DAS BUCH Im Jahre 3000 v. Chr. zieht König Memnon mordend und brand schatzend durch das Zweistromland und unterwirft e...
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DAS BUCH Im Jahre 3000 v. Chr. zieht König Memnon mordend und brand schatzend durch das Zweistromland und unterwirft einen Stamm nach dem anderen seinem unerbittlichen Willen. An seiner Seite steht Cassandra, eine bildhübsche Zauberin, die Memnon mit ihren Prophezeiungen zu spektakulären Siegen verhilft. Allein König Pheron von Ur wagt es, sich dem größenwahnsinnigen Kriegsherrn zu widersetzen, und beauftragt den akkadischen Meu chelmörder Mathayus, Memnon und Cassandra zu töten. Mathayus, in zahlreichen Schlachten unbesiegt, gelingt es in einem waghalsigen Unternehmen, Cassandra aus Gomorra zu entführen. Wutentbrannt schickt Memnon seinen Vertrauten Thorak aus, Mathayus zu töten und seine Seherin zurückzubringen. Im Tal der Toten treffen der Akkadier und Memnons Trupp während eines mörderischen Sandsturms aufeinander. Mathayus metzelt seine Feinde unbarmherzig nieder, aber Thorak gelingt es, den Akkadier mit einem Pfeil zu verletzen, dessen Spitze mit dem Gift eines Skorpions getränkt ist. Cassandra, die inzwischen Gefühle für Mathayus hegt, setzt all ihre Heilkraft ein, den Verwundeten zu retten. Doch die Macht des Skorpions wird fortan durch seine Adern fließen ...
DER AUTOR Max Allan Collins gilt als einer der vielseitigsten und erfolgreichs ten amerikanischen Autoren. Sein bisheriges Repertoire umfasst fünf Krimiserien, Filmkritiken, Drehbücher, Kurzgeschichten, Songtexte und Filmromane, darunter internationale Bestseller wie In the Line of Fire, Die Mumie, Air Force One, Der Soldat James Ryan oder U-571. Collins ist von den Private Eye Writers of America für seine Nathan-Haller-Historien-Thriller zehnmal für den Shamus nominiert worden und hat diesen zweimal (True Detective, 1983, und Stolen Away, 1991) gewonnen. Collins lebt mit seiner Frau, der Schriftstellerin Barbara Collins, und ihrem Sohn Nathan in Muscatine, Iowa.
MAX ALLAN COLLINS
THE SCORPION KING
Titel der Originalausgabe THE SCORPION KING Der Roman zum Film
Aus dem Amerikanischen von Martin Ruf
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
basierend auf einem Drehbuch von STEPHEN SOMMERS und WILL OSBORNE und DAVID HAYTER nach einer Geschichte von JONATHAN HALES und STEPHEN SOMMERS
The Scorpion King is a trademark and Copyright of Universal Studios.
Redaktion: Angela Küpper Deutsche Erstausgabe 05/2002 Copyright © 2002 by Universal Studios Publishing Rights All rights reserved. Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2002 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 2002 Umschlagillustration: Copyright © 2002 by Universal Studios Umschlaggestaltung: Nele Schutz Design, München Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling Druck und Bindung: Ebner & Spiegel, Ulm ISBN: 3-453-21508-7 http://www.heyne.de
INHALT
Prolog: Das Schneeungeheuer 11 1 Die akkadischen Meuchelmorder 27 2 Das Geheimnis des Zauberers 37 3 Tod in der Wüste 52 4 Die Stadt der Sünde 69 5 Haremsflirt 85 6 Das Tal der Toten 102 7 Ein Sturm zieht auf 121 8 Eine magische Berührung 134 9 Höhlenmenschen 146 10 Die Rückkehr der Seherin 163 11 Tochter der Furien 180 12 Edle Anstrengungen 195 13 Die Zeit der Prophezeihung 212 14 Das Schicksal des Skorpions 233 Die Spitze des Krummsäbels 237
PROLOG
Das Schneeungeheuer
Die Außenposten des Kriegsherrn Memnon erstreckten sich von der Wüste bis hin zu den schneebedeckten Gebirgszügen, die den Rand der bekannten Welt bildeten. An dieser zerklüfteten Grenze, wo die Winterwinde flüsterten und Eis die nackten Zweige der Bäume umhüllte, bot eine aus Baumstämmen errichtete Festung einem Stamm wilder Krie ger, der mit dem großen Kriegsherrn verbündet war, eine Art Zuhause. Eines Tages würde man diese Männer >Kopten< nennen, doch in jenen längst vergangenen Zeiten nannte man sie einfach nur Mörder. Ihre Festung, ein beeindruckendes, düsteres Zeichen einer barbarischen Zivilisation inmitten der Einöde, war ein fenster loses, dreistöckiges Gebäude, in dem die Krieger Plünderungen planten, gelegentlich Gefangene folterten und zwischen ihren Gräueltaten wilde Feste feierten. An diesem kalten Nachmittag loderte das Feuer innerhalb der Mauern ebenso heftig wie das Temperament der Krieger, denn die üblen Burschen tranken guten Wein und vergnügten sich mit üppigen Huren, die von Lager zu Lager zogen - hartherzi ge, weichhäutige Schönheiten, die an die stinkenden Krieger gewohnt waren, welche Bärte trugen, die Rattennestern gli chen. Felle wurden vom Körper gerissen und enthüllten Brustpanzer, auf denen die Zeichen zahlloser Schlachten zu sehen waren. Hier und da lehnten Speere, Schwerter und Krummsäbel an den roh gezimmerten Tischen und Wänden. Gelegentlich brach unter den verwahrlosten Soldaten Streit aus, bei dem es um eine Frau oder um Kriegsbeute ging oder auch nur um eine
Lügengeschichte, die so schwer zu verdauen war wie verdor benes Wildbret. Draußen im heulenden, eisigen Wind stand ein unglücklicher Krieger, der als Wachposten am einzigen Tor auf jener Seite des massiven Gebäudes eingeteilt worden war. Er war zwar allein, doch er war ein gewaltiger, Furcht einflößender Wäch ter. Er trug den roten Turban der Wachen Memnons, sein Bart und seine Felle waren eisverkrustet, und sein Gesicht, so schien es, war zu einem bösartigen, missmutigen Ausdruck erstarrt. Tatsächlich hatte sein Gesichtsausdruck weniger mit seinem Temperament zu tun als mit seiner Enttäuschung darüber, dass er als Wachposten eingeteilt worden war, während innerhalb der hölzernen Wände ausgelassen gefeiert wurde. Gelegentlich, wenn das Kreischen der Frauen und das Grölen der Männer vermuten ließ, dass jeder sich amüsierte (außer natürlich dem armen Kerl, der in dieser Eiseskälte Wache stand), wandte er sich dem Gebäude zu, blickte ebenso sehnsüchtig wie wütend auf das Tor und richtete seinen Blick dann wieder auf die kahle Landschaft, in der (so dachte er) kaum jemand so verrückt wäre aufzutauchen. Schrilles Frauengelächter lenkte den Blick des Wachpostens wieder zum Tor, und er schüttelte mürrisch den Kopf, denn er dachte daran, dass er noch drei Stunden lang in dieser Kälte würde ausharren müssen. Schließlich wandte er seinen mögli cherweise nicht mehr ganz so aufmerksamen Blick wieder dorthin, wo er hingehörte ... ... und in ebendiesem Augenblick wurde er von einem metal lenen Wurfstern getroffen, der surrend durch die Luft gewirbelt kam und sich mit tödlicher Wucht genau zwischen seinen Augen tief in die Stirn bohrte. Das Letzte, was er tat, war, mit verdrehten Augen nach dem Insekt zu suchen, das ihn anschei nend gestochen hatte, doch er starb, bevor er etwas erkennen konnte. Der Wachposten fiel auf die Knie, und aus einer nahe gelege
nen Schneewehe tauchten zwei Hände auf und rissen ihn in sein weißes Grab. Die feiernden Krieger in der Festung bemerkten nichts von dieser Störung. Sie hatten nur Augen für die Frauen, die zuweilen auf dem Schoß der Krieger - Bauchtänze vorführten, und für das Essen, das hinuntergeschlungen wurde, und den Wein, der die Kehlen hinabrann, während der Widerschein der Flammen die braunen Wände in ein flackerndes Orange tauchte. Genau in diesem Augenblick brach an einem der Tische ein Streit aus, und entsprechend der noblen Ethik solcher Krieger, griffen drei von ihnen gleichzeitig einen Einzelnen an. Bei dieser Auseinandersetzung schien es um eine Frau zu gehen oder ging es um ein Tablett mit Hammelbraten? Das war schwer zu sagen, denn eigentlich amüsierten sich alle gerade wunderbar. Nun, vielleicht nicht alle. Außerhalb der Festung schlurfte ein weiterer riesiger Wächter, der ebenfalls nicht an dem Fest teilnehmen durfte, durch den Schnee, in dem keine anderen Fußabdrücke oder Spuren außer seinen eigenen zu sehen waren. Wütend darüber, dass er seine Pflicht erfüllen musste, während drinnen gefeiert wurde, knurrte der bärtige Posten vor sich hin und hielt dann plötzlich inne. Hatte er im Wind, der durch die tote Vegetation pfiff, nicht etwas gehört? Über diese Frage konnte der Wächter gerade noch nachden ken, als eine bärenartige Klaue aus der Schneewehe hervor und zwischen seine Beine schoss und ihn hinabriss an seinen ... Nun, wir wollen dezent sein. Stellen wir uns also einfach vor, dass er in den Schnee gezogen wurde, wo er in einem Wirbel schneller Schläge und aufstiebenden Pulverschnees ver schwand und seine Knochen splitterten und brachen, bevor eine tödliche Stille folgte. Niemand sah die gewaltige weiße Kreatur, die sich aus dem Schnee erhob. Hätte sie jedoch jemand aus der Ferne beobach
tet, so hätte er den Eindruck gewonnen, dass ein Yeti sich seine Beute geholt hatte. Viele hielten den Yeti - eine Kreatur, halb Affe, halb Mensch, den manche den schrecklichen Schneemenschen nannten - für eine Sagengestalt. Wenige wussten, dass diese Wesen tatsäch lich existierten. Einer dieser Wenigen war ein akkadischer Krieger mit dem Namen Mathayus, der selbst einen Yeti getötet hatte. Genau genommen trug Mathayus das Fell des getöteten Yeti nun als Umhang über seiner nackten, bronzefarbenen Brust; seine mächtigen, muskulösen Beine steckten in ledernen Reithosen. Mathayus hatte dunkle Augen und die heroischen Gesichtszüge einer edlen Statue, sein Atem war Dampf und seine Muskeln zuckten. Trotz all seiner Stattlichkeit hätte er eine wilde Bestie sein können. Das war er nicht. Er ist vielmehr der Held unserer Geschichte. Er war an diesen schrecklichen Ort gekommen, um einen seiner akkadischen Brüder zu retten, denn obwohl Mathayus so Furcht einflößend war wie alle Krieger in jener Zeit, besaß er das Herz eines Königs - edel, voller Mitgefühl und doch energisch. In der Festung erhob sich der Hauptmann der Garnison, der selbst unter diesen monströsen Männern wie ein Monolith aufragte, vom Kopf des Haupttisches und trat vor die massive steinerne Feuerstelle, deren aufflackernde Flammen so gierig wirkten wie die ausgelassenen Soldaten. Seine Stimme war ein überhebliches Knurren. »Wir haben Babylonier getötet!« Die betrunkene Menge erinnerte sich noch gut daran und antwortete mit begeisterten Zurufen. »Wir haben Mesopotamier getötet!«, erinnerte sie ihr Anfüh rer. Und wieder antworteten sie mit brutaler Ausgelassenheit. »Aber ... noch nie zuvor hatten wir das seltene Vergnügen,
einen Akkadier zu töten.« Der Hauptmann deutete auf ihren so genannten Gast: Ein schlanker, doch muskulöser Akkadier mit stoischem, wetterge gerbtem Gesicht, dessen von Schlachtnarben gezeichnete Brust sich schwer hob und senkte, war mit gespreizten Armen und Beinen an ein Balkenkreuz gefesselt worden. Dieser Akkadier, sein Name war Jesup, blieb auf eine geradezu überhebliche Weise ungerührt und betrachtete seine Gastgeber beinahe mitleidig. »Lasst mich gehen«, sagte Jesup, »oder ein Zorn wird euch treffen, den keiner von euch überleben wird.« Die schmierigen Krieger lächelten nur über diese Worte, doch die Frauen, die so viele Kämpfe und Schlachten gesehen hatten wie die Soldaten, starrten den Akkadier voller Respekt und Furcht an. »Ihr werdet eine unbarmherzige Wut kennen lernen«, warnte sie Jesup streng wie ein ärgerlicher Vater, »... unerbittlich ... gnadenlos ... ein Zorn, den selbst die Götter nicht auf sich zu ziehen wagen.« Der Hauptmann gab ein grunzendes Lachen von sich. »Für einen Mann, der sterben wird - der ganz langsam sterben wird - nimmst du den Mund viel zu voll.« Jetzt wagten es die betrunkenen Zuhörer zu lachen, allerdings nicht die Frauen, die sich nach einer Ecke umsahen, in der sie sich verstecken konnten. »Oh«, erwiderte Jesup. Er wirkte amüsiert und sah dem Hauptmann direkt in die Augen. »Ich spreche nicht von mir.« Die Soldaten lachten umso lauter, und sogar die Frauen fielen in das Gelächter ein, wenn auch nervös. Doch als ihr Anführer den Blick des Gefangenen mit seinen Augen festhielt, spürte er einen plötzlichen kalten Schauder, der nichts mit dem Winter zu tun hatte. Draußen trat ein weiterer mächtiger bärtiger Wachposten von hinten an einen seiner Kameraden heran, einen Soldaten
namens Fydor, der sich erleichterte, indem er gelbe Muster in den Schnee zeichnete. »Fydor! Verdammt noch mal, warum hast du deinen Posten verlassen?« Der Wachsoldat packte Fydor an der Schulter und wirbelte ihn herum - doch es war nicht Fydor. Der akkadische Eindringling hatte seinen Umhang aus YetiFell abgeworfen und trug die Felle des Postens, den er getötet hatte - die Kleider des toten Fydor. Jetzt sah er sich einem anderen Wachposten gegenüber und bespritzte die Beine des Mannes unverschämt mit einem Strahl dampfenden Urins. Der getroffene Wachposten blickte unwillkürlich hinab auf seine Hose, wodurch Mathayus genau den Augenblick Zeit gewann, den er brauchte, um den Bastard mit einem Kopfstoß bewusstlos zusammenbrechen zu lassen. Das Krachen der Schädel wurde von den Bergen der Umgebung als leises Echo zurückgeworfen. Der Wachposten fiel wie eine tote Last in den Schnee, und Mathayus kehrte zu seiner gegenwartigen Mission zurück - er fuhr damit fort, sich im Schnee zu erleichtern. Es durfte schließlich nichts geben, das einen Mann ablenken konnte, wenn er in die Schlacht zog. In der Festung nahm der Hauptmann seinen Krummsäbel aus den Flammen der Feuerstelle, der so lange erhitzt worden war, bis der Stahl rot glühend pulsierte. Der Hauptmann packte den Griff des Krummsäbels und bekämpfte seine wachsende Unruhe mit einigen Prahlereien, während er mit der Waffe höhnisch durch die Luft hieb, die Jesup umgab. »Was sollen wir zuerst abhacken?«, fragte der Hauptmann, wobei er sich weniger an den Akkadier als an die Menge wandte - wie ein Musiker, der um die Wünsche seiner Zuhörer bittet. »Das rechte Bein!«, schrie ein betrunkener Krieger. »Das linke!«, kreischte ein anderer.
Wieder andere stimmten für die Arme, wobei sie - was kaum überraschend war - einmal dem rechten und dann wieder dem linken den Vorzug gaben. Die ganze Zeit über blieb der Gefangene reglos. Trotz all seiner Prahlerei fragte sich der Hauptmann: Was weiß der Akkadier, was wir nicht wissen? Draußen hatte ein Wachposten eine nachdenkliche Miene aufgesetzt, als dächte er ebenfalls über diese Frage nach. Das war jedoch eine Illusion, denn trotz seiner weit geöffneten Augen war dieser Mann tot. Er war aufgerichtet worden, als stünde er noch immer Wache und als steckte nicht ein Eiszap fen wie ein Speer in einer Seite seines Turbans. An der Ein trittswunde befand sich ein wenig Blut, das inzwischen gefroren und schwarz war. Der Mann, der das getan hatte, war natürlich Mathayus, der jetzt in Umhang und Kapuze eine Außenwand der Holzzitadele hinaufkletterte. Der Akkadier zog zwei Seile mit sich, die er um einen mächtigen Felsblock gebunden hatte. Das Gewicht des Felsblocks machte diesen Kraftakt des Kriegers besonders schwierig, als er jetzt - auf der Höhe des zweiten Stockwerks zwischen den Baumstämmen nach einem Halt suchte. In diesem Augenblick beobachtete der mit gespreizten Armen und Beinen gefesselte Jesup, wie der Hauptmann mit dem rot glühenden Krummsäbel auf ihn zukam. Kurz darauf schwebte die glühend heiße Klinge direkt unter dem Kinn des Gefan genen. Mit einem sadistischen Grinsen ließ der Hauptmann seine verdorbenen Zähne aufblitzen, als wollte er sagen: »Ich habe keine Angst vor den großen Reden, die du schwingst.« Jesup erwiderte das Lächeln. Und sagte: »Vielleicht haben die Götter Mitleid mit dir ... Mein Bruder jedenfalls nicht.« Der Hauptmann mit dem übel riechenden Grinsen versuchte nun zu lachen, doch dieses Lachen blieb ihm im Halse stecken. Die Worte des Akkadiers wirkten todernst, und der Krieger
ahnte, dass es sich um keine bloße Prahlerei handelte. Es war tatsächlich keine Prahlerei. Denn auf dem Dach saß genau in diesem Augenblick Mathayus auf dem Rand des Schornsteins, aus dem schwarze Rauchschwaden quollen. Mit seinen Händen hielt er den Felsblock hoch über den Kopf, als wollte er irgendwelche Kinder mit seinem meisterlichen Kraftakt beeindrucken. Doch es waren keine Kinder, die er beeindrucken wollte, so kindisch das Denken dieser feindlichen Krieger auch war. Mathayus holte tief Luft, stürzte sich nach vorn und ließ sich in den Kamin fallen, wobei er den gewaltigen Stein immer noch über seinen Kopf hielt, sodass der Felsblock zurückblieb, als Mathayus nach unten verschwand, im Kamin stecken blieb und ihn fast vollständig verstopfte, sodass nur noch winzige Rauchfähnchen nach außen dringen konnten. Fast sofort drang in den Raum darunter dichter schwarzer Rauch aus der Feuerstelle. Für einen Augenblick vergaß der Hauptmann seinen Gefangenen, und wie alle anderen im Raum wandte er seine Aufmerksamkeit der massiven steinernen Feuerstelle und den Rauchschwaden zu. Trotz des dunklen, beißend scharfen Qualms, der immer größere Teile des Raumes verschlang, trat der Hauptmann mutig nach vorn auf die Bedrohung zu, und als ein Pfeil aus den Rauchschwaden schoss, war es, als habe der Hauptmann den Tod gesucht, der ihn jetzt so heftig traf, dass er wie ein Schneeball durch das Zimmer geschleudert wurde. Jesup lächelte. Für ihn roch der Rauch wundervoll. Von seinem Ehrenplatz aus genoss er den Anblick, als drei Krieger, die an einer Theke standen, von drei Pfeilen aus der Feuerstelle von den Füßen gerissen wurden, während sich der Rauch in der Luft ausbreitete wie Tinte im Wasser. Die anderen Krieger sprangen auf und zogen ihre Schwerter, wenn sie sie trugen, oder tasteten danach, wenn sie ihre Waffen irgendwo anders hingelegt hatten. Die Frauen erstarrten. Ihre
Furcht verschlang jeden Gedanken an ein Versteck. Vier Krieger stürzten sich mutig in den schwarzen Rauch und stießen Kriegsschreie aus, die im Lärm verklangen, als Stahl auf Stahl prallte. Dann stolperten die Krieger aus dem dunklen Qualm, Jesups Lächeln wurde breiter und die Frauen kreisch ten, als die vier Männer ohne ihre Köpfe auf den rauen Boden fielen, wo das Blut aus ihren Hälsen floss wie Wein aus einer umgekippten Flasche. Die anderen Krieger waren zwar mutig, doch verständlicher weise entnervt von diesen Ereignissen, und als sie noch zöger ten, trat Mathayus - eine muskulöse, rußbedeckte Gestalt - aus der qualmenden Schwärze, wobei er in der einen Hand einen mächtigen Bogen und in der anderen Hand einen Krummsäbel hielt. Die orangefarbenen Flammen glühten im dunklen Rauch und umgaben ihn mit einer höllischen Aura, seine Hosenbeine und seine Kapuze brannten, und für diese abergläubischen Narren wirkte er wie die Vision eines Dämons, was durch die geköpften Soldaten, die vor ihnen auf dem Boden lagen, noch verstärkt wurde. In seinem rußbedeckten Gesicht glänzten große weiße Augen und ein noch größeres weißes, scheinbar wahnsinniges Lä cheln, und er sprach: »Ich ... bin ... der ... Tod!« Mehr war nicht nötig. Die übrigen Krieger und die Frauen rannten zur Tür, und es wirkte nahezu komisch, wie sie übereinander stolperten und sich durch den Ausgang drängelten. Nur wenige dachten daran, nach ihren Fellen zu greifen, und dann rannten sie nur zu gern hinaus in die eiskalte Wildnis. »He!«, rief Jesup und rüttelte an seinen Fesseln. »Lass sie nicht entkommen!« Mathayus, der die Flammen an seinen Beinen und seiner Kapuze löschte, hörte nicht auf ihn. »Ich habe ihnen versprochen, dass du sie alle töten würdest«, sagte Jesup zu ihm. »Lass mich nicht wie ein verdammter
Lügner dastehen!« Mathayus stöhnte auf und knurrte mit gespieltem Widerwil len: »Du hast Glück, dass wir dieselbe Mutter haben.« Und der rußbedeckte Akkadier zerschnitt die Fesseln seines Bruders. Kurz darauf saßen sie auf ihren Pferden, die hell auflodernden Baumstämme der brennenden Festung hinter sich. Gelassen ritt Jesup in die Freiheit, und er blickte zu seinem Bruder, der aus irgendeinem Grund zögerte und dessen dunkle, durchdringende Augen den Himmel absuchten. »Was ist?«, fragte Jesup. Während er langsam das schwindende Blau über ihren Köp fen musterte, sagte Mathayus leise: »Es kommt mir vor, als ob jemand ... mich beobachtet.« »Nun, wenn das so ist«, meinte Jesup, »sollten wir vielleicht von hier verschwinden.« Mathayus zuckte mit den Schultern, schwang die Zügel, und sie brachen auf, wobei sie ein hölzernes, schlittenartiges Gefährt hinter sich herzogen, auf dem ein Berg toter Krieger lag. Schließlich waren sie Söldner und das Kopfgeld wartete auf sie. Und weit entfernt in der sagenumwobenen Stadt Gomorra beobachtete ein Zauberer, der einen Flügelkragen trug, in seine Vision versunken den akkadischen Krieger mit Namen Mathayus. Er beobachtete und wartete.
