Patricia Highsmith
Der Stümper
scanned 2004 corrected by sdd
»›Der Stümper‹ versucht ein Verbrechen nachzumachen, das...
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Patricia Highsmith
Der Stümper
scanned 2004 corrected by sdd
»›Der Stümper‹ versucht ein Verbrechen nachzumachen, das ein Profi erfolgreich begangen hat – bis er von diesem selbst verfolgt wird. Solch raffinierte Handlungsgrundlagen werden nicht selten von literarisch zweitklassigen Autoren verwendet – doch in den Händen von Patricia Highsmith sind sie nur ein Vorwand für subtile Charakterstudien. Ihre tödlichen Jagdspiele gehören zum kunstvollsten, was die heutige Prosadichtung aufzuweisen hat.« Julian Symons ISBN: 3 257 20.136 2 Original: The Blunderer Aus dem Amerikanischen von Barbara Bortfeldt Verlag: Diogenes Erscheinungsjahr: 1974 Umschlaggestaltung: Tomi Ungerer
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1 Der Mann trug dunkelblaue Hosen und ein moosgrünes Sporthemd. Ungeduldig stand er in der wartenden Schlange. Blöd, dachte er. Das Mädchen an der Kasse ist blöd. Noch nie hat sie ein bißchen schnell machen können. Er neigte seinen dicken, kahlen Schädel zur Seite, um ins Innere der hellerleuchteten Vorhalle zu blicken, und las: ›Heute: DIE GEZEICHNETEN‹. Interesselos haftete sein Blick auf dem Aushang: eine halbnackte Frau präsentierte ihre Oberschenkel. Dann glitten seine Augen über die Gesichter in der Schlange hinter ihm. Kein bekanntes darunter? Leider nicht. Ich hätte aber die Zeit nicht günstiger abpassen können, dachte er. Gerade richtig für die Achtuhrvorstellung. Er schubste seinen Dollar durch das halbkreisförmige Loch in der Glasscheibe. »Guten Abend.«, sagte er zu der Blonden und lächelte. »Guten Abend.« Ihre ausdruckslosen blauen Augen strahlten auf. »Wie geht’s?« Sie erwartete nicht, daß er diese Frage beantwortete, und er tat es nicht. Er betrat die schlecht gelüftete Vorhalle. Kriegerisch und aufreizend schmetterten die Trompetensignale der gerade beginnenden Wochenschau. Er ging am Erfrischungsstand vorbei. Als er den Raum durchquert hatte, wandte er sich graziös um, trotz seiner Fülle. Sein Blick wanderte durch den Saal. Dort – Tony Ricco. Er beschleunigte seine Schritte. Am Mittelgang traf er mit Tony zusammen. »Hello, Tony!« Es klang genauso gönnerhaft, als stünde Tony noch hinter dem Ladentisch im Feinkostgeschäft seines 2
Vaters. »Oh, Mr. Kimmel!« lächelte Tony. »Allein heute?« »Meine Frau ist gerade weggefahren, nach Albany.« Er winkte und begann, sich seitwärts in eine der Stuhlreihen zu zwängen. Tony ging im Mittelgang weiter, näher zur Leinwand. Der Mann preßte seine Knie gegen die Lehnen der Sitze, murmelte im Vorbeigehen »Entschuldigen Sie« und »Danke schön«, denn alle mußten aufstehen oder sich zu halber Höhe hochstemmen, um ihn vorbeizulassen. Er ging immer weiter und trat schließlich auf den Seitengang hinaus. Er wandte sich zu der Tür, über welcher rot das Wort AUSGANG leuchtete, schlüpfte durch die beiden Metallflügel und stand in der drückenden Schwüle der Straße. Er wandte dem Kino den Rücken, überquerte die Fahrbahn, bog um eine Ecke und bestieg seinen kleinen schwarzen Chevrolet. Einen Häuserblock entfernt von der Endstation der CardinalLines-Autobusse hielt er an. Etwa zehn Minuten lang saß er wartend in seinem Wagen. Dann setzte sich ein Bus mit der Aufschrift ›Newark – New York – Albany‹ in Bewegung. Er folgte ihm. Er wand sich hinter dem Bus durch den anstrengenden Verkehr vor dem Holland-Tunnel, und in Manhattan drüben wendeten beide sich nach Norden. Stets ließ er zwei oder drei andere Wagen zwischen sich und dem Bus, auch als sie die Stadt hinter sich hatten und der Verkehr spärlich und schnell wurde. Den ersten längeren Aufenthalt, so überlegte er, würde es wohl um Tarrytown herum geben, vielleicht auch früher. Wenn der Ort nicht günstig war, müßte er eben weiterfahren. Und falls sie keine zweite Pause einlegten – nun, dann eben in Albany, in irgendeiner Gasse. Seine breiten, dicken Lippen wölbten sich, während er seine Aufmerksamkeit auf die Straße konzentrierte, aber seine gelblichen Augen, seltsam verzerrt 3
hinter den dicken Gläsern, zeigten keine Veränderung. Der Autobus hielt vor einigen erleuchteten Lebensmittelgeschäften und einem Café. Er überholte ihn und fuhr so dicht an den Straßenrand, daß die Zweige eines Baumes den Lack zerkratzten. Er stellte den Motor ab, stieg schnell aus und rannte zurück. Erst als er in den Lichtkreis der Häuser trat, wo der Autobus stand, verlangsamte sich sein Schritt zu normalem Gang. Noch immer stiegen Leute aus dem Bus. Auch sie sah er aussteigen, erkannte die schwerfälligen, ruckartigen Bewegungen ihres plumpen Körpers, als sie die Stufen herunterkletterte. Schon nach ihren ersten Schritten war er neben ihr. »Du?!« sagte sie. Ihr graumeliertes Haar war zerzaust, ihre törichten braunen Augen starrten ihn an – verblüfft wie ein Tier, ängstlich wie ein Tier. Ihm schien es, als stünden sie noch immer in der Küche in Newark und stritten. »Ich habe dir noch einiges zu sagen, Helen. Laß uns ein Stück gehen.« Er nahm ihren Arm. Sie entzog sich ihm. »Der Bus hält hier nur zehn Minuten. Also sag, was du zu sagen hast.« »Er hält zwanzig Minuten. Ich habe mich erkundigt.«, sagte er gelangweilt. »Wir wollen hier entlanggehen, wo uns niemand belauschen kann.« Sie ging mit. Er hatte bereits gesehen, daß es rechts, in Richtung seines Wagens, hohe Bäume und dichtes Unterholz gab. Nur ein paar Meter weiter die Straße hinunter, und – »Wenn du etwa glaubst, ich werde mich anders besinnen, was Edward betrifft …« – ihre Stimme zitterte – »das werde ich nicht. Niemals!« Edward! Die stolze, verliebte Dame. Es schüttelte ihn. »Ich 4
habe es mir anders überlegt.«, sagte er ruhig, beinahe bedauernd. Unbewußt aber schlossen sich seine Finger fester um ihren schlaffen Oberarm. Kaum konnte er es erwarten. Er drehte sie zur Straße herum. »Mel, ich möchte nicht so weit weggehen vom …« Er stürzte sich auf sie, schleuderte sie tief in das Unterholz am Straßenrand. Fast fiel er selber, aber er hielt ihr Handgelenk mit seiner Linken fest umklammert. Mit der Rechten hieb er auf ihre Schläfe ein; es wird ihr das Genick brechen, dachte er; und immer noch hielt er ihr Handgelenk umklammert. Das war erst der Anfang. Da lag sie auf der Erde, seine linke Hand fand ihre Kehle, schloß sich um sie und würgte ihren Schrei ab. Die andere Hand, zur Faust geballt, schlug auf ihren Körper ein, schlug wie ein Hammer in das harte Tal zwischen den schwammigen, schützenden Brüsten. Dann hieb er auf ihre Stirn ein, auf ihr Ohr, mit regelmäßigen, hämmernden Schlägen, und schließlich versetzte er ihr einen Kinnhaken, so wie er es mit einem Manne gemacht hätte. Seine Hand fuhr in die Tasche, suchte das Messer, öffnete es, und die Klinge fuhr hinab – dreimal, viermal, fünfmal. Er konzentrierte sich auf ihren Kopf; ihn wollte er zerstören. Immer und immer wieder schlug der Rücken seiner fest geschlossenen Hand auf ihrem Gesicht auf, bis seine Finger klebrig waren vom Blut und kraftlos, aber er merkte es nicht. Er empfand nichts als reine Freude, ein herrliches Gefühl wiederhergestellter Gerechtigkeit; jahrelange Beschimpfung und Beleidigung, Jahre der Langeweile und des Stumpfsinns vor allem des Stumpfsinns – zahlte er ihr zurück. Erst als er völlig außer Atem war, hielt er inne. Er bemerkte, daß er auf ihrem Oberschenkel kniete, und angewidert erhob er sich. Er sah nichts von ihr, nur einen hellen Fleck, ihr Sommerkleid. Er blickte sich um in der Dunkelheit, lauschte. Nichts war zu hören außer dem feinen Schwirren der Insekten und dem schnellen Surren eines auf der Straße vorbeifahrenden 5
Wagens. Erst jetzt sah er, daß nur wenige Schritte ihn von der Straße trennten. Er war überzeugt, daß sie tot war. Ganz sicher. Plötzlich wünschte er, er könnte ihr Gesicht sehen. Seine Hand tastete zur Hosentasche, dort steckte die Taschenlampe. Aber er ließ es lieber sein. Jemand könnte das Licht bemerken. Vorsichtig beugte er sich hinunter, streckte eine seiner Riesenhände mit empfindsam gespreizten Fingern aus, erwartete die Berührung und fühlte mehr und mehr Ekel, je näher die Hand dem Körper kam. Sobald die Fingerspitzen an schlüpfrige Haut rührten, schoß die andere Faust hervor und zielte unmittelbar neben seine Fingerspitzen. Dann richtete er sich auf, atmete tief und dachte an gar nichts – lauschte nur. Er setzte sich in Bewegung und betrat die Straße. Im gelblichen Licht der Straßenlampen betrachtete er sich, suchte nach Blutspuren, fand keine – nur das Blut an seinen Händen. Im Gehen rieb er abwesend seine Hände aneinander, aber sie wurden nur noch klebriger und widerlicher davon. Er sehnte sich danach, sie zu waschen. Ihn schauderte bei dem Gedanken, daß er sein Steuer anfassen mußte, ohne die Hände gewaschen zu haben. Bis ins kleinste sah er es vor sich, wie er zu Hause den Lappen am Waschbecken anfeuchten und das Steuerrad gründlich abwaschen würde. Er würde es sogar schrubben. Der Autobus war weg, stellte er fest. Er hatte keine Ahnung, wie lange er gebraucht hatte. Er bestieg seinen Wagen, wendete und raste südwärts. Seine Armbanduhr zeigte Viertel vor elf. Sein Hemdsärmel war zerrissen. Ich muß das Hemd loswerden, dachte er. Er rechnete sich aus, daß er kurz nach eins wieder in Newark sein könnte.
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2 Es fing an zu regnen, während Walter im Wagen saß und wartete. Er hob den Blick von seiner Zeitung und zog den Ellenbogen aus dem Wagenfenster zurück. Der blaue Leinenärmel seines Jacketts war gesprenkelt mit Pünktchen von dunklerem Blau. Dann prasselten die großen Tropfen des Sommerregens heftiger auf das Wagendach, und im nächsten Augenblick glänzte die gewölbte Asphaltstraße vor Nässe und spiegelte die Neonreklame des Drugstores vorn an der Ecke als langgezogenen roten Klecks wider. Die Dämmerung sank herab, und der Regen hatte die Stadt plötzlich in einen noch graueren Schleier gehüllt. Die adretten New-England-Häuser an der Straße schienen im verblassenden Licht weißer denn je, und die niedrigen weißen Zäune hoben sich so deutlich von den Rasenflächen ab wie Maschen auf einem Strickmuster. Ideal, dachte Walter. Geradezu ideal. Genau der Ort, wo man ein gesundes, braves Mädchen heiratet und mit ihr in einem weißen Hause wohnt, wo man angeln geht am Sonnabend und seine Sprößlinge großzieht, damit sie später das gleiche tun. Widerlich, hatte Clara heute nachmittag gesagt und auf das Miniaturspinnrad am Kamin des Gasthofes gezeigt. Sie hielt Waldo Point für ein Touristennest. Walter hatte den Ort mit sehr viel Vorbedacht gerade deswegen gewählt, weil er unter all den Städten auf Cape Cod am wenigsten auf Touristen abgestellt war. Walter erinnerte sich noch, daß es ihr damals in Provincetown recht gut gefallen hatte und daß sie sich keineswegs darüber beklagt hatte, Provincetown sei ein Touristenort. 7
Allerdings war das ihr erstes Ehejahr gewesen, und jetzt war es das vierte. Der Inhaber der Spindrift Inn hatte Walter gestern erzählt, sein Großvater habe das Spinnrad für seine kleinen Töchter gemacht, damit sie daran lernten. Wenn Clara sich doch nur für einen Augenblick einmal … Es war eine solche Kleinigkeit, dachte Walter. Bei all ihren Streitereien ging es um solche Kleinigkeiten. Gestern wieder … diese Diskussion darüber, ob es unvermeidlich sei, daß Mann und Frau nach zwei Ehejahren einander physisch müde würden. Walter war nicht der Meinung, daß es unvermeidlich sei; Clara selbst war sein Beweis, obwohl sie derart zynisch und abstoßend dafür argumentiert hatte, es sei unvermeidlich, daß Walter sich eher die Zunge abgebissen hätte, als ihr zu sagen, er liebe sie physisch noch genausosehr wie je zuvor. Als wenn Clara das nicht wüßte! Als wenn das nicht der alleinige Zweck ihrer Haltung in diesem Streit gewesen wäre – ihn herauszufordern! Walter schob sich im Wagen in eine bequemere Lage, fuhr mit den Fingern durch sein dichtes blondes Haar und versuchte, sich zu beruhigen und die Zeitung zu lesen. Mein Gott, dachte er, und das soll nun ein Urlaub sein. Rasch überflogen seine Augen einen Artikel über die Lage der amerikanischen Armee in Frankreich, seine Gedanken aber waren noch immer bei Clara. Er dachte an den Mittwochvormittag nach dem morgendlichen Ausflug im Fischerboot (wenigstens dieser Ausflug mit Manuel hatte ihr gefallen, weil er lehrreich gewesen war) … als sie wieder zu Hause waren und sich anschickten, noch etwas zu schlafen. Clara war in einer seltenen und wundervollen Stimmung gewesen. Sie hatten über irgend etwas gelacht, und dann hatten sich ihre Arme langsam fester um seinen Hals geschlossen … Mittwoch erst, vor drei Tagen … aber schon am nächsten Tage hatte sie ätzende Säure in der Stimme, getreu dem alten 8
Grundsatz: wem ich eine Gunst gewähre, der soll es mir büßen. Es war zehn Minuten nach acht. Walter blickte aus dem Wagenfenster hinaus auf die Fassade des Gasthofes, der ein Stückchen hinter ihm lag. Immer noch keine Spur von ihr. Er senkte den Blick auf seine Zeitung und las: LEICHE EINER GEFUNDEN
FRAU
BEI
TARRYTOWN,
N. Y.
Die Frau war brutal zusammengeschlagen und erstochen worden, aber man hatte sie nicht beraubt. Spuren fand die Polizei nicht. Mit einem Autobus war die Frau auf dem Wege von Newark nach Albany gewesen, war nach einer Rastpause vermißt worden, und der Bus hatte seine Fahrt ohne sie fortgesetzt. Walter war neugierig, ob diese Geschichte ihm etwas bieten könnte für seine Essays; ob vielleicht der Mörder in irgendeiner nicht alltäglichen Beziehung zu der Frau gestanden hätte. Er dachte an den scheinbar motivlosen Mord, von dem er in der Zeitung gelesen und der später in einer einseitigen Freundschaft zwischen Mörder und Opfer seine Erklärung gefunden hatte, einer Freundschaft wie der zwischen Chad Overton und Mike Duveen. Walter hatte die Mordgeschichte dazu benutzen können, gewisse potentielle Gefahren in der Chad-Mike-Freundschaft aufzudecken. Er riß die kleine Meldung über die Frau aus Newark aus der Zeitung heraus und steckte sie in die Tasche. Es schadete ja nichts, wenn er sie einmal für ein paar Tage aufhob, um zu sehen, ob nicht irgend etwas über den Mörder herauskäme. Die Essays waren schon zwei Jahre lang Walters Feierabendbeschäftigung. Elf sollten es werden, unter dem gemeinsamen Titel Unwürdige Freundschaften. Erst einer war fertig, der über Chad und Mike, aber für mehrere andere hatte 9
er schon Entwürfe gemacht. Und sie alle gründeten sich auf Beobachtungen bei seinen eigenen Freunden und Bekannten. Seine These war, daß beinahe jeder Mensch freundschaftliche Beziehungen zu mindestens einer Person pflegte, die weniger taugte als er, und zwar wegen bestimmter Mängel und Unzulänglichkeiten, die er in dem minderwertigen Freund entweder als Spiegelbild oder als Ergänzung wiederfände. Beispielsweise Chad und Mike: beide stammten aus wohlhabenden Familien und waren verwöhnt worden; Chad aber hatte sich für die Arbeit entschieden, während Mike noch immer ein Playboy war, dem allerdings wenig zum Spielen blieb, seit seine Familie ihm das Taschengeld gesperrt hatte. Mike war ein Trunkenbold und Tunichtgut, hemmungslos in der Ausnutzung all seiner Freunde. Mittlerweile war Chad beinahe der einzige Freund, der ihm noch geblieben war. Chad dachte anscheinend: ›Ich kann nicht anders, Gott helfe mir‹, und er gab Geld und stellte Mike in regelmäßigen Abständen wieder auf die Beine. Mike als Freund war für niemanden von großem Wert. Walter hatte nicht die Absicht, sein Buch irgendwo zur Veröffentlichung anzubieten. Er schrieb die Essays einzig zu seinem Vergnügen, und er machte sich gar keine Gedanken darüber, wann und ob er sie überhaupt jemals zu Ende brächte. Walter ließ sich in die Wagenpolster zurücksinken und schloß die Augen. Er dachte an die FünfzigtausenddollarBesitzung in Oyster Bay, die Clara zu verkaufen suchte. Walter sandte ein stilles kleines Gebet gen Himmel, daß einer ihrer beiden Reflektanten es kaufen möge, Clara zum Segen, ihm selber zum Segen. Gestern hatte sie den halben Nachmittag lang dagesessen und die Pläne des Hauses und des Grundstücks studiert. Strategische Vorbereitung ihres Angriffes nächste Woche, hatte sie gesagt. Wie eine Furie würde sie sich auf die Interessenten stürzen, 10
das wußte er. Erstaunlich, daß sie ihnen keinen Schreck einjagte, daß die Leute überhaupt jemals etwas kauften. Aber sie kauften. Das Knightsbridge-Maklerbüro betrachtete Clara als Spitzenkraft im Verkauf. Wenn er sie nur irgendwie dazu bringen könnte, ein bißchen ausgeglichener zu sein. Gib ihr die richtige Sicherheit – hatte er immer gedacht. Nun, tat er das denn nicht? Liebe, Zärtlichkeit und Geld obendrein. Es half einfach nichts. Er hörte ihre Schritte – tack-tack-tack von den hohen Absätzen, sie rannte –, und schnell richtete er sich auf und dachte: Verdammt, ich hätte den Wagen zurücksetzen sollen bis vor das Gasthaus, es regnet ja. Er beugte sich hinüber und öffnete die Tür. »Warum hast du den Wagen nicht vor die Tür gestellt?« fragte sie. »Entschuldige. Im Moment erst habe ich daran gedacht.« Er riskierte ein Lächeln. »Du konntest doch wohl sehen, daß es regnet.«, sagte sie und schüttelte verzweifelt ihr Köpfchen. »Runter, Liebling, du bist naß!« Sie schubste Jeff, ihren Foxterrier, vom Sitz hinunter, und er sprang wieder hinauf. »Jeff, wirklich!« Jeff kläffte entzückt, als wäre es ein Spiel, und wie ein Gummiball war er zum dritten Mal oben. Clara ließ ihn dort und schlang zärtlich den Arm um ihn. Walter fuhr ins Stadtzentrum. »Was hältst du von einem Gläschen im Melville vor dem Essen? Es ist unser letzter Abend.« »Ich möchte keins. Aber ich setze mich zu dir, wenn du unbedingt eins brauchst.« »Schön.« Vielleicht konnte er sie dazu überreden, einen Tom Collins zu trinken. Oder wenigstens einen süßen Wermut mit 11
Soda. Wahrscheinlich aber konnte er sie nicht überreden, und ob es sich wirklich lohnte, sie dort sitzen zu lassen, während er trank? Und im allgemeinen wollte er ein zweites Glas. Walter durchlitt einen jener zwiespältigen Augenblicke, in denen sein Wille gelähmt war; er konnte sich nicht entscheiden, ob er nun etwas trinken sollte oder nicht. Er fuhr am Hotel vorbei, ohne einzukehren. »Ich dachte, wir gingen ins Melville.«, sagte Clara. »Hab meinen Entschluß geändert. Wenn du nicht mittrinkst …« Walter legte seine Hand über ihre und drückte sie. »Auf zum Lobster Pot.« Als die Straße endete, bog er links ab. Der Lobster Pot lag auf einer kleinen felsigen Landzunge über dem Meer. Scharfer Seewind blies zum Wagenfenster herein, kühl und salzig. Walter fand sich plötzlich in völliger Finsternis. Er hielt Ausschau nach der blauen Lichterkette des Lobster Pot, konnte sie aber nirgends entdecken. »Ich fahre lieber wieder auf die Hauptstraße und nehme den Weg von der Tankstelle aus wie immer.«, sagte Walter. Clara lachte. »Und dabei warst du schon fünfmal da, wenn nicht öfter!« »Was macht es schon?« fragte Walter mit erkünsteltem Gleichmut. »Wir haben es ja nicht eilig, oder?« »Das nicht, aber es ist doch unsinnig, Zeit und Energien zu verschwenden, wo du mit einem Funken Verstand gleich den richtigen Weg hättest fahren können!« Walter unterdrückte die Bemerkung, sie verschwende mehr Energien als er. Die straffe Silhouette ihres Körpers, ihr Gesicht, starr der Windschutzscheibe zugewandt, peinigten ihn, gaben ihm das Gefühl, daß die Ferienwoche vergeblich gewesen war, vergeblich der wunderbare Vormittag nach der 12
Fischfahrt. Am nächsten Tag schon vergessen, genau wie die anderen wunderbaren Nächte, Vormittage … die vom vergangenen Jahr konnte er zählen … kleine, blühende Oasen, weit entfernt. Er versuchte, sich irgend etwas Nettes einfallen zu lassen, was er ihr sagen könnte, bevor sie aus dem Wagen stiegen. »Du gefällst mir in diesem Schal.«, sagte er lächelnd. Sie trug ihn lose über den bloßen Schultern und durch die Armbeuge geschlungen. Immer hatte er es bewundert, wie sie ihre Kleider trug und welchen Geschmack sie bei deren Auswahl zeigte. »Das ist eine Stola.«, sagte sie. »Eine Stola. Ich liebe dich, Clara.« Er beugte sich hinüber, um sie zu küssen, und sie hob ihm ihre Lippen entgegen. Er küßte sie ganz zart, um ihren Lippenstift nicht zu verwischen. Clara verlangte kalten Hummer mit Mayonnaise, was sie für ihr Leben gern aß, und Walter bestellte gebratenen Fisch und eine Flasche Riesling. »Ich dachte, du würdest heute abend Fleisch nehmen, Walter. Wenn du wieder Fisch nimmst, bekommt Jeff heute überhaupt nichts!« »Also schön.«, sagte Walter. »Ich werde ein Steak bestellen. Jeff kann das meiste davon haben.« »Du sagst das mit einer solchen Duldermiene!« Die Steaks waren im Lobster Pot nicht besonders. Schon gestern abend hatte Walter Steak bestellt wegen Jeff. Jeff weigerte sich, Fisch zu fressen. »Mir ist es durchaus recht so, Clara. Laß uns nicht streiten an unserem letzten Abend.« »Wer streitet denn? Du versuchst doch, etwas vom Zaun zu brechen!« Schließlich war das Steak dann aber bestellt. Clara hatte ihren Willen, und sie seufzte, den Blick ins Leere gerichtet; anscheinend dachte sie an etwas anderes. Eigenartig, dachte 13
Walter, Claras Sparsamkeit erstreckte sich sogar auf Jeffs Ernährung, obwohl Jeff sonst in jeder Hinsicht verwöhnt wurde. Woran lag das? Was in Claras Vergangenheit hatte sie zu einem Menschen gemacht, der jeden Pfennig umdrehte? Ihre Familie war weder arm noch reich. Dies war noch so ein Geheimnis um Clara, das er wohl niemals enträtseln würde. »Kits«, sagte er zärtlich. Es war sein Kosename für sie, und er kargte damit, um ihn nicht abzunutzen. »Laß uns heute abend vergnügt sein. Wahrscheinlich wird es lange dauern, bis wir beide wieder einmal zusammen Ferien machen. Wollen wir nicht nach dem Essen drüben im Melville tanzen?« »Ja, gut«, sagte Clara, »aber vergiß nicht, wir müssen morgen um sieben aufstehen.« »Das vergesse ich nicht.« Es waren nur sechs Stunden Fahrt bis nach Hause, aber Clara wollte am frühen Nachmittag zu Hause sein, um mit den Philpotts, ihren Chefs im Knightsbridge-Maklerbüro, Tee zu trinken. Walter schob seine Hand auf dem Tisch über ihre. Er liebte ihre Hände. Sie waren klein, aber nicht zu klein, wohlgeformt und ziemlich kräftig. Ihre Hand paßte genau in seine hinein, wenn er sie hielt. Clara schaute ihn nicht an. Sie blickte ins Weite, nicht träumerisch, sondern hellwach. Sie hatte ein kleines, recht hübsches Gesicht, obwohl es einen kühlen und zurückhaltenden Ausdruck trug, und ihr Mund sah traurig aus, wenn er entspannt war. Es war ein feingeschnittenes Gesicht, für einen Fremden schwer im Gedächtnis zu behalten. Er sah sich um, suchte Jeff. Clara hatte ihn von der Leine gelassen, und er trottete im Saal umher, beschnüffelte die Schuhe der Gäste und nahm Leckerbissen von ihren Tellern entgegen. Vom Teller fremder Leute frißt er immer Fisch, dachte Walter. Es war ihm peinlich, denn neulich abends hatte der Ober sie gebeten, den Hund an die Leine zu legen. »Laß nur den Hund.«, kam Clara ihm zuvor. 14
Walter kostete den Wein und nickte dem Kellner zu, er sei zufriedenstellend. Er wartete, bis Clara ihr Glas hatte, dann hob er seines. »Auf einen weiterhin schönen Sommer und den Oyster-Bay-Verkauf.«, sagte er und bemerkte, daß ihre braunen Augen bei der Erwähnung des Oyster-Bay-Verkaufs aufleuchteten. Als Clara von ihrem Wein getrunken hatte, sagte er: »Was meinst du, sollen wir nicht einen Termin für die Party festlegen?« »Was für eine Party?« »Die Party, über die wir gesprochen haben, bevor wir von Benedict abfuhren. Du sagtest, Ende August.« »Also gut.«, sagte Clara mit schwacher, unwilliger Stimme, so als wäre sie in einem fairen Wettkampf in die Enge getrieben worden und müßte nun zurückstecken, wohl oder übel. »Vielleicht am Sonnabend, dem achtundzwanzigsten.« Sie machten sich daran, die Gästeliste zusammenzustellen. Es gab keinen besonderen Anlaß für diese Party, nur daß sie seit der Silvesterfeier keine richtige Party mehr gegeben hatten, und sie waren mittlerweile auf ungefähr einem Dutzend gewesen. Ihre Freunde in der Benedicter Gegend gaben eine ganze Menge Parties, und Clara und Walter wurden zwar nicht immer eingeladen, aber doch oft genug, um sich nicht übergangen zu fühlen. Sie mußten die Iretons einladen, selbstverständlich, und die McClintocks, die Jensens, die Philpotts, Jon Carr und Chad Overton. »Chad?« fragte Clara. »Ja. Warum denn nicht? Ich denke, wir schulden ihm einiges, meinst du nicht?« »Ich meine, er schuldet uns eine Entschuldigung – wenn du mich fragst.« Walter griff nach einer Zigarette. Chad war eines Abends zu ihnen gekommen, hatte bloß mal hereingeschaut auf der Rückfahrt von Montauk, und irgendwie – Walter hätte nicht 15
einmal sagen können, wie – hatte er so viele Martinis zu sich genommen, daß er auf ihrem Sofa umkippte oder zumindest fest einschlief. All seine Erklärungen, Chad sei den ganzen Tag über in der Hitze gefahren und sei davon müde gewesen, hatten nicht das geringste genützt. Chad stand auf der schwarzen Liste. Und doch hatten sie mehrmals, wenn sie nach New York fuhren, um ein Theaterstück zu sehen, in Chads Wohnung übernachtet, während Chad aus Gefälligkeit die Nacht bei einem Freund verbrachte, um ihnen seine Wohnung zu überlassen. »Kannst du das nicht vergessen?« fragte Walter. »Er ist ein guter Freund, Clara, und außerdem ein intelligenter Bursche.« »Ich bin sicher, er wird wieder umkippen, sobald ihm eine Schnapsflasche vor die Augen kommt.« Nutzlos, ihr zu sagen, daß Chad seines Wissens weder zuvor noch seitdem je umgekippt war. Nutzlos, sie daran zu erinnern, daß er seine derzeitige Stellung eigentlich Chad verdankte. In den Jahren nach seinem Abschlußexamen an der juristischen Fakultät hatte Walter bei Adams, Adams und Branower, Rechtsanwälte, als Chads Assistent gearbeitet. Dann war er aus der Firma ausgeschieden und nach San Franzisko gegangen mit dem Gedanken, dort vielleicht eine eigene Anwaltspraxis zu eröffnen; aber da hatte er Clara kennengelernt und sie geheiratet, und Clara hatte gewünscht, daß er nach New York zurückkehrte und dabei bliebe, unselbständig zu arbeiten, denn das war einträglicher. Chad hatte ihn lobender, als ihm eigentlich zukam, an eine Rechtsberaterfirma empfohlen, die unter dem Namen Cross, Martinson und Buchman bekannt war. Chad war gut befreundet mit Martinson. Die Firma zahlte Walter das Gehalt eines alterfahrenen Juristen, obwohl er erst dreißig war. Wäre Chad nicht gewesen, dachte Walter, dann säßen sie jetzt nicht im Lobster Pot und tränken importierten Riesling. Walter überlegte, daß er Chad wohl irgendwann einmal in Manhattan zum Mittagessen würde einladen müssen. 16
Oder Clara beschwindeln und einen Abend mit ihm verbringen. Oder sie auch vielleicht nicht beschwindeln, sondern es ihr einfach sagen. Walter sog an seiner Zigarette. »Du rauchst mitten in der Mahlzeit?« Das Essen war gekommen. Walter drückte mit erzwungener Ruhe die Zigarette im Aschenbecher aus. »Bist du nicht der Meinung, daß er uns etwas schuldig ist? Einen Blumenstrauß wenigstens?« »Schon gut, Clara … schon gut.« »Aber warum denn dieser eklige Ton?« »Weil ich Chad gern habe, und wenn wir fortfahren, ihn zu boykottieren, dann wird die logische Folge sein, daß wir ihn als Freund verlieren. Genauso wie wir die Whitneys verloren haben.« »Wir haben die Whitneys nicht verloren. Du scheinst anzunehmen, daß du den Leuten die Stiefel lecken und all ihre Beleidigungen still hinzunehmen hast, um dir nur ja ihre Freundschaft zu erhalten. Ich habe noch nie einen Menschen erlebt, der sich so viele Gedanken darum macht, ob irgendein Tom, Dick oder Harry ihn mag oder nicht.« »Laß uns nicht streiten, Schatz.« Walter legte die Hände vors Gesicht, aber sofort nahm er sie wieder herunter. Es war eine gewohnte Geste, zu Hause machte er sie und im stillen Kämmerlein. Es war ihm unerträglich, daß er sie am Ende eines Urlaubs machte. Er drehte sich um, sah wieder einmal nach Jeff. Jeff war am anderen Ende des Saales und gab sich alle Mühe, den Fuß einer Dame zu umklammern. Die Frau schien das nicht recht zu begreifen und streichelte Jeffs Kopf immer wieder. »Vielleicht sollte ich ihn lieber herholen.«, sagte Walter. »Er tut niemandem etwas zuleide. Beruhige dich.« Clara 17
zerlegte kunstvoll ihren Hummer; sie aß rasch wie immer. Im selben Augenblick aber erschien ein Kellner und sagte lächelnd: »Würden Sie so freundlich sein und Ihren Hund an die Leine legen, Sir?« Walter erhob sich und ging quer durch den Raum auf Jeff zu. Er hatte das peinliche Gefühl, in seinen weißen Hosen und dem hellblauen Jackett aufzufallen. Jeff mühte sich noch immer mit dem Fuß der Dame ab, sein schwarzgesprenkeltes Gesicht grinsend zurückgewandt, so als könne er es selber nicht ganz ernst nehmen; aber Walter hatte seine liebe Not, die drahtigen kleinen Beine vom Knöchel der Dame zu lösen. »Entschuldigen Sie vielmals.«, sagte Walter zu ihr. »Aber nicht doch, ich finde ihn ganz bezaubernd!« antwortete die Frau. Walter unterdrückte den Impuls, den Hund in seinen Händen zu zermalmen. Er trug ihn ganz vorschriftsmäßig zurück, eine Hand unter der heißen, keuchenden Brust, mit der anderen hielt er ihn oben fest. Sanft setzte er ihn neben Clara auf den Boden und machte die Leine fest. »Du haßt diesen Hund, nicht wahr?« fragte Clara. »Ich bin der Meinung, er ist verwöhnt, das ist alles.« Walter beobachtete Claras Gesichtsausdruck, während sie Jeff auf ihren Schoß hob. Wenn sie den Hund liebkoste, dann wurde ihr Gesicht schön, sanft und liebend, so als herze sie ein Kind, ihr Kind. Claras Gesicht anzuschauen, wenn sie Jeff hätschelte, das war die größte Freude, die Walter an dem Hund hatte. Er haßte den Hund wirklich. Er haßte sein keckes, selbstsüchtiges Wesen, seinen törichten Gesichtsausdruck, der jedesmal, wenn er Walter ansah, zu sagen schien: ›Ich lebe wie Gott in Frankreich, und nun schau dich doch einmal an!‹ Er haßte den Hund, denn der konnte Clara nichts verkehrt machen, und er konnte ihr nichts recht machen. 18
»Glaubst du wirklich, er ist verwöhnt?« fragte Clara und kraulte das schwarze Ohr des Hundes. »Ich dachte, er hätte heute morgen, als wir am Strand waren, ganz gut gehorcht.« »Ich meinte bloß, du hast doch einen Foxterrier genommen, weil die intelligenter sind als die meisten anderen Hunde, und nun machst du dir nicht die Mühe, ihm auch nur die elementarsten Manieren beizubringen.« »Ich nehme an, du spielst auf das an, was er eben da drüben gemacht hat?« »Das gehört dazu. Ich weiß, daß er fast zwei Jahre alt ist, aber solange er so was macht, sollten wir ihn meiner Meinung nach nicht in Speisesälen herumstromern lassen. Das sieht nicht besonders gut aus.« Clara hob die Brauen. »Er hat sich ganz harmlos ein bißchen vergnügt. Du redest, als mißgönntest du ihm das. Das überrascht mich sehr – gerade von dir.«, sagte sie kühl amüsiert. Walter lächelte nicht. Am Nachmittag des folgenden Tages waren sie zu Hause. Clara erfuhr, daß der Oyster-Bay-Handel sich durchaus noch einen Monat lang hinziehen konnte, und bei ihrem Zustand quälender Ungewißheit war an eine Party gar nicht zu denken, bis sie entweder verkauft hatte oder nicht. In der Woche darauf erlitt Chad eine Abfuhr, als er anrief und fragte, ob er vorbeikommen könne. Nein, hieß es, und vielleicht wurde auch einfach abgehängt, noch ehe Walter das Telephon erreichen konnte. Jon Carr, Walters bester Freund, wurde eines Sonnabends, als er anrief, direkt vor Walters Nase abgespeist. Clara teilte Walter mit, Jon habe sie zu einer kleinen Abendgesellschaft eingeladen, die er nächste Woche geben wolle, aber sie habe gemeint, es lohne sich nicht, deswegen extra nach Manhattan hineinzufahren. Manchmal träumte Walter, daß einer, mehrere, alle seine 19
Freunde ihn verlassen hätten. Es waren trostlose, herzzerreißende Träume, und dann erwachte er mit einem Gefühl, als sei alles Leben in seiner Brust erloschen. Fünf Freunde hatte er bereits verloren – verloren einzig und allein deswegen, weil Clara sie nicht im Hause sehen wollte, selbst wenn Walter ihnen noch schrieb und sich mit ihnen traf, wenn er konnte. Zwei in Pennsylvania, Walters Heimat; einen in Chikago und die übrigen zwei in New York. Und wenn er ganz ehrlich war, mußte Walter sich eingestehen, daß Howard Graz in Chikago und Donald Miller in New York sich so von ihm abgewandt hatten, daß er sich nicht mehr sehr viel Mühe machte, ihnen Briefe zu schreiben. Vielleicht schuldeten sie ihm auch Briefe. Walter dachte daran, wie Clara gelächelt hatte, ein richtiges Lächeln des Triumphes, als er von einer Party bei Don in New York gehört hatte, zu der er nicht eingeladen worden war. Es war noch dazu ein Herrenabend gewesen. Für Clara war das die Bestätigung, daß sie ihn und Don auseinandergebracht hatte, und sie hatte es genossen. Das war eigentlich der Moment gewesen, vor zwei Jahren etwa, da Walter zum ersten Male dämmerte, daß er mit einer Neurotikerin verheiratet war, einer Frau, die in gewisser Hinsicht regelrecht verrückt war, und noch dazu einer Neurotikerin, die er liebte. Immer wieder rief er sich jenes wunderbare erste Jahr ins Gedächtnis zurück: wie stolz war er auf sie gewesen, weil sie intelligenter war als die meisten Frauen (jetzt verursachte ihm schon das Wort Intelligenz eine Gänsehaut, denn Clara machte einen Fetisch daraus); wie viel hatten sie zusammen gelacht; welchen Spaß hatte es ihnen gemacht, das Haus in Benedict einzurichten, und er hoffte, die Clara jener Tage möge wie durch Zauberhand zurückkehren. Es war schließlich noch immer der gleiche Mensch, der gleiche Körper. Er liebte den Körper noch immer. Als Clara vor acht Monaten die Knightsbridge-Stellung 20
annahm, hatte Walter gehofft, das könne zu einem Ventil werden für ihren Ehrgeiz, für die Eifersucht, die er an ihr wahrnahm, sogar auf ihn, denn er machte eine Karriere, die man als erfolgreich bezeichnete. Aber der Job hatte ihren Ehrgeiz und ihre eigenartige Unzufriedenheit mit sich selber nur noch verstärkt. Es war, als hätte die Tatsache, daß sie nun wieder arbeitete, den Krater eines Vulkans freigelegt, der bisher nur geschwelt hatte. Walter hatte sogar den Vorschlag gemacht, sie solle aufhören. Davon wollte Clara nichts hören. Die natürlichste Aufgabe für sie wären Kinder gewesen, und Walter wünschte sich Kinder, aber Clara nicht, und er hatte sich niemals wirklich bemüht, sie zu überzeugen. Clara hatte keine Geduld mit kleinen Kindern, und Walter bezweifelte, daß es bei ihren eigenen Kindern anders wäre. Und schon mit sechsundzwanzig Jahren, als sie heiratete, hatte Clara scherzhaft protestiert, sie sei zu alt. Clara war sich sehr der Tatsache bewußt, daß sie zwei Monate älter war als Walter, und Walter mußte ihr immer wieder versichern, daß sie viel jünger aussähe als er. Jetzt war sie dreißig, und Walter wußte, die Frage nach Kindern würde nun nie wieder gestellt. Manchmal, wenn er mit einem zweiten Highball in der Hand auf irgend jemandes Rasen in Benedict stand, gab es Augenblicke, da Walter sich fragte, was er denn eigentlich hier täte unter all diesen liebenswürdigen, spießig wohlhabenden und im Grunde langweiligen Leuten … was er denn täte mit seinem Leben überhaupt. Ständig dachte er daran, wie er herauskäme aus Cross, Martinson und Buchman, und er plante gemeinsam mit Dick Jensen, seinem engsten Mitarbeiter im Büro, eine Veränderung. Dick wollte wie er eine eigene Praxis. Eines Abends, eine ganze Nacht hindurch, hatten er und Dick darüber gesprochen, ein kleines Anwaltsbüro in Manhattan zu eröffnen, das sich solcher Fälle annahm, auf die die meisten 21
Anwaltskanzleien keinen Blick verschwendeten. Die Honorarsätze wären niedrig, aber es würden sehr viele Honorare kommen. Sie hatten sich in Dicks mit Büchern vollgestopfter Bude Blackstone und Wigmore hervorgekramt und hatten über Blackstones beinahe mystischen Glauben an die Macht des Gesetzes, eine ideale Gesellschaftsordnung zu schaffen, gesprochen. Für Walter war das eine Rückkehr zu dem Enthusiasmus seiner Studententage gewesen, in denen das Gesetz ein sauberes Instrument war, das er zu gebrauchen lernte, in denen er sich insgeheim in seinem Herzen als ein junger Ritter fühlte, der vorstürmen wollte, um den Hilflosen beizustehen und die Gerechten zu stützen. Er und Dick hatten in jener Nacht beschlossen, zum Jahresanfang aus Cross, Martinson und Buchman auszuscheiden. Sie würden irgendwo mitten in Manhattan ein Büro mieten. Walter hatte mit Clara darüber gesprochen, und sie war zwar nicht gerade begeistert gewesen, aber sie hatte wenigstens nicht versucht, ihm den Mut zu nehmen. Geld war kein Problem, denn Clara würde offensichtlich mindestens fünftausend Dollar im Jahre verdienen. Das Haus war bezahlt: ein Hochzeitsgeschenk von Claras Mutter. Das war das einzige, worin Walter eine positive Antwort finden konnte auf die Frage, was er mit seinem Leben anfinge: das Anwaltsbüro, das er zusammen mit Dick eröffnen wollte. Er stellte sich das Büro vor, wie es florierte, wie es Ströme zufriedener Klienten entließ. Aber er zog auch die Möglichkeit in Betracht, daß das Büro seine Erwartungen enttäuschen könnte … wenn Dicks Enthusiasmus nun schwände? Walter wußte, vollendete Werke waren rar. Menschen machten Gesetze; steckten sich Ziele, und dann entsprachen sie ihnen nicht. Seine Ehe hatte nicht dem entsprochen, was er sich erhofft hatte; Clara hatte dem nicht entsprochen, und vielleicht war auch er nicht das gewesen, was sie erwartet hatte. Aber er hatte sich bemüht und bemühte sich noch. Zu den wenigen 22
Dingen, die er mit Sicherheit wußte, gehörte, daß er Clara liebte und daß es ihn glücklich machte, sie zufriedenzustellen. Er besaß Clara, und er hatte sie zufriedengestellt, indem er seine jetzige Stellung annahm und indem er hier unter all den liebenswürdigen, langweiligen Leuten lebte. Und wenn Clara nicht soviel Freude an ihrem Leben zu haben schien, wie sie eigentlich sollte, so wollte sie doch auch nicht irgendwo anders hingehen, um irgend etwas anderes zu tun als das, was sie tat. Walter hatte sie gefragt. Mit dreißig Jahren war Walter zu dem Schluß gekommen, daß Unzufriedenheit der Normalzustand sei. Er glaubte, daß das Leben für die meisten Menschen allmählich hinter einem Ideal nach dem anderen zurückbliebe, was, wenn man Glück hatte, weniger schmerzlich würde durch die Gegenwart eines Menschen, den man liebte. Aber er konnte den Gedanken nicht loswerden, daß Clara, wenn sie so weitermachte, all das in ihm ersticken könnte, was von seiner Hoffnung für sie noch übrig war. Vor sechs Monaten, im Frühling, hatten Clara und er ihr erstes Gespräch über eine Scheidung geführt; später hatten sie ihre Beziehungen dann recht und schlecht wieder geflickt.
23
3 Am Abend des achtzehnten September standen ungefähr fünfzehn Wagen aufgereiht am Bordstein der Marlborough Road, und noch ein paar waren auf dem Rasen geparkt. Clara mochte es gar nicht, wenn jemand sein Auto auf den Rasen stellte: eben erst war er einer stärkenden Behandlung mit Superphosphat, Düngekalk und über fünfzig Pfund Torf unterzogen worden, das alles hatte einschließlich der Arbeitszeit beinahe zweihundert Dollar gekostet. Clara sagte Walter, er solle die Leute bitten, ihre Wagen woanders hinzustellen. »Ich würde es ja selber machen, aber ich bin der Meinung, es ist Sache des Mannes, sie zu bitten.«, sagte Clara. »Wenn wir diese hier verjagen, werden später nur wieder andere dort stehen.«, erklärte ihr Walter. »Sie fahren ganz herauf, weil die Frauen mit ihren hohen Absätzen nicht so weit laufen möchten auf dieser Straße. Das mußt du verstehen.« »Ich verstehe nur eins: du hast Angst, sie zu bitten!« schnappte Clara zurück. Walter hoffte, sie würde niemanden auffordern, seinen Wagen wegzufahren. In Benedict stellte jeder Autos auf Rasenflächen. Alle Gäste schienen in Hochstimmung zu sein, sogar die Philpotts, die ältesten und konservativsten. Mr. Philpott trug einen Smoking mit weißem Jackett und Pumps, wohl aus Prinzip, vermutete Walter, denn Clara hatte zu verstehen gegeben, daß die Herren sich nicht formell zu kleiden brauchten, während die Damen es könnten, wenn sie wollten. Die Frauen wollten immer gern große Toilette, die Männer nie. Mrs. Philpott hatte Clara eine große Schachtel Pralinen 24
mitgebracht. Walter sah zu, wie sie sie überreichte mit ein paar schmeichelhaften Worten, die Claras Wangen erglühen ließen. Clara hatte vor ungefähr zehn Tagen den Oyster-Bay-Besitz an einen der Philpott-Kunden verkauft. Walter ging zu Jon Carr hinüber, der ganz allein vor dem Kamin stand. Auf Jons Gesicht zeigte sich bereits jener Ausdruck unzerstörbarer guter Laune, der stets nach seinem vierten oder fünften Glas erschien. Jon hatte ihm gesagt, er käme gerade von einer Cocktailparty in Manhattan und hätte noch nichts gegessen. »Wie wär’s mit einem Sandwich?« fragte Walter ihn. »Sie liegen haufenweise in der Küche.« »Keine Sandwiches«, sagte Jon fest. »Muß auf meine Taillenweite achten, und wenn ich schon zunehme, dann lieber durch deinen Scotch.« »Was macht’s Geschäft?« fragte Walter. Jon erzählte Walter von der neuen Nummer seiner Zeitschrift, die sich ausschließlich mit Glas und gläsernen Baumaterialien beschäftigte. Jon Carr war der Redakteur von Skylines, einer seit sechs Jahren erscheinenden Architekturzeitschrift, die er selbst ins Leben gerufen hatte und die inzwischen eine ebenso starke Stellung auf dem Markt besaß wie all die anderen Architekturzeitschriften, die von einem ganzen Team gemacht wurden. Für Walter war Jon ein in Amerika seltener Typ: wohlerzogen und gebildet, aber keineswegs zu vornehm, wie ein Ackergaul zu schuften, um zu erreichen, was er erreichen wollte. Jons Eltern hatten nicht die Mittel gehabt, ihm bei seiner Karriere zu helfen, und Jon hatte sogar während der Abschlußphase auf der Architektenschule nebenbei gearbeitet. Walter bewunderte Jon ganz offen, und ganz offen fühlte er sich geschmeichelt, daß Jon ihn mochte. Walter ordnete ihre Beziehung sogar in die Kategorie ›unwürdige Freundschaften‹ ein – von Jons Standpunkt aus. Jon fragte Walter, ob er nächsten Sonntag Zeit hätte, mit ihm 25
und Chad von Montauk-Point aus in einem Segelboot fischen zu gehen. »Wenn Clara auch mitkommen will, würden wir uns freuen.«, sagte Jon. »Chad hat eine neue Freundin, und ich dachte mir, Clara könnte mit ihr am Strand bleiben, während wir anderen fischen gehen. Sie heißt Millie. Sie ist ein aufgewecktes Mädchen, möglich, daß sie Clara gefällt. Clara ist gern am Strand, nicht wahr?« »Ich werde sie fragen, ob sie mitkommt.«, sagte Walter. »Ich selbst würde natürlich sehr gern kommen.« »Übrigens – wo ist Chad?« Walter lächelte ein wenig. »Leider ist Chad gegenwärtig persona non grata.« Jon machte eine kleine Bewegung mit der Hand und sagte: »Na schön, lassen wir das.« Walter nahm von dem Tablett, das Claudia herumreichte, einen frischen Highball und brachte ihn hinüber zu Mrs. Philpott. Sie protestierte, sie brauche keinen neuen, aber Walter bestand darauf. Während er am Kamin mit ihr plauderte, bremste er sanft mit behutsamem Fuß Jeffs Attacke auf das Bein einer Dame. Jeff trabte zur Tür, um einige Neuankömmlinge zu begrüßen. Parties stellten Höhepunkte im Leben Jeffs dar. Pausenlos durchstreifte er Wohnzimmer, Terrasse und Garten, von jedermann getätschelt und mit Cocktailhäppchen gefüttert. »Ihre Frau ist die großartigste Mitarbeiterin, die wir je hatten, Mr. Stackhouse.«, sagte Mrs. Philpott. »Ich glaube, es gibt überhaupt nichts, was sie nicht kaufen oder verkaufen könnte, wenn sie es sich in den Kopf gesetzt hat.« »Ich werde ihr erzählen, daß Sie das gesagt haben.« »Oh, ich glaube, sie weiß es auch so!« sagte Mrs. Philpott augenzwinkernd. Walter erwiderte ihr Lächeln und bemerkte, daß er mit ihren 26
blauen, in Runzeln gebetteten Äuglein einen Blick tiefsten Einverständnisses tauschte. »Lassen Sie sie nur nicht allzu schwer arbeiten.«, sagte er. »Aber das liegt ihr im Blut. Ich glaube kaum, daß wir daran irgend etwas ändern können.« Walter nickte lächelnd. Strahlend hatte Mrs. Philpott das gesagt, und von ihrem Standpunkt aus war es ja auch schön. Walter sah Clara in der Tür zur Diele stehen, und er ging zu ihr. »Es läuft gut, nicht wahr?« »Ja. Wo ist Joan?« »Joan hat angerufen, sie kann nicht kommen. Ihre Mutter ist krank, und sie bleibt zu Hause bei ihr.« Joan war Walters Sekretärin; ein intelligentes, attraktives Mädchen von vierundzwanzig Jahren, auf das Walter große Stücke hielt. Walter war froh, daß Clara niemals Eifersucht auf Joan gezeigt hatte. »Ihre Mutter muß schrecklich krank sein.«, bemerkte Clara. Clara liebte ihre eigene Mutter nicht. Wie Walter erkannt hatte, nahm sie es anderen Menschen nie ab, daß sie ihre Mütter liebten. »Du siehst blendend aus heute abend, Clara, einfach blendend!« Clara schenkte ihm einen Blick und die Andeutung eines Lächelns. Sie ließ die Augen noch immer über ihre Gäste schweifen. »Und dieser andere da – wie hieß er doch gleich – Peter? Er ist nicht da.« »Peter Slotnikoff! Du hast recht.« Walter lächelte. »Allerhand, daß dir das auffällt, wo du ihn noch nie gesehen hast.« »Aber ich kenne alle, die hier sind – also.« Auf Walters Uhr war es siebzehn Minuten nach zehn. »Vielleicht taucht er noch auf. Er könnte den Weg verfehlt 27
haben.« »Wollte er mit dem Wagen kommen?« »Nein, er hat keinen. Ich nehme an, er fährt mit dem Zug.« Walter wollte Peter die Couch in seinem Arbeitszimmer für die Nacht anbieten, falls nicht irgend jemand ihn mitnehmen könnte zurück nach New York, aber er entschloß sich, das Clara gegenüber jetzt noch nicht zu erwähnen, nicht bevor es nötig würde. »Übrigens, Schatz, Jon hat mich eingeladen, nächsten Sonntag mit ihm fischen zu gehen. Um Montauk herum. Du sollst auch mitkommen und am Strand bleiben, wenn du möchtest, weil eine Freundin von … von Jon auch dabeisein wird.« »Eine Freundin von Jon?« »Nun – eine Bekannte.«, korrigierte Walter, denn es war allgemein bekannt, daß Jon seit seiner Scheidung Frauen gegenüber sehr zurückhaltend war. Auf Claras Gesichtchen spiegelte sich leichte Verwirrung, so als wäre sie für einen Augenblick unschlüssig, bis sie den Gedanken von allen Seiten, mit seinen Vor- und Nachteilen für sie selber erwogen hatte. »Was ist das für ein Mädchen?« »Ich weiß nicht einmal, wie sie heißt. Jon sagt aber, sie sei nett.« »Ich weiß nicht recht, ob ich einen ganzen Tag mit jemandem verbringen möchte, der mir vielleicht schrecklich auf die Nerven geht.«, sagte Clara. »Jedenfalls, Jon hat gesagt, sie …« »Ich glaube, da kommt dein Freund.« Peter Slotnikoff kam zur Tür herein. Walter ging ihm entgegen und bemühte sich, das freundliche, entspannte Gesicht des guten Gastgebers aufzusetzen. 28
Peter wirkte schüchtern und verwirrt und froh, daß Walter da war. Er war sechsundzwanzig, recht ernst und etwas untersetzt. Seine Eltern waren weißrussische Flüchtlinge gewesen, und Peter hatte kein Wort Englisch gekonnt, als er mit fünfzehn Jahren nach Amerika gekommen war, aber an der juristischen Fakultät der Universität Michigan hatte er glänzend bestanden, und Walters Firma schätzte sich glücklich, ihn als Nachwuchskraft zu haben. »Ich habe eine Bekannte mitgebracht.«, sagte Peter, nachdem Walter ihn mit einigen Leuten, die in der Nähe der Tür standen, bekannt gemacht hatte. Peter wies auf ein Mädchen, das Walter noch gar nicht bemerkt hatte. »Ellie Briess. Walter Stackhouse. Miss Elspeth Briess.«, fügte Peter etwas förmlicher hinzu. Sie wechselten einige Begrüßungsworte, dann geleitete Walter sie ins Wohnzimmer, um sie bekannt zu machen und ihnen etwas zu trinken zu besorgen. Walter hätte nicht gedacht, daß Peter überhaupt ein Mädchen hatte. Und dies Mädchen war sogar ziemlich hübsch. Walter suchte auf Claudias Tablett den stärksten Highball aus und reichte ihn Peter. »Wenn du niemand findest, mit dem du dich unterhalten möchtest, Peter, draußen auf der Terrasse steht das Fernsehgerät.«, sagte Walter zu ihm. Walter hatte den Apparat auf die Terrasse gestellt für diejenigen, die das Fußballspiel sehen wollten, das an diesem Abend übertragen wurde. Walter trat an die rollende Bar und mixte Clara einen Drink aus italienischem Wermut und Soda, ihr Lieblingsgetränk, und brachte ihn ihr. Sie unterhielt sich am Kamin mit Betty Ireton. »Ich wünschte, mein Mann sorgte auch so gut für mich.«, sagte Betty. »Ich werde Ihnen etwas holen«, erbot sich Walter. »Oh, das wollte ich damit nicht sagen. Ich habe noch reichlich.« 29
Ihr hübsches, schmales Gesicht lächelte ihn über den Rand ihrer Brille hinweg an. Betty Ireton flirtete gern, auf durch und durch harmlose Art. Oft sagte sie Walter direkt vor Claras Nase, er sei ihrer Meinung nach der bestaussehende Mann von Benedict. Und Clara, die wußte, daß es harmlos war, machte sich nicht das geringste daraus. »Ich wollte dich gern mitnehmen, damit du Peter kennenlernst.«, sagte Walter zu Clara. »Und ich werde einmal nach meinem Mann sehen.«, sagte Betty. »Er ist im Garten verschwunden.« »Was ist mit Sonntag?« fragte Walter Clara. »Ich möchte Jon noch heute abend Bescheid geben.« »Mußt du dir den einzigen Tag, den wir zusammen verbringen können, dafür aussuchen, wegzufahren und zu fischen? Für mich ist das nicht gerade sehr schön.« »Sei lieb, Clara. Seit Monaten war ich nicht mehr fischen.« »Und zweifellos kommt auch Chad, es wird getrunken, und hinterher wirst du stundenlang mit einer Fahne herumlaufen.« »Ich glaube nicht, daß das erwiesen ist.« »Aber ich. Ich kenne das nur zu gut.« Clara schritt davon. Walter biß die Zähne zusammen. Warum, zum Teufel, ging er denn nicht einfach? Die Antwort lag auf der Hand: die Hölle, die sie anschließend entfesseln würde, war das einfach nicht wert. Mrs. Philpott beobachtete ihm vom Sofa her. Sofort glättete Walter seine Züge. Er fragte sich, ob Mrs. Philpott wohl verstand. Ihr Gesicht sah sehr alt und weise aus. Praktisch jeder auf dieser Party verstand, jeder, der einmal einen Abend mit Clara und ihm verbracht hatte. 30
»Walter, alter Junge, meinst du, ich könnte noch einmal nachgeschenkt bekommen?« Walter lächelte in das vertraute Gesicht Dick Jensens hinein, am liebsten hätte er ihn in den Arm genommen. »Aber gewiß bekommst du das, Bruderherz. Ich möchte auch was. Laß uns in die Küche gehen.« Claudia war mit dem kalten Braten beschäftigt. Walter sagte ihr, es sei noch zu früh zum Servieren, sie solle doch lieber sehen, wer noch etwas zu trinken brauche. »Mrs. Stackhouse hat gesagt, ich sollte das Essen jetzt bringen, Mr. Stackhouse«, sagte Claudia mit neutraler Resignation. »Da hast du es«, sagte Dick. »Vom hohen Gericht abgelehnt.« Walter schwieg. Sogar Dick wußte, Clara wollte verhindern, daß heute abend jemand betrunken wurde, und ließ das Büfett sehr früh servieren. Walter machte Dick einen Mordsdrink und sich selber einen großzügigen. »Wo ist Polly?« fragte Walter. »Draußen auf der Terrasse, glaube ich.« Walter machte auch für Polly ein Glas zurecht, für den Fall, daß sie keins hatte, und ging auf die Terrasse hinaus. Polly stand ans Terrassengeländer gelehnt und schaute ins Fernsehgerät, aber sie lächelte und nickte zu Walter hinüber, als sie ihn sah. Polly war nicht schön. Ihre Hüften waren ausladend, und sie kämmte sich das Haar zu einem unschönen braunen Knoten im Nacken, aber sie war das netteste Wesen auf Gottes Erdboden. Ihr einfach nur nahe zu sein für ein paar Augenblicke stillte in Walter eine tiefe Sehnsucht, ähnlich der Sehnsucht, nackt in der Sonne zu liegen, wie er sie manchmal empfand. »Wie ist es denn so, wenn man mit einem richtigen Grundstücksmagnaten verheiratet ist?« fragte Polly mit ihrem breiten Grinsen, das alle Zähne sehen ließ. 31
»Toll! Nun habe ich nicht mehr die geringsten Geldsorgen. Ich denke daran, mich bald zur Ruhe zu setzen.« Walter begann jetzt seine Drinks zu spüren. Dick erschien und ergriff seine Frau am Arm. »Entschuldige, ich muß mir dies hier mal ausleihen. Ich möchte sie gern mit Peter bekannt machen.« »Warum kommt Peter denn nicht hier heraus?« fragte Walter. »Er steckt dort drinnen tief in irgendeiner Diskussion.« Dick zog Polly mit sich. Walter ergriff das übrige Glas, das Polly nicht gewollt hatte, und sah sich um, wem er es anbieten könnte. Sein Blick fiel auf ein Mädchen, das ihn von der fernsten Ecke der Terrasse aus anschaute. Es war Peters Mädchen, ganz allein. Walter ging zu ihr hinüber. »Sie haben nichts zu trinken«, sagte er. Er konnte sich nicht mehr entsinnen, wie sie hieß. »Ich hatte schon, vielen Dank. Ich bin nur herausgekommen, um die gute Landluft bei Ihnen ein bißchen zu genießen.« »Nun, Sie sollten doch noch ein Glas trinken!« Er reichte es ihr, und sie nahm es. »Sind Sie aus New York?« »Dort wohne ich. Im Augenblick bin ich auf Suche nach einer Stellung dort – oder anderswo.« Sie sah voll zu ihm auf, mit einem warmen, freundlichen Blick. »Ich bin Musikerin. Ich unterrichte Musik.« »Was spielen Sie?« »Geige. Klavier auch, aber für Geige interessiere ich mich mehr. Ich bringe Kindern Musik bei. Musikliebe.« Kindern Musik! Die Vorstellung, Kinder Musik zu lehren, schien Walter plötzlich zauberhaft. Am liebsten hätte er gesagt: Wie schade, daß wir keine Kinder haben, denen Sie Musikunterricht geben können. 32
»Ich suche eine Stelle an einer Volksschule, aber es ist sehr schwer ohne einen Haufen von Titeln und Diplomen. Ich wollte es jetzt einmal bei ein paar Privatschulen versuchen.« »Hoffentlich haben Sie Glück«, sagte Walter. Das Mädchen schien etwa so alt wie Peter zu sein. Es war so eine Einfachheit um sie, eine bäuerliche Robustheit, die nach Walters Empfinden genau zu Peter paßte. Sie war sonnengebräunt, und ein schwacher Glanz zog sich über ihren Nasenrücken. Wenn sie lächelte, waren ihre Zähne sehr weiß. »Kennen Sie Peter schon lange?« »Ein paar Monate erst. Gerade seit er bei Ihnen zu arbeiten anfing. Es gefällt ihm dort sehr.« »Wir mögen ihn auch sehr gern.« »Er hat mich eines Tages im Autobus angesprochen – weil wir beide Geigenkästen trugen. Peter spielt auch Geige, wissen Sie – ein bißchen.« »Das wußte ich nicht«, sagte Walter. »Er ist ein netter Junge.« »Oh, er ist so ein netter Junge«, sagte sie mit solcher Überzeugung, daß Walter das Gefühl hatte, seine eigene Bemerkung hätte im Vergleich dazu oberflächlich geklungen. »Ich hätte sehr gern etwas Angostura in diesem Getränk – wenn Sie haben.« »Selbstverständlich! Geben Sie mir Ihr Glas.« Walter ging ins Wohnzimmer zur rollenden Bar, ließ sorgsam sechs Tropfen hineinfallen und rührte mit einem Quirl um. Als er wieder auf die Terrasse trat, sprach Jon mit dem Mädchen. Das Mädchen warf den Kopf in den Nacken und lachte über irgendeine Bemerkung Jons. »Walter!« sagte Jon. »Wie ist es nun mit Sonntag?« »Ich weiß nicht genau, ob ich kann, Jon. Es sieht so aus, als müßten wir am Sonntag …« 33
»Ich verstehe, ich verstehe«, murmelte Jon. »Es tut mir leid. Wenn ich …« »Ich verstehe, Walter«, sagte Jon ungeduldig. Walter blickte auf das Mädchen, er fühlte sich verlegen und ein bißchen elend. Wäre das Mädchen nicht dabeigewesen, hätte Jon gesagt: »Ach, sag Clara, sie soll sich zum Teufel scheren!« Ein paarmal hatte Jon das schon gesagt in letzter Zeit; allerdings war Walter auch bei diesen Gelegenheiten dann nicht mitgegangen. Jon würde sich kaum die Mühe machen, es noch sehr oft zu sagen, dachte Walter. »Nun hör mir mal einen Augenblick zu«, sagte Jon im Autoritätston des Chefredakteurs, dann hielt er inne, stieß den Atem aus, als wäre es ja doch hoffnungslos. Taktvoll hatte sich das Mädchen entfernt und stieg die Stufen zum Garten hinunter. »Ich weiß, was du sagen willst«, sagte Walter, »aber ich muß damit leben.« Jon lächelte sein ungezwungenes Lächeln. Er sagte lieber nichts mehr dazu. »Übrigens, Chad bat mich, dir zu sagen, daß er dich bei der Gesellschaft haben möchte, die er nächsten Freitag gibt. Abendessen bei ihm, dann gehen wir ins Theater. Sein Freund Richard Bell hat am Freitag Premiere mit seinem neuen Stück. Wir werden etwa sechs sein. Trenne dich mal von Clara. Es wird dir gut tun. Chad weiß, daß er es mit Clara verdorben hat. Er möchte dich nicht einmal anrufen hier draußen.« »Gut, werde ich machen.« Wenn Clara Chad ausschloß, dachte er, würde Chad eben Clara ausschließen. »Du solltest es wirklich tun.« Jon winkte ihm mit der Hand und ging in den Garten hinunter. Niemand betrank sich an diesem Abend, niemand außer 34
Mrs. Philpott. Sie verlor das Gleichgewicht und setzte sich heftig vor der Musiktruhe auf den Boden, aber sie trug es mit Fröhlichkeit und blieb dort sitzen, lauschte der Musik, die Vic Rogers für eine kleine, aufmerksame Gruppe spielte. Dort saß sie auch noch um drei Uhr morgens, als bis auf sechs Gäste alle nach Hause gegangen waren. Clara geriet in Harnisch. Clara war der Meinung, um drei Uhr morgens sei es für jede Party Zeit, Schluß zu machen, und ganz eindeutig waren es die Philpotts, die den Gang der Dinge aufhielten, aber sie konnte es sich kaum erlauben, den Philpotts einen Wink mit dem Zaunpfahl zu geben. »Laß ihr ihren Spaß«, sagte Walter. »Ich glaube, sie ist betrunken!« flüsterte Clara entsetzt. »Ich bekomme sie nicht vom Fußboden hoch. Dreimal habe ich sie schon gebeten.« Plötzlich marschierte Clara hinüber zu Mrs. Philpott, und voll ungläubigen Staunens sah Walter zu, wie Clara ihre Hände unter Mrs. Philpotts Achseln schob und sie leibhaftig in die Höhe hob. Bill Ireton zog rasch einen Sessel heran, um sie aufzufangen. Walter erhaschte einen Blick, den Mrs. Philpott Clara zuwarf, einen Blick voller sprachloser Verblüffung und Empörung. Mrs. Philpott schüttelte sich, als wollte sie sich von Claras Griff befreien. »Na so was! Ich habe bis jetzt überhaupt nicht gewußt, daß es verboten ist, auf dem Fußboden zu sitzen!« Eine furchtbare Stille breitete sich im Zimmer aus. Bill Ireton wirkte plötzlich stocknüchtern. Automatisch trat Walter näher, um die Spannung lösen zu helfen, und fing an, Mrs. Philpott zu erzählen, wie oft er selber schon auf dem Fußboden gesessen habe. Bill Ireton brach in Lachen aus. Seine Frau auch. Dann brüllten alle vor Lachen, sogar Mrs. Philpott, alle außer Clara, die nur nervös lächelte. Walter legte seinen Arm um Clara und 35
drückte sie zärtlich. Er wußte, ihr Trieb, Mrs. Philpott vom Fußboden aufzuheben, war absolut unwiderstehlich gewesen. Ein paar Minuten später hatten alle sich verabschiedet. Im Schlafzimmer zeigte sich das milchige Grau der Dämmerung. Jeff lag in der Mulde zwischen den Kissen des aufgedeckten Bettes, seinem Lieblingsplatz. »Komm, Bursche«, sagte Walter und schnippte mit den Fingern, um ihn zu wecken; der Hund erhob sich verschlafen und sprang vom Bett herab. Walter klopfte auf das Kissen in Jeffs Schlafkorb, der in einer Zimmerecke stand, und Jeff kroch hinein. »Er hat eine schwere Nacht gehabt«, sagte Walter lächelnd. »Ich finde, er verträgt es sehr viel besser als du«, sagte Clara. »Du riechst nach Schnaps, und dein Gesicht ist knallrot.« »Ich werde nicht mehr riechen, wenn ich mir die Zähne geputzt habe.« Walter ging ins Badezimmer. »Wer ist das Mädchen, das Peter Slotnikoff mitgebracht hat?« »Weiß nicht«, übertönte er die Brause. »Ellie sowieso, glaube ich.« »Ellie Briess. Ich wollte nur wissen, wer sie ist.« Walter war zu müde, um hinüberzuschreien, daß sie Musik lehre, und er glaubte auch nicht, daß Clara wirklich Wert darauf legte, es zu wissen. Ellie hatte anscheinend einen Wagen, denn Peter und sie waren zusammen nach New York zurückgefahren. Walter ging ins Bett und legte behutsam seine Arme um Clara, er küßte ihre Wange, ihr Ohr, vorsichtig, um sogar den Zahnpastageruch von ihr fernzuhalten. »Walter, ich bin schrecklich müde.« 36
»Ich auch«, sagte er und kuschelte sich neben sie auf das Kopfkissen, dabei mied er den noch warmen Fleck, wo Jeff gelegen hatte. Er ließ seine Hand um Claras Taille gleiten. Sie fühlte sich glatt und warm an unter dem seidigen Nachthemd. Er liebte es, wie ihre Taille sich hob und senkte, wenn sie atmete. Er zog sie zu sich heran. Sie entwand sich ihm. »Walter –« »Gib mir bloß einen Gutenachtkuß, Kits.« Er hielt sie fest, obwohl sie sich wand und krümmte und trotz des Ausdrucks von Abscheu, den er im grauen Dämmerlicht auf ihrem Gesicht erkennen konnte. Sie stieß ihn von sich und setzte sich im Bett auf. »Ich glaube, du bist ein Sexungeheuer!« sagte sie empört. Auch Walter setzte sich auf. »Zur Zeit bin ich einem schrumpeligen Veilchen viel näher! Mit mir ist überhaupt nichts weiter los, als daß ich dich liebe!« »Du widerst mich an!« sagte sie und warf sich wieder auf das Kissen, den Rücken ihm zugewandt. Walter kochte, am liebsten wäre er aus dem Bett gesprungen und hinausgelaufen, ins Freie oder hinunter ins Wohnzimmer, um dort zu schlafen, aber er wußte, im Wohnzimmer würde er schlecht schlafen, wenn überhaupt, und morgen würde er sich um so schlechter fühlen. Leg dich hin und laß es gut sein, redete er sich selber zu. Er sank auf sein Kissen zurück. Dann hörte er, wie Clara ein kleines Geräusch mit den Lippen machte, um Jeff zu locken, er hörte das Tap-tap der schlaftrunkenen Schritte Jeffs über den Fußboden und spürte das Vibrieren des Bettes, als Jeff hinaufsprang an Claras Seite. Walter schleuderte die Bettdecke von sich und war mit einem Satz aus dem Bett. »Ach, Walter, sei nicht albern«, sagte Clara. »Es ist alles in bester Ordnung«, sagte er mit grimmiger 37
Ruhe. Er nahm seinen seidenen Morgenrock aus dem Schrank, hängte ihn wieder hin und tastete an den hinteren Haken nach seinem Flanellmantel. »Nur habe ich noch nie gern mit einem Hund im gleichen Bett geschlafen.« »Wie albern.« Walter ging hinunter. Das Haus war grau wie ein Traum. Er setzte sich auf das Sofa. Clara hatte die Aschenbecher und leeren Gläser weggeräumt, und alles war wieder an seinem richtigen Platz. Walter starrte die große italienische Vase voller Gladiolen auf dem Fensterbrett an. Die Vase und ein goldenes Armkettchen hatte er Clara zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt. Das Licht des anbrechenden Tages fiel durch das grüne Glas der Vase und enthüllte das anmutige Gewirr der Stiele. Es war wunderschön wie ein abstraktes Gemälde. Ach, herrliches Leben!
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4 Am nächsten Tag fühlte Walter sich müde und zerschlagen. Er hatte leichte Kopfschmerzen, allerdings hätte er nicht sagen können, ob sie vom Mangel an Schlaf herrührten oder von Claras Geschimpfe. Sie hatte ihn schlafend auf dem Fußboden des Wohnzimmers gefunden und hatte ihn beschuldigt, so betrunken gewesen zu sein, daß er es nicht einmal gemerkt hätte, als er hinunterfiel. An diesem Vormittag unternahm Walter einen langen Spaziergang durch den Wald, der nicht weit vom Hause begann, dort, wo die Marlborough Road in unbebautem Gelände verlief. Dann kam er wieder nach Hause und versuchte erfolglos ein bißchen zu schlafen. Clara hatte Jeff gebadet und bürstete ihn nun draußen in der Sonne auf der oberen Terrasse. Walter ging vom Schlafzimmer über die Diele ins gegenüberliegende Arbeitszimmer. Der Raum lag an der Nordseite des Hauses, und im Sommer wurde er von den Bäumen, die dicht vor dem Fenster standen, vollends verdunkelt. Er hatte zwei Bücherwände, einen Schreibtisch und war mit einem abgetretenen Orientteppich ausgelegt, der schon in Walters Elternhaus in Bethlehem, im Staate Pennsylvania, in seinem Zimmer gelegen hatte. Clara wollte den Teppich wegtun, weil er ein Loch hatte. Aber das gehörte zu den wenigen Dingen, bei denen Walter fest blieb: das Arbeitszimmer war sein Zimmer, und er würde den Teppich behalten. Walter saß an seinem Schreibtisch und las noch einmal den Brief, der vergangene Woche von seinem Bruder Cliff aus Bethlehem gekommen war. Der Brief bestand aus mehreren Blättern eines billigen kleinen Schreibblocks, und er erzählte von den alltäglichen Begebenheiten im Umkreis der Farm, die Cliff für ihren Vater leitete: vom Ansteigen der Eierpreise und 39
den neuesten Erfolgszahlen der Preishennen. Es wäre ein langweiliger Brief gewesen, wenn nicht Cliffs trockener Humor aus fast jeder Zeile gesprochen hätte. Cliff hatte einen Ausschnitt aus einer Bethlehemer Zeitung beigelegt – Walter hatte ihn noch nicht gelesen – mit der Anmerkung: ›Das probiere mal bei Clara aus. Schau, ob es ein Lachen erntet.‹ Es war eine Rubrik mit dem Titel Liebe Mrs. Plainfield. Liebe Mrs. Plainfield! Meine Frau hat eine Art, mich zur Verzweiflung zu treiben wie niemand sonst auf dieser Welt. Sie tut eigentlich nichts, aber sie wird immer so fabelhaft sachverständig, daß man es mit ihr nicht aushalten kann. Verfolgt sie das Geschehen im Fußball, nun, dann kennt sie sämtliche Punktergebnisse im ganzen Land, alle Siege der einzelnen Mannschaften besser als jeder andere, so daß es keinen Spaß macht, mit ihr über Fußball zu reden. Gegenwärtig ist es der Topfblumentick. Wochen hat sie darangegeben – von den Dollars ganz zu schweigen –, ihre Sammlung von Philodendron dubia, Philodendron monstera, ja sogar eines armseligen kleinen Philodendron hastatum zusammenzutragen – für dich und mich ein ganz gewöhnliches Philodendron. Auch eine zweifellos sehr hübsche immergrüne Pflanze befindet sich in ihrer Sammlung, aber wehe, ich sage »Immergrün« – meine Frau geht in die Luft und donnert mich an: »Ficus pandurata!« Mit dem Gummibaum ist es das gleiche. Für sie ist es kein Gummibaum, sondern es ist »Ficus elastica«. Ich habe nichts gegen Pflanzen oder gegen Leute, die sie pflanzen; aber ich habe etwas gegen Leute, die angesichts einer Batatenranke die Nase rümpfen, weil es keine Deacaena Warneckii ist – und genauso ist meine Frau. 40
Mr. Aspidistra Walter mußte lächeln. Er bezweifelte, daß Clara darüber lachen würde. Er wußte, was Cliff veranlaßt hatte, das zu schicken: der Besuch damals, den Clara und er seinem Vater abgestattet hatten, und der Rundgang, den Cliff mit ihnen durch die Wirtschaftsgebäude gemacht hatte. Dabei hatte Cliff auf einen Traktor gewiesen und ihn als ›Chad‹ vorgestellt, was eine Abkürzung des Fabriknamens war. Clara hatte Cliff in vollem Ernst gefragt, was er denn mit ›Chad‹ meine, und sie hatte sich den Kühler des Traktors gründlich besehen und verkündet, es laute ›Chadwick‹. Von da an hatte Cliff, ohne eine Miene zu verziehen, jede Maschine, die er ihnen zeigte, mit einem bis zur Unkenntlichkeit verkürzten Namen belegt. Clara hatte anscheinend nicht erfaßt, worum es ging. Sie hatte nur verstört dreingeschaut. Nun war Clara der Meinung, Cliff sei nicht ganz bei Troste, und oft versuchte sie, auch Walter davon zu überzeugen und ihm klarzumachen, daß er doch irgendwie eingreifen müsse. Walter war Cliff dankbar, daß er auf der Farm blieb und für ihren Vater sorgte. Es war der Wunsch des Vaters gewesen, daß Walter ein Episkopalprediger würde so wie er, und Walter hatte ihm die Enttäuschung bereitet, sich der Jurisprudenz zu verschreiben. Cliff war zwei Jahre jünger als Walter und nicht so ernsthaft veranlagt, und der Vater hatte nie den Versuch gemacht, Cliff auch nur zum Eintritt in seine Kirche zu veranlassen. Jeder hatte damit gerechnet, daß Cliff nach seinem Abgang vom College auf und davon gehen würde, aber er hatte sich entschlossen, zurückzukehren und auf der Farm zu arbeiten. Walter schubste den Brief auf dem Schreibtisch beiseite und schlug die große Kladde auf, die er für Notizen zu seinen Essays benutzte. Die Kladde war in elf Abschnitte eingeteilt, 41
jeder befaßte sich mit einer Gruppe von zwei oder mehreren Freunden. Einige Seiten trugen datierte Notizen in Walters kleiner Handschrift. Andere Seiten waren mit Zettelchen beklebt; hier und da hielt er nämlich in einer freien Minute einen Gedanken fest, manchmal im Büro auf der Schreibmaschine. Wieder andere Seiten enthielten Ansätze zu Entwürfen. Walter blätterte in der Kladde, suchte, was er über Dick Jensen und Willie Cross begonnen hatte. In zwei nebeneinanderliegenden Spalten waren Dicks Charakterzüge und ihre Ergänzungen im Charakter von Willie Cross aufgezählt: Dick idealistisch und ehrgeizig unter einem sanften, umgänglichen Äußeren. Bewundert
Cross habgierig und prahlerisch, verdankt seine Erfolge hauptsächlich dem Bluff.
