Terra Astra 150
Der Scout und die träumenden Toten H. G. EWERS Ein Ronan mit Lester Velie, dem Weltraumscout
Die Haup...
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Terra Astra 150
Der Scout und die träumenden Toten H. G. EWERS Ein Ronan mit Lester Velie, dem Weltraumscout
Die Hauptpersonen des Romans: Lester Velie - Weltraumscout von Terra. David - Lester Velies robotischer Assistent. Diskont - Wächter des Planeten Angkort. Diskom-Tyl - Eine Maschine spielt Schicksal.
1. Lester Velie schrak auf, als der Kommunikationssektor des Autopiloten mit leisem Knacken zu seinem mechanisch elektronischen Leben erwachte. Er richtete sich auf und sah sich um. Vor den blitzenden Lichtpunkten und glimmenden Schaltplatten der Instrumentenbühne hob sich die Gestalt seines Assistenten als regloser Schemen ab. „Achtung!“ plärrte es aus den Lautsprechern der Instrumentenbühne. „Beim Gongschlag sind es fünf Minuten 2
bis zum Wechsel in den Normalraum!“ Lester legte das Buch beiseite, in dem er gelesen hatte, dann sagte er: „Hoffentlich hast du die Durchsage gehört, du Salzsäule. Oder sind die Mesonen deines Pseudogehirns eingerostet?“ „Ja, Sir“, antwortete sein Assistent, ohne sich zu bewegen. Erst danach drehte er sich lautlos um, bewegte sich mit federnder Grazie und ließ sich in den Sessel des Kopiloten sinken. Wenig später rastete das Magnetschloß seiner Sicherheitsgurte klickend ein. „Vielleicht bist du so freundlich und verrätst mir, welcher meiner beiden Fragen dein ‚Ja’ gegolten hat, du verrostetes Heupferd!“ fuhr Lester Velie seinen Assistenten an. „Selbstverständlich der ersten Frage, Sir“, antwortete David, so hieß der Assistent, gleichmütig. „Wie Sie wissen, können Mesonengehirne nicht einrosten.“ „Na, ich weiß nicht . . .!“, machte Lester gedehnt. David wandte ihm sein ebenmäßiges Gesicht zu. Es war ein absolut menschliches Gesicht, obwohl David ein Roboter war, ein Roboter ganz besonderer Art allerdings. „Sie müßten es aber wissen, Sir“, sagte er mit seiner angenehmen dunklen Stimme. „Oder sollten Sie unter partieller Amnesie leiden? So etwas kommt bei organischen Gehirnen vor.“ „Bong!“ dröhnte der elektrische Gong. „Noch fünf Minuten bis zum Wechsel in den Normalraum. Alle Systeme arbeiten einwandfrei.“ Lester drohte seinem Assistenten mit erhobenem Zeigefinger. „Keine Frechheiten, bitte!“ Er streckte eine Hand aus und berührte mit der Spitze des Mittelfingers eine kleine Sensorplatte. Auf der Instrumentenbühne leuchtete die Holovideoplatte des Kartentanks auf. Ein linsenförmiger, mattschimmernder Nebel hob sich plastisch von der ihn umgebenden Finsternis ab — das 3
naturgetreue elektronische Bild der Galaxis, wie man sie aus etwa zehntausend Lichtjahren Entfernung mit bloßem Auge sehen würde. Davids Finger glitten spielerisch leicht über die Sensortasten der Wählautomatik. Der Spiralnebel aus der Holovideoplatte dehnte sich beinahe explosionsartig aus. Der Vorgang erweckte den Eindruck, als raste das Raumschiff mit Überlichtgeschwindigkeit innerhalb des Normalraums auf die Galaxis zu, wobei der sichtbare Bereich mehr und mehr eingeengt wurde, bis die ersten Einzelsterne zu sehen waren. Auch danach hielt der Vorgang an. Als das Bild auf der Holovideoplatte „stand“, waren am linken Rand sieben glimmende Pünktchen übriggeblieben, die einzigen kartographisch erfaßten Sterne im abgebildeten Raumsektor. Der restliche Teil der Holovideoplatte blieb schwarz, und auch im Schnittpunkt des grünlich schimmernden elektronischen Zielfadenkreuzes herrschte Dunkelheit. Diese Dunkelheit war gleichbedeutend mit Unwissenheit. Die Raumschiffe der Galaktischen Föderation waren bisher nicht über die sieben abgebildeten Sterne hinausgekommen - und nicht erfaßte Sterne wurden vom Kartentank nicht projiziert. „Ich bin gespannt, was wir im Zielsektor vorfinden werden“, meinte Lester Velie nachdenklich. „Erwarten Sie tatsächlich, das Heimatsystem der Quoon dort zu finden, Sir?“ erkundigte sich David. Der Weltraumscout runzelte die Stirn. „Hör endlich mit deinen inquisitorischen Fragen auf, David!“ befahl er. „Wenn ich sagte, ich sei gespannt, was wir im Zielsektor vorfinden, wie kann ich dann tatsächlich erwarten, das Heimatsystem der Quoon dort zu finden? Ich suche nach dem Heimatsystem der Quoon, das stimmt, aber bis ich es gefunden habe, kann noch viel Zeit vergehen. Unser derzeitiges Ziel ist wahrscheinlich nur eine Zwischenstation auf dem Weg zu den Quoon.“ 4
„Wenn es überhaupt von Bedeutung für Ihre Suche ist, Sir“, entgegnete David. Lester lauschte dem stetigen Arbeitsgeräusch des LjapunowGenerators, der das hyperdimensionale Hüllfeld aufrechterhielt, das den Flug durch den Hyperraum erst ermöglichte. „Der Bewahrer der verbotenen Welt sagte, ich würde Kontakt zur Zivilisation der Quoon aufnehmen können, wenn ich den richtigen Ansatz fände. Ich denke, daß ich aus all den Informationen, die mir auf Anser zugänglich geworden sind, die Daten für den richtigen Ansatz herausgefunden habe.“ Bevor David etwas darauf erwidern konnte, dröhnte der elektronische Gong abermals, und abermals ertönte die mechanische Stimme und sagte: „Achtung! Noch fünf Sekunden bis zum Wechsel in den Normalraum; vier ... drei... zwei... eins ... null!“ Gleichzeitig mit der Stimme brach das Arbeitsgeräusch des Ljapunow-Generators ab. Als das von seinen Projektoren aufgebaute Hüllfeld zusammenbrach, wurde das Scoutschiff MEMPHIS zu einem Fremdkörper für die Struktur des Hyper raums. Sie reagierte sofort und stieß das Schiff ab, hinein in sein eigenes Kontinuum, den sogenannten Einstein-Raum. Lester Velie hatte das Gefühl, mit wahnwitzigem Tempo in einer imaginären Spirale zu rotieren. Sein Gehirn wurde schmerzhaft gegen die Schädeldecke gepreßt, der Magen stieg gleich einem Expreßlift in die Höhe, und vor seinen Augen flimmerten zahllose Lichtpunkte. Der Scout bot all seine Willenskraft und die speziellen antrainierten Fähigkeiten auf, um die Kontrolle über Körper und Geist nicht zu verlieren. Als die diffusen Schleier des Hyperraums von den Bildschirmen der Außenbeobachtung verschwanden, verschwanden auch die unangenehmen Begleiterscheinungen des Rücksturzes. 5
Lester kniff die Augen zusammen, um deutlich zu sehen, was im Schnittpunkt des flimmernden elektronischen Fadenkreuzes des großen Frontbildschirmes leuchtete. Eine Ballung von Licht. Der Scout schaltete das Elektronenteleskop ein und richtete den Suchstrahl auf den Zielsektor. Auf der Holovideoplatte des Geräts löste sich die Lichtballung in vier gleich große, rote Glutbälle auf. „Vier Sonnen voraus, Sir“, sagte David. „Das sehe ich selbst“, gab Lester Velie unwirsch zurück. „Ich habe nur die vorgeschriebene Meldung erstattet, Sir“, erwiderte David, und seine Stimme klang, als wäre er gekränkt, was bei einem Roboter natürlich nicht vorkam. Lester schaltete das Elektronenteleskop auf maximale Zielvergrößerung. „Vier rote Sonnen!“ murmelte er. „Und sonst nichts! Kein Planet, auf dem ich eine neue Spur aufnehmen könnte!“ „Meine Berechnungen besagen, daß kein Planet eine stabile Bahn um eine Ballung von vier Sonnen einschlagen könnte“, meinte sein Robotassistent. „Immerhin ist das Vierlingssystem als solches interessant, Sir.“ „Natürlich ist es interessant“, gab Lester Velie zurück. „Deshalb werden wir es auch erforschen.“ Er wollte die Steuerung des Schiffes auf manuell schalten, überlegte es sich aber anders und wandte sich wieder an seinen Assistenten. „Programmiere den Autopiloten für eine Umkreisung des Vierersystems in einer halben Astronomischen Einheit Distanz, David!“ befahl er. Als David den Befehl nicht sofort bestätigte, blickte er ihn von der Seite an und wollte ihm einen Verweis erteilen. Da fiel sein Blick auf eines der Kontrollinstrumente auf Davids Schaltpult. Dort flackerte eine milchigrote, ovale Platte. „Energieortung!“ sagte David im nächsten Moment monoton. 6
„Kurzfristige Ausbrüche von Kernenergie in streng abgegrenzten Bereichen.“ Lester wußte, was kurzfristige Ausbrüche von Kernenergie in streng begrenzten Bereichen zu bedeuten hatten. Es gab dafür praktisch nur eine Erklärung, die ebenso logisch wie erschreckend war: Intelligente Lebewesen hatten Kernwaffen gezündet! „Wo liegen diese streng abgegrenzten Bereiche?“ fragte Lester Velie tonlos. „Moment, Sir“, erwiderte David. Er führte einige Berechnungen durch, dann wandte er sich an seinen Herrn und meinte: „Sie müssen exakt im Mittelpunkt jenes wandernden Hohlraums liegen, der von den vier Sonnen umkreist wird und wo sich ihr gemeinsamer Schwerpunkt befindet.“ Lester lehnte sich zurück und dachte nach. Konnte es sein, daß der gesuchte und bis jetzt noch nicht sichtbare Planet, auf dem er eine Spur zu den Quoon zu finden hoffte, nicht wie sonst üblich seine Sonnen umkreiste, sondern von ihnen umkreist wurde? Wenn ja, stellte er ein Novum dar, denn ein solcher Fall war bisher noch nicht bekannt geworden. Der Scout atmete tief ein. „Wir fliegen zwischen den Sonnen hindurch und sehen uns in dem von ihnen umkreisten Hohlraum um!“ entschied er schließlich. Er nahm das Schiff unter Manuellkontrolle, schaltete die Triebwerke hoch und brachte die MEMPHIS auf Kurs. Im elektronischen Fadenkreuz des Frontbildschirms erschien eine dunkle Lücke zwischen den beiden am nächsten stehenden Sonnen. Als das Ticken des Durchgangszählers sich in ein heulendes Pfeifen verwandelte und die Detektorlampe himbeerrot glühte, schaltete Lester Velie den Schutzschirm des Schiffes ein. 7
Ein Blick auf die Bildschirme der Außenbeobachtung zeigte ihm, daß die MEMPHIS nicht bedroht war. Die eruptiven Plasmamassen, die aus den Oberflächen der Sonnen leckten, zwischen denen das Scoutschiff hindurchflog, verwehten im Raum und zerteilten sich, bevor sie die energetische Hülle des Schutzschirms erreichten und dort ein verhältnismäßig harmloses Gewitter aus hellen Leuchterscheinungen verursachten. „Der Planet wird vom Elektronenteleskop erfaßt, Sir!“ meldete David. Der Scout wandte sich der Holovideoplatte des Geräts zu und musterte den kleinen runden, verwaschenen Fleck, der darauf abgebildet wurde. Das also war der Planet, auf dem noch vor neuneinhalb Stunden heftige Kernexplosionen getobt hatten. Die Energieortung hatte allerdings nur insgesamt zwölf Explosionen gezählt. Danach war Ruhe eingetreten. Es konnte sich also nicht um einen weltumspannenden Atomkrieg gehandelt haben, sondern wahrscheinlich nur um einen lokal begrenzten Atomschlag. „Was sagen die Massetaster?“ erkundigte Lester sich bei seinem Robotassistenten. David tippte die Angaben, die der Massetaster gemacht hatte, in den Eingabeteil des großen Mesonengehirns des Schiffes. Kurz darauf gab die Mesonik ihre Analyse mittels Lichtdrucker auf einer Folie kund. „Zielplanet ist doppelt erdgroß“, las David von der Lichtdruckfolie ab. „Die Schwerkraft beträgt 1,736 g.“ „Also eine Welt, auf der Menschen sich nicht besonders wohl fühlen würden“, meinte Lester nachdenklich. „Leider wissen wir nicht, welche Schwerkraft von den Quoon bevorzugt wurde.“ „Ich denke, daß wir dort nicht auf Quoon stoßen werden“, erklärte David. „Die Technik der Quoon war vor rund tausend 8
Jahren unserer derzeitigen Technik ebenbürtig. Sie würden nicht mit qualitativ minderwertigen Atombomben arbeiten.“ Lester Velie sagte nichts dazu. Während die MEMPHIS sich dem Planeten mehr und mehr näherte, beobachtete er gespannt die Holovideoplatte, auf der das vom Elektronenteleskop herangeholte Abbild des Planeten immer mehr Einzelheiten zeigte. „Die Kontinente haben ungewöhnlich breite Überschwemmungszonen“, kommentierte er dabei. „Offenbar ereignen sich dort heftige Sturmfluten, obwohl die Anziehungskräfte der vier Sonnen sich doch eigentlich in ihrem gemeinsamen Schwerpunkt neutralisieren müßten.“ „Wahrscheinlich kommt es gelegentlich zu Bahnschwankungen der Sonnen und damit zu veränderten Schwerkrafteinflüssen“, erwiderte David. „Wahrscheinlich“, meinte Lester Velie. Er stellte eine Berechnung über die Entfernung des Planeten von seinen vier Sonnen an und kam auf einen Durchschnittswert von anderthalb Astronomischen Einheiten. „Die Sonnen sind anderthalbmal so weit von ihrem Planeten entfernt wie Sol von der Erde“, überlegte er laut. „Dennoch dürfte es dort unten sehr warm sein, denn die gesamte Oberfläche wird ununterbrochen bestrahlt. Dort herrscht immer Tag.“ „Werden wir dort landen?“ fragte David. Der Scout zuckte die Schultern. „Darüber entscheide ich, sobald wir aus dem Orbit genügend über die Verhältnisse auf dem Planeten festgestellt haben.“ Seine Gedanken beschäftigten sich ununterbrochen mit den intelligenten Lebewesen auf dem Zielplaneten, denn daß es intelligente Lebewesen geben mußte, das bewiesen die Atomexplosionen, auch wenn die Anwendung atomarer Gewalt nicht gerade von angewandter Vernunft zeugte. Endlich konnte er die MEMPHIS in einen Orbit steuern. Das 9
Scoutschiff umkreiste den Planeten in einer Höhe von neuntausend Kilometern. Tiefer wollte Lester nicht gehen, bevor er wußte, ob die Bewohner des Planeten über eine wirksame Raumabwehr verfügten oder nicht. Außerdem war die Distanz gering genug für Messungen aller Art und Beobachtungen mit dem Elektronenteleskop. Nach fünf Umkreisungen ergab sich folgendes Bild: Der Planet hatte nur drei Kontinente. Dazwischen erstreckten sich riesige flache Schlammmeere, aus denen hier und da zerklüftete felsige Inseln ragten. Die Kontinente waren größtenteils flach, nur einer besaß ein nennenswertes Gebirge, dessen Berggipfel Höhen bis zu dreitausend Metern erreichten. Von einer Zivilisation war nicht viel zu sehen, wenn man die zahllosen gewölbten Buckel nicht zählte, die nach den Analysen aus Metallplastik bestanden und innen wabenförmig aufgeteilt waren. Viele der Buckel oder Hügel waren aufgerissen, teilweise zerschmolzen oder wie von den Fäusten eines Riesen einfach zerschmettert. Straßen, Raumhäfen und andere Anzeichen einer technischen Hochkultur waren nicht vorhanden. Aber in den meisten Metallplastikhügeln arbeiteten Fusionsaggregate und bewiesen, daß sich die Bewohner der Kräfte des Atoms bedienten, um Energie zu gewinnen. Und da gab es noch etwas. Gigantische Ruinenstädte, teilweise halb in den schlammigen Meeren versunken, waren über den ganzen Planeten verstreut. In ihnen arbeiteten ebenfalls Fusionsaggregate. „Eine Alptraumwelt!“ sagte Lester Velie impulsiv, als er die Auswertung der Analysen beendet hatte. „Ich möchte wissen, was das für Intelligenzen sind, die diesen Planeten bevölkern und nicht mehr aus ihm gemacht haben, als wir sehen können.“ „Wo landen wir?“ fragte David. „Hatte ich gesagt, daß wir landen werden?“ erkundigte sich der Scout ironisch. 10
Sein Robotassistent verzog das Synthoplasmagesicht zu einem schwachen Lächeln, eine Reaktion, die nichts mit dem Ausdruck von Emotionen zu tun hatte, da das Mesonengehirn Davids völlig frei von Emotionen war. „Sie äußerten Neugier, Sir - und wenn Sie neugierig sind, pflegen Sie Ihre Neugier stets zu stillen, obwohl es manchmal besser wäre, darauf zu verzichten.“ Lester Velie seufzte. „Du kannst mir auf die Nerven fallen, David. Wann wirst du endlich damit aufhören, meine Psyche zu analysieren? Mein alter William pflegte stets Zurückhaltung zu üben.“ „Er konnte nicht anders, Sir“, erwiderte David freundlich. „William war nur ein C-4-Modell, während ich ein C-5-Modell bin.“ „Ich weiß“, sagte Lester resignierend. „Du bist intelligenter als William und besitzt mehr Fähigkeiten als er, aber du bist auch arrogant, und das war William nicht.“ Er schaltete das Gyrotron ein. Im Schwerpunkt der MEMPHIS begannen sich die milchflaschengroßen Schwingkölbchen des Stabilisierungsgeräts rasend schnell zu drehen, gelenkt von der Automatik, die Lester Velie aktiviert hatte und die den geringsten Steuerimpulsen gehorchte. Das Schiff drehte sich langsam, bis das Heck mit den breiten Stabilisierungsflossen schräg nach unten wies. Lester schaltete den dreifach gestaffelten Energieschild und die Heckdüsen ein. Die Geschwindigkeit der MEMPHIS sank, bis sie und die Anziehungskraft des Planeten sich nicht mehr die Waage hielten. Das Schiff verlor rapide an Höhe. Kurz vor dem Eintritt in die Planetenatmosphäre erhöhte Lester Velie den Triebwerksschub, dann stellte er das Schiff steiler. Als die Mesonenstrahlen der Heckdrüsen auf die Atmosphäre trafen, - leuchteten sie in grellem Blauweiß auf. Der Energieschild verdrängte die ionisierten Luftmassen, die 11
sonst dem Schiff gefährlich geworden wären. Lesters Aufmerksamkeit galt gleichermaßen der Radar-Optik, die ein gestochen scharfes Bild des ausgesuchten Landeplatzes lieferte, und der Anzeige für den Energieverbrauch. Er wäre lieber unter Ausnutzung des atmosphärischen Widerstands gelandet, anstatt auf die „harte“ Art, bei der erheblich mehr Energie verbraucht wurde. Und Energie bedeutete Geld; Geld aber besaß auch ein erfolgreicher Scout selten genug. Die Entdeckerprämien für kolonisierbare Planeten waren zwar erheblich, aber sie reichten meist gerade aus, um finanziell durchzuhalten, bis wieder eine Prämie fällig war. Große Rücklagen konnte ein Weltraumscout nicht machen, und wenn er Zeit und Energie für ein Unternehmen brauchte, das ihm nichts einbrachte, mußte er oft sein Raumschiff verpfänden, um die nächste Expedition finanzieren zu können. Lester Velie versuchte, die unangenehmen Gedanken zu verdrängen und sich ganz auf die bevorstehende Landung zu konzentrieren. Nach einiger Zeit gelang ihm das auch. Aufmerksam beobachtete er das Bild, das von der RadarOptik geliefert wurde. Er hatte sich als Landeplatz ein Tal in dem einzigen Gebirge des Planeten ausgesucht, das sich, sichelförmig gebogen, über den größten Kontinent hinzog. Dort hoffte er, vor neugierigen Eingeborenen eine Weile sicher zu sein, jedenfalls so lange, bis er mehr über die Verhältnisse auf dem Planeten herausgefunden hatte. Nördlich des Gebirges lagen zwei der großen Metallplastikhügel. Einer war allerdings fast restlos zerstört und strahlte radioaktiv. Lester nahm an, daß er das Ziel des georteten atomaren Bombardements gewesen war. Südlich des Gebirges lag, halb in einem Schlammsee begraben, ein ausgedehntes Ruinenfeld. In ihm hatten die Meßgeräte die Aktivität von Fusionsaggregaten geortet, obwohl die Ruinen keine äußeren Anzeichen dafür zeigten, daß 12
sie bewohnt waren. Immerhin waren das zwei Objekte, die Lesters Meinung nach eine gründliche Erforschung lohnten. Als die Radaroptik eine Abweichung anzeigte, schaltete der Scout die Korrekturdüsen ein. Die MEMPHIS schwankte und schlingerte, ging wieder auf ihren alten Abstiegskurs - und wich erneut ab. „Was ist das?“ fragte Lester, während er die Hecktriebwerke zündete. „Ein Traktorstrahl?“ „Ich kann keine derartige energetische Aktivität orten, Sir“, meldete David. „Vielleicht arbeiten die Steuerdüsen unregelmäßig.“ „Das hätten die Kontrollen längst angezeigt“, gab Lester Velie ärgerlich zurück, während die MEMPHIS mit aufbrüllenden Triebwerken emporschoß. Sekunden später wurde das Schiff trotz voll arbeitender Hecktriebwerke angehalten und dann herabgezogen. Die Schiffszelle rüttelte und kreischte, als wollte sie bersten. „Etwas zieht uns zurück!“ rief Lester durch den tosenden Lärm „Es will uns anscheinend in die Nähe des Metallplastikhügels zwingen.“ Er schaltete die Schutzschirme ein, und als die unheimliche Kraft nachließ, deaktivierte er die Hecktriebwerke. Sofort sackte die MEMPHIS durch. Mit rasender Geschwindigkeit kamen die Berge näher. Es sah aus, als würde das Schiff zwischen ihnen zerschellen. Doch da setzte die fremde Kraft wieder ein. Sie hielt den Absturz des Scoutschiffs auf. Lester lächelte, denn genau das hatte er einkalkuliert, obwohl das Risiko groß gewesen war. Und er hatte auch einkalkuliert, daß die fremde Kraft es nicht mehr schaffen würde, sein Schiff über das Gebirge nach Norden zu ziehen. Dafür war die MEMPHIS inzwischen zu tief gesunken. Noch einmal wurde es kritisch, als das Schiff unter dem 13
