E. R. GREULICH
Der Untergang der „Golden Arrow“
VERLAG NEUES LEBEN BERLIN
1955
Alle Rechte vorbehalten Lizenz Nr. ...
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E. R. GREULICH
Der Untergang der „Golden Arrow“
VERLAG NEUES LEBEN BERLIN
1955
Alle Rechte vorbehalten Lizenz Nr. 308 (305/83/55) Umschlagzeichnung: Fritz Ahlers, Prieros (Mark) Gestaltung und Typographie: Kollektiv Neues Leben Druck: Karl-Marx-Werk, Pößneck, V15/30
Nebelfetzen jagten von der See die Elbe hoch, verhängten mit grauen Tüchern die ruhenden Kräne, trauernden Werften und Hellinge des Hamburger Hafens. Unruhig quirlten die Wasser, schwappten unwillig gegen die Kaimauern und gurgelten warnend in den Fleets. Es schien, als ob der Heiligabend des Jahres 1952 ein Satanswetter bescheren und den Seeleuten statt des Christkindes eher den ,Klabautermann’ bringen wollte.
Wie in ängstlicher Erwartung lag die „Golden Arrow“. Der Funkoffizier Smith hatte einen Funkspruch der New-Yorker Reederei Holbrandsen auf den Schreibtisch des Kapitäns gelegt und wollte eben die Kajüte verlassen. „Hallo, Smith“, sagte Kapitän Paulsen, „einen Augenblick!“ Smith zog die Tür wieder zu. „Was ist, Sir?“ „Ich möchte mir einen besonderen Hinweis auf Ihren Diensteid ersparen, Smith. Kurz und gut: Von diesem Telegramm darf die Mannschaft unter keinen Umständen erfahren.“ Einen Augenblick blitzte in Smiths Augen Widerstand auf. Dann preßte sich sein Mund zusammen, und während er sich zum Gehen wandte, sagte er scheinbar gleichgültig: „Ich weiß Bescheid, Sir.“ Kurze Zeit nach dieser Unterredung kam der Lotse an Bord. Das war ein Alarmsignal für die zweiundvierzigköpfige Besatzung. Verbittert und aufgeregt kamen die Männer in der Back, in den Gängen und im Kesselraum zusammen, ballten die Fäuste und schrien ihre Wut hinaus. Der Erste Steuermann O’Brien tauchte vor der Kapitänskajüte auf. Ohne eine Antwort auf sein Klopfen abzuwarten, trat er ein. Unwillig schaute Paulsen von seinen Papieren auf. „Was gibt’s, Pat?“ O’Brien sah dem Kapitän eine Sekunde lang schweigend ins Gesicht. „Das weißt du besser als ich, Holger.“ Der Kapitän räusperte sich ärgerlich. „Ich weiß gar
nichts.“ O’Brien bettete seinen Priem von der rechten in die linke Backe und versuchte seine Erregung niederzukämpfen. „Die Wettermeldungen sind schlimm, alle Seewarten warnen, aber du holst den Lotsen aufs Schiff.“ „Und?“ „Das heißt, daß du auslaufen willst.“ „Nicht ich, Pat, unsere Reederei will es.“ Paulsen bemühte sich, verbindlich zu lächeln und reichte O’Brien das Telegramm. Der las halblaut: „golden arrow sofort in see stechen – stop – müssen terminbedingte lieferverträge einhalten – stop – im Weigerungsfälle fällt nach seerecht strafe auf kapitän…“ „Damit dürfte die Angelegenheit klargestellt sein.“ Der Triumph in Paulsens Stimme war nicht zu überhören. „No!“ O’Brien mahlte mit den Backenknochen, es sah aus, als sträubten sich seine silbergrauen buschigen Augenbrauen. Paulsen stand auf, seine Stimme klang fremd. „Bist du der Kapitän der ,Golden Arrow’ oder ich?“ Der Steuermann lachte grimmig. „Kapitän bist du, aber nun mußt du beweisen, daß du ein guter Kapitän bist.“ „Was soll das heißen?“ „Funke zurück: ,Auslaufen bedeutet Selbstmord’.“ „Du bist wahnsinnig, Pat!“ „Ich bin ein alter Seemann, der Recht von Unrecht zu unterscheiden weiß.“ „Demnach wäre ich…“
„Du allein bringst den Kahn nicht über den Ozean.“ „Was willst du damit sagen?“ „Die Männer werden nicht mitmachen. Sie haben sich auf ihren Weihnachtsbaum heute abend gefreut und auf eine Extraration steifen Grog.“ „Meine Befehle sind auszuführen. Für beschauliche Weihnachtsfeiern bekommen sie ihre Heuer nicht.“ Traurig, fast erschrocken starrte O’Brien den Kapitän an. „Wie redest du, Holger? So kenne ich dich nicht.“ Der Kapitän war nicht mehr in der Lage, seine Erregung niederzuhalten. „Das gleiche muß ich von dir sagen. Wenn ich mich weigere, bin ich ein erledigter Mann. Du weißt so gut wie ich, daß einige Herren aus dem Pentagon für die schnelle Beförderung eines Teils unserer Ladung großes Interesse haben.“ Der ablehnende Zug wich nicht aus der Miene O’Briens. „Wiegt das schwerer als zweiundvierzig Menschenleben?“ „Du tust, als seien wir schon am Absaufen.“ „Die Wahrscheinlichkeit steht eins zu zehn. Dir ist bekannt, daß die Kaiser-Särge bei harter See gern in der Mitte durchbrechen.“ „Du bist Junggeselle, Pat. Ich habe Familie und kann mir nicht erlauben…“ „Gerade deswegen, Holger. Denk an deine Familie und vergiß nicht, daß die Reederei machtlos ist, wenn die ganze Mannschaft vor dem Seegericht aussagt…“ „Die Mannschaft?“ Paulsen lachte bitter. „Wenn da jeder einzelne in die Mache genommen wird, klappen sie zusammen wie ein Taschenmesser.“ „So wenig Vertrauen zu den Jungen? Dann dürftest
du erst recht nicht auslaufen.“ Paulsen trat dicht vor seinen Steuermann und sagte beschwörend: „Hast du den 23. August vergessen?“ O’Brien schüttelte den Kopf. „Den werde ich nie vergessen. Aber noch ist nicht aller Tage Abend. Einmal wird Szillat den Lohn für seine Tat ernten.“ Er wandte sich zur Tür. „Versuche Gott nicht, Holger! Laufe nicht aus!“ „Ich kann nicht anders“, sagte der Kapitän, es war das Flüstern eines Erpreßten. „Und ich bitte dich, Pat, wiegele die Mannschaft nicht auf. Hilf mir, daß wir trotz des Wetters heil nach New York kommen. Das ist deine Pflicht als Erster Steuermann.“ O’Brien antwortete nicht mehr. Geistesabwesend schlich er in seine Kajüte. Hier nahm er aus dem Wandschrank eine riesige Flasche Whisky und setzte sie an den Mund. Verbittert starrte er vor sich hin. Welch ein Jammerlappen wurde aus einem freien amerikanischen Kapitän, wenn er Fracht für den Generalstab führte. Dann spielten Menschenleben keine Rolle. O’Brien war voller Gewissensnot. Ihn an den 23. August zu erinnern, war ein gemeiner Trick. Das schwächte das Vertrauen zur Mannschaft. Der Steuermann nahm wieder einen Schluck. „Gott, du bist Zeuge, daß ich es nicht wollte“, murmelte er. Während Pat O’Brien sich dem Schicksal überließ und seinen Kummer mit Alkohol wegzuspülen versuchte, hatte Paulsen den Zweiten Steuermann Szillat holen lassen. „Nun?“ Der Kapitän blickte kühl. Auch der Unein-
geweihte hätte gemerkt, daß die beiden Männer einander haßten. „Die Boys meutern, Sir. Besonders die KesselraumCrew. Behaupten, jetzt auszulaufen, sei gegen jeden Seemannsbrauch.“ „Wieso?“ „Weil das Wetter auf Sturm steht; außerdem ist Heiligabend.“ „Gehen Sie zu den Boys und bestellen Sie einen schönen Gruß. Es ist Seemannsbrauch, daß der Kapitän über das Auslaufen bestimmt.“ „Sehr wohl, Sir.“ Szillat wollte gehen. „Und noch eins: Sie wissen, daß wir in einer halben Stunde loswerfen. Ich mache Sie verantwortlich, daß alles klargeht. O’Brien fühlt sich nicht wohl.“ Der Zweite Steuermann war an der Tür stehengeblieben. Die letzten Worte des Kapitäns riefen ein Grinsen auf seinem hübschen Gesicht hervor. Er nahm Haltung an und sagte frohlockend: „In Ordnung, Sir.“ Paulsen war angewidert und hatte Mühe, dieses Gefühl zu unterdrücken. „Denken Sie an Ihre Autorität als Schiffsoffizier, Szillat. Regeln Sie alles ohne Skandal. Ich liebe es nicht, wenn man mit Waffen herumfuchtelt. Die Boys sind amerikanische Staatsbürger, keine afrikanischen Nigger.“ „Sehr wohl, Sir.“ Der Verwarnte verschwand. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, als seine Rechte in die Hosentasche fuhr, Liebkosend strichen seine Finger über den kühlen Stahl des zierlichen Brownings. Während er gewandt in den Kesselraum hinabstieg, kicherte er belustigt. „Der Trottel will mich leh-
