Romantic Mysteries Nummer 4 „Der Seelentausch“ von Linda Warren
Solange wusste, dass sie sterben musste. Auf dem Platz...
15 downloads
362 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Romantic Mysteries Nummer 4 „Der Seelentausch“ von Linda Warren
Solange wusste, dass sie sterben musste. Auf dem Platz vor der Kirche von Notre Dame stand sie auf dem Scheiterhaufen, an einem Pfahl gefesselt. Die Büttel drängten die Gaffer ab, die sich in großer Zahl eingefunden hatten, um das besondere Schauspiel zu genießen. Zwei Hexen sollten verbrannt werden, im Jahre des Herrn 1458 nach Christus im spätmittelalterlichen Paris. Eine der beiden Verurteilten war Solange Gracin, geboren am 24. März 1981 in Nantes. Sie dachte zurück, wie alles begonnen hat und wie es kam, dass sie, eine Studentin aus dem Jahr 2003, in diese verzweifelte Lage geraten war.
war, wie sie aussah, war neulich bei ihm eingezogen. Sie hätte Berthé ohrfeigen können, dass sie Paul in eine Diskussion verwickelt hatte. Denn wenn er diskutieren konnte, lief der angehende Jurist zu großer Form auf. Paul war ein Hitzkopf und zudem sehr von sich selbst überzeugt. Er war Einsneunzig groß, mit 24 zwei Jahre älter als Solange und sah blendend aus mit seinen schwarzen Locken und den dunklen Augen. Die beiden gaben ein schönes Paar ab. Solange stammte aus Nantes. Sie studierte Französisch, Geschichte und Pädagogik und wollte Gymnasiallehrerin werden. Solange war im fünften Semester. Sie studierte eifrig und bemühte sich sehr. Sie zog ihren Freund am Ärmel. „Lass und jetzt gehen, Paul, bitte. Ich habe morgen früh um neun schon die erste Vorlesung.“ „Nur noch einen Moment, Cherié. Berthé, sollte ich diesen Bertrand de Trohandour jemals treffen, werde ich ihm ins Gesicht sagen, was er ist: ein Scharlatan. Wenn ich allein schon den Namen höre: Er hört sich an wie der eines mittelalterlichen Troubadours.“ Berthé empörte sich: „Bertrand ist kein Schwindler. Durch diesen herrlichen, wunderbaren Mann habe ich mich an mehrere meiner früheren Leben erinnern können. So zur Zeit Pharao Amenophis des Zweiten in Ägypten. Des Ketzerkönigs Echnaton im dreizehnten vorchristlichen Jahrhundert.“ „Wer bist du denn da gewesen?“ höhnte Paul. „Sinuhe der Ägypter?“ „Spotte du nur. Nein, ich war der Künstler Menhotep, der Bildhauer, von dem die berühmte, einäugige und leicht beschädigte Büste der Nofretete stammt, die heute im Deutschen Museum in Berlin steht. Und weißt du, warum Menhotep nur das eine Auge der Pharaonengattin vollendete? Weil er sie strafen wollte.
* Die Luft in dem Café am Montparnasse war zum Schneiden. Solange Gracin langweilte sich tödlich. Immer wieder schaute sie ihren Freund an, schmiegte sich an ihn. Doch Paul verstand die Signale nicht, die sie ihm gab. Er diskutierte wieder mal, was eine seiner Lieblingsbeschäftigungen war. „Blödsinn“, sagte er jetzt, heftig abwinkend. „Diese Reinkarnationstheorie ist purer Quatsch. Die reine Verdummung.“ „Du kennst Bertrand de Trohandour nicht, den großen Guru“, sagte Berthé Schwartz, eine vollbusige 25-jährige. „Er kann jeden in Trance versetzen und erreichen, dass die betreffende Person sich an frühere Leben erinnert. Unsere Seele ist nämlich unsterblich und nicht nur dafür geschaffen, ein einziges Mal auf diesem Planeten zu leben.“ Solange gähnte heftig. Es ging schon auf Mitternacht zu. Sie wollte endlich nach Hause, in das schicke Apartment am Boulevard Haussmann. Paul Ruffaut hatte es gemietet. Er stammte aus reichem Haus. Solange, eine hübsche Blondine mit blauen Augen, die nicht so unschuldig-harmlos 2
Nofretete wurde nämlich seine Geliebte, als sie ihm Modell saß. Sie ließ ihn dann grausam fallen. Er ließ die Büste unvollendet in Luxor zurück, als die neue Hauptstadt nach Echnatons Fall aufgegeben werden musste. Menhotep ist dann bei den Unruhen, die zu Echnatons Sturz führten, ums Leben gekommen. Er hatte sich den Aufständischen angeschlossen, die für die neue Ordnung und Echnatons Reformen kämpften. Mit seinem Bildhauerhammer in der Hand stellte er sich den Soldaten des Generals Haremhab entgegen. Sogar einen Streitwagenlenker riss er noch von seinem Gefährt, bevor ihn die Speere durchbohrten.“ Paul hielt sich die Ohren zu. „Nein, nein, nein. Das kann man nicht anhören. Wer bist du denn noch alles gewesen?“ „Eine Inkaprinzessin, hundert Jahre ehe die Spanier ins Land kamen. Und ein Rittmeister zur Zeit der Napoleonischen Kriege. Und eine irische Einwandererstochter in Boston um Neunzehnhundert.“ „Das ist ja toll, was du schon alles hinter dir hast, Berthé“, sagte Solange, die froh war, etwas Abwechslung zu haben. „Deswegen siehst du so verlebt aus.“ „Was willst du damit sagen?“ „Dass ich von der Wiedergeburtstheorie absolut nichts halte“, erwiderte die modisch gekleidete Blondine. „In dem Fall stimme ich mit Paul völlig überein. Das ist nur ein dummer Quatsch für Leute, die allzu versponnen und leichtgläubig sind.“ Paul klopfte auf den Tisch. „Hört, hört!“ rief er. Im Nu bildeten sich zwei Parteien. Die Studenten im Café „Mona Lisa“ debattierten hitzig. Antoine, der Wirt, musste zur Ruhe mahnen. Er hatte Angst, allzu hitzige Streithähne würden sich in die Haare geraten. Berthé Schwartz war tödlich beleidigt. „Ihr seid voreingenommene Ignoranten!“ rief sie. „Aber der Meister selbst könnte euch leicht überzeugen. Geht doch morgen zu seiner Vorführung in Clichy. Der Zirkel des Goldenen Einhorns hat einen Saal im Bürgerhaus gemietet. Vor hunderten Menschen wird Bertrand de Trohandour, der Magus der Macht, seine überragenden Fähigkeiten demonstrieren. Zahlreiche Prominente werden erwartet. Es ist natürlich eine geschlossene Gesellschaft.
Doch ich kann euch Billetts beschaffen.“ „Danke“, sagte Solange. „Morgen Abend will ich mit Paul ins Kino gehen und mir den neuen Sandra Bullock-Film ansehen.“ „Das ist der Gipfel der Profanität!“ ereiferte sich ein blasser Student am Tisch, der sehr viel vom Okkultismus und der Esoterik hielt. „So einen Zelluloidschinken überragenden geistigen Erfahrungen und einer Erweiterung des gesamten seelischgeistigen Horizonts vorzuziehen. Ich habe ebenfalls durch den Magus ein früheres Leben nachvollziehen dürfen – in Indien im Achtzehnten Jahrhundert.“ Paul seufzte. „Für mich ist das eine reine Glaubensfrage“, sagte er. „Entweder man glaubt daran, oder nicht. Ich tue es nun einmal nicht. Dass der Mensch eine Seele hat, glaube ich durchaus. Auch, dass sie unsterblich ist. Aber warum sollte sie wohl ständig am gleichen Planeten umherhampeln und immer wiedergeboren werden ...“ „Das ist Chakra, das Ewige Rad des Kosmos!“ rief Berthé. „... wo das Universum so groß und unendlich ist?“ fragte Paul. Mit Juristenlogik fuhr er fort: „Allein unsere Galaxie, die Milchstraße, hat zirka einhundertsechzig Milliarden Sterne. Von diesen müssen viele Planeten haben, und es wäre vermessen anzunehmen, dass sich nur auf unserem kosmischen Staubkörnchen Leben und intelligentes Leben entwickelte. Es muss noch anderswo welches geben. Unsere Galaxis ist zudem nicht die einzig bekannte. Ich erinnere nur an den 1,3 Millionen Lichtjahre entfernten Andromeda-Nebel.“ „Was willst du damit sagen?“ fragte der bleiche Student. „Dass es bei der Vielzahl von Sternen und zweifellos auch von intelligenten Lebensformen bewohnten Planeten viel mehr Sinn ergäbe, wenn die Seele mal woanders erschiene.“ „Aber wir sind an die Erde und an die Menschheit gebunden!“ wandte Berthé ein. „Jeder Mensch hat seine kosmische Bestimmung auf Erden. Bis er sie erfüllt hat, muss er wiedergeboren werden.“ „Ja, Berthé“, sagte Solange. „Es ist gut. Rege dich nur nicht auf. Von mir aus kannst du ja wiedergeboren werden, so oft wie du willst. Aber ich bin jetzt wirklich müde und möchte nach Hause. Können wir nicht endlich gehen, Paul? Mir fallen die 3
Augen zu.“ Paul stand auf. Als er und Solange zum Ausgang gingen, rief Berthé ihnen hinterher: „Ihr seid nur zu feige, um von euren engstirnigen Ansichten abzugehen und einmal andere Erfahrungen zuzulassen. Ihr seid doch beschränkt.“ Solange war viel zu müde, um noch weiter zu diskutieren. Sie ermahnte Paul, der ihr in die schicke Thermojacke half: „Lass sie doch reden.“ Doch Paul wollte nicht hören. „Also gut, Berthé!“ rief er. „Ich gehe morgen zu diesem Magischen Zirkel und schaue mir de Trohandour einmal an. Den Film kann ich noch später besuchen. Bei de Trohandour habe ich vermutlich mehr zum Lachen.“ „Wenn du dich da nur nicht täuschst“, sagte Berthé. Das Liebespaar Paul und Solange verließ das Lokal. Es war Januar. Während sie im Café gesessen hatten, hatte es geschneit. Paul fegte den Schnee von den Scheiben seines Lamborghini Espadas. Der tolle italienische Sportwagen war sein ganzer Stolz. Im Auto war es zunächst kalt, als sie durch das nächtliche Paris heimfuhren. Solange stellte frierend den Kragen hoch. „Willst du morgen Abend wirklich nach Clichy?“ fragte sie. „Das ist vergeudete Zeit. Lass diesen Anhängern der Wiedergeburtslehre doch ihren Glauben.“ „Jetzt will ich es wissen“, sagte Paul aufgekratzt. „Ich sehe mir diesen Reinkarnations-Troubadour einmal an.“ Der Student verfälschte den Namen absichtlich. „Es wird sicher interessant. Du brauchst nicht mitzukommen, wenn du nicht willst.“ „Doch, ich begleite dich.“ Die sportliche, schöne 22-jährige war gern mit ihrem Freund zusammen. Ihm zuliebe nahm sie auch an Aktivitäten teil, die sie an sich weniger interessierten. Paul fuhr Solange übers Haar und legte die Hand auf ihren Schenkel. Das hatte sie sich schon vorgestellt. Zuerst fand Paul in dem Studentencafé kein Ende. Dann wollte er spät nachts Sex und Zärtlichkeit. Dabei war Solange ein Morgenmensch, musste zudem früh aufstehen und war nicht mehr in Stimmung. Doch sie wollte ihren Geliebten nicht abweisen. Wenn die Männer doch nur etwas verständnisvoller und einfühlsamer wären, dachte sie den Stoßseufzer unzähliger
Frauen. Wegen diesem de Trohandour und seinen umstrittenen Fähigkeiten, Menschen frühere Inkarnationen ins Bewusstsein zu rufen, war es so spät geworden. Wir könnten jetzt schon längst zu Hause sein, dachte Solange. Sie war gegen de Trohandour eingestellt, bevor sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. * „Wenn du mich fragst, ich werde nicht wiedergeboren“, sagte Paul beim Abendessen, ehe sie nach Clichy fuhren, einem Pariser Vorort. „Ein Durchlauf auf dieser Erde reicht. So schön, dass man tausendmal wiederkehren möchte, ist es hier nicht.“ Solange war sich nicht schlüssig. Kurz und bündig erwiderte sie: „Wenn das mit der Wiedergeburt stimmen sollte, wird man sowieso nicht gefragt, sobald es akut wird. Ich persönlich kann mich weder für noch gegen diese Theorie ereifern. Eigentlich habe ich absolut keine Lust für diese spiritistische Sitzung.“ „Das ist kein Spiritismus, sondern Esoterik, also die Lehre vom Geheimen, Verborgenen“, belehrte Paul sie. „Bezeichne die Leute dort nur nicht als Spiritisten, sonst zeigst du gleich, dass du keine Ahnung hast.“ „Es gäbe Schlimmeres.“ Solange hatte einen schweren Tag hinter sich. Außer den Vorlesungen, die sie regelmäßig besuchte, und der übrigen Arbeit fürs Studium jobbte sie auch noch bei einem Meinungsforschungsinstitut und beim Studentenschnelldienst. Sie hatte nämlich noch fünf Geschwister zu Hause in Nantes, die alle jünger als sie waren und von denen noch keines verdiente. Deshalb konnten ihre Eltern Solange nicht finanziell unterstützen. Die staatliche Studienbeihilfe reichte hinten und vorn nicht. Auf Pauls Kosten, der Sohn eines Bankdirektors war und ein großzügiges Budget hatte, mochte Solange nicht leben. Das hätte ihr das Gefühl gegeben, ausgehalten zu werden. Sie wollte jedoch unabhängig und selbständig bleiben, auch wenn sie mit Paul zusammenwohnte. Deshalb legte sie Wert darauf, sich jeweils angemessen an den Lebenshaltungskosten zu beteiligen. An diesem Freitag hatte sie studiert und dann noch gejobbt. Sie war völlig erledigt. In einem Fach musste sie zudem eine 4
Klausur für eine wichtige Prüfung schreiben. Doch sie ließ sich von Paul überzeugen, dass eine Abwechslung ihr gut täte, und fuhr mit ihm nach Clichy. Das Bürgerhaus war noch nicht lange fertig gestellt worden, ein großzügiger Komplex, hell und freundlich, mit Lokalen, Gesellschaftsund Tagungsräumen, einem WellenbadSchwimmbad mit Sauna und Solarium und einer Innenpassage, in der gerade eine Gemäldeausstellung hinter Glas stattfand und wo es Sitzgelegenheiten gab. Die Cafés und Bistros in dem aus umweltfreundlichem Material errichteten und in warmen, freundlichen Farben gehaltenen Gebäudekomplex waren gut besetzt. Auf der Galerie oben, wo eine künstlerische Veranstaltung ablief, tummelten sich Leute. Die Leute, die in den Saal Neun im ersten Stock zu den Esoterikern wollten, unterschieden sich äußerlich nicht von den übrigen in dem Bürgerhaus. Paul hatte den Lamborghini, ein Schmuckstück, das stolze 150.000 Euro kostete, in der Tiefgarage abgestellt. Hinten in der Ecke, wo man ihn nicht so sah. Der Bankierssohn lebte nämlich in ständiger Angst, sein Luxusauto würde ihm gestohlen werden. Es war zwar versichert, doch Paul hätte der Verlust trotzdem hart getroffen. Er ließ Solange den Vortritt auf der Treppe. Die Studentin hatte sich an dem Abend für einen schwarzen Lackledermantel, flauschigen gelben Pulli und Edeljeans entschieden. Dazu trug sie Boots, auffällig große Ohrringe und Modeschmuck. Solange hatte sich die naturblonden Haare neulich zu einem Stufenschnitt herrichten und Strähnen einfärben lassen. Paul nannte sie deswegen gelegentlich Punkie, was leicht übertrieben war. Solange, Einssiebzig groß, schlank, mit langen Beinen und nicht zu ausgeprägten Formen, war die weitaus Hübscheste unter den Besuchern des Esoterik-Kongresses, wie er sich hochtrabend nannte. Zunächst gaben Solange und Paul die Überbekleidung an der Garderobe ab. Sie trafen Berthé Schwartz und Roger Lefevre, jener bleiche, dünne Verfechter der Reinkarnationslehre, der am vergangenen Abend mit im Café „Mona Lisa“ gewesen war, am Saaleingang.
„Schön, dass ihr gekommen seid“, sagte die dralle Berthé. Sie hängte sich gleich bei Solange ein, der das gar nicht so recht war. „Ihr werdet euch wundern.“ Roger Lefevre hielt die Karten bereit. Solange betrachtete die feierlich gekleideten Leute an der Kasse und die beiden Kontrolleure am Saaleingang. Sie trugen sich alle dunkel und hatten einen gedämpften Umgangston. Aus ihrem Blick und ihrem ganzen Gehabe las Solange die Botschaft: Ha, wenn ihr wüsstet, was wir wissen, dann würdet ihr aber staunen. Es waren Menschen, die meinten, sich auf irgendeine Art über die Masse erheben zu müssen. Da es ihnen aufgrund besonderer Leistungen oder Fähigkeiten nicht notwendig war, hatten sie sich dem Okkultismus und der Esoterik verschrieben, um sich auf die Weise einbilden zu können, etwas Besonderes und Auserwählte zu sein. Solange sah ein Symbol über der Saaltür. Es zeigte zwei Schlangen, die sich gegenseitig in den Schwanz bissen und die so einen Kreis bildeten. In diesem Kreis war ein goldenes, springendes Einhorn dargestellt. „Das ist ein Ourobouros“, erklärte ihr Berthé, „der geschlossene Kreis. Das Einhorn versinnbildlicht, dass wir von seinem Zirkel im Zentrum der ewigen Weisheit und dem kosmischen Kreis stehen.“ „Interessant“, war alles, was Solange darauf erwidern konnte. Auf der Etage, vorm Saal im Gang, gab es zudem Verkaufsstände für die einschlägige Literatur, der Solange weil es schon spät war keine Aufmerksamkeit widmen konnte. Zudem Stellwände, an denen okkulte Theorien und Weisheiten dargestellt waren. Der Saal mit einer Galerie und mehreren hundert Plätzen war schon ziemlich besetzt. Um 20 Uhr hatte die Veranstaltung beginnen sollen. Jetzt war es 20.30 Uhr. Solange hatte es nicht so wahnsinnig eilig gehabt, nach Clichy zu gelangen. Es ging noch immer nicht los. Die Spannung sollte erhöht werden. Frühaufsteher waren die Esoteriker durch die Bank ohnehin anscheinend nicht. Berthé und Roger führten ihre Freunde auf die Galerie hinauf, wo sie einen Platz direkt an der Brüstung hatten. Über die Brüstung waren Tücher aus 5
schwarzer und lila Seide mit allerlei magischen Symbolen gehängt. Der Vorhang, der die Bühne verbarg, auf der der Magus auftreten sollte, war gleichfalls in diesen Farben gehalten und zeigte riesengroß das Symbol des Ourobouros mit dem goldenen Einhorn. An den Wänden des Saals waren ebenfalls okkulte Darstellungen angebracht. Das Stimmengemurmel im Saal bildete eine gleichmäßige Geräuschkulisse. Die Besucher gehörten allen möglichen Altersklassen an, von wenigen Jugendlichen über Twens und Dreißigjährige bis hin zu den reiferen Altersgruppen und einigen Greisen und Greisinnen. Viele trugen Amulette, Ringe oder Anhänger deutlich sichtbar, meist mit dem Einhorn-Symbol, womit sie ihr Faible für den Okkultismus darstellten. Solange schaute sich die Bilddarstellungen an der Wand rechts an. Danach befand sich die Menschheit derzeit in einer Phase der Abwendung von der natürlichen Schöpfung und geistigen Werten, was richtig sein konnte, und die Azteken und Mayas hatten damals ein weit besseres kosmisches Verständnis gehabt. Das konnte Solange nicht beurteilen. Sie las jedoch in einem Kreis, dessen nabenförmig angeordnete Sektoren jeweils Darstellungen und Hinweise enthielten, dass die Azteken mit ihren Göttern Quetzalcoatl, der gefiederten Schlange, und Huitzilopochtli, dem rauchenden Spiegel, das Non plus ultra an Göttern gehabt hätten. Das erschien ihr doch recht weit hergeholt. Sie wies Berthé darauf hin, dass die Azteken doch immerhin blutige Menschenopfer gebracht hätten, wobei das Blut, wie zeitgenössische Überlieferungen berichteten, von der Opferplattform an der Spitze des Pyramidentempels bis hinab auf den Platz und die Straße gelaufen sei. „Das darfst du nicht so eng sehen“, sagte Berthé. „Die Opfer wurden ja wiedergeboren. Zudem hatten sie aus früheren Leben ein schlechtes Karma, das sie zu diesem Opfer als Strafe verdammte, was wiederum einen guten Zweck hatte.“ Am liebsten wäre die blonde Studentin gleich wieder gegangen. Anscheinend glaubten die Menschen alles, wenn man es ihnen nur lange genug einredete und überzeugend darstellte. Wunschdenken
spielte dabei ebenfalls eine Rolle. Wenn ein Mensch etwas glauben wollte, weil es seiner innersten Überzeugung entsprach, bog er sich die Fakten entsprechend selbst zurecht und räumte für sich logische Widersprüche aus dem Weg. Solange wollte Berthé gerade erklären, das könnte ja wohl nicht ihr Ernst sein, als ein Gong ertönte. Schlagartig wurde es ruhig im Saal. Der Vorhang ging auf. Der Auftritt des großen Weisen und Magus der okkulten Künste, des Sehers des Verborgenen und Mittlers der Quellen kosmischer Kraft und Erneuerung, wie er sich selber nannte, begann. Bertrand de Trohandour war eine asketische Erscheinung. Er war über mittelgroß und hatte langwallendes, schlohweißes Haar. In seinem ausgezehrten Faltengesicht fielen hauptsächlich die großen, strahlenden Augen auf. Ein gepflegter weißer Bart fiel dem Magus bis auf die Brust. De Trohandour sah aus wie, wie man sich einen alttestamentarischen Propheten vorstellte. Er trug ein goldfarbenes Hemd, das ihm über den Gürtel fiel, und hatte ein handtellergroßes Amulett umhängen. Zudem stützte er sich auf einen Stab mit Ouroboros- und Einhornsymbol oben am Knauf und trug eine ernste und würdige Miene zur Schau. Er saß genau in der Mitte einer hufeisenförmigen Tafel, die auf der Bühne errichtet war. Zwölf Personen, Männer und Frauen, saßen bei ihm, Angehörige des Inneren Kreises des okkulten Zirkels, wie Berthé flüsternd erklärte. „Das ist also der Obermotz“, sagte Paul Ruffaut lauter, als gewollt hatte. Strafende Blicke von allen Seiten durchbohrten ihn förmlich. Empörte Gesichter wandten sich ihm zu. Wenn Blicke hätten töten können, eine alte Weisheit, wäre der Student tot von seinem Sitz gefallen. Solange rückte näher an ihren Freund heran, um zu demonstrieren, dass sie zusammengehörten. Gerade jetzt wollte sie Paul den Rücken stärken. Er lächelte entschuldigend. „War nicht so gemeint“, sagte er zu Berthé und Roger. „Ich harre mit großem Interesse der Dinge, die sich ereignen sollen.“ Er war aber doch nervös, denn er holte seine Zigaretten und das Feuerzeug hervor. Roger riss ihm die Zigarette sofort aus der Hand, noch ehe er sie in den Mund stecken 6
konnte. „Bist du verrückt?“ zischelte er. „Hier wird nicht geraucht.“ Paul entschuldigte sich nochmals. Die Veranstaltung, die Solange Gracins Leben nachhaltig verändern sollte, begann.