Einfluß der Kraft heftig schwankte. Doch dann berührten die Landeteller den Boden, und im gleichen Augenblick setzte die Wirkung der fremden Kraft aus. „Sie haben viel riskiert, Sir“, sagte David. „Mehr, als sich bei rein pragmatischer Überlegung verantworten ließ.“ „Ein Glück, daß ich kein Mesonengehirn, sondern ein echtes Gehirn habe“, erwiderte Lester Velie mit mattem Lächeln. „Intuition ist alles, David. Ich wußte rein intuitiv, daß die fremde Kraft zielgerichtet gesteuert wurde. Diejenigen, die sie steuerten, mußten also ein Interesse an uns haben, aber nicht an einem Schiffswrack, sondern an einem intakten Schiff und seiner Besatzung. Folglich mußten sie uns aus ihrem Einfluß entlassen, als wir gelandet waren. Andernfalls wären wir für sie endgültig verloren gewesen.“ „Und für uns auch“, meinte David trocken „Was gedenken Sie jetzt zu unternehmen, Sir?“ Der Scout musterte nachdenklich die unwirtliche Umgebung, dann erklärte er entschlossen: „Wir werden uns mit der Schildkröte ausschleusen und anschließend das Schiff wirkungsvoll jedem Fremdeinfluß entziehen. Danach übernehmen wir die Initiative.“ Sorgfältig verstaute Lester Velie und sein Robotassistent die Spezialausrüstung, die sie auf dem Planeten Corhan erworben hatten und die bisher von keinem anderen Scoutschiff mitgeführt wurde, in dem großen Gleiskettenfahrzeug, dessen buckelförmiges Rumpfoberteil ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit terranischen Landschildkröten verlieh. Der Scout und sein Roboter trugen Expeditionsanzüge. Die dazugehörigen, auf stählernen Schutzplatten montierten Rückstoßaggregate hatten sie abgenommen und an den Magnetplatten in der Steuerkanzel befestigt. „Alles fertig?“ fragte Lester, während er sich auf den Fahrersitz setzte. „Alles klar, Sir“, antwortete David. „Ich muß Sie allerdings 14
darauf hinweisen, daß das, was Sie planen, verboten ist.“ „Ich weiß“, sagte Lester gleichmütig und aktivierte die Fernsteuerung. Vor dem Bug der Schildkröte öffnete sich ein breites Schott. Die Stahlplattform, auf der die Schildkröte ruhte, bewegte sich lautlos auf Gleitschienen vorwärts. Als ihr vorderer Rand die Außenkante des Schotts berührte, aktivierte der Scout den Antischwerkraftgenerator, der in der Stahlplattform verborgen war. Die Plattform mitsamt der Schildkröte schob sich nach draußen; ihr sichelförmiger Innenrand war der Wölbung der Außenhaut des Schiffes genau angepaßt und glitt daran nach unten, als Lester Velie die Neutralisierungsleistung des Antischwerkraftgenerators allmählich verringerte. Wenig später stieß die Plattform mit dumpfem Laut auf den Boden des fremden Planeten. Der Scout berührte einen anderen Sensor der Fernsteuerungsanlage. Dort, wo sich Raumschiffshülle und der sichelförmig nach innen gebogene Rand der Antigravplattform berührten, knisterte es. Lester schaltete die beiden Dwarf-Reaktoren beiderseits des Fahrzeugrumpfs ein. Die Schildkröte schüttelte sich ein paarmal, als das hochverdichtete Plasma zündete und in den Fusionsprozeß eintrat. Ein Teil der Energie wurde zu den beiden an den Rollenlaufwerken montierten 800-PSElektromotoren geschickt. Die Motoren heulten auf, die meterbreiten Bodenauflageplatten der Gleisketten strafften sich, dann rollte die Schildkröte von der Plattform. Abermals berührte Lester Velie einen Sensor. Die Energie, die sich zwischen Antigravplattform und Schiffshülle aufgebaut hatte, wurde gepolt. Langsam stieg die Plattform nach oben, hielt kurz vor dem offenen Schott an und glitt dann lautlos in die Schleuse. Hinter ihr schloß sich das Schott wieder. 15
Lester ließ die Schildkröte rund dreihundert Meter weit rollen, dann hielt er sie an und drehte sich um. „Das Fernsteuergerät, David!“ sagte er mit rauher Stimme. Der Roboter zog den kleinen flachen Kasten aus der Magnetschiene der Arbeitsplatte, die an seinem linken Bein befestigt war. Er reichte ihn dem Scout. Einen Herzschlag lang zögerte Lester, dann preßte er die grünlich schimmernde Kopfleiste des Fernsteuergeräts gegen den Kodestreifen seines Gürtelschlosses. Klickend rastete die Leiste ein. Lester preßte die Lippen zusammen und riß den an der Schmalseite des Gerätes befindlichen Hebel herunter. Er mußte dabei erhebliche Kraft aufwenden, um die energetische Blockierung zu überwinden, die eine versehentliche Betätigung des Hebels verhindern sollte. Der Scout hielt unwillkürlich den Atem an, als dort, wo eben noch das schlanke Raumschiff gestanden hatte, eine bläulich wabernde Säule aufragte. Als sie einen Moment später erlosch, schoß die nachströmende Luft in das entstandene Vakuum und entfesselte einen Sturm, der die Schildkröte schwanken ließ. Lester blickte auf den von den Landetellern zerwühlten Boden, dann wandte er sich an seinen Assistenten und sagte: „Ich hoffe, innerhalb des Hyperraums ist die MEMPHIS auch für die fremde Kraft unerreichbar. Leider wird die Aufrechterhaltung des Hüllfeldes so viel Energie verbrauchen, daß wir vor dem Verlassen dieses Systems nachtanken müssen.“ „Sind Sie sich darüber klar, daß der Übergang des Schiffes innerhalb der Atmosphäre das Magnetfeld des Planeten erheblich gestört haben kann, Sir?“ erkundigte sich David mit vorwurfsvollem Unterton. „Die Vorschriften der Scout Corporation sind eindeutig. Ein Scout muß es respektieren, wenn er auf einem fremden Planeten nicht willkommen ist, und er darf sich gegen Angriffe nur durch schnellen Rückzug 16
schützen.“ Lester Velie grinste und rieb sich die Hände, nachdem er das Fernsteuergerät seinem Robotassistenten zurückgegeben hatte. „Ich glaube, der Übergang hat nicht nur das Magnetfeld dieses Planeten, sondern auch die Mesonen deines Pseudogehirns erheblich gestört, David“, meinte er spöttisch. „Die Aktionen der fremden Kraft haben doch bewiesen, daß wir hier hochwillkommen sind - sogar gegen unseren Willen. Und was ist das Verstecken der MEMPHIS im Hyperraum anderes als ein schneller Rückzug!“ Er wandte sich wieder nach vorn, blickte durch die Silikonplastkuppel der Steuerkanzel und schaltete die Motoren der Schildkröte hoch. Die Hände auf der Tastatur der Steuerung, lenkte er das Fahrzeug um einen Hügel herum und in ein Tal hinein, dessen Boden allmählich anstieg. „Sie fahren ja nach Norden, Sir!“ sagte David nach einer Weile. „Ich dachte, Sie wollten diese Gegend meiden.“ Lester Velie wölbte die Brauen und blickte seinen Assistenten von der Seite an. „Wie kommst du darauf, David?“ fragte er mit gespieltem Erstaunen. „Zweifellos hat man dort Sehnsucht nach uns, und ich bin der letzte, der jemanden enttäuschen würde.“ Er lächelte. „Nur komme ich eben gern aus freien Stücken.“
2. Nach drei Stunden Fahrt hielt Lester Velie die Schildkröte auf dem Kamm eines rund tausendfünfhundert Meter hohen Bergrückens an. Bisher hatten er und David keine Spuren einer Zivilisation gesehen, weder Gebäude noch Wege noch irgendwelche anderen Zeichen dafür, daß sich jemals 17
intelligente Lebewesen in diese Gegend verirrt hatten. Der Scout drückte auf einen Knopf, und das Dach der Steuerkanzel fuhr zurück. Warme, feuchte Luft drang herein, dazu die Gerüche einer fremden Vegetation. Lester blickte sich um. Im Osten ging eine der vier roten Sonnen auf, während eine andere nahe des Zenits stand und eine dritte soeben untergegangen war. Dünne weiße Wolkenschleier trieben über die Berge, deren Hänge von blauroter Vegetation bedeckt waren, ein Pflanzenwuchs, der selten eine Höhe von fünfzig Zentimetern überstieg. Während der Fahrt hatten Lester und David zahlreiche Tiere beobachtet, plumpe, pelzige Pflanzenfresser und Raubtiere, die sich mit geschmeidigen Sprüngen vorwärts bewegten und dabei kurze Hautflügel kraftvoll schwangen. Innerhalb der Schildkröte herrschte normale Erdschwere, denn ein Antigravgenerator sorgte dafür, daß 0,736 g neutralisiert wurden. „Ortung!“ sagte David unvermittelt. „Flugmaschinen nähern sich uns aus Südwesten!“ Lester Velie wandte sich in die angegebene Richtung und hob den Feldstecher an die Augen. Das Gerät arbeitete mit elektronisch steuerbaren Feldlinsen und holte auch sehr weit entfernte Objekte noch klar und deutlich heran. „Tatsächlich!“ entfuhr es dem Scout. „Vier Flugmaschinen, eiförmige Gebilde mit großen Stabilisierungsflossen. Sie fliegen sehr langsam, müssen also über Antischwerkraftgeneratoren verfügen.“ David betätigte eine Schaltung. Die Steuerkanzel drehte sich mitsamt dem darunter befindlichen Waffendrehkranz so, daß die beiden Abstrahlläufe der Jungning-Geschütze auf die anfliegenden Maschinen wiesen. „Noch nicht schießen!“ befahl Lester. „Wir müssen erst abwarten, was man von uns will.“ 18
„Ich habe nicht die Absicht, zu schießen“, erklärte sein Robotassistent. „Aber wir müssen auch auf einen Angriff vorbereitet sein.“ Lester Velie dachte an jenen Grundsatz der Scout Corporation, der besagte, daß jede Rasse im Universum das Recht habe, selbst über ihre Welt zu entscheiden. Jeder Scout hatte alle Entscheidungen darüber, ob er erwünscht oder unerwünscht war, zu respektieren, solange die Fremdrasse keine Expansion in terranisches Hoheitsgebiet plante. Weder das Schiff noch die Schildkröte eines Scouts galten im Sinne dieses Grundsatzes als terranisches Hoheitsgebiet. Durch zahlreiche Erfahrungen aller Art aber hatte Lester eine individuelle Art der Auslegung dieses Grundsatzes entwickelt. Streng genommen, hatte er schon oft gegen ihn verstoßen und wäre längst aus der Corporation ausgeschlossen worden, wenn er nicht jedesmal hätte nachweisen können, daß seine Handlungen im ethischen Sinne einwandfrei und selbstlos gewesen waren. Dennoch wußte er, daß er jedesmal, wenn er den Grundsatz individuell auslegte, einen Ausschluß riskierte, denn einmal konnte der Erfolg seiner Bemühungen ausbleiben, und ein Erfolgloser hatte stets unrecht. Unterdessen hatten sich die vier Flugmaschinen bis auf etwa einen Kilometer genähert. Ihr Kurs zielte unverändert auf den Bergrücken, auf dem die Schildkröte stand. Lester Velie bemühte sich, seine Nervosität vor David geheimzuhalten. Er wußte jedoch, daß sein Robotassistent ihn auf jeden Fall durchschaute. David konnte am Mienenspiel, an den Augen und an der Oberflächenbeschaffenheit der Haut ablesen, in welchem Gemütszustand sich ein Mensch befand. Als die Flugmaschinen ausschwärmten, schloß Lester das Dach der Steuerkanzel. David legte die Hände auf die Feuerschaltungen der Geschütze und blickte seinen Herrn fragend an. Aber der Scout 19
schüttelte nur den Kopf. Im nächsten Augenblick hielt er den Atem an. Die eine der Flugmaschinen schwankte, schüttelte sich und neigte plötzlich ihren Bug. Sekunden später prallte sie gegen den Boden und zerschellte. Eine grelle Stichflamme zuckte aus den Trümmern, zerschmolz einen Teil von ihnen und erlosch wieder. Die anderen drei Flugmaschinen schwenkten ab, doch zwei von ihnen wurden vom gleichen Schicksal ereilt wie die erste, noch bevor sie auf Gegenkurs gegangen waren. Die letzte Flugmaschine landete hart an einem Hang. Eine Tür öffnete sich in der linken Bordwand. Ein menschenähnliches Lebewesen in blauschwarz schillernder Kombination sprang heraus, stolperte, raffte sich auf und lief weiter. Eine zweite Gestalt folgte. Dann wurden die gelandeten Flugmaschine und die beiden Gestalten von einer unsichtbaren Kraft erfaßt, in die Höhe gehoben und mit Wucht auf den Boden geschmettert. Die Maschine zerbarst; die beiden Gestalten blieben reglos liegen. Lester Velie und sein Robotassistent sahen sich an. „Schon wieder diese seltsame Kraft“, flüsterte der Scout. „Wenn ich nur wüßte, wer sie erzeugt und warum sie benutzt wurde, um die Flugmaschinen zu zerstören und ihre Besatzungen zu töten. Uns hatte sie doch zweifellos nicht töten sollen. Im Gegenteil, als ich die MEMPHIS abstürzen ließ, hat die Kraft sogar helfend eingegriffen.“ „Weil die Beherrscher der Kraft uns haben wollen“, erwiderte David. „Sie wollen jedoch nicht, daß andere uns bekommen. Deshalb werden sie die Flugmaschinen zum Absturz gebracht haben.“ Lester blickte sich suchend um. „Aber wo sind sie, die Beherrscher der unheimlichen Kraft?“ fragte er. „Ich kann sie nirgends sehen.“ Er schaltete den Antrieb der Schildkröte hoch und steuerte 20
das Gleiskettenfahrzeug vorsichtig den Südhang des Berges hinab, in Richtung auf die geborstene Flugmaschine zu, neben der die beiden menschenähnlichen Gestalten immer noch reglos lagen. Nach einer Viertelstunde Fahrt hielt er neben der Flugmaschine an, verließ die Steuerkanzel und stieg durch das Luk am Bug des Fahrzeuges aus. David folgte ihm, den ErsteHilfe-Koffer in der Hand. Neben dem ersten Fremden kniete Lester Velie nieder. Er hatte tatsächlich Ähnlichkeit mit einem Terraner, war aber viel breiter und stärker gebaut, hatte eine grobporige graubraune Haut, stahlblau schimmerndes wolliges Haar, ein vorspringendes eckiges Kinn und eine kräftige Nase. Die dunkelbraunen Lippen waren leicht geöffnet und ließen Lester einen Teil der kräftigen gelblichen Zähne sehen. Als David sich neben ihm niederlassen wollte, winkte der Scout ihn fort. „Den anderen!“ befahl er. „Diesem hier ist nicht mehr zu helfen.“ Er zog die Lider über die gebrochenen Augen und seufzte. Lester Velie verabscheute nichts so sehr wie Gewalttaten, vielleicht, weil er während seiner Tätigkeit als Weltraumscout die unterschiedlichsten intelligenten Rassen und ihre Zivilisationen kennengelernt und dabei erfahren hatte, daß diejenigen am glücklichsten waren, die statt Haß und Kampf Liebe und gegenseitige Hilfe zu ihren Leitsätzen erhoben hatten. „Der andere ist ebenfalls tot“, stellte David nüchtern fest. Lester erhob sich. „Das sind zweifellos humanoide Lebewesen“, sagte er leise. „Vielleicht waren ihre Vorfahren sogar Terraner. Die Umweltbedingungen dieses Planeten haben dann bei den Nachkommen eine Anpassung bewirkt. Der Körperbau ist kräftiger, wegen der höheren Schwerkraft, und die graubraune 21
Haut ist sicher durch den besonderen Strahlungseinfall bedingt.“ „Sie wollen damit andeuten, diese Wesen könnten die Nachkommen jener Menschen sein, die von den Quoon nach Anser verschleppt wurden und später befreit und woanders angesiedelt wurden, Sir“, meinte David. Lester Velie nickte. „So könnte es sein, aber es muß nicht so sein, David. Wir wissen, daß die humanoide Gestalt bei vielen Intelligenzen vorkommt, auch wenn sie sich auf verschiedenen Planeten entwickelt haben.“ Er wandte sich um und blickte nach Norden. „Aber wenn es sich so verhält, dann haben wir die Pflicht, in die Streitigkeiten der Bewohner dieser Welt einzugreifen und zu versuchen, sie zu schlichten.“ „Wir sind nur zwei Personen, Sir“, gab David zu bedenken. „Streitigkeiten großen Ausmaßes zu schlichten, ist nicht unsere Aufgabe, sondern die der Föderationspatrouille.“ Der Scout lachte humorlos. „Denkst du, ich kenne die Bestimmungen nicht!“ fuhr er seinen Robotassistenten an. „Wenn ich könnte, würde ich starten und die Föderationspatrouille benachrichtigen. Aber die fremde Kraft würde uns nicht entkommen lassen, ganz davon abgesehen, daß der nächste Stützpunkt der Patrouille siebenundzwanzig Lichtjahre entfernt ist.“ „Ganz davon abgesehen, Sir, daß wir nicht mehr zum Schiff zurück können“, erwiderte David lakonisch und deutete dabei nach Nordosten. Lester folgte dem ausgestreckten Arm mit den Augen und sah eine Horde graugekleideter Lebewesen über einen Hang talabwärts stürmen, genau in ihre Richtung. „In die Schildkröte!“ befahl er. In der Schildkröte angekommen, schaltete Lester Velie die Motoren ein und wendete, bis der Bug des Fahrzeugs nach 22
Südwesten zeigte. Er beabsichtigte nicht, sich auf einen Kampf mit den Graugekleideten einzulassen. Sie waren ihm seiner Meinung nach unterlegen, und so hatte er nur die Wahl, sie zu verletzen oder zu töten oder zu fliehen. Doch er hatte sich verrechnet. Die Schildkröte kam kaum zwanzig Meter weit, da wurde der Boden vor und neben ihr von heftigen Explosionen zerrissen. Erde, Pflanzenteile und Steinbrocken prasselten gegen die Außenhaut des Fahrzeugs. „Detonatorbeschuß!“ rief David. „Sie wollen uns zum Anhalten zwingen.“ Reflexartig schwenkte Lester die Steuerkanzel mitsamt dem Waffendrehkranz herum und richtete die Abstrahlläufe der Jungning-Geschütze auf die heranstürmende Horde. Aber er zögerte noch, denn wenn er einmal anfing zu schießen, mußte er diese Wesen ausnahmslos töten, sonst würden einige von ihnen ihre Detonatoren auf die Schildkröte richten, und dann war es unvermeidlich, daß sie die Gleisketten beschädigten und das Fahrzeug damit festnagelten. Er traf seine Entscheidung, als ihn David auf eine zweite Gruppe aufmerksam machte, die sich von Nordwesten näherte - und nicht zu Fuß wie die erste, sondern mit Hilfe von Rückstoßaggregaten. Gegen beide Gruppen reichte die Kampfkraft der Schildkröte nicht aus. „Wir werden versuchen, zu verhandeln“, erklärte er. „Das dürfte zwecklos sein, Sir“, entgegnete David. „Wenn man uns zur Übergabe auffordert, bleibt uns gar nichts weiter übrig, als zu gehorchen, wenn wir nicht sterben wollen.“ „Na, wenigstens du kannst nicht sterben“, meinte Lester Velie trocken. „Meine Funktionen können erlöschen, Sir“, erwiderte sein Robotassistent, „und damit auch mein Bewußtsein. Das wäre 23
für mich gleichbedeutend mit einem Ende meiner Existenz. Ich sehe da keinen Unterschied zum Tode eines Menschen.“ „Ich schon“, erklärte der Scout. „Du bist nämlich kein Mensch, sondern nur eine gut gelungene Imitation eines Menschen und kannst ebensowenig sterben wie meine Schildkröte oder die MEMPHIS.“ Er wickelte einen Konzentratriegel aus und schob ihn sich in den Mund, während er beobachtete, wie die beiden Gruppen sich der Schildkröte näherten. „Wie können Sie in dieser Situation nur ans Essen denken, Sir!“, sagte David vorwurfsvoll. Lester Velie verzog den Mund, dann kaute er weiter. „Da hast du wieder den Beweis dafür, daß ein fundamentaler Unterschied zwischen dir und mir besteht. Weil ich ein Lebewesen bin, muß ich essen, und ich tue es gerade wegen der Situation, in der wir uns befinden. Als Gefangener bekomme ich vielleicht längere Zeit keine Nahrung, also sorge ich vor.“ Inzwischen war die mit Fluggeräten ausgerüstete Gruppe herangekommen und neben der Schildkröte gelandet. Die häßlichen Trichtermündungen von Detonatoren richteten sich auf die Steuerkanzel. Trotz des unbehaglichen Gefühls angesichts der tödlichen Bedrohung musterte der Scout die Fremden sehr aufmerksam. Sie waren ebenfalls humanoid, unterschieden sich aber doch wesentlich von den beiden Toten neben der Flugmaschine. Während die Toten etwas kleiner waren als der durchschnittliche Terraner, erreichten die Graugekleideten Körpergrößen bis zu drei Meter. Ihre durchschnittliche Schulterbreite mochte anderthalb Meter betragen, und ihre Köpfe wirkten klein und abstoßend mit den großen Augen, den breiten Nasen und den handflächengroßen Ohrmuscheln. Die Hände, die die Detonatoren hielten, waren dagegen so groß wie Suppenteller. Die Beine waren lang, und unter der 24