ren, wie man mit der Bande umzuspringen hat.“ Der Kesselraum war voller Matrosen. Auch die Decksleute und sogar der Smutje und sein Gehilfe befanden sich unter den Schimpfenden. Als der Zweite Steuermann auftauchte, trat Totenstille ein. Den Haß, der ihm entgegenschlug, empfand Szillat wie eine Bestätigung dafür, daß er sein Leben richtig eingerichtet hatte. Er sah einen nach dem andern an. „Ihr feiert wohl schon Heiligabend?“ Jan Blackett, der Erste Heizer, spie einen Priem auf das schwarze Blech und sagte: „Wenn Ihnen zum Feiern zumute ist, uns nicht.“ Der Zweite Steuermann tat, als habe er die Herausforderung nicht bemerkt. „Dann ist ja alles gut. Sollte nur einen schönen Gruß vom Käptn bestellen, feiern ist leider nicht. In einer halben Stunde dampfen wir raus.“ „Wenn wir wollen“, kam es aus dem Munde Blakketts. Voll liebenswürdigen Hohns wandte sich Szillat an den Sprecher. „Sie wollen, Blackett – bestimmt. Dienstverweigerung ist eine üble Sache, die sich kein amerikanischer Seemann zuschulden kommen läßt und…“ „Selbstmord verweigern ist keine Dienstverweigerung!“ rief einer der finster blickenden Seeleute. „… und Meuterei darf von’ den Schiffsoffizieren mit jedem Mittel bekämpft werden“, fuhr Szillat ironisch fort. „Also los, Boys, an die Arbeit,“ Haßerfüllte Augen glühten in den dunklen Gesichtern, kein Mann rührte sich. „Nun gut.“ Szillat trat einige Schritte zurück, seine Augen glitzerten. „Ich mache euch darauf aufmerksam,
daß wir unter besonderer Weisung fahren. Wer meutert, kommt nicht nur vor das Seegericht, sondern wird sich auch vor dem Ausschuß gegen unamerikanische Betätigung zu verantworten haben. Mit Kommunisten wird in den Staaten kurzer Prozeß gemacht. Jack Hillboom, hältst du zu den Kommunisten oder gehst du an die Arbeit?“ Der so plötzlich Angesprochene schaute erschrocken auf. Er war ein einfacher Seemann, der immer brav den Gewerkschaftsbeitrag bezahlt hatte. „Nein.“ „Was nein?“ herrschte ihn Szillat an. „Ich bin kein Kommunist.“ „Dann scher dich an die Arbeit!“ Mit gesenktem Kopf löste sich Hillboom aus der Gruppe seiner Kameraden und schlich wie ein geprügelter Hund davon. „Anthony White, gehörst du zu den Roten?“ „Ich bin kein Kommunist, Sir, aber ich…“ „Fasele nicht, marsch an Deck!“ befahl Szillat. Mit dem Schwächsten hatte er klug berechnend begonnen, und so löste er einen nach dem anderen aus der Mauer der Solidarität, bis im Kesselraum nur noch die Heizer und Maschinisten verblieben. „So, Boys, und nun macht keinen Unsinn.“ Szillat konnte sehr jovial werden. „Der Käptn hat nicht zum Spaß den Eimer seit heute morgen unter Dampf halten lassen. Geht an die Arbeit, und das kleine freundschaftliche Gespräch soll vergessen sein.“ Schweigend wandten sich die Männer ab. Triumphierenden Gesichts stieg der Zweite Steuermann nach oben.
Als er verschwunden war, rief Jan Blackett seine Kollegen wieder zusammen. Er sah einen nach dem andern an und sagte langsam, jedes Wort fiel wie ein Hammerschlag: „Wenn wir nicht wollen, läuft die ,Golden Arrow’ nicht aus.“ Die Matrosen schwiegen und versuchten seinen Blikken auszuweichen. Jim Bowling, der Zweite Heizer, sagte nach einer Weile leise: „Einzelaktionen kosten unnütze Opfer, Jan. Wir haben wieder mal zu sehr auf die Anständigkeit des Alten vertraut. Darum konnte Szillat uns übertölpeln.“ Die andern nickten. Jan Blackett blickte nachdenklich. Bowling war sein Freund und einer der Aufrechtesten. Seine sachlichen Worte trafen leider zu. Man mußte Geduld haben. Es hatte keinen Sinn, die Kameraden begeistern zu wollen, wenn sie vom Mißerfolg von vornherein überzeugt waren. „Wie ihr wollt. Aber denkt an unseren toten Abraham. Heute haben wir die zweite Niederlage durch Szillat einstecken müssen. Wenn wir das nicht vergessen, wird er das dritte Mal auf Granit beißen.“ „Damned, das soll er“, sagte Bowling, und es klang wie ein Schwur. Still gingen sie auseinander. Als die „Golden Arrow“ eine halbe Stunde später auslief, war der Sturm auf Windstärke 8 angestiegen. Das Ende der Wache brachte keine Erlösung für Blackett und Carravan wie sonst. Sie kamen vom Waschraum, standen im engen Mannschaftsraum und frottierten ihre muskulösen Körper. Der junge Heizer Carravan fühlte die Müdigkeit wie Blei in den Gliedern, aber sein Geist war hellwach. Durch seinen Kopf
irrlichterten Gedanken und Fragen. Erst kurz vor der Ausreise von New York war er für einen erkrankten Kollegen angeheuert worden, manches aus der Geschichte der „Golden Arrow“ und ihrer Mannschaft war ihm unbekannt. Jan Blackett stand vor ihm und bearbeitete sich die Haut mit dem rauhen Handtuch. Das Schlingern und Stampfen des Schiffes, die gefahrdrohende Situation, konnten ihm nicht die Freude an diesem belebenden Tun nehmen. Schon mehrmals hatte Carravan zu einer Frage angesetzt; Blackett wartete ab, ihm innerlich zugetan. Geschickt in dem schwankenden Raum den Halt bewahrend, streiften sie voller Wohlbehagen die sauberen Hemden über. Blackett entdeckte ein kleines Loch in dem weißen Baumwollstoff auf der Schulter Carravans. „Sofort stopfen, morgen ist es doppelt so groß“, sagte er und wies mit seinem rauhen Finger auf die schadhafte Stelle. Der Jüngere zögerte, besah unschlüssig den Schaden. „Mach schon“, Blackett nickte väterlich, „ich hole inzwischen Tee.“ Als er wiederkam, saß Carravan da und stopfte. Dankbar sah er dem Älteren zu, als der für sie beide Brot schnitt und ihm einen halbvollen Becher Tee zwischen die Knie schob. „Wer war Abraham?“ fragte Carravan und biß den Faden mit seinen gesunden, weißen Zähnen durch. Blackett sah den Jungen an, in seinem Gesicht war Trauer, aber auch Zorn. Er hörte auf zu kauen und begann: „Abraham war wohl einer der besten Kerle, die jemals die See befahren haben. Und dabei ein Smutje –
Kochkünstler wäre die bessere Bezeichnung für ihn gewesen. Keiner, nicht einmal sein Gehilfe, hätte beweisen können, daß Abraham manchen guten Happen vom Offiziersessen zur Verbesserung des Mannschaftsessens verwendete. Denn trotz dieser kleinen Geheimnisse genoß er wegen seiner Kochkünste Ansehen bei den Offizieren. Nur bei Szillat nicht. Wenn der ihn nur sah, wurde er nervös. Er ließ keine Gelegenheit ungenützt, den ,dreckigen Nigger’ zu demütigen. Abraham nahm es mit überlegener Zurückhaltung. Mehrmals wollten wir eine Delegation zum Käptn schicken, damit er diese Behandlung Abrahams durch Szillat unterbinde. Aber immer stellte sich Abraham dagegen. Wären wir nur zum Alten gegangen. Ich spürte von Anfang an, daß der Ku-Klux-Klan-Mann Szillat nicht nur seinen Rassenhochmut an irgendeinem Neger auszulassen versuchte. Vielleicht fühlten das die andern nicht so, weil sie nicht dabeigewesen waren, als sich Abraham und Szillat das erste Mal auf der ,Golden Arrow’ begegneten, Unser Zweiter Steuermann hatte abgemustert, weil er in die Marine eingetreten war. In Boston kam Szillat als Ersatz an Bord. Er dirigierte eben seine Kofferträger die Gänge entlang, als ich aus der Kombüsentür trat, um mit meinem Tee zur Back zu verschwinden. Abraham rief mir wie meistens freundliche Worte nach, da erblickte er Szillat. Der Satz erstarb ihm auf den Lippen, er wandte sich um und verschwand in seiner Kombüse. Einmal hatte Szillat ihn wieder beschimpft, weil er ihm angeblich nicht schnell genug aus dem Weg ge-
