Atlan -Minizyklus 02 Centauri Nr. 11
Der Tamrat von Rainer Castor
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Atlan -Minizyklus 02 Centauri Nr. 11
Der Tamrat von Rainer Castor
Was bisher geschah: Wir schreiben den Februar des Jahres 1225 NGZ. Auf Einladung der Historikerin Li da Zoltral besucht Atlan das auf einer Museumsinsel gelegene Epetran-Archiv, in dem Schätze und geheimes Wissen der Lemurer lagern. Diese Erste Menschheit hat schon vor weit über fünfzig Jahrtausenden die Milchstraße besiedelt; von ihr stammen alle gegenwärtig in der Galaxis existierenden humanoiden Völker ab. Als Unbekannte unter den Augen der Besucher einen Krish#un stehlen, einen Umhang lemurischer Tamräte, führt die Spur nach Omega Centauri, einem wegen seiner hyperenergetischen Bedingungen bisher unerforschten Kugelsternhaufen. Mit dem Schweren Jagdkreuzer TOSOMA fliegt Atlan die Handelswelt Yarn an, auf der er Informationen über lemurische Hinterlassenschaften erhält. Auf Acharr entdeckt er eine Steuerzentrale der Lemurer, in der sein Verdacht zur Gewissheit wird: Die Familie da Zoltral zieht im Hintergrund die Fäden. Sein nächstes Ziel ist ein von Lemurer-Abkömmlingen gegründetes Tamanium namens Shahan, für das er einen Angriff des Reiches Baylamor zurückschlägt. Er erfährt, dass seine Freundin Li da Zoltral auf die Wasserwelt Tarik entführt wurde, und befreit sie aus einem Biolabor. Als er auf dem Planeten Theka den Drahtzieher der Entführung stellen will, findet er den entscheidenden Hinweis auf die lemurische Heimatwelt in Omega Centauri. Atlan fliegt ins Zentrum des Sternhaufens und muss sich zu einer stark befestigten Transmitterstation durchkämpfen. Dort eingetroffen, erweist sich, dass es nur einen Weg gibt, das Geheimnis der lemurischen Hinterlassenschaften zu lüften. Er muss sich zur Gegenstation abstrahlen lassen, die der Rechner als »Stahlwelt« bezeichnet hat ...
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Prolog Nach der Rematerialisation starre ich auf emporruckende Roboterwaffenarme, deren Mündungskraftfelder intensiv in heller Glut leuchten. Das graublaue Metall der uralten, an bizarre Skelette humanoider Wesen erinnernden Maschinen ist an einigen Stellen fleckig. Ich bin allein angekommen und hoffe inbrünstig, dass keine Funktionsstörungen der autarken Einheiten vorliegen. Fehlgeleitete Reaktionen nachgeordneter Positroniken sind das Letzte, was ich jetzt brauchen kann. Das kalte Glitzern der Augenlinsen lässt keinen Rückschluss zu; die fünf Roboter stehen in stummer, bewegungsloser Drohung vor mir. In den ziehenden Schmerz des Transmitterdurchgangs, auf den mein Zellaktivator mit verstärktem Pochen reagiert, mischt sich der scharfe Impuls des Extrasinns: Vorsicht, Kristallprinz! Dein Gegner besitzt ebenfalls einen Krish'un und ist dir einige Schritte voraus. Außerhalb der Warnschraffur des Sendeund Empfangsbereichs wölbt sich rötlich flirrend die Kuppel des abschirmenden Halbraumfelds empor. An der Hallenwand entdecke ich massive Sicherheitsschotten – geschlossen und ebenfalls durch Energieschirme zusätzlich abgesichert. Hinter mir erlischt das Transportfeld, die Projektorsäulen versinken im Sockel des Transmitter-Podests. Der Rückweg ist mir verwehrt, weiterhin drohen die Impulsstrahler. Die Schusswirkung der atomaren Reaktionsmasse entspricht etlichen Kilogramm Vergleichs-TNT. Sonnenheiß und absolut vernichtend! Ich wage keine unbedachte Bewegung, weiß genau, dass ich in diesen Sekunden einer Überprüfung unterzogen werde. Nur ein positives Ergebnis wird die fünfzig Jahrtausende alten Kampfmaschinen daran hindern, ihre Waffen auszulösen. Mit den Hinterlassenschaften der Lemurer ist nie zu spaßen;
fast ein Jahrhundert unerbittlicher Krieg gegen die Haluter schraubte Sicherungen und Kontrollen in fast paranoide Bereiche. Vom Krish'un dringen beruhigende Schwingungen in mein Wachbewusstsein; nonverbal signalisierte Bereitschaft, schützend meinen Körper zu umhüllen. Ich weiß, dass Desintegrator-Strahlen bis zu einem gewissen Grad abgewehrt werden können. Schüssen von Impulsstrahlern widersteht jedoch selbst ein Tamratsumhang nicht. Du wurdest an das Gehirn der »Kharag-Stahlwelt« verwiesen, raunt der Logiksektor. Das ist die eigentliche Hauptstation – und Crest-Tharo da Zoltral ist schon hier! Einziger Zugang ist der fest programmierte Torbogen-Transmitter. Es war nicht das erste Mal, dass ich mich einem Transportfeld mit unbekanntem Ziel anvertraut habe. Häufig hat mit einem solchen Sprung viel auf dem Spiel gestanden. Diesmal jedoch ist es eine überaus zwiespältige Situation: Einerseits habe ich eine ziemlich klare Vorstellung von dem, was mich erwartet, andererseits muss ich auf jede Überraschung gefasst sein. Während der Schmerz im Nacken abklingt und von einem eisigen Frösteln ersetzt wird, das meine Wirbelsäule hinaufkriecht, kämpfe ich mit aller Macht gegen das déjàvu. Dumpfes Pochen hämmert gegen meine Schläfen, der Druck des fotografischen Gedächtnisses droht fast übermächtig zu werden. Endlich, scheinbar nach einer halben Ewigkeit, kommt die erlösende Meldung; eine Vocoderstimme sagt in klarem Lemurisch: »Kharag spricht: Willkommen in Kharag-Stahlwelt, Tamrat. Ein Fahrzeug steht zu Ihrer Verfügung. Aus konstruktiven Gründen befindet sich Ihr Standort nicht in unmittelbarer Nähe der Programmierungszentrale.« Ich habe nichts anderes erwartet. Mit nahezu den gleichen Worten begrüßte mich vor langer Zeit der Lemur-Rechner Taraak tief unter der Oberfläche Nihoas im 103. Ta-
4 manium. Auch am 4. September 2420 ging es um die Anerkennung als HochrangBevollmächtigter. Damals jedoch endeten die Ereignisse in einem Desaster, das phantastische Tarlora-System verging in einer Supernova-Explosion … Ein weiterer Impuls des Extrasinns hilft mir, die unergiebigen Gedanken abzubrechen. »Die Zeit drängt!«, sage ich rau, das Bild des auf Theka gefundenen Ornaments vor Augen, mit dem ich eine ganz bestimmte Vermutung hinsichtlich der Stahlwelt verbinde. »Stelle sicher, dass die Anerkennungsprozedur unter keinen Umständen gestört wird. Auch nicht von Tamrat CrestTharo da Zoltral!« Im Großen Tarvian der »Prüfungswelt« Kharba wurde ich als »Tamrat« akzeptiert. Der Rechner betäubte auf meine Anweisung die Gegner und blockierte die Station gegen Eindringlinge von außen. Meinen Begleitern wurde die Zutrittsgenehmigung nur unter Nennung des Kennworts Ermigoa gestattet. Weil davon auszugehen ist, dass mein Gegner die Anerkennungsprozedur als Hochrang-Bevollmächtigter schon absolviert hat, verfügt er vermutlich über die notwendige Ortskenntnis. Umso wichtiger ist es, denke ich und versuche meine Nervosität zu unterdrücken, schnellstens die Hochrang-Bevollmächtigung zu erlangen. Nur so kann ich den Befehlen meines Gegners entgegenwirken – und die Basisinformationen des Rechners nutzen. »Verstanden, Tamrat«, antwortet der Stationsrechner mit der Eigenkennung Kharag. Der hiesige Transmitter steht in einer großen Halle. Ich ignoriere die herabsinkenden Waffenarme der Roboter und überschreite die Warnschraffur, nachdem der Schutzschirm knisternd in sich zusammengefallen ist. Gleiches geschieht bei einem der Schotten, das mit nervender Langsamkeit aufschwingt. Ich gehe hinüber, erreiche den erleuchteten Tunnel und setze mich wortlos in die auf flirrendem Prallfeld schwebende, oben offe-
Rainer Castor ne Schale. Eine rasende Fahrt beginnt. Wiederholt werden Sicherheitspforten und Schleusen passiert. Über Spiralrampen geht es rasch tiefer. Nirgends entdecke ich Ausfallerscheinungen – ein gutes Zeichen. Auf einem Display der Gleiterarmaturen wechseln Aufrissskizzen. Der Eindruck, dass die Hauptstation gewaltige Ausmaße besitzt, festigt sich. Problemlos erfasse ich anhand der Maßketten, dass sie viele Kilometer Durchmesser besitzen muss – größer vermutlich als die Station des TemurSonnenfünfecks, die wir seinerzeit trotz des Desasters im Tarlora-System erreichten.
* Zwei Minuten vergehen. Vereinzelt kann ich an den Wänden Hinweismarken entziffern. Es gibt Dutzende Stockwerke. Mir wird klar, dass ich mich in der inneren Kernzone der Stahlwelt befinde. Die baulichen Übereinstimmungen mit der Temur-Station lassen mich vermuten, dass das eigentliche Zentrum mit dem KharagGehirn auf der Basis einer Superschlachtschiffszelle erstellt wurde. Ich mustere die Aufrissholos. Der 1800-Meter-Kern wiederum ist Teil einer Kugel von 4800 Metern Durchmesser mit Decks in horizontaler Anordnung, um die sich wie die Schalen einer Zwiebel konzentrische Hauptdecks schichten. Ich zähle sie durch, lese die eingeblendeten lichten Deckhöhen und nicke anerkennend. Fünfunddreißig Hauptdecks mit bis zu fünfhundert Metern, bestätigt der Logiksektor. Die Zentralkugel erreicht einen Gesamtdurchmesser von rund vierzig Kilometern. »… und schwebt frei in einer Hohlkugel von hundertvierundzwanzig Kilometern Durchmesser!«, murmele ich. »Die Stahlwelt insgesamt scheint ein ausgehöhlter Planetoid sein. Gesamtdurchmesser … hm, über fünfhundert Kilometer.« Abermals habe ich das Kharag-Ornament vor Augen, die sternförmige Zentrumsmarkierung. Schon eine ganze Weile bin ich mir
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sicher, dass sie nicht nur für die Transmitterzone im geometrischen Zentrum des Sonnendodekaeders steht. Da wir keinen Körper von den Ausmaßen der Stahlwelt angemessen haben, darf wohl auch hier der Vergleich mit der Temur-Station herangezogen werden. Meine innere Stimme bestätigt auch jetzt: Alles spricht dafür, dass die Stahlwelt in eine stationäre Halbraumblase eingebettet ist!
* Schließlich stoppt der Gleiter vor einer gewölbten Metallbarriere, und ich schwinge mich über die Bordkante. Ein konischer Pfropfen von an die sieben Meter Durchmesser gleitet zunächst langsam, dann schneller auf glimmenden Prallfeldschienen hervor. Erst nach fünf Metern ist das Ende des massiven Metallblocks erreicht, der seitwärts herumschwingt und den Weg endgültig freigibt. Kharag!, flüstert der Extrasinn, während ein Frösteln durch meinen Körper rinnt. Genau wie bei Taraak und Temur! Absolut autark! Die Kern-Hardware! Hinter dem Zugangstunnel weitet sich der Raum zum flachen Gewölbe der Programmierungszentrale, die von indirekter Beleuchtung erhellt ist. Alles besteht aus rotem Lemur-Metall. Mäßiges Summen erfüllt die Luft, Vibrationen durcheilen Gitterrostboden. »Die Sonderschaltung Annasuntha spricht, Hoher Herr«, meldet sich der Rechner. »Sie haben soeben die Programmierungszentrale von Kharag betreten. Ich fordere Sie auf, Ihre Legitimation zur Abschlusseinstufung vorzuweisen. Hierzu ist es notwendig, dass Kharag auf Ihre Individualschwingungen und den Krish'un direkt eingestimmt wird. Anschließend erhalten Sie einen Armband-Befehlsgeber, der mit einem dauergültigen Hochrangberechtigungskode ausgestattet ist. Veränderungen an Kharags Programmstrukturen sind erst im Anschluss möglich.«
Mittelpunkt der Halle ist eine doppelt mannshoch aufragende Glocke. Als ich hinübergehe, entsteht eine Nische, aus deren Decke die meterbreite Haube eines Individualtasters herabsinkt – bereit für meine Anerkennung als Hochrang-Bevollmächtigter. Für einen Sekundenbruchteil werden meine Knie weich. Mit Kharag würde uns ein Mittel zur Verfügung stehen, mit dem sich die Lemur-Technologie des 38. Tamaniums kontrollieren lässt. Dein Gegner ist bereits ein Weisungsbefugter, schnarrt der Logiksektor. Er hat die Macht, kennt sich hier aus – noch ist es nicht geschafft! Seine Aussage bringt mich auf den Boden der Tatsachen zurück. Das euphorische Gefühl wird augenblicklich von kalter Sachlichkeit ersetzt. Im Gegensatz zu da Zoltral geht es mir nicht um persönlichen Einfluss. Sobald die Anerkennung gespeichert ist, muss ich die Programmstrukturen erweitern oder gegebenenfalls löschen. Ich gehe zur Abtasthaube und stelle mich entschlossen unter sie. Nochmals meldet sich die Sonderschaltung »Geborgenheit«: »Parallel zur Anerkennungsprozedur werden Ihnen Basisinformationen über die Vergangenheit vermittelt.« »Ich will keine Zeit verlieren …«, sage ich schwach, obwohl mich die Informationen natürlich brennend interessieren; aber der Stationsrechner lässt sich nicht beeinflussen. Ein Energiefeld hat mich umhüllt und wird milchig. Unvermittelt sehe ich Bilder, höre Geräusche, die meine eigene Wahrnehmung schon nach wenigen Augenblicken völlig überdecken. Die Fülle lässt mich unwillkürlich aufstöhnen. Es gleicht einer gewaltigen Brandung, die mich hinwegzufegen droht. Mit jedem verstreichenden Wimpernschlag denke nicht mehr ich, sondern scheinbar ein … anderer! Unbewusst dennoch die weitgehende Übersetzung aus dem Lemurischen in gängige Begriffe, vor allem hinsichtlich der Maße, Einheiten und des Rechensystems – statt Ord Kilometer, statt Cobol'ty für ein Zwölf-
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tel des lemurischen Standardtages normale Stunden und das vertraute Dezimalsystem anstelle des duodezimalen auf der Basis der »heiligen« Zahl Zwölf … Ich erkenne, dass es sich um die Sicht des Leitenden Wissenschaftlers des »Projekts Fremdkörper« handelt – mehr und mehr glaube ich, mit dem Lemurer zu verschmelzen, erlebe förmlich mit, was diesem seinerzeit widerfuhr, vor mehr als fünfzig Jahrtausenden. Es muss jener Mann gewesen sein, dessen Krish'un Epetran an sich nahm, dessen Körper wir nicht im Mausoleum von Acharr fanden. Sein Name brennt sich in mein Gehirn: Nevus Mercova-Ban. Geboren auf Zeut – einer der geheimnisvollen Zeut-Ellwen, über die wir trotz intensiver Lemur-Forschung bislang nur überaus vage Informationen ermitteln konnten. Es ist bekannt, dass es sie gab, dass sie in der lemurischen Kultur eine besondere Stellung einnahmen, dass sie in außergewöhnlicher Beziehung zu ihrer Heimatwelt standen, die bei dem Angriff der Haluter unterging. Ein mehr als traumatisches Ereignis, vergleichbar etwa mit dem, das mein Volk traf, als Arkon III vernichtet wurde. Das mich überschwemmende Wissen beinhaltet vermutlich schon in den ersten Augenblicken mehr Informationen, als wir seit der Zeitversetzung der CREST III gewonnen haben. Die bisherigen Daten und Speicherinformationen blieben trotz aller Genauigkeit leblos – hier und jetzt ist es dagegen die lebendige und emotionale Innensicht, das Empfinden und Miterleben eines damals direkt Beteiligten! Ich bin mir meiner noch bewusst, aber ich bin zur Untätigkeit verdammt, zum Beobachter reduziert. Gleichzeitig schwillt die Menge der offensichtlich ähnlich einer Hypnoschulung paramechanisch übermittelten Informationen an – die Lebenserinnerungen des Tamaron Nevus Mercova-Ban …
1. Zeut
18. Ty des Torlon Ezrach, 6332 dha-Tamar 12. Jahr des lemurisch-halutischen Kriegs (23. Oktober 50.068 vor Christus) … ein wichtiger Tag. Der wichtigste vielleicht in meinem bisherigen Leben. Vorfreude empfand ich allerdings nicht. Ich fühlte mich nur elend, hatte weiche Knie, schweißnasse Hände, und die in meinem Magen wühlende Übelkeit wollte nicht nachlassen. Zum wiederholten Mal wusch ich mir das Gesicht mit kaltem Wasser und schnappte nach Luft, weil es heiß in mir aufstieg. Als ich mit tränenden Augen mein Spiegelbild anstarrte, war die Haut noch bleicher als ohnehin schon, um nicht zu sagen grau. Die weißen Haare hingen strähnig und nass herab, das Rot der Augen glitzerte fiebrig. Wie alle Zeut-Ellwen hatte ich einen schlanken, im Vergleich zu einem Lemurer grazilen Wuchs. Jetzt kam er mir überaus zerbrechlich vor. Ein bitteres Lachen kitzelte in meiner Kehle. Ich, Nevus Mercova-Ban, im Jahr 6320 dT auf Zeut geboren, ziemlich introvertiert, schüchtern, angeblich hochbegabt und intelligent, war einer der wenigen zehntausend Zeut-Ellwen, die als die besonderen Mittler der Megaintelligenz ZEUT fungierten. Das für uns typische Abjin ergab sich aus der Kombination der Paradrüse unseres Gehirns und einer erhöhten DrokarnamKonzentration im Blut. Drokarnam, aus dem auch ein Großteil dieser Welt bestand und das die Existenz ZEUTS sicherte. Drokarnam, das geheimnisvolle Drachenmetall, dessen Rätsel wir noch längst nicht alle erforscht hatten. Heute sollte ich erstmals eine der MittlerPlattformen von Valam besteigen. Am liebsten hätte ich mich in der dunkelsten Ecke verkrochen, die es auf diesem Planeten gab. Aus weiter Ferne drangen aufmunternde Strömungen und Schwingungen heran und hüllten mich unsichtbar ein, vermittelten Kraft und Zuversicht. ZEUT!
Der Tamrat Innerhalb weniger Augenblicke waren Aufregung und Übelkeit wie fortgefegt. Ich richtete mich auf, griff nach dem Handtuch und trocknete mein Gesicht. Nachdem ich die Haare gekämmt hatte, drang erstmals wieder die ungeduldige Stimme des Ausbilders in mein Bewusstsein. Es wurde Zeit. Der Weg zur Hauptkuppel der Jyril-Abtei war nicht weit, aber der Termin rückte unerbittlich näher. Ich seufzte. »Ja, schon gut. Ich komme.« Zohek Hoham musterte mich kritisch aus zusammengekniffenen Augen, zupfte wortlos meine weiße Robe zurecht und wies mit einer einladenden, aber bestimmten Armbewegung auf die Tür. Seine nonverbalen Impulse vermittelten Verständnis und Nachsicht, ließen allerdings auch die Entschlossenheit nicht vermissen. Im Gegensatz zu mir war er ein reinrassiger Lemurer. Ich ging voraus. Wärme und ein auf der Abjin-Sinnesebene wahrnehmbares Leuchten hüllten mich ein. Die umfassende Nähe ZEUTS wurde mir mehr und mehr bewusst und vermittelte eine Ahnung, wie der eigentliche Mittler-Kontakt sein würde. Mein ganzes bisheriges Leben war die Vorbereitung darauf gewesen, als In-vitro-Gezeugter kannte ich nicht einmal meine Eltern. »Konzentration auf das Wesentliche!«, erklang hinter mir Zoheks Stimme. Ich signalisierte Zustimmung und verlor mit jedem weiteren Schritt die zunächst vorhandene innere Versteifung. Zuvor noch verkrampfte Muskeln wurden zunehmend geschmeidiger, mein Gang federnd und zuversichtlich. Wärme pulsierte durch die Glieder, sammelte sich unterhalb der Brustplatte, die ich anstelle lemurischer Rippen hatte, stieg hinauf zum Kopf und schien sich über dem Ende der Wirbelsäule zu konzentrieren. Vitalität und Kraft strahlten nun von der Paradrüse aus. Der Weg über die Treppen und Wandelgänge hinauf zur Kuppel, obwohl schon viele tausend Mal gegangen, bekam etwas surreal Neues, je intensiver die Abjin-Sicht meine konventionelle Wahrnehmung überla-
7 gerte. Granit und Basalt schienen von innerem Leuchten durchdrungen, farbige Schlieren erfüllten die Luft, fast glaubte ich, die Wärmebewegung einzelner Moleküle zu erkennen. Und im Hintergrund wuchs das machtvolle Bewusstsein ZEUTS, gewann die Strahlkraft einer Sonne, ohne jedoch zu blenden oder zu schmerzen oder bedrückend zu wirken. Ganz im Gegenteil: Es war freundlich und liebevoll, umschmeichelte mich, nahm mich bereitwillig und erwartungsvoll auf. Die Seele einer ganzen Welt erwartet mich! Eine frische Brise umfächelte mich. Feuchtigkeit und Algenduft des KhansharSees stiegen intensiv in meine Nase. Ich war mir sicher, die sanften Wellen gegen den Felssockel von Jyril schwappen zu hören. Nein, zu fühlen – als sei mein Körper nicht länger der des jungen Ellwen, sondern die Insel. Und noch viel mehr. Auch der Khanshar-See, der Kontinent Shypoo, ganz Zeut und vielleicht sogar noch darüber hinaus …
* Jyril war ein schroffes, fünfzehn Kilometer langes und neun Kilometer breites Eiland, dessen Grundriss grob dem eines Faustkeils entsprach. Der Großteil der Steilküste ragte als mehrere Dutzend Meter hohe, senkrechte Wand empor. Nur an wenigen Stellen lief das Land in flachen Schotterstrand aus. Zum Zentrum der Insel schichteten sich die von glitzernden Drokarnam-Adern durchzogenen Felsmassen höher und höher. Klobige Gebäude aus Natursteinimitat, deren riesige Blöcke nahezu fugenlos verbaut waren, erhoben sich entlang schmalen Terrassen und Simsen, flankierten Serpentinenwege und waren durch verwinkelte Treppen miteinander verbunden. Wuchtige Säulen reihten sich zu langen Arkadengängen aneinander, kühn geschwungene Brücken überspannten Schluchten und Klüfte, deren Grund unter nachtschwarzen Schatten ver-
8 schwand. Knorrige Wurzeln mächtiger Camuh-Bäume umwanden Vorsprünge und klammerten sich in Spalten fest. Vom höchsten Berggrat erhob sich die Hauptkuppel der Abtei, deren subplanetarische Bereiche die seit über sechshundert Jahren bestehende Akademie von Valam beherbergten – Ausbildungsstätte von inzwischen legendärem Ruf auf allen Welten der 111 Taman des Kar'Tamanon wie auch jener, die inzwischen in Karahol besiedelt wurden, der benachbarten Zweiten Insel. Für einen wachen Augenblick sah ich auf und blinzelte im Licht der Sonne; Apsus scheinbare Größe erreichte hier auf dem fünften Planeten nur ein Drittel des LemurWertes. Zwischen Licht und Schatten, aufglitzernden Reflexen und wogenden Baumkronen gewann die Hauptkuppel eine noch beeindruckendere Ausstrahlung, verstärkt von der Froschperspektive meines Standorts. Zwölf massive Strebepfeiler aus rotem Lemur-Metall entsprangen der Fassade des zylindrischen Zentralbaus, die in dreihundert Metern Höhe in die zugespitzte Wölbung der nochmals zweihundert Meter hohen Kuppel überging. Fast über die gesamte Zylinderhöhe erstreckten sich zwischen den auskragenden Pfeilern Spitzbogenfenster, die ihre farbige Pracht erst im Gebäudeinneren entfalteten. Die 144 Stufen der großen Freitreppe nahm ich kaum noch richtig wahr, jeder Schritt vertiefte die Trance. Gestalten rechts und links blieben merkwürdig vage und entrückt, die stofflichen Körper waren von Lichthüllen überlagert, deren Farben und Nuancen sich mir durch das Abjin erschlossen. Im Schatten unter der Krone eines Camuh bemerkte ich allerdings am Treppenfuß eine Frau, deren vitale Aureole in einer Leuchtkraft sprühte, wie ich sie noch nie wahrgenommen hatte. Unwillkürlich wurde ich langsamer. Der Blick ihrer abgrundtief dunklen Augen ging mir durch und durch, sie schienen problemlos mein Innerstes lesen zu können. Ebenso geheimnisvoll wie unverständlich war der
Rainer Castor zutiefst melancholische Ausdruck, hinter dem sich unglaubliches Wissen zu verbergen schien, als hätten diese Augen schon Jahrtausende gesehen, als kenne die Frau sämtliche Rätsel von Vergangenheit und Zukunft aus eigenem Erleben. Mehr konnte ich von ihr in diesen Momenten nicht erkennen; beim gegenwärtigen Tunnelblick gab es für mich nur die beiden Augen, während schon das Gesicht der Unbekannten von glänzenden Lichtpfeilen überlagert wurde, die aus jeder einzelnen Pore hervorbrachen, sich in flatternde Fasern verwandelten und zu einem Strahlenkranz vereinten. Irritiert schüttelte ich den Kopf, wusste die Wahrnehmungen nicht einzuschätzen. »Weiter!«, raunte Zohek energisch. Ich riss mich von dem Anblick los, schaffte es unter Aufbietung aller Willenskraft weiterzugehen, ohne mich umzusehen. Stattdessen legte ich den Kopf in den Nacken, blickte den weiteren Verlauf der Stufen hinauf zum Spitzbogen, dessen Portalflügel langsam aufschwangen. Bis ins Mark dringende Gongschläge hallten auf und schwangen lange nach, als ich den Bogen durchschritt und das zweihundert Meter messende Rund erreichte. Hinter dem Eingang öffneten sich die Höhe und Weite der Riesenkuppel zum erhabenen Eindruck, verstärkt noch von den Emissionen des Drokarnam. Halbdunkel erfüllte den Saal; pudriger Dämmer wechselte mit Lichtbahnen, die farbig die Fenster durchdrangen. In den Kegeln, die sich an Boden und Wand brachen, tanzten und flirrten Staubpartikel. Die Bildmotive der Fenster zeigten Szenen der Mythologie, jedes stand für einen der Zwölf Heroen. Abermals wechselte ich in einen Bereich farbigen Lichts und hob kurz den Blick. Aus zusammengekniffenen Augen, fast geblendet, sah ich umher und fröstelte. Lichtsterne wuchsen scheinbar zu Kreuzen und Schwertern. Nur am Rande bemerkte ich, dass mein Ausbilder zurückblieb; mühsam unterdrückte ich das aufsteigende Gefühl der Verlas-
Der Tamrat sen- und Verlorenheit, das auch nicht von den schmeichelnden Ausläufern ZEUTS überdeckt wurde. Ich kannte Zohek Hoham, seit ich denken konnte. Stets war er an meiner Seite gewesen, Lehrmeister und Ersatzvater in einem, ebenso streng wie verständnisvoll, vor allem ein Mann mit viel Humor. Er lachte gern und laut; ein Geräusch, das grollend aus ganzer Brustbreite aufstieg, herzlich und ohne Falsch war. Ein schmerzhafter Stich durchfuhr mein Herz bei dem spontanen Gedanken, dieses Lachen niemals mehr zu hören … ZEUTS Ströme verdrängten das aufblitzende Hirngespinst, ehe es sich festbeißen konnte, in die Gedanken fraß und als düsterer Schatten blieb. Die Trance erfasste mich vollständig, während ich mit gemessenen Schritten der Hallenmitte entgegenging. Viel zu laut donnerten meine Stiefelsohlen auf dem Bodenmosaik, das die Sterne und Spiralarme der Ersten Insel darstellte, unsere Galaxis Apsuhol. Die Einflussbereiche der 111 Tamanien waren farbig hervorgehoben. Von den versammelten Personen, die zum Mittler-Sockel hin eine breite Gasse bildeten, auf Emporen und Balkonen standen, nahm ich optisch nur vage Schatten wahr, war mir ihrer lebendigen Anwesenheit aber dennoch bewusst. Es mussten Tausende sein! Herausragend nur die kleine Gruppe der kugelförmigen Sonneningenieure, die nicht nur auf übergeordneter Wahrnehmungsebene prächtig leuchteten. Unwillkürlich und mehr unbewusst suchten meine Abjin-Sinne nach den markanten Ausstrahlungen der Unbekannten. Erleichtertes Aufatmen erfasste mich, als ich sie entdeckte – verbunden mit zunehmender Verwunderung über mich selbst. Nicht ablenken lassen!, beschwor ich mich. In Türkislicht getaucht, ragte der Drokarnam-Block doppelt mannshoch auf. Unsichtbare Kräfte griffen nach meinem Körper und trugen ihn sanft zur Plattform. Der Glanz weitete sich aus, hüllte mich zu weiteren tosenden Gongklängen vollständig ein und
9 versetzte jede meiner Fasern in erwartungsvolle Spannung. Jetzt war es so weit, jetzt war der Augenblick, auf den ich zwölf Jahre lang seit meiner Geburt vorbereitet worden war. ZEUT! Der erste Vollkontakt zur metallischen Megaintelligenz des fünften Apsu-Planeten war kein übermächtiger Paukenschlag, obwohl das Drokarnam-Bewusstsein durchaus dazu fähig gewesen wäre, sondern ein sanftes Umschmeicheln. Zunächst fast unmerklich wurde ich in die lebendigen Prozesse integriert, hörte ein fernes Wispern und Raunen, das nur langsam an Lautstärke und Intensität zunahm. Ich grüße dich, Nevus Mercova-Ban!