er aussätzig wäre. „Manche Leute begreifen die Wahrheit nicht einmal dann, wenn sie direkt vor ihnen steht und sie in den Hintern tritt“, murmelte Berthé, die sich sehr drastisch ausdrücken konnte. „Ich bedaure dich, Paul, weil du so borniert bist. Du hast keinen Sinn fürs Okkulte.“ „Ich aber auch nicht“, sagte Solange und ergriff Pauls Hand. Sie wollte ihm beipflichten. Er schaute sie dankbar an. Wieder erklang der Gong hinter den Kulissen. Damit konzentrierte sich aller Aufmerksamkeit auf die Bühne. Paul war vergessen. „Still!“ zischte Berthé. „Jetzt tritt der Magus auf! Meister! Meister!“ Sie schwärmte für de Trohandour wie ein Schulmädchen. Das war ganz offensichtlich. Der Magus, eine Schriftrolle in der Hand, ging nach vorn an die Rampe. Mit getragener Stimme sagte er: „So wollen wir wieder einmal den Schleier lüften, der den Abgrund der Zeiten verhüllt und uns unsere früheren Leben verbirgt. Denn viele Male wandelt jeder Mensch über die Mutter Erde, ehe er seine Bestimmung erfüllt hat. Auch ich habe schon früher gelebt, als ein Weiser und Hohepriester von Atlantis, ehe der Kontinent unterging in einem gewaltigen Krieg, der die Erde umformte. Viele Male schon, Brüder und Schwestern, war die Menschheit weit fortgeschritten und fiel wieder zurück. Viele Zivilisationen hat es schon gegeben. Mehrmals schon fasste der Mensch nach den Sternen. Doch bevor wir sie erreichen, müssen wir geistig und seelisch zu einer höheren Entwicklungsstufe fortschreiten. So wollen es die Ewigen Mächte.“ Solange stieß Roger an, den sie für ansprechbarer hielt wie Berthé, und fragte leise: „Wann fängt er denn jetzt an mit seiner Hypnose? Ich will endlich Zeugin werden, wie sich jemand an sein früheres Leben erinnert.“ „Still!“ wurde von allen Seiten gezischelt, als ob Solange sich einer Lästerung schuldig gemacht hätte. „Drei von uns können heute das große Abenteuer erleben und unendlich viel an Weisheit und kosmischem Verständnis gewinnen“, fuhr de Trohandour in pathetischem Ton fort. „Wer ist bereit?“ „Ich! Ich! Ich!“ schrien sofort fast alle im
* Zunächst hielt die Assistentin des Magus, eine junge Frau, die auf altägyptische Weise geschminkt und frisiert war und einen Schlangenreif um den Kopf trug, einen Vortrag über die Reinkarnation. Solange fand ihn zum Gähnen. Pauls Interesse war mäßig. Berthé, Roger und die übrigen in der Nähe des Studentenpaars lauschten jedoch sehr angetan. „Habe ich es nicht gesagt?“ fragte ein dicker, kahlköpfiger Mann mittleren Alters, der rechts hinter Solange saß, als die Assistentin – sie nannte sich Isis – dann endete. „Genauso sehe ich das auch. Mein letztes früheres Leben, dessen ich mir wieder bewusst wurde, dank des Magus, war das einer bekannten griechischen Hetäre. Ich habe Platon und Sophokles persönlich gekannt. Stellt euch das einmal vor.“ Solange schaute den Dicken entgeistert an. Wie eine schöne Hetäre, eine altgriechische, damals hochgebildete und gesellschaftsfähige Lebedame, sah er gewiss nicht aus. „Was für verborgene Talente doch in manchen von uns stecken“, murmelte Paul. Isis’ Vortrag endete. Sie senkte den Kopf und stand in ihrem weißen Gewand da, dessen Falten innen golden ausgelegt waren. Sie verneigte sich – und war plötzlich verschwunden. Solange zuckte zusammen. „Huch. Wo ist sie denn jetzt?“ fragte sie Berthé. „Isis ist eine Fortgeschrittene des Zirkels vom Goldenen Einhorn“, sagte die füllige Romanistikstudentin. „Sie beherrscht die Kunst der Teleportation. Sie kann sich von einem Ort an den anderen versetzen.“ „Aber das ist doch Blödsinn“, begehrte Paul auf. „Das sind billige Tricks.“ Leiser, weil schon wieder die Leute sich nach ihm umdrehten, fuhr er fort: „Ich weiß, wie so etwas gemacht wird. Nämlich mit Spiegeltricks. Damit kann man ausgewachsene Tiger oder ganze Autos auf die Bühne und von ihr wegzaubern.“ Berthé und Roger schauten ihn an, als ob 7
Saal Versammelten. „Bitte wähl mich aus, Magus!“ „Nicht alle auf einmal!“ rief der weißmähnige Poseur und hob die Hände. „Wer hat das richtige Karma? Wessen Ausstrahlung spricht mich an? Setzt euch; verhaltet euch ruhig!“ Sofort gehorchten ihm alle. Es wurde so still, dass man die sprichwörtliche Stecknadel hätte fallen hören können. Der Magus stieg von der Bühne herunter und schritt durch den Saal. „Du“, sagte er und deutete auf Roger Lefevre, der sein Glück gar nicht fassen konnte. Er klatschte begeistert in die Hände. Wenn möglich, wäre er vor Freude sogar in die Luft gesprungen. „Und du.“ Solange schaute auf den neben ihr sitzenden Paul. Doch der Magus winkte ab. „Nein, du! Die blonde Schöne im lila Pullover.“ Damit war ganz offensichtlich Solange gemeint. Sie freute sich überhaupt nicht darüber. Während der Magus weiterging und den dritten Teilnehmer für sein Experiment suchte, flüsterte Solange hastig Berthé zu: „Willst du nicht an meine Stelle treten? Ich habe wirklich nichts dagegen.“ „Nein, das ist unmöglich“, wies Berthé sie ab. „Der Magus hat dich bestimmt. Ich habe für heute ein schlechtes Karma, das das Experiment am Ende noch völlig vereiteln würde. Wir können uns nicht über den Willen des Magus hinwegsetzen.“ „Aber ...“, wandte Solange ein. Paul unterbrach sie, noch ehe sie den Satz zu Ende sprechen konnte. „Nur Mut, Solange. Was soll dir schon groß passieren? Wer ein Risiko läuft, ist der Magus. Du bist nämlich keins seiner gutgläubigen Schafe, die sich von ihm für seine Zwecke missbrauchen lassen und die willige Mitwirkende, ob bewusst oder unbewusst, seines Gaukelspiels sind. Zeig ihm einmal seine Grenzen. Lass dich einfach nicht in Trance versetzen. Oder sag oben auf der Bühne, was du wirklich spürst und erlebst.“ „Ich weiß nicht“, widersprach Solange. „Vielleicht lasse ich besser die Finger davon. Mir ist nicht wohl bei der ganzen Sache.“ „Du kannst jetzt nicht kneifen“, zischte Paul Ruffaut. „Das ist eine erstklassige Gelegenheit, de Trohandour zu entlarven.“ „Meinst du nicht, es könnte gefährlich werden?“ fragte Solange, während sie
bereits aufstand, wenn auch langsam und widerstrebend. „Ach was!“ äußerte Paul abschätzig. „Sei keine dumme Gans, Solange. Du würdest sonst schwer in meiner Achtung sinken.“ Welche junge Frau, die auf sich hielt, ließ sich das von ihrem Freund vorwerfen, in den sie bis über beide Ohren verliebt war? Vor allem vor Paul wollte Solange sich nicht blamieren. Sie folgte dem Magus, Roger und der alten Frau, die er als dritte ausgesucht hatte, auf die Bühne. Dort setzten sich die drei in hochlehnige Sessel. Isis trat hinter der Kulisse links hervor und brachte dem Magus einen Metallring an einem kurzen Stiel. Bertrand de Trohandour fuhr mit dem Metallring wie mit einem Detektor an den Körpern der drei Auserwählten entlang. „Jetzt überprüft er unsere Magnetfelder“, klärte Roger Solange auf. „Und stellt fest, ob unsere Energetik ausreicht für den Zweck, den er vorhat.“ „Was heißt denn hier Energetik?“ fragte Solange. „Bin ich hier bei der Scientology Church?“ „Schweig, Tochter, sammle dich!“ murmelte der Magus. „Ich spüre negative Schwingungen in dir. Vielleicht sollten wir den Versuch bei dir auf ein anderes Mal verschieben.“ „Dann kann ich ja auf meinen Platz zurückgehen“, sagte Solange sofort und wollte aufstehen. Doch de Trohandours Gehilfin Isis drückte sie in den harten und unbequemen Sessel zurück. De Trohandour hielt der Studentin den Kupferreif eine Handbreit entfernt über den Kopf. Ein Summen ertönte. Funken sprangen im Reif. Solange erschrak nicht. Sie rechnete mittlerweile bei dem Magus und seinen Helfern mit allem. Der Effekt konnte sehr einfach durch eine Batterie und ein paar Drähte hervorgerufen worden sein. „Sie ist doch bereit“, sagte de Trohandour. Solange musste die Hoffnung aufgeben, sich davonstehlen und billig aus der Affäre ziehen zu können. Sie musste schon ihre Frau stehen. Es war ihr unangenehm, von allen im Saal angestarrt zu werden. Wie ein Untier mit vielen Hundert Augen erschienen ihr die Zuschauer. Der Magus führte den letzten Test auch bei Roger und der alten Frau durch. Er klappte bei beiden. 8
Daraufhin reichte der Magus den Reif einem Gehilfen, der gleichfalls herangetreten war, und erhielt von Isis seinen zwei Meter langen Stab mit dem Ourobouros und dem sich bäumenden goldenen Einhorn am Knauf wieder. Der Magus strich sich den Bart und hob den Stab, mit dem er dreimal aufstieß. „Wir wollen beginnen. Wer von euch will die erste sein?“ Solange drängte sich nicht. Obwohl sie nicht an die Wiedergeburtslehre glaubte, war ihr doch ein wenig unheimlich zumute. Vor allem fühlte sie sich als Schauobjekt. Fast verübelte sie es Paul, dass er sie dazu gebracht hatte, der Aufforderung des Magus zu folgen. Roger und die alte Frau boten sich dem Trohandour an. Er deutete auf die etwa siebzigjährige, kleine weißhaarige Frau. „Du, meine Tochter.“ Der Esel, dachte Solange. Die Frau ist älter als er. Doch de Trohandour sah das wohl anders. Mit seliger Miene wandte die verhärmte alte Frau sich ihm zu. Solange, die sie genau betrachtete, fiel auf, dass ihr schwarzes Kleid und die Schuhe zwar tadellos gepflegt, doch schon oft getragen waren. Zu den Reichen im Land gehörte die Greisin bestimmt nicht. Der Magus legte ihr die Finger an die Schläfen. Er schloss die Augen und hob den Kopf. Seine Assistentin Isis hielt seinen langen Stab. „Ihr Mächte des Kosmos!“ rief de Trohandour. „Ewiger Schöpfer, der du dich immer erneuerst und ohne Anfang und Ende bist. Höre mich! – Gib mir die Kraft, dieser deiner Tochter den Schleier von ihrer Seele zu ziehen, der ihr die früheren Leben verhüllt. Hilf mir, ihr eines davon zu zeigen!“ Die Greisin erbebte. „Ja, Magus, ja!“ rief sie. „Ich spüre den warmen Strom, der mich durchrieselt. Kosmische Energie erfüllt mich. – Ich bin jetzt ganz leicht! – Ich schwebe!“ Die Frau saß ganz ruhig. Sie sagte kein Wort mehr. Ihr Blick war starr. Sie befand sich in Trance. De Trohandour bewegte beschwörend die Hände. „Zurück! – Zurück! – Geh noch weiter zurück. – Jetzt bist du ein Kind. Ein Baby. Jetzt bist du im Mutterleib.“ Solange sah die alte Frau sich embryohaft zusammenkrümmen. Der Magus, der sie hypnotisiert hatte, beeinflusste sie weiter. „Jetzt ist der Moment deiner Zeugung.
Jetzt sind wir davor. Deine Seele kehrt zurück in das Jenseits. – Der Schleier zerreißt. – Tochter, was siehst du? Was oder wer bist du?“ Die alte Frau nahm eine hoheitsvolle Haltung an. Sie sprach mit völlig veränderter, herrischer Stimme. „Stürmt die Feste von Akkon! Haut die Ungläubigen alle zusammen! Keiner soll überleben. – Setzt die Rammböcke ein. Vor mit den Sturmleitern! – Ist der Tunnel denn noch immer nicht fertig?“ „Wer bist du?“ fragte der Magus. „Richard Löwenherz.“ Solange verbiss sich das Lachen. Ausgerechnet der englische König, der von 1157 bis 1199 gelebt hatte und Teilnehmer des Dritten Kreuzzugs gewesen war, wollte die verhärmte und kleine alte Frau in einem früheren Leben gewesen sein. Das war wohl ein Wunschdenken. Doch zu ihrem Erstaunen hörte Solange, wie die alte Frau verblüffend genaue Auskünfte über den König Richard, seine Zeit und den Dritten Kreuzzug gab. Solange studierte unter anderem Geschichte und hatte sich schon immer dafür interessiert. Über Richard I, König von England, wusste sie einiges. Die Details, welche die alte Frau nannte, stimmten, soweit Solange das wusste. Einige Punkte merkte sie sich, um sie nachprüfen zu können. „Was geschah am sechsten April Tausendneunundneunzig, Richard?“ fragte de Trohandour. „Ich liege in meinem Zelt. Die Schmerzen sind schrecklich. Der Armbrustschütze, der mich vor den Mauern von Chalus traf, hat ganze Arbeit geleistet. Ich sterbe. Meine Füße sind schon ganz kalt. Die Kälte kriecht in mir hoch. – Wachen, wo sind die Wachen? Wo sind meine Edlen, wo der verdammte Wundarzt? Nur der Priester hockt neben mir und leiert seine Gebete herunter. – Ich will noch nicht sterben, ich will nicht! – Hört mich denn keiner? – Oh, helft mir! Warum ist es denn plötzlich so dunkel? Das ist ... der Tod ...“ Die Stimme, die ganz schwach geklungen hatte, jedoch einwandfrei die eines Mannes gewesen war, verstummte. Der Magus wartete eine Weile. Dann berührte er die Greisin mit seinem Stab. Sofort öffnete sie die Augen. Sie war noch halb benommen. Ergriffen flüsterte sie: „Ich war ... 9
Richard Löwenherz. Das hätte ich nie erwartet. – Oh, was für ein großartiges früheres Leben hatte ich. Das vermutet gewiss niemand, der mich heute in meiner Conciergeloge sitzen sieht.“ Da stimmte Solange ihr zu. Sie hätte den Magus gern gefragt, wieso „Richard Löwenherz“ soeben in modernem Französisch gesprochen hatte statt in der Sprache seines Landes und seiner Zeit. Für Solange passte das nicht zusammen. Doch für die Frage blieb ihr keine Gelegenheit. De Trohandour wandte sich ihr zu und berührte mit dem Magusstab ihre rechte Schulter. „Jetzt bist du an der Reihe, schönes Mädchen. Schau mir fest in die Augen.“ Das kannst du haben, dachte Solange und erfüllte ihm seinen Wunsch. Mich wirst du nicht hypnotisieren. Ich will nicht. Ich bin Solange Gracin, Studentin an der Sorbonne, und will mich weder an ein Leben als Julius Cäsar, die Madame Pompadour, Tschaka Zulu, als Königin von Saba oder Marktfrau im hunderttorigen alten Theben erinnern. Ich will ich und von der Wiedergeburtstheorie verschont bleiben. Gehilfen des Magus führten die alte Frau weg. De Trohandour legte Solange die Fingerspitzen an die Schläfen. Sie spürte ein Kribbeln wie von schwacher Elektrizität. Sie gedachte, den Magus zu überlisten und führte im Kopf Rechenaufgaben durch. Sie addierte, subtrahierte, multiplizierte und dividierte mehrstellige Zahlen. Dazu gehörte einige Konzentration. Wer sich aber konzentrieren musste, war geistig angespannt und nicht locker. De Trohandour schaute Solange an. Er hatte dunkle, stechende Augen, die schlecht zu seinem gütigen Äußeren passten. Seine Lippen verkniffen sich zu einem dünnen Strich. „Zurück“, flüsterte er und strich Solange über die Augen. „Immer weiter zurück. – Du bist ein Kind. Ein Baby. Jetzt bist du noch ungeboren im Mutterleib. Zurück, weiter zurück. – Streife dies Leben ab. Verlass es. Dein Geist – durch die Dimensionen – zu einem früheren Ich.“ Du bist ja verrückt, wollte Solange ihm an den Kopf werfen. Mich kannst du mit deinem Humbug nicht fangen. Ich glaube nicht an dieses Zeugs und ich will und ich mag nicht in Trance versetzt werden. Ein Leben genügt. Ich ...
Plötzlich wusste Solange nichts mehr. Ihr Bewusstsein erlosch wie eine Kerze im Wind. Es war, als ob ein mächtiger Strudel sie verschlingen und einsaugen würde. * Jemand tätschelte Solanges Wangen. Licht stach ihr in die Augen, als sie sie öffnete. Sie lag auf einer schmalen Liege in einem kleinen Zimmer mit hellgrünen Wänden, einem Arzneimittelschrank und einem halbhohen Metallschrank. Bei ihr waren Paul, ihr Freund, Berthé und ein Mann mittleren Alters, den sie nicht kannte. Der Unbekannte hatte einen graumelierten Spitzbart und trug ein Stethoskop um den Hals. Pullover und Bluse waren Solange ausgezogen worden. „Wo bin ich?“ „Immer noch im Bürgerzentrum Clichy, im Sanitätsraum“, sagte Paul. Der spitzbärtige Mann äußerte: „Ich bin Doktor Chabrol, ein Arzt, der bei Ihrer Hypnose im Saal anwesend war. So etwas Schreckliches habe ich bei einer solchen Gelegenheit noch nie erlebt. Sie hatten aber auch Pech, geistig und seelisch in ein äußerst ungünstiges früheres Leben versetzt zu werden. – Erinnern Sie sich?“ „Ich weiß nur, dass der ... der Magus mich hypnotisieren wollte“, antwortete Solange. Sie versuchte zu lächeln, was kläglich scheiterte: „Hat es denn geklappt?“ „Ja“, sagte Paul. Solange spürte bei ihm Angst und eine Reserviertheit, die er früher nicht aufgebracht hatte. Vielleicht war sie aber auch übersensibel und bildete sich das nur ein. „Du weißt wirklich nichts? Die andern vom Magus in Trance Versetzten können sich alle an die Inkarnationen erinnern, die er ihnen zeigte. – Warum sollst du eine Ausnahme sein?“ „Offenbar bin ich eine“, antwortete Solange heftiger, als sie gewollt hatte. „Schließlich ist mir auch schlecht geworden – oder was?“ „Du bist am Schluss der Hypnose nicht mehr zu dir gekommen“, erklärte ihr Paul. „Wir hatten alle große Angst. Der Magus rief dich. Er strengte sich mächtig an, um dich wieder aufzuwecken und in deine Seele und deinen Geist in die Gegenwart zurückzuholen. Als du nicht erwachtest, fragte er nach einem Arzt. Doktor Chabrol trat vor. Wir trugen dich ins 10
Sanitätszimmer. Dort hat es noch eine geschlagene Stunde gedauert, bis du die Augen öffnetest. De Trohandour ist zweimal hier gewesen, um nach dir zu sehen. Er hat dich jeweils mit seinem Stab berührt und die Hände über dir ausgestreckt.“ „Wie schön von ihm“, sagte Solange. „Ist die Veranstaltung im Saal schon vorbei?“ „Sie müsste jetzt enden“, sagte Dr. Chabrol. „Sie sind gut anderthalb Stunden bewusstlos gewesen, Mademoiselle. – Wissen Sie denn wirklich gar nichts mehr?“ „Wenn es anders wäre, brauchte ich Sie ja wohl nicht zu fragen“, antwortete Solange gereizt. „Es ist eine Schande. Der Unfug, den Ihr so genannter Magus da treibt, ist gemeingefährlich. Man sollte ihn anzeigen.“ „Das würde wohl wenig nützen“, sagte Paul. Dem gutaussehenden jungen Mann war die Situation peinlich. „Wir hatten alle große Angst um dich, Che- ... Solange.“ Entschlossen setzte die junge Frau sich auf und schwang die Beine von der schmalen Liege. Sie fühlte sich etwas schwindlig, aber sonst in Ordnung. „Vielleicht erzählt mir endlich mal jemand, was eigentlich los ist“, sagte Solange. „Was geschah, nachdem de Trohandour, dieser Merlin-Verschnitt, mich in Trance versetzt hatte?“ Die beiden Männer drucksten herum. Endlich platzte Berthé heraus: „Zunächst warst du ganz ruhig. Du antwortetest nicht auf die Fragen des Magus. Plötzlich aber bist du aufgefahren, hast dich aufgeführt wie eine Furie und gedroht, de Trohandour das Gesicht zu zerkratzen.“ „Und?“ murmelte Solange. „Habe ich es getan?“ „Nein, denn mehrere kräftige Männer hielten dich fest. Sie zwangen dich in den Sessel zurück. Du bäumtest dich auf und beschimpftest sie mit Worten, die ich nicht wiedergeben will. Dabei hattest du eine völlig andere Stimme. Du nanntest sie elende Henkersknechte und Halunken. Dann wimmertest du nur noch. – Dann hingst du zusammengesackt im Griff der Männer, die dich festhielten, während der erhabene Magus die kosmischen Mächte anrief, dich aus dem ungünstigen Leben zurückzuholen, in das er deinen Geist durch die Trance versetzt hatte. – Das gelang nicht gleich. Du schriest plötzlich mit durchdringender Stimme: Feuer!