gangen war. Abraham hantierte traurig herum. Abraham’, sagte ich, ,warum haßt er dich?’ Sein Blick wurde sinnend; er stellte die Feuerung kleiner und berichtete. Nach langer Arbeitslosigkeit hatte er in einer New Yorker Hafenkneipe als Koch angemustert. Die Stelle hatte ihm seine Nichte verschafft. Leila spülte Gläser, schälte Kartoffeln und machte jede Arbeit, die von ihr verlangt wurde. Sie war fleißig und gutmütig, und Abraham war ihr sehr zugetan. Ihr Vater war ein Weißer, der sich nie um das uneheliche Kind der Negerin gekümmert hatte und in einer dunklen Geschichte ums Leben gekommen sein soll. Wenn in der Kneipe Hochbetrieb war, mußte Leila als Kellnerin aushelfen. Mancher Brandy mehr wurde ihretwegen getrunken, mancher Dollar mehr blieb in der Hafenschenke. Die Janmaate sind wenig angekränkelt vom Rassendünkel. Mit ihrer Freundlichkeit verstand es Leila, alle Draufgänger manierlich zu halten, ohne sich Feinde zu schaffen. Die Schenke war eine Seemannskneipe, aber keine Spelunke. Das wurde anders, als eines Tages Szillat auftauchte. Er hatte einige finstere Gesellen um sich. Sie gehörten zu einem Rauschgiftschmugglerring, und Szillat war ihr Boß. Die Biederkeit der Schenke brauchten sie als Tarnung für ihre dunklen Geschäfte. Zuerst beteiligten sie den Wirt an ihren Komplotten. Immer dreister handelten sie mit ihren seelenvergiftenden Drogen, gegen die der Alkohol ein harmloses Vergnügen bedeutet. Aber die meisten der dort verkehrenden Sailors und Hafenarbeiter haßten die Gangster. Szillat interessierte sich sehr bald für Leila. Je be-
stimmter sie Abstand hielt, desto begehrlicher wurde Szillat. Er versuchte es mit Treueschwüren und Geschenken, lud das Mädchen ein, mitzutrinken. Leila ließ es stets bei einem Glas Wein. Das genügte der Höflichkeit und lähmte ihren Widerstand nicht. Abraham hatte ein waches Auge für seine Nichte. Deshalb traf ihn der Haß Szillats. Die Hafenbar wurde zur Hölle. Wenn Szillat betrunken war, versuchte er alle Gäste zu schikanieren, nachdem er sie erst mit Brandy traktiert hatte. Er spielte sich als Pascha auf und tat, als sei Leila seine Lieblingsfrau. Das war dem Mädchen derart widerwärtig, daß sie bei solchen Gelegenheiten verschwand und Szillat in sinnloser Wut zurückließ. Er schwor, sie über kurz oder lang zu besitzen, und sei es mit List und Gewalt. Nach einem solchen Vorfall drohte der Wirt mit Entlassung. Abraham kam ihm zuvor und kündigte für sie beide. Als Szillat nüchtern war, spielte er den Reumütigen. Freundlich schob er Leila ein Glas Wein hin, forderte sie auf, eine Zigarette mit ihm zu rauchen. Im Wein befand sich ein Schlafpulver. Leila wurden die Glieder schwer, über ihre Augen fielen Schleier der Müdigkeit, und nur mit Mühe erhob sie sich, um wankend ihre Kammer aufzusuchen. Sie erreichte den ersten Podest des dämmerigen Stiegenhauses, dann überkam sie unüberwindliche Sehnsucht, einen Augenblick auszuruhen. Wie in einem verworrenen Traum fühlte sie, daß sie aufgehoben wurde und die Treppe hinabschwebte – dann war alles nur noch gähnende Schwärze. Die Komplizen trugen das bewußtlose Mädchen in den Wagen. Der Anlasser heulte auf – da kam Abraham
dazu. Ein Blick ins Wageninnere bestätigte seinen Verdacht. Fluchend gab Szillat Gas und raste davon. Er ahnte nicht, daß Abraham längst wußte, wo die Straße lag, in der sich seine luxuriös eingerichtete geheime Wohnung befand. Hastig berichtete Abraham befreundeten Seeleuten von dem Schurkenstreich. Sie sprangen in den Wagen des Wirts und fuhren den Gangstern nach. Auf ihr Klopfen öffnete niemand, doch Szillat mußte da sein, sein Ford stand vor dem Haus. Während zwei Freunde durch ununterbrochenes Klingeln den Banditen in Unruhe hielten, holten die anderen einen Polizisten, der mit ihnen sympathisierte. Szillat raste. Erst der Hinweis des Polizisten, daß auf Kidnapping Todesstrafe stehe, machte ihn gefügiger. Starke Seemannsarme trugen die bewußtlose Leila aus dem Gangsternest fort. Der Menschenraub brachte das Hafenviertel auf die Beine. Die Seeleute gingen zur Hafenarbeitergewerkschaft und zur Berufsvereinigung der Gaststättenangestellten. Wenige Stunden später erinnerte die Schenke an ein Totenhaus. Mit dem letzten Gast war auch der letzte Bediente aus dem Haus verschwunden. Der Wirt betrank sich an seinem eigenen Whisky und tröstete sich, morgen, spätestens übermorgen, würde alles vergessen sein. Er täuschte sich. Der Boykott der Hafenarbeiter und Seeleute legte sich wie ein undurchdringlicher Ring um die Schenke. Auch die Gangster blieben verschwunden. Die Warnung des Polizisten war Szillat in die Glieder gefahren. Wahrscheinlich hatte er das leichte Gangsterleben wieder mit seinem eigentlichen
Beruf vertauscht. Das ergab ein gutes Alibi, und auf fernen Meeren war er vor unliebsamen Überraschungen sicher. Nach knapp vier Wochen verkaufte der Wirt die Kneipe und verschwand aus der Gegend. Der neue Besitzer übernahm die alten Angestellten. Abraham hatte inzwischen auf der ,Golden Arrow’ angemustert, obwohl sie ein Kaiser-Sarg war. Aber die Gefahrenzulage ermöglichte ihm, besser für seine Schwester und Leila zu sorgen. Er wollte nicht, daß Leila in die Kneipe zurückkehrte, und schickte sie in ein Konservatorium, um sie in Gesang ausbilden zu lassen; sie hatte eine schöne Stimme. Dann kam das Zusammentreffen mit Szillat auf der ,Golden Arrow’ in Boston. Von da an wußte Abraham, daß sein Leben die Hölle sein würde. Aber er ertrug es; denn solange er mit Szillat auf dem gleichen Kasten schwamm, konnte er Leila niemals gefährlich werden. Das ging so bis zu jenem traurigen 23. August. Wir fuhren durch den Indischen Ozean, sollten Kautschuk und Felle aus Saigon holen. Tagelang schon brütete unerträgliche Hitze über der See. Das Eis wurde knapp, Eiswasser bekamen nur noch die Offiziere, bis auch das aufhörte. Das muß Szillat seinen Plan eingegeben haben. Er ging zu Abraham und forderte Eiswasser. Als ihm der nichts geben konnte, schoß er ihn nieder. Es war kein Zeuge vorhanden. Szillat sagte aus, er habe höflich Eiswasser gefordert, worauf er von Abraham unflätig beschimpft worden sei. Als er ebenfalls grob antwortete, sei der Koch mit dem Küchenbeil auf ihn
losgegangen, so daß er gezwungen war, in Notwehr zu handeln. Er bedauere es, ihn tödlich getroffen zu haben.“ Leise hatte Jan Blackett die Geschichte beendet und begann kleine Stücke Brot in den Tee zu tunken. „Und nie ist eine Verhandlung gewesen?“ fragte Herbert Carravan, der dem Bericht des älteren Kameraden aufmerksam gelauscht hatte. „Doch. Szillat hat Wort für Wort seine Aussage wiederholt. Du weißt, in den Staaten steht es im Falle Weißer contra Neger sowieso zehn zu eins.“ „Aber die Mannschaft, was hat die ausgesagt?“ fragte der Junge erregt. Blackett lachte bitter. „Wir haben ausgesagt, was wir wußten. Ich habe die ganze Geschichte zu Protokoll gegeben, nicht zu übersehende Indizien gegen einen Mörder.“ „Und was geschah?“ Blackett sah Carravan sinnend an. „Das Verfahren schwebt noch. Paulsen war sehr zurückhaltend mit seiner Aussage. Szillat wurde von der Reederei gedeckt, sie stellte ihm ausgezeichnete Anwälte. Erst da wurde uns richtig klar, daß Szillat als FBI-Mann auf unseren Eimer gebracht wurde, als Spion der Reederei und noch anderer Stellen.“ „Das Verfahren schwebt noch?“ Carravan schüttelte empört den Kopf. Blackett nickte. „Das Verfahren wird so lange schweben, wie wir ein Amerika haben, das Figuren wie McCarthy gängeln.“ Eine Weile saßen die beiden schweigend nebeneinander. Dann packte Herbert Carravan den Arm Blacketts.