anliegenden Kombination zeichneten sich deutlich starke Muskeln ab. Als einer der Graugekleideten den Mund öffnete und etwas rief, schaltete Lester sowohl die Außenmikrophone als auch die Außenlautsprecher der Schildkröte ab und aktivierte den zwischengeschalteten stationären Translator. „Was wollt ihr?“ fragte er, obwohl er wußte, daß der Translator Zeit benötigte, um die fremde Sprache zu analysieren und eine Kommunikation zu ermöglichen. Abermals sprach der Graugekleidete, und zu Lesters Überraschung übersetzte der Translator nach kurzer Verzögerung. „Widerstand wäre sinnlos“, übersetzte er. „Steigen Sie aus, übergeben Sie Ihre Waffen und das Fahrzeug. Sie sind unsere Gefangenen.“ Der Scout schaltete den Translator aus, wandte sich an David und fragte: „Kannst du mir verraten, warum unser Translator die fremde Sprache beinahe sofort übersetzt hat, du Blechbüchse?“ „Nein, Sir“, antwortete David. „Ich kann mir allerdings denken, daß die Sprache dieser Wesen Elemente enthält, die aus einer der alten Völkersprachen der Erde stammen.“ „Also doch die Nachkommen der Entführten“, sagte Lester und schaltete den Translator wieder ein. „Warum sollten wir uns ergeben?“ fragte er. „Wir kommen in Frieden und wünschen keinen Kampf.“ „Weil Sie sonst sterben müßten“, antwortete der Graugekleidete. Lester Velie musterte die Fremden. Inzwischen war auch die zweite Gruppe herangekommen. Mindestens sechzig Detonatoren waren auf die Schildkröte gerichtet. Wenn sie alle abgefeuert wurden, würden von dem Fahrzeug höchstens sandkorngroße Trümmer übrigbleiben. „Wir kommen“, sagte er. 25
Abermals schaltete er den Translator aus, damit die Fremden nicht mithören konnten, und sagte zu seinem Assistenten: „Sorge dafür, daß man das kleine Fernsteuergerät nicht findet, David. Nur schade, daß wir die Spezialausrüstung von Corhan verlieren.“ David verzog sein Synthoplastgesicht zu einem arroganten Lächeln und erwiderte: „Sie unterschätzen mich, wie immer, Sir. Selbstverständlich habe ich einen Teil der Spezialausrüstung in mir verstaut, so wie ich das Fernsteuergerät jetzt verstauen werde.“ Er schnallte die Arbeitsplatte an seinem Bein ab, öffnete an dieser Stelle einen Magnetsaum der Expeditionskombination und schob die Arbeitsplatte mit dem Fernsteuergerät in den Hohlraum, der sich scheinbar selbsttätig in seinem Oberschenkel bildete, in Wirklichkeit aber durch einen Pseudonervimpuls von seinem Mesonengehirn aus geöffnet wurde. Anschließend verschloß er Oberschenkel und Beinkleid wieder. Lester Velie hatte unterdessen seine beiden Handwaffen, den Schockblaster und den Jungning-Strahler, aus den Gürtelhalftern gezogen und auf den Boden gelegt. Als er sah, daß auch David seine Waffen ablegte, wandte er sich dem nach unten führenden Turmluk zu und kletterte hinab. Eine halbe Minute später schwang er sich durch das Bugluk nach draußen. Die Graugekleideten drängten sich um Lester und David, durchsuchten sie nach Waffen, und einige von ihnen stiegen in die Schildkröte. All das ging in absolutem Schweigen vor sich, so daß der Scout sich fragte, wie die Wesen sich gegenseitig verständigten, um ihre Aktivitäten zu koordinieren. Lester Velie hatte den Translator, den er an einer Plastikschnur um den Hals vor der Brust trug, bereits in der Schildkröte aktiviert. Nun sagte er: „Mein Assistent und ich sind friedliche Forscher und verstehen nicht, warum man uns 26
bedroht. Ich heiße Lester Velie und ...“, er deutete auf seinen Robotassistenten, „... das ist David. Darf ich erfahren, wer Ihr Anführer ist?“ Einer der Grauen schob sich ein Stück nach vorn und sagte: „Die Steuerung Ihres Fahrzeugs ist etwas kompliziert. Sie werden deshalb selbst nach unseren Anweisungen fahren.“ „Und Ihr Assistent nimmt draußen auf dem Fahrzeug Platz“, ergänzte ein anderer Grauer. Lester blickte von einem zum anderen. Eben hatte er noch gedacht, er wüßte, wer der Anführer war, aber als ein zweiter Grauer sprach, war er wieder unsicher geworden. Er entschied sich dafür, die Sache vorerst auf sich beruhen zu lassen. „Wohin soll ich fahren?“ erkundigte er sich. „Nach Laetorno“, antwortete ein dritter Graugekleideter. „Ich zeige Ihnen den Weg, Lester Velie. Steigen Sie ein!“ Der Scout zuckte die Schultern und kletterte in die Schildkröte zurück. Der Graue, der zuletzt zu ihm gesprochen hatte, folgte ihm. Drinnen fand Lester mehrere Graue vor, die ihn scharf beobachteten. Als er die Steuerkanzel erreichte, sah er, daß seine und Davids Waffen fort waren. Er hatte es nicht anders erwartet. Sein Begleiter und Bewacher deutete auf die Steuertastatur. „Fahren!“ sagte er. Lester Velie setzte sich und registrierte schadenfroh, daß der Graue sich vergebens bemühte, sich in den zweiten Sitz zu zwängen und sich schließlich auf den Boden hockte. Dann warf er einen Blick nach draußen. David stand zusammen mit etwa acht Grauen, die keine Rückstoßaggregate trugen, auf dem Aufbau der Schildkröte und hielt sich an einem, der für solche Zwecke vorgesehenen, Haltegriff fest. Lester nickte seinem Robotassistenten zu und schaltete die Gorden-Elektromotoren hoch. Draußen sprangen einige Graue 27
erschrocken zur Seite, als das schwere Fahrzeug anruckte und die Gleisketten Dreck und Pflanzen in die Luft schleuderten. Der Graue auf dem Boden konnte trotz seines tiefen Sitzes mühelos nach draußen blicken. Er streckte den Arm aus und deutete damit nach Nordwesten. „In diese Richtung!“ befahl er. „Wie Sie wünschen“, erwiderte Lester und ließ die Schildkröte mit hoher Geschwindigkeit einen Hang hinauf jagen. Er überprüfte sich und stellte fest, daß er keine Furcht empfand. Im Gegenteil, er war neugierig auf das, was ihn in dem Metallplastikhügel der Grauen erwartete - denn in der Richtung, in die der Mann neben ihm gewiesen hatte, lag einer dieser Hügel, in dem diese Wesen offenbar wohnten. Lester Velie bog um eine Felswand - und sah plötzlich den Metallplastikhügel vor sich. Es war ein großer Bau, schätzungsweise zweihundert Meter hoch und mit einem Grundflächendurchmesser von ungefähr fünfhundert Metern. Die Farbe paßte sich der Landschaft an, ein Durcheinander von blauroten, schwarzen und dunkelgrünen Flecken. Sowohl an der Unterseite als auch weiter oben befanden sich zahlreiche Öffnungen. Als die Schildkröte sich mit heulenden Motoren näherte und dabei eine Gasse durch die zirka drei Meter hohe, ineinander verfilzte und verschlungene Vegetation wühlte, steckten Lebewesen, die dem Grauen neben Lester glichen, neugierig ihre Köpfe aus den Öffnungen. Ihre Hände hielten Detonatoren. Wächter! überlegte der Scout. Er fragte sich, wozu jeder einzelne Eingang von mehreren Grauen bewacht wurde und warum er nirgends etwas von Geschützstellungen sah. Ein paar Stellungen rings um die Kuppel wären doch besser zur Verteidigung gewesen als einige Männer mit Handwaffen in jeder Öffnung. 28
Er wandte sich an seinen Begleiter und fragte: „Wo soll ich meine Geländelimousine parken, großer Meister des Schweigens?“ Der Graue blickte ihn eine Weile an, dann wurde sein Blick geistesabwesend. „Wir verstehen nicht“, erwiderte er. „Aha!“ machte Lester. „Der Herr belieben sich vornehm auszudrücken, wie? Ich meinte, wo soll ich mein Fahrzeug abstellen?“ Abermals blickte ihn der Graue an, und wieder wurde sein Blick geistesabwesend, bevor er sprach. „Wir werden ein Tor für Sie öffnen“, übersetzte der Translator. „Schalten Sie die Maschinen ab!“ In der Wandung des Metallplastikhügels beziehungsweise der Metallplastikkuppel bildete sich zwischen zwei kleinen Öffnungen eine größere, durch die eine Schildkröte bequem hindurchfahren konnte. Lester Velie wollte die Schildkröte schon zu dem Tor steuern, als ihm erst richtig bewußt wurde, was der Graue gesagt hatte. Schalten Sie die Maschinen ab! Es dauerte einige Sekunden, bis er begriff, daß die Fremden offenbar ihre rätselhafte Kraft einsetzen wollten, um die Schildkröte in ihre Kuppel zu holen. Und wieder fragte er sich, was das für eine Kraft sein könne, die wie ein Traktorstrahl wirkte und auf die die Energieortung dennoch nicht ansprach. Lester schaltete die Elektromotoren ab, ließ aber die beiden Dwarf-Reaktoren mit einem Minimum an Leistung weiterarbeiten. Im nächsten Augenblick wurde die Schildkröte leicht angehoben und schwebte auf das Tor zu. Dahinter war es dunkel, und der Scout schaltete, ohne zu überlegen, die starken Bugscheinwerfer des Gleiskettenfahrzeugs an. Die Lichtkegel tauchten einen breiten Gang in blendende Helle und überfluteten auch einen Teil der Seitenwände. 29
Lester Velie erblickte transparente Ausschnitte in den Wänden, und dahinter befanden sich wabenartige Höhlungen, in denen sich etwas regte. Bevor der Scout erkennen konnte, was sich dort regte, bewegte sich der Graue neben ihm. Seine Faust landete auf Lesters Hinterkopf, und das letzte, was Lester sah, waren zahllose glitzernde Sterne. Dann versank er in Finsternis. Als er wieder zu sich kam, mußte er die Zähne zusammenbeißen, um nicht aufzuschreien, denn durch seinen Schädel rasten in kurzen Intervallen heftige Schmerzwellen. „Ist es schlimm, Sir?“ flüsterte es in seiner Nähe. Lester Velie öffnete die Augen, konnte aber nichts sehen. Es war vollkommen dunkel. Dennoch war er sicher, daß es Davids Stimme gewesen war, die zu ihm gesprochen hatte. Auf dieser Welt würde nur sein Robotassistent ihn mit „Sir“ anreden. „Nur, wenn ich lache“, flüsterte er zurück. „Wo sind wir, du Heupferd?“ „In einem großen Kuppelsaal“, antwortete David. „Nachdem man auch mich bewußtlos geschlagen hatte oder doch glaubte, es zu haben, trennte man uns von der Schildkröte und brachte uns hierher.“ „Das konnte ich mir allein denken“, erwiderte Lester. „Was hast du sonst noch beobachtet? Muß ich dir denn die Würmer einzeln aus der Nase ziehen!“ „Würmer - aus der Nase?“ fragte David. „Ich habe niemals Würmer in meiner Nase gehabt, und ich wüßte auch nicht, daß Sie jemals Würmer in Ihrer Nase gehabt hätten, Sir.“ „Nimm doch nicht alles so furchtbar wörtlich!“ fuhr Lester seinen Robotassistenten an und zuckte zusammen, denn als er laut sprach, fuhr ein stechender Schmerz von seiner Schädelbasis bis zu den Zehen. Er stöhnte leise. „Dieser hirnlose Goliath muß mir die Schädeldecke eingeschlagen haben!“ flüsterte er. „Ihre Schädeldecke ist in Ordnung, Sir“, sagte David. „Das 30
habe ich gleich überprüft, nachdem man uns allein gelassen hatte. Aber möglicherweise haben Sie eine Gehirnerschütterung. Sie sollten sich schonen, Sir.“ „Wie kann ich mich schonen, wenn ich mich dauernd über dich aufregen muß!“ gab Lester zurück. „Also, was hast du noch beobachtet? Ich kann mich erinnern, hinter transparenten Wandstellen so etwas wie große Waben gesehen zu haben, in denen sich etwas regte.“ „Das waren Lebewesen, Sir“, erklärte der Roboter. „Entfernt menschenähnliche Geschöpfe, etwa einen Meter groß und ebenso breit, mit winzigen Armen und Beinen, rosa Haut und großen birnenförmigen Köpfen.“ „Und was taten die Birnenmännchen?“ forschte Lester Velie weiter. „Sie bewegten sich in regelmäßigen Abständen“, antwortete David. „Ich gewann den Eindruck, daß ihre Bewegungen einzig und allein dem Zweck dienten, ihre Körperlage zu verändern.“ Der Scout runzelte die Stirn. „Komisch!“ meinte er nachdenklich. „Wenn du die großen birnenförmigen Köpfe nicht erwähnt hättest, würde ich glauben, es handelte sich um die grauen Riesen im Säuglingsstadium.“ „Wenn ich es nicht erwähnt hätte, würde die Tatsache als solche dennoch bestehen, Sir“, erwiderte David. „Aus einer Unterlassung könnten Sie also keinen Fehlschluß ableiten, ganz abgesehen davon, daß in diesem Zusammenhang das Wort ‚glauben’ fehl am Platze ist.“ „Du raubst mir den letzten Nerv und trittst dann auch noch darauf herum!“ schimpfte Lester. „Zum letzten Male befehle ich dir, deine verwünschten Spitzfindigkeiten in der Schublade zu lassen - beziehungsweise, sie nicht von dir zu geben.“ „Es tut mir leid, Sir“, sagte David, obwohl seinem Mesonengehirn natürlich überhaupt nichts Leid tun konnte. 31
„Aber ich bin so programmiert, daß ich jedes Ihrer Worte wörtlich zu nehmen habe, und wenn Sie sich unlogisch ausdrücken, so ist es nur logisch, daß ich Sie nicht verstehe. Verstehen Sie, Sir?“ „Nein, aber das macht nichts“, erwiderte Lester matt. „Es ist, denke ich, besser, du verstehst mich manchmal nicht, als daß ich versuche, dich verstehen zu wollen.“ „Wie Sie wünschen, Sir“, meinte David. Der Scout seufzte. „Können wir diese Halle verlassen, wenn wir es wollen?“ erkundigte er sich. „Vielleicht“, antwortete David. „Aber wahrscheinlich nicht unbemerkt. Ich rate dazu, abzuwarten. Die Fremden müssen irgendwann Kontakt mit uns aufnehmen, sonst wäre unsere Entführung unlogisch gewesen.“ „Du mit deiner Robotlogik!“ spottete Lester Velie. „Vielleicht wollen sie uns auch nur essen.“ Er lachte leise. „Was ihnen bei dir schwerfallen dürfte.“ „Halten Sie es wirklich für möglich, daß die Bewohner dieser Kuppel die Absicht haben möchten, uns als Nahrungsmittel zu benutzen, Sir?“ fragte David. „Nein“, antwortete Lester. Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: „Oder vielleicht doch. Sie müssen schließlich von etwas leben, und ich habe auf der Herfahrt nirgends agrotechnische Anlagen gesehen. Andererseits, wenn sie auf zufällige Besucher aus dem Weltraum angewiesen wären, dann wären sie längst verhungert.“ „Das klingt logisch, Sir“, sagte David. Lester Velie wollte eine ironische Bemerkung machen, da flüsterte sein Robotassistent: „Achtung, Sir! Jemand kommt!“ Der Scout verhielt sich still und lauschte. Nach einigen Sekunden glomm an der Decke des Kuppelsaals grünliches Licht auf, hüllte den Saal in eine gespenstische 32
Dämmerung, in der alles unwirklich aussah. Die Wände schienen bis zu halber Höhe aus goldbedampften Spiegeln zu bestehen, deren Ränder blutrot eingefaßt waren. Lester kniff die Augen zusammen, als mitten in dem grünen Licht an der Decke eine seltsame Gestalt auftauchte. Als die Gestalt tiefer kam, sah der Scout, daß sie annähernd humanoid war. Jedenfalls hatte sie je zwei Arme und Beine, wenn auch sehr kurze und dünne, sowie einen Kopf. Jedenfalls nahm Lester an, daß hinter dem riesigen birnenförmigen Helm, dessen Außenfläche ebenso goldbedampft zu sein schien wie der Spiegel, ein Kopf steckte - und zwar ein birnenförmiger Kopf. Außer diesem Kopf war die ganze, etwa einen Meter große Gestalt, völlig in eine Art schwarzen Raumanzug gehüllt. Lester Velie hatte anfangs überlegt, ob er sich noch bewußtlos stellen sollte oder nicht. Als der Schwarzgekleidete richtig zu sehen war, entschloß er sich, es nicht zu tun. Er stand auf, David folgte seinem Beispiel. Der Schwarzgekleidete sank zu Boden; nein, nicht ganz, denn er blieb etwa zwei Zentimeter über dem Boden der Halle schweben, als würde er vom Kraftfeld eines Antischwerkraftgenerators festgehalten. Danach blinkte vorn an seinem Schutzanzug eine Art roter Funken - und im nächsten Augenblick ertönte eine hohle Stimme, die von überall zugleich zu kommen schien. Aber die Stimme sprach fremde Worte, die erst von Lesters Translatoren übersetzt werden mußten. „Lester Velie und David, wir zweifeln nicht daran, daß Sie denken können, aber wir sind befremdet, weil wir Ihre Gedanken erst dann verstehen, wenn Sie sie auf akustische Weise und dadurch verstümmelt äußern. Was sind Sie?“ Lester überlegte fieberhaft. Mit „wir“ meinte der Schwarzgekleidete sicher nicht nur sich, sondern alle Bewohner dieser Kuppel. 33
Aber warum sprach er über eine Apparatur? Und warum behauptete er, er und seine Leute könnten Lesters und Davids Gedanken erst verstehen, wenn sie auf akustische Weise geäußert würden? Und warum dann nur verstümmelt? „Es müssen Telepathen sein, Sir“, wisperte David. Der Scout war im gleichen Moment zu diesem Schluß gekommen. Die Bewohner von Laetorno, wie der Graue die Kuppel genannt hatte, mußten natürliche Telepathen sein. Die mutierten Nachkommen der entführten Menschen? Lester Velie wußte von Rassen, deren Angehörige telepathisch begabt waren, und er wußte, daß ein Telepath die Gedanken jedes anderen Lebewesens bildhaft sehen oder auch in seinem Gehirn hören konnte, wenn der andere nur dachte oder nicht absolut fremdartig war. Warum sah oder hörte dann der Schwarzgekleidete nicht seine, Lester Velies, Gedanken? Davids Gedanken konnte er natürlich nicht hören oder sehen, da der Roboter kein organisches Gehirn besaß, aber zwischen ihm und Lester bestand doch, wenn es sich hier um Nachkommen der entführten Terraner handelte - und die leicht übersetzbare Sprache schien das zu beweisen - eine im kosmischen Sinne enge Verwandtschaft. Im Grunde genommen war der Scout natürlich froh darüber, daß die Fremden seine Gedanken nicht lesen konnten. Andernfalls hätten sie längst gewußt, daß David ein Roboter war und daß er in sich eine spezielle Ausrüstung verbarg und nicht so leicht gefangenzuhalten war wie ein Mensch. „Ich weiß es nicht“, antwortete er - und das stimmte sogar. „Wir sind Menschen, Terraner und Angehörige der Galaktischen Föderation „ „Ihr kommt von draußen?“ ertönte wieder die hohle Stimme „Aber dort draußen wimmelt es von Gedanken. Die Wesen, die dort leben, denken verständlich für uns. Warum denken Sie nicht wie sie?“ 34
Das fragte sich Lester auch. Offenbar konnten die Bewohner dieses Planeten die Gedanken anderer intelligenter Wesen lesen, die draußen auf anderen Welten lebten Doch warum vermochten sie dann nicht seine Gedanken zu lesen? Er lebte schließlich auch „dort draußen“. War er aus irgendeinem Grunde immun gegen telepathische Bemühungen? „Auch das weiß ich nicht“, sagte er „Ich weiß auch nicht, warum wir mit Gewalt hierher geholt wurden Antworten Sie! Warum ließen Sie uns mit Gewalt hierher holen? Und wie heißen Sie?“ „Wir heißen nicht“, antwortete der Fremde „Wir sind Laetorno, und wir haben Sie zu uns geholt, weil wir etwas brauchen, das Sie besitzen.“ „Was wir besitzen?“ fragte Lester Velie, obwohl er sich denken konnte, was der Fremde meinte. Wahrscheinlich die MEMPHIS. „Das Fahrzeug, mit dem Sie von draußen kamen“, sagte der Schwarzgekleidete „Es ist verschwunden. Wir möchten, daß Sie es zu uns bringen und uns zeigen wie man damit umgeht“ Das könnte euch so passen! dachte der Scout grimmig. Ein Raumschiff, damit ihr noch mehr Unheil anrichten könnt. Wahrscheinlich wollt ihr es gegen eure Feinde einsetzen, zu denen offensichtlich die Wesen in den Flugmaschinen gehörten „Das ist nicht so einfach“, antwortete er diplomatisch „In unserem Raumschiff wohnt ein mächtiger Geist, den wir uns nur nach sehr zeitraubenden Beschwörungen und mit Hilfe geheimer Formeln dienstbar machen können „ „Dann setzen Sie Ihre Beschwörungen und Formeln ein!“ befahl der Fremde. Lester Velie schüttelte den Kopf. „Hier ist uns das unmöglich. Dazu müssen wir im Freien sein.“ „Wir werden uns überlegen, was zu tun ist“, antwortete der 35
Fremde und stieg plötzlich wieder empor. Lester wollte ihm nachgehen, vermochte aber seine Füße nicht mehr zu bewegen Er hatte das Gefühl, als sei er von unsichtbaren Mauern umgeben. „Warten Sie!“ rief er. Doch der Schwarzgekleidete sagte nichts mehr. Er stieg höher und verschwand in dem grünen Leuchten unter der Hallendecke. Sekunden später erlosch das Licht.