* »Ich grüße dich … ZEUT!«, antwortete ich flach. Mein Herz hämmerte in rasend beschleunigtem Takt, die überwunden geglaubte Aufregung und die Nervosität kehrten zurück. Ich war doch nur ein Zwölfjähriger und fühlte mich völlig überfordert. Schon grummelte es wieder in meinem Magen und den Därmen, Hitzewallungen wechselten mit Kälteschauern. Nicht das Alter zählt, sondern das Wesen, seine Gaben, Talente und das mit ihm verbundene Potenzial, signalisierte die Megaintelligenz auf telepathischer Übermittlungsbasis. Überdies wurdest du an dem Ty geboren, als die Schwarzen Bestien erstmals in dieses Sonnensystem eindrangen und der nun schon zwölfjährige Krieg begann. Ich atmete tief ein und aus, ließ mich spontan auf das mich umschmeichelnde Lichtgeflecht ein. Es war keine Frage des Nachdenkens, sondern eine instinktive Reaktion. Der eingeschränkte Verstand in meinem jugendlichen Körper durfte nicht die Oberhand gewinnen; er wehrte sich gegen die Öffnung, die transpersonale Ausbreitung, das weit über die körperliche Begrenzung hinausgehende Bewusstsein.
10 Das Drokarnam unter meinen Füßen war nur ein winziger, über die Oberfläche des Planeten ragender Ausläufer der eigentlichen riesigen Masse. Längst gab es auf Tausenden weiterer Welten vergleichbare Mittler-Plattformen, deren separierte Eigenbewusstseine zwar autonom waren, auf AbjinEbene dennoch mit ZEUT vernetzt blieben. Ohne die Hilfe der Megaintelligenz wäre vermutlich schon der Beginn des Krieges gegen die vierarmigen Schwarzen Bestien – so genannt wegen der haarlosen, tiefschwarzen und lederartigen Haut sowie der unbändigen Aggressivität und Kampfkraft – gleichbedeutend mit seinem Ende gewesen. Vermutlich hat dich das Ereignis mehr und intensiver geprägt, als du ahnst. Bilder entstanden und schoben sich vor mein Blickfeld. Aus anderer Perspektive kannte ich sie aus den Geschichtsschulungen. Der 11. Ty des Torlon Keub, 6320 dT: Völlig überraschend waren rund 100.000 schwarze Kugelraumer, die meisten davon in der Größe unserer Leichten Kreuzer, mitten zwischen den Planeten des Apsu-Systems materialisiert und sofort zum Angriff übergegangen. Ihr Ziel war Lemur gewesen, und selbst die im Alarmstart abhebenden Schiffe der Systemverteidigung hätten diesen unerbittlichen Erstschlag nicht abwehren können … hätte ZEUT nicht eingegriffen! Mit aller Macht, die der Megaintelligenz zur Verfügung stand – das Überraschungsmoment ebenso auf ihrer Seite hatte, wie die Bestien es von sich und ihrer unerwarteten Attacke glaubten. Hypnosuggestive Schockfronten hatten sie weitgehend gelähmt und handlungsunfähig gemacht. Die Angriffsprogramme der Rechner, sofern nicht von Beeinflussten ausgeschaltet, arbeiteten zwar die eingeleiteten Routinen ab, aber bei weitem nicht so effektiv. Die Systemverteidigung, unterstützt von den Wahrnehmungen ZEUTS wie auch seinen überlichtschnellen Blitzschlägen, konnte sich formieren und zum Gegenangriff übergehen. Bald schon waren Verstärkungskräfte
Rainer Castor herangeeilt – dennoch dauerte die fürchterliche Schlacht fast einen ganzen Tag. Ich sah die Pulks heranschießender Raumer, die sich ausdehnenden Feuerwalzen detonierender Gegenpol-Geschützsalven, die grell aufleuchtenden und zusammenbrechenden Schutzschirme. Durchbrechende Angreifer orgelten durch die Lemur-Atmosphäre und konnten im letzten Augenblick abgeschossen werden, trudelten mit langschweifigen Feuer- und Qualmbahnen dem Boden entgegen und verwandelten sich beim Aufschlag in blitzschnell emporquellende Pilze aus Glut und düsteren Wolken. Grauenerfüllte Szenen reihten sich aneinander, untermalt von eindringlichen, empathischen Abjin-Impressionen. Überraschung, Wut, Entschlossenheit und Angst auf lemurischer Seite mischten sich in die selbst die hypnosuggestive Beeinflussung durchdringende Aggression, Kampflust und kaum minder starke Entschlossenheit bei den Angreifern. Für sie waren wir der Feind, der unbedingt und ohne jeden Kompromiss vernichtet werden musste. Das Warum und Weshalb blieb uns verschlossen; die meisten Informationen entstammten auch heute noch jenen Wahrnehmungen ZEUTS, die am ersten Kriegstag gewonnen worden waren. Mehrere hundert Jahre schienen sich die Schwarzen Bestien, die sich selbst Haluter nannten, auf ihren Schlag vorbereitet zu haben, von uns unbemerkt hatten sie Hunderte oder Tausende Stützpunktwelten geschaffen und ausgerüstet. Der Planet Halut ist uns bislang nur dem Namen nach bekannt, obwohl fieberhaft danach im Gewimmel der zentralgalaktischen Sternenballung gesucht wird, dachte ich, von Frösteln heimgesucht, als plötzlich der Blick in eines der Bestien-Schiffe hineinwechselte und einen Haluter greifbar nahe und in seiner ganzen Bedrohlichkeit zeigte. Bei einer Körpergröße von 3,50 Metern verfügten die eingeschlechtlichen, an 3,6fache Standardgravitation angepassten
Der Tamrat Körper über vergleichsweise kurze Säulenbeine. Die beim Springen und Laufen unterstützend eingesetzten Brust- oder Laufarme saßen etwa in gleicher Höhe wie die an den Schultern ansetzenden, aber wesentlich längeren Handlungsarme, jedoch weiter vorne. Auf allen vieren erreichte eine Schwarze Bestie eine Spitzengeschwindigkeit von 120 Kilometern pro Stunde, die sie bis zu fünfzehn Stunden durchhielt – immerhin hatten die Haluter zwei Herzen mit willentlich steuerbaren Ventilen, konnten bis zu fünf Stunden ohne Schutzanzug im Vakuum durchstehen und waren darüber hinaus in der Lage, das völlig vom bewussten Willen kontrollierte System der Körperzellen auf molekularatomarer Basis strukturell so umzuformen, dass der Körper die Konsistenz und Durchschlagskraft eines Stahlblocks erreichte. Der Kopf in Form einer Halbkugel saß ohne erkennbaren Halsansatz auf dem Körper. Die drei rot leuchtenden Augen verfügten über starke Lamellenlider, waren infrarotempfindlich und konnten auf Teleskopstilen etwa zehn Zentimeter weit aus dem Kopf »ausgefahren« werden. Das Schädelinnere war etwa in halber Höhe durch einen panzerartigen Knochenwulst in zwei Bereiche geteilt. In der gepanzerten oberen Schädelrundung befand sich das so genannte Ordinärhirn, das für die Bewegungssteuerung, die Verarbeitung von Sinneseindrücken sowie für das normale Denken und Fühlen verantwortlich war. Im darunter liegenden Hohlraum diente das Planhirn, das der Funktion und Leistung nach einem hoch entwickelten organischen Computer von extremer Packungsdichte entsprach, mit seinen umfassenden analytischen Fähigkeiten als Helfer des Ordinärhirns. In besonders prekären Situationen konnte der gesamte Körper der Vorherrschaft des Planhirns unterstellt werden. Die Kegelzähne im breiten, dünnlippigen Mund waren durch zelluläre Strukturumwandlung so verstärkt, dass sie selbst Felsgestein und harte Metalle zermahlen konn-
11 ten – Haluter nahmen fast jede Art von Nahrung auf, ihr Konvertermagen veränderte alles durch Materieumwandlung so, dass dem Körper die benötigte Energie zugeführt wurde. Lebendige Kampfmaschinen, in jeder Hinsicht! Aufblitzende Einzelszenen verdichteten sich, die Bilder wechselten schneller und gewannen plastische, vielfarbige Gestalt, die alles andere überdeckte. Von meinem Körper, der mir in den letzten Augenblicken ohnehin extrem beengend und einschränkend vorkam, bemerkte ich schließlich gar nichts mehr. Ich glaubte, mitten im Türkislicht über mir selbst zu schweben.
* Unvermittelt hob sich mein Blickfeld über die Hauptkuppel der Jyril-Abtei, stieg höher und höher. Bald schon konnte ich die Insel als Ganzes überblicken, dann den KhansharSee und den Valam-Golf, der tief ins Innere des Kontinents Shypoo reichte. Die Wellenkämme der hellblauen Fluten waren von Abertausenden glitzernder Lichtsicheln übersät. Zeuts Hauptstadt Valam folgte vor allem der Süd- und Ostküste Khanshars, reichte bis an die Südwestküste des Ivarra-Sees und hatte sein Altstadtzentrum rings der am Golf gelegenen Shalee-Lagune, wo sich die monolithischen Natursteinbauten im Stil der altlemurischen Epoche des Kalgar-Evon aus einem Gewirr von Kanälen erhoben. Östlich von Jyril dehnte sich das Areal des Raumhafens aus. Fast ständig landeten Kugelraumer oder starteten ins All: Einem gleißenden Blitz gleich zuckte soeben ein energetisches Startgerüst bis zur Hochatmosphäre hinaus, dehnte sich zur evakuierten, von Prallfeldern begrenzten Hohlröhre und gestattete das Abheben eines Raumschiffes, ohne orkangleiche Luftbewegungen zu verursachen. Mein Blick begleitete den sanft emporsteigenden, 230 Meter messenden Schweren
12 Kreuzer. Seine Ringwulst-Impulstriebwerke zündeten erst nach Verlassen des am oberen Ende trichterförmig ausgeweiteten Kraftfeldkanals und verwandelten die Kugel in einen davonhuschenden Schemen, dem wegen der immensen Startbeschleunigung kein Auge zu folgen vermochte. Im Blick zurück erfasste ich die zur riesigen Halbkugel gewölbte Oberfläche des fünften Planeten. Ich sah das sich bis zum Nordpol erstreckende Shypoo, im Osten den tief nach Süden reichenden Kontinent Yaslam und schließlich auch die sechs übrigen Landmassen der Südhemisphäre, während Zeut tief unter mir vorbeiglitt und seine Rotation scheinbar beschleunigte: Lornar, Shi'ndria, Krenoll, Jerin, Grebarv und Shyvin. Schneller und schneller rotierte die Welt, Tag und Nacht wechselten in rasendem Tempo. Gleichzeitig wurde die Sonne kleiner, verwandelte sich in einen grellen Punkt. Längst hatte sich Zeut in der zeitlichen Rückschau mit Eis überzogen, waren die Ozean erstarrt und die Atmosphäre als Schnee niedergegangen. In diesem Stadium stoppte der von ZEUT vermittelte Blick in die Vergangenheit und kehrte sich langsam um. Ursprünglich hatte der 10.388 Kilometer durchmessende Planet Apsu auf einer lang gestreckten Ellipse umkreist. Für jeweils mehr als zweihundert Jahre war Zeut damals so weit von der Sonne entfernt gewesen, dass die Temperatur fast bis zum absoluten Nullpunkt absank und sogar die SauerstoffStickstoff-Atmosphäre gefror. Nur in der Phase der Sonnennähe erwachte die Welt zum Leben. Schnee und Eis tauten, die Atmosphäre baute sich wieder auf – und sogar das im eisigen Tiefschlaf überdauernde Leben, das sich den ungewöhnlichen Verhältnissen perfekt angepasst hatte, kehrte explosionsgleich zurück. Trotz dieser extremen Bedingungen hatte Zeut zu den ersten im Sonnensystem besiedelten Welten gehört, weil seine Kruste nur so vor Hyperkristallen zu strotzen schien, die für die Hyper-
Rainer Castor technik unerlässlich waren. Die Besonderheiten des ebenfalls vorhandenen Drokarnam wurden erst später entdeckt – zu einem Zeitpunkt, da die mit der fortschreitenden Kolonisierung verbundenen hyperphysikalischen Emissionen nicht ohne Folgen geblieben waren. ZEUT stellte den Kontakt her: Die mit der Besiedlung Zeuts zwangsläufig verbundenen Hyperstrahlungen unserer Aggregate hatten die Megaintelligenz entstehen lassen – ein Bewusstsein, dessen Körper den ganzen Planeten umfasste und das von seinem Ursprung her engstens mit uns und unserer Kultur verbunden war … Das Drachenmetall, im Normalzustand mattsilbern bis zinngrau und formbar weich, konnte paranormale und hyperenergetische Strahlung in den Hyperraum ableiten und absorbieren, verwandelte sich dadurch jedoch in ein türkis schillerndes, diamanthartes Material und wurde selbst zum Hyperstrahler. Bei dieser Hyperaufladung fand eine Umpolung statt, die die atomare und molekulare Struktur der metallischen Substanz so beeinflusste und veränderte, dass unter gewissen Bedingungen eine sich selbst bewusste Intelligenz entstand. War der hierzu nötige übergeordnete Stimulus während der Aufbauperiode ständig vorhanden, stockte der Prozess nicht; fehlte er, zerfiel die Neugruppierung der Atome und Moleküle mit einer gewissen Relaxionszeit – und das intelligente Eigenbewusstsein des Drachenmetalls verschwand wieder. Atomare Prozesse, vor allem aber Nuklearexplosionen, verwandelten dagegen das Metall in pure Hyperenergie und ließen es dadurch automatisch zum Bestandteil des Hyperraums oder eines vergleichbaren dimensional übergeordneten Kontinuums werden. Intensität und Reinheit des Glanzes galten als Maßstab für das Ausmaß der Intelligenz, die mit Individualtastern nachgewiesen werden konnte. Schon bei nur hundert Gramm Drokarnam ließ sich eine »paramodulierte Mentalstrahlung« anmessen, es gab einen
Der Tamrat Selbsterhaltungstrieb und Angstreaktionen. Von ZEUT selbst stammte der Plan, seinen Körper in eine günstigere Position zu bringen. Und die Megaintelligenz zeigte mir, was seinerzeit geschah: Raumschiffe erreichten den Planeten, gingen in den Orbit oder landeten. Aus den Laderäumen wurde die Fracht entladen, im Zeitraffer wuchsen riesige Aggregattürme auf allen acht Kontinenten und vielen Inseln. In geostationären Umlaufbahnen kreisten schließlich Dutzende Plattformen, deren viele Kilometer große Parabolantennen sich auf Apsu ausrichteten. Ich wusste, dass beim 5450 dT begonnenen »Projekt Zeut« erstmals primitive Sonnenzapfer zum Einsatz gekommen waren. Nur sie waren in der Lage gewesen, den immensen Energiebedarf der Projektorstationen zu decken. Die von ihnen projizierten gravomechanischen Kraftfelder schufen ein nur auf Zeut wirkendes, von ZEUT selbst paranormal verstärktes, virtuelles Gravitationszentrum, dem der Planet unweigerlich entgegenzustürzen begann, als handele es sich um eine Murmel, die in eine in ein straff gespanntes Tuch gedrückte Kuhle rollte. Wiederholt wurde der Gravofokus neu ausgerichtet, Zeut folgte und erreichte schließlich nach 110 Jahren seine heutige Umlaufbahn. Vor 772 Jahren war die behutsame Veränderung der Umlaufbahn ohne Ekliptikneigung abgeschlossen gewesen; die Umlaufzeit bei einer mittleren Sonnendistanz von 425 Millionen Kilometern war auf 2,98 Jahre reduziert. So robust die einheimischen Lebensformen gewesen waren – die Anpassung an die dauerhaft guten Umweltbedingungen gelang ihnen nicht. Schon im ersten Jahrhundert, das keine Totalvereisung mehr aufwies, explodierte das Leben in einer Weise, die den eigenen Untergang mit sich brachte. Erst jetzt, parallel zur intensiven Ökoformung der Welt, wurde die Besiedlung forciert, so dass die Bevölkerungszahl inzwischen viele Milliarden erreicht hatte …
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* … und mit abgehackt wirkenden Bewegungen gaukelte plötzlich ein großer Schmetterling in mein Sichtfeld. Spiralzeichnungen in Gelb und Rot bedeckten die trapezförmigen Flügel. Unwillkürlich streckte ich den rechten Zeigefinger aus. Eine spontane Regung – um so erstaunlicher, dass der Falter tatsächlich näher kam und landete. Mehrfach klappten die Flügel auf und zu, legten sich aneinander und breiteten sich wieder aus. Die Spiralen rotierten plötzlich mit irrwitziger Geschwindigkeit, blähten sich zu farbigen Schlieren – und zersprangen wie der Schmetterling selbst. Stattdessen sah ich sich ausdehnende Schwaden aus Goldflitter. Die wirbelnden Partikel formten zwei Wolken, die sich voneinander entfernten, anfangs noch verbunden durch eine sich mehr und mehr verengende »Nabelschnur«, die schließlich riss. Links blitzte Helligkeit auf und wuchs zu einer strahlenden Zone, rechts dagegen verdunkelten die Teilchen und formten eine nachtschwarze Ballung, die sämtliches Licht aufzusaugen schien. Ausläufer griffen nach dem Gegenüber, versuchten es zu umschlingen. Kreisrund war die entstehende Figur, in der Licht und Finsternis durch eine geschwungene Linie voneinander getrennt waren. Ein Zeichen, das in bemerkenswerter Ästhetik für die Trennung wie auch Verbundenheit der Gegensätze stand. Laut hallendes Lachen erklang. Es kam aus beiden Zonen, aus Licht wie Finsternis. Im Licht wirkte es jedoch sanft, verständnisvoll, gütig, in der Dunkelheit dagegen rau, ablehnend und höhnisch. Lauter und lauter wurde das Gelächter, dröhnend, fremdartig, erschreckend in seiner Gegensätzlichkeit … … und brach abrupt ab, als ein gellender Schrei dazwischenfuhr, der für Schmerz, Qual und Leid stand, wie ich es in dieser Intensität noch nie wahrgenommen hatte, ein Schrei, der alles andere zur Seite wischte,
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bis tief in mein Innerstes stieß und dabei etwas zerfetzte, was nie wieder zusammengefügt und geheilt werden würde. Ich erkannte dies mit einer hellsichtigen Klarheit, die mich selbst erstaunte. Noch wusste ich nicht, was die Ursache des Schreis war, meine Wahrnehmung beschränkte sich auf die Tatsache an sich, nicht auf das genaue Wie und Warum. Es war zunächst nur der Hieb, den ich wahrgenommen hatte – der damit verbundene abgrundtiefe Schmerz würde sich erst später einstellen. Sobald die erste Betäubung nachließ, sobald ich wusste, was wirklich geschah. Ich ahnte, nein, ich hatte in diesem Augenblick die völlige Gewissheit, dass der Schmerz mich mein gesamtes Leben begleiten, quälen und niemals nachlassen würde. Ich wusste plötzlich, dass genau jetzt etwas Grauenvolles geschah, etwas, das nicht nur mich und mein Leben betraf, sondern viel weiter reichte. Es ging um … ZEUT! Die Megaintelligenz hat geschrien! Von ihr gingen in immer rascheren Wellen die gepeinigten Impulse aus, die sich zu immer höheren Wogen, dann Brechern auftürmten, sich mit gewaltiger Wucht überschlugen, das gesamte Abjin-Gefüge erschütterten. Umfassend das Tosen und Donnern und Kreischen in höchster Not – und im Hintergrund hallte wieder das donnernde Lachen. Ich war mir sicher, dass der höhnische Teil deutlich an Kraft und Lautstärke gewonnen hatte.
* Verständnislos versuchte ich den Aufruhr der Bilder und Szenen, die auf mich einstürmten, zu ordnen und richtig einzuschätzen. Aus der bedrückenden Schwärze erschien der überaus vertraute Anblick des fünften Planeten. Unter weißen Wolkenspiralen leuchtete in Blau die Wasserfläche des Ozeans, der das Braun und Grün der acht Kontinente umgab.
An vielen Stellen aber blitzte es grell auf. Zunächst punktförmige Lichtzentren dehnten sich abrupt über die zerbrechlich dünne Schicht der Atmosphäre aus, wölbten sich in blendender Helligkeit immer höher empor, wuchsen und wucherten und verblassten. Ringförmig raste die sich konzentrisch ausweitende Schockwelle nach allen Seiten – in Form einer Glutwalze, die alles und jeden auffraß, fortwischte, in seine Atome zerfetzte. Und es gab nicht nur eine Schockwelle, sondern drei, fünf, acht. Es wurden immer mehr. Licht blitzte auf, die Wölbung aus vernichtender Helligkeit wucherte, abermals jagte ein Glutring über Land, das aufflammte, oder Wasser, das brodelnd verdampfte. Die Ursache? Was geschieht?, fragte ich mich verzweifelt, während die Todesschreie von Abermillionen Lebewesen auf mich einprügelten, die ich erst mit Verzögerung als solche erkannte. Warum? Heilige Galaxis – sie sterben! Was bringt sie um? Noch während ich auf dem DrokarnamSockel stand und die umfassende Nähe ZEUTS spürte, gellte ohrenbetäubender Bestien-Alarm auf. Die Haluter greifen an! Und das Ziel der Schwarzen Bestien ist ausschließlich der fünfte Planet – Zeut! Ich war gelähmt, während ringsum die Erstarrung einer geordneten Hektik wich. Noch war ich mit ZEUT verbunden, sah visionär die sich rasend nähernden schwarzen Kugelraumer, die sich ihnen entgegenwerfenden Schiffe der Systemverteidigung, erlebte mit, wie die Abwehr durchbrochen wurde, einige Dutzend Haluter Zeut erreichten und ihre Waffen abfeuerten … … als mich jemand aus der Trance riss, von der Plattform stieß und zur Eile antrieb: »Schnell, Kleiner! Es geht um unser Leben!« Ich landete federnd, neben mir eine Gestalt, die nach meiner Hand griff und mich mitzerrte. Die Unbekannte! Bis zum heutigen Tag hatte ich die hochgewachsene, dunkelhaarige Schönheit noch
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nie gesehen, aber sie besaß eine Ausstrahlung, die mich zutiefst faszinierte. Sie erschien mir in diesen Augenblicken fast wie eine »Göttin«, war einerseits jung – und gleichzeitig mit der Aura eines uralten Geschöpfes versehen.
