Atlan - Minizyklus 07 Flammenstaub Nr. 08
Der Zorn der Lordrichter von H. G. Ewers
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Atlan - Minizyklus 07 Flammenstaub Nr. 08
Der Zorn der Lordrichter von H. G. Ewers
Auf den von Menschen besiedelten Welten der Milchstraße schreibt man das Jahr 1325 Neuer Galaktischer Zeitrechnung. Der unsterbliche Arkonide Atlan kämpft in der Galaxis Dwingeloo gegen die mysteriösen Lordrichter. Er fliegt zur Intrawelt, um dort den Flammenstaub, der eine ultimate Waffe sein soll, zu besorgen. Atlan trägt nun den Flammenstaub in sich. Aber je intensiver er ihn benutzt, desto verheerender ist sein Einfluss auf Psyche und Körper. Auf der Vulkanwelt Ende kann er den Großteil der lebensgefährlichen Substanz loswerden. Anschließend findet das scheinbar zufällige Treffen mit den Cappins statt. Der Arkonide wird per Pedopeiler nach Schimayn befördert, einem der Galaxis Gruelfin vorgelagerten Kugelsternhaufen. Dort gerät er in die kriegerische Auseinandersetzung zwischen Ganjasen, Takerern und Juclas. Um Letztere vor den Lordrichtern zu warnen, reist er zur Thein-Versammlung, die von den Zaqoor blutig niedergeschlagen wird. Im Zuge der Flucht entdecken Atlan und seine Begleiter einen vergrabenen Sammler, das gigantische Robotschiff MITYQINN. Zusammen mit der JuclaFlotte verfügt Atlan nun über beträchtliche Machtmittel. Was fehlt, sind Informationen. Aus diesem Grund sucht er die Sternenstation BOYSCH in der Freihandelszone Susch auf, deren Neutralität durch den ZORN DER LORDRICHTER gefährdet ist …
Der Zorn der Lordrichter
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Die Hautpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide verteidigt die Freihandelszone. Symaltin - Der Autokrat von BOYSCH gibt seine Neutralität auf. Samptasch - Die Hohe Ganjo-Interpretatorin erweist sich als Gegenspielerin. Persenpo Zasca - Der stellvertretende Leiter der Mythothek liefert brisante Informationen.
1. Der Tod kam aus dem All Die Bordsirenen gaben ROTALARM. Das schrecklich schrille Pfeifen ging durch Mark und Bein. Die Ortungsanzeigen bildeten einen Pulk von siebzig großen Raumschiffen ab, der soeben aus dem Linearraum ins normale Kontinuum zurückgefallen war. Rator Shogasch, Kommandant des Patrouillenschiffes SHINEIRA, fuhr in seinem Kontursessel hoch. Die Zeit der Langeweile war schlagartig vorbei. Er blickte in die erschrockenen Gesichter der anderen sieben Raumfahrer in der Zentrale. Kampfkreuzer! Die Messdaten der Hyperortung waren eindeutig: Es handelte sich um mittelschwere Kampfkreuzer mit einer Bewaffnung, die einen ganzen Planeten sekundenschnell zu Staub zerblasen konnte. Und das war nicht alles. Innerhalb weniger Zeiteinheiten stürzten nacheinander weitere drei Pulks zu je siebzig Kampfkreuzern in den Normalraum zurück. »Unsere Schutzschirme haben sich automatisch hochgeschaltet!« meldete der Waffenoffizier. Jemand lachte. Aber nicht lange, denn im nächsten Augenblick brach der Schutzschirm mit grellweißer Entladung zusammen. Einen Augenblick später verwandelte sich die SHINEIRA in einen blitzartig expandierenden Glutball. Der schon wenige Augenblicke später erlosch.
*
Raumalarm! Großadmiral Nogger Shogasch sprang aus seinem Sessel im Kommandobunker des Präsidentenpalastes im Zentrum von Tontarasch, der Hauptstadt des Planeten D'Oranon. Fassungslos starrte er auf die Anzeigen der Ortungs-Auswertungs-Schirme der planetaren Sicherheit, die sich soeben aktiviert hatten. Sie zeigten an, dass vier Pulks mittelschwerer Kampfraumer auf der Bahn des vierten Planeten aus dem Linearraum in den Normalraum zurückgestürzt waren. Und der vierte Planet war der Nachbarplanet von D'Oranon, dem dritten Planeten. Kein Wunder, dass sich der Raumalarm automatisch eingeschaltet hatte, denn der Rücksturz von Kampfraumschiffen mitten in einem Sonnensystem war eine eindeutige kriegerische Handlung. Aber das war nicht alles. Soeben wurde angezeigt, dass in der Nähe der Pulks die Hochenergie-Hybridschirme eines Schiffes mit bekanntem Energieabdruck aktiviert wurden. Nur wenige Zeiteinheiten später wurde von einem der Pulkschiffe eine Salve aus mehreren InitialPunktatoren abgefeuert – woraufhin der eben erst aktivierte Schutzschirm verschwand und mit ihm der Energieabdruck des betreffenden Schiffes. »Auswertung!«, rief eine aufgeregte Stimme links von Nogger Shogasch. »Die Position der aufgebauten und wieder erloschenen Abwehrschirme ist identisch mit der Position unseres Patrouillenschiffes SHINEIRA.« Der Großadmiral sank in seinen Sessel zurück. Seine Augen wirkten wie tot. »Rator …!«, flüsterte er. Sein Stellvertreter wusste, dass Nogger Shogasch durch den Tod seines Sohnes vorübergehend nicht mehr handlungsfähig war.
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Er steuerte seinen Schwebesessel neben Shogaschs Platz und gab bekannt, dass er das Amt des Regierenden Großadmirals übernommen hatte. Dann aktivierte er alle Sicherheitsschaltungen, die beim bevorstehenden Angriff aus dem All den Schutz der Zivilbevölkerung einleiten und einen Hilferuf in die Weite der Galaxis Gruelfin senden sollten.
* Die überall in den bewohnten Zonen von D'Oranon verteilten Sirenen intonierten Raumalarm, woraufhin sich in der Hauptstadt sowie allen anderen Wohngebieten des Planeten das Bild abrupt veränderte: Die Eingänge zu den Tiefbunkern öffneten sich automatisch. Von allen Seiten strömten Frauen, Männer und Kinder herbei. Aber dort, wo sich die Schutzsuchenden stauten, kam es zu teilweise schrecklichen Szenen. Mütter und Kinder schrien – und wann immer jemand stürzte, häuften sich dort bald Tote und Schwerverletzte. Lediglich die zentralgesteuerten Lufttaxis und -busse kurvten geordnet, weil im Griff der automatischen Steuerungen, in die ihnen zugewiesenen Notlandebahnen. Die dreißig Patrouillenkreuzer von D'Oranon zogen sich fluchtartig in die für solche Fälle vorgesehenen Warteräume zurück und schalteten auf Energie-Verdunkelung. Sie hofften, dadurch wenigstens ihre eigene Existenz zu retten. Weit außerhalb des Systems wartete ein kleines Kurierschiff. Es war dort stationiert worden, weil die Regierung des Planeten D'Oranon in letzter Zeit immer wieder Nachrichten über den Angriff und die Besetzung von friedlichen Kolonialwelten durch mysteriöse Angreifer empfangen hatte, die aus unerfindlichen Gründen ganjasische Welten angriffen und nach dem Niederkämpfen jeglichen Widerstands die Bevölkerungen versklavten. Dieses Kurierschiff empfing einen kodierten Hyperkomspruch und reagierte wei-
sungsgemäß. Es sandte zehn Zeiteinheiten lang offene Hyperkomsprüche ins All, in denen von dem brutalen Überfall auf D'Oranon berichtet und um militärische Hilfe gebeten wurde.
2. Atlan »Ein Notruf geht ein!«, rief Ypt Karmasyn, ihres Zeichens Funk- und Ortungsoffizierin der AVACYN. »Ein Flottenverband, bestehend aus Zaqoor- und Urogh-Schiffen sowie ein paar Takerern, hat den ganjasischen Kolonialplaneten D'Oranon angegriffen und wahrscheinlich die Ganjasen mit Präventivschlägen zur Kapitulation aufgefordert.« Es ist wie eine Lawine, kommentierte mein Extrasinn. Die Lordrichter wollen die absolute Herrschaft über alle Kolonialwelten Gruelfins. »Position?«, rief ich der schwarzhaarigen Ganjasin zu, die mit ihren ausgeprägten Wangenknochen und den leicht geschlitzten Augen Ähnlichkeit mit einer Japanerin oder auch mit einer Indianerin von den Großen Seen besaß, aber wahrscheinlich vom Planeten Systasch in einem südöstlichen Sternenarm von Gruelfin stammte, wie ihre nahezu bronzefarbene Haut verriet. Ypt Karmasyn nannte mir die Koordinaten. Das war nur knapp fünfhundert Lichtjahre von der jetzigen Position der AVACYN entfernt – die noch immer in der Nähe von Eptascyn lag, also innerhalb des Kugelsternhaufens Eschnat im Nordwestteil des gigantischen Halos, der sich über und unter der galaktischen Ebene der Spiralnebel Gruelfins Tausende von Lichtjahren wölbte – mit dem mächtigen Staubring der Sombrero-Galaxis als Äquator. »Wie viele Schiffe hat der Angreifer?«, wollte Kaystale wissen. »Schätzungsweise dreihundert«, antwortete Ypt Karmasyn und schlürfte wieder mal an ihrem Symbiontengetränk.
Der Zorn der Lordrichter »Und hinter uns stehen mehr als vierzigtausend Kampfschiffe!«, trumpfte Kaystale auf und knackte mit den drei Metallfingern an der rechten Hand, die nicht das einzige Ersatzteil an ihr waren. Die 1,80 Meter große und muskulöse Takererin war wie für den Kampf geboren, doch in diesem Falle wäre blindes Dreinschlagen problematisch gewesen. »Wir haben im Grunde genommen nur die AVACYN«, widersprach ich. »Was sich hier bei uns herumtreibt, sind zirka zweiundvierzigtausend Jucla-Einheiten, deren Kommandanten und Besatzungen noch verstört von den Ereignissen auf Eptascyn und dem wahnwitzigen Kampfgetümmel rings um diesen Mond der Heimtücke sind.« Vergiss den Sammler nicht!, mahnte der Logiksektor. »Ganz sicher nicht. Ich glaube, ich werde in den nächsten tausend Alpträumen in diesem Wahnsinnsgebilde umherirren. – Und ob ich mich auf Florymonthis verlassen kann, muss sich erst noch herausstellen«, erwiderte ich versehentlich laut. Myreilune wälzte ihren massigen Körper in ihrem Kontursessel herum und sah mich an. Sie konnte natürlich nichts von meinem Extrasinn ahnen, sondern musste annehmen, ich würde Selbstgespräche führen. »Wenn du vom Sammler sprichst, Atlan … Wie wäre es, wenn du ihn allein ins Gosch'ar-System schicken würdest? Dann würden wir sehen, ob er wirklich auf unserer Seite steht.« Ich musterte das stark geschminkte Gesicht unserer Pilotin. »Sicher würden wir das. Und wenn er uns enttäuschte, könnten wir ihn nicht zurückbeordern.« Du hast es auf den Punkt gebracht, wisperte mein Extrasinn. Aber das ist noch keine Entscheidung. Ich musste mich eindeutig und klar entscheiden. Schließlich wusste ich aus vieltausendjähriger Erfahrung, dass die bloße Reaktion auf ein Geschehen nur einen Aufschub brachte, aber keine endgültige Lösung
5 des Grundproblems. Und das Grundproblem waren die fehlenden Informationen über das Gesamtgeschehen in Gruelfin und über die wirklichen Ziele der Lordrichter. So, wie ich diese Gegner einschätzte, waren die Eroberungen von Ganjasenwelten und die Vernichtungsschläge gegen gegnerische Raumstreitkräfte nur Methoden, aber nicht das eigentliche Ziel der Aktivitäten. Es würde absolut nichts bringen, wenn ich den Ganjasen von D'Oranon half und sie von ihren Unterdrückern befreite. Die Lordrichter würden zurückkehren, sobald ich meine Streitkräfte von dort abgezogen hätte, und D'Oranon würde eine von Rache bestimmte Schreckensherrschaft ertragen müssen. Nein, das war der falsche Weg. Ich würde den Ganjasen von D'Oranon nicht helfen – so schwer es mir fiel, sie in ihrer Not allein zu lassen. Nur mit geballter Macht konnte den Lordrichtern Paroli geboten werden. Es wäre unverantwortlich, sich zu verzetteln und dadurch zu verausgaben. Ganz abgesehen davon musste ich zuerst dafür sorgen, eine schlagkräftige Streitmacht zusammenzustellen, auf die ich mich hundertprozentig verlassen konnte. Die rund 42.000 Jucla-Einheiten in unmittelbarer Nähe der AVACYN waren zurzeit alles andere als meine Truppe. Ihre Besatzungen waren durch die vergangenen Ereignisse verwirrt und ihre Clans untereinander zerstritten. Besondere Sorge bereitete mir dabei der Schamenhyn-Clan, der unter der Führung von Clanchef Aptosch-Imayls 1049. Verrat begangen hatte, als er sich aus purer Dummheit und Geltungssucht mit den Zaqoor verbündete. Ich wusste von Zamptasch, der sich auf tragische Weise in den Tod manövriert hatte, dass die Juclas normalerweise nicht lange fackelten, wenn ein Clan Verrat begangen hatte. In der Regel wurde dieser Clan aus der Gemeinschaft ausgestoßen und die Verwandten des schuldigen Clanchefs in Sippenhaft genommen. Das musste verhindert werden, denn erstens würde es unnötig böses Blut geben und
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zweitens die Einigkeit der Clangemeinschaft verletzen. Weiterhin musste ich mir Klarheit über mein Verhältnis zu dem Sammler MITYQINN und Florymonthis verschaffen, damit ich sicher sein durfte, dass ich mich in jeder Lage und bei jedem Unternehmen auf sie verlassen konnte. Zwar hatte der Sammler die Raumschlacht rings um den Mond Eptascyn zu unseren Gunsten entschieden, doch waren seine Manöver dabei so unkontrolliert und verwirrend gewesen, dass von einer straffen Führung nicht die Rede sein konnte. Wie dieses Problem zu lösen war, wusste ich noch nicht. Auf gar keinen Fall wollte ich in den Sammler zurückzukehren. Zu frisch waren meine Erinnerungen an die alptraumhaften Erlebnisse dort. Ich war heilfroh, endlich wieder an Bord der AVACYN zu sein. Du musst einfach Florymonthis vertrauen. – Und das Problem der Juclas ließe sich vielleicht mit Hilfe von Abenwosch lösen, wisperte der Extrasinn. Natürlich führte kein Weg an ihm vorbei. Außerdem hatte der Chef des ErcourraClans während der turbulenten Ereignisse im Sammler bewiesen, dass er ein echtes Kämpferherz und ausreichend Verstand besaß. »Stelle bitte eine Verbindung mit Abenwosch her!« wandte ich mich an Ypt Karmasyn. »Ich muss etwas Grundsätzliches klären. Allerdings habe ich entschieden, dass wir für D'Oranon nichts tun können. Wir dürfen und werden unsere Kräfte nicht verschwenden.«
* Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis es Ypt gelang, eine Funkverbindung zu Abenwosch-Pecayl 966. herzustellen. Das war mehr als ungewöhnlich. Und ich war begierig zu erfahren, was der Grund dafür gewesen war. Allerdings würde ich mir meine Wissbegierde nicht anmerken lassen. Wer mit einem Jucla sprach, spielte immer auch
eine Art Psycho-Schach. »Ich grüße dich, Abenwosch-Pecayl 966.!«, sagte ich freundlich und beobachtete jede Regung seines Gesichts. Inzwischen kannte ich mich mit der Mimik von Juclas aus. »Ich hoffe, du hast dich von den Strapazen im Sammler erholt.« Er schlug klackend seine beachtlichen Zähne aufeinander, was mich aber nur über das Triumphgefühl hinwegtäuschen sollte, das ihm förmlich aus den Augen sprang. »Das ist schon fast vergessen«, erwiderte er, während sich seine ohnehin breite Brust vor wölbte. Triumph!, wisperte der Extrasinn warnend. Er fühlt sich großartig und dir überlegen. Offenbar war er erfolgreich bei seinen Artgenossen. Ausgezeichnet!, dachte ich. Dann taktiert er wenigstens nicht unnötig lange. »Das freut mich«, sagte ich. »Ich habe lange nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass wir eng kooperieren sollten, um unsere Strategie und Taktik gegenüber den Lordrichtern zu bündeln. Hiermit lade ich dich zu entsprechenden Gesprächen auf die AVACYN ein.« »Du weißt Bescheid, dass die Lordrichter das Gosch'ar-System überfallen haben und die Ganjasen auf D'Oranon versklaven wollen?« Er grinste. »Natürlich weißt du Bescheid. Aber du weißt nicht, dass ich jetzt die Führung aller anwesenden Clans übernommen habe. Ich bin also jetzt Krand'har aller Jungen Clans – mit rund zweiundvierzigtausend Kampfschiffen.« Beinahe hätte ich durch die Zähne gepfiffen. Das war wirklich eine gute Neuigkeit. Ich musste nicht länger mit Hunderten von Clanchefs verhandeln und mühsam versuchen, sie auf eine gemeinsame Linie zu bringen, sondern nur mit einem. »Krand'har«, was sinngemäß so viel bedeutete wie Herzog. Das sparte nicht nur immens viel Zeit, sondern ermöglichte überhaupt erst wichtige Entscheidungen. Meine Achtung gegenüber Abenwosch
Der Zorn der Lordrichter stieg ganz erheblich. Aber auch meine Vorsicht, denn die Einigung aller anwesenden Clans auf einen Nenner war ganz sicher nur mit viel List und Heimtücke möglich gewesen. Gleichzeitig dachte ich darüber nach, wie ich verhindern konnte, dass Abenwosch sich haushoch überlegen fühlte und sich einbildete, ich würde nach seiner Pfeife tanzen. »Meine Hochachtung, ich bin erfreut und erleichtert!« rief ich. »Erleichtert? Warum?«, wollte er wissen. Schon schwang unterschwellig Unsicherheit in seiner Stimme. Nicht schlecht!, lobte mich der Extrasinn. »Weil das helfen wird, ein Problem aus der Welt zu schaffen, das sich vor kurzem ergeben hat«, erklärte ich. »Von allen Juclas weißt nur du über die Verhältnisse im Sammler Bescheid. Und nur du weißt, dass diese ungeheuerliche Maschine eure ganze Flotte zu Staub zerblasen kann.« Das hatte gesessen. Der Krand'har wirkte plötzlich nachdenklich. Er zögerte für einen Moment. »Aber wir sind ja nicht die Feinde dieses mondgroßen Monstrums.« »Sondern die natürlichen Verbündeten«, führte ich weiter aus. »Aber er besteht darauf, dass ihr euch alle ihm unterordnet. Andernfalls würde seine Hauptpositronik euch ebenfalls als seine Feinde einstufen.« »Wir sind doch nicht die Sklaven eines Roboters!«, empörte sich Abenwosch. »Das werden wir auch nie sein«, beschwichtigte ich ihn. »Der Sammler hört auf mich. Wenn ich mit euch zufrieden bin, wird er auch euch als seine Freunde einstufen. Aber es reicht nicht, wenn ich nur so tue. Florymonthis würde das durchschauen. Sie ist gerissen und manchmal unberechenbar.« Es dauerte ein paar Sekunden – eigentlich verwunderlich bei der schnelllebigen Art der Juclas –, bis er reagierte. Doch dann bewies er wieder einmal, wie flink er um mehrere Ecken denken konnte. »Raffiniert! Wir Juclas brauchen also nur zu tun, als wären wir deine Kampftruppe – und der Sammler ist unser Freund.«
7 »Nicht nur so zu tun, sondern das zu sein und es durch Taten zu beweisen«, korrigierte ich ihn. »Und wir als Verbündete werden unsere gemeinsamen Feinde bekämpfen und besiegen.« Er maulte ein wenig, schien sich aber dann damit abzufinden. Selbstverständlich würde er versuchen, sich aus dieser Abhängigkeit zu befreien. Das war logisch. Aber ich war sicher, dass die Ereignisse, die auf uns zukamen, uns zusammenschweißen würden.