Walter fiel ein, daß er noch etwas über die beiden in sein Notizheftchen geschrieben hatte, und er ging hinüber ins Schlafzimmer, um es zu holen. Er wühlte in den Taschen seines Jacketts nach weiteren Zettelchen, fand ein Stück Papier, das er aus einer Zeitung gerissen hatte, und einen zusammengefalteten Briefumschlag, auf den er irgend etwas gekritzelt hatte. Er nahm beides mit hinüber in sein Arbeitszimmer. Die Notiz über Dick lautete: Gemeinsames Mittagessen D.-C.; D. heftig verstimmt über C.s Vorschlag, nebenberuflich für andere Anwaltsfirma zu arbeiten. Eine vielversprechende kleine Notiz. Cross war auch Teilhaber einer anderen Anwaltsfirma, Walter hatte vergessen, wie sie genau hieß. Dick hatte mit Walter ausführlich über dieses Angebot gesprochen. Es war verlockend. Walter war 42
durchaus nicht sicher, daß Dick ihm widerstehen würde. Es klopfte leise an der Tür. »Kommen Sie herein, Claudia«, sagte er. Claudia trat mit einem Tablett ins Zimmer. Sie brachte ihm ein Sandwich mit Geflügelsalat und eine Flasche Bier. »Genau das, was ich brauche«, sagte Walter. Er öffnete die Bierflasche. »Ich dachte mir, Sie würden vielleicht ein bißchen Hunger kriegen, Mr. Stackhouse. Mrs. Stackhouse hat gesagt, sie hätte schon gegessen. Soll ich nicht diese Vorhänge aufziehen? Draußen ist so herrliche Sonne heute.« »Danke schön. Ich habe es ganz vergessen«, sagte Walter. »Mußten Sie denn heute kommen, Claudia? Heute brauchen wir doch wohl nicht zu kochen, wo all die Reste von der Party noch da sind.« »Mrs. Stackhouse hat mir nichts davon gesagt, daß ich nicht kommen sollte.« Walter betrachtete ihre große, hagere Gestalt, während sie die Vorhänge aufzog und seitlich befestigte. Claudia war eine Rarität; eine Hausangestellte, die Spaß an ihrer Arbeit hatte und sie infolgedessen mit absoluter Perfektion tat. Eine Menge Leute in Benedict hatten schon versucht, Claudia mehr zu bieten und sie wegzukaufen, aber Claudia hielt ihnen die Treue, trotz des strengen Regiments, das Clara in allen Dingen der Haushaltsführung ausübte. Claudia wohnte in Huntington und kam per Autobus jeden Morgen Schlag sieben Uhr, um elf ging sie in Benedict Kinder beaufsichtigen, kam um sechs Uhr abends zurück und blieb dann bis neun. Sie konnte nicht zu ihnen ziehen, weil sie für ihr Enkelkind zu sorgen hatte, für Dean, der zu Hause in Huntington bei ihr lebte. »Es tut mir leid, daß wir Ihnen den Sonntag verdorben haben«, sagte Walter. 43
»Ach wo, Mr. Stackhouse, das macht mir nichts aus!« Claudia stand neben seinem Schreibtisch und sah zu, wie er das Sandwich verzehrte. »Ist sonst noch etwas, Mr. Stackhouse?« Walter stand auf und griff in die Tasche. »Ja. Ich möchte gern, daß Sie das hier nehmen – und irgendwas für Dean kaufen.« Er gab ihr eine Zehndollarnote. »Zehn Dollar, Mr. Stackhouse! Was kann er schon brauchen für zehn Dollar?« Aber Claudia strahlte vor Freude über das Geschenk. »Na, es wird Ihnen schon etwas einfallen«, sagte Walter. »Da bedanke ich mich aber recht, recht herzlich, Mr. Stackhouse. Das ist aber wirklich nett von Ihnen«, sagte sie und verließ das Zimmer. Walter trank langsam sein Bier und faltete den Zeitungsausschnitt auseinander. Es war die Meldung, die er in Waldo Point herausgerissen hatte. LEICHE EINER GEFUNDEN
FRAU
BEI
TARRYTOWN,
N. Y.
Tarrytown, 14. Aug. – Die Leiche einer Frau, die als Mrs. Helen P. Kimmel, Newark, N. Y. 39 Jahre alt, identifiziert wurde, ist etwa eineinhalb Kilometer südlich Tarrytowns in einem Waldstück gefunden worden, wie der Dritte Polizeibezirk heute bekanntgab. Sie starb durch Erwürgen und durch Dutzende von heftigen Stichen und Hieben in Gesicht und Körper. Die Brieftasche der Frau wurde wenige Meter von der Leiche entfernt gefunden, ihr Inhalt schien unberührt. Die Frau war mit dem Autobus von Newark nach Albany unterwegs gewesen, um ihre Schwester, Mrs. Rose Gaines, zu besuchen. Der Fahrer des Busses, John MacDonough von den Cardinal 44
Bus Lines, sagte aus, er habe gestern abend nach einer fünfzehnminütigen Fahrtunterbrechung bei einem Café an der Straße um 9.55 Uhr bemerkt, daß Mrs. Kimmel fehlte. Ihr Koffer habe sich noch im Bus befunden. Es wird angenommen, daß sie während eines kurzen Spaziergangs entlang der Autostraße umgebracht wurde. Keiner der Fahrgäste, die verhört worden sind, gab an, einen Schrei gehört zu haben. Der Ehemann der Ermordeten, Melchior J. Kimmel, 40 Jahre alt, Buchhändler in Newark, identifizierte heute nachmittag in Tarrytown die Leiche. Die Polizei hat die Ermittlungen aufgenommen. Wertlos für die Essays, dachte Walter, denn der Mörder war wahrscheinlich ein Verrückter. Seltsam war es allerdings, daß niemand etwas gehört oder gesehen hatte, es sei denn, sie wäre sehr weit vom Bus entfernt gewesen. Walter überlegte: konnte nicht irgend jemand, den sie gut kannte, sich dort mit ihr getroffen, sie in aller Ruhe unter dem Vorwand, mit ihr reden zu wollen, weggelockt und sie dann umgebracht haben? Er zögerte, dann beugte er sich hinüber zum Papierkorb und ließ den Ausschnitt fallen, er sah ihn niederflattern und neben dem Papierkorb auf den Teppich fallen. Ich werde ihn nachher aufheben, dachte er. Er ließ seinen Kopf auf die verschränkten Arme sinken. Plötzlich war ihm, als könne er schlafen.
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5 Am Dienstag lag Walter mit Grippe im Bett. Clara ließ sich nicht davon abbringen, den Arzt zu rufen, um feststellen zu lassen, was er hatte, obwohl Walter wußte, er hatte Grippe. Irgend jemand auf der Party hatte etwas von mehreren Grippefällen in Benedict gesagt. Also Dr. Pietrich kam, erklärte, es sei Grippe, und verordnete Walter Bettruhe, Pillen und Penicillintabletten. Clara blieb für ein paar Minuten bei Walter und baute eilig all das, was er vielleicht brauchte, um ihn herum auf: Zigaretten und Streichhölzer, Bücher, ein Glas Wasser und Papiertaschentücher. »Danke, Liebling, vielen Dank«, sagte Walter bei jedem Handgriff, den sie für ihn tat. Walter spürte, daß er ihr zur Last fiel, daß sie widerwillig eine Pflicht erfüllte, wenn sie sich bemühte, es ihm bequem zu machen. Jedesmal, wenn er krank wurde, so selten das auch passierte, fühlte er sich ihr gegenüber so befangen, als wäre sie eine Fremde. Er war froh, als sie schließlich zur Arbeit ging. Er wußte, den ganzen Tag lang würde sie nicht einmal anrufen, ja, wahrscheinlich würde sie sich heute abend unten hinsetzen und die Abendzeitung lesen, bevor sie heraufkäme und nach ihm sähe. An diesem Abend konnte er nicht einmal die Brühe, die Claudia ihm kochte, zu sich nehmen. Seine Luftwege waren schmerzhaft entzündet, und Rauchen war ausgeschlossen. Die Pillen versetzten ihn in dämmrigen Halbschlaf, und wenn er zwischendurch wach war, senkte sich tiefe Niedergeschlagenheit auf sein Gemüt wie eine schwere schwarze Wolke. Er fragte sich, wie es denn so weit mit ihm hatte kommen können, daß er jetzt hier lag und darauf wartete, daß eine Frau, die er zu lieben glaubte, heimkäme, eine Frau, die nicht einmal eine Hand auf seine heiße Stirn legen würde. 46
Er fragte sich, warum er Dick nicht etwas mehr gedrängt hatte, schon im Herbst aus der Firma auszuscheiden und nicht erst zum Jahresende. Nachts während der Party hatte er mit Dick gesprochen; es war kein günstiger Zeitpunkt gewesen, aber Dick scheute sich, im Büro darüber zu reden, er hatte Angst, als wenn das Büro mit verborgenen, von Cross installierten Mikrophonen gespickt wäre. Walter fragte sich, ob er nicht am Ende allein gehen müßte. Aber sogar in seinem fiebrigen Zorn war er sich darüber klar, daß er auf Dick als Partner nicht verzichten konnte. Für die Art Praxis, die sie im Sinn hatten, würden zwei Männer nötig sein, und Dick besaß als Mitarbeiter einige Vorzüge, die sonst schwer zu finden waren. Als Clara nach Hause kam, sagte sie: »Geht es dir besser? Wie hoch ist deine Temperatur?« Er wußte, welche Temperatur er hatte, denn Claudia hatte sie am Nachmittag gemessen. Er hatte 39,9. »Nicht schlecht«, sagte er. »Ich fühle mich schon besser.« »Gut.« Clara entleerte methodisch ihre Handtasche, legte ein paar Sachen auf ihren Ankleidetisch und ging dann nach unten, um auf das Abendessen zu warten. Walter schloß die Augen und versuchte, an etwas anderes zu denken als an Clara, wie sie im Wohnzimmer saß, Radio hörte und die Abendzeitung las. Er spielte ein Spiel, das er manchmal abends an der Schwelle des Einschlafens oder morgens an der Schwelle des Wachseins spielte: er bildete sich ein, vor ihm läge aufgeschlagen eine Zeitung, und er ließe seine Augen ganz schnell über die ersten Sätze der verschiedenen Artikel gleiten: Heute wurde in Gibraltar in Anwesenheit der Außenminister so-und-so-und-so-und-so ein neues bilaterales Abkommen von Präsident Dingsda von Blotz unterzeichnet … Frau sagt: ›Er hat meine Liebe vernichtet! Ich mußte mein Kind retten!‹ … Ein furchtbares Geschick wurde gestern dem Distriktskommandanten der Polizei, Ronald W. Friggarty, enthüllt: Eine junge Blondine mit angstgeweiteten 47
blauen Augen erzählte, daß ihr Mann jeden Abend um sechs nach Hause käme und sie und ihr Kind regelmäßig mit einer Bratpfanne verprügelte … Klima in Südamerika wird immer milder, erklärten Experten. Die zufällige Entdeckung eines winzigen Meteoriten auf der linken Schulter des Monte Achinche in Bolivien hat Klimatologen zu der Annahme geführt, daß in weiteren sechshundert Jahren Chinchillas in der Lage sein werden, ihre Einkommensteuer selbst zu berechnen … Funkbild zeigt den Strom der Trauernden, der sich an der Bahre des ermordeten Sowjetforschers Tomjatkin in Moskau vorbeischiebt … wird die internationale Textilwarenmesse in der berühmten Messehalle von Köln eröffnet … Walter lächelte. Er sah die Meldung vor sich, die er herausgerissen hatte, die Meldung über die Frau, die an der Bushaltestelle ermordet wurde. Nicht die Worte erschienen ihm, sondern er sah das Bild. Sie lag in einem Gehölz, von ihrem Auge bis hinunter zum Mundwinkel zog sich eine blutig klaffende Wunde über ihre Wange. Sie war nicht hübsch, aber sie hatte ein angenehmes Gesicht, schwarzes Lockenhaar, einen kräftigen, schlichten Körperbau und einen vertrauensvollen Mund, der sich gewiß beim ersten Angriff ihres Mörders in Entsetzen geöffnet hatte. Eine solche Frau wäre keinen Schritt mit einem Fremden gegangen. Er stellte sich vor, wie einer, den sie kannte, sich an sie heranmachte: Helen, ich muß mit dir sprechen. Komm … Überrascht hätte sie ihn angeblickt. Wie kommst du denn hierher? – Das spielt im Augenblick keine Rolle. Ich muß mit dir reden. Helen, wir müssen diese Geschichte hereinigen! Es könnte ihr Mann gewesen sein, dachte Walter. Er versuchte sich zu erinnern, ob in der Zeitung etwas davon gestanden hatte, wo der Mann sich zur fraglichen Zeit aufgehalten hatte. Seines Wissens war nichts davon erwähnt worden. Vielleicht hatten sich auch Helen und Melchior Kimmel gegenseitig so 48
eine kleine Hölle auf Erden bereitet. Walter stellte sie sich vor, streitend in ihrer Wohnung in Newark, festgefahren in einer ehelichen Sackgasse, bis die Frau schließlich beschloß, wegzufahren und eine Verwandte zu besuchen. Wenn der Mann sie umbringen wollte, hätte er mit dem Wagen hinter ihr herfahren und warten können, bis sie bei einer Rastpause ausstieg. Er hätte sagen können: Ich muß mit dir reden, und seine Frau wäre mit ihm gegangen, hinunter zu irgendeiner dunklen Baumgruppe am Rande der Autostraße … Am Donnerstag abend kam Clara herein und setzte sich für ein paar Augenblicke ans Fußende seines Bettes. Sie hatte Angst davor, sich anzustecken, und sie hatte ihr Nachtlager auf der Couch in seinem Arbeitszimmer aufgeschlagen. Nun, da sie drei Tage lang nicht mit ihm in Berührung gekommen war, dachte Walter, blühte sie sichtlich auf. Er sprach kaum mit ihr, aber sie schien das gar nicht zu bemerken. Sie war vollkommen in Anspruch genommen von einem neuen Verkaufsprojekt an der Nordküste. Ich hasse sie, dachte Walter. Ganz klar kam es ihm zum Bewußtsein. Es bereitete ihm beinahe Vergnügen, daran zu denken. Später am Abend riß Motorengeräusch Walter aus seinem Dämmerschlaf. Er hörte zwei Stimmen auf der Treppe, eine davon gehörte einer Frau. Clara komplimentierte Peter Slotnikoff und das Mädchen namens Ellie ins Zimmer. Peter entschuldigte sich, daß er nicht vorher angerufen hätte. Ellie hatte Walter einen großen Strauß Gladiolen mitgebracht. »Ganz tot bin ich noch nicht«, sagte Walter verlegen. Walter sah sich suchend nach einem Gefäß um, in das man die Blumen hätte stellen können. Clara hatte das Zimmer verlassen – Walter wußte, sie war verschnupft, weil die beiden hereingeschneit waren, ohne sich telephonisch anzumelden –, 49
und eine Vase war nirgends zu sehen. Peter holte eine aus der Diele und ließ im Badezimmer Wasser hineinlaufen. Walter lehnte sich in die Kissen zurück und beobachtete Ellies Hände, die die Blumen in der Vase ordneten. Ihre Hände waren kräftig und breit wie ihr Gesicht, aber sie berührten die Dinge behutsam. Walter fiel ein, daß sie Geige spielte. »Möchte jemand etwas trinken?« fragte Walter. »Ein Bier vielleicht? Im Kühlschrank ist Bier, Peter. Geh doch runter und hol, was ihr möchtet.« Beide wollten Bier. Peter ging. Ellie saß am anderen Ende des Zimmers auf dem Stuhl, den Clara vor ihrem Ankleidetisch stehen hatte. Sie trug eine weiße Bluse mit aufgekrempelten Ärmeln, einen Tweedrock und Sandalen. »Wie lange wohnen Sie schon hier?« fragte sie. »Etwa drei Jahre.« »Ein schönes Haus. Ich bin gern auf dem Lande.« »Auf dem Lande!« Walter lachte. »Nach New York ist das hier für mich Land.« »Für Leute, die keinen Wagen haben, ist es nicht so einfach, hier herauszukommen, zugegeben.« Sie lächelte, ihre bläulich-braunen Augen strahlten. »Ist das nicht ein Vorteil?« »Nein. Ich habe es gern, wenn man mich besucht. Ich hoffe, Sie kommen wieder – Sie haben ja ein Auto.« »Danke schön. Sie haben mein Auto noch nicht gesehen. Ein aus dem Leim gegangenes Kabrio, das nicht mehr richtig schließt, ich fahre es deshalb offen – es sei denn, es gießt in Strömen. Dann allerdings regnet es durch. Zu Hause hatte ich immer unseren Familienwagen, und als ich nach New York kam, mußte ich einfach wieder ein Auto haben, obwohl ich blank war. Da habe ich eben Boadicea gekauft. So heißt es.« »Wo sind Sie zu Hause?« 50
»Provinz. Corning. Eine ganz hübsch öde Stadt.« Walter war einmal mit dem Zug durchgefahren. Er hatte die Stadt als ausgesprochen grau in Erinnerung behalten, grau wie eine Revierstadt. Er konnte sich Ellie dort nicht vorstellen. Peter kam mit dem Bier und schenkte ein. »Stört Sie Rauch?« fragte Ellie. »Ich muß nicht unbedingt rauchen.« »Kein bißchen«, sagte Walter. »Ich wünschte nur, ich könnte auch.« Sie zündete ihre Zigarette an. »Als ich Grippe hatte, war mein Rachen so entzündet, daß ich wegen der Qual beim Atmen kaum einschlafen konnte, geschweige denn rauchen.« Walter lächelte. Er hatte das Gefühl, daß kein Mensch je etwas Teilnahmsvolleres zu ihm gesagt hatte, seit er krank war. »Wie steht’s im Büro, Peter?« »Die Sache Parson und Sullivan macht Mr. Jensen zu schaffen«, sagte Peter. »Es sind zwei Vertreter. Der eine ist in Ordnung. Und der andere – nun, ich glaube, er lügt. Es ist der ältere.« Walter blickte in Peters offenes junges Gesicht und dachte bei sich: zwei oder drei Jahre weiter, und Peter wird nicht einmal mehr die Braue heben angesichts der faustdicksten Lügen der Welt. »Sie lügen oft«, sagte Walter. »Ich hoffe, deine Frau ist uns nicht böse, weil wir uns nicht angemeldet haben«, sagte Peter. »Natürlich nicht.« Walter hörte Claras Schritte in der Diele, sie kamen näher … und entfernten sich wieder. Sie hatte gesagt, sie wolle heute abend Wäscheinventur machen, und Walter wußte, genau das tat sie jetzt. Er war neugierig, was Ellie von Clara dachte, von Claras unverhohlener Nichtachtung ihr und Peter gegenüber. Ellie saß ein wenig außerhalb des Lichtkreises, den seine Tischlampe warf, und blickte ihn 51
unverwandt an. Es störte Walter nicht. Denn das war kein kritischer Blick, dachte er, kein Blick wie der von Clara oder von anderen Frauen, von dem er sich stückweise auseinandergenommen fühlte. »Haben Sie Glück gehabt mit einer Stellung, Ellie?« fragte Walter. »Ja, ich habe Aussichten an der Harridge-Schule. Es ist ausgemacht, daß sie mir nächste Woche Bescheid geben.« »Harridge? In Long Island?« »Ja, in Lennert. Südlich von hier.« »Das ist ja gar nicht weit weg«, sagte Walter. »Nein, aber bis jetzt bin ich noch nicht dort. Sie brauchen mich eigentlich nicht. Ich versuche einfach, mich reinzudrängeln.« Sie lächelte und stand plötzlich auf. »Wir sollten jetzt lieber gehen.« Walter bat sie, noch zu bleiben, aber sie bestanden darauf zu gehen. Ellie streckte ihm ihre Hand hin. »Haben Sie keine Angst, sich die Grippe zu holen?« »Nein«, lachte sie. Da nahm er ihre ausgestreckte Hand. Ihre Hand fühlte sich genauso an, wie er es sich gedacht hatte: sehr kräftig, mit einem schnellen, festen Druck. Ihre strahlenden Augen blickten wunderbar warm. Er fragte sich, ob sie wohl jeden so ansähe, wie sie ihn ansah. »Ich hoffe, Sie sind bald wieder gesund«, sagte sie. Dann gingen sie, und das Zimmer war leer. Walter hörte den Klang ihrer höflichen Worte, die sie unten mit Clara wechselten, dann das Motorengeräusch, das sich entfernte und erstarb. Clara kam ins Zimmer. »Miss Briess nimmt also eine Stellung hier in der Nähe an?« 52
»Möglicherweise. Hast du das mitgehört?« »Nein. Ich habe sie gefragt. Eben gerade.« Clara legte einige Handtücher in eine Schublade. »Ich möchte nur wissen, was sie sich dabei denkt, mit diesem naiven Peter herumzulaufen.« »Ich nehme an, sie hat ihn gern, ganz einfach.« Clara warf ihm einen schillernden Blick zu. »Sie hat jeden anderen Mann im Umkreis lieber, das kann ich dir versichern.«
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6 Am Sonnabend konnte Walter zum erstenmal aufstehen, und am Sonntag waren sie bei den Iretons zum Mittagessen eingeladen. Es war ein schöner, sonniger Tag, und als Walter und Clara eintrafen, standen ungefähr zwanzig Personen mit ihren Cocktails im Garten der Iretons. Clara blieb bei einem Grüppchen stehen, zu dem Ernestine McClintock gehörte und eine Freundin der McClintocks, Greta Roda, die Malerin war. Walter ging weiter. Bill Ireton erzählte den Männern, die sich um den Barwagen geschart hatten, einen Witz. »Immer noch derselbe alte Esel«, sagte Bill gerade. »Gerät stets an das verkehrte Mädchen!« Das donnernde Gelächter, das folgte, schmerzte in Walters Ohren. Er befand sich in jenem Zustand der Grippe-Rekonvaleszenz, in dem der Körper jedes Geräusch wie einen Faustschlag empfindet; es tat ihm sogar weh, wenn er sich kämmte. Bill Ireton streckte Walter eine Hand hin, die naß und kalt war von Eiswürfeln. »Da freue ich mich aber, daß du es geschafft hast! Geht’s wieder besser?« »Ausgezeichnet«, sagte Walter. »Vielen Dank für eure Besorgtheit.« Auch Betty kam, um ihn zu begrüßen, nahm ihn mit, um ihn mit ihrem Wochenendbesuch, einer Frau, bekannt zu machen, und von da an wanderte Walter allein umher, genoß den federnden Rasen unter seinen Füßen und die wohlige Wirkung des Alkohols, der ihm geradenwegs zu Kopfe stieg. Bill trat zu ihm, nahm Walters Glas, um es wieder zu füllen, und winkte ihn beiseite. »Was ist denn mit Clara los?« fragte 54
Bill, während sie weitergingen. »Eben ist sie Betty ins Gesicht gesprungen.« Walter erstarrte. »Weswegen?« »Wegen der ganzen Party, nehme ich an. Clara hat gesagt, sie wolle keinen Drink, und als Betty sich erbot, ihr ein Coca-Cola zu holen, erklärte sie, daß sie überhaupt nichts zu trinken brauche und sich trotzdem ganz prächtig amüsieren könne.« Bill sagte das leicht geziert und mit hochgezogenen Brauen wie Clara. »Jedenfalls hat Betty den Eindruck, daß es viel besser gewesen wäre für Clara, wenn sie zu Hause geblieben wäre.« Walter konnte sich die Szene ganz genau vorstellen. »Es tut mir leid, Bill. Ich würde es nicht so tragisch nehmen. Weißt du, wo ich jetzt die ganze Woche krank war und Clara wie eine Wilde arbeitet, wird sie ab und zu grantig.« Bill blickte zweifelnd drein. »Wenn sie je einmal nicht mitkommen will, alter Freund … wir haben Verständnis. Wir freuen uns immer, wenn du kommst, vergiß das nicht!« Walter schwieg. Er dachte, daß Bills Worte eigentlich eine Beleidigung waren für Clara, wenn er sie so auffassen wollte, daß er sie aber gar nicht so auffassen wollte, weil er Bills Reaktion vollkommen verstand. Walter ging über den Rasen davon, ließ seinen Blick über die Gäste schweifen, über die Frauen in hellen Sommerkleidern. Plötzlich wurde ihm bewußt, daß er Ellie suchte und daß keinerlei Aussicht bestand, sie heute hier zu finden. Ellie Briess. Ellie Briess. Wenigstens konnte er sich jetzt auf ihren Namen besinnen. Der Name paßte haargenau zu ihr, dachte er, einfach, aber nicht gewöhnlich, und ein bißchen germanisch. Walter merkte, daß er angenehm beschwipst wurde von seinem zweiten Glas. Das Essen verzehrte er mit den McClintocks und Greta Roda. Er füllte seinen Teller mit köstlichem Spießbraten von den Tabletts und mit Pommes frites, die von dem Mädchen und den beiden kleinen Töchtern der Iretons herumgereicht wurden. Als er 55
aufstand, um sich zu verabschieden, taumelte er, und Bill und Clara kamen, um ihn in die Mitte zu nehmen. »Ich bin nicht betrunken, bloß schrecklich müde plötzlich«, sagte Walter. »Du kommst ja gerade aus dem Bett, alter Junge«, sagte Bill. »Da brauchst du gar nicht viel zu trinken.« »Du bist ein Prachtkerl«, sagte Walter zu ihm. Aber Clara kochte. Schweigend saß Walter neben ihr, während sie nach Hause steuerte – sie bestand darauf, er sei nicht mehr in der Lage, zu fahren –, und während des ganzen Weges überschüttete sie ihn mit Vorwürfen wegen seiner Dummheit, seiner Willenlosigkeit, sich mittags schon zu betrinken. »Bloß weil der Schnaps dasteht und niemand dich daran hindert, dich sinnlos zu besaufen!« Er hatte nur zwei Gläser getrunken, und nach einer Tasse Kaffee zu Hause fühlte er sich völlig nüchtern, benahm er sich völlig nüchtern; er saß in dem großen Sessel im Wohnzimmer und las das Sonntagsblatt. Aber Clara fing immer wieder von neuem an, ihn zu beschimpfen. Sie saß weit von ihm entfernt und nähte Knöpfe an ein weißes Kleid. »Du willst ein Jurist sein, ein Intellektueller. Man sollte meinen, du wüßtest Besseres anzufangen mit deinem Intellekt, als ihn in Alkohol zu ertränken! Noch ein paar Auftritte wie der heute, und wir sind erledigt bei all unseren Bekannten.« Bei diesen Worten blickte Walter auf. »Clara, was soll das?« fragte er friedfertig. Im stillen erwog er den Gedanken, hinaufzugehen in sein Arbeitszimmer und die Tür hinter sich zuzumachen, aber oftmals kam sie ihm dann nach und warf ihm vor, er könne keine Kritik vertragen. »Ich habe Betty Iretons Gesicht gesehen, als du über den Rasen gewankt bist. Sie war schockiert über dich!« 56
»Wenn du glaubst, Betty Ireton wäre schockiert, wenn sie jemanden sieht, der einen kleinen Schwips hat, dann bist du nicht bei Troste.« »Du hättest es sowieso nicht sehen können. Du warst betrunken!« »Darf ich dir mal was sagen?« fragte Walter und stand auf. »Du hast dir die Mühe gemacht, stirnrunzelnd deine Mißbilligung über die ganze Gesellschaft heute zu versprühen, nicht wahr? Und das deiner Gastgeberin gegenüber. Du bist diejenige von uns beiden, die uns unmöglich machen wird. Du stehst allem und jedem negativ gegenüber.« »Und du bist ja so positiv. Liebreiz und Licht!« Walter ballte die Fäuste in den Hosentaschen und tat ein paar Schritte ins Zimmer, er fühlte den Drang, sie zu schlagen. »Ich kann dir nur versichern, daß die Iretons heute gar nicht sehr begeistert von dir waren, und ich glaube, sie waren es schon seit langem nicht mehr. Das gilt für eine ganze Reihe von Leuten, die wir kennen.« »Wovon redest du? Du bist verrückt! Ich glaube, du bist ein Psychopath, wirklich!« »Ich kann sie dir herzählen!« sagte Walter lauter und trat näher zu ihr. »Da ist Jon: du kannst es nicht ausstehen, daß ich mit ihm fischen gehe. Da ist Chad: der einmal umgekippt ist. Davor gab es noch die Whitneys. Was mag denn nur aus den Whitneys geworden sein? Vom Winde verweht, wie? Mysteriös. Und vor ihnen Howard Graz. Dem hast du damals ein höllisches Wochenende bereitet, als wir ihn zu uns eingeladen hatten!« »Alles fein säuberlich notiert und registriert. Du mußt viel Zeit darauf verwandt haben, diese vernichtende Anklage auszuarbeiten.« »Was habe ich denn nachts anderes zu tun?« sagte Walter schnell. 57
»Und da wären wir wieder beim Thema. Du kannst es dir keine fünf Minuten lang verkneifen, nicht wahr?« »Ich denke, ich kann es mir überhaupt ganz verkneifen. Wäre dir das recht? Du kannst dann völlig unabhängig von mir sein. Du kannst dich ausschließlich der Aufgabe widmen, mich von meinen Freunden wegzumanövrieren.« Sie begann wieder zu nähen. »Die bedeuten dir weit mehr als ich, das ist klar.« »Ich meine«, sagte Walter und räusperte seine trockene Kehle, »ich kann nicht leben neben einem Partner mit negativer Einstellung, der mich jeder lebenden Kreatur auf dieser Welt zu entfremden droht!« »Ach, wie bist du doch besorgt um dein eigenes Ich!« »Clara, ich möchte mich scheiden lassen.« Sie sah von ihrer Näharbeit auf, mit offenem Munde. Ungefähr das gleiche Gesicht wie jetzt machte sie immer dann, wenn er sie fragte, ob sie etwas dagegen habe, daß er oder sie beide sich mit einem ihrer Freunde verabredeten. »Ich nehme nicht an, daß du das ernst meinst.« »Ich weiß, daß du das nicht annimmst, aber ich meine es ernst. Es ist nicht wie damals. Ich bin nicht mehr davon zu überzeugen, daß es besser werden kann, denn offensichtlich kann es das nicht.« Wie betäubt saß sie da, und er fragte sich, ob sie sich wohl an damals erinnere. Sie hatten denselben Punkt erreicht wie jetzt, und Clara hatte gedroht, sie würde das Veronal nehmen, das sie oben hätte. Walter hatte Martinis gemacht und Clara gezwungen, einen zu trinken, um sie zur Besinnung zu bringen. Er hatte sich neben sie aufs Sofa gesetzt, genau dort, wo sie auch jetzt saß, und sie war zusammengebrochen und hatte geweint und ihm gesagt, sie bete ihn an, und der Abend hatte 58
ganz anders geendet als Walter gedacht hatte. »Es genügt nicht mehr, daß ich dich liebe – körperlich liebe, denn geistig verachte ich dich«, sagte Walter ruhig. Er fühlte, hier kleidete er all das in Worte, was sich in tausend Tagen und Nächten in ihm angehäuft hatte, wenn er es nicht gewagt hatte, diese Dinge auszusprechen, nicht weil ihm der Mut gefehlt hätte, sondern weil es für Clara so schrecklich und fatal war. Jetzt betrachtete er sie, so wie er ein noch nicht ganz verendetes Etwas betrachten würde, dem er gerade den Todesstoß versetzt hatte, denn so allmählich glaubte sie ihm, das konnte er sehen. »Aber ich kann mich vielleicht ändern«, sagte sie. Tränen zitterten in ihrer Stimme. »Ich kann zu einem Psychiater gehen …« »Ich glaube nicht, daß dich das ändern wird, Clara.« Er kannte ihre Geringschätzung für die Psychiatrie. Er hatte schon versucht, sie dazu zu bewegen, einen Psychiater zu konsultieren. Sie hatte es nie getan. Ihre Augen hingen an ihm, aufgerissen, mit leerem Blick und naß von Tränen, und es schien Walter, als würde sie in diesem Zusammenbruch von einem Krampf geschüttelt, von einem noch rasenderen Anfall sogar als denen, in deren Verlauf sie wie eine Furie auf ihn eingeschrien hatte. Jeff, von ihren streitenden Stimmen verstört, wedelte um Clara herum, leckte ihr die Hand, aber Clara zeigte mit keiner Fingerbewegung, ob sie von ihm Notiz nähme. »Es ist dieses Mädchen, nicht wahr?« fragte Clara plötzlich. »Wie?« »Tu nicht so. Ich weiß Bescheid. Warum gibst du es nicht zu? Du möchtest dich von mir scheiden lassen, damit du sie haben kannst. Sie hat dich verrückt gemacht mit ihrem dämlichen Kuhlächeln!« 59
Walter runzelte die Stirn. »Welches Mädchen?« »Ellie Briess!« »Ellie Briess?« wiederholte Walter in fassungslosem Flüsterton. »Du lieber Himmel, Clara, du bist nicht bei Sinnen!« »Streitest du es ab?« fragte Clara. »Da ist überhaupt nichts abzustreiten!« »Es stimmt, nicht wahr? Gib es wenigstens zu. Sag einmal die Wahrheit!« Es rann Walter kalt den Rücken hinunter. In seinem Kopf arbeitete es. Er versuchte, sich auf eine ganz neue Situation einzustellen, auf den Umgang mit einer Geistesgestörten. »Clara, ich habe das Mädchen im ganzen zweimal gesehen. Sie hat absolut nichts mit uns beiden zu tun.« »Das glaube ich dir nicht. Du hast sie heimlich getroffen – an den Abenden, an denen du um halb sieben nicht zu Hause warst.« »An welchen Abenden? Montag? Das war der einzige Tag, an dem ich zur Arbeit gegangen bin, seit ich sie kenne.« »Sonntag!« Walter schluckte. Er erinnerte sich, er hatte am Sonntag vormittag einen langen Spaziergang gemacht, an dem Tage nachdem er das Mädchen kennengelernt hatte. »Wir werden doch wohl vernünftig genug sein, dies zu beenden, bevor wir in Phantastereien geraten?« Claras Lippen zitterten. »Du gibst mir nicht noch eine Chance?« »Nein.« »Dann werde ich heute nacht dieses Veronal nehmen«, sagte Clara mit plötzlich ganz ruhiger Stimme. »Nein, das wirst du nicht.« Walter ging an die Hausbar, goß 60
einen Kognak ein und brachte ihn ihr. Sie nahm ihn in ihre zitternden Finger und leerte ihn auf einen Zug – sie sah nicht einmal hin, was es war. »Du meinst wohl, ich mache Spaß, nicht wahr, weil ich es damals nicht getan habe. Jetzt aber werde ich es tun!« »Das ist eine Drohung, Liebling.« »Nenne mich nicht ›Liebling‹, du verachtest mich.« Sie stand auf. »Laß mich allein! Gönn mir wenigstens etwas Ruhe!« Schreck durchzuckte Walter. Sie sah jetzt richtig irre aus: ihre braunen Augen waren hart und hell wie Stein, ihr Körper starr, als hätte ein epileptischer Anfall sie gepackt und hielte sie aufrecht, balancierend wie eine steinerne Säule. »Ruhe wofür?« »Mich umzubringen!« Ungewollt beschrieb er eine halbe Kehrtwendung, um hinauf zu ihrem Ankleidetisch zu gehen, wo er die Tabletten vermutete, dann sah er sich nach ihr um. »Du weißt nicht, wo sie sind. Ich habe sie versteckt.« »Clara, wir wollen doch nicht melodramatisch werden.« »Dann laß mich in Frieden!« »In Ordnung, mache ich.« Er rannte nach oben in sein Arbeitszimmer, schloß die Tür und lief ein paar Minuten lang herum und zog an einer Zigarette. Er glaubte nicht, daß sie es tun würde. Einesteils war es eine Drohung, andernteils ihre Angst, mit sich allein zu sein. Aber es würde sich wieder geben. Morgen würde sie wieder genauso hart und selbstgerecht sein wie immer. Und bis dahin – sollte er denn sein Leben lang Kindermädchen bei ihr spielen, an sie gekettet sein durch eine Drohung? Er riß die Tür auf und sprang die Treppe hinunter. Sie war nicht im 61
Wohnzimmer, er rief nach ihr, dann rannte er wieder nach oben. Er fand sie im Schlafzimmer. Sie drehte sich rasch zu ihm herum, verbarg etwas in dem weißen Kleid, das sie in der Hand hatte, vielleicht drückte sie aber auch nur das Kleid an sich, während sie darauf wartete, daß er ginge. Dann, als sie das Kleid glattschüttelte und einen Bügel hineinschob, sah er, daß sie nichts weiter in der Hand hatte. Als sie an den Schrank ging, erblickte Walter auf dem Fensterbrett einen Kognakschwenker, halbgefüllt. Ungläubig starrte er einen Augenblick darauf. »Warum läßt du mich nicht zufrieden?« fragte sie. »Warum gehst du nicht und machst einen langen Spaziergang?« Jeff unterbrach seinen munteren Streifzug durchs Zimmer, setzte sich hin und blickte unverwandt auf Walter, als wartete auch er darauf, daß Walter verschwand. »Na schön, kann ich vielleicht machen«, sagte Walter und warf die Schlafzimmertür mit lautem Knall hinter sich zu. Er ging wieder in sein Arbeitszimmer. Er blieb keineswegs deshalb zu Hause, um auf sie aufzupassen, redete er sich ein, sondern er hatte eben einfach keine Lust zum Spazierengehen. Er fuhr herum, als sich hinter ihm die Türe öffnete. »Damit sich deine Stimmung ein bißchen bessert, wollte ich dich doch einmal darauf hinweisen, daß es dir morgen schon möglich sein wird, ständig mit Ellie Briess zusammen zu sein!« Walter hatte gerade einen Briefbeschwerer aus Glas in der Hand, und jetzt war er drauf und dran, ihr den an den Kopf zu werfen. Er knallte den Briefbeschwerer auf den Schreibtisch und lief mit langen Schritten an ihr vorbei aus dem Zimmer, wütend wie noch nie in seinem Leben, und trotzdem immer noch fähig, sich selbst objektiv zu beobachten – einen Mann, der raste vor Wut, der Hemden und eine Hose in einen Koffer schmiß, Zahnbürste, Waschlappen, nach kurzer Überlegung 62
auch noch die Aktentasche, die er morgen brauchen würde. Er knallte den Kofferdeckel zu. »Heute hast du das ganze Haus für dich«, schrie er ihr zu, als er ihr in der Diele begegnete. Walter setzte sich in seinen Wagen. Er war bereits auf der North-Island-Autobahn, ehe er merkte, daß er keine Ahnung hatte, wohin er fuhr. Nach New York? Er konnte zu Jon gehen. Aber er wollte nicht gern seinen ganzen Ärger vor Jon ausbreiten. Walter nahm die nächste Ausfahrt und befand sich in einem kleinen Städtchen, das er nicht kannte. Ganz in der Nähe erblickte er ein Nonstop-Kino. Walter parkte den Wagen und betrat das Kino. Er saß auf dem Balkon, starrte auf die Leinwand und rauchte. Er würde sich zwingen, hier sitzen zu bleiben, bis sie wieder bei dem Trickfilm angelangt wären, bei dem er hereingekommen war. Irgendwann gegen Schluß der Wochenschau dachte Walter: Wenn Clara die Tabletten schon genommen hätte, dann wäre es jetzt zu spät für eine Magenpumpe. Ein Anfall von Panik überrumpelte ihn. Er stand auf und ging.
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7 Auf dem Nachttischchen stand eine grünliche Flasche, leer, und ein Glas mit einem Wasserrest. »Clara!« Er packte sie bei den Schultern und schüttelte sie. Sie rührte sich nicht, ihr Mund stand offen. Walter nahm ihr Handgelenk. Der Puls war da, er schlug sogar kräftig und normal, dachte Walter. Er ging ins Badezimmer und tauchte ein Handtuch in kaltes Wasser, ging damit zu Clara zurück und rieb ihr das Gesicht ab. Keine Reaktion. Er ohrfeigte sie. »Clara! Wach auf!« Er richtete sie hoch, aber sie war schlaff wie eine Stoffpuppe. Zwecklos, zu versuchen, ihr Kaffee einzuflößen, dachte er. Die Zunge hing ihr aus dem Munde heraus. Er rannte in die Diele ans Telephon. Dr. Pietrich war nicht da, aber seine Hausangestellte gab Walter die Telephonnummer eines anderen Arztes. Der zweite Arzt sagte, er könne in einer Viertelstunde da sein. Fünfundzwanzig Minuten vergingen, und Walter saß da in Angst und Schrecken, sie könne vor seinen Augen zu atmen aufhören, aber der flache Atem ging weiter. Der Arzt kam und machte sich sofort an die Arbeit mit der Pumpe. Walter goß ihm warmes Wasser in den Trichter an dem einen Ende des Schlauchs. Es kam nichts weiter aus ihr heraus als das Wasser, von etwas blutigem Schleim verfärbt. Der Arzt gab ihr zwei Spritzen, dann bemühte er sich wieder mit der Pumpe. Walter forschte an ihren halb offenstehenden Augen, ihrem schlaffen, unnatürlich aussehenden Mund nach einem Anzeichen dafür, daß sie zu Bewußtsein käme. Er sah nichts. »Glauben Sie, daß sie am Leben bleibt?« fragte er. »Wie soll ich das wissen?« sagte der Arzt gereizt. »Sie wacht 64
nicht auf. Sie muß ins Krankenhaus.« Walter war der Arzt von ganzem Herzen zuwider. Wenige Minuten später trug Walter Clara auf seinen Armen die Treppe hinab und hinaus zum Wagen. Es gab Ärzte, dachte Walter, die so taten, als sei es höchst unangenehm, daß sie sich mit einem Selbstmordfall abgeben müßten. Oder als setzten sie automatisch voraus, daß der Ehemann schuld wäre. »Schon mal irgend was mit ihrem Herzen gewesen?« fragte ein Arzt im Krankenhaus. »Nein«, sagte Walter. »Glauben Sie, daß sie am Leben bleibt?« Die Augenbrauen des Arztes hoben sich vielsagend, er schrieb weiter auf seinen Block. »Hängt von ihrem Herzen ab«, sagte der Arzt. Er geleitete Walter den Korridor entlang. Sie lag unter einem durchsichtigen Sauerstoffzelt. Die Schwester rieb eine Stelle an ihrem Arm ein für die nächste Spritze, und Walter zuckte zusammen, als die dicke Nadel fünf Zentimeter tief in die Vene hineinglitt. Clara rührte sich nicht. »Sie wird es eben entweder ausschlafen oder nicht«, sagte der Arzt. Walter beugte sich vornüber und studierte aufmerksam Claras Gesicht. Ihr Mund war immer noch leblos, mißförmig, die Lippen waren verzogen und entblößten die Zähne. Das verlieh ihrem Gesicht einen Ausdruck, wie Walter ihn noch nie gesehen hatte: wie das Gesicht des Todes, dachte er. Jetzt glaubte er, daß Clara nicht weiter leben wollte. Und er konnte sich vorstellen, daß anstelle des unbewußten Lebenswillens, der sie erhielt, wie das bei einem normalen Menschen war, Claras Wille sie zum Sterben trieb; und er fühlte sich hilflos. Um zwei Uhr nachts hatte sich noch nichts an ihrem Zustand verändert, und Walter ging nach Hause. Von Zeit zu Zeit rief er 65
im Krankenhaus an, und stets lautete die Auskunft ›unverändert‹. Gegen sechs Uhr morgens trank er eine Tasse Kaffee und einen Kognak und machte sich auf den Weg zum Krankenhaus. Um sieben kam Claudia, und er wollte ihr nicht begegnen, denn er wußte nicht, was er ihr sagen sollte. Clara lag noch ganz genauso da. Er glaubte zu bemerken, daß ihre Lider ein wenig angeschwollen waren. Es war etwas abscheulich Fötushaftes um die geschwollenen Lider und den ausdruckslosen Mund. Der Arzt teilte ihm mit, daß ihr Blutdruck leicht gesunken wäre, was ein schlechtes Zeichen sei, aber was ihr Herz anginge, schiene sie sich zu halten. »Glauben Sie, daß sie am Leben bleibt?« »Diese Frage kann ich einfach nicht beantworten. Was sie geschluckt hat, reichte aus, sie zu töten, hätten Sie sie nicht hergebracht. In achtundvierzig Stunden werden wir es wissen.« »Achtundvierzig Stunden!« »Die Bewußtlosigkeit kann sogar noch länger anhalten, aber sollte das der Fall sein, dann bezweifle ich, daß sie es übersteht.« Gegen neun fuhr Walter nach New York. Sein Koffer lag noch immer hinten im Wagen, er entnahm ihm seine Aktenmappe, bevor er ins Büro hinaufging. Es schien ihm jetzt, als hätte er nie beabsichtigt, mit dem Koffer in ein Hotel zu gehen, als wäre der Koffer nur ein Mäntelchen gewesen für das, was er eigentlich gewollt hatte: aus dem Hause gehen, damit Clara sich ungestört umbringen konnte. Walter mußte der Tatsache ins Auge blicken, daß er gewußt hatte, sie würde die Pillen nehmen. Zwar konnte er sich einreden, er hätte nicht wirklich daran geglaubt, daß sie sie nehmen würde, weil sie es damals auch nicht getan hatte, aber diesmal war es anders gewesen – und er hatte es gewußt. In gewissem Sinne, dachte er, hatte er sie umgebracht – falls sie starb. Und deshalb, dachte er, mußte er ihren Tod gewünscht haben. 66
Walter ließ das Mittagessen aus und saß an seinem Schreibtisch. Er mühte sich, aus Dicks Notizen über die Besprechungen zum Fall Parsons und Sullivan schlau zu werden. Immer und immer wieder las Walter den einen Satz, ohne daß ihm klar wurde, ob da irgendwo ein paar Wörter fehlten oder ob sein Kopf nicht mehr fähig war, den Wörtern ihren Sinn zu entlocken. Plötzlich langte er nach dem Telephon und wählte Jons Nummer. Walter fragte Jon, ob er ihn auf der Stelle sprechen könne, in Jons Büro. »Handelt es sich um Clara?« fragte Jon. »Ja.« Walter hatte nicht gewußt, daß seine Stimme ihn verraten würde, aber nur Clara vermochte ihn in einen derartigen Zustand zu versetzen, und das wußte Jon. Jon hatte Whisky in seinem Büro und bot Walter welchen an, aber Walter dankte. »Clara liegt bewußtlos im Krankenhaus. Sie wird vielleicht sterben«, sagte Walter. »Gestern nacht hat sie Schlaftabletten genommen. Sämtliche Tabletten, die im Hause waren. Sie muß ungefähr dreißig geschluckt haben.« Walter erzählte Jon alles, von dem Scheidungsgespräch, ihrer Drohung, sich umzubringen, seinem Weggehen. »War es das erste Mal, daß ihr über die Scheidung gesprochen habt?« fragte Jon. »Nein.« Walter hatte vor Monaten gesagt, daß er eine Scheidung in Erwägung zöge, aber er hatte Jon nicht erzählt, daß er mit Clara darüber gesprochen hatte. »Sie hat schon beim ersten Mal, als ich sie um die Scheidung bat, mit Selbstmord gedroht. Deshalb habe ich ihr ja gestern nicht geglaubt.« »Und deshalb habt ihr euch beim ersten Mal wieder versöhnt, weil sie damit gedroht hat?« 67
»Ich denke schon«, sagte Walter. »Unter anderem deshalb.« »Ich weiß schon.« Jon stand auf und blickte zum Fenster hinaus. »Und schließlich kommst du zu einem Punkte, nicht wahr – so wie gestern?« »Was meinst du damit?« »Du kommst zu einem Punkte, wo du dir sagst: Na schön, zum Teufel, soll sie sich doch umbringen. Ich habe die Nase voll!« Walter starrte auf die große Messingschale auf Jons Schreibtisch, er hatte sie Jon zum ersten Jahrestag der Gründung seiner Zeitschrift geschenkt. »Ja. Das ist es.« Walter verbarg sein Gesicht in den Händen. »Das ist so etwas wie Mord, nicht wahr?« »Niemand, der die Einzelheiten kennt, würde es Mord nennen. Du brauchst keinem Menschen etwas davon zu erzählen, keinem, der die Einzelheiten nicht kennt. Hör auf, es in deinem Kopfe hin- und herzuwälzen – die Tatsache, daß du weggegangen bist.« »Gut«, sagte Walter. »Sie wird wahrscheinlich durchkommen. Sie hat eine zähe Natur, Walt.« Walter sah seinen Freund an. Jon lächelte, und Walter gab ein kleines Lächeln zurück. Er fühlte sich plötzlich besser. »Das eigentliche Problem ist: was geschieht, wenn sie aufwacht? Möchtest du die Scheidung immer noch?« Walter mußte sich zwingen, sich die auferstandene Clara vorzustellen. Er war ganz in Anspruch genommen von Gewissensbissen, von Mitleid mit ihr. »Ja«, sagte er. »Dann setze sie durch. Es gibt Möglichkeiten. Und wenn du nach Reno gehen mußt. Laß dich nicht länger von einer 68
Medusa in Kleinformat paralysieren.« Walter spürte, wie Ärger in ihm aufstieg, und dann dachte er an Jon, paralysiert durch die Liebe zu seiner Frau, während sie die Affäre mit jenem Brinton gehabt hatte. Zwei Monate lang hatte Walter beinahe jeden Abend bei Jon gesessen, aber schließlich war Jon darüber hinweggekommen und war geschieden worden. »In Ordnung«, sagte Walter. Am Abend fuhr Walter auf dem Heimweg beim Krankenhaus vorbei. Jetzt waren ihre Fingernägel bläulich. Ihr Gesicht wirkte aufgedunsener. Aber der Arzt sagte, sie hielte sich gut. Walter glaubte es nicht. Er hatte irgendwo das Gefühl, sie würde sterben. Er ging nach Hause. Er wollte ein heißes Bad nehmen, sich rasieren und etwas essen. In der Badewanne schlief er ein, was ihm in seinem ganzen Leben noch nicht passiert war. Er wachte erst auf, als Claudia ihn rief, um ihm zu sagen, daß sein Abendessen gleich fertig sei. »Sie sollten sich lieber ein bißchen hinlegen, Mr. Stackhouse, sonst liegen Sie selber auch bald wieder auf der Nase«, sagte Claudia zu ihm. Walter hatte ihr erzählt, daß Clara mit schwerer Grippe im Krankenhaus läge. Während er aß, klingelte das Telephon, und Walter stürzte an den Apparat. Er dachte, es wäre das Krankenhaus. »Hallo, Mr. Stackhouse! Hier ist Ellie Briess. Haben Sie die Grippe gut überstanden?« »Oh – ja, danke.« »Hat Ihre Frau gern Zwiebeln?« »Zwiebeln?« »Tulpenzwiebeln. Ich habe zwei Dutzend. Eben habe ich mit einer Inspektorin drüben von Harridge gegessen, und sie ruhte nicht, bis ich sie angenommen habe, aber ich habe keinen 69
Platz, wo ich sie einpflanzen könnte. Es sind ganz besondere Zwiebeln. Ich dachte mir, Sie könnten sie vielleicht verwerten.« »Oh – vielen Dank, daß Sie an uns gedacht haben.« »Ich kann sie gleich vorbeibringen, wenn Sie in den nächsten zwanzig Minuten zu Hause sind.« »Schön. Tun Sie das«, sagte Walter unbeholfen. Ihm war ganz eigenartig zumute, als er dem Telephon den Rücken kehrte. Claras Beschuldigungen fielen ihm ein. Er sah sie vor sich, ihre erstarrten Lippen bewegten sich, wiederholten es. Wie die Weissagung einer Sterbenden. Wenige Minuten später stand Ellie Briess in der Tür. Sie trug einen Pappkarton in den Händen. »Hier sind sie. Wenn Sie zu tun haben, komme ich gar nicht erst herein.« »Ich habe nicht zu tun. Kommen Sie herein.« Er hielt ihr die Tür auf. »Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?« »Ja, vielen Dank.« Sie nahm ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus ihrer Handtasche und legte es auf das Rauchtischchen. »Hier ist die Gebrauchsanweisung für die Zwiebeln.« Walter schaute sie an. Sie sah älter aus und intellektueller heute, und plötzlich bemerkte er, daß sie ein schickes schwarzes Kleid und schwarze Wildlederschuhe mit hohen Absätzen trug, was sie größer und schlanker machte. »Haben Sie die Harridge-Stellung bekommen?« fragte er. »Ja. Heute. Das war die Frau, mit der ich heute gegessen habe – meine künftige Chefin.« »Ich hoffe, sie ist nett.« »Ja, sie ist sehr nett. Sie ließ nicht locker mit diesen Zwiebeln.« »Ich gratuliere zur Stellung«, sagte Walter. 70
»Danke schön.« Sie lächelte ihm ihr breites Lächeln zu. »Ich denke, ich werde mich dort ganz glücklich fühlen.« Sie sah glücklich aus. Es strahlte aus ihren Augen. Er hätte sie gern angesehen, aber er schaute zu Boden. Claudia brachte den Kaffee und den Orangenkuchen herein, den sie speziell für ihn gebacken hatte. »Sie kennen Miss Briess schon von der Party her, nicht wahr, Claudia? Ellie, das ist Claudia.« Sie begrüßten sich, und Walter sah, wie Claudia sich freute, daß sie vorgestellt wurde. Er stellte Claudia nicht immer vor. Clara liebte das nicht. »Ist Ihre Frau nicht da?« fragte Ellie. »Nein, sie ist nicht da.« Vorsichtig goß Walter den Kaffee ein. Es war ein schwarzer, starker Kaffee, stärker als Claudia ihn gemacht hätte, wenn Clara dagewesen wäre. Er holte die Kognakflasche und zwei Schwenker. Dann setzte er sich, und einen unbehaglichen Augenblick lang spürte er, daß er dem Mädchen nichts zu sagen hatte. Und er spürte, daß es ihn erotisch so zu dem Mädchen hinzog, daß er sich schämte. War es eigentlich erotisch? Er hatte das Verlangen, seinen Kopf in ihren Schoß zu legen, dorthin, wo sich unter dem schwarzen Kleid die Oberschenkel ein wenig rundeten. »Ihre Frau arbeitet sehr angestrengt, ja?« fragte Ellie. »Ja. Sie möchte angestrengt arbeiten oder gar nicht.« Walter schaute in Ellies Augen. Das wunderbare warme Leuchten in ihren Augen war noch da, hatte sich nicht verändert, so wie sich Frisur und Kleidung heute abend verändert hatten. Walter zögerte, dann sagte er: »Sie ist zur Zeit krank. Hat sich bei mir eine kleine Grippe geholt. Naja, nicht gerade eine kleine. Sie liegt im Krankenhaus.« »Ach, das tut mir aber leid«, sagte Ellie. 71
Walter hatte das Gefühl, gleich überzuschnappen, wenn er auch nicht wußte, was er anstellen würde, wenn er überschnappte – in Ohnmacht sinken, Ellie in seine Arme reißen oder davonlaufen auf Nimmerwiedersehen. »Hätten Sie gern ein bißchen Musik?« fragte er. »Nein, vielen Dank. Sie hätten es ja nicht gern.« Ellie saß ganz vorn auf der Sofakante. »Ich werde jetzt meinen Kognak austrinken und gehen.« Hilflos sah Walter zu, wie sie ihre Tasche und ihre Handschuhe holte, wie sie einen letzten Zug an ihrer Zigarette tat und sie dann ausdrückte. Er folgte ihr zur Haustür. »Vielen Dank für den guten Kaffee«, sagte sie. »Ich hoffe, Sie kommen wieder einmal. Wo wohnen Sie?« Er wollte wissen, wo sie zu erreichen war. »Ich wohne in New York«, erwiderte sie. Walters Herz tat einen Sprung, gerade als hätte sie ihm ihre Telephonnummer gegeben und ihn gebeten, sie anzurufen. Immerhin wußte er doch jetzt, daß sie in New York wohnte. »Sie wollen jeden Tag die Fahrt hin und her machen?« »Ja, ich denke schon.« Sie lächelte, plötzlich wirkte sie schüchtern. »Bitte richten Sie Ihrer Frau meine besten Wünsche aus. Auf Wiedersehen.« »Auf Wiedersehen.« Er stand in der offenen Haustür, bis sich das Brummen ihres Wagens in der Ferne verlor. Walter ging zum Krankenhaus und blieb dort die ganze Nacht. Er saß auf einer Bank im Korridor, las oder döste vor sich hin. Am Dienstag nachmittag erhielt Walter im Büro einen Anruf vom Krankenhaus. In der sonst so unpersönlichen Stimme der Schwester schwang ein freudiger Unterton: »Mrs. Stackhouse ist vor ungefähr fünfzehn Minuten zu sich 72
gekommen.« »Sie wird wieder gesund?« »O ja, sie wird wieder gesund werden.« Ohne noch irgend etwas zu fragen, legte Walter den Hörer auf. Am liebsten wäre er hoch an die Decke gesprungen, wäre hingerannt zu Dick und hätte ihm die Neuigkeit entgegengeschrien, aber Dick hatte er ja nur gesagt, Clara hätte Grippe, und wer regte sich schon derartig auf, wenn ein Mensch die Grippe überstand? Walter zwang sich, die Arbeit, die gerade vor ihm lag, zu Ende zu bringen. Er tat es demütig und geduldig, so wie ein dankbarer Sünder, soeben der Hölle entrissen, dem Erlöser ein kleines Opfer darbringen würde. Clara schliefe, sagte ihm die Schwester, als Walter hinkam, aber er durfte hineingehen und sie anschauen. Jetzt waren ihre Lippen geschlossen. Ein paar Wochen lang würde sie noch sehr schonungsbedürftig sein, meinte der Arzt, aber sie könne in ein bis zwei Tagen nach Hause gehen. »Ich hätte Sie gern einen Augenblick gesprochen«, sagte der Arzt. »Dürfte ich Sie in mein Büro bitten?« Walter ging mit. Er wußte, was der Arzt sagen würde. »Ihre Frau hat für eine gewisse Zeit psychiatrische Behandlung nötig. Wenn ein Mensch eine Überdosis schluckt, wissen Sie, dann läßt das auf eine Art Geistesgestörtheit schließen. Außerdem ist Selbstmord in unserem Staate ein Verbrechen. Hätte sie nicht das Glück gehabt, in ein Privatkrankenhaus gebracht zu werden, dann bekäme sie wesentlich mehr Ärger mit den Gerichten, als sie so bekommt.« »Wie meinen Sie das – als sie so bekommt?« »Selbstverständlich mußten wir das melden. Da ich ihr 73
Privatarzt bin, bin ich bis zu einem gewissen Grade verantwortlich. Ich möchte sichergehen, daß sie in die Hände eines Psychiaters gelangt, sobald sie das Krankenhaus verläßt.« »Das wird einige Überredungskünste kosten. Sie kann die Psychiater nicht leiden.« »Mir ist völlig gleichgültig, ob sie sie leiden mag oder nicht.« »Ich verstehe«, sagte Walter. Damit war die Unterredung beendet. Walter rief Jon an, um ihm Bericht zu erstatten. Irgendwann nach zehn Uhr am Abend bemerkte Walter, daß Clara sich regte. Er hatte neben ihrem Bett gesessen. Walter beugte sich über sie. Er erwartete, daß sie ihn böse anschaute, weil er sie an jenem Abend allein gelassen hatte, und als sie das nicht tat, als sie ihn nur schwach anlächelte, dachte er, sie sei vielleicht noch zu benebelt, um ihn zu erkennen. »Walter.« Ihre Hand glitt über das Laken zu ihm hin. Walter berührte sie zart mit beiden Händen, setzte sich auf den Bettrand und legte sein Gesicht auf das Bettzeug, das ihre Brust bedeckte. Er konnte ihren Körper spüren, warm und lebendig. Ihm war, als habe er sie noch nie so sehr geliebt. »Walter, verlaß mich nie, verlaß mich nie«, sagte sie, ein schnelles, hauchleises Flüstern. »Verlaß mich nie, nie.« »Nein, Liebling.« Er meinte es so. Am Donnerstag vormittag wurde Clara nach Hause entlassen. Walter hob sie aus dem Wagen und trug sie ins Haus, weil die Autofahrt sie so ermüdet hatte, daß sie nicht allein gehen konnte. »Als würde eine Braut über die Schwelle getragen, nicht wahr?« sagte Clara leise, als sie durch die Haustür traten. »Ja.« Noch nie zuvor hatte Walter sie über eine Schwelle 74
getragen. Clara hätte das für romantischen Unsinn gehalten, als sie jungverheiratet waren. Claudia hatte das ganze Schlafzimmer mit Blumen aus dem Garten geschmückt, und Walter hatte noch mehr gebracht. Jeff war frisch gebadet und begrüßte Clara mit Gekläff und Händelecken, allerdings lange nicht so enthusiastisch, wie Walter erwartet hatte. »Wie bist du mit Jeff zurechtgekommen?« fragte Clara. »Jeff und ich haben uns gut vertragen. Möchtest du noch aufbleiben oder gleich zu Bett gehen?« »Beides«, sagte sie und lachte ein bißchen. Er holte den Morgenrock aus dem Schrank, zog ihr die Schuhe von den braunen, strumpflosen Füßen und hängte das Kleid auf, das sie ausgezogen hatte. Dann stopfte er ihr Kissen in den Rücken. Sie hätte gern Limonade, sagte sie, mit ganz viel Zucker. Walter ging hinunter, um sie zu machen, denn Claudia war damit beschäftigt, Vichysauce zu bereiten, die Clara so gern mochte, und das war eine komplizierte Angelegenheit. »Wem hast du von dieser Geschichte erzählt?« fragte Clara, als er zurückkam. »Nur Jon. Sonst niemandem.« »Was hast du meinem Büro gesagt?« Walter konnte sich kaum entsinnen, wann er eigentlich mit ihnen telephoniert hatte. »Ich habe gesagt, du hättest Grippe. Mach dir keine Sorgen, Liebling. Niemand braucht es zu wissen.« »Claudia hat mir erzählt, daß Ellie Briess hier gewesen ist.« »Sie kam am Montag abend hereingeschneit. Ach ja, sie hat dir auch ein paar Tulpenzwiebeln mitgebracht. Du mußt sie dir morgen ansehen. Ganz besondere, hat sie gesagt.« »Du scheinst dich jedenfalls nicht gelangweilt zu haben, 75
solange ich im Krankenhaus war.« »Ach Clara, bitte …« Er reichte ihr noch einmal das Glas mit der Limonade. »Du sollst sehr viel trinken, hat der Arzt gesagt.« »Ich hatte doch recht mit Ellie, ja?« Er durfte jetzt nicht wütend werden, dachte er. Ihr Geist war noch immer umnebelt, noch nicht normal. Dann fiel ihm ein, daß sie ja auch zuvor nicht normal gewesen war, ehe sie die Tabletten geschluckt hatte. Sie war eben bloß wieder zum Leben erwacht, und sie nahm den Faden genau da wieder auf, wo sie ihn fallengelassen hatte. »Clara, laß uns morgen darüber sprechen. Du bist sehr müde.« »Warum gibst du nicht zu, daß du in sie verliebt bist?« »Aber ich bin es gar nicht.« Er beugte sich vor, so daß er sie halb umarmte. Es war eine Ironie des Schicksals, daß er sie noch nie so sehr geliebt, so sehr begehrt hatte wie eben jetzt, während sie ihm mißtraute wie noch nie. »Ich habe ihr gesagt, du wärest krank. Gestern abend hat sie angerufen und sich nach dir erkundigt. Ich habe ihr gesagt, daß du wieder in Ordnung wärst.« »Das wird sie aber gefreut haben.« »Ich schlafe heute nacht in meinem Arbeitszimmer, Schatz.« Walter drückte zärtlich ihren Arm und erhob sich. »Ich denke, du erholst dich besser, wenn du allein schläfst«, fügte er hinzu für den Fall, daß sie ihn vielleicht mißverstand. Doch ihr entsetzter, starrer Blick bewies ihm, daß sie seinen Worten trotzdem eine ganz andere Bedeutung beimaß.
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8 Etwa eine Woche lang lag Clara fast ständig im Bett, und alle paar Stunden schlief sie ein wenig. Abends machte Walter mit ihr kleine Autofahrten und kaufte ihr am Straßenrand des Benedicter Drugstores Schokoladenmixgetränke. Zweimal kam Betty Ireton zu Besuch. Alle schienen zu glauben, was Walter erzählt hatte: daß Clara eine schwere Grippeinfektion gehabt hätte. Eines Abends schließlich konnte Clara schon ins Kino gehen, und am Tage darauf verkündete sie, sie werde nächsten Montag wieder arbeiten. Es waren noch keine zwei Wochen vergangen, seit sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Am gleichen Abend, Freitag war es, rief Claras Mutter aus Harrisburg an. Walter hörte Claras kühle, gleichmütige Begrüßung, dann eine lange Pause, während deren, wie Walter vermutete, die Mutter ihre Tochter anflehte, zu Besuch zu kommen. »Na also, wenn es dir nicht schlecht geht, warum soll ich dann kommen?« fragte Clara. »Du weißt doch, ich habe hier einen Beruf. Ich kann nicht einfach so kommen, wie es irgend jemandem gerade paßt.« Voller Unruhe stand Walter auf und schaltete das Radio ab. Er wußte, es ging ihrer Mutter nicht gut. Sie hatte schon zwei Schlaganfälle hinter sich. Wie konnte Clara nur angesichts der Schwäche eines anderen so erbarmungslos sein, fragte er sich, wo sie selber doch vor zwölf Tagen erst dem Tode so nah war? »Mutter, ich schreibe dir. Deine Telephonrechnung wird ziemlich hoch werden, wenn du so lange sprichst … Ja, Mutter, heute abend, ich verspreche es dir.« Plötzlich fielen Walter Ellies Tulpenzwiebeln ein. 77
Clara drehte sich herum und seufzte. »Sie macht mich fertig, völlig fertig.« »Ich nehme an, du willst nicht hinfahren.« »Ganz bestimmt fahre ich nicht hin.« »Weißt du, ich finde ja, daß dir ein Monat da draußen guttun würde. Vorausgesetzt, daß du dich ausruhst und nicht …« »Du weißt doch, ich kann meine Mutter nicht um mich haben.« Walter beließ es dabei. Er war jetzt immer bemüht, all die Themen zu meiden, die Clara aufregten, und dies war ganz bestimmt eins. »Sag mal, was ist eigentlich aus diesen Tulpenzwiebeln geworden? Hat Claudia sie dir gegeben? Ich hatte sie darum gebeten.« »Ich habe sie weggeworfen«, sagte Clara, setzte sich wieder auf das Sofa und nahm ihr Buch wieder auf. Herausfordernd sah sie zu Walter hoch. »War das nötig?« fragte Walter. »Du brauchst es nicht unbedingt an einem Dutzend unschuldiger Tulpenzwiebeln auszulassen.« »Ich will nicht, daß ihre Blumen unseren Garten zieren.« Plötzlich flammte die Wut in ihm auf. »Clara, das war dumm und gemein von dir!« »Wenn wir Tulpen wollen, können wir sie uns selber kaufen«, sagte Clara. »Deshalb willst du auch, daß ich nach Harrisburg fahre, ja? Du hättest mich ganz gern für ein Weilchen aus dem Wege.« Walter war noch nie so nahe daran gewesen, sie zu schlagen, wie jetzt. »Abscheulich, wie du redest. Entwürdigend.« »Zieh hin mit ihr. Ruf sie heute abend an und triff dich mit ihr. Du mußt Sehnsucht haben nach so langer Zeit.« 78
Walter ging einen Schritt auf sie zu und packte ihr Handgelenk. »Hör bitte auf! Du bist ja hysterisch!« »Laß mich los!« Er ließ sie los, und sie rieb sich ihr Handgelenk. »Entschuldige«, sagte er. »Manchmal meine ich, eine ordentliche Ohrfeige könnte dich zur Besinnung bringen.« »Schocktherapie«, sagte sie spöttisch. »Ich habe meine Sinne durchaus beisammen, und du weißt es. Warum sagst du nicht die Wahrheit, Walter? Du hast mit diesem Mädchen geschlafen, als ich im Krankenhaus war, nicht wahr?« Walter setzte zu einer Antwort an, dann gab er es auf und verließ das Zimmer. Er ging in die Küche und knöpfte sein Hemd auf. In dem Lichtschein, der aus dem Wohnzimmer kam, zog er sich aus und begann, die alten Sachen anzuziehen, die im Küchenschrank hinter den Besen und Scheuerlappen hingen. Er schlüpfte in die alte Arbeitshose, in das Hemd und den Sweater, die er immer trug, wenn er Haus- und Gartenarbeiten verrichtete. Unter dem Mop fand er seine Tennisschuhe. Dann ging er hinaus und stieg in sein Auto. Er fuhr nach Benedict hinein. Er zitterte, hauptsächlich vor Erschöpfung, dachte er. Seit jener Sonntagnacht, als sie es tat, hatte er ununterbrochen in höchster Anspannung gelebt, und nun, da sie wieder auf den Beinen war, war es auch nicht besser. Was war er doch für ein Idiot gewesen – zu glauben, sie könnten es noch einmal ganz neu versuchen! Vor der Three Brothers Tavern schrak er zurück. Er wollte in eine Bar gehen, in der er noch nie war. Er sah eine an der Straße kurz vor Huntington. Walter ging an die Bar und bestellte einen doppelten Scotch mit Wasser. Er betrachtete sich die Leute an der Bar: ein paar Männer, die wie Lastwagenfahrer aussahen; eine schlampige Frau, in eine Zeitschrift vertieft, vor sich einen abscheulich aussehenden créme de menthe; ein sehr alltägliches Paar 79
mittleren Alters, beide waren ein wenig beschwipst und stritten miteinander. Walter kniff die Augen fest zu und lauschte dem albernen Text des Liedes, das aus dem Musikautomaten scholl. Er hätte am liebsten vergessen, wer er war, alles vergessen, was er heute, abend gedacht hatte. Er blickte hinunter auf seine Arbeitshose, wie er da an der Bar saß, bemerkte, daß ein Knopf offenstand, knöpfte ihn geistesabwesend zu, stieg von dem Hocker und lehnte sich über die Theke. Die zänkischen Stimmen des Mannes und der Frau wurden lauter und übertönten den Musikautomaten. Er war etwa fünfzig und hatte ein hageres, schlecht rasiertes Gesicht. Sie war fett und schmutzig; wahrscheinlich waren sie schon dreißig Jahre verheiratet, dachte Walter. Er beneidete die beiden. Ihre Streitereien waren so simpel, so oberflächlich. Selbst wenn die Wut das Gesicht des Mannes verzerrte, war es doch eine gelinde und oberflächliche Wut. Der Mann hob den Arm und schwang ihn zurück, so als wollte er sie schlagen, dann legte er seinen Arm wieder hin. Walter hatte das Gefühl, als erinnere ihn das an irgend etwas, er wußte aber nicht, woran. Er hatte Clara nie geschlagen. Walter hob sein Glas und setzte es leer wieder ab. Er dachte an die ermordete Frau, Mrs. Kimmel: ihr Mann hatte sich nicht damit begnügt, sie zu schlagen; er hatte sie umgebracht. Aber es hatte ja niemand behauptet, der Ehemann sei es gewesen, fiel Walter ein. Das war seine eigene Idee. Der Mann hätte es jedenfalls gewesen sein können, er hätte nichts weiter zu tun brauchen als an der Bushaltestelle zu seiner Frau zu gehen und sie dazu zu bringen, ein Stückchen mit ihm zu kommen. Walter hätte gern gewußt, was man eigentlich über diesen Fall herausgebracht hatte, und ob vielleicht noch etwas in den Zeitungen gestanden hatte, was ihm entgangen war. Das konnte durchaus sein. Das war keiner von den Fällen, denen die Zeitungen sehr viel Papier widmen. Walter hätte gern gewußt, 80
ob man denn eigentlich den Mörder gefunden hatte, ob eigentlich jemals der Verdacht auf den Ehemann gefallen war? »Noch einen?« fragte der Barmixer, die Hand an Walters Glas. »Nein, danke«, sagte Walter. »Ich warte lieber noch ein bißchen.« Walter zündete sich noch eine Zigarette an und starrte weiter auf die Flaschen und Gläser unten im Regal hinter der Theke hinab. Melchior Kimmel war Buchhändler, erinnerte sich Walter. Walter fragte sich, ob man eigentlich einen Menschen schon an seinem Äußeren als Mörder erkennen könne. Nicht mit absoluter Sicherheit natürlich, aber konnte man nicht erkennen, ob er eines Mordes fähig war oder nicht? Plötzlich erfüllte ihn Neugier auf Melchior Kimmel. Er wäre am liebsten nach Newark gefahren und hätte nachgesehen, ob es da einen von Melchior Kimmel betriebenen Buchladen gab, ob es dort einen Mann namens Melchior Kimmel gab, den er mit eigenen Augen sehen konnte. Walter bezahlte sein Glas, hinterließ ein Trinkgeld und ging. In dieser Nacht – Walter schlief in seinem Arbeitszimmer – träumte er, daß er Melchior Kimmel in seinem Buchladen aufsuchte, und Kimmel entpuppte sich als einer der halbnackten Atlanten aus grauem Stein, die den langen Türsturz des Geschäftes trugen. Walter erkannte ihn sofort und begann eine Unterhaltung mit ihm, aber Melchior Kimmel lachte nur, sein steinerner Bauch wackelte, und er dachte nicht daran, auf irgendeine Frage Walters zu antworten.
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9 Der folgende Tag war ein Sonnabend. Walter schlief bis nach neun, und als er nach unten kam, um zu frühstücken, teilte Claudia ihm mit, daß Clara weggegangen sei. »Sie hat gesagt, sie ginge einkaufen in Garden City«, sagte Claudia. »Sie wußte nicht genau, wann sie zurück sein würde.« »Aha. Danke«, sagte Walter. Um drei Uhr nachmittags war Clara immer noch nicht da. Walter hatte den Rasen gemäht und die beiden dicken Heckenbüsche beschnitten, und er hatte ein Buch über das New Yorker Strafrecht ausgelesen, das Dick Jensen ihm geliehen hatte. Er war nervös und trank eine Flasche Bier in der Hoffnung, es würde ihn so müde machen, daß er ein wenig schlafen könne. Es machte ihn nicht müde. Kurz vor vier setzte Walter sich in seinen Wagen und raste gen Newark. Im Telephonbuch stand kein Melchior Kimmel, aber es gab da eine Kimmel-Buchhandlung in der South Huron Street 313. Walter kannte sich überhaupt nicht aus in den Straßen von Newark. Von einem Verkäufer des Tabakladens, dessen Telephonbuch er benutzt hatte, ließ er sich den Weg beschreiben. Der Mann sagte, es wäre etwa zehn Blocks entfernt, und er erklärte Walter, wie man dort hinkäme. Der Laden lag in einer schmutziggrauen Geschäftsstraße. Walter hielt automatisch Ausschau nach den Atlanten vorn am Geschäft, aber es waren gar keine da. Er sah zwei verstaubt wirkende Schaufenster voller Bücher zu beiden Seiten einer etwas zurückliegenden Tür. Es wirkte wie ein Laden, der sich auf Studentenliteratur und antiquarische Bücher spezialisierte. Walter fuhr seinen Wagen auf die andere Straßenseite, stieg aus und ging langsam auf das Geschäft zu. Drinnen sah er 82
niemanden, nur einen jungen Mann mit Brille, der in einem Buche las, gegen einen langen Tisch gelehnt. In dem einen Schaufenster türmte sich eine Pyramide von AlgebraLehrbüchern, in dem anderen lag ein Sortiment populärer Romane, sternförmig drapiert um eine Karte mit der roten Aufschrift: 89 Cents. Walter betrat den Laden. Drinnen herrschte ein schaler, süßlicher Geruch. Regale voller Bücher bedeckten die Wände vom Fußboden bis unter die Decke. Zwei lange Tische, auf denen sich Bücher in wildem Durcheinander häuften, nahmen die halbe Länge des Ladens ein. Zwei oder drei nackte Glühbirnen hingen von der Decke herab, und hinten brannte ein helleres Licht. Walter ging langsam weiter. Unter dem tief herunterhängenden hellen Licht, abgedeckt von einem grünen Glasschirm, sah Walter einen kahlköpfigen Mann von ungefähr vierzig Jahren an einem Schreibtisch sitzen. Walter war so sicher, daß dieser Mann Melchior Kimmel war, als hätte er ihn schon einmal auf einem Photo gesehen und nun wiedererkannt. Der Mann sah zu Walter auf. Er hatte einen großen, rosigen Mund mit übermäßig dicken Lippen, die aussahen, als wären sie schmerzhaft geschwollen. Seine kleinen Augen hinter der randlosen Brille folgten Walter einen Augenblick, dann senkten sie sich wieder hinunter zu den Papieren auf seinem Schreibtisch. Im Vorübergehen – der Laden zog sich hinter dem Schreibtisch noch ein paar Meter weiter und endete dann in weiteren Bücherregalen – sah Walter, daß der Körper des Mannes in Größe und Schwere seinem Gesicht entsprach. Die Wölbung seines gebeugten Rückens wirkte wie ein Gebirge unter dem frischen weißen Hemd. Die Überbleibsel eines dunkelblonden Haarschopfes lockten sich ein bißchen über den Ohren und bildeten einen Halbkreis unter der abstoßenden, rosa glänzenden Glatze. 83
»Suchen Sie irgend etwas Spezielles?« fragte der Mann Walter und drehte sich mit seinem Stuhl herum, indem er eine Ecke des Schreibtisches packte. Seine schwere Unterlippe hing ein wenig herab. »Nein, danke. Haben Sie etwas dagegen, daß ich mich bloß einmal umschaue?« »Nicht im geringsten.« Er wandte sich wieder seinen Papieren zu. Eine kultivierte Stimme, dachte Walter, nicht entfernt die Stimme, die er von diesem Körper erwartet hatte. Allerdings sah auch das Gesicht des Mannes bei aller Häßlichkeit intelligent aus. Walter fühlte seinen Elan dahinschwinden. Das war nur ein Mann, dessen Frau ermordet wurde, dachte Walter, ein Mann, dem ein entsetzliches Unglück widerfahren war. Jetzt kam es Walter absurd vor, daß er je darüber nachgedacht hatte, ob Melchior Kimmel tatsächlich seine Frau umgebracht habe. Hätte die Polizei das nicht längst herausgefunden, wenn es wahr wäre? Walter stand vor einem Regal, das ein Schildchen mit der Aufschrift METAPHYSISCHE DICHTUNG trug. Die Bücher waren alt, die meisten sahen aus, als gehörten sie einem Gelehrten. Walter erspähte die juristische Abteilung und ging dorthin. Gern hätte er noch einmal mit dem Mann gesprochen. Walter starrte auf die Reihe zerfledderter Bände von Blackstones Commentaries, eines Konglomerats von Gehässigkeiten, auf New Jersey Civil Courts 1938, New York State Bar Journal 1945, American Law Reports 1933, Moores Weight of Evidence. Walter schlenderte hinüber zu dem Mann unter der Lampe. »Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie vielleicht ein Buch mit dem Titel Männer, die das Recht brechen haben?« fragte Walter. »Den Titel weiß ich genau, aber nicht den Verfasser. Ich 84
glaube, es ist von Robert Miles.« »Männer, die das Recht brechen?« wiederholte der Mann und stand auf. »Wie alt ist es ungefähr?« »Etwa fünfzehn Jahre, glaube ich.« Der Mann blieb an den Juraregalen stehen und richtete den Strahl einer Taschenlampe auf die Titel, überflog sie rasch, dann zog er die vordere Buchreihe herunter und blickte auf die Bücher dahinter. Das Regal stand im vollen Licht, und für die vordere Reihe wäre die Taschenlampe wirklich nicht nötig gewesen. Walter nahm an, daß der Mann schlecht sah. Das Licht über dem Schreibtisch war außergewöhnlich stark. »Es kann wohl nicht von Marvin Cudahy sein?« Walter kannte den Namen, war aber überrascht, daß Kimmel ihn kannte – ein pensionierter Richter in Chikago, der ein paar obskure Bücher über Rechtsethik geschrieben hatte. »Ich bin ziemlich sicher, daß es nicht von Cudahy ist«, sagte Walter. »Ich weiß den Verfasser nicht. Ich kenne nur den Titel.« Von seiner überlegenen Höhe herab maß der Mann Walter, und Walter spürte oder bildete sich ein, daß ein persönliches Element in dieser Examination mitschwänge, es brachte ihn ein bißchen durcheinander und ließ ihn den Blick senken, hinunter von den kleinen, blaßbraunen Augen des Mannes auf die blütenweiße Hemdbrust. »Sicherlich kann ich es Ihnen besorgen«, sagte Kimmel. »Eine Frage von höchstens ein paar Wochen. Wollen Sie mir Ihre Adresse dalassen, damit ich Ihnen Bescheid geben kann?« »Ja, danke.« Er folgte dem Mann zum Schreibtisch. Plötzlich scheute er sich, seinen Namen preiszugeben, aber als Kimmel mit gezücktem Bleistift wartete, sagte Walter »Stackhouse« und buchstabierte es, wie er es immer tat. »Marlborough Road 49, Benedict, Long Island.« 85
»Long Island«, murmelte Kimmel, er schrieb schnell. »Sie sind Melchior Kimmel, nicht wahr?« fragte Walter. »Ja.« Die fahlen Augen, unnatürlich klein hinter den dicken Brillengläsern, blickten unverwandt auf Walter. »Ich glaube mich zu erinnern … Ihre Frau ist vor gar nicht langer Zeit getötet worden, nicht wahr?« »Sie wurde ermordet, ja.« Walter nickte. »Ich kann mich nicht erinnern, irgendwo gelesen zu haben, daß man den Mörder gefunden hätte.« »Nein. Sie suchen ihn noch.« Walter glaubte Ärger aus Kimmels Tonfall herauszuhören. Er bildete sich ein, Kimmels Haltung sei steifer geworden, kaum merklich allerdings. Walter hatte keine Ahnung, wie er sich aus dieser Affäre ziehen sollte. Er zerknüllte seine Autohandschuhe zwischen den Händen und zermarterte sein Hirn nach einer Phrase, mit der er sich zurückziehen konnte. »Warum? Haben Sie meine Frau gekannt?« fragte Kimmel. »O nein. Mir kam nur der Name bekannt vor – reiner Zufall.« »Aha«, sagte Kimmel mit seiner kultivierten, wohllautenden Stimme. Sein Blick ließ Walters Gesicht nicht los. Walter blickte hinunter auf Kimmels rechte Hand, auf den breiten, plumpen Handrücken. Der Schein der Lampe über dem Schreibtisch fiel darauf, und Walter konnte sehen, daß sie mit Sommersprossen übersät war und nicht ein Härchen auf ihr wuchs. Ganz plötzlich spürte Walter die Gewißheit, daß Kimmel wußte, Walter war nur deshalb in den Laden gekommen, um ihn zu besichtigen, um eine schmutzige Neugier zu befriedigen. Kimmel wußte nun, daß er in Long Island wohnte. Kimmel stand sehr dicht vor ihm. Plötzliche Furcht überkam Walter, daß Kimmel seine mächtige Pranke heben und ihm den Schädel einschlagen würde. »Ich hoffe, der Schuldige wird bald gefunden.« 86
»Danke«, sagte Kimmel. »Entschuldigen Sie, daß ich Sie in dieser Weise belästigt habe«, sagte Walter ungeschickt. »Aber Sie haben mich doch nicht belästigt!« sagte Kimmel mit plötzlicher Herzlichkeit. Die aufgequollenen Lippen, die irgendwie einem feisten, quergeteilten Herzen glichen, zuckten nervös. »Vielen Dank für Ihre guten Wünsche.« Walter bewegte sich auf die Ladentür zu, und dicht hinter ihm ging Kimmel, sehr höflich. Walter fühlte sich plötzlich freier, und doch hatte er gespürt … in den letzten Sekunden, ja, eigentlich in dem Augenblick, als Kimmel protestierte, Walter habe ihn doch gar nicht belästigt: es war möglich. Kimmel konnte seine Frau ermordet haben. Es war nicht sein stiernackiges Äußeres, nicht die Wachsamkeit in seinen Augen; es war seine plötzliche, überströmende Freundlichkeit. Walter hatte sogar den Eindruck, als hätte Kimmel erleichtert aufgeatmet, als er feststellte, daß Walter ihm nur wohlgesinnt war, daß er kein Polizeispitzel war. An der Tür drehte Walter sich um und streckte Kimmel, ohne zu überlegen, die Hand hin. Kimmel ergriff die Hand, schüttelte sie mit einem überraschend sanften Griff und verbeugte sich leicht. »Auf Wiedersehen«, sagte Walter. »Vielen Dank.« »Auf Wiedersehen.« Walter ging über die Straße zu seinem Wagen. Vom Wagen aus blickte er zurück auf das Geschäft und sah Melchior Kimmel hinter der Glasscheibe der Ladentür stehen, sah ihn den Arm heben und sich langsam mit der Hand über den nackten Schädel fahren, die Geste eines Menschen, der nach einer Zeit der Spannung wieder aufatmet. Walter sah ihn gelassen zurückschreiten in die Tiefe seines Ladens, den Kahlkopf hocherhoben, die langen Arme ein wenig abgespreizt 87
von dem mächtigen Körper. Melchior Kimmel setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und starrte in die vollgestopften Ablagefächer. Noch so ein Schnüffler, dachte er, nur etwas intelligenter und besser angezogen als die anderen. Oder war das womöglich ein Detektiv gewesen? Die kleinen Äuglein Melchior Kimmels waren fast geschlossen, während er im Geiste noch einmal ihre Unterhaltung in allen Einzelheiten durchging. Nein, dafür war die Verlegenheit des Mannes zu echt gewesen, und außerdem – was hatte er denn herauszubekommen versucht? Nichts. Kimmel hatte das Gefühl gehabt, daß der Mann wirklich Jurist war – obwohl er gar nicht gesagt hatte, daß er es sei. Kimmel griff nach dem Bestellblock, auf den er Namen und Adresse des Mannes geschrieben hatte und den Titel des Buches, das er haben wollte; er riß das gelbe Blatt ab und schob es in das Ablagefach, in dem er seine unerledigten Sachen sammelte. Und als hätte diese Handbewegung eine Maschine in Gang gesetzt, folgte ihr ein stetes Aufheben und Weglegen von Papieren, Briefen, Notizheften aller Größen in die verschiedenen Fächer vor ihm auf dem Schreibtisch, die so kompliziert aussahen wie eine Schalttafel. Sein schwerer Körper schwang mit den Bewegungen hin und her, und für ein paar Augenblicke schien sein Geist sich in den dicken Armen und Händen zu konzentrieren. Zuletzt ergriff er ein kleines braunes Heftchen, und bevor er es in das Fach legte, in das es gehörte, schlug er es bei einer der letzten Seiten auf und zog einen kurzen vertikalen Strich, daneben schrieb er das Datum und ›siehe B-2489‹, das war die Nummer des obersten Bestellzettels minus eins. Jetzt waren es sieben vertikale Striche mit Daten daneben und drei Sternchen mit Daten. Die drei Sternchen standen für Kriminalbeamte, für Männer, in denen er Kriminalbeamte hatte erkennen können und die wahrscheinlich des Glaubens waren, sie wären nicht erkannt worden. Die übrigen waren einfach bloß Neugierige gewesen. 88
Und Kimmel hielt die ganze Liste für ziemlich bedeutungslos. Er gähnte, reckte seine massigen Fäuste in die Höhe und wölbte wollüstig seinen breiten Rücken. Dann sank er entspannt gegen die ledergepolsterte Stuhllehne. Er schloß die Augen und ließ den Kopf hängen, der an dem Doppelkinn eine Stütze fand. Aber Kimmel döste nicht. Er genoß das herrliche Gefühl der Entspannung, das durch seine Muskeln strömte, diese Trägheit, die sanft seinen Körper durchfloß, die Arme hinunter bis in die schlappen, knolligen Fingerspitzen. Es war ein arbeitsreicher Sonnabend gewesen.
