulhof. Da sind sie: tausend Kinder wirbeln durcheinander wie die Nüsse im Mixer. Die haben Pause, sagt Tante Elli. Christian sieht der Pause zu. Kleine Kinder, große Kinder, Laufen Rennen, Schubsen, Gruppen, Kreise – alles zusammengehalten durch einen hohen Zaun. Christian denkt daran, wie er mit Papa im Stadion war, beim HSV. Da drängten sich auch so viele Leute, daß Christian zwischen ihnen kaum den Himmel sehen konnte. Papa hat ihn fest an die Hand genommen. Damit wir uns nicht verlieren, hat er gesagt, und seine Hand war warm. Jetzt hat Christian einen schlimmen Traum gehabt. Als er aufwachte, mochte er seinen Ranzen nicht mehr anschauen. Christian stand mitten auf einem Schulhof zwischen den tausend Kindern. Sie rannten und tobten um ihn herum. Sie lachten und schrien. Christian wurde
vorne gestoßen und hinten gestoßen, und die Kinder wirbelten um ihn herum. Er kannte kein Gesicht und keinen Namen. Es waren einfach zu viele Kinder, große und kleine, und sie lachten und liefen, spielten und riefen. Christian wußte nicht mehr, wo der Eingang war in die Schule, er wußte nicht mehr, wo seine Klasse war, er wußte nicht mehr, wo Jens war, sein Freund. Christian wußte gar nichts mehr, er hatte sich verloren zwischen den tausend Kindern. Er sehnte sich nach Papas Hand. Zwei Tage lang ging dieser schlimme Traum nicht aus seinen Kopf. Christian mußte immer wieder an ihn denken, und er hatte keinen Spaß daran, seinen Ranzen aufzumachen und den Tuschkasten und die Federtasche anzuschauen – bis seine Mutti ihm eine Geschichte vorlas. Das tat sie manchmal abends am Bett, wenn sie Zeit hatte. Die Geschichte handelte von einem Hirten, der ganz viele Schafe hatte. Als aber eines der Schafe sich verirrt hatte, ließ der gute Hirte alle Schafe laufen und suchte das verirrte, nahm es auf seine Schulter und brachte es zurück. Macht der Hirte das immer so, fragte Christian. Bestimmt, sagte Mutti. Es sind doch seine Schafe. Christian dachte nach, während Annika sich die Bilder anguckte, die zu der Geschichte gehörten. Da war der Hirte mit dem Schaf auf seinem Rücken zu sehen. Christian kannte das Bild. Ich bin kein Schaf, dachte Christian. Haben Kinder auch einen Hirten, fragte er.
Sicher, sagte Mutti, auch Kinder haben einen Hirten. Sie haben Eltern, sie haben Freunde, sie haben Erzieherinnen, sie haben Lehrer. Christian dachte nach. Wenn Kinder auch einen Hirten haben, dann war der schlimme Traum nur ein Traum. Christian legte seine Hand auf den Ranzen neben seinem Bett und freute sich wieder auf die Schule. Er freute sich auf die Schule und die Pausen, wenn er auch zwischen den tausend Kindern spielen, laufen, lachen und toben darf.
Die fremde Frau »Wenn du erst zur Schule gehst, dann kannst du selbst lesen,« sagt die große Schwester, die keine Lust mehr hat, immer das gleiche Buch vorzulesen. »Wenn du erst zur Schule gehst,« sagt Papa, »dann muß ich dich auch nicht mehr tragen, Schulkinder trägt man nicht!« »Wenn du erst zur Schule gehst, dann mußt du dein Zimmer selbst aufräumen!« sagt Mama. »Eine halbe Stunde habe ich heute gebraucht, nur um wegzuräumen!« »Wenn du erst zur Schule gehst, dann darfst du nicht mehr an deinem Ärmel lutschen,« sagt Oma, »die anderen Kinder lachen dich ja aus!« »Wenn du erst zur Schule gehst …« Vanessa freut sich auf die Schule und sie hat Angst. Das Herz klopft bis zum Halse und es kribbelt im Bauch, ihr ist fast schlecht im Magen, und sie kann es kaum noch aushalten. Sie fühlt sich wie vor Weihnachten oder wie vor dem Geburtstag. Aber irgendwie ist es doch anders. Was wohl in der Schultüte sein wird? Ihr Ränzel und ihre Federtasche sind gelb. Gelb ist ihre Lieblingsfarbe.