„Es ist gut, das alles zu wissen, Jan. Ich danke dir für dein Vertrauen. Der Szillat wird eines Tages an seinen Gemeinheiten krepieren.“ „Wobei der Satan helfen möge,“ In Blacketts Augen war Haß. Nachdem die Stahltrossen losgeworfen und die beiden Schleppdampfer in den schützenden Hafen zurückgedampft waren, hatte der Lotse hinter Cuxhaven das Schiff verlassen. Die „Golden Arrow“ gewann das offene Meer und taumelte unter der Wucht der heranbrechenden Wogen. Sturm in Windstärke 10 erteilt den Menschen eine kräftige Lektion über die Winzigkeit eines 7000-Registertonnen-Schiffes inmitten tobender Elemente. Mürrisch und verbissen tat die Mannschaft ihren Dienst. Diesen Höllentanz am Heiligabend würde niemand in seinem Leben vergessen, und der sie dazu gepreßt hatte, den verwünschten sie in schwärzeste Verdammnis. Pat O’Brien hatte die Wache übernommen und brauchte all seine Kraft und Erfahrung, das Schiff auf Kurs zu halten. Da er es unter Deck nicht ausgehalten hatte, war Holger Paulsen ins Steuerhaus hinaufgestiegen und stand schweigend neben dem alten Freund. Wie ein Arzt auf den Herzschlag des Patienten, lauschte er auf die Meldungen und Durchsagen vom Kesselhaus und Maschinenraum, als zweifle er selbst, durch dieses Unwetter heil nach New York zu kommen. Leichtmatrose Buster Clark trat in den Raum, der aufund nieder schwankte wie vom Satan geschaukelt. Sein
Ölzeug triefte, und das abtropfende Wasser bildete Rinnsale auf dem Fußboden. Der Sturm hatte Clark den Atem genommen, mühsam stieß er hervor: „Das Deckhaus, Käptn, über Luke zwo ist das Deckhaus weggebrochen!“ Der Kapitän und sein Steuermann sahen sich einen Augenblick an. In den Augen O’Briens blitzte Vorwurf. Das ist der Anfang, dachte er, doch über seine Lippen kam kein Wort. Als könne es ihn stärken, zerrte der Kapitän das Kinnband seines Südwesters fester. Zusammen mit dem Matrosen verließ er das Steuerhaus. Mit ungeheurer Wucht brachen Sturzseen über das Deck. Wie aus Rieseneimern geschüttet, ergossen sich Wassermassen in das gähnende Loch, über dem noch vor kurzem das schützende Deckhaus gestanden hatte. Paulsen alarmierte alle verfügbaren Leute, auch die Reservewache ließ er holen. Nach anfänglichen Mißerfolgen gelang es, eine Persenning über das Loch zu spannen. Mehrere Matrosen verletzten sich dabei, der heulende Sturm verschlang ihre grimmigen Flüche. Zerschlagen kamen die Leute der Reservewache in ihre Unterkünfte, warfen sich ermattet in die Kojen, keiner schloß ein Auge. Paulsen kehrte ins Steuerhaus zurück. Noch immer nahm der Orkan an Heftigkeit zu. Nach einer Weile sah der Kapitän, daß der Freund hastige, unerklärliche Bewegungen ausführte. Nervös fragte er: „Pat, hast du getrunken?“ „Wollte Gott, es wäre das“, knurrte der Steuermann, „aber das Ruder muß gebrochen sein, wir treiben.“
Kurze Anfragen zu den Kontrollstationen bestätigten die fürchterliche Vermutung. Der Kapitän kämpfte sich zur Funkkabine hinüber, ordnete einen Funkspruch nach New York an, dann tastete er sich wieder zurück ans Steuerhaus. Mit geballten Fäusten stand O’Brien, der alte Seemann, da. Er haderte mit Gott, daß er ihnen schon so kurz nach dem Auslaufen diese Prüfung auferlegte. An alle Möglichkeiten hatte er gedacht, aber was war ein Steuermann vor einem Steuer, das ihm nicht mehr gehorchte? Wieder und wieder griff er in die Speichen, als wolle er diesen Schicksalsschlag nicht glauben. „Hast du SOS geben lassen?“ fragte er, ohne Paulsen anzusehen. Im Ton seiner Stimme war etwas wie das Klirren brechender Scheiben. „Ich erwarte Blitzantwort auf meine Anfrage“, sagte der Kapitän. „Du hast nicht…?“ preßte es sich aus der Kehle O’Briens. Vor ungläubigem Staunen schienen ihm die Augen aus den Höhlen zu treten. „Du weißt so gut wie ich, daß bei SOS die Bergungsdampfer auf uns loslaufen wie die Wölfe auf ein wehrloses Schaf.“ „Der Gottseibeiuns soll sie holen, wenn sie es nicht tun!“ schrie der Steuermann. „Pat, beherrsche dich“, forderte der Kapitän. „Du sprichst, als sei ich der Eigentümer des Schiffes, könnte tun und lassen, was ich will. Hat die Reederei nicht höhere Befehlsgewalt? Fahren wir nicht unter besonderer Weisung? Gibt es etwa keine Seefahrtsgerichte?“ „Der Teufel hole sie alle!“ fluchte O’Brien. Um sich
nicht zu vergessen, packte er aufs neue das Steuerrad und stöhnte bei dem vergeblichen Bemühen. Einem Trunkenen gleich torkelte das Schiff durch die brüllende See. Wie vom Sturm hereingefegt erschien Clark wieder im Steuerhaus. Er übergab dem Kapitän schweigend einen Funkspruch. Paulsen stierte auf den länglichen Zettel, reichte ihn dann O’Brien. Der las mit wutverzerrter Miene die lakonische Anweisung: „kein sos geben – kreuzer josuah bartlett läuft zur hilfeleistung aus – weitere anordnungen abwarten.“ „Skandal!“ Krachend sauste die Faust des Steuermanns auf den Armarturenrahmen nieder. „Sie wollen uns absaufen lassen wie die Ratten!“ Als hätte ihm dieser Fluch gegolten, verschwand Buster Clark scheu und geduckt aus dem Raum. Kurz nach ihm verließ auch der Kapitän das Steuerhaus. Unheimlich schnell verbreitete sich die Schreckensnachricht unter der Mannschaft. Wer es nicht vom Nebenmann erfuhr, dem verrieten es die hilflosen Bewegungen des Schiffes. Und bei diesem Wetter gab es keine Hoffnung auf Reparatur des gebrochenen Steuers, darüber war sich jeder klar. Wo würde sie der Sturm hintreiben? Wann würden sie auf ein Riff laufen oder stranden? Wie Automaten, denen der Strom genommen wurde, stellten die Maschinisten die Arbeit ein, dumpf brütend hockten die Heizer im Kesselraum. Dann kam die Nachricht, der Kapitän habe Verbot, SOS zu funken. Der Zorn ballte sich zu heftigen Worten, Empörung flackerte in Unterkunftsräumen und Kojen.