Flammen! Ich bin keine Hexe! Nehmt mich vom Scheiterhaufen, ich flehe euch an! Erbarmen! – De Trohandour legte dir die Hände auf. Helft dieser Armen, ewige Mächte! rief er mit Donnerstimme. Ich habe sie hypnotisiert und in diese Lage gebracht. Ich trage dafür die Verantwortung. Nehmt mein Leben, aber gebt sie wieder frei! – Daraufhin hast du geseufzt und bist in Ohnmacht gefallen. Im Saal entstand eine Unruhe. Doktor Chabrol, der zu dem Zeitpunkt schon auf der Bühne war und sich um dich kümmerte, ließ dich in den Sanitätsraum bringen. Hier hat er dir ein Stärkungsmittel gespritzt.“ „Auch das noch!“ rief Solange empört. „Trotzdem lagst du die ganze reglos und leblos da. Wir überlegten schon, ob wir dich nichts Hospital bringen sollten. Doch da dein Puls regelmäßig schlug, die Temperatur normal war und du auch sonst von der tiefen Ohmacht abgesehen keine krankhaften Anzeichen hattest, warteten wir ab. – Ja, dann bist du wieder erwacht.“ „Gott sei Dank“, sagte Paul. Solange hörte durch die Wände gedämpfte Geräusche. Die Veranstaltung im Saal war beendet. Im Flur ertönten Schritte. Isis, die Vertraute des Magus, schaute herein. Erfreut stellte sie fest, dass es Solange besser ging. Als sie die Hände der Studentin ergreifen wollte, entzog Solange sie ihr. Sie war verärgert über das, was ihr zugestoßen war. Isis stellte ihr ein paar Fragen über ihr Befinden. Dann ging sie mit der Bemerkung: „Ich werde im Saal mitteilen, dass mit Ihnen wieder alles in Ordnung ist, Mademoiselle Gracin. Sicher hatten Sie nur diese Zustände, weil die Prozedur für Sie ungewohnt ist. Bei Ihrer nächsten Inkarnations-Weihe, wie wir es nennen, wird es schon viel besser und problemloser gehen.“ „Danke, darauf kann ich verzichten“, fauchte Solange eingeschnappt. „Einmal und nie wieder, sage ich da bloß.“ Isis lächelte entrückt und säuselte: „Auch du bist eine Tochter des Universums und ein Geschöpf der Ewigen Mächte. Auch du wirst noch gefallen an den Weihen der Seelenwanderung finden, um deinen geistigen Horizont zu erweitern.“ „Ich wandere lieber in den Vogesen oder fliege in Urlaub“, antwortete Solange patzig. 11
Isis, wie immer sie auch mit ihrem richtigen Namen hieß, hatte die Tür schon geschlossen und hörte das nicht mehr. Solange war empört, dass de Trohandour es nicht einmal für nötig gehalten hatte, selber zu kommen und nach ihr zu sehen. Sie fühlte sich als sein Opfer. Isis musste in den Saal zurückgekehrt sein. Dort verstummten die Geräusche der zum Aufbruch sich anschickenden Menge. Bestimmt wurde jetzt verkündet, wie es um Solange stand. Die Besucher der Inkarnations-Sitzung spendeten dem Magus regen Beifall, was dumpf durch mehrere Wände zu hören war. Danach verließen sie Saal und Gebäude. Dr. Chabrol hinterließ Solange für alle Fälle seinen Namen und seine Adresse. Solange zog Bluse und Pullover an. Paul fragte, ob sie gehen könne, was sie bejahte, und half ihr in den Mantel. Dr. Chabrol verabschiedete sich. „Sollte sich Ihr Zustand verschlechtern, Mademoiselle, können Sie mich jederzeit unter meiner Privatnummer oder in der Praxis anrufen“, sagte er. „Rechnen Sie denn damit?“ fragte Solange. „Nicht unbedingt“, antwortete der esoterisch interessierte Arzt. „Doch ich halte eine gewisse Gefahr für gegeben. Sie haben durch die für Sie unglückliche Seelenwanderung einen psychischen Schock erlitten, dessen Folgen noch nicht abzusehen sind.“ „Das sind ja feine Aussichten“, murmelte Solange. „Wäre ich bloß nie hierher gekommen. Wenn ich das vorher gewusst hätte ...“ „Du kannst jetzt nichts mehr daran ändern“, sagte Berthé. Damit hatte sie Recht. „Wir sollten auf jeden Fall in Verbindung bleiben“, sagte Dr. Chabrol. „Wo ich Sie erreichen kann, weiß ich.“ Paul hatte ihm die Adresse und die Telefonnummer gegeben. „Ich halte Ihnen die Daumen.“ „Was kann denn unter Umständen auf mich zukommen?“ fragte Solange den Arzt, der schon die Türklinke in der Hand hatte. „Das lässt sich nicht ohne weiteres beantworten“, wich er aus. „Achten Sie in den nächsten Tagen gut auf sich. Überanstrengen Sie sich nicht, weder körperlich noch geistig, bis Sie sicher sind, Ihre geistige Stabilität wieder gefunden zu haben. Ich würde sagen, in einer Woche
sollten Sie auf jeden Fall noch einmal bei mir vorsprechen. Bei einer Krise auch früher.“ „Was in aller Welt habe ich denn zu erwarten?“ schrie Solange fast. „Nervenzusammenbruch ... seelische Krise“, murmelte der Arzt. „Muss aber nicht kommen. Wenn es schlimm wird, kenne ich einen guten Psychiater, der ebenfalls Okkultist und Esoteriker ist.“ Dr. Chabron nickte Solange zu. „Mut, Mademoiselle. Es wird schon werden.“ Als er draußen war, warf Solange ihre Handtasche zornig auf die Liege, dass es darinnen schepperte. „Idiot!“ fauchte sie. „Von den Okkultisten habe ich ganz schön die Nase voll. Da hast du mir etwas Schönes eingebrockt, Paul, als du mir zuredetest, auf die Bühne zu gehen mich hypnotisieren zu lassen. Hätte ich mich doch nur niemals auf diese vermaledeite Prozedur eingelassen.“ „Jetzt soll ich wieder daran schuld sein“, verteidigte der junge Mann sich. „Du hättest ablehnen können. Ich habe dich nicht gezwungen, Solange. Es war nur ein Vorschlag von mir.“ Das entsprach nicht der Wahrheit. Es hatte sich um eine massive Beeinflussung gehandelt. Die drei verließen den Sanitätsraum, nachdem Solange ihre Handtasche wieder an sich genommen hatte. Auf dem Korridor hörten sie deutlicher die zufrieden weggehenden Besucher der Inkarnations-Veranstaltung. Die Leute waren offenbar zufrieden. Ihre Erwartungen waren erfüllt worden. Dem, was Solange widerfahren war, maßen sie keine besondere Bedeutung bei, oder es war ihnen schlicht gleichgültig, da es nicht sie selbst betraf. Im Korridor platzte Berthé mit ihrem Wissen heraus. „Missglückte Seelenwanderungen können fatale Folgen haben“, behauptete sie. „Ich habe von Fällen gehört, dass Menschen nicht mehr zu ihrem Ich in der Gegenwart zurückfinden konnten. Entweder kehrte ihr Geist überhaupt nicht mehr zurück. Oder es ergab sich ein Zustand der geistigen Verrückung.“ „Verrückung oder Verrücktheit?“ fragte Solange direkt. „Nun, äh, die Auswirkungen des ersten könnten als das zweite interpretiert werden. Es sind Menschen in die 12
Irrenanstalt gekommen, weil sie der festen Überzeugung waren, eine Person aus einem früheren Zeitalter zu sein. Ich habe von einem Fall gehört, dass eine Ärztin sich nach einer Inkarnations-Zeremonie für eine Sarazenensklavin aus der Zeit der Kreuzzüge hielt. Da sie auch nur deren Wissen und Hintergrund hatte, fand sie sich in der Gegenwart natürlich nicht zurecht. Da war praktisch der falsche Geist in ihrem Körper, oder ihr früheres Ich aus einem anderen Leben hatte sich verirrt. Normalerweise ist es aber so, dass mit dem Ende der Trance auch die vorherigen Verhältnisse wiederhergestellt sind, der Geist und die Seele also mit allem Wissen in dem Körper sind, aus dem sie versetzt wurden. Und dass der betreffende Mensch zudem von seinem früheren Leben weiß. – Pannen treten an sich selten auf.“ „Es gibt sie aber“, sagte Solange. „Warum hat mich keiner gewarnt?“ Darauf erhielt sie keine Antwort. Doch Berthé erklärte ihr: „Es ist auch schon vorgekommen, dass die Verbindung zu einem früheren Leben mit der Aufhebung der Trance nicht komplett abriss, sich also nur auf das Wissen beschränkte. Solche Medien sind später ohne Hypnotiseur wieder in Trance verfallen und kehrten ins frühere Leben zurück. Oder sie erhielten aus diesem auf nicht geklärte Weise Eindrücke, hörten also in der Gegenwart Stimmen oder sahen Bilder und Erscheinungen aus einem früheren Leben.“ „Und dann mussten sie in die Nervenklinik“, sagte Solange. „Meist ist das nicht zu vermeiden gewesen“, antwortete Berthé. „Eine Freundin von mir ist in die Seine gesprungen, weil sie den Zustand nicht länger aushielt. Sie versuchte, sich mit Tabletten und Alkohol zu betäuben. Doch die Stimmen aus der Vergangenheit suchten sie heim und ließen ihr keine Ruhe. Sie ist in jenem früheren Leben, aus dem diese auftraten, allerdings auch eine Giftmischerin gewesen, die mehrere Menschen auf dem Gewissen hatte. Sie sah auch die Toten von damals, die ihr im Traum und im Wachen erschienen. Da konnte sie nicht verkraften.“ „Konnte de Trohandour ihr nicht helfen?“ erkundigte Solange sich. „Sie hatte einen anderen aufgesucht. De Trohandour passieren normalerweise keine Pannen. Doch ganz sicher sein kann man
nicht. Eine Seelenwanderung birgt gewisse Risiken. – Der Magus vom Goldenen Einhorn hätte Francoise, so hieß meine arme Freundin, vermutlich schon retten und ihr die geistige Gesundheit wiedergeben können. Sie gab zu schnell auf.“ Berthé fasste Solange am Arm. „Auch wenn es dich ganz schlimm treffen sollte, was wir nicht hoffen wollen, zeige mehr Standhaftigkeit. Ich bin deine Freundin. Ich helfe dir so gut wie ich kann.“ Solange schwieg eisig. Wer Freundinnen wie Berthé Schwartz hat, dachte sie, braucht keine Feindinnen mehr. Berthé fuhr fort, ihr die Zukunft in düsteren Farben zu malen und sie tief zu verunsichern. „In anderen Fällen brachen bei Betroffenen sämtliche geistigen Barrieren, die uns üblicherweise das Wissen über unsere früheren Leben versperren“, schilderte Berthé. „Das ergibt dann ein Krankheitsbild, das dem der Schizophrenie entspricht. Ein solcher Mensch ist in sich gespalten und hat Dutzende von Persönlichkeiten, je nach Schwere des Falls. Was das ergibt, kannst du dir leicht vorstellen.“ Solange konnte es. Ein solcher Mann oder eine solche Frau erwachte am Morgen und hielt sich für einen Krieger aus Assur, jenem Reich, dessen Hauptstadt im Zweistromland lange vor der Zeitenwende die Stadt Ninive gewesen war. Als Assyrer mit dessen Wissensstand hatte er natürlich zu Beginn des 21. Jahrhunderts schlechte Aussichten. Später war die Person dann vielleicht eine Jüdin aus der Zeit König Salomos, dann jemand von Osterinseln, im 16. Jahrhundert, eine türkische Haremsdame aus einem Serail des Jahrs 1650, und so ging es weiter bunt durch die Zeiten und Leben. Es war klar, dass ein solcher Mensch nichts mehr auf die Reihe brachte. Roger Lefevre bog um die Korridorecke. Er war völlig euphorisch und abgehoben. „Denkt euch nur, in was für ein früheres Leben von mir mich der Magus versetzte!“ rief er. „Ich bin – Iwan der Schreckliche gewesen.“ „Wirklich?“ rief Berthé neidisch. „Toll. Zu so einer berühmten historischen Persönlichkeit habe ich es noch nie gebracht. Das Bedeutendste, was ich früher 13
war, war die Frau Julius Cäsars, die er verstieß. Aber wer kennt sie denn heute noch? Iwan der Schreckliche. Das hätte ich hinter dir nicht vermutet. Das ist die tollste Eröffnung, die uns der Magus machte, seit er bei einer Sitzung herausfand, dass wir beide Brüder und Krieger im Heer des Mongolen-Khans Tamerlan gewesen sind. Damals habe ich derart gemordet und geplündert, dass ich mich in meinem jetzigen Leben dafür wirklich geschämt habe und tagelang nicht unter die Leute ging. – Dafür bin ich dann aber auch in zwei späteren Leben eine Nonne und Büßerin gewesen, um das abzubüßen, was ich da angerichtet hatte. – Aber du? Iwan der Schreckliche. Wie bist du dieses verhängnisvolle Karma denn bloß wieder losgeworden.“ „In einem späteren Leben haben sie mich totgefoltert oder verhungern lassen“, erwiderte Roger. „Ich erinnere mich nicht mehr so genau. Da müsste ich in meinen Unterlagen nachschauen. Bei der vorletzten Inkarnations-Sitzung war ich eine Geisha in Yokohama. Das weiß ich noch gut. – Ach, jetzt fällt es mir wieder ein. Achtzehnhundertdrei bin ich in der indischen Provinz Madras als blutjunge Witwe eines reichen Kaufmanns verbrannt worden, wie es dort damals der Brauch war. Das hängt bestimmt mit dem IwanKarma zusammen. – Solange, wie geht es dir?“ „Erträglich“, antwortete Solange. Am liebsten hätte sie hinzugefügt: Solange ich dir nicht zuzuhören brauche. „Also, ich bin ja wirklich ganz von den Socken, dass ich Iwan der Schreckliche gewesen bin“, sagte der eher unscheinbare Student der Naturwissenschaften. „Ich wusste schon immer, dass in mir etwas Besonderes steckt. Früher hatte ich Minderwertigkeitskomplexe, weil ich mich nicht verwirklichen konnte. Damit ist es jetzt vorbei.“ Obwohl es ihr selbst nicht sonderlich gut ging, fragte sich Solange: Was spinnt er denn da zusammen? Sie schüttelte im Geist den Kopf. Für Solange war wichtig, was jemand war und was er aus seinem Leben machte. Nicht, was er in angeblichen früheren Leben gewesen war oder sich einbildete. Am liebsten hätte sie zu Roger gesagt: Es ist völlig unerheblich, ob du in einem früheren Leben Iwan der Schreckliche oder eine Klofrau gewesen bist. Was allein
zählt, ist, was du jetzt hier und heute mit deinen Fähigkeiten anfängst. Doch sie fühlte sich noch zu instabil und war zu mitgenommen, um sich mit Roger und Berthé zu streiten, die ihm gewiss beigesprungen wäre. Die beiden begleiteten Paul und Solange in die Tiefgarage. Offensichtlich wollten sie mitfahren. Doch Paul ließ nur Solange einsteigen. „Es ist kalt draußen“, sagte Berthé zu ihm. „Doch nicht für Iwan den Schrecklichen“, spottete der Jurastudent. „Ihr werdet sicher ein Taxi finden.“ „Ja, aber das kostet Geld. Es hat nicht jeder so reiche Eltern wie du.“ „Dann fahrt mit der Metro oder dem Bus. Ich muss Solange schleunigst nach Hause bringen und kann keine Umwege fahren. Dafür müsstet ihr eigentlich Verständnis haben. Nicht zuletzt wegen euch hatte sie dieses schreckliche Erlebnis, das hoffentlich keine weiteren Folgen mehr hat.“ „Nimm uns wenigstens bis zum Gare Saint Lazare mit“, bat Berthé. „Das liegt doch auf deinem Weg.“ Der Gare St. Lazare war ein großer Bahnhof mit BEbene und Metrobahnsteigen nach allen Richtungen sowie ein Busknotenpunkt. „Von hier draußen aus ist die Verbindung mit den öffentlichen Verkehrsmitteln miserabel. In Clichy sind um die Zeit schon die Bürgersteige hochgeklappt.“ „In euren früheren Leben war das Reisen noch viel beschwerlicher“, sagte Paul. „Dagegen ist es heute doch wirklich Gold. Also beklagt euch nicht.“ Solange wandte sich an ihn. „So nimm sie doch mit“, bat sie. „Berthé hat Recht. Wir fahren sowieso beim Saint Lazare vorbei.“ „Also gut, aber nur, weil du mich darum bittest“, sagte der junge Mann. Er öffnete die flügelartige Fahrertür nach oben und klappte den Schalensitz nach vorn. Berthé und Roger zwängten sich auf den Notsitz. Berthé hatte den üppigen Busen auf den Knien. Roger saß da wie zusammengefaltet, die randlose Brille auf die spitze Nase gerückt. Mit seinen wirren, langen dunklen Haaren und dem blassen Gesicht sah er wie eine Eule aus. In der Tiefgarage herrschte Betrieb. Andere Gäste des Bürgerhauses von Clichy fuhren ebenfalls ab. Die Fahrzeuge 14
stauten sich bei den beiden Ausfahrten. Es dauerte eine Weile, bis Paul Ruffaut mit seinem 320-PS-Geschoss von einem Lamborghini die Straße erreichte. Berthé beneidete ihn um den Sportwagen. „Das verdankst du nur deinem guten Karma aus früheren Leben“, sagte sie. „Du musst ein guter Mensch und ein großer Wohltäter gewesen sein.“ „Klar doch“, erwiderte Paul. „Ich bin der Apostel Paulus gewesen. Deswegen heiße ich jetzt auch Paul.“ Berthé begriff die dick aufgetragene Ironie nicht gleich. „Woher weißt du das denn?“ fragte sie. „Bist du schon einmal bei einer Inkarnations-Sitzung gewesen?“ „Das bleibt mein Geheimnis“, antwortete Paul und ließ den Lamborghini rasch noch über eine auf Rot umschaltende Ampel preschen. „Ich weiß es eben. Das kommt alles davon, dass du damals als mongolischer Krieger im Vierzehnten Jahrhundert soviel geplündert und gemordet hast, Berthé. Deswegen kannst du dir heute nicht einmal eine Citroen-Ente leisten.“ „Dafür war ich hinterher zweimal Nonne.“ „Vielleicht reicht das nicht. Oder der Rittmeister und die irische Einwanderertochter führten auch kein den kosmischen Mächten wohlgefälliges Leben. – Trau, schau wem.“ „Der Rittmeister Hyacinth de Rochecault spielte und machte Schulden“, beichtete Berthé. „Er ist in einem Duell gefallen. Zuvor aber hatte er eine arme Näherin in andere Umstände gebracht und grausam verstoßen. Das Mädchen ertränkte sich. Dafür ist dann die Einwandererstochter Molly Flaggan in Boston Neunzehnhundertzwölf an einer illegalen Abtreibung gestorben. So rächt sich alle Schuld auf Erden. – Vom Karma her müsste ich jetzt eigentlich gereinigt sein und mich auf eine höhere Ebene begeben können. Ich verstehe nicht recht, weshalb ich auf keinen grünen Zweig komme.“ „Vielleicht solltest du es mal mit Arbeit versuchen“, schlug Paul vor. „Es wird schon noch kommen“, sagte Solange, um Frieden zu stiften. Sie wollte keine Debatten während der gemeinsamen Fahrt. Ihr brummte noch immer der Schädel nach der Hypnose, die sie psychisch empfindlich gestört hatte. Tief in ihrem Innern spürte die blonde Studentin, dass etwas ganz nachhaltig nicht