Vanessa malt am liebsten riesige gelbe Sonnen. Die anderen Kinder – ob sie wohl doof sind oder gemein? Vanessa kennt doofe Kinder. Das sind Mädchen, die nicht gerne auf Bäume klettern oder Pirat spielen oder Rennfahrer. Vanessa mag nicht Mutter und Kind spielen. Vanessa kennt auch gemeine Kinder. Die lachen, wenn Vanessa von Piraten träumt auf fernen Inseln und dabei an ihrem Ärmel lutscht oder wenn sie mit ihrem Fahrradhelm Rennfahrer spielt und dabei »Brumm, brumm, brumm« macht. Was wohl in der Schultüte sein wird? Vanessa kann es kaum noch aushalten. In einer Woche ist Schulanfang, in drei Tagen ist Schulanfang, morgen ist Schulanfang. Fast hätte die Schule ohne Vanessa angefangen. Das kam so: Vanessa war wieder einmal Rennfahrer. »Brumm, brumm, brumm«, raste sie über den Bürgersteig. Und dann weiß sie gar nichts mehr. Sie fühlte einen Stoß, lag auf dem Pflaster, der Ellenbogen brannte und dunkel vor ihr stand ein Laster. Was war geschehen? Vanessa war gerast, gleich, gleich wäre sie am Ziel, als erste natürlich, als erste, da kam der Laster aus der Einfahrt und die fremde Frau, irgendeine fremde Frau gab ihr einen Stoß mit dem Arm, mit dem Bein, irgendwie einen Stoß, Vanessa stürzte, fiel, es tat weh und vor ihr war der Riesenreifen des Lasters. Papa sagt: Sie wäre tot gewesen. Papa sagt: Der liebe Gott habe sie gerettet, Gott sei Dank! Papa sagt: Die
fremde Frau habe ihr das Leben gerettet. Die Stelle am Ellenbogen wäre gar nicht schlimm. Für Vanessa sieht der liebe Gott nun aus wie eine fremde Frau. Seit diesem Nachmittag wohnt diese fremde Frau in Vanessas Kopf oder Herz oder Bauch. Vanessa weiß gar nicht, wie sie aussieht. Es ging alles so schnell, Vanessa hat sie gar nicht genau gesehen. Aber wenn Vanessa jetzt an die Schule denkt, wenn sie Angst hat, dann fühlt Vanessa wieder den Stoß und weiß, sie ist da. Wenn Vanessa mal nicht weiß, was sie sagen soll, weil irgendwer sie anspricht, den sie nicht kennt, dann fühlt sie den Stoß. Wenn sie traurig ist, weil Mama über’s Aufräumen schimpft, dann fühlt sie den Stoß. Vanessa hat Papa gefragt, ob die fremde Frau oder der liebe Gott denn immer da sei. Papa hat »Ja« gesagt. Der liebe Gott sei immer da. Aber das merke man nicht immer. Vanessa ist jetzt viel stärker, weil sie das weiß. Sie mag nicht gern allein sein, und wenn die fremde Frau oder der liebe Gott immer da ist, dann … Selbst wenn Vanessa sich schöne Gedanken macht, ist die fremde Frau da. Vanessa kann sogar mit ihr reden. Abends im Bett erzählt sie ihr ihre Träume …
Du bist nicht allein Ich kannte einen Jungen, der aß Spinnen. Er nahm sie einfach zwischen zwei Finger, steckte sie in seinen Mund – und weg waren sie mit allen ihren ekligen Beinen. Aber das tut nicht jedes Kind. Andere Kinder essen lieber Gummibärchen. Thomas mochte Spinnen gar nicht. Er mochte sie nicht essen, nicht anfassen, nicht angucken. Wenn er eine Spinne nur ansah, dann polterte es in seinem Bauch, sein ganzer Körper schrumpfte zusammen und er lief schreiend davon. In den Keller ging Thomas nur, wenn seine Mutter ihn bei der Hand nahm, und sie zusammen die Treppe hinunterstiegen. Thomas kniff dann die Augen fest zu und ließ sich führen. Allein in den Keller? Niemals! Thomas ist sechs Jahre alt. Thomas soll nun in die Schule gehen. Thomas kennt die Schule nicht. Thomas kennt nur den Zaun um die Schule, das graue Haus, den Schulhof. Aber Thomas kennt seine Lehrerin nicht, er weiß auch nicht, welche Kinder in seiner Klasse sein werden. Er kann sich auch nicht vorstellen, was Kinder in der Schule
