Terra Astra 335
Der Zeit-Scout von PETER TERRID
Die Hauptpersonen des Romans: Charriba — Ein Indianerpolizist Demeter ...
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Terra Astra 335
Der Zeit-Scout von PETER TERRID
Die Hauptpersonen des Romans: Charriba — Ein Indianerpolizist Demeter Carol Washington — Chefin der Time-Squad Joshua Slocum, Inky alias Anastasius Immekeppel und Malpo Rueda — Drei Zeitagenten im Wilden Westen. Valcarcel — Der Zeit-Zauberer als Medizinmann
1. Als der Bronco seinen Reiter zum sechsten Mal in den Sand gesetzt hatte, hatte Charriba genug. Mühsam stand er auf, klopfte sich den feinen, weißen Staub von den Chaps und hinkte zum Zaun hinüber. „Das ist kein Pferd“, schimpfte er unterdrückt. „Das ist der böse Geist in der Gestalt eines Pferdes!“ „Schon genug, Charriba?“ fragte He-who-stands-still mit leisem Spott. Indianern gegenüber verwendete der Alte stets die englische Übersetzung seines Namens; es klang interessanter, fand er. „Ich höre auf“, verkündete Charriba und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Ich habe genug Geld verdient, nun muß Schluß sein.“ „Willst du in die große Stadt zurückgehen und die Wissenschaften des Weißen Mannes lernen?“ erkundigte sich der Alte. Früher hatte er die Pferde selbst zugeritten, jetzt war er zu alt dazu. Dafür gehörte ihm das Unternehmen. In den vierzig Jahren, die der Alte in diesem Geschäft verbracht hatte, war er noch nie auf einen besseren Einreiter gestoßen als Charriba. Charriba brach den Tieren nicht den Willen, wie es der Weiße Mann häufig tat; er überzeugte sie davon, daß es für die Pferde besser und angenehmer sei, wenn sie den Kommandos der Reiter gehorchten. Dieses Verfahren erforderte natürlich erheblich mehr Aufwand als das rüde Einbrechen. Seit fast zehn Tagen plagte sich Charriba mit dem Schimmel herum. Eine große Filmgesellschaft hatte unbedingt ein lupenrein weißes Pferd haben wollen - dazu natürlich so lammfromm, daß sich ab und zu sogar der Star des Streifens auf seinen Rücken setzen konnte, ohne dabei Gefahr zu laufen, die 500 000 Dollar-Säbelbeine zu brechen. „Ich will lernen“, korrigierte Charriba den Alten. „Was ein Indianer können muß, kann ich. Jetzt will ich wissen, was ein Weißer Mann zu wissen hat.“ Der Alte sah nach oben, als wolle er den Himmel um Verzeihung bitten für so viel Anmaßung.
„Willst du mehr wissen als der Große Geist?“ fragte er. „Wenn möglich, ja“, gab Charriba zurück, während er den Oberkörper unter der Pumpe wusch. Anschließend trocknete er sich ab und wechselte das Stirnband. Charriba trug in seiner Freizeit niemals das gleiche Stirnband wie bei der Arbeit. „Kann ich mein Geld haben?“ Der Alte wies auf das Pferd. „Wer soll es zureiten? Ich? Mit meinen müden Gliedern? Soll ich mir das Genick brechen?“ „Brich ihm das Genick“, erwiderte Charriba kalt. „Oder dem Burschen von der Filmgesellschaft. Der Große Geist wird Verständnis dafür haben.“ „Die Jugend taugt nichts mehr“, greinte der Alte. „Zu meiner Zeit...“ „... hast du dich bei den Weißen herumgetrieben, deine Weiber verhökert und dich mit Schnaps vollaufen lassen, Alter! Ich kenne deine Geschichte. Ich kenne dich und deinesgleichen. Sind die Jungen brav und friedlich, jammert ihr, sie hätten keine Unternehmungslust. Sind die Jungen aktiv und temperamentvoll, heißt es, die Jugend kenne weder Zucht noch Sitte. Dein Jammerlied ist uralt, schon Sokrates hat ähnlich geklagt.“ „Einer von unseren Leuten?“ erkundigte sich der Alte hoffnungsvoll. „Ein Weißer“, sagte Charriba, während er sich das lederne Hemd über den Kopf zog. „Er lebte, bevor noch die Weißen in dieses Land kamen.“ „Wenn sie dort leben konnten“, philosophierte der Alte, „warum sind sie dann hergekommen, um uns zu töten?“ „Frage ihn“, erklärte Charriba und wies in die Höhe. „Oder den Weißen Mann. Eine Antwort wirst du nicht bekommen. Kann ich jetzt mein Geld haben?“ „Ich bin pleite“, jammerte der Alte. „Du weißt, daß ich pleite bin. Die Geschäfte gehen schlecht. Du mußt warten. Wenn du den Schimmel eingeritten hast, werde ich Geld bekommen - vielleicht.“ Charriba zögerte einen Augenblick. „Ich gebe dir Zeit bis zum nächsten Vollmond. Ich werde dich wissen lassen, wo du das Geld hinschicken kannst. Zahlst du nicht, dann werde ich deinen Skalp dorthin hängen, wo die Weißen Papier haben!“ Die bloße Vorstellung solcher - Schande verschlug dem Alten die Sprache. Schweigend sah er. zu, wie Charriba sein Pferd bestieg, eine mausgraue zottige Kreatur, aber ungemein wendig und ausdauernd. Schon oft hatte der Alte versucht, Charriba das Pferd abzuluchsen. Charriba hob grüßend die Hand und sprengte davon. „Hund von einem Indianer“, keifte der Alte hinter ihm her, sicherheitshalber erst, als Charriba außer Hörweite war. Dann begann der Alte zu grinsen. „Tausend Halunken deines Schlages, Charriba, und die guten alten Zeiten würden zurückkommen. Wir würden sie schlagen, nicht nur am Little Bighorn. Wir würden den Nachkommen des Cornel Caster die Eingeweide herausreißen und das Bildnis der großen Frau aus Eisen damit schmücken, das am Rande des östlichen Meeres steht. Wir...“ Der Alte unterbrach sich. Er holte die Flasche hervor, die er unter dem Sattel versteckt hatte, auf dem er den ganzen Tag über gehockt hatte. Der scharfe Schnaps, hoffte He-who-standsstill, würde den Träumen von einer ruhmreichen Zukunft die nötige Grundlage verleihen. * „Ruhig, Grauer!“ sagte Charriba leise und klopfte dem Pferd den Hals. Das Land voraus war karg. Noch waren die furchtbaren Wunden nicht verheilt, die der Weiße Mann dem Land durch jahrhundertlangen, erbarmungslosen Raubbau geschlagen hatte. Wahrscheinlich mußte noch mindestens ein Jahrhundert vergehen, bis das Land wieder so aussah, wie der Weiße Mann es vorgefunden und den Indianern weggenommen hatte. In der Ferne sah Charriba eine Büffelherde weiden, knapp einhundert Tiere. Es zuckte Charriba in den Fingern, sich dort Fleisch zu beschaffen, aber er beherrschte sich. Erst wenn
es wieder mehr als eine Million Büffel im Land der Indianer gab, sollte die Jagd freigegeben werden - so hatte es der Große Rat bestimmt. Einstweilen durften nur die freilebenden Indianer jagen, jene Männer, Frauen und Kinder, die vollkommen zur Lebensweise ihrer Vorväter zurückgekehrt waren. Noch waren die Abschußquoten zu gering, als daß die roten Männer in den großen Städten ihrem Jagdfieber nachgeben durften. „Ho!“ trieb Charriba sein Pferd an. Er hatte weit zu reiten. Indiana-City lag hoch im Norden des Landes, dort, wo der harte Winter den Bau von festen Häusern notwendig machte. Die Ranch, auf der Charriba gearbeitet hatte, lag hingegen im äußersten Süden der ehemaligen USA, im Gebiet des früheren Bundesstaates Texas. Natürlich hätte Charriba auch moderne Verkehrsmittel benutzen können. Stündlich flogen Maschinen von einer großen Stadt des Doppelkontinents Amerikas zur anderen; es gab die großen Frachtlinien, die in ihren schweren Lastgleitern Schwergut und Massengüter von den Herstellern zu den Verbrauchern beförderten. Auf diesen Strecken hätte Charriba sogar sein Pferd mitnehmen können. Soviel Bequemlichkeit war nicht nach Charribas Geschmack. Er wollte die Zeit seiner Reise nutzen. Er wollte feststellen, ob er noch fähig war, ohne moderne Hilfsmittel in seiner angestammten Heimat zu überleben. Vor allem aber wollte er nachdenken. Charriba hatte eine Entscheidung zu treffen. Er näherte sich dem dreißigsten Lebensjahr. Es wurde langsam Zeit, das Leben in geordnete Bahnen zu lenken. Bisher hatte es Charriba verstanden, sich alle Möglichkeiten offenzuhalten. Noch konnte er Mitglied des Großen Rates werden, er konnte sein Studium abschließen, er konnte sich einem Stamm freilebender Indianer anschließen. Bald aber würden bestimmte Chancen unwiderruflich dahin sein. In den nahen Rocky Mountains berührte die untergehende Sonnenscheibe die Spitzen der schneebedeckten Berge. Charriba begann sich nach einem Lager für die Nacht umzusehen. Ziemlich bald hatte er gefunden, was er brauchte. Eine windgeschützte Mulde, in der genügend herangewehtes Gestrüpp lag, um ein kleines Feuer anzuzünden. Charriba stieg von seinem Grauen und hobbelte ihn an. Futter für das Pferd gab es in der Nähe in unerschöpflichen Mengen. Charriba hatte nichts gegen moderne, Erfindungen einzuwenden, vor allem dann nicht, wenn diese Erfindungen überaus praktisch waren. Er hätte das trockene Gestrüpp notfalls auch ohne Feuerzeug anstecken können. Er wußte, daß er dazu in der Lage war, daher hatte er keine Hemmungen, ein Gasfeuerzeug zu gebrauchen. Während die Sonne langsam von den Bergen gefressen wurde, hockte Charriba vor dem leise knisternden Feuer und dachte nach. Mit vollem Namen hieß er Charriba White Cloud, so jedenfalls stand es in seinem Paß. Er brauchte dieses Papier allerdings nur in den großen Städten, vor allem dort, wo der Weiße Mann herrschte. Körpergröße 188 cm stand in diesem Paß. Die breiten Schultern mit ihren Muskelpaketen waren darin allerdings nicht vermerkt. Über Charribas Fähigkeit, sich mit der Geschicklichkeit und Gefährlichkeit einer angriffslustigen Raubkatze zu bewegen, war ebenfalls nichts zu lesen. Es stand auch nicht vermerkt, daß Charriba mit Gewehr und Bogen ein meisterlicher Schütze war, mit dem Bogen sogar in doppelter Hinsicht. Bei freilebenden Indianern hatte er die Jagd und den Kampf mit dem Bogen erlernt, auf eine Art, die Stümper nach kurzer Zeit ausmerzte - er hatte sich seine Nahrung damit verschaffen müssen. Mit modernen Sportbögen, die als. Waffe kaum zu vermeiden waren, hatte er sich an der Universität mehrere Medaillen zusammengeschossen. Ebenfalls meisterlich zu handhaben wußte er auch das Messer in seinem Gürtel, ein unterarmlanges Bowieknife. Vorsichtig legte Charriba Holz nach. Aus alter Gewohnheit saß er so, daß er die Flammen nicht unmittelbar sehen konnte - sie hätten ihn behindert, für den Fall, daß er sich blitzschnell nach einer Bewegung im Dunkel hätte umdrehen müssen.
Nachdenklich sah Charriba hinauf.
Die Weißen behaupteten manche mal, ihre Zukunft läge in den Sternen. Charriba hätte etwas
darum gegeben, hätte er aus den Sternen einen Fingerzeig ablesen können, wie er seine
persönliche Zukunft gestalten sollte.
Charriba nahm sich vor, in den nächsten Tagen eine endgültige Entscheidung zu diesem
Thema zu treffen. Dann wickelte er sich in seine Decke und streckte sich auf dem Boden aus.
Sekunden später war er eingeschlafen.
* Zwei Wochen danach hatte er Indiana-City erreicht und noch immer keine Entscheidung gefunden. Charriba näherte sich der Stadt von Süden her, wie die meisten Indianer, die aus der Freiheit kamen. Zunächst sah Charriba nur Pferde, dann tauchten die ersten Gleiter auf, deren Zahl sich steigerte, je näher er sicb auf das Stadtzentrum zu bewegte. Charribas Grauer hatte lange Zeit kein Motorfahrzeug mehr gesehen, seine Unruhe steigerte sich, bis Charriba nichts anderes übrig blieb, als sein Pferd einem Mietstall anzuvertrauen. Zu Fuß machte er sich dann auf den Weg in die Innenstadt. Etwas mehr als einhundert Jahre waren vergangen, seit der Weiße Mann einen beachtlichen Teil seines Landes an den roten Mann hatte abtreten müssen. Indiana-City war am Tag der Unabhängigkeit gegründet worden. In der seither verstrichenen Zeit hatte sich noch kein unverwechselbarer Stil finden lassen, in dem die Indianer ihre Häuser hätten bauen können. Notgedrungen hatten sie auf die architektonischen Grundmuster zurückgreifen müssen, wie sie bei den Weißen üblich waren. Nur die Dekorationen verrieten indianische Handschrift. Als kompletten Mißgriff in architektonischer Hinsicht mußte das Arbeitsamt bezeichnet werden, ein fast einhundert Meter hohes Gebäude, das einem Teepee nachempfunden worden war. Statisch mochte das Gebäude sicher sein, geschmacklich war es untragbar. Zudem war das Monstrum von Haus ziemlich überflüssig. Die Stadtbewohner hatten ihre Jobs, und die freien Indianer wollten keine Arbeit. Der größte Teil des Gebäudes stand leer oder diente zur Aufbewahrung von Akten. Charriba suchte das Schwarze Brett. Dort waren die Angebote für Kurzentschlossene angeschlagen, die nur „eine kurzfristige Beschäftigung suchten. Charriba fand dort nichts, was seinem Geschmack entsprochen hätte. In einem der Büros stieß Charriba nach längerem Suchen dann endlich auf einen Mann, der ernsthaft zu arbeiten schien. Das Stirnband wies ihn als Navajo aus. Der Mann sah auf, als Charriba eintrat und sich setzte. „Du suchst Arbeit, Bruder?“ erkundigte er sich. Er sprach englisch, wie fast alle Bewohner des Staates. Zwar gab es von fast jedem Stamm, der jemals in Nordamerika gelebt hatte, einige Überlebende, die die alten Stammessprachen noch beherrschten, aber die meisten dieser Gruppen waren so klein, daß es sich nicht gelohnt hätte, eine dieser Sprachen zur Einheitssprache zu erheben. „Wer sucht schon Arbeit?“ meinte Charriba achselzuckend. „Ich brauche Geld, keine Arbeit!“ Der Navajo grinste verständnisvoll. „Was kannst du?“ wollte er wissen. „Vieles“, gab Charriba zurück. „Und was ich noch nicht kann, werde ich lernen!“ Er zählte auf, was er bisher getrieben hatte, und die Liste wurde ziemlich lang. „Dann gibt es für dich nur eines“, erklärte der Navajo beeindruckt. „Geh zur Polizei.“ Charriba rümpfte die Nase. „Der Job ist nicht so schlecht, wie. allgemein gesagt wird“, beeilte sich sein Gegenüber zu versichern. „Die erste Zeit wirst du natürlich in der Stadt verbringen müssen, aber anschließend kannst du dich für den Patrouillendienst melden. Dann hast du genau, was du suchst - einen guten Job, ausreichende Bezahlung und viel Arbeit im Freien. Und wenn du
erst den Gürtel voller Skalps hast, werden dir die Mädchen haufenweise nachrennen.“
Charriba rümpfte noch immer die Nase. Selbst die verheißungsvollen Aussichten konnten ihm
diesen Job nicht sympathisch machen. Die Indianer-Polizei war nicht sehr beliebt, jedenfalls
nicht in der Weite des Landes. Die freilebenden Stämme regelten ihre Angelegenheiten lieber
selbst und auf die Weise, die die Väter überliefert hatten.
„Ich werde es versuchen“, versprach Charriba schließlich und stand auf. „Hast du außer der
Polizei noch anderes anzubieten?“
„Eine Filmgesellschaft...“, begann der Beamte, aber Charriba winkte sofort ab. Diese Jobs
kannte er zur Genüge. Seit der Erfindung des Films hatten sich die Klischees nicht geändert.
Das Polizeipräsidium war rasch gefunden. Das große Emblem machte das Gebäude leicht
erkennbar - ein Tomahawk, von einem Lasergewehr überkreuzt. Charriba zögerte einen
Augenblick lang, dann betrat er das Haus.
Im Innern war es kühl und ruhig, zwei Eigenschaften, die Charriba sofort gefielen. Nach
kurzem Suchen hatte er dann auch das Personalbüro gefunden.
Der Sachbearbeiter gab Charriba einen ersten Vorgeschmack auf seine Arbeit. Dem Mann
fehlte das linke Ohr, er trug am rechten Unterschenkel eine deutlich quietschende Prothese,
vom linken Auge zog sich bis zum Mundwinkel eine fingerbreite Narbe, und am Schädel
waren deutlich die Spuren einer nicht erfolgreichen Skalpierung zu sehen.
„Stammesfehde?“ erkundigte sich Charriba, als er sich setzte. Sein Gegenüber grinste.
„Filmaufnahmen“, sagte er knapp. „Einer von unseren Leuten verwechselte plötzlich Film mit
Wirklichkeit.“
„Tot?“ erkundigte sich Charriba.
„Oskar für die beste Nebenrolle. Und einen für den besten Filmtrick des Jahres. Du willst zur
Polizei?“
Charriba zog unter dem Hemd den ledernen Beutel hervor, in dem er seine Dokumente
aufbewahrte. Nacheinander breitete er die Papiere vor dem Sachbearbeiter aus. Der Mann,
Charriba tippte nach dem Akzent auf einen Apachen, musterte die Papiere und nickte
zufrieden.
„Die Zwischenprüfung in Stammesrecht an der Uni erspart dir drei Monate Sonderkurs“,
erklärte er. „Wie stellst du dir deine Arbeit vor?“
Charriba zuckte mit den Schultern.
„Alles, nur nicht langweilig“, sagte er.
„Dann wirst du dich mindestens sechs Monate lang gedulden müssen“, wurde ihm
geantwortet. „Früher wird niemand in den aktiven Dienst übernommen. Einverstanden?“
Charriba zögerte.
Daß er die Ausbildung abschließen würde, stand für ihn fest. Kneifen würde er nicht. Es
fragte sich nur, ob er nach dieser Ausbildung noch den Willen und die Kraft haben würde,
diesen Job nötigenfalls hinzuwerfen. Vor nichts hatte Charriba mehr Angst als vor der
Aussicht, den Rest seines Lebens in einem gleichmäßigen Trott verbringen zu müssen. Bis
jetzt hatte er es noch jedesmal fertiggebracht, auszusteigen, bevor er in einen solchen Trott
hineinrutschen konnte, aus dem er - das wußte Charriba genau - aus eigener Kraft nicht
wieder herausfinden würde.
„Einverstanden“, sagte Charriba WhiteCloud.
Er sah auf den Kalender hinter dem Rücken seines Gegenübers.
Man schrieb den 21. April 2386.
2. „Gebt endlich Ruhe. Kinder!“ Shirley Madson war todmüde, obwohl es gerade erst
Mittagszeit war. Eine Horde von vierzig temperamentvollen Kindern durch den Morgen zu bringen, war eine ausgesprochen anstrengende Tätigkeit, besonders dann, wenn diese Kinder viel Spaß daran finden, mit farbgetränkten Papiertaschentüchern herumzuwerfen, auf dem Treppengeländer zu balancieren - im vierten Stock -, einander an den Haaren zu ziehen und aus ihren Frühstücksbroten Figuren zu kneten. Shirley lehnte sich gegen die Wand, getreu dem pädagogischen Grundsatz, den Kindern unter gar keinen Umständen den Rücken zuzukehren. Bei normalen Kindern wäre diese Vorsichtsmaßnahme überflüssig gewesen - normale Kinder verwendeten keine Zeigestöcke als Wurfspeere und Lehrerrücken als Zielscheiben. Aber diese Kinder waren nicht normal. Körperlich waren sie kerngesund, und ihre Intelligenz lag in den meisten Fällen sogar leicht über dem Durchschnitt - dafür waren ihre Charaktere verkrüppelt. Diese Kinder waren von ihren Eltern derart mißhandelt und gequält worden, daß sie grundsätzlich allem und jedem mißtrauten. Erzieher hatten es schwer, mit diesen Kindern umzugehen. Was konnte ein Lehrer machen, der beim Betreten des Klassenzimmers mit Tinte vollgespritzt würde? Den Übeltäter ermahnen? Das wäre wenig nützlich gewesen. Den Bösewicht verprügeln oder ihn in Dunkelhaft stecken? Die meisten der Kinder waren von ihren eigenen Eltern derart oft und brutal verprügelt worden, daß diese Strafe sie nicht beeindrucken konnte. Die Kinder wußten, daß kein Lehrer das Recht hatte, sie blutig zu schlagen oder ihnen gar die Knochen zu brechen, wie es ihre Eltern getan hatten. Daher hätten sie eine Tracht Prügel eher als lästiges Ritual empfunden, lästig und zeitraubend wie Zähneputzen, ohne jeden erzieherischen Wert. Was Shirley Madsen und ihre Kolleginnen und Kollegen zu tun hatten, ließ sich - bildlich gesprochen - so ausdrücken: sie mußten den winzigen Funken Menschlichkeit, den sich solche Kinder bewahrt hatten, finden und anfachen. Vor allem mußten sie diesen Funken immer wieder vor den Sturzbächen an Aggression schützen, die stets aus dem Unterbewußtsein der Kinder hervorbrachen. „Setz dich bitte, Susan!“ Der heutige Morgen war besonders schlimm gewesen. Shirley hatte nicht gerade einen guten Tag erwischt, während die Kinder offenbar einen besonders kritischen Zustand erreicht hatten. Alle Versuche, die Kinder abzulenken, waren fehlgeschlagen, die Rasselbande machte, was sie wollte und ließ sich dabei nicht stören. Laut weinend hinkte die kleine Amy nach vorn, verfolgt von dem hämischen Grinsen Robert Ayckroyds, der sie hartnäckig an den Haaren gezogen hatte. Zufrieden mit seinem Erfolg, wandte er sich ab und stürzte sich auf seinen Banknachbarn, um ihn durchzuprügeln. Nur für wenige Sekunden war Shirley Madsen abgelenkt. In dieser Zeit trocknete sie Amys Tränen und steckte ihr die Zahnklammer in den schokoladeverschmierten Mund. Shirley richtete sich gerade auf, um Amy an ihren Platz zurückzuschicken, als ein Schrei durch den Raum gellte. Alarmiert fuhr Shirley hoch und überblickte hastig die Klasse. Sie sah kein Blut, und das beruhigte sie zunächst. Dann sah sie die Gesichter der Kinder und erschrak. Wenn es ein Gefühl gab, das diese Kinder nicht mehr zu kennen schienen, dann war es die Angst. Sie hatten zuviel erlebt und erdulden müssen, um sich noch erschrecken zu lassen. Das Gefühl, das sich jetzt aber auf den Gesichtern der Kinder abzeichnete, war mehr als Angst, es war panische Furcht. „Was ist passiert?“ fragte Shirley erregt. Sie sah, daß einige Kinder am ganzen Körper zitterten. „Bobby!“ stammelte die kleine Susan mit blutleerem Gesicht. „Er ist verschwunden!“ Shirley sah sich hastig um. Richtig, Robert Ayckroyds Platz war leer, sein Banknachbar hielt sich die blutende Nase und zitterte am ganzen Leibe. „Paul, wohin ist Bobby gegangen?“ fragte Shirley verwirrt. Es geschah häufiger, daß ein Kind einfach die Klasse verließ, aber das war kein Anlaß, die Kinder derart mit Furcht zu erfüllen.