* Ehe ich so richtig begriff, wie mir geschah, hatte mich die Unbekannte in einen heranorgelnden und vor dem Kuppelportal anhaltenden Gleiter platziert und raste in Richtung Raumhafen nach Osten. Ich sah und fühlte weiterhin mit ZEUT, während der normale Blick von Tränen verschleiert war. Schmerz und Tod, Vernichtung und Leid. Ein wimmerndes Geräusch dazwischen. In immer neuen Wellen rasten weitere Haluterschiffe heran, schlugen ungebremst ein und verwandelten sich in tödlichen Glutodem. Inzwischen »brannte« förmlich der Horizont: Abwehrforts griffen die Haluter an, die ihrerseits mit ungestümer Gewalt den Planeten attackierten. Überall starteten Raumer, durch riesige Torbogentransmitter wurden Zeut-Lemurer evakuiert. Aber selbst die erbitterte Gegenwehr reichte in diesem Fall nicht aus, nicht einmal ZEUT selbst konnte diesmal helfen – die hypnosuggestiven Impulse durchdrangen die Schutzfelder der Schwarzen Bestien nicht, die mächtigen Blitzschläge verpufften wirkungslos. Angreifer verwandelten sich zwar zu Dutzenden weit von Zeut entfernt in kleine Sonnen, aber immer wieder gelang einzelnen Schwarzen Bestien der Durchbruch. Ich erkannte entsetzt, dass sie nicht auf Eroberung aus waren, sondern in selbstmörderischer Manier auf totale Vernichtung. Nuklearexplosionen! Die Attacke diente einzig und allein dem Ziel, den Planeten zu zerstören! Nuklearexplosionen verwandelten das Drachenmetall, aus dem Zeut bestand, in Hyperenergie, die sich sofort im Hyperraum verflüchtigte. Und sie haben Erfolg! Gerade als der Gleiter einen der lohenden
Transmitter erreichte, begann der Untergang der ganzen Welt: Ein mentaler Schrei, den ich in meinem ganzen Leben nicht mehr vergessen sollte, fegte förmlich mein Bewusstsein hinweg und vermischte sich mit dem Transportschock. Ich wusste, dass es der Todesschrei nicht nur der Megaintelligenz, sondern auch von Milliarden Lemurern war, die in diesem Augenblick mitsamt Zeut zerfetzt und zerrissen wurden …
* … und als ich irgendwann später wieder zu mir kam, bis ins Innerste geschockt, war ich allein in dem Gleiter, der nahe der Transmitterstation geparkt worden war. Die Unbekannte war spurlos verschwunden. Ich schleppte mich nach draußen, dachte erschüttert an Zohek Hoham, dessen Lachen ich nun nie wieder hören würde, starrte zum Nachthimmel über Lemur empor – und sah das glühende Fanal der zerstörten Welt in der Größe des Vollmonds …
2. Lemur 10. Ty des Torlon Fohlad, 6339 dha-Tamar 19. Jahr des lemurisch-halutischen Kriegs (16. April 50.061 vor Christus) Während sich Apsu blutrot dem westlichen Horizont entgegensenkte und lange Schatten entstanden, stieg ich aus dem Gleiter, den ich vor dem kühn geschwungenen Bau des Informationszentrums geparkt hatte. Noch wusste ich nicht, warum mich der Hohe Tamrat von Lemur für Wissenschaft und Technik ausgerechnet hierher bestellt hatte. Aber Noral Atorem hatte zweifellos seine Gründe. Das Weiß zerfaserter Wolken erstrahlte in rötlichen und goldenen Pastellfarben. In der Ferne kreisten sichelförmige Vogelsilhouetten über Energiekuppeln, deren Konturen nur am vereinzelten Flirren und an aufblitzenden Reflexen zu erkennen waren. Einst hatte sich hier die Stadt Matronis von Hori-
16 zont zu Horizont gedehnt, eine Millionenmetropole, die rund 140.000 Jahre vor dem Beginn unserer Zeitrechnung entstanden sein musste und eindeutig außerlemurischer Herkunft war. Heute gab es nur noch Ruinen, meist unter dicken Sedimentschichten verborgen, die trotz der verstrichenen Zeit erhalten geblieben waren. Auch nach rund zwei Jahrtausenden archäologischer Forschung hatten die Ruinen noch längst nicht alle Geheimnisse offenbart. Ein Großteil des Areals war bis heute nicht freigelegt worden. Über den als wichtig erkannten Ausgrabungsbereichen wölbten sich dagegen Prallfeldkuppeln, die Wind und Wetter abhielten. Vergleichbare Artefakte waren auch auf Zeut gefunden worden … Zeut! Kaum eine Nacht verging, in der ich nicht schweißgebadet und schreiend hochfuhr, gepeinigt von den Albträumen, dem bodenlosen Entsetzen, dem Todesschrei der Abermilliarden. Die Ereignisse hatten sich, obwohl sie schon rund sieben Jahre zurücklagen, unauslöschbar in mein Bewusstsein gefressen und nagten und bohrten seither weiter. Einziger Lichtstreif waren jene Momente, wenn mir im Traum die Unbekannte erschien und mich wieder und wieder rettete. Ich wusste bis heute nicht, um wen es sich gehandelt hatte. Sämtliche Nachforschungen waren erfolglos geblieben; sie war ein Phantom, für dessen Existenz es keine Beweise gab. Dennoch stand fest, dass mir die Frau mit ihrem beherzten Handeln das Leben gerettet hatte. Ich lächelte säuerlich. Kein Wunder, dass ich sie in Tag- wie Nachtträumen längst verklärt hatte – fern und unerreichbar, kam sie mir zusehends wie eine »Göttin« vor, je mehr Zeit verging. Unerfüllte Sehnsucht und durchaus leibliches Begehren vermischten sich zu einem Ideal, dessen Überhöhung mein wissenschaftlich geschulter Verstand weit von sich wies – während die Stiche im Herzen etwas ganz anderes besagten.
Rainer Castor Führte ich mir ihr ganzes Erscheinen und Auftreten vor Augen, konnte eigentlich kaum ein Zweifel bestehen, dass sie zumindest den bevorstehenden Angriff geahnt, wenn nicht sogar von ihm gewusst haben musste. Aber wie konnte das sein? Warum ausgerechnet sie? Oder genauer gesagt, ich? Sie war perfekt vorbereitet gewesen, der Gleiter im richtigen Augenblick erschienen, der Transmitter bereits justiert gewesen. Je länger ich nachdachte und grübelte, desto unverständlicher wurde mir alles. Und umso intensiver sehnte ich mich nach »meiner Göttin«. Es hatte Jahre gedauert, bis ich mir selbst eingestand, dass es keine reine jugendliche Schwärmerei gewesen war. Das mochte zu Beginn eine Rolle gespielt haben, aber inzwischen war es einiges mehr geworden. Die Unbekannte war in mein Leben getreten, als ich in höchster Sensibilität im Mittler-Kontakt zu ZEUT stand; ich hatte ihre extrem vitalen Ausströmungen erfasst, war an ihrer Seite gewesen, als uns der Transmitter genau im Augenblick des Großen Vernichtungsschlags nach Lemur versetzte. Irgendetwas war von ihr auf mich übergegangen, war mit mir verschmolzen, hatte auf Abjin-Ebene eine Verbindung geschaffen, wie sie intensiver nicht sein konnte. Wo bist du?, dachte ich, wie stets halb selbstironisch, halb von stummer Verzweiflung heimgesucht, gegen die ich mich nicht zu wehren vermochte. Ich hatte mich in Ausbildung und Arbeit gestürzt, um Verstand wie Gefühl zu betäuben, um mich abzulenken und auf andere Gedanken zu kommen. Mit wahrer Besessenheit lernte ich, beseelt von dem Wunsch, meine Fähigkeiten – mochten sie noch so klein sein – in den Dienst des Großen Tamaniums zu stellen, um die Schwarzen Bestien in gleicher Weise zu vernichten, wie sie es mit ZEUT getan hatten. Vor wenigen Tagen hatte ich – angeblich dank meiner extremen Begabung – die wissenschaftliche Basisausbildung beendet. Verbunden damit war die Einladung des Chefwissenschaftlers gewe-
Der Tamrat sen. Ich seufzte. Nicht nur mich plagte das Trauma. Es hatte unser gesamtes Volk erfasst und den Hass auf die Schwarzen Bestien in einem verstandesmäßig kaum nachvollziehbaren Maß geschürt. Zeut wurde nur noch selten direkt angesprochen, die euphemistische Umschreibung »Großer Vernichtungsschlag« konnte nicht annähernd beschreiben, was für uns das Ende der behütenden und unterstützenden Megaintelligenz bedeutete. Die Bestien haben uns ins Mark getroffen!, dachte ich. Gleichzeitig haben sie vermutlich genau jenen Widerstandswillen geweckt, den sie eigentlich mit einem Schlag ausschalten wollten. Mit den Nachwirkungen würden wir noch Jahrzehnte zu kämpfen haben. Beim Haluterangriff hatte der DrokarnamUmwandlungsprozess mit explosionsgleicher Heftigkeit eingesetzt! Die beachtliche Menge des Drachenmetalls hatte Zeut zerrissen, während das Gros des exotischen »Hypermetalls« in den Hyperraum abgestrahlt worden war. Die jetzige Restmasse war kaum noch der Rede wert; unter dem Einfluss der Gasriesen würden sich die Fragmente mit der Zeit zu einem Asteroiden- und Planetoidenring zwischen dem vierten und nun fünften Planeten gruppieren. Die anderen Drokarnam-Überbleibsel verteilten sich mit dem Staub und verschwanden deutlich langsamer. Wechselwirkungen mit den natürlichen Hyperstrahlungen der Sonne bedingten jedoch im Bereich der gewaltigen Wolke, die bis zur Bahn des zweiten Planeten reichte, dass diese selbst für unsere Technik nicht zu beseitigen war. Hypertechnik konnte nur bedingt eingesetzt werden; allein besondere Abschirmungen halfen gegen die Streuemissionen, Forschung und Rüstung hatten sich längst von Lemur zu den Hauptwelten der Tamanien verlagert. Lemur befand sich ohnehin schon im labilen Zustand einer Zwischenwarmzeit, die vom Staub reduzierte Sonneneinstrah-
17 lung würde eine rasche Vereisung zur Folge haben. Schon wuchsen die Gletscher, bedeckten mehr und mehr der Oberfläche. Einziger Vorteil ist, dass die vom Drokarnam-Staub stammenden Hyperstörungen auch die Bestien von einem weiteren Angriff abhalten. Aber in den Weiten von Apsuhol gibt es ja leider genügend andere Ziele, denen sie sich »widmen« können – hunderttausend Siedlungs- und Stützpunktwelten! Erneut seufzte ich. Auch nach neunzehn Jahren ist ein Ende des Kriegs nicht abzusehen. Zwar immer wieder von Phasen der Ruhe und des relativen Friedens unterbrochen, zog sich die mit allen Mitteln betriebene »Auseinandersetzung« in die Länge. An vielen Stellen der Galaxis kam es zu Kämpfen, die unter dem Strich und trotz der unzähligen Opfer jedoch eher als »Geplänkel« einzuschätzen waren. Was ein wirklicher Angriff bedeutete, hatten vor fünf und drei Jahren die dritte und vierte Halutische Großoffensive gezeigt, bei denen acht unserer Tamanien förmlich überrollt worden waren. Dennoch war es keiner der beiden Seiten gelungen, die Oberhand zu gewinnen: Wir hatten es trotz des Einsatzes von Sonnentransmittern, Stoßimpuls-Generatoren und der Hilfe der Sonneningenieure nicht geschafft, die Haluter entscheidend zu schlagen – und diese hatten ihrerseits ebenfalls nicht die Mittel gehabt, den endgültigen Sieg zu erringen. Noch nicht, denn ihre Hartnäckigkeit wird nur von ihrer Aggressivität überboten. Diese lebenden Kampfmaschinen waren zu allem entschlossen und gaben niemals auf. In anderer Situation hätte man sie bewundern müssen. So aber … Uneingeschränkter Respekt ist ihnen in jedem Fall sicher; meist aber herrschen pure Angst und Verzweiflung.
* Die Schatten wurden länger. Ich genoss angesichts der trüben Gedanken und bedrückenden Überlegungen die warme Brise,
18 die an meinem Haar zerrte. Träge flossen die Fluten des Nipus am Rand der Sanuklai-Ebene dahin, aus der sich im Nordwesten das gewaltige Kolo-Mantai-Massiv mit dem alles überragenden Hakadai erhob. Unter den Energiekuppeln flammten Tiefstrahler auf, die helle Lichtinseln in der beginnenden Dämmerung schufen. Ein fast magisches Fluidum schien sich über die Landschaft zu legen. Matronis … Hier hatten jene Wesen gelebt, die sich selbst vermutlich Cappins genannt hatten. Ganz sicher waren sich die Archäologen nicht, obwohl die entschlüsselten Aufzeichnungen und Datenspeicher starke Ähnlichkeiten zu unserer Sprache aufzeigten. Aus welchem Grund diese Fremden seinerzeit mit umfassenden Bioexperimenten die Konos geschaffen hatten, wussten wir nicht. Fest stand nur, dass sie es getan hatten. Mehr als ein halbes Jahrtausend hatten sie auf Lemur verbracht. Zerstörungen durch Hochenergiewaffen und thermonukleare Sprengkörper ließen den Schluss zu, dass es am Ende offensichtlich zu einem Angriff aus dem All gekommen war. Vermutlich waren sämtliche Raumschiffe vernichtet worden, denn die Verwüstungen Matronis' wurden nie beseitigt. Gleiches hatte für die Artefakte auf Zeut gegolten. Die weiteren Funde belegten, dass es auf Lemur rasch zu einem kulturellen Niedergang gekommen war. Ob es einen genetischen Austausch oder gar ein Aufgehen in den Frühlemurern gegeben hatte, war Gegenstand heftiger wissenschaftlicher Diskussionen. Nur eine Minderheit der Forscher sprach sich dafür aus, dass unser Volk letztlich außerlemurischer Herkunft war, wir also Nachfahren der Cappins seien. Vermutlich spielen Lokalpatriotismus und lemurischer Stolz eine nicht zu unterschätzende Rolle, dachte ich. Niemand wollte der degenerierte Nachkomme gestrandeter Raumfahrer sein – obwohl vieles dafür sprach, dass genau das vermutlich der Fall war. Aber nicht einmal die hartnäckigsten
Rainer Castor Leugner können bestreiten, dass die Funde von Matronis maßgeblich zu unserer technischen Weiterentwicklung beigetragen haben. Die in den Ruinen entdeckten Artefakte und Hinterlassenschaften bewirkten einen zusätzlichen technologischen Sprung, nachdem im Jahr 4112 dT die Kämpfe gegen die Konos in die Endphase getreten waren. Vagen Überlieferungen nach hatte es ein Eingreifen von plötzlich erschienenen Personen gegeben, die im Auftreten und Habitus an die Zwölf Heroen erinnerten. Dank ihrer Hilfe konnten wir uns ausbreiten. Jahrzehntausende des erbitterten Kampfes gegen die Konos, den wir fast verloren hätten und der uns in die Küstenregionen des südwestlichen Lemurias zurückgedrängt hatte, traumatisierten unsere Zivilisation: Fast hemmungslose Expansion und Vermehrung – Großfamilien mit zehn und mehr Kindern waren Standard, hinzu kamen massiv eingesetzte Aufzuchtprogramme – wurden zur dogmatischen Grundhaltung des Ersten Gesetzes: dissoziative Ausbreitung! Niemals mehr sollte uns ein Feind derart bedrängen können, wie es die Konos getan hatten, dachte ich und ging langsam auf das Informationszentrum zu. Der Pförtnerrobot identifizierte mich und bat mich um etwas Geduld; Noral Atorem werde bald kommen. Aber genau das machen die Schwarzen Bestien! Reflexe glitzerten auf der transparenten Fassade, während ich in die Eingangshalle trat, die bequemen Sitzgruppen und Infoterminals musterte und hinter dem Durchgang zum ersten Ausstellungssaal die Holos der Zwölf Heroen entdeckte. Die Heroen … In jener fernen Zeit vor 6339 Jahren – dem Beginn von »dha-Tamar«, der mythisch verbrämten Zeitrechnung »seit der Reichsgründung« –, waren unsere Vorfahren noch primitiv gewesen, geprägt von dem Kampf gegen die Konos: aus vierbeinigem Morga-Rumpf und menschlichem Oberkörper geformte Zentauren, die zehn Meter großen einäugigen Zyklopen, die klobigen Pseudoprimaten und
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die gleichsam mit Kiemen wie Lungen ausgestatteten Argazaten. Eine der Legenden berichtete, dass der einflussreichste und mächtigste der Stammesfürsten, eine fürchterliche Niederlage vor Augen, eine Zusammenkunft einberufen hatte, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Die Konos aber nutzten diese Gelegenheit und griffen mit großer Übermacht an. Die verbliebenen Kämpfer rings um Rhanner Aiczuk wurden eingekesselt, der Tod schien unausweichlich, bis der Kriegerbarde Dar Tranatlan niederkniete und die schwermütige Mari-Danta spielte, das Lied der Letzten Hoffnung, eine Weise, in der ein leuchtender Retter aus der Sonne herabstieg, um den Bedrohten zu helfen … Als die Verzweiflung am größten war, erschien der Sonnenbote wirklich – aus einem Märchen wurde Wirklichkeit. Er rettete die Lemurer, scharte elf der Fürsten als seine Schüler um sich, bildete sie aus und entschwand dann – nach der Ankündigung, in Zeiten größter Not erneut zu erscheinen – wieder ins Licht. Mit der Zeit entstanden aus diesem angeblich wahren Kern die anderen Geschichten der ruhmreichen Heroen, die die Rettergestalt zwar suchten, aber nicht mehr fanden, bis auch sie selbst ins Licht des »Irgendwo« entrückt wurden, gleichfalls verbunden mit der Hoffnung auf Wiederkehr und Neugeburt, die Überwindung von Not, Leid und Tod … Der Anblick der Holos versetzte mich für unbestimmbare Zeit zurück in die Kuppel der Jyril-Abtei, rief Erinnerungen wach, deren Intensität ich in diesen Augenblicken nichts entgegenzusetzen hatte.
* … erweckten die bunten Bahnen der Fenster die Heroen zum Leben. Als Gestalten aus geformtem Licht traten sie für wenige Wimpernschläge hervor, überdimensioniert groß, beeindruckend in ihrer Ausstrahlung, umschmeichelt von den Ausstrahlungen des Drachenmetalls und den mentalen Strömun-
gen ZEUTS. Bekina Hirsuun, Geliebte Dar Tranatlans, die Bogenschützin. Orsmaá Lotronia, Hattagady, Ovasapian, Hedren Geoth, Tsul'hagh, Huniak Taimon, Teslimo, YungTsho Vrana, Saparai … Schließlich Dar Tranatlan, der Heroe mit Langschwert und Lyra, von dem besonders viele Überlieferungen und Sagen aus alter Zeit bekannt waren. Er beherrschte sowohl die Kunst des Kampfes als auch den Umgang mit seinem Instrument perfekt, oft saßen er und seine Mitstreiter, so die Legenden, nachts am Lagerfeuer und sangen Lieder, die von der finsteren, vom Überlebenskampf dominierten Vergangenheit und der leuchtenden Zukunft kündeten, in welcher einst ein mächtiger Retter erscheinen sollte. Der legendäre zwölfte Heroe Vehraáto oder Vhrato, Verkörperung unserer Heiligen Zahl, war diese geheimnisvolle Lichtgestalt aus Apsu, der ersehnte Retter, der Sonnenbote, der die Menschen vor den fürchterlich wütenden Konos rettete. Lichtumglost die Darstellung seiner Gestalt mit dem ovalen Schädel, der keine Detailmerkmale aufwies. Halb erhobene Arme, die Handflächen ausgestreckt, reckten sich in gebieterischer Geste den Konos entgegen und stoppten sie in der Bewegung …
* »… ist diese Mythologie wichtiger denn je! Seit neunzehn Jahren schon tobt der Krieg gegen die Schwarzen Bestien, und kein Ende ist in Sicht.« Die Stimme drang machtvoll in mein Bewusstsein, während die Heroen meiner Erinnerung langsam verblassten und zu dem wurden, was sie nun waren – HoloLichtspiele, die in der Halle des Informationszentrums angeordnet waren. Ich schrak zusammen, neigte den Kopf und murmelte: »Tamaron!« Der Chefwissenschaftler lachte nachsichtig und winkte ab. »Keine Förmlichkeiten, mein Lieber! Selten in der lemurischen Ge-
20 schichte hat ein Neunzehnjähriger derart herausragende Prüfungsergebnisse erzielt. Nehmen wir deine Abjin-Gaben eines ZeutEllwen hinzu, ist es an mir, dir Respekt zu zollen.« »Aber …« Ich starrte Noral Atorem verwirrt an, wusste nicht, was ich denken oder sagen sollte. Der Hohe Tamrat, über dessen Schultern sein Krish'un hing, war ein sonderbarer Mann – äußerlich nicht einmal fünfzig Jahre alt, verband sich mit ihm eine charismatische Aura von deutlich höherem Alter, die mich sofort an »meine Göttin« erinnerte. In Vorbereitung der heutigen Begegnung hatte ich mich über ihn natürlich informiert. Er war zweifellos ein Genie, das Wissenschaft und Technik wie kein anderer beherrschte. Aber selbst er schien kein durchschlagendes Mittel gegen die angreifenden Schwarzen Bestien zu kennen, deren Vormarsch mit jedem weiteren Kriegsjahr bedrohlicher wurde. Kaum ein Lemurer, der den Chefwissenschaftler des Kar'Tamanon nicht gekannt hätte. Bei der weiteren Recherche war ich allerdings auf einige Merkwürdigkeiten gestoßen, die sich nicht allein der extrem hohen, wenn nicht gar höchsten Sicherheitseinstufung verdankten, einschließlich der Hochrang-Bevollmächtigung eines dreifach stimmberechtigten Hohen Tamrats von Lemur. Auffällig war zum Beispiel, dass die öffentlichen Datenbanken nahezu kein Bildmaterial Atorems enthielten. Überaus spärlich waren auch die Angaben zu seiner Person oder seiner Familie. Fest stand jedoch, dass Norals Großvater Arsoen jene Expedition befehligt hatte, die 6203 dT auf dem Planeten Darak die Krish'un entdeckt hatte. Seither besaßen die Tamräte in den »lebenden Umhängen« ein unnachahmliches Symbol ihrer Macht. Noch bemerkenswerter war die Leistung eines weiteren Vorfahren. Lesal Atorem war es gewesen, der 6027 dT beim Vordringen ins Apsuhol-Zentrum das dortige Sonnen-
Rainer Castor seckeck fand, es erforschte und an Bord der LEMUR dreiundzwanzig Jahre später erstmals offiziell die unvergleichliche »Transmitterstraße« zur benachbarten Zweiten Insel benutzt hatte. Eine bemerkenswerte Familie, dachte ich. Noral Atorem hat zweifellos die Unterstützung und das absolute Vertrauen der gesamten Tamräte-Versammlung wie auch des Zwölferrates der Regierung. Nach nur rund zweitausend Jahren waren wir zur beherrschenden Zivilisation in Apsuhol geworden. Nirgendwo war unser Volk auf nennenswerten Widerstand getroffen. Es gab keine Großreiche von Fremdvölkern, keine anderen Zivilisationen von wirklich bedeutendem Rang, obwohl es an vielen Stellen Hinterlassenschaften früherer Völker gab, von denen wir zum Teil kaum mehr als die Namen kannten: Shuwashen, Cyén, Barkoniden, Varganen … Um 5900 dT wurden auf Atrut im 21. Tamanium bemerkenswerte subplanetarische Anlagen der rätselhaften Petronier gefunden, die sich auch »Galaktische Ingenieure« genannt und vor rund einer Million Jahren gelebt hatten. Kurz vor dem ersten Angriff der Haluter hatten unsere Kultur und Technik ihren Höchststand erreicht, die 111 Einzeltamanien des Großen Tamaniums waren über die gesamte Galaxis verteilt, Kolonien sogar schon im »benachbarten«, mehr als zwei Millionen Lichtjahre entfernten Karahol entstanden. Großprojekte waren an der Tagesordnung gewesen – mit Hilfe der Sonneningenieure schufen wir Sonnentransmitter und gestalteten nach Belieben Planetensysteme … Erst mit den Halutern trat ein Feind in Erscheinung, der sich uns mit aller Macht entgegenstellt, dachte ich und musterte die Holos der Heroen, während draußen über den Energiekuppeln der Ausgrabungsstellen molkiges Mondlicht die Landschaft erneut verwandelte und einen merkwürdigen Zauber schuf. »Jetzt müssen wir mit all unserer Kraft,
Der Tamrat unserem Wissen, unserer Kreativität und forschenden Neugier verhindern, dass die Bestien triumphieren!«, sagte der Tamaron mit ausholender Geste auf die Holos. Ich schauderte. Er lachte erneut, klopfte mir wohlwollend auf die Schulter und reichte mir die Hand. »Ich habe dich als Assistenten angefordert und hoffe, dass ich auf deine Mitarbeit zählen kann.« »Es ist mir eine Ehre, Tamaron.« »Noral … Noral reicht voll und ganz. Wie schon gesagt: Ich mag keine übertriebenen Förmlichkeiten, erst recht nicht unter Kollegen.« Ich schluckte. »Aber nicht übermütig werden, Nevus.« Die fächerförmig seinen Augenwinkeln entspringenden Fältchen vertieften sich. »Du bist zwar gut, aber das Lernen endet nie – und verbessern kann und muss man sich jederzeit.« Mit fiel keine angemessene Entgegnung ein, deshalb nickte ich nur und versuchte, das kühle Kribbeln zu ignorieren, das mir die Wirbelsäule hinaufkroch. »Wusstest du, dass auch die Konos einen vergleichbaren Mythos kannten?«, sagte er fast beiläufig. »Seit einem unbekannten Zeitraum hatten sie den festen Glauben, dass eines Tages ihre Götter und Erzeuger aus den Wolken heruntersteigen und ihnen, den Urmenschen und den Halbmorgas, die Gewalt über diesen Planeten verschaffen würden. Oder mindestens über diesen Kontinent. Niemand kann heute noch sagen, wer nun von wem die ursprüngliche Erzählung übernommen hat.« »Einige der Heroen mögen uralte Vorbilder haben«, murmelte ich. »Das meiste entstammt weit verbreiteten Erzählungen und Legenden.« »Der Kampf gegen die Schwarzen Bestien ruft diese Erinnerung wach, herausragende Persönlichkeiten werden mit den Sagengestalten verglichen, und ihre Taten wiederum müssen dazu führen, dass Realität und Dichtung verschmelzen: Wir benötigen leuchtende Vorbilder, zu denen wir aufblicken kön-