* »Wenn es gegen die Takerer geht, werden meine Clans mitmachen«, versicherte Abenwosch-Pecayl 966. Vergiss den Schamenhyn-Clan nicht!, erinnerte mein Extrasinn an das Problem, das mir Kopfzerbrechen bereitete. Ich vergesse es nicht!, gab ich zurück. Falls die Juclas dieses Problem nicht selber lösen können, sollte ich vielleicht noch einmal den Flammenstaub einsetzen … Kaum hatte ich das gedacht, erschauderte ich. Mir schien, als würde das durch meine Adern fließende Blut plötzlich eiskalt. Der Flammenstaub war nicht irgendeine Substanz, sondern das teuflische Erzeugnis einer unheilvollen Wissenschaft. Du siehst es also selber ein, wisperte der Extrasinn. Dieses Teufelszeug würde dich umbringen, falls du es wagtest, es erneut einzusetzen. Ein totaler Zusammenbruch sollte dir genug sein, auch wenn er einige Zeit zurückliegt. Du hast Recht, es war sowieso arrogant von mir, mich über Tuxits Warnung hinwegzusetzen, indem ich mir einbildete, durch meinen Zellaktivator eine Art Halbgott zu sein. »Wie sieht deine Planung aus, Arkonide?«, holte mich Abenwoschs Stimme abrupt in die Gegenwart zurück. »Ich denke die ganze Zeit darüber nach«, erklärte ich, meine Verlegenheit durch Forschheit überspielend. »Was ich als näch-
8 sten Schritt plane, wird davon abhängen, ob du als Krand'har das Problem des Schamenhyn-Clans meisterst.« Abenwosch sah mich überrascht an und erklärte: »Das ist kein Problem mehr, denn ich habe sofort nach Antritt meines Amtes dafür gesorgt, dass der Bann über den Schamenhyn-Clan aufgehoben wurde. Und ich habe auch einen neuen Clanchef eingesetzt. Maßgebend für mich war, dass alle Angehörigen dieses Clans sich für den bösen Missgriff ihres toten Chefs schämten – und dass unsere Clans in der derzeitigen Situation jeden Jucla als Kämpfer für unsere gemeinsame Sache brauchen werden. Logisch, dass der Schamenhyn-Clan deshalb für mich durchs Feuer gehen wird.« Er ist ein Ass!, dachte der Extrasinn. Weil er auch ein Aas ist! Laut sagte ich: »Gratuliere, Abenwosch. Wir werden uns aufeinander verlassen können. Ich muss nur noch ein paar Dinge klären, dann werde ich dir mitteilen, wie unsere weiteren Pläne aussehen.« »Tue das!«, sagte der Krand'har fordernd. »Und lass mich nicht zu lange warten. Meine Clans fiebern neuen Taten entgegen – und ihre Geduld wird nicht lange vorhalten.« Typisch Juclas!, durchfuhr es mich. Ich muss immer bedenken, wie schnell die Zeit für sie vergeht. »Du hörst bald wieder von mir«, erwiderte ich. »Diese Juclas sind ein Problem«, erklärte Myreilune mit unterschwelliger Harne. »Nicht, wenn wir diese Flotte, die da draußen wartet, in einen richtigen Kampfeinsatz schicken«, stellte Kaystale fest. »Ein Schwert nützt nur dann etwas, wenn es gegen den Feind geschwungen wird.« »Und wenn es Köpfe abschlägt«, ergänzte Carmyn Oshmosh mit unverhohlener Ironie. Ihre sonst meist leise Stimme wurde kraftvoll und eindringlich: »Aber Köpfe sind nicht zum Abschlagen da, sondern zum Denken. Ist es so, Atlan, dass du dir den
H. G. Ewers Kopf darüber zerbrichst, welcher verbindende Sinn zwischen den Aktivitäten der Lordrichter in Dwingeloo, Gruelfin und deiner Milchstraße besteht?« Ich staunte erneut über die Intelligenz der Kommandantin. Sie hatte Schlüsse gezogen, von denen ich vor wenigen Sekunden noch nicht ahnte, dass sie die dafür erforderlichen Informationen auch nur andeutungsweise besaß. »Das ist richtig«, gab ich unumwunden zu. »Genau diese Frage wirft Rätsel auf. Nur, woher bekomme ich die notwendigen Informationen, um die Antworten zu finden?« »Ich habe die ganze Zeit darüber nachgedacht«, erwiderte Oshmosh. »Wahrscheinlich müssen wir dorthin gehen, wo wir am ehesten diese Informationen finden.« »Und wohin wäre das?«, fragte ich, fiebernd vor Spannung, denn ich ahnte, dass die Kommandantin mich auf die richtige Spur bringen würde. »Zur Freihandelszone Susch in der Sternwolke Samtan«, antwortete Oshmosh selbstsicher. »Das regierende Konsortium rund um den Autokraten Symaltin hat ganz sicher ein fundiertes Wissen über die Verhältnisse in Gruelfin. Ganz zu schweigen von der Zentralen Informationsbörse in der Kernstation. Ich kenne mich dort aus, denn ich wurde in der dortigen Akademie von BOYSCH ausgebildet und für meine Aufgaben vorbereitet – genauso wie ein Großteil meiner Schiffsbesatzung.« »In der Akademie von BOYSCH?« »BOYSCH ist eine Kunstwelt – und die Kernzentrale von Susch«, erklärte Oshmosh mit breitem Lächeln. Schon oft hatte ich von einer Freihandelszone namens Susch gehört – und auch von einigen Akademien für Raumfahrer, in denen anscheinend Angehörige vieler Völker Gruelfins ausgebildet wurden. Aber ich hatte nicht geahnt, dass meine Leute von der AVACYN dort ausgebildet worden waren. »Die Sternwolke Samtan«, sagte ich nach-
Der Zorn der Lordrichter denklich. »Wo in Gruelfin liegt sie genau? Ich weiß nur ungefähr Bescheid. Und ist sie eine Art Kugelsternhaufen?« Carmyn Oshmoshs dunkle Augen schienen zu glühen, als sie mich anstarrte. »Samtan ist ein irregulärer Sternhaufen«, erklärte sie schließlich in einem Tonfall, in dem ich so etwas wie Heimweh, zumindest aber Sehnsucht herauszuhören glaubte. »Er liegt eingebettet in den Sternenarm Wuthanas Leib im Nordostsektor von Gruelfin.« »Wuthanas Leib«, wiederholte ich nachdenklich. »Den Sektor kenne ich. Wie so viele in Gruelfin. Viel zu viele! Ich weiß jedenfalls, wo Wuthanas Leib liegt. Vom Sternhaufen Samtan sieht man hinter einem dichten Sternenmeer das rund 19.000 Lichtjahre entfernte Zentrum Gruelfins mit der wabernden Energieballung rings um ein extrem großes Schwarzes Loch aus rund einer Milliarde Sonnenmassen.« Ein einziger Blick darauf genügt, um die Nichtigkeit der eigenen Existenz im Vergleich zum Universum einzusehen. »Von BOYSCH aus sind es 18.500 Lichtjahre bis zum galaktischen Zentrum«, sagte Carmyn Oshmosh. »Susch umfasst übrigens außer der Kernstation BOYSCH die sechs am nächsten stehenden assoziierten Sonnensysteme. Doch das Herzstück ist BOYSCH.«
3. Der Mann von Extosch Symaltinoron wusste, dass ihm der Tod im Nacken saß. Doch obschon er in der Akademie Kakastaun gelernt hatte, dass niemand den Tod fürchten musste, weil durch den Tod nichts Existierendes verloren ging, sondern sich nur veränderte – was auch der erste Hauptsatz der Thermodynamik war –, war er nicht bereit, dieses Schicksal widerstandslos hinzunehmen. Nicht zuletzt, weil er sich damit der Möglichkeit beraubt hätte, seinen Vater vor der Gefahr zu warnen, die er im Irmanglide-System entdeckt hatte; seinen Vater, den Auto-
9 kraten Symaltin, der die Verantwortung für alles trug, was sich in und um die Sternenstation BOYSCH ereignete. Symaltinoron bewegte den Steuerstick seines Raumjägers und sah, wie der Planet Cranicorr, der einzige Planet der grünen Sonne Irmanglide, in die Zielerfassung wanderte. Er sah das allerdings ein bisschen anders als andere Intelligenzen, denn als Nachkomme eines Umweltangepassten vom Planeten Fortyn war er fast blind. Aber durch jahrelanges Training hatte er gelernt, alle optischen Reize unbewusst zu verstärken und faktisch genauso gut zu sehen wie alle Ganjasen. Fortyn war ein so genannter Sandplanet, gänzlich überzogen von einer Wüste, über die fast ständig orkanstarke Sandstürme tobten. Dennoch sahen die Bewohner es als Glück an, auf dieser Welt leben zu dürfen. Die Sicht- und Ortungssysteme des kleinen, überlichtschnellen und äußerst wendigen Raumjägers verstärkten und verbesserten selbstverständlich alle Wahrnehmungen. Es war ein technisch hochgerüstetes Raumfahrzeug, mit dem Symaltinoron von der Raumakademie Kakastaun ausgerüstet worden war, um den mysteriösen Planeten Cranicorr zu inspizieren, eine Art Vorerkundung. Genauer: die Befriedigung seiner persönlichen Neugierde. Was man ihm nur gewährt hatte, weil sein Vater der Autokrat von BOYSCH und damit Herrscher über die Freihandelszone Susch war. Kakastaun war eine der vier berühmtesten Raumakademien der Freihandelszone Susch, die von der Raumstation BOYSCH verwaltet wurde. Symaltinoron arbeitete dort als Astrophysiker und Planetenforscher und hielt außerdem Vorlesungen in Ethik und Moral für angehende Raumfahrer, die dort ausgebildet wurden. Cranicorr galt als gefährlich, doch das genau war es, was den Sohn Symaltins dazu bewogen hatte, sich ihn vorzunehmen. Allerdings war ihm die Sehnsucht nach Abenteuern und Forschungserfolgen gleich nach dem Linearraum-Austritt innerhalb des Ir-
10 manglide-Systems vergangen, denn er war unmittelbar vor einem riesigen Energiegebilde, das es hier nicht geben durfte – ja, das überhaupt nicht existieren konnte –, in den Normalraum zurückgekehrt. Es sah aus wie ein pulsierender Stern, wenn auch »nur« mit ungefähr dreitausend Metern Durchmesser. Am schlimmsten aber war, dass dieses Gebilde nach ihm gegriffen und ihn gepackt hatte – und dass er seinem Gefühl nach halb entstofflicht worden war. Und das, obwohl die Positronik seines Fahrzeugs noch vorher den Paratronschirm aktiviert hatte. Er erinnerte sich daran, dass er sich in einer Art Mausoleum wiedergefunden hatte, in einer von hellen Wänden umgebenen Halle von den Ausmaßen eines Sportfeldes – und dass in den zahllosen Nischen der Halle Gebilde standen, die vom Aussehen her gänzlich verschiedenartig waren. Aber sie alle waren so hoch wie Kathedralen und fast so durchsichtig wie farbloses Glas. Und sie strömten einen »Geruch« nach gewaltsamem Tod aus, der eiskalt durch Mark und Bein ging. Symaltinoron fror innerlich, vor allem bei der Erinnerung daran, dass er in dieser Halle gestanden hatte, mit nichts als seinem leichten Raumanzug. Sein Raumjäger war verschwunden gewesen, wie von Geistern weggezaubert. Und Geister schienen im Spiel zu sein, denn Symaltinoron hatte mit seinem Bewusstsein Kontakt zur Positronik des verschwundenen Raumjägers gehabt – allerdings, ohne Informationen mit ihr austauschen zu können. Stattdessen hatte in wenigen Metern Entfernung ein Ganjase vor ihm gestanden: etwas größer als er selber, zwar stämmig, doch nicht halb so breit wie ein Fortynier, mit der Tätowierung eines Dakkar-Dreiecks auf dem kahl rasierten Schädel, gekleidet in ein flammend rotes Habit, das durch ein Zingulum gehalten wurde, sowie mit spitzen grünen Stiefeln. Symaltinoron wollte ihn ansprechen, kam aber nicht dazu, denn der Ganjase wurde plötzlich durchsichtig. Deutlich waren sein
H. G. Ewers blankes Skelett und sein bleicher Schädel, ein hochgewölbtes Cranium, zu sehen. Dann verschwand er, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Im nächsten Moment fand sich Symaltinoron im Pilotensitz seines Raumjägers wieder. Die Ortung zeigte an, dass sein Gerät mit rasender Geschwindigkeit haltlos durch das All taumelte, während die riesige Energieballung pulsierte und dabei immer wieder mit Eruptionen nach ihm zu greifen schien. Der Fluchtinstinkt hatte Symaltinoron veranlasst, sich von der von grellen Turbulenzen erfüllten Ballung so schnell wie möglich zu entfernen. An sich war der Raumjäger vom Typ Zoreh dafür prädestiniert, doch in diesem Falle kam er einfach nicht von dem unheimlichen Energiegebilde los. Logischerweise hatte Symaltinoron mit Maximalwerten beschleunigt und dann, als die erforderliche Geschwindigkeit erreicht war, den Linearantrieb aktiviert. Doch anstatt in das übergeordnete Kontinuum des Zwischenraums einzugehen, war die Geschwindigkeit auf nahe null zurückgefallen. Symaltinoron war entsetzt, hatte aber folgerichtig reagiert und die Impulstriebwerke wieder hochgeschaltet. Gleichzeitig hatte er ein paar Figuren geflogen, wie sie für Weltraumgefechte mit feindlichen Jägern oder Zerstörern vorgesehen waren. Der positronische Komplex hatte selbstverständlich seine Schaltungen praktisch ohne Zeitverzögerung in die zweckentsprechenden und sicheren Schaltungen umgewandelt, denn organische Intelligenzen waren dafür zu langsam und mit zu vielen Fehlern behaftet. Das Energiegebilde wurde abgehängt und blieb ein Stück zurück, doch dann beschleunigte es ebenfalls und holte nach und nach wieder auf. Symaltinoron verzweifelte zuerst, dann entschloss er sich, auf dem Planeten Cranicorr zu landen – in der Hoffnung, dass ihm die Energieballung nicht dorthin folgen würde. Bisher hatte sich diese Hoffnung allerdings nicht erfüllt. Die Energieballung folgte
Der Zorn der Lordrichter dem Raumjäger. Sie kam zwar nicht an ihn heran, aber sie blieb nur wenige tausend Meter hinter ihm. Und das war es, was Symaltinoron Angst machte. Denn sobald der stromlinienförmige hellgraue Raumjäger mit den gepfeilten Tragflächen und den stark ausgeprägten Seiten- und Höhenleitwerken in die Atmosphäre Cranicorrs eintauchte, würde er langsamer werden, und die Energieballung konnte ihn einholen. Sie würde ihn abermals von seinem Gerät trennen und in einen Raum und eine Zeit schleudern, von wo es womöglich keine Rückkehr gab.
* Trotz seiner Angst empfing der Forscher die vom Raumjäger erfassten Ortungsdaten mit großem Interesse. Er stellte fest, dass Cranicorrs Masse einer typischen 1-Gravo-Welt entsprach. Allerdings betrug die Schwerkraft 0,93 Gravos, doch das konnte an der Gravitationswirkung des luftleeren Mondes liegen, der mit Cranicorr um einen gemeinsamen Schwerpunkt kreiste. Der Planet besaß auch eine Atmosphäre, obwohl die Ortung keine Spur irgendeiner Biomasse anzeigte, ohne die eine Planetenatmosphäre sich nicht regenerieren konnte. Die gesamte Oberfläche des Planeten bestand aus einer dicken Schicht Metallplastik, aus deren glatter Ebene in bestimmten Abständen stadtähnliche Gebilde herauswuchsen: teils wuchtige, teils filigrane GebäudeAnsammlungen. Und Symaltinoron staunte, denn es gab dort unten keinerlei Spuren von Verfall, ja nicht einmal Flugsand oder Staub. Alles schien regelmäßig gesäubert zu werden. Selbstreinigungseffekt wie bei manchen Wasserpflanzen? Er schüttelte diese Überlegung ab, denn jetzt kam der Augenblick des Eintritts in die Atmosphäre. Sein Raumjäger bremste von selbst ab, denn seine Positronik war so pro-
11 grammiert, dass sie Risiken für Gefährt und Pilot vermied und immer sozusagen auf Nummer Sicher ging. Die ultrahelle Feuerlanze des Impulstriebwerks stach kilometerweit in Flugrichtung, und ein Prallfeldschirm bewahrte den Jäger vor Überhitzung. Ringsum waberte hoch erhitzte, verglühende Luft. Kurzzeitig siegte das Interesse des Planetenforschers, als ihm die Positronik die von der Ortung erfassten Messwerte der Atmosphäre übermittelte. Demnach betrug die Zusammensetzung des Gasgemischs dicht über der Planetenoberfläche rund 75 Prozent Stickstoff, 20 Prozent Sauerstoff, Kohlendioxid 0,03 Prozent und Argon 0,04 Prozent sowie Spuren aller Edelgase. Der Wasserdampfanteil allerdings betrug nur 0,01 Prozent. Die Werte lagen demnach verblüffend dicht an denen naturbelassener Planeten. Symaltinoron riss sich von diesen Wahrnehmungen los, als die Positronik ihm die optischen Eindrücke von seinem Verfolger ins Gehirn einspielte. Die Energieballung verfolgte ihn immer noch und hatte aufgeholt. Sie musste jeden Augenblick ebenfalls in die Atmosphäre eintauchen. Der junge Forscher drückte den Raumjäger tiefer und fluchte unterdrückt, weil die Positronik sich gegen ein zu abruptes Sinken sträubte und gleichzeitig die Geschwindigkeit verringerte. Das ist das Ende!, durchfuhr es ihn, als die Energieballung in die obersten Atmosphäreschichten eindrang und den Abstand zu ihm verringerte. Im nächsten Moment schien die Ballung zu explodieren und in allen Farben des Spektrums aufzuleuchten. Dabei dominierten die Farben Grün, Rot, Blau und Violett. Heftiges Krachen und Knattern zeigte starke elektromagnetische Störungen an. Polarlicht!, dachte Symaltinoron. Unwillkürlich hielt er die Luft an, als das Polarlicht sich mit rasender Geschwindigkeit ausbreitete und seinen Raumjäger einschloss. Doch im Unterschied zu der Ener-
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gieballung durchdrang es den Prallschirm nicht – und wenige Minuten später schwächte es sich ab und erlosch schließlich. Eine Zeit lang rührte sich Symaltinoron nicht, sondern beschränkte sich auf die Wahrnehmung, die die Positronik ihm zuspielte und die weiter nichts zeigte als einen immer langsamer werdenden Raumjäger, der sich durch die unteren Schichten der Planetenatmosphäre bewegte. Links und rechts tauchten zwei stadtähnliche Gebilde auf. Sie schienen ihm förmlich zuzurufen, dass er sie erforschen sollte. Aber die Wissbegierde und der Forschungsdrang, die Symaltinoron nach Cranicorr getrieben hatten, waren erloschen. Jetzt, da die unmittelbare Gefahr vorbei und das Grauen abgewendet war, hatte der junge Mann nur noch das Bedürfnis, diesen Raumsektor zu verlassen. Nach Hause!, war alles, was er noch denken konnte. Nach Hause zu BOYSCH und zu Papa! Er zog den Stick der Steuerung langsam an sich heran und holte befreit Luft, als die Nase des Raumjägers sich allmählich aufrichtete. Sekunden später erstarrte er. Denn der Hyperkom hatte sich automatisch aktiviert, was bedeutete, dass er eine Sendung aufgefangen hatte (die die Positronik als bedeutungsvoll einstufte, was eine Überspielung an den Piloten erforderlich machte). Her damit!, dachte er.
* »Hilfe, Hilfe!«, waren die ersten ganjasischen Worte, die er hörte. Es folgte eine Serie undeutbarer Geräusche, dann rief jemand mit klarer Stimme: »Hier spricht Persenpo Zasca, dritter Direktor der Mythischen Infothek von Extosch. Ich weiß nicht, wo ich bin. Ich spüre nur, dass ich gefangen bin. Helft mir! Extosch wurde überfallen. Helfershelfer der Lordrichter haben die Mythische Infothek er-
obert! Hilfe, Hilfe!« »Von wo kommt die Sendung?«, erkundigte sich Symaltinoron bei der Positronik. »Von einer Art Gebäudekomplex hinter uns«, antwortete die Positronik. »Ungefähr unterhalb der Stelle, an der die Energieballung abgeschossen wurde.« »Wie?«, schrie Symaltinoron ungläubig. »Die Energieballung wurde abgeschossen?« »Das schloss ich aus der Art und Weise, wie sie verging«, antwortete die Positronik. »Willst du auf den Hilferuf antworten? Und soll ich abbremsen, damit du eventuell der betreffenden Person Hilfe leisten kannst?« »Was soll ich?«, entfuhr es dem Forscher, dann besann er sich und antwortete: »Ja, abbremsen – und ich will antworten.« Als die Positronik ihm Bereitschaft meldete, sagte er: »Hier spricht Symaltinoron, der Sohn von Symaltin. Persenpo Zasca, wie bist du auf den Planeten Cranicorr gekommen?« »Der Trigonometrischen Gottheit sei Dank!«, ertönte ein Ruf. »Symaltinoron, ich weiß nicht, wer du bist, aber unsere Schicksale müssen von den Göttern miteinander verknüpft worden sein. Als die Banditen in unsere heilige Mythische Infothek eindrangen und sie schändeten, versuchten die Mythokarin und ich, die geheimen Transmitterzugänge zu desaktivieren beziehungsweise auf Ausweichziele umzuschalten. Dabei müssen sich unsere Schaltfelder mit denen der Banditen überlagert haben. Es kam zu Fehltransmissionen. Auch andere Mitarbeiter der Mythischen Infothek müssen das Opfer von Fehltransmissionen geworden sein. Wer weiß, wohin es sie verschlagen hat.« Symaltinoron hob unwillkürlich eine Hand, um den Redefluss Persenpo Zascas zu stoppen. Natürlich funktionierte das nicht, da Zasca ihn nicht sehen konnte. Doch die Bordpositronik reagierte und forderte den Fremden zum Schweigen auf. Symaltinoron packte den Steuerstick fester und leitete erst ein Bremsmanöver und danach eine Kehrtwendung ein. »Ich ahne etwas, Persenpo Zasca«, erklär-
Der Zorn der Lordrichter te er dann. »Durch die Fehltransmission versuchte sich offenbar ein Wiederverstofflichungsfeld aufzubauen. Das geschah in der Nähe des Planeten Cranicorr – und zwar ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als ich mit meinem Raumjäger dort nach einem Linearflug in den Normalraum zurückkehrte. Ich wurde in das Wiederverstofflichungsfeld gerissen, aber genau wie du nur halb verstofflicht – und zwar in einer Art Halbraum. Dort sah ich dich kurz, bevor du wieder entmaterialisiertest.« »Bei der Trigonometrischen Gottheit!«, rief Persenpo Zasca. »Und ich sah dich ganz kurz. Wo bist du denn jetzt? Irgendwo auf diesem unheimlichen Planeten?« »Ich bin in meinem Raumjäger«, antwortete Symaltinoron. »Und ich bin auf dem Wege zu dir. Da meine Positronik dich angepeilt hat, wird sie mich so nahe wie möglich an dich heranbringen. Sag mir, ob du dich in einem Gebäude befindest, und sprich weiter!« Was soll das Gefasel von einer Trigonometrischen Gottheit? »Ich bin in einer schmalen, aber hohen Halle«, antwortete Persenpo Zasca. »Die Wände scheinen aus einer Art hellgrauem Metallplastik zu bestehen – sehr hellem Metallplastik. Darin sind Linien eingraviert, die Hunderte von fremdartigen Gesichtern zeigen – nein, Tausende Gesichter. Um sie herum gibt es fremdartige Zeichen, vielleicht eine Art Schrift. Nein …!« Die Stimme brach ab. »Was ist los?«, rief Symaltinoron. »Bist du in Gefahr, Persenpo?« Schweigen. »Sende ihm einen starken Impuls!«, forderte Symaltinoron die Positronik auf. »Wurde gesendet«, meldete die Positronik gleich darauf. Einige Atemzüge lang blieb es still, dann ertönte die Stimme Persenpo Zascas – die stark verfremdete Stimme Persenpo Zascas –, und sie sang: »Du bist zu Gast hier bei Gorgonion, wacht nicht auf, unwürdiger Thanaon! Es redet selbst der Toten Abbild.
13 Die ins Grab gestiegen Und rückgekehrt aus tiefer Gruft. Wir alle, die das Leben lieben, Sind hier und atmen keine Luft.« Symaltinoron stockte der Atem, als er das hörte. Doch er riss sich gewaltsam zusammen und besann sich darauf, dass er Wissenschaftler war und sich vom alten Geisterglauben seines Volkes losgesagt hatte. Und er entschied, nicht dem Fluchtinstinkt nachzugeben, sondern dem Extoscher zu helfen. Anscheinend war er in eine Art Falle geraten, wie sie auf dem unheimlichen Planeten Cranicorr wohl zu erwarten waren. Doch da er seine Umgebung eigentlich rational beschrieben hatte, konnten die dort lauernden Gefahren nicht von bösen Geistern oder sonstigem Humbug ausgehen. Sie mussten sich folglich auch überwinden lassen. »Cranicorr!«, murmelte er zornig. »Ich habe keine Angst vor dir – jedenfalls nicht allzu viel!« Die Positronik seines Raumjägers ließ sich von den Impulsen des fremden Hyperkoms leiten und landete das Gerät auf dem glatten, hellgrauen, aber nicht das Sonnenlicht reflektierenden Boden dicht bei einem tür- und fensterlosen Turm vom gleichen Material, der mit einem Durchmesser von siebenundvierzig Metern etwa siebenhundert Meter in den blauen, wolkenlosen Himmel des Planeten ragte. »Was nun?«, fragte Symaltinoron ratlos. »Keine Tür, kein Fenster. Persenpo Zasca ist anscheinend von einem irregulären Transmitterfeld in dem Haus abgesetzt worden. Positronik, wir werden wohl unseren heißen Nachschlüssel einsetzen müssen.« Er stellte sich vor, wie die Impulskanone seines Raumjägers ein torgroßes Loch in die Gebäudewand riss, und kam zu dem Schluss, dass diese Methode nicht akzeptabel war. Erstens konnte sie den Ganjasen töten, den er befreien wollte, und zweitens konnte sie irgendwelche Defensivwaffen der Stadt aktivieren, die den Raumjäger zu einem handlichen Stück Schrott verarbeiteten. »Impulse!«, rief er. »Positronik, bearbeite
14 die Wand dieses Bauwerks mit der ganzen Palette der dir zur Verfügung stehenden nicht zerstörerischen Impulse! Vielleicht aktiviert einer von ihnen so etwas wie eine Torautomatik.« »Verstanden«, antwortete die Positronik. »Ausführung erfolgt.« Symaltinoron wartete mit klopfendem Herzen. Die Impulse waren selbstverständlich weder zu hören noch zu sehen, aber auch von irgendeiner Wirkung war nichts zu bemerken. Bis es in Symaltinorons Ohren knackte – und eine hohle Stimme sprach, doch nicht in seinem Ohr: »Der Tag war hell, die Nacht war kalt, Von oben kam ein Wimmern durch die Luft. Ein dunkler Vogel schrie die ganze Nacht. Kein Leben mehr, doch wir sind aufgewacht.« Der Forscher zog die Schultern hoch. Er fror. In seine Seele kam die Ahnung, dass viele andere Seelen ihre Trennung von dem Leben in ihren Körpern beklagten. Ihm dämmerte, was das alles zu bedeuten hatte und dass Cranicorr der Schrein war, in den sich ein ganzes Volk geflüchtet hatte, um Unsterblichkeit zu erlangen – und dass diese Wesen todunglücklich darüber waren. Und wahrscheinlich auch psychisch krank. »Ich höre euch«, flüsterte er fast tonlos. »Und ich ahne, welches Schicksal ihr euch bereitet habt. Glaubt mir, ich fühle mit euch. Doch kann ich euch heute nicht helfen. Vielleicht ein andermal. Aber ich bitte euch: Gebt den Ganjasen frei, den es in euer Haus verschlagen hat.« »Ein andermal ist keinmal«, klang es in seinem Bewusstsein zurück. »Alle versprechen, und niemand kehrt zurück. Früher sündigten wir oft im Zorn. Aber wir bereuen und haben resigniert. Deshalb geben wir den Ganjasen frei. Geht in Frieden!« Symaltinoron war halb betäubt. In ihm stritten sich Mitleid und Abscheu. Er ahnte, dass frühere Besucher von den im Stahlpla-
H. G. Ewers stik gefangenen Seelen in Wahnsinn und Tod getrieben worden waren, weil Verzweiflung Hass geboren hatte. Er fuhr zusammen, als er schräg unter sich außerhalb des Raumjägers dieselbe Gestalt sah, die ihm schon in einer Art Halbraum begegnet war: nicht größer als er selbst und schmaler. Ein hochstirniger Kopf mit einem tätowierten Dakkar-Dreieck auf dem nackten Schädeldach, ein schmales, durchgeistigtes Gesicht mit einer Haut in hellem Bronzeton – gekleidet in eine flammend rote Tunika mit breitem Zingulum, eine schwarze Röhrenhose und grüne Schaftstiefel mit Schnallen. Die ganze Kleidung sah allerdings arg strapaziert aus, und das Gesicht blickte erschöpft und ängstlich wirkend nach oben. Symaltinoron ließ die Steuerkanzel auffahren und aktivierte das Liftfeld. Mit einer Handbewegung gab er dem Extosch-Ganjasen zu verstehen, was er tun sollte. Persenpo Zasca bewies, dass er von einer hochtechnisierten Welt kam. Er vertraute sich wie selbstverständlich dem Liftfeld an und ließ sich in den zweiten Sitz der Steuerkanzel heben. Die Sicherheitsautomatik ließ den obligatorischen Raumschutzanzug aus dem Sessel ausfahren und sich um den Passagier schließen. »Willkommen an Bord!«, begrüßte Symaltinoron ihn über die automatisch aktivierte Helm-zu-Helm-Verbindung. »Wie geht es dir? Brauchst du eine medotechnische Versorgung?« »Nein, mir geht es gut«, antwortete Zasca. »Ich habe das Wappen der Freihandelszone Susch an deinem Raumjäger gesehen …« »Richtig, und dorthin fliegen wir jetzt«, erklärte der Forscher. »Genau gesagt, zur Kernstation BOYSCH.« »Das ist gut«, flüsterte Zasca, offenbar hocherfreut. »BOYSCH ist bestimmt in der Lage, uns Extoschern zu helfen.« Symaltinoron verzichtete darauf, seinem Passagier zu erklären, dass die strikte Neutralität der Freihandelszone Susch jegliche Einmischung in Konflikte außerhalb ihrer
Der Zorn der Lordrichter Interessensphäre ausschloss. Außerdem durfte er dabei sowieso nicht mitreden. Er aktivierte den Antrieb seines Raumjägers und startete.