machen. Thomas spürt es poltern in seinem Bauch, wenn er an die Schule denkt. Sein Körper schrumpft zusammen. Thomas hat Angst vor der Schule. Fast so viel Angst wie vor dem Keller. »Thomas, wenn du jetzt zur Schule kommst, dann muß dein Zimmer ordentlicher sein, sonst kannst du gar keine Schulaufgaben machen, schau mal, du kannst gar nichts auf deinen Schreibtisch legen, da ist ja gar kein Platz mehr …!« Wer räumt schon gerne auf? Thomas nicht. Aufräumen macht ihn wütend. Aber als Thomas diesmal sein Zimmer aufräumte, da hat er etwas gefunden, das hat alles verändert. Hinter seiner Playmobil-Kiste lag eine Kerze. Eine Kerze im Kinderzimmer! Er wollte schnell seine Kiste davorschieben, aber Mama hatte sie schon gesehen. »Da ist sie ja! Deine Taufkerze!« rief seine Mutter. »Warum bekommt man eine Taufkerze?« fragte Thomas. »Zu Erinnerung,« sagte Mama. »Woran?« fragte Thomas. Zum Glück wunderte sich Mama nicht mehr darüber, wie die Kerze in sein Kinderzimmer gekommen war. Jetzt erzählte Mama von seiner Taufe. Wer alles da war, wie klein er damals war, und daß er gar nicht geweint hatte. »… und die Taufkerze soll dich daran erinnern, daß du nie allein bist. Nie mehr.« Das hat Thomas sich gemerkt. Da ist also jemand, der ihn bei der Hand nimmt. So, wie Mama seine Hand nimmt, wenn sie in den Keller gehen. Thomas hat es gleich ausprobiert. Er zündete die Kerze an, verbrannte
sich fast die Finger dabei, aber dann ging er zur Kellertür, machte sie auf, stieg die Treppe hinunter, die Kerze immer vorsichtig vor sich her tragend, ging er in den Keller. Und da war gar nichts, keine Spinne und nichts. Thomas hat es gleich noch einmal versucht. Diesmal ohne Kerze. Er hat nur gedacht, ganz kräftig hat er es gedacht: Da ist jemand, der nimmt mich bei der Hand … Und da war wieder nichts. Keine Spinne und gar nichts. Zur Schule kann Thomas die Kerze nicht mitnehmen. Aber das muß er auch gar nicht. Er weiß ja, daß er nicht allein ist. Wenn Mama ihn zur Schule gebracht hat, und wenn alle Kinder in die neue Klasse gehen, wenn die neue Lehrerin da ist, dann ist er nicht allein. Angst hat Thomas jetzt nicht mehr. Er freut sich, weil er nun groß ist. Er freut sich auf die vielen neuen Kinder, auch wenn einige Jungen stärker sind als er. Er freut sich auf das Spielen und Lernen, auch wenn er nicht weiß, ob er alles können wird. Vorgestern abend war Thomas sogar allein zu Hause, als Mama ein Bier trinken war. Ohne Babysitter. »Ich bin doch nicht allein,« hatte Thomas gesagt. Und Mama hatte genickt. Und es hatte funktioniert. Er fühlte sich kein bißchen einsam. Er fühlte sich groß, wie die Kinder, die einen Ränzel tragen. Am liebsten wäre er heute ganz allein in die Schule gegangen, auch wenn es zum erstenmal ist …
Der rosa Ranzen Zwölfmal noch schlafen, dann fängt die Schule an. Das sind acht Finger, zwei Daumen und zwei große Zehen, Male, das Mädchen, ist ganz aufgeregt. Zwölfmal noch schlafen – aber das wißt ihr ja schon, das sind acht Finger, zwei Daumen und zwei große Zehen. Dann ist der erste Schultag. Doch dieser erste Schultag fängt ohne Male an. Denn Male, das Mädchen, muß zu Hause bleiben. Darum weint sie jetzt, die kleine Male, kugelrunde Kullertränen, lang laufende Leidenstränen weint sie in ihrem Bett. Sie muß zu Hause bleiben. Warum? Der rosa Ranzen ist schuld. Sie hat keinen rosa Ranzen. Ja, reicht denn nicht auch ein grüner, roter, gelber oder blauer Ranzen für die Schule? Kann es nicht ein gestreifter sein? Nein, es muß ein rosa Ranzen werden. Wie geht das zu? Ganz einfach. Die niedliche Nicoline mit dem blonden Zopf, sie hat gesagt: »Wenn ich in die Schule gehe, dann bekomme ich einen rosa Ranzen.«
»Das ist ja fein, ein rosa Ranzen,« sagten die Großen, als sie das hörten. Am nächsten Tag war sich die zierliche Zora gewiß: »Wenn ich in die Schule gehe , dann bekomme ich einen rosa Ranzen.« »Das ist ja fein, ein rosa Ranzen,« sagten die Großen. Da ging dann auch bald die drollige Dorle mit einem rosa Ranzen spazieren, zur Probe, wie sie allen erzählte und die lange Line, die blonde Britt, die Petra mit dem schwarzen Haar, sie alle hatten rosa Ranzen. Nur Male nicht. Und Male, das Mädchen, ging zu Bett, voller Freude auf die Schule, auf Lesen und Schreiben, auf Rechnen und Malen, auf Singen und Tanzen. Und in ihrem Schlaf, in ihren Träumen ging sie den Weg wohl 00 mal. Da aber geschah’s. Ganz plötzlich. Sie sah sie, die Schule, das große Tor und davor standen Lehrer, lauter Lehrer, große Lehrer, lange Lehrer, starke Lehrer. Alle Lehrer sahen finster drein und hoben die Finger: »Nein, wer keinen rosa Ranzen hat, nein, der kommt nicht hinein!« So riefen sie. Und Male, das Mädchen schrie, schrie vor Schreck und weinte, wie nie. Ich will in die Schule, das wußte sie und einen rosa Ranzen, den krieg’ ich nie. Aber Mädchen, was weinst du so sehr? Trockne die Tränen, schau einmal her: Da vor dem Bett, da steht was,