Heute, viele Jahrhunderte nachdem unsere Geschichte von Menschen erlebt wurde, ist der Nahe Osten noch immer ein Hexenkessel voller Hass, Angst und Unruhen. Wie wenig sich doch geändert hat. Vor der Zeit der Pharaonen und ihrer Zivilisation, Jahrhun derte vor Dschingis Khan, der sich seinen blutigen Weg bahnte, lange vor den Eroberungen Alexanders des Großen haben diese unfruchtbaren Länder bereits Konflikte heraufbe schworen - eine Einöde, in der zwanzig einander bekriegende Stämme um die Vorherrschaft rangen. Wenn man sich eine Landkarte aus goldenem Papyrus vor stellt, die jene Region vor so langer Zeit darstellt - 3000 Jahre vor Christus -, dann zeigt diese Karte die gesamte bekannte Welt, zu der auch die sagenumwobenen Königreiche von Babylon, Mesopotamien und die verrufenen Städte Sodom und Gomorra gehören. Jene Reiche scheinen nur in der Sage zu existieren, und doch behaupten die ältesten Bücher, die uns die Wahrheit berichten - und die Bibel ist nur eines von mehreren , etwas ganz anderes. All dies waren Orte, die so wirklich waren wie die Welt, die uns heute umgibt. Und sie waren genauso gefährlich. Man stelle sich jetzt vor, dass diese Landkarte blutbeschmiert ist, und folge der leuchtend roten Spur der Zerstörung, einem Pfad, der das Land auslaugt und alles aufsaugt, was in seinem Lauf liegt. Dann schärfe man den Blick und stelle sich die Horden angreifender Reiter vor, einen Horizont, an dem ein Bogenschütze neben dem anderen seine Pfeile in den Himmel schießt, und zahllose Fußsoldaten, die unerbittlich immer weiter marschieren. Der Kriegsherr, der diese Heere kommandierte, wurde Lehrer der Menschern genannt - Memnon in jener uralten Sprache -, doch die Lektionen, die er lehrte, waren streng ... wie Zerstörung den Weg der Eroberung pflastern konnte, wie der Tod ein Volk bezwingen und Platz schaffen konnte für ein
anderes auf seinem Eroberungszug. Memnon ließ seine Weis heit anderen dadurch zukommen, dass er männliche Gefangene nur machte, um sie später hinzurichten und so ihre Frauen zu >befreienHalsabschneiderAnständig< hatte er gesagt? »Ich habe dieses arme Tier bloß in den Schatten geführt«, schwor der magere Gefangene. »Es war so heiß an dem Tag.« »Nicht so heiß wie heute Nacht«, sagte der Folterknecht mit dem Schürhaken. Als Arpid die Augen schloss und auf den glühenden Schmerz wartete, näherte sich ein akkadischer Meuchelmörder diesem Tableau der Folter; er glitt an einem Seil in das Lager, das an einem Kamelsattel befestigt war. Und Mathayus wäre vorbei geschwebt, hätte das Kamel Hanna sich nicht genau in diesem Augenblick gesagt: Genug ist genug. Die Last des Seils und des ganzen daran hängenden Gewichts waren einfach nicht zu ertragen, auch wenn Hanna ihrem Herrn gehorchen wollte. Und deshalb setzte sich das Albinokamel. Auch Mathayus setzte sich - wenn man das so nennen will.
Weil das Seil plötzlich durchhing, wurde der Akkadier in einen Sandhaufen geschleudert und landete - wie es ein lau nenhaftes Schicksal wollte - umittelbar neben den beiden fetten, schmierigen Folterknechten. Einen Augenblick lang zögerten sie, Arpids nackte Füße zu verbrennen, und starrten Mathayus überrascht an. Doch ihre Überraschung verwandelte sich in Wut, und plötz lich hatten beide Folterknechte rot glühende Schürhaken in den Händen, die sie durch die Luft schwangen, bereit, den Ein dringling anzugreifen. Mathayus ließ es gar nicht erst so weit kommen. Blitzschnell zog er seinen Krummsäbel aus der Scheide und tötete die beiden primitiven Bestien. Ihr Blut tränkte den Sand, bevor noch ein einziger Alarmruf über ihre geifernden Lippen kommen konnte. Der hängende Pferdedieb, der wegen der zischenden Hiebe die Augen geöffnet hatte, betrachtete kopfüber seinen Retter voller Bewunderung und Dankbarkeit. »Ich danke Euch, edler Herr!«, schluchzte er. Mathayus blickte auf die dürre Kreatur, die wie ein Spanfer kel über dem Feuer hing - ein ziemlich mageres Spanferkel. Arpid bedankte sich überschwänglich bei ihm und brabbelte: »Für die Gnade, die Ihr mir erwiesen habt, werden die Götter alle Gaben des Glücks auf Euch niederregnen lassen, bis ...« »Leise«, sagte Mathayus, rammte dem Mann den Ellbogen ins Gesicht und schickte ihn damit in eine Bewusstlosigkeit, die seine Aufregung etwas abkühlen sollte - was vielleicht nicht ganz gelang, da das Feuer die Haare des Diebes verseng te. Weil das Seil hoffnungslos schlaff war, ließ Mathayus es zurück und verschwand in der Dunkelheit, während er sich auf den Weg zum vereinbarten Treffpunkt machte. Schon kurz darauf war er weit in das Lager vorgedrungen; dort schloss er sich den beiden anderen Akkadiern an. Das Trio stand im
Schatten und spähte in einen Korridor zwischen den Zeltreihen. »Dort drüben«, flüsterte Mathayus und deutete in die entspre chende Richtung. Die beiden anderen sahen sofort, warum Mathayus gerade dieses Zelt ausgewählt hatte. Es glich keinem anderen im Lager und keiner der Akkadier hatte je zuvor solch ein Zelt gesehen. Es war groß, hatte die Form einer Kuppel und bestand aus einem Flickwerk verschiedener Tierhäute, die mit astrologi schen Zeichen und okkulten Ideogrammen geschmückt waren. Es war eindeutig das Zelt des Zauberers. Leise und vorsichtig bewegten sie sich über das offene Ge lände zwischen den Zeltreihen. Kein Laut war zu hören bis auf das leise Klirren, mit dem sie ihre Messer zogen, als sie sich rasch dem Zelt des Zauberers näherten. Als sie sich wieder in den Schatten zurückzogen, waren Mathayus' Augen überall, und er hörte das leise Flattern einer Zeltplane im nächtlichen Wind ... ... welche die Füße von einem Dutzend Wächtern enthüllte, die nur auf sie warteten. »Zurück«, flüsterte Mathayus. Er hielt mit gespreizten Armen inne, als ihm klar wurde, in welche Falle sie gegangen waren. Auch die anderen Akkadier rührten sich nicht mehr. Doch es war zu spät, um sich zurückzuziehen. Eine Plane, die über die ganze Länge des kuppelartigen Zeltes verlief, wurde plötzlich aufgeklappt und enthüllte ein Dutzend Bogenschützen, die sofort mit ihren Pfeilen das Feuer eröffne ten. Fast im gleichen Augenblick klappte eine andere Plane eines Zeltes an der anderen Seite des Korridors nach oben, und ein Dutzend weiterer Bogenschützen schoss ihre Pfeile auf die Akkadier ab und nahm sie in ein tödliches Kreuzfeuer. Mathayus kamen seine jugendlichen Reflexe zugute, und er sprang in die Höhe, packte einen überhängenden Teil des großen Zeltes und schwang sich auf das Dach, während unmittelbar unter ihm die Pfeile vorbeizischten und ihn nur
knapp verfehlten ... ... doch sie verfehlten nicht seine beiden akkadischen Brüder, die zu Boden gerissen wurden. Mathayus konnte nur noch entsetzt nach unten starren, als seine Kameraden von den Pfeilen überwältigt wurden. Nichts, was er tun konnte, würde sie jetzt noch retten. Sie waren verloren. Und er konnte sich nur noch nach vorn stürzen, wobei er unbeholfen wie ein Welpe über das einsackende Zeltdach stolperte. Mathayus hatte so schnell reagiert und sich hier oben in Sicherheit gebracht, dass die Soldaten, die unten aus ihrem Versteck ins Freie traten, seine Flucht nicht bemerkten. Es war, als sei der dritte Akkadier einfach verschwunden. Sie suchten ihn zwischen den Zelten, doch ihnen war nicht klar, dass sich der große Meuchelmörder hoch über ihnen befand und sich an der Spitze der Kuppel festhielt, die das Zelt des Zauberers bildete. Mit seinem Messer durchschnitt Mathayus die Tierhäute und schuf eine Öffnung, durch die er sich hinabfallen ließ. Wie eine große Katze landete er fast lautlos auf dem fellbedeckten Boden. Es war, als hätte er eine andere Welt betreten, eine seltsame, von Schatten erfüllte und zugleich goldene Kammer in einem Zelt, in der kunstvolle Draperien und Tapisserien hingen und die mit ihren reich verzierten Bänken und Möbeln einem Palast glich, während der Rauch eines Feuers in der Mitte eine Art Bodennebel schuf, wodurch eine okkulte Atmosphäre entstand. Mathayus ging in die Hocke, nahm den mächtigen Bogen von der Schulter und legte einen Pfeil an. Er schob einen Wandtep pich zur Seite und sah, dass er nicht allein war. Eine Gestalt, die ihm den Rücken zugewandt hatte und in einen langen, wallenden Umhang mit einem hohen steifen Kragen gehüllt war, der mit Mondsymbolen und anderen rätselhaften Zeichen geschmückt war, wirbelte plötzlich herum. Sie bewegte sich so
übernatürlich schnell und fließend, dass es aussah, als schwebte sie. Der Zauberer. Der meisterhafte Bogenschütze schloss ein Auge und zielte, als sich ihm die Gestalt ganz zuwandte ... ... und der Zauberer, so schien es, war eine Zauberin. Zuvor hatte der Umhang sie so sehr verhüllt, dass Mathayus nichts hatte erkennen können. Jetzt sah er alles. Sie war nur spärlich bekleidet, der größte Teil ihrer goldfarbenen Haut war unbedeckt. Sie war schlank und doch wohlgeformt, ihre hohen festen Brüste wurden von einem funkelnden Halter nur halb bedeckt, und ihre Lenden umfing ein goldener Gürtel. Nie zuvor hatte er ein so atemberaubend schönes Gesicht gesehen. Es war oval mit weit auseinander stehenden, großen dunklen Mandelaugen, einer zierlichen Nase, kleinen, vollkommenen Lippen, und dies alles wurde umrahmt von schulterlangem obsidianfarbenen Haar, das von einem goldenen Kopfschmuck gekrönt wurde. Hypnotisch hielten ihre Augen seinen Blick gefangen. War sie ein Traum? Hingerissen und überwältigt von einer so seltenen Schönheit, lockerte Mathayus seinen Griff um die Bogensehne ein wenig. Dann kniff er die Augen zusammen, um seine Konzentration zurückzugewinnen und sich auch weiterhin konzentrieren zu können. Das war Zauberei. Schließlich war er ja gekommen, um einen Zauberer zu töten. Wer konnte behaupten, dass das kein Mann war, kein Meister der Schwarzen Magie, der die Illusion einer Frau heraufbe schworen hatte? »Ich bin Cassandra«, sagte sie. Ihre Stimme war wie Musik, und als sie sich auf ihn zu bewegte, erklangen winzige, an ihren Zehenringen befestigte Zymbeln im Takt zu dieser Musik. Und sie trug goldene Handschuhe - mit silbernen
Klauen. Er war hierher gekommen, um zu töten. Noch einmal zielte er mit seinem Pfeil auf ihr Herz. »Man hat dich betrogen, Mathayus«, sagte sie. Doch ihre Lippen bewegten sich nicht! Die Stimme, diese liebliche, musikalische Stimme erklang nur in seinem Kopf. Er kniff die Augen zusammen, öffnete sie wieder und sah hinab auf seinen angelegten Pfeil, als er sprach. »Du kennst meinen Namen?«, fragte er sie. Sie nickte. In seinem Kopf sagte ihre Stimme: »Und ich weiß, warum du hier bist. Aber ich fürchte, es wird nicht so leicht für dich werden, mich zu töten.« Als Mathayus auf sein schönes Ziel starrte, empfand er etwas Merkwürdiges, das vielleicht durch magische Künste geschaf fen worden war: Die Zeit schien langsamer abzulaufen, wäh rend seine Gedanken rasten. »Also töte mich«, sagte sie, und dieses Mal sprach sie laut. »Falls du es kannst.« Ihre Augen schienen tief in ihn einzutauchen, bis auf den Grund seiner Seele. Er fühlte sich schwach, eine gewaltige Last drückte seinen Arm nieder, der doch so dick mit Muskeln bepackt war. Er schoss den Pfeil ab - doch sein Ziel war nicht die Zauberin. Ein Wachposten im roten Turban hatte unmittelbar hinter Cassandra das Zelt betreten, und der Pfeil riss ihn von den Füßen und tötete ihn. Mathayus war wieder zu sich gekommen. Als er wachsam den nächsten Pfeil anlegte, betrachtete ihn die Zauberin unendlich traurig. »Es tut mir Leid, Akkadier«, sagte sie laut, und es klang, als meinte sie diese Worte ernst. Als hätte sie wirklich sterben wollen. »Du hast deine Chance verpasst.« Eine weitere Wache mit Helm und Lederrüstung stürmte mit gezücktem Schwert auf ihn zu. Mathayus ließ den Bogen
fallen, riss mit seiner Rechten blitzschnell den Krummsäbel aus der Scheide, während seine Linke nach dem Kama griff. Als der Wächter ihn erreicht hatte, lenkte Mathayus den Schwert hieb mit seinem Krummsäbel ins Leere und hieb dem Mann das Kama in die Magengrube, worauf dieser auf den raucher füllten Boden stürzte und verblutete. Der Nächste kam von hinten, und der Akkadier wirbelte herum, schlug mit seiner Klinge gegen die Klinge des Mannes, schlitzte ihm über die Brust und stieß ihn mit seinem Ellbogen zu Boden. Zwei weitere Wächter stürzten sich mit erhobenen Schwertern auf ihn, und der Akkadier vollführte einen seitli chen Stoß mit der Klinge, der einen Angreifer sofort tötete und den zweiten zwar nur verwundete, doch beide Männer stürzten. Dann tötete er den Überlebenden mit einem von oben geführ ten Stich, und die Zauberin erschauerte über den eiskalten Gesichtsausdruck des Meuchelmörders, der sich so konzent riert seiner Arbeit widmete. Mathayus bemühte sich, wieder zu Atem zu kommen, als seine Angreifer plötzlich überall waren und die roten Turbane förmlich in das Zelt strömten. Wie eine Maschine, die nur entwickelt worden war, um zu töten, kämpfte er mit einer so großen Geschicklichkeit und Wildheit, dass die Zauberin jetzt so überrascht war wie er zuvor, als ihre Schönheit ihm den Atem geraubt hatte. Doch es waren schließlich so viele, dass sie Mathayus über wältigten, und sie umringten ihn so dicht in diesem engen Raum, dass er nicht sah, wie Memnon selbst das Zelt betrat. Er wurde von seinem Oberkommandierenden Thorak begleitet, einem narbengesichtigen Dämon in Menschengestalt. Thorak trug einen Dreizack und ging auf das Ein-Mann-Heer Mathay us zu. Mathayus war von den Wachen in roten Turbanen umgeben, die ihn in die Enge getrieben hatten, doch er plante einen letzten glorreichen Ausfall: Auf seinem Weg, der ihn zu einem guten Tod führen sollte, wollte er eine blutige Bresche in die
Reihen seiner Angreifer schlagen. Doch genau in diesem Augenblick wurde der Dreizack nach vorn gestoßen, und die drei Zacken nagelten ihn an die mittlere hölzerne Zeltstange. Und wieder hörte er in seinem Kopf die Stimme der Zauberin, die voll aufrichtiger Trauer sagte: Es tut mir Leid, Akkadier. Es tut mir Leid.
Tod in der Wüste
Das Meer der Soldaten teilte sich um Mathayus, der immer noch von Thoraks Dreizack an den Zeltpfosten gefesselt wurde, und so konnte er sehen, wie sein Gastgeber sich näher te. Es war nicht nötig, dass dieser sich vorstellte: Der Mann im goldenen Kettenhemd, dessen königliche Haltung die ernste Grausamkeit seiner stattlichen Züge nicht zu mildern vermoch te, konnte niemand anderes sein als Memnon selbst. Der Lehrer der Menschen hielt inne, musterte seinen musku lösen Gast mit prüfendem Blick und sagte: »Ein lebendiger, atmender Akkadier. Welch eine Seltenheit. Welch ein unge wöhnliches Vergnügen.« Und Memnon stellte sich direkt vor Mathayus, er pflanzte sich vor dem Krieger mit einer Furchtlosigkeit auf, die nichts mit der Tatsache zu tun hatte, dass der Meuchelmörder sich nicht bewegen konnte. »Ich habe gehört«, sagte Memnon, der Herr, »dass Angehöri ge eures Volkes sich darin üben, große Schmerzen zu ertra gen.« Mit einem kleinen, widerlichen Lächeln nickte Memnon seinem riesigen Oberbefehlshaber Thorak zu und befahl ihm mit einer Geste, den Dreizack zu entfernen. »Nun, wir werden deine Fähigkeit, Schmerzen zu ertragen, auf die Probe stellen.« Mathayus spuckte dem Kriegsherrn ins Gesicht.
Memnons erste Reaktion war ein winziges, höhnisches Lä cheln - erst dann schlug er dem Akkadier den Handrücken mit solcher Wucht ins Gesicht, dass Blut gegen die nahe Zeltwand spritzte. »Du blutest wie jeder andere Mensch auch«, sagte Memnon. Auch Mathayus lächelte höhnisch, doch es war kein winziges Lächeln. Es war ein blutiges, trotziges Knurren. Sein Gesichtsausdruck änderte sich jedoch, als er eine ver traute Stimme hörte. »Wie? Keine kühlen, wagemutigen Worte mehr von einem herzlosen Meuchelmörder?.« Die sarkastische Bemerkung kam von einem jungen Mann mit dünnem Bart in edler Lederrüstung, der in diesem Augen blick das Zelt betrat. Er hielt einen Sack aus Kuhhaut an den Kordeln, der so groß war, dass ein Wasserkrug darin Platz hatte. Takmet! Der Sohn König Pherons von Ur. Jetzt verstand Mathayus, warum die Zauberin von Verrat gesprochen hatte. »Du, Takmet«, fragte Mathayus mit weit aufgerissenen Au gen, »du bist der Verräter?« Das schien den Königssohn zu amüsieren, und er antwortete sarkastisch mit einer angedeuteten Verbeugung. In der brutalen Welt, in der Mathayus all die Jahre gelebt hatte, gab es nur eines, was einen Menschen vom Tier unter schied - selbst von Tieren in Menschengestalt - , und das war sein Wort, seine Ehre. »Du verrätst deinen eigenen Vater?« Takmet zuckte mit den Schultern. »Mein Vater war ein vergesslicher alter Narr.« Bei diesen Worten lief Mathayus ein Schauder über den Rücken, besonders bei dem Wort war. »Er hat nichts Besseres verdient von einem Sohn, den er beleidigt hat.« Der schmächtige Erbe des Thrones von Ur wandte sich an den Kriegsherrn. »Der alte Mann hat dafür bezahlt, dass er mich unterschätzte. Er war entsetzt. Das sieht
man an seinem Gesicht.« Takmet griff mit der Hand in den Ledersack und holte den Kopf seines Vaters hervor. Tatsachlich zeigten die Züge von König Pherons Gesicht, wie überrascht er gewesen war. Mathayus wurde übel und er warf diesem Möchtegernhelden einen wütenden Blick zu, und die Wachen und selbst Thorak runzelten die Stirn. Die Zauberin wandte sich ab, jedoch nicht aus weiblicher Empfindlichkeit, sondern aus Abscheu. Nur Memnon schien erfreut und auf düstere Weise amüsiert. Takmet hob den abgetrennten Kopf in die Höhe, indem er ihn an den grauen Haaren packte und beteuerte förmlich: »Mit dem Kopf meines Vaters gelobe ich dir meine Gefolgschaft.« Memnon machte eine lässige Geste und sagte: »Takmet, du hast deine Loyalität bewiesen. Du wirst den linken Flügel meines Heeres befehligen und mir als Statthalter von Ur dienen, nachdem wir die Stadt eingenommen haben.« Thorak, der neben Mathayus stand, runzelte leicht die Stirn. Memnon bemerkte dies, und daher wandte er sich an seinen Oberbefehlshaber: »Und zusammen mit Thorak, der den rechten Flügel meines Heeres befehligt, werden wir jeden vernichten, der es wagt, unsere Macht herauszufordern.« Mathayus verachtete eine Kreatur wie Memnon, doch selbst er musste zugeben, dass dieser Mann eine charismatische Ausstrahlung besaß. Die Wachen mit den roten Turbanen verschlangen jedes einzelne Wort des Kriegsherrn. »Und sobald der Dämonen-Mond aufgeht«, fuhr der Große Lehrer fort, »werden meine Heere bis zum Meer vordringen und ich werde den Thron besteigen als jener Konig, von dem die uralten Legenden berichten, er sei der Herrscher, den die Götter lieben. Wie es die Prophezeiung verkündet hat.« Durch die von Fellen und Tierhäuten gebildete Kammer mit dem rauchbedeckten Boden nickte ihm Cassandra ihre Zu stimmung zu.
Dann flog eine Zeltwand auf, und mit knirschenden Lederrüs tungen und klirrenden, stählernen Waffen zogen zwei Wächter einen Gefangenen herein. Jesup. Mathayus fühlte, wie ihn eine Woge der Verzweiflung erfass te, als er seinen alten Freund und Kameraden sah, der mehr tot als lebendig wie ein Sack Getreide an den Armen hereinge schleppt wurde und dessen ganzer Körper von roten Pfeilwun den übersät war. Obwohl er kaum mehr bei Bewusstsein war, gelang es dem älteren Akkadier, den Kopf zu heben und über die ganze Breite des Zeltes hinweg Mathayus anzusehen. Eine der Wachen an Jesups Seite sagte: »Wie Ihr sehen könnt, mein Herr, lebt er noch.« »Wie interessant«, meinte Memnon und schritt über den nebelbedeckten Boden. Dann hielt er inne, um eines der Messer aufzuheben, die Mathayus im Kampf verloren hatte. »Obwohl diese Rasse angeblich von der Erdoberfläche ver schwunden ist, ist es erstaunlich schwierig, einen Akkadier zu töten.« Mathayus, der von zwei Wachen festgehalten wurde, betrach tete voll Reue, wie der Kriegsherr das kleine Wurfmesser musterte; es war ein elegantes Exemplar akkadischer Waffen schmiedekunst. »Sehr schön«, sagte Memnon voll ehrlicher Bewunderung und ließ die Klinge gegen seine Handfläche schnippen. »Bringt den Krieger zu mir. Ich möchte ihm meine Ehrerbietung erweisen.« Rasend vor Wut stürzte sich Mathayus nach vorn, doch den Soldaten gelang es, ihn wie einen Löwen im Käfig festzuhal ten. Hilflos sah er zu, wie sein Kamerad über den rauchbedeck ten Fußboden gezogen und vor Memnon geschleppt wurde. Jesup blickte unter seinen halb herabgesunkenen Lidern hervor Mathayus in die Augen - und plötzlich öffneten sich die Augen des älteren Mannes und waren von strahlender Kraft erfüllt.