4. Sternenstation BOYSCH Symaltin verschloss Augen und Ohren vor dem schrillen Gekreische, mit dem der hoch erhitzte Sand innerhalb der auf 1,8 Gravos hochgeschalteten Schwerkraft im Samokar ihn umtobte. Er fühlte sich so wohl wie selten in letzter Zeit, denn sein Körper und sein Geist brauchten ab und zu den Aufenthalt in einer Umgebung, die den Umweltbedingungen auf seiner Herkunftswelt Fortyn entsprach. Er entspannte sich und versuchte, wenigstens vorübergehend die Sorgen zu vergessen, die ihn plagten, seit er als Autokrat den Vorsitz im neunköpfigen Konsortium von BOYSCH übernommen hatte. Es waren unzählige Sorgen, die ihn plagten und die niemals abrissen. BOYSCH war ja nicht nur eine Sternenstation, sondern in erster Linie das Zentrum der Freihandelszone Susch, das innerhalb des irregulären Sternhaufens Samtan der Garant zu sein hatte für eine Freihandelszone, die für alle Völker Gruelfins zugänglich war und darum strikte Neutralität wahren musste. Es würde schon schwer genug sein, die divergierenden Interessen der Angehörigen aller Völker Gruelfins unter einen Hut zu bringen. Um überhaupt erst die wirtschaftlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, mussten kräftige schwarze Zahlen geschrieben werden, denn beim Wirtschaftssystem von Susch handelte es sich um ein prinzipiell kapitalistisches System, das nur durch seine Profitorientierung bestehen konnte. Allerdings wurde das Negative, das nun einmal wie ein Naturgesetz charakteristisch für alle kapitalistischen Wirtschaftssysteme ist, durch die Autokraten abgemildert, die dafür sorgten, dass soziale Gerechtigkeit und cappinwürdige Moral herrschten. Die so ge-
15 nannten Weichenwärter, die die beherrschende Unternehmerkaste Suschs darstellten, strichen zwar fette Profite ein, finanzierten über das innerstaatliche System aber in großem Umfang alle möglichen Forschungsprojekte – zum Beispiel technischer, medizinischer, wirtschaftlicher und historischer Art. In den Raumakademien aber dominierte die beste Aus- und Weiterbildung von Raumfahrern, die es überhaupt in ganz Gruelfin gab – soweit diese Galaxis erforscht war, was noch viel zu wünschen übrig ließ, weil sich die bekannten Zivilisationen immer wieder gegenseitig zerfleischt hatten. Symaltins Nerven vibrierten, als es ihm nicht mehr gelang, die schwersten Sorgen zu verdrängen, die ihm seit einiger Zeit so schwer zusetzten, dass er fast jede Nacht von Alpträumen geplagt wurde. Es rumorte in Gruelfin. An allen Ecken und Enden brachen Kämpfe aus. Extragalaktische Invasionsstreitkräfte zogen im Verbund mit den Takerern großmaßstäbliche Eroberungsfeldzüge durch. Von Frieden konnte fast nirgends mehr gesprochen werden. Und trotz aller Informationen, die Susch durch ein riesiges Netz von Agenten sammelte, gab es keinen Hinweis auf die Gründe für die überall aufflammenden Kämpfe. Die Freihandelszone war allerdings bisher nicht angetastet worden. Symaltin schrieb das der immerwährenden Neutralität zu, die vom neunköpfigen Konsortium der 220 Weichenwärter und von ihm selbst mit aller Strenge gewahrt worden war. Er war sich allerdings klar darüber, dass es keine Garantie dafür gab, in keinen der zahlreichen Konflikte hineingezogen zu werden. Für einen solchen Fall patrouillierte ständig eine kleine, aber schlagkräftige Wachflotte in unmittelbarer Umgebung von BOYSCH, wo auch einige Pediaklasten Dienst taten, um für den unwahrscheinlichen Überfall eines Pedo-Angriffs gerüstet zu sein. Und im Falle eines Falles klammerte sich Symaltin an die Hoffnung, von den vie-
16 len tausend Cappins, die in der Vergangenheit in den Raumakademien Suschs ausgebildet und moralisch indoktriniert worden waren, würden Hunderte ihre Kampfschiffe nach BOYSCH lenken und den Feind zurückschlagen. Dass das eher unwahrscheinlich war, verdrängte er immer wieder aus seinem Bewusstsein. Symaltin brüllte erschrocken und wütend auf, als der heiße Sandsturm sich ohne Übergang in einen eiskalten Wasserschwall verwandelte – und ihm wurde klar, dass er dabei gewesen war, sich Träumen hinzugeben und die Realitäten zu beschönigen. Vorerst allerdings musste er erst einmal aus dem Samokar herauskommen, wenn er nicht erfrieren wollte. Und er musste sich für diese Untat rächen. »Abstellen! Alles abstellen!«, brüllte er aus Leibeskräften, um das Tosen der Wasserfluten zu übertönen. Als das Wasser verebbte, stürzte er unsanft flach auf den Boden, der glücklicherweise aus Hartschaum bestand, so dass er lediglich geprellt wurde und sich sein Nasenbein brach. Grunzend und schnaubend rappelte er sich auf und stürmte auf allen vieren durch das Tor, das sich an der einen Seite des Samokars geöffnet hatte. »Welcher verfluchte Idiot hat am Samokar herumgeschaltet?«, schrie er und richtete sich auf, um sich auf den Verursacher zu stürzen. Er erstarrte halb aufgerichtet, als er die Übeltäterin erkannte. Es handelte sich um die einzige Person der ganzen Freihandelszone, der er absolut vertraute und der er grenzenlosen Respekt entgegen brachte. Samptasch, die Hohe Ganjo-Interpretatorin! Eine Ganjasin unschätzbaren Alters mit tiefen Falten im bronzefarbenen Gesicht, aber von aufrechter Gestalt. Ihr schulterlanges Haar war schwarz und voll, ihre Brust glatt. Sie stützte sich auf einen derben Stock aus rotbraunem Hartplastik. In der anderen
H. G. Ewers Hand hielt sie eine winzige Fernschaltung. Der Blick ihrer hellblauen Augen richtete sich strafend auf Symaltin. »Wie kannst du der Muße pflegen, Autokrat, während draußen die Wölfe heulen und nur darauf warten, in die Herde einzubrechen?«, sprach sie mit leiser, aber eindringlicher Stimme, die keinen Widerspruch zu dulden schien. »Die Wölfe?«, stammelte Symaltin. »Der Name spielt keine Rolle«, entgegnete sie. »Ich besitze viel von Ovarons Wissen – und du weißt das. Was wirst du dagegen unternehmen, Autokrat?« »Ich, ich weiß noch nicht, GanjoInterpretatorin«, erwiderte Symaltin. »Wir müssen vor allem strikte Neutralität wahren.« »Genau das müssen wir«, erklärte sie. »Niemand, der nicht in die Freihandelszone gehört, darf einfliegen. Hörst du? Niemand!« »Selbstverständlich nicht«, sagte Symaltin, während er sich sammelte, um sich gegenüber Samptasch zu behaupten, obwohl es zu seiner religiösen Einstellung gehörte, dass er der Ganjo-Interpretatorin blindlings vertraute und sich nach ihren Ratschlägen richtete, als wären es göttliche Befehle. Er winkte seinem persönlichen Servo, der sich wie immer unsichtbar in seiner Nähe aufhielt. Der Servo projizierte einen Teil von sich: eine kleine Formenergieplatte, auf der ein Massagetuch und eine Art Kilt aus schwarzblauem Mikrofaserstoff lagen, und ließ sie zu Symaltin schweben. Der Autokrat warf sich das Tuch über, ließ sich warm massieren und wickelte danach den Kilt um die Huften. Als der Servo ihm ein Pflaster schickte, presste er es über die Bruchstelle unter der Nasenhaut. Dann prustete er das Wasser, das ihm im Samokar in Nase und Stirnhöhle gedrungen war, durch die schwarz behaarten Nasenlöcher wieder aus. »Nimm dir ruhig Zeit!« sagte Samptasch. »Zeit ist das Einzige im Universum, was im-
Der Zorn der Lordrichter mer wieder nachwächst.« »Aber auch das Einzige, was man nicht greifen kann«, gab Symaltin in einem Versuch zu scherzen zurück. »Was weißt du schon von der Zeit«, erwiderte Samptasch. »Ovaron könnte dir Dinge über die Zeit und über Zeitreisen erzählen, bei denen dir die Augen übergehen würden. Einmal, in einer anderen Galaxis und tief in der Vergangenheit, ist er sich sogar selbst begegnet. Zwei Zeitbrüder standen sich damals gegenüber – jeder von einer anderen Zeitebene stammend.« »Wie ist das möglich?«, fragte der Autokrat zweifelnd und platschte mit den nassen Füßen auf dem Boden. Es war eine gegen den Servo gerichtete Rüge – und das multifunktionale Energiegebilde besann sich endlich und zog seinen Herrn fertig an. Danach trug Symaltin außer seinem Kilt eine kurze schwarze Jacke mit goldfarbenen Gelenkpolstern, eine purpurrote enge Hose und knöchelhohe schwarze Stiefel mit dicken Titansohlen, die ihm ein bisschen das Gefühl gaben, sich auf seinem Heimatplaneten zu befinden, auf dem eine Schwerkraft von 1,8 Gravos herrschte, während es in BOYSCH mit Rücksicht auf die meisten Beschäftigten und Besucher (die mehrheitlich von Welten mit geringerer Schwerkraft stammten) 1,1 Gravos waren. »Das werden Leute wie du niemals begreifen«, sagte Samptasch. »Aber um auf das Kernproblem zu kommen: Dein Sohn ist vor kurzem von einer Expedition zurückgekehrt und hat einen Fremden mit nach BOYSCH gebracht, einen Extoscher. Der Planet Extosch befindet sich auf Kriegsfuß mit den Drenktosch-Takerern, hinter denen die Lordrichter zu stehen scheinen. Das ist meine Schlussfolgerung, denn auf Extosch gibt es die Mythothek. Da die Angreifer dieses Informationszentrum erobert haben, können sie nur von den Lordrichtern dazu angestiftet worden sein.« »Mein Sohn tut nichts, was unsere Neutralität gefährden könnte«, wiegelte der Fortynier ungehalten ab, obwohl er insgeheim
17 ein flaues Gefühl im Leib spürte. »Er hat es schon getan, auch wenn er es nicht begreift«, entgegnete Samptasch streng. »Bei dem Extoscher handelt es sich nämlich um keinen Geringeren als um Persenpo Zasca, einen stellvertretenden Leiter der Mythischen Infothek von Extosch – und er wird hier nicht lockerlassen, bis er Hilfe zugesagt bekommt.« »Niemals!«, schnaubte der Autokrat. »Wir mischen uns nicht in die Händel zwischen anderen Völkern ein – und mein Sohn würde es niemals wagen, so ein Ansinnen an mich heranzutragen. Ha, ich bin sicher, dass er ihn nicht in seiner Funktion als Abgesandter hierher gebracht hat, höchstens als Schiffbrüchigen.« »Du kennst Symaltinoron gut«, erklärte Samptasch begütigend. »Er hat tatsächlich nicht gegen unsere Gesetze verstoßen. Soviel ich erfahren habe, handelt es sich bei Persenpo Zasca um einen Schiffbrüchigen, den dein Sohn auf dem Planeten Cranicorr auflas.« »Auf Cranicorr?«, fragte der Autokrat erschrocken. »Ausgerechnet auf dem Geisterplaneten, vor dem in allen Infos gewarnt wird! Ist er denn heil und gesund zurückgekehrt?« »Offenkundig ja«, sagte Samptasch. »In der Kantine des Nebensektors prahlt er mit seinen Heldentaten.« Symaltin schlug sich die flachen, tellergroßen Hände an die Brust und reckte sich. »Tüchtiger Junge!«, röhrte er gerührt. »Ich habe immer gewusst, dass er mir nachschlägt.« »Na ja!«, meinte die Frau. »Aber vergiss nicht den Extoscher!« »Das kriegen wir hin!«, versicherte Symaltin. Er ahnte nicht, wie sehr er sich irrte …
* Symaltin begab sich in seine Kommandozentrale, wie er seinen Bürotrakt tief im Innern von BOYSCH zu nennen pflegte.
18 Es handelte sich um einen großen Saal mit kreisförmigem Grundriss, der von zahlreichen positronischen Ablegern der Zentralpositronik umgeben war: Hunderte röhrenförmige Elemente, die vom Boden bis zur fünfzehn Metern hohen Decke reichten und bei manchen Intelligenzen einen Vergleich mit Orgelpfeifen provoziert hätten. Der beinahe vierschrötige Autokrat bewegte sich tänzerisch leicht durch den Saal. Er bemühte sich stets, nicht zu fest aufzutreten, um wegen der geringen Schwerkraft keine Sprünge zu tun. Hinter seinem geschwungenen Arbeitstisch sank er auf den breiten Schwebesessel. Dort blieb er eine Weile still sitzen, bevor er die plump wirkenden Finger der großen, fleischigen Hände spielerisch leicht über die Schalttastatur gleiten ließ. Ein Trivideokubus schräg über und hinter der Tastatur erhellte sich und zeigte ein Abbild des Vorzimmers. Symaltins Gesicht rötete sich, als er seinen einzigen Sohn sah, der mitten im Vorzimmer stand und aufmerksam die Bildflächen beobachtete, auf denen die Andockstationen von zirka dreißig ausgefahrenen der insgesamt 220 Weichen zu sehen waren. Der Autokrat war stolz auf seinen Sohn, auch wenn er sich fast immer bemühte, es nicht zu zeigen. »Symaltinoron, du kannst jetzt hereinkommen!«, sagte er. Symaltinoron lächelte und trat durch das sich automatisch vor ihm öffnende Schott. Er hatte noch nie eine politische Funktion innegehabt und zeigte deshalb seine Gefühle meistens offen. »Vater!« Er streckte beide Hände über den Arbeitstisch, und sein Vater ergriff sie kurz, bevor er seinem Sohn mit einem Wink zu verstehen gab, sich in den Besuchersessel zu setzen, der ihm direkt gegenüberstand. »Wie ich erfuhr, bist du von einer Mission nach Cranicorr zurückgekehrt, mein Sohn«, sagte er. »Dort sollen unbekannte Gefahren lauern.«
H. G. Ewers »Ich hatte den Auftrag meiner Akademie«, erklärte Symaltinoron. »Ich sollte mit einer ersten vorsichtigen Erkundung mehr über diese Gefahren herausbringen. Cranicorr gehört zu unserem Raumsektor. Wir müssen wissen, wie wir ihn einzustufen haben.« »Und wie würdest du ihn einstufen?« »Als geheimnisvoll«, antwortete sein Sohn ernst. »Und als eine Art Kommunikationspartner, denn die dort existierenden Intelligenzen haben der Gewalt abgeschworen. Sie sollten allerdings zurückhaltend und achtungsvoll behandelt werden.« »Dort existierende Intelligenzen?«, staunte Symaltin und presste sekundenlang die harthäutigen Lippen seines breiten Mundes zusammen. »Darüber steht nichts in den Berichtsbüchern.« Symaltinoron lächelte unwillkürlich, als sein Vater den Begriff »Berichtsbücher« gebrauchte, obwohl damit positronische Speichersektoren gemeint waren. Aber er war eben ungewöhnlich konservativ eingestellt. »Ich weiß, worüber du dich lustig machst, Sohn«, sagte Symaltin. »Du musst noch lernen, warum ich mich oft so konservativ ausdrücke. Es ist, weil BOYSCH immer in Gefahr schwebt, seine allseits respektierte galaktopolitische Position zu verlieren, wenn es sich nicht immer wieder auf die alten Werte besinnt. Und nur das drücke ich mit Begriffen wie ›Berichtsbücher‹ aus.« »Entschuldige bitte, Vater!«, bat Symaltinoron. »Ich weiß, dass ich von dir lernen muss – und das werde ich auch. Was die auf Cranicorr existierenden Intelligenzen angeht: Sie existieren nur noch als Bewusstseine, die in irgendwelchen metallenen Speichern eingesperrt sind.« »Haben sie dir das gesagt?«, fragte der Autokrat atemlos. »Ich weiß von anderen Intelligenzen, ganz woanders. Die hatten versucht, ihre Bewusstseine in Metall zu speichern, um ewig zu leben. So etwas endet stets in Verzweiflung, weil das kein Leben mehr ist.« »Sie haben es nicht gesagt, Vater«, ant-
Der Zorn der Lordrichter wortete der Sohn. »Jedenfalls nicht direkt. Wohl aber indirekt. Hör mal! ›Wir alle, die das Leben lieben – sind hier und atmen keine Luft.‹ Oder: ›Kein Leben mehr, doch wir sind aufgewachte.‹ Das ist doch eindeutig, oder?« »Ich denke, ja«, brummte Symaltin bedrückt. »Aber das macht sie zu seelischen Krüppeln und damit zu einer Gefahr.« »Nicht mehr, denke ich«, erwiderte Symaltinoron. »Sie sagten: ›Früher sündigten wir oft im Zorn. Aber wir bereuen und haben resignierte.‹« »Das klingt, als wären diese Wesenheiten wirklich keine Gefahr mehr«, stellte sein Vater fest. »Vielleicht können wir ihnen irgendwann einmal helfen.« »Vielleicht bald, Vater!«, rief der Sohn eifrig. »Das glaube ich nicht«, entgegnete Symaltin düster. »Vielleicht steht uns schon bald Unheil ins Haus.« »Woran denkst du speziell?«, fragte Symaltinoron. »An einen Extoscher namens Persenpo Zasca«, antwortete sein Vater. »Oh!«, rief Symaltinoron. »Aber wieso hat er mit Unheil zu tun? Er ist ein Flüchtling.« »Den du gerettet und hierher gebracht hast«, ergänzte Symaltin ernst. »Das war durchaus ehrenhaft. Aber ich habe erfahren, dass Zasca sein Gastrecht missbraucht. Er geht von Abteilung zu Abteilung und versucht alles, um BOYSCH zur militärischen Hilfe für Extosch zu bewegen. Dabei beruft er sich auf Zusagen von dir.« »Das ist absurd«, widersprach sein Sohn. »Ich habe auf seine entsprechenden Bemerkungen überhaupt nicht reagiert. Das steht mir ja auch nicht zu.« Symaltin atmete grunzend auf. »Das ist gut. Demnach handelt es sich um Eigenmächtigkeiten dieses Extoschers. Ich würde ihn am liebsten ausweisen. In irgendeinen neutralen Handelsraumer stecken und tausend Lichtjahre weit fortschaffen. Leider geht das nicht, denn Zasca ist einer der stell-
19 vertretenden Leiter der Mythischen Infothek von Extosch. Damit genießt er diplomatische Immunität. Ich wollte, du hättest ihn auf Cranicorr gelassen.« Er winkte ab. »Ich weiß, dann hättest du dich moralisch ins Unrecht gesetzt. Aber was machen wir jetzt mit ihm? Er bringt Unruhe in die Kernstation.« »Warum beschäftigen wir ihn nicht einfach?«, fragte Symaltinoron verschmitzt. »In der Akademie Billtosch gibt es eine Fraktion, die sich mit der wissenschaftlichen Ergründung der religiösen und mythologischen Strömungen innerhalb Gruelfins beschäftigt. Wenn wir Zasca in einen der betreffenden Studienzirkel bringen, wird er mit unendlich vielen Fragen eingedeckt, so dass er an nichts anderes mehr denken kann. Jedenfalls für eine lange Zeit.« Sein Vater blickte ihn aus seinen Augenschlitzen an, als wollte er ihn mit Blicken durchbohren, dann öffnete er den breiten Mund und lachte glucksend. »Mein Sohn, du bist nicht von schlechten Eltern!«, rief er. »Das ist die Idee. So werden wir es machen. Kümmere dich bitte darum! Du kennst dich in den Führungszirkeln der Akademien besser aus als ich. Äh, nur eine Frage noch. Wo hast du den Raumjäger hingebracht, mit dem du unterwegs warst? Er muss doch bestimmt überprüft und gewartet werden.« »Er muss demontiert, peinlich genau überprüft und repariert und dann wieder zusammengebaut werden«, berichtete Symaltinoron. »Ich habe ihn zur Weiche 189 geschickt, nachdem ich mit Kamoschan alles besprochen habe. Er sorgt für die Generalüberholung.« »Gut!«, erwiderte Symaltin. »Dann bring jetzt den Extoscher unter! Wir sehen uns später wieder.« Sein Sohn stand auf, verneigte sich höflich und ging.
5. Atlan »Katana!« Ich war von dem Bild des Ster-
20 nennebels dermaßen überrascht worden, als wir nach unserem Linearmanöver bei BOYSCH in den Normalraum zurückgefallen waren, dass ich unwillkürlich einen Vergleich mit etwas Vertrautem gezogen hatte, das tief in meiner Seele gespeichert lag. Einen Vergleich mit dem Katana, dem Samuraischwert mit der ganz bestimmten geschwungenen Form, das ich mehr als einmal geführt hatte – um zu töten. Genauso sah aus unserem Blickwinkel der Sternennebel aus, der sich weit hinter BOYSCH in einem fernen Raumsektor abbildete: scharf und gekrümmt, geformt aus dem hellen Nebel von Sternenstaub, in dem zahllose Sonnen darauf warteten, geboren zu werden. Und mit glühend roten Blutstropfen, die an ihm herniederrannen. Ein Zeichen der Vorsehung? »Du meinst den Sternennebel, Atlan?«, fragte Carmyn Oshmosh mit seltsam weicher Stimme. »Er ist so ähnlich geformt wie ein Schwert, allerdings nicht mit gerader Klinge, sondern mit gekrümmter.« »Er sieht aus wie das Schwert, das der alte Schmied Munechika im zehnten Jahrhundert in Matsuyama schmiedete«, brach es heiser aus mir heraus. »Warum durfte ich nirgends bleiben?« »Alte Erinnerungen?«, fragte Carmyn mitfühlend. »So geht es mir auch manchmal.« »Aber mir so oft, viel zu oft«, erwiderte ich bitter. »Niemals konnte ich bleiben, wo ich glücklich war.« »Niemand kann den Lauf des Schicksals aufhalten, Atlan«, versuchte die Kommandantin mich zu trösten. Ich riss mich zusammen. Nichts, was Vergangenheit war, durfte mich daran hindern, hier und jetzt meine Pflicht zu erfüllen. »Wir sind da?«, fragte ich. »BOYSCH voraus!«, rief Myreilune und hob ihren breiten Hintern hoch. »Dort ist es«, stellte Carmyn Oshmosh fest. In ihrer Stimme schwangen hörbar starke Emotionen mit. Offenbar dachte die
H. G. Ewers Kommandantin der AVACYN an die Zeit zurück, die sie auf den Akademien der Freihandelszone Susch verbracht hatte. »Sagen wir ›Raumsektor Katana‹, Atlan? Obwohl der Sternennebel nur aus diesem einen ganz bestimmten Blickwinkel als Schwert zu sehen ist.« »Einverstanden«, antwortete ich. »Raumsektor Katana voraus!« Aberglaube! »Starke einfallende Ortungsimpulse!«, rief Ypt Karmasyn. »Die stärksten kommen aus der Position von BOYSCH. Außerdem werden wir von zwanzig Großkampfschiffen der ABENASCH-Klasse angepeilt, die in einem Nahbereich rings um BOYSCH stehen.« »Logisch«, erklärte ich. »Die Leute sind beunruhigt und wollen wissen, ob wir ihnen gefährlich werden können.« Um ihre Beunruhigung in Grenzen zu halten, hatte ich entschieden, dass wir nur mit einem kleinen Verband nach BOYSCH flogen. Vorerst jedenfalls. Außer meiner AVACYN waren nur der Sammler MITYQINN und ein kleiner Konvoi von dreißig Jucla-Schiffen, der hauptsächlich aus Aufklärern bestand, bis in die Nähe von BOYSCH geflogen. Meine Hauptstreitmacht war bei einer namenlosen Sonne in Bereitschaft gegangen und hatte ihre Energieaggregate heruntergeschaltet, um unbemerkt zu bleiben. Der betreffende Raumsektor war von mir mit dem Kodenamen Inschayem benannt worden. »Hol bitte die Kernstation heran!«, wandte ich mich an die Chefin von Funk und Ortung. »Ich bin schon dabei«, gab Ypt Karmasyn zurück. Im größten Trivideoschirm der AVACYN formte sich hellgrau das dreidimensionale Abbild eines eiförmigen Gebildes von rund fünfzehn Kilometern Durchmesser. In seinem Innern maß unsere Ortung viele wabenförmige Räume sowie starke Energieerzeuger. Diese Kernstation hatte zahlreiche Kon-
Der Zorn der Lordrichter struktionen ausgefahren, die den Andockstationen von früheren Flughäfen glichen. Es waren so viele, dass sich mir der Vergleich mit einem stachelbewehrten Igel aufdrängte. Sie glichen sich in der Breite, unterschieden sich aber in der Länge. An vielen waren ganz außen Raumschiffe unterschiedlicher Größe angedockt. Bei den meisten handelte es sich offenkundig um unbewaffnete Handelsschiffe. An ihnen spielten sich Be- und Entladungsvorgänge ab. Andere wurde repariert oder generalüberholt. »Das sind die Weichen«, erklärte Oshmosh. »Es gibt zweihundertzwanzig davon. Sie können bis zu einer Länge von sechs Kilometern ausgefahren werden und dienen in erster Linie dem Warenumschlag, aber auch der Wartung oder Instandsetzung von Raumschiffen. Sie werden aber mit ihren Transmittern auch zum Personentransport von und zur Kernstation benutzt.« »Wir werden per Hyperfunk von der Kernstation aus angerufen«, meldete Karmasyn. »Gerichtet natürlich, so dass niemand außer uns sie empfängt.« »Sollten wir uns nicht melden?«, fragte Myreilune. »Ja, aber nicht sofort«, antwortete ich. »Sie sollen erst mal im eigenen Saft schmoren, weil sie fürchten werden, wir wollten sie angreifen.« Ich hatte mir diese Taktik gut überlegt. Natürlich war mir klar, dass das moralisch nicht einwandfrei war, aber ich wollte ihnen beibringen, dass strikte Neutralität in diesen Zeiten keinen Schutz bot – und dass sie besser daran taten, sich Freunde zu suchen. Uns beispielsweise. »Was wird alles in BOYSCH abgewickelt?«, wandte ich mich an Oshmosh. Die Kommandantin sah mich mit ihren dunklen Augen »durchbohrend« an und knetete nervös ihre Hände. Logisch: Sie hegte freundschaftliche Gefühle gegenüber den Betreibern von BOYSCH – und es missfiel ihr, sie so auf die Folter zu spannen. Dennoch antwortete sie mir sofort: »In den Werften von BOYSCH werden Repara-
21 turen an Schiffseinheiten aller Art erledigt. Auch werden Neubauten auf Kiel gelegt. Vor allem aber wird Handel getrieben, sowohl mit Waren aller Art als auch mit Informationen. Dazu gibt es eine Informationsbörse, in der gegen gutes Geld alles über jeden in Erfahrung gebracht werden kann.« Ich pfiff vielsagend, was ihr ein verlegenes Lächeln entlockte. »Na ja«, sagte sie. »Das mag etwas zwielichtig sein, aber es ist auch profitabel. Vor allem aber sorgt es dafür, dass es nur selten jemand wagt, unsaubere oder betrügerische Geschäfte abzuwickeln. Er wäre für immer gebrandmarkt.« Gar nicht übel, wisperte mein Extrasinn. So musste es überall gehandhabt werden. »Es gibt aber auch einen normalen Börsenbetrieb«, fuhr Oshmosh fort. »Unmoralische Spekulationsgewinne werden allerdings nicht geduldet. Geschäfte werden übrigens unter der Sicherheit interstellarer Rechtsstaatlichkeit getätigt. Es wird zudem auch Recht gesprochen, das von mehr als zweitausend lose, aber dennoch verbündeten Planetenregierungen anerkannt wird. Und das unter dem Schirm absoluter Neutralität – die wir verletzen, seit wir hier angekommen sind, bei den Geistern des Halbraums!« Die letzten Worte hatte sie sehr heftig hervorgestoßen, um ihre Entrüstung über mein Verhalten deutlich zu machen. »In der Absicht, den Leuten in BOYSCH klar zu machen, dass ihre Neutralität derzeit einen feuchten Lehm … äh, dass es in diesen unsicheren Zeiten keine Garantien für Neutrale gibt«, stellte ich fest. »Ypt, stelle eine Richtfunkverbindung zu dieser Kernstation her! Ich werde darum bitten, mit der AVACYN an BOYSCH andocken zu dürfen.« Während unsere Funkerin die erforderlichen Schaltungen vornahm, wies ich über die permanent stehenden Verbindungen die dreißig Jucla-Schiffe an, wie geplant auszuschwärmen und Aufklärung zu betreiben. MITYQINN wurde von mir angewiesen,
22 siebenhundert Lichtjahre vor BOYSCH in Parkstellung zu gehen und keinerlei Aktivitäten zu entwickeln, die Anstoß erregen könnten. Schließlich kam die Verbindung mit BOYSCH zustande. Ich sah eine breit und massig wirkende Person, die ich als einen an eine lebensunfreundliche Umwelt angepassten Takerer einstufte: Sein grobhäutiges, ledern wirkendes Gesicht wurde von einem breiten Mund wie von einem Froschmaul richtiggehend gespalten. Ein grauschwarzer Bart reichte bis zur breiten und vorgewölbten Brust. Auf dem Schädeldach dagegen gab es nur wenige Haarsträhnen. Die Augen sahen gar nicht gut aus. Sie schienen von harthäutigen Lidern fast verschlossen zu sein. Die Augäpfel waren von dicken, wulstigen Nickhäuten beinahe ganz verdeckt. Der Mann kam mir vor, als wäre er blind. Aus den beiden großen Nasenöffnungen ragten dicke, verfilzte Haarbüschel. Ein umweltangepasster Takerer vom Planeten Fortyn, teilte mir mein Extrasinn mit. Was du nicht sagst, spottete ich, denn ich war selbst zu dieser Einschätzung gekommen, obwohl ich bisher nur wenige Fortynier kennen gelernt hatte. »Ich heiße Symaltin und bin der Autokrat von BOYSCH«, sagte der Fremde mit dröhnender Bassstimme. »Und wer bist du, der du es wagst, unsere Neutralität zu verletzen?« »Mein Name ist Atlan«, antwortete ich. Seit wir vor BOYSCH angekommen waren und mir Oshmosh erklärt hatte, welche große Bedeutung diese Station und die gesamte Freihandelszone Susch für den Handel und die Zusammenarbeit der Völker von Gruelfin hatten, war mir klar geworden, dass das für die Lordrichter so bedeutsam war, dass sie wahrscheinlich längst eine Invasion geplant hatten. »Du weißt natürlich, welche zerstörerischen Umtriebe Gruelfin erschüttern, Symaltin. Die Lordrichter und ihre Verbündeten verbreiten durch ihre Aktivitäten Furcht und Misstrauen in dieser Galaxis.