in Ordnung war. Das daraus herrührende Unbehagen setzte Solange zu. * In der modern und geschmackvoll eingerichteten Vier-Zimmer-Altbauwohnung am Boulevard Haussmann, dort wo er am vornehmsten war, duschte Solange erst heiß und dann kalt. Das half ihr sonst immer und möbelte sie auf. Während der Dampf in dem Marmorbad mit den vergoldeten Wasserhähnen aufstieg und die Wasserstrahlen auf ihre Haut prasselten, kehrten die Gedanken der Studentin zu der Hypnose durch de Trohandour zurück. Es war etwas geschehen. Für Solange hatte die Welt sich verändert. Da war etwas, das in ihrem Unterbewusstsein lauerte und hochdrängte. Solange duschte sich kalt ab, frottierte sich trocken und rieb ihren Körper mit einer Lotion ein. Kritisch betrachtete sie sich in den Spiegelplatten an der Wand des Badezimmers mit der Duschkabine und der in den Boden eingelassenen Marmorwanne. Das Bad hatte Tageslicht. Sukkulenten- und Hängepflanzen waren in Nischen untergebracht und verwandelten es in eine Attraktion, die Solange sehr beeindruckt hatte. Paul Ruffaut, ihr Geliebter, war ein Mann von Welt oder zumindest der Sohn eines solchen, der in die Fußstapfen seines Vaters trat. Er hatte Stil und Lebensart, verfügte über viel Geld und war, was Solange ihm nicht als negativ ankreidete, zweifellos ein Snob. Paul Ruffaut faszinierte die blonde 22-jährige, die aus einer kleinbürgerlichen Familie stammte. Solange war erstaunt gewesen, dass der gutaussehende, begehrte Paul sich überhaupt für sie interessierte und tat alles, um ihn an sich zu fesseln. Jetzt schlüpfte sie in den flauschigen Bademantel und betrat das Wohnzimmer, wo Paul rauchend am Fenster stand und auf den Boulevard hinabschaute. Er hörte sie und drehte sich um. Der Bademantel war nicht ganz geschlossen. Sonst rissen Solanges Reize Paul immer hin. Diesmal nicht so schnell. „Du hast kein schönes Bild abgegeben dort auf der Bühne“, sagte der junge Mann nachdenklich. „So sah ich dich noch nie, Cherie.“ „Ich kann nicht immer schön sein. Du 15
wolltest, dass ich mich auf die Hypnose einlasse.“ „Schieb die Schuld nicht auf mich. Hoffentlich zieht diese InkarnationsGeschichte keine weiteren Folgen nach sich. Wir hätten nicht dorthin gehen sollen.“ „Jetzt waren wir aber dort“, sagte Solange. Kokett drehte sie sich um die Achse. „Magst du mich nicht mehr, mon cher?“ Ihr Geliebter legte die Zigarette weg und schloss sie in die Arme. Sie küssten sich zuerst mit verhaltener Zärtlichkeit. Die Leidenschaft wuchs. Der Bademantel glitt auf den Teppich. Paul schnupperte an Solanges Haut. „Wie gut du riechst“, flüsterte er und presste den Kopf zwischen ihre Brüste. „Wie zart deine Haut ist. Wie ein Pfirsich.“ Seine Hände und Lippen liebkosten sie. Solange schloss die Augen. Sie wühlte in Pauls schwarzen Locken, als er vor ihr kniete. Kurz darauf landeten sie im Bett. Das Zusammensein war erfreulich wie immer. Solange vergaß für kurze Zeit ihre sämtlichen Sorgen und Probleme und verlor sich in sinnlicher Liebe. Sie war fest überzeugt, dass Paul der wunderbarste Mann auf der Welt sei und dass er sie immer lieben würde. Später lagen sie nackt nebeneinander, eng aneinandergeschmiegt. Solange kuschelte sich an ihren Geliebten. Sie spürte seine Wärme und fühlte auch jetzt in der Ruhe die Kraft seines Körpers. Paul trieb viel Sport. Er war topfit und hatte einen wachen und scharfen Verstand. Nicht nur für Solange Gracin war er ein Traummann, eigentlich viel zu schön, um wahr zu sein. Es war kaum fassbar, dass solche prachtvollen Jünglinge jemals verbiesterte Mieslinge oder Arbeitstiere werden konnten, die für ihre Ehefrauen kaum noch Zeit und Verständnis hatten. Oder die die Frau, der sie einmal jeden Wunsch von den Augen abgelesen und der sie die Sterne hatten vom Himmel holen wollen kaum noch Aufmerksamkeit gönnten. Solange glaubte fest, dass sie und Paul alles einmal viel, viel besser machen würden als andere Paare, bei denen die Liebe starb und nach einiger Zeit die Trennung angesagt war. Wenn nicht die äußere, dann doch die innere. Paul fuhr sacht über Solanges blonde Haare. Mit den Fingerspitzen strich er ihr
über den Nacken, was sie elektrisierte. Das reizvolle Prickeln, das weitere Streicheleinheiten verstärkten, hatte sie sonst immer sexuell erregt. Doch diesmal hatte sie eine innere Blockade. Sie dachte an den Saal in Clichy und die Veranstaltung des Zirkels vom Goldenen Einhorn. Solange sah in ihrer Phantasie die Augen des Magus, als er ihre Schläfen berührte und seinen hypnotischen Blick auf sie richtete. Wie ein Nebel schob sich eine Wand vor die Augen der jungen Frau. Die Umgebung verschwamm. Und plötzlich fand sich Solange in einer ganz anderen Umgebung wieder ... * Es war ein kalter Januarmorgen. Tageslicht fiel durch die Butzenscheiben. Solange fand sich in einem Himmelbett wieder. Sie setzte sich auf und schaute sich um. Die Zimmereinrichtung war ihr völlig fremd. Der Schrank und die Kommode entsprachen nicht im Entferntesten dem, was sie gewöhnt war. Auf dem blankgescheuerten Dielenboden lag ein handgeknüpfter Teppich. Über einer Truhe lag ein bodenlanges, durchaus elegantes zweifarbiges Schleppkleid. Den Schnitt und das Material hatte Solange allenfalls mal im Museum gesehen oder kannte die Machart von alten Gemälden oder Darstellungen in Büchern. Da sie Geschichte studierte und sich schon immer für dieses Fach interessiert hatte, konnte sie abschätzen, dass dieses Kleid in ein früheres Jahrhundert gehörte. Wann genau, konnte sie auf Anhieb nicht feststellen. Dazu gab es zu viele unterschiedliche Moden und Stilarten im Lauf der Jahrhunderte. Solange setzte sich auf, als die Tür geöffnet wurde und eine dralle Magd im eng geschnürten Mieder hereinschaute. „Haben Sie ausgeschlafen, Demoiselle Marie?“ fragte sie. „Ihr Herr Vater, der Ratsherr, erwartet Sie mit dem Rest der Familie zum Frühstück.“ „Wie hast du mich genannt?“ fragte Solange auf die in altertümlichem Französisch vorgebrachte Frage der Magd zurück. „Wer bist du, und wo bin ich eigentlich?“ Die Magd stutzte. „Demoiselle Marie“, sagte sie. „Ist Euch nicht gut? Ich bin Sophie Crabieux, die ihr 16
schon lange kennt. Ihr seid in Paris, im Haus eures Vaters. – Wo sonst?“ „Marie. Wie lautet mein voller Name?“ Die Magd hatte keine Schwierigkeiten, Solange zu verstehen. Sie machte mit der Rechten das Zeichen gegen Zauberei und den bösen Blick, indem sie Zeigefinger und Mittelfinger kreuzte und damit auf den Boden wies. „Ihr seid Demoiselle Marie-Blanche Arouet. Warum fragt Ihr das? Was ist in euch gefahren? Seid Ihr verhext?“ In Solanges Gehirn schlugen Alarmglocken an. Sie begab sich in große Gefahr, wenn sie sich auffällig äußerte. „Natürlich nicht, Sophie“, antwortete sie. „Ich hatte nur einen sehr intensiven Traum.“ „Inten- ... wie?“ Das Wort kannte die Magd nicht. „Einen sehr merkwürdigen“, sagte Solange. „Von dem Traum bin ich noch ganz durcheinander. Ich muss mich sammeln. – Richte meinem Vater aus, dass ich bald am Frühstückstisch erscheine. – Was für ein Datum haben wir heute?“ „Den dreizehnten Januar.“ „Und das Jahr?“ Wieder schaute die Magd höchst verwundert drein. „Anno Domini Vierzehnhundertsiebenundfünfzig. Das weiß doch jeder. Ich verstehe nicht, weshalb ihr mich das fragt, Demoiselle.“ „Es war nur ein Scherz. Geh jetzt.“ Die Magd verschwand. Solange stand auf. Entweder ich träume, oder ich bin verrückt geworden, sagte sie zu sich selbst. Oder ... sollte was ich erlebe etwa mit der Hypnose durch diesen so genannten Magus zusammenhängen? Erlebe ich einen Fall von Seelenwanderung? Wenn, dann lief einiges dabei kräftig schief oder hatte vielmehr von Anfang an nicht geklappt. An das, was sie während der Trance im Saal in Clichy geistig erlebt hatte, erinnerte sich Solange immer noch nicht. Sie war dann mit Paul nach Hause gefahren, zu ihrer hübschen Wohnung am Boulevard Hausmann im Paris des Jahrs 2003. 546 Jahre nach dem Jahr, in dem sie sich jetzt befand. Über ein halbes Jahrtausend nach ihrer jetzigen Gegenwart. Solange fing an zu zittern. Ihr brach der Schweiß aus, obwohl es ziemlich kalt war im Zimmer. Im Öfchen in der Ecke war das Feuer erloschen.
Solange kniff sich in den Arm, so fest sie konnte. Dadurch wollte sie feststellen, ob sie träumte oder wachte. „Au!“ Das letztere war der Fall. In wachsender Panik durchsuchte Solange das Zimmer, um festzustellen, was alles hier war. Sie fand Kleider im Schrank, die dem Stil des Jahrs 1457 entsprachen, Leinenwäsche, Schnabelschuhe, von denen sogar welche Schellen aufwiesen, und Stoffpantoffeln. Ein Hahn krähte direkt unterm Fenster. Solange öffnete es ungeachtet der eindringenden kalten Luft. Sie schaute in einen gepflasterten Hof und einen Garten, der sich um einiges von einem des frühen 21. Jahrhunderts unterschied. Im Hof liefen Hühner und ein Hahn im Schnee umher und pickten ihnen ausgestreute Körner auf. Der Rauch zahlloser Holz- und Kohlefeuer stieg aus den Kaminen rundum in den Winterhimmel. Von der vertrauten Skyline von Paris war absolut nichts zu erkennen. Solange sah nichts, was sie hätte identifizieren können. Weil sie anfing zu frieren, öffnete sie das Fenster. Erschlagen setzte sie sich auf einen Stuhl. Jetzt erst schaute sie sich genauer an. Sie trug ein langes, mit Rüschen verziertes Nachthemd. Ihr Körper war kräftig, nicht so schlank, wie sie es von der Solange Gracin des 21. Jahrhunderts gewöhnt war, die sich mit Aerobic, Radfahren und gelegentlich Tennis und Schwimmen fitgehalten hatte. Solange schaute in den Spiegel an der Wand. Es gab keine Frisierkommode, aber ein Bord, auf dem allerlei Tiegel und Töpfchen standen und Kämme und Bürsten lagen. Glasfläschchen oder -flakons sah Solange nicht. Sie waren im Jahr 1457 viel zu teuer und auch nicht in Mode für die Schminkingredienzien gewesen. In dem für ihre Begriffe ziemlich trüben Spiegel sah Solange braune Haare, die ihr in langen Flechten über die Schultern fielen. Das Gesicht, das sie im Spiegel erblickte, war ihr fremd. Sie hatte es in ihrem ganzen Leben noch niemals zuvor gesehen. „Marie-Blanche Arouet“, murmelte sie. „Das ist Marie-Blanche Arouet. Aber ich verfüge doch über das Wissen und die Erinnerungen der Solange Gracin, die Neunzehnhunderteinundachtzig geboren wurde. Fünfhundertvierundzwanzig Jahre nach der Zeit, in der ich mich jetzt befinde. 17
– Himmel, was ist bloß geschehen?“ Entsetzen erfasste Solange. Sie kämpfte die Panik nieder. Nur jetzt nicht durchdrehen, ermahnte sie sich. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Sie hätte Bertrand de Trohandour erwürgen können. Er hatte ihren Geist in die Vergangenheit geschickt, in den Körper der Marie-Blanche Arouet im Jahr 1457, vier Jahre nach dem Ende des Hundertjährigen Kriegs zwischen England und Frankreich. Solange überlegte, wer damals regiert hatte, war aber so durcheinander, dass es ihr nicht einfiel. Das war im Moment auch zweitrangig. Erstrangig war, wie sie sich verhalten sollte. Ob Marie-Blanche Arouet eine frühere Inkarnation von ihr, Solange Gracin war, wusste Solange nicht. Jedenfalls hatte sie keinen blassen Schimmer von den Lebensumständen jener Marie-Blanche. Weder verfügte sie über ihr Wissen, noch kannte sie sich in dem Paris der Zeit aus, in die es sie verschlagen hatte. Sie wusste nichts über die Familie Arouet, bis auf die knappsten Informationen, die die Magd ihr gerade vermittelt hatte. Und nichts über Freunde und Bekannte, nichts über das Paris des Jahrs 1457, nichts, worauf es in dieser Zeit ankam. Die Geistwanderung, zu der de Trohandour – der Kretin! dachte Solange zornig – den Anstoß gab, hatte mit Verzögerung stattgefunden. Nämlich erst nachdem Solange mit ihrem Freund zur gemeinsamen Wohnung gefahren war. Siedendheiß fiel ihr ein, was Berthé Schwartz ihr in dem Sanitätsraum im Bürgerhaus von Clichy über ihre Äußerungen und ihr Verhalten in Trance erzählt hatte. Von Hexe und Scheiterhaufen, Feuer und Flammen hatte sie geschrien. Voller Schrecken erkannte Solange, dass sie in großer Gefahr schwebte. Wenn sie nicht aufpasste, wurde sie am Ende noch der Hexerei angeklagt. Bei der Verhörmethoden jener Zeit, nämlich der Folter, würde sie ganz gewiss gestehen. Dann aber geschah, was sie in der Trance offensichtlich nacherlebt hatte, nämlich dass sie verbrannt wurde. Solange schluckte. Hier war guter Rat teuer. Es gab tausend Fragen, die sie beschäftigten, aber niemand, an den sie sich deswegen hätte wenden können. Sie
musste sehr vorsichtig sein. Am besten würde sein, sie verhielt sich möglichst unauffällig, was aber leichter gedacht als getan war. Ich muss eine Vertrauensperson finden, die mir hilft und die mich nicht verrät, dachte Solange. Solange muss ich mich krank oder angegriffen stellen. Auf keinen Fall darf ich den Arouets, also der Familie jenes Mädchens, in dessen Körper ich bin, meine wahre Identität enthüllen. Sie würden mir niemals glauben, sondern mich für verrückt, verhext oder selbst eine Hexe halten. Zum Beispiel eine, der ein Zaubertrank oder der Kontakt mit dem Teufel den Geist verwirrt hatte. In jener Zeit waren die Menschen furchtbar abergläubisch gewesen. Der Hexenwahn hatte Europa durchtobt – Amerika war noch nicht entdeckt gewesen – und zahllose Opfer gefordert. Hell hatten die Scheiterhaufen gelodert, von bigotten, verblendeten Menschen errichtet, die meinten, hier noch ein gutes und gottgefälliges Werk zu vollbringen. Hoffentlich komme ich hier wieder weg, dachte Solange. Sie hatte keine Lust, den Rest ihres Lebens im 15. Jahrhundert zuzubringen. Sie war nicht mal neugierig, diese Zeit selbst zu erleben. Als Jugendliche hatte sie Geschichten von Zeitreisen gelesen und immer höchst amüsant gefunden. Die Heldinnen, die sie natürlich bevorzugte, und Helden gerieten in die verzwicktesten Situationen, die aber immer zu einem guten Ende führten. Jetzt, da sie selbst betroffen war, fand Solange das überhaupt nicht amüsant und hätte gern auf die Erfahrung verzichtet. Auch wenn sie Geschichtsstudentin war, so genau wollte sie es nicht wissen, wie die Menschen früherer Epochen gelebt und gefühlt und gedacht hatten. Solange konzentrierte sich auf das Jahr 2003. Sie wollte zurück in ihre Zeit und als diejenige leben, die sie wirklich war. Doch trotz ihrer verzweifelten Wünsche und Anstrengungen geschah nichts. Sie blieb im Jahr 1457 und im Körper der MarieBlanche Arouet gefangen. Das konnte noch heiter werden. Denn Solange hatte keine Ahnung, wie jene Marie-Blanche sich normalerweise benahm, welche Vorlieben und Abneigungen sie hatte und wen sie kannte und wen nicht. Genauso wenig war sie über MarieBlanches Freundschaften und Ab18
neigungen informiert. Auch über ihre Fähigkeiten wusste sie nichts, genauso wenig über Stärken und Schwächen, mögliche Allergien und so weiter. Solange hatte überhaupt keine Ahnung über das Leben, das Marie-Blanche bisher geführt hatte. Sie kannte nicht mal die Namen von deren Eltern. Nur mit der Sprache schien es seltsamerweise zu klappen, ein Punkt, der Solange schon bei der Inkarnations-Beschwörung des Magus de Trohandour im Bürgerhaus von Clichy aufgefallen war. Der Magus oder auch Berthé oder Roger, die klapprige Wiedergeburt angeblich von Zar Iwan dem Schrecklichen, hätten dafür sicher eine Erklärung gehabt. Solange hatte keine, nahm jedoch hin, dass es sich so verhielt. Abermals wurde an die Tür geklopft. Die Magd Sophie, die zuvor schon einmal dagewesen war, meldete sich. „Euer Vater wartet dringend auf Euch, Demoiselle Marie. Er ist schon sehr ungehalten.“ Sophie trat ein. „Wie, Ihr seid ja noch nicht einmal angezogen? Jetzt aber rasch, es gibt sonst den größten Ärger im Haus.“ Energisch half sie Solange beim Anziehen. Flüchtig dachte Sophie noch einmal an den Magus. Wäre er dagewesen, wäre sie ihm ins Gesicht gesprungen. Der elende Scharlatan mit seiner PfuschSeelenwanderung und verkorksten Hypnose, dachte Solange. Die Augen könnte ich ihm auskratzen. Dieser elende Stümper.