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10 Es war ungefähr neun Uhr, als Walter nach Hause kam. Er hatte ein Dutzend weißer Chrysanthemen für Clara mitgebracht. Sie saß im Wohnzimmer und arbeitete einige Geschäftspapiere durch, die sie auf dem Sofa ausgebreitet hatte. »Guten Abend«, sagte er. »Entschuldige, daß ich zum Essen nicht da war. Ich wußte ja auch nicht, ob du überhaupt da sein würdest oder nicht.« »Oh, das macht gar nichts.« »Die sind für dich.« Er hielt ihr den Strauß hin. Sie sah den Strauß an, dann ihn. Walters Lächeln schwand. »Soll ich sie für dich in eine Vase stellen?« Seine Stimme klang plötzlich gereizt. »Bitte tu das«, sagte sie kühl, so als hätten die Blumen mit ihr nichts zu schaffen. In der Küche öffnete Walter den Strauß und füllte Wasser in eine Vase. Er hatte sogar ein Kärtchen dazu geschrieben: ›Für meine einzige Clara‹. Er zerriß es und warf die Fetzen in die leere Blumenschachtel. »Wie geht’s Ellie?« fragte Clara, als er die Blumen ins Wohnzimmer trug. Walter gab keine Antwort. Er stellte die Vase auf das Rauchtischchen, nahm eine Zigarette und zündete sie an. »Warum verbringst du nicht auch den Rest des Abends mit ihr?« Das ist eine Idee, dachte Walter, hielt aber den Mund mit zusammengebissenen Zähnen. Er ging in die Küche, wusch sich am Spülstein Hände und Gesicht mit Seife und trocknete 90
sich mit einem Papierhandtuch ab. Dann ging er über die Diele zur Haustür. Clara sagte noch irgend etwas, als er hinausging. In der Three Brothers Tavern schaute er sich um, ob Bill da war oder Joel. Er hätte gern mit ihnen eins getrunken. Es war kein Bekannter da. Er winkte dem Barmixer Ben zu, ging zum Telephonbuch von Manhattan und suchte nach der Nummer von Ellie Briess. Er fand eine Ellen Briess und eine Elspeth Briess. Die Adresse der Elspeth Briess klang wahrscheinlicher. Walter rief die Nummer an. Das Fräulein vom Amt teilte ihm mit, die Nummer hätte sich geändert. Sie gab ihm eine Nummer in Lennert, Long Island. Ellie war am Apparat. Sie sagte, sie wäre heute gerade umgezogen. »Was machen Sie jetzt?« fragte er. »Haben Sie schon gegessen?« »Ich habe noch nicht mal daran gedacht. Bis vier Uhr mußte ich heute in der Schule bleiben, und die Möbelpacker haben mir einfach alles mitten ins Zimmer gekippt. Es tut mir leid, aber ich glaube kaum, daß ich das hier liegen lassen und essen gehen kann.« Es klang trotzdem so nett, daß Walter lächelte. »Vielleicht kann ich Ihnen helfen«, sagte er. »Darf ich rüberkommen? Ich bin gar nicht weit weg.« »Nun – wenn Ihnen so ein Durcheinander nichts ausmacht.« »Wo wohnen Sie?« »Brooklyn Street hundertsiebenundachtzig. Es ist die Klingel, an der Mays steht. M-a-y-s.« Er läutete bei dem Namen Mays. Als der Türöffner surrte, stieß er die Tür auf und nahm zwei Stufen auf einmal, die Champagnerflasche unter den Arm geklemmt wie einen Fußball. Im anderen Arm trug er eine Tüte aus dem 91
Delikatessengeschäft. Ellie stand in der offenen Wohnungstür auf der zweiten Etage. »Hallo«, sagte sie. »Willkommen.« Walter stoppte abrupt vor ihr. Er streckte ihr die Tüte entgegen. »Ich habe ein paar Sandwiches mitgebracht.« »Danke! Kommen Sie doch herein – aber ich bezweifle, daß Sie etwas zum Hinsetzen finden.« Er trat ein. Es war ein einziger großer Raum mit zwei Fenstern zur Straße, und im Hintergrund war ein kleiner Flur, der zu Küche und Bad führte. Er sah sich um in dem Gewirr von Koffern und Pappkartons. Da lagen zwei Geigenkästen, einer abgewetzt, der andere noch neu. Er folgte Ellie in die Küche. »Und das noch«, sagte er und gab ihr die Champagnerflasche. »Er ist leider nicht kalt. Beim Spirituosenhändler in Benedict war heute abend gerade der Kühlschrank kaputt.« »Champagner? Wem zu Ehren denn?« »Zu Ehren der neuen Wohnung.« Es war nichts da, was als Sektkühler dienen konnte. Ellie holte aus einem der Kartons im Wohnzimmer ein Handtuch und wickelte die Flasche mit Eiswürfeln aus zwei Schalen in das Handtuch. »Möchten Sie vielleicht einen Scotch, während wir hierauf warten?« fragte sie. »Gern.« »Und ein Sandwich? Sie haben so herrliche Sachen mitgebracht. Puter – und was ist das hier?« »Trüffeln.« 92
»Trüffeln«, wiederholte sie. »Mögen Sie die?« »Na, und ob.« Sie befreite ein paar Teller aus dem Zeitungspapier, in das sie verpackt waren. Sie steckte in Rock und Bluse und Sandalen, und sie trug kein Make-up. »Ich bin sehr froh, daß ich Gesellschaft habe. Ich packe ungern ein und aus, wenn ich dabei nicht trinke, und ich finde es deprimierend, allein zu trinken.« »Ich helfe Ihnen trinken und auch auspacken. Wo soll ich anfangen?« »Ich möchte eine Zeitlang nicht daran denken.« Sie bot ihm einen Teller, und er nahm ein Sandwich herunter. Sie gingen mit ihren Gläsern und den Tellern ins Wohnzimmer und setzten die Teller, da es keinen Tisch gab, auf dem Fußboden ab. Ellie schaute auf einen Stapel Notenhefte hinunter. »Mögen Sie Scarlatti?« »Ja. Auf dem Klavier. Ich habe ein paar …« »Das ist schön, ich spiele ihn auf der Geige.« Walter lächelte ein bißchen. Er stellte die Koffer auf den Fußboden, und sie setzten sich auf das Sofa. Er hatte das Gefühl, er wäre schon viele Male hier gewesen, und in wenigen Minuten, wenn sie ihre Gläser leergetrunken hätten, würden sie sich der Liebe hingeben, so wie sie es schon viele Male getan hätten. Ellie erzählte ihm von einer Frau namens Irma Gärtner in New York, der sie sehr fehlen werde, weil sie, sagte Ellie, abhängig davon sei, daß sie ihr alle vierzehn Tage die Notenhefte in der Bibliothek umtauschte. Irma Gärtner sei gelähmt, etwa fünfundsechzig Jahre alt und spiele auch Geige. »Sie spielt immer noch ausgezeichnet«, sagte Ellie. »Wäre sie keine Frau, dann könnte sie bestimmt eine Stellung bekommen in einem Streichorchester, das irgendwo im 93
Restaurant spielt oder so. Aber wer stellt schon eine Frau in ihrem Alter ein!« Walter versuchte, sich eine Clara vorzustellen, die jemanden so gern hatte, daß sie ihn oder sie aus Zuneigung oder Mitleid besuchte; es war unvorstellbar. Ellies Schultern schimmerten weich unter der weißen Bluse, und er spürte das Verlangen, die Arme um sie zu legen. Und wenn er es täte? Entweder würde sie positiv reagieren oder sie würde negativ reagieren. Entweder würde sie positiv reagieren oder sie würde sehr kühl werden, und dann sähe er sie heute zum letztenmal. Walter dachte: wenn er seinen Arm nicht um sie legen durfte, dann wollte er sich sowieso nicht damit quälen, sie wiederzusehen. Er schob seinen Arm auf die Rückenlehne des Sofas und ließ ihn hinabgleiten auf ihre Schultern. Sie sah zu ihm auf, dann lehnte sie den Kopf an seine Brust. Begehren kroch wie Feuer durch seine Adern. Sie wandten sich einander zu und küßten sich. Es war ein langer Kuß, aber plötzlich entwand sie sich ihm und stand auf. Sie drehte sich um und sah ihn von der Zimmermitte her an, lächelte ihn an mit einem großen, verwirrten Lächeln. »Wohin soll das führen?« Er trat auf sie zu, aber sie schaute ein wenig erschrocken … oder auch böse, und er blieb stehen. Langsam ging sie in die Küche. Ihr Körper in dem Rock und der Bluse schien ihm sehr jung, jung unter der Maske der Indifferenz. Sie befühlte die Champagnerflasche. »Mit Eis im Glas sollte es gehen«, sagte sie. »Stört Sie Eis im Glas?« »Nein.« Wieder sah sie ihn an mit den scheuen, erregten Augen. »Für Champagner bin ich nicht angezogen. Können Sie zehn Minuten warten? Hier sind die Gläser. Ich habe leider nichts anderes als diese altmodischen Gläser.« Sie reichte sie ihm, 94
dann ging sie ins Wohnzimmer und holte sich aus einem Koffer irgend etwas Weißes. Sie verschwand damit im Badezimmer. Walter hörte die Brause rauschen. Er tat das Eis in die Gläser und stellte sie mit der Champagnerflasche auf einen Kofferdeckel. Die Brause rauschte lange, und er stand auf, um sich noch einen Scotch zurechtzumachen, aber dann ließ er es doch. Ellie kam heraus in einem dicken weißen Bademantel, barfuß. »Ich müßte mein bestes Kleid dafür anziehen«, sagte sie und schaute in einen Koffer. »Zieh nichts an.« Der Bademantel war aus Samt, und Walter mußte plötzlich denken: Clara verabscheut Samt. »Ich möchte, daß du das ausziehst«, sagte er. Sie ignorierte die Bemerkung völlig, und das war für Walter die aufregendste Reaktion, die sie hätte zeigen können. »Mach die Flasche auf.« Sie setzte sich neben den Koffer auf den Boden und lehnte sich gegen das Sofa. Walter ließ den Pfropfen knallen und goß ein. Schweigend kosteten sie. Er hatte das Deckenlicht ausgeknipst, nur aus der Küche kam noch ein Lichtschein. Sie hatte reizende Füße, glatt und schmal und braun wie ihre Beine. Sie machten gar nicht den Eindruck, als gehörten sie zu ihren Händen. Er schenkte nach, »Nicht schlecht.« »Nicht schlecht«, echote sie. Sie lehnte den Kopf zurück an das Sofa. »Es ist wundervoll. Es gibt Momente, da liebe ich die Unordnung. Heute abend ist so ein Moment.« Er stand auf und breitete eine grüne Decke auf dem Fußboden aus. »Wird es nicht zu hart sein auf dem Fußboden?« Sie lag bäuchlings auf der Decke, den Arm unter die Wange 95
geschoben, und blickte zu ihm hinauf. Er setzte sich neben sie auf die Decke. Die Flasche Champagner schien ewig zu währen, so wie jener Krug, von dem die Sage berichtet. »Warum ziehst du dich nicht aus?« fragte sie. Er tat es, und dann löste er den Samtgürtel. Sie fühlte sich wunderbar sanft an, ihre Brust in seiner Hand so sanft wie Milch. Er war sehr behutsam und sehr vorsichtig, um ihr nicht weh zu tun auf dem Fußboden, der immer noch sehr hart war trotz der Decke, aber Ellie schien das nicht zu spüren, und dann vergaß er den Fußboden. Einmal aber hatte er einen kühlen, rationalen Moment, als er sich fragte, ob jemals ein Mann sie so gut geliebt hätte wie er. Ihm war, als wären sie schon oft zuvor zusammen gewesen und als könnte es für sie niemals an Schönheit verlieren, solange sie lebten. Und als sei Clara ein blasses Etwas im Vergleich zu dem hier. Er hatte den Wunsch, ihr zu sagen: Ich liebe dich. Er sagte nichts. Sie öffnete die Augen und sah ihn an. Er goß den letzten Champagner in die Gläser, dann zündete er eine Zigarette an, um sie mit ihr zu teilen. »Weißt du, wie spät es ist?« fragte sie. Er fand es abscheulich, daß er seine Armbanduhr noch anhatte. »Es ist erst fünf vor zwei.« »Erst!« Sie stand auf, ging ans Radio und stellte es an, leise. Dann kam sie zurück und kniete neben ihm nieder. Sie küßte seine Stirn. Er sah zu, wie sie den Bademantel anzog. Dann kleidete er sich rasch an. Er wollte nicht die ganze Nacht hierbleiben, doch merkte er, daß sie es sich wünschte. »Wann sehe ich dich wieder?« fragte er. 96
Sie hob den Blick zu ihm, und er sah in ihren Augen, daß sie enttäuscht war, weil er gehen wollte. »Ich möchte keine Pläne schmieden.« »Kann ich irgend etwas für dich tun?« »Wie meinst du das?« »Botengänge. Für die neue Wohnung.« Ellie lachte. Sie stützte sich auf die leere Bücherkiste. Im Halbdunkel konnte er ihre bläulich-braunen Augen sehen: sie lächelten, als liebte sie ihn sehr. »Vielleicht werde ich nie ganz fertig damit. Ich habe dir ja gesagt, ich liebe die Unordnung.« Langsam ging er auf sie zu. »Ich rufe dich an.« »Nett von dir«, sagte sie. Lächelnd nahm er sie beim Handgelenk und zog sie an sich. Sie küßten sich, und er hätte auf der Stelle von vorn anfangen können, aber er machte die Tür auf. »Gute Nacht«, sagte er und ging hinaus. Er stieg die Treppen hinab, und sein Körper fühlte sich so schwerelos, so jung, als habe er sich bis in die letzte Zelle hinein erneuert. Auf seinem Gesicht lag ein Lächeln. Clara wachte auf, als er ins Schlafzimmer trat. »Wo warst du?« fragte sie verschlafen. »Habe getrunken. Mit Bill Ireton.« Es war ihm ganz gleichgültig, ob sie herausbekam, daß er nicht mit Bill zusammen gewesen war. Es war ihm gleichgültig, ob sie herausbekam, daß er bei Ellie gewesen war. Clara schlief anscheinend wieder ein, denn sie sagte nichts weiter. Am Montag vormittag rief Walter Ellie an und fragte sie, ob sie mit ihm zu Abend essen könne. Clara wollte er sagen, daß er mit Jon in New York verabredet sei. Er würde nach Büroschluß gar nicht erst nach Hause gehen. Aber Ellie sagte, sie müsse den ganzen Abend lang Geige üben, sie müsse einfach, denn es stünden wieder Prüfungen für die 97
Musikbegabten ihrer Klasse bevor. Walter fand, daß alles recht kühl klang. Er hatte das Gefühl, sie habe sich entschieden, mit ihm Schluß zu machen, ja, vielleicht würde sie sich überhaupt nie mehr zu einem Wiedersehen bereitfinden. An diesem Montag ging Walter während der Mittagszeit in die öffentliche Bibliothek und schlug in den Newarker Zeitungen vom August nach wegen der Kimmel-Sache. Da gab es ein Bild der Leiche am Tatort. Die Frau wirkte untersetzt und dunkel, aber ihr Gesicht war abgewandt, und er konnte sehr wenig erkennen, nur ein blutbeflecktes helles Kleid, halb verhüllt von einer Decke. Walter war sehr gespannt auf Kimmels Alibi. Er fand eine einzige Darstellung in verschiedenen Varianten: ›Melchior Kimmel erklärte, daß er sich in der Mordnacht in Newark aufgehalten und sich von zwanzig bis zweiundzwanzig Uhr einen Film angesehen habe.‹ Walter nahm an, daß er einen Zeugen hatte, der das bestätigte, und daß es niemals in Zweifel gezogen worden war. Aber ebensowenig war der Mörder je gefunden worden. Walter sah die Newarker Zeitungen von mehreren Tagen nach dem Mord durch. Es war nichts weiter bekanntgeworden. Walter verließ die Bibliothek, enttäuscht und ziemlich böse.
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11 »Ich muß dich sehen«, sagte Walter. »Und wenn es nur für ein paar Minuten ist.« Schließlich willigte Ellie ein. Walter eilte nach Lennert. Es war erst sieben Uhr. Clara war zum Essen zu Philpotts gegangen; Claudia hatte es ihm ausgerichtet. Er hoffte, daß Ellie den ganzen Abend Zeit hatte. Auf der Straße vor ihrem Hause hörte er ihre Geige. Er wartete, bis sie dreimal über eine Tonfolge geglitten war, klingelte und hörte sie einen kräftigen Akkord streichen. Der Türöffner surrte. Wieder stand sie in der offenen Wohnungstür. Er wollte sie küssen, aber sie sagte: »Hast du etwas dagegen, daß wir irgendwo hingehen?« »Natürlich nicht.« Die Wohnung bot ein völlig verändertes Bild: auf dem Boden lag ein rosafarbener Teppich, einige Bilder hingen an den Wänden, und die Bücher standen im Regal. Nur der Stapel Notenhefte, obenauf noch immer Scarlatti, war als Erinnerung an den damaligen Abend übriggeblieben. Sie kam vom Schrank zurück mit ihrem Mantel. Er beschloß, mit ihr zur Old Millhouse Inn bei Huntington zu fahren, denn es war kaum anzunehmen, daß er dort irgendwelche Bekannte treffen würde. Im Wagen redete sie über ihre Schule. Walter spürte, daß Welten sie von ihm trennten, daß er ihr überhaupt nicht gefehlt hatte. Sie bestellten Martinis, als sie am Tisch saßen. Walter hätte sie lieber in der intimeren Bar getrunken, aber eine lärmende Männergesellschaft hatte die Bar mit Beschlag belegt, entweder ein Klubabend oder eine Herrenparty; es war ein 99
derart geräuschvolles Trinkgelage, daß sie es an ihrem Tisch noch hören konnten. Ellie war verstummt. Sie schien sich scheu vor ihm zurückzuziehen. »Ich liebe dich, Ellie«, sagte er. »Nein, das tust du nicht. Ich liebe dich.« Es traf ihn mitten ins Herz: ein süßer Schmerz wie bei einem Teenager. »Warum sagst du, ich liebte dich nicht?« »Weil ich es weiß. Nie wieder werde ich tun, was ich neulich abend getan habe, bis du mich liebst. Mag sein, daß ich es neulich nur getan habe, um meine eigene Kraft auf die Probe zu stellen.« »Ach, Ellie!« Er runzelte die Stirn. »Das ist alles so kompliziert. Und sehr russisch.« »Nun, ich bin ja Halbrussin.« Sie lächelte. »Soll ich ganz offen sein? Du liebst mich nicht, aber du fühlst dich zu mir hingezogen, weil ich anders bin als deine Frau. Du hast Schwierigkeiten mit deiner Frau, also kommst du zu mir – ist es nicht so?« Sie sprach so leise, daß er sich anstrengen mußte, sie zu hören. »Aber ich bin nicht so unklug, mich in ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann einzulassen – auch wenn ich ihn liebe.« »Ellie, ich könnte dich mehr lieben als irgendeine andere Frau auf der Welt. Ja, ich liebe dich!« »Was aber gedenkst du dafür zu tun, frage ich mich? Ich glaube, nichts.« Es lag kein Groll in ihrer Stimme. Sie sprach es aus, als stelle sie eine einfache Tatsache fest. »Woher willst du das wissen?« »Nun, ich weiß es nicht. Vielleicht irre ich mich.« Es war der Ernst, mit dem sie sprach, der es ihm so schwer machte, erkannte er. Er erkannte, daß er dem nichts 100
entgegenzusetzen hatte, keine eigenen Pläne, keine Lösungen, vielleicht nicht einmal ein Gefühl. Plötzlich sah er sich selber ganz objektiv, so, wie sie ihn sehen mußte, und er war beschämt. »Ich kenne dich nicht und glaube dich doch zu kennen – gut genug, um dich zu lieben«, sagte Ellie. »Ich glaube, du bist grundanständig. Ich glaube, du bist stark. Und ich glaube, ich habe mich in dich verliebt, als ich dich zum erstenmal zu Gesicht bekam.« Walter fragte sich, ob er das auch sagen könne. In jener Nacht damals, auf der Party … »Ich habe kein sehr fröhliches Leben gehabt«, fuhr sie fort. »Mein Vater trank. Er starb, als ich sechzehn war. Ich mußte meine Mutter unterstützen, weil mein Bruder kaum mehr taugte als mein Vater. Meine Mutter hat mich Elspeth genannt, weil sie das für einen hübschen Namen hielt. Das ist das einzige, mit dem sie sich, seit ich denken kann, je durchgesetzt hat – gegen meinen Vater. Die einzige Sicherheit, die ich je gefunden habe, fand ich in der Musik. Zweimal war ich schon verliebt – Liebeleien, nicht wie bei dir.« Sie lächelte, und sie sah so jung aus, jünger als ihre Stimme. »Ich liebe die Sicherheit. Ich wünsche mir ein Heim. Ich wünsche mir Kinder.« »Ich auch«, sagte Walter. »Und einen Mann, zu dem ich aufblicken kann. Ich wünsche mir etwas Endgültiges. Es ist einfach Schicksal, daß ich mich in dich vergucken mußte, nicht wahr?« »Ich weiß genau. Ich weiß … alles, was du sagst.« Walter starrte hinunter auf das braune Holz der Tischplatte. »Ich habe dir nie gesagt, daß ich die Absicht habe, mich sehr bald von meiner Frau scheiden zu lassen. Natürlich komme ich mit ihr nicht zurecht. Das kann jeder sehen, der unser Haus betritt. Ich möchte mich scheiden lassen, so schnell wie möglich.« Das 101
wollte er. Aber wollte er Ellie heiraten? Er spürte, daß er diese Frage noch nicht endgültig beantworten konnte, und das war es, was ihn jedes weitere Wort verschlucken ließ. »Wann?« fragte sie. »Es ist nur eine Frage von Wochen. Und dann, wenn wir uns dann noch gern haben … uns noch lieben …« »Ich werde dich auch in ein paar Wochen noch lieben. Du siehst, du bist derjenige, der noch Zweifel hat.« Sie zündete sich eine Zigarette an. »Ich glaube, wir sollten uns lieber nicht mehr treffen, bis du es genau weißt.« »Daß ich dich liebe?« »Das mit der Scheidung.« »Wenn du meinst«, sagte Walter. »Ich liebe dich zu sehr – verstehst du das? Ich dürfte dir das eigentlich nicht sagen, oder doch? Ich bin glücklich, wenn ich auch nur in deiner Nähe bin – geographisch. Und im Augenblick bin ich dir nur geographisch nahe. Niemals aber wirst du mich um die Marlborough Road herumlungern sehen.« Er starrte auf sein Feuerzeug hinunter. »Bist du böse, wenn ich jetzt nach Haus gehen möchte? Ich kann mich nicht mehr unterhalten – über andere Dinge.« »Gut«, sagte Walter. Er hielt Ausschau nach dem Kellner, um die Rechnung zu verlangen. Die Männer in der Bar spektakelten immer noch, als sie gingen. Es war erst Viertel nach neun, als Walter nach Hause kam, aber Clara lag schon im Bett. Sie las. Walter fragte, wie der Abend mit den Philpotts gewesen sei. »Ich war nicht bei ihnen«, sagte Clara mit der tonlosen Stimme, mit der sie stets Streit begann. 102
Walter sah sie an. »Du bist nicht hingegangen?« »Ich habe deinen Wagen heute abend vor der Wohnung von Ellie Briess gesehen«, sagte sie. »Du weißt also sogar, wo sie jetzt wohnt«, sagte er. »Ich habe es mir angelegen sein lassen, das herauszufinden.« Walter wußte, daß sie geduldig auf der Lauer gelegen haben mußte, denn er war heute abend beide Male nicht länger als fünf Minuten bei Ellie gewesen. »Und was für Konsequenzen ziehst du daraus? Warum läßt du dich nicht wegen Ehebruchs von mir scheiden?« Langsam öffnete er eine neue Packung Zigaretten, aber sein Herz klopfte vor Angst oder etwas Ähnlichem, denn zum erstenmal traf ihn die Schuld, deren sie ihn bezichtigt hatte. »Weil ich glaube, daß du darüber hinwegkommen wirst«, sagte Clara. Sie lag bequem in den Kissen, aber ihr Kopf und die Schultern sahen wieder so starr aus, und ihr Mund war zu einem geraden Strich verzerrt. Sie schien Walter plötzlich um Jahre gealtert. Sie streckte einen Arm zu ihm empor. »Liebling, komm zu mir«, sagte sie in einem Ton, dessen gespielte Zärtlichkeit ihm abscheulich klang. Er wußte, was sie von ihm erwartete: daß er sie küßte, ja, daß er sogar noch weiterging. Mehrmals schon war das vorgekommen seit dem Krankenhaus: Schmähungen und Vorwürfe bei Tage, und des Nachts versuchte sie, es wettzumachen, versuchte, ihn an sich zu fesseln, indem sie ihm ihren Körper gab. Das eine Mal, da Walter darauf eingegangen war, hatte er in ihrer Liebe eine entsetzliche Gezwungenheit gespürt, die ihn abstieß. »Sollten wir nicht jetzt einmal aufhören damit? Ich will es. Ich kann nicht mehr warten.« »Aufhören, womit?« »Ich lasse mich scheiden, Clara. Diesmal frage ich dich nicht. 103
Ich sage es dir. Und es ist nicht wegen Ellie, auch das sage ich dir.« »Vor sechs Wochen hast du gesagt, du liebtest mich.« »Das war ein Irrtum meinerseits.« »Möchtest du noch einmal eine Leiche auf dem Halse haben?« »Ich denke nicht daran, Kindermädchen zu spielen bei dir für den Rest deines Lebens – meines Lebens. Wenn du einer Scheidung nicht zustimmst, werde ich nach Reno gehen und sie dort erlangen.« »Reno!« höhnte sie. Walter starrte sie an. Wahrscheinlich glaubte sie ihm nicht, dachte er. Das war schlimm.
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12 Irgendwo im Hintergrund war Ellie, sie hatte nachgeholfen, ihn dazu angestiftet. Ellie wartete gleich dahinten. Der Bus war erleuchtet, und er konnte die Leute aussteigen sehen, einen nach dem anderen, und da war Clara, über dem Arm so etwas wie eine Reisedecke, sie kletterte die Stufen herab. Walter trat rasch auf sie zu. »Clara?« Sie schien nicht besonders überrascht, ihm hier zu begegnen. »Ich muß mit dir reden«, sagte er. »Wir sind in einem solchen Durcheinander aus dem Schlafzimmer gerannt.« Sie brummte etwas; es klang widerstrebend; aber sie kam mit. Er ging mit ihr die Straße entlang. »Nur noch ein kleines Stückchen weiter, damit wir ungestört reden können«, sagte er. Sie kamen an das dichte Buschwerk, das er erwählt hatte. »Wir sollten nicht zu weit gehen. Der Bus fährt in zehn Minuten weiter«, sagte Clara, keineswegs jedoch ängstlich. Walter warf sich über sie. Er hatte beide Hände an ihrem Hals. Er zerrte sie ins Unterholz, aber er mußte seine ganze Kraft aufbieten, denn sie war eigenartig schwer geworden, schwerer als ein Mann, und sie krallte ihre Hände fest in die Büsche. Walter zog heftig an ihr. Er ließ seine Hände an ihrer Kehle, damit sie nicht schreien konnte. Ihre Kehle fühlte sich immer härter und verdrehter an, wie ein dickes Seil. Angst stieg in ihm auf, daß er es nicht fertigbrächte, sie zu töten. Und dann merkte er, daß sie aufgehört hatte, sich zu wehren. Sie war tot. Er löste seine Hände von dem Seil, das ihr Hals war. Er stand auf und deckte sie mit der Reisedecke zu, die sie bei sich 105
gehabt hatte. Jeff war da, er kläfft und schwänzelte, munter wie immer, und als Walter aus dem Buschwerk trat, kam Jeff ihm nachgelaufen. Und da war Ellie, sie wartete an der Straße auf ihn, genau an der Stelle, die sie angegeben hatte. Walter nickte ihr zu zum Zeichen, daß alles vorüber sei, und Ellie lächelte voll Erleichterung. Ellie nahm seinen Arm und blickte voll Bewunderung zu ihm auf. Ellie wollte gerade etwas zu ihm sagen, als unmittelbar vor ihnen etwas explodierte … wie eine Bombe oder ein Zusammenstoß, und eine Wolke schwarzen Qualms verwischte alles. »Die Brücke ist hin!« rief Walter. »Wir können nicht weiter!« Aber Ellie ging weiter. Er versuchte, sie zurückzuhalten; sie ging ohne ihn weiter. Walter merkte, daß er auf dem Gesicht lag und versuchte, sich mit den Armen hochzurichten. Er wandte seinen dumpf dröhnenden Kopf zur Seite. War das Ellie, die dort lag? Er starrte hinüber, bis Claras dunkler Schopf und ihr kleines Gesicht verschwommen Gestalt annahmen. Sie lag da, das Gesicht ihm zugewandt. »Was hast du geträumt?« fragte sie mit ruhiger, klarer Stimme, als läge sie schon minutenlang wach. Walter fühlte sich durchsichtig. »Nichts. Ein Alptraum.« »Wovon?« »Von … ich weiß nicht mehr.« Er fiel auf das Kopfkissen zurück und drehte den Kopf zur anderen Seite. Hatte er im Schlaf gesprochen? Steif lag er da, wartete darauf, daß sie noch etwas sagte, und als sie das nicht tat, wartete er lauschend auf das schwache Atemgeräusch, das anzeigen würde, daß sie schliefe. Aber auch das hörte er nicht. Er merkte, daß ein 106
Schweißtropfen ihm an der Wirbelsäule entlang den Rücken hinunterrann. Er klammerte sich an das kühle Holz des Bettes und knetete es mit seinen schweißfeuchten Händen.
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13 Von der Three Brothers Tavern aus rief er Ellie an. »Bist du allein?« fragte er. Es klang so, als wäre sie nicht allein. »Nein, ich habe Besuch«, sagte sie leise. »Peter?« »Nein, eine Freundin.« Walter sah es vor sich, wie sie in der Diele am Telephon stand, mit dem Rücken zum türlosen Wohnzimmer. »Ich wollte dir sagen, daß ich nächsten Sonnabend nach Reno fahren werde. Ich werde sechs Wochen weg sein. Es ist der einzige Weg, auf dem ich es erreichen kann.« Er wartete, aber sie sagte kein Wort. Walter lächelte. »Wie geht es dir, Liebling?« »Danke, gut.« »Denkst du auch mal an mich?« »Ich liebe dich«, sagte Walter. »Ja.« Sie lauschten ihrem gemeinsamen Schweigen. »Wenn du in ein paar Wochen noch genauso empfindest – ich bin hier.« »Ganz bestimmt«, sagte Walter und legte den Hörer auf. An der Haustür traf er mit Clara zusammen. »Weißt du, was passiert ist? Ich hatte einen Unfall. Mein Wagen ist hin.« Walter ließ seine Aktenmappe auf den Garderobentisch fallen. Er sah sie am ganzen Körper zittern. Er konnte kein Anzeichen einer Verletzung entdecken. Er legte den Arm um ihre Schultern und führte sie zum Sofa im Wohnzimmer. Es war seit Tagen das erste Mal, daß er sie anrührte. 108
Sie erzählte ihm, ein Lastwagen, der irgendwo im Wald bei Oyster Bay aus einem Seitenweg gekommen sei, habe sie gerammt. Sie sei höchstens vierzig gefahren, aber wegen der Bäume habe sie den Lastwagen nicht gesehen, und gehört habe sie den Lastwagen auch nicht, weil er im Leerlauf rückwärts bergab gerollt sei. »Der Wagen ist versichert«, sagte Walter. Er schenkte ihr ein Glas ein. »Wie schlimm ist es denn?« »Die ganze Kühlerhaube ist eingedrückt. Beinahe hätte ich mich überschlagen!« Sie entriß ihre Hand den besorgten Zärtlichkeiten Jeffs; dann langte sie hinunter und tätschelte ihn nervös. Walter reichte ihr den Kognak. »Trink dies. Es wird dich beruhigen.« »Ich will nicht beruhigt werden!« schrie sie und sprang auf. Sie lief die Treppe hinauf, ein Taschentuch an die Nase gepreßt. Walter machte sich einen Scotch mit Soda zurecht. Auch seine Hand zitterte, als er sie hob. Er konnte sich vorstellen, was für ein Schock das für Clara gewesen war. Immer hatte sie sich damit gebrüstet, noch niemals einen Unfall gehabt zu haben. Walter trug sein Glas hinauf. Clara war im Schlafzimmer, lag halb auf dem Bett und weinte immer noch. »Jedem passiert irgendwann einmal ein Unfall«, sagte er. »Du mußt dir das nicht so zu Herzen nehmen. Die Philpotts können dir doch einen Wagen mit Fahrer zur Verfügung stellen, nicht wahr? Vielleicht solltest du ein paar Tage nicht fahren.« »Du brauchst nicht so zu tun, als kümmere es dich, was in mir vorgeht! Warum bleibst du nicht einfach heute abend weg und gehst zu Ellie? Du brauchst nicht nach Hause zu kommen zu einer Frau, die du haßt!« Walter biß die Zähne zusammen und ging aus dem Zimmer, 109
die Treppe hinunter. Er wußte, was Clara dachte: daß er jeden Abend, an dem er nicht zu Hause war, mit Ellie verbrachte. Er müßte jetzt eigentlich ausziehen, dachte er. In Wirklichkeit aber hatte er Angst, Clara könne das Haus in Brand stecken und sich selbst darin verbrennen oder etwas Derartiges. Zutrauen würde er ihr das. Also bewachte er sie, dachte er. Und er würde nach und nach ebenso überspannt werden wie sie. Claudia kam herein. »Sind Sie und Ihre Frau bereit zum Abendessen, Mr. Stackhouse?« So pflegte sie das Abendessen normalerweise nicht anzukündigen. Walter wußte, sie hatte Claras Geschrei oben gehört. »Ja, Claudia, ich werde sie holen.«
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14 Es läutete an der Haustür, als sie beim Frühstück saßen. Claudia war in der Küche. Walter stand auf. Es war ein Telegramm für Clara. Er ahnte, daß es von ihrer Mutter kam. Clara überflog das Telegramm. »Meine Mutter liegt im Sterben«, sagte sie. »Dies ist vom Arzt.« Walter griff nach dem Telegramm. Ihre Mutter habe wieder einen Schlaganfall erlitten, und man rechne nicht damit, daß sie mehr als sechsunddreißig Stunden zu leben habe. »Am besten nimmst du ein Flugzeug«, sagte er. Clara schob ihren Stuhl zurück und stand auf. »Du weißt doch, daß ich nicht fliege.« Walter wußte es: Clara hatte Angst vorm Fliegen. »Aber wenigstens fährst du hin.« Walter ging ihr in die Diele nach. Sie mußte heute morgen sehr früh aus dem Haus, weil sie um neun Uhr irgendwo verabredet war. »Natürlich. Ich muß ein paar finanzielle Dinge regeln, die sie all die Jahre hindurch vernachlässigt hat«, sagte Clara verdrießlich. Sie raffte einige Papiere zusammen, die auf dem Garderobentisch lagen, und legte sie in den Aktendeckel, den sie immer bei sich trug. »Zu dumm, daß dein Wagen kaputt ist«, sagte Walter. »Ja. Das macht die ganze Sache teurer.« Walter lächelte ein wenig. »Willst du meinen Wagen nehmen?« »Den brauchst du doch.« »Nur heute und morgen. Ab Sonnabend brauche ich ihn nicht mehr.« Walter flog am Sonnabend vormittag nach Nevada. 111
»Behalte nur deinen Wagen«, sagte sie. Walter zog an seiner Zigarette. »Wann etwa gedenkst du zu fahren?« »Heute am Spätnachmittag. Im Büro wartet noch einiges, um das ich mich kümmern muß, Mutter hin, Mutter her.« »Ich werde versuchen, dich anzurufen«, sagte Walter. »Um welche Zeit bist du dort zu erreichen?« »Wozu denn?« »Um zu erfahren, wann du fährst! Vielleicht kann ich dir irgendwie behilflich sein!« sagte er ungeduldig. Er hätte sich ohrfeigen können. Warum, zum Teufel, sollte er ihr denn behilflich sein? »Nun, wenn es unbedingt sein muß, ruf mich um zwölf herum an.« Sie blickte aus dem Fenster, als der große Packard der Philpotts in Sicht kam. »Da ist Roger. Ich muß gehen. Claudia! Würden Sie mir bitte ein paar Sachen herauslegen, aufs Bett, zum Einpacken? Mein graues Kleid und das grüne Kostüm. Ich bin gegen drei oder vier Uhr zurück.« Dann war sie weg. Walter rief Clara um zwölf in ihrem Büro an. Clara sagte, sie habe sich entschlossen, mit dem Autobus zu fahren, und der Bus führe um halb sechs von der Endstation Vierunddreißigste Straße ab. »Autobus!« sagte Walter. »Das wird dich schrecklich anstrengen, Clara. Es dauert Stunden.« »Es sind nur fünf Stunden bis Harrisburg. Die Züge passen mir nicht in den Kram. Ich muß auflegen, Walter. Um halb eins muß ich zu einem Essen in Locust Valley sein. Auf Wiedersehen.« Verärgert legte Walter den Hörer auf. Er lockerte den Hemdkragen und hörte den Knopf aufspringen und zweimal über den Korkboden hopsen. Er würde dort sein, wenn sie 112
abfuhr, voraussichtlich, aber es empörte ihn, daß er ihr so viel Entgegenkommen erweisen sollte. Doch eigentlich wollte er einige Dinge von ihr wissen, nach denen er sie vor dem Sonnabend noch hatte fragen wollen. Was sie mit dem Haus machen würde, beispielsweise. Selbstverständlich, das Haus gehörte ihr. Und warum sollte es ihn überhaupt kümmern, was sie machte? Gab es denn irgendwo eine Frau, die besser für sich selbst sorgen konnte als Clara? Er zog seine Krawatte fester, um den Kragen wieder zuzumachen, und fuhr sich mit dem Kamm durch das Haar. Dann klingelte er nach Joan. Er hatte einige Briefe wegzuschicken. Joan hörte nicht, und Walter merkte, daß gerade die Zeit ihrer Mittagspause war. Er fing an, die Briefe selber fertig zu machen, und da kam Joan herein, in den Händen zwei Tüten. »Ich habe Ihnen etwas zu essen mitgebracht«, sagte sie, »weil ich glaube, Sie essen überhaupt nichts, wenn ich Ihnen nichts bringe. Das ist meine gute Tat für heute.« »Nett von Ihnen, vielen Dank«, sagte Walter überrascht. Es war gar nicht Joans Art, etwas so Persönliches für ihn zu tun. »Lassen Sie mich bezahlen.« »Nein, erlauben Sie, daß ich Sie einlade.« Sie zog ein Sandwich und einen Becher Kaffee hervor und stellte es ihm auf den Schreibtisch. »Mr. Stackhouse, ich weiß nicht, was hier vor sich geht – zwischen Ihnen und Mr. Cross, aber ich wollte Ihnen nur sagen, wenn Sie daran denken, hier wegzugehen oder die Stellung zu wechseln, dann hoffe ich, Sie können es so einrichten, daß ich bei Ihnen bleiben kann. Das Gehalt wäre dabei nicht entscheidend.« Es tat Walters Selbstbewußtsein wohl. Die Firma hatte allzu bereitwillig seinem Gesuch um sechs Wochen Urlaub stattgegeben. Walter ahnte, irgendwann innerhalb dieser sechs Wochen würde Cross ihn davon unterrichten, daß er überhaupt 113
nicht mehr wiederzukommen brauche. Cross hatte durchblicken lassen, er wisse, daß Walter und Jensen aus der Firma auszuscheiden beabsichtigten, und gestern hatte Cross ihm auch gesagt, er sei mit Walters Arbeit nicht zufrieden. »Es könnte sein, daß sich etwas ändert«, sagte Walter. »Ja, ich hoffe, daß sich etwas ändert. Wenn ich nicht wiederkomme, Joan, dann werde ich mich mit Ihnen in Verbindung setzen.« »Schön.« Joans rundes Gesicht strahlte. »Aber bitte, lassen Sie hier im Büro kein Wort davon verlauten.« »O nein, das tue ich nicht. Und ich hoffe, Sie passen gut auf sich auf, Mr. Stackhouse.« Walter lächelte. »Danke.« Sobald Dick vom Essen zurück war, ging Walter zu ihm, um ihn zu fragen, wieviel Cross seiner Meinung nach von ihren Plänen wisse. Dick sagte nur, Cross habe ihm mitgeteilt, daß er mit Walters Leistungen nicht zufrieden sei, daß er glaube, Walter ließe es an der rechten Arbeitslust fehlen. Dick ermahnte Walter, sich zusammenzureißen und zu arbeiten, solange sie noch zur Firma gehörten. »Mir ist’s egal, ob ich sie nach dem morgigen Tag wiedersehe«, sagte Walter. Dick sah ihn stirnrunzelnd an. Walter ging hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Um Viertel nach fünf war er an der Busendstation. Er erspähte Clara sofort: sie machte sich am Zeitungsstand zu schaffen. Sie trug ihr neues, gutsitzendes grünes Tweedkostüm. »Noch etwas«, sagte sie, sobald er herantrat. »Der Wagen soll morgen fertig sein, und bezahle nicht extra für die Verchromung der vorderen Stoßstange. Das war bei der ersten Kalkulation inbegriffen. Der Meister dort versucht jetzt zu behaupten, es wäre nicht Inbegriffen gewesen.« 114
Walter ergriff ihren blauen Koffer. Sie mußte zu einem Schalter gehen, um sich nach irgend etwas zu erkundigen. Walter wartete, starrte ihr nach. »Wie lange willst du in Harrisburg bleiben?« fragte er, als sie zurückkam. »Oh, am Sonnabend bin ich wohl wieder hier. Oder auch schon morgen abend.« Sie sah zu ihm auf. Ihr Gesicht war lebhaft und lächelnd, aber da war ein Glitzern von Tränen in ihren Augen, das Walter erschreckte. »Und wenn sie stirbt?« fragte Walter. »Wirst du nicht zur Beisetzung bleiben?« »Nein.« Clara beugte sich vor, balancierte auf einem der kleinen Stöckelschuhe und entfernte einen Papierfetzen, der an dem anderen Absatz hängengeblieben war. Automatisch streckte sie Walter eine Hand hin, damit er sie stützte, und er nahm die Hand. Eine eigenartige Empfindung durchströmte ihn bei der Berührung ihrer Finger: Freude, Haß und eine Art verzweifelter Zärtlichkeit, die Walter sofort unterdrückte, sobald sein Verstand sie begriff. Er spürte das plötzliche Verlangen, sie in dieser letzten Minute ungestüm in seine Arme zu reißen, um sie dann von sich zu schleudern. »Und eins noch«, sagte sie und gab ihm ein zusammengefaltetes Papier. »Zwei Leute sollte ich morgen anrufen. Bitte rufe einfach Mrs. Philpott an und gib ihr die Nummern durch. Sie weiß, was zu tun ist.« Sie senkte den Blick, als sie einen ihrer schwarzen Lederhandschuhe überstreifte, und Walter sah eine Träne auf den Handschuh tropfen. Er beobachtete sie besorgt und fragte sich, ob sie wirklich wegen ihrer Mutter so traurig sei oder ob es irgend etwas anderes sein könne. »Ruf mich an, wenn du ankommst. Ruf mich jederzeit an.« »Freust du dich nicht auf die unverhofften achtundvierzig 115
Stunden ohne mich? Weshalb knirschst du mit den Zähnen? Warum nimmst du nicht Ellie mit nach Reno?« Sie sah ihn durchdringend an, mit einem so schlimmen, gezwungenen Lächeln, als hätte ihr Hexenhirn das alles geplant, als wüßte sie genau, daß er nie mit Ellie zusammen sein würde, daß es für ihn kein Glück mehr gäbe auf dieser Welt. Walter folgte ihr mit dem Koffer, als sie hinüberging zu den Bussen. Er preßte die Finger um den Koffergriff und wünschte, er brächte es fertig, ihr den Koffer über den Schädel zu schlagen. Er setzte den Koffer neben dem übrigen Gepäck ab, das für den New-York-Pittsburgh-Bus bereitstand. »Du siehst durchaus nicht glücklich aus«, teilte sie ihm munter mit. Walter sah auf sie mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen hinunter und ließ es in sich eindringen. Wenn er sie genügend haßte, dachte er … »Wo hält dein Autobus?« fragte er plötzlich. »Wo er hält? Ich weiß nicht. Wahrscheinlich nur in Allentown.« Sie schaute umher, immer noch mit dem irren, starren Lächeln. »Ich glaube, ich kann jetzt einsteigen.« Sie erklomm die Stufen des Autobusses. Walter sah zu, wie sie den Gang entlangschritt und einen Platz suchte; wie sie sich ziemlich weit hinten auf einen Platz setzte, der nicht am Fenster lag. Sie schaute heraus, lächelte und winkte ihm zu. Walter hob ein wenig die Hand. Er sah auf die Uhr. Noch fünf Minuten bis zur Abfahrt des Busses. Unvermittelt drehte er sich um und ging in den Wartesaal zurück. Es verlangte ihn plötzlich nach einem Drink, aber er ging weiter, an der Bar vorbei und hinaus. 116
Er hatte seinen Wagen auf einem Parkplatz gelassen, ein paar Straßen westlich der Busstation. Er fuhr ihn heraus und wendete sich nach Osten. Die Straße war verstopft von Autos. Ein Bus bog in die Avenue ein und fuhr in südlicher Richtung davon. Walter konnte nicht erkennen, ob es Claras Bus war oder nicht. Gelassen schob er sich vorwärts in dem dichten Verkehr, wurde wieder eingekeilt und steckte sich eine Zigarette an. Der New-York-Pittsburgh-Bus bog direkt vor ihm in die Zehnte Avenue ein, er sah sogar Clara für einen Moment. Als die Ampel auf Grün sprang, bog Walter rechts ein und folgte dem Bus. Der Bus fuhr weiter durch die Stadt, auf den Holland-Tunnel zu. Walter folgte dem Bus durch den Tunnel. In Newark halte ich an, kehre um und fahre zurück, dachte Walter. Er dachte an Melchior Kimmel in Newark. Vielleicht führe er noch einmal bei dem Geschäft vorbei. Vielleicht war es noch offen. Vielleicht war sein Buch eingetroffen. Aber Walter folgte weiter dem stromlinienförmigen grauen Leib des Autobusses, durch Newark hindurch. Einmal wurde er ganz wild, als ihn ein rotes Licht schnappte und der Bus für ein paar Minuten um eine Ecke verschwand. Ich werde mir jetzt eine Zigarette anzünden, dachte Walter, und wenn sie zu Ende ist, kehre ich um. Endlich schlug der Bus eine der langen Ausfallstraßen aus der Stadt ein, und Walter blieb hinter ihm. Woran mochte Clara denken? An Geld? Sie würde ungefähr fünfzigtausend Dollar nach Abzug der Steuern erben, falls ihre Mutter starb. Das sollte doch ihre Stimmung heben. An ihn und Ellie? Ob Clara vielleicht weinte? Oder las sie im World Telegram und dachte an nichts dergleichen? Er stellte sich vor, daß sie ihre Zeitung sinken ließ und ihren Kopf zurücklehnte, wie sie es manchmal tat, wenn sie ihren Augen Erholung 117
gönnen wollte. Er stellte sich vor, daß sich seine Hände um ihren schlanken Hals schlossen. Welche Art von Mut brauchte man, um einen Mord zu begehen? Welchen Grad des Hasses? Trug er genug in sich? Man brauchte nicht einfach nur Haß, das wußte er, sondern man brauchte ein bestimmtes Gewirr von Trieben, zu denen auch Haß gehörte. Und eine Art Wahnsinn. Er dachte, daß er viel zu rational veranlagt sei. Im Augenblick wenigstens. Ja, so ein Moment vielleicht wie jener, da er sie hätte verprügeln mögen … Aber er hatte sie nie verprügelt. Er war immer zu rational gewesen. Sogar jetzt, da er sie und ihren Autobus verfolgte und die Umstände geradezu ideal waren. Er würde höchstens bis zur ersten Rastpause mitfahren, dachte er. Er würde zu Clara hingehen und ihr sagen, was er im Traum zu ihr gesagt hatte. Was Melchior Kimmel gesagt haben könnte. Clara, ich muß mit dir reden. Komm mit. Dann würde er bloß ein paar Schritte mit ihr gehen, und die bitteren Worte, die an der Endstation des Busses gefallen waren, würden sich wiederholen: Clara würde sticheln wegen Ellie, würde ihn einen Dummkopf nennen, weil er ohne Sinn und Verstand eine so weite Strecke gefahren war, und er würde mit ihr zum Bus zurückgehen, dem Nervenzusammenbruch nahe. Walters Fuß trat unwillkürlich aus, und der Wagen schoß vorwärts. Walter trat den Gashebel durch bis auf den Boden und beruhigte sich erst, als er sehr dicht an den vor ihm fahrenden Wagen herangekommen war. Er versuchte sich auszumalen, was passieren würde, wenn er es täte. Zunächst einmal hätte er kein Alibi. Und dann bestand die Gefahr, daß er am Rastplatz von irgend jemandem gesehen würde, daß Claras ›Walter!‹ erschallen würde, sobald sie ihn zu 118
Gesicht bekäme, daß sich später jemand daran erinnerte, sie beide gesehen zu haben, wie sie entlang der Autostraße davongingen. Und Ellie würde ihn verabscheuen. Er fuhr weiter, raste hinter dem davoneilenden Bus her. Er dachte an den Tag, an dem er Clara zum erstenmal gesehen hatte, den Tag des Mittagessens in San Franzisko bei seinem alten Schulfreund Hal Schepps. Hal hatte Clara mitgebracht. Ganz zufällig, hatte Hal später gesagt, und es stimmte, aber das wußte Walter damals nicht. Walter konnte sich noch genau erinnern, wie sein Herzschlag einen Moment aussetzte, als er Clara sah. Wie Liebe auf den ersten Blick. Später hatte Clara ihm von sich selber das gleiche berichtet. Walter wußte noch, wie aufgeregt er am Nachmittag Hal angerufen hatte. Er hatte Angst gehabt, daß Clara und Hal verlobt oder ineinander verliebt wären. Hal hatte ihm versichert, daß sie nichts dergleichen wären. Aber nimm dich in acht, hatte Hal gesagt, sie hat ein vertracktes Köpfchen. Sie ist ein Unglücksrabe – im Lieben und Hassen. Aber Walter wußte noch, wie zauberhaft sie gewesen war, wie unwiderstehlich in jenen ersten Wochen. Sie hatte Walter von zwei Männern erzählt, die vor ihm in sie verliebt gewesen waren. Mit jedem der beiden hatte sie ungefähr ein Jahr lang ein Verhältnis gehabt, und beide wollten sie heiraten, aber sie hatte nein gesagt. Nach dem, was Clara ihm so erzählt hatte, stand für Walter fest, daß beide Männer nicht gerade die männlichsten Naturen gewesen waren. Clara liebte schwache Männer, das hatte sie ihm einmal gesagt, aber sie mochte sie nicht heiraten. Walter hatte den Verdacht, daß Clara ihn für den schwächsten von allen gehalten habe und daß sie ihn deswegen geheiratet hatte. Das war kein angenehmer Gedanke. Eisenbahnschienen hämmerten von unten gegen seinen 119
Wagen wie kleine Explosionen, und Walter stieß mit dem Kopf oben an, als der Wagen von den Gleisen holperte. Der Bus fuhr schnell. Walters Uhr zeigte zwanzig vor sechs. Walter hielt sie ans Ohr. Sie stand. Mit der Linken griff er hinüber, stellte sie nach Gutdünken auf fünf nach sieben und zog sie auf. In einer halben Stunde ungefähr müßten sie eigentlich eine Pause machen, dachte er. Die Straße wand sich in eine steile Kurve. Walter mußte das Gas wegnehmen, als der Bus vor der Steigung schaltete. Weit weg zur Linken sah Walter die Lichter der Stadt. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Dann, auf dem Kamm eines Berges, verlangsamte der Bus die Fahrt, und auch Walter fuhr langsamer. Er sah den Bus ganz unvermittelt nach links abbiegen, und Walter hielt den Atem an, denn es sah aus, als wollte der Bus weiterrollen und über den Rand des Abgrundes stürzen. Der langgestreckte Leib des Autobusses verschwand in einer dicken Schwärze. Walter fuhr den Berg hinauf. Er sah, daß die Schwärze ein Gehölz war und daß der Bus auf ein halbkreisförmiges Plateau vor einem Rasthaus gefahren war. Walter fuhr am Rasthaus vorbei, lenkte dicht an den Straßenrand und schaltete seine Scheinwerfer aus. Er stieg aus und setzte sich in Bewegung, zurück zum Rasthaus. Das Plateau wurde erleuchtet von einem Neonlicht über dem Restaurant, das abwechselnd rot und lavendelblau aufflammte. Er suchte nach Claras zierlicher, beweglicher Gestalt zwischen den Menschen, die aus dem Bus kletterten. Er sah sie nicht. Er blickte ins Innere des Busses, als er näher kam. Sie war nicht mehr drin. Walter machte die Glastür zum Restaurant auf und ging hinein, blickte umher, auf die Theke und über die Tische. Er sah sie nirgends. Er hatte das Gefühl, als spiele er eine Rolle auf der Bühne, spiele sie überzeugend – ein besorgter Ehemann 120
auf der Suche nach seiner Frau, der er nachgefahren war, um sie umzubringen. In wenigen Minuten würden sich seine Hände um ihre Kehle schließen, aber er würde sie nicht töten, denn es war ja nur ein Spiel. Er würde nur so tun als ob. Ein Scheinmord. Walter hielt die Tür der Damentoilette im Auge. Er wandte den Blick nur von ihr, um auf die Glastür zu blicken, durch die ein paar Leute hereinkamen. Walter schaute noch einmal an der Theke entlang und dann über die Tische, noch aufmerksamer. Er ging hinaus und einmal um den Bus herum, dann ging er wieder hinein und stellte sich ans Ende der Theke, nur wenige Meter entfernt von der Damentoilette. Er stellte seine Uhr nach der Uhr über der Tür auf sieben Uhr neunundzwanzig. Weit hatte er nicht danebengegriffen. »Wie lange haben wir Zeit bei dieser Pause?« fragte Walter einen Mann, der an der Theke saß. »Fünfzehn Minuten«, sagte der Mann. Walter machte ein paar nervöse Schritte in Richtung Tür, dann drehte er sich wieder um. Seiner Schätzung nach waren ungefähr sieben Minuten vergangen. Die Damentoilette kam noch am ehesten in Frage. Andererseits – Clara benutzte keine öffentliche Toilette, es sei denn, es ginge überhaupt nicht anders. Sie verabscheute öffentliche Toiletten. Abrupt drehte Walter sich um und blickte direkt in das Gesicht des Mannes, den er vorhin gefragt hatte. Der Mann schaute zur Seite, noch ehe Walter es tat. Langsam ging Walter auf die Eingangstür zu. Da war ein Spiegel, der eine ganze Wand bedeckte, aber Walter wagte nicht hineinzuschauen. Er glättete sein Stirnrunzeln, das, wie er wußte, eine scharfe Falte zwischen seinen Brauen schuf, das Stirnrunzeln, das oftmals fremde Leute bewog, ihn anzustarren. Walter ging mit raschen Schritten auf die Menschengruppe zu, die den Bus umstand. Clara war nicht dabei. Er stellte sich 121
auf die Zehenspitzen und spähte ins Innere des Busses. Er war etwa zu einem Drittel besetzt. Konnte es der falsche Bus sein? Aber da vorn war doch das ›New York-Pittsburgh‹-Schild. Ob zwei Busse gleichzeitig dieselbe Strecke fuhren? Walters Finger arbeiteten rastlos in der Jackentasche. Sie hatten ein Heftchen Streichhölzer zerfetzt, und er schleuderte die faserigen Reste aus seiner Tasche auf die Erde. Er ging langsam rund um den Bus und wartete. Die fünfzehn Minuten dürften jetzt etwa vorbei sein. Er drehte sich um und prallte mit jemandem zusammen. »Verzeihung!« »Verzeihung!« sagte die Papageienstimme der Frau und ging weiter. Walter spürte plötzlich, wie ihm am ganzen Körper der Schweiß ausbrach. Jetzt sah er den Fahrer des Autobusses aus dem Restaurant treten. Der Bus war beinahe voll. Walter starrte angestrengt in die Dunkelheit der Autostraße zu beiden Seiten des Plateaus. Aber es lag nicht in Claras Art, einen Spaziergang zu machen. Er richtete den Blick wieder auf den hellen Eingang des Restaurants. Er war leer. Über ihm flammte in schwungvollen Buchstaben Harry’s Rainbow Inn einmal lavendelblau, dann rot. Der Busfahrer ließ den Motor an. Walter sah zu, wie der Fahrer den Gang entlangschritt, seine Hand ging auf und ab, als er die Fahrgäste zählte. Dann kam der Fahrer wieder nach vorn und blieb stehen, schaute zur Tür heraus. »Wir warten noch auf einen Fahrgast«, hörte Walter den Fahrer sagen. Walter war sicher: das war Clara. Er ballte die Hände in den Taschen zu Fäusten. Er sah den Fahrer ins Restaurant gehen, sah ihn etwas rufen, ohne es hören zu können, sah ihn wieder herauskommen. Der Fahrer half einer kleinen, dicken Frau die Stufen des Autobusses hinauf. »Wissen Sie, ob noch jemand in der 122
Damentoilette ist?« fragte der Fahrer die Frau. »Hab niemanden gesehen«, sagte sie. Walter stand so, daß er die dunklen Ränder der Autostraße, die Tür des Restaurants und die Tür des Autobusses überblicken konnte. Der Motor des Busses brüllte lauter und ließ den Erdboden unter Walters Füßen erzittern. Dann rollte der Bus rückwärts, vorwärts und kurvte hinüber zur Straße. Walter biß die Zähne zusammen, um nicht zu schreien. Er ging ins Restaurant, schritt auf die Tür der Damentoilette zu, wollte sie aufreißen und Claras Namen rufen. Aber er tat es nicht. Er ging wieder hinaus aus dem Restaurant, mit gerunzelter Stirn. Die einzige Erklärung, die er finden konnte, war die, daß Clara in Newark bei irgendeinem roten Licht ausgestiegen war. Aber sie hätte doch an einer Ampel ihren Koffer nicht herausbekommen können. Und hatte nicht eben gerade der Busfahrer nach ihr gesucht? Wer sonst sollte gefehlt haben als Clara? Auf der Straße blickte Walter aufmerksam in beide Richtungen und sah keinen Menschen. Dann rannte er die Straße entlang zu seinem Wagen. Es tat gut, zu rennen, obwohl er auf dem Schotter ausglitt und hinschlug, als er versuchte stehenzubleiben. Es zerschrammte seine Handfläche, aber er glaubte nicht, daß seine Hose zerrissen war. Immer noch suchte er, als er zurückfuhr, auf der Autostraße wie ein Wahnsinniger nach ihr. Dann hörte er auf zu suchen und begann, schnell zu fahren.
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15 Kurz nach elf kam Walter zu Hause an. Im Haus brannte kein Licht. Er ging nach oben und fand das Schlafzimmer leer. Er ging hinunter, immer noch halbwegs davon überzeugt, im Wohnzimmer Claras Koffer zu finden oder sonst irgendein Zeichen von ihr. Er zündete sich eine Zigarette an und zwang sich, ein paar Minuten auf dem Sofa sitzen zu bleiben, während er auf den Telephonanruf wartete, der Aufklärung brächte über Claras Verbleib. Das Telephon schwieg. Er wählte Ellies Nummer. Niemand meldete sich. Walter sprang in sein Auto und raste nach Lennert. Er hätte einen Kognak nötig, dachte er. Er war nervös, auf der Hut, wovor, das wußte er nicht. Er fühlte sich schuldbeladen, als hätte er sie ermordet, und sein erschöpftes Hirn tastete sich zurück zu den Minuten des Wartens am Rastplatz. Er sah sich mit Clara an ein paar dichten Büschen neben der Straße vorbeigehen. Ohne es zu merken, drehte Walter den Kopf von einer Seite zu anderen, als wolle er einem Angriff ausweichen. Es war nicht geschehen. Er wußte es genau. Aber in diesem Augenblick begann die Straße vor seinen Augen zu schwanken, und er krallte sich ans Steuerrad. Lichter glitzerten und flirrten über die schwarze Fahrbahn. Dann merkte er, daß es regnete. Ellies Fenster waren dunkel. Er sah auch ihren Wagen nicht, weder auf der Straße noch auf dem unbesetzten Parkplatz neben dem Haus. Hoffnungsvoll drückte er den Klingelknopf. Nichts. Walter fuhr zu einer Bar ein paar Straßen weiter und bestellte einen Martell. Er verbrachte so viel Zeit wie irgend möglich damit, ihn zu trinken. Dann ging er wieder zu Ellies Haus. Es 124
war immer noch finster, und immer noch kam keine Antwort auf sein Klingeln. »Was ist los?« fragte ihn der Barmixer. »Haben Sie jemanden im Krankenhaus?« »Was?« »Ich dachte, Sie hätten vielleicht jemanden im Krankenhaus.« Der Barmixer ergriff ein Glas und fing an, es zu polieren. »Sie wissen doch – das Krankenhaus hier unten an der Straße.« »Kenne ich nicht«, sagte Walter. »Nein, niemand im Krankenhaus.« Er spürte, daß seine Zähne gleich anfangen würden zu klappern, trotz der besänftigenden Kognaks. Um halb eins probierte Walter es noch einmal an Ellies Klingel. Gerade als er fortging, bog ihr Wagen in die Straße ein, und sein Herz tat einen Sprung in seiner Brust. Ellie saß nicht am Steuer. Walter erkannte Peter Slotnikoff auf dem Fahrersitz. »Hallo, Mr. Stackhouse!« sagte Peter mit strahlendem Lächeln. »Hallo!« rief Walter zurück. »Wir kommen gerade von Gordon«, sagte Ellie, während sie ausstieg. »Wir haben den ganzen Abend auf dich gewartet.« Jetzt fiel es Walter ein: Gordon hatte vor ein paar Tagen angerufen und ihn und Clara zu einer Cocktailparty eingeladen. »Ich konnte leider nicht.« »Ich mache mich jetzt lieber auf den Weg, Ellie. Ich habe nur noch sieben Minuten«, sagte Peter. »Ich werde den Wagen gleich rechts neben den Zeitungsstand stellen.« »Ist recht«, sagte Ellie. »War nett, dich zu sehen, Peter.« Sie gab ihm einen Klaps auf die Hand, die im offenen Wagenfenster lag, einen netten platonischen Klaps, dachte Walter. »Gute Nacht.« 125
Peter fuhr davon. Walter fragte sich plötzlich, ob Peter ahnte, daß er ein Verhältnis mit Ellie hatte, ob das wohl der Grund war, weshalb er so schnell davongefahren war, oder ob er wirklich zum Zug mußte? Walter und Ellie sahen sich an. Er hatte sie beinahe zwei Wochen lang nicht gesehen. »Irgendwas los?« fragte sie. »Ich wollte dich bloß noch einmal sehen, bevor ich abfahre. Können wir hinaufgehen?« Ihre Augen lächelten, aber er spürte die Distanz, die sie von ihm hielt. »Gut.« Sie drehte sich um und ging mit ihrem Schlüssel direkt zur Haustür. Sie stiegen still die Treppen hinauf und betraten Ellies Wohnung. »Schade, daß du nicht mit bei Gordon warst«, sagte Ellie, »Jon war auch da.« »Ich habe es tatsächlich vollkommen vergessen.« »Willst du dich nicht setzen?« Unruhig setzte Walter sich. »Clara ist heute nach Harrisburg gefahren, zu ihrer Mutter. Ihre Mutter ist sehr krank. Ich glaube, sie stirbt womöglich.« »Oh! Das sind schlechte Nachrichten«, sagte Ellie. »Das ändert selbstverständlich nichts an meinen Plänen. Ich werde trotzdem am Sonnabend fahren.« Ellie setzte sich in den Sessel. »Machst du dir Sorgen um Clara?« »Nein. In Wirklichkeit regt sie sich überhaupt nicht auf wegen ihrer Mutter. Sie hat kein sehr enges Verhältnis zu ihrer Mutter.« Walter massierte seinen Knöchel zwischen den Händen. 126
»Könnte ich einen Whisky haben, Ellie?« »Natürlich!« Sie stand auf, um ihn zurechtzumachen. »Wasser oder Soda?« »Ein bißchen Wasser, bitte, und kein Eis.« Er stand auf und nahm ihre Geige von dem Tischchen am Sofa. Sie fühlte sich in seiner Hand ganz gewichtslos an. Er hielt sie ins Licht und las die Inschrift im Innern, unter den Saiten: Raffaele Gagliano, Napoli, 1821. Er legte die Geige wieder hin und ging in die Küche, korkte die Flasche Scotch wieder zu, die auf dem Ablaufbrett stand. Ellie wandte sich ihm zu mit seinem Drink. Er nahm ihn und zog sie mit dem anderen Arm an sich. Er küßte sie; ein langer, verzweifelter Kuß, aber der Kuß ließ ihn nicht das gleiche empfinden, was er vorher bei ihr empfunden hatte. Selbst dann nicht, als ihre Arme fest um seinen Hals lagen. Plötzlich dachte er: angenommen, in einem Monat stießen ihn ihre Gradlinigkeit, ihre glänzende Nase, der Samt ebensosehr ab, wie sie ihn vor kurzem noch angezogen hatten? Aber Ellie war gar nicht der wichtigste Scheidungsgrund, sagte er sich. Wenn er Ellie sagen mußte, daß er sie niemals heiraten würde, dann käme er sich nur deshalb wie ein Esel vor, weil er ihr gesagt hatte, er würde sie heiraten. Walter ließ sie los und kehrte mit seinem Glas ins Wohnzimmer zurück. Er ahnte, was Ellie dachte: daß er die Nacht bei ihr bleiben könnte. Er spürte, sie erwartete von ihm, daß er darum bäte. »Ist irgend etwas nicht in Ordnung?« fragte Ellie. »Was beunruhigt dich?« Heute nacht, als er auf Ellie wartete, hatte er geglaubt, er könnte ihr das mit der Verfolgung des Autobusses erzählen. Jetzt hatte er Angst. »Eigentlich gar nichts.« »Ist im Geschäft alles gut? Macht es ihnen nichts aus, daß du für sechs Wochen wegfährst?« 127
»Es macht ihnen schon etwas aus, aber das ist mir gleich. Dick Jensen und ich können Mitte Dezember schon draußen sein. Dick und ich haben vor, eine eigene Praxis aufzumachen, eine kleine Anwaltspraxis. Wenn sich also die Firma entschlösse, mich rauszuschmeißen, wäre mir’s auch egal. Im Augenblick sieht es so aus, daß man mir einfach unbezahlten Urlaub gegeben hat.« »Was für eine kleine Anwaltspraxis?« »Nur für Privatklienten. Keinerlei Firmenvertretungen. Trunkenheit am Steuer, Pachtstreitigkeiten und all so was.« Es überraschte Walter, daß er ihr bisher noch nichts darüber erzählt hatte. »Das ist eine große Umstellung«, sagte Ellie. »Ja.« »Ich muß ein Telephongespräch führen, ehe es noch später wird.« Walter lauschte ihrem Gespräch mit einer Frau namens Virginia – sie war auch Lehrerin an Ellies Schule, Walter erinnerte sich. Ellie verabredete mit Virginia eine Uhrzeit für morgen früh, zu welcher Virginia vorbeikommen sollte, um Ellie mitzunehmen, weil Ellies Wagen am Bahnhof stand. »Triffst du Peter oft?« fragte Walter, als sie ausgeplaudert hatte. »Nein, oft nicht. Er kann ohne Auto nicht so leicht kommen.« Ellie setzte sich wieder und sah ihn an. »Ich glaube nicht, daß er irgendein ernsthaftes Interesse an mir hat, falls du das meinst.« Walter mußte über ihre Offenheit lächeln. Sie saß halb umgedreht im Sessel, einen Arm über der Rückenlehne, und ihre Gestalt wirkte lang und anmutig und so ruhevoll. Er erinnerte sich, wie er diese Ruhe an ihr geliebt hatte, und ihr Schweigen, das sie so von Clara unterschied. Jetzt war ihm 128
unbehaglich zumute. Er ging zu ihr, kniete nieder und umfing ihren Körper mit seinem Arm. Er küßte die Haut im Ausschnitt ihres Kleides, ihren Hals, dann ihre Lippen. Er fühlte, wie sich ihr Körper unter seinem Arm entspannte. »Möchtest du hierbleiben heute nacht?« fragte sie. Er stand langsam auf, strich mit der Handfläche über ihre Stirn und über das braune Kraushaar. »Ich will lieber warten.« Sie schaute zu ihm auf, aber sie sah nicht enttäuscht oder beleidigt aus, dachte er. »Vielleicht sehen wir uns nicht mehr, bis ich zurückkomme, Ellie. Clara ist vielleicht morgen abend wieder da, vielleicht.« Auch Ellie stand auf. »Gut. Und jetzt gehst du?« »Ja.« Er ging zur Tür, aber er drehte sich noch einmal um, nahm sie in die Arme und küßte sie hart auf den Mund. »Ich liebe dich, Walter.« »Ich liebe dich«, sagte er.