3. In dem Augenblick, als das Licht erlosch, konnte sich Lester Velie wieder frei bewegen. „Bei allen Dunkelsternen!“ stieß er hervor „Was war das?“ „Die, die sich mit Laetorno identifizieren, sind parapsychisch begabte Mutanten“, sagte David mit der Gelassenheit eines Wissenschaftlers, der seinen Schülern einen Vorgang zum tausendsten Male schilderte. „Es gibt keinen Grund, anzunehmen ihre einzige parapsychische Fähigkeit sei die der Telepathie. Wie Sie wahrscheinlich wissen, Sir, gehört zu den anerkannten ,außersinnlichen’ Phänomenen unter anderem die Telekinese, also der Vollzug von Bewegung mit Hilfe reiner Geisteskraft. Folglich dürfen wir es als sehr wahrscheinlich betrachten, daß die geheimnisvolle Kraft, die unser Schiff beeinflußte, die Schildkröte transportierte und uns eben festhielt, identisch mit der Ausübung von Telekinese war.“ „Erstaunlich!“ sagte Lester. „Und den ganzen Vortrag hast du gehalten, ohne nur einmal Luft zu holen. Du bist schon ein echtes Phänomen, David.“ „Danke, Sir“, erwiderte David „Aber darf ich Sie darauf hinweisen, daß ich weder beim Sprechen noch sonstwann Luft 36
holen muß, da ich nicht atme meine Sprechorgane auf elektronischer Basis funktionieren.“ Lester Velie seufzte „Warum versuchst du mir nur ständig etwas zu erklären, das ich längst weiß, du sprechendes Ofenrohr.“ sagte er mit dem Unterton von Verzweiflung. „Nein, sprich jetzt nicht, sonst platze ich noch! Überlege lieber, warum in dieser Kuppel zwei grundverschiedene Menschentypen zusammenleben, die grauen Riesen und die schwarzen Zwerge.“ Er selbst hatte sich schon seine Gedanken darüber gemacht, aber er wollte sie nicht äußern, bevor sein Robotassistent seine Meinung dazu gesagt hatte. Doch als die Minuten verstrichen, ohne daß David etwas sagte, wurde er ungeduldig. „Nun?“ fragte er gedehnt. Und, als David noch immer nicht reagierte „Was soll das? Ich dachte immer, du könntest mit Lichtgeschwindigkeit denken. Oder hat dein Sprechapparat versagt? Rede endlich!“ „Ja, Sir“, erwiderte David „Ich bitte Sie, zu bedenken, daß ich befehlsgemäß schweigen mußte, bis Sie mich eindeutig zum Sprechen aufforderten. Wenn mein Sprechapparat tatsächlich versagt hätte, wäre ich allerdings nicht in der Lage gewesen, es Ihnen zu sagen, Sir. Selbstverständlich habe ich überlegt, warum es hier zwei grundverschiedene Menschentypen gibt. Meiner Meinung nach handelt es sich bei den graugekleideten Wesen um eine Kaste, die ausschließlich zum Dienen und Kämpfen da ist, während die Mutanten die Befehle geben und sich - möglicherweise - immer nur in ihrer Kuppelstadt aufhalten.“ „Die Sache mit den beiden Kasten ist naheliegend“, erklärte der Scout „Und auch darauf, daß die Mutanten höchstwahrscheinlich ausschließlich in der Kuppelstadt leben, bin ich schon gekommen. Sie vertragen anscheinend kein normales Tageslicht, deshalb auch die schwarze Bekleidung 37
und der goldbedampfte Helm, obwohl das grüne Licht ja nicht gerade hell war.“ „Dennoch ist vieles noch rätselhaft“, meinte David. „Aber das hat Zeit. Mich würde vorerst interessieren, was Sie mit dem ,mächtigen Geist’ meinten, der in der MEMPHIS wohnt. Dachten Sie dabei an das Bordmesonengehirn, Sir?“ Lester lachte trocken. „Seit wann ist ein Bordmesonengehirn ein Geist, David? Schäme dich. Ich habe ganz einfach geschwindelt, um Zeit zu gewinnen.“ „Sie hoffen, daß die Mutanten uns erlauben, ins Freie zu gehen, Sir?“ erkundigte sich der Roboter. „Ja, und ich hoffe, daß wir dann fliehen können“, antwortete Lester. „Da unsere Beschwörungen und Formeln ja nicht funktionieren können, würden wir uns sicher drastischen Zwangsmaßnahmen aussetzen.“ „Das kommt davon, wenn man lügt“, meinte David und fügte schnell hinzu „Wir bekommen wieder Besuch, diesmal durch die Tür.“ An der Decke erschien wieder das grüne Leuchten, das förmlich durch die Halle zu kriechen schien, so langsam breitete es sich aus. Aber diesmal tauchte kein Schwarzgekleideter daraus auf, sondern in der Wand öffnete sich ein Schott. Vier Graue marschierten herein. Sie bewegten sich eigenartig, ja beinahe marionettenhaft! Es sind Marionetten! durchzuckte es Lesters Gehirn. Sie werden parapsychisch beherrscht und gesteuert! Vor dem Scout und David blieben die Grauen stehen. Einer öffnete den Mund und sagte: „Kommen Sie mit!“ Lester und David sahen sich an, dann schüttelte Lester den Kopf, die unausgesprochene Frage verneinend. Zweifellos war David den vier Riesen körperlich überlegen 38
und hätte sie überwältigen können, da sie ihre Detonatoren in den Gürtelhalftern trugen, aber in der Kuppelstadt gab es noch mehr Kämpfer, und gegen alle hätte auch Lesters Robotassistent nichts ausrichten können. Die vier Grauen nahmen Lester Velie und David in die Mitte und führten sie zu einem Schacht, in dem eine Metallplatte schwebte. Als die fünf Personen und der Roboter auf der Platte standen, stieg sie langsam empor. Nach etwa einer Minute bildete sich am oberen Ende des Schachtes eine Öffnung. Die Platte schwebte hinaus und befand sich über dem Kuppelbau. Lester hatte ein komisches Gefühl im Bauch, als er daran dachte, daß die Platte wahrscheinlich nur von den telekinetischen Kräften der Mutanten gehalten wurde. Die vier Grauen dagegen schienen an die Möglichkeit eines Versagens der Mutanten und einen Absturz nicht einmal zu denken. Sie standen unbeteiligt da und beobachteten die Gefangenen. „Wohin sollen wir Sie bringen?“ fragte einer der Grauen. „Am besten auf den hiesigen Ararat“, antwortete Lester. Er beobachtete den Sprecher der Grauen scharf und bemerkte, daß sein Blick geistesabwesend wurde, bevor er antwortete genau wie der Blick des Grauen, der ihn in der Schildkröte bewacht hatte. Er spricht gar nicht selber zu mir! dachte er. Es ist ein Mutant, der durch ihn spricht. „Wir haben Ihre Antwort nicht verstanden, Lester Velie“, sagte der Graue. „Was meinten Sie mit dem ,hiesigen Ararat’?“ Der Scout lächelte. „Den höchsten Berg dieses Gebirges, mein Sohn“, sagte er. „Ist das unbedingt erforderlich?“ fragte der Graue. „Wenn die Beschwörung erfolgreich sein soll, ja“, sagte Lester Velie. Der Graue erwiderte nichts darauf, aber die Platte setzte sich wieder in Bewegung, nur bewegte sie sich diesmal nicht 39
aufwärts, sondern horizontal nach Südwesten. Lester wollte schon frohlocken, da sah er, wie aus den oberen Öffnungen der Kuppelstadt zahllose Graugekleidete mit Flugaggregaten schwärmten und sich der Platte anschlossen. David warf seinem Herrn und Meister einen bezeichnenden Blick zu, der besagen sollte, daß er es mit einer solchen Übermacht nicht aufnehmen konnte. Der Scout überlegte fieberhaft, wie er sich aus der verfahrenen Lage retten konnte, die er selbst heraufbeschworen hatte. Wenn die Beschwörungen erfolglos blieben, würden die Mutanten sich bestimmt rächen. Andererseits wollte Lester sein Schiff auf gar keinen Fall den Mutanten ausliefern; zu grosser Schaden konnte mit einem Raumschiff angerichtet werden, wenn die Ethik der Benutzer unter dem erforderlichen Niveau lag. Die Platte setzte unterdessen ihren Weg fort. Nach zirka vierzig Minuten merkte Lester, daß sie einen etwa dreitausend Meter hohen Berg anflogen, dessen Gipfel so verwittert war, daß er einer Glaspyramide glich, die jemand mit einem schweren Hammer bearbeitet hatte. Dort landete die Platte, während die Eskorte in geringer Entfernung einen Kreis bildete. Der Sprecher der vier Grauen wandte sich abermals an Lester: „Fangen Sie an!“ Der Scout verzog das Gesicht, seufzte und rief: „Großer Geist der MEMPHIS, hier spricht dein Herr und Meister. Öffne deine Ohren, auf daß du mich verstehst.“ Er massierte seinen Nasenrücken mit dem Zeigefinger, blickte seinen Assistenten hilfesuchend an und fragte: „Wie geht es weiter, David?“ David zeigte ein spöttisches Lächeln, dann rief er mit einer Lautstärke, die kein Mensch aufbringen konnte: „Wenn der Blüten Frühlingsregen über alle schwebend sinkt, wenn der Felder grüner Segen allen Erdgebornen blinkt, 40
kleiner Elfen Geistergröße eilet, wo sie helfen kann; ob er heilig, ob er böse, jammert sie der Unglücksmann.“ „Bei Mephisto!“ entfuhr es Lester. „Das ist doch...“ „Geballte Hand, zweiter Teil, erster Akt“, ergänzte David und produzierte ein stolzes Leuchten seiner Augen. „O nein!“ rief der Scout. „Nicht geballte Hand, sondern Faust, du Kulturbanause! Aber wie kommst du an diesen Text?“ „Er befindet sich in der elektronischen Bibliothek der MEMPHIS, Sir“, antwortete David. „Ist die Beschwörung beendet?“ erkundigte sich der Sprecher der Grauen. „Ja“, antwortete Lester. „Aber nun müssen wir noch die Formeln aufsagen. Leider stören Sie uns dabei. Wir können uns nicht konzentrieren.“ „Die Bewachung ist unerläßlich“, entgegnete der Graue. Lester Velie seufzte, blickte David an und befahl: „Die Formeln, David!“ Der Roboter öffnete den Mund, aber was immer er sagen wollte, es blieb ungesagt. Es wurde plötzlich so hell, als wäre eine fünfte Sonne unmittelbar über der Planetenatmosphäre entstanden - und das war sie auch, denn als Lester sich umwandte und durch die Finger in die Richtung sah, aus der das grelle Licht kam, erspähte er hoch oben einen ultrahellen Glutball, der sich rasend schnell ausbreitete und an der Unterseite zerfloß, als er die Atmosphäre erreichte. „Eine Fusionsbombe!“ stieß er hervor. „Ja, Sir“, sagte David vollkommen ruhig. „Sie hat sicher der Kuppelstadt gegolten, denn das Explosionszentrum liegt genau darüber, nur viel zu hoch, um ernsthaften Schaden anrichten zu können.“ Er hatte kaum ausgesprochen, als sich eine zweite kleine Sonne aufblähte - diesmal innerhalb der Atmosphäre, aber mindestens noch fünfzehn Kilometer hoch. 41
Er dachte gerade an die Druckwelle, die unweigerlich kommen mußte und sie mitsamt der Plattform vom Berggipfel fegen würde, als die Platte sich auch schon in Bewegung setzte. Sie schwebte schwankend nach Südwesten und tauchte hinter dem Berg unter, gefolgt von den Grauen mit den Rückstoßaggregaten. Offenbar konzentrierten die Mutanten in der Kuppelstadt sich größtenteils auf die Abwehr der Atomraketen, die ihrer Stadt galten, denn die Platte schwankte so stark, daß David den Scout festhalten mußte, damit er nicht herunterfiel. Zwei der vier Besucher hatten weniger Glück. Sie verloren das Gleichgewicht und verschwanden in der Tiefe, ohne einen Laut von sich zu geben. Die Platte setzte hart auf einem Felsvorsprung auf, als die Druckwelle der Explosion den Berg erreichte und brüllend darüber hinwegfegte. Der Besatzung der Plattform konnte sie nicht schaden; der Berg hielt die Druckwelle von ihr fern. Als das geisterhaft grelle Leuchten, in das die Landschaft getaucht war, sich verlor, sahen Lesters Augen die normale Beleuchtung durch die roten Sonnen als rötliches Dämmerlicht. Doch schon kurz darauf färbten sich die vom neuerlichen Explosionslicht angestrahlten Felsen grellweiß, und die Schatten stachen schwarz und düster drohend dagegen ab. Abermals toste eine Druckwelle über den Berg hinweg, riß Felsbrocken mit sich und wirbelte sie gleich welken Blättern durch die Luft, bis sie weit entfernt zu Boden krachten. Dann wurde es still. Und mitten in die Stille hinein sagte David: „Mindestens hundert dieser eiförmigen Flugmaschinen nähern sich unserem Standort, Sir. Ich denke, der Atomschlag war nur ein Ablenkungsmanöver. Sehen Sie!“ Er schlug die beiden Wächter, die als einzige noch auf der Platte standen, mit genau abgewogenen Handkantenschlägen bewußtlos, ohne daß sie auch nur den Versuch einer 42
Gegenwehr machten. „Sie werden nicht mehr kontrolliert“, stellte Lester Velie fest. Er konnte die Flugmaschinen noch nicht sehen, aber er wußte, daß sein Robotassistent die Wahrheit gesagt hatte. „Wir sollen also wieder einmal aufgesammelt werden. Das geht mir gegen den Strich, alter Knabe. Hol die corhanischen Stirnbänder heraus!“ David bückte sich, öffnete den bewußten Magnetsaum seiner Beinkleidung und nahm einen Plastikbeutel aus der Öffnung, die sich in seinem Oberschenkel gebildet hatte. Danach verschloß er Bein und Beinkleidung wieder. Lester Velie nahm seinem Assistenten den Beutel ab, riß ihn auf und holte die beiden unscheinbar wirkenden schmalen Stirnbänder aus elastischem Material heraus, die er auf dem Planeten Corhan erworben hatte. Eines davon gab er David, das andere legte er sich über die Stirn um den Schädel. Als er die freien Enden am Hinterkopf zusammendrückte, klickte es leicht. Sekundenlang verschwamm die Umgebung vor Lesters Augen, dann wurde alles so klar wie nie zuvor. Mehr an Wirkung war für Lester nicht zu erkennen, auch nicht, als er Davids Stirnband musterte, das der Roboter sich ebenfalls um seinen menschlich gestalteten Schädel gelegt hatte. Aber der Scout wußte, daß der Träger eines corhanischen Stirnbandes weder an sich noch an anderen Trägern eine Wirkung erkennen konnte. Er hatte es vor dem Kauf ausprobiert - und auch das andere... „Vorwärts!“ sagte er. Sie sprangen von der Platte und bewegten sich auf einen Hang zu, der genügend Unebenheiten bot, die einen Abstieg erlaubten. Der Roboter stieg als erster ab. Bevor Lester ihm folgte, warf er noch einen Blick in die Runde. Unterdessen waren einige der Flugmaschinen aufgetaucht, und der Scout sah, daß sie vom gleichen Typ 43
waren wie die vier, die von den Telekineten zum Absturz gebracht worden waren. Diesmal allerdings griffen die Telekineten nicht ein. Offenbar fürchteten sie weitere Angriffe mit Atomraketen und konzentrierten alle ihre Kräfte auf die Abwehr. Am Beispiel der westlich von Laetorno liegenden zerstörten Kuppel hatte Lester Velie gesehen, daß auch die Abwehr mit starken parapsychischen Kräften durchbrochen werden konnte. Während der Scout und sein Roboter weiter abstiegen, tauchten immer mehr Flugmaschinen auf. Von ihnen fuhren grelle Lichtfinger herab und töteten die Grauen, die wie paralysiert hilf- und wehrlos im Gelände standen oder lagen. Einmal fauchte ein Blasterstrahl dicht an Lester vorbei, und der Scout zog unwillkürlich den Kopf ein. Die ersten Flugmaschinen landeten auf dem Berg und an seinen Hängen. Männer in blauschwarz schillernden Kombinationen sprangen heraus und schwärmten aus. Mehrmals liefen welche an Lester und David vorbei, aber sie sahen durch sie hindurch, als wären sie nicht vorhanden. Lester Velie atmete auf. Obwohl er die Wirkung der corhanischen Stirnbänder kannte, hatte er doch befürchtet, sie könnte auf dieser Welt ausbleiben. Doch die Angreifer schienen nicht über parapsychische Fähigkeiten zu verfügen, die diese Wirkung aufhoben. Das, was diese Wirkung hervorrief, war ein Geheimnis, das die Corhaner auch Lester Velie, dem sie viel verdankten, nicht verraten hatten. Es mußte eine Art hyperenergetischer Strahlung sein, eine paramechanische Energie oder etwas, das die paranormalen Energien des Hyperraums anzapfte. Dabei wurde der Träger eines corhanischen Stirnbandes keineswegs objektiv unsichtbar. Er konnte mit einem gewöhnlichen Fotoapparat fotografiert werden, und er würde auf dem entwickelten Bild zu sehen sein. Die PseudoUnsichtbarkeit war rein subjektiv; andere Lebewesen 44
erblickten die Stirnbandträger zwar, aber sie sahen sie nicht bewußt. Als sie die Vegetationszone erreichten, ein Gebiet, in dem mannshohe seltsame Pflanzen von violetter Färbung wuchsen, blieb David stehen, und auch Lester hielt an. Sie blickten zurück. Auf den kahlen Berghängen gab es keinen lebenden Grauen mehr. Überall kletterten die Suchtrupps herum, während eiförmige Flugmaschinen unablässig den Berg und das umliegende Gebiet überflogen. „Kehren wir zur MEMPHIS zurück, Sir?“ erkundigte sich David. Er sprach leise, denn die Stirnbänder konnten nicht verhindern, daß man die Sprache ihrer Träger hörte. „Wie kommst du darauf!“ entgegnete Lester ebenso leise. „Hast du das grausame Gemetzel vorhin gesehen! Soll ich diese dummen Menschen vielleicht in ihrer Verstrickung lassen? Außerdem kommen wir mit dem Schiff nicht weg. Wenn es antriebslos in den Hyperraum überwechselt, kann es den Hyperraum nicht als Transportmedium benutzen, das weißt du doch.“ Er blickte nach Süden. „Nein, wir werden der Ruinenstadt einen Besuch abstatten. Von dort sind die Flugmaschinen wahrscheinlich gekommen, und dort will ich nachsehen, was die Leute treiben, die mit den Mutanten in Feindschaft leben.“ „Wenn Sie sich immer dafür interessieren, was andere Leute treiben, werden Sie in den finanziellen Ruin treiben, Sir“, bemerkte David. „Das ist kein Planet, der sich für eine Kolonisierung eignet, weil er schon besiedelt ist und eine zu hohe Schwerkraft hat. Folglich können Sie an ihm auch nichts verdienen.“ Lester Velie blickte seinen Robotassistenten entrüstet an. „Du bist eben doch nur eine seelenlose Maschine. Wie kann man ausschließlich ans Verdienen denken, David, wenn andere 45
intelligente Wesen in Not sind?“ „In einer Not, die sie selber verschuldet haben, Sir“, wandte David ein. „Das muß sich erst noch herausstellen“, erwiderte Lester. „Schade, daß wir kein besseres Transportmittel als unsere Füße haben.“ „Wir haben schon bessere Transportmittel, Sir“, meinte David und deutete auf zwei Graue, die ein Opfer des Überfalls geworden waren und in der Nähe lagen. „Ihre Rückstoßaggregate dürften noch in Ordnung sein. Ich schlage vor, wir warten hier, bis die Angreifer fort sind, und nehmen dann die Aggregate.“ „Das ist ein guter Einfall“, sagte Lester. „Manchmal bist du doch recht nützlich.“ Plötzlich stutzte er. „Warum bin ich noch nicht zusammengebrochen?“ fragte er nachdenklich. „Psychisch oder physisch?“ fragte David. „Physisch natürlich, du Imitation eines Menschen!“ fuhr der Scout seinen Assistenten an. Er senkte seine Stimme wieder. „Hast du denn vergessen, daß dieser Planet eine Schwerkraft von 1,736 g hat?“ „Nein, Sir“, antwortete David. „Meine Meßinstrumente zeigen es ja ständig an, und ich verbrauche auch entsprechend mehr Energie, um die hohe Schwerkraft zu überwinden, wenn ich mich bewege. Das ist eigenartig, ich meine, daß Sie nicht darunter leiden, Sir. Würden Sie bitte einmal springen!“ „Springen?“ fragte Lester. „Das könnte dir...“ Seine Augen weiteten sich. „Ich verstehe.“ Er vollführte einige Sprünge und wunderte sich darüber, wie leicht sie ihm fielen. „Genau wie unter Terranormbedingungen, eher noch höher“, stellte David sachlich fest. „Sie sind ein Phänomen, Sir.“ „Ich weiß“, erklärte der Scout. „Aber bisher nur in anderer 46
Hinsicht. Es ist verrückt, einfach verrückt. Dennoch muß es eine wissenschaftlich stichhaltige Erklärung für dieses Phänomen geben. David. Strenge dein Mesonengehirn an. Vielleicht fällt dir etwas ein.“ Er tastete seine Außentaschen ab, fand einen Konzentratriegel und schob ihn sich in den Mund. „Sind Sie hungrig, Sir?“ erkundigte sich sein Robotassistent. Lester nickte. „Heißhungrig“, antwortete er kauend. „Kein Wunder“, meinte David. „Ihr Körper hat einen höheren Energiebedarf, da er sich ständig gegen eine weitaus höhere als die gewohnte Schwerkraft behaupten muß. Normalerweise sättigt ein Konzentratriegel für mindestens acht Stunden. Sie haben aber erst vor knapp fünf Stunden einen gegessen. Erinnern Sie sich?“ „Ja“, erwiderte Lester Velie. Er wollte noch etwas sagen, vergaß es aber, als zwei der eiförmigen Flugmaschinen plötzlich abschwenkten und Sekunden später mit voller Kraft gegen den Berghang prallten. Sie zerschellten, und eine explodierte anschließend. „Die Mutanten!“ stieß der Scout hervor. „Sie schlagen zurück.“ Überall ertönten Schreie, liefen Männer in blauschwarz schillernden Kombinationen auf ihre Flugmaschinen zu und drängten hinein, woraufhin die Maschinen starteten und nach Süden rasten. Einige Maschinen stürzten ab, aber die meisten entkamen. Innerhalb weniger Minuten war der Spuk verschwunden. Nur einige Trümmer und die toten Grauen zeugten noch von dem vorausgegangenen Kampf. Lester und David gingen zu den beiden toten Grauen und schnallten ihnen die Schutzplatten mit den schweren Rückstoßaggregaten ab. Mit einemmal hielt Lester inne dabei. 47
„Die Mutanten können uns nicht orten, weil ich immun gegen ihre telepathischen Fähigkeiten bin und du nicht erfaßt oder beeinflußt werden kannst“, sagte er. „Aber wenn wir die Rückstoßaggregate benutzen, könnten wir dann nicht mit technischen Mitteln geortet und angemessen werden?“ „Kaum“, erwiderte David. „Ich schließe aus allen meinen bisherigen Beobachtungen, daß die Mutanten gar keine technischen Ortungsmittel entwickelt haben, weil sie sich bisher immer auf ihre parapsychischen Fähigkeiten verlassen konnten.“ Er schnallte eines der Geräte auf Lesters Rücken. Es war viel zu groß für den Scout, denn es war für drei Meter große Riesen konstruiert, aber mit einiger Anstrengung konnte Lester das Gerät tragen, ohne zusammenzubrechen. Danach schnallte er das andere Gerät auf Davids Rücken. Der Roboter hob die beiden Waffen der Toten auf. Es waren jene Detonatoren, mit denen Lester und David von den Grauen bedroht worden waren, und sie paßten ihrer Größe wegen nicht in die Gürtelhalfter des Scouts und seines Roboters. „Ich werde sie tragen, bis wir die Ruinenstadt erreicht haben, Sir“, sagte David. „Danach wird es besser sein, auch Sie tragen eine Waffe. Wir wissen nicht, was uns dort erwartet.“ „Einverstanden“, erwiderte Lester. Er lächelte humorlos. „Obwohl ich nicht weiß, wie jemand oder etwas zwei Unsichtbare erwarten sollte.“ „Ich weiß es auch nicht, Sir“, erwiderte David. „Aber ich habe so ein Gefühl...“ Lester lachte rauh auf. „Gefühl! Seit wann leidest du unter Gefühlen, du umfunktionierter Staubsauger!“ Er schaltete sein Rückstoßgerät ein und schoß steil nach oben. Nachdem er sich mit den einfachen Schaltungen vertraut gemacht hatte, ging er wieder tiefer und nahm Kurs nach Süden. 48
4.