„Hilfe, Feuer!“ Paul Ruffaut regte sich verschlafen. „Was ist los?“ Er gähnte gewaltig. „... hast du denn, Solange?“ Marie-Blanche schrie auf, als sie merkte, dass ein Mann neben ihr lag. Dadurch wurde Paul völlig wach. Er knipste die Nachttischlampe an. Es war zwei Uhr früh. Paul hatte gerade anderthalb Stunden geschlafen. Verschlafen blinzelte er die Blondine an, ohne zu ahnen, dass er in ihr eine ganz andere vor sich hatte. „Ein Mann!“ schrie Marie-Blanche. „Vater, Mutter, alles Gesinde, zu Hilfe! Ein Mann ist in meinem Zimmer. – Ein Unhold! Wo bin ich hier eigentlich?“ Marie-Blanche schaute sich um. Die Umgebung war ihr vollkommen fremd. Sie zitterte heftig. Als Paul sie beruhigend in die Arme schließen wollte, stieß sie ihn weg und rückte so weit wie möglich von ihm weg. Mit angstverzerrtem Gesicht schaute sie den schwarzhaarigen jungen Mann an. „Bist du – ein Hexer? Oder der Teufel? Bin ich verhext worden?“ Paul tippte sich an die Stirn. „Sag mal, Solange, spinnst du? Das darf doch nicht wahr sein, was du da zusammenphantasierst. Die Hypnose durch den Magus hat dich offenbar komplett durcheinander gebracht. Du wirst doch hoffentlich nicht ... ähem.“ Paul räusperte sich. Verrückt, hatte er sagen wollen, unterließ es jedoch aus Höflichkeit. Marie-Blanche bekreuzigte sich mehrmals, faltete die Hände, kniete neben dem Bett nieder und fing laut an zu beten. Paul, im Bett sitzend, beobachtete sie erstaunt. An Solange hatte er zuvor nie besondere Frömmigkeit festgestellt. „Heilige Maria, Mutter Gottes“, betete Marie-Blanche, „errette mich vor dem Spuk und der Hexerei, die mich umfangen halten. Bewahre mir meine Unschuld vor diesem bösen Dämon ...“ „Wie?“ fragte Paul. „Was soll das denn bedeuten?“ „... und lass mich heimkehren ins Haus meiner Eltern in der Rue Sacrenard bei der Ilê de Cite. Ich bin eine getreue Untertanin des guten König Karl, der schon so lange regiert, besuche jeden Sonntag die Messe und halte die Fastentage streng ein. Ich habe noch nie einen Mann begehrlich angesehen und bin züchtig und sittsam meinen Eltern untertan. Der redliche
* Im Jahr 2003, in der eleganten VierZimmer-Wohnung am Boulevard Haussmann mitten in Paris, erwachte Marie-Blanche Arouet. Zuerst dachte die achtzehnjährige Tochter eines Pariser Ratsherrn und Zunftmeisters aus dem Jahr 1457 in ihrer vertrauten Umgebung zu sein. Schließlich war es dunkel. Sie lag in einem warmen, weichen Bett. Doch dann ging Marie-Blanche auf, dass etwas nicht stimmen konnte. Rot glühte ein Licht neben ihr in der Dunkelheit. Es waren die Zahlen des Radioweckers. So etwas hatte das Mädchen aus dem 15. Jahrhundert noch nie gesehen. MarieBlanche, da würde gleich etwas anfangen zu brennen. Sie setzte sich auf. 19
Kannengießer-Meister und Stadtrat Edouard Arouet und seine getreue Ehefrau Catherine hatten nur Freude an mir. – Rette mich, und ich will auch nie mehr eitel und putzsüchtig sein und auf die bunten Bänder an meiner Haube genauso verzichten wie auf die roten Schnabelschuhe mit Glöckchen, die einer sittsamen Jungfer schlecht anstehen. – Hilf mir! Befrei mich aus diesem Alptraum, und ich will dir eine große Wachskerze stiften und drei Dukaten in den Opferstock werfen. Wenn ich gesündigt habe, lass es mich erkennen, oh Jungfrau, und ich will einen Ablass erwerben, der meine Seele reinigt. – Hilf mir, jetzt und in der Stunde meines Todes. – Amen.“ Paul schüttelte den Kopf. Er staunte nur noch. Die junge Frau, die neben dem Bett kniete, sah aus wie Solange. Doch ihre Stimme klang anders, ein Umstand, der der ein wenig schwerhörigen Magd Sophie im 15. Jahrhundert bei ihrer jungen Herrin nicht aufgefallen war. Marie-Blanche schaute starr gegen die Wand und vertiefte sich ganz in ihr Gebet. Als sie wieder aufzuschauen wagte, voll Hoffnung, dass ihr die Gottesmutter geholfen hätte, sah sie immer noch den fremden Mann und die völlig unbekannte Umgebung. Sie schrie gellend auf. Paul sprang aus dem Bett und hielt ihr den Mund zu. „Solange, jetzt reicht es! Du weckst ja das ganze Haus auf.“ Marie-Blanche Arouet erstarrte. Sie wagte nicht, sich zu wehren. Stattdessen ließ sie zu, dass Paul sie ins Bett zog und zudeckte. Zuvor sah Marie-Blanche noch erstaunt, was sie anhatte – einen Pyjama nämlich, also ein ihr völlig fremdes Kleidungsstück. Darauf hatte sie vorher nicht geachtet. „Was hast du denn nur, Cherie?“„ fragte Paul. Siedendheiß ging ihm auf, dass Solanges Veränderung mit der Hypnose durch den Magus zusammenhängen musste. Paul Ruffaut war ein scharfsinniger junger Mann. Entweder, dachte er, ist Solange verrückt geworden, oder ... Er zögerte, den Gedanken zu Ende zu führen, fuhr dann aber doch damit fort. ... oder es hat ein Persönlichkeitsaustausch stattgefunden. Eine Seelenwanderung. Wenn das stimmte, hatte er nach dem Benehmen der Person neben sich im Bett eine junge Frau oder
ein Wesen aus einem früheren, puritanischen Zeitalter vor sich. Vorsichtig tippte Paul ihr an die Schulter. „Wie heißt du denn?“ Obwohl er mehrmals fragte, erhielt er keine Antwort. Paul wollte aber Bescheid wissen. Er fletschte die Zähne und rief: „Grrrr!“ Marie-Blanche zuckte zusammen. „Ich fresse dich, wenn du mir nicht antwortest“, sagte Paul und rollte die Augen. „Marie-Blanche ... Arouet.“ „Wie alt bist du?“ „Achtzehn, Herr.“ „Wann geboren?“ „Am Vierundzwanzigsten Jänner Vierzehnhunderteinundvierzig.“ „Gottsakrament“, entfuhr es Paul. MarieBlanche stieß einen leisen Schrei aus und bekreuzigte sich. Paul entschuldigte sich gleich für den Fluch: „Wo geboren?“ fragte er. „In Paris.“ Paul stellte noch weitere Fragen und stellte fest, dass er die achtzehnjährige Tochter des Kannengießer-Meisters Arouet vor sich hatte, die mehr als fünfhundert Jahre vor seiner Zeit gelebt hatte. Paul war clever genug, das einzusehen und nicht etwa anzunehmen, es handele sich um eine wahnsinnige Solange. Der Jurastudent war am Boden zerstört. Seine erste Idee war, de Trohandour anzurufen, wobei er darauf pfiff, wie spät es war. Und ihm an den Kopf zu werfen, was für ein Tropf er sei und was er da angerichtet hatte. Auch Doktor Chabrol sowie Berthé Schwartz und Roger Lefevre sollten in Kenntnis gesetzt werden. Doch Pauls zweiter Gedanke war, erst einmal abzuwarten, jedenfalls bis zum Morgen. Der junge Mann war neugierig. Vielleicht würde sich nie wieder in seinem Leben die Gelegenheit für ihn bieten, sich mit einer jungen Schönheit – er hoffte wenigstens, dass Marie-Blanche Arouet auch in ihrer wirklichen Erscheinung im 15. Jahrhundert schön gewesen war – aus der Vergangenheit zu unterhalten. Zudem würde der Effekt sich vielleicht, was Paul ebenfalls hoffte, von selbst beheben, nämlich die Persönlichkeiten, Geister oder Seelen wieder in den Körper und die Zeit zurückkehren, in die sie gehörten. Er lächelte und fuhr MarieBlanche zärtlich über die Wange. 20
„Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Ich tue dir nichts. Findest du mich denn so schrecklich?“ „Ich weiß nicht. Ihr seid ein schöner Mann. Doch der Teufel vermag in verführerischer Gestalt aufzutreten. Seid Ihr ... ein Succubus?“ „Nein“, sagte Paul. „Auch kein Incubus.“ Im abergläubischen Mittelalter hatten die Menschen an Incubi und Succubi geglaubt, dämonische Nachterscheinungen, die in weiblicher oder männlicher Gestalt Schläfern erscheinen und ihren beiwohnen konnten. Es war ein verzwickter Aberglaube gewesen, ein barer Unsinn. Der junge Mann versuchte, MarieBlanche die Seelenwanderung zu erklären und ihr beizubringen, dass sie im Jahr 2003 gelandet war. Die achtzehnjährige aus dem 15. Jahrhundert begriff das nicht. Schüchtern deutete sie auf den Radiowecker. „Was ist das?“ „Ein Radiowecker. Eine Uhr.“ Marie-Blanche lachte. „Ich kenne Standuhren. Das ist keine Uhr. Warum leuchtet es rot?“ Paul sprach von Leuchtziffern, Siliziumkristallen und Digitalanzeigern. Die Blondine ihm gegenüber sperrte Mund und Augen auf, wie Solange das nie getan hatte. „Silizium? Ist das ein böser Geist, ähnlich wie Luzifer?“ Paul seufzte. „Nein, das ist kein dämonisches Wesen. Es ist etwas, was in deiner Zeit noch nicht erfunden ist. Du glaubst ja auch noch, dass die Erde der Mittelpunkt des Universums ist, eine flache Scheibe, über der sich das Himmelszelt wölbt mit Sonne, Mond und Sternen daran. – Wenn jemand über den Rand der Erde hinaussegelt, was geschieht dann mit ihm?“ „Dann stürzt er selbstverständlich ab“, antwortete Marie-Blanche naiv. „Wohin genau, weiß man nicht. Denn von denen, denen das widerfuhr, ist keiner zurückgekehrt. Es ist aber kaum möglich, soweit zu gelangen. Denn vorher verschlingen meist schon der Malstrom oder riesige Seeungeheuer das frevlerische Schiff.“ „Glaubst du, die die Menschen jemals in großen, stählernen Kästen durch die Luft fliegen werden?“ „Niemals.“ „Es ist aber so. In der Zeit, in die es dich verschlagen hat, ist das gang und gäbe. –
Geh mit mir ans Fenster.“ Marie-Blanche gehorchte aus Furcht. Paul deutete auf die Straßenlampen und die hell erleuchteten Schaufenster und Neonreklamen von Geschäften, Hotels und Lokalen. Autos fuhren vorbei. MarieBlanche schrie entsetzt auf und klammerte sich zitternd an Paul, vor dem sie zwar immer noch Angst hatte, doch weniger als vor der ihr unbekannten, erschreckenden Welt draußen. „Das ist die Hölle!“ rief sie. „Schütze mich.“ „Du brauchst keine Angst zu haben.“ Paul umarmte das Mädchen, das wie Solange aussah, es aber nicht war. „Dir geschieht nichts. Bleib nur hier. Ich werde dir ein Glas Wein holen.“ Paul brachte gleich eine ganze Flasche. Er fand Marie-Blanche vorm Spiegel, wo sie sich verwundert betrachtete. Ihr verändertes Äußeres brachte sie komplett aus der Fassung. „Ich bin doch dunkelhaarig und kräftiger als dieses dünne Frauenzimmer“, sagte sie zu Paul. Im 15. Jahrhundert war das weibliche Schönheitsideal noch ein anderes gewesen. Vollere Formen waren gefragt gewesen. An Diäten hatte da noch niemand gedacht. Vielmehr hatten die Menschen angesichts immer wieder mal ausbrechender Hungersnöte gegessen, was sie nur konnten. Völlerei war in jener Zeit ein Laster gewesen. Selbst die Tafel der einfachen Bürger hatte oft unter der Last der aufgetragenen Speisen geächzt. Die Flüsse waren noch äußerst fischreich gewesen. Mahlzeiten mit sieben und mehr Gängen waren bei den Vornehmen gang und gäbe gewesen. In den Klöstern fraßen die Mönche sich fast die Augen zu. Bei Hof speiste man noch üppiger als beim Klerus. „Dein Geist ist in einem anderen Körper und in einer anderen Zeit, Marie-Blanche“, sagte Paul. „Ich hoffe, dass korrigiert sich von selbst. Die Zeit, die du hier bist, wollen wir damit verbringen, uns besser kennen zu lernen.“ Marie-Blanche trank von dem Wein. Sie taute allmählich auf. Zumindest vor Paul verlor sie ihre Scheu. Als er den Radiowecker einschaltete, erschrak sie wegen der Stimmen und der Musik, die daraus drangen. Paul beruhigte sie. Marie-Blanche wollte 21
von ihm wissen, wie das Licht funktionierte. Elektrizität war ihr völlig unbekannt. Als Paul von Kohlefaden- und Glühbirnen sprach, lachte sie nur verständnislos. „Birnen wachsen am Baum. Wie können sie glühen?“ „Ich spreche von Birnen aus Glas, die innen hohl sind. In den Lampen in diesem Zimmer sind solche. Sie leuchten, wenn ich den Strom einschalte.“ „Welchen Strom?“ „Die elektrische Energie, die sie speist. Sie fließt durch eine Leitung ins Zimmer.“ Paul sah, dass Marie-Blanche ihm nicht glaubte. Sie hielt das alles für Zauberei. Doch nach dem dritten Glas Wein taute sie auf. Paul konnte jetzt sowieso nicht mehr schlafen. Er nahm Marie-Blanche in die Arme, von einem plötzlichen Begehren erfasst. Zunächst war sie schüchtern, ließ sich jedoch von ihm küssen. In Pauls Hinterkopf tauchte der Gedanke auf, dass er seiner Solange eigentlich treu sein sollte. Doch die Situation reizte ihn. Es war eine vertrackte Sache – an sich war es Solanges Körper, und da war fraglich, ob es sich überhaupt um Untreue handelte. Andererseits war es der Geist einer anderen. Beim Jurastudium hatte Paul auch die einschlägigen Paragraphen über Familien- und Eherecht gelernt. Er konnte einen Ehe- oder Treuebruch juristisch genau definieren. Doch ein Fall wie der, den er vor sich hatte, war in den Gesetzbüchern nicht vorgesehen. Paul Ruffaut war nicht aus Holz. Er spürte Marie-Blanches Verlangen hinter der Scheu, die sie an den Tag legte. In ihrer Zeit hatte sie ihre sexuellen Triebe unterdrücken müssen. Jetzt, da eine Gelegenheit entstanden war, ihnen nachzugeben, drängte es MarieBlanche Arouet dazu. Ach was, dachte Paul, den die Situation reizte, mit einer anderen im Körper seiner Freundin zu verkehren. Im 15. Jahrhundert bleibt Marie-Blanche jungfräulich. Was soll es? Er knöpfte seiner blonden Bettgefährtin den Pyjama auf. Marie-Blanche bedeckte ihre oder vielmehr Solanges Brüste mit den Armen, glühte jedoch schon vor Verlangen. Sie ließ sich verführen. Hinterher lag sie in Pauls Armen. „Ich hätte nie gedacht, dass es so schön sein kann“, sagte sie. „Meine Mutter sagte
mir immer, es sei die Bestimmung einer Frau, Kinder in die Welt zu setzen, und dazu gehöre das geschlechtliche Beisammensein. Das sei auch der einzige Grund dafür, der es, selbstverständlich nur in der Ehe, gestatte. Obwohl es in verrufenen Häusern Frauen geben soll, die sich nur aus dem Grund der Lust Männern hingeben. Und verkommene Menschen, die aus jenem miteinander verkehren.“ „Du siehst das ein wenig eng“, sagte Paul. „Tröste dich, Marie-Blanche. Du bist jetzt in einer anderen Zeit. Da herrschen andere Sitten.“ Marie-Blanche kicherte. „Das muss man ausnutzen. Gib mir noch einen Schluck Wein.“ Trau, schau wem, dachte Paul. Kaum einmal von der Leine der strengen elterlichen Hand und Erziehung gelassen, schlägt sie schon über die Stränge. Er holte Mineralwasser, um den Wein damit zu verdünnen. Als er zurückkehrte, sagte er: „Ich schenke dir ein, Marie-Blanche. Gräme dich nicht. Der Aufenthalt im Einundzwanzigsten Jahrhundert hat seine Reize, wie du siehst.“ „Warum nennst du mich MarieBlanche?“ fragte die Blondine mit veränderter Stimme. „Warum bin ich denn nackt?“ Sie fasste sich an. „Du hast mit mir geschlafen, mit Marie-Blanche, meine ich. – Schuft!“ Das Glas flog haarscharf an Pauls Kopf vorbei und knallte gegen die Wand, wo es zerbrach, dass die Scherben flogen. „Wie konntest du nur! Du hast mich betrogen. Keinen Moment kann man dich allein lassen. Kaum ist man mal für ein paar Stunden im Fünfzehnten Jahrhundert, schon nutzt du die Gelegenheit zum Fremdgehen. – Das ist der Gipfel! Nicht genug, dass ich deinetwegen mit der Seelenwanderung geschlagen bin, jetzt auch noch das.“ „Aber Solange, Cherie. Ich dachte, du wärst es. Ich ...“ „Du lügst! Eben noch hast du mich Marie-Blanche genannt. Du wusstest ganz genau, wen du vor dir hattest. – Hol dich der Teufel, du Schuft!“ „Aber es ist dein Körper gewesen, Solange.“ „Doch nicht mein Geist und meine Seele. Ein Betrug ist in erster Linie psychisch.“ „Das sehe ich anders. Juristisch gehört zu einem Ehebruch oder zu dem eines Verlöbnisses das körperliche 22
Zusammensein mit einer anderen Frau.“ „Das sage ich ja!“ „Aber nicht mit dem Geist einer anderen Frau im Körper der Angetrauten, Verlobten oder Freundin. Davon weiß das Gesetz nichts.“ „Bei mir kannst du dich nicht mit deinen juristischen Spitzfindigkeiten herauswinden. Ich bin tief enttäuscht von dir. Ich hatte dich schon lange im Verdacht, treulos zu sein. Doch so kannst du mit mir nicht umgehen.“ Paul wollte das unerfreuliche Gespräch auf ein anderes Thema lenken und bat: „Berichte mir, was du erlebt hast, Solange. Ich bin so froh, dass du wieder da bist. Hast du viel erdulden müssen?“ „Nichts in der Art von Marie-Blanche“, antwortete Solange spitz, redete sich dann jedoch von der Seele, was sie bedrückte. Folgendes war geschehen, nachdem die Magd Sophie wieder an ihre Tür geklopft hatte.
war verbaut und winklig. Es gab ein Zwischengeschoss – so etwas hatte Solange überhaupt noch nie gesehen – und zahlreiche enge Kammern. Durch die Butzenscheiben fiel nur wenig Licht ein. An ein paar Stellen in dem zweistöckigen, schmalen Haus brannten Öllampen, jedoch nicht zu viele, denn es musste gespart werden. Licht, Luft und Sonne wie in späteren Zeiten waren hier wenig gefragt. Wer sich über den Smog im modernen Paris beschwerte, hätte einmal in das früherer Jahrhunderte – auch oder besonders des 15. – kommen sollen. Die Häuser standen dort eng zusammen. Kaum ein Sonnenstrahl verirrte sich in die engen Gassen, die überwogen. Breite Straßen und Plätze gab es nicht sehr viele. Die Einwohner hatten die schöne Angewohnheit, ihre Abfälle kurzerhand in die Gosse zu werfen oder zu schütten. Besonders im Sommer stank Paris genau wie andere Städte des Mittelalters zum Himmel. Schwärme von Fliegen summten dann in den Gassen und um die Misthaufen, die hinterm Haus auch zu den Patrizierhäusern gehörten. Vor noch nicht allzu langer Zeit hatte der Magistrat ein Edikt erlassen, das es verbot, in der Inneren Stadt Großvieh zu halten. Es hielt sich aber nicht jeder daran, und Pferde, die als Reit- und Zugtiere gleichermaßen dienten, waren davon selbstverständlich ausgenommen. Da wurde Spülicht in die Gosse geschüttet, der Inhalt von Nachttöpfen, soweit er nicht in die Sickergrube gelangte, und mitunter konnte man sogar Hundekadaver da liegen sehen. Die Zünfte hatten jeweils ihre eigenen Straßen und Gassen. Auf der Seine waren Lastkähne unterwegs, die getreidelt, also von Arbeitern am Ufer mit Seilen gezogen wurden. Auch Flöße gelangten von den Vogesen und anderen waldreichen Gegenden flussabwärts nach Paris, um den Holzbedarf der Hauptstadt zu decken, die im Jahre 1457 noch keine achtzigtausend Einwohner hatte. Für eine mittelalterliche Stadt war das jedoch schon sehr viel. Die Kanalisation fehlte völlig. Der Inhalt der ungenügend abgedichteten Sickergruben sickerte immer mal wieder ins Grundwasser und vergiftete Brunnen, was zu bitteren Nachbarschaftsstreitigkeiten und Fehden Anlass gab. Adel und Klerus bestimmten die Politik
* Solange zog sich eilig an. Sophie half ihr dabei, denn mit den Schnüren und Bändern kam Solange schlecht zurecht. Die dralle Magd staunte. „Was habt ihr denn, Demoiselle? Ihr seid ja völlig verwirrt. Ist Euch nicht gut?“ „Ich weiß auch nicht, was mir widerfahren ist.“ Solange drückte sich absichtlich so aus, wie sie es für das 15. Jahrhundert für zeitgemäß hielt. „Kannst du mich zu meinem Vater bringen?“ „Er wartet im Esszimmer. Die ganze Familie sitzt am Frühstückstisch.“ Solange atmete tief durch. Das fehlte gerade noch. Am liebsten hätte sie gefragt „Wer gehört denn alles dazu?“ Doch das konnte sie schlecht. Sie konnte der Konfrontation auch nicht ausweichen. „Bitte begleite mich hin, Sophie“, sagte sie. „Führ mich.“ Erstaunt, aber willig geleitete die Magd im dunklen, sittsamen Rock und mit Schnürmieder und Leinenbluse Solange aus dem Zimmer. Wenigstens, wofür sie schon dankbar war, hatte Solange keine Probleme, Marie-Blanches Körper zu beherrschen. Die Bewegungsmotorik und die Reflexe stimmten, was sehr erfreulich war. Sophie glaubte, dass die Demoiselle Arouet ernsthaft krank sei. Sie ging vor ihr her die enge, düstere Treppe hinunter. Das Haus 23
und das Tagesgeschehen. Es gab keine Schulpflicht. Eine Straßenbeleuchtung war unbekannt. Wer nach Einbruch der Dunkelheit noch draußen unterwegs war, musste eine Fackel oder Laterne mitnehmen. Überfälle waren an der Tagesordnung. Es gab in Paris wie in jeder größeren Stadt einen Bodensatz von Gelichtern und Verbrechern, und immer wieder hörte man, dass jemand um seine Geldbörse erleichtert worden oder ihm gar die Gurgel abgeschnitten worden war. Edelleute und auch wehrhafte Bürger trugen daher ein Schwert an der Seite. Wer nicht fähig war, sich selbst zu verteidigen, tat gut daran, sich bei nächtlichen Ausflügen einen Beschützer mitzunehmen. Die drakonischen Strafen schreckten die Verbrecher nicht ab. Die Folter war ein legitimes Mittel der Rechtsfindung und sollte es auch noch lange Zeit bleiben Körperstrafen wie auspeitschen, blenden, brandmarken und Handabhacken waren an der Tagesordnung. Zudem grausame Hinrichtungen wie aufs Rad flechten, verbrennen, erhängen und enthaupten. Wer besonders schwere Verbrechen begangen hatte, dem wurde kein schneller Tod gegönnt. Sondern man vollzog vor versammelter Zuschauermenge grausame Strafen an ihm, bevor endlich zum Schluss der erlösende Streich des Scharfrichters fiel. Die Henker galten als unehrliche Leute, die abseits von den übrigen wohnen mussten. Doch hatten sie und die Folterknechte Hochkonjunktur. Die Frau des Henkers und seine Kinder konnten sich in Samt und Seide kleiden. Doch in der Kirche durften sie sich nicht mit den ehrlichen Leuten, die keine anrüchigen Berufe ausübten, in eine Bank setzen und waren auch sonst manchen Auflagen unterworfen. Der Henker von Paris war eine geachtete, gefürchtete Persönlichkeit, ein Mann von athletischem Wuchs, von dem es hieß, dass er mit einem Beilhieb oder Schwertstreich auch den stämmigsten Hals durchschlug. Andere Pfuscher mussten wohl mehrmals zuhauen, bis das endlich gelang, was das gaffende Volk mit Buhrufen oder auch dem Werfen von Steinen und Abfall quittierte. Die Wäsche wurde noch entweder in der Seine gewaschen, oder in den Häusern oder Höfen in großen, dampfenden Zubern gekocht. Dafür gab es Waschweiber, zum Teil noch sehr junge
und auch schöne, ansprechende Frauen. Die Wäscherin Tascherette aus Tours zum Beispiel hatte es bis zur königlichen Mätresse gebracht. Jetzt allerdings, hoch in den Fünfzigern, erlahmten die Triebe des Königs Karl VII., der nicht mehr lange regieren sollten. Mit 19 war er schon auf den Thron gestiegen. Fast vierzig Jahre regierte er jetzt. Unter seiner tatkräftigen Führung war der Hundertjährige Krieg zwischen Frankreich und England endlich zum Abschluss gebracht worden. Frankreich war unter den Capetingern, die jetzt regierten, zu einer selbstbewussten und selbständigen Nation geworden. Noch strahlte die Erinnerung an Jeanne d’Arc, die Jungfrau von Orleans, als helles Licht, die König Karl, später den Siegreichen genannt, wie das gesamte französische Volk aus seiner bitteren Verwirrung und Gespaltenheit geführt hatte. Zerlumpte Bettler mit teils ekelerregenden Geschwüren und offen zur Schau gestellten Gebrechen bettelten auf den öffentlichen Plätzen und vor den Kirchen. Ein Sozialsystem oder gar eine Rentenversicherung sollte es noch jahrhundertelang nicht geben. Die medizinische Versorgung befand sich auf einem Tiefstand. Von Hygiene wusste man kaum etwas. Immer wieder brachen Seuchen und Epidemien aus. Vor allem die Pest war gefürchtet. Doch auch Cholera, Blattern und Typhus forderten ihre Opfer. Es gab schöne Kirchen und Paläste in Paris um die Mitte des 15. Jahrhunderts. Das Handwerk und die Künste der Malerei und Bildhauerei blühten. Reiche Kaufleute bauten sich große Häuser. Könige und Adlige hatten prunkvolle Paläste mit einem Heer von Bediensteten. Doch den meisten ihrer Untertanen ging es schlecht. Von morgens bis abends hatten sich die Menschen zu plagen, um ihren Lebensunterhalt zu erwerben. Sie wurden in Furcht und in Gottesfurcht gehalten. Die Reichen prassten, die Armen darbten. Die katholische Kirche hatte eine unangefochtene Vormachtsstellung. Für Geld konnten Sündenablässe erworben werden. Es war ein Brauch, Pilgerfahrten zu unternehmen, wobei mancher zeitgenössische Chronist klagte, die Gasthäuser seien wahre Räuberhöhlen und mit Huren bevölkert, und in Rom gäbe es weitaus mehr davon als von Nonnen und Priestern. 24