21 nen, die neuen Mut vermitteln. Hunderte Welten sind inzwischen in Feuerstürmen untergegangen, schon streben erste Flüchtlinge über den galaktozentrischen Sonnentransmitter in die benachbarte Galaxis!« Kälte zog mir die Kopfhaut zusammen. Während der Mann sprach, wurde seine charismatische Ausstrahlung noch beeindruckender. Das herrliche Zeut ist vernichtet!, durchfuhr es mich. Mitten in unserem Heimatsystem wurden eine Welt und ihre lebendige Seele in einer Katastrophe unglaublichen Ausmaßes zerrissen, deren Auswirkungen Lemur bedrohen und Gletscher weit Richtung Äquatorzone vorwachsen lassen. Abermilliarden wurden im kataklysmischen Augenblick ausgelöscht, begleitet vom höhnischen Triumphgeheul der Bestien. »Es gibt Geheimanalysen, laut denen langfristig gesehen der Sieg der Bestien kaum zu verhindern sein wird – zumindest nicht hier in der Ersten Insel!« Noral Atorems Stimme gewann fast einen beschwörenden Klang, in seinen dunklen Augen erschien ein zutiefst entschlossenes Glitzern. »Unsere Propaganda wird deshalb fortan gezielt Glauben und Hoffnung fördern und dafür sorgen, dass die Zwölf Heroen in aller Munde sein werden, geflüstert heraufbeschworen oder lauthals herbeigefleht: Wir haben es mit Potenzialen zu tun, die bereit sind, von echten Personen besetzt zu werden.« Er ballte die Rechte zur Faust. »In Zeiten der höchsten Bedrängnis gibt es stets einige wenige, in denen sich die kollektiven Wünsche, Träume und Hoffnungen fokussieren. Ursache und Wirkung verschmelzen dann: Zunächst nur Erzähltes erfüllt sich mit Leben, reale Taten wiederum werden durch vielfach wiederholte Berichte glorifiziert. Sie transformieren, ja transzendieren den Emotionsträger erneut im gegenseitigen Aufschaukeln dieser informellen wie interaktiven Wechselwirkungen. Wir brauchen die Heroen – und werden sie bekommen! Vielleicht wirst du bald ei-
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Rainer Castor
ner sein …«
* »Gibt es einen besonderen Grund, weshalb unser Treffen hier stattfindet?«, fragte ich nach einer Weile, von innerem Zittern heimgesucht, das nur langsam nachließ. »Durchaus.« Er sah mich durchdringend an. »Mir als Hohem Tamrat für Wissenschaft und Technik stehen Tausende Mitarbeiter und Projektleiter zur Seite. Nicht zuletzt aus Gründen der Geheimhaltung ist die Zahl der komplett Eingeweihten auf einen kleinen Kreis beschränkt. Als Zeut-Ellwe mit ausgeprägten Abjin-Gaben bist du, denke ich, prädestiniert dafür, dich vor allem mit Forschung und Entwicklung im paranormalen und paramechanischen Bereich zu beschäftigen.« »Verstehe. Nach allen bislang vorliegenden Kenntnissen verfügen die Haluter nicht über dergleichen Fähigkeiten.« »Exakt, und genau das könnte ein Ansatzpunkt sein.« Er griff an seinen Gürtel, zog einen Speicherkristall aus dem Etui und reichte ihn mir. »Hier sind die neuesten Ergebnisse der Matronis-Ausgrabungen gespeichert. Sie bestätigen schon früher entdeckte Andeutungen. Kurz zusammengefasst besagen sie, dass die Cappins uns äußerlich zum Verwechseln ähnlich gesehen haben. In einem wesentlichen Punkt allerdings unterschieden sie sich. Sie hatten die Fähigkeit, unter Verwendung einer so genannten Pedostrahlung mentalen oder paranormalen Kontakt zu anderen Lebensformen aufzunehmen. In einem zweiten Schritt war es ihnen dann möglich, nach genauer Anpeilung der individuellen Ausstrahlung diese Lebewesen geistig zu übernehmen, wobei das Cappin-Bewusstsein stets dominierte. Diese Übernahme erfolgte offensichtlich in Nullzeit, Distanzen spielten bestenfalls bei der Anpeilung eine Rolle. Die für einen solchen Pedo-Kontakt geeigneten Lebewesen wurden ›Pedopole‹ genannt. In den jetzt
gefundenen Daten ist die Rede von Aggregaten, die als ›normgepolte Empfangsstationen‹ arbeiteten; anscheinend also eine paramechanische Umsetzung der abjinähnlichen Fähigkeiten. Als vor rund vierzig Jahren im hundertdritten Tamanium die Eliteeinheit der Lemurischen Sternengarde gegründet wurde, spielten diese Erkenntnisse eine Rolle. Seither laufen die ersten Versuche zur kontrollierten und gezielten Abtrennung des Bewusstseins vom Körper, hauptsächlich von abjinbegabten Zeut-Lemurern.« Ich nickte fasziniert. »Könnten wir unbemerkt halutische Befehlshaber geistig übernehmen und unter unsere Kontrolle bringen, ließe sich der Feind von innen her schwächen, sabotieren und bekämpfen.« »Genau das ist die Idee!« Sein Lächeln bekam etwas Eisiges. »Leider ist es derzeit nicht mehr. Es wird an dir sein, das zunächst nötige Basiswissen zu ermitteln. Sollte es sich als viel versprechend erweisen, können wir offiziell das ›Projekt Fremdkörper‹ angehen …«
* Also stürzte ich mich, fortan einer der ungezählten Assistenten des Chefwissenschaftlers, in die Arbeit. Die ersten Torlon sichtete ich das bislang zur Verfügung stehende Material, unterstützte die Archäologen in Matronis und musste leider feststellen, dass die Ausgangsinformationen mehr als vage waren. Um daraus brauchbare Ergebnisse abzuleiten, würde es vor allem Zeit erfordern. An einem Abend saß ich wieder einmal grübelnd vor dem Computerterminal, als Noral anrief und sich nach dem Fortgang erkundigte, um dann angesichts meiner eher bescheidenen Ergebnisse zu befinden, dass meine Mitarbeit bei anderen Projekten wohl derzeit produktiver sei. »… ergibt sich vielleicht ja in anderem Zusammenhang einmal ein neuer Ansatz«, sagte er, während im Hintergrund des ihn darstellenden Holos eine Frau vorbeihusch-
Der Tamrat te, deren Anblick mich wie die Explosion einer Gegenpol-Bombe traf. Ich wusste nicht, wie mein Gesicht in diesem Augenblick aussah. Es musste jedoch einen Ausdruck angenommen haben, der Noral irritiert stocken ließ. Er kniff die Augen zusammen, sah mich durchdringend an und drehte dann den Kopf, um anschließend in ein Lachen auszubrechen, wie ich es das letzte Mal bei Zohek Hoham gehört hatte. Der gute Zohek – schaudernd erinnerte ich mich, dass sich damals meine spontane Ahnung bestätigt hatte, denn ich hatte sein markantes Lachen in der Tat nie mehr gehört; er starb bei der Vernichtung Zeuts. Und nun … Plötzliche Übelkeit wühlte in meinem Magen, und mein Herz schien von Dutzenden Messerstichen zerfetzt zu werden. Konnte das sein? Wie war das möglich? Tränen stiegen mir in die Augen, während Noral winkte und der herbeitretenden Frau den Arm um die Schultern legte. Im recht offenherzigen Ausschnitt ihrer Bluse bemerkte ich das Glitzern eines metallisch schimmernden kleinen Gegenstandes, der an einer dünnen Halskette hing. »… fast vergessen … kennt euch ja, obwohl … nun ja …« Akustisch verstand ich bestenfalls die Hälfte, von einem Begreifen war ich weit entfernt – zu groß war die Überraschung. In meinen Ohren rauschte es, Hitze wallte, wechselte mit Kälte, das Blut war mir aus dem Gesicht gewichen und kehrte nun mit einem weiteren Hitzestoß zurück. Je intensiver mein Gesicht und die Ohren zu glühen begannen, desto peinlicher wurde mir die Situation mit dem Rest meines klaren Verstandes, den ich mir zu bewahren versuchte. »… ist meine Tochter Shurya …!« Sie sah mir entgegen, und auch diesmal gingen mir die abgrundtief dunklen Augen durch und durch. Ich drohte in diesen Seelenschächten zu versinken, mich zu verlieren, konnte es nicht fassen, fühlte, dass meine Kehle ausdörrte – und umso mehr glich es einem über mir ausgeschütteten Kübel
23 Eiswasser, als ich ihre spöttische Stimme hörte. »Hallo, Kleiner …«
3. Schaltstation Tergham-Trio 28. Ty des Torlon Illhach, 6375 dha-Tamar 55. Jahr des lemurisch-halutischen Kriegs (4. September 50.025 vor Christus) »Zweiundzwanzigtausend?«, vergewisserte ich mich ungläubig. »Zweiundzwanzigtausend Schiffe – eine ganze Flotte?« Norals Gesicht zeigte keine Regung. »Dreifache Bestätigung. Neben dem eigentlichen Ziel Kahalo via Sonnensechseck wurden sämtliche anderen Transmitterstationen abgefragt. Im Augenblick des Abstrahleffekts griff eine unbekannte übergeordnete Energieform ein und ließ die Schiffe verschwinden. Sie wurden weggeschleudert, kamen aber niemals in ihrem Zielgebiet an. Die Raumer sind nirgendwo materialisiert und müssen als verloren gelten.« Die Flotte war in Karahol gebaut worden und als kurzfristiger Entsatz gedacht gewesen, denn die Haluter griffen wieder einmal auf breiter Front an. Die Nachschubleistungen der Bestien versetzten uns wiederholt in Erstaunen, viel zu wenige ihrer Stützpunktwelten hatten im Sternenmeer ausfindig gemacht werden können. Ihr Hauptvorteil ist, dass sie im Gegensatz zu uns kein großräumiges Reich verteidigen müssen, sondern plötzlich auftauchen, zuschlagen und wieder verschwinden, häufig in kleinen Gruppen oder Kampfgeschwadern. Laut fragte ich: »Fremdeinwirkung?« »Unbekannt. Zwar unwahrscheinlich, aber nicht auszuschließen. Shurya ist unterwegs zum Nysoor-Fünfeck, um den Vorfall vor Ort zu untersuchen.« Ein merkwürdiger Unterton sowie nicht ganz eindeutige emotionale Ausströmungen, auf die meine Abjin-Sinne ansprachen, ließen mich skeptisch die Stirn runzeln. Nicht zum ersten Mal war ich mir sicher, dass der
24 Chefwissenschaftler, der in den vergangenen Jahrzehnten zu einem Mentor und Freund geworden war, etwas verschwieg, dass er mehr wusste. Je länger ich den Mann kannte, desto geheimnisvoller erschien er mir. Wiederholt war es ihm gelungen, für komplizierteste wissenschaftliche Probleme Lösungen förmlich »aus dem Handgelenk zu schütteln«, dann wiederum zeigte er sich ratlos, fast gehemmt oder depressiv und weigerte sich strikt, von seinen Mitarbeitern vorgeschlagene Wege auch nur in Erwägung zu ziehen. Wüsste ich es nicht besser, dachte ich bedrückt, könnte einem fast der Gedanke kommen, er sabotiere gezielt gewisse Forschungsrichtungen … Im Lauf der Zeit kam überdies eine merkwürdige Beobachtung hinzu: Weder Noral noch seine Tochter scheinen zu altern … Die Vitalität ihrer Ausströmungen entspricht Jugendlichen! In Gedanken seufzte ich. Shurya Atorem war und blieb für mich die aus der Ferne Verehrte, die Unerreichbare, »meine Göttin«. Im Gegenzug hatte sie bestenfalls schwesterliche Gefühle entwickelt, nannte mich weiterhin »Kleiner«. Noch heute schmerzte diese erste Begrüßung, obwohl der Begriff längst zu einem ironischen Necken geworden war. Sie zog mich mit gutmütigem, freundschaftlichem Spott damit auf, markierte gleichzeitig jedoch eine Grenze. Meine ebenso zaghaften wie unbeholfenen Annäherungsversuche, die ich anfangs unternommen hatte, wurden von ihr mit bemerkenswerter Kühle beantwortet. Als Wissenschaftler akzeptierte und respektierte sie mich voll und ganz, die Fachdiskussionen mit ihr wollte ich nicht missen. Als Freund und Mann dagegen erweckte ich nicht ihr Interesse, sondern war und blieb offenbar nur der kleine Zwölfjährige, den sie damals gerettet hatte. Bis heute wusste ich nicht, warum sie es getan hatte. Warum ausgerechnet ich gezielt aus den Milliarden »herausgepickt« worden war. In dieser Hinsicht blieb sie wie ihr Va-
Rainer Castor ter verschlossen und mir auf eine Weise fremd, die ich nicht verstand, nicht verstehen wollte. Selbstverständlich hatte ich sie danach gefragt. Ihre Antwort war ebenso abblockend wie vieldeutig gewesen: »Ich musste es tun! Frag niemals wieder!« Die nonverbalen Ausströmungen waren eindeutig gewesen, in einer Weise ablehnend, fast feindlich, dass ich in der Tat niemals wieder gefragt hatte. Dass andererseits in mir die Frage weiterhin bohrte und nagte, war ebenso selbstverständlich gewesen. Unzweifelhaft war, dass mein Anblick sie an den schrecklichen Augenblick des Großen Vernichtungsschlags erinnerte; umgekehrt war das ja schließlich ebenfalls der Fall. Mit den Jahren hatte die Zahl meiner Albträume zwar nachgelassen, dennoch gab es weiterhin viel zu viele Nächte, in denen ich schweißgebadet erwachte. Und weiterhin war die wieder und wieder erlebte Rettung durch Shurya das einzig positive Element. Warum hatte sie ausgerechnet mich gerettet? Ich zerbrach mir das Hirn, grübelte und überlegte und kam dennoch zu keinem Ergebnis – von der Erkenntnis abgesehen, dass es ein weiteres Mosaiksteinchen in dem Geheimnis war, das die Atorems insgesamt umgab.
* Seit Jahrzehnten war ich Assistent des Chefwissenschaftlers, hatte an seiner Seite an diversen Stellen geforscht und technische Verbesserungen entwickelt oder war in maßgeblicher Funktion an Großprojekten beteiligt gewesen. Unter anderem wurden im Sinne einer »Entlastungsstrecke« für die Direktverbindung zwischen den Sonnensechsecken von Apsuhol und Karahol folgende Baumaßnahmen forciert: Das Tergham-Dreieck entstand ebenso wie das Praehl-Duo im Leerraum und das Nysoor-Fünfeck. Mit der achten Halutischen Großoffensive im 50. Kriegsjahr hatte es nämlich ganz offensichtlich eine Wende gegeben. Überall
Der Tamrat befanden sich die Schwarzen Bestien auf dem Vormarsch, und es gab Analysen, die eindeutig davon sprachen, dass für die Lemurer der Krieg in der Tat nicht mehr zu gewinnen sei! Dreiunddreißig der 111 Tamanien galten als verloren: Von wenigen Stützpunkten abgesehen, waren die Hauptwelten vernichtet oder derart massiv betroffen, dass die Einzelreiche nur noch dem Namen nach existierten. Von der Hauptversammlung der Tamräte wurde erstmals verstärkt eine Flucht nach Karahol in Erwägung gezogen, obwohl auch von dort kriegerische Auseinandersetzungen gemeldet wurden – mit Wasserstoff atmenden Lebensformen. Dennoch kann Karahol im Sinne eines Rückzugsgebiets gelten, denn dorthin sind die Bestien noch niemals vorgestoßen, keiner unserer Sonnentransmitter wurde erobert! Das erst vor sieben Jahren von unseren Verbündeten, den Sonneningenieuren, fertig gestellte Nysoor-Sonnenfünfeck am Rand der Zweiten Insel war vorsorglich mit einer paramechanischen Absicherung ausgestattet worden, die als Wahnsinnsbarriere ausschließlich auf die Wasserstoffatmer wirkte. Ein Teil der Hyperstrahlung aller fünf blauen Sonnen wurde hierzu künstlich moduliert, beeinflusste den Organismus der Maahks und machte sie verrückt. Die Frage, ob damit der Verlust der Raumschiffe zusammenhängen konnte, beantwortete ich mir sogleich mit einem Nein. Bislang hat der Sonnentransmitter nämlich einwandfrei funktioniert. Das Raumgebiet gehörte zwar zu einem Spiralarm, der größtenteils aus angestrahltem und ionisiertem Wasserstoff bestand und in dem neue Sterne entstanden. Aber die damit verbundenen hyperphysikalischen Randbedingungen wurden von den Sonneningenieuren als nicht nachträglich eingestuft. Durchaus möglich, dass es dennoch eine spezifische Aufladung gegeben hatte, vielleicht eine, die sich mit der Zeit aufschaukelte und akkumulierte. Ich ahnte, dass der
25 Fehler weniger an den technischen Schaltungen lag, sondern wahrscheinlich mit einer hyperenergetischen Instabilität des gesamten Fünfecksystems oder seiner näheren und weiteren Umgebung zu tun hatte. Unter Umständen überlappen sich bei Aktivierung des Transmitters die natürlichen und künstlichen dimensional übergeordneten Kraftfelder, so dass das hyperenergetische Zusammenspiel der fünf Sonnen außer Kontrolle gerät und auf die Transportzone durchschlägt. Ich rief die Berichte auf und studierte sie eingehend, begann abermals, stutzte und markierte einen Abschnitt. »Sonderbar. Die Steuermannschaft von Peschnath will im Augenblick der Abstrahlung ein mentales Gelächter wahrgenommen haben. Die Individual- und Parataster lieferten zwar keine unabhängige Bestätigung, aber die Zeugenaussagen stimmen bis ins Detail überein.« Mentales Gelächter? Deutlich erinnerte ich mich an meine Wahrnehmung kurz vor der Vernichtung Zeuts. Ich wusste auch jetzt noch nicht, wie ich sie einzuschätzen hatte, war mir aber sicher, keiner Sinnestäuschung aufgesessen zu sein. »Vielleicht eine Interferenz mit den Emissionen der Wahnsinnsbarriere?«, murmelte Noral wenig überzeugend, fast abwiegelnd. »Noch wissen wir nicht, welche hyperphysikalischen Randbedingungen zum Versagen des Sonnentransmitters führten. Durchaus möglich, dass …« »Nein!«, unterbrach ich energisch. »Da steckt mehr dahinter! Kurz vor Zeuts Vernichtung hatte ich eine vergleichbare … hm, Vision.« Ich kniff die Augen zusammen und berichtete von meinen damaligen Wahrnehmungen, die sich wie alles andere unauslöschlich in mein Gedächtnis eingebrannt hatten. Je länger ich sprach, desto bleicher wurde Noral. Schließlich zischte er sogar einen unverständlichen Fluch und knurrte: »ES und Anti-ES!« »Wie bitte?« Er winkte ab, war nicht bereit, auf dieses
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Thema einzugehen. Eisige Kälte schien plötzlich die Zentrale der diskusförmigen Schaltstation einzuhüllen. Ich fröstelte und starrte den Mann an, aber er wandte sich abrupt ab und eilte davon, als fliehe er vor einer Kampfgruppe Schwarzer Bestien. Er weiß es!, durchfuhr es mich. Er weiß ganz genau, was das zu bedeuten hat. Bei den Konos, warum schweigt er, wiegelt ab, spricht in Rätseln?
* Der Blick ins Hauptholo der Zentrale zeigte vor leuchtenden Wasserstoffwolken die Ecksterne des Tergham-Dreiecks. Die drei Roten Riesen wiesen fast identische astrophysikalische Daten auf. Der Abstand der als Eckpunkte eines gleichseitigen Dreiecks angeordneten Sonnen betrug zwölf Lichtminuten. Das galaktozentrische Sonnensechseck war 8639 Lichtjahre entfernt. Der stählerne Diskus der TerghamSchaltstation war 1,22 Milliarden Kilometer »über« dem Schnittpunkt der hyperdimensionalen Wirkungslinien des Sonnendreiecks gravomechanisch fixiert. Meine Anwesenheit hier war nur ein Zwischenstopp auf dem Weg zum 103. Tamanium. Ich hatte von meinem KontaktSonneningenieur Phy gehört, dass Noral eine zusätzliche Baumaßnahme eingeleitet hatte, und wollte mehr darüber erfahren. Dass die ZEUT genau zu dem Zeitpunkt eintraf, als auch die Verlustmeldung der 22.000 Raumer einging, war zweifellos Zufall. Während rings des orange leuchtenden Ballungszentrums der Transmitterzone Zehntausende Sonneningenieure in Stellung gingen, materialisierte Phy abrupt neben mir – eine metergroße, zitronengelbe Energiekugel. Fortbewegung, handwerkliche Tätigkeiten wie auch Kommunikation dieser aus Karahol stammenden Wesen erfolgte ausschließlich auf paranormalem Wege; sie waren ebenso Teleporter wie Telekineten und Telepathen. Zu großen Parablöcken zusammenge-
schlossen, konnten sie ganze Sonnen nach Belieben beeinflussen und über riesige Distanzen hinweg neu positionieren. Von den Sonneningenieuren, deren Heimat das 3711 Lichtjahre vom Karahol-Zentrum entfernte Drei-Mütter-System war, stammte die von uns verwendete Technologie der Stoßimpuls-Generatoren. Sie gestattete uns auch ohne direkte Mithilfe der leuchtenden Kugeln den Bau von Sonnentransmittern oder die künstliche Positionierung von Planeten. Größe und Masse des vom markanten Feuerring beförderten Objekts sowie die Transportreichweite waren ausschließlich eine Frage der Energieversorgung, die durch Sonnenzapfung sichergestellt wurde. Vergleichbares galt auch für die bis fast an den Nullzeitwert einer Transition oder eines Transmittertransports heranreichende Beförderungsgeschwindigkeit. Die Halbraumtriebwerke unserer Raumschiffe waren nur deshalb auf einen vielmillionenfachen Faktor der Lichtgeschwindigkeit beschränkt, weil der bordeigenen Energieversorgung durch Fusionsreaktoren Grenzen gesetzt waren. Im Gegensatz dazu hüllte ein von außen ausreichend mit Energie beschickter Stoßimpuls-Generator das durch gegenpolige Aufladung vorbereitete Transportobjekt in ein extern erstelltes Halbraumfeld, das am angestrebten Ziel – ohne Gegenstation – nahezu augenblicklich in den Normalraum zurückfiel. Darüber hinaus hatte diese Technik auch den Vorteil, mit deutlich geringeren Geschwindigkeiten als einer »Quasi-Nullzeittransition« arbeiten zu können. Planeten konnten zielgenau und mit korrektem Bewegungsvektor in künstlich zusammengestellten Sonnensystemen platziert werden. Die Tergham-Schaltstation war von vornherein mit entsprechenden Anlagen ausgestattet worden, die sich an die Transmitterballungszone des Sonnendreiecks koppeln ließen. Die Vorbereitungen gehen in die Endphase, signalisierte Phy nach der freudigen Begrüßung, während Noral wieder die Zentrale
Der Tamrat
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betrat und die Leitung übernahm, als sei nichts geschehen. Weißt du, warum er zusätzlich einen Weißen Zwerg ins System integrieren will?, erkundigte sich der Sonneningenieur auf der nur an mich gerichteten lautlosen Kommunikationsebene. Damit sind hyperphysikalische Instabilitäten verbunden, die permanent nachjustiert werden müssen. Keine Ahnung, mein Freund. Ich verzog das Gesicht. Ich bin nur einer von vielen seiner Assistenten, und du kennst die Geheimhaltungsvorschriften selbst. Hast du Zeit und Lust, mich ins hundertdritte Tamanium zu begleiten? Leider nein. Wir haben einen Auftrag beim Sonnendreieck in der vorgelagerten Mhagro-Satellitengalaxis, wo es offensichtlich Justierungsprobleme gibt. Schade, dachte ich. Vor meinem inneren Auge erschien das Bild der fast 10.000 Lichtjahre großen, knapp 80.000 Lichtjahre von Lemur entfernten, unterhalb der gegenüberliegenden Apsuhol-Seite befindlichen elliptischen Kleingalaxis. Das Mhargotaman genannte 105. Tamanium war zum Glück bislang von Attacken der Haluter verschont geblieben.
* »Achtung – jetzt!« Im Holo glühte die Transmitterzone grell auf, wurde von einem schwarzen Aufriss gespalten – und im nächsten Augenblick materialisierte das erwartete Objekt, dessen Daten eingeblendet wurden. Die vergrößert hervorgehobenen Sonneningenieure konzentrierten ihre ausgeprägten Abjin-Fähigkeiten auf den Winzling und machten sich mit ihren Kräften daran, ihn zu einem der Roten Riesen zu befördern. Die weiße, körnig aussehende Kugel von geringer Leuchtkraft erreichte nur 188,67 Kilometer Durchmesser. Auch die Masse, die fast exakt der von Lemur entsprach, war für einen Weißen Zwerg bemerkenswert gering – zumal er, eine weitere auffällige Be-
sonderheit, annähernd die gleiche Hyperstrahlung abgab wie Apsu. Somit eignet er sich theoretisch zum Transmitterpartner der Sonne und könnte gleichzeitig als Ersatz für Lemur fungieren, durchfuhr es mich. Ist es das, was Noral beabsichtigt? Die Vorbereitung für eine Flucht ganz Lemurs? Möglich wäre es, sobald die Drokarnam-Reste ihre Störstrahlung verlieren. Ich sah zu Noral hinüber, der die Arme vor der Brust verschränkt hatte und einer unbeweglichen Statue glich. Seine ablehnenden Ausströmungen waren überaus deutlich zu erkennen. Deshalb sah ich davon ab, ihn nach den Hintergründen zu befragen. Ich ahnte, dass er sie mir nicht verraten würde – und fragte mich, ob sie ebenfalls mit ES und Anti-ES zusammenhingen. Kaum gedacht, zuckte ich zusammen: Das plötzliche mentale Gelächter gewann eine fast schmerzhafte Intensität, brach jedoch so schnell wieder ab, wie es gekommen war. Unauffällig sah ich mich um. Niemand reagierte, weder Phy noch einer der Techniker. Hatte nur ich das Lachen gehört? Ich bemerkte, dass Noral die Schultern hochzog und sich umdrehte. Unsere Blicke begegneten sich kurz. In seinen Augen las ich, dass er es ebenfalls »gehört« hatte, dass er genau wusste, was es zu bedeuten hatte. Und dass er weiß, dass ich es wahrgenommen habe. Für den Bruchteil eines Wimpernschlags schien sich sein Gesicht in eine uralte Maske zu verwandeln, grau, rissig und voller Runzeln. Der fiebrige Glanz der Augen erlosch und machte einem leblosen Eindruck Platz, die Mundwinkel hingen bitter herab. Noch während ich blinzelte, von dem Anblick überrascht, normalisierte sich sein Aussehen, gewann die jugendliche Straffheit zurück. Ich aber war mehr denn je fest davon überzeugt, dass der Mann um ein Vielfaches älter war, als es dem bloßen Augenschein entsprach. Er wich mir fortan aus, und ich bedauerte, als ich schließlich zur ZEUT überwechselte,
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dass es keine Aussprache gegeben hatte, denn auch ich schreckte für meinen Teil davor zurück, ihn direkt anzusprechen. Noch ist die Zeit nicht reif, sagte ich mir und starrte mit brennenden Augen zur Panoramagalerie. Leider. Die ZEUT raste der Transmitterzone entgegen, die derzeit eine direkte Verbindung zwischen dem Tergham-Trio und dem Temur-Sonnenfünfeck darstellte. Nach der Rematerialisation bot sich mir ein grandioses Bild: Vor dem Hintergrund bläulicher Reflexionsnebel, den Fahnen leuchtenden Wasserstoffs und den dunklen Bändern von Staubansammlungen glühten die fünf blauen Riesensonnen. Im orangeroten Licht des Schnittlinienzentrums wogten dunkelviolette, fast schwarze Risse. »Verbindung zur Temur-Station hergestellt«, meldete Kommandantin Jesi Zhos. Die Ratna sprach mit rauer Stimme und einem begeisterten Leuchten in den Augen. »Strukturöffnung erfolgt.« Ich lächelte. Die Station, aus einem rund neunzig Kilometer großen Planetoiden geschaffen, war in den Halbraum eingebettet. Sie war nicht entmaterialisiert, sondern gehörte zu einer Enklave, die ein Halbraumfeld gegen die Auflösungserscheinungen des übergeordneten Kontinuums abschirmte. Als Nebenfunktion eines Stoßimpuls-Generators bedurfte es keiner Eintauchgeschwindigkeit wie bei den Halbraumtriebwerken, um den Übergang in die Zone konventionellen Weltraums von rund zweihundert Kilometern Durchmesser zu vollziehen – in ein in sich geschlossenes Miniaturuniversum.