»Lebe frei«, sagte Jesup. »Stirb gut«, antwortete Mathayus voller Resignation. »Mein Bruder ...« Und mit einer einzigen hinterhältigen, blitzschnellen Bewe gung schoss der Große Lehrer nach vorn und vollführte mit der erbeuteten Klinge einen langen Schnitt. An jedem Tag seines Lebens hatte Mathayus mit dem Tod gelebt, doch der Schmerz, den er empfand, als das Messer die Kehle des älteren Akkadiers aufschlitzte, erfüllte all sein Denken und sein ganzes Wesen mit Wut und Wahnsinn. Der tapfere Mathayus, der - ohne dass er es wusste - genauso reagierte wie die Zauberin, konnte sich nur noch abwenden, und er fühlte sich, als wäre die Klinge in seine eigene Magen grube eingedrungen. Er sah nicht, dass die Zauberin von einer eigenen Woge des Schmerzes erfüllt wurde. Cassandra hatte die Augen zusam mengekniffen und hob eine Hand an ihren Kopf, als wollte sie prüfen, ob sie Fieber habe. Sie nahm ein tiefes Grollen war, und es war ihr, als kämen diese Töne von draußen, wie das Grollen des Donners oder wie die tektonischen Platten der Erde, die sich verschoben. Aber als sie ihre Augen wieder öffnete, konnte sie eindeutig erkennen, dass niemand außer ihr im Zelt diese Töne gehört oder gespürt hatte, obgleich deren Echo noch immer in ihrem Kopf widerhallte und die Stimmen der Männer um sie herum unhörbar machte. Sie wollte den Anblick des Blutvergießens unbedingt vermei den, doch unwillkürlich wurden ihre Augen von Memnon angezogen, der den Dolch, von dem flüssige Rubine tropften, in der Hand hielt. Was sie dabei sah, konnte niemand in diesem Raum erkennen: Memnons Gesicht war von Silber umhüllt seinen Kopf umgab ein schimmernder Lichtkreis. »Ich habe noch nie eine Klinge benutzt, die so scharf ist wie diese«, sagte Memnon und musterte das Messer. »Ich frage
mich, ob sie stumpf geworden ist - jetzt, nachdem ich sie benutzt habe. Oder ob sie beim zweiten Mal noch genauso scharf schneidet.« Und der Große Lehrer trat nach vorn, hob den Dolch und fixierte Mathayus' Kehle. Stirb gut, dachte Mathayus, und rasch, doch ohne die gerings te Unsicherheit richtete er seinen Blick nacheinander auf die drei Männer - Thorak, Takmet und schließlich Memnon - und sagte lächelnd: »Ich werde euch alle wieder sehen. In der Unterwelt.« Memnon erwiderte das Lächeln. »Oh, das wird gewiss noch sehr lange dauern, Akkadier.« Jetzt schwang der Kriegsherr das Messer, um dem Gefange nen die Kehle durchzuschneiden. »Wartet!« Die Stimme der Zauberin war so scharf wie die Klinge. Alle Blicke wandten sich ihr zu. »Wartet!« Ihre Worte besaßen große Autorität, als sie sprach. Sie hatte das Kinn erhoben, und ihre schönen, aber harten Augen waren zu schmalen Schlitzen verengt, die wie kostbare dunkle Juwelen funkelten. »Mathayus soll heute Nacht nicht sterben.« »Falls das deine Prophezeiung ist«, erwiderte Memnon, immer noch bereit, mit der Klinge zuzustoßen, »dann brauche ich womöglich eine neue okkulte Ratgeberin.« Und doch bewegte der Kriegsherr die Klinge nicht weiter. »Ändert Eure Zukunft«, entgegnete sie kühl, »falls Ihr das wollt.« Memnon warf ihr einen raschen Blick zu. »Sollte Mathayus durch Eure Hand sterben oder durch die Hand eines Menschen, der unter Eurem Befehl steht, wird Unheil über Euch hereinbrechen. Die Götter sehen uns, mein König.«
Die Wachen mit den roten Turbanen, diese mächtigen Krie ger, die schon so viele Menschen getötet und schon so viel Blut vergossen hatten, wurden durch die musikalische Stimme der Zauberin eingeschüchtert. Mathayus amüsierte sich beinahe über die Ehrfurcht und Angst in ihren Gesichtern. Auch Memnon sah ihre Reaktion. Und der Kriegsherr wusste ebenso gut wie seine Soldaten, dass seine Erfolge auf dem Schlacht feld wenigstens zum Teil durch das übernatürliche Wissen dieser Frau ermöglicht worden waren. Memnon ließ das Messer sinken, doch er blickte seinem Gefangenen direkt in die Augen. »Ein Rätsel also. Wie kann ich dich töten, ohne meine Hände zu gebrauchen - oder die Hand irgendeines Menschen, der unter meinem Befehl steht? Was hast du gesagt, Akkadier? Stirb gut?« Mathayus sagte nichts, doch sein Blick verriet all die Verach tung, die er empfand. Der Kriegsherr antwortete mit gespielter Besorgnis. »Gut zu sterben, ein edler Tod - das ist wichtig für euch, nicht wahr? Ich werde mein Bestes tun, um dir zu Diensten zu sein.« Mathayus beobachtete, wie Memnon sich abwandte und auf die Zauberin zuging, doch der Akkadier sah den Schlag nicht kommen, mit dem Thorak seine Faust auf den Kiefer des Gefangenen krachen ließ. Dieser Schlag beförderte ihn zwar nicht in die nächste Welt, doch in eine sehr dunkle Kammer in dieser Welt. Als der Meuchelmörder das Bewusstsein wiedererlangte, stand die Sonne hoch am Himmel. Mathayus war viele Stunden lang bewusstlos gewesen, denn jetzt war es nicht Morgen, sondern heller Tag, und er spürte sofort, dass er sich nicht bewegen konnte. Sein Gesicht befand sich nicht allzu weit über dem Boden, und vor sich erblickte er einen Graben aus Sand und Felsen, in dem einzelne sonnengebleichte Schädel aus dem Wüstenboden ragten. Die Schädel mochten zwar beunruhigend sein, doch sie waren
nicht das Schlimmste. In dieser flachen, grubenartigen Rinne gab es mindestens ein Dutzend Erdhügel, die wie Kegel geformt waren. Sie waren zwischen einem und nicht ganz zwei Metern hoch und besaßen eine Öffnung an der Spitze. Große Insekten huschten in diese Öffnungen hinein und wieder aus ihnen heraus. Es waren Ameisen, die konzentriert und in größter Eile ihren Aufgaben nachgingen. Inzwischen hatte der Akkadier erkannt, dass er bis zum Hals im Sand eingegraben worden war. Zwei Wächter, die rote Turbane trugen, saßen auf Felsen am Rand des Grabens. Einer von ihnen erhob sich von seinem Felsblock und ging zwischen den Erdhügeln und Steinen hindurch. In der einen Hand trug er ölgetränkte Lappen und in der anderen eine Fackel, die so grell leuchtete wie die Sonne. Methodisch zündete der Wächter die Lappen an - und ließ sie in die Erdhügel fallen. Von rechts hörte der Akkadier eine näselnde Stimme, die beinahe lässig sagte: »Faszinierend, nicht wahr?« Mathayus konnte sich kaum bewegen. Er konnte nur den Kopf ein wenig zur Seite drehen, und als er das tat, sah er den Pferdedieb, der in der vergangenen Nacht über den Flammen gehangen hatte. Auch er war bis zu seinem mageren Hals neben dem Akkadier eingegraben worden. »Der Rauch versetzt die Ameisen in Panik«, erläuterte der Pferdedieb kühl. »Er bringt sie dazu, dass sie ihre Bauten verlassen. Siehst du das?« Der Wächter sprang zurück, als tausende dieser mächtigen Insekten wie eine Welle aus den Erdhügeln brandeten. »Nicht mehr lange«, sagte der Dieb, »dann werden unsere nackten Köpfe ihr Festmahl sein.« Mathayus hatte ihm kaum zugehört, denn er versuchte, sich zu befreien. Aber alle Bemühungen schienen umsonst. »Du findest das komisch, was?« »Du bist Akkadier, richtig?«
»Ja.« »Ich habe gehört, wie die Wachen sich unterhalten haben. Ich dachte, deine Rasse sei längst ausgestorben.« »Noch nicht.« »Du meinst, so lange dich die Ameisen noch nicht geschnappt haben?« »Ich glaube, ich kann mit deinem Humor nichts anfangen.« »Ich heiße Arpid. Ich bin ein ehrlicher Mann, dem man vor wirft, ein Pferdedieb zu sein. Und du bist?« »Mathayus. Lach mich bitte aus. Vielleicht hilft mir dann meine Wut, hier rauszukommen.« »Das glaube ich nicht. Genau das ist es nämlich, was ich so komisch finde. So ein halb verhungerter Bursche wie ich und so ein muskelbepackter Riese wie du - und doch werde ich es sein, der entkommt. Während du hier einen grausigen Tod stirbst, den du dir nach dem Ratschluss eines unerbittlichen Schicksals zweifellos selbst zuzuschreiben hast. Denn du hast mich letzte Nacht dem sicheren Tod überlassen.« »Du? Du wirst entkommen?« »Richtig. Männer wie du bestehen nur aus Muskeln. Aber es fehlt ihnen an Hirn. Du bist ein armer Kerl, der nur die Ober fläche sieht - oder etwa nicht?« Dem Dieb mit dem spärlichen Bart gelang es, in Richtung des Wächters zu nicken, der am Eingang des Grabens auf seinem Felsblock saß. »Der ist genauso wie du. Während die uns hier eingegraben haben, habe ich so getan, als würde ich schlafen. In Wirklichkeit habe ich meine Lungen vollgepumpt, bis sie so groß waren wie die Blase eines Kamels.« Der Wächter, der die brennenden Lappen in die Ameisen bauten geworfen hatte, ging zu seinem Felsblock am Rand des Grabens zurück. Mathayus sah, wie der Mann einen Wein schlauch hob und trank. Der andere Wächter inspizierte die Beute, die sie gestohlen hatten: die Waffensammlung, die einst Mathayus gehört hatte, einschließlich des mächtigen Bogens.
Der Wächter entdeckte soeben, dass er die Bogensehne nicht spannen konnte. Ein winziges Lächeln huschte über die Lippen des Ak kadiers, doch es hielt nicht lange an, denn er sah, wie sich ihm Reihen auf Reihen von Ameisen näherten, eine Armee, die aus den umliegenden Erdhügeln aufgebrochen war und nur ein Ziel kannte: Mathayus' Kopf. »Wenn du fliehen kannst«, sagte Mathayus zu seinem Mitge fangenen, während die Ameisen auf ihn zu krabbelten, »worauf wartest du dann noch?« »Siehst du das da?«, fragte Arpid und meinte damit nicht die herankommenden Ameisen, sondern den Wächter, der etwas näher bei ihnen saß und aus einem Weinschlauch trank. »Was ist mit ihm?« »Nichts. Nur dass er seit etwa einer Stunde diese Yakpisse trinkt. Schon sehr bald wird die Natur ihr Recht verlangen und - ah! Was habe ich dir gesagt?« Der Wächter erhob sich von seinem Felsen und machte sich auf zu einer kleinen Gruppe Steine. Mit dem Rücken zu den Gefangenen erleichterte er sich in den sandigen Graben hinein. »Ich will verdammt sein, wenn du nicht Recht hast«, meinte Mathayus und wandte sich an seinen Mitgefangenen ... ... doch er sprach mit einem leeren Loch im Boden! Arpid war verschwunden. Er war aus dem Loch geglitten, das nicht breiter schien als der Kopf eines Mannes. Doch falls dieser magere Kerl seine Lungen tatsächlich bis zum Bersten mit Luft vollgepumpt hatte, dann ... Jetzt war Mathayus allein im Graben - oder fast allein. Er hatte immer noch seine Freunde, die Ameisen, und die waren weniger als sechs Meter entfernt. Der Akkadier war so mutig wie nur irgendein Mann, der in seiner Welt lebte, doch jetzt erfasste ihn eine Woge der Panik, noch bevor die Woge der Ameisen ihn erreicht hatte. Hektisch warf er sich in seinem Gefängnis aus Sand hin und her. Aber er
konnte sich nicht befreien. »He!«, schrie jemand. Es war der Wächter, der sich erleichtert hatte und der jetzt entdeckte, dass der Pferdedieb Arpid verschwunden war. Der andere Wächter war beschäftigt. Er saß auf dem Boden und versuchte, mit Hilfe seiner Füße Mathayus' Bogen zu spannen. Aber auch so gelang es ihm nicht. Der Wächter bewegte sich ein, zwei Schritte den Abhang hinab, während er die Landschaft aus Steinen, Schädeln, Ameisen und dem bis zu seinem Kopf eingegrabenen Akkadier absuchte. »Wo ist der kleine Scheißkerl?«, fragte der Wächter Mathay us, doch dieser starrte schon längst auf den näher kommenden Tross aus Ameisen, der jetzt noch viereinhalb Meter entfernt war. Durch die langsamen, doch entschlossenen Schritte der Insekten verringerte sich die Entferung immer mehr. Mathayus konnte also zunächst wirklich nicht erkennen, dass Arpid hinter dem Wächter mit dem roten Turban aufgetaucht war und einen dicken Ast schwang, den er mit voller Wucht gegen den Hinterkopf des Mannes sausen ließ, als schlüge er nach einem Ball. Der Wächter viel vornüber zwischen die Felsen. Er war bewusstlos. Der andere Wächter, der sich so lange mit dem gewaltigen Bogen abgemüht hatte, gab schließlich auf und erhob sich stolpernd, doch er war nicht schnell genug. Ein weiterer Schlag mit dem Ast traf ihn, und er fiel den Abhang hinunter in den Graben, wo er gegen mehrere Amei senhügel stieß, bis er schließlich auf dem Boden liegen blieb. Innerhalb weniger Augenblicke war der Wächter von Schwärmen von Insekten bedeckt, die sich von den Schreien und den wilden Schlägen, die der Mann nach allen Richtungen austeilte, nicht beeindrucken ließen. Doch schon rollte eine weitere, unerbittliche schwarze Flut Ameisen auf den Akkadier zu, und die Entfernung wurde
immer geringer. »Arpid!«, schrie Mathayus. »Mach schon!« Der Dieb saß jetzt auf demselben Felsen, auf dem der zu Boden geschlagene Wächter gesessen hatte, und nahm einen langen, genüsslichen Zug aus dem Weinschlauch. Nachdem er getrunken hatte, wischte er sich über das Gesicht und den spärlichen Bart und blickte mit einem Gesichtsausdruck zu Mathayus hinunter, der besagte: Oh - bist du immer noch dort? »Hol mich verdammt noch mal hier raus!«, schrie der Akka dier, während die Ameisen auf ihn zu marschierten. Arpid hob eine Augenbraue und suchte eine bequeme Positi on auf dem Felsen. »Und warum sollte ich das tun?« Diese Erwiderung machte Mathayus für einen Augenblick sprachlos, und er starrte den Dieb nur an. Dann brüllte er wütend: »Weil ich dich umbringe, wenn du es nicht tust.« Zwei Ameisen, die Anführer ihrer riesigen Truppe, hatten sich auf eine Erkundungsmission begeben und kletterten auf den Kopf des Akkadiers. Heftig schüttelte er sich, und sie antworteten mit Stichen und Bissen. Arpid wiegte in gespieltem Mitleid seinen Kopf hin und her. »Du musst zuerst diese widerlichen Viecher überwinden, bevor du mir irgendetwas antun kannst. Und das scheint nicht beson ders wahrscheinlich. Dir ist sicher klar, dass sich Skelette nicht plötzlich erheben und spazieren gehen. Ganz zu schweigen davon, dass sie jemanden umbringen könnten.« Und wirklich: Der Ameisenschwarm hatte das Fleisch des gestürzten Wächters verschlungen. Nur noch einige wenige kostbare Streifen Fleisch hingen an einem Haufen Knochen. »Ist das nicht widerlich?«, meinte Arpid und schauderte. »Hol ... mich ... hier ... raus!« Arpid schien über diese Möglichkeit nachzudenken. Er nahm eine Fackel, die einer der Soldaten in den Sand gesteckt hatte, und ging rasch einige Schritte in den Graben
hinab. Dann hielt er inne. »Mathayus ...« »Ja!« »Was bekomme ich, wenn ich dir helfe?« »Du willst mit mir um mein Leben schachern? Du elende Ratte!« »Du solltest eigentlich wissen, dass ein bisschen Honig dich weiter bringt als Essig. Frag deine kleinen Freunde. Die werden dir das gerne bestätigen - zwischen zwei Bissen.« Mathayus war es gelungen, die beiden Ameisen abzuschüt teln, doch die anderen kamen immer näher, ein groteskes Bataillon aus Antennen und Insektenaugen und kleinen Zan gen. »Vergiss es«, sagte Arpid, und machte sich auf den Rückweg. »Warte! Warte!« Arpid hielt inne, drehte sich wieder um und sah mit erhobe nen Augenbrauen den Abhang hinab. Mathayus schäumte vor Wut, doch es gelang ihm, ein winzi ges Lächeln zustande zu bringen. »Was ist bloß aus meinen Manieren geworden?« Der Schwarm des fleischfressenden Todes war jetzt weniger als einen Meter entfernt. Der Akkadier biss die Zähne zusam men und zwang sich, weiter zu lächeln. »Werter Herr«, sagte der Meuchelmörder mit schiefem Grin sen. »Wenn Ihr vielleicht so freundlich wäret, mich verdammt noch mal hier rauszuholen?« Arpid zuckte mit den Schultern. »Das war schon besser. Versprichst du mir, mich nicht zu töten?« »Ja! Ich schwöre es!« »Du bist ein Akkadier, denk dran. Wenn du etwas schwörst, dann hältst du dich auch daran, immer. Richtig? Du bist einfach so. Das ist dein Ehrenkodex. Richtig?« »Ja. Ja. Das stimmt.« Ein weiterer Spähtrupp aus zwölf, dreizehn Ameisen kletterte
jetzt auf den Kopf des Akkadiers und begann, nur so zum Aufwärmen ein wenig an ihm zu knabbern. Blinzelnd warf Mathayus den Kopf hin und her und bemühte sich, sie abzu schütteln. Eine Ameise kroch auf seine Lippen, und er biss sie in der Mitte durch und spuckte sie aus. »Wenn du etwas schwörst«, fragte Arpid rhetorisch, »erfüllst du dann bei deiner Ehre diesen Schwur, auch wenn du ihn hinterher bereust?« »Ja! Ja!« Der kleine Dieb näherte sich mit der Fackel in der Hand. »Dann versprich mir, dass du mich mitnehmen wirst als dein als dein vertrauenswürdiger Partner und Kamerad. Und dass wir alles, was wir jemals erbeuten, gerecht teilen werden.« »In Ordnung! Ich verspreche es! Ich schwöre es!« Arpid stieß die Fackel direkt in den Pfad der Ameisen, die sofort in alle Richtungen davonhuschten. Dann kniete er vor dem Kopf nieder, der aus dem Sand ragte. »Abgemacht, Akkadier. Beweg dich nicht.« Und der Dieb zupfte sorgfältig die Ameisen aus dem Gesicht des Meuchelmörders. Nur wenige Minuten später stand Mathayus bereits oben auf dem Hang und sammelte seine Waffen zusammen, während der überlebende Wachposten noch immer bewusstlos mitten im Sand zwischen den Felsen lag. Der magere Dieb war aufgeregt und voller Begeisterung, doch er half dem Akkadier nicht. »Was für eine wunderbare Wendung der Dinge«, sagte der Dieb. »Wo immer du auch hingehst, begleitet dich der Tod. Und es wird viele Tote geben. Ich meine, schau dich doch nur an - so ein gewaltiger Kerl wie du. Und wo der Tod ist, gibt es Leichen, und wo es Leichen gibt, gibt es Börsen, die nur darauf warten, geleert zu werden. Gold, Silber - wer weiß, was für Schätze wir noch teilen werden! Denn wir haben abgemacht, dass wir alles teilen, das Geld und die Arbeit. Ich übernehme das Stehlen, und du erledigst die Kerle. Na, klingt das nicht
fair?« Der Blick des munteren kleinen Diebes fiel auf Mathayus' kunstvoll gearbeiteten Bogen. Er ging hinüber und hob die wuchtige Waffe hoch. Und dann hob jemand den Dieb hoch, indem er ihn am Tuch packte, das er um den Hals trug, und schleuderte ihn einige Meter entfernt zu Boden. Mathayus brachte sein Gesicht ganz nahe an das des Diebes und starrte ihn an. Er nahm ihm den Bogen weg und sagte: »Berühre ihn nie wieder. Nie wieder.« Obwohl seine Luftröhre noch immer halb zugeschnürt war, erwiderte Arpid: »Na ja, ich glaube, das fängt doch ganz gut an mit uns. Oder nicht?« Mathayus ließ den Dieb los, als hätte er keine Verwendung mehr für ihn. Dann stieß der Akkadier einen lauten, scharfen Pfiff aus. Der Dieb blickte sich um. »Wen rufst du?«, fragte Arpid. »Mein Reittier«, sagte Mathayus. Kurz darauf erschien das Albinokamel mit großen Sprüngen auf der Kuppe eines nahe gelegenen Hügels. Der Meuchelmörder ging zu dem Tier, streichelte seinen Hals und schwang sich in den Sattel. Und ritt davon. »Also!«, rief Arpid. »Wohin gehen wir?« Mathayus sagte nichts. Er trieb das Kamel zu größerer Eile an, und das Tier gehorchte. »He!«, schrie der Dieb. »Wir haben eine Abmachung!« Der kleine Mann trottete dem großen Mann hinterher, der auf seinem Albinokamel ritt. »Schon gut«, schnatterte der Dieb atemlos, während er dem Akkadier hinterher rannte. »Ich werde dir sagen, wohin wir gehen! Du bist gekommen, um diese Frau zu töten, die Hexe. Nur - du hast es nicht geschafft. Du hast gesehen, wie wunder schön sie ist, und das hat dich scharf gemacht. Deshalb hast du
alles verpfuscht!« Mathayus warf ihm einen wütenden Blick zu. Dann trieb er das Kamel weiter an, das in einen scharfen Galopp verfiel. Verzweifelt rannte auch Arpid immer schneller und schrie: »Deshalb musst du jetzt deine Ehre wiederherstellen. Und diese Hure töten. Nur - du weißt nicht, wo sie ist. Du weißt nicht, wo Memnon sie hingebracht hat. Aber ich weiß es!« Wütend knurrte Mathayus vor sich hin und ritt weiter. Aber langsamer.