Davon hatte Solange, die ja Geschichte studierte, im Moment nur eine unklare Vorstellung, da ihr alles durch den Kopf wirbelte. Doch über die Grundkenntnisse verfügte sie, dank ihres Interesses und durch ihr Studium. Bald sollte sich das Bild, das sie vom 15. Jahrhundert hatte, bei ihr verfestigen. Vor allem das Lebensgefühl der Menschen jener Epoche in der Hauptstadt von Frankreich sollte sie erfahren. Genau das war es ja, woran es der Nachwelt mangelte und weshalb Historiker mit ihren Analysen oft danebenlagen. Weil sie nämlich die Menschen aus ihrer Sicht beurteilten und sie nicht aus ihrer Zeit heraus beurteilen konnten. Die gute alte Zeit, oft nostalgisch beschworen, war es jedenfalls nicht, in der Solange gelandet war. Diese Zeit hatte es vermutlich nie gegeben, sondern nur die durch die Jahre verbrämte, glorifizierende Erinnerung von Menschen an ihre Jugend. Sophie führte Solange ins Esszimmer. Am eichenen Tisch, unter dem Bild eines streng blickenden Mannes, saß die Familie. Der Mann am Kopfende des Tischs, auf dem das Geschirr schon stand, musste wohl Marie-Blanches Vater sein. Er war schwarzbärtig, der Ähnlichkeit nach entweder der Sohn oder der Enkel des Mannes auf dem Bild, und trug ein Leinenhemd, enge Beinkleider und Pantoffeln. Der älteste Sohn saß rechts von ihm, neben ihm sein Bruder. Die Hausfrau, Marie-Blanches Mutter, war ebenfalls zu erkennen, eine Matrone, obwohl sie noch keine vierzig war. Doch immerhin saßen zwölf Personen am Tisch. Solange konnte nur raten, dass sie wohl zum Gesinde gehörten, das offenbar mit der Herrschaft aß. Sophie deutete auf einen freien Platz. Die Magd selbst setzte sich ans Fußende der Tafel. Solange knickste, weil sie das für richtig hielt. Ein finsterer Blick des bärtigen Hausvorstands traf Solange. Doch ihr oder vielmehr Marie-Blanches Vater löffelte weiter. Solange setzte sich. Es gab Milch oder Brühe zu trinken, dazu Grütze und derbes, selbstgebackenes Brot. Außerdem eine Marmelade. Die Familienmitglieder der Arouets hatten Porzellantassen und Teller, das Gesinde hölzerne Becher und Teller. Die Gabeln waren zweizinkig klobig. Ein Messer teilten sich jeweils mehrere. Meist wurde mit Löffeln gegessen, die einen
langen Stiel hatten. Schlürfen und Schmatzen waren keineswegs verpönt. Der bärtige Mann schaute Solange an, als sie gesittet ihre Brühe trank. „Schmeckt es dir nicht, Tochter? Man hört dich überhaupt nicht essen. Bist du krank?“ „Nein, Vater.“ Solange schlürfte und schmatzte. Wenn es nicht mehr war, was die Arouets von ihr wollten und was sie tun musste, um nicht aufzufallen, konnte sie damit dienen. Nach dem Essen sprach der Familienvorstand ein Dankgebet. Fromm waren die Leute in jener Zeit, jedenfalls die meisten davon. Das Gesinde ging an die Arbeit. Der bärtige Mann, dessen Namen Solange noch immer nicht wusste, erhob sich, um seine Werkstatt in der Kannengießergasse aufzusuchen. Die Arouets führten auch ein Geschäft, wie Solange noch erfahren sollte. Mehrere besonders schöne Stücke, die von der handwerklichen Kunst besonders des jetzigen Familienoberhaupts Edouart Arouet zeugten, standen auf einem Bord, der Kommode und am Kaminsims. Es handelte sich dabei um Kannen, andere Gefäße sowie Zierteller mit Motiven. „Ich muss gehen.“ Meister Arouet schaute auf die Wasseruhr, einen Behälter, bei dem das abfließende Wasser die Zeit markierte. „Es gilt, Zunftmitglieder zu treffen. Wichtiges ist zu besprechen.“ In welcher Zeit wäre das unter Berufstätigen und Händlern einmal nicht der Fall gewesen? Arouet schaute seine Tochter an. „Ein Kannengießer aus Nantes bewirbt sich um die Aufnahme in die Pariser Zunft. Er stammt aus einer angesehenen Meistersfamilie, ist allerdings der jüngere Sohn, und hat seine Wanderzeit hinter sich. Ich spreche von Bernard Moustingoux, der neulich bei uns zum Essen war. – Welchen Eindruck gewannst du von ihm, MarieBlanche? – Marie-Blanche!“ „Lass mich einen Moment überlegen, Vater.“ Solange hatte sich zunächst gar nicht angesprochen gefühlt. Jener Moustingoux war ihr schlichtweg wurst. Dann jedoch begriff sie, was Meister Arouet meinte. Wenn Moustingoux in die Pariser Zunft eintrat, musste er heiraten, denn ledige Meister gab es nicht. Es war ein übliches Verfahren, Meisterswitwen samt Werkstatt und 25
Geschäft zu heiraten, wodurch besonders Gesellen in den Meisterstand aufsteigen konnten, der viele Vorteile hatte. Alter und Aussehen der Frau waren dabei oft zweitrangig, wie überhaupt wirtschaftliche Überlegungen bei den Eheschließungen in jener Zeit die Hauptrolle spielten. Liebesheiraten waren etwas für Verrückte, fahrendes Volk oder Mittellose, bei denen es nicht darauf ankam. Meister Arouet runzelte die Stirn. Ein Bruder von Marie-Blanche – war er nun als Solanges Bruder anzusehen oder nicht? – raunte ihr zu „Herr Vater“. Solange hatte einen Fauxpas begangen. Bei den streng hierarchischen Familienstrukturen jener Zeit konnte sie ihre Eltern nicht einfach duzen. Es hieß „Herr Vater“ und „Frau Mutter“. Meister Arouet rief auch gleich: „Bist du eines Sauhirten Tochter? Was zeigst du dich so respektlos, Dirne?“ „Verzeiht mir, Herr Vater. Ich war in Gedanken. Zu Bernard Moustingoux kann ich nichts sagen.“ „Ich halte ihn für einen Erfolg versprechenden jungen Mann“, sagte Meister Arouet. „Pockennarben haben auch andere. Besonders schön ist er nicht, und seine Haare lichten sich schon, obwohl er erst achtundzwanzig Jahre zählt. Doch das zählt nichts. Auf jeden Fall ist er ein tüchtiger Kannengießer, der in Italien und Spanien gearbeitet hat und in Lille selbständig das Geschäft und die Werkstatt seines schwerkranken Meisters führte.“ „Warum hat er nicht dort eingeheiratet und beides übernommen?“ fragte der ältere Bruder von Marie-Blanche. „Die neidische Verwandtschaft des Meisters verhinderte es. So ist Moustingoux nach Paris gekommen, um hier sein Glück zu machen. Die Frage ist, ob wir noch einen weiteren Kannengießer in der Familie gebrauchen können.“ Meister Arouet war Kannengießer, genau wie sein Vater und dessen Vater. Kaum einem fiel es ein, jemals die Zunft zu wechseln. Nur manchmal wurde ein junger Mann Mönch oder Priester, oder es ging eine Tochter ins Kloster. Das galt als Ehre für die Familie. Oder es entlief irgendein Tunichtgut, wobei die jungen Männer meist als Söldner ihr Glück suchten. Der jüngere Sohn des Meisters Arouet, Francois, Marie-Blanches vierzehnjähriger Bruder, war für den geistlichen Stand vorgesehen. Er besuchte die Lateinschule
der Zisterzienser und war nur selten zu Hause. Der ältere Bruder, Rodolphe, sollte in die Fußstapfen seines Vaters treten. Jedoch meinte Meister Arouet, der über einigen Einfluss innerhalb der Zunft verfügte und der auch zum Rat der Stadt gehörte, auch Marie-Blanche noch zu einer angesehenen Kannengießer-Meistersfrau machen zu müssen. Bernard Moustingoux bot sich an. Die intelligente Solange begriff, dass Meister Arouet nur dann für seine Aufnahme in die Zunft stimmen würde, wenn klar war, dass er sie seine Tochter Marie-Blanche zur Frau nahm. „Für dich ist es Zeit zum Heiraten, Marie-Blanche“, sagte der strenge Meister. „Ich will bald Enkel auf meinen Knien wiegen können. Ich warte noch auf einen Bescheid auf Nantes. Damit steht und fällt alles.“ Geld spielte hier eine Rolle. Bernard Moustingoux’ Vater, KannengießerMeister in Nantes, würde schon in die Tasche greifen müssen, um seinem jüngeren Sohn die Aufnahme in die Pariser Zunft zu ermöglichen. Geschäftlich, davon war Meister Arouet überzeugt, würde er einen Schwiegersohn unterbringen können. Solange konnte schlecht Ja oder Nein sagen. Ihre Ansichten waren väterlicherseits auch nicht gefragt. Allenfalls wenn ihr der vom Vater Auserwählte als Raubmörder, hemmungsloser Trunkenbold oder dergleichen bekannt gewesen wäre, hätte sie das einwenden können. Sie knickste also wieder, was nicht verkehrt sein konnte. „Ihr werdet richtig entscheiden, Herr Vater. Ich vertraue mein Schicksal Eurer väterlichen Weisheit und Güte an.“ Der modernen, aufgeklärten jungen Frau aus dem 21. Jahrhundert brach fast die Zunge ab, über die sie diese Worte quälte. Meister Arouet strich ihr über die dunklen Haare, die Sophie ihr geflochten hatte, und wandte sich zum Gehen. Solange atmete innerlich erleichtert auf. Sie hatte den Vater günstig stimmen und seinen Unmut oder aufkeimenden Verdacht zerstreuen wollen. Immerhin hatte sie sich an dem Morgen seltsam benommen. Hoffentlich kann ich bald wieder zurück in meine Zeit, dachte Solange. Dann soll Marie-Blanche Arouet zusehen, wie sie mit ihrem blatternarbigen Moustingoux zurechtkommt oder auch nicht. Wenn 26
dieser Kannengießer aus dem Jahr 1457 etwa um mich werben sollte, schreie ich laut. Die Brüder gingen nach Meister Arouet. Die Mutter forderte Solange auf, sie in die Küche zu begleiten. Dort fragte sie sie: „Wer bist du? Ich kenne meine Tochter Marie-Blanche besser als alle anderen. Du siehst aus wie Marie-Blanche, aber du bist es nicht. Schon deine Stimme klingt anders.“ „Ich bin heiser, Frau Mutter.“ „Das allein ist es nicht. Es wundert mich, dass es sonst niemand auffiel, ein Beweis, wie gedankenlos die Menschen in diesem Haus sind, besonders mein Gatte und meine Söhne. – Bist du eine Hexe, die Marie-Blanches Gestalt annahm?“ Da war wieder der allgegenwärtige Aberglaube dieser Menschen. Einen Moment erwog Solange, sich MarieBlanches Mutter anzuvertrauen und zu versuchen, sie als Verbündete zu gewinnen. Doch sie entschied sich dagegen. Die Matrone aus dem Jahr 1457 würde ihr ihre Geschichte nicht glauben. Das Jahr 2003 war ihr ferner als der Mond. Mit Seelenwanderung, Reinkarnation und dergleichen konnte sie nichts anfangen. Für sie gab es nur Zauberei und Hexenkunst. Was immer ihr Solange erzählte, sie würde sie doch nur für eine Hexe halten, glaubte die junge Frau. Sie sah ihre einzige Chance darin, Mutter Arouet Sand in die Augen zu streuen. Solange zwang sich zu lachen. „Frau Mutter, was ist in euch gefahren? Kennt Ihr Euer eigenes Kind nicht mehr? Ihr seid verblendet, verhext, wenn Ihr mich für eine andere haltet.“ Catherine Arouet musterte die vor ihr Stehende kritisch. „Ich glaube dir nicht. Aber ich werde dich einer Probe unterziehen. – Warte hier.“ Sie verließ die Küche, in der die beiden allein waren, und kehrte kurz darauf mit einem Rosenkranz und einer Bibel wieder. Solange musste mit ihr ein Ave Maria beten. Dazu knieten die beiden Frauen vor dem Kruzifix an der Wand auf den kalten Steinplatten der Küche nieder. Anschließend musste Solange die Hand auf die Bibel legen und schwören, keine Hexe zu sein. Nach dieser Probe schien Mutter Arouet halbwegs zufrieden gestellt zu sein. Sie forderte Solange zu
gemeinsamen Näharbeiten auf. Verzweifelt überlegte Solange, wie sie sich aus der Affäre ziehen konnte. Sie konnte zwar einen Knopf annähen sowie einfachste Arbeiten mit Nadel und Faden ausführen, wie jeder, der nicht gerade zwei linke Hände hatte. Doch mit Sticken, Häkeln, Stricken und dergleichen hatte sie sich nie beschäftigt. Catherine Arouet sagte auch noch: „Du bist doch eine so ausgezeichnete Perlenstickerin, Marie-Blanche.“ Solange wusste nicht mal genau, was Perlenstickerei war. Eine Feinstickerei jedenfalls, die sie sich sehr kompliziert vorstellte, womit sie auch Recht hatte. Sie lächelte Mutter Arouet an. „Gehen wir, Frau Mutter.“ „Hol schon mal das Nähzeug. Wir setzen uns an den gewohnten Platz. Ich muss rasch etwas besorgen.“ Damit entfernte sich die Hausfrau und ließ Solange stehen. Die ins Jahr 1457 Versetzte wusste weder, wo das Nähzeug war, noch welches man brauchte und wo Catherine Arouet sich mit ihrer Tochter hinzusetzen pflegte. Sie konnte auch schlecht jemand fragen. Rasende Wut stieg in Solange auf. Sie stampfte mit dem Fuß auf. „Mist!“ sagte sie, ein Kraftausdruck, der normalerweise nicht zu ihrem Wortschatz zählte. „Dieser verdammte Magus de Trohandour. Er sollte sich selbst hypnotisieren und als NeandertalerInkarnation in der Steinzeit herumlaufen, dieser Depp. – Den soll der Teufel holen!“ Solange hatte in ihrer hilflosen Wut nicht aufgepasst. Jemand räusperte sich hinter ihr. „Was habt Ihr gesagt, Demoiselle? Von wem spracht Ihr? Was für Worte gebrauchtet ihr da, die ich noch niemals hörte?“ Das Wort Neandertaler war original ausgesprochen worden, da es dafür kein adäquates im Jahr 1457 gab, in das es hätte übersetzt werden können. „Ihr habt vom Teufel gesprochen. Wisst ihr denn nicht, dass er bei der bloßen Nennung seines Namens erscheinen kann? Oder – wolltet Ihr das sogar, Demoiselle?“ Erschrocken wirbelte Solange herum. Vor ihr stand ein derber, klobiger, unrasierter Mann in einem geflickten Kittel. Er stank nach Schweiß und anderen Körperausdünstungen, dass Solange ihn durch die halbe Küche riechen konnte. Zuvor am Frühstückstisch hatte sie ihn 27
nicht gesehen. Er trug Feuerholz und Kohle in einem geflochtenen Tragekorb, einer Kraxe, auf dem Rücken. „Wer bist du denn?“ fragte Solange den zottigen Burschen. „Prospere, der Knecht“, antwortete er. „Aber Ihr kennt mich doch schon lange, Demoiselle.“ „Ja, ja. Sicher. Natürlich. Ich bin nur so erschrocken. Warum hast du dich herangeschlichen, Prospere?“ „Ich habe mich überhaupt nicht angeschlichen, sondern nur Brennmaterial bringen wollen. Ich kenne euch kaum wieder, Demoiselle. Euer Benehmen, Eure Worte vorhin verwundern mich sehr. Das ist nicht das Benehmen einer züchtigen Bürgerstochter, sondern das ...“ Prospere stockte. „Wessen?“ fragte Solange. „Sprich weiter. Ich befehle es dir.“ „Einer Hexe“, sagte der zottige Knecht. „Verzeiht mir. Was schaut ihr mich denn so an? Ich bitte euch, verzaubert mich nicht. Die Hexen sind überall. Einem Nachbarn ist die Manneskraft abgehext worden. Ein anderer hat weiße Mäuse gesehen.“ „Bestimmt weil er soff“, sagte Solange. „So etwas nennt man den Säuferwahn.“ „Er führt es auf Hexerei zurück. Die drei Kannen Wein am Tag hat er immer gut vertragen, sagt er. Bei den Maurois’ in der Vorstadt ist die Kuh im Stall verreckt – totgehext.“ „Sie wird ein giftiges Kraut gefressen haben.“ „Nein, das ist Hexerei, genau wie die Unfruchtbarkeit der Schwester von Eurer Frau Mutter. Auch dass mein Freund Bartholomé der Köhler neulich einen Leistenbruch hatte, hat er einer Hexe zu verdanken.“ Solange wollte aufbrausen, das sei dummes Zeug. Für Impotenz, Unfruchtbarkeit, totes Vieh und Delirium tremens gab es natürliche Ursachen. Genau wie für Missernten und Unwetter. Doch die im Aberglauben befangenen Menschen des Mittelalters erkannten das nicht. Wenn Solange nun behauptete, für die von Prospere genannten Missstände wären keine Hexen verantwortlich, ja am Ende, es würde überhaupt keine geben, machte sie sich verdächtig, selbst eine Hexe zu sein. Nur eine solche oder ein Hexer konnten nach Auffassung des durchschnittlichen
Zeitgenossen allgemein als Tatsachen Bekanntes anzweifeln. „Ich kann das nicht beurteilen“, sagte Solange. „Gib das Feuerholz an seinen Platz, Prospere. Was stehst du da und hältst Maulaffen feil? Bezahlt dich mein Vater dafür?“ Ächzend setzte der Knecht die Kraxe ab. „Drei Dukaten im Jahr, Hemd und Hose am Sankt-Martins-Tag, alle drei Jahr’ Schuhe und Wams sowie einmal das Jahr eine Gans sind so gut bezahlt nicht. Doch ich beklage mich nicht. Ich weiß, was ich der Obrigkeit schuldig bin. – Euch, Jungfer Marie, rate ich, den Gottseibeiuns aus Euren Reden herauszulassen. Ich will vergessen, was ich gehört habe, denn ich kenne Euch schon viele Jahre und will Euch deshalb nicht dem Hexenschnüffler oder gar gleich beim Hohen Tribunal des Herrn Erzbischofs anzeigen. Erzbischof Gilbert liebt die Hexenfeuer und wird nicht umsonst im Volksmund Gilbert der Brenner genannt. – Hütet euch, Demoiselle. Ich habe nichts gehört.“ „Danke, Prospere.“ Der grobschlächtige Knecht war anständig. Solange küsste ihn auf die stopplige Wange und huschte hinaus, als Mutter Arouet sie rief. „Wo bleibst du denn mit dem Nähzeug, Marie-Blanche?“ Solange lief der Stimme nach. „Ich kann es nicht finden, Frau Mutter.“ „Dummes Ding. Was bist du denn so zerstreut? Ich hole es selbst.“ Die Klippe war genommen. Es blieb das Problem, sich als Kunstnäherin zu erweisen, wo man oder vielmehr frau überhaupt keine war. * „Wie löstest du das Problem?“ fragte Paul Ruffaut Solange im Schlafzimmer der Wohnung am Boulevard Haussmann. „Überhaupt nicht“, antwortete die Studentin. „Als ich zu Mutter Arouet lief, wurde mir schwindlig und schwarz vor Augen. Dann kam ich hier wieder zu mir. – Ich ziehe mich an. Ich bleibe nicht mit dir im Schlafzimmer. Du hast mich betrogen.“ „Nein.“ „Doch.“ „Nein.“ „Doch.“ „Nein.“ „Aber doch.“ 28
„Ja mit wem denn? Mit dir selbst?“ „Nein, mit Marie-Blanche Arouet, die es ganz schön faustdick hinter den Ohren hat. Kaum ist sie einmal von der gestrengen elterlichen Aufsicht weg, schon nutzt sie die erstbeste Gelegenheit, um mit einem Mann zu schlafen. Das hätte ich nicht von ihr gedacht.“ „Solange, ich bitte dich, lassen wir doch dieses Thema. Ich liebe nur dich. Ich meinte ... Ich war ... Also, ich wurde verführt.“ Paul log und behauptete, so wäre es gewesen. Solange, die ihn liebte, war geneigt, ihm zu glauben. „Das sieht dem Luderchen ähnlich. Vierzehnhundertsiebenundfünfzig ist sie die züchtige Jungfrau. Zweitausenddrei schläft sie mit meinem Freund, wobei sie meinen Körper missbraucht, ohne mich um Erlaubnis zu fragen, und bleibt in ihrer Zeit Jungfrau. Diese Raffinesse! Man sollte nicht glauben, was hinter so einem Pariser Bürgersmädchen aus dem Fünfzehnten Jahrhundert steckt. Aber du hättest dich besser beherrschen sollen, Paul.“ „Ich war hingerissen. Sie war so verwirrt und wollte menschliche Nähe und Wärme, Verständnis.“ „So weit hättest du deswegen nicht zu gehen brauchen. Doch immerhin, ich bin wieder dort, wo ich hingehöre.“ Paul, erleichtert, dass Solange nicht mehr komplett eingeschnappt war, sagte: „Hoffentlich bleibt es dabei.“ „Was willst du damit sagen?“ fragte Solange. „Nun, du bist einmal ins Jahr Vierzehnhundertsiebenundfünfzig versetzt worden, in den Körper der Marie-Blanche Arouet. Das könnte doch wieder geschehen.“ Daran hatte Solange noch überhaupt nicht gedacht, so froh war sie gewesen, der unerquicklichen und bedrohlichen Situation im Jahr 1457 entronnen und wieder in ihrer Zeit gelandet zu sein. Doch Paul Ruffaut hatte Recht. Die Wiederholung war keineswegs ausgeschlossen. Für Solange als Marie-Blanche im 15. Jahrhundert würde die Lage sich zuspitzen. Marie-Blanche ihrerseits hatte im 21. Jahrhundert, wenn Paul in der Nähe war, nichts zu befürchten. Flüchtig dachte Solange, dass sie womöglich wieder die Gelegenheit nutzen wollte, wenn sie sich ergab, mit Paul ins Bett zu steigen. Doch
das wurde im Vergleich zu der ihr im Jahr 1457 drohenden Gefahr Solanges geringere Sorge. „Was fange ich an, wenn das wieder passiert?“ fragte sie. Paul hob die Schwurhand. „Cherie, ich gelobe es dir, wenn ich merke, dass deine Persönlichkeit wieder ausgetauscht ist, unterlasse ich alle sexuellen Annäherungsversuche.“ „Das meine ich jetzt nicht. Womöglich stecken sie mich Vierzehnhundertsiebenundfünfzig als Hexe in die Bastille, foltern mich und verbrennen mich am Ende sogar. Der Erzbischof Gilbert der Brenner in jener Zeit hat einen Hexenwahn. Jetzt entsinne ich mich von meinen Geschichtsstudien. Gilbert ist der schlimmste Hexenverfolger überhaupt gewesen. Er rühmte sich in den Annalen, jedes Jahr, das er Erzbischof war, allein in Paris und Umgebung mindestens fünfzig Hexen und Hexer dem Feuertod überliefert zu haben. Ich will das Übel mit seiner Wurzel ausbrennen, hat er gesagt. Es soll nicht sein, dass Hexen und Zauberer leben und die natürliche Weltordnung auf den Kopf stellen, Gott spotten und dem Leibhaftigen dienen. – Brenne, brenne, Hexenbrut, läutere dich in Feuers Glut. – Das habe ich einmal gelesen.“ Paul Ruffaut ging ins Wohnzimmer und schenkte zwei Aperitif ein. Er brauchte einen Drink, um die Nachricht zu verkraften, dass der berüchtigte Pariser Erzbischof und Hexenverfolger Gilbert der Brenner im Jahr 1457 seine – Pauls – Geliebte Solange bedrohte. Und dass er an ihrer Stelle vielleicht bald wieder ein Mädel aus dieser Zeit neben sich haben würde, was ihn vor verschiedene Probleme stellte. „Was geschieht eigentlich, wenn du in die Vergangenheit zurückkehren und dort sterben würdest?“ fragte er Solange und gab ihr das Glas. Die blonde Studentin trank, verschluckte sich und hustete. Paul klopfte ihr auf den Rücken. „Dann bin ich vermutlich tot, und MarieBlanche bleibt für immer im Jahr Zweitausenddrei“, sagte sie. „Ja, aber wenn du doch eine Reinkarnation von ihr bist. Dann seid ihr doch ein und dieselbe, nur in verschiedenen Leben. Wenn du stirbst, wäre sie womöglich auch tot, oder was oder wie?“ 29
„Da die Seele unsterblich ist, ließe sich dem widersprechen. Ich bin keine Fachfrau für diese komplizierte Materie. Dazu brauchen wir einen Experten. Doch zu wem sollen wir gehen? Wenn ich meinem Hausarzt mit dieser Geschichte komme, schickt er mich in die Psychiatrie.“ Paul überlegte. „Ich sehe nur die eine Möglichkeit, mich an de Trohandour zu wenden. Er hat diesen Schlamassel angerichtet. Anders kann ich es nicht nennen. Dann soll er auch zusehen, wie er das wieder in die Reihe bringt. Schließlich kannst du nicht dauernd zwischen dem Fünfzehnten und dem Zwanzigsten Jahrhundert hin und her pendeln. Was da alles passieren kann. Wir brauchen Gewissheit oder zumindest soviel Information wie irgend möglich über dieses Phänomen.“ Zuerst war Solange strikt abgeneigt, de Trohandour zu treffen. Am liebsten, sagte sie Paul, hätte sie ihn überhaupt nie wieder gesehen. Doch ihr Freund überzeugte sie. Mitten in der Nacht, da kannte er keine Skrupel, rief er bei Berthé Schwartz an. Dr. Chabrol sollte zunächst noch nicht angesprochen werden. „Es ist etwas passiert, weswegen wir dringend den Magus sprechen müssen“, sagte Paul gleich als erstes zu der sich verschlafen am Telefon meldenden Berthé. „Wo ist er zu erreichen?“ Berthé, neugierig wie immer wollte Näheres wissen. Paul zeigte sich zugeknöpft. Endlich rückte Berthé mit der Adresse und der Telefonnummer heraus, wo de Trohandour zu erreichen war. „Dubois“, meldete sich eine Frauenstimme, als Paul dort anrief. Der Nachname Dubois war in Frankreich so häufig wie in Deutschland Schmidt oder Müller. Giselle Dubois nannte sich daher in Esoterikerkreisen lieber geheimnisvoll Isis von der Gnosis, was mehr hermachte. Sie wollte den Magus zunächst nicht verständigen. Paul wurde energisch und betonte die Dringlichkeit eines sofortigen Gesprächs. De Trohandour meldete sich am Telefon und gähnte höchst unesoterisch. Als er hörte, was vorgefallen war, wurde er schlagartig hellwach. „Ich nehme ein Taxi und komme mit Isis sofort zu euch. – Nein, fahrt ihr lieber zu mir, denn hier habe ich meine Nachschlagewerke und Zubehör. Das ist ja noch nie geschehen. Ich verstehe das nicht.