H. G. Ewers Sie werden sich in Kürze auch gegen euch wenden. Ihr seid zu schwach, um euch zu verteidigen. Ich biete euch ein Bündnis gegen unsere gemeinsamen Feinde an.« Der Fortynier schnaubte durch die Nase. »Atlan!«, sagte er abschätzig. »Wer bist du, weißhaariger Mann? Und wie könnte ich dir vertrauen? Habt ihr doch dreißig JuclaSchiffe mitgebracht – Juclas, die Herumtreiber und Marodeure Gruelfins.« »Ich bin ein Arkonide und komme aus der Galaxis Milchstraße«, antwortete ich wahrheitsgemäß und dachte dabei, dass ich mich wohl geirrt hatte, als ich den Autokraten für blind hielt. Wie hätte er sonst sehen können, dass ich weißes Haar habe. »Und ich war ein Kampfgefährte Ovarons, vor sehr langer Zeit, als es wie heute darum ging, für Frieden in Gruelfin zu sorgen.« »Ovarons?«, rief Symaltin, von gurgelnden Geräuschen begleitet. »Dem Ganjo? Das glaube ich dir nicht, denn das ist so lange her, dass niemand aus dieser Zeit noch leben kann.« »Die Zeit ist ein Phänomen«, erwiderte ich, denn wenn ich meine relative Unsterblichkeit erwähnt hätte, wäre ich dem Fortynier noch unglaubwürdiger vorgekommen. »Ihre Verschlingungen überschneiden und überlagern sich mannigfach.« Du hättest Ovaron noch nicht ins Spiel bringen sollen!, raunte mein Logiksektor. Ich lächelte innerlich, verzichtete aber auf eine Begründung, obwohl ich Ovaron mit Bedacht jetzt schon erwähnt hatte. Symaltin kniff den Mund zusammen. Es sah aus, als würde sein Gesicht geteilt. Wieder schnaubte er durch die Nase, dann sog er die Luft tief ein. Wahrscheinlich eine instinktive Reaktion. Sein Geruchssinn schien stark ausgeprägt zu sein, was ihm über Funk natürlich nichts nützte. Ich seufzte verstohlen. Der Fortynier wurde mir immer sympathischer. Ich konnte aufgrund meiner mehrtausendjährigen Erfahrungen Intelligenzen schnell und sicher beurteilen. Für mich war Symaltin ein »guter Mensch«: ehrlich, bo-
Der Zorn der Lordrichter denständig, von positivem Denken durchdrungen, in positivem Sinne konservativ, grundanständig, pragmatisch und ein wenig stur. Es tat mir Leid, dass ich ihn unter Druck setzen musste. »Ich weiß nicht, wer eure Feinde und wer eure Freunde sind«, erklärte Symaltin nach kurzer Denkpause. »Ich erkenne auch keine Gemeinsamkeiten zwischen uns.« Er holte tief Luft. »Es ist besser, wenn du von hier verschwindest – du und deine JuclaBanditen und dieses Monstrum von Riesenschiff, das du BOYSCH vor die Nase gesetzt hast.« »Das, was du Monstrum nennst, ist ein Sammler«, sagte ich bedeutungsvoll. »Es gab diese Schiffe schon in ferner Vergangenheit.« »Das weiß ich!«, gab der Fortynier barsch zurück. »Ich stufe dieses Monstrum trotzdem als eine Bedrohung ein.« Er kam mir entgegen, ohne es zu ahnen. Es war meine Absicht gewesen, dass man in BOYSCH den Sammler als Bedrohung einstufte. Das würde die AVACYN als weniger gefährlich erscheinen lassen. Und es gab mir die Möglichkeit, einzulenken. »Wenn du MITYQINN für bedrohlich hältst, ziehe ich ihn zurück«, erklärte ich. »Mir würde es genügen, wenn ich mit meiner AVACYN an BOYSCH andocken dürfte.« »Abgelehnt!«, beschied mich Symaltin schroff. »Wir sind absolut neutral. Deshalb werde ich hier niemanden dulden, der für irgendeine kriegerische Macht Partei ergreift.« »Wir ergreifen Partei für den Frieden«, erklärte ich und winkte Carmyn Oshmosh zu mir – in den Aufnahmebereich der Funkverbindung zwischen uns und BOYSCH. »Oder zweifelst du daran, dass jemand, der auf einer eurer Akademien erzogen und ausgebildet wurde, für den Frieden in Gruelfin ist?« Symaltin öffnete seinen Mund – und schloss ihn mit lautem Klacken wieder. »Carmyn Oshmosh!«, gurgelte er und
23 fuchtelte mit den tellergroßen Händen vor seinem Gesicht herum. »Unser Wunderkind! Viele haben dich früher unterschätzt, aber ich wusste immer, dass du deinen Weg machen würdest. Bist du die Kommandantin der AVACYN?« »Ja, das bin ich«, antwortete die Ganjasin bescheiden. »Und ich versichere dir bei dem Eid, den ich auf die Ziele von BOYSCH geschworen habe, dass Atlan auf unserer Seite steht. Aber er braucht bei seinem Kampf gegen die Lordrichter und ihre Mordgesellen alle Unterstützung, die möglich ist. Von dir braucht er vor allem Informationen. Ich bitte dich, ihm zu vertrauen und unser Schiff andocken zu lassen.« »Unmöglich!«, gurgelte er. »Ich glaube dir, aber ich würde gegen die Regeln der Neutralität verstoßen, wenn ich euch hier andocken ließe. Dann wäre der Frieden gefährdet. Die besondere Integrität der Freihandelszone ist seit Jahrzehnten fester Bestandteil cappinscher Lebenskultur. Niemand, ich betone, niemand, würde es auch nur in Betracht ziehen, diesen Ort des friedlichen Handels, der Forschung und der Hochtechnologie zu attackieren.« Ich musste an mich halten, um angesichts dieser Naivität nicht aus der Haut zu fahren. Aber ich war darauf vorbereitet und nickte der Kommandantin zu, damit sie Symaltin weiter bearbeitete. Ihr vertraute er ganz offensichtlich. Und sie berichtete, wie wir abgesprochen hatten, was bei Eptascyn, dem friedlichen Versammlungsort der Jungen Clans, geschehen war. Sie spielte Bild- und Tonmaterial ab, das wir zusammen mit Abenwosch-Pecayl 966. aufgenommen hatten, um die Untaten der Zaqoor zu dokumentieren – und sie spielte die Hilferufe ab, die wir unter anderem vom Planeten D'Oranon empfangen hatten. Ich sah, wie der Widerstand des Autokraten aufgeweicht wurde – und als Carmyn Oshmosh an ihn appellierte, wenigstens die AVACYN andocken zu lassen und in den Positroniken von BOYSCH nach Informa-
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tionen über alles suchen zu lassen, was mit Begriffen wie Lordrichter, Schwert der Ordnung, Dwingeloo, Flammenstaub und verwandten Dingen zusammenhing, gab er endlich nach. »Ich erteile für die AVACYN Andockerlaubnis für die Weiche fünfundsechzig«, erklärte er. »Aber nur unter der Bedingung, dass der Sammler zurückgezogen wird und dass die Aufklärer der Juclas sich BOYSCH nicht weiter als zweihundert Lichtjahre nähern.« »Das akzeptiere ich«, versicherte ich ihm. »Ich hoffe sehr, wir könnten nach dem Andocken in persönlichen Kontakt treten.« »Ich denke darüber nach«, sagte Symaltin ungewöhnlich leise.
6. Symaltin Nach dem Funkkontakt mit Atlan und dem Gespräch mit Carmyn Oshmosh saß der Fortynier lange Zeit reglos in seinem Sessel. »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll«, sagte er im Selbstgespräch. »Der Fremde gehört einer unbekannten Spezies an. Er sagte ja selbst, dass er aus einer anderen Galaxis kommt – aus der Galaxis Milchstraße. Andererseits hat er so offenkundig Charisma, als wäre er von den Göttern gesandt. Oder als wäre er ein Abgesandter Ovarons, den es ja noch immer geben soll.« Er schrak zusammen, als sich einer seiner kleineren Trivideokuben vor ihm erhellte. Darin war plötzlich das Gesicht Samptaschs zu sehen, so deutlich, als wäre sie körperlich präsent. Symaltin hielt für einen Moment die Luft an. Immer wenn er Samptasch begegnete – und sei es nur im Videokubus –, fühlte er eine deutliche Ahnung von etwas Höherem. Er erklärte es sich damit, dass Samptasch als Ganjo-Interpretatorin etwas von dem unvergänglichen Seelenatem Ovarons ausstrahlte. »Hohe Interpretatorin!«, rief der Fortynier respektvoll und erschrak, als sein Mund ei-
genmächtig ein lautes Schmatzen intonierte. »Großer Autokrat!«, sagte Samptasch mit einem Anflug von Ironie. Dennoch wirkte sie irgendwie gehetzt »Hast du mir etwas zu berichten?« »Ich wollte mich gerade mit dir in Verbindung setzen«, erklärte Symaltin. »Es ist etwas geschehen, was mich beunruhigt. Ein ganjasisches Schiff der NAMEIRE-Klasse ist vor der Station angekommen und hat darum gebeten, andocken zu dürfen.« »Das Schiff hat darum gebeten?«, fragte Samptosch ironisch. »Nein, natürlich nicht das Schiff, sondern ein Arkonide namens Atlan – und mit ihm ist Carmyn Oshmosh gekommen, die in unseren Akademien ausgebildet wurde.« »Ein Arkonide ist es also …!«, flüsterte die Interpretatorin heiser. »Hat er behauptet, ein Vertrauter Ovarons zu sein?« »Ein ehemaliger Kampfgefährte Ovarons«, korrigierte Symaltin unsicher. »Du hast also Zweifel daran, dass dieser Atlan die Wahrheit sagt«, stellte Samptasch fest. »Sie sind berechtigt. Wenn sich jemand auf den Ganjo berufen darf, dann bin ich das. Oder hast du vergessen, dass dieses ganze System, wie es auf BOYSCH und der Freihandelszone Susch herrscht, auf den Ratschlägen Ovarons beruht, die du von mir erhalten hast?« »Selbstverständlich nicht«, versicherte Symaltin. »Du allein verkörperst das Restbewusstsein Ovarons und kannst den Willen des Ganjos interpretieren.« »Gut!«, sagte Samptasch. »Dann bleibe auf Distanz zu Atlan und höre nicht auf seine Ratschläge! Nur Ovaron ist der Ganjo – und ich bin seine Prophetin.« Symaltin knirschte mit seinen Zahnstummeln und wand sich vor Verlegenheit. Er atmete befreit auf, als er sah, dass der Trivideokubus dunkel geworden war und sich Samptasch zurückgezogen hatte. »Nur Ovaron ist der Ganjo – und ich bin seine Prophetin«, wiederholte er die letzte Aussage der Interpretatorin, denn er wollte sie sich einprägen.
Der Zorn der Lordrichter Er zweifelte nicht daran. Nur wunderte er sich ein wenig darüber, dass Samptasch so ablehnend gegenüber Atlan eingestellt war. Seiner Meinung nach hätte sie eigentlich über die Ankunft Atlans erfreut sein müssen, denn wenn auch nur ein Hauch von Ovaron an dem Arkoniden war, wäre es nur logisch gewesen, wenn sie versuchen würde, mit ihm in Kontakt zu treten. Symaltin verspürte zum ersten Mal den Wunsch, keine Verantwortung für das Wohl und Wehe der Freihandelszone Susch tragen zu müssen …
7. Atlan Ich verfolgte in der Hauptzentrale der AVACYN das Docking-Manöver und beobachtete dabei ganz genau die von der Ortung »herangeholten« Details der Kernstation BOYSCH. Alles klappte wie am Schnürchen, wie Terraner zu sagen pflegten. Die halb ausgefahrene Weiche, an der wir andockten, war nur eine von zahlreichen Weichen. Überall ringsum fuhren solche Andockstationen im Zeitlupentempo vor und zurück. Auf vielen schwebten Container voller Güter zu den offenen Schleusen von Handelsschiffen, während auf anderen Weichen beladene Container in die offenen Mäuler der Kernstation glitten. Andere Weichen, die in Größe und Form verschieden waren, beförderten Raumfahrer und Passagiere von und zu ihren Schiffen. »Da staunst du, was?«, fragte Myreilune. Ich sah der Pilotin mit den hellblauen Kontaktlinsen und dem stark geschminkten Gesicht an, wie stolz sie darauf war, dass sie hier ihre Ausbildung zur Raumfahrerin absolviert hatte. »Ich bin wirklich beeindruckt«, gab ich zu. »Man traut uns nicht über den Weg«, rief Ypt Karmasyn und deutete auf die Bildflächen der Hyperortung. Ich lächelte nur.
25 Auf zwei Bildflächen waren eiförmige Raumschiffe zu sehen, die nahe der Station patrouillierten. Es waren Großkampfschiffe der ABENASCH-Klasse, achthundert Meter lang und mit modernsten Angriffs- und Abwehrsystemen ausgerüstet. Eines allein hätte unsere AVACYN »hinwegpusten« können. Doch meine Erheiterung war von kurzer Dauer. Ich brauchte mir nur vorzustellen, wie Hunderte feindlicher Schiffe in die Freihandelszone Susch einbrachen. Die zwanzig Großkampfschiffe von BOYSCH würden in konzentrischem Feuer vergehen. Sie hätten gegen die Übermacht keine Chance. Ich hoffte, dass es nie so weit käme, aber ich war auch auf einen solchen Fall vorbereitet. Mein Funkbefehl an Florymonthis, sich zum Sammelplatz Inschayem zurückzuziehen, war in Wahrheit die vereinbarte kodierte Anweisung, die Umgebung der Freihandelszone intensiv zu überwachen und jederzeit zur Abwehr einer Invasion bereit zu sein. Was kriegerische Handlungen anging, hatte ich eine so umfangreiche Ausbildung und so viele Erfahrungen gesammelt, dass ich immer auf alles vorbereitet war. Der Ewige Krieger!, meldete sich der Extrasinn. Ich zuckte nur die Achseln. Ich musste tun, was getan werden musste. Natürlich würde ich lieber den Sonnenuntergang auf einem paradiesischen Planeten beobachten, zusammen mit einer bezaubernden Frau, deren Augen mir nächtliche Freuden versprechen, und mit anregender Musik, feinsten Speisen und goldenem Wein … Ich riss mich zusammen. Mir war ja nicht einmal klar, ob Florymonthis sich tatsächlich nach meinen Weisungen richten würde. Ich konnte es nur hoffen. Notfalls würden die 42.000 Kampfschiffe der Juclas unter dem Oberbefehl von Abenwosch-Pecayl 966. BOYSCH allein verteidigen müssen. Was ihnen furchtbare Opfer abverlangen würde. Die Juclas sind definitiv das unglücklichste cappinsche Volk, wisperte mein Extrasinn. Ich nickte unwillkürlich. Die Juclas
26 waren wirklich arm dran. Mir kam ein Gedanke, aber ich versenkte ihn sofort wieder in die Tiefe meines Bewusstseins. Nicht schlecht!, meinte der Extrasinn. Aber noch nicht genügend durchdacht. »Anruf!«, meldete Ypt Karmasyn. »Jemand verlangt dich zu sprechen, Atlan.« »Dann gib ihn rüber!«, erwiderte ich. Der kleine Bildschirm an meinem Pult leuchtete auf. Das Gesicht eines Fortyniers erschien darin. Schon wollte ich den neuen Gesprächspartner mit Symaltin ansprechen, als mir auffiel, dass das Gesicht im Kubus erheblich schmaler war als das des Autokraten – und dass das, was vom Oberkörper zu sehen war, mit einer Art Overall bekleidet war. »Ich grüße dich!«, sagte er mit gutturaler Stimme, aber ohne die glucksenden und schmatzenden Nebengeräusche Symaltins. »Mein Name ist Symaltinoron. Du bist Atlan?« »Symaltinoron?«, entfuhr es mir. »Also der Sohn des Symaltin.« Ich fragte mich, wie er mich sah. Seine Augen schienen genauso zugeschwollen zu sein wie die seines Vaters. Was du den Autokraten nicht fragen wolltest, den Sohn darfst du fragen, ohne gegen die Etikette zu verstoßen, bemerkte mein Extrasinn. Es geht nichts über einen Flaschengeist. Schutzengel!, korrigierte mich der Logiksektor. »Worüber denkst du nach, Atlan?«, fragte Symaltinoron. Er war also ein guter Beobachter. »Deine Augen«, antwortete ich freiheraus. »Ich bemerkte es schon bei deinem Vater. Sie sehen verschwollen oder zugewachsen aus. Anscheinend hat das mit eurer Umweltanpassung zu tun. Aber könnt ihr denn damit überhaupt sehen?« Symaltinoron prustete erheitert durch die großen, verfilzten Nasenlöcher, die man eigentlich »Nüstern« nennen konnte. »Wir können sehr gut damit sehen«, er-
H. G. Ewers klärte er. »Erstens infolge natürlicher Anpassung und zweitens durch spezielles Training. Das Licht fällt durch die schmälsten Ritzen.« Er prustete abermals. Ich verspürte Sympathie. Er war bestimmt nicht so stur wie sein Vater. Möglicherweise erleichterte das meine Aufgabe. »Danke für den Willkommensgruß, Symaltinoron«, sagte ich. »Ich bin sehr froh, dass du mir dabei helfen willst, meine Mission zu erfüllen.« »Das kommt darauf an, was das für eine Mission ist, Atlan«, erwiderte er höflich. »Ich muss dir leider sagen, dass alles, was gegen die Neutralität BOYSCHS und der ganzen Freihandelszone verstieße, weder von mir noch von sonst wem hier unterstützt würde.« Das war offen und geradeheraus – und undiplomatisch. Ich hätte gern genauso geantwortet, aber dann würde ich mir nur selbst eine Mauer aufbauen. »Das ist gut«, erklärte ich deshalb. »Ich denke, wenn ich um Zugang zur Informationsbörse bitte, verstößt das nicht gegen eure Neutralität.« »Das denke ich auch«, antwortete der Fortynier. »Worum geht es dir, Atlan?« »Ausschließlich um frei zugängliche Daten«, antwortete ich. »Vor allen Dingen um alles, was mit den Lordrichtern, dem Schwert der Ordnung und Dwingeloo zu tun hat.« Dass ich auch nach Informationen über den Flammenstaub suchte, verschwieg ich lieber. »Alles, was frei zugänglich ist, wird auch dir zugänglich sein«, versicherte Symaltinoron. Er verzog das derbhäutige Gesicht, was seinen Mund noch mehr in die Breite klaffen ließ. Ein Lächeln. »Keine Sorge, Atlan«, erklärte er. »Alle Daten sind frei zugänglich – bis auf einige wenige, die als GEHEIM eingestuft sind.« Wie auf Arkon und überall in diesem Universum!, spottete der Extrasinn. Wir werden sehen. »Wann können wir die Informationsbörse
Der Zorn der Lordrichter aufsuchen?«, fragte ich den Sohn des Autokraten. »Ich nehme an, du wirst mich begleiten.« »Das werde ich«, bestätigte er. »Ich werde euch an der Bodenschleuse eures Schiffes erwarten.« Ich fing einen bittenden Blick der Kommandantin auf und nickte. »Ich komme in Begleitung meiner Schiffskommandantin«, teilte ich Symaltinoron mit. »Carmyn Oshmosh heißt sie – und sie dürfte in BOYSCH wie zu Hause sein.« Der junge Mann lächelte abermals. »Sie ist willkommen. Ich weiß Bescheid, dass sie hier ausgebildet wurde.« »Aha!«, erwiderte ich. Demnach hat der Junge sich besser vorbereitet, als ich dachte. »Also, bis gleich!«
* Die Informationsbörse von BOYSCH war eine Überraschung. Insgeheim hatte ich erwartet, einen geheimnisumwitterten Ort in einem mehrfach abgesicherten Sektor der Kernstation zu finden. Stattdessen führte mich Symaltinoron in eine Halle, die sich in beinahe nichts von der Informationsbörse auf einer Großhandelswelt unterschied und anscheinend für alle Interessenten frei zugänglich war. Tausende Anschlüsse von Positroniken beziehungsweise einer Zentralpositronik zogen sich in konzentrischen Reihen durch eine Kuppelhalle von zirka dreißig Metern Höhe und einem Durchmesser von vierhundert Metern. Über ihnen leuchteten ebenso viele Trivideo-Projektionen, die teils dunkel waren, teils flimmernde und huschende Daten zeigten, die von zahlreichen Gruppen von Ganjasen, Takerern und Angehörigen anderer Volksgruppen aus Gruelfin abgerufen beziehungsweise bearbeitet wurden. Die Geräusche, die dabei entstanden, erinnerten an das Donnern der Flut. »Das ist ja wie in einem Bienenstock!«, entfuhr es mir. »Bienenstock?«, wollte Symaltinoron
27 wissen. Ich erklärte es ihm. Er lachte. »Wir bekommen selbstverständlich einen separaten Zugang, Atlan.« Er führte Carmyn und mich über Durchgänge zwischen mehreren Anschlussreihen zu einem kleinen Sektor, über dem keine Projektionen leuchteten. Nachdem er ein Kodewort aufgesagt hatte, bauten sich drei Trivideo-Projektionen über dem Anschlusspult auf. »Jetzt könnt ihr eure Fragen stellen!«, sagte Symaltinoron. Er schaltete mit einem schmalen Armbandgerät eine schalldichte Separationszone ein. Schlagartig wurde es still. Ich zögerte ein paar Sekunden, denn die Eingabeschaltungen kamen mir fremdartig vor. Carmyn Oshmosh lachte erheitert und lehnte sich an meine rechte Schulter. Ich widerstand der Versuchung, meinen Arm um sie zu legen, und wunderte mich darüber, dass ich plötzlich mehr als nur Sympathie für die schwarzhaarige Ganjasin gespürt hatte. Einbildung, Arkonhäuptling!, dachte ich selbstironisch. Du bist ein Mann – und sie ist eine Frau!, stellte der Extrasinn lakonisch fest. Unwillkürlich versteifte ich mich und atmete unauffällig auf, als Carmyn wieder von mir abrückte. Es war wohl doch nur eine zufällige Bewegung gewesen, vielleicht ein impulsives Empfinden angesichts meines Zögerns vor den unbekannten Schaltungen. Ich schloss für einen kurzen Moment die Augen. Als ich sie wieder öffnete, war ich bereit, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren. Bald befand sich mein Bewusstsein in der geheimnisvollen Welt der hiesigen Positroniken. Anders ließ sich nicht beschreiben, was mit meinem Geist geschah, während er in rascher lautloser Folge in ein Meer von Informationen – Bilder, Daten und Formeln – eintauchte und sich suchend darin herumtrieb.