„Die Schweine haben Angst, sie kriegen ihre Spezialgeräte nicht schnell genug zum Krieg in Korea, deshalb riskieren sie lieber vierzig Menschenleben“, sagte Jan Blackett, und Flüche der Zustimmung antworteten ihm. Wie aus der Erde gewachsen, stand der Zweite Steuermann im Heizraum. „Es hat noch niemand Befehl gegeben, die Arbeit einzustellen!“ sagte er und sah sich herausfordernd um. „Los, Boys“, Jim Bowling stand auf, „kacheln wir ein, was das Zeug hält. Wenn wir mit Volldampf auflaufen, saufen wir wenigstens mit dem schönen Bewußtsein ab, bis zuletzt unsere Pflicht getan zu haben.“ Szillats Stimme zitterte vor Hohn. „Mit wieviel Kraft wir laufen, wird woanders bestimmt, Bowling. Sie haben Ihre Arbeit zu tun, solange nichts anderes angeordnet wird.“ Der junge Heizer Carravan ging langsam auf Szillat zu. „Sorgen Sie lieber dafür, daß SOS gegeben wird“, fauchte er. „An die Arbeit, Boys, laßt euch nicht reizen“, ertönte die tiefe Stimme Jan Blacketts. Die Fäuste Carravans entspannten sich, seine Arme sanken herab. Widerstrebend wandte er sich von dem Zweiten Steuermann ab und folgte dem Beispiel des besonneneren Kameraden. „Ich weiß ja, daß ihr vernünftige Boys seid!“ Es war, als ob ein höhnendes Echo seines Lachens nachklirre, noch als Szillat schon verschwunden war. „Was tun?“ fragte Jim Bowling den älteren Kamera-
den. Jan Blackett sah ihn an. „Abwarten, aber bereithalten. So billig schenken wir denen unser Leben nicht.“ Grimmig arbeiteten sie weiter. Pat O’Brien stand im Steuerhaus. Er starrte in das Toben hinter den dicken Scheiben. Phosphoreszierende Lichter tanzten auf den Spitzen der Wogen, beleuchteten gespenstisch den weißen Gischt. Auf immer höhere Berge schwang er sich, rollte heran und umfing das Schiff mit hundertfältigen Armen des Verderbens, ehe er triumphierend zerstob. Von Wasserhöhen wurde die „Golden Arrow“ in tiefe Wogentäler geschleudert, als sollte sie nie wieder daraus hervorkommen. Der ungeheure Druck ließ den Eisenleib knacken und krachen. Manches Unwetter, mehrere Schiffbrüche hatte O’Brien überlebt, aber unter welchen Umständen er es diesmal durchmachen mußte, trieb ihm die Trauer ins Herz. Und noch war die Kette der Prüfungen nicht beendet. Seine Ohren lauschten, doch er wußte nichts davon. Er stand in sich versunken, aber jeder Nerv seines bärenstarken Körpers war zum Zerreißen gespannt. Das Krachen im. Schiffskörper nahm zu, es dröhnte, als knirschten Eisschollen gegeneinander. Der alte Steuermann wußte, auch ein sorgfältiger gebautes Schiff mußte ohne Steuer früher oder später von den entfesselten Gewalten zertrümmert werden. Die Todesstunde der „Golden Arrow“ nahte, das fühlte er in allen Gliedern, wie der Gichtige den Umschwung des Wetters. Noch kein Schiff dieser Bauart war seines Wissens aus einem derart ungleichen Duell als Sieger hervorgegangen. Während des Krieges, als jede Tonne Schiffsraum mit Gold aufgewogen wurde, war Mister
Kaiser auf den Gedanken gekommen, diese Transporter am laufenden Band herzustellen. Im Fließverfahren wurde Stahlplatte an Stahlplatte geschweißt, und zwar stumpf geschweißt, ohne den Halt einer einzigen Niete. Das sparte Material, Arbeitszeit und senkte das Eigengewicht der Schiffe. Die Fachleute hatten gewarnt, schon beim Stapellauf würden diese Mißgeburten auseinanderbrechen. Erstaunlicherweise hielten die ersten Eisenkästen, als sie von der Helling ins Wasser rauschten. Mister Kaiser wurde als Held in der Not des Vaterlandes gefeiert und verdiente, verdiente. Schiff auf Schiff verließ seine Werften, und er war nicht nur schlau gewesen, er hatte auch Glück. In der ersten Zeit dieser erstaunlichen Produktion war ausnehmend günstiges Wetter. Dann rasten die ersten Stürme über Atlantik und Pazifik, doch die Wahrheit kroch im Schneckentempo ins Land. Die Wahrheit war, daß die Transporter dieser sogenannten „Victory-Klasse“ einem Orkan nicht standhielten. Sie brachen in der Mitte auseinander. Jeder Sturm kostete die Vereinigten Staaten mehrere dieser Schiffe und Hunderten Menschen das Leben. Kaiser-Särge nannten die Seeleute die 7000-Tonner der Victory-Klasse. Kaiser-Särge nannten sie ebenfalls die 10 000-Tonner der „Liberty-Klasse“. Die Wahrheit kam nur auf Schneckenfüßen, doch sie kam. Selbst die geschickt arrangierten Pressekonferenzen der Kaiser-Werft, die nach jedem Untergang stattfanden, konnten nicht verhindern, daß die Seeleutegewerkschaften eingriffen. Sie verlangten Gefahrenzulage für den Dienst auf den
schwimmenden Särgen. Mit verdächtiger Eile stimmten die Reedereien zu. Kein Aufsehen, nur ja kein Aufsehen, war die Parole. Viele rechtschaffene Amerikaner zuckten die Schultern, wenn sie diese Einzelheiten erfuhren. Es war Krieg, und in der Not frißt der Teufel Fliegen. Sollte man bei Sturm im Hafen bleiben. Dann war der zweite Weltkrieg zu Ende. Wurde der Bau der Kaiser-Särge eingestellt? Keineswegs. Weiter lief Schiff auf Schiff vom Stapel. Sie wurden gern gekauft von den Reedern, sie waren so billig. Billig, wie die Menschenleben, die man ihnen anvertraute. Ein Reeder fährt nun einmal nicht zur See, und Seemannslos ist Seemannslos. Pat O’Brien starrte vor sich hin. Er starrte und dachte. Nie waren seine Zweifel so stark gewesen wie in dieser Nacht. Warum ließ Gott solche Ungerechtigkeiten zu, wenn er ein gerechter Gott sein wollte? Der Steuermann war ein braver Mensch, in einem gottesfürchtigen Hause aufgewachsen. Hatte ihn sein frommer Vater nicht gelehrt, daß dieses Erdenleben kein Erdenleben wäre, wenn es da nicht Unrecht, Pein und Leiden gäbe? Das waren die Prüfungen. Worin sollte sich sonst die Erde vom Himmel unterscheiden? Aber gab es denn einen Himmel? O’Brien nahm noch einen Schluck aus der Taschenflasche. Die bohrenden Gedanken ließen nicht locker. Wie war das dann mit den Reedern? Geschah es recht, daß Gott sie auf der Erde so schlecht sein ließ, um sie dann eine Ewigkeit in der Hölle zu peinigen? Auch die Hölle hatte Pat nie gesehen. Doch, da, rings um ihn tobte sie, eine Hölle, eine gottverdammte Hölle. In ihr saß nicht der Reeder, zit-
terten nicht jene Gauner in Uniform, die kraft ihrer amtlichen Macht, zu ihrem persönlichen Vorteil einem Kapitän verboten, SOS zu funken. In dieser Hölle steckten nur er und vierzig brave Jungen, die nichts anderes verbrochen hatten, als zufällig auf diesem wackligen Kahn anzumustern. Der Steuermann stieß einen Fluch aus, und ihn befiel nicht wie sonst das Gefühl, dafür vorm Jüngsten Gericht Rede und Antwort stehen zu müssen. Auch das Jüngste Gericht hatte er nie gesehen und war doch so weit herumgekommen in der Welt. Vielleicht würde er schon binnen kurzem vor seinen Schranken stehen? – Mochte es sein, sollten sie ihn vernehmen. Er würde Gottvater sagen, wie schlecht es auf dieser Welt eingerichtet war und wie sie einen Janmaat zum Fluchen brachten. Zugegeben – fluchen war nicht gentlemanlike. Aber war nicht die Opferung eines einzigen Menschenlebens schlimmer als Millionen Flüche? Er bekam Sehnsucht nach einem weiteren Schluck und nestelte die Flasche aus der Tasche. Sie war leer. Man mußte neuen Stoff haben. Mit aller Kraft stieß er die Tür auf. Gebückt, hellwach wie ein anschleichender Panther kämpfte er sich zu seiner Kajüte durch. Dabei fluchte er so, wie er es noch nie in seinem Leben getan hatte. Es war der Trotz, den er Gott ins Gesicht schrie, und ihm wurde freier davon. Wenn es einen Gott gab, würde er es auch in diesem Heulen hören. Er sollte es hören! Der Orkan war in der Nacht auf Windstärke 12 angestiegen, das Ächzen und Stöhnen des Schiffes wurde zu satanischer Musik. Gleich O’Brien wartete jeder einzelne der Mannschaft auf den Augenblick, da er