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16 »Ich hoffe doch, es ist nicht so ein qualvoller Tod«, sagte Claudia. »Man mag seine Mutter gern haben oder nicht, schön ist es jedenfalls nicht, jemanden sterben zu sehen, und wie Mrs. Stackhouse auch nach außen hin tun mag, sie ist nicht darauf gefaßt, so etwas mit anzusehen.« »Nein, das ist sie nicht.« Walter sah Claudias schlanken braunen Händen zu, die sein Frühstücksgeschirr abräumten. »Ich will sie heute vormittag anrufen«, sagte er. Er stand vom Tisch auf. Am liebsten hätte er jetzt gleich Harrisburg angerufen, aber er wollte das Gespräch nicht vor Claudia führen. »Darf ich fragen, ob Sie heute abend zum Essen kommen, Mr. Stackhouse?« »Ich weiß noch nicht. Es besteht die Möglichkeit, daß Mrs. Stackhouse zurückkommt. Aber Sie brauchen deshalb nicht extra zu kommen. Nehmen Sie sich den Abend wieder einmal frei.« Er hob seine Jacke von einem Stuhl auf. Claudia sah ihn an. Er wußte, gleich würde sie so etwas sagen wie: er äße doch überhaupt nichts, wenn sie nicht herkäme und kochte. Er lief eilig zur Haustür. »Bis morgen früh, Claudia. Ich werde morgen bis elf Uhr hier sein.« Walter meldete ein Gespräch nach Harrisburg an, sobald er sein Büro erreicht hatte. Es meldete sich eine Frauenstimme und sagte, sie sei Mrs. Havemans Pflegerin. »Ist Mrs. Stackhouse da?« fragte Walter. »Nein, sie ist nicht da. Wir haben sie gestern abend erwartet. Wer spricht dort?« »Hier ist Walter Stackhouse.« 130
»Wo ist Clara?« »Ich weiß es nicht«, sagte Walter verzweifelt. »Ich habe sie gestern um halb sechs in den Autobus gesetzt. Sie müßte gestern abend dort eingetroffen sein. Haben Sie nichts von ihr gehört?« »Nein, gar nichts, und der Doktor meint, Mrs. Haveman dürfte die nächsten Stunden kaum überleben.« »Wollen Sie bitte meine Nummer notieren? Montague fünf – sieben – neun – drei – acht. Sagen Sie Mrs. Stackhouse, sie möchte mich anrufen, sobald sie eintrifft, ja?« Walter rief das Knightsbridge-Maklerbüro an. Er wurde mit Mrs. Philpott verbunden und fragte sie, ob sie irgend etwas von Clara gehört habe seit gestern abend halb sechs. »Nein. Ich habe auch nicht damit gerechnet. Haben Sie erfahren, wie es ihrer Mutter geht?« »Ich weiß nicht, wo Clara ist«, sagte Walter. »Ich habe in Harrisburg angerufen, und dort ist sie noch nicht angekommen. Sie hätte gestern abend gegen elf dort sein müssen.« »Um Gottes willen! Meinen Sie, der Bus wäre verunglückt?« »Das hätte ich doch inzwischen erfahren.« »Nun, wenn Sie heute im Laufe des Vormittags nicht von ihr hören, dann würde ich vorschlagen, die Polizei zu benachrichtigen.« Die dünne, aber sehr kluge Stimme von Mrs. Philpott hatte eine beruhigende Wirkung. »Ich denke, das werde ich machen. Danke, Mrs. Philpott.« Um zehn Uhr hatte Walter eine Sitzung, und es war zwölf, als die Sitzung unterbrochen wurde. Er ging geradenwegs in sein Büro, um die Polizei anzurufen, aber Joan rief ihn ins Vorzimmer und sagte ihm, daß vor einer Viertelstunde der Polizeibezirk Philadelphia angerufen habe. Sie hatten eine Nummer hinterlassen, bei der er anrufen solle. 131
»Melden Sie gleich an«, sagte Walter. Plötzlich ahnte er, daß Clara tot war, daß man ihre Leiche aus irgendeinem Busch gezogen hatte, ihre zerschlagene und zerstochene Leiche. »Mr. Stackhouse?« sagte eine Stimme gedehnt. »Hier spricht Captain Millard, Zwölftes Polizeirevier Philadelphia. Heute morgen wurde in der Nähe von Allentown am Fuße eines Felsens die Leiche einer Frau gefunden, die vorläufig als Clara Stackhouse identifiziert ist. Wir möchten Sie bitten, so schnell wie möglich im Leichenschauhaus von Allentown vorzusprechen und die Identität zu bestätigen.«
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17 Da war überhaupt kein Zweifel möglich. Walter brauchte nur den linken Fuß in dem zerfetzten Strumpf zu sehen, um es zu wissen. Der Beamte zog das Laken bis zu ihren Hüften hoch. Der zerrissene Rock war zur Hälfte schwarz von Blut. »Können Sie erkennen?« »Lassen Sie mich das übrige sehen.« Der Beamte zog das Laken vollends zurück. Walter schloß die Augen beim Anblick ihres zerschmetterten Schädels; er öffnete die Augen und schaute auf den Arm, der scheinbar ganz natürlich über ihrem Leib lag, der aber zersplittert und schlaff aussah. »Ihr Koffer steht hier«, sagte der Beamte. »Er wurde im Autobus gefunden. Würden Sie bitte hier hereinkommen? Wir möchten gern ein paar Fragen an Sie richten.« Walter umklammerte den Türgriff, als er hindurchging, er hielt sich eine Minute lang daran fest. Er hatte schon Tote gesehen: zerschossene Leichen im Pazifik, und er hatte sich übergeben müssen. Dies hier war schlimmer. Verschwommen sah er die dunkle Gestalt des Polizisten um den Schreibtisch herumgehen, stark wie ein Bulle. Walter ließ seinen Kopf auf die Brust fallen, um nicht ohnmächtig umzusinken. Es herrschte ein ekelerregender Gestank nach Desinfektionsmitteln. Er riß sich zusammen, ehe ihm richtig schlecht wurde. Er sah den Beamten auf einen Stuhl deuten, und gehorsam ging Walter hin und setzte sich. »Ihren vollen Namen, bitte«, sagte der Mann am Schreibtisch. »Clara Stackhouse, geborene Haveman.« Walter buchstabierte. 133
»Alter?« »Dreißig.« »Geburtsort?« »Harrisburg in Pennsylvania.« »Kinder?« »Nein.« »Nächste Angehörige?« Walter gab Namen und Adresse ihrer Mutter in Harrisburg an. Er beobachtete den Mann, der seelenruhig hier und auf einem Formular etwas ankreuzte, als mache er so etwas jeden Tag. »Haben Sie den Mann?« fragte Walter. »Den Mann?« Der Beamte hob den Blick. »Den Mann, der es getan hat«, sagte Walter. Der Beamte rieb den Zeigefinger an seiner Nase. »Als Todesursache wird Selbstmord angenommen, Mr. Stackhouse, solange nichts anderes bewiesen ist. Ihre Leiche ist unterhalb eines Felsen gefunden worden.« Dieser Gedanke war Walter noch nicht gekommen. Er glaubte es nicht. »Woher wissen Sie, daß sie nicht hinuntergestoßen wurde?« »Das fällt nicht in die Zuständigkeit dieser Abteilung. Selbstverständlich wird eine amtliche Autopsie vorgenommen.« Walter stand auf. »Ich denke doch, daß irgend jemand sich ein wenig dafür interessieren sollte, ob sie hinuntergesprungen ist oder ob sie gestoßen wurde. Ich möchte das wissen!« »Gut, Sie können mit ihm reden«, erwiderte der Mann und nickte der Zimmerecke hinter Walter zu. Walter sah sich um und erblickte einen Mann, den er bisher nicht bemerkt hatte, einen jungen Mann in Zivil, der sich jetzt 134
von einem Stuhl erhob und mit einem leisen Lächeln um die Lippen auf Walter zuging. »Guten Tag«, sagte er. »Ich bin Leutnant Lawrence Corby vom Morddezernat Philadelphia.« »Guten Tag«, murmelte Walter. »Wann haben Sie Ihre Frau zum letztenmal gesehen, Mr. Stackhouse?« »Gestern. Um halb sechs an der Busendstation in New York.« »Hatten Sie irgendeinen Grund für die Annahme, Ihre Frau würde Selbstmord begehen?« »Nein, sie …« Walter hielt inne. Er dachte an ihre Tränen bei der Abfahrt. »Es könnte möglich sein«, sagte er rasch. »Aber ich glaube kaum. Sie war erregt.« »Ich habe den Felsen heute besichtigt«, sagte der junge Mann. »Es ist unwahrscheinlich, daß sie hinuntergefallen ist. Der Felsen ist gar nicht so leicht zugänglich, und oben hat er eine ungefähr zehn Meter breite schiefe Ebene, bevor er steil abfällt.« Er veranschaulichte es mit einer Handbewegung. »Kein Mensch wird durch einen unglücklichen Zufall dort hinunterlaufen. Der Felsen liegt neben einem Rasthaus, und irgend etwas sehr Gewaltsames hätte dort nicht vor sich gehen können, ohne daß es gehört worden wäre.« Es war Walter bis jetzt noch gar nicht aufgegangen, daß der Felsen unmittelbar dort gewesen war. Jetzt erinnerte er sich an die Höhe, auf der das Rasthaus thronte, an die Finsternis ringsherum, die auf einen steilen Abgrund dahinter schließen ließ. Er versuchte sich vorzustellen, wie Clara aus dem Autobus sprang, an dem Rasthaus vorbeihastete und sich geradenwegs hinabstürzte. Er konnte es sich einfach nicht vorstellen. Und wann sollte sie das gemacht haben? »Aber ich 135
bezweifle sehr, daß sie diese Methode gewählt hätte, um Selbstmord zu begehen. Das entspricht nicht ihrem Wesen. Sie hat allerdings vor einem Monat etwa versucht, sich mit Schlaftabletten umzubringen. Ich glaube, ihr Sinn war auf Selbstmord gerichtet.« Er bemerkte, daß er im Kreis herumredete. Er blickte auf den Fremden dort vor ihm. Die Ungereimtheit des schwachen, höflichen Lächelns auf diesem Gesicht fesselte Walters Blick. »Aber ich bin durchaus nicht von Selbstmord überzeugt«, sagte Walter. »Ich hoffe, man wird einige Untersuchungen anstellen.« »Das werden wir«, sagte Corby. Der Mann am Schreibtisch sagte: »Hier ist ihr Schmuck. Würden Sie bitte quittieren? Ein Ohrring fehlt.« Er schob das schwere goldene Gliederarmband, die beiden Ringe, einen Perlenohrring in einem Haufen zu Walter hinüber, so wie Walter sie oft zu Hause auf dem Ankleidetisch hatte liegen sehen. Walter kritzelte seinen Namen auf die Zeile. Dann steckte er den Schmuck in seine Manteltasche. »Bevor Sie gehen, möchte ich Ihnen noch die übliche Frage stellen.« Die kleinen, eifrigen Augen des jungen Leutnants hatten ihn beobachtet. »Hatte sie Ihres Wissens irgendwelche Feinde?« »Nein«, sagte Walter. Dann huschten an seinem inneren Auge all die Leute vorüber, die sie nicht mochten, die Leute, die sie sich zu Feinden gemacht hatte, seit sie angefangen hatte zu arbeiten. »Ganz gewiß niemanden, der sie umgebracht hätte.« Walter betrachtete den jungen Mann mit größerem Interesse. Wenigstens ein paar Fragen würde er stellen, sich irgendwie Mühe geben. Er war nicht älter als fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig, dachte Walter, aber er sah intelligent und tüchtig aus. Leutnant Corby setzte sich auf eine Ecke des 136
Polizistenschreibtisches und verschränkte die Arme über der Brust. »Sie sind nach Hause gegangen, als Sie sich an der Busendstation von Ihrer Frau verabschiedet hatten?« Walter zögerte einen Moment. »Ja. Nicht direkt nach Hause. Ich habe versucht, eine Bekannte zu erreichen. In Long Island. Ich bin eine ganze Weile herumgefahren.« »Haben Sie die Bekannte erreicht?« »Ja.« »Wer war diese Bekannte?« Wieder zögerte Walter. »Ellie Briess. Sie wohnt in Lennert. Sie können …« Walter brach ab. Leutnant Corby nickte. »Ich könnte mir die Adresse notieren.« Walter sagte sie ihm, auch die Telephonnummer. Er sah dem Leutnant zu, wie er es auf einen biegsamen Block mit braunem Deckel schrieb, den er aus der Tasche gezogen hatte. »Möchten Sie den Felsen selber sehen?« fragte Leutnant Corby. Walter sah das große Restaurant wieder vor sich, die grellen Lichter. Er dachte plötzlich: Clara kannte die Straße. Sie war sie oft gefahren, von Long Island nach Harrisburg und zurück. Sie kannte wahrscheinlich auch den Felsen. »Nein, ich glaube, ich möchte ihn nicht sehen.« »Ich dachte nur so, es hätte ja sein können.« »Nein«, sagte Walter, er schüttelte den Kopf. Er sah, daß der Bleistift des Leutnants wieder über den Block huschte. Walter sah sich selber, wie er Claras Kehle packte, wie er sie über den Felsen zerrte, sah sie beide in den Abgrund stürzen, hinunter zu den scharfen Felsspitzen und dem Dickicht dort unten. Er schloß die Augen, und als er sie wieder öffnete, ruhte der Blick 137
des jungen Leutnants auf ihm. »Wir wollen abwarten und sehen, was die Autopsie ans Tageslicht bringt«, sagte Corby leichthin. »Sie schließen die Möglichkeit des Selbstmordes nicht völlig aus, nicht wahr?« Die Frage erschien Walter sehr laienhaft. »Nein, ich glaube nicht. Ich weiß es einfach nicht.« »Natürlich. Nun, bis heute abend werden wir das Ergebnis der Autopsie haben, wir geben Ihnen dann telephonisch Bescheid.« Corby streckte ihm die Hand hin, und als Walter sie ergriff, zeigte Corbys Gesicht für einen Moment höfliche Feierlichkeit, dann drehte Corby sich um und schritt rasch zur Türe hinaus. »Können Sie uns sagen, wohin die Leiche morgen geschickt werden soll?« fragte der Polizist am Schreibtisch. Walter fiel das Bestattungsinstitut ein, an dem er täglich auf der Zufahrtsstraße von Benedict zur Autobahn vorbeifuhr. »Ich weiß noch nicht genau. Kann ich Sie später wieder anrufen?« »Wir haben Tag und Nacht geöffnet.« Das Bestattungsinstitut ebenfalls. Seine Neonreklame verkündete es. »Ist das alles?« fragte Walter. »Das ist alles.« Walter ging hinaus in den sonnenlosen Nachmittag. Er mußte sich einen Augenblick besinnen, wo er seinen Wagen gelassen hatte, und dann, als er zum Wagen ging, fiel ihm Claras Koffer ein. Er kehrte um. Der Polizist teilt ihm mit, daß der Koffer noch nicht untersucht worden sei und daß er morgen mit der Toten zusammen geschickt werde. Walter kam es so vor, als gäbe sich der Mann absichtlich stur und gleichgültig. Der blaue Leinenkoffer, prall gefüllt mit Claras Habseligkeiten, stand nur 138
zwei Meter von ihm entfernt an der Wand. »Aber es sind keinerlei Papiere drin, nur Kleidungsstücke«, sagte Walter. »Bestimmungen sind Bestimmungen«, sagte der Beamte. Walter warf ihm einen finsteren Blick zu, dann drehte er sich um und verließ den Raum. Er hatte gerade den Motor angelassen, als ihm der Gedanke kam, er sollte Ellie warnen. Es war fast vier Uhr. Sie müßte gerade heimgekommen sein. Er machte die Wagentür auf, um auszusteigen, dann zog er sie wieder zu. Es wurde ihm bewußt, daß es ihm nicht lieb war, wenn der Leutnant ihn telephonieren sähe, obwohl der Leutnant jetzt gar nicht in Sicht war. Walter fuhr ein paar Straßen weiter und telephonierte in einem Drugstore. Er sagte Ellie, daß Clara tot wäre und daß die Polizei annähme, es sei Selbstmord. Er schnitt all ihre Fragen ab und sagte: »Ich bin jetzt in Allentown. Ich habe der Polizei gesagt, daß ich dich gestern abend besucht habe. Möglicherweise rufen sie dich an, um das nachzuprüfen.« »Gut, Walter.« »Ich habe nicht gesagt, wann ich dich besucht habe. Natürlich werden wir sagen müssen, daß es nach zwölf war.« »Schadet das was?« Er biß die Zähne zusammen und verfluchte seine Nervosität. Peter hatte ihn ja sowieso nach zwölf dort gesehen. »Nein«, sagte Walter. »Es schadet nichts.« »Ich werde ihnen sagen, daß du gegen halb eins hierher gekommen bist«, sagte sie in einem Ton, als erwartete sie Widerspruch. »Ist das richtig?« »Ja, selbstverständlich.« 139
»Hast du jetzt Zeit? Möchtest du herkommen?« »Ja, ich komme auf dem schnellsten Wege zu dir.« »Kannst du nicht den Wagen stehenlassen und einen Zug nehmen?« »Stehenlassen?« »Es hört sich an, als wärest du viel zu aufgeregt zum Fahren.« »Ich komme. Es wird ein paar Stunden dauern. Warte auf mich.«
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18 »Ich kann nicht einfach frisch-fröhlich behaupten, ich hätte keine Schuld«, sagte Walter und warf die Hände in die Luft. »Ich hätte sie zwingen müssen, zu einem Psychiater zu gehen. Ich hätte darauf bestehen müssen, sie auf dieser Reise zu begleiten. Ich habe es nicht gemacht.« »Bist du sicher, daß es Selbstmord war?« fragte Ellie. »Nicht sicher. Aber es ist das wahrscheinlichste. Und ich hätte damit rechnen müssen.« Er sank plötzlich in den Sessel. »Nach dem, was du sagst, hat alles in ihrem Leben zur Zeit auf den Selbstmord hingewirkt, sogar der Autounfall vor ein paar Tagen.« »Ja.« Walter hatte Ellie soeben auch das mit den Schlaftabletten erzählt. Ellie schien nicht sehr überrascht. Ellie schien überhaupt eine Menge zu wissen über sein Verhältnis zu Clara, entweder intuitiv, oder sie erriet es. »Aber ich bin mir nicht sicher, daß es Selbstmord war. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß sie von einem Felsen springt. Sie hätte einen bequemeren Weg gewählt.« »Die Polizei wird es untersuchen, nicht wahr?« Walter hob die Schultern. »Ja. Soweit sie können.« »Aber du darfst wirklich nicht sagen, es wäre deine Schuld, Walter. Du kannst keinen Menschen zwingen, zu einem Psychoanalytiker zu gehen, wenn er nicht hingehen will.« Walter wußte, daß Jon genau dasselbe sagen würde. »Wußte sie etwas über uns?« Walter nickte. »Sie argwöhnte. Schon vor Wochen, noch bevor du mir überhaupt aufgefallen warst … Warf mir vor, ich 141
wäre jedesmal, wenn ich einen Abend nicht zu Hause verbrachte, mit dir zusammen.« Ellie runzelte die Stirn. »Warum hast du mir das nicht gesagt?« Walter antwortete nicht gleich. »Sie war krankhaft eifersüchtig, sogar auf meine Freunde«, sagte er ruhig. »Es tut mir leid, daß sie etwas ahnte. Noch ein Grund mehr für sie, es zu tun. Dann die Scheidung …« »Sie hat niemals wirklich geglaubt, daß ich mir etwas aus dir mache.« Walter stand auf und begann wieder auf und ab zu gehen. »Sie brauchte irgend etwas oder irgend jemanden, auf den sie eifersüchtig sein konnte. In diesem Falle hatte sie eben zufällig recht.« »Was hast du der Polizei gesagt, wo du letzte Nacht gewesen bist?« fragte Ellie. Walter zögerte. Es drängte ihn, Ellie alles zu sagen. Aber er dachte an Corby: Seine Aussagen waren alle festgehalten auf Corbys Block. »Erstens habe ich gesagt … ich glaube, ich habe gesagt, daß ich eine ganze Weile herumgefahren bin, daß ich versucht habe, dich zu finden, daß ich auf dich gewartet habe. Dann war ich eine Zeitlang zu Hause. Ich bin später wieder ausgegangen und habe den größten Teil des Abends außer Haus zugebracht.« Ellie brachte einen Teller mit einem Sandwich herein und stellte ihn auf das Rauchtischchen. Sie sah ihn an und sagte vorsichtig: »Ich dachte nur, wenn sie … wenn sie nicht mit Bestimmtheit wissen, daß es Selbstmord war, dann könnte es so aussehen, als hättest du ein Motiv, sie zu ermorden.« »Warum sagst du das?« »Ich meine – daß du mich besuchen kommst. Das ganze Bild.« 142
»Sie werden keine derartigen Fragen stellen«, sagte Walter mit gerunzelter Stirn. »Corby hat dich bis jetzt noch nicht einmal angerufen.« »Sie sagen, es wäre gegen halb acht passiert, ja?« »Ja.« »Wo warst du da?« Walters Stirnfalten vertieften sich. »Ich glaube, zu Hause. Ich bin nach Hause gefahren, nachdem ich Clara an den Bus gebracht hatte.« »Gordon hat dich gegen halb acht angerufen. Niemand hat sich gemeldet.« »Vielleicht war ich da schon weg.« »Er hat dich auch um halb neun noch einmal angerufen. Ich weiß es genau, weil ich um diese Zeit neben dem Telephon saß.« »Nun, da war ich ganz bestimmt nicht zu Hause.« Walter spürte, daß sein Gesicht fahl geworden war. Und Ellie schaute ihn an, als sähe sie es genau. »Ich dachte bloß, falls sie dich fragen sollten, wäre es besser, wenn du genau angeben könntest, wo du gewesen bist. Weißt du genau, wo du um halb acht warst?« »Nein«, sagte er bockig. »Vielleicht war ich um die Zeit in Huntington. Ich habe dort einen Bissen gegessen. Auf die Zeit habe ich nicht geachtet. Sie werden überhaupt nichts fragen, Ellie.« »Na schön. Mag sein.« Sie setzte sich aufs Sofa, aber sie sah immer noch gespannt aus. Sie saß sehr gerade auf einem untergeschlagenen Bein. »Warum ißt du dein Sandwich nicht?« Verdächtigte sie ihn auch, intuitiv? fragte sich Walter. Das Telephon schrillte wieder. Ellie meldete sich. »O ja, Jon!« Ellie drehte sich um und warf Walter einen 143
Blick zu. »Du lieber Gott! … Nein, leider nicht … Du hast recht, das sollte er nicht tun.« Walter ging mit steifen Knien rund um den Rauchtisch; er beobachtete Ellie. Es stand in den Abendblättern, nahm Walter an. Er fand, daß Ellie ihn mit erstaunlicher Gelassenheit anschaute. Er hätte mehr Anteilnahme von ihr erwartet. Und er hatte sie nicht für fähig gehalten, so glänzend zu schauspielern, wie sie jetzt Jon gegenüber schauspielerte. »Ich nehme bestimmt an, bei einem seiner Freunde«, sagte Ellie. »Ja, bei den Iretons vielleicht … Ich hoffe, du machst das. Vielen, vielen Dank für deinen Anruf, Jon.« Ellie legte den Hörer auf. »Ich hielt es für besser, Jon nicht zu sagen, daß du hier bist.« Walter zuckte die Schultern. »Mir hätte es nichts ausgemacht. Hat Jon gesagt, es stünde in den Zeitungen?« »Ja, aber er sagte, Dick Jensen hätte ihn am Nachmittag schon angerufen und es ihm erzählt. Warum rufst du nicht bei den Iretons an und fragst, ob du heute bei ihnen schlafen kannst? Ich finde, du solltest nicht nach Hause gehen.« Er wäre gern bei ihr geblieben. Er spürte, daß sie ihn nicht hier haben wollte. »Ich möchte nicht. Ich möchte nicht noch einmal jemandem das Ganze auseinandersetzen müssen. Ich werde nach Hause gehen.« »Meinst du, du könntest dort schlafen?« »Ja. Und jetzt gehe ich.« Fest lag ihre Hand auf seinem Nacken. Sie küßte ihn auf die Wange. »Ruf mich an, wann immer du willst. Ruf mich heute nacht an, wenn du möchtest.« 144
»Danke, Ellie.« Er rührte sie nicht an. Plötzlich fiel ihm ein, er sollte ja heute abend in Allentown anrufen und Bescheid geben, wohin sie Clara schicken sollten. »Danke«, sagte er noch einmal und ging.
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19 Zu Hause lag ein Telegramm, adressiert an Clara. Es kam von Dr. Meacham, dem Arzt ihrer Mutter, und besagte, daß ihre Mutter um fünfzehn Uhr fünfundzwanzig verstorben sei. Walter warf es auf den Garderobentisch. Es war Mitternacht. Ihm kam der Gedanke, Jon anzurufen. Aber er mochte nicht. Betty Ireton rief an. Mechanisch unterhielt sich Walter mit ihr, dankte für die Einladung, hinüberzukommen und bei ihnen zu bleiben. Auch Bill sprach mit ihm, er erbot sich, zu kommen und Walter abzuholen, aber Walter lehnte dankend ab. Dann rief er das Bestattungshaus Wilson-Hall in Benedict an. Walter sagte, er wünsche eine Feuerbestattung. Danach rief er das Leichenhaus von Allentown an und fragte nach dem Ergebnis der Autopsie: Es waren keine inneren Todesursachen gefunden worden, keine außer den Verletzungen, die sie sich bei dem Sturz in den Abgrund zugezogen haben dürfte. Er sagte ihnen, wo sich das Bestattungshaus Wilson-Hall befand. In dieser Nacht lag Walter in seinem Arbeitszimmer, lauschte der Stille im Hause und dachte, daß Claras rasche, ärgerliche Schritte auf der Diele nie wieder diese Stille durchbrechen würden, daß Clara nie wieder in die Abgeschlossenheit seines Arbeitszimmers einbrechen würde, und er fühlte sich seltsam ungerührt. Ihm fiel auf, daß er bis jetzt noch nicht eine Träne vergossen hatte. Weil sie selbst nicht menschlich war, dachte er. Seinem müden Hirn erschien sie wie ein Sturmwind wilder und wirbelnder Bewegung, der mit einem letzten heftigen Knall endete – peng! Wie der einsame, traurige Tod zu ihrer Mutter paßte, so schien Claras Tod genau zu Clara zu passen. 146
Der Sturmwind Clara erhob sich in seinem Geiste, wirbelte herum um ein Zentrum von Zweifel und Zweideutigkeit, zweideutig wie seine Gefühle für sie. Irgendwo mittendrin schlief er ein. Walter schrak aus dem Schlaf empor beim Klang einer klappenden Tür. Dann fiel ihm ein, daß es Claudia war, die getreulich um sieben Uhr kam. Walter zog einen Morgenrock über und ging nach unten. Claudia stand mit der Morgenzeitung in der Küche. »Mr. Stackhouse, ich habe es gestern abend gelesen – aber ich kann es einfach nicht glauben!« Walter nahm ihr die Zeitung aus der Hand. Es war das Lokalblatt von Long Island, und es stand auf der ersten Seite. Sogar ein Bild hatten sie gebracht, das lächelnde Photo, das Clara der Zeitung vor langer Zeit einmal zur Verfügung gestellt hatte, als sie zur Vorsitzenden irgendeines Klubs in Long Island gewählt worden war. LEICHE EINER BENEDICTERIN IN PENNSYLVANIA GEFUNDEN Er überflog den Bericht. Vermutlich Selbstmord, hieß es. Es stand drin, daß man ihren Koffer im Autobus gefunden und daß er sie identifiziert habe. »Sie haben sie gesehen, Mr. Stackhouse?« Claudia stand da wie gelähmt, aus ihren weit aufgerissenen braunen Augen rannen Tränen. »Ja«, sagte Walter. Er dachte, daß der Satz über den Koffer genau den gleichen Wortlaut hatte wie der entsprechende Satz damals in dem Kimmel-Artikel. Walter hatte gestern abend keine Zeitung gekauft. Jetzt schien es ihm unglaublich, daß er es nicht getan hatte. Er legte eine Hand auf Claudias Schulter 147
und drückte sie. Er wußte nicht, was er sagen sollte. »Könnten Sie mir einen Kaffee machen, Claudia? Weiter nichts.« »Ja, Mr. Stackhouse.« Dick Jensen, Ernestine McClintock und noch ein paar von den Nachbarn riefen ihn während des Vormittags an. Alle sprachen ihm ihr Mitgefühl aus und boten ihm Hilfe an, aber Walter brauchte keine Hilfe. Dann rief Jon an, und zum ersten Mal verlor Walter die Fassung und weinte. Jon erbot sich, zu kommen und bei ihm zu bleiben. Walter mochte das nicht annehmen, auch wenn es Sonnabend war und Jon keine Verpflichtungen hatte. Aber er war einverstanden, daß Jon abends um sechs herauskäme, um bei ihm zu essen. Kurz nach zwei Uhr mittags erhielt Walter einen Anruf von Leutnant Corby aus Philadelphia. Corby fragte, ob Walter so freundlich sein wolle, heute abend um sieben zur Hauptwache der Polizei in Philadelphia zu kommen. »Was ist los?« fragte Walter. »Ich kann es Ihnen jetzt nicht erklären. Es tut mir leid, Sie zu belästigen, aber es wäre uns eine sehr große Hilfe, wenn Sie kämen«, sagte Corbys höfliche Stimme. »Ich werde da sein«, sagte Walter. Er war neugierig, ob Corby einen Verdächtigen aufgegriffen, einen geständigen Täter gefunden hätte. Walter merkte, daß er unfähig war, sich das vorzustellen, ja, daß er beinahe unfähig war, überhaupt zu denken. Gestern war er fahrig gewesen, und heute fand er, daß ihm alles, was er tat, schleppend langsam von der Hand ging. Walter rief Jon an und sagte ihm, daß er nach Philadelphia müsse und erst sehr spät für ihn Zeit hätte. Jon erbot sich, ihn hinzubringen oder mit ihm zu fahren. »Gern«, sagte Walter dankbar. »Kann ich dich gegen fünf in deiner Wohnung abholen?« 148
Jon war einverstanden. Von New York aus fuhr Jon Walters Wagen. Walter erzählte Jon die gleiche Geschichte, die er auch Ellie erzählt hatte. Und Jon gab ziemlich die gleichen Antworten wie Ellie, was Walter ja erwartet hatte. Aber da war noch etwas anderes bei Jon: eine deutliche Erleichterung darüber, daß Clara endgültig aus Walters Leben verschwunden war, und zwar aus eigenem Antrieb – eine Erleichterung, die hindurchschimmerte durch den Ernst, mit dem er da im Wagen zu Walter sprach. »Fühle dich nicht schuldig!« sagte Jon immer wieder. »Ich verstehe das besser, als du es im Augenblick kannst. Auch du wirst es eines Tages verstehen, in einem halben Jahr.«
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20 Jon blieb im Wagen sitzen, und Walter betrat das Gebäude allein. Er fragte einen Polizisten hinter einem Schreibtisch, wo Leutnant Corby zu finden sei. »Zimmer hundertsiebzehn, den Korridor hinunter.« Walter ging hin und klopfte an. »Guten Abend.« Leutnant Corby begrüßte ihn mit einem Kopfnicken und einem Lächeln. »Guten Abend.« Walters Blick fiel auf einen robust aussehenden Mann von ungefähr fünfzig Jahren, der vornübergelehnt auf einem Stuhl saß, die Ellenbogen auf den Knien. Walter war neugierig, ob das wohl der Mann sei. »Mr. Stackhouse, das ist Mr. De Vries«, sagte Corby. Sie nickten sich zu. »Haben Sie Mr. De Vries irgendwann schon einmal gesehen?« Er sah aus wie ein Handwerker, dachte Walter. Braune Lederjacke, braunes, graumeliertes Haar, ein rundliches, nicht bemerkenswert intelligentes Gesicht; allerdings lag in seinen Augen jetzt eine gewisse Lebhaftigkeit, Interesse oder Heiterkeit. »Ich glaube nicht«, sagte Walter. Corby wandte sich dem Mann auf dem Stuhl zu. »Was meinen Sie?« Der graumelierte Kopf zwischen den gebeugten Schultern nickte. Leutnant Corby lehnte sich gemütlich gegen seinen Schreibtisch. Sein jungenhaftes Lächeln war stärker geworden, allerdings war da etwas Unnachgiebiges um seinen kleinen Mund und die 150
kleinen, regelmäßigen Zähne. Walter mochte das Lächeln gar nicht. »Mr. De Vries glaubt, Sie wären der Mann, der ihn in der Nacht, in der Ihre Frau ermordet wurde, gefragt hat, wie lange der Autobus in Harry’s Rainbow Inn Aufenthalt hätte.« Walter blickte wieder auf De Vries. Es war der Mann. Walter sah es wieder vor sich, wie sich ihm das runde, schwer zu beschreibende Gesicht über der Kaffeetasse zugewandt hatte. Walter befeuchtete seine Lippen. Er überlegte, daß Corby sich die Mühe gemacht haben mußte, ihn dem Manne zu beschreiben, weil Corby ihn verdächtigte. »Wissen Sie – alles reinster Zufall«, sagte Corby mit einem heiteren Lachen, das Walter buchstäblich zusammenfahren ließ. »Mr. De Vries ist Lastwagenfahrer einer Pittsburgher Firma. Hin und wieder benutzt er für die Rückfahrt nach Pittsburgh den Bus. Wir kennen ihn. Ich habe ihn nur gefragt, ob er sich vielleicht darauf besinnen könne, in jener Nacht irgendwelche verdächtig wirkende Gestalten im Umkreis des Rastplatzes gesehen zu haben.« Walter fragte sich, ob es wirklich so gewesen war. Er dachte an Corbys Fragen gestern: Haben Sie die Bekannte erreicht? Wer war die Bekannte? »Ja«, sagte Walter. »Ich war dort. Ich bin dem Bus nachgefahren. Ich wollte mit meiner Frau sprechen.« »Und haben Sie mit ihr gesprochen?« »Nein, ich konnte sie nicht finden. Ich habe überall gesucht.« Walter schluckte. »Schließlich habe ich diesen Mann hier gefragt, wie lange der Bus Aufenthalt hätte.« »Möchten Sie sich nicht setzen, Mr. Stackhouse?« »Nein.« »Warum haben Sie uns das nicht gesagt?« »Ich dachte, vielleicht bestünde die Möglichkeit, daß ich dem 151
falschen Bus gefolgt bin.« »Warum haben Sie es uns nicht gesagt, als Sie erfahren hatten, daß Ihre Frau tot war? Ihre Geschichte von der Fahrt durch Long Island ist also eine Lüge«, sagte Corby in seinem höflichen Ton. »Ja«, sagte Walter. »Es war sehr dumm von mir. Ich hatte Angst.« Leutnant Corby knöpfte sein Jackett auf und ließ die Hände in die Hosentaschen gleiten. Über seiner engen Weste baumelte an einer Kette ein Universitätsabzeichen. »Mr. De Vries sagt mir, daß der Fahrer mehrere Minuten lang gewartet hat, weil Ihre Frau fehlte, und daß er Sie unweit des Busses hat stehen sehen, bis er abfuhr.« »Ja, das stimmt«, sagte Walter. »Was glaubten Sie denn, was ihr zugestoßen war?« »Ich wußte es nicht. Ich dachte, sie könnte womöglich in Newark ausgestiegen sein – ihren Entschluß, mit dem Bus zu fahren, geändert haben. Ich hatte versucht, sie davon abzubringen, mit dem Bus zu fahren.« Corby saß auf der Schreibtischecke, nahm die verschiedensten Dinge zur Hand und setzte sie wieder ab – die Heftmaschine, das Tintenfaß, einen Federhalter – er strahlte Wissen und Zufriedenheit aus. Ein großes Namensschild auf dem Schreibtisch besagte CAPT. J. P. MAC GREGOR. »Ich denke, Sie können jetzt gehen, Mr. De Vries«, sagte Leutnant Corby und lächelte dem Mann zu. »Vielen Dank.« De Vries stand auf und warf Walter einen munteren Abschiedsblick zu, als er zur Türe ging. »Guten Abend«, sagte er, »Guten Abend«, erwiderte Corby. Er verschränkte die Arme. »Und nun erzählen Sie mir ganz genau, was geschehen ist. Sie sind dem Autobus von New York aus nachgefahren?« 152
»Ja.« Walter schüttelte den Kopf, als Corby ihm eine Zigarette anbot, und griff nach seinen eigenen. »Was hatten Sie denn so dringend mit Ihrer Frau zu besprechen?« »Ich hatte das Gefühl … ich hatte das Gefühl, daß wir eine Sache, über die wir an der Busendstation sprachen, nicht zu Ende gebracht hatten, deshalb bin ich …« »Haben Sie sich gestritten?« »Nein, gestritten nicht.« Walter sah den jungen Mann gerade an. »Wir gehen hier besser Schritt für Schritt vor. Ich sah den Bus einbiegen auf den Platz vor dem Restaurant, um Pause zu machen. Ich hielt mit meinem Wagen an der Autostraße und lief zurück …« »An der Autostraße? Warum sind Sie nicht zur Bushaltestelle gefahren?« All diese Fragen hatten es in sich. Walter antwortete langsam. »Ich schoß daran vorbei. Ich habe gestoppt, so schnell ich konnte und bin ausgestiegen.« Er hielt inne, erwartete den nächsten Angriff. Es kam keiner. »Ich weiß nicht, wie es kommen konnte, daß ich sie verfehlt habe. Ich habe mich beeilt, aber ich habe sie nirgends mehr gesehen, nicht im Bus und nicht im Restaurant.« »Es sind einige Meter von der Straße bis zum Restaurant. Warum haben Sie nicht Ihren Wagen zurückgesetzt und sind hingefahren?« »Ich weiß es nicht«, sagte Walter dumpf. »Wenn Sie geradenwegs vom Autobus aus zu dem Felsen gegangen ist, könnte sie innerhalb von dreißig Sekunden hinuntergesprungen sein. Sie könnte«, wiederholte Corby. »Sie kannte die Strecke«, sagte Walter. »Sie ist sie oft mit ihrem Wagen gefahren. Es ist durchaus möglich, daß sie den Felsen gekannt hat.« 153
»Stand der Bus schon, als sie darauf zugingen?« »Ja. Die Leute stiegen aus.« »Und Sie haben keine Spur von ihr gesehen?« »Nein.« Walter sah ihn Notizen machen auf seinem biegsamen braunen Block. Corbys knochige Hand bewegte sich schnell und mit festem Druck. Er war in wenigen Sekunden fertig, als stenographierte er. Corby steckte den Block weg. »Sie haben zu Hause keinen Abschiedsbrief vorgefunden, nehme ich an?« »Nein.« »Nein«, wiederholte Corby. Er schaute nach oben in die Zimmerecke, dann auf Walter. »Darf ich fragen, in welchem Verhältnis Sie zu Ihrer Frau standen?« »In welchem Verhältnis?« »Waren Sie beide glücklich?« »Nein, im Gegenteil, wir standen vor der Scheidung. Wir wären in wenigen Wochen geschieden worden.« »Wer wünschte die Scheidung, Sie beide?« »Ja«, sagte Walter bestimmt. »Darf ich fragen, warum?« »Sie dürfen fragen, warum. Sie war eine sehr neurotische Frau, es war schwer mit ihr auszukommen. Wir rieben uns aneinander – überall. Wir haben uns einfach nicht vertragen.« »Darüber waren Sie sich beide einig?« »Ausdrücklich.« Corby beobachtete ihn, die Hände in zierlich ausgewogener Pose auf den Hüften, während er da auf dem Schreibtisch hockte. Der kleine Schnurrbart ließ ihn unheimlich jung erscheinen anstatt älter. Walter fand, er sah wie ein widerwärtiger junger Lackaffe aus, der so tat, als wäre er Sherlock Holmes. »Glauben Sie, daß die Aussicht auf die 154
Scheidung sie bedrückte?« »Daran zweifle ich nicht.« »War es das, worüber Sie mit Ihrer Frau sprechen wollten, über die Scheidung? Ist das der Grund, warum Sie dem Bus gefolgt sind?« »Nein, das mit der Scheidung war längst ausgestanden«, sagte Walter erschöpft. »Eine Scheidung in New York? Ehebruch?« Walter runzelte die Stirn. »Nein. Ich wollte nach Reno fahren. Heute.« Er zog seine Brieftasche. »Hier ist meine Flugkarte«, sagte er und warf sie auf den Schreibtisch. Corby wandte den Kopf, um einen Blick darauf zu werfen, aber er hob sie nicht auf. »Sie haben den Flug nicht rückgängig gemacht?« »Nein«, sagte Walter. »Warum denn Reno? Hatten Sie es so eilig, oder wollte Ihre Frau nicht?« Darauf hatte Walter sich gefaßt gemacht. »Nein«, sagte er ungezwungen, »sie wollte die Scheidung nicht. Ich wollte sie. Aber sie hat auch gewußt, daß sie nichts tun konnte, was mich daran gehindert hätte, die Scheidung durchzusetzen – außer sich umbringen.« Corby lächelte schief und gezwungen. »Wäre das nicht ziemlich lästig für Sie gewesen – sechs Wochen Reno?« »Nein«, sagte Walter in dem gleichen Ton, »mein Büro hat mir einen sechswöchigen Urlaub gegeben.« »Was hätte Ihre Frau hinterher gemacht?« »Hinterher? Ich denke, das Haus behalten, das ihr gehört, und ihre Stellung behalten.« Walter wartete. Corby wartete auch. »Eine etwas ungewöhnliche Situation, nicht wahr, von Ihrem 155
Standpunkt aus gesehen – daß wir beide dort bis zur letzten Minute zusammenlebten. Ich hatte Angst, meine Frau allein zu lassen, Angst genau davor – vor Selbstmord oder sonst einer Unüberlegtheit.« Walter spürte mit plötzlichem Optimismus, daß seine Geschichte anfing, glaubhaft zu klingen. Aber Corby sah ihn immer noch mit geweitetem Blick an, als hätte der Tatbestand der bevorstehenden Scheidung seinem Argwohn neue Pfade eröffnet. »Hatten Sie einen besonderen Grund dafür, daß Sie die Scheidung gerade jetzt wünschten? Lieben Sie jemand anderen?« »Nein«, antwortete Walter fest. »Ich stelle diese Frage deshalb, weil das Verhältnis zwischen Ihnen und Ihrer Frau, wie Sie es darstellen, eins jener Verhältnisse ist, die über lange Zeit hinweg bestehen können, ohne daß irgend etwas dagegen unternommen wird.« Corby lächelte. »Wahrscheinlich«, fügte er hinzu. »Stimmt genau. Wir waren vier Jahre verheiratet, und es ist … ein Jahr her, daß wir angefangen haben, von der Scheidung zu sprechen.« »Sie können sich nicht mehr darauf besinnen, was es war, worüber Sie sich am Donnerstag abend mit Ihrer Frau aussprechen wollten?« »Nein, wirklich nicht.« »Dann müssen Sie wütend gewesen sein.« »Ich war nicht wütend. Ich hatte einfach das Gefühl, es wäre nicht erledigt, was immer es auch war.« Er fühlte sich plötzlich unendlich gelangweilt und verdrossen; er fühlte sich so, wie er sich bei der Marine ein paarmal gefühlt hatte, wenn er allzu lange nackt darauf warten mußte, daß der Arzt kam und eine Routineuntersuchung vornahm. Er war auch müde, so müde, 156
daß es ihm vorkam, als seien sogar seine Nerven völlig aufgezehrt und ließen ihn nicht mehr zucken; er hätte niederfallen können auf den Fußboden und schlafen, wenn er nicht den sehnlichen Wunsch verspürt hätte, diesem Hause den Rücken zu kehren. »Noch eine Frage«, sagte der Leutnant. »Ich hätte gern gewußt, ob Sie irgendwelche merkwürdig aussehenden Gestalten gesehen haben, während Sie Ihre Frau suchten?« Walter konnte das Lächeln des jungen Mannes nicht mehr ertragen. »Ich glaube, meine Frau hat Selbstmord begangen. Nein, ich habe keine merkwürdig aussehende Gestalt gesehen.« »Gestern waren Sie nicht so sicher, daß Ihre Frau Selbstmord begangen hat.« Walter sagte nichts. Leutnant Corby rutschte vom Schreibtisch herunter. »Sie fallen aus dem Rahmen. Meistens sind die Leute keineswegs überzeugt, daß ihre Frauen oder Männer oder Verwandten Selbstmörder sind. Sie verlangen immer, daß die Polizei einen Mörder sucht.« »Das täte ich auch, unter anderen Voraussetzungen«, sagte Walter. »Ich kann mir denken, daß Selbstmord in einem Fall wie diesem niemals wirklich nachgewiesen werden kann, oder?« »Nein. Aber wir können die sonstigen Möglichkeiten eliminieren.« Corby lächelte und schritt zur Tür, als sei die Unterredung beendet, aber kurz vor der Tür blieb er stehen und drehte sich zu Walter um. Walter hätte gern gefragt, ob die Tatsache, daß er am Rastplatz des Busses gewesen war, in die Zeitungen gesetzt würde. Aber er wollte nicht, daß Corby annahm, er hätte davor Angst. 157
»War das das letzte dieser Verhöre?« fragte Walter. »Ich hoffe es. Nur noch eins.« Corby schlenderte wieder ins Zimmer zurück. »Haben Sie zufällig von einem ähnlichen Todesfall vor ein paar Monaten gehört? Von einer Frau, die tot aufgefunden wurde, zu Tode geschlagen und gestochen, in der Nähe des Rastplatzes ihres Autobusses bei Tarrytown?« Walter war sicher, daß seinem Gesicht nichts anzumerken war. »Nein. Habe ich nicht.« »Eine Frau namens Kimmel? Helen Kimmel?« »Nein«, sagte Walter. »Man hat den Mörder noch nicht gefunden. Sie ist ganz entschieden ermordet worden«, fügte er mit einem freundlichen Lächeln hinzu. »Mir ist nur die Ähnlichkeit der beiden Fälle aufgefallen – dieses Zwischenspiel an der Bushaltestelle.« Walter sagte nichts. Er blickte Corby gerade in die blauen Augen. Corby lächelte ihn an; es war gewiß das freundlichste Lächeln, das sein blutarmes, überschlaues Schuljungengesicht zuwege brachte, schätzte Walter. Es war ganz und gar nicht freundlich. »Liegt es daran, daß Sie solches Interesse an diesem Fall haben?« Corby spreizte die Hände. »Oh, ich habe gar nicht solches Interesse an diesem Fall.« Er sah plötzlich selbstbewußt aus. »Dieser Fall ist in meinem Staat passiert. Mir fiel der andere Fall ein, weil er noch nicht gelöst ist. Er ist auch noch gar nicht so lange her. August.« Corby stieß die Tür auf. »Vielen Dank, daß Sie gekommen sind.« Walter wartete. »Sind Sie zu einer Schlußfolgerung gekommen? Sind Sie überzeugt, daß meine Frau Selbstmord verübt hat?« »Es ist nicht an mir, Schlüsse zu ziehen«, sagte Corby und lachte wieder. »Ich weiß nicht, ob wir schon alle Fakten 158
beisammen haben.« »Ach so.« »Gute Nacht«, sagte Corby mit einem tiefen Kopfnicken. »Gute Nacht«, sagte Walter. Es würde sowieso in der Zeitung stehen, dachte Walter. Er hatte das Gefühl, Corby würde alles in die Zeitung setzen. Walter erzählte Jon, was geschehen war. Die einzige Sache, in der er log, war der Grund, warum er dem Bus gefolgt war: Walter sagte, er habe noch etwas klären wollen, was er zuvor mit Clara besprochen. »Das ist wahrhaftig Pech«, sagte Jons tiefe Stimme. »Wird es in die Zeitung kommen?« »Ich weiß nicht. Ich habe nicht gefragt.« »Das hättest du tun sollen.« »Ich hätte so vieles tun sollen.« »Sind sie überzeugt, daß es Selbstmord war?« »Ich glaube nicht. Ich glaube, es ist noch offen. Offen für einige Zweifel.« Er wollte Jon nicht sagen, wie unverblümt mißtrauisch Corby gewesen war. Walter erkannte, daß Jon genauso mißtrauisch sein könnte wie Corby – wenn er wollte. Walter blickte auf Jon. Er fragte sich, was Jon wohl dachte. Er sah nur Jons vertrautes Profil, ein wenig stirnrunzelnd, die Unterlippe vorgeschoben. »Vielleicht kommt es nicht in die Zeitung, selbst wenn du tatsächlich unter Verdacht stehen solltest«, sagte Jon. »In ein paar Tagen könnte sich irgend etwas Entscheidendes ergeben, was Mord oder Selbstmord beweist. Ich persönlich glaube, es ist Selbstmord. Ich würde mir wegen der Presse keine Gedanken machen.« »Oh, das ist es nicht, was mich beunruhigt.« »Was ist es dann?« 159
»Die Schande, glaube ich. Bei einer Lüge ertappt worden zu sein.« »Schlaf ein bißchen. Es ist weit bis nach New York.« Walter wollte nicht schlafen, aber er lehnte den Kopf zurück, und ein paar Minuten später schlummerte er ein. Er wachte auf, als der Wagen scharf einbog. Sie fuhren durch ein graues Industrieviertel: Wassertanks auf Stelzen, eine Ginfabrik, deren gläserne Front an ein Krankenhaus gemahnte. Walter wurde sich plötzlich bewußt, daß er einen sehr dummen Fehler gemacht hatte, als er auf Corbys Fragen mit so deutlichem Widerwillen reagierte. Corby tat schließlich nur seine Pflicht. Wenn er Corby noch einmal träfe, dachte Walter, dann würde er sich ganz anders benehmen. »Wohin?« fragte Jon. »Zu mir oder zu dir? Oder möchtest du heute abend allein sein?« »Ich möchte nicht allein sein. Zu mir, wenn es dir nichts ausmacht. Am liebsten wäre mir, wenn du bei mir übernachten könntest.« Jon fuhr zu seiner Garage in Manhattan, um sich seinen Wagen zu holen. Bevor er aus Walters Wagen stieg, sagte er: »Ich glaube, du solltest dich lieber darauf gefaßt machen, daß dies in die Presse kommen kann, Walt. Wenn es irgend jemanden gibt, dem du es erzählen möchtest, bevor es drinsteht, dann solltest du es vielleicht tun. Heute noch.« »Ja«, sagte Walter. Er würde es Ellie heute abend erzählen, dachte er.
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21 Es war fast elf Uhr, als sie in Benedict waren, aber Claudia war noch da. Sie war geblieben, um die Telephonanrufe entgegenzunehmen, sagte sie. Eine ganze Handvoll Zettel hatte sie für Walter. Ellie hatte zweimal angerufen. Walter sagte zu Jon, er solle zusehen, was er im Kühlschrank an Eßbarem fände, dann fuhr er Claudia nach Benedict hinein, damit sie den Elfuhrbus nach Huntington noch erreichte. Auf dem Rückweg hielt er an der Three Brothers Tavern und rief Ellie an. »Claudia wußte nicht, wo du warst«, sagte Ellie. »Warum hast du den ganzen Tag nichts von dir hören lassen?« »Ich muß es dir erklären, wenn wir uns sehen. Ist es dir schon zu spät, zu mir herüberzukommen? Jon ist hier, und ich kann nicht zu dir kommen.« Ellie sagte, sie würde kommen. Walter fuhr nach Hause und sagte Jon, daß Ellie auf dem Wege hierher sei. »Bist du viel mit Ellie zusammen?« fragte Jon. »Ja«, sagte Walter steif. »Hin und wieder treffen wir uns.« Er machte sich einen Drink und nahm sich eine von den Roastbeefscheiben, die Jon auf einen Teller gelegt hatte. Jons Schweigsamkeit fiel ihm auf. Walter mochte das Roastbeef nicht. Er gab es Jeff, der nervös durchs Zimmer streifte, dann ging er ans Telephon, um Mrs. Philpott anzurufen, auf deren Nachricht ein unterstrichenes Bitte anrufen stand. Ellie traf ein, noch während er mit Mrs. Philpott sprach, und Jon machte ihr die Tür auf. Mrs. Philpott hatte nichts von Bedeutung zu sagen, und sehr bald merkte Walter, daß sie betrunken war. Sie pries Clara in den höchsten Tönen. Sie litt 161
mit ihm. Er hatte das genialste, das charmanteste, das bezauberndste, das interessanteste Geschöpf auf Gottes Erdboden verloren. Walter hätte am liebsten den Hörer zwischen seinen Fingern zerquetscht. Mehrmals versuchte er, Schluß zu machen, immer wieder unterbrach er sie mit einem ›Vielen Dank für Ihren Anruf‹. Endlich war es vorüber. Jon und Ellie unterbrachen ihr Gespräch, als er ins Wohnzimmer zurückkam. Ellie sah besorgt zu ihm auf. »Möchtet ihr lieber allein sein, Walter?« fragte Jon. »Nein, danke«, sagte Walter. »Ellie, ich muß dir etwas erzählen, was ich Jon schon erzählt habe. Gestern nacht – Donnerstag nacht – bin ich hinter Claras Autobus hergefahren. Ich bin ihm nachgefahren bis zu der Stelle, an der sie umgekommen ist, an der sie von dem Felsen sprang. Ich habe sie gesucht und nirgends gefunden. Es muß passiert sein, kurz bevor ich dort war. Ich habe gewartet und die ganze Gegend nach ihr abgesucht, bis der Bus wieder abfuhr, und schließlich bin ich zurückgefahren.« »Sie war weg, und du hast es gewußt?« fragte Ellie entgeistert. »Ich war mir nicht völlig sicher. Ich dachte, sie könnte irgendwo anders aus dem Bus gestiegen sein, ohne daß ich es gesehen hätte. Oder ich dachte, ich könnte dem falschen Bus gefolgt sein.« »Und du hast niemandem etwas davon gesagt?« fragte sie. »Ich wußte nicht mit Bestimmtheit, daß es Clara war, die fehlte«, sagte Walter ungeduldig. »Gestern vormittag, als ich in Harrisburg angerufen und erfahren hatte, daß sie nicht angekommen war, wollte ich gerade die Polizei verständigen, aber die Polizei kam mir mit ihrer Information zuvor – daß man ihre Leiche gefunden hätte.« Walter schaute in Ellies verwirrtes Gesicht. Er wußte, eine andere Erklärung gab es dafür nicht als die Wahrheit: daß er sich schuldig gefühlt hatte, 162
sogar während er im Umkreis des Autobusses wartete; daß er sogar hinterher noch, auf der Rückfahrt nach New York, verrückte Halluzinationen gehabt hatte, er habe sie ins Gebüsch gelockt und umgebracht. Er nahm sich ein Glas vom Rauchtisch und trank. »Und – heute abend bin ich bei der Polizei in Philadelphia gewesen. Man hat mich gesehen an dem Rastplatz. Man hat mich wiedererkannt. Wahrscheinlich wird es in der Zeitung stehen. Ich glaube nicht, daß man mich des Mordes verdächtigt. Es wird immer noch für Selbstmord gehalten. Aber wenn die Zeitungen etwas daraus machen wollen – nun, dann können sie, das ist es.« Jon saß da, den Kopf hintenüber an das Sofakissen gelehnt, und hörte ruhig zu, aber Walter hatte das Gefühl, daß Jon an seiner Geschichte keinen rechten Gefallen fand, daß er anfing, sie zu bezweifeln. »Wer hat dich erkannt?« fragte Ellie. »Ein Mann namens De Vries. Corby … Entweder hat der Mann sich an mich erinnert, weil ich merkwürdig ausgesehen habe, als ich da beim Restaurant herumlief und nach Clara suchte, oder Corby hat mich tatsächlich im Verdacht und hat sich die Mühe gemacht, diesem Burschen eine genaue Beschreibung von mir zu geben. De Vries war einer der Fahrgäste des Autobusses.« »Wer ist Corby?« »Ein Detektiv. Aus Philadelphia. Der Mann, mit dem ich gesprochen habe, als ich Clara identifizierte.« Es gelang Walter, seine Stimme in der Gewalt zu behalten. Er zündete sich eine Zigarette an. »Nach dem, was er sagt – wenigstens was er zuerst gesagt hat-, war Clara eine Selbstmörderin.« »Wenn der Mann dich die ganze Zeit über gesehen hat …« »Hat er nicht«, fiel Walter ihr ins Wort. »Er hat mich nicht gesehen, als ich dort ankam, als Clara vom Felsen gesprungen 163
sein muß. Er hat mich hinterher im Restaurant warten sehen.« »Aber wenn du es getan hättest – sie ermordet hättest –, dann hättest du doch nicht eine Viertelstunde lang gewartet und sie gesucht!« »Eben«, sagte Jon. »Das ist richtig.« Walter setzte sich aufs Sofa. Ellie nahm seine Hand und hielt sie auf dem Sofa zwischen ihnen fest. »Du hast Angst, nicht wahr?« fragte Ellie ihn. »Nein.« Er sah, daß Jon ihre Hände bemerkte, und er zog seine Hand weg. »Aber viel schlimmer könnte es wohl kaum aussehen. Eine Sache wie diese wird sich nie so oder so nachweisen lassen, nicht wahr?« »O doch«, widersprach Jon ungeduldig. »Sie werden dich eine Zeitlang bearbeiten, sie werden noch weitere Einzelheiten herausbekommen, dann werden sie entscheiden, daß es Selbstmord war, daß es nichts anderes gewesen sein kann.« Walter schaute auf Jeff, der im Sessel zusammengerollt schlief. Immer, wenn ein Wagen näherbrummte, war Jeff an der Tür und erwartete sie. Walter sprang auf, um sich noch einen Scotch zu holen. Auch er hatte Clara einmal geliebt, dachte er. Kein Mensch schien das noch wahrhaben zu wollen, daß er Clara geliebt hatte, außer der guten alten Mrs. Philpott. Er lächelte etwas bitter und ließ Soda in sein Glas schießen. Als er sich umwandte, sah Ellie ihn an. Ellie stand auf. »Ich muß jetzt gehen. Morgen muß ich früh aufstehen.« »Morgen?« fragte Walter. »Ich bin mit Irma verabredet – meiner Freundin in New York. Ich will sie nach East Hampton fahren. Sie hat dort Bekannte, und wir sind zum Mittagessen eingeladen.« 164
Gern hätte Walter Ellie gebeten, noch ein bißchen zu bleiben, doch er getraute sich nicht vor Jon, nicht einmal dazu hatte er Mut. »Rufst du mich morgen an?« fragte er. »Ich bin den ganzen Tag zu Hause – außer zwischen drei und fünf.« Von drei bis fünf fand die Begräbniszeremonie in der Kirche von Benedict statt. »Ich rufe dich an«, sagte Ellie. Er begleitete sie hinaus zu ihrem Wagen. Er spürte bei ihr eine Reserviertheit, der gegenüber er sich machtlos fühlte. Dann sagte sie zum Wagenfenster heraus: »Versuche, dich nicht so aufzuregen, Walter. Wir werden schon alles gut überstehen.« Sie beugte sich zu ihm, und er küßte sie. Walter lächelte. »Gute Nacht, Ellie.« Sie fuhr davon. Walter pfiff Jeff, der mit ihm hinausgelaufen war, und sie gingen wieder ins Haus. Minutenlang sprachen weder er noch Jon. »Ich mag Ellie gern«, sagte Jon schließlich. Walter nickte nur. Wieder herrschte Schweigen. Walter konnte sich genau vorstellen, was Jon sich wegen Ellie dachte. Walter preßte nervös seine Hände gegeneinander. Seine Hände waren feucht. »Aber bis dieser Spuk verflogen ist«, sagte Jon, »würde ich Ellie unbedingt aus dem Spiel lassen.« »Ja«, sagte Walter. Sie sprachen nicht wieder von Ellie. Am nächsten Morgen kam Jon in Walters Arbeitszimmer, die Zeitung in der Hand. »Es ist drin«, sagte Jon und warf die Zeitung auf Walters Couch.
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22 In der großen, geräumigen Küche seines zweistöckigen Hauses in Newark saß Melchior Kimmel und frühstückte: Roggenbrot mit weißem Käse und eine Kanne voll starken schwarzen Kaffees mit Zucker. Vor ihm lag, gegen die Zuckerdose gelehnt, die Newarker Daily News, und er starrte in die untere Ecke der ersten Seite. Seine linke Hand mit einer angebissenen Scheibe Brot war mitten in der Luft stehengeblieben. Sein Mund stand offen, und seine wulstigen Lippen erschlafften. Stackhouse. Er erinnerte sich des Namens, und das Photo tat den Rest. Stackhouse. Er war sicher. Kimmel las die beiden kurzen Spalten sorgfältig. Er war ihr gefolgt und war wiedererkannt worden, allerdings schienen noch Zweifel zu bestehen, ob er sie ermordet hatte. ›Mord oder Selbstmord?‹ lautete die Überschrift des einen Absatzes. … Stackhouse sagte aus, er habe seine Frau an der Bushaltestelle überhaupt nicht gesehen. Er habe etwa fünfzehn Minuten gewartet, erklärte er, dann sei er nach Long Island zurückgefahren, nachdem der Autobus weitergefahren wäre. Er behauptete, erst am folgenden Tage, als er von der Polizei in Allentown gebeten wurde, die Leiche seiner Frau zu identifizieren, erfahren zu haben, daß seiner Frau etwas zugestoßen sei. Die amtliche Autopsie ergab keinerlei Verletzungen außer denen, die sie durch den Sturz in den Abgrund erlitten haben dürfte … Kimmels Kahlkopf neigte sich voller Spannung vornüber. ›Warum meldete er nicht das Verschwinden seiner Frau?‹ 166
war die Überschrift des letzten Absatzes. Ja, wirklich, warum eigentlich nicht, dachte Kimmel. Genau diese Frage stellte er sich. Aber im letzten Absatz stand lediglich, daß Stackhouse Rechtsanwalt in der Firma Cross, Martinson und Buchman sei und daß Stackhouse und seine Frau vor der Scheidung gestanden hätten. Dies letzte war ein interessanter Punkt. Ein Frösteln überlief Kimmel, so etwas wie Panik. Warum hatte Stackhouse den weiten Weg von Long Island zu ihm gemacht? Kimmel stand langsam vom Tisch auf und sah sich um, sah auf das Chaos von Bierflaschen unter dem Ausguß, auf die elektrische Uhr über dem Herd, auf das abgenutzte Wachstuch des Ablaufbrettes mit dem Muster aus kleinen rosa und grünen Äpfelchen, das ihn immer an Helen gemahnte. Stackhouse mußte es gewesen sein. Eine solche Vielzahl seltsamer Übereinstimmungen war einfach nicht wegzuerklären! Und Stackhouse würden sie festnageln. Wenn sie ihn in die Zange nähmen, würde er wahrscheinlich nach zwei Stunden zusammenbrechen und es zugeben. Und angenommen, die Polizei käme dadurch auf dumme Gedanken über ihn selbst? Na, er war nicht der Typ, der zusammenbrach. Und was konnten sie ihm denn schon beweisen? Noch dazu jetzt, nach mehr als zwei Monaten? Kimmel überlegte scharf, wann Stackhouse eigentlich bei ihm im Geschäft gewesen war. Ungefähr drei Wochen her, dachte er, Anfang Oktober. Er hatte den Bestellzettel für das Buch noch, weil es bis jetzt nicht gekommen war. Er überlegte, ob er den Bestellzettel lieber vernichten sollte. Wenn das Buch käme, würde er Stackhouse nicht Bescheid geben. Vielleicht saß Stackhouse bis dahin sowieso schon im Gefängnis. 167
Kimmel machte sich daran, seine Küche aufzuräumen. Er wischte den weißlackierten Tisch mit einem feuchten Lappen ab. Da war immer noch Tony, dachte er. Tony hatte ihn im Kino gesehen, und das Märchen von Kimmel, der den Abend im Kino zugebracht hatte, war inzwischen so tief in Tonys Hirn verwurzelt, daß es Tony schien, als hätte er den ganzen Abend lang Kimmels Nacken vor sich gehabt. Allerdings hatte Tony bisher nur hier und da einmal fünf Minuten vor der Polizei gestanden. Wenn sie ihn einmal stundenlang verhörten … Nun, das war ja noch nicht passiert, dachte Kimmel. Er begann, Bierflaschen bei den Hälsen zu packen und aufzusammeln, die ältesten Flaschen zuerst. Die Bierflaschen zogen sich die ganze Wand entlang, vom Ausguß bis an die Küchentür. Er schaute sich um, sah am Herd einen leeren Pappkarton und beförderte ihn mit einem ungeschickten Fußtritt hinüber zu den Flaschen, belud den Karton und schleppte ihn zur Hintertür hinaus zu seiner dunklen ChevroletLimousine, die im Hof stand. Mit dem leeren Karton kam er zurück und füllte ihn wieder. Dann wusch er seine Hände mit Wasser und Seife, denn die Flaschen waren staubig gewesen, und ging hinauf in sein Schlafzimmer, um sich ein sauberes weißes Oberhemd zu holen. Er war noch in Leibwäsche und Hose. Auf dem Wege zu seinem Laden lieferte er die Flaschen in Riccos Feinkostgeschäft ab. Tony stand hinter dem Ladentisch. »Wie geht’s denn heute, Mr. Kimmel?« fragte Tony. »Was ist los? Hausputz?« »Klein bißchen«, sagte Kimmel wegwerfend. »Wie ist die Leberwurst heute?« »Oh, gut wie immer, Mr. Kimmel.« Kimmel verlangte ein Leberwurst-Sandwich und einen marinierten Hering mit Zwiebeln. Während Tony es zurechtmachte, schlenderte Kimmel an den Ständern mit 168
zellophanverpackten Lebensmitteln vorbei. Mit einem Paket gemischter Nüsse, Erdnußbutterkeksen und einer kleinen Tüte gefüllter Schokoladenplätzchen kam er wieder und baute alles auf dem Ladentisch auf. Tony schuldete ihm immer noch Geld, wenn er das Pfand für die Flaschen zusammenrechnete. Kimmel kaufte noch zwei Flaschen Bier: es war zwar noch zu früh, als daß Bier hätte verkauft werden dürfen, aber bei ihm machte Tony immer eine Ausnahme. Kimmel bestieg das Auto und fuhr in gemächlichem Tempo zu seinem Laden. Er liebte diese Sonntagvormittage, und im allgemeinen verbrachte er seinen Sonntagvormittag und einen Teil des Nachmittags in seinem Laden. Sein Laden war sonntags nicht geöffnet, aber es verlieh Kimmel ein viel stärkeres Gefühl der Muße und Freiheit, seinen einzigen freien Tag an dem gleichen Platz zuzubringen, an dem er die ganze Woche über arbeitete. Außerdem fühlte er sich in seinem Laden wohler als zu Hause, und hier konnte er des Sonntags ungestört in seinen eigenen Büchern stöbern, konnte mittags seinen Imbiß nehmen, konnte ein bißchen dösen und des langen und breiten einige Briefe beantworten, gelehrte und schrullige Briefe von Leuten, die er nie gesehen hatte, aber gut zu kennen glaubte. Bücherliebhaber … wenn man wußte, was für Bücher ein Mensch verlangte, dann kannte man den Menschen. Kimmel hatte einen schwarzen Chevrolet, Baujahr 1941, die Polster waren fleckig und sehr schäbig, außen allerdings sah er noch fast wie neu aus. Kimmel hätte gern einen neuen Wagen gehabt, denn Nathan und einige andere, ja sogar Tony, zogen ihn mit seinem einundvierziger Modell auf, aber da er nicht genug Geld für einen nagelneuen Wagen hatte, zog Kimmel es vor, sein altertümliches Gefährt zu behalten, anstatt sich bei einem Gebrauchtwagenhändler etwas nicht sehr viel Jüngeres zu erstehen. Kimmel fuhr seinen Wagen mit Würde. 169
Schnellfahren war ihm zuwider. Er hatte all seinen Freunden gesagt, das einundvierziger Modell sei genau das richtige für ihn, und mittlerweile war er fast selber davon überzeugt. Seine dicken Lippen spitzten sich, und er fing an zu pfeifen: Reich mir die Hand, mein Leben. Er schaute hinauf in den Himmel und auf die Häuser, an denen er vorbeifuhr, als wäre das häßliche Viertel Newarks, das er gerade durchquerte, in Wirklichkeit wunderschön. Es war ein prächtiger Herbstmorgen, von eben der Kühle, die erfrischend war. Kimmel sah hinauf zu dem schwarzen Adler aus Stein am Giebel eines Hauses auf der gegenüberliegenden Straßenseite, dem Adler, dessen zurückgebogener Kopf in den Himmel stach und der eine scharfkrallige Klaue in die Luft reckte. Immer, wenn er den Adler sah, mußte er an ein bestimmtes Gebäude in Breslau denken, obwohl er sonst eigentlich nie an Breslau dachte; viel eher dachte er daran, wie friedvoll Newark war, wie gemütlich sein Alltag mit Buchladen und Haus, mit seinen Freunden, seinem Holzschnitzen und Lesen, wie still und zufrieden er lebte, seit Helen nicht mehr im Hause war. Dann dachte er auch daran, daß er sie getötet hatte, und es erschien ihm als eine heimliche, aber verdienstvolle Tat seinerseits, eine Tat, die auch von der übrigen Welt gutgeheißen wurde, denn kein Mensch hatte je von ihm verlangt, daß er sich dafür verantworte. Die Welt drehte sich einfach weiter, als wäre nichts geschehen. Kimmel liebte die Vorstellung, jeder in der Nachbarschaft – Tony, Nathan, Miss Brown, die Bibliothekarin, Tom Bradley, die Campbells nebenan – wüßte, daß er Helen ermordet hatte, und keiner kümmerte sich darum, ja alle blickten dafür bewundernd zu ihm auf, alle fänden, daß er über den Gesetzen stünde, denen die Handlungen anderer Menschen unterworfen sind. Unzweifelhaft war er bei ihnen im Ansehen gestiegen, seit Helen nicht mehr bei ihm war. Tom Bradley lud ihn ein, um ihn mit bedeutenden Leuten bekannt zu machen, und nie hatte Tom ihn eingeladen, solange Helen 170
seine Frau war. Und es war eine Tatsache, daß nie auch nur der leiseste Verdacht gegen ihn aufgekommen war. Er stand auf freundschaftlichem Fuße mit der Newarker Polizei, ja eigentlich mit jedem, der ihn je interviewt hatte. Es war fünf Minuten vor zehn, als Kimmel seine Tür aufschloß. Er machte den Laden nie vor halb zehn auf, auch an Wochentagen nicht, weil früh aufstehen ihm ein Greuel war, obwohl ihm sicherlich dadurch hin und wieder Studentenkundschaft verlorenging; denn morgens gingen viele Studenten auf ihrem Weg zur nahegelegenen Hochschule am Geschäft vorbei. Bis vor zwei Monaten hatte Kimmel ein Mädchen namens Edith gehabt, die morgens für ihn das Geschäft öffnete. Edith war immer nervöser geworden, und Kimmel hatte vermutet, sie wäre womöglich schwanger. Schließlich hatte sie gekündigt. Dann und wann fragte sich Kimmel, ob sie wohl deshalb gekündigt habe, weil sie den Verdacht hegte, er hätte seine Frau ermordet. Edith hatte eine ganze Menge mitbekommen: jene Schlägerei, bei der sein gläserner Lampenschirm zersprungen war, und all die Male, da Helen ins Geschäft gekommen war und ihn um kleine Geldbeträge gebeten hatte … und ein Streit losgegangen war und er manchmal Helens Handgelenk verdrehen mußte, weil das die einzige Möglichkeit gewesen war, sie zum Schweigen zu bringen. Kimmel schauderte. All das war überstanden. Er dachte an den Bestellzettel von Stackhouse in dem Ablagefach, während er zu seinem Schreibtisch ging, aber als er sich setzte, zog er die Briefe, die er beantworten wollte, aus einem anderen Fach hervor und ließ sie mitten auf den Schreibtisch plumpsen. Da waren auch noch ein paar Verlagskataloge und Broschüren, die er lesen mußte. Kimmel liebte Verlagskataloge, und er las sie gründlich, ob er dann Bücher bestellte oder nicht; er las sie mit der Wonne, wie sie 171
etwa ein Feinschmecker beim Studium einer vielgestaltigen Speisekarte zeigt. Hier war ein Brief vom alten Clifford Wrexhall in South Carolina zu beantworten. Er verlangte noch so ein pornographisches Werk für Kenner. Pornographie war Kimmels Haupteinnahmequelle. Er war bekannt – unter den echten Sammlern solcher Bücher – als ein Buchhändler, bei dem man sich darauf verlassen konnte, daß er jedes Buch besorgte, wenn es überhaupt existierte. Kimmel trieb die Bücher überall auf, in England, Frankreich, auf der Insel Man, in Deutschland und in der Bibliothek eines exzentrischen Amerikaners in der Türkei, eines pensionierten Ölmanagers aus Texas und Persien, der Kimmel immer erst nach monatelangem, mühe- und qualvollem Briefwechsel ein paar wertvolle Häppchen zumaß. Wenn es Kimmel gelang, dem Dillard in der Türkei ein pornographisches Buch zu entlocken, dann ließ er den Kunden dafür zahlen. Kimmel zündete seinen Gasofen an – eine notwendige Ergänzung der leichten Wärme, die von den beiden Heizkörpern hinter den Schaufensterscheiben aufstieg –, setzte sich wieder hin und griff in das Fach, in dem er seine Bestellungen aufbewahrte. Aus dem runden Dutzend Bestellungen suchte er sich die von Stackhouse heraus und sah sie sich an. Stackhouse. Und die Longisland-Adresse. Kimmel faltete das Blatt wieder zusammen und faltete es ein zweites Mal. Stackhouses Buch war noch nicht da. Es gab eigentlich keinen Grund, das Stück Papier zu vernichten, dachte Kimmel. Das könnte verdächtiger aussehen als alles andere. Und dennoch drängte es ihn, den Bestellzettel wenigstens in dem Geheimfach unter der letzten Schublade unten links zu verstecken, oder am Boden der Zigarrenkiste, die mit Bleistiftstummeln und Stempeln angefüllt war. Kimmel hielt das zusammengefaltete Stück Papier zwischen Daumen und Zeigefinger und überlegte. 172
Die Ladentür öffnete sich, und ein Mann kam herein. Kimmel stand auf. »Entschuldigen Sie«, sagte er, »aber das Geschäft ist heute geschlossen.« Der Mann ging unbeirrt auf ihn zu und lächelte. »Guten Tag. Sie sind Melchior Kimmel?« »Ja. Kann ich etwas für Sie tun?« fragte Kimmel, allerdings ein wenig atemlos, weil er nicht gleich gemerkt hatte, daß dieser Mann ein Detektiv war, wenigstens nicht, bevor der Mann nach seinem Namen fragte – und sonst war Kimmel eigentlich schneller. »Ich bin Leutnant Corby, Kriminalpolizei Philadelphia. Haben Sie ein paar Minuten Zeit für mich?« »Selbstverständlich. Worum handelt es sich?« Er ließ seine Hand mit dem Zettel in die Hosentasche gleiten, und ließ auch die andere Hand in die andere Tasche gleiten. »Eine Übereinstimmung von Tatbeständen.« Der junge Leutnant stützte einen Ellenbogen auf Kimmels hohen Schreibtisch und schob seinen Hut ins Genick. »Haben Sie zufällig die Meldung von der Frau gelesen, die neulich in der Nähe einer Bushaltestelle umgekommen ist?« »Ja, gerade heute morgen habe ich so etwas gesehen.« Kimmel trug seine ernste, offene und, wie er glaubte, amerikanische Manier zur Schau. »Natürlich, das habe ich gelesen.« »Ich möchte wissen, ob Sie an die Möglichkeit eines gemeinsamen Mörders gedacht haben, oder ob Sie vielleicht seit dem Tode Ihrer Frau irgend etwas erfahren haben, was Ihren Verdacht auf eine bestimmte Person lenkt?« Kimmel lächelte. »Wenn es so wäre, dann hätte ich das doch gemeldet. Ich stehe in Verbindung mit der Polizei von Newark.« »Ja, und ich komme aus Philadelphia«, sagte Corby lächelnd. 173
»Aber dieser Todesfall neulich ist in meinem Staate passiert.« »Wenn ich mich recht erinnere, stand in der Zeitung, es wäre Selbstmord gewesen«, bemerkte Kimmel. »War es der Ehemann?« Leutnant Corby lächelte wieder. »Er ist vielleicht nicht völlig unschuldig, lassen Sie es uns so ausdrücken. Wir wissen es noch nicht. Er benimmt sich schuldig.« Er zog eine Zigarette hervor, zündete sie an, tat ein paar Schritte vom Schreibtisch weg und wandte sich zurück. Kimmel beobachtete ihn voll Widerwillen. Corbys Gesichtsausdruck sah albern und aufgeblasen aus. Kimmel vermochte nicht zu sagen, wie intelligent der Mann war. »Schließlich ist es so ein bequemer Weg, einen Mord zu begehen«, sagte Corby. »Man fährt dem Autobus nach, wartet bis er hält.« Corbys Augen ruhten auf Kimmel. »Es konnte kaum schiefgehen, denn die Frau dürfte wohl mit ihm gegangen sein zu einem stillen Plätzchen …« Kimmel hohnlachte förmlich bei diesem naiven Annäherungsversuch, und um es zu vertuschen, zwinkerte er mit seinen Äuglein, schob sich die Brille zurecht und nahm sie dann ganz ab, hauchte auf die Gläser und putzte sie bedächtig mit einem sauberen Taschentuch. Kimmel versuchte, sich irgendeine vernichtende Bemerkung einfallen zu lassen, oder wenigstens eine geringschätzige. »Nur daß Stackhouse nicht einmal ein Alibi hat«, sagte Corby. »Vielleicht ist er nicht schuldig.« »Ist Ihnen der Gedanke gekommen, daß Stackhouse möglicherweise seine Frau auf diese Art umgebracht hat?« Was für eine Frage, dachte Kimmel. In der Zeitung stand doch ausdrücklich, daß er seine Frau auf diese Art umgebracht haben könnte. Voller Überheblichkeit blickte Kimmel auf 174
Corby. »Das Thema Mord deprimiert mich – das ist nur natürlich, denke ich. Ich habe den Bericht heute morgen nur überflogen. Ich werde ihn noch einmal lesen. Ich habe ihn zu Hause.« Mr. Stackhouse auf dem Küchentisch. Kimmel konnte Corby noch viel weniger leiden als Stackhouse. Stackhouse mochte seine Gründe gehabt haben. Kimmel schlug die Arme übereinander. »Was war es denn eigentlich, wonach Sie mich speziell fragen wollten?« »Nun, eigentlich habe ich es schon gefragt«, sagte Corby etwas kleinlauter. Er wanderte rastlos umher auf dem kleinen Raum zwischen Kimmels Schreibtisch und einem der langen Büchertische. »Heute früh habe ich einmal die Polizeiakten über den Mord an Ihrer Frau durchgeblättert. Sie waren an jenem Abend im Kino, nicht wahr?« »Ja.« Kimmels Hände spielten mit dem zusammengeklappten Messer in der linken Tasche und mit dem gefalteten Papier in der rechten. »Durch Anthony Ricco bezeugtes Alibi.« »Ja, ganz recht.« »Und Ihre Frau hatte auch keine Feinde, die sie umgebracht haben könnten?« »Ich denke schon, daß sie Feinde hatte.« Kimmel hob beinahe amüsiert die Brauen und blickte hinunter auf den hell beleuchteten Schreibtisch vor ihm. »Sie war kein sehr angenehmes Geschöpf, meine Frau. Nicht für jedermann. Aber wiederum kenne ich niemanden, der sie umgebracht hätte. Ich habe niemals auch nur einen Menschen benannt, den ich verdächtigte.« Corby nickte. »Sind Sie niemals verdächtigt worden?« Kimmel hob seine Brauen noch etwas höher. Wenn Corby ihn erschüttern wollte, dann würde er eben unerschütterlich 175
sein. »Nicht daß ich wüßte. Es ist mir jedenfalls nicht gesagt worden, falls ich verdächtigt worden sein sollte.« Er stand da, groß, aufrecht und vollkommen beherrscht, während Corby ihn studierte. »Ich wünschte, Sie würden sich diesen Fall Stackhouse gründlich ansehen. Wenn Sie wollen, schicke ich Ihnen die Polizeiakten – die, die wir entbehren können.« »Aber es interessiert mich wirklich nicht so sehr«, sagte Kimmel. »Vielleicht sollte ich Ihnen danken, daß Ihnen der Gedanke gekommen ist, es könnte mich interessieren. Falls ich irgend etwas für Sie tun kann … aber eigentlich sehe ich nicht, was.« Er war wieder der ernste Amerikaner mit aufmerksam zur Seite geneigtem Kopf. »Wahrscheinlich nichts.« Corbys Lippen verzogen sich unter dem braunen Schnurrbart wieder zu einem Lächeln. »Aber vergessen Sie nicht – ich bin sicher, Sie haben es nicht vergessen –, daß der Mörder Ihrer Frau noch nicht gefunden worden ist. Es können da höchst überraschende Zusammenhänge ans Tageslicht kommen.« Kimmel ließ seinen Mund ein wenig offenstehen. Dann fragte er heiter: »Suchen Sie einen Mann, der es auf Frauen an Bushaltestellen abgesehen hat?« »Ja. Mindestens einen Mann.« Corby trat einen Schritt zurück und wendete sich zum Gehen. »Das war ungefähr alles, vielen Dank, Mr. Kimmel.« »Es war mir ein Vergnügen.« Kimmel sah ihn gehen, folgte dem unerklärlich eckigen Rücken des rostfarbenen Überziehers mit den Blicken, bis er außer Reichweite seiner kurzsichtigen Augen geriet. Dann hörte Kimmel die Ladentür zufallen. Er holte den Bestellzettel aus der Tasche und legte ihn wieder 176
dorthin, wo er gelegen hatte, zwischen die anderen Bestellungen. Wenn Stackhouses Buch käme, dachte er, würde er es herumliegen lassen, ohne Stackhouse zu benachrichtigen. Wenn sie Stackhouses Bestellung in seinem Schreibtisch fänden, würde er sagen, er könne sich nicht an den Namen oder die Bestellung erinnern. Das war sicherer, als die Bestellung zu vernichten, falls sie tatsächlich einmal eine so gründliche Durchsuchung seiner Papiere vornehmen sollten, daß ihnen das Fehlen einer Bestellung auffiele. Er wurde langsam zu unruhig, zu böse, dachte er. Das war gar nicht das richtige. Aber bis jetzt war keiner wirklich darauf gekommen, wie er es gemacht hatte. Und plötzlich war da ein Stackhouse und kam darauf, wie es schien, und nun Corby … Kimmel setzte sich und zwang sich, Wrexhalls Brief noch einmal sorgfältig durchzulesen, als Vorbereitung für die Antwort. Wrexhall verlangte ein Buch mit dem Titel Berühmte Hunde in Bordellen des 19. Jahrhunderts. Ungefähr eine Stunde später erhielt Kimmel einen Anruf von Tony. Tony sagte, ein Mann wäre in den Laden gekommen, um ihn wegen jenes Abends auszufragen und all die Aussagen noch einmal durchzugehen, die Tony bei der Polizei gemacht hatte. Kimmel nahm es auf die leichte Schulter. Er sagte Tony nichts davon, daß der Mann auch bei ihm gewesen war. Es hörte sich nicht so an, als hätte es Tony besonders aufgeregt. Die ersten paar Male war Tony persönlich zu ihm gelaufen gekommen, um ihm alles über das Verhör bei der Polizei zu erzählen.