Sie landeten am Südhang des Sichelgebirges und schnallten ihre Rückstoßaggregate ab. Der Treibstoffvorrat war ohnehin fast völlig aufgebraucht, so daß die Geräte praktisch nutzlos geworden waren. Lester drehte sein Rückstoßaggregat um und setzte sich auf die Schutzplatte. Dann blickte er hinab auf die teilweise im Schlamm versunkenen Ruinen, die eine so riesige Fläche bedeckten, daß der Scout südlich des Gebirges nichts anderes sah als sie und den dunkelbraunen Schlamm. „Dort sollen Menschen leben“, sagte er nachdenklich. „Kaum vorstellbar, aber wahrscheinlich fühlen sie sich in den Ruinen vor den Mutanten sicher.“ „Ich nehme an, daß sie dort sogar sicher sind“, erwiderte David. „Sicher auch vor einer telepathischen Erfassung ihrer Gedanken“, fügte er hinzu. „Wie kommst du darauf?“ fragte Lester. „Der letzte Kampf brachte mich auf diesen Gedanken“, erklärte David. „Wenn die Mutanten in der Lage wären, die Absichten der in den Ruinen lebenden Menschen telepathisch zu erfassen, dann hätten sie lange vor dem Atomangriff gewußt, daß er bevorstand. In dem Fall aber hätten sie uns nicht hinausgeschickt, sondern sich auf die Abwehr der Raketen konzentriert - und dann wären die Atomsprengköpfe nicht direkt über der Kuppelstadt explodiert, sondern schon unterwegs über dem Gebirge.“ „Das hat etwas für sich“, meinte der Scout. „Aber die Ruinenbewohner, ich möchte sie einmal ,Normale’ nennen, obwohl ich nicht weiß, ob sie wirklich völlig normal sind, können nur innerhalb ihrer Zufluchtsorte sicher vor telepathischer Erfassung sein, sonst wäre der telekinetische 49
Überfall auf die vier Flugmaschinen nicht möglich gewesen.“ „Das ist richtig“, erwiderte der Roboter. Lester Velie erhob sich und reckte sich. „Ich bin gespannt darauf, was es ist, das die Zufluchtsorte der Normalen schützt. Deine Innenmeßgeräte können nichts dergleichen feststellen?“ „Sie sind nicht geeignet, dimensional übergeordnete oder parapsychische Energien aufzuspüren“, entgegnete David. „Ich kann allerdings feststellen, wo in diesem Ruinenfeld die Fusionsaggregate stehen - jedenfalls die, die in Betrieb sind.“ „Und wo ist das?“ erkundigte sich Lester. David streckte einen Arm aus. „Dort, ungefähr elf Kilometer von hier, wo die Ruinen am größten sind.“ „Dann gehen wir dorthin!“ entschied Lester. Sie machten sich an den Abstieg, der nicht allzu schwierig war, da der Südhang des Gebirges nicht sehr steil war. Aber sie mußten immer wieder Ballungen wild wuchernder Vegetation ausweichen, die um so häufiger auftrat, desto tiefer sie kamen. Unterwegs überlegte der Scout, ob die Ruinen wohl ehemalige Städte der Quoon waren, Überreste einer ehemals blühenden Kultur, die aus unerfindlichen Gründen zugrunde gegangen war. Das mußte nicht so sein, aber die Möglichkeit, daß es sich so verhielt, bestand, denn nur die Quoon konnten die Entführten nach ihrer Deportation von Anser hierher gebracht haben, auf einen Planeten, der normalerweise so von seinen vier Sonnen verdeckt wurde, daß eine Entdeckung durch Nichteingeweihte praktisch unmöglich war. Er selber hatte ihn ja nur deshalb gefunden, weil er durch Auswertung der auf Anser gewonnenen Informationen zu den betreffenden Koordinaten gekommen war. Lester blieb stehen, als aus der Vegetationsballung vor ihm ein Tier trat, ein Tier von der Größe eines terranischen Braunbären, aber mit der nackten und dicken Haut eines 50
Elefanten und einem Schädel, der einem terranischen Schimpansen hatte gehören können, obgleich er etwa dreimal so groß war. Das Tier blickte herüber, offensichtlich witterte es das Fremde. David drückte seinem Herrn und Meister einen der beiden Detonatoren in die Hand. „Nur vorsichtshalber“, bemerkte er dazu. Dann ging er langsam auf das Tier zu. „Laß das!“ rief Lester Velie seinem Robotassistenten ärgerlich zu „Wir dürfen keine Situation provozieren, in der wir von unseren Waffen Gebrauch machen müssen. Die Ener gieentladung könnte von den Normalen angemessen werden.“ „Ich brauche nicht zu schießen, Sir“, erklärte David und schob seinen Detonator unter den Waffengurt. Das Tier wich einige Meter zur Seite, als David sich ihm bis auf fünf Schritte genähert hatte. Dennoch war in seiner Haltung nichts, das auf Furcht hingedeutet hätte. Es lauschte und witterte weiter. Lester folgte seinem Robotassistenten, und beide gingen weiter, ohne von dem Tier belästigt zu werden. Als der Scout sich nach ungefähr zwanzig Metern umdrehte, war das Tier verschwunden. „Sie scheinen - zumindest hier - nicht gejagt zu werden“, meinte Lester. „Sonst hätte das Tier anders reagiert.“ „Es gibt nicht viele Tiere hier“, erwiderte David. „Eine zahlenmäßig große Bevölkerung könnte also gar nicht allein von der Jagd leben, und Anbaugebiete für Nahrungsmittel gibt es ebenfalls nicht. Ich schließe daraus, daß die Bewohner dieses Planeten von synthetisch hergestellter Nahrung leben.“ Sie setzten ihren Weg schweigend fort, bis sie den Fuß des Gebirges und den Anfang der schlammigen Ebene erreichten. In ungefähr fünfzig Metern Entfernung stand die nächste Ruine, ein schief im Schlamm stehender Würfel mit stark verwitterten Außenwänden. Der Würfel mochte eine 51
Kantenlange von siebzig Metern haben und war dunkel wie der Schlamm, wenn man von einigen größeren gelben, violetten und stahlblauen Flecken absah. Die Frage, wie sie zu diesen Bauwerk und zu den anderen Ruinen gelangen sollten, stellte sich dem Scout und seinem Roboter nicht, denn im Schlamm verlief ein relativ engmaschiges Netz von vielfach gewundenen helleren Streifen oder Pfaden, die dem Augenschein nach fester, tragbarer Boden waren. Lester Velie kniff die Augen zusammen und blickte über die Ebene. Ihm war, als flimmerte die Luft über den hellen Streifen, aber er war seiner Sache nicht sicher. Er fragte David, ob er etwas sähe. „Nein, Sir“, antwortete der Roboter. „Da ist nichts. Ich werde die Tragfähigkeit ausprobieren, Bitte, warten Sie hier.“ Er trat auf den nächsten Streifen. Seine Füße sanken nicht ein. Er ging ungefähr dreißig Meter und drehte sich dann um. „Fester Boden, Sir“ rief er. „Die Pfade sind so fest wie künstlicher Felsen.“ „Wie künstlicher Felsen?“ rief Lester zurück „Warum nicht wie gewachsener Felsen?“ „Die Struktur ist zu gleichmäßig für natürlich gewachsenen Felsen“, antwortete der Roboter. „Fast so, als wären Steine zermahlen, mit einem Bindemittel gemischt und an Ort und Stelle gegossen worden.“ „In diesen irren Mustern?“ fragte Lester. „Ich habe nicht behauptet daß die Pfade derart angelegt wurden“, gab David zurück „Ich sagte nur, daß es fast so schiene. Jedenfalls können wir die Wege unbesorgt benutzen, Sir.“ Er schlug die Richtung zu der würfelförmigen Ruine ein, und Lester Velie folgte ihm. Die Oberfläche der streifenförmigen, verschlungenen Pfade war tatsächlich fest und trocken, und der Scout fragte sich, ob sie nicht doch als Wege angelegt worden 52
waren. Er blickte über die Ebene, und wieder schien es ihm, als flimmerte die Luft über den Pfaden. Der Eindruck schwand jedoch wenn er sich darauf konzentrierte, ihn als real oder irreal einzustufen. Lester schüttelte den Kopf und ging weiter. Bei der Ruine angekommen, streckte er die Hände aus und berührte die Wand. Zwar trug er Handschuhe, wie sie zu seinem Expeditionsanzug gehörten aber die Sensorrezeptoren im Material übertrugen alle äußeren Reize auf die Nervenenden seiner Hände, so daß er mit Handschuhen genauso fühlte wie ohne. Das war ein unschätzbarer Vorteil, wenn man die Flora und Fauna fremder Planeten untersuchte, wo man immer auf gefährliche Ausscheidungen achten mußte. Die Wand des Würfels fühlte sich allerdings harmlos an, rauh und kühl und ein wenig feucht. Sie sonderte jedenfalls keine ätzende Stoffe ab. „Hast du schon einen Eingang gefunden, David?“ fragte Lester. Als sein Robotassistent nicht antwortete, blickte er sich suchend um. Doch David war verschwunden. „David, wo bist du?“ rief der Scout. Aber der Roboter meldete sich nicht. Unwillkürlich griff Lester Velie an die Stelle seines linken Unterarms, wo normalerweise das Armbandfunkgerät saß. Dann wurde ihm wieder bewußt, daß man es ihm in der Kuppelstadt abgenommen hatte. Er konnte also nicht mit David in Sprechfunkverbindung treten, obwohl der Roboter ein Zweitgerät in seinem Schädel besaß. Ärgerlich ging Lester zu der Seite der Wand, an der sein Roboter vorher gestanden hatte, und bog um die Ecke. Er mußte sich dabei dicht an die Wand drücken, da hier der Pfad sehr schmal wurde. Dem weichen Schlamm traute der Scout nicht, er konnte nur einige Zentimeter, aber auch einige Meter tief sein. 53
Als er um die Ecke gebogen war, wurde der Pfad wieder breiter. Die andere Wand glich der ersten, mit dem einen Unterschied, daß sich in ihr eine Öffnung befand - ein ehemals waagerecht verlaufender rechteckiger Schlitz von etwa drei Metern Breite und einem halben Meter Höhe, der wegen der Neigung des Bauwerks relativ zum Boden schräg verlief. Lester Velie eilte auf die Öffnung zu. Als er dicht davor war, sah er, daß dahinter Licht brannte. „David?“ rief er gedämpft. „Ja Sir?“ schallte es dumpf zurück. „Warum meldest du dich nicht ab, wenn du allem auf Exkursion gehst?“ schimpfte Lester. „Ich habe doch tatsächlich Angst gehabt, dir könnte etwas zugestoßen sein.“ „Ich dachte, Sie folgten mir, Sir“, gab David von drinnen zurück. „Kommen Sie nach. Ich habe eine kleine Lampe aus meinem Versteck extra für Sie geholt und eingeschaltet, weil Sie im Dunkel nicht sehen können.“ „Sehr aufmerksam“, meinte Lester ironisch. Er ärgerte sich bereits darüber, daß er seinem Roboter gegenüber zugegeben hatte, er habe Angst um ihn gehabt. Die Öffnung war bestimmt nicht als Eingang für Menschen gedacht gewesen, aber sie war doch hoch genug, daß der Scout hindurchkriechen konnte. Drinnen angekommen, richtete Lester Velie sich auf und sah sich beim Schein der Lampe um. Er befand sich in einem zirka zehn mal acht Meter großen Raum, der rund zwei Meter hoch war und die gleiche Schräglage aufwies wie der ganze Würfelbau. An den beiden Enden der gegenüberliegenden Wand befand sich wieder je eine spaltähnliche Öffnung. Neben der linken stand David. Lester musterte die Wände. Sie faszinierten ihn, denn sie schimmerten in einem warmen, rötlichen Goldton und wiesen ein abstraktes Muster an smaragdgrünen Linien und Punkten auf. Es sah aus, als hätte die Zeit den Innenwänden überhaupt nichts anhaben können. 54
„Wie gefällt es Ihnen, Sir?“ fragte der Roboter. „Es ist wunderschön“, sagte Lester impulsiv. „Aber auch fremdartig“, fügte er hinzu. „Das Muster hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Muster der Pfade auf der Ebene“, erklärte David. „Zwischen beiden muß es einen Zusammenhang geben.“ Der Scout nickte. „Harmonie“, sagte er. „Ich möchte zu gern wissen, wie die Bewohner dieser Gebäude ausgesehen haben.“ „Mit großer Wahrscheinlichkeit anders als Sie und ich, Sir“, erwiderte David. „Das läßt sich aus der Form der Türen schließen. Durchsuchen wir das ganze Bauwerk?“ „Selbstverständlich“, antwortete Lester. „Wir können natürlich nicht alle Bauwerke untersuchen, aber das erste werden wir uns genau vornehmen. Wahrscheinlich gleichen die anderen ihm, jedenfalls innerlich.“ Sein Robotassistent nahm die Lampe auf, die bis dahin auf dem Boden gestanden hatte. Sie war nicht weggerutscht, weil ihre Unterseite kleine Saugnäpfe enthielt, die an jedem Material hafteten. Sie krochen durch die nächste Öffnung und gelangten in einen Raum, der etwa doppelt so groß, aber genauso geformt wie der erste war. Auch die Wände glichen denen des ersten Raumes. Sie schimmerten ebenfalls in einem warmen, rötlichen Goldton und waren von einem abstrakten Muster smaragdgrüner Linien und Punkte bedeckt. Ein Gedanke kam Lester. „Für mich - und wahrscheinlich auch für andere Menschen sind diese Muster abstrakt“, sagte er. „Wie ist es bei dir, David? Kannst du aus ihnen irgendeine Bedeutung, einen Sinn, herauslesen?“ David betrachtete aufmerksam die Muster an den Wänden, dann schüttelte er den Kopf. Er war auf solche menschlichen Gebärden programmiert, damit er vor Nichteingeweihten seine 55
Rolle als Mensch überzeugend spielte. „Nein, Sir“, antwortete er. „Wenn die Muster einen Sinn haben, dann erschließt er sich wohl nur den Eingeweihten, demjenigen, der einen Schlüssel dazu besitzt. Vielleicht könnte ein hochwertiges Mesonengehirn den Schlüssel herausfinden.“ „Leider steht uns nur mein biologischer Computer und dein winziges Pseudogehirn zur Verfügung“, meinte Lester Velie spöttisch. „Gehen wir weiter!“ Sie durchsuchten nach und nach alle Räume und fanden überall im großen und ganzen das gleiche vor; goldrot getönte Wände mit smaragdgrünen Mustern, aber keine Gegenstände. Ein wenig enttäuscht verließ Lester das Bauwerk wieder. Hinter ihm kroch sein Robotassistent ins Freie. Abermals blickte der Scout über die Ebene, und abermals schien es ihm, als läge über den Pfaden ein schwaches Flimmern. Doch wie zuvor schwand dieser Eindruck, als er länger und konzentrierter hinblickte. Dennoch vermutete der Scout, daß dem Flimmern irgendeine Bedeutung zukam. Er äußerte sich jedoch nicht darüber. „Diesmal gehen wir direkt zu dem Bezirk, in dem die Fusionsaggregate arbeiten, David“, erklärte er. „Du gehst voran, da du in diesem Gewirr von Pfaden den kürzesten Weg leichter findest als ich.“ „Ja, Sir“, erwiderte David. Sie waren eine gute Stunde über Pfade gegangen, die auf verwirrende Weise miteinander verschlungen waren, streckenweise zurückliefen und dann wieder in weitem Bogen in die eingeschlagene Richtung führten. Als Lester Velie stehenblieb und sich umdrehte, blickte er über teilweise eingesunkene Ruinen von unterschiedlichen geometrischen Formen und sah im Hintergrund die Sichelberge in einem Dunstschleier schwimmen. Und zum erstenmal fiel ihm die absolute Stille auf, die in dem Ruinenfeld herrschte. 56
Er machte seinen Robotassistenten darauf aufmerksam. „Ja, Sir“, sagte David dazu. „Ich habe es ebenfalls registriert.“ „Aber du hast dir keine Gedanken darüber gemacht, wie?“ fragte Lester bissig. „Warum sollte ich, Sir?“ fragte David zurück. „Es ist so still hier, weil die Ruinen verlassen sind. Weiter draußen, wo ich die Energieemissionen von Fusionsaggregaten geortet habe, wird es nicht so still sein.“ Lester Velie wandte sich wieder um und blickte zu dem Ruinenkomplex zurück, der noch ungefähr sechs Kilometer entfernt war. Die Ruinen unterschieden sich rein äußerlich nicht von den übrigen - und doch...! Der Scout erschauderte plötzlich. Je länger er zu diesen Ruinen hinschaute, desto unbehaglicher fühlte er sich. Dieses Gefühl war keine Folge von Furcht, denn Lester fürchtete sich nicht - noch nicht. Es ließ sich einfach nicht erklären. David ging weiter, und Lester wollte ihm folgen, als ihm etwas einfiel, etwas, das er schon vor einer halben Minute unbewußt registriert hatte, das ihm aber erst jetzt bewußt wurde. „Warte, David!“ befahl er. Er drehte sich um und blickte über die Ebene zurück. „Es stimmt“, sagte er nach wenigen Sekunden. „Wenn ich zurückblicke, habe ich niemals den Eindruck, als läge über den verschlungenen Pfaden ein schwaches Flimmern.“ Er wandte sich abermals um. „Aber blicke ich nach vorn, in unsere Marschrichtung, dann entsteht wieder für kurze Zeit der Eindruck dieses seltsamen Flimmerns. Das muß etwas zu bedeuten haben.“ „Wahrscheinlich handelt es sich um ein Phänomen, das seine Ursache in dem komplizierten Zusammenspiel Ihres Gehirns mit dem System der innersekretorischen Drüsen hat, Sir“, meinte der Roboter. „Objektiv gibt es dieses Flimmern jedenfalls nicht. Falls Sie Antihalluzinogene bei sich führen, 57
würde ich raten, etwas davon zu nehmen.“ Lester Velie runzelte die Stirn. „Vielleicht sollte ich das wirklich. Ich habe ein paar Injektionspflaster mit Neomescalin bei mir. Aber wenn es sich nun nicht um eine Halluzination handelt, würde ich mich durch die Injektion einer eventuell wichtigen Wahrnehmungsfähigkeit berauben.“ Er klopfte die Außentaschen seines Expeditionsanzuges ab und fragte dann: „Hast du vielleicht noch einen Konzentratriegel bei dir, David?“ „Ich habe mir erlaubt, eine Packung Konzentratriegel aus der Schildkröte mitzunehmen und in mir zu verbergen, Sir“, antwortete der Roboter. Er öffnete seinen Expeditionsanzug über der Brust und ließ eine Öffnung in seiner lebenden Synthohaut entstehen. Daraus holte er eine schmale Vakufolienpackung mit einzeln eingeschweißten würfelförmigen Konzentratriegeln hervor und reichte sie seinem Herrn. Lester nahm die durchsichtige Packung, riß einen Riegel ab, nahm ihn aus der Folie und schob ihn sich in den Mund. Den Rest steckte er in eine Beinaußentasche seines Expeditionsanzugs. „Manchmal bist du doch recht brauchbar“, erklärte er mit vollem Mund. „Ich glaube, ich werde mich noch so an dich gewöhnen, daß ich dich nie mehr von mir fortlasse.“ „Danke für das Kompliment, Sir“, erwiderte David steif. „Das war kein Kompliment, das war meine ehrliche Meinung“, entgegnete der Scout. „Wenn du ein Mensch wärst, hättest du das gespürt, du wandelnder Instrumentenkasten.“ Er lächelte verschmitzt. „Endlich wieder ein neuer Name für dich. Weiter!“ David drehte sich um und ging wieder voraus. Der Pfad führte in Form einer Acht um zwei alte Bauwerke herum, von denen das eine einem auf der Spitze stehenden Kegel und das 58
andere einem Tetraeder glich, von dem man mit einem sauberen Schnitt eine Ecke abgetrennt hatte. Als sie das Stück des Pfades passierten, das dem Tetraeder am nächsten kam, stockte Lesters Schritt. Der Scout blickte zu dem Bauwerk hinüber, dann rief er David verhalten zu: „Hast du nichts gehört?“ Der Roboter blieb stehen und drehte sich langsam um. „Nein, Sir. Meinen Sie ein Geräusch?“ „Ein Wispern und Raunen“, antwortete Lester Velie. „Es muß aus dem tetraederförmigen Bauwerk gekommen sein.“ „Wenn es ein Geräusch gegeben hätte, müßte ich es gehört haben, Sir“, erwiderte David. „Da ich nichts gehört habe, kann es folglich kein Geräusch gegeben haben.“ Lester schüttelte den Kopf. „Deine robotische Logik bringt mich noch zum Wahnsinn. Ich habe jedenfalls etwas gehört. Es schien, als wollte mir jemand etwas mitteilen.“ „Sir“, sagte David steif und in einem Ton, als wäre er beleidigt worden, „ich richte Ihre Aufmerksamkeit auf die Tatsache, daß wir beide die corhanischen Stirnbänder tragen und demnach nicht gesehen werden können. Folglich kann niemand Ihnen etwas mitteilen wollen.“ Lester Velie erwiderte nichts darauf. Er blickte an dem Tetraeder empor, der eine Höhe von zirka dreißig Metern erreichte und von schmutzig-grüner Farbe war. Stellen der Wandung sahen aus, als wären sie von Säure angefressen worden. Der Schlamm ringsum gluckste schwach. Manchmal bildete sich an seiner Oberfläche eine Blase, die nach einiger Zeit mit ekelhaftem Schmatzen zerplatzte. „Kannst du einen Pfad erkennen, der zu diesem Bauwerk führt, David?“ fragte Lester seinen Robotassistenten. David musterte die Oberfläche des Schlammes, dann nickte er. 59
„Es gibt einen sehr schmalen Pfad, der allerdings von einer dünnen Schlammschicht bedeckt ist. Möchten Sie das Bauwerk untersuchen, Sir?“ „Warum erkundige ich mich sonst wohl nach einem Pfad!“ gab Lester ironisch zurück. „Geh voran und zeig mir den Pfad!“ David kehrte um, ging an seinem Herrn vorbei und verließ den sichtbaren Pfad. Als seine Stiefel knöcheltief im Schlamm versanken, hielt Lester Velie unwillkürlich den Atem an. Aber sein Roboter ging weiter, ohne daß er tiefer sank. Der Scout folgte ihm schließlich. Er war drei Schritte gegangen, als er abermals ein Wispern und Raunen hörte. Es war, als wollte ihm jemand ein Geheimnis mitteilen. Lester strengte sich an, um etwas zu verstehen, doch er verstand nichts. Plötzlich fühlte er sich unsanft ergriffen und hochgehoben. Das Wispern und Raunen brach ab. Lester Velie schrak auf und erblickte vor sich das Synthoplasmagesicht seines Roboters. David hob seinen Herrn an und setzte ihn ein Stück weiter wieder ab. Als Lester an sich herabblickte, sah er, daß sein Expeditionsanzug bis über die Knie mit Schlamm beschmiert war. „War ich. . .?“ fragte er erschrocken. „Sie waren vom Pfad abgewichen, Sir“, erklärte David. „Hätte ich es nicht bemerkt, wären Sie sicherlich im Schlamm versunken. Was ist mit Ihnen los? Vertragen Sie die psychischen Belastungen dieses Unternehmens nicht, Sir?“ „Die Stimmen!“ flüsterte Lester. „Ich war so gefangen von ihnen, daß ich nicht mehr auf den Weg achtete.“ „Die Anstrengungen waren zuviel für Sie, Sir“, meinte David. „Wir sollten eine Pause von mindestens einem Tag einlegen.“ Der Scout schüttelte den Kopf. „Unsinn!“ erklärte er. „Ich bin nicht überanstrengt. Es gibt diese Stimmen wirklich, auch wenn du mit deinen 60
beschränkten Fähigkeiten sie nicht hörst. Und diese Stimmen müssen aus dem tetraederförmigen Bauwerk kommen. Vorwärts, sehen wir nach!“ David produzierte einen Seufzer, der nach Resignation klang, und setzte seinen Weg fort. Lester Velie konzentrierte sich diesmal voll auf den unsichtbaren Pfad, der nur von Davids schnell wieder verschwindenden Fußstapfen markiert wurde. Das Raunen und Wispern erlosch und kehrte nicht wieder. Nach einigen weiteren Schritten bog der Roboter um eine Ecke des Bauwerks. Lester beeilte sich, ihm zu folgen, und als er ebenfalls um die Ecke bog, sah er David, der vor einer Öffnung stand, die wie ein rundes Einschußloch mit zersplitterten Rändern aussah. Das Loch durchmaß etwa anderthalb Meter, und sein Rand glitzerte, als wäre er dick mit Reif überzogen. Die Lufttemperatur war allerdings viel zu hoch, als daß sich Reif hätte bilden können. „Was ist das?“ erkundigte sich Lester. „Ein Loch, Sir“, antwortete der Roboter. „Oh, du heilige Einfalt!“ rief der Scout. „Das sehe ich selbst. Ich meine das, was da so glitzert.“ David drehte sich um und blickte seinen Herrn an. „Hier gibt es nichts, was glitzert, Sir“, erklärte er bestimmt. „Deine Fehlleistungen sind mir unerklärlich“, meinte Lester Velie verärgert. „Ich habe doch Augen im Kopf, und die sehen klar und deutlich den glitzernden Rand des Loches.“ „Der Mensch sieht nicht mit dem Auge, sondern mit dem Gehirn, Sir“, widersprach der Roboter geduldig. „Das Auge ist lediglich das Sinnesorgan, das die optischen Reize der Umwelt aufnimmt und ans Gehirn vermittelt.“ „Spitzfindigkeiten!“ gab der Scout zurück. „Steig ein, damit ich mir das Glitzern endlich aus der Nähe ansehen kann!“ „Wie Sie wünschen, Sir“, erwiderte David. 61