„Er ist nirgendwohin gegangen“, schluchzte Paul. „Bobby ist verschwunden. Er hat sich in Luft aufgelöst!“ „Rede keinen Unsinn, Paul“, sagte Shirley scharf. „Niemand kann sich in Luft auflösen, nicht einmal Bobby Ayckroyd. Wer hat gesehen, wie Bobby die Klasse verließ?“ Die Kinder schüttelten die Köpfe, und dann geschah etwas, womit Shirley niemals gerechnet hätte. Die Kinder in den hinteren Bänken standen auf und schoben sich langsam nach vorn, auf das Pult zu. Sie ließen Bobbys Sitzplatz nicht aus den Augen und machten einen weiten Bogen um ihn herum. Bobbys Nebenmann Paul verließ seinen Platz mit fieberhafter Eile und rannte auf Shirley zu. Mit aller Kraft klammerte er sich an ihr fest. „Also, erzählt einmal“, sagte Shirley Madsen. „Was ist wirklich geschehen?“ Die Kinder hatten sich in ihrer Nähe versammelt. Ganz offensichtlich suchten sie Schutz bei ihr, Schutz vor etwas, das sie mit unerträglicher Angst erfüllt hatte. „Bobby hat gerade angefangen, Paul zu schlagen“, stammelte Susan unter Tränen. „Er hat ihm genau auf die Nase gehauen. Und dann wollte Bobby noch einmal hauen, und da war er plötzlich weg, einfach weg.“ „Als hätte er sich in Luft aufgelöst“, ergänzte Paul schreckensbleich. Shirley spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufrichteten. Sie kannte ihre Zöglinge und die abenteuerlichen Lügengeschichten, die sie von ihnen vorgesetzt bekam. Aber dies hörte sich nicht so an, als hätten die Kinder vor, ihre Lehrerin zu veralbern. Der ängstliche Tonfall war echt. Auf der anderen Seite konnte die Geschichte nicht wahr sein. Shirley war keine ausgebildete Naturwissenschaftlerin, aber soviel verstand sie, daß kein menschliches Wesen einfach verschwinden konnte. Sanft schob sie den schluchzenden Paul zur Seite und ging zu dem Platz hinüber, auf dem der Verschwundene gesessen hatte. Das flache Kissen auf dem Sitz war noch warm, Schultasche, Schreibzeug, alles war vorhanden. Dann fand Shirley die Kugel, eine ganz gewöhnliche Gewehrkugel aus Blei. Robert Ayckroyd hatte sie immer mit sich herumgeschleppt. Die Kugel hatte deutliche Zeichen aufzuweisen, daß sie einmal verfeuert worden war, aber niemals hatte sich Bobby dazu überreden lassen, die Geschichte zu erzählen, die mit diesem Geschoß verbunden war. Nur eines hatte nach sehr kurzer Zeit festgestanden: Die Bleikugel war Bobbys kostbarster Besitz, er trennte sich nie von ihr. Nachdenklich betrachtete Shirley die Kugel. Die Tatsache, daß sie, jedem zugänglich, auf dem Schreibpult lag, war ein schlagender Beweis dafür, daß etwas Ungewöhnliches geschehen sein mußte. Shirley wandte sich zu den Kindern um. „Ihr könnt in den Garten gehen“, sagte sie lächelnd. „Wartet dort auf mich!“ * Der Direktor rollte stirnrunzelnd das Bleigeschoß zwischen den Fingern. „Shirley“, murmelte er betroffen. „Sie sind kein kleines Mädchen mehr, das man mit Schauergeschichten erschrecken kann. Glauben Sie diesen Unfug?“ Er sah auf und begann zu grinsen. „Auf der anderen Seite“, stellte er fest, „ist die Aussicht verlockend, von diesem Störenfried befreit zu sein. Was wollen Sie machen?“ „Ich werde mich mit der Familie in Verbindung setzen. Wenn Bobby sich einfach davongemacht hat, wird er früher oder später dort auftauchen. Er kann zwar seinen Vater nicht ausstehen, aber Bobby hängt sehr an seiner Mutter. Wenn ich Bobby daheim finde, hat sich die Geschichte von selbst erledigt. Wenn nicht... Die Eltern müssen in jedem Fall benachrichtigt werden.“ „Einverstanden“, erklärte der Direktor. „Ich werde mich unterdessen um Ihre anderen
Zöglinge kümmern. Wir müssen verhindern, daß die Geschichte sich herumspricht. Ich fürchte, selbst die Eltern der ganz großen Übeltäter werden ihre Kinder nicht in eine Schule lassen, in der sich die Sprößlinge in Luft auflösen. Noch etwas, Shirley. Wenn Bobby nicht bei seinen Eltern ist, müssen wir die Polizei informieren. Das wird zwar wieder eine fette Schlagzeile für die Boulevardpresse geben, aber es läßt sich leider nicht umgehen.“ Shirley zuckte zusammen. Die Schule hatte schon des öfteren für Wirbel gesorgt, ein neuer Skandal konnte leicht dazu führen, daß die Schule für immer geschlossen wurde. Shirley versuchte zu lächeln. „Ich bin ziemlich sicher, daß ich Bobby bei seinen Eltern finden werde“, sagte sie hoffnungsvoll. „Schließlich sind solche Vorfälle wissenschaftlich unmöglich.“ „Liebe Kollegin“, sagte der Direktor ruhig. „Ich wünsche mir, daß Sie recht behalten werden!“ * Shirley Madsen benutzte ihren Gleiter, um das Haus der Ayckroyds zu erreichen. Ihre Fahrt führte sie quer durch die Millionenstadt Chikago, in deren Straßen sich der Mittagsverkehr staute. Seit der Erfindung des Automobils waren mehr als fünf Jahrhunderte vergangen, aber noch immer war es Städteplanern nicht gelungen, mit allen Problemen fertig zu werden, die der Massenverkehr mit sich brachte. Shirley brauchte mehr als eine Stunde, bis sie den Bezirk erreicht hatte, in dem die Familie Ayckroyd wohnte. Arme Leute lebten hier nicht, das stand für Shirley sehr bald fest. Dafür waren die Grundstücke zu groß und die Häuser zu aufwendig. Nach einer weiteren Viertelstunde hatte Shirley dann die Adresse erreicht, die sie sich aus der Kartei der Schule besorgt hatte. Unwillkürlich runzelte sie die Stirn, als sie in die betreffende Straße einbog. Vor dem Eingang des Gartens zum Ayckroydschen Grundstück drängten sich Menschen. In die Menge eingekeilt war ein Polizeifahrzeug, und erst jetzt bemerkte Shirley, daß der Krankenwagen, der seit einiger Zeit hinter ihr hergefahren war, das gleiche Ziel ansteuerte. Shirley stellte ihren Gleiter am Straßenrand ab und stieg aus. Etwas beklommen ging sie auf die Menschenmenge zu. Sie wußte nicht, was dort geschehen war, aber instinktiv fühlte die Lehrerin, daß dieser Auflauf in irgendeinem Zusammenhang mit dem Verschwinden von Bobby Ayckroyd zu tun hatte. Auf dem Bürgersteig tanzten einige Kinder und sangen fröhlich: „Penny Malone ist verrückt geworden!“ Shirley hatte die Menschenmenge erreicht und begann sich durchzumogeln. Für einen Augenblick erhaschte sie einen Blick auf eine Trage, die von zwei Sanitätern in den Krankenwagen geschoben wurde. Shirley konnte nur ein von dunklen Locken umrahmtes, schreckenbleiches Gesicht sehen, in dem es unablässig zuckte. „Bitte, machen Sie den Weg frei“, bat einer der Polizisten. „Hier gibt es nichts zu sehen, und wir brauchen Platz für den Krankenwagen. Bitte, gehen Sie auseinander. Das gilt auch für Sie, Madam!“ „Was ist eigentlich passiert?“ fragte Shirley den bulligen Polizisten. „Gar nichts“, wehrte der Beamte ab und schob sie ein Stück zurück. „Können Sie alles morgen in der Zeitung lesen!“ Daß sich diese beiden Aussagen widersprachen, schien den Polizisten nicht zu stören. „Ich muß da hinein“, erklärte Shirley, während sie sich gegen den Polizisten stemmte. „Es ist wichtig. Ich muß Mrs. Ayckroyd sprechen.“ „Das geht jetzt nicht, Miß“, wehrte der Beamte ab. „Hören Sie, gehen Sie freiwillig, oder muß ich Sie tragen?“
Shirley wurde rot.
„Der Sohn von Mrs. Ayckroyd ist verschwunden“, stieß sie hervor. „Er hat sich förmlich in
Luft aufgelöst!“
Der Polizist zuckte zusammen.
„Was sagen Sie da? Wie heißen Sie eigentlich?“
Shirley nannte ihren Namen und wurde ein zweites Mal rot. Unwillkürlich hatte sie auch ihre
Telefonnummer genannt, obwohl das wirklich nicht nötig gewesen wäre. Der Polizist grinste
breit.
„Besten Dank“, sagte er amüsiert. „Kommen Sie bitte mit!“
Er geleitete Shirley zu dem Polizeiwagen.
„Chef?“
Ein älterer Mann im Fond des Gleiters sah auf. Mit einem Blick erfaßte Shirley das
Wesentliche: knapp sechzig Jahre alt, die Haare gingen aus und die Gesichtszüge ließen auf
langjährige, nicht eben erfreuliche Bürotätigkeit schließen. In der rechten Tasche des
schlechtsitzenden Anzugs entdeckte Shirley ein zusammengefaltetes Heft einer
pädagogischen Zeitschrift, und das machte ihr diesen Mann sofort sympathisch.
„Die junge Dame hier behauptet, der Sohn der Hausbesitzerin habe sich in Luft aufgelöst. Ob
das mit unserem Fall zusammenhängt?“
„Das wird sich zeigen“, murmelte der Angesprochene. Er trug Zivil. Aufmerksam betrachtete
er Shirley.
„Sie sind Lehrerin, nicht wahr? Außerdem sind Sie geschieden.“
Shirley riß die Augen auf.
Der Zivilist lächelte müde.
„Erstens haben Sie noch Kreidespuren an den Fingern, und zweitens haben Sie einen hellen
Streifen dort an der Hand, wo üblicherweise Eheringe sitzen. Außerdem schielen Sie
unwillkürlich immer wieder zu George hinüber.“
Shirley errötete ein drittes Mal, diesmal zusammen mit dem Uniformierten.
„Was haben Sie beobachtet“, fragte der Zivilist. „Erzählen Sie langsam und lassen Sie kein
Detail aus.“
Hastig sprudelte Shirley hervor, was sich in der Schule zugetragen hatte.
„Hm“, machte der Beamte. „Das deckt sich ziemlich gut mit unserem Fall.“
Er wollte gerade ansetzen, um zu erklären, wie dieser Fall aussah, als sich ein weiteres
Polizeifahrzeug näherte und ein Beamter daraus hervorstürzte.
„Chef“, rief er aufgeregt. „Was machen Sie hier? Wir haben unsere Meldung doch gerade erst
abgegeben? Woher wissen Sie, daß Michael Ayxkroyd verschwunden ist?“
* Acht Menschen drängten sich in dem kleinen Dienstzimmer: vier Polizeibeamte in Uniform und vier Zivilisten, darunter der leitende Kommissar der Abteilung, die Morde und andere Kapitalverbrechen zu bearbeiten hatte. Dem schmalen Schild an der Tür hatte Shirley Madsen entnehmen können, daß der ältere Zivilist Brian Fergusson hieß. Fergusson hatte es sich hinter seinem Schreibtisch bequem gemacht und stopfte sich umständlich eine Pfeife. „Nun erzählen Sie mal, der Reihe nach bitte! Die Familie Ayckroyd bestand aus drei Personen, dem Vater Michael, der Mutter Jane und dem Sohn Robert. Welcher der drei ist als erster verschwunden? Mrs. Madsen...“ „Bobby muß um 12:43 verschwunden sein“, berichtete Shirley. „Ich habe nicht sofort auf die Uhr gesehen, aber ich bin mir sicher, daß die Angabe stimmt, bis auf höchstens eine Minute.“ „12:43“ notierte sich Fergusson. „Was ist mit dem Vater?“ „Michael Ayxkroyd arbeitete bei Consolidated Edison“, berichtete der Beamte, den Fergussons Blick getroffen hatte. „Um exakt 12:46 erreichte der Alarm unser Revier.
Ayxkroyd war in einer Abteilung für Nuklearphysik beschäftigt. Dieser Arbeitsbereich ist
wegen der Kontaminationsgefahr...“
„Bitte?“ sagte Fergusson.
„... wegen der Gefahr, radioaktives Material zu verschleppen oder selbst radioaktiv verseucht
zu werden, hermetisch abgeriegelt. Der Wachhabende beschwört, daß Ayckroyd die
Strahlenschutzschleuse nicht passiert hat. Diese Aussage wird vom Kontrollautomaten
bestätigt. Nach den Angaben des Automaten muß Ayckroyd noch im Sicherheitsbereich sein
dort haben wir ihn aber nicht gefunden. Wenn er sich nicht einen besonderen Trick hat
einfallen lassen, muß die Angabe des Wachhabenden stimmen - Ayckroyd ist spurlos
verschwunden.“
„Die Uhrzeit?“ erkundigte sich Ferguson.
„Schätzungsweise 12:39, plusminus drei Minuten!“
. Augenzeugen?“
„Keine!“
Fergusson seufzte unterdrückt.
„Nun zu der Ehefrau. Dort soll es einen Augenzeugen gegeben haben?“
Der Polizist, von dem Shirley nur den Vornamen George kannte, trat vor und sah auf sein
Notizbuch.
„Die Zeugin heißt Susan Hampshire, eine Nachbarin. Zur Zeit befindet sie sich in
psychiatrischer Behandlung, Nervenschock. Aus ihrem Schreien und Stammeln ließ sich
folgender Sachverhalt annähernd rekonstruieren. Mrs. Hampshire und Jane Ayckroyd hatten
zusammen ein Kuchenrezept ausprobiert. Während des Kaffetrinkens soll Jane Ayckroyd
allmählich durchsichtig geworden sein und war wenig später vollständig verschwunden. Die
Nachbarin brach daraufhin zusammen, begann zu schreien und verlor fast den Verstand. Ihr
Schreien wurde von einem Passanten gehört, der sofort die Polizei alarmierte.“
„Der Kuchen wurde sichergestellt?“ fragte Fergusson.
„Hier ist er, Chef!“
George brachte aus einer Tragetasche ein dunkelbraunes, flaches Etwas zum Vorschein.
Mißtrauisch beäugte Fergusson den Kuchen.
„Ist das Rezept bekannt?“
George nickte.
„Wir fanden einen verschmierten Zettel auf dem Küchentisch!“ erklärte er und las vor: „Fünf
Eier und 200 Gramm Zucker werden schaumig gerührt. In einer zweiten Schüssel werden 300
Gramm feingemahlene Haselnüsse mit einem Päckchen Vanillepuddingpulver verrührt, dann
werden drei gestrichene Teel...“
„Teelöffel“, half Shirley aus; sie schrieb eifrig mit.
„... Teelöffel Backpulver dazugegeben. Alle Bestandteile werden schnell miteinander verrührt
und dann in eine gefettete Springform gegeben. Der Kuchen muß auf der Mittelschiene bei
175 Grad etwa 45 Minuten lang gebacken werden. Nach dem Erkalten wird er mit einer
Masse aus 200 Staubzucker, drei Eßlöffel Kakao, etwas zerlassener Butter und ein wenig
warmen Wasser glasiert.“
„Hört sich gut an“, murmelte Shirley. Fergusson war nicht überzeugt.
„Vielleicht liegt es an dem Kuchen“, murmelte er nachdenklich. „Wenn dieser Trick
funktioniert, werden sämtliche Scheidungsrichter arbeitslos.“
Der Angestellte von Con Ed sah hoffnungsvoll auf den Kuchen, aber er wagte es nicht,
Fergusson um eine Kostprobe zu bitten.
„Das zweite fehlende Stück wurde von Mrs. Hampshire gegessen“, erklärte George und
zerstörte damit die Hoffnungen des Con Ed-Angestellten. „Da Mrs. Hampshire unzweifelhaft
noch vorhanden ist, scheidet der Kuchen als Grund für das Verschwinden aus. Außerdem
würde dies weder das Verschwinden von Robert Ayckroyd noch das seines Vaters erklären.“
Fergusson trommelte mit den Fingerspitzen auf der Platte seines Schreibtisches.
„Eine ganze Familie verschwindet“, murmelte er. „Verschwindet, ist einfach weg, und das innerhalb weniger Minuten. Entführungen und Mord scheiden aus, im letzteren Fall hätte man zumindest die Leiche von Michael Ayckroyd finden müssen. Ich begreife überhaupt nichts mehr.“ „Gibt es noch andere Fälle dieser Art?“ wollte Shirley plötzlich wissen. „Ich meine, es muß ja nicht immer so sein, daß zufällig jemand anwesend ist, wenn ein anderer verschwindet.“ „Worauf wollen Sie hinaus?“ fragte Fergusson. Shirley zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es selbst nicht“, gab sie zu. „Aber wenn feststeht, daß eine ganze Familie verschwunden ist, dann gibt es für diese Tatsache nur zwei mögliche Erklärungen. Entweder hat die Familie sich selbst verschwinden lassen, oder irgend jemand hat dafür gesorgt, daß sie verschwand. Im zweiten Fall muß es ein Motiv geben, oder eine Maschine oder etwas ähnliches, die das Verschwinden ausgelöst hat. Vielleicht sind auch noch andere Menschen davon betroffen.“ Fergusson runzelte die Stirn, dann griff er zum Video. Mit einem Knopfdruck stellte er eine Verbindung zu jener Abteilung her, die Vermißtenfälle zu bearbeiten hatte. „Frank“, sagte Fergusson, als der Bildschirm aufflackerte. Shirley konnte Fergussons Gesprächspartner nicht sehen, aber sie ließ sich kein Wort der Unterhaltung entgehen. „Habt ihr in den letzten Tagen besonders viele Fälle von vermißten Personen registriert?“ „Wie üblich in dieser Jahreszeit“, hörte Shirley. „Frühlingserwachen bei einigen älteren Ehemännern, die den Sommer über mit irgendeiner Freundin verbringen und sich absetzen.“ Shirley meldete sich. „Könnte man die ganzen Verschwundenen nicht von einem Komputer vergleichen lassen?“ fragte sie. „Vielleicht haben all diese Leute ein gemeinsames Merkmal, den gleichen Arbeitgeber, ähnliche Hobbys oder so etwas.“ „Eine gute Idee“, lobte Fergusson. Das Ergebnis dieser Prüfung ließ nur wenige Minuten auf sich warten. In den letzten fünf Tagen waren im Großraum Chikago insgesamt zweiundfünfzig Personen spurlos verschwunden, Männer, Frauen und Kinder, komplette Familien. Aber sie waren nicht allein verschwunden. Mit ihnen hatten sich sämtliche Unterlagen und Akten aufgelöst, die sie betrafen: Geburtsurkunden, Trauscheine, Zeugnisse. Allen gemeinsam war nur eines. Verfolgte man die Herkunft dieser Menschen, dann liefen alle Fäden früher oder später an einem bestimmten Ort zusammen - Warm Springs.
3. Der Mann lärmte und schimpfte, aber Charriba ließ sich nicht beirren. Ohne besonderen Erlaubnisschein hatte kein Weißer das Recht, sich in den Prärien des Indianerstaats herumzutreiben. Charriba hatte den Mann erwischt, als er gerade sein Gewehr auf ein Grislyweibchen anlegte. Daß dieses Weibchen von einem Jungen begleitet war, das ohne die Mutter jämmerlich eingegangen wäre, hatte den schießwütigen Weißen nicht gestört. „Raus mit dir“, knurrte Charriba und stieß den Wildfrevler aus dem Gleiter. „Ich werde mich beschweren!“ tobte der Gefangene. „Ich werde an meinen Abgeordneten schreiben.“ Charriba sah den Mann an und zog langsam sein Messer. Die Augen des Gefangenen weiteten sich, dann fiel sein Blick auf Charribas Gürtel. Daß der blondgelockte Skalp an diesem Gürtel nur eine Imitation war, konnte der Weiße nicht wissen, aber er deutete Charribas Geste so, wie Charriba es gewollt hatte. Die Aussicht, daß sein Skalp bald dem blonden Gesellschaft leisten würde, ließ das Protestgeschrei des Gefangenen verstummen.