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23 Am Montag, dem Tage nach dem Begräbnis, blieb Walter zu Hause, obwohl es zu Hause nichts zu tun gab für ihn, und es war, als warte er nur wie ein williges Opfer auf die höflichen Kondolenten, die er zumeist überhaupt nicht kannte. Es war erstaunlich, wie viele Leute aus Claras Kundenkreis kamen, um ihm zu sagen, wie leid es ihnen täte, von ihrem Tod erfahren zu müssen. Niemand schien ihn zu verdächtigen, dachte Walter, überhaupt niemand. Die Presse war – obwohl die Sensationsblätter daraus gemacht hatten, was sie konnten – erstaunlich schonend mit der Sache umgegangen, mit Walter zumindest. Drei oder vier praktisch völlig fremde Leute hatten ihm ihre Anteilnahme bekundet wegen dieser Ironie des Schicksals, die ihn beinahe rechtzeitig hatte dort sein lassen, um Clara zu retten – einige nahmen sogar an, er wäre ihr aus diesem Grunde nachgefahren –, aber niemand schien seine Unschuld in Zweifel zu ziehen, nicht einmal so, wie Jon sie nach Walters Empfinden an jenem Abend in Zweifel gezogen hatte, als er mit Walter nach Philadelphia gefahren war. Walter ahnte, daß Jon sein Motiv zur Verfolgung des Autobusses anzweifelte, und dazu hatte er Grund, dachte Walter. Jon wußte mehr über die Beziehungen zwischen ihm und Clara als jeder andere, viel mehr als die Iretons beispielsweise. Erst nach Claras Begräbnis hatte Walter Jon von seinem Vorhaben berichtet, nach Reno zu fahren und sich scheiden zu lassen. Jon hatte das sehr seltsam gefunden. Und Walter hatte sich in den letzten Wochen seltsam benommen: hatte Jon nicht angerufen, hatte sich nirgends sehen lassen. Walter erfühlte Jons Mißtrauen mehr, als er es sah. Es drängte ihn, sich mit Jon auszusprechen, reinen Tisch 178
zu machen mit der ganzen Geschichte, einschließlich Kimmel, einschließlich seiner eigenen wirren Wünsche an jenem Abend, als er dem Bus folgte. Aber Walter tat es nicht. Jon, der das meiste wußte, war dennoch der beste Freund, den Walter besaß. Jon war da, wenn er ihn brauchte, und weg, wenn er lieber allein war. Jon war bei ihm am Mittwoch abend, als Ellie anrief. Ellie wollte nur wissen, ob die Polizei noch irgend etwas gesagt hätte. Walter erzählte ihr, daß die New Yorker Polizei ihn am Vormittag in seinem Büro verhört habe. »Sie waren nicht unfreundlich«, sagte Walter. »Haben mich nur noch einmal gefragt wegen der Geschichte, die ich erzählt hatte.« Der Mann in Zivil war nur ein paar Minuten bei ihm gewesen, um mit ihm zu sprechen, und Walter dachte, es könne nicht sehr wichtig gewesen sein, sonst hätte die Polizei ein paar Tage früher mit ihm gesprochen. Ellie fragte nicht, wann sie sich wieder einmal sehen könnten. Walter wußte, ihr war klar, daß sie sich nach den Presseberichten vom Sonntag nicht mehr treffen sollten. Das würde nur noch ein weiteres sensationelles Motiv hinzufügen. Aber Walters Verlangen, sie zu sehen, gewann die Oberhand, und er sprudelte hervor: »Können wir uns morgen abend sehen, Ellie? Kannst du zum Essen herkommen?« »Wenn du meinst, daß es geht – natürlich kann ich.« Als Walter wieder ins Wohnzimmer ging, stand Jon gebückt in der Ecke und sah Plattenalben durch. »Sag, wieviel bedeutet Ellie dir, Walt?« fragte Jon. »Ich glaube, eine ganze Menge«, antwortete Walter. »Wie lange geht das schon so …?« »Gar nichts geht …«, sagte Walter ein bißchen verschnupft. »Liebst du sie?« Walter zögerte. »Ich weiß es nicht.« 179
»Sie jedenfalls liebt dich offensichtlich.« Walter sah zu Boden und fühlte sich verlegen wie ein kleiner Junge. »Ich mag sie gern. Kann sein, daß ich sie liebe. Ich weiß es nicht einmal.« »Wußte Clara von ihr?« »Ja. Noch ehe es da etwas zu wissen gab.« »Du mußt Ellie öfter getroffen haben«, sagte Jon und blickte auf. »Nur zweimal.« Walter ging langsam im Zimmer auf und ab. Er dachte daran, wieviel Mühe sich Clara bei der Auswahl dieses Teppichs gegeben hatte, wie sie in Manhattan von Geschäft zu Geschäft gelaufen war, ehe sie zufriedengestellt war. »Dann mußt du ja mächtigen Eindruck auf sie gemacht haben«, sagte Jon mit seinem gutmütigen Lachen. »Das ist vielleicht nicht von Dauer. Ich kenne sie nicht gut genug.« »Ach, komm, das glaubst du doch selber nicht.« Jons Stimme klang wie das Brummen eines liebenswerten Bären. »Ich habe überhaupt keine Pläne, was Ellie betrifft«, sagte Walter verwirrt. Er und Jon hatten nie sehr viel über Frauen gesprochen – nur darüber, mit ihnen verheiratet zu sein. Wenn Jon irgendwelche Liebesaffären haben sollte, seit er von Stella geschieden war, dann hatte er jedenfalls nicht darüber gesprochen. Walter hatte nie welche gehabt, bis zu Ellie. Jon stand auf, den Arm voller Platten. »Übrigens, ich möchte noch einmal wiederholen, daß ich Ellie mag. Wenn ihr zwei euch gern habt, nun, ich finde das ganz in Ordnung.« Jons Lächeln ließ Walter zurücklächeln. »Laß mich einen Drink für dich holen.« »Nein, danke. Muß auf meine Taille achten.« 180
»Du wirst es nie auf fünfundachtzig bringen! Laß uns einen trinken, auf Ellie.« Walter bereitete zwei großzügige Scotch mit Soda und trug sie zum Rauchtisch. Sie setzten sich und hoben die Gläser … dann sackte Walter plötzlich in sich zusammen. Sein Lächeln war zu einer bitteren Grimasse geworden. Tränen standen in seinen Augen. »Walter – nur ruhig.« Jon saß neben ihm, den Arm um Walters Schultern. Walter dachte an Clara, in nichts aufgelöst, einige Gramm Asche in einem häßlichen grauen Napf. Clara, die so schön gewesen war, deren Körper er in seinen Armen gehalten hatte. Er merkte, daß Jon an dem Glas in seiner Hand zog, aber er hielt es fest. »Du hältst mich für einen Schurken, weil ich hier sitze und auf eine andere Frau trinke, da meine Frau kaum unter der Erde ist, nicht wahr?« »Walter, komm zu dir! Nein!« »Und weil ich hier sitze, heute abend, und dir alles darüber erzähle, nicht wahr?« fuhr Walter mit gesenktem Kopf fort. »Aber ich muß dir sagen, daß ich Clara angebetet habe. Ich habe sie mehr geliebt als irgendeine Frau auf der Welt!« »Walt, ich weiß es.« »Nein, du weißt es nicht – nicht richtig. Niemand weiß es.« Walter fühlte das Glas in seiner Hand knacksen. Er sah seine Hand an, die zwischen blutenden Fingerspitzen einen gewölbten Scherben hielt, und er ließ auch den Scherben auf den Boden fallen. »Du weißt es nicht«, sagte Walter. »Du weißt nicht, was es ist.« Er dachte an das leere Treppenhaus, das leere Bett oben, an Claras farbenfrohe Halstücher, die immer noch im Hutfach des Schrankes lagen. Er dachte an Jeff, der auf sie wartete, den ganzen Tag, die ganze Nacht. Er dachte sogar an ihre Stimme … 181
Er fühlte sich auf die Füße gerissen. Er merkte, daß Jon verlangte, er solle gehen und seine Hand abwaschen, und er fing an, sich zu entschuldigen. »Es tut mir leid, Jon, es tut mir sehr leid. Es lag nicht an dem Drink …« »Du hast ja gar nichts getrunken!« Jon zog ihn mit sich, die Treppe hinauf. »So, jetzt wasch dir Hände und Gesicht und vergiß es.«
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24 In dieser Woche gab es für Walter im Büro sehr wenig zu tun, weil Dick Jensen in Erwartung des sechswöchigen Urlaubs Walters Aufgaben bereits übernommen hatte. Walter machte sich das zunutze und ging nachmittags früher. Das Büro deprimierte ihn noch mehr als das Haus in Benedict. Am Donnerstag ging er gegen drei Uhr zu Dick hinein. »Dick, laß uns nächsten Monat hier ausziehen«, sagte Walter. »Laß uns Sherman anrufen und ihm sagen, daß wir den Mietvertrag zum ersten Dezember oder Mitte November abschließen, falls wir die Räume dann haben können.« Sherman war der Makler für das Haus in der Vierundvierzigsten Straße, das sie sich zum Sitz ihrer Praxis erkoren hatten. Dick Jensen sah ihn minutenlang ernst an, und Walter merkte, daß seine Worte leicht hysterisch geklungen haben mußten, daß Dick wahrscheinlich dachte, er wäre ein bißchen hysterisch wegen Clara. »Wir sollten uns vielleicht noch etwas gedulden, bis sich alles beruhigt hat«, sagte Dick. »Es versteht sich von selbst, daß ich … ich weiß, du hattest nichts damit zu tun, Walt, aber es ist nicht gerade förderlich, wenn man eine neue Anwaltspraxis aufzubauen versucht.« »Die Leute, die für uns als Klienten in Frage kommen, scheren sich keinen Pfifferling darum«, sagte Walter. Dick schüttelte den Kopf. Er stand hinter seinem Schreibtisch. Auf seinem Gesicht lag ein besorgter Zug. »Ich glaube nicht, daß es fatal für uns ist, Walt. Ich glaube nur, all das hat dich stärker mitgenommen, als du es selber weißt. Ich bemühe mich 183
bloß, uns beide vor übereilten Schritten zu bewahren.« Er konnte nur eines meinen, dachte Walter: daß er nicht Teilhaber einer neuen Praxis sein wollte, die alle Aussicht hatte, am schlechten Namen des anderen Partners zu scheitern. Und doch hatte Dick am Dienstag eine so schöne Rede vom Stapel gelassen, welches Vertrauen er in Walter setzte, wie fest er von seiner Integrität überzeugt sei. »Du hast gesagt, du zweifeltest nicht daran, daß es sich beruhigen würde. Bis zum ersten Dezember wird es bestimmt vorbei sein. Ich meinte nur, wir sollten Cross am besten jetzt kündigen, mit Monatsfrist meinetwegen, und sollten unsere Werbung ankurbeln. Wenn wir das alles aufschieben bis zum ersten Dezember, dann dürfte es Mitte Januar werden, bevor wir unseren ersten Klienten zu Gesicht bekommen.« »Ich glaube trotzdem, wir sollten lieber noch warten, Walt.« Walters Blick ruhte auf Dicks weichlichem Körper in dem konservativ geschnittenen Anzug; die Weste wölbte sich über Hunderten von Schinken-und-Ei-Frühstücken, über genüßlich verzehrten dreigängigen Mittagsmenüs. Dick hatte eine muntere, freundliche Frau zu Hause, eine lebendige, atmende Frau. Er konnte es sich leisten, in aller Ruhe abzuwarten. Walter warf seine Aktentasche hin und zog den Mantel an. »Gehst du?« fragte Dick. »Ja. Hier werde ich verrückt. Ich kann dieses Zeug hier ebensogut zu Hause lesen.« Walter ging zur Tür. »Walt …« Er drehte sich um. »Ich sage nicht, daß es zu früh wäre, Cross zu kündigen. Das habe ich nicht gemeint. Ich denke, wir sollten ihm einen Monat Zeit geben. Also nächsten Montag … das wäre der erste November. Ich glaube, dann können wir.« »In Ordnung«, sagte Walter. »Mein Brief liegt fertig da. Ich 184
brauche nur noch ein Datum einzusetzen.« Aber als er zum Fahrstuhl hinausging, kam es ihm in den Sinn, daß Dick wohl nur deshalb mit der Kündigung einverstanden war, weil er seine Stellung jederzeit zurückhaben könnte, wenn er seinen Entschluß änderte. Um was Dick sich immer noch herumdrückte, das war die Unterzeichnung des Mietvertrages für das neue Büro. Auf dem Wege zu seinem Parkplatz sah Walter ein Schaufenster voller Glaswaren, und er ging in den Laden und kaufte eine Vase aus schwerem Schwedenglas für Ellie. Er wußte nicht genau, ob sie Ellie gefallen würde, aber sie würde sich gut machen in Ellies Wohnung, dachte er. Ihre Wohnung war nicht in einem bestimmten Stil eingerichtet. Ellie staffierte sie mit Dingen aus, die ihr gefielen – was sie sonst auch sein mochten. Er hielt bei drei oder vier Geschäften in Benedict an und kaufte Steaks, Pilze, Salatzutaten und eine Flasche Médoc. Er hatte Claudia den Abend freigegeben, die letzten drei Abende, denn Jon und er hatten sich ihr Essen lieber selber gekocht. Den Rest des Nachmittags brachte Walter damit zu, daß er die Arbeit durchlas, die er aus dem Büro mitgebracht hatte, und gegen halb sieben machte er sich daran, in der Küche das Abendessen vorzubereiten. Dann entfachte er im Kamin des Wohnzimmers ein Feuer. Zwei Minuten nach sieben Uhr drückte Ellie auf den Klingelknopf. Er war so fest davon überzeugt gewesen, sie würde pünktlich sein, daß er um Punkt sieben angefangen hatte, die Martinis zu mixen. »Das ist für dich«, sagte Ellie und überreichte ihm einen in Zellophanpapier gehüllten Strauß. Walter nahm ihn lächelnd entgegen. »Du bist ein komisches Mädchen.« »Wieso?« 185
»Bringst einem Mann immer Blumen mit.« »Das ist nur Unkraut von meinem Parkplatz.« Walter wickelte in der Küche die Glasvase aus und stellte die Blumen hinein. Die kurzstieligen Kleeblüten und Margueriten versanken fast in der Vase, aber er trug sie schnell zu ihr hinein. »Und das ist für dich«, sagte er. »Oh, Walter! Die Vase? Die ist aber schön!« »Fein«, sagte er; es freute ihn, daß ihr die Vase tatsächlich gefiel. Ellie holte ein anderes Gefäß für die Blumen, nahm die Vase und stellte sie auf das Sofatischchen, wo sie sie bewundern konnte, während sie ihre Cocktails tranken. Ellie trug ein dunkelgraues Seidenkleid, das er noch nicht an ihr gesehen hatte, Ohrringe und die schwarzen Wildlederpumps, die er so gern hatte. Er wußte, sie hatte sich besondere Mühe gegeben, heute abend gut auszusehen. »Wann ziehst du aus diesem Hause aus?« fragte sie. »Daran habe ich gar nicht gedacht. Meinst du, ich sollte ausziehen?« »Ich weiß, daß du es solltest«, sagte sie. »Ich werde demnächst mit jemandem darüber reden. Die Knightsbridge-Leute haben sich schon angeboten, es in die Hand zu nehmen, falls ich das Haus loswerden wollte.« Da war ja auch noch das Grundstück von Claras Mutter in Harrisburg, fiel Walter plötzlich ein. Obwohl Clara zuerst gestorben war, sollte es zur Hälfte ihm zufallen, so bestimmte es das Testament der Mutter; aber irgendwo in Pennsylvanien hatte Mrs. Haveman noch eine Schwester. Walter würde das Grundstück und die Erbschaft ihr überlassen. »Kannst du schlafen?« fragte Ellie. »Genug.« Er wäre am liebsten hingegangen und hätte sie geküßt, aber er geduldete sich. »Na schön, im nächsten Monat 186
werde ich Wohnung und Stellung wechseln. Dick hat versprochen, daß er nächsten Montag seine Kündigung einreicht. Spätestens am ersten Dezember dürften wir in unserer neuen Praxis sitzen.« »Das freut mich. Dick ist also beruhigt wegen der Pressemeldungen?« »Nein«, sagte Walter. »Bis dahin ist alles vorüber.« Er fühlte sich voller Optimismus und Zuversicht. Der Martini schmeckte großartig. Er vollbrachte genau das, was ein Martini vollbringen sollte. Walter stand auf, setzte sich zu Ellie und legte die Arme um sie. Sie küßte ihn langsam auf den Mund. Dann stand sie auf und lief weg. Walter sah ihr überrascht nach. »Ist es vielleicht falsch am Platze zu fragen, wo ich da hineinpasse?« fragte sie lächelnd. »Ich liebe dich, Ellie. Damit paßt du hinein.« Er wartete. Walter wußte, sie erwartete nicht von ihm, daß er jetzt einen Termin vorschlüge für ihre Hochzeit, jetzt noch nicht. Sie wollte nur noch einmal versichert haben, daß er sie liebte. Das wenigstens konnte er ihr geben, dachte er. Heute abend war er überzeugt davon. Sie tranken den Martinikrug leer und machten noch einen halben Krug mehr, dann gingen sie in die Küche, um das Essen zuzubereiten. Die Kartoffeln standen schon in der Röhre. Ellie erzählte ihm von Dwight, ihrem Wunderkind in der Schule, während sie die Pilze fertig machte. Dwight fing jetzt mit Mozartsonaten an und hatte doch erst seit knapp zwei Monaten Unterricht. Walter fragte sich, ob Ellie und er jemals ein Kind haben würden, das musikbegabt wäre. Er stellte sich vor, er sei mit Ellie verheiratet; stellte sich vor, sie sonnte ihre langen, glatten Beine oben auf der Terrasse oder auf sonst einer Terrasse, im Sommer; er stellte sich vor, ihr Kopf sei in einen Wollschal gehüllt, wenn sie im winterlichen Schnee 187
spazierengingen; er stellte sich vor, er mache sie mit Chad bekannt. Sie und Chad müßten sich eigentlich gut vertragen. »Du hörst mir ja gar nicht zu«, sagte Ellie beleidigt. »Doch, ich höre zu. Dwight, der Mozart spielt.« »Das ist schon mindestens fünf Minuten her. Ich glaube, es ist Zeit, die Steaks aufzusetzen.« Das Telephon klingelte, als Walter die Steaks zum Herd trug. Sie schauten sich an, dann ging Walter hin und hob ab. »Hallo! Ist dort Mr. Stackhouse?« »Ja.« »Leutnant Corby. Könnte ich Sie für ein paar Minuten sprechen? Es ist ziemlich dringend. Lange wird es nicht dauern«, sagte die junge, leutselige Stimme in so zuversichtlichem Ton, daß es Walter schrecklich schwierig fand, ihm einen Korb zu geben. »Können wir uns nicht telephonisch unterhalten? Im Augenblick bin ich gerade …« »Es dauert nur ein paar Minuten. Ich bin hier in Benedict.« »Na gut«, sagte Walter. Er ging in die Küche, fluchte und riß sich die GeschirrtuchSchürze aus dem Gürtel. »Corby«, sagte Walter. »Er kommt her. Er hat gesagt, es wäre nur für ein paar Minuten, aber ich glaube, es ist besser, wenn du nicht hier bist, Ellie.« Sie kniff die Lippen zusammen. »Gut«, sagte sie. Sie beeilte sich, und Walter sagte ihr nicht, sie brauche sich nicht zu beeilen. Sie und Corby könnten sich doch noch an der Tür in die Arme laufen, und das wollte Walter nicht. »Wie wär’s, wenn du in die Three Brothers gingest und noch einen trinkst? Ich rufe dich dann dort an, wenn er weg ist.« »Ich möchte nichts mehr trinken«, sagte sie, »aber ich gehe 188
hin.« Er half ihr in den Mantel. »Es tut mir leid, Ellie.« »Tja – was willst du machen?« Dann ging sie zur Tür hinaus. Walter ließ seinen Blick durch das Wohnzimmer schweifen. Er hob Ellies Martiniglas auf. Sein Glas stand in der Küche. Wenigstens der Tisch war noch nicht gedeckt. Wieder läutete das Telephon. Walter drehte sich um und stellte das Martiniglas hinter die Efeupflanze auf dem Kaminsims. Am Telephon war Bill Ireton. Er teilte Walter mit, daß ihn gerade ein Leutnant Corby von der Kriminalpolizei Philadelphia aufgesucht habe. Er sagte, Corby habe ihn über Walters Privatleben ausgefragt, über seine Freunde in Benedict, sein Verhältnis zu Clara. »Du weißt, Walter, ich kenne dich nun schon so lange, fast drei Jahre. Ich habe nicht ein Sterbenswörtchen gegen dich vorzubringen, und ich habe es auch nicht gemacht. Verstehst du?« fragte Bill. »Ja. Danke, Bill.« Walter hörte Corbys Wagen. »Ich habe ihm gesagt, du und Clara, ihr wäret nicht die Glücklichsten auf Erden gewesen, das konnte ich nicht gut ableugnen, aber ich habe gesagt, ich legte meine Hände dafür ins Feuer, daß du mit ihrem Tod nicht das geringste zu tun hast. Er hat mich gefragt, ob es zwischen dir und Clara meines Wissens je tätliche Auseinandersetzungen gegeben hätte. Ich habe gesagt, du wärest der sanfteste Kerl, den ich mein Leben lang kennengelernt habe.« Entsetzlich, dachte Walter. Bills Stimme plätscherte und plätscherte in sein Ohr. Er wollte ins Wohnzimmer und den Aschenbecher ausleeren. »Er hat mich gefragt, ob ich von der bevorstehenden Scheidung wüßte. Ich habe das bejaht.« »Das ist gut so, Bill. Vielen Dank, daß du mir Bescheid sagst. 189
Ich weiß es zu würdigen.« »Können wir noch irgend etwas für dich tun, Walter?« »Ich glaube nicht.« Es klingelte. Walter sprach leise und ohne Hast weiter. »Ich rufe dich bald wieder an, Bill. Grüß Betty schön.« Er legte auf und ging an die Tür. »Guten Abend«, sagte Corby und nahm den Hut ab. »Entschuldigen Sie, daß ich störe.« »Macht gar nichts«, sagte Walter. Corbys Augen waren überall, als sie ins Wohnzimmer gingen. Er legte Mantel und Hut über einen Stuhl und schlenderte weiter zum Kamin. Er blieb stehen, und Walter sah, daß er direkt auf das Sofatischchen mit dem vollen Aschenbecher hinunterblickte, in dem sich ein paar Stummel mit Lippenstiftspuren befanden. »Ich habe Sie gestört«, sagte Corby. »Das tut mir schrecklich leid.« »Überhaupt nicht.« Walter steckte die Hände in die Taschen seines Jacketts. »Worüber wollten Sie mit mir sprechen?« »Ooch – Routinefragen.« Corby ließ sich auf das Sofa fallen und schlug seine dünnen Beine übereinander. »Ich habe mich mit einigen Ihrer Freunde in der Nachbarschaft unterhalten; es könnte also sein, daß Sie davon hören. Wir machen das immer.« Er lächelte. »Aber ich habe auch mit diesem Kimmel gesprochen.« »Kimmel?« Walters Muskeln spannten sich: er war darauf gefaßt, daß Corby ihm jetzt mitteilte, Kimmel hätte ihn von Walters Besuch in seinem Laden unterrichtet. »Sie wissen doch, der, über den wir sprachen, dessen Frau im Wald bei Tarrytown ermordet wurde – ebenfalls während einer Autobusreise.« »Ach ja«, sagte Walter. 190
Corby nahm sich eine seiner Filterzigaretten. »Ich bin davon überzeugt, daß der Mann schuldig ist …« Auch Walter nahm sich eine Zigarette. »Sie bearbeiten den Fall Kimmel?« »Diese Woche jedenfalls, ja. Der Fall Kimmel hat mich naturgemäß seit August interessiert. Mich interessiert jeder ungelöste Fall. Vielleicht kann ich ihn lösen«, sagte er in erklärendem Ton mit seinem jungenhaften Lächeln. »Nachdem ich Kimmel kennengelernt und ein bißchen was von den Begleitumständen erfahren habe, interessiert mich Kimmel als Verdächtiger sehr.« Walter sagte nichts. »Wir haben noch nicht den rechten Beweis gegen Kimmel. Ich habe ihn noch nicht«, fügte er mit keineswegs überzeugender Bescheidenheit hinzu, »und ich habe nicht den Eindruck, als hätte die Newarker Polizei sich besonders eifrig darum bemüht. Sie erinnern sich nicht mehr an den Fall Kimmel, nicht wahr?« »Nur an das, was Sie mir erzählt haben. Kimmels Frau wurde ermordet, sagten Sie.« »Ja. Ich glaube nicht, daß Kimmel sehr viel mit Ihnen zu tun hat, aber es kann sein, daß Sie eine Menge mit Kimmel zu tun haben.« »Das begreife ich nicht.« Corby lehnte seinen Kopf hintenüber an das Sofakissen und rieb sich müde die Stirn. Quer über seine Stirn zog sich eine rötliche Druckstelle vom Hutrand, und unter seinen blauen Augen lagen leichte Schatten. »Ich meine, Kimmel ist sehr aufgeregt über den Fall Stackhouse, aufgeregter, als er zeigen will. Je aufgeregter er wird, um so eher wird er sich verraten – 191
hoffe ich.« Corby lachte auf. »Er ist allerdings nicht von der Sorte, die sich so ohne weiteres verrät.« Und in der Zwischenzeit, dachte Walter, bin ich das gepeinigte Versuchskaninchen. Corby würde den Fall Stackhouse mächtig aufbauschen und einen Fall Kimmel daraus machen. Walter wartete bewegungslos und aufmerksam. Er gab sich Mühe, Corby diesmal Entgegenkommen zu zeigen. »Kimmel ist ein großer, dicker Bursche mit einem recht gut funktionierenden Köpfchen, allerdings mit einem Anflug von Größenwahn. Er liebt es, Speichellecker aus den Leuten zu machen, die um ihn sind – seine Untertanen. Hat sich hochgearbeitet aus den Elendsvierteln, hält sich für einen Intellektuellen – was er eigentlich auch ist.« Das Lächeln irritierte Walter. War ja alles nur ein lustiges Spiel, dachte Walter. Räuber und Gendarm. Wenn einer sich ausschließlich dem Mord widmete, dachte er, dann mußte er wohl ein Gemüt haben, das schmutzig war oder irgendwo einen Sprung hatte, vor allem wenn er es mit dem genüßlichen Wohlbehagen tat, das Corby zeigte. »Was wird Kimmel Ihrer Ansicht nach tun?« fragte Walter. »Am Ende: gestehen. Dazu werde ich ihn bringen. Ich habe eine ganze Menge über seine Frau erfahren, genug für mich, um zu wissen, daß Kimmel sie mit einer Vehemenz verabscheute, die wahrscheinlich nicht mit … na, mit einer Scheidung allein zu befriedigen war. All das verknüpft sich mit Kimmels Charakter, den man gar nicht richtig einschätzen kann, wenn man den Mann nicht gesehen hat.« Er sah Walter an, dann stieß er seinen Zigarettenstummel in den Aschenbecher und sagte: »Haben Sie etwas dagegen, daß ich mich einmal im Hause umschaue?« Gäste hatten diese Bitte manchmal genauso formuliert, dachte Walter. »Durchaus nicht.« 192
Walter wollte ihn zur Treppe führen, aber Corby blieb vor dem Kamin stehen. Er streckte die Hand aus, holte das Glas hinter dem Efeu hervor und drehte den Stiel zwischen den Fingern. Walter wußte, daß Lippenstift am Glasrand war. Und noch ein paar Tropfen am Boden des Glases. »Appetit auf einen Drink?« fragte Walter. »Nein, danke.« Corby stellte das Glas wieder hin und bedachte Walter mit einem lächelnden, verständnisinnigen Blick. »Sie hatten heute abend Miss Briess zu Gast?« »Ja«, sagte Walter ausdruckslos. Er geleitete Corby die Treppe hinauf. Corby hatte Ellie bis jetzt noch nicht einmal angerufen. Corby hatte für sie eine bestimmte Bezeichnung, nahm Walter an: Freundin … oder Geliebte. Es kam auf eins heraus. Corby betrat das Schlafzimmer, schlenderte im Raum hin und her, die Hände in den Taschen vergraben, und gab keinen Kommentar. Dann spazierte er wieder hinaus, und Walter zeigte ihm das kleinere Vorderzimmer, das eigentlich Mädchenzimmer sein sollte, in dem aber kein Bett stand, sondern nur ein kurzes Sofa. Walter erklärte, daß ihre Hausgehilfin nicht bei ihnen schliefe. »Wer ist Ihr Mädchen?« fragte Corby. »Claudia Jackson. Sie wohnt in Huntington. Sie kommt zweimal täglich, morgens und abends.« »Kann ich ihre Adresse haben?« Corby holte seinen Block hervor. »Spring Street siebenhundertsiebzehn, Huntington.« Corby schrieb. »Heute abend ist sie nicht hier?« »Nein. Heute abend nicht«, antwortete Walter stirnrunzelnd. »Gästezimmer?« fragte Corby, als sie auf die Diele traten. »Meine Frau wollte nie eines. Hier drüben ist noch ein Zimmer, eine Art Wohnraum.« 193
Corby warf einen gleichgültigen Blick hinein. Das Zimmer war nie benutzt worden, allerdings hielt Claudia es in Ordnung. Jetzt erschien es Walter tot und schrecklich, wie ein Einrichtungsmuster in einem Warenhaus. »Werden Sie das Haus behalten?« fragte Corby. »Ich habe mich noch nicht entschieden.« Walter machte eine andere Tür auf. »Hier ist mein Arbeitszimmer.« »Das ist hübsch«, sagte Corby anerkennend. Er ging an die Bücherregale und blieb stehen – mit den Händen, die auf seinem Rücken lagen, raffte er das Jackett nach hinten. »Haufenweise Rechtswissenschaft. Arbeiten Sie viel zu Hause?« »Nein.« Corby blickte auf den Schreibtisch hinunter. Walters große, dunkelblaue Kladde lag an einer Ecke. »Photoalbum?« fragte Corby und griff danach. »Nein, das ist eine Art Notizheft.« »Darf ich es sehen?« Walter bejahte mit einer Handbewegung, obwohl es ihm zuwider war, daß Corby es anrührte, zuwider, ihm dabei zuzuschauen. Walter tastete nach seinen Zigaretten, stellte fest, daß er keine bei sich hatte, und verschränkte die Arme. Er trat ans Fenster. In der Scheibe konnte er Corby sehen: über das Notizbuch gebeugt, langsam die Seiten umblätternd. »Was ist das?« fragte Corby. Walter drehte sich um, »Das ist so etwas wie ein Hobby von mir. Notizen über Menschen für einige Essays, die ich schreiben will.« Walters Stirnrunzeln grub sich tiefer. Er ging wieder hinüber zu Corby, zermarterte sein Hirn nach einer Bemerkung, die Corby von dem Notizheft ablenken könnte, von den säuberlich geschriebenen Zeilen, die Corby sich zu 194
entziffern mühte. Walter schaute zu, wie er wieder eine Seite umblätterte. Da lag lose ein Zeitungsausschnitt. Walter warf einen Blick darauf. Die Größe, der Fettdruck obenan kam ihm bekannt vor. Er wollte es nicht glauben. Corby hob ihn hoch. »Das ist über Kimmel!« sagte Corby entgeistert. »Ja?« fragte Walter im gleichen Ton. »Aber … Ja!« sagte Corby und wandte Walter sein fassungsloses Lächeln zu. »Sie haben das herausgerissen?« »Muß ich wohl, aber ich erinnere mich nicht mehr daran.« Walter sah Corby an, und in diesem Augenblick ging etwas Entsetzliches zwischen ihnen vor: auf Corbys Gesicht lag einfach natürliche Überraschung, und in diese Überraschung mischte sich Erkennen, das Erkennen von Walters Schwindel. Einen Augenblick lang sahen sie sich an wie zwei normale menschliche Wesen, und Walter spürte: die Wirkung, die das auf ihn ausübte, war verheerend. »Sie erinnern sich nicht daran?« fragte Corby. »Nein. Ich habe es nie benutzt. Ich habe sehr viele Sachen aus Zeitungen ausgeschnitten.« Er deutete mit einer Handbewegung auf die Kladde. Zehn oder zwölf weitere Zeitungsmeldungen lagen noch überall verstreut in der Kladde. Aber Walter wußte genau, er hatte den Kimmelausschnitt weggeworfen. Corby blickte noch einmal auf die Meldung, legte sie hin, wo sie gelegen hatte, dann beugte er sich noch einmal über das Heft, las die Absätze in Walters Handschrift, die getippten und eingeklebten Absätze auf dieser Seite. Walter sah, daß es die Seiten über Jensen und Cross waren. Nichts zu tun mit Kimmel. Wäre besser gewesen, es hätte mit Kimmel zu tun, dachte 195
Walter. »Es ist eine Sammlung von Notizen über – unwürdige Freunde«, erklärte Walter. »So ungefähr. Ich habe das wahrscheinlich herausgerissen mit dem Gedanken, der Mörder könnte später gefunden werden. Und dann habe ich den Namen vergessen. Mich interessierte die Verbindung zwischen Mörder und Opfer. Allerdings ist nie mehr bekanntgeworden, und ich denke, deshalb habe ich es vergessen. Es ist ein unglaublicher Zufall. Hätte ich …« Plötzlich war eine große Leere in Walters Kopf. Corby sah ihn scharf an, obwohl immer noch etwas von der Überraschung in seinem Gesicht lag. Er betrachtete Walter, als warte er nur darauf, als brauche er nur darauf zu warten, daß Walter irgend etwas sagte, was seine Schuld endgültig besiegelte. Corby lächelte. »Ich wüßte gern, was Ihnen so durch den Kopf ging, als Sie dies Stück Papier herausrissen.« »Wie ich Ihnen schon sagte. Es hat mich interessiert, wer der Mörder sein mochte – eventuell. Genauso wie bei …« Walter hatte erwähnen wollen, daß er einen Zeitungsausschnitt über einen Mord zu seinem Essay über Mike und Chad benutzt hatte, einen Mord, der aus einer solchen Freundschaft resultiert war, aber dieser Zeitungsausschnitt war schon lange nicht mehr da. »Mich interessierte die Beziehung zwischen Helen Kimmel und dem Mörder.« Walter sah, daß Corby das Helen wohl gehört hatte. »Weiter«, sagte Corby. »Weiter ist dazu nichts zu sagen.« Ein Teil von Walters Verstand spielte mit der Möglichkeit, daß irgend jemand ihm die Kimmel-Meldung in die Kladde geschmuggelt hätte. Aber es war genau das Stück Zeitung, das er selber herausgerissen hatte. 196
Er kannte sogar die äußeren Umrisse. Dann fiel es ihm plötzlich ein: das Stück Papier war damals, als er es wegwarf, zu Boden gefallen. Er war zu faul gewesen, es aufzuheben, und dann hatte Claudia es gefunden. »Eigentlich, wissen Sie, warf ich …« Er hielt ebenso plötzlich inne, wie er angefangen hatte. »Was?« Walter wollte nicht bekennen, daß er sich noch so gut daran erinnerte. Verdammte Claudia, dachte er. Verdammte Tüchtigkeit! Clara hatte ihr das eingebleut. »Nichts. Es ist nicht wichtig.« »Vielleicht doch«, sagte Corby überredend. »Nein.« »Haben Sie Kimmel einmal gesehen, mit ihm gesprochen?« »Nein«, sagte Walter, und in der nächsten Sekunde hätte er seine Antwort am liebsten zurückgenommen. Seine Gedanken schwankten hin und her zwischen dem Wunsch, jetzt gleich die ganze Geschichte zu erzählen, und dem Drang, so viel wie eben möglich über Kimmel zu verheimlichen. Aber was, wenn Kimmel morgen alles ausplauderte? Walter kam sich vor wie das Opfer eines komplizierten Spiels: es war, als würden ganz langsam die Netze eingeholt, die plötzlich über ihn geworfen und zugezogen worden waren. Corby steckte eine Hand in die Hosentasche und spazierte auf Walter zu und umkreiste ihn in einem gewissen Abstand, so als wolle er Walter besser betrachten können in diesem neuen Licht. »Sie sind förmlich besessen von diesem Fall Kimmel, was?« fragte Walter. »Besessen?« Corby lachte verächtlich auf. »Ich bearbeite mindestens ein halbes Dutzend Mordfälle!« »Aber da, wo es sich um mich handelt, scheinen Sie an dem 197
Fall Kimmel zu kleben«, platzte Walter heraus. »Ja. Es ist die Ähnlichkeit der beiden Fälle, die den Fall Kimmel wieder ins Rollen gebracht hat, könnte man sagen. Die Newarker Polizei hatte ihn schon zu den Akten gelegt, unbekannter oder unbekannte Täter, Überfall eines Irren – hoffnungslos. Sie aber haben uns gezeigt, wie es geschehen sein könnte.« Corby wartete und ließ das erst einmal wirken. »Kimmels Alibi ist nicht das härteste der Welt. Niemand hat ihn wirklich gesehen in dem Moment, da es geschah. Ist Ihnen der Gedanke gekommen, daß Kimmel seine Frau umgebracht haben könnte – entweder als Sie die Meldung herausrissen oder später?« »Nein, ich glaube nicht. Es hieß doch, er …« Walter verstummte. Kimmels Alibi war nicht erwähnt in der Meldung, die Corby gesehen hatte. »Es ist einfach nur ein Zufall, ja?« Walter verharrte in mürrischem Schweigen. Es ärgerte ihn, daß er nicht immer auseinanderhalten konnte, wann Corby sarkastisch zu sein beliebte und wann nicht. »Haben Sie etwas dagegen, daß ich dies hier mitnehme?« fragte Corby und nahm das Stück Zeitung aus der Kladde. »Nicht im geringsten.« Corby legte das Stück Zeitung in seine Brieftasche, machte die Schnalle zu und steckte sie wieder in seine Brusttasche. Walter fragte sich, was er damit anfangen wolle – es Kimmel zeigen? »In Kürze können Sie womöglich noch mehr interessante Meldungen über Kimmel in der Presse finden«, sagte Corby mit einem Lächeln, »aber ich hoffe sehr, daß ich Sie nicht noch einmal belästigen muß – so wie heute.« Walter glaubte ihm kein Wort. Er hegte nicht den geringsten Zweifel, daß jetzt auch in der Zeitung stehen würde, er habe 198
den Kimmel-Ausschnitt gehabt. Er folgte Corby aus dem Zimmer. Corby ging zu dem Stuhl, auf dem sein Mantel und sein Hut lagen. Er hob den schmalen Kopf. »Brennt hier etwas?« Walter hatte es nicht gemerkt. Er ging in die Küche und schaltete den Herd aus. Es waren die Kartoffeln. Er öffnete ein Küchenfenster. »Es tut mir leid, Ihnen den Abend verdorben zu haben«, sagte Corby, als Walter zurückkam. »Überhaupt nicht.« Er ging mit Corby zur Tür. »Gute Nacht«, sagte Corby. »Gute Nacht.« Walter kehrte der Tür den Rücken zu und starrte das Telephon an, horchte, wie Corby seinen Wagen anließ, und überlegte, wie er Ellie dies erklären sollte. Oder sonst jemandem. Er konnte es nicht. Walter runzelte die Stirn. Er versuchte, sich die Pressemeldungen über diese Sache heute abend vorzustellen. Sie konnten doch einen Menschen nicht zum Verbrecher stempeln, nur weil er einen Zeitungsausschnitt besaß! Sie hatten ja auch Kimmel noch nicht angeklagt. Mochte ja sein, daß Kimmel unschuldig war. Bis jetzt schien nur Corby der Meinung zu sein, er sei schuldig. Und Walter selbst. Walter rannte hastig die Treppe hinauf. Ihm war etwas anderes eingefallen. Ganz hinten aus seiner Schreibtischschublade zog er ein flaches Büchlein, in dem er sporadisch Tagebuch führte. Wochenlang hatte er nichts hineingeschrieben, aber er hatte, entsann er sich, in den Tagen nach Claras Genesung von den Schlaftabletten etwas geschrieben. Da war es schon, die letzte Eintragung:
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Es ist eigentümlich, daß man in den bedeutsamsten Perioden seines Lebens niemals Tagebuch führt. Es gibt Dinge, bei denen selbst ein gewohnheitsmäßiger Tagebuchschreiber davor zurückschreckt, sie schwarz auf weiß festzuhalten – wenigstens für einige Zeit. Und welch ein Verlust ist das doch, wenn man überhaupt die Absicht hat, ehrlich Buch zu führen. Der eigentliche Wert von Tagebüchern liegt darin, daß sie von schwierigen Lebensabschnitten berichten, und in eben diesen ist man zu feige, all die Schwächen, die Launen, die beschämenden Haßgefühle, all die kleinen Lügen, die selbstsüchtigen Wünsche, verwirklicht oder nicht, zu Papier zu bringen – das, was den wahren Charakter eines Menschen ausmacht. Davor klaffte eine Lücke von mehr als einem Monat, einem Monat des Haders mit Clara und dann ihr Selbstmordversuch. Walter riß die Seite heraus. Sollte Corby das jemals finden, dachte Walter, dann wäre er restlos erledigt. Walter hob die Hand, um die Seite mit seinem Feuerzeug anzuzünden … dann nahm er das Tagebuch und trug es die Treppe hinunter. Der Kamin war voll glühender Scheite. Er riß das ganze Heft in drei Teile, legte sie auf die Scheite und tat noch Holz obenauf. Dann ging er ans Telephon und rief Ellie in den Three Brothers an. Er entschuldigte sich dafür, daß Corby so lange gebraucht hatte. »Was war denn nun los?« Langeweile und Gereiztheit sprachen aus Ellies Stimme. »Nichts«, sagte Walter. »Nichts, nur die Kartoffeln sind verkohlt.«
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25 »Ich bin gerade dabei wegzugehen«, sagte Kimmel. »Wenn Sie …« »Es ist außerordentlich wichtig. Es wird nicht lange dauern.« »Ich gehe jetzt aus dem Hause!« »Ich bin sofort drüben«, sagte Corby und legte auf. Sollte er es jetzt auf sich nehmen oder morgen, überlegte Kimmel. Er zog seinen Mantel aus, streckte mechanisch die Hand aus, um ihn aufzuhängen, dann schleuderte er ihn von sich mit einer gereizten Geste, hinein in die Ecke des roten Plüschsofas. Gedankenverloren blickte er um sich, sah auf das Piano und gewahrte für einen Moment die geisterhafte Gestalt Helens: dort saß sie und klimperte den Tennessee-Walzer. Er überlegte, was Corby wohl zu besprechen hätte … oder ob er nichts hätte, so wie gestern … ob er bloß käme, um ihn zu ärgern? Er fragte sich, ob Corby so viele Erkundigungen in der Nachbarschaft eingezogen hätte, daß er von Kinnaird wüßte, diesem Lümmel von Versicherungsvertreter, mit dem Helen herumgehurt hatte. Nathan, sein Freund, der in der städtischen Oberschule Geschichte unterrichtete, wußte von Kinnaird. Nathan war an jenem Morgen zu ihm ins Geschäft gekommen, um ihm zu sagen, daß Corby ihn verhört hätte. Aber der Name Ed Kinnaird war nicht gefallen. Kimmel kratzte sich unter der Achsel. Er war gerade vom Abendessen im Oyster House heimgekommen und hatte vorgehabt, sich gemütlich mit einer Flasche Bier und seiner Schnitzarbeit hinzusetzen, Radio zu hören für eine Stunde oder so und dann mit einem Buch zu Bett zu gehen. Das Bier jedenfalls würde er trinken, dachte er, und er ging 201
über den Flur zur Küche. Der Fußboden des Holzhauses quietschte unter seinem Gewicht. Die Türklingel schrillte, als er zurückkam. Kimmel ließ Corby ein. »Entschuldigen Sie die Störung zu dieser späten Stunde«, sagte Corby und schaute kein bißchen entschuldigend drein. »Meine Tagesstunden sind zur Zeit mit anderer Arbeit ausgefüllt.« Kimmel sagte nichts. Corby sah sich im Wohnzimmer um, beugte sich hinab, um die dunkel gefleckten Holzdinger näher zu betrachten, die oben auf dem langen weißen Bücherregal lagen, alle kunstvoll geschnitzt und miteinander verbunden wie ein Strang Würstchen. Kimmel hatte eine obszöne Antwort parat für den Fall, daß Corby fragte, was das wäre. »Ich habe Stackhouse noch einmal besucht«, sagte Corby und richtete sich auf, »und ich habe etwas sehr Interessantes gefunden.« »Ich sagte Ihnen schon, mich interessiert der Fall Stackhouse nicht im geringsten, ebensowenig wie alles, was Sie sonst zu sagen haben.« »In Ihrer Lage können Sie das nicht mehr sagen«, erwiderte Corby und ließ sich auf Kimmels Sofa nieder. »Ich glaube nämlich, daß Sie schuldig sind, Kimmel.« »Das sagten Sie gestern bereits.« »So, habe ich das gesagt?« »Sie haben mich gefragt, ob ich noch jemanden nennen könnte außer Tony Ricco, der mein Alibi stützte. Sie ließen durchblicken, daß ich schuldig wäre.« »Ich glaube, Stackhouse ist schuldig«, sagte Corby. »Ich bin sicher, daß Sie es sind.« Kimmel fragte sich plötzlich, ob Corby einen Revolver unter diesem aufgeknöpften Jackett trüge. Er nahm sein Bier von dem niedrigen Tischchen vor Corby, goß den Rest aus der 202
Flasche ins Glas und stellte die Flasche wieder hin. »Ich werde das morgen bei der Newarker Polizei melden. Von der Polizei in Newark werde ich nicht verdächtigt und nicht beargwöhnt. Ich bin in Newark ein geachteter Mann.« Corby nickte lächelnd. »Mit der Newarker Polizei habe ich neulich gesprochen, ehe ich Sie aufsuchte. Selbstverständlich habe ich deren Genehmigung eingeholt, den Fall Kimmel zu bearbeiten, denn hier ist ja nicht mein Kompetenzbereich. Die Polizei hat nicht das mindeste dagegen, daß ich ihn bearbeite.« »Aber ich. Ich habe etwas dagegen, daß man in die Privatsphäre meines Hauses einbricht.« »Ich fürchte, daran können Sie gar nichts ändern, Kimmel.« »Verlassen Sie lieber dieses Haus, bevor Sie hinausgeworfen werden. Ich habe Wichtigeres zu tun.« »Was ist wichtiger, Kimmel – meine Arbeit oder Ihre? Was tun Sie denn heute abend – die Memoiren des Marquis de Sade lesen?« Kimmels Blick glitt von oben nach unten über Corbys geschmeidigen Körper. Was konnte Corby schon von einem solchen Buch wissen? Die gewohnte Sicherheit durchströmte Kimmel, ein Gefühl der Unverwundbarkeit, machtvoll und unbesieglich wie in der Sage. Er war ein Riese im Vergleich zu Corby. Corby würde sich an ihm die Zähne ausbeißen. »Sie erinnern sich doch, Kimmel, daß ich Ihnen sagte, meiner Meinung nach hätte Stackhouse es getan, indem er dem Autobus folgte, seine Frau überredete, zu dem Felsen mitzugehen, und sie dann in den Abgrund stieß?« Endlich sagte Kimmel: »Ja.« »Ich glaube, auch Sie haben etwas Ähnliches gemacht.« Kimmel sagte nichts. »Und das Interessante daran ist, daß Stackhouse darauf gekommen ist«, fuhr Corby fort. »Ich habe Stackhouse gestern 203
abend in Long Island besucht, und was glauben Sie, was ich gefunden habe? Die Meldung über Helen Kimmels Ermordung, datiert vom vierzehnten August.« Corby öffnete seine Brieftasche. Er hielt lächelnd das Stückchen Zeitung hoch. Corby streckte ihm das Stück Papier entgegen. Kimmel nahm es und hielt es dicht vor seine Augen. Er erkannte darin eine der ersten Zeitungsmeldungen über den Mord. »Und das soll ich Ihnen glauben? Ich glaube Ihnen nicht.« Aber er glaubte ihm. Was er nicht zu glauben vermochte, das war die Dummheit von Stackhouse. »Fragen Sie Stackhouse, wenn Sie mir nicht glauben«, sagte Corby und verstaute den Zettel wieder in seiner Brieftasche. »Möchten Sie ihn nicht kennenlernen?« »Ich habe absolut kein Interesse daran, ihn kennenzulernen.« »Dennoch – ich denke, ich werde es arrangieren.« Es traf Kimmel wie der dumpfe Schlag eines Hammers über dem Herzen, und nun begann er zu spüren, wie der Herzschlag in seiner breiten Brust dröhnte. Kimmel breitete die Arme aus zu einer Geste, die zu verstehen gab, er sei durchaus bereit, Stackhouse kennenzulernen, könne aber den Sinn der Sache nicht einsehen. Kimmel dachte, Stackhouse würde womöglich einen Nervenzusammenbruch erleiden, direkt in seinem Laden oder wo er sonst sein mochte. Stackhouse würde damit herauskommen, daß er Kimmel schon einmal besucht hatte, vielleicht würde er Kimmel sogar bezichtigen, ihm gestanden zu haben, wie er Helen umgebracht hätte, ihm erklärt zu haben, wie man so etwas mache. Kimmel wußte überhaupt nicht, woran er bei Stackhouse war. Kimmel fühlte sich zittern von Kopf bis Fuß, er wand sich, drehte sich fast um sich selbst und starrte blicklos vor sich hin. »Ich weiß einiges über Stackhouses Privatleben. Er hatte Grund genug, seine Frau zu beseitigen, genau wie Sie es getan 204
haben – als Sie endlich wütend genug waren. Aber Sie haben auch so ein kleines bißchen Spaß daran gehabt, nicht wahr? Irgendwie?« Kimmel spielte mit dem Messer in seiner linken Hosentasche. Noch immer konnte er seinen Herzschlag fühlen. Ein Lügendetektor, dachte er … Er war fest überzeugt gewesen, daß er einem Lügendetektor standhalten könne, falls sie je einen auf ihn anwenden würden. Aber vielleicht konnte er es gar nicht. Stackhouse war darauf gekommen, dachte Kimmel, nicht Corby. Stackhouse hatte die entsetzliche Dummheit besessen, überall säuberlich seine Spur zu hinterlassen, sie geradenwegs bis vor seine Tür zu führen! »Sie haben alle Beweise gegen Stackhouse, die Sie brauchen?« fragte Kimmel. »Kriegen Sie es mit der Angst, Kimmel? Ich habe nur Indizienbeweise, aber das übrige wird er gestehen. Sie allerdings nicht. Ich werde noch mehr Beweise gegen Sie sammeln und Ihr Alibi erschüttern müssen. Ihr Freund Tony meint es gut, und er glaubt, Sie wären den ganzen Abend im Kino gewesen, aber genauso leicht könnte man ihn dazu bringen, etwas anderes zu glauben, ich muß nur richtig mit ihm reden. Er ist bloß ein …« Plötzlich warf Kimmel Corby sein Glas an den Kopf, packte Corby beim Kragen und zerrte ihn über den Tisch empor. Kimmel holte mit der Rechten aus zu einem tödlichen Hieb, und dann spürte er etwas in seinem Zwerchfell, was er für eine Kugel hielt. Kimmel schlug mit der Rechten zu und schlug ins Leere. Dann wurde sein Arm mit einem scharfen Schmerz herumgerissen; er verlor den Boden unter den Füßen. Übelkeit durchflutete ihn, er schloß die Augen und fühlte sich durch die Luft wirbeln. Er landete auf der Hüfte mit einer Wucht, daß die Fensterscheiben klirrten. Kimmel saß auf dem Fußboden. 205
Er blickte auf Corbys verschwommene, hochaufragende Gestalt über ihm. Kimmels dicker linker Arm hob sich ganz von allein, wie ein schwebender Ballon. Kimmel betastete ihn und stellte fest, daß er empfindungslos war. »Mein Arm ist gebrochen!« sagte er. Corby schnaufte und riß an seinen Manschetten. Kimmel drehte den Kopf von einer Seite zur anderen, seine Blicke tasteten den Boden ab. Er schob sich auf die Knie hoch. »Sehen Sie irgendwo meine Brille?« »Hier.« Kimmel merkte, daß ihm die Brille zwischen die Finger der linken Hand geschoben wurde, die immer noch in der Luft hing, und er schloß seine Finger um das dünne Goldgestell, fühlte, wie es ihm entglitt, hörte es fallen, und wußte – dem Geräusch nach: die Gläser waren zerbrochen. »Scheißkerl!« schrie er und stand auf. Er steuerte auf Corby zu. Corby trat lässig zur Seite. »Fangen Sie nicht noch einmal an. Sie werden wieder das gleiche erleben, nur schlimmer.« »Raus!« brüllte Kimmel. »Raus hier, Sie stinkendes … Sie Kellerassel! Sie Strichjunge!« Kimmel drang immer weiter in das Vokabular des Sexuellen und der Anatomie vor, und Corby trat rasch auf ihn zu, hob die Hand, und Kimmel schloß den Mund und duckte sich. »Sie sind ein Feigling«, sagte Corby. Kimmel wiederholte, was Corby seiner Meinung nach war. Corby nahm seinen Mantel und zog ihn an. »Ich warne Sie, Kimmel. Ich werde Ihnen keine Ruhe lassen. Und alle in dieser Stadt sollen es wissen, all Ihre kleinen Freunde. Und an einem der nächsten Tage werde ich mit Stackhouse in Ihren Laden spazieren. Sie beide haben eine Menge gemeinsam.« Corby ging hinaus und knallte die Tür hinter sich zu. Kimmel blieb sekundenlang stehen, wo er stand, sein 206
wabbeliger Körper war gestrafft, soweit das möglich war, die halbblinden Augen starrten ins Leere. Er stellte sich vor, Corby ginge zu der Bibliothekarin, zu Miss Brown, ginge zu Tom Bailey, dem ehemaligen Ratsherrn, dem intelligentesten Menschen in der Nachbarschaft, den Kimmel kannte und um dessen Freundschaft er sich am heftigsten bemüht hatte, dessen Freundschaft er am höchsten wertete. Tom Bailey wußte nichts über Helens Affäre mit Ed Kinnaird, aber Kimmel hegte nicht den leisesten Zweifel, daß Corby es jedem erzählen würde, sobald er das heraushätte; er würde jedes gemeine, widerliche Detail vor ihnen ausbreiten: daß sie ihn, wie eine gewöhnliche Prostituierte, auf der Straße aufgelesen hatte; denn das wußte Lena, Helens beste Freundin. Helen hatte sich damit gebrüstet! Corby würde Mißtrauen in alle Köpfe säen. Kimmel setzte sich plötzlich in Bewegung – es war mehr ein Vorwärtsfallen und Sichfangen – er tastete sich an den Flurwänden entlang zur Küche, wo er sein Gesicht am Wasserhahn kalt abwusch. Dann tastete er sich zurück zum Telephon im Wohnzimmer. Er brauchte lange, die Nummer zu wählen, und dann war es beim ersten Mal eine falsche. Er wählte aufs neue. »Hallo, Tony, alter Junge«, sagte Kimmel aufgekratzt. »Was machst du jetzt? … Gut, mir ist nämlich eben etwas Schreckliches passiert. Ich habe meine Brille zerschlagen, bin über den Teppich gefallen und habe wahrscheinlich auch sonst noch allerhand kaputt gemacht, die Brille jedenfalls ist in tausend Stücken. Komm ein bißchen zu mir herüber. Ich kann heute abend nicht lesen und auch sonst nichts tun.« Kimmel lauschte Tonys Stimme, die sagte, er käme, ein paar Minuten noch, gleich habe er irgend etwas fertig, was er zu tun hätte … Kimmel lauschte geduldig der monotonen, bescheidenen Stimme, während er sich der angenehmen Erinnerung an die Dienste hingab, die er Tony geleistet hatte … zum Beispiel damals, vor drei Jahren, als Tony einem Mädchen ein Kind 207
gemacht hatte und verzweifelt einen Abtreiber suchte. Kimmel hatte ihm innerhalb von Minuten einen beschafft, sicher und nicht gar zu teuer. Tony hatte vor ihm auf den Knien gelegen vor Dankbarkeit, denn er hatte schreckliche Angst ausgestanden, seine sehr fromme Familie könne es erfahren, gar nicht zu reden von der Familie des Mädchens. Als Kimmel aufgelegt hatte, hob er den Tisch auf, der umgefallen war, stellte die Leselampe wieder hin und entfernte die zersprungene Glühbirne aus ihrem Sockel. Es gab ja eine Grenze für den Schaden, den ein stürzender Mann in einem Zimmer anzurichten vermochte. Dann stellte er sich an das Bücherregal und spielte mit seinen Schnitzereien, drehte die Teile in alle Richtungen und studierte die entstehenden Formen. Er konnte sie verschwommen gegen das hellgestrichene Regal sehen, und der Effekt war ganz interessant. Es waren zigarrenförmige Stücke, unsichtbar eins am anderen mit Draht befestigt. Einige sahen wie Tiere auf vier Beinen aus; andere, in zehn oder mehr Stücken, ließen keinen Deutungsversuch zu. Kimmel selber hatte keinen bestimmten Namen für sie. Bei sich nannte er sie manchmal seine Püppchen. Jedes Stück war anders geschnitzt, mit selbsterfundenen Mustern persischen Einschlags, und die braungesprenkelten Oberflächen waren mit feinem Sandpapier so glatt geschmirgelt, daß sie sich beinahe weich anfühlten unter den tastenden Fingern. Kimmel liebte es, seine Fingerspitzen darüber hingleiten zu lassen. Er liebkoste sie immer noch, als es klingelte. Tony kam herein, den Hut in der Hand, und ließ sich unbeholfen in einen Sessel plumpsen, noch ehe Kimmel ihn bitten konnte, seinen Mantel abzulegen. Tony fühlte sich immer geschmeichelt, wenn er abends zu Kimmel eingeladen wurde. Das war noch nicht öfter als drei- oder viermal vorgekommen. 208
Tony sprang auf, um Kimmel dabei behilflich zu sein, im Schrank einen Bügel für seinen Mantel zu finden. »Möchtest du ein Bier?« fragte Kimmel. »Ja, das nehme ich gern an«, sagte Tony. Kimmel schritt würdevoll, halbblind, über den Flur und tastete in der Küche nach dem Lichtschalter. Tony war zu unbehaglich zumute, nahm Kimmel an, als daß er von sich aus angeboten hätte, sich das Bier selber zu holen. Tonys Dummheit war Kimmel ein Greuel, aber Tonys Ehrfurcht vor seiner Gelehrsamkeit, die – für Tony eine unfaßbare Zusammenstellung – einherging mit biertrinkender Kameraderie, schmeichelte wiederum Kimmel. »Tony, ich wäre dir sehr dankbar, wenn du morgen früh zu mir kommen könntest und mich in meinem Wagen zum Optiker führest«, sagte Kimmel, als er die Bierflaschen und Gläser hinstellte. »Sicher, Mr. Kimmel. Wann denn?« »Ach, so um neun rum.« »Sicher«, sagte Tony und kreuzte nervös seine Beine andersherum. Unglaublich, dachte Kimmel, dieser Jammerlappen, pockennarbig und bar jedes bemerkenswerten Zuges im Gesicht, sollte der es tatsächlich fertigbekommen haben, ein Mädchen zu schwängern. Tony hatte der Sache nie einen Gedanken geschenkt, dessen war Kimmel gewiß, er hatte nicht die blasseste Ahnung von dem damit verbundenen Vorgang. Und eben darum war es so einfach für ihn. Kimmel nahm an, daß Tony jede Woche oder so ein Mädchen hatte. Tony hatte eine feste Freundin, aber Kimmel wußte, das war kein Mädchen, mit dem die Jungen der Gegend schliefen. Kimmel belauschte oft ihre Gespräche an einem Fenster seines Ladens, das auf eine Allee hinausblickte. Ein Mädchen Namens Connie war die Favoritin der Umgebung. Aber Tonys Mädchen Franca 209
war nie genannt worden, obwohl Kimmel stets die Ohren nach ihrem Namen spitzte. »Was machst du denn immer so, Tony?« »Och, immer dasselbe, den Laden, ein bißchen kegeln.« Es war immer die gleiche Antwort. Aber Kimmel fragte immer aus Höflichkeit, die, das wußte er, gar nicht anerkannt wurde. »Oh, Tony, bei der Gelegenheit – es kann sein, daß die Polizei dir in den nächsten Tagen oder Wochen wieder Fragen stellt. Laß dich nicht erschüttern. Sag ihnen …« »O nein«, sagte Tony, wenn auch etwas erschrocken. »Erzähl ihnen genau das, was geschehen ist, genau das, was du gesehen hast«, sagte Kimmel in leichtem, aber bestimmtem Ton. »Du hast mich um acht Uhr im Kino meinen Platz einnehmen sehen.« »Oh, sicher, Mr. Kimmel.«
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26 »Leutnant Corby möchte Sie sprechen, Mr. Stackhouse«, sagte Joans Stimme durch die Sprechanlage auf seinem Schreibtisch. »Soll ich ihm sagen, er möchte warten, oder wollen Sie ihn gleich empfangen?« Walter sah Dick Jensen an, der neben ihm stand. Sie waren gerade bei der Ausarbeitung eines Schriftstückes in einer Steuersache, das bis fünf Uhr fertig sein mußte. »Sagen Sie ihm, er möchte sich nur eine Minute gedulden«, sagte Walter. »Soll ich gehen?« fragte Dick. Dick wußte sicherlich, wer Corby war, dachte Walter. Dick und Polly dürfte Corby wohl auch aufgesucht haben – bei den Iretons war er zweimal gewesen –, aber Dick hatte nichts davon verlauten lassen. »Ja, ich denke, ich rede besser allein mit ihm«, sagte Walter. Dick nahm seine noch kalte Pfeife von Walters Schreibtisch und ging ohne ein Wort oder einen Blick zur Tür. Walter sagte Joan, er sei soweit, und sofort kam Corby herein, frisch und lächelnd. »Ich weiß, daß Sie zu tun haben«, sagte Corby, »ich will also gleich zur Sache kommen und Sie bitten, heute nachmittag mit mir nach Newark zu fahren und Kimmel zu besuchen.« Langsam erhob sich Walter. »Ich habe keine Lust, Kimmel zu besuchen. Ich habe Arbeit, die unbedingt …« »Aber ich möchte, daß Kimmel Sie kennenlernt«, sagte Corby mit seinem mechanischen Lächeln. »Kimmel ist schuldig, und wir rollen den Fall jetzt auf. Ich möchte, daß Kimmel Sie sieht. Er hält Sie für schuldig, und das hat ihm Angst eingejagt.« 211
Walter runzelte die Stirn. »Und Sie halten mich ebenfalls für schuldig?« fragte er leise. »Nein, ich glaube nicht, daß Sie schuldig sind. Ich bin hinter Kimmel her.« Corbys Lächeln ließ seine blauen Augen in einer durch und durch falschen Tröstlichkeit aufleuchten. »Selbstverständlich können Sie sich weigern mitzukommen …« »Das werde ich wohl tun.« »… aber ich bin durchaus imstande, Ihre Situation um ein Mehrfaches unangenehmer zu machen, als sie jetzt für Sie ist.« Walters Daumen preßten sich von unten gegen die Schreibtischkante. Er hatte sich schon dazu gratuliert, daß Corby die Sache mit dem Kimmel-Ausschnitt noch nicht an die Presse gegeben hatte, er hatte sogar zu hoffen gewagt, Corby könnte erkannt haben, daß alles nur eine Kette von Zufällen und daß er möglicherweise unschuldig wäre. Jetzt wurde Walter klar: Corby hatte die Absicht, den Kimmel-Ausschnitt wie ein Damoklesschwert über seinem Haupte schweben zu lassen. »Was bezwecken Sie mit alldem?« fragte Walter. »Ich bezwecke weiter nichts, als die Wahrheit zu finden«, sagte Corby und lächelte selbstbewußt. Er zündete sich eine Zigarette an. Plötzlich dachte Walter: in Wirklichkeit bezweckte er, sich selbst voranzubringen; er wollte zwei Männer statt einen fangen, wenn er konnte, um Lob zu ernten oder eine Beförderung. Auf einmal schien Walter Corbys hemmungsloser Ehrgeiz derart offen zutage zu liegen, daß er verblüfft war, nicht eher gemerkt zu haben, daß Corbys alleinige Antriebskraft darin zu suchen war. »Falls Sie davon sprechen sollten, die Sache mit dem Kimmel-Ausschnitt zu veröffentlichen«, sagte Walter, »bitte sehr. Aber ich habe keine Lust, Kimmel zu sehen.« Corby sah ihn scharf an. »Es ist mehr als bloß eine Meldung, 212
bloß eine Episode. Es könnte Ihr ganzes Leben zerstören.« »Es gelingt mir nicht, so klar zu sehen wie Sie. Sie haben Kimmel noch nichts nachgewiesen, vor allem nicht die gewissen Taten, deren Sie uns beide anscheinend …« »Sie wissen überhaupt nicht, was ich nachgewiesen habe«, sagte Corby grob. »Ich bin dabei, genau zu rekonstruieren, was zwischen Kimmel und seiner Frau um die Zeit ihrer Ermordung herum vorgegangen ist. Wenn das vor dem Angesicht Kimmels ausgebreitet wird, bricht er zusammen und gesteht genau das, wessen ich ihn anklage.« Genau das, wessen ich ihn anklage. Corbys Arroganz ließ Walter für einen Augenblick verblüfft schweigen. Was Corby eigentlich meinte, war, daß Kimmels Geständnis – oder Kimmels Racheaussage, Walter habe ihn im vergangenen Monat in seinem Geschäft aufgesucht, die er auch bereits gemacht haben konnte – auch ihn mit hineinreißen würde in die gleiche Schuld, auch ihn zu einem Geständnis bringen würde. »Kommen Sie mit? Ich bitte Sie um eine Gefälligkeit. Ich kann Ihnen versprechen, daß, falls Sie mitkommen, nichts davon in die Presse kommt.« Corbys Stimme klang eifrig, höchst zuversichtlich, abscheulich für Walter. Sobald er bei Kimmel gewesen wäre, brauchte er nicht mehr in der Zeitung zu stehen, dachte Walter. Vielleicht hatte Kimmel Corby schon mitgeteilt, daß Walter in seinem Laden gewesen war. Warum sollte Kimmel es ihm nicht gesagt haben? Corby schaute ihn an, als wüßte er Bescheid, als wartete er nur darauf, daß er es jetzt zugäbe. Wenn er sich weigerte mitzukommen, dann würde Corby sicherlich mit Kimmel in seinem Büro ankommen, überlegte Walter. Corby würde die Begegnung erzwingen, so oder so. »Gut«, sagte Walter. »Ich komme mit.« »Fein«, lächelte Corby. »Ich werde gegen fünf wieder hier sein. 213
Ich habe einen Wagen. Wir fahren dann zusammen hin.« Corby winkte mit der Hand und wandte sich zur Tür. Walter hielt immer noch die Schreibtischkante umklammert, als Corby gegangen war. Was ihn erschreckte, war die Tatsache, daß Corby nun auch ihn für schuldig hielt. Vor fünf Minuten noch hatte Walter zu denken gewagt, Corby hielte ihn nicht für schuldig, oder er sei wenigstens gewillt, sich mit seinen Angriffen zurückzuhalten, bis er Gewißheit hatte. Walter hatte das Gefühl, er habe sich soeben bereit erklärt, geradenwegs in die Hölle zu marschieren. »Walter!« Dick schnalzte mit den Fingern. »Was ist los? In Trance?« Walter sah Dick an, dann senkte er den Blick hinunter auf die Stapel Schriftstücke auf seinem Schreibtisch, der die Aufschrift ›Beweislast‹ trug. »Hör mal, Walter, was hat es damit auf sich?« Dick deutete mit einem Kopfnicken auf die Tür. »Die Polizei verhört dich immer noch?« »Ein Mann«, sagte Walter. »Nicht die Polizei.« »Ich glaube, ich habe es dir gar nicht gesagt«, meinte Dick. »Corby kam vorbei eines Abends, besuchte Polly und mich in unserer Wohnung. Er hat mir Fragen gestellt über dich – und Clara natürlich.« »Wann?« »Ungefähr eine Woche ist es her. Etwas länger.« Jedenfalls bevor Corby den Kimmel-Ausschnitt fand, dachte Walter. Es mußten gemäßigte Fragen gewesen sein. »Was hat er dich gefragt?« »Hat mich ganz offen gefragt, ob ich dir das zutraue. Er macht nicht viel unnütze Worte, wie es scheint. Ich habe ihm mit einem ganz nachdrücklichen Nein geantwortet. Ich habe ihm erzählt, wie du reagiert hast, als Clara aus der 214
Bewußtlosigkeit erwachte. Ein Mann, der seine Frau umbringen will, reagiert nicht so, wie du reagiert hast.« »Danke«, sagte Walter matt. »Ich wußte nicht, daß Clara einen Selbstmordversuch gemacht hat, Walter. Corby hat mir das gesagt. Jetzt, wo ich das weiß, kann ich die ganze Geschichte viel besser verstehen. Ich kann verstehen, daß Clara – nun, daß sie sich auf diese Art umgebracht hat.« Walter nickte. »Ja. Man sollte meinen, das sollte jeder verstehen können.« Dick fragte mit gedämpfter Stimme: »Du steckst nicht in irgendwelchen besonderen Schwierigkeiten, Walt – mit diesem Detektiv Corby?« Walter zögerte, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, keine besonderen Schwierigkeiten.« »Irgendwelche Schwierigkeiten?« »Nein«, sagte Walter. »Sollen wir wieder an die Arbeit gehen?« Walter wollte damit fertig werden, damit er um fünf zu Corby hinuntergehen konnte. Um fünf Uhr wiederholte Corby sein Anerbieten, Walter in seinem Wagen nach Newark und zurück mitzunehmen, und Walter nahm an. Schweigend fuhren sie zum Holland-Tunnel. Mitten im Tunnel sagte Corby: »Ich bin mir durchaus bewußt, daß Sie ein Opfer bringen, um mir zu helfen, Mr. Stackhouse. Ich weiß es zu würdigen.« Corbys Stimme hallte hohl in dem Tunnel. »Ich erwarte mir davon einiges, auch wenn es sich nicht gleich zeigen sollte.« Corby fuhr den kniffligen Weg zu dem Buchladen, als wäre er ihn schon oft gefahren. Unbewußt war Walter in die Rolle des Mannes geschlüpft, der noch nie im Leben in dieser 215
Gegend war, obwohl er keine Fragen stellte. Der Geruch des Ladens – abgestanden, staubig, getränkt mit dem süßlichen Hauch trocken dahinmodernder Seiten und Einbände – stieg Walter durchdringend und erschreckend vertraut in die Nase. Niemand war im Laden, außer Kimmel. Walter sah Kimmel langsam aufstehen hinter seinem Schreibtisch, sah ihn emporwachsen wie einen sichernden Elefanten. »Kimmel«, sagte Corby vertraulich, als sie herangekommen waren, »ich möchte Sie gern mit Mr. Stackhouse bekannt machen.« In Kimmels Riesengesicht verzog sich kein Muskel. »Angenehm«, sagte Kimmel als erster. »Angenehm«, Walter wartete nervös. Kimmels Gesicht war immer noch ausdruckslos. Walter vermochte nicht zu sagen, ob Kimmel ihn schon an Corby verraten hatte oder ob er es erst kalt und gelassen täte, sobald Corby die passenden Fragen stellte. »Mr. Stackhouse hatte ebenfalls das Pech, kürzlich seine Frau zu verlieren«, sagte Corby und warf seinen Hut auf den Büchertisch, »und zwar auch durch ein Drama an einer Bushaltestelle.« »Ich glaube, ich habe so etwas gelesen«, sagte Kimmel. »Das glaube ich auch, daß Sie so etwas gelesen haben«, lächelte Corby. Walter wechselte das Standbein und blickte auf Corby. Corbys Benehmen war eine unangenehme, unglaubliche Mischung aus professioneller Barschheit und gesellschaftlichen Umgangsformen. »Ich glaube auch, Ihnen gesagt zu haben«, fuhr Corby gelassen fort, »daß Mr. Stackhouse von dem Mord an Ihrer Frau wußte. Ich habe einen Zeitungsausschnitt vom August mit der 216
Meldung über ihre Ermordung in Mr. Stackhouses Notizbuch gefunden.« »Ja«, sagte Kimmel ernsthaft und nickte ein wenig mit seinem kahlen Schädel. Walters Lippen verzogen sich zu einem ungewollten, nervösen Lächeln, obwohl er Angst und Schrecken ausstand. Kimmels kleine Äuglein blickten eiskalt und gleichgültig, wie die Augen eines Mörders. »Finden Sie, daß Mr. Stackhouse wie ein Mörder aussieht?« fragte Corby Kimmel. »Ist es nicht an Ihnen, das festzustellen?« fragte Kimmel und stützte die Spitzen seiner dicken, gelenkigen Finger auf das grüne Löschpapier seiner Schreibtischauflage. »Ich begreife nicht, was dieser Besuch soll.« Corby blieb einen Moment still. Ein finsterer Blick kroch in seine Augen. »Was dieser Besuch soll, das wird sich sehr bald herausstellen«, sagte er. Kimmel und Walter schauten einander an. Kimmels Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Jetzt lag etwas wie Neugier in den kleinen Augen, und Walter beobachtete, daß sich die eine Seite des herzförmigen Mundes zu der Andeutung eines Lächelns hob, das zu sagen schien: wir beide, wir sind Opfer dieses albernen jungen Mannes. »Mr. Stackhouse«, sagte Corby, »Sie bestreiten doch nicht, daß Sie an Kimmels Tat dachten, als Sie dem Bus folgten, in dem Ihre Frau saß, nicht wahr?« »Wenn Sie sagen, Kimmels Tat …« »Darüber sprachen wir bereits«, sagte Corby schneidend. »Doch«, sagte Walter, »das bestreite ich.« Während der letzten Sekunden war in Walter eine so tiefe Sympathie für Kimmel erwacht, daß er ganz verwirrt war, und er hatte das Gefühl, er müsse das unbedingt zu verbergen suchen. Jetzt 217
wußte er mit Bestimmtheit, daß Kimmel kein Wort von Walters Besuch im Geschäft Corby gegenüber hatte verlauten lassen, und daß er es auch künftig nicht tun würde. Corby wandte sich an Kimmel. »Und ich nehme an, Sie werden bestreiten, daß Ihnen, nachdem Sie von Stackhouses Anwesenheit an der Bushaltestelle gelesen hatten, jemals der Gedanke gekommen ist, Stackhouse hätte seine Frau auf die gleiche Art umgebracht wie Sie die Ihre?« »Es war kaum möglich, nicht auf diesen Gedanken zu kommen, denn die Zeitungen haben es entweder angedeutet oder ausdrücklich geschrieben«, antwortete Kimmel ruhig. »Aber ich habe meine Frau nicht umgebracht.« »Kimmel, Sie sind ein Lügner!« schrie Corby. »Sie wissen genau, daß Stackhouses Verhalten Sie verraten hat. Und trotzdem stellen Sie sich hin und tun, als wüßten Sie von gar nichts!« Mit prachtvoller Gleichgültigkeit zuckte Kimmel die Schultern. Walter spürte, wie eine ganz neue Kraft ihn durchströmte. Er nahm einen tiefen Atemzug. Jetzt wurde ihm klar, daß Kimmel Angst gehabt hatte, er würde den Besuch ausplaudern, praktisch genausoviel Angst, wie er selber gehabt hatte, daß Kimmel es ausplaudern würde. Kimmel war offensichtlich entschlossen, Corby so wenig wie nur möglich zu enthüllen. Plötzlich dünkte ihn das so heroisch und großzügig von seiten Kimmels, daß Kimmel ihm als strahlender Engel im Gegensatz zu einem diabolischen Corby erschien. Corby wanderte rastlos umher. Er hatte das Aussehen des wohlerzogenen Schuljungen völlig verloren. Jetzt ähnelte er einem langen, geschmeidigen Ringkämpfer, der seinen nächsten Angriff vorbereitete – zu jedem unfairen Griff bereit. »Sie finden es nicht im geringsten ungewöhnlich, daß Stackhouse die Meldung von der Ermordung Ihrer Frau aus der 218
Zeitung herausgerissen hat und dann dem Bus, in dem seine eigene Frau saß, am Abend ihrer Ermordung nachgefahren ist?« »Sie haben mir gesagt, Stackhouses Frau hätte Selbstmord verübt«, sagte Kimmel ganz überrascht. »Das ist nicht erwiesen.« Corby zog an seiner Zigarette und stapfte zwischen Walter und Kimmel auf und ab. »Was versuchen Sie denn eigentlich zu beweisen?« Kimmel verschränkte seine Arme in den weißen Hemdsärmeln und lehnte sich gegen die Wand. Seine Brillengläser waren leere weiße Kreise: sie reflektierten das Licht der Lampe über dem Schreibtisch. »Ja, was nur«, höhnte Corby. Kimmel zuckte wieder die Achseln. Walter konnte nicht erkennen, ob Kimmel ihn ansah oder nicht. Er schaute hinunter auf das Buch, das aufgeschlagen auf Kimmels Schreibtisch lag. Sein Nacken schmerzte, als er sich bewegte. Es war ein sehr großes, altes Buch mit zweispaltigem Druck auf jeder Seite, wie eine Bibel. »Mr. Stackhouse«, sagte Corby, »haben Sie nicht gedacht, als Sie den Zeitungsbericht über den Kimmel-Mord lasen, daß Kimmel seine Frau ermordet haben könnte?« »Danach fragten Sie bereits«, sagte Walter. »Das habe ich nicht gedacht.« Kimmel nahm langsam ein ledernes Zigarettenetui von seinem Schreibtisch. Er zog die Kappe ab, bot das Etui Walter an, der den Kopf schüttelte, dann Corby, der nicht zu ihm hinsah; Kimmel nahm sich eine Zigarre. Corby ließ seinen Zigarettenstummel zu Boden fallen und zertrat ihn mit der Fußspitze. »Ein andermal«, sagte er bitter. 219
»Irgendwann einmal.« Kimmel stieß sich von der Wand ab, schaute von Corby zu Walter und zurück. »Sind wir fertig?« »Für heute ja.« Corby nahm seinen Hut auf. Dann schritt er zur Tür. Kimmel bückte sich, um den Zigarettenstummel aufzuheben, den Corby fallen gelassen hatte, und versperrte Walter für einen Moment den Weg. Er warf die Kippe in den Papierkorb neben seinem Schreibtisch. Dann trat er beflissen beiseite, damit Walter an ihm vorbeigehen konnte, und folgte ihnen beiden zur Ladentür. Seine riesige Gestalt hatte die Würde eines Elefanten. Er stieß die Tür für sie auf. Corby schritt ohne ein Wort hinaus. Walter drehte sich um. »Gute Nacht«, sagte er zu Kimmel. Kimmels Augen maßen ihn kalt durch die Brillengläser. »Gute Nacht.« Im Wagen sagte Walter: »Sie müssen mich nicht zurückbringen. Ich kann von hier aus auch ein Taxi nehmen.« Ein dicker Klumpen saß ihm in der Kehle, als hätte sich seine ganze Spannung plötzlich an dieser Stelle zusammengezogen. Corby hielt die Tür auf. »Es dürfte schwer sein, heute abend ein Taxi nach New York zu bekommen. Ich fahre sowieso nach New York zurück.« Um noch ein paar von meinen Freunden auszuhorchen, dachte Walter. Es hatte angefangen zu regnen, ein dünner Nieselregen. Die dunkle Fahrbahn sah aus wie ein Tunnel durch die Hölle. Walter spürte das wilde Verlangen, zurückzurennen zum Laden und mit Kimmel zu reden, Kimmel genau zu schildern, warum er die Meldung aus der Zeitung gerissen hatte, Kimmel 220
alles zu sagen, was er getan hatte und warum. »Na gut«, sagte Walter. Er duckte sich eilig in den Wagen und stieß mit dem Kopf so heftig gegen den Türrahmen, daß er sich sekundenlang ganz benommen fühlte. Sie sprachen nicht miteinander. Corby schien innerlich zu schäumen über seinen mißlungenen Nachmittag. Sie waren schon wieder in Manhattan, bevor Walter einfiel, daß er ja mit Ellie verabredet war. Wie ein Irrsinniger riß er seine Armbanduhr hoch und stellte fest, daß es bereits eine Stunde und vierzig Minuten zu spät war. »Was ist los?« fragte Corby. »Nichts.« »Hatten Sie eine Verabredung?« »O nein.« Als Walter am Parkplatz in der Dritten Avenue, wo er sein Auto stehen hatte, ausstieg, sagte er: »Ich hoffe, daß diese Unterredung hält, was Sie sich von ihr versprechen.« Corbys schmales Gesicht senkte sich zu einem tiefen, geistesabwesenden Nicken der Erkenntlichkeit. »Danke«, sagte er säuerlich. Walter schlug die Tür zu. Er wartete, bis Corby den Blicken entschwunden war, dann setzte er sich in Trab. Er versuchte noch einmal, da er nun von Corbys Gegenwart befreit war, Kimmels Verhalten zu analysieren. Kimmel hätte sich selbst nicht gerade einen Gefallen getan, wenn er ihn verraten hätte. Aber welchen Grund in aller Welt sollte Kimmel haben, ihn zu decken? Abgesehen von Erpressung. Walter runzelte die Stirn, beschwor Kimmels eigenartiges Gesicht herauf, versuchte, es zu deuten. Das Gesicht war grob, aber es lag eine Menge Stolz darin. War er der Typ für Erpressungsversuche? 221
Oder versuchte er bloß, seine Weste so rein wie möglich zu halten, indem er sowenig wie möglich sagte? Das kam eher hin. Walter betrat die Bar des Hotels Commodore. An keinem der Tische konnte er Ellie entdecken, und er wollte schon den Geschäftsführer fragen, ob eine Nachricht für ihn hinterlassen worden sei … dann aber überlegte er es sich anders. Er ging in die Halle hinauf und suchte sie dort. Er hatte es gerade aufgegeben und schritt zur Tür hinaus, als er sie auf dem Bürgersteig herankommen sah. »Ellie, es tut mir schrecklich leid«, sagte er. »Ich konnte dich nicht anrufen – habe drei Stunden festgesessen in einer Konferenz.« »Ich habe bei dir im Büro angerufen«, sagte sie. »Wir waren nicht dort. Hast du schon etwas gegessen?« »Nein.« »Wir können hier etwas bekommen, wenn du möchtest.« »Ich bin nicht mehr dazu aufgelegt«, sagte sie, aber sie ging mit ihm zur Bar hinunter. Sie setzten sich an einen Tisch und bestellten Drinks. Walter verlangte einen doppelten Scotch. »Ich glaube dir nicht, daß du in einer Konferenz warst«, sagte Ellie. »Du warst mit Corby zusammen, ja?« Walter fuhr zusammen, blickte von ihrem Gesicht hinunter auf die Silberbrosche in Form einer flammenden Sonne an ihrer Schulter. »Ja«, sagte er. »Nun, und was sagt er jetzt?« »Immer wieder Fragen. Immer dieselben Fragen. Ich wünschte, du würdest mich nicht danach fragen, Ellie. Es wird schließlich vorübergehen. Es ist sinnlos, immer und immer wieder darüber zu reden.« Er sah sich um nach dem Ober mit 222
seinem Scotch. »Ich habe ihn auch getroffen.« »Corby?« »Er kam heute mittag um eins in die Schule. Er hat mir das mit dem Zeitungsausschnitt gesagt, den er bei dir gefunden hat.« Walter spürte, wie alles Blut aus seinem Gesicht wich. Corby hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, Ellie anzurufen. Er hatte abgewartet, bis er ihr so etwas zu erzählen hatte. »Es ist wahr?« fragte Ellie. »Ja, es ist wahr.« »Wie kamst du dazu, das zu haben?« Walter hob sein Glas. »Ich habe diese Meldung herausgerissen, so wie ich mir viele Meldungen herausreiße. Sie lag zwischen meinen Notizen für die Essays, die ich schreiben will. Ich bewahre sie zu Hause in einer Kladde auf.« »Das war an dem Abend, als ich in den Three Brothers gewartet habe?« »Ja.« »Warum hast du mir davon nichts gesagt?« »Weil die Geschichte, die Corby daraus gemacht hat, reine Phantasie war! Und noch ist.« »Corby hat mir gesagt, er sei der Meinung, daß Kimmel seine Frau umgebracht habe. Er glaubt, daß Kimmel dem Autobus nachgefahren ist – und daß du das gleiche gemacht hast.« Walter spürte den gleichen empörten Selbsterhaltungstrieb, die gleiche Wut, die er gegen Corby empfand, nun auch gegen Ellie in sich aufsteigen. »Nun, und – glaubst du ihm?« Ellie saß da, genauso verkrampft wie er, über ihrem Glas, das sie nicht angerührt hatte. »Ich begreife nicht ganz, warum du diese Meldung hattest. Was für Essays schreibst du denn?« 223
Walter erklärte es ihr, und er erklärte ihr, daß er das Stück Zeitung weggeworfen hatte, daß Claudia es gefunden hatte und wieder in sein Notizheft gelegt haben mußte. »Lieber Gott, es stand doch überhaupt nichts davon in der Zeitung, daß Kimmel dem Bus nachgefahren wäre! Corby hat nicht nachgewiesen, daß Kimmel dem Bus gefolgt ist. Corby ist von einer fixen Idee besessen. Ich habe Corby die Herkunft des verdammten Ausschnitts erklärt, und wenn mir die Leute nicht glauben, zum Teufel mit ihnen allen!« Er zündete sich eine Zigarette an, dann merkte er, daß er noch eine brennende Zigarette im Aschenbecher hatte. »Ich kann mir denken, daß Corby dir einzureden versucht hat, ich hätte meine Frau umgebracht und du wärst einer der Hauptgründe dafür gewesen, stimmt’s?« »O ja, aber damit werde ich durchaus fertig, weil ich es erwartet habe«, sagte Ellie. Es war der Zeitungsausschnitt, mit dem sie nicht fertig wurde, dachte Walter. Er blickte in Ellies aufmerksame, noch immer fragende Augen, und es erschütterte ihn, daß sie an ihm zweifelte, daß Corby mit seiner wilden, unlogischen Argumentation sogar in Ellie Zweifel wachrufen konnte. »Ellie, seine ganze Theorie ist doch unsinnig. Sieh mal …« »Walter, schwörst du mir, daß du sie nicht umgebracht hast?« »Was soll das heißen? Du glaubst mir nicht, wenn ich dir sage, daß ich es nicht getan habe?« »Ich möchte, daß du schwörst.« »Muß ich dir einen Eid leisten? Wir beide haben jeden Schritt, den ich in jener Nacht getan habe, besprochen; du kennst jede Bewegung, die ich gemacht habe, genausogut wie die Polizei.« »Schön. Ich bitte dich zu schwören.« »Es ist das Grundsätzliche an der Sache, daß du mich auch nur darum bitten mußt!« sagte er heftig. 224
»Es ist doch aber so einfach, nicht wahr?« »Du glaubst mir auch nicht!« sagte er. »Doch. Ich möchte dir gern glauben. Es ist …« »Du glaubst mir nicht, sonst würdest du darum nicht bitten!« »Also schön, lassen wir das.« Sie warf einen Blick zur Seite »Laß uns nicht so laut sprechen.« »Was spielt das für eine Rolle? Ich habe mir nicht das geringste zuschulden kommen lassen. Aber du glaubst mir nicht, das ist klar. Du ziehst es vor, mir zu mißtrauen, wie all die Andern!« »Walter, hör auf«, flüsterte Ellie. »Du verdächtigst mich, nicht wahr?« Sie begegnete seinen Blicken genauso grimmig. »Walter, ich will es dir nicht übelnehmen – es deinen Nerven zuschreiben, aber nur, wenn du jetzt aufhörst!« »Ach, willst du’s nicht übelnehmen!« äffte er sie nach. Ellie sprang plötzlich auf und eilte davon. Walter erhaschte noch einen Schimmer ihres wehenden Mantelsaums, der hinter der Tür verschwand. Er stand auf, fingerte nach seinem Portemonnaie, warf eine Fünfdollarnote hin und rannte hinaus. »Ellie!« rief er. Er blickte in das Gewirr von Lichtern und Verkehr auf der Zweiundvierzigsten Straße, zur anderen Straßenseite hinüber, an die Straßenecken. Sicherlich war sie zur Penn-Station gegangen, um mit einem Zug nach Hause zu fahren, denn sie war ohne Wagen gekommen. Oder vielleicht nicht? Wo wohnte Peter Slotnikoff? Irgendwo in WestManhattan. Zum Teufel damit, dachte Walter. Zum Teufel mit ihr. Er ging zurück zum Parkplatz an der Dritten Avenue. Er lenkte seinen Wagen auf den altbekannten Heimweg über den East River Drive. Die Trauerweiden, die beim Hause über die Marlborough 225
Road herabhingen, bedrückten ihn, ließen ihn an die traurig geflügelten Figuren denken, die über Grabsteinen schweben oder die als Stiche von Blake über Totenbetten hängen. Er fuhr den Wagen in die Garage. Das Knacken eines Zweiges unter seinem eigenen Fuß ließ ihn zusammenfahren. Er hob den unteren Querbalken des Tores, der lose herabhing, sorgfältig hoch, anstatt ihn wie sonst einfach beiseite zu treten, und stützte ihn gegen den oberen Querbalken. Am anderen Morgen wurde Walter um sechs Uhr von seinen Nerven und von nagendem Hunger geweckt. Er warf sich in seine alten Arbeitshosen, ein Hemd und die Flanelljacke, die er auf Angelausflügen trug. Er nahm sich, als er durch die Küche kam, ein Stück Brot und Käse, dann ging er hinaus zum Geräteschuppen neben der Garage. Er wollte das Tor in Ordnung bringen. Er mußte ein Stück Feuerholz nehmen und es als Stütze für den kaputten Balken zurechtsägen, aber er verwendete für den Kamin das gleiche Holz, aus dem auch das Tor gemacht war, und er war sehr zufrieden mit seinem Werk, als er fertig war. Es war geflickt, nicht gerade perfekt, aber es würde jedenfalls nicht mehr über den Boden scharren. Immer noch war es erst zwanzig vor sieben; um diese Zeit stand er normalerweise auf; er holte sich also etwas weiße Farbe und einen Pinsel aus der Garage und ließ der Schwelle an der Küchentür ein paar Striche angedeihen, dort, wo die Farbe abgeblättert war. Gerade machte er Schluß, als er einen Schritt auf dem ungepflasterten Weg hörte. Es war Claudia, die von der Bushaltestelle am Ende der Marlborough Road kam. Sie begrüßte ihn mit einem Lächeln, das er von weitem sehen konnte, und rief: »Morgen, Mr. Stackhouse!« »Morgen, Claudia!« rief er zurück. Die Urheberin all seiner Sorgen, dachte Walter. Wenigstens der schlimmsten. Sie brachte eine Tüte voll Lebensmittel für ihn mit. 226
»Sie sind früh auf heute morgen«, sagte Claudia. Es sah aus, als freue sie sich, ihn in alten Sachen herumwirtschaften zu sehen. »Ich dachte, es wäre höchste Zeit, daß ich einmal dieses Tor reparierte. Geben Sie acht bei der Schwelle da. Sie ist noch naß.« »Ach, wie schön!« sagte Claudia fröhlich. Sie stieg über die Schwelle und ging in die Küche. Walter brachte die Farbe wieder in die Garage, säuberte den Pinsel mit Terpentin und ging zurück ins Haus. Er ging ans Telephon in der oberen Diele und rief bei Ellie an. Er war nicht völlig sicher, ob sie zu Hause war. Das Telephon läutete etwa fünfmal am anderen Ende, bevor sie sich meldete. Ellie sagte, sie hätte gerade in der Badewanne gesessen. »Es tut mir leid wegen gestern abend, Ellie«, sagte Walter. »Ich war gar nicht nett. Ich möchte dir sagen, daß ich es dir schwöre – um was du mich gestern abend gebeten hast. Ich schwöre es, Ellie.« Es entstand eine lange Pause. »In Ordnung.« Ihre Stimme klang sehr leise und sehr ernst. »Man kann unmöglich mit dir reden, wenn du so bist. Du läßt alles viel schlimmer für dich aussehen, als es ist. Du erweckst den Eindruck, als kämpftest du gegen irgend etwas völlig verängstigt an.« Es klang, als warte sie darauf, daß er aufs neue seine Unschuld beteure, daß er ihr noch einmal von vorn alles beweise. Er hörte noch immer aus ihrer Stimme einen heimlichen Zweifel heraus. »Ellie, ich bitte um Verzeihung wegen gestern abend«, sagte er ruhig. »Es soll nie wieder vorkommen. Weiß Gott nicht!« Wieder Schweigen. »Sehen wir uns heute abend, Ellie? Kannst du zum Essen zu mir kommen?« 227
»Ich habe bis acht Uhr Probe.« In der Schule fingen sie mit den Proben für die ErntedankVeranstaltungen an, fiel Walter ein. »Dann eben hinterher. Ich hole dich um acht an der Schule ab.« »Einverstanden«, sagte sie, keineswegs begeistert. »Ellie, was ist los?« »Ich finde, du benimmst dich sehr komisch, das wird’s sein.« »Ich finde, du siehst etwas, was überhaupt nicht da ist!« erwiderte Walter. »Da geht’s schon wieder los. Walter, du kannst mir doch nicht übelnehmen, daß ich solche einfachen Fragen stelle, wenn ich mit so etwas konfrontiert werde wie gestern mit Corby …« »Corby ist übergeschnappt«, unterbrach Walter sie. »Wenn Corby dich verhört, sehe ich nicht ein, warum du das leugnen mußt. Damit gibst du doch nur jedem das Gefühl, daß da tatsächlich etwas ist, was du zu verbergen suchst. Du kannst mir nicht verübeln, daß ich einfache Fragen stelle, wenn ein Mann wie Corby mich mit einer Darstellung konfrontiert, an die er zu glauben scheint und die vielleicht – bloß vielleicht – möglich ist, soweit es die Fakten betrifft«, schloß sie in streitbarem Ton. Walter schluckte alles hinunter, was er darauf gern entgegnet hätte. Und im nächsten Augenblick dachte er krampfhaft nach, was er ihr sagen könnte, um ihr Mißtrauen zu zerstören, um sie festzuhalten; denn er spürte, daß sie ihm entglitt. »Corbys Darstellung ist nicht möglich«, begann er ruhig, »weil ich nicht getan haben kann, was ich laut Corby getan haben soll, um dann eine Viertelstunde lang an der Bushaltestelle herumzulungern und Hinz und Kunz zu fragen, wo die Frau sei, die ich ermordet habe!« Sie blieb still. Er wußte, was sie dachte: wieder ist er auf der 228
Palme, und wozu? »Bis heute abend«, sagte sie. »Um acht.« Am liebsten hätte er es noch fortgesetzt. Er wußte nicht, wie. »Schön«, sagte er. Dann legten sie auf.