28 Ich ließ mich dabei hauptsächlich von Stichwörtern wie »Lordrichter«, »Schwert der Ordnung«, »Dwingeloo« und »Flammenstaub« leiten. Doch obwohl die Speicher unendlich viele Informationen bargen, kam ich einfach nicht nahe genug an das heran, was mich brennend interessierte. Immerhin bekam ich eine dreidimensionale Karte jener Gebiete überspielt, in die die Zaqoor und Takerer während der letzten Tage eingefallen waren. Ich erfuhr, dass es den Invasoren dabei auch um die Suche nach Informationen ging. Sie interessierten sich demnach besonders für Morschatztas (ein altes Rückzugsgebiet der Ganjasen), die Hauptwelten der Wesakenos, strategisch wichtige Knotenpunkte im Geflecht der bewohnten oder nur bekannten Sonnensysteme Gruelfins, um Planeten mit einer überdurchschnittlichen Fülle von Rohstoffen, um wirtschaftsstrategisch wichtige Handelswelten und um einsam durchs All treibende Asteroiden voller 6-D-Kristalle. Das alles war zwar interessant, aber es verriet mir nichts Entscheidendes über die Motivation, die hinter den von den Lordrichtern gesteuerten Aktionen steckte. Nach ein paar Stunden erst schrak ich auf. Ich hatte, halb vor mich hin dämmernd in der wahnsinnigen Flut nebensächlicher Informationen, einen extrem hell markierten Punkt in der 3D-Projektion der Karte entdeckt. Augenblicklich ahnte ich, dass ich endlich etwas überragend Wichtiges gefunden hatte. Es handelte sich dabei um die Position des Sonnensystems Absamoyn, einer Sonne der Spektralklasse G7, die von sieben Planeten umkreist wurde. Von diesen sieben Planeten war nur die Nummer drei namens Extosch kolonisiert, eine Welt mit einer Schwerkraft von 1,2 Gravos und erdähnlichen Umweltbedingungen. Ein einziger Mond, Gash, umkreiste Extosch auf einer künstlichen Bahn, die der Stabilisierung der Drehachse des Planeten diente. Diese Angaben waren natürlich bloß mit
H. G. Ewers nüchternen Daten dokumentiert; die Vergleiche mit Terra stellte nur ich an – und wunderte mich hinterher, warum ich zum Vergleich nicht Arkon herangezogen hatte. Weil du dich den Terranern stärker verbunden fühlst als den Arkoniden, du heimatloser Vagabund!, wisperte der Extrasinn eindringlich. Extosch! Es war dieser Name, der mich alarmierte. Und dann kam der Hammer. Denn die Zaqoor und Takerer hatten ganz gegen ihre sonstige Vorgehensweise anscheinend darauf verzichtet, Extosch zur Kapitulation zu zwingen, um danach die Bevölkerung zu versklaven. »Aber was hatten sie dann dort gewollt?«, überlegte ich laut, denn ich wusste zufällig, dass Extosch eine mythologische Bedeutung für die Gesamtheit der Cappins besaß. Ich erfuhr, dass sich die Erfüllungsgehilfen der Lordrichter mit brutaler Gewalt Zugang zur unterirdischen Mythotek verschafft hatten, nachdem sie das Mythoseum ohne Rücksicht auf das Leben seiner Besucher zerstört hatten. »Das ist es!«, rief ich. »Was ist es?«, fragte Symaltinoron und musterte die im Trivideokubus leuchtenden Daten. »Extosch!«, erklärte ich. »Die Feinde sind mit Extosch völlig anders umgesprungen als mit den anderen Welten, die sie okkupierten. Offenbar hatten sie es nicht darauf abgesehen, die Bevölkerung zu versklaven, sondern waren hauptsächlich an der Mythothek interessiert.« »Das ist richtig«, sagte Symaltinoron. »Das ist richtig?«, wiederholte ich verwundert. »Woher weißt du das?« »Ach so!«, rief der junge Mann. »Das ist ganz einfach. Einer der obersten Mitarbeiter der Mythothek hat es uns berichtet, ein gewisser Persenpo Zasca, den ich aus Raumnot rettete und mit hierher brachte.« Ein Wink des Schicksals, kommentierte der Extrasinn. »Du hast ihn aus Raumnot gerettet?«, ver-
Der Zorn der Lordrichter gewisserte ich mich. »Aber wieso aus Raumnot? Hat er denn von Extosch fliehen können?« »Sozusagen«, erklärte Symaltinoron mit dem für Fortynier breiten Lächeln. »Auf Extosch beziehungsweise in der dortigen Mythothek muss es beim Eindringen der Feinde zu verschiedenen Versuchen gekommen sein, Transmissionen durchzuführen: teils durch die Extoscher verursacht, die den Angreifern eine Rematerialisierung nach einem Transmitterdurchgang verwehren wollten, und teils durch die Transmitterschaltungen der Angreifer. Zasca wurde durch eine Fehltransmission in das System der grünen Sonne Irmanglide verschlagen und auf dem Planeten Cranicorr rematerialisiert. Ich befand mich zu der Zeit mit einem Forschungsauftrag dort und geriet zeitweise in die Wiederverstofflichungswirren hinein. Ich hatte Glück und kam mit dem Schrecken davon – und rettete Zasca.« »Symaltinoron!«, rief ich laut. »Hast du diesen Zasca nach BOYSCH gebracht?« »Ja«, antwortete der Fortynier auf meine Frage. »Worüber regst du dich so auf, Atlan?« »Persenpo Zasca ist wahrscheinlich der Schlüssel zur Motivation der Lordrichter«, antwortete ich. »Ich muss ihn sprechen. Sofort!« Tatsächlich tränten meine Augen, ein sicheres Zeichen großer Erregung: Die Spur war kochend heiß. »Ich denke, das lässt sich arrangieren«, meinte er. »Mal sehen, wo er zurzeit steckt. Soviel ich weiß, wollte er bei gewissen politischen Foren auf BOYSCH vorstellig werden, um Hilfe für Extosch zu erbitten. Womit er selbstverständlich kein Glück haben wird. Wir üben strikte Neutralität.« Er schaltete ein Armbandgerät ein und sprach mit mehreren Abteilungen innerhalb von BOYSCH, dann wandte er sich wieder an mich und sagte: »Ich weiß jetzt, wo Zasca ist. Wenn du möchtest, bringe ich dich hin.« »Ich wäre dir sehr dankbar«, antwortete ich mühsam beherrscht.
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8. Symaltin Der Autokrat schrak unwillkürlich zurück, als ihm in dem zum Ovaron-Saal führenden Korridor plötzlich Samptasch aus einer Nische entgegentrat. »Entschuldige bitte, Ganjo-Interpretatorin!«, sagte er, nachdem er sich wieder gefangen hatte. »Ich bin in Eile. Das Konsortium ist zu einer Sitzung zusammengetreten.« Samptasch stampfte mit ihrem Stab auf. »Deshalb habe ich hier auf dich gewartet, Symaltin. Ich habe erfahren, dass ein Kampfschiff der Ganjasen bei uns angedockt hat und dass ein Fremder namens Atlan auf ihm den Ton angibt. Dieser Atlan mischt sich in unsere Angelegenheiten ein. Er trifft sich zurzeit mit einem führenden Mitglied der Mythotek von Extosch – und er versucht, deinen Sohn für seine finsteren Ziele zu gewinnen.« Symaltin wurde ärgerlich. Er versuchte, sich an der alten Frau vorbeizudrängen, aber sie verstellte ihm jedes Mal den Weg. »Du wirst mir jetzt zuhören, Autokrat!«, giftete sie und hieb mit ihrem Stock durch die Luft. Allerdings so, dass sie Symaltin nicht treffen konnte. »Einzig und allein Ovaron ist der Ganjo – und er spricht aus meinem Mund zu dir. So war es immer – und nur so konnte die Freihandelszone Susch aufgebaut werden und die Kernstation BOYSCH entstehen. Ich erlaube dir nicht, das alles zu gefährden, indem du diesem Atlan die Einmischung in unsere Angelegenheiten gestattest.« »Aber das tue ich ja gar nicht!«, widersprach der Autokrat und trat von einem Fuß auf den anderen. »Dann rufe deinen Sohn zurück!«, befahl die Interpretatorin – und schaumiger Speichel spritzte auf ihre Kleidung. »Und verhindere, dass dieser Extoscher die führenden Leute der Station mit seinen Schauergeschichten bedrängt! Notfalls lass ihn ver-
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schwinden!« »Was?«, rief Symaltin entsetzt. Doch da hatte sich Samptasch schon wieder in die Nische zurückgezogen – und war anscheinend durch die dahinter befindliche Tür verschwunden …
9. Atlan »Das ist der mit der roten Kutte«, sagte Symaltinoron und zeigte mit einer Kopfbewegung auf eine Gruppe von Frauen und Männern, in deren Mitte ein stämmiger Ganjase stand und irgendeine These vortrug. »Es ist ganz leicht«, erklärte er. »Der Aufenthaltsort Gottes lässt sich durch trigonometrische Berechnungen lokalisieren.« »Dann hast du Gott schon gesehen?«, fragte einer seiner Zuhörer. »Gott kann man nicht sehen«, belehrte ihn Persenpo Zasca. »Alles, was man erreicht, ist, sich den jeweiligen Aufenthaltsort geistig verinnerlichen zu können.« »Das ist ja ein richtiger Schlauberger«, kommentierte ich den offenkundigen Blödsinn. »Hoffentlich hat er nicht nur solche Irrläufer in seinem Gehirn.« In diesem Augenblick sah Zasca uns; jedenfalls erkannte er seinen Lebensretter wieder. Freudestrahlend kam er auf uns zu. Symaltinoron stellte uns gegenseitig vor, dann sagte er: »Atlan kann dir vielleicht helfen. Aber dazu braucht er gewisse Informationen von dir.« »Nur zu!«, rief der Extoscher. »Was willst du wissen, Atlan?« »Die Invasoren, die eure Mythothek überfielen, haben im Auftrag der Lordrichter gehandelt«, erläuterte ich erst einmal. »Sie müssen bei euch ganz bestimmte Informationen gesucht haben. Kannst du mir etwas darüber sagen?« Zasca runzelte die Stirn und fuhr sich mit der flachen Hand über das Dakkardreieck auf seiner Schädelplatte. Ob er wohl etwas darüber weiß, dass es vor langer Zeit mal einen Dakkar-
Tastresonator gab, mit dessen Hilfe die Terraner mit ihrem Nullzeit-Deformator tief in die Vergangenheit vorstießen, wo sie Ovaron fanden? Das alles hatte die Geschichte zweier Galaxien und ihrer Völker tiefgreifend beeinflusst. »Suche kann man das nicht mehr nennen. Eine sinnlose Orgie der Gewalt und der Zerstörung«, antwortete er langsam, als musste er sich jedes Wort überlegen, bevor er es aussprach. »Es war ein Alptraum. Sie sind auf brachialste Weise vorgegangen. Unersetzliche Schätze sind rücksichtslos zerstört worden. Sie töteten …« Er brach ab. »Persenpo, ich kann sehr gut nachempfinden, dass es ein fürchterlicher Schock für dich gewesen sein muss mitzuerleben, wie Mitarbeiter und Freunde ermordet wurden. Vor nicht allzu langer Zeit war ich selbst Zeuge eines erbarmungslosen Massakers jener Zaqoor. Um diese gemeine Bande zu stoppen, ist es von großer Wichtigkeit zu wissen, wonach genau sie dort gesucht haben!« Ich drückte Zascas Arm. »Wir befürchteten, dass sie es auf unser wertvollstes Stück abgesehen hatten, den Hochenergietresor mit dem Wuthana-Dossier, aber …« Mir schwindelte bei dem Gedanken, was wohl dabei herauskommen würde. Ich hatte die dunkelsten Ahnungen, die mir jemals untergekommen waren. Ich riss ihm fast den Arm heraus, so fest zog ich an ihm. Zasca schien es nicht zu spüren. »… aber sie ignorierten ihn und hielten auf einen abgelegenen Datenkiosk zu. Darin wurden uralte Fundstücke verwahrt, mit denen sich selbst Symbilasch nur ansatzweise befasst hatte.« »Was sind das für Fundstücke, Persenpo Zasca?« »Atlan!« Plötzlich wurde ich in die unmittelbare Realität zurückgerissen. Carmyn Oshmosh! Gleichsam durch grauen Nebel kehrte mein Bewusstsein in die Gegenwart zurück. Ich sah die Kommandantin der AVACYN
Der Zorn der Lordrichter vor mir stehen – und neben ihr Symaltinoron und Persenpo Zasca. »Carmyn?«, flüsterte ich – noch nicht ganz Herr meiner Stimme. »Vollalarm!«, schrie sie mir zu – laut, aber doch beherrscht, wie es sich für die Kommandantin eines Raumschiffs gehörte. »Florymonthis meldet feindliche Kampfverbände, die in Pulks zu durchschnittlich hundert Einheiten aus dem Linearraum kommend in den Normalraum zurückfallen. Entfernung zu BOYSCH zwischen sechshundert und vierhundertdreißig Lichtjahren. Sie sammeln sich offenkundig zum letzten Sprung vor dem Angriff.« Schlagartig war ich wieder voll da. Schließlich war ich nicht nur für die Arbeit als Chefstratege eines arkonidischen Admiralstabs ausgebildet worden, sondern hatte als Kommandeur von Raumflotten aller Größenordnungen zahllose Raumschlachten geschlagen. Einmal ein Krieger – immer ein Krieger! Ganz automatisch aktivierte ich mein Kommandoarmband und stellte die selbstverständlich hochkodierte Hyperkomverbindung zu Florymonthis her, die das Gigantraumschiff MITYQINN befehligte. In der Zwischenzeit instruierte ich den Extoscher darüber, was ich suchte, und bat ihn darum, der Sache nachzugehen, während ich mich um die Vorbereitungen der Raumschlacht kümmerte. Gleich darauf erschien in dem flachen Holoschirm die – verkleinerte – Abbildung eines vier mal sechs Meter großen Monstrums mit kugelförmigem Körper, tonnenförmigen Beinen und zwei kurzen, dicken Armen, die aus der Mitte des Körpers hervorragten. Der große runde Kopf saß direkt auf den breiten Schultern. Ballförmige Augen hingen an Tentakeln einen halben Meter weit heraus. Das breite, fischähnliche Maul befand sich unter der flachen, wie platt geschlagen aussehenden Nase. Die synthetische grüne Haut hing in wellenförmigen »Speckfalten« am Körper. »Position?«
31 Florymonthis antwortete mir mit brummiger, tiefer Stimme. Sie nannte mir die Koordinaten des Sammlers. Seine Entfernung zu BOYSCH betrug danach knapp dreihundert Lichtjahre. Seine Ortungstaster überstrichen eine Raumkugel von mindestens tausend Lichtjahren Durchmesser. Das war natürlich nicht die maximale Reichweite. »Hast du Verbindung zu Abenwosch-Pecayl 966.?«, fragte ich. »Permanent«, gab das Monstrum zurück. »Er ist ein lieber Kerl. Aber ich bin auch ganz lieb – und völlig harmlos. Atlan, ich brauche deine Hilfe. Die Hauptpositronik des Sammlers muss ersetzt werden.« »Das habe ich dir versprochen – und ich halte meine Versprechen«, erklärte ich geduldig. Mit Florymonthis musste man Geduld haben, wenn man etwas erreichen wollte. »Ja, ich glaube dir, prachtvoller Mann!«, antwortete das Monstrum überschwänglich. »Was kann ich für dich tun?« »Vernetze mich mit Abenwosch-Pecayl 966.! Danach fliege mit der MITYQINN bis dicht vor BOYSCH zurück und informiere den Krand'har der Vereinigten Jucla-Flotten darüber! Bist du bereit, auf meinen Befehl hin den Kampf mit den Invasoren aufzunehmen und dich nach allen meinen Befehlen zu richten?« »Ich werde tun, was notwendig ist«, gab Florymonthis zurück. »Ansonsten bin ich nur Ovaron gegenüber verantwortlich.« Immerhin befolgte Florymonthis meinen Befehl, mich mit Abenwosch-Pecayl 966. zu vernetzen, und schaltete eine kodierte Verbindung zwischen seiner TIA und der AVACYN. Ich fühlte mich gleich viel besser, als ich den Jucla sah. »Hat Florymonthis dich über die Lage unterrichtet?« Er grunzte und klapperte ungeduldig mit den Zähnen. »Du fragst zu viel, Atlan!«, stieß er bebend vor Tatendurst hervor. »Wenn du mir nicht endlich den Angriffsbefehl gibst, lasse ich meine Bluthunde von der Leine!« Er
32 lachte meckernd über seinen Vergleich. »Hahaha!«, lachte ich mit, dann kam ich zur Sache. »Wenn du ohne Befehle von mir handelst oder gegen Befehle von mir verstößt, hetze ich den Sammler auf dich. Wir befinden uns im Krieg – und vor einer Entscheidungsschlacht. Ist das klar?« Er schwieg und versteifte sich, aber er begriff endgültig, wer das Sagen hatte. »Klar, Atlan!«, bestätigte er. »Deine Befehle! Sollen wir uns auf den Feind stürzen?« »Ja, aber nach einer klaren Strategie und Taktik«, erwiderte ich. »Teile deine Flotte in drei gleich große Verbände auf! Die erste Flotte zieht sich bis dicht vor BOYSCH zurück und wartet dort in der bekannten Halbkugelformation auf den Feind. Die zweite Flotte sammelt sich unter deiner direkten Führung bei seinen derzeitigen Bereitstellungen. Sobald die Zaqoor und Takerer in die letzte Linearetappe gehen, folgt ihr ihnen! Da wir ihr Ziel kennen, können wir es so einrichten, dass ihr unmittelbar hinter ihnen vor BOYSCH ankommt. Dann formiert euch zu zwei Ketten – ich wiederhole: zu zwei Ketten – und stoßt so in die feindliche Formation hinein!« »Zu zwei Ketten?«, wiederholte der Jucla verständnislos. »Du meinst, ein Schiff soll hinter dem anderen fliegen?« »Ja – und zwar in zwei Reihen ganz dicht hintereinander und so weit auseinander, dass jede Reihe an Steuerbord und an Backbord Feindberührung hat!« »Aber dann können die Feinde uns von allen Seiten beharken, oder?« »Oder!«, gab ich hart zurück, denn ich wusste, dass meine Strategie nicht auf den ersten »Blick« verständlich war, doch ich hatte sie schon einmal angewandt – und sogar ein Terraner hatte etwas Ähnliches schon einmal getan: Horatio Nelson in der Seeschlacht von Trafalgar. Zwar hatte er nicht nur deswegen gesiegt, sondern auch, weil der Gegner mehrere schwere Fehler begangen hatte, aber diese klassische »Nelson-Strategie« verleitete eigentlich alle
H. G. Ewers Gegner zu ähnlichen Fehlern. »Vertraue mir! Ihr werdet Breitseiten nach zwei Seiten austeilen, während die meisten unserer Feinde immer nur in eine Richtung schießen können. Und wenn sie euch ausweichen wollen, geraten sie in das Feuer eurer halbkugelförmigen Formation, die sich anfangs langsam zurückzieht, damit der Feind denkt, sie verfolgen zu müssen. Das ist nan tian gno hai.« »Häh?« Ich lachte trocken. »Alte chinesische Weisheit: das Gesetz der Massen; die Auswahl entscheidender Ziele; die eigenen Kräfte schonen; und nicht zuletzt: militärische Operation beinhaltet Täuschung.« »Ja, das leuchtet mir ein«, sagte er, obwohl ihm das mit der chinesischen Strategie und Taktik nicht bekannt war. »Ich fange an zu begreifen. Aber was soll unsere dritte Flotte machen?« »Die dritte Flotte geht bis auf ein paar Lichtstunden an den Kampfschauplatz heran und desaktiviert alle Energieerzeuger! Energetische Verdunkelung!«, befahl ich. »Das schützt nicht total vor Ortung, doch ich denke, dass die Reservestreitmacht des Gegners sich so sehr auf das Gemetzel bei BOYSCH konzentriert, dass sie eure Anwesenheit als vernachlässigbar einstuft.« »Reservestreitmacht?«, fragte der Jucla. »Das ist doch logisch nach Sun Tsu!«, erklärte ich. »Der Feind hält einen Teil seiner Flotte zurück, um uns den Gnadenstoß zu versetzen, sobald der Kampf seinen Höhepunkt erreicht hat. Mit Gnadenstoß meine ich …« »Oh, das weiß ich!«, kreischte der Jucla begeistert. »Jetzt begreife ich, wie genial dein Plan ist, Atlan. Wir werden die Feinde zerschmettern und liquidieren – und Gruelfin wird uns gehören! 6-D-Kristalle, Schiffe, Pelze, ganze Städte und Weiber! Weiber!« »Wir werden aus dieser Schlacht als Sieger hervorgehen, jedenfalls die von uns, die das Gemetzel überleben, Abenwosch!«, korrigierte ich ihn. »Das genügt uns vorläufig.
Der Zorn der Lordrichter Danach sehen wir weiter. Aber um zu deinem dritten Flottenverband zurückzukommen: Er muss sich mit aller Wucht auf die feindliche Reservestreitmacht stürzen, sobald sie sich anschickt, in die Raumschlacht einzugreifen. Das soll völlig überraschend geschehen. Aus diesem Grund wird eure dritte Flotte nicht wie üblich in Schussentfernung vor dem Feind in den Normalraum zurückkehren, sondern ›hautnah‹ und dann sofort in den feindlichen Verband eindringen!« Der Jucla gab etwas von sich, was sich wie ein wölfisches Knurren anhörte. »Das gibt ein Blutbad, wie es Gruelfin noch nicht erlebt hat!« »Und wie es die Moral unserer Feinde zerbrechen wird«, ergänzte ich. Nicht ohne die Mahnung meines Gewissens, dass mein Befehl vielen Feinden, aber auch vielen meiner Leute das Leben kosten würde. Nach dem Gesetz der Massen musste mit einer Verlustrate von 1:1 gerechnet werden. Weil wir jedoch dem Feind die Initiative nehmen und mit Täuschung, Wagemut und Verwegenheit kämpfen würden, durften wir mit einer Halbierung der Verlustrate rechnen. Das war nicht übel. Der Zynismus des Strategen!, bemerkte der Extrasinn. Ich ignorierte seinen Einwand, denn ich fühlte mich nicht schuldig. Wie ein Chirurg übte ich nur mein Handwerk aus, um Schlimmeres zu verhindern. »Gruelfin wird uns gehören!«, frohlockte der Krand'har. Versprich ihnen etwas!, wisperte der Logiksektor drängend. Das, woran du schon einmal dachtest! Es ist noch unausgegoren!, gab ich zurück. Doch ich sah ein, dass ich zumindest eine Andeutung machen musste. Die Juclas würden im Überschwang des Sieges mehr wollen – und sie würden die falschen Ziele verfolgen, wie fast immer, wenn eine Flotte im Siegestaumel war. »Es gibt Ziele, die erstrebenswerter sind
33 als die Beherrschung einer Galaxis«, erklärte ich. »Denk einmal darüber nach! Die Akademien von Susch haben die wissenschaftliche Elite Gruelfins in sich versammelt. Vielleicht können dort einige Träume realisiert werden.« »Ich verstehe nicht …«, stammelte der Jucla – und schien doch schon ahnungsvoll in die Zukunft zu denken. »Du wirst verstehen«, sagte ich. »Aber hier und heute muss die Schlacht um BOYSCH geschlagen werden.« »Und der Sieg errungen werden!«, ergänzte er begeistert. »So ist es!«, stimmte ich ihm zu. »Kampf und Sieg!« »Kampf und Sieg!«, jubelte er. Als die Verbindung unterbrochen war, fragte Symaltinoron bebend: »Hast du nicht soeben deine Kompetenzen überschritten, Atlan? Ich meine, BOYSCH gehört dir nicht. Was wird wohl mein Vater dazu sagen – und die Interpretatorin erst?« »Mit deinem Vater spreche ich jetzt – sofort«, antwortete ich. »Aber ich konnte mit meinen Befehlen nicht warten, bis ich mit ihm alles durchgehechelt habe. Und was heißt hier Interpretatorin?« Ich ahnte es – und es verschlug mir fast den Atem. Aber jetzt und hier war es zweitrangig. »Gibt es einen Transmitter in der Nähe, der uns schnellstens zu deinem Vater bringt?« »Ja, komm mit!«, antwortete er halb geistesabwesend. Er hatte noch immer nicht verstanden, dass ich schon jetzt praktisch die Kommandogewalt über BOYSCH ergriffen hatte. Immerhin handelte er und stürmte los. Nach etwa sechzig Metern benutzten wir einen kleinen Personentransmitter. Nach der Rematerialisierung nahm ich Carmyn Oshmosh am Arm und flüsterte ihr zu: »Geh in die AVACYN, schnell! Halte dich dann mit einem Stoßtrupp bereit und warte auf ein Zeichen von mir!« »Was vermutest du?«, flüsterte sie zurück. »Vertraue mir einfach!«, bat ich.