nun schau: was ist das? Ein rosa Ranzen. Genau wie die anderen. Glänzend und blank. Da steht er, deiner ist es. Nun freu’ dich. Bald geht es los! Die Tage vergingen. Es war so weit. Male, das Mädchen, machte sich schön. Wer ging mit wem? Ging der Ranzen mit dem Kind? Ging das Kind mit seinem Ranzen? Und die Schultüte erst! Dauernd stieß sie unten an, die riesige Tüte im klammernden Arm. Voll süßer Sachen und Malzeug, auch was zum Spielen – der erste Tag. Das war ja wie ein Geburtstag, wie Weihnachten gar. Zur Schule. Doch auf dem Weg – Male, das Mädchen, glaubte es kaum – da sah sie Kinder mit Ranzen, mit blauen! Auch grüne Ranzen waren dabei und rote. Gelb wie die Sonne lachten die anderen. Auch rosa Ranzen waren dabei, das ist wahr. Aber bunt wie die Kinder waren die Farben der Ranzen. Ob nun die Lehrer, die langen und starken mit großen Fingern vor dem Tor …? Male wagte kaum hinzusehen. Da war sie, die Schule, das große Tor und da standen die Lehrer: und lachten. Ja wirklich, sie lachten allen zu, die kamen und gaben allen die Hand. Auch den Kindern mit blauen Ranzen. Auch den mit gelben und grünen. Male, das Mädchen, sah das und staunte. Und sie hat gleich was gelernt. Es dauerte nur wenige Tage, da hatte Male schon eine Freundin gefunden. Die Nele war es, mit der sie spielte
und bald auch jeden Morgen zur Schule ging. Ich freue mich immer, wenn ich die beiden seh. Ein rosa Ranzen und einer in blau. Wer gehört wem? Das ist nicht so klar. Denn manchmal tauschen sie, die beiden Schlauen. Dann geht Nele in Rosa und Male in Blau.
Was Christian sagt, wenn er sich in einem Spiegel trifft Immer, wenn Christian einen Spiegel sieht, dann bleibt er stehen und schaut hinein. Nein, er schneidet keine Fratzen, er streckt nicht die Zunge heraus, nein. Er bleibt einfach stehen, sieht in den Spiegel und sagt leise: »Ich bin ich und du bist du.« Das ist kein Abzählvers wie dieser: Zehn Polizisten pißten in die Kisten einer pißt daneben du bist eben. Ein Abzählvers ist das nicht: »Ich bin ich und du bist du«. Was Christian vor dem Spiegel sagt, ist ein ganz wichtiger Satz. Warum der Christian diesen Satz sagt, wenn er sich im Spiegel sieht, will ich euch erzählen. Vor einem Jahr saß der Christian in einer Kirche. In seinem Arm hielt er eine Schultüte, was soll ich euch sagen, die war riesig. Riesig groß und riesig bunt und riesig schwer. Und innen drin, da war sie wohl wie Ostern, Geburtstag und Weihnachten, voll bunter, leckerer,
lustiger Sachen. Und eine neue Hose hatte er an, lange Jeans, und nicht mehr so alberne Latzhosen, und neue Schuhe nicht zum Fußballspielen an den Füßen. Sein erster Schultag. Der Mann da vorne im schwarzen Mantel erzählte etwas. Christian konnte kaum zuhören, so laut klopfte sein Herz, und immer wieder mußte er tief Luft holen. Sein erster Schultag. Der da vorne sagte gerade: Lange Nase, große Ohren, kurze Beine, dicker Bauch sollen dich nicht traurig machen, denn du kannst darüber lachen: Gott liebt dich auch! Christian fand das lustig. Danach begann die Schule. Die Schule! Schön war Christians erster Schultag, schön und – traurig. Denn alle hatten Filzer mit, große, bunte Filzer, nur er nicht. Darüber war er traurig. Aber das Schlimmste war: So ging es weiter. Wenige Tage darauf, da hatten alle einen Turnbeutel mit, nur er nicht, der Christian. Ach, nicht genug damit! Bald kamen alle allein zur Schule, nur er nicht. Seine Mutter brachte ihn jeden Morgen bis zur Schultür und wollte einfach nicht zu Hause bleiben. Und es kam noch schlimmer. Eines Tages merkte der Thomas, der große Thomas, der starke Thomas: alle Jungen haben kurze Haare, nur der Christian nicht. Dessen Haare waren lang, genauso, wie