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27 An der Ecke zögerte Walter, sah sich nach allen Seiten um und hielt Ausschau nach Corby. Ein alter Mann mit einem kleinen Kind an der Hand überquerte die Straße. Das Kopfsteinpflaster der Straße wirkte verschmutzt von Schlamm und Alter und Sünde, genau wie die schmutzigen Häuser drum herum. Walter setzte sich in Bewegung, betrat die bewußte Straße und blieb stehen; er starrte auf einen mageren Gaul, der einen Wagen voll leerer Holzkisten zog. Er könnte doch anrufen, dachte er. Er hatte zunächst daran gedacht anzurufen, aber er befürchtete, Kimmel würde sich weigern, ihn zu empfangen, oder er würde auflegen, sobald er Walters Stimme hörte. Walter ging weiter. Der Buchladen lag auf seiner Seite der Straße. Walter kam an einem kleinen Geschäft vorbei, das Polstersachen im Fenster hatte, dann an einer düsteren Reparaturwerkstatt für Schmuck. Er sah Kimmels vorspringendes Schaufenster. Der Laden war heute besser beleuchtet als die anderen Male, da Walter ihn gesehen hatte. Zwei oder drei Leute sahen sich an den Tischen Bücher an, und Kimmel, wie Walter durch die Scheibe beobachtete, kam nach vorn und sprach mit einer Frau, die ihm Geld reichte. Noch konnte er umkehren, dachte Walter. Es war dumm von ihm, leichtsinnig. Er hatte im Büro seine Arbeit unerledigt liegengelassen. Dick war böse mit ihm gewesen. Er könnte jetzt umkehren und um Viertel nach vier wieder im Büro sitzen. Walter spähte in den Laden – er überlegte. Umkehren, befahl er sich. Aber er wußte genau, er würde wieder an die Arbeit gehen, wieder nach Hause gehen, und die gleichen Argumente und Bedrängnisse würden ihn aufs neue peinigen. Walter stieß die Tür auf und trat ein. 230
Er sah, wie Kimmel ihn anschaute, zur Seite blickte und dann plötzlich seinen Blick wieder auf ihn richtete. Kimmel rückte die Brille mit seinen dicken Fingern gerade und starrte ihn an. Walter ging auf ihn zu. »Kann ich Sie einen Augenblick sprechen?« fragte er Kimmel. »Sind Sie allein?« fragte Kimmel. »Ja.« Die Frau, der Kimmel das Buch abgenommen hatte, sah Walter kurz, aber ohne Interesse an und wandte sich wieder dem Tisch zu. Kimmel ging mit dem Buch und dem Geld der Frau in den Hintergrund des Ladens. Walter wartete. Er wartete sehr geduldig an einem anderen Tisch, er nahm ein Buch zur Hand und betrachtete sich den Einband. Endlich tauchte Kimmel neben ihm auf. »Wollen Sie bitte mit nach hinten kommen?« sagte er und sah auf Walter hinunter mit seinen kalten, beinahe ausdruckslosen gelbbraunen Augen. Walter ging mit ihm. Er nahm seinen Hut ab. »Behalten Sie das auf«, sagte Kimmel. Walter setzte seinen Hut wieder auf. Kimmel stand hinter seinem Schreibtisch – riesengroß und feindselig – er wartete. »Ich wollte Sie gern wissen lassen, daß ich unschuldig bin«, sagte Walter rasch. »Das ist ja außerordentlich interessant für mich, was?« fragte Kimmel. Walter hatte geglaubt, er sei auf Kimmels Feindseligkeit gefaßt, aber jetzt, Angesicht zu Angesicht, warf sie ihn aus der Bahn. »Man sollte doch meinen, daß es von gewissem Interesse für Sie ist. Es wird sich am Ende herausstellen, daß ich unschuldig 231
bin. Ich bin mir darüber klar, daß ich Ihnen die Polizei auf den Hals gehetzt habe.« »So, sind Sie das?« »Ich weiß auch, daß ich reden kann, was ich will: es wird immer unzulänglich – ja, lächerlich sein«, fuhr Walter entschlossen fort. »Ich bin selber in einer sehr unangenehmen Lage.« »Sie sind es!« sagte Kimmel lauter, allerdings sprach er, ebenso wie Walter, nicht so laut, daß er die Aufmerksamkeit der Leute im Laden erregt hätte. »Ja, Sie sind es«, sagte Kimmel in verändertem Ton, und es lag ein Anflug von Befriedigung darin. »Sie sind weit schlimmer dran als ich.« »Aber ich bin unschuldig«, sagte Walter. »Das ist mir gleich. Mir ist ganz gleich, was Sie getan haben oder nicht getan haben.« Kimmel beugte sich vornüber, die Hände auf seinen Schreibtisch gestützt. Kimmels dicker Mund mit dem Wulst entlang der herzförmigen Oberlippe erschien Walter als das Vulgärste, was er je gesehen hatte. »Ich weiß, daß es Ihnen gleich ist. Ich weiß, daß Sie keinen anderen Wunsch haben, als mich nie wieder zu Gesicht zu bekommen. Ich bin nur gekommen, um …« Walter verstummte, als ein junger Mann an den Schreibtisch herantrat und fragte: »Haben Sie irgend etwas über die Technik von Außenbordmotoren?« Kimmel kam hinter seinem Schreibtisch hervor. Es ging schief. Walter hatte sich einen langen Dialog zwischen Kimmel und ihm ausgedacht, der sogar Kimmels Mißmut berücksichtigte, der ihn aber all die Dinge aussprechen ließ, die er zu sagen wünschte. Jetzt bekam er sie nicht heraus. Er fing von neuem an, als Kimmel zurückkam. 232
»Ebensowenig kümmert es mich, ob Sie schuldig sind oder nicht«, sagte Walter friedfertig. Kimmel, der sich über seinen Schreibtisch beugte, wo er gerade etwas in sein Notizheft gekritzelt hatte, drehte den Kopf zu Walter um. »Und was denken Sie?« fragte er. Walter dachte, Kimmel sei schuldig. Corby dachte es. Aber benahm er sich, als wäre er schuldig? Nein, das tat er nicht, dachte Walter. »Na?« fragte Kimmel herausfordernd. Er richtete sich auf und schraubte seinen Füllfederhalter wieder zu. »Das ist von entscheidender Bedeutung, Ihre Meinung, nicht wahr?« »Ich glaube, Sie sind schuldig«, sagte Walter, »und es kümmert mich nicht.« Kimmel sah für einen Moment bestürzt aus. »Was soll das heißen, kümmert Sie nicht?« »Das ist es ja gerade. Ich habe mich in Ihr Leben eingedrängt. Man hält auch mich für schuldig. Die Polizei jedenfalls ermittelt gegen mich, als hielte sie mich für schuldig. Wir befinden uns beide in der gleichen Situation.« Walter hielt inne, aber das war noch nicht alles, was er zu sagen hatte. Er wartete auf Kimmels Erwiderung. »Warum meinen Sie, daß es mich etwas anginge, wenn Sie unschuldig sind?« fragte Kimmel. Walter überging die Frage. Etwas Wichtigeres drängte in ihm, ausgesprochen zu werden. »Ich möchte Ihnen danken für etwas, was Sie nicht unbedingt nötig gehabt hätten: nämlich dafür, daß Sie Corby nicht gesagt haben, daß ich schon einmal bei Ihnen gewesen bin.« »Gern geschehen«, raunzte Kimmel. »Ihnen hätte es nicht geschadet, wenn Sie es gesagt hätten. Es hätte mir geschadet – vielleicht entscheidend.« »Ich kann es ihm natürlich noch sagen«, sagte Kimmel kalt. 233
Walter blinzelte. Es war, als hätte Kimmel ihm ins Gesicht gespuckt. »Werden Sie das tun?« »Habe ich irgendeinen Grund, Sie zu decken?« fragte Kimmel, und seine leise Stimme zitterte. »Sind Sie sich klar darüber, was Sie mir eingebrockt haben?« »Ja.« »Sind Sie sich klar darüber, daß dies so weitergehen wird, immer weiter bis ins Unendliche, für mich und wahrscheinlich auch für Sie?« »Ja«, sagte Walter. Jedoch er glaubte in Wirklichkeit nicht daran. Nicht, was ihn betraf. Er gab Kimmel Antwort wie ein Kind, das gescholten und ausgefragt wurde. Er biß die Zähne zusammen, um keine Antwort mehr hinauszulassen, aber Kimmel stellte keine Frage mehr. »Haben Sie Ihre Frau umgebracht?« fragte Walter. Walter konnte ganz deutlich Kimmels häßlichen Mund sehen: ein runder Mundwinkel ging zitternd in die Höhe zu einem ungläubigen Lächeln. »Sie glauben doch nicht im Ernst, daß ich Ihnen das sagen werde, Sie neugieriger Trottel?« »Ich möchte es wissen«, sagte Walter und beugte sich vor. »Ich meine, es ist mir egal im Hinblick darauf, ob Ihnen die Schuld von der Polizei nachgewiesen wird oder nicht. Ich möchte es nur wissen.« Walter wartete, er beobachtete Kimmel. Er hatte das Gefühl, daß Kimmel antworten würde, daß alles – sein Leben, sein Schicksal – wie ein großer Felsblock am Rande eines Abgrunds balancierte und daß Kimmels Antwort darüber entscheiden würde, ob er abstürzte oder nicht. »Es ist Ihnen egal, ob mir die Schuld nachgewiesen wird oder nicht«, sagte Kimmel in wütendem Flüsterton, »und doch ist 234
jeder Schritt, den Sie getan haben, einschließlich der Tatsache, daß Sie jetzt hier sind, dazu angetan, mich zu belasten!« »Sie haben mich gedeckt. Ich werde Sie nicht verraten.« »Ich würde es Ihnen niemals sagen. Glauben Sie, man könnte Ihnen irgend etwas anvertrauen? Selbst die Unschuld eines Menschen?« »Ja, das kann man.« »Ich bin unschuldig«, sagte Kimmel. Walter glaubte ihm nicht, aber er hatte das Gefühl, daß Kimmel inzwischen soweit war, daß er selber an seine Unschuld glaubte. Walter erkannte es an der arroganten Art, mit der Kimmel sich aufrichtete, an dem verletzten, trotzigen Blick, den er auf Walter warf. Es faszinierte Walter. Plötzlich merkte er, daß er Kimmel für schuldig halten wollte – und daß nach den Gesetzen der Logik durchaus die Möglichkeit bestand, daß Kimmel überhaupt nicht schuldig war. Diese Möglichkeit erschreckte Walter. »Es ist Ihnen nie der Gedanke gekommen, es zu tun?« fragte Walter. »Meine Frau zu ermorden?« Kimmel schnaufte Erstaunen. »Nein, aber Ihnen anscheinend!« »Nicht, als ich die Meldung aus der Zeitung riß. Ich habe sie aus einem anderen Grund herausgerissen. Mir kam der Gedanke, daß Sie Ihre Frau umgebracht hätten. Das gebe ich zu. Ich gebe zu, daß ich daran gedacht habe, meine eigene Frau auf diese Art umzubringen. Aber ich habe es nicht getan. Sie müssen mir glauben.« Walter stützte sich auf eine Ecke des Schreibtisches. »Warum muß ich irgend etwas glauben, was Sie erzählen?« Walter antwortete nicht. »Geben Sie denn mir die Schuld für Ihre Schwierigkeiten?« fragte Kimmel ungeduldig. 235
»Natürlich nicht. Wenn ich schuldig geworden bin – schuldig in Gedanken …« »Ach, einen Augenblick bitte!« Kimmel rief über seinen Schreibtisch hinweg: »Ist das von Wainwright?« Kimmel schritt davon, nach vorn in den Laden, wo Walter einen Mann mit einer Holzkiste voller Bücher auf den Schultern erblickte. Walter sah zu Boden und veränderte seine Haltung, er fühlte sich hoffnungslos unfähig zu sagen, was er sagen wollte; er fühlte, daß seine ganze Mission nutzlos war, nutzlos sein würde. Er hielt es nur durch, wie ein schlechter Schauspieler auf der Bühne, den man ausgepfiffen und zum Abtreten aufgefordert hatte, der aber durchhielt, trotz Demütigung und Scham. Walter sammelte sich zu einem neuen Vorstoß, als Kimmel wiederkam. Kimmel trug Lieferscheine in der Hand. Er unterschrieb den einen, stempelte den anderen und überreichte den unterschriebenen dem Boten. Er wandte sich an Walter. »Sie verschwinden besser hier. Man kann nie wissen, ob Leutnant Corby nicht hereinspaziert kommt. Das wäre Ihnen sicherlich nicht angenehm.« »Eines habe ich noch zu sagen.« »Was?« »Ich habe das Gefühl … ich habe das Gefühl, daß wir beide in gewissem Sinne schuldig sind.« »Ich sagte Ihnen schon, ich bin unschuldig.« Ihr erbittertes Zwiegespräch mit gedämpften Stimmen ging weiter. »Ich glaube nun mal, daß Sie schuldig sind«, sagte Walter. Dann brach es aus ihm hervor: »Ich habe Ihnen gesagt, daß ich daran gedacht habe, daß ich es an jenem Abend getan haben könnte, wenn ich meine Frau getroffen hätte. Ich habe 236
sie nicht getroffen. Ich konnte sie nicht finden.« Er beugte sich nahe zu Kimmel. »Ich muß Ihnen das sagen, und es ist mir gleich, was Sie damit machen, oder, wenn Sie es der Polizei erzählen, was die Polizei damit macht. Verstehen Sie? Wir sind beide schuldig, und in gewissem Sinne teile ich Ihre Schuld.« Aber Walter spürte: das war nur ihm verständlich, es war nur sein eigener Glaube an die Schuld Kimmels, der die Waagschalen ausglich, nicht Kimmels Schuld, denn die war nicht erwiesen. Jetzt hörte Kimmel ihm zu, er konnte es sehen, aber sobald er das merkte, schnitt Schüchternheit ihm die Rede ab. »Sie sind meine Schuld!« sagte Walter. Kimmels Hand flatterte. »Halten Sie den Mund!« Walter hatte gar nicht gemerkt, wie laut er sprach. Es war immer noch ein Kunde im Laden. »Es tut mir leid«, sagte er zerknirscht. »Es tut mir sehr leid.« Kimmels ärgerliches Stirnrunzeln blieb. Er lehnte die wuchtigen Hüften gegen die Kante seines Schreibtisches, hob ein paar Notizhefte hoch und warf sie eins nach dem anderen gereizt wieder auf den Schreibtisch. Walter war es, als hätte er ihn die gleiche Geste schon einmal machen sehen. Kimmel blickte mit einem besorgten Heben der Brauen nach vorn in den Laden, und dann wandte er sich Walter zu. »Ich verstehe Sie«, sagte er. »Aber das macht Sie mir keineswegs sympathischer. Sie sind mir ausgesprochen unsympathisch.« Kimmel machte eine Pause. Er sah aus, als warte er darauf, daß die Wut in ihm hochsteige. »Ich wünschte, Sie hätten nie Ihren Fuß in diesen Laden gesetzt! Verstehen Sie das?« »Natürlich verstehe ich das«, sagte Walter. Er fühlte sich plötzlich seltsam erleichtert. »Und jetzt gehen Sie bitte!« »Das werde ich tun.« Walter lächelte ein bißchen. Er warf 237
einen letzten Blick auf Kimmel – massig, die Brillengläser wieder leere Lichtkreise, der Mund hervorstechend, ordinär, aber intelligent. Walter machte kehrt und ging schnell zur Ladentür. Er ging mit raschen Schritten, bis er an der Ecke war, an der er vorhin gezögert hatte. Wieder blieb er stehen und überblickte die jetzt etwas dunklere Szene mit einem Gefühl der Freude und der Erleichterung. Er steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und zündete sie an. Der Rauch stieg ihm duftend und köstlich in die Nase, als hätte er tagelang nicht mehr geraucht. Er behielt die Zigarette im Mund und ging weiter zu seinem Wagen. Mehr denn je war er davon überzeugt, daß Kimmel schuldig war, obwohl er sich eigentlich unter den heutigen Ereignissen auf nichts Spezielles besinnen konnte, was ihn zu dieser Überzeugung berechtigte. Ich sagte Ihnen schon, ich bin unschuldig, tönte in seinem Ohr die Stimme Kimmels, in der Ehrlichkeit schwang. Ich verstehe Sie. Aber das macht Sie mir keineswegs sympathischer. Sie sind mir ausgesprochen unsympathisch … Walter ging mit federnden Schritten. Er fühlte sich befreit von einer entsetzlichen Last, obwohl er nicht genau zu sagen wußte, woraus diese Last eigentlich bestanden hatte. Kimmel war es gleichgültig, ob er unschuldig war oder nicht! Es war Walter so unendlich viel wohler jetzt, er konnte gar nicht glauben, es läge einzig und allein daran, daß er sich etwas von der Seele geredet, was Kimmel sich nicht einmal anzuhören bemüht hatte. Warum in aller Welt hatte er denn geglaubt, es interessiere Kimmel? Was war das schon für ein Geständnis, das Geständnis der Unschuld? Es ist genauso verdammenswert, wenn du nur daran gedacht hast, Clara zu töten, dachte Walter, wie er schon so oft gedacht hatte. Es ist nicht weniger verheerend, wenn du nur die Absicht gehabt hast, sie zu töten, ohne je Hand an sie zu legen. Walter spürte, daß seine Gedanken überflossen, daß sie ins 238
Leere rannen … gefährlich davonrannen. Eben hatte er daran gedacht, Ellie von der Unterhaltung mit Kimmel zu berichten! Weil es eine gute Sache war, eine gelungene Sache, dieses Gespräch mit Kimmel, und weil er diese Sache mit ihr teilen wollte, denn er liebte sie. Nur – vielleicht liebte er sie gar nicht. Er dachte an vorige Woche: Ellie, die ihn so gern über Nacht bei sich behalten hätte, und er hatte unbedingt gehen wollen. Nicht daß sein Bleiben oder Gehen irgend etwas bewiesen oder widerlegt hätte, das nicht; aber die Art und Weise, wie er sich geweigert hatte zu bleiben, kam ihm auf einmal egoistisch und gefühllos vor. Er schämte sich dafür, und er schämte sich auch der ersten Nacht in Ellies Wohnung, als Clara noch lebte. Für einen Augenblick versuchte Walter, um sich selbst zu rechtfertigen, die gräßliche Atmosphäre jener Tage heraufzubeschwören – Claras irrsinnige Anschuldigungen, die ihn in Ellies Arme getrieben hatten. Er konnte es nicht so heraufbeschwören, wie die Gegenwart gewesen war, nicht so irrsinnig, nicht so schlimm. Clara war damals wenigstens noch am Leben gewesen. Walter stand da, die Hand am Griff der Wagentür, und versuchte sich zusammenzunehmen. Er fühlte sich wieder ängstlich … aus der Bahn geworfen … aus der Bahn, die er eigentlich einhalten mußte. Hatte er wieder das Verkehrte getan, als er mit Kimmel sprach? Das nicht zu übersehende Risiko bei der Sache wurde ihm jetzt bewußt, und er schaute sich überall nach Corby um, nach einem Aufpasser in Zivil. Ein bißchen zu spät, an Beschatter zu denken, dachte Walter. Er duckte sich in sein Auto und fuhr los. Es war erst zehn nach vier, aber er wollte nicht noch einmal ins Büro gehn. Noch fast vier Stunden, bis er Ellie abholen mußte. Angenommen, Ellie hatte ihn heute nachmittag im Büro anrufen wollen? Das tat sie selten, aber es konnte ja sein. Er hatte sich noch nicht einmal eine Entschuldigung für sein Büro ausgedacht. Er hatte lediglich Dick gesagt, er ginge für eine Stunde oder so weg, es 239
könnte auch sein, daß er heute gar nicht mehr wiederkäme. Wenn Ellie angerufen hätte, würde sie annehmen, er wäre wieder mit Corby zusammen gewesen. Sie würde ihm heute abend wahrscheinlich nicht glauben, wenn er ihr sagte, daß er nicht bei Corby war.
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28 Walter wartete in seinem Wagen an dem Weg, der vom Tor der Schule in weitem Bogen zu den Unterrichtsgebäuden führte. Nur vier oder fünf andere Wagen standen noch an der Auffahrt, alle leer. Und einer davon war Boadicea: ungeschlacht, leinwandbedacht, schlicht wie ein Holzschuh. Walter merkte, daß sich eine leise Scham in ihm regte, als er so dasaß … eine Scheu, daß jemand, den er kannte – die Iretons oder die Rogerses –, ihn so sähen und wüßten, daß er auf Ellie wartete. Aber die Proben waren um sechs vorbei gewesen, das wußte er, und nur die Lehrer waren noch da, um über die Kostüme zu beraten. Und außerdem hatte er diesen Kampf mit sich selber ausgekämpft, schon vor Wochen, rief er sich ins Gedächtnis. Wenn er überhaupt mit Ellie zusammenträfe, dann täte er das mit erhobenem Haupte. Er stieg aus dem Wagen und ging ihr entgegen, als er sie aus der Tür treten sah. Walter wollte, daß sie ihren Wagen in Lennert stehenließe und in seinen umstiege, aber Ellie bestand darauf, selbst zu fahren. Sie wollte ihm die nächtliche Fahrt nach Lennert und zurück ersparen. Sie fuhren zu Walter und machten sich sogleich an die Zubereitung des Abendessens, denn sie hatten beide Hunger. Walter machte sich in der Küche einen Drink. Ellie sagte, sie sei zu müde für einen Drink. Aber sie sprach ununterbrochen auf ihn ein, unterhielt ihn mit einer Geschichte über den Geiz, den Mrs. Pierson, die Schatzmeisterin der Schule, bei der Beschaffung von Kostümen für die Hansel und GretelAufführung an den Tag legte. Die Kleinen hätten den ganzen Nachmittag geprobt, nur im Hemdchen mit nichts darüber. »Ich mußte ihr erst diese halbnackten Zicklein auf der Bühne zeigen, 241
bevor sie mir glaubte!« sagte Ellie mit einem tönenden Lachen. »Schließlich habe ich es erreicht. Fünfundfünfzig Eier mehr.« Er hörte Ellie gern lachen. Es war ein lautes, freies Lachen, es füllte schwingend den Raum, ähnlich dem kraftvollen Akkord, den sie am Ende einer Übungsstunde auf der Geige strich. Sie deckten den Tisch im Wohnzimmer. Gerade setzten sie sich zu Tisch, da klingelte es. Walter ging an die Tür. Es waren die Iretons, übersprudelnd von Entschuldigungen, daß sie genau dann hereinplatzten, wenn Walter und Ellie Abendbrot essen wollten, aber nach wenigen Sekunden nahmen beide Platz, um zu bleiben, solange Walter und Ellie aßen. Walter wußte nicht recht, ob sie leicht beschwipst waren oder ob sie die Tatsache, daß sie ein wenig schnüffeln kamen – wofür sie es heute abend besonders gut getroffen hatten –, hinter recht viel Munterkeit zu verbergen suchten. »Wie ich gehört habe, spielen Sie beim Erntedankfest im Harridge Klavier«, sagte Betty Ireton zu Ellie. »Ich gehe mit Mrs. Agnew hin. Sie kennen sie doch, Florences Mutter?« »O ja«, sagte Ellie und lächelte. »Florence singt den Kanon mit.« »Meine sind noch zu klein für die Schule …« Betty gab sich viel liebenswürdiger als notwendig. Walter wischte sich sorgfältig den Mund. Ellie hatte fast gar keinen Lippenstift aufgetragen. »Was macht’s Geschäft, Walt?« Bill stürzte sich vornüber auf seine Knie und stieß mit seinem freundlichen, rosigen Gesicht zu Walter vor. »Immer noch die alte Schinderei«, sagte Walter. »Hast du Joel und Ernestine mal wieder gesehen?« »Nein. Vorige Woche hatte ich keine Zeit, als sie mich zu irgend etwas eingeladen hatten. Hab vergessen wozu.« 242
»Eine Bostoner Teegesellschaft«, sagte Bill. Das war der lokale Slangausdruck für eine Cocktailparty, die sonnabends um vier Uhr ihren Anfang nahm. Zumindest war er eingeladen worden, dachte Walter. Aber plötzlich fiel ihm ein, daß er überhaupt noch nichts von irgendwelchen Erntedank- oder Weihnachtsparties gehört hatte. Normalerweise drehten sich um diese Jahreszeit die Gespräche um Tanzparties, Kostümfeste, ja sogar um Schlittenpartien, falls es schneien sollte. Walter war sicher, daß diese Gespräche stattfanden. Man wendete sich nur nicht an ihn. Walter hatte langsam und unlustig gegessen. Er legte Messer und Gabel hin. Betty und Ellie unterhielten sich in höflichen Platitüden darüber, wie gut es sei, unter die Leute zu gehen, und daß Walter vielleicht einmal andere Luft atmen müsse. Walter spürte, daß das Schweigen zwischen ihm und Bill voller Worte war: Clara war erst einen Monat tot, und da war Ellie, saß bei ihm und aß Abendbrot. Und dann war da auch noch jener Nachmittag gewesen, ungefähr vor vierzehn Tagen, an dem die Iretons ihn mit Ellie beim Einkauf von Lebensmitteln im Selbstbedienungsladen von Benedict gesehen hatten. Walter konnte sich noch erinnern, wie Bill ihm zugewinkt hatte, ohne zu ihm herüberzukommen und mit ihm zu sprechen. »Noch mehr unerfreuliche Unterredungen mit der Polizei gehabt?« fragte Bill Walter. »Nein«, sagte Walter, »ich nicht. Ihr?« »Nein – aber ich dachte, es würde dich vielleicht interessieren, daß Corby mit den Leuten im Klub gesprochen hat«, sagte Bill mit leiser Stimme, die die Unterhaltung zwischen Ellie und Betty nicht störte. »Hat Sonny Cole mir gesagt. Corby hat mit Sonny und Marvin Hays, glaube ich, gesprochen. Und auch mit Ralph.« Bill lächelte zaghaft. Mit knapper Not besann sich Walter, daß Ralph der Name des Barmixers im Klub war. »Das ist unerhört«, sagte Walter 243
ruhig. »Was wissen die denn von mir? Ich war monatelang nicht mehr im Klub.« »Ach, es ging nicht um dich – das nehme ich nicht an. Sie fragten … das heißt, dieser Bursche da, Corby … Na ja, Walter, also ich vermute, sie versuchen zu beweisen, ob sie Selbstmord begangen oder ob irgend jemand sie umgebracht hat, nicht wahr? Ich nehme an, sie hören sich nach eventuellen Feinden Claras um.« Bill blickte auf seine gefalteten Hände hinunter. Er preßte die Handflächen zusammen und machte mit ihnen schmatzende Geräusche. Walter wußte, daß Corby sich nach ihm erkundigt hatte, nicht nach eventuellen Feinden. Er sah, daß Betty und Ellie jetzt auch zuhörten. Und er war dortgewesen, direkt dort an der Bushaltestelle. Sie wußten es alle. Walter spürte, sie alle warteten darauf, daß er erklärte, zum zehntausendsten Male erklärte, er habe es nicht getan. Sie warteten darauf, nur um zu hören, wie es diesmal klingen würde, um es mit heim zunehmen und es zu prüfen, zu schmecken, zu drehen und zu wenden und daran zu riechen, um zu entscheiden, ob es wahr sei oder nicht. Oder besser nicht endgültig zu entscheiden. Sogar Ellie, dachte Walter. Er verharrte in trotzigem Schweigen. »Bei uns war Corby auch wieder«, fuhr Bill im gleichen unbewegten Tone fort, der sich erheblich von dem freundlichen, aufgeregten Ton unterschied, in dem er an jenem Abend wegen Corby telephoniert hatte. »Hat mir da was von einem Zeitungsausschnitt über den Fall Kimmel erzählt, den er bei dir gefunden hätte.« Bill brachte das, als wüßte er alles über den Fall Kimmel. Walter streifte Ellie mit einem Blick, und in diesem Sekundenbruchteil sah er wieder den bewußten Ausdruck an 244
ihr: gespannt wartete sie zu hören, was er darauf antworten würde – ein Ausdruck, der beinahe ebenso schlimm war wie die hemmungslose Neugier der Iretons. »Sieht aus, als glaubte Corby, es bestünden da Ähnlichkeiten«, sagte Bill. Er schüttelte verlegen den Kopf. »Mir wäre es jedenfalls nicht sehr angenehm … ich meine …« »Was meinst du?« »Ich meine, ich finde, es sieht schlecht aus, Walter, nicht wahr?« Jetzt sah man in Bills Gesicht schleichende Angst, als befürchte er, Walter könne aufspringen und ihn angreifen. Es war viel schlimmer, als wenn Corby es in die Zeitung gesetzt hätte, dachte Walter. Jetzt erzählte er es allen, erweckte in allen die Vorstellung, es sei ein entscheidendes Indiz in der Beweiskette, die er zusammengetragen hätte, jedoch noch zu vertraulich und explosiv, als daß es schon gedruckt werden könnte. »Ich habe Corby diese Zeitungssache auseinandergesetzt. Meine Erklärung war befriedigend«, sagte Walter und griff nach seinen Zigaretten. »Es sieht schlecht aus, wenn Corby möchte, daß es schlecht aussieht. Er versucht den Eindruck zu erwecken, daß wir beide, Kimmel und ich, Mörder sein könnten. Kimmels Schuld ist nicht erwiesen. Er ist noch nicht einmal angeklagt. Und ich schon gar nicht.« Betty Ireton saß kerzengerade, sie lauschte offenen Mundes. »Anscheinend glaubt er, daß auch Kimmel seiner Frau nachgefahren ist«, begann Bill sich vorzutasten, »und daß er sie an dem Abend umgebracht hat an der …« »Das ist überhaupt nicht erwiesen!« sagte Walter. »Möchtest du eine Zigarette?« fragte Ellie. Walter hatte seine Zigaretten nicht gefunden. Er nahm die Zigarette, die Ellie ihm reichte. »Ich kann überhaupt keine 245
Ähnlichkeit entdecken zwischen meinem Fall und dem Fall Kimmel, abgesehen davon, daß unsere Frauen beide gestorben sind, während sie sich auf Busreisen befanden.« »Oh, Walter, sie verdächtigen doch nicht dich«, beteuerte Betty. »Um Gottes willen, nein!« Walter sah sie an. »Nein? Was tun sie denn dann? Kannst du dir vorstellen, wie es ist, wenn du immer und immer wieder die gleiche Geschichte erzählt hast, jeden Zentimeter, jede Bewegung, die du gemacht hast, immer wieder dargelegt hast, und sie glauben dir einfach nicht? Tatsache ist, daß die Polizei mir glaubt. Corby ist es, der mir nicht glaubt – oder mir angeblich nicht glaubt. Die Polizei um Schutz vor Corby bitten – das ist es, was ich eigentlich tun sollte!« Aber das hatte er schon versucht. Es gab absolut keine Möglichkeit, einen Detektiv der Kriminalpolizei daran zu hindern, Ermittlungen gegen einen Mann anzustellen, gegen den seiner Meinung nach ermittelt werden sollte. »Walter-r«, sagte Ellie flehentlich und versuchte, ihn dadurch zu beschwichtigen. Walter blickte hinunter auf seine Serviette. Seine zitternden Hände waren ihm peinlich. Das plötzliche erwartungsvolle Schweigen aller war ihm peinlich. Er hätte am liebsten hinausgeschrien, daß, wenn man die gleiche Geschichte immer und immer wieder herbetete, man schließlich selber anfinge, daran zu zweifeln, weil die Worte allmählich ihren Sinn verlören. Das war eine wichtige Tatsache, aber er durfte es nicht sagen, weil sie alle Kapital daraus schlagen würden. Auch Ellie. Walter stand vom Tisch auf und ging weg, dann drehte er sich plötzlich um. »Bill, ich weiß nicht, ob Corby dir auch gesagt hat, daß Clara im September versucht hat, sich das Leben zu nehmen.« »Nein«, sagte Bill feierlich. 246
»Sie hat Schlaftabletten genommen. Das war der Grund für ihren Aufenthalt im Krankenhaus. Sie trug sich mit dem Gedanken an Selbstmord. Ich hatte nicht vor, darüber ein Wort zu verlieren, aber angesichts dieses … dieser anderen Dinge meine ich doch, du solltest es wissen.« »Na ja, wir haben so etwas gehört«, sagte Bill. »Wir hörten so ein Gerücht«, korrigierte Betty vorsichtig. »Ich glaube, Ernestine war es, die es uns erzählt hat. Sie dachte sich so was. Nicht aus irgendeinem bestimmten Grunde, aber sie hat ein gutes Gespür für solche Sachen. Sie wußte, daß Clara in schlechter Verfassung war.« Betty sprach mit der Sanftmut und dem Anstand, die man Toten schuldig ist. Betty und Bill sahen ihn immer noch erwartungsvoll an. Das brachte Walter aus der Fassung. Er hatte gedacht, die Schlaftablettenepisode würde eigentlich beweisen, daß sie Selbstmord verübt habe. Sie schauten ihn an mit der gleichen Frage in den Gesichtern wie zuvor. »Ich möchte wissen, was ihr von mir erwartet?« brach es aus Walter hervor. »Wer wird denn jemals irgend etwas beweisen können in einem Fall wie diesem?« »Walter, ich glaube nicht, daß ihre Untersuchungen sich gegen dich richten«, wiederholte Betty. »Du solltest dich nicht so nervös fühlen – persönlich. Du lieber Himmel!« »Das ist sehr leicht gesagt. Ich selber hätte auch nicht gern Corby gegen mich«, sagte Bill. »Ich meine … ich begreife, was er will.« »Ich bin überzeugt, er hat es euch erklärt«, sagte Walter. »Er erklärt es jedem.« »Ich möchte dir noch sagen, Walter – nicht, daß ich es sagen müßte, hoffe ich –, daß ich Corby erklärt habe, ich wäre absolut sicher, daß du niemals etwas Derartiges tun würdest. Ich kenne die Redensart über solche Leute, die es tun. Ich meine die Ansicht, man könne es niemandem ansehen. Ich bin 247
da anderer Meinung.« Bill gestikulierte mit gespreizten Händen, und das machte seine Worte nicht überzeugender. »Auch wenn ihr zwei euch nicht vertragen habt, umgebracht hättest du sie nie.« Für Walter hörte sich das wie absoluter Blödsinn an, wie unaufrichtiger Blödsinn obendrein. Er war nicht einmal sicher, daß Bill das zu Corby gesagt hatte. Walter schluckte hinunter, was er über Corby hätte sagen mögen, und brachte nur ein krächzendes »Danke« hervor. Wieder war es still. Bill sah Betty an. Sie tauschten einen langen, todernsten Blick; dann stand Bill auf. »Finde, wir sollten uns jetzt aufmachen. Laß uns gehen, Schatz.« Bill machte das oft, daß er eher als seine Frau zum Aufbruch mahnte. Betty sprang gehorsam auf. Walter war zumute, als müßte er sie buchstäblich festhalten, um ihnen noch irgend etwas sagen zu können, etwas, was sie dazu bringen würde, ihm Glauben zu schenken. Und das sollten nun seine besten Freunde in der Nachbarschaft sein! Er begleitete sie mit steifen Schritten, die Hände in den Jackentaschen, an die Tür. Sie waren bereit, sich gegen ihn zu wenden, hatten sich bereits gegen ihn gewendet. Der uralte Lieblingssport der menschlichen Rasse: den Mitmenschen zu Tode zu hetzen. »Gute Nacht!« rief Walter ihnen zu. Es gelang ihm tatsächlich, seiner Stimme einen munteren Klang zu geben. Er schloß die Tür und drehte sich zu Ellie um. »Was hältst du davon?« »Sie benehmen sich wie jeder andere Durchschnittsmensch. Glaube mir, Walter. Wahrscheinlich sogar noch besser als die meisten.« 248
»So – hast du welche getroffen, die schlimmer waren – gegen mich?« »Nein.« Sie fing an, den Tisch abzuräumen. »Wenn ich welche getroffen hätte, dann hätte ich es dir gesagt.« Walter glaubte aus ihrem Ton herauszuhören, daß sie das Thema zu wechseln wünschte. Aber wenn ich nicht mit dir sprechen kann, dachte er, mit wem, zum Teufel, kann ich dann sprechen? Plötzlich stellte er sich vor, Jon würde von dem Kimmel-Ausschnitt unterrichtet, und Walters Magen krampfte sich zusammen. Er stellte sich vor, das stieße Jon über einen Wall von Zweifeln hinweg in die Gewißheit. Er fing an, Ellie beim Tischabräumen zu helfen. Ellie war schon fast fertig damit. Sie wußte, wohin alles gehörte. Sie war fixer als Claudia. Der Kaffee brodelte bereits in der Maschine. Sie machte sich daran, das Geschirr abzuwaschen, aber er sagte ihr, sie solle es stehenlassen für Claudia morgen früh. Als sie die Küche aufgeräumt hatten, war auch der Kaffee fertig, und sie nahmen ihn mit ins Wohnzimmer. Walter goß ein. Ellie setzte sich und lehnte den Kopf müde gegen das Sofakissen. Das Licht der Stehlampe am Sofa schimmerte auf ihren hohen slawischen Backenknochen. Sie war schmaler geworden seit dem Sommer und hatte ihre Bräune fast völlig verloren, aber Walter kam sie noch attraktiver vor als früher. Als er sich über sie beugte, öffnete sie die Augen. Er küßte ihre Lippen. Sie lächelte, aber er sah einen wachsamen, fragenden Blick in ihren Augen, als wüßte sie nicht recht, was sie von ihm halten solle. Sie legte ihren Arm um seine Schultern und zog ihn an sich, aber sie sagte kein Wort. Auch er schwieg. Er küßte ihre Stirn, ihre Lippen, ließ Frieden und eine Art animalische Behaglichkeit von ihrem Körper in seine Arme herüberströmen. Aber es war falsch, daß sie nicht miteinander 249
sprachen, dachte er. Es war falsch, daß sie sich so küßten – er, weil sie da war und zur Verfügung stand, und sie, weil sie ihn körperlich begehrte. Er merkte es an ihrer gespannten Beherrschung, ihrem stockenden Atem, an der Art, wie sie sich ihm zuwandte. Es fand kein Echo in Walter, aber er hielt sie dennoch umschlungen und küßte sie. Als Ellie aufstand, um eine Zigarette zu holen, spürte Walter ihr Begehren wie einen Druck, wie einen Strom quer durch den Raum, der sie trennte. Er stand auf und wollte ihr Feuer geben. Sie legte die Arme um seinen Hals. »Walter«, sagte sie, »ich möchte heute nacht bei dir bleiben.« »Ich kann nicht. Nicht hier.« Ihre Arme schlossen sich fester um seinen Hals. »Dann laß uns zu mir gehen – bitte.« Das Flehen in ihrer Stimme machte ihn verlegen. Und dann schämte er sich seiner dämlichen Verlegenheit. »Ich kann nicht, Ellie. Ich kann … noch nicht. Verstehst du?« Er nahm seine Hände von ihrem Körper. Langsam nahm sie das Feuerzeug auf und zündete sich die Zigarette selbst an. »Ich weiß nicht recht, ob ich das verstehe. Aber ich werde es wohl versuchen müssen.« Walter stand da und brachte kein Wort hervor. Nicht das Haus war es oder seine Gleichgültigkeit heute abend, die er hätte erklären müssen oder die er ihr noch erklären müßte, dachte er. Was ihm die Sprache raubte, war, daß er ihr nicht einmal sagen konnte, eines Tages würde es anders sein, er hätte überhaupt irgendwelche Zukunftsvorstellungen, was sie betraf. »Es wäre ganz schön, wenn wir irgendwann einmal übereinstimmen würden – in unseren Empfindungen«, sagte sie mit einem Seitenblick auf ihn. Aber sie lächelte … ein humorvolles Lächeln. »Also – Boadicea und ich werden 250
heimwärts ziehen.« »Bitte geh nicht.« »Ist besser.« Sie sammelte ihr Täschchen und ihre Handschuhe auf. Er war ungerecht, schalt sich selber: bediente sich ihrer oder verletzte sie, wie es ihm gerade einfiel. Er lief hinter ihr her und begleitete sie zum Wagen hinaus. Sie sagte ihm freundlich gute Nacht durchs Wagenfenster, aber sie wartete nicht auf seinen Kuß. Walter ging zurück in das leere Haus. Hing er nur deshalb an dem Hause, überlegte er, weil es eine Schranke zwischen Ellie und ihn legte? Das Haus bedrückte ihn nicht – es bedrückte in Wirklichkeit Ellie –, aber er wußte genau, nie würde er sich mit Ellie hier wohl fühlen, denn hier war Clara gewesen, war Clara immer noch. Das Schlafzimmer oben hatte Claudia umgeräumt, ohne daß er sie darum gebeten hatte: das Bett stand in der hinteren Ecke, und Claras Ankleidetisch, von dem Parfümfläschchen, Puderdosen und das Photo von Walter und Clara verschwunden waren, stand zwischen den beiden vorderen Fenstern. Aber den Schrank füllten immer noch ihre gepackten Koffer, ihre Mäntel über den Bügeln. Er mußte bald einmal etwas machen mit ihren Kleidern, dachte er: sie verschenken, sie Claudia geben, damit diese sie ihren Bekannten schenkte. Er hatte es immer hinausgeschoben. Das Telephon läutete. Walter stand mitten im Wohnzimmer. Er hatte das Gefühl, so deutlich als spräche das Telephon mit Menschenstimme, daß es Corby war, der ihn anrief. Beim vierten oder fünften Klingeln machte Walter eine Bewegung, als wolle er gehen und abheben, aber er tat es nicht. Er stand im Wohnzimmer, starr, horchend, sein Nackenhaar sträubte sich, bis es, nach einem Dutzend schriller Rufe, endlich still wurde.
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29 Etwa fünf Stunden später wurde Kimmel in seinem Hause von Leutnant Lawrence Corby aus dem Schlaf geholt, zum Ankleiden gezwungen und mitgenommen zur Hauptwache des Siebenten Polizeireviers in Newark. In der Hast des Ankleidens hatte Kimmel keine Unterwäsche angezogen. Der rauhe Wollstoff des Anzugs kratzte auf der empfindlichen Haut seiner Sitzfläche, und er fühlte sich halb nackt. Die Polizeiwache war ein häßliches, quadratisches Gebäude mit zwei Außentreppen, die zum Haupteingang hinaufführten, Treppen, die in Kimmels Kopf das Wort Perron und das Schloß Belvedere in Wien, das solche Treppen hatte, aufsteigen ließen – obwohl bei der scheußlichen, aus dem 19. Jahrhundert stammenden Architektur dieses Gebäudes eine solche Gedankenverbindung geradezu absurd war –, und als er die Treppen erklomm, wiederholte er im Geiste immerzu dieses Wort: Perron, Perron, Perron … wiederholte es angstvoll, wie eine geheime und schützende Beschwörungsformel gegen das, was ihm in diesem Gebäude widerfahren mochte. Der Kellerraum, in den Leutnant Corby ihn brachte, war mit kleinen, sechseckigen weißen Kacheln ausgeschlagen und sah aus wie ein riesiges Badezimmer. Kimmel stand unter einer Lampe. Der glitzernde Widerschein des Lichts auf den Kacheln stach ihm in die Augen. Nichts befand sich in dem Raum, außer einem Tisch. »Glauben Sie, daß Stackhouse schuldig ist?« fragte Corby. Kimmel zuckte die Schultern. »Was meinen Sie? Jeder hat doch eine Meinung über 252
Stackhouse.« »Mein lieber Leutnant Corby«, sagte Kimmel großartig, »Sie sind allzu fest davon überzeugt, daß jeder von einem Mord fasziniert ist und nicht ruhen und rasten kann, bis der Mörder dem Arm der Gerechtigkeit übergeben worden ist – von Ihnen! Wen kümmert’s, ob Stackhouse schuldig ist oder nicht?« Corby setzte sich auf die Kante des Holztisches und ließ ein Bein baumeln. »Was hat Stackhouse sonst noch gesagt?« »Sonst nichts.« »Was er sonst noch gesagt hat!« In dem leeren Raum schrillte Corbys Stimme wie eine Eisenfeile. »Sonst nichts«, wiederholte Kimmel würdevoll. Seine plumpen Hände zuckten und zupften leicht an den Fingerspitzen unter der Wölbung seines Bauches. »Stackhouse hat demnach zwanzig Minuten gebraucht, sich zu entschuldigen?« »Wir wurden mehrmals unterbrochen. Er stand einfach nur hinten im Laden neben meinem Schreibtisch und plauderte mit mir.« »Plauderte. Er hat gesagt: ›Ach, es tut mir ja so leid, Mr. Kimmel, Ihnen all die Unannehmlichkeiten gemacht zu haben.‹ Und was sagten Sie? ›Ach, ist schon gut, Mr. Stackhouse. Bin Ihnen nicht böse.‹ Haben Sie ihm eine Zigarre angeboten?« »Ich habe ihm gesagt«, sagte Kimmel, »daß sich meiner Meinung nach keiner von uns beiden irgendwelche Sorgen zu machen brauche, daß er aber besser nicht noch einmal zu mir gekommen wäre, weil Sie dem eine Bedeutung beimessen würden.« Corby lachte. Kimmel reckte seinen Kopf höher. Er starrte auf die Wand 253
und rührte sich nicht, abgesehen von seinen zuckenden, spielerisch bewegten Händen. Er stand auf einem Bein, das andere in graziöser Ruhestellung, sein Leib war ein wenig von Corby abgewandt. Kimmel merkte, daß es die gleiche statuenhafte Haltung war, in welcher er sich manchmal nackt in dem langen Spiegel an seiner Badezimmertür betrachtete. Ganz unbewußt hatte er diese Haltung angenommen, und obwohl sich in irgendeinem versteckten Winkel seines Hirns Scham regte, spürte er, daß sie ihm eine gewisse unzerstörbare Gelassenheit verlieh. Kimmel verharrte in dieser Pose, als sei er bewegungsunfähig. »Schuldig oder nicht, ich nehme an, Sie wissen, daß Stackhouse mit dem Zeigefinger auf Sie gewiesen hat, nicht wahr, Kimmel?« »Das ist so einleuchtend, daß es kaum der Erwähnung bedarf«, antwortete Kimmel. Corby ließ immer noch ein Bein über die Tischkante baumeln. Der braune Holztisch gemahnte an einen primitiven, verdreckten Operationstisch. Kimmel fragte sich, ob Corby ihn am Ende mit einem Jiu-Jitsu-Griff auf diesen Tisch schleudern würde. »Hat Stackhouse Ihnen erklärt, warum er den Zeitungsausschnitt hatte?« fragte Corby. »Nein.« »Hat also kein umfassendes Geständnis abgelegt?« »Er hatte nichts zu gestehen. Er sagte, es täte ihm leid, mir die Polizei auf den Hals gehetzt zu haben.« »Stackhouse hat eine ganze Menge zu gestehen«, gab Corby scharf zurück. »Für einen Unschuldigen ist seine Handlungsweise doch sehr merkwürdig. Hat er Ihnen nicht 254
gesagt, warum er an jenem Abend dem Bus seiner Frau gefolgt ist?« »Nein«, erwiderte Kimmel im gleichen teilnahmslosen Ton. »Vielleicht können Sie mir verraten, warum.« Kimmel preßte die Lippen zusammen. Seine Lippen zitterten. Er war einfach angeödet von Corbys Fragerei. Auch Stackhouse wurde so bearbeitet, vermutete Kimmel. Für einen Augenblick stieg trotzige Sympathie für Stackhouse in ihm auf und vermengte sich mit seinem Abscheu vor Corby. Er glaubte, was Stackhouse ihm erzählt hatte. Er hielt Stackhouse nicht für schuldig. »Wenn Sie solche Zweifel haben an meinem Bericht über das, was Stackhouse mir sagte, dann hätten Sie besser einen Spion zum Horchen ins Geschäft geschickt!« »Oh, wir wissen, daß Sie ein Experte sind im Erkennen von Polizeidetektiven. Sie hätten Stackhouse gewarnt, und er hätte aufgehört zu reden. Wir werden es schon noch herausbekommen aus Ihnen beiden.« Corby lächelte und kam auf Kimmel zu. Er sah frisch und in Form aus. Er arbeite zur Zeit in Nachtschicht, hatte er Kimmel gesagt. »Sie decken Stackhouse, ja, Kimmel? Für Mörder haben Sie wohl etwas übrig?« »Ich dachte nicht, daß Sie ihn für einen Mörder halten.« »Seit ich den Zeitungsausschnitt gefunden habe, ja. Ich habe Ihnen das auch gesagt, gleich nachdem ich ihn gefunden hatte.« »Ich glaube, daß es Ihrer Meinung nach bei Stackhouse noch reichlich Raum für Zweifel gibt, daß Sie aber nicht fair sein wollen mit Stackhouse, weil Sie entschlossen sind, sich einen hochdramatischen Fall zu verschaffen!« rief Kimmel lauter als Corby. »Selbst wenn Sie die Verbrechen selber erfinden müssen!« »Oo-o, Kimmel«, sagte Corby vorwurfsvoll, »ich habe doch 255
die Leiche Ihrer Frau nicht erfunden, wie?« »Sie haben meine Beteiligung daran erfunden!« »Haben Sie Stackhouse schon einmal gesehen, bevor ich ihn in Ihren Laden brachte?« fragte Corby. »Ja?« »Nein.« »Ich dachte nur so, er hätte Ihnen womöglich sogar einen Besuch machen können«, sagte Corby nachdenklich. »Er ist der Typ dafür.« Kimmel hätte gern gewußt, ob Stackhouse wohl so blöd gewesen war, Corby zu sagen, daß er dagewesen war. »Nein«, sagte Kimmel, etwas weniger entschieden. Er nahm seine Brille ab, hauchte sie an, griff nach seinem Taschentuch und rieb sie, als er es nicht fand, an seinem Ärmel blank. »Ich kann mir gut vorstellen, daß Stackhouse Sie aufgesucht hat, um Sie in Augenschein zu nehmen – vielleicht sogar Ihnen seine Sympathie zu bekunden. Es ist durchaus möglich, daß er Sie in Augenschein nehmen wollte, nur um festzustellen, ob Sie wirklich wie ein Mörder aussehen – was Sie ja tun, natürlich.« Kimmel setzte seine Brille wieder auf und glättete seine Gesichtszüge. Aber in seinem Innern begann Angst wie ein Flämmchen aufzuflackern. Sie ließ ihn von einem Fuß auf den anderen treten; sie ließ ihn sehnsüchtig wünschen, er könne davonrennen. Immer war es Kimmel gewesen, als genösse er eine übernatürliche Immunität, bis Corby kam, und nun schien Corby es zu sein, der von übernatürlichen Kräften besessen war wie eine Nemesis. Corby war nicht fair. Seine Methoden waren anders als die, welche gewöhnlich in der Rechtsfindung angewandt wurden, und doch genoß er die Immunität, die ihm die offizielle, uniformierte Justiz verlieh. »Ist Ihre Brille wieder ganz?« fragte Corby. Corby kam auf ihn zu wie ein kleiner, aufgeplusterter Hahn, seine Fäuste lagen auf den Hüften und hielten seinen offenen Mantel zurück. 256
Dicht vor Kimmel blieb er stehen. »Kimmel, ich werde Sie kleinkriegen. Tony ist bereits davon überzeugt, daß Sie Helen getötet haben. Wissen Sie das?« Kimmel rührte sich nicht. Er empfand körperliche Angst vor Corby, und das ärgerte ihn, denn körperlich war Corby ein Schatten. Kimmel fürchtete sich in dem geschlossenen Raum mit ihm, ohne Hilfe in Rufweite, er fürchtete sich davor, auf den harten Kachelboden gewirbelt zu werden, der aussah wie der Fußboden eines Schlachthauses. In diesem Raum konnte er sich die gemeinsten Foltern denken. Er stellte sich vor, Polizisten kämen mit einem Schlauch und wüschen das Blut von den Wänden, nachdem sie hier einen Mann fertiggemacht hatten. Plötzlich mußte Kimmel austreten. »Tony arbeitet jetzt für uns«, sagte Corby mitten in sein Gesicht hinein. »Er erinnert sich wieder an verschiedenes, zum Beispiel daran, daß Sie ihm gesagt haben – ein paar Tage bevor Sie Helen töteten –, es gäbe durchaus Möglichkeiten, eine unpassende Frau loszuwerden.« Kimmel entsann sich genau, wie er mit Tony im Oyster House in einer Nische gesessen und Bier getrunken hatte. Tony war mit einigen seiner halbwüchsigen Freunde gekommen und hatte sich unaufgefordert zu ihm in die Nische gesetzt. Eigentlich hatte Kimmel nur deshalb so kühn dahergeredet, weil es ihn geärgert hatte, daß Tony sich dort hinlümmelte, bevor er zum Platznehmen aufgefordert worden war. »Woran erinnert Tony sich sonst noch?« fragte Kimmel. »Er erinnert sich, daß er an jenem Abend versucht hat, Sie nach dem Kino zu Hause zu erreichen, und daß Sie nicht zu Hause waren. Sie sind erst lange nach Mitternacht damals heimgekommen, Kimmel. Und wenn Sie nun erklären müßten, wo Sie gewesen sind?« Kimmel lachte auf. »Lächerlich! Ich weiß, daß Tony nicht 257
versucht hat, mich zu erreichen. Es ist lächerlich, den langweiligsten, ruhigsten Abend der Welt nach mehr als drei Monaten rekonstruieren zu wollen, wenn jeder ihn vergessen hat!« »Der langweiligste, ruhigste Abend der Welt.« Corby zündete eine Zigarette an. Dann schnellte seine Hand plötzlich vor, und Kimmel spürte ein scharfes Stechen auf seiner linken Backe. Kimmel wollte seine Brille abnehmen, ehe es zu spät war, aber er rührte sich nicht. Der stechende Schmerz an seiner Backe blieb, brennend, demütigend. »Prügel sind die einzige Sprache, die Sie verstehen, was, Kimmel? Um Worte und Tatsachen scheren Sie sich nie, weil Sie nicht normal sind. Sie weigern sich, ihnen eine Bedeutung zu geben. Sie leben in Ihrer eigenen Privatwelt, und die einzige Möglichkeit, in diese Welt einzubrechen, ist, Sie zu prügeln!« Wieder hoben sich Corbys Hände. Kimmel duckte sich, aber Corby schlug ihn nicht, er nahm ihm nur die Brille ab – Kimmel merkte plötzlich, daß sie ihm von der Nase gerissen wurde. Der Raum begann verschwommen zu tanzen, und Kimmel bemühte sich, den schwarzen Klecks der Gestalt Corbys zu erkennen, der sich auf den horizontalen, matten Fleck des Tisches zu bewegte. Rasch hielt Kimmel die gespreizte Hand vor sein Gesicht, sah sie, riß sie hinter seinen Rücken und klammerte sie um die andere Hand. Corby kam wieder. »Warum geben Sie nicht zu, daß Sie wissen, Stackhouse ist schuldig? Warum geben Sie nicht zu, daß er Ihnen so viel erzählt hat, daß Sie dessen sicher sind? Sie können mir nicht einreden, Sie liebten Stackhouse so innig, daß Sie ihn decken wollen, Kimmel.« 258
»Wir sind beide unschuldige Menschen in weitgehend gleicher Situation«, sagte Kimmel mit monotoner Stimme, »wie Stackhouse schon sagte. Deshalb ist er auch bei mir gewesen.« Corby traf ihn in den Magen. Es warf Kimmel um wie der Schlag bei ihm zu Hause. Kimmel wartete auf das Hochwirbeln in die Luft, den Aufschlag auf dem Boden. Es blieb aus. Kimmel blieb vornübergebeugt stehen und rang nach Atem. Er sah am Boden schwarze Pünktchen, die sich vermehrten, wie er beobachtete, und dann merkte er, daß Blut aus seiner Nase tropfte. Er mußte den Mund öffnen, um zu atmen, und da schmeckte er es auch: ein erschreckender, salziger Orangegeschmack. Corby ging im Kreis um ihn herum, und Kimmel drehte sich mit ihm, wandte der dunklen Gestalt stets sein Gesicht zu. Plötzlich griff Kimmel an seine Nase, schneuzte sich heftig und schüttete wild seine nasse Hand seitlich aus. »Blutig sollte dieser Fußboden sein!« schrie Kimmel. »Von den Wänden sollten Sie es triefen lassen! Menschen haben Sie gefoltert!« Corby packte Kimmel bei den Schultern und stieß ihm ein Knie in den Bauch. Kimmel lag auf Händen und Knien, wieder nach Atem ringend, mit einem tieferen Schmerz als zuvor. »Geben Sie es zu: Sie wissen, daß Stackhouse schuldig ist!« Kimmel ignorierte es einfach. Sein Geist war vollauf damit beschäftigt, sich selbst zu bemitleiden. Selbst daß er wieder zu Atem kam, war ein ungewollter Vorgang, ein schmerzhaftes, schluchzendes Keuchen. Dann trat oder stieß Corby ihn in die Seite, und Kimmel fiel plötzlich um. Er lag auf der Seite, den Kopf emporgereckt. »Aufstehen, altes Aas«, sagte Corby. Kimmel mochte nicht aufstehen, aber Corby trat ihn in den Hintern. Kimmel erhob sich auf die Knie und quälte sich 259
mühsam hoch, richtete sich auf, den Kopf erhoben, obwohl er sich noch nie so schwach und so passiv gefühlt hatte wie jetzt. Je dichter Corby ihn umkreiste, um so schlapper fühlte sich Kimmel, als hypnotisiere Corby ihn. Es schmerzte, es brannte ihn am ganzen Körper. Kimmel erkannte, daß er zutiefst feminin empfand, viel intensiver, als wenn er vor dem Badezimmerspiegel seine eigenen sinnlichen Kurven mit den Blicken abtastete oder wenn er manchmal solche Bücher las und es sich so zum Zeitvertreib vorstellte; er erkannte, daß es ihm ein Lustgefühl gab, wie er es schon jahrelang nicht mehr empfunden hatte. Er sah dem nächsten Hieb entgegen, der sicher sein Ohr treffen würde. Als hätte Corby ihn verstanden, gab er Kimmel eine Ohrfeige. Kimmel schrie plötzlich. Er befreite sich mit einem schrillen Schrei von einer wilden Scham, die mit seiner Lust in Widerstreit lag. Er hörte Corbys Lachen. »Kimmel, Sie werden ja rot!« sagte Corby. »Sollen wir von etwas anderem reden? Sollen wir von Helen reden? Von dem Tage, an dem sie aus purer Bosheit Ihre Encyclopaedia Britannica weggeworfen hat? Ich habe mir sagen lassen, daß Sie antiquarisch dafür fünfundfünfzig Dollar bezahlt hatten, und das zu einer Zeit, als Sie sich das eigentlich nicht leisten konnten.« Kimmel hörte Corbys Absätze triumphierend auf den Boden bumsen, aber Kimmel schämte sich noch zu sehr, um ihn anzusehen. Krampfhaft versuchte er zu überlegen, wer Corby nur das mit der Encyclopaedia Britannica erzählt haben mochte, denn das war vor langer Zeit in Philadelphia gewesen. »Ich habe auch davon gehört, daß Helen ihren Freundinnen die Fingernägel manikürte, um sich ein Taschengeld zu verdienen. Das muß ja etwas für Sie gewesen sein – Frauen, die den 260
lieben langen Tag im Haus aus und ein gingen, die schnatternd herumsaßen. Damals sind Sie zu dem Schluß gekommen, daß Sie Helen niemals zu Ihrem Niveau emporheben könnten.« Aber die Manikürepisode hatte ja nur einen Monat gedauert, dachte Kimmel. Er hatte ihr ein Ende gemacht. Kimmel wandte die Augen ab, obwohl er immer noch eines blitzschnellen Angriffes von Corby gewärtig war. Kimmel spürte, daß er unter seiner Hose eine Gänsehaut hatte, als wäre er nackt und ein kalter Wind bliese ihn an. »Jedoch schon vorher«, fuhr Corby fort, »waren Sie soweit, daß Sie Helen nicht mehr anrühren konnten. Sie war Ihnen widerlich, und nach und nach übertrug sich Ihr Widerwillen auch auf andere Frauen. Sie redeten sich ein, Sie haßten die Frauen, weil sie dumm seien, und die dümmste von allen sei Helen. Das war merkwürdig für einen Mann wie Sie, Kimmel, der in seiner Jugend so leidenschaftlich war! Haben Sie sich dann alles aus pornographischen Büchern verschafft?« »Sie widern mich an!« sagte Kimmel. »Was kann Sie schon anwidern?« Corby kam näher. »Sie haben Helen geheiratet, als sie zwanzig waren, eigentlich zu jung, um von Frauen etwas zu verstehen, aber Sie waren sehr fromm damals und glaubten, man müßte verheiratet sein, bevor man in den Genuß ihrer … Sie müssen doch eine Bezeichnung dafür haben, Kimmel.« »Die paßt auf Sie!« stieß Kimmel hervor. Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Wollen Sie Ihre Brille haben?« Kimmel nahm die Brille und setzte sie auf. Der Raum und Corbys mageres Gesicht nahmen wieder Form an. Corbys Lippen grinsten spöttisch unter dem kleinen Schnurrbart. »Jedenfalls war es ein trauriger Tag für Helen, der Tag ihrer Hochzeit mit Ihnen. Was konnte sie schon wissen – ein einfaches Mädchen aus den Slums von Philadelphia. Sie 261
machte Sie impotent – dachten Sie. Das war gar nicht so übel, denn nun konnten Sie Helen zum Sündenbock machen und sie voller Inbrunst hassen.« »Ich habe sie nicht gehaßt«, widersprach Kimmel. »Sie war wirklich schwachsinnig. Ich hatte nichts mit ihr gemein.« »Sie war nicht schwachsinnig«, sagte Corby. »Aber weiter im Text: Eine Frau, bei der Sie ein großes Fiasko erlitten, ist zu Helen gelaufen und hat es ihr hinterbracht, und Helen hat Sie nun immer damit aufgezogen.« »Das hat sie nicht! Es gab überhaupt keine Frau!« »O doch, es gab eine. Sie hieß Laura. Ich habe mich mit Laura unterhalten. Sie hat mir alles erzählt. Laura mag Sie gar nicht. Sie sagt, sie bekäme eine Gänsehaut, wenn sie an Kimmel dächte.« Kimmel kroch vor Scham in sich zusammen. Er sah es wieder vor sich, als Corby das sagte: den heimlichen Nachmittag in Lauras Wohnung, als ihr Mann zur Arbeit gegangen war – er hatte sich immer eingeredet, es sei die Heimlichkeit gewesen, die damals alles verschuldet habe, aber was auch immer schuld gewesen sein mochte, er hatte nie wieder den Mut gehabt, es noch einmal zu versuchen –, er sah Laura, wie sie am Tage darauf die Treppen seines eigenen Hauses hinaufstieg, um es Helen zu hinterbringen. Kimmel hatte sie nicht die Treppe hinaufgehen sehen, aber er sah es immer sehr deutlich vor sich, weil Laura auf einem Fuß hinkte und sich am Geländer hochziehen mußte. Kimmel konnte die beiden Frauen sehen, wie sie dasaßen und über ihn lachten, wie sie dann die Hände vor ihre Münder schlugen wie idiotische Kinder, beschämt über ihre eigenen Reden. Helen hatte ihm noch am gleichen Abend von Lauras Besuch berichtet, immer noch kichernd hatte sie ihn gemustert. Helen hatte sich selbst ermordet, an eben diesem Abend, mit ihrer irrsinnigen 262
Spöttelei! »Als das passiert war, dachten Sie, alle wären über Sie im Bilde«, sagte Corby. »Also sind Sie nach Newark gezogen. Und hier in Newark kam dann das, was Ihnen den Rest gab – dieser Versicherungsvertreter Ed Kinnaird.« Kimmel zuckte zusammen. »Wer hat Ihnen das gesagt?« »Das ist Geheimsache«, sagte Corby. »Ein Jammer, daß Sie nicht Kinnaird umgebracht haben statt Helen, Kimmel, Sie wären möglicherweise davongekommen. Dieser Lümmel! Und Helen hat ihn von der Straße geholt wie eine Nutte – im Alter von neununddreißig Jahren: eine erschlaffende alte Frau, die ihre letzte Blüte treibt. Wie ekelhaft für Sie! Und Helen war stolz auf ihn. Überall in der Nachbarschaft brüstete sie sich damit, was er doch alles konnte! Es war unerträglich für Sie wo Sie doch in gelehrtem Briefwechsel standen mit Universitätsprofessoren im ganzen Lande. Sie hatten sich inzwischen einen recht beachtlichen Ruf erworben als ein Buchhändler, der sein Geschäft verstand.« »Wer hat Ihnen das mit Kinnaird gesagt?« fragte Kimmel. »Nathan?« »Ich gebe meine Quellen nicht preis«, lächelte Corby. Nathan war bei ihm gewesen an dem Abend zuvor, dachte Kimmel, an dem Abend, als Helen mit Kinnaird nach Haus kam, doch er glaubte nicht, daß Nathan etwas sagen würde, jedenfalls nicht über jenen Abend. Lena konnte ihm von Kinnaird erzählt haben oder Greta Kane – jeder von dem Gesindel in der Nachbarschaft, mit dem Helen zu klatschen pflegte! Was Kimmel aber am meisten zu schaffen machte, das war die Tatsache, daß Corby in der gesamten Nachbarschaft herumgeschnüffelt hatte und kein Mensch gekommen war, um es ihm zu sagen. »Es war nicht Nathan«, sagte Corby und schüttelte den Kopf. 263
»Nathan hat mir nur von dem Abend berichtet, an dem Sie mit ihm Pinochle gespielt haben und Helen mit Kinnaird heimkam, um sich umzuziehen, bevor sie irgendwo tanzen ging. Kinnaird kam ganz unbekümmert hereinspaziert: was kostet die Welt. Nathan wußte, was los war. Und Sie hätten ebensogut ein fetter Eunuch sein können, wie Sie da saßen!« Kimmel taumelte vorwärts und griff mit beiden Armen nach Corby. Kimmels Magen krampfte sich zusammen, seine Füße hoben sich vom Boden, und irgend etwas krachte gegen seine Schulterblätter. Für einen Moment wurde sein Gesicht gegen seinen Bauch gedrückt. Seine Beine lagen aufrecht an der Wand. Mir sind alle Knochen im Leihe zerbrochen! dachte Kimmel. Er versuchte gar nicht erst sich zu bewegen, obwohl der Schmerz in seinem Rückgrat unerträglich war. »Sie haben Helen aus dem Haus gewiesen – direkt vor Nathan. Es war nicht das erste Mal, aber diesmal war es Ihnen ernst. Ed ging, sie blieb, und sie klagte Lena telephonisch ihr ganzes Leid.« Kimmel fühlte einen Tritt gegen seine Beine. Die Füße krachten zu Boden und begannen zu schmerzen. Nathan, der nie redete, dachte Kimmel. Darum auch war Nathan so lange nicht mehr bei ihm gewesen. Kimmel wußte von der Newarker Polizei, daß Nathan nie, wenn er verhört wurde, auch nur gesagt hatte: ›Er könnte es getan haben.‹ Aber vielleicht hatte sich die Newarker Polizei nie für diese Geschichte am Vorabend interessiert. Nathan hatte ihn verraten – der Gymnasiallehrer für Geschichte, den Kimmel für einen Gentleman und Gelehrten gehalten hatte! Bittere Enttäuschung über Nathan erfüllte Kimmels Gemüt, eine geheime innere Qual, die der äußerlichen Qual dieses Raumes entsprach. Er 264
hatte wieder seine Brille verloren. »Lena riet Helen, für ein Weilchen zu ihrer Schwester nach Albany zu fahren. Ein sehr unglücklicher Rat. Wirklich, Kimmel, wo so viele Menschen von dem Drama jenes Abends wußten, sind Sie bisher eigentlich erstaunlich ungeschoren geblieben, finden Sie nicht?« Kimmel war jenseits aller Worte. Er war nur noch ein Häufchen Unglück. Der schwarze Fleck nicht weit von seinen Augen mußte sein Schuh sein, dachte er. Er griff danach, und seine Hand stieß an etwas Kühles, aber ob es Boden oder Wand war, das wußte er nicht. »Sie haben Helen weniger deshalb getötet, weil sie mit Kinnaird ging, als vielmehr, weil sie dumm war. Kinnaird war nur die Lunte am Pulverfaß. Sie fuhren an jenem Abend dem Bus Ihrer Frau nach und brachten sie um. Gestehen Sie, Kimmel!« Kimmels Zunge lag ihm wie ein Kloß im Munde. Sogar seine Ohren hatte er gewissermaßen zugemacht vor Corbys Stimme. Er krümmte sich auf dem Boden wie ein Hund, und es dämmerte ihm die schmerzhafte Erkenntnis, daß er wie ein Hund war, aber er fand sich damit ab, denn er wußte, es gab keine andere Möglichkeit. Keine andere Möglichkeit als Corbys krächzende, kreischende Stimme … als Corbys Hände, die ihn jetzt bei den Schultern packten und in die Höhe rissen mit ihrer entsetzlichen Kraft, Hände, die ihn gegen die Wand preßten, daß sein Kopf krachend hinten anstieß. Kimmel konnte nichts sehen. Es war dunkler als vorher. »Da sehen Sie sich an! Sie Schwein!« schrie Corby. »Gestehen Sie, daß Sie wissen, Stackhouse ist schuldig! Gestehen Sie, daß Sie wissen, Sie sind hier wegen Stackhouse, und er ist genauso schuldig wie Sie!« Kimmel wurde von seinem ersten Anfall leidenschaftlicher Empörung gegen Stackhouse gepackt, aber er hätte es Corby 265
um keinen Preis gezeigt, weil Corby genau das wollte. »Meine Brille«, sagte Kimmel mit einer Quäkstimme, die gar nicht wie seine eigene klang. Er fühlte, daß ihm die Brille in die Hand gestoßen wurde, fühlte, noch während er zufaßte, den Bügel knacksen. Ein Glas fehlte zur Hälfte. Er setzte sie auf. Sie fiel auf einer Seite bis zum Backenknochen herunter, und er mußte sie festhalten, um etwas zu sehen. »Das wär’s für heute«, sagte Corby. Kimmel rührte sich nicht, und Corby sagte es noch einmal. Kimmel wußte nicht, in welcher Richtung die Tür lag, und er hatte Angst sich umzuschauen, Angst, auch nur den Kopf zu drehen. Dann spürte er, daß Corby ihn am Arm herumriß und ihm einen Stoß in den Rücken gab. Kimmel fiel beinahe über seine großen, schlurfenden Füße. Irgend etwas landete krachend vor ihm auf dem Boden. Es war sein Schuh, den Corby ihm nachgeworfen hatte. Kimmel wollte den Schuh anziehen, und er mußte sich auf den Boden setzen, um ihn anzubekommen. Der Fußboden unter ihm fühlte sich eisig an. Kimmel zog sich die Stufen zum Erdgeschoß des Gebäudes hinauf. Corby war verschwunden. Er war allein. Dort saß ein Polizist an einem Empfangstisch in der Halle und las Zeitung; er schenkte Kimmel nicht einmal einen Blick, als dieser vorbeiging. Kimmel hatte das gespenstige Gefühl, tot zu sein und unsichtbar. Kimmel ging draußen die Treppen hinunter, er klammerte sich an das Geländer und dachte an Laura, wie sie es tat. Er hielt sich am Ende des Treppengeländers fest und versuchte zu überlegen, wo er sich befand. Er ging ein paar Schritte, dann kehrte er um und ging in die andere Richtung, immer die Brille haltend, damit er sehen konnte. Jetzt war es schon Morgen, wenn auch die Sonne noch nicht aufgegangen war. Als er den kalten Wind am Körper spürte, merkte er, daß er sich die Hose naßgemacht hatte. Dann fingen seine Zähne an zu klappern, 266
und er wußte nicht, ob vor Kälte oder vor Angst. Sobald er zu Hause war, wählte Kimmel Tonys Privatnummer. Tonys Vater meldete sich, und Kimmel mußte ihm erst guten Tag und alles mögliche wünschen, bevor Tonys Vater den Hörer hinlegte, um seinen Sohn zu rufen. Tony senior hörte sich ganz wie sonst an, dachte Kimmel. »Hallo, Mr. Kimmel«, sagte Tonys Stimme. »Tag, Tony. Kannst du bitte zu mir nach Haus kommen? Jetzt gleich?« Es folgte eine erschrockene Stille. »Sicher, Mr. Kimmel. Zu Ihnen nach Haus?« »Ja.« »Sicher, Mr. Kimmel. Äh … ich habe noch nicht gefrühstückt.« »Iß dein Frühstück.« Kimmel legte den Hörer auf und ging, so würdevoll er konnte in seinen feuchten Hosen, nach oben ins Schlafzimmer, zog die Hose aus und hing sie zum Trocknen hin, bevor sie zur Reinigung kam. Er wusch seine Schuhe im Badezimmer gründlich ab, legte die Socken zum Einweichen ins Waschbecken und ließ sich ein heißes Bad einlaufen. Er badete langsam und genau wie sonst. Dennoch war ihm, als würde er beobachtet, und er warf nicht mehr als einen flüchtigen Blick in den langen Spiegel, als er aus der Wanne stieg, und das war ein verstohlener, mißbilligender Blick. In seinem Schlafzimmer nahm er ein sauberes weißes Hemd von dem Stapel in der Schublade, schlüpfte hinein und zog seinen Bademantel darüber. Seine Finger liebkosten den gestärkten weißen Kragen, geistesabwesend und zärtlich. Er liebte weiße Hemden über alle Maßen, fast mehr als jeden greifbaren Gegenstand, den es sonst auf der Welt noch gab. 267
Was für Beweise konnte Tony ihnen liefern? fragte er sich plötzlich. Was sollte schon sein, wenn Tony sein Gegner würde? Nichts würde dadurch bewiesen. Es klingelte, als er hinunterging, um Kaffee aufzusetzen. Kimmel machte auf. Tony kam leise und ein bißchen zögernd herein. Kimmel konnte die Unruhe in seinen schwarzen Augen sehen. Wie ein kleines Hündchen, das Angst hat vor der Peitsche, dachte Kimmel. »Ich bin draufgetreten«, sagte Kimmel, um Tonys Frage nach seiner Brille zuvorzukommen. »Willst du bitte in die Küche kommen?« Sie gingen in die Küche. Kimmel wies Tony einen Stuhl an und machte sich daran, den Kaffee zu kochen, was schwierig war, weil er seine Brille festhalten mußte. »Wie ich höre, hat Corby wieder mit dir gesprochen«, sagte Kimmel. »Nun, was hast du ihm gesagt?« »Immer dieselbe alte Geschichte.« »Was noch?« fragte Kimmel und sah ihn an. Tony knackste mit den Fingern. »Er hat mich gefragt, ob ich Sie nach dem Kino auch gesehen hätte. Ich habe nein gesagt – zuerst. Ich habe Sie ja wirklich nicht gesehen, Mr. Kimmel.« »Na und? Du hast mich doch nicht gesucht, Tony, oder?« Tony zögerte. Kimmel wartete. Ein stumpfsinniger Zeuge! Warum hatte er sich einen stumpfsinnigen Zeugen ausgesucht? Wenn er sich nur noch ein bißchen umgesehen hätte an jenem Abend, wenn er im Kino herumgeschaut hätte, vielleicht hätte er sogar Nathan gefunden! »Weißt du nicht mehr? Nie hast du mir etwas davon gesagt, daß du mich gesucht hättest. Wir haben doch am Tage danach miteinander gesprochen.« Kimmel fand die glänzenden schwarzen Haare, die über Tonys dicker Nase 268
wucherten und seine Brauen zusammenwachsen ließen, abstoßend. Äußerlich war Tony kaum einen Deut besser als irgendein jugendlicher Delinquent, dachte Kimmel. »Doch, ich weiß noch«, sagte Tony. »Aber kann ja sein, daß ich es vergessen habe.« »Und wer hat dir das gesagt? Corby?« »Nein. Na ja, doch, Corby.« Tony setzte sein ernstes, stirnrunzelndes Gesicht auf, das um nichts intelligenter war als sein normales. »Erzählt dir, du hättest es vielleicht vergessen. Sagt, ich hätte um halb zehn oder zehn meilenweit weg sein und Helen umbringen können, nicht wahr? Wer ist er denn, daß er dir befehlen könnte, was du zu denken hast?« Kimmel brüllte vor Zorn. Tony sah erschrocken aus. »Er hat ja nur gesagt, es wäre möglich, Mr. Kimmel.« »Zum Teufel mit dem möglich! Alles ist möglich! Oder nicht?« »Doch«, stimmte Tony zu. Kimmel konnte sehen, daß Tony auf den rötlichen Fleck an seiner Backe starrte, wo Corbys Schlag ihn getroffen hatte. »Wer ist dieser Mann denn, daß er hier auftauchen und uns Schwierigkeiten machen kann, dir und mir und der ganzen Gemeinde?« Tony rutschte ganz vorn auf die Stuhlkante. Er sah aus, als dächte er tatsächlich angestrengt darüber nach, wer Corby denn eigentlich sei. »Er hat auch mit dem Doktor gesprochen. Er hat gesagt …« »Mit welchem Doktor?« »Mrs. Kimmels Doktor.« Kimmel japste. Er wußte Bescheid: Dr. Phelan. Das hätte er wissen können, daß Helen hingegangen war, um sich mit 269
Dr. Phelan auszusprechen. Dr. Phelan hatte sie von arthritischen Schmerzen im Rücken kuriert. Helen hielt ihn für einen Wundermann. Kimmel glaubte sich sogar daran erinnern zu können, wann Helen zu Dr. Phelan gegangen sein mußte: etwa einen Monat vor ihrem Tode, als sie mit sich selber rang, ob sie Ed Kinnaird den Laufpaß geben oder ihrem Ehemann die Stirn bieten und sich dieses letzte Abenteuer gestatten sollte. Dr. Phelan hatte ihr gewiß geraten, es sich zu gestatten, selbstverständlich. Aber gewiß hatte Helen Dr. Phelan auch berichtet, daß ihr Mann alles tat, um sie daran zu hindern. »Was hat der Doktor gesagt?« fragte Kimmel. »Das hat Corby mir nicht erzählt«, sagte Tony. Kimmel blickte finster auf Tony. Jetzt sah er in Tonys Gesicht nichts weiter als Angst und Zweifel. Und wenn ein primitives Gemüt wie das von Tony zu zweifeln begann … Tony konnte nicht zweifeln, dachte Kimmel. Zweifel setzte einen Verstand voraus, der fähig war, sich zwei Möglichkeiten gleichzeitig vorzustellen. »Corby hat gesagt … der Doktor hätte ihm von Ed Kinnaird erzählt oder so ähnlich. Ein Bursche …« Alle wußten Bescheid, dachte Kimmel. Corby hatte funktioniert wie eine Zeitung. Tony schlängelte sich vom Stuhl und stand auf. Er sah aus, als hätte er Angst vor Kimmel. »Mr. Kimmel, ich glaube … ich glaube, ich sollte Sie nicht mehr so oft besuchen. Das können Sie sicher verstehen, Mr. Kimmel«, er sprach schneller, »ich möchte nicht noch mehr Ärger damit kriegen. Das können Sie doch sicher verstehen, nicht? Bin Ihnen nicht böse, Mr. Kimmel.« Tony stand unschlüssig, als wolle er die Hand ausstrecken, sei aber viel zu ängstlich, es zu tun. Er schlängelte sich ein paar Schritte weiter zur Tür. »Ich bin einverstanden mit allem, Mr. Kimmel, was Sie sagen. Tun, meine ich.« 270
Kimmel riß sich aus seinem starren Staunen. »Tony …« Er ging ein paar Schritte auf ihn zu, aber er sah Tony zurückweichen und blieb stehen. »Tony, du steckst mittendrin – insofern als du Zeuge bist. Du hast mich in diesem Kino gesehen – und nie habe ich von dir verlangt, daß du mehr sagen sollst. Oder?« »Nein«, sagte Tony. »Und es ist die Wahrheit, oder nicht?« »Doch. Aber Sie müssen nicht böse sein, Mr. Kimmel, wenn ich nicht … nicht mehr so viel Bier mit Ihnen trinke. Ich habe Angst.« Er nickte. Er sah verängstigt aus. »Ich habe Angst, Mr. Kimmel.« Dann machte er kehrt und trabte über den Flur und zur Haustür hinaus. Kimmel stand eine Minute regungslos, er fühlte sich schwach, körperlich schwach und wirr im Kopf. Er begann, in seiner Küche auf und ab zu gehen. Eine Kette von Flüchen rasselte unaufhörlich durch seinen Kopf, milde Flüche, gemeine Flüche, Flüche auf polnisch und auf deutsch und auf englisch, Flüche auf niemanden und nichts, auf Corby, auf Stackhouse, auf Dr. Phelan und Tony, aber die Flüche auf Tony dämpfte er. Er stapfte immer rundherum in seiner Küche, das Kinn in den Kragen aus Fett und Fleisch vergraben, der den Übergang zu seiner gewölbten Brust bildete. »Stackhouse!« schrie Kimmel. Es hallte wider in dem Raum, als fielen rings um ihn her Glasstückchen zu Boden.