34 »Dir immer«, gab sie mir zu verstehen. »Jetzt!«, sagte ich, ließ sie los. »Persenpo, wir sprechen uns später«, rief ich voller Hast und eilte Symaltinoron nach, der ungeduldig auf mich wartete. Nach einem Spurt von kaum einer Minute öffnete er ein Schott. Dahinter lag eine Kammer mit einem weiteren Personentransmitter. Wir stiegen ein. Der Sohn des Autokraten legte die Hand auf eine Schaltfläche und sprach einen Befehl. Wirbelndes Nichts, Schwindel und auftauchende Konturen. Wir stiegen aus dem Empfangstransmitter, der ebenfalls in einer kleinen Kammer stand. Dann ging es in den Nebenraum: eine große, prunkvoll ausstaffierte Halle mit geschichtlichen Reliefs an den Wänden – und mit zwölf Fortyniern mit breiten Hintern auf breiten Sesseln. Der dreizehnte Fortynier stand auf, als er uns sah. Symaltin! »Was geht hier vor?«, rief er und starrte seinen Sohn wütend an. »Es ist Krieg, Autokrat!«, sagte ich schneidend. »BOYSCH wird von Raumstreitkräften der Zaqoor angegriffen. Es war keine Zeit, die Lage vorher mit dir zu besprechen und deine Entscheidung abzuwarten. Angesichts der kritischen und gefährlichen Situation habe ich die notwendigen strategischen Maßnahmen ergriffen. Das ist aber nicht genug. Ich verlange, dass du mir die absolute Kommandogewalt über die Station überträgst! In BOYSCH müssen Maßnahmen anlaufen, die alle Unwägbarkeiten einer großen Raumschlacht berücksichtigen.« Symaltin stand breitbeinig da, als wäre er die Statue eines ehemaligen Staatsmannes. In seinem lederartigen Gesicht arbeitete es. Die Haut wurde abwechselnd dunkel und bleich – und die sonst fast ganz verborgenen Augen quollen halb aus ihren Höhlen. »Vater!«, rief Symaltinoron. »Verräter!«, röchelte der Autokrat. »Wie konntest du es diesem Fremden erlauben,
H. G. Ewers meine Autorität zu untergraben?« »Aber Vater!«, flehte sein Sohn. Ich stoppte ihn mit einer energischen Handbewegung und erklärte: »Ich sagte bereits: Es ist Krieg. Niemand, Symaltin, untergräbt deine Autorität. Aber bis zum Ende der Kämpfe habe ich hier ohne Wenn und Aber die Kommandogewalt. Es wird nur getan, was ich befehle oder erlaube! Wer dagegen verstößt oder dagegen hetzt, wird inhaftiert. Wir haben keine Zeit zum Diskutieren. Ist das klar? Symaltin, ich verlange von dir, dass du mich offiziell zum Regenten von BOYSCH ernennst, damit alles seine Richtigkeit hat!« Der Autokrat schnappte nach Luft. Doch er schwankte nicht – und ihm fielen auch nicht die Augen aus. Dann deutete er mit ausgestreckten Armen auf mich und rief: »Das ist unannehmbar!« »Das reicht nicht, Autokrat!«, kreischte eine hysterische Stimme. »Atlan muss beseitigt werden!« Als ich herumfuhr, sah ich eine ältere Frau mit weißem Haar und einem weiten Gewand, die mir ein wutverzerrtes Gesicht zuwandte und mit einem derben Stock, den sie in der rechten Hand hielt, mehrfach auf den Boden stampfte. Sie stand dort, woher ich mit Symaltinoron gekommen war, also in der Tür zur Transmitterkammer. »Du bist ein Verräter, Autokrat!«, schrie sie mit fast überschnappender Stimme und deutete mit dem Stock auf mich. »Dieser Atlan ist das Böse. Er muss vernichtet werden – genau wie alle seine Leute! Du weißt, dass du auf mich hören musst, Autokrat, denn ich bin die Stimme Ovarons.« Die Interpretatorin?, wisperte der Extrasinn zweifelnd. Ich musterte die Erscheinung. Kann das eine Ganjo-Interpretatorin sein? Falls ja, musste sie doch etwas von meiner Seelenverwandtschaft mit Ovaron spüren. »Wir werden angegriffen, Samptasch«, erklärte Symaltin energisch. Er sah wieder
Der Zorn der Lordrichter normal aus, wirkte ruhig und entschlossen. »Atlan wollte helfen. Natürlich akzeptieren wir das nicht. Aber wir werden weiter anhören, was er uns zu sagen hat.« »Nein, nein, nein!«, kreischte Samptasch und hämmerte mit ihrem Stock auf der Platte des Tisches herum. Eifersucht!, wisperte mein Logiksektor. Sie fürchtet deine Konkurrenz. Wahrscheinlich hat sie in Susch nicht selbstlos gearbeitet, sondern in die eigene Tasche gewirtschaftet. Wer hat das nicht! Außer vielleicht Symaltin. Er ist durch und durch Idealist, aber mit ausgeprägtem Sinn fürs Praktische – und deshalb gefährlich. Samptasch kam auf mich zu – und ich dachte schon, sie wollte mit ihrem Stock auf mich eindreschen. Symaltinoron dachte das wohl auch, denn er stellte sich vor mich. Der Autokrat aber handelte konsequent, auch wenn er ganz zappelig vor Nervosität und ihm anzumerken war, dass er sich überwinden musste. »Ich erkläre Samptasch für geistig nicht zurechnungsfähig. Verhaftet sie und bringt sie in eine Isolierzelle der Raumklinik! Sperrt sie dort ein, aber behandelt sie gut!« Aus einem Nebenraum, in dem anscheinend die ganze Zeit über Wachen gestanden hatten, kamen drei Fortynier. Sie packten die tobende Interpretatorin und steckten sie in eine Art Zwangsjacke. Danach trugen sie sie hinaus. Symaltins Gesichtsausdruck wurde unergründlich. »Danke, Symaltin!«, sagte ich. »Du hast nichts verstanden, Atlan«, erklärte der Autokrat. »Ich habe früher fünf Jahre auf der Raumakademie Theorien studiert und schmutzigste und härteste Praxis geübt und einiges gelernt. Zum Beispiel, dass strategisches Handeln langfristig ist, taktisches Handeln mittelfristig und operatives Handeln kurzfristig – so wie jetzt!« Er klatschte in die Hände. Aus zwei sich plötzlich öffnenden Türen in den Wänden des Saales stürmten je sechs
35 Fortynier – und mir war klar, dass sie sich auf mich stürzen würden. Denn so etwas hatte ich erwartet. Alles war von langer Hand vorbereitet. Symaltin ist ein vorausschauender Mann par excellence. Mir war auch klar, dass mir Widerstand nichts nützen würde. Ich konnte vielleicht zwei oder drei Fortynier außer Gefecht setzen oder, wenn es dumm lief, sogar töten, aber damit würde ich nur erreichen, dass ich als hochgradig gefährlich eingestuft und dementsprechend verwahrt wurde. Dann wäre ich absolut handlungsunfähig und aus dem Spiel. Denn für mich war es ein Spiel, wenn auch eines, das ich vermieden hätte, wenn es möglich gewesen wäre. Und noch eine Möglichkeit gab es. Symalton ahnte nichts. Er konnte nichts ahnen, weil er nichts von Carmyn wusste. Außer mir wusste von uns hier nur Symaltinoron von der Kommandantin der AVACYN. Aber er schwieg. Nur ein schneller Blick zu mir verriet, dass er etwas ahnte – und es billigte. Die sechs Fortynier verstanden ihr Handwerk. Sie verschnürten mich mit Robotfesseln, die auf jeden Befreiungsversuch kompromisslos reagieren würden. Damit kannte ich mich aus. Ich wehrte mich nicht – auch nicht, als ich in eine Stahlkammer gesperrt wurde und das einzige Panzerschott sich hinter mir schloss. Ich konnte nur warten und die eigenen Kräfte schonen … Ganz kurz erwog ich wieder einmal, ob ich etwas von dem restlichen Flammenstaub einsetzen sollte. Ich verwarf es. Es wäre zu gefährlich für mich gewesen. Vielleicht konnte ich den Rest dieses Teufelszeugs noch zwei- bis dreimal verwenden. Aber das wäre erstens mit Lebensgefahr verbunden und war zweitens und jetzt unnötig, da ich anderweitig vorgesorgt hatte …
* Nachdem ich eine Stunde lang in meinem Kerker ausgeharrt hatte, fragte ich mich, ob
36 ich nicht zu optimistisch gewesen war, als ich Carmyn Oshmosh zugetraut hatte, meine Befreiung zu organisieren. Nein!, übermittelte mir der Logiksektor. Carmyn Oshmosh ist dir treu ergeben. Sie hat gelernt, umsichtig und zielstrebig zu planen und zu handeln. Ihre Lehrmeisterin war die Akademie Kakastaun. Und Kakastaun befindet sich in BOYSCH. Die Robotfesseln schnitten mir schmerzhaft in Arme und Beine. Ihre schlangenartigen Schnüre aus metallischen Gliedern wurden von mikroskopisch kleinen Positroniken beherrscht, die sich unsichtbar für organische Augen durch ihre Leiber schlängelten. So war das jedenfalls hier in BOYSCH; anderswo gab es wahrscheinlich abweichende Konstruktionen. Nur die Wirkungsweisen waren sich gleich. Da ich ein beinahe perfektes Zeitgefühl hatte, wusste ich, wann ich meinen Befreiern entgegenarbeiten musste. Dieser Zeitpunkt war jetzt gekommen. Ich aktivierte das positronische Element, das der Ganjase Evaron Salto auf der AVACYN nach meinen Vorgaben konstruiert und gebaut hatte. Die zirka sechzig Mikroteilchen befanden sich in meinem Blutkreislauf. Sie waren keineswegs der Nanotechnik entsprungen, wie ich anfangs vermutet hatte. Nach den Angaben des Sextadim-Forschers gehörten sie zu so genannten Halbraumexponaten. Quitrane hatte er sie genannt. Einmal aktiviert, fügten sie sich zu Funktionseinheiten zusammen, die die Positroniken der Robotfesseln so programmierten, dass sie ihre Funktionen veränderten. In diesem Falle wirkte sich das so aus, dass die Robotfesseln sich öffneten. Meine Arme und Beine waren frei. Aber ich war es noch nicht, denn die Stahlkammer, in die man mich gesperrt hatte, besaß keine Positroniken, deren Funktionen man beeinflussen konnte. Sie würde sich nur mit Hilfe der außen angebrachten Handräder öffnen lassen. Doch das hatte ich in meine Planung ein-
H. G. Ewers gezogen. Ich aktivierte meinen im Körper versteckten Q-Sender, nach dem meine Überwältiger nicht einmal gesucht hatten. Jetzt durfte ich damit rechnen, dass Carmyn Oshmosh innerhalb der nächsten dreißig Minuten mit dem von ihr organisierten Stoßtrupp hier sein würde – draußen vor der Stahltür. Wie ich Symaltin einschätzte, würde er mit so etwas rechnen. Der alte Fuchs war durchtrieben. Doch er war auch eine ehrliche Haut – und deshalb angreifbar. Er hatte mich matt gesetzt, um vor den Ganjasen innerhalb von BOYSCH sein Gesicht zu wahren. Das war die eine Seite. Aber er hatte sich zweifellos ausgerechnet, dass er allein mit den Mitteln der Kernstation – und dazu gehörten außer den zwanzig Großkampfschiffen nur ein paar Dutzend Raumforts und Paratronschirmprojektoren – nicht lange den Flottenverbänden, die die Lordrichter geschickt hatten, widerstehen konnte. Und weder der Sammler noch die 42.000 Kampfschiffe der Juclas würden ihm gehorchen. Das war die andere Seite. Dazu brauchte er mich – und das wusste er. Folglich hatte er meine Fesselung auf die antiquierten Robotfesseln beschränkt und gehofft, dass ich mich von ihnen befreien würde. Er hatte selbstverständlich auch mit einer Befreiungsaktion der mit meiner AVACYN angedockten Raumfahrer gerechnet und würde einen Hinterhalt vorbereiten, um sie gefangen zu nehmen – und um mir dann in seiner Gnade die Freiheit zu schenken und mir großherzig zu gestatten, die Invasoren mit Hilfe meiner Streitkräfte abzuwehren. Denn sie waren ja nur deshalb nach BOYSCH geflogen, weil ich sie auf meiner Flucht vor ihnen hinter mir hergezogen hatte. Dachte er …
10. Carmyn Oshmosh
Der Zorn der Lordrichter Carmyn Oshmosh führte den Stoßtrupp an. Es war eine fünfköpfige Gruppe: Außer ihr selbst gehörten ihr Ypt Karmasyn, Evaron Salto, Kaystale und unsere Pilotin an. Für den Weg zu Atlans Gefängnis hatten sie vierzig Minuten gebraucht, denn sie durften, um keinen zufälligen Verdacht zu erwecken, weder Transmitter noch die Hauptkorridore mit ihren Transportbändern benutzen. Sie hatten sich über Nebenkorridore und durch Notschächte an ihr Ziel geschlichen. Jetzt befanden sie sich nur noch eine Etage davon entfernt und schickten sich an, den letzten Notschacht auf ihrem Weg zu besteigen. Carmyn, die den Anfang machte, zuckte zusammen, als sie sah, dass jemand im Schacht auf sie gewartet hatte: Symaltinoron. Der Sohn des Autokraten trug keine Waffe. Dafür hielt er einen knopfgroßen Alarmgeber zwischen den Fingern. »Wenn ich ihn fallen lasse, vollführt er einen solchen Lärm, dass die Kommandoeinheit meines Vaters im Nu hier ist«, flüsterte er. »Sie wartet in einem Korridor mit getarntem Zugang auf dem Deck unter uns.« »Und warum lässt du ihn nicht jetzt fallen?«, flüsterte Carmyn lächelnd. »Weil ich eigentlich auf eurer Seite stehe«, antwortete Symaltinoron. »Eigentlich?« »Es gibt eine Einschränkung: Wenn ihr etwas vorhabt, was gegen die Ehre und das Ansehen meines Vaters verstößt, werde ich gegen euch sein. Ich bin aber mit euch, wenn ihr mir versprecht, dass ihr nichts tut, was gegen Ehre und Ansehen meines Vaters verstieße.« »Deine Forderung ist nicht leicht zu erfüllen«, sagte Carmyn. »Es geht nämlich auch um die Ehre und das Ansehen Atlans. Er soll niemals durch die Gnade deines Vaters den Oberbefehl über BOYSCH erhalten, sondern er muss seine Autorität durch seine Überle-
37 genheit beweisen. Andernfalls halten ihn die Juclas für einen machtlosen Blender und fliegen in ihr Verderben, weil sie glauben, alles besser machen zu können.« Symaltinoron wischte sich über die Augen, als wollte er einen unsichtbaren Schleier entfernen. »Wieso in ihr Verderben?«, erkundigte er sich verständnislos. »Ich habe doch mitgehört, was Atlan dem Obersten Jucla befohlen hat – und diese Strategie führt auf jeden Fall zum Sieg über die Invasoren.« »Wenn sie realisiert wird«, gab Carmyn zurück. »Falls aber Atlans Autorität bröckelt, werfen diese unvernünftigen und manchmal hirnlos erscheinenden Juclas alle seine Anweisungen in den Wind und stürzen sich frontal auf den Feind. Dadurch hätten die Zaqoor die Möglichkeit, ihnen hohe Verluste zuzufügen. Ich schätze, dass dann mindestens die Hälfte der Jucla-Flotte vernichtet würde.« »Das wäre Wahnsinn!«, hauchte Symaltinoron. »Dann mussten Tausende dieser ohnehin vom Unglück Verfolgten sterben. Verfügt über mich!« »Du musst nicht viel tun«, erklärte Carmyn. »Wir gehen jetzt eine Etage tiefer und damit in die Falle, die dein Vater uns gestellt hat. Selbstverständlich werfen wir die Waffen weg, damit niemand zufällig verletzt oder getötet wird. Aber wir werden noch ein kleines Gerangel mit den Leuten deines Vaters veranstalten. Dadurch hast du Zeit, die Handräder am Panzerschott von Atlans Gefängnis aufzukurbeln. Weder dein Vater noch seine Leute werden damit rechnen. Überhaupt sind sie völlig ahnungslos.« »Wie meinst du das?« »Lass dich überraschen. Sobald Atlan frei ist, wird er die Lage bereinigen.« »Und dann?«, fragte Symaltinoron atemlos. »Dann wirst du die wahre Größe Atlans kennen lernen«, antwortete Carmyn.
*
38 Sie gab ihren Leuten das vereinbarte Handzeichen. Daraufhin aktivierten sie die Antigravs ihrer leichten Outdoor-Anzüge und sprangen in den letzten Schacht, der sie noch von der Ebene trennte, auf der Atlan gefangen gehalten wurde. Wie sie erwartet hatten, öffneten sich unten drei Schotten. Aus jeder Öffnung traten je zwei schwerbewaffnete Ganjasen und Takerer. Einer von ihnen war der Fortyn-Takerer Symaltin. »Waffen fallen lassen!«, befahl der Autokrat und winkte seinen Sohn zur Seite, der kurz nach den Raumfahrern der AVACYN ankam. Carmyn und ihre Leute ließen die Waffen fallen. Als die Ganjasen sie fesseln wollten, sträubten sie sich allerdings – und da sie in einer Akademie der Freihandelszone Susch im waffenlosen Kampf ausgebildet worden waren, gab es ein wüstes Gerangel. Diese Gelegenheit benutzte Symaltinoron, die beiden Handräder an Atlans Gefängnis aufzudrehen. Als der Arkonide heraustrat und die unbrauchbaren Robotfesseln demonstrativ von sich schleuderte, hob der Autokrat eine Hand und gebot ein Ende des unblutigen Kampfes. »Nur eine Frage noch!«, wandte er sich an seinen Sohn. »Warum hast du Atlan befreit?« »Weil Atlan frei sein und frei handeln muss, um BOYSCH und Susch zu retten«, antwortete Symaltinoron. Der Autokrat bewegte schmatzend die Lippen seines großen Mundes, dann gluckste er und sagte: »Gar nicht schlecht gedacht, mein Sohn«, erklärte er darauf. »Vielleicht erteile ich Atlan die Erlaubnis, vorübergehend an meiner Stelle handeln zu dürfen.« In diesem Moment landeten zahlreiche Kadetten der Akademie Kakastaun aus mehreren Schachtröhren. Die Leiterin der Akademie, Admiralin Nogo Tankan, trat vor und sagte: »Eine bloße Erlaubnis reicht nicht
H. G. Ewers aus, Autokrat.« Symaltin rollte mit den Augen, die Augäpfel quollen ein Stück aus ihren Höhlen. »Was wollt ihr denn noch?«, rief er gurgelnd. »Und warum stellt ihr euch gegen mich, Admiralin Tankan? Die Leute meiner Akademie üben Verrat! Ich fasse es nicht.« »Es ist kein Verrat, in einer Zeit der höchsten Gefahr mitzuhelfen, damit alles in die richtige Richtung geht«, sagte Nogo Tankan. »Wir von Kakastaun stehen hinter dir, wenn du dich mit Atlan einigst.« »Eigentlich ist es nicht viel, was ich will: absolute Handlungsfreiheit in einem ganz bestimmten Fall«, erklärte Atlan. »Ich erkenne dich ausdrücklich als den regierenden Autokraten von BOYSCH an – und du erteilst mir den Auftrag, die Kernstation und die ganze Freihandelszone Susch gegen alle Angriffe zu verteidigen, wie ich das für richtig halte. Darf ich dich noch daran erinnern, dass die Zeit bis zum Angriff der feindlichen Verbände immer schneller abläuft. Wenn wir siegen wollen, muss ich mich mit meinem Schiff ohne weitere Verzögerung an die Seite der Jucla-Flotte begeben und den Sammler unter Kontrolle halten, weil unsere Verluste nur mit seiner Unterstützung in erträglichen Grenzen gehalten werden können.« Symaltins Augen kehrten in ihre Höhlen zurück. Die Lider ließen wieder nur schmale Schlitze frei – und der Fortynier trat von einem Bein auf das andere. Jeder Tritt hallte als wuchtiger Schlag von den Wänden des Ovaron-Saales wider. »Meine Autorität …«, begann er. »Bleibt erhalten«, fiel der Arkonide ihm ins Wort. »Aber auch meine Autorität bleibt erhalten und wird verstärkt. Das ist notwendig, damit die Juclas mir blind gehorchen.« »Dann soll es so sein«, sagte der Autokrat leise. »Nie hätte ich gedacht, dass ich einmal so entscheiden müsste. Aber ich hatte auch nie damit gerechnet, dass unsere Freihandelszone von feindlichen Flotten überfallen würde.« Er hob die Stimme zu einem dumpfen Poltern an. »Schlage
Der Zorn der Lordrichter den hinterhältigen Angriff zurück, Atlan – und vernichte unsere Feinde! Und wenn die Juclas ihr Leben so heldenhaft für uns einsetzen, sollen sie dafür fürstlich belohnt werden.« »Vergessen wir das nicht«, sagte der Arkonide. »Und nun lässt uns handeln, wie es sich für Verbündete gehört. Du, Autokrat, machst in BOYSCH alles für euren Schutz und unsere Unterstützung mobil – und sorgst dafür, dass die ganze Freihandelszone in den Verteidigungszustand versetzt wird. Ich aber werde mich mit meinen Freunden zur AVACYN aufmachen und meine Flotte in die Schlacht führen.« Kampf und Sieg!, wisperte der Extrasinn. Kampf und Sieg!, dachte Atlan – und spürte, wie eine Gänsehaut sich über seinen Körper ausbreitete …
11. Atlan Als die AVACYN sich von BOYSCH löste und mit Unterlichtgeschwindigkeit in die Finsternis des Alls »segelte«, hatte ich für kurze Zeit das Gefühl, als segelte ich wirklich an Bord eines vorzeitlichen Linienschiffs über das scheinbar unendliche Meer. Ich roch das Salzwasser und hörte das Großbramsegel im Wind ächzen. Was ich hoch über mir sah, unterschied sich nicht grundsätzlich vom Nachthimmel über der irdischen See. Weit über der AVACYN spannte sich ein ungeheuer dichter Sternenhimmel, dichter als über einem irdischen Ozean. Der Gedanke an die Ozeane der Erde und an die Zeiten, in denen ich mit Winden und Stürmen auf Linienschiffen, Karavellen und eine Zeit lang auch an Bord von Sklavengaleeren über diese Wasser gefahren war, ließ meine Phantasie mit den Erinnerungen daran durchgehen – und ich sah … Beteigeuze, Sirius, Orion, Antares … Lass deine Sehnsüchte nicht überhand nehmen! Die Plejaden, Cassiopeia, das Sternbild
39 des Stieres, der Steinbock … Es war nicht eitel Lust, sondern meistens von Kampf, Not und Tod begleitet … Ich spürte, wie mir etwas die Kehle hochstieg – und schüttelte alle Sehnsüchte und Erinnerungen ab. Ich bin hier – und hier muss ich handeln! Da wir uns auf der Northeastside von Gruelfin befanden, sah man hinter dem Schiff in weiter Ferne den Ring aus Staub und Sternen, der den Äquator dieser Galaxis bildete – und vor dem Bug die furchterregende Sternenballung des galaktischen Zentrums, hinter deren gleißender Hohlkugel sich ein Schwarzes Loch aus rund einer Milliarde Sonnenmassen verbarg. Und – schräg davor noch weiter in Richtung Nordost – drohte der riesige, langgestreckte und gebogene bluttriefende Sternennebel, den ich wegen seiner Verblüffenden Ähnlichkeit mit einem Samuraischwert Katana getauft hatte. Das weit dahinter liegende Schwarze Loch – genau wie das im Zentrum der Milchstraße – stellte keine Bedrohung für die gruelfinschen Zivilisationen dar. Das mochte sich in einigen Milliarden von Jahren ändern, aber die kosmischen Zeiträume waren für kurzlebige Intelligenzen nicht wirklich nachvollziehbar. Ich war da keine Ausnahme, trotz meines Zellaktivator, denn im Vergleich zum Kosmos hatte ich gerade mal einen Herzschlag lang gelebt. »Atlan!«, flüsterte Carmyn Oshmosh. Ich fühlte mich erneut seltsam berührt. Die Kommandantin dachte nicht nur ähnlich wie ich, sondern schien auch so zu fühlen. Sie verstand, was in mir vor ging. Ich riss mich zusammen, straffte die Schultern und kehrte in die raue Wirklichkeit zurück. Selbstverständlich herrschte »Verdunkelung«, das hieß, alle Quellen von Hyperenergie waren ausgeschaltet. Die normale Energie konnte uns nicht verraten; es würden Tage oder Wochen vergehen, bis sie von der Ortung feindlicher Schiffe angemessen wurden.