Die Stadt der Sünde
Obwohl Gomorra berüchtigt war als Hort der Sünde und der Dekadenz, wirkte die Stadt ordentlich und anständig. Wenigstens auf den ersten Blick. Unzählige Wachen Memnons in ihren roten Turbanen schütz ten diese Festungsstadt, die im Herzen eines geradezu überwäl tigenden Felsentales lag und von den Zinnen und Türmen des Palastes des Großen Lehrers beherrscht wurde. Der stattliche Thronsaal aus Sandstein, den jener Palast be herbergte, war eines so berühmten Kriegsherrn würdig: Er war vergoldet, besaß zahllose Pilaster und war mit dezenten und doch farbenprächtigen Ornamenten geschmückt, die bereits die Kultur Ägyptens vorwegnahmen, die sich erst in den folgenden Jahrhunderten entwickeln würde. Fackelartige Lampen dunkle Metallschalen auf spindeldürren Beinen - erfüllten den weitläufigen Raum mit einem goldenen Schimmer, in dem sich zahllose Draperien, kunstvolle Bildteppiche, gewaltige Urnen und einfache, schwere Möbel befanden. An einer der Wände schliefen zwei junge Tiere in Ketten - ein Tiger und ein Löwe - , die nicht sehr viel größer als Welpen
waren, doch das waren keine Kuscheltiere für einen gewöhnli chen Menschen, nicht einmal für einen gewöhnlichen Herr scher. Ein riesiger, goldgeschmückter Thron, über dem ein Symbol prangte, das einem Schild glich, und der rechts und links von Stoßzähnen aus Elfenbein eingefasst wurde, war wie geschaffen für einen König; und dieser König wollte Memnon sein. An einer Seite des Thrones führte ein Balkon ins Freie, von dem aus man über die Türme der Stadt hinwegblicken konnte - jene legendäre Stadt der Sünde, die jetzt dem Kriegs herrn Memnon gehörte. An einem kleinen runden Tisch in der Nähe des Balkons saß die Zauberin Cassandra. Sie hatte sich über eine Landkarte aus Pergament gebeugt, auf der sie Achate, Jade und andere glatte Steine zu einem Muster angeordnet hatte, das eine übernatürli che Eingebung ihr diktierte. Sie trug eine durchscheinende Robe, unter der ein funkelndes Kettenhemd ihre Brüste und ihre Lenden bedeckte, und mit ihrem goldenen Kopfschmuck sah sie aus wie eine Königin. Zwei ebenso spärlich bekleidete Schönheiten fächerten ihr in diesem heißen Wüstenklima mit Fächern aus großen Federn Kühlung zu. Doch in ihrem versun kenen, fast tranceartigen Zustand bemerkte Cassandra die Anwesenheit der beiden ebenso wenig wie die Hitze. Mit ihren eleganten, von Gold und Juwelen bedeckten Fin gern fuhr sie suchend über die Landkarte und die Runensteine, die sie darauf angeordnet hatte ... ... und beschwor eine Vision herauf: In vollem Galopp ritt die Kriegerkönigin Isis auf einen Wald zu, hinter dem (wie Cas sandra von irgendwoher wusste) eine Siedlung auf sie wartete. Plötzlich brachte die Königin ihr Pferd zum Stehen, denn Rauch erhob sich aus dem zerstörten Dorf in den Himmel. Um sie herum und an ihrer Seite befanden sich ihre Kriegerinnen, der Stammesrat. Doch noch mehr ihrer Kämpferinnen kamen auf sie zu und zeigten ihr die Spuren des Krieges: Blut, Ruß und Verzweif
lung. Über einem Sattel hing eine tödlich verwundete Kriege rin, und im Gesicht der Königin kämpften Wut und Trauer miteinander. Cassandra öffnete die Augen. Sie konnte Königin Isis' Qual fühlen, doch obwohl sie diesen Schmerz teilte, verbarg sie ihn sorgfältig: Keine Tränen rannen über ihr Gesicht. Wie so viele Seher hatte Cassandra innere Verteidigungsmauern errichtet, denn ohne diese wäre sie zur Sklavin ihrer eigenen Visionen geworden. Eine vertraute Stimme hallte durch den Thronsaal: »Welche Neuigkeiten hat meine Zauberin heute für mich?« Sie wandte sich um, nickte ihren beiden Dienerinnen zu, die sich eilig zurückzogen, als Memnon, ein Kriegerkönig in schwarzer Lederrüstung, durch seinen Thronsaal schritt. Thorak, seine rechte Hand, und Takmet, seine linke Hand, begleiteten ihn. Sie blieb sitzen, wandte sich jedoch Memnon zu und betrach tete ihn mit halb geschlossenen Lidern. »Die Truppen von Königin Isis wurden in alle vier Winde verstreut.« Memnon grinste wie ein gieriges Kind und nickte befriedigt seinen beiden wichtigsten Ratgebern zu. »Das Volk von Ur«, sagte sie, »ist tief erschüttert über den Tod seines Königs.« Bei der Erwähnung des Vaters, den er ermordet hatte, lächelte Takmet vor sich hin. Die Zauberin ließ sich nicht anmerken, wie abgestoßen sie davon war. Sie fuhr fort. »Pherons Stämme evakuieren ihre Dörfer. Sie sind völlig kopflos. Sie haben keinen Anführer.« Memnons Augen verengten sich. »Und was ist mit dem Nubier?« Cassandra schüttelte den Kopf, und ihre hin und her schwin genden Ohrringe ließen eine leise Musik erklingen. »Balthazar ... und auch sein Volk ... sie bleiben mir verbor
gen.« Die Augen des Kriegsherrn funkelten. »Werden sie von den Göttern geschützt?« Sie zuckte leicht mit ihren Schultern. »Meine Gabe enthüllt es mir nicht, edler Herr.« Memnon holte tief Luft und stieß sie schwer wieder aus, bevor er zuerst Takmet und dann Thorak anlächelte. »Überbringt unseren Generälen die Nachricht vom Chaos in Ur. Sie sollen meine Heere in Bereitschaft versetzen.« »Ja, mein Herr«, sagte Takmet. Und Thorak antwortete mit denselben Worten. Als die Ratgeber den Saal verließen, trat Memnon auf Cas sandra zu und berührte ihre Schulter. Sein Lächeln war überra schend freundlich. »Denkst du, dass ich grausam bin?« »Ich denke nur sehr selten an Euch«, antwortete sie, doch ihr Ton war nicht so verächtlich, wie ihre Worte vermuten ließen. Er schlenderte zu einem Tisch mit verschiedenen Speisen und riss eine Rehkeule aus einem Stuck Wildbret. »Du stellst meine Gutmütigkeit wirklich auf eine harte Probe, Cassandra.« »Ich bin nur hier, weil ich eine Aufgabe zu erfüllen habe.« Die Rehkeule wie einen Knüppel haltend, drehte er sich zu ihr. »Ach ja? Vielleicht hast du vergessen, wie das Leben wirklich ist - außerhalb der Palastmauern.« Der Kriegsherr schleuderte die Rehkeule durch den Thron saal, und sein junger Tiger und sein Löwe stritten sich darum und schnappten knurrend einer nach dem anderen und nach dem Fleisch. »So ist das Leben da draußen, mein Kätzchen«, sagte er zu ihr. »Herzlos. Unwissend. Wild.« Wie gut diese Beschreibung auf Memnon selbst passt, dachte die Zauberin, doch sie teilte die Meinung ihres Herrn nicht. Memnon winkte die Wachen von der Seite des Thronsaals herbei, die die beiden Tiere trennten, indem sie sie an ihren Ketten zuruckrissen. Ein Wächter hieb das noch übrige Fleisch
mit seinem Schwert in zwei Portionen und verteilte es unter den beiden Tieren. Memnon ging wieder zu der sitzenden Frau zurück. »Diese Unwissenheit ... diese Barbarei ... ich kann das alles ändern. Warum nennt man mich wohl den Lehrer der Menschen? Ich kann die Barbarei überwinden und die Zivilisation bringen noch zu unseren Lebzeiten. Wie die Prophezeiung es vorherge sagt hat.« Es schien, als habe Cassandra nicht zugehört. Sie erhob sich und trat zu dem Tisch mit den Speisen und Getranken. Sie nahm einen Kelch und schenkte sich Wein ein. Doch ihre Worte verrieten, dass sie sehr genau zugehört hatte. »Ich kenne die Prophezeiung.« »Das solltest du auch«, sagte er und ging zu ihr. »Schließlich war es deine Vision, Cassandra. Wiederhole sie.« »Ihr kennt sie nicht, mein Herr? Denkt Ihr nicht ständig an diese Worte?« »Wiederhole sie!« Sie seufzte. »Wenn die Glocke erklingt und der Donner grollt ... Ein Flammenstern vom Himmel fallt ... Wenn der Vollmond im Haus des Skorpions erstrahlt ... Wird den Hochkönig ehren die ganze Welt.« »Wie süß diese Worte klingen«, meinte er und streichelte ihre Wange mit seinem Handrucken. »Was für eine anmutige Frau du bist. Was für eine Königin du sein würdest. Denn ich bin der König aus jener Legende, Liebste, ein König, den selbst die Götter preisen.« Sie sah ihn an, doch ihr anmutiges Gesicht blieb ausdrucks los. Sie zuckte nicht mit der Wimper und sie sagte nichts. »Wenn jene Zeit anbricht, wenn die Prophezeiung sich erfüllt hat«, fuhr er fort, »sollst du deinen Platz an meiner Seite einnehmen. Auf einem Thron natürlich - und in meinem Bett.« Sie lächelte - ein winziges Lächeln. »Nur eine Jungfrau kann
mit dem zweiten Gesicht gesegnet sein. In Eurem Freudenbett, mein Herrscher, würde ich meine Gabe verlieren. Und Ihr würdet Euren Vorteil auf dem Schlachtfeld verlieren.« Er erwiderte ihr Lächeln und betrachtete ihr vollkommenes Gesicht. »Ah, meine schöne Zauberin - wenn ich König der Welt bin, brauche ich deine Visionen nicht mehr. Alles, was ich dann noch brauche, ist der liebliche Anblick, den du mir selbst bietest.« Memnon fuhr mit seiner Hand ihren nackten Arm entlang, und seine Finger berührten dabei ihr Fleisch nur zart. Doch als er den Gedanken an die Ekstasen genoss, die ihn erwarteten die sie beide erwarteten - , zuckte die Zauberin zurück. Ein Schauder durchfuhr sie, eine Woge des Widerwillens. Sie zog sich von dem Kriegsherrn zurück und streifte dabei den Griff eines Dolchs, der in seinem Gürtel steckte, ohne zu ahnen, dass dies das Wurfmesser war, das einst dem Akkadier Mathayus gehört hatte. Der Kontakt mit einem Gegenstand des Meuchelmörders schuf eine aufblitzende telepathische Verbindung, und eine neue Vision erfüllte ihr Denken, erfüllte ihr ganzes Wesen, und führte sie mit einem Mal in die Wüste, wo sie sah ... ... wie ein magerer Mann mit dürrem Bart neben einem selt samen weißen Kamel daherrannte, und auf diesem Kamel ritt der Akkadier - Mathayus! Also lebte der Meuchelmörder noch! Ist mein Leben noch immer bedroht?, fragte sie sich. Doch sie teilte diese Vision nicht mit Memnon, gleichgültig, ob sie eine Bedrohung darstellte oder nicht - nicht einmal, als er die Überraschung in ihren Augen bemerkte und ahnte, dass sie eine neue Vision gehabt hatte, und fragte: »Was ist?« Stattdessen sagte sie zu ihrem Herrn, dass sie von der Reise erschöpft sei. Memnon suchte im Gesicht der Frau nach einer Täuschung oder einem Trick, doch er sah nichts. Also befahl er ihr, sie
solle sich ausruhen. »Ich brauche dich morgen, wenn meine Generäle zusammen kommen«, sagte er. Sie senkte den Kopf. »Ich danke Euch, mein Herr.« Als sie sich umwandte und sich von ihm entfernte, rief er ihr nach: »Cassandra!« Sie hielt inne, drehte sich aber nicht wieder zu ihm um. Leise sagte er: »Dein Wohlergehen ist von größter Wichtig keit für mich. Das weißt du doch, nicht wahr?« Das war seine Art, dieser Frau zu sagen, dass er sie liebte; nie würde er noch vertraulichere Worte gebrauchen. Es fiel ihm leicht, sein Verlangen zu gestehen und die Lust, die er für sie empfand, viel leichter, als sich zu den zärtlichen Gefühlen zu bekennen, die ihn beschämten. »Ja, mein Herr«, antwortete sie und hasste ihn dabei. »Ihr seid höchst wohlwollend.« Und als sie aus dem Thronsaal glitt, blickte ihr der Kriegsherr lange nach und nahm gierig jede Kurve ihres geschmeidigen Körpers in sich auf, genoss das Wippen ihres dunklen Haares auf ihren schmalen Schultern, das Funkeln ihres Schmucks und die Anmut ihrer Bewegungen. Wie ein Trinker, der dem Alkohl abgeschworen hat, schwelg te dieser starke Mann in der Schwäche seiner Liebe zu ihr, und er sehnte sich nach dem Tag, an dem ihre Reinheit keine Rolle mehr spielen würde, wenn er sie lieben und ihre Reinheit entweihen konnte. Vom Pferdedieb gefolgt und das Kamel am Zügel haltend, blieb Mathayus auf dem Kamm eines felsigen Hügels stehen und betrachtete das Tal, das sich vor ihm ausbreitete - und die befestigte, von Mauern umgebene Stadt, deren große und kleinen Gebäude allesamt von einem festungsartigen Palast überragt wurden. »Das ist also das Haus des eitlen Königs«, sagte der Akkadier
knapp und bitter. »Gomorra«, erwiderte Arpid mit großen, aufmerksamen Augen und nahm den Anblick in sich auf. »Die großartigste Stadt der Welt.« Mathayus konnte nichts Großartiges an ihr finden, nicht einmal am Palast, der für den Meuchelmörder nicht mehr war als ein Kästchen, das er aufbrechen und aus dem er den schur kischen Kriegsherrn herausschütteln wollte. Doch der magere kleine Pferdedieb stimmte noch immer Lobeshymnen auf diesen Ort an und seufzte wie ein Mann, der sich an seinen ersten Kuss erinnert. »Eines musst du wissen, mein Partner. Wenn wir nach einem anstrengenden Tag unsere Beute zählen, gibt es keinen besseren Ort, um sich zu entspan nen, als Gomorra.« Stirnrunzelnd dachte er nach. »Außer vielleicht Sodom.« Mathayus, der bereits den mächtigen Bogen auf seiner Schul ter trug, drehte sich zu Hanna um und holte aus seinen Sattelta schen weitere Waffen: Messer, Pfeile, das Kama und noch einige andere. Das schien dem Dieb einigen Wind aus den Segeln zu nehmen. »Natürlich, Gomorra, das ist schon was, genau«, stammelte Arpid und entfernte sich einen Schritt weit von Mathayus. »Und ich würde mich dir liebend gern anschließen ...« Der Akkadier beachtete den Mann nicht. Genau in diesem Augenblick entfaltete er seinen langen Umhang mit der Kapu ze. Als der Akkadier das Kleidungsstück überwarf, nahm sein Begleiter ein Messer aus einer der Taschen und versetzte mehreren unsichtbaren Angreifern einige Hiebe. »Glaub mir«, sagte Arpid, »ich würde es eigenhändig mit diesen roten Wachen aufnehmen - aber bei dem Preis, der auf meinen Kopf ausgesetzt ist, würde ich es niemals durch die Tore schaffen.« Mathayus drehte sich zu ihm. Jetzt endlich beachtete er den Dieb.
»Oh. Aber ich verlasse mich doch auf dich, mein Partner.« »Ich fürchte, mein übler Ruf würde nur unerwünschte Auf merksamkeit auf dich lenken. Du solltest dich durch die Hintertür einschleichen.« »Wir gehen nach Gomorra, nicht nach Sodom.« »Ich möchte dir wirklich nicht im Weg stehen, Mathayus.« Der Akkadier legte seine kräftige Hand auf die knochige Schulter des kleinen Mannes. »Du wirst uns hineinführen, Dieb. Durch den Vordereingang.« Kurz darauf näherten sie sich dem Tor von Gomorra. Um hang und Kapuze verbargen Mathayus' Gesicht. Er führte das Kamel am Zügel, und der Dieb folgte ihm, wobei er sich hinter Mathayus' mächtigem Körper verbarg. Unter seiner Kapuze hervor betrachtete der Meuchelmörder alles um sich herum mit wachsamen Augen: die hochmütigen Wachen in den roten Turbanen, die sämtliche Besucher über prüften, die in die Stadt kamen, die Ochsenkarren durchsuchten und Menschen und Gepäck argwöhnisch musterten; und die Reihe der Bogenschützen, die auf einem Mauervorsprung stan den und das Tor überwachten. Die Wachen am Boden brauchten nur kurz zu nicken, und schon würden die Schützen jeden Unruhestifter in ein Nadel kissen verwandeln. »Siehst du das, Mathayus?«, flüsterte der Pferdedieb von hinten. »Memnons Stadt ist bis zum Bersten mit Soldaten gefüllt, wie eine satte Zecke mit Blut. Wir müssen umkehren.« »Ich verlasse mich auf dich.« »Das weiß ich, und ich wäre froh, wenn ich etwas für dich tun könnte.« Mit einem breiten, schrecklichen Lächeln wandte sich Mathayus dem Dieb zu: »Oh, natürlich kannst du das.« Und dann hob der Akkadier den Arm, rammte ihn in Arpids Gesicht und schlug ihn bewusstlos. Nur wenige Augenblicke später hing der bewusstlose Dieb
über Hannas Sattel, und der in seinen Umhang gehüllte Akka dier führte das Kamel bei den Zügeln zu den Wachen am Tor. Diese betrachteten ihn misstrauisch, aber weil sie jeden voller Misstrauen ansahen, war das keine große Überraschung. »Was führt dich nach Gomorra?«, fragte ein stämmiger Wachposten. »Ich will das Kopfgeld abholen, das mir zusteht«, sagte Mathayus. Er nickte zu der Gestalt hin, die über dem Sattel des Kamels hing. »Arpid, der Pferdedieb. Ich habe gehört, dass er gesucht wird.« Ein weiterer Wachposten trat nach vorn, hob den Kopf des Diebes bei den Haaren und besah sich dessen Gesicht. Dem schlummernden Arpid schien das nichts auszumachen. »Ich kenne diesen Hund«, sagte der Wächter und stieß ein kurzes, widerliches Lachen aus. »Diesmal werden sie den Bastard köpfen, so viel steht fest!« Mathayus tätschelte den Schädel des Bewusstlosen mit ge spielter Zärtlichkeit. »Und wie viel hübscher er dann aussehen wird, nach dieser kleinen Veränderung.« Die Wachen lachten, denn Mathayus hatte ihren Humor richtig eingeschätzt, und winkten ihn durch das Tor. Kurz darauf stand der Akkadier mitten in einem lärmenden, von Menschen wimmelnden Basar und führte seinen noch immer schlummernden Kameraden durch die exotischen Reihen der Bauchtänzerinnen, Flammenschlucker, Schlangen beschwörer, Feuerläufer und Schwertschlucker. Auf diesem Markt verkauften Händler Obst, Gemüse, geflochtene Körbe und kostbare Teppiche, kurzum, alle Dinge, die die Menschen jener Zeit kannten - und vielleicht auch ein paar, die kurz zuvor noch unbekannt gewesen waren. Schauerliche Spelunken boten Speisen und Getränke an, sofern es einem gelang, die zwielich tigen Gäste zu überleben, und vor einer dieser derben Ka schemmen hielt Mathayus an einem Pferdetrog. Der Akkadier zog den Dieb von seinem Kamel und tunkte
seinen Kopf ins Wasser, wodurch der Mann sofort wieder zu sich kam. »Was ... was«, prustete Arpid, »was ist passiert?« »Dank deiner Geschicklichkeit sind wir an den Wachen vorbeigekommen«, sagte Mathayus. »Du hast uns hineingebracht.« »Ah ja.« Aus dem triefend nassen Haar rann Wasser über sein Gesicht. »Ein Mann, der von seinem Grips lebt, ist schwer zu besiegen.« »Nur allzu wahr«, sagte Mathayus, packte den kleinen Dieb im Nacken, hob ihn hoch und setzte ihn auf einen derben Holzhocker vor der Spelunke. Der Akkadier rief nach dem Wirt. »Einen Krug von deinem besten Wein für meinen reisemüden Freund hier draußen!« Arpid saß einfach nur da und versuchte triefend nass und mit geröteten Augen wieder etwas Haltung zu gewinnen, wahrend Mathayus das Albinokamel an einem Pfosten in der Nahe festband. Vorsichtig nahm er den Beutel mit den Juwelen aus dem Versteck unter dem Sattel und verschnürte die kostbare kleine Tasche sicher an seinem Gürtel. »Pass für mich auf Hanna auf«, sagte Mathayus zu seinem immer noch etwas benommenen Gefährten, der sich nicht von seinem Hocker gerührt hatte. »Du kannst ... kannst auf mich zählen«, erwiderte Arpid und betastete vorsichtig seinen Kiefer, der aus irgendeinem Grund schmerzte. »Immer«, sagte der Akkadier lächelnd und glitt in die chaoti sche Menschenmasse. Der kleine Dieb blieb auf seinem Hocker sitzen. Er blinzelte und gewann seine Aufmerksamkeit mehr oder weniger wieder. »Einen Augenblick«, rief er Mathayus nach, obwohl dieser bereits auf dem von Menschen wimmelnden Markt ver schwand. »Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist diese riesige Faust ...«
Aus der Kneipe kam eine überaus üppige, attraktive Kellnerin mit einem Krug Wem, die eine Art Haremskleid trug. Sie füllte Arpids Glas, der diese verlockende, wenn auch schlampige Erscheinung anstarrte und bereits vergaß, wie würdelos es gewesen war, die Faust des Akkadiers im Gesicht zu spüren. »Bitte sehr, mein Herr«, sagte sie mit einem falschen Lächeln mädchenhafter Unschuld. »Lasst mich wissen, wenn Ihr sonst noch etwas braucht.« Der Pferdedieb seufzte und erwiderte das Lächeln. Wieder schien sein Blick zu verschwimmen, doch jetzt lag das nicht mehr an Mathayus' Faust. »Es ist so angenehm«, sagte er gedankenverloren, »wieder in dieser großen Stadt zu sein.« Unterdessen wand sich der Akkadier durch den Basar, diesen Strudel aus Handel, Sünde und Dekadenz, und näherte sich den Toren des Palastes. »Nur hier gibt es die«, sagte ein Schwertverkäufer, »die bes ten Klingen im ganzen Land. Niemand kann sich in Gomorra Respekt verschaffen, wenn er keine edle Klinge an seiner Seite trägt.« Doch Mathayus war bereits bis an die Zähne bewaffnet und ignorierte das Verkaufsgeschrei auf dem Hauptplatz des Marktes, wo man alles kaufen konnte, von Damast bis hin zu gewissen Damen. Von einem einzigen Gedanken beherrscht, schritt er auf die Zitadelle zu, die Memnons Palast bildete. Schließlich blieb er stehen, stützte die Hände auf die Hüften und sah hinauf zu den schwer bewaffneten Wachen in roten Turbanen, die die Wälle entlang schritten und die Tore dieses wuchtigen Gebäudes sicherten, das einem Schloss und einer Festung zugleich ähnelte. Er war noch damit beschäftigt, das Gelände auszukund schaften, als wie aus dem Nichts eine Gruppe Straßenjungen auftauchte. Der jüngste dieser Burschen war vielleicht sechs, der älteste nicht viel alter als zehn Jahre, und ihre schmutzigen
Gesichter und flinken Fuße schienen überall zu sein, als sie um ihn herumschwirrten und den Straßenstaub aufwirbelten. »Einen Führer, edler Herr?«, fragte einer. »Ihr braucht einen Führer, edler Herr«, sagte ein anderer. »Um Euch in Gomorra zurecht zu finden«, schnatterte ein dritter. Mathayus kniete nieder und winkte den Anfuhrer der schmut zigen Truppe mit seinem Finger zu sich. »Du, Junge - bist du als Führer so geschickt, dass du mir einen Weg in den Palast zeigen kannst?.« Dunkle Augen funkelten im schmutzigen, dunklen Gesicht. »Ein geschickter Führer wurde das nicht tun, edler Herr - oder er würde selbst eine Führung bekommen: durch die Verließe Memnons.« Die kleine Horde der Straßenjungen lachte wie eine krei schende Elster, und Mathayus lächelte sie an, als sich plötzlich einer an seine Seite heranschlich und mit einem einzigen Aufblitzen einer Stahlklinge den Beutel Rubine vom Gürtel des Akkadiers schnitt. Der kleine Übeltäter rannte davon und Mathayus schoss hinter ihm her, doch die anderen Burschen stoben ebenfalls lachend davon und holten den Jungen mit dem Beutel ein; blitzschnell wechselte die Beute von einer Hand in die andere, bis der Akkadier schließlich nicht mehr erkennen konnte, welcher Junge die Rubine hatte. Nur aufgrund einer Vermutung verfolgte er einen der kleinen Diebe, wand sich zwischen Marktbuden hindurch, stürzte Holzkarren und Tische mit Früchten und Gemüse um und bekam den Jungen schließlich zu fassen. Er packte ihn bei den Fußen, wirbelte ihn durch die Luft, hielt ihn kopfüber vor sich hin - hatte Arpid einst so angefangen? - und schüttelte ihn. Ein paar Münzen fielen aus den Taschen des Kindes, der Beutel allerdings nicht. Verängstigt deutete der Junge auf einen anderen, älteren
Burschen. Der mochte vielleicht zwölf Jahre alt sein, und er schoss mit beeindruckender Geschicklichkeit zwischen den Marktbuden hindurch. Grob ließ der Akkadier seinen Gefange nen zu Boden fallen und verfolgte nun den älteren Jungen - und musste sofort entdecken, dass ein weiterer dieser Burschen an ihm vorbei in die entgegengesetzte Richtung rannte. Die akrobatische Straßenbande hatte es geschafft: Der Akka dier wusste nicht mehr, wohin er sich wenden sollte. Er hielt in seinem Lauf an, lehnte sich an einen Karren und versuchte, sich zu konzentrieren. Aus seinen Augenwinkeln sah er eine aufflackernde Bewegung, seine Hand schnappte nach vorn, und er bekam einen Jungen zu fassen, der in diesem Augenblick hinter dem Wagen vorbei schoss. Er krallte sich im Hemd des Straßenjungen fest, riss ihn von den Füßen, hob ihn direkt vor sein Gesicht und sah in die dunklen, hin und her huschenden Augen des Kleinen. Das Kind schenkte ihm ein Schafsgrinsen, streckte seine Hand aus - und reichte ihm den kostbaren Lederbeutel. Mathayus nahm sein Eigentum wieder an sich, setzte den Jungen ab und befahl ihm mit hartem Blick, sich nicht zu rühren. Nachdem Mathayus den Beutel wieder an seinen Gürtel gebunden hatte, packte er den Kiefer des Jungen, druckte ihn auf, griff ihm mit den Fingern seiner anderen Hand in den Mund - und zog einen Rubin heraus. Das Kind zuckte mit den Schultern und lächelte. Man kann doch einem kleinen Jungen nicht vorwerfen, wenn er's versucht, oder? Mathayus lächelte ebenfalls und hob den funkelnden Edel stein hoch. »Wie würde es dir gefallen, diesen hier zu behal ten?« Der Junge nickte begeistert. Mathayus warf einen vielsagenden Blick auf den hoch aufra genden Palast. »Als Dieb warst du nicht besonders gut. Ich hoffe, dass du
dich als Führer besser eignest.«
Haremsflirt
Die hohen Gärten in Memnons Palast leuchteten üppig und golden in der untergehenden Sonne, die vor ihrem unmittelbar bevorstehenden Verschwinden schwertartige, funkelnde Lichtstreifen aussandte, welche von den Marmorpfaden zurückgeworfen wurden. Diese Pfade führten zu einer kleinen, in der Mitte der Gärten gelegenen Arena, von der aus man auf einer Seite die Stadt überblicken konnte. Hier hielt Memnon Hof, und er wirkte dabei trotz seiner einfachen, dunklen Lederrüstung wie ein König; doch er ließ niemanden in den Genuss seiner Weisheit kommen, plante weder den weiteren Verlauf des Krieges, noch beschäftigte er sich mit anderen Staatsangelegenheiten. Vielmehr trainierte er hier vor seinen Soldaten und Höflingen seine beträchtlichen kämpferischen Fertigkeiten, denn er hatte keine Angst davor, seine Kampf kunst vor ihren Augen auf die Probe zu stellen. Er wusste, er würde nicht versagen. Genau in diesem Augenblick kämpfte Memnon, der in jeder Hand einen Kampfstock hielt, mit einem Meister der Kampf kunst, der mit den gleichen Waffen ausgerüstet war. Der Meister stammte aus dem Osten und war vor einigen Monaten als Mitglied einer Expedition hierher gekommen, die für Memnons Hofmagier Philos einige überaus seltene Mittel und Gerätschaften hatte beschaffen sollen. Der orientalische Meister, dessen Kopf rasiert und dessen geschmeidiger Körper unter den umherwirbelnden Roben nicht zu fassen war, hatte Memnon in zahlreichen Kriegskünsten
unterrichtet, und dazu gehörte auch diejenige Art des Kampfes, in dem sie sich in diesem Augenblick gegenüberstanden. Jetzt allerdings war die Zeit gekommen, wo der Große Lehrer den Meister unterrichten musste. Memnon griff den kleineren Mann an, indem er die Kampf stöcke in solch schwindelerregendem Tempo herumwirbeln ließ, dass die Höflinge und Soldaten beim Zuschauen die Augen weit aufrissen. Mit brutaler Leichtigkeit entwaffnete der Kriegsherr den Meister und schlug ihn zu Boden. Auf die übliche orientalische Etikette - Verbeugungen und dergleichen mehr, die Memnon für amüsant, aber unangemessen hielt wurde verzichtet, als zwei Soldaten den verletzten Meister davonschleiften, während der verzückte Applaus der Höflinge erklang. Nickend gab Memnon einem Bogenschützen mit gestutztem Bart und nackter Brust, der einen roten Turban trug, das Zeichen, die nächste Probe seiner Geschicklichkeit zu begin nen. Der muskulöse Bogenschütze nahm einen gewaltigen Bogen aus einer großen, mit kunstvollen Schnitzereien verzier ten Waffentruhe, in der zahlreiche Pfeile und Bögen lagen. Memnon warf die beiden Kampfstöcke weg, die sofort von zwei Sklaven aufgehoben und davongetragen wurden, und dann schritt er in die Mitte des hofartigen Gartens. Weit streckte er die Arme aus, als wollte er einen guten Freund begrüßen. Dann bewegte er mit immer noch durchgedrückten Armen langsam die Hände vor seiner Brust aufeinander zu, bis seine offenen Handflächen vielleicht noch dreißig Zentimenter voneinander entfernt waren. Der Blick des Kriegsherrn traf den Blick des Bogenschützen. Die Höflinge holten tief Luft, ein erstauntes und verängstigtes Murmeln ging durch ihre Reihen. Die ausgestreckten Arme des Großen Lehrers bildeten eine imaginäre Route, die der Pfeil des Bogenschützen nehmen würde. Hatte Memnon tatsächlich die Absicht ...?