trotz allem sein Leben so teuer wie möglich verkaufen würde. In den grauen Morgenstunden geschah es dann. Ein fürchterlicher Laut übertönte das Brausen des Orkans, Sirren erfüllte die Räume, ein warnender Wink an alle Gläubigen, das letzte Gebet zu sprechen. Schreckgebannt lauschten die Männer, dann stürmten sie hinauf aus den Verließen der Ladehöhlen, Maschinen- und Heizräume in die Unterkünfte, verstauten ihre liebsten Habseligkeiten in den Hosentaschen und warfen sich die Schwimmwesten um den Leib. Im dämmernden Licht sahen sie, was geschehen war. Die „Golden Arrow“ war mittschiffs geborsten. Ein Riß lief quer über die Deckaufbauten bis unter die Wasserlinie. Jeden Augenblick konnte das Schiff vollends brechen, und zwei getrennte Teile würden gurgelnd in die Tiefe sinken. An die Sicherungsleine der Reling geklammert, starrte der Erste Steuermann auf den Riß, dessen Öffnung sich verbreiterte und verengte und zu vibrieren schien, als zittere das Schiff wie ein todwundes Tier. O’Brien sah die fragenden Augen der Seeleute, und er senkte den Blick. Er hatte versagt. Wenn er in Hamburg richtig aufgetreten wäre, hätte die „Golden Arrow“ nicht auslaufen können. Daran konnte er nichts mehr ändern. Aber noch war es Zeit, noch lebten sie alle. Da entdeckte er den Kapitän, der sich durch die Sturzseen zu ihm hinarbeitete. Der Steuermann brachte den Mund dicht an Paulsens Ohr und versuchte das Tosen zu überbrüllen. „Jetzt ist es zum SOS fast zu spät!“
Der Kapitän schüttelte den Kopf und wies über Luv auf die See. Etwa eine Viertelseemeile nordwärts erkannte O’Brien die Silhouette eines Kreuzers. „Dann also Boote klar!“ rief er. Abermals schüttelte der Kapitän den Kopf. Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich um, den Gang zum Steuerhaus zu gewinnen. Er winkte O’Brien, in seine Kajüte zu kommen. Bebend vor Empörung stand der ihm kurz darauf gegenüber. „Was soll dieses Spiel mit unsern Seelen?“ „Die Frage stelle lieber der Reederei“, entgegnete Paulsen. „Wir werden das Schiff trotzdem verlassen!“ „Der französische Bergungsdampfer ,Lyon’ ist vor einigen Stunden von Brest ausgelaufen. Wenn niemand auf der ,Golden Arrow’ verbleibt, gehört sie ihm.“ „Die Reederei und die Versicherungsgesellschaften sollen uns…“ „Man wird uns zur Verantwortung ziehen.“ „Wir werden Gegenklage erheben. Sie behandeln uns wie Vieh!“ „Wir haben nach amerikanischem Seefahrtsrecht so lange auf dem Schiff auszuharren, wie noch Aussicht auf Rettung besteht.“ „Der Kahn wird jeden Augenblick auseinanderbrechen!“ Zwei unversöhnliche Feinde, so standen sich jetzt die alten Freunde gegenüber. Mühsam spielte Paulsen die beherrschte Haltung vor. Er wußte, für sie alle bestand Lebensgefahr, das Schiff konnte jeden Augenblick auseinanderbrechen und sinken. Es konnte aber auch noch einige Stunden mitmachen. In dem Fall
war er als Kapitän erledigt, sein Ruf ruiniert. Wie einfach hatten es dagegen die Männer der Mannschaft, bei ihnen ging es nicht um die spätere Existenz. Die Tür öffnete sich mit lautem Knall. Jan Blackett war erschienen und musterte die beiden Männer. „Die Mannschaft verlangt Befehl zum Boote ausschwingen, Käptn.“ Das hochrote Gesicht Paulsens wurde weiß. Mühsam beherrscht, sagte er: „Machen Sie, daß Sie an Ihre Arbeit kommen, Blackett.“ Der Erste Heizer sah dem Vorgesetzten fest in die Augen. „Dann gehen wir ohne Befehl in die Boote, Käptn. Sie können uns nicht zum Selbstmord zwingen.“ „Bravo, Blackett!“ rief der Steuermann, „wir gehen zusammen!“ Brüsk wandte er sich um und folgte dem Ersten Heizer. „Ich übernehme das Kommando!“ brüllte er Blackett in die Ohren, während sie sich zu den Booten hinkämpften. Paulsen kam ihnen nach. Dicht hinter sich hörte ihn O’Brien rufen: „Wenn du aussagen wirst, vergiß nicht, daß ich dich auf alle Bestimmungen hingewiesen habe.“ Der Steuermann wandte sich nicht um und antwortete nicht. Seine Aufmerksamkeit war von anderen Dingen in Anspruch genommen. Ein Boot schwebte bereits ausgeschwenkt und schien nur den richtigen Jump auf die hochgehenden Wogen abzuwarten. Doch jene, die Leinen, Rollen und Blöcke bedient hatten, standen inmitten der peitschenden Sturzseen, angekrallt an Hal-
teseile, ihnen gegenüber gestikulierte Szillat mit erhobener Pistole. Wortfetzen drangen ans Ohr der beiden Männer. „… Hundesöhne,… wer hat befohlen…. ich werde,… marsch, unter Deck!“ Im nächsten günstigen Moment würden sich die Männer auf ihn werfen, ihre Gesichter waren gezeichnet von Wut und Verzweiflung. Eine unerwartete Konterbewegung des tanzenden Schiffes riß den jungen Heizer Carravan vom Sicherheitsseil, trieb ihn auf den Zweiten Steuermann zu. Szillat schoß. Mit verzerrtem Gesicht packte Carravan seinen linken Oberarm. Ehe Schlimmeres geschehen konnte, hatte Paulsen die beiden Männer überholt. Er wurde beinahe an Szillat vorbeigeschleudert. Im rechten Augenblick bekam er dessen flatternde Ölhaut zu packen. Inmitten des Irrsinnstanzes von Wogen, Schiff und Himmel schüttelte er den Zweiten wie ein Bündel Flicken, riß ihm den Revolver aus der Hand und warf ihn im weiten Bogen ins Meer. „Idiot!“ brüllte der Kapitän, „wer hat Ihnen zu schießen befohlen! Die Gehorsamsverweigerung werden die vor anderen zu verantworten haben. Sofort mit ins Boot!“ „Ich bleibe – bei Ihnen, Sir, – ich – ich – werde…“ stotterte Szillat. Paulsen schrie: „Ich befehle es Ihnen…!“ „Yes, Sir.“ Auf allen vieren kroch der Zweite Steuermann durch das Durcheinander auf Deck und gelangte zitternd vor Anstrengung in seine Kabine. Panik schüttelte ihn. Die Schwimmweste war nicht zu finden.
Er suchte verzweifelt und stammelte irre Worte. Lauter dröhnte das Krachen des Stahls, er glaubte das Gurgeln einbrechender Wassermassen zu hören. Wahnsinnig vor Angst hetzte er durch die Mannschaftsunterkünfte, zerrte Schranktüren auf, riß Bettsäcke aus den Kojen. Nichts, nirgends eine Schwimmweste. Die Boote, sie durften nicht ohne ihn abstoßen, der Kapitän hatte es befohlen. Wenn er sich nun an Bord versteckte. Nein, nein, er hörte es ja, die Schotten brachen, gleich würde die „Golden Arrow“ absaufen; aber er wollte nicht sterben, der Grund des Meeres war dunkel und kalt, das Leben war hell und schön. Dort unten würde er den Toten treffen, Abraham mit dem Loch in der Stirn, Abraham Douglas, Smutje der „Golden Arrow“, erschossen von Steve Szillat, angeblich in Notwehr, am 23. August des Jahres 1952. Wie von Furien gehetzt, jagte er wieder an Deck, sah mit aufgerissenen Augen, daß die Rettungsboote bereits auf den Wogen tanzten, voll von Männern, die zielsicher Kurs hielten, dem näherkommenden Kreuzer entgegen. Dort, das letzte Boot ging eben zu Wasser; wie ein Korken hob es sich, tauchte tief hinunter und kam wieder hoch. In diesem Augenblick sprang jedesmal ein Mann hinein. Wer vorbeisprang, wurde von starken Fäusten gepackt, über die Bordwand gezogen. O’Brien leitete das Manöver, als letzte gingen er und Blackett ins Boot. Verzweifelt kämpfte sich Szillat an die Reling. Seine Fingernägel brachen, Blut überrann die Hände, tierische Angst verzerrte sein Gesicht.