Eigentlich sollte das nicht passieren.“ Paul sagte, sie würden in einer halben Stunde vor der Tür stehen. Er legte auf und wandte sich an Solange. „De Trohandour kommt mir vor wie der Leiter der EDV-Abteilung in der Bank meines Vaters. Wenn bei einem Computerprogramm etwas schiefläuft, staunt er auch immer sehr und sagt: Eigentlich sollte das nicht passieren. – Es gibt aber immer wieder mal Pannen. – Wir fahren sofort zu dem Magus, und dann werde ich ihm mal richtig die Meinung sagen. Er soll diesen gefährlichen Effekt gefälligst sofort unterbinden.“ „Und wenn er das nicht kann?“ fragte Solange bange. Darauf wusste Paul keine Antwort. Die beiden zogen sich an und verließen die Wohnung. Im Lamborghini Espada des Bankierssohns gelangten sie zu dem Magus, der schon auf sie wartete. * Die Wohnung, die der Magus mit Isis teilte, war eine glatte Enttäuschung. Sie befand sich in einer hässlichen Mietskaserne direkt bei der Metrostation Sevres-Babylone in einem schäbigen Bezirk der Zweieinhalb-Millionen-Stadt. An der Wohnungstür standen die Namen Dubois und Dufresne. Als Paul deswegen fragte, gestanden ihm der Magus und seine Geliebte, dass das ihre richtigen Namen waren. Der selbsternannte Magus hieß Emile Dufresne. Isis von der Gnosis und Marquis Bertrand de Trohandour waren Pseudonyme. „Als einfacher Emile Dufresne hätte ich bei den Esoterikern nie soviel Ansehen gewonnen wie als geheimnisumwitterter Graf und Ritter vom Goldenen Einhorn. Bitte zeigen Sie mich nicht an. Ich will alles tun, dass sich der unerwünschte Effekt bei Mademoiselle Gracin nicht wiederholt.“ Solange und Paul hatten den Magus zuerst gar nicht wieder erkannt. Dufresne de Trohandour trat nämlich mit spärlichen grauen Stoppelhaaren auf. Das lange schlohweiße Haar, mit dem er im Saal in Clichy geprunkt hatte, war eine Perücke, die er jetzt verschlafen und in der Eile aufzusetzen vergessen hatte. Der Bart war immerhin echt, jedenfalls was die Länge betraf. Ohne seine schlossweiße Mähne wirkte 30
Dufresne wie ein Ganove, der er vermutlich auch war. Giselle Dubois sah ohne die zuvor im Bürgerhaus von Clichy üppig aufgetragene Schminke verlebt aus. Die Wohnung war mit Gebrauchtmöbeln eingerichtet, was deutlich auffiel, und verwohnt. Dufresne und die Dubois waren hier unrenoviert eingezogen, weil sie es sich nicht anders leisten konnten. Solange wollte gerade anfangen Fragen zu stellen, als ein Heidenkrach anfing. Das Geschirr schepperte und klirrte im Schrank. Das Haus bebte. Schrilles Kreischen von Metall auf Metall erklang, als unten ein Zug hielt. Die Metro verkehrte hier oberirdisch. Es hörte sich an, als ob sie direkt durchs Zimmer fahren würde. Erst als der Zug abgefahren war, konnte man sich wieder verständigen, ohne schreien zu müssen. „Wie kommt es, dass Sie in so elenden Umständen leben?“ fragte Solange. „Ich dachte, ein Magus und Leiter eines okkulten Zirkels kann keine materielle Not leiden.“ „Viel scheint die Esoterik-Welle Ihnen nicht in die Taschen zu spülen, Marquis Sans-Savoir“, spöttelte Paul. Graf Habenichts hieß das. „Wollen Sie es nicht mal mit ehrlicher Arbeit versuchen? Ich können Ihnen eine Stellung als Bankbote vermitteln.“ „Spotten Sie nur, junger Mann“, erwiderte Dufresne bitter. „Ich hatte viel Pech im Leben.“ „Davon bin ich überzeugt“, antwortete Paul gallig. „Sicher sind Sie auch ein Opfer der Gesellschaft und wurden von schlechten Menschen, denen Sie vertrauten, schnöde ausgenutzt und hintergangen. Sie tun mir sehr leid.“ Giselle Dubois nahm Dufresne in Schutz. „Emile ist ein Idealist. Er verschrieb sich schon in früher Jugend den okkulten Küsten. Leider ist er damit nie auf einen grünen Zweig gekommen. Unglücklicherweise geriet er mit dem Gesetz in Konflikt, weil er versehentlich ungedeckte Schecks ausschrieb und einmal Schmuck verkaufte, der ihm nicht gehörte. Er war ihm bei einer Haushaltsauflösung in die Hände gefallen. Der Richter hatte dafür kein Verständnis und schickte ihn ins Gefängnis. Später ist Emile mit einem Verlag für okkultes Schrifttum bankrott gegangen, betrügerisch, wie der Staatsanwalt meinte. – Emiles Reich ist
nicht von dieser Welt. Er hat es nie böse, sich auch nie bereichern wollen, sondern immer nur halbwegs menschenwürdig zu leben und seine okkulten Experimente zu finanzieren versucht.“ „Das haben wir inzwischen verstanden, dass Monsieur Dufresne vorbestraft ist“, antwortete Solange. „So genau wollen wir seinen Lebenslauf gar nicht wissen. – Wie sind Sie zu den Reinkarnations-Sitzungen gekommen?“ „Das Ganze begann zwölftausend Jahre vor unserer Zeitrechnung“, erklärte Dufresne. „Damals bin ich Priesterkönig von Atlantis gewesen. Als die Lemuren, unsere durch Magie aus menschlichen und tierischen Genen gezüchteten Sklaven, revoltierten und den magischen Rubin im Tempel der Macht zerstörten, ging der Kontinent unter. Ihr müsst euch das wie eine Kettenreaktion vorstellen. Allerdings keine atomare. Der Geist des Priesterkönigs Re-Ahasverus schweifte durch die Dimensionen. Hoch entwickelt, wie er war, hat er keine Reinkarnation mehr gebraucht, bis er sich vor nicht allzu langer Zeit mit mir verschmolz. Dadurch wurden meine vorher bescheidenen Fähigkeiten ins Unermessliche gesteigert. Giselle ist übrigens in einem früheren Leben die große ägyptische Pharaonin Hatschepsut gewesen. Wir begegneten uns bei einem okkulten Treffen und erkannten einander. Seitdem sind wir zusammen. Noch sind unsere Mittel bescheiden. Doch das wird sich bald ändern.“ Paul zog Solange ins Nebenzimmer, wo es durchdringend nach einer Katzentoilette roch. „Der Kerl ist komplett verrückt“, sagte der Student leise, nachdem er die Tür geschlossen hatte. „Ein Irrer, ein Spinner. Was fangen wir jetzt an? Am liebsten würde ich sofort wieder gehen.“ „Das kann ich mir nicht erlauben“, antwortete Solange. „Durch seine Hypnose hat alles angefangen. Irgend etwas muss an der Reinkarnations-Lehre dran sein. Sonst hätte nicht passieren können, was mir widerfuhr.“ „Da bin ich nicht überzeugt“, sagte Paul. „Für mich ist das alles kein schlüssiger Beweis für die Lehre von der Seelenwanderung. Das menschliche Gehirn ist noch weitgehend unerforscht. Besonders was das Unterbewusstsein angeht, gibt es keine klaren Erkenntnisse. Es gibt Wissenschaftler, die annehmen, 31
dass ein kollektives Wissen der Menschheit und sogar aus ihrer Frühzeit und früheren Entwicklungsstadien in jedem Menschen vorhanden sein könnte. Und zwar tief in seinem Unterbewusstsein. Du erinnerst dich vielleicht an die Stadien, die der Mensch bei seiner Entstehung im Mutterleib durchläuft. Darunter ist auch ein amphibisches, wie ja auch alles Leben einmal aus dem Wasser kam. Dieses kollektive Unterbewusstsein und im Lauf des Lebens irgendwann einmal aufgeschnappte, längst vergessene, vielleicht bewusst gar nicht wahrgenommene Informationen könnten jetzt durch Hypnose oder auch Selbsthypnose bei okkulten Sitzungen hochgeschwemmt werden. Dadurch tritt ein Effekt ein, bei dem ein Mensch glaubt, sich an ein früheres Leben oder auch nacheinander an mehrere zu erinnern. Es sind Geistesfragmente, die keineswegs als Beweis dafür stehen, dass die Reinkarnation stattfindet. Wunschdenken sowie Schuld- und andere Komplexe könnten bei den Reinkarnations-Phantasien eine Rolle spielen.“ Paul drückte sich vorsichtig aus. „Das ist sehr schön“, sagte Solange. „Eine kluge Theorie. Doch wie passen meine Erlebnisse hinein? Dass mein Geist in den Körper der Marie-Blanche Arouet im Jahr Vierzehnhundertsiebenundfünfzig geriet und ihrer in meinem mehr als fünfhundert Jahre später?“ „Die Zeit ist ebenfalls ein unerforschtes Phänomen“, sagte Paul. „Die vierte Dimension nämlich. Einsteins Relativitätstheorie besagt unter anderem, dass bei Lichtgeschwindigkeit, die er als die höchste im Universum ansieht, die Zeit stillstehen würde. Bei der absoluten Geschwindigkeit also keine Zeit mehr verstreicht.“ „Was willst du damit sagen?“ „Das schnellste überhaupt ist der Gedanke. Durch einen geistigen Anstoß, den ich nicht erklären kann, hat dein Geist die Zeitbarriere durchbrochen. Ein Austausch fand statt, mit jener MarieBlanche Arouet. Wie Dufresne das erreichte, weiß er vermutlich selbst nicht. Es hat etwas bewirkt, was er gar nicht wollte.“ „Du meinst, dass er ein begabter Hypnotiseur ist und sonst gar nichts?“ „So ähnlich.“ „Aber warum hat er uns herbestellt?“
„Aus Neugierde, und weil er dir tatsächlich helfen will. Und um Gefahr von sich abzuwenden. Zudem hat er wohl tatsächlich irgendwelche Okkultschwarten in dieser Wohnung. – Wenn ich das bloß geahnt hätte, was sich hinter dem so genannten Magus verbirgt. – Wollen wir ihn seine Kunst nochmals versuchen lassen oder gleich gehen?“ „Jetzt haben wir A gesagt, da müssen wir auch B sagen. Ich will nicht noch einmal diese Geistwanderung erleben, die dann ja wohl ein ziemlich einmaliges Phänomen und eine krasse Ausnahme sein muss.“ „Sollte man meinen“, pflichtete Paul seiner Geliebten bei. „Lassen wir Dufresne also seine Kunst versuchen. Hoffentlich verdirbt er nicht noch mehr.“ Sie kehrten ins Wohnzimmer der Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung zurück. Es war höchst seltsam eingerichtet, eine Mischung von Rumpelkammer und Antiquitätensalon mit ein paar Esoterikund Magieglanzlichtern. Stores aus schwarzem Samt, mit kabbalistischen Zeichen in Gold verziert, hingen staubfangend vor den Fenstern. Der Teppich war schäbig und durchgetreten. Tisch, Schrank, Sessel und Stühle und eine Kommode sowie zwei Wandschränkchen, Diwan und Regale mit okkulten Büchern stopften den Raum so voll, dass man Platzangst bekommen konnte. Ein unechter Jugendstil-Kronleuchter hing von der Decke. An den Wänden hingen Bilder mit magischen Darstellungen. Auf dem Tisch stand eine Kristallkugel. In einer Vitrine auf der Kommode sah Solange einen Totenkopf. Auf der Couch saß der überdimensional fette schwarze Kater, der nebenan seine Toilette hatte, und ließ sich von dem Besuch nicht im Geringsten stören. Die Luft war zum Erbrechen. Nach Ansicht des Paares Dufresne-Dubois vertrugen die Esoterik und frische Luft sich nicht und gediehen die okkulten Künste am besten im Mief. Der Dunst von Räucherstäbchen hing auch noch in der Luft. Auf Solanges Frage, ob man nicht mal lüften könnte, entsetzte sich Giselle Dubois alias Isis von der Gnosis. „Ich will mir doch nicht den Tod holen von der Zugluft.“ „Warum eigentlich nicht?“ fragte Paul bissig. „Sie werden doch sowieso wiedergeboren. Da braucht es Sie doch 32
nicht groß zu stören.“ Madame Dubois wandte sich beleidigt ab. Emile Dufresne alias Bertrand de Trohandour bereitete die Beschwörung vor, die Solange ein für allemal von der unheilvollen Seelenwanderung ins Jahr 1457 befreien sollte. Dufresne verwandelte sich in den Magus, in jene überragende, die verborgenen Künste beherrschende Persönlichkeit, die er gern sein wollte. Dazu verschwand er erst mal im Schlafzimmer. Als er zurückkehrte, trug er die schlohweiße Perücke und hatte ein schwarzes Gewand angelegt. In der Hand hielt er den Stab mit dem Ourobouros und dem Einhorn darin am Knauf. Als die ungeschminkt recht verlebt und vom Leben hart mitgenommene Giselle Dubois das sah, wollte auch sie sich umziehen. Fast hätte es deshalb Streit gegeben. Paul drängte zur Eile. Giselle weigerte sich jedoch, in ihrem einfachen Kleid bei einer so wichtigen Beschwörung mitzuwirken. Solange entschied den Disput. „Hört auf, euch zu streiten. Wenn Madame Dubois sich herrichten und umziehen will, dann soll sie.“ De Trohandour, als der Dufresne jetzt wieder ausstaffiert, war seufzte. Solange sollte nach einer Weile verstehen weshalb. Denn Giselle kam und kam nicht wieder. De Trohandour klopfte mehrmals an die Schlafzimmertür. Jedes Mal ertönte von drinnen die Antwort „Es dauert nur noch einen Moment“. Paul Ruffaut wurde es nach einer Dreiviertelstunde zu bunt. Er pochte gegen die Tür und sagte: „Entweder Sie erscheinen jetzt. Madame, oder Sie lassen es bleiben. Wir können hier nicht Wurzeln schlagen, bis Sie Ihr Makeup endlich beendet haben.“ „Jetzt bin ich fertig.“ Im Schlafzimmer legte Giselle vorm Spiegel letzte Hand an die Maske der Isis von der Gnosis. Sie fuhr die blauen Lidschatten nach und sprenkelte sich ein wenig Goldpuder ins Gesicht. Als sie dann erschien, klimperte ihr Pailettenkleid, das die Brüste fast freiließ. Giselle hatte sich selbst übertroffen. Sie wirkte hoheitsvoll und fremdartig zugleich, ein Wesen aus anderen Sphären und weit zurückliegender Zeit, das geheimnisvoll diese Welt aufsuchte. Giselle alias Isis klingelte mit einem
Glöckchen. Der Kater miaute. Solange musste sich hinsetzen. Paul, der ihren Mantel und seine gefütterte Winterjacke überm Arm trug, trat in den Hintergrund. De Trohandour stellte sich in Positur. Isis schlug einen Gong. Der Magus stampfte dreimal mit seinem Stab auf. In dem Moment fuhr eine Metro vorbei und brachte das Haus wieder zum Beben. Trotz des Zuglärms, gegen den sie schon abgestumpft waren, störten sich die anderen Hausbewohner an den nächtlichen Geräuschen aus der Wohnung Dufresnes und der Dubois. Es wurde heftig gegen die Wände geklopft. Von nebenan schrie eine Stimme mit starkem polnischen Akzent: „Ruhe, du Tagedieb! Anständige Leute wollen schlafen. Psia krew!“ Soweit Paul wusste, hieß das letztere Hundsblut. De Trohandour geriet aus dem Konzept. Isis redete ihm zu. Sie wollte Kräuter in einer Räucherschale verbrennen, um die Konzentration des Magus mit den magischen Dünsten zu stärken. Doch dagegen protestierte Solange. „Wenn hier auch noch geräuchert wird, werde ich ohnmächtig. Das halte ich nicht aus.“ „Aber es handelt sich um Myrrhe, Weihrauch und Ambrosia.“ „Erbarmen“, bat Solange. „Ich kann es hier drinnen kaum aushalten.“ „Es sind original die Düfte, die in den Palästen der Vornehmsten von Atlantis, bei der Pharaonin Hatschepsut und am Hof der Königin von Saba vorherrschten“, behauptete de Trohandour. Solange erwiderte: „Dort hatten sie große Paläste, die zum Beduften besser geeignet waren, und keine engen Kleinwohnungen. Ich habe gerade schon genug Scherereien gehabt wegen der Hypnose des Magus und dem daraus resultierenden Effekt. Da will ich nicht auch noch vergast werden.“ De Trohandour rümpfte die Nase. „Wir haben hier jemand, der unsere Kunst nicht zu schätzen weiß und dem es an Verständnis für das magische Zubehör gebricht“, sagte er hochnäsig. Paul wurde energisch. „Passen Sie mal auf, Meister, wenn Sie das nicht rückgängig machen, was Sie da durch Ihre fehlgeleitete Hypnose und das restliche Brimborium bei meiner Verlobten verursachten, werden Sie mehr Scherereien 33
haben, als Sie verkraften können. Es gibt Mittel und Wege, Ihnen so gründlich das Handwerk zu legen, dass Sie Ihren magischen Zirkel im Gefängnis fortführen können.“ „Oho!“ rief de Trohandour. „Ich habe nicht gegen das Gesetz verstoßen.“ „Sie sind ein vorbestrafter Betrüger“, wies Paul ihn zurecht. „Das Betrugsdezernat und auch das Finanzamt könnten sich für Ihren Zirkel vom Goldenen Einhorn, die daraus resultierenden Einnahmen und einiges mehr interessieren. Für die Veranstaltung am vergangenen Abend wurden zwanzig Euro Eintritt für Gäste und fünfzehn für Freunde und Mitglieder des EinhornZirkels genommen. Wie versteuern Sie denn den Reinerlös? Wie sieht es aus mit Spenden?“ „Das sind Nebensächlichkeiten, mit denen sich einer, der einst als Priesterkönig Atlantis und damit Welt regierte, nicht auch noch befassen kann“, sagte de Trohandour. „Solche Nebensächlichkeiten haben Ihnen bereits Vorstrafen eingebracht“, fuhr Paul mitleidlos fort. „Treiben Sie mich nicht zum Äußersten. Mir ist es gleich, ob Sie Ihre Anhänger schröpfen und den Fiskus betrügen. Diese Leute, die Sie verehren, wollen und verdienen es nicht anders. Doch mir streuen Sie keinen Sand in die Augen, Freundchen. Entweder Sie regeln das Problem, das meine Verlobte hat, oder ich zeige Sie an. Ich weiß sehr genau, wohin ich mich wenden muss. Meine Familie verfügt über erstklassige Verbindungen.“ „In meinem Reich im Lande Kêmet hätte ich Sie an die Nilkrokodile verfüttert!“ giftete Giselle-Isis. Kêmet war der alte Name für Ägypten. „Werden Sie nicht albern!“ fuhr Paul sie an. „Wenn Sie jemals die Pharaonin Hatschepsut waren, bin ich eine Wiedergeburt vom Kaiser von China. – Es reicht jetzt. Monsieur Dufresne, können Sie das Problem aus der Welt schaffen, das Mademoiselle Gracin hat, oder können Sie es nicht? Wenn ja, fangen Sie an und tun Sie Ihr Bestes. Wenn nicht, sagen Sie es gleich, bevor ich arg ungehalten werde.“ „Ich ... ich glaube schon“, stammelte der Magus. „Dann fangen Sie endlich an!“ Giselle-Isis mischte sich ein. „Sie widersprechen sich, Monsieur“,