Genau diese Absicht hatte er. Der Kriegsherr behielt ebenso ruhig seine Position bei, wie seine Augen den Bogenschützen fixierten, der die Sehne spannte. Zur gleichen Zeit gesellte sich ein neuer Gast zu den ver sammelten Zuschauern. Er befand sich auf einem Balkon, der den hofartigen Garten überblickte. Mathayus war aus einem kleinen Gang in einem Turm auf diesen Balkon gelangt. Mit zusammengepressten Lippen lächelte er seinem Führer, dem Straßenjungen, zu, als er ihm den versprochenen Rubin gab. Der grinsende Junge umschloss ihn blitzschnell mit seiner Faust und verschwand in die Richtung, aus der sie beide gekommen waren. Der Akkadier kroch bis an die Brüstung des Balkons, legte eine Hand auf den Sandsteinsims und warf einen vorsichtigen Blick auf die Szene, die sich unter ihm abspielte. Zunächst begriff er die möglicherweise tödliche Übung nicht, die Memnon hier arrangiert hatte. Der Akkadier begriff nur, dass sich der Kriegsherr, sein Ziel, endlich in seiner Reichweite befand. Die unterschiedlichsten Gefühle durchströmten Mathayus: Freude über seinen Erfolg und Wut darüber, den Mann vor Augen zu haben, der seine beiden akkadischen Brüder abge schlachtet hatte. Doch als er seinen fast unkontrollierbaren Zorn bezähmt hatte und die leidenschaftslose Haltung annahm, die ein profes sioneller Meuchelmörder zur Ausübung seiner Kunst benötigte, erahnte Mathayus schließlich das bizarre Spiel, das hier offen sichtlich gespielt werden sollte. Einen kurzen Augenblick lang fragte er sich, ob Memnon einem Scharfrichter gegenüberstand. Hatte eine Palastrevolte den Versuch des Meuchelmörders, sich zu rächen, bereits zunichte gemacht? Dann wurde ihm klar, dass der überhebliche, stolze Memnon sein Leben riskierte, um seine Männer zu beeindrucken und
seine übermenschlichen Fähigkeiten zur Schau zu stellen. Und Mathayus konnte die Absurdität, die Aufgeblasenheit einer solchen Selbstherrlichkeit kaum fassen. Unter ihm waren die Wachen mit den roten Turbanen und die Höflinge sprachlos und voll Ehrfurcht für ihren Herrn und Meister. Memnon nickte. Und der Schütze schoss den Pfeil ab. Mathayus zuckte entsetzt zurück, als er sah, wie Memnon ohne mit der Wimper zu zucken blitzschnell die Hände schloss und den Pfeil abfing - nur wenige Zentimeter von seinem Brustpanzer entfernt, der dem Herzen des Kriegsherrn niemals ausreichend hätte Schutz bieten können. Der Große Lehrer nickte dem Bogenschützen zu. Dieser erwiderte die Geste, doch er verbeugte sich tiefer dabei, und im Hof erscholl Applaus. Mathayus klatschte nicht. Er legte seinen eigenen Pfeil an seinem mächtigen Bogen an, und seine Lippen waren so straff wie die Bogensehne, denn er wusste, dass sogar ein Mann von Memnons Geschicklichkeit einen Pfeil nicht fangen konnte, den er nicht kommen sah. Nun, er konnte ihn jedenfalls nicht mit seinen Händen abfangen. Doch als Mathayus auf seine Nemesis zielte und den Mann präzise und genüsslich ins Auge fasste, gab es unter ihm eine Bewegung, die ihn ablenkte. Der Akkadier achtete nicht weiter auf diese Unterbrechung, konzentrierte sich erneut, fixierte ruhig sein Ziel, richtete die Waffe aus, zog die unglaublich straffe Bogensehne zurück und dachte: Durch den Hals, das wäre ein guter Schuss... ... als unten plötzlich zwei Wachen in roten Turbanen einen sich windenden Gefangenen herausbrachten und vor Memnon schleiften. Weil sich der Akkadier so weit oben befand, wurde sein Ziel allerdings nicht verdeckt, und zunächst hatte er vor, wie geplant zu schießen.
Doch dann erkannte er den Gefangenen. Es war der Junge! Der Straßenjunge, der ihm geholfen und ihn durch eine Hin tertür genau in den richtigen Turm geführt hatte, sodass er hier seine Position beziehen konnte. Verdammt! Jetzt verdeckten die Wachen, die den Jungen nach vorn zerr ten, dem Meuchelmörder immer wieder die Sicht, und er hielt inne. Mit schmerzenden Muskeln hielt er noch immer die straffe Bogensehne gespannt, war bereit zu feuern und wartete darauf, endlich feuern zu können. Doch jetzt zeigte einer der Wächter Memnon den Rubin, den er offensichtlich bei dem Jungen gefunden hatte. »Warum verschwendet ihr meine Zeit?«, sagte Memnon wütend zu den Wachen, wobei er jedoch dem Kind direkt ins Gesicht sah. »Warum stellt ihr meine Geduld auf die Probe? Ihr kennt die Strafe für Diebstahl.« Die Wachen zerrten den Jungen zu einem Tisch in der Nähe und zwangen ihn, seinen kleinen Arm auszustrecken. Aus der hinteren Reihe Wachen mit den roten Turbanen trat ein stäm miger Mann vor, der eine große Axt in den Händen hielt. Die Klinge funkelte im schwindenden Sonnenlicht, und der Akka dier blinzelte auf seinem Beobachtungsposten. Der Mann hob die Axt, und Mathayus, der frustriert und mit düsterem Gesicht leise fluchte, suchte sich ein neues Zeil und schoss. Die Kraft von Mathayus' Arm, die Geschwindigkeit des Pfeils, sein massiver Schaft und seine rasiermesserscharfe Spitze erfüllten ihre Aufgabe: Der Pfeil traf den Griff der Axt mit voller Wucht und riss sie aus den Händen des Wächters. Krachend wurde sie in einen Baum geschleudert, wo die Klinge surrend im Holz stecken blieb. Alle Blicke wandten sich dem Balkon zu, wodurch der Junge fliehen konnte, doch die Anwesenheit eines Eindringlings löste
sofort Alarm aus. Mit theatralischen Gesten stürzte sich die Hälfte der Wachen auf ihren Herrn und Meister zu und drängte ihn aus dem Garten, während die andere Hälfte die Verfolgung aufnahm. Den Bogen über der Schulter und den Krummsäbel in der Hand, rannte der Akkadier den Gang hinab, der vom Balkon wegführte und an dessen Ende er einen kleinen Eingang entdeckte. Er stürzte in den dahinter liegenden Korridor, drückte die erste Tür, die er fand, mit der Schulter auf und schob sich in ein Zimmer. Er schloss die Tür und sicherte sie mit einem Holzbalken, der zuvor glücklicherweise den Eingang noch nicht versperrt hatte. Dann drehte er sich schwer atmend um und betrachtete seine neue Umgebung - und die war höchst ungewöhnlich. Mathayus hatte dergleichen noch nie gesehen, und deshalb erkannte er auch nicht, dass er sich in einem primitiven, aber viel versprechenden Labor befand, in dem überall seltsame und phantasievolle Erfindungen standen, die man in viel späterer Zeit wohl mit denen da Vincis verglichen hätte. Das größte dieser Werke war eine Waffe, die Mathayus noch nicht kennen konnte, denn sie war erst kürzlich von dem Mann erfunden worden, der in dieser Kammer hauste: Es handelte sich um ein großes Holzkatapult. Auf roh gezimmerten Holztischen brodelten und quollen verschiedene farbenprächtige Tränke und Mixturen, die von mehreren Öllampen zum Kochen gebracht wurden. Mathayus kannte die chemischen Gerüche nicht, die die bescheidene Kammer erfüllten, und seine Nase zuckte wie die eines Kaninchens. Dann reagierte eine der Phiolen, die über den Flammen koch ten, und gab ein leises, aber beeindruckendes Zischen von sich, das sich schließlich in eine kleine Explosion verwandelte, bei der beißender Rauch ausgestoßen wurde. Wie gesagt, Mathayus war so mutig wie nur irgendein Krie ger seiner Zeit; doch solche Hexenkrafte waren diesem außer
ordentlichen Mann unheimlich, denn er hatte nie etwas anderes gelernt, als zu kämpfen. Deshalb sah er sich nach einem Fluchtweg um, als jemand in dem immer dichter werdenden Rauch zu husten begann. Der Akkadier wirbelte herum, und als eine Gestalt aus dem chemischen Nebel auftauchte, stieß der Krieger seinen Krummsabel nach vorn und brachte den anderen Mann mitten in seiner Bewegung zum Stehen. Mathayus tötete diese exzent risch aussehende Kreatur jedoch nicht, sondern hielt sie an Ort und Stelle fest, indem er die Spitze seiner Klinge an die Kehle des Mannes legte. Der Mann war klein, hatte ungekämmtes weißes Haar, und eine wenig beeindruckende Robe hing an seinem mageren Korper herab. »Was für ein Gestank, mein Herr! Der Preis des Fortschritts. Ich bin Philos! Kann ich Euch helfen?« Mathayus sah in die arglosen Augen dieses merkwürdigen kleinen Kerls und wusste sofort, dass er es wagen konnte, ihm zu vertrauen. Jedenfalls stellte der Magier - denn um einen Magier musste es sich bei diesem seltsamen Burschen wohl handeln - keine Gefahr dar. »Ich muss einen Weg finden, hier rauszukommen«, sagte Mathayus offen. Doch bevor sein Gegenüber antworten konnte, wurden beide von heftigen Schlägen gegen die verriegelte Tür unterbrochen, und derbe Stimmen riefen: »Aufmachen! Mach auf da drin!« Mit erhobenem Krummsäbel wirbelte der Akkadier herum, bereit zum Kampf. »O nein«, erwiderte Philos. »Nur zu«, hielt Mathayus dagegen, der immer darauf vorbe reitet war, gut zu sterben, »mach die Tür auf.« »Nein! Nein, nein, nein. Ich will nichts davon wissen. Hier gibt es keine Gewalt. Kommt, da entlang.« Nur wenige Augenblicke später öffnete Philos die Tür und bat diejenigen, die gerade gerufen hatten, mit freundlichen Gesten
herein. Unter der Führung des entsetzlichen Thorak stürzte ein Trupp Wachen in roten Turbanen in den Raum. »Oh«, stöhnte Philos. »Thorak. Musst du dich in jedem Au genblick deines Lebens wie ein Vieh verhalten? Kannst du mich nicht in Ruhe lassen?« »Wenn es nach mir ginge, Magier, könntest du schon längst die ewige Ruhe genießen«, entgegnete Thorak, als seine Männer das chaotische Labor zu durchsuchen begannen, wobei sie Philos' kostbare Erfindungen mit brutaler Rücksichtslosig keit behandelten. »Bitte!«, sagte Philos. »Seid vorsichtig damit!« »Hüte deine Zunge«, knurrte Thorak. »Gerade heute solltest du meine Geduld nicht auf die Probe stellen.« »Nur heute nicht? Wie ungewöhnlich«, flüsterte Philos. Der narbengesichtige Thorak ging zu einem Tisch, auf dem mehrere Experimente vorbereitet worden waren, und griff nach einer Schale mit einem schwarzen Pulver. Mit den Fingern nahm er eine Prise der Substanz und roch daran. »Sei vorsichtig!«, schrie Philos. »Das ist äußerst gefährlich! Magisches Pulver aus China.« Thorak grinste den Magier höhnisch an und blies das Pulver in die Flamme einer in der Nähe stehenden Kerze. Es gab ein kleines, nicht allzu beeindruckendes Puffen, was dem riesigen Anführer der Wachen ein weiteres höhnisches Grinsen entlock te. Philos zuckte mit den Schultern. »Nun ja, ich habe die richti ge Zusammensetzung wohl noch nicht herausgefunden.« Verachtung erfüllte Thoraks Gesicht, als er mit seiner mäch tigen Hand die Schale mit dem Pulver auf den harten Boden stieß, wo sie zersprang. Dann trat der narbengesichtige Wächter drohend so dicht an den kleinen Magier heran, dass sein Brustpanzer dem schmäch tigen Kerl über die Nase kratzte. »Du hast Glück, dass Mem non, unser Herr, an deiner Magie Gefallen findet.«
»Ich nenne es lieber Wissenschaft.« »Wissenschaft, von mir aus. Nenn es, wie du willst. Es ist sowieso nur Schwindel.« Die Wachen wandten sich schulterzuckend an ihren Führer. Sie hatten niemanden gefunden. Thorak sah sich ein letztes Mal im Zimmer um und ging dann zu dem Katapult, dessen Spannbalken mit einer Plane abgedeckt war. Philos beeilte sich, Thoraks Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. »Du und ich - wir müssen unsere Meinungsverschiedenheiten überwinden. Wir beide haben denselben Herrn. Jeder von uns dient Memnon auf seine eigene Art.« Thorak trat wieder auf den Magier zu - oder den Wissen schaftler, je nachdem. »Der Tag wird kommen, kleiner Mann, an dem der Große Lehrer von dieser Idiotie genug hat. Und ich werde zusehen, wie deine Knochen in der Sonne bleichen.« Philos schluckte. »Auch ich wünsche Euch einen guten Tag, edler Herr.« Thorak stolzierte hinaus, und die Wachen folgten ihm, doch er wartete, bis sie alle an ihm vorbeimarschiert waren, sodass er selbst die Tür zuschlagen konnte. Wieder sicherte sie Philos mit dem Holzbalken. Er lauschte auf die verklingenden Schritte, und dann sagte er: »Wir scheinen wieder allein zu sein. Endlich.« Mathayus warf die Plane ab. Er hatte sich in der Wurfschale des Katapults zusammengekauert. Zunächst rührte er sich nicht und genoss die wenigen Augenblicke der Ruhe. Schon bald würde er sich wieder in Bewegung setzen müssen. »Danke«, sagte der Akkadier zu dem Wissenschaftler. Der kleine Mann seufzte kopfschüttelnd und ging zu seinem Gast, wobei Trauer und sogar Angst in seinem Gesicht zu erkennen waren. »Die Zeiten sind düster, mein Freund«, meinte er. »In Mem nons angeblicher Zeit des Friedens sind mehr Köpfe gerollt als
in meinem ganzen übrigen Leben, selbst in Kriegszeiten.« »Ich werde deine Freundlichkeit nicht vergessen, alter Mann.« Wieder seufzte Philos schwer, doch er brachte ein Lächeln zu Stande. »Wie kann man sich selbst noch ins Gesicht sehen, wenn man seinen Nächsten einfach dem kalten Wind aussetzt?« Und dann hockte sich der Wissenschaftler unten auf das Katapult, lehnte sich zurück gegen den Spannhebel, entriegelte so den Wurfbalken ... ... und schleuderte Mathayus mitten durch das Fenster hinaus in die Luft. »Nun ja«, sagte Philos, stand auf und legte die Finger an die Lippen. »Er hat schließlich gesagt, dass er hier raus wollte.« Mit weit aufgerissenen Augen flog der Akkadier dahin, kein Vogel schwebte so elegant über die Türme und Minarette des Palastes. Aber noch während er die Aussicht genoss, wusste er auch, dass jeder Vogel eleganter landen konnte als er. Es sei denn, er hatte viel, viel Glück. Er hatte es, auch wenn ein nicht so kräftiger Mann sich ge wiss verletzt hätte, als Mathayus auf der Rückseite einer hohen, massiven Mauer hart auf einer Markise aufschlug, die schräg unter ihm wegsackte, wodurch er wie auf einer Rutsche herabsauste und schließlich durch filigrane, mit kunstvollen Schnitzereien verzierte Fensterläden krachte. Diese führten in eine Kammer, deren Bedeutung ihm schon sehr bald klar werden sollte. Der Akkadier sah ziemlich mitgenommen aus, als er in einem Haufen gesplitterten Holzes auf dem Fußboden saß, doch er war froh, dass sein Bogen die Reise unbeschädigt überstanden hatte. Er befand sich in einem großen, runden Raum, von dessen Decke Draperien aus Satin hingen. Der Marmorboden war mit zahlreichen Kissen bedeckt, die um einen kleinen, aber
kunstvoll gestalteten Springbrunnen angeordnet waren. Seitlich davon befand sich ein riesiger Gong, der wirkte, als hielte er Wache. Nichts davon konnte den Akkadier jedoch so sehr beein drucken wie die Bewohnerinnen dieses zugleich einfachen und üppigen Gemachs. Wie gebannt starrte er sie an. Er war von mindestens einem Dutzend wunderschöner Frauen umgeben. Sie saßen auf den Kissen um den Springbrunnen oder streiften gedankenverloren durch das Gemach. Sie trugen die reizende, spärliche Kleidung von Haremsmädchen - und das waren sie offensichtlich auch. Er betrachtete sie voller Erstaunen: So viele Schönheiten waren hier an einem Ort versammelt und boten sich ihm dar wie ein überreiches Bankett zauberhafter weiblicher Reize. Einen Augenblick lang fragte er sich, ob er beim Aufprall auf die Fensterläden gestorben war und sich jetzt im Paradies befand; oder ob er bewusstlos war, im Sterben lag und einen letzten süßen Traum genoss, bevor er in die Unterwelt hinab steigen musste. »Ein Mann!«, zwitscherte das Mädchen, das ihm am nächsten saß. Mathayus legte die Hand auf ihren hübschen Mund. »Still«, bat er. Dann wurde ihm klar, dass sie ihn ebenso verwundert anstarr ten wie er sie. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, warum, denn ihm war nicht klar, welch faszinierendes Exemplar der Spezies Mann er für diese attraktiven jungen Frauen darstellen musste. Er nahm seine Hand von dem Mund des Mädchens. Sie gab keinen Laut von sich. Gut. Er erhob sich, zog seinen Krummsäbel und sah sich um. »Wo sind wir hier?« Ein anderes Mädchen flüsterte: »In Memnons Harem natür lich.« Und plötzlich kamen sie von allen Seiten auf ihn zu, ein
einziger anmutiger Schwarm Mädchen. »Doch das würde man niemals vermuten«, sagte eine andere. »Unser Herr besucht uns so selten.« Ein weiteres entzückendes Geschöpf beschwerte sich: »Es scheint, er hat Wichtigeres zu tun.« Eine andere streichelte den nackten Arm des Meuchelmör ders. »Immer ist er fort auf seinen Feldzügen. Für uns hat er keine Zeit. Wir sind so - einsam hier.« Das Mädchen, das zuerst gesprochen hatte, sagte: »Wir seh nen uns nach der Berührung eines Mannes«, und zart nahm sie seine freie Hand - die andere hielt den Säbel - und führte sie an eine ihrer vollen, festen Brüste. Ohne darüber nachzudenken, umfasste er die Brust, und das Mädchen bedeckte seine Hand mit ihrer Hand und hielt sie dort fest. Sie kreischte vor mädchenhaftem Vergnügen, doch er zog seine Hand weg und erwiderte: »Du bist wunderschön, aber das ist kein guter Zeitpunkt.« »Welcher Zeitpunkt könnte denn besser sein?«, entgegnete eine von ihnen, und ihre Augen funkelten über dem Schleier, der ihre Lippen bedeckte. »Es könnte wundervoll werden«, sagte eine andere, und sie alle umringten ihn, drängten sich an ihn und riefen: Bleib hier! Bleib bei uns! Welche Genüsse wir dir bereiten können! Wir wissen, wie man einem Mann Genuss verschafft! Sie umschwirrten ihn und zogen ihm die Kleider aus, und er war wie betrunken von ihrem Anblick, ihren Düften und den exotischen Freuden, die um ihn zu schweben schienen wie schimmernde Träume. Obwohl er ein großer Krieger war, war er schließlich auch noch ein Mann - und nur ein Mann -, und er bemerkte nicht, dass sie ihn in Wirklichkeit entwaffneten und seine Dolche aus seinem Gürtel zogen. Er spürte nicht, wie der mächtige Bogen und der Köcher nicht mehr um seine Schulter hingen, die ein anderes Mädchen von seinem Rücken gestreift hatte.
»Bleib bei uns«, schnurrte eine Grünäugige, »und deine wildesten Phantasien sollen Wirklichkeit werden.« Dann riss ihm eine der Frauen in einer plötzlichen, fast wil den Bewegung den Krummsäbel aus der Hand, während ein paar Schritte entfernt eine andere an einer großen Troddel zog und den mächtigen Gong ertönen ließ, dessen hallender Klang die ganze Welt zu erfüllen schien. Und diese süßen Haremsmädchen verwandelten sich in hin terhältige Kreaturen; noch immer hatten sie nichts von ihrer Anmut verloren, doch jetzt krallten sie sich an ihm fest und kratzten und bissen ihn wie ein Haufen gefräßiger Wildkatzen. Mit einer raschen Bewegung schwang Mathayus die Arme in die Höhe und befreite sich von ihnen, wobei er sie in alle Richtungen davonschleuderte wie Stoffpuppen, und ein hübsches Hinterteil nach dem anderen landete schief auf den verstreuten Kissen. Seinen Säbel und mehrere Dolche besaß er bereits wieder aber noch nicht seinen mächtigen Bogen -, als ein halbes Dutzend Bogenschützen in den Harem stürmte, an ihrer Spitze der brutale Thorak. Thoraks Narben wurden weiß vor Überraschung und Wut. »Es ist der Akkadier! Er lebt! Aber nicht mehr lange. Tötet ihn!« Als die Bogenschützen ihre Pfeile abschossen, duckte sich der Meuchelmörder hinter den riesigen Gong. Mit einem Hieb seines Krummsäbels durchtrennte er die Seile, mit denen die goldene Scheibe an ihrem Podest befestigt war, und dann stützte er sich dagegen wie gegen einen riesigen Schild. So schnell er konnte, rollte er den Gong durch den Raum, wobei er sich dahinter versteckte, während von der anderen Seite die Pfeile einschlugen und über das Metall tanzten. Er erreichte den Eingang, der Gong schoss krachend durch die geschlossenen Haremstüren und gab ohrenbetäubende Klänge von sich.