Er bewegte sich geschmeidig wie eine große Raubkatze, als er sich durch die Öffnung wand. Lester Velie trat dicht an das Loch heran und betastete das Glitzern, das aus dieser Nähe von einer Unmenge kleiner glasartiger Kristalle auszugehen schien. Aber seine Finger glitten durch die Kristalle hindurch und fühlten nur die scharfe, brüchige Kante des Lochrandes. „David!“ rief Lester. Doch der Roboter antwortete nicht - und mit einemmal veränderte sich die Umgebung... Lester Velie taumelte zurück, als hätte ihn etwas angestoßen. Die Umgebung lag plötzlich wie unter einem milchigen Schleier, der in unablässiger Bewegung war. Etwas plätscherte, und als der Scout an sich herabsah, erblickte er Wasser: eine endlose Fläche schwach bewegten, kristallklaren Wassers, aus dem sich die glänzenden Bauwerke erhoben. Lester sah, daß seine Stiefel bis in Knöchelhöhe von dem Wasser umspült wurden. Er konnte jedoch keinen Pfad entdecken. Das Wasser war überall nur knöcheltief, und darunter lag eine blaugrüne feste Fläche, die schwach zu leuchten schien. Der Scout blickte zu dem Loch in der Wand des Tetraeders, konnte es jedoch nicht mehr sehen. An seiner Stelle befand sich ein waagerecht verlaufender rechteckiger Schlitz von etwa drei Metern Breite und einem halben Meter Höhe. Er sah genauso aus wie die Öffnung in dem würfelförmigen Bauwerk, das Lester und David zuerst inspiziert hatten. David! Warum hatte der Roboter nicht geantwortet? „David!“ rief Lester Velie abermals. Und wieder antwortete sein Robotassistent nicht. Der Scout wandte sich der Öffnung zu - und hielt inne, als er in dem klaren Wasser Bewegung sah. 62
Etwas, das wie ein großer, annähernd rochenförmiger Schneckenfuß aussah, kroch wallend und bebend auf dem Grund des Wassers entlang und bewegte sich dabei auf den Eingang des tetraederförmigen Bauwerks zu. Lester trat beiseite, als das Etwas ihn fast erreicht hatte. Von den Rändern des Wesens gingen dünne, beinahe durchsichtige Hautlappen aus, die sich wellenförmig bewegten und wahrscheinlich der Fortbewegung des Wesens dienten. Als das Wesen sich mit einem Ruck hochschnellte und langsam durch die Öffnung kroch, wunderte sich Lester, warum es keine Notiz von ihm nahm - bis ihm wieder einfiel, daß er ein corhanisches Stirnband trug und dadurch für jedes Lebewesen unsichtbar war. Er überlegte, ob er das Stirnband abnehmen sollte. Doch bevor er zu einem Entschluß kam, war das Wesen bereits durch die Öffnung in dem Bauwerk verschwunden. Der Scout dachte daran, daß sich auch David im Innern des Tetraeders befinden mußte. Vielleicht befand er sich in Gefahr und hatte deswegen nicht geantwortet. Lester holte tief Luft, dann kroch er durch die Öffnung - und fand sich in einer flachen Halle, deren Wände zu leben schienen. Sie schimmerten in dem gleichen warmen, rötlichen Goldton wie die Innenwände des würfelförmigen Bauwerks, und auch hier war das Muster aus smaragdgrünen Linien und Punkten vorhanden. Nur bewegte sich hier das Muster, im Unterschied zu dem in dem würfelförmigen Gebäude! Irritiert kniff Lester die Augen zusammen. Als er sie wieder öffnete, hatte sich nichts verändert. Das Muster floß immer noch, bildete immer neue abstrakte Formen, die die Sinne verwirrten und zugleich die Ahnung von etwas Großartigem vermittelten. Lester Velie riß sich gewaltsam von dem Anblick los und suchte nach dem schneckenartigen Wesen, das vor ihm durch 63
den Eingang gekrochen war. Er sah es bald darauf. Es lag in der Mitte des Raumes, vibrierte, zuckte und veränderte sich dabei. Seine Formen zerflossen immer wieder und stabilisierten sich nur allmählich, doch nach und nach wurde aus dem Wesen eine annähernd humanoide Gestalt mit zwei Beinen, zwei Armen, einem Rumpf und einem runden Kopf, aus dem zahllose dünne Tentakel hingen. Lester stöhnte leise und wandte sich ab. Wieder sah er das fließende Muster an den Wänden. Der Anblick der abstrakten Formen faszinierte und verwirrte gleichzeitig. Lester Velie hatte manchmal den Eindruck, als wollten sie ihm eine Botschaft vermitteln, doch er begriff den Sinn dieser Botschaft nicht. Er ahnte jedoch, daß Angkort ein Geheimnis barg, das zu entschlüsseln ungemein wichtig war. Angkort...? Der Name dieser Stadt - oder der Name dieses Planeten... ? Aber woher wußte er plötzlich diesen Namen? Hatten die fließenden abstrakten Formen ihm den Namen übermittelt? Lester Velie spürte einen scharfen Schmerz im Nacken und fuhr herum, zur Verteidigung gegen eventuelle Angreifer bereit. Die schnelle Bewegung schien ihm nicht gut zu bekommen, denn er sah plötzlich alles wie durch einen Schleier, während ein Schwindelgefühl ihm das Gleichgewicht zu rauben drohte. Erneut hörte er das Wispern und Raunen. Die Wände mit ihren fließenden abstrakten Formen und Mustern drehten sich rasend schnell, erzeugten einen Wirbel von Sinneseindrücken, der beinahe Übelkeit hervorrief. Und mitten aus diesem wesenlosen Wirbel drang klar und deutlich eine Stimme an Lesters Ohr: „Es wird gleich besser werden, Sir!“ Der Scout schluckte einige Male. Der Wirbel verlangsamte sich, erstarrte schließlich zu einem toten smaragdgrünen Muster aus Linien und Punkten auf einer goldfarbenen Fläche. 64
Im Schein einer Handlampe erblickte Lester Velie vor sich das vertraute Synthoplastgesicht seines Robotassistenten. Die Züge strahlten, obwohl nur pseudomenschlich, eine solche Ruhe aus, daß auch Lesters aufgewühlte Emotionen sich wieder beruhigten. „David!“ flüsterte er. „Was ist geschehen?“ Er blickte sich suchend um. „Wo ist der Extraterrestrier geblieben?“ „Hier gibt es keinen Extraterrestrier, Sir“, sagte David. „Sie waren einer Halluzination erlegen. Ich habe Ihnen ein Injektionspflaster mit Neomescalin TP-3-Beta verabfolgt.“ Lester griff nach seinem Nacken und fühlte dort die flache Erhebung des Injektionspflasters. Er schob den Daumennagel unter den Rand und riß das Pflaster ab. „Das hättest du nicht tun sollen, David“, erwiderte er. „Vielleicht wäre ich dann hinter das Geheimnis von Angkort gekommen.“ „Von Angkort?“ fragte der Roboter. Der Scout zuckte die Schultern. „Der Name dieses Planeten oder dieser Stadt, ich weiß es nicht genau. Es war eine Eingebung.“ Er berichtete von seinem Erlebnis und schloß: „Möglicherweise gibt es in diesen Ruinen unterschwellige Strömungen, die den menschlichen Geist beeinflussen und in ihm ein Bild der Vergangenheit erschaffen. Vielleicht will sich etwas, das in dieser Stadt von der Vergangenheit übriggeblieben ist, mitteilen. Ich weiß es nicht, aber ich fühle, daß ich es herausfinden muß. Es ist sehr wichtig, David.“ „Woher wollen Sie wissen, daß es, was immer Sie damit meinen, sehr wichtig ist, Sir?“ fragte David. „Ich spüre es“, antwortete Lester. „Es tut mir leid, daß ich Ihnen nicht helfen kann.“, erklärte der Roboter. „Aber Sie sollten sich weniger auf Ihre Gefühle verlassen, sondern sich nur an die Realitäten halten.“ 65
„Gefühle sind ebenfalls Realitäten, du Heupferd!“ fuhr der Scout seinen Robotassistenten an. „Das kannst du nicht negieren, nur weil du keine hast. Und sogar Träume sind real, denn sie sind der immaterielle Ausfluß des Wechselspiels hochorganisierter Materie. Deshalb war es ein Fehler, daß du mir das Kompensationsmittel injiziertest.“ Er ging zur nächsten Wand, schloß die Augen und fuhr mit den Fingerspitzen über das Muster. Etwas regte sich in ihm, wollte eine Saite seines tiefsten Wesens anklingen lassen, erzeugte aber nichts weiter als dumpfe Hilflosigkeit. Lester Velie seufzte, öffnete die Augen wieder, ließ die Hände sinken und ging mit schleppenden Schritten zum Ausgang. „Für diesmal ist es vorbei“, erklärte er resignierend. „Gehen wir weiter! Aber das nächste Mal, wenn es wieder über mich kommt, sorgst du nur dafür, daß mir nichts zustößt. Kein Neomescalin mehr, verstanden?“ „Ja, Sir“, antwortete David. Lester blickte seinem Robotassistenten nach und dachte bedauernd, daß es wohl nie möglich sein würde, einem Roboter ein Gefühlsleben einzupflanzen. Dann folgte er ihm nach draußen. 5. Eben noch hatte ein beunruhigendes Schweigen über der Ruinenstadt gelegen - und im nächsten Augenblick wurde es auf befreiende und zugleich grausame Art und Weise zerrissen. Lester Velie und sein Robotassistent warfen sich zu Boden, als in ungefähr fünfhundert Metern Entfernung ein schlankes metallisches Gebilde auf einem brüllenden Feuerstrahl aus dem Boden schoß und in den Himmel ritt. 66
Eine Rakete! Die Rakete neigte sich leicht nach Norden, während sie schneller und schneller wurde. Bald darauf hatte sie den Dunstschleier durchstoßen, der über der Stadt lag. Ihr unheilverkündendes Grollen rollte aber noch lange über die Ebene, nachdem sie sich den Blicken entzogen hatte. Sekunden später schoß die zweite Rakete aus ihrem unterirdischen Silo, dann die dritte. Einige Zeit danach blieb es still, dann ging weit im Norden, hoch oben am Himmel, eine künstliche Sonne auf, gefolgt von der zweiten und der dritten. Kaum war der grelle Glanz der Atomexplosionen erloschen, da stiegen noch weiter südlich zahllose eiförmige Flugmaschinen auf. Der Scout und sein Roboter folgten den Flugmaschinen mit Blicken und wurden Zeugen eines heftigen Kampfes in den Bergen. Das Krachen von Detonatoren, das Fauchen von Energiestrahlen, das Donnern von Explosionen und das Aufblitzen von Feuerschlünden verschmolz zu einer beklemmenden Orgie der Vernichtung. Ganze Berge wurden zerpulvert, ganze Wälder verbrannt, und glühende Flugmaschinen bohrten sich in den Boden. Plötzlich bebte die Fläche, auf der Lester und David standen. Lester Velie richtete sich halb auf und spähte zu den Bergen hinüber. Deshalb fiel ihm nicht nur auf, daß der Boden sich in Wellenbewegungen hob und senkte, sondern auch, daß wenig später die Luft darüber so stark flimmerte, daß es aussah, als stiege durchsichtiger Rauch auf. Die Ruinen verschwammen, als lägen sie plötzlich hinter einer wildbewegten Wasserwand. Ihre Konturen verzerrten sich ins Groteske. Dann zerbröckelten die Ruinen am Nordrand der Ebene, dort, wo das Gelände zum Gebirge hin aufstieg. Ein anschwellendes Pfeifen erscholl, so, als ob ein Sturm aufkäme. Doch kein Luftzug regte sich. Die Luft lag seltsam bleiern und 67
schwer über dem Boden. „Siehst du das Flimmern wenigstens diesmal?“ rief Lester seinem Robotassistenten zu. „Nein, Sir“, rief David zurück. „Aber es hat den Anschein, als würde die Ruinenstadt von den Mutanten angegriffen. Die Bauwerke zerbröckeln ohne erkennbare Einwirkung von Energie- oder anderen Waffen. Wir sollten uns zum Zentrum zurückziehen, Sir.“ Lester Velie nickte und winkte David zu, ihm voranzugehen. Der Roboter eilte in einem Tempo über die Ebene, das Lester gerade noch mithalten konnte. Wieder ging es kreuz und quer über verschlungene Pfade, während im Gebirge noch immer die Schlacht tobte. Als Lester und David das erste der Bauwerke des Zentrums erreichten, stiegen dicht nacheinander sechs Raketen aus ihren verborgenen Silos und rasten donnernd und dröhnend in den Himmel. Eine halbe Minute später veränderte sich der Kampflärm in den Sichelbergen. Lester Velie wandte sich kurz um und sah, daß keine Flugmaschinen mehr abstürzten. Etwa zehn dieser eiförmigen Gebilde kreisten noch über den Bergen und belegten sie mit mörderischem Feuer aus Detonatoren, Strahlwaffen und LuftBoden-Raketen. Zahlreiche Berge wurden förmlich umgepflügt. Aber noch etwas anderes bemerkte der Scout. In der Ruinenstadt zerbröckelten keine Bauwerke mehr, das Pfeifen wurde schwächer und erlosch schließlich ganz, und auch das Flimmern über den verschlungenen Pfaden kroch zurück. Und wieder blitzten im Norden die grellen Kunstsonnen der Atomexplosionen auf. Die sechste Explosion erfolgte innerhalb der Atmosphäre in höchstens siebentausend Metern Höhe und verursachte eine heiße Druckwelle, die wenig später gegen die Oberfläche des Planeten brandete und den Schlamm in der 68
Ebene zuerst aufwühlte und dann verkrusten ließ. Lester und David ließen den Orkan über sich ergehen. Sie hatten in einem Winkel des nächsten Bauwerks einen ausreichenden Schutz vor der Primärstrahlung gefunden. Dennoch tickte der Dosimeter an Lesters Handgelenk rascher als normal und mahnte den Scout, sich innerhalb der nächsten sechzig Stunden einer Dekontamination zu unterziehen, wenn er nicht irreparable Strahlungsschäden davontragen wollte. Als der Orkan vorüber war, richteten der Scout und sein Robotassistent sich auf und sahen sich an. „Die Zeit wird knapp, Sir“, sagte David. „Wir müssen unser Unternehmen innerhalb der nächsten neunundfünfzig Stunden so oder so beenden - und wenn wir nur für die Zeit Ihrer Dekontamination in die MEMPHIS zurückkehren.“ Lester Velie verfolgte den Heimflug von drei Flugmaschinen mit den Augen - drei von mindestens hundert, die abgeflogen waren. Er preßte die Lippen zusammen, bis sie schmalen, blutleeren Strichen glichen. „Ich weiß“, gab er tonlos zurück. „Aber sollen wir weitere sinnlose Schlächtereien zulassen? Wir müssen herausfinden, warum die Mutanten und die Normalen sich gegenseitig bekämpfen. Erst dann können wir versuchen, ihnen zu helfen.“ „Wir mischen uns in Dinge ein, die uns nichts angehen, Sir“, entgegnete der Roboter. „Sie gehen uns sehr wohl etwas an!“ widersprach Lester Velie heftig. „Überall, wo Menschen sich gegenseitig Leid zufügen, ist etwas nicht in Ordnung, und wenn jemand helfen kann, dann ist er verpflichtet, es zu tun.“ „Können wir denn helfen, Sir?“ fragte David. „Das weiß ich nicht“, antwortete Lester offen. „Aber wir müssen zumindest versuchen, das herauszufinden. Die Normalen scheinen unterirdisch zu leben, also werden wir nach einem Eingang in ihre Unterwelt suchen. Vorwärts, du alter Klapperkasten!“ 69
Nach einer halben Stunde blieb der Roboter stehen. „Hier scheint es keinen Zugang zu geben, Sir“, teilte er seinem Herrn mit. „Ich nehme an, daß wir die Unterwelt nur durch eines der Bauwerke erreichen können.“ „Dann sehen wir uns gleich das nächste daraufhin an“, gab Lester zurück. Der Roboter wandte sich dem nächsten Bauwerk zu, einem Obelisken von Pontonform, dessen Grund- und Oberfläche quer zueinander gestellte Rechtecke von zirka siebzig Metern Länge und dreißig Metern Breite waren und dessen Höhe etwa hundert Meter betrug. Die Oberfläche des Obelisken war in schmutzigem Gelb gehalten, in dem sich zahlreiche hellgraue Streifen und Flecken gebildet hatten. Die gesamte Ruine stand schief wie die meisten Ruinen dieser Stadt, und der Schlamm war in drei der sichtbaren rechteckigen Öffnungen gekrochen. David umschritt die Ruine und blieb unter einer Öffnung stehen, die der Schlamm nicht erreichen konnte, weil das Bauwerk nach der gegenüberliegenden Seite geneigt war. „Worauf wartest du noch?“ erkundigte sich Lester Velie. „Hinein mit dir, David!“ Der Roboter wandte sich um und blickte seinen Herrn an. „Wir dürfen nichts überstürzen, Sir. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Eingänge zur Unterwelt unbewacht sind. Wir müssen vorsichtig vorgehen.“ „Das ist mir klar“, erwiderte der Scout. „Aber wir sind durch unsere Stirnbänder im Vorteil. Niemand kann uns sehen, und selbst wenn wir von Detektoren aufgespürt werden sollten, wäre eine Verfolgung wegen unserer Unsichtbarkeit sehr schwierig für die Stadtbewohner.“ Der Roboter wandte sich schweigend wieder um und zog sich am Rand der Öffnung hinauf. Oben drehte er sich um, streckte die Arme aus und zog seinen Herrn nach. Lester Velie blickte an David vorbei nach drinnen. 70
Er pfiff leise durch die Zähne, als er das gleiche Muster auf goldfarbenen Wänden erblickte und zusätzlich bemerkte, daß diese Muster - im Unterschied zu denen in jenen Bauwerken, die sie bisher inspiziert hatten - auf seltsame Art und Weise lebten. Es war nicht wie in der Halluzination, die er gehabt hatte, also keine fließende und ‚sprechende’ Bewegung, sondern es war ein eigentümliches Flackern, so, als würde der optische Eindruck einmal stärker und dann wieder schwächer. „Immerhin“, sagte er im Selbstgespräch, „arbeitet diese Anlage noch.“ „Ich kann keine Anlage erkennen, Sir“, warf David ein. „Wenn Sie das Flackern der Wandmuster meinen sollten, so muß ich Sie enttäuschen. Ich kann keinen Energiefluß wahrnehmen, folglich handelt es sich bestenfalls um eine Abart von Fluoreszenz und nicht um gesteuerte Prozesse.“ „Larifari!“ meinte Lester. „Deine Robotlogik ist unlogisch, und weil sie unlogisch ist, ist meine Logik besser. Suche einen Weg, der nach unten führt!“ Während er hinter David her ging, musterte er aufmerksam die Wände und das flackernde Muster. Er fragte sich, wodurch dieses Flackern hervorgerufen wurde, wenn Davids Inneninstrumente keine Energieflüsse orteten, die es hervorriefen. Doch er fand schnell heraus, daß er diese Frage nur durch Spekulationen beantworten konnte, was genauso war, als würde er sie überhaupt nicht beantworten - oder noch schlimmer, weil jede Pseudoantwort immer neue Fragen aufwarf. Er kroch hinter seinem Robotassistenten her in den Nebenraum und stellte fest, daß dort die Muster nicht flackerten. Dafür lag ein stetiges schwaches Summen in der Luft. Als David stehenblieb, prallte er beinahe gegen seinen Rücken und fragte ärgerlich: 71
„Warum, bei allen Teufelssternen, machst du eine Vollbremsung, ohne mich zu warnen, du Satansbraten?“ „Ich habe ein Spiegelfeld angemessen, Sir“, antwortete der Roboter. „Ein Spiegelfeld?“ fragte Lester. „Etwas Ähnliches wie ein Feldspiegellabyrinth“, erklärte David. „Es befindet sich in der Mitte dieses Raumes und spiegelt eine Säule aus, in der sich der Zugang zu einer abwärts führenden Treppe befindet. Dadurch sieht man weder die Säule noch die Treppe. Bitte, achten Sie auf mich, Sir!“ David ging einige Schritte vorwärts und verschwand urplötzlich, als hätte er sich in Luft aufgelöst. „Prächtig!“ sagte Lester Velie. „Diesen Trick werde ich mir merken.“ Er folgte seinem Assistenten - und als er ihn wieder sehen konnte, sah er auch die Säule. Sie durchmaß etwa drei Meter und hatte dicht über dem Boden eine der bereits sattsam bekannten rechteckigen Öffnungen. Hinter der Öffnung sah Lester eine Rampe, die spiralförmig gewunden abwärts führte. „Das nennst du eine Treppe!“ meinte er ironisch. „Ich nenne es eine Rutschbahn.“ Er lächelte triumphierend. „Das dürfte der Beweis dafür sein, daß die ehemaligen Stadtbewohner so aussahen, wie sie mir in meiner Halluzination erschienen sind, David.“ Der Roboter setzte sich so auf den Rand der Rampe, daß seine Beine auf der ‚Rutschbahn’ lagen. „Ich werde die Treppe zuerst benutzen, Sir“, erklärte er. „Wenn ich heil unten ankomme, rufe ich. Dann können Sie mir folgen.“ „Einverstanden“, erwiderte der Scout. David stieß sich ab und glitt rasch die Rampe hinunter. Lester konnte ihn nur ein kurzes Stück mit den Augen verfolgen, da die Windungen der Rampe ihn bald seinem Blick entzogen. Doch er hörte das Schleifen, das die Abwärtsfahrt 72
begleitete. Ungefähr eine Minute später hörte das Geräusch auf, und Davids Stimme rief dumpf und hohl aus der Tiefe: „Alles in Ordnung, Sir! Sie können kommen!“ „Na, dann guten Rutsch!“ sagte Lester und stieß sich ab. Lester Velie kam nach schneller Rutschfahrt am unteren Ende der Rampe an und wurde von David aufgefangen. Der Roboter zog seinen Herrn an sich, hielt ihm den Mund zu und flüsterte: „Achtung, Sir! Hier gibt es drei Spiegelfelder, hinter denen sich Wachtposten verbergen!“ Im nächsten Augenblick sagte eine harte Stimme einige unverständliche Worte. Lester schaltete seinen Translator ein. „... oder Sie sind tot!“ schallte es aus dem Gerät. „Ich wiederhole: Unsere Detektoren haben Sie angemessen. Machen Sie sich sichtbar, oder Sie sind tot!“ „Wenn wir sofort schießen, können wir sie ausschalten, bevor sie auf uns schießen, Sir“, flüsterte David und nahm die Hand von Lesters Mund. Der Scout schüttelte den Kopf und schaltete den Translator aus. „Dann würden wir sie töten. Nein, wir ergeben uns. Laß die Stirnbänder verschwinden, aber schnell!“ Er schaltete den Translator wieder ein und sagte laut: „Wir werden uns sichtbar machen. Es ist unnötig, auf uns zu schießen, denn wir kommen mit friedlichen Absichten.“ „Fertig, Sir!“ flüsterte David. Sie nahmen beide ihre Stirnbänder ab, und der Roboter ließ sie unauffällig in seinem bereits geöffneten Versteck verschwinden, das er anschließend wieder verschloß. Kurz darauf traten drei Männer in blauschwarz schillernden Kombinationen aus ihren Spiegelfeldern. Sie hielten kurzläufige Strahlwaffen in den Händen, deren Mündungen auf 73
David und Lester gerichtet waren. „Das sind ja die Fremden!“ rief einer von ihnen. „Ich sehe es“, erwiderte ein anderer. „Dennoch sollten wir nicht unvorsichtig sein.“ Er wandte sich an Lester und sagte: „Ich glaube, Sie haben vorhin gesprochen. Also sind Sie offenbar der Mann, mit dem wir verhandeln müssen. Werfen Sie zuerst einmal Ihre Waffen herüber.“ Lester und David gehorchten. Der Scout sagte: „Ich heiße Lester Velie - und das ist mein Assistent David. Wie geht es weiter?“ „Ich bin Diskom“, erwiderte der Wächter, der zuletzt gesprochen hatte. „Sie hätten sich von unseren Truppen mitnehmen lassen sollen, dann wäre vieles einfacher gewesen, Lester Velie.“ „Wir gehen eben gern zu Fuß - und freiwillig“, erklärte der Scout. „Sind wir Ihre Gefangenen oder Ihre Gäste?“ „Darüber wird der Diskom-Tyl entscheiden“, antwortete Diskom. „Wo sind die Geräte, mit denen Sie sich unsichtbar gemacht hatten?“ „Es handelt sich nicht um Geräte, sondern um eine Droge“, antwortete Lester Velie. Er zog die Klarsichtfolie mit den Neomescalin-Injektionspflastern aus seiner Brusttasche und hielt sie so, daß Diskom sie sehen konnte. „Das sind die Drogen.“ „Werfen Sie sie herüber!“ befahl Diskom. Lester warf sie ihm zu. Diskom fing sie auf und verstaute sie in einer Tasche seiner Kombination, dann winkte er mit seiner Strahlwaffe. „Folgen Sie mir!“ sagte er. „Ich werde Sie zum Diskom-Tyl bringen. Wir haben sehr viele Fragen an Sie, und ich hoffe, Sie werden sie bereitwillig beantworten.“ „Wenn ich kann, gern“, sagte Lester. Er blinzelte seinem Robotassistenten zu und folgte Diskom. 74