bei den Mädchen. Und dann kam es heraus: Alle mochten malen, nur er nicht, der Christian. Und der Christian wurde mit jedem Tag trauriger. Immer wieder dachte er: Alle haben, nur du nicht. Alle sind, nur du nicht. Alle mögen, nur du nicht. Alle haben keine Brille, nur du nicht. Du hast eine. Alle sind laut und fröhlich, nur du nicht. Alle können ganz schön schreiben, nur du nicht. Alle mögen singen, nur du nicht. Und Christian fühlte sich wie eine Tomate unter lauter Bananen, und so rot wie eine Tomate wurde er auch, wenn er wieder einmal merkte, daß alle gelb waren, nur er nicht! Manchmal, ganz selten, und dann auch nur ganz leise, wenn niemand es merkte, mußte Christian sogar weinen, wenn alle ganz anders waren als er. So ging es, bis – bis er an einem Morgen in einem Schaufenster Spiegel sah, Spiegel, Spiegel, Spiegel. Und er sah sich in den vielen Spiegeln, sich, den Christian. Nein, er sah nicht nur sich, den Christian. Er sah sich und sich und sich und sich. Er sah viele, viele Christians. Er sah sich, wie er in einen Spiegel sah, in dem er sich in einem Spiegel sah, in dem er sich in einem Spiegel sah. Und da geschah es zum erstenmal: Christian zeigte auf sich und sagte: »Ich bin ich und du bist du.« Und ihm fiel etwas ein von seinem ersten Schultag. Der Mann im schwarzen Mantel, der sagte:
Lange Nase, große Ohren, kurze Beine, dicker Bauch sollen dich nicht traurig machen, denn du kannst darüber lachen: Gott liebt dich auch! Und Christian sah sich wieder im Spiegel und sagte leise: »Ich bin ich und du bist du.« Und nie wieder war Christian traurig, wenn er merkte, daß alle anderen anders waren als er. Als alle ein Fahrrad hatten, nur er nicht, da sagte er leise: »Ich bin ich und du bist du.« Und er lachte. Als alle abends lange fernsehen durften, nur er nicht, konnte er trotzdem lachen und sagte nur: »Ich bin ich und du bist du.« So wie er es immer sagte, wenn er sich in einem Spiegel traf.
Und wenn dann die Angst kommt O, es ist nicht einfach, Kind zu sein. Als Kind muß man immer warten. Fünfmal noch schlafen bis zum Geburtstag, zwanzigmal noch schlafen bis zum Urlaub, und nach dem Urlaub noch achtmal schlafen, bis die Schule anfängt. Nichts ist gleich. Auf alles muß ein Kind warten, auch auf die Schule. Es ist nicht einfach, Kind zu sein, findet Til. Kinder dürfen fast nichts, findet Til. Fußballspielen im Wohnzimmer – Papa schimpft. Mit Wasser spritzen im Bad – Mama schimpft. Im Treppenhaus spielen, weil ’s da so schön kühl und dunkel ist: Frau Schlemihl meckert. Auf dem Rasen Fußballspielen ist auch verboten, genau so wie Feuer anmachen und durch die Hecke gehen. Es wird Zeit, daß ich groß werde, denkt Til, und wenn ich erst mal zur Schule gehe, dann bin ich fast schon ganz groß, denkt Til. Aber, wie schon gesagt, auf alles muß man warten. Nichts ist gleich. Auf den Ränzel mußte Til lange warten und auf die Filzer – und als er es beides endlich hatte – da durfte er es noch nicht einmal benutzen, sondern wieder
sollte er damit warten, bis die Schule anfängt. Warten, warten, warten, es ist nicht einfach, Kind zu sein. Aber nun ist es ja endlich soweit. Die Schultüte hat Til im Arm, der erste Schultag ist da und morgen kann er lesen, endlich. Niemanden muß Til noch fragen: lies mir mal eine Geschichte vor – dann kann er endlich selbst alles lesen. Morgen. Und dann darf er auch bald überall spielen, was er will. Bald. Auf dem Weg zur Schule ist es dann passiert. Ganz plötzlich waren da ganz viele Leute und ganz viele Kinder, kleine, große, und ganz große. Eben war doch Mama noch da, eben erst. Und nun war sie weg. Ganz weg. Til konnte sie doch nicht anfassen, festhalten, an der Hand gehen, nicht am ersten