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30 »Ich verlange fünfzigtausend«, sagte Kimmel. »Nicht mehr und nicht weniger.« Walter griff nach den Zigaretten auf seinem Schreibtisch. »Sie können es in Raten zahlen, wenn Sie wollen, aber ich möchte alles innerhalb eines Jahres.« »Glauben Sie denn, ich würde auch nur anfangen? Vor allen Dingen: glauben Sie, ich wäre schuldig? Ich bin unschuldig.« »Man könnte Sie allerdings sehr schuldig aussehen lassen. Ich könnte Sie schuldig machen«, erwiderte Kimmel gelassen. »Beweise sind nichts. Zweifel sind alles.« Walter wußte es. Er wußte, was Kimmel aus ihrem ersten Zusammentreffen im Laden machen konnte, dem Treffen, das er mit der Buchbestellung nachweisen konnte. Und Walter wußte, warum Kimmel hier war, warum seine Brille kaputt und mit Bindfaden geflickt war, und Walter begriff, daß man Kimmel nun endlich zur Verzweiflung und Rachsucht getrieben hatte; dennoch empfand Walter vor allen Dingen Schreck und Überraschung, daß er Kimmel hier gegenüberstand und von ihm bedroht wurde. »Trotzdem«, sagte Walter, »ehe ich einen Erpresser bezahle, nehme ich das Risiko auf mich.« »Das ist höchst unklug von Ihnen.« »Sie versuchen, mir etwas zu verkaufen, was ich nicht will.« »Das Recht zu leben?« »Ich bezweifle, daß Sie mir so sehr schaden können. Welchen Beweis haben Sie? Sie haben keine Zeugen.« »Ich sagte Ihnen schon, Beweise interessieren mich nicht. Ich habe die datierte Buchbestellung noch, die Sie bei mir im 272
Geschäft hinterlassen haben. Das Datum kann von den Leuten bestätigt werden, denen ich wegen des Buches geschrieben habe. Ich kann für die Zeitungen eine vernichtende Geschichte um jenen Tag spinnen, um den Tag, an dem Sie zum erstenmal bei mir waren.« Kimmels Augen waren erwartungsvoll geweitet hinter der dicken Brille, die sie kleiner erscheinen ließ. Walter studierte diese Augen, ob sie Mut, Entschlossenheit, Zuversicht verrieten. Er fand alle drei. »Ich kaufe nicht«, sagte er und kam hinter dem Schreibtisch hervor. »Sie können Corby erzählen, was Ihnen beliebt.« »Sie machen einen entsetzlichen Fehler«, sagte Kimmel, ohne sich zu rühren. »Soll ich Ihnen achtundvierzig Stunden Bedenkzeit geben?« »Nein.« »In achtundvierzig Stunden kann ich nämlich anfangen, Ihnen zu zeigen, was in meiner Macht steht.« »Ich weiß, was in Ihrer Macht steht. Ich weiß, was Sie machen werden.« »Ist das Ihr letztes Wort?« »Ja.« Kimmel stand auf. Walter hatte das Empfinden, Kimmel türme sich über ihm auf, obwohl Kimmel in Wirklichkeit nur ein paar Zentimeter größer war als er. »Ich habe Sie heute morgen gedeckt«, sagte Kimmel in verändertem Ton. »Ich bin geschlagen worden – gefoltert, damit ich sagte, ob ich Sie schon vor dem Tode Ihrer Frau gekannt habe. Ich habe Sie nicht verraten.« Kimmels Stimme zitterte. Er war überzeugt, daß er durchs Fegefeuer gegangen war, und allein für Stackhouse. Er war überzeugt, daß Stackhouse ihm etwas schuldig war. Es war ihm peinlich gewesen, Geld zu verlangen, und er hatte es nur getan, weil er 273
der Meinung war, es stünde ihm zu. Er hatte sich wieder einmal selbst erniedrigt, als er heute vormittag hierher gekommen war, und nun wurde er abgewiesen von diesem stupiden, undankbaren Stümper! »So ganz uneigennützig war diese Beschützerrolle wohl nicht, was?« fragte Walter. »Es tut mir leid, daß man Sie geschlagen hat. Sie brauchen mich nicht zu beschützen. Ich fürchte mich nicht vor der Wahrheit.« »Ach, Sie fürchten sich nicht vor der Wahrheit! Ich hätte es sagen können heute morgen. Ich hätte mehr als die Wahrheit sagen können!« Walter merkte, daß Kimmel der abscheuliche Geruch des Buchladens anhaftete – vielleicht waren es seine Kleider, aus denen er aufstieg. Der Geruch gab Walter das Gefühl, eingeschlossen zu sein, in der Falle zu sitzen, und die schallschluckende Zimmerdecke, die Kimmels gedämpfte, leidenschaftliche Stimme gleichsam in Watte wickelte, machte es nur noch schlimmer. »Das ist mir klar. Aber damit Sie wissen, was geschieht: Ich selber werde Corby die Wahrheit sagen. Sie können es dann noch ausschmücken, wenn Sie wollen. Ich werde es riskieren – aber Sie bekommen von mir nie auch nur einen Pfennig für irgend etwas!« »Ich würde mich freuen, wenn ich sagen könnte, Sie sind ein mutiger Mann, Mr. Stackhouse – aber leider sind Sie nur ein Dummkopf und ein Feigling von A bis Z.« Walter machte einige Schritte, um die Tür aufzustoßen, damit Kimmel ginge, aber er blieb stehen, die Hand auf dem Türknopf. Er wollte nicht, daß Jon etwas hörte. »Sind Sie fertig, Mr. Schaeffer?« Kimmel blickte finster. Sein breites, glattes Gesicht sah aus wie das Gesicht eines bitterbösen Babys. »Wäre es Ihnen lieber gewesen, wenn ich meinen richtigen Namen genannt hätte?« Walter riß die Tür auf: »Raus!« 274
Kimmel schritt leichtfüßig und hocherhobenen Kopfes über die Schwelle. Er wandte sich zurück. »Ich werde Sie auf jeden Fall in achtundvierzig Stunden anrufen.« »Dann ist es zu spät.« Walter schloß seine Tür, trat ans Fenster und starrte in das Stückchen leeren Himmel über dem First eines Hauses. Der Gedanke, mit Corby zu reden, bevor Kimmel es tat, schmolz ihm unter den Fingern dahin. Je mehr er redete, je mehr er von der Wahrheit preisgab – zu diesem späten Zeitpunkt –, um so schlimmer sähe es für ihn aus. Walter sah es vor sich. Corbys hämisches Glotzen, wenn er den ersten Besuch eingestünde. Corby würde keinesfalls glauben, er wäre zufällig hingegangen oder aus dem Grunde, aus dem er tatsächlich hingegangen war, nämlich bloß, um Kimmel einmal zu sehen. Corby würde überlegen: nun, wozu wollte er sich denn Kimmel anschauen? Natürlich bezweckte er damit etwas, irgend etwas. Keine Handlung war völlig zwecklos oder unerklärlich. Walter sah sich in Kimmels Laden schlüpfen, den Schreibtisch durchsuchen, bis er den Bestellzettel gefunden hatte. Er schüttelte sich und wendete sich ins Zimmer zurück. Dort würde Kimmel ihn sowieso nicht liegen lassen. Wahrscheinlich hatte er ihn versteckt. Oder er trug ihn jetzt mit sich herum. Er blickte auf das Telephon und überlegte, wo Corby wohl zu dieser Vormittagsstunde zu erreichen wäre. Oder ob es besser wäre, die achtundvierzig Stunden abzuwarten und Kimmel noch einmal anrufen zu lassen? Bis dahin könnte ja irgend etwas geschehen. Aber was? Was auch immer geschah, er sank nur noch tiefer, das war alles, was geschah. Walter preßte die Finger um seine Daumen. In einem angstvollen Impuls griff er zum Telephon, dann wurde ihm klar, daß er es nicht fertigbrächte, dies Jon zu erzählen. Vor zwei Tagen war er abends mit Jon zusammen gewesen. Jon hatte sich völlig normal gegeben und akzeptierte 275
anscheinend den Kimmel-Ausschnitt als reinen Zufall. Corby hatte Jon das mit dem Ausschnitt gesagt. Jon wußte, daß Walter Meldungen aus Zeitungen herauszureißen pflegte. Soweit Walter das beurteilen konnte, hatte Jon dem KimmelAusschnitt nicht die geringste Bedeutung beigemessen, aber wenn Jon nun erfahren müßte, daß er bei Kimmel im Laden war … Das wäre das i-Tüpfelchen, alles würde sich plötzlich zu einem klaren Bild zusammenfügen. Walter verließ ruhig sein Büro und fuhr mit dem Fahrstuhl hinunter. Er betrat ein Hotel auf der gegenüberliegenden Straßenseite und rief bei der Polizei in Philadelphia an, verlangte das Morddezernat, Leutnant Lawrence Corby. Er wurde verbunden und mußte warten. Ein paar Augenblicke schwankte er, ob er nicht auflegen solle, denn gerade war ihm der Gedanke gekommen, daß Corby Kimmel vielleicht überhaupt nichts glauben würde von dem Besuch oder dem Bestellzettel. Die Bestellung war mit Bleistift geschrieben, erinnerte sich Walter, und Kimmel hätte ebensogut Walters Namen auf eine Bestellung schreiben können, die von jemand anderem war. Und in den Briefen, die Kimmel an andere Buchhändler geschrieben hatte, um sich nach dem Buch zu erkundigen, dürfte er kaum Walters Namen genannt haben. Es war Kimmel ohne weiteres zuzutrauen, daß er so etwas versuchte, um es ihm heimzuzahlen, und das würde auch Corby wissen. Aber Walter war klar, daß Corby ihn auffordern würde, den Gegenbeweis zu erbringen. Was er persönlich glaubte, beeinflußte Corby nicht im geringsten. Walter preßte den Hörer ans Ohr. »Leutnant Corby ist heute in Newark. Für die nächsten achtundvierzig Stunden erwarte ich ihn nicht zurück. Hier spricht Oberst Dan Royer, Corbys Vorgesetzter.« »Danke«, sagte Walter. 276
»Darf ich fragen, mit wem ich spreche?« »Das ist unwichtig«, sagte Walter. Um halb sechs machte er sich auf den Weg nach Newark.
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31 Die beiden ersten Polizeireviere, die Walter anrief, hatten noch nie etwas von Corby gehört. Walter fragte sich verwundert, ob Corby denn in Newark völlig selbständig arbeite. Er probierte es beim dritten und bekam die Auskunft, Corby sei am frühen Morgen dagewesen. Wann er zurück sei, könnten sie nicht sagen. Walter setzte sich wieder in sein Auto, völlig entmutigt. Er beschloß, dorthin zu fahren, wo er zuletzt angerufen hatte, und einen verschlossenen Umschlag für Corby zu hinterlegen mit der Nachricht, Stackhouse bitte um seinen Anruf. Auf dem Wege zum Polizeirevier erkannte Walter auf einmal die Straße wieder: hier hatte er neulich seinen Wagen geparkt, als er bei Kimmel war, um ihm zu sagen, daß er unschuldig sei. Walter bog in Kimmels Straße ein. Gerade als er die vorspringenden Schaufenster des Buchladens sehen konnte, ging drinnen das Licht aus. Walter fuhr langsamer. Kimmels große Gestalt kam rückwärts zur Tür heraus, stand einen Augenblick still, um die Tür abzuschließen, drehte sich dann um, keine zehn Schritte von Walters Wagen entfernt. Walter sah ihn ein halbes Dutzend Schritte auf dem Bürgersteig entlanggehen – vornübergebeugt, mit gesenktem Kopf, als müsse er seinen riesigen Körper vorwärtsschleudern, um voranzukommen –, und dann überholte Walters Wagen Kimmel. Walter trat auf das Gaspedal, als würde er von Kimmel verfolgt. Mein Gott, dachte Walter, mein Gott! Immer und immer wieder sagte er es im stillen vor sich hin. Es war doch heller Wahnsinn. Kimmel – morgens geprügelt, abends den Laden schließend, Kimmel, der die Hölle in seinem Kopf mit sich herumtrug, einen Racheplan gegen ihn. Was hatte er denn mit einem Fremden in einer finsteren Gasse 278
Newarks zu schaffen? Ein Polizist im Büro des Polizeireviers sagte ihm, er erwarte Corby zwischen neun Uhr und Mitternacht. »Er bearbeitet einen Fall hier in der Gegend«, sagte der Mann unbestimmt. »Mal ist er hier, mal nicht.« Walter wartete draußen im Wagen. Dann fuhr er eine Weile umher, um seine innere Spannung etwas zu lösen, kam zurück, fragte wieder nach, wartete wieder. Er überlegte, ob er Corby nicht vielleicht sogar dazu bringen könne, die Neuigkeit von seinem ersten Besuch bei Kimmel nicht an die Presse weiterzugeben – und auch Kimmel daran zu hindern. Er überlegte, ob Corby wohl zu überreden wäre, damit zu warten, bis er alle Beweise zusammen hätte, selbst wenn er glauben sollte oder zu glauben vorgäbe, Walter sei schuldig, nachdem er Kimmels Version von jenem Besuch gehört hätte. Aber vielleicht sagte Corby, weiterer Beweise bedürfe es gar nicht. Ich habe doch aber überhaupt nichts getan, dachte Walter. Bis jetzt hatte ihm das immer Auftrieb gegeben, diese Tatsache, daß er ja gar nichts getan hatte. Jetzt kam es ihm hohl und bedeutungslos vor. Als er da so vor sich hinstarrte, sah Walter plötzlich Corbys lange, bewegliche Gestalt aus der Dunkelheit der Straße hervortauchen, und er stieg aus. Corbys schmales Gesicht hellte sich auf unter der kecken Hutkrempe. »Guten Abend, Mr. Stackhouse!« »Ich bin gekommen, um mit Ihnen zu sprechen.« »Wollen Sie nicht hereinkommen?« Corby machte eine Geste zu dem finsteren Gebäude hin, so liebenswürdig, als lüde er Walter in sein Haus ein. »Es handelt sich um etwas sehr Vertrauliches. Ich würde mich lieber in den Wagen setzen.« »Hier dürfen Sie eigentlich nicht parken. Aber na, es ist ein 279
so geringfügiges Vergehen.« Er lächelte sein jungenhaftes Lächeln und stieg ein. Walter begann, sobald sie die Türen zugezogen hatten. »Kimmel kam heute zu mir mit einem erpresserischen Antrag. Ich möchte Ihnen sagen, um was es dabei geht, bevor er es tut. Ich habe Kimmel im Oktober besucht, ein paar Wochen vor dem Tode meiner Frau.« »Sie haben ihn besucht?« »Ich war bei ihm im Laden. Ich habe ein Buch bei ihm bestellt. Ich wußte, daß er Kimmel war – der Mann, dessen Frau umgebracht worden war. Ich habe es ihm gegenüber nicht erwähnt – daß ich es wüßte. Aber das ist alles, was gesagt wurde. Ich habe meinen Namen und meine Adresse angegeben, als ich das Buch bestellte.« »Namen und Adresse!« Corby saß kerzengerade und lächelte. »Wirklich?« »Ich hatte keinen Grund, es nicht zu tun«, sagte Walter. »Und ich habe noch immer keinen. Ich habe meine Frau nicht ermordet!« Corby schüttelte den Kopf, als sei das alles einfach zu unglaublich, als daß man es glauben könne. »Geben Sie zu, Mr. Stackhouse, daß Sie zumindest daran gedacht haben, Ihre Frau zu ermorden?« »Ja.« »Und Sie taten es nicht?« »Nein.« »Und Sie mutmaßten auch, auf welche Art Kimmel es getan hat?« »Wie Kimmel es getan haben könnte.« Corby lachte und hob abwehrend die Hände. »Was soll denn 280
das? Nun verteidigen Sie beide sich gegenseitig?« Walter runzelte die Stirn. »Wenn Sie so viel gegen Kimmel haben, warum verhaften Sie ihn nicht?« »Das kommt noch. Ich bin bloß noch dabei, etwas mehr Material von den Nachbarn zusammenzuholen«, sagte Corby und zog den weichen braunen Block aus der Tasche. »Motivierungen.« »Können Sie einen Mann auf Grund von Motivierungen überführen? Oder von Indizienbeweisen? Man braucht kein Jurist zu sein, um zu wissen, daß Sie nicht genug haben, um uns anzuklagen, Corby. Hätten Sie, was Sie brauchen, dann säßen wir beide hinter Gitter!« Corby schrieb auf seinen Block. Er sah sich suchend um und schaltete die Innenbeleuchtung ein, damit er besser sehen konnte. »Kimmel werde ich schließlich knacken. Er ist von einer sonderbaren psychischen Struktur …«, Corby kaute die Worte wie ein pedantischer Schuljunge, »… voller kleiner Risse und Sprünge. Ich brauche bloß die schwächste Stelle zu finden.« »Bei mir werden Sie keine finden.« Corby ignorierte es. »Würden Sie mir vielleicht das Datum Ihres Besuches bei Kimmel sagen? Waren es mehrere Besuche?« »Nein. Soweit ich mich erinnern kann, war es um den siebten Oktober herum.« Walter wußte das Datum noch ganz genau, weil es der Tag war, an dem er zum erstenmal in Ellies Wohnung in Lennert war. »Wie lange sind Sie geblieben?« »Etwa zehn Minuten.« »Können Sie mir genau wiederholen, was Sie gesagt haben? Alles, was Sie beide gesprochen haben?« 281
Walter berichtete, und Corby machte Notizen. Es war ein kurzer Bericht, denn sie hatten ja nur wenige Worte gewechselt. »Kimmel wird Ihnen wahrscheinlich erzählen, ich hätte mich mit ihm über die Ermordung seiner Frau unterhalten«, sagte Walter, »oder er wird sagen, ich hätte so viele Fragen gestellt, daß ganz klar gewesen wäre, was ich wissen wollte.« »Was wollten Sie denn wissen?« »Ich meine, was Kimmel sagen wird, was ich hätte wissen wollen. In Wirklichkeit … die Wahrheit ist, daß ich Kimmel sehen wollte, ihn einfach nur sehen wollte. Ich habe gedacht, Kimmel könne seine Frau getötet haben. Es faszinierte mich. Ich wollte Kimmel sehen, um festzustellen, ob er so aussah, als könne er es getan haben.« »Es faszinierte Sie?« Corby sah ihn interessiert an, wieder der wache Schuljungenblick, als vergliche er Walter mit einem kriminellen Typ aus dem Lehrbuch, den er durch und durch kannte. Walter bedauerte, dieses Wort gebraucht zu haben. »Es interessierte mich. Ich gebe es zu!« »Warum haben Sie das nicht früher zugegeben?« »Weil … wegen der Situation, in der ich mich befand«, sagte Walter trostlos. »Ich gestehe jetzt ein, daß Kimmel einen Bestellzettel mit meinem Namen und dem Datum besitzt, der meinen Besuch beweist. Ich mache Sie im voraus darauf aufmerksam, daß Kimmel Ihnen, Gott weiß was, über diesen Besuch erzählen wird!« Corbys halb lächelnder Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. »Mr. Stackhouse, Ihrer Geschichte schenke ich überhaupt keinen Glauben!« »Na gut, dann holen Sie sich Ihre Weisheit von Kimmel!« 282
»Das werde ich. Stackhouse, ich glaube nicht, daß Sie mit Kimmel über Mord diskutiert haben, aber ich glaube, daß Sie Ihre Frau umgebracht haben. Ich glaube, daß Sie genauso schuldig sind wie Kimmel.« »Dann denken Sie nicht logisch! Sie sind so fest entschlossen, mir meine Schuld nachzuweisen, daß Sie nicht mehr fähig sind, die Tatsachen zu sehen oder irgend etwas richtig zu beurteilen!« »Aber ich sehe doch die Tatsachen. Sie sind hübsch belastend, von jedem Standpunkt aus. Je mehr Sie beisteuern, Stackhouse …« Corby ließ den Satz unvollendet und lächelte. »Vielleicht bekommen wir nächste Woche die letzte Rate. War das alles für heute abend?« Walter biß die Zähne zusammen. Er spürte, daß sämtliche Rechtfertigungen, die er hatte, sämtliche Beweise ausgeschöpft waren, daß er kein einziges Wort mehr zu sagen hatte. Er spürte, daß er im Morast versank. »Nicht dumm, der Kimmel. Aber Sie, Stackhouse.« Corby stieg aus und knallte die Tür hinter sich zu. Walter hörte ihn mit raschen Schritten eine der Treppen hinaufeilen, die zum Eingang des Polizeigebäudes führten. Wie töricht war er doch gewesen anzunehmen, er würde Glauben finden! Wie töricht anzunehmen, er könnte Corby bitten, nicht drucken zu lassen, was er ihm gerade erzählt hatte. Walter ahnte, daß Corby jetzt irgendeine Sensation brauchte, um den Fall Kimmel-Stackhouse in ein neues Stadium zu treiben. Dies hier war tatsächlich eine weitaus sensationellere Meldung als das bißchen Zeitungsausschnitt. Ein eigenartiges Gefühl überkam Walter, als er da saß. Er brauchte eine Weile, um zu begreifen, was es war. Und dann begriff er: er gab auf. Ihm war alles egal. Er würde es Ellie erzählen. Er würde es Jon erzählen, allen. Er würde sie alle verlieren. Er würde im Morast versinken, ganz einsam. 283
Walter startete den Wagen. Ellie sollte die erste sein, dachte er. Es war schon neun durch. Er überlegte, ob er sie von Newark aus anrufen sollte, um sicherzugehen, daß sie zu Hause war, dann plötzlich fiel ihm ein, heute abend war ja Hansel und Gretel. Erntedankfest. Jetzt spielte Ellie in der Aula der Harridge-Schule, und er hätte dabeisein sollen. Die Eintrittskarte hatte er in der Tasche. Walter hielt an und fluchte, er war völlig durcheinander. Freitag abend würden die Berichte erscheinen, wenn es Kimmel gelang, sie in die Presse zu bringen. Er wäre außerstande, im Büro etwas dagegen zu unternehmen, nicht vor Montag. Am Montag wäre Dick Jensen dann soweit, daß er sagte: ›Zwecklos, Walter. Rechne nicht mit mir.‹ Sie hatten vorgehabt, am ersten Dezember in das neue Büro umzusiedeln. Cross würde ihm mitteilen, er sei unten durch im Betrieb und er solle am besten weggehen und wegbleiben. Walter wußte nicht einmal, ob er am Montag noch den Mut haben würde, überhaupt ins Büro zu gehen. Seine Hände am Steuerrad waren feucht. Er fuhr auf den Tunnel zu. Er überlegte, welche Entschuldigung er für Ellie hätte, weil er nicht zur Feierstunde gekommen war. Nun, diese selbstverständlich. Dies eine Mal die Wahrheit!
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32 Es war schon elf, und Ellie war immer noch nicht zu Hause, obwohl die Feier, daß wußte Walter, um zehn zu Ende war. Walter fuhr nach Lennert und blieb auf der Straße gegenüber ihrem Haus im Wagen sitzen: er wartete. Schreckliche Müdigkeit überfiel ihn, er mußte dagegen ankämpfen, um nicht im Wagen einzuschlafen. Ellies Wagen bog gegen Viertel nach elf um die Ecke, und Walter stieg aus und ging hinüber zu dem Parkplatz, wo sie Boadicea abzustellen pflegte. »Was war denn los mit dir?« fragte Ellie. »Ich erkläre es dir oben. Können wir hinaufgehen?« »Wieder Corby?« Er nickte. Sie sah ihn nur an, mit einem Blick voll Verbitterung, sonst nichts, dann schloß sie die Tür auf, und sie gingen hinauf. Walter trug die Schachtel von Mark Cross, die KrokodilHandtasche, in die er ihre Initialen hatte prägen lassen und die er heute früh abgeholt hatte, bevor er ins Büro ging. Er überreichte ihr die Schachtel, als sie in der Wohnung standen. »Das ist zum Erntedank«, sagte er. »Entschuldige, daß ich nicht da war heute abend, Ellie. Wie war’s?« »Sehr schön. Ich war eben noch mit Virginia und Mrs. Pierson zusammen. Sie fanden es schöner als voriges Jahr.« Sie sah ihn an, lächelte ein bißchen, dann begann sie, das Paket aufzumachen. Sie lag in einer großen viereckigen Schachtel unter Seidenpapier. Ellie japste, als sie sie sah: braunschimmerndes 285
Krokodilleder mit vergoldetem Schloß und einem Henkel. »Groß genug?« fragte er. Ellie lachte. »Wie ein Koffer.« »Ich habe die größte verlangt. Sonst hättest du sie schon vor ein paar Wochen gehabt.« »Erzähl mir von Corby«, sagte sie. »Ich mußte nach Newark fahren«, sagte Walter und verstummte. Langsam kam er zu der Überzeugung, er könne es ihr nicht erzählen. »Eigentlich ist nichts gewesen«, sagte er. »Ich … ich habe Kimmel getroffen.« »Kimmel! Wie sieht er aus?« Ellies Gesicht drückte nichts weiter als Neugier aus, dachte Walter, einfache Neugier. »Er ist ein großer, dicker Bursche, etwa vierzig, intelligent, mit kaltem Blick …« »Glaubst du, er ist schuldig?« »Ich weiß nicht.« »Nun, und was ist passiert? Warst du bei der Polizei?« »Ja. Kimmel ist nicht in Haft. Er kann ebensogut auch unschuldig sein. Corby ist verrückt, weißt du. Corby ist wie wild hinter einer Beförderung her, auf Kosten anderer.« »Aber was ist denn passiert?« Walter sah sie an. »Er wollte wissen, ob es irgendeine Verbindung zwischen mir und Kimmel gäbe – außer dem Zeitungsausschnitt, den ich gehabt habe. Selbstverständlich gab es keine.« Walter sprach mit einer verzweifelten Überzeugungskraft, die ihn regelrecht zum Narren machte. Es ist vielleicht das letzte Mal, daß du mit ihr sprichst, dachte er, das letzte Mal, daß du in diesem Zimmer stehst – falls sie erfährt, daß du gelogen hast. Wenn es am Freitag nicht in den Zeitungen stünde, würde Corby die Runde machen und es jedem erzählen, den er kannte. Walter fuhr fort: »Er hat uns weder gefoltert noch sonstwas, 286
er hat einfach Fragen gestellt.« »Du siehst erschöpft aus.« Er setzte sich aufs Sofa. »Ich bin es auch.« »Und weiter?« fragte sie und faltete das Seidenpapier zusammen, das in der Schachtel gelegen hatte. Walter wußte, sie würde das Seidenpapier für irgend etwas aufheben. Clara hätte es auch aufgehoben, dachte er. »Weiter nichts«, sagte er. »Ich mußte hinfahren. Es hat mir nur leid getan, daß ich die Feier heute abend versäumt habe.« Sie sah ihn einen Augenblick an, und Walter fragte sich, ob sie wohl glaubte, daß das alles war, obwohl jetzt wirklich nicht der leiseste Zweifel in ihrem Gesicht lag. »Hast du irgend etwas zu essen bekommen?« fragte sie. Walter konnte sich nicht erinnern. Er antwortete nicht, sah sie nur an. Ein dicker Klumpen saß in seiner Kehle. War es Angst, Entsetzen? Er wußte nicht, was es war. Er wünschte plötzlich, er sei mit Ellie verheiratet, hätte sie gleich nach Claras Tod geheiratet, und im nächsten Moment schämte er sich dieses Wunsches. »Ich werde dir ein paar Rühreier machen. Ich habe nichts im Hause außer Eiern.« Sie ging in die Küche. »Schlaf doch ein bißchen. In einer Viertelstunde gibt’s Rührei und Kaffee.« Walter blieb aufrecht auf dem Sofa sitzen. Es kam ihm unwirklich vor, wie sie es aufnahm. Sogar sein Ausbleiben bei der Feier heute abend. Und der Gedanke, daß sie womöglich nur heuchelte, bevor sie plötzlich mit einem grimmigen Hieb das Band zwischen ihnen zerschnitte, machte die Atmosphäre nur noch unwirklicher. »Weißt du, daß du zu dünn wirst?« fragte Ellie, während sie in der Küche arbeitete. »Kannst du nicht gelegentlich auch mal daran denken, etwas zu essen?« Er sagte nichts. Er legte den Kopf zurück und schloß die 287
Augen, aber an Schlaf war jetzt gar nicht zu denken. Nach ein paar Minuten stand er auf und half ihr, das Geschirr aufs Sofatischchen zu stellen. Sie aßen Rührei mit Toast und Orangenkonfitüre. »Morgen machen wir uns einen schönen Tag«, sagte Ellie. »Wir wollen ihn uns durch nichts verderben lassen.« »Nein.« Sie wollten in einem Restaurant bei Montauk ihr Erntedankessen einnehmen und dann spazierenfahren, vielleicht auch irgendwo einen Strand entlangwandern, was Ellie besonders liebte. Als er gegessen hatte, war Walter zu müde, auch nur eine Zigarette zu rauchen. Arme und Beine waren bleischwer, als hätte man ihm ein Betäubungsmittel eingegeben. Kaum konnte er Ellies Finger spüren, die seine Hand drückten, als sie auf dem Sofa saßen. »Darf ich heute nacht bei dir bleiben?« »Ja«, sagte sie ruhig, als hätte er sie schon oft darum gebeten. Aber sie saßen noch lange da, ehe sie sich aufrappelten, um das Geschirr wegzuräumen und das Sofa aufzuziehen, das zu einem Doppelbett wurde. Feigling, sagte Walter zu sich selber. Walter Stackhouse, ein Feigling und Hundsfott. Walter lag still in ihren Armen, und sie hielt ihn umschlungen, als erwartete sie gar nicht von ihm, daß er sie nähme. Aber als der Morgen dämmerte, als er eine Zeitlang geschlafen hatte, tat er es. Und es schien ihm mehr als beim ersten Mal, schöner als beim ersten Mal, und auch trostloser, denn Walter befürchtete, es wäre das letzte Mal, und Ellies Hingabe ließ ihn ahnen, daß auch sie es wußte. Walter hatte eine Vision. Er sah ein kleines Fenster. Es war ein wunderschönes kleines, viereckiges Fenster, gerade so weit entfernt, daß er es nicht erreichen konnte; heller, blauer Himmel füllte es, der die grüne Erde darunter ahnen ließ. 288
33 Dick und Peter sprangen ihm zu Hilfe, aber sie konnten nicht mehr tun als sich neben ihn stellen, während er sich über das Waschbecken beugte und würgte. Und dabei hatte er gar nichts im Magen, nur den Kaffee, den er heute früh getrunken hatte, aber wohl zehn Minuten lang würgte es ihn, und er fürchtete gleich neue Krämpfe, wenn er auch nur Dick und Peter sagte, sie möchten wieder zu Cross zurückgehen und nicht mehr an ihn denken. Und als er da so stand, vornübergebeugt, auf. das blaßgrüne Porzellan des kleinen Waschbeckens starrend und dem harmonischen Brausen in seinen Ohren lauschend, sagte Walter zu sich selber, daß er die Nase voll hätte von der Arbeit, die Cross ihm und Dick zu tun gäbe, daß sie ihn anödete, daß sie ihm zum Hals heraushinge, und daß sie jetzt eine der letzten Arbeiten machten, die sie überhaupt je hier gemacht hätten, also wozu regte er sich denn so auf? Aber Walter wußte genau, ihm war übel, weil er um halb zwölf den Anruf von Kimmel erwartete, denn die achtundvierzig Stunden waren dann um. »Wo hast du denn gestern Puter gegessen?« fragte ihn Dick. Er bemühte sich, einen munteren Ton anzuschlagen und tätschelte ihm den Rücken. Walter gab sich keine Mühe zu antworten. Er war entschlossen gewesen, Kimmel zu sagen, er solle sich zum Teufel scheren, er solle tun, was er nicht lassen könne. Jetzt hatte er nicht den Mumm, geradezustehen. Seine Kleider klebten ihm am schweißbedeckten Leibe. Dick mußte ihm hinüberhelfen zu dem Ledersofa in der Ecke, und wäre das feuchte Handtuch auf seinem Gesicht nicht gewesen, hätte Walter gemeint, er müsse in Ohnmacht sinken. »Glaubst du nicht, daß du eine leichte Vergiftung hast?« fragte Dick. 289
Walter schüttelte den Kopf. Er spürte den Blick des schwärzlichen, schwammigen Gesichts von Cross, der an seinem Schreibtisch saß und über die Schulter herübersah – einen mißmutigen Blick. Du geh auch zum Teufel, dachte Walter. Schließlich stand Walter auf und sagte, er wolle versuchen, sich in seinem eigenen Zimmer zusammenzureißen. »Es tut mir sehr leid«, sagte Walter zu Cross. »Mir tut es leid«, sagte Cross spitz. »Gehen Sie nach Hause, wenn Ihnen nicht gut ist.« Walter holte die Flasche Scotch aus einem Fach seines Schreibtisches und nahm einen kräftigen Schluck. Jetzt fühlte er sich etwas besser. Um halb elf verließ er das Büro. Es war fünf vor zwölf, als er heimkam. Das Haus war leer, Claudia dürfte um elf gegangen sein. Ob Kimmel wohl vor elf schon angerufen und mit Claudia gesprochen hatte? Walter ging geradenwegs in sein Arbeitszimmer und holte seine Reiseschreibmaschine hervor. Er versuchte, sich flink zu bewegen, obwohl er immer noch schwach war und zitterte. Er adressierte den Brief an die Verwaltungsabteilung der Rechtsfakultät, Columbia-Universität, und schrieb, er eröffne in Manhattan eine kleine Anwaltspraxis und hätte gern zwei oder drei Studenten der höheren Semester, die zu verschiedenen Stunden des Tages bei ihm arbeiteten. Er bat, man möge einen Hinweis am Schwarzen Brett anbringen, damit interessierte Studenten sich mit ihm in Verbindung setzen könnten. Walters Gedanken formten sich nur zögernd, und er mußte den Brief noch einmal tippen. Mitten hinein in sein Tippen läutete das Telephon. Walter hob in der Diele den Hörer ab. »Hallo, Mr. Stackhouse«, sagte Kimmels Stimme. »Die Antwort lautet nach wie vor nein.« 290
»Sie machen einen großen Fehler.« »Ich habe mit Corby gesprochen«, sagte Walter. »Wenn Sie irgend etwas hinzufügen zu dem, was ich Corby berichtet habe, wird er Ihnen nicht glauben.« »Es ist völlig uninteressant für mich, was Sie Corby gesagt haben. Interessant ist mir nur, was ich den Zeitungen erzähle. Auch Sie sollten sich dafür interessieren.« Aus Kimmels tödlicher Ruhe hörte Walter Verstimmung heraus, Verstimmung darüber, daß ihm sein Spiel verdorben wurde. »Man wird Ihnen nicht glauben. Man wird es nicht drucken.« Kimmel lachte schrill auf. »Sie werden alles drucken, was ich ihnen erzähle, solange ich persönlich dafür verantwortlich zeichne … was ich mit Vergnügen tun werde. Möchten Sie Ihren Entschluß nicht doch lieber ändern – für lumpige fünfzigtausend?« »Nein.« Kimmel schwieg, aber Walter preßte immer noch den Hörer ans Ohr und wartete. Kimmel war es, der schließlich auflegte. Walter kehrte zu seinem Brief zurück. Sogar seine Hände waren kraftlos und feucht vom Schweiß, und er mußte sehr langsam tippen. Er fügte noch einen Absatz hinzu, dabei kam er sich ein wenig irre vor, so wie die Verrückten, die Anzeigen in Zeitungen setzen und ein Grundstück zum Kauf anbieten, das sie gar nicht besitzen, oder eine Yacht suchen, die sie sich nicht leisten können: Insbesondere möchte ich damit einigen seriösen Studenten helfen, jungen Menschen, die sonst nicht in der Lage wären, so früh in ihrer Laufbahn praktische Erfahrungen zu sammeln, und die eine derartige Tätigkeit den ermüdenderen und unpersönlicheren Aufgaben vorziehen, mit denen sie es zu tun 291
hätten, wenn sie als Assistenten in größeren Anwaltsfirmen arbeiteten. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir dieses Schreiben freundlicherweise bestätigen würden. Hochachtungsvoll Ihr Walter P. Stackhouse Er gab sowohl Adresse und Telephonnummer von Cross, Martinson und Buchman als auch die Adresse des neuen Büros in der Vierundzwanzigsten Straße an, wo Dick und er vom Dienstag an eigentlich sitzen wollten. Walter hatte mit Dick besprochen, ob es nicht ratsam sei, ein paar Jurastudenten anzustellen, die im Büro aushelfen könnten, und Dick hatte das für eine gute Idee gehalten. Nun schien es Walter, als hätte er diesen Brief heute geschrieben, um überhaupt jemanden bei sich im Büro zu haben, als wüßte er genau, daß Dick ihm bei ihrem nächsten Zusammentreffen sagen würde, er wolle nicht sein Partner sein. Walter trank einen puren Scotch, und es wurde ihm so rasch besser, daß er überzeugt war, die therapeutische Wirkung des Alkohols sei rein psychisch bedingt. Nun, was sein Gemüt betraf – hatte er nicht beschlossen, ihm sei alles gleich, Mittwoch abend, als er vor der Tür des Newarker Polizeireviers in seinem Wagen saß? Daß er sich heute körperlich so angegriffen fühlte, war Zufall, dachte er. Was, zum Teufel, sollte schon sein, wenn Kimmel sein verdammtes Märchen gedruckt bekam? Es war noch eine Lüge mehr, das war alles. Er hatte schon so viele Lügen überstanden: warum er an der Bushaltestelle war, warum er den Kimmel-Ausschnitt hatte, warum er noch einmal hingegangen war in den Laden, um mit Kimmel zu reden. Nun, jetzt würde er eben erfahren, warum er das erste Mal in Kimmels Laden gekommen sei, und auch diese Lüge würde er überstehen. Wenn die verrückten Hüter der Gerechtigkeit kämen, ihn – endlich – zu ergreifen, würden 292
sie ihn in einem Anwaltsbüro auf der Vierundzwanzigsten Straße in seine Arbeit vertieft finden. Vielleicht völlig allein. Er goß ein zweites großes Glas hinunter. Dann ging er in die Küche. Im Schrank fand er eine Dose Tomatensuppe, machte sie auf und setzte die Suppe aufs Feuer. Stille herrschte in der Küche, nur die Gasflamme zischte leise. Walter stand da und wartete, schließlich begann er auf und ab zu laufen, um die Stille zu durchbrechen. Dann hörte er oben Claras Schritte und blieb wie angewurzelt stehen. Jetzt ging es ihm schon an den Verstand. Er hatte die Schritte wirklich gehört, so deutlich, als wäre es eine kleine Melodie gewesen – sechs oder sieben Schritte. Walter stellte fest, daß er auf halber Höhe der Treppe stand und in die leere Diele starrte. Hatte er erwartet, Clara hier zu finden? Er konnte sich nicht einmal darauf besinnen, wie er die Treppen hinaufgekommen war. Als er wieder in die Küche kam, kochte die Tomatensuppe über. Er schüttete sich Suppe in ein Schüsselchen und begann, sie am Küchentisch zu essen. Er hörte Claras Stimme kleine, hauchleise Worte wispern. Walter spitzte die Ohren, horchte, und je mehr er sich darauf konzentrierte, um so gewisser schien es, daß er sie wirklich hörte, wenn auch nicht so deutlich, daß er hätte verstehen können, was Clara sagte. Es waren zischende Worte, lachende Worte; es war, als höre er von weitem zu, wie sie mit Jeff spielte. Oder wie sie einige Male auch mit ihm gesprochen hatte, in den ersten Monaten, die sie in diesem Hause verbracht hatten. Jeff lag zusammengerollt im Wohnzimmer auf einem Sessel, wie Walter wußte. Wenn an diesen Tönen etwas dran wäre, dann würde Jeff … Walter stand auf. Vielleicht wurde er schon wahnsinnig. Vielleicht lag es an dem Haus. Er fuhr mit den Fingern durchs Haar, dann trat er rasch an ein Fenster und riß es auf. 293
Er blieb am Fenster stehen und versuchte nachzudenken, sich zu entschließen, sich zu erinnern, sich zu erinnern an Clara in diesem Hause und an die Zeiten, da sie hier zusammen glücklich waren, versuchte sich zu erinnern, bevor es zu spät war für Erinnerungen, und nach ein paar irren, qualvollen Sekunden merkte er, daß er überhaupt nicht dachte, daß er nicht einmal etwas fühlte außer einer heillosen Verwirrung. Er ging ans Telephon und wählte die Nummer der Knightsbridge-Agentur. Daß sie ihm so geläufig war, erfreute und entsetzte ihn zugleich. Es war, als wenn Clara wieder lebendig wäre. Das Telephon am anderen Ende läutete und läutete, und Walter wußte, das bedeutete, daß Philpotts ihr Büro heute nicht geöffnet hatten, aber er ließ es ungefähr fünfzehnmal klingeln, ehe er aufgab. Er wählte Mrs. Philpotts Privatnummer. Mrs. Philpott war da, und er teilte ihr mit, daß er das Haus unverzüglich verkaufen wolle. Er sagte, er könne ohne weiteres bis Montag ausziehen, und morgen wolle er zusehen, daß er einen Teil der Einrichtung verkaufe. Die Transaktion wäre sehr einfach, sagte sie: Die Knightsbridge-Agentur würde das Haus für fünfundzwanzigtausend Dollar kaufen. »Es trifft sich gerade«, sagte sie, »daß ich morgen einen Mann da habe, der einige Schätzungen vornehmen soll – er ist insbesondere Möbelexperte. Wie wär’s, wenn ich morgen vormittag mit ihm hinüberkäme? Werden Sie gegen zwölf zu Hause sein?« »Ich kann hier sein um zwölf«, sagte Walter. »Ich kenne mich aus in solchen Dingen wie Möbelschätzung. Ich möchte nicht, daß Sie übers Ohr gehauen werden«, sagte sie mit einem Lachen. Am Nachmittag fing Walter an, die Sachen auszusortieren, die er Claudia geben wollte. Sein Vater und Cliff wären vielleicht bereit, etwas von der Wohnzimmereinrichtung zu 294
nehmen, dachte Walter. Er müßte den Brief seines Bruders beantworten. Vor zehn Tagen war er gekommen – der dritte oder vierte Brief von Cliff seit Claras Tod –, ein Brief mit soviel brüderlicher Liebe und Cliffs schüchterner, weitschweifiger Teilnahme, daß er Walter beinahe zu Tränen gerührt hatte. Aber er hatte ihn nicht beantwortet. Er ging hinauf und fing an, die Wäsche auf das Bett zu stapeln, aber nach wenigen Minuten verließ ihn der Mut, und er beschloß zu warten, bis Claudia am Abend käme und ihm hülfe. Er wollte Ellie anrufen und ihr sagen, daß er das Haus verkaufte, er ging auch wirklich zum Telephon, besann sich aber anders. Er beschloß, nach Benedict hineinzufahren und seinen Brief an die Columbia-Universität aufzugeben. Er setzte sich in den Wagen und fuhr nach Benedict. Dann war es zwölf Minuten nach drei. Er überlegte, ob er den Wagen irgendwo parken und einen langen Spaziergang im Grünen machen oder ob er nach Hause fahren und sich ganz für sich allein betrinken solle. Ellie war inzwischen schon weg. Sie wollte sich heute gegen zwei auf den Weg nach Corning machen, um ihre Mutter zu besuchen, und sie würde über Nacht wegbleiben. Aber auch in Corning gab es Zeitungen, natürlich. Ellie könnte es heute abend schon erfahren, ganz bestimmt aber morgen früh. Er fragte sich, ob er Ellie je wiedersehen würde. Er riß den Wagen herum und fuhr in Richtung New York. Er würde das tun, was er in Wirklichkeit tun wollte: in Manhattan umherlaufen und darauf warten, daß die Abendblätter herauskämen. Er würde den Wagen irgendwo abstellen und gehen, irgendwohin. Er war schon immer gern in Manhattan umhergelaufen. Niemand schaute ihn an, niemand schenkte ihm die geringste Aufmerksamkeit. Er konnte stehenbleiben 295
und in ein Schaufenster starren, auf Reihen funkelnder Scheren und Messer, er konnte sich fühlen, als wäre er nichts als ein Paar Augen, hinter dem keine Identität steckte. Er fuhr und ging und wartete. Er trank Kognaks und Kaffees und lief wieder weiter. Aber um zehn stand noch nichts in den Zeitungen. Stundenlang hatte er mit sich gerungen, ob er Corby anrufen und ihn bitten solle, Kimmel Einhalt zu gebieten, ob er seinen Stolz hinunterwürgen und Corby bitten solle, ihm Einhalt zu gebieten. Inmitten seiner inneren Kämpfe bäumte sich dann plötzlich der Stolz auf, und er nahm die arrogante, verzweifelte Pose eines Mannes ein, dem all das ganz gleichgültig ist. Corby als Retter war sowieso eine absurde Vorstellung. Hierbei würde er auf Kimmels Seite stehen. Oder besser: er würde hinter jedem von ihnen stehen, der versuchte, den anderen zu belasten. Es gab noch eine Spätausgabe gegen Mitternacht. Walter wartete auch sie noch ab, und immer noch stand nichts über ihn drin. Walter begann sich zu fragen, ob Kimmel es am Ende doch nicht an die Presse geben würde. Oder saß Kimmel in irgendeinem Zimmer Newarks und wartete auf einen Anruf von ihm, daß er es sich überlegt hätte? Oder schlug Corby heute nacht wieder auf Kimmel ein? Vielleicht hatte Kimmel noch nicht Zeit gehabt, es den Journalisten zu erzählen. Aber Walter konnte sich nicht vorstellen, daß Corby Kimmel aufhielte, wenn er eine so wichtige Mission zu erfüllen hatte. Walter stand an der Ecke der Dreiundfünfzigsten Straße und der Dritten Avenue und schaute an dem alten Hochbahngerüst vor ihm hinauf. Er zuckte zusammen, als die Bremsen eines Taxis kreischten. Das blendende Licht des Geschäftes, neben dem er stand, tat seinen Augen weh. Als er in den dunklen Tunnel unter der Hochbahn hineinschaute, glitt ein Autobus 296
geräuschlos auf ihn zu – seine Scheinwerfer waren wie die Augen eines Ungeheuers. Ein Schauer überlief Walter. Es war die Hölle.
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34 Er lag schlaflos und wartete horchend auf den Aufprall der Zeitung an der Haustür. Im allgemeinen kam die Zeitung um Viertel vor sieben. Als es soweit war, hatte er sie noch nicht fallen hören, und er ging hinunter und schaltete die Außenbeleuchtung an, damit er die Stufen überschauen konnte. Die Zeitung war nicht da. Er ging wieder hinauf und zog sich an. Die Zeitung lag da, als er aus der Tür trat, um zu gehen. Walter warf beim Schein der Dielenlampe einen Blick darauf. NEWARKER BERICHT VON GEPLANTEM MORD AN BENEDICTERIN 27. November. – Ein atemberaubender Bericht – erhärtet lediglich durch eine mit Bleistift geschriebene Buchbestellung und die grimmigen und ernsten Aussagen eines gepeinigten Mannes – wurde gestern abend in der Redaktion der Newarker Sun der Öffentlichkeit übergeben. Melchior J. Kimmel, Inhaber einer Buchhandlung in Newark, erklärte, daß Walter Stackhouse, Ehemann der verstorbenen Clara Stackhouse aus Benedict, Long Island, zwei Wochen vor dem Tode von Mrs. Stackhouse im Oktober in sein Geschäft gekommen sei und ihm zweckbestimmte Fragen über den Mord an seiner eigenen Frau, Helen Kimmel, gestellt habe … Walter klemmte sich die Zeitung unter den Arm und rannte hinaus zu seinem Wagen. Er wollte die anderen Zeitungen haben, alle Zeitungen, auf der Stelle. Aber er schaltete das Licht in seinem Wagen an und blickte wieder auf den 298
fettgedruckten, zweispaltigen Artikel. »Ich war entsetzt«, erklärte Kimmel. »Ich wollte den Mann eigentlich einliefern lassen als kriminellen Psychopathen, aber bei näherer Überlegung beschloß ich doch, mich aus der Sache herauszuhalten. Angesichts der späteren Ereignisse bedaure ich meine Kleinmütigkeit zutiefst.« Walter startete den Wagen. Es war noch fast dunkel, und seine Scheinwerfer erfaßten Claudia, die ihm auf der Marlborough Road entgegenkam. Walter sah sie hastig an den Wegrand treten, und es kam ihm vor, als scheue sie mehr vor ihm zurück als vor seinem daherbrausenden Auto. Er hätte gern gewußt, ob sie es schon gelesen oder ob sie es von der Frau erfahren hatte, mit der sie sich manchmal im Bus traf. Er fuhr nach Oyster Bay und hielt am erstbesten Zeitungsstand. Er sah es auf der Titelseite zweier New Yorker Zeitungen. Er kaufte sämtliche Morgenblätter und nahm sie mit in den Wagen. Er fing an, alle auf einmal zu lesen, er überflog sie, sah nach, welches das schlimmste war. Die Leiche von Helen Kimmel wurde am 14. August im Wald von Tarrytown, New York, bei einer Bushaltestelle gefunden. Die Leiche von Clara Stackhouse wurde am 24. Oktober unterhalb eines Felsens bei Allentown, Pa. gefunden. Die Polizei, die den Tod von Mrs. Stackhouse als Selbstmord führt, hat sich bis jetzt noch nicht zu der Aussage von Kimmel geäußert. NEWARKER
BUCHHÄNDLER 299
BEHAUPTET,
STACKHOUSE ›PLANTE‹ ERMORDUNG SEINER FRAU AN BUSHALTESTELLE Der Bericht der New Yorker Times war nicht sehr lang, aber er lief auf eine schlichte Mordanklage hinaus, mit Kimmels Worten, die in ›angeblich … laut Kimmel … Kimmel versicherte …‹ weich verpackt waren. Ein New Yorker Blatt brachte einen sehr langen Bericht mit einem Photo von Kimmel, wie er mit verzerrtem Gesicht und erhobenem Finger sprach, und einer Reproduktion des Bestellzettels, auf dem sehr leserlich sein Name stand. Und das Datum. Melchior Kimmel, 40 Jahre alt, von eindrucksvoller Größe, mit wachen braunen Augen eines Gelehrten hinter den dicken Brillengläsern, gab seinen Bericht in wohlgesetzten Worten und mit einer unerhörten Überzeugungskraft, die es einem sehr schwer machte, seiner Darstellung keinen Glauben zu schenken, wie Redakteur Grimier von der Newarker Sun meinte … Das Gespräch über den Mord entspann sich, sagte Kimmel, nachdem Stackhouse (Rechtsanwalt) ein Buch mit dem Titel Männer, die das Recht brechen bestellt hatte. Kimmel legte die datierte Buchbestellung als Beweis für seine Aussage vor. Kimmel erklärte, daß Stackhouse anzunehmen schien, er (Kimmel) habe seine Frau Helen umgebracht, und daß Stackhouse gesagt habe, er beabsichtige, seine eigene Frau mittels ›der gleichen Methode‹ zu töten, das heißt, indem er sie während einer Autobusreise bei einer Rastpause überfiele. Weiter heißt es in Kimmels Bericht, daß Stackhouse ihm seinen Plan unterbreitet habe, dem Bus mit seinem Wagen zu folgen, bei einer Rastpause seine Frau anzusprechen und sie zu überreden, mit ihm an einen abgelegenen Ort zu gehen, wo er sie überfallen und töten könne, ohne gesehen zu werden – eine 300
Methode, von der, sagt Kimmel, Stackhouse anzunehmen schien, er, Kimmel, habe sie angewandt. »Und genau das ist es«, lautete gestern Kimmels Anklage, »was Stackhouse getan hat.« Kimmel bezeugte ferner, daß Stackhouse am 15. November noch einmal zu ihm gekommen sei, um sich ›rührselig zu entschuldigen‹ und ihm den Mord an seiner Frau einzugestehen. Stackhouse, der jede Schuld am Tode seiner Frau bestreitet, leidet, wie Kimmel sagt, ›unter einer psychotischen Fixierung auf mich‹. Kimmel machte eine Andeutung über häufige Besuche von Stackhouse, über die er sich, wie er sagte, ›nicht gern näher äußern möchtet‹. Daß Stackhouse Kimmel am 15. November aufgesucht hat, wurde von Leutnant Lawrence Corby, Detektiv des Morddezernats der Kriminalpolizei Philadelphia, bestätigt. Leutnant Corby führte in den letzten Wochen die Ermittlungen in den Fällen Kimmel und Stackhouse. Kimmel erklärte, Stackhouses angebliche Verbrechen hätten ›sein Leben zerrüttet‹, indem sie die Polizei veranlaßt hätten, Nachforschungen nach seinen (Kimmels) Bewegungen am Abend der Ermordung seiner Frau anzustellen. Das ist der Grund, sagte er, der ihn dazu getrieben hätte, nach so langer Zeit nun doch das Geheimnis des Oktoberbesuchs von Stackhouse preiszugeben. »Ich bin kein rachsüchtiger Mensch«, sagte Kimmel, »aber dieser Mann ist ganz eindeutig schuldig und hat darüber hinaus mein privates und berufliches Dasein erschüttert in dem Bestreben, mich mit Schuld zu besudeln. Ich sage mir: soll Gerechtigkeit walten, wo Gerechtigkeit am Platze ist!« Kimmels Behauptungen decken sich mit früheren Ermittlungen der Kriminalpolizei, nach denen Stackhouse am 23. Oktober um 19.20 Uhr am Schauplatz des Todes seiner 301
Frau gesehen und identifiziert wurde, obwohl Stackhouse in seiner ersten Stellungnahme gegenüber der Polizei erklärt hatte, er wäre am Abend des Todes seiner Frau in Long Island gewesen. Ein Zeitungsbericht über den Mord an Helen Kimmel wurde am 29. Oktober im Besitz von Stackhouse gefunden. Daß Stackhouse zugegeben hat, den Bericht aus einer Zeitung gerissen und in einem Notizheft aufbewahrt zu haben, wurde von Leutnant Corby bestätigt, als Redakteur Grimier von der Newarker Sun telephonisch Rückfrage hielt. Leutnant Corby machte Grimier darauf aufmerksam, daß Kimmel selber nicht völlig frei sei von Verdacht im Hinblick auf die Ermordung seiner Frau, und daß er, Corby, keinerlei Verantwortung übernähme für irgendeine Aussage Kimmels gegen Stackhouse, wenn sie nicht durch ihn persönlich bestätigt worden sei … Aber Corby bestätigte Kimmel ja praktisch in allem, was er sagte, dachte Walter. Womöglich hatte Corby Kimmel gestern den ganzen Nachmittag über gedrillt, um sicherzugehen, daß er auch alles sagte, um sicherzugehen, daß Kimmel mit dem rechten Nachdruck sprach, wenn er sein Märchen zum besten gab! Walter drückte auf den Starter und wendete mechanisch heimwärts. Er fand Claudia in der Küche. Sie stand in Mantel und Hut und hatte eine Zeitung in der Hand. Sie sah ganz betäubt aus. »Myra hat mir das heute morgen im Bus gegeben«, sagte sie und machte eine Bewegung mit der Zeitung. »Mr. Stackhouse, ich bin heute morgen gekommen, um Ihnen zu sagen, daß ich kündigen möchte – wenn Sie nichts dagegen haben, Mr. Stackhouse.« Einen Moment konnte Walter kein Wort hervorbringen, nur ihr ins Gesicht glotzen, das starr und verschüchtert und entsetzt war, alles in einem. Er trat weiter hinein in die Küche und sah 302
sie vor ihm zurückweichen, und er blieb stehen: er wußte, sie hatte Angst, weil sie glaubte, er sei ein Mörder. »Ich verstehe, Claudia. Es ist in Ordnung. Ich hole Ihnen Ihr …« »Wenn Sie nichts dagegen haben, suche ich mir gerad meine Schuhe aus dem Schrank zusammen und noch ein paar andere Sachen.« »Tun Sie das, Claudia.« Aber sie drehte sich noch einmal um. »Ich habe es erst nicht geglaubt, als ich es heute früh von Myra hörte, aber jetzt, wo ich es selbst gelesen habe …« Sie verstummte. Walter sagte nichts. »Und dann kann ich es gar nicht leiden, daß mich diese Polizisten immerzu ausfragen, das auch«, sagte sie ein bißchen kühner. »Es tut mir leid«, sagte er. »Er hat mir verboten, es Ihnen zu sagen – Mr. Corby. Aber ich denke, jetzt macht’s nichts mehr. Ich habe nichts dran machen können, daß er immer kam, aber ich will damit nichts zu tun haben.« Niederträchtige Schlange, dachte Walter. Er konnte sich gut vorstellen, wie er Claudia nach allen Einzelheiten ausgefragt hatte. Vor Wochen schon hatte Walter Claudia fragen wollen, ob Corby bei ihr gewesen sei. Er hatte sich nie getraut. »Ich habe Mr. Corby gegenüber nie schlecht von Ihnen gesprochen«, sagte Claudia ein bißchen furchtsam. Walter nickte. »Gehen Sie nur und holen Sie Ihre Schuhe, Claudia.« Er ging in die Diele zur Treppe. Er mußte sein Portemonnaie holen, um sie auszuzahlen. Heute früh hatte er sein Geld zu Hause vergessen und war nur mit etwas Kleingeld in der Tasche losgefahren. Als Walter die Scheine aus dem Portemonnaie nahm, hielt er mitten in der Bewegung inne: er meinte einen Aufschrei von 303
Clara zu hören – empört und vorwurfsvoll –, weil Claudia sie verließ, noch dazu durch seine eigene Schuld. Für einen Moment durchlitt Walter jene altvertraute Empfindung von Scham, plötzlicher Wut und Trotz, weil er einen Bock geschossen hatte und Clara ihn deswegen zur Rede stellte. Dann regte er sich wieder und rannte mit dem Geld und seinem Scheckheft die Treppe hinunter. Er schrieb Claudia einen Scheck über zwei Wochenlöhne aus und gab ihn ihr zusammen mit drei Zehndollarnoten. »Die Zehner sind nur für Ihre guten Dienste, Claudia«, sagte er. Claudia blickte darauf nieder, dann gab sie ihm den Scheck zurück. »Ich habe diese Woche nicht mehr als vier Tage gearbeitet, Mr. Stackhouse. Ich nehme nur, was mir zusteht, nicht mehr. Ich nehme nur die dreißig Dollar.« »Aber das reicht doch nicht ganz«, protestierte Walter. »Ist völlig in Ordnung so«, sagte Claudia und entfernte sich. »Ich gehe jetzt. Denke, ich habe alles.« Er konnte ihr nicht einmal eine Empfehlung schreiben, dachte Walter. Sie würde keine haben wollen von ihm. Sie trug eine pralle Papiertüte im Arm, und Walter hielt ihr die Tür auf. Sie machte einen Bogen um ihn in regelrecht physischer Angst, als sie an ihm vorbei mußte. Sinnlos, daß er ihr anbot, sie zur Haltestelle des Autobusses am Ende der Marlborough Road zu fahren, sinnlos, daß er ihr sonst noch irgend etwas sagte. Er sah ihr nach, wie sie den Rasenabhang zur Straße hinunterging, sah, wie sie abbog und an den Weidenbäumen vorbei davonschritt. Ein schlimmer Gedanke, daß er Claudia wahrscheinlich nie wiedersehen würde. Und es war erstaunlich, wie tief es ihn verletzte, daß sie ging. Walter schloß die Küchentür. Er fühlte sich plötzlich einsam und verlassen. Und dies war nur das Mädchen. Was war mit 304
den anderen? Was mit Ellie? Und Jon? Und Cliff und sein Vater? Und Dick? Walter machte sich mechanisch ans Werk, sich Kaffee zu kochen. Er fragte sich, ob Mrs. Philpott heute vormittag käme oder ob sie vielleicht anrufen und eine Ausrede finden würde, oder ob sie vielleicht nicht einmal anriefe? Das Telephon läutete kurz vor neun. Der Anruf kam von einem Münzfernsprecher, und Walter wartete, bis die Geldstücke gefallen waren. Er wußte, das mußte Ellie sein, die von Corning aus anrief. Dann sagte die Stimme Jons: »Walter?« »Ja, Jon.« »Nun – ich habe es gelesen.« Walter wartete. »Was ist Wahres daran?« »Die Besuche sind wahr – die meisten. Was ich nach seinen Aussagen gesagt haben soll – das ist nicht wahr.« Sogar seine Stimme klang erschöpft und hoffnungslos, völlig unglaubwürdig. Und Jon schwieg sehr lange Zeit, als glaube er ihm nicht. »Was werden sie mit dir machen?« »Nichts!« Walter explodierte. »Sie werden mich nicht verhaften, sie werden überhaupt nichts Derartiges, Logisches tun. Sie haben ja auch keine Handhabe dafür. Sie machen gar nicht den Versuch, irgend etwas zu beweisen. Jeder Mensch kann aufstehen und alles mögliche erklären, das ist ihre Taktik!« »Hör zu, Walter, wenn du dich ein bißchen beruhigt hast, solltest du am besten eine Aussage machen und alles der Reihe nach erzählen«, sagte Jon mit seiner tiefen, ruhigen Stimme. »Erzähl ihnen alles, was du noch verschwiegen hast, und sieh zu, daß …« »Ich habe nichts verschwiegen.« 305
»Diese Besuche …« »Es waren nur drei Besuche, der zweite in Begleitung von Corby persönlich, der von jedem Besuch, den ich gemacht habe, unterrichtet ist!« »Walter, mir scheint, daß jede Woche irgend etwas Neues auftaucht. Mein Vorschlag ist, daß du alles schriftlich niederlegst und es beschwörst und beweist.« Jetzt hörte Walter die Kälte in Jons nachdrücklichen Worten, hörte die Ungeduld und die Abkehr. »Falls du unschuldig bist«, fügte Jon beiläufig hinzu. »Mir scheint, du bezweifelst es«, sagte Walter. »Höre, Walter, ich rate dir nur, daß du die ganze Geschichte erzählst und nicht bloß Bruchstücke …« Walter legte auf. Er dachte daran, was die eine Zeitung geschrieben hatte: daß es, falls Kimmels Darstellung nicht den Tatsachen entspräche, doch sehr merkwürdig sei, daß Stackhouse sich einen obskuren Buchladen in Newark dafür ausgesucht hätte, ein Buch zu bestellen, das er viel bequemer in zahlreichen New Yorker Buchhandlungen hätte finden können. Walter holte sich die Kognakflasche und goß sich ein Glas voll. Was sollte denn nun mit ihm werden? Er konnte eine Presseerklärung herausgeben, na schön. Es würde die Wahrheit drinstehen, aber wer würde sie glauben? Die Wahrheit war ja so langweilig, und Kimmels Märchen so sensationell. Walter führte Jeff aus zu einem Spaziergang im Wald am Ende der Marlborough Road. Jeff hatte es aufgegeben, nach Clara Ausschau zu halten, aber er war jetzt ein trauriger kleiner Hund. Selbst wenn Walter sein Lieblingsspiel mit ihm spielte, indem er ihn an einem alten Lumpen herumwirbelte, bis Jeff den Stoff mit seinen Zähnen restlos zerfetzt hatte, zeigte Jeffs 306
Gesicht niemals jenen übermütigen, albernen Ausdruck, den es immer gehabt hatte, als Clara noch da war. Ellie war das aufgefallen, und sie hatte sich erboten, Jeff zu sich zu nehmen, falls Walter ihn nicht behalten wollte. Aber Walter wollte ihn behalten: er gab sich Mühe, ihn so gut zu versorgen, wie Clara ihn versorgt hatte, er bemühte sich, ihm jeden Tag einmal ordentlich Auslauf zu verschaffen, und im allgemeinen machte er auch Jeffs Mahlzeiten selber zurecht, jeden Morgen, sogar wenn Claudia da war. Aber für den Fall, daß mir etwas zustieße, dachte Walter, sollte ich mich vergewissern, daß Jeff dann zu Ellie kommt oder zu den Philpotts. Er machte Jeffs Frühstück aus warmer Milch, die er über ein Stück butterbestrichenen Toastes goß, und blieb dabei stehen, um Jeff beim Fressen zuzuschauen. Sein Absatz zitterte auf dem Linoleumboden, so erschöpft war Walter. Jeff sah von seinem Frühstück auf bei dem Geräusch, und Walter preßte seine Hacken auf den Boden. Walter hörte das Telephon. Es war Mrs. Philpott, die anrief, um ihn zu fragen, ob er Mr. Kammerman, den Möbeltaxierer, gleich empfangen könne. Walter sagte, das könne er. Mrs. Philpotts immer noch heitere, höfliche Stimme war ihm unerklärlich. Dann sagte sie: »Ich hoffe, Sie entschuldigen mich, wenn ich nun schließlich doch nicht mitkomme, Walter. Hier hat sich gerade etwas ergeben, das meine Anwesenheit heute vormittag erfordert.«
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35 Von New York aus rief Walter die Newarker Polizei an. Sie sagten, Corby sei in Newark, aber Genaueres sei nicht bekannt. Walter fuhr hin nach Newark. Es war Viertel nach eins. Leichter Regen hatte eingesetzt. Corby war nicht im Polizeirevier, als Walter hinkam. Ein Offizier wollte Walters Namen wissen, aber Walter weigerte sich, ihn anzugeben. Er stieg wieder in sein Auto und fuhr zu Kimmels Buchladen. Der Laden war geschlossen. Eine der Schaufensterscheiben hatte einen langen Sprung mit einer kristallischen Narbe in der Mitte, wo irgend etwas Hartes eingeschlagen haben mußte, und als er das sah, wallte Blutgier in ihm auf, er schaute sich nach einem Ziegelstein um, aber da war es schon vorüber. Walter fuhr zu einer Tankstelle, ließ sich den Tank auffüllen und suchte im Telephonbuch nach Melchior Kimmels Adresse. Es fiel ihm ein, daß sie nicht eingetragen war, aber jetzt fand er eine Helen Kimmel auf der Bowdoin Street. Der Tankwart wußte nicht, wo die Bowdoin Street war. Walter fragte einen Verkehrspolizisten, der eine ungefähre Vorstellung hatte, aber als Walter sich danach richtete, konnte er die Bowdoin Street nicht finden. Es machte ihn so rasend, daß es ihm nur mit größter Anstrengung gelang, seine Stimme in der Gewalt zu behalten, als er eine Frau auf der Straße fragte, wo die Bowdoin Street sei. Sie wußte es, ganz genau sogar. Er war gar nicht weit davon entfernt. Es war eine Straße mit Holzhäusern. Die Nummer lautete 245 – ein kleines, rotbraunes, zweigeschossiges Haus, das durch einen äußerst schmalen Streifen vernachlässigten Rasens und einen sinnlosen Zaun aus niedrigen Eisenpflöcken von der 308
Straße getrennt war. Sämtliche Jalousien waren heruntergelassen. Walter blickte die Straße hinauf und hinunter. Dann entstieg er seinem Wagen und lief die hölzernen Stufen zu dem winzigen Vorbau hinauf. Die Klingel stieß ein schrilles Geheul aus. Aber nichts regte sich drinnen im Hause. Walter bildete sich ein, daß Kimmel ihn durch einen der geschlossenen Fensterläden beobachtete. Physische Angst kroch in ihm hoch, sein Körper spannte sich, als müsse er kämpfen, aber es war überhaupt niemand da. Noch einmal klingelte er, lauter. Er rüttelte an der Tür. Die Kanten des Metallknopfes schnitten schmerzhaft in seine Handfläche. Es war verschlossen. Walter ging wieder zu seinem Wagen, blieb einen Augenblick daneben stehen und fühlte, wie seine Angst sich in Wut und Enttäuschung verwandelte. Vielleicht hockten sie wieder alle in der Newarker Sun zusammen. Vielleicht müßte er genau dorthin gehen und eine Erklärung zu seiner Verteidigung abgeben. Sie würden es wahrscheinlich nicht einmal drucken, dachte Walter. Ihm war ja nicht mehr zu trauen. Er würde Corby brauchen als Rückendeckung, einen prächtigen, aufrechten, jungen Polizeidetektiv, der bestätigte, was Walter sagte. Er wendete den Wagen und fuhr zurück zum Polizeirevier. Man teilte Walter mit, Corby sei im Hause, aber beschäftigt. »Sagen Sie ihm, Walter Stackhouse möchte ihn sprechen.« Der Polizeisergeant warf noch einen Blick auf ihn, dann öffnete er eine Tür zum Korridor und ging ein paar Stufen hinunter. Walter folgte ihm. Sie gingen einen anderen Korridor entlang und blieben an einer Tür stehen. Der Sergeant klopfte kräftig. »Ja?« tönte Corbys Stimme dumpf von drinnen. »Walter Stackhouse!« schrie der Sergeant gegen die Tür. 309
Der Riegel wurde zurückgeschoben. Corby machte die Tür weit auf, er lächelte. »Hallo! Ich habe Sie heute erwartet!« Walter trat ein, die Hände in den Manteltaschen, und er sah Corbys Blick darauf ruhen, als fürchtete er, Walter hätte einen Revolver darin. Plötzlich blieb Walter stehen: Kimmel saß auf einem Stuhl, sein riesiger Körper sah merkwürdig verrenkt aus, als hätte er Schmerzen. Kimmel starrte ihm entgegen, als erkenne er ihn überhaupt nicht. Nichts als ein Ausdruck betäubten, nackten Entsetzens lag auf Kimmels Gesicht. »Heute ist Geständnistag«, sagte Corby munter. »Tony hat bereits gestanden, Kimmel ist der nächste, und dann kommen Sie.« Walter sagte nichts. Er blickte auf den verängstigt dreinschauenden schwarzhaarigen Jungen auf dem anderen Stuhl. Der Raum war ganz gekachelt, kalt und weiß und voll blendenden Lichts. Kimmels großes Gesicht war naß, entweder von Tränen oder von Schweiß. Sein Kragen war aufgerissen, und seine noch geknotete Krawatte hing herunter. »Wollen Sie sich setzen, Stackhouse? Es ist nichts anderes mehr da als ein Tisch.« Walter sah, daß die Tür mit einem großen Riegel von innen verrammelt war; es war ein Riegel, wie sie sich innen in Kühlräumen befinden, in denen Schlächter arbeiten. »Ich bin gekommen, um Sie zu fragen, was nun noch kommen soll. Ich verlange eine Entscheidung. Ich bin durchaus bereit zu einer Kraftprobe, aber ich bin nicht bereit, ein Bündel von Lügen von Ihnen oder sonst jemandem …« »Sie könnten alles erheblich abkürzen, wenn Sie nur zugeben würden, was Sie getan haben, Stackhouse!« unterbrach ihn Corby. Walter sah seine selbstgefällige Pose, sein grimmiges, zu klein geratenes Gesicht – kleiner Gernegroß, sicher hinter 310
seiner Dienstmarke. Plötzlich packte Walter Corbys Arm und riß ihn herum, stieß seine andere Faust gegen Corbys Kinnlade, aber Corby fing Walters Faust ab, bevor sie landen konnte, und riß Walter vornüber. Walter glitt auf dem Kachelboden aus und wäre gefallen, wenn Corby nicht sein Handgelenk festgehalten und ihn wieder hochgeschnellt hätte. »Kimmel hat gelernt, daß ich nicht anzufassen bin, Mr. Stackhouse. Es ist besser für Sie, das ebenfalls zu lernen.« Corbys knochige Backen hatten sich gerötet. Er schüttelte seine Schultern, brachte seine Kleidung wieder in Ordnung. Dann zog er seinen Mantel aus und warf ihn auf den Holztisch. »Ich habe Sie gefragt, was jetzt kommen wird«, sagte Walter. »Oder soll das eine Überraschung werden? Was glauben Sie denn, wer Sie sind, daß Sie Lügen an die Presse geben?« »Es steht nicht eine einzige Lüge in irgendeiner Zeitung. Nur eine mögliche Unwahrheit, und die erscheint auch überall als unbestätigt und damit als mögliche Unwahrheit.« Ein verfluchtes Wort, dachte Walter, Unwahrheit. Er sah zu, wie Corbys dürre, arrogante Gestalt Kimmels Stuhl umkreiste, als wäre Kimmel ein Elefant, den Corby gefangen hätte, ein noch nicht ganz toter Elefant. Kimmels Gesicht und sein Schädel waren völlig naß von Schweiß, obwohl es eiskalt war im Raum. Walter sah, daß Kimmel sich jedesmal duckte, wenn Corby an ihm vorbeiging, und plötzlich wußte er, warum Kimmel so häßlich und nackt aussah: er hatte seine Brille nicht auf. Corby muß ihn hart in die Zange genommen haben, dachte Walter, wahrscheinlich die ganze Nacht hindurch. Und das, nachdem Kimmel so gute Arbeit geleistet hatte in den Redaktionen! Walter ballte die Fäuste fester in den Taschen. Corby fixierte ihn nach jeder Runde, die er um Kimmels Stuhl gedreht hatte. Plötzlich sagte Corby: »Ich habe es bei Ihnen mit der stillen Methode versucht, Stackhouse. Sie hat nicht funktioniert.« 311
»Was meinen Sie damit: still?« »Daß ich nicht alles in die Zeitung gesetzt habe, was ich hätte hineinsetzen können. Ich wollte, daß Sie selber einsähen, wie dumm es von Ihnen ist, die Wahrheit, die Ihnen bekannt ist, zu verschweigen. Es hat nicht funktioniert. Ich werde Druck anwenden müssen. Die Zeitungen von heute sind nur ein Anfang. Dem Druck, den ich auf Sie ausüben kann, sind keine Grenzen gesetzt!« Corby stand breitbeinig da und funkelte Walter an. Das eine Lid seiner verkniffenen Augen zuckte, was den Ausdruck trunkenen Eifers in seinem Gesicht noch verstärkte. »Auch Sie haben Vorgesetzte«, sagte Walter. »Vielleicht sollte ich einmal hingehen und mich mit Oberst Royer unterhalten.« Corbys Blick verfinsterte sich noch mehr. »Ich habe die volle Unterstützung von Oberst Royer. Er ist mit meiner Arbeit außerordentlich zufrieden, und das gleiche gilt für seine Vorgesetzten. Ich habe in fünf Wochen erreicht, was der Newarker Polizei in zwei Monaten nicht gelungen ist, als die Fährte noch frisch war!« Außer bei Hitler, außer in einem Irrenhaus war Walter so etwas wie dies hier noch niemals vorgekommen. »Der Tony hier«, Corby machte eine Handbewegung, »der hat eingeräumt, daß Kimmel das Kino wieder verlassen haben kann, gleich nachdem er ihn getroffen hat – um acht Uhr fünf. Tony kann sich sogar erinnern, daß er an jenem Abend nach dem Kino versucht hat, Kimmel zu Hause zu erreichen, und daß Kimmel nicht da war.« »Er hat nicht … er hat nicht gesagt, daß er es versucht hat«, protestierte Kimmel nervös mit einer seltsam kehligen Stimme. »Er hat nicht gesagt, er wäre zu mir …« 312
»Kimmel, Sie sind so schuldig, daß Sie stinken!« schrie Corby und seine Stimme schrillte in dem kahlen Raum. »Sie sind so schuldig wie Stackhouse!« »Ich habe es nicht getan, ich habe es nicht getan!« sagte Kimmel mit monotoner, hohler Stimme; er sprach mit einem starken ausländischen Akzent, den Walter noch nie bei ihm gehört hatte. Und es war etwas Pathetisches an Kimmels verzweifelten Beteuerungen, es waren die letzten Zuckungen eines Körpers, dem man sämtliche Knochen zerbrochen haben mochte. »Tony weiß, daß Ihre Frau ein Verhältnis mit Ed Kinnaird hatte. Heute früh hat Tony es mir gesagt. Er hat es inzwischen von sämtlichen Nachbarn gehört!« schrie Corby auf Kimmel ein. »Er weiß, daß Sie Helen dafür getötet hätten, sogar für viel weniger, nicht wahr? Oder nicht?« Walter sah voller Entsetzen zu. Er versuchte, sich Tony auf einem Zeugenstand vorzustellen – ein verschreckter, unintelligenter kleiner Strolch, der aussah, als würde er jede Aussage machen, für die man ihn bezahlte oder die man durch Terror von ihm erpreßte. Corbys Methoden waren grausam, und dennoch erreichte er etwas damit. Kimmel sah aus, als schrumpfe er, schmölze dahin, wie ein riesiger Klumpen Fett. Dann sagte er wieder mit piepsiger Stimme: »Ich habe es nicht getan, ich habe es nicht getan!« Corby trat plötzlich gegen Kimmels Stuhl, und als es ihm nicht gelang, den Stuhl unter Kimmel wegzutreten, bückte er sich und riß die beiden hinteren Stuhlbeine mit einem Ruck zur Seite, so daß Kimmel mit einem dumpfen Krach zu Boden rollte. Tony fuhr hoch, als wolle er Kimmel zu Hilfe eilen, aber er setzte sich wieder hin. Corby gab Kimmel einen Schubs mit der Schuhsohle, und Kimmel erhob sich langsam mit der erschöpften Würde eines verwundeten Elefanten. Corbys Stimme tönte pausenlos fort, ermahnte Kimmel, ein Geständnis 313
abzulegen, hämmerte ihm ein, daß er kein Bein mehr auf die Erde bekäme. Walter wußte genau, was Corby sagen würde, wenn die Reihe an ihn kam: er würde die Besuche bei Kimmel aufzählen; er würde so tun, als glaube er uneingeschränkt, was Kimmel von dem Mordgespräch erzählt hatte und von seinem späteren Mordgeständnis; er würde so tun, als glaube er, daß auch jeder andere Mensch es glaubte, daß Walter sich in einer denkbar hoffnungslosen Lage befände. Walter sah Corby gestikulieren, sah ihn auf sich zukommen und hörte ihn krächzen, als hätte er eine Massenversammlung vor sich: »… dieser Mann! Dieser Mann hat Ihnen alles eingebrockt, Kimmel! Walter Stackhouse, – der Stümper!« »Halten Sie den Rand!« sagte Walter. »Sie wissen genau, daß ich unschuldig bin! Sie haben es gesagt, einmal, zweimal, Gott weiß wie viele Male! Aber wenn Sie eine hochdramatische Geschichte erfinden und sich ein Schulterklopfen von irgendeinem dummen Hund über Ihnen verdienen können, dann werden Sie eben lügen und tausend Meineide schwören, um zu beweisen, daß Ihre hirnverbrannten Ideen richtig sind!« »Ihre hirnverbrannten Ideen«, sagte Corby, kein bißchen böse. Walter holte aus. Seine Faust krachte gegen Corbys Kinnlade, und für einen Moment sah er gegen die helle Wand Corbys Beine durch die Luft wirbeln: dann sah er Corby am Boden, wie er an seinem Jackett herumzerrte. Er legte einen Revolver auf Walter an und stand langsam auf. »Noch eine solche Bewegung, und ich drücke ab«, sagte Corby. »Dann bekommen Sie aber Ihr Geständnis nie«, sagte Walter. »Warum sperren Sie mich nicht ein? Ich habe einen Polizeibeamten geschlagen!« »Ich denke nicht daran, Sie einzusperren, Stackhouse«, 314
knurrte Corby. »Das böte Ihnen zuviel Schutz. Den verdienen Sie nicht.« Corby stand ruhig da, aber er hielt den Revolver auf Walter gerichtet. Walter studierte wieder sein straffes kleines Gesicht, die eiskalten, blaßblauen Augen, und er fragte sich, ob Corby ihn denn tatsächlich für schuldig halten konnte? Und Walter kam zu dem Schluß, daß Corby ihn für schuldig hielt, und zwar aus dem negativen Grunde, daß es in Corbys Kopf nirgends mehr die kleinste Ritze gab, durch die ein Zweifel an seiner Schuld hätte eindringen können, ganz gleich, was für Beweise seiner Unschuld noch auftauchen mochten. Walter blickte zu Kimmel hinüber: Kimmel starrte ihn an mit einem absolut leeren und erschöpften Ausdruck. Corby hatte ihn zum Wahnsinn getrieben, dachte Walter plötzlich. Sie waren beide wahnsinnig, Corby und Kimmel, jeder auf seine Weise. Und dieser junge Halbidiot dort auf dem Stuhl! Walter sagte: »Entweder bin ich verhaftet oder ich gehe.« Er drehte sich um und ging zur Tür. Corby sprang mit seinem Revolver zwischen ihn und die Tür. »Zurück«, sagte er dicht vor Walters Augen. Schweißtropfen perlten auf seiner knochigen, sommersprossigen Stirn, und an der Backe hatte er eine rote Stelle, dort, wo Walter hingeschlagen hatte. »Wohin wollen Sie denn überhaupt gehen? Was glauben Sie, was es da draußen für Sie gibt – Freiheit? Wer wird denn mit Ihnen sprechen? Wer ist denn noch Ihr Freund?« Walter wich nicht. Er blickte in Corbys Gesicht, in das gespannte, starre Gesicht eines Verrückten, und es gemahnte ihn an Clara. »Was wollen Sie denn? Mich mit dem Revolver bedrohen, um mich zum Geständnis zu bringen? Ich werde nichts gestehen, auch wenn Sie mich erschießen.« Jene unnatürliche Ruhe, die stets über ihn gekommen war, wenn Clara gegen ihn wütete, hatte sich auch jetzt seiner 315
bemächtigt, und er hatte nicht mehr Angst vor dem Revolver als vor einem Spielzeug. »Na, los, schießen Sie«, sagte Walter. »Sie werden einen Orden dafür bekommen. Ganz sicher eine Beförderung.« Corby wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Gehen Sie dort hinüber zu Kimmel.« Walter drehte sich ein wenig zur Seite, aber er tat keinen Schritt. Corby ging näher zu Kimmel, unablässig den Revolver auf Walter gerichtet. Walter dachte: Hier gibt es kein Entrinnen, denn Corby ist ein Verrückter mit einem Schießeisen. Corby rieb sich mit der freien Hand die Backe. »Erzählen Sie mir, wie Ihnen heute morgen zumute war, als Sie die Zeitungen sahen, Stackhouse.« Walter antwortete nicht. »Der Tony hier …« Corby machte eine Geste mit dem Revolver. »Ihm hat es ein Licht aufgesteckt. Tony hat erkannt, es wäre gar nicht so völlig ausgeschlossen, daß Kimmel seine Frau ermordet hat. Auf die gleiche Art, wie Sie es gemacht haben.« »Als er die Zeitungen sah?« Walter lachte auf. »Ja«, sagte Corby, »Kimmel hat beabsichtigt, Sie zu entlarven, aber der Schuß ging nach hinten los. Kimmel hat Tony klargemacht, was sich abgespielt haben könnte. Tony hat sich als ein sehr heller und brauchbarer Junge gezeigt«, sagte Corby ölig und schlenderte auf Tony zu, der wie ein verängstigtes Häuflein Elend dasaß. Walter lachte lauter. Er bog sich in brüllendem Gelächter, und es brüllte von den Wänden wider. Er sah Tony an, dessen einfältig-ängstlicher Gesichtsausdruck sich nicht verändert hatte, und dann Kimmel, der jetzt anfing, beleidigt zu gucken, persönlich beleidigt durch Walters Gelächter. Walter merkte 316
jetzt, daß er genauso verrückt war wie die anderen dort, und er fing an, über sein eigenes irres Gelächter zu lachen. Er wiegte sich auf den Füßen, aber in einem Teil seines Hirns, der vollkommen nüchtern blieb, dachte er, daß er bloß aus Nervosität und Erschöpfung lachte, daß er sich selber zum Idioten machte, zum Trottel. Er dachte, daß Corby ebensowenig das Gesetz repräsentierte wie Kimmel oder Tony und daß er ein Rechtsanwalt war und dennoch nichts daran machen konnte. Jener unparteiische Richter, den Walter sich vorgestellt hatte – ein ruhiger, weiser Mann mit grauem Haar und einer schwarzen Robe, der ihn anhören und seiner Schilderung bis zum Schluß lauschen würde, um ihn dann freizusprechen – dieser Mann existierte nur in seiner Phantasie. Kein Mensch würde ihn jemals anhören, ohne daß eine Armee von Corbys dazwischenführe, und kein Mensch würde jemals glauben, was wirklich geschehen war – oder was nicht geschehen war. »Warum lachen Sie, Sie Idiot?« fragte Kimmel und erhob sich langsam von seinem Stuhl. Walter sah, wie Kimmels wabbeliges Gesicht sich vor Wut verzerrte, und Walters Lachen versiegte. Er sah die Rechtschaffenheit, den unversöhnlichen Groll in Kimmels Gesicht, die er damals schon gesehen hatte, als er bei Kimmel war und ihm sagte, er wäre unschuldig. Plötzlich hatte er Angst vor Kimmel. »Da sehen Sie, was Sie gemacht haben, und trotzdem lachen Sie!« sagte Kimmel, immer noch mit dieser kehligen Stimme. Seine Hände zitterten, und die Fingerspitzen spielten miteinander in merkwürdig kindlichen und zierlichen Bewegungen. Aber seine rotgeränderten Augen bohrten sich voll Empörung, voll Haß in Walter hinein. Walter sah Corby an. Corby beobachtete Kimmel mit einem 317
Blick der Befriedigung: als mache Corbys Elefant seine Sache recht ordentlich, dachte Walter. Und es wurde ihm klar, daß Corby bestrebt war, Kimmels Haß gegen ihn mehr und mehr anzustacheln, Kimmel nach Möglichkeit so weit zu bringen, daß er handgreiflich gegen Walter vorginge. Walter erkannte in Kimmels Gesicht die irre Überzeugung von seiner eigenen Unschuld, von der Ungerechtigkeit des Geschicks, das über ihn hereingebrochen war, und plötzlich empfand Walter Scham, als hätte er tatsächlich einen unschuldigen Menschen in eine Falle gelockt, aus der es kein Entrinnen gab. Walter wollte gehen, er wollte ein paar Worte der Entschuldigung sagen, die es nicht gab, und wollte rückwärts zur Tür hinaus und fliehen. Kimmel trat einen Schritt auf ihn zu. Sein riesiger Körper schien zu straucheln und sich wieder zu fangen, obwohl er sich immer noch an der Stuhllehne festhielt. »Idiot!« schrie er Walter zu. »Mörder!« Walter schaute Corby an und sah, daß Corby lächelte. »Sie können jetzt gehen«, sagte Corby zu Walter. »Es ist besser.« Walter zögerte einen Augenblick, dann drehte er sich um und schritt mit einer niederschmetternden Empfindung von Demütigung und Flucht zur Tür. Der Riegel gab nicht gleich nach. Walter bearbeitete ihn mit einem darunterliegenden Hebel, er arbeitete so rasend, daß ihm der Schweiß ausbrach und er sich einbildete, hinter ihm lege Corby den Revolver an, oder Kimmel nähere sich ihm von hinten. Dann glitt der Riegel zur Seite, und Walter riß die Tür am Türknopf auf. »Mörder!« brüllte Kimmels Stimme hinter ihm her. Walter rannte die Treppen zum Hauptkorridor hinauf. Seine Knie wankten. Er ging die Treppe zur Straße hinunter, dann blieb er einen Moment stehen und hielt sich an dem kalten Eisenknopf am Ende des Geländers fest. Ihm war, als müsse er ersticken, als sei er an allen Gliedern gelähmt. Es war wie ein 318
Traum, wie das lähmende Ende eines Alptraums. Hinter ihm in dem Kellerraum war der Wahnsinn. Und er hatte darüber gelacht. Er dachte an Kimmels verzerrtes Gesicht, als er gelacht hatte, und dann stieß er sich erschrocken vom Geländer ab und setzte sich in Bewegung.