David blieb dicht hinter ihm - und hinter ihnen kamen die anderen zwei Wachtposten. Der Scout überlegte, ob eine Flucht schon jetzt sinnvoll sei. Möglich wäre sie gewesen, denn Diskom ging arglos vor ihm, weil er nicht wußte, daß David die beiden ihm folgenden Wächter überwältigen konnte, bevor sie einen Schuß abgaben. Lester entschied sich schließlich gegen eine Flucht. Er befand sich einmal hier, deshalb wollte er zuerst versuchen, soviel wie möglich in Erfahrung zu bringen. Später konnte er weitersehen. Es ging zuerst durch eine Öffnung, die ebenfalls von Spiegelfeldern getarnt wurde. Die Öffnung war rechteckig und von der große, wie sie auch auf Terra und den anderen Planeten der Galaktischen Föderation bevorzugt wurden. Doch Lester erkannte, daß es sich einfach um einen der ‚Schlitze’ handelte, der nach oben zu erweitert worden war. Danach wurden Lester und David durch einen Korridor geführt, der ebenfalls nach oben zu erweitert worden war. Ihm folgte ein Schacht mit quadratischem Grundriß, dessen Kantenlänge sechs Meter betragen mochte. Im Schacht schwebte eine Plattform. Sie war ebenfalls quadratisch geformt, aber sie wirkte in dieser Umgebung wie ein Relikt aus barbarischen Zeitaltern. Lester Velie konnte zuerst nicht sagen, woran das lag, bis ihm auffiel, daß die Plattform leise vibrierte und schwankte, als sie mit ihrer Last langsam abwärts sank, ferngesteuert durch ein Armbandgerät, das von Diskom bedient wurde. Der Schacht muß früher ein Antigravschacht gewesen sein! überlegte der Scout. Die entsprechenden Aggregate funktionieren nicht mehr, also behelfen sich die Stadtbewohner mit einer Antigravplattform, die sie dem Querschnitt des Schachtes angepaßt haben. Die Plattform sank lange Zeit, glitt vorbei an schlitzförmigen und erweiterten Öffnungen, hinter denen schmale Schlünde oder breite beleuchtete Korridore zu sehen waren, und hielt 75
schließlich an. Lester Velie schätzte, daß sie ungefähr zweitausend Meter abwärts gefahren waren. Sie befanden sich demnach tief unter der Ruinenstadt. „Ist das alles schon von den Ureinwohnern angelegt worden?“ erkundigte er sich, als Diskom sie in eine weite Halle führte, deren Wände aus einem glasartigen schwarzen Material bestanden. „Sie meinen, von unseren Vorfahren?“ erwiderte Diskom. „Ja, sie haben diese großartigen Leistungen vollbracht, Lester Velie.“ „Und ich dachte, die Quoon hätten die Stadt erbaut“, warf David ein. Diskom fuhr herum und funkelte Lesters Assistenten wütend an. Seine Strahlwaffe zeigte auf Davids Brust. „Was wissen Sie von den Quoon?“ schrie er mit überschnappender Stimme. „Es hat sie nie gegeben. AngkortTyl wurde von unseren Vorfahren erbaut.“ „Wie Sie wollen“, sagte David ungerührt. „Ihre Vorfahren scheinen sehr niedrig gewesen zu sein. Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, daß Sie eigentlich mehr uns gleichen als ihnen.“ Diskom schien verwirrt zu sein. Er ließ seine Waffe wieder sinken, wandte sich an den Scout und fragte: „Was redet Ihr Assistent da für einen Unsinn, Lester Velie? Weiß er nicht, daß Sie ebenso von Angkort abstammen wie ich?“ „Vieles geriet in Vergessenheit“, sagte Lester zweideutig. „Eine Frage: Ist es richtig, daß Sie diese Welt Angkort nennen und diese Stadt Angkort-Tyl?“ „Diese Welt ist Angkort - und die Stadt ist Angkort-Tyl“, antwortete Diskom heftig. „Und wer ist Diskom-Tyl?“ fragte David. Es wurde dunkel, dann begannen die eben noch schwarzen 76
Wände von innen heraus silbrig zu schimmern. Das hielt etwa fünf Minuten an, danach erschienen in dem silbrigen Schimmer rote Lichtblitze, und bei jedem Blitz erklang ein Ton, der sich anhörte, als wäre eine Harfensaite angeschlagen worden. Lester Velie hatte das Gefühl, körperlos zu werden, mitten in der Dunkelheit zu schweben, während seine Sinne sich von ihm lösten und mit dem silbrigen Schimmer und den roten Lichtblitzen verschmolzen, eins mit ihnen wurden. Und dann erblickte er Angkort-Tyl, wie sie einst gewesen war... Eine Stadt von exotischem Zauber - das war Angkort-Tyl. Ihre Bewohner liebten das Wasser, die Feuchtigkeit und die Gemeinschafts-Kommunikation. Und sie liebten den Wechsel der Sinneseindrücke. Darum schickten sie vollrobotische Raumschiffe aus dem System der vier Sonnen hinaus in die Sternenwüste der Galaxis, auf die Suche nach fremden Welten und fremden Lebewesen. Diese Schiffe nahmen die Möglichkeit der GemeinschaftsKommunikation mit nach draußen, hielten eine permanente Verbindung zu den Bewohnern von Angkort-Tyl - ja, zu allen Bewohnern von Angkort, zu allen Angkort-Tyls. Jene Sinneseindrücke, die von den Robotschiffen nach Angkort überspielt wurden, gingen in die Angkort-Tyls ein, wurden Bestandteil der Gemeinschafts-Kommunikation. Doch da die Robotschiffe nur nach ihrer Programmierung vorgingen und nicht mehr von Angkort aus gesteuert werden konnten, war es unvermeidlich, daß es eines Tages zur ersten Fehlhandlung kam. Um den Sinnenreiz ihrer Herren zu erhöhen, immer mehr zu steigern, entführten die Robotschiffe intelligente Wesen von anderen, fernen Welten und siedelten sie auf unbewohnten Welten an, damit die Dramatik ihrer Anpassung an neue Umwelten oder die Dramatik ihres Untergangs die Sehnsucht 77
der Herren nach Miterleben und Mitleiden stillte. Aber die Bewohner von Angkort waren keine gewissenlosen Lebewesen, die sich am Leid anderer intelligenter Lebewesen berauschten. Als sie merkten, was ihre Robotschiffe gegen ihren Willen immer wieder anrichteten, wurde ihr Schmerz so groß, daß sie beschlossen, nicht nur psychisch, sondern fortan auch physisch mitzuleiden. Sie wiesen ihre Maschinen an, neue Robotschiffe zu bauen, die zu den Welten fliegen sollten, auf denen die Entführten lebten. Die armen Opfer sollten nach Angkort geholt werden, um dort den Schuldigen an ihrer Pein, Leid und Tod und Vergessen zu bringen. Dieser Plan ging auf, auch wenn die neuen Robotschiffe nur noch Überlebende einer einzigen Spezies vorfanden. Um die Vielfalt wenigstens teilweise wiederherzustellen, wurden genetische Modifizierungen vorgenommen - und der Plan konnte in Erfüllung gehen. Die Bewohner von Angkort ernteten, was sie gesät hatten. Doch sie verrechneten sich in einer Beziehung. Die neuen Bewohner von Angkort entwickelten eine ungeahnte Selbständigkeit. Sie wurden gleichzeitig Figuren und Herren des neuen Spiels - und sie waren weitaus weniger sensibel als die, die das Spiel inszeniert hatten. Es dauerte nicht lange, da waren die einstigen Herren von Angkort in die entfremdete Existenzebene zurückgedrängt und mußten hilflos miterleben, wie das Spiel, das doch eigentlich zu Ende war, in einem teuflischen Zyklus weitergeführt und zu völliger Entartung getrieben wurde. Die neuen Herren von Angkort suchten das Licht, aber sie waren blind und gefangen in einem Spiel, das längst tödlicher Ernst geworden war - und doch würden sie das Licht nur finden, wenn sie das Spiel bis zum Höhepunkt trieben ... Der silbrige Schimmer verblaßte, die Lichtblitze kehrten nicht mehr wieder. Es wurde hell. Ein blaßrosa Leuchten erfüllte die 78
Halle und spiegelte sich auf den schwarzen glasartigen Wänden. „Diskom-Tyl ist der alles erfüllende Geist, der die Geschicke von Angkort-Tyl lenkt“, sagte Diskom, als wäre zwischen Davids letzter Frage und seiner Antwort nicht eine halbe Ewigkeit vergangen. Lester Velie begriff, daß Diskom und seine Begleiter nichts von dem gesehen - oder gespürt - hatten, was er empfunden hatte, daß sie völlig ahnungslos waren und ihre vorgezeichneten Rollen spielten. Und auch David hatte offensichtlich nichts davon gefühlt. Der Scout war erschüttert, als ihm klar wurde, welche ungeheuerlichen Fehler ohne böse Absicht begangen worden waren und wie viele dramatische Schicksale sich erfüllt hatten. Unwissenheit war jedesmal die Ursache gewesen. Unwissenheit bei den Ureinwohnern von Angkort - und Unwissenheit bei ihren Opfern, die aus einer vortechnischen Zivilisation gerissen worden waren und sich plötzlich mit Kräften und Mächten konfrontiert sahen, die nur bei verständiger Leitung Segen bringen konnten. Aber sie würden das Licht finden, wenn sie das Spiel bis zum Höhepunkt trieben...! Lester erschrak aus seinen Grübeleien auf, als Diskom sagte: „Diskom-Tyl, ich rufe dich! Sage deinem Diener, was mit den Heimgekehrten geschehen soll!“ Wie ein Blitz zuckte es durch Lesters Gehirn. Das war einer der Fehler, vielleicht der grundlegende Fehler! Sage deinem Diener. ..! Die schwarzen Wände wurden hell, pulsierten in kurzen Lichtintervallen und produzierten ein geisterhaftes Flackerlicht. Dann sagte eine helle zirpende Stimme - und der Translator übersetzte: „Die Heimgekehrten stören den Ablauf des großen Spiels. Sie müssen sterben. Schicke sie in das Labyrinth des Quoonorat!“ 79
Lester Velie erschrak weder über das Urteil noch resignierte er. Er reckte sich und rief: „Wer oder was bist du, Diskom-Tyl, daß du dir anmaßt, über Leben und Tod von intelligenten Lebewesen zu entscheiden?“ „Sie lästern Diskom-Tyl!“ schrie Diskom und richtete seine Waffe auf den Scout. „Diskom-Tyl ist eine Maschine“, warf David gelassen ein, „und Maschinen sollten die Diener von intelligenten Lebewesen sein und nicht umgekehrt.“ Er hob die Stimme. „Höre, Diskom-Tyl, das, was du das große Spiel nennst, steht im Widerspruch zur kosmischen Ethik. Unterwirf dich!“ „Die Herren haben mich geschaffen, damit ich das große Spiel in ihrem Sinne leite“, erklärte die zirpende Stimme des Diskom-Tyl. „Die Schablone ist geprägt, und ich muß alle Störfaktoren fernhalten.“ „Wir werden die Heimgekehrten in das Labyrinth des Quoonorat bringen, Diskom-Tyl“, sagte Diskom. „So, wie du es befohlen hast.“ „Entkleidet sie!“ befahl er. David warf Lester einen fragenden Blick zu. Der Scout verstand die unausgesprochene Frage. Wenn die Helfer Diskoms sie entkleideten, war die Gelegenheit, sie und Diskom zu überwältigen, so groß wie nie zuvor. Es mußte einfach gelingen. Dennoch schüttelte Lester den Kopf. Das Spiel muß bis zum Höhepunkt getrieben werden - so oder so! Er ließ es ohne Widerstand zu, daß die Helfer Diskoms ihn völlig entkleideten, und David fügte sich seiner Entscheidung. Auch nackt war er äußerlich nicht von einem Menschen zu unterscheiden. Die Konstrukteure des Roboters hatten nicht einmal den Nabel vergessen. Anschließend wurden der Scout und sein Roboter zu einer Stelle der Hallenwand geführt, wo in der glasartigen Schwärze 80
silbrige Lichtfunken tanzten. Danach traten Diskom und seine Helfer zurück. Lester Velie blickte interessiert auf die tanzenden Lichtfunken, sah, wie ihre Bewegungen immer schneller wurden und schließlich miteinander verschmolzen. In diesem Augenblick legte sich ein grüner Nebel über ihn und als er schwand, sah sich der Scout in einer völlig neuen Landschaft wieder. Wenn man von Landschaft überhaupt sprechen oder denken konnte! Lester stand auf einem blauschillernden Untergrund, von dem aus zarte, silbrig schimmernde Schleier aufstiegen. Die Schleier waren halbdurchsichtige Lichtgebilde, schmal wie zartgliedrige Elfen, die sich irgendwo in der Höhe im Nichts zu verlieren schienen. Der Scout blickte um sich. Überall flimmerten die silbrigen Schleier und erzeugten den Eindruck, als stiegen sie auf, während sie in Wirklichkeit auf der Stelle tanzten, einen geisterhaften Tanz, der die menschlichen Sinne zu verwirren drohte. „David?“ fragte Lester. Aber der Roboter antwortete nicht. Da ahnte der Scout, daß der Weg ins Labyrinth des Quoonorat für technische Gebilde verschlossen war - und er ahnte ebenfalls, daß es ihm, wenn er nur den Grund dafür herausfände, gelingen würde, das Spiel bis zum Höhepunkt zu treiben. 6. Lester Velie schloß die Augen, um den Schleiertanz der Elfenwesen von seinem Bewußtsein fernzuhalten. 81
Er dachte nach. Diskom-Tyl hatte ihn und David zum Tode verurteilt und zu diesem Zweck Diskom befohlen, die ‚Heimgekehrten’ ins Labyrinth des Quoonorat zu schicken. Dem Scout war von vornherein klar gewesen, daß die Verbannung ins Labyrinth des Quoonorat nicht seinen sofortigen Tod bedeutete, sonst hätte er sich gewehrt. Wahrscheinlich sollten sich im Labyrinth seine Sinne so verwirren, daß er den Verstand verlor. Diskom-Tyl hatte nur nicht wissen können, daß er, Lester Velie, ein terranischer Weltraumscout war und während seiner Ausbildung, seiner Volontärzeit und schließlich in langjähriger Praxis gelernt hatte, in den verwirrendsten Situationen geistig gesund zu bleiben und niemals aufzugeben. Notfalls war er in der Lage, seine Umwelt völlig zu ignorieren und sich in eine geistige Modellwelt zu versenken, die er seinen jeweiligen Zielen so anpaßte, daß er die erforderlichen Lösungsmodelle durchspielen konnte. Lösungsmodelle, die eine Synthese von Traum und Realität darstellten, wobei „Traum“ nicht gleichzusetzen war mit irrationaler Schwärmerei, sondern mit einer festen Zielvorstellung, die im Lösungsmodell vielfach gefiltert wurde, bis Klarheit über die optimale Möglichkeit zur Umwandlung in Realität herrschte. Denn vor der Verwirklichung kamen die Träume...! Lange Zeit stand Lester reglos zwischen den flirrenden Schleiern des Labyrinths, dann glitt ein befreiendes Lächeln über sein Gesicht. Er öffnete die Augen und flüsterte: „Das ist die Lösung!“ Aber noch war die Lösung nur Theorie. Noch galt es, sie in die Praxis umzusetzen, und das würde weitaus schwerer sein, als sie in Denkvorgängen zu finden. Es konnte unter Umständen tödlich sein. Lester Velie bewegte sich einen Schritt vorwärts, auf den 82
nächsten silbrig schimmernden Schleier zu. Der nächste Schritt brachte ihn in das Flimmern hinein - hinein in einen Zustand, der unerklärbar war und dennoch Teil der realen Welt. Er war nicht länger allein, sondern umgeben von Wesenheiten, die durch gemeinsames Erlebnis zu einer geistigen Einheit verschmolzen, die ihnen einst als das erstrebenswerteste aller Ziele vorgeschwebt hatte. Er sah - sie sahen -, wie die Robotschiffe auf Angkort landeten und wie sich die Schleusen öffneten und die menschliche Fracht ins Freie entließen. Eine Welle der Hoffnung schlug ihnen entgegen. Sie merkten nichts davon, denn sie waren unempfänglich für die geistigen Strömungen der Angehörigen einer uralten Kultur, die ihre Kommunikation verfeinert hatte, bis sie kaum noch der ursprünglichen groben Kommunikation glich. Enttäuschung breitete sich aus. Dann traten die Diskom-Tyls in Aktion. Von ihren Impulsen geleitet, verstreuten sich die Ankömmlinge über Angkort, errichteten ihre Ansiedlungen und vermehrten sich. Sie merkten nichts von der Modifizierungsstrahlung, die ihre Gene beeinflußte, bis die ersten Nachkommen geboren wurden. Nur die Impulse der Diskom-Tyls verhinderten, daß die neuen Bewohner Angkorts ihre mutierten Nachkommen töteten. Wiederum unter der Führung dieser Impulse, errichteten die neuen Bewohner Angkorts Bauwerke, in denen die am stärksten mutierten Nachkommen Schutz und Geborgenheit fanden. Die nicht mutierten Nachkommen zogen sich anschließend in die alte Stadt zurück und veränderten sie gemäß ihren Bedürfnissen. Sie lernten mit dem technischen Erbe der Quoon umzugehen - und bald konnte das große Spiel beginnen. Mutanten und Normale waren die Partner und Gegner in diesem Spiel. Sie bekämpften sich mit ihren spezifischen Waffen, und die Mutanten bedienten sich zusätzlich der 83
Kämpfer, die allerdings keine parapsychischen Kräfte besaßen, sondern nur körperlich anders waren. Lesters Wesenheit zuckte zurück, als er erkannte, was diese Riesen mit den kleinen Köpfen wirklich waren und welche Aufgaben sie tatsächlich erfüllten. Mitleid führte zum Mitleiden! Aber der Abstand zwischen der Evolutionsstufe der Quoon und derjenigen der neuen Bewohner von Angkort war zu groß, als daß das große Spiel zur Erlösung geführt hätte, das sein eigentliches Ziel war. Alles wiederholte sich in einem geschlossenen Zyklus, den die einen nicht durchbrechen konnten, weil sie ihre Macht aufgegeben hatten und die anderen, weil sie geistig nicht fähig waren, die neue Macht sinnvoll zu gebrauchen. Sie konnten nicht über ihren eigenen Schatten springen! Die Ankunft des Scouts hatte das ausweglose Gleichgewicht gestört. Lester Velie war zu einem Faktor geworden, der in der Lage war, den Zyklus zu durchbrechen. Doch der Weg war schwer, denn er konnte nur von einem Wesen gegangen werden, das den höchsten Einsatz wagte. Und der geringste Fehler konnte die Niederlage besiegeln. Dennoch war Lester Velie entschlossen, das zu tun, was er für seine Pflicht hielt - seine Pflicht gegenüber den Quoon und seine Pflicht gegenüber den Menschen. Er benötigte Hilfe, um den Höhepunkt des Spiels einzuleiten und er bekam sie... Das Wesen, das in der Halle mit den schwarzen, glasartig schimmernden Wänden materialisierte, war Lester Velie und war doch wiederum nicht Lester Velie. Es war der materielle Traum einer immateriellen Wirklichkeit. Diskom und seine beiden Helfer wichen zurück, Entsetzen in den weit aufgerissenen Augen. Nur David wich nicht zurück. 84
Der Roboter stand noch immer unbekleidet an der Stelle, vor die ihn Diskom und seine Helfer geführt hatten. Er war unbeschädigt und unterschied sich äußerlich noch immer nicht von einem Menschen. Lester Velie allerdings, der Lester Velie war, obwohl er es nicht war, war weder unbekleidet noch glich er einem Menschen der Erde. Er war zwei Meter groß, breitschultrig und muskulös, und sein Schädel war eine Mischung zwischen Menschen- und Drachenschädel. Dünne, blauschillernde Flughäute hüllten den in eine enganliegende schwarze Kombination gekleideten Rumpf gleich einem Mantel ein. Die drei Augen glichen facettenartig geschliffenen Smaragden. „Seht her!“ verkündete die zirpende Stimme von Diskom-Tyl. „Hier steht Diskan, die Verkörperung des Geistes der großen Spiele! Gehorcht ihm, und er wird euch aus dem Bannkreis führen, der über euch und uns lastet!“ Diskom und seine Helfer ließen ihre Waffen fallen und warfen sich zu Boden. Ihre Stirnen prallten dumpf dröhnend auf. „Sir?“ flüsterte David und produzierte ein jugendhaftes Grinsen auf seinem Synthoplastgesicht. „Ich bin es“, flüsterte Lester zurück. „Aber verrate mich nicht, denn ich bin auch die Verkörperung des Geistes der großen Spiele.“ Er wandte sich an Diskom und seine Helfer und sagte: „Steht auf und sagt allen, daß ich gekommen bin, um das große Spiel zu Ende zu führen. Bald werde ich weitere Befehle verkünden.“ Diskom und seine Helfer gehorchten. Sie erhoben sich und eilten davon. „Wie haben Sie das gemacht, Sir?“ fragte der Roboter, als die drei Stadtbewohner verschwunden waren. „Wo haben Sie diese vortreffliche Maske her?“ 85
„Es ist keine Maske“, erklärte der Scout. „David, wir beide haben eine große Aufgabe zu erfüllen. Unser Ziel wird es sein, diesen Planeten zu vernichten.“ „Sir!“ sagte David, und es gelang ihm, Entsetzen in seine Stimme zu legen. „Bitte, unterlassen Sie so geschmacklose Scherze!“ „Es war kein Scherz“, erwiderte Lester ernst. „Zieh dich an! Von nun an bist du der Erste Diener Diskans.“ „Sir, wenn Sie ernsthaft planen, diese Welt zu vernichten, muß ich Ihnen den Gehorsam verweigern!“ entgegnete David. „Das kannst du nicht“, erwiderte Lester Velie. „Gemäß dem zweiten Robotergesetz mußt du allen Befehlen gehorchen, die dir von deinem menschlichen Herrn gegeben werden.“ „Es sei denn, solche Befehle stehen im Widerspruch zum ersten Gesetz“, erklärte David. „Und das erste Gesetz lautet: ein Roboter darf niemals ein menschliches Wesen verletzen oder durch sein Nichthandeln zulassen, daß einem menschlichen Wesen Schaden zugefügt wird.“ „Das ist richtig“, meinte der Scout. „Aber wir kennen uns schon so lange, daß du wissen solltest, daß du mir vertrauen kannst, David. Ich versichere dir, daß es keinen anderen Weg gibt, die Kette von Leid und Tod auf Angkort zu zerbrechen, als den, diesen Planeten zu vernichten.“ „Sir, das ist absurd!“ sagte David. „Natürlich gäbe es auf Angkort keine Leiden und keinen Tod mehr, wenn der Planet vernichtet würde, aber diese Vernichtung bedeutet für alle Bewohner den Tod. So zu handeln, wäre so, als würde jemand Selbstmord begehen, um nicht sterben zu müssen.“ „So ist es“, sagte Lester Velie. „Nur, wer bereit ist zu sterben, kann das Leben gewinnen. Echte Weisheit erscheint oft widersinnig und unlogisch, aber gerade in der scheinbaren Unlogik zeigt sich die allumfassende Logik.“ Er musterte seinen Robotassistenten und schritt dabei langsam um ihn herum. 86
„Du siehst beinahe aus wie ein Mensch, Alter“, meinte er. „Dein verlängerter Rücken wird sogar von einem echten Pickel geziert. Ich werde ihn ausdrücken, wenn du nichts dagegen hast.“ David drehte sich schnell weg, so daß er seinem Herrn wieder die Vorderseite zuwandte. „Sie können mich nicht überlisten, Sir“, erklärte er. „Ich weiß genau, daß Sie mich durch Ihre trivialen Bemerkungen nur von Ihrer Absicht ablenken wollen, den Deaktivierungssensor zu berühren.“ Lester seufzte. „Schade!“ sagte er bedauernd. „Ich hoffte, dich ausschalten zu können, ohne Störungen deines Mesonengehirns zu riskieren. Aber wenn es so nicht geht, muß ich es eben anders versuchen.“ „Was haben...?“ fragte David. Er verstummte, als aus den beiden seitlichen Facettenaugen Lesters zwei haarfeine Strahlen schossen und sich in seine Augen bohrten. Im nächsten Moment erstarrte der Roboter mit der Menschengestalt zu einer Statue. Die Strahlen aus Lesters Augen erloschen. Der Scout legte seinem Robotassistenten die Hände auf die Schultern und sagte leise: „Hoffentlich habe ich dein Gehirn nicht beschädigt, alter Freund. Aber es mußte sein, sonst hättest du mich daran gehindert, meinen Plan durchzuführen.“ Er nahm die Hände von Davids Schultern, legte die Arme an seinen Körper und flog davon, ohne dabei die Flughäute auszubreiten. Er kannte sein nächstes Ziel: die große Versammlungshalle, in der einst die Sprecher der Quoon zusammengekommen waren, um feierlich zu verkünden, was alle Quoon in totaler Kommunikation beraten und beschlossen hatten. Damals wie heute ein zelebriertes Ritual... 87