Schultag. Und nun war sie weg. Da stand der Til mit seiner Schultüte im Arm und dem Ränzel auf dem Rücken und war ganz allein, und die anderen schoben und drängelten, und die Mama war nicht da. Nur Leute und Kinder, große und ganz große. Und sie schubsten und drängelten, und fast wäre die Schultüte hingefallen und fast wäre Til hingefallen, und hinter seinen Augen wurde es heiß und im Hals wurde es dick und Til hätte fast geweint. Ganz große Sehnsucht hatte er plötzlich nach Mamas großer, weicher, warmer Hand, ohne die er jetzt ganz hilflos war. Die ersten Tränen drängten sich heraus. Dann aber war die große, weiche, warme Hand da auf seiner Schulter. Til atmete auf und jemand sagte: Wo willst
du denn hin, Kleiner! Das war nicht Mamas Stimme. Til sah hoch. Das war ein großer Junge. Ein richtig netter, großer Junge. Und der brachte ihn dann dahin, wo auch die Mama war und die anderen Kinder mit Schultüten und alles war wieder ganz gut. Als Til dann später mit den anderen Kindern in der Kirche saß, und der Pastor etwas erzählte vom Traurigsein und von der Angst, da wußte Til, wovon der da vorn redete. Und als der dann sagte, bei Angst und Traurigkeit wäre Jesus oder Gott ganz nahe, da nickte Til. Er wußte, wie der aussieht, und daß er eine große, warme, weiche Hand hat. Er hat ihn getroffen, bestimmt, an seinem ersten Schultag. Bestimmt.
Wer ist stark? Christoph hat einen Freund, der ist so stark wie 0 Gorillas. Ulli heißt er und spuckt 0 m weit, er kann eine Kiste Cola hochheben und klug ist er auch. Er weiß, was ein Porsche 928 ist und geht schon zur Schule. Wenn Ulli aus der Schule kommt, erzählt er, wen er heute besiegt hat. Ulli besiegt alle und hat auch ein Messer und ein Feuerzeug. Christoph kommt jetzt auch zur Schule. Er hat schon einen Ranzen in Rot und eine Schultüte, aber die ist noch leer. »Du mußt keine Angst haben vor der Schule,« sagt Ulli. »Wenn dich jemand anmacht, dann haust du ihn um,« sagt Ulli. Aber etwas Angst hat Christoph doch. Manchmal haut er ja auch. Aber noch nie ist jemand umgefallen. Christoph ist nicht so stark wie 0 Gorillas. Also hat er immer noch etwas Angst vor der Schule. Mama sagt: »Mit der Schule ist es wie mit dem Keller. Du weißt doch, wie es mit dem Keller war? Denk dir, die Schule ist ein Keller!« Christoph erinnert sich. Seine Oma
hat ein Haus, und das Haus hat einen Keller. In diesem Keller ist es stockdunkel und Spinnen sind darin, kinderhandgroß mit ekligen langen dünnen Beinen. Gräßliche Käfer sind darin und Ohrkneifer. Christoph hatte Angst, in diesen Keller zu gehen, große Angst. Dann aber war Vanessa zu Besuch. Vanessa ist noch kleiner als Christoph und viel schwächer als er. Vanessa könnte er sogar umhauen, glaubt Christoph. Als Oma gerade einkaufen war, hatten sie beide großen Durst. Fast wären sie verdurstet, und im stockdunklen Keller stand der Apfelsaft. Was sollten sie tun? Im Keller waren auch die Spinnen und die Käfer und die Ohrenkneifer. »Geh du!« sagte Christoph. »Geh du,« sagte Vanessa. Aber keiner ging, und sie hatten solchen Durst. »Ich hab solche Angst,« sagte Vanessa, »und solchen Durst,« und sie fing an zu weinen. Da hatte Christoph eine Idee. »Komm,« sagte er, wir gehen zusammen,« und er nahm Vanessa bei der Hand. Sie schafften es wirklich. Sie gingen die Treppe hinunter, vorbei an den Spinnen, Käfern und Ohrenkneifern zum Apfelsaft, nahmen die Flasche in die Hand und rannten wieder die Kellertreppe hinauf, Tür zu, geschafft! Natürlich hat Christoph das jedem erzählt, wie er mit Vanessa in dem schrecklichen Keller war. Papa sagte: »Da siehst du’s mal, Christoph, wer dem Schwachen hilft, ist stark!«
Daran also hat die Mama Christoph erinnert: Wer dem Schwachen hilft, ist stark. Wer in den dunklen Keller geht, der kann auch in die Schule gehen ganz ohne Angst und muß auch keinen umhauen. Christoph hat auch keine so große Angst vor der Schule mehr. Er schaut, wem er helfen kann, und so jemanden, den gibt es bestimmt.