* Die Tamrätin des 103. Tamaniums war eine Schönheit. Ihr nachdenklicher Blick aus schwarzen Mandelaugen traf mich, während sie grüßend die rechte Hand an die Lippen legte und sie in gestreckter Haltung nach vorn bewegte. Ein leichtes Ziehen durchzog die Abschirmung meiner Abjin-
Wahrnehmung; Touja Kehoe entging nicht, dass ich ihren Vorstoß abwehrte. Trotzdem lächelte sie: eine Welle der Sympathie und des Vertrauens, von der ich mir wünschte, dass sie nur einmal von Shurya in dieser Intensität ausgehen möge. Touja empfing mich im Venantin-Komplex der vierzig Kilometer durchmessenden Zentralkugel, deren enge Horizontkrümmung den Eindruck vermittelte, auf einem Hügel zu stehen. Die Terrasse gehörte zu einem vielfach abgestuften, von hochragenden Wohntürmen bestimmten Gebäude, das von einer Parklandschaft umgeben war. Aus Fenstern der vielfach gegliederten Fassaden, geprägt von mächtigen Strebepfeilern, Balkonen an Erkern und abgestuften Plattformen mit Arkadengängen, drang warme Helligkeit. Der »Himmel« über Venantin, das die Ausmaße einer Kleinstadt erreichte, war dunkelblau und markierte jenes dünne Kraftfeld, das durch Eigenleuchten für schattenlose Helligkeit sorgte. Eine zwanzig Kilometer dicke Gesteinsschale umhüllte den Kernhohlraum von fünfzig Kilometern Durchmesser, in dem die Zentralkugel frei schwebend verankert war. Der fünf Kilometer hohe »Innenfreiraum« war teilweise mit künstlicher Atmosphäre gefüllt, die durch das Feld der künstlichen Gravitation bis in drei Kilometern Höhe etwa der Normalatmosphäre eines Planeten entsprach, dann aber kontinuierlich bis zur Gesteinsschale gegen null ausdünnte. Die Temur-Station beherbergte mehr als zehn Millionen Personen, ohne dass diese auf ihren gewohnten Komfort verzichten mussten. In der Ferne erklang leise die Melodie einer Ballade, die die Taten der Zwölf Heroen beschrieb. Ich grüßte ebenfalls und sagte: »Halaton kher lemuu onsa« – gesegnet sei das Land der Väter. Die Tamrätin und ich kannten einander. Sie war 6331 dT auf Kunathon im TarloraSystem geboren und hatte nach ihrer Ausbildung – Hauptfach Biogenetik, Nebenfach Paraphysik –, 6369 dT die wissenschaftliche
Der Tamrat zugunsten einer politischen Karriere aufgegeben. Im Verlauf ihrer Ausbildung hatten wir uns kennen gelernt und eine überaus heftige, wenngleich sehr kurze Affäre gehabt. Als Politikerin war sie zunächst in verschiedenen Funktionen als Planetarischer Rat und im Fachausschuss für paraphysikalische Forschung tätig gewesen, dann mit großer Mehrheit zur Vize-Tamrätin gewählt worden und hatte nach dem Tod ihres Vaters Matrag dessen Tamar-Mandat übernommen. Sie verfügte wie alle Tamräte der Einzeltamanien im Gegensatz zum dreifachen Stimmrecht der Tamaron von Lemur selbst nur über ein einfaches. Recht schnell kamen wir nach den obligatorischen Floskeln zum Kern meines Besuchs. »Machen die Versuche zur Trennung von Körper und Bewusstsein Fortschritte?«, begann ich. »Ja. Die Sternengardisten machen ihrem Namen alle Ehre: Noch ist es das Forschungsprojekt einiger weniger, aber schon zeichnet sich eine vielseitig nutzbare Schutzfunktion ab. Keiner Bestie gelang es bislang, zum Sonnentransmitter vorzustoßen. Unserer höher geordneten Lebensstruktur widerstanden sie nicht, alle wurden vernichtet! Kein Raumschiff, selbst wenn es im Halbraum dahinrast, widersteht der energetischen Lebensstruktur. Jeder Haluter wird gestellt, zerquetscht und pulverisiert. Wenn wir Glück haben, wagen die Bestien irgendwann keinen weiteren Versuch mehr und meiden fortan das Hundertdritte.« »Lässt es sich auf die anderen Tamanien übertragen?« »Ich weiß es nicht. Es kann sein, dass die Erfolge der Sternengarde mit den besonderen hyperphysikalischen Bedingungen der Temur-Dunkelwolke zusammenhängen. Außerhalb gelang eine Abtrennung leider noch nicht.« Die Dunkelwolke, in der Dutzende junger Sterne leuchteten, erreichte eine Länge von mehr als siebzehn Lichtjahren. Sie gehörte zu einer dem Galaxisrand vorgelagerten, irregulären Sternenansammlung von 750
29 Lichtjahren Durchmesser; die 2500 Sonnen befanden sich etwa 28.000 Lichtjahre oberhalb der Milchstraßenhauptebene, fast 78.000 Lichtjahre von Lemur entfernt. »Die Petronier werden einen Grund gehabt haben, ihren Elf-Planeten-Wall genau hier zu erbauen. Das Yi-Roim-System ist phantastisch.« »Ganz meine Meinung.« Elf lemurähnliche Planeten, die auf gemeinsam-identischer Umlaufbahn ihre Sonne in einer seit mehr als einer Million Jahren bestehenden Perfektion umkreisten, wie sie selbst den Sonneningenieuren noch ein Rätsel war. Wir hatten andere Planetenwälle dieser Art in den Weiten von Apsuhol entdeckt, einer davon verfügte sogar über dreißig Welten! Besondere Aufmerksamkeit erregt ein erstaunlicher Effekt, der seit zwei Jahren beobachtet wird, dachte ich. Unterstützt von den teilweise erforschten Anlagen der Petronier vor allem auf Atrut, gelingt es uns vermehrt, stabile Psi-Materie zu erzeugen. Touja schien meine, Gedanken zu erraten. »Auch wir konnten kleine Mengen PsiMaterie herstellen und haben herausgefunden, dass sie von starken Energiefeldern umgeben ist. Die Auswertungen klingen ermutigend: Es sieht so aus, als würde bei geeigneter Modulation eine Streustrahlung emittiert, die die Bestien lethargisch werden lässt.« »Auch deshalb bin ich hierher gekommen, meine Liebe.« Ich lächelte matt und seufzte lautlos, weil sich ihr hübsches Bild mit dem idealisierten »meiner Göttin« überlagerte und einen schalen Geschmack zurückließ. »Ich habe mir die Werte angesehen, einige Varianten durchgerechnet und einen Plan erstellt. Leider wird es eine beträchtliche Zeitspanne erfordern, ausreichend große Mengen von Psi-Materie zu erzeugen. Sollte es jedoch gelingen, könnte sie in die Oberflächen zu schützender Planeten ›eingepflanzt‹ werden und unangreifbare Psionische Bastionen formen.« »Ich werde mich dafür einsetzen, dass du
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Rainer Castor
mit dem Projekt betraut wirst, alter Freund. Dein Mentor Atorem hat für die nächste Tamräte-Versammlung eine Vorlage eingereicht, die deine Ernennung zum Hohen Tamrat von Lemur für Abjin-Projekte vorsieht. Ich gratuliere!« Das war eine Überraschung! Und warum sagt er mir das nicht selbst, dieser alte Geheimniskrämer?, dachte ich bedrückt und irgendwie enttäuscht, ohne mir etwas anmerken zu lassen. »Macht deine Bewusstseinstransferanlage Fortschritte?«, fuhr die Tamrätin fort. »Um gezielte Transfers auf paramechanischer Basis zu erreichen, ist noch viel Forschung notwendig. Ob das Ziel einer geistigen Übernahme von Halutern, um die Schwarzen Bestien quasi ›von innen heraus‹ angreifen zu können, erreicht werden kann, bleibt abzuwarten.« Sie aktivierte einen Holoprojektor und wies auf die entstehende Darstellung. »Vielleicht helfen dir unsere Erkenntnisse weiter?«
* Die Eindrücke nahmen mich gefangen: Durch eine düstere Halle bewegte sich ein Zug feierlich schreitender Gestalten. Dumpf intonierte liturgische Gesänge hallten wider. Flackernde Flammen schufen bewegte Schatten auf den Wänden, rissen Basreliefs aus der Dunkelheit und schienen die Abbildungen zu einem gespenstischen Leben zu erwecken. Aus Metallgefäßen quoll Rauch. Dichte, graublaue und bizarr aufkräuselnde Schwaden umgaben die Frauen und Männer. Aus der Feme drang ein dumpfer Ton heran, der meine Zwerchfelle vibrieren ließ. Ich konnte mich der archaischen Atmosphäre nicht entziehen. Emotionen, tief im Unterbewussten verborgen, wurden angesprochen und wachgerufen: Dunkelheit, kaum erhellt von zuckenden Lichtern; monotone Gesänge, einlullend und gleichzeitig aufpeitschend. Lichtbahnen blitzten, von einem raffinier-
ten Prismen- und Spiegelsystem geleitet, als diffuse Finger über die Rückwand und offenbarten die Konturen einer Statue, die in ihrer Größe und Masse erdrückend wirkte. Vierarmig, mit drei riesigen Augen im Halbkugelkopf, Kegelzähnen im aufgerissenen Maul. Das Dunkelgrün ihres Kampfanzugs schien die Helligkeit zu schlucken. Die Gestalt stand geduckt, war auf die kurzen Laufarme niedergesunken. Die deutlich längeren Handlungsarme gingen in schenkeldicke Strahlwerfer über. Schwarz klafften die Mündungstrichter. Die Frauen und Männer warfen sich zu Boden, während die Schwaden kniehoch umherkrochen. Grelles Licht überschwemmte plötzlich die Halle, offenbarte weitere, überlebensgroße Statuen, die die Schwarze Bestie im Dreiviertelkreis umgaben. Hochgewachsen-athletische Gestalten, gekleidet in rüstungsähnliche Kampfmonturen, ausgestattet mit zum Teil archaisch anmutenden Waffen. Eine Frau hielt die Bogensehne bis zum Ohr gespannt. Ein Mann reckte das Langschwert, auf dem Rücken trug er die Lyra. Die ruhmreichen Heroen! Nackte betraten nun in langer Doppelreihe die Halle, die Frauen rechts, die Männer links. Sie umschritten mehrfach die Bestienstatue, blieben stehen, hoben die Arme. Gleißendes Licht rauschte vor der VehraátoStatue als brodelnder Geysir viele Meter in die Luft und zersprühte zu glitzernden Kaskaden. Es war keine Flüssigkeit, nicht einmal Materie bekannter Art, sondern etwas Strahlendes, das in den Randbereichen ausdünnte, gasförmig und durchsichtig wurde – Psi-Materie! Die mehr oder weniger stofflich erscheinende Kondensationsform ultra- oder superhochfrequenter Hyperenergie war eine wahrhaft »exotische Substanz«, die als Materieprojektion scheinbar fest, flüssig oder gasförmig in Erscheinung trat, tatsächlich jedoch bestenfalls eine schattenhafte Existenz darstellte, die vom höher geordneten Kontinuum in unsere Welt projiziert wurde! Im Kern beherrschte ein heller, fast blau-
Der Tamrat weißer Eindruck den Sprudel, der nach außen über Weiß zu Gelb abdunkelte. Hinzu kam ein Knattern und Kreischen, das in den Ohren schmerzte. Vereinzelte Lichtspritzer beschrieben spiralige Bahnen und fauchten als Miniaturkometen in düsterem Rot durch die Halle. Winzige Kugelblitze beschleunigten abrupt und stoppten wieder ab, umkreisten nackte Lemurer, stiegen zur Hallendecke und zerstoben krachend zu feuerwerksähnlichen Funkenregen, prasselnden Lichterspielen und flammenden Rosetten. Während die Haluterstatue langsam im Boden versank, wandelte sich die Szenerie. Überall war nun pastellene Helligkeit, eine luftige Leichtigkeit, begrenzt von einem gläsernfiligranen Geflecht, hinter dem eine saftig grüne Wiese von breitkronigen Bäumen eines Camuh-Hains überschattet wurde. Lemurerinnen und Lemurer umtanzten beschwingt die Heldenstatuen und bogen ihre Körper zu fröhlicher Musik. Die Heroen strahlten von innen heraus, schienen selbst zu Licht zu werden, ehe sie verschwanden. Der Boden war in weitem Umkreis weiterhin von wabernden Schwaden bedeckt, die an Trockeneiswolken erinnerten. Vor leuchtendem Hintergrund entstanden pechschwarz gezackte Linien als komplexes Netzwerk. Die Linienschnittpunkte wirkten wie Löcher ins Nirgendwo: Spalten und Schächte, die quasi die raumzeitliche Struktur durchbrachen, die Frauen und Männer für Momente einhüllten und schlagartig verschwanden. Zurück blieben Gestalten, die leblos zu Boden sanken. Unter der Hallendecke erschien eine Holokugel, die einen Dunkelwolkenabschnitt über dem Sonnenfünfeck zeigte: Blitze tobten vor Staubballungen und formten aus ihnen gestreckte Walzenformen, die sich einige Zeit wanden und dann auf unsichtbaren Wellen davoneilten. Ich erkannte, dass die bis zu einem Kilometer langen Körper Sekundärerscheinungen des dahinter stehenden Prozesses waren, der fast vollständig im Hyperraum angesiedelt war; Energiepakete, deren ins Standard-
31 kontinuum greifende Ausläufer ein Form gebendes Hüllfeld erzeugten. Dieses füllte sich beim Durchqueren der Wolke mit konventioneller Materie. Die aus Mikropartikeln und Energiefeldern geformten Leiber, beseelt von den aus den Originalkörpern entschwundenen Bewusstseinen, waren nur bedingt stabil. Nach einiger Zeit zerfielen sie und entstanden an anderer Stelle neu: Jeder »Staubwal« war ein Lemurer! Und sie glitten beschwingt dahin und verschwanden in der Schwärze …
* »Glaub mir, das Leben ›außerhalb‹ ist überaus faszinierend!«, sagte Touja mit schwärmerischer Stimme. »Ein umfassender Blickwinkel erschließt sich, wir fühlen das Leben des Kosmos, Raum und Zeit werden grenzenlos! Es … es gleicht der Schönheit eines Sonnenuntergangs! Einmal aus der Beengung körperlicher Hülle befreit, erschließt sich jedem Bewusstsein die wahre Natur der Welt. Was unsere Sinne wahrnehmen, ist dagegen nur ein Traum, die erstarrte Form des viel Beweglicheren, das der eigentlichen Wirklichkeit entstammt!« Ich dachte an die vernichtete Megaintelligenz, die Lehreinheiten von Zohek Hoham, glaubte für wenige Augenblicke sein Lachen zu hören und zitierte aus den alten Überlieferungen, die in Matronis gefunden worden waren: »Das innerste Wesen aller Dinge ist ein und dasselbe, vollkommene Stille und Ruhe, und zeigt keine Anzeichen von ›Werden‹; das Nichtwissen jedoch in seiner Blindheit und seinem Wahn wird nicht der Erleuchtung gewahr und kann deshalb nicht wahrheitsgetreu all jene Umstände, Unterschiede und Tätigkeiten erkennen, welche die Erscheinungen des Weltalls charakterisieren.« Sie ergänzte lächelnd: »Das Ursprüngliche ist im Bewusstsein des Kosmos, von dem das des Individuums nur ein Teil ist, und hat in Wirklichkeit keine Form. Dem-
32 nach ist es eine Illusion zu denken, dass irgendetwas sei; ist das Bewusstsein unabhängig, verschwinden diese illusionären Formen. Es erweist sich, dass alles Sein aus unvollkommenen Ideen in unserem Geist entsteht. Jede Existenz ist ein Reflex in einem Spiegel, ohne Substanz, nur ein Phantom des Geistes. Wenn der begrenzte Geist handelt, entstehen alle Arten von Dingen … Du wirst es schaffen, Nevus!« Ich antwortete nicht, dachte an Shurya und hatte im Gegensatz zu Touja meine Zweifel. Dieses besondere Ziel, fürchte ich, werde ich mein ganzes Leben lang nicht erreichen – sie ist und bleibt die ferne »Göttin« … Zwischenspiel Atlan »Wir sind gefangen, mein weißhaariger Freund, im Plan einer Gesetzmäßigkeit von Werden und Vergehen, die zu ausschließlich und zu gewaltig ist, um von uns begriffen zu werden«, hat vor langer Zeit einmal ein greisenhafter chinesischer Priester am Rande des Todes gesagt. »Versuche also, dich damit abzufinden. Etwas, das größer ist als du und ich, manipuliert uns.« Das war im Jahr 221 vor der Zeitenwende, als im Auftrag Shih Huang-tis der Große Wall an der Nordgrenze des Ch'in-Reiches entstand und der Erste Kaiser nach dem Trank des immer währenden Lebens suchte. Exakt vom fotografischen Gedächtnis reproduziert, sehe ich den Alten vor mir, dessen Stimme kaum mehr als ein heiseres Flüstern war; runzlig, fast haarlos, die wenigen Zahnstummel schwarz und zerklüftet, knochig die ausgezehrten Finger. Ein »Primitiver« eines barbarischen Planeten, von jedem Knaben meiner arkonidischen Heimat durch wenige Fragen allgemeinen Grundlagenwissens bis ins Mark zu demütigen, erfasste und formulierte er dennoch mit beispielloser Intuition Dinge, über die ich seither oft meditiert habe. Selten war ich dem Verständnis nahe, der Akzeptanz dessen, was sich hinter seinen Worten verbirgt. Unwillkürlich muss ich an Li denken, an
Rainer Castor ihre immer stärker werdenden Stimmungsschwankungen und Persönlichkeitsveränderungen, an die damit verbundenen Fragen, an das UFO-Mutterschiff, die kleinen Hominiden und Androiden, die sie offensichtlich zu entführen versuchten – und werde weiterhin von den paramechanisch übermittelten Lebensinformationen des toten Tamrats heimgesucht. Ich stöhne lautlos unter der auf mich einprasselnden Last, weil mein fotografisches Gedächtnis auf zahlreiche Stichworte gleichzeitig reagiert. Zu vieles kenne ich, weiß es einzuschätzen, war zum Teil selbst daran beteiligt. Der Erinnerungsdruck wird fast übermächtig. Informationen, zu verschiedensten Zeiten erlangt, verknüpfen sich zu einem höchst komplexen Gesamtbild. Das Bild der Tamrätin des 103. Tamaniums entsteht vor meinen Augen, ebenso der Kommandeur der »Lemurischen Sternengarde«, Admiral Vlasaák. Ich erinnere mich an die unfreiwillige Zeitreise, bei der ich Touja Kehoe begegnete und sie mich für eine Inkarnation des Heroen Dar Tranatlan hielt. Die Legenden sind uralt und bei vielen Lemurnachkommen lebendig. Von Dar Tranatlan leitete sich Tran-Atlan ab, nach dem mich meine Mutter benannt hat! Im arkonidischen Lebensraum ist der mythische Retter als Vretatou bekannt, akonisch-archaische Gesänge berichten von Vhratatu, und bei den Tefrodern gibt es einen Erzählungszyklus, der die Taten eines Vohrato behandelt. Die Mythen gehören zum Kulturgut, genau wie auf der Erde die Taten eines Prometheus, Herakles, Achill, Odysseus oder König Arthus zu Phantasien anregten oder zu gängigen Begriffen der Umgangssprache transformierten: Achillesferse, Odyssee oder Tafelrunde. Das Abjin der Lemurer entspricht dem Sanskritbegriff abhijñâ, welcher für »übernormales Gesicht und Gehör, Gedankenlesen, Kenntnis von wunderbarer Kraft und die Erinnerung an frühere Existenzen« stand. Paranormale Kräfte, die allerdings nicht sonderlich ausgeprägt waren und sich
Der Tamrat meist auf den Nahbereich beschränkten. Nur die Blockbildung vieler Lemurer führte zu Effekten, die denen terranischer Mutanten entsprachen. Schließlich die Bilder der Nullzeitdeformator-Expeditionen, die uns in die Frühzeit der lemurischen Kultur wie auch in die Zeit der Cappins brachten. Ich sehe die heranpreschenden Zentaurenherden, die riesigen Zyklopen und Pseudo-Neandertaler, die genau wie die Argazaten Ergebnisse der cappinschen Bioexperimente waren. Von den Argazaten wiederum, die über Kiemen wie Lungen verfügten, ist es nur ein kleiner Schritt zu den Tarik, denen wir vor kurzem begegneten. Aber ehe ich die sich mit dieser Erkenntnis verbundenen Fragen gedanklich formulieren kann, drängen neue Informationen in mein Bewusstsein und rufen abermals Erinnerungen wach. Shurya Atorem – die Unbekannte, die Nevus' Leben rettete, in die er unsterblich verliebt war, die er als unerreichbare »Göttin« verehrte, die sich als Tochter des lemurischen Chefwissenschaftlers herausstellte … Es gibt keinen Zweifel! Ermigoa!, durchfährt es mich. Shurya ist Ermigoa! Weil Terra und Luna nicht wie vorgesehen vom Duo-Sonnentransmitter SolKobold zum Archi-Tritrans-Sonnendreieck versetzt wurden, untersuchten wir alte lemurische Sonnentransmitter und gelangten nach Andromeda, das die Lemurer Karahol nannten. Der Sonnenfünfeck-Transmitter hieß bei den Maahks »Gercksvira«, sinngemäß »Tiefste aller Niederungen«. Auf dem Planeten Peschnath begegnete ich Ermigoa. ES und Anti-ES?, denke ich irritiert. Genau wie beim »Kosmischen Schachspiel« der Jahre 3456 bis 3458? Den Weißen Zwerg von Archi-Tritrans haben wir Kobold genannt. Die Erde wurde in den Mahlstrom der Sterne versetzt; ES nahm später die zwanzig Milliarden Menschen auf, als die Erde durch den Schlund stürzte. Hat die Superintelligenz das alles schon tief in der Vergangenheit geplant und vorbereitet? Was
33 wussten »Shurya« und ihr Vater genau? Als sei es gestern gewesen, sehe ich die dunkelhaarige Schönheit vor mir, sehe ihre großen Augen, ihren Zellaktivator, der sie zur potenziell Unsterblichen machte. Ich fragte sie nach seiner Herkunft – ihre Antwort klingt mir in den Ohren: »Mein Vater baute ihn für mich. Er baute auch alle Zellaktivatoren, durch die die Meister der Insel die relative Unsterblichkeit erlangten!« Ähnliches teilte mir auch Mirona Thetin mit, Faktor I der Meister; sie sprach von einem »Wissenschaftler der Alt-Lemurer«, dessen Identität ihr angeblich unbekannt war. Und viel zu gut erinnere ich mich an Ermigoas Tod: Weil ein schadhafter Multiduplikator rasch zerfallende, zellaktivatorlose Ebenbilder ihrer selbst produzierte, zerstrahlte sie in einem Anfall geistiger Umnachtung mit einem Desintegrator ihren Zellaktivator. Am 23. Mai 3460 zerfiel sie in meinen Armen zu Staub! Nicht von ihrem Zerfall betroffen dagegen war ein mit einem Edelstein besetzter Armreif. Ich nahm ihn damals als Erinnerungsstück mit nach Gäa in die ProvconFaust. Etwa hundert Jahre später wurde bei einer Holoaufnahme des Armreifs für das Terra-Lemur-Museum von Gäa entdeckt, dass der Schmuckstein in Wirklichkeit ein Speicherkristall war. Damals schloss ich gerade die Rekonvaleszenzphase nach jenem fürchterlichen Unfall ab, dessen Heilungsvorgang mich dazu zwang, über verdrängte und zum großen Teil von der Superintelligenz ES blockierte Erinnerungen zu berichten. Leider gelang es weder dem Historiker Cyr Aescunnar noch den anderen Experten, die aufgeprägten Dateien komplett zu entschlüsseln. Nur Bruchstücke ließen sich abrufen; aus ihnen ging jedoch hervor, dass es diesen berühmtberüchtigten Wissenschaftler tatsächlich gab! Nach ihm, Selaron Merota, wurden die Texte »Selaron-Fragment« genannt. Mehr als 20.000 Jahre nach dem Rückzug der Lemurer aus der Milchstraße ent-