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36 »Du scheinst mich nicht ganz zu verstehen«, sagte Ellie. »Wenn du sie getötet hättest – ich könnte mir auch das vorstellen, ich könnte es dir vielleicht sogar verzeihen. Das liegt durchaus nicht außerhalb meines Vorstellungsvermögens. Die Lügen sind es, die ich nicht verzeihen kann.« Sie saßen nebeneinander auf dem Vordersitz von Ellies Wagen. Walter begegnete ihrem festen Blick. Ihre Augen blickten ruhig und klar, fast so, wie er sie schon oft hatte blicken sehen, fast so, wie sie immer geblickt hatten, wenn sie ihn angeblickt hatten. Aber nur fast. »Du hast gesagt, du glaubtest Kimmels Märchen nicht«, sagte Walter. »Ganz gewiß glaube ich nicht, daß du hingegangen bist und mit ihm über Mord diskutiert hast. Aber du hast die Besuche zugegeben.« »Zwei«, sagte Walter. »Wenn du nur einsehen könntest, Ellie, daß es eine Verkettung von Umständen ist – von Zufällen; daß all das sich abgespielt haben kann und daß ich dennoch unschuldig bin …« Er erwartete ihren Protest, daß sie doch gar nicht glaube, er sei des Mordes schuldig, aber sie protestierte nicht. Sie hielt ihren Blick unverwandt auf ihn gerichtet, wachsam, unbeweglich. »Du kannst doch nicht der Meinung sein, ich wäre des Mordes schuldig, Ellie!« stieß er hervor. »Dazu möchte ich lieber gar nichts sagen.« »Du mußt mir das beantworten!« 320
»Wenigstens dies eine mußt du mir zugestehen«, gab sie zurück. »Ich möchte dazu lieber nichts sagen.« Walter hatte sich gewundert, wie ruhig sie heute morgen am Telephon gewesen war, wie bereitwillig sie sich mit ihm verabredet hatte. Jetzt wußte er, daß sie gestern, als sie die Zeitungen las, mit sich selber ins reine gekommen war über ihre Gefühle und ihre weiteren Schritte. »Was ich dir zu erklären versuche, ist, daß ich all das wahrscheinlich hätte hinnehmen können, wenn du nur ehrlich gewesen wärst. Dies aber mag ich überhaupt nicht. Und ich mag auch dich nicht mehr.« Ihr Daumen glitt hin und her über das lederne Schlüsseletui in ihren Händen, als habe sie es eilig, wegzukommen. »Für dich kann es ja nicht allzu schlimm sein. Du hast ja sowieso nie an eine gemeinsame Zukunft für uns gedacht, an eine Heirat schon gar nicht.« Walter hatte sich gewundert, wie ruhig sie heute morgen am jene letzte Nacht bei ihr … eben jene Nacht, in der er die Absicht gehabt hatte, ihr zu sagen, daß Kimmels Enthüllungen in der Presse bevorstünden. Jetzt fragte sich Walter, ob er nicht in jener Nacht nur deshalb verschwiegen hatte, was er wußte, ob er nicht Ellie nur deshalb genommen hatte, damit sie so reagierte, damit er sie verlöre. Er wußte, er hatte sich nie zu dem Entschluß durchringen können, Ellie zu heiraten. Und doch – er erinnerte sich noch mit solcher Eindringlichkeit seines Glücksgefühls nach jener ersten Nacht bei ihr, als er, trotz all der Hindernisse, die sich rund um ihn auftürmten, fest davon überzeugt war, daß sie sich am Ende finden würden, weil sie sich liebten. Er erinnerte sich, wie fest er selber daran geglaubt hatte, daß er sie liebte – in jener Nacht, als er sie von den Three Brothers aus anrief, weil er nicht zu ihr hinfahren konnte. Er erinnerte sich, wie stolz er auf sie war, weil sie dem Ideal 321
so nahe kam, das ihm immer vorgeschwebt hatte: treu, intelligent, nett und, im Gegensatz zu Clara, ganz einfach gesund. Jetzt kam es ihm vor, als habe er jede Karte falsch ausgespielt, mehr noch, absichtlich falsch ausgespielt; oder als habe sich Claras negativer, zerstörerischer Wille bemerkbar gemacht und die Oberhand behalten, sogar jetzt, da sie tot war. »Ich nehme an, wir sehen uns heute zum letztenmal«, sagte Ellie in ruhigem Ton, mit der tödlichen Ruhe, mit der das Skalpell eines Chirurgen ein Herz öffnen mochte. »Nächste Woche ziehe ich um – irgendwohin … ich bleibe in Long Island, aber nicht in Lennert. Aus dieser Wohnung möchte ich raus.« Walters rastlose Finger strichen über das Armaturenbrett ihres Wagens. »Du hast gesagt, du glaubst Kimmel nicht. Ist das wahr?« »Spielt das eine Rolle?« »Es ist das einzige, was gestern vorgefallen ist. Das einzige, was eine Veränderung gebracht hat!« »Nein, das ist es nicht. Für mich nicht. Du gibst zu, daß du ihn Anfang Oktober besucht hast, also hast du mich belogen.« »Darum geht es mir im Augenblick nicht. Ich habe dich gefragt, ob du dich dafür entschieden hast, Kimmel zu glauben – das mit Clara – nach allem, was ich dir über Kimmel erzählt habe.« »Ja«, sagte sie leise und schaute ihn immer noch an. »Ich kann sogar sagen, daß ich dich gewissermaßen … die ganze Zeit über in Verdacht hatte.« Walter starrte sie an, wie vom Donner gerührt. Jetzt sah er einen neuen Ausdruck auf ihr Gesicht kriechen: Angst. Sie sah aus, als fürchtete sie sich vor seiner handgreiflichen Rache. »Also gut«, stieß er durch die zusammengebissenen Zähne. »Ich mache mir nichts mehr daraus. Verstehst du das?« 322
Sie sah ihn nur an. Ihre straffen, vollen Lippen schienen sogar an den Mundwinkeln ein wenig zu lächeln. »Das möchte ich in aller Deutlichkeit sagen, dir und allen ändern«, sagte Walter. »Ich habe die Nase voll! Ich mache mir nichts mehr daraus, wer was glaubt. Verstehst du das?« Sie nickte und sagte: »Ja.« »Wenn niemand die Wahrheit begreift, dann habe ich es satt, sie zu erklären. Verstehst du das?« Er öffnete die Wagentür und wollte aussteigen, aber er wandte sich noch einmal um. »Ich finde, an dieser … an dieser unserer letzten Zusammenkunft ist absolut nichts auszusetzen. Die paßt ganz genau zu allem anderen!« Er schloß die Tür hinter sich und lief über die Straße zu seinem eigenen Wagen. Er wankte vor Erschöpfung, als sei er betrunken.
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37 Im Büro war es einfach, wunderbar einfach. Walter betrat einfach das Zimmer von George Martinson – es war einer der Tage, an denen Willie Cross nicht da war, obwohl Walter ganz gern gesehen hätte, wenn er dagewesen wäre – und sagte Bescheid, daß er ginge, und Martinson gab mit einem Minimum an Worten seine Zustimmung. Martinson schaute ihn an, als sei er über alle Maßen erstaunt, daß Walter immer noch, wenigstens dem Anschein nach, ein freier Mann war. Alle schauten ihn so an, sogar Peter Slotnikoff. Keiner redete mehr mit ihm als ein gemurmeltes Guten Tag. Jeder sah aus, als warte er darauf, daß ein anderer die Initiative ergreife, sich auf Walter stürze und ihn festhalte oder gefangensetze. Selbst Joan schien Angst vor ihm zu haben, Angst, auch nur ein freundliches Wort zu sagen. Walter machte sich nichts daraus. Irgend etwas – seine Gleichgültigkeit, die jetzt ganz echt war und völlig von ihm Besitz ergriffen hatte, oder seine physische Erschöpfung, die er wie eine Art Trunkenheit empfand – irgend etwas verlieh ihm das Gefühl, er trüge eine Rüstung, die ihn gegen alle und alles beschirme. Dick Jensen kam ins Zimmer, als Walter seinen Schreibtisch ausräumte und seine Bücher einsammelte. Walter richtete sich auf und sah ihm entgegen, als er näher kam, das Kinn nachdenklich auf dem Kragen, während das Sonnenlicht auf den Goldmünzen der Uhrkette, die aus seiner Westentasche hing, hübsche Lichtreflexe malte. »Du brauchst mir überhaupt nichts zu erklären«, begann Walter. »Es ist schon gut.« »Wohin gehst du?« fragte Dick. 324
»In die Vierundzwanzigste Straße.« »Du eröffnest das Büro allein?« »Ja.« Walter wandte sich wieder dem Entleeren von Schubladen zu. »Walt, ich hoffe, du hast Verständnis dafür, daß ich nicht mitgehen kann. Ich habe eine Frau zu versorgen.« »Ich verstehe«, sagte Walter rasch. Er stand auf und holte sein Portemonnaie hervor. »Bevor ich es vergesse, ich möchte dir deinen Anteil an der Miete zurückgeben. Hier ist ein Scheck über zweihundertfünfundzwanzig.« Er legte ihn an den Rand des Schreibtischs. »Ich nehme ihn unter der Bedingung, daß du den Corpus Juris nimmst«, sagte Dick. »Der gehört doch dir.« »Wir wollten ihn gemeinsam benutzen.« Der Corpus Juris stand bei Dick zu Hause, gehörte zu seiner Privatbibliothek. »Du wirst ihn eines Tages selber brauchen«, sagte Walter. »Noch lange nicht. Jedenfalls … du sollst ihn haben. Und auch die State Digests. Sie werden längst überholt sein, wenn ich einmal eine Praxis aufmache.« »Danke, Dick«, sagte Walter. »Ich habe die Annonce für das Büro heute morgen in der Zeitung gesehen.« Walter hatte sie noch nicht gesehen. Es war die kleine Anzeige, die er am Sonnabend vormittag, kurz bevor er nach Newark fuhr, voller Trotz aufgegeben hatte. »Ich war vorsichtig und habe unsere Namen nicht genannt«, sagte Walter. »Deinen Namen. In der zweiten Anzeige diese Woche werde ich meinen Namen angeben.« Dicks sanftbraune Augen zwinkerten. Er sah überrascht aus. 325
»Ich möchte dir sagen, Walt, daß ich deinen Mut bewundere.« Walter wartete, er hungerte nach etwas anderem. Aber anscheinend hatte Dick nicht vor, noch etwas zu sagen. Walter sah zu, wie Dick den Scheck aufnahm und in der Mitte faltete. »Ich komme gern gelegentlich vorbei und hole mir die Bücher selber ab. Abends einmal, wenn es dir paßt. Ich wohne jetzt in Manhattan, von heute an. Aber ich betrachte die Bücher nur als geliehen, bis du sie selber brauchst.« »Ach, ich werde sie dir einmal während der Arbeitszeit bringen«, sagte Dick. »Ich bringe sie dir ins Büro.« Er näherte sich der Tür. Walter ging hinterher, ganz unwillkürlich. Trotz des wortlosen Rückzugs von Dick, trotz seines Zögerns, das auszusprechen, was er dachte, konnte Walter nicht vier Jahre Freundschaft in dieser Form beenden. »Dick«, sagte er. Dick wandte sich um. »Was?« »Ich wollte dich nur fragen … Glaubst du, daß ich schuldig bin? Ist es das?« Dick runzelte die Stirn und leckte über seine Lippen. »Nun, ich … ich meine, ich weiß es einfach nicht, Walter. Wenn ich ganz ehrlich sein soll …« Dick sah ihn an, immer noch verlegen, aber er sah Walter gerade in die Augen, als hätte er alles gesagt, was Walter bestenfalls von einem Menschen erwarten konnte. Und Walter wußte, so war es. Er wußte, daß er Dick nicht übelnehmen durfte, wofür Dick nichts konnte. Aber als er Dick so anstarrte, spürte er, daß die letzten Reste ihres einstigen Vertrauens zueinander, ihrer Treue, der Versprechen, die sie sich gegenseitig gegeben hatten, plötzlich hinweggefegt waren und daß an ihre Stelle eine entsetzliche, bittere Leere getreten war. »Du wirst dagegen ankämpfen, ja?« fragte Dick. »Was wird 326
denn geschehen?« »Ich bin unschuldig!« sagte Walter. »Na gut – wirst du nicht wenigstens eine Erklärung abgeben?« »Muß ich den Beweis meiner Unschuld erbringen?« fuhr Walter auf. »Ist das neuerdings das Verfahren?« »Sicher«, sagte Dick. »Im Prinzip hast du vollkommen recht, aber …« »Glaubst du denn, ich stünde hier, wenn ich schuldig wäre? Sie haben nicht einmal genug, um mich anzuklagen!« »Aber viele Leute wie ich …« »Zum Teufel mit Leuten wie dir! Sie hängen mir zum Halse heraus! Es hängt mir zum Hals heraus, das Gerede, hinter dem nichts steht! Es kümmert mich keinen Dreck mehr, was irgend jemand sagt!« »Ich hoffe, du wirst es überstehen«, sagte Dick, aber in höchst kühlem Ton. Er machte kehrt und schritt zur Tür hinaus. Walter ging wieder an seinen Schreibtisch und fuhr fort, seine Papiere zu bündeln. Gerade als er gehen wollte, kam Joan herein. Sie schloß die Tür hinter sich. »Sie verlassen uns heute?« fragte sie. »Eröffnen das neue Büro?« »Ja.« Er sah, daß sie verlegen war, und um ihr zu helfen, sagte er: »Ich habe Verständnis, Joan. Fühlen Sie sich mir in keiner Weise verpflichtet. Ich meine, im Hinblick auf die Arbeit bei mir.« Sie zögerte. Für einen Moment glaubte er, sie wolle in ihrer ruhigen, ausgeglichenen Art sagen, daß sie ihm noch immer vertraue und daß sie noch immer mitgehen und für ihn arbeiten werde, weil sie glaube, er würde all das hinter sich bringen. Für einen Moment wagte er, dies zu hoffen. Dann sagte Joan: »Ich 327
dachte, ich müßte Ihnen sagen, daß ich meinen Entschluß, das Büro zu verlassen, geändert habe – dies Büro hier. Ich glaube, ich bleibe lieber.« Er nickte. »In Ordnung.« Er starrte sie immer noch an, er wartete darauf, daß sie noch etwas Stärkeres, etwas Präziseres sagte. Zwei Jahre lang hatte sie treu zu ihm gehalten. Plötzlich fühlte er sich genauso verlegen wie sie. »Es ist vollkommen in Ordnung, Joan. Machen Sie sich keine Gedanken.« Er ging an ihr vorbei zur Tür. »Sie sind mir eine gute Sekretärin gewesen«, fügte er hinzu. Joan sagte nichts. Walter wandte sich rasch ab und ging hinaus. So würde es gehen, dachte er. Einer nach dem anderen. Wie mit seinen Freunden, als Clara noch lebte. Das hier war wie Claras Quintessenz. Isolierung! Sehr bald schon würde er wissen, was Isolierung ist. Bald würde sie vollkommen sein. Er glaubte nicht wirklich daran, daß irgendein junger Mann sich um die Stellung in seinem Büro bewerben würde, nicht, wenn er seinen Namen erführe. Walter machte sich bloß verbissen an eine Aufgabe, die er sich selber gestellt hatte, genauso verbissen, wie er sich an die Auflösung seines Haushalts gemacht hatte, und genau wie er sich heute nachmittag dranmachen würde, ein Hotel zu finden, in dem er ein Appartement haben könnte, für das er eine oder zwei Monatsmieten im voraus bezahlen würde, ohne daß die geringste Aussicht bestand, daß er länger als eine Woche oder so dort wohnte. Irgendein Ende würde gewiß kommen: eine Hand würde sich auf seine Schulter legen, ein Revolver würde angelegt und eine Kugel käme aus der Finsternis geflogen. Oder Kimmels Hände würden sich um seine Kehle schließen. Aber bevor es soweit war, würden sich alle von ihm abgewandt haben. Es gäbe keinen Menschen mehr, der mit ihm spräche. Die Erde würde wie der Mond sein und er so einsam, als wäre er der einzige Mensch, der darauf atmete. 328
38 Kimmel ging ein viertes Mal zum Optiker Bausch und Skaggs auf der Phillston Avenue und gab eine neue Brille in Auftrag. Diesmal lächelte der junge Verkäufer nicht nur, er lachte lauthals. »Wieder fallen gelassen, Mr. Kimmel? Hätten sie lieber mit einem Strick anbinden sollen, was?« An der grenzenlosen Erheiterung in seiner Stimme merkte Kimmel, daß der Mann wußte, warum die Brille kaputt war. Kimmel hegte keinen Zweifel, daß er all seinen Bekannten von Kimmels zerbrochenen Brillen erzählte. Kimmel hätte sie sich ja auch von einem anderen Optiker machen lassen können, aber bei Bausch und Skaggs ging es am schnellsten, und er konnte sich bei ihnen darauf verlassen, daß sie sie genau passend machten. »Darf ich Sie um eine Anzahlung bitten, Mr. Kimmel?« Kimmel holte seine Brieftasche hervor und nahm einen Geldschein aus dem rechten Fach, das, wie er wußte, Zehnernoten enthielt. »Morgen früh ist sie fertig. Soll ich sie Ihnen zuschicken lassen?« fragte der Verkäufer mit heuchlerischer Ehrerbietung. »Wenn Sie so freundlich sein wollen. Ich schreibe Ihnen dann zu Hause einen Scheck über den Rest.« Kimmel ging hinaus, zum vierten Male, ging quer über den Bürgersteig zu dem wartenden Wagen, allerdings war es diesmal nicht sein eigener Wagen mit Tony am Steuer: es war ein Taxi. Kimmel verspürte auf einmal Hunger, als er heimwärts fuhr, richtigen Hunger, trotz des ausgiebigen Frühstücks, das er vor einer Stunde zu sich genommen hatte. Er kämpfte mit sich, prüfte sein Leeregefühl genau, als wäre es ein greifbares Problem, das er mit seinen Fingerspitzen 329
erforschte. Es weckte in ihm die Vision von Leberwurst mit Zwiebelringen auf Schwarzbrot und Bier dazu. »Chauffeur, bitte halten Sie doch bei … an der Ecke Vierundzwanzigste Straße und Exter. Bei Feinkost-Shamrock.« Vor dem Feinkostgeschäft kroch Kimmel noch einmal aus dem Taxi, überquerte den Bürgersteig so vorsichtig, als wäre es eine Hauptverkehrsader voller Autos, und betrat das Geschäft. Er verlangte ein Leberwurstsandwich und mehrere Dosen Bier. Die Sandwiches hier waren mit denen von Ricco nicht zu vergleichen, aber Kimmel ging nicht mehr zu Ricco. Tony floh, wenn er Kimmel sah. Tonys Vater sprach nicht mehr mit ihm, wenn sie sich auf der Straße begegneten. Kimmel trug Sandwich und Bier zum Taxi und wies den Fahrer an, ihn nach Hause zu bringen. Er riß das Zellophanpapier auf, um einmal in das Sandwich zu beißen, aber als er zu Hause war, hatte er drei Viertel davon aufgegessen und wünschte, er hätte zwei genommen. Der Taxameter wies 2,10 Dollar aus, nach Angaben des Fahrers. Kimmel konnte es nicht sehen, und er glaubte dem Fahrer nicht, aber er bezahlte. Zu Hause trank Kimmel zwei Büchsen Bier, aß den Rest vom Sandwich und ein Stück Brot mit Quark, dann setzte er sich ins Wohnzimmer, um zu warten. Er wünschte, er hätte wenigstens lesen können, aber er konnte es nicht. Er konnte überhaupt nichts tun, nur warten, warten auf die Brille, warten auf Corby, daß er käme und sie wieder zerbräche. Er dachte an das zersplitterte Fenster seines Ladens. Irgend jemand hatte vorigen Freitag, als er dort war, einen Stein hineingeworfen. Der Stein hatte kein Loch in die Scheibe geschlagen, aber sie hatte einen langen Sprung, der sich diagonal über die ganze Scheibe zog. Kimmel hatte jetzt Angst, tagsüber dort zu bleiben. Irgendwie graute es ihm mehr vor einem Kampf in seinem Laden als vor einem Kampf in seinem Hause. Oder vielleicht lag es daran, 330
daß jeder wußte, die Kimmel-Buchhandlung gehörte Melchior Kimmel, daß aber nicht jeder wußte, wo er wohnte. Kimmel stand auf und ging wieder in die Küche. Er holte sich ein Stück von dem präparierten Fichtenholz, das er bei einer Holzhandlung für seine Schnitzereien zu kaufen pflegte, ging wieder ins Wohnzimmer und fing an, ein etwa zwanzig Zentimeter langes Stück davon abzusäbeln. Das Holz war vierkantig zugeschnitten. Kimmel machte es rund, wie eine Zigarre. Er konnte nicht genug sehen, um Muster hineinzuschneiden, aber er konnte es vorbereiten. Er arbeitete rasch mit seinem scharfen Messer, dessen zwar immer noch kräftige Klinge doch so oft gewetzt worden war, daß sie schon ganz schmal in einer langen, abgerundeten Spitze auslief, die scharf war wie eine Rasierklinge. Er dachte wieder an Stackhouses Gelächter, und es war wie ein Schlag vor den Kopf, wie ein Tritt von Corby. Seine Gedanken begannen sich wirbelnd zu drehen in einem Orkan der Wut. Ein einziger Wunsch beherrschte ihn: Stackhouse zu zerschmettern, Stackhouse zu durchlöchern, wenn er an dieses Gelächter dachte. Kimmel stand auf und warf Messer und Holz auf das Sofa. Er begann, im Zimmer umherzulaufen, die Hände in den Taschen seiner voluminösen Hose. Er focht einen inneren Kampf mit sich aus: sollte er Stackhouse vollkommen vergessen, so wie er Tony vergessen hatte, ihn einfach aus seinem Gedächtnis streichen, oder sollte er ihn physisch vernichten, um seinen entsetzlichen Rachedurst zu stillen? Stackhouse war ein feiger Lump, der mordete, log, seine Opfer verlachte und wunderbarerweise ungestraft und frei blieb – selbst jetzt noch, da seine Verbrechen ans Licht gekommen waren. Corby hatte ihm nie ein Haar gekrümmt. Und Geld hatte er obendrein! Kimmel stellte sich vor, daß Stackhouse in einer Umgebung lebte, die ungefähr der Kategorie eines Landsitzes in Long Island entsprach, daß Stackhouse in Luxus lebte, mit mehreren 331
Dienstboten (selbst wenn sie ihm gekündigt hätten, Stackhouse konnte ja neue einstellen) und vielleicht einem Schwimmbad hinten im Garten. Und dieser selbstsüchtige, blöde Hund war zu knickerig gewesen, sich von fünfzigtausend zu trennen, um seinen Namen davor zu bewahren, noch ein bißchen schmutziger zu werden! Kimmel war nicht nur erbost über das, was er für eine Dummheit von Seiten Stackhouses hielt, sondern er war der Meinung, daß Stackhouse ihm fünfzigtausend Dollar schulde, allermindestens schulde, für den Schaden, den er seinem Leben zugefügt hatte. Kimmel ging an den Kühlschrank und holte den Teller mit der halben Cervelatwurst heraus. Er griff nach der Brotbüchse, um Brot dazu zu essen, aber der würzige Räuchergeruch der Wurst war zu verlockend: er nahm sie auf und biß hinein, und zwar so daß die Zähne nur Wurst und keine Pelle mitbekamen. Er nahm sich noch eine Büchse Bier heraus. Dann ging er zurück zu seinem Platz im Wohnzimmer und nahm Messer und Holz wieder zur Hand. Er könnte in eine andere Stadt gehen, dachte er. Kein Mensch würde ihn daran hindern. Zweifellos käme Corby ihm nach, aber wenigstens gäbe es eine Zeitlang keine glotzenden Nachbarn, keine Freunde und Bekannten, die an ihm vorbeisahen, wenn er ihnen begegnete. Und wenn man ihn in der neuen Stadt – Paterson oder Trenton – schließlich auch ächtete, dann wäre das nicht so schlimm wie hier in Newark, wo die Freundschaften tiefere Wurzeln hatten. Er fing an, kreuzweise Kerben in das Holz zu schneiden. Er hoffte, daß Stackhouse seine sämtlichen Freunde verlöre. Kimmel höhlte mit der abgerundeten Messerspitze kreisrunde Vertiefungen aus. Dann machte er Kreuze in die Vertiefungen, er tastete mit dem Daumennagel nach dem richtigen Winkel, damit sie genau wurden. Ohne seine Brille bekam er keins der reichverschnörkelten Muster zustande, aber jetzt machte es ihm Spaß, allein mit Hilfe des Tastsinnes zu arbeiten. Er war 332
glücklich bei seiner Arbeit, allerdings, als sie ihm fixer und sicherer von der Hand ging, begann er sich wieder wütend und gereizt zu fühlen. Er überlegte, daß die einzige angemessene Strafe für Stackhouse die Kastration wäre. Er hätte gern gewußt, ob es eigentlich dunkel war um Stackhouses Haus in Long Island. Kimmel schnaufte und grub die Klinge in das Holz. Er merkte, daß er jetzt davon ausging, Stackhouse sei schuldig, und zuerst hatte er ihn doch für unschuldig gehalten; aber dieser Umschwung erschien Kimmel überhaupt nicht wichtig. Ja, eigentlich war es völlig uninteressant, ob Stackhouse seine Frau wirklich getötet hatte. Das Komische an Corby war, dachte Kimmel, daß er anscheinend genauso dachte. Kimmel entsann sich ganz deutlich, daß Corby Stackhouse für unschuldig gehalten hatte, selbst dann noch, als er die Zeitungsmeldung über Helens Tod gefunden hatte. Corby hatte nur angefangen zu sagen, er hielte Stackhouse für schuldig, und Stackhouse zu behandeln, als wäre er es. Das Resultat war das gleiche, dachte Kimmel, ob Stackhouse nun schuldig war oder nicht: seine Frau war tot, es sah so aus, als hätte er sie getötet, und Stackhouse hatte einen Mann ins Unglück gestürzt, der vorher vollkommen friedlich dahingelebt hatte. Kimmel wurde sich bewußt, daß er es vorzog, Stackhouse für schuldig zu halten, weil die Schuld im Verein mit der Immunität, die er genoß, ihn um so hassenswerter machte. Kimmel stellt sich Stackhouse mit ein paar treuen Freunden vor – von jener hochmütigen Treue unter den Spitzen der Gesellschaft, die nach außen hin stets überzeugt täte, daß ein Mann wie Stackhouse eines so bestialischen Verbrechens wie des Mordes nicht fähig wäre –, mit Freunden, die guten Scotch mit ihm tränken und ihm einzureden versuchten, er sei das Opfer eines abscheulichen Komplotts, einer höchst unglücklichen Verkettung von Umständen geworden. Vielleicht lachten sie sogar darüber! Kimmel merkte plötzlich, daß er rundherum eine tiefe Kerbe in das Holzstück geschnitzt 333
hatte, als wolle er es in der Mitte durchschneiden. Er hielt inne und fing an, die Kerbe wieder zu glätten. Aber es gefiel ihm nicht mehr. Er hatte es regelrecht verpatzt. Kimmel fuhr zusammen, als es klingelte. Kimmel hatte keinen Schritt gehört. Der Flur war finster für ihn, und er spähte vorsichtig durch den Spalt des Vorhangs an der Tür, er sah die verschwommene Silhouette eines Hutes und zweier Schultern, und er erkannte sie: Corby. »Machen Sie auf, Kimmel, ich weiß, daß Sie da sind«, sagte Corby, als könnte er ihn sehen, und Kimmel war gar nicht sicher, daß er es nicht konnte. Kimmel öffnete die Tür. Corby trat ein. »Ich habe Sie in Ihrem Laden gesucht. Arbeiten Sie nicht mehr dort? Ach ja, die Brille wieder!« sagte Corby lächelnd. »Natürlich.« Er ging an Kimmel vorbei ins Wohnzimmer. Kimmel stolperte über den Teppich. Er steuerte direkt zum Sofa, barg zuerst sein Messer, dann sein Stück Holz, das er in die Tasche steckte. Das Messer hielt er neben sich, den Griff zwischen Daumen und Fingerspitzen. »Was machen Sie denn so allein?« fragte Corby und setzte sich. Kimmel antwortete nicht. Gestern nacht war er bis drei Uhr morgens bei Corby gewesen. Corby wußte genau, was er gemacht hatte, wen er getroffen hatte – nämlich niemanden – seit der Sitzung, die sie im Polizeirevier gehabt hatten. »Stackhouse hat eine neue Praxis in der Vierundzwanzigsten Straße eröffnet, ganz allein. Ich war heute morgen bei ihm. Er scheint ganz schön zu Rande zu kommen, wenn man bedenkt …« Kimmel blieb abwartend stehen. Er war an diese Besuche von Corby gewöhnt, an diese Informationsbrocken, die er wie 334
Vogelmist herabkleckern ließ. »Es hat Ihnen nicht gerade sehr viel genützt, daß Sie Stackhouse denunziert haben, was, Kimmel? Kein Geld von ihm, Ihren Laden müssen Sie schließen wegen einiger neugewonnener Feinde, und Stackhouse ist imstande, eine neue Praxis unter seinem eigenen Namen zu eröffnen! Kimmel, das Glück ist nicht gerade mit Ihnen, wie?« Kimmel hätte am liebsten Corby das Messer zwischen die Zähne gerammt. »Es ist für mich ohne Interesse, was Stackhouse tut«, sagte Kimmel kalt. »Darf ich Ihr Messer sehen?« fragte Corby und streckte die Hand aus. Es irritierte Kimmel, Corby sich auf seinem Sofa lümmeln zu sehen, zu wissen, daß Corby, wenn er sich auf ihn stürzte, den Angriff wahrscheinlich trotzdem parieren konnte. Kimmel gab ihm das Messer. »Das ist ja ein Prachtstück«, sagte Corby voll Bewunderung. »Wo haben Sie es her?« Kimmel lächelte ein bißchen, grimmig, dennoch voller Wohlgefallen. »Aus Philadelphia. Es ist ein ganz gewöhnliches Messer.« »Immerhin geeignet, allerhand anzurichten. Ist es das Messer, das Sie für Helen benutzt haben?« O ja, hätte Kimmel gern in leichtem Plauderton gesagt. Er sagte nichts. Seine dicken Lippen waren zusammengepreßt. Er stand wartend da, äußerlich ruhig, aber in seinem Innern schäumte die Wut wie ein Gift, er fühlte sich regelrecht benommen davon, elend in der Magengrube. Er erwartete die nächsten Minuten, erwartete, daß Corby aufstünde und ihn ins Gesicht schlüge, ihn in den Magen boxte und ihn, wenn er sich in irgendeiner Weise widersetzte, noch härter schlüge. Kimmel stellte sich gern vor, er bekäme seine Hände an Corbys Hals, ja 335
auch nur eine Hand. Gelänge ihm das jemals, er würde um keinen Preis wieder loslassen, ganz gleich, wie oder wohin Corby ihn schlagen mochte. Er würde um keinen Preis loslassen, und vielleicht konnte das schon heute geschehen, dachte Kimmel und zog ein wenig Trost aus dieser Hoffnung. Es wäre doch auch so einfach, Corbys Genick zu durchbohren, wenn er fortging. Oder läge er selber dann wie gewöhnlich als zitterndes Häuflein auf dem Fußboden im Wohnzimmer? »Finden Sie das mit Stackhouse nicht interessant? Scheint seiner Beliebtheit in keiner Weise Abbruch getan zu haben.« Corby klappte das Messer auf und zu. Das vertraute Geräusch des Messers unter Corbys Fingern war Kimmel verhaßt. »Ich sagte Ihnen schon, es interessiert mich nicht!« »Wann bekommen Sie Ihre Brille?« fragte Corby unbewegt. Kimmel antwortete nicht. Hiermit wären es zweihundertundsechzig Dollar, die Corbys Brillenzerstörung ihn gekostet hatte. Corby stand auf. »Ich komme wieder, Kimmel. Vielleicht morgen.« Corby ging aus dem Wohnzimmer. »Mein Messer!« sagte Kimmel und lief ihm nach. Corby drehte sich an der Haustür um und gab es ihm. »Was fingen Sie ohne das an?«
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39 Am Abend darauf nahm Kimmel seinen Wagen und fuhr hinaus nach Benedict, Long Island. Erst fuhr er nach Hoboken, ging in letzter Sekunde an Bord einer Autofähre, und drüben in Manhattan machte er die unglaublichsten Umwege, weit die Westseite hinauf und die Park Avenue wieder hinunter, bevor er nach Osten hinüberschwenkte zum Midtown-Tunnel, alles, um den Corby-Mann abzuschütteln, der ihm, das wußte er, von seinem Hause aus folgen würde. Es irritierte ihn, beschattet zu werden, es irritierte ihn beinahe so sehr wie die Beleidigungen, die Corby ihm ins Gesicht schleuderte. Immer, wenn er den Mann ausfindig machte – und er machte ihn oft ausfindig, obwohl Corby seinen Mann ständig wechselte –, auf dem Wege zu seinem Laden oder auf dem Wege zum Lebensmittelgeschäft, immer wurde Kimmel rot vor Ärger, immer krümmte er sich, aber gleichzeitig wallte stets ein Gefühl der Erhabenheit in ihm auf, das ihn verwirrte und ihn davon abhielt, irgend etwas zu unternehmen gegen den Mann, ja, sogar irgend etwas gegen ihn zu empfinden – außer dem stillen und mörderischen Wunsch, das Lebenslicht dieses Mannes zwischen seinen Fingern zu zerquetschen, sollte er je in Reichweite kommen, es zu zerquetschen – wie er eine Mücke zerquetschen würde. Er sah seinen Schatten nicht an jenem Abend, als er nach Benedict fuhr, aber er bildete sich ein, er sähe ihn, selbst dann noch, als nach den Gesetzen der Logik feststand, daß er ihn abgeschüttelt haben mußte, und diese Einbildung war noch verwirrend genug. Kimmel war verdrossen und rastlos. Bei einer Tankstelle hatte er eine Karte erstanden, aber sie war nicht genau genug, als daß die Marlborough Road in Benedict darauf verzeichnet gewesen wäre. Kimmel betrat ein 337
Feinkostgeschäft in einem Einkaufszentrum außerhalb der Stadt und erkundigte sich nach dem Weg. Der Mann kannte die Marlborough Road, und er schien sich überhaupt nichts bei der Frage zu denken, fand Kimmel. Der Kartoffelsalat und die Rollmöpse und Würstchen hinter der Glastheke sahen besonders frisch und einladend aus, aber Kimmel stellte fest, daß er keinen Hunger hatte, und er kaufte nichts. Er parkte seinen Wagen an der Hauptstraße in der Nähe der abzweigenden Marlborough Road, schloß die Tür ab und setzte sich in Marsch. Es war eine dunkle, ungepflasterte Straße, an der nur zwei oder drei Häuser standen, soweit Kimmel in der Finsternis sehen konnte. Er sah an den Häusern überhaupt keine Nummern, aber im Schein seiner Taschenlampe erkannte er die Namen auf den Briefkästen am Straßenrand. Nirgends stand der Name Stackhouse, und Kimmel ging weiter zu dem weißen Haus hinter den Bäumen. Kimmel sah sich um. Keine Wagenlichter, kein Laut. Er trat an den Briefkasten und richtete den dünnen Lichtstrahl darauf. W. P. Stackhouse. Kein Fenster war erleuchtet in dem Hause. Kimmel schaute auf seine Uhr. Es war erst neun Uhr dreiunddreißig. Wahrscheinlich war Stackhouse ausgegangen für den Abend, mit einem seiner treuen Freunde. Dennoch näherte sich Kimmel dem Hause quer über den Rasen mit Vorsicht. Er ging auf Zehenspitzen, sein Gewicht warf seinen Körper von einer Seite zur anderen, und doch hatten seine Bewegungen eine aalglatte Grazie, viel mehr Grazie als sein normaler Gang. Er bückte sich geschmeidig, um einer herabhängenden Ranke im Garten auszuweichen, und ging weiter, umkreiste das Haus. Nirgends war Licht. Wieder stand Kimmel vor der Haustür. Er überlegte, ob er klingeln solle. Es würde ihm Spaß machen, Stackhouse aus der Fassung zu bringen, ihn soweit zu bringen, daß er sich ernsthaft Sorgen um sein körperliches Wohlbefinden machte. Stackhouse machte sich bei weitem noch nicht genug Sorgen. 338
Er könnte Stackhouse heute abend sogar umbringen, nun er seinen Beschatter einmal abgeschüttelt hatte, und zum Teufel mit einem Alibi. Er würde keine Spuren hinterlassen. Er würde wieder lügen. Kimmel zitterte, als er sich vorstellte, er zerquetschte Stackhouses Hals zwischen seinen Händen … und dann wurde ihm plötzlich bewußt, wo er stand; es war durchaus möglich, daß Stackhouse ihn hier gegen den etwas helleren Streifen Straße erkennen konnte; es wurde ihm bewußt, daß er heute abend nur gekommen war, um seine Neugierde zu stillen und zu sehen, wo Stackhouse eigentlich wohnte. Stackhouse war höchstwahrscheinlich nicht zu Hause. Kimmel sollte sich glücklich schätzen, daß Stackhouse nicht zu Hause war, denn so konnte er einen viel genaueren Blick auf das Haus werfen. Langsam trat Kimmel dicht an die Haustür heran, drückte seine Lampe gegen die Glasscheibe oben in der Tür und spähte ins Innere. Das Licht beschien ein Stück leere Diele, einen dunkelglänzenden Fußboden. Die Diele sah absolut leer aus, obwohl der Lichtstrahl nicht weiter reichte als anderthalb Meter. An einer Seitenwand des Hauses fand Kimmel ein Fenster zu ebener Erde. Er richtete die Lampe darauf. Der Strahl traf auf eine weiße Wand, einen leeren Boden. Und es waren keine Gardinen da. Es dämmerte Kimmel, daß Stackhouse möglicherweise ausgezogen war, und in plötzlicher Aufregung fuhr er herum und stürzte wieder zur Haustür. Er drückte auf den Klingelknopf. Ein leises, harmonisches Glöckchen ertönte. Er wartete, dann drückte er wieder. Er fühlte sich genasführt und wütend. Er war wütend, weil er jetzt ahnte, daß er die lange, mühselige Fahrt vergeblich gemacht hatte, daß Stackhouse ihm entwischt war. Er war so wütend darüber, als wäre Stackhouse mit all seiner Habe erst vor fünf Minuten verschwunden, als Kimmel bereits auf das Haus zuging. Kimmel warf sich auf die Klingel, drückte sie mit rhythmischen Stößen und füllte das dunkle, leere Haus mit dem 339
regelmäßigen, banalen Glockenton. Er ließ erst davon ab, als sein Daumen zu schmerzen begann, und drehte sich laut fluchend um. Wenn er zu Stackhouse wollte, dachte Kimmel, dann konnte er das, und kein Mensch sollte ihn daran hindern, nicht einmal Corbys Leute. Stackhouses früherem Büro würde es ein Vergnügen sein, ihm die neue Büroadresse mitzuteilen. Er konnte sich das Gesicht vorstellen, das Stackhouse machen würde, wenn er Kimmel vor der Tür auf ihn warten sähe, bereit, ihn bis nach Hause zu verfolgen. Man konnte Stackhouse Angst einjagen. Kimmel hatte das schon immer gewußt, vom ersten Tage an, da Stackhouse bei ihm im Geschäft war. Kimmel wollte ihm gehörig Angst einjagen und ihn dann vielleicht töten, an einem solchen Abend wie heute, irgendwo. Jammerschade, daß Stackhouse heute nicht da war, dachte Kimmel. Alles hätte heute abend erledigt werden können. Plötzlich kehrte Kimmel der Tür den Rücken und ging mit langen Schritten über den Rasen, den Kopf würdevoll erhoben, die mächtigen Arme schlenkernd. Genau das Haus, wie er es von Stackhouse erwartet hatte, geräumig und von solider Kostspieligkeit, jedoch ohne Prunk – Stackhouse war ganz der Mann von Geschmack, saß so selbstzufrieden mit seinen Rechten hinter dem Schutzwall seines Geldes, seiner Gesellschaftsklasse, seiner angelsächsischen Schönheit. Kimmel blieb an einer der Weiden neben der Straße stehen und pinkelte.
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40 Walter hob den Hörer ab. »Hallo?« »Hallo. Ist dort Mr. Stackhouse?« »Ja.« Walter warf einen Blick auf den Mann, der an der Tür herumstand. »Hier ist Melchior Kimmel. Ich hätte Sie gern gesprochen. Wann haben Sie in dieser Woche Zeit für eine Zusammenkunft?« Walter wünschte, der Mann würde gehen. Ihre Unterredung war beendet, und doch zauderte er noch und schaute ihn an. »Ich habe diese Woche keine Zeit.« »Es ist wichtig«, sagte Kimmel mit plötzlicher Schärfe. »Ich möchte Sie an einem Abend dieser Woche sprechen. Wenn Sie sich weigern, werde ich …« Walter legte langsam den Hörer auf und schnitt die Stimme ab, er stand langsam auf und ging auf den Mann an der Tür zu. »Ich werde den Fall Anfang nächster Woche zur Verhandlung bringen können. Sobald ein Urteil gesprochen ist, gebe ich Ihnen Bescheid.« Der Mann schaute ihn an, als könne er es gar nicht recht glauben. »Die Leute sagen, streite dich nie mit dem Hauswirt. Sie sagen, gib dir gar nicht erst Mühe.« »Dafür bin ich ja da. Wir werden es versuchen, und wir werden gewinnen«, sagte Walter und machte die Tür auf. Der Mann nickte. Das Mißtrauen, das Walter in seinem Gesicht zu sehen glaubte, war nichts weiter als Besorgnis, dachte Walter, Besorgnis, daß er vielleicht die zweihundertfünfundzwanzig Dollar nicht zurückbekäme, die er 341
in den letzten acht Monaten einem gierigen Hauswirt zuviel bezahlt hatte. Walter sah ihm nach, als er den Korridor entlang zum Fahrstuhl ging. Dann wandte er sich wieder in sein Büro zurück. Walter starrte hinunter auf die beiden Formulare auf seinem Schreibtisch: das eine war die Sache mit dem Hauswirt, das zweite ein Fall von unrechtmäßiger Verhaftung wegen Trunkenheit. Und das war alles. Jetzt war es still im Büro. Das Telephon schwieg. Aber es war ja erst der achte Tag heute, dachte er. Man konnte doch innerhalb von acht Tagen keine Klientenlawine erwarten, und vielleicht waren ihm auch ein paar Anrufe entgangen, als er an zwei Vormittagen in der Bibliothek war. Vielleicht hatte sogar ein Student angerufen, der bei ihm arbeiten wollte. Vielleicht müßte er noch einmal inserieren, ein größeres Inserat als voriges Mal. Sein Blick fiel auf die zusammengefaltete Zeitung an der Schreibtischkante, und er dachte an diesen Absatz in der Klatschspalte mit der Überschrift ›Geisterhaus?‹ … Das Geheimnis, welche Rolle ein gewisser junger Rechtsanwalt beim Tode seiner Frau gespielt hat, ist noch immer ungelöst, aber um sein derzeitiges Wohlergehen ist gar kein Geheimnis. Anscheinend unverzagt, hat er sich in Manhattan selbständig gemacht. Es würde uns interessieren, ob die Klienten in ebensolchen Strömen wegbleiben wie die Käufer von seinem Landsitz in Long Island, der jetzt zum Verkauf steht. Im Volksmund dort heißt es, das Haus sei verwünscht … Bessere Reklame konnte er eigentlich überhaupt nicht machen. Walter lächelte schief und horchte auf die Schritte im Korridor, Schritte, die vorbeigingen. Er hatte gehofft, es sei der Postbote. Er war neugierig, was die Post heute morgen bringen würde. Wollte Kimmel wieder Geld aus ihm herauspressen? Oder 342
wollte Kimmel ihn umbringen? Was machte Corby? Corby hatte eine Woche lang nichts von sich hören lassen. Welchen Plan heckten Corby und Kimmel wieder aus? Walter hob den Kopf, bemühte sich, klar zu denken. Er konnte es nicht. Ihm war, als hätte er ein Brett vor dem Kopf. Er stand auf, als könne er es durch die Bewegung beiseite stoßen, und begann, auf dem schmalen Raum um seinen Schreibtisch herumzulaufen. Etwas Weißes fiel an der Tür herunter. Walter stürzte hin. Es waren vier Briefe. Er griff sich den einfachen Umschlag mit Maschinenschrift heraus. Der Brief war von einem Studenten namens Stanley Utter. Er war zweiundzwanzig und im sechsten Semester, und er hoffte, daß sein derzeitiger Ausbildungsstand genüge, weil er sich auf das Strafrecht spezialisiert habe. Er bat um eine Unterredung und kündigte an, daß er anrufen werde. Es war ein sehr ernsthafter, respektvoller Brief, und er ging Walter näher als alle Privatbriefe, die er je bekommen hatte. Vielleicht war Stanley Utter genau der junge Mann, den er brauchte. Vielleicht war Stanley Utter mehr wert als zehn andere Bewerber. Walter legte einen Umschlag beiseite, der nach Reklame aussah, und öffnete den Brief, der den gedruckten Absender Cross, Martinson und Buchman trug. Lieber Walter, Ich denke doch, ich sollte Dich warnen. Cross wird alles tun, was in seiner Macht steht, um Dich sperren zu lassen. Man kann Dich selbstverständlich nicht sperren, solange Du nicht schuldig gesprochen bist, aber Cross kann mittlerweile so viel Staub aufwirbeln, daß Deine Praxis kaputtgeht. Ich weiß nicht, was ich Dir raten soll, aber ich hielt es für fair, Dir das zu sagen. Dick 343
Walter faltete den Brief wieder zusammen, dann riß er ihn mechanisch in Stücke. Auch damit hatte er gerechnet. Es würde genauso gehen wie alles andere auch. Sie würden ihn nicht offiziell an der Weiterführung seiner Praxis hindern, niemals. Bloß inoffiziell. Bloß genügend Tuschelei über seine Sperrung, daß er mattgesetzt war.
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41 Sollte er ihnen allen noch einmal eine Chance geben? Walter lachte, ein nervöses Lachen, das ihn den Kopf einziehen ließ vor Angst und Scham, als er so durchs Zimmer lief. Er sah zu Boden, auf den rot und grün gemusterten Teppich. Das Zimmer wartete. Die beiden hochlehnigen Stühle an der Wand warteten, das einfache, leere Bett, die bronzene Uhr, die nicht ging, alles wartete auf ihn. Alles wartete, nur Jeff nicht. Jeff schlief auf dem Sitz des Klubsessels, genau wie er zu Hause auch immer geschlafen hatte. Aber Ellie. Jon. Dick. Cliff. Iretons und McClintocks. Sie mußten doch auch warten, auf irgend etwas warten, darauf warten, daß er sich geschlagen gäbe. »Wie fühlst du dich, Walt?« hatte Bill Ireton vor drei Tagen gefragt. »Nun, wir werden dich gelegentlich einmal besuchen.« Walter hatte sich gekrümmt bei den hohlen, häßlichen Worten, hinter denen nichts als Neugier stand, eine verlogene Heuchelei, sicher am fernen Ende des Telephondrahtes. Er war gespannt, ob Bills Neugier so groß werden würde, daß er es noch einmal probierte. Walter stand da und schaute auf Jeff, versuchte sich zu entsinnen, ob er ihn heute abend schon gefüttert hatte. Er konnte sich nicht entsinnen. Er ging in die kleine Küche, öffnete den Kühlschrank und warf einen Blick in die halbleere Büchse mit Hundefutter, aber sie rief keinerlei Erinnerung in ihm wach. Er tat etwas davon in einen Topf, machte es warm und brachte es Jeff hinein. Er schaute zu, wie Jeff langsam alles auffraß. Er sollte gehen und den Brief an Stanley Utter in den Kasten 345
werfen, dachte Walter. Der Brief lag fertig auf dem Flurtischchen. Gern hätte er Jon angerufen. Nicht, daß er sich davon irgend etwas versprochen hätte, sondern nur, um das letzte Wort zu sagen, das Walters Gefühl nach nie gesprochen worden war. Vorige Woche hatte er Jon angerufen und sich entschuldigt, daß er damals aufgelegt hatte, als Jon ihn in Long Island anrief. Jon war nicht böse gewesen, seine Stimme hatte genauso geklungen wie bei dem Ferngespräch damals: »Wenn du dich beruhigt hast, kannst du vielleicht ganz offen mit mir reden, Walter.« »Ich bin ganz ruhig. Darum rufe ich an.« Und er wollte Jon gerade fragen, wann er ihn treffen könne, da sagte Jon: »Wenn du aufhörst, dich feige um die Wahrheit herumzudrücken, wie immer sie auch aussehn mag …«, und Walter erkannte, daß sie an genau der gleichen Stelle standen wie zuvor, daß er sich wirklich feige um die Wahrheit herumdrückte, weil er Angst hatte, daß Jon ihm nicht glauben würde, selbst wenn er den ganzen langen Weg noch einmal in Worten zurückverfolgte, denn es hatte ihm ja auch sonst niemand geglaubt. »Wollen wir’s lassen?« hatte Walter schließlich zu Jon gesagt, und sie hatten es gelassen, hatten aufgelegt, und Jon hatte nicht wieder angerufen. »Sag mir, was wirklich geschehen ist, Walt«, hatte Cliff vorige Woche geschrieben. »Bevor du nicht sagst, was wirklich geschehen ist, hat dies nie ein Ende …« »O ja«, hatte Corby gesagt, »es wird ewig so weitergehen, wenn Sie nicht gestehen.« Und Ellie: »Die Lügen sind es, die ich nicht verzeihen kann … Ich kann sogar sagen, daß ich dich die ganze Zeit über in Verdacht hatte.« Er wollte Jon anrufen. Er würde sagen: »Ich bin erledigt. Soll alles über mir zusammenstürzen. Da schau mich an! Ihr könnt 346
eurer Schadenfreude freien Lauf lassen! Ihr könnt euch alle beglückwünschen! Ihr habt gesiegt, ich bin fertig!« Was wurde aus so einem wie ihm? Man wurde zu einer lebenden Null, dachte Walter. Etwa so, wie er manchmal mit Clara empfunden hatte, wenn er in irgend jemandes Garten in Benedict stand mit einem Glas in der Hand, wenn er sich gefragt hatte, warum er eigentlich hier war und was aus ihm werden sollte. Und warum. Nie hatte er darauf eine Antwort gefunden. Er blickte auf Jeff in dem Sessel. Ich liebe dich, Clara, dachte er. Liebte er sie? Hatte eine Null die Fähigkeit zu lieben? Es war nicht logisch, daß eine Null imstande sein sollte zu lieben. Was war denn logisch? Er wünschte, Clara wäre da. Das war der einzige definitive Wunsch, den er hatte, und er war am wenigsten logisch. Walter holte seinen Mantel aus dem Schrank und zog ihn eilig an. Er merkte, daß er sein Jackett nicht daruntergezogen hatte, aber er ließ es gut sein. Er schlang sich einen Wollschal um den Hals, denn ganz mechanisch und mit tiefer Gleichgültigkeit dachte er daran, daß es heute abend sehr kalt war. Er nahm den Brief an Stanley Utter in die Hand. Er ging in westlicher Richtung, auf den Central Park zu. Er konnte die schwarze Masse der Bäume sehen, und sie schien Schutz zu bieten wie ein Dschungel. Er hielt Ausschau nach einem Briefkasten, aber er sah keinen. Er schob den Brief in die Manteltasche und steckte auch die Hände in die Taschen, denn er hatte keine Handschuhe an. Wäre der Park ein Dschungel, dachte er, dann würde er weitergehen, tiefer und tiefer hinein, so tief, daß niemand ihn finden könnte. Er würde weitergehen, bis er tot umfiele. Niemand würde je seine Leiche finden. Er würde einfach verschwinden. Wie konnte man sich selber umbringen, ohne eine Spur zu hinterlassen? Säure. Oder 347
eine Explosion. Er dachte an die Explosion der Brücke in dem Traum, den er gehabt hatte. Der Traum schien ihm jetzt ebenso wirklich wie alles andere, was geschehen war. Er betrat den Park. Ein Weg schlängelte sich vor ihm dahin, von einer Laterne beleuchtet, eine begrenzte Strecke schlangelnden grauen Zements, und hinter jener Kurve kam wieder eine Strecke. Es war zu kalt, kein Mensch war im Park, dachte er. Und dann stieß er auf ein Pärchen, das auf einer leeren Bank festumschlungen saß und sich küßte. Walter verließ den Weg und begann, einen Hügel zu erklimmen. Er stolperte in der Finsternis über einen Stein. Das stachelige Unterholz verfing sich in seinen Hosenaufschlägen. Er ging weiter, mit gleichmäßigen, weitausholenden Schritten. Er dachte an gar nichts. Es war ein angenehmes Gefühl, und er konzentrierte sich darauf. Ich denke daran, daß ich an nichts denke. War denn das möglich? Dachte er nicht in Wirklichkeit an all die Menschen und all die Ereignisse, die er in diesem Augenblick aus seinem Kopf verbannte? Und wenn man daran dachte, etwas aus seinem Kopf zu verbannen, dachte man dann nicht in Wirklichkeit daran? Er bildete sich ein, er höre Ellies Stimme sehr deutlich sagen: »Ich liebe dich, Walter.« Walter blieb mit einem Ruck stehen und lauschte. Wie oft hatte sie das gesagt? Und was bedeutete es? Es hatte nicht den Anschein, als bedeute es auch nur halb so viel, wie wenn Clara es gesagt hätte, und Clara hatte es gesagt, und sie hatte es auf ihre Art auch gemeint. Er setzte sich wieder in Bewegung, aber fast sofort hielt er inne und sah sich um. Er hatte ein Geräusch gehört, als stieße ein Schuh gegen einen Stein. Er starrte in die Finsternis zu seinen Füßen. Jetzt hörte er 348
nichts. Er sah sich suchend nach einem Weg um. Er wußte nicht, wo er war. Er setzte seinen Aufstieg weiter fort. Vielleicht war das Geräusch nur Einbildung gewesen. Aber für einen Moment war er irrsinnig erschrocken: er hatte sich eingebildet, Kimmel sei hinter ihm her, keuche den Berg hinan, wütend, auf der Suche nach ihm. Walter zwang sich, mit langen, langsamen Schritten weiterzugehen. Der Boden begann sich bergab zu senken. Ein Zweig knackte hinter ihm. Walter nahm den Rest des Abhangs in weiten Sätzen und sprang schließlich eine steile Felswand hinab auf einen Weg. Rasch trat er in den Schatten eines überhängenden Baumes. Der Weg war nur schwach von einer Laterne ein paar Meter weit beleuchtet, aber Walter konnte den hohen Felsen, von dem er heruntergesprungen war, gut erkennen, und auch den Abhang daneben, der sanfter hinunterführte zu dem Weg. Jetzt hörte er deutlich Schritte. Er sah Kimmel in den Lichtsaum oberhalb des Felsens treten, sich nach allen Seiten umschauen und dann den sanfteren Abhang herabsteigen. Walter sah Kimmel den Weg hinaufund hinunterblicken, dann sah er ihn auf sich zukommen. Walter preßte sich gegen die schräge Felswand. Kimmel drehte sein riesiges Gesicht im Gehen nach rechts und links. Er hielt seine rechte Hand sehr merkwürdig, als habe er ein offenes Messer darin, dessen Klinge er im Ärmel verborgen hielte. Walter starrte auf die Hand in dem Bemühen, etwas zu erkennen, als Kimmel an ihm vorbei war. Kimmel mußte ihn von der Wohnung aus verfolgt haben, dachte Walter, er mußte das Haus beobachtet haben. Walter wartete ab, bis Kimmel so weit entfernt war, daß er Walters Schritte nicht mehr hören konnte, dann trat er aus dem Schatten auf den Weg hinaus und ging in die andere Richtung. 349
Er ging mehrere Schritte, bevor er sich umschaute, aber gerade als er sich umschaute, drehte Kimmel sich herum: Walter konnte ihn sehr gut erkennen im Schein einer Laterne, und in der Sekunde, die Walter still dastand, dachte er, daß Kimmel ihn wohl sähe, denn Kimmel lief jetzt schnell auf ihn zu. Walter rannte. Er rannte, als sei ihm der Teufel auf den Fersen, aber sein Verstand schien ruhig und logisch zu arbeiten, er fragte: Was rennst du denn so? Du wolltest die Gelegenheit, es mit Kimmel auszufechten. Hier ist sie. Er dachte sogar: Kimmel hat mich wahrscheinlich überhaupt nicht gesehen, denn er ist kurzsichtig. Aber Kimmel rannte jetzt. Walter konnte die schweren, dröhnenden Schritte in dem asphaltierten Tunnel hören, durch den auch er eben gekommen war. Walter hatte keine Ahnung, wo er war. Er hielt nach einem Gebäude Ausschau, an dem er sich hätte orientieren können. Er sah keins. Er verließ den Weg und kletterte einen Hügel hinauf, er klammerte sich an die Büsche, um sich hochzuziehen. Er wollte sich verstecken und er wollte auch sehen, wenn er konnte, wo es hinausging aus dem Park. Der Hügel war nicht hoch genug, um über die dunkle Wand von Bäumen hinweg den Blick auf irgendwelche Häuser freizugeben. Walter blieb stehen und lauschte. Kimmel trabte unten auf dem Weg vorbei. Walter sah ihn, einen riesigen schwarzen Schatten, durch die blattlosen Äste eines Baumes. Walter wartete, bis seiner Meinung nach drei oder vier Minuten vergangen waren, dann begann er den Abhang wieder hinabzusteigen. Plötzlich fühlte er sich erschöpft, fühlte sich jetzt atemloser als vorhin, da er gerannt war. Er hörte Kimmel zurückkommen. Walter war beinahe am Fuße des Abhangs angekommen. Er klammerte sich einen Augenblick an den Ast eines Baumes, seine Schuhe 350
schlitterten, er lauschte den Schritten, die direkt auf ihn zukamen, nur noch wenige Meter entfernt, und er wußte, jetzt gab es kein Verstecken mehr, Kimmel würde ganz bestimmt seine Füße sehen, oder er würde ihn hören, wenn er wieder bergan zu laufen begänne. Walter fluchte: Warum war er bloß nicht über den Hügel weitergegangen? Er spannte alle Muskeln, bereit, Kimmel anzuspringen, und als er die dunkle Gestalt direkt unter sich und vor sich sah, sprang Walter. Sie sackten beide zusammen bei dem Anprall und fielen. Walter schlug mit aller Kraft zu. Halb über ihm kniend, schlug Walter so kräftig und so hart er konnte in sein Gesicht, dann stürzte er sich auf seine Kehle und umklammerte sie. Er schaffte es. Er spürte unermeßliche Kraft in sich, spürte, daß seine Arme hart wie Stahl waren und daß seine Daumen sich tief und hart wie Kugeln in die Kehle bohrten. Walter hob den schweren Schädel und schlug ihn zu Boden, bis seine Arme zu schmerzen begannen, bis seine Bewegungen immer langsamer wurden, bis er einen Schmerz in der Brust verspürte, so stechend, daß er kaum atmen konnte. Er schleuderte den Schädel ein letztes Mal hinab und setzte sich zurück auf seine Hacken, in mühsamen Atemstößen nach Luft ringend. Er hörte einen Schritt und erhob sich schwankend auf die Füße, bereit zu rennen. Aber er stand regungslos, als die hohe Gestalt näher kam. Es war Kimmel. Eine Flut von Übelkeit und Entsetzen schlug über ihm zusammen. Er trat einen Schritt zurück, aber es gelang ihm nicht davonzulaufen, als Kimmel auf ihn zukam und seinen riesigen rechten Arm hob, um ihn zu schlagen. Kimmel schlug ihn über die Schläfe, und Walter fiel hin. Die harten Schienbeine des toten Mannes waren unter ihm, und Walter krümmte sich, um sich wegzurollen, aber Kimmel 351
stürzte sich auf ihn nieder und drückte ihn wie ein schwarzes Gebirge zu Boden. »Idiot!« sagte Kimmel. »Mörder!« Kimmels Faust schmetterte gegen sein Kinn. Walter konnte in der kalten Luft, wie ein kompliziertes Universum für sich, den modrigen, süßlichen Geruch von Kimmels Laden riechen, Kimmels Kleider, Kimmel. Walters Arme fuhren ziellos durch die Luft, und er fühlte Kimmels Hand, die sich den richtigen Griff um seine Kehle suchte, die seine Kehle packte. Walter versuchte zu schreien. Er sah Kimmels rechte Hand emporgehen, und dann spürte er in seinem offenen Mund den Stich eines Messers durch seine Zunge gehen, spürte den Stich wieder in seiner Backe, hörte das Knirschen des Messers an seinen Zähnen. Der heiße Schmerz in seiner Kehle bereitete sich aus bis hinunter in seine Brust. Das war Sterben. Ein kühler Blitz zuckte über seine Stirn: das Messer. Er hörte ein Brüllen in seinen Ohren wie einen unablässigen Donner: das war der Tod und Kimmels Stimme. Die Stimme, die ihn Mörder, Idiot, Stümper nannte, bis der Sinn dieser Worte zu einer unerschütterlichen Tatsache wurde, die wie ein Berg auf ihm hockte, und er hatte nicht mehr die Willenskraft, dagegen anzukämpfen. Dann war es ihm, als schwebe er dahin wie ein Vogel, und er sah das kleine blaue Fenster, das er bei Ellie gesehen hatte, hell und voller Sonnenschein, und nur ein bißchen zu klein und ein bißchen zu weit weg, um dort hinaus zu fliehen. Er sah Clara den Kopf wenden und ihn anlächeln, ein rasches, sanftes Lächeln der Zuneigung, so wie sie in den ersten Tagen ihrer Bekanntschaft gelächelt hatte. Ich liebe dich, Clara, hörte er sich sagen. Dann schwand der Schmerz, verflüchtigte sich, als ränne aller Schmerz der Welt durch ein Sieb und ließe ihn leer und angenehm leicht zurück. Kimmel stand auf, sah sich nach allen Seiten um, drückte unbeholfen sein schlüpfriges Messer zu und bemühte sich, über sein rasselndes Keuchen hinweg zu lauschen, ob sich irgend 352
etwas regte. Dann wandte er sich dorthin, wo es am dunkelsten war, und begann zu gehen. Er wußte nicht, wohin er ging. Er hatte nur den Wunsch, dorthin zu gehen, wo es dunkel war. Er fühlte sich aufs äußerste erschöpft und befriedigt, genau wie nach Helen, erinnerte er sich. Behutsam schöpfte er wieder Atem, immer noch lauschend, obwohl er sich inzwischen vergewissert hatte, daß kein Mensch in der Nähe war. Zwei Leichen! Kimmel mußte fast lachen, denn es war beinahe komisch! Darüber sollen sie sich mal den Kopf zerbrechen! Das war jedenfalls Stackhouse! Gegner Nummer eins! Corby wäre der nächste. Kimmel spürte eine Welle von Haß hochbranden, und er dachte, wenn doch Corby hier wäre, gleich heute abend würde ich ihn auch noch erledigen. Kimmel erblickte ganz vorn die erleuchteten Fenster eines Hauses. »Kimmel?« Kimmel drehte sich um und sah etwa drei Meter entfernt die Gestalt eines Mannes, sah den dumpfen Schimmer eines Pistolenlaufs, der auf ihn zielte. Der Mann kam näher. Kimmel rührte sich nicht. Er hatte den Mann noch nie gesehen, aber er wußte, es war einer von Corbys Leuten; schon war die Lähmung über ihn gekommen. In diesen Sekunden, da der Mann herankam, wußte Kimmel, daß er sich nicht rühren würde, und zwar nicht deshalb, weil er sich vor der Pistole fürchtete oder vor dem Tode, es war etwas viel Tieferes, das er von seiner Kindheit her kannte. Es war das Entsetzen vor einer abstrakten Macht, der Macht einer geschlossenen Gruppe, das Entsetzen vor der Obrigkeit. Kimmel erkannte es jetzt ganz deutlich, und er hatte es zuvor schon tausendmal erkannt. Er kämpfte mit sich, weil er trotz des Entsetzens eigentlich handeln müßte, aber er konnte jetzt ebensowenig handeln wie all die anderen Male. Automatisch gingen seine Hände in die Höhe, und das war Kimmel mehr zuwider als alles andere, aber als der Mann ganz nahe an ihn herantrat und ihm mit einem 353
Ruck der Pistole befahl, kehrtzumachen und zu gehen, drehte Kimmel sich absolut gelassen und ohne die geringste persönliche Furcht um und begann zu gehen. Kimmel dachte: diesmal bin ich erledigt und werde sterben, aber er hatte keine Angst davor, gar keine, so als zähle das überhaupt nicht. Er schämte sich nur, daß er dem kleineren Mann neben ihm körperlich so nahe war. Er schämte sich, daß sie etwas miteinander zu tun hatten.
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