sagte sie. „Einerseits stellen Sie uns als Scharlatane hin und geben vor, nicht an die Seelenwanderung und Reinkarnation zu glauben. Andererseits wollen Sie dringend unsere Hilfe, die ja genau darauf hinzielt. – Was denn nun? Für einen Standpunkt müssen Sie sich schon entscheiden.“ Zwei Welten prallten hier aufeinander. Paul war der Skeptiker, der nur an die moderne Wissenschaft und ihre Erkenntnisse glaubte und sonst gar nichts. Der Magus und seine Gefährtin waren völlig von ihrem Kult überzeugt. Solange wusste nicht, wem oder was sie glauben sollte. Sie wollte jedoch ihr Leben leben, ohne ständig mit dem der Marie-Blanche Arouet im 15. Jahrhundert in Konflikt zu geraten und zwischen den Zeiten hin und her zu pendeln. Es gab wohl doch mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als die Schulweisheit sich träumen ließ. Paul war in seinem Realismus beschränkt. Andererseits war de Trohandour, wie Solange ihn nannte, nicht der überragende Magus, sondern ein Spinner und Stümper, der mit Kräften und Mächten umging, von denen er wenig Ahnung hatte. De Trohandour jammerte, er brauche die richtige Atmosphäre um sich herum, um erfolgreich arbeiten zu können. Er entschloss sich aber doch zu einem Versuch oder wurde dazu überredet. Seine tiefliegenden Augen starrten Solange an. Die Rechte des Magus mit dem Schlangenring bewegte sich und zeichnete Linien und Symbole in die Luft. Solange wurde schläfrig. Sie entspannte sich. Dann fand sie sich plötzlich im Jahr 1457 wieder. * Diesmal wurde es äußerst kritisch. Die Magd Sophie Crabieux und der Knecht Prospere hatten über das seltsame Benehmen der Demoiselle Marie-Blanche geplaudert. Einer der Hexenschnüffler des Erzbischofs von Paris, Gilbert dem Brenner, erfuhr davon. Die fanatischen Hexenjäger holten Solange aus dem Haus des Kannengießer-Meisters Edouard Arouet. Drei Tage waren verstrichen, seit Solanges Geist abermals im Körper der Marie-Blanche Arouet wohnte. Solange konnte sich im 15. Jahrhundert nicht länger durchmogeln und hatte die Flucht nach vorn angetreten. Sie vertraute 34
sich Catherine Arouet an, Marie-Blanches Mutter. Diese ging zu ihrem gestrengen Gatten. Und Edouard Arouet wusste nichts Besseres, als ein Billett ins erzbischöfliche Palais zu schicken, in dem er um die baldige Verhaftung seiner Tochter bat. Weil, teilte er mit, eine Hexe oder ein Succubus sich in ihren Körper eingenistet habe, die ausgetrieben werden müsse. Als kurz nach der Absendung dieses Billetts die Hexenjäger ins Haus der Arouets eindrangen, hatte der KannengießerMeister insofern Glück, als er durch die Nachricht an den Erzbischof einen Beweis dafür hatte, nicht mit seiner Hexentochter unter einer Decke zu stecken. Falls dieser reichte, was Solange jedoch nicht mehr erfahren sollte. Denn alles konnte in jener Zeit ein Beweis für den Bund mit dem Teufel zu sein, dem obersten Herrn aller Hexer und Hexen. Wenn jemand nicht oft in die Kirche ging, war das ein Indiz und belastend. Ging die betreffende Person oft, konnte es als besondere Tücke und Hinweis auf starke Zauberkräfte ausgelegt werden. Dann behaupteten die Hexenjäger nämlich, der oder die Angeklagte habe das getan, um sich zu tarnen und Gott zu lästern und zu spotten. Von vornherein wurde jeder Verhaftete als schuldig angesehen. Wer nicht gleich auf der Folter gestand, von dem hieß es, der Satan würde ihm oder ihr die Kraft dazu geben. Und selbst die wenigen, die der grausamen Kerkerhaft und den zahlreichen Folterungen entrannen, ohne zum Feuertod verurteilt zu werden, waren fürs Leben, so es noch so zu nennen war, gezeichnet und erledigt. Für die Kerkerhaft mussten die Delinquenten und deren Familien auch noch bezahlen. Die Leistungen der Folterknechte wurden genauso aufgerechnet, wie der Lohn die Beisitzer bei dem hochnotpeinlichen Verhör, das in Wirklichkeit ein blanker Wahn und Sadismus war. Selbst der Henker wurde, fand eine Verurteilung und Hinrichtung statt, aus dem Vermögen des Delinquenten entlohnt. Brandmarken und auspeitschen kostete eine bestimmte Gebühr. Das Handabhacken wurden genauso berechnet wie Enthaupten oder Verbrennen. Die Unglücklichen, die als Hexen oder Hexer öffentlich hingerichtet wurden, hatten
sogar noch für das Holz für ihre Scheiterhaufen aufzukommen. Es war eine grausame Maschinerie, in die Solange geriet. Im Kerker eingesperrt, lernte sie Qualen und Demütigungen kennen. Sie spürte den Schmerz, als der Körper, in dem sie sich befand, auf die Streckbank gelegt wurde. Es war ihr Körper, ihr Leben. Jene Zeilen von Rudyard Kipling erhielten für sie eine Bedeutung. Sie lauteten: Habe dein Brot gegessen und auch dein Salz, dein Wasser getrunken und deine Weine. Deinen Tod oft gesehn im Vorübergehn, dein Leben gelebt, als wär’ es das meine. Solange begriff im finsteren Kerker, auf fauligem Stroh liegend, von furchtbaren Schmerzen ausgehöhlt und zerquält, dass kein Mensch für sich allein lebte und starb. Dass es ein kollektives Bewusstsein der Menschheit gab, und dass die Menschen auf der Erde wie die Zellen eines Körpers ein Ganzes bildeten. Die Menschheit hatte eine kosmische Bestimmung. Es gab eine Vorsehung und Mächte, die weit übers menschliche Begriffsvermögen hinausgingen, genau wie die Mikrobe in einer Wasserpfütze, sei sie intelligent und hochwissenschaftlich, nie den größeren Rahmen auch nur der weiteren Umgebung der Pfütze erkennen konnte. Mikrokosmos und Makrokosmos gingen ineinander über. Das Universum konnte in einem Wassertropfen sein, ein Wassertropfen das Universum bedeuten. Mehr als eine Reinkarnation sah für Solange jedoch ihr Geistestausch mit Marie-Blanche Arouet wie ein unbekanntes und unerforschliches Phänomen aus. Wie auch immer zustande gekommen. In den Folterkammern der Hexenjäger herrschten grauenvolle Zustände, die eine irregeleitete Justiz und verblendete Kleriker wie Gilbert der Brenner noch unterstützten. Grauenvoll wütete der Hexenwahn und forderte einen Blutzoll, der nie vergessen werden durfte. Sexuelle Ausschreitungen und Perversitäten bei den Folterungen waren an der Tagesordnung. Verblendete Geistliche wollten den Teufel austreiben und merkten nicht, dass gerade dadurch Teuflisches geschah. Für die armen Eingekerkerten waren die rohen Folterknechte und Henker Teufel in Menschengestalt. Solange erlebte und sah Dinge, von denen sie im fernen Einundzwanzigsten Jahrhundert kaum 35
geahnt hatte, dass Menschen dies Menschen zufügten könnten. Obwohl Solange gleich gestanden hatte, wie es sich mit ihr verhielt, rettete sie das nicht vor den Qualen. Ihr Geständnis nämlich, durch eine Hypnose aus dem Jahr 2003 ins Jahr 1457 und in den Körper der Marie-Blanche Arouet versetzt worden zu sein, sagte den sie Verhörenden nicht zu. Das passte weder in ihr Weltbild, noch zu den Vorstellungen, die sie von Hexen und Hexerei hatten. Also wurde die Wahrheit verworfen und Solange als Lüge und Infamie angekreidet, Blendspuk und Teufelswerk. Satanische Einflüsterungen. Um den Qualen ein Ende zu bereiten, gestand Solange schließlich alles, was von ihr verlangt und ihr vorgesagt wurde. „Ja“, sagte sie unter Schmerzen und unterschrieb später das Protokoll mit blutenden, gebrochenen Fingern. „Ich bin auf dem Besen zum Hexensabbat in den Vogesen geritten. Dort habe ich dem Teufel den Hintern geküsst, wie es Hexenbrauch ist. Wir haben ein kleines Kind getötet und sein Blut getrunken und ...“ Solange gab Dinge zu, die sie niemals getan hatte und die auch gar nicht möglich waren. Sie konnte jedoch vermeiden, zu Denunziantin an den Arouets und anderen aus jener Zeit zu werden. Das Gegenteil davon geschah oft. Auf der Folter wurden Beschuldigungen gegen alle möglichen Personen ausgesprochen, teils aus Rachsucht, teils um den Schmerzen ein Ende zu bereiten, teils durch Qualen und Hunger völlig verwirrt. Die Hexenfahnder griffen begierig auf, was sie verwenden wollten und was ihnen passte. Gilbert der Brenner, der in Paris an der Spitze jener grauenvollen Institution saß, die man später die Inquisition nannte, las und hörte die Berichte seiner Handlanger. Immer schrecklichere Geständnisse über Hexerei und Teufelswerk wurden ihm vorgelegt. Der oberste Hexenjäger fühlte sich dadurch in seinem Tun bestätigt, was einen Teufelskreis ergab. Je grausamer und entschlossener die Hexenjäger vorgingen, umso mehr Hexen und Hexer entlarvten sie, oder stempelten vielmehr Menschen dazu. Die wachsende Zahl gaukelte ihnen vor, ihr Werk wäre bitter nötig, und ließ sie noch entschlossener werden. Aus völlig unterschiedlichen Gründen
beteiligten sich Menschen an dem grauenvollen Werk der Hexenverfolgung. Intellektuelle, Fanatiker, Narren, Sadisten und Schlächter, fehlgeleitete Idealisten, dumpfe, grobe Naturen, für die Foltern ein Handwerk war wie jedes andere und spitzfindige Zyniker teilten sich diese Aufgabe mit Opportunisten, Denunzianten, Dummköpfen und Halunken. Eiferer trieben das Folter- und Mordsystem voran. Stumpfsinnige Untertanen, die grundsätzlich nicht anzweifelten, was von oben dekreditiert wurde, trugen das Ihre dazu bei. Ein perverser Prozess, der bestimmten Abläufen folgte und seine eigene Dynamik hatte, durchtobte die Menschheitsgeschichte mit Folter und Mord und Brand. Wie eine Krankheit der ohnehin krisengeschüttelten Menschheit war es, und manche Viren, wie die für Krieg, Verbrechen, Ungerechtigkeit und Terror würde sie wohl niemals los. Die Erinnerung aus dem 21. Jahrhundert, dass der grausame Hexenwahn irgendwann geendet hatte, nützte Solange nichts. Sie steckte mitten in jener grausigen Zeit. Die Familie Arouet hatte sich längst von ihr losgesagt. Den Erzbischof Gilbert sah Solange während ihrer neunmonatigen Haft im Hexenturm einmal, als sie einem Tribunal als schon überführte Hexe vorgeführt wurde. Der Erzbischof saß auf einem erhöhten Thron, in prunkvolle Gewänder gehüllt, die Bischofsmütze auf dem Kopf. Er war ein dicker Mann mit Dreifachkinn, Hakennase, verkniffenen Lippen und engstehenden kleinen Augen, die keine Gnade kannten. Gilbert der Brenner lebte für ein Ideal, das einer hexenfreien Welt, und trug die Last schrecklichen Wissens über ein die ganze Schöpfung bedrohendes Hexenunwesen auf seinen Schultern. Für ihn war das die Realität. Der große Hexenverfolger war zudem ein Mann, der zahlreiche körperliche Beschwerden hatte, von Verstopfung über Hämorrhoiden und Gicht bis hin zu Nierensteinen und anderen Organschmerzen, die ihn oft arge Schmerzen leiden ließen. Seine Qualen führte er auf den Teufel und die Hexen und Hexer zurück, die ihn damit von seinem Tun abbringen wollten. Deshalb ließ er erst recht nicht locker und strafte sie dafür. Es gab viele wie ihn während der Jahrhunderte währenden Hexenverfolgungen. 36 a t c pxd
Im Büßerhemd, von der Folter zerstört, schaute Solange in Gilberts Gesicht, das in Fett wie in Vorurteilen, Arroganz und äußerster Grausamkeit gegen die von ihm Verfolgten geronnen war. Nichts, was Solange tat oder sagte, hätte den Erzbischof auch nur um ein Jota von seinen Überzeugungen abbringen können. Solange schwieg. Sie empfing ihr Todesurteil. Dann, an einem sonnigen Frühlingssonntag Anno 1558, wurde Solange mit einer anderen Delinquentin auf dem Schinderkarren durch die Straßen des spätmittelalterlichen Paris gefahren, auf den Platz vor der Kirche von Notre Dame. Der Scheiterhaufen wartete schon.
Blanches Körper in ihrer Zeit starb, wird Ihr Geist nicht noch einmal in ihn versetzt. Das ist für mich gewiss.“ „Ich hoffe, Sie haben recht“, antwortete Solange. „Ich kann mich nicht bei Ihnen bedanken. Was Sie mir bescherten, war zu grausam. Ich bin dadurch ein anderer Mensch geworden. Die Erlebnisse, die ich im Fünfzehnten Jahrhundert hatte, werde ich nie vergessen. Sie haben seelische Wunden bei mir hinterlassen. – Monsieur, Madame, ich will sie nie wieder sehen.“ Paul Ruffaut führte Solange aus der Wohnung des Mannes, der sich Bertrand de Trohandour nannte, und seiner Gefährtin. Im Lamborghini Espada fuhren der schwarzlockige Jurastudent und seine blonde Freundin durch das noch schlafende Paris. Solange spürte intuitiv, dass sich der Schrecken nicht wiederholen würde, was sich in der Folgezeit auch bewahrheiten sollte. Sie hatte ein geheimnisvolles Erlebnis gehabt, das bis ans Lebensende in ihr nachwirken würde. Eine Erklärung dafür gab es nicht, nur Vermutungen und Theorien. Ein Punkt war noch zu klären – Pauls Seitensprung mit Marie-Blanche während des Identitätstauschs und des Wechsels der Geister durch die Jahrhunderte. Dieser war zeitgleich gewesen, was dann bei der letzten Phase, die Solange im 15. Jahrhundert durchlebte, nicht der Fall gewesen war. In der Wohnung am Boulevard Haussmann erwähnte Blanche diesen Punkt. Doch erst am übernächsten Tag. Völlig erschöpft hatte sie viele Stunden geschlafen. Paul steckte Solange einen Verlobungsring an den Finger. „Bei dem so genannten Magus und seiner Isis habe ich dich als meine Verlobte bezeichnet. Also will ich der Ankündigung auch die Tat folgen lassen. Verzeih mir, Solange, so ich gefehlt habe.“ Er kniete vorm Bett nieder und küsste Solanges Hand. Solange zauste seine schwarzen Locken. „Du bist schon ein Schuft. Reden wir nicht mehr darüber, es sei denn, du willst auch in Zukunft Seitensprünge begehen.“ Paul versprach hoch und heilig, dass das nicht der Fall wäre. Solange umarmte ihren Geliebten und küsste ihn. Sie hatte durch die letzten Erlebnisse, die ihr die Trance bescherte, einen für sie sehr lange zeitlichen Abstand zu der Affäre von Paul
* Die Flammen loderten. Durch den Rauch und die aufsteigende heiße Luft sah Solange ihre Umgebung verschwommen. Quälender Husten schüttelte sie. Noch bevor sie die Flammen erreichten, umfing sie eine gnädige Ohnmacht. Der Wind hatte günstig geweht ... Solange erwachte in der schäbigen Wohnung des Magus in der Rue de Babylone im Jahr 2003. Gerade fuhr wieder ein Metrozug vorbei. Der Lärm war infernalisch. Solange brauchte eine Weile, um sich zu fassen. Sie schaute von einem zum anderen. Gerade war sie noch auf dem Scheiterhaufen gewesen, im Körper der Marie-Blanche Arouet gefangen. Sie bat um ein Glas Wasser. „Was ist hier geschehen?“ fragte sie, nachdem sie es getrunken hatte. „Du warst nur fünf Minuten in Trance“, sagte Paul Ruffaut. „Was ist los mit dir, Cherie? Du wirkst völlig verstört.“ „Ich lebte neun lange Monate im Paris der Jahre Vierzehnhundertsiebenundfünfzig und Achtundfünfzig im Körper der MarieBlanche Arouet, wie zuvor schon. Ich war im Hexenturm und wurde grausam gefoltert und hingerichtet.“ Lähmende Stimme folgte diesem Geständnis. Dann sagte Dufresne de Trohandour: „Neun Monate lang! Unglaublich. Das war keine Seelenwanderung. Das war etwas anderes. Hier sind nur wenige Minuten vergangen. Von Marie-Blanche Arouet haben wir nichts wahrgenommen. Eins halte ich für erwiesen. Wenn Marie37
mit Marie-Blanche. Solange liebte Paul wirklich, und ob er nun untreu gewesen war, wie sie zuerst kühn behauptet hatte, oder nicht, war eine schwierig zu beantwortende Frage. Die furchtbaren Monate im Hexenturm und der Tod auf dem Scheiterhaufen hatte diesen Punkt zudem ins Hintertreffen gebracht. Solange brauchte Paul, der Verständnis und Engagement aufgebracht hatte, und der sie auch jetzt tröstete und ihr half, das Furchtbare seelisch zu verkraften und zu verarbeiten. Er dachte nicht im Traum daran, sich von Solange abzuwenden, weil sie ihm psychisch bedenklich oder unheimlich erschienen wäre. Sein Zartgefühl und seine aufrichtige Liebe zählten für Solange mehr
als alles andere. In Pauls Armen fand Solange Halt und konnte zeitweilig vergessen. Die Liebe würde ihre seelischen Wunden heilen, die sie Anno Domini 1457 und 1458 im Körper der Marie-Blanche Arouet als Hexe angeklagt empfangen hatte. Der armen Marie-Blanche wiederum war, da nicht ihr Geist während der schrecklichen Zeitspanne in ihrem Körper war, Furchtbares erspart geblieben. Wo aber der Geist der Marie-Blanche Arouet während der letzten Trance Solanges und ihrer Erlebnisse in MarieBlanches Zeit gewesen war, wusste niemand.
ENDE
Im September erscheint Romantic Mysteries Nummer 5: „Gefangen in der Todesgruft“ von Larissa Jordan
Romantic Mysteries erscheint bei vph Verlag & Vertrieb Peter Hopf, Goethestr. 7, D32469 Petershagen. © Copyright aller Beiträge 2003 bei vph und den jeweiligen Autoren. Nachdruck, auch auszugsweise, nur nach schriftlicher Genehmigung durch den Verlag gestattet. Cover: Thomas Knip Die in diesem Roman geschilderten Ereignisse sind rein fiktiv. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Begebenheiten, mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und unbeabsichtigt.
38