Als die Wachen in den Korridor stürmten, ließ Mathayus seinen goldenen Schild von einer Seite zur anderen kreiseln, so dass die Pfeile keinen Schaden anrichten konnten. Am Ende des Gangs tauchte der Akkadier hinter der sich drehenden Scheibe weg, die mit einem gewaltigen Lärm zu Boden fiel, während er eine Tür aufriss und in das nächstgelegene Zimmer stürzte. Er schloss die Tür mit einem Knall und verrammelte sie mit einer reich geschmückten Truhe. Wieder befand er sich in einem seltsamen Raum dieses Palastes. Er sah sich um und versuchte, sich zurechtzufinden. Dies hier war kein magisches Gemach - oder vielleicht doch. Er stand in einem Raum aus goldfarbenem Sandstein, der mit Hieroglyphen geschmückt war, die irgendwie weiblich wirkten, und dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch den angeneh men Duft nach Ölen und Blumen und Weihrauch. Er wusste sofort, dass er sich in einem der Zimmer Cassandras befand; nicht in ihrem Schlaf- oder Wohnzimmer, nein. Sondern in ihrem Bad. Und er wusste, dass es der Zauberin gehörte, weil Cassandra selbst in einem großen Becken lag und ihr lieblicher Kopf und eine Schulter aus dem Wasser ragten, das mit Rosenblüten bestreut war. Ihre mandelförmigen Augen öffneten sich weit, denn obwohl sie eine Prophetin war, hatte sie nicht vorausgesehen, dass er in einem ihrer Räume auftauchen würde. Sie war sprachlos vor Überraschung. Doch das war er auch. Den größten Teil des Bodens in diesem nicht allzu großen Zimmer nahm das riesige Becken ein, und die Dienerinnen, die die Zauberin vom Beckenrand aus umsorgt hatten, waren überhaupt nicht sprachlos. Sie kreischten wie verschreckte Kinder und rannten in die angrenzenden Zimmer ihrer Herrin. Rasch gewann Cassandra ihre königliche Haltung wieder, als
sie aus dem von Rosenblüten bedeckten Wasser stieg und die feuchte Mähne ihres langen, dunklen Haars zurückwarf, wobei jeder Zentimeter ihres goldenen, wohlgeformten Körpers zu sehen war, die vollkommenen Brüste, die schmale Taille, die elegant geschwungenen Hüften; über ihre makellose Haut glitten Wassertropfen wie Perlen, und keines ihrer weiblichen Geheimnisse blieb verborgen. Sie stützte die Arme auf die Hüften, und mit erhobenem Kinn und aufragenden Brüsten stand sie vor ihm. Keine andere Frau genoss so ungezwungen ihre eigene Schönheit. Sie fragte: »Nun, Meuchelmörder, wirst du mich töten oder einfach nur anstarren?« Mathayus seufzte. Zuerst die Haremsmädchen, und jetzt das. »Immer diese schwierigen Entscheidungen«, sagte er. Dann pochte jemand an die Tür, rammte gegen die Tür, genau genommen. Die Wachen schrien und taten ihr Bestes, sich ihren Weg in das Zimmer zu bahnen. Plötzlich rief ihn Cassandras Stimme, doch aller Trotz und aller Stolz waren verschwunden. Ein süßer, mystischer Klang ertönte, als wehte eine freundliche Brise über die Landschaft seiner Seele. »Akkadier, Akkadier ...« Er runzelte die Stirn und sagte so leise, dass es angesichts des Lärms, mit dem die Tür aufgebrochen wurde, fast nicht zu hören war: »O nein, Hexe. Diesmal nicht.« Er riss sie mit sich, als er in das Becken sprang, und ver schwand unter der Decke der Rosenblüten, die auf dem Wasser dahintrieb. Cassandra schrie auf vor Überraschung, doch nur kurz, es war kaum mehr als ein Japsen, und schon tauchte auch sie unter die Rosen hinab. Es dauerte noch einige Augenblicke, bis die Wachen schließ lich durch die Tür brachen, und als sie in das Zimmer traten, schwebten die Rosenblüten wieder ruhig auf dem Wasser, und niemand schien mehr im Bad zu sein.
Mit gezücktem Schwert schritt Thorak das Zimmer ab und sah sich um. Frustriert runzelte er die Stirn. Memnon hatte sich persönlich der Suche angeschlossen, und er betrat den Raum unmittelbar hinter seinem vertrauten Ratgeber. Unter Wasser hebelte Mathayus die Spitze seines Krummsä bels unter ein Eisengitter am Boden des Beckens und drückte es auf. Sofort begann das Wasser durch eine schmale Röhre abzulaufen. Je mehr sich das Becken leerte, umso deutlicher waren die schattenhaften Gestalten unter Wasser zu sehen, und Memnon schrie: »Tötet ihn!« Das Rohr war jedoch so breit, dass der Akkadier und die Zauberin hineingleiten konnten, und er musste sie nicht einmal mit sich ziehen, denn der Sog des ablaufenden Wassers trieb die beiden in die Tiefe. Memnons Wachen kamen zu spät, als sie mit ihren Schwer tern auf das rasch sinkende Wasser einhieben. Mathayus und Cassandra waren verschwunden. Vom Wasser mitgerissen, glitten sie immer schneller den gewundenen Abfluss hinab.
Das Tal der Toten
Philos, der sich selbst so gern als Mann der Wissenschaft bezeichnete, stand am hohen Fenster des Turmes, in dem sein primitives, doch visionäres Labor lag, und sah hinab, um her auszufinden, woher der Lärm kam, der seine Aufmerksamkeit geweckt hatte. Unten versammelte sich eine Phalanx von Wachen, und einer der Männer deutete hinauf zum Fenster des Wissenschaftlers
und schickte dann mehrere gut bewaffnete, rote Turbane tragende Kämpfer los. Sie hatten offensichtlich die Aufgabe, ihn zu holen. »O je«, sagte Philos und blinzelte. »Ich muss wohl annehmen, dass meine Zeit hier beendet ist.« Er holte seine Reisetasche, die er unter einem Holztisch verborgen hatte, und begann, schnell zu packen. Er achtete jedoch darauf, dass er ein gewisses chinesisches Pergament nicht vergaß. Unterdessen saß der magere Dieb Arpid vor dem Zelt eines Weinhändlers auf dem großen Markt von Gomorra und trank. Er war noch nicht völlig betrunken, aber nüchtern war er auch nicht mehr. Als er jedoch die Hörner und Trompeten der Palastwache hörte, die lautstark Alarm schlugen, wurde seine Wachsamkeit blitzschnell geweckt. Arpid seufzte und dachte: Nun - ich habe diesen Narren gewarnt. Er erhob sich und prostete einigen verkommenen Burschen zu, die nichts anderes zu tun hatten, als in den Tavernen herumzuhängen. »Trinken wir auf meinen Freund, den Akkadier. Möge er in Frieden ruhen. Das wenige, was noch von ihm übrig sein mag.« Die Betrunkenen, die Banditen und die übrigen zwielichtigen Gestalten, die um ihn herum saßen, hoben zustimmend ihre Kelche. Sie würden jedem zutrinken, selbst einem Angehöri gen des Stammes der Akkadier, auch wenn jeder wusste, dass diese schon längst von der Erdoberfläche verschwunden waren (bis auf diesen Idioten, der den Trinkspruch ausbrachte, so schien es). Arpid hatte sein neues Glas kaum geleert, als ein Trupp Wachen lärmend und mit gezückten Waffen auf den Basar stürmte. Der Dieb verbarg das Gesicht, bis die Soldaten
vorbeigeeilt waren. Dann stand er auf, verbeugte sich vor seinen erlesenen Gefährten und sagte: »Edle Freunde, es tut mir Leid, doch ich muss nun aufbrechen.« Und er ging. In einer nahe gelegenen Straße unmittelbar hinter dem Marktplatz wuschen Beduininnen Kleider in einem großen Springbrunnen. Schließlich ging das Leben selbst dann weiter, wenn Memnons Soldaten sich in Marsch setzten und in der Stadt lautstark Alarm geschlagen wurde. Ein Kind einer dieser Frauen, ein kleiner Junge, der seine Mutter begleitete, betrachtete eine abgegriffene Münze, die er auf der staubigen Straße gefunden hatte. Der Junge hatte noch nie eine Münze besessen und wusste nicht, was er damit tun sollte, doch als er sich dem Brunnen zuwandte, wurde ihm plötzlich alles klar: ein Wunsch! Der Junge warf die Münze, und als würde sich der Wunsch sofort erfüllen, schoss eine schöne nackte Frau unter einem im Brunnen treibenden Kleidungsstück aus dem Wasser hervor. »Ehre den Göttern!«, sagte der Junge, und für den Rest seines Lebens sollte sein Glaube unerschütterlich bleiben. Cassandra beugte sich schwer atmend über den Brunnenrand, während der Junge mit großen Augen ihre geschmeidigen Formen genoss. Dann tauchte der Akkadier hinter ihr auf und schnappte nach Luft. Der Junge runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf, denn diese zweite Erscheinung enttäuschte ihn. Dann bedeckte die Mutter die Augen des Kleinen und zog ihn fort. Immer mehr Menschen kamen herbei, doch sie näherten sich so vorsichtig, dass diesem stattlichen, Fleisch gewordenen Gott und seiner Göttin genug Raum zum Atmen blieb. Schwer atmend mussten sich beide einen Augenblick lang erholen. Sie hatten eine abenteuerliche Schussfahrt durch das Rohr hinter sich, bei der sie schließlich aus einem Mauerloch in eine feuchte Wasserkammer gefallen und dann den Brun
nenschacht hinauf ins Licht und an die Luft gespült worden waren. Jetzt sahen sie wie lebende Statuen aus, die den Brun nen schmückten. Dann drehte sich die Zauberin mit einer heftigen Bewegung zu Mathayus um, während das Wasser noch aus ihren langen Haaren floss und überall auf ihrer goldenen Haut Wasserperlen funkelten. Die gefährliche Lage, in die beide geraten waren, war vorüber, und Cassandra hatte ihre königliche Haltung wiedergewonnen. Ihre Finger mit den langen Nägeln verwan delten sich in Klauen und schossen auf das Gesicht des Akka diers zu. Mathayus packte sie mit festem, hartem Griff an den Handge lenken, während sie vor Wut raste. »Wie kannst du es wagen, mich zu berühren!«, knurrte sie. »Dein Kopf wird auf einem Pfahl stecken, Vögel werden deine Augen aushacken und deine Gedärme werden von der höchsten ...« Er riss sie an sich, als wollte er sie küssen, doch das tat er nicht. Mit fester Stimme, aber so leise, dass die Menge es nicht hören konnte, teilte er ihr seine Botschaft mit. »Zauberin«, sagte er mit süßer Stimme, »ich bin ein Akka dier, der den Auftrag hat, dich zu töten.« Ihre Augen funkelten, und in ihre Wut mischte sich Furcht. »Doch so, wie es jetzt aussieht«, fuhr er fort, »bist du mir von größerem Nutzen, wenn du lebst, als wenn du tot bist.« Sie sagte nichts. Sie reckte ihr Kinn in die Höhe, doch sie zitterte, und das lag vielleicht nicht nur an der Kälte des Wassers. »Ich würde vorschlagen, wir besorgen uns etwas zum Anzie hen«, meinte er. »Nackt fängst du dir noch eine Erkältung ein und noch mehr unerwünschte Aufmerksamkeit.« Von einer der Waschfrauen besorgte er sich für ein paar Münzen Beduinenkleider und Halstücher, und kurz darauf ging der Akkadier mit seiner Geisel auf die großen Stadttore Go
morras zu, die in diesem Augenblick von weniger Wachen gesichert wurden als üblich. Offensichtlich hatte das Alarmsig nal der plärrenden Hörner die meisten Torwächter zu anderen Aufgaben gerufen. Das war auch der Grund, warum niemand den Akkadier und Cassandra, die Zauberin, aufhielt, als sie, in die Kleider und Tücher einfacher Wüstenbewohner gehüllt, an den Wachen vorbeigingen und Gomorra verließen - scheinbar in eine liebe volle Umarmung versunken. Und diese Umarmung wurde dadurch, dass der Meuchelmörder seinen Dolch gegen die Taille der Hexe drückte, nicht weniger intim. Der kleine Pferdedieb und selbst ernannte Partner des Akka diers hatte zuvor bereits von der mangelnden Aufmerksamkeit der Wachen am unterbesetzten Stadttor profitiert. Er führte ein Kamel bei den Zügeln und wirkte überaus respektabel, als er neben einem reichen Kerl dahertrottete, der auf einem Pferd saß. Jenseits der Tore versuchte Arpid den reichen Reisenden in einen Kunden zu verwandeln, indem er ihm die störrische Hanna für nur vierzig Duranas anbot. Der Dieb hatte zwar durchaus selbst Verwendung für ein Reittier - selbst für eines wie Hanna - , doch das Kamel war so störrisch, dass es ihn nicht einmal aufsitzen ließ. Da war es besser, wenn ein anderer versuchen würde, dem Tier ein wenig Verstand einzubleuen, während Arpid sich ein Pferd kaufte, das ein angenehmeres Transportmittel wäre. Selbst wenn sich Arpid dazu noch einmal in die Stadt schleichen musste. Der reiche Reiter ignorierte ihn jedoch. »Sagte ich vierzig Duranas?«, fragte der Dieb bescheiden. »Edler Herr, ich wollte eigentlich dreißig sagen. Habt Ihr solch ein Kamel schon jemals gesehen? Die weißen sind selten, edler Herr.« Keine Antwort.
Und Arpid konnte diese störrische Kreatur kaum mehr weiter ziehen. Er rief seinem potenziellen Kunden zu: »Warum nicht? Der Preis ist so niedrig, das ist fast schon Diebstahl!« Kein Verkauf. »Komm schon, du Sack Flöhe«, sagte Arpid zu Hanna, riss an den Zügeln und tat, was er konnte, damit das Kamel weiterlief. Doch Hannas einzige Reaktion bestand darin, dass sie brüllte. Es war ein lautes, wütendes, blökendes Rufen ... ... dessen Echo sich über die karge Landschaft hinweg aus breitete bis zu der Stelle, an der der Akkadier und seine schöne Geisel in Beduinenkleidern zu Fuß unterwegs waren. »Halt!«, sagte Mathayus zu Cassandra mit erhobener Hand. Sie gehorchte. Der Akkadier lauschte, und der Wind trug ihm ein vertrautes Schnauben zu. Und dann gleich noch eins. Er grinste. »Das ist mein Kamel. Eindeutig.« »Was?« »Still!« Der Akkadier hob zwei Finger an die Lippen und stieß einen lauten, energischen Pfiff aus. Und in der Ferne riss Hanna, die sich von den Bitten und dem Gezerre des Pferdediebs nicht beeindrucken ließ, den Kopf herum und spitzte die Ohren, als sie diesen wohl vertrauten Ton hörte. »Was?« Arpid schüttelte den Kopf. »Was ist jetzt schon wieder los, du räudiges Vieh? He!« Das Kamel warf die Zügel herum, riss den kleinen Dieb von den Füßen und stürmte davon, um dem Ruf seines Herrn zu folgen. Mathayus wartete geduldig, die Hände auf die Hüften ge stützt, und bald darauf grinste er breit, als das Kamel mit klappernden Hufen auf einem nahe gelegenen Hügel erschien. Irgendetwas - oder irgendjemand - wurde von dem Tier mitgeschleift. Mathayus blinzelte, um durch den Sand, den das
Kamel aufwirbelte, erkennen zu können, wer das war. Ah! Der Pferdedieb Arpid, der umbarmherzig an den Zügeln mitgerissen wurde. Das Kamel kam an der Seite seines Herrn zum Stehen, und der Akkadier streckte die Hand aus und kraulte den Hals des Tieres. »Gutes Mädchen«, sagte er und warf Cassandra einen Blick zu. »Siehst du? Sie weiß, wie man sich benimmt.« Die Zauberin verschrankte die Arme, starrte ihn an und blick te dann angewidert zur Seite. Inzwischen war auch Arpids Rutschpartie beendet, er war direkt vor Mathayus' Füßen gelandet. Heftig hustete er den eingeatmeten Sand aus. Als der Dieb wieder sprechen konnte, lächelte er den Akkadier an und brachte dabei etwas zustande, was in zivilisierteren Tagen als überaus gequälte Grimasse bezeichnet werden sollte. »Das ist - wunderbar. Die Götter seien gepriesen.« Der Dieb hustete. »Gerade haben wir nach dir gesucht.« »Ihr habt mich gefunden«, sagte der Akkadier. Arpid erhob sich mit schmerzverzerrtem Gesicht, doch Mathayus half ihm nicht dabei. Als er sich den Sand aus den Kleidern klopfte, entdeckte er schließlich die schöne Frau in ihrer Mitte. »Hm«, meinte er. »Wer ist deine wunderschone Freundin?« »Das ist der Zauberer«, sagte der Akkadier trocken. Der Dieb riss die Augen auf. »Was meinst du damit?« »Genau das, was ich gesagt habe: Das ist Memnons Zauberer. Eine Zauberin.« Er wandte sich an die Frau, wobei er in Richtung Hanna nickte. »Steig auf.« Mit einem resignierenden Seufzen trat die anmutige Dame nach vorn, wobei die locker sitzende Beduinenrobe verführe risch um ihren Körper wehte. »Beeil dich«, sagte der Akkadier. »Es wird bald Nacht.« Sie erlaubte ihm, ihr auf das Kamel zu helfen.
Mit offenem Mund starrte Arpid die Frau an.
»Bei allen Göttern! Du hast den Zauberer des Kriegsherrn
gestohlen. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll.« »Von mir aus kannst du ersticken«, entgegnete Mathayus. »Warum bist du so wütend auf mich, Partner?« Der Akkadier betrachtete das Reittier, um festzustellen, ob mit Hanna alles in Ordnung war. »Du bist mit meinem Kamel weggerannt, du Dieb.« Arpid schlug sich noch etwas mehr Sand aus den Kleidern und erwiderte leicht verärgert: »Mein Freund, wenn du auch nur mit halbem Auge hingeschaut hattest, hättest du erkannt, dass das Kamel mit mir wegrannte.« Mathayus schwang sich hinter der Zauberin in den Sattel; dieses Erzeugnis nomadischer Handwerkskunst bot beiden Platz. Jedenfalls, wenn sie eng beieinander saßen. Dann trieb der Akkadier das Kamel an, und das Tier verfiel in ein gemächliches Traben, wobei der Dieb hinter ihnen zu ruckblieb. Wieder einmal. Er rannte hinterher und rief: »Und nun, mein Partner, mein Freund - wohin gehen wir jetzt?« »In das Tal der Toten«, sagte der Akkadier leichthin.
Arpid runzelte die Stirn und lief plötzlich langsamer.
»Das ...«
»... Tal ...«
»... der ...«
»... Toten. Genau. Du kannst dich uns anschließen, wenn du
willst.« Als der Akkadier und seine elegante Freundin davonritten, hielt Arpid inne. Er starrte hinauf in den Himmel und schrie ihnen hinterher: »Bist du verruckt? Niemand kann das Tal der Toten betreten. Deshalb heißt es ja das Tal der Toten! Lebend gehst du hinein, und dann bleibst du drin. Tot. Sogar Memnons Heer würde es nicht wagen, das Tal zu betreten.« Vom schwankenden Kamelrücken aus warf Mathayus einen Blick zurück auf den Dieb. »Nicht einmal, um seine Zauberin
zurückzugewinnen? Die ihn in seinen Schlachten von Sieg zu Sieg führt?« Einige zögerliche Schritte weit trottete Arpid hinter ihnen her. »Naja ...« »Natürlich würde er das. Memnon würde seine Männer bis ans Ende der Welt schicken, um sie zurückzuholen. Er würde sie in den sicheren Tod schicken, wenn es sein müsste.« Arpid schluckte und eilte ihnen ohne große Begeisterung nach. »Nicht ihr Tod macht mir Sorgen, Partner, sondern unserer. Wie steht's denn damit?« Aber darauf wusste Mathayus keine Antwort und ritt schwei gend weiter. Auch die Zauberin schwieg, und schließlich gab es nichts mehr, was Arpid hätte sagen können. Doch er folgte ihnen. Die Nacht hatte sich über Gomorra gesenkt, und in Memnons majestätischem Thronsaal warteten die beiden wichtigsten Ratgeber auf die Befehle des Kriegsherrn. Der treue Diener Thorak stand aufmerksam da, er hing an jedem Wort, das über die Lippen seines Herrn und Meisters kam, und verschlang jede Bewegung Memnons mit seinen Augen. Der jüngste Neuzugang zu diesem innersten Kreis, der Va termörder Takmet, lümmelte dagegen an einem Tisch herum und nippte an einem Weinkelch, als sei die Katastrophe noch nicht hereingebrochen. Doch natürlich war sie hereingebrochen. Voller Sorgen saß der Große Lehrer auf seinem Thron und betrachtete mehrere Skorpione, die in einer gläsernen Schale durcheinander krochen, welche auf der breiten, steinernen Armlehne des Thrones stand. Er zog den Dolch aus dem Gürtel, den er Mathayus gestohlen hatte, führte ihn wie eine Lanze von oben herab in das Glas und spießte eine der zucken den Arachniden auf. Die Entschiedenheit, mit der der Kriegs
herr das tat, schien nicht so recht zu seinem Gesichtsausdruck zu passen, den er zur Schau trug, während er den Dolch mit dem sich windenden, sterbenden Skorpion hochhob und das Tier mit anscheinend müssigem Interesse betrachtete. »Nimm ein Dutzend deiner besten Männer«, sagte Memnon plötzlich, und Thorak folgte seinen Worten mit gespannter Aufmerksamkeit. Sogar Takmet horchte auf. »Verfolge ihn, töte ihn und bring mir Cassandra wieder.« Thorak verbeugte sich knapp. »Ja, edler Herr.« Memnon zog die dünne scharfe Klinge über den Unterleib des Skorpions, schlitzte ihn bis zum Schwanz auf und beendete den Todeskampf des Tieres. »Schick unsere schnellsten Reiter zu mir zurück, die mir seinen Tod bestätigen sollen«, befahl Memnon. »Und ihre Sicherheit.« Memnon griff in einen Köcher an der Seite des Throns und entnahm ihm einen Pfeil, dessen Spitze er in den Giftsack des toten Skorpions drückte. Er drehte die Pfeilspitze hin und her und tränkte sie mit dem Gift. »Edler Herr«, sagte Takmet und erhob sich schließlich. »In unserem Heer machen Gerüchte die Runde, dass Cassand ra entführt wurde.« Memnon wandte sich mit scharfer Stimme an Thorak. »Stimmt das? Gibt es diese Gerüchte?« Der narbengesichtige Oberbefehlshaber starrte den anderen Ratgeber an, doch er verbarg, wie sehr er sich darüber ärgerte, dass Takmet sie in Schwierigkeiten brachte. »Ja, edler Herr. Natürlich werden unsere Generäle und Feld offiziere erfahren müssen, dass sie entführt wurde. Wenn sie sie retten sollen.« »Nicht sie werden sie retten - du wirst sie retten. Und die Männer, die dich begleiten, brauchen erst davon zu erfahren, wenn die Zauberin wieder in unserer Obhut ist.«
»Ja, edler Herr.« Der Kriegsherr runzelte die Stirn und dachte nach. »Bring diese Gerüchte zum Schweigen. Töte alle, die ihre verräterischen Zungen nicht im Zaum halten können. Die Einzelheiten bleiben dir überlassen. Die Leute müssen davon überzeugt sein, dass die Prophetin hier ist, auch wenn wir diese Täuschung nicht allzu lange aufrecht erhalten können.« Thorak nickte. »Und wenn du den Akkadier siehst«, fügte Memnon hinzu, »gib ihm das von mir.« Der Kriegsherr reichte dem Ratgeber den Pfeil mit der vergif teten Spitze. Thorak nahm ihn vorsichtig entgegen und umwi ckelte die Spitze sorgfältig mit einem Stück Leder. Nicht einmal eine Stunde später hatte Thorak seine Truppe zusammengestellt. Er hatte die brutalsten und vertrauenswürdigsten Männer aus den Mitgliedern der königlichen Wache ausgesucht, und jetzt ritt er mit ihnen aus der Festungsstadt hinaus in die Nacht. Und in die Unterwelt, wenn es sein musste. Im Thronsaal stand der Lehrer der Menschen nachdenklich vor einer mächtigen Steinplatte, die in einem goldenen Rahmen in der Nähe seines Throns aufgestellt worden war. Diese Steinplatte war bereits in jenen längst vergangenen Zeiten uralt gewesen; sie trug eine Inschrift aus grob gezeichneten Hiero glyphen, die nur die weisesten aller Gelehrten entziffern konnten. Der Kriegsherr fuhr mit den Fingern vorsichtig, voller Hoch achtung und fast zärtlich über die Symbole; es war, als stünde er unter einem Zauber. Seine Fingerspitzen hielten bei der Darstellung eines Mannes inne, der die Arme triumphierend erhoben hatte; die Flammen im Hintergrund des Bildes schie nen diese Geste nachzuahmen.