34 deckte die Lemurerin Agaia gemeinsam mit dem Wissenschaftler auf einem Planeten der Sonne Luum in einem von den Eingeborenen als Tempel benutzten Bauwerk den so genannten Atem der Schöpfung; ein heilendes Strahlungsfeld, das bei Verletzungen eine Zellregeneration bewirkte und ganz allgemein eine lebensverlängernde Wirkung hatte. Als Schmied der Unsterblichkeit gelang es Selaron Merota in jahrzehntelanger Arbeit, dieses Feld sozusagen in Zellaktivatoren zu bündeln. Weiterhin entwickelte er eine Methode zur Materieduplikation, die später zur Entstehung und zum Einsatz der Duplos führte. Agaia wurde als Faktor I zum Kopf einer Rebellion gegen das Tamanium in Andromeda. Mit ihr hatte Selaron die Tochter Mirona, mit der Nomaden-Eingeborenen Ermia die Tochter Ermigoa. Später tötete Mirona ihre Mutter, indem sie deren Zellaktivator zu einem Experiment missbrauchte, übernahm deren Rolle als Faktor I der Meister der Insel und riss die Macht in Andromeda an sich. Ermigoa und Selaron konnten fliehen. »Wir werden diese Galaxis verlassen«, sagte er abschließend in dem Bericht. »Der Zeittransmitter wird uns in die Vergangenheit schleudern: Und dann werden wir eine weite Reise machen – hinüber in die Galaxis unserer Väter. Nur dort werden wir vor Mironas Mörderbrigaden sicher sein. Denn sie wird bestimmt Todeskommandos auf unsere Fährte setzen. Aber drüben wird sie uns nicht erwischen …« Selaron Merota – Noral Atorem! Ich lächele säuerlich; dieses Anagramm ist derart »primitiv«, dass es schon wieder wirkungsvoll erscheint. Die Stimme des Logiksektors dringt in meine Gedanken: Es gibt keinen Zweifel, dass sie ihr Ziel erreicht haben. Selaron alias Noral hat offenbar über Jahrhunderte an maßgeblicher Stelle agiert – nicht sein Vater oder Vorfahre waren es, die die Krish'un und das Sonnensechseck entdeckten, sondern er selbst! Aus dem Selaron-Fragment
Rainer Castor geht eindeutig hervor, dass es Agaia und Selaron waren, die die beiden Sonnensechsecke schufen, indem sie eine Zeitschleife schlossen! Er und seine Tochter müssen den Verlauf der lemurischen Geschichte ausgekundschaftet haben und schlossen dann auch hier in einer »sich selbst erfüllenden Prophezeiung« die bestehende Zeitschleife. Zu der dann auch die Rettung Nevus' gehörte! Und es sieht so aus, als hätten ES und Anti-ES ebenfalls ihren Einfluss entfaltet … Erinnerungen an die »Zeitschau« auf dem Planeten History am 23. April 1173 NGZ steigen auf, als wir den Spuren der damals verwirrten Superintelligenz folgten. Später kam es auf der Kunstwelt Wanderer zu Ereignissen, die in jeder Hinsicht brisant und verwirrend waren. Zu allem Überdruss kollidierten die Informationen mit den bis dahin als sicher geltenden Erkenntnissen! In einem visonären »Miterleben« erfuhren wir, wie sich die Geschichte der Meister der Insel »wirklich« ereignet haben sollte; sie wurde Teil der offiziellen Geschichtsschreibung. Ich dagegen bin mir nach wie vor sicher, dass der Komplex um die Meister der Insel und ihre Geschichte ganz ohne Zweifel zu dem »raumzeitlich-pararealen Verwirrspiel« von ES gehörte. Was wir über ihre Aktivatoren erlebten und erfuhren, war bestenfalls ein »Möglichkeitsaspekt«! Aus eigenem Erleben weiß ich, dass »Pararealitäten« wiederholt mit der Superintelligenz zu verbinden waren: Das »Reich der Zwei Schatten« der einander überlappenden Alternativwelten und Paralleluniversen, in das mich ES und Anti-ES vor allem in den Jahrzehnten vor Beginn meines letzten Tiefschlafes im Jahr 1971 rissen! In der Zeit meiner Larsaf-Verbannung hatte ich keine Möglichkeit, ES von seinem »inneren« Widerpart Anti-ES zu unterscheiden. Wie oft hatte ich mit diesem zu tun, ohne seine wahre Natur zu erkennen? Geflüchtete Androiden, Aufgaben und Manipulationen – wie viel davon ging auf das Konto von ES, wie viel auf das seines negativen Gegenpols? Erst auf Gäa wurden mir die Ereignis-
Der Tamrat
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se wieder bewusst. Und nun der Tamrat, der offensichtlich ähnlichen Manipulationen unterworfen war! Die Stimme des Priesters verliert sich, wird leiser und leiser: »… das größer ist als du und ich, manipuliert uns.«
4. Di'akir 18. Ty des Torlon Eizhel, 6391 dha-Tamar 71. Jahr des lemurisch-halutischen Kriegs (22. November 50.009 vor Christus) Lange Schatten erstreckten sich hinter den Dünen, über denen unvermittelt ein dumpfes Dröhnen erklang. Die Sonne Di stieg höher; noch aber berührte der untere Rand der blutig roten Scheibe den leicht gewellten Horizont. Ins aufhellende Grau des Himmels mischten sich die Pastellfarben aufleuchtender Altocumuli. Die aneinander gereihten flachen Ballen, Walzen und Bänke glühten förmlich an den Unterseiten rötlich, golden und orangefarben auf. Rings des ausgefahrenen Projektorturms in der Gibo'sha-Wüste belebte sich die Ebene, deren hart gebackene Oberfläche von einem Gewirr Schwundrissen überzogen war. Dutzende Schwarze Bestien rannten geduckt die Rampen ihrer Kugelraumer herab; Beine und Laufarme wirbelten pudrigen Staub auf, die langen Handlungsarme hoben Strahlwaffen von der Größe eines ausgewachsenen Lemurers. Rotglut umwaberte die Mündungsöffnungen. Das Dröhnen wurde lauter. Ein Schwarm Robotdrohnen raste über unsere Köpfe. Die äußerlich an Insekten erinnernden Maschinen bestanden aus einem tropfenförmigen Hauptkörper mit Auslegern und Antennen und liefen in einem beweglichen »Gliederschwanz« aus. Schon blitzten die ersten Strahlbahnen durch die Luft, brachen sich an hochgespannten Individualschirmen, wurden seitwärts abgelenkt und verblassten in der Ferne. In rascher Folge jaulten an der Spitze langschweifiger Wolken Raketen und
Marschflugkörper den Gestalten entgegen. Glutbälle blähten sich auf, verblassten und verschwanden hinter Qualm und emporzuckenden Sandfontänen. Die plötzlich entstehenden Glutringe von miniaturisierten Stoßimpuls-Generatoren flammten auf; truppweise spien die Tele-Transportfelder Kampfroboter und von massiven Exoskelettpanzern umgebene Soldaten aus. Ihr Abwehrfeuer deckte die heranrasenden Bestien ein, überlastete durch konzentrierten Punktbeschuss die Schutzschirmblase eines Haluters und verwandelte den Körper, der längst die Konsistenz eines Stahlblocks gewonnen hatte, in eine fast unbeeindruckt weiterrennende Feuergestalt. Schmetternde Detonationen, das Grollen der Impulsstrahler, gellende Kampf schreie der Bestien und das Dröhnen der Robotdrohnen mischten sich zu einem ohrenbetäubenden Eindruck. Soldaten und Kampfroboter wichen seitwärts aus, gefolgt von den angreifenden dunkelhäutigen Giganten, deren Planhirne blitzschnell die Situation auswerteten. Die Reaktionsschnelligkeit der Haluter war und blieb von erschreckender Effizienz. Obwohl sich unsere Truppen mit aller Macht zur Wehr setzten, wurden sie nach und nach aufgerieben. Nicht einmal die von Energiefäden aufgeladenen Exoskelette halfen. Der Verlauf des Kampfes glich dem, was wir inzwischen von Tausenden Welten kannten, denn seit nunmehr einundsiebzig Jahren griffen die Bestien ohne Gnade an. Sobald sie zu einem ihrer berüchtigten Landungsunternehmen ansetzten, war es so gut wie sicher, dass die betroffene Planetenbevölkerung keine Chance hatte. Der Extremmetabolismus dieser lebenden Kampfmaschinen ignorierte selbst Treffer aus tragbaren Energiegeschützen. Vermutlich entstammte der körperlichen Überlegenheit auch die besondere Mentalität dieser Geschöpfe. Es schien ihnen unbändigen Spaß zu bereiten, in Kleingruppen oder gar als Einzelkämpfer vorzustoßen, um sich mit uns zu messen. Mitunter vergingen viele
36 Jahre, in denen nur solche Attacken stattfanden, die unter dem Strich schreckliche Ergebnisse zeitigten. Mit geballter Flottenmacht gelang es uns zwar, einzelne Bestien zu besiegen oder zumindest zurückzuschlagen, aber es war stets mit hohen Verlusten verbunden. Sollte es hart auf hart kommen, schreckten diese Giganten nicht davor zurück, sich selbstmörderisch mit ihren Schiffen auf die Planeten zu stürzen, so dass die Folgen einem Kometenoder Asteroideneinschlag samt allen damit verbundenen Konsequenzen glichen. Eine überaus wichtige Beobachtung war, dass die Haluter – vermutlich eine Folge ihrer eingeschlechtlichen Natur – eigentlich ausgeprägte Einzelgänger waren. Nur unter besonderem Druck schafften es diese Individualisten offenbar, gemeinschaftlich zu handeln. Meist dauerte es Jahre, bis sie sich zu einer ihrer gefürchteten Großoffensiven zusammenfanden, und nur dann wurden halutische Großkampfschiffe beobachtet. Simulationsrechnungen zeigten, dass sie uns mit hoher Wahrscheinlichkeit schon vor Jahrzehnten besiegt hätten, könnten sie durchgehend im Kollektiv handeln, statt sich selbst auf Einzelaktionen zu beschränken, dachte ich. Leider hat uns der auf diese Weise gewonnene Zeitgewinn bislang nur wenig gebracht. Die Wüstenebene war inzwischen von den ausgeglühten Resten qualmender Roboter und Drohnen übersät. Nur drei Haluter hatten ausgeschaltet werden können, ehe auch der letzte Lemurer in einer Leuchterscheinung verschwand. Erst in diesen Augenblick endete das Szenario; die extrem realistischen Projektionen, geformt aus einer Kombination von Holos und Prallfeldern, erloschen abrupt. Haluter und ihre Raumer lösten sich auf. Das Gibo'sha-Übungsgelände wurde inzwischen von den Lichtspeeren der höher kletternden Sonne übergossen. Nachglühende Wracks vergingen in den Molekül auflösenden Desintegratorstrahlen herbeischwebender Robotdrohnen. Die hinter Deflektor-
Rainer Castor blasen verborgenen und von Fesselfeldern gehaltenen Soldaten erschienen wieder und sammelten sich zur Besprechung. Keiner von ihnen hätte im Ernstfall überlebt! Fröstelnd zog ich die Schultern hoch, während sich das beruhigende AbjinSchwingen meines Krish'un ins leise Raunen und Flüstern der petronischen Mikromodule mischte. Zuversicht konnte weder das eine noch das andere vermitteln. Denn noch immer haben wir kein durchschlagendes Mittel gegen die Bestien gefunden.
* »Neben den Projektortürmen für große Freiland-Simulationen«, sagte Derbo Melor rau und ließ das Gleiterverdeck ausfahren, »liefern unsere Fabriken genormte HoloGenerator-Kammern, in denen ebenfalls der Nahkampf gegen die Schwarzen Bestien trainiert werden kann.« »Ich frage mich inzwischen allerdings, welchen Sinn diese Übungen noch haben«, fügte Tamrat Ba'jonta resignierend hinzu. »Die Bestien treiben uns in die Enge, schnüren uns die Luft ab. Selbst wenn wir sie an einem Ort abwehren oder gar zurückschlagen, tauchen sie an drei anderen auf. Vor einem Torlon konnten sie sogar die Steuerwelt des Perpan-Duos vernichten! Wie viele Tamanien haben wir schon verloren? Fünfzig? Sechzig?« Ich seufzte. »Die jüngste Regierungserklärung des Zwölferrats spricht von neunundfünfzig …« »Bei allem Respekt, Maranothar, aber die von Lemur verbreiteten Durchhalteparolen rufen bestenfalls Erbitterung hervor.« Er musterte auffällig intensiv meine »goldene Stirntätowierung«, das Kennzeichen eines Befugten. »Der Nachschub stockt, ausgebildete Besatzungen werden rarer, trotz diverser Aufzuchtprogramme und Hypnoschulungen. Mag die Forschung noch so sehr auf Hochtouren laufen – wirklich Erfolg versprechende Offensiv- und Defensivwaffen sind nicht in Sicht oder befinden sich im
Der Tamrat Stadium des Prototyps und werden in jedem Fall viel zu spät zum Einsatz kommen. Zu spät für eine Wende.« Die Bio-Wissenschaftlerin Naglyna Vunar hielt sich im Hintergrund. Der Blick ihrer tiefblauen Mandelaugen wanderte zwischen Melor, Ba'jonta und mir hin und her und blieb – sofern sie sich unbeobachtet fühlte – wiederholt recht lange an mir haften. Dass mir die starken emotionalen und ziemlich eindeutigen Impulse keineswegs entgingen, ahnte die samthäutige Frau nicht. Sie passten zu dem schwärmerischen Ausdruck ihres schmalen Gesicht, aber Shuryas übermächtiges Bild drängte sich machtvoll in meine Gedanken. Ärgerlich auf mich selbst, fragte ich mich, weshalb ich mit einem schlechten Gewissen zu kämpfen hatte, statt mich geschmeichelt zu fühlen. Naglyna Vunar war eine der besten Wissenschaftlerinnen der Di'aka, überdies sehr hübsch, jung und offensichtlich an mir interessiert – auch wenn ihr das selbst vielleicht noch gar nicht bewusst war. Meinen Abjin-Sinnen entging jedoch keineswegs, dass sich ihr Herzschlag beschleunigt hatte, und die Pheromon-Duftwolke war ebenfalls ziemlich eindeutiger Natur. Also bemühte ich mich, die heftigen Stiche ins Herz und die Erinnerungen an die Rettung beim Großen Vernichtungsschlag zu ignorieren … »Wir arbeiten mit aller Kraft«, sagte ich leise – es klang selbst in meinen Ohren hohl und verlogen. Jahrzehnte des Kriegs, die unglaubliche Menge an Leid und Tod hatten in jedem von uns brennenden Hass geschürt. Gleichzeitig verstärkte sich mit jedem weiteren Jahr aber auch die wachsende Zermürbung, die Frage nach dem Sinn, das sich in alle Seelen einnistende Trauma, der gnadenlosen Verfolgung nur auf eine Weise entgehen zu können – durch den Tod … Sonnentransmitter und variabel eingesetzte Tele-Transportfelder der Spezialschiffe verkürzen zwar die Entfernungen zwischen den Hauptwelten, mit ihnen lassen sich auch kurzfristig große Flottenverbände quer
37 durch die Galaxis zu den umkämpften Welten befördern, aber unter dem Strich bleibt das Problem unserer extrem weiten Verbreitung. Während sich die Schwarzen Bestien ihre Ziele in aller Ruhe unter hunderttausend Welten aussuchen können, bleiben wir zwangsläufig mehr oder weniger aufs Reagieren beschränkt. Der Tamrat winkte mürrisch ab und verzichtete auf eine Antwort. Derbo Melor strich sich nachdenklich über den Kinnbart, sagte jedoch nichts, obwohl ich ihm ansah, dass ihm eine Bemerkung auf der Zunge lag. In seinen dunklen Augen blitzte kurz ein Licht auf, das ich in den letzten Jahren viel zu häufig gesehen hatte: Fanatismus! Plötzliche Kälte zog mir die Kopfhaut zusammen. Der Chefwissenschaftler von Di'akir galt zwar als überaus fähig, wurde im Dossier der Geheimdienste allerdings auch als überaus temperamentvoll und impulsiv bezeichnet. Unser Gleiter, von dem aus wir die Vorführung des Übungsgeländes beobachtet hatten, raste Richtung Ban'lafir. Als wir uns der Hauptstadt näherten, verblasste langsam Di'akirs einziger Mond; Ai'kons bleiche Sichel wurde vom Gleißen der Sonne überdeckt. Der vierte von zwölf Planeten war eine Geheimbasis des Großen Tamaniums, 18.245 Lichtjahre von Lemur und 5108 Lichtjahre vom Kharag-Sonnendodekaeder im Zentrum des Kugelsternhaufens Hol Annasuntha entfernt. Zum Kharagtam gehörten insgesamt fast zweitausend Siedlungs- und Stützpunktwelten; rund siebenhundert davon hatten die Schwarzen Bestien bereits »entvölkert« oder in glühende Schlackekugeln verwandelt. Di'akir lag am Rand des 38. Tamaniums und wurde von den besten Antiortungseinrichtungen getarnt, zu denen sogar verbesserte »Labyrinth-Kristalle« gegen mechanoenergetische und psionische Ortungsmethoden gehörten. Seit ich am 1. Ty des Torlon Jannhis 6376 dha-Tamar als Nachfolger der kurz zuvor gestorbenen Nefori Ashia zum Hohen Tam-
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Rainer Castor
rat von Lemur für Abjin-Projekte ernannt worden war, zählte ich zu dem erlauchten Kreis der fünfzig dreifach stimmberechtigten Tamaron, die mit ihren hundertfünfzig Stimmen von den 111 Tamar der Einzeltamanien niemals zu übertrumpfen waren. In der Vergangenheit des Kar'Tamanon hatten sich durch diese Stimmverteilung schon ernste Zerwürfnisse abgezeichnet. Diese Schwierigkeiten, die noch vor einem Jahrhundert als vordringlicher innenpolitischer Faktor angesehen worden waren und von eindeutigen Separatismusbestrebungen begleitet wurden, waren angesichts der Vernichtungswut der Schwarzen Bestien nicht mehr von Belang. Nur geschlossen konnten wir der Bedrohung widerstehen. Langsam, aber sicher stoßen wir nun aber an unsere Leistungsgrenze. Meine bedrückten Gedanken wurden fast augenblicklich von eingehenden Abjin-Impulsen der Wissenschaftlerin überlagert, die für den spontanen Wunsch nach Nähe und aufflammende mütterliche Beschützerinstinkte standen. Der violett schimmernde Hyperkristall, der sich in der Mitte ihrer Stirn befand, schien von innen heraus zu glühen …
* Ba'jonta gehört zu jenen Tamräten, dachte ich, um Ablenkung bemüht, ohne die Impulse ganz ignorieren zu können, die sich seit Jahren für eine Flucht des gesamten lemurischen Volks nach Karahol einsetzen, ehe es endgültig zu spät ist. Viele seiner Kolleginnen und Kollegen kämpften an vorderster Front. Inzwischen verging kaum ein Tag, an dem keine von Lemurern besiedelte Welt, für den Nachschub wichtige Stützpunkte oder Flottenbasen vor allem der Rand-Tamanien angegriffen wurden. Die Sternprovinzen in der direkten Umgebung von Apsu sowie Lemur selbst dagegen wurden nicht ganz so häufig heimgesucht – nicht zuletzt dank der hier massierten Abwehr, die sich schon zwangsläufig durch die größere Siedlungsdichte er-
gab. Leider war es unmöglich, Zehntausende Planeten mit der gleichen Intensität zu schützen, längst mussten wir uns auf die wichtigsten beschränken. Deshalb waren in den letzten Jahren 144 bedeutende Welten der Rand-Tamanien in Psionische Bastionen verwandelt worden. Aus strategischen Gründen machten weniger geschützte Welten entfernter Tamanien wie Goslania im 84. oder Drorah im 87. Tamanium den Anfang. Lemur selbst und die Planeten der inneren Tamanien erschienen vorerst noch ausreichend gesichert, so dass sie und unsere Ursprungswelt erst für einen späteren Zeitpunkt eingeplant wurden. Das ehrgeizige Projekt hatte schon kurz nach meiner Tamrat-Ernennung konkrete Gestalt angenommen; die vor allem auf Atrut vorangetriebene Herstellung von stabiler Psi-Materie war zwar extrem aufwändig, funktionierte aber glücklicherweise immer besser. Das Pyramidendreieck mit der Steuerstation des Ulbradan-Sonnendreiecks war über den subplanetarischen Anlagen der Petronier erbaut worden, deren detaillierte Erforschung selbst Noral Atorem vor scheinbar unüberwindbare Schwierigkeiten stellte. Zu fremdartig waren und blieben die Anlagen der längst ausgestorbenen Galaktischen Ingenieure. Dass wir überhaupt einen Teil nutzen können, ist ohne Zweifel meinem weiterhin rätselhaften Mentor zu verdanken, durchfuhr es mich. Und der Mithilfe der Sonneningenieure, die zu ihrem eigenen Erstaunen feststellen mussten, dass die petronischen Aggregate ein sonderbares Gefühl des »Bekannten« und »Vertrauten« hervorriefen. Fast so, als bestünde eine gemeinsame Herkunft … »Vor langer Zeit lebten wir friedlich in diesem Universum«, hatte Phy aus uralten Überlieferungen berichtet. »Wir eilten von Stern zu Stern, aber wir fanden nur organisches und kaum entwickeltes Leben. Niemals fanden wir unsere Brüder, von denen wir wissen, dass es sie irgendwo geben muss. Die große Mutter hat uns geboren. Zu ihr
Der Tamrat müssen wir eines Tages zurückkehren, um die allerletzte und höchste Form des Lebens zu erhalten.« Der Maranothar-Status – derzeit genau fünf Lemurern verliehen, die allesamt Hohe Tamräte von Lemur und damit höchste Geheimnisträger waren –, hatte mich dazu berechtigt, die Vorgaben des Lemurischen Kriegskalenders zu entwickeln. Im ausschließlich von uns Tamräten lesbaren, vielfach kodierten Spezialarchiv, von dem insgesamt nur drei Originalausfertigungen existierten, waren alle Welten sowie die maßgeblichen Einzelparameter aufgeführt, die nach einem genauen Ablaufschema mit PsiMaterie »geimpft« werden sollten. Mein Zeichen eines Befugten hatte die Form eines Doppelkopfadlers; die »Stirntätowierung« war in Wirklichkeit eine Ansammlung petronisch-biomechanischer Mikromodule. Jedes einzelne war etwa einen zehntel Millimeter groß und weitgehend autark. Insgesamt konnten die mehr als eine Million Einheiten für sich, in beliebigen Kleingruppen oder auch als Ganzes agieren. Sie waren auf mich abgestimmt und standen direkt mit meinem Bewusstsein in Verbindung. Ihr Raunen intensivierte sich und lenkte meine Aufmerksamkeit zum wiederholten Mal auf Naglyna, deren unverhohlenes Schwärmen mir inzwischen schon peinlich wurde. Auf Melors Lippen erschien ein derart eindeutiges Grinsen, dass ich ihn wütend anfunkelte. Rasch sah er zur Seite, während Ba'jonta ein dezentes Hüsteln hören ließ. Naglyna schrak sichtlich auf, senkte den Blick und begann an ihrer Unterlippe zu nagen. Ihr Stirnkristall leuchtete nun wie eine kleine Lampe. Innerlich seufzend kämpfte ich gegen eine intensiv in mein Wachbewusstsein steigende Vision an, die mich an der Seite von Naglyna und fünf Kindern zeigte, überlagert von spöttischen Bemerkungen Shuryas aus dem Hintergrund, die stets mit ihrem neckischen Kleiner endeten. Ich schloss die Augen, weil tief in mir zum ungezählten Mal der gellen-
39 de Schrei ZEUTS widerhallte, das Gelächter Zoheks zu einem deprimierenden Wimmern wurde und sogar Phy unter eindeutigen Signalen davonschwebte, die das telepathische Äquivalent eines mitleidigen Kopfschüttelns waren. Nevus!, rief ich mich zur Ordnung. »Kleiner«, hatte Shurya, vor nicht allzu langer Zeit noch höchst grämlich festgestellt, »deine politische Naivität ist mitunter erschreckend.« Abgesehen davon, dass ich »meiner Göttin« ohnehin nicht widersprechen wollte, hatte sie natürlich völlig Recht. Andererseits waren die anstehenden Probleme in meinen Augen viel zu schwerwiegend, als dass ich mich auf irgendwelche »Spielchen« einlassen konnte. Leider hatte ich mich als Projektleiter nicht nur um wissenschaftliche Probleme zu kümmern, sondern wurde vermehrt auch in politische Aspekte eingebunden, in die vielfältigen Ränke um Macht und Einfluss; die diplomatischen Spitzfindigkeiten und erbitterten Diskussionen um den wirkungsvollsten Weg widerten mich längst zutiefst an. Wo und wann immer es ging, wich ich solchen »Auseinandersetzungen« aus, wohl wissend, dass ich damit meine eigene Position keineswegs stärkte.