Der Wettlauf oder Die Letzten werden die ersten sein Noch nie habe ich Kinder so gut miteinander spielen gesehen wie die Fünf aus der Gartenstraße. Thomas und Karin, Ulf und Ulrike und der kleine Bastian – sie waren ein Herz und eine Seele. Ob sie nun mit Puppen spielten oder mit Autos, ob sie Verstecken spielten oder Englisch – Kriegen, Gummitwist oder Rollschuhlaufen – ich habe sie nie streiten gehört. Und das, stellt euch vor, obwohl Ulrike gar nicht mit Puppen spielen mochte und Bastian keinen Spaß am Kriegen hatte, weil er doch so klein war und nicht so schnell laufen konnte. Das soll den Fünfen erst einmal jemand nachmachen: Bei einem Spiel nicht zu maulen und zu muckschen, sondern mitzuspielen, weil es den anderen Spaß macht. Wer kann das schon! Die aus der Gartenstraße waren wirklich ein Herz und eine Seele und gleich alt waren sie auch: stolze 6 Jahre. Aber dann kam Martin Erstmann aus der Schulstraße dazu, und aus war’s mit dem Frieden. Martin war auch 6 Jahre alt. Doch er fühlte sich viel älter, weil er sogar schon lesen konnte. Die Fünf trafen ihn auf dem Spielplatz,
und weil er allein da war und sie zu fünft, fragten sie ihn, ob er mitmachen wollte. Und ob er wollte! Allein ist es langweilig. Zuerst turnten sie am Klettergerüst. Ganz hoch hinauf und dann balancieren – gar nicht einfach, so etwas. Martin Erstmann machte es vor. Die anderen hinterdrein. Bis auf Thomas. Der traute sich nicht. »Feigling! Feigling!« rief Martin. Thomas schämte sich. Karin sagte: »Laß ihn doch! Er mag eben nicht.« Dann spielten sie Kriegen. Martin war der Flinkste. Mensch, konnte der laufen! Den kriegte niemand. Als der kleine Bastian war, sprang Martin um ihn herum. »Ätsch, kriegst mich nicht, kriegst mich nicht!« rief er. Bastian weinte fast vor Verzweiflung. Da sagte Ulf: »Laß uns doch was anderes spielen!« Sie bauten Autoburgen im Sand. Martins Burg wurde ein Prachtstück mit Straßen und Tunneln, Plattformen und Rampen, geraden Wänden und spitzen Dächern. Als er fertig war, sah er sich an, was die anderen gebaut hatten. »Kuckt mal an, was Karin gebaut hat!« rief er. »Das soll eine Autoburg sein, daß ich nicht lache! Das ist ja ein Trümmerberg!« Und er lachte sich fast kaputt. Da hatte Karin keine Lust mehr zum Autoburgen bauen. Sie strichen den Sand glatt und wollten malen. Jeder malte seine Familie. Martin war zuerst fertig und alle staunten. Der konnte vielleicht malen! Menschen malen, ist gar nicht einfach, erst recht nicht im Sand! Aber Martins Menschen waren ganz toll gemalt, wie ein Bild
in einem Buch. Dann besahen die Kinder die anderen Bilder, die nicht so schön waren. Bei Ulrikes Bild sagte Martin: »Was soll ’n das sein? Das sind ja Eier mit Beinen!« Ulrike bekam feuchte Augen, weil das Ulf und seine Eltern waren und keine Eier mit Beinen. Nun beschlossen sie, Fußball zu spielen. Es wurde ein spannendes Spiel. Ulf war der Torwart. Und was machte Ulf? Er ließ einen Kullerball zwischen seinen Beinen hindurch ins Tor laufen. Martin ärgerte sich. »Flasche!« sagte er zu Ulf. »Kannst nicht einmal einen Babyball halten! Flasche!« Und weil Martin noch Geld hatte, und weil es heiß war, schlug er vor: »Wer von euch zuerst beim Kaufmann ist, kriegt von mir ein Eis ab! Achtung, fertig, los!« Die Kinder liefen los. Martin war bald allen voraus. Sie liefen alle so schnell sie konnten. Bastian, der Kleine, lief hinterher. Ulf war nach Martin an zweiter Stelle. Er sah sich um. Ganz hinten war Bastian. Ulf lief langsamer. Als Karin herankam, faßte er sie an. Dann kam Ulrike. Karin nahm sie bei der Hand. Jetzt waren sie zu dritt. Als nächster kam Thomas. Hand in Hand liefen sie weiter, ganz langsam. Bis Bastian kam. Den nahmen sie dazu und gingen langsam dem Martin nach, der vor der Tür des Kaufmanns stand und ein ganz dummes Gesicht machte, als alle fünf zur gleichen Zeit beim Kaufmann eintrafen.