O’Brien gab das Kommando, die Leinen loszuwerfen, packte mit geübter Faust das Steuer; das Boot stieß ab. „Ich komme noch!“ schrie der Zweite Steuermann und sprang. Der Sturm verwehte die Worte voller Todesangst. Szillat sprang zu kurz. Noch einmal tauchte sein Kopf auf mit den vor Entsetzen geweiteten Augen – noch einmal, dann blieb er verschwunden. Nur Pat O’Brien, der am Steuer saß, sah es. Zwischen zusammengebissenen Zähnen murmelte er: „Abraham hat ihn zu sich geholt.“ Auch Paulsen hatte gesehen, daß Szillat sprang, und gewußt, daß es für diesen keine Hilfe mehr gab. Seine Miene verdüsterte sich; er arbeitete sich durch zur Funkstation. Hier war jetzt sein Platz, hier würde sich sein Schicksal und das der „Golden Arrow“ entscheiden. Sorgfältig prüfte er die Bänder seiner Schwimmweste, dann setzte er sich vor den Morsetaster und funkte nach New York. Er wartete auf den Gegenspruch, fieberhaft arbeitete sein Hirn. Wenn es doch noch gelang, das havarierte Schiff in irgendeinen Hafen zu schleppen, dann sparte er der Reederei viele Dollars. Von dem Augenblick an, in dem die Männer das Schiff ohne seinen Befehl verlassen hatten, stand ihnen kein Cent Heuer mehr zu. Ohne den Vertrag mit Holbrandsen gelöst zu haben, durfte keiner auf einem anderen Schiff anmustern. Arme Teufel, mochte sie die Heilsarmee solange durchbringen. Das Leben war hart, ihm schenkte auch niemand etwas. Da, das Q-Zeichen galt ihm. Er lauschte angestrengt. New York meldete sich. Es war nicht Holbrandsen, sondern das amerikanische Büro der Versicherungsge-
sellschaft Lloyd: „retten sie arrow – zahlen prämie von 50 000 dollar.“ Er wurde aufgeregt, glaubte sich verhört zu haben und wartete auf die Wiederholung des Spruches. Dann pfiff er durch die Zähne, es stimmte. Ein nettes Sümmchen. Das konnte man im ganzen Leben nicht zusammensparen. Daß er die Anordnungen der Reederei befolgt hatte, lohnte sich, falls die „Golden Arrow“ durchhielt. Der Sturm ließ nach, und noch immer trug sie ihren geborstenen Leib durch Wogenberge und -täler. Zwar hing das Schiff bedenklich nach Backbord über, doch in solcher Lage befand sich Paulsen nicht zum erstenmal. Außerdem – er sandte einen Blick durch das Kabinenfenster – , in geringer Entfernung umkreiste der Kreuzer „Josuah Bartlett“ das schiefliegende Schiff. An Lloyd hatte er zurückgefunkt: „werde Stellung halten solange möglich.“ Dann meldete sich die Reederei. Paulsen entzifferte einen längeren, stark verklausulierten Funkspruch, dessen wesentlichste Sätze lauteten: „haben keine einwände, wenn sie schiff verlassen“, und „Versicherungssumme hoch genug – können verlust der arrow hinnehmen.“ Paulsen verging das Lachen. Er begann zu rechnen. Mit fast 500 000 Dollar hatte Holbrandsen die „Golden Arrow“ bei Lloyd versichert. Der Schrottwert des Schiffes lag bedeutend niedriger. Dann kam die ExtraVersicherung für die Teilladung: Chemikalien, Stilmöbel, seltene Teppiche, und nicht zu vergessen – die Leitz-Optiken. – Richtig, die Spezial-Optiken für den Kriegsbedarf. Sonnenklar wurde ihm nun, warum sie
unter besonderer Weisung fuhren; jetzt verstand er die kostspielige Entsendung eines USA-Kreuzers. Aber mochte es sein, wie es wollte, fest stand, daß er für Lloyd etwa 400 000 Dollar rettete, wenn er die „Golden Arrow“ in einen Hafen brachte. Bisher hatte er alle Gewissensbisse mit seinen Verpflichtungen für die Reederei beschwichtigt. Mußte er nicht weiter danach handeln, wenn er vor sich bestehen wollte und vor – Pat O’Brien? Von solchen Fragen gepeinigt, fing er ein neues Angebot von Lloyd auf: „erhöhen prämie auf 80 000 dollar.“ Bald darauf bot Holbrandsen in chiffriertem Text 100 000 Dollar, wenn er nach den Weisungen der Reederei handele. Lloyd schien über gute Fachleute im Dechiffrieren zu verfügen. Prompt steigerte die Gesellschaft auf 150 000 Dollar. Paulsen rieb sich vor Verlegenheit die Stoppeln. Aus dem Spiegel sah ihn ein übernächtiges, hohlwangiges Gesicht an. Er nahm andere Funksprüche auf und erfuhr, daß sich inzwischen die Weltpresse des Falles bemächtigt hatte. Sensationell berichtete sie von seiner Heldentat. Er lachte bitter. Pat O’Brien dachte anders über ihn. Holger Paulsen fühlte sich nicht als Held. Er war ein einsamer Schiffbrüchiger mit umgegürteter Schwimmweste, der Hunger hatte und sich nicht vom Funkgerät loszureißen vermochte. Wenn er denen drüben einen Wink gab, holten sie ihn herunter von dem schiefliegenden Kasten; dann hatte er als guter Kapitän gehandelt und besaß 100 000 Dollar. Aber 150 000
Dollar sind mehr. Wann hatte sich je die Reederei um seine Schwierigkeiten gekümmert? In dieser Welt galt jede Chance, Hunderttausende würden ihn einen Narren schimpfen, wollte er 50 000 Dollar in den Wind werfen. Der Sturm hatte nachgelassen, Paulsens Blick ging über die noch immer hochgehenden Wogen. Da sah er ein zweites Schiff sich der „Golden Arrow“ nähern. Er nahm das Glas vor die Augen. Es war die „Lyon“. Diese neue Situation berichtete er nach New York und hoffte, eine entsprechende Anweisung würde nicht zu bald eintreffen. So gewann er Zeit und vielleicht doch noch die 150 000 Dollar. Viel zu schnell für seinen Plan lief eine Antwort ein. Nicht Holbrandsen meldete sich, sondern die Versicherungsgesellschaft: „hilfe der lyon nicht notwendig – von falmouth ist bergungsdampfer benjamin franklin unterwegs.“ Paulsen schüttelte den Kopf vor Staunen. Daß die „Benjamin Franklin“ einer Bergungsgesellschaft gehört, die fünfzig Prozent Aktienverbindung mit Lloyd hat, vergaß man mitzuteilen. Vielleicht hätte sich Holger Paulsen doch noch für die Reederei Holbrandsen entschieden, wenn nicht nach kurzer Zeit die „Benjamin Franklin“ aufgekreuzt wäre. Deren Kapitän funkte an die „Lyon“, daß er von Lloyd beauftragt sei, die „Golden Arrow“ nach Falmouth zu schleppen. Mit süßsaurem Gesicht mußte der Kapitän der „Lyon“ beidrehen und funkte schadenfroh in die Welt: „keine zehn schlepper bekommen die arrow mehr nach fal-
mouth.“ Bald schwamm das Wrack an stählerner Trosse hinter dem „Benjamin Franklin“ mit Kurs auf Falmouth. Auf höhere Weisung war der Maat Lionel Kennedy zur „Golden Arrow“ hinübergeentert. Lloyd wollte sich sichern. Wer garantierte der Versicherungsgesellschaft, daß Paulsen sich nicht doch noch für seine Reederei entschied? Nun befanden sich zwei Menschen auf dem immer mehr nach Backbord übersackenden Schiff. Kennedy wich nicht aus der Funkkabine. Eifersüchtig überwachte er den Funkverkehr. Er war frisch rasiert und glänzte vor Unternehmungslust. Lloyd versprach ihm 5000 Dollar, wenn alles glatt ginge. Sollte ihm Paulsen mehr bieten, so würde man weitersehen. Der Kapitän lächelte müde. Das Konkurrenzspiel widerte ihn jetzt an. Ein schales Gefühl überkam ihn, seine Berechnungen waren umsonst gewesen, würden zerplatzen wie eine Seifenblase. Es trog nicht. In Sichtweite der Küste Cornwalls lief ein Beben durch den Schiffskörper der „Golden Arrow“. Laut krachend sprangen geschweißte Stahlteile auseinander wie Aluminiumfolien. Mit Mühe holte man die beiden Männer ins Rettungsboot des Bergungsdampfers. Hastig wurde die Schlepptrosse gekappt. Hecküber versank die „Golden Arrow“ so schnell in den Fluten, wie Paulsen noch kein anderes Schiff hatte sinken sehen. Erschüttert starrte er zurück in das Strudeln und wußte: Hätten die vierzig Mann Besatzung mit ihm ausgeharrt, sie wären ertrunken wie die Ratten. Die kleine englische Hafenstadt hatte ihren großen
Tag. Alle Häuserfenster, Plätze auf Dächern, Mauern und ähnlichen Aussichtsposten im Hafen waren zu unerhörten Preisen vermietet. Eine Kapelle, voran Ehrenjungfrauen mit Blumensträußen, erwartete Holger Paulsen; die Reporter der internationalen Sensationspresse hockten auf den Dächern ihrer Wagen; Wochenschau- und Fernsehkameras thronten auf eigens für sie errichteten Plattformen. Die Barkasse legte an der Landungsbrücke an. Der Held stieg an Land. Ohrenbetäubender Lärm setzte ein. Böllerschüsse dröhnten, Kapellen lärmten, Vivatgebrüll aus tausend Kehlen erscholl. Ein Hexenkessel umbrandete den Kapitän, die Polizeischutzkette wurde zusammengepreßt zu einem erstickenden Ring; Männer schwenkten Verträge, schrien ihm Dollarsummen ins Gesicht, andere wedelten mit Banknotenbündeln. „Mister Paulsen, Sie müssen Hauptdarsteller unseres Monstrefilms sein…“ – „Schreiben Sie uns einen Tatsachenbericht, Sir!“ – „Unser Fernsehstudio zahlt Ihnen…“ Dem fast erdrückten Kapitän verschwamm alles wie in einem ungeheuren Rausch. Er war unsagbar müde, krampfhaftes Lächeln lag auf seinem Gesicht. Sie hoben ihn auf die Schultern; er ließ es willenlos geschehen. Die Angebote der Agenten überschlugen sieh, ihr Geschrei steigerte sich zum Wettlauf in hohen Summen. Ein Höllentanz umbrodelte ihn, der Tanz ums goldene Kalb. Sie brachten ihn ins erste Hotel der Stadt. Die Gänge, die Korridore und sein Zimmer waren sofort überflutet von Menschenmassen. Gestikulierende Agenten dran-