* Mit der Rückkehr nach Ban'lafir wurde das Informationsprogramm fortgesetzt. Auf Di'akir fanden kombinierte Forschungen hinsichtlich Psi-Materie, Abjin-Kräften, Abtrennungen des Bewusstseins vom Körper, vielfältig modifizierbarer Biomassen und der Stirnkristalle statt. Die bisherigen Ergebnisse klangen ziemlich interessant. Beim Empfang am Abend gab sich die Lokalprominenz die Ehre. Naglyna war natürlich ebenfalls anwesend – und ihre raffiniert geschlitzte Robe war wirklich atemberaubend. Ihr Bemühen, mir nicht zu nahe zu kommen, hatte schon etwas Verkrampftes an sich. Zweifellos hoffte sie, mein Interesse
40 erwecken zu können, ohne selbst die Initiative ergreifen zu müssen. Auch ohne Abjin war ihr anzusehen, dass sich in ihr die Einflüsterungen von Verstand und Gefühl einen erbitterten Kampf lieferten. Bis auf weiteres gewann wohl der Verstand, weil ihr der hoch gestellte Tamaron und Maranothar, zugleich einer der fünfzig Hohen Tamräte von Lemur, unerreichbar erschien … »… experimentieren mit sämtlichen Bereichen der Hypertechnik«, sagte Melor bedächtig, hob den Pokal und musterte die aufsteigenden Perlchen des Schaumweins. Er lachte leise und deutete zu der BioWissenschaftlerin hinüber, die beim leise plätschernden Wasserspiel mit Baumeister Einaklos zusammenstand und sich mit ihm auffällig-unaufällig unterhielt. Der Meisterarchitekt war der Konstrukteur der vermehrt auf vielen Welten errichteten TarvianFluchtsiedlungen, deren äußerlich an Bronze erinnerndes Baumaterial gezielt mit einem komplexen Hyperkristall-Drokamam-Gemisch dotiert war. Verbunden mit einer hyperenergetischen Aufladung, handelte es sich bei dieser Legierung um das einzig bekannte Material, das den gefürchteten Intervallstrahlern der Schwarzen Bestien widerstand. Selbst die mit einem Hochenergieüberladungseffekt ausgestatteten neuen Halbraumfelder, die ein intensiv grünes Sekundärleuchten aufwiesen, boten keinen Schutz. Zum Glück war die wirksame Kernschussweite unserer ebenfalls verbesserten Gegenpol-Geschütze bislang noch größer, sonst hätten wir jedes Gefecht verloren. »Naglynas Stirnkristalle spielen in unseren Überlegungen eine wichtige Rolle«, fuhr der Wissenschaftler fort. »Versuche eines kontrollierten Hyperraumaufrisses. Dieser soll, durch Sonnenzapfung ausreichend versorgt, auf die speziellen Triebwerksemissionen der Schwarzen Bestien justiert sein und sich automatisch öffnen, sobald sie ein lemurisches System anfliegen. Ähnlich der Störstrahlung der Zeut-Reste könnten auf
Rainer Castor diese Weise die Triebwerke und die übrige Technik lahm gelegt werden.« Das Drokarnam der riesigen Staubwolke behinderte nach wie vor den Einsatz hyperphysikalisch orientierter Technik im ApsuSystem. Hinzu kam ein zweiter Effekt: Fast so, als folge das in den Hyperraum abgestrahlte Drachenmetall weiterhin der ursprünglichen Umlaufbahn Zeuts, hatte sich über die Jahrzehnte hinweg ein winziger, aber bemerkenswert stabiler Fokus gehalten, dessen optische Sekundäremissionen sogar heute noch ein intensives Leuchten und Glühen verbreiteten. Raumfahrer, die diesem Fanal zu nahe kamen, wollen ein durchdringendes Wimmern und Klagen wahrgenommen haben, erinnerte ich mich. Melor nickte verständnisvoll. »Ich war damals zwar noch ein Kind. Aber ich habe ebenfalls gesehen, wie die Bestien Zeut vernichteten.« Ich riss mich zusammen, ohne das innere Vibrieren unterdrücken zu können. Sofort gingen belebende Ströme von meinem Krish'un aus, und auch von den Mikromodulen ergossen sich warme Wellen in meinen Kopf, vertrieben langsam die schmerzhaften Erinnerungen. »Es dürfte schwierig werden, die energieaufwändige Technik eines Dimensionstransmitters in den Griff zu bekommen«, sagte ich rau. »Wir wissen, dass es diese Möglichkeit gibt, aber sie ist bei Hyperfrequenzen angesiedelt, für deren Erstellung unsere Fusionskraftwerke nicht ausreichen.« »Deshalb die Sonnenzapfung.« Melor senkte die Stimme. »Es sei denn, wir können auf die neuen Protonengeneratoren zurückgreifen …« Ich winkte unwirsch ab. »Sind bislang nur Prototypen. Kernbrennstoff ist in der Tat reine Protonenmasse in verdichteter und energetisch gefesselter Form. Die Energieerzeugung beruht auf einem gezielten Gravitationskollaps. Soweit ich weiß, ist das Hauptproblem vor allem die gepulste Öffnung von hoch verdichtendem Lager- und Kollaps-
Der Tamrat feld.« »Dann muss es mit der Zapfung gelingen …« Ein entschlossenes Glitzern trat in seine Augen. »Bislang wurden nur Freiwilligen Naglynas modifizierte Hyperkristalle eingepflanzt. Sie sollen sie in die Lage versetzen, den Aufriss per kollektives Abjin zu kontrollieren. Längerfristig ist daran gedacht, sie schon kurz nach der Geburt einzusetzen, obwohl sie auch weiterhin austauschbar bleiben und sich ohne Nebenwirkungen entfernen lassen. Sie können Hyperenergie aufsaugen und speichern; dabei erwärmen sie sich oder leuchten auf.« Melors Blick bekam etwas Lauerndes, als er abermals auf Naglyna deutete. »Ihre Experimente mit diversen Biomassen sind ebenfalls bemerkenswert. Für Einaklos hat sie eine apfelgroße Kugel hergestellt, deren Metallschale eine organische, blastulaähnliche Zellansammlung umhüllt, die auf seine Individualschwingungen justiert ist. Per Knopfdruck wird in der Kugel eine kurze, aber extrem intensive Hyperaufladung erzeugt, die ausreichend stark sein soll, das Bewusstsein des Baumeisters zu binden. Der Gute träumt zweifellos von einer besonderen Form der Unsterblichkeit …« Ich horchte auf, dachte an das »Projekt Fremdkörper«, das mich schon seit Jahren beschäftigte, und wollte nachhaken – als eine entsetzliche Meldung einging: Einem halutischen Verband war der Durchbruch nach Lemur gelungen; bis auf eines waren zwar alle Kampfschiffe vernichtet worden, ehe sie gefährlich werden konnten. Aber dieses eine hatte das gigantische Areal der einzigen Großtransmitteranlage zerstört, von der aus unmittelbar das galaktozentrische Sonnensechseck zu erreichen war. Die übermittelten Bilder waren von einer abstoßenden Faszination: Wieder und wieder wurde der Angriffsflug der schwarzen Kugel gezeigt. Der Großtransmitter verging stets aufs Neue in der Glut einer Fusionsbombe, während der Raumer vernichtet wurde. Der gewaltige Krater hatte die Kruste
41 Lemurias bis zum glutflüssigen Magma aufgerissen; er erreichte einen Durchmesser von vierzig Kilometern, der riesige Ringwall sogar deren hundert. Sofort herbeieilenden Rettungstrupps gelang es zwar, durch Prallfelder die brodelndklaffende Wunde im Herzen des Kontinents abzuriegeln, aber die bei der Explosion in die Atmosphäre geschleuderten gewaltigen Staubmassen würden nur mühsam oder gar nicht zu beseitigen sein. Folglich schwächt sich das Sonnenlicht noch mehr ab, die Eiszeit wird Lemuria um so schneller mit einem dicken Panzer überziehen … Ich schluckte trocken. Uns allen wurde in diesen Augenblicken klar, dass mit dem heutigen Haluterangriff unter Umständen der Anfang vom Ende eingeleitet wurde. Ich erinnerte mich daran, dass die Cappins von Matronis den Kontinent einst Lemu genannt hatten, was angeblich mit »der Wunderbare« oder »die Überraschungsvolle« übersetzt werden konnte. Bei uns dagegen verband sich mit dem Basisphonem lem die Bedeutung »Krieg machen«, so dass Lemu, in Erinnerung an die Konos-Kriege, »Land der Kriege« bedeutete. Mein Blick begegnete dem der jungen Bio-Wissenschaftlerin. Ihr linkes Lid flatterte nervös, der Stirnkristall glühte. Für einen Augenblick schien es mir, als wolle sie spontan auf mich zulaufen. Aber dann überlegte Naglyna es sich anders. Hastig wandte sie sich ab und eilte davon. Ich sah deutlich, dass ihre Schultern zuckten. Die AbjinImpulse vermittelten mir den Eindruck eines Schmerzes, der mir nur zu gut bekannt war – es hatte den Anschein, als sei ich fortan für sie etwas Ähnliches wie Shurya für mich …
5. Lemur 27. Ty des Torlon Ezrach, 6400 dha-Tamar 80. Jahr des lemurisch-halutischen Kriegs (30. Oktober 50.000 vor Christus) Die immer noch rauchenden und qualmenden Trümmer standen für das Ende ei-
42 ner Hoffnung! Als ich davon erfuhr, dass eine gewaltige Explosion das Zentralarchiv von Marro-Marro völlig zerstört hatte, war ich sofort nach Lemur aufgebrochen. Nun sah ich es mit eigenen Augen und schwankte zwischen ohnmächtiger Wut und verzweifelter Frustration. Vor der Abreise aus der Stahlwelt hatte ich, von einer bösen Ahnung getrieben, den Hochsicherheitstresor kontrolliert und erschüttert feststellen müssen, dass mein Original des Kriegskalenders spurlos verschwunden war. Kharag konnte trotz permanenter Überwachungsfunktion keine Erklärung liefern. Und das heißt mit anderen Worten, dass nur jemand mit Hochrangbevollmächtigung für das Verschwinden verantwortlich sein kann, dachte ich. Diese haben aber nur Ba'jonta, Noral und ich selbst. Der Tamrat des 38. Tamaniums war zwar in den letzten Jahren etwas wunderlich geworden, hielt sich meist jedoch auf Acharr auf und war schon geraume Zeit nicht mehr in der Kharag-Stahlwelt gewesen. Blieb also nur Noral …? Ich wollte es nicht glauben, obwohl sich schon seit langem kleine Anzeichen auf summiert hatten, wonach mein Misstrauen durchaus angebracht war. Der kolossale Gebäudekomplex des Zentralarchivs hatte sich direkt am Nordufer des von Ost nach West verlaufenen Styrom erhoben. Die Doppelstadt breitete sich zu beiden Seiten des Flusses aus und zählte zu den größten Siedlungen Lemurias. Nun war nur noch die gewaltige Ruine zu sehen, ein heilloses Gewirr zerfetzter Metallträger, pulverisierter Materialien und kohlender Reste. Die in weitem Umkreis verteilten Trümmer bewiesen eindeutig, dass sich die Detonation im Inneren des Archivs ereignet hatte – einem Ort, an dem Explosivstoffe nichts zu suchen hatten. Sabotage? Ein Anschlag! Noral? Unersetzliches Wissen war mit den Datenbänken zerstört worden. Und auch der hier deponierte Kriegskalender wurde ohne Zweifel zerfetzt. Selbst das Material der
Rainer Castor »Schriftplatte«, äußerlich an Holz erinnernd, tatsächlich jedoch ein Verbundstoff von metallischer Konsistenz mit hohem Festigkeitswert, dürfte die freigesetzten Gewalten nicht unbeschadet überstanden haben. Ich hörte ein merkwürdig wimmerndes Geräusch – mit Verzögerung wurde mir bewusst, dass ich es selbst von mir gab. Von heftigem Zittern heimgesucht, zog ich den Krish'un enger um die Schultern. Die freundlichen und aufmunternden Schwingungen halfen nicht, und auch das Wispern der Mikromodule war in diesen Augenblicken eher störend. Seit Jahren hatten sich die Widerstände gegen das Programm der Psi-Bastionen aus mir unverständlichen Gründen verstärkt, bis es vor kurzem auf Beschluss der TamratsVersammlung ganz eingestellt worden war. Dass es uns gelungen war, insgesamt dreimal 144 Welten mit Psi-Materie zu »impfen«, war von vielen offensichtlich als unzureichend, als Zeit- und Geldverschwendung betrachtet worden. Sicher, gegen robotgesteuerte Schiffe oder Waffensysteme hilft die Lethargiestrahlung natürlich nicht, dachte ich erbittert. Fest steht aber auch, dass bislang noch keine der Psi-Bastionen attackiert wurde. Mein Bedauern, mich nicht intensiver um die vielfältigen politischen Strömungen gekümmert zu haben, kam zu spät. Es schien, als seien viele der Tamräte gar nicht mehr daran interessiert, die lemurische Existenz in Apsuhol aufrechtzuerhalten. Längst war die Umsiedlung nach Karahol in großem Maßstab eingeleitet worden. Die hiesigen Aktivitäten waren kaum mehr als Rückzugsgefechte, deren Hauptsinn darin bestand, den Schwarzen Bestien möglichst viel Schaden zuzufügen und sie daran zu hindern, ebenfalls nach Karahol vorzustoßen. Soll unser Volk in eine neue Umgebung verpflanzt werden, die es zum unbedingten Zusammenhalt zwingt? In Apsuhol würde selbst bei einem Sieg aus den Überresten des Krieges schwerlich wieder ein einziges Reich entstehen, sondern es würden sich
Der Tamrat
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Hunderte oder Tausende von autarken Systemstaaten entwickeln! Schon jetzt sind die Zerfallserscheinungen offensichtlich. Im 103. Tamanium forcierte Tamrätin Touja Kehoe die Versuche der Lemurischen Sternengarde zur Bewusstseinsabtrennung, während gleichzeitig das Tarlora-System zur riesigen Falle ausgebaut wurde: Aus dem Staub der Temur-Dunkelwolke entstanden seit einigen Torlon sechs sonnengroße Pseudo-Welten. Nach der Fertigstellung würden nur Hyperfelder die Protosonnen am Kollaps hindern, so dass sie keine vorzeitige Fusionszündung erfuhren. Vergleichbare Schutzmaßnahmen entstanden im Kugelsternhaufen Hol Annasuntha – nur knapp 17.000 Lichtjahre von Lemur entfernt und eben mal rund 4300 Lichtjahre oberhalb der galaktischen Hauptebene gelegen –, in dem ich der maßgebliche wissenschaftliche Tamrat war. »Wie aber passt Noral Atorem in das Bild?«, fragte ich mich halblaut und blinzelte durch die beißenden Schwaden, die meine Augen tränen ließen. Für einen kurzen Moment schienen Ausläufer des Qualms die Gestalt eines riesigen bärtigen Gesichts zu formen, verwehten dann aber rasch. Leise pfeifende Böen ließen davonquirlende Rauchsäulen entstehen.
* Weiterhin war der Planet Halut nicht gefunden worden, für jede vernichtete Rüstungswelt der Bestien schienen im Gewirr der Abermilliarden Sterne schon zwei neue bereitzustehen – und solange die Haluter sich auf solche Einzelwelten beschränkten, die keinem Reichsgebiet angehörten, sondern aus rein zweckgebundenen Erwägungen entstanden und bei Bedarf problemlos wieder aufgegeben wurden, hatten wir zwangsläufig das Nachsehen. Vielleicht haben wir uns zu schnell zu weit ausgebreitet? Mit der Doktrin des Ersten Gesetzes waren schon seit vielen Jahrhunderten Auf-
zuchtprogramme verbunden gewesen. Ihnen war es unter anderem zu verdanken, dass es uns in vergleichsweise kurzer Zeit gelang, die große Anzahl von Tamanien-Welten zu besiedeln. In-vitro-Zeugungen, konservierte befruchtete Eizellen in großer Zahl, künstliche Gebärmutter, Hypnoschulungen und dergleichen gab es schon lange vor dem Haluterkrieg. Die Ausdehnung über die gesamte Galaxis hatte bei allen Vorteilen auch Nachteile: Im Gegensatz zu uns war jede dieser eingeschlechtlichen Kreaturen ein Kämpfer und Soldat. Die Geburtenrate unterlag genau wie der Körper insgesamt der willentlichen Kontrolle. In gewisser Weise war also jede Bestie permanent »schwanger«. Die Aufzucht des Nachwuchses nahm bei ihnen kaum Zeit in Anspruch, weil die Kinder keiner Brutpflege bedurften und aufgrund ihrer Planhirne nach der Übermittlung des Basiswissens per Hypnoschulung vollwertige Individuen waren. Manche unserer Forscher vermuteten angesichts der extremen Wachstumsraten und der Konstitution des übrigen Bestienorganismus, dass wir es nicht einmal mit natürlich entstandenen Lebensformen, sondern mit Nachkommen einer künstlichen Züchtung zu tun hatten. Unterstützt wurde diese Vermutung durch die Tatsache, dass wir im Zuge unserer dissoziativen Ausbreitung zunächst nicht auf Haluter gestoßen waren. Sie schienen quasi »aus dem Nichts« gekommen zu sein, und ihr einziges Ziel war offenbar unsere totale Vernichtung. Noral hatte des Öfteren schon durchklingen lassen, dass die ursprüngliche Heimat der Bestien vielleicht nicht einmal in Apsuhol zu suchen war. Doch welche der Abermilliarden Lichtinseln in vielen Millionen Lichtjahren Entfernung ist es dann? Nur durch Zufall hatte ich vor wenigen Torlon zu meinem Erstaunen herausgefunden, dass es kurz vor und nach dem Großen Vernichtungsschlag ein Geheimprogramm gegeben hatte, dessen Ziel es war, statt des normalem Wachstums den Reifeprozess
44 vom befruchteten Ei bis zum geburtsfähigen Embryo extrem zu beschleunigen. Hintergrund war die Befürchtung gewesen, in absehbarer Zeit vielleicht nicht genügend Besatzungsmitglieder zu haben, um die Kampfraumschiffe ausreichend zu bemannen. Der Biogenetiker Vauw Onacro war zusammen mit 592 Wissenschaftlern in eine Versuchsstation abgestellt worden, um ein Programm zu verwirklichen, das den Fortbestand des lemurischen Volkes sichern sollte: Sie hatten 1,9 Milliarden befruchtete Eizellen energetisch konserviert, die jederzeit in der Retorte innerhalb eines Torlon zu Kindern heranreifen konnten. Um diese zu voll ausgewachsenen 21- bis 24-jährigen Frauen und Männern werden zu lassen, wurde ein weiterer Torlon benötigt. Zwei Torlon genügten demnach, um aus einem befruchteten Ei einen erwachsenen Menschen zu erhalten. Normalsynthos genannte vollwertige Kämpfer, mit denen Schiffe bemannt werden konnten. Im Notfall, dann allerdings verbunden mit hohen Risiken, konnte die Zeitspanne sogar auf fünf Tage verkürzt werden. Alle Unterlagen wiesen darauf hin, dass das Problem der Beschleunigung des Reifeprozesses schon so gut wie gelöst war, bevor die Normalsyntho-Station eingerichtet wurde. Bei den abschließenden Aufgaben drehte es sich darum, wie den schnell herangezüchteten Wesen ein Bewusstseinsinhalt gegeben werden konnte, der sie zum Überleben befähigte. Am letzten Tag des Jahres 6333 dT, dem 32. Ty des Torlon Eizhel, war die Station versiegelt worden. Die Wissenschaftler wurden dort in Tiefschlaf versetzt; eine speziell programmierte Erweckungsschaltung sollte sie bei Bedarf schnellstens ins Leben zurückrufen. Das war bis heute nicht geschehen – angeblich hatte die Regierung gehofft, sich gegen die Haluter mit herkömmlichen Mitteln behaupten zu können. Sollte das nicht gelingen, wollte man zu einem späteren Zeitpunkt auf das Überle-
Rainer Castor bensprogramm zurückgreifen. Stattdessen geriet es völlig in Vergessenheit: Bis auf eine einzige speziell kodierte Datei im Zentralarchiv von Marro-Marro, auf die ich nur aufgrund meines Maranothar-Status Zugriff erhalten hatte, gab es keinerlei Aufzeichnungen mehr. Und es war ausgerechnet Noral Atorem gewesen, der für diese Kodierung und Hochrang-Absicherung gesorgt hatte … Abermals ein Mosaiksteinchen in dem rätselhaften Gesamtbild, dachte ich bitter. Und nun ist das Zentralarchiv von Marro-Marro vernichtet!
* »Es musste sein!« Ich fuhr herum und starrte den Chefwissenschaftler sprachlos an. Sein Gesicht wirkte grau und leblos; nur in den Augen gab es Leben. »Wie …?« »Es geschieht, weil es geschah!« Es dauerte eine ganze Weile, aber plötzlich durchzuckte mich eine Ahnung. »Aber …«, sagte ich ächzend. »Zeitreisen wurden doch strengstens verboten!« Noral schnitt eine Grimasse. »Dennoch wurde und wird im Geheimen geforscht. Daran hat auch der Beschluss der TamräteVersammlung nichts geändert, nachdem entsprechende Versuche zunächst gebilligt wurden. Ob Mitglieder des Luna-Klubs in ihrer Gartenstadt M'adun auf dem Lemurmond oder die Wissenschaftler auf Chropanor im Tzlapucha-Dreieck – es gibt diese Experimente weiterhin.« »Und?« »Meine Aufgabe ist es, die Entwicklungen in die richtigen Bahnen zu lenken.« »Mit welchem Recht? Hältst du dich für einen Gott?« Er lachte bitter auf und schüttelte auf eine nachsichtige Weise den Kopf, die mir klar machte, dass ich mit meiner spontanen Vermutung zwar richtig gelegen hatte, aber dennoch nur einen Bruchteil des wahren Geheimnisses erfasste. Norals rasche Handbewegung ließ mich den schon geöffneten
Der Tamrat Mund wieder schließen. »Du wirst keine Einzelheiten erfahren, mein Freund«, sagte der Chef Wissenschaftler in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Es muss dir reichen, dass Shurya und ich gewisse Dinge wissen, die dir verschlossen bleiben werden. Ginge es nach uns, würden wir zweifellos ganz anders handeln. Aber wir können und dürfen nicht.« Aus der Zukunft? Stammen sie etwa aus der Zukunft?, fragte ich mich verblüfft. Das würde einiges erklären. Als Wissenschaftler kannte ich die diversen Theorien und Überlegungen gut genug, um mir meinen Teil zusammenreimen zu können. Plötzlich verstand ich, weshalb Shurya mich gerettet hatte und wie es hatte sein können, dass sie perfekt vorbereitet war. Kennen sie somit mein weiteres Schicksal? Vielleicht sogar das Datum … Ich zögerte, der Gedanke war entsetzlich, überstieg irgendwie das Vorstellungsvermögen und war doch von bestechender Logik … meines Todes? »Frag nicht! Frag niemals!«, knurrte Noral, der mir meine fieberhaften Überlegungen zweifellos ansah. Er drehte sich um und winkte in Richtung des Gleiters, dessen schnittige Form von Qualmfahnen umweht wurde. »Es gibt da jemanden, um den du dich kümmern solltest!« Die beiden schlanken Gestalten traten lautlos näher. Sie so Seite an Seite zu sehen machte mich sprachlos. Naglyna Vunars Abjin-Ausströmungen waren von einer Eindeutigkeit, die mich beeindruckten; ihr violetter Stirnkristall leuchtete hell und klar. Seit unserer ersten Begegnung auf Di'akir war der Kontakt niemals abgerissen. Zunächst auf rein sachlich wissenschaftlicher Basis hatte Lyna mit mir Verbindung aufgenommen, von ihren Erfolgen berichtet, den Fortschritten bei den Kristallen und Biomassen und sonstigen Versuchen. Irgendwann begann sie Briefe zu schicken – handgeschrieben, auf kostbarem Papier. Die ersten hatte ich nicht beantwortet. Aber sie ließ nicht locker, erzählte von ihrem Alltag, von ihren Gefühlen, gestand mir irgend-
45 wann ihre Liebe, an die sie jedoch nicht die geringsten Bedingungen knüpfte. Sie wollte mich nicht unter Druck setzen, wartete schlicht und einfach, hoffte. Ihre Freundschaft wollte ich irgendwann nicht mehr missen, genauso wenig wie ihren Fachverstand. Zu mehr allerdings war ich nie bereit gewesen; stets hatte Shuryas Bild alles überlagert, ich kam nicht von »meiner Göttin« los, die mit mir seit jenen schrecklichen Augenblicken des Großen Vernichtungsschlags untrennbar verbunden zu sein schien, alles überlagerte und bestimmte. Jetzt, da ich um ihre vermeintliche wahre Herkunft wusste, ihre Motive zu kennen glaubte, hatte sich die Situation verändert. Während die Frauen näher kamen, gaukelte zwischen den Dunstschwaden plötzlich ein großer Schmetterling vorüber. Spiralzeichnungen in Gelb und Rot bedeckten die trapezförmigen Flügel. Links blitzte Helligkeit auf und wuchs zu einer strahlenden Zone, rechts dagegen formte sich eine nachtschwarze Ballung, die sämtliches Licht aufzusaugen schien. Ausläufer griffen nach dem Gegenüber, versuchten es zu umschlingen. Kreisrund war die entstehende Figur, in der Licht und Finsternis durch eine geschwungene Linie voneinander getrennt waren. Laut hallendes Lachen erklang – und brach augenblicklich wieder ab. Irritiert sah ich von Lyna zu Shurya und zu Noral, aber mit keiner Miene zeigten sie, ob sie diese Wahrnehmung ebenfalls gehabt hatten. Die Bio-Wissenschaftlerin blieb in zwei Schritten Entfernung stehen, sah zu Boden. Shurya griff energisch nach Lynas und meiner Hand und legte sie aufeinander. »Behandle sie gut, Kleiner«, sagte sie grimmig, »sonst bekommst du es mit mir zu tun!«
6. Kharag-Stahlwelt 23. Ty des Torlon Fohlad, 6412 dha-Tamar 92. Jahr des lemurisch-halutischen Kriegs (8. Mai 49.988 vor Christus)
46 Bildschirme, Hologloben und Displayflächen bestimmten die Leitstelle der Stahlwelt: eine flach gewölbte Riesenhalle mit der mehrstufigen Terminal-Anordnung in der Art eines Amphitheaters. Ich saß am Haupt-Hufeisenpult und ging nacheinander die maßgeblichen Parameter durch, begutachtete die eingehenden Ortungs- und optischen Fernerkundungsdaten Dutzender, über ganz Hol Annasuntha verteilter Sonden und nickte zufrieden. Kharag, die in eine stationäre Halbraumblase eingebettete Station von 524 Kilometern Durchmesser, ursprünglich ein EisenNickel-Planetoid, war ausgehöhlt und komplett in eine technisierte »Stahlwelt« verwandelt worden. Die Außenschale rings um den Kernhohlraum mit der Zentralkugel hatte eine Dicke von etwa zweihundert Kilometern. Hier befanden sich nur noch wenige hundert Lemurer, der Rest wurde wie die meisten Siedler – von Shahan, Acharr, Theka, Tarik und wie die Welten alle hießen – evakuiert. Holos zeigten das von der Stationsoberfläche aus sichtbare rötliche Wabern und Wallen; scheinbar zum Greifen nahe, war es tatsächlich etwa 50.000 Kilometer entfernt. Andere Globen lieferten Bilder der fünf je hundert Kilometer großen Landefelder am Äquator. Die in die Tiefe führenden Hauptschächte waren von einem Aggregatwulst umgeben, der innere Landefeldring fungierte als normaler Raumhafen, die Peripherie war in Form halbkugeliger Dockbuchten einschließlich erstklassiger Werftanlagen gestaltet. Die Zentralschächte gestatteten den Zugang zu den Hangar- und Werftanlagen der Tiefetagen, Großtransmitterverbindungen dienten der Materialzufuhr. Zur StahlweltAußenschale gehörten auch die Projektoren für die Halbraumblase, Masse-Energie-Pendler der Rohstofferzeugung aus Zapfstrahlenergie, Notreaktoren, Umformer, Speicher und Verteiler. Die Transmitter des Dodekaeders arbeiteten Tag und Nacht, der Strom der Schiffe
Rainer Castor und Container, die aus den Feuerringen der Stoßimpuls-Generatoren quollen, schien kein Ende nehmen zu wollen. Soeben zuckte ein schwarzer Aufriss durch die Lichtballung; die hypertechnisch gesteuerte Bündelung der Sonnenemissionen ließ den Transmittereffekt entstehen. Jedes der zwölf regelmäßigen Fünfecke der »Außenfläche« konnte als eigenständiger Sonnentransmitter geschaltet werden, hinzu kam das Zusammenwirken von allen zwanzig blauen Riesensonnen – hierbei entstand dann die Transmitterzone im Zentrum des Dodekaeders. Im Normalbetrieb wurden bevorzugt die Sonnenfünfecke von »Boden-« und »Deckfläche« verwendet, Kharag I und Kharag II genannt. In seiner räumlichen Anordnung, bei der die Sonnen die Eckpunkte eines PentagonDodekaeders bildeten, übertraf diese phantastische Konstruktion sogar die Sonnensechsecke von Apsuhol und Karahol. Schon im Jahr 6150 dT war mit dem Bau des KharagSonnentransmitters im Zentrum des Kugelsternhaufens begonnen worden. Ein wahres Meisterwerk, das in dieser Form einmalig war! Obwohl ich den Anblick seit Jahren kannte, hatte die Faszination niemals nachgelassen. Mein Blick wanderte weiter. Neue Daten wurden eingeblendet. Fünf der Sonnen wurden von Planeten umkreist. Khar I bis III waren als Festungen und Abwehrstellungen mit überschweren Gegenpolkanonen ausgebaut worden; hinzu kamen die Hyperschwall-Generatoren. Kharmuu, einerseits ein lemurähnlicher Wohn- und Freizeitplanet für die beim Dodekaeder eingesetzten Lemurer, war andererseits eine getarnte Falle: Es gab wie auf Acharr ein Pyramidenfünfeck, das bei Bedarf ein Tele-Transportfeld erzeugte, welches so geschaltet war, dass eindringende Objekte in den Halbraum abgestrahlt und somit vernichtet wurden. Auf dem Wasserstoff-Methan-Ammoniak-Riesen Kharba mit der Zugangs- und Prüfungsstation in Tarvian-
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Bauweise waren neben weiteren Hyperschwall-Generatoren Abwehrstellungen über den gesamten Planeten verstreut.