40 »Passiv-Ortung!«, befahl ich. »Auf die Galerie!« Ypt Karmasyn schaltete mit einer Hand. In der anderen Hand hielt sie wie üblich die Flasche mit dem süßlich riechenden Symbiontengetränk. Die Bildschirme der Ringsum-Galerie in der Hauptzentrale wurden dunkel, als die Abbildungen des Sternenmeeres ausgeblendet wurden. Im nächsten Augenblick war auf einem Schirm die zirka 500 Millionen Kilometer durchmessende halbkugelförmige Anordnung von rund 14.000 Jucla-Schiffen zu sehen. Die erste Flotte hatte demnach ihre Gefechtsposition schon eingenommen. Nur kleine Grüppchen von Lichtpunkten bewegten sich noch und woben das Netz fester, in dem sich die Angreifer fangen sollten. Ein anderer Bildschirm zeigte eine Stelle an einer der halb ausgefahrenen Weichen BOYSCHS, an der in unregelmäßigen Abständen Hunderte von extrem strahlenden Lichtflecken aufleuchteten und wieder erloschen. Die meisten von ihnen wurden von Hyperenergie erzeugt, erreichten uns also zeitverlustfrei. Sie kamen von an- und abgeschalteten Aggregaten, die mit Hyperenergie betrieben wurden. Teilweise mochte es sich um Versuche des Sammlers handeln, das Dimesexta-Triebwerk wieder einsatzfähig zu machen. »Das Ding schert sich nicht um Verdunkelung«, bemerkte Ypt Karmasyn und schlürfte eklig laut. »Es fühlt sich absolut sicher.« »Immerhin ist es so groß wie ein kleiner Mond«, warf Myreilune ein und kicherte. »Ein Mond aus Hyperstahl und mit Paratronschirmen, die das Feuer einer ganzen Flottille mit links abwehren.« »Aber für uns ein falscher Freund, auf den wir uns nicht verlassen können«, wandte Kaystale ein und klirrte wieder einmal mit ihren Metallfingern der rechten Hand. Sie hatte den wunden Punkt in meiner Strategie erwähnt. Solange ich nicht sicher sein konnte, dass die MITYQINN voll und ganz auf unserer Seite stand und sich wäh-
H. G. Ewers rend der kommenden Raumschlacht hundertprozentig für unsere Sache einsetzte, würde ich mich nicht auf den Sammler verlassen können. Dementsprechend musste ich meine Strategie so ausarbeiten, als gäbe es den Sammler nicht. »Linearraum ist durchlässig!«, meldete Ypt Karmasyn erregt. Selbstverständlich war der Linear- oder Zwischenraum niemals durchlässig. Das gehörte nur zu den Redensarten vieler Raumfahrer (weil es umständliche Erklärungen ersparte), wenn sie dimensional übergeordnete Energie der Art orteten, die von den Reliefstrahlen der übergeordneten Funkmessortung von Raumschiffen geortet werden konnte, sobald diese die Rückkehr aus dem Linear- in den Normalraum eingeleitet hatten. Niemand antwortete darauf. Alle blickten nur voller Spannung auf die Anzeigen der Messgeräte. Natürlich hatten wir keine auf Hyperenergie basierenden Geräte aktiviert. Der Feind hätte uns sonst orten können. Aber wir konnten mit der Normalortung fremde Hyperenergie anmessen. »Jetzt!«, flüsterte Ypt und krümmte sich in einem Hustenanfall, weil sie sich an ihrem Symbiontengetränk verschluckt hatte. »Sie kommen, die Verfluchten!«, sagte Myreilune und rutschte nervös hin und her. Die Messgeräte zeigten in diesem Augenblick an, dass ganze Pulks der Golfballraumer aus dem Linear- in den Normalraum zurückstürzten. »Entfernung zur Kugelschale der Juclas beträgt zweieinhalb Lichttage«, meldete Ypt Karmasyn und rülpste ungeniert. »Sechzig!«, zählte Carmyn. »Hundert. Hundertachtzig. Dreihundert, Dreihundertfünfzig. Vierhundertzwanzig. Sie sind da. Sie beschleunigen für die Überwindung der restlichen Distanz mit einem letzten Linearmanöver!« »Starker Hyperfunkverkehr zwischen den einzelnen Schiffen – und von einem der Schiffe mit einem anderthalb Lichtjahre entfernten Sektor, von dem wir keine hype-
Der Zorn der Lordrichter renergetische Ortung hereinbekommen.« »Dort wartet die Reservestreitmacht der Zaqoor«, erklärte ich. »Wir bekommen sie auf der Normalortung erst in anderthalb Jahren herein, aber Abenwoschs Streitmacht wird sie schon geortet haben. Die Juclas müssen und werden ihre Hyperortung einsetzen.« »Die vierhundertzwanzig beschleunigen in Richtung der Kugelschale«, sagte Karmasyn. »Ausgezeichnet!«, triumphierte ich. Sie gehen in die Falle. Ich blickte zu Karmasyn, denn jetzt musste ein gerichteter Hyperfunkspruch von Abenwosch-Pecayl 966. kommen. So war es vereinbart. Abenwosch, der sich bei dem Jucla-Verband der Kugelschale aufhielt, sollte die zweite Streitmacht benachrichtigen, sobald die Zaqoor Anlauf für die Linearetappe zur Kugelschale nahmen. Und das hatten sie getan. »Richtspruch vom Krand'har!«, meldete Karmasyn auch schon. »Er hat der zweiten Flotte befohlen, sich in Marsch zu setzen. Wir haben die Kopie dieses Spruchs erhalten.« Ich bedankte mich. Die Spannung stieg. Sie war fast zu greifen. Die Besatzung der AVACYN fieberte förmlich, denn sie hatte bisher erst eine Raumschlacht mitgemacht – und das nur am Rande. Ich dagegen wurde immer ruhiger. In ungezählten Kampfeinsätzen hatte ich gelernt, mich in emotionaler Distanz zu üben und nicht an das Grauen zu denken, das über Freund und Feind hereinbrechen würde. Die Nerven wurden dennoch zum Zerreißen gespannt; sie würden sich entspannen, sobald die Schlacht begonnen hatte. »Flotte der Zaqoor ist in den Linearraum gegangen«, meldete Ypt Karmasyn und zerbiss nervös ihren Trinkhalm. »Hoffentlich können die Orter der Juclas die Energie des Reliefstrahls anmessen und dadurch den Zielpunkt ermitteln. Eigentlich hätten wir das tun sollen.« »Immer mit der Ruhe!«, mahnte ich. »Die
41 Juclas mögen psychisch oft unreif sein, aber sie leben seit Jahrtausenden im Weltraum und wissen mehr über ihn, als wir manchmal denken.« Ganz so sicher, wie ich mich gab, war ich allerdings nicht. Beim Linearflug erfolgte das Anmessen von Zielsternen oder anderen Zielobjekten mit dem so genannten Reliefstrahl. Diese Art der Funkmessortung funktionierte in erster Linie auf der Hyperkombasis – und dazu auf der parastabilen Feldkompensation des Kompensatorfeldes (das in der Milchstraße von Professor Kalup erfunden und deshalb dort Kalupsches Kompensatorfeld genannt wurde). Inzwischen arbeiteten fortgeschrittene Zivilisationen auch in Gruelfin längst mit einer besonderen Form der Hyperortung, die den Reliefstrahl anmaß und von seinem Energiegehalt auf das Zielgebiet schloß. Einige Jahrhunderte lang war das mit Hilfe des so genannten Librationstarners verhindert worden, aber wie immer war darauf eine Verbesserung der Hyperortung gefolgt, die den Librationstarner unwirksam gemacht hatte. Von Karmasyn kam ein gurgelnder Laut. Wegen ihres zerbissenen Trinkhalms hatte sie direkt aus der Flasche getrunken und sich Kinn und Hals mit dem breiartigen Symbiontengetränk bekleckert – kein schöner Anblick. Auf Karmasyns Anzeigen traf ein Hyperkom-Richtstrahl von Abenwoschs Flaggschiff ein. Die Juclas hatten das Zielgebiet der Zaqoor ermittelt. Es befand sich exakt vor der Öffnung der Halbkugelformation des ersten Jucla-Kampfverbandes. Der Krand'har hatte uns aber nicht nur das übermittelt, sondern uns auch mitgeteilt, dass er seine zweite Kampfflotte so in Marsch gesetzt hatte, dass sie kurz nach dem Rücksturz der Zaqoor in den Normalraum hinter ihnen aus dem Linearraum kam. Hoffentlich kopiert er tatsächlich deine Trafalgar-Aufstellung!, meldete sich der Extrasinn. Wenn er sie begriffen hat … Ich denke schon! Der Krand'har hat eine
42 schnelle Auffassungsgabe und ist sehr lernfähig. Carmyn und Myreilune beobachteten, wie Ypt das zähe Zeug mit dem Lappen wegwischte. »Sieht gar nicht wie ein Getränk aus.« Die Pilotin fuhr sich mit der Zungenspitze über die lila geschminkten Lippen. »Eher wie eines dieser Gallertwesen von Yachon. Für manche Ganjasen eine Delikatesse …« Carmyn schnitt eine angewiderte Grimasse. Jetzt! Die vierhundertzwanzig Golfballschiffe der Zaqoor waren dicht vor dem weit gespannten Hohlkugelnetz der Juclas in den Normalraum zurückgefallen. Wie ich erwartet hatte, versuchten sie nicht, die Kugelschale in ihrem Hintergrund zu durchstoßen, weil sie vermuteten, dass die Juclas nur darauf warteten und dann ihre Kugelschale hinter ihnen zu einer Hohlkugel schließen würden. Sie formierten sich so um, wie ich es erwartet hatte. Ihre Angriffsspitze bremste ab, und alle anderen Schiffe verteilten sich in vierfach aufgefächerten Reihen nach links und rechts. Diese Formation hatte die Krümmung eines Sportbogens, so dass seine rückwärts versetzten Flanken fast an den Rand der Kugelschale stießen. Als ich ungeduldig wurde, fiel auch die zweite Flotte der Juclas in den Normalraum zurück. Kaum mehr als 10 Millionen Kilometer hinter der Zaqoor-Flotte, die sich immer noch auffächerte. Die Ortungsdaten wurden uns von der TIA, Abenwoschs Flaggschiff, übermittelt – und unsere Ortungspositronik erzeugte daraus in Sekundenschnelle eine bildhafte Darstellung des Gefechtsraumes. Worauf wartet die zweite Flotte noch?, wisperte mein Extrasinn. Ich ballte die Hände. Die zweite Flotte der Juclas hätte seit mindestens einer Minute mit voller Kraft beschleunigen und die Zaqoor sehr bald einho-
H. G. Ewers len müssen. Stattdessen schlich sie hinter ihnen her und fing noch immer nicht damit an, sich zu zwei Reihen zu formieren. »Das läuft nicht gut«, sagte Oshmosh, die schräg hinter mir stand und alle Anzeigen mitverfolgte. »Der Krand'har hat anscheinend im letzten Moment den Schwanz eingezogen. Jetzt müssen wir die Führung selbst übernehmen.« Ich atmete einmal tief durch, dann traf ich meine Entscheidung. »Schluss mit der Verdunkelung!«, befahl ich. »Start und Linearetappe bis dicht über den Rand der Kugelschale, so dass wir von den Jucla-Schiffen dort gedeckt sind! Ypt, wirf den Hyperkom und die Hypertaster an!« Als sie nicht reagierte, wurde ich wütend. »Befehl bestätigen, Ypt!«, schrie ich sie an. »Sofort! Sonst wirst du abgelöst!« »Das hat sie von ihrem Schleimionten!«, flüsterte Myreilune und kicherte. Ypt Karmasyn erschauderte und warf der Pilotin einen vernichtenden Blick zu, dann schrie sie: »Bestätige Befehl, Atlan! Ende der Energieverdunkelung. Ich aktiviere Hyperkom und Hypertaster. Soll ich unseren Begleitschutz herbeordern!« Ich atmete auf. »Tu das, Ypt!« Ich klopfte ihr versöhnlich auf die Schulter, dann wandte ich mich der Pilotin zu. »Warum sind wir noch nicht gestartet, Myreilune?«, fragte ich scharf. Die Pilotin starrte mich aus weit aufgerissenen Augen eine Sekunde an, dann schaltete sie die leer laufenden Normaltriebwerke so abrupt hoch, dass die AVACYN förmlich in den Weltraum über BOYSCH katapultiert wurde.
* Nach einer kurzen Linearetappe kamen wir über dem Zielgebiet an. Drei Minuten später fielen ein paar Millionen Kilometer neben uns die dreißig Jucla-Raumer, die ich nach dem ersten Disput mit Symaltin aus der Nähe BOYSCHS dirigiert hatte, in den Nor-
Der Zorn der Lordrichter malraum zurück. Der Autokrat hatte damals nicht gemerkt, dass meine Eskorte sich in den Ortungsschutz zurückzog, den der Sammler ihr bot, und dass sie während der Vorbereitungen zur Schlacht, mit Energieklammern an dem Giganten festgezurrt, nach BOYSCH zurückgekehrt war und jetzt mit dem Sammler an einer Weiche der Kernstation angedockt hatte. Jetzt waren sie jedenfalls wieder bei uns – und dienten als Eskorte zum Schutz der AVACYN. »TIA anfunken!«, befahl ich. »TIA antwortet nicht«, meldete Karmasyn. »Aber unser Hyperkomsignal kommt dort an.« Ich überlegte. Wenn die zweite Flotte der Juclas entgegen der strategischen Planung hinter den Zaqoor im Raum herumhängt und ihr Befehlshaber nicht auf meinen Anruf reagiert, dann kann das nur bedeuten, dass er tot, sterbenskrank oder kaltgestellt ist. Er war wohl zu optimistisch gewesen, was die Wirkung seiner Intrigen und seines Charismas auf seine Brüder aus zahllosen zusammengewürfelten Clans betrifft!, wisperte mir der Extrasinn zu. »Soll ich eine Enterung der TIA vorbereiten?«, erkundigte sich Carmyn Oshmosh mit ernstem Gesicht. »Nein!«, entschied ich. »Was sich auch abspielen mag, es handelt sich um eine innere Angelegenheit der Juclas. Niemand von uns erreicht etwas, wenn er sich einmischt. Wir würden alles nur schlimmer machen. Ganz abgesehen davon würden wir paar Leute von der AVACYN nicht viel gegen vielleicht hundert Juclas auf der TIA ausrichten.« Ypt Karmasyn stieß einen unartikulierten Schrei aus, dann deutete sie mit ausgestrecktem Arm auf den Hyperkom. Ich atmete auf, spielte aber den Ahnungslosen. »Habe ich dich geweckt, Abenwosch?«, erkundigte ich mich gelangweilt.
43 »Geweckt, ha!«, röhrte der Jucla, dann riss er sich die schwarze Kappe ab, die er ganz gegen seine Gewohnheit trug. Meine Augen weiteten sich, als ich den großflächigen Sprühverband bemerkte, unter dem auf der rasierten Kopfhaut eine lange, frisch geklammerte Wunde zu sehen war. »Also eine Rebellion«, stellte ich fest. »Da du offenbar Sieger geblieben bist, gratuliere ich dir. Hast du die Rebellen verhaftet, damit sie es nicht wieder versuchen?« »Tote versuchen nichts wieder«, gab er mir mit dumpfer Stimme zu verstehen. »Unser Plan gilt wieder. Auch auf dem Flaggschiff der zweiten Flotte wurden die Verräter liquidiert. Ich hoffe, wir können den Zeitplan einhalten.« »Das hoffe ich auch«, versicherte ich ihm. »Wenn die Schiffe sich jetzt sofort in Bewegung setzen.« »Zweite Flotte beschleunigt und formiert sich zur Trafalgar-Aufstellung«, meldete Karmasyn. Danach öffnete sie eine neue Flasche mit Symbiontengetränk, steckte ein Röhrchen hinein und verdrehte die Augen, während sie die sämige Flüssigkeit in sich hineinsog. Ich sah die Flottenbewegung auf den Kontrollschirmen. Unwillkürlich schloss ich die Augen und dachte an die Vergangenheit. Als ich sie wieder öffnete, sah ich, dass die beiden Angriffsreihen der zweiten Flotte in die feindliche Formation hineinstießen. Auf beiden Seiten explodierten die ersten Schiffe. Bald schon zeigte sich, dass die JuclaFlotten im Vorteil waren. Nicht nur, weil sie die meisten Schiffe hatten, denn das wurde teilweise durch die technische und waffenwirksame Überlegenheit der meisten Zaqoor-Raumer ausgeglichen, sondern weil ihre Aufstellung ihnen das wirkungsvollste Feuer auf den Feind ermöglichte. »Wir gehen höher!«, befahl ich. »Maschinen an!« Das Schiff beschleunigte und stieg schnell und lautlos empor, gefolgt von den dreißig eskortierenden Jucla-Schiffen.
44 Die Flotte der Zaqoor geriet sichtlich in Bedrängnis, weil die beiden Stoßformationen der Juclas sich zwischen ihre Golfballraumer drängten und aus allen Geschützen feuerten. Anscheinend fanden die Zaqoor darauf keine passende Antwort. Ihre Formation bröckelte. Immer mehr ihrer Schiffe zogen sich notgedrungen tiefer in die Halbkugelformation der ersten Jucla-Flotte zurück. Es dauerte nicht lange, bis sie nicht nur von ihren Verfolgern beschossen wurden, sondern zusätzlich von den Schiffen der Halbkugelformation. Immer mehr ihrer Schiffe gerieten in konzentrisches Feuer und zerbarsten in wahnsinnig schnell expandierenden Glutbällen. Doch auch die Juclas mussten schwere Verluste hinnehmen. Es zeigte sich, dass ihre Schiffskommandanten oft noch sehr jung waren und über entsprechend wenig Kampferfahrung verfügten. Sie manövrierten sich immer wieder in das Feuer mehrerer Zaqoor-Schiffe und wurden regelrecht zusammengeschossen. Unsere Hyperortung erfasste im Kampfgebiet immer mehr Rettungskapseln. Allzu oft wurden sie zu Todesfallen, denn die Schiffe beider Seiten schossen sie ab, wenn sie in den Erfassungsbereich ihrer Geschütze gerieten. »Was ist mit dem Sammler?«, unterbrach Carmyn Oshmosh nach ein paar Minuten meine Betrachtungen. »Warum greift er nicht in den Kampf ein?« »Wir werden ihn fragen«, antwortete ich. »Anfunken, Ypt!« Die Funkorterin schaltete am Hyperkom und nuckelte dabei an dem Trinkhalm ihrer Symbiontenflasche. Sekunden später erhellte sich ein Trivideokubus und zeigte uns das Abbild des grünhäutigen Monstrums, das sich Florymonthis nannte. »Oh, du bist es, Atlan!«, rief Florymonthis mit brummiger, tiefer Stimme. »Du musst mir helfen! Das Positronengehirn MITYQINNS funktioniert noch nicht zufrieden stellend. Komm zu mir! Ich bin harm-
H. G. Ewers los.« »Ich werde kommen, sobald ich kann«, erwiderte ich. »Vorher aber muss die Flotte der Zaqoor geschlagen werden, die uns angreift und die BOYSCH sturmreif schießen will. Die Juclas kämpfen mutig gegen sie, aber wenn du ihnen nicht hilfst, werden ihre Verluste sehr groß sein. Das muss verhindert werden, weil wir bestimmt noch mehr Kämpfe zu bestehen haben.« »Oh, oh!«, orgelte das Monstrum. »Das ist schlimm. Warum kommt Ovaron nicht und sagt mir, wie ich mich verhalten soll?« »Ovaron kann jetzt nicht kommen«, erklärte ich. »Deshalb hat er mich beauftragt, in seinem Sinne zu handeln.« »Aber du bist nicht Ovaron. Nur ihm gegenüber bin ich verantwortlich«, brummte Florymonthis. »Ich handle in Ovarons Auftrag!«, rief ich so energisch, wie ich nur konnte. »Wenn du mir hilfst, hilfst du auch Ovaron. Ich will, dass du die MITYQINN wie abgemacht in den Kampf gegen die Zaqoor führst – und zwar sofort!« Florymonthis wedelte mit ihren dicken, kurzen Armen und schrie: »Ich helfe dir, weil ich dich brauche, mein Liebster! Du musst mir die Adresse eines Schönheitsplasturgen beschaffen, damit er mich liftet. Aber vorher befehle ich den Sammler in die Schlacht. Bleib mit deinem Schiff, wo du bist! Aktiviere alle Schutzschirme! Fahre ihre Leistungen bis über maximal. Ich orte einen großen Flottenverband der Zaqoor, der sich im Linearflug auf dem Wege zu deiner Position befindet. Gleich wird er kommen – aber ich auch!« Ich zweifelte keinen Augenblick daran, dass Florymonthis mir die Wahrheit gesagt hatte. »Alle Schutzschirme an!«, befahl ich meiner Kommandantin. »Ypt, Hyperfunkverbindung zu unserer Eskorte!« Beide reagierten, ohne Fragen zu stellen. Sie hatten begriffen, dass es jetzt auch für uns um Tod oder Leben ging. Das Führungsschiff der Eskorte hieß BO-
Der Zorn der Lordrichter BAK, sein Kommandant Trufont. Er reagierte sofort auf meine Anordnung, alle Schutzschirme zu aktivieren und einen Kugelschild um die AVACYN zu bilden. »Die Schutzschirme hatten wir allerdings schon aktiviert – und auch die Kugelschale steht«, erklärte er. »Und wir orten auch den Zaqoor-Verband, der sich im Linearraum im Anflug auf unsere Position befindet. Es handelt sich um dreihundert große Kugelraumer. Sie wollen bestimmt nicht uns angreifen, sondern werden auf dem Weg zum Hauptkampfraum hier nur einen Zwischenstopp einlegen, um sich genauer über die Lage zu informieren.« »Na klar«, erwiderte ich wegwerfend. »Ihr sollt eure Schutzschirme auf höchste Belastung schalten!« Wieder einmal wurde mir klar, dass auch eine noch so perfekte Strategie zum Scheitern verurteilt war, wenn etwas geschah, womit vorher nicht gerechnet werden konnte. »Du Symbiontenschlürferin hast versagt!«, schrie Kaystale unsere Funkorterin an. »Warum hast du die Zaqoor nicht geortet, als sie im Linearraum waren?« Karmasyn machte ein hilfloses Gesicht und stellte sogar die Flasche weg. »Sie kann nichts dafür«, stellte ich fest. »Der Eskortenführer sagte mir, dass seine dreißig Schiffe ihre Schutzschirme schon vor meiner Anordnung eingeschaltet hatten. Da ihre Formation zudem sehr eng war, haben die Paratronschirme miteinander einen so genannten Beinahe-Kontakt, das heißt, ihre Wirkungszonen verschmelzen so weit, dass sie um unser Schiff eine Hülle bilden, die keinen Reliefstrahl aus dem Linearraum durchlässt.« »Also konnten sie die Zaqoor im Zwischenraum aufspüren und ihr Ziel ermitteln, wir aber nicht?«, fragte Karmasyn. »Genau so war es«, bestätigte ich. »Und jetzt bereitet euch auf das Schlimmste vor: Wenn der Sammler nicht vor den Zaqoor bei uns ankommt, steht es einunddreißig gegen dreihundert, dass wir nicht überleben.« Da hilft auch kein Zellaktivator!, wisperte
45 mein Extrasinn. »Du meinst, wir werden sterben?«, fragte Myreilune. »Lass dich überraschen!«, spottete ich. Das war sehr zynisch!, rügte mich der Extrasinn. Galgenhumor! Im nächsten Moment fühlte ich mich wie ein Vogel auf der Glutwolke eines ausbrechenden Vulkans. Gleißende, grelle Helligkeit raste in die Hauptzentrale der AVACYN. Dann flog ich tatsächlich. Ein ohrenbetäubender Donnerschlag schien den Weltuntergang anzukündigen. Dann wurde es still – totenstill …
* In meinen Ohren hallte der Donnerknall nach. Ich lag wie paralysiert auf irgendeiner Unterlage. Meine Augen tränten so stark, dass ich nichts sah. Ich wurde wie in einem verrückten Karussell herumgewirbelt. Es ist vorbei! Wer spricht da? Was ist vorbei? Dumme Frage. Und der Weltuntergang ist vorbei. »Es ist weg!«, jammerte jemand. Ypt Karmasyn. Diese Erkenntnis machte mich munter. Ich rieb mir die Augen, schlug auf das Sammelschloss meiner Sicherheitsgurte, richtete mich sitzend auf und sah mich um. Ich lag nicht in irgendeiner Ecke der Zentrale, sondern gurtgesichert auf meinem anscheinend von der Sicherheitsautomatik zurückgeklappten Kontursitz – und meine Leute lagen ebenfalls auf ihren zurückgeklappten Kontursitzen. Sie stöhnten und fingen an, sich zu bewegen. Auf den Flächen der Rundum-Galerie waren fünf zersiebte und halb glühende JuclaRaumer zu sehen. Sie trieben langsam von der Kugelschale fort, die aus den restlichen fünfundzwanzig Schiffen der Eskorte immer noch gebildet wurde. Sieben von ihnen wiesen allerdings solche Schäden wie halb verschmorte Außenhüllen auf. Bei ihnen hatte
46 schwerer Beschuss die Paratronschirme kurzzeitig kontrahieren lassen. Die Zaqoor allerdings hatte es schlimmer erwischt. Auf den Ortungsschirmen waren siebenundzwanzig verformte Glutbälle zu sehen, außerdem Trümmerwolken von mindestens weiteren acht Golfballraumern. Wer das geschafft hatte – besser, was das geschafft hatte, hing als riesiger, fast mondgroßer dunkler Schatten dicht über unserer Formation: MITYQINN, der Sammler. »Florymonthis ruft Atlan!«, dröhnte die tiefe Stimme meiner »Freundin« in meinen Ohren. Ich sah, dass die Hyperkomverbindung zum Sammler immer noch stand. Auf dem Trivideokubus war das klobige Gesicht von Florymonthis zu sehen. »Hier bin ich!«, rief ich. »Danke für deine Hilfe. Du hast ja ganz schön zugeschlagen.« »Es war ein Vergnügen, mein Schatz«, erklärte Florymonthis. »Die Zaqoor-Schiffe wurden gebeutelt. Habe ich genug abgeschossen, Atlan?« »Du hättest ruhig alle abschießen können«, gab ich zurück. »Falls dir das möglich gewesen wäre.« »Vielleicht wäre es mir möglich gewesen«, sagte das Monstrum. »Aber ich wollte den Juclas auch noch etwas zum Spielen lassen. Die Zaqoor sind nämlich mit einem weiteren Linearmanöver direkt zum Hauptspielfeld geflogen – und dort wurden sie von der dritten Jucla-Flotte in Empfang genommen.« »Warte mal!«, rief ich, dann gab ich Ypt Karmasyn ein Zeichen. Die Funk-Orterin blickte mit tränenden Augen vom Boden hoch, auf dem sie herumgekrochen war. Dann begriff sie, dass ihre Arbeit gefragt war. Sie schnellte hoch und schaltete wieder auf die Fernortung zum Hauptgefechtsfeld. Ich sah, dass die Raumschlacht keineswegs entschieden war, wie ich gehofft hatte. Zwar war die erste Zaqoor-Flotte halb von der Kugelschale der ersten Jucla-Flotte umzingelt worden, doch sie hatte ihre Schiffe
H. G. Ewers zu einem riesigen Pulk zusammengezogen und war durch die Mitte der Kugelschale gestoßen. Dabei hatte sie mindestens siebzig Schiffe eingebüßt, doch die Juclas hatten ebenfalls rund siebzig Schiffe verloren. Der Raum dort war voller Trümmer und expandierender Glutbälle. Und die Reserve-Streitmacht der Zaqoor, die uns beinahe zum Verhängnis geworden wäre, war soeben schräg über der zweiten Jucla-Flotte angekommen und veranstaltete eine Art Scheibenschießen. Die dritte Flotte der Juclas war zwar soeben auch angekommen, aber sie hatte sich mit der letzten Linearetappe verkalkuliert und würde zwanzig Minuten brauchen, um der ZaqoorStreitmacht die Suppe zu versalzen. Falls nicht bald so etwas wie ein Wunder geschah, brach die Trafalgar-Aufstellung zusammen. Zwar würden die Juclas aufgrund ihrer großen zahlenmäßigen Übermacht auf jeden Fall als Sieger aus der Schlacht hervorgehen, aber ihre Verluste würden so gewaltig sein, dass es beinahe ein Pyrrhussieg wäre. »Florymonthis!«, rief ich beschwörend. »Du musst uns helfen! Die Raumschlacht vor BOYSCH wird uns Verluste einbringen, von denen sich die Juclas nicht wieder erholen können. Wenn dir etwas an mir und Ovaron liegt, fliege dorthin und hilf den Juclas! Vernichte so viel dieser Golfballraumer, wie du nur kannst!« »Golfballraumer?«, echote das Monstrum. »Was soll das sein?« »Damit meinte ich die Zaqoor-Schiffe der Reserve-Streitmacht«, erklärte ich. »Vernichte sie!« »Wenn mir etwas an dir und Ovaron liegt«, wiederholte Florymonthis meine vorletzten Worte. »Aber wo ist Ovaron?« »Hier!«, rief ich und schlug mir mit der Faust an die Brust. »Hier in meinem Herzen!« »Das wüsste ich aber«, brummte Florymonthis. »Aber wir werden sehen, was sich machen lässt. Bis später, Atlan.« »Bis später!«, flüsterte ich und wischte
Der Zorn der Lordrichter mir den Schweiß von der Stirn. Dieses Ding, das offenbar die besondere Ausprägung eines Vasallen an Bord der MITYQINN war, ließ sich noch immer nicht unter meine Kontrolle bringen. Dabei wäre seine von mir kontrollierte Hilfe der Faktor gewesen, der die finsteren Pläne der Lordrichter zum Scheitern verurteilt hätte. »Hier, Atlan!«, flüsterte jemand rechts neben mir. Als ich den Kopf drehte, erkannte ich Carmyn Oshmosh. Sie hielt in jeder Hand einen Becher. Ich roch Alkohol. »Trink das!«, sagte die Ganjasin. »Du hast es dir verdient.« »Ich? Wieso?«, fragte ich, nahm aber das Glas und roch daran. Riecht wie guter alter Kognak. »Ohne dich wären wir jetzt alle tot«, erklärte sie. »Wenn du nicht den Sammler gerufen hättest, gäbe es uns jetzt nur noch als im Raum verwehende kalte Atomschleier.« »Ich habe den Sammler nicht gerufen«, sagte ich. »Er hat uns gewarnt und ist dann aus eigenem Antrieb hergekommen, um uns zu retten. Aber das soll uns nicht davon abhalten, dieses gut riechende Gebräu zu trinken. Prost!« Ich hob meinen Becher. Carmyn sah mich fragend an, dann hob sie ihren Becher und sagte auch: »Prost!« Es schmeckte tatsächlich wie Kognak. Leider ließ die Lage es nicht zu, mehr als einen Becher zu genießen. Anschließend sahen wir uns wieder das Geschehen der Raumschlacht an. Soeben war der Sammler dort in den Normalraum zurückgefallen, genau zwischen der schon arg zerfledderten TrafalgarAufstellung und der Reserveflotte der Zaqoor. Sein Feuer ließ die Golfballraumer fast im Sekundentakt zerplatzen. Das war die Entscheidung. Die Zaqoor-Formationen brachen auseinander, als ihre Schiffe sich dem neuen Feind entgegenstellten oder zu fliehen versuchten. Für die Flotten der Juclas war das ein gefundenes Fressen. Sie stürzten sich von allen
47 Seiten auf die Zaqoor. Jegliche Ordnung und alle strategischen Aufstellungen waren vergessen. Sie waren auch nicht mehr erforderlich, denn die Raumschlacht verwandelte sich innerhalb von Minuten in eine gnadenlose Hetzjagd auf die Invasoren. Mindestens zweihundert ihrer Schiffe zerbarsten und verglühten im konzentrischen Feuer. Es wären noch mehr gewesen, hätte der Sammler sich nicht aus dem Getümmel gelöst und alle seine Systeme heruntergeschaltet. Er legte einfach eine Pause ein. Ich verzichtete auf den Versuch, ihn zum Weiterkämpfen zu bewegen. Erstens hätte das bei ihm zu unvorhergesehenen Reaktionen führen können – und zweitens war den Zaqoor die Lust am Kämpfen gründlich vergangen. Sie zogen sich in heilloser Flucht zurück, verbissen verfolgt und vielfach abgeschossen von meinen Juclas. Sie taten mir fast Leid. Das änderte aber nichts daran, dass ich jetzt entschlossener denn je war, hinter die wahren Ziele der Lordrichter zu kommen und ihnen Einhalt zu gebieten.
12. Atlan 23. Oktober 1225 NGZ … Meine Füße fühlten sich so schwer an wie Blei, als ich gemeinsam mit Carmyn Oshmosh und Abenwosch-Pecayl 966. die privaten Räumlichkeiten Symaltins betrat. Der Sohn des Autokraten würden etwas später kommen. Nur wir drei waren eingeladen. Symaltin wollte die dramatischen Geschehnisse nur im engsten Kreis auswerten. Ich konnte ihm das nicht verdenken. Er musste sein Gesicht wahren. Der Autokrat hatte den Sieg im Sektor BOYSCH ohne erkennbare große Gefühlsregung hingenommen. In Wahrheit war er bis zum Innersten seiner Seele aufgewühlt. So etwas spürte ich mit meinen jahrtausendealten Erfahrungen.
48 Allerdings war von ihm in der gesamten Freihandelszone Susch eine Siegesfeier mit Volksfesten, Militärkonzerten und Raumschiffsparaden angeordnet worden. Das Volk sollte wissen, dass Susch starke Freunde hatte. Es sollte aber auch dazu angehalten werden, größere Anstrengungen zu unternehmen, um die Kriegsproduktion auf Hochtouren zu treiben. Denn wir hatten zwar eine Schlacht gewonnen, aber nicht den Krieg. Nachdem auch Symaltinoron eingetroffen war, nahmen wir an der massiven Tafel im Palastraum Symaltins Platz. Servos teilten Getränke aus, servierten Suppen, Fleischgerichte, Süßspeisen und Eis. »Ich bin angenehm überrascht, Autokrat«, sagte ich. »Das sind Speisen und Getränke, die eigentlich nur in meiner Heimatgalaxis aufgetragen werden. Woher wusstest du …« Er tatschte die breiten Hände auf den Tisch, dass das Geschirr klirrte. »In der Freihandelszone Susch gibt es eine unbegrenzte Palette von Speisen und Getränken!«, versicherte er stolz. Typisch Umweltangepasster!, wisperte mein Extrasinn. »Liebe Freunde!«, sagte der Fortyn-Takerer und lächelte, wobei sein breiter Mund von einem Ohr zum anderen reichte. »Ich darf doch Freunde sagen? Ich weiß nicht, womit ich anfangen soll, so viel hat sich während der letzten Tage hier ereignet – und zu sehr hat sich alles gewandelt, was vor kurzem noch stabil und in sich gefestigt schien. Die Freihandelszone Susch und die Kernstation BOYSCH sind keine neutrale Insel der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens mehr. Zu lange haben wir uns der Illusion hingegeben, dass niemand uns angreifen würde, weil wir niemanden bedrohen.« Er strich sich gedankenverloren über den schwarzen Bart, der ihm bis zur Brust reichte, und seufzte durch die haarverfilzten Nasenöffnungen, die eigentlich Nüstern genannt werden sollten, so groß waren sie. »Wir alle haben es einem Mann zu ver-
H. G. Ewers danken, der aus einer fremden Galaxis zu uns kam und uns lehrte, dass die glücklichen Zeiten vorbei sind. Es tut mir Leid, dass ich ihm anfangs aggressiv begegnete, aber heute muss ich gestehen, dass ohne seine Einmischung und seine Hilfe barbarische Fremde über uns herrschen würden.« Er blickte den Krand'har an und erklärte: »Mein Dank gilt auch den Juclas, die wir früher falsch einschätzten und die sich unter Atlans Führung für unsere Freiheit und Sicherheit mit den Truppen der Lordrichter schlugen und dabei große Opfer brachten.« »Wir sind unschlagbar«, prahlte Abenwosch. »Die Jungen Clans sind die tapfersten Kämpfer gegen alle dreckigen Takerer …« Verlegen schaute er Symaltin von unten herauf an, denn der Autokrat war ja auch ein Takerer, wenn auch ein an die Umwelt von Fortyn angepasster. Symaltin schnaubte lautstark. »Wie ich bemerke, hast du begriffen, dass Takerer nicht gleich Takerer sind«, erklärte er. »Und mein Sohn und ich haben begriffen, dass ihr Juclas keine mordgierigen Marodeure seid, sondern ein Volk in Not, das vor Urzeiten mehr als ungerecht behandelt wurde.« »Wir sterben früh«, sagte Abenwosch betrübt. Seine Augen verschleierten sich. Ich wechselte einen Blick mit dem Autokraten, dann sagte ich zu dem Jucla: »Abenwosch-Pecayl 966. Symaltin und ich haben uns Gedanken über euer Verhängnis gemacht und sind zu dem Schluss gekommen, dass wir die wissenschaftliche Elite der Freihandelszone und die hervorragenden Forschungseinrichtungen auf BOYSCH dazu benutzen wollen, um die genetischen Manipulationen, die man euch angetan hat, rückgängig zu machen.« Der Krand'har riss den Mund weit auf und ließ ihn offen stehen. Dann klappte er ihn zu und flüsterte heiser: »Ich werde nicht so früh sterben, sondern ein normales Alter erreichen?« »Das ist leider nicht möglich«, erklärte Symaltinoron. »Genetische Manipulationen,
Der Zorn der Lordrichter wie sie vor Jahrtausenden an euch Juclas vorgenommen wurden, lassen sich nicht innerhalb einer Generation rückgängig machen. Wir haben entsprechende Berechnungen angestellt und meinen, dass frühestens eure übernächste Generation ein normales cappinsches Alter erreichen kann.« Der Jucla gab einen undefinierbaren Laut von sich und ließ den Kopf sinken. Es wurde still im Raum. Auch die Fortyn-Takerer schwiegen. Nach ein paar Minuten hob der Jucla den Kopf und sagte: »Es ist gut. Ich werde bald sterben – und alle meine Verwandten werden bald sterben. Aber die Kinder meiner Kinder werden das große Glück erleben, eine normale Lebensspanne vor sich zu haben. Wenn ihr in BOYSCH das ermöglicht, gehören wir Juclas euch für immer und ewig. Wir werden für euch kämpfen – und auch unser Blut vergießen, wenn es notwendig ist.« »Ihr solltet nicht nur uns in der Freihandelszone dankbar sein, sondern auch und vor allem Atlan«, wandte Symaltin ein. »Denn er hat die Idee gehabt, euch von dem alten Fluch zu befreien.« »Ich ahnte, dass das Atlans Werk war!«, rief der Jucla enthusiastisch. Er blickte mich bewundernd an. »Atlan, ich wusste schon immer, dass der Ganjo dich geschickt hat. Hiermit nehme ich dich als Ehrenmitglied in die vereinten Clans auf.« Er beugte sich über den Tisch und stupste die Brust Symaltins mit den gestreckten Fingern der linken Hand an. »Und dich auch, Symaltin, denn du gabst uns das Gefühl, eine Heimat zu haben – uns, den ewig Heimatlosen von Gruelfin!« Der Autokrat hob die Hände. »Danke, Abenwosch!« Er wischte sich mit einem Handrücken über die plötzlich nassen Haarbüschel der Nasenlöcher. »Ich muss leider gestehen, dass ich nicht so viel Lob verdiene, wie ihr mir spendet. Denn ich habe mich anfangs gesträubt, die Neutralität der Freihandelszone aufzugeben und meine Befehlsgewalt an Atlan zu übergeben.«
49 »Du musst verrückt gewesen sein!«, rief der Krand'har erregt. »Entschuldige, bitte! Aber ich verstehe das nicht.« »Ich verstehe es selbst nicht mehr«, gestand der Autokrat ein. »Samptasch!«, flüsterte sein Sohn. Symaltin fuhr sich mit einer Hand über den Kopf. »Ja, so könnte es gewesen sein«, erklärte er leise. »Ich war so sehr von der GanjoInterpretatorin eingenommen, dass ich manches Mal gegen besseres Wissen entschieden habe. Allerdings muss ich feststellen, dass ohne Samptasch die Freihandelszone Susch niemals das heute bestehende starke soziale Element bekommen hätte. Ihr Einfluss war es, auch schon bei meinen Vorgängern, der die Macht des schmutzigen gruelfinschen Raubtier-Kapitalismus endgültig brach und die Freiheitsbrigaden entstehen ließ und die Ausbeuter und Unterdrücker in die Minen des Höllenmondes Zepholoss verbannte. Aber vielleicht ist diese Frau ja eine Schwindlerin, die nichts anderes wollte als die Macht, die Geschicke der Freihandelszone zu lenken? Anders kann ich mir nachträglich ihre Abneigung gegen Atlan nicht erklären.« »Alles ist möglich«, warf Oshmosh ein. »Warum fragst du sie nicht nach ihren Gründen, Autokrat? So, wie die Lage jetzt ist, wird sie vielleicht reden.« Symaltin schien verlegen zu sein. Er kratzte sich mit den Fingern beider Hände auf dem Kopf und bewegte seine Lippen hin und her, so dass seine kantigen Mahlzähne sichtbar wurden. »Sie steht noch unter Hausarrest«, erklärte Symaltinoron. »Mein Vater vertraut ihr nicht mehr.« »Das verstehe ich«, sagte ich. »Aber ich trage ihr nichts nach. Symaltin, ich bitte dich darum, Samptasch sehen und sprechen zu dürfen. Vielleicht klärt sich dann manches Rätsel auf.« Symaltin ließ die Hände flach auf die Tischplatte fallen und erklärte: »So soll es
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sein, Atlan.« Er klatschte in die Hände und rief einen Befehl an seine Sicherheitskräfte …
* Eine Viertelstunde später kamen sie. Vier kräftige Fortyn-Takerer in hellgrauen Monturen. Sie führten Samptasch zwischen sich, wendeten aber keine körperliche Gewalt an. Die alte Frau hatte sich verändert. Sie sah nicht mehr so kraftvoll-energisch aus wie bei unserer ersten Begegnung, sondern um Jahre gealtert. Und sie ging gebeugt und mit auf den Boden gesenktem Blick. Als ihre Begleiter und sie stehen blieben, sagte ich leise: »Ich grüße dich, Samptasch!« Sie zuckte zusammen, blickte hoch. Ihre Augen weiteten sich, als sie mich erkannte. Es sah aus, als wollte sie etwas sagen, doch stattdessen brach sie wie vom Blitz gefällt zusammen – und lag so kraftlos hingeworfen da wie eine alte Puppe. Einen Moment lang stand ich steif und starr da. Vielleicht wartete ich darauf, dass mein Extrasinn sich meldete und mir irgendetwas riet. Dann sprang ich vor, kniete neben Samptasch nieder und fühlte nach dem Puls an ihrem Hals. Nichts! Ich drehte ihren Kopf zur Seite und wieder zurück. Die Augen verweilen starr in einer Richtung. Hirnstammschädigung! Ich erteilte ihr einen Stimulus durch Kneifen der Haut. Keinerlei Reaktion! Ich rief sie laut an. Keine verbale Reaktion! Und auch keine Augenöffnung! »Tiefes Koma!«, gab ich bekannt: »Sie stirbt, bevor wir sie in einen Überlebenstank bringen können.«
In diesem Moment atmete die Frau zweimal tief durch, dann fiel ihr Kopf schwer zur Seite. Und endgültig! »Exitus!«, sagte ich bedauernd.
* Es war Nacht. Über mir spannte sich der Sternenhimmel eines Planeten. Der Wüstenwind blies kalt und ließ mich erschauern. Und plötzlich bohrte sich etwas in mein Genick. Nichts Materielles – und doch mehr als nur ein Blick. Ich versteifte mich und hielt unwillkürlich die Luft an. Aber dann überwand ich meine Scheu und drehte mich langsam um. Und da stand er im Schein des vollen Mondes der Erde. Ovaron! Die fast zwei Meter große, athletisch gebaute Gestalt mit den breiten Schultern, den langen Armen und Beinen sah mich aus ihren braunen Augen an. Augen in einem scharf geschnittenen Gesicht mit hoher Stirn, langer, gekrümmter Nase, hoch vorstehenden Wangenknochen und dem kraftvollen Kinn und Mund. Zusammen mit dem langen schwarzen Haar, das von einem breiten Band mit seltsamen Symbolen zusammengefasst wurde, erinnerte er an die Abbildung eines Kriegers aus einem Stamm terranischer Indianer. Die leichte hellgraue Raummontur, die er trug, passte allerdings nicht zu diesem Eindruck. »Du siehst richtig, alter Freund!«, sagte der Ganjo. »Allerdings bin ich nur in deinem Bewusstsein – mit einem Teil meines Bewusstseins. Viele Splitter meines Geistes sind in Gruelfin verstreut – und ich war schwach, bis jetzt. Der Kontakt mit deinem Bewusstsein, Atlan, gibt mir Kraft, viel Kraft.« »Du warst – in Samptasch?«, dachte ich. »Ja, aber ich war schwach. Lange Zeit triumphierte der ehrgeizige und machtbesessene Geist der Frau über mich. Aber wir
Der Zorn der Lordrichter fanden einen Weg zueinander und zu einer Pattsituation, wie ihr sagt. Aber ich will nicht mit dem Schluss beginnen. Ich kann mich nicht an alles erinnern, was tief in der Vergangenheit ruht. Ich weiß jedoch, dass ich nach Tornybred suchte und dass ich lange unterwegs war, unendlich lange. Wenn ich zurückblicke, sehe ich nur wogende Nebel. Ich weiß aber genau, dass ich Erfolg hatte. Danach trieb ich durch die Unendlichkeit. Ich hatte kein Ziel und wäre beinahe erloschen. Doch irgendwann zog mich irgendetwas hierher. Später rechnete ich aus, dass es vor hundertneunundzwanzig Jahren war – Cappin-Jahren. Irgendwann unterwegs gingen Splitter meines Bewusstseins verloren. Doch der Rest erreichte das Bewusstsein einer damals jungen Frau: Samptasch. Sie spürte, dass irgendetwas mit ihr geschah, was ihr Bewusstsein stärkte und sie anderen Intelligenzen überlegen machte. Nach vielen Irrungen und Wirrungen verschmolzen unsere Bewusstseine zu einer Zweckgemeinschaft. Ich setzte sie als GanjoInterpretatorin ein. Sie benutzte die von unserer Vereinigung herrührende Macht über andere Intelligenzen, um das damals brutalkapitalistische System der Freihandelszone Susch nach und nach zu zerstören und ein kleines Handelsimperium auf sozialkapitalistischer Basis aufzubauen. Ich habe es allerdings nie geschafft, Samptaschs Bewusstsein voll unter meine Kontrolle zu bekommen. Ich schaffte es auch nicht, sie zu verlassen. Erst als du auftauchtest, Atlan, strömte neue Kraft zu mir über. Sie muss gefühlt haben, dass dein Auftauchen ihre Macht über mich schwächen würde. Deshalb hasste sie dich und wollte nicht nur den Kontakt mit dir vermeiden, sondern plante auch, dich ermorden zu lassen.« »Das war ihr Tod!«, stellte ich erschüttert fest. Ich trug ihr nichts nach – nicht, weil man Toten nichts nachtragen soll, sondern weil ich Verständnis für sie hatte, für
51 eine arme Seele, die das Gute wollte und auch erreichte, aber sich nie von der Habgier befreien konnte, die das Merkmal so vieler Intelligenzen war. »Das war ihr Tod, weil sie ihre Macht zerbrechen sah und die Zeichen der Neuen Zeit nicht erkannte«, bestätigte Ovaron. »Willkommen!«, sagte ich nicht ganz frei von Befangenheit, denn mein Geist würde nicht frei sein, solange ich einen Teil von Ovarons Geist beherbergte. »Ich verstehe dich, Atlan.« In Ovarons Gedanken schwang Traurigkeit mit, aber vor allem Freude darüber, dass wir – zumindest eine Zeit lang – vereint waren. »Übrigens habe ich einen Uralt-Kode an Florymonthis übermittelt. Ab sofort unterwirft er sich absolut und endgültig deiner Führung.« »Ich danke dir!«, dachte ich intensiv. »Damit verfüge ich über einen Hammer, mit dem ich die Macht der Lordrichter zerschmettern kann, wenn es sein muss.« »Wenn das Universum es will«, korrigierte mich Ovaron milde. »Ich hatte viel Zeit und drang tief in uraltes Wissen ein. Auch wenn das meiste vergessen ist, so weiß ich doch, dass es etwas gibt, was die Zeichen setzt und die Weichen stellt.« Er lachte leise. »Sei vorsichtig mit dem Flammenstaub, Atlan. Ich erkenne einen gewissen Fremdeinfluss durch ihn. Gib Acht, dass er nicht an der Substanz deines Geistes zehrt und ihm zusetzt!« Es wurde hell. Und ich befand mich wieder in der vertrauten Umgebung.
* An diesem Tag, dem 25. Oktober 1225 NGZ, standen der Fortyn-Takerer Symaltin und ich in einer kuppelförmigen Halle, die sich dreißig Meter hoch und sechzig Meter durchmessend aus der Außenhülle von BOYSCH herauswölbte. Von hier aus war mit bloßem Auge nur
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der umgebende Weltraum mit seinen unzähligen Sternen zu sehen. Irgendwo ließ sich das hell strahlende Zentrum Gruelfins ausmachen. Aber das war es nicht, was Symaltin und ich beobachteten. Wir sahen auf den riesigen TrivideoSchirmen der Kuppel einen Ausschnitt von BOYSCH mit zahlreichen ausgefahrenen Weichen. An allen waren eiförmige Raumschiffe unterschiedlicher Größe und mit unterschiedlichen Konstruktionsmerkmalen angedockt: die Schiffe der Jucla-Flotte, die wegen ihrer Beschussschäden repariert wurden beziehungsweise neue, bessere Aggregate installiert bekamen. Das alles geschah aufgrund des zwischen Symaltin und mir im Namen der Bewohner geschlossenen Abkommens, das das Leben aller dieser Intelligenzen grundlegend veränderte. Anstatt wie bisher nur für den eigenen Wohlstand zu arbeiten und strikte Neutralität zu wahren, waren sie alle in einem gigantischen Aufrüstungsprogramm eingespannt. Vorbei war es mit dem Genießen eines trügerischen Wohlstands. Die hochmodernen Industrien würden für lange Zeit ebenso mit Verlusten arbeiten müssen wie das Konsortium und die reichen Weichenwärter.
* Alles, was militärisch nutzbar war, unterstand ab sofort ausschließlich mir. Dazu gehörten auch die Akademien mitsamt den darin auszubildenden Raumfahrern sowie die kleine Abwehrflotte von BOYSCH. Es war nicht leicht gewesen, Symaltin die vollständige Zustimmung zu all diesen Veränderungen abzuringen. Er litt noch immer darunter. Doch ich spürte auch seine emotionale Zuwendung. Früher hatte sie Samptasch gegolten. Jetzt galt sie eindeutig mir. Das war zweifellos darauf zurückzuführen, dass die Ausstrahlung Ovarons, die früher von Samptasch gekommen war, nun von mir kam.
Als der mondgroße Sammler von seiner bisherigen Position über die Weichen flog und für Minuten die Sterne verdunkelte, seufzte der Autokrat. »Mir ist, als wären wir in ein anderes Universum versetzt worden«, flüsterte er kaum hörbar. »Es ist immer dasselbe Universum, nur ändert es sich ständig«, erwiderte ich. »Und die Zukunft wird noch stärkere Veränderungen mit sich bringen.« Sekundenlang war mir schwindlig. Es schien mir, als hätte eine unvorstellbare Wesenheit nach meinem Bewusstsein gegriffen. Etwas geschieht! »Durch die Lordrichter?«, fragte Symaltin. Als hätte er ein Stichwort ausgesprochen, öffnete sich die Tür. – Herein kamen Symaltinoron und der Extoscher Persenpo Zasca, dessen Befragung ich vor einigen Tagen unterbrechen musste, weil die Truppen der Lordrichter zum Sturm auf BOYSCH angesetzt hatten. Ich winkte sie herbei. Sofort machte sich ein beklemmendes Gefühl im Magen breit. Statt einer Begrüßung schleuderte ich Zasca die Frage entgegen, deren Beantwortung ich mit seltener Gier entgegenfieberte: »… und was haben die Truppen der Lordrichter in der Mythothek von Extosch gesucht?« »Ja, es kann keinen Zweifel daran geben«, sagte Symaltinoron. »Die Lordrichter suchten Informationen über den Aufenthalt eines Volkes der Rhoarxi.« »Des vierten Volkes der Rhoarxi«, ergänzte Persenpo Zasca. Mir wurde abwechselnd heiß und kalt. Sie haben keine Ahnung!, wisperte mein Extrasinn. Nein, das können sie nicht. Sie wissen nicht, was ich weiß. Die Rhoarxi waren früher einmal die Hüter des Flammenstaubes und konnten damit ausgezeichnet umgehen. Andererseits waren sie total süchtig danach geworden. Deshalb wurden sie von ihren Auftraggebern, den Kosmokraten, wie heiße Kartoffeln fallen gelassen. Daraufhin zogen sie
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sich in die Intrawelt zurück. Bis auf den vierten Stamm. Jener vierte Stamm trägt den Namen »Anarii«, wie Tuxit berichtete. Er verweigerte aus unbekannten Gründen jedwede Zusammenarbeit und verließ die Gemeinschaft. Seitdem wurde nichts mehr von ihm gehört. Wenn er jetzt wieder aufgetaucht war – beziehungsweise wenn die Lordrichter seinen Aufenthaltsort erfahren hatten, schwebten Gruelfin und alle darin existierenden Zivilisationen in allergrößter Gefahr. Denn falls es den Lordrichtern gelang, die Kombination Flammenstaub/Rhoarxi zu manipulieren, würden sie in die Lage versetzt, alle Völker Gruelfins unter ihre Gewalt zu bringen. Die Folge wäre ein Unheil unermesslichen Ausmaßes … »Was ist mit dir, Atlan?« fragte Symaltin. »Für die Völker Gruelfins bahnt sich eine
Katastrophe an, wenn es uns nicht gelingt, die Lordrichter zu besiegen«, flüsterte ich. »Aber wir sind stärker« sagte der Autokrat. »Wir haben hier über die Streitkräfte der Lordrichter gesiegt.« Ich lachte humorlos, denn ich hatte zu viel erlebt. »Das war gar nichts. Das Schlimmste steht uns noch bevor. Für uns gilt das, was ich bei einem Volk in einer weit entfernten Galaxis hörte: ›Nach dem Sieg binde den Helm fester.‹« Er antwortete nicht, aber ich sah, wie er erschauderte. Es war nichts gegen das, was mich aufwühlte … ENDE
ENDE
Eschens Welt von Christian Schwarz Der vierte Stamm der Rhoarxi stellt also das »Missing Link« zwischen Gruelfin und Dwingeloo dar. Eine äußerst brisante Erkenntnis für unseren Arkoniden, der neben dem Flammenstaub mit Ovarons Bewusstseinssplitter nun einen weiteren »Gast« beherbergt. Atlan muss sich nun auf den Weg machen, den Exilplaneten jener ominösen Vogelwesen zu finden. Und möglichst vor den Lordrichtern. Wer den »Wettlauf« gewinnt, verrät Christian Schwarz.