Dann ruhten Memnons Finger auf dem eingemeißelten Emb lem des Mondes ganz unten auf der Steinplatte. Nicht mehr lange, dann wird das alles mir gehören, dachte er. Zuerst Cassandra und dann die ganze Welt. Gegen Mittag des nächsten Tages hatten die drei Reisenden die Ebenen der Nomaden durchquert und die Wüste beinahe erreicht. Zähneknirschend musste der Akkadier zugeben, dass der kleine Dieb mittlerweile seinen Respekt verdient hatte, denn Arpid war es gelungen, mit dem Kamel Schritt zu halten. Natürlich war Hanna, die Mathayus und die vor ihm sitzende Cassandra trug, unter dieser Last langsamer vorangekommen als üblich, und gelegentlich war Mathayus selbst zu Fuß gegangen, während er das Tier am Zügel geführt und die Zauberin allein im Sattel gesessen hatte. An der Spitze eines zerklüfteten Hügels stießen sie auf drei Holzpfähle, die über dreieinhalb Meter hoch waren - eine Warnung an alle, die dieses verbotene Gebiet betreten wollten, welches in den Legenden das Tal der Toten hieß. An jedem Pfahl waren mehrere menschliche Schädel befestigt, die von den Knochen kleiner Tiere - zumeist Schlangen - und der getrockneten Haut von Menschen umwunden waren, die versucht hatten, dieser Route zu folgen. Der kleine Pferdedieb hielt dies für keine besonders ver lockende Einladung, und er sagte: »Ich glaube, wir sind weit genug gekommen.« Von der Hügelkuppe aus konnte er die Landschaft überbli cken, die sie erwartete: Ein oder Streifen Land, der mit Sand hügeln übersät war, die Pockennarben glichen, zog sich bis hin zum Horizont. Dieses Terrain würde keinen einzigen Fehler verzeihen, und gleich dahinter lag die Tod bringende Wüste falls man der Landkarte trauen konnte, die Mathayus studierte. Der Akkadier rollte die lederne Karte zusammen, steckte sie wieder in die Satteltasche und sagte zu dem Dieb: »Nein,
Partner. Wir fangen gerade erst an. Nimm das als Begrüßung.« »Eine Begrüßung«, meinte Arpid und betrachtete nachein ander die drei Pfähle mit den Schädeln. »Nun ja, warum sollten wir nicht weiterziehen? Deine Freundin ist eine Zauberin, du bist ein erfahrener Meuchelmörder und ein riesiger Barbar. Wer von uns sollte bei diesem Unternehmen schon zu Schaden kommen?« Mathayus zuckte mit den Schultern. »Genau. Wer eigentlich?« »Oh, ich weiß nicht. Der magere Dieb vielleicht?« »Niemand hält dich. Du kannst gehen, wohin du willst«, erinnerte ihn der Akkadier, wahrend er neben seiner schönen Geisel stand, die auf dem Kamel saß. Er langte nach oben und strich ihr das lange Haar aus dem Gesicht, und sie sah ihn erschrocken und gekränkt an. »Fass mich nicht an«, sprach sie und griff nach seinem Hand gelenk. Entschieden, aber nicht roh befreite er seine Hand, strich ihr das Haar noch einmal nach hinten und zog ihr einen goldenen Ohrring, der wie ein Reif geformt war, vom Ohrläppchen. Sie runzelte die Stirn, betrachtete Mathayus verwirrt und wollte nach dem Ohrring greifen, was ihr jedoch nicht gelang. Der Akkadier ging auf den nächstgelegenen Fetischpfahl zu und befestigte das Schmuckstuck an seinem Häkchen an der Spitze des Pfahls. »Du Vieh«, knurrte sie. »Was, bei allen Göttern, tust du da?« »Bei allen Göttern - überhaupt nichts.« Mathayus deutete ein Lächeln an. »Ich markiere nur den Weg für deinen Herrn und Meister.« Sie zuckte zurück, presste voller Verachtung die Augen zu kleinen Schlitzen zusammen, und ihr Kinn kräuselte sich. »Niemand ist mein Herr.« »Vielleicht nicht«, erwiderte er und schwang sich hinter ihr in den edlen Nomadensattel. »Aber was du denkst, ist ohne jede
Bedeutung. Was für mich zählt, ist wie Memnon die Sache sieht.« Der Akkadier trieb sein Kamel an, das langsam in das öde Tal hinabstieg. Der Ritt war anstrengend, doch bei weitem nicht so mörderisch wie die Wüste, die sie bald darauf erreichten. Die Sonne brannte herab auf den Sand und die Skelette derer, die vor ihnen versucht hatten, diesen Weg zu nehmen, und von denen nichts übrig geblieben war als groteske, von der Sonne ausgebleichte Wegmarken. Cassandra erstarrte, als sie einen Skorpion sah, der aus der leeren Augenhohle eines menschlichen Schädels kroch, und Mathayus fragte amüsiert: »Fürchtest du dich vor diesen kleinen Viechern?« Sie antwortete nicht. Sie verriet ihm nicht, dass Bruchstücke einer Vision sie durchfuhren wie ein Blitz. Der Mann, der hinter ihr saß, war irgendwie mit diesem Skorpion verbunden, aber sie wusste nicht, wie. Gelegentlich gab Mathayus nach und ließ den Dieb reiten, während er selbst zu Fuß weiterging. Der kleine Mann war schließlich so weit gekommen, und diese Kleinigkeit konnte der Akkadier für ihn tun. Arpid gehörte jetzt zu ihnen, denn er zog mit ihnen zusammen durch die ungeheure, öde Wüsten landschaft, und er beklagte sich nur selten, während er neben ihnen hertrottete. Sogar die Frau machte keine Schwierigkei ten. Allein die Sonne, die gnadenlos herabbrennende Sonne, schien sein Feind zu sein. Thorak und sein Dutzend hervorragender Krieger befanden sich noch mehrere Stunden hinter der kleinen Gruppe. Bei Sonnenuntergang erreichte ein Fährtenleser den Hügelkamm mit den Fetischpfählen. Er zog den goldenen Ohrring der Zauberin vom Schädel eines Pfahls, ritt zurück zu den Männern mit den roten Turbanen und reichte das Schmuckstück dem Oberkommandierenden.
Weiß leuchteten die Narben in Thoraks vor Wut gerötetem Gesicht, denn er wusste, dass der Akkadier ihm einen Köder hingeworfen hatte und ihn verhöhnte. Üblicherweise hätten sie jetzt das Lager aufgeschlagen, doch Thorak befahl seinen Soldaten weiterzureiten. Sie würden die anderen so lange verfolgen, bis die Sonne nur noch eine fahle Erinnerung wäre. Im kühlen, nächtlich blauen Schimmer der Sanddünen und unter einem Himmel, an dem mehr Juwelen funkelten, als jeder Kriegsherr jemals zusammenraffen konnte, schliefen der Akkadier, der Dieb, die Frau und das Kamel. Der Dieb jeden falls schlief auf seiner Seite des Feuers, doch wegen seines dröhnenden Schnarchens war es für die anderen schwierig einzuschlummern. Trotzdem gelang es Mathayus, ein wenig Schlaf zu finden; den Krummsäbel hatte er quer über die Brust gelegt, bereit, sich sofort gegen jeden Angriff zu verteidigen. Auch Cassandra schlief - wenigstens so lange, bis sie nach einem besonders lauten Schnarchen des Diebes die Augen aufschlug. Plötzlich war sie hellwach und sah hinüber zu Mathayus, der sich nicht rührte, auch wenn Arpid mit seinem Schnarchen ganze Bäume umsägte. Ohne den Akkadier aus den Augen zu lassen, erhob sie sich so leise und anmutig wie eine freundliche Brise, als sie sah, dass nichts seinen Schlaf zu stören schien. Zuerst ging sie nur langsam und sah sich immer wieder zum Feuer und zum Lager hin um; leicht streichelte der Sand ihre kleinen Füße. Dann begann sie zu rennen. Sie wusste, dass Memnon Truppen aussenden würde, um nach ihr zu suchen. Sollte es ihr gelingen, noch vor Tagesanbruch den Meuchel mörder so weit wie nur möglich hinter sich zu lassen, dann ... Doch keine fünf Meter vom Lager entfernt fiel sie vornüber in den Sand, denn jetzt straffte sich ein seidenes Band, das um ihren linken Knöchel gebunden worden war.
Keuchend drehte sie sich um und zog an diesem Band, als hinge ein großer Fisch am anderen Ende. Und sie lag damit nicht einmal so verkehrt. Mathayus tauchte aus der Nacht auf, und als er vor ihr stand, sah sie, dass das Seidenband auch um seinen linken Knöchel gebunden war. »Wo willst du hin, Zauberin?«, fragte er amüsiert. »Glaubst du, du findest deinen König irgendwo dort draußen in der Wüste? Vermisst du deinen geliebten Herrn so sehr?« Ihre Augen funkelten vor Wut. Sie stand auf und schleuderte ihm ihre winzige, harte Faust entgegen. Er packte die Faust, doch mit ihrer anderen Hand fuhr sie ihm wie mit einer Kralle ins Gesicht. Ihre Fingernägel waren lang und scharf und ihre Wut war unbändig, fast überwältigend. Überrascht von der Kraft und der Heftigkeit ihres Angriffs, packte er sie, riss sie in die Höhe und warf sie über seine Schulter wie einen Sack Getreide. Sie landete mit einem dumpfen Aufschlag auf dem Wüstenboden. Mathayus entwirrte das Seidenband zwischen ihnen und näherte sich ihr. Sie drehte sich mit verzerrtem Gesicht um; immer noch bebend vor Schmerz und gleichzeitig voller Stolz sagte sie: »Memnon ist nicht mein geliebter Herr. Er ist auch nicht mein Liebhaber. Ich bin eine Jungfrau.« Fast hätte Mathayus darüber gelacht, doch er tat es nicht, denn sie klang so entrüstet und so ernst. »Meine Kräfte verdanke ich meiner Reinheit«, fuhr sie fort. »Sogar Memnon, dieses Ungeheuer, würde es nicht wagen, meine Reinheit zu entweihen.« Memnon, dieses Ungeheuer? »Entschuldige dich bei mir«, verlangte sie. »Sofort!« Der Akkadier betrachtete ihre Schönheit, als sie im Sand vor ihm lag. Ihr Haar war zerzaust, und sie sah ein wenig mitge nommen aus, doch im blauen und elfenbeinfarbenen Schimmer der Nacht war sie deswegen nicht minder anziehend. Ihre
Überzeugung war zweifellos beeindruckend. »Es tut mir Leid«, sagte er. »Wirklich.« Sie schluckte und suchte in seinem Gesicht nach Sarkasmus oder Unsicherheit, doch sie fand keins von beidem. Sie senkte den Kopf, und ihre Stimme zitterte, als sie sprach. »Ich war elf«, erzählte sie, »als Memnon die Geschichten von einem Kind, einem Mädchen, hörte, das die Augen der Götter besaß. Er ritt in mein Dorf und befahl vier seiner Soldaten, sich vor mir aufzustellen. Er sagte: Nenn mir die Namen dieser Männer. Jeder falsche Name bedeutet, dass dieser Mann stirbt.« »Seine eigenen Männer!«, flüsterte Mathayus erschrocken. »Seine eigenen Männer«, wiederholte sie und nickte. »Ich war entsetzt, aber was hätte ich tun können? Ich nannte ihm die Namen, alle vier.« »Du hast ihnen das Leben gerettet.« »Ja. Und anschließend haben eben diese vier Soldaten meine Familie ermordet, und ich wurde fortgebracht.« Der Akkadier fühlte sich wie betäubt, als hätte er einen hefti gen Schlag ins Gesicht bekommen. Er fühlte mit ihr, denn sie hatte unter Memnons Grausamkeit so sehr gelitten wie nur irgendein Mann oder irgendeine Frau. Leise sagte er: »Der Große Lehrer lässt uns alle in den Ge nuss seiner Lektionen kommen, nicht wahr?« Und er beugte sich hinab und knüpfte das Seidenband um ihren zarten Knöchel auf. Dann ging er zurück zum Lager, zum Feuer und zu seinen Decken. Auch sie ging schließlich zurück, setzte sich an die Stelle, an der sie zuvor geschlafen hatte, und umschlang ihre Knie mit den Armen. Er hatte ihr den Rücken zugewandt. »Flieh, wenn du willst. Du bist nicht mehr meine Gefan gene.« Er drehte sich kurz um und warf ihr einen viel sagenden Blick
zu. »Du solltest nur daran denken, dass es hier draußen schlim mere Gefahren gibt als mich.« Noch immer mit dem Rücken zu ihr gewandt, legte er sich nieder und schlief ein. Er schnarchte ein wenig, doch das gewaltige Schnarchen des Diebes, der von der ganzen Aufre gung nichts mitbekommen hatte, übertönte ihn bei weitem. Lange, sehr lange saß die Zauberin da, betrachtete den Mann, der sie entführt hatte, und fragte sich, was für ein Mensch er wohl sein mochte. Wer war dieser Mann, der es gewagt hatte, sich gegen Memnon, den Herrn, zu erheben? Aber trotz all ihrer Visionen und Prophezeiungen war sich Cassandra nicht im Klaren darüber, dass sie den Akkadier in diesem Augenblick zu lieben begonnen hatte. Dass ihrer beider Zukunft miteinander verbunden war.
Ein Sturm zieht auf
Am Vormittag des nächsten Morgens hatten Thorak und sein Dutzend Krieger mit den roten Turbanen ihr Ziel fast erreicht. Sie waren sich ihres unmittelbar bevorstehenden Erfolges allerdings nicht bewusst, als sie den Hang einer großen Düne hinaufritten, auf die der Wind düstere Muster zeichnete, während die Sonne erbarmungslos auf sie niederbrannte. Die Beute jedoch war sich der Verfolger sehr wohl bewusst. Mathayus ritt auf Hanna, und von hinten hatte die Zauberin ihre Arme um ihn gelegt; ihre kühle Distanz war nur mehr eine ferne Erinnerung. Sie befanden sich auf einer Düne unweit
ihrer Feinde, und Mathayus lauschte auf die Geräusche, die der Wind zu ihnen trug. All seine Sinne waren schärfer und wacher als die des Diebes, der neben ihnen durch den Sand trottete, und die Zauberin schien in mystische Grübeleien versunken. Er wirbelte das Albinokamel herum und sah eine Staubwolke; sie war noch fern, doch nicht so fern, als dass sie keine Bedrohung dargestellt hätte. Trotzdem lächelte der Akkadier, er grinste sogar. »Thorak.« Der Pferdedieb drehte sich um, sah die aufsteigende Staub wolke und schüttelte den Kopf resignierend wie jemand, den man an der Nase herumgeführt hatte. »Welch eine Überraschung. Wie haben sie uns nur gefunden? O ja, natürlich. Du hast ihm ja ein Zeichen hinterlassen.« »Genau. Und dieser Narr reitet direkt hinein in die Gefahr.« Arpid sah Mathayus an, als zweifelte er an der geistigen Gesundheit seines Reisegefährten. »Ach nein. Das tut er?« »Aber natürlich.« »Wie viele Männer hat er, was meinst du?« Nachdenklich betrachtete der Akkadier die entfernte Staub wolke. »Nur ein Dutzend, würde ich sagen.« »Ach so. Nur ein Dutzend der kühnsten Krieger aus Mem nons Roter Wache. Und wir sind zu dritt, einschließlich einer Frau und eines zitternden Feiglings.« Mathayus schüttelte den Kopf. »Dieser Narr reitet direkt auf einen Sturm zu.« Die Zauberin betrachtete ihn mit kindlicher Neugierde. »Ein Sturm?« »Verzeih mir, wenn ich das erwähne«, ergriff der Dieb wieder das Wort, »du magst ja ein beeindruckender Partner sein - aber du bist kein Sturm. Du bist nur ein einzelner Mann. Ein außergewöhnlicher Mann, zugegeben. Aber nur ein einzelner
Mann.« Der Akkadier grinste seinen mageren Gefährten an, wandte dann den Blick von der Staubwolke ab, die Thorak und seine Männer aufwirbelten, und drehte sich zum gegenüberliegenden Horizont um. Seufzend schüttelte der Dieb den Kopf und murmelte: »Das ist zweifellos der übelste Schlamassel, in den du mich bisher gebracht hast.« Und dann blickte auch Arpid auf, sah in die Richtung, in die sich der Akkadier mit einem Grinsen im Gesicht gewandt hatte. Wie konnte dieser Narr nur so erfreut darüber sein?, fragte sich Arpid. Der Dieb suchte den Horizont ab und entdeckte einen dunkel braunen Streifen, der sich ihnen unerbittlich näherte - wie ein lebendiges Wesen. »Vielleicht war ich etwas voreilig«, bemerkte Arpid erstaunt. »Ich glaube, du hast es geschafft, dich selbst zu übertreffen, Akkadier. Das hier ist zweifellos der übelste Schlamassel, in dem ich jemals gesteckt habe.« »Der Tag ist noch jung, Dieb«, erwiderte Mathayus und packte Hannas Zügel fester. »Mögen die Götter uns schützen«, sagte Cassandra und be trachtete mit großen Augen die unheilvolle, immer dichter werdende Dunkelheit. Es war, als hätte die ungeduldige Nacht beschlossen, viele Stunden zu früh hereinzubrechen. »Es ist ein Sandsturm.« »Und er kommt genau zur richtigen Zeit«, behauptete der Meuchelmörder. Der Lärm schwoll an, ein hohes, unheimliches Dröhnen, das dem Schrei eines Pferdes glich. »Ausgezeichnet«, sagte der Dieb und warf die Hände in die Luft. »Das ist genau das, was uns noch fehlt. Ich könnte gar nicht darauf verzichten. Eben dachte ich, wie schön es doch wäre, wenn gerade jetzt ein Sandsturm ausbrechen würde.«
Mathavus warf seinem Partner einen spöttischen Blick zu. »Kümmere dich um dich selbst, Dieb.« Dann wandte er sich knapp an die Zauberin. »Ich muss dich hier lassen.« Die Zauberin schien bei diesem Gedanken zu erschrecken. »Du willst mich verlassen?« Der Akkadier sprang vom Kamel und half der Frau herunter. Dann nahm er eine Decke aus einer der Satteltaschen und reichte sie ihr. Seine Augen suchten ihren Blick und hielten ihn fest, doch die einzigen Worte, die er laut aussprach, waren: »Deck dich zu.« Dann schwang er sich zurück in den Sattel und schoss mit Hanna die Düne hinab. Reitend griff der Akkadier in eine andere Satteltasche und zog einen schmalen, eingefetteten Lederstreifen hervor, der recht merkwürdig aussah. Er hatte einen längs verlaufenden Schlitz, der eine Öffnung für die Augen bildete. Obwohl diese Sandmaske hauptsächlich als Schutz diente, war sie gleichzeitig eine bizarre Schlachtkleidung, die dem Meuchelmörder ein einschüchterndes Aussehen verlieh. Mit einer Hand band er sie um, während er Hanna noch schneller vorantrieb, deren Hufe im Sand klapperten und eigene kleine Sandstürme aufwirbelten. Auf einem flachen Streifen Wüste hatten die zwölf Wachen in den roten Turbanen angehalten, als ihr Anführer die Hand gehoben hatte. Er hatte gehört, wie etwas - jemand - schnell näher kam. Thorak war davon überzeugt, dass das nicht der Akkadier sein konnte. Ein Mann allein würde es niemals wagen, dreizehn Männer offen anzugreifen. Also konnte es nur ein Kurier des Heeres sein, den Memnon ausgeschickt hatte. Ein Krieger im roten Turban deutete hinüber. »Dort!« Und den Hang einer Düne herab kam ein einzelner Mann ein Ungeheuer, das eine Ledermaske trug und ein weißes
Kamel ritt: der Akkadier. War er tatsächlich so verrückt, sie wie ein Ein-Mann-Heer anzugreifen? »Er greift allein an?«, sagte ein Krieger zu einem anderen. »Die Sonne hat sein Gehirn gekocht«, meinte der andere, der Fährtenleser des Trupps. »Der Wüstenkoller hat ihn gepackt.« In ihrer Mitte erklang Thoraks dröhnende Stimme. »Tausend Duranas für den, der mir seinen Kopf bringt!« Thoraks Männer waren zweifellos loyal, doch der süße Duft des Geldes trieb die Tapferkeit der Krieger in neue Höhen. Schwerter schossen aus den Gürteln, und mit nackter Brust, die Köpfe von den roten Turbanen bedeckt, gaben die Krieger ihren Pferden die Sporen und galoppierten auf den Wahnsinni gen zu, wobei sie Kriegsrufe ausstießen, bei denen jedem normalen Mann das Blut in den Adern gefroren wäre. Aber natürlich war Mathayus kein normaler Mann. Er war der Letzte der Akkadier. Er befand sich auf einer blutigen Mission, und er stürmte den Kriegern in vollem Galopp entgegen. Allerdings war er nicht allein, auch wenn seine Feinde das vermuteten. Er ritt dahin an der Spitze eines Heeres - eines Heeres aus Sand. Als er den Abhang hinabstürmte, folgte ihm der Sandsturm über den ganzen Horizont hinweg, ein viele Meilen breiter, brauner Strudel der Zerstörung, der so hoch war wie Memnons Palast, eine gigantische Mauer unzähliger wirbelnder und brennender Sandkörner. Die tausend Duranas waren vergessen, und die Reiter gerieten in Panik, als sie den Verrückten sahen, dessen Züge unter der geisterhaften Ledermaske mit dem schmalen Augenschlitz nicht zu erkennen waren. Vornüber gebeugt schoss er auf sie zu und schwang seinen Krummsäbel, dicht gefolgt vom Sandsturm. Er war ein einziger Albtraum, und die Krieger zügelten ihre Pferde. Der Sandsturm überholte den Akkadier, wehte tobend vor
ihm dahin, und selbst als der braune Wirbel Kamel und Reiter einhüllte, ritt Mathayus nicht langsamer. Thorak war verblüfft über den Mut dieses Mannes, und plötz lich wurde ihm der tollkühne Plan des Meuchelmörders bewusst. In hilflosem Schock musste er mit ansehen, wie der angreifende Krieger im Sturm verschwand, während Thoraks hochgerühmte Rote Wache den eigenen Angriff abbrach, die Pferde die Köpfe zurück warfen und die Reihen seiner Truppe auseinander brachen, als der Sturm sie mit voller Wucht traf. Die Welt hatte sich in einen bitteren Sandstrudel verwandelt, der sie verschlang, sich in ihrem Fleisch festbiss und ihre Augen blendete. Der Wind riss die Männer aus den Sätteln und schleuderte sie auf den Wüstenboden, und wenn sie dort zu stehen versuchten, warf er sie wiederum zu Boden. Doch Thorak unterwarf sich nicht. Er hielt sich im Sattel seines edlen Pferdes, die Zügel in der einen und die Streitaxt in der anderen Hand, und schrie: »Akkadischer Bastard!« Dann ritt er in den Sturm und suchte, obwohl er nichts sehen konnte, das Ziel seiner Wut. Die Welt war entsetzlich, ein blendendes Gewirr aus fallen den Körpern, peitschendem Sand und verschreckten, sich aufbäumenden Pferden. Die hervorragenden Kämpfer, die Thoraks Truppe bildeten, hatten sich in wimmernde Narren verwandelt, die, umgeben von den Schreien der anderen, allein umherirrten. Nur wenige saßen noch in ihren Sätteln. Mathayus, der auf diesen höllischen Sturm vorbereitet war und ihn sogar genoss, tauchte vor jedem einzelnen seiner desorientierten Feinde auf, als hätte der grimmige Tod selbst Gestalt angenommen, und jedes Mal verschwand er so schnell wieder, wie er gekommen war. Seine blitzende Klinge färbte die braune Welt rot. Er sprang aus dem Sattel, griff zwei Soldaten an, riss sie zu Boden, und blitzschnell stach er mit dem zischenden Krummsäbel in der einen und dem Dolch in der anderen Hand zu.