Charriba schubste den nun sehr brav gewordenen Wilderer in das Polizeigebäude und lieferte ihn im Untersuchungsgefängnis ab, dazu die kleine, handliche Filmkamera, die die Gesetzesübertretung des Häftlings eindeutig bewies. Danach benutzte Charriba den Antigrav, der ihn auf die Höhe der Diensträume brachte. Charribas Vorgesetzter war ein drahtiger Navajo, der auf den Namen Slippery Mokassin hörte, wenn er von Weißen angesprochen wurde. In seinem Büro traf Charriba auf einen alten Mann, dessen Gesicht nur aus Runzeln zu bestehen schien. Der Alte war so dürr, als habe er monatelang hungern müssen, aber die kleinen, schwarzen Augen bewiesen Charriba auf den ersten Blick, daß er sich von dem hinfälligen Äußeren des Alten nicht täuschen lassen durfte. Slippery Mokassin blickte auf, als Charriba sein Büro betrat. Charriba setzte sich und berichtete kurz von der Verhaftung. Mokassin nickte anerkennend. „Es tut mir leid, Charriba“, sagte er dann. „Ich weiß, daß du eigentlich keinen Dienst mehr hast, aber ich habe hier eine wichtige Anfrage von der Bundespolizei. Bei den Weißen sind eine Menge Leute verschwunden, und offenbar hat die Angelegenheit etwas mit Warm Springs zu tun.“ Charriba runzelte die Stirn. „Warm Springs ist seit Jahrhunderten eine Geisterstadt“, wandte er ein. „Außerdem - ist es unsere Sache, zu helfen, wenn weiße Männer verschwinden?“ „Vielleicht finden wir den Trick heraus, wie wir sie alle verschwinden lassen können“, erklärte Mokassin grinsend. Charriba grinste zurück. Beide Männer waren viel zu realistisch, um über die Vergangenheit zu jammern und sich eine einschneidende Änderung der Verhältnisse zu wünschen. „Ich werde gehen und nachsehen“, sagte Charriba und stand auf. „Nimm einen Gleiter“, bestimmte Mokassin. „Die Weißen haben es eilig. Und nimm den Alten mit, er kann dir nützlich sein. Er ist unser bester Fährtenleser.“ Charriba seufzte, aber er widersprach nicht. Als er das Büro verließ, schloß der Alte sich ihm wortlos an. Gemeinsam schwebten die beiden Männer im Antigrav hinab, schweigend bestiegen sie Charribas Gleiter. Während Charriba die Maschine startete, rollte sich der Alte auf der hinteren Sitzbank zusammen, zog eine mottenzerfressene Decke über den Körper und war wenig später eingeschlafen. Charriba warf einen Blick auf ihn und lächelte verhalten. Der Ausflug versprach interessant zu werden. * Charriba hatte Hunderte von Filmen gesehen, die im Westen Nordamerikas spielten. Dennoch berührte ihn der Anblick von Warm Springs eigenartig. Von dem Ort war kaum noch etwas zu sehen. Der größte Teil der Häuser war längst zerfallen. Trotz der beständigen Trockenheit war das Holz der Bauten im Laufe vieler Jahrzehnte verfault, morsch geworden und unter der Last des Windes zusammengebrochen. Tumbleweeds rollten über die staubbedeckte Straße. Vor einem noch stehenden Haus bewegte sich ein Firmenschild mit seit langem nicht mehr erkennbarer Beschriftung im Wind und ließ ab und zu ein durchdringendes Kreischen hören. Charriba ließ den Gleiter am Stadtrand aufsetzen und stieg aus. Mit der Spitze seines Bogens stieß er den Alten an, der während der gesamten Fahrt geschlafen hatte. Der Alte erwachte schlagartig, und sofort zuckte seine Rechte zum Gürtel hinab, aber noch bevor sich die dürren Finger um den Griff des Messers krallen konnten, hatte er den Sachverhalt begriffen. Er grunzte und richtete sich auf. Mit einem raschen Blick übersah er den Ort. „Warm Springs?“ erkundigte er sich, während er sich ächzend aus dem Gleiter bewegte. „Wo sollen die Quellen sein?“
Charriba zuckte mit den Schultern. Warm Springs war im neunzehnten Jahrhundert für kurze Zeit eine blühende kleine Stadt gewesen, rasch emporgeschossen und beinahe ebenso rasch wieder in Vergessenheit geraten. Die Claims, die die Goldsucher hier gesucht und abgesteckt hatten, waren nicht ergiebig genug gewesen, und für Landwirtschaft war das Gebiet zu trocken. Ein paar Jahre noch hatte sich Warm Springs nach dem Goldrausch halten können, als Durchgangsstation für etliche Siedlertrecks, deren Ziel Kalifornien war. Der Tag, an dem sich die beiden Stränge der Union Pacific. Railroad bei Promontory Point trafen und die Eisenbahnverbindung von Omaha bis Sacramento geschlossen war, hatte das Ende von Warm Springs eingeläutet. Langsam ging Charriba die Hauptstraße hinauf. Die kleine Stadt war verlassen, Charriba hatte nichts anderes erwartet. Was hätte einen halbwegs vernünftigen Menschen auch in diese Einöde locken können? Ursprünglich hatte der Ort mehr als fünfzig Gebäude aufzuweisen gehabt, jetzt standen nur noch vier Häuser, und auch sie konnten dem Verfall nicht mehr lange entgehen. Charribas Begleiter murmelte etwas Unverständliches. „Riechst du nichts?“ fragte er schließlich deutlicher. Charriba zog prüfend die Luft durch die Nase. Richtig, da lag ein Aroma in der Luft, sehr schwach, aber noch erkennbar. Charriba schnupperte weiter. Woran erinnerte ihn dieser Geruch? Der Dienst im letzten Jahr hatte Charriba wenig Zeit gelassen, sich privat zu amüsieren, daher brauchte er einige Zeit, bis er den Geruch identifiziert hatte. Es roch nach Alkohol, nach hochprozentigem Alkohol. „Eine Destille“, vermutete der Alte. „Sie muß irgendwo in dieser Stadt versteckt sein!“ Illegale Schnapsbrennereien waren eine der größten Gefahren für den jungen Indianerstaat. Als die ersten Weißen Amerika erreicht hatten, konnten sie bereits auf eine Geschichte von mehr als zweitausend Jahren zurückblicken, in denen Alkohol hergestellt und auch getrunken worden war. Für die Indianer war dieser Stoff völlig neu, daher hatten sie sich nie darauf einstellen können. Ihnen hatte einfach der jahrhundertelange Gewöhnungsprozeß gefehlt, den die Einwanderer aufzuweisen gehabt hatten. Und noch immer war die Gefahr groß, daß die wilden Stämme im Handumdrehen süchtig wurden. Bei den Weißen gab es nur eine Minderheit, die nach dem ersten Glas nicht wieder aufhören konnte und trank, bis sie bewußtlos zu Boden fiel - bei den Indianern war dieser Menschenschlag die Regel. Ein Indianer, der sich in der Hauptstadt ansiedeln wollte, mußte noch immer seinen Artgenossen den Nachweis erbringen, daß er nicht alkoholsüchtig war. Eine Destille in diesem Winkel des Indianerstaates war eine lautlos tickende Zeitbombe. Zum Glück war die Grenze weit entfernt. Die Gefahr, daß sich die jungen Krieger sinnlos betranken und sich dann anschickten, die Weißen um ihre Skalps zu bringen, war vergleichsweise gering - allerdings waren volltrunkene Indianer auch schnell bei. der Hand, ihre Trophäensammlung auf Kosten ihrer Artgenossen zu vergrößern. „Versuche, sie zu finden“, sagte Charriba. Der Alte kicherte in sich hinein. „Nichts leichter als das“, stieß er hervor. Schnüffelnd wie ein Jagdhund machte er sich an die Arbeit. Charriba sah ihm interessiert zu. Er selbst war ein geübter Fährtenleser, aber an den Alten reichte er bei weitem nicht heran. Der Körper seines Gefährten mochte gebrechlich sein, geistig aber war er voll auf der Höhe. Er fand selbst die kleinsten Spuren, die die Schnapsbrenner hinterlassen hatten. Er brauchte nur knappe zehn Minuten, um herauszufinden, daß man die verwitterte Hundehütte neben der Ruine des Salons nur zu drehen brauchte, um den Eingang freizulegen. Steinerne Treppen führten in die Tiefe hinab, aus der Charriba ein durchdringender Schnapsgeruch entgegenschlug. Charriba bedeutete dem Alten, zurückzubleiben, dann schlich er leise die Treppen hinab. Er landete in einem beachtlich großen Gewölbe; offenbar handelte es sich um den Keller des
Saloons. Charriba zählte drei Männer und ein Mädchen, eifrig damit beschäftigt, den scharfen Schnaps aus einem hölzernen Faß in bereits etikettierte Flaschen zu füllen. Charriba hatte längst die kleine Filmkamera in der Hand, die die Szene unhörbar festhielt und so beweiskräftig für das Gericht machte. Charriba filmte die Brenner, während er sich vorsichtig nach vorne pirschte, von Stapeln gefüllter Fässer gedeckt. Er steckte die Kamera zurück, dann griff er nach seinem Bogen. Der Pfeil zielte auf den Ältesten in der Gruppe, als Charriba aufstand und ein durchdringendes Geheul hören ließ. In den ersten Sekunden geschah nichts, die Weißen standen wie erstarrt. Schließlich drehten sie sich langsam herum. „Wer zur Waffe greift, bekommt den ersten Pfeil!“ verkündete Charriba laut. Die Sache begann ihm Spaß zu machen. Die Vier waren von panischer Angst erfüllt und dachten überhaupt nicht an Gegenwehr. Offenbar kannten sie nur zwei Sorten von Indianern. Jene, denen man für ein paar Flaschen miserablen Schnapses die Felle eines ganzen Jagd Jahres abluchsen konnte, und jene, die die Filmleinwände bevölkerten und Weiße massakrierten. Charriba schienen sie für einen Angehörigen der zweiten Gruppe zu halten. „Werft die Waffen weg!“ befahl Charriba. Hinter ihm war sein Gefährte aufgetaucht und kicherte laut. In dem schwachen Licht mußte das verwitterte Gesicht des Alten wie eine Satansfratze wirken. Charriba sah, wie die Weißen bleich wurden. „Können Sie uns nicht einfach laufenlassen“, sagte das Mädchen leise. Ihre Augen wanderten unablässig von der Pfeilspitze zu Charribas Gürtel und der daran hängenden Skalp Imitation. „Wir wollten doch nur...“ „Rauschgift herstellen und verkaufen“, sagte Charriba trocken. „Augenblick“, protestierte der Anführer. „Von Rauschgift kann keine Rede sein. Das hier ist guter, drei Mo... „Tage alter Whisky“, korrigierte Charriba. „Nach unseren Gesetzen ist dies Rauschgift, und entsprechend wird auch die Strafe ausfallen.“ „Und wie wird diese Strafe aussehen?“ fragte das Mädchen leise. Der Alte kicherte, und Charriba erklärte kalt: „Ich glaube, Sie wissen, wie bei uns Weiße behandelt werden, die gegen unsere Gesetze verstoßen!“ Jetzt verloren die Gefangenen vollends die Fassung. „Der Pfahl?“ flüsterte der Anführer. Charriba nickte. Er schnitt zwar gewaltig auf, aber ein bißchen Angst konnte unter diesen Umständen nur heilsam sein. Während der Alte die vier sachkundig fesselte, benutzte Charriba seinen Tomahawk, um die Fässer einzuschlagen. Kurze Zeit später stand er bis an die Knöchel im Schnaps. Die Vier Übeltäter wurden die Treppe hinaufgetrieben. Charriba half, die Schnapsbrenner in den Gleiter zu befördern und dort festzubinden, dann holte er seine Ausrüstung aus dem Laderaum. „Bring die Leute in die Zentrale“, bat er den Alten. „Ich werde mir die Geisterstadt etwas näher ansehen.“ Der Alte machte eine zustimmende Geste und startete die Maschine. Wenig später nahm der Gleiter Fahrt auf. Eingehüllt in eine dichte Staubwolke, jagte er einer Hügelkette im Norden entgegen. Charriba schleppte den schweren Sattel zur Ruine des Saloons und legte ihn dort ab. Dann machte er sich daran, die Trümmerlandschaft eingehend zu untersuchen. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was dieses halbzerfallene Prairienest mit dem Verschwinden von ein paar Dutzend Weißen zu tun haben konnte, aber Charriba erfüllte seinen Auftrag mit der Präzision, die er sich bei der Indianerpolizei angeeignet hatte. Schon bei oberflächlicher Betrachtung stand fest, daß die Verschwundenen nie und nimmer hier versteckt sein konnten. Die einzigen Spuren, die Charriba finden konnte, stammten von den weißen Schnapsbrennern. In einem mühsam auf zerfallen getrimmten Schuppen fand Charriba den Gleiter, mit dem die Brenner die Rohmaterialien heran- und den fertigen Schnaps fortgeschafft hatten.
„Der Schnaps!“ murmelte Charriba. Er machte sich nicht die Mühe, zum Eingang des Verstecks hinüberzugehen. Er zog nur den kleinen Laser, den er versteckt am Körper trug, und gab einen Schuß auf den Eingang ab. Eine meterhphe Stichflamme schlug empor, dann flog die Hundehütte in die Luft. Während die Trümmer auf die Straße herabregneten, steckte Charriba die Waffe zurück. Er wußte, daß das Feuer weiterbrennen würde, bis der gesamte Schnaps verdunstet war. Nacheinander durchstöberte Charriba die Trümmerhaufen. Im ehemaligen Warenhaus fand er verrottetes Zaumzeug, zerdrückte Petroleumlampen und ein noch verschlossenes Glasgefäß mit Zuckerstangen. Charriba bediente sich reichlich. An einer Zuckerstange lutschend, machte er sich über den nächsten Trümmerhaufen her. Zunächst begriff er nicht ganz, in was für einem Geschäft er gelandet war, als er aber den Setzkasten gefunden hatte, wußte er, worauf er gestoßen war. In diesem Haus war die Lokalzeitung von Warm Springs gesetzt und gedruckt worden. Auf dem Boden lagen die Lettern wild verstreut durcheinander, ein perfekter Eierkuchen, wie es in der Fachsprache der Drucker hieß. Offenbar war der Herausgeber nicht mehr dazu gekommen, sein Material mitzunehmen, als er die Stadt verlassen hatte, kein Wunder, die Buchstaben waren aus Blei und hatten ein erhebliches Gewicht. Charriba versuchte zu rekonstruieren, wie das Gebäude ausgesehen haben mußte, als es noch stand. An der Straßenfront hatte das Büro gelegen, im Raum dahinter hatte er den Setzkasten und die verstreuten Lettern gefunden. Wenig später stieß Charriba dann auf ein Monstrum von Presse, daneben lag ein zusammengestürztes Regal. Charriba räumte die Bretter und Balken beiseite und suchte weiter. Das Holz war morsch und zerkrümelte förmlich unter seinen Fingern. Darunter fand Charriba den Tresor, dessen Tür nicht geschlossen war. Sie kreischte in den Angeln, als Charriba sie m. it erheblicher Kraftanstrengung öffnete. Wenn er auf Geld gehofft hatte, sah er sich bitter enttäuscht. Alles, was er fand, waren dicke Bücher. Charriba studierte die Buchrücken. Die verblaßten Buchstaben besagten, daß es sich um Sammelbände der Zeitung handelte. Frontier Gazette nannte sich das Blatt, das einmal wöchentlich erschienen war, in besonderen Fällen auch öfter. Charriba machte es sich auf dem Tresor bequem und blätterte vorsichtig in den alten Zeitungen. Das Papier war gelb geworden und ziemlich brüchig, aber noch waren die Buchstaben deutlich zu erkennen. Ein Meister seines Faches war der Herausgeber der Frontier Gazette nicht gewesen. Die Seiten wimmelten geradezu von Fliegenköpfen, Zwiebelfischen, und auch Hurenkinder waren nicht selten - der Setzer hatte so ziemlich alle Fehler gemacht, die in seiner Zunft gemacht werden konnte. Die Zeitung spiegelte die Verhältnisse wider, die im neunzehnten Jahrhundert im Westen Nordamerikas geherrscht hatten. Schießereien wurden erwähnt, Viehauktionen nahmen breiten Raum ein, der Rest wurde von privaten Anzeigen und erbaulichen Traktätchen gebildet. Zweimal war der Sheriff erschossen worden, ein paar „liederliche Frauenzimmer“ waren vom Verein für Anstand und Sitte aus der Stadt gejagt worden - ein paar Seiten weiter konnte Charriba feststellen, daß die Vorstandsmitglieder dieses noblen Vereins keinerlei Hemmungen gezeigt hatten, einen Aufruf zu verfassen und zu verbreiten, in dem sie , die Bevölkerung der Umgegend aufforderten, jeden Indianer einen Kopf kürzer zu machen. „Eine liebenswerte Gesellschaft“, murmelte Charriba. Er blätterte weiter zurück. Aufrufe zum Massenmord an Indianern waren in dieser Zeit keine Seltenheit gewesen, aber irgend etwas störte Charriba an dem Pamphlet. Der Tonfall war so giftig und unversöhnlich, daß er auffiel. Irgend etwas mußte in den Tagen und Wochen vor der Veröffentlichung des Aufrufs geschehen sein. Dann fiel Charribas Blick auf eine Schlagzeile, und er begriff sofort. Hastig stand er auf, den Folianten unter den Arm geklemmt.
Instinktiv spürte er, daß jetzt jede Minute zählte.
4. Charriba hatte darauf verzichtet, über Funk einen Gleiter anzufordern. Er hatte sich ein Pferd gefangen, zu seinem Vergnügen ein Tier, das bereits eingeritten war und seinem Besitzer irgendwann einmal entlaufen sein mußte. Der Fuchs hatte Charriba willig getragen, Stunde um Stunde, Tag um Tag, immer nordwärts. Charriba hatte viel Zeit gehabt, um nachzudenken, aber er hatte seinen Entschluß nicht geändert. Das lag hauptsächlich daran, daß seine Entdeckung ihm endlich einen Vorwand lieferte, jenes versteckte Tal aufzusuchen, das kein Indianer betreten durfte - so jedenfalls lautete der Vertrag zwischen den Weißen und dem Indianerstaat. Charriba war einige Male in der Nähe des Tales auf die Jagd gegangen, aber er hatte sich gehütet, einen Blick hinein zu werfen. Es hieß allgemein, daß dort Geister umgingen und jedem Vorwitzigen das Gesicht auf den Rücken kehrten. Charriba hielt nicht viel von Geistern, um so mehr von Laserkanonen und Säurewerfern, in deren Mündungen er nun starren durfte. Der schmale Eingang des Tales war wie eine Festung gesichert. Die Posten waren gut versteckt, allerdings nicht gut genug, um Charriba täuschen zu können. Charriba ließ sein Pferd langsam auf den Eingang zu traben. Er hatte es nicht anders erwartet. Schon einige hundert Meter vor der Engstelle tauchten hinter einigen Felsblöcken zwei Männer auf, in den Händen entsicherte Laser und in den Gesichtern einen Ausdruck, der nichts Gutes verhieß. „Das Betreten des Geländes ist verboten“, sagte eine der Wachen. „Bitte, kehren sie um!“ Charriba war kein Narr, er ließ sich auf keine Auseinandersetzung mit den Wachen ein. Gegen entsicherte Laser hatte nicht einmal er eine Chance, außerdem lauerte im Innern der Felsenfestung wahrscheinlich noch ein halbes Hundert weiterer Wachen. „Ich habe wichtige Informationen“, sagte Charriba. Er zügelte sein Pferd, das dicht vor der vordersten Wache stehenblieb. „Die Angelegenheit ist wichtig und sehr eilig.“ Die Wache führte das kleine Sprechfunkgerät an die Lippen. Während der Mann seinen Vorgesetzten befragte, nutzte Charriba die Zeit, sich die Wachen genauer anzusehen. Da sie nur dünne Sommeruniformen trugen, konnte er die Muskulatur eingehend studieren, und nach kurzer Zeit stand für Charriba fest, daß es sich nicht um gewöhnliche Wachen handeln konnte. Die Männer waren erkennbar in bester körperlicher Verfassung, durchtrainiert, wie man es nur von Eliteeinheiten erwarten konnte. Auch die Bewaffnung war hervorragend. Laser und Nadelwerfer entstammten den neuesten Produktionsserien. „Wir können Sie nicht einlassen“, wiederholte der Anführer der Posten, nachdem er das Gespräch mit seinem Vorgesetzten beendet hatte. „Bitte, verlassen Sie diese Gegend. Wir müßten sonst die Indianerpolizei verständigen!“ Charriba grinste und wischte den Staub von dem Abzeichen, das er über dem Herzen trug. „Bereits geschehen“, sagte er lächelnd. „Sagen Sie Ihrem Chef, es handelte sich um die Angelegenheit Warm Springs!“ Charribas Bemerkung war ein Schuß ins Blaue, trotzdem wohlgezielt. Er sagte sich, daß gleichgültig, was die Weißen so nervös gemacht hatte - Eliteeinheiten in jedem Fall informiert sein mußten, egal, zu welcher militärischen oder polizeilichen Organisation sie gehören mochten. Diesmal dauerte die Unterhaltung des Postens mit seinem Vorgesetzten nur wenige Augenblicke. Das Gesicht der Wache zeigte ehrliche Verwunderung. „Sie können passieren“, erklärte der Mann und winkte seine Kollegen beiseite. Charriba dankte mit einem Nicken und setzte sein Pferd in Bewegung. Langsam trabte er
durch die Schlucht. Unterwegs stellte er fest, daß dieser Eingang ohne Mühe selbst gegen eine kriegsstarke Division zu halten war; allerhand Aufwand für einen Talkessel, überlegte sich Charriba. Als er das Tal erreicht hatte, war die Überraschung vollständig. Charriba hatte mit vielem gerechnet, nicht aber damit, daß in diesem vergleichsweise kleinen und abgeschiedenen Tal ein Großreaktor stehen könnte, noch dazu von einem deutlich erkennbaren Energieschirm gesichert. Sein Verdacht, daß er unversehens einem großen Geheimnis auf die Spur gekommen war, verstärkte sich. „He, Winnetou!“ Charriba drehte sich etwas im Sattel. Er wußte nicht, ob der Ruf ihm gegolten hatte, aber außer ihm selbst und dem heranstürmenden Fremden war niemand zu sehen. „Bitte?“ fragte Charriba vorsichtig. Der Fremde erwies sich im Näherkommen als hochaufgeschossen und ziemlich dürr. Seine Frisur war ein undefinierbares Etwas aus Haaren, und seine Bewegungen erinnerten stark an neugeborene Fohlen. „Ich soll dich hier abholen, Winnetou“, sagte der Fremde. „Ich heiße übrigens nicht Old Shatterhand!“ Der Dürre begann zu kichern und ließ in Charriba den Verdacht aufkeimen, daß die Sicherheitsvorkehrungen des Tales nicht dafür gedacht waren, Fremde fernzuhalten, sondern vielmehr die Aufgabe hatten, die wahrscheinlich gefährlichsten Irren der Menschheit einzusperren. „Du bist der erste echte Indianer, den ich sehe“, eröffnete der Dürre, während er nach Charribas Pferd griff, um es zu führen. „Ich heiße Inky!“ „Charriba White Cloud“, stellte sich Charriba vor. Es galt, auf der Hut zu sein. Mit Irren hatte Charriba noch keine Erfahrungen gesammelt. „Was ist das hier für eine Anlage? Geheim?“ Inky nickte. „Falls man dir nicht alles erklärt hat, darf ich es einstweilen auch nicht tun. D. C. wird dich informieren, Washington D. C.“ Charribas Verwirrung wuchs. Unwillkürlich überprüfte er seine Waffen. Es würde schwer werden, aber vielleicht hatte er eine Chance, diesem Narrenhaus zu entkommen. Dann mußte Charriba feststellen, daß Inky ebenfalls bewaffnet war. Was war das für eine Klinik, in der die Patienten mit Lasern herumlaufen durften? Inky sah Charribas verwunderten Blick und grinste breit. „Keine Sorge, roter Bruder. Wir werden dich schon nicht fressen. Howgh, ich habe gesprochen, uff uff!“ Sie hatten inzwischen ein flaches Gebäude erreicht, offenbar die Zentrale der Klinik. Charriba hielt scharf nach einem Arzt Ausschau, der ihn von der Gegenwart des Irren befreien konnte, aber er fand niemand. Inky band das Pferd an einem Türgriff fest. „Komm mit!“ wurde Charriba aufgefordert. „Willst du den Schmöker unbedingt mitschleppen?“ Charriba nickte und ging vorsichtig hinter dem Dürren her. Im Innern des Gebäudes war es angenehm kühl. Einige Menschen gingen an Charriba vorbei. Als eine junge Frau - der weiße Kittel ließ auf eine Ärztin schließen - Inky freundlich zuwinkte, gab sich Charriba endgültig verloren. Er begriff gar nichts mehr. „Woher wissen Sie überhaupt von uns?“ Charriba atmete erleichtert auf. Die junge Frau, der er gegenübersaß, hatte die erste vernünftige Frage gestellt, seit Charriba das Tal betreten hatte. Die Frau war jung, ausgesprochen schön und rothaarig. Der magere Inky, dessen Erkrankung offenbar auch seine Manieren hinweggerafft hatte, flegelte sich in einem Sessel herum und nippte an einem Fruchtsaft, den er sich aus dem Kühlschrank geholt hatte. Anscheinend genossen die Kranken in dieser Klinik sehr viel
Freizügigkeit. „Ich bin früher einige Male in der Nähe gewesen, und dabei ist mir das Tal aufgefallen. Ich wußte allerdings nicht, daß es sich um eine Anstalt für Geisteskranke handelt, sonst hätte ich Sie nicht belästigt!“ „Geisteskranke?“ wiederholte die junge Frau verblüfft, dann drehte sie sich um. „Inky, was haben Sie mit unserem Besucher veranstaltet?“ Der Angesprochene zuckte mit den Schultern und erwiderte: „Was weiß ich? Wenn er diesen Eindruck hat, ist es nicht meine Schuld. Schließlich kenne ich mich hier noch nicht sehr gut aus. Sie müssen etwas Nachsicht mit einem vierhundert Jahre alten Mann haben, Chefin!“ Charriba grinste freudlos und kratzte sich hinter dem Ohr. Offenbar litt der Hagere an Größenwahn, vielleicht hielt er sich für Cagliostro. „Hat Ihr Besuch etwas mit diesem Buch zu tun?“ fragte die junge Frau nach einem verweisenden Kopfschütteln. Charriba wußte nicht recht, was er sagen sollte, dann entschloß er sich, das Theater mitzuspielen. Es schien ihm die einzige Möglichkeit zu sein, seinen Skalp zu retten. „In der Ruinenstadt Warm Springs fand ich diesen Sammelband alter Zeitungen. Die Ausgabe vom 14. 6. 1856 erscheint mir besonders wichtig!“ Er schlug den dickleibigen Band an der entsprechenden Stelle auf und schob den Wälzer über den Schreibtisch. Die junge Frau überflog den Text und zuckte dann mit den Schultern. „Ich finde daran nichts Bemerkenswertes“, sagte sie schließlich. „Ich sehe, daß in der Nähe von Warm Springs ein Siedlertreck von Indianern überfallen wurde.Über dreihundert Menschen sollen dabei umgekommen sein. Das ist gewiß bedauerlich, aber nicht sonderlich aufregend. Dergleichen soll damals ziemlich häufig geschehen sein.“ Charriba zeigte seine Zähne. „Sie irren sich“, widersprach er. „Stünde dort, ein Kommando von Weißen habe ein Indianerdorf überfallen und dreihundert Menschen getötet, dann wäre das eine Nachricht, die in diese Zeit passen würde. Derlei war damals üblich. Muß ich Sie daran erinnern, daß jede Auseinandersetzung zwischen Weißen und Indianern, bei denen mehr als zwanzig oder dreißig Weiße starben, in die Geschichte der USA eingegangen ist? Der Tod von 182 Texanern in der Missionsstation Alamo im Jahre 1836 ist zu einem Heldenmythos geworden, desgleichen die berühmte Schlacht am Little Bighom, bei der 246 Soldaten und Offiziere getötet wurden. Jeder amerikanische Schuljunge kennt diese Geschichten. Wären bei Warm Springs wirklich mehr als dreihundert Männer, Frauen und Kinder massakriert worden, würde dieses Gemetzel allgemein bekannt sein - vor allem bei unseren Leuten. Ich habe aber niemals etwas davon gehört.“ Die junge Frau leckte sich die Lippen. „Was hatten Sie in Warm Springs eigentlich zu suchen?“ wollte sie wissen. „Das müßte Ihnen doch bekannt sein“, antwortete Charriba verblüfft. „Erst als ich das Stichwort Warm Springs nannte, wurde ich in dieses Tal gelassen.“ „Wir haben vor einigen Stunden eine junge Frau aufgeriffen“, bemerkte Inky grinsend. „Sie war völlig erschöpft und erzählte uns, sie und ihre Familie seien bei Warm Springs von einer Horde Indianer überfallen worden. Ihr sei es gelungen zu entkommen, während ihre Familie verschleppt worden sei. Waren Sie das?“ Charriba nickte amüsiert. „Eine Sippe von Schnapsbrennern“, erklärte er. „Wir scheinen sie ganz hübsch erschreckt zu haben. Ich schlage vor, sie liefern die Frau aus, meine Kollegen erwarten sie bereits in Indiana City.“ „Und was ist nun mit Warm Springs?“ wiederholte die junge Frau ihre Frage. Charriba faßte die wenigen Informationen, die er hatte, in einem knappen Bericht zusammen. Ihm entging nicht, daß die Frau und der Hagere bedeutungsvolle Blicke tauschten. „Unsere Freunde sind wieder am Werk“, murmelte Inky schließlich. Die junge Frau nickte. Mit einem Knopfdruck schaltete sie das Video ein und wählte den Anschluß der Stadtpolizei von Chikago. Es dauerte nur Sekunden, bis die Verbindung hergestellt war. Mit einem
weiteren Knopfdruck ließ die junge Frau auf dem Bildschirm ein Symbol aufleuchten, das
Charriba nur einmal während seiner Ausbildung gezeigt worden war. Man hatte ihm erklärt,
daß er dem Benutzer dieses Symbols jede nur mögliche Unterstützung zu gewähren hatte.