gen auf ihn ein. Die Menschenmenge vor dem Hotel wich nicht; er trat mit wankenden Knien auf den Balkon und sprach einige Worte. Es wurden wirre Satzfetzen, doch das war gleich, man überschwemmte ihn mit Ovationen. Er hatte geendet und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Vor seinen Augen flimmerte es. Dort, mitten in der Menge, die Augen – waren es nicht Pat O’Briens Augen, die ihn unverwandt anstarrten? Man geleitete ihn ins Zimmer, bettete ihn auf die Ruhestatt. Ein Arzt drängte sich bis zu ihm durch und gab ihm ein Beruhigungsmittel. Draußen lärmte die Menge, verlangte Paulsen zu sehen. Noch mehrmals mußte er hinaustreten, verneigte sich, warf Grußhände. Jedesmal glaubte er Pat O’Briens Augen auf sich gerichtet, jedesmal überkam ihn ein Schwächeanfall. In seinem Zustand, der einer Trance ähnelte, unterschrieb er mehrere Verträge. Auf eine dunkle Warnung des Unterbewußtseins nur solche, mit denen sofort Bargeld auf den Tisch gelegt wurde. Fast gleichgültig stopfte er die Banknotenbündel in die Taschen. Nach Stunden erst gelang es der Polizei, das Hotel von den hysterischen Besuchern zu räumen. Als Paulsen sich endlich allein fand, war er ein reicher Mann. Er fiel in einen quälenden Schlaf; aber die mahnenden Augen Pat O’Briens verfolgten ihn bis in seine Träume. Der nächste Morgen sah ihn noch immer wie betäubt. Er überflog die Spalten der Presse. Sie hatten ihn zum Heros gemacht. Von der Mannschaft und ihren Leiden fand er kaum ein Wort. Dann kamen die Honoratioren der Stadt. Mit wohlgesetzten Worten bat der Bürgermeister, er möge als Ehrengast an einem „bescheide-
nen“ Frühstück teilnehmen. In unzähligen Toasten wurde der Glückliche gefeiert. Jeder Trinkspruch verstärkte seinen seelischen Katzenjammer. Am liebsten wäre er aufgesprungen und hätte gebrüllt: Alles Lüge, ihr wollt nur euch feiern, darum braucht ihr einen Helden. Aber ich bin kein Held, ich bin ein Schweinehund. Fragt die Mannschaft. Fragt Pat O’Brien, fragt Jan Blackett und die anderen, sie wissen es besser! Wie zerschlagen ließ er sich ins Hotel fahren. Er versuchte etwas zu schlafen. Am Nachmittag mußte er aufs Seeamt. Man berichtete ihm, daß gestern die Mannschaft ausgesagt hätte. Ihre Erklärungen waren kühl zur Kenntnis genommen worden, die Massenstimmung war gegen sie. Das von Mister Kaiser in den Riesenrummel investierte Kapital machte sich bezahlt. In schreienden Lettern berichteten die Zeitungen von der triumphalen Pressekonferenz der Werft. Ihre Produktion war glänzend rehabilitiert. Alle Welt konnte es bezeugen: Die „Golden Arrow“ war nicht in der Mitte auseinandergebrochen, trotz des unverhältnismäßig harten Unwetters. Gab es bessere Beweise für die Qualität eines Fabrikats? Vom Termin auf dem Seeamt wußten nur wenige, Paulsen nahm seinen Weg dorthin durch eine Hintertür des Hotels, um von den immer noch zahlreichen Schaulustigen nicht belästigt zu werden. Die Verhandlung war eher eine Ehrung als eine sachliche Untersuchung. Man machte es Paulsen leicht wie selten einem Kapitän. Offen wurde erklärt, daß man ihn nur der unerläßlichen Formalitäten wegen hergebeten habe. Schnell kam man zur Zeremonie des Eides. Monoton
sprach der Kapitän die Formel, kam zum Schluß: „… am Sinken der ,Golden Arrow’ bin weder ich schuldig noch ist es mein Reeder. Der Untergang war ein Akt Gottes…!“ Den Gentleman Kaiser schloß er vorsichtshalber nicht in den Eid mit ein. Der Mann in Robe und Perücke dankte; Holger Paulsen verließ den Zeugenstand und ging. Vor dem Seeamt wartete eine kleine Menge. Sie teilte sich schweigend, er erkannte seine Mannschaft. Wortlos starrten die Männer ihrem Kapitän ins Gesicht. Langsam ging er durch das Spalier der schweigenden Anklage. Am Ende stand Pat O’Brien. Seine klaren Augen unter den buschigen Brauen flammten. Paulsen blieb vor ihm stehen, wollte seine Hand auf des Steuermanns Schulter legen. Der Alte wich zurück, sah ihn unverwandt an. „Boys – es – es tut – mir leid – um euch – um uns“, stotterte Paulsen, griff in die Tasche und wollte dem Seemann ein Bündel Banknoten zustecken. Der nahm die Scheine, zerriß sie bedächtig in kleine Stücke. Verloren tanzten sie im Winde. „Wir verzichten“, sagte er, „Sündengeld bringt keinen Segen!“ „Bravo, Pat!“ kam ein Ruf aus vierzig Seemannskehlen. Bleich, mit leeren Händen und zusammengepreßtem Mund stand der Kapitän vor seinen Anklägern. Vierzig Augenpaare sprachen ihr Urteil. „Hallo, Mister Paulsen, finde ich Sie endlich?“ Ein Wagen-Schlag klappte, mit überschwenglicher Gebärde eilte ein Agent auf den Kapitän zu, nötigte ihn zum Wagen und erlöste ihn aus der beklemmenden Situati-
on. „Der wird ihm eine Gesangstournee organisieren, zusammen mit einem singenden Hund, für den zweistimmigen Song ,Seemannslos“, sagte Jan Blackett und spie seinen Priem in den Sand. Der Kapitän hörte es nicht mehr. Mister Hewlett entwickelte eifrig seinen Schlachtplan für den Empfang in London, Es wurde ärger als in Falmouth. Dort war ihm der Rummel noch mit Tönen ehrlicher Begeisterung untermischt erschienen, in London roch alles nach Reklame, Propagandamaschinerie. Paulsen fühlte sich hundeelend. Oft war ihm, als müsse er sich übergeben, dauernd hatte er einen faden Geschmack im Mund. Willenlos ließ er alles über sich ergehen, im Gesicht das eingefrorene Lächeln einer Vorführdame. Er wurde den Blick der mahnenden Augen in dem klaren Gesicht Pat O’Briens nicht los. Eindrücke, die ihn peinigten und verstärkt wurden von den liebedienerischen Anschlägen auf seinen Stolz, auf seine Seemannsehre: „Sie als gebürtiger Skandinavier, Mister Paulsen, werden doch sicher nichts dagegen haben, daß meine Firma einen schwedischen Brandy herausgebracht hat, die Qualitätsmarke ,Paulsen-Brandy’. Bitte, hier ist eine Kiste zur Probe.“ „Ich komme direkt aus Chikago, Käptn, wir haben ein Korselett gestartet, das den Namen ,Paulsenora’ trägt, darf ich Sie einladen zum öffentlichen Probeanziehen mit der Diva Asta Astalani?“In dem ehrwürdigen Kuppelsaal von Lloyds in London läutete Paulsen zu Ehren zweimal die berühmte
Schiffsglocke. Einmal läuten bedeutet den Untergang eines Schiffes, zweimaliges Läuten dagegen erfreulichen Anlaß. Die Gesellschafter von Lloyd verbargen ihre Trauer hinter bittersüßem Lächeln, ihre Firma hatte den Verlust zu tragen. Aber „das Volk will seine Helden haben“, und Tradition ist Tradition. Völlig erschöpft landete Paulsen abends in dem teuren Hotel. Er war ausgelaugt, sein Lächeln wurde zur hilflosen Grimasse. Seiner Britischen Majestät Hofbäckerei hatte ein großes Arrangement geschickt, ein Meisterwerk der Konditorenkunst. Von einem Reliefrahmen zusammengehalten, wogte wild die hochgehende See, steif und starr aus Zuckerguß. Da hineingebettet ruhte der schwarze Leib der „Golden Arrow“, naturgetreu schiefliegend, in schokoladengefärbtem Marzipan, während die Deckaufbauten, kunstvoll aus steifer Creme modelliert, in der Wärme des Hotelzimmers ihre Formen einzubüßen begannen. Paulsen saß und sann nach über diesen gigantischen Kitsch. Seemannselend überzuckert und verniedlicht, eine grausige Welt. Der Kapitän fürchtete sich vor dem Schlafengehen. Er hatte viele Banknoten gewonnen und den Haß von vierzig Männern. Und er hatte den besten Freund verloren. Nie wieder würde die rauhe Hand Pat O’Briens seinen Arm berühren und die tiefe Stimme des alten Seebären zu ihm sprechen. Daran dachte der Einsame, der nur zu genau wußte, daß er der Eintagsheld fixer Manager war, den man morgen schon vergessen haben wird. So saß er und grübelte, der arme Kapitän Holger
Paulsen.