* Seit rund einem Torlon lief die 14. Halutische Großoffensive, und damit hatte die letzte Evakuierungsphase begonnen, bei der noch mindestens dreißig Milliarden Flüchtlinge von mehr als fünfhundert Hauptsiedlungswelten durch den Sechsecktransmitter nach Karahol zu schicken waren. Admiral Hakhat aus der einflussreichen Familie der Kakcyra war Oberbefehlshaber der Zentrums-Transmitterzone; bei Kahalo waren derzeit 70.000 Großkampfschiffe stationiert. Dass diese Offensive bevorstand, hatte sich schon vor einem Jahr abgezeichnet, als die Schwarzen Bestien ihre neue Dimensionstransmitter-Technik in massivem Großeinsatz vorgeführt hatten: Am 28. Ty des Torlon Nazhach 6411 dT war im 21. Tamanium das Ulbradan-Sonnendreieck durch einen gewaltigen Hyperraumaufriss vernichtet worden! Die von den Bestien auch Paratron genannten Konverter konnten neben der offensiven Aufriss- auch in defensiver Schutzfunktion eingesetzt werden. Ergebnis waren leistungsfähige Energieschirme, periodische Wechselfelder mit schnellsten Intervallen, die selbst unsere verbesserten Halbraumschirme deutlich übertrafen. Noch sind zwar nicht alle Haluterschiffe damit ausgestattet, aber die Nachrüstung dürfte nur eine Frage der Zeit sein. Ich hatte deshalb entschieden, dass im Kugelsternhaufen fortan die Hyperschwall-Generatoren dauerhaft ihre Funktion aufnahmen, da über kurz oder lang auch hier eine halutische Attacke zu erwarten war. Bislang waren wir verschont geblieben, aber inzwischen rechneten wir täglich mit einem massiven Angriff. Mit den Generatoren hatten wir die natürlichen Emissionen des Kugelsternhaufens ausgenutzt und künstlich verstärkt: Eine ganze Reihe von Welten nahe dem Haufen-
zentrum waren mit riesigen Anlagen ausgestattet worden, die die umstehenden Sonnen hyperenergetisch anregten. Der mittlere Abstand zwischen zwei Sonnen betrug hier eben mal ein Lichttorlon oder weniger – schon im etwa dreizehn Lichtjahre großen Zentralbereich tummelten sich etwa 50.000 Sterne, während ein entsprechend großes Terrain rings um Apsu gerade ein halbes Dutzend beherbergte. In dem insgesamt höchst komplexen »Feldliniengeflecht« war weder mit Transitions- noch Halbraum-Triebwerken ein Durchkommen möglich; nicht einmal hochwertige Schutzschirme boten Schutz, da die Hyperschwallfronten zu heftigsten Hyperorkanen auswachsen konnten, verbunden mit diversen Hyperphänomenen und anderen seltsamsten Erscheinungen. Auf diese Weise war der Kugelsternhaufen zu einem vergleichsweise »sicheren« Bollwerk geworden, wenngleich die eigene Technik natürlich bis zu einem gewissen Grad ebenfalls behindert wurde. Aber in dieser Hinsicht hatten wir ja im Apsu-System schon Erfahrungen mit den inzwischen ganz verschwundenen Drokarnam-Emissionen sammeln können. Ausgenommen von der Störwirkung waren das Dodekaeder, die Passagen mit TeleTransportfeldern – die als Permanentverbindung zwischen dem Tarik- und dem TalzorSystem sowie einigen weiteren Systemen existierten – sowie die eigentlichen Siedlungssysteme, die in dem Chaos »ruhige Enklaven« bildeten. Zu ihnen gehörte auch die Heimat der eingeborenen Mograks; noch erreichte die aus Amphibien entstandene Lebensform nur ein präatomares Zivilisationsniveau und stellte für uns keine Bedrohung dar. Und weitere Holos: Wenige Lichtjahre vom Dodekaeder entfernt befanden sich die Bio-Versuchswelten Kharul, Khagar und Khadruul. Während Kharul und Khagar auch Standort von Hyperschwall-Generatoren waren, diente Khadruul – erster von acht Planeten einer gelben Sonne – ausschließ-
48 lich der Aufzucht riesiger Biomassen, deren gleichmäßiges Gewebe aus einem einzigen Zelltyp bestand. Weil sie auf Hyperstürme überaus empfindlich reagiert und mitunter absonderliche Aktivitäten entfaltet hatten, überdies Anzeichen von Mutationen zeigten und bis zu einem gewissen Grad Hyperenergie speicherten, hatten wir die Versuche vorzeitig abgebrochen. Das von Lyna entwickelte abjinaktive Zellplasma hatte im Zusammenhang mit der Bewusstseinstransferanlage eingesetzt werden sollen – zur Aufnahme und Bindung übernommener Bestienbewusstseine … Lyna! Ich atmete tief ein und aus und, warf einen verstohlenen Blick zu Shurya hinüber. Obwohl ich eigentlich »meine Göttin« weiterhin »anbetete«, hatte ich die Beziehung zu Naglyna nie bereut. Ich war mir sicher, dass sie mich und meine Gefühle durchschaute, war damals vermutlich sogar von Norals Tochter »vorbereitet« worden, aber sie liebte mich aufrichtig. In Kürze will sie von Tarik starten. Dort hatten wir mit Freiwilligen ein viel versprechendes Anpassungsprogramm mit Argazaten-Genen eingeleitet. Ich freute mich schon, sie wieder in die Arme schließen zu können – und plötzlich wurde mir bewusst, dass ich, seit ich mit ihr lebte, nur wenige Male von Albträumen heimgesucht worden war. Erstmals seit Jahren spürte ich in diesen Augenblicken wieder den Erinnerungsdruck des Großen Vernichtungsschlages. Wird Zeit, dass du kommst – ich sehne mich nach dir … Geliebte! Mein Blick fiel auf das Holo, in dem der Globus Acharrs rotierte, einziger Planet der gleichnamigen gelben Sonne, der von uns künstlich platziert worden war. 93,91 Lichtjahre vom Dodekaeder entfernt befand sich dort das Pyramidenfünfeck, über das im Normalfall die Sonnentransmitter gesteuert werden konnten. Auf einem Hochplateau breitete sich westlich der Pyramiden die jetzt verwaiste Hauptsiedlung aus. Tamrat Ba'jonta, mit der Zeit noch wunderlicher geworden, hatte im Zentrum eine zwölfstufige
Rainer Castor Pyramide als sein Mausoleum errichten und sogar einen Lemur-Metall-Sarkophag in stilisierter Menschengestalt vorbereiten lassen. Nun ja, er braucht ihn nicht mehr, durchfuhr es mich bitter. Vermutlich starb er mit den Di'aka, als die Haluter vor vier Torlon Di'akir angriffen. Derbo Melors Hyperraumaufrisswaffe kam wie so viele Entwicklungen zu spät. Hätten wir beispielsweise den auf den Bestienmetabolismus abgestimmten Resonanzstrahler früher einsetzen können … Ich erinnerte mich an erst kürzlich eingegangene Berichte vom Auftauchen eines 2500 Meter messenden »tefrodischen« Kugelriesen. Er sollte auf Lemur gelandet sein. Angeblich war seither Orghon, Hoher Tamrat von Lemur und seit einiger Zeit Leiter des Sektors Versorgung, spurlos verschwunden. Zu meinem Erstaunen hatte Noral, als er davon hörte, ein bemerkenswert zufriedenes Lächeln gezeigt; für mich inzwischen ein eindeutiges Zeichen, dass es sich um Dinge handelte, die er aus der Zukunft kannte – was immer das im Einzelnen auch sein mochte. Der Chefwissenschaftler und seine Tochter hatten mich zum Verlassen der Galaxis zu überreden versucht. Irgendwie klang es in meinen Ohren etwas halbherzig, gleichzeitig auch zweifelnd. Angesichts des inzwischen herrschenden Chaos war es nicht verwunderlich; aus welcher Zeit die beiden letztlich auch immer stammten, die Überlieferungen konnten nicht bis in die Details exakt sein, so dass die beiden zwangsläufig in vielerlei Hinsicht im Dunkeln tappen mussten. Im Gegensatz zu ihnen und vielen meiner Hals über Kopf aufbrechenden Artgenossen hielt ich nicht viel von den Evakuierungen, sondern war zum Durchhalten entschlossen. Gerade jetzt zeigten die intensiven Forschungen Ergebnisse, Prototypen waren bis zur Serienreife gediehen, vor wenigen Tagen hatte ich sogar endlich die Bewusstseinstransferanlage fertig stellen können – da wollte es mir wie Verrat vorkommen, ausgerechnet nun aufzugeben.
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Dass ich nicht allein so dachte, hatte ich vor einigen Jahren erfahren, als es zu einem Geheimkontakt gekommen war. Vor rund einem Jahrhundert hatte Tamrat Scimor zu den »Rebellen« gehört, die mehr oder weniger ausgegorenen Separatismusbestrebungen nachhingen. Mit Kriegsbeginn war das jedoch vergessen gewesen, und der Tamrat hatte auf mehreren Geheimwelten begonnen, Mittel gegen die Schwarzen Bestien zu suchen. Scimor selbst war längst tot, aber seine Leute hatten unbeirrt sein Lebenswerk fortgesetzt. Mir wurde damals mitgeteilt, dass es den »Scimor-Lemurern« im Rahmen der eingeleiteten Umsiedlungen gelungen war, etwa zwei Millionen Wissenschaftler zu ihrem Geheimversteck zu bringen. Unter anderem wurde von ihnen ein so genannter Formungsstrahler entwickelt, auch als Psychogen-Regenerator umschrieben, und inzwischen sogar eingesetzt. Leider handelte es sich um eine Waffe, deren langfristige Wirkung sich erst in den nächsten fünfzig Jahren entfalten würde. Außerdem erfasst sie zunächst nur einen Teil der Haluter, so die letzte Nachricht, deshalb sei man nach dem lange gesuchten Halut vorgestoßen und habe die Waffe dort installiert, dachte ich. Falls es stimmt, wäre das eine phantastische Leistung! Vielleicht hätte ich ihr Angebot doch annehmen … … da rissen mich gellende Sirenen aus den Gedanken.
* Bestien-Alarm! »Kontakt zu Lyna!«, rief Shurya. »Sie muss nach Tarik zurück … wird angegriffen … und … nichts mehr … Kein Funkkontakt mehr …« Ich saß wie erstarrt da, begriff nichts und wusste doch alles. Die Leere in meinem Kopf wurde zu einem eigenen Universum, erhellt von einem einsamen Blitz: Tot … sie ist … tot! Ich hätte schreien mögen, brachte aber
keinen Ton über die Lippen. Alles in mir war von eisiger Kälte, sämtliche Gefühle schienen ebenfalls gestorben. Übrig blieb nur der Verstand, der plötzlich umso leistungsfähiger, wacher wirkte. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie sehr ich Lyna eigentlich geliebt hatte. Und … ein entsetzter Gedanke: Bestienangriff – trotz Hyperschwallfronten? In Trance wandte ich mich dem Schaltpult zu, fuhr die Hyperschwall-Generatoren noch weiter hoch, bis zur maximalen Dauerleistungsgrenze. Wirkung wird erst mit Verzögerung einsetzen … dann aber … War ich es, der handelte? Ich schien neben mir zu stehen und mich völlig unbeteiligt zu beobachten, als ich aufsprang, Kharag einen Befehl zurief und in das aufflammende Transmitterfeld eilte, das mich zur Bewusstseinstransferanlage beförderte. Ich musste sie einsetzen! Wenn nicht jetzt, wann dann? Vielleicht lässt sich das weitere Wüten der Bestien verhindern, vielleicht … Der Kern der Anlage war ein Maschinenblock in Form eines Würfels mit zwölf Metern Kantenlänge. Völlig fugenlos und massiv, war er aus einem Stück gefertigt – als Material hatte unter anderem modifiziertes Drokarnam unter Einlagerung von PsiMaterie Verwendung gefunden. Einige kleinere, an knorrige Wirbelsäulenknochen erinnernde Aggregate umgaben den Kubus. Ich rannte die transparente Rampe bis in halbe Würfelhöhe hinauf. In der drei Meter breiten Lücke, fünf Meter über dem Boden, schwebten nebeneinander drei gelblich durchscheinende Energiesphären. Als ich die Anlage in Betrieb nahm, umzuckten Lichtbögen und Blitzentladungen den Hauptblock. Im Normalbetrieb war sie auf Fernwirkung eingestellt. Ich würde quasi telepathisch nach dem angepeilten Opfer greifen und mental den Austausch erzwingen, für dessen Dauer es dann bewusstlos in meinem Körper verharrte. Problematisch konnte hierbei sein, dass das Opfer nicht exakt »anzupeilen« war oder sich durch sonstige
50 Störeffekte dem Austausch »entzog« – Distanzen schienen dagegen keine Rolle zu spielen. Die Entwicklung bedeutete wirkliche Macht! Nicht nur, dass sich damit andere Wesen übernehmen und manipulieren ließen – was an sich schon ein immenses Potenzial darstellte! –, ein weiterer Aspekt des gezielten Bewusstseinstransfers war, dass er bei Verwendung von Androiden- und KlonKörpern »Unsterblichkeit« bescheren konnte. Aber das interessierte mich jetzt absolut nicht. Alles in mir schrie nur noch nach Rache! Die Energiesphäre nahm mich auf, schon griffen die paramechanischen Peilstrahlen in den Kugelsternhaufen hinaus, erfassten die Haluter, sprangen weiter, suchten den Kommandanten des Verbands, fanden ihn. Zunächst schien ich bis zu einem gewissen Grad Erfolg zu haben – aber als ich den Befehlshaber »übernehmen« wollte, gelang dies nur zum Teil. Im Augenblick der Übernahme wurde mir klar, dass ich einen fürchterlichen Fehler gemacht hatte, denn mein Bewusstsein vollzog nur den Austausch mit dem Bewusstseinsteil des Ordinärhirns der Bestie. Fremdartige Bilder und Gedanken umwirbelten mich, fremdartiger als alles andere, was ich bislang gesehen und erlebt hatte. Erste Schwingungsmacht!, gellte es durch mich. Zeitverbrechen! Gleichzeitig erkannte ich, dass ich mich im Körper einer wirklichen Bestie befand, gegen die sogar die Haluter harmlos erschienen. Sie, und ihre Artgenossen waren es, die die Haluter auf uns gehetzt hatten! Und von ihnen stammt die Paratrontechnologie. Im nächsten Augenblick griff mich das Restbewusstsein des Planhirns mit einer mentalen Attacke an, der ich nichts entgegenzusetzen hatte! Schockiert musste ich erkennen, dass diese Bestie auch ohne Bewusstseinstransferanlage zu vergleichbaren Leistungen imstande war, ja dass darauf sogar ein Teil ihrer Macht beruhte, weil sie andere Lebensformen geistig übernehmen
Rainer Castor konnte. Ich versuchte auszuweichen, mein Geist krümmte sich, wurde von unsichtbaren Hieben getroffen. Etwas wie ein schlürfendes Geräusch erklang, verbunden mit der beängstigenden Vision eines gewaltig klaffenden Mauls. Ich wurde aufgesogen, die Bestie entriss mir die Vitalität. Mit jedem verstreichenden Augenblick wurde ich schwächer, spürte förmlich, wie das Leben aus mir schwand – denn zur gleichen Zeit tobte jener Bewusstseinsteil des Ordinärhirns, der sich in meinem Körper breit gemacht hatte, ließ mehrfach den Herzschlag stocken. Für eine Gegenwehr hatte ich keine Kraft mehr, meine zunehmend schwächere Abwehr wurde zerfetzt. Weg! Ich muss weg! Ich kämpfte gegen den Sog und die Schläge an, löste mich nur langsam aus der Bestie, deren Bewusstsein längst wieder vereint im eigenen Körper war und mich mit doppelter Intensität heimsuchte, brüllend, geifernd, mit mörderischer Wut. Viel zu lange schon dauerte der Krieg, die tobende Kreatur verstand nicht, dass eine schwächliche Lebensform wie wir Lemurer so lange dem Ansturm der Haluter hatte standhalten können. Und dann, wagte es auch noch ein solcher Zwerg, sie auf dem Aktionsfeld der eigenen Übernahmefähigkeit anzugreifen! Die Bestie war unbändiger Zorn, pure Mordlust, glühender Vernichtungswille – die Manifestation von Marter, Qual und Schmerz. Sonnenhitze verbrannte mich, Krallen rissen und zerrten, erstickende Schwaden ätzten, gewaltige Kräfte quetschten. Ich fühlte mich erdrosselt, niedergestochen, entleibt, zerstückelt. Ich hatte keine Chance, hatte alles riskiert und – verlor alles. Von Todesangst getrieben, bäumte ich mich trotzdem noch einmal auf, sammelte die wenigen verbliebenen Fragmente meines Ichs. Irgendwie fand der Überlebensinstinkt einen Weg, konnte dem Zugriff entkommen. Mit rasend schwindender Kraft gelang mir die Rückversetzung, wissend, dass mich die
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Aktion zu viel Energie gekostet hatte …
* … sehe verschwommen Shuryas Gesicht. Etwas tropft auf mich herab, kühl und angenehm. Nicht weinen, will ich rufen, gleich schließe ich Lyna in die Arme. Nur sie, nicht länger mehr du, »meine Göttin«. Ich weiß, so sonderbar es mir selbst erscheint, dass ich sterbe. Ein Gedanke genügt, um die Mikromodule zu programmieren – sie sollen meine Erinnerungen speichern und später an den Stahlweltrechner weitergeben, aber alles aufzeichnen, was noch von mir, meinem Bewusstsein bleibt. Nevus Mercova-Ban, Zeut-Ellwe, geboren am Ty des Kriegsbeginns, Überlebender des Großen Vernichtungsschlags, nun endet dein Leben! Ich lächele matt, öffne die Lippen; vermutlich kommt über sie nur mehr ein Flüstern, weil ich meinen Körper kaum noch spüre: »Ba'jontas Mausoleum wäre wohl ein ganz passender letzter Ruheplatz, oder?« »Kleiner!« Sie schluchzt. Kein Grund. Nicht weinen, Shurya, es ist schön. Ich habe keine Schmerzen. Kommt nun die Dunkelheit? Oder ein Licht? Ein ewiges Nichts – oder vielleicht der eigentliche Beginn? Ich weiß es nicht, bin aber neugierig und gespannt. Gleich werde ich es wissen. Gleich, gleich. Ist Einaklos in seiner Kugel gebunden? Findet Phy die Große Mutter? Der Doppelkopfadler breitet die Flügel aus, erhebt sich von meiner Stirn und wird zu schimmerndem Goldpuder. Nicht mehr lange … Irgendwo erklingt ein Lachen. Zohek? Bist du das? Seit wann …? Schön! Wunderbar! Lach weiter, alter Freund, führe mich zur Insel der Schmetterlinge, von der die alten Sagen berichten. Warten die entrückten Zwölf Heroen schon? Lassen sie die Kristallsäulen von Arbaraith erklingen? Kreisrund die Figur, in der Licht und Finsternis durch eine geschwungene Linie
voneinander getrennt sind – ein Zeichen, das in bemerkenswerter Ästhetik für die Trennung wie auch Verbundenheit der Gegensätze steht. Es geschieht, weil es geschah! Der Zirkel schließt sich, der Kreisbogen ist vollendet. Und die Spiralzeichnungen strudeln. Ah, sie flattern. Goldflitter und Türkislicht wirbeln über Talanis, über deren Haine die Schmetterlinge gaukeln, und das sechsdimensionale Juwel erstrahlt in voller Pracht. Fern schwillt ein vielfach hallender Glockenton an, mischt sich ins Lachen. Dar Tranatlan, spiel die schwermütige Mari-Danta, das Lied der Letzten Hoffnung, jene Weise, in der ein leuchtender Retter aus der Sonne herabsteigt, um den Bedrohten zu helfen. Vehraáto? ZEUT? Zohek? Lach weiter, nicht aufhören, bitte … Zo …
Epilog Kharag-Stahlwelt 14. März 1225 NGZ (34. Ty des Torlon Nazhach, 61.211 dha-Tamar) Ich erwache abrupt aus dem unglaublichen Informationsstrom und stelle fest, dass die Übertragung letztlich nur wenige Minuten beansprucht haben kann, obwohl es mir wie Stunden oder mehr vorkommt. Letztlich ein ganzes Leben! Selbst für jemanden mit fotografischem Gedächtnis ist es nicht leicht, die übermittelten Lebensdaten adäquat zu verarbeiten – dazu ist viel mehr Zeit notwendig, als mir momentan zur Verfügung steht. Ich habe zwar die Hoffnung, mich noch intensiver mit den Informationen und den sich aus ihnen ergebenden Konsequenzen beschäftigen zu können, aber das muss auf später verschoben werden … Wichtiger ist, dass mit meiner HochrangAnerkennung nun zwei Krish'un-Träger und »Tamräte« in der Kharag-Station anwesend sind. Das Stationsgehirn ist demnach zur Untätigkeit verdammt, knurrt der Extrasinn
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säuerlich, sofern nicht plötzlich erweiterte Altprogramme aktiviert werden. Als sei das das Stichwort, sagt der lemurische Rechner ungerührt kühl: »Ich kann den inneren Konflikt nicht lösen, Tamaron. Mit der Anerkennung verfügen Sie und CrestTharo da Zoltral über die gleiche Berechtigung und über mich die gleiche Befehlsgewalt.« Ein Roboter tritt heran und überreicht mir den Armband-Befehlsgeber, der mit dem versprochenen dauergültigen Hochrangberechtigungskode ausgestattet ist. Während ich ihn anlege, fährt Kharag fort: »Deshalb werde ich mich bis zur Lösung des Konflikts völlig neutral verhalten und selbst dann nicht eingreifen, sollten Sie sich auf Leben und Tod bekämpfen – obwohl meine Basisprogrammierung eigentlich gebietet, Leib und Leben der Berechtigten zu schützen.« Aus den Worten klingt eindeutig der Zwiespalt heraus, in dem sich der LemurRechner befindet. Ich seufze innerlich, muss seine Entscheidung akzeptieren. »Aktiviere den Transmitter nach Kharba«, verlange ich. »Meinen Leuten ist der Zugang zu gestat-
ten.« »Verstanden. Ich billige ihnen den Status ›Begleiter des Hohen Tamrats‹ zu. Transmitter wird aktiviert, Botschaft ist übermittelt. Das Fahrzeug steht bereit, Sie zur Transmitterstation zurückzubringen. Schaltungen sind fortan manuell durchzuführen! Ende der Durchsage.« Auf einem Monitor erscheint ein Bild aus der Tarvian-Station. Ich erkenne meine Begleiter – Zanargun, Ulbagimuun, Phazagrilaath, Karusan Gorro –, sehe Li und kann es kaum erwarten, sie in meine Arme zu schließen, während in mir machtvoll die letzten bewussten Gedanken des Tamrats nachhallen. Ich beobachte, dass sich das Transportfeld aufbaut, will mich dem Ausgang zuwenden, als über die interne Kommunikationsanlage der Stahlwelt plötzlich und jäh ein hasserfüllter Aufschrei erklingt. Die Stimme ist unverkennbar: Crest-Tharo da Zoltral …
ENDE
Atlan hat über Transmitter die Kharag-Hauptstation erreicht und sich als HochrangBevollmächtigter ausgewiesen. Im Verlauf der Anerkennungsprozedur erfuhr er vom Stationsrechner die Geschichte des auf Zeut geborenen Lemurers Nevus Mercova-Ban. Als der Arkonide den Transmitter erneut aktiviert, um auch seinen Leuten und Li da Zoltral den Zugang zur Stahlwelt zu ermöglichen, kommt es endlich zur Begegnung mit dem Mann, der hinter den verbrecherischen Machenschaften in Omega Centauri und auf Arkon steht! FINALE AM SONNENTRANSMITTER Unter diesem Titel erscheint in zwei Wochen der spektakuläre Abschlussband unserer zwölfteiligen ATLAN-Miniserie. Als Verfasser zeichnet PERRY RHODAN-Autor Uwe Anton.