„Oha!“ sagte der Gesprächspartner der jungen Frau. Er war sichtlich überrascht. „Was kann
ich für Sie tun?“
Wenige Minuten später wurde die Leitung wieder frei. Inky und die junge Frau blickten sich
erneut an, und Charriba begriff, warum sie so besorgt aussahen.
In den Grenzen der USA waren mittlerweile 5438 Personen spurlos verschwunden, mit jedem
Tag wurde die Zahl größer.
Die junge Frau rieb sich den linken Nasenflügel.
„Ist Tovar erreichbar?“ fragte sie. Inky verneinte.
„Er ist mit den Vorbereitungen für den nächsten Einsatz der Zeit-Arche beschäftigt. Wir
könnten ihn natürlich...“
„Die Zeit-Arche ist wichtiger“, wehrte die junge Frau ab. „Wollen Sie den Einsatz leiten,
Inky?“
„Chefin!“ stotterte der Hagere. „Was für einen Einsatz? Was haben Sie überhaupt vor?“
„Das liegt doch auf der Hand, Inky. Wir werden dieses Massaker verhindern, oder wollen Sie,
daß nach und nach die ganze Bevölkerung der Vereinigten Staaten verschwindet - zumindest
die ganze weiße Bevölkerung?“
Charriba sah auf.
Er begriff nicht ganz, worüber gesprochen wurde. Verschwinden der Weißen? Ganz Amerika,
von der Bucht von San Francisco bis zur Halbinsel Manhattan, nur für die Indianer?
Die junge Frau wandte sich an Charriba.
„Wollen Sie uns helfen? Wir brauchen im Augenblick jeden Mann, und Sie könnten für uns
besonders wichtig sein!“
Charriba hob abwehrend beide Hände.
„Ich weiß überhaupt noch nicht, was hier gespielt wird“, erklärte er.
„Inky, Sie werden es ihm erklären! Ich werde unterdessen unser Team zur Eile antreiben!“
„Warum so hastig, D. C. ?“
Die junge Frau lächelte verzerrt.
„Weil ich weiß, daß einer meiner Vorfahren in Ferrys Village geboren wurde, im Jahre 1856.
Ferrys Village liegt nur knapp achtzig Meilen von Warm Springs entfernt Wenn wir uns nicht
beeilen, werde ich bald ebenfalls verschwunden sein!“
Inky wurde leichenblaß.
„Komm mit, Winnetou“, stieß er hervor und faßte nach Charribas Ärmel. „Wir haben es
höllisch eilig!“
Erst nach einigen Stunden, in denen Inky unablässig erklärt und beschrieben hatte, wurde das
Bild für Charriba um einiges klarer.
Der Talkessel, in dem er sich aufhielt, wurde nicht von Irren und ihren Wärtern bevölkert,
sondern war das Hauptquartier einer Sonderabteilung der Polizei. Time-Squad nannte sich
diese Organisation - Zeit-Schwadron. Ursprünglich hatte ihre Aufgabe einmal darin
bestanden, Verbrechen zum Zeitpunkt des Geschehens zu beobachten und so Fälle
aufzuklären, die mit normalen polizeilichen Mitteln beim besten Willen nicht zu lösen w aren.
Im Laufe dieser Arbeit hatte sich dann zum Entsetzen aller Beteiligten herausgestellt, daß die
Time-Squad kein Monopol auf Zeitmaschinen besaß. Im Gegenteil: die Anlagen des Gegners
- mehr als diese kurze Beschreibung Gegner kannte man bei der Time-Squad noch nicht
waren leistungsfähiger, vor allem aber schien dieser Gegner seit geraumer Zeit damit
beschäftigt zu sein, die Geschichte der Menschheit nach eigenem Ermessen zu ändern. Daß
sich hinter diesen Aktionen ein langfristiger Plan verbarg, lag auf der Hand - nur wußte kein
Mitarbeiter der Time-Squad, wie dieser Plan aussah und welchem Ziel er dienen sollte. Bei
aller Perfektion und Einsatzfreude - die Time-Squad tappte nach wie vor im dunkeln. Noch
immer mußte sie in der Rolle des Reagierenden verharren, für eigene Aktionen fehlte ihr nicht nur die Kraft, sondern vor allem auch eine brauchbare Beschreibung des geheimnisvollen Gegners, dessen man sich bisher nur mit äußerster Mühe hatte erwehren können. Charriba hatte leicht den Kopf geschüttelt, als Inky mit seinen Horrorgeschichten herausgerückt war, den Berichten über den rätselhaften Zeit-Zauberer Valcarcel. Die bloße Nennung seines Namens reichte aus, um abgebrühten Agenten der Time-Squad die Haare zu Berge stehen zu lassen. „Ich bin mehr ein Freund handfester naturwissenschaftlicher Tatsachen“, hatte Charriba einmal bemerkt. Inkys Antwort war bezeichnend gewesen. „Ich hätte es selbst nicht geglaubt, wäre ich nicht dabei gewesen. Dieser Bursche Valcarcel hatte Fähigkeiten, die sich in das bekannte wissenschaftliche Weltbild einfach nicht einordnen lassen. Er tauchte überall auf, wo er uns stören konnte, in der Bronzezeit, im 17. Jahrhundert, vermutlich auch in der Neuzeit. Wenn er nicht vor unseren Augen gestorben wäre...“ Inky hatte sich bei diesen Worten umgesehen, als könne der Geheimnisvolle in jedem Augenblick auftauchen. „... wenn er nicht hier, in der Zentrale der Time-Squad, vor unseren Augen und den Objektiven der Kameras gestorben wäre, ich bin sicher, er würde heute noch sein Unwesen treiben, überall, zu jeder Zeit.“ Charriba hatte darauf nicht geantwortet, sondern weiter zugehört. Inky hatte von den Aktionen erzählt, an denen er teilgenommen hatte vom Camp im Amazonasdschungel, von der Station in der räumlichen und zeitlichen Nähe des Piratennests Port Royal, von den Geheimnissen der Atlanter, die Valcarcel in seinen Bann geschlagen hatte.“ „Alles sehr beeindruckend“, murmelte Charriba schließlich und nahm einen Schluck aus der Kaffeetasse. „Nur - worauf wollt ihr eigentlich hinaus?“ Inky zuckte mit den Schultern. „Wir wissen es selbst nicht“, gab er freimütig zu. „Irgend jemand, irgend etwas will uns ans Fell, aber wir haben nicht die leiseste Ahnung, wer dieser Jemand ist, und vor allem wisscn wir nicht, was er wirklich von uns will. Wir wissen nur, daß ein Pfeil auf uns zufliegt - aber wir kennen weder den Standort des Schützen noch wissen wir, auf welches Ziel dieser Pfeil gerichtet ist - falls du dieses Gleichnis akzeptierst.“ Charriba als exzellenter Bogenschütze hatte sofort begriffen. „Im Augenblick sieht es so aus, als versuche der Gegner, den Kampf zwischen Weißen und Indianern im Nachhinein noch zugunsten der Indianer ausgehen zu lassen. Was das. bedeutet, brauche ich dir wohl nicht zu sagen.“ Charriba grinste breit. „Keine Eisenbahnen“, sagte er. „Dafür aber wieder große Büffelherden. Keine Wolkenkratzer, aber viele belebte Teepees und Wickiups. Keine Ölbarone, sondern tapfere Krieger. Kein Weißer weit und breit, ein klarer, sauberer Himmel, die Flüsse gefüllt mit Fischen, in den Wäldern Wild in Hülle und Fülle...“ „... und Zahnschmerzen, Blinddarmentzündung, Hungersnöte und Naturkatastrophen!“ setzte Inky die Liste fort. „Du wirst mir vielleicht nicht glauben, aber wichtig ist in diesem Fall nicht Amerika - wichtig ist Europa. Europa wird seine religiösen Fanatiker nicht loswerden, es wird auf den Straßenräubern und Strichmädchen sitzenbleiben, aus denen sich später der BeinaheAdel der Ostküste rekrutierte. Wenn alle Auswanderer, die nach Amerika gefahren sind, in Europa bleiben müssen, wird der Kontinent förmlich explodieren. Es ist kein Zufall, daß die großen Auswanderungswellen nach Amerika zeitlich ziemlich genau mit den großen Umwälzungen in Europa zusammenfallen. Ich will nicht behaupten, daß der Überfall der Weißen auf Amerika und seine Bewohner gerechtfertigt war, aber was war in der Vergangenheit schon gerechtfertigt? Wichtig ist, daß eine Verhinderung der Besiedlung Amerikas durch Europäer die Weltgeschichte so einschneidend verändern wird, daß wir uns das Ergebnis dieser Veränderung gar nicht vorstellen können.“
Charriba stand auf und ging ans Fenster.
Im Hintergrund des Tales stand ein altes, zerfallenes Gemäuer. Es sah aus wie ein Tempel,
obwohl niemand zu sagen gewußt hätte, wer an diesem Fleck der Erde einen Tempel gebaut
haben könnte.
„Ihr wollt also, daß das Unrecht, das die Weißen meinem Volk angetan haben, bestehen
bleibt?“
Inky hob in einer hilflosen Geste die Schultern und ließ sie wieder fallen.
„Wir wollen, daß die Erde, daß die Menschheit bestehen bleibt!“ sagte er leise.
5. „Könnt ihr aufbrechen?“ Demeter Carol Washington, Chefin der Time-Squad und ebenso schön wie klug, hatte die Frage fast beiläufig gestellt. Sie trug, wie immer, wenn sie sich nur unter Mitarbeitern bewegte, Jeans und dazu ein weitgeschnittenes Baumwollhemd mit Karomuster. Inky sah sich um. Er konnte sicher sein, daß die Details stimmten. Die Männer sahen genauso aus, wie er die US-Cavalry aus zahlreichen Filmen kannte. Stark verfremdend wirkte allerdings die Zeitmaschine im Hintergrund des Raumes. Von den Projektorspitzen ging bereits ein sanftes Glühen aus, ein Zeichen, daß sie jederzeit funktionsbereit waren. Fünfzig Mann hatte die Time-Squad für diesen Einsatz abgestellt. Der eigentlichen Time-Squad gehörten allerdings nur drei Mann an: Inky, Joshua Slocum, wie immer mit Bart, und Maipo Rueda, der hünenhafte Schwarze mit den blendend weißen Zähnen. Die anderen siebenundvierzig Männer hatte eine Anfrage bei der Armee herbeieilen lassen. Die Männer trugen die Uniformen der US-Cavalry, ihre Ausweise waren hervorragend gefälscht selbst der 1856 amtierende Präsident der USA hätte seine gefälschte Unterschrift akzepterien müssen. Die Bewaffnung entsprach genau der Zeit, abgesehen von einigen kleinen „Verbesserungen“, die selbstverständlich nicht in die Hände der Zeitgenossen fallen durften. Echt waren die Pferde, die von der Indianerpolizei geliefert worden waren. „Wir sind fertig“, gab Inky bekannt. Charriba hatte inzwischen erfahren, daß der Hagere Anastasiu Immekeppel hieß, es aber vorzog, Inky genannt zu werden. Beide Namen fand Charriba gleichermaßen albern und merkwürdig klingend. Charriba war als einziger nicht in eine Kavallerieuniform gesteckt worden. Offiziell füngierte er als Indianer-Scout der Kavallerie, daher trug er indianische Kleidung, entsprechend war auch seine Bewaffnung. Der Auftrag der Gruppe hörte sich ziemlich einfach an. Es galt, die Zeitmaschine des Gegners zu finden, sie zu zerstören und so viele Gegner festzunehmen und in die Gegenwart zu schaffen. Neben der Abwendung aktueller Anschläge auf die Geschichte der Menschheit war es das vordringliche Problem der Time-Squad, endlich mehr über den Gegner aus dem Dunkel zu erfahren. Jeder Zeuge, jeder noch so kleine Hinweis konnte für die Menschheit lebenswichtig sein. „Viel Glück!“ wünschte D. C. halblaut. Zunächst brauchten die Männer weniger Glück als vielmehr Hilfe im Umgang mit den Pferden. Die Tiere, ohnehin verschreckt vom Anblick der blitzenden Maschinen und der Enge der Transporthalle, weigerten sich beharrlich, die Transportplattform der Zeitmaschine zu erklettern, obwohl man Bretter bereitgelegt hatte, die ihnen den Aufstieg erleichtern sollten. Es kostete die Männer viel Schweiß, bis sie endlich einen der Vierbeiner in die richtige Position gebracht hatten. Um die Tiere nicht noch mehr zu erschrecken, wurden sie einzeln in
die Halle geführt - der Anblick eines plötzlich verschwindenden Artgenossen hätte sie vollends verrückt gemacht. Unter den ersten, die die Reise in die Vergangenheit antraten, war Charriba. Er hatte sich sein eigenes Pferd kommen lassen, und der Graue erwies sich als erstaunlich nervenstark. Charriba sah fasziniert zu, wie sich das Zeitfeld verdichtete, dann wurde er schlagartig müde und schlief unversehens ein. * Unwillkürlich wollte er einen Blick auf die Uhr werfen, aber am linken Handgelenk saß nur der Talisman aus Bärenzähnen - aus eigener Beute. Im Jahre 1856 liefen Indianer nicht mit Quarzchronometern durch den Westen. Charriba wußte nicht, wie lange er geschlafen hatte; sein Gefühl sagte ihm, daß er höchstens für einige Sekunden das Bewußtsein verloren hatte. Er gab dem Grauen die Sporen und trabte vorwärts. Um ihn herum erstreckte sich weites Grasland, die Heimat der großen Büffelherden. Jetzt, Anno 1856, mußten die Herden noch Millionen zählen, in wenigen Jähren würden sie derartig dezimiert sein, daß man den Rest in einem großen Zoo hätte unterbringen können. In seiner Nähe sammelten sich die Männer der US-Cavalry. Charriba ritt zu der Gruppe hinüber. „Was für ein Datum haben wir heute?“ wollte er wissen. „Zwölfter Juni“, antwortete Joshua Slocum. „Viel Zeit haben wir nicht!“ „Ich werde mich umsehen“, erklärte Charriba. „Gebt auf eure Skalps acht!“ Slocum antwortete mit einem Fluch, während sich Charriba entfernte. Charriba brauchte nur einen Hügel zu überqueren, um die Gruppe aus den Augen zu verlieren. Die Weite der Landschaft nahm ihn auf. In der klaren Luft kreiste ein Adler, auf dem Boden zeichneten sich Bisonspuren ab. Charriba holte tief Luft. „Ich brauche nur...“, murmelte er. Er brauchte nur loszureiten, einige Wochen lang, dann konnte er sein Volk erreicht haben, die nördlichen Cheyennen. Man schrieb 1856, bis zum letzten Aufstand der Cheyennen unter Dull Knife blieben noch zweiundzwanzig Jahre. Charriba hatte in der Schule gut aufgepaßt, er verstand etwas von Chemie, eine Winchester hätte er mit verbundenen Augen auseinandernehmen und wieder zusammensetzen können. Es lag einzig bei ihm selbst. Er, Charriba White Cloud, hatte zu entscheiden. Er hatte es in der Hand, ein großer, berühmter Häuptling zu werden, mindestens so berühmt und gefürchtet wie Tatanka Yotanka, den die Weißen Sitting Bull nannten, wie Grazy Horse, Red Cloud, Roman Nose, Tall Bull und wie sie alle hießen, die ihr Leben lang gegen die weißen Landräuber gekämpft und zuletzt immer verloren hatten. Cochise vielleicht ausgenommen. In fünf Jahren würde der große Krieg zwischen den Weißen Männern entbrennen, Zeit genug, um einen Aufstand ins Leben zu rufen, der den Weißen Mann dahin zurückjagen würde, woher er gekommen war. „Träume“, murmelte Charriba. Der Graue trabte ohne Führung einfach weiter. Er konnte sich auch dem rätselhaften Gegner der Time-Squad anschließen. Im Lager des Feindes würde man sich sicher über einen Überläufer freuen. Angesichts der offenkundigen Angst, die die Time-Squad vor diesem Gegner hatte, ließ sich abzählen, über welche Machtmittel dieser Gegner gebot. Es fragte sich nur, ob er daran interessiert war, die Herrschaft des Weißen Mannes über Amerika durch eine Herrschaft der Indianer zu ersetzen. Charriba schreckte hoch. Obwohl er seinen Gedanken nachgehangen hatte, war nichts seiner Aufmerksamkeit entgangen. In weiter Ferne hatte sich etwas bewegt. Rasch ritt Charriba in eine Mulde und
suchte Deckung. „Der Treck!“ murmelte er. Er versuchte, sich ein Bild der Landschaft zu machen, überlegte, wo er selbst stand und wo Warm Springs liegen konnte. Nach seiner Schätzung mußte die Bewegung von dem Wagenzug ausgegangen sein, der wenn die Time-Squad nicht half der sicheren Vernichtung entgegenzog. Dreihundert Männer, Frauen und Kinder, die ahnungslos die Prärie durchquerten. Charriba entschloß sich, den Zug auszukundschaften. Es war wichtig, festzustellen, wie die Siedler bewaffnet waren, von welchem Schlag die Menschen waren, die durch das Land zogen. Vielleicht genügte eine einfache Warnung, um das Massaker abzuwenden. Charriba ritt einen weiten Bogen. Er wollte verhindern, daß der Trupp der Time-Squad frühzeitig bekannt wurde. Vor allem brauchte die Time-Squad-Expedition Zeit, um sich zurechtzufinden und den Peilsender aufzubauen, der ihnen die Rückkehr in die Realzeit Kichern sollte. Als er noch etwas mehr als eine Meile von den Siedler entfernt war, zeigte sich Charriba. Es war ein beachtlicher Treck. Charriba zählte mehr als fünfzig Conestogas, von schwerfälligen, aber zuverlässigen Ochsen gezogen. Der Treck wurde förmlich umschwirrt von Reitern, die den Zug gegen Überfälle sichern sollten. Daß Charriba ungesehen so nah hatte kommen können, stellte den Wächtern ein schlechtes Zeugnis aus. Sehr langsam ritt Charriba auf die Kolonne zu. Dennoch sorgte er für beträchtliche Aufregung. Der ganze Zug kam ins Stocken, die Reiter schwärmten aus. Der Führer des Trecks galoppierte auf Charriba zu, die Mündung seines Gewehrs zielte auf Charribas Brust. Charriba hob die Hand, um zu zeigen, daß er in friedlicher Absicht kam. Dennoch ließen die herangaloppierenden Männer ihre Waffen nicht sinken. Sie zügelten vor Charriba ihre Pferde. Die Tiere sahen müde aus. „Was willst du hier, Rothaut?“ sagte der Führer. „Ich bin Armee-Scout“, erklärte Charriba ruhig. Er sah sich die Männer an, die ihm inzwischen eingekreist hatten. Das Bild entsprach dem, was er erwartet hatte. Die Anführer und Leiter des Trecks waren Männer, die sich eine Zeitlang im Westen herumgetrieben hatten und jetzt versuchten, aus ihren dürftigen Kenntnissen Kapital zu schlagen. Glücksritter, Gesindel, Strauchdiebe, besser konnte man sie nicht bezeichnen. Die Mehrzahl der Siedler war nicht aus Abenteuerlust in den Westen gezogen. Sie hatten ihre wenigen Habseligkeiten gesammelt und auf den Wagen gepackt, um dem Elend in den Städten des Ostens zu entgehen. Man hatte ihnen lange genug erklärt, sie brauchten den Indianern das Land nur abzunehmen, um künftig ein Leben in Reichtum führen zu können. Typisch für diesen Menschenschlag war der junge Mann an der Seite des Treckführers. Er musterte Charriba mit unverhohlener Neugierde, offenbar war Charriba der erste Indianer, den er - sozusagen in freier Wildbahn - zu Gesicht bekam. „Das kann jeder behaupten!“ brummte der Führer des Trecks. Charriba deutete wortlos auf das Abzeichen an seiner Brust. Der Treckführer richtete sich im Sattel auf, beugte sich nach vorn und faßte das Blechschild schärfer ins Auge. In dem Augenblick, in dem sich die Augen des jungen Siedlers schreckerfüllt weiteten und er den Abzug seines Gewehrs fester faßte, wußte Charriba, daß er einen Fehler gemacht hatte. „Sehen Sie, Chet!“ rief der junge Mann. „Sehen Sie nur!“ Er deutete auf den Skalp an Charribas Gürtel. Charriba hatte vergessen, die angebliche Trophäe abzunehmen. Sie war nur dazu bestimmt, auf Weiße, die im Indianerstaat herumstreunten, Eindruck zu machen. Charriba wußte, daß man ihm unmöglich glauben würde, daß es sich um eine synthetische Perücke handelte und nicht um die Kopfhaut eines langhaarigen blonden Mädchens. „Nimm die Hände in die Höhe!“ zischte der Anführer. „Bei der ersten falschen Bewegung
drücke ich ab. Nehmt ihm die Waffen ab.“ „Was wollen Sie mit ihm machen, Chet?“ fragte der junge Siedler. Immer wieder starrte er auf Charribas Gürtel. „Wahrscheinlich haben sich hier noch andere Rothäute versteckt“, sagte Chet. „Dieser Bursche sollte uns nur auskundschaften. Wir werden ihn fragen, wo er seine Kumpane versteckt hat.“ Zu Charribas Erleichterung übernahm der junge Mann die Arbeit, ihn zu fesseln, und er stellte sich nicht sehr geschickt dabei an. Charriba war sicher, daß er sich würde befreien können, vorausgesetzt, er fand Zeit und Gelegenheit dazu. Man nahm ihm die Waffen ab und stieß ihn vom Pferd. Ein Strick wurde um seinen Hals geschlungen, dann setzten sich die Reiter in Bewegung. Charriba mußte laufen und dabei höllisch aufpassen, wenn er nicht stolpern und erdrosselt werden wollte. Charriba hatte mit dieser Aufgabe mehr als genug zu tun, noch fand er nicht die Zeit, die Siedler für dieses Vorgehen zu hassen. Erst als der stillstehende Treck erreicht war, konnte er nach Luft schnappen. „Es sind Indianer in der Nähe!“ rief der Leiter des Trecks. „Bildet eine Wagenburg. Wir bleiben hier, bis wir diesen Burschen verhört haben. Es ist ohnehin schon spät genug!“ Während die Siedler ihre Wagen zu einem Kreis zusammenstellten, wurde Charriba immer wieder von feindseligen Blicken getroffen. Offenbar nahmen die Menschen Charriba übel, daß er überhaupt existierte. Charriba war historisch bewandert genug, um sich dieses Gefühl einigermaßen erklären zu können. Zu Hunderttausenden hatten die Menschen Europa verlassen, um der Not und dem Elend in ihrer Heimat zu entgehen. In Amerika angekommen, hatten sie zu ihrem Leidwesen feststellen müssen, daß ihre Erwartungen tief enttäuscht wurden. Die Straßen in der Neuen Welt waren nicht mit Gold gepflastert, die Straßen in der Neuen Welt waren in der Mehrzahl überhaupt nicht gepflastert, und wenn jemand dazu ausersehen war, diese Straßen zu pflastern, dann waren dies die Neuankömmlinge. Was Wunder, daß die meisten nach anderen Wegen suchten, den erträumten Reichtum zu gewinnen. Die Bewohner der Ostküste hatten ihnen vorgemacht, wie man wohlhabend wurde - durch rücksichtlose Ausplünderung der Bodenschätze und konsequenten Vertragsbruch gegenüber den Bewohnern der begehrten Landstriche. Die Indianer der Ostküste existierten nicht mehr, sie waren größtenteils ausgerottet, ihr Land hatte neue Besitzer. Für dieses Problem gab es nur eine Lösung - den Westen. Nur dort gab es noch Gold, Land und Indianer. In den großen Städten an der Ostküste war natürlich nie davon geredet worden, wie man den Indianern ihr Land abgenommen hatte. Um so größer mußte die Erbitterung der westwärts Ziehenden sein, daß die dort lebenden Indianer sich nicht gutwillig ausplündern und ausrotten ließen. Als die Wagenburg fertig war, wurde Charriba an ein Wagenrad gebunden. Wieder war es der junge Mann, der diese Arbeit ausführte und dabei - zu Charribas Vorteil - einige Fehler machte. Die Siedler versammelten sich im Innenraum der Wagenburg, von den Wachen abgesehen, die den Horizont nach Indianerhorden absuchten. Charriba versuchte zu schätzen, wie spät es war. Er kam zu dem Ergebnis, daß es in etwa zwei Stunden finster sein würde, die beste Voraussetzung, um unentdeckt fliehen zu können. Einstweilen aber konnte von Flucht keine Rede sein. Während die Frauen im Innern der Wagenburg Feuer anzündeten - so groß und rauchentwickelnd, daß jeder Indianer im Umkreis von fünf Meilen alarmiert werden mußte -, näherte sich der Führer des Trecks mit einigen anderen Männern dem Gefangenen. Chets Begleiter machten den gleichen verrohten Eindruck wie der Leiter des Siedlerzugs. In ihren Gesichtern spiegelte sich die Geisteshaltung, die zwölf Jahre später General Philip