Das Flüstern der Menschenmenge verwehte in einem Seufzer, als der Scout durch die Deckenöffnung in die Halle einflog und einmal über den Anwesenden kreiste, bevor er sich im freien Rund des Mittelpunktes niederließ. Er hob die Arme und drehte sich einmal um sich selbst. „Töchter und Söhne der Menschen!“ rief er. „Das Ende des großen Spiels ist nahe. Überall auf Angkort hören Töchter und Söhne der Menschen in den alten Städten, was ich hier zu sagen habe.“ Ein Raunen ging durch die Menge, und Lester wartete geduldig ab, bis es verklungen war. Dann fuhr er fort: „Bisher führtet ihr zahlreiche Schläge gegen die Gegner mit den unheimlichen Kräften. Doch viele Schläge verzetteln eure eigene Kraft, weil sie über lange Zeiträume verteilt sind. Die Entscheidung kann nur mit einem einzigen geballten Schlag erzielt werden. Alle Angkort-Tyls auf Angkort müssen alle ihre Mittel gleichzeitig gegen alle Nester des Gegners einsetzen.“ Er hob die Stimme. „Wir werden wie folgt vorgehen...“ Als er geendet hatte, herrschte Schweigen. Keiner der anwesenden Menschen wagte es, in Anwesenheit des Diskans zu sprechen, und Lester Velie erkannte, daß man seinen Befehlen bedingungslos gehorchen würde. Er startete wieder und verließ die Versammlungshalle durch das Flugloch, durch das er gekommen war. Lester Velie landete auf dem Hügel aus Plastikmetall, ohne daß jemand oder etwas versuchte, ihn daran zu hindern. Er blickte sich um und sah im Süden die Sichelberge stehen, reglos und schweigend, wie in Erwartung des Todes. Zwei der vier roten Sonnen strahlten von einem wolkenlosen Himmel herab. Der Scout erhob sich einige Zentimeter in die Luft und schwebte durch die Öffnung im Mittelpunkt des Kuppelbaues. Einige Minuten später tauchte unter ihm eine Ballung 88
grünlichen Lichts auf. Lester sank hindurch und schwebte in den Kuppelsaal, in dem vor noch gar nicht langer Zeit David und er gefangengehalten worden waren. Diesmal allerdings war er kein Gefangener, sondern Diskan, die Verkörperung des Geistes der großen Spiele. Die Ballung grünlichen Lichts hüllte den Saal in gespenstische Dämmerung, in der alles unwirklich aussah. Die Wände schienen bis zu halber Höhe aus goldbedampften Spiegeln zu bestehen, deren Ränder blutrot eingefaßt waren. Lester Velie landete auf dem Boden der Kuppelhalle und wartete. Sein neues Wissen sagte ihm, daß es einige Zeit dauern würde, bis der Sprecher der Mutanten kommen konnte. Noch einmal überdachte er seinen Plan und das ungeheure Risiko, das mit der Ausführung verknüpft war - und wieder kam er zum gleichen Ergebnis. Das Spiel muß zum Höhepunkt getrieben werden! Als diesmal die schwarzgekleidete Gestalt mit dem goldfarbenen birnenförmigen Druckhelm aus der Ballung grünen Lichts auftauchte, wußte Lester, daß dieses Einzelwesen zugleich die Gesamtheit aller Mutanten dieses Kuppelbaues verkörperte und daß die Gesamtheit aller Mutanten aller Kuppelbauten auf Angkort mittels der goldbedampften „Spiegel“ an den Wänden Zeuge der bevorstehenden Unterredung sein würde. Der Schwarzgekleidete blieb diesmal nicht einige Zentimeter über dem Boden schweben, sondern landete und wie damals blinkte vorn an seinem Schutzanzug ein roter Funke auf. Abermals ertönte die seltsam hohle Stimme, die von überall zugleich zu kommen schien. „Diskan, Verkörperung des Geistes der großen Spiele“, sagte die Stimme, „wir sehen und hören.“ Lester lüftete die ledrigen Hautschwingen ein wenig und sagte eindringlich : „Das Ende des großen Spiels ist nahe, aber es bedarf des Einsatzes aller eurer Kräfte, um die Entscheidung 89
herbeizuführen. Alle Mutanten müssen gleichzeitig sämtliche verfügbaren Energien aufbieten, um überall auf Angkort zuzuschlagen und die Nester der Gegner zu vernichten.“ „Wir haben gehört“, erwiderte der Schwarzgekleidete. „All unsere Sinne sind weit geöffnet, um deine Befehle, Verkörperung des Geistes der großen Spiele, aufzunehmen.“ Sie sind wie Kinder! dachte der Scout. Sie lauschen begierig den Worten der von ihnen anerkannten Autorität, ohne das Gesagte zu prüfen und die Folgen zu bedenken, die der unbedingte Gehorsam nach sich ziehen kann. Er hob die Stimme. „Wir werden wie folgt vorgehen...“ Auch hier herrschte, als er geendet hatte, Schweigen, genau wie in der Versammlungshalle von Angkort-Tyl - und auch hier widersprach niemand. Lester Velie erhob sich in die Luft und verließ den Kuppelbau auf dem gleichen Wege, auf dem er gekommen war. Rund fünfzig Stunden später schwebte Lester Velie hoch über den Sichelbergen. Im Norden erblickte er die zerstörte und die unzerstörte Kuppel, im Süden sah er das weite Areal der Ruinenstadt, die eigentlich keine Ruinenstadt war. Noch einmal überprüfte er seinen Plan und alle damit verbundenen Eventualitäten. Er wußte, wenn sich irgendwo ein Fehler eingeschlichen hatte, wenn auch nur ein Glied der Gedankenkette den Gesetzen der Logik widersprach, würde der Planet Angkort in wenigen Stunden zerplatzen, und mit ihm würde alles Leben, das ihn bevölkerte, untergehen. Doch er wußte auch, daß er den Untergang dieser Welt riskieren mußte, um die apathisch dahindämmernden Kräfte der Quoon wachzurütteln und zu einer, vielleicht der letzten, Aktivität zu zwingen. Sie, die die Spiele geschaffen hatten, um mitleiden zu können, mußten ihre Passivität überwinden, um die Spiele ein für allemal zu beenden. Die Helligkeit des ewigen Tages nahm zu, als sich eine dritte 90
zu den zwei Sonnen gesellte, von denen eine allerdings in wenigen Minuten unter den Horizont sinken würde. Das Herz wurde dem Scout schwer, als er daran dachte, daß die vier Sonnen vielleicht schon bald keinen Planeten mehr bescheinen würden. Es kümmerte ihn nicht, was mit ihm geschah. Er würde das Schicksal der Bewohner von Angkort teilen und nicht versuchen, sich in die MEM-PHIS zu retten, die sicher im Hyperraum ruhte. Aber wenn er daran dachte, daß Angkort erhalten blieb, schlug sein Herz schneller. Auf Angkort konnten die Menschheit und die übrigen Völker der Galaktischen Föderation viel, sehr viel, lernen. Sie konnten lernen, welche Folgen es hatte, wenn ein Volk bei dem, was es plante und ausführte, die Folgen für andere Völker nicht einkalkulierte. Sie konnten lernen, daß Lebewesen aus einer primitiven Kultur nicht plötzlich mit den technischen ‚Spielzeugen’ einer weit höher entwickelten Kultur konfrontiert werden durften. Und sie konnten lernen, daß man nicht ungestraft mit der Erbmasse anderer Lebewesen spielte. Und sie würden lernen können, daß es auch in tiefster Finsternis immer ein Licht gab, und daß dieses Licht aus ihnen selbst kommen mußte. Der Scout fröstelte unwillkürlich, als die Sonnen scheinbar erloschen und Angkort in Nacht getaucht wurde. Die Mutanten in allen Wohnhügeln des Planeten hatten zum ersten Schlag ausgeholt und Angkort in einen psionischen Schirm gehüllt, der alles auftretende Licht absorbierte und in zusätzliche psionische Energie verwandelte, mit denen die nächsten Schläge der Mutanten unterstützt werden sollten. Lester aktivierte sein mittleres Auge und konnte plötzlich wieder sehen. Allerdings nicht wie früher. Der ganze Planet schien aus einem einzigen Smaragd zu bestehen, und die Wohnkuppeln und Ruinenstädte waren abgesplitterte Teile davon. 91
Lester sah, wie aus der Kuppel nördlich der Sichelberge Scharen von Kämpfern eilten. Sie beleuchteten ihren Weg mit starken Handscheinwerfern, hoben nach kurzer Strecke mit Hilfe von Rückstoßaggregaten ab und nahmen Kurs auf die Sichelberge. Der Scout wußte, daß zur gleichen Zeit überall auf Angkort die riesenhaften Kämpfer die Mutantenkuppeln verließen und sich anschickten, die Ruinenstädte anzugreifen. In wenigen Sekunden mußte die andere Seite zuschlagen, wenn sie dem eigentlichen Angriff der Mutanten noch wirksam begegnen wollte. An einem Kräuseln der Luft über der Ruinenstadt südlich der Sichelberge merkte Lester Velie, daß die Mutanten zu einem weiteren Schlag ausgeholt hatten. Ruinen zerbröckelten unter dem Ansturm unfaßbarer Energien, im Schlamm bildeten sich Strudel, die ganze Bauwerke verschlangen. Doch der Scout wußte, daß die Mutanten auch bei voller Konzentration viel Zeit brauchten, um das Antipsifeld, das über jeder Ruinenstadt lagerte und das von den verschlungenen Pfaden ausging, zu überwinden. Sein Aufenthalt im Labyrinth des Quoonorat hatte ihm, unter vielem anderen, auch das Wissen eingebracht, daß das Flimmern, das er immer für kurze Zeit bemerkte, wenn er über die verschlungenen Pfade der Ruinenstadt blickte, von eben jenem Antipsifeld ausgegangen war. Das erklärte auch, warum David es niemals wahrgenommen hatte. Das Mesonengehirn eines Roboters war eben nicht empfänglich für parapsychische Energien. Als die Scharen der Kämpfer die höchste Stelle der Sichelberge überflogen, lösten sich vom Mittelpunkt der Ruinenstadt Hunderte der L-förmigen Flugmaschinen und gingen auf Gegenkurs. Lester hielt den Atem an, weil er wußte, was jetzt kommen mußte. Es mußte kommen, weil er, die Verkörperung des 92
Geistes der großen Spiele, es so befohlen hatte. Im nächsten Augenblick geschah es - und damit traten die Spiele in ihr entscheidendes Stadium. Feuer und Rauch wallten in der Ruinenstadt auf. Aus ihm lösten sich in dichter Reihenfolge schlanke Raketen, die mit immer größerer Geschwindigkeit aufstiegen und sich dabei leicht nach Norden neigten. Lester Velie wußte, daß diese Raketen die stärksten Fusionssprengköpfe enthielten, die die Magazine der Ruinenstadt geborgen hatten. Nie zuvor waren Ladungen von solcher Vernichtungskraft eingesetzt worden, weil die Stadtbewohner instinktiv davor zurückgescheut hatten, obwohl sie immer noch nicht begriffen, wie ungeheuerlich diese Vernichtungskraft wirklich war. Der Scout beobachtete, wie die Raketen die Atmosphäre verließen, im Weltraum ausfächerten und dann mit aufglimmenden Kurskorrekturdüsen in Dreiviertelkreisformation Kurs auf die Wohnkuppeln der Mutanten nahmen. In diesem Moment schlug die Abwehr der Mutanten zu! Der Kurs der Raketen verwirrte sich, und einige bange Augenblicke lang fürchtete Lester Velie, einige von ihnen könnten zusammenstoßen und ihre Fusionssprengköpfe könnten dabei gezündet werden. Das wäre das Ende gewesen, denn noch waren die Quoon nicht aus ihrer Lethargie erwacht. Sie dämmerten weiter dahin, um mitzuleiden und dadurch die Sühne auf sich zu nehmen, die ihrer Meinung nach der Preis für das war, was sie anderen Wesen angetan hatten. Aber die Raketen schossen aneinander vorbei, obwohl manche von ihnen sich beinahe berührten. Abermals feuerten ihre Korrekturdüsen, als die Fernsteueranlagen der Ruinenstadt die tödlichen Geschosse auf den alten Kurs zu bringen versuchten. 93
Doch die geballte Kraft der Mutanten, zusätzlich mit psionischer Energie aus dem Dunkelschirm versorgt, war stärker. Ein Teil der Raketen kehrte um und nahm Kurs auf ihren Ausgangspunkt, die anderen senkten ihre Nasen nach unten und trudelten und taumelten der Atmosphäre und dem Planeten entgegen. Lester wußte, daß überall auf dem Planeten, zwischen all den Ruinenstädten und Mutantenkuppeln - und es gab viele von beiden -, die Ereignisse sich glichen und dem absoluten Höhepunkt entgegenstrebten. Und dieser absolute Höhepunkt hieß totale Vernichtung! Quälende Zweifel überfielen den Scout. Vor Entsetzen erstarrt, von wilder verzweifelter Hoffnung durchzittert, schwebte er hoch über den Sichelbergen und sah das Inferno hereinbrechen. Die ersten Raketen tauchten in die Atmosphäre ein. Ihre Sprengköpfe erwärmten sich durch die Reibung mit der Luft, glühten zuerst lachsrosa auf, dann kirschrot. Und dann, als den Planeten und seine Bewohner nur noch wenige Atemzüge von der Auslöschung trennten, breitete sich ein Flimmern innerhalb der Atmosphäre aus, raste wellenförmig um den ganzen Planeten und raubte dem Menschen, der über den Sichelbergen schwebte, die Orientierung. Lester Velie war es gleich. Er schloß die Augen und überließ sich der Erleichterung und Glücksgefühl. Es war geschafft. Die äußerste Bedrohung hatte die schlummernden Kräfte der Quoon geweckt, hatte sie zu einer letzten ungeheuerlichen Anstrengung getrieben und den teuflischen Zyklus der Spiele durchbrechen lassen. Der Scout merkte nicht, wie er taumelnd stürzte, dem Boden entgegenraste und schwer gegen einen Felshang prallte. .. 94
Er schwebte durch einen Traum, wie eine weiße Wolke durch blauen Himmel segelt. Doch dann verdunkelte sich der Himmel; düstere Schattengestalten drängten herbei, streckten Arme aus, wogten vor und zurück. Ein winziger Teil von Lester Velies Geist ahnte, daß dieser ganze Traum mit all seinen Schattengestalten symbolisch die vergangenen und künftigen Realitäten vertrat, daß die Gegenwart erst eine sich formende Woge war, noch nicht völlig bereit, ihren Ritt in die Zukunft anzutreten. Noch fehlte etwas: ein Katalysator! Jenseits von Raum und Zeit, jenseits von Wirklichkeit, versuchte Lesters Geist, Anhaltspunkte zu finden, an denen er sich orientieren konnte, um die letzte große Aufgabe zu erfüllen. Die Aufgabe, Katalysator des Werdenden zu sein! Er eilte durch goldschimmernde Materie, auf vielfältig verschlungenen smaragdfarbenen Wegen, verweilte an smaragdfarbenen Punkten, um seine Kräfte zu sammeln -und spürte endlich ein beruhigendes Pulsieren. Kräfte, die sich aus einer chaotischen Vergangenheit in eine aussichtslose Gegenwart gerettet hatten und endlich - nach so langer Zeit der Qual - den Weg aus dem Kreis gefunden hatten, sammelten sich noch einmal, um dem Ende einen Sinn zu geben, um zu befreien, was sie gerettet hatten, um die Woge anzuheben und in Richtung Zukunft rollen zu lassen. Durch smaragdfarbene Kanäle eilten die Kräfte des Vergangenen auf ein Zentrum zu, an dem sich der Katalysator befand, der sie in nutzbare Energie verwandelte und freigab für eine Tat, die Selbstaufgabe und Erneuerung zugleich bedeutete. Durch die Korridore der Zeit hallte ein Schrei, wurde als vielfaches Echo zurückgeworfen und zerschmetterte die immateriellen Wände seines Gefängnisses. Lester Velie erwachte. Um ihn herum wirbelten helle milde Farbmuster, eilten 95
Stimmen hin und her. Erleichterung brandete heran, schlug über dem Scout zusammen und ließ seinen Körper erschlaffend zu Boden sinken. Als er wieder zu sich kam, standen Menschen um ihn herum, blickten schweigend auf ihn, der auf einem weichen Lager lag. Lester lächelte, setzte sich auf, von hilfreichen Händen unterstützt, und blickte an sich herab. Er war wieder er selbst, der Weltraumscout Lester Velie, und nicht mehr das Zwischending aus Drachen und Supermann, zu dem die alten Kräfte die Synthese zwischen seinem Geist und sich selbst gestaltet hatten. Er tastete nach dem Translator auf seiner Brust und schaltete ihn ein. „Die Zeit der Spiele ist vorbei, Freunde“, sagte er. „Die Zeit der Spiele ist vorbei“, wiederholte ein Mann, in dem der Scout Diskom wiedererkannte. „Beinahe wäre alles vorbei gewesen, Diskan. Wir hielten dich für den Schuldigen, bis Diskom-Tyl uns die Wahrheit über uns, die Quoon und dich sagte. Wir stehen tief in deiner Schuld.“ „Es ist gut, daß du heimgekehrt bist“, sagte ein anderer Mann. Lester Velie schüttelte den Kopf. „Nicht ich bin heimgekehrt, Freunde, ihr seid heimgekehrt heimgekehrt in die große Familie der Menschheit, denn eure Vorfahren wurden auf der gleichen Weise geboren wie meine.“ „Wie heißt diese Welt?“ fragte Diskom. „Erde“, antwortete Lester. „Erde!“ wiederholten die Menschen um ihn ehrfürchtig. „Werden wir zur Erde zurückkehren?“ fragte eine Frau, die sich durch die Reihen der Männer nach vorn gedrängt hatte. Es war die erste Frau, die Lester Velie auf Angkort sah. Der Scout lächelte verständnisvoll. „Einige von euch vielleicht, denn ihr sollt ja die Welt eurer Ahnen kennenlernen. Aber nicht die Erde, sondern Angkort ist 96
eure Heimat. Die Erde ist die Wiege der Menschheit, aber wer will schon ewig in einer Wiege leben.“ Ein paar der Männer und Frauen lachten verhalten. Dennoch war Lester sicher, daß alle den tiefen und ernsten Sinn seiner Antwort verstanden hatten. Der Scout erhob sich ganz und atmete tief durch, als er wieder auf eigenen Füßen stand. Sein Blick wanderte durch eine Lücke in der Menschenmenge um ihn und verweilte auf der nackten Gestalt seines Robotassistenten David, der immer noch als reglose Statue vor der wie schwarzes Glas schimmernden Wand der Halle stand. „Wir alle haben einen langen Weg hinter uns“, erklärte er. „Aber der Weg, der vor uns liegt, ist noch viel länger - und, vor allem, jeder von uns wird allein entscheiden, wie dieser Weg aussehen soll.“ Er blickte Diskom an. „Ich bin nicht Diskan. Diskan war nichts als eine Projektion, die Projektion einer geistigen Verbindung, die lediglich dem Zweck diente, den teuflischen Kreis der Spiele zu durchbrechen und die schlummernden Kräfte der Quoon zu einer letzten Anstrengung zu zwingen. Ich bin Lester Velie, ein terranischer Weltraumscout, der mit seinem Schiff von Sonnensystem zu Sonnensystem zieht, um neue Welten für die Menscheit zu finden, Welten, auf denen Menschen sich ansiedeln und eine neue Zivilisation aufbauen können. In diesem Sinne ist Angkort leider unbrauchbar, denn Angkort ist bereits besiedelt.“ „Auf Angkort ist noch viel Platz“, warf unverhofft die zirpende Stimme von Diskom-Tyl ein. „Hier können sich noch viele Menschen ansiedeln.“ Lester Velie horchte überrascht auf. „Diskom-Tyl, du funktionierst noch, obwohl die Kräfte der Quoon erloschen sind?“ fragte er. „Ich funktioniere noch“, antwortete Diskom-Tyl, „obwohl die 97
Kräfte der Quoon mich verlassen haben. Seitdem bin ich nur noch ein normales Mesonengehirn, ein Diener und nicht mehr ein Herrscher.“ Der Scout fühlte Freude in sich aufsteigen. „Es ist gut, daß es dich und die anderen Diskom-Tyls noch gibt“, sagte er. „Die Menschen von Angkort brauchen nichts so dringend wie Helfer, die ihnen Informationen und Ratschläge geben. Aber, was ist mit den Quoon? Sind sie völlig verschwunden?“ „Die Quoon selbst sind schon lange verschwunden“, antwortete Diskom-Tyl. „Sie wurden freiwillig zu jenen riesenhaften Kämpfern, unter denen die Spiele die meisten Opfer forderten. Das war ihre Form des Mitleidens. Aber bevor sie ihre Körper veränderten, speicherten sie den größten Teil ihres geistigen Potentials im Labyrinth des Quoonorat.“ „Das Labyrinth des Quoonorat, ist es identisch mit den smaragdfarbenen Linien und Punkten in den golden schimmernden Wänden der alten Bauwerke?“ erkundigte sich der Scout. „Es war damit identisch“, antwortete Diskom-Tyl. „Die letzte Anstrengung hat das geistige Potential der Quoon fast vollständig aufgezehrt. Aber es ist nicht ganz verschwunden. Manchmal wird es zu den neuen Herren von Angkort sprechen, nicht zu jedem, aber zu denen, die besonders empfänglich für das Wispern und Raunen aus dem Jenseits sind. Bewahrt diesen Rest gut, denn wenn in der Zukunft einmal Quoon von anderen Welten dieses Volkes auf Angkort landen und nach dem Schicksal ihrer Artgenossen fragen, dann kann nur dieses geistige Potential die richtigen Antworten geben und Mißverständnisse vermeiden helfen.“ „Vielen Dank für den Hinweis“, sagte Lester - und mußte lächeln, als ihm klar wurde, daß ein Mesonengehirn mit Dank nichts anfangen konnte. „Was ist mit den Mutanten und den Kämpfern?“ 98
„Die Kämpfer verloren ihre Existenz, als die Spiele auf dem Höhepunkt ankamen“, erklärte Diskom-Tyl. „Die Mutanten aber leben weiter in ihren Kuppelstädten. Sie wurden inzwischen durch ihre Diskom-Tyls, mit denen wir in ständiger Kommunikation stehen, über die neue Lage und ihre Hintergründe unterrichtet und sie akzeptierten, was geschehen ist. Sie wünschen sich nichts sehnlicher, als eine friedliche Zusammenarbeit mit den Normalen - und sie sind darauf angewiesen, seit die Kämpfer, ihre Diener, nicht mehr da sind. Die parapsychisch Begabten können mit ihren Kräften Großes vollbringen, aber nicht alles. Sie brauchen Partner.“ „Partner?“ fragte Diskom. „Menschen, die auf der Basis gegenseitiger Achtung eine Arbeitsteilung vornehmen“, erläuterte der Scout. „Menschen, die sich gegenseitig helfen und Gutes und Böses gemeinsam ertragen. Eine Partnerschaft bringt zahlreiche Schwierigkeiten und Probleme mit sich, aber wenn der gute Wille vorhanden ist, findet sich immer eine für beide Seiten annehmbare Lösung.“ Er räusperte sich. „Das erinnert mich daran, daß auch ich einen Partner habe, der Anspruch auf meine Achtung - und auf sein eigenes Leben - hat.“ „David?“ fragte Diskom. Lester Velie nickte. „Ja, mein Partner David.“ „Was ist mit ihm?“ fragte Diskom weiter. „Er steht so starr da, als wäre er tot.“ Der Scout grinste flüchtig. „Wenn, was ich hoffe, seine Wiederbelebung gelingt, wird er bald sehr lebendig sein, und er wird viele neugierige Fragen stellen. Ich muß euch allerdings bitten, diesen Raum zu verlassen, denn die Wiederbelebung kann nur gelingen, wenn ich mit David allein bin.“ 99
Die Menschen erklärten sich damit einverstanden. Als sie die Halle verlassen hatten, ging Lester zu seinem Robotassistenten und musterte ihn prüfend. Er hoffte, daß er dem Mesonengehirn keinen irreparablen Schaden zugefügt hatte, als er es mit Hilfe eines psionischen Schockimpulses außer Funktion setzte. Aber es war die einzige Möglichkeit gewesen, eine Störung des wahnwitzig erscheinenden Planes zu verhindern. Lesters Hand berührte den Sensorpunkt, der für die Inbetriebnahme des Roboters zuständig war. Der Sensorpunkt erspürte die individuelle bioelektrische Ausstrahlung, die von den Nervenenden in Lesters Haut ausging und stufte sie als die Individualstrahlung der Person ein, die als einzige berechtigt war, den Roboter zu deaktivieren und zu aktivieren. Mit einer kleinen ruckartigen Bewegung erwachte David zu neuem robotischen Leben. Die Augen blickten den Scout lange an, bevor der Mund sagte: „Sie hatten mich deaktiviert - und haben mich wieder aktiviert, Sir. Bedeutet das, daß Sie auf die Durchführung Ihres Planes verzichten wollen, diesen Planeten zu vernichten?“ „Ich hatte niemals vor, Angkort zu vernichten, du verkorkste Imitation eines Menschen!“ erklärte Lester. „Im Gegenteil, ich wollte Angkort und seine Bewohner retten - und das ist mir gelungen. Stell dir vor, Angkort ist sogar zur Besiedlung geeignet!“ „Meinen Glückwunsch, Sir“, erwiderte David steif. „Das wird Ihren finanziellen Ruin noch einmal abwenden. Aber da wäre immer noch die Frage der hohen Schwerkraft und ihrer Kompensation zu klaren. Steht dieses Phänomen nicht einer Besiedlung im Wege, Sir?“ „Die Kompensation der hohen Schwerkraft des Planeten erfolgt durch die stimulierende Wirkung der besonderen Strahlungsaura, die Angkort einhüllt“, mischte sich DiskomTyl ein. „Diese stimulierende Wirkung erhöht den 100
Grundumsatz der Lebewesen und befähigt sie zur Entwicklung einer fast verdoppelten physischen Leistung.“ „Das kling logisch“, meinte der Roboter. „Und es erklärt Ihren erhöhten Nahrungsbedarf, Sir.“ Lester Velie legte eine Hand auf seine Magengegend. „Du erinnerst mich daran, daß ich fürchterlichen Hunger habe“, sagte er. „Ich rate dir, deine eingerosteten Gelenke blitzartig zu bewegen und mir etwas Eßbares herbeizuschaffen - aber keine Konzentrate, wenn ich bitten darf.“ „Sie dürfen, Sir“, erwiderte David, wandte sich um und stelzte mit steifen Schritten davon. ENDE
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