Thomas ruft einen Freund Kindergarten – das war einmal. Nun ist Thomas zu alt für den Kindergarten. Thomas ist Schüler. Es begann mit seinem neuen Ränzel, es sollte einer sein mit einem Wal darauf, und es wurde einer mit einem Wal darauf. Eines Tages stand der neue Ränzel neben seinem Bett, als er aufwachte. Aber eigentlich hatte es noch früher angefangen. Es hatte angefangen mit einem kleinen Wunder. Schleifen machen, das ist ziemlich schwierig, wenn die eigenen Finger so dick sind, die Bänder so dünn und so eigenwillig. Immer wieder gingen die Schleifen auf. Drei, vier Schritte, und schon wieder sagte Mama: Thomas, bind’ deine Schuhe zu! Und Thomas band. Warum kaufte seine Mama ihm denn keine Schuhe mit Klettverschlüssen? Thomas, wenn du zur Schule willst, dann mußt du auch eine Schleife binden können! Und Thomas band. Thomas band wieder und wieder, aber eine richtige Schleife wurde es nicht. Aber dann … Thomas sah mit Papa Fußball. Auf dem Platz wurde ein Spieler verletzt. Ein anderer Spieler stand am Spielfeldrand und sollte mitmachen. Doch bevor er
auf den Platz lief, machte er eine seltsame Bewegung. Mit der Hand tippte er an seine Stirn, nein nicht so, als wollte er jemandem den Vogel zeigen, sondern so, und er tippte auf seinen Bauch, an seine linke Schulter, an seine rechte. Papa, was macht der da? Er schlägt ein Kreuz, sagte Papa. Ein Kreuz machen, das kannte Thomas. Man kreuzt seine Finger, wenn man nicht ganz halten will, was man verspricht. Aber das machte man anders. Warum macht der das? Papa sagte: Er will, daß Jesus ihm hilft. Und dann schoß der Spieler ein Tor, kaum, daß er auf dem Spielfeld war. Beim Schuhe zubinden erinnerte sich Thomas an diesen Spieler, und bevor er die Schuhbänder aufnahm, machte er schnell ein Kreuz, so, keiner hat es gesehen. Und was soll man dazu sagen, die Schleife hielt. Die Bänder schlangen sich wie von selbst umeinander, sie ließen sich widerstandslos festziehen, sie hielten den ganzen Nachmittag. Seitdem sind Schleifen für Thomas kein Problem. Er hat das auch schon beim Laufen mit den Rollerblades probiert. Es funktionierte. Er schlug das Kreuz, dachte daran, daß Jesus ihn festhalten wird, und es klappte. In den letzten Tagen wuchs Thomas Aufregung. Der erste Schultag ist aufregend. Die Omas und Opas kommen, es gibt eine Schultüte, eine ganz große, und sie ist nicht voller Knüllpapier. sondern angefüllt mit leckeren Süßigkeiten, er darf seine neue Jacke tragen, den neuen Ränzel – aber das ist ja nicht alles. Er wird seine neue Lehrerin kennenlernen. Ob sie nett ist? Und die anderen
Kinder, ob er da auch Freunde findet? Ob er bald lesen kann? Zum Schreiben hat Thomas gar keine Lust. Es kribbelte bei Thomas im Bauch, wenn er an die Schule dachte. Aber dann fiel Thomas sein Trick wieder ein: Ich mach einfach so, und ich bin nicht allein. Heute morgen, als Thomas aufwachte, und sein Herz hier oben im Hals schlug, weil nun der erste Schultag ist, putzte Thomas seine Zähne, sah sich im Spiegel an, spürte sein Herz klopfen, hatte das Prickeln im Bauch, machte diese seltsame Bewegung, und nun sitzt er hier unter uns, und hat keine Angst mehr. Angst hat man nur, wenn man allein ist. Und Thomas ist nicht mehr allein. Er weiß, hinter ihm steht Jesus, und mit seiner Hilfe kann er alles. Mit seiner Hilfe kann er Rad fahren ohne umzufallen, mit seiner Hilfe kann er in den Keller voller Spinnen steigen, mit seiner Hilfe kann er an dem starken Norbert vorbeigehen, der ihn immer ärgert. Wer allein ist, ist arm dran. Aber Thomas ist nicht mehr allein, er hat einen Freund, der immer bei ihm ist. Thomas macht einfach so, und dann weiß er es wieder. Aber das bleibt sein Geheimnis.