Sheridan in einer Bermerkung zusammenfassen würde, die dann zum amerikanischen Sprichtwort wurde: Nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer. „Nun zu dir, Rothaut“, sagte Chet und stieß Charriba mit der Fußspitze an. „Was hast du hier zu suchen? Ich empfehle dir, nicht zu lügen, sonst wirst du mit meinem Ochsenziemer Bekanntschaft machen!“ Chet hielt den Stiel der Peitsche in der Hand. Charriba hatte nie einen Ochsenziemer in Aktion gesehen, aber er wußte, daß ein Schlag damit in der Lage war, einem Mahn ein pfundschweres Stück Fleisch aus dem Leib zu reißen. „Ich sagte bereits, daß ich Scout bei einer Abteilung der US-Cavalry bin. Wir haben in Erfahrung gebracht, daß ein Treck überfallen werden soll. Ich bin losgeritten, um diesen Treck zu suchen.“ Charriba schwieg einen Augenblick lang, dann setzte er hinzu: „Es scheint, als hätte ich diesen schutzbedürftigen Treck nun auch gefunden!“ „Wer hier Schutz braucht, wird sich noch zeigen!“ brüllte Chet, der den Spott sehr wohl verstanden hatte. Er versetzte Charriba einen Tritt in die Seite und freute sich sichtlich, als sich der Gefangene vor Schmerz zusammenkrümmte. „Wo stecken deine verlausten Brüder? Wann wollt ihr über uns herfallen? Rede, Rothaut!“ Charriba schnappte nach Luft. Der Fußtritt hatte eine Niere getroffen, und der Schmerz hatte Charriba buchstäblich den Atem genommen. Charriba spürte, wie der Schmerz nachließ und gleichzeitig der Haß in ihm aufkeimte. Es zuckte ihm in den Fingern, diesem brutalen Schinder das Messer in den Leib zu rennen. „Was kann ich tun, um Sie zu überzeugen?“ ächzte Charriba. „Nichts!“ antwortete Chet lachend. Er holte zu einem Schlag mit dem Ochsenziemer aus, aber einer seiner Gefährten fiel ihm in den Arm. „Laß das, Chet“, wandte er ein. „Wenn er wirklich ein Scout für die Armee ist, werden wir seine Hilfe brauchen. Wenn sein Offizier es uns übelnimmt, daß wir ihn verprügelt haben, kann das für uns gefährlich werden!“ „Ach was!“ wehrte Chet ab, aber er ließ die Peitsche wieder sinken. Charriba atmete erleichtert auf. Seine Erleichterung hielt allerdings nicht lange an. Unversehens schlug sie in Ernüchterung um. Aus dem Hintergrund gellte ein Schrei über den Lagerplatz. „Indianer!“
6. Chet ließ sofort die Peitsche fallen und rannte quer über den freien Platz zwischen den Planwagen. „Wo?“ rief er. „Wer hat sie gesehen?“ „Dort hinten!“ gellte eine Frauenstimme. „Es müssen Hunderte sein!“ Charriba hielt diese Angabe für stark übertrieben. Er sah sich hastig um. Die Siedler waren unglaublich leichtsinnig. Anstatt den gesamten Umkreis des Lagers zu decken, hatten sie sich in der Nähe der noch immer hysterisch kreischenden Frau zusammengeballt. Charriba wußte, daß ihm nur wenig Zeit blieb. Chet war zweifelsohne ein rücksichtsloser Leuteschinder, aber nicht dumm genug, um nicht sehr bald den schweren Fehler seiner Schutzbefohlenen zu bemerken. Charriba verblieb also nur sehr wenig Zeit, wenn er sich noch vor Einbruch der Nacht absetzen wollte. Charriba zerrte an seinen Fesseln. Die Stricke saßen nicht sonderlich stramm, zudem hatte der junge Mann die Handgelenke einfach umwickelt, anstatt die Schnur zwischen den Gelenken
kreuzweise zu führen. Während er noch mit den Fesseln zu tun hatte, sah sich Charriba um. Sein Grauer stand außerhalb der Wagenburg, behängt mit allen Waffen Charribas. Günstiger hätten die Siedler das Pferd gar nicht plazieren können. Noch immer erklang von der anderen Seite der Wagenburg das Gekeife und Gezeter der Frauen. Für Charriba war der schwierigste Teil seiner Befreiung gekommen. Die Hände hatte man ihm auf dem Rücken zusammengebunden, diese Befreiung war also nicht zu sehen. Wenn er aber auch die stramm sitzenden Fuß fesseln lösen wollte, mußte er sich weit vorbeugen. „Ich werde mit ihnen reden, Leute!“ Das war Chets Stimme, stellte Charriba fest. Also gab es dort wirklich Indianer, nicht nur Hirngespinste der Siedler, denen die Phantasie durchgegangen war. Charriba beugte sich vor. Der Knoten an den Fußgelenken saß fest. Aber Charriba brauchte nur drei Sekunden, dann waren seine Beine frei. Geräuschlos kroch er unter den Wagen, an dessen Rad man ihn gebunden hatte. „Ruhig, Grauer!“ sagte er leise. Noch einmal blickte er sich um, gerade rechtzeitig, um einen Siedler zu sehen, der sein Gewehr hob. Charribas Flucht war entdeckt worden. Sofort ließ Charriba sich fallen. Er sah noch das Mündungsfeuer, dann hörte er die Bleikugel über seinen Kopf hinwegpfeifen. „Hierher, Leute, die Rothaut will verschwinden!“ brüllte der Siedler. Mit seinem Gewehr brauchte er einige Zeit, um einen zweiten Schuß abgeben zu können. Für Charriba blieb genügend Zeit, sich auf dem Grauen zu schwingen und ihm die Fersen spüren zu lassen. Höhnisch winkend sprengte Charriba davon. Noch im Angaloppieren versah er sich wieder mit seinen Waffen, dann ritt er in die allmählich immer dichter werdende Dämmerung. „Das wäre überstanden“, murmelte er zufrieden. Sein Haß auf die Siedler war verschwunden. Die meisten von ihnen waren auf das, was ihnen bevorstand, derart erbärmlich schlecht vorbereitet, daß sie Charriba fast schon leid taten. Kein Wunder, daß sie alle umgekommen waren, als die Indianer über sie herfielen. Charriba grinste sekundenlang. Für ihn lag die Vernichtung des Siedlertrecks in der Vergangenheit, jedenfalls in seiner normalen Zeit. In dieser Zeit standen ihm und den Siedlern dieser Überfall noch bevor. Charriba machte amüsiert die gleiche Feststellung, die vor ihm schon alle anderen Mitarbeiter der Time-Squad gemacht hatten - den Problemen einer Zeitreise war die Grammatik einfach nicht gewachsen. Weit hinter sich hörte Charriba die Verfolger schreien und rufen. Ab und zu fiel auch ein Schuß. Charriba ließ sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen. Es würde bald dunkel werden, und dann wäre nur noch ein erstklassiger indianischer Fährtensucher in der Lage gewesen, Charribas Spur aufzunehmen und zu verfolgen. Es war ungeheuer leichtsinnig von den Siedlern, ihm in der immer stärker werdenden Dämmerung ein Jagdkommando hinterherzuschicken. Charriba hätte nur warten müssen, bis ihm die Gruppe in die Reichweite seiner Pfeile lief, dann hätte er einen Mann nach dem anderen ohne großes Risiko für sich selbst abtun können. Charriba sah sich um. Die Dunkelheit, die sich langsam über die Prärie zu senken begann, half ihm zwar, seine Verfolger loszuwerden, gleichzeitig aber erschwerte sie ihm die Rückkehr zu den Freunden von der Time-Squad. Charriba hatte sich so über seine Selbstbefreiung gefreut, daß er nicht genug auf die Richtung geachtet hatte, in der er geflohen war. Das, was er von der Landschaft noch zu erkennen glaubte, verwirrte ihn vollends. Er fand sich einfach nicht mehr zurecht. Charriba fluchte leise. Die Tatsache, daß er völlig die Orientierung verloren hatte, war ihm peinlich. Einem erfahrenen Indianer-Polizisten hätte dergleichen nicht passieren dürfen. „Es hat keinen Sinn“, stellte er schließlich halblaut fest. Er brachte den Grauen zum Stehen, schwang sich aus dem Sattel, knüpfte die Decke hinter dem Sattel los und hobbelte dann den Grauen an. Charriba wickelte sich in die Decke und streckte sich auf dem Boden aus. Nach kurzer Zeit
war er fest eingeschlafen. *
Er erwachte, weil ihm seine Nase einen Geruch meldete, der in dieser Umgebung nichts zu suchen hatte. Am Tag des Aufbruchs hatte Charriba noch ausgiebig geduscht, es konnte also schlimmstenfalls nach Pferd, Leder und Schweiß riechen - niemals aber nach ranzig gewordenem Fett. Minutenlang blieb Charriba liegen und spielte den Schläfer. Dabei hielt er die Augen geschlossen und konzentrierte sich vielmehr auf das, was seine Ohren auffingen. Die Besucher bewegten sich außerordentlich leise, also benutzten sie Mokassins. Indianer, sagte sich Charriba. Darauf ließ schon der Geruch schließen. Die Kriegsbemalung wurde mit Fett auf die Haut gemalt. Charriba versuchte herauszufinden, wieviele Artgenossen ihn im Schlaf überrascht hatten. Nach den Geräuschen, die die Schritte machten, schätzte er die Zahl auf drei. Mit drei Mann konnte es Charriba zur Not aufnehmen. In dieser Zeit wußte man noch nichts von asiatischen Kampfsportarten, die einen Mann befähigten, auch ohne Waffen mit mehreren Gegnern fertig zu werden. Charriba entschloß sich, zu handeln. Er sprang in die Höhe. Es mußte noch ein vierter Mann dagewesen sein, wurde ihm klar, als er langsam wieder zu sich kam. Er konnte sich noch schwach daran erinnern, daß etwas schmerzhaft Hartes mit seinem Hinterkopf kollidiert war. Jetzt schienen in diesem Körperteil tausend kleine Teufel einen wilden Kriegstanz aufzuführen. Charriba hatte gelernt, Schmerzempfindungen zu unterdrücken, dennoch tat ihm der Schädel scheußlich weh. „Er kommt zu sich!“ Jetzt wußte Charriba, woran er war. Die Männer, die ihn überrascht und - wie ihm der Druck an Handund Fußgelenken bewies - gefesselt hatten, gehörten zum Stamm der Comanchen. Es waren die gefurchtesten Indianer, die je die Prärien bevölkert hatten. In einem zweihundertjährigen Ringen hatten sie es fertiggebracht, die vordringenden spanischen Eroberer nicht nur aufzuhalten, sondern sie auch über den Rio Grande nach Süden zurückzuwerfen. In dem Zeitungsartikel war nie erwähnt worden, welcher Indianerstamm den Treck überfallen hatte, und gerade in diesem Bereich der USA überschnitten sich die Gründe einiger Stämme. Comanchen also, überlegte sich Charriba. Das würde die Sache entschieden schwieriger machen. Die Comanchen galten bei ihren Zeitgenossen, die Weißen eingeschlossen, als die besten Reiter der Welt. Früher als jeder andere Indianerstamm hatten sie das Pferd kennengelernt und den zeitlichen Vorsprung zu nutzen verstanden. Charriba öffnete die Augen und blickte sich um. Auf den vier Gesichtern, die auf ihn herabsahen, stand Verachtung geschrieben, Verachtung für einen Mann, der sein Volk im Stich ließ, um dem Feind zu helfen und für ihn zu arbeiten. „Verräter!“ knurrte einer der Männer. Charriba stand langsam auf. Diesmal hatte man ihn geschickter gefesselt. Er allein würde die Stricke nicht lösen können. „Wer bist du, und was willst du hier?“ lautete die knappe Frage. Charriba bewegte keine Miene. Was hätte er auf diese Frage auch antworten sollen? Wie könnte er seinen Artgenossen seine Rolle und seinen Auftrag erklären? „Du schweigst, gut“, sagte einer der Männer. „Aber du wirst auch reden. Bald!“ Sie führten Charribas Pferd heran und banden ihn darauf fest. Dann ging es in scharfem Tempo nach Süden.
Charriba zählte mehr als vierhundert Krieger, wenn man die jungen Männer und die Alten
mitrechnete. Bewaffnet waren die Krieger erbärmlich, zum größten Teil noch mit Pfeil und
Bogen. Wie sie damit den Siedlertreck bezwingen würden, war für Charriba ein Rätsel.
Im Lager herrschte einiges Treiben. Die Männer waren damit beschäftigt, ihre Waffen zu
reparieren, während die Frauen Wasser schleppten, kochten, Kleidung herstellten - ihnen fiel
der Großteil der Arbeit zu. Charriba wüßte, daß sich daran im Laufe der Jahrhunderte nichts
geändert hatte. Die modernen, freilebenden Indianer hielten sich auch in diesem Punkt an die
Bräuche der Vorfahren, mit Zustimmung ihrer Frauen, merkwürdigerweise.
„Ist das alles?“ erkundigte sich Charriba beiläufig, als der kleine Trupp in das Lager geritten
kam.
Zwischen den Zelten kamen Kinder und Hunde hervorgeschossen, kreisten die Reiter ein,
wurden jedoch mit Fußtritten zurückgejagt.
Aus einem der Zelte trat eine Frau mittleren Alters, eine Weiße. Sie sah Charriba aufmerksam
an, entdeckte das Abzeichen auf seiner Brust und starrte darauf. Sekundenlang dachte die
Frau nach, dann schüttelte sie leise den Kopf und nahm ihre Arbeit wieder auf. Hinter ihr
krabbelte ein kleiner Junge mit bemerkenswert hellem Haar über den Boden und warf immer
wieder eine Handvoll Staub in die Höhe, um sich an der davontreibenden Wolke zu
belustigen.
Charriba hatte einige Zeit unter Comanchen gelebt, er verstand ihre Sprache recht gut, konnte
sich aber selbst in ihr nur unbeholfen ausdrücken. Seine Wächter führten ihn zu einem Zelt,
dessen Schmuck verriet, daß es dem Häuptling gehören mußte.
Die Krieger ließen sich neben dem Zelt auf dem Boden nieder; mit Lanzenstößen bedeuteten
sie Charriba, es ihnen gleichzutun. Charriba zuckte mit den Schultern und gehorchte.
Widerstand war zwecklos, das wußte er.
Der Häuptling der Comanchen war ein beeindruckender Mann, groß und muskulös, die Brust
mit ehrenvollen Narben bedeckt.
Der Häuptling faßte Charriba ins Auge.
„Man nennt mich Seven Bears“, erklärte er ruhig. „Wie wirst du genannt?“
„Charriba White Cloud!“ antwortete der Gefangene. „Zu welchem Volk gehörst du?
Cheyenne?“
Charriba deutete mit einer Kopfbewegung auf die Landschaft ringsum.
„Meine Heimat ist die Prärie“, erklärte er. „Ich gehöre mir selbst, keinem Volk!“
Seven Bears griff nach Charribas Abzeichen.
„Ist das der Beweis dafür, daß du keinem Volk angehörst?“ erkundigte sich der Häuptling mit
hörbarem Spott. „Vielleicht will dich kein Stamm zu den Seinen zählen?“
„Mag sein!“ gab Charriba zur Antwort.
„Was suchst du im Gebiet der Comanchen?“ erkundigte sich der Häuptling. „Sollst du für die
Blauröcke die Wege auskundschaften, auf denen sie uns überfallen können?“
„Ich suche nach einem Weg, einen Treck durch diese Gebiet zu leiten“, erklärte Charriba. Das
entsprach zwar nicht ganz den Tatsachen, kam aber der Wahrheit ziemlich nahe. „Es sind
Siedler, die nach Kalifornien wollen.“
„Um dort dem roten Mann das Land wegzunehmen“, sagte Seven Bears. „Kennt Charriba den
Weißen Mann so wenig, daß er für ihn arbeitet, um sein Volk zu schädigen?“
Charriba schwieg, aber Seven Bears sah eine Gelegenheit, sich dem Gefangenen und seinen
eigenen Leuten gegenüber zu präsentieren. Er fuhr fort: „Siehe, bevor der Weiße Mann kam,
lebten Indianer hier. Der Weiße Mann kam und brauchte Hilfe. Sie wurde ihm gewährt. Er
brauchte Land, es wurde ihm gegeben. In Verträgen wurde bestimmt, welches Land dem
Weißen Mann und welches dem Roten Mann gehören sollte. Denn wir wollten in Frieden mit
dem Weißen Mann leben. Also wurden Verträge mit den Weißen geschlossen.
Die Narrangaset haben Verträge mit dem Weißen abgeschlossen, die Irokesen, die Seminolen,
die Illionois - sie alle haben Verträge abgeschlossen, die gelten sollen, solange der Wind weht
und das Wasser fließt. Der Wind weht, und das Wasser fließt. Also müssen diese Verträge noch gelten. Aber wenn sie gelten, wenn sie nicht gebrochen worden sind, wie kommt es dann, daß es keine Irokesen mehr gibt, und keine Narrangaset, keine Illinois? Wie kann es geschehen, daß es jenseits des Vaters aller Ströme keine Indianer mehr gibt, nur noch Weiße? Ich werde es euch sagen: Es ist so, weil der Weiße Mann die Verträge gebrochen hat. Er hat sie alle gebrochen, den ersten, den zweiten, alle, keinen ausgenommen. Ein Vertrag mit dem Weißen Mann ist das Leder nicht wert, auf das er geschrieben wird. Er ist selbst dann nichts wert, wenn der Große Weiße Vater selbst sein Wort verpfändet hat. Kein Vertrag mit dem Weißen Mann ist etwas wert. Und jetzt sind schon wieder Weiße Männer gekommen. Sie sagen, sie wollen unser Land nur durchqueren, aber wir dürfen ihnen nicht glauben. Wenn der Schwur des Großen Weißen Vaters nichts wert ist, was ist dann das einfache Wort eines Weißen wert? Nichts. Sie werden uns belügen und versuchen, Verträge mit uns zu machen. Sie werden warten und dann die Verträge brechen, wie bisher alle Verträge gebrochen wurden...“ „Du wiederholst dich, Seven Bears“, warf Charriba ein. Der Häuptling warf ihm einen mörderischen Blick zu, aber Charribas kurze Bemerkung hatte genügt. Die Zuhörer, die dem Häuptling fasziniert gelauscht hatten, wandten sich ab und kümmerten sich wieder um ihre Arbeiten. „Du hast gut gesprochen, Seven Bears“, sagte Charriba ruhig. „Ich weiß“, entgegnete Seven Bears mürrisch. „Die Wahrheit sagt sich immer am leichtesten und klingt am besten.“ „Was hast du vor, Seven Bears? Willst du dein Volk vernichten? Was, glaubst du, wird geschehen, wenn ihr den Treck überfällt? Der Weiße Mann wird den Tod der Siedler rächen, hundertfach!“ Seven Bears lachte verächtlich. „Mögen sie kommen, die Blauröcke, die deine Freunde sind. Wir werden uns ihre Gesänge anhören, wenn sie am Pfahl braten!“ „Sei kein Narr“, beharrte Charriba. „Es gibt mehr Weiße Männer als Sterne am Himmel. Sie werden euch alle töten, die Männer, die Frauen und auch die Kinder!“ Seven Bears beugte sich etwas vor. „Das sagst du, der du ihnen hilfst? Aber du hast recht, wir werden verlieren in diesem Kampf. Doch ich frage dich, Charriba, ob du noch ein Sohn deines Volkes bist? Was ist dir lieber? Möchtest du im Straßengraben enden, zerlumpt, heruntergekommen, verhungert aber glücklich betrunken? Möchtest du, daß die Männer ihre Weiber und Töchter für etwas Schnaps den Weißen überlassen, die sie anschließend wegwerfen wie leere Flaschen? Möchtest du unsere Kinder in den Straßen betteln sehen? Oder möchtest du, daß wir kämpfen? Daß wir so viele Weiße töten, wie wir können, daß wir ihnen Angst einjagen, daß wir sie zwingen, uns zu töten. Was soll man in vielen, vielen Jahren vom Roten Mann sagen? Er ist krepiert wie ein räudiger Köter im Abfall? Oder soll man sagen: Der Weiße Mann hatte so viel Angst vor den Comanchen, daß er sogar ihre Frauen und Kinder aus Angst erschlagen mußte?“ Charriba schwieg, weil es auf diese Frage nur eine Antwort gab. Seven Bears hatte recht, die Jahre der Comanchen waren in jedem Fall gezählt. Und die Aussicht, jahrhundertelang warten zu müssen, bis es endlich einen Staat gab, in dem die Indianer frei leben durften, nach ihren eigenen Gesetzen und Bräuchen, war für Seven Bears und seine Leute gewiß nicht tröstlich. Charriba knirschte unmerklich mit den Zähnen. Er verfluchte den Augenblick, in dem er sich hatte breitschlagen lassen, als Scout diese Zeitexpedition zu begleiten. Er hatte nicht im entferntesten daran gedacht, daß ihm diese Aufgabe einen sochen Gewissenskonflikt bescheren würde.
Über das Gesicht von Seven Bears glitt ein Lächeln.
„Du gefällst mir, Charriba, obwohl du ein Verrater bist an deinem Volk. Darum will ich dir
auch sagen, daß wir diesen Krieg nicht verlieren werden. Diesmal ist der Große Geist auf
unserer Seite.“
„Das hörte sich bisher jedesmal so an“, murmelte Charriba betroffen. Er hatte rasch bemerkt,
daß Seven Bears ein viel zu intelligenter Mann war, um sich irgendwelchen Illusionen
hinzugeben. Das hatte überdeutlich seine Lageanalyse ergeben; Seven Bears wußte, daß sein
Volk gegen die Übermacht der Weißen keine Chance hatte. Woher bezog er dann diese
Zuversicht, die in seinem Gesicht zu erkennen war? Charriba konnte sich nicht vorstellen, daß
Seven Bears an Medizinmänner glaubte, an ihre psychologischen Fähigkeiten vielleicht, an
ihre verblüffende Kenntnis sämtlicher Heilkräuter - aber nicht daran, daß sie wirklich mit
überirdischen Mächten in Verbindung standen. , „Der Große Geist mag immer wahr reden“,
versetzte Charriba. „Aber Medizinmänner... ?“
Seven Bears zeigte sich amüsiert. „Dieser ist anders als alle anderen Medizinmänner“,
beteuerte er. „Du wirst es selbst erleben. Noch nie konnten wir Gefangene so lange martern,
er läßt sie in einer einzigen Nacht wieder gesunden, so daß die Marter Tag um Tag fortgesetzt
werden kann.“
Was der Blick von Seven Bears bedeutete, war Charriba sofort klar. Er besagte, daß
selbstverständlich auch Charriba in den Genuß der Kenntnisse dieses Medizinmannes
kommen würde.
Seven Bears winkte einen Knaben heran und gab ihm mit leiser Stimme den Befehl, den
Medizinmann herbeizaholen. Der Knabe rannte sofort los, um den Auftrag auszuführen.
„Wie heißt er denn, dieser Medizinmann?“ fragte Charriba leichthin.
Seven Bears lächelte, als kenne er die Reaktion des Gefangenen auf die Antwort.