Dann verschwand er, nur um plötzlich an einer anderen Stelle aufzutauchen. Die Klingen in seinen Händen surrten durch die Luft, drei Krieger gingen gleichzeitig unter der Wucht des Stahls zu Boden, und ihre Leichen wurden von einem Wall aus Sand verschlungen, die den gerade Getöteten ein schnelles Grab bereitete. Die Schreie der Schlacht schienen nicht von dieser Welt zu sein, als Mathayus eins wurde mit dem Sturm und erbarmungslos sein Todesurteil vollstreckte. Selbst der tapfere Thorak wurde ein Opfer des brennenden Sandes und war mittlerweile fast völlig geblendet. Wütend riss er sein Pferd herum und schwang die Streitaxt, während er mit unerträglicher Frustration die Grauen erregenden Schreie seiner Männer hörte, deren Klang sich mit dem kreischenden Wind vereinte. Er gab seinem Pferd die Sporen und ritt auf die Schreie zu. Und plötzlich, als hätte sich der Sand zu Ehren Thoraks geteilt, erschien der Akkadier vor ihm, der soeben mit seinem Krummsäbel in der Hand einen weiteren tapferen Mann einen unwürdigen Tod sterben ließ. Thorak stürmte auf ihn zu, griff ihn an und schwang die Streitaxt zu einem Hieb, den Mathayus unmöglich sehen konnte. Doch Mathayus spürte ihn kommen, er wirbelte herum, und Stahl prallte auf Stahl. Wild schlugen beide aufeinander ein, der Krieger zu Pferd, der Barbar am Boden; Mathayus kämpfte wie eine Naturgewalt, als er seine Hiebe führte, und er glich dabei dem Wirbelwind, der beide umgab. Doch der narbengesichtige Oberkommandierende behauptete ebenfalls seine Stellung - was auch an seinem Vorteil lag, weil er auf einem Pferd saß -, und mit jedem Hieb krachte die Streitaxt gegen den Krummsäbel, auf jede Parade des einen reagierte der andere geschickt und präzise. Beide waren große Krieger, und möglicherweise hätte jeder von ihnen das Können des anderen bewundert, wenn sie nicht mit aller Kraft darum gekämpft hätten, sich gegenseitig umzubringen.
Thorak sah eine Lücke in Mathayus' Verteidigung und wollte sie nutzen, doch der Akkadier kam dem Hieb zuvor, schlug dem Krieger die Streitaxt aus der Hand und stieß seinen Krummsäbel mit solcher Wucht nach vorn, dass er durch die Lederrüstung des Mannes drang. Vom Sand gepeitscht und vom Schmerz durchbohrt, rutschte Thorak vom Pferd und fiel sterbend auf den schwankenden Wüstenboden. Der Akkadier wandte sich ab und suchte nach neuen Opfern, doch Thorak hatte immer noch einige Sekunden zu leben, und die nutzte er. Memnons vertrauenswürdigster Ratgeber zog in seinen letz ten Augenblicken einen Pfeil, einen ganz bestimmten Pfeil, aus seinem Köcher und entfernte den Lederstreifen, der die Pfeil spitze umschloss. Den Pfeil wie ein Messer gebrauchend, stach er nach oben und traf den Akkadier in den Oberschenkel. Mathayus zuckte vor Schmerz zusammen und fiel auf die Knie, als wollte er beten. Nur das Tosen des Sandes war zu hören, der sie beide umgab; alle Wachen in den roten Turbanen waren tot, die meisten von ihnen bereits zur Hälfte unter dem Sand beerdigt. Das Letzte, was Thorak sah, war der verwundete Akkadier vielleicht würden sie ihren Zweikampf in der Unterwelt fort führen. Dann verschlang der Sandsturm auch sie. Etwas später war die Sandfront weitergezogen, und die hell braune Haut der Wüste wurde nur noch leicht von einer freundlicheren Brise aufgewirbelt, deren Finger sinnlose Bilder und Muster in die ruhelosen Dünen zeichneten. Das Schlachtfeld war so still wie die Toten, die unter dem Sand ruhten. Es war, als sei nie irgendjemand hier gewesen; dass nur Minuten zuvor ein wütender Kampf getobt hatte, schien völlig unvorstellbar. Nicht allzu weit entfernt, an der Stelle, an der der Akkadier seine Gefährten zurückgelassen hatte, wo sie den Ausgang der Schlacht abwarten sollten, schien es im Sand genauso wenig
Leben zu geben. Dann schoben sich Finger durch die Oberflä che einer Düne, als würde sich ein Toter aus seinem Grab erheben. Ein einzelnes Auge öffnete sich blinzelnd, das übrige Gesicht war noch mit Sand bedeckt. Überrascht und erfreut, noch am Leben zu sein, setzte sich der Pferdedieb auf, und bevor er an einen seiner beiden Beglei ter dachte, nahm er sich Zeit, den Sand aus seinen Kleidern zu klopfen. Er stand auf der Spitze einer Düne, beschirmte mit einer Hand die Augen vor der Sonne und betrachtete das Schlachtfeld. Die Stimme einer Frau sagte: »Arpid!« Er wandte sich in ihre Richtung und erinnerte sich plötzlich wieder an die Zauberin, die hustend verlangte: »Hilf mir. Bitte.« Sie lag halb begraben im Sand; die Decke, die Mathayus ihr gegeben hatte, war längst weggeweht worden. Tatsächlich fühlte sich der Dieb ein wenig schuldig, weil er sie vergessen hatte, sodass er nun zu ihr rannte und ihr aufhalf. Es dauerte eine Weile, bis sie wieder sicher auf den Füßen stand. Dann fragte sie beunruhigt und voller Sorge: »Der Akkadier was ist mit dem Akkadier?.« »Das Schlachtfeld ist verlassen«, antwortete Arpid und zuckte mit den Schultern. »Es ist, als hätte der Sandsturm alle gepackt und an einen weit entfernten Ort geschleudert.« »Wir müssen nachschauen«, erwiderte sie mit fester Stimme. »Wir müssen ihn suchen.« »Natürlich«, meinte er zustimmend, wobei er eine merkwür dige Leere in seiner Magengrube empfand. Hatte er etwa Gefühle für diesen verdammten Akkadier entwickelt? Dieser Bastard hatte ihn erbärmlich genug behandelt, und Arpid war nur bei ihm geblieben, weil das sicherer gewesen war. Warum also war er besorgt? Und traurig? Es war neu für den Dieb, für einen anderen Menschen etwas zu empfinden, und
diese Erfahrung war wirklich beunruhigend. Die Zauberin und der Dieb gingen zum Schlachtfeld, und als sie es gründlicher inspizierten, war es doch nicht völlig leer: Ein halbes Dutzend halb begrabener Leichen lag vor ihnen. Vorsichtig und behutsam gingen sie über diesen so schnell entstandenen Friedhof. Plötzlich bewegte sich der Sand vor ihnen. Ein Pferd tauchte aus einer kleinen Düne auf und schüttelte sich wiehernd. Dies lockte ein anderes Pferd hervor und noch ein drittes, die sich ebenfalls aus dem Sand erhoben. Die Männer waren zugrunde gegangen, doch ein Großteil ihrer Pferde hatte überlebt. »Jetzt können wir endlich reiten«, sagte der Dieb zu der Frau. Eine weitere kleine Düne geriet in Bewegung, als sich noch ein Tier aus dem Sand erhob: Hanna! Arpid rannte zu dem Tier. Es war schwer zu glauben, dass er sich freute, diesen Sack Flöhe wieder zu sehen - und doch war es so. Cassandra trat neben Arpid, der das Kamel an den Zügeln hielt, und sagte: »Keine Spur von seinem Herrn.« »Er muss irgendwo sein«, erwiderte Arpid. »Wenigstens seine Leiche.« Sie runzelte die Stirn. »Ich fühle nicht, dass er tot ist. Such weiter.« Arpid betrachtete das Kamel. »Warum hilfst du uns nicht? Wo ist er, altes Mädchen? Wo ist dein Herr?« Hanna stieß ein ungeduldiges Knurren aus, und plötzlich erkannten die beiden, dass das Tier neben einem kleinen, runden Sandhügel stand. Erstaunt sahen sie, wie sich eine Gestalt daraus erhob, den Sand abschüttelte und ein erschöpf ter, blutender und von blauen Flecken übersäter Krieger auftauchte. Mathayus.
Mit vor Freude geweiteten Augen sahen sich Arpid und Cassandra an. Als der Akkadier sein Grab verließ, kam ein zweiter Krieger zum Vorschein, der unter ihm vom Sand beerdigt worden war. Es war Thorak, der im Tod die Augen weit aufgerissen hatte. »Für eine so hässliche Bestie sieht er ziemlich hübsch aus«, beschied Arpid. Mathayus war zu Cassandra gegangen. »Geht es dir gut? Bist du verletzt? Haben sie ...« »Nein«, antwortete sie. »Es hat mich niemand - angerührt.« Die Zauberin war überrascht über seine Besorgnis, über die Tiefe der Gefühle, die in den dunklen Augen des Meuchel mörders zu lesen waren. Hatte er all das durchgemacht, weil er eine Mission zu erfüllen hatte? Für Kopfgeld? Aus Rache? Oder einfach, um sie zu retten? »Mir geht's gut, danke der Nachfrage«, sagte Arpid zu dem Akkadier, der überhaupt nicht mit ihm gesprochen hatte. »Ich weiß deine Besorgnis wirklich zu schätzen.« Cassandra betrachtete Mathayus mit forschendem Blick. Er schien nicht ganz sicher auf den Beinen zu sein. »Bist du ...« »Mir geht es gut«, entgegnete er. Und dann bemerkte sie den Pfeil, der aus der Seite seines Beines ragte. Er war nicht allzu tief eingedrungen, doch er steckte ziemlich fest. »Du brauchst Hilfe«, sagte sie und schnappte nach Luft. Der Akkadier griff nach unten, packte den Pfeil, biss die Zähne zusammen und riss ihn aus seinem Fleisch. Aber so heroisch diese Leistung auch war - der gewaltige Barbar schrie auf vor Schmerz, und sein Schrei hallte durch die Wüste. Aus Respekt vor ihm hatte sich die Frau von seinem gequäl ten Aufschrei abgewandt; der Dieb hingegen, weil ihm übel wurde. Der Akkadier stolperte zur halb begrabenen Leiche Thoraks
zurück. Ein Amulett, das um den Hals des Toten hing, trug die Insignien der Palasttruppe. Mathayus riss es ab und sagte: »Helft mir, sein Pferd zu finden.« »Dort ist es«, rief der Dieb und deutete darauf. Thoraks unverkennbarer schwarzer Hengst lief wie die ande ren Pferde auf dem Schlachtfeld umher. Der Akkadier ging zu ihm und inspizierte den Sattel. »Noch ein Überlebender«, sagte er zufrieden. Als Arpid und Cassandra zu ihm getreten waren, sahen sie, was er damit meinte: Es war ein Falke. Eine kleine Lederkappe bedeckte seinen Kopf, und seine Beine waren mit einem dünnen Lederriemen am Stattel festgebunden. Mathayus befreite den Vogel und befestigte Thoraks Insignien an dem Metallring, den das Tier um den Fuß trug. Die Zauberin berührte den Arm des Akkadiers. »Was tust du?« »Ich sende Memnon eine Botschaft«, sagte er, doch seine Stimme war schwach und seine Augen schienen trübe. Trotzdem gelang es Mathayus, dem Falken die kleine Leder kappe abzunehmen und den Vogel in die Luft zu schleudern. Er zog einige Kreise, schlug erhaben mit den Flügeln und flog davon. Der Akkadier blieb stehen, stützte die Hände auf die Hüften, beobachtete, wie der Vogel nach Gomorra flog, und lachte ein tiefes, herzhaftes Lachen - aus dem jedoch plötzlich ein Husten wurde. »Mathayus!«, rief Cassandra. Mit verkrampft zuckenden Bauchmuskeln konnte sich der Akkadier kaum noch aufrechthalten. »Was ist mit dir?«, fragte sie. Seine Finger deuteten auf die Pfeilwunde. »Ver ... vergiftet.« Und der mächtige Krieger fiel mit zuckenden Beinen vorn über in den Sand.
Eine magische Berührung
Als die untergehende Sonne die Felslandschaft um die mäch tige Stadt Gomorra in ein leuchtendes orangefarbenes Licht tauchte, das aussah, als hätte die Erde selbst Feuer gefangen, flog ein Falke über die Festungsmauern in seinen Horst in Memnons von Türmen umringten Palast. Der Markt wurde gerade geschlossen - bis auf die Lasterhöh len natürlich - , und bald würden sich alle Bewohner hinter die Steinmauern zurückziehen, um zu essen, zu trinken und ihre Zeit mit Freunden und der Familie zu verbringen. Alle außer den übelsten Lüstlingen jedenfalls. Memnon jedoch ruhte nicht. Er hatte seine Generäle in den Thronsaal befohlen, in dem auf einem großen Tisch Landkar ten ausgebreitet wurden. Das drängendste Problem stellte natürlich Ur dar, das einzige noch nicht eroberte Land, und der Kriegsherr besprach seine jüngste Strategie mit den Führern seiner Schlachten. Wie üblich folgten die Generäle seinen Ausführungen mit größter Aufmerksamkeit, doch einer von ihnen - Toran - wirkte merkwürdig distanziert, fast geistesab wesend. Und das beunruhigte den Großen Lehrer, der es vorzog, dass seine Schüler an jedem Wort hingen, das von seinen Lippen kam. Auch Takmet war anwesend, der Erbe des verwaisten Thro nes von Ur, doch auch er schien mit etwas anderem beschäftigt zu sein und drängte sich nicht mit den anderen zusammen um den großen Kartentisch. Natürlich hatte Memnon Takmet bereits über seine Strategie informiert, doch auch so stellte das nervöse Aufundabschreiten dieses Mannes eine Störung dar. Als Einziger in dieser Versammlung - außer Memnon - wuss te Takmet, warum Cassandra nicht hier war; er wusste, dass der
Akkadier sie entführt hatte. Ein Falkner betrat den Saal. Auf seinem Arm saß der königli che Vogel, der soeben eingetroffen war. Der Falkner näherte sich dem Kriegsherrn, deutete eine Verbeugung an und berich tete: »Eine Botschaft von Thorak.« »Endlich«, sagte Memnon und seufzte zufrieden. »Der Akkadier ist tot.« Doch kurz darauf entdeckte der Kriegsherr, dass er Thoraks Insignien vor sich hatte - seine blutbeschmierten Insignien und nichts sonst. Wut und fast so etwas wie Trauer erfüllten ihn. Über viele Jahre hinweg war der narbengesichtige Krieger seine rechte Hand gewesen, und jetzt hatte ihn der Akkadier getötet und schickte ihm diese höhnische Botschaft. Memnon quetschte das blutige Amulett in seiner mächtigen Hand und stand einige Augenblicke lang gedankenverloren da. Dann trat General Toran vor. »Edler Herr«, fragte er, »stimmt etwas nicht?« Der Kriegsherr bezwang seine Gefühle und blickte seine Generäle gelassen an. Er brachte sogar ein kleines Lächeln zustande. »Nein. Ganz im Gegenteil. Es ist alles in Ordnung.« Die Generäle sahen einander an. »Und damit, meine Herren, denke ich, ist unsere Besprechung zu Ende«, beschied Memnon. Die Generäle verbeugten sich und gingen durch den Thronsaal auf die Türen zu, als Toran innehielt und sich umwandte. Auch die anderen Generäle blieben stehen, wenn gleich der Ausdruck ihrer Gesichter Unsicherheit spiegelte. Mit einer Kühnheit, die keiner von ihnen jemals gewagt hatte, sagte General Toran: »Edler Herr, üblicherweise nimmt die Seherin an diesen Besprechungen teil. Wir alle wissen, wie wertvoll ihr Rat ist.« Auch Takmet rührte sich nicht mehr und warf Memnon einen vielsagenden Blick zu.
»Warum ist die Zauberin heute Abend nicht bei uns?«, fragte der General kühn. Die anderen Generäle, die um ihn standen, nickten. Memnon verbarg seinen Zorn über diesen Affront und sagte nur: »Sie ist verhindert.« Wieder sahen die Generäle einander besorgt an, und Toran fragte: »Nichts Ernstes - hoffe ich?« Deutlich war das Misstrauen in seiner Stimme zu hören. Memnon lächelte, aber seine Augen blieben hart. »Falls es etwas Ernstes wäre, würdet ihr informiert werden. Schließlich seid ihr in diesem Krieg meine vertrauenswürdigen Ratgeber, nicht wahr?« Wieder deutete General Toran eine Verbeugung an. »Gewiss, edler Herr.« Die anderen Generäle verbeugten sich ebenfalls, antworteten auf dieselbe Weise und gingen hinaus. Mit einem wütenden Grollen wischte Memnon die Landkar ten vom Tisch und schleuderte die lederumhüllten Insignien Takmet entgegen, der zusammenzuckte. Der Ratgeber mit dem spärlichen Bart beteuerte: »Ich habe kein Wort davon erwähnt. Ich habe nichts verraten!« »Oh, könnte ich nur dein wertloses Leben gegen das von Tho rak eintauschen«, sagte der Kriegsherr bitter. »Geh! Lass mich in Frieden!« Und Takmet, der trotz all seiner Fehler kein Narr war, tat genau das, wozu er aufgefordert worden war. Die Nacht war überraschend kühl in der sonnenlosen Wüste, und zahllose purpurne Sterne erfüllten den Himmel. Weiß wie Elfenbein glitten die Strahlen des fast vollen Mondes über den Sand, und der Pferdedieb Arpid befand sich in einer unge wöhnlichen Lage: Er kümmerte sich um das kleine Lager. Er zündete ein Feuer an, während der Akkadier zitternd unter seiner Decke lag und sein Geist verwirrt durch die labyrin
thischen Gänge des Fiebers streifte, wobei Schweißtropfen wie Perlen seine kupferfarbene Haut überzogen. Die Zauberin kniete neben Mathayus und versorgte seine Wunde, die sie mit Wasser aus einem Ziegenlederbeutel reinigte und mit Stoffstreifen verband, die sie von ihren Beduinenkleidern abgerissen hatte. Mathayus murmelte im Delirium, und nur gelegentlich konnte man ein Wort verstehen, wie etwa >Memnon< oder >CassandraKompass< bezeichnen würde. Dieses merkwürdige Instrument des Wissenschaftlers bestand aus Holz, Glas, einer Art primitivem Ziffernblatt und einer Nadel, die in Richtung des magnetischen Nordpols zeigte. Seltsamerweise zitterte in diesem Augenblick jedoch die Nadel und wurde nach Osten abgelenkt. Unter dem purpurnen Himmel und dem elfenbeinfarbenen Mond hielt die kleine Gestalt inne. Philos wandte sich in die Richtung, die ihm die Nadel seines Instruments anzeigte. Irgendetwas geschah da draußen in der dunklen Wüste. Etwas Großes. Etwas, das keine Wissenschaft war. In dem kleinen Lager setzte sich Arpid auf und beobachtete die Zauberin bei ihrer mystischen Heilung. Plötzlich verschwand die schimmernde Aura, und die schlan ke Frau drohte fast zusammenzubrechen, doch sie sank nur ein wenig nach vorn, ihre Schultern hingen schlaff herab, und sie hielt den Kopf gesenkt. Es war, als wäre alle Energie ver schwunden und als atmete sie nicht mehr; sie wirkte wie eine Kerzenflamme, die jemand ausgedrückt hatte. Der kleine Pferdedieb glaubte an Magie, er zweifelte nicht im Geringsten daran; doch noch nie hatte er selbst miterlebt, wie magische Kräfte wirkten, und er starrte die Zauberin mit weit aufgerissenen Augen an. Mehrere Augenblicke lang schwieg er, denn er wagte nicht, Cassandra anzusprechen, die zusam
mengesunken vor ihm im Sand saß und vor Anstrengung zitterte. Schließlich fragte Arpid zögernd: »Ist er … geheilt?« Die Zauberin schwieg lange. Sie fühlte sich leer, all ihre Kräfte waren verbraucht - und sie hatte in die Seele des Akka diers geblickt; Erinnerungen und Bilder aus seiner gewalttati gen Vergangenheit schwirrten ihr durch den Kopf. Er war ein so brutaler Mensch - und gleichzeitig voller Güte. Es gab viel, worüber sie nachdenken musste. Cassandra stand auf und ging zu ihrer eigenen Decke, legte sich hin und wollte schlafen. »Und?«, fragte Arpid. »Wird er leben?« »Das liegt nun in den Händen der Götter«, sagte sie. Sie wandte sich von ihm ab. Doch der kleine Dieb hatte gesehen, welche Hände den im Fieber liegenden Akkadier auf magische Weise berührt hatten. Und das waren nicht die Hände der Götter gewesen. Oder etwa doch? Mathayus erwachte in der Morgendämmerung. Er kam nur langsam zu sich. Seine Augen blinzelten und waren gerötet, und Arpid dachte, dass der Akkadier so wirkte, als litte er unter dem schlimmsten Kater seit Anbeginn aller Zeiten. Doch wenigstens lebte dieser Mann. Als Mathayus wieder klar sehen konnte, schwebte ein Gesicht mit dünnem Bart über ihm, und er zuckte zusammen. »Ahhh!« »Sie hat dich geheilt«, sagte derjenige, dem das Gesicht gehorte - der Pferdedieb. »Ich wusste es! Ich konnte ihre magischen Kräfte spüren! Ich konnte sie sehen!« Langsam und zögernd setzte sich der Akkadier auf, wobei er sich mit den Ellbogen abstützte. Er schloss die Augen, öffnete sie wieder und kämpfte gegen seine Benommenheit an. »Mich geheilt? Sie?«
»Sie hat mehr zu bieten als ein hübsches Gesicht, Partner.« Mathayus sah über das fast niedergebrannte Lagerfeuer hin weg zu Cassandra, die immer noch schlief. Sie wirkte so unschuldig, und sollte er jemals einem anmutigeren Wesen begegnet sein, so konnte er sich nicht daran erinnern. Aber er litt natürlich unter heftigen Kopfschmerzen, die seinen Blick trübten. Sie schien seine Aufmerksamkeit zu spüren und erwachte. Ihre Augen trafen die seinen, und beide sahen einander lange an. Es war offensichtlich, wie erleichtert sie war, dass er überlebt hatte, und ein winziges, zärtliches Lächeln huschte über ihre Lippen. Plötzlich war der Akkadier verlegen und sagte: »Wir sollten aufbrechen.« Und das taten sie auch, ohne über die erstaunlichen Ereignis se des Vortages zu sprechen. Etwa eine Stunde später saß Mathayus im Sattel seines Kamels, und Cassandra und Arpid ritten auf Pferden, die von Thorak und seinen Kriegern stamm ten, während die Wüstensonne erneut auf sie niederbrannte. Noch immer konnte sich Mathayus nicht richtig konzentrieren und seine nächsten Schritte planen, so überrascht war er, am Leben zu sein. Zum ersten Mal seit vielen Tagen dachte er nicht ununterbrochen an Memnon. »Ich möchte dir danken«, sagte der Akkadier zu der Zauberin. Sie wandte sich ab und lächelte still vor sich hin. Sie wollte ihm nicht zeigen, wie sehr sie sich über seine Dankbarkeit freute. Erst nach einer Weile sah sie ihn wieder an, und ihr Gesicht war eine schöne, ausdruckslose Maske. Sie sagte: »Dankbarkeit ist hier nicht nötig. Das war reiner Eigennutz. Wenn du gestorben wärst, so wären auch wir ...« Doch eine Explosion unterbrach sie, ein lautes Dröhnen, das den Wüstenboden zu erschüttern schien. Verwirrt blickte der Dieb zum Himmel. »Donner? Ohne Wolken?«
Mathayus sah die schwarzen Rauchschwaden, die über einer nahe gelegenen Düne aufstiegen. Prüfend sog er die Luft ein, und ein vertrauter chemischer Geruch kitzelte seine Nase. »Das ist kein Donner. Aber ich glaube, ich weiß, wer dafür verantwortlich ist.« Ein winziger Bursche tauchte aus der schwarzen Wolke auf. Er rannte wie ein Mann, der aus einem brennenden Haus flieht. Doch Philos, der Wissenschaftler, hatte keine Angst. Er war hingerissen. »Es funktioniert! Es funktioniert endlich!« Begeistert rannte der kleine, rußverschmierte Kerl den sandi gen Abhang hinab, und als er das Trio sah, wuchs seine Begeisterung noch. Er eilte ihnen entgegen, und es sah fast so aus, als vollführte er einen kleinen Tanz. »Ah, ich wusste es!«, rief der Wissenschaftler. »Ich wusste, dass Ihr in der Nähe wart, meine Dame. Ich habe es gefühlt letzte Nacht. Und eine meiner Erfindungen hat es bestätigt. Also habe ich diesen Weg eingeschlagen.« Der Wissenschaftler verbeugte sich tief und voll Hochachtung vor Cassandra und sagte: »Meine Seherin - und du, Barbar, seid gegrüßt. Versteht Ihr? Ich habe die chinesische Mixtur verbessert! Mein magisches Pulver funktioniert!« Die drei Reisenden betrachteten dieses Energiebündel über aus erstaunt und schwiegen. »Übrigens«, fragte der Wissenschaftler leichthin, »habt Ihr zufällig etwas Wasser übrig? Ich habe absolut keins mehr.« Der Ziegenlederbeutel war beinahe leer, doch der Wissen schaftler schlug vor, nach Vögeln Ausschau zu halten und ihnen zu folgen, denn >unsere geflügelten FreundeVerrückte