Nr. 131
Der Zeitnomade Besuch aus fremder Dimension - ein Bernaler in Terrania-City von Klaus Fischer
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Nr. 131
Der Zeitnomade Besuch aus fremder Dimension - ein Bernaler in Terrania-City von Klaus Fischer
Auf den Stützpunkten der USO, den Planeten des Solaren Imperiums und den übrigen Menschheitswelten schreibt man Ende Januar des Jahres 2843. Der Aufbau des Solaren Imperiums geht kontinuierlich voran. In der Galaxis herrscht relative Ruhe, abgesehen natürlich von den üblichen Geplänkeln und Reibereien an den Grenzen des Imperiums. Dennoch sind die obersten Führungskräfte des Imperiums mit zunehmender Sorge erfüllt. Schuld daran ist ein Ereignis, das sich, obwohl es sich fern von der Erde und in ferner Vergangenheit abspielte, auch auf die Menschheit selbst auszuwirken beginnt. Alles begann in dem Augenblick, da das Sternenvolk der Bernaler die Grenze der Dimensionen überschritt, sich aus den Fesseln der Körperlichkeit löste und zu Zeitnomaden wurde. Die programmierten Urgene der Bernaler sind jedoch in diesem unserem Universum zurückgeblieben und finden Kontakt zu einzelnen Menschen, denen sie unheimliche Fähigkeiten verleihen – sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht. Bilfnei Gloddus, ein Kartograph des Raumschiffs SMARGENT, ist ein solcher »Negativ-Kontakt«. Nach dem Erwerb seiner neuen und überraschenden Fähigkeiten tritt er aus seiner bisherigen Unbedeutsamkeit heraus und sagt dem Solaren Imperium den Kampf an. Und noch etwas anderes geschieht zur gleichen Zeit: Ein unfreiwilliger Besucher erscheint in Terrania-City. Dieser Besucher ist DER ZEITNOMADE …
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Die Hautpersonen des Romans: Atlan - Lordadmiral der USO. Lelle Salgouz - Ein unschuldig Schuldiger. Shankoon Faskern - Ein Bernaler in Terrania-City. Toronar Alburs und Johann F. Douglas - Mitglieder der Solaren Abwehr. Jonny Dalyle - Ein Gangster plant einen Coup. Dona, Valentin und Valeska Mertins - Drei Menschen vertrauen einem Fremden.
1. »… des Mannes Freunde, Schwert und Spieß, soll'n immer dich begleiten!« »Stärk're Freunde noch als Schwert und Spieß, die nenne ich mein eigen …« »Willst trotzen du der Väter Brauch, jahrtausendalter Tradition …« »Was schert mich Tradition, was ficht mich Vätersitte, wenn heute sich ein Traum erfüllt, der Traum, die Schwerkraft dieser Welt zu überwinden, ihr zu entfliehen?« »So geh', verlasse Arkon, der Schlund der Sonne wartet …« Der Mann mit dem schulterlangen weißen Haar folgte von seinem Logenplatz aus sichtlich interessiert dem Geschehen auf der Bühne. Gespannt lauschte er den Dialogen, die, gesprochen in der kraftvollen und klangreichen Sprache des Altarkonidischen, einen faszinierenden Reiz auf die Zuschauer ausübten. Atlan nickte anerkennend vor sich hin. Kein Zweifel, die jungen USO-Offiziere, die sich hier im Quinto-Center-Laienspielklub zusammengefunden hatten, waren mit Begeisterung und Elan bei der Sache. Und sie verstanden es, die Werke fast schon vergessener Dramaturgen mit Lebendigkeit zu erfüllen und ihnen eine neue überraschende Zeitgemäßheit zu verleihen. Wer etwas mit Enthusiasmus und Zielstrebigkeit betrieb, mußte entsprechend motiviert sein. Worin nun bestand diese Motivation? Die Antwort, so wußte Atlan, ließ sich auf eine einfache Formel reduzieren: Nostalgie. Zu allen Zeiten hatten sich Menschen die Frage gestellt, ob die Zeit, in der sie lebten, wirklich lebenswert war, oder ob nicht ver-
gangene Zeiten besser, schöner, sinnvoller, glücklicher gewesen waren. Eine Antwort auf diese Frage konnten wohl nur Menschen geben, die ein unbegreifliches Schicksal außerhalb des Alterungsprozesses gestellt hatte. Menschen wie er selbst, wie Perry Rhodan und andere. Sie, die durch das Feuer der Jahrhunderte und Jahrtausende gegangen waren, vermochten, aufgrund ihrer nahezu unerschöpflichen Erfahrungen, schon eher ein Urteil über die Qualität einer Zeitepoche abzugeben. Aber was hieß das schon, Qualität einer Zeitepoche? Wenn er, Atlan, die Jahrtausende historischen Geschehens vor seinem inneren Auge im Zeitraffertempo abspulte, gelangte er zu dem Schluß, daß keiner Ära ein besonderer Vorrang gebührte. Der Zeitgeist, dieser doppelköpfige, einmal lachende, einmal weinende Dämon, hatte noch immer alle politischen, kulturellen, wirtschaftlichen und technischen Komponenten so gut durcheinandergewürfelt, daß sich das Positive und das Negative einer jeden Zeitepoche am Ende sicherlich die Waage hielt. Ein schwacher Summton von seinem Handgelenk her drang in seine philosophischen Betrachtungen und riß ihn in die Wirklichkeit zurück, von der er geglaubt hatte, sich für einige Minuten suspendieren zu können. Diese Wirklichkeit, dachte Atlan, als er sich erhob und, ohne einen weiteren Blick zur Bühne zu werfen, das Theater verließ, hing wie ein Damoklesschwert über den Planeten des Solaren Imperiums. Das Katastrophale war, daß niemand die Koordinaten kannte, an deren Schnittpunkt dieses Schwert materialisieren würde. Daß es materialisieren würde, stand außer Zweifel, und es stellte sich für Atlan die Frage, was man
4 tun konnte, um der Gefahr erfolgreich zu begegnen. Bilfnei Gloddus war der Name des Mannes, der diese Gefahr symbolisierte; eine Gefahr, die leicht galaktische Ausmaße annehmen konnte. Bilfnei Gloddus, der ehemalige Kartograph der SMARGENT, der sich mit seinen neugewonnenen unheimlichen Fähigkeiten einen großen Teil der Gataser-Blues gefügig gemacht hatte. Während der Lordadmiral und Chef der USO auf Rollbändern und in Antigravliften seinem Ziel zustrebte, ließ er seinen Erinnerungen an die Geschehnisse auf der Kolonie Tromcap freien Lauf. Dort war Gloddus mit einer Flotte von Blues-Schiffen über dem Planeten erschienen und hatte an den Polen nukleare Sprengkörper installiert. Mit der Drohung, die blühende Kolonie mit den 600.000 Siedlern in eine Atomwolke zu verwandeln, hatte er das Solare Imperium erpreßt, alle terranischen Schiffe aus der Eastside abzuziehen. Außerdem hatte Gloddus verlangt, mit einem führenden Mitglied des Solaren Imperiums auf Tromcap zu verhandeln. Atlan selbst hatte diese Rolle übernommen. Und während er mit Gloddus verhandelt hatte, war es Lelle Salgouz gelungen, die Bomben an den Polkappen zu entschärfen. Dann hatte die USO zugeschlagen. Gloddus allerdings war mit der SMARGENT entkommen. Zehn Minuten später saßen sich Atlan und Lelle Salgouz in Gegenwart eines Ordonnanzoffiziers in einem der vielen Konferenzräume von Quinto-Center gegenüber. »Major Weber«, wandte sich Atlan zunächst an den Offizier, »wie sollte man das Problem Gloddus am besten anfassen?« Lelle Salgouz warf ihm einen raschen Blick zu. Der ehemalige Wolfshundzüchter, dessen Intelligenz sich seit dem Kontakt mit jenen Wesen im Zeitstrom bedeutend erweitert hatte, erkannte seine Absicht, die Eigeninitiative und Phantasie seines Mitarbeiters anzuregen. Auf seiner dicken, fleischigen Unterlippe
Klaus Fischer herumkauend, dachte der USO-Offizier nach. »Das Problem«, sagte er dann langsam, »besteht darin, daß wir nicht wissen, wo sich dieser Gloddus aufhält und an welcher Stelle er angreifen wird. Unter diesen Umständen bin ich der Meinung, daß es unsere vordringlichste Aufgabe sein muß, etwas für die Sicherheit der Siedler auf den terranischen Kolonien zu tun.« Atlan blickte ausdruckslos vor sich hin. »In diesem Punkt haben wir getan, was wir konnten«, sagte er schließlich. »Ein Übel ist aber nur dann auszurotten, wenn man es an der Wurzel packt. Es muß einen Weg geben, den Verbrecher ausfindig zu machen.« Sein Blick schwenkte herum und blieb auf dem Gesicht des Siedlers von Ammavol haften. Salgouz, der sich angesprochen fühlte, sagte: »Sie wissen, Lordadmiral, daß ich einige Male bereits versucht habe, im Zeitflimmern Kontakt mit einem jener Wesen aufzunehmen, bisher leider vergeblich.« »Ich weiß«, nickte Atlan, schwieg eine Weile und wandte sich dann abermals an die Ordonnanz: »Major Weber, lassen Sie alle Daten über die Gataser-Planeten abfragen und geben Sie sie mir auf einen Monitor in der Zentrale! Koppeln Sie eine 3D-Karte hinzu!« Der Offizier stand auf. »Selbstverständlich, Sir«, versicherte er und ging zur Tür. Als diese sich hinter ihm geschlossen hatte, breitete sich Schweigen in dem kleinen Raum aus. Salgouz betrachtete seine Fingernägel. Aber sein Blick wirkte gläsern, schien nach innen gerichtet zu sein. »Ich werde es noch einmal versuchen – und zwar jetzt gleich«, sagte er plötzlich. Der Arkonide blickte in das aufgedunsene Gesicht des Siedlers. Über den von einem Geflecht von roten Adern durchzogenen Wangen saßen zwei klein wirkende graue Augen. Wenn Salgouz sprach, sah man die schadhaften Zähne in seinem Mund. Salgouz war Alkoholiker. Auf dem Planeten Ammavol hatte er zusammen mit seinen
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beiden Frauen ein Leben abseits der Kolonistengemeinschaft geführt und war dabei total heruntergekommen. Und doch hatte dieser Mann sechshunderttausend Siedlern auf Tromcap das Leben gerettet. Woher bezog dieser Mann seine außergewöhnlichen Kräfte? Wer oder was waren diese Wesen, mit denen Lelle Salgouz in Kontakt trat, wenn er in den Zeitstrom eintrat? Atlans Spannung wuchs. Natürlich konnte er am Vorgang des sogenannten »Zeitflimmerns« selbst nicht teilhaben. Aber es war erregend genug, nach der Rematerialisierung des Siedlers, die geistigen Veränderungen zu erleben, die sein Bewußtsein mit neuen Kenntnissen und Einsichten versehen hatten. Hoffentlich hatte Salgouz diesmal Erfolg, Erfolg nämlich, was die Lösung des Problems Gloddus betraf. Atlan bemerkte die Veränderung im Gesicht des Siedlers. Im nächsten Augenblick war Salgouz verschwunden.
* Schweben und Dahintreiben. Gewichtslos, körperlos in einem dimensionslosem Medium, das nichts anderes zu sein schien als ein trübes, milchiges Etwas, das ihn umgab, hallten echoartig in ihm nach. Stimmen, wie es schien, Stimmen von ungezählten Wesen, die gleich ihm durch den konturlosen Raum schwebten. Salgouz wußte, daß dies alles nur in einem subjektiven Licht, also im Sinne Wirklichkeit war, reflektiert durch seine eigene dreidimensionale Daseinsstruktur. Sein Gehirn, unfähig höherdimensionale Gegebenheiten zu verarbeiten, transformierte diese in Ersatzvorstellungen, die seinem Verstande adäquat waren. Die vierdimensionale Zustandsform selbst hatte im niedergeordneten Raum nichts Vergleichbares. Ihre Kategorien waren nur mittelbar erfahrbar und allenfalls mathematisch beschreibbar.
Trotz allem empfand Lelle Salgouz, daß seine Beziehungen zu dem fremden Medium auf eine geheimnisvolle Weise von Mal zu Mal vertrauter und intensiver wurden. Begreifen würde er diese Welt wohl nie. Doch es schien, als ob das Etwas, in dem er ohne Orientierung dahintrieb, ihn mit einem seltsamen Wissen erfüllte, einem Wissen, von dem er freilich nur einen kleinen Teil zu artikulieren vermochte. Dann erinnerte er sich, warum er hier war, und er konzentrierte sich auf seine Aufgabe. Seine telepathischen Fühler tasteten durch das milchige Nichts. Immer wieder spürte er die Nähe anderer Lebewesen. Sie trieben an ihm vorüber, aber es gelang ihm nicht, Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Salgouz hatte jedes Zeitgefühl verloren. Und als ihm schließlich ein bernalisches Bewußtsein begegnete, wußte er nicht, daß sein Aufenthalt im Zeitstrom bereits wesentlich länger dauerte als jemals zuvor. Das Wesen, sein Name war Shankoon Faskern, schien von besonders zurückhaltender Art zu sein. Nur sehr langsam kam die Kommunikation in Gang. Ihr Terraner, klang die telepathische Stimme in seinem Bewußtsein auf, seid noch eine sehr junge Rasse. Das Stadium, in dem ihr euch befindet, haben wir schon vor undenklichen Zeiten überwunden. Dennoch, glaube ich, werdet ihr in der Lage sein, eure Probleme selbst zu lösen. Salgouz erschrak. War das eine Absage? Er versuchte dem Fremden klarzumachen, daß der Komplex Gloddus nicht nur ein Problem der Terraner war. Erst im Kontakt mit ihnen, den Bernalern, hatte sich Bilfnei Gloddus jene Fähigkeiten angeeignet, die ihn in den Stand setzten, ein Sternenreich zu vernichten, eine Galaxis zu unterjochen, wenn seinem Treiben nicht Einhalt geboten werden würde. Stärker als je zuvor, spürte Salgouz die telepathischen Reaktionen seines Kontaktpartners. Mit Verwunderung und leichter Unruhe registrierte er, daß das fremde Bewußtsein in mehr als gewohntem Maße sich mit
6 dem seinigen verband. Abwehr und Ablehnung spürte Salgouz in Faskerns telepathischer Stimme, als sie sagte: Wenn ein Terraner mit einem Bernaler Kontakt eingeht, wenn durch diesen Kontakt sein Bewußtsein erweitert, seine Fähigkeiten verstärkt werden, so ist es nicht Sache der Bernaler, was der Terraner mit diesen Fähigkeiten anfängt. Keine galaktische Rasse, gab Salgouz zurück, kann für sich in Anspruch nehmen, von Anfang an gut gewesen zu sein und immer nur Gutes getan zu haben. Im Gegenteil, das Gute setzt die Existenz des Bösen voraus. Diesem Gesetz, das dem dualistischen Bauplan des Universums, ja des gesamten Seins überhaupt entspricht, unterliegen auch die Bernaler … Salgouz, selbst überrascht über seine philosophische Exkursion, war sich nicht mehr genau im klaren darüber, inwieweit seine Gedanken noch sein geistiges Eigentum waren und nicht schon dem Einfluß des fremden Bewußtseins unterlagen. War am Ende sein eigenes Bewußtsein zum Schauplatz einer Auseinandersetzung geworden, die der fremde Geist mit sich selbst austrug? Wie kam er nur auf diesen Gedanken? Plötzlich schien er ihm absurd. Und doch spürte er deutlich, daß irgend etwas mit seinem Geist geschah. Shankoon Faskern antwortete nicht, und Salgouz begann einen zunehmenden psychischen Druck zu verspüren, gegen den er machtlos war. Der Druck wurde stärker, Emotionen, Gefühle der Ablehnung und der Angst überschwemmten ihn. Einen Augenblick kam ihm der Gedanke, von dem fremden Bewußtsein »übernommen« zu werden. Panik stieg in ihm auf. Und dann, von einem Augenblick zum andern, war alles vorbei. Faskern hatte den Kontakt zu ihm abgebrochen. Salgouz fühlte, daß der Abbruch nicht freiwillig geschehen war. Irgend etwas, irgendeine Kraft hatte den Abbruch verursacht. Er schien unwiderruflich zu sein,
Klaus Fischer so, als ob der Bernaler von nun an unerreichbar für ihn war. Lelle Salgouz kehrte in die dritte Dimension zurück. Atlan stand vor einem Monitor und las die Daten, die über den Schirm liefen, als der Siedler rematerialisierte. Der Arkonide drehte sich um, und das erste, was er sagte, war: »Sie sind ungewöhnlich lange geblieben!« Und dann, als er mit einem Blick in das von den Folgen der Trunksucht gezeichnete Gesicht erkannte, daß etwas Besonderes geschehen war, schob er dem anderen einen Becher heißen Kaffees über den Tisch. Salgouz schüttelte den Kopf. Der große, schwere Mann knetete seine fleischigen Hände und blickte vor sich hin. Atlan wartete geduldig. Schließlich griff der Mann doch noch nach dem Becher, und zwischen zwei hastigen Schlucken stieß er hervor: »Er ist weg! Ganz weg, verstehen Sie? – Irgend etwas muß passiert sein …!« Atlan wechselte die Taktik. »Salgouz!« sagte er scharf, »Nehmen Sie sich zusammen! Wer ist weg? Berichten Sie der Reihe nach!« Es half. Atlan sah, wie sich der Körper des Siedlers straffte. Er goß den Rest des Kaffees in sich hinein, und dann erzählte er. Als Salgouz geendet hatte, schwiegen beide Männer eine Zeitlang, bis der Arkonide wieder sprach: »Sie sind sich also völlig sicher, daß Faskern den Kontakt nicht freiwillig gelöst hat?« Salgouz nickte. »Woher nehmen Sie diese Sicherheit?« Salgouz holte tief Atem und sagte: »Ich … weiß es!« Atlan betrachtete ihn interessiert. »Und wohin ist er verschwunden?« fragte er dann. Salgouz blickte auf, er hob die Schultern und drehte die fleischigen Hände auswärts. »Das weiß ich nicht!« sagte er. Der Lordadmiral drehte sich um und füllte seinen und Salgouz' Becher zum zweitenmal mit Kaffee. »Sie sollten noch einmal in das Zeitflim-
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mern eintreten, Salgouz. Vielleicht erfahren Sie dann Näheres über das Phänomen.« Der Siedler, im Begriff den Becher mit dem heißen Getränk zum Munde zu führen, stellte das Gefäß abrupt ab. »Ich weiß nicht, was geschehen ist, aber ich weiß, daß ich nicht zurückgehen werde, bevor ich die Gewißheit habe, daß mein Tun nicht Dinge auslöst, die über andere Lebewesen Unheil heraufbeschwören.«
2. Wer eine höhere Zustandsform erkennt und in sie eintritt, muß alles hinter sich lassen, auch das Liebgewonnene! Shtuan Egk Bayona, aus der Zeit vor der Transformation.
* Es dauerte nur Sekunden, bis Shankoon Faskern begriff, daß etwas Ungeheuerliches mit ihm geschehen war, etwas, was kein Bernaler für möglich gehalten hatte. Er hatte seine vierdimensionale Zustandsform verloren und war in die dritte Dimension zurückgefallen. Er lag auf einem rasenähnlichen Boden, und seine Augen blickten zwischen schwarzen Flecken hindurch auf eine blaue Wand, über die dunkelgraue Schleier wallten, zwischen denen es ab und zu aufblitzte. Sterne! Durchfuhr es Faskern. Die grauen Schleier waren Wolken, die schwarzen Flecke Wipfel von Bäumen, die hoch über ihm ihre Kronen wölbten. Unfähig, sich zu rühren starrte er eine Zeitlang zu dem Himmel empor, an dem die glitzernden Punkte entstanden oder erloschen, je nachdem, welche Formationen die nächtlichen Wolken bildeten. Sterne! Eine Woge von Gefühlen überschwemmte ihn, und er war nicht fähig zu unterscheiden, ob in seinen Emotionen das Positive oder das Negative überwog. Als seine Finger nach dem Gras unter ihm tasteten, wurde er sich seines Körpers und seiner Glieder bewußt. Seine Hände griffen in den Stoff des Gewandes, das, von seinen
Schultern herabfallend, seinen Körper umhüllte. Es war ein Quasch. Derselbe, den er getragen hatte, als die Transformation begonnen hatte … Vage Erinnerungen an jene undenklich weit zurückliegende Zeit, in der er einen Körper besessen hatte, klopften ans Tor seines Bewußtseins. Aber Faskern verwehrte ihnen den Zutritt. Einziges Ziel mußte es sein dachte er, als er sich erhob und auf wackligen Beinen unsicher ein paar Schritte auf dem dichtgewachsenen Rasen machte, einziges Ziel mußte es sein, so schnell wie möglich, zu seinem Heimatplaneten zu gelangen. Er lehnte sich an einen Baum und überlegte. Doch je länger er überlegte, um so mehr wurde ihm bewußt, wie groß die Schwierigkeiten waren, die er auf seinem langen Weg nach Toulminth noch auszuräumen hatte. Er war allein auf einer fremden Welt, von der er bisher nichts weiter wußte, als daß sie eine atembare Atmosphäre besaß und Bäume und Gras. Seine Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt. Einige Schritte weiter vor ihm sah er einen hellen Streifen, in dem er unschwer einen Weg erkannte. Faskern zog den Quasch enger um seinen Körper und machte ein paar Schritte auf den Weg zu. Dichte Reihen von kniehohen Gewächsen schoben sich in sein Blickfeld. Eine Hecke. Ein Park, dachte Faskern, er befand sich in einem Park, geplant und geschaffen von intelligenten Wesen. Wie sahen sie aus? Nun, er würde es erfahren. Er würde auch erfahren, ob sie Raumhäfen besaßen und Schiffe, mit denen man ihren Planeten verlassen konnte. Es raschelte. Faskern, der nach rechts blickte, wo mannshohe Silhouetten die Existenz von weiterem Buschwerk andeuteten, gewahrte einen Schatten, der über das Gras glitt. Ein Tier! Es näherte sich dem Bernaler, wobei es schnaufende Töne von sich gab. Faskern stand wie angewurzelt. Das Tier hatte die Größe und auch etwa die Form ei-
8 nes Kuttongs. War es auch so harmlos? Als es Faskern fast erreicht hatte, blieb es stehen, richtete sich auf den kurzen Hinterbeinen auf und sog witternd die Luft ein. Langsam ging Faskern in die Kniebeuge und streckte zögernd eine Hand aus, dem kleinen Wesen entgegen. Gleichzeitig sagte er etwas. Ja, es sah genau wie ein Kuttong aus. Es hatte einen kleinen, in eine spitze Schnauze zulaufenden Kopf, und der plump wirkende Rumpf war von einem undurchdringlichen Stachelmantel umgeben. Das Tier schien einen Augenblick lang der sanften Stimme nachzuhorchen, dann senkte es den Körper wieder auf die Vorderfüße hinab und stapfte durch das raschelnde Gras davon. Die Spitzen der Stacheln glänzten, und Faskern bemerkte, daß ein fahles Licht eine breite Schneise durch den Park geschnitten hatte. Er drehte sich um und blickte in das gelbe kalte Licht eines riesigen Mondes. Die Wolkenschwaden waren verschwunden. Der Himmel schien leergefegt, und auf dem stumpfen Blau blinkte ein Meer von Sternen. Und einer von ihnen zog, gefolgt von einem schmalen weißen Schleier, eine Handbreit unter dem gelben Mond vorbei. Faskern wußte, was der Schleier bedeutete: der heiße Strom ionisierten Plasmagases. Ein Raumschiff. Eine Zeitlang setzte es seinen horizontalen Flug fort, dann beschrieb es einen steilen Bogen der Erdoberfläche entgegen. Sekunden später drang ein Grollen an das Ohr des Bernalers, wurde lauter und starb dann plötzlich ab. Der Kommandant hatte das Korpuskulartriebwerk abgeschaltet und strebte mit aktiviertem Antigravantrieb dem Landefeld entgegen. Seine Chancen waren gestiegen dachte Faskern. Wo immer die Welt sich befand, auf der er wieder verstofflicht war, die Wesen, die dort lebten, betrieben Raumfahrt. Seine nächsten Gedanken dämpften freilich den aufkommenden Optimismus wieder. Die Tatsache allein, daß die Planetarier ein raumfahrendes Volk waren, bot besten-
Klaus Fischer falls eine gewisse Wahrscheinlichkeit, daß das technische Problem, Toulminth zu erreichen, zu lösen war. Die Frage, ob er sich nicht in einer fremden Galaxis, ja, sogar in einem fremden Universum befand, mußte erst noch beantwortet werden. Eine Spezies, die den Antigravantrieb erfunden hatte, mußte einen hohen technologischen Stand erreicht haben. Es bedeutete jedoch noch nicht, daß ihre Raumschiffe in der Lage waren, galaktische Abgründe zu überbrücken. Auch sagte der Stand der Technologie eines Volkes nichts über seine Ethik und Moral aus. Das Problem seiner Rückkehr in das Ovendeno-System war also mit der Frage verbunden: Wie würden sich die Bewohner dieser Welt ihm gegenüber verhalten? Er hörte Stimmen. Obwohl sie noch weit entfernt schienen, glaubte Faskern zu wissen, daß die Töne nicht von Tieren, sondern von intelligenten Wesen stammten. Die Stimmen kamen näher, wurden deutlicher. Es waren zwei. Die eine bewegte sich in einem wesentlich höheren Frequenzbereich als die andere. Zwischen beiden schien sich eine Art Dialog abzuspielen. Dann hörte Faskern das Lachen. Es stieg dem Klang der Dynghi-Glocken ähnlich, in einer schnellen Kaskade in die Nachtluft. Lachen! Faskern schloß für einen kurzen Moment die Augen. Erneut bedrängte ihn die Frage, wie diese Lebewesen wohl aussehen mochten. Kurz darauf entfernten sich die Stimmen wieder, ohne daß der Bernaler ihre Träger zu Gesicht bekommen hätte. Faskern folgte ihnen. Er achtete darauf, daß die Distanz zwischen ihm und den beiden Fremden etwa gleich blieb. Plötzlich wurde es heller. Allerdings kam der Schein von vorn. Und nach einer Weile konnte Faskern in der wachsenden Helligkeit die Silhouetten der beiden vor ihm Gehenden erkennen. Faskern zuckte zusammen. Einen Augenblick lang glaubte er, zwei Bernaler vor sich zu sehen. Aber dann bemerkte er, daß die
Der Zeitnomade Planetarier von gedrungener starkgliedrigerer Art waren. Von dort, wo der Lichtschein herkam, drangen noch andere Stimmen zu ihm herüber. Vorsichtig ging Faskern wieder weiter. Der Weg machte einen Knick nach rechts. Die Gestalten der beiden Fremden verschwanden wieder im Dunkel. Dann hörte er andere Stimmen, verbunden mit seltsam ratternden Tönen, die hin und wieder von lautem Gekreisch unterbrochen wurden. Noch war ihm die Sicht durch eine Gruppe von Bäumen mit dichten, weitausladenden Kronen verwehrt. Zwischen ihnen sah er helle Lichtbahnen. Aber dann, als er noch einige Schritte gegangen war, und er vorsichtig zwischen zwei Stämmen nach vorn spähte, sah er eine riesige Arena vor sich liegen, eine Freilichtprojektionsanlage. In der Mitte befand sich der kugelförmige Projektionsschirm. Das dreidimensionale Geschehen, das sich auf ihm abspielte, wurde wahrscheinlich in einem holographischen Verfahren von Projektoren erzeugt, die sich neben anderen Geräten auf einer Antigravplatte befanden, die hoch über dem Ganzen schwebte. Der wechselnde Lichtschein, der von dem Kugelbildschirm ausging, beleuchtete die Zuschauer, die in Sesselreihen ruhten, die in konzentrischen Kreisen um den Mittelpunkt tribünenartig emporstiegen. Die Anlage befand sich in einer künstlich angelegten Senke, so daß Faskern sie gut überblicken konnte. Der Bernaler war auf einmal hellwach. Hier bot sich eine einzigartige Gelegenheit, sich alle Informationen anzueignen, die zum Gelingen seines Planes notwendig waren. Vorsichtig und noch immer bemüht, nicht entdeckt zu werden, schritt Faskern näher heran, bis er eine Stelle gefunden hatte, wo er, im Schutze dichten Buschwerks, genauen Einblick in die Szenerie hatte. Bereits der erste Blick zu den Zuschauern hinüber ließ ihn erkennen, daß seine Vorsicht überflüssig gewesen war. Zwar war die Mehrzahl der Lebewesen von der gleichen Gestalt wie jene beiden, die ihm im Park begegnet waren.
9 Doch befand sich unter den Planetariern auch eine große Anzahl von Wesen, die den verschiedensten Lebensformen angehörten. Zum erstenmal war Faskern in der Lage, auch die originalen Bewohner des Planeten genauer zu betrachten. Diese Wesen waren, verglichen mit den Bernalern, kräftiger, kurznackiger und größer – einige Individuen überragten ihn um mehr als einen Fuß. Auch besaßen sie nicht, soweit dies im Kunstlicht zu erkennen war die für einen Bernaler charakteristische Hautfarbe. Das auffälligste an ihnen war jedoch das zum Teil äußerst dichte Haupthaar. Faskern warf noch einen letzten prüfenden Blick in die Runde. Ein Fremder mehr oder weniger würde hier nicht auffallen. Entschlossen verließ er seine Deckung und ging ruhigen Schrittes den Weg hinab bis zu einer Stelle, an der auf einer Art Plattform eine Gruppe Planetarier und anderer Wesen stand, die von hier aus an der Vorführung teilnahmen. Faskern mischte sich unauffällig unter sie und stellte befriedigt fest, daß niemand von ihm Notiz nahm. Es gelang ihm, eine Position zu finden, von der aus er sowohl das Geschehen auf dem Kugelbildschirm als auch das Verhalten der Zuschauer genau beobachten konnte. Im nächsten Außenblick begann sein Verstand mit der Geschwindigkeit und Vollkommenheit eines elektronischen Rechners zu arbeiten. Faskern begann mit der Bestandsaufnahme. Er konzentrierte sich auf das Geschehen auf dem Kugelschirm, fand aber nebenbei noch die Zeit, die Reaktionen der Zuschauenden zu beobachten und zu registrieren. Zunächst schien eine Art Nachrichtensendung abzulaufen. Ein Kommentator berichtete, und während seiner Schilderungen blendete er die Szenen der geschilderten Ereignisse ein. Dabei fand Faskern Gelegenheit, bauliche, technische kulturelle, wissenschaftliche, wirtschaftliche, soziologische, raumfahrttechnische und andere Gegebenheiten kennenzulernen. Natürlich blieb das Hauptproblem die Er-
10 lernung der Sprache. Aber dieses Problem war nur zu lösen, wenn dem Gehirn eine entsprechende Menge von visuellen und akustischen Vergleichsdaten übermittelt wurden. Im zweiten Teil des Programms glaubte Faskern zunächst, eine fiktive Abenteuergeschichte sehen zu müssen. Der Held schien nahezu omnipotent zu sein. Er beherrschte Teleportation, Telekinese und sogar Telepathie. Dieses Wesen, das, meist unter Einsatz seines Lebens, am laufenden Bande erstaunliche Heldentaten vollbrachte, war erstaunlicherweise kein Angehöriger dieses Planeten. Es war ein kaum mehr als vier Fuß großes Pelztier. Bald erkannte Faskern, daß es sich keineswegs um eine Märchenfigur handelte, in der sich etwa die Sehnsüchte, Wünsche, Hoffnungen und Träume der Planetarier symbolisierten, sondern vielmehr um ein Wesen aus Fleisch und Blut, dessen Persönlichkeit mit der Geschichte dieses Planeten in inniger Verbindung stand. Das Verhalten der Zuschauer, bis dahin nicht eben interessiert, veränderte sich mit dem Auftritt des kleinen Pelzwesens. Die Skala der schnellwechselnden Gefühle auf den Gesichtern spiegelte die steigende und fallende Erfolgskurve des kleinen Mutanten wieder, der am Ende über alle seine Feinde zu triumphieren schien. Ausrufe wurden laut, und zuweilen wurde das Publikum von den Taten seines Helden zu Beifallsstürmen hingerissen. Herzliches Lachen klang auf, wenn das Pelzwesen seinen Mund öffnete und seinen einzigen übergroßen Nagezahn präsentierte. Dann folgte eine Sendung, in der anscheinend exobiologische und hygienische Probleme auf einem urweltlichen Planeten behandelt wurden. Faskern stand wie aus Erz gegossen. Durch die weitgeöffneten Tore seiner Sinne floß ein ununterbrochener Strom von Informationen in die Zentren seines Gehirns. Dort wurden sie gespeichert, verglichen und verarbeitet. Doch der Denkprozeß, der dabei
Klaus Fischer stattfand, war nicht vergleichbar mit demjenigen, der sich in einem rein dreidimensional organisierten Bewußtsein vollzog. Die Veränderungen, die sich in seinem Geist während seines Aufenthaltes in der vierdimensionalen Existenzform vollzogen hatten, verhalfen dem Bernaler zu einer Art raumzeitlicher Gesamtschau. So gelang es Faskern, aus dem komplexen Beziehungsgeflecht zwischen dem Geschehen auf dem Bildschirm, den begleitenden Sprachtexten sowie dem mimischen und akustischen Verhalten der Zuschauer binnen kurzem das Schema der Sprache zu erlernen. Das sich von nun an laufend ergänzende Vokabular sowie die Kenntnisse in der Grammatik und der Syntax des Terranischen, wie die hierzulande gebräuchliche Sprache hieß, würden genügen, um Kommunikationsschwierigkeiten zu vermeiden und weitere lebenswichtige Informationen zu erlangen. Die Analyse, die sein Verstand zu gleicher Zeit ausgeführt hatte, würde ihn in die Lage setzen, das Verhalten der Angehörigen der planetaren Gesellschaft in kritischen Situationen richtig voraussagen zu können. Als das Programm schließlich beendet war, die Zuschauer sich erhoben und ihres Weges gingen, wußte Faskern, daß er seinem Ziel wieder ein Stück näher gekommen war. Der Kugelbildschirm war erloschen. Der gelbe Mond hatte mittlerweile fast den gesamten Himmel überquert, hatte sich erneut mit Wolkenschleiern umhüllt und machte sich bereit, diese Planetenhälfte zu verlassen. Sein ermattendes Licht fiel schräg auf einen breiten Weg, der die Freilichtprojektionsstätte umlief. Faskern betrat ihn, um auf diese Weise mit dem Hauptstrom der Passanten zusammenzutreffen, der im Begriff war, sich aus der Parkregion zu entfernen. Es waren in der Mehrzahl Terraner, wie sich die Bewohner dieses Planeten selbst nannten. Aber unter ihnen befand sich auch eine Anzahl fremder Lebewesen, und Faskern zögerte nicht, sich ihnen anzuschließen. Kurz darauf änderte sich die Landschaft
Der Zeitnomade schlagartig. Die gepflegten, kiesbestreuten und von Busch und Baumreihen flankierten Wege endeten abrupt. Vor dem Bernaler erstreckten sich, von verborgenen Lichtquellen indirekt beleuchtet, breite Kunststoffbahnen, die in Bewegung waren. Transportbänder, dachte Faskern und folgte der Menge, die sich auf die Mobilstraße ergoß und größtenteils nach links davontragen ließ. Wie die anderen Passanten wechselte auch Faskern mehrmals von einer Bahn zur anderen und erhöhte somit allmählich seine Geschwindigkeit. Der Bernaler überlegte, wie er herausfinden konnte, wo der Raumhafen lag, und auf welche Weise er dorthin gelangte. Das einfachste wäre gewesen, einen der Terraner zu fragen. Doch er schreckte davor zurück, seine Ortsunkenntnis einzugestehen und sich dadurch vielleicht verdächtig zu machen. Dann erweckten optische und akustische Signale seine Aufmerksamkeit. Die Signale bedeuteten, wie er auf einem der Filme gesehen hatte, daß man sich einem Einstieg der unterirdischen Rohrbahn näherte. Er sah, wie eine größere Anzahl der Passanten über Verzögerungsbänder hinweg die Transportstraße verließen, und er tat es ihnen gleich. Minuten später gähnte vor ihm die breite Schachtöffnung, und inmitten einer Gruppe lärmender Terraner ließ er sich von einer Gleittreppe hinabtragen. Auf der Sohle angekommen, fiel sein Blick auf eine Reihe von Leuchttafeln. Als er an die erste herantrat, ertönte eine mechanische Stimme: »Terrania-City-Hauptübersichtsplan. Sprechen Sie Zielangabe in Mikrophon!« Der Automat schien die Anweisungen noch in verschiedenen Sprachen zu wiederholen. Der Bernaler zögerte einen Augenblick, dann sagte er: »Raumhafen.« Es knackte, und dann: »Zielangabe unzureichend. Welcher Raumhafen?«
11 Wieder zögerte er: »Raumhafen für zivilen interstellaren Verkehr«, sagte er dann und wartete gespannt, ob seine Angaben für die fremde Positronik verwertbar waren. Statt einer Antwort leuchtete auf dem Übersichtsplan eine rote Linie auf, die, von einem gelbleuchtenden Kreis ausgehend (vermutlich sein jetziger Standort) quer über die Karte verlief. An seinem Ende prangte ein Symbol: Ein silbernes stilisiertes Raumschiff in einem schwarzen Quadrat. Der Raumhafen! Erneut klang die Robotstimme auf: »Benutzen Sie Linie R 22 via GobiTerrassen! – Nehmen Sie Ticket für Zone 18!« Faskern blickte noch einmal auf die große Karte, um sich die Grundzüge des Stadtbilds genau einzuprägen. Dann sah er sich um. Die Terraner, mit denen zusammen er gekommen war, waren inzwischen verschwunden. Faskern ging den Gang entlang. Nach einer Weile machte dieser einen Knick um 90 Grad, und der Bernaler fand sich vor einem Gebilde, das eine Sperre sein mußte. Und dahinter war eine große gläserne Tür, durch die hindurch er in eine langgestreckte erleuchtete Halle blickte. In der Mitte der Halle befand sich eine mit Kunststofffliesen ausgelegte Plattform, die an beiden Seiten von einem Gitter abgeschirmt war. Auf der Plattform stand eine Anzahl Terraner und anderer Lebewesen, die auf den Zug warteten. Plötzlich flammten über den Köpfen Leuchttafeln auf, aus Lautsprechern plärrten Robotstimmen, und das Verhalten und der Gesichtsausdruck der Wartenden veränderte sich jäh. Teilnahmslosigkeit und Langeweile wichen aus den Mienen und machten einer gewissen Gespanntheit Platz, die sich auch in ihren Gesten niederschlug. Die Köpfe wandten sich nach rechts, von woher ein allmählich stärker werdendes Grollen die Ankunft des Zuges ankündigte. Faskern trat an die Sperre heran und, nachdem er sich durch einen Blick auf eine
12 der Leuchttafeln überzeugt hatte, daß es die Linie R 22 war, die da soeben einfuhr, wollte er in die Halle eilen. Aber die metallenen Stangen rückten und rührten sich nicht. Und als plötzlich an seiner linken Seite eine Automatenstimme schnarrte: »Zugang geschlossen. Benutzen Sie nächsten Zug! Werfen Sie Ticket in den Eingabeschlitz!« wußte er, daß die Schwierigkeiten begonnen hatten. Während Faskern über den Fehler nachdachte, den er gemacht hatte, sah er geistesabwesend zu, wie der Zug, ein stromlinienförmiges Gebilde, zum Stehen kam, das Schutzgitter in den Boden sank, und sich die Reisenden durch die geöffneten Türen in das Innere der Wagen zwängten. Wie töricht, dachte er, er hätte es wissen müssen. Die Terraner benutzten eine bestimmte Art von Zahlungsmitteln. Als der Zug mit hoher Beschleunigung anfuhr und aus der verlassenen Halle verschwand, drehte sich der Bernaler um und ging den Gang zurück. Er erinnerte sich, daß gegenüber den Stadtplantafeln rechteckige Paneele in die Wand eingelassen waren. Als er die Stelle erreicht hatte, bestätigte sich seine Vermutung. Es waren Ticketautomaten. Faskern studierte einen der Apparate für einen Moment. Dann rückte er auf der Tastatur die Ziffernfolge nulleinsacht. Ein Schirm erhellte sich, und eine Schriftzeile erschien. Ein rotleuchtender Pfeil deutete auf einen Schlitz. Faskern kreuzte die Arme. Noch war ihm das Schema der Schrift unklar. Es fehlte ihm an Vergleichsdaten. Aber es bedurfte keiner großen Intelligenzleistung, um zu erraten, daß es sich um eine Anweisung handelte, die den Wert des Zahlungsmittels betraf, das in den Schlitz geworfen werden mußte. Wie aber sollte er an das Zahlungsmittel herankommen? Und, wie um die Schwierigkeit noch zu unterstreichen, in der er sich befand, spürte er ein längst vergessenes Gefühl: Hunger! Ja, dachte er, er besaß wieder einen Kör-
Klaus Fischer per. Von nun an würde er öfter daran erinnert werden. Hinter ihm sagte eine dröhnende Stimme: »Na, Kleiner, kein Geld mehr?« Faskern fuhr herum. Vor ihm stand eine riesige Gestalt. Sie war zweifellos terranoid. Doch die ungewöhnlichen Proportionen gaben dem Riesen eine erschreckende Fremdheit. Faskern schätzte seine Höhe auf mindestens acht, seine Schulterbreite auf sieben Fuß. Seine Haut hatte einen rotbraunen Ton. Bis auf einen sandfarbenen Haarkamm war der Schädel kahl geschoren. Der Koloß verzerrte sein Gesicht zu einem gutmütigen Grinsen und rief: »Friß und werde dick!« Faskern war nur eine Sekunde verblüfft. Dann folgerte sein Verstand, daß die ungewöhnliche Ansprache eine Grußformel darstellte. Er erinnerte sich, in einem der Filme einige dieser Wesen gesehen zu haben. Es waren vermutlich Terraner, die auf einen Riesenplaneten ausgewandert waren und sich der dort herrschenden hohen Schwerkraft angepaßt hatten. Der Riese hier hatte gewiß gelegentlich Ernährungsschwierigkeiten, dachte er und spürte sein eigenes Hungergefühl stärker werden. Vorsichtig erwiderte er: »Ich wünsche Ihnen das gleiche!« Der Fremde musterte ihn einen Augenblick erstaunt. Dann flog wieder das Lächeln über sein Gesicht, und er dröhnte auf den Bernaler herab: »Sie sind höflicher als ein Terraner. Ich bin Toronar Alburs. Meine Heimat ist der Planet Ertrus. Ich glaube, ich habe Sie heute nacht schon einmal gesehen. Im Freilichtkino. Sie standen in der Nähe und sahen sich ein paar Filme an. Übrigens …«, der Ertruser musterte Faskerns haar und bartlose Erscheinung genauer, »von welchem Planeten stammen Sie?« Faskern blickte dem anderen ins Gesicht. Sein Verstand arbeitete auf Hochtouren. Der Fremde hatte offene, vertrauenerweckende Züge. Ruhig erwiderte er den Blick des Bernalers, der sekundenlang zu ihm emporstarr-
Der Zeitnomade te. Faskern konnte an dem andern nichts entdecken, was ihn zur Vorsicht mahnte. Dennoch entging ihm nicht die unerhörte Wachsamkeit, die in den Augen lag. »Ich komme von Toulminth«, sagte er. »Von … was?« Der Ertruser blinzelte verblüfft. »Ist das was zum Essen?« Der Bernaler verstand diese Wendung nicht. Er entgegnete ernsthaft: »Nein, so wird meine Heimatwelt genannt.« Der Riese erschreckte Faskern mit einem brüllenden Gelächter. »Nein, so etwas …« Er schüttelte den kantigen Schädel, daß der Sichelkamm nur so flog. »Er ist ja ein Schalk!« Toronar Alburs machte Miene, dem Bernaler auf die Schulter zu klopfen, besann sich dann aber und fragte statt dessen: »Wo wollen Sie denn hin? Vielleicht haben wir dieselbe Route?« »Ich … habe es mir anders überlegt«, stammelte Faskern. Das gutmütige Gesicht glich einem aufgeschlagenen Buch. Für einen Moment flackerte Mißtrauen auf wich dann einer Art besorgter Neugier und machte schließlich dem Ausdruck milder Teilnahme Platz. »Der Kleine ist blank!« sagte er mit gutmütigem Spott. »Wo will er denn hin?« Er blickte über den Kopf des Bernalers hinweg auf die Leuchtschrift, die noch immer auf dem Paneel flimmerte. »Zone 18. Hm …« Er steckte beide Hände in die riesigen Taschen seiner Hose und kramte darin herum. Da er nicht fand, was er suchte, knöpfte er dann den obersten der kunstvoll verzierten Lederknöpfe auf, mit denen er seine Jacke bis zum Hals geschlossen hielt. Seine Hand griff hinein und brachte eine fußlange Ledertasche zum Vorschein, die er öffnete. »Dies wird ihm erst mal aus der Klemme helfen«, sagte er und fingerte in der Tasche herum. Faskern überlegte, ob das »er« und »ihm« eine vertrauliche Anredeform, oder der Ausdruck der Überlegenheit bedeutete, die der Riese ihm gegenüber fühlte. Dann sah er, wie Toronar Alburs ein papiernes Gebilde
13 zwischen den Fingern hielt und es ihm hinstreckte. »Da! Das reicht für hin und zurück und ein paar Steaks dazu!« Als Faskern zögerte, griff der Ertruser über die Schultern des Bernaler hinweg und steckte den Schein in den Schlitz des Ticketautomaten. Dann hob er die Rechte zu einer grüßenden Geste, drehte sich um und stapfte mit schweren Schritten in Richtung Bahnsteighalle davon. Faskern blickte ihm stumm nach. Abwesend hörte er das Klicken der Maschine, und als er sich dem Automaten zuwandte, füllte sich die eine Hälfte des zweigeteilten Ausgabefachs mit scheppernden runden Metallstücken. In der anderen Hälfte schimmerte bereits eine weißleuchtende Kunststoffolie: das Ticket. Das Wesen von Toulminth nahm Wechselgeld und Ticket an sich und machte sich auf den Weg zu den Zügen. Als er ein paar Schritte gegangen war, spürte er, wie der Boden unter seinen Füßen vibrierte. Diesen Zug würde er nicht mehr erreichen. Vielleicht würde Toronar Alburs ihn benutzen. Dann stand er wieder vor der Glaspforte. Während er das Ticket in den Eingabeschlitz des Kontrollautomaten warf, sah er, wie soeben ein Zug in steigender Geschwindigkeit die Halle verließ. Schattenhaft glaubte er eine grüßende Handbewegung hinter einem der Fenster zu sehen. Aber er konnte sich auch getäuscht haben. Die Automatenstimme schnarrte: »Zugang zu Bahnsteig drei. Nächster Zug Linie R achtzehn!« Gleichzeitig glitt die Glasflügeltür nach beiden Seiten auf, und Faskern betrat die Bahnsteighalle. Minuten später saß er in den gutgepolsterten Sitzen eines terranischen Rohrbahnzuges. Um diese nächtliche Zeit hatte er nicht mehr allzu viele Passagiere zu befördern. In seinem Abteil war Faskern der einzige Reisende. Und so konnte er, ohne Aufsehen zu erregen, darangehen, auch noch die terranische Schrift zu erlernen.
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Klaus Fischer
Sorgfältig studierte er die beschrifteten Streckenkarten, Gebrauchsanweisungen, Prospekte, Verhaltensgebote und Hinweise. Nicht lange, dann hatte er herausgefunden, daß das System dieser Schrift auf der Anwendung einer sehr beschränkten Anzahl von Lautzeichen beruhte. Der Rest war für den Bernaler dann nur noch ein Kinderspiel. Und als der Zug aus dem Stollen heraus in die Halle des Raumhafenbahnhofs hineinbrauste, überlegte er, was wohl das Wort bedeuten konnte, dessen Zeichen er auf einem kleinen ovalen Schild gesehen hatte, als Toronar Alburs seine Ledertasche geöffnet hatte. Er buchstabierte vor sich hin: SolAb.
3. Johann F. Douglas, Agent der Solaren Abwehr im Range eines Sergeants, war schlecht gelaunt. Er fluchte so laut und ungeniert, daß ein paar ältere Frauen, die aus der Zollstation kamen, stehenblieben und den Kopf schüttelten. »Schlechte Manieren!« und »diese jungen Männer!« empörten sie sich. Douglas hörte sie nicht. Wenn er auch so manchen Fehler machte, auf eine Aufgabe konzentrierte er sich stets voll und ganz. Und im Moment sah er es als Hauptaufgabe an, sein in zahlreichen Einsätzen erworbenes Repertoire an Schimpfworten abzuspulen. Seine verbale Kanonade richtete sich gegen seinen Vorgesetzten, der ihm vor wenigen Minuten einen Verweis via Funk ausgesprochen hatte. Hätte Douglas nur eine Spur von Selbstkritik besessen, so hätte er zugeben müssen, daß die Rüge angesichts seines Versagens in der Sullaimann-Affäre berechtigt war. Indes, Tugenden wie Objektivität und Einsicht kannte er nur vom Hörensagen. Johann F. Douglas hatte während seiner langen Dienstzeit mehrmals einen höheren Dienstgrad besessen als seinen jetzigen. Aber sein krankhafter Ehrgeiz, gepaart mit
starken Minderwertigkeitskomplexen und einem gehörigen Schuß Hysterie, sowie seine Unbesonnenheit und Selbstüberschätzung hatten seine Karriere immer wieder unterbrochen und sie zur Zeit einem neuen Tiefpunkt zugeführt. Der SolAb-Agent ging am Rand des riesigen Landefeldes entlang und näherte sich einer Gruppe von zylinderförmigen Raumschiffen, die auf ihren Teleskopbeinen in den anbrechenden Tag hineindämmerten. Er fluchte noch immer. Mitten in der Nacht hatte man ihn aus dem Schlaf geholt und ihm den Auftrag erteilt, einen gewissen Smith, wer immer dies war, am Raumhafen abzufangen, und ihm zum Hauptquartier der SolAb zu bringen. Das Schiff, mit dem dieser Smith ankommen sollte, die SVETLA RUBINOVA, sollte morgens um 5.30 Uhr landen. Douglas, der schon beizeiten an Ort und Stelle seine Position bezogen hatte, war nach zweistündigem Warten darüber informiert worden, daß die SVETLA RUBINOVA mit einer 24stündigen Verspätung landen würde. Damit nicht genug, hatte ihm der Leutnant gleichzeitig den offiziellen Verweis des Sektionschefs übermittelt. Douglas konnte sich gut das schadenfrohe Grinsen des Ertrusers vorstellen, während er mit ausdrucksloser Stimme das Schriftstück vorgelesen hatte. Der Agent spuckte auf den Boden. Dieser verdammte Fleischkloß, der nichts weiter im Sinn hatte, als anderen Leuten eins auszuwischen und auf ihre Kosten Karriere zu machen! Aber er, Douglas, würde ihm die Suppe versalzen. Während er auf diese Weise, wie gewöhnlich, seine eigenen Emotionen auf eine andere Person projizierte, hatte er die Raumschiffe erreicht. Sie ragten wie riesige Statuen in den Himmel empor, und hinter ihnen zwängte sich die bleiche Januarsonne über den Horizont. Doch nicht das Stelldichein, das Technik und Natur in diesem Augenblick zusammenführte, war es, was den Blick des SolAb-
Der Zeitnomade Agenten fesselte. Sein erfahrenes Auge hatte vielmehr einen Schatten wahrgenommen, der sich zwischen den schwarzen Silhouetten bewegte, um dann plötzlich hinter einem der gigantischen Zylinder zu verschwinden. Douglas war stehengeblieben. Er blickte zu den Walzenschiffen hinüber. Da sein Haupteinsatzgebiet der Raumhafen und seine Umgebung war, kannte er sich hier gut aus. So wußte er auch, daß die Springersippen, denen diese Schiffe gehörten, frühestens in zwei Wochen die Erde wieder verlassen würden. Sie hatten, wie ihm ebenfalls bekannt war, mit einem führenden terranischen Handelsunternehmen ein finanzträchtiges Projekt ausgehandelt und wollten den kommerziellen Erfolg in den Amüsierbetrieben der Riesenstadt gebührend feiern. Der Patriarch hatte sich mit seiner Sippe irgendwo eingemietet. In den Schiffen befand sich lediglich eine Wache, die von Zeit zu Zeit abgelöst wurde. Der SolAb-Agent überlegte. Es war an und für sich nichts Ungewöhnliches, daß einer der Männer sein Schiff verließ. Es gab genug Gründe hierfür, und sei es, daß der Springer eines der anderen Schiffe aufsuchen wollte. Etwas widersprach jedoch dieser Annahme. Obwohl Douglas im Gegenlicht der tiefstehenden Sonne nur eine Silhouette gesehen hatte, war ihm nicht entgangen, daß das Wesen, das sich dort bewegte, kein Springer sein konnte. Dafür war es viel zu klein. Natürlich konnten hinter diesem Umstand durchaus harmlose Gründe stehen. Douglas jedoch schob diese Möglichkeit von vornherein beiseite. Er mußte endlich eine Tat vollbringen, die seine Vorgesetzten von seinen überragenden Fähigkeiten überzeugen würde. So war es denn für ihn eine ausgemachte Sache, daß sich dort bei den weißen Schiffen etwas Illegales anbahnte. Mit ein paar raschen Schritten überquerte er die Distanz bis zu dem vordersten Raumschiff. Er verbarg sich hinter einer der mächtigen Landestützen. Mit der Hand die Augen gegen die flacheinfallenden Strahlen der
15 Sonne abschirmend, suchte er das Gelände nach dem Fremden ab. Er wußte, daß sein Standort nicht sehr günstig gewählt war. Die Sonne, die jetzt ihre volle Größe erreicht hatte, behinderte ihn stark. Sie würde ihn selbst in helles Licht baden, sobald er den Schutz des Landebeines verließ. Es schien daher angeraten, die Position zu wechseln, um von einer günstigeren Seite aus sein Vorhaben durchzuführen. Auf der anderen Seite fürchtete der Agent, daß er dann zuviel Zeit verlor, und der Fremde entwischen oder aber in das Innere eines der Raumschiffe verschwinden würde, bevor der Agent ihn gefunden hatte. Dann sah er den Fremden wieder. Er befand sich vor dem am weitesten links stehenden Walzenschiff. Er mußte soeben aus dem Schatten der mächtigen Verladerampe herausgetreten sein, die die Springer noch nicht wieder eingefahren hatten. Er drehte dem Agenten den Rücken zu, und dieser konnte ihn genauer betrachten. Er war tatsächlich von geringer Körpergröße. Etwa 1,60 m oder so, schätzte Douglas. Der Körper schien schmalgliedrig zu sein. Auffallend war der lange Hals. Die ganze Gestalt war deutlich humanoid. Douglas überlegte, ob er zu dem Fremden hinübergehen und ihn einem Verhör unterziehen sollte. Doch dann entschied er sich dagegen. Es war besser, ihm Gelegenheit zu geben, sein Vorhaben, was immer das war, durchzuführen. Doch in diesem Punkt wurde er enttäuscht. Der Fremde setzte sich plötzlich in Bewegung und begann, sich mit schnellen Schritten von den Raumschiffen zu entfernen. Douglas, der gerade seine Waffe überprüft hatte, steckte diese fluchend wieder weg und eilte dem anderen nach. Der Betrieb auf dem riesigen Landefeld, das in Frei und Sperrzonen unterteilt war, schwoll, entsprechend den Lande und Startzeiten der Raumschiffe, sporadisch an und ab. Im Augenblick, stellte Douglas fest, schien er sich wieder einmal einem Höhe-
16 punkt zu nähern. Der Agent blickte auf seine Uhr. Beiläufig fiel ihm ein, daß in einer Stunde die SALVATORE DEI BOSCHI, ein Frachtraumer, der auch Passagiere mit an Bord nahm, ins Wegasystem startete. Fracht und Passagier-Zubringerfahrzeuge kreuzten seinen Weg, und vor ihm quollen Reisende, Schaulustige und vereinzelt auch Mitglieder der Mannschaft aus den Schächten der Rohrbahn und stellten sich an den Gleiterrampen auf. Die Zugänge zur magnetischen Schnellbahn waren es auch, die der Fremde ansteuerte, wie der Agent längst gemerkt hatte. Douglas verringerte den Abstand zwischen sich und dem Verfolgten. Noch war der andere, wie der Agent meinte, ahnungslos. Aus diesem Grunde rechnete er auch mit keinerlei Schwierigkeiten. Hinter ihnen und vor ihnen bewegten sich jetzt Passanten. Fast gleichzeitig erreichten beide den Eingang zur Fahrtreppe, und glitten nahezu in Tuchfühlung, zur Vorhalle hinunter. Douglas starrte auf die grünliche, im Kunstlicht fahl schimmernde Haut des Fremden, der im übrigen vollkommen haarlos zu sein schien. Als sie dann an den hohen Spiegelpfeilern vorbei in die Verteilerhalle schritten, konnte der Agent das erstemal das Gesicht des Fremden sehen. Für einen Moment blickte er in ein Paar übergroßer Augen, die ihn ihrerseits eine Sekunde lang musterten. Douglas spürte ein unbehagliches Gefühl. Von den Augen des andern ging eine Ausstrahlung aus, deren Art er nicht zu deuten wußte, und die deshalb sein Mißtrauen verdoppelte. Hatte der Fremde Verdacht geschöpft? Merkte er, daß er beschattet wurde? Der Fremde steuerte zielbewußt auf einen der Ticketautomaten zu, die in eine Wand eingebaut waren. Douglas ging dicht hinter seinem Rücken vorbei zum nächsten Automaten. Dabei stellte er durch einen schnellen Blick fest, was der Fremde gewählt hatte: ein Expreß-Ticket. Die Expreßzüge hatten eigene Bahnsteige
Klaus Fischer auf dem untersten Stockwerk. Sie verkehrten zwischen den Brennpunkten der Stadt, ohne unterwegs zu halten. Der SolAb-Agent stellte dieselbe Zahlenfolge ein und steckte eine Münze in den Zahlschlitz. Er entnahm dem Ausgabefach Ticket und Wechselgeld und schlenderte dann zu den Buchauslagen hinüber. In die Glasscheibe blickend, beobachtete er, was der Fremde machte. Jener betrachtete einen Augenblick die Fahrkarte in seiner Hand. Dann hob er den Blick, um sich an den Hinweisschildern zu orientieren, die über den Automaten angebracht waren. Schließlich schlug er die Richtung zu den Etagenlifts ein. Dabei schien er für den Agenten geradewegs durch einen Stapel altertümlicher Makrobücher zu gehen, über den ein mit den dreidimensionalen Konterfeis von Perry Rhodan, Atlan und Reginald Bull, versehenes Plakat den »Bestseller des Jahrhunderts« anpries: Jacobin Dumont, Interviews mit Aktivatorträgern. Langsam drehte sich Douglas um und folgte dem Fremden. Fünfzig Meter weiter wandte sich jener plötzlich nach links und betrat eine Schnellimbißstätte. Der Agent blieb stehen. Es hatte keinen Sinn, dem anderen in das Lokal zu folgen. Er würde ihn höchstens auf sich aufmerksam machen. Da das Restaurant keinen zweiten Ausgang besaß, konnte er hier in Ruhe auf den Grünhäutigen warten. Es dauerte eine ganze Weile, bis der Fremde wieder herauskam. Der Agent war schon ungeduldig geworden. Als der kleine Humanoide aus der Tür trat, schien er sein bis dahin gezeigtes Phlegma abgelegt zu haben. Mit schnellen Schritten bewegte er sich den Gang entlang, und dann erlebte Johann F. Douglas seine erste Überraschung. Der Fremde setzte nicht, wie erwartet, seinen Weg zu den Etagenlifts fort, sondern begab sich an der nächsten Abzweigung nach rechts. Der Agent, einen Moment verblüfft, ha-
Der Zeitnomade stete ihm nach. Doch als er um die Ecke bog, bremste er wieder ab. Er grinste höhnisch. Mit der Expreßkarte, die der Fremde besaß, konnte er nur im untersten Stockwerk etwas anfangen. Hier kam er damit überhaupt nicht durch die Sperre. Gemächlichen Schrittes schlenderte Douglas den Gang entlang. Er beobachtete, wie der Fremde sein Ticket der Kontrollmaschine zuführte. Douglas blieb stehen. Gleich mußte die schnarrende Stimme des Roboters die Ablehnung formulieren. Der Grünhäutige würde sich umdrehen, Ratlosigkeit und Enttäuschung im Gesicht. Douglas entschloß sich, den Fremden jetzt zu verhören. Hier auf der Stelle. Er konnte nicht mehr länger warten. Jeden Augenblick mochte ein Anruf von der Zentrale kommen, der ihn in einen neuen Einsatz schickte und ihn zwang, die Verfolgung hier aufzugeben. Im nächsten Augenblick weiteten sich seine Augen voll ungläubigen Staunens. Ein Klicken ertönte. Dann machte das verchromte Gestänge eine Vierteldrehung nach rechts. Der Fremde, der sein Ticket wieder an sich genommen hatte, schritt unbehelligt durch die Sperre und betrat die Bahnsteighalle. In dem SolAb-Agenten vollzog sich das, was immer dann geschieht, wenn etwas, auf das gewissermaßen alle Sinne vorprogrammiert sind, nicht eintritt. Sein Verstand streikte. Er weigerte sich, das Absurde, das Unmögliche zu akzeptieren. Dieser Zustand dauerte einige Sekunden an. Dann erwachte der Agent aus seiner Erstarrung. Er rannte durch den Gang in dem unsinnigen Bemühen, den anderen zu erreichen. Kurz vor der Sperre hielt er an. Keuchend blickte er auf den Rücken des Fremden, der auf das Sicherheitsgeländer am Rande des Bahnsteigs zuschritt. Das Vibrieren des Bodens und ein leichtes Grollen zeigten an, daß sich ein Zug näherte. Der SolAb-Agent rüttelte in ohnmächtiger Wut an der Sperre. Doch das bis an die Decke reichende chromblitzende Gestänge gab keinen Zentimeter nach. Was sollte er tun? Im nächsten Moment
17 würde der Zug einlaufen und wenig später den Fremden auf Nimmerwiedersehen entführen. Es blieb Douglas keine Zeit mehr, zu einem der Fahrkartenautomaten zurückzulaufen, um sich eine Expreßkarte zu tasten. Nur noch eines konnte ihm aus der Klemme helfen: Er mußte einen Reisenden auffordern, ihm, Douglas, sein Ticket zu übergeben. Der SolAb-Agent blickte sich um. Zu allem Unglück war der Gang leer. Ausgerechnet in diesen Minuten schien niemand die Absicht zu haben, diese Linie hier zu benutzen. Der Agent fluchte. Donnernd lief der Zug in die Halle. Als Douglas sich umdrehte, sah er, daß jemand um die Ecke bog. Eine Frau. Mit ein paar Sätzen rannte er zu ihr hin, und während er der Verdutzten seine Marke unter die Nase hielt, die ihn als Agenten der Solaren Abwehr auswies, herrschte er sie an: »Geben Sie mir Ihre Fahrkarte! Los, machen Sie schnell!« Die Frau tat, wie ihr geheißen. Verständnislos starrte sie auf das Expreßticket, das ihr der SolAb-Agent in die Hand gedrückt hatte, bevor er davonstürmte.
4. Von dem Augenblick an, da er zwischen den Raumschiffen stehend, den Mann in seinem Rücken gespürt hatte, wußte er, daß jemand seine Spur aufgenommen hatte. Seine überfeinen Sinne hatten die Anwesenheit des anderen registriert und an der Art, wie jener sich bewegte, den Jäger erkannt. Später, als er das Gesicht des Terraners in der Spiegelglasscheibe erblickte, hatte der Bernaler in einem fast zeitlosen Augenblick Wesen und Mentalität dessen erfaßt, der ihn verfolgte. Erschreckt durch das, was er in diesen Zügen gelesen hatte, war er zum Ticketautomaten geeilt und hatte blindlings ein paar Zahlen getastet. Doch dann hatte er sich zur Ruhe gezwungen, und er hatte überlegt, wie er den Verfolger abschütteln konnte.
18 Im Speiserestaurant, als er seinen größten Hunger gestillt hatte, war ihm der Zufall zu Hilfe gekommen. Jemand hatte sein Ticket zu Boden fallenlassen. Jener hatte es nicht bemerkt, oder aber bei dem Gedränge, das in dem Raum herrschte, nicht wiedergefunden. Hoffend, daß die Fahrkarte noch Gültigkeit besaß, hatte Faskern sie blitzschnell aufgehoben und eingesteckt. In der Frühe, am Raumhafen, hatte der Bernaler sich eingehend über das terranische Verkehrssystem informiert. Daher wußte er auch, daß ein Expreß-Ticket Zugang ausschließlich zu den Schnellverkehrszügen gestattete. Eine einfache Zonenfahrkarte jedoch – wie er sie gerade gefunden hatte – gewährte ihm Zugang zu allen übrigen Zügen. Er hatte dann weiter nichts zu tun brauchen, als sich auf den erstbesten Bahnsteig zu begeben. Der Verfolger, der natürlich eine Expreßkarte besaß, war von der Sperre aufgehalten worden. Faskern lehnte sich in der Polsterung zurück. An den Fenstern flogen die Fugen der Tunnelwände vorüber. Ja, dachte er, wenigstens in diesem Punkt hatte er Glück gehabt. Im übrigen liefen die Dinge ganz und gar nicht so, wie er es sich gewünscht hatte. Noch ehe das Muttergestirn seine ersten Strahlen über den Planeten warf, war er am Raumhafen angekommen. Sein ungewöhnlicher Verstand hatte bereits das Muster erfaßt, nach dem die terranischen Informationssysteme angelegt waren. Daher hatte er sich in kürzester Zeit mit den Orientierungshilfen am Raumhafen vertraut gemacht. Er hatte festgestellt, daß Terra, auch Erde genannt der dritte Planet des Solsystems war. Er hatte dessen galaktischen Ort bestimmen und schließlich auch herausfinden können, wo sich, von Terra aus gesehen, das Ovendeno-System befand, und wie weit es von hier entfernt war. Seine Enttäuschung war groß gewesen, als er erfahren hatte, daß der Planet Toul-
Klaus Fischer minth den Terranern unbekannt war, und daß das Ovendeno-System außerhalb der großen galaktischen Raumfahrtverbindungen lag. Immerhin, so tröstete er sich, befand er sich in der heimatlichen Galaxis. Dann versuchte er herauszubekommen, ob sich auf dem Raumhafen Schiffe befanden, deren Ziel in der Nähe des Ovendeno-Systems lag. Als auch die Antwort auf diese Frage negativ ausgefallen war, hatte sich Faskern entschlossen, seinen Plan zu ändern. Wie die meisten Bernaler besaß auch Faskern einen ausgeprägten Sinn für das, was jedes Individuum als sein Eigentum beanspruchte. Aus diesem Grund war ihm der Gedanke, sich eines Raumschiffs zu bemächtigen, bisher noch nicht in den Sinn gekommen. Nun aber, da die Möglichkeit, auf einem anderen Wege nach Toulminth zu kommen, ausgeschlossen schien, blieb ihm nichts weiter übrig, als sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, ein Raumschiff zu stehlen. Die Tatsache, daß keines der zur Zeit auf dem Raumhafen befindlichen Schiffe über ein Antriebs oder Steuerungssystem verfügte, das einem Bernaler geläufig war, hatte ihn keineswegs beunruhigt. Er wußte, daß sein Verstand die Fähigkeit besaß, mit jeder technischen Schwierigkeit fertig zu werden. Der rege Betrieb auf dem Raumfeld hatte ihn zunächst seine Aufgabe aussichtslos erscheinen lassen. Dann aber war er auf die Walzenschiffe gestoßen, die, unbeachtet und scheinbar verlassen, am Rande des riesigen Feldes standen. Er hatte sich keinen Illusionen darüber hingegeben, daß es nicht einfach sein würde, in ein Raumschiff hineinzugelangen. Die meisten von ihnen, vielleicht sogar alle, besaßen positronische Schlösser, die durch Funkimpulse geöffnet werden mußten. Außerdem waren sie gewiß mit Alarmanlagen versehen. Aber Faskern verfügte über Möglichkeiten und Mittel, mit solchen Dingen fertig zu werden. Somit war es nicht die Technik, die ihn daran gehindert hatte, in das Innere eines der Schiffe zu gelangen.
Der Zeitnomade Vielmehr hatten seine Sinne bemerkt, daß sich in allen Raumflugkörpern organische Wesen aufhielten. Seine Überlegungen, wie er trotz dieses Umstands hineinkommen könnte, waren durch das Auftauchen jenes Terraners durchkreuzt worden. Ein Lichtsignal zeigte ihm an, daß sie sich einer Station näherten. Faskern hob den Kopf und blickte auf die Streckenkarte. Alt-Akademie buchstabierte er. Er überlegte, ob er aussteigen sollte. Aber dann entschied er sich, noch eine Station weiter zu fahren. Die nächste Station war Kasino-Brücke. Als der Zug in die Halle einfuhr, warteten die Menschen bereits dicht gedrängt vor dem Schutzgitter. Der Zug hielt. Faskern stieg aus und schritt, ohne sich umzublicken, aus der Bahnsteighalle heraus. Er hielt es nicht für ausgeschlossen, daß der Mann, der hinter ihm her war, am Raumhafen auf ihn wartete. Aus diesem Grunde wollte er nicht gleich wieder zurückfahren. Als die Fahrtreppe ihn aus der Kunstbeleuchtung des Schachtes in die Helligkeit des Tages hineintrug, atmete er erleichtert auf. Er sog die frische Luft in seine Lungen. Prüfend musterte er seine Umgebung. Er mußte sich schon ziemlich am Rand der Stadt befinden. Auf der breiten Mobilstraße, die vorbeiführte, war wenig Verkehr. Die Häuser jenseits der Straße waren mit ausgedehnten, dichtbewachsenen Gärten umgeben und schienen die Einsamkeit jener widerzuspiegeln, die sie bewohnten. Faskern machte ein paar zögernde Schritte dem surrenden Band entgegen, betrat es und ließ sich von ihm davontragen. Als er nach einiger Zeit zurückblickte, sah er am Eingang des Rohrbahnschachts eine Gestalt stehen. Der Bernaler erschrak. Wer dort an einen Pfeiler gelehnt stand, war niemand anders als der Mann, den er längst abgeschüttelt zu haben glaubte. Im nächsten Augenblick wurde der Mann lebendig. Langsam, wie um zu zeigen, daß
19 seine Beute ihm nicht mehr entfliehen konnte, setzte er sich in Bewegung und schritt auf das Transportband zu. In Faskern wallte Panik auf. Er begann zu schwitzen. Ohne zu überlegen, sprang er auf die Schnellspur, und da diese ihm noch nicht schnell genug erschien, begann er zu laufen. Mehrmals drohte er die Balance zu verlieren. Schließlich blieb er wieder stehen und sah sich um. Der Abstand zwischen ihm und seinem Verfolger war nicht größer, aber auch nicht kleiner geworden. Der Bernaler, wieder ruhiger geworden, überlegte. Er hatte einen Fehler gemacht. Durch seine Flucht mußte er sich erst recht verdächtig gemacht haben. Der Fremde würde nunmehr alles daran setzen, um seiner habhaft zu werden. Wer war er? Vermutlich ein Polizist oder ein Sicherheitsbeamter. Vielleicht gehörte er zu jenen, die, weil selbst unfrei, nach der Freiheit der anderen trachteten. Vielleicht auch gehörte er zu jenen Armseligen, permanent Unzufriedenen, die das Weiß dunkel färbten, das Schwarze verdammten und denen alles, was dazwischen lag, verdächtig war. Die Furcht, seine eigene Freiheit zu verlieren, löste in Faskern Fluchtgedanken aus. Er sprang über die Verzögerungsbänder hinweg von dem Rollband hinunter und rannte querfeldein davon. Das Terrain hatte sich inzwischen verändert. Es gab nur noch wenig Häuser. Sie waren aus einem schimmernden Material erbaut und glänzten im Sonnenlicht wie silberne Würfel inmitten einer immergrünen Landschaft. Faskern rannte über das Gelände, das allmählich anstieg. Er begann zu keuchen. Er drehte sich nicht um, doch er wußte den Verfolger hinter sich. Die Landschaft, die bis dahin noch immer den ordnenden und pflegenden Einfluß organischer Wesen gezeigt hatte, begann jetzt zu verwildern. Der Feldweg ging in einen, von Gras und Unkraut überwachsenen Pfad über, der auf eine Anhöhe hinaufführte. Diese trug einen dürftigen Baumbestand, und zwischen
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den dünnen Stämmen versperrte dichtes Unterholz Faskern die Sicht. Als der Bernaler heran war, begann er, sich durch das Buschwerk hindurchzuarbeiten. Dann hatte er sich hindurchgekämpft, mit fliegenden Pulsen stand er da und blickte auf das, was sich seinen Augen bot. Unversehens senkte sich das Gelände in buckligen Terrassen hinunter zu einer Ebene, die sich bis zum Horizont erstreckte. Diese Ebene war angefüllt mit seltsamen Bauwerken. Sie waren in Form und Material so grundverschieden, das Faskern meinte, ihre Erbauer konnten nicht der gleichen Kulturstufe angehören. Im Vordergrund ragte rotes Mauerwerk aus wildwucherndem Gebüsch. Es wirkte verfallen, vielleicht auch mutwillig zerstört. Und in seinen Löchern und Nischen nisteten große Vögel. Dahinter standen auf einer von fahlgrünem Unkraut überwucherten Wiese spitzgieblige Holzhäuser. In der Mitte des Tales duckten sich flache, moderne Gebäude, die durch Transportstraßen miteinander verbunden und von Pisten umgeben waren. Weiter rechts stieg, auf Pfeilern und kunstvollen Viadukten sich über Kanäle erhebend, ein komplexes Bauwerk terrassenförmig empor. Die auf eine ästhetisch schöne Weise miteinander verschachtelten, semitransparenten Gebilde erinnerten Faskern an etwas, was er nachts in einem der Filme gesehen hatte. Langsam dämmerte ihm, was das Ganze hier bedeuten konnte. Hinter sich hörte er seinen Verfolger durch das Buschwerk brechen. Faskern nahm noch einmal seine Kräfte zusammen und eilte den Abhang hinunter. Der Mann hinter ihm hob seine Waffe.
5. Der Mann am Fenster war schon alt. Sein Gesicht besaß viele Runzeln und Rillen und war zu braunem Leder gegerbt von den Sonnen ferner Planeten. Die Augen unter den borstigen Brauen strahlten noch immer Lebenskraft und einen gewaltigen Schuß cho-
lerischen Temperaments aus. Das ausgeblichene Haar war kurzgeschoren. Aus einer Höhe von gut zwei Metern blickte er über die Schultern des schwarzhaarigen Mädchens und las: »Ularik Wagner: Die Beziehung zwischendimensionaler Räume zu den verschiedenen Übertragungsarten telepathischer Kommunikation – Galaxis! Kann ich schon nicht begreifen, daß man sich für einen solchen Kram interessieren kann, so wird mich kein Mensch im Universum davon überzeugen können, daß man auch noch damit seinen Lebensunterhalt verdienen kann!« Valeska Mertins bog den Kopf zurück. Die Flut der schwarzen Haare wälzte sich über die Lehne ihres Sessels. »Die Erforschung dieses ›Krams‹«, sagte sie und blickte schräg von unten in die Augen ihres Großvaters, »ist notwendig, um den Fortbestand der solaren Menschheit zu garantieren …« Peero Mertins lachte dröhnend. »So, ist er das …?« Er äffte ihren leicht dozierenden Tonfall nach. »Mein liebes Kind, ich werde dir sagen, was notwendig ist für den Fortbestand der Menschheit: ein Geschwader Ultraschlachtschiffe für jeden Kolonialplaneten! Mehr Transformkanonen für die planetaren Abwehrforts! Rücksichtsloses Durchgreifen gegenüber diesem ganzen nichtmenschlichen Gewürm! Wenn Perry Rhodan und Atlan die Blues damals vernichtet hätten, dann wäre ich nicht hier, zur Untätigkeit verdammt auf einer langweiligen, überzivilisierten Welt! Dann hätten die verfluchten Tellerköpfe unsere Kolonie nicht angreifen können!« Valeska seufzte. Er würde nie verwinden können, daß man ihn damals zwangsweise repatriiert hatte. Bei dem Überfall durch die Blues war er verwundet worden. Nach seiner Heilung hatte er das dort herrschende Klima nicht mehr vertragen. Sie legte die Publikation, in der sie soeben gelesen hatte, weg. Ein Knopfdruck, und sie schwenkte mit ihrem Sessel herum. »Von den Untaten jener Verbrecher darfst
Der Zeitnomade du nicht auf die Eigenschaften und das Verhalten des ganzen Volkes schließen! Es gibt auch gute und schlechte Terraner …« »Du willst doch nicht etwa die blauhäutigen Mörder mit den Terranern vergleichen? Wenn du damals dabei gewesen wärst …« »Sie war aber damals nicht dabei gewesen! Sie nicht, und ich auch nicht. Und deshalb können wir darüber auch nicht denken wie du!« Valeska drehte den Kopf und blickte zur Tür. Valentin, ihr fünfzehnjähriger Bruder, war es, der ihr unvermutet Schützenhilfe geleistet hatte. Unvermutet nicht so sehr, was den Inhalt seiner Worte betraf. Die Mutter hatte von Anfang an die beiden Kinder zu Toleranz und Achtung gegenüber jeglichem anders gearteten Leben erzogen. Valeska hatte nur nicht mit seinem Auftauchen in diesem Augenblick gerechnet. Zur Zeit waren Ferien, und die Familie hatte sich daran gewöhnt, daß der Halbwüchsige regelmäßig nach dem Frühstück verschwand, und, die Pause ausgenommen, die er sich zur Einnahme des Mittagessens gönnte, seine Zeit im Freien verbrachte. Valeska konnte ihn verstehen. Dies war Kasino-Brücke. Wo in ganz Terrania-City gab es noch einmal ein solches Stück herrlich verwilderter Natur? Hier hatte sie ihre Kindheit verbracht, hier, wo es echten Wald gab! Wo es Hecken gab und verfilztes Buschwerk und Wasser …! »Hoffentlich«, sagte der Großvater, und seine Stimme hatte plötzlich einen brüchigen Ton, »hoffentlich wird nicht der Tag kommen, an dem ihr mich verstehen werdet!« Peero Mertins ging aus dem Zimmer. Der Junge begab sich in die kleine Robotküche und nahm etwas zu sich. Valeska vertiefte sich in ihr Manuskript. Nach einer Weile hörte sie die Haustür auf und zugleiten. Das Mädchen hob den Kopf. Durch das geöffnete Fenster drang das Geräusch sich entfernender Schritte. Valentin war wieder unterwegs.
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* Valentin überquerte die Mobilstraße, lief dann in einem lockeren Trab durch das mit spärlichem Graswuchs bestandene unebene Gelände. Bald erreichte er den Fluß. Eine Zeitlang lief er an seinem rechten Ufer entlang. Als er die Brücke sah, verfiel er in Schrittempo. Auf altertümlichen Betonpfeilern ragte sie aus dem Wasser. Über ihren Rücken führte eine stationäre Kunststoffstraße, die bis zur Mitte sanft anstieg und dann zum anderen Ufer hin wieder langsam abfiel. Das uralte Bauwerk war verantwortlich für den zweiten Teil des Namens dieses Stadtviertels. Valentin wußte auch, warum der erste Teil Kasino hieß. Der Großvater hatte es ihm erzählt. Der Begriff stammte noch aus einer Zeit, als dieser periphere Stadtteil von Terrania-City entstanden war. Pensionäre waren es, ausgediente Offiziere der Solaren Flotte, die sich von ihrem Entlassungsbonus und anderen ersparten Geldern ihre Alterssitze hier draußen hatten erbauen lassen. Später waren andere dazugekommen, hauptsächlich Repatriierte aus den Kolonien. Das war schon lange her. Jahrhunderte. Das Offizierskasino, das damals vielleicht eine Art geselliger Mittelpunkt gewesen war, existierte längst nicht mehr. Doch war es zum festen Bestandteil des Namens geworden, den dieser Stadtteil seither trug: Kasino-Brücke. Als der Junge auf die andere Seite des Flusses gelangt war, folgte er noch eine Weile dem linken Flußufer. An der Stelle, an der der Fluß nach Osten abknickte, schritt er geradeaus weiter und gelangte schließlich zu einem Waldstück. Von da an ging er langsamer. Hinter dem Waldstück lag das Tal mit den verlassenen Einrichtungen der Terra-Television. Wie oft hatte er sich früher mit Gleichaltrigen dort herumgetrieben. Obwohl die Ge-
22 bäude leer waren und ihnen die Lebendigkeit der surrenden, klickenden Maschinerie fehlte, hatten sie eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf die Kinder ausgeübt. In den leeren Räumen, auf den verlassenen Straßen, vor allem aber in den geheimnisvollen Kulissen reproduzierten sie »Terra-Television« auf eine Art, die das Schauspiel, jenen längst vergessenen Ahnherren der Television, wieder lebendig werden ließ. Valentin und seine Freunde hatten Theater total gespielt; sie waren Autor, Produzenten, Regisseure Akteure und Publikum zugleich gewesen. Heute jedoch waren es andere Gründe, die Valentin hierher getrieben hatten. Vor ein paar Tagen nämlich war er bei seinem Herumstreifen auf Spuren gestoßen, die auf die Anwesenheit von Unbekannten hinwiesen. Er war der Sache nachgegangen. Natürlich auf seine Art. Unsichtbar und unhörbar hatte er sich den Fremden so weit genähert, daß er ihr Gespräch belauschen konnte. Was er dabei gehört hatte, ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, daß die Unbekannten, die sich hier an abgelegener Stätte zusammengefunden hatten, Verbrecher waren, die einen Banküberfall planten. Valentin hoffte, heute die Details dieses Planes zu erfahren. Er saß, hinter einem Holunderbusch und spähte durch die vertrockneten Zweige hinunter in das Tal. Als sich nichts rührte, begann er, den kurzen steilen Hang hinunterzuklettern. Dabei war er bestrebt, das Mauerwerk der zwischen ihm und den Gebäuden befindlichen Kulisse als Deckung zu benutzen. Lange stand er im Schatten eines Pfeilers und blickte hinüber zu den Gebäuden. Seine Aufmerksamkeit galt besonders einem langen, flachgestreckten Bauwerk, das sich, eingeklemmt zwischen zwei fensterlosen Würfeln, in den Boden zu ducken schien. In den Kellerräumen dieses Gebäudes befand sich, wie Valentin wußte, der Schlupfwinkel der Verbrecher.
Klaus Fischer Der Junge verließ seine Deckung und rannte zu dem vordersten der Gebäude hinüber. Er kannte sich aus. Ohne zu zögern, begab er sich über eine stillgelegte Fahrtreppe in den unterirdischen Teil des Hauses. Durch einen Stollen gelangte er in die Kellerräume des Hauptgebäudes. Antigrav und Elektrolifts waren schon lange außer Betrieb. So mußte er die Nottreppe nehmen. Über sie gelangte er in eine Vorhalle, von der ein halbes Dutzend Korridore und Räume hinwegführte. Zielsicher betrat Valentin einen der Gänge und befand sich Sekunden später am Hintereingang des Hauses. Er blickte hinaus. Fünfzehn Meter von ihm entfernt gähnte ein Loch. Der Eingang zum Bürogebäude. Daneben an der Wand stand die herausgerissene Gleittür. Sonnenstrahlen fielen in das Innere hinein und enthüllten, daß sich außer einer zerbrochenen Schalttafel und einigen flachen Polstermöbeln dort nichts befand. Im nächsten Augenblick war Valentin in der Vorhalle des Bürogebäudes. Von nun an mußte er doppelt vorsichtig sein. Auf seinen dicken Gummisohlen schlich der Junge den Hauptkorridor entlang und betrat einen kleinen, nahezu quadratischen Raum. Es war ein Lagerraum. Einige Dutzend leere Kisten und Kartons waren hier gestapelt. Valentin ging achtlos zwischen ihnen hindurch. An der an die Fensterseite anschließenden Wand blieb er stehen. Er kniete nieder und betastete das Material. Sekunden später entfernte er ein Stück der Wandverkleidung. Ein Schutzgitter wurde sichtbar und dahinter der Austritt eines Entlüftungsrohrs. Valentin drückte sein Ohr an das Gitter. Es war nichts zu hören. Schon wollte er sich aufrichten, da drangen plötzlich Geräusche zu ihm herauf. Dann hörte er eine Stimme, eine heisere, von Hustenanfällen geplagte Stimme: »Ich wüßte schon, wen wir nehmen könnten …« Wieder Husten. Eine andere Stimme, es war ein rauhes, befehlsgewohntes Organ, antwortete: »Also, rede schon! Wer?«
Der Zeitnomade »Du kennst ihn nicht, Dalyle«, krächzte die erste Stimme wieder. »Es ist …« Ein langandauernder Hustenanfall hinderte ihn am Weitersprechen. Jemand fluchte. »… eine Freundin von mir. Sie heißt Lona Preßkov …« Eine Weile drangen nur undefinierbare Geräusche an Valentins Ohr. Dann mischte sich eine dritte Stimme ein. Sie hatte einen sonoren Klang. Die Worte klangen bedächtig: »Das können wir nicht riskieren, Piepe! Wir können nicht jetzt, so kurze Zeit davor, eine neue Figur ins Spiel bringen, und dann auch noch eine Frau! Obwohl …« Glucksendes Lachen. »Obwohl ich sonst nichts gegen Frauen habe …!« Dalyles scharfe Stimme fiel ein: »Ich weiß auch, daß Caide nicht der ideale Mann ist. Aber wir haben keinen besseren!« Der Junge, der sein Ohr an das Schutzgitter gepreßt hielt, hörte ein Geräusch, daß sich wie das Öffnen einer Flasche anhörte. »Hör auf zu saufen!« hörte er Dalyle plötzlich brüllen. »Tob, nimm ihm die Flasche weg!« Piepe schien widersprechen zu wollen. Aber ein Hustenanfall hinderte ihn daran. Dann hörte Valentin schleifende Geräusche, unterdrücktes Stöhnen und Flüche. Ein Handgemenge schien im Gange zu sein. Dann war nur noch heftiges Atmen zu hören und Dalyle sagte mit einer gefährlichen Ruhe in der Stimme: »Spare deine Kräfte, Piepe! Nachher kannst du dich von mir aus totsaufen!« »Was ist«, klang die bedächtige Stimme auf, »wenn Joshua umfällt? Er ist nicht vorbestraft. Wir können ihn nicht …« Ein Geräusch ließ Valentins Kopf zum Fenster herumfahren. Es kam von draußen. Blitzschnell setzte Valentin das herausgenommene Wandstück wieder ein und türmte davor einige leere Kartons aufeinander, die er an die Wand heranrückte. Geduckt lief er zum Fenster und blickte hinaus. Das Geräusch kam von zwei Füßen, die einen Wirbel auf die trockene Erde schlugen. Ein Mann kam den Nordhang hinunter
23 in das Tal gelaufen. Nein, kein Mann, ein Extraterrestrier – ein Humanoide von schmächtiger Statur mit einem haarlosen Schädel auf einem langen dünnen Hals. Er erreichte die Rampe vor dem Gebäude. Keuchend lief er weiter. Da erklang eine Stimme, die Valentin durch das Doppelglas des geschlossenen Fensters hörte: »Stehenbleiben! Bleiben Sie stehen, sonst schieße ich!« Der kleine Humanoide blickte sich nicht um. Wie ein Wiesel rannte er weiter, und als er am Fenster vorbei kam, sah Valentin, daß seine Haut grün war. Dann entschwand er seinem Blickfeld. Gleich darauf erschien ein Zivilist. Wahrscheinlich ein Agent, riet der Junge, der die Strahlwaffe in seiner Hand begutachtete. Als der Mann am Fenster vorbeikam, sah Valentin sein Profil. Es wurde von einer scharfgebogenen Adlernase beherrscht. Die Haare glänzten ölig. Sie hingen an den Seiten strähnig herunter. Dann war er vorbei. Der Halbwüchsige warf einen zweifelnden Blick in die Ecke, wo sich das Lüftungsrohr befand. Ob die drei Gangster etwas gehört hatten? Er verließ das Zimmer und betrat den Gang. Ihm waren diese Örtlichkeiten bekannt wie seine eigene Wohnung. Er wußte, wo der Gejagte und sein Jäger sich befanden. Ihr Weg mußte sie geradewegs in das Hauptgebäude geführt haben. Als der Junge am Ausgang angelangt war, hörte er erneut die Stimme des Terraners: »Stehenbleiben!« Stöhnen und dann wieder die Stimme des Mannes: »Na also!« Ein meckerndes Lachen. »So geht's auch!« Pause. Und dann: »Kommen Sie hoch! Und nehmen Sie die Hände hoch! – Da drüben 'rüber! Aber ein bißchen plötzlich!« Valentin überlegte zwei Sekunden. Das mußte sich im Innenhof abspielen. Er rannte aus der Tür, überquerte die Straße und verschwand im Eingang des Hauptgebäudes. Er erreichte die Nottreppe und sprang, immer drei Stufen auf einmal neh-
24 mend, die Stiege empor. Er verließ sie im obersten Stock und befand sich im Hauptkorridor. An drei Türen jagte er vorbei und stoppte vor der vierten hart ab. Er trat durch sie hindurch und befand sich auf dem Dachgarten. Der Junge ließ sich auf alle viere nieder und kroch bis zu der niedrigen Balustrade. Das Geländer am inneren Rand des Dachgartens war an mehreren Stellen zerbrochen und wies Löcher auf. Valentin kroch zu einer Stelle, von der aus er den Innenhof gut überblicken konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Der Innenhof war rechteckig. Zu dem etwas tiefer gelegenen Mittelteil führten zwei Stufen hinunter. Der Dachgarten, auf dem sich der Junge befand, ragte etwa einen Meter in das Rechteck des Innenhofes hinein. Er wurde von Pfeilern getragen. Hinter ihnen zogen sich, von Eingängen unterbrochen, lange Glasfronten entlang. Der Grünhäutige stand mit dem Rücken an einen Pfeiler gelehnt. Er rieb sich das Knie. Anscheinend war er gestürzt. Einige Schritte von ihm entfernt stand der Mann, von dem Valentin glaubte, daß er ein Agent war. Er hielt seine Waffe auf den Humanoiden gerichtet. Valentin betrachtete den Fremden. Wo mochte er herkommen? Was hatte er verbrochen? Von den unnatürlich großen Augen ging eine Ausstrahlung aus, die auch der Junge spürte. Diesen Augen entging nichts, dachte er, sie schienen sich an seinem Gegenüber festzusaugen. Man konnte meinen, sie sähen in das Innere des anderen hinein. Der Terraner schien ähnliches zu fühlen. Er bewegte die Hand mit der Waffe nervös hin und her und sagte: »Wer sind Sie? Wie heißen Sie?« Die Antwort kam nicht gleich. Erst als der Agent seine Frage in barschem Tone wiederholte, sagte der Fremde: »Ich bin Shankoon Faskern.« »Und was machen Sie hier in Terrania-City? Was machen Sie überhaupt auf Terra?« Wieder zögerte der Fremde. Dann antwor-
Klaus Fischer tete er: »Ich suche ein Raumschiff.« Der Mann mit der Waffe schwieg einen Augenblick verblüfft und brach dann in sein meckerndes Lachen aus. »So, Sie suchen ein Raumschiff, eh?« Er nickte heftig mit dem Kopf. »Ja, das habe ich heute morgen auf dem Raumfeld gemerkt. Muß eine interessante Welt sein, auf der man für ›stehlen‹ ›suchen‹ sagt! Warum hatten Sie es eigentlich ausgerechnet auf ein Springerschiff abgesehen?« Der Fremde überlegte einen Augenblick und stellte schließlich die Gegenfrage: »Warum nennen Sie jene Wesen Springer?« Dem anderen hatte es für einen Augenblick die Sprache verschlagen. Er machte ein paar Schritte vorwärts und sagte, während er mit der Waffe herumfuchtelte, scharf: »Ich stelle hier die Fragen, verstehen Sie? Ich!« Dabei schlug er sich mit der Linken mehrmals vor die Brust. »Wie sind Sie überhaupt hierhergekommen? Hierher nach Terra, meine ich?« Nach kurzem Nachdenken erwiderte der Fremde: »Das kann ich Ihnen nicht erklären. Sie würden es nicht verstehen.« Valentin grinste in sich hinein. Der Fremde war klug. Und er benutzte seine Klugheit als Waffe. Es war allerdings die Frage, wer am Ende den Sieg davontragen würde: die Strahlwaffe des Agenten oder der Verstand des Fremden. Längst hatte Valentin Partei genommen. Die selbstgefällige Art des Agenten stieß ihn ab. Im Wesen des Fremden dagegen lag etwas, das den Halbwüchsigen anzog. Valentin beschloß, dem Fremden zu helfen. Noch wußte er nicht, wie. Aber die Gelegenheit würde kommen, so glaubte er zuversichtlich. Die Bemerkung des Fremden schien den Agenten aufs äußerste gereizt zu haben. »Sie neunmalkluger Wicht!« schrie er aufgebracht. »Wollen Sie mich etwa beleidi-
Der Zeitnomade gen?« Mit drohend erhobener Waffe ging er auf den anderen zu. Dieser sah ihm kühl entgegen. »Ja«, sagte der kleine Humanoide gelassen. Valentin erstarrte. Was würde geschehen? Er bewunderte den Mut des Fremden. Doch dann blickte er besorgt hinüber zu dem Bürohaus. Ihm waren die drei Männer eingefallen, die dort unten einen Banküberfall planten. Das Geschrei des Mannes würde sie vielleicht aus ihrem Schlupfwinkel locken. Der Junge malte sich aus, wie eine Konfrontation der drei Verbrecher mit dem Agenten und dem Fremden ausgehen würde. Es gab verschiedene Möglichkeiten. Da das Überraschungsmoment auf Seiten der Gangster lag, war es wahrscheinlich, daß sie den Agenten und den Grünhäutigen umbringen würden. Valentin überlegte, ob er den beiden dort unten eine Warnung zukommen lassen sollte. Er blickte wieder in den Hof hinunter. Der Terraner schien zu ahnen, daß er bei einem geistigen Duell den kürzeren ziehen würde. Und dann tat er etwas, was Valentin in höchstes Erstaunen versetzte. Mit der Linken griff er in eine Tasche. Er holte einen kleinen Gegenstand heraus. Und erst, als er sich damit hastig durch sein strähniges Haar fuhr, erkannte der Junge, daß es ein Kamm war. Der Agent steckte den Kamm wieder ein und sagte: »Wir werden uns jetzt zum Hauptquartier der SolAb begeben, mein Freund! Dort wird man Ihnen Ihr Geheimnis schon entlocken! Los, vorwärts!« Valentin sah, daß die Augen des Fremden kurz aufgeblitzt waren. Widerstandslos kam er der Aufforderung nach. Als sie sich direkt unter der Stelle befanden, an der Valentin versteckt war, hörte dieser den Humanoiden in seinem etwas schwerfällig klingendem Terranisch sagen: »Toronar Alburs wird sich aber freuen …« Valentin hörte, wie der Agent stehenblieb
25 und den Atem scharf ausstieß. Der Junge beugte sich über das Geländer und riskierte einen Blick nach unten. Wie vom Blitz getroffen stand der Agent da und starrte auf den Rücken des Fremden. Es dauerte eine Zeit, bis er seine Sprache wiedergefunden hatte. »To … Toronar Alburs …? Woher kennen Sie ihn?« Das Wesen, das sich Faskern nannte, drehte sich um. Er machte eine wegwerfende Handbewegung und sagte in einem veränderten Tonfall: »Das ist im Augenblick nicht wichtig. Doch er wird keine große Freude zeigen, wenn Sie so zu ihm kommen!« Der Agent machte ein paar unsichere Schritte vorwärts. Im Augenblick sah er ratlos aus. Dann stieß er hervor: »Was heißt so? Was meinen Sie damit?« »Schauen Sie in das Glas!« erwiderte der Fremde. Dabei wies er ohne die Augen von seinem Gegenüber zu lassen, mit der Hand nach rechts, wo sich die Fensterfront befand. Der Junge hielt den Atem an. Mit seinem wachen Verstand begriff er, was der Fremde vorhatte. Als der Agent, der offensichtlich verwirrt war, seinen Kopf drehte und in die Fensterscheibe blickte, warf sich der kleine Grünhäutige nach vorn. Es gelang ihm, dem anderen die Waffe aus der Hand zu schlagen. Der Agent war sich seiner Sache wohl zu sicher gewesen. Der Angriff kam für ihn daher so überraschend, daß es zunächst aussah, als ob er in dem entstehenden Handgemenge den kürzeren ziehen würde. Doch die Solare Abwehr pflegte ihre Kandidaten einer nicht nur gründlichen, sondern auch vielseitigen Ausbildung zu unterziehen, die ihnen in jeder Lage zugute kam. Zu Valentins Bedauern verlagerte sich das Duell weiter zur Fensterfront zu. Von seiner derzeitigen Position aus konnte der Junge dem weiteren Verlauf nicht mehr folgen, ohne Gefahr zu laufen, das Gleichgewicht zu verlieren und in den Hof hinunterzustürzen. Er sprang auf und rannte leichtfüßig auf die
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gegenüberliegende Seite, um von dort einen besseren Einblick in das Geschehen zu bekommen. Er kam gerade zurecht, um zu sehen, wie die beiden Kontrahenten, einander umklammernd, versuchten, den Strahler in ihre Gewalt zu bekommen. Die Waffe war über den Boden gerutscht und lag unmittelbar unter einem der großen Fenster. Die Finger des Agenten erreichten sie schließlich zuerst. Sie umschlossen den Knauf, der Zeigefinger suchte den Abzug. Im gleichen Augenblick gelang es dem Fremden, sich aus dem Scherengriff seines Gegners zu befreien. In den nächsten Sekunden kam es zu einem wilden Kampf, bei dem sich die Bewegungen der beiden Männer so schnell vollzogen, daß die Augen des Jungen ihnen nicht mehr zu folgen vermochten. Stöhnen, Ächzen, Fluchen … Plötzlich löste sich ein Strahlschuß und fand sein Ziel. Valentin hörte einen markerschütternden Schrei. Einer der beiden Körper wurde schlaff.
6. Jonny Dalyle stand in der Tür und sah zu, wie der Mann, der vor ihm auf einer Kiste saß, das Magazin seiner Waffe prüfte. Ein Hustenkrampf schüttelte seinen ausgezehrten Körper. Dalyle runzelte die Stirn. Dann wanderte sein Blick hinüber zu dem dritten der Gang. Tob war brauchbar. Man konnte sich auf ihn verlassen. Nun ja, dachte Dalyle gleichmütig, vielleicht ergab sich nach dem Ding eine Gelegenheit, Piepe abzuservieren … »Seid ihr fertig?« Tob nickte. Und der Mann auf der Kiste krächzte eine Zustimmung. Jonny, im Begriff, den Raum zu verlassen, drehte sich noch einmal um. »Wir werden übrigens ganz auf Nummer Sicher gehen …«, sagte er langsam, »… Mit Caide …« Er brach ab und grinste.
Piepe war stehengeblieben. »Was hast du vor?« Aber Dalyle winkte ab. »Ich erkläre es euch später … Was war das?« unterbrach er sich. »Jemand hat geschrien«, sagte Tob im gleichgültigen Tonfall. Auch Piepe stand angespannt lauschend da. Er vergaß sogar zu husten. »Wir werden nachsehen! Piepe, du bleibst hier, damit uns dein Asthma nicht verrät! Los, Tob! Und hübsch vorsichtig! Wir können uns keine Verzögerung leisten!« Im nächsten Augenblick waren sie aus der Tür. Piepes Augen suchten die Flasche.
* Er blickte in die gebrochenen Augen des Terraners. Der Mann, der ihn verfolgt hatte, war tot. Erschossen von ihm, von Faskern. Das hatte er nicht gewollt! Er fühlte sein Herz unter der Brustplatte hämmern. Er streckte die Hand aus und drückte die Lider des Toten zu. Es war Notwehr gewesen. Und dennoch … Der Bernaler schüttelte sich. Die Bilder des Zweikampfes zogen noch einmal durch sein Bewußtsein. Der Fremde hatte ihn bedroht. Er hatte ihn verschleppen wollen. Zu einer Institution, die sich Solare Abwehr nannte. Bei der er verhört werden sollte. Dort hätte man ihm Fragen gestellt, die er vielleicht gar nicht beantworten konnte. Als das Wort SolAb fiel, hatte er sich sogleich an das schmale Schild erinnert, das er gesehen hatte, als der Ertruser seine Jacke geöffnet hatte. Auch Toronar Alburs war also Angehöriger dieser Organisation. Auf diese Erkenntnis hin hatte er blitzschnell seinen Plan entwickelt. Zwei Schwächen seines Gegners, die Eitelkeit und die Furcht vor seinem Vorgesetzten, hatte er ausgenutzt. Mit Erfolg, wie sich gezeigt hatte. Doch Faskern konnte sich dieses Erfolges
Der Zeitnomade nicht erfreuen. Er, Faskern, Angehöriger eines Volkes, das keine Gewalt kannte, hatte ein intelligentes Lebewesen getötet. Und es beruhigte sein Gewissen wenig, auf welche Weise der tödliche Schuß zustande gekommen war. Sekunden vorher noch hatte er in das Abstrahlfeld der Waffe geblickt. Dann, in dem verzweifelten Versuch, die Bedrohung von sich abzuwenden, hatte er blindlings angegriffen. Dabei mußte sich der Schuß gelöst und den anderen tödlich getroffen haben. Nun, es war müßig, jetzt noch darüber nachzusinnen, ob er schuldig war an dem Tod des andern oder nicht. In diesem Augenblick fiel ihm der junge Terraner ein, der Zeuge des Kampfes gewesen war. Schon als er sich nach seinem Sturz über die Treppenstufen aufgerichtet hatte, hatte er in den gegenüberliegenden Glasscheiben gesehen, daß sich jemand auf dem Dach des Gebäudes befand. Der junge Mensch hatte sich neutral verhalten. Im Eifer des Kampfes hatte Faskern nicht mehr an ihn gedacht. Jetzt erinnerte er sich, und sein Blick suchte das Geländer dort oben nach dem fremden Gesicht ab. Aber es war verschwunden. »Oh«, erscholl eine Stimme hinter seinem Rücken, »wen haben wir denn da Schönes?« Faskern drehte sich langsam um. Dabei versuchte er den Klang dieser Stimme zu analysieren. Im Bruchteil einer Sekunde fragte sein Gedächtnis alle gespeicherten Werte ab. Dann erfaßte sein Blick das zu der Stimme gehörige Gesicht und schließlich die ganze Gestalt. Der Mann, der dort stand, etwa fünf Schritt von ihm entfernt, war nicht viel größer als er selbst. Die scharfgeschnittenen Züge drückten Härte, Entschlossenheit und Skrupellosigkeit aus. Der Blick der wachen Augen verriet Kaltblütigkeit und darüber hinaus eine Schärfe des Verstandes, die Faskern zur Vorsicht gemahnte. »Die Kanone lassen wir fallen! Die brauchen wir jetzt nicht mehr.« Faskern, der aus dem Blick des Fremden
27 geschlossen hatte, was mit »Kanone« gemeint war, ließ die Waffe, die er noch immer in der Rechten hielt, zu Boden poltern. Die nächsten Worte des Fremden klärten ihn darüber auf, daß man ihn zum zweitenmal seiner Freiheit beraubt hatte. »Tob, nimm deine Waffe und dann hol Piepe! Wir nehmen den hier mit. Ich glaube, er kann uns behilflich sein.« Aus dem Schatten des Ganges trat ein zweiter Mann hervor. Er war groß und breitschultrig, und die Bewegungen, mit denen er an dem Bernaler vorbeiging, waren bedächtig. Er hob die Waffe auf, passierte Faskern ein zweites Mal und verschwand, ohne ein Wort zu sagen, wieder im Korridor. Der andere trat an den Toten heran, er deutete mit der Waffe auf ihn und fragte: »Wer ist das? Warum haben Sie ihn umgelegt?« Faskern betrachtete ihn schweigend. Der Mann, die Waffe auf die Brust des Bernalers gerichtet, ging in die Hocke und griff mit der behandschuhten Linken in den Halsausschnitt der Kombinationsjacke des Toten. Er stieß einen Pfiff aus. »Einer von der SolAb! Donnerwetter! Wie haben Sie den denn geschafft?« Der Bernaler sagte langsam: »Es war Notwehr.« Der andere lachte. Blitzschnell inspizierte er die Taschen. Er überflog die Papiere, die er fand, zählte ein Bündel graugrüner Geldscheine und steckte sie nach kurzem Zögern wieder zurück. Dann sagte er: »Es ist immer Notwehr! Haben Sie das noch nicht gewußt?« Sein Gesicht wurde plötzlich nachdenklich. Ein Problem schien ihn zu beschäftigen. Auch Faskern überlegte. Längst hatte er erkannt, daß er es hier mit einem gefährlicheren Gegner zu tun hatte. Auch dieser Mann hier war nicht frei von Eitelkeit, von Selbstgefälligkeit und anderen Schwächen. Doch hatten sie nicht so einen persönlichkeitsbestimmenden Rang wie das in dem
28 Fall des toten Agenten gewesen war. Dieser Mann hier schien gelernt zu haben, alle Schwächen und Stärken seiner Persönlichkeit seinem Willen unterzuordnen. Noch wußte Faskern nicht, was der Fremde mit ihm vorhatte. Daß es nichts Gutes war, dessen war er sicher. Kurz darauf kehrte der Mann, den der Anführer Tob genannt hatte, zurück. In seiner Gesellschaft befand sich eine Kreatur, deren Anblick Faskerns Befürchtungen noch bestärkte. Kein Zweifel, dachte er, er war einer Gruppe von Kriminellen in die Hände gefallen. Sie planten ein Verbrechen. Ihr Anführer schien bereits zu wissen, wie er ihn, Faskern für seine Zwecke ausnützen könnte. »Wir sind vollzählig!« Dalyle sagte es mit einem seltsamen Lächeln. Tob sah ihn verwundert an, und der dritte Mann, der an einer kunstvoll verzierten Röhre saugte und Schwaden von Qualm in die Luft stieß, sagte: »Was soll das heißen ›vollzählig‹? Ich denke …« Dalyles Lächeln wurde breiter. »Es gibt Menschen«, sagte er, und in seiner Stimme schwang beißender Spott, »bei denen ist Denken Glückssache. Du, Piepe, bist einer ihre markantesten Vertreter!« Er blickte den Bernaler an. »Wir brauchen Caide nicht mehr!« »Du meinst …« Piepe hustete ausgiebig. Sein Chef nickte. »Es scheint zu dämmern. Auf diese Weise sparen wir Zeit, und vor allem, was noch wichtiger ist, wir schalten jedes Risiko aus. Tob, gib mir die ›Bios‹! Nimm deinen Blaster und laß unseren Freund hier nicht aus den Augen! Wir gehen zum Gleiter!« Faskern sah, wie eine Plastikkapsel ihren Besitzer wechselte. Der dritte Mann lief hustend zu dem Toten. Er starrte eine Weile auf ihn herab. Dann blickte er zu Dalyle hinüber und fragte: »Hatte er Scheine?« Der Anführer gab keine Antwort. Aber als Piepe Miene machte, den Erschossenen
Klaus Fischer ebenfalls zu durchsuchen, fuhr er ihn an: »Finger weg! Mit der SolAb will ich nichts zu tun haben. Und von den Blaugrünen wirst du bald genug haben!« Der große vierschrötige Mann, Tob genannt, hatte eine Waffe hervorgeholt. Er trat zu Faskern und machte eine auffordernde Bewegung. Der Bernaler drehte sich schweigend um und folgte Dalyle, der bereits vorausgegangen war.
* Sie hatten ihn erpreßt. Und das Schlimme war, daß er sich gegen die Erpressung nicht hatte wehren können. Sie saßen in dem Gefährt, das Dalyle mit »Gleiter« bezeichnet hatte, und rasten über eine glatte Kunststoffpiste. Dem Stand der gelben Sonne nach zu urteilen, bewegten sie sich in einem Winkel von etwa neunzig Grad zu der Richtung, aus der Faskern gekommen war. Dalyle hatte ihm frank und frei erklärt, daß sie ihn dem Geheimdienst übergeben würden, falls er nicht mit ihnen kooperieren würde. Für die SolAb wäre er ein heimtückischer Mörder, der einen der ihren umgelegt hätte. Er Dalyle, und seine beiden Mitarbeiter würden ihm seine Geschichte schon glauben. Der Geheimdienst wäre jedoch eine ziemlich mißtrauische Institution. Und falls Faskern seine Mithilfe verweigerte, würde er, Dalyle, seine Aussage machen, die ihm mindestens Zwangsarbeit auf einem fernen Planeten einbrächte. Als Faskern sich danach erkundigt hatte, welche Gegenleistungen man von ihm erwartete, war der Verbrecher dazu übergegangen, den Plan des Banküberfalls einschließlich der Rolle, die der Bernaler zu spielen hatte, zu erläutern. In seiner Einleitung hatte der Verbrecher nicht versäumt, auf seine eigene Genialität hinzuweisen. Heutzutage, so hatte er verlauten lassen, wäre es eigentlich unmöglich, eine Bank zu überfallen, geschweige denn sie auszurauben. Die modernen, ausgeklügelten Sicherheitssysteme machten dies praktisch
Der Zeitnomade unmöglich. Er, Jonny Dalyle, wäre jedoch im Besitz eines Mittels, auch die besten und neuesten Sicherheitsmaßnahmen zu umgehen. Ort der Handlung sollte die Sol d'Avigny-Bank sein, ein privates Geldinstitut, das sich, wie er es ausgedrückt hatte, vortrefflich zur Geldentnahme eignete. Wie fast alle Geldinstitute in Terrania-City besäße auch die Sol d'Avigny-Bank eine Eingangsschleuse, in der der Eintretende elektronisch getestet werden würde. Dabei würde zum einen die Streustrahlung eventuell vorhandener Waffen oder elektronischer Geräte angemessen werden. Zum andern würden die Individualschwingungen des Gehirns aufgenommen und mit den Daten verglichen werden, die in der Positronik des Polizeipräsidiums gespeichert waren. Verdächtige würden somit in Bruchteilen von Sekunden identifiziert und vor dem Eintritt in die eigentlichen Bankräume einer zweiten gründlichen, mit einer Leibesvisitation verbundenen Un tersuchung unterzogen. Ob ihm der Name Stosch etwas sagen würde, war alsdann der Bernaler gefragt worden. Als er verneint hatte, hatte er erfahren, daß es sich um eines der gefährlichsten Viren der Galaxis handelte. Wen der Erreger befiel, der war unrettbar verloren. Falls nicht innerhalb einer kurzen Frist – Dalyle sprach von neun Minuten – das Gegenserum gespritzt würde, stürbe er eines grausamen Todes. Natürlich gab es in Terrania-City Stellen, an denen das Serum aufbewahrt wurde. Doch die Bank, die Dalyle ausgewählt hatte, war unter günstigsten Umständen vom nächsten Depot aus nicht unter vierzehn Minuten zu erreichen. Der ebenso raffinierte wie heimtückische Plan des Verbrechers lief darauf hinaus, daß jemand mit einer Virenkapsel in der Tasche die Bank betrat, den Direktor aufsuchte, diesem die Stoscherreger präsentierte und ihm klarmachte, daß sein Leben und das der meisten Menschen innerhalb des Gebäudes verwirkt war, falls er nicht auf die ihm vorge-
29 legten Bedingungen einginge. Diese Bedingungen waren: Abschaltung der Sicherheitsautomatik und Übergabe von einer Million Solar. Da Dalyle und seine beiden Kumpane mehrmals vorbestraft waren, kamen sie zur Ausführung dieses Teils des Planes nicht in Betracht. Deshalb würde man also ihn, Faskern, mit dieser Aufgabe betrauen. »Bis jetzt nämlich«, hatte der Verbrecher mit bedeutsamer Betonung bemerkt, »befinden sich Ihre Schwingungsmuster noch nicht in den Speichern der KriminalPositronik.« Der Verkehr auf den Straßen hatte zugenommen, und während die Automatik ihr Fahrzeug sicher durch das Gewühl steuerte, überlegte Faskern, wie er aus der Falle entkommen konnte, ehe sie zuschnappte. Dalyles Plan zeugte von der Gefährlichkeit und Skrupellosigkeit des Gangsters. Bedenkenlos setzte er das Leben von Hunderten seiner Artgenossen aufs Spiel, um in den Besitz des ersehnten Geldes zu kommen. Faskern überlegte, wie verhindert werden sollte, daß der Direktor der Bank, oder wer immer mit der Sache konfrontiert wurde, seinem Gegenüber die Kapsel einfach entreißen und unschädlich machen würde. Er stellte eine entsprechende Frage. Dalyle griff in seine Tasche und holte die Kapsel, die er von Tob erhalten hatte, hervor. Sie besaß zylindrische Form und an einem Ende einen roten, am anderen einen blauen Knopf. Der Verbrecher erklärte: »Die Kapsel, die ein guter Freund von mir konstruiert hat, besitzt zwei Mechanismen. Der eine sorgt dafür, daß sich die Kapsel, je nach Einstellung, selbst zersetzt. Der zweite setzt den Inhalt der Kapsel sofort frei, sobald der rote Knopf hier gedrückt wird. Ihr Finger, Faskern, an diesem Knopf wird verhindern, daß sich jemand an ihnen vergreift!« »Und wer hindert mich«, erkundigte sich der Bernaler, »die Kapsel samt Inhalt den Sicherheitsbeamten der Bank zu übergeben?« Dalyle lächelte. Es war ein Lächeln von
30 unendlicher Grausamkeit. Und Faskern ahnte, daß der Gangster noch eine schreckliche Überraschung für ihn bereit hielt. »Sie werden es recht bald erfahren!« Obwohl sich Faskern konzentriert mit dem Problem beschäftigte, das auf ihn zukam, war ihm nicht entgangen, daß die städtische Szenerie gewechselt hatte. Sie schienen sich einem der Schwerpunkte der City zu nähern. Die großflächig angelegten Gartensiedlungen, die die Neigung dieser Wesen zum Individualismus widerspiegelten, waren verschwunden. Die Gleiterpiste führte jetzt mitten durch ein Meer von Bauwerken, Bauwerke der verschiedensten Art. Neben Formen, deren perfekte Symmetrie Harmonie und Zufriedenheit signalisierten, standen solche, deren Asymmetrie wie eine Provokation auf das kontemplative Wesen des Bernalers wirkte. Trotz allem schienen die Würfel und Quaderbauten zu dominieren, wenigstens in diesem Teil der Stadt. Riesigen Kristallen gleich, wuchsen sie beiderseits der Gleiterpiste aus ihren Fundamenten empor und reckten sich, oft mehr als hundertgeschossig, dem Himmel entgegen. Manche von ihnen wurden in mehreren Etagen von Hochstraßen und Schienenbahnen durchschnitten, deren luftige Konstruktionen von einer atemberaubenden Kühnheit waren. Interessiert nahm Faskern diesen Ausschnitt urbaner Struktur in sich auf. Hier manifestierte sich ein Teil der Seele dieses Volkes. Da war Toleranz und Anpassungsfähigkeit, ein Streben nach Schönheit und Harmonie, da war aber auch Kraft, Wucht Ungestüm und Aggression. Alles in allem ein kraftvoller Rhythmus, der einer urhaften, erdgebundenen Vergangenheit zu entstammen schien. Der Gleiter verließ die Hauptroute. Er fuhr durch ein Gewirr von Häuserschluchten, die in rechten Winkeln zueinander verliefen. Dann hielt er auf einer Parkrampe am Rande einer Gleiterstraße. Faskern dachte nach. Hatte er den Terra-
Klaus Fischer nern Unrecht getan? Hatten seine negativen Erlebnisse mit einigen wenigen Bewohnern dieser Welt ihn dazu verleitet, vorschnell ein Pauschalurteil über das gesamte Volk zu fällen …? Doch die nächsten Minuten ließen Faskern einen noch tieferen Blick in jenen dunklen Teil der menschlichen Psyche tun, von der er schon einige Kostproben erhalten hatte. Dalyle wandte seinen Kopf dem Bernaler zu. Sein Arm wies diagonal über die Gleiterpiste. »Sehen Sie das Hochhaus dort drüben?« Und als Faskern nickte. »In den unteren Stockwerken befindet sich die Sol d'Avigny-Bank.« Sein Arm ruckte nach links, wies auf einen Viadukt, der sich, einige Schritte vor ihnen über die Straße spannte. »Gehen Sie über die Brücke!« Er machte eine kleine Pause. Dann fuhr er fort: »Wir haben die Sache schon durchgekaut. Trotzdem, ich wiederhole nochmals: Sie gehen durch den Haupteingang, betreten durch die zweite Tür die Schalterhalle, vorne rechts ist der Auskunftsrobot. Sie sagen ihm, Sie wollen den Direktor sprechen. Wissen Sie noch, was Sie zu sagen haben, wenn man Sie fragt, in welcher Angelegenheit Sie den Alten sprechen wollen?« »Betreffs der Liberty-IIAktien …«, antwortete Faskern ruhig. Der Gangsterchef nickte zufrieden. »Daraufhin wird man Sie sofort vorlassen. Wenn Sie das Zimmer des Alten betreten – es befindet sich dreißig Meter weiter auf der rechten Seite – sind, von dem Augenblick an gerechnet, wo Sie den Gleiter verlassen, maximal zehn Minuten vergangen. Sie nehmen die Kapsel aus der Tasche, legen den Finger auf den roten Knopf und zeigen das Ding dem Chef oder wer da eben sitzt. Jeder Mann in Terrania-City kennt den roten Totenkopf. Dann unterbreiten Sie dem Mann unsere Vorschläge!« Dalyle entblößte seine Zähne. »Sie sagten vorhin, die Kapsel mit den Viren zersetze sich nach einer bestimmten
Der Zeitnomade Zeit von selbst. Sollte der Bankdirektor auf Ihre Forderungen nicht eingehen …?« »Er wird darauf eingehen!« unterbrach Dalyle. »… wie wollen Sie dann verhindern, daß die Menschen in der Bank infiziert werden?« »Sobald die Sicherungseinrichtung abgeschaltet ist, kommen Piepe und ich nach. Piepe besitzt einen Empfängerteil der mit der Kapsel verbunden wird. Sie werden dem Alten erklären, daß wir, sobald wir mit dem Geld in Sicherheit sind, den Zersetzungsmechanismus per Funkimpuls aufhalten. Natürlich muß er wissen, daß ich den Impuls nur aussende, wenn er uns nicht belästigt und uns die Polizei vom Halse hält.« Aus dem Fond des Fahrzeuges kam ein krächzendes Lachen. »Die Frage ist, Jonny, ob er uns trauen wird!« »Das ist seine Sache. Wenn er sein Wort hält, halten wir auch unseres. Wir sind keine Mörder.« »Noch nicht«, sagte Faskern ruhig. »Wenn der Direktor der Bank jedoch Ihre Forderung ablehnt, werden Sie zum Mörder werden!« Dalyle ignorierte den Einwurf. Er griff in eine Tasche seiner Jacke und förderte einen zweiten Behälter zutage. Er war kleiner als der Zylinder mit den Viren und von kubischer Form. »Wir werden Sie jetzt ein bißchen präparieren, Faskern!« Wieder spielte das grausame Lächeln um seine Lippen. Als er den Behälter öffnete, sah Faskern eine gelbe Kapsel und daneben eine Ampulle, die mit einer schmutziggrauen Flüssigkeit gefüllt war. »Sehen Sie, Faskern, ich habe hier eine Kapsel. Sie enthält das Virus. Die graue Flüssigkeit dagegen ist das Serum, das die tödliche Wirkung des Erregers aufhebt. Sie werden jetzt die Kapsel schlucken!« Faskern erschrak. Mit dieser Wendung hatte er nicht gerechnet. Er hörte Tob scharf aufatmen, und er wußte, daß der Chef seine beiden Kumpane in diese wahrhaft teufli-
31 sche Variante seines Planes nicht eingeweiht hatte. Dann hörte er Piepe krächzen: »Deshalb sagtest du, du wüßtest schon, wie man sichergehen kann, daß Caide nicht umfällt.« Dalyle grinste. »In der Tat! So hatte ich es gemeint.« Der Bernaler, der wußte, was der Verbrecher vorhatte, sagte: »Was soll das bedeuten? Sie haben mich in der Hand, warum wollen Sie mich also umbringen?« Jonny Dalyle blickte ihn abwägend an. Dann bequemte er sich zu einer Antwort: »Ich habe nicht die Absicht, Sie zu töten. Dies ist nur eine Vorsichtsmaßnahme und dient unserer Sicherheit. Es könnte Ihnen einfallen, dem Alten in der Bank die StoschViren auszuhändigen. Zwar zersetzt sich die Kapsel in einigen Minuten selbst. Aber der gute Mann in der Bank könnte ja in Panik geraten und sie zum Beispiel einfach auf die Straße werfen. Sehen Sie, Faskern um dies zu vermeiden, werden Sie jetzt diese Kapsel schlucken. Es liegt dann in Ihrem ureigensten Interesse den Bankchef darüber aufzuklären, daß Sie selbst die hübschen Dingerchen bereits in sich tragen, und daß Sie keinen dringenderen Wunsch haben, als daß die Sicherheitsschaltung desaktiviert wird, damit Sie das rettende Serum noch erhalten, bevor es zu spät ist.« Faskern blickte den anderen an und er merkte, wie Dalyle unruhig wurde unter diesem Blick. »Haben Sie keine Angst!« sagte der Verbrecher schnell. »Wenn Sie alles tun, was ich Ihnen sage, kann Ihnen gar nichts passieren. Sie nehmen die Kapsel. Genau fünf Minuten später löst sie sich auf, und das Virus befindet sich in Ihrem Blut. Und wenn Sie dann Ihren Auftrag präzise ausführen, bin ich schon Minuten später bei Ihnen und spritze das Serum.« Da sagte Tob, und es war zum erstenmal während dieser Fahrt, daß der große Mann etwas sprach: »Und wenn der Bankchef nicht da ist?
32 Und wir können nicht 'rein …?« Dalyle sprach über seine Schulter hinweg: »Meine Informationen besagen, daß drei Leute in der Bank, zwei Männer und eine Frau, die Codenummer kennen. Einer von ihnen ist immer da.« »Besitzt die Bank eigentlich keinen Schutzschirm?« fragte der Bernaler. »Nur der Haupttresor verfügt über einen«, antwortete der Gangster mürrisch. »Und jetzt schlucken Sie die Pille!« Er hielt dem Bernaler die kleine Kapsel hin. Faskern starrte auf das flache runde Etwas. Zum erstenmal hatte er Angst, richtige Angst. Er spürte die tödliche Drohung, die von der Kapsel ausging, und einen Augenblick lang dachte er daran, sich zu weigern. Aber der Druck der Waffe in seinem Rücken verstärkte sich. Sie würden ihn kaltblütig töten. Er fühlte, daß seine Kehle ausgetrocknet war. Seine Hände zitterten. Er schloß die Augen, und dachte daran, was in den letzten Stunden alles geschehen war. Er sehnte sich zurück nach dem schwerelosen Dasein in der übergeordneten Zustandsform. Nach dem gleichmäßigen, sanften Dahinschweben im konturlosen Nichts des Zeitstroms. Nie zuvor war ihm mit einer solchen Schärfe zum Bewußtsein gebracht worden, welche Gefahren und Probleme ein körperhaftes Dasein mit sich brachte. Als Faskern eine Berührung an seiner Hand verspürte, öffnete er die Augen. Dalyle drückte ihm die Kapsel zwischen die Finger. Da nahm der Bernaler sie und schluckte sie hinunter. Der Verbrecher sah ihm unbewegt zu. Dann sagte er: »Wenn Sie dem Alten die Viren zeigen, vergessen Sie nicht, ihn zu warnen, daß er uns ja seine Betriebspolizei vom Leibe hält!« Auf Faskerns Stirn glänzten Schweißtropfen. Als er aus dem Fahrzeug herauswollte, hielt Dalyle ihn am Arm fest. »Sie haben etwas vergessen, Faskern!« Der Mann griff in seine Tasche und holte
Klaus Fischer den Zylinder mit den Stosch-Viren heraus. Er hielt ihn dem Bernaler hin, der sie hastig an sich nahm und dann den Gleiter verließ. Dalyle gab Tob einen Wink, dem Fremden zu folgen.
7. In dem Augenblick, als Faskern die Schalterhalle betrat, war sein Schwächeanfall verflogen. Sein Verstand begann wieder zu arbeiten, und während er auf den Informationsrobot zuschritt, überschaute gleichsam sein durch den Aufenthalt in der vierdimensionalen Zustandsform mutiertes Gehirn, welche Möglichkeiten es gab, den Plan der Verbrecher zu durchkreuzen. »Ich möchte den Direktor sprechen!« »In welcher Angelegenheit?« kam die erwartete Frage. »Betreffs der Liberty-IIAktien«, entgegnete Faskern auftragsgemäß. Diesmal ließ die Antwort auf sich warten. Und Faskern fragte sich, wieviel Zeit verflossen sein mochte, seit er die Kapsel heruntergeschluckt hatte. Sicher hatte sich die Kapsel in seinem Körper bereits aufgelöst, und die mörderische Krankheit hatte begonnen, sich in seinem Blut auszubreiten. Er unterdrückte die erneut aufkommende Unruhe und konzentrierte sich auf das, was er zu tun hatte. Die mechanische Stimme sagte: »Gehen Sie bitte geradeaus und durch die dritte Tür rechts! Man erwartet Sie bereits!« Der Bernaler tat, wie ihm geheißen. Als er vor der betreffenden Tür stand, öffnete sich diese von selbst, und eine helle Stimme bat ihn einzutreten. Faskern kam der Aufforderung nach, und dann sah er sich einer Terranerin gegenüber, die von außergewöhnlicher Schönheit war. Doch dann erkannte er seinen Fehler: Das, was da vor ihm im Sessel saß, und ihn freundlich anlächelte, war kein organisches Wesen. Dem Betreffenden, in dessen Dienst es stand, schien es daran gelegen zu sein, die Vorzüge einer reibungslos arbeiten-
Der Zeitnomade den Positronik mit den Annehmlichkeiten eines schönen Körpers verbunden zu wissen. »Bitte gehen Sie dort hinein!« Eine zweite Tür glitt auf, und Faskern stand einer zweiten Frau gegenüber, einer wirklichen Frau. Sie sagte: »Direktor Liao-Shi ist aus Gesundheitsgründen aus dem Direktorium ausgeschieden. Ich habe seine Position übernommen. Ich bin Madame Dufresne. Was kann ich für Sie tun?« Faskern, der keinen Augenblick vergessen hatte, was auf dem Spiel stand, trat mit drei raschen Schritten an das nierenförmige Arbeitspult heran. Er holte den Behälter mit den Stosch-Viren hervor und streckte ihn der Direktorin entgegen. Als diese den speziell geformten Behälter mit dem roten Totenkopf erblickte, wich alles Blut aus ihrem Gesicht. Ihre Augen weiteten sich. Sie sprang auf und wich ein paar Schritte zurück. »Was … was soll das bedeuten? Was wollen Sie?« Der Bernaler machte einen Schritt zur Seite und stellte sich so, daß er die Direktorin und ihre »Sekretärin« im Auge hatte. »Ich sehe, Sie wissen, was sich in diesem Behältnis befindet«, sagte er ruhig. »Ich habe den Auftrag, den Behälter zu öffnen und die tödlichen Erreger freizusetzen, falls Sie nicht auf die Forderungen meines Auftraggebers, eines gewissen Jonny Dalyle, eingehen. Diese Forderungen sind erstens die Abschaltung des Sicherheitssystems, damit Dalyle und seine Begleiter die Bank betreten können. Zweitens die Übergabe von einer Million Solar.« Madame Dufresne, blanken Terror im Gesicht, starrte ihn einen Augenblick lang an. Dann kam urplötzlich Leben in ihren Körper. Sie machte einen schnellen Schritt vorwärts ihre Hand fuhr nach vorne. Aber ein scharfes »Halt!« des Bernalers ließ ihre Bewegung unausgeführt bleiben. »Sehen Sie den roten Knopf, auf dem mein Zeigefinger liegt? In dem Augenblick, in dem Sie den Alarmknopf berühren,
33 drücke ich ihn ein. Im gleichen Augenblick sind die Viren frei. Dies bedeutet für Sie selbst und für einige weitere hundert Terraner den Tod. Wie Sie wissen, ist das nächste Medico-Depot zu weit entfernt, als daß das rettende Serum noch rechtzeitig hierher transportiert werden könnte.« Die Frau stöhnte auf. »Was soll ich? Die Kombination für die Sicherheitsschaltung …« Faskern, der sich seine Worte genau überlegt hatte, sagte eindringlich: »Sie beide müssen mir jetzt genau zuhören! Gemeinsam wird es uns vielleicht gelingen, das Verbrechen zu verhindern.« Er sah die Augen der Direktorin auf sich gerichtet, neue Hoffnung in ihrem Blick. Er fuhr fort: »Soviel ich weiß, halten sich einige Polizisten hier ständig auf.« »Keine eigentliche Polizei, Bankpolizei …« Faskern machte eine ungeduldige Handbewegung, »Gleichgültig, wie Sie sie nennen. Sie sind, nehme ich an, bewaffnet …« Und als die Direktorin nickte, »Beordern Sie sie hierher! – Warten Sie! Noch etwas …« Die Direktorin ließ die Hand sinken. »Verfügen Sie über einen Schutzschirm?« »Ja, er sichert den Haupttresor …« »Gut!« sagte der Bernaler befriedigt, »deponieren Sie diese Kapsel dort! Das fünfdimensionale Energiefeld kann der Erreger gar nicht durchdringen. Erledigen Sie diese beiden Dinge sofort! Wie es weitergeht, sage ich Ihnen anschließend.«
* Als der Fremde in der Bank verschwunden war, sicherte Tob die Waffe in seiner Tasche und kehrte zu dem wartenden Gleiter zurück. »Aktion läuft!« sagte er, und lehnte sich befriedigt in dem Polster zurück. Dalyle antwortete nicht. Piepe hustete ununterbrochen. Plötzlich fuhr ihn sein Chef
34 an: »Deine ständige Husterei geht mir auf die Nerven! Reiß dich gefälligst ein bißchen zusammen!« Von hinten meldete sich Tob: »Du bist nervös, Chef!« konstatierte er. »Stimmt etwas nicht?« Aber Dalyle gab keine Antwort. Alle Augenblicke sah er auf seine Uhr. Schließlich gab er das Zeichen zum Aufbruch. Piepe und er stiegen aus dem Gleiter. Sie betraten das Rollband auf der Brücke und überquerten die Piste. Dann standen sie vor der Bank. Dalyle legte seinen Kopf in den Nacken und sah an der gläsernen Front des hundertzwanziggeschossigen Bauwerkes empor. Piepe, neben ihm, blickte ihn erstaunt an, sagte aber nichts. In wenigen Minuten würde er am Ziel sein, dachte Jonny Dalyle. Ein Traum würde dann in Erfüllung gehen. Eine Million Solar! Wie oft hatte er sich ausgemalt, was er mit dem Geld anfangen würde. Jetzt, kurz vor den entscheidenden Minuten, spürte er Unruhe in sich. War es Angst? Angst wovor? Nichts konnte mehr schiefgehen. Der Plan war perfekt, narrensicher. Dennoch … Wieder schaute er auf die Uhr. In dem Sichtfenster rotierten die Sekunden. »Jetzt!« sagte Dalyle. Im nächsten Augenblick betraten sie die Bank. Raschen Schrittes durchquerten sie die Sicherheitsschleuse. Keine aufheulenden Sirenen. Kein Alarmruf aus den Lautsprechern. Triumphierend erhöhte Dalyle seinen Schritt. Vor ihnen glitt die große Glastür auf. Dann waren sie in der Schalterhalle. Ohne zu zögern, schritt Dalyle an dem Informationsrobot vorbei den langen Korridor hinunter. Dreißig Meter. Die dritte Tür rechts. Diese Tür führte, wie er wußte, zur Chefsekretärin. Dahinter war das Zimmer der Direktion. Im Vorzimmer empfing sie eine bildhübsche Androidin. Sie entblößte ihr makelloses
Klaus Fischer Gebiß und sagte: »Die Herren werden bereits erwartet. Dort hinein!« Dalyle zögerte einen kurzen Augenblick. Er tastete nach der Waffe unter der linken Achselhöhle. Dann trat er vor die Tür, die sich vor ihm öffnete. Das erste, was er erblickte, waren Faskern und eine Frau. Der Fremde saß vornübergeneigt in einem Sessel. Seine grüne Haut schimmerte fahl. In diesem Augenblick wußte Dalyle, daß etwas schiefgegangen war. Faskern! Seine Hand war leer! Die Virenkapsel … Jonny Dalyle wirbelte herum. Aber es war schon zu spät! Piepe und er blickten in die Mündungen zweier Strahler. Einer der Männer, die aus den Ecken des Raumes auf sie zukamen, sagte: »Keine Dummheiten, Dalyle! Diesmal gehen Sie uns nicht mehr durch die Lappen!« Ehe es sich der Gangster versah, wurden ihm die Arme nach hinten gedreht. Eine in solchen Dingen erfahrene Hand tastete ihn ab. »Na also!« sagte der Mann befriedigt, als er die Behälter mit dem Serum und dann auch noch eine Waffe unter der Achselhöhle und eine zweite in einer Anzugtasche fand. Ersteren übergab er der bereits neben ihm stehenden Robotsekretärin. »Beeilen Sie sich, Arlene! Hoffentlich ist es nicht schon zu spät!« rief die Direktorin mit einem besorgten Blick auf Faskern, dessen Haut ein fahles Blaugrün angenommen hatte. Aber der Androide hatte bereits Ampulle und Injektionspistole zusammengesteckt und beugte sich über den Nacken des Fremden. Durch das Zischen der Hochdruckpistole hindurch, die das Serum in die Blutbahn spritzte, hörte man die kalte Stimme Dalyles: »Wenn Sie mich festnehmen, ist Ihnen nicht viel geholfen. Wo immer Sie die Stosch-Viren versteckt halten, den Zersetzungsprozeß der Kapsel können Sie nicht aufhalten. Nur Piepe und ich sind in der Lage, ihn
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zu stoppen.« »Ihr teuflischer Plan ist mißlungen, Dalyle!« sagte der eine der beiden Männer, der die Handgelenke des Verbrechers in einem eisernen Griff festhielten. »Die Kapsel mit den Erregern befindet sich an einem sicheren Ort. Einen fünfdimensionalen Energieschirm können auch Viren nicht durchdringen …« Er unterbrach sich, als er Sirenengeheul vernahm, das sich rasch näherte. »Kommen Sie, Dalyle, die Kriminalpolizei wird sich mit Ihnen befassen.« Der Verbrecher blickte Piepe nach, der bereits abgeführt wurde. Dann wandte er noch einmal den Kopf, und seine Augen suchten Faskern. Das Serum hatte bereits gewirkt. Der kleine Humanoide saß aufrecht im Sessel. Mit seinen übergroßen Augen blickte er Dalyle an.
8. In der Welt eines Fünfzehnjährigen spielen viele Dinge eine Rolle, die sich später zu gegebener Zeit wieder verlieren. In Valentin Mertins junger Psyche war es zweifellos die Phantasie, die einen dominierenden Platz innehatte. Wenn er in langen Abend und in verbotenen Nachtstunden die Krimis oder SFStücke auf dem Schirm seines kleinen Taschengerätes verfolgte, dann sah er sich – wie viele seines Alters – in der Rolle eines Kriminalinspektors, eines SolAb-Agenten oder eines USO-Offiziers die schwierigsten Fälle lösen, die gefährlichsten Verbrecher zur Strecke bringen und sich im Glorienschein eines nie verblassenden Ruhmes sonnen. Stundenlang lag er hinterher noch wach, starrte mit brennenden Augen an die Zimmerdecke, lautlos immer dieselbe Frage stellend: wann würde seine Wirklichkeit beginnen? Und dann, eines Tages, als er wieder einmal durch das noch immer von jedem technischen und zivilisatorischen Vorhaben der Riesenstadt ausgesparte Gelände streifte, war die Wirklichkeit plötzlich da. Und ob-
wohl erwünscht und herbeigesehnt, traf sie ihn letztlich doch unvorbereitet. Als er, sein Ohr an das Schutzgitter des Entlüftungsrohrs gepreßt, den Worten der Gangster gelauscht hatte, da hatte ihm die Erkenntnis gedämmert, daß diese drei Männer, die planten, jene Bank in Mittelwest auszurauben, für ihn allein einfach eine Nummer zu groß waren. In der Erkenntnis, daß der Zeitpunkt des Beginns einer Detektiv oder Agentenkarriere wohl doch noch zu früh angesetzt war, hatte er sich schon entschlossen, zur Polizei zu gehen und ihr seine Beobachtungen mitzuteilen. Doch dann war diese Sache mit dem SolAb-Agenten und dem grünhäutigen Fremden dazwischengekommen. Die Neugier auf das, was nun geschehen würde, war groß genug gewesen, um ihn in seinem Entschluß, staatliche Gewalt zur Hilfe zu rufen, wieder wankend zu machen. Außerdem hatte er befürchtet, daß die Gangster in seiner Abwesenheit auf den Agenten aufmerksam werden und sich aus dem Staub machen würden. Die Dinge hatten dann eine ganz andere Wendung genommen, und als Valentin, der inzwischen zu einem anderen Beobachtungsposten hinübergewechselt war, hörte, daß der Anführer der Verbrecher sich entschlossen hatte, den Fremden für seine Zwecke einzuspannen, war er losgerannt. Er war zur Gleiterpiste geeilt in der Hoffnung, daß ihn jemand nach Mittelwest mitnehmen würde. Es hatte jedoch ziemlich lange gedauert, bis seine Hoffnung erfüllt wurde. Schließlich hatte der Pilot eines Transportgleiters gestoppt und den Jungen einsteigen lassen. Jetzt saß er auf dem Pneumositz des Beifahrers und fragte sich, ob er es noch schaffen würde, vor den Gangstern die Sol d'Avigny-Bank zu erreichen, um den Direktor zu warnen. Natürlich hätte er noch immer zur Polizei gehen, oder sich dem Gleiterpiloten anvertrauen können. Doch fand er es spektakulärer, das Bankdirektorium selbst zu warnen.
36 Außerdem war da noch dieser grünhäutige Fremde. Wenn er jetzt die Polizei informierte, würde sie den Fremden festnehmen. Zwar waren die Zeugenaussagen der Verbrecher von zweifelhaftem Wert. Das wußte auch Valentin. Doch gab es genügend Indizien, die ihn der Tat überführen würden. Allein die Fingerabdrücke auf der Waffe, die der Gangsterboß eingesteckt hatte, waren Beweis genug. Die Frage, warum er eigentlich den Grünhäutigen schützen wollte, kam Valentin nicht in den Sinn. Nach seiner mehr von Emotionen als vom Verstand bestimmten Meinung hatte der Fremde nichts Böses im Sinn. Er war unschuldig in die Sache hineinverstrickt worden. Der SolAb-Agent war an seinem Tode selbst schuld. »An der nächsten Abzweigung setze ich dich ab.« Die Stimme des Mannes an den Kontrollen riß Valentin aus seinen Gedanken. Er blickte auf. Draußen, zu beiden Seiten der Piste, flogen die Hochhäuser von Mittelwest vorbei. »Dort drüben«, der Zeigefinger einer riesigen Hand wies nach links »siehst du den spitzen Kegel, der über die Häuser hinausragt?« Und als Valentin nickte: »Es ist das Gebäude der Eurasian Commercial, und daneben befindet sich die Sol d'Avigny. Du bist zu Fuß schneller da, als wenn ich dich hinfahre.« Seine Finger bewegten sich über die Kontrollen. Das Fahrzeug verringerte seine Geschwindigkeit. Minuten später glitt Valentin auf den Mobilstraßen durch das Geschäftsviertel. Würde er es noch schaffen …? Da zerriß Sirenengeheul die kalte Januarluft. Polizei! Valentin blickte nach links. Zwei Polizeigleiter rasten mit Höchstgeschwindigkeit über die Hauptverkehrsader des Viertels. Vor ihnen, auf einer Rampe, erhob sich ein Privatfahrzeug auf seinen Energiekissen. Doch es war bereits zu spät. Die Polizeigleiter stoppten es. Polizisten mit Waffen in den
Klaus Fischer Händen rannten zu dem gestoppten Fahrzeug und zerrten einen Mann aus dem Innern heraus. Es war Tob, einer der drei Gangster! Valentin blickte wieder nach vorn. Fünfzig Meter vor ihm erschien der breite Eingang der Bank. Auch dort hielt ein Gleiter, und bewaffnete Männer sprangen heraus und verschwanden im Innern der Bank. Er war zu spät gekommen. Der Plan der Verbrecher war gescheitert – auch ohne seine Mitwirkung. Valentin wechselte auf eine Verzögerungsspur. Langsam glitt er weiter. Als er sich der Bank bis auf etwa fünfzehn Meter genähert hatte, entstand erneut Bewegung. Flankiert von zwei Polizisten, erschien die schmächtige Gestalt des Anführers der Gangster. Und hinter ihm, von Husten durchgeschüttelt, kam Piepe. Auch er von zwei kräftigen Männern bewacht. Schnell bildete sich eine Traube Schaulustiger um Verbrecher und Polizisten. Und dann sah Valentin, wie sich ein kleines, humanoides, glatzköpfiges Wesen aus der Menschenmenge löste. Während alles zusah, wie die Gangster zu einem der Polizeigleiter gebracht und ins Innere verfrachtet wurden, schritt der Fremde unbeachtet zu der Rollstraße, betrat sie und glitt hinweg. Der Junge folgte ihm in einiger Entfernung. Der Fremde interessierte ihn. Mit der Scharfsichtigkeit des Heranwachsenden erkannte er, daß jener einsam war und hilflos. Valentin überlegte, ob er auf ein schnelleres Band wechseln sollte, um den anderen einzuholen. Aber dann entschloß er sich, noch zu warten. Seine Geduld wurde belohnt. Einige Minuten später verließ der Fremde das Band und trat auf den stationären Randstreifen. Valentin, der einige Meter hinter ihm das Band verließ, sah, wie der Grünhäutige stehenblieb und seine Umgebung musterte. Er schien etwas zu suchen. Plötzlich wandte er sich um. Seine großen Augen blickten geradewegs in diejenigen des Jungen. Sein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, und dann sagte er in einem et-
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was fremdklingenden Terranisch: »Du hast vorhin auf dem Dach gelegen und gesehen, was geschehen ist. Was willst du von mir?« Valentin wurde rot. Die direkte Frage des Fremden hatte ihn überrascht. Verlegen nestelte er an den Ärmelfransen seiner Jacke. Schließlich überwand er sich und sagte: »Ich möchte Ihnen helfen.« Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: »Ich heiße Valentin Mertins.« Die Augen des Fremden ruhten auf ihm. Sie waren von einem tiefen Blau, und Valentin war es, als ob sein Inneres wie ein offenes Buch vor dem anderen läge. Nach einer endlosen Weile sagte der Fremde: »Ich heiße Shankoon Faskern, und ich habe Hunger!« Von Valentin wich die Befangenheit. Er lachte auf. Dann wurde er übergangslos wieder ernst und fragte: »Haben Sie kein Geld?« Der Grünhäutige griff in seine Tasche, und als seine Hand wieder zum Vorschein kam, streckte er sie Valentin entgegen und öffnete sie. Der Junge überflog die Münzen, die sich seinen Augen boten. »Ich muß noch genügend Geld übrig behalten für eine Fahrt zum Raumhafen.« Der Junge überlegte, was ein Ticket zum Hafen von hier aus kosten würde. Dann sagte er: »Die Gegend hier ist ziemlich teuer. Es ist am besten, wir nehmen ein Kabinentaxi und fahren erst einmal zu uns nach Hause. Mutter hat gerne Gäste.« Nach einer kurzen Pause setzte er noch hinzu: »Ich habe auch Hunger.« Abwartend sah er den anderen an. Der Fremde zögerte. Doch schließlich sagte er: »Wie kommen wir an ein Kabinentaxi. Valentin?«
* Während sie in dem engen DreiMann-Gefährt zwischen den Gebäuden, mit-
ten durch sie hindurch oder über sie hinwegschwebten, überlegte Faskern, ob er es richtig gemacht hatte. Von der Seite her blickte er auf das Profil des jungen Terraners neben sich. Vor lauter Pigmentstörungen war die Farbe seiner Haut fast braun. Es war ein offenes Gesicht, wach und verträumt zugleich, halb umrahmt von einem Schopf brandroter Haare. Faskern war erstaunt über sich selbst. Erstaunt, weil er diesem Jungen so schnell sein Vertrauen geschenkt hatte. Seine bisherigen Erlebnisse waren dazu angetan, ihn an den guten Eigenschaften der Planetenbewohner zweifeln zu lassen. Warum also hatte er eingewilligt, als Valentin ihm vorschlug, zu ihm nach Hause zu kommen? Nun, es gab genügend Gründe, um seine Entscheidung zu rechtfertigen. Die letzten Ereignisse hatten ihm einen tiefen Schock versetzt. Er hatte schon den Hauch des Todes zu spüren gemeint. Er hatte feststellen müssen, daß, trotz seiner überragenden geistigen Fähigkeiten, seine Freiheit, ja, sogar sein Leben bedroht waren. Faskern war ehrlich genug zuzugeben, daß es nicht allein die Schuld der Terraner war, daß er in solche Schwierigkeiten geraten war. Der Grund lag vermutlich auch nicht in der Verschiedenheit der terranischen und der bernalischen Wesenheit. Diese mochte, fundamental gesehen, gar nicht so außerordentlich groß sein. Nein, es war ganz einfach die Umwandlung, die die bernalische Mentalität durch die Transformation in der vierten Dimension erfahren hatte, die zu der Kluft zwischen den beiden Völkern geführt hatte. Es sah schlecht für ihn aus. Er konnte froh sein, daß er, nachdem die Verbrecher gefaßt waren, unbemerkt aus der Bank gekommen war. Er hatte dies nicht zuletzt der Direktorin zu verdanken, die ihm, vielleicht aus Dankbarkeit, dabei Hilfestellung geleistet hatte. Sicherlich würden sie längst nach ihm fahnden. Dalyle und seine Komplizen würden aus Rache der Polizei eine detaillierte
38 Beschreibung liefern. Mit Bestimmtheit war anzunehmen, daß zwischen Kriminalpolizei und Geheimdienst eine Verbindung bestand. Zwar war schlecht vorauszusagen, wo sie ihn zuerst suchen würden. Auf jeden Fall würden sie in der nächsten Zeit am Raumhafen nach ihm Ausschau halten. All diese Überlegungen hatten dazu geführt, daß Faskern den Vorschlag des Jungen angenommen hatte. »Kasino-Brücke«, sagte der Junge. »Wir sind da.« Die zielprogrammierte Kabine hielt. Die Tür öffnete sich. Sie verließen das Fahrzeug und standen auf der Hochrampe. Mit einem Lift fuhren sie nach unten. Während sie auf stationären Straßen zwischen gepflegten Gärten und Rasenstücken hindurch dem Hause der Mertins zustrebten, fragte der Bernaler: »Was wird dein Vater sagen, wenn du einen Nicht-Terraner nach Hause bringst?« »Ich habe keinen Vater mehr. Er wurde bei einem Angriff der Gataser-Blues auf dem Planeten Kepa-Kepa getötet.« »Es tut mir leid!« sagte Faskern. »Meine Mutter kehrte daraufhin mit meiner Schwester und mir – ich war damals ein Jahr alt, meine Schwester acht – zur Erde zurück. Wir zogen in das Haus meines Großvaters …« Er brach ab und blieb stehen. Anscheinend wollte er noch etwas sagen. Doch dann ging er weiter. Der Junge hatte Faskern erzählt, daß er fünfzehn Jahre alt war. Dann war seine Schwester zweiundzwanzig. Sie studierte, auch das hatte Valentin ihm erzählt, Telepathische Kommunikationstheorie. Ein, so dachte Faskern, auch für einen Bernaler reizvolles Gebiet. Wie würde die Familie ihn aufnehmen, fragte er sich. Der Junge hatte ihm gesagt, daß er ihm, Faskern, helfen würde. Noch wußte er nicht, wie diese Hilfe aussehen würde. Der Junge war intelligent und verfügte über Phantasie. Beides waren wichtige Eigenschaften, um im Leben bestehen zu
Klaus Fischer können. In einem Leben, jedenfalls, das auf einer dreidimensionalen Basis aufgebaut war. Dann standen sie vor dem Haus der Familie Mertins. Es war aus mobilen Wohnzellen zusammengesetzt, deren Gruppierung man nach Geschmack und Bedarf variieren konnte. Diese Art zu wohnen, dachte der Bernaler, entsprach so ganz der dynamischen Lebensart dieses anscheinend noch recht jungen Volkes. Valentin legte die Hand auf einen Wärmeschalter, und die Haustür glitt auf. Der Junge machte eine einladende Bewegung mit der Hand, und Faskern betrat zögernd das Innere des Hauses. Er fand sich in einem rechteckigen Raum, durch dessen gläsernes Dach die schrägen Strahlen der Sonne fielen. Faskerns Blick schweifte über die beweglichen Plastiken und die kunstvollen Reliefs an den Wänden und dann blieb sein Blick an einem gläsernen geometrischen Gebilde hängen, das inmitten einer Sammlung von expressiven Kleinskulpturen stand. Fasziniert trat Faskern näher. Er begann zu zählen: Sechzehn Ecken … zweiunddreißig Kanten … Hinter ihm sagte eine dunkle Stimme: »Ein Andenken an Vater. Wir haben es von Kepa-Kepa mitgebracht.« Der Bernaler drehte sich um. Vor ihm stand eine junge Terranerin. Es mußte Valentins Schwester sein. Sie stand vor einer geöffneten Tür und lächelte ihn freundlich an. Ihr goldbraunes Haar fiel ihr in weichen Wellen ins Gesicht. In ihren grünen Augen, deren Blick unbefangen und offen war, stand eine Frage. Ehe Faskern etwas erwidern konnte, sagte Valentin: »Das ist Mister Faskern. Er hat Hunger. Außerdem braucht er ein Raumschiff, das nach … wie heißt der Planet?« »Toulminth«, antwortete der Bernaler ruhig. »… ja, nach Toulminth fliegt. Vielleicht
Der Zeitnomade können wir ihm helfen. Wo ist Mutter?« »Ich bin Valeska Mertins …« Die grünen Augen überflogen seine Gestalt. Vielleicht überlegte sie, welcher Rasse er angehören könnte. »Sie sind unser Gast, Mister Faskern – Mutter und Großvater sind bei den McKenzies«, beantwortete sie dann die Frage des Bruders. »Gastro wird uns etwas zu essen machen«, sagte Valentin und verschwand in einem Nebenraum. »Oh, ja, kommen Sie!« Unbefangen faßte Valeska den Bernaler unter den Arm und schob ihn hinter Valentin her. Die Geschwister drückten Faskern in einen Drehsessel an der Küchenbar. Als Valentin sich an den Kontrollen des Küchenrobots zu schaffen machte, sagte Valeska mit leichtem Tadel in der Stimme: »Vielleicht sollten wir Mister Faskern zuerst fragen, was er essen möchte.« Sie drückte eine Taste und fuhr, zu Faskern gewandt, fort: »Bitte, sprechen Sie Ihre Wünsche aus! Gastro wird sein möglichstes tun.« Faskern lächelte dankbar. »Ich habe heute bereits Bekanntschaft mit terranischen Nahrungsmitteln gemacht. Sie sind für meinen Metabolismus gut verträglich. Ich überlasse Ihnen die Entscheidung.« »Gastro, bereite uns eine Hsu-FuPastete mit Marsiansoße!« befahl das Mädchen. »Bedaure«, antwortete der Robot, »Sauce Marsian zur Zeit nicht vorrätig. Empfehle als Ersatz Manila-Tunke.« »Genehmigt!« Valeska schaltete ab und wandte sich wieder ihrem Gast zu: »Wir haben ein paar Minuten Zeit. Was sind Ihre Probleme, Mister Faskern?« Der Bernaler hatte schon während der Fahrt im Kabinentaxi überlegt, ob es ratsam wäre, seine wahre Herkunft preiszugeben. Abgesehen davon, daß es zweifelhaft war, ob man ihm Glauben schenkte, konnte er in erneute Schwierigkeiten geraten. Wenn er auch davon überzeugt war, daß der Junge ihn nicht verraten würde, so wußte er nicht, ob die gesamte Familie so dachte wie er.
39 Und selbst, wenn dies der Fall war, die Gefahr war nicht auszuschließen, daß ein Zufall die öffentlichen Stellen auf seine Spur brachte. In einem solchen Fall war es sicher besser, sein Geheimnis blieb gewahrt. Niemand konnte sagen, wie die planetare Führung reagieren würde, wenn es sich herausstellte, daß ein Wesen unter ihnen weilte, das aus einem übergeordneten Dimensionsgefüge stammte. Das mindeste, was er in dieser Hinsicht erwartete, waren Untersuchungen, die ihn zum geistigen Krüppel machen konnten. Auf der anderen Seite waren diese Menschen hier ehrlich bemüht, ihm zu helfen. Er hätte es als Unrecht empfunden, wenn er ihnen Lügen aufgetischt hätte. Faskern entschloß sich, offen über seine Befürchtungen zu sprechen. Auf diese Weise hoffte er, Verständnis dafür zu wecken, daß er nicht alles sagen konnte.
9. Leutnant Toronar Alburs stand vor einem Rätsel. Immer wieder blickte er auf den Bildschirm, tastete mit dem Detailvergrößerer jeden Zoll des toten Körpers ab. Doch so sehr er sich auch mühte und jede noch so unwesentlich scheinende Einzelheit einer genauen Untersuchung unterzog, der Tote gab sein Geheimnis nicht preis. Sergeant Johann F. Douglas. Toronar Alburs hatte schon bessere Leute sterben sehen. Aber Douglas gehörte nun einmal zu seinem Kommando, und es war dem Ertruser keineswegs gleichgültig, wenn einer seiner Leute ins Gras biß. Vor allem aber beunruhigte ihn die Tatsache, daß es absolut nicht festzustellen war, warum der Agent hatte sterben müssen. Ein Spaziergänger hatte ihn auf dem abgelegenen Gelände von Terra-Television in Kasino-Brücke gefunden. Als der Leutnant die Nachricht erhalten hatte, war er sofort mit einigen seiner Spezialisten hinausgefahren, um sich über Ort und Tat ein genaues Bild zu machen.
40 Doch viel war dabei nicht herausgekommen. Douglas war erschossen worden. Möglicherweise mit seiner eigenen Waffe. Diese fehlte nämlich. Der Arzt hatte festgestellt, daß der Agent schon mindestens zwanzig Stunden tot war, bevor man ihn gefunden hatte. Die Untersuchungen hatten ergeben, daß sich ein Kampf abgespielt hatte. Abschürfungen an seinem Körper und Beschädigungen an seinem Anzug hatten darauf hingewiesen. Außerdem hatte man Spuren einer fremden Textilfaser gefunden. Sie war zur näheren Analyse sofort dem Labor zugeleitet worden. Die Spurenspezialisten der SolAb hatten außerdem herausgefunden, daß sich innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden mehrere Personen auf dem Terrain aufgehalten hatten. Diese Erkenntnis hatte allerdings nichts eingebracht. Es war nicht festzustellen gewesen, ob eine oder mehrere Personen in die Tat verwickelt gewesen waren. Mißmutig war der Ertruser zur Zentrale zurückgekehrt und hatte auf das Ergebnis der Laboruntersuchung gewartet. Dabei hatte es sich herausgestellt daß das Material, dem die Proben entstammten, auf Terra unbekannt war. Und nicht nur auf der Erde denn Computer-Nachfragen hatten ergeben, daß es in der gesamten bekannten Galaxis kein Kleidungsstück gab, dessen Materialstruktur derjenigen der untersuchten Stoffpartikel gleichkam. Dies, dachte Toronar, gab der ganzen Sache einen überaus mysteriösen Anstrich. Der Ertruser stand auf und durchmaß mit großen Schritten seinen Arbeitsraum. Was hatte Douglas überhaupt in »Brücke« gewollt? Der Agent hatte den Auftrag gehabt, einen extraterrestrischen Agenten mit dem Decknamen Smith am Raumhafen abzuholen und zur Zentrale zu bringen. Später hatte der Leutnant die Information erhalten, daß das Raumschiff, mit dem dieser Smith ankommen sollte, erst vierundzwanzig Stunden später eintreffen würde. Der Ertruser hatte die Information an Douglas weiterge-
Klaus Fischer leitet. Toronar Alburs entsann sich, daß er bei der Gelegenheit dem Agenten einen Verweis übermittelt hatte, der vom SolAb-Chef wegen eines groben Fehlers ausgesprochen worden war, der Douglas unterlaufen war. Der Agent hatte seinen Zorn darüber in eine heftige Schimpfkanonade gekleidet und sich erst beruhigt als er, Toronar Alburs, ihm erklärt hatte, daß zur Zeit kein weiterer Auftrag für ihn vorläge. Der Leutnant hatte angenommen, daß Douglas den freien Tag auf seine Art nutzen würde. Als Toronar Alburs zum letztenmal mit dem Agenten Funkkontakt gehabt hatte, hatte sich jener am Raumhafen aufgehalten. Einige Stunden später mußte er bereits tot gewesen sein. Was war in dieser Zeit geschehen? Wer oder was hatte ihn nach KasinoBrücke gelockt? Etwas mußte seine Aufmerksamkeit erregt haben. Toronar Alburs wußte, daß der Agent durch seinen Übereifer schon viel Unheil angerichtet hatte. Diesmal allerdings schien er sich auf einer heißen Spur befunden zu haben. Was hatte er entdeckt? Und warum hatte er sich nicht per Funk gemeldet? Natürlich, dachte der SolAb-Offizier, Douglas hatte seinen Fall allein lösen wollen. Er hatte, wie schon so oft, sich selbst über, seinen Gegner aber unterschätzt. Dieser Fehler hatte ihm den Tod gebracht. Der Ertruser dachte angestrengt nach. Zwanzig Stunden war Douglas tot. Was war in diesen zwanzig Stunden geschehen? Er ließ die Ereignisse des gestrigen Tages Revue passieren. Irgend etwas war da, das sich in seinem Unterbewußtsein festgehakt hatte. Irgend etwas, das zu der Tat in KasinoBrücke in einer Beziehung zu stehen schien. Sein Blick fiel auf den großen Informationsschirm. In seinem Innern schlug eine Saite an. Es mußte in den Stadtnachrichten gewesen sein! Toronar Alburs drückte einen Knopf, und auf einem Monitor erschien das Gesicht einer Sekretärin. »Geben Sie mir die City-Views von ge-
Der Zeitnomade stern mittag hierher nach Raum 21!« sagte der Ertruser. Sekunden später erhellte sich ein Schirm. Der pastellgrün gelockte Kopf einer Sprecherin formte sich. Eine wohltönende Stimme sprach ein paar einleitende Worte, und dann folgte, dreidimensional und in buntem Wechsel, das, was sich am gestrigen Vormittag innerhalb der terranischen Metropole ereignet hatte. Als die Bilder vom Banküberfall in Mittelwest auftauchten, wußte Toronar Alburs, was ihn beschäftigt hatte. Gespannt verfolgte er die Szene, und dann kam das Bild, auf das er gewartet hatte. Der Ertruser drückte einen Knopf, und die Szene fror ein. Der Leutnant drückte einen zweiten Knopf, am oberen Rand des Schirmes erschien ein hellblauer Kreis. Die riesige Rechte drehte an dem Knopf, und der Kreis begann zu wandern, bis er auf einer kleinen Figur ruhen blieb, die im Begriff zu sein schien, sich aus einer Menschentraube herauszuwinden. Wieder schaltete Toronar Alburs, und die Detaillupe holte den Ausschnitt heran, vergrößerte ihn, bis er fast den ganzen Bildschirm ausfüllte. Lange starrte der Ertruser auf das Bild. War er es, oder war er es nicht? Die Größe stimmte. Auch die Statur und die Kleidung, soweit sie zu erkennen war. Der Kopf war zur Seite gedreht und verschwand fast ganz hinter der großen erhobenen Hand eines Polizisten, der dicht vor der Kameraoptik gestanden haben mußte. Nur ein Stück des Hinterkopfes war noch zu sehen. Es war haarlos und schimmerte grün. Toronar Alburs strich sich mit der Hand über den sandfarbenen Sichelkamm. Ja, dachte er, er konnte es sein, der kleine grünhäutige Humanoide, dem er in der vorigen Nacht an der Rohrbahnstation begegnet war. Der SolAb-Offizier wurde plötzlich lebendig. Er schaltete die Speichersendung ab. Dann trat er an den Interkom, drückte eine Taste und verlangte, mit dem Einbruchsdezernat der Kriminalpolizei verbunden zu
41 werden. Auf einem Bildschirm erschien der kurzgeschorene Kopf eines mürrisch dreinblickenden Mannes. »Kriminalpolizei Abteilung 5, Kriminalkommissar van der Rijn. – Ah, Sie sind es, Toronar …?« »Hallo, Piet!« Der Ertruser hob lässig die Hand, »Sagen Sie mal, da war doch gestern der versuchte Überfall auf die Sol d'Avigny. Ich habe es in den Views gesehen. Der Kommentator sagte etwas von einem unbekannten Extraterrestrier, der durch seinen Einsatz den Überfall verhindert hatte. Stimmt das?« Der andere nickte mißgelaunt. »Stimmt! Leider verduftete der Kleine, ehe wir ihn …« »Der Kleine?« unterbrach Toronar den Kommissar. »Ja, er war höchstens einen Meter sechzig groß. Die Direktorin der Bank gab uns eine genaue Beschreibung von ihm. Er war …« »Grünhäutig, haarlos, hatte einen langen Hals und übernormal große Augen.« Toronar Alburs weidete sich genüßlich an dem verblüfften Gesicht des Polizisten. »Woher wissen Sie das? Hat einer meiner Beamten geplaudert? Oder hat die Direktorin …?« Der Ertruser schüttelte den mächtigen Schädel. »Nichts gegen die Verschwiegenheit Ihrer Leute! Und in der d'Avigny-Bank bin ich in meinem Leben noch nicht gewesen. Aber ich habe die Grünhaut persönlich kennengelernt.« Er nickte bekräftigend, als er den erstaunten Ausruf des Kommissars hörte. Und dann erzählte er von der kurzen Begegnung. Als er geendet hatte, blickte van der Rijn nachdenklich vor sich hin. »Was sagen eigentlich Ihre drei Ganoven?« erkundigte sich der Ertruser. »Es waren doch drei …« Van der Rijn nickte. »Ja; Jonny Dalyle, Tobias Callhammer und Gerard Polluk, genannt Piepe, alle drei alte Bekannte von uns. Dazu noch ein gewisser Ed Czernoff, ein
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Klaus Fischer
Bankangestellter, der die Gangster mit den notwendigen Informationen versah. Wir sind auch schon der Person auf der Spur, die die Viren besorgte.« »Gibt es nicht in den Aussagen dieser Männer etwas, was zur Identifizierung des Fremden beitragen könnte?« »Darüber dachte ich gerade nach. Es ist da eine Sache, die mir Kopfzerbrechen bereitet …« »Ja …?« Toronar blickte den Kommissar erwartungsvoll an. »Dalyle gibt alles zu. Selbst, daß er den Fremden gezwungen hat, sich mit einer Kapsel Stosch-Viren selbst zu infizieren. Nur in einem schweigt er beharrlich. Er verweigert jede Auskunft darüber, wie und wo er den Fremden kennengelernt hat.« Der Ertruser pfiff durch die Zähne. »Sie meinen, daß Dalyle einen Grund hat, in diesem Punkt keine Aussage zu machen?« Van der Rijn nickte. Dann fügte er hinzu: »Und dann ist da noch etwas. Wir haben bei Dalyle zwei Waffen gefunden …!« »Zwei Waffen …?« Der Ertruser beugte sich interessiert vor. Wieder nickte van der Rijn. »Genau! Und unsere Spezialisten haben festgestellt, daß aus der einen Waffe ein Schuß abgefeuert wurde.« Toronar Alburs starrte auf den Bildschirm. Der SolAb-Offizier hatte das Empfinden, eine Handvoll Mosaiksteine in der Hand zu haben, von denen er wußte, daß sie, richtig zusammengesetzt, ein komplettes Bild ergäben. Es galt nur noch herauszufinden, in welcher Weise sie angeordnet werden mußten. »Piet, ich möchte mit den drei Gangstern reden!« Der Kommissar sah einen Augenblick erstaunt aus. Dann nickte er. »Selbstverständlich, Toronar. Ich erwarte Sie.«
* Eine Stunde später glaubte Toronar Al-
burs, dem Rätsel um den Tod des Agenten Douglas ein Stück nähergekommen zu sein. Er hatte Jonny Dalyle in die Zange genommen. In dem pausenlosen Kreuzverhör hatte sich der Verbrecher in Widersprüche verstrickt, und schließlich hatte er die Aussage gemacht, die die anwesenden Beamten, nicht aber mehr Toronar Alburs, mit Erstaunen aufgenommen hatten: Er, Dalyle, und seine beiden Begleiter wären dazugekommen, wie der grünhäutige Fremde mit der Waffe in der Hand vor dem erschossenen SolAb-Agenten gestanden hätte. Nach dem Grund gefragt, warum er diese Aussage nicht schon früher gemacht hätte, hatte Dalyle geantwortet, daß er gefürchtet hätte, man würde ihm keinen Glauben schenken. Um keinen Preis aber hätte er in die Mordaffäre um einen getöteten SolAbAgenten mit hineingezogen werden wollen. Einzelverhöre mit den beiden anderen hatten die Aussage ihres Bosses bestätigt. Selbst wenn man den Aussagen der Verbrecher nur eine bedingte Authentizität beimaß, so war es für Toronar Alburs nun nicht mehr zweifelhaft, daß der langhalsige Fremde der Mörder des Agenten war. Für das Motiv gab es allerdings nach wie vor keine Anhaltspunkte. In diesem Punkt hatte die Vernehmung der Gangster keine Klarheit erbracht. Weder sie noch der Fremde hatten sich an den Wertsachen des Toten vergriffen. Dalyle hatte allerdings zugegeben, den Agenten durchsucht zu haben. Raubmord schied also aus. Doch selbst wenn sich ein Motiv fand, dachte der Ertruser, bliebe damit das größte Problem noch immer ungelöst: Wohin war der Fremde verschwunden, wo hielt er sich auf? Der SolAb-Offizier befand sich mit drei Mann seines Kommandos auf dem Weg nach Kasino-Brücke. Toronar Alburs gedachte, sich noch einmal unter Berücksichtigung der neuen Lage an Ort und Stelle zu vergewissern, ob auch wirklich nichts übersehen worden war, das bei der Suche nach dem Fremden dienlich sein konnte. Der
Der Zeitnomade Leutnant wandte den Kopf und blickte den kleinen schmalgliedrigen Mann an, der an den Kontrollen des Fahrzeuges saß. »Ishigawa, was halten Sie von der Geschichte?« Der Angesprochene zuckte mit den Schultern. »Noch gar nichts, solange wir nicht noch einmal am Tatort gewesen sind, Chef.« Toronar Alburs' Weltbild wurde bestimmt von einem penetranten Optimismus. Jede Art von Skepsis mochte sie auch noch so begründet sein, war ihm ein Greuel. Schon öffnete er den Mund zu einer bissigen Bemerkung, da gab sein Armbandgerät einen schwachen Summton von sich. Der Offizier drückte einen Knopf ein und meldete sich. »Chef«, ertönte die Stimme seiner Sekretärin, »ich habe hier eine Information, die Sie vielleicht interessieren wird …« »Her damit!« brummte der Ertruser. »Vor einer Stunde ist Ihre Fahndungsorder betreffs dieses Fremden herausgegangen …« »In der Tat!« antwortete der Offizier ironisch. »Nun …?« »Soeben kam eine Meldung des Agenten Dreyfuß … Ich weiß nicht …« »Spuck schon aus, Mädchen!« grollte Toronar Alburs gereizt. »Ich bin kein Telepath!« Die Männer im Gleiter röhrten los. »Nein, Sir, natürlich nicht«, und dann sprach sie hastig weiter: »Agent Dreyfuß sagte, er habe den Gesuchten in Begleitung eines etwa fünfzehnjährigen Jungen gesehen. Der Junge ist lang aufgeschossen, er hat brandrotes Haar und Sommersprossen im Gesicht.« »Ist das alles?« »Ja, Sir. Agent Dreyfuß sagt, er hätte die beiden auf dem Tibetian-Korso gesehen, etwa fünfzig Meter oberhalb der d'Avigny-Bank. Er sagte, der Fremde wäre ihm aufgefallen. Er wüßte nicht, warum. Jedenfalls hätte er sich daraufhin auch seinen Begleiter angesehen.« »Hm«, machte Toronar Alburs. »Danke!« Er schaltete ab und sah nachdenklich vor sich hin. Ein Junge mit brandrotem Haar.
43 Noch eine Personenbeschreibung! Was sollte er damit anfangen. Dann schaltete er aber doch den Sender ein und gab die zweite Fahndungsorder heraus. Zwanzig Minuten später waren sie auf dem ehemaligen Gelände der Terra-Television. Sie begannen, jeden Quadratzentimeter des Terrains abzusuchen.
* Es war schwieriger gewesen, als er geglaubt hatte. Fast den ganzen Vormittag hatte sich Valentin am Raumhafen aufgehalten. Er hatte Informationssysteme befragt, Gespräche geführt, andere belauscht, das Erfahrene bedacht, wieder nachgefragt und schließlich alles Wichtige auf seinem MiniRecorder festgehalten. Faskern würde mit ihm zufrieden sein. Zwar war es unmöglich gewesen, ein Schiff auszumachen, das direkt in den angegebenen Sektor flog. Doch nach vielen Mühen hatte Valentin folgendes herausgefunden: Zur Zeit hielt sich in Terrania-City eine Sippe der Galaktischen Händler auf, die von Zeit zu Zeit einen ganz bestimmten Planeten anflog. Dieser Planet wurde von einer Raumfahrt betreibenden Rasse bewohnt, die ihrerseits gelegentlich Vorstöße in die von Faskern angegebene Region vornahm. Es lag nunmehr an Faskern, mit den Händlern einig zu werden. Das würde, so überlegte der Junge, einige Schwierigkeiten bereiten. Soviel er von den Springern wußte, konnte man diesen nur mit Geld imponieren. Und Geld besaß Faskern nicht. Auf der anderen Seite schien es Valentin, daß der Fremde über ein ungewöhnliches Maß an Klugheit und Intelligenz verfügte. Er würde sicherlich Mittel und Wege finden den betreffenden Springer-Patriarchen zu überreden, ihn mitzunehmen. Der Junge stand auf der Fahrtreppe und ließ sich zur Magnetbahn hinuntertragen. Als er zufällig einen Blick zurückwarf, stutzte er. Eines der Gesichter der Menschen, die hinter ihm waren, hatte er heute
44 schon einmal gesehen. Angestrengt überlegte er. Und dann fiel es ihm ein. Die Frau, die mit ihm zusammen den hellerleuchteten Schacht der Rohrbahn hinunterglitt, war dieselbe, die ihm im Gebäude der Zollstation aufgefallen war. Er hatte mit einem der Beamten ein harmloses Gespräch angefangen als er plötzlich das Gefühl hatte, jemand beobachtete ihn. Als er sich umgedreht hatte, war sein Blick auf eine schwarzhaarige Frau gefallen die, etwa zehn Meter von ihm entfernt, mit dem Rücken zu einem Schalter stand und zu ihm hinüber sah. Gleich darauf hatte sie sich umgedreht, mit dem Mann hinter der Glasscheibe ein paar Worte gewechselt und war dann, ohne Valentin noch einmal anzublicken, hinter seinem Rücken vorbei zum Ausgang gegangen. In Valentin hatte eine Alarmglocke angeschlagen. Irgend etwas in dem Blick der Frau oder in ihrem Gehabe hatte ihn mißtrauisch gemacht. Natürlich konnte sie zum Zollpersonal gehören, auch wenn sie keine Uniform trug. Es war aber auch möglich, daß sie eine Agentin der SolAb oder der USO war. Der Junge hatte sich dann mit dem Gedanken beruhigt, daß es die SolAb kaum auf ihn abgesehen haben konnte. Auch wenn sie bereits nach Faskern fahndete, von Valentins Verbindung mit dem Fremden konnte sie nichts wissen. Nun war er auf einmal nicht mehr so sicher. Doch er würde sich Gewißheit verschaffen, ob die schwarzhaarige Frau ihn beschattete oder nicht. Valentin bog an der nächsten Abzweigung nach rechts ab. Als er noch etwa einen halben Meter von der Sperre entfernt war, blieb er stehen. Er tat, als ob er überlegen mußte, schüttelte über sich selbst den Kopf, drehte sich um und ging den Weg, den er gekommen war, wieder zurück. Als die schwarzhaarige Frau, die sich noch immer hinter ihm befand, seinen Weg kreuzte, glitt ihr Blick gleichgültig über ihn hinweg. Valentin ging bis zur Abzweigung und
Klaus Fischer wandte sich dann nach rechts. Kaum war er wieder in den Hauptkorridor eingebogen, als er zu laufen begann. Nach einigen Dutzend Metern erreichte er den Eingang zu einem Schnellimbiß. Rasch trat er ein. Sein Blick überflog den Raum. Dort, die Männer an den Spielautomaten! Mit ein paar schnellen Schritten war er bei ihnen, zwängte sich zwischen ihnen hindurch und – die wuchtige Gestalt eines Epsalers als Deckung benutzend – spähte er zur Tür. Nur eine halbe Minute später erschien das Gesicht der Schwarzhaarigen. Zwei scharfe Augen blickten in das Innere der Imbißstube, überflogen die Menschen, hafteten ein paar Sekunden auf der Gruppe von Extraterrestriern, die sich in einer Ecke gestikulierend unterhielten, und drehte Valentin schließlich wieder ihr scharfgeschnittenes Profil zu. Dann ging sie mit raschen Schritten davon. Der Halbwüchsige kam aus seiner Deckung hervor. Er durchquerte den Raum und steckte vorsichtig den Kopf aus der Tür. Sein Blick flog einmal den Gang hinauf und hinunter. Die Schwarzhaarige war verschwunden. Nun war es nicht mehr zweifelhaft. Man beobachtete ihn. Wodurch aber war man auf ihn aufmerksam geworden? Das Gespräch, das er mit den Zollbeamten auf der Station geführt hatte, konnte nicht der Anlaß gewesen sein. Es hatte nichts Verfängliches enthalten. Es gab nur eine Erklärung: Man mußte dahintergekommen sein, daß er den Fremden kannte. Vielleicht hatte man ihn zusammen mit Faskern beobachtet. Dann allerdings war es unverständlich, daß die SolAb nicht längst bei ihnen zu Hause erschienen war. Doch war es sinnlos, sich jetzt den Kopf darüber zu zerbrechen. Viel wichtiger war, daß Faskern gewarnt wurde. Nach einem letzten prüfenden Blick in den Gang trat Valentin hinaus und eilte in die Richtung, die genau entgegengesetzt zu jener lag, die die Frau eingeschlagen hatte. Minuten später erreichte er das Geschoß, in dem die Züge verkehrten, mit denen man
Der Zeitnomade
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nach Kasino-Brücke gelangte. An der Sperre warf er noch einmal einen Blick zurück. Doch die Agentin war nicht mehr zu sehen. Valentin steckte seine Fahrkarte in den Schlitz des Automaten, empfing sie wieder und trat auf den Bahnsteig. Er mußte eine Zeitlang warten. Immer wieder blickte er zur Sperre zurück. Endlich schoß der stromlinienförmige Zug aus der Schwärze des Stollens in die helle Bahnhofshalle. Kaum öffneten sich die Türen, da zwängte sich der Junge in das Innere, eilte in ein Abteil jenseits des Ganges und ließ sich aufatmend in die Polster fallen.
* Es war wie verhext! Sie hatten nicht die geringste Spur gefunden, die ein Hinweis sein konnte, wo der Mörder des Agenten Douglas zu finden war. Man konnte nur noch eines tun: hoffen, daß sich jemand meldete, der den Fremden irgendwo gesehen hatte. Die Frage war nur, ob dieser unter den zahllosen nichtterranischen Individuen die sich in Terrania-City aufhielten, überhaupt auffiel. Als die Männer bereits auf dem Wege zum Gleiter waren, erreichte sie der Ruf der Agentin Dunja Björnström. »Ich habe mir Ihre Frequenz geben lassen, Leutnant Alburs«, sprudelte es aus der Membran an Toronars Handgelenk. »Ich hielt es für wichtig genug. Ich glaube, ich habe den Jungen entdeckt, den mit den roten Haaren, wissen Sie …?« »Ja, ja«, antwortete Alburs. »Wo ist er?« »Das, Leutnant, wollte ich Ihnen gerade erklären«, zwitscherte die Stimme aus dem Empfänger. »Also, ich entdeckte den Jungen am Raumhafen, im Zollgebäude. Ich hatte mir die Fahndungsbilder genau eingeprägt. Und als ich ihn sah, wußte ich sofort, das ist er! Er redete mit Jack. Das ist nämlich …« Toronar Alburs verdrehte die Augen. »Dunja, wollen Sie bitte …« »Oh, entschuldigen Sie, Leutnant«, es klang pikiert, »ich dachte, es wäre besser,
ich gebe Ihnen ein vollständiges Bild der Angelegenheit. Das erspart Ihnen Rückfragen, nicht wahr?« Der SolAb-Offizier krümmte die Finger seiner gewaltigen Pranke, so als ob er sein Armbandgerät zerquetschen wollte. Dann sagte er mit ergebener Stimme: »Also, fahren Sie schon fort, Dunja!« Die Agentin schien sich plötzlich besonnen zu haben. Sie berichtete konzentriert, wie sie den Jungen verfolgt und wie dieser sie an der Nase herumgeführt hätte, wie sie sich aber dennoch, unbemerkt von ihm, auf seine Spur hatte setzen können. »Und was glauben Sie, Leutnant, wo der Junge hingefahren ist?« »Das ist keine Frage des Glaubens, Dunja«, seufzte Toronar Alburs. »Nun, nach Kasino-Brücke!« »Waas?« Verblüfft ließ der Leutnant für einen Augenblick das Handgelenk sinken, so daß die Männer Dunjas Stimme aus dem Sprecher weiterreden hörten. Dann hob der Offizier die Membran wieder an seinen Mund: »Wo ist der Junge jetzt?« »Er hat, nachdem er die Rohrbahnstation verlassen hat, die Hauptstraße in Richtung Repatriierten-Viertel betreten. Ich folge ihm. Es ist ziemlich viel Betrieb, so daß er mich nicht sehen kann. Wir nähern uns jetzt Parkinson's Square. Je nachdem, für welche Richtung er sich dann entscheidet, werde ich Sie dann informieren.« »Gut, Dunja, halten Sie uns auf dem laufenden! Wir sind noch immer auf dem Gelände der TT. Wir kommen mit dem Gleiter!« »Seien Sie vorsichtig, Leutnant! Der Junge ist verdammt mißtrauisch und intelligent dazu. Ende!« Schon während des letzten Teiles des Gespräches hatten sich die Männer wieder in Bewegung gesetzt. Dann erreichten sie den Gleiter.
10.
46 Sie saßen im Garten, zwischen den immergrünen Gewächsen, die, wie Valeska erzählt hatte, von einem Planetensystem in der Nachbarschaft Sols stammten. Verborgene Infrarotprojektoren hielten die Januarkälte von ihnen ab. Faskern hielt den gläsernen Würfel zwischen den Händen. Nachdenklich ruhte sein Blick auf den scharfgeschliffenen Kanten. Er war in einer seltsamen, schwerlich zu beschreibenden Stimmung. Doch wußte er, daß der kurze Aufenthalt bei der Familie Mertins dabei eine Rolle spielte. In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte sich seine Meinung über die Terraner grundlegend gewandelt. Nach seinen Begegnungen mit dem SolAb-Agenten und mit den drei skrupellosen Verbrechern hatte er nicht damit gerechnet, daß er seine Ansicht noch einmal so entscheidend revidieren müßte. Aber das Verhalten der Familie Mertins hatte ihn daran erinnert, daß man die Qualitäten eines Volkes nicht an den flüchtigen Begegnungen mit einer Handvoll Individuen mißt. Valentin, seine Schwester Valeska und Dona, die Mutter, hatten ihn ohne nach seinem Woher und Wohin zu fragen, als Freund aufgenommen und behandelt. Selbst die Mutter, eine Frau, in deren Gesicht der frühe Verlust des Mannes harte Spuren hinterlassen hatte, nahm die Erklärung ihres Sohnes, daß der Fremde unschuldig an dem Tod des Agenten war, als eine Tatsache hin, an der nicht zu zweifeln war. Niemand hatte ihn, Faskern, gedrängt, mehr zu erzählen, als er es für nötig hielt. Und Valentin war schon heute früh aufgebrochen, um am Raumhafen die Informationen einzuholen, die Faskern benötigte. Der Bernaler hatte den Plan, ein Schiff zu stehlen, längst aufgegeben. Er hatte schließlich Valentin gebeten ein Schiff auszumachen, daß sich soweit wie möglich jener Region näherte, in der sich Faskerns Heimatplanet befand. Einmal dort angelangt, würde es ihm gelingen, so hoffte er zuversichtlich, auch ins Ovendeno-System zu gelangen. Der Junge war schon etliche Stunden fort,
Klaus Fischer und Faskern fragte sich, ob er Erfolg gehabt hatte. In einem solchen Falle würde natürlich das Problem in den Vordergrund rücken, wie er den Kommandanten des betreffenden Schiffes überreden sollte, ihn mit an Bord zu nehmen. Faskern hatte kein Geld, und die Familie Mertins war außerstande, ihm mit einer solchen Summe, wie sie eine so weite Reise kosten würde, unter die Arme zu greifen. Ganz abgesehen davon, daß der Bernaler ein solches Anerbieten auf keinen Fall angenommen hätte. Nun, es hatte wenig Zweck, darüber nachzugrübeln, bevor er wußte, was für ein Schiff es war, mit dem er reisen würde, und von welcher Art die Lebewesen waren, die es steuerten. Er hörte Schritte. Valeska rief: »Hallo, Großvater!« »Hallo …!« brummte es zurück. Eine Gleittür klickte, und eine hohe Gestalt verschwand im Haus. Der Großvater. Faskern hatte ihn nur ein einziges Mal zu Gesicht bekommen. Er war die Position in dieser Familie, hinter der der Bernaler ein Fragezeichen setzte. Der Großvater trug den Haß auf alles, was fremd war, ungeschminkt zur Schau. Nun ja, Faskern kannte seine Geschichte. Es gab Augenblicke im Leben eines jeden Individuums, da rissen die Gefühle die Barrieren des Verstandes ein, und dann türmten sie ihrerseits Mauern auf, an der ein Leben lang die Versuche der Umwelt zerschellten, verbogene Maßstäbe wieder zurechtzurücken. »Das, was Sie da in der Hand haben, hat schon gestern Ihre Aufmerksamkeit erregt, Faskern«, sagte Valeska zu ihm. »Hat es mit diesem Ding eine besondere Bewandtnis?« Der Bernaler hob das transparente Gebilde auf der flachen Hand empor. Die Strahlen der Sonne, die allmählich ihrem winterlichen Zenit zurückte, brachen sich an den zahllosen Ecken und Kanten des Innenraumes. »Dies hier«, sagte er, und seine Augen glänzten seltsam, »ist die Projektion eines vierdimensionalen Objektes im dreidimen-
Der Zeitnomade sionalen Raum.« Er schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort: »Besser gesagt, es ist eine perspektivische Projektion; die genaue Abbildung des entsprechenden vierdimensionalen Würfels im dreidimensionalen Raum würde nämlich einen Würfel ergeben, genau so, wie die Abbildung eines dreidimensionalen Würfels im zweidimensionalen Raum – also auf der Fläche, wie Sie auf Terranisch sagen – ein Quadrat ergibt.« Das Mädchen starrte den Fremden an. Die vielen Gespräche, die sie tags zuvor geführt hatten, fielen ihr ein. Valeska hatte im Zusammenhang mit ihrem Hauptfach auch ein Kolleg über höherdimensionierte Räume über den Studio-Kanal von Terra-Television gehört – ein Gebiet, das das Mädchen außerordentlich faszinierte. Wie von selbst waren sie und Faskern über dieses Thema ins Gespräch gekommen, und das Mädchen hatte über die ungewöhnlichen Kenntnisse des Bernalers gestaunt. Einige Sätze waren ihr besonders in Erinnerung geblieben. »Sie machen den Fehler aller dreidimensional organisierten Lebewesen, Valeska«, hatte Faskern gesagt. »Sie sehen alles nur von der Form her. Sie müssen es von der Form her sehen. Form ist das Bauprinzip der dreidimensionalen Welt. Es ist statischer Natur. In der vierdimensionalen Welt spielt die Zeit eine konstituierende Rolle. Sie hebt das statische Prinzip auf. Jegliche Form wird damit gegenstandslos. Das dynamische Prinzip des Werdens und Vergehens tritt an ihre Stelle.« Und Faskern hatte geschlossen: »Da, wo der Mensch und alle Lebewesen dieses Universums Form sehen, erkennt ein vierdimensionales Wesen Entwicklung …!« Valeska blickte auf den Würfel in Faskerns Hand und dann in die übergroßen Augen des Fremden, und sie fragte sich zum wiederholten Male: Wer war dieses Wesen? Woher kam es? War es am Ende selbst ein Wesen dieser Dimension, über die es ein so erstaunliches Wissen besaß …?
47 »Ich wüßte gern mehr über das Volk, von dem dieses Gebilde stammt«, unterbrach der Bernaler ihre Gedanken. Das Mädchen hob die Schultern. »Mutter sagte, Vater wäre auf Kepa-Kepa auf Relikte eines verschollenen Volkes gestoßen. Darunter hätte sich auch dieser …« Über den mit Fliesen ausgelegten Gartenweg stürmte Valentin. Als der Bernaler und das Mädchen in sein erregtes Gesicht sahen, wußten sie, daß etwas Unvorhergesehenes geschehen war. »Die SolAb ist mir auf der Spur …!« Valeska und Faskern sahen sich an. Und es schien dem Mädchen, als ob der Blick des Fremden das Unausweichliche, das kommen würde, bereits vorwegnahm: Angst, Schmerz und – was noch …? »Ins Haus!« rief Valentin und drängte die aus den Sesseln Hochfahrenden zur Eingangstür. Im Haus begegneten sie Dona. Und auch die Mutter erkannte instinktiv, was gespielt wurde. In ihrer ruhigen bestimmten Art übernahm sie das Kommando. »Er muß in den Keller! Valentin …!« Aber der Junge war schon vorausgeeilt. Zögernd folgte ihm der Bernaler. »Mein Labor«, sagte Valentin und ging zu dem Schaltpult in der Mitte des Raumes. Faskern sah zu, wie der Junge einen Schalter niederdrückte, worauf sich ein altmodischer Riegel vor die Kellertür schob. Wenig später vibrierte die Decke über ihnen. Schwere Schritte stampften darüber hin. Sie hörten ein dröhnendes Organ. Die ruhige Stimme der Mutter gab Antwort. Faskern sah die gespannte Haltung des Jungen.
* Während der Leutnant zu den beim Gleiter wartenden Männern zurückkehrte, nickte er grimmig vor sich hin. Der Fremde war im Haus. Und die Bewohner dieses Hauses – und das bereitete dem Ertruser einiges Kopfzerbrechen – hielten ihn verborgen.
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Klaus Fischer
Zwar hatte die Hausherrin die Anwesenheit eines Fremden geleugnet. Und den Jungen mit den roten Haaren hatte er, Toronar, nicht zu Gesicht bekommen. Aber das junge Mädchen – ein verdammt hübsches Mädchen! – hatte ihre Erregung kaum meistern können. Als Toronar Alburs ihr eine harmlose Frage gestellt hatte, hatte sie nur unzusammenhängendes Zeug gestammelt. Da war der Leutnant im Bilde gewesen. »Und …?« Ishigawa, vor dem Gleiter stehend, blickte ihn fragend an. »Wir müssen ihn holen!« sagte der Ertruser lakonisch. Und dann erklärte er ihnen kurz die Lage. Sie kontrollierten ihre Waffen und machten sich auf den Weg.
* Dona stand mit dem Rücken zu der Tür, durch die der SolAb-Offizier hinausgegangen war. Ihr Blick kreuzte sich mit dem der Tochter. »Glaubst du wirklich, er ist unschuldig?« »Ja, Mutter«, antwortete Valeska ruhig. »Valentin war dabei, als der tödliche Schuß fiel.« Die Mutter überlegte einen Augenblick. Dann sagte sie: »Wenn er einen SolAb-Agenten erschossen hat, sieht es schlimm für ihn aus, wenn er keinen ordentlichen Zeugen hat. Valentin …« Da ertönte über ihren Köpfen eine rauhe Stimme: »So ist das also! Deshalb war der Offizier hier. Unter meinem Dach wohnt ein Mörder!« »Großvater!« Es war ein zweistimmiger Ausruf. »Und warum hat man mir das nicht gesagt, eh?« Der schwere Mann kam, nur mit einem Morgenrock bekleidet, die Treppe herunter. In seiner Haltung lag etwas Drohendes. Doch seine Tochter blickte ihm ruhig entgegen. »Du hättest es doch nicht verstanden.
Deshalb haben wir es dir verschwiegen. Dein Haß auf alles Fremde …« Aber der Alte schien sie nicht zu hören. »Dona, wo ist er? Ich werde diesen verdammten Fremden eigenhändig nach draußen schleifen …« Er machte kehrt und stapfte die Stufen wieder hinauf. Dona Mertins ging wortlos zu einer Nische. Dort bewahrte Großvater, wie Valeska wußte, seine alten Waffen auf. Ihre Mutter berührte einen verborgenen Schalter. Ein Paneel glitt auf, und Valeska sah mit geweiteten Augen, daß ihre Mutter dem Schrank ein Strahlengewehr entnahm. »Mutter …!« Aber Dona machte eine abweisende Bewegung mit dem Kopf und sagte nur: »Keine Angst, Kind! Es wird nichts passieren!« Dann wartete sie. Kurz darauf erschien der Großvater. In aller Hast hatte er ein paar Kleidungsstücke übergeworfen. Seine schweren Stiefel polterten die Stufen herab. Auf der Hälfte der Treppe blieb er stehen. Ungläubig starrte er auf seine Tochter, die ihn mit dem Gewehr in der Hand erwartete. »Was … zum Teufel soll das? Was willst du mit dem Gewehr?« Zögernd stieg er die letzten Stufen herab. Aber Dona schüttelte den Kopf. »Ich werde nicht zulassen, daß deinem wahnsinnigen Fremdenhaß ein Unschuldiger zum Opfer fällt!« »Wer einen Terraner erschießt, ist ein Mörder!« schrie der Alte und wollte an ihr vorbei zur Ausgangstür. Da hob Dona die Waffe. »Mutter!« schrie Valeska. Doch Dona Mertins schien die Tochter nicht zu sehen. Sie hielt die Waffe im Anschlag, und ihre Finger zitterten nicht. In ihrer Stimme jedoch schwang die mühsam unterdrückte Erregung, als sie dem Vater ihre Anklage ins Gesicht schleuderte: »Mein Leben lang habe ich unter deiner Tyrannei gelitten! Ja, auch dann noch …« Sie hob die Stimme, als sie die Unglauben
Der Zeitnomade ausdrückende Geste des Vaters sah, »… als ich Victor heiratete. Wir alle waren zu allen Zeiten deiner Willkür ausgeliefert. Was glaubst du wohl, warum Victor nach KepaKepa ging? Es war eine Flucht vor dir! Deshalb ging er auf diesen Höllenplaneten am Rande der Eastside und … starb dort …« »Und wer hat dich davor bewahrt, das gleiche Schicksal zu erleiden?« heischte der Alte zornbebend. Dona schüttelte den Kopf. »Als Victor starb, war mein Leben beendet. Du hast mich nicht vor meinem Schicksal bewahrt, du hast mir ein Leben aufgezwungen, das ich nicht wollte!« »Willst du mich daran hindern, einen Mörder der Gerichtsbarkeit auszuliefern?« schrie der Alte zitternd vor Wut. »Er ist unschuldig! Nur du, in deiner maßlosen Verblendung, siehst in jedem Fremden einen Verbrecher! Glaubst du, ich weiß nicht, warum du Hjalmar XIII verlassen mußtest …?« Ein Stöhnen brach aus dem Mund des Mannes. Doch unbarmherzig fuhr Dona fort: »Nicht die Blues waren es, denen du deine Rückkehr nach Terra verdanktest. Du hast den Überfall nur vorgeschoben. Deine Narbe stammt von einem Jagdunfall. In Wirklichkeit hatten dich die Kolonialbehörden zwangsweise repatriieren lassen, als sich die Klagen der Eingeborenen gegen deine Willkürakte allzusehr häuften!« Schreckensbleich und unfähig, etwas zu tun, verfolgte Valeska die Auseinandersetzung. Als sie die schweren Schritte auf den Fliesen des Gartenweges hörte, rief sie der Mutter eine Warnung zu. Aber der Türsummer und eine laute Stimme übertönten ihre Worte: »Hier ist die Solare Abwehr. Öffnen Sie sofort!« Im Haus wurde es totenstill. Der alte Mann und seine Tochter starrten sich noch einen Augenblick lang in die Augen. Dann sagte Dona: »Öffne die Tür, Valeska!«
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* Das Ohr an die Kellertür gepreßt lauschte der Junge der Auseinandersetzung zwischen seiner Mutter und dem Großvater. In der Mitte des Raumes stand Faskern und versuchte, seiner zwiespältigen Gefühle Herr zu werden. Was hatte er angerichtet? Indem er dieses Haus als Zufluchtsort benutzte, hatte er vier Menschen in große Schwierigkeiten gebracht. Zwar konnte er nicht verstehen, was oben gesprochen wurde, doch war unverkennbar, daß zwischen Vater und Tochter eine scharfe Auseinandersetzung im Gange war. Darüber hinaus würden die Mertins auch noch in Konflikt mit den öffentlichen Stellen geraten. Plötzlich entriegelte Valentin die Tür und schob den Kopf lauschend nach draußen. Jetzt konnte auch Faskern die Worte verstehen. Mit Bestürzung begriff er, daß Dona ihren eigenen Vater mit einer Waffe bedrohte. Der Bernaler glaubte nicht, abwarten zu dürfen, bis sich die Menschen dieses Hauses seinetwegen ins Unglück stürzten. Er drängte Valentin zur Seite und eilte die Kellertreppe hinauf. Doch vor den letzten Stufen zögerte er. Er hörte Donas anklagende Worte. Und er hörte, wie der Alte, der nichts darauf zu erwidern wußte, starrsinnig darauf beharrte, ihn, Faskern, der SolAb auszuliefern. Mit dem Rücken zur Haustür stand Valeska und blickte mit angstgeweiteten Augen auf die Szene. Eine dröhnende Stimme forderte Einlaß in das Haus. Und Dona hieß ihre Tochter, die Tür öffnen. Faskern überwand die letzten Stufen, und dann sah er im grell erleuchteten Rechteck des Türrahmens die dunkle Silhouette eines riesigen Wesens. Und noch ehe sich jener gebückt durch den Einlaß gezwängt hatte, wußte der Bernaler, wer dort hereinkam: Toronar Alburs, der Ertruser. Er hatte einen Blaster in der Hand und blickte verblüfft auf die Frau, die noch im-
50 mer den Alten mit der Waffe in Schach hielt. Dann geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Dona Mertins schwenkte herum, so daß die Mündung ihres Gewehrs auf die Brust des Ertrusers zeigte. Valeska schrie auf. Der alte Peero stieß ein hysterisches Lachen hervor. Faskern stand einen Augenblick wie versteinert da. An seiner Seite huschte ein Schatten vorbei. Valentin. Wie eine Katze sprang der Junge den SolAb-Offizier an. Ein unwilliges Brummen entrang sich dem Mund des Riesen. Mit dem rechten Arm machte er eine schüttelnde Bewegung, und Valentin stürzte stöhnend zu Boden. Faskern sah das Aufblitzen in den Augen der Mutter. Geistesgegenwärtig entriß er ihr die Waffe. Und dann stürmte er an dem Alten vorbei die Treppe hinauf. Während von unten her Flüche und Ausrufe zu ihm heraufdrangen, rannte er zu dem geschlossenen Fenster. Mit dem Lauf der Waffe schlug er es ein. Er schwang sich auf den breiten Sims und sah in den Garten hinunter. Niemand war zu sehen. Der Bernaler drehte den Kopf und blickte nach oben. Über ihm befand sich die Dachkante. Er hörte die schweren Stiefel des Ertrusers die Treppe emporkommen. Faskern ließ die Waffe fallen und griff an die Dachkante. Da rief von unten her eine scharfe Stimme: »Bleiben Sie, wo Sie sind, sonst wird geschossen!« Es wird niemals geklärt werden, warum Faskern in diesem Augenblick das Falsche tat. Vielleicht, weil er hörte, wie der Riese hinter ihm in das Zimmer stürmte; vielleicht auch aus Schreck über das Auftauchen eines zweiten Jägers. Wahrscheinlich ist, daß die Ereignisse der letzten Minuten in Faskern ein Schuldgefühl erzeugt hatten, das ihn zu einer Kurzschlußhandlung trieb. Er sprang ins Zimmer zurück, hob die Waffe auf, schob sie über das Fensterbrett
Klaus Fischer und zielte nach unten. Hinter ihm dröhnte die Stimme des Ertrusers! »Nicht schießen, Ishigawa!« Aber es war zu spät. Der Sergeant im Garten unten hatte bereits abgedrückt. Der Bernaler stürzte zu Boden.
11. »Es ist zwecklos!« Major Robinson richtete sich auf. »Es ist nichts aus ihm herauszubringen!« Toronar Alburs starrte auf den tödlich Verletzten herab, der vor wenigen Minuten in die Fremdenstation des General-Hospitals eingeliefert worden war. Man sollte meinen, dachte der Leutnant, jetzt, da man denjenigen gefunden hatte, der Sergeant Douglas getötet hatte, wäre das Rätsel gelöst. Das Gegenteil war der Fall. Die Sache wurde immer mysteriöser. Nicht nur, daß der Fremde sich nicht zu seiner Tat äußerte, er war überhaupt nicht zum Sprechen zu bewegen. Und obwohl man alle Informationsmedien eingeschaltet hatte, war die Frage nach seiner Herkunft noch immer unbeantwortet. Der Leutnant blickte seinen Vorgesetzten an. »Dann bleibt nur noch die Hoffnung, daß …« Der Sektionschef nickte. »Fellmer Lloyd wird jeden Augenblick hier eintreffen.« Der Major wandte sich an den Arzt, der sich schweigend im Hintergrund aufgehalten hatte, und sagte leise: »Wie lange geben Sie ihm noch?« Der Gefragte hob die Schultern: »Das läßt sich kaum beantworten. Wir wissen nur, daß wir ihm nicht helfen können. Nur durch eine schnelle Transplantation wäre er zu retten. Wir können jedoch nicht transplantieren, weil es sich um einen Organismus handelt, dessen Struktur vollkommen unbekannt ist. Der Computer behauptet, daß der Verletzte einer Art angehört, die noch niemals terranischen Boden betreten hat.«
Der Zeitnomade Carlos Robinson nickte. »Ich weiß. Nur ist diese Behauptung im höchsten Grade unwahrscheinlich. Erstens ist der Mann in seinem Äußeren weitgehend humanoid …« Der Arzt lächelte. »Wie Sie selbst sagen, vom Äußeren her ja, aber schon die Zusammensetzung des Blutes …« »… zweitens«, fuhr der Offizier fort, den Einwurf ignorierend, »wird jedes Wesen, das mit einem Raumschiff auf Terra eintrifft, automatisch erfaßt, seine Merkmale gespeichert. Darum …« Er schien sich über das Nutzlose seiner Argumentation klarzuwerden, denn er brach ab und fuhr dann mit veränderter Stimme fort: »Sagen Sie, Professor, können Sie überhaupt mit Sicherheit sagen, ob er unsere Fragen versteht?« Der Arzt wiegte den Kopf. »Es können durchaus Bewußtseinsstörungen auftreten. Die Hirnstrommessungen zeigen allerdings Bewußtseinstätigkeit an. Sie wissen daß die Frequenz der Alphawellen mit dem Grad der jeweiligen Konzentration auf ein Objekt …« »Ja, ich weiß«, der Major winkte hastig ab, aber sein Tonfall und der Ausdruck seines Gesichtes straften seine Worte Lügen. Doch er wurde weiterer Stellungnahme enthoben. Aus einem Lautsprecher sagte eine Stimme: »Achtung, Professor Merite, Mister Fellmer Lloyd auf dem Wege zum Raum vierzehn. Ich wiederhole, Mister Fellmer Lloyd auf dem Wege zu Raum vierzehn. Ende!« Die beiden Offiziere sahen sich an. »Nun werden wir bald mehr wissen«, bemerkte Toronar Alburs. Bald danach erschien, von einem Arzt eskortiert, der Telepath. Nach der Begrüßung sagte Major Robinson: »Eine mysteriöse Geschichte, Sir. Der Fremde ist nicht zu identifizieren. Alle Nachforschungen waren vergeblich. Er redet kein Wort. Da wußten wir uns nicht mehr anders zu helfen …« Der untersetzte, dunkelhaarige Mutant unterbrach ihn: »Danke, Major, ich bin im Bilde!«
51 Er wandte sich um und trat an das Antigravbett. Die drei anderen Männer sahen gespannt zu, wie sich der Blick des Telepathen auf den Kopf des Verletzten richtete, und seine Züge den Ausdruck starker Konzentration annahmen. Der Fremde, der bis dahin teilnahmslos an die Decke gestarrt hatte, drehte den Kopf und erwiderte mit seinen großen Augen den Blick des Mutanten. Die Minuten begannen sich zu dehnen. Doch schließlich wandte sich Fellmer Lloyd wieder ab. Schweigend machte er ein paar Schritte und blieb vor dem Fenster stehen. Nach einer Weile schüttelte er den Kopf und sagte so leise, daß die anderen Männer Mühe hatten, ihn zu verstehen: »Er hat seine Gedanken abgeblockt. Ich komme nicht durch!« Der Sektionschef kratzte sich hinter dem Ohr. Einerseits war er enttäuscht, daß der Fall noch immer nicht geklärt war. Andererseits war er erleichtert, daß die Angelegenheit aus seinen Händen genommen worden war. Der Telepath besaß den Status eines Sonderoffiziers. Automatisch ging daher die Befehlsgewalt auf ihn über. Schließlich drehte der Telepath sich um. »Ich weiß nicht«, sagte er langsam »ob etwas dabei herauskommen wird. Aber ich habe so ein Gefühl, daß wir nichts unversucht lassen sollten, den Fall zu klären. Ich habe mich daher entschlossen, einen Hyperfunkspruch an den Lordadmiral auf Quinto-Center abzusetzen.«
* Breitbeinig, mit vor der Brust gekreuzten Armen, stand Atlan vor dem Monitor, auf dem soeben die Antwort der Hauptpositronik ausgedruckt wurde. »Antwort auf Anfrage 000.631/270.143/AT negativ. Fragliches Individuum nicht identifizierbar.« Atlan nickte. Mit dieser Antwort hatte er gerechnet. Noch einmal vergegenwärtigte er sich den Inhalt der Nachricht, die vor kurz-
52 em über Hyperfunk von Terra gekommen war. Auf Terra war ein SolAb-Agent erschossen worden. Der Täter war ein Fremder, den man gefaßt hatte und der jetzt im Sterben lag. Seine Herkunft konnte nicht geklärt werden. Er verweigerte jede Aussage und hatte um seine Gedanken eine Sperre errichtet, die der Telepath Fellmer Lloyd nicht hatte durchdringen können. Atlan hatte sich zunächst die Frage gestellt, warum man es auf Terra für notwendig erachtet hatte, eine solche vergleichsweise unwichtige Nachricht nach Quinto-Center zu übermitteln. Der Lordadmiral war keineswegs der Mann, der den Wert des Individuums nicht achtete. Noch niemals war er über das Leben eines Einzelnen gleichgültig hinweggegangen. Der vorliegende Fall war jedoch eine Angelegenheit, die die entsprechenden Stellen auf der Erde normalerweise selbst erledigten. Erst ein paar zusätzliche Codewörter hatten ihn darüber aufgeklärt, daß man unter dem Eindruck der Gloddus-Gefahr auf Terra sichergehen wollte, daß er, Atlan, über alles informiert wurde, was in irgendeiner Hinsicht bedenklich erschien. Bedenklich war immerhin, das mußte auch der USO-Chef zugestehen, erstens, daß nicht geklärt werden konnte, woher der Fremde stammte, ja, noch nicht einmal, wie er nach Terrania-City gekommen war, zweitens, daß Fellmer Lloyd keinen telepathischen Kontakt zu ihm herstellen konnte. Atlan versank ins Grübeln. Und je mehr er nachdachte, um so zweifelhafter schien es ihm, daß ein Zusammenhang zwischen dem Problem Gloddus und dem sterbenden Fremden auf der Erde bestand. Doch dann streckte er, wie unter einer Eingebung, seinen Zeigefinger aus und berührte einen Schalter. »Stellen Sie fest, wo sich Mister Salgouz aufhält und schicken Sie ihn sofort zu mir! Ich bin im Konferenzraum III«, befahl er, als sich auf einem Bildschirm das Gesicht
Klaus Fischer Major Webers formte. Der Arkonide wartete die Bestätigung nicht ab. Erneut versank er in Gedanken. Nicht lange danach sprach ein Summer an. Gleichzeitig erschien auf dem Monitor neben der Tür das Gesicht des Siedlers von Ammavol. Atlan berührte einen Sensor, und die Tür glitt auf. Er hat wieder getrunken, dachte der Arkonide, als er in das aufgedunsene Gesicht sah. Aber jetzt war nicht der Zeitpunkt, um über Moral zu reden. Außerdem hielt Atlan wenig von Moralpredigten. Er reichte dem anderen eine Folie. Es war der Hyperkom-Spruch von Terra. Dann wartete er. Salgouz überlas die Folie. »Haben Sie schon nachgefragt, Lordadmiral?« Atlan deutete wortlos auf den Bildschirm, auf dem noch immer die Antwort der Positronik stand. Lelle Salgouz las die Information halblaut. Er überlegte. »Hat Terra ein Hyperkom-Bild übermittelt?« Der Arkonide drückte eine Taste. Ein weiterer Schirm flammte auf. Auf einem Antigravbett lag ausgestreckt ein Wesen von deutlich humanoider Erscheinung. Es war haar und bartlos, von grüner Hautfarbe, besaß einen langen Hals, und seine übergroßen Augen blickten direkt in die Optik der Kamera. Lange Zeit starrte Lelle Salgouz auf das Bild. Dann wandte er sich wieder dem Lordadmiral zu. Er setzte zum Sprechen an. Aus irgendwelchen Gründen schien es ihm schwerzufallen, das zu sagen, was er zu sagen beabsichtigte. Schließlich aber gab er sich einen Ruck: »Sie mögen es für phantastisch halten, Sir, aber ich glaube, dieses Wesen ist Shankoon Faskern, der Bernaler, dem ich zuletzt im Zeitstrom begegnet bin, und der dann so abrupt den Kontakt zu mir abgebrochen hat.« Atlan war in seinem Leben an Überra-
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schungen gewöhnt. In seinem Gesicht zuckte kein Muskel. Er verschränkte die Hände hinter seinem Rücken und begann, auf und ab zu wandern. Als er endlich wieder stehenblieb, den Kopf wandte und Lelle Salgouz ansah, wußte der Siedler, daß der Arkonide einen Entschluß gefaßt hatte. Atlan trat zum Interkom und stellte eine Verbindung zur Zentrale her. Ruhig sprach er in die Membran: »Benachrichtigen Sie Oberst Canera! Er soll die SIDNEY startklar machen! Zielkoordinaten: Terra. Mister Salgouz und ich selbst werden an Bord kommen. Ich bitte um Vollzugsmeldung!« Als er abgeschaltet hatte, blickte er Salgouz an. »Hoffentlich kommen wir noch rechtzeitig!«
* Faskern wußte, daß er sterben würde. Sein Aufenthalt in der dritten Dimension hatte nicht lange gedauert nicht viel länger als eine einzige Rotation dieses Planeten um sich selbst. In dieser Zeit hatte sich sein Schicksal erfüllt. Vor seinem geistigen Auge zogen die zehn Individuen vorbei, die seinen Weg zwischen gestern und heute markierten. Toronar Alburs, der gutmütige Riese, den Pflichterfüllung und Loyalität zu seinem Gegner hatte werden lassen. Der Agent Douglas, der an seiner Eitelkeit zugrunde gegangen war. Der Verbrecher Dalyle und seine beiden Komplizen, die an ihrer Gier gescheitert waren. Die Direktorin, die aus Dankbarkeit ihm gegenüber verhindert hatte, daß man nicht schon in der Bank seiner habhaft geworden war. Valentin, der Junge, der ihm seine Freundschaft geschenkt hatte. Valeska, deren Gefühl für ihn keine Blüte mehr tragen würde. Peero Mertins, der ihn haßte, weil er ein
Fremder war. Und schließlich Dona Mertins, die kompromißlos für ihn eingetreten war, weil sie an seine Unschuld glaubte und nicht wollte, daß einem Unschuldigen Unrecht widerfuhr. Zehn Menschen. Eine kleine eine verlorene Repräsentanz scheinbar auf dem Raster eines vielleicht nach Billionen zählenden Volkes. Doch für Faskerns Geist waren diese zehn Individuen Kristallisationspunkte, in denen er das Wesen der Terraner in ihrer Gesamtheit erkannte; ihre Freuden und Leiden, ihre Nöte und Probleme, ihre Erfolge und ihre Niederlagen. Die Terraner würden ihren Weg gehen. Diese Wesen handelten, im Guten wie im Bösen, aus einem inneren Pathos heraus. Ein Pathos, das er, Faskern, noch ehe er die Terraner selbst richtig kennengelernt hatte, in den Monumenten ihrer städtischen Architektur bereits geschaut und als Motivation hinter ihren technischen und kulturellen Errungenschaften erkannt hatte. Ja, die Terraner würden ihren Weg gehen. Der seine war hier und jetzt zu Ende. Faskern schloß die Augen. Er hatte keine Schmerzen. Es war das einzige was die terranischen Ärzte für ihn hatten tun können. Er war müde. Sie hatten ihn immer wieder gefragt. Und er hatte geschwiegen. Dann war der Telepath gekommen. Einen Augenblick hatte der Bernaler daran gedacht, sich ihm zu öffnen. Aber dann hatte er doch den Block errichtet, der dem andern den Zugang zu seinen Gedanken verwehrt hatte. Er wollte allein sein mit diesen seinen letzten Gedanken. Er dachte an Toulminth, die Heimat, die er nicht mehr erreichen würde. Doch es war keine Bitterkeit in seinem Herzen. Eine Zeitlang konnte man an seinem Schicksal manipulieren. Aber der Augenblick würde kommen, da man sich fügen mußte. Diesem Gesetz hatte sich jedes Wesen im Universum zu beugen. Als der Bernaler die Augen wieder öffnete, sah er einen Fremden über sich gebeugt. Der Fremde … Die Form, dachte Faskern, in der dreidi-
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mensionalen Welt war es die Form, an der man das Objekt erkannte. Und im gleichen Augenblick wußte er, wem dieses rotgeäderte, aufgedunsene Gesicht mit den kleinen, grauen Augen gehörte: Lelle Salgouz – der Mann, der, ohne es zu wollen, Faskerns Verstofflichung in der dritten Dimension verursacht hatte. Neben ihm stand ein anderer Mann. Er hatte weißes Haar und rötliche Augen. Und ein Blick in sein Gesicht genügte dem Bernaler, um zu wissen, daß er eine der führenden Persönlichkeiten dieses Volkes vor sich hatte. Lelle Salgouz begann zu reden.
* Atlan sah auf den grünhäutigen Fremden hinunter, der, in einem Antigravfeld suspendiert, vor ihnen schwebte. Er betrachtete den haarlosen, grünlichen Kopf, in dem die Augen wie zwei riesige Diamanten strahlten. Der lange, biegsame Hals schaute unter einem tunikaähnlichen Gewand hervor. So also sieht ein Bernaler aus, dachte der Arkonide, während er hörte, wie Salgouz auf den Fremden einredete. »Shankoon Faskern«, sagte Lelle Salgouz, »es ist meine Schuld, daß Sie in der dritten Dimension materialisierten. Alles, was Ihnen widerfuhr, ist meine Schuld! – Es tut mir sehr leid!« Atlan sah, wie der Grünhäutige plötzlich lächelte. Er sagte leise: »Ein Individuum ist eine Vereinzelung kosmischer Energie. Doch kommt es niemals zu einer totalen Isolation. Jedes Lebewesen muß sich immer und zu allen Zeiten darüber im klaren sein, daß es durch den Ur-
grund des Universums mit allen anderen Lebenden auf ewig verbunden ist. Und so kann es geschehen, daß ein Individuum in dieser Verbindung eine besondere Aufgabe zu erfüllen hat. In den letzten Minuten …« Es ging mit ihm zu Ende, stellte Atlan fest. Seine Kräfte verfielen zusehends. Doch dann raffte sich der Bernaler noch einmal auf. »In den letzten Minuten glaube ich erkannt zu haben, warum ich den Weg der Terraner kreuzen mußte …« Seine Stimme wurde unhörbar. Zuletzt bewegten sich nur noch seine Lippen. Lelle Salgouz hatte sich niedergebeugt und sein Ohr an die Lippen des Sterbenden gepreßt. Eine Weile später richtete er sich auf. »Er hat …« »Die Koordinaten«, sagte der Lordadmiral leise. »Fragen Sie ihn nach den Koordinaten …!« Da bewegte Faskern seine Lippen wieder. Atlan beugte sich blitzschnell zu ihm herab. Und sein fotografisches Gedächtnis hielt die komplizierte Ziffernfolge fest, die ihm die verlöschende Stimme mitteilte. Dann starb Shankoon Faskern. »Er hat mich gebeten, nicht mehr ins Zeitflimmern einzutreten«, sagte Lelle Salgouz. »Er fürchtet, ich könne noch weitere seiner Artgenossen in die dritte Dimension zurückreißen. Hoffentlich hat sein Tod einen Sinn gehabt!« Atlan blickte auf den Toten. »Er jedenfalls schien es geglaubt zu haben. Und das gibt mir Hoffnung!« ENDE
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