„Valcarcel!“
7. Charriba hatte schon als kleiner Junge gelernt, sich zu beherrschen. In diesem Augenblick aber mußte er an sich halten, um nicht laut aufzuschreien. Valcarcel? Charriba hatte den Namen zum ersten Mal von Inky gehört und sich bei der ersten Nennung wenig darunter vorstellen können. Inky hatte sich dann die Mühe gemacht, über seine Erfahrungen mit dem Zeit-Zauberer zu berichten. Inkys schauerliche Erzählung hatte Charriba zunächst einmal nur ein wenig erheitert, dann aber war Charriba klargeworden, daß Inky zweifelsfrei kein Phantast und Spinner war. An den Geschichten über Valcarcel mußte also etwas Wahres sein. Vergessen hatte Charriba den Zeit-Zauberer, nachdem Inky sehr eindringlich und anschaulich erzählt hatte, wie Valcarcel in der Zentrale der Time-Squad gestorben war. Und nun tauchte er wieder auf? War dies der gleiche Valcarcel, der Atlantis beherrscht hatte? Waren der Medizinmann und der Zeit-Zauberer ein und dieselbe Person? Wenn ja, um welchen Valcarcel handelte es sich? Lag der Zeitpunkt seines Todes für den Valcarcel des Jahres 1856 in der Zukunft, oder war Valcarcel bereits gestorben? War er von den Toten auferstanden? Seven Bears sah Charriba ins Gesicht und grinste zufrieden. „Ich sehe, daß du bleich wirst. Also ist der Ruf unseres Medizinmannes schon bis zu dir gedrungen. Nun, dann wirst du wissen, daß nichts und niemand uns wird aufhalten können. Wir werden erst am östlichen Großen Wasser anhalten. Wenn dann noch Weiße leben, dürfen sie in die Länder zurückkehren, aus denen sie gekommen sind!“
Charriba sah an Seven Bears vorbei. Die Comanchen hatten in einem Tal ihr Lager aufgeschlagen, dessen eine Seite ziemlich steil anstieg. In diesem Höhenzug hatte Charribas scharfes Auge eine Öffnung entdeckt, in der eine Gestalt erschienen war. Die Gestalt bewegte sich und kam auf das Zelt des Häuptlings zu. Valcarcel, vermutete Charriba und begann sich zu konzentrieren. Es kam jetzt auf jedes Wort an. Solange Valcarcel glaubte, es nur mit den Comanchen und einigen hundert Siedlern zu tun zu haben, hatte die Time-Squad noch Hoffnung. Entdeckte der Zeit-Zauberer aber, daß ihm die Time-Squad auf den Fersen war, konnte er jederzeit Verstärkung herbeirufen. Daß mit den Machtmitteln Valcarcels nicht zu spaßen war, hatte das Unternehmen Zeit-Arche mehr als deutlich bewiesen. Charriba zwinkerte. Inky hatte Valcarcel als Weißen beschrieben. Als alten, hageren Mann mit ausgemergelt erseheinenden Gliedern, einer altersfleckigen Haut, geblichen, tief in den Höhlen liegenden Augen, gekleidet in einen blauen Seidenumhang, auf der Brust eine verschnörkelte Sieben aus gelber Seide. Die Gestalt, die jetzt näher kam, hatte mit diesem Bild wenig gemein. Gewiß, auch dieser Mann war alt, aber sein Gang straff und elastisch. Von Hagerkeit oder gar Dürre konnte keine Rede sein. Die Augen waren dunkel und blickten stechend, darunter saß eine beeindruckende Adlernase. Der Valcarcel, den Inky geschildert hatte, war fast kahl gewesen, die letzten, ihm noch verbliebenen Haare waren auffällig weiß gewesen. Dieser Valcarcel hatte schwarzes, dichtes Haar, ohne den geringsten grauen Streifen darin. Nur eines deutete auf eine Verbindung hin. Auf der nackten Brust trug der Medininmann ein Amulett, eine aus purem Gold gehämmerte Sieben an einer goldenen Kette. „Wir haben einen Gefangenen gemacht, Valcarcel“, sagte Seven Bears. Als Häuptling stand Seven Bears weit über dem Medizinmann, aber von einem solchen Rangunterschied konnte in diesem Fall keine Rede sein. Vielmehr sah es so aus, als sei der Medizinmann der eigentliche Anführer des Stammes. „Wer bist du?“ Charriba spürte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten. Valcarcels Stimme war dunkel und tief, und sie klang, als schwänge darin das Echo eines leeren Grabes mit. Eine menschliche Stimme mit Nachhall war unvorstellbar, aber genau so sprach Valcarcel. „Charriba“, sagte der Gefangene automatisch. Valcarcel richtete seinen Blick auf Charribas Augen. Charriba hielt diesem Blick stand, mußte jedoch alle Kraft aufbieten, um nicht dem Impuls nachzugeben, den Kopf wegzudrehen. Ihm war, als fräßen sich die Augen des Medizinmannes in seinen Schädel hinein, um dort das Unterste zuoberst zu kehren. Schwarz waren die Augen des Medizinmanns, schwarz und tief, und in dem markanten Gesicht zuckte kein Muskel. „Wann soll ich die Krieger zusammenrufen?“ fragte Seven Bears plötzlich. In Valcarcels Gesicht vollzog sich blitzartig eine Veränderung. Haß zuckte, Wetterleuchten gleich, über das Gesicht und schuf binnen weniger Augenblicke eine satanische Fratze. Charriba brachte es nicht fertig, seine Augen abzuwenden. Ihm war, als tobe hinter der bronzenen Haut ein Glutorkan, der in jedem Augenblick ausbrechen konnte. Ob dieses Wesen Valcarcel war, hieß oder nur vortäuschte, eines war sicher - das Menschliche dieses Wesens war nur Tünche, Maske, Täuschung. Hinter dem biologischen Schleier verbarg sich etwas, das sich Menschen in seiner wahren Form und Gestalt nicht zu zeigen wagte. Die Veränderung dauerte nur für wenige Augenblicke an, dann hatte sich das Gesicht des Medizinmanns wieder geglättet. „Ich mag es nicht, wenn man mich stört“, sagte er leise. Charriba sah, wie sich Seven Bears verfärbte. Die Macht, die der Medizinmann über diesen Stamm der Comanchen hatte, war beängstigend groß. „Was tust du hier?“ fragte Valcarcel.
„Ich bin...“
Charriba wagte nicht, weiterzureden. So weitgehend war er dem geheimnisvollen
Medizinmann noch nicht erlegen, daß er sich selbst ans Messer lieferte. Allerdings war eine
Antwort auch überflüssig. Valcarcel streckte eine magere Hand nach Charribas Brust aus und
nahm ihm das Abzeichen ab. Erschreckt stellte Charriba fest, daß die Handinnenflächen des
Medizinmanns dunkler waren als der Handrücken.
Valcarcel betrachtete lange das Abzeichen. Er begann zu lächeln.
„Du hältst es mit dem Weißen Mann, sehe ich“, murmelte er. „Nimmt man dir dies nicht
übel?“
Wie Krallen einer Totenhand streckten sich seine Finger nach dem blonden Skalp aus, der
Charriba schon genug Schwierigkeiten gemacht hatte. Daß er diese Pseudotrophäe
mitgeschleppt hatte, war der größte Fehler, den sich Charriba je hatte vorwerfen müssen.
Und in diesem Augenblick wurde aus dem Fehler eine Katastrophe.
Es lag auf der Hand, daß ein Scout der US-Cavalry große Schwierigkeiten haben würde, wenn
er am Gürtel die Kopfhaut eines jungen, blonden Mädchens trug. Aber was Valcarcel mit
seinem beiläufigen Handgriff feststellte, ging viel weiter.
Die imitierte Trophäe bestand aus synthetischem Material; echtes Haar war für Charriba zu
teuer gewesen. Die Imitation erfüllte ihren psychologischen Zweck auch als Kunstprodukt.
Der Unterschied zwischen der Imitation und echtem Haar war deutlich zu fühlen. Seven Bears
hätte sich diesen Unterschied nicht erklären können, aber Valcarcel...
Charriba sah, wie Valcarcel Lächeln breiter wurde.
In einwandfreiem Englisch sagte der Medizinmann: „Sieh an, die Time-Squad in dieser Zeit?
Und so leichtsinnig?“
Charriba preßte die Kiefer zusammen. Offiziell gehörte er nicht zur Time-Squad, aber
Valcarcels ätzender Spott traf auch ihn. Es hörte sich an, als mache sich Valcarcel über das
verzweifelte Zucken eines bereits an der Angel sitzenden Fisches lustig. Er schien sich über
die längst sinnlos gewordene Gegenwehr der Time-Squad königlich zu amüsieren.
Es war die Arroganz einer überlegenen Macht, die aus Valcarcels Hohn ersichtlich wurde.
Dieser Macht hatte die Time-Squad verzweifelt wenig entgegenzusetzen. Charriba wußte, daß
er kaum Aussicht hatte, den Krallenhänden des Medizinmanns zu entgehen. Andererseits aber
mußte er so schnell wie möglich verschwinden, um die Freunde von der Time-Squad und die
Siedler zu warnen. Gelang ihm dies nicht, dann wurden nicht nur die Siedler niedergemacht,
dann war auch das Expeditionskorps der Time-Squad in hohem Maße gefährdet.
„Was wird nun aus mir?“ erkundigte sich Charriba und strengte sich an, die Frage wie
beiläufig zu stellen.
Seven Bears sah forschend auf den Medizinmann. Valcarcel grinste wieder.
„Du nimmst dich reichlich wichtig“, sagte er. „Ich werde dich dem Häuptling überlassen, und
was er mit dir anstellen wird, kannst du dir wohl ausrechnen.“
Er schielte auf die Knaben, die seit Charribas erstem Auftritt eifrig damit beschäftigt waren,
Brennholz zu sammeln und ihre kleinen Waffen zu schärfen. Bei dem Gedanken, sozusagen
als Kinderbelustigung umgebracht zu werden, bäumte sich Charribas Stolz auf.
„Man könnte...“, sagte er halblaut.
Valcarcel hatte sich bereits erhoben und schickte sich an, in seine Höhle zurückzukehren. Er
drehte sich halb um und fixierte Charriba.
„An Verrätern besteht kein Bedarf“, sagte er trocken. „Wer den ersten Herrn verrät, wird
sicher auch den zweiten verraten, wenn es ihm nützlich erscheint!“
Damit ließ er Charriba bei Seven Bears zurück. Der Häuptling war sichtlich ergrimmt.
Während der gesamten Unterhaltung mit Charriba hatte der Medizinmann ihn behandelt wie
Luft, und das sollte Charriba nun stellvertretend büßen. In seinen Augen funkelte nackte
Mordlust.
„Siehst du die Sonne“, stieß Seven Bears hervor. „Wenn du sie nicht mehr sehen kannst, wirst
du sterben!“ Wenn er geglaubt hatte, Charriba damit beeindrucken zu können, hatte er sich getäuscht. Charriba zuckte lediglich mit den Schultern und spuckte in den Sand. Was hatte er eigentlich davon, überlegte er sich bei dieser Handlung, wenn er gegen seine Gefühle handelte und so tat, als sei ihm der nahe bevorstehende Tod völlig gleichgültig? Ein toter Feigling verweste so schnell wie ein toter Held, wo blieb da der Unterschied? Die Verachtung, mit der Valcarcel den Häuptling behandelte hatte, hatte Seven Bears auf einen Gedanken gebracht. Wenn er an diesem Abend den bisher einzigen Gefangenen zu Tode martern ließ, hatte er nicht nur ein Schauspiel anzubieten, das seine Krieger begeisterte und zufrieden stimmte. Vor allem bekamen die Krieger so Appetit auf mehr, ihr Kampfeswille sollte dadurch gesteigert werden. Seven Bears konnte den Beginn des Abends offenbar kaum erwarten, stellte Charriba fest. Es dämmerte erst, als Seven Bears ihn bereits aus dem Zelt holen und auf den freien Platz zwischen den Zelten bringen ließ. Rasch erkannte Charriba, was man mit ihm vorhatte. Zuerst sollten die Knaben ihre Künste an ihm probieren, dann waren die Erwachsenen an der Reihe. Das Ende des makabren Schauspiels hatten die Comanchen allerdings von Ihren Erbfeinden, den Apachen, entlehnt. Die frisch abgezogene Büffelhaut war eindeutig. Am Ende des Spektakels würden die Krieger Charriba in diese Haut wickeln und ihn darin festbinden. Im Verlauf des nächsten Tages würde das Rohleder dann in der Sonne zu trocknen beginnen und sich immer mehr zusammenziehen. Dem Opfer stand ein Erstickungstod bevor, der sich über Stunden erstrecken konnte. Seven Bears baute sich vor Charriba auf und prüfte noch einmal die Fesselung. Sichtlich zufrieden stellte er fest, daß sich die Riemen nicht gelockert hatten. Charriba verzog bei dieser Musterung keine Miene, obwohl er höllische Angst ausstand, der Häuptling könnte entdecken, daß Charriba die letzten Stunden nicht ungenutzt gelassen hatte. Ein wenig hatte er die Riemen lockern können, allerdings bei weitem nicht genug, um die Fesselung rasch abstreifen zu können. Er blieb darauf angewiesen, daß ihm der Zufall half. Seven Bears gab ein Zeichen mit der Hand, die Männer an den Trommeln nickten und begannen ihr Werk. Die Comanchen ließen sich Zeit. Sie betrachteten das Ganze als Fest, dessen Höhepunkt der Tod eines Gefangenen sein sollte. Charriba blieb mit versteinertem Gesicht stehen, sorgfältig von zwei Kriegern bewacht, die ihn in keinem Augenblick aus den Augen ließen. In das Dröhnen der Trommeln mischte sich ziemlich bald ein anderer Klang, ein Geräusch, das in dieser Umgebung der Höhle, die offenbar als Unterschlupf für Valcarcel diente. Charriba glaubte hören zu können, daß aus versteckt angebrachten Lautsprechern Musik drang. Es waren wilde, abgerissenen Töne, hart und rhythmisch, die den Klang der Trommeln unterstrichen. Charriba konnte am eigenen Leib spüren, wie die Musik wirkte. Schon im Altertum hatten geschickte Menschenkenner die Tatsache ausgenutzt, daß ein und dasselbe Musikstück eine ganz andere Wirkung hat, wenn es nicht einem einzelnen, sondern einer Masse vorgespielt wird. Die christlichen Choräle, der dumpfe Trommelton im Dreißigjährigen Krieg, der markerschütternde Klang der Dudelsäcke, Nationalhymnen - alle diese Klänge übten auf die massierten Zuhörer gewaltige Wirkungen aus. Losgelöst vom eigentlichen Klang, beschworen sie in Bild- und Gefühlsverknüpfungen die Stimmung herauf, die angestrebt war. Die Klänge, die aus der Höhle immer lauter über das Tal dröhnten, waren praktisch auf ihre psychologische Wirkung reduziert. Der Schall war nur der Träger der psychischen Botschaft. Sie stachelte den Kampfeswillen an, peitschte das Ehrgefühl hoch, weckte Hoffnungen und Begierden. Charriba sah aus den Augenwinkeln heraus, wie sich die Comanchenkrieger zu bewegen begannen.
Der Tanz, zuerst zögernd, wurde immer hektischer und von Minute zu Minute steigerte sich die Extase der Bewegungen. Die Körper der Krieger waren bald schweißüberströmt. Charriba spürte, wie seine eigenen Muskeln leicht im Rhythmus zu zucken begannen. Er hatte in den letzten Stunden einige Kämpfe mit sich auszufechten gehabt, immer wieder hatte er sich versucht gefühlt, in dem aktuellen mörderischen Ringen zwischen Weißen und Indianern die Partei seines Volkes zu ergreifen und in die Waagschale zu werfen, was er zu bieten hatte. Aber in diesen Augenblicken, in denen die Krieger der Comanchen nacheinander schreiend zusammenbrachen, wurde ihm klar, daß er in Wirklichkeit keine Wahl hatte. Zwar schien Valcarcel den Indianern helfen zu wollen, aber im Endergebnis lief es wieder auf eine Unterdrückung der Indianer hinaus - der Unterschied bestand nur darin, daß sich vielleicht die Zahl der Unterdrückten vergrößern würde. Mit einem gellenden Schrei brach der letzte Krieger zusammen. Die reglosen Männer formten - Zufall oder Absicht? - auf dem staubigen Boden ein Zeichen, das Charriba bekannt vorkam.
Irgendwann einmal hatte er dieses Symbol gesehen. Es gehörte nicht zum indianischen
Kulturkreis, vielmehr...
Charriba begriff.
Was eine Reihe von reglosen, schweiß glänzenden Körpern auf dem Boden formte, war ein
Pentagramm, das klassische Zeichen abendländischer Hexenkunst und Zauberei. Charriba
glaubte nicht an Zauberei, aber er hatte Augen und einen wachen Verstand.
Seine Füße waren frei, er brauchte also nur einmal auszuholen, um seinem rechten
Nebenmann einen Tritt in die Kniekehlen zu versetzen, der diesen augenblicklich umkippen
ließ, und ehe die zweite Wache sich von der Überraschung erholt hatte, war Charriba bereits
außer Reichweite.
Er suchte nicht das Weite. Ein wahnwitziger Einfall war Charriba gekommen, und mit dem
Wagemut des Verzweifelten setzte er diesen Einfall in die Wirklichkeit um. Ein leises
Stöhnen ging durch die Comanchen, als er mit weiten Sprüngen über die reglosen Krieger
hinwegsetzte und erst im Innern des Pentagramms stoppte.
Charriba atmete tief durch.
Fürs erste war er in Sicherheit. An den Gesichtern der Comanchen konnte er mühelos ablesen,
daß niemand ihm folgen würde, um ihn aus dem magischen Zeichen herauszuholen. Das
nackte Entsetzen stand den Comanchen im Gesicht geschrieben.
Charriba lächelte zufrieden.
Dann aber begann sich sein Gesicht zu verzerren.
Schmerz wühlte in ihm, ein Schmerz, der nicht den Körper betraf, sondern den Geist.
Charriba war, als würde sein Gehirn von glühenden Krallen ergriffen und zusammengedrückt.
Er wollte beide Hände an den Kopf pressen, aber seine Muskeln gehorchten ihm nicht mehr.
Reglos blieb er stehen, dem Grauen ausgeliefert, das von ihm Besitz ergriff. Er hatte keine
Möglichkeit, sich gegen das aufkeimende Entsetzen zu wehren, den gnadenlosen Griff der
Angst zu lockern, der ihm die Brust zusammenzudrücken schien. Schweißtropfen standen auf
seiner Stirn.
Die Comanchen drängten sich um das Pentagramm, starrten Charriba an.
Charriba fühlte, wie sich sein Körper zu verändern begann. Zuerst schien ein fremder Geist
seinen Verstand überwältigen zu wollen, später war der Körper an der Reihe. Charriba spürte,
wie sich seine Muskeln aufzulösen begannen, wie sein Körper umgeformt wurde. Er spürte,
wie die dicken Haare aus seiner Haut zu sprießen begannen, wie sich die Nägel verschoben
und krümmten, wie seine Zähne verrückt wurden.
Charriba stieß ein Knurren aus. Die Comanchen wichen angsterfüllt zurück.
Mit einer Hand, die nichts Menschliches mehr an sich hatte, schlug Charriba nach den
Indianern, die Riemen, die ihn gehalten hatten, waren wie Bindfäden gerissen. Mit einem
leisen Schnalzen platzte das dünne Leder von Charribas Mokassins, es konnte die
anschwellenden Füße und ihre Krallen nicht länger einschließen.
Charriba wälzte den Kopf hin und her und stieß ein gieriges Heulen aus, während tief in ihm die Angst tobte. Er hatte keinerlei Einfluß mehr auf seinen Körper, seine Muskeln wurden von einem unsagbar fremden Geist in Bewegung gesetzt. Dumpf konnte Charriba die Blutgier dieses Geistes spüren, die Wildheit, die vor nichts zurückschreckte. Das Wesen, das einmal Charriba gewesen war, machte einen Satz nach vorn und wollte sich auf den nächsten Comanchen stürzen. Noch im Sprung schrie das Wesen auf. Charriba, der keiner Gefühlsäußerung mehr fähig war, krümmte sich vor Schmerzen. Was er in den letzten Minuten ausgestanden hatte, war nichts im Vergleich zu den Qualen, die jetzt durch den Körper rasten. Offenbar hatte die Grenze des Pentagramms diese Wirkung ausgelöst, und selbst der primitive Geist des Ungeheuers, in das sich Charriba verwandelt hatte, schien dies begriffen zu haben. Es stand da, fauchte die Comanchen an und bleckte die schwärzlichen Zähne. Noch konnte Charriba über seine eigenen Augen sehen, was um ihn herum vorging. Mehr noch, er sah entschieden besser als früher. Ohne Mühe erkannte er in der Höhle eine Gestalt, eingehüllt in eine rötliche Aura, aus der unablässig kleine, gelbe Blitze sprühten. Die Comanchen wichen langsam zurück. Selbst die Säuglinge wagten nicht zu schreien, als die Gestalt langsam von dem Höhenzug herabstieg und sich dem Versammlungsplatz näherte. Charriba brach in die Knie und heulte durchdringend. Die Gestalt in der rötlichen Aura war Valcarcel. Er kam langsam näher, während von seinen ausgestreckten Händen Blitze sprühten. Als er den Rand des Pentagramms erreicht hatte, hob er beide Arme langsam hoch, bis die Fingerspitzen auf den inzwischen nachtdunklen Himmel zeigten. Wie Flammenbüschel zuckten die Blitze an den Händen. Valcarcel bewegte beide Arme ruckartig nach unten, als werfe er etwas. Die Bewegung zielte auf Charriba, der sofort zusammenbrach. Durch die Reihen der Comanchen ging ein leises Stöhnen. Valcarcel begann zu sprechen.
8. Charriba wußte, daß ihm nur noch wenig Zeit blieb. Von Minute zu Minute wurde der Einfluß stärker, der von seinem Körper Besitz ergriffen hatte. Wenn er nicht endlich handelte, würde sein Bewußtsein völlig untergehen, überlagert werden von einer scheußlichen Bestie, deren Gefährlichkeit sich Charriba nur annähernd vorstellen konnte. Charriba begann sich zu konzentrieren. Als kleiner Junge hatte er Konzentrationsübungen gemacht, als Student hatte er stundenlang meditiert, um die nötige Ruhe bei großen Bogenschießwettbewerben zu finden, bei der Indianerpolizei hatte er noch einmal gelernt, alle Geisteskräfte auf einen Punkt, ein Ziel auszurichten. Warum nicht auch hier? Charriba wußte, daß er keine andere Chance hatte. Er mußte die wenigen Minuten nutzen, in denen Valcarcel die Comanchen aufpeitschte und anstachelte. Danach würde es keine Chance mehr geben. Charriba war sicher, daß Valcarcel an seinem Leib demonstrieren würde, was mit Indianern geschah, die sich nicht dem Kampf fegen die Weißen anschlossen. Charriba brachte es fertig, eine Hand vor daa Gesicht zu halten. Sekundenlang war er fast erstarrt, als er das sah, was einmal seine Hand gewesen war. Was er jetzt sah, war eine Pranke, von borstigem Haar bewachsen, mit eisenharten Krallen, die nervös zuckten. Charriba faßte sich wieder. Er konzentrierte sich auf die Hand, erinnerte sich, wie seine eigene Hand ausgesehen hatte. Die Sekunden verstrichen mit quälender Langsamkeit, dann
zeigte sich die erste Veränderung. Die Krallen gingen ein wenig zurück. Dieser winzige Teilerfolg gab Charriba neuen Mut. Er faßte alle Kräfte zusammen, konzentrierte sich erneut. Es war ein Kampf auf rein geistiger Ebene, der Charriba alles abverlangte. Aber je mehr Zeit verstrich, desto deutlicher wurde, daß Charriba diesen Kampf gewinnen würde. Er spürte, daß er die Kontrolle über seinen Körper zurückgewann. Dennoch wälzte er sich weiter am Boden und stieß ab und zu ein dumpfes Heulen aus. Charriba fand keine Zeit, auf das zu achten, was Valcarcel zu verkünden hatte. Es genügte ihm, daß die Comanchen sich völlig auf Valcarcel konzentrierten und nicht mehr auf ihren Gefangenen achteten. Minuten vergingen in quälender Langsamkeit, dann fühlte sich Charriba wieder einigermaßen sicher. Von jenem fremden Geist, der in seinen Körper förmlich hineingekrochen war, konnte er nichts mehr spüren, jeder Muskel gehorchte seinen Gedankenbefehlen, als hätte es nie eine Übernahme durch einen fremden Geist gegeben. Vorsichtig sah sich Charriba um. Es war vollständig dunkel geworden. Die Comanchen hatten kleinere Feuer entzündet, die den Versammlungsplatz in gespenstisches Licht tauchten. Einige Krieger hielten Fackeln in den Händen, andere lagen immer noch regungslos auf dem Boden und bildeten mit ihren Körpern das magische Zeichen. Charriba bewegte sich vorsichtig auf eine der Linien des Pentagramms zu und streckte eine Hand aus. Nichts geschah, der magische Bann hatte auf Charriba keine Wirkung. Noch immer sprach Valcarcel.Über der Schulter trug er das Fell eines Bisons, der Kopf des Zeit-Zauberers steckte im Rachen des gewaltigen Büffelschädels. Zwischen den Haaren des Felles knisterten elektrische Entladungen. Noch immer wurde Valcarcels Körper von der rötlichen Aura eingehüllt, die Charriba an das ähnlich schimmernde Zeitfeld erinnerte, das sich über der Transportplattform eiT ner Zeitmaschine aufzubauen pflegte. Wenn es einen Zusammenhang zwischen den beiden Feldern gab, überlegte sich Charriba, dann mußte irgendwo in der Nähe eine Zeitmaschine zu finden sein, wahrscheinlich im Innern der Höhle, in die sich Valcarcel zurückzuziehen pflegte. Die Aura des Zeit-Zauberers begann sich langsam zu vergrößern, und im gleichen Ausmaß wuchs auch Valcarcel. Der Höhepunkt der Show, dachte Charriba, der seinen sarkastischen Humor wiedergefunden hatte. Er konnte sich ausrechnen, daß die Comanchen jetzt außer Valcarcel nichts mehr sehen würden. Man hätte mit Kanonen auf sie schießen können, und sie hätten sich nicht vom Fleck gerührt. Charriba kam auf die Füße. Geduckt schnellte er sich vorwärts, über die reglosen Körper hinweg. Das magische Zeichen blieb ohne Wirkung, hinderte Charriba nicht. Mit großer Schnelligkeit rannte Charriba auf den Höhenzug zu um so rasch wie möglich Valcarcels Versteck zu erreichen. Kleinere Steine lösten sich beim Anstieg und kollerten den Hügel hinab. Charriba warf sich auf den Boden und spähte hinab. Auch dieses Geräusch war nicht gehört worden. Als Charriba endlich am Eingang der Höhle angelangt war, ging sein Atem pfeifend, so sehr hatte der rasche Aufstieg ihn angestrengt. Dennoch grinste er breit. Charriba war am Ziel. * Das erste, was er sah, war die Zeitmaschine. Sie sah kleiner aus als das Modell, das er in der Zentrale der Time-Squad kennengelernt hatte. Auch war hier nicht zu erkennen, woher die
Maschine ihre Energie bezog. Es gab einige Zusatzeinrichtungen, die bei den Anlagen der Time-Swuad fehlten, aber diese Details interessierten Charriba nicht. Die Gewehre lagen im Hintergrund der Höhle, sorgfältig gefettet, in Ölpapier eingewickelt und in Holzkisten verstaut. Charriba nahm prüfend eine der Waffen in die Hand. Er erkannte das Modell auf den ersten Blick. Winchester 1873, Kaliber. 44-40, wahlweise als Sattelkarabiner mit einem 20-Inches-Lauf und einem Magazin für 12 Patronen oder als Gewehr mit einem 24-Inches-Lauf mit 15 Patronen. Diese Waffe in den Händen der Comanchen stellte eine furchtbare Gefahr dar. Mit diesem Repetiergewehr konnten die Comanchen eine Feuergeschwindigkeit erzielen, die alles Dagewesene übertraf. Die US-Cavalry hatte dem nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen, schließlich war diese Waffe in diesem Augenblick ihrer Zeit allein rechnerisch um siebzehn Jahre voraus. Charriba schätzte, daß in der Höhle mindestens fünfhundert solcher Gewehre gestapelt waren, dazu ausreichende Mengen Patronen. Jetzt verstand er, warum Seven Bears so sicher gewesen war, daß diesmal der Sieg den Indianern gehören würde. Wahrscheinlich hätten dreihundert Comanchen keine zehn Minuten gebraucht, um den Treck vernichten zu können. Charriba spähte über die Schulter. Auf dem Versammlungsplatz hatte Valcarcel mittlerweile eine Größe von mehr als drei Metern erreicht, außerdem hatte die einpeitschende Musik inzwischen wieder eingesetzt. „Höchste Zeit!“ murmelte Charriba. Er suchte in der Höhle nach Sprengstoff, und und schließlich fand er auch, was er suchte. Als er die Stangen in der Hand hielt, war Charriba zunächst etwas enttäuscht, weil es sich nicht um Dynamit handelte. Dann aber fiel ihm ein, daß Dynamit erst in zehn Jahren erfunden werden würde. Demnach mußte es sich bei dem Sprengstoff um gepreßtes Schwarzpulver handeln, bei weitem nicht so wirkungsvoll wie Dynamit, aber wahrscheinlich sprengkräftig genug, um die Waffen zu vernichten. Charriba stapelte die Kisten übereinander, immer eine Munitionskiste über einen Behälter mit Gewehren. In die Zwischenräume klemmte er die Preßpulverstungen und versah sie mit langen Zündschnüren, die er sorgfältig so miteinander verband, daß sie alle gleichzeitig in die Luft fliegen mußten. Charriba brauchte fast zehn Minuten, um diese Arbeit zu erledigen. Dabei blickte er immer wieder auf den Versammlungsplatz. Valcarcel, inzwischen stattliche fünf Meter groß, setzte seine Ansprache fort. Endlich war Charriba mit seiner Arbeit fertig. Eine Winchester hatte er für sich reserviert, das Magazin gefüllt und eine ausreichende Menge Patronen in seinen Taschen verstaut. Es war alles bereit. Charriba trat an die Zeitmaschine. Wie bei der Anlage in der Zentrale der Time-Sqaud gab es auch hier eine Transportplattform, auf die sechzehn Projektorspitzen zielten.Über der Plattform hatte sich ein rötlicher Ball gebildet, dessen eine Seite stark zerfranst wirkte. Die Fransen wiesen auf den immer noch redenden Valcarcel. Neuartig war, daß unter der Transportplattform ein massiver, schwarzer Kasten stand, dessen Deckel die Transportplatte war. Was sich in diesem Behälter befand, konnte Charriba nicht erkennen, wohl aber sah er etliche Hebel, Skalen und Knöpfe. Gerade noch rechtzeitig entdeckte Charriba eine Skala, deren Zahlen er sich einprägte. Er war sich seiner Sache nicht ganz sicher, aber er spürte, daß diese Werte die Koordinaten der Zeitmaschine beschrieben. Dann setzte er die Zündschnüre in Brand. Leise knisternd fraßen sich die Funken an den salpetergetränkten Schnüren voran. „Und jetzt zu dir“, murmelte Charriba. Ohne lange zu überlegen, spielte er an den Knöpfen der Zeitmaschine herum. Er hoffte, daß
diese Verbindung irgendeinen Einfluß auf den Zeit-Zauberer haben würden, und er wurde nicht enttäuscht. Von draußen kam ein Schrei, der nichts Menschenähnliches hatte. Charriba überließ die Zeitmaschine sich selbst und stürzte aus der Höhle. Die Comanchen lagen auf dem Boden und wagten nicht, hochzusehen. Charriba stand wie erstarrt. Er sah das Pentagramm. Aus den Körpern der Comanchen waberten grünliche Flammen in die Höhe, dazwischen wallte schwarzer Qualm, der zuckte und sich bewegte, als lebe er. Valcarcel, der mehr als zehn Meter hoch war und dessen Körper sich unablässig veränderte. Seine Arme fielen herab, verwandelten sich in riesige Geier und flatterten schwerfällig davon. Die Nase zerfiel in ein Bündel peitschender Tentakel, aus den Augen quoll Rauch. Valcarcels Beine überzogen sich mit schwärzlichen Schuppen, die fast handtellergroß waren, Krallen rissen den massiven Fels des Versammlungsplatzes auf. Ein betäubender Geruch nach Verwesung und Tod legte sich über das Lager der Comanchen. Charriba wartete nicht, was aus dem Zeit-Zauberer noch werden mochte. Dem alles übertönenden Brüllen und Wimmern entnahm er, daß er Valcarcel einen harten, vielleicht sogar tödlichen Schlag versetzt hatte Es wurde Zeit, daß sich Charriba davonmachte, sonst würde die Sprengladung ihn in Stücke reißen. Charriba schlich sich am Rand des Hügelzugs entlang, auf die Pferdeherde zu. Dort stand sein Grauer, in der Nähe stand auch das Zelt von Seven Bears, in dem Charribas Ausrüstung liegen mußte. Charriba fand das Zelt ohne Schwierigkeiten und schlüpfte hinein. In einer tönernen Schale verbrannte an einem Docht zerschmolzenes Fett und erhellte das Innere des Zeltes. Charriba sah sich plötzlich der Frau gegenüber, die er bereits vorher gesehen hatte. Die weiße Frau sagte nichts, sie blickte Charriba unverwandt an. „Eine Abteilung Kavallerie ist in der Nähe“, flüsterte Charriba. „Willst du mich begleiten?“ Er wußte nicht, was sich draußen abspielte; Valcarcels schmerzliches Schreien war leiser geworden. Wenn die Frau Alarm schlug, war Charribas Flucht vielleicht schon im Ansatz gescheitert. Die Frau sah Charriba verwirrt an, dann sagte sie stockend: „Wohin soll ich mit dir gehen? Ich lebe seit zehn Jahren bei den Comanchen. Sie behandeln mich wie ihresgleichen. Warum soll ich zu den Weißen gehen? Sie würden mich wie eine Comanchin behandeln. Und mein Kind?“ Charriba zögerte. Jede Sekunde war kostbar. „Du willst also bleiben? Weißt du, daß dein Stamm versuchen will, einen Treck weißer Siedler zu überfallen und alle Siedler zu töten?“ Die Frau zuckte mit den Schultern, während Charriba sein Hab und Gut an sich nahm und in seinen Taschen verstaute. „Glaubst du“, murmelte die Frau bitter, „deine Siedler würden mich schonen, würden sie dieses Lager überfallen und erfahren, daß ich lieber bei den Comanchen bleibe?“ Charriba sah die Frau warnend an. „Nimm deine Kinder und verlasse das Lager“, beschwor er sie. „Kehre erst in einigen Tagen hierher zurück!“ Er drehte sich um und verließ das Zelt. Bis zu den Pferden mußte er nur knapp zweihundert Meter zurücklegen, aber er kam nicht dazu. Er sah aus den Augenwinkeln heraus einen Blitz die Nacht zerreißen, und bevor er noch reagieren konnte, waren Schall- und Druckwellen bei ihm angelangt. Eine Riesenfaust packte Charriba und stieß ihn von den Beinen. Ein ohrenbetäubendes Donnern erschütterte die Luft. Als Charriba sich aufrichtete, sah er, daß die Explosion die Hölhe fast in Stücke gerissen hätte. Von oben regnete es Steine und größere Felsbrocken herab, dazu erklang das Knistern eines Brandes, der in der Hohle wütete, durchsetzt von unablässigem Knattern, das von explodierenden Gewehrpatronen stammte.
Charriba machte sich nicht die Mühe, sich nach Valcarcel umzusehen. Er rannte auf die Pferde zu, suchte seinen Grauen heraus und schwang sich auf den Rücken des Tieres. In gestrecktem Galopp verließ Charriba das Lager der Comanchen. Nach wenigen Augenblicken hatte ihn die Dunkelheit verschluckt. * Charriba hätte seinem Grauen gern eine Pause gegönnt, aber er fand keine Zeit dazu. Die Comanchen hatten sich dazu entschlossen, Charriba zu verfolgen, und diese Aufgabe hatten sie bravourös erledigt. Trotz der Dunkelheit hatten sie Charribas Spur nie verloren. Inzwischen dämmerte der Morgen herauf, und sie saßen Charriba immer noch im Nacken. Zu seinem Glück hatte das Suchen die Comanchen immer wieder aufgehalten, andernfalls hätten sie ihn recht bald erwischt. So hatte Charriba seinen Vorsprung lediglich halten können. Die Comanchen jagten in Sichtweite, aber noch nicht in Schußweite hinter ihm her. Noch hielt Charribas Pferd durch, aber es war nur eine Frage der Zeit, wann dem Grauen die Kräfte ausgehen würden. Immerhin hatte das Tier bereits die zweite Verfolgungsjagd zu absolvieren. Zudem stand Charriba vor dem leidigen Problem, nicht genau zu wissen, wo er sich befand. Zwar hätte er den Weg zu jener Stelle zurückfinden können, an der er den Comanchen in die Hände gefallen war. Aber wo er dann nach seinen Kameraden von der Tlme-Squad zu suchen hatte, war ihm ein Rätsel. Als er endlich in der Ferne einen uniformierten Reiter erkannte, fiel ihm ein Stein vom Herzen. In vollem Galopp riß er sich das Gewehr von der Schulter und gab einen Warnschuß ab, der wenig später von einem Trompetensignal beantwortet wurde. Gradlinig preschte Charriba auf die Kavallerieabteilung zu, und erst, als er sie erreicht hatte, wurde ihm bewußt, daß er schon wieder einen Fehler gemacht hatte - es war immerhin denkbar, daß sich eine echte Abteilung der US-Cavalry in dieses Gebiet verirrt hätte, und eine Begegnung mit echten Kavalleristen hätte Charriba naturgemäß vermeiden müssen. „Hierher, Charriba!“ brüllte Inky, den Charriba an seiner hageren Gestalt unschwer erkennen konnte. „Wer ist hinter dir her?“ „Comanchen!“ rief Charriba. Er ließ sich vom Pferd fallen, rollte ab und kam neben Inky auf die Füße, erschöpft, aber breit grinsend. „Es sind Comanchen“, erklärte er schnaufend. „Sie wollen den Treck überfallen. Sie bekommen tatsächlich Hilfe aus der Zukunft, ich habe bei ihnen 1873er Winchester gefunden, diese hier beispielsweise!“ Charriba hielt den Männern, die sich in seiner Nähe gesammelt hatten, die Waffe unter die Nase. „Also kein Zweifel“, stellte Joshua Slocum fest. „Unsere Freunde von der Gegenseite!“ Charriba grinste. „Es kommt noch besser“, verkündete er. „Euer spezieller Freund ist ebenfalls mit von der Partie!“ „Valcarcel?“ fragte Inky entsetzt. „Er nennt sich zumindest so“, räumte Charriba ein. „Mit dem Valcarcel, den du mir beschrieben hast, hat er wenig Ähnlichkeit, wenn man davon absieht...“ Charriba zögerte einen Augenblick lang, dann wurde ihm klar, daß er sich keineswegs etwas vergab, wenn er offen gestand, daß die magischen, geheimnisvollen Fähigkeiten Valcarcels auch ihn beeindruckt hatten. Er erzählte also, was er erlebt hatte; daß ihn teilweise panische Angst erfüllt hatte und er nun’sehr genau begriff, warum die Time-Squad einen solchen Respekt vor diesem Wesen hatte, verschwieg er vorsichtshalber. „Die Comanchen scheinen auf irgend etwas zu warten“, verkündete Maipo Rueda. „Sie halten auf dem Hügel und lauern auf alles, was wir machen. Zwei sind weggeritten. Ob sie angreifen
wollen?“
Charriba schüttelte den Kopf.
„Ich schätze, daß ich ihnen sämtliche Gewehre zerstört habe“, erklärte er zuversichtlich. „Und
nur mit ihren Bögen haben sie gegen uns keine Chance.“
„Hm“, machte Inky. „Du mußt wissen, daß wir mit unserer Arbeit bei weitem nicht so schnell
vorwärtsgekommen sind, wie wir vermutet haben. Um es präzise auszudrücken, unser
Peilsender durch die Zeit ist immer noch nicht fertig!“
„Wir sind abgeschnitten?“ fragte Charriba.
„Noch nicht“, sagte Inky. „Wir können nur nicht in jedem Augenblick verschwinden. Wir
müssen durchalten, bis der Sender funktioniert und unseren Freunden in der Zentrale das
Zeichen gibt, eine Verbindung herzustellen. Wenn nicht, werden wir vier Tage warten
müssen.“
Es war vereinbart worden, und Charriba wußte das, daß die Männer eine kleine Zeitmaschine
mitnehmen sollten, deren kleine Energieanlage aber nur dazu ausreichte, für die große Anlage
ein Peilzeichen zu geben. Sobald dieses Zeichen die Zentrale erreichte, sollten die Männer
zurückgeholt werden. Blieb dieses Zeichen aber aus, würde die Time-Squad in exakt vier
Tagen einen zweiten Versuch unternehmen, ihre Mitarbeiter in die Realzeit zurückzuholen,
„Wieviel Zeit werdet ihr noch brauchen?“ wollte Charriba wissen.
„Ein paar. Stunden vielleicht“, antwortete Inky. „Es gibt allerdings einen Haken bei der
Sache. Entweder schützen wir die Maschine, dann sind die Siedler ohne Hilfe, oder wir helfen
den Siedlern, dann ist die Maschine ohne Schutz.“
„Dieses Problem hat sich mittlerweile geklärt“, kommentierte Slocum bitter. Er wies mit der
Hand auf einen Punkt in größerer Entfernung.
„Die Comanchen haben sich entschlossen, zuerst uns den Garaus zu machen“, fuhr er fort.
„Ich schätze, es sind mindestens dreihundert Mann, wahrscheinlich noch mehr.“
„Mit ihren veralteten Waffen...“, wollte Charriba einwerfen, aber Slocum unterbrach ihn mit
einer Handbewegung.
„Nimm dir ein Fernglas und überzeuge dich“, sagte er trocken.
Charriba nahm ihm den Feldstecher ab und richtete das Objektiv auf die heranreitenden
Comanchen.
Vielleicht hatte Charriba eine Menge moderner Gewehre zerstört, aber dabei konnte es sich
nur um die Reserven der Comanchen gehandelt haben. Von den heranreitenden Kriegern trug
jeder eine nagelneue Winchester 1873 und hatte den Gürtel mit Patronen gespickt.
Es gab noch eine zweite Möglichkeit...
Inky und Charriba sahen sich an. Fast gleichzeitig war ihnen der gleiche Einfall gekommen.
„Slocum, übernehmen Sie die Verteidigung der Truppe“, bestimmte Inky. „Wir werden
versuchen, Hilfe aufzutreiben!“
Charriba sah ihn zweifelnd an. Die beiden Männer wußten sehr wohl, daß der Zugang zu
dieser Hilfe einen mörderischen Wächter hatte: Valcarcel.
* Die Expedition der Time-Squad hatte sich eine flache Mulde ausgesucht, um dort den Peilsender aufzubauen. Nun galt es, diese Mulde gegen knapp dreihundert angreifende Comanchen zu verteidigen. Slocum schickte seine Männer auf die Hügel, die die Mulde umsäumten. Der Ring der Verteidiger war dünn, sehr dünn, mußte Slocum feststellen. Zwar waren die Comanchen gezwungen, hügelauf anzugreifen, aber für ihre Pferde bedeuteten Hügel kein ernstzunehmendes Hindernis. „Nehmt die Nadler!“ befahl Slocum. „Nur im Notfall wird scharf geschossen!“ Charriba zog fragend eine Braue in die Höhe. Er wußte, daß Slocums Anordnung die Gefahr
für die Männer erhöhte. Die Winchester ‘73 hatte auf hundert Meter Schußentfernung gute Treffergebnisse aufzuweisen, die betäubenden Narkonadeln aus den Handwaffen der TimeSquad-Männer konnten nur über die halbe Distanz einigermaßen gezielt verfeuert werden. Alle anderen Waffen der Time-Squad hatten Nachteile aufzuweisen. Die Nadler waren als Trommelrevolver getarnt, entsprechend dem Colt-Modell Navy 1851. Tatsächlich konnte man mit ihnen sogar ganz normal schießen, aber diese Waffen trafen noch weniger als die Nadler. Dazu führte jeder Mann ein Gewehr mit sich, das ebenfalls eine Doppelfunktion besaß - zum einen Schwarzpulverflinte, zum anderen Langlauflaser. Beide Waffen hatten aber den entscheidenden Nachteil, sehr häufig tödliche Wunden zu reißen, was durchaus nicht den Idealen der Time-Squad entsprach. Langdauernde Feuergefechte mit vielen Verwundeten oder gar Toten waren dieser Polizeitruppe zuwider. Slocums Befehl hatte diese Auffassung noch unterstrichen. Nur hieß das für die Verteidiger, daß sie geduldig warten mußten, bis der Gegner nahe genug herangekommen war, während dieser Gegner seinerseits schon lange vorher ein wirkungsvolles Feuer eröffnen konnte. „Fertig?“ fragte Inky. Charriba nickte. Beide Männer hielten in jeder Hand einen Nadler, beide Waffen waren auf Dauerfeuer eingestellt. Charriba hatte seine Zweifel, ob der dürre Inky einem derartigen Gewaltritt gewachsen sein würde. Inky sah nicht danach aus, als sei er ein hervorragender Reiter, aber in dieser verzweifelten Lage blieb wenig Zeit, sich darüber Sorgen zu machen. „Dann los!“ Sie trabten los, setzten zum Galopp an. Die Comanchen hatten den Trupp der Time-Squad längst eingekreist. Auf diese Linie jagten Charriba und Inky zu, die Köpfe tief auf die Hälse der Pferde gepreßt. Was Charribas Grauer wert war, hatten die Comanchen bereits feststellen können, und Inky hatte das beste Pferd bestiegen, das die Expedition hatte auftreiben können. Den Comanchen als leidenschaftlichen und exzellenten Reitern mußten die Tiere natürlich ins Auge stechen, und genau auf diese Haltung spekulierten die beiden Ausbrecher. Sie hofften, daß die Comanchen mit dem Schießen warten würden, um die Tiere nicht zu gefährden, denen sie mit Sicherheit einen weit höheren Wert beimaßen als ihren beiden Reitern. Charriba schielte über den Hals den Grauen hinweg nach vorn. Noch mehr als zweihundert Meter trennten ihn von den Comanchen, die bedächtig auf das Lager der Time-Sqad zugeritten kamen. Es hatte fast den Anschein, als wüßten die Comanchen, daß ihre Gegner in Schwierigkeiten waren. Einhundert Meter. Charriba stieß einen lauten Seufzer aus. Die Comanchen feuerten noch nicht. Sie wollten die Pferde haben, also warteten sie, bis sich die Reiter genug genähert hatten, um sie mit einem gezielten, sicheren Schuß aus den Sätteln zu werfen. „Und jetzt“, schrie Inky, „Feuer!“ Fast gleichzeitig richteten sich die beiden Männer in den Sätteln auf. Zwischen ihnen und den vordersten Comanchen lagen knapp vierzig Meter. Acht bis zehn Gewehrmündungen waren auf die Flüchtenden gerichtet. Charriba zog die Abzüge seiner Nadler durch. Eine Flut von Betäubungsgeschossen schlug den völlig überraschten Comanchen entgegen. Charriba brauchte nur langsam die Hände von links nach rechts zu bewegen. Bei der hohen Feuergeschwindigkeit seiner Waffen mußte jeder Angreifer früher oder später einen Treffer hinnehmen, der ausreichte, ihn binnen weniger Augenblicke bewußtlos werden zu lassen. Inky stieß ein triumphierendes Geheul aus, als die ersten Comanchen von den Pferden stürzten. Ihre Gefährten wichen erschreckt zurück. Sie hatten keinen Schuß gehört, kein Mündungsfeuer gesehen, und doch sanken ihre Begleiter, einer nach dem anderen, aus den Sätteln. Als Charriba und Inky die Linie der Comanchen passierten, lagen mehr als dreißig Reiter besinnungslos arn Boden. Ein halbes Dutzend Comanchen versuchte die Verfolgung
aufzunehmen, drehte aber bald ab und schloß sich dem allgemeinen Angriff auf das Lager der
Time-Squad an.
„Geschafft!“ murmelte Inky zufrieden und grinste. „Wohin jetzt?“
„Zuerst die Siedler“, schlug Charriba vor. „Sie können unseren Leuten helfen, die Comanchen
zurückzuschlagen.“
Inky nickte und gab seinem Pferd die Sporen.
Die beiden Männer wußten, daß die Zeit gegen sie arbeitete. Stunden würden vergehen, bis
die ersten Helfer aus den Reihen der Siedler in der Nähe des Time-Squad-Lagers eintreffen
konnten. Auf der anderen Seite wußte Charriba, daß sich die Gefährten mit den modernen
Waffen, die sie besaßen, notfalls tagelang gegen die Comanchen zur Wehr setzen konnten.
Nebeneinander jagten die beiden Reiter über die Prärie, dem Treck der Siedler entgegen, der
eigentlich dazu bestimmt war, in wenigen Stunden überfallen zu werden. Mehr als
dreihundert Menschen, hatte in dem Artikel der Frontier Gazette gestanden, waren dabei
umgekommen.
„Dort hinten sind sie!“ rief Inky plötzlich. „Vorwärts!“
Als ersten erkannte Charriba Chet wieder, den Anführer der Siedler. Der bullige Mann hob
sofort die Waffe, als er Charriba. wiedererkannte, und er ließ sie auch nicht sinken, als er
Inkys Kavallerieuniform sah.
„Gehört die Rothaut wirklich zu Ihnen, Sir?“ fragte er zweifelnd.
„Charriba ist unser Scout“, versicherte Inky, seiner Rolle entsprechend. „Hören Sie, einige
Meilen westlich von hier sitzen etliche Kameraden in der Falle. Wir wären Ihnen dankbar...“
„Was für eine Falle?“ fragte Chet dazwischen. „Indianer?“
„Comanchen“, erklärte Charriba. „Wir überraschten sie auf dem Weg hierher. Sie wollten den
Treck überfallen, und ich vermute, es wäre ihnen auch gelungen, hätten wir sie nicht
erwischt.“
Chet zog die Nase in die Höhe.
„Also gut“, erklärte er schließlich. „Wir werden Ihnen natürlich helfen, Sir. Sind Sie sicher,
daß keine weiteren Indianer in der Nähe sind?“
Charriba nickte stumm.
„Männer!“ brüllte Chet nach dieser Antwort. „Auf die Pferde. Wir werden es diesem roten
Gesindel zeigen!“
Während er brüllte, konnte er Charriba genau sehen, aber er dachte nicht daran, irgendeine
Bemerkung zu machen, daß sich seine Äußerung nur auf abwesende Indianer bezog. Der Haß
dieses Mannes machte vor nichts halt.
Charriba brauchte keine große Phantasie, um sich auszurechnen, was geschehen würde, wenn
die Siedler die Comanchen erreichten.
Es würde ein Blutbad geben, ein Massaker - nur daß diesmal nicht die Siedler, sondern die
Indianer die Opfer sein würden.
Charriba verzog die Lippen zu einem bitteren Lächeln.
Vielleicht war das die wirkliche Summe aller Geschichtswissenschaft: daß die Geschichte,
nicht allein eine Ansammlung von Leiden, Entbehrungen und Not, von Unfreiheit,
Rechtlosigkeit, Gewalt, Mord und Tod gewesen war, daß in ihr vielmehr ein Gesetz herrschte
- die bindende Vorschrift, daß immer Menschen zu leiden hatten, so oder so, wer auch immer betroffen war. Wenn der Gegner der Time-Squad in den Lauf der Geschichte eingriff, tat er eigentlich nur eines - er verteilte das Elend und den Tod um. Der Gegner wollte, daß die Weißen in Amerika den Blutzoll zu zahlen hatten, daß sie von der Landkarte des Kontinents verschwanden. Menschen mußten in beiden Fällen sterben, unschuldige Menschen. So betrachtet, war es gleichgültig, wer gestorben war oder noch sterben mußte. Wichtig war nur, ob irgendein Wesen, gleichgültig, wie es aussah oder hieß, diesen historischen Prozeß nach seinem Gutdünken beeinflußte - und wenn, welche Ziele dieses Wesen damit verfolgte. „Vorsicht!“ flüsterte Charriba.
Erst jetzt, bei Tagesanbruch, bemerkte er, daß er auf seiner Flucht vor den Comanchen einen riesigen Bogen geschlagen hatte. Der unmittelbare Weg zwischen den drei Lagern Comanchen, Siedler und Time-Squad - war erheblich kürzer, als er angenommen hatte. „Das Lager der Comanchen!“ sagte Charriba halblaut. Die beiden Männer hobbelten die Pferde an und schlichen sich zu Fuß näher an das Lager heran. Zu sehen waren fast nur noch Frauen und kleine Kinder. Die älteren Jungen waren offenbar schon mitgezogen gegen den Feind. „Wo ist die Zeitmaschine?“ flüsterte Inky. Charriba deutete auf die rauchgeschwärzte Öffnung in dem gegenüberliegenden Hügelzug. Deutlich waren die Spuren der Explosionen zu erkennen. Auf dem Boden lagen Trümmerstücke, in einer ziemlich geraden Spur von der Höhle weg. Die Höhlung hatte ähnlich wie ein Gewehrlauf gewirkt und bei der Explosion die Detonationswellen in eine bestimmte Richtung gelenkt. „Eigentlich dürfte dort oben nichts mehr intakt sein“, überlegte Inky halblaut. „Aber diesem Burschen Valcarcel traue ich alles zu. Bist du sicher, daß es Valcarcel ist?“ „Der Häuptling nannte ihn so“, erklärte Charriba. „Von selbst wäre ich nie auf den Namen gekommen. Allerdings sieht er nicht so aus, wie du ihn mir beschrieben hast.“ Inky blieb abrupt stehen. „Ich habe einen schrecklichen Verdacht“,. sagte er dumpf. „Was ist, wenn Valcarcel gar kein Eigenname ist - sondern eine Sammelbezeichnung? Wenn ich dich Rothaut nenne und du mich Bleichgesicht rufst, dann ist das schließlich auch kein Name!“ Charriba spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Auch er hatte bisher praktisch nur an den Zeit-Zauberer, an das Einzelwesen Valcarcel gedacht. Die Vorstellung, daß es ein Volk, eine ganze Rasse solcher Wesen gab, war schreckenerregend. Gegen einen Massenansturm dieser Wesen hatte die Erde nichts aufzubieten. Inky griff sich an den Kopf. „Unsinn“, sagte er und grinste erleichtert. „Wir haben ja Valcarcels Masken gefunden und...“ Er wollte vernichtet sagen, aber dann fiel ihm ein, daß das nicht stimmen konnte - schließlich hatte Valcarcel - der Valcarcel oder ein Valcarcel - einen deutlichen Nachweis seiner Existenz gegeben. „Wir werden dieses Problem später klären“, murmelte er schließlich. „Jetzt wollen wir uns zunächst einmal um die Höhle kümmern!“ Charriba spähte zu dem Hügelzug hinüber. Von Valcarcel war nichts zu sehen, auch das Pentagramm auf dem Boden war verschwunden. In diesem Augenblick fiel ihm auch ein, daß er einen der Männer, die das Zeichen gebildet hatten, bei dem Durchbruch durch die Reihen der Comanchen gesehen hatte. Die Frauen waren damit beschäftigt, Korn zu mahlen und Kleider zu flicken. Erwachsene Männer waren keine mehr im Lager. Trotzdem bewegten sich die beiden Männer in einem weiten Bogen auf die Höhle zu, schon aus dem naheliegenden Grund, nicht Valcarcel auf sich aufmerksam zu machen. Mit äußerster Vorsicht bewegten sie sich auf die Höhle zu, dabei immer wieder hinter Büschen und Sträuchern Deckung suchend. So gelangten sie ungesehen bis an den Eingang zur Höhle. Ein stechender Brandgeruch schlug ihnen entgegen. Dann sah Charriba Valcarcel, jedenfalls erkannte er einen älteren Indiander, der ihm den Rücken zukehrte. Charriba schoß, ohne auch nur einen Sekundenbruchteil zu zögern, Die Narkonadeln schlugen in dichter Folge in den Körper des Alten ein, und als Inky die Höhle betrat, eröffnete auch er das Feuer. Normale Menschen brachen nach einem Treffer innerhalb kurzer Zeit zusammen und waren bewußtlos. Die Zeit zwischen einem Treffer und der Besinnungslosigkeit des Getroffenen lag zwischen vier und zwanzig Sekunden, je nachdem, wie dicht am Herzen die Nadel in den Körper eingedrungen war. Traf eine Narkonadel unmittelbar in eine Halsschlagader, war der
Betroffene innerhalb einer Sekunde bewußtlos.
Valcarcel hielt sich fast eine halbe Minute lang, obwohl jeder Kubikzentimeter seines Blutes
mit dem Betäubungsmittel überschwemmt sein mußte. Charriba hatte sogar zwei Treffer im
Hals erzielt, ohne jedoch zu erreichen, daß Valcarcel früher die Besinnung verlor.
Endlich aber stürzte der Medizinmann auf den steinigen Boden. Die beiden Männer sahen
sich an und grinsten fast gleichzeitig.
„Dieses Problem wäre gelöst“, stellte Charriba fest.
Inky preßte die Kiefer zusammen.
„Ich bin mir nicht ganz sicher“, sagte er sehr leise. „Bei Valcarcel kann man nie wissen.“
Die beiden Männer sahen sich in der Höhle um. Deutlich waren die Spuren der Explosionen
zu sehen. Die Wände waren rauchgeschwärzt, überall lagen Metallfetzen, aufgeplatzte
Messingpatronen, geschmolzene Bleigeschosse und Trümmer der Packkisten auf dem Boden.
Einzelne Trümmer hatten sich tief in die Wände gebohrt.
Nur die Zeitmaschine schien völlig unbeschädigt zu sein. Nirgendwo entdeckte Inky auch nur
den kleinsten Kratzer.
Charriba trat näher und betrachtete die Stellung der Hebel.
„Er hat alles wieder auf Normalstellung gebracht“, erklärte er Inky.
Der zuckte mit den Schultern. Vorsichtshalber griff er nach Valcarcel. Der Zeit-Zauberer war
schon einmal Gefangener der Time-Squad gewesen; Inky selbst hatte mitgeholfen, ihn von
Atlantis zu verschleppen. Diesmal fühlte sich der Körper nicht schlaff und nachgiebig an, wie
man es von einem Bewußtlosen erwarten konnte. Valcarcel wirkte vielmehr wie gefrorern,
auch seine Körpertemperatur war stark abgesunken.
„Wenn er auch nur den kleinen Finger bewegt, schießt du!“ bestimmte Inky. Charriba nickte.
Es widerstrebte ihm, auf Wehrlose zu schießen, aber dieser Fall unterschied sich von allen
anderen Fällen. „Und wenn er sich nach einem Magazin von Nadeln immer noch rührt“, fuhr
Inky fort, „dann nimmst du dein Messer. Keine Rücksichtnahme!“
„So blutrünstig?“ meinte Charriba mit leisem Spott.
Inka sah ihn verweisend an.
„Keine Blutgier“, sagte er dann kalt und ehrlich. „Nur Angst!“
Er machte sich an der Zeitmaschine zu schaffen. Mit Charribas Bowieknife versuchte er, die
Verkleidungsplatten abzumontieren, die die Zusatzeinrichtungen dieser Zeitmaschine
verbargen. Er mußte fast eine halbe Stunde arbeiten, bis es ihm gelang.
Ein Gewirr von Drähten wurde sichtbar, und in der Mitte dieses Gespinstes saß ein
kopfgroßer Gegenstand aus Metall. Er sah aus wie eine Kugel mit Dutzenden von
Anschlüssen für Leitungen. Inky versuchte, den Sinn dieses Systems zu erfassen. Es hatte
ganz den Anschein, als würden alle Leitungen früher oder später entweder in diese Kugel
münden oder aber - das war Frage des Standpunktes - aus ihr hervorgehen. In jedem Fall
stand fest, daß diese Kugel das Zentrum der Zusatzeinrichtungen darstellte, die die
Zeitmaschinen des Gegners um so viel wirkungsvoller machten als die Modelle der Time-
Squad. Inky rieb sich mit dem Finger an der Nase. Sein Blick wanderte von der Zeitmaschine
zu Valcarcel, wieder zurück, hin und her.
„Was überlegst du?“ wollte Charriba wissen. Ab und zu sah er nach, was sich im Lager der
Comanchen tat. Noch schien niemand die Eindringlinge bemerkt zu haben.
Inky lächelte verzerrt.
„Was halst du von einem Mord?“ fragte er ruhig.
„An wem? Und wofür?“
„An dem da, im Interesse der ganzen Menschheit!“
Inky deutete auf Valcarcel.
„Ihn mitzunehmen, hat wenig Sinn. Er ist uns schon einmal entsprungen, und als er in der
Zentrale der Time-Squad angeblich starb, hat er es sogar fertiggebracht, aus einem dichten
Energiefeld zu entkommen. Nein, Valcarcel kann man nicht gefangennehmen.“
Inky ging auf die Zeitmaschine zu und stellte Koordinaten ein. Er tat es ohne Plan und Ziel,
suchte sich einfach eine Kombination von Zahlen aus, die ihm gefielen. Dann griff er nach
dem Körper des Zeit-Zauberers.
„Hilf mir!“
Gemeinsam schafften sie den Körper auf die Transportplattform. Erstaunt stellte Inky fest,
daß bei diesem Typ Zeitmaschine der Körper des Zeitreisenden nicht von Druckluft in der
Schwebe gehalten wurde, sondern ebenfalls von den Zusatzgeräten, vermutlich auf der Basis
der Antigravitation.
„Wenn ich diesen Hebel betätige“, sagte Inky langsam, „wird Valcarcel eine Reise antreten.
Er wird an irgendeinem Ort des Universums herauskommen, zu irgendeiner Zeit. Und es
müßte mit dem Teufel zugehen, wenn er dort nicht bliebe. Vielleicht haben wir Glück, und er
landet im Innern einer Supernova!“ „Das ist...“, stotterte Charriba.
„Mord“, sagte Inky kalt. „Nackter, feiger Mord an einem Wehrlosen, der, wenn dieser Mord
nicht verübt wird, seinerseits Dutzende, Hunderte, vielleicht Millionen Morde verüben wird.
Zudem: Mörder ist, wer einen Menschen tötet. Dies hier ist kein Mensch!“
„Keine Spitzfindigkeiten“, wehrte Charriba ab. „Du kannst von keinem Gesetzgeber erwarten,
daß er die Erkenntnise von Science-Fiction-Romanen vorwegnimmt. Was du vorhast, ist
Mord!“
Charriba sah, wie Inky seine Waffe hob und auf ihn richtete.
„Du kannst es dir ansehen“, sagte Inky kalt. „Du kannst dabei aber auch schlafen, wenn du
das vorziehst. Du brauchst es nur zu sagen, ich drücke sofort ab!“
Charriba zuckte mit den Schultern.
„Ich kann dich nicht hindern!“ sagte er schließlich.
Obwohl er mit Inkys Handlungsweise nicht einverstanden sein konnte, erfüllte es ihn doch
mit einem gewissen Gefühl der Beruhigung und Erleichterung, als Inky die Zeitmaschine
einschaltete und sich Valcarcels Körper aufzulösen begann. Sobald nichts mehr von dem Zeit-
Zauberer zu sehen war, schaltete Inky die Maschine ab und steckte die Waffe weg.
Dann machte er sich an die Arbeit, die Zeitmaschine umzustellen. Die räumlichen
Koordinaten der Time-Squad-Zentrale kannte er wie jeder Agent der Time-Squad auswendig,
schließlich konnte sein Leben von dieser Kenntnis abhängen. Die zeitlichen Koordinaten
handhabte Inky etwas großzügiger.
„Los, auf die Platte!“ bestimmte er schließlich. „Versuche, ob du die Zentrale erreichen
kannst. D. C. soll so schnell wie möglich eine Verbindung zu den Kameraden herstellen!“
Charriba nickte und legte sich, auf die Transportplattform. Sanft hob ihn der Antigrav in die
Höhe.
„Fertig? Dann los!“
* Sobald Charriba angekommen war, warf er einen Blick auf die große Uhr. Danach waren seit seinem Aufbruch knapp fünf Minuten vergangen. Demeter Carol Washington war gerade dabei, den Raum zu verlassen, als sie Charriba bemerkte. Sie runzelte die Stirn. „Was ist geschehen?“ wollte sie wissen. „Unsere Leute werden von mehr als dreihundert Comanchen belagert“, berichtete Charriba schnell. „Wir brauchen ganz dringend Nadlergewehre. Mit den Handwaffen richten wir nichts aus, dafür sind die Comanchen zu gut bewaffnet. Valcarcel hat sie mit 73er Winchestern ausgerüstet.“ Die Tatsache, daß die Comanchen des Jahres 1856 mit Gewehren schossen, die erst siebzehn Jahre später gebaut wurden, schien D. C. nicht sonderlich zu beeindrucken. Der Name Valcarcel aber ließ sie hellwach werden. Mehr noch, Charriba sah, wie die Frau blaß wurde. „Sind Sie sicher, Charriba?“
„Hastig berichtete Charriba, was aus Valcarcel geworden war. Die Falten auf D. C. s Stirn wurden tiefer. „Das war sehr voreilig von Inky, aber ich verstehe, daß er so gehandelt hat. Wir brauchen Nadlergewehre, meine Damen und Herren! Sie werden nicht fürs Zuhören bezahlt!“ In den Reihen der Mitarbeiter, die ihre Arbeit vergessen zu haben schienen, kam Bewegung. Sie spritzten auseinander. Während die Fachleute die Zeitmaschine neu justierten - Charriba hatte ihnen ungefähr beschrieben, wo der Trupp geographisch zu suchen war -, schleppten andere die langläufigen Waffen heran und stapelten sie auf der Transportplattform. Ein Handgriff genügte, um sie in die Vergangenheit zu schicken. Zeitlich war diese Reise kein Problem, die einzige Gefahr bestand darin, daß die Waffen mitten unter den Comanchen auftauchten und für die Mitarbeiter der Time-Squad verloren waren. „Und ich möchte zu Valcarcels Maschine zurück!“ bat Charriba. „Ich kann meinen Grauen nicht im Stich lassen!“ D. C. lächelte verhalten.
„Das kann ich verstehen“, sagte sie. „Nehmen Sie diese Filmkamera mit. Inky soll das
Innenleben von Valcarcels Zeitmaschine genau aufnehmen. Wir sind an jeder Einzelheit
interessiert!“
Charriba nickte und machte sich erneut auf die Reise.
„Irgendwelche Neuigkeiten?“ erkundigte sich Inky wie beiläufig, als Charriba wieder bei ihm
auftauchte. Charriba drückte ihm die Kamera in die Hand und gab die Anordnung von D. C.
weiter.
„Als ob Fotografien uns weiterhelfen würden“, sagte Inky verächtlich. „Und was willst du
noch hier?“
„Ich hole meinen Grauen“, gab Charriba bekannt. „Ohne mein Pferd verlasse ich diese Zeit
nicht!“
Inky schlug sich mit der Hand gegen die Stirn.
„Wie kann man so unvernünftig sein“, stöhnte er auf. „Ist dir klar, wo dein vermaledeiter
Gaul steht? Dort drüben, auf der anderen Seite des Tales. Ich bezweifle nicht, daß es dir
gelingen wird, dich ungesehen dorthin zu schleichen. Aber ich wüßte wirklich gern, wie du es
dir vorstellst, das Pferd ungesehen in diese Höhle zu bekommen, vom Transport in die
Zukunft einmal ganz abgesehen!“
„Laß das meine Sorge sein, Inky“, verkündete Charriba. „Wieviel Zeit ist übrigens vergangen,
seit ich in Richtung zukunft abgereist bin?“ Inky zuckte mit den Schultern. „Ich schätze, du
bist drei Stunden lang in der Zentrale gewesen.“
„Drei Stunden?“ rief Charriba erstaunt. „Dann müssen wir uns beeilen.“
Er berichtete Inky von D. C. s Rettungsmaßnahme.
„Die Schlacht müßte längst vorüber sein. Die Comanchen müssen bald hier auftauchen, und
mit was für Gefühlen sie uns begegnen werden, brauche ich dir wohl nicht zu sagen.“
Inky nickte.
„Ein Beweis mehr für meine These, daß es blanker Wahnsinn ist, dein Pferd mitnehmen zu
wollen. Ich lasse meinen Gaul schließlich auch hier zurück. Mögen die Comanchen damit
glücklich werden.“
Charriba zuckte mit den Schultern.
„Deine Ansicht“, sagte er gelassen. „Ich werde es versuchen. Wenn es nicht gelingt, ist es
mein Skalp gewesen.“
Ohne Inkys Protest abzuwarten, schlüpfte er aus der Höhle. Noch immer waren die Frauen
und Mädchen allein im Lager. Charriba wurde von niemandem gesehen, als er zu seinem
Pferd schlich.
Es bereitete ihm auch wenig Mühe, den Grauen bis dicht an die Höhle heranzuführen, ohne
dabei Aufmerksamkeit zu erregen. Mit etwas Glück, hoffte er, konnte er vielleicht auch...
Er konnte den Grauen nicht unbemerkt in die Höhle leiten, denn in diesem Augenblick
erschien auf der nahegelegenen Kuppe eines Hügels ein Reiter in blauer Uniform. Er hielt nur für kurze Zeit auf dem Hügel an, dann setzte er sein Pferd wieder in Bewegung und preschte auf Charriba zu. Die Frauen im Lager der Comanchen erkannten den Reiter und flüchteten kreischend in die Zelte, ihre Kinder schleiften sie unsanft hinter sich her. „Hierher!“ brüllte Charriba, der in dem Reiter Joshua Slocum erkannt hatte. Slocum änderte seine Richtung und galoppierte geradewegs auf Charriba zu. Hinter ihm tauchten plötzlich Comanchen auf dem Hügel auf, die nach einem kurzen Rundblick sofort ihre Verfolgung fortsetzten. Im Tal sprang Slocum von seinem Pferd, das völlig erschöpft und mit groß flockigem Schaum bedeckt war. Keuchend und schnaufend kletterte der Mann den Abhang hinauf, der zur Höhle führte. Charriba zerrte den Grauen hinter sich und führte ihn in die Höhle. „Geschafft!“ meldete er triumphierend und lachte zufrieden. „Ich auch“, verkündete Inky stolz und hielt die Metallkugel aus dem Innern der Zeitmaschine in die Höhe. Charribas Augen weiteten sich, und im gleichen Augenblick erreichte ein ächzender Joshua Slocum die Höhle. „Wir müssen uns beeilen“, prustete er. „Unsere Arbeit ist erledigt. Wir haben die Comanchen mit den Nadlergewehren außer Gefecht gesetzt und ihre Waffen eingesammelt und in die Zentrale geschickt. Dann sind allerdings die Siedler über die Comanchen hergefallen. Es war ein ziemliches Massaker.“ „Das dachte ich mir“, murmelte Charriba bitter. „Ein paar Comanchen sind hinter mir her“, gab Slocum bekannt. „Wir sollten uns so rasch wie möglich absetzen.“ Inky machte sich am Schaltpult der Zeitmaschine zu schaffen, dann zuckte er mit den Schultern. „Tut mir leid, Freunde“, verkündete er unbeschwert, „aber wir werden noch ein Weilchen warten müssen. Ohne dieses Ding hier arbeitet die Maschine nicht!“ ‘ „Und warum hast du es ausgebaut?“ fragte Slocum entgeistert. „Wie sollen wir jetzt unsere Zeit erreichen? Charriba, führe endlich den Gaul aus der Höhle, er hat hier nichts zu suchen!“ „Ich habe D. C. eine Botschaft zukommen lassen“, gab Inky zur Antwort. „In ein paar Minuten wird sie die Maschine in der Zentrale aktivieren und uns abholen lassen. Ganz einfach!“ „Das erkläre bitte erst einmal den Comanchen“, bat Slocum und wies auf das Tal. Ein halbes Hundert hatte sich dort inzwischen eingefunden und bereitete sich auf eine Erstürmung der Höhle vor. Zum Glück für die Eingeschlossenen besaßen sie keine Waffen mehr, die nicht in die Zeit gepaßt hätten. „Vorsicht!“ warnte Charriba. „Die Comanchen wissen mit ihren Bögen umzugehen!“ Er hatte seine Warnung noch nicht ausgesprochen, als auch schon der erste Pfeil angeschwirrt kam und sich in den Sattel des Grauen bohrte. Slocum schoß mit seinem Gewehr zurück. Er zielte nur auf die Pferde, obwohl er sich klar darüber war, daß er mit diesem Verfahren nicht weit kommen würde. „Treibt endlich den Gaul aus der Höhle“, schimpfte er. „Man hat ja kaum Platz, um in Deckung zu gehen!“ „Der Graue bleibt hier!“ verkündete Charriba entschlossen. „Ich gehe nicht ohne mein Pferd!“ „Sturkopf!“ fluchte Inky. „Du und dein Gaul werden unser Ende sein!“ Charriba zuckte nur mit den Schultern, während er einen Pfeil abschoß, der Seven Bears an der Hüfte verwundete und so außer Gefecht setzte. Slocum schoß einem Vorwitzigen eine Feder aus dem Kopfschmuck, während Inky weiter an der Zeitmaschine herumarbeitete. „Endlich“, rief er erfreut. „Die Zentrale reagiert. D. C. holt uns ab.“ „Zuerst der Graue!“ bestimmte Charriba. Inky stöhnte auf, Slocum legte ihm eine Hand auf die Schulter.
„In der Zeit, die wir mit Diskussionen vertrödeln, ist der Gaul dreimal in die Zukunft
transportiert. Also vorwärts!“
Zufrieden klopfte Charriba dem Grauen den Hals. Inky machte ein säuerliches Gesicht. Im
allerletzten Augenblick hatte er noch einen Pfeil abbekommen, und das an einer sehr wenig
rühmlichen Stelle.
„Schickt einige Schmerzbomben zurück“, bat er weinerlich. „Valcarcels Zeitmaschine ist
noch einigermaßen intakt!“
Eine halbe Minute später waren die Ladungen unterwegs. Sie würden die Zeitmaschine des
Zeit-Zauberers zu einem nicht mehr identifizierbaren Metallklumpen zusammenschmelzen.
Damit war dieses Abenteuer abgeschlossen.
„Wie hat es Ihnen gefallen, Charriba?“
Charriba lächelte, als D. C. ihn fragte.
„Es hat Spaß gemacht!“
„Wollen Sie auf Dauer für die Zeit-Schwadron arbeiten?“
„Selbstverständlich“, antwortete Charriba schnell. Er hatte auf diese Frage gehofft. „Nur...“
„Natürlich mit Ihrem Pferd. Wir bringen keine Freunde auseinander. Damit Sie es am Anfang
einfacher haben, werden Sie fürs erste mit Inky zusammenziehen!“
Inky fuhr in die Höhe.
„D. C. , sagte er. „Das geht doch nicht. Das können Sie nicht mit mir machen. So bleiben Sie
doch stehen, laufen Sie nicht weg. Das dürfen Sie nicht. Aua, meine Hüfte. D. C. , Sie können
mich doch nicht... Was habe ich Ihnen denn getan? Doch nicht mit einem Pferd, noch dazu
einem so häßlichen. D. C. , so hören Sie